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LEHRBUCH
DER
PHYSIOLOGIE DES MENSCHEN


ERSTER BAND.
PHYSIOLOGIE DER ATOME, DER AGGREGATZUSTÄNDE, DER NERVEN
UND MUSKELN.

HEIDELBERG.:
AKADEMISCHE VERLAGSHANDLUNG VON C. F. WINTER.
1852.

[]

Druck von H. L. Brönner in Frankfurt a. M.


[]

DEN FREUNDEN
E. BRÜCKE, E. DU BOIS-REYMOND, H. HELMHOLTZ
IN WIEN IN BERLIN IN KÖNIGSBERG
GEWIDMET.

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LEHRBUCH
DER
PHYSIOLOGIE DES MENSCHEN.


[][[1]]

Einleitung.


Aufgabe. Die wissenschaftliche Physiologie hat die Aufgabe
die Leistungen des Thierleibes festzustellen und sie aus den elemen-
taren Bedingungen desselben mit Nothwendigkeit herzuleiten.


Nahebei alle Leistungen, welche von irgend einem thierischen
Wesen ausgehen, so mannigfaltig sie nach ihrer specifischen Erschei-
nung, nach ihrer räumlichen Verbreitung, nach ihrem absoluten Werth
und nach der Zeit in der sie vor sich gehen, ausfallen, sind doch darin
übereinstimmend, dass zu ihrer Erzielung jedesmal eine grössere Zahl
von Bedingungen zusammengreift.


Unterwirft man in der That von diesem Gesichtspunkt aus die scheinbar einfachste
Lebensäusserung, z. B. die Beugung eines Fingergliedes der Untersuchung, so gewahrt
man bald dass der Anstoss zur Bewegung nicht vom Finger, sondern von einem mit
ihm durch die Sehne in Verbindung stehenden Muskel ausgeht; indem sich die Auf-
merksamkeit auf diesen wendet, gewahrt dieselbe, dass die von ihm ausgehende Lei-
stung resultirt aus der Wirkung vieler gleichartiger Gebilde, der sogenannten Muskel-
röhren; eine genaue Zergliederung zerspaltet diese wiederum in die verschiedenar-
tigsten Bestandtheile und gelangt dadurch dahin den Muskelcylinder als Zusammen-
ordnung von trägen mit leicht veränderlichen Bestandtheilen aufzufassen; in diesen
letztern entdeckt sie darauf Theilchen von endlicher aber ausserordentlich geringer
Grösse, durch deren wechselnde Anziehungen die Bewegungen im Muskel erzeugt
werden; aber auch diese kleinsten Theilchen sind wieder zerlegbar in chemische
Atome, electrische Flüssigkeit und Lichtäther, Wesen, welche endlich den zer-
legenden Mitteln, über die die Wissenschaft heute gebietet, unbesiegbaren Wider-
stand leisten. Da wir aber die Bewegung nicht unmittelbar an den Muskelmolekeln, und
nicht einmal an der Muskelscheide, den Sehnen, dem Periost, sondern an dem Finger
beobachten, so ist mit obiger Betrachtung nur eine Seite unserer Erscheinung zer-
gliedert, nämlich diejenige, welche die Ursache der Bewegung überhaupt enthält.
Denn indem sich die Bewegung auf primäre und secundäre Scheide, Sehnen, Knochen
u. s. w. überträgt, erfährt sie Widerstände, die von der Steifigkeit, Elasticität, Form
u. s. w. dieser Theile abhängig sind; alle diese Erscheinungen sind aber selbst wieder
Folge sehr complicirter Veranstaltungen, die ebenfalls erst sämmtlich in ihre Ele-
mente zerlegt werden müssen, wenn die Auflösung jener Lebensäusserung vollendet
sein soll.


Ludwig, Physiolog. I. 1
[2]Einleitung.

Elementare Bedingungen. So oft nun eine Zergliederung der
leistungserzeugenden Einrichtungen des thierischen Körpers geschah,
so oft stiess man schliesslich auf eine begrenzte Zahl chemischer Atome,
die Gegenwart des Licht (Wärme)- Aethers und diejenige der electrischen
Flüssigkeiten. Dieser Erfahrung entsprechend zieht man den Schluss,
dass alle vom thierischen Körper ausgehenden Erscheinungen eine Folge
der einfachen Anziehungen und Abstossungen sein möchten, welche
an jenen elementaren Wesen bei einem Zusammentreffen derselben be-
obachtet werden. Diese Folgerung wird unumstösslich, wenn es gelingt
mit mathematischer Schärfe nachzuweisen, es seien die erwähnten ele-
mentaren Bedingungen nach Richtung, Zeit und Masse im thierischen
Körper derartig geordnet, dass aus ihren Gegenwirkungen mit Nothwen-
digkeit alle Leistungen des lebenden und todten Organismus herfliessen.


Die vorliegende Auffassung ist wie allbekannt nicht die hergebrachte, sie ist
diejenige unter den neuern, welche man als eine besondere gegenüber der vitalen
mit dem Namen der physikalischen bezeichnet. — Diese Anschauung verlangt
in Uebereinstimmung mit dem Causalgesetz, an das wir uns halten müssen, wenn wir
überhaupt denken wollen, dass ein Ding die Ursachen seiner Wirkungen in sich ent-
halte, und in Uebereinstimmung mit den so oft berührten Grundsätzen der Erfahr-
ungslehren, dass man nur die mittel- oder unmittelbar nachgewiesenen Existenzen
mit in das Fundament der Schlüsse aufnehme. Sie verwirft darum die Berech-
tigung zur Annahme hypothetischer Grundwesen, wie besondere Nerven-Lebensäther
[u.] s. w., u. s. w.; sie wird sich aber niemals sträuben einer neuen, bisher nicht bekann-
ten Fundamentalbedingung Eingang in den Kreis der Betrachtung zu gestatten, wenn
diese als eine in Wirklichkeit bestehende erwiesen ist. — Die Vertheidigung dieser
Grundsätze siehe in einer ebenso gedankenreichen als edelgeformten Betrachtung bei
du Bois, thierische Electricität 1. Bd. Vorrede.


Vielfachheit der Leistungen durch die gegebenen ele-
mentaren Bedingungen
. Wenn sich nun auch nicht durch Erfül-
lung der obigen Forderung die Nothwendigkeit der physikalischen
Auffassung darthun lässt, so lässt sich wenigstens zeigen dass die
Mittel, welche sie als die Gründe des Lebens ansieht, vielfach und
wirksam wie sie sind, weitaus genügen, um den Reichthum der Le-
benserscheinungen bedingen zu können.


1) Leistungen der formlosen Elemente. — Vermöge der
zwischen gleichartigen und ungleichartigen Atomen bestehenden An-
ziehung kommt es zur Bildung von Massen; je nach der Innigkeit mit
der in diesen die Atome aneinander haften stellen sie ein Baumaterial
vor, verschieden an Dichtigkeit, Festigkeit und Elastizität. — Den von
den Atomen ausgehenden Anziehungen folgen aber auch der Licht-
äther und die Electrizitäten; die Verschiedenheit der Massenverwandt-
schaft zu den letztern Fluiden stellt sich dar in dem spezifischen elec-
tromotorischen und electrischen Leitungsvermögen. Die Beziehung der
Masse zum Lichtäther offenbart sich aber durch die Besonderheit der
Farbe, des Brechungsvermögens, der Durchsichtigkeit, der Wärmelei-
tung, Erscheinungen welche theils auf eine veränderte Dichtigkeit des
[3]Einleitung.
Lichtäthers innerhalb des von der Masse umschlossenen Raumes,
theils aber auf eine verschiedene Beweglichkeit der Atome unter dem
Einfluss der Aetherschwingung hindeuten. — Die zwischen den un-
gleichartigen Atomen bestehende Anziehung führt zur chemischen
Verbindung. Selbst zwischen einer geringen Zahl von Elementen kann
die Menge der verschiedenen möglichen Verbindungen sehr gross sein,
weil es zulässig ist, dass sich nicht allein das Atom des einen Elements
mit dem Atom des andern verbindet, sondern dass sich auch 1 Atom
mit einer Gruppe von solchen (einem complizirten Atom) und Gruppen mit
Gruppen verbinden können. — Nun sind wie natürlich die Verbindun-
gen verschiedener Atomzahlen in ihren Eigenschaften abweichend von
einander, darum sind aber nicht die Verbindungen gleicher Atomzah-
len gleichartig geeigenschaftet; denn auf die Entwicklung jener ist
auch die Richtung, welche die Anziehungen innerhalb der complizirten
Atome besitzen, von Einfluss. Erinnert man sich nun noch, dass die
Menge der gebundenen Wärme und vielleicht auch der gebundenen
Electrizitäten einen wesentlichen Theil an der Erzeugung der Eigen-
schaften nimmt, so ergibt sich dass schon Verbindungen derselben Ele-
mente bei unveränderter Atomzahl eine Schaar ganz verschiedener
Körper darzustellen vermögen, um wie viel grösser werden also die
möglichen Mannigfaltigkeiten sein, die durch die Verbindung gleicher
Elemente von verschiedener Atomzahl oder gar die Verbindungen ver-
schiedener Elemente bei stets wechselnder Atomzahl erreichbar sind.


Die Mannigfaltigkeit der Erscheinungsweise chemischer Verbin-
dungen, so unendlich sie nun auch ist, kann nach einer Richtung
hin unter zwei Kategorieen zusammengefasst werden, von denen
die eine alle diejenigen complizirten Atome umfasst, welche unter ge-
gebenen Bedingungen keine Verwandtschaften zu andern Verbindun-
gen oder Elementen besitzen, während in der zweiten die mit Ver-
wandtschaft begabten enthalten sind. — Die Bedeutung dieser Ein-
theilung wird durch folgendes einleuchtend. Betrachtet man ganz all-
gemein die chemische Verwandtschaft mit Rücksicht auf die sie erzeu-
gende chemische Zusammensetzung der Stoffe, so ist leicht zu erken-
nen, dass weder die Zahl, noch die Art der Atome oder die Menge der
in die Verbindung tretenden latenten Wärme u. s. w. die Verwandt-
schaft bestimmt; denn die auf die verschiedenste Art zusammenge-
setzten Verbindungen besitzen gegen gleiche Stoffe unter gleichen
Bedingungen dieselben Verwandtschaften und umgekehrt. — Diese
Thatsachen, obwohl sie in ihrem innersten Zusammenhang noch nicht
begriffen sind, zwingen wenigstens zu der Annahme, dass die Verwandt-
schaft keine absolute Eigenschaft der Atome, sondern eine abgeleitete
Funktion sei. Indem wir uns nun eines mathematischen Bildes bedie-
nen um uns den Vorgang zu verdeutlichen wie durch die in einer Ver-
bindung aufeinander wirkenden Einzelanziehungen die Verwandtschaft
1*
[4]Einleitung.
zu Stande komme, behaupten wir, es sei die Verwandtschaft resultirend
aus den mit gewissen Richtungen und Stärken zur Gegenwirkung kom-
menden Componenten. Dieser Ausdruck passt namentlich insofern mit
voller Uebereinstimmung auf die aus der Atomverknüpfung hervorge-
gangene Verwandtschaft, als hier wie dort aus den mannigfachsten
Einzelkräften dieselben, und umgekehrt aus denselben Einzelkräften
die verschiedensten Gesammtwirkungen, erwachsen, je nach der Ord-
nung in der die ersteren zusammentreten. Diesem Bilde gemäss wür-
den die indifferenten Stoffe solche sein, deren als Verwandtschaft
aufzufassende Resultirende Null wäre, während die Resultirende der
mit Verwandtschaft begabten einen endlichen Werth besässe.


Wir wenden nun unsere Aufmerksamkeit auf die letzten Stoffe;
hier begegnen wir sogleich der Erfahrung dass, so mannigfache
Modificationen die Verwandtschaft auch erfährt, dennoch gewisse, all-
gemeine Aeusserungen derselben wiederkehren, die wir unter den Na-
men der Säuren und Basen u. s. w. u. s. w. zusammenfassen. Nach
den so eben aufgestellten Begriffen der Verwandtschaft kann es nicht
auffallen, dass durch Combination derselben Elemente sowohl Säuren
als Basen u. s. w. erzeugbar sind, aber überraschend wirkt es, in wel-
chem ausgedehnten Maasstab es namentlich dem C, H, und O theils für
sich, theils in Verbindung mit Stickstoff und einigen der negativen
Metalle (Arsenik, Antimon, Wismuth u. s. w.) gelingt, ganze Reihen
von Verbindungen, die einer der erwähnten Gruppen angehörig sind, zu
bilden, so dass die aus ihnen hervorgehenden Combinationen eine reiche
chemische Welt für sich bilden. — Die Wissenschaft kann noch keine
Rechenschaft darüber geben, durch welche Besonderheit gerade jene
Elemente diese Befähigung erhielten, und ebensowenig wie die gegen-
seitigen Anziehungen der Atome gestaltet sein müssen, dass ihre Ver-
bindung der einen oder andern verwandtschaftlichen Gruppe angehöre.
Empirisch scheint nur fest zu stehen, dass complexe Atome die Rolle
der Elemente anzunehmen im Stande sind, so dass es immer möglich wird
in einer Verbindung die Elemente durch diese Complexe zu ersetzen,
und demnach durch immer höhere und höhere Complikation der elemen-
tevertretenden Stoffe verwandtschaftlich gleichwerthige Körper zu er-
zeugen. So übernimmt, wie zuerst Löwig in einer meisterhaften Unter-
suchung erwiesen hat, das Methyl und Aethyl die Rolle des H, und bildet
dann zu 2, 3, 4 Atom wie der H mit Antimon, Wismuth u. s. w. Verbindun-
gen, die analog den gleichen Verbindungen des H mit N zu Ammonium,
zu Basen werden, und sich in ihren Verwandtschaftserscheinungen von
Ammonium und Kali durchaus nicht mehr unterscheiden lassen; das-
selbe findet sich in den von Hoffmann in so ausgezeichneter Weise
verfolgten Wurz’schen Stoffen, welche die dem NH, NH2, NH3, NH4 ent-
sprechenden Aethyl, und Methyl u. s. w. Verbindungen darstellen.
Gleichgiltig wie die Verwandtschaften möglich und erreicht sind, ihre
[5]Einleitung.
Folgen für die im thierischen Körper erscheinenden Prozesse sind von
fundamentaler Wichtigkeit, um sie übersehen zu können, scheiden wir
sie in chemische und dynamische.


A. Chemische Folgen. Diese sind von wesentlich verschiedener
Bedeutung, je nachdem die Stärke der Verwandtschaft zwischen den
sich gegenübertretenden Stoffen genügt oder nicht genügt, um eine
Aenderung in der atomistischen Gruppirung einzuleiten. Im letztern
Falle sehen wir als einen Ausdruck der bestehenden Anziehung die
Adhäsion an, die in einer besondern Gestalt zur Lösung wird; als den
der bestehenden Abstossung aber die deprimirende Capillarität, die
Niederschläge u. s. w. Leitet nun aber die Verwandtschaft eine Um-
änderung in der atomistischen Constitution ein, so werden durch die
hierbei obwaltenden Anziehungen entweder die beiden Stoffe ohne vor-
gängige Zerlegung nach stöchiometrischen Verhältnissen verbunden;
oder es vereinigen sich alle oder einzelne ihrer constituirenden Theile
nach vorausgegangener Zerlegung der complizirten Verbindung; oder
endlich es zerfallen die mit Verwandtschaft begabten Stoffe in andere
Gruppen, ohne dass diese Neubildungen Verbindungen unter einander
eingehen. — Wenn man diese vielfachen Möglichkeiten übersieht, so
wird es begreiflich, dass in dem Thierleib, welcher so zahlreiche und
complizirte Atome enthält, nicht allein unter den Umständen, welche
überhaupt eine chemische Bewegung gestatten, eine fast ins Unendliche
gehende Zahl von Umsetzungen erscheinen muss, bis zwischen allen
Stoffen das chemische Gleichgewicht hergestellt ist, sondern dass auch
mit ganz einfachen Veränderungen, wie z. B. in den quantitativen Ver-
hältnissen der anwesenden Stoffe, oder je nach der zeitlichen Reihen-
folge, in der die einzelnen Gegenwirkungen eintreten, die zwischen
dem Beginn und dem Ende der möglichen Zersetzungen liegenden
Glieder sehr mannigfaltige von einander ganz abweichende werden
können.


B. Dynamische Folgen. Hierunter begreifen wir die über die Be-
rührungsstellen von Atomen hinauswirkenden Anziehungen und Ab-
stossungen, welche in Folge der Umsetzung und Verbindung chemi-
scher Stoffe zum Vorschein kommen. Durch diese in grösserer Entfer-
nung ausgeübten Wirkungen, werden die angezogenen und abgestos-
senen Massen in Bewegungen versetzt, Bewegungen, welche sich auf
andere ursprünglich indifferente Stoffe übertragen können. Als Ursache
dieser Anziehungen sehen wir im thierischen Körper erfahrungsge-
mäss die Wärme und die Electrizitäten an.


a. Wärme. Mit diesem Worte bezeichnet man wie es scheint
sehr verschiedene Dinge. α) Die freie, übertragbare Wärme;
diese besteht entweder als strahlende Wärme, die wir bekanntlich
als eine Wellenbewegung des sogenannten Lichtäthers aufzufassen
gezwungen sind, oder als geleitete Wärme, welche wahrscheinlich
[6]Einleitung.
in nichts anderm, als einer eigenthümlichen Bewegung der wägbaren
Masse besteht, die von dem Lichtäther auf diese übergegangen ist. —
β) Die gebundene Wärme; eine grössere Reihe von spezifischen
Zuständen der Masse, wie namentlich der flüssige und gasförmige
Aggregatzustand, die metallischen Eigenschaften, zahlreiche atomisti-
sche Verbindungen u. s. w. entstehen nur unter der Beihilfe der
Wärme, und zwar in der Art, dass wenn ein Stoff aus irgend welchem
andern (dem festen, dem oxydirten u. s. w.) in einen der bezeichne-
ten (den flüssigen, den metallischen u. s. w.) Zustände übergeführt
werden soll, jedesmal eine ganz bestimmte Menge von freier Wärme
zum Verschwinden gebracht wird. Diese Stoffe entwickeln nun, wenn
sie aus dem letzten Zustande wieder in den erstern zurückgeführt
werden, abermals die Wärmemenge, welche sie beim Eintritt in den-
selben zum Verschwinden gebracht hatten. Da diese Stoffe demnach
je nach Umständen Wärme entwickeln und vernichten, so huldigte
man der Vorstellung, es mögte diese Wärme als ein besonderer Stoff
im gebundenen Zustande in ihnen vorhanden sein. Seit man nun aber
den scharfen Beweis dafür geführt hat, dass die freie Wärme weder
im geleiteten noch im strahlenden Zustande einem besonderen Stoffe
ihren Ursprung verdankt, ist jene Annahme verwerflich. Zur Erläuter-
ung der, unter dem Namen der latenten Wärme, zusammengestellten
Thatsachen bleiben demgemäss nur zwei Vorstellungen übrig; nach
der einen wird die Bewegung, welche wir Wärme nennen, benutzt,
um verwandtschaftliche Kräfte, welche gewisse Atome zusammen-
binden zu überwinden; die durch diese Widerstände vernichtete Be-
wegung würde aber wieder zum Vorschein kommen, wenn jene ge-
trennten Stoffe von Neuem ihren verwandtschaftlichen Strebungen
Folge geben, so dass der Akt der Verbindung jener Atome mit be-
sonderer Bewegung verknüpft wäre. — Nach der andern Vorstel-
lung wird die gebundene Wärme als eine zwischen oder inner-
halb der Atome befindliche Bewegung aufgefasst. Diese Bewegung
würde den Stoffen durch die zum Verschwinden gebrachte Wärme
mitgetheilt; aus dieser Bewegung träten die Stoffe wieder in die Ruhe
ein, wenn sie ihre latente Wärme durch einen Eingang in eine neue
Verbindung abgäben. Ob diese oder jene Annahme die richtige, oder
gar ausschliesslich die richtige sei, ist noch nicht entschieden worden.
— Gleichgiltig aber wie diese Alternative entschieden werden mag,
so viel steht fest, dass die wärmeentwickelnden Umsetzungen immer
nur in Folge von wärmevernichtenden stattfinden können und dass nie-
mals bei der ersten Umsetzung mehr Wärme entwickelt wird, als bei
der zweiten verloren gegangen war.


Der thierische Körper setzt sich nun vorzugsweise aus wärme-
tragenden Stoffen zusammen, und die Umsetzungen, welche diese
Stoffe erleiden (meist Oxydationen), sind wärmeentwickelnde. — Die
[7]Einleitung.
Folgen dieser Wärmeentwicklung können sehr eingreifend werden.
Zunächst ist die gebildete Wärme vermögend sich in sichtbare Be-
wegung umzusetzen und dadurch als Triebkraft von mechanischen
Apparaten wirksam zu sein. Diese Umsetzung geschieht, so weit
unsere Einsichten reichen, im thierischen Körper nicht, wohl aber
dürfte es oft vorkommen, dass sich eine sichtbare Bewegung (Rei-
bung u. s. w.) in Wärme verwandelt. — Weiterhin aber wird die ent-
wickelte Wärme von Bedeutung als eine verwandtschafterzeugende
Bedingung, indem unter ihrem Einfluss Sauerstoffverbindungen, Gährun-
gen u. s. w. erscheinen, die ohne sie nicht stattfinden würden.


b. Electrizitäten. Die electrischen Erscheinungen leiten wir in
Uebereinstimmung mit allen bekannten Thatsachen von dem Vorhan-
densein zweier besonderer gewichtlosen Flüssigkeiten ab, welche
sowohl zu einander als auch zu den wägbaren Stoffen mit Verwandt-
schaften begabt sind. Diese Flüssigkeiten erscheinen entweder neutral,
d. h. in einer so innigen gegenseitigen Durchdringung, dass nirgends
eine räumliche Trennung der beiden verschiedenen Electrizitäten nach-
gewiesen werden kann, oder getrennt, d. h. in einer solchen La-
gerung, dass die positive und negative Flüssigkeit auf räumlich ge-
schiedenen Orten vorkommen. In diesem letzteren, in getrenntem Zu-
stande, in dem die Electrizitäten entweder ruhig (gespannt) oder
bewegt auftreten, sind sie zugleich einzig und allein vermögend, den
wägbaren Stoffen Bewegung mitzutheilen. — Damit die ruhige Elec-
trizität Bewegung einzuleiten vermögend sei, muss sie auf irgend
welchem electrisch isolirten wägbaren Stoff angehäuft sein, und ihr in
einer bestimmten Entfernung die gleiche oder entgegengesetzte, unter
gleichen Bedingungen befindliche Electrizität genähert werden. Indem
sich dann die gespannten Electrizitäten zu nähern oder zu entfernen stre-
ben, ziehen sie ihre materielle Lagerstätten mit sich. Für diese Art von
bewegender Wirkung finden sich die Bedingungen im thierischen Kör-
per so selten und auch da nur an Orten von so untergeordneter Wich-
tigkeit (z. B. den trocknen Haaren), dass wir unbedenklich dieselben
ausser Acht lassen können. Von einem ganz andern Gewicht für den
Physiologen sind dagegen die in Bewegung begriffenen getrennten elec-
trischen Flüssigkeiten oder die sogenannten Ströme. Ihren Quellen nach
sind dieselben bekanntlich Thermo-, Induktions- und Hydroelectrische
Ströme. Von allen diesen sind für unsere Zwecke nur die letzteren, die
galvanischen oder hydroelectrischen von Bedeutung. — Galvanische
Ströme entstehen nun bekanntlich wenn eine Einrichtung gegeben ist
wie sie Fig. 1 schematisch darstellt, in welcher zwei electromotorisch
wirksame Stoffe A und B mit dem einen ihrer Enden bei S in Berührung
sind, während sie mit ihren andern in eine zusammenhängende, unter
dem Einfluss der Electrizität chemisch zerlegbare Flüssigkeit tauchen.
Die Ursache des in einer solchen Veranstaltung kreisenden Stromes
[8]Einleitung.
kann verschiedentlich aufgefasst werden. Der strenge Contactelectriker
erklärt sich den Hergang folgendermassen: Bei der Berührung

Figure 1. Fig. 1.


zweier electromotorischer Stoffe
wird erfahrungsgemäss ein Theil
der innerhalb derselben neutral
vorhandenen Electricitäten zerlegt;
diese Zerlegung geht an der Be-
rührungsstelle der Electromotoren
vor sich; von diesem Ort, der sog.
electromotorischen Scheidewand,
strömen nun die freien Electrizi-
täten über die leitenden Electro-
motoren in der Art, dass der eine
derselben mit positiver, der andere
mit negativer Electrizität überzo-
gen ist; von diesen Electromotoren
dringen die Electrizitäten in die
Flüssigkeit und durch diese hin-
durch sich durchkreuzend zu den
gegenüberstehenden freien Enden
der Electricitätsvertheiler (A, B), wo sie sich gegenseitig neutralisiren,
um dann von Neuem an der electromotorischen Scheidungsstelle zer-
legt zu werden. Die Bedeutung, welche der Contactelectriker der
Flüssigkeit zuschreibt, ruht demnach darin, dass sie leitet, ohne zu-
gleich an der Berührungsstelle mit den Electromotoren die Electrizität
in derselben Ordnung zu zerlegen, in der sie bei S zerfällt wurde.
Denn verhielte sich in der That die Flüssigkeit negativ gegen B und
positiv gegen A,*) so würden an den flüssigen Berührungsstellen die
eintretenden + und — Electrizitäten zurückgeworfen werden, verhält
sich dagegen die Flüssigkeit indifferent oder positiv gegen B und
negativ gegen A, so wird der Strom möglich, indem nun von der Flüs-
sigkeitsgrenze aus A mit positiver und B mit negativer Electrizität
überzogen wird. Obwohl diese Hypothese nicht allein die Mög-
lichkeit der Entstehung einer Strömung vollkommen erläutert, sondern
sich auch den Thatsachen anschliesst, so ist sie dennoch verwerflich.
Denn einmal vernachlässigt sie vollkommen die Erscheinung, dass nur
dann eine Strömung beobachtet wird, wenn innerhalb des flüssigen
Leiters eine chemische Zersetzung statt hat, und noch mehr, sie
fusst auf dem Prinzip des ewigen Umlaufs, indem sie nicht angibt, wo-
her die ausserordentlichen bewegenden Kräfte genommen werden,
welche dem Strome der Electrizitäten eigen sind, resp. die Strömung der
Electrizitäten veranlassen. — Die Erwägung dass diese, dem electrischen
[9]Einleitung.
Strome eigenthümlichen bewegenden Kräfte nicht ohne Vernichtung an-
derer bewegungserzeugender entstanden sein könnten, führt zu der
Annahme, es möchte die eine oder die andere der bei dem galvani-
schen Strome vorgehenden chemischen Umsetzungen die gesuchte
Kraftquelle sein, so dass in Uebereinstimmung mit der Erfahrung kein
Strom ohne Zersetzung bestehen könne.*) — Ueberlegen wir nun,
welche Art von Wirkungen von Seiten der chemischen Umsetzung
zur Einleitung des Stromes verwendbar ist, so kann diese keine an-
dere sein als diejenige, welche unter andern Umständen Wärme er-
zeugt. Der thatsächliche Beweis für diese Art von Erhaltung, resp.
Einleitung des electrischen Stromes durch die chemische Umsetzung
würde gegeben sein 1) wenn dargethan ist, dass die Electrizitäten
und die Wärme in einer solchen Beziehung zu einander stehen, dass
sie sich gegenseitig anzuregen im Stande sind, mit andern Worten,
dass durch die Wärmeschwingung die Bewegung der electrischen
Flüssigkeit und umgekehrt durch den electrischen Strom Wärme-
schwingungen erzeugt werden könnten. Die Erfahrung entscheidet
bekanntlich für diese Annahme. — 2) Nur solche chemische Umsez-
zungen dürften einen electrischen Strom erzeugen, welche Wärme aus
dem latenten in den freien Zustand zu führen vermögend wären. Zur
Entscheidung dieses Satzes sind noch keine Versuche angestellt, doch
sprechen wenigstens die bekannten Thatsachen nicht gegen diese An-
nahme. 3) Die durch den electrischen Strom im Maximum erzeugbare
Wärme müsste genau so gross sein als diejenige, welche durch die in
der Flüssigkeit vor sich gehenden Zersetzungen ohne Einleitung eines
Stromes direct frei gemacht werden könnten. 4) Wenn der electrische
Strom Wärme entwickelt, so muss er endlich, unter Annahme der Rich-
tigkeit unserer Voraussetzungen, einen der gebildeten Wärmemenge
proportionalen Verlust an Bewegung erleiden, eine Annahme, die inso-
fern in Uebereinstimmung mit den Thatsachen ist, als die stromhemmen-
den Umstände (der Leitungswiderstand) die wärmeentwicklenden Be-
dingungen des Stromes darstellen.


Die Art und Weise, auf welche der einmal entwickelte Strom eine
Bewegung materieller Theilchen einleiten kann, ist bekanntlich ausser-
ordentlich mannigfaltig; er ist befähigt in seinem Gang durch Flüssig-
keiten in diesen eine Ortsbewegung zu bewirken (electrische Diffu-
sion), zwei von einem Strome durchflossene Leiter können sich an-
ziehen und abstossen, ein Strom vermag ferner durch Vertheilung des
Magnetismus, durch Entwicklung von Wärme oder Gasarten mit laten-
ter Wärme in den von ihm durchflossenen Leitern u. s. w. Bewegun-
gen materieller Massen einzuleiten.


[10]Einleitung.

2) Leistungen der Form, in welche die gewichtigen
und gewichtlosen Stoffe gebracht sind
. — Zu den bis dahin
dargestellten, die Leistungen der thierischen Körper bedingenden
Elementen tritt als eine besondere Bestimmung nun noch die Form
hinzu. Die Bedeutung derselben liegt nicht darin, Bewegungen
irgend welcher Art zu erzeugen. Die Allgemeingiltigkeit dieser
Behauptung leuchtet sogleich ein, wenn man erwägt, dass die Form
nichts anders ist, als die aus irgend welchen Anziehungen einer
Substanz hervorgehende Lagerung der Theilchen. — Die Form
kann demgemäss nur darin von Wichtigkeit werden, dass sie die
Richtung und die zeitliche Erscheinung der Bewegungen, welche auf sie
treffen, oder welche in der von ihr umschlossenen Substanz erzeugt
werden, ändert. Die Wahrheit dieses Satzes kann durch die Betrach-
tung einer jeglichen Leistung der thierischen Körper, insoferne sich
Formen an ihrer Erzeugung betheiligen, dargethan werden; wir erinnern
hier nur an die eigenthümlichen Veränderungen, welche in der Wir-
kung der Muskelkraft durch die Biegungen der Gelenkflächen und die
Länge der Knochen, die jene in Bewegung setzen, hervorgerufen wer-
den; an die Veränderungen, welche die Lichtstrahlen in ihrem Gang
durch die eigenthümlichen Krümmungen der Augenmedien erleiden,
an die besondere Verbreitung der Nervenkräfte innerhalb der Nerven-
röhre u. s. w. — Demgemäss kann der Werth der Form, mag man
denselben auch noch so hoch anschlagen, immer nur von untergeord-
neter Bedeutung sein im Vergleich zu den bewegungserzeugenden
Bedingungen des thierischen Körpers.


3) Leistungen der äusseren Einflüsse für die im
thierischen Körper vorgehenden Prozesse
. — Das in be-
sondere Formen geschlossene System von Elementen, welches wir den
thierischen Körper nennen, steht nicht isolirt, sondern es ist auch der
in die Ferne wirkenden Anziehung und Abstossung unterworfen, welche
von einer Reihe dasselbe umgebender Stoffe ausgehen. Demgemäss
werden die anziehenden und abstossenden Wirkungen, welche die ele-
mentaren Bedingungen des Körpers aufeinander üben, nicht die einzigen
Componenten sein, aus denen die Leistungen des thierischen Körpers
hervorgehen. Wie ersichtlich, wird die Wärme der Atmosphäre, der
Wärmeleitungswiderstand der Kleidung u. s. w. von Einfluss sein auf die
Summe der Wärme im Thierleib; die Intensität der Schwere an dem Orte,
an welchem der Thierkörper sich befindet, wird zum Theil die Dichtig-
keit der in ihm enthaltenen Stoffe bestimmen u. s. w. Durch diese
Wechselwirkung, einerseits zwischen den tellurischen und siderischen
und anderseits zwischen den physiologischen Bedingungen werden
begreiflich zahllose Folgen erzeugt, und es wird demnach die Ein-
sicht in die Hergänge des thierischen Körpers erst eine vollkommene
sein, wenn die Angabe gemacht werden kann, welche äussere Ein-
[11]Einleitung.
flüsse sich auf die im thierischen Körper selbst vorhandenen Anzie-
hungen in jedem Augenblicke geltend machen.


Folgerungen aus diesen Betrachtungen für die das
Thier bezeichnenden Hergänge
. — Als eine Folge der bisher
erwähnten elementaren Leistungen ergibt sich sogleich, dass das
einzelne Thier eine ungemeine Mannigfaltigkeit in den von ihm aus-
gehenden Erscheinungen bieten muss; ferner dass das Thier ein Ge-
bilde darstellt, in dem scheinbar auf selbstständige Weise Kräfte ent-
wickelt werden, dass diese Kraftentwicklung aber nur so lange und in
dem Umfange möglich, in welchem die chemische Umsetzung inner-
halb desselben geschieht; ferner, dass mit der Grösse des Stoffum-
satzes und der in das Thier ein- und ausgeführten Stoffmassen die
Fähigkeit zur Kraftentwicklung sinken (Ermüdung) und steigen
(Erholung) muss; ferner, dass jede innerhalb des Körpers entstehende
neue Bewegung oder Anziehung, oder eine jede ausserhalb desselben
stehende, aber auf ihn wirksame nicht eine einfache, sondern eine man-
nigfach complicirte Veränderung des thierischen Organismus er-
zeugt; ferner dass die einzelnen Bestandtheile des Thierleibs in einer
nur bedingten Abhängigkeit von einander bestehen u. s. w.


Diese zahlreichen, leicht noch weiter zu vermehrenden Ueberein-
stimmungen, welche sich ohne alle Hülfssätze zwischen den Folge-
rungen aus unseren Prämissen und den wirklichen Erscheinungen des
Thierlebens finden, erwecken von vornherein ein um so günstigeres
Vorurtheil für die Richtigkeit derselben, als man in der That durch keine
andere der bisher angewendeten Betrachtungsweisen auch nur entfernt
etwas Aehnliches zu leisten vermag. Dieses bestimmt uns denn nun
auch, die physikalische Anschauungsweise in voller Strenge zur An-
wendung zu bringen.


Allgemeinste Aufgaben der physiologischen Unter-
suchung
. — Unter Voraussetzung der Richtigkeit vorstehender Be-
trachtungen, lassen sich nun folgende allgemeine Aufgaben im Be-
reich der Physiologie für möglich erklären.


1) Man bestrebt sich den thierischen Körper in seine Bestand-
theile zu zerlegen, und sucht diese letzteren, abgesehen von ihren Lei-
stungen innerhalb des thierischen Organismus, durch möglichst scharfe
Kennzeichen irgend welcher Art von allen andern zu scheiden. —
Diese wichtige und fundamentale Arbeit übernimmt für die Stoffe die
Chemie, für die Formen die Anatomie; die erstere bedient sich zur
sichern Bezeichnung ihrer Objecte des Atomgewichts und daneben der
hervorragendsten Verwandtschaftsäusserungen zu den gewöhnlichen
Reagentien, der Crystallform und des spez. Gewichts. — Die Anatomie
müsste diesen Ansprüchen gemäss ihre Formen durch Angabe der
constanten und wo möglich mathematisch ausdrückbaren Verhältnisse
[12]Einleitung.
bezeichnen; leider begnügt sie sich ohne jede Anstrengung zum Bes-
sern vorzuschreiten, mit sehr wenig bestimmten Charakteristiken und
zum Theil mit ganz gedankenlosen Messungen.


2) Man bestrebt sich, die von mehr oder weniger complicirten Ap-
paraten ausgehenden Leistungen ihrem absoluten Werth nach zu messen,
ohne Rücksicht auf die Art und Weise, wie diese Resultirende sich aus
dem ihr zu Grunde liegenden Prozesse erzeugt. — Zu diesen Betrach-
tungen gehört z. B. die Bestimmung des Blutdrucks, der Geschwindig-
keit der Nervenleitung, die Bestimmung der Menge der Athmungsluft,
u. s. w. Mag die Erfüllung dieses Bestrebens im einzelnen Falle sich
noch so schwierig darstellen, und die gemessene Leistung auch von
den wichtigsten Organen ausgehen und wichtigster Art sein, das Resul-
tat wird immer nur von einem grösseren statistischen und von einem
geringeren wissenschaftlichen Werth sein; den letzteren erhält es nur
dadurch, dass es den Beobachtern Fingerzeige zur wahren physiologi-
schen Untersuchung gewährt.


3) Man bestrebt sich, irgend eine Leistung als eine Funktion der
sie erzeugenden Bedingungen aufzufassen; diese Aufgabe ist als die
höchste der physiologischen Forschungen anzusehen. Ganz allge-
mein kann man sich zweier Wege bedienen, um der durch sie
gebotenen Anforderung zu genügen. a) Entweder man combinirt
theoretisch (durch den mathematisch-physikalischen Calkül) oder
praktisch (durch den physikalisch-chemischen Versuch) eine ge-
wisse Summe von Bedingungen von bekannten und von den im
Organismus vorhandenen angenäherten Eigenthümlichkeiten und ver-
gleicht die durch sie hervorgebrachten Wirkungen mit den in der Na-
tur erzeugten. Diese direkte Methode ist diejenige, welche sogleich
zu den grössten Aufschlüssen führt; aber sie ist nur selten anwend-
bar. Sie ist aber schon mit Erfolg in Anwendung gebracht worden,
z. B. als künstliche Verdauung, als Stromlauf in elastischen Röhren,
als besondere electrische Combination u. s. w. Zur Aufhellung des
Verdauungsprozesses, des Blutlaufes, der Muskelwirkungen u. s. w.
b) Wenn dieser Weg nicht anwendbar ist, führt ein anderer, meist
nicht minder schwieriger zum Ziele; er läuft darauf hinaus, die an ir-
gend welchem Prozesse sich betheiligenden Bedingungen, gleichgiltig
ob sie sämmtlich bekannt oder nicht bekannt sind, in Gruppen zu spal-
ten, von denen die einen constant erhalten, die anderen in messbarer
Weise verändert werden, zu Zeiten, in denen man die Werthe der
aus dem Prozess hervorgehenden Leistungen misst. Diese allgemeine
Methode gibt unter den gemachten Voraussetzungen Aufschluss über
den Antheil, den eine (die variable) Bedingung an der Erzielung der
Gesammtleistung hat, ohne dass sie aber, wie die vorher erwähnte
uns zugleich belehrte, durch welche eigenthümliche Wirkung auf die
[13]Einleitung.
anderen Bedingungen die variable dieses Gesammtresultat erzeugen
hilft. — Diese Methode gewährt der Untersuchung einen geradezu un-
begrenzten Spielraum und die durch sie erlangten Aufklärungen sind
immer werthvoll, vorausgesetzt, dass man die verlangten Forderungen
möglich machen kann; als eine Anwendung derselben darf man es
aber natürlich nicht betrachten, wenn man, wie es von wenig den-
kenden Beobachtern nur zu häufig geschieht, eine Bedingung variirt,
während man sich nicht der Constanz der übrigen versichert hat. —
Die Behauptung, dass jede durch dieses Mittel gewonnene Aufklärung
werthvoll sei, schliesst begreiflich die andere nicht aus, dass eine Gra-
dation des Werthes innerhalb ihrer Resultate bestehe. Mit Rücksicht
auf diesen Satz darf ausgesprochen werden, dass die Untersuchung
um so allgemein gültigere und wahre Aufschlüsse erzielende Früchte
bringen wird, je mehr elementare Bedingungen eines Prozesses sie
variabel zu machen im Stande ist.


Plan des Vortrags der Physiologie. Die Erfahrungen leh-
ren, dass die in dem thierischen Körper eintretenden chemischen Ele-
mente grösstentheils sich zu sog. zusammengesetzten Atomen ver-
einigen; diese Verbindungen erster Ordnung treten dann zu solchen
zweiter und höherer Ordnungen zusammen, so dass die von den
chemischen Eigenschaften der Körperbestandtheile erzielten Lebens-
functionen nicht von einem unmittelbaren Aufeinanderwirken der
Elemente herrühren, sondern bedingt sind durch die Resultirenden
aus den complizirten Verbindungen. Diese chemischen Verbindun-
gen treten im festen und flüssigen Zustande zur Bildung von mi-
kroskopischen Formen zusammen; eine Zahl von solchen gleich-
oder ungleichartigen Formen bildet mehr oder weniger innig zusam-
mengelagerte von einander räumlich gesonderte Gruppen, sogenannte
secundäre Formen oder Organe; mehrere solcher Organe stehen da-
rauf wieder theils der räumlichen, theils der funktionellen Anordnung
als Organgruppen in Beziehung, aus deren Zusammenordnung endlich
der sog. Organismus erwächst.


Diese Erfahrungen bezeichnen der Darstellung den Weg, welchen
sie einzuschlagen hat, um zu einer Einsicht in die physiologischen
Vorgänge zu führen. Sie verlangen, dass man zuerst die Beziehungen
darstelle, welche die als chemische Einheit in den Körper tretenden
Stoffe zu einander besitzen, dann welche resultirende Wirkungen aus
ihrer Combination entstehen u. s. w., mit einem Worte, eine vom rela-
tiv Einfachen zum immer weiter Verwickelten aufsteigende Darstellung.


Der hier vorgezeichnete Plan ist in den folgenden Mittheilungen in-
soweit befolgt, als er nach dem Umfange der der Wissenschaft ange-
hörigen Thatsachen nicht zu leeren Schematismen und zu Dunkelheiten
führt. In diesem Sinne ist dem vorliegenden Bande als erster Theil die
[14]Einleitung.
Physiologie der Atome und Aggregatzustände einverleibt, und hierauf
die Physiologie der Nervenröhren und des Ganglienkörpers und der aus
ihm vorzugsweise hervorgehenden Combinationen, dargestellt, dann
ist die Lehre vom Muskelelemente und der durch ihre Zusammenwir-
kung gebildeten Organe erörtert worden.


[15]

Erster Abschnitt.
Physiologie der Atome.


Nachdem die organische Chemie die wägbare Masse des Thier-
leibs als eine Zusammenhäufung atomistischer Individuen erkannt hat,
ist es der Physiologie zugewiesen zu ermitteln, welche Funktionen
jedes der mehr oder weniger complizirten Atome im thierischen Kör-
per übernimmt. Diese Aufgabe wird als gelösst anzusehen sein, wenn
die Anordnung der Elemente innerhalb des complizirten Atoms, die
Menge seiner latenten Wärme und die Verwandtschaftsäusserungen
bekannt sind, welche jedes einzelne Atom gegen alle übrigen im thie-
rischen Körper enthaltenen unter den dort gegebenen Bedingungen
zeigt.


a) Anordnung der Atome. Rationelle Formel. Die chemischen Verbindungen
können bekanntlich unter der Einwirkung des Lichts und der Wärme, der Electrizität
und anderer chemischen Reagentien zerfällt werden. Als Producte dieser Zerfällung
treten nun aber meist nicht die Elemente, sondern Stoffe auf, welche selbst wieder
mehr oder weniger zahlreiche Atome enthalten. Aus diesem Umstande schliesst der
Chemiker, es möchte eine solche complicirte Verbindung nicht aus der unmittelbaren
Vereinigung der Elemente, sondern aus einer Verbindung schon selbst zusammen-
gesetzter Moleküle bestehen. Mechanisch ausgedrückt würde dieses heissen, dass
innerhalb einer complicirten Verbindung nicht jedes elementare Atom das andere
mit gleicher Stärke anzieht, sondern dass eine gewisse Zahl derselben eine kräf-
tigere Anziehung zu einander äussernd innig geschlossene Atomgruppen bilden, deren
Einzelanziehungen sich zur Erzeugung einer nach aussen wirkenden Resultirenden ver-
einigen. Eine jede dieser Atomgruppen würde nun als ein Ganzes auf irgend welche
andere anziehend wirken. Da die Verbindung leichter in Gruppen als die Gruppe in
ihre Elemente zerfällt, so könnte man noch den näher bestimmenden Zusatz bei-
fügen, dass die zwischen den Bestandtheilen der Gruppe wirksamen Anziehungen
kräftiger wären als diejenigen zwischen den Gruppen. Man kann sich das so eben
vorgetragene Theorem durch ein Bild verständlich machen, wenn man sich die
elementaren Atome als Punkte denkt und sich die Stärke ihrer gegenseitigen An-
ziehung durch die räumliche Näherung der Punkte darstellt, wie es die beistehende
Figur eines sechszehnatomigen Stoffes erläutert

[figure]

. — Obwohl nun die
Wissenschaft noch weit davon entfernt ist angeben zu können, was für besondere
Hergänge den Thatsachen, die man unter dem Wort Atomanordnung zusammenfasst,
zu Grunde liegen, so steht doch fest, dass in einer jeden complicirten Ver-
bindung eine gewisse Zahl von Atomen zu einander in einer inni-
geren Beziehung stehen als zu allen übrigen
.


[16]Aufgabe der Physiologie der Atome.

Die Thatsachen zwingen aber nun zu der weitern Annahme, dass die Anordnung
der Atome innerhalb eines complicirten Stoffes keine absolute, sondern eine mit den
Umständen wechselnde sein müsse; denn ein und derselbe Körper liefert unter ver-
schiedenen Einflüssen verschiedene Zerfällungsprodukte. Diese dem Thatbestand
gemässe Erweiterung des oben gegebenen die Atomlagerung bestimmenden Begriffs
schliesst bei genauerer Betrachtung eine theoretische Nothwendigkeit in sich. Denn
da wir das Bestehen eines complicirten Atoms als Folge der in ihm wirksamen An-
ziehung ansehen, so muss, wenn ein neuer wirksamer Einfluss zu dem bisher vor-
handenen hinzutritt, eine Veränderung in den bisher bestandenen Anziehungen ge-
schehen. Indem wir noch einmal unser obiges Bild zur Erläuterung benutzen, wollen
wir voraussetzen, es wandle sich durch die Gegenwart irgend eines zersetzenden
Einflusses die Form

[figure]

in

[figure]

um, indem z. B. ein neu hinzutre-
tendes chemisches Reagens besondere Verwandtschaft zu 2 Atomgruppen (der
rechten und der mittlern) besässe. Die Folge dieser veränderten Stellung würde
offenbar darin bestehen, dass die drei übrigen Atomgruppen (linke, obere und untere)
von dem Druck der Anziehung der beiden andern befreit ihrer eigenen Folge geben
könnten.


Das Schwankende, welches in den bis dahin gemachten theoretischen Angaben
liegt, könnte Veranlassung sein, von streng wissenschaftlichem Standpunkte aus
ihren Werth überhaupt in Frage zu stellen; indem wir die Berechtigung hierzu nicht
bestreiten, müssen wir dagegen mit um so ernsterer Betonung auf die praktische
Bedeutung jener Thatsachen hinweisen. Denn es ergibt sich aus ihnen, dass weder
durch die absolute Zahl und die Qualität der in eine Verbindung getretenen elementaren
Atome noch durch die Zersetzung, welche ein complicirtes Atom unter dieser oder
jener beliebigen Bedingung erleiden kann, alle die Folgen bestimmt sind, welche
durch die Anwesenheit einer Verbindung möglich werden, sondern dass zur vollkom-
menen Charakteristik dieser Folgen noch gegeben sein muss, welche Zersetzung der
Atom-complex unter ganz bestimmten Bedingungen erleidet; oder um in der Sprache
der Chemiker zu reden: dem Physiologen ist es nothwendig zu wissen, wie die
rationelle Formel der complexen chemischen Atome beschaffen
sei, während sich dieselben im thierischen Körper aufhalten
.


b) Da wir die aus dem latenten Zustand hervortretende Wärme als eine der
wesentlichsten Ursachen der physiologisch mechanischen Kraftentwicklung ansehen,
so bedarf es keiner Erläuterung, dass wir einen Werth darauf legen müssen, zu
erfahren, wie beträchtlich die latente Wärme der in den thierischen Körper eintre-
tenden und ihn verlassenden Stoffe sei.


c) Endlich scheint es auch selbstverständlich, dass dem Physiologen vorzugs-
weise daran gelegen sein muss, die Verwandtschaftserscheinungen zu kennen, welche
sich entwickeln, wenn die im thierischen Körper vorhandenen Stoffe unter den daselbst
gegebenen Bedingungen zusammentreffen.


Die Lösung der Aufgabe ist von der Wissenschaft noch nicht
erreicht; denn wir kennen noch nicht einmal alle [complexen] Atome,
welche die gewichtigen Massen des thierischen Körpers ausmachen,
wie wir daraus schliessen, dass ihre Zahl durch die Entdeckungen
der Chemiker sich jährlich mehrt; unter den durch ihre Eigenschaften
als specifische Atomcomplexe festgestellten, gibt es ferner eine nicht
unbeträchtliche Zahl, deren empirische Formel (das Atomgewicht)
noch unbekannt ist; die Atomlagerung derer, von denen die empirische
Formel bekannt ist, liegt endlich meist ganz im Dunklen. — Die
[17]Sauerstoff.
latente Wärme der Verbindungen ist noch gar nicht bestimmt, und zur
Aufhellung der wichtigsten Verwandtschaftsäusserungen ist noch we-
nig geschehen.


1. Sauerstoffgas. Der gasförmige Sauerstoff findet sich inner-
halb des thierischen Organismus entweder in andern freien Luftarten,
oder mit diesen in Flüssigkeiten diffundirt. Sein Vorkommen ist sehr
verbreitet.


Die Funktionen, die er im lebenden Thier leistet, übt er ver-
mittelst seiner lebhaften Verwandtschaften aus, die er zu den orga-
nisch-chemischen Atomen des thierischen Körpers besitzt. Diese
Verwandtschaften bedingen es, dass die ursprünglich sauerstoff-
armen Bestandtheile der thierischen Organe in sauerstoffreiche über-
geführt werden. Die bemerkenswertheste Folge dieser Art von che-
mischen Prozessen besteht darin, dass durch dieselben eine Menge
Spannkräfte in freie (lebendige) Kräfte verwandelt werden, welche
auf verschiedene Art die Bewegungserscheinungen des Lebens be-
dingen.


In Berücksichtigung der Thatsache, dass unsre Nahrungsmittel aus sauerstoffar-
men, unsre Aussonderungsprodukte aus sauerstoffreichen Atomen bestehen, hat man
den chemischen Vorgang innerhalb des thierischen Organismus einen Verbrennungs-
prozess genannt. Dieser Ausdruck ist unverfänglich, sowie man festhält, dass diese
Verbrennung von ganz besonderer Art ist. Die Besonderheiten derselben liegen darin,
dass 1) zu ihrer Einleitung keine hohe Temperatur nöthig ist. Die räthselhafte Erschei-
nung, dass innerhalb des Thierkörpers bei niederen Temperaturen die schwerverbrenn-
lichsten Stoffe in CO2, HO u. s. w. umgesetzt werden, ist der Lösung näher gerückt
durch die wichtige Entdeckung von Schönbein wonach das O in zwei sog. allotro-
pischen Modificationen vorkommt; die eine derselben, welche Schönbein den erreg-
ten Sauerstoff nennt, hat so energische Verwandtschaften, dass sie bei jeder Tem-
peratur überall Oxydationen einleitet. Wenn, wie man vermuthen darf, erregter O im
thierischen Körper vorkommt, so würde der Grund einer Verbrennung bei niederer
Temperatur klar vorliegen. — 2.) Die Verbrennung im thierischen Körper zeichnet
sich vor der bei hohen Temperaturen auch dadurch aus, dass die durch sie gelie-
ferten Produkte andere sind. Bekanntlich zerfallen Eiweiss, Fette, u. s. w. bei der
Einwirkung des O unter Einfluss hoher Temperaturen nicht sogleich in CO2; HO;
NH3 u. s. w., sondern vorerst in Brenzprodukte, welche dann erst vollkommen ver-
brennen. Die Endprodukte der Verbrennung sind nun innerhalb und ausserhalb des
thierischen Körpers dieselben, aber die Zwischenprodukte sind verschieden, wie schon
daraus hervorgeht, dass man die erwähnten Brenzstoffe im Organismus nicht findet.


Die grösste Uebereinstimmung zwischen beiden Verbrennungsweisen zeigt sich
dagegen darin, dass auf beiden Wegen gleichviel Wärme entwickelt wird. Wir kön-
nen dieses mit Sicherheit daraus schliessen, weil die Verbrennungsprodukte des
thierischen Körpers gerade soviel und sowenig latente Wärme enthalten als die
der Flamme. Dass diese Wärme, welche innerhalb des thierischen Körpers, aus den
latenten in den freien Zustand übergeführt wurde, als bewegungserzeugendes Mit-
tel gebraucht wird, leuchtet recht ein, wenn man erfährt dass die Nerven und Muskel-
funktionen der Beihülfe des O nöthig haben.


Das Sauerstoffgas wird als solches aus der atmosphärischen Luft
in den Thierkörper eingeführt.


Ludwig, Physiologie I. 2
[18]Stickgas, Wasserstoffgas, Wasser.

2. Stickgas ist in allen mit Luft und Flüssigkeit erfüllten Räumen
des thierischen Körpers. Seine physiologische Bedeutung ist unbe-
kannt. Es wird theils aus der Atmosphäre aufgenommen, zum Theil
scheint es durch Zersetzung stickstoffhaltiger Gewebsbestandtheile
gebildet zu werden. Siehe die Lehre von der Athmung.


3. und 4. Wasserstoffgas und Kohlenwasserstoffgas (?)
kommen im Darmkanal vor. Beide Gasarten, von denen namentlich die
letzte noch genauer bestimmt werden muss, sind Zersetzungsprodukte
der Nahrungsmittel. Ueber ihre physiologische Bedeutung ist nichts
bekannt.


5. Wasser. Die Bedeutung, welche diese im menschlichen Or-
ganismus so verbreitete Flüssigkeit für das Leben gewinnt, erhält sie,
so weit bekannt, durch folgende Eigenschaften: a) Das Wasser ist
Lösungsmittel sehr vieler Bestandtheile des Thierkörpers und
als solches das Mittel, die Bewegung vieler Atome durch den
thierischen Körper möglich zu machen, ohne die Hilfe der in der
Ferne wirkenden Anziehung (s. Diffussion), und die Verbindungen
respective Umsetzungen der Atome zu erleichtern. b) Das Wasser ist
Imbibitionsstoff; vermittelst seiner Adhäsion zu den meisten und we-
sentlichsten festen Bestandtheilen des Thierleibes, überzieht es diesel-
ben an ihrer Oberfläche mit einer feinen Schichte, und insofern diese
Substanzen von feinen Oeffnungen und Röhren (Poren) durchbohrt
sind, dringt es auch in das Innere derselben; in Folge dessen werden
die Gewebe für die in Wasser löslichen Substanzen durchgängig;
ferner verändert sich hiermit das specifische Gewicht, die Elasticität,
die Durchsichtigkeit und die electrische Leitungsfähigkeit der Gewebe.
c) Sein Dampf bedarf zu seiner Entstehung — welche bekanntlich so
lange geschieht, als der das Wasser umgebende Luftraum nicht schon
mit Wassergas gesättigt ist — beträchtlicher Mengen von Wärme, die in
den sogenannten latenten Zustand übergeführt werden. Durch die Ge-
genwart des Wassers, respective durch die Verdunstung desselben,
wie sie in der Haut, den Lungen u. s. w. fortwährend geschieht, wird
dem thierischen Körper ununterbrochen Wärme entzogen; das Wasser
ist demnach ein Abkühlungsmittel, und insoferne es vermittelst beson-
derer Apparate bald mehr bald weniger abkühlt, ein Wärmeregulator.


Nicht unwahrscheinlich, aber noch unerwiesen ist es, dass das Wasser auch
durch seine chemischen Eigenschaften Dienste leistet, sei es als Hydrat und Basis-
wasser, oder indem sich die dasselbe constituirenden einfachen Atome (H u. O) an
mancherlei Zersetzungen organischer Stoffe betheiligen.


Das Wasser wird zum grössern Theil mit den Nahrungsmitteln
aufgenommen, zum kleineren bildet es sich bei dem stetigen langsa-
men Verbrennungsprozesse der wasserstoffhaltigen Verbindungen
unserer Gewebe im lebenden Zustand.


6. Kohlensäure und ihre Salze.


[19]Kohlensäure, Kohlensaure Salze.

A. Die freie Kohlensäure ist in den, im thierischen Körper
enthaltenen Luftarten und in den meisten Flüssigkeiten desselben dif-
fundirt. Ob in allen Flüssigkeiten, aus denen CO2 durch Anwendung
von physikalischen Mitteln (Verminderung des Luftdruckes, Erwär-
mung u. s. w.) in Gasform entfernt werden kann, die CO2 nur diffun-
dirt oder in chem. Verbindungen enthalten ist, steht noch dahin.


Sie unterstützt das Leben durch ihr Vermögen, sich in dem Was-
ser des Organismus leicht aufzulösen und durch ihre Fähigkeit in der
Atmosphäre zu verdunsten.


Sie wird zum kleinsten Theil in den Organismus mit den Nah-
rungsmitteln eingeführt, zum grössten Theil in ihm durch die langsame
Verbrennung kohlenstoffhaltiger Bestandtheile gebildet.


B. Kohlensaure Natronsalze. Nach den im thierischen Kör-
per gegebenen Bedingungen, dürften alle drei Verbindungen der CO2
mit NaO in ihm vorkommen. Denn da sich häufig mit CO2 gesättigte
Räume finden, so muss sich in diesen das etwa vorhandene NaO CO2
und 2 NaO 3 CO2 in NaO 2 CO2 umwandeln; da dieses aber dann wie-
der in eine fast kohlensäurefreie Atmosphäre gelangt, so wird dasselbe
in 2 NaO 3 CO2 zurückgewandelt. NaO CO2 wird sich aber bilden,
wenn CO2 mit dreibasisch-phosphorsaurem Natron in Berührung kommt.


Diese Salze greifen nachweislich in den Lebensprozess ein:
a) durch ihr Verhalten gegen CO2; indem innerhalb einer Atmosphäre
dieser Säure sich das anderthalb und einfach kohlensaure Natron in
doppelt kohlensaures umwandelt, und das doppelt kohlensaure inner-
halb anderer Gasarten einen Theil seiner CO2 verliert, sind sie geeignet
die CO2 aus den mit dieser Luftart geschwängerten Geweben in die
äussere Luft überzuführen, ein Hergang, welcher bei der Athmung ge-
nauer verfolgt werden wird. b) Durch die Einwirkung auf die Eiweiss-
körper bewerkstelligen sie die allmälige Umsetzung derselben, na-
mentlich bedingen sie, dass das Eiweiss, das in der Blutflüssigkeit ge-
lösst ist, (unter Abscheidung von Schwefel und Ammoniak?) in ein
dem sogenannten Protein ähnliches Produkt umgesetzt wird; die alka-
lisch reagirenden einfach und anderthalbfach kohlensauren Natronsalze
wirken ähnlich aber milder als das kaustische Natron. c) Ferner liefert
es das Material zur Bindung der im thierischen Körper entstehenden
oder in ihn gebrachten organischen oder mineralischen Säuren; die
ersteren (milchsauren, essigsauren etc.) Salze werden unter dem
Einfluss der im Organismus vorhandenen Oxydationsmittel in kohlen-
saure Salze umgebildet. d) Ferner erhält seine Gegenwart mehrere
wichtige eiweissartige Körper, namentlich Faserstoff und Käsestoff
in Lösung.


Die kohlensauren Natronsalze werden theils mit den Nahrungs-
mitteln eingeführt, zum überwiegenden Theil aber aus Salzen des Na-
trons mit einer organ. Säure gebildet.


2*
[20]Chlorverbindungen.

C. Kohlensaure Kalkerde findet sich krystallinisch im Laby-
rinth als sogenannte Gehörsteine; dann amorph in den Knochen, Harn,
Speichel, Darmkanal. Dieses in den thierischen Flüssigkeiten schwer
lösliche Salz scheint innerhalb der Knochen dem phosphorsauren Kalk
ähnliche Funktionen zu haben; im Uebrigen liegt seine Bedeutung im
Dunkeln.


D. Kohlensaure Magnesia. Man kennt ihr Vorkommen, nicht
aber ihre Bedeutung.


7. Chlor-Verbindungen.


A. Chlorwasserstoff. Seine Gegenwart im Magensaft, früher
behauptet und geleugnet, wird neuerlichst wieder von C. Schmidt
angenommen. — Die physiologische Wichtigkeit der Salzsäure ist be-
dingt durch ihr Vermögen einige in Wasser unlösliche Eiweiss- und
Leimstoffe in Lösung zu versetzen.


Auf welchem Wege sie aus ihren Salzen im Magen frei gemacht
wird ist unbekannt.


B. Alkalische Chlorsalze. Alle wässerigen thierischen Flüs-
sigkeiten enthalten diese Salze, und zwar kommt überall ein Gemenge
von Kochsalz und Chlorkalium vor, ausgenommen in den Säften, wel-
che in dem Muskelprimitivbündel und dem Blutkörperchen eingeschlos-
sen sind. In diesen beiden Flüssigkeiten soll nur Chlorkalium aber
kein Chlornatrium aufgelöst sein. Der Gehalt an alkalischen Chlorsal-
zen in den normalen Säften übersteigt niemals 0,5 Prozent; in grös-
seren Mengen scheinen diese Salze überall giftig zu wirken.


Die grosse Verbreitung und die, im Vergleich zu andern löslichen
Salzbestandtheilen, grossen Mengen der im Thierleib vorkommenden
alkalischen Chlorsalze machen es wahrscheinlich, dass sie wichtige
Funktionen erfüllen. Die Besonderheiten derselben lassen sich aber
nur vermuthungsweise angeben.


Man hält sie für wichtig: a) als Imbibitionsstoffe; wegen ihrer Löslichkeit und
Diffussionsfähigkeit in das alle Gewebe durchdringende Wasser, gelangen sie selbst
in alle Gewebe. Sie bedingen hier, wie es nach später zu erwähnenden Versuchen
wahrscheinlich ist, einen höheren Elastizitätscoeffizient der Gewebe, und üben durch
Verengerung der Poren zugleich einen Einfluss auf die Art und die Geschwindigkeit
der Diffussion anderer im Wasser aufgelöster Bestandtheile der thierischen Flüs-
sigkeiten. — b) Sie sollen die Löslichkeit einzelner Thierstoffe im Wasser modifi-
ziren, indem sie entweder dieselbe unterstützen, wie die des Caseins, was sich in
Kochsalzwasser auflöst, und des Faserstoffs dessen Gerinnung durch Kochsalzlösung
verhindert wird, oder indem sie die Auflösung hemmen wie die des Blutroths, das sich
in der Blutflüssigkeit bei starker Verdünnung mit Wasser auflöst. — c) Sie sollen
einzelne chemische Umsetzungen erleichtern oder hemmen. So vermuthet man na-
mentlich wegen des grossen Kochsalzgehaltes im Speichel und Magensaft, dass das-
selbe die durch die Verdauungssäfte erzielte Umwandlung der mit der Nahrung auf-
genommenen Nahrungssäfte begünstige (?) und zugleich eine bis zur Fäulniss schrei-
tende Zersetzung desselben verhindere. Aus demselben Grund, dem beträchtlichen
Gehalt der Flüssigkeiten des Knorpels, des Krebses und des Eiters an Kochsalz ver-
muthet man, dass es eine wesentliche Rolle in den zur Zellenbildung nöthigen che-
[21]Phosphorsaure Salze.
mischen Vorgängen übernehme; selbst wenn diese Vermuthung begründet ist, so
liegt immer noch die Hypothese offen, dass das NaCl nur sehr indirekt hierbei thä-
tig sei. Die alkalischen Chlorsalze werden mit den Nahrungsmitteln aufgenommen.


C. Erdige Chlorsalze. Unter den Bestandtheilen des thierischen
Körpers findet sich Chlorkalcium (Speichel und Magensaft); ferner
vermuthet man auch im Magensaft die Gegenwart des Chlor-
magnesiums. Ob mit Recht ist zweifelhaft. — Die Bedeutung beider
Stoffe für das Thier ist unbekannt.


8. Fluorkalcium ist ein Bestandtheil des Zahnschmelzes und
der Knochen; seiner grossen Härte wegen hält man es an diesen Orten
für bedeutungsvoll.


9. Phosphorsaure Salze.


In einzelnen Fällen soll im Organismus freie Phosphorsäure vor-
gekommen sein; mit Olein und Glycerin gepaart, ist sie ein Bestand-
theil des Hirns.


A. Phosphorsaure Alkalien. Von den mehrfachen Verbindun-
gen der Phosphorsäure mit Kali und Natron findet sich in fast allen thie-
rischen Säften 2 NaO HO PhO5 und 2 KO HO PhO5 aufgelöst; in einzel-
nen, unter Umständen wahrscheinlich auch 3 NaO PhO5 und 3 KO PhO5.


Diese Salzlösungen sind durch ihre alkalischen Eigenschaften,
ferner durch die Fähigkeit Kohlensäure in grossen Mengen zu absor-
biren, Harnsäure und Casein in Lösung zu erhalten, nachweislich für
das Leben werthvoll. Ihr häufiges Vorkommen, namentlich aber ihre
Anhäufung in einzelnen Theilen, wie in den Muskeln, in den Blutkör-
perchen, deuten noch auf besondere Funktionen, die sich aus ihren
bekannten Eigenschaften noch nicht ableiten lassen.


Die phosphorsauren Kalien sind theils Nahrungsmittel, theils bil-
den sie sich während der Oxydation der aus eiweissartigen Stoffen
gebildeten Organe; der Phosphor derselben wandelt sich in Phosphor-
säure um, welche aus dem vorhandenen kohlensauren Natron [das] CO2
austreibt.


B. Phosphorsaure Erden. Von diesen finden sich namentlich
phosphorsaure Kalkerde und Magnesia.


Die im Menschen vorkommende phosphorsaure Kalkerde ist
nach der Formel 3 CaO PhO5 (Heintz) zusammengesetzt; sie kommt
in den Knochen, Zähnen, eiweiss- und leimartigen Stoffen und dem
Harne vor. Durch ihre Verbindung mit den eiweissartigen Stoffen (Ei-
weiss, Faserstoff, Käsestoff etc.) die in Alkalien löslich ist, wird sie
im thierischen Körper verbreitet.


Mit Colla geht sie wahrscheinlich eine unlösliche Verbindung ein;
ausserdem incrustirt sie einige andere gewebsbildende Stoffe; diese
merkwürdige, noch nicht hinreichend verfolgte Eigenschaft gibt dem
Organismus die Möglichkeit an die Hand, so feste Substanzen wie
Knochen und Zähne zu bilden.


[22]Schwefelsäure, Oxalsäure.

Die phosphorsaure Magnesia ist wahrscheinlich von glei-
cher chemischer Constitution und derselben physiologischen Bedeutung
wie die Kalkerde.


Beide Salze werden mit den Nahrungsmitteln aufgenommen.


Phosphorsaures Eisenoxyd von der Formel 3 Fe2O3 PhO5
soll sich in den Muskeln, Haaren etc. finden?


10. Schwefelsaure Alkalien kommen vorzugsweise im Koth
und Harn vor; die im Harn erscheinende SO3 ist als ein Oxydations-
produkt des in leimartigen und eiweissartigen Substanzen enthaltenen
Schwefels anzusehen; das kohlensaure Natron oder Kali bindet die-
selbe. Ihre Bedeutung scheint von untergeordneter Wichtigkeit.


11. Kieselsäure. In geringer Menge in den Knochen, Zäh-
nen (?), Haaren, Blut, Galle, Speichel, Harn des Menschen; ob und
welchen Einfluss sie auf den Lebensprozess übt ist unbekannt.


12. Die Oxyde und Salze einiger Metalle, wie des Eisens,
Kupfers, Bleis, Mangans u. s. w. kommen im Organismus unzweifel-
haft vor; die Art ihres Vorkommens und die Wichtigkeit ihrer Gegen-
wart liegen noch im Dunkeln.


13. Ammoniaksalze. Kohlensaueres Ammoniak findet sich im
Blut, Harn und Koth; es darf wohl als Umsetzungsprodukt der wesent-
lichsten Organbestandtheile betrachtet werden, das in den Lungen ab-
dunstet und durch den Urin möglichst rasch entfernt wird.


14. Schwefelcyansalze. Schwefelcyankalium im Speichel
und Schwefelcyanammonium im Harn nach Senfgenuss. Das Vorkom-
men dürfte vielleicht von Interesse werden, als ein Fingerzeig für be-
sondere, an den bezeichneten Orten vor sich gehende Zersetzungen;
ob die Stoffe von hervorragender physiologischer Bedeutung sind, ist
unbekannt.


15. Oxalsaurer Kalk. In geringen Mengen im Harn, nach Ge-
nuss von vegetabilischen oxalsäurehaltigen Nahrungsmitteln und koh-
lensäurereichen Getränken, in dem Gallenblasen- und Uterusschleim.
— Man vermuthet, dass die Oxalsäure ein Produkt des, im thierischen
Organismus so verbreiteten, Oxydationsprozesses sei; über den Stoff,
aus dem es gebildet werde, lässt sich nichts angeben.


16. Säuren von der empirischen Formel C2 n H(2 n—1) O3; H O.


In den Säften und Geweben der Menschen sind aus dieser grossen
Reihe folgende Glieder nachgewiesen:
a. C2 H O3; H O = Ameisensäure.
b. C4 H3 O3; H O = Essigsäure.
c. C6 H5 O3; H O = Propionsäure.
d. C8 H7 O3; H O = Buttersäure.
e. C12 H11 O3; H O = Capronsäure.
f. C16 H15 O3; H O = Caprylsäure.
g. C32 H31 O3; H O = Palmitinsäure.

[23]Säuren mit der Formel C2n H (2n — 1) O3, HO.
h. C34 H33 O3; H O = Margarinsäure.
i. C36 H35 O3; H O = Stearophansäure. (?)


Diese Säuren erklärt man für Glieder einer natürlichen Gruppe
wegen der Analogie in der Zusammensetzung, ferner wegen der sehr
ähnlichen Zersetzungserscheinungen, die sie bieten, und endlich weil
sich in den physikalischen und chemischen Eigenthümlichkeiten einzel-
ner Verbindungen die allmäligsten Uebergänge zeigen, wenn man ver-
gleichend von den höhern zu den niedern Gliedern unserer Reihe
herabsteigt.


Die Analogie in der Zusammensetzung springt sogleich in die Augen, wenn
man die Bruchstücke der mitgetheilten Reihe mit den übrigen noch bekannten Gliedern
vervollständigt; man sieht da sogleich, dass sich jedes höhere vom nächstvorherge-
henden durch C2 H2 unterscheidet. — Von den Zersetzungserscheinungen be-
sprechen wir hier nur einige der bekannten, welche der Physiologe besonders zu be-
rücksichtigen hat, sie sind insofern in allen Gliedern gleichartig, als 1.) die Kalisalze
unserer Säuren auf elektrolytischem Wege unter Aufnahme von O nach Kolbe ganz
allgemein zerlegt werden in 2(C O2) und (C2n H2n + 1) so z. B. die Essigsäure (C4 H3 O3)
in 2(C O2) und C2 H3; 2) durch Oxydation bei niederen Temperaturen und in Gegen-
wart faulender Substanzen geht ein beliebiges Glied unserer Reihe jedesmal in das
folgende unter Bildung von 2 Atom Kohlensäure und 2 Atom Wasser über. In einer
Formel ausgedrükt zerfällt also C2n H(2n — 1) O3; HO unter Aufnahme von O6 in
C(2n — 2) H(2n — 3) O3; HO in 2 CO2 und 2 HO; 3) durch anhaltendes Einleiten von
Chlor in ein Glied der Gruppe während seines flüssigen Zustandes wird der Wasserstoff
desselben allmälig verdrängt und durch Chlor ersetzt. Bevor die vollkommene Ver-
drängung des Wasserstoffs erreicht ist, bilden sich Zwischenprodukte, in denen jedes-
mal ein Aequivalent Wasserstoff durch ein Aequivalent Chlor vertreten ist. Die Zer-
setzung wird durch folgende Gleichung ausgedrückt: C2n H(2n — 1) O3; HO geht durch
C2n H(2n — 2) Cl O3; HO schliesslich in C2n Cl(2n — 1) O3; HO über; so z. B. verwandelt
sich Essigsäure = C4 H3 O3; HO in O3 HO; dann in O3; HO endlich
C4 Cl3 O3; HO = Chloressigsäure. — So sehr die physikalischen Eigenschaf-
ten
des ersten und letzten Gliedes unserer Reihe von einander abweichen, so nahe-
stehend sind diejenigen zweier unmittelbar aufeinander folgenden. So liegt z. B. der
Siedepunkt der höchsten Glieder der Reihe bei dem Normalbarometerstand so hoch,
dass er ohne Zersetzung nicht erreicht werden kann, von da ab nimmt er für jedes
Glied um 18,4° C ab (Kopp), bis endlich die Essigsäure früher als das Wasser kocht.
Die höchsten Glieder tragen in Bezug auf ihre Adhäsions- und Lösungsverhältnisse
die Charaktere der Fette, während die niederen Glieder in jedem Verhältniss mit
Wasser mengbar sind. Die höheren Glieder sind geruchlos, die niederen riechen
sehr intensiv und die einander nahestehenden Glieder in dem mittleren Abschnitte
der Reihe zeigen sehr ähnliche Gerüche u. s. w. —


Diese Thatsachen insgesammt und namentlich aber, dass die niedern
Glieder wiederholt (C2 H2) aufnehmen können, ohne ihren Charakter als
Säuren einzubüssen, dass man ohne Aenderung ihrer Sättigungscapazi-
tät Cl statt des H in sie einführen kann, bestimmen nach unsern jetzigen
Begriffen die Annahme, dass die vorliegenden Körper gepaarte Säuren
sind. Ueber die Natur der Säure und des Paarlings bestehen Differen-
zen in den Ansichten der Chemiker. Nach Löwig*) besteht der Paar-
[24]Stearophansäure, Margarinsäure.
ling aus fortlaufend eintretenden (C2 H2) 1, 2 … n und die Säure aus
Ameisensäure C2 H O3; H O, so dass die Reihe das Ansehen
C2 H O3; H O = Ameisensäure,
(C2 H2) C2 H O3; H O = Essigsäure,
2 (C2 H2) C2 H O3; H O = Propionsäure, und
. . . . . . . . . . . . .
16 (C2 H2) C2 H O3; H O = Margarinsäure

annehmen würde. — Kolbe*) hält den Paarling des ersten Gliedes
(der Ameisensäure) für H, zu dem in den höhern Gliedern noch C2 H2
hinzutritt; das Säureradikal, welches nach ihm aus C2 besteht, ist durch
O3 oxydirt, jedoch so, dass diese Kohlenstoff- und Sauerstoffatome
nicht in der Art der Verbindung sich finden, wie sie in der Oxalsäure
vorkommen. Demnach würde unsere Reihe geschrieben werden müssen
O3; H O = Ameisensäure,
O3; H O = Essigsäure,
. . . . . . . . . . . .
O3; H O = Margarinsäure,

wobei die Klammer über dem Paarling und C2 die besondere Stellung
von C2 zu dem Paarling im Gegensatz zu O3 andeuten soll.


Die Gründe, welche Kolbe**) für seine Ansicht geltend macht, bestehen in den
schon besprochenen Zersetzungs-Erscheinungen unter dem Einfluss des elektrischen
Stromes, und ferner darin, dass man die Cyanverbindungen des Methyls, Aethyls,
Amyls u. s. w. mit Leichtigkeit in Essigsäure, Propionsäure u. s. w. umwandeln
kann, indem man statt des N durch Einwirkung von KO, O3 substituirt so dass:
(C2 H3) C2 N = Methylcyanür in (C2 H3)C2 O3 = Essigsäure;
(C4 H5) C2 N = Aethylcyanür in (C4 H5)C2 O3 = Propionsäure

u. s. w. übergeführt wird.


Von den physiologisch wichtigen Gliedern unserer Reihe erscheint
hier erwähnenswerth:


A. Stearophansäure (?) im Menschenfett mit Lipyloxyd als
Stearophanin (Heintz***).


B. Margarinsäure kommt im freien Zustand, mit Kali und Na-
tron (als Seife) und mit Lipyloxyd (als Margarin) verbunden, vor; —
sie erscheint crystallinisch, oder häufiger in flüssiger Form, entweder
als Seife in Wasser, oder als Margarin in andern flüssigen Fetten ge-
löst.


Ihre Bedeutung, so weit sie bekannt, erhält sie 1) durch ihre be-
sonderen Adhäsionsverwandtschaften, worüber bei den neutralen Fetten
das Weitere, 2) durch die Fähigkeit, sich bei niederen Temperaturen
mit Sauerstoff zu verbinden, hiebei Wärme zu entwickeln und die
Endprodukte C O2 und H O zu bilden, welche in dem Lebensprozesse
[25]Palmitin- Capryl- Capron- Buttersäure.
erst, wenn sie im Uebermaass vorhanden, störend eingreifen, und sich
so leicht aus dem thierischen Körper entfernen lassen, 3) durch ihre
Eigenschaft, ein schlechter Wärmeleiter zu sein.


Der besondere Gang der Zersetzung den die im thierischen Körper vorhandene
Margarinsäure einschlägt, um schliesslich zu CO2 und HO zu werden, ist nicht be-
kannt; wir wissen nur, dass diese Oxydation geschehen muss, weil wir trotz der
grossen Mengen von Margarinsäure, die wir täglich mit unserer Nahrung geniessen,
und aus dieser in das Blut aufnehmen, keine Spuren als solche (Speichel?) der
Aussenwelt zurückgeben, und dennoch die Fettmenge im thierischen Körper nicht
zunimmt. — Die Vermuthung, dass die Magarinsäure durch eine besondere Art von
Gährung allmälig durch immer wiederholte Entziehung von C2 H2 bis auf HC2 O3;
HO zurückgeführt werde, wird erst dann bewiesen sein, wenn noch die bisher vermiss-
ten Zwischenstufen von der Palmitinsäure bis zur Caprylsäure nachgewiesen wären.
Die Beobachtung von Heintz*), dass im thierischen Organismus Bernsteinsäure
C4H2O3; HO vorkomme, erlaubt die Hypothese, dass die Margarinsäure auch noch
durch eine andere Reihe von Zersetzungsprodukten in CO2 und HO übergehen könne,
nämlich durch die Reihe der Oxydationsprodukte, welche mit Fettsäure beginnen
und mit Bernsteinsäure schliessen. — Die bei der Verbrennung unserer Säure ent-
wickelte Wärme ist noch nicht untersucht. — Die grosse Verbreitung der Margarin-
säure und ihre Theilnahme an der Bildung selbst der wichtigsten Organbestandtheile
wie jener des Nervenmarks lassen vermuthen, dass sie mit den im Text gemachten
Angaben nur in sehr lückenhafter Weise gewürdigt sei.


Sie wird in den Organismus als solche eingeführt, und wahrschein-
lich auch aus der mit der Nahrung genossenen Stearin- und Stearophan-
säure gebildet. Wir vermuthen dieses, weil erstens Stearinsäure so
leicht in Margarinsäure übergeht, und dann weil wir die genossene
Stearinsäure nirgends im menschlichen Körper antreffen.


Zur Erläuterung des Uebergangs der Stearinsäure in Margarinsäure, gibt es
zwei Hypothesen. Nach der einen derselben, welche die Stearinsäure identisch in der
Zusammensetzung mit Margarinsäure sein lässt, **) erfolgt der Uebergang durch
einfache Umlagerung; nach der andern dagegen, welche die Stearinsäure als aus
C68 H66 O5 2 HO (Bromeis) bestehen lässt, zerfällt 1 Atom. dieser Säure unter
Aufnahme von 1 Atom Sauerstoff in 2 Atom Margarinsäure.


C. Palmitinsäure im Palmitin des Menschenfettes. (Heintz.)


D. E. Capryl- und Capronsäure (Redtenbacher); beide
Säuren vermuthet man in den Fetten der Milch, im Schweiss (wegen
des Geruchs). — Ueber ihre Bedeutung [ist] nichts bekannt. — Ihr Ur-
sprung kann nach bekannten chemischen Thatsachen möglicher Weise
ein sehr vielfacher sein; denn sie entstehen beim Faulen der Fette, na-
mentlich der Margarin- und Oelsäure, bei rascher Oxydation der letz-
teren, ferner durch Oxydation der eiweissartigen Stoffe.


F. Buttersäure. Im Harn, wahrscheinlich in den Fetten der
Milch, im Schweiss (?), Magensaft (?), Fette des Bluts (?). Ihrer Ge-
genwart verdankt die flüssige Absonderung mancher Hautstellen (Ge-
schlechtstheile, Füsse etc.) einen eigenthümlichen Geruch.


[26]Propion-, Essig-, Ameisen-, Oelsäure.

Die Quellen ihrer Abstammung können möglicher Weise noch
mannigfaltiger als diejenigen der Capryl- und Capronsäure sein, da
sie sich aus diesen und dann auch noch bei der Gährung milchsaurer
Salze bildet, und unter den Fäulnissprodukten des Leims und der ei-
weissartigen Körper erscheint.


G. Propion (Metaceton)-Säure. Im Schweisse (Lehmann).
Ihre Bedeutung dunkel. Für ihren Ursprung sind vielfache Möglich-
keiten gegeben, da sie aus Buttersäure, Glycerin etc. entstehen kann.


H. Essigsäure. Im Magensaft (?), der Flüssigkeit des Flei-
sches (?), im Blut der Branntweintrinker (?) und als essigsaures Eisen-
oxyd in der Milz. Unter den Bestandtheilen des thierischen Körpers
entsteht sie aus Buttersäure, aus Taurin und aus Alkohol*).


I. Ameisensäure. Im Schweiss; im Blut nach Zuckergenuss (?);
in der Fleischflüssigkeit (?). — Entsteht durch Oxydationsprozesse
aller organischen Thierstoffe.


Capryl-, Capron-, Butter-, Propion-, Essig- und Ameisensäure sol-
len vorzugsweise durch ihre Verbrennungsfähigkeit und die dabei ent-
wickelte Wärme dem thierischen Körper bedeutungsvoll sein. Man
vermuthet, dass sie in dem Maasse, in welchem sie sich bilden, auch
wieder zerstört werden, woraus es erklärlich wird, dass trotz der Bil-
dung beträchtlicher Mengen gleichzeitig nur geringe im Thierkörper
enthalten seien.


17. Oelsäure. C36 H33 O3; H O.


Ihre Zersetzungserscheinungen lassen sich theilweise deuten,
wenn man sich die Atome in ihr nach der Formel C2 H O3;
H O (Löwig) geordnet denkt, wonach sie aus Margarinsäure mit dem
eingeschobenen C2 Kern bestände.


Durch Behandlung mit Salpetersäure geht sie nämlich leicht in Margarinsäure,
oder die Zersetzungsprodukte derselben (Fett- bis Bernsteinsäure) über; durch
Fäulniss und Oxydation mit rauchender Salpetersäure liefert sie die Säure der Gruppe
C2n H(2n — 1) O3; HO namentlich von dem Gliede C20 H19 O3; HO (Caprinsäure) an.


Sie erscheint frei, oder mit Na O und K O (als Seife) oder mit
Lipyloxyd (als Olein), verbunden andern Fetten beigemengt.


Ihre physiologische Bedeutung verdankt sie ausser den allen Fetten
gemeinsamen Eigenschaften (mangelnde Adhäsion an Wasser, Oxyda-
tionsfähigkeit unter Wärmeentwicklung, schlechte Wärmeleitung) be-
sonders noch ihrem flüssigen Aggregatzustand, wodurch sie zum Lö-
sungsmittel solcher Fette sich eignet, welche bei der Temperatur des
menschlichen Körpers fest sind.


Sie wird mit den Nahrungsmitteln in den Körper geführt.


[27]Neutrale Fette.

Anhangsweise ist hier die von Gottlieb entdeckte oxydirte Oelsäure
C36 H32 O4 HO zu erwähnen, in welche sich die gewöhnliche Oelsäure beim Stehen an
der Luft umwandelt. In dieser muss eine andre Atomlagerung, als in der gewöhn-
lichen Oelsäure vorhanden sein, da sie andere Zersetzungsprodukte liefert; sie ist zu-
gleich eine kräftigere Säure als die Oelsäure; über ihre weiteren Eigenschaften
fehlen die Nachrichten, was um so mehr zu bedauern ist, als die Annahme gerecht-
fertigt erscheint, dass die im Thierleib vorkommende Oelsäure grösstentheils oxy-
dirte sein dürfte.


18. Anthropinsäure (Heintz) C34 H31 O3; HO?


Eine krystallinische Substanz; ihr Schmelzpunkt liegt bei 56°. Ihre Zersetzung
noch nicht studirt. — Kommt im Anthropin des Menschenfettes vor. Ihre Analogie in
der Zusammensetzung mit Oelsäure ist einleuchtend.


19. Neutrale Fette. Von den bekannten neutralen Fetten kom-
men im menschlichen Organismus vorzugsweise zwei, das Margarin
und Olein in geringem Maasse, aber auch Stearophanin, Palmitin,
Anthropin (Heintz) vor.


Die Zahl und Lagerung der Atome in diesen Stoffen ist unbekannt;
jedoch nicht ohne Grund darf man vermuthen, dass in ihnen die fetten
Säuren Margarinsäure (im Margarin) und Oelsäure (im Olein) vorge-
bildet enthalten seien.


Bisher nimmt man an, dass diese neutralen Fette Verbindungen der entspre-
chenden fetten Säuren mit einem besonderen Atomcomplex C3 H2 O darstellen. Zu die-
sem Schluss berechtigt die Analogie mit Stearin. Wenn man diesen wie man glaubt
rein darzustellenden Stoff mit Kali in Berührung bringt, so zerfällt das Stearin
in Stearinsäure, welche sich mit dem Kali verbindet, und in Oelsüss, welches aus-
geschieden wird. Addirt man aber das Gewicht des ausgeschiedenen Oelsüsses zu
dem der mit dem Kali verbundenen Säure, so findet man, dass diese Gewichts-Summe
grösser ausfällt, als die Schwere des zersetzten Stearins beträgt; da nun keine
Reaktion eintritt, welche auf eine Aufnahme anderer Stoffe schliessen liesse, so
ist die Gewichtsvermehrung nur dadurch möglich, dass von dem aus dem Stearin
ausgeschiedenen Körpern Wasser aufgenommen wurde. In der That genügt nun die
Gewichtsvermehrung der Annahme, dass 2 Atome des Körpers C3 H2 O = C6 H4 O2,
4 Atome Wasser aufnehmen, wodurch er sich in 1 Atom Oelsüss = C6 H8 O6 umwan-
delt. Diese Erläuterung trug man auch auf die durch KO vorgehende Zersetzung des
Olein und Margarin u s. w., welche man bisher noch nicht rein darzustellen vermochte,
über. Der ganzen Betrachtung wurde aber durch die neuen Untersuchungen von Ärz-
bacher
*) der Boden entzogen, indem er zeigte, dass die aus der Elementaranalyse
verschiedener Stearinsorten gewonnenen Zahlen weder für die Formel [C68 H66 O5.
HO. C3 H2 O,] noch für [C34 H33 O3. C3 H2 O.] passen, indem das Stearin aus Hammels-
talg eine andere Zusammensetzung als das aus Ochsentalg besitzt. — Wenn durch neue
Untersuchung die alte Ansicht aufrecht erhalten werden sollte, so würde man die neu-
tralen Fette den Aetherarten vergleichen dürfen, wie denn in der That die künstlich
dargestellten Verbindungen der Fette mit Aether die grösste Aehnlichkeit mit neu-
tralen Fetten besitzen.


Die Eigenschaften, vermöge deren die neutralen Fette den Lebens-
process unterstützen, sind sehr mannigfaltig.


a) Sie leiten katalytische Umsetzungen ein; ein im Thiere vor-
kommender Gährungsprozess, die Umwandlung des Zuckers in Milch-
[28]Neutrale Fette.
säure, soll nach Lehmann nur unter gleichzeitiger Mitwirkung der
Fette und eiweissartigen Körper geschehen können; ebenso sollen sie
durch ihre Gegenwart die Verdauung der eiweissartigen Stoffe im Ma-
gen unterstützen.


b) Bei diesen Umsetzungen erleiden sie selbst eine Zerle-
gung in Glycerin (Oelsüss) und die entsprechende Fettsäure; da diese
beiden Stoffe aber nach Redtenbacher durch die Katalyse selbst
allmälig in C O2 und H O verwandelt werden, so liefern sie ein ver-
brennliches Material, das bei seiner Oxydation grosse Mengen von
Wärme bildet.


c) Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint ihre chemische In-
differenz von Bedeutung; hierdurch wird es nämlich möglich, grosse
Massen von Fetten im Organismus ohne Störung anderer, dem Leben
nothwendiger chemischer Prozesse anzuhäufen, Massen, die angesam-
meltem Brennmaterial zu vergleichen sind.


d) Vermöge der mangelnden Adhäsion an Wasser sind sie im
Stande 1) Tropfen zu bilden, welche möglicher Weise die Zellenbildung
unterstützen (Ascherson), und 2) stellen sie Gewebe dar, welche
an der Umsetzung und Diffussion in benachbarten wässerigen Gebilden
keinen Theil nehmen; sie leisten demgemäss als constante Ventile,
Druckvertheiler und dergl. wichtige Dienste.


e) Da das leicht crystallisirende Margarin im Gemenge mit
Olein sein Crystallisationsvermögen einbüsst (Redtenbacher), so
ist die Mischung beider Fette geeignet, an der Bildung mannigfach ge-
formter Gewebe Theil zu nehmen.


f) Da in den Seifen die Fette auflöslich sind, und die Seifen wie-
derum im Wasser löslich, so geben die Seifen ein Mittel ab, um den
Durchtritt der Fette durch Membranen, die mit Wasser getränkt sind,
zu ermöglichen.


g) Ihr geringes Wärmeleitungsvermögen ist im Stande, die Wärme-
zerstreuung des thierischen Körpers zu hindern, wenn die auf der
Haut angebrachten Wärmeregulatoren (Schweissdrüsen, Horngebilde,
glatte Hautmuskeln) nicht mehr hinreichen, die Ausgleichung der Tem-
peraturdifferenzen zwischen dem thierischen Körper und der Aussen-
welt zu verhindern (Bergmann); bemerkenswerth ist darum die Ab-
lagerung der Fette in den Unterhautzellgeweben und namentlich in den
Fusssohlen.


Nach Angaben von Reisenden, welche Gelegenheit hatten Sektionen verstorbener
Polarländer zu unternehmen, soll das einzige Fettlager derselben in dem panniculus
adiposus sein, eine Thatsache, mit welcher sich die Angabe von E. H. Weber in Ueber-
einstimmung findet, dass bei Seehunden alles Fett im Unterhautzellgewebe liege.


h) Wegen ihrer Adhäsion zu den Horngeweben, und ihrer Fähig-
keit, diesen Geweben durch ihr Eindringen in dieselben die Sprödigkeit
zu nehmen, sind sie als Erhaltungsmittel der Haare angewendet. Da
[29]Oleophosphorsäure- Glycerin.
sie in der Luft nicht verdunsten, so eignen sie sich vorzugsweise zur
Lösung dieser Aufgabe.


Unzweifelhaft sind mit diesen die Angaben über ihre Funktionen nicht erschöpft.
Denn wenn es auch zweifelhaft ist, ob sie durch ihr geringes spezifisches Gewicht
als Ausfüllungsmassen der Knochen u. s. w. bedeutend sind, so weist doch ihre Be-
theiligung an der Gallenabsonderung, an dem Nervenmark u s. w. unzweifelhaft
noch auf wichtige uns unbekannte Verrichtungen hin. —


Die Fette werden vom Menschen grösstentheils als solche aufge-
nommen; zum Theil dürften sie auch aus andern Nahrungsmitteln ge-
bildet werden. Ob aus Amylon der Nahrung oder wachsartigen Be-
standtheilen derselben ist noch ungewiss.


20. Oleophosphorsäure; (Fremy). In Verbindung mit Kalien
ein Bestandtheil des Hirns; sie zerfällt in Olein und Phosphorsäure,
lässt sich aber nicht künstlich durch Zusammenbringen beider darstellen.


21. Cholestearin; Bestandtheile des Bluts, Galle, Eiters, Hirn-
fettes.


Die Zusammensetzung des wasserfreien wird nach den Resultaten
der Elementaranalyse am einfachsten ausgedrückt durch C28 H24 O
die des aus Alkohol crystallisirten nach Heintz*) durch C28 H24
O + H O.


Seine Zersetzungen geben über die Atomlagerung keinen Aufschluss. —


Seine physiologische Bedeutung und Entstehung sind unbekannt.
— Jedenfalls muss es im thierischen Körper entstehen, da es niemals
als Bestandtheil der Pflanzen auftritt.


22. Lecithin (Gobley) eine phosphorhaltige fettartige Sub-
stanz, in den Fetten des Bluts und der Eier enthalten. In Säuren, Alka-
lien, Wasser und Alkohol zerfällt es ohne Beihilfe der Luft in Oleinsäure,
Margarinsäure, Phosphoglycerinsäure.


23. Cerebrin (Gobley); in den Blutfetten. Ein neutraler stickstoff- und phos-
phorhaltiger fettähnlicher Körper, der im warmen Wasser aufquillt.


24. Glycerin, Oelsüss. C6 H7 O5; H O. Wir vermuthen, dass
der freie Glycerin als Umsetzungsprodukt der fetten Säuren (bei der
Verseifung und Gährung derselben) im Thierkörper vorkomme; aus-
serdem erscheint es nach Gobley in den Hirnfetten in der Glycerin-
phosphorsäure = Gl, Pho5; 2 H O.


Seine Zersetzungen sind mannigfaltig, durch Gährung geht dasselbe in Propion-
säure [(C4 H4) C2 HO3; HO], durch Oxydation mit Chlor in Ameisensäure, durch NO5 in
Oxalsäure, Kohlensäure und Wasser, durch trockne Destillation in Acrolein über.
— Von diesen Umsetzungen dürfte nur die erste für den Physiologen von Bedeu-
tung sein. —


Gelangt mit den Fetten (als Lipyloxyd?) in den Organismus; die
Glycerinphosphorsäure auch als solche beim Genuss von Eidotter.


25. Zuckerarten. Man beobachtet im thierischen Organismus
den Milch-, Trauben- und Muskelzucker.


[30]Zuckerarten.

A. Milchzucker = C12 H10 O10; 2 Aq (im crystallinischen
Zustand). Er findet sich in der Frauenmilch.


Von den sehr zahlreichen Umsetzungserscheinungen, welche bekannt sind, dürf-
ten, da sie noch zu keiner Vorstellung über die Atomlagerung geführt haben, nur
folgende für den Physiologen interessant sein. — Auf katalytischem Wege ändert er
sich unter dem Einfluss verdünnter SO3 in Traubenzucker um; bei Gegenwart von
Casein, Fetten und NaOCO2 geht er in Milchsäure über; durch gewöhnliche Hefe ent-
wickelt sich allmälig Alkoholgährung. — Mit SO3 und chromsaurem Kali erwärmt
bildet er das Aldehyd der Essigsäure [(C2 H2) H C2 O; HO] und Ameisensäure. Mit
Kalkhydrat erwärmt, bildet sich neben andern Produkten essigsaurer Kalk.


Mit den Nahrungsmitteln und namentlich der Milch wird er aufge-
nommen. Sein Vorkommen in der Frauenmilch ist unabhängig von der
Art der Nahrungsmittel, da ihn Bensch auch beim Genuss reiner
Fleischspeisen vorfand. Er muss sich also aus andern Substanzen im
Thierkörper bilden können.


B. Traubenzucker, Harnzucker = C12H12O12 + 2 aq. (cry-
stallisirt). Im Darmkanal während der Verdauung des Amylons; im
Blut, vorzüglich im Blut der Lebervene; im Chylus; im Lebergewebe.
Im Harn nach mehlhaltiger Nahrung?


Unter seinen zahlreichen Zersetzungen erregen Interesse: — 1.)*)Die Gäh-
rungen
, und zwar a) Alkoholgährung. Ihre Produkte sind Aethylalkohol, CO2,
Bernsteinsäure, [Mannit] und zuweilen Amylalcohol; Bedingungen ihres Eintritts
resp. ihrer Unterhaltung, bestehen in Gegenwart von 4 — 10 Thl. aq., einer Tem-
peratur von 4 — 30° R. und eines sogenannten Ferments, und im Momente des Ein-
tritts, im Vorhandensein einer geringen Menge von O. — Die Fermente sollten, wie
man glaubte, nur dann wirksam sein, wenn sie in Form sogenannter Hefenpilze auf-
träten; durch Untersuchungen von Struve, Döpping, Mulder und Schmidt,
Schleiden, Karsten
ist das Gegentheil erwiesen. Sehr bemerkenswerth ist es,
dass durch sog. Gifte, Quecksilber, Arsenik, Kupfersalze, Kleesäure, schwefliche
Säure, Blausäure, kaustische Kalien die Gährung unterbrochen wird. — b) Schlei-
mige Gährung
. Wässerige Zuckerlösung mit einer Abkochung von Alcoholhefe
versetzt, entwickelt bei einer Temperatur von 24 — 30° R. H und CO2 im Verhältnisse
von 1 : 2; es bleibt neben Milchsäure ein schleimiger Körper zurück, der aus Mannit
(C8 H9 O8) und Gummi besteht. — c) Milchsäuregährung bei gleichzeitiger Ge-
genwart von Eiweiss, Käsestoff, neutralen Fetten, und kohlensauren Alkalien setzt
sich der Traubenzucker, in einer Temperatur von 15 — 38° C in Milchsäure und
Wasser und zu einem kleinen Theil in Mannit um. — 2.) Mit schmelzendem Kali be-
handelt, liefert er Essig-, Propion-, Ameisen-, Oxal-, Kohlensäure und Wasserstoff. —
Mit Cl mischung erhitzt gibt er Chloral, Ameisensäure und ein chlorhaltiges Oel.


Mit den Nahrungsmitteln wird er aufgenommen; nachweislich bil-
det er sich aber auch unter dem Einfluss des Speichels und Pankreassaf-
tes aus dem Amylon. Ausser diesen müssen noch andere Quellen seiner
Bildung vorhanden sein, da er nach Bernard in der Leber beobachtet
wird, selbst wenn die Thiere weder Amylon noch Zucker geniessen.


C. Muskelzucker**) Inosit = C12H12O12 + 4 Aq (crystalli-
sirt). (Scherer.) In der Flüssigkeit des Herzmuskels.


[31]Milchsäurehydrate.

Von seinen Zersetzungen ist nur bekannt, dass er nicht in die weingeistige,
wohl aber in die milchsaure Gährung übergeht.


Seine Quelle ist unbekannt.


Physiologische Bedeutung der Zuckerarten. — Bei ihrer Leicht-
löslichkeit im Wasser und ihrer Neigung zur Crystallisation eignen sie
sich nicht zur Gewebebildung. Sie können darum nur durch ihre Ver-
wandtschaften das Leben unterstützen; so weit bekannt leisten sie die-
ses vorzugsweise durch ihre näheren und entfernteren Umsetzungspro-
dukte und namentlich durch ihre Umsetzung in Milchsäure (siehe diese)
und aus dieser in Buttersäure. Ob innerhalb des Organismus der Zucker
auch in die hohen Glieder der C2nH(2n—1) O3; HO Gruppe übergeht, steht
noch dahin.—Jedenfalls liefern die im Zucker enthaltenen C und H Atome
schliesslich CO2 und HO. Man kann dieses mit Sicherheit behaupten,
weil kein Excretionsorgan Zucker oder irgend ein anderes Zersetzungs-
produkt desselben aus dem Organismus ausstösst. Bei diesem Ueber-
gang entwickeln sie eine beträchtliche Menge von Wärme, die den
thierischen Funktionen zu Gute kommt.


26) Milchsäurehydrate. C6H5O5; HO.


Im menschlichen Körper erscheinen 2 Hydrate der Milchsäure, die
sich durch einen verschiedenen Crystallwassergehalt ihrer Salze unter-
scheiden: a Milchsäure ist ein Bestandtheil der Flüssigkeit des ange-
strengten
Muskels (Berzelius. du Bois-Reymond). b Milchsäure
dagegen, wahrscheinlich die, welche sich normal im Magensaft, als
milchsaures Eisenoxyd in der Milz (Scherer) und in allen Ab-
sonderungen bei der Zuckerdyskrasie (Diabetes mellitus) findet.


Die Atomlagerung in der b Milchsäure ist nach Strecker wahr-
scheinlich (C4H4O2) C2HO3; HO d. h. eine mit dem Aldehyd der Essig-
säure gepaarte Ameisensäure. — Die Gründe, die hierfür sprechen, lie-
gen in der Erscheinung 1) dass milchsaures Kupferoxyd für sich de-
stillirt, ausser einer neuen Säure, Kohlenoxyd, Kohlensäure und auch
Aldehyd der Essigsäure liefert; 2) dass die b Milchsäure mit Chlor-
mischung destillirt, Chloral (C4 Cl3 HO2) d. h. ein Aldehyd liefert, in
welchem 3 Atom H durch 3 Atom Cl vertreten sind; 3) dass die b Milch-
säure mittelst salpetriger Säure aus einem Stoff, dem Alanin*) (C6H7NO4),
gebildet werden kann, welcher aus Aldehyd und Blausäure, unter Auf-
nahme von 2 Atom Wasser, entsteht. — Aus dieser Annahme erläutern
sich freilich die physiologisch höchst wichtigen Umsetzungen nicht,
welche die Milchsäure erleidet, wenn sie in ihren alkalischen Verbin-
dungen mit Käsestoff einer Temperatur von 15—30° R. ausgesetzt wird;
in diesem Fall verwandelt sie sich nämlich unter Entwicklung von CO2
und H im Verhältniss von 2 : 3 in Buttersäure.


Vermittelst ihrer Eigenschaft, unter Beihilfe eines besonderen Fer-
mentkörpers, des Pepsins, die im Wasser unlöslichen eiweissartigen
[32]Phenylsäure, Hippursäure.
und leimgebenden Substanzen in lösliche Modifikationen zu verwan-
deln, soll sie im Magensaft (Lehmann) wichtig werden. Aus-
serdem gehört sie zu den mannigfachen Säuren, deren kalische Salze
im thierischen Körper in kohlensaure umgewandelt werden können,
ein Vorgang, durch den sie offenbar zur Wärmeerzeugung im lebenden
Wesen beiträgt.


Die Milchsäure wird theils mit den Nahrungsmitteln aufgenom-
men, theils aus ihnen, und namentlich aus den zuckerhaltigen, gebildet.


Für die Bildung der Milchsäure beim Gähren des äpfelsauren Kalkes, unter Ein-
fluss des Caseins, welche Kohl beobachtete (Pharmazeutisches Centralblatt 1851.
I. Bd. p. 384) dürften im menschlichen Organismus die Bedingungen fehlen.


27. Phenylsäure (Kreosot), C12 H6 O; HO.


28. Taurylsäure C14 H8 O; HO.


29. Damalursäure C14 H11 O3; HO.


30. Damolsäure.


Diese 4 Säuren sind von Staedeler*) im Harn in Spuren nachgewiesen.
Eigenschaften, durch die sie physiologisch bedeutend würden sind nicht bekannt.
Vorerst sind sie nur merkwürdige Zersetzungsprodukte. Man vermuthet, dass die
ersten beiden Säuren (Phenyl- und Taurylsäure) aus salizinhaltigen Bestand-
theilen der Nahrung, Damalur- und Damolsäure aber aus eiweissartigen Be-
standtheilen entstanden sein möchten.


31) Hippursäure. C18H8NO5; HO. Sie ist spurweise im Blut und
ausserdem nach Genuss von Gemüsse, Benzoe- und Zimmtsäure, im
Harn aufgefunden.


Ihre Atomlagerung kann ausgedrückt werden, entweder durch
; HO, d. h. durch Benzoesäure, welche mit einer
Atomgruppe gepaart ist, die sich durch 2 Atome aq. vom Glycocoll
unterscheidet. Zu dieser Aufstellung wird man geführt, weil Hippur-
säure unter dem Einfluss mineralischer Säuren in Glycocoll und Ben-
zoesäure zerfällt, und weil nach dem Genuss von Benzoesäure ein der
genossenen Menge entsprechendes Gewicht Hippursäure im Harn be-
obachtet wird; man ist geneigt anzunehmen, dass jene Benzoesäure
auf ihrem Wege durch den thierischen Körper sich mit dem Atomcom-
plex C4H3NO2 verbunden habe, weil dieser schon im thierischen Kör-
per beobachtet ist; ausserdem entwickeln noch zahlreiche Einflüsse,
z. B. trockne Destillation, Bleihyperoxyd, die Fäulniss aus ihr Benzoe-
säure. — Oder man kann in ihr die Atomstellung durch ;
HO ausdrücken, da sie sich unter dem Einfluss von salpetriger Säure
(NO3) in N, HO und C18H7O7; HO, ähnlich der sogenannten Amid-
säure spaltet (Strecker).


Ihre physiologische Bedeutung ist unbekannt. Sie muss innerhalb
des Thierkörpers entstehen, da sie niemals als Nahrung genossen wird.
Die Entdeckung, dass sie im Harn nach Aufnahme von Benzoe- und
[33]Glyco- Taurocholsäure.
Zimmtsäure erscheint, verspricht für den Stoffumsatz von grossem In-
teresse zu werden.


Benzoesäure, welche man früher als Harnbestandtheil annahm, ist in diesem
nur als Zersetzungsprodukt der Hippursäure anzusehen, da sie niemals im frischen,
sondern nur im faulenden Harn vorkommt.


32. Glycocholsäure (Cholsäure, Strecker). C52H42NO11;
HO. Die Natronverbindung derselben ist ein wesentlicher Bestandtheil
der Galle. Strecker betrachtet dieselbe als ; HO.


Die Zersetzungserscheinungen, welche diese Vorstellung begrün-
den, sind; durch kochendes Kali und Fäulniss zerfällt unter Wasser-
aufnahme die Glycocholsäure in Glycocoll (C4H5NO3) und Cholsäure
(Cholalsäure von Strecker) C48H39O9; HO. — Durch kochende Mine-
ralsäure in Choloidinsäure C48H39O9 (eine im freien Zustand wasser-
freie Säure) und Glycocoll.


Eine besondere Untersuchung über ihre physiologischen Eigen-
schaften fehlt; die Säure wird implizite bei der Galle erwähnt wer-
den; vollkommen unbekannt ist ihre Entstehung; die zahlreichen Hy-
pothesen, welche man über diese aufstellte, sind vorerst noch haltlos.


33. Taurocholsäure (Choleinsäure, Strecker). Ein Gallen-
bestandtheil. Obgleich diese Säure nicht rein dargestellt ist, so lässt
sich doch behaupten, dass ihre Zusammensetzung durch C52H44NO13S2;
HO und ihre moleculare Constitution durch ; HO
ausgedrückt werde.


Entfernt man aus der crystallisirten Galle des Ochsen, die der menschlichen
ziemlich gleichartig ist) möglichst alle Glycocholsäure und behandelt den schwefel-
haltigen Rückstand mit KO oder Säuren, so zerfällt er in Taurin (C4 H7 N O6 S2),
Glycocoll und Cholsäure; dieser Rückstand besteht demnach aus Cholsäure, welche
zum Theil mit einem dem Glycocoll, zum andern Theil mit einem dem Taurin ähn-
lichen Atomcomplex gepaart ist. Macht man nun die der Analogie mit der Glyco-
cholsäure wegen wahrscheinliche Voraussetzung, dass in der Taurocholsäure eben-
falls Taurin weniger 2 Atom Wasser als Paarling der Cholsäure auftrete, bestimmt
man dann den S-Gehalt des Gemenges, so kann man aus demselben den Gewichtsan-
theil der hypothetischen Taurocholsäure berechnen, und hieraus den Wasserstoffge-
halt des Gemenges; dieser hypothetische Wasserstoffgehalt kann dann durch eine
direkte Bestimmung controllirt werden, eine Bestimmung, welche in der That die
Schlusskette bestätigt hat.


Hier verdienen nun die secundären Umsetzungsprodukte der Gallensäuren,
nämlich das Taurin, Glycin und die Cholsäure, noch eine kurze Betrachtung, weil
dieselben — im Darmkanal — als Folge der Gallenumsetzung erscheinen und weil
die Aufhellung der chemischen Constitution der Cholsäure nothwendige Bedingung
für das Verständniss der Gallenbildung zu sein scheint.


a) Taurin, C4 H7 N O6 S2, zerfällt durch Gährung (in Gegenwart von Gallen-
schleim und doppelkohlensaurem Natron)*) und durch schmelzendes KO in Ammoniak,
Essigsäure und schwefelige Säure. — Redtenbacher glaubt darum, das Taurin
als ein schwefligsaures Aldehyd-Ammoniak ansehen zu dürfen. Dieser Körper hat
Ludwig, Physiologie I. 3
[34]Harnsäure.
aber ganz andere Eigenschaften als das Taurin, und es müssen darum in diesem die
Atome doch anders enthalten sein als in jenem.


b) Glycocoll C4 H5 N O4. Es zerfällt durch Gährung in Ammoniak und andere
nicht näher untersuchte Bestandtheile, und ausserdem je nach Umständen in so man-
nigfaltige von einander abweichende Produkte, dass sie noch zu keiner haltbaren
Hypothese der Atomlagerung geführt haben.


c) Cholsäure C48 H39 O9; HO. Der Einwirkung der Fäulniss oder kochenden
Mineralsäuren ausgesetzt, verwandelt sie sich unter Abgabe von HO in harzartige
Stoffe, als deren schliesslicher Dyslysin (C48 H36 O6) angesehen wird. Die zwischen
Cholsäure und Dyslysin in der Mitte liegenden Produkte sind noch nicht ermittelt.
Demarcay und Strecker halten sie für Choloidin-, Berzelius und Mulder für
Cholin- und Fellinsäure. — Diese harzartigen Körper und namentlich die sogenannte
Choloidinsäure gibt mit NO5 gekocht nach Redtenbacher flüchtige Fettsäuren C2n
H(2n—1) O3; HO und eine grössere Zahl anderer complizirter Produkte. Lehmann
gibt an, auch die Säuren der Bernsteinsäuregruppe mit Ausnahme der Sebacylsäure
durch Destillation der Cholsäure erhalten zu haben. — Die aus diesen Thatsachen
geschehene Folgerung, dass die gegliederte Formel der Cholsäure
H33 O3; HO sei, d. h. eine mit einem sogen. Kohlenhydrat gepaarte Oelsäure, ist
so gewagt, dass sie durch die Angabe: Lebervenenblut enthalte weniger ölige Fette
als das Pfortaderblut u. dergl. noch nicht einmal den Schein der Wahrscheinlichkeit
annimmt.


34. Harnsäure. C5H N2O2; HO theils frei, vorzugsweise als
harnsaures Natron und Ammoniak im Harn, Blut (Schweiss?) und
nach Scherer*) im Milzextrakt.


Ihre bisher bekannt gewordenen Zersetzungen führen noch auf
keine Vorstellung der Atomlagerung in ihr.


Für den Physiologen ist es bemerkenswerth, dass sie durch ge-
linde Oxydationsmittel in Atomgruppen zerfällt werden kann, welche
für sich wieder Bestandtheile des thierischen Organismus sind. So
verwandelt sie sich mit Wasser und Bleisuperoxyd gekocht in Allan-
toin, Harnstoff, Kleesäure, Kohlensäure (Liebig und Wöhler) oder
in Allantoin, Allantursäure, Kleesäure, Kohlensäure und Spuren von
Harnstoff (Pelouze). — Aehnliches bewirkt übermangansaures Kali
(Gregory). — Durch chlorsaures Kali und Salzsäure zerfällt sie in
Alloxan und Harnstoff (Schlieper). — Durch Kaliumeisencyanid und
Kali in Allantoin und Kohlensäure (Schlieper).


Ihre Neigung zur Crystallisation macht es ihr unmöglich Antheil
an Gewebsbildungen zu nehmen; vermöge der Schwerlöslichkeit der
freien Säure sowohl, als der sauren Salze (welche vorzugsweise
vorkommen), wird ihre Anhäufung im thierischen Körper gefähr-
lich. — Man darf vermuthen, dass sie innerhalb des Blutes einen
Umsetzungsprozess erleidet, zu dessen Produkten Harnstoff und
Kleesäure zu zählen sind; nach dem Genuss von Harnsäure vermehrt
sich nemlich der Gehalt des Urins an Harnstoff und Kleesäure.


[35]Hypoxanthin, Harnstoff.

Da Harnsäure kein Nahrungsbestandtheil ist, so muss sie im Thier-
leib gebildet werden. Wie ist unbekannt.


Anhangsweise ist hier zu erwähnen:


35. Harnigesäure C5 H2 N2 O2. Zuweilen in Harnsteinen gefunden. Da man
ihr Atomgewicht nicht aus Verbindungen bestimmt und ihre Zersetzungsprodukte
nicht untersucht hat, so muss die Hypothese, welcher sie den Namen verdankt, noch
als sehr unsicher betrachtet werden.


36. Hypoxanthin*) C5H2N2O (Scherer). In dem Herzmus-
kel und im Milzextract. Sein gleichzeitiges Vorkommen mit Harnsäure
im Milzextrakt erscheint bei der Aehnlichkeit der Zusammensetzung
beider sehr bedeutungsvoll.


37. Allantoin C4 H3 N2 O3. Schlieper. In der Amnios- und Allantoisflüs-
sigkeit. Im Harn säugender Wiederkäuer. Ueber Bildung und rationelle Constitution
fehlt eine Vorstellung.


38. Inosinsäure. C10 H6 N2 O10; HO (Liebig). In der Flüssig-
keit der Muskeln. Ueber Zersetzung, Bildung, Atomlagerung u. s. w.
derselben ist nichts bekannt.


39. Cerebrinsäure. In 100 Theilen C66,7 H10,6 N2,3 Ph0,9 O19,5
(Fremy). Die Prozentzahlen führen zu keiner Formel. Sie ist ein Be-
standtheil des Hirns.


40. Kreatin. C8H9N3O4 + 2 Aq. In der Flüssigkeit angestreng-
ter Muskeln und im Harn (Liebig).


Durch Kochen in starken Säuren und durch Fäulniss in Kreatinin
verwandelt. Mit Barytwasser gekocht in Sarcosin (C6H7NO4) und
Harnstoff umgesetzt.


Ist durch seine neutrale Eigenschaft ein unschädliches Umsez-
zungsprodukt der Muskelsubstanz.


41. Kreatinin C8H7N3O2. In den Muskeln und dem Harn (Lie-
big
). Aus seiner Chlorzinkverbindung abgeschieden, verwandelt
es sich in Kreatin (Heintz). Ist ein Zersetzungsprodukt der Muskeln.


42. Harnstoff C2H4N2O2. Im Harn, Blut, humor aqueus bulbi.


Seine Salzverbindungen und Umsetzungen führen auf die An-
nahme, dass er eine gepaarte Ammoniakverbindung sei .


Denn bei seiner Verbindung mit Sauerstoffsäuren nimmt er noch 1 Aeq. Wasser
auf. Nach Wurtz*) gelingt es, Harnstoffe darzustellen, in welchen 1 oder 2 Atom
Wasserstoff durch Aethyl, Amyl, Methyl etc. vertreten sind, wie dies auch beim Am-
moniak geschieht. Ferner durch Fäulniss, verdünnte Säuren und Alkalien geht er
unter Wasseraufnahme in Kohlensäure und Ammoniak über.


Wegen seiner Leichtlöslichkeit eignet er sich nicht zum Gewebs-
bestandtheil. Er stellt das Produkt dar, durch welches vorzugsweise die
stickstoff haltigen Bestandtheile der Nahrungsmittel aus dem Thierkörper
wieder ausgeschieden werden. Unter diesem Gesichtspunkt erhält seine
chemische Indifferenz gegen die wesentlichen Bestandtheile des Thier-
3*
[36]Lienin, Farbstoffe.
körpers und seine Zerfliesslichkeit eine besondere Bedeutung, indem
diese Eigenschaft seine Anhäufung in den Organen in gewöhnlichen
Verhältnissen unmöglich, und, sollte sie auch einmal eintreten, unschäd-
lich macht. — Durch seine Eigenschaft, bei Gegenwart von Wasser
und Fermenten in kohlensaures Ammoniak umgewandelt zu werden,
bedingt er häufig einen Ammoniakgehalt des Urins.


Der Harnstoff ist kein Nahrungsmittel; er bildet sich nachweiss-
lich zu jeder Zeit in dem Thierkörper und zwar besonders reichlich
1) nach Muskelanstrengungen, selbst wenn lange Zeit vorher keine
Nahrungsmittel aufgenommen wurden; — 2) nach Genuss von Fleisch-
speisen, Glycocoll, Alloxantin, Thein, Harnsäure, auch ohne besondere
Muskelanstrengungen.


43. Cystin C6 H6 N O4 S2. Im Harn. Seine physiologisch wichtigen Eigen-
schaften sind unbekannt.


44. Lienin. In der Milz; dasselbe enthält in 100 Theilen C53,71
H8,95 N4,82 O32·52 (Scherer*). Ausserdem ist von diesem Stoffe nichts
bekannt.


45. Farbstoffe. Keiner der thierischen Farbstoffe hat eine der
Schwierigkeit des Gegenstandes entsprechende Untersuchung ge-
funden.


A. Haematin. Man unterscheidet zwei Modifikationen, amorphes und crystal-
linisches. Das amorphe selbst ist entweder in Wasser lösliches (natürliches) oder
unlösliches (Gmelin’sches) Hämatin. In wie weit beide identisch sind, lässt sich
nicht angeben, da das natürliche — wie es im Blute vorkommt — nicht rein darge-
stellt werden kann. Das amorphe unlösliche Hämatin, das man aus den Blutkörper-
chen gewinnt, soll nach Mulder aus C44 H22 N3 O6 Fe zusammengesetzt sein; er
gründet seine Annahme auf die Zahlen der prozentischen Zusammensetzung und auf
die sonderbare Zersetzungserscheinung, dass Schwefelsäure dem Hämatin unter
Wasserzersetzung das Eisen entzieht ohne dem übrigen Atomcomplex auch nur die
geringste Veränderung zuzufügen.


Das crystallinische Hämatin hält man entweder für Crystalle irgend welches
Stoffes, die durch einen rothen amorphen Farbestoff verunreinigt sind, oder für wirk-
liche Farbstoffcrystalle; die Entscheidung würde nur durch die Analyse gegeben
werden können. Leider ist sie, wegen der geringen Menge crystallinischer Substanz,
welche man erhalten kann, nicht ausführbar; nach den Versuchen von Virchow**)
ist es aber wenigstens nicht mehr unwahrscheinlich, dass sie aus Farbstoffcrystallen
besteht. Alle anderen Kenntnisse fehlen.


B. Pigmentum nigrum. Melanin. Erscheint ebenfalls amorph und cry-
stallinisch. Die verschiedenen Analysen, die über diesen Stoff vorliegen, machen es
wahrscheinlich, dass das, was wir schwarzen Farbstoff nennen, ein Gemenge sehr
verschiedener Substanzen ist. Die Analysen stimmen in keiner Weise. (Siehe die
Litteratur bei Virchow, patholog. Pigmente. Dessen Archiv p. 434 u. f.) Ueber
seine physiologische Bedeutung siehe bei der Spiegelung im Auge.


C. Gallenfarbstoff und zwar: a) Biliverdin nach Scherer in 100
Theilen C67/4 H7/7 N6/7 O18/2. Ausserdem b) Bilifulvin***), c) Cholepyrrhin etc.


[37]Eiweissartige Stoffe.

D. Harnfarbstoff. Nach Scherer*) ein Gemenge verschiedener
Stoffe.


46. Eiweissartige Stoffe. Unter den Bestandtheilen des
menschlichen Körpers finden sich aus dieser grossen Gruppe:


A. Eiweiss, Albumin. In 100 Theilen enthält es C53,4 H7,1 N15,6 O22,3
S1,3 Ph0·3. — Die Gegenwart des Phosphors ist bestritten **). Mit ihm
kommt meist phosphorsaurer Kalk zu 1,8 — 2,51 pCt. verbunden vor.
Man kennt drei isomere (?) Modificationen desselben. 1) Gerinnbares Ei-
weiss. Bestandtheil der Säfte aller Organe, des Bluts, des Chylus, der
Lymphe, Pankreasflüssigkeit, des Samens und der Milch (?). — In
allen andern Flüssigkeiten häufig pathologisch. 2) Paralbumen
(Scherer***) in der Flüssigkeit hydropischer Ovarien. 3) Geron-
nenes Eiweiss; ist nur als Nahrungsmittel von Bedeutung; in unsern
Organen und Säften noch nicht beobachtet.


B. Faserstoff. In 100 Theilen C52,6 H6,9 N15,5 O23,6 S1·04 Ph0·3.
Enthält 0,7 — 2,5 pCt. Asche aus phosphorsaurem und kohlensaurem
Kalk. — Man unterscheidet an isomeren Modificationen: 1) flüssigen
Faserstoff; Bestandtheil des lebenden Blutes und der Muskeln (?);
2) geronnenen Faserstoff und zwar a) rasch geronnenen, dieser
selbst ist wieder verschieden in seinen Eigenschaften, je nachdem er
aus den Venen, oder den Arterien genommen, oder der aus beiden
im Gemenge genommene gekocht war; b) langsam gerinnenden, oder
molekular gerinnenden Faserstoff.


Ueber die Formen, welche der geronnene Faserstoff annimmt, sind die Meinun-
gen getheilt. 1) Das zusammenhängendgerinnende Fibrin†). Um die Ent-
wicklung der bei dem Festwerden auftretenden Formen zu beobachten, lässt man
am besten nach E. H. Weber einen mit einem Glasplättchen bedeckten Blutstropfen
an einem vor Erschütterung und Verdunstung gesicherten Ort gerinnen. Nach E. H.
Weber sollen nun hier sogleich feine Fasern auftreten, welche ein Netz bilden;
nach Virchow dagegen gerinnt das Fibrin zuerst zu einer homogenen Membran, in
der erst durch Faltung das Faseransehen entsteht. Nach Henle endlich heben sich
aus dem ursprünglich homogenen Gerinnsel Fasern hervor, welche einander in allen
Richtungen durchkreuzen; sie mehren sich allmälig so sehr, dass sie die homogene
Grundsubstanz an Menge überbieten und charakterisiren sich dann auf verschiedene
Weise; die einen sind sehr fein, dehnbar, ästig und netzförmig verflochten; die an-
dern breit, platt, am Ende in kurze steife Stücke zersplittert, zuweilen fein wellen-
förmig, zuweilen der Länge nach gestreift. Die physikalischen Bedingungen der zu-
sammenhängenden Gerinnung sind auch die des raschen Gerinnens, nämlich Luftzu-
tritt zu dem flüssigen Faserstoff, Armuth der Faserstofflösung an neutralen und
alkalischen Natron und Kalisalzen, Gegenwart eines schon geronnenen Faserstoff-
stückes. — 2) Molekular gerinnendes. Man unterscheidet hier a) die Faser-
stoffschollen
von H. Nasse. Nach Döderlein††) enthalten diese Gebilde keinen
[38]Eiweissartige Stoffe.
Faserstoff, da sie nicht faulen. Ueber die Bedingung ihres Entstehens fehlen noch
weitere Nachrichten, wenn man der freilich unwahrscheinlichen Angabe von
Bruch*) nicht huldigen will, dass sie nichts anderes als Epitheliumsschuppen
darstellen, durch welche der unvorsichtige Beobachter das beobachtete Blut verun-
reinigt. b) Aber auch unzweifelhafter Faserstoff gerinnt oft in feinen Körnchen. Die
Bedingung dieser Erscheinung ist nicht allseitig bekannt; man weiss nur, dass Zuk-
ker, kohlensaures Natron, Salpeterlösung, welche die Geschwindigkeit der Gerin-
nung verlangsamen, auch die Bildung molekülärer Gerinnungsformen begünstigen.


Ob der geronnene Faserstoff ein Bestandtheil des normalen Orga-
nismus bildet, ist nicht bekannt; in pathologischen Zuständen findet er
sich nachweisslich zwar häufig, wahrscheinlich aber nur vorüberge-
hend vor.


C. Proteinbioxyd. In 100 Theilen = C53,5 H7,2 N14,5 O u. S24,7.
Mit 4 bis 9 pCt. Asche. Man unterscheidet eine in Wasser lösliche und
eine in Wasser unlösliche Modifikation. Das lösliche Proteinbioxyd ist
ein Bestandtheil der Blutextractivstoffe.


D. Proteintritoxyd. In 100 Theilen = C51,7 H6,6 N15,0 O(und S?)26,6 nach
Mulder im Blut, Eiter und pathologischen Exudatflüssigkeiten. Kann auch durch
Kochen aus dem Faserstoff dargestellt werden. Die Angabe von Mulder, dass durch
Einleiten von Chlor in Eiweiss und nachfolgende Neutralisation mit Ammoniak eben-
falls Proteintritoxyd erzeugt werden könne, scheint durch Millon widerlegt zu sein.


E. Globulin und Crystallin. In 100 Theilen = C54,5 H6·9 N16·5
O20,9 S1,2. Soll den Inhalt (?) der Blutkörperchen und der Linsenfa-
sern darstellen. Man kennt wiederum eine lösliche und eine unlös-
liche Modifikation.


F. Casein. In 100 Theilen = C53,8 H7,1 N15,6 O22,6 S1,0. Enthält
4 — 6 pCt. 3 Ca O, Ph O5. In der Milch, in der Flüssigkeit der glatten
Muskelfasern an den Venen- und Arterienhäuten, im Blut.


G. Pyin. In 100 Theilen = C54,8 H7,2 N15,3 O22,5. Nach Scherer
im Eiter.


Die Zusammensetzung sämmtlicher Eiweissstoffe lässt sich, wie
Liebig wiederholt geltend gemacht hat, vorerst nur durch die Prozent-
zahlen nicht aber durch das Atomgewicht ausdrücken und zwar darum
nicht, weil 1) kein Anhaltspunkt für die Berechnung des Atomgewichts
aus den Prozentzahlen vorliegt; wählt man bei der Berechnung die
einfachste Voraussetzung, die nämlich, dass sich der (Phosphor und)
Schwefel mit sämmtlichen Kohlenstoff- und Wasserstoffatomen in Ver-
bindung findet, so führt eine Abweichung in den Hunderttheilen der Pro-
zente des Schwefels schon zu Aenderungen von mehreren ganzen
Zahlen in den Wasserstoffatomen; es kann also unmöglich auf dieses
Rechnungsresultat Werth gelegt werden, da die Fehlergrenzen bei der
Schwefelbestimmung schon in den Zehntheilen eines Prozents liegen. —
2) Bildet ein eiweissartiger Stoff keine atomistische Verbindung, welche
rein darzustellen wäre. Stellte aber in der That, wie Mulder behaup-
[39]Eiweissartige Stoffe.
tet, die Proteinschwefelsäure einen solchen Körper dar, so würde den-
noch die aus ihm abgeleitete Formel jetzt unbrauchbar sein, seitdem
man erfahren, dass das Protein selbst noch S enthält, welches Mulder
als der Schwefelsäure angehörig betrachtet hat.


Noch weniger geeignet zur Berechnung des Aequivalentgewichtes erscheint
die von Mulder beschriebene Verbindung des Proteins mit Cl O3; es entstehen hier
bei längerer Einleitung komplizirte Zersetzungen, und bei kürzer dauernder fehlt
wie es scheint, ein Mittel, um den Zeitpunkt zu bestimmen, wann 1 oder 2 Atom
Cl O3 mit Protein verbunden sind.


Die Gründe, die uns bestimmen, so vielerlei eiweissartige Körper
anzunehmen, dürften nicht überall stichhaltig sein. Denn 1) bietet
eine Abweichung in der prozentischen Zusammensetzung so lange
keine besondere Bürgschaft für eine Verschiedenheit, als uns jedes
Mittel fehlt, die Reinheit der analysirten Stoffe zu erweisen. Zudem
fallen die Abweichungen zweier Analysen sogenannter verschiedener
Stoffe nicht grösser aus als die zweier Analysen desselben Stoffes *).
2) Sind die Abweichungen in den Eigenschaften häufig unbestimmt
genug, und oft ist nicht zu ermitteln, ob eine Reactionserscheinung
von einer spezifischen Atomgruppe oder der gleichzeitigen Gegenwart
oder Abwesenheit anderer nur beigemengter Stoffe herrührt. Derselbe
Einwurf dürfte auf die von Schmidt**) zur Nachweisung der Identität
benutzte Bestimmung des spezifischen Gewichtes anwendbar sein.
Demgemäss kann nun auch die Atomlagerung nicht angegeben werden,
und noch weniger, in welchen Beziehungen die Atomlagerung in
dem einen Eiweisskörper zu der in einem anderen steht.


Zersetzungserscheinungen von Casein, Fibrin und Albumin. Durch Behandlung
mit einer Kalisolution bei einer Temperatur von 50—60° C. entwickelt sich Ammo-
niak und in Lösung bleibt Schwefelkalium und ein Körper, der noch die wesentlichen
Eigenschaften der eiweissartigen Stoffe zeigt (Protein von Mulder in 100 Theilen =
C55,0 H7,0 N14,7 O23,0 S1,3). Hierauf stützt Mulder die Annahme, dass Eiweiss eine
Verbindung von Protein mit Sulfamid sei, eine Annahme, die durch nichts gerecht-
fertigt ist. Die Beobachtung ist aber insofern wichtig, als sie zeigt, dass die eiweiss-
artigen Substanzen den Schwefel in zwei Formen gebunden enthalten, von denen
die eine Portion durch gewöhnliche Reagentien abscheidbar ist, während die zweite
in verdeckter Form mit den übrigen Bestandtheilen verbunden bleibt; und insofern,
als aus ihr hervorgeht, dass ohne wesentliche Veränderung der Eigenschaften ein S
und N haltiger Körper aus den eiweissartigen Substanzen entfernt werden kann.


Beim Eintragen der eiweissartigen Stoffe in Kali, das in seinem Krystallwasser
schmilzt, bildet sich unter Entwicklung von Ammoniak und Wasserstoff Leucin
= C12 H13 NO4, Tyrosin***) = C16 H9 NO5 (Liebig) und ausserdem eine geringe Menge
eines schmierigen Syrups, der verbrannt nach verkohlenden eiweissartigen Stoffen
riecht. —


[40]Eiweissartige Stoffe.

Durch concentrirte Salzsäure oder verdünnte Schwefelsäure zerfallen die ei-
weissartigen Körper beim Kochen in Leucin, Tyrosin, einen dritten krystallinischen
(der wegen geringer Menge noch nicht analysirt ist), und einen braunen flok-
kigen Körper (Humus von Mulder) und einen süssen (aber nicht gährungsfähigen)
schwefelhaltigen, wahrscheinlich sickstofffreien Syrup. —


Durch Einleiten von Cl in Fibrin oder Eiweisslösung erhält man zuerst eine
Verbindung der unveränderten Stoffe mit chloriger Säure; lässt man anhaltend das
Chlor bei gewöhnlicher Temperatur mehrere Tage lang einwirken, so erhält man
Salmiak und in Verbindung mit chloriger Säure einen Körper, aus dem KO keinen
Schwefel mehr ausscheidet (Protein?) Uebergiesst man diese letzte Verbindung mit
Ammoniak, so erhält man unter N Entwicklung und Salmiakbildung einen Stoff den
Mulder Trioxyprotein nennt; nach Millon zeigt er die für eiweissartige Stoffe
charakteristische rothe Reaktion auf eine Lösung von Hg in Salpetersäure nicht mehr.
— Eiweiss und Faserstoff mit Salpetersäure digerirt verwandelt sich unter Bildung
von Stickgas, Stickoxydgas, salpetersaurem Ammoniak, Zuckersäure, und Oxalsäure
in die Muldersche Xanthoproteinsäure *).


Durch Einwirkung von Braunstein oder chromsaurem Kali und Schwefelsäure
auf Casein und Eiweiss, bilden sich die Aldehyde der Essigsäure, der Propionsäure,
der Buttersäure, Bittermandelöl, ferner Ameisen-, Essig-, Propion-, Butter-, Bal-
drian-, Capron- und Benzoesäure, Ammoniak und in Gegenwart überschüssiger
Schwefelsäure Formo- (Blausäure) und Valeronitril und ein schweres Oel. — Von
diesen Zersetzungsprodukten lieferten Casein und Albumin weniger Aldehyd der
Essigsäure, und weniger Essigsäure und Ameisensäure als Fibrin; Albumin weniger
Aldehyd der Buttersäure, weniger Buttersäure und Valeriansäure als Casein und Fi-
brin; und Fibrin weniger Bittermandelöl als Casein und Albumin. Diese Zersetzungs-
produkte werden wohl sämmtlich secundäre sein, wie wir vermuthen, weil Leucin
mit Schwefelsäure destillirt in Valeronitril aus Kohlensäure zerfällt.


Die Eiweissstoffe erleiden noch eine besondere Umsetzung durch Fäulniss. Dieser
Akt der sogenannten Selbstzersetzung (der keineswegs den thierischen Stoffen allein
eigenthümlich ist,) tritt weder bei allen Modifikationen der eiweissartigen Körper in
gleicher Weise noch unter allen Bedingungen auf. — Am leichtesten scheint er in den
eiweissartigen Körpern zu erscheinen, welche unmittelbar aus dem lebenden Thiere
genommen sind; zu seinem Bestehen ist die Gegenwart von Wasser und eine Tem-
peratur von 0° bis + 40°C. nothwendig. Ob er ohne Gegenwart von Luft eingeleitet wer-
den kann, ist Gegenstand des Streites, **) einmal eingeleitet, schreitet er auch nach
Luftabschluss weiter fort. — Anwesenheit von concentrirter Salzlösung, verdünnte
Lösungen von Metallsalzen, Schwefel-, Salz-, Salpetersäure, viele organischen Säuren
z. B. Phenylsäure (Kreosot), Blausäure (?) concentrirte Zucker- und Alkohollösun-
gen etc., verhindern den Eintritt und hemmen das Weiterschreiten der Zersetzung. —
Für sich bei Luftzutritt der Zersetzung überlassen zerfallen Faserstoff, Eiweiss und
reiner Käse 1.) in eine intensiv riechende krystallinische Substanz, 2.) in ein saures
Oel, 3.) in Leucin, 4) in einem syrupartigen Stoff, der durch CIH und SO3 in Tyro-
sin und den braunen Stoff zerfällt, welcher auch bei direkter Behandlung der Eiweiss-
stoffe mit Säuren entsteht, 5.) Kohlensäure, 6.) Schwefelwasserstoff. Diese Produkte
werden bei weiterschreitender Zersetzung noch zerlegt; so zerfällt unter andern
Leucin in Ammoniak- und Baldriansäure und diese wieder in Buttersäure u. s. w. —
Die Umsetzungsprodukte der Fäulniss sollen nach Blondeau vollkommen andere
werden, wenn die Fäulniss — wie im Rocheforter Käse — bei Gegenwart von Pe-
nicillum glaucum vor sich geht; es soll sich hier der Käse in Fett umwandeln ***) (?)


[41]Eiweissartige Stoffe.

Die Versuche von Liebig und Bopp über die Zersetzungen unter dem Einfluss
von Säuren, schmelzendem Kali und Fäulniss, und diejenigen von Guckelberger
über den Einfluss oxydirender Substanzen machen es wahrscheinlich, dass in den
Eiweissstoffen Atomgruppen enthalten seien, die in die Classe der Säuren C2n H(2n-1)
O3; HO und in die Leucingruppe gehören. Die durch diese Arbeit um ein gutes
Theil geförderte Aufgabe eine scharfe Vorstellung von den atomistischen Verhältnissen
der Eiweissstoffe zu erlangen, wird aber wie begreiflich erst gelösst sein, wenn man
das Aequivalentgewicht der Eiweisse, alle primären Zersetzungsprodukte, das gegen-
seitige Mengenverhältniss und die Lagerung der Atome dieser letzteren selbst kennt.


Die Eiweissstoffe, welche man vorzugsweise die Träger des Le-
bens nennt, rechtfertigen diesen Namen. Denn


1. In ihrer Zusammensetzung aus einer sehr grossen Zahl von fünf
oder sechs Atomarten (C, H, N, O, S, Ph,) liegen die Mittel zum Entstehen
sehr vielfacher Zersetzungsprozesse und Zersetzungsprodukte. — Die
Prozesse, durch welche die Eiweissstoffe im thierischen Leben zer-
setzt werden, sind noch sehr wenig bekannt; wir vermuthen, dass neben
andern Wegen der Umwandlung auch derjenige der sogenannten Selbst-
zersetzung und derjenige, welcher durch Alkalien eingeleitet wird, in
Anwendung gebracht ist. Diese Vermuthung gründet sich darauf, dass
die Bedingungen zu diesen beiden Umsetzungsarten im thierischen
Körper gegeben sind; diese Bedingungen müssen aber in manchen
Stücken von denen abweichen, unter welchen wir künstlich die soge-
nannte Selbstzersetzung sowohl als die Zersetzung durch Alkalien her-
vorrufen, weil es (bis jetzt wenigstens) nicht gelingt, dieselben Um-
setzungsprodukte (Leucin, Tyrosin etc.) im Thierkörper zu finden, die
man ausserhalb beobachtet. — Die Bestandtheile des thierischen Kör-
pers, welche wir theils mit Sicherheit, theils mit Wahrscheinlichkeit als
Zersetzungsprodukte der mit der Nahrung genossenen Eiweiss-
stoffe ansehen, sind: Isomere Modifikationen der ursprünglich auf genom-
menen Eiweissstoffe, die Hornsubstanz, das elastische Gewebe, Mucin,
Pepsin, Chondrigen Collagen, Tauro- und Glyco-Cholsäure, Lienin,
Kreatin, Kreatinin, Harnstoff, Hypoxanthin, Harnige und Harnsäure,
Hippursäure, CO2, H O. Offenbar enthält aber diese Reihe nur einen
Theil der in Wirklichkeit im lebenden Säugethier vorkommenden. —
Diese Umsetzungen sind nun nicht allein dadurch von Wichtigkeit, dass
die mannigfaltigen neugebildeten Stoffe durch ihre physikalischen und
chemischen Eigenthümlichkeiten in den Lebensprozess eingreifen, und
dadurch, dass durch den Umsetzungsprozess latente Kräfte in freie
übergeführt werden, sondern vorzüglich auch durch den Umstand,
dass die Zersetzungen der Eiweissstoffe sich auf andere zersetzungs-
fähige Körper übertragen, eine Uebertragung, die unter dem Namen
Katalyse, Gährung, Erregung berühmt geworden ist. Diese Pro-
zesse verlangen zu ihrem Bestehen eine bestimmte Temperatur, die
Gegenwart des Wassers und unter Umständen die des Sauerstoffs.
Die Umsetzungen, welche die Eiweisstoffe durch Gährung im mensch-
[42]Eiweissartige Stoffe.
lichen Körper einleiten, sind so weit bekannt: die Umwandlung einer
Modifikation eines Eiweissstoffes in eine andere; die der Stärke in
Dextrin und Traubenzucker; die des Traubenzuckers in Milchsäure;
die der milchsauren Salze in Kohlensäure, Wasserstoffgas und Butter-
säure (Dünn- und Dickdarm); die der neutralen Fette in Glycerin und
Fettsäuren; die der Gallensäure in Taurin, Glycocoll, Chol- und Cho-
loidinsäure; die des Harnstoffs in kohlensaures Ammoniak, und end-
lich die vieler organischer Säuren *) in Kohlensäure und Wasser. Zur
Einleitung eines jeden dieser mannigfaltigen Prozesse ist es Bedin-
gung, dass ein ganz besonderer eiweissartiger Stoff, der noch dazu
in ganz besonderer Zersetzung begriffen ist, vorhanden sei, wie
C. Schmidt**) gezeigt hat. Denn das Ferment, welches Zucker zer-
setzte, konnte keine Harnstoffgährung veranlassen u. s. w. Das Fer-
ment wird, wie es den Stoff, mit dem es in Berührung gebracht ist,
umändert, so auch durch diesen in seinem Umsetzungsprozess modifi-
zirt, wie daraus hervorgeht, dass stark in Fäulniss übergegangene
Massen, in Zuckerlösung gebracht, ihren fauligen Geruch verlieren,
wenn sie Alkoholgährung einleiten. Ausserdem gehören zur Unter-
haltung der Gährung noch Alkalien, vorausgesetzt, dass durch eine
in dem Prozesse gebildete Säure die Gährung gestört wird. Da die
obige Aufzählung zeigt, dass einzelne Gährungen nur in Zerlegungen
bestehen, andere aber mit Sauerstoffaufnahme verbunden sind, so ist
einleuchtend, dass die letztern nicht ohne Gegenwart von Sauerstoff
geschehen können, während die ersteren keines solchen Stoffes be-
dürfen. — Die auffallende Erscheinung, dass durch die Zerfällung einer
Atomgruppe eine andere verändert werden kann, ohne dass die Be-
standtheile beider Atomgruppen Verbindungen eingehen, und die noch
merkwürdigere, dass durch eine beschränkte Masse des Fermentes
eine so grosse Masse des gährenden Körpers zersetzt werden kann,
dürfte bei der Verschiedenheit der Prozesse schwerlich auf einen Er-
klärungsgrund zurückgeführt werden können.


Ausser den im Text erwähnten Gährungen, werden mit einiger Wahrscheinlich-
keit als gegenwärtig noch vorausgesetzt: die Umwandlung des Glycerins in Pro-
pionsäure, der Oelsäure in die niederen Glieder der C[2]n H (2n-1) O3; HOgruppe; des
Traubenzuckers in Alkohol (wegen der Gegenwart der Gährungspilze im Darmka-
nal, Mitscherlich); des Taurins in Schwefelsäure, Ammoniak und Essigsäure.


Unter den Hypothesen, welche zur Erläuterung der Gährungserscheinungen er-
sonnen sind, schliessen sich die von Bunsen und Schönbein gegebenen, den That-
sachen am besten an, und widersprechen nicht den mechanischen Prinzipien. Die
erstere von beiden erläutert vorzugsweise die einfachen Umsetzungen, die andere
aber die mit der Umsetzung verbundene Oxydation. Bunsen schliesst folgender-
massen:


[43]Eiweissartige Stoffe.

Die in einer Verbindung befindlichen Atome haben erfahrungsgemäss sehr sel-
ten oder vielleicht niemals ihre Verwandtschaften so gesättigt, dass sie auf einen an-
deren mit ihr in Berührung gebrachten chemisch verschiedenen Atomcomplex gar
keine Anziehung mehr übten. Diese Gegenwirkung kann zu einer wirklichen Vereini-
gung einzelner oder aller constituirenden Theile beider Verbindungen oder nur zu
einer Spannung der Atome innerhalb derselben führen. Diese Spannung kann aber in
einer oder beiden Atomgruppen eine Störung ihres Gleichgewichts, oder auch ein Zer-
fallen derselben bewerkstelligen. Zerfällt nun eine der beiden vorhandenen Verbin-
dungen vorzugsweise leicht, und sind ihre Spaltungsprodukte von der Art, dass sie
nicht selbst wieder eine besondere Spannung in den vorhandenen unzersetzten Atom-
gruppen hervorrufen, so wird die erstere (die fermentirende) Atomgruppe wieder
frei, und es kann demnach derselbe Stoff mit einer neuen Menge der anderen Verbin-
dung den Prozess von Neuem beginnen u. s. f. — Diese Hypothese erklärt zugleich
warum eine gewisse Zeit zur Bewerkstelligung der Zersetzung grösserer Massen ge-
hört, und warum für besondere Gährungsprozesse besondere Fermente nothwendig
sind. — Nach Schönbein wirkt zu den verbrennenden Gährungen (Verwesungen)
vorzugsweise der erregte Sauerstoff mit, der sich, wie schon früher einmal erwähnt,
durch seine energischen Verwandtschaften vor dem gewöhnlichen auszeichnet. Der
gewöhnliche Sauerstoff wandelt sich in den erregten um, wenn er vom Sonnenlicht
bestrahlt wird; ferner wenn er sich in der Nähe lebhafter Oxydationsprozesse (Ver-
brennung des Phosphors etc.) findet und endlich, was für uns besonders wichtig,
wenn er in einer grösseren Reihe organischer Körper diffundirt ist, wie z. B. Ter-
pentinöl, Oelsäure u. s. w. Dieser in den organischen Stoffen nur aufgelöste (aber
chemisch nicht gebundene) Sauerstoff, kann auf andere oxydable Körper übertragen
werden und dort Verbrennung einleiten, während zugleich der erregende Stoff von
Neuem gewöhnliches Sauerstoffgas absorbirt und in den erregten Zustand versetzt.
Auf diese Weise können auch hier durch kleine Mengen von Fermenten, ungeheure
Quantitäten anderer Stoffe umgewandelt werden.


Die sehr berühmte Liebig’sche Hypothese steht, wie ich sie auffasse, so sehr
in Widerspruch mit den Elementen der Mechanik, dass ich ein Missverständniss der-
selben von meiner Seite fürchte; ich muss desshalb den Leser auf den Artikel Gäh-
rung des chemischen Handwörterbuchs verweisen.


Eine besonders complizirte aber sehr wichtige, die Gährung betreffende That-
sache, ist von C. Schmidt*) entdeckt worden, welcher beobachtete, dass in einem
gährenden Gemenge von Harnstoff und Zuckerlösung, der erstere so lange vor Zer-
setzung geschützt blieb, als noch nicht aller Zucker umgewandelt war.


Die Temperatur, welche für die Erhaltung des organischen Lebens
die geeignete ist, ist zugleich die Temperatur, welche der katalytische
Umsetzungsprozess zu seiner Unterhaltung bedarf; die Stoffe, welche
den Lebensprozessen ein Ziel setzen, die Gifte, sind es auch, welche
die Gährungen unterdrücken. Beide Thatsachen machen es wahr-
scheinlich, dass die Katalyse im Organismus noch viel ausgebreiteter
thätig ist, als wir glauben; es dürfte leicht dahin kommen, dass die
physiologische Chemie ein Theil der katalytischen würde.


2. Von den andern für den Organismus wichtigen chemischen
Eigenschaften der Eiweissstoffe ist hervorzuheben a) dass einige Mo-
difikationen derselben eine ausserordentliche chemische Indifferenz
gegen die im lebenden Thier vorkommenden Stoffe besitzen, wodurch
[44]Eiweissartige Stoffe.
es möglich wird, dass sie als Behälter und Filtra für Flüssigkeiten die-
nen können, welche mit übrigens kräftigen Verwandtschaften begabt
sind; b) dass andere Modifikationen dagegen Verbindungen eingehen
können mit Salzen, Säuren und Basen. Diese Verbindungen sind man-
nigfach benutzt. Hierher gehört das Albuminnatron, eine Substanz, die
im Blut, Speichel u. s. w. vorkommt; ihre physiologische Bedeutung
ist unbekannt. Ferner gehört hierher wahrscheinlich die sogenannte
Pepsinchlorwasserstoffsäure (von C. Schmidt*); weiterhin die Ver-
bindungen des Albumins und vorzüglich des Caseins mit phosphorsau-
rer Kalkerde, durch welche dieser wichtige Inkrustationsstoff in alka-
lischen Flüssigkeiten löslich gemacht ist.


3) Die physikalischen Eigenschaften, welche den Gliedern der
Eiweissgruppe den Rang im Organismus vor allen Thierstoffen sichern,
sind:


a) Ihre Fähigkeit, den festen mit dem flüssigen oder umgekehrt
den flüssigen mit dem festen Aggregatzustand sehr leicht wechseln
zu können. Durch scheinbar wenig bedeutende Einflüsse wandelt sich
eine lösliche Modifikation in eine vollkommen unlösliche um; so zum
Beispiel gerinnt der Faserstoff an der Luft, das gelöste Casein bei
Berührung mit Laabmagen, das lösliche Eiweiss wenn es von flüssigen
Fetten begrenzt wird, das lösliche Proteinbioxyd wenn es einmal ein-
getrocknet war; und umgekehrt verwandelt sich der feste Faserstoff
beim Stehen an der Luft in einen löslichen Eiweisskörper u. s. w.
Diese merkwürdige Erscheinung, macht mit geringen Mitteln die Ver-
dauung fester Eiweisskörper, die Bildung der Gewebe aus dem flüssigen
Blut u. s. w. möglich.


Ausserhalb des Thierkörpers tritt die Erscheinung nicht minder überraschend
auf, wie die Gerinnung des Eiweisses durch Erhitzen und durch Schütteln mit Phe-
nylsäure (Creosot) und Alkohol, zeigt. Die Einwirkung des Creosots und des Al-
kohols ist besonders dadurch merkwürdig, dass beide Stoffe keine Verbindung mit
dem niedergeschlagenen (und unlösslich gewordenen) Eiweiss eingehen.


b) Die Eiweissstoffe treten beim Uebergang in den festen Zustand,
so weit unumstössliche chemische Erfahrungen reichen, immer amorph,
niemals crystallinisch auf. Aus diesem Grunde eignen sich dieselben
zur Bildung von sehr verschieden geformten Gewebselementen; wären
die Eiweissstoffe mit Crystallisationsbestreben oder (anders ausge-
drückt) mit Richtkräften begabt, welche die gegenseitige Lagerung
der kleinsten Theilchen bestimmten, so würden sich der Bildung jeder an-
dern Form als der durch die Crystallisationsrichtung vorgeschriebenen
Widerstände entgegensetzen. Die Schwierigkeit der ersten Bildung
von Röhren, Kugelschalen etc. aus demselben Stoff würde sich aber
nicht allein mehren, es würde zugleich noch die Gefahr vorliegen, dass
[45]Eiweissartige Stoffe.
die einmal gebildeten Formen leicht wieder in krystallinische Frag-
mente zerfielen.


Ob der Mangel an Krystallisationsfähigkeit den Eiweissstoffen unter allen Um-
ständen zukommt d. h. eine sogenannte Grundeigenschaft derselben ist, oder nur
unter ähnlichen als die sind, in welchen wir sie im thierischen Körper antreffen,
muss so lange zweifelhaft bleiben, als nicht ausgedehntere Versuche zur Herstel-
lung des krystallinischen Zustandes vorliegen. So weit bekannt, zeigt kein Stoff
unter allen Umständen beim Uebertritt in den festen Zustand krystallinisches Ge-
füge *). — Die Analogie erlaubt also den Schluss, dass auch die Eiweissstoffe unter
andern Bedingungen krystallisiren werden. Für diese Behauptung sprechen auch
die von Reichert**) und Lehmann***) beobachteten Krystalle, die, mögen sie
bestehen woraus sie wollen, jedenfalls aus Substanzen gebildet sind, welche mit
den Eiweisskörpern sehr viele Eigenschaften theilen.


c) Die im festen Aggregatzustande befindlichen Eiweissstoffe ha-
ben zum Wasser und vielen wässerigen Lösungen (und zum Theil
auch zu Fetten) eine grosse Adhäsionsverwandtschaft. Diese Ver-
wandtschaft ist so beträchtlich, dass die vollkommen trockenen Stoffe
das Wassergas der Atmosphäre mit grosser Begierde an sich ziehen
und in sich condensiren. In wässerige Flüssigkeiten gelegt, nehmen
sie längere Zeit (oft mehrere Tage lang) hindurch, unter allmäliger Vo-
lumzunahme Wasser bis zu einem endlichen Maximum auf, die ersten
Mengen mit grösserer und die darauffolgenden mit einer geringeren
Geschwindigkeit. Diese Erscheinung bezeichnet man mit dem Namen
der Quellung oder Imbibition. Durch einige mehr beiläufig †) als
absichtlich unternommene Untersuchungen weiss man, dass das Ma-
ximum der aufgenommenen Flüssigkeit theils abhängig ist von Beson-
derheit der Eiweissstoffe, als da sind die Temperatur, der sie beim
Trocknen ausgesetzt waren, die Zeitdauer, während welcher sie sich
im trockenen Zustand befanden u. s. w., theils von der Natur der Flüs-
sigkeit und der in ihr aufgelösten Stoffe, und der Temperatur dersel-
ben u. s. w. (siehe Diffusion der tropfbaren Flüssigkeiten).


Durch diese Flüssigkeitsaufnahme erhalten die festen Eiweiss-
stoffe einige für den thierischen Haushalt sehr wesentliche Verände-
rungen ihrer Eigenschaften. Zuerst gelingt es hierdurch, mit einer
geringen Menge von fester Substanz ein sehr voluminöses Gewebe
darzustellen, wie ohne Weiteres erhellt. Zweitens tritt durch die
Wasseraufnahme eine Veränderung in der Cohäsion ein; nach Wert-
heim
††) ist die Cohäsion um so geringer, je mehr Wasser aufgenom-
men wurde. Drittens verändert sich der Elastizitätscoeffizient und
zugleich die ganze Beschaffenheit der Elastizität. Im vollkommen
trockenen Zustand sind die Eiweissstoffe mit einem sehr grossen Ela-
[46]Eiweissartige Stoffe.
stizitätscoeffizienten begabt, d. h. sie dehnen sich, wenn grosse Ge-
wichte an ihnen hängen, nur um einen kleinen Bruchtheil ihrer Länge
aus; zugleich besteht für sie das auch bei unorganischen Stoffen gil-
tige Gesetz, dass innerhalb gewisser Grenzen die Ausdehnung direkt
proportional den angehängten Gewichten wächst (Wertheim). Im
feuchten Zustand dagegen ist ihr Elastizitätscoeffizient ein niedriger
und zugleich ein für verschiedene Belastungen variabler. In dieser
letzten Beziehung steht fest, dass gleich grosse Gewichte einen um
so geringern Zuwachs der Länge erzeugen, je beträchtlicher schon
die vorher angehängten Gewichte (oder Spannungen) gewesen waren,
oder mit andern Worten, es setzte der feuchte eiweissartige Stoff den
ersten Ausdehnungen geringern Widerstand entgegen als den späte-
ren. Wertheim gibt an, dass das Gesetz, nach welchem der Ela-
stizitätscoeffizient veränderlich sei, durch eine Hyperbel dargestellt
werden könne. Wie der Augenschein lehrt, ändert sich auch der abso-
lute Werth des Elastizitätscoeffizienten, wenn das in den Eiweissstoff
eingedrungene Wasser Salze aufgelöst enthält; so ist z. B. Faserstoff,
der sich mit Kochsalzauflösung imprägnirt hat, schwieriger ausdehn-
bar als der mit reinem Wasser durchdrungene und leichter ausdehnbar
als der trockene.


Zum Verständniss des Ausdrucks Elastizitätscoeffizient, Gesetz seines Wech-
sels u. s. w., diene folgendes: Unter den verschiedenen Arten sogenannter Elasti-
zitäten hat man in der Physiologie bisher nur das Augenmerk gerichtet auf die so-
genannte Zugelastizität, welche gemessen wird durch die lineare Ausdehnung, die in
einer festen Masse ein momentan wirkender, nach Gewichten zu schätzender Zug
erzeugt Der schematische Versuch zur Bestimmung dieser Art von Elastizität ge-
staltet sich, wie Jedermann geläufig, der Art, dass man, nachdem man eine Masse
von bekanntem Querschnitt und bekannter Länge an ihrem einen (dem obern) Ende
aufgehängt und das andere frei schwebende Ende mit Gewichten beschwert hat, be-
obachtet welche successive Verlängerung mit successiv steigender Gewichtsvermeh-
rung eintritt. Um die bei Versuchen mit Stoffen von verschiedenartigen Dimensio-
nen gefundenen Verhältnisse zwischen Gewichts- und Längenzuwachs untereinander
vergleichbar zu machen, hat man zunächst die zu vergleichenden Massen auf ein
und denselben Querschnitt, auf die Querschnittseinheit, zu reduziren, was durch die

Figure 2. Fig. 2.


gewöhnliche Proportionsrechnung geschieht, bei
deren Ansatz man die Verlängerungen gleich
langer Stücke durch gleich grosse Gewichte den
Querschnitten umgekehrt proportional setzt.
Dann aber müssen auch die Längen auf die Ein-
heit der Länge reduzirt, und die Zuwächse der-
selben als Bruchtheile dieser Längeneinheit dar-
gestellt werden. Das Verfahren hierbei ist folgen-
des: Gesetzt es seien in beistehender Figur 2. auf
die Ordinate y die Längen und auf die Abszisse
x die Gewichte aufgetragen und es bedeute olI
die ursprüngliche Länge als kein Gewicht an
der Masse zog, olII diejenige als 1 Gewicht, olIII
als das doppelte des ersten Gewichts olIV als das
Dreifache des ursprünglichen Gewichts ange-
[47]Eiweissartige Stoffe.
hängt war, so ist offenbar olIIolI der Längenzuwachs, den ol durch Anhängen
von 1 Gewicht, olIIIolII der Zuwachs, den olII durch Vermehrung des ersten
Gewichts auf seinen doppelten Werth erfahren u. s. w. Mit dem Werthe dieses be-
obachteten Längenzuwachses dividirt man nun in die mittlere Gesammtlänge vor und
nach der Ausdehnung um den proportionalen Zuwachs zu erfahren; so z. B. ist
der proportionale Zuwachs als das Gewicht 1g angehängt
worden war. Mit diesen proportionalen Zuwächsen lässt sich nun abermals eine
Curve bilden. Denn trägt man ihre den bestimmten Gewichten entsprechende Werthe
lI, lII, lIII, auf eine Ordinate y (in Fig. 3) und die zu ihnen gehörigen Gewichte 1g,

Figure 3. Figur 3.


2g, 3g auf die Abszisse x, so stellt die Linie oc, welche
die Schnittpunkte der Coordinaten o, a, b, c, verbin-
det nun offenbar den fortlaufenden Zuwachs der
Verlängerung dar, welcher zum Vorschein kommt,
wenn die Längeneinheit allmälig mit steigenden Ge-
wichten von o bis zum Werthe 3g beschwert wird. —
Diese Linie dient nun zur Charakteristik der ela-
stischen Eigenthümlichkeiten verschiedener Stoffe.
Zuerst erkennt man aus ihr das Verhältniss der
absoluten Werthe der Elastizität, wenn man ent-
weder bei gleichbleibendem Gewicht (oder der Ein-
heit des Gewichts) den verschiedenen Werth der Verlängerung (Ausdehnbar-
keitsmass) oder bei gleichbleibendem Zuwachs (die Einheit des Zuwachses)
die hierzu nöthigen verschiedenen Gewichte vergleicht. — An unserer Figur
ausgedrückt würde also das Ausdehnbarkeitsmass und das Elastizitätsmass
bedeuten, wo jedesmal der Divisor eine willkürliche aber in den verglichenen Fällen
gleiche Einheit bedeutet. — Zweitens gibt aber diese Linie auch unmittelbar darüber
Aufschluss, ob an ein und derselben Substanz bei allmähliger Steigerung der Ge-
wichte der Quotient oder constant bleibe oder wechsele; die Erfahrung lehrt
nämlich, dass entweder unsere Linie eine gerade wie Fig. 3, oder eine ge-
krümmte wie in Fig 4 sei; im ersten Fall sind wie bekannt der Quotient

Figure 4. Fig. 4.


u. s. f. gleichwerthig, d. h. es wächst direkt propor-
tional mit der Gewichtsvermehrung der Längezu-
wachs, im andern Fall sind diese Quotienten dagegen
veränderlich. — Wie sich noch von selbst versteht,
lässt sich bei fortlaufender direkter Proportionalität
die ganze auf Zugelastizität bezügliche Erschei-
nungsreihe durch Angaben des absoluten Werthes
des Quotienten des sogenannten Elastizitäts-
coeffizienten
feststellen; im andern Fall muss
dagegen entweder neben dem absoluten Werth eines
Quotienten noch das Gesetz der fortlaufenden Ver-
änderlichkeit dieses Elastizitätscoeffizienten gegeben sein, oder wenn dieses wie
meistentheils nicht möglich, angegeben werden, welchen Werth der Quotient mit der
Veränderung des Gewichts annimmt, d. h. wie gross der durch die Gewichtseinheit
erzeugte Längenzuwachs sei, wenn vorher schon entweder 0, oder 1, 2, 3 u. s. w. Ge-
wichtseinheiten angehängt waren.


(Die Berechnung des Elastizitätscoeffizienten für unseren besondern Fall siehe
bei Werthheim am angezogenen Orte p. 391).


[48]Eiweissartige Stoffe.

Viertens. Die Durchtränkung der Eiweissstoffe mit Wasser
macht es möglich, dass andere wässerige Lösungen durch eine und
dieselbe feste Masse bald hindurchdringen können, bald an derselben
für ihre Weiterverbreitung einen undurchdringlichen Widerstand finden.
Sie dringen hindurch, insofern sie sich in Folge chemischer Anziehun-
gen in dem eingesogenen Wasser verbreiten, während sie nicht durch-
zudringen vermögen, wenn sie mittelst mechanischer Gewalt die ein-
gesogene Flüssigkeit verdrängen wollen (Filtration). Wir werden bei
der Diffusion hierauf noch zurückkommen. — Fünftens. Vollkom-
men trockene Eiweisstoffe sind unfähig, electrischen Strömen den
Durchgang zu gestatten; durch ihre Durchtränkung mit Wasser erhal-
ten sie die Leitungsfähigkeit, und zwar steigt dieselbe mit der Menge
des eingesogenen Wassers, indem dieses letztere allein den Durch-
tritt der Electricität vermittelt *). — Endlich sechstens ist vermöge
der Durchtränkung der Durchgang der Lichtstrahlen durch die Eiweiss-
stoffe wesentlich modifizirt; auf diesen Punkt, der noch genauerer Un-
tersuchung bedarf, macht uns die Thatsache aufmerksam, dass ein
Stoff beim Trocknen, ein anderer aber erst beim Durchfeuchten und
umgekehrt durchsichtig wird.


d) Die Eiweissstoffe sind endlich auch schlechte Wärmeleiter;
leider fehlt uns aber über ihr Verhalten gegen Wärme jede gründliche
Untersuchung; ihre Funktion, die sie in ihrer Eigenschaft als Wärme-
leiter übernehmen, werden wir später besprechen.


Der Nachweiss, dass wir die eiweissartigen Stoffe mit den Nah-
rungsmitteln aufnehmen, gehört zu den Entdeckungen, welche einen
neuen Abschnitt in der Geschichte der Wissenschaft bezeichnen. Die-
ses ausserordentliche Verdienst gebührt Mulder.


47. Mucin, Schleimstoff enthält in 100 Theilen nach Sche-
rer
C52,4 H7,0 N12,8 O27,8. Schwefel konnte (durch KO?) nicht nachge-
wiesen werden. Mit 4 pCt. alkalischer und phosphorsauren Kalk hal-
tender Asche verbunden. Seine Fundorte sind die Mundflüssigkeit,
Darmflüssigkeit, Sekret des Uterus und der Scheide, in der Synovia,
der Galle, dem Pankreassaft (?), der Flüssigkeit der Unterkieferdrüse,
dem Harn und nach Virchow in zahlreichen pathologischen Gebilden.


Dieser Körper zählt vorzugsweise zu den katalytisirenden; in Ver-
bindung mit Speichel dient er als Ferment für Umwandlung des Amy-
lons in Zucker; ferner für die Verwandlung des Harnstoffs in kohlen-
saures Ammoniak, für die Gallengährung und die Verwandlung der
neutralen Fette in Glycerin und Fettsäuren. — Ausserdem zeichnet er
sich durch seine Schlüpfrigkeit und Klebrigkeit aus. Vermöge dieser
Eigenschaft unterstützt er das Niedergehen des Speisebissens durch
[49]Elastischer Stoff, Collagen.
den Schlund und die Speiseröhre und das Uebereinandergleiten der
Gelenk- und Sehnenflächen.


Er ist ein Produkt des thierischen Körpers. Frerichs*), Sche-
rer
**) und Tilanus***) vermuthen eine innige Beziehung zwischen
ihm und den Epithelialstoffen.


48. Pepsin, nach Vogel in 100 Thl. C56,7 H5,6 N21,1 O16,5. Es liegt keine Ga-
rantie vor, dass der analysirte Körper rein war. — Dieser Stoff besitzt die Eigen-
thümlichkeit, auf katalytischem Wege die Auflösung geronnener Eiweissverbindun-
gen in salz- und milchsaurem Wasser zu bewirken; er wird darum im Magen- und
Darmsaft von Wichtigkeit.


49. Elastischer Stoff. In 100 Theilen C55,6 H7,4 N17,7 O19,2; die
von Mulder hieraus berechnete Formel ist C52 H40 N7 O14; durch eine
Chlorverbindung soll dieselbe bestätigt sein. Unter seinen Zersetzun-
gen ist nur bemerkenswerth, dass er mit Salpetersäure, so weit be-
kannt, ähnliche Produkte (und namentlich Xanthoproteinsäure) gibt
als die Eiweissstoffe. Unser Stoff bildet die Grundlage der sehr ver-
breiteten elastischen Gewebe. Durch ausserordentliche Elastizität der
aus ihm bestehenden Gewebe, seine Indifferenz gegen Lösungsmittel
und seine eigenthümlichen Imbibitionserscheinungen (wovon später)
ist der Stoff für den Organismus von Bedeutung.


50. Chondrigen und Chondrin. Aus der Cornea und allen Knorpeln, bevor
sie verknöchert oder in Fasergewebe umgewandelt sind, kann durch Kochen eine Sub-
stanz (Chondrin) dargestellt werden, welche mit Aether und Alkohol gereinigt, die-
selbe Zusammensetzung besitzt, wie die mit Aether und Alkohol gereinigten Gewebe
(Chondrigen), aus denen sie dargestellt ist. — Diese Substanz gibt übereinstimmend
in 100 Thl. C 59,5 H7,1 N14,9 O 28,6 S0,4. — Aus dieser Analyse, und Verbindungen
mit Chlor und schwefelsauren Eisenoxyd berechnet Mulder die Formel 5 (C32 H26
N4 O14) S. Diese Formel muss mit Misstrauen betrachtet werden, da sich aus der
Chondrinlösung, wie sie durch Kochen erhalten wird, nach Mulder viele durch das
Kochen nicht aufgelösste flockige Theile nicht abfiltriren lassen; das Chondrin ent-
hält bis zu 6,5 pCt. Kalk-Salze.


Das Chondrigen hat viele physikalische Eigenthümlichkeiten mit den aus Ei-
weissstoffen bestehenden Geweben gemein, wie bei der Cornea und dem Knorpel
näher ausgeführt wird, wohin die weiteren Betrachtungen zu verschieben sind, da
der reine Stoff der Untersuchung nicht zugänglich ist.


51. Collagen, Colla. Durch anhaltendes Kochen verwandeln
sich bekanntlich die sogenannten Bindegewebe und die verknöcherten
Knorpel (Collagen) in Colla um. Beide Stoffe sollen nur durch einige
physikalische Eigenschaften verschieden sein. Ihre Zusammensetzung
in 100 Theilen ist C50,9 H7,2 N18,3 O22,7 S0,5; die Asche, meist phos-
phorsaure Kalkerde, beträgt von 0,6 bis 5 pCt.; der Gehalt an Schwe-
fel ist wechselnd bis zu 1 pCt.; er ist durch Kochen mit Kali nicht
nachweisbar.


4
[50]Collagen.

Die absolute Atomzahl stellt Mulder durch C13 H10 N2 O5 dar; dass diese An-
nahme ungenügend sei, geht schon daraus hervor, weil in dieser Formel der Schwe-
fel keine Stelle erhalten hat. Zudem sind die Verbindungen mit Cl und Gerbsäure,
welche Mulder zur Bestimmung des Atomgewichts benutzt hat, entweder leicht zer-
setzlich, oder sehr complizirter Natur. Die Zersetzungsprodukte des Leims führen
zudem zu ganz anderen Annahmen, dahin nämlich, dass der Leim und die Eiweissstoffe
gewisse gemeinsame Atomgruppen enthalten, so dass sich also der Leim diesen
Stoffen sehr annähert. Denn: mit chromsauren Kali oder Mangansuperoxyd und
Schwefelsäure behandelt, gibt Leim alle die Zersetzungsprodukte der Eiweissstoffe
mit der wahrscheinlich unwesentlichen Ausnahme des Aldehyds der Propionsäure.
Mit SO3 und Alkalien gekocht zerfällt er nach Mulder (neben andern Produkten?)
in Ammoniak, Glycocoll und Leucin. Guckelberger, der zuerst die Aehnlichkeit
der Zersetzungsprodukte der Eiweissstoffe und des Leims durch Oxydationsmittel
nachgewiesen, glaubt Casein und Leim als entgegenstehende Glieder einer Gruppe
aufstellen zu dürfen, indem Casein am meisten Bittermandelöl und Benzoesäure,
Leim dagegen am meisten Essigsäure und Ameisensäure liefere. Die Aehnlichkeit
beider. Stoffe bethätigt sich auch durch die mannigfache Uebereinstimmung in physi-
kalischen Eigenschaften.


Collagen zeigt wie die Eiweissstoffe die sogenannte Selbstzersez-
zung; diese geschieht unter denselben Bedingungen wie die des Ei-
weisses; ausnahmsweise hindern arsenige Säure und Gerbsäure die
Leimzersetzung, aber nicht die der Eiweissstoffe. Während derselben
wirkt es ebenfalls fermentirend, und zwar so weit bekannt, ähnlich
den Eiweissstoffen. Ob es aber und wie es hierdurch für den Organis-
mus bedeutend wird, ist unbekannt. — Von seinen übrigen chemischen
Eigenschaften ist nichts wesentliches bekannt, da Collagen nicht als
solches in Auflösung gebracht werden kann.


In seinen physikalischen Eigenschaften, namentlich denen der Imbi-
bition, der Elastizität, des Mangels an Crystallisationsvermögen, steht
es den festen Eiweissstoffen nahe. Wir müssen aber ihre Besprechung
auf Knochen, Bindegewebe, Haut u. s. w. verweisen, weil wir bis
jetzt nur die Eigenschaften des in bestimmte Formen gebrachten Col-
lagens, nicht aber die des homogenen Stoffes kennen.


Das Collagen wird beim Fleischfresser schon mit der Nahrung
eingeführt; beim Säugling und bei den von Pflanzenkost lebenden In-
dividuen dagegen niemals; bei diesen muss es sich also im Organis-
mus bilden.


Anhangsweise verdient erwähnt zu werden, dass Scherer*) im sogenannten
weissen Blut Milzkranker, einen Stoff fand, dessen Reaktionen denen des Leims
identisch waren.


[51]

Zweiter Abschnitt.
Physiologie der Aggregatzustände.


Da die im vorigen Abschnitt beschriebenen Atome in den drei
möglichen Aggregatzuständen zur Bildung des Organismus zusammen-
treten, so müsste, indem wir auf einer weiteren Verfolgung ihrer Leis-
tungen für den Lebenshergang begriffen sind, erörtert werden, welche
Veränderung in ihren Eigenschaften die Masse im Allgemeinen erleidet,
wenn sie aus diesen in jenen Aggregatzustand eintritt. Wir unterlassen
jedoch grösstentheils die in diesem Sinne möglichen Betrachtungen,
weil sie in ihrer Allgemeinheit geführt, den Physiologen wenig befrie-
digen und in der That auch nur zu einer einfachen Uebertragung der
bekannten Abschnitte physikalischer Lehrbücher über Wärmeleitung,
Dichtigkeit, Elastizität, Druckmittheilung, Porosität u. s. w. u. s. w.
führen würden. Nur eine Folge des flüssigen Aggregatzustandes, die
Diffusionen werden wir ausführlicher behandlen.


Diffusionen.


Zwei Flüssigkeiten, tropfbare oder gasförmige, durchdringen sich,
vorausgesetzt dass sie keine deprimirende Capillarität zu einander
zeigen, wenn sie unmittelbar in Berührung gelangen, auch ohne Ver-
mittlung der chemischen Verwandtschaft und der mechanischen Er-
schütterung so innig, dass schliesslich der ursprünglich nur von einer
derselben eingenommene Raum auch von der andern erfüllt wird. Diese
Erscheinung findet, unter Voraussetzung der Undurchdringlichkeit
körperlicher Massen und ihrer Zusammensetzung aus kleinsten Theil-
chen (Molekeln), nur dann eine Erklärung, wenn die Molekeln den
Massenraum nicht ununterbrochen ausfüllen, so dass Lücken (moleku-
lare Poren) zwischen ihnen übrig bleiben.


Die Erscheinungen selbst, sowie die ihr zu Grunde liegenden Ur-
sachen, sind andere bei den Luftarten als bei den tropfbaren Flüssig-
keiten; beide müssen darum gesondert betrachtet werden.


Gasdiffusion*).


1. Diffusion zweier Gasarten bei unmittelbarer Be-
rührung
. Berühren sich zwei verschiedene Gase unmittelbar (wie
z. B. in den Poren einer sie trennenden trocknen Scheidewand)
4*
[52]Gasdiffusion.
unter der Voraussetzung dass beide Luftarten demselben Barometer-
drucke und derselben Temperatur unterworfen sind, so strömen sie
mit Geschwindigkeiten in einander, die sich verhalten umgekehrt wie
die Quadratwurzeln aus den spezifischen Gewichten (den Dichtigkei-
ten) beider Gase. Da, wegen der Gleichheit der Berührungsflächen, die
Stromflächen beider Gase gleichen Querschnitt besitzen, so folgt hier-
aus, dass die Volumina, welche zwei ineinander diffundirende Gase
austauschen, sich ebenfalls umgekehrt wie die Wurzeln aus den Dich-
tigkeiten der Gase verhalten. Aus dieser Erfahrung folgert man mit
grosser Wahrscheinlichkeit, dass die Ursache der Mischung bei der
Diffusion in der Spannkraft der Luftarten (in der Repulsion, welche
zwischen ihren einzelnen Theilchen besteht) gelegen sei, und ferner,
dass zwischen den Molekeln zweier verschiedener Gasarten keine
Abstossung besteht, oder mit andern Worten, dass zwei verschiedene
Gasarten keinen Druck aufeinander ausüben.


Diese Folgerungen erlaubt man sich, weil verschiedene Gasarten in demselben
Verhältniss der Geschwindigkeiten in den leeren Raum eindringen, mit denen sie
sich in einander ergiessen; denn nach einem von Dalton ermittelten Gesetz strömen
durch weite und kurze Röhren verschiedene Gasarten mit Geschwindigkeiten in den
luftleeren Raum, die sich umgekehrt wie die Quadratwurzeln aus den spezifischen
Gewichten verhalten. Dieses Gesetz ist in seinen Ursachen sogleich klar, wenn man
bedenkt, dass die Dichtigkeit (das spezifische Gewicht) einer Luftart nur die Folge
seines Ausdehnungsbestrebens und des Widerstandes (oder des barometrischen
Druckes) ist, welcher sich ersterem entgegensetzt. Die Dichtigkeit eines Gases
ist demgemäss das Mass für die Triebkräfte, welche die Entfernung der Theilchen
von einander bedingen, vorausgesetzt, dass die dem Vergleich unterworfenen Gas-
mengen unter gleichem barometrischem Druck waren, und es wird die Repulsions-
kraft des einen Gases in diesem Falle um so viel Mal grösser als die des andern
sein, um so geringer seine Dichtigkeit ist. Da nun sich die Geschwindigkeiten strö-
mender Flüssigkeiten so verhalten, wie die Wurzeln aus den drückenden Kräften, so
muss die dünnere Gasart bei aufgehobenem Widerstand rascher, und zwar in dem be-
zeichneten Verhältniss rascher strömen als die dichtere. Da dieselben Verhältnisse
der Geschwindigkeit auch bei gegenseitiger Durchdringung bestehen, mit andern
Worten, da sich die eine Gasart gegen die andere wie ein luftleerer Raum verhält,
so darf man voraussetzen, dass zwei chemisch verschiedene Luftarten keinen Druck
aufeinander ausüben. Die Uebereinstimmung zwischen dem Dalton’schen Gesetze
und dem Diffusionshergang würde vollkommen sein, wenn es sich erweisen sollte,
dass das sogenannte Graham’sche Gesetz nicht in voller Schärfe giltig wäre. Nach
Graham strömen nämlich auch durch eine engporöse trockene Scheidewand
zwei Gase ineinander mit Geschwindigkeiten, die sich umgekehrt wie die Wurzeln
aus den Dichtigkeiten verhalten. Für einen Gasstrom durch capillare Oeffnungen
von merklicher Länge, wie in dem Graham’schen Fall, gilt aber bekanntlich das
Dalton’sche Gesetz nicht mehr *), da jedes Gas mit einem besonderen Reibungs-
coefficienten behaftet ist, der einen spezifisch verlangsamenden Einfluss auf seine
Stromgeschwindigkeiten ausübt.


Der hier erörterte Fall findet im menschlichen Organismus nur
selten Anwendung; so weit wir wissen gilt er nur für Luft, die aus
[53]Gusdiffusion.
den kleinen Bronchialzweigen in die grössern, und aus den Sinus der
Nasenhöhlen in diese selbst dringt.


2. Diffusion der Gasarten in tropfbare Flüssigkeiten;
Absorption der Gase. Gerade so wie Luftarten in Räume strömen, die
scheinbar schon von andern Gasen eingenommen sind, dringen sie
auch ohne Zuthun der chemischen Verwandtschaft in tropfbare Flüs-
sigkeiten. Den Beweiss, dass sie in diesen noch als Gase (in den mo-
lekularen Poren der Flüssigkeit) enthalten seien, finden wir darin,
dass die absorbirten Gase dem Mariotteschen Gesetz folgen, denn
das spezifische Gewicht des absorbirten Gases steigt geradezu mit
dem Drucke. Für diese Diffusion gelten folgende Gesetze: a) Eine
jede Flüssigkeit absorbirt von einem jeden Gase nur ein ganz be-
stimmtes Volum; die absorbirte Gewichtsmenge des Gases ist dem-
nach abhängig von dem Drucke, unter welchem sich das Gas in der
Flüssigkeit findet.


So nimmt z. B. 1 Kubikcentimeter Wasser 1 Kubikcentimeter Kohlensäure auf,
gleichgiltig ob die Kohlensäure bei ¼, ½, 1, 2 u. s. w. Atmosphärendruck aufge-
sogen wurde. Die bei verschiedenen Atmosphärendrücken aufgenommenen Gewichts-
mengen der Gasart verhalten sich aber wie die Werthe der Drücke. Das Bedeutungs-
volle bei dem Hergang besteht also darin, dass ein gewisses Gewicht des Wassers
nicht ein bestimmtes Gewicht von CO2, sondern ein bestimmtes Volum HO ein be-
stimmtes Volum CO2 aufnimmt.


b) Die verschiedenen Gasarten und Flüssigkeiten sind in Bezie-
hung auf einander mit besondern Absorptionscoefficienten behaftet, d.
h. in einer jeden Flüssigkeit diffundiren von verschiedenen Gasarten
ganz verschiedene Volumina und eine jede Gasart diffundirt mit ganz
verschiedenen Maastheilen in verschiedenen Flüssigkeiten. c) Aus
der Angabe, dass das Gas als solches in der Flüssigkeit enthalten sei,
folgt die durch die Erfahrung bestätigte Ableitung, dass eine Flüssig-
keit, welche ganz oder theilweise mit einer Luftart gesättigt ist, beim
Einbringen in einen Raum, der mit einer andern Gasart erfüllt ist,
einen Theil seines Gases verliert und umgekehrt einen Antheil des
neuen aufnimmt. Denn da die neue Gasart keinen Druck auf die in der
Flüssigkeit enthaltenen ausübt, dunstet so lange aus dieser letzteren
Gas ab, bis die Gasart innerhalb der Flüssigkeit denselben Druck besitzt
als die ausserhalb desselben befindliche. Aus demselben Grund wird
aber auch das neue Gas in die Flüssigkeit dringen müssen.


Es ist noch nicht gelungen, eine scharfe Vorstellung über den
ganzen Absorptionshergang zu bilden. Man kann nach dem Vorste-
henden nur im Allgemeinen aussprechen, dass die Absorption ebenso-
wohl eine Folge der Spannkräfte in den Gasen als auch der moleku-
lären Anziehungen zwischen Gasen und Flüssigkeiten ist. Zur Hinzu-
ziehung des letzteren Einflusses nöthigt uns namentlich der besondere
Absorptionscoefficient, der oft die Einheit übersteigt, d. h. die Thatsache,
dass ein Maastheil Flüssigkeit oft 2, 3 und mehr Maastheile Gas aufnimmt.
[54]Gasdiffusion.
Aus einem einfachen Eindringen der Gasart in Lücken zwischen die
Flüssigkeitstheilchen kann diess nicht erklärt werden.


3. Diffusion zweier Gasarten ineinander, welche
durch eine wässerige Scheidewand getrennt sind
. — Die
Combination der beiden Fälle, in welchen Gase in Gase und Gase in
Flüssigkeiten einströmten, erlaubt im Allgemeinen eine Ableitung für
den hier zu besprechenden Fall, indem sich der Erfolg desselben of-
fenbar richtet nach der Diffusionsgeschwindigkeit der betreffenden
Gase und dem Absorptionscoefficienten der Flüssigkeit. Denken wir
uns, um sogleich zu einem Beispiel überzugehen, ausser den früher
schon angenommenen Bedingungen gleichen Barometerdruckes und
gleicher Temperatur rechts von der Scheidewand eine Flüssigkeit, von
geringerem specifischem Gewichte als links, so würde ohne die Ge-
genwart der Flüssigkeitsschicht dieselbe rascher und in grösseren
Mengen diffundiren; denken wir uns nun aber, dass die Gasart rechts
zugleich weniger leicht und weniger massenhaft in der Flüssigkeit
der Scheidewand löslich sei, so kann sie das Uebergewicht, was sie
erhielt, wieder einbüssen. Man muss sich, um sich den Hergang vollkom-
men klar zu machen, die Vorstellung aneignen, dass mit dem grösse-
ren oder kleineren Absorptionscoefficienten der Flüssigkeit, der Quer-
schnitt des diffundirenden Gasstromes steigt und fällt, und somit der
Stromquerschnitt der einen von beiden Gasarten, welche einen gerin-
gern Absorptionscoefficienten besitzt, in der Flüssigkeit ein kleinerer
wird, als derjenige der andern Gasart, welche mit einem grösseren
Absorptionscoefficienten behaftet ist. — Dieser Auseinandersetzung
entsprechen, so weit wir wissen, die Erfahrungen vollkommen.


Zur Bestätigung der über die Diffusionen der Gase in Flüssigkeiten aufgestellten
mathematischen Gesetze fehlt es immer noch an scharfen Beobachtungen, welchen
besondere Schwierigkeiten entgegenstehen, weil die Absorptionscoefficienten schwer
zu ermitteln sind, da die Flüssigkeiten kaum gasfrei erhalten werden können. Von
physiologischer Wichtigkeit wäre auch noch die Untersuchung der Geschwindigkeit
der Absorption, und der Kraft, mit welcher die einmal absorbirten Gase gebunden
gehalten werden, Fragen, deren Lösung noch nicht versucht ist.


Diffusion tropfbarer Flüssigkeiten*).


Die Lehre von der Hydrodiffusion, wie du Bois im Gegensatz zu
der Gasdiffusion die Durchdringung tropfbarer Flüssigkeiten genannt
[55]Hydrodiffusion.
haben will, hat sich nur erst an wenigen Punkten aus dem Bereich der
Casuistik in das des Gesetzes erhoben; die meisten uns bekann-
ten Thatsachen entbehren darum des allgemeineren Interesses. Die
folgende Darstellung stellt sich die Aufgabe, neben Hervorhebung der
für den Physiologen wichtigen Fälle, die Anfänge von Gesetzen,
welche die bisherigen Untersuchungen ergaben, und welche sich als
Ausgangspunkte neuer Versuche einladend erweisen, mitzutheilen.
Demgemäss muss die Theorie der Lösung mit aufgenommen werden.


Das Bestehen der Hydrodiffusion, d. h. der Erscheinung, dass
aus in ihnen selbst gelegenen Gründen zwei oder mehrere in Berüh-
rung gekommene verschieden zusammengesetzte Flüssigkeiten ihre
Bestandtheile so lange austauschen, bis sie überall vollkommen gleich-
artig sind, wird dadurch erwiesen, dass diese Vermischung unter den
erwähnten Bedingungen vorkommt, selbst wenn keine andere Ur-
sache derselben, (Erschütterung, spezifisches Gewicht u. s. w.) auf-
zufinden ist. Diese gegenseitige Durchdringung sieht man aber in der
gegebenen Beschränkung selbst wieder als Folge zweier grundsätz-
lich verschiedener Ursachen an, nämlich einerseits der chemischen
Verwandtschaft und anderseits des sogenannten Lösungsvermögens;
den Beweis, ob der eine oder andere dieser Einflüsse wirksam gewe-
sen sei, glaubt man herleiten zu können aus der Entwicklung oder
Bindung von Wärme und aus der vorhandenen oder mangelnden Ver-
bindung nach chemischen Aequivalenten. Ohne zu untersuchen, inwie-
weit diese Annahme gerechtfertigt sei, wollen wir diese Spaltung der
Thatsachen insofern adoptiren, als wir hier vorzugsweise uns an die
Fälle von Mischung halten, welche in beliebigen (nicht in äquivalen-
ten) Verhältnissen ohne Entwicklung von Wärme geschehen.


1. Lösung. Die Erscheinungen, welche die Lösung, d. h. die Ver-
flüssigung fester durch flüssige Stoffe auszeichnen, sind:


a) Es wird jedesmal Wärme latent gemacht. Da diese Wärme un-
zweifelhaft dazu verwendet wird, um die Cohäsion des festen Stoffes
zu überwinden, seinen Uebergang aus dem festen in den flüssigen Zu-
stand möglich zu machen, so muss die Menge der jeweilig verschluck-
ten Wärme mindestens den Werth derjenigen erreichen, welche beim
Schmelzen des fraglichen Stoffes in höhern Temperaturen latent wird.
Die Erfahrungen von Graham*) und Person**) lehren nun aber,
dass bei der Auflösung mehr Wärme dem freien Zuztand entrückt wird,
als bei der Schmelzung, und namentlich dass alles andere gleichge-
setzt, die Menge der verschluckten Wärme wächst mit dem Grade der
Verdünnung, welchen die Lösung erfährt, oder anders ausgedrückt,
mit der Ausdehnung, welche der in der Flüssigkeit vertheilte Stoff er-
leidet. Diese Thatsache führt zu der wichtigen Folgerung, dass die
[56]Lösung.
Theilchen des in Auflösung befindlichen festen Stoffes sich noch fort-
während in einer gegenseitigen Anziehung befinden, so dass zu jeder
weitern Entfernung derselben ein Aufwand von freien Kräften erfor-
derlich ist.


Für den Anfänger muss zur Abwehr gegen Missverständnisse noch angegeben
werden, dass es nur scheinbar ist, wenn bei der Lösung eines Stoffes weniger Wärme
latent wird, als bei der Schmelzung. Freilich wird häufig durch die Lösung der Um-
gebung sehr wenig Wärme entzogen; dieses geschieht aber nur darum, weil in Folge
der Lösung auch Wärme frei wird, welche zu der Verflüssigung des Salzes benutzt
werden kann. Die Quellen, aus welchen jene Wärme fliesst, liegen theils in der ein-
tretenden Verdichtung, theils darin, dass die Wärmecapacität der Lösung geringer
ist, als diejenige des Wassers und des flüssigen Salzes für sich. Besondere Beweise
hiefür siehe bei Person.


b) Das spezifische Gewicht (die Dichtigkeit) der Lösung ist nicht
das mittlere aus demjenigen des festen Stoffes und der Flüssigkeit;
es ist stets höher als das hypothetische mittlere.


c) Der Siede- und Gefrierpunkt des Lösungswassers hat sich er-
höht, beziehungsweise erniedrigt, ebenso wie die Ausdehnungsfähig-
keit der Lösung durch die Wärme geringer ist als die mittlere zwischen
der des festen Stoffes und der Flüssigkeit. Diese letzen beiden allge-
mein gültigen Thatsachenreihen beweissen als eine Erweiterung zu der
unter a) erwähnten, dass auch die Theilchen des Lösungsmittels und des
aufgelösten Stoffes sich gegenseitig innig binden, weil namentlich nur
unter dieser Voraussetzung verständlich wird, dass das Wasser in der
Lösung seinen flüssigen Zustand Temperaturen gegenüber bewahrt,
welche das freie Wasser schon in Dampf oder Eis verwandelt hätten.
Wenn nun auch im Allgemeinen die die Auflösung begünstigenden, resp.
sie hemmenden Einflüsse dargestellt werden durch die Cohäsion des
festen Stoffes für sich und des Wassers für sich (mit andern Worten,
durch die Menge von Wärme, welche gebunden werden muss, wenn
eine dem Verdünnungsgrad der Lösung entsprechende Ausdehnung der
flüssigen und festen Stoffe herbeigeführt werden soll), ferner durch
die Menge der freien verwendbaren Wärme (sei es, dass sie von aus-
sen zugeführt oder in der Lösung selbst entwickelt werde), und end-
lich durch die Lösungsverwandtschaft der festen und flüssigen Theile
zu einander (oder den Widerstand, den die Masse bei Einwirkung der
Wärme dem Verdunsten entgegensetzt), so ist es dennoch aus Man-
gel an guten Versuchen unmöglich, Angaben darüber zu machen, wie
mit dem Werth der bezeichneten Umstände die Geschwindigkeit der
Verflüssigung, die Menge und die Energie der Bindung des aufgelösten
Stoffes wachse. Bevor dieses Fundament gelegt ist, wird die Lehre
von der Diffusion keinen besondern theoretischen Fortschritt zu machen
im Stande sein.


2. Diffusion einer Lösung in Wasser. Dieser Vorgang
ist dem so eben geschilderten so analog, dass die Behauptung, alle
[57]Lösung.
die Lösung erzeugenden Bedingungen unterstützen auch die freiwil-
lige Verdünnung, keines besondern Beweises bedarf. Ueber einige
der bei der Verdünnung eintretenden Erscheinungen haben wir durch
Graham*) Aufschluss erhalten; sie beziehen sich insbesondere auf
die Geschwindigkeit, mit welcher die Vertheilung der Lösung in das
darüber geschichtete Wasser geschieht. Diese Geschwindigkeit ist
abhängig a) von der besondern Natur des aufgelösten Stoffes. Denn
alles Andere, und namentlich Berührungsfläche zwischen Wasser und
Lösung, spezifisches Gewicht oder Procentgehalt an festem Stoff in
der Lösung, und Temperatur gleichgesetzt wechselt die Diffusionsge-
schwindigkeit (d. h. die in der Zeiteinheit in das Wasser diffundirte Ge-
wichtsmenge des aufgelösten Stoffes) mit der Natur desselben. Wir
heben hier aus den Beobachtungsreihen als für den Physiologen wich-
tig hervor, dass die Diffusionsgeschwindigkeiten des Na Cl zu der des
Eiweises aus 16,6 pCt Lösungen sich = 19,2 : 1 verhielten; ferner unter
gleichen Bedingungen die des Na Cl zu Stärkezucker wie 2,2 : 1; fer-
ner die des Na Cl zu der des K Cl aus einer 9 pCt Lösung sich ver-
hielt wie 1 : 1,2—. Dieses Verhältniss der Diffusionsgeschwindigkei-
ten scheint für dieselben Stoffe constant zu bleiben, wenn auch die Pro-
zentgehalte der Lösungen in gleichem Verhältniss steigen und fallen.
So fand Graham, dass sich die Diffusionsgeschwindigkeit einer
2,4 pCt, 6,6 pCt und 10,0 pCt Lösung von K O CO2 zu einer 2,4 pCt
6,6 pCt; 10,0 pCt Lösung von Na O SO3 verhielte wie 1 : 0,78; 1 : 0,79;
1 : 0,80; 1 : 0,77. Ebenso unter gleichen Umständen die des K O CO2
: Na O CO2 = 1 : 0,74; 1 : 0,75; 1 : 0,73; 1 : 0,68. — b) Die Diffu-
sionsgeschwindigkeit ist ferner alles Andere, und namentlich die
Natur des aufgelösten Stoffes, sein Prozentgehalt in der Lösung
und die Berührungsfläche zwischen Wasser und Lösung gleichgesetzt,
abhängig von der Temperatur in der Art, dass die Geschwindigkeit
direkt proportional mit der steigenden Temperatur wächst.


Zur Ermittelung der obigen Thatsachen bediente sich Graham folgender Me-
thode. Er füllte ein kleines, mit einem Hals und abgeschliffenem oberem Rand ver-
sehenes Glasgefäss mit der Lösung und setzte es auf den Boden eines grösseren,
welches ungefähr das fünffache Volum des kleinen fasste; unter Beobachtung meh-
rerer Vorsichtsmassregeln goss er darauf das grössere so weit voll Wasser, dass
es den Rand des kleinern Gefässes um ungefähr 1 Zoll überragte, und überliess dann
in einem Raum, der gleiche Temperatur hielt, die Lösung der Diffusion. Nach einer
genau notirten Zeit schloss er das innere Gefäss mit einer Glasplatte und bestimmte
die absolute Menge gelössten Stoffes, welche in das Wasser getreten war. — Diese
Untersuchungsweise führt den Uebelstand mit sich, dass die Diffusion sehr bald nicht
mehr zwischen Lösung und Wasser, sondern zwischen dichterer und dünnerer Lö-
sung vor sich geht. Dieser Umstand verhindert unter Anderm, Gewicht zu legen auf
die Behauptung Graham’s, dass alles andere und namentlich Lösungsstoff, Tempe-
ratur, Zeit und Berührungsfläche gleichgesetzt, die Geschwindigkeit der Diffusion
wachse wie der Procentgehalt der Lösung an festen Stoffen. Diese Behauptung würde
[58]Lösung.
aus seinen Zahlen nur folgen, wenn er die Differenz der Procentgehalte im äussern
und innern Gefäss constant erhalten hätte, oder wenn sie wenigstens bekannt wäre.


3. Gleichzeitige Lösung mehrerer festen Stoffe und
Diffusion eines Lösungsgemenges in Wasser
. Ueber gleich-
zeitige Lösung solcher Salze, welche sich nicht gegenseitig zersetzen,
sind Beobachtungen von Karsten, Kopp*) u. s. w. vorhanden. Wir
erfahren aus diesen Beobachtungen vorerst das theoretisch noch nicht
verwendbare Resultat, dass die Maxima der Gewichtsmengen beider
in Lösung tretenden Stoffe sich gegenseitig modifiziren können. —
Graham hat die Frage in Angriff genommen, wie sich die Diffusion
zweier in derselben Flüssigkeit gelösten Salze im Wasser verhalte.
Er findet hier, dass die beiden Salze insofern unabhängig von einan-
der diffundiren, als das mit einer grössern Diffusionsgeschwindigkeit
begabte auch aus dem Gemenge rascher diffundirt als das, welches
mit einer geringen Geschwindigkeit diffundirt. Diese Thatsache ist
durch eine von mir angestellte Beobachtung dahin erweitert, dass die Ad-
häsion der beiden in Lösung befindlichen Salze nicht gross genug ist,
um durch das Diffusionsbestreben nicht aufgehoben werden zu können.
Aus den Graham’schen Versuchen geht jedoch noch weiter hervor,
dass die in dem Gemenge vorhandenen Salze ihre Diffusionsgeschwin-
digkeit modifiziren. Denn aus einer Lösung, welche gleichzeitig von
Na Cl und Na O2 CO2 je 3,6 pCt (also 7,2 pCt im Ganzen) Salz enthielt,
diffundirten in der Zeiteinheit 5,7 Gr. Na O CO2 und 12,4 Gr. Na O SO3,
während in derselben Zeit aus einer 3,9 procentigen Na O CO2 Lösung
7,3 Gr. und aus einer 3,9 procentigen Na Cl Lösung 11,0 Gr. austraten.


Figure 5. Fig. 5.

Zur Bestimmung der Diffusionserscheinungen der
Salzgemenge benutzte ich einen Glascylinder (Fig. 5).
G, dessen mit einem Kork verschlossener Boden von
einer umgebogenen Glasröhre A A M durchbrochen war;
diese Röhre mündet mit capillarer Oeffnung M gerade im
obern Niveau des Korkes innerhalb des Cylinders. Aus-
serdem liefen durch den Boden noch mehrere Röhren C C,
L L
u. s. f. Diese Röhren stiegen im Cylinder bis zu einem
bekannten Abstand vom Boden auf, und ihr freies, aus-
serhalb des Cylinders liegendes Ende war ausgezogen und
zugeschmolzen. In den Cylinder wurde von oben Wasser
gefüllt und dann in die freie Mündung des Rohres A A aus
einer Pipette mit capillärer Mündung eine Lösung, welche
gleichviel (wasserfreies) NaO SO3 und Na Cl enthielt,
eingelassen. Dieses Lösungsgemenge drang auf den Boden
des Gefässes und hob das Wasser, ohne sich mit ihm zu
mischen. Hierauf überliess man die Flüssigkeit im ge-
schützten Raume von möglichst constanter Temperatur
der Diffusion. Nach beliebiger, aber genau gekannter
Zeit brach man darauf vorsichtig die Spitze des Rohres
L L ab, aus welchem in feinem Strahl die Flüssigkeit von
0 bis 1 auslief, welche man gesondert auffing; dann öffnete
[59]Diffusion zwischen Lösungen.
man ebenso das Rohr C C und erhielt die Flüssigkeit des Raumes 1 2 u. s. f. Dieser
Versuch ergab, dass wenn das Na Cl in den Raum 0 1 schon in grosser Menge ein-
gedrungen war, sich noch keine Spur von Glaubersalz in ihm fand, ein Resultat, wel-
ches obigen Ausspruch geradezu beweisst.


4. Diffusion zweier Lösungen ineinander. Auch diesen
Fall hat Graham behandelt, indem er Lösungen von Na O CO2 in Lö-
sungen von Na Cl und Na O SO3 diffundiren liess. Das Na O CO2 trat
in das Kochsalz in gleicher Menge wie in das Glaubersalz, aber in ge-
ringerer über als in reines Wasser.


5. Diffusion zwischen Lösungen, deren Lösungsmit-
tel sich nicht mischen
. Dieser Fall ereignet sich z. B. wenn Oele,
welche Seifen, Galle u. s. w. aufgelöst enthalten, mit Wasser in Be-
rührung kommen. Diese sehr bemerkenswerthe Modifikation des Ver-
suchs ist nur in einem Falle von Brücke behandelt. Brücke wählte
zu den Versuchen Aether, Wasser und Hg Cl. — Die Fortsetzung die-
ser Versuche verspricht vielseitige und wichtige Ausbeute für den
Physiologen.


6. Diffusion von Flüssigkeiten in thierische Stoffe;
Quellung, Imbibition
. Es ist eine Eigenthümlichkeit vieler thieri-
schen (und pflanzlichen) Stoffe, auf eine besondere Weise von Flüs-
sigkeiten durchdrungen zu werden, wie wir schon p. 45. bei den Eiweiss-
körpern ausführten. Zu den dortigen Bemerkungen ist hier noch zu-
zufügen: Ein quellungsfähiger Stoff nimmt aus einer Flüssigkeit, in
die er gelegt wurde, im Verlauf einer längern Zeit eine endliche Menge
von Flüssigkeit auf, über welche hinaus keine weitere Aufnahme mehr
stattfindet. Diese Menge nennt man das Quellungsmaximum; und in-
sofern man das Gewicht oder Volum der aufgenommenen Flüssigkeit
mit dem Gewicht oder Volum des aufnehmenden Stoffes vergleicht, er-
hält man das Quellungsverhältniss. Dieses Quellungsmaximum wechselt
nun alles Andere gleichgesetzt mit der Natur der Flüssigkeit und der-
jenigen der Membran, in der Art, dass ein und derselbe Stoff in verschie-
dene Flüssigkeiten, Oel, Alkohol, Wasser gelegt, von jeder ein anderes
Maximum aufnimmt, und umgekehrt, dass dieselbe Flüssigkeit in ver-
schiedene Stoffe (Horn, Faserstoff, Colla u. s. w.) in einem anderen
Verhältniss eindringt. Das Quellungsverhältniss, namentlich aber auch
die Geschwindigkeit des Eindringens von Flüssigkeiten, ist jedoch
nicht allein hievon, sondern wie schon früher erwähnt, auch noch von
andern Umständen abhängig, indem ein und derselbe Stoff in ein und
derselben Flüssigkeit in seinem Quellungsmaximum wechselt, je nach
der Temperatur oder dem Grade der Austrocknung, in welchem sich
der Stoff vor der beginnenden Quellung befunden hatte.


Die Quellung stellt sich insofern in die Reihe der Diffusionen als
die Verbindung der Flüssigkeit und der festen Theile nicht nach ato-
mistischen Gewichtsverhältnissen vor sich geht, und insofern als wir
[60]Quellung.
schliessen dürfen, dass hier wie dort die Erscheinung durch eine An-
einanderlagerung der unveränderten Theilchen des festen und flüssi-
gen Stoffes geschehe. So sehr wir uns nun auch über die beson-
dere Art der Zusammenlagerung im Unklaren befinden, so dürfen
wir doch behaupten, dass in den meisten der aufgequollenen Stoffe
die eingesogene Flüssigkeit zum Theil in weiteren Poren, welche
zwischen mehr oder weniger grossen Haufen von Molekeln vorhan-
den sind, sich eingelagert finde, zum Theil aber zwischen den Mole-
keln selbst gebettet sei. Diese Annahme einer solchen Lagenver-
schiedenheit gründet sich ebensowohl auf die Struktur der festen
Stoffe als auf die Quellungserscheinungen selbst. Was ersteren Punkt,
die Struktur der quellenden Stoffe, anlangt, so wissen wir, dass viele
derselben sich aus Massen von gegenseitig mehr oder weniger inniger
Cohäsion zusammensetzen; wir erinnern hier nur an die Gewebe
des thierischen Körpers, welche eine Zusammenhäufung gleicharti-
ger oder ungleichartiger Formelemente darstellen; die Verbindung
der einzelnen Formelemente miteinander ist eine so lockere, dass man
an die Gegenwart gröblicher sogenannter physikalischer Poren zwi-
schen ihnen denken darf, während die zu einem der Formelemente
zusammengeordneten Molekeln sich so innig verbinden, dass, wenn
man hier überhaupt Poren statuiren will, sie nur als intermoleküläre
bestehen können. Die Flüssigkeit dringt nun aber thatsächlich sowohl
in den Raum zwischen die Formelemente als auch in diese selbst.
In Uebereinstimmung mit dieser Betrachtung finden wir nun, dass
die eingedrungene Flüssigkeit theilweise mit Leichtigkeit durch Zu-
sammenpressen des gequollenen Stoffes zum Ausfliessen gebracht
werden kann, während ein anderer Theil derselben den kräftigsten
Druckwirkungen widersteht; ferner dass bei dem normalen Siede-
punkt der Flüssigkeit ein Theil mit Leichtigkeit in Dampf verwan-
delt werden kann, während ein anderer erst bei höheren Temperaturen
Dampfform annimmt.


Die Umstände, welche überhaupt Einfluss auf die Quellung üben,
sind: a) die Verwandtschaft der Flüssigkeit zu den festen Stoffen;
diese sehen wir ausgeprägt durch die Fähigkeit der trockenen Stoffe,
die Dämpfe der Flüssigkeiten, von welchen sie imbibirt werden, in
flüssiger Form in sich niederzuschlagen; oder mit einem Wort durch
die hygroskopischen Eigenschaften der quellungsfähigen Stoffe, und
weiter durch die Steigerung des Siedepunktes der aufgenommenen
Flüssigkeiten (?).


Diese Eigenschaften hat man noch nicht als Maass zur Feststellung einer Ver-
wandtschaftsscala angewendet. Ein anderes Maass, welches Liebig hierzu benutzt
hat, ist das Quellungsmaximum und die Quecksilberhöhen, welche nöthig sind, um
die Filtration der Flüssigkeit durch dünne Stücke von bekannter Dicke einzuleiten.
Inwiefern hieraus ein solches gewonnen werden kann, ist aber vollkommen unklar
und es dürften darum, so lange die Beziehung des Filtrationsdruckes und des Quel-
[61]Quellung.
lungsmaximums zu der Verwandtschaft nicht fest steht, die Liebig’schen Zahlen für
diesen Zweck werthlos sein.


b) Die Cohäsion der Molekeln des aufquellenden Stoffes; die Be-
deutung dieses Einflusses ist von selbst klar, wenn man erwägt, dass
der aufquellende Stoff durch die eingetretenen Wassermengen sein
Volum ändert; damit also die Flüssigkeitstheilchen eintreten können,
müssen sie die Theile der festen Stoffe auseinanderzerren. c) In Stof-
fen, welche aus einer Zusammenhäufung von Formelementen bestehen,
ist für die in den Zwischenräumen der letzteren sich bildenden gröbe-
ren Poren von Bedeutung, die Gestalt und die daraus folgenden gegen-
seitigen Lagerungen, welche die aufgequollenen Formen annehmen.
d) Die Cohäsion der Flüssigkeit, welche hier von ähnlicher Wirksam-
keit sein muss als beim Aufsteigen derselben in Capillarröhren.


7. Diffusion von Lösungen und Lösungsgemenge in
feste Stoffe
. Die über diesen Punkt vorliegenden Untersuchungen
beziehen sich nur auf wässerige Lösungen. Aus ihnen ergibt sich,
dass alles Andere gleichgesetzt die Quellungsmaxima sich ändern mit
der Natur und dem Procentgehalt des gelösten Stoffes. Liebig ermit-
telte u. A., dass 100 Gewichtstheile trockener Harnblase vom Ochsen
vom Wasser 310 Gewichtstheile, von einer 9 pCt. Kochsalzlösung nur
288, von einer 13,5 pCt. Kochsalzlösung 235 und endlich von einer
18 pCt. Lösung desselben Stoffes 219 Gewichtstheile aufnahmen; und
Cloetta fand, dass das Quellungsverhältniss (der Quotient aus dem
Gewicht des festen Stoffes in das Gewicht der aufgenommenen Lösung)
des trockenen und gereinigten Herzbeutels vom Ochsen für eine 5,4 pCt.
Kochsalzlösung 1,35, für eine 24,3 pCt. Kochsalzlösung dagegen 1,01
betrug; und ebenso dass bei Anwendung derselben Membran das Quel-
lungsverhältniss einer 5,5 pCt. Glaubersalzlösung 1,15, das einer
11,7pCt. Lösung aber nur 0,86 ausmachte. — Daneben zeigt sich aber
die noch bemerkenswerthere Erscheinung, dass wenn eine trockene
thierische Membran in eine Salzlösung getaucht wird, die in die Membran
aufgenommene Lösung eine andere Zusammensetzung besitzt, als die-
jenige, welche dieselbe umspült. So nahm u. A. die gereinigte Harnblase
des Ochsen, als sie in eine 7,2 pCt. Glaubersalzlösung gelegt wurde,
eine Flüssigkeit auf, welche nur 4,4 pCt. Glaubersalz enthielt; dieselbe
Membran durchtränkte sich, als sie in eine 19 pCt. Kochsalzlösung ge-
legt wurde, mit einer 16,5 pCt. Lösung. (Ludwig). — Cloetta, der
diese Thatsachen weiter verfolgte, hat ermittelt, dass das Verhältniss
der Dichtigkeit zwischen der in die Membran aufgenommenen und der
sie umspülenden Lösung für Na Cl ein constantes ist, für Glaubersalz da-
gegen ein mit dem Procentgehalt der Lösungen an festen Stoffen wech-
selndes. So fand er u. A., dass ob man die Membran in eine 24,2 pCt.
oder 5,4 pCt. Kochsalzlösung legt, der Procentgehalt der umspülen-
den Flüssigkeit zu dem der eingedrungenen sich verhielt wie 1 : 0,84
[62]Quellung.
und 0,82; wendete er aber Glaubersalz als umspülende Flüssigkeit an,
so verhielt sich bei einer 11,7 pCt. Lösung der Procentgehalt der in-
nern zur äussern Flüssigkeit wie 1 : zu 0,39, und bei einer 4,8 pCt.
umspülenden Lösung war dasselbe Verhältniss wie 1 : 0,57.


Durch diese Thatsache wird eine neue Analogie hergestellt zwi-
schen Lösung und Quellung; denn wie bei gleichzeitiger Lösung
zweier Salze das Lösungsmaximum der Flüssigkeit für das eine der-
selben beschränkt werden kann, so wird auch hier durch die Verwandt-
schaft der thierischen Stoffe zu dem eingedrungenen Wasser die Fä-
higkeit desselben, Salze zu lösen, beeinträchtigt.


Ohne diese Thatsachen zu kennen, erschloss Brücke mit einem
seltenen Scharfsinn aus den Erscheinungen, welche sich bei der Be-
rührung von Flüssigkeiten mit festen Stoffen ereignen und aus denen
der sogenannten Endosmose, ihr Vorhandensein und stellte noch die
weitere Behauptung auf, dass die an den Poren der Membranen aufge-
nommenen Lösungen so geordnet seien, dass in der unmittelbaren
Nähe der festen Molekule eine salzärmere Flüssigkeit und in der Mitte
der Poren eine salzreichere Flüssigkeit gelegen sein möchte, in der
Art wie es das (Fig. 6) gegebene Schema ausdrückt, in welchem die

Figure 6. Fig. 6.


dunklen Quadrate Molekeln oder Mo-
lekelmassen, die dunkleren Rahmen
die salzarmen und die hellen Rahmen
eine Flüssigkeit von der Zusammen-
setzung der die Gesammtmassen um-
spülenden darstellen. Der thatsäch-
liche Beweis für diese Annahme ist
dadurch geliefert worden, dass die
durch Pressen aus der Membran erhal-
tene Flüssigkeit die Zusammensetzung
der umspülenden besass (Ludwig).
Dass diese Beobachtung in Wirklich-
keit den verlangten Beweis liefert,
ist sogleich verständlich, wenn man erwägt, dass durch Pressung
nur die Antheile der aufgenommenen Flüssigkeit entfernt werden kön-
nen, welche nicht durch die sie unmittelbar berührenden Porenwandun-
gen festgehalten werden; besitzt nun in der That die in der Membran ver-
theilte Flüssigkeit einen niedrigern Procentgehalt, als die umspülende,
und ist man ferner, wie angegeben, im Stande durch Pressen eine
Lösung von der Zusammensetzung der umspülenden zu gewinnen, so
muss offenbar der geringere Procentgehalt der ganzen aufgenomme-
nen Flüssigkeit der mittlere sein zwischen einer nicht auspressbaren
von viel geringerem Salzgehalt und einer auspressbaren von gleichem
Salzgehalt wie die umspülende.


Diffundiren nun endlich gleichzeitig zwei Lösungen in eine Mem-
[63]Endosmose.
bran, so werden dadurch noch weitere Complicationen veranlasst wer-
den, denn a) es werden bei Gegenwart wässeriger Lösungen durch die
Verwandtschaften der Membranen, diejenigen der gelösten Stoffe zum
Wasser in einer Weise beschränkt, welche nicht ableitbar ist aus dem
bekannten Verhalten jeder Salzlösung für sich in der Membran. Den
Untersuchungen von Cloetta verdanken wir den bemerkenswerthen
Aufschluss, dass wenn man Stücke des Herzbeutels in eine Lösung
legt, welche zugleich Kochsalz und Glaubersalz aufgelöst enthält,
das Glaubersalz in geringerer Menge von der Membran aufgenommen
wird, als wenn er aus einer Lösung für sich eingedrungen wäre. Diese
Erniedrigung des Glaubersalzgehaltes wächst mit der Menge des
gleichzeitig in der Lösung vorhandenen Kochsalzes. Folgende Zahlen
geben die Belege für diesen Ausspruch. Wenn die Membran von einer
Lösung umspült wurde, welche 10,5 pCt. Na Cl und 5,1 pCt. NaO SO3
enthielt, so trat eine Flüssigkeit in dieselbe, welche 9,1 pCt. Na Cl
und 1,8 pCt. NaO SO3 enthielt; aus einer Lösung, welche dagegen
5,3 pCt. Na Cl und 4,7 pCt. NaO SO3 enthielt, drang eine Flüssigkeit in
dieselbe Membran, in welcher sich 4,3 pCt. Na Cl und 2,2 pCt. NaO SO3
befanden. Als demnach 10,5 pCt. Na Cl in der äussern Flüssigkeit vor-
handen waren, verhielt sich der Procentgehalt der äussern und innern
Glaubersalzlösung wie 1 : 0,35, und als nun 5,3 pCt. Na Cl in der äus-
sern Flüssigkeit vorkamen, verhielten sich die entsprechenden Glauber-
salzlösungen wie 1 : 0,47. — b) Sehr häufig wird durch den Eintritt
einer Flüssigkeit in eine Membran die Fähigkeit dieser letzteren aufge-
hoben gleichzeitig eine andere aufzunehmen; so schliesst u. A. die
Gegenwart wässriger diejenige öliger Flüssigkeiten aus. Dieses Aus-
schliessungsvermögen der einen Flüssigkeit durch die andere, kann
aber beseitigt werden, wenn in der einen von beiden ein Stoff gelöst
wird, durch den die Adhäsion beider Flüssigkeiten aneinander ermög-
licht ist. So dringt u. A. in eine mit Wasser durchdrängte Membran
Oel ein, vorausgesetzt dass in dem Wasser Seifen oder gallensaure
Salze gelösst waren (Ochlenowitz).


8. Diffusion zweier Flüssigkeiten ineinander, welche
mittelst einer für sie durchgängigen Scheidewand getrennt
sind
. Endosmose. Die Bedingungen dieses Hergangs bestehen darin,
dass zwei in irgend welcher Art verschiedene Flüssigkeiten durch
eine (molekular oder grob) poröse Scheidewand getrennt sind, in
welche eine oder beide Flüssigkeiten so eindringen können, dass sie
sich innerhalb oder an der einen Grenze der Poren in unmittelbarer
Berührung finden. Zugleich wird vorausgesetzt, dass eine etwa vor-
handene Verschiedenheit des hydrostatischen Druckes, den die beiden
Flüssigkeiten auf die Flächen der Scheidewand ausüben, nicht hin-
reicht, um bei dem Widerstand dieser letzteren als Bewegungsur-
sache einer der beiden Flüssigkeiten angesehen werden zu können.
[64]Endosmotisches Aequivalent.
Die hervorragenden Erscheinungen, die unter diesen Umständen die
Diffusion darbietet sind a) die beiden durch die Scheidewand getrenn-
ten Flüssigkeiten gleichen ihre Verschiedenheiten vollkommen aus, so
dass gerade wie wenn die Scheidewand fehlte, der Diffusionsprozess
nicht eher beendigt ist, als bis die Flüssigkeiten beiderseits vollkom-
men einander gleich sind. — b) Die Volumina der durch den Diffusions-
strom auf die beiden Seiten der Scheidewand beförderten Flüssigkei-
ten sind einander meist nicht gleich, oder mit andern Worten, die Dif-
fusionsströme überwiegen an Stärke in der einen Richtung, diejenigen
in der andern. — c) Die Geschwindigkeit, mit der zwei Flüssig-
keiten durch die Scheidewand hindurch sich ausgleichen, ist eine an-
dere als ohne Gegenwart derselben. — Die zuerst erwähnte Eigen-
schaft bedarf keiner besonderen Betrachtung, um so mehr aber die
unter b und c erwähnten Eigenthümlichkeiten.


Um ein Maas für den ungleichen Werth der verschieden gerich-
teten Ströme zu erlangen (b) bedient man sich nach dem Vorgang
von Jolly, der Verhältnisszahl zwischen den Gewichten der nach der
einen und der andern Seite übergegangenen Flüssigkeitsbestandtheile:
diese Verhältnisszahl führt den Namen des endosmotischen Aequi-
valents
.


Methode zur Bestimmung des endosmotischen Aequivalents. Der Apparat mit
dessen Hülfe diese Bestimmung vorgenommen wird, ist dargestellt durch zwei
gläserne Gefässe, von denen das eine durch eine Membran, für eine Druckhöhe von
mehreren Zoll wasserdicht verschlossen ist. Dieses letztere Gefäss, welches an der

Figure 7. Fig. 7.


Stelle des Glasbodens eine Membran trägt,
wird auf irgend welche Art in den Raum der
andern jedoch so aufgehängt, dass es in diesem
senkreckt auf und niedergelassen werden kann.
Dieser Apparat muss zugleich noch so aufge-
stellt werden können, dass die in seinem Innern
vorhandenen Flüssigkeiten vor Verdunstung
bewahrt werden. Diese Bedingungen erfüllt die
in Fig. 7 gezeichnete Vorrichtung. — A stellt
das mit der Membran umbundene Gefäss vor;
es ist mittelst eines Fadens an die Rolle R ge-
heftet, welche sich mit den Zapfen in den La-
gern L dreht. Diese Lager stehen auf dem
blechernen Deckel des äusseren Gefässes, wel-
ches mittelst der Rinne mm auf das Glas gekit-
tet ist; auf der oberen Fläche dieses Dekels
findet sich noch eine zweite breitere Rinne o o
angebracht, in welche die Glocke G einpasst.
Wenn diese Rinne mit Wasser gefüllt wird,
nachdem die Glocke aufgesetzt war, so sind
die in A und B enthaltenen Flüssigkeiten ab-
gesperrt. In das Innere beider Gefässe füllt
man Flüssigkeit von bekanntem Gewicht und
bekannter quantitativ und qualitativer Zusam-
mensetzung; man überlässt sie darauf gegen-
[65]Endosmotisches Aequivalent.
seitiger Einwirkung, wobei man Sorge trägt, kleine Niveaudifferenzen im Stand der
innern und äussern Flüssigkeit durch Herausheben oder Einsenken des Glases A aus-
zugleichen, und bestimmt dann nach beliebiger Zeit welche quantitative und qua-
litative Veränderungen die Flüssigkeit des inneren Rohrs erlitten hat, wodurch auch
die Data gegeben sind, um die Veränderungen der äussern Flüssigkeit zu berechnen.
Hieraus fliesst von selbst, welche Stoffe von aussen nach innen, welche von innen
nach aussen gingen und wie relativ kräftig diese Ströme gewesen waren.


Die Erfahrung hat gelehrt, dass die Werthe der endosmotischen
Aequivalente sich ändern mit dem Wechsel der Scheidewand (der
chemischen und physikalischen Eigenthümlichkeit ihres Stoffes), mit
quantitativen und qualitativen Veränderungen in der Zusammensez-
zung der Flüssigkeiten, und mit der Temperatur.


Bei so zahlreichen auf den Werth des Aequivalents influirenden
Umständen gehört es begreiflich zu den Seltenheiten, dass zwei der
Diffusion ausgesetzte Lösungen während der ganzen Dauer derselben,
mit dem gleichen Verhältniss ihrer Gewichtsmengen in einander strö-
men. — Dieses wird sich nur ereignen, wenn unter Voraussetzung
derselben Scheidewand auch während der ganzen Strömungsdauer
die Temperatur constant bleibt und zugleich die durch den Diffusions-
strom erzeugten Veränderungen in der Zusammensetzung beider Flüs-
sigkeiten durch andere Einflüsse wieder ausgeglichen werden. Wo
dieses letztere geschehen ist, genügt um eine Vorstellung über den
Werth des Aequivalents zu gewinnen, die einfache Angabe der Ver-
hältnisszahl; wo aber, wie es meist der Fall, diesen Bedingungen
eines constanten Stromes nicht Genüge geleistet werden kann, muss
zur Angabe des absoluten Werthes eines der partiellen endosmoti-
schen Aequivalente *) noch die des den Wechsel bestimmenden Ge-
setzes kommen. Um vollkommen verständlich zu werden wollen wir
das Gesagte durch ein Beispiel erläutern. — In einer Versuchsreihe
wurde als Scheidewand die mit Wasser Aether und Alkohol gereinigte
Harnblase des Schweines angewendet; als diffundirende Flüssigkeiten
dienten Glaubersalzlösung und Wasser; das Wasser welches sich im
äussern Gefässe des Apparates (Fig. 7) befand, wurde so oft erneuert
als nöthig, um niemals eine merkliche Spur von Glaubersalz sich in
ihm anhäufen zu lassen. Es ergab sich, als in das innere Rohr Glauber-
salzcrystalle gelegt wurden, und die Diffusion beendigt war bevor
sämmtliche Crystalle gelösst waren, das endosmotische Aequivalent
= 5,8 (die übergetretenen Gewichtsmengen des Glaubersalzes = 1
gesetzt) In einem zweiten Versuch wurden Glaubersalzcrystalle in die
Röhre gelegt und die Diffusion unterbrochen, als die in der inneren Röhre
enthaltene Lösung 3,8 pCt. betrug; das endosmotische Aequivalent
wurde zu 6,7 gefunden. Bei einem dritten Versuch mit derselben Mem-
Ludwig, Physiologie I. 5
[66]Endosmotisches Aequivalent.
bran wurde in das innere Rohr eine 5,1 pCt. NaO SO3 Lösung gefüllt,
und die Diffusion unterbrochen, als der Procentgehalt der Lösung auf
0,17 gesunken war, das Aequivalent fand man = 10,5. Viertens
wurde in das eine Rohr eine 1,0 pCt. Glaubersalzlösung gefüllt und
der Diffusion überlassen bis sie auf eine 0,1 procentige gesunken war,
das E. Ae. betrug unter diesen Umständen 21,6 — Aus diesen Beob-
achtungen lässt sich nach bekannten Regeln annähernd berechnen,
welchen Werth in jedem Momente das Aequivalent besass, als die
Dichtigkeit der Lösung von ihrem bei der Beobachtungstemperatur
möglichen Maximum bis auf 0,1 pCt. herabfiel. Construirt man diese Wer-

Figure 8. Fig. 8.


the auf ein Ordinatensystem, auf dessen x
Achse nach einer beliebigen Längenein-
heit die fortlaufenden Procentgehalte und
auf dessen y Achse die fortlaufend sich
verändernden Aequivalente aufgetragen
sind, so erhält man die Curve des Aequi-
valents, bezogen auf den Wechsel der
Dichtigkeiten. Für die oben gegebenen
Beobachtungen würde ihre Gestalt annä-
hernd wie in Fig. 8 ausgefallen sein, vor-
ausgesetzt dass vom O Punkt der Ordinaten auf x das Maximum der
Dichtigkeit aufgetragen worden wäre. Setzen wir voraus dieses Dich-
tigkeitsmaximum habe 7 pCt. betragen, so würde y1 das erste Partialae-
quivalent und y2 das letzte Partialaequivalent gewesen sein, zwischen
denen unendlich viele in der Mitte liegen. Kann nun aber, wie dies
leider meist der Fall ist, auch das Gesetz dieses Wechsels nicht ange-
geben werden, sondern nur die Zahl für das endosmotische Aequiva-
lent, welche hier die mittlere ist zwischen ihren verschiedenen Wer-
then, so muss, wenn diese Angabe eines mittlern Aequivalents ver-
gleichbar mit andern sein soll, mindestens der Zusatz geschehen, zwi-
schen welchen Grenzen der Dichtigkeit, Temperatur u. s. w. sich die
Beobachtung bewegte.


Von den wichtigern das endosmotische Aequivalent betreffenden Thatsachen
sind nun nachfolgende vorzuführen:


1. Unter gleichen Umständen sind die mittlern Aequivalente bei Anwendung ver-
schiedener Häute, wie des Herzbeutels und der Harnblase, nicht gar zu abweichend
von einander gefunden worden; wir fügen einige derselben bei.


[67]Endosmotisches Aequivalent.

2. Wie sich aber der vorstehenden Tabelle gemäss mit dem Procentgehalt der
dem Wasser gegenüber gesetzten Salzlösung das Aequivalent ändert, so ist es auch
für denselben Stoff einer Aenderung unterworfen, wenn statt der des Wassers ihm
selbst eine Salzlösung gegenüber gesetzt wird. Siehe hierüber das Nähere bei Lud-
wig
und Cloetta.


3. Nach Beobachtungen von Matteucci und Cima sollen die möglichst frischen
thierischen Häute bei Anwendung gleicher Flüssigkeiten ein anderes Aequivalent er-
wirken, als die welche aus schon längere Zeit verstorbenen Thieren genommen sind;
— zudem soll noch das Aequivalent für dieselbe Membran wechseln, je nachdem man
die eine oder andere Seite dem Wasser oder der Salzlösung gegenüber setzt. Diese
Thatsachenreihe wird noch bezweifelt. S. Berliner physik. Jahresbericht für 1845 l. c.


4. Cloetta hat in einer sehr genau geführten Versuchsreihe ermittelt, dass die
Diffusion zweier chemisch sich nicht zersetzender Salze, z. B. Na Cl und Na O SO3,
wenn sie aus einer und derselben Flüssigkeit geschehen, sich nicht störe, so dass das
Aequivalent eines Salzgemenges aus dem bekannten Aequivalente der in ihm vor-
handenen Salze berechnet werden kann.


Zur Theorie des endosmotischen Aequivalents. Um zu einer wissen-
schaftlichen Begründung der Erscheinung zu gelangen, dass nach der einen Richtung
durch die Membran ein stärkerer Strom geschieht als nach der andern, wäre es vor
5*
[68]Endosmotisches Aequivalent.
Allem nothwendig zu wissen, wie sich die Volumina zweier in einander diffundiren-
der Substanzen verhalten, wenn sie ohne Scheidewand neben einander geschichtet
sind. Hierüber gibt uns aber weder die theoretische Betrachtung Aufschluss,
noch der Versuch. Denn setzen wir voraus, es bestehe z. B. bei Berührung von
wässeriger Salzlösung und Wasser eine Anziehung zwischen Wasser und Salzwas-
ser, so würden wir uns an der Grenze beider Flüssigkeiten zwei gleich mächtige,
nach entgegengesetzten Richtungen wirkende Kräfte vorstellen dürfen, gleich mäch-
tig, weil offenbar die Anziehung des Wassers zum Salzwasser so gross gedacht wer-
den muss, als die des Salzwassers zum Wasser. Das Volum der Flüssigkeit, das jede
dieser Kräfte über die Grenze (und zwar entweder in das zum Theil festgestellte
Salzwasser oder in das Wasser) zöge, würde direct proportional sein der Verwandt-
schaft der Flüssigkeit zu einander, und umgekehrt proportional der Cohäsion und
dem spezifischen Gewichte jeder einzelnen Flüssigkeit. So einfach kann aber der
Hergang nicht aufgefasst werden, weil durch die Versuche von Cloetta und Gra-
ham
über Lösungsgemenge die Behauptung von Brücke: dass die Anziehung nicht
zwischen Salzlösung und Wasser, sondern zwischen Salz und Wasser bestehe, be-
wiesen ist. Nehmen wir unter dieser Voraussetzung an, es berühre sich trockenes
Salz und Wasser, und es löse sich z. B. das Salz nur in wenigstens 10 Theile Wasser,
so müssten, ganz abgesehen von der Cohäsion u. s. w., mindestens für 1 Gewichtstheil
Salz, welches über die Grenze in das Wasser tritt, 10 Gewichtstheile Wasser in das
Salz treten, da die anziehenden Kräfte nicht über das Verhältniss von 1/10 (1 : 10)
steigen können; denn es stellen die Zahlen 1 und 10 die sich anziehenden Einheiten
vor. Der Versuch gibt aber natürlich keinen Aufschluss, da die Schwere die aus
ungleichen Strömen hervorgehenden Niveaudifferenzen der sich unmittelbar berüh-
renden Flüssigkeiten jeden Augenblick ausgleicht und somit die auf das Volum be-
züglichen Folgen der Diffusionsströme verwischt. Dieser letztere Umstand wird nun
allerdings vermieden, wenn zwischen die Flüssigkeiten eine Scheidewand geschoben
wird, welche von so engen Capillarröhren durchzogen ist, dass in beträchtlichen
Zeiten durch nicht allzuhohe hydrostatische Drücke keine merklichen Flüssigkeits-
mengen durch dieselben hindurchgepresst werden können. Dieser Fall ist nun aller-
dings in der Endosmose verwirklicht, zugleich aber sind neue Complicationen ein-
geführt; denn einmal ändern sich die Berührungsflächen von Wasser und Salzlösung,
da, wie wir gesehen, jedes der Scheidewand angehörige Molekül von einer Schicht
Wasser umgeben ist (siehe Fig. 6.), somit immer die dem Salzwasser zugekehrte
Wasserfläche beträchtlicher ist, als die dem Wasser zugekehrte Salzlösungsfläche.
Obwohl es nun gelingt, das Verhältniss dieser Flächen festzustellen, so würde es
dennoch werthlos sein, mit Hilfe desselben die theoretischen Betrachtungen fortzu-
führen, so lange nicht bekannt ist, ob die in der Mitte der Poren liegende Flüssig-
keitsschicht dieselbe Beweglichkeit besitzt wie die an den Wänden haftende. —
Siehe die bisherigen theoretischen Betrachtungen hierüber in den Abhandlungen von
Brücke, Jolly und Ludwig.


Der Zeitraum, welcher nothwendig, damit zwei von einer Scheide-
wand getrennten Flüssigkeiten ihre chemischen Differenzen ausglei-
chen, ist im Allgemeinen grösser, als wenn eine solche fehlt. Die Rich-
tigkeit dieser Behauptung ist ohne weiteres klar, indem die Ströme in so
engen Poren offenbar Wiederstände erfahren, die ohne jene nicht vorhan-
den sind. In diesem Sinne kann auch noch zugefügt werden, dass alles
andere gleich gesetzt die Ausgleichungszeit der Lösungsunterschiede
mit der Dicke der Membran respect. der Länge der Poren wächst. — Aus-
ser diesen selbstverständlichen Dingen ist aber noch weiter zu bemerken
1) die Ausgleichungsdauer ist abhängig von dem Werthe des endosmoti-
[69]Physiologische Bedeutung der Diffusionen.
schen Aequivalents (Jolly). Der innige Zusammenhang der zwischen
der Ausgleichungsdauer und dem endosmotischen Aequivalent besteht,
leuchtet ein, wenn man bedenkt, dass dieses letztere nichts anderes
ist, als ein Ausdruck für die überwiegende Richtung des einen Stroms,
und weiter, dass die Ausgleichung niemals durch den einseitigen, son-
dern immer nur durch den doppelseitigen Strom geschehen kann. Ist
also das endosmotische Aequivalent ein grosses, d. h. geht der Strom
überwiegend einseitig, so wird wohl alles andere gleichgesetzt die
Flüssigkeit, in welche diese Strömung geschieht, durch die andere
stark verdünnt werden, aber die Ausgleichung dennoch sehr langsam
geschehen. — 2) Die in gleicher Zeit sich gegenseitig austauschenden
Flüssigkeitsmengen sind, alles andere gleichgesetzt, um so beträcht-
licher, je grösser die chemische Differenz der beiden einander entge-
genstehenden Flüssigkeiten ist. Demgemäss wird z. B. bei einer Ent-
gegensetzung von Wasser und Lösungen, die Stärke der Ströme
wachsen mit dem Gehalt dieser letztern an festen Stoffen (Vierordt).
Keinenfalls aber kann dieses Wachsthum beider Erscheinungen ein
direkt proportionales sein, und zwar darum nicht, weil das endosmoti-
sche Aequivalent mit der Conzentration selbst wechselt. — 3) Die ein-
zelnen in einem Lösungsgemenge enthaltenen Salze gleichen sich, wenn
sie reinem Wasser gegenübergesetzt werden, mit diesen in annähernd
derselben Zeit aus, als wenn jedes einzelne für sich unter sonst glei-
chen Umständen dem Diffusionsstrome ausgesetzt gewesen wäre; die
Ausgleichungsdauer des langsamer diffundirenden Salzes scheint im
Gemenge jedoch um etwas vergrössert zu werden (Cloetta).


Die Bedeutung der unter dem Namen Diffusion zusammengefassten
Phänome ist für den Lebensvorgang eine sehr verschiedenwerthige. —
Unter den Gasdiffusionen scheinen von besonderer Wichtigkeit nur der
Austausch der Gase durch feuchte Scheidewände und die Absorption
zu sein; denn nur für diese Vorgänge finden sich die Bedingungen
vorzugsweise im Thierkörper verwirklicht; auf ihnen ruht nament-
lich die Funktion der Athmung. In dieser Beschränkung wirken aber
die Gasdiffusionen ausserordentlich eingreifend, weil eines der wesent-
lichsten und zugleich das in grösster Menge genossene Nahrungsmittel
gasförmiger Sauerstoff ist und der thierische Körper in seinem leben-
digen Zustand grösstentheils in zwei gasförmige Produkte, in Kohlen-
säure und Wasserdampf, zerfällt. — Unter den verschiedenen Hydro-
diffusionen erlangen im Thierleib eine vorwiegende Geltung, die Lösung,
die Quellung und die Endosmose. Denn die Mischungen von Flüssigkei-
ten, die sich ohne Scheidewand berühren, geschehen wohl schwerlich
durch einfache Diffusion, sondern vielmehr mittelst der Erschütterun-
gen, denen alle thierische Theile fortwährend ausgesetzt sind. Die Be-
deutung der Lösung erhellt dagegen sogleich, wenn man erwägt, dass
wir stets feste Massen geniessen, dass diese in Blut, also in eine Flüs-
[70]Physiologische Bedeutung der Diffusionen.
sigkeit umgewandelt werden, und dass sie aus diesem sich wieder fest
niederschlagen um die sogenannten Gewebe zu bilden; diese Gewebe
werden aber schliesslich wieder in Harn, Schweiss, Lungen- und Haut-
dunst verwandelt, was wiederum nur durch einen Lösungsprozess
geschehen kann. Die Quellung und die Endosmose sind aber nicht
minder allgemeine Vorgänge als diejenigen der Lösung; denn mit ganz
untergeordneter Ausnahme verharren alle festen thierischen Theile
während der ganzen Dauer ihres Bestehens in gequollenem Zustand,
und in diesem gequollenen Zustand dienen sie als Scheidewände zur
Trennung der verschiedenartigsten Flüssigkeiten. So wurde es mög-
lich, im thierischen Körper ein Röhrensystem darzustellen, in welchem
eine Flüsigkeit kreisst, die trotzdem dass sie einen beträchtlichen Druck
gegen die Wandungen von innen nach aussen übt, dennoch unter Um-
ständen mehr von einer das Röhrensystem umspülenden Flüssigkeit auf-
nimmt, als sie in letztere ausströmt. Hiedurch wurde es ferner möglich,
aus ein und demselben Lösungsgemenge bald diesen und bald jenen
gelösten Stoff mit Ausschliessung aller übrigen austreten zu lassen,
ohne Anwendung anderer Hilfsmittel als der Gegenwart verschiedent-
lich quellungsfähiger Scheidewände, indem diese bald dem einen und
bald dem andern der gelösten Stoffe den Durchtritt durch sich erlauben
oder verwehren. Offenbar liegt also in dieser wichtigen Einrichtung
der Schlüssel zur Erklärung der verschiedenartigsten Ausscheidungen
aus dem überall nahezu gleichartigen Blute. Bei dieser hohen Bedeu-
tung der Hydrodiffusion ist es um so mehr zu bedauern, dass gerade
die dem Leben wichtigsten Flüssigkeiten und Membranen noch nicht
auf ihre Diffusionseigenschaften untersucht sind.


[71]

Dritter Abschnitt.
Physiologie des Nervensystems.


I. Allgemeine Nervenphysiologie.


A. Physiologie der Nervenröhren.


Anatomische Beschaffenheit*). Die frische Nervenröhre
erscheint optisch vollkommen gleichartig; durch physikalische und
chemische Hilfsmittel gelingt aber die Zerlegung derselben in verschie-
dene Formbestandtheile. Mit Rücksicht auf die bei diesen Zerlegungen
hervortretenden Formen theilt man die Nervenröhren in markhaltige
und marklose. Die erstern erscheinen zusammengesetzt aus einer
sehr zarten Röhrenwandung (Scheide), einem flüssigen, der Scheide
unmittelbar anliegenden Mark und einem in dieses letzte eingebetteten
bandartigen Streifen (Achsenfaser). Die letztern zerfallen dagegen
nur in eine Scheide, welche zuweilen mit Kernen besetzt ist, und in
Achsenfasern, so dass ihnen zum Unterschied von den vorigen das
Mark fehlt.


Ob die erwähnten Formbestandtheile dem Nerven auch beim unverletzten Zu-
stand eigen sind, und namentlich ob die markhaltige Nervenröhre auch lebend nur
aus Scheide und Mark, oder aus Scheide, Mark und Achsenfaser besteht, wird natür-
lich entschieden sein, wenn man die Achsenfaser im lebenden Nerven sichtbar ge-
macht hat. Ohne dieses kann man dieselbe immer als ein (das Absterben des Nerven
bedingendes) Gerinnungsprodukt ansehen, das seine regelmässige Form der Röhre,
innerhalb deren es gerinnt, verdankt. — Würde sich die Anwesenheit der Achsen-
faser im lebenden Nerven nicht bestätigen, so würden wahrscheinlich auch die Un-
terschiede der marklosen und markhaltigen Röhre wieder aufgegeben oder der Un-
terscheidung wenigstens anders ausgesprochen werden müssen, indem man dann auch
während des Lebens in dem marklosen Nervenrohr einen flüssigen Inhalt anzuneh-
men gezwungen wäre. Das Fehlen oder Vorhandensein des Marks bezieht sich ent-
weder auf den ganzen Verlauf einer Röhre oder nur auf Stücke derselben, indem in
ein und derselben Röhre markhaltige Stellen mit marklosen abwechseln; so verliert
u. a. zuweilen das sogenannte centrale oder auch das periphere Ende das Mark. —
Die Grösse des Röhrendurchmessers wechselt sehr beträchtlich und zwar sowohl im
Verlauf derselben Röhre als auch in den verschiedenen Röhren eines in gleicher
Weise thätigen Nerven, so dass die Thatsachen den Werth nicht rechtfertigen, den man
auf den Wechsel der Durchmesser gelegt hat.


[72]Chemischer Bau des Nervenrohrs.

Chemische Beschaffenheit*). Die chemische Substanz der
Scheide soll elastischer Stoff sein (Mulder), man schliesst das aus
ihrem Verhalten gegen Kalien und Säuren; der Achsencylinder soll aus
einem eiweissartigen Stoff bestehen (Kölliker), und ebenso enthält
das Mark eiweisshaltige Stoffe in Lösung (Lehmann). Ausserdem
hat man aus der weissen Hirnsubstanz gewonnen: Olein, Oleophos-
phorsäure, Oelsäure; Margarinsäure, Cerebrinsäure, Cholestearin
(Fremy). Glycerinphosphorsäure (Gobley). — Ueber die besondere
Lagerung dieser Fette und ihr Verhalten zu den übrigen Bestandtheilen
des Nerveninhalts ist nichts bekannt.


Leistungen des Nervenrohrs. Ein Gebilde, das wie das vor-
liegende in Form und Atomistik verwickelt ist, wird zu zahllosen Leistun-
gen befähigt sein, sei es, dass man es sich selbst überlässt, oder dass
man es in Umstände führt, in denen es einen Eingriff in das Bereich der
in ihm vorgehenden Anziehungen erfährt; zu Leistungen, deren Folgen
sich entweder innerhalb des Gebildes beschränken, oder sich jenseits sei-
ner Grenzen erstrecken. Von dieser unendlichen Schaar möglicher Kraft-
äusserungen sind bis dahin aus leicht begreiflichen Gründen nur wenige
ein Gegenstand der Aufmerksamkeit gewesen. Zuerst hat sich dieselbe
vorzugsweise nur den Erscheinungen zugewendet, welche der Nerv ver-
anlassen kann in einigen Organen, mit welchen er in fertigen und leben-
den Thierkörpern in normaler Verbindung steht, namentlich mit den Ver-
änderungen, welche er in den empfindlichen Provinzen des Hirns, in
den Muskeln und Drüsen herbeiführt, indem er die Acte der Empfindung,
Bewegung und Absonderung anregt. Diese Aeusserungen unseres Ge-
bildes führen von Alters her den Namen physiologischer Nervenfunc-
tionen. Neben diesen hat die neueste Zeit noch eine andere Reihe von
Aeusserungen der Nerventhätigkeit in genauere Betrachtung gezogen,
nämlich diejenigen, welche sie auf eine unter besondern Umständen
aufgehängte Magnetnadel zu üben vermag. Wir wenden uns nun zu-
nächst zur Betrachtung dieser letzteren, den electrischen Leistungen
oder Eigenschaften des Nerven, theils weil sie schärfer greifbar sind,
theils weil sie uns einen tieferen Blick als alle übrigen in die innern
Verhältnisse des Nervenrohrs erlauben, und endlich weil sie uns die
Betrachtung der physiologischen Eigenschaften sehr erleichtern, da
beide Erscheinungsreihen, so weit wir wissen, einander durchaus pa-
rallel gehen, wie sich von vorneherein sogleich dadurch ankündigt,
dass beide nur dem lebenden Nerv eigen sind.


Electrische Eigenschaften. Die zahlreichen und wichtigen
Aufschlüsse, die wir in diesem Gebiete erhalten haben, verdanken wir
einzig und allein du Bois-Reymond, der seine Beobachtungen und
Schlüsse in einem Werke **) niedergelegt hat, das durch Tiefe und Reich-
[73]Electrischer Bau des Nervenrohrs.
thum des Gedankens und durch Umfang der Bemühungen in der physio-
logischen Litteratur den ersten Rang einnehmen dürfte.


1. Hilfsmittel der Untersuchung. Zur Erforschung der electri-
schen Eigenschaften des Nervenrohrs bedient man sich des elektrischen
Multiplikators und des stromprüfenden Froschschenkels. Der Multiplika-
tor gewährt den Vortheil, die Gegenwart sehr schwacher electrischer
Ströme nachzuweisen und zugleich sichern Aufschluss über die Rich-
tung derselben und über ihre in grösseren Zeiten wechselnde Stärke
(über das Steigen und Sinken ihrer Intensität) zu geben. Ist der Mul-
tiplikator graduirt, so kann durch ihn sogar ein absolutes Mass der
durch seine Drähte strömenden Electricitätsmengen erhalten werden.
Der Froschschenkel ist nun zwar wegen wechselnder Erregbarkeit
von nicht so sicherer Feinheit als der Multiplikator, er zeigt ferner nur
Veränderungen in den Intensitäten des Stroms, aber keine mit gleicher
Intensität anhaltende Ströme an, er ist endlich nur selten brauchbar
um die Stromesrichtung anzugeben, aber dennoch ist er von unschätz-
barem Werthe, weil er vermöge der Leichtigkeit, mit der er im Ge-
gensatz zur trägen Multiplikatornadel den electrischen Anregungen
Folge leistet, noch die Gegenwart sehr kurz dauernder oder
ausserordentlich rasche Veränderungen länger dauernder Ströme
angibt.


Um die Fehler, welche der Multiplikator einführen kann, zu vermeiden, und alle
Vortheile, die er zu bieten vermag, zu geniessen, muss 1) der Multiplikator möglichst
empfindlich gemacht werden. Dieses geschieht theils durch Anwendung möglichst
vollkommener astatischer Nadeln, theils durch die beträchtliche Zahl von Drahtwin-
dungen, die um die Nadel gelegt werden. Du Bois verlangt für Untersuchung der
Nervenelectricität wenigstens 11000 Umgänge eines feinen, möglichst eisenfreien
Kupferdrahtes. Die Länge des sehr feinen Drahtes kann am Multiplikator für thie-
risch electrische Zwecke so beträchtlich genommen werden, weil die feuchten
thierischen Theile einen so mächtigen Widerstand in den Kreiss einführen, dass da-
gegen immer noch derjenige des Drahtes verschwindet, also auch keine weitere
Schwächung der Stromstärke bedingt. 2) Stellt sich die Aufgabe, in den Kreis keine
Ungleichartigkeiten zu bringen, welche selbst Quellen einer electrischen Strömung
sind; mit andern Worten, es muss die Nadel des Multiplikators vollkommen in
Ruhe bleiben, so lange die Enden des Drahtes in eine indifferente gleichartige Flüs-
sigkeit tauchen. Dieses bewerkstelligt du Bois dadurch, dass er die beiden Enden
der Multiplikatorendrähte mit Platinblechen in Berührung bringt, welche durch
chemische Mittel, die eine Reinigung der Oberfläche bedingen, beiderseitig möglichst
gleichartig gemacht werden. Diese Bleche tauchen in unveränderter Stellung in zwei
Becher mit concentrirter Kochsalzlösung, und sind noch besonders an den ausser-
halb der Flüssigkeiten gelegenen Abschnitten überfirnisst, um bei Bewegungen der
Flüssigkeit keine neue Metalloberflächen mit ihr in Berührung zu bringen. In die
Becher werden ausserdem Bäusche von Fliesspapier, die mit gesättigter Kochsalz-
lösung vollkommen durchtränkt sind, eingesenkt; die freien Enden dieser Bäusche,
die aus der Flüssigkeit hervorragen, werden durch einen dritten mit Kochsalzlösung
durchtränkten Bausch geschlossen. In diesem Zustande muss der Multiplikator,
bevor er zu den Versuchen benutzt wird, so lange geschlossen bleiben, bis alle Un-
gleichartigkeiten in dem Kreise ausgeglichen sind. Ist aber der Kreis statt des
einfachen Schliessungsbausches einmal, wenn auch während noch so kurzer Zeit,
[74]Methode der electrischen Untersuchung.
durch eine Elektrizitätsquelle geschlossen gewesen, so dass ein Strom durch die
Kochsalzlösung zu den Platinblechen u. s. w. gegangen ist, so wird nach neuer
Schliessung durch den indifferenten Bausch eine Ablenkung der Nadel, oder anders
ausgedrückt, eine elektrische Ungleichartigkeit in dem Kreise zurückbleiben. Diese
Ungleichartigkeit ist bedingt durch die Wasserstoff und Sauerstoffatome, welche von
dem Wasser zersetzenden elektrischen Strom frei gemacht, die Platinoberflächen über-
ziehen (Ladung, Polarisation); diese Ladung ruft bekanntlich jedesmal einen Strom
nach einer Richtung hervor, die entgegengesetzt von der Ladungserzeugenden Strö-
mung verläuft. Die Einrichtungen des Multiplikatorenkreises müssen nun so gestal-
tet sein, dass auch diese Ladungen möglichst rasch verschwinden, was aus bekann-
ten Gründen dann geschieht, wenn die Platinenden mit einer grossen Oberfläche in den
geschlossenen Kreis tauchen und ausserdem die Widerstände diesss letzteren mög-
lichst gering werden, d. h. wenn die leitende Flüssigkeitsschichte eine möglichst ge-
ringe Länge und einen möglichst grossen Querschnitt bietet. Darum nähert du Bois
seine grossen Platinbleche den Bäuschen sehr an und wendet einen breiten Schlies-
sungsbausch an, der in ausgiebiger Berührung mit beiden andern steht. Endlich
3) darf durch die Berührung der thierischen Theile mit den flüssigen Multiplikatoren-
enden (den Bäuschen) keine neue, in den Nerven nicht schon enthaltene Elektrizi-
tätsquelle gesetzt werden. Obwohl nun dieses durch die Berührung des Kochsalzes
mit den Nerven nicht geschieht; so darf der Nerv dennoch nicht unmittelbar auf
die Bäusche gelegt werden, weil das eindringende Kochsalz ihn rasch zerstören würde.
Darum legt du Bois, bevor er die Nerven einschaltet auf jeden Bausch ein Stück-
chen Harnblase des Schweins, das vorher aufs innigste mit Hühnereiweiss durch-
feuchtet worden ist. Von diesem hier geschilderten Apparat gibt die Fig. 9 eine
Vorstellung; die Vorrichtung ist in dem Zustande der Schliessung durch den Nerven
dargestellt.


Figure 9. Fig. 9.

[75]Methode der electrischen Untersuchung.

N bedeutet den Nerven, H H die mit Eiweiss durchtränkten Häutchen, B B die
Bäusche, G G die Becher, welche bis nahe zum Rand mit gesättigter Kochsalzlösung
gefüllt sind; P P die Platinbleche deren oberer (schräg schraffirter) Theil gefirnisst
ist und die mit blanken Enden in die Metallklemmen K K gehen. Diese Klemmen sind
an dem metallischen Ständer S S befestiget, dessen senkrechte Stücke durch einge-
schobene Glascylinder (die schräg schraffirten Theile) vom Boden isolirt werden.
Aus dem horizontalen Arm des Ständers führt endlich der Zuleitungsdraht D D
zum Multiplikator M, dessen Construktion als bekannt vorausgesetzt wird.


Das Genauere über die Einrichtung und Handhabung dieses Apparates siehe bei
du Bois I. Bd. 161 u. f.


Die Bedeutung welche dem Multiplicator als Messinstrument zukommt, bedarf
noch einer weiteren Auseinandersetzung; um sie zu veranschaulichen wenden wir
uns sogleich zur Betrachtung eines Beispiels, das als ein Schema der Nerven in elek-
trischer Beziehung angesehen werden kann. Zu diesem Behufe denken wir uns es sei

Figure 10. Fig. 10.


(Fig. 10) auf dem Boden des Tro-
ges T T ein aus Kupfer Cu und aus
Zink Z zusammengelöthete Platte
angebracht und es sei dieselbe dar-
auf mit einer leitenden Flüssigkeit
übergossen worden. In diesem Fall
werden durch die Flüssigkeit elek-
trische Ströme dringen von dem
positiven zu dem negativen Metall,
in der Richtung, welche die Pfeile
angeben. Werden darauf die me-
tallischen gleichartigen Enden PP
des Multiplikators M in die Flüs-
sigkeit getaucht, so wird der ur-
sprünglich einfache, die Flüssigkeit
durchlaufende elektrische Strom
sich spalten, indem er nun auch
einen Zweig in der Richtung der Pfeile durch den Multiplikatorendraht sendet. Die
Aufgabe des Multiplikators besteht nun darin, uns aus dem durch ihn tretenden
Zweigstrom eine Vorstellung zu verschaffen über Richtung und Stärke des durch die
Flüssigkeit tretenden Hauptstroms. Es ist nun sogleich klar, dass die Antheile der
Gesammtströmung, welche durch jeden der Zweige (den Draht und die Flüssigkeit)
hindurchgehen, abhängig sein werden von dem Verhältniss ihrer Leitungswider-
stände, in der Art, dass wenn der Widerstand, den die metallische Bahn dem elektri-
schen Strom entgegen setzt, die Hälfte von dem betragen würde, den die Flüssig-
keitsbahn bietet, der Strom im Draht ums doppelte den im Trog übertreffen würde.
Ist demnach das Verhältniss der Leitungswiderstände in beiden Stromzweigen ein
constantes und zugleich bekanntes, so würde man aus dem Grade der Nadelablenkung,
den der Stromzweig in dem graduirten Multiplikator erzielte, auch den Stromwerth
in der Flüssigkeit durch einen einfachen Proportionssatz berechnen können — Ge-
setzt aber, es wäre das Verhältniss der Leitungswiderstände zwar ein constantes,
dagegen die ihm zukommende Zahl nicht bekannt, so würden wir zwar keinen Auf-
schluss über den absoluten Werth des Stromes in der Flüssigkeit erhalten, wir wür-
den dagegen noch mit Sicherheit angeben können, ob und welchen Schwankungen
die Gesammtströmung unterworfen sei. Denn offenbar müsste wegen der Beständig-
keit des Verhältnisses der Leitungswiderstände beider Bahnen einer jeden Verän-
derung der Stromstärke in der Flüssigkeit auch eine solche in dem Drahte parallel
gehen, deren jeweilige Werthe an dem Stande der Nadel abgelesen werden könnten;
mit einem Worte, der Multiplikator wäre statt eines absoluten ein proportionaler
[76]Methode der electrischen Untersuchung.
Masstaab geworden. — Wenn dagegen auch noch die Bedingung des beständigen
Widerstandsverhältnisses nicht erfüllt ist, so hört der Multiplikator auf propor-
tionaler Maasstab zu sein; ja es kann sich sogar nun ereignen, dass die im Multi-
plikator kreisende Elektrizität weder einen Schluss zulässt auf die Stärke noch auf
die Richtung des Stromes in der Flüssigkeit. In der That tritt bei einer Vorrichtung
wie sie unser Schema darstellt ein Umstand ein, der genau so wirkt, als ob das Wi-
derstandsverhältniss beider Zweige während der Dauer eines in seiner Stärke schwan-
kenden Stromes ein unbeständiges sei. Dieser Umstand ist aber kein anderer als
die Polarisation oder Ladung, welche die Enden eines Drahtes erfahren, der, wie in
unserem Fall, zur Nebenschliessung eines durch Flüssigkeiten geführten Stromes be-
nutzt wird. Diese Polarisation besteht nun bekanntlich in dem Absatz von Zersetzungs-
produkten der Flüssigkeit auf den beiden Drahtenden in der Art, dass auf derjenigen

Figure 11. Fig. 11.


Endplatte P1 in Fig. 11, durch wel-
che der ursprüngliche Strom u u u
in die metallische Leitung eintritt
sich ein elektropositives Zersez-
zungsprodukt (in der Fig. durch
den senkrecht schraffirten Mantel
angedeutet) anlegt, während an
die Platte P″, durch welche der
Strom austritt, sich das negative
(in der Fig. horizontal schraffirte)
Zersetzungsprodukt heftet. Die
nothwendige Folge dieser Verthei-
lung der Zersetzungsprodukte ist
die Entstehung eines neuen Stro-
mes, des Polarisations- oder La-
dungsstromes, der in einer Richtung
sich bewegt, die derjenigen des ur-
sprünglichen Stromes entgegengesetzt ist. Denn da der elektromotorisch wirksame
Berührungspunkt der Zersetzungsprodukte durch den Multiplikatorendraht gegeben
ist, so wird offenbar der von ihm ausgehende Strom in der Richtung der Pfeile, wel-
che in der Fig. auf der punktirten Bahn gelegen sind, nehmen. Dem gemäss kreisen
in dem Multiplikatorendrahte gleichzeitig zwei Ströme von entgegengesetzter Rich-
tung, so dass nun auch ihre an der Nadel zur Erscheinung kommende Wirkung die
resultirende ist aus beiden Strömen; offenbar wirkt also der Ladungsstrom, rück-
sichtlich des sichtbaren Erfolges, auf die Nadel, wie ein Leitungswiderstand für die
ursprüngliche Strömung. — Um den Einfluss dieses Ladungsstromes auf das Resul-
tat der Messung beurtheilen zu können, mit andern Worten: um angeben zu können
wie gross der durch den Ladungsstrom vernichtete Antheil des ursprünglich im Drahte
kreisenden Stromes sei, ist es nothwendig zu wissen, wie mit der Dauer und Stärke
des ursprünglichen Stromes, der Ladungsstrom wachse. Rücksichtlich dieser Ver-
hältnisse steht fest, dass alles andere gleichgegetzt die Ladung zunimmt mit der
Stärke des ursprünglichen Stromes, jedoch nicht mit dem Beginn desselben sogleich
ihr Maximum erreicht, oder beim Aufhören des ladungerregenden Stromes sogleich
auf Null herabsinkt, sondern dass beides, die Entwicklung und das Verschwinden
der Ladung sehr allmälig vor sich gehen. Hieraus folgt nun u. A., dass wenn die
Stärken des ursprünglichen Stromes rasch genug wechseln, um den Ladungen nicht
die gehörige Zeit zu gönnen, zur Annahme desjenigen Werthes, welcher der gerade
vorhandenen Stärke des ursprünglichen Stromes entspricht, der Multiplikator eben-
sowenig benutzt werden kann als Mittel für die Bestimmung der Stärke als für die-
jenige der Richtung des Stromes, in den seine Enden tauchen. Denn es wird sich z. B.
ereignen können, dass, nachdem ein Strom längere Zeit in beträchtlicher Intensität
[77]Methode der electrischen Untersuchung.
bestanden und er die Platten bis auf das seiner Stärke entsprechende Maximum gela-
den hat, und er darauf plötzlich beträchtlich geschwächt wird, der zurückbleibende
Ladungsstrom das Uebergewicht erhält über den Rest des Hauptstromes, so dass da-
rum die Nadel für einige Zeit gerade in eine Richtung geführt wird, welche derjenigen
entgegengesetzt ist, nach der sie der Hauptstrom ablenken würde. Weil sich nun die
Ladungen überhaupt nicht vollkommen vermeiden lassen, so folgt daraus, dass die
Nadelablenkungen, welche die in den Drähten des Multiplikators laufenden Ströme
erzeugen, auch nicht als ein direkt proportionales Mass für die in der Flüssigkeit
vorhandene Electricitätsbewegung, vorausgesetzt dass diese eine unregelmässige sei,
angesehen werden können, sondern dass der Multiplikator unter dieser Bedingung
nur dazu dient, um mit Hülfe besonderer später noch zu erwähnender Kunstgriffe
uns im Grossen und Ganzen Angaben darüber zu machen, ob die Ströme einer Flüs-
sigkeit im Sinken oder Steigen begriffen sind.


Schliesslich soll dem Anfänger zu Liebe noch hervorgehoben werden, dass die
Stärke eines elektrischen Stromes geradezu steigt mit dem Werthe der ihn erregen-
den (der elektromotorischen) Kräfte (E) und geradezu abnimmt im Verhältniss der
Widerstände (W) die die bewegte Electricität auf ihren Bahnen findet. Die Strom-
stärke (S) ist darum immer ausdrückbar durch einen Quotient . Da nun
der Multiplikator im günstigsten Falle nur den Werth dieses Quotienten misst, so
gibt er ohne weitere Hülfsmittel selbstverständlich keinen Aufschluss über die
Werthe von E oder W und namentlich auch nicht darüber, ob eine Stromvermehrung
oder Stromverminderung durch das Wachsen oder Sinken der Stromstärke oder des
Widerstandes erzeugt sei. Aufklärung darüber kann man nur dadurch erhalten,
wenn es gelingt, während der Messung die Bedingungen willkürlich dahin zu ändern,
dass man bei gleichbleibendem W, das E, oder umgekehrt bei gleichbleibendem E das
W veränderlich macht.


Den Froschschenkel präparirt man sich behufs thierisch- elektrischer Unter-
suchungen so, dass man am enthäuteten Beine den Oberschenkelknochen kurz über
den Ansätzen des M. gastrocnemius durchschneidet, dann alle Muskeln, die die Ver-
bindung zwischen dem unteren und oberen Stücke des Oberschenkels noch herstellen,
löst, den Nervus ischiadicus dagegen möglichst weit gegen seinen Ursprung frei
präparirt und ihn an diesem abschneidet, so dass er in Verbindung mit dem Unter-
schenkel bleibt. Der stromprüfende Froschschenkel ist also ein enthäuteter
Unterschenkel, dessen zugehörige Nervenstämme möglichst lang erhalten sind. Seine
Vorzüge vor dem Multiplikator bestehen 1) darin, dass durch ihn ohne Einfügung
von Metallen ein Strom geprüft werden kann, wodurch alle die am Multiplikator
nothwendigen und verwickelten Zwischenapparate wegfallen, 2) aber vorzüglich da-
rin, dass er eine Seite der elektrischen Strömung aufdeckt, welche dem Multiplika-
tor ganz unzugänglich ist. Bekanntermassen ist die Magnetnadel zu träg, um einen
momentan dauernden Strom überhaupt oder wenigstens in der seiner Intensität
entsprechenden Stärke anzuzeigen. Die nothwendige Folge dieser Eigenschaft ist nun
auch die, dass die Magnetnadel rasch wechselnden Schwankungen eines Stromes
in seinen verschiedenen Phasen nicht zu folgen vermag, sondern dass sie nur die
resultirende Wirkung eines in seiner Stärke und Richtung rasch veränderlichen
Stromes darstellt. So würde unter andern eine Magnetnadel gar keinen Strom anzei-
gen (auf dem Nullpunkt verharren), wenn in rascher zeitlicher Folge regelmässig
wechselnd zwei gleich starke aber in entgegengesetzter Richtung gehende Ströme
sich durch den Multiplikatorendraht drängen. Ganz anders würde sich aber dann der
Froschschenkel verhalten; wegen seines geringen Trägheitsmomentes erleidet er
merkbare Veränderungen durch jeden noch so kurz dauernden Strom, und nament-
lich wegen seiner Eigenschaft nur durch den in seiner Stärke veränderlichen Strom
zu Muskelbewegungen veranlasst zu werden, tritt er gerade als ein Reagens für
[78]Ruhender Nervenstrom.
jeden Wechsel desselben auf, so dass er z. B. in dem eben erwähnten Fall der Strö-
mung, welche die Nadel vollkommen in Ruhe liess, in sehr lebhafte Zuckungen ge-
rathen würde.


2. Electrische Erscheinungen am lebenden Nerven, während er sich
in einem Zustande befindet, in welchem er innerhalb des thierischen
Körpers weder Empfindung noch Bewegung noch Absonderung erzeu-
gen würde. Ruhender Nervenstrom. Das Präparat, an dem du
Bois
die Untersuchung vornimmt, ist ein frisches langes Stück eines
möglichst astlosen stärkern Stammes (n. ischiadicus) der am besten
von einem lebenskräftigen Kaltblüter genommen wird. Indem man
dieses Stück als einen Cylinder ansieht, unterscheidet man an ihm den
Cylindermantel (den Längsschnitt), die Cylinderbasis (Querschnitt)
und die auf die Längenachse desselben senkrechte Halbirungslinie
(den Aequator). Die Untersuchung stellt sich nun zuerst die Aufgabe,
zu ermitteln, ob und von welchen Punkten der Oberfläche Ströme zu
andern Punkten derselben gehen, und wenn sie vorhanden, wie stark
die Strömung an jedem Orte ist. Demgemäss bringt man den Nerv
gleichzeitig an verschiedenen Stellen mit den beiden Zuleitungsbäu-
schen, welche in einer constanten Entfernung von einander stehen, in
Verbindung. Berührt man nun gleichzeitig die Bäusche mit sym-
metrisch zum Aequator gelegenen Punkten des Nervenstücks, gleich-
giltig ob sie auf dem Längs- oder Querschnitte sich befinden, so er-
scheint keine Ablenkung der Nadeln; unwirksame Anordnung.
Berührt dagegen der eine der Bäusche den Aequator und der andere
ein zweites Stück der Oberfläche, so entsteht eine Ablenkung; die
Grösse der Ablenkung wächst rascher und rascher, wenn man mit
beiden Bäuschen mehr und mehr gegen die Grenze der Oberfläche und
des Querschnitts wendet, schwache Anordnung; sie erreicht ein
Maximum, wenn man endlich einen Bausch auf der Oberfläche zurück-
lässt und mit dem andern auf den Querschnitt übergeht; starke An-
ordnung.
— Die Richtung der Ströme geht in allen Fällen durch den
Multiplikatorendraht von dem Längsschnitt zum Querschnitt und also

Figure 12. Fig. 12a.


im Innern des Nerven vom
Querschnitt zur Oberfläche.
Die um den Aequator gele-
genen Theile der Oberfläche
verhalten sich also positiv
gegen die nach den Enden
gelegenen und diese wieder
positiv gegen den Quer-
schnitt. Eine Versinnlichung
des Wachsthums der Ströme
von ihrem Minimum zu ihrem
Maximum bei gleicher
Spannweite
des ableiten-
[79]Ruhender Nervenstrom.
den Bogens erhält man, wenn man sich die wachsenden Stärken der
Ablenkung als Ordinaten y1, y2, y3 u. s. w. auf der Oberfläche des Ner-
ven N als Abszisse aufgetragen denkt, wie dies in der Fig. 12a ge-
schehen ist. Die Pfeile geben die Richtung der Ströme an.


Diese Curve zeigt also, an, dass auf dem Längenschnitt sym-
metrisch um den Aequator Ströme gleicher Stärke und entgegenge-
setzter Richtung gehen. Dasselbe setzt sie von den Strömen auf dem
Querschnitte des Nerven voraus, was vorerst noch nicht durch den
Versuch dargethan; die Gründe, die die Richtigkeit dieser letzteren
Annahme wahrscheinlich machen, werden später noch beigebracht
werden. Die Form der Curve ist nur als eine schematische anzusehen.


Die Gegenwart dieser Ströme von dem Längsschnitt des Nerven zu seinem Quer-
schnitt, kann nun auch durch den Froschschenkel erwiesen werden. Der Versuch,
durch den du Bois dieses thut, ist folgender. Er stellt (Fig. 12b) zwei mit con-

Figure 13. Fig. 12b.


zentrirter Kochsalzlösung
wohl durchfeuchtete Bäu-
sche (B1B2) die auf einer
wohl isolirten Grundlage
ruhen, auf; an zwei Stel-
len beider werden die mit
Eiweiss durchdränkten
Harnblasenstückchen E E
angedrückt und auf den
Bausch B2 ausserdem
noch in Glasplättchen G
gelegt; hierauf bringt er
einen sehr erregbaren
stromprüfenden Frosch-
schenkel F auf das Glas-
plättchen und seinen zu-
gehörigen Nerven auf
das Harnblasenstück des
Bausches B2 mit der
Oberfläche und auf dasjenige des Bausches B1 mit dem Querschnitt an. Ist dieses
geordnet, so verbindet er sehr rasch die beiden Bäusche durch den Schliessungs-
bausch S, in welchen augenblicklich ein Strom von B2 zu B1 dringt, in Folge
dessen der Schenkel zuckt. Oeffnet man eben so rasch wieder, so entsteht eine
zweite Zuckung. — Es bringt also hier ein Strom, der die im Nerven enthaltenen
Gegensätze auszugleichen strebt, den Nerven in Erregung.


Wenn man die Spannweite des zum Multiplikator ableitenden Bo-
gens statt sie, wie bisher vorausgesetzt wurde, gleich gross zu erhalten,
veränderlich macht, so dass z. B. der Nerv mit seinem Aequator auf ei-
nem Bausch unveränderlich aufruht, während der andre mehr und mehr
gegen das Ende desselben rücket, und demgemäss nach jedem Weiter-
gang der Bogen längere Nervenstücke umspannt, so steigen die Aus-
schläge der Nadel beträchtlich und man erhält den stärksten Ausschlag,
wenn der Nerv den einen Bausch am Querschnitt und den andern am
[80]Ruhender Nervenstrom.
Aequator berührt, einen stärkeren als wenn irgend eine dem abgeleite-
ten Querschnitt nahe liegende Stelle der Oberfläche berührt wird.


Dieses bisher beschriebene Verhalten des Nerven gegen die Mag-
netnadel tritt mit seinen allgemeinen Kennzeichen ein, mag das Ner-
venstück dick oder dünn, lang oder kurz sein; jedes noch so kleine
der Untersuchung noch zugängige Stück zeigt unwirksame, schwache
und starke Anordnungen und seine Ströme gehen immer bezüglich
der Richtung nach demselben Gesetz. So unwesentlich demnach die
Masse des Nerven für das Zustandekommen der Ströme ist, so ein-
flussreich erscheint sie auf die Stärke derselben. Du Bois hat in
Rücksicht dieses letzteren Punktes ermittelt, dass mit der Zunahme
der Länge und des Querschnittes eines Nerven die Stärke des Stromes
in irgend einem noch unbekannten Verhältniss wächst.


Um diese Thatsachen festzustellen sind bei den zu vergleichenden Nerven verschie-
dener Länge die Spannweiten des Bogens so zu legen, dass jedesmal die Maxima
der möglichen Wirkungen gegeben werden; ihr einer Grenzpunct muss demnach der
Aequator, der andere der Querschnitt sein. Da nun ferner verschiedene Nerven ver-
schiedene elektromotorische Kräfte besitzen können und in der That besitzen, wie
sich noch zeigen wird, so müssen möglichst gleichartige Nerven, also die gleichna-
migen der beiden Schenkel desselben Thieres, oder auch verschieden dicke Enden des-
selben Nerven verglichen werden. Endlich führte auch die Verschiedenheit des
Querschnittes und der Länge des Nerven verschiedenen Widerstand in den Kreis;

Figure 14. Fig. 13.


diese Unterschiede werden [aufgeho-]
ben durch das Verfahren der Com-
pensation,
das darin besteht, dass
die zu vergleichenden Nervenstücke
gleichzeitig in den Kreis, aber in ent-
gegengesetzter Richtung, einge-
schaltet werden, wie diess in Fig. 13
angegeben. Der Nerv B sendet dann
einen Strom in der Richtung 1. 2. 3 und
der Nerv A einen solchen in der Rich-
tung 3. 2. 1. durch den Kreis. Erscheint
in diesem Fall ein Uebergewicht des
einen Stromes, so muss dieses von
grössern elektrischen Leistungen ei-
nes der beiden Nerven abhängen, da
der ausserwesentliche Widerstand
(der Widerstand ausserhalb der im
Nerven enthaltenen Ketten) in bei-
den Fällen gleich ist.


Ausser den Dimensionen des Nerven wirken noch bestimmend
auf die Intensität des ruhenden Nervenstroms gewisse innere nicht
genauer bestimmbare Verhältnisse der mechanischen und chemischen
Anordnung des Nerven. Am stärksten erscheint der Strom, wenn der
Nerv frisch von einem recht lebenskräftigen Thier genommen wird,
und aus einem Glied, welches einige Zeit vorher keinen physiologi-
schen Anstrengungen ausgesetzt war. Dieses Maximum der uns be-
kannten Stromstärke kann auf mancherlei Art willkürlich geschwächt
[81]Anordnung der electrischen Massen.
oder vernichtet werden; alle diese Schwächungsmittel haben, so viel-
fach sie auch sein mögen, immer noch gleichzeitig die Folgen die che-
mische und mechanische Anordnung des Nerven abweichend von der-
jenigen des frischen Nerven zu gestalten. Wie weit und nach welchen
Richtungen die Abweichung gegangen sein muss, um die Ablenkung der
Nadel in dieser oder jener Weise zu modificiren, ist ganz unbekannt, was
nicht minder zu bedauern als der Umstand, dass wir nicht im Stande
sind einmal eingetretene Stromschwächungen wieder aufzuheben.


Folgerungen für die Anordnungen der electrischen
Theile im Nerven.
Die Schlüsse, welche für die electrische Mas-
senanordnung aus den bis dahin gegebenen Thatsachen fliessen sind
1) die electrischen Massen des erregbaren Nerven sind in eine Schichte
eines feuchten indifferenten Leiters eingebettet, und zwar so, dass sie
wirken als ob ihre positive Seite gegen den Cylindermantel, die nega-
tive gegen den Querschnitt gewendet sei. Mit andern Worten der erreg-
bare Nerv stellt eine geschlossene Säule dar, dessen positiver Pol ge-
gen den Längen-, dessen negativer gegen den Querschnitt gerichtet ist.


Die Beweise für diesen Satz liegen darin, dass auch auf dem Längenschnitt für
sich Ströme vorkommen; wäre in der That die Oberfläche des Längenschnitts (die
Scheide des Nerven) das positive Glied, so würde gleichzeitige Berührung derselben
keinen Strom bedingen; dass dagegen sogleich auf der Oberfläche der Nerven ein
Strom eintreten muss, wenn man die an der Oberfläche und an dem Querschnitt enthal-
tenen elektrischen Gegensätze durch einen indifferenten Leiter verbindet, ist von
selbst klar. — Um diese wichtige Folgerung über allen Zweifel zu heben, hat du
Bois
noch folgende Anordnung mit dem Multiplikator untersucht. — Mit einem Bausch

Figure 15. Fig. 14.


A brachte er die Oberfläche eines quergelegten Nerven 1 in Berührung; an diesen
legte er den Querschnitt des Nerven 2 der mit dem Aequator seiner Oberfläche
auf den Bausch B zu liegen kam, diese Anordnung gab den starken Strom von
der Oberfläche zum Querschnitt, was nicht hätte eintreffen dürfen, wenn die Ober-
fläche der Nerven das positive Glied gewesen wäre. Die Modifikation dieses letz-
teren Versuchs von du Bois die Nerven so zu legen, dass die Querschnitte auf die
ableitenden Bäusche und der Längeschnitt in der Mitte sich befinden, gibt den Be-
weiss, dass auch auf dem Querschnitt die negative Masse mit einem unwirksamen
Ueberzug versehen ist; dieser Fall gibt nämlich ebenfalls einen starken Strom.


Ludwig, Physiologie I. 6
[82]Electrotonischer Zustand.

Aus den bis dahin mitgetheilten Thatsachen folgt 2) dass die im
Nerven enthaltenen positiven und negativen electrischen Massen hin-
tereinander in regelmässiger Reihenfolge wiederkehren. Diese Be-
hauptung wird durch die Erscheinung gerechtfertigt, dass die Grösse
des Nervenstücks keinen Einfluss auf das allgemeine Strömungsgesetz
übt, und dass die symmetrisch zum Aequator gelegenen Theile an ei-
nem möglichst regelmässig geformten Nervenstück ganz gleiche Span-
nungen darbieten, so dass kein Strom zwischen ihnen bestehen kann.
In dieser Beziehung zeigt der Nerv Analogie mit einem Magneten.


3. Electrisches Verhalten des Nerven, während ein Theil seiner
Länge dem Einfluss eines electrischen Stromes unterworfen ist. Elec-
trotonischer Zustand.
— Bevor wir die bis dahin mitgetheilten
Thatsachen zu noch weitern Folgerungen nutzbar machen, sollen erst
die Umwandlungen der electrischen Erscheinungen besprochen werden,
welche du Bois im Nerven beobachtete, und zwar zuerst diejenige wel-
che eintritt, wenn man eine kurze Strecke eines langen Nervenstücks in
den Multiplicatorenkreis einschaltet und durch das ausserhalb dieses
Kreises gelegene Ende einen electrischen Strom von gleichbleibender
Stärke durchtreten lässt. Der Versuch gestaltet sich folgendermassen

Figure 16. Fig. 15.


(Fig. 15): der Nerv N liegt mit
einer Abtheilung auf den Bäuschen
B B die in bekannter Weise mit
dem Multiplikator M verbunden
sind, während durch einen andern
Theil des Nerven N die constante
(eine Grovesche oder Bunsen-
sche) Säule K geschlossen wird.
Den Strom dieser Säule werden wir
den erregenden, das zwischen
den Polen der letztern liegende
Nervenstück das galvanisirte,
das auf den Bäuschen liegende das abgeleitete nennen. — Unter die-
sen eben gegebenen Bedingungen erfährt der Strom, der ursprünglich
(vor Anlegung der Kette) im Nerven vorhanden war, eine Veränderung,
und zwar eine Verstärkung, wenn der in das galvanisirte Stück ge-
schickte Strom gleiche Richtung mit dem ursprünglichen (Nerven) Strom
in der abgeleiteten Stelle besitzt und umgekehrt eine Schwächung oder
gänzliche Umkehrung, wenn der erregende Strom das galvanisirte
Stück in einer Richtung durchkreisst, die entgegengesetzt von derjeni-
gen ist, welche dem ursprünglichen Nervenstrome in dem abgeleiteten
Stücke zukommt. Die Vermehrung (oder Verminderung) des Nervenstroms
nennt du Bois den electrotonischen Zuwachs, und den Nerven
nennt er in der positiven Phase befindlich, wenn der Nerven- und
erregende Strom gleichgerichtet sind (also der erstere verstärkt wird),
[83]Parodoxe Zuckung.
und umgekehrt, befindet sich der Nerv in der negativen Phase wenn
Nerven- und erregender Strom im entgegengesetzten Sinne laufen
(also der erstere geschwächt wird). Der electrotonische Zuwachs
tritt momentan mit dem Schluss der erregenden Säule ein, besteht so
lange sie geschlossen bleibt, und verschwindet momentan mit ihrer
Oeffnung.


Der Verdacht, der sich hier erheben könnte, als ob die beobachtete Nadel-
abweichung keine Folge der veränderten elektrischen Eigenschaften des Nerven
sei, sondern eine unmittelbare des erregenden Stromes, wird einfach vernichtet,
wenn man erfährt, dass der electrotonische Zuwachs ausbleibt, so wie zwischen das
erregte und das abgeleitete Stück ein befeuchteter Faden so fest um den Nerven
geschnürt wird, dass beide Theile nicht mehr durch Nerveninhalt sondern nur durch
die Scheide und den nassen, also E leitenden Faden zusammenhängen. Ebenso sicher
bleibt der elektrotonische Zuwachs, wie überhaupt alle elektrische Wirkung aus, wenn
ein nicht mehr erregbares Nervenstück in gleicher Weise auf die Bäusche gelegt und
gleichzeitig von erregenden Strömen durchkreisst wird. — Der erregende Strom könnte
in der That auf zweierlei Art direkt auf die Nadel wirken; einmal durch die Luft,
was man verhütet, wenn man die Säule selbst entfernt von der Nadel aufstellt,
und die von ihr zum Nerven gehenden umsponnenen Drähte umeinanderwickelt;
oder durch Stromesschleifen, die sich von den an die Nerven angelegten erregenden
Polen über die Enden des galvanisirten Nervenstücks hinaus erstrecken. Diese
Schleifen werden vermieden oder auf einen sehr engen Raum beschränkt, wenn die
Pole des erregenden Stromes aus feinen Drähten bestehen, und der Zwischenraum
zwischen beiden nicht zu gross genommen wird. In diesem Fall kann man die Drähte
des erregenden Stromes bis auf 2 M. M. den ableitenden Bäuschen nähern, ohne ein
Uebergehen der Ströme aus dem erregenden in den Multiplikatorkreis zu gewahren.


Paradoxe Zuckung. Das Eintreten und Verschwinden des elektrotonischen
Zustandes lässt sich nach du Bois auch durch den stromprüfenden Froschschenkel
darlegen. Man ordnet den Versuch nach dem Schema an das die Fig. 16 gibt. Den
Nerven eines stromprüfenden, sehr lebenskräftigen Froschschenkels N legt man in
innige Berührung mit einem noch möglichst erregbaren Nervenstück M, an dieses
schlägt man bei S eine ganz lockere Schleife, so dass der Nerv in keiner Weise ge-
drückt wird, und an sein Ende legt man ihn auf zwei sehr nahe stehende und sehr
feine Drähte, welche mit der Säule K in Verbindung stehen. Der Schluss oder die
Oeffnung der Säule geschieht durch die Herstellung oder Unterbrechung der Leitung
in einem der Drähte, indem man zwei einander zugekehrte Enden desselben in ein
Quecksilbernäpfchen Q taucht.


Figure 17. Fig. 16.

In dem Momente wo die
Schliessung oder Oeffnung
der Kette erfolgt, tritt eine
Zuckung in den Schenkeln
ein. Dass auch hier kein
unmittelbares Uebertreten
der Elektricität aus der
Kette K in den Nerven N
stattfinde, wird dadurch
bewiessen, dass die Zuk-
kung beim Schliessen und
Oeffnen der Kette aus-
bleibt, wenn die Schlinge
K des wohldurchfeuchte-
ten Fadens S so fest zuge-
6*
[84]Electrotonischer Zustand.
schnürt wird, dass der Inhalt des Nerven M zwischen der erregten und der mit
dem Nerven N in Berührung befindlichen Stelle unterbrochen wird. Als Erregungs-
mittel des stromprüfenden Froschschenkels dient also nichts anderes als die im
Marke des erregten Nerven M anschwellenden und sinkenden elektrischen Ströme im
Momente der Schliessung und Oeffnung der Kette K.


Die Stärke des electrotonischen Zuwachses, resp. die durch ihn
herbeigeführte Vermehrung der Nadelablenkung unter Voraussez-
zung einer gleichen Spannweite
der ableitenden Bäusche des
Multiplicators ist abhängig von folgenden Umständen:


a) Der Zuwachs erscheint bei Auflegung der ursprünglich unwirk-
samen oder schwachen Anordnungen des Nerven sehr viel beträcht-
licher als beim Auflegen der ursprünglich kräftigen Anordnung des
Nerven. Diese Behauptung wird dadurch gerechtfertigt, dass die im
electrotonischen Zustand von der Oberfläche des Nerven abgeleiteten
Ströme fast so beträchtlich sind, als die von der Oberfläche und dem
Querschnitte abgeleiteten.


b) Die Stärke des Zuwachses steigert sich mit der Annäherung
an die Electroden des erregenden Kreises; das Gesetz seiner Zunahme
mit der Näherung an den erregenden Kreis ist aber nicht das der
einfachen Proportionalität, sondern das eines ursprünglich raschen

Figure 18. Fig. 17.


und dann nur sehr allmähligen
Steigens, so dass annähernd
dasselbe durch folgende Curve
(Fig. 17) dargestellt wird; in
dieser Curve bedeuten die Hö-
hen der Ordinaten y die Stärken
des Zuwachses auf der jewei-
ligen Stelle der Nerven N
wenn die erregende Kette
Z P in der gegebenen Stel-
lung sich findet.


Die Auffindung dieses Gesetzes der Veränderung des elektrotonischen Zuwachses
auf der Länge des Nerven, die besondere Schwierigkeiten bietet, ist auf zwei Wegen
möglich. Entweder man verrückt auf den Bäuschen die abgeleitete Stelle und lässt
die erregende unverändert; in diesem Fall misst man die Resultirende aus den
zweien mit der Länge der Nerven veränderlichen Grössen, nämlich der Veränderung
des Nervenstromes und der des elektrotonischen Zuwachses, denn es ist, was beson-
ders hervorzuheben, der Nerv im elektrotonischen Zustand auch noch dem Gesetze
des ursprünglichen Nervenstromes unterworfen. In diesem Fall wird also die
Curve der scheinbaren, (d. h. der am Multiplikator sichtbaren) Stromstärke auf
dem Nerven so sein, wie sie Fig. 18 darstellt. Diese Curve ist folgendermassen
zu verstehen: a o b ist die Curve des Nervenstromes d. h. die Ordinaten a Y
bis b Y bedeuten die Wechsel in der Grösse der Ausschläge, welche man erhält
wenn man über den Nerven, bevor er im elektrotonischen Zustande war, mit je-
desmal gleichweit entfernten Bäuschen hingeht. Die Darstellung, dass von a bis
o die Ordinaten positiv und von o bis b negativ sind, bedeutet die Umkehr des Stro-
mes, wie sie auch durch die Pfeile im Nerven N angedeutet ist. h c und d e bedeu-
[85]Electrotonischer Zustand.

Figure 19. Fig. 18.


ten die Veränderung in dem Werthe des elektrischen Zuwachses, wenn der Strom den
die Elektroden P Z durch den Nerven schicken in der Richtung des Pfeiles durch ihn
geht, der zwischen den Elektroden gezeichnet ist. Die algebraische Summe beider
Ordinaten an jedem Punkte wird die jeweilige Ordinate der Resultirenden beider dar-
stellen. Die aus ihrer Zusammenstellung hervorgehende Curve ist 1. 2. 3. 4. 5..
Wie man sieht liegt diese Curve in der Hälfte wo der Nerven- und erregender Strom
gleichgerichtet sind auf der positiven Seite über der Curve des Nervenstroms (po-
sitive Phase) auf der anderen Seite des Aequators o in der negativen Phase liegt
unsre Curve dagegen zum Theil auf der positiven Seite, schneidet aber bei 4 die
Abszissenachse und erreicht nun bei 5 ihr Maximum auf der negativen Seite. Ob-
wohl die Hilfsmittel noch nicht so weit gediehen sind, um aus den Messungen
mit Schärfe die Curve abzuleiten, so entspricht doch die Messung der theoretischen
Entwicklung so annäherend, dass die Richtigkeit der hier gegebenen Vorstellung vom
Zuwachs nicht bezweifelt werden kann. *) — Die andre Art der Messung gewinnt den
Werth des elektrotonischen Zuwachses auf direkterem Weg, indem sie den Ort des
abgeleiteten Nervenstücks unverändert lässt, dagegen den erregenden Strom dem auf
den Bäuschen liegenden Nerven bald nähert und bald von ihm entfernt. In diesem Fall
wird begreiflich die vom Nervenstrom herrührende Veränderlichkeit beseitigt. Auch
diese Messung bestätigt die im Text gegebene Curve des Zuwachses.


c) Die Abhängigkeit des electrotonischen Zustandes von der Dich-
tigkeit und Stärke des erregenden Stromes gestaltet sich so, dass ur-
sprünglich mit dem Steigen des erregenden Stromes auch der electro-
tonische Zustand wächst, bald aber ein Maximum erreicht, über das
hinaus beim weiteren Steigen des erregenden Stromes die Stärke des
electrotonischen Zustandes nicht gesteigert wird.


d) Die Stärke des electrotonischen Zustandes wächst mit der
Länge des Nervenstückes, welches in den erregenden Kreis einge-
schoben wird.


Die Eigenschaft des elektrotonischen Zustandes, seine Wirkungen auf anlie-
gende Theile durch ein unterbundenes Nervenstück nicht weiter zu verbreiten, gibt
die Möglichkeit an die Hand, auch die unter d angeführte Thatsache direkt zu erwei-
[86]Anordnung der electrischen Massen.
sen. Wollte man nämlich die Stärke des Zuwachses an einer bestimmten Stelle des
Nerven prüfen, während man die Länge des in den erregenden Kreis eingeschobenen
Stückes bald kürzer bald länger wählte, so würde man damit zugleich die Strom-
stärke in dem erregenden Kreise ändern, indem man nämlich hierdurch den Wider-
stand steigerte und schwächte. Um diese Fehler zu vermeiden, lässt du Bois die
Länge des Nervenstückes zwischen den Polen der Säule unverändert, unterbindet
aber, nachdem er vorher die Stärke des Zuwachses festgestellt hat, den Nerven in
der Mitte zwischen beiden Polen, wodurch die Hälfte des erregten Nervenstücks
seine Wirsamkeit für die Vermehrung des elektrotonischen Zustandes im abgeleiteten
Nervenstück verliert.


e) Die Stärke des electrotonischen Zuwachses ist vom Winkel
abhängig, welchen der Zweig des erregenden Stromes mit der
Längenachse des Nerven bildet; wird der erregende Strom unter einem
rechten Winkel zur Längenachse des Nerven durchgeleitet, so tritt
gar kein elektrotonischer Zustand ein, während dieser letzteren alles
andere gleichgesetzt im Maximum erscheint, wenn die Stromrichtung
in die Längenaxe des Nerven fällt.


Du Bois hat sich, wie aber auch ohne Bemerkung vorausgesetzt werden dürfte,
überzeugt, dass die bei dem zuerst erwähnten Versuch immer nur geringe Länge
des einschiebbaren Nervenstückes nicht den Grund für das Ausbleiben des elektro-
tonischen Zustandes abgibt.


f) Die Grösse der vorhandenen physiologischen Leistungsfähig-
keit des Nerven bestimmt endlich die Stärke des electrotonischen Zu-
wachses. Je frischer und lebenskräftiger der Nerv ist, welcher dem
Einfluss der Kette unterworfen ward, um so beträchtlicher wird der Zu-
wachs; aus diesem Grund nimmt nun auch in der Kette, durch welche
die Erregbarkeit des Nerven geschwächt wird, und zwar um so rascher
je intensiver und dichter der in ihr kreisende Strom ist, die Stärke des
electrotonischen Zuwachses fortwährend ab, und sinkt auf Null, wenn
die physiologische Leistungsfähigkeit verschwunden ist.


Bisher sind die Umstände betrachtet, welche unter Voraussetzung
einer gleichen Spannweite des ableitenden Bogens einen Einfluss auf
die Grösse der durch den electrotonischen Zustand herbeigeführten
Nadelabweichung übten. Es bleibt noch übrig zu betrachten, wel-
cher Erfolg eintritt, wenn die Spannweite des Bogens, also die Länge
und der Querschnitt des abgeleiteten Nervenstückes wechselt. Du
Bois
hat hier ermittelt, dass diese Fälle nach Analogie der Zusätze
neuer Glieder in eine gewöhnliche galvanische Kette zu beurtheilen
sind.


Fortsetzung der Folgerungen für die electrische Anord-
nung des Nerven.
Bis dahin hatten wir vom electrischen Gesichts-
punkt aus den Nerven aufgefasst als ein Gebilde, das aus electrischen Un-
gleichartigkeiten bestand, die in sehr kleinem Raume vertheilt, in regel-
mässiger Folge wiederkehrten. Die Darstellung des electrotonischen Zu-
standes erlaubt es nun geradezu auszusprechen, dass die electrischen
Ungleichheiten auf kleinste Theilchen irgend welcher Form, electri-
[87]Theorie der peripolaren Anordnung.
sche Moleküle, vertheilt sind, welche in verschiedenen Zuständen des
Nerven verschiedene Stellungen einnehmen können. In dem ruhigen
Zustand des lebenden Nerven liegen je zwei dieser Moleküle mit ihren
gleichnamigen Enden einander zugekehrt, so dass aus beiden scheinbar
ein Gebilde mit einer positiven Zone und zwei negativen Polen entsteht
(Peripolarer Zustand). In dem electrotonischen Zustande sind die Mo-
leküle dagegen so geordnet, dass sie sich immer die ungleichnamigen
Pole zuwenden (dipolarer Zustand, säulenartige Polarisation). Fol-
gende Figuren geben die bildliche Vorstellung; in ihnen ist, um das
Verhalten der Nerven auf Quer- und Längsschnitt klar zu machen, das
Rohr nur mit einer Reihe von Molekülen (obwohl es ihrer in Wirklich-
keit auch auf dem Querdurchmesser zahllose sein müssen) erfüllt ge-
dacht worden.


Figure 20. Fig. 19.

Peripolarer Zustand.


Figure 21. Fig. 20.

Dipolarer Zustand.


Die Gründe für diese Vorstellung liegen einfach darin, dass diese
Anordnungen allen gefundenen Thatsachen Genüge leisten. Die fixirte
Vertheilung der Ungleichheiten auf bewegliche Molekeln wird namentlich
durch die momentan eintretenden Stromesveränderungen verlangt.


Zur weiteren Begründung und Aufklärung noch Folgendes:


1) Peripolare Anordnung. — Du Bois versenkte ein künstliches peripo-
lar-elektrisches Gebilde in einen Trog mit leitender Flüssigkeit und studirte die
Ströme, welche dasselbe durch die Flüssigkeit respective durch die in dieselbe ein-
gesenkten Platten eines Multiplikators sendete. Die einfachste Anordnung, die hier
gegeben werden kann, besteht darin, an den Enden einer beliebig langen viereckigen
Zinkplatte jederseits eine Kupferplatte von gleicher Breite und halber Länge des
Zinkes anlöthen zu lassen, und sie als Boden eines rechteckigen Kastens zu be-
nutzen, welcher mit einer Flüssigkeit gefüllt ist, die so viel als möglich die Ladun-
gen der Kupferplatte ausschliesst. in unserem Falle wäre also Salpetersäure oder
schwefelsaure Kupferoxydlösung anwendbar.


Die Theorie verlangt nun, dass die an den Zinkkupfergrenzen entwickelten elek-
trischen Massen sich auszugleichen streben; zunächst werden sie auf die mit einer
ausgezeichneten Leitungsfähigkeit begabten Metalle ausströmen, so dass sich sehr
bald alle Theilchen der Metallplatte in gleicher elektrischer Spannung befinden, nur
mit dem Unterschiede, dass alle Kupfertheilchen negativ und alle Zinktheilchen po-
sitiv elektrisch geladen sind. Von jedem Ort dieser Platte, in so ferne er mit leiten-
der Flüssigkeit bedeckt ist, wird nun ein Strom in die Flüssigkeit austreten, und
zwar wird, indem wir nur die Strömung positiver Elektrizität in das Auge fassen,
[88]Theorie der peripolaren Anordnung.
von den Zinktheilchen ein Strom gegen die Kupfertheilchen durch die Flüssigkeit
gehen. Die Stärke des Stromes, die von jedem Theilchen ausgeht, nimmt nun be-
kanntlich, bei Voraussetzung gleicher elektromotorischer Kräfte, in geradem Ver-
hältniss mit dem Wachsthum des Widerstandes ab, der sich ihm bei seinem Austritt
entgegensetzt. Der Widerstand wächst aber, bei Voraussetzung gleicher Breite des
Stromes, wie hier geschehen, mit der Länge des Weges, den er zu durchlaufen hat,
um von seinem Ausgangspuncte in das negative Kupfer einzukehren. Alle diese
Forderungen sind in Fig. 21 graphisch dargestellt. Diese Figur bedeutet einen nach

Figure 22. Fig. 21.


obigen Angaben ge-
bauten Kasten; am
Boden sind die Zink-
und die Kupferplat-
ten. Verfolgen wir
nun die einzelnen
(Theil) Ströme, wel-
che von den Punkten
1, 2, 3, 4 des Zinkes
durch die Flüssigkeit
zu I, II, III, IV des
Kupfers gehen, so ist ersichtlich, dass die von 1 zu I verlaufenden Ströme stärker
sein werden, als die von 2 zu II dringenden u. s. w. und es wird zwar ihre Intensität
abnehmen, wie die Länge der bogenförmigen Bahnen wächst. Dieses Verhalten der
Ströme ist in der Figur durch die abnehmende Dicke der Striche angedeutet *).


In allen Fällen werden aber Ströme vom Zink zum Kupfer gehen; ist, wie in
unserer Anordnung zu beiden Seiten des Zinks Kupfer vorhanden, so werden in der
Flüssigkeit von dem Zinke, von dem Aequator 4 aus, Ströme in entgegengesetzter
Richtung laufen. Diese entgegengesetzt gerichteten Ströme, werden aber bei voraus-
gesetztem Ebenmaass aller Theile (d. h. des Widerstandes und der elektromotori-
schen Kräfte) in denselben Abständen von der Mittellinie unseres Systems in glei-
cher Stärke wiederkehren, und somit wird dasselbe in zwei zerfallen, deren Strö-
mungsrichtung zwar entgegengesetzt ist, die sich aber ausserdem vollkommen iden-
tisch sind. Es wird nun, unter Berücksichtigung des früher Mitgetheilten leicht be-
urtheilt werden können, was eintritt, wenn man die ableitenden Platten des Multipli-
kators bis nahe auf den Metallboden einsenkt und durch die Flüssigkeit führt. Wir
wollen zuerst voraussetzen, es sei der Abstand (die Spannweite) der Platte in allen
Fällen gleich der Entfernung je zweier benachbarter Zahlen, so wird, wenn wir auf
4, 3 aufsetzen, ein schwacher Strom durch den Multiplikator gehen, weil nur ge-
ringe und schwache Theilströme in seine Platte dringen, setzen wir auf 3, 2 so
wächst die Ablenkung der Nadel sehr beträchtlich, weil eine grössere Zahl und noch
dazu intensiverer Theilströme in die Platten treten, und die Ablenkung erreicht ein
Maximum, wenn wir eben jenseits 1 und 0 angelangt sind, weil nun sämmtliche
Theilströme auf sie wirken. Von da ab wird die Ablenkung wieder abnehmen bis zur
Stellung III, IV. — Wenn man aber mit veränderlichen statt mit gleichbleibenden
Spannweiten der Platten durch die Flüssigkeit geht, so können ersichtlich mannig-
fache Erfolge eintreten; einer von diesen ist besonders bemerkenswerth; bringt
man nämlich ableitende Platten zeitlich nach einander auf 3, 3; 2, 2; 1, 1; 0, 0;
I I; II II; III III; IV IV; also auf symmetrisch zur Mittellinie des ganzen Sy-
stemes gelegene Punkte, so wird die Magnetnadel gar nicht abgelenkt werden,
[89]Theorie der peripolaren Anordnung.
weil die ableitenden Platten jetzt in Orten stehen, die von gleich intensiven aber ent-
gegengesetzt gerichteten elektrischen Strömen durchzogen sind.


Begreiflich wird nun eine Umsetzung der ebenen Form des peripolaren Systems
in eine andere z. B. eine cylindrische, die Art des Hergangs nicht wesentlich ändern.
Dennoch lohnt es sich der Mühe, noch den Fall zu betrachten, wenn eine grössere
Zahl peripolarer Systeme zusammengehäuft vorkommen.


Wir wollen auch in dieser Anordnung voraussetzen, dass sie vollkommen regel-
mässig sei, sowohl in Beziehung auf die Vertheilung der elektrischen Massen, als
auch der leitenden Flüssigkeiten. Diesem System geben wir beispielsweise die in
Figur 22 gezeichnete Gestalt.


Figure 23. Fig. 22.

Die um jedes einzelne peripolare Molekel gehenden Grenzströme sind durch den
Strich mit dem Pfeil angedeutet, deren Verlauf aus dem vorigen Schema ohne
weitere Zusätze klar sein wird. Setzen wir in dieses System bei hinreichender Ent-
fernung der elektromotorischen Theile von einander die ableitenden Platten auf 1 2;
2 3; 3 4; oder auf 1 II; oder α α; oder überhaupt auf die öfter wiederkehrenden
Stellen gleich starker aber entgegengesetzter Strömung, so erhalten wir keine Na-
delablenkung. Wir erhalten dagegen schwache Abweichungen beim Aufsetzen auf
a c, b α u. s. w. Das Maximum der möglichen Ablenkung dagegen beim Aufsetzen
auf die Punkte a A; e A u. s. w. Stellen, welche offenbar den Punkten 1 I u. s. w.
des vorhergehenden Schemas entsprechen.


So mannigfache Analogien dieses eben dargestellte System, das wir schon frü-
her als das Schema der elektrischen Anordnung im Nerven betrachteten, mit dem
Nerven darbietet, so beträchtlich weicht es in einem Punkte ab. Von der ganzen
Oberfläche des Nerven fanden wir nämlich eine Strömung vom Aequator nach dem
Mittelpunkte des Querschnittes, während hier nur zahlreiche Einzelströme um je ein
peripolares System sich darstellen.


Wenn das hier betrachtete Schema also dem Nerven entsprechen sollte, so
müssten die Ströme der einzelnen Glieder unseres Conglomerates sich zu einem Ge-
sammtstrome vereinigen, der in der Richtung der bei 2 und 3 an der Umgrenzung
gelegenen Pfeile um das ganze System verliefe. Es fragt sich also, ob die Nerven
durch einen solchen Umstand von dem hier betrachteten Schema abweichen, der im
Stande wäre, den gefundenen Widerspruch zu lösen; dieses ist nun in der That der
Fall. Am Nerven besteht nämlich die in unserem Schema angenommene gleichmäs-
sige Vertheilung des feuchten Leiters nicht, indem namentlich die Grenzschichten der
Molekeln mit einer leitenden Masse von sehr beträchtlichem Querschnitt überzogen
sind, nämlich den in und auf der Scheide befindlichen Flüssigkeiten. Da nun, wie
bekannt, die Stärke der Ströme bei gleichen elektromotorischen Kräften in dem
Maasse wächst, in welchem der Widerstand abnimmt, und dieser, alles andere gleich
[90]Theorie der dipolaren Anordnung.
gesetzt, um so geringer wird, je mehr der Querschnitt zunimmt, so werden die
Grenzmolekeln einen kräftigeren Strom aussenden als die mittleren. Diese Ungleich-
heit gibt nun, wie du Bois durch Versuche am Schema erwiessen, Ströme in der
Richtung wie sie der Nerv besitzt.


Aus der Betrachtung der verschiedenen hier vorgeführten Schemata und na-
mentlich des letzteren, und aus der Voraussetzung, dass die peripolaren Molekeln
von ausserordentlicher Kleinheit sind, ergibt sich auch noch die wichtige Thatsache,
dass, abgesehen von allen früheren Mittheilungen in keinem Fall aus der Grösse der
Nadelablenkung im Multiplikator auf die absoluten Werthe der Ströme oder gar der
elektromotorischen Kräfte in der Kette geschlossen werden kann, und dieses zwar
darum nicht, weil durch den Multiplikator nur der Zweig eines Stromes kreisst, der
erst selbst wieder aus einer complizirten Gegenwirkung vieler Einzelströme hervor-
gegangen ist. In der That fand du Bois in seiner aus Zink und Kupfer bestehenden
der Fig. 24 entsprechenden Vorrichtung immer nur sehr schwache Nadelablen-
kungen, obwohl er auch zu ihrer Untersuchung seinen empfindlichen Multiplikator
benutzte.


2) Dipolare Anordnung. — Die Gründe, welche die Annahme vertheidigen,
dass unter dem Einfluss eines constanten galvanischen Stromes die elektrischen Mo-
lekeln des Nerven aus der peripolaren Lage in die dipolare übergehen, sind theils
den Beobachtungen am Multiplikator entnommen, theils stützen sie sich auf Folge-
rungen aus bekannten Wirkungsgesetzen der galvanischen Ströme. Die Thatsache,
dass der Nerv während des elektrotonischen Zustandes auch von solchen Stellen sei-
nes Verlaufes, die während der Anwesenheit des ruhenden Nervenstroms keine Na-
delablenkungen herbeiführen, Ströme von einer solchen Stärke ausschickt, wie sie
sonst nur zwischen Quer- und Längenschnitt vorkommen, errweisst, dass auf diesen
Stellen nunmehr eine Lagerung der Molekeln eingetreten sein muss, die eine eben so
starke Spannung herbeiführt, wie sie früher nur zwischen Quer- und Längenschnitt
bestand; mit andern Worten, es müssen hier + und — Theilchen mit einander ab-
wechseln. Da nun aber rings um den Nerven, aller Orten, wo man auch die ablei-
tenden Bäusche anlegen mag, die starken Ströme erscheinen, so muss in sehr klei-
nen Abständen das + und — mit einander wechseln. Die Theorie, welche du Bois
in Folge dieser Thatsachen gibt, empfängt ihre Bekräftigung, wenn man den Hergang
am Nerven mit den elektrolytischen Wirkungen vergleicht. Bekanntlich erläutern
sich sowohl die Zersetzungserscheinungen, welche ein elektrischer Strom in zerleg-
baren Flüssigkeiten herbeiführt als auch die Stromleitung durch dieselben vollkom-
men, wenn man annimmt, dass die zwischen den Polen gelegenen chemischen Atome
ihre negative Seite gegen die positive Elektrode und ihre positive gegen die
negative Elektrode wenden. Diese aus der Physik bekannte Darstellung ruft bei-

Figure 24. Fig. 23.


stehende Fig. 23 in das Gedächtniss zurück. — Ueber-
trägt man diese Vorstellung einfach auf den Nerven,
während sich ein Theil seiner Länge in einer geschlos-
senen Kette befindet, so müssen die zwischen den Polen
dieser letztern gelegenen Molekeln in gleicher Weise ge-
ordnet gedacht werden. Der wesentliche Unterschied
zwischen beiden Vorgängen, dem physiologischen und
physikalischen, besteht darin, dass im elektrotonischen
Nerven die Molekeln auch noch jenseits der Pole der geschlossenen Kette, wohin ihr
Strom nicht mehr reicht, geordnet werden, was in der elektrolysirbaren Flüssigkeit
nicht geschieht, eine Annahme die durch Fig. 24 versinnlicht wird. Die Möglichkeit
dieses Geschehens scheint darin zu liegen, dass die Molekeln des Nerven leichter
zu elektrolysiren (oder zu polarisiren) sind, als andere complizirte Atome, so dass
die innerhalb des Nerven liegenden und schon gerichteten Molekeln wieder richtend
auf die anliegenden wirken können. Diesen gegenseitig richtenden Einfluss sind
[91]Theorie der dipolaren Anordnung.
sie jedoch nur bei unmittelbarer Berührung auszuüben im Stande, wie die oben
erwähnten Versuche erweisen.


Figure 25. Fig 24.

Aus dieser durch das
Vorstehende sehr wohl be-
gründeten Theorie lassen
sich nun auch mit aller
Schärfe die Gründe für alle
Erscheinungen und Verän-
derungen einsehen, die der
elektrotonische Zustand
darbietet. — Zunächst ist
klar, warum der Zuwachs,
den der Nervenstrom wäh-
rend des electrotonischen
Zustandes erfährt, auf der
einen Seite des erregenden Stromes positiv und auf der andern negativ sein
muss. Diess ergibt sich sogleich aus der Betrachtung von Fig. 24. Wir wollen mit
dieser annehmen, dass die Pole des erregenden Stromes genau symmetrisch zum
Aequator A stehen und dass die von ihm ausgehende Stromesrichtung durch den
Nerven mit dem Pfeile Z P laufe; im Sinne dieser Richtung werden alle Molekeln
geordnet, so dass ein Strom nach dem obersten Pfeil E Z durch den ganzen Ner-
ven geht. Vor dem Eintreten des elektrotonischen Zustandes verliefen aber in
dem Nerven von dem Aequator A zwei Ströme in entgegengesetzter Richtung
nach den Pfeilen u Z1u Z2. Vergleichen wir beide, den Strom des elektrotoni-
schen Zustandes und den Nervenstrom, so sehen wir, dass u Z2 und der neue
Strom in gleicher Richtung gehend, sich verstärken werden (positive Phase), wäh-
rend U Z1 und der Strom des dipolaren Zustandes entgegengesetzt verlaufend, sich
schwächen werden (negative Phase). Diese Erklärung vernachlässigt nun aber
scheinbar eine Thatsache, die wir oben Seite (85) mitgetheilt, die nämlich, dass das
Gesetz des ursprünglichen Nervenstromes noch sichtbar ist, wenn der elektroto-
nische Zustand eingetreten. Wenn in der That der Nervenstrom von der peripolaren
Lagerung der Molekeln abhängt, so muss er momentan verschwinden, so wie die
dipolare Anordnung eingetreten; dieser Widerspruch lösst sich aber sehr einfach
unter der Voraussetzung, dass in den untersuchten Fällen des elektrotonischen Zu-
standes die Drehung der Molekeln eine nur unvollkommene gewesen; wenn also die
neue Stellung die Mitte hielt zwischen der peripolaren und der dipolaren, so muss in
der That die Strömungserscheinung ebenfalls die Resultirende beider sein — Aus
der vorgetragenen Theorie erhellt weiterhin, warum bis zu gewissen Grenzen mit
der Stärke und Dichtigkeit des erregenden Stroms die Ausbildung des dipolaren
Zustandes wächst, über diese Grenze hinaus aber durch noch weitere Steigerung des
erregenden Stromes die Intensität des elektrotonischen Zuwachses nicht vermehrt
werden kann. Denn begreiflich wird der elektrotonische Zustand um so ausgepräg-
ter auftreten, je energischer die richtenden Kräfte des erregenden Stromes einwir-
ken; sind aber einmal die Molekeln vollkommen dipolar gestellt, so wird durch wei-
tere Verstärkung der richtenden Kräfte keine höhere Steigerung des dipolaren Zu-
standes möglich sein. — Fernerhin wird aus der Theorie klar, warum der erregende
Strom keine dipolare Anordnung hervorruft, wenn er den Nerven senkrecht gegen sei-

Figure 26. Fig. 25.


ne Längenachse durch-
setzt. Denn geht wie in
Fig. 25 der Strom von
Z nach P durch den Ner-
ven, so wird er zwar
die zwischen den Polen
liegenden peripolaren
[92]Negative Stromesschwankung.
Molekeln dipolar anordnen Diese selbst werden aber die nebenliegenden, aus
ihrer ursprünglichen Lage nicht bewegen können, weil, wie die Betrachtung von
Molekel 2 und 3, oder 1 und 4 lehrt, das + von 2 das — von 3 um gerade soviel
anzieht, als es das — von 2 abstösst. — Schliesslich macht die Theorie begreiflich,
warum die Veränderung der durch den Multiplikator gehenden Ströme nach Verän-
derungen in der Spannweite des ableitenden Bogens zusammentrifft mit derjenigen,
die bei Einschiebung neuer Elemente in eine mehrgliederige galvanische Säule beob-
achtet wird; denn ein einziger Blick auf alle Zeichnungen des Nerven im elektro-
tonischen Zustand lehrt, dass die Molekeln in ihm ganz nach Art unserer Säulen an-
geordnet sind.


Die Frage, ob nicht dennoch vielleicht die Nerven unter dem Einfluss des erregen-
den Stromes ausser der Richtungsveränderung auch eine Verstärkung ihrer elek-
tromotorischen Kräfte erfahren, kann mit grosser Wahrscheinlichkeit verneinend
beantwortet werden. — Diese Meinung findet darin ihre Berechtigung, dass der
ursprüngliche Strom zwischen der Oberfläche und dem Querschnitte nur eine geringe
Steigerung erfährt und namentlich, dass dieser Strom in der negativen Phase
nicht umgekehrt wird, was doch eintreten müsste, wenn der (negative) Zuwachs
grösser, als der ursprüngliche (positive) Nervenstrom gewesen wäre. Die schein-
bare Stärke des Stromes im [elektrotonischen] Zustand findet auch darin ihre hin-
reichende Erklärung, dass die dipolare Anordnung vieler Elemente weit geeigneter
ist, eine Resultirende nach aussen zu senden, als die peripolare Anordnung.


Der Anfänger ist hier zugleich auf die grosse Uebereinstimmung in der Magne-
tisirung des weichen Eisens und der Polarisirung der Nerven durch den elektrotoni-
schen Strom hingewiesen, die an diesem Orte nicht weiter ausgeführt werden
kann.


4. Electrisches Verhalten des Nerven, während er sich in einem Zu-
stande befindet, der ihn zur Einleitung der Empfindung, Muskelbewe-
gung und Absonderung befähigt. Negative Stromesschwankung.
Der Winkel, um welchen die Nadel durch ein in den Multiplicatoren-
kreis eingeschaltetes lebendes Nervenstück abgelenkt wurde, erfährt
eine Verkleinerung, wenn der Nerv durch irgend ein Mittel in einen
Zustand versetzt wird, der eine sogenannte physiologische Leistung
(Empfindung, Bewegung, Absonderung) herbeiführen würde, voraus-
gesetzt, dass der Nerv noch in seinen normalen Verbindungen stände;
mit andern Worten, die durch den ruhenden Nervenstrom aus ihrer
Gleichgewichtslage getriebene Nadel kehrt gegen ihre Gleichgewichts-
stellung zurück, sobald der Nerv erregt wird; die diesem Rückschlag
der Nadel zu Grunde liegende Bewegung der Nervenmoleküle bezeich-
net du Bois mit dem Namen der negativen Schwankung. In dieser
neuen Stellung verharrt die Nadel jedoch nur so lange, als der Nerv im
erregten Zustand erhalten wird; mit seinem Aufhören treten die Wir-
kungen des ruhenden Nervenstroms wieder hervor.


Die Grösse dieser Rückschwankung ist abhängig von folgenden
Umständen. a. Sie geht proportional dem Ablenkungswerth, den der
ruhende Nervenstrom hervorbrachte. Darum wird ein mehr erregbarer
und auch ein dickerer Nerv sie stärker veranlassen, als ein minder er-
regbarer oder dünnerer; und ferner wird sie grösser ausfallen, wenn
der ruhende Nerv mit einer sogenannten kräftigen Anordnung in den
[93]Negative Stromesschwankung.
Kreis gelegt wurde, dagegen geringer sein, wenn er mit einer schwa-
chen Anordnung auflag, und ganz fehlen beim Einfügen der unwirksa-
men Anordnung in den Kreis. — b. Die steigende Entfernung der abge-
leiteten Stelle des Nerven von derjenigen, an welcher der erregende
Einfluss wirkt, schwächt die Gröse der electronegativen Schwankung.
Diese Verminderung der Stärke wächst jedoch nicht so rasch mit der
Entfernung von der erregten Stelle, wie dieses beim elektrotonischen
Zuwachs der Fall war. — c. Die Grösse der Rückschwankung wächst
mit der Stärke der Erregung. Rücksichtlich dieses Punktes muss man
im Auge behalten, dass die jetzigen Untersuchungsmethoden bislang
nur erlaubten, die durch electrische Ströme in den Muskelnerven er-
zeugten Erregungsstärken mit den electronegativen Schwankungen in
befriedigender Schärfe zu vergleichen.


Da die Stösse, welche der Nerv in der elektronegativen Schwankung seiner Mo-
lekeln der Nadel mittheilt, sehr schwach sind, so müssen dieselben längere Zeit auf
die Nadel wirken, um einen deutlichen Rückschwung zu erzeugen, oder anders aus-
gedrückt, es muss der Nerv in einer längere Zeit hindurch andauernden Erregung
erhalten werden. Unter den bekannten Hilfsmitteln können wir eine solche vorzugs-
weise nur durch den elektrischen Strom erzeugen; indem wir diesen aber auf
den Nerven einwirken lassen, versetzen wir seine Molekeln in den elektrotonischen
Zustand, der auf die Nadel wirkend die zarteren Folgen der elektronegativen Schwan-
kung verwischen würde. Um diese letztere rein zu erhalten genügt es aber ein-
fach den Nerv durch abwechselnd gerichtete Schläge (mit einer im Nerven bald
auf- und bald absteigenden Stromesrichtung) zu treffen, wie sie eine gewöhnliche
Inductionsmaschine liefert. Dadurch erscheinen im Nervenstück in rascher Folge ab-
wechselnd gerichtete Phasen, die gegenseitig ihre Wirkung auf die Nadel vernichten,
weil diese nicht momentan jeder Einwirkung Folge leistet. — Du Bois hat aber auch
auf andern als elektrischem Wege die negative Schwankung der Theile durch sehr
sinnreiche Methoden der Erregung erwiesen; so hat er namentlich am lebenden
Thier auf sog. reflectorischen Wege, und nach Strychnin-Vergiftung, ferner im
einzelnen Nerven durch mechanische und kaustische Einwirkungen sie beobachtet.
— Die negative Schwankung erscheint, was sehr bemerkenswerth, gewöhnlich nicht
in voller Stärke mit der ersten Erregung, sondern erst dann, wenn der Nerv mit
zwischen gelegten Pausen einigemal erregt worden war.


Die Fortleitung der electronegativen Schwankung geschieht in
allen Nerven, mögen diese im lebenden Körper Empfindung oder Be-
wegung veranlasst haben, nach beiden Richtungen ihrer Längsachse,
so dass wenn man z. B. das Mittelstück eines Nerven erregt, jedes der
beiden Enden auf die Bäusche aufgelegt, die Nadel zur Rückschwan-
kung veranlasst.


Der Rückschwung der Nadel kann verschiedene Zustandsverände-
rungen der Nervenmoleküle bedeuten; entweder könnte er herrühren
von einer dauernden Abstumpfung der Gegensätze auf der Oberfläche
und dem Querschnitte, oder er könnte wegen der Trägheit der Nadel
auch Folge sein von einem stetigen Wechsel der Stromesrichtungen,
welche dadurch bedingt wären, dass die Oberfläche aus ihrem + in
ein — und der Querschnitt aus seinem — in ein + umschlägt. Diese
[94]Physiologisches Verhalten.
letztere Meinung ist wie bei dem electrischen Verhalten der Muskeln
dargethan wird, wahrscheinlich die richtige.


Physiologisches Verhalten*). Die Anregung, welche die
Nerven der Seele, den Muskeln und Drüsen zur Erzeugung der Empfin-
dung, Bewegung und Absonderung zu ertheilen vermag, belegte man,
weil man früher nur diese Aeusserungen des lebenden Nerven kannte,
mit dem Namen der physiologischen Nerventhätigkeit oder Nerven-
kraft. Innerhalb des lebenden Organismus erwecken aber, wie bekannt,
die Nerven nicht zu jederzeit die genannten Veränderungen der Organe,
denen sie zugeordnet sind, eine Thatsache, die zu der Ableitung führte,
dass die Nerven sich zeitweise im Zustande der Thätigkeit oder Kraft-
entwicklung, zeitweise in dem der Ruhe befänden. Eine noch weiter
gehende Erfahrung des täglichen Lebens musste aber bald die Ueber-
zeugung aufdrängen, dass diese beiden entgegengesetzten Zustände
nicht die einzigen dem Nerven zukommenden seien; denn es ergab sich
dass ein und derselbe Nerv unter ganz gleichen Umständen das eine
Mal zu Thätigkeitsäusserungen geweckt werden konnte, während dies
ein anderes Mal nicht geschah. Hieraus folgte der Schluss, dass der
ruhende Nerv mindestens zwei Erscheinungsformen besitze, von denen
diejenige, in welcher er unter gewissen Umständen zur Thätigkeit zu
bringen war, die erregbare, lebende, während die andere der erste-
ren entgegenstehende, die todte oder unerregbare genannt wurde.


Dem Vorstehenden entsprechend wird der Nerv als ein erregbarer
bezeichnet durch die Fähigkeit, unter gewissen Bedingungen in den
erregten Zustand übergehen zu können, und dieser letztere Zustand
selbst wurde wieder characterisirt durch die Thätigkeitsäusserungen,
welche der Nerv gerade in diesem oder jenem mit ihm in Verbindung
befindlichen Organ erwecken konnte. Diese Characterisirung ist nur eine
höchst unvollkommene, und zwar darum weil sie nicht aus innern Ver-
hältnissen der den Nerven constituirenden elementaren Bedingungen ge-
nommen ist. Du Bois ist es gelungen, den ersten und zwar einen sehr be-
deutenden Schritt zur schärfern Bestimmung der molekülären Verände-
rung zu thun, welche mit jenen physiologischen Hand in Hand gehen; er
machte die wichtige Entdeckung, dass der ruhende erregbare Nerv dieje-
nige Anordnung elektrischer Molekeln darbiete, in welcher sie den ruhen-
den Nervenstrom erzeugen, während der Nerv in der Erregung in die ne-
gative Stromesschwankung verfällt. Diese Erfahrung regt nun sogleich
die Frage an, welche chemische und physikalische Umstände im Ner-
ven die eine oder andere Anordnung der elektrischen Molekeln bedin-
gen, und die weitere, unter welchen besondern Veranlassungen der
ruhende Strom in die negative Schwankung, oder anders ausgedrückt,
[95]Erregungsmittel.
der erregbare Nerv in den erregten übergehe. Auf die erstere der beiden
Fragen fehlt uns durchaus noch jede Antwort, und auch die zweite ist nur
sehr unvollkommen zu befriedigen, was nun zunächst geschehen soll.


1. Erregungmittel; Reize. Die Einflüsse, welche den erreg-
baren Nerven in den erregten Zustand versetzen, sind ganz allgemein
mechanische Wirkungen, Wärme, Licht, Electricität und eine Zahl von
chemischen Atomen, welche zu der Nervensubstanz Verwandtschaft be-
sitzen. Diese Mittel erregen aber erfahrungsgemäss sämmtliche Ner-
ven des Körpers durchaus nicht auf gleiche Weise. Diese Verschie-
denheit äussert sich auf dreierlei Art: zuerst darin, dass ein und das-
selbe Mittel nicht für alle Nerven Erreger wird; dann dadurch, dass ein
Mittel, wenn es verschiedene Nerven erregen kann, in einzelnen der-
selben ganz besondere Arten der Erregung (qualitativ verschiedene
Empfindungen), und endlich darin, dass dasselbe Mittel auf verschie-
denen Orten des Verlaufes eines und desselben Nerven von einander
abweichende Erfolge erzweckt.


Zur weiteren Ausführung dieser Aussprüche fügen wir bei, dass
a) die Retina nur durch Aetherwellen, Electricität und Druck, der
nerv. acusticus nur durch Schallschwingung und Electricität; der
nerv. olfactorius nur von (aber nicht allen) flüchtigen Stoffen und
Electricität (?); die Geschmacksnerven nur durch (aber nicht alle)
lösliche Stoffe und Electricität (?); die Gefühlsnerven durch Druck,
Wärme, chemische Einwirkungen und Electricität; die Muskelnerven
durch Druck, Temperatur, Electricität und eine beschränkte Zahl che-
mischer Atome, und endlich die Drüsennerven durch chemische und
electrische Wirkungen erregt werden. — b) Ein und dasselbe Mittel,
insofern es unter den gegebenen Bedingungen Erreger verschiedener
Nerven ist, erzeugt in einem jeden dieser verschiedenen Nerven schein-
bar oder wirklich von einander abweichende Qualitäten der Empfin-
dung, so z. B. der Druck auf einen Muskelnerven Bewegung, auf ei-
nen Hautnerven Schmerz, auf die Retina Lichtempfindung u. s. w. —
c) Endlich bringt ein und dasselbe Mittel, auf die peripherischen Ver-
zweigungen angewendet, einen andern Erfolg hervor, als wenn es
auf den Verlauf des Nerven einwirkt. Hierher gehört, dass die Erleuch-
tung der Retina Lichtempfindung hervorruft, die des Opticusstammes
dagegen nicht (Helmholtz), und dass eine Wärmeschwankung, auf
den Nerven in seiner Hautverbreitung angewendet, Temperaturempfin-
dung, während sie Schmerz erzeugt, wenn sie auf den Stamm des
Nerven geschieht. (E. H. Weber.)


2. Gleichartigkeit und Ungleichartigkeit der Nerven;
spezifische Energie. Diesen mannigfaltig abweichenden Erfolgen ge-
genüber erhebt sich die bedeutungsvolle Frage, ob wir weiterhin noch
berechtigt sind, die Nerven überall als dieselben anzusehen, oder ob
wir nicht vielmehr die Gesammtmasse der Nerven in besondere, spe-
[96]Gleichartigkeit der Nerven.
zifisch wirksame Gruppen scheiden müssen. Dieser letzten Nothwen-
digkeit können wir, wie ersichtlich, nur für den Fall ausweichen, wenn
es uns gelingen sollte nachzuweisen, dass die Unterschiede der phy-
siologischen Erscheinungen, welche eintreten wenn verschiedene Ner-
ven in Erregung kommen, nicht abhängig sind von der veränderten
Natur des Nerven, sondern der mit ihm in Verbindung stehenden Organe,
sei es, dass sich diese am pheripherischen oder centralen Ende des
Nerven oder auf seinem Verlaufe finden. Zur Entscheidung dieser Al-
ternative führen drei Wege. — Der erste und geradeste Weg würde
darin bestehen den Versuch zu wagen ob es gelänge ein und densel-
ben Nerven mit verschiedenen Organen in wirksame Beziehung zu
bringen, denen man hypothetisch eine von einander abweichende phy-
siologische Funktion zuschreibt. Wenn dann mit dem Wechsel der
Einpflanzungsstellen der durch die Nervenerregung erzielte Erfolg sich
änderte, so dass z. B. aus einem Nerv der bisher Empfindungen er-
zeugt hätte, ein bewegungseinleitender würde, so dürfte erwiesen
sein, dass die Ursache der verschiedenen Leistung nicht in dem Ner-
ven sondern anderswo zu suchen sei. Diesen Gedanken hat Bidder*)
auf eine sinnreiche Weise verfolgt, indem er die durchschnittenen En-
den des empfindlichen ram. lingualis trigemini und des vorzugsweise
bewegenden n. hypoglossus kreuzweise zu verheilen suchte. Leider
haben diese Versuche, die mannigfache Wiederholung und Modification
verdienten bis jetzt noch kein Resultat ergeben. — Das zweite Be-
weissmittel würde darin bestehen, darzuthun, dass alle die Ungleich-
artigkeiten des Erfolges der Nervenerregung aus den Eigenthümlich-
keiten der Organe abgeleitet werden könnten, mit denen der Nerv an
verschiedenen Orten in Berührung ist. Auch auf diesem Wege ist vor-
erst noch kein überall hindringender Entscheid zu finden. Sicher
steht hier aber schon, dass viele Verschiedenheiten der Wirkung eines
Nerven von seiner peripherischen Verbreitung abhängen; denn ein
Hautnerv, die Retina u. s. w. können natürlich in ihrer Erregung
keine Muskelzuckung erzeugen, weil sie nicht mit einem Muskel in Ver-
bindung stehen. Ferner kann das Licht nicht als Licht sondern nur als
Wärme auf die Hautnerven wirken u. s. w. Die Wesentlichkeit der Or-
gane, die an der Peripherie die Nerven umgeben leuchtet ferner noch
besonders ein, wenn man erfährt dass ein Hautnerv nur so lange Tem-
peratur empfindet, als er noch in den Tastkörperchen endet und der Op-
ticus nur auf seiner letzten Endigung durch Aetherwellen erregbar ist,
— So viel Verschiedenheiten nun aber auch von der Peripherie abhän-
gig sind, so sind sie doch nicht alle davon bedingt; denn in der That
zeigen sich auch noch Abweichungen in den Erfolgen der Erreger
wenn diese auf die nur noch mit Hirn und Rückenmark verbundenen,
[97]Gleichartigkeit der Nerven.
also von der Peripherie getrennten Nervenstümpfe angewendet wer-
den; so bewerkstelligt hier niemals ein Erreger eines Bewegungsner-
ven Schmerz, ein Druck auf den Hautnerven erzeugt nur Schmerz,
ein solcher auf den Opticus nur Lichtempfindung. — Diese übrig blei-
benden Unterschiede können aber immer noch auf eine besondere Art
der Hirnendigung der Nerven, resp. auf eine Verschiedenheit der sog.
Empfindungs- oder Willensorgane geschoben werden; und in Wirklich-
keit treten die Nerven je nachdem sie bewegen oder empfinden auf
eine ganz abweichende Weise in das Hirn und Rückenmark; und die
verschiedenen Empfindungsnerven setzen sich selbst wieder ihren
örtlichen und histologischen Verhältnissen nach sehr verschiedentlich
in das Hirn ein. — Wenn nun diese Reihe von Betrachtungen minde-
stens der Annahme nicht entgegensteht, dass der Nerv überall iden-
tisch sei, so scheint endlich die letzte Beweisart mit Sicherheit die-
sen Satz hinzustellen. Denn offenbar wird man die Nerven überall für
identisch halten müssen, wenn es durch kein ausserphysiologisches
Prüfungsmittel gelingt eine Verschiedenheit zwischen ihnen aufzudek-
ken, mit andern Worten, wenn in wesentlichen Dingen keine auch
noch so geringe Abweichung in der physikalischen und chemischen
Constitution der Nerven besteht. So weit nun unsere chemischen und
mikroskopischen Mittel reichen, finden wir, mit Ausnahme der wenigen
in dem anatomischen Verhalten vorgeführten Charaktere, keinen Unter-
schied zwischen den Nerven. Diese Gründe bedeuten nun freilich für
sich wenig, da die chemische Untersuchung des Nerven noch sehr
unvollkommen ist und da bei einer vollkommen identischen Form in-
nerhalb des Nerven dennoch die mannigfaltigste Anordnung der kraft-
entwickelnden Elemente bestehen kann, so dass die Anatomie hier ent-
weder gar nicht, oder nur sehr bedachtsam zur Entscheidung herbei-
gezogen werden darf. Aber als eine mächtige Hilfe für die Indentitäts-
lehre der Nerven tritt uns endlich das Resultat der electrischen Unter-
suchung von du Bois entgegen, nach welchem aller Orten die Nerven
dieselbe electrische Anordnung darbieten, eine Thatsache deren volle
Bedeutung erst später einleuchten wird.


Dass übrigens die Möglichkeit vorliegt, mit einer Art von Nerv, der mit ver-
schiedenen Bewegungs- und Empfindungswerkzeugen verknüpft ist, mannigfaltige
Wirkungen zu erzeugen, begreift sogleich auch der Anfänger, wenn er sich die
einfachste aller Maschinen, einen Hebel bald mit dem Pendel einer Uhr, bald mit dem
Hahn einer Dampfmaschine oder eines Feuergewehrs u. s. w. in Verbindung denkt.
— Wir haben es unterlassen die der unsrigen entgegenstehende Vorstellung, nach
welcher der Sehnerv ein anderer als der Geruchsnerv u. s. w. sei, der Kritik zu un-
terwerfen, da sie ausser der vieldeutigen Erscheinung verschiedener physiologischer
Leistungen keinen Beweiss für sich vorzubringen vermag.


3. Verschiedene Erregungszustände innerhalb dessel-
ben Nerven
. Unabhängig von der Behauptung, dass der Nerv überall
derselbe sei, steht natürlich diejenige, dass ein und derselbe Nerv in
Ludwig, Physiolog. I. 7
[98]Verschiedene Erregungszutände.
verschiedene innere Zustände gerathen und demgemäss auch auf die ihm
zugeordneten Organe verschiedenartig wirken könne. Dieser Voraus-
sicht entspricht nun auch die Erfahrung insofern, als sie zeigt, dass
bei Anwendung verschiedener Erregungsmittel auf dieselbe Stelle des-
selben Nerven sehr mannigfach abweichende physiologische Erfolge
erzeugt werden. Diese Erfolge unterscheiden sich von einander theils
qualitativ, theils quantitativ, d. h. entweder tritt, beim Wechsel des Er-
regers, derselbe Erfolg mit einer grösseren oder geringeren Intensi-
tät auf, oder es erscheinen Erfolge, die sich auch ausser der Intensität
noch anderweit von einander unterscheiden.


A. Qualitativ verschiedene Erregungszustände. Mit Rücksicht auf
dieselben wissen wir weder anzugeben von welchen innern Bedingun-
gen sie abhängen — denn bis auf wenige Fälle verlässt uns hier auch
vorerst noch die leitende Hand der Neuro-electrizität — noch auch
nach welchen Gesetzen mit dem Wechsel des Erregers die des Zu-
standes sich ändern. Als einzige im allgemeinen giltige Bemerkung
darf nur die angesehen werden, dass durchaus keine Proportionalität
zwischen den übrigen Verschiedenheiten eines Erregers und seinen
Wirkungen auf den Nerven besteht. Denn es bringen u. A. in der Retina
verschiedene Wellenlängen des einen Lichtäthers die gar nicht mit-
einander vergleichbaren Farbenempfindungen zum Vorschein, während
ganz abweichende Erregungsmittel wie Electrizität, Druck und ge-
mischte Aetherwellen das weisse Licht hervorrufen; so erzeugen hohe
Temperaturgrade mit der Electrizität und dem Druck Schmerz, wäh-
rend Temperaturschwankungen in den Grenzen von + 10° C bis +
48° C Wärme- und Kälteempfindung bedingen. — Hier bietet sich nun
auch die bemerkenswerthe, auf die vorige Untersuchung influenzirende
Erscheinung, dass einzelne Nerven wie die des Gehörs, Gesichts, Ge-
schmacks und Geruchs sehr vielfältige Erregungszustände zur Erschei-
nung bringen, während andere wie die Muskelnerven jede Erregung
immer nur durch Muskelzuckung beantworten.


B. Quantitativ verschiedene Erregungszustände. Die Thatsache,
dass Empfindung, Bewegung und die von den Nerven abhängige Ab-
sonderung zu verschiedenen Zeiten und Umständen mit sehr wechseln-
der Stärke vor sich gehen, kann möglicherweise, wie eine kurze
Ueberlegung ergibt, ebensowohl abhängig sein von dem jeweiligen
Zustand der Organe an denen die Nervenerregung gemessen wird,
als auch von einer grösseren oder geringeren Fähigkeit der Nerven,
den Eindrücken der Erreger Folge zu geben, als endlich von einer
wechselnden Stärke der Erreger selbst. Um zu entscheiden von wel-
chem dieser drei Faktoren die Erscheinung abhängig sei, hat man na-
türlich auf Mittel zu denken, die wechselnden Stärken der physio-
logischen Leistungen zu messen, während je zwei der erwähnten
[99]Verschiedene Erregungszustände.
Faktoren sich constant erhalten, der dritte dagegen in willkürlich
bestimmbaren Veränderungen begriffen ist. Dieser allgemeine Grund-
satz schreibt uns also drei Beobachtungsreihen vor; aber nur die Re-
sultate zweier interessiren uns vorerst, nämlich diejenigen, welche
darauf ausgehen zu ermitteln, inwiefern der veränderliche quantita-
tive Werth der Erregung abhängig sei, von den Zuständen des Nerven
und denen der Erreger. Es muss also in jedem Fall unsere Aufmerk-
samkeit darauf gerichtet sein, die aus der Empfindlichkeit der Hirnor-
gane, der Beweglichkeit der Muskeln u. s. w. herfliessenden Variationen
zu eliminiren, oder mit andern Worten, bei möglichstem Wechsel der
Erreger und der Erregbarkeit und möglichst gleichbleibendem Zustand
des Hirns, der Muskeln und Drüsen, die Stärke der Empfindung, Bewe-
gung u. s. w. zu bestimmen. Diesem Ziele nähert man sich, wenn
man in vergleichenden Versuchen immer dieselben Nervenröhren und
zwar in möglichst rasch aufeinanderfolgenden Zeiten erregt; denn nur
unter diesen Umständen darf man die Hoffnung hegen, den Einfluss
der Einpflanzungstellen zu eliminiren, und die Organe der Empfindung,
Bewegung und Absonderung in gleichen Zuständen der Empfänglichkeit
zu treffen, da man ihnen kaum Zeit zur Veränderung gegönnt hat.


Nach einer annähernden Erfüllung dieser obersten Forderung
könnten wir nun dazu schreiten uns ein Maass für die Nervenerre-
gung zu suchen, was nur dann zu finden sein würde, wenn wir noch
über zwei in Folgendem hervorzuhebende Punkte Auskunft zu erhal-
ten im Stande wären. — Da wir die Nervenerregung messen wollen
durch die Grade der von ihr abhängenden Empfindung, Bewegung und
Absonderung, so müsste eine Scala derselben festgestellt sein; mit
andern Worten, es müsste anzugeben sein, nicht allein wie stark jeder
dieser Akte im einzelnen Fall in die Erscheinung tritt, sondern auch
welche Summe von Kräften im Innern der Organe bei jeder ihrer zur
Erscheinung kommenden Thätigkeiten wirksam wäre. Eine solche Gra-
duirung dieser Funktionen besitzen wir aber weder, noch eröffnet sich
irgend eine Aussicht demnächst zu einer solchen zu gelangen. Somit
besteht von dieser Seite aus betrachtet unsere Messung in nichts an-
derm als in einer ungefähren Schätzung, ob diese oder jene Bewegung,
Empfindung oder Absonderung stärker oder schwächer sei als eine
andere. Diese ungefähre Vergleichung ist zudem nur zulässig zwi-
schen verschiedenen Werthen gleichartiger Vorgänge, d. h. es können
nur zwei Lichtempfindungen, zwei Tastempfindungen, zwei Muskel-
bewegungen u. s. w. gegeneinander abgewogen werden, während
zwei Werthe specifisch verschiedener Empfindungen ebenso incommen-
surabel sind, als die einer Empfindung mit einer Bewegung u. s. w.


Diese Armuth unsrer Hülfsmittel zwingt uns die Vergleiche der
Erregung sehr zu beschränken; aber immerhin würde die gewonnene
Schätzung noch ungemein werthvoll sein, wenn ein anderer Umstand
7*
[100]Wechsel der Erregung mit der Erregbarkeit.
aufgeklärt wäre, der nämlich, in welchem Verhältniss die in den Em-
pfindungsorganen, Muskeln und Drüsen entwickelten Kräfte wachsen
mit den sie erregenden Nervenkräften. Denn bei den Gegenwirkungen
so complicirter Apparate ist die Annahme sehr unwahrscheinlich, dass
das Wachsthum ein direkt proportionales sei, in der Art, dass bei
einer um den doppelten Werth gesteigerten Nervenerregung auch eine
doppelt so starke Erhöhung einer durch sie veranlassten Muskelzu-
sammenziehung, Empfindung oder Absonderung bewirkt werde. Im
Gegentheil, man kann aus später zu erwähnenden Erfahrungen wohl
als gewiss annehmen, dass das gegenseitige Abhängigkeitsverhält-
niss ein ganz anderes, wenn auch noch vollkommen unbekanntes ist.
Somit möchte der einzige Schluss, den wir wagen dürfen, darin be-
stehen, dass der stärkeren Erregung eines Nerven eine stärkere Er-
regung der Empfindungsorgane, Muskeln und Drüsen entspreche, als
einer schwächeren.


a) Wechsel der Erregung mit der Erregbarkeit; Bedingungen
der wechselnden Erregbarkeit
. Die bis hierher geführten Betrach-
tungen haben übereinstimmend gezeigt, dass die Nerven keine con-
stanten sondern sehr veränderliche Apparate seien; wie sehr diese
Veränderungen im Innern des Nerven, dieser Wechsel in seiner che-
mischen Zusammensetzung, in seiner Wärme, in seinen electrischen
Gegensätzen auf seine physiologische Leistungsfähigkeit von Einfluss,
haben wir schon angedeutet, als erwähnt wurde, dass das in seiner
Form scheinbar noch unangetastete Primitivrohr bald erregbar und
bald nicht mehr erregbar sei. Hier ist nun der Ort auf diesen Zusam-
menhang genauer einzugehen.


Um dieses in erschöpfender Weise möglich zu machen, bedürften
wir eines Verfahrens, welches uns die veränderlichen Werthe der
physiologischen Leistung zugleich mit den Veränderungen der Er-
regbarkeit messen oder schätzen lehrte; dass wir aber über ein sol-
ches nicht gebieten, bedarf keiner besonderen Auseinandersetzung, so-
wie man sich nur in das Gedächtniss zurückruft, dass der Maassstab
für die Modification der Erregbarkeit gegeben werden soll durch die
grösseren oder geringeren Werthe der Absonderung, Bewegung oder
Empfindung. Die messenden Versuche, welche wir also entweder über
den Einfluss der Erregbarkeit der Nerven auf die Grösse der physio-
logischen Leistung, oder über den Einfluss irgend welcher anderwei-
tiger Einwirkungen auf die Erregbarkeit des Nerven anstellen können,
werden sich darauf beschränken müssen ungefähr schätzend anzuge-
ben, ob der Intensitätswechsel der physiologischen Leistung, welche
ein und derselbe Nerv hervorzubringen im Stande ist, überhaupt ab-
hängig sei von einer Steigerung oder Schwächung der Erregbarkeit,
und ferner ob dieser oder jener auf den Nerven wirkende Einfluss oder
[101]Veränderung in der Erregbarkeit.
in ihm vorhandene Zustand seine physiologische Leistungsfähigkeit
erhöhe oder erniedrige.


Mit Rücksicht auf den ersten Punkt lehrt nun die Erfahrung, dass
häufig ganz verschiedene Intensitäten der Bewegung, Empfindung und
Absonderung erscheinen, selbst wenn wir ein und denselben Nerven
an ein und derselben Stelle, in gleicher Ausdehnung zu verschiedener
Zeit genau demselben erregenden Mittel unterwerfen, und zwar unter
Umständen, in denen höchst wahrscheinlich das zur Messung dienende
physiologische Organ (Hirn, Drüse, Muskel) keine Veränderung sei-
nes Zustandes erlitten hat. Da in diesen beiden Fällen alles übrige sich
gleich verhielt, so kann die sinkende oder steigende Veränderung an
dem Werth der physiologischen Leistung nur abhängig gemacht wer-
den von einem wechselnden Verhalten des Nerven, mit andern Wor-
ten von Veränderung seiner Erregbarkeit. Wir halten uns nun zu dem
Schluss berechtigt, dass die Erregbarkeit von der einen zu der andern
Zeit vermindert sei, wenn es nothwendig wird die Intensität des erre-
genden Mittels zu erhöhen, um bei einer zweiten Anwendung dieses
letztern denselben Effekt zu erzeugen, den es in seiner ersten An-
wendung schon bei einer geringeren Intensität hervorbrachte.


Die zweite der uns hier berührenden Fragen, die nämlich aus
welchen näheren oder entfernteren Gründen die Erregbarkeit steige
und falle, wäre naturgemäss dahin schärfer zu stellen, mit welchem
Wasser-, Salz-, Fett-, Eiweissgehalt, welcher Temperatur, welchen
electromotorischen Kräften u. s. w. nimmt das Vermögen des Nerven in
Erregung zu gerathen ab oder zu; leider macht der gegenwärtige
Stand der physikalischen und chemischen Nervenanalyse, eine solche
Fragestellung bis auf einen Punkt illusorisch. Dieser einzige betrifft
aber wieder den Zusammenhang zwischen physiologischer und elec-
tromotorischer Wirksamkeit des Nerven, den du Bois dahin festge-
stellt hat, dass die höchsten und niedrigsten Werthe beider zusammen-
fallen, oder mit andern Worten ein Nerv, der die Angriffe des gering-
fügigsten Erregungsmittels mit starken physiologischen Leistungen
beantwortet, lenkt auch die Magnetnadel am beträchtlichsten ab, und
umgekehrt ein Nerv, der unter dem Einfluss der kräftigsten Erregungs-
mittel durchaus keine physiologischen Leistungen mehr hervorruft,
hat auch seinen electrischen Strom eingebüsst. Dass nun diese Ueber-
einstimmung beider Funktionen nicht allein für diese Grenzfälle, son-
dern für alle in der Mitte liegenden gelte, wird dadurch gewiss, dass
dieselben noch näher zu besprechenden Umstände in gleicher Rich-
tung, (schwächend oder stärkend) in welcher sie erregbarkeitsver-
ändernd wirken, auch den ruhenden Nervenstrom affiziren.


Nächst der so eben behandelten Stellung der Frage ist nun noch
eine andere gestattet: in welcher Weise wird die Erregbarkeit ver-
ändert durch die von aussen zum Nerven tretenden Einflüsse, z. B.
[102]Bedingungen der veränderten Erregbarkeit.
Druck, Temperatur, u. s. w., oder durch die im Nerven entwickelten
Kräfte (z. B. durch den ruhenden Nervenstrom, die Erregung selbst
u. s. w.). Obwohl diese Art von Fragen weit weniger tief in den in-
nern Zusammenhang der Erregbarkeitsveränderung eindringen, so
sind sie immerhin von praktischer Bedeutung und theoretisch inso-
fern wichtig, als sie zu Antworten führen können, die vielleicht auch
noch einen Schluss auf besondere Arten von molekulären Veränder-
ungen innerhalb der Nerven erlauben.


Bevor wir nun aber zur Mittheilung der vorliegenden hierher ein-
schläglichen Thatsachen übergehen, ist anzuführen, dass streng ge-
nommen nur die Resultate derjenigen Untersuchungen Berücksichti-
gung verdienen, bei denen man sich überzeugt hat, dass der Einfluss,
den man prüfen wollte, der einzige besondere war, der auf den Nerven
wirkte, oder dass man mindestens, wenn gleichzeitig der Nerv meh-
reren unterthan war, schon angeben konnte, in welcher Richtung die
erregbarkeitsverändernden Eigenschaften eines jeden einzelnen lie-
gen. — Ausserdem muss aber auch jede der früheren Vorsichtsmass-
regeln (Erregung desselben Nervenstücks durch denselben Erreger)
in Anwendung gebracht sein. — Dagegen ist es erlaubt und sogar
räthlich in den verschiedenen Versuchen die immer gleichstarken Er-
regungsmittel durch solche zu ersetzen, deren Intensität ungefähr
proportional der Veränderung der Erregbarkeit schwankt, so dass z. B.
bei abnehmender Erregbarkeit des Nerven die Stärke des erregenden
Mittels in dem Maasse gesteigert wird, um jedesmal einen ungefähr
gleichmächtigen physiologischen Effekt zu erzielen. Diese Verände-
rung des Verfahrens gewährt den schätzenswerthen Vortheil die
wechselnde Stärke der Erreger selbst als Kennzeichen für die Rich-
tung, in welcher sich die Erregbarkeit ändert, benutzen zu können.


Die Umstände, welche erfahrungsgemäss die Erregbarkeit um-
ändern sind:


α) Der Zustand der Erregung. Die besondern Bedingungen,
unter welchen die Richtigkeit der folgenden Mittheilungen gilt,
bestehen darin, dass der erregte Zustand nicht durch Zeiten der
Ruhe unterbrochen und ferner, dass der Nerv vollkommen den
Einwirkungen des normalen Lebens z. B. des Blutstroms u. s. w.
entzogen sei; dieses wird erreicht, wenn der Nerv entweder am
getödteten Thiere untersucht oder wenn der untersuchte Theil mög-
lichst von seiner Umgebung isolirt wird. Die Erregung mindert
unter diesen Umständen in jedem Fall die Erregbarkeit; der Grad
ihrer schwächenden Wirkung ist aber abhängig von der Zeitdauer
und Stärke der Erregung, und beide wirken wiederum auf den ei-
nen Nerven anders als auf den andern. — Alles andere gleichge-
setzt nimmt die Schwächung zu mit der Zeitdauer der bestehenden
Erregung; und ebenso verhält es sich auch mit der Stärke der Erre-
[103]Bedingungen der veränderten Erregbarkeit.
gung, indem die kräftigere beträchtlichere Schwächungszustände
hinterlässt als die weniger kräftige, vorausgesetzt dass beidesmal
die Erregung gleich lange andauerte. — Die Zeiten und Intensitäten
der Erregung, welche zwei verschiedene Nerven auf ein gleiches
Maass der Erschöpfung bringen, sind aber sehr ungleich; mit andern
Worten, ein Nerv ist leichter erschöpft als der andere. Angesichts der
Anschauungen älterer Physiologen über die sog. Nervenkräfte ist
als Erfahrung von Bedeutung, dass die Schwächung, welche die Er-
regung erzeugt, nicht Hand in Hand geht mit dem Grade der Erreg-
barkeit, welche vorhanden war, als die Erregung begann. Denn oft
sind sehr erregbare Nerven fast momentan erschöpft, während sie in
andern Fällen beträchtlich ausdauern; und im Gegensatz hierzu fin-
den sich weniger erregbare Nerven (welche intensivere Erreger zur
Erzeugung gleichwerthiger Leistungen bedürfen) oft im Stande län-
gere Zeit die Erregung zu ertragen, während sie auch häufig rasch
in der Erregung absterben.


Das zuletzt erwähnte Verhalten der Nervenröhre hat älteren Aerzten Veran-
lassung gegeben zur Aufstellung von mancherlei Arten der Nervenkräfte die in die-
ser Art der Auffassung der Vergessenheit anheimzufallen verdienen. — Es darf nicht
ausser Acht gelassen werden, dass man die Schwäche der Erregbarkeit in dem Ner-
venstücke, welches dem Erreger unmittelbar ausgesetzt war, nicht zur Schätzung
der durch die Erregung herbeigeführten Schwächung benutzen darf, da auf dieses
neben der Erregung der meist noch spezifisch störende Einfluss des Erregungsmittels
wirkte, und sich somit an diesem Orte zwei schädliche Wirkungen summirt haben. —


β) Wie im erregten, so ist auch im ruhenden Zustand der Nerv
in einer allmäligen Veränderung seiner inneren Verhältnisse begrif-
fen, selbst wenn er sich unter Umständen befindet, in denen schein-
bar durchaus keine anderweitigen verändernden Einflüsse auf ihn
wirken. Der aus seinem Zusammenhang mit dem lebenden Thier ge-
lösste Nerv erleidet während seiner Ruhe Veränderungen, in Folge
deren die Erregbarkeit desselben sich bald zu heben und bald zu sen-
ken vermag. — Der erste Fall, die Hebung der Erregbarkeit, wird be-
obachtet, wenn der Nerv durch eine vorhergehende Erregung erschöpft
war; denn es stellt sich die in der Erregung vernichtete Erregbarkeit
wieder her, wenn er einige Zeit der Ruhe überlassen wurde. Dieser
wiederherstellende Einfluss der Ruhe macht sich aber nicht unter allen
Umständen in gleichem Maasse geltend; namentlich ist es Thatsache
dass die Leistungsfähigkeit des Nerven immer mehr und mehr abnimmt,
je öfter sie in der Erregungspause wieder erlangt war, mit andern Wor-
ten, ein Nerv der nach einer ersten Erregung in der Ruhe sich rasch
erholte, erhält in der auf eine zweite Erregung folgenden Ruhezeit
seine Erregbarkeit nur in sehr unvollkommener Weise wieder, und
erholt sich, wenn er zum dritten oder vierten Male erschöpft war, gar
nicht mehr. — Die Ruhe, welche nach der Erregung sich so wohl-
thätig erwiess, kann nun aber, vorausgesetzt, dass sie anhaltend ge-
[104]Bedingungen der veränderten Erregbarkeit.
nug wirkte, den erregbarsten Nerven abtödten; diese Behauptung
bestätigt sich nicht allein an dem ausgeschnittenen, sonst aber vor
schädlichen Einflüssen geschützten Nerven, sondern auch noch dann,
wenn sich der Nerv unter den günstigsten Bedingungen findet, indem
er auch innerhalb des lebenden Thiers seine Erregbarkeit einbüsst,
vorausgesetzt dass er lange Zeit hindurch jeder Art von Erregung
entzogen war. Der einzige Unterschied der zwischen dem ausge-
schnittenen und dem normal gelagerten Nerven in dieser Beziehung
vorkommt ist der, dass der erstere im Allgemeinen rascher abstirbt als
der letztere. — Obwohl uns der Verlauf der Dinge, durch welchen im
ruhenden Nerv die Erregbarkeit vernichtet wird, unbekannt ist, so dür-
sen wir doch mindestens behaupten, dass dieses geschehe in Folge
einer Zerstörung des ganzen Nerven, welche während andauernder
Ruhe eingeleitet wird. Denn es lehrt uns die mikroskopische Betrach-
tung, dass der ruhende Nerv allmälig seine optischen Eigenschaften
ändere, und namentlich dass die homogene Röhre doppelte Contouren
annimmt, indem sich ihr Inhalt in einen wässerigen und öligen Theil
scheidet, und ihre Hülle sich faltet. So weit uns das optische Verhalten
Aufschluss gewährt, sind die ersten Stadien der Umsetzung auffallend
übereinstimmend, wenn auch die anderweitigen Bedingungen, unter
denen der ruhige Nerv abstirbt, von einander sehr abweichen; denn
sie sind dieselben, mag auch der Nerv im todten oder lebenden Thier
seine Erregbarkeit aufgeben.


Wenn die unter α und β vorgeführten Beobachtungen beweissen, dass der Er-
regungs- und Ruhezustand den Nerven zerstören, so zeigen sie aber auch zugleich,
dass der innere Hergang beider Zerstörungsprozesse ein verschiedener sei. Zunächst
ist der in der Erregung vorgehende Zerstörungsprozess viel intensiver als der in der
Ruhe vorkommende; denn es kann der Nerv die Ruhe viel länger ertragen, als das
Gegentheil. — Dann aber heben sich auch die aus beiden Vorgängen zum Vorschein
kommenden Störungen gegenseitig auf, wie daraus einleuchtet, dass zur Erhaltung
des normalen Nerven, das abwechselnde Erscheinen beider Zustände nöthig ist. Die-
ses Aufheben der Störungen darf jedoch nicht so aufgefasst werden, als ob die
in der Erregung zu Stande gekommenen Umsetzungen unter Beihülfe der in der Ruhe
erschienenen die Erregbarkeit wieder herzustellen vermögten; denn wäre dieses der
Fall, wären sie mit andern Worten nach entgegengesetzten Richtungen gehende Vor-
gänge, so müsste ohne Zuthun eines andern helfenden Umstandes, die Erregbarkeit
sich in’s Unendliche erhalten lassen, vorausgesetzt, dass nur Ruhe und Erregung auf
zweckmässige Art mit einander wechselten. Da dieses nicht der Fall ist, so kann
man sich höchstens den Werth der Alternative für die Erhaltung der Erregbar-
keit so vorstellen, dass durch dieselbe irgend welche Hemmungen entfernt werden,
welche, wenn sie vorhanden sind, andern Prozessen, die die Erregbarkeit wieder her-
zustellen vermögen, einen Widerstand entgegensetzen. Dieser Annahme entspricht
nun die Thatsache, dass die Alternative um so günstiger wirkt, je mehr der Nerv mit
normalem arteriellem Blut in Berührung ist. Concret ausgedrückt würde der obige
Satz dahin lauten, dass durch den Wechsel von Ruhe und Erregung im Nerven sich
Umstände bilden, welche die Neubildung der zersetzten Nerven aus dem Blute be-
günstigen.


[105]Bedingungen der veränderten Erregbarkeit.

Wie sich die Nerven rücksichtlich ihres Widerstandsvermögens
gegen die vernichtenden Einwirkungen der Erregung verschieden
verhalten, so widerstehen sie auch mit verschiedener Energie
den schwächenden Einwirkungen der Prozesse, welche im phy-
siologischen Ruhezustand in ihnen vorgehen; wir behaupten dieses
darum, weil der eine Nerv in der Ruhe viel rascher seine Erregbarkeit
verliert, als der andere. Vor allem zeichnen sich als leicht zerstörbare
die Röhren des Hirns, Rückenmarks und die der höhern Sinnesnerven
aus, während die Muskelnerven im allgemeinen länger ihre Erregbar-
keit behaupten.


γ) Einen die Erregbarkeit des Nerven erhaltenden Einfluss übt
die Verbindung des Nervenrohres mit dem Hirn und Rückenmark. —
Nach J. Müller’s Entdeckung und den Bestätigungen zahlreicher
anderer Beobachter steht es fest, dass das vom Hirn und Rückenmark
getrennte Stück eines durchnittenen Nerven im lebenden Thier nach
5 bis 6 Tagen sein normales mikroskopisches Verhalten ändert und
seine [Erregbarkeit] vollkommen einbüsst. Da die Muskelnerven im
lebenden Thiere vorzugsweise im Hirn (dem Sitze des willkührlichen
Vermögens) und im Rückenmark und die Empfindungsnerven aber an
der Oberfläche des Körpers mit den sie erregenden Mitteln in Verbin-
dung sind, so complizirt sich für beide Durchschnitte an den Nerven der
Fall in der Art, dass das vom Hirn und dem Rückenmark abgetrennte
Stück des Muskelnerven auch noch dazu in eine stetige Ruhe versetzt
wird; es summiren sich also hier zwei schädliche Mächte, während
das abgeschnittene Ende des empfindlichen Nerven, das den gewöhn-
lichen erregenden Einflüssen noch ausgesetzt ist nur unter der Tren-
nung vom Hirn und Rückenmark leidet. Da nun, wie erwähnt, dieses
Stück seine Struktur (und somit seine Erregbarkeit) eingebüsst hat,
zu einer Zeit, in welcher das der Erregung entzogene, aber mit den
nervigten Centralorganen in Verbindung befindliche Stück des Ner-
ven sie noch besitzt, so scheint somit der schädliche Einfluss dieser
Trennung erwiesen.


So bedeutungsvoll für die Erhaltung der Nerveneigenschaften sich nun auch die
Verbindung mit den Centralorganen erweist, so wenig ist sie (wie ältere Aerzte
glaubten) als der einzige Bestimmungsgrund derselben anzusehen, wie schon daraus
sich ergiebt, dass auch das mit dem Hirn in Verbindung befindliche Ende der sen-
siblen Nerven allmälig abstirbt, in Folge der ihm mangelnden Erregung.


δ) Die Einwirkung chemischer Stoffe auf die Nervensubstanz
vermag, auch ohne eine Erregung zu erzeugen oder zu unterdrücken,
die Erregbarkeit zu erhöhen oder zu erniedrigen, resp. zu vernichten,
und dieses letztere zwar entweder nur momentan oder dauernd. Zuerst
wird man nun schwerlich einen wesentlichen Irrthum begehen, wenn
man die Stoffe für fördernde ansieht, welche im Stande sind, die nor-
male chemische Zusammensetzung des Nerven zu erhalten; bei der
[106]Bedingungen der veränderten Erregbarkeit.
complizirten Zusammensetzung des Nerven wird dieser Aufgabe wie-
derum nur eine Flüssigkeit sehr zusammengesetzter Art gewachsen
sein, welche nicht allein alle die wesentlichen Nervenstoffe, sondern
sie auch in dem bestimmten Verhältniss enthält, die es ihr ermög-
lichen sie dem Nerven in dem der normalen Zusammensetzung ent-
sprechenden Verhältniss zu liefern, eine Flüssigkeit, welche ferner
so gestaltet ist, dass sie ihre Stoffe leicht an den Nerven abgibt, und
die schliesslich auch die im Nerven entstandenen störenden Umsez-
zungsprodukte anzieht und somit aus dem Nerven entfernt. Diesen
mannigfachen Bedingungen genügt, soweit wir durch Erfahrung wis-
sen, nur eine Flüssigkeit, das sog. arterielle Blut. Da diese Flüs-
sigkeit aber bei den zahlreichen Thierarten, die sich einer lebhaften
Erregbarkeit erfreuen, neben grossen Aehnlichkeiten sehr beträchtliche
Verschiedenheiten bietet, so schliesst man mit Recht, dass entweder
nicht alle das Blut constituirende Stoffe zur Erhaltung der Erreg-
barkeit nöthig, oder dass bei verschiedenen Thieren die Nervenzu-
sammensetzung wechselnd sein müsse. — Alle andere Flüssigkeiten,
die den gemachten Anforderungen nicht genügen, dürften darum als
schädliche angesehen werden, eine Annahme, die insofern durch die
Erfahrung unterstützt wird, als beobachtungsgemäss schon ein Blut,
welches wenig oder gar keinen Sauerstoff enthält, reicher an Wasser,
Kochsalz u. s. w., ist, als ein normales sich zur Erhaltung der Erreg-
barkeit unfähig, ja sogar vernichtend erweisst. — Wir besitzen nun
eine grosse Zahl von Beobachtungen, welche das Verhalten chemi-
scher Substanzen gegen den erregbaren Nerven betreffen. Aus ihnen
ergibt sich, dass alle Stoffe, welche den Nerven allmählig auflösen,
oder die, welche eine Verwandtschaft zu Fetten, Eiweissstoffen und
dem Wasser zeigen, oder sie durch katalytische Wirkungen verän-
dern, die Erregbarkeit vernichten. Einige dieser verändernden Stoffe
zerstören bei ihrer Einwirkung den Nerven vollkommen, wie z. B.
Säuren und Alkalien, so dass auch nach ihrer Entfernung der Nerv im-
mer vollkommen todt zurückbleibt, andere aber, wie das Kochsalz, nur
so lange sie gegenwärtig, indem der Nerv nach ihrer Entfernung wie-
der erregbar wird. — Ferner ist es eine aus chemischen Prinzipien
leicht ableitbare und durch die Erfahrung bestätigte Folgerung, dass
eine Lösung bei geringerem Prozentgehalt anders wirkt, als bei höhe-
rem, und ferner, dass ein Stoff im Gemenge mit andern und namentlich im
Gemenge mit den Blutbestandtheilen (wegen eintretender secundärer
Zersetzungen) ganz anders wirkt, als für sich allein u. s. w. Das Ein-
zelne gewährt bei dem niedrigen Stand unsrer chemischen Kenntnisse
über die Nervensubstanz ein geringes Interesse.


Ausser den schon genannten mineralischen und den meisten organischen Säuren
und Alkalien, zerstören die Nervenerregbarkeit namentlich Aether, Alkohol, wässrige
Opiumtinktur, Kreosot, verdünnte Lösungen der Metall- und dichtere der Neutral und
[107]Bedingungen der veränderten Erregbarkeit.
Haloidsalze; indifferenter erscheinen Blausäure, Strychninlösung, Wasser und fette
Oele, indem in diesen ein abgeschnittenes Nervenstück seine Erregbarkeit nur um
weniges früher einbüsst, als in einem vor Verdunstung geschützten Raume.


Vielleicht stehen mit den eben gemeldeten Thatsachen die Er-
scheinungen in Verbindung, dass die Erregbarkeit der Nerven mit den
Jahreszeiten [welche das Futter und damit die Zusammensetzung des
Blutes ändern] veränderlich ist, wie denn die Frösche im Herbst und
Frühjahr (vor der Begattung) erregbarer sind, als im hohen Sommer
oder tiefen Winter, ferner dass uns die Abend- und die Jugendzeit ge-
wöhnlich erregbarer findet, als der Morgen und das Alter u. s. w. —


ε) Die Wärme, welche sich nach oben oder unten beträchtlich
von derjenigen entfernt, in welcher der Nerv im lebenden Thier sich
findet, vernichtet die Erregbarkeit, selbst wenn sonst alle Bedingungen
zur Erhaltung derselben gegeben sind. Eckhard*) legte, um die
Erscheinungen zu studiren, die noch mit einem Muskel in Verbindung
befindlichen Nerven eines Frosches in Wasser von verschiedenen aber
jedesmal constanten Temperaturen und prüfte dann von Zeit zu Zeit das
Vorhandensein der Erregbarkeit mittelst eines elektrischen Schlages.
Hier ergab sich, dass in Wasser von + 10° bis + 20° R., der Nerv
nicht merklich rascher abstarb, als in feuchter Luft gleicher Tempera-
tur. Im Wasser von 0° starb der Nerv binnen 45 Sekunden und bei
— 3° bis — 5° starb er momentan ab; in einer Temperatur von
30° erhielt er sich 12 bis 15 Sekunden und in einer solchen von +
55° bis + 60° war er nur noch momentan erregbar. Aehnlich verhal-
ten sich nach E. H. Weber die Hautnerven des Menschen. Aus dem
Mitgetheilten ergibt sich von selbst, dass nur enge Wärmegrenzen
die Erhaltung der Erregbarkeit begünstigen. —


η) Der elektrische Strom wirkt unter allen Umständen
schwächend auf den Nerven; diese Schwächung geht jedoch nicht
durchweg proportional der Dichtigkeit und Intensität derselben, denn
obwohl dichtere und intensivere Ströme, gemäss ihrer elektrolytischen
Kraft, rascher den Nerven angreifen, als schwache und weniger dichte,
so zeigt sich doch auch noch innerhalb gewisser Grenzen die Rich-
tung, und durchgreifend die Schwankung, oder die Veränderlichkeit
ihrer Stärken während der Dauer ihrer Anwesenheit von Bedeutung.
Nach Ritter sollen nämlich schwache Ströme, wenn sie aufsteigend
(von der Nervenendung gegen den Ursprung im Hirn und Rücken-
mark) den Nerven durchlaufen, eher die Erregbarkeit erhöhen als
schwächen, während die absteigenden schwächen sollen. Die Erreg-
barkeit wird dagegen durch einen äusserst schwachen, durch gewöhn-
[108]Bedingungen der veränderten Erregbarkeit.
liche Galvanometer kaum messbaren Strom sehr herabgedrückt, vor-
ausgesetzt dass die Stromstärke in einer beständigen Schwankung
begriffen ist. Der Grund für diese scheinbar sonderbare Erscheinung
liegt darin, dass eine solche Art des Stroms die lebhaftesten Erregerwir-
kungen besitzt, so dass also hier die Elektrizität indirekt die Schwä-
chung bedingt. (Siehe über Erregbarkeitsveränderung durch den elek-
trischen Strom den verkürzten Zustand der Muskels.)


ϑ) Schwächend wirkt endlich auch eine Erschütterung, oder
eine Zerrung oder ein sanfter Druck, selbst wenn sie so allmählig
geschehen, dass sie gar keine Erregung bedingen. Ein allgemein be-
kanntes Beispiel für die schwächende Wirkung dieser mechanischen
Eingriffe bietet das sog. Einschlafen der Glieder, welches meist be-
dingt ist durch einen sanften und anhaltenden Druck auf den Nerven-
stamm der zu den eingeschlafenen Muskeln oder Hautflächen sich be-
gibt. Je anhaltender ein solcher Druck wirkte, um so intensiver und
um so länger dauernd erscheint der Zustand des Gliederschlafs. —


Die älteren Theoretiker erschlossen aus den Thatsachen, dass die Erregung die
Erregbarkeit vernichte, während sie in der darauffolgenden Ruhe sich wieder her-
stelle, auf die Gegenwart eines Nervenäthers, welcher in der Ruhe im Nerven in einem
gespannten Zustand angehäuft und in der Erregung frei werde. Diese Lehre
empfängt aber den Todesstoss durch die Reihe von Thatsachen, nach welchen auch
ohne Erregung, also ohne Verbrauch des angehäuften Aethers die Schwächung sich
ereignet. Da aber alles was die physikalische und chemische Constitution ändert,
den Nerven schwächt und umgekehrt die Gegenwart solcher Einflüsse, die des Blu-
tes und der Wärme nemlich, welche die Entstehung des Nerven bedingten auch die
Nerven stärkt, so schliessen wir jetzt, dass ein Nerv durch die Erregung, zu lang dau-
ernde Ruhe, Erhitzung, Erkältung, elektrische Ströme u. s. w. mehr oder weniger
zerstört werde, und dass daher die Veränderung in der Erregbarkeit abzuleiten sei.


Eine genauere Betrachtung der Erregbarkeitsverhältnisse, als wir
denselben bisher zu Theil werden liessen, ergibt, dass die angeführte Ka-
tegorie von Schwächung und Stärkung der Erregung weitab nicht aus-
reichen, um Alles hierher einschlagende zu umspannen. — Häufig er-
eignet es sich nämlich, dass der Nerv auch in der Qualität seiner
Erregbarkeit Veränderungen erleidet, indem ein sehr erregbarer Nerv
sich unter Umständen gegen ein Mittel vollkommen wirkungslos ver-
hält, das zu jeder andern Zeit ihn sehr intensiv erregt haben würde. Mit
andern Worten, es kommen Zustände im Nerven vor, in denen er nur
gegen einen seiner gewöhnlichen Erreger abgestumpft ist, während er
die Angriffe aller andern beantwortet. Hierher gehört z. B. der be-
kannte Fall, dass die eine Farbe den Sehnerven nicht mehr zur Em-
pfindung weckt, während er alle andern sehr lebhaft fühlt. Wir wis-
sen über die Ursachen dieses bemerkenswerthen Phänomens nur mit-
zutheilen, dass anhaltende Dauer einer Einwirkung die Empfänglich-
keit des Nerven für dieselbe abstumpft. — Siehe hierüber u. A. sub-
jective Farben beim Gesichtssinn.


[109]Wechsel der Erregung mit dem Erreger.

b) Wechsel der Erregung mit dem Erreger. Die Beobach-
tung, welche sich bemüht, die gesetzmässigen Veränderlichkeiten der
Erregungsstärke als eine Folge der wechselnden Kraft des Erregers
aufzufassen, hat zuerst die Aufgabe, während möglichst wechselvoller
Einwirkung des Erregers die Erregbarkeit entweder constant zu er-
halten oder ihre Veränderungen zu eliminiren.


Dieser Forderung ist annähernd genügt 1) wenn man die Ver-
suche in denen verschiedene Intensitäten der Erreger auf den Nerven
wirken, möglichst rasch auf einander folgen lässt, damit, (vorausge-
setzt, es seien die Angriffe der Erreger nicht zu heftig gewesen)
sich die Erregung von einem zum andern Versuch nicht wesent-
lich verändern kann. Hierbei ist es Regel, die Versuchsreihe mit der
schwächsten Einwirkung beginnen zu lassen. Oder 2) man lässt die
zu prüfenden in ihrer Stärke unterschiedenen Erreger zweimal in um-
gekehrter Reihenfolge auf den Nerven wirken, so dass man z. B.
zuerst den Erreger der Stärke 1, dann den von der Stärke 2 anwendet
und dann zum zweitenmal den von der Stärke 1. Man gewinnt da-
durch für den ersten Erreger Beobachtungen aus zwei Erregungs-
stufen, von denen die eine höher und die andere niedriger steht, als
diejenige, bei welcher der zweite Erreger angriff; man glaubt sich
darum berechtigt, das Mittel aus diesen beiden Beobachtungen mit
dem Erfolg des zweiten Erregers vergleichen zu können.


Der absolute Kraftwerth der Mittel, die wir als Erreger benutzen
wollen, lässt sich nun allerdings leicht variiren, aber damit ist noch
nicht erreicht, dass auch diese Mittel in derselben Stärke oder in glei-
chem Verhältniss ihrer Stärke den Nerven treffen; dieses leuchtet so-
gleich ein, wenn wir diesen letztern in seiner natürlichen Lage der
Erregung aussetzen, weil in diesem Falle die um den Nerven liegenden
Theile auf eine ganz unbestimmbare Weise dem Durchgang des Erre-
gers einen Widerstand entgegensetzen. Um dieses klar zu machen,
wollen wir hier nur einen der verständlichsten Fälle herausgreifen,
indem wir uns denken, es seien die Folgen von verschiedenen Wär-
megraden auf den Hautnerven zu ermessen. Die hier in jedem Augen-
blicke zu dem Nerven dringende oder von ihm abgegebene Wärme ist
geradezu abhängig von dem Unterschied der Temperaturen in der erre-
genden Wärmequelle und in der Haut und umgekehrt proportional
dem Leitungswiderstand der Oberhaut. Da die Temperatur der Haut
und der Leitungswiderstand constante Werthe sind, so wird, wie dem
Anfänger jede in Zahlen ausgeführte Rechnung zeigt, das Verhält-
niss der auf den Nerven wirkenden Wärmemengen schon ein anderes
als das der Wärmequellen; dazu kommt nun aber noch, dass die Ner-
ven von Flüssigkeiten (dem Blut u. s. w.) umspült sind, welche eine
bestimmte Temperatur besitzen, die sie wegen ihres stetigen Wech-
sels erhalten. Diese fortlaufend wechselnden Flüssigkeitsmassen sind
[110]Wechsel der Erregung mit dem Erreger.
demnach als Kühl- oder Wärmeapparate zu betrachten, je nachdem
die erregende Wärmequelle höher oder niedriger temperirt ist als das
Blut. Nach der Geschwindigkeit des Blutlaufes, der Leitungsgüte der
das Blut umgebenden Theile u. s. w. wird dieser Apparat in mannig-
faltiger Abweichung mit eingreifen und es ist, selbst wenn man auf
das Auffassen feiner Unterschiede verzichtet, vollkommen unmöglich
anzugeben, welche Wärmemenge in jedem Falle aus der Wärmequelle
auf den Nerven trifft. Solche Schwierigkeiten, wie die hier geschil-
derten, setzen sich nun überall entgegen, die von besonderer Natur
sind je nach den Nervenhüllen und den Erregern.


Man sollte nun denken, diese Fehler würden wegfallen, wenn
man den blosgelegten Nerven unmittelbar der Einwirkung des Erre-
gers aussetzte; aber auch hierdurch werden die Verhältnisse höch-
stens weniger verwickelt, aber noch lange nicht einfach. Legt man
z. B. an einen freiliegenden Nerven die Pole einer elektrischen Säule
an, so polarisiren sich ihre Enden. Diese Polarisation schwächt so-
gleich den ursprünglichen Strom und zwar um einen Werth, der kei-
neswegs den ihrer Stromstärke genau proportional geht. Aehnliches er-
eignet sich, wenn man den Nerven in Lösungen desselben Salzes
von verschiedenem Prozentgehalt legt; damit diese zu dem wirksa-
men Theile der Nerven dringen können, müssen sie die Scheide durch-
wandern, und diese Scheide setzt ebenfalls dem Salze mannigfach
wechselnden Widerstand entgegen u. s. w. Dazu kommen dann noch
Nebenwirkungen jedes einzelnen Erregers, Zersetzung der Nerven-
substanz, Verschrumpfung der Scheide u. s. w., die gar nicht in Rech-
nung zu bringen sind. Diese Darstellung lehrt, dass es vollkommen
irrig ist, zu glauben, es steige oder falle genau wie die objektiv zu
messende Kraft des als Erreger angewendeten Mittels, auch seine
Wirkung auf den Nerven; man kann nur behaupten, dass letztere in
einem noch unbekannten Verhältniss steige oder falle mit der er-
steren.


Als eine nicht zu versäumende Vorsichtsmassregel bei dieser
und allen vorhergehenden Versuchsreihen gilt nun auch, dass die Er-
reger immer dieselbe Zahl und dieselbe Länge der Nerven-
fäden
treffen müssen. Mit einem Wechsel der Zahl geschieht aus be-
kannten anatomischen Gründen nicht allein eine Veränderung in der
Summe der erregten Muskelschläuche und Drüsenröhren, sondern mit
der Zahl der Nervenröhren steht auch, wie E. H. Weber gezeigt, die
Intensität der Empfindung in der Beziehung, dass sie, alles andere
gleichgesetzt, mit einer Vermehrung derselben steigt und mit einer
Verminderung sinkt. Somit ändert sich also durchgreifend die zum
Vorschein kommende Grösse der Bewegung, Menge der Absonderung
und Intensität der Empfindung, selbst bei gleicher Intensität der Ner-
venerregung, so wie die Summe der erregten Nervenfäden eine andere
[111]Wechsel der Erregung mit dem Erreger.
wird. — Auf dieselbe Länge der erregten Nervenstrecke muss aber
gehalten werden, weil, wie wenigstens an einigen Nerven erwiesen,
die Stärke der Erregung mit der eben erwähnten Länge wächst.


So grosse und zahlreiche Schwierigkeiten bietet die einfachste
Versuchsreihe, und sie sind sicherlich hier vorerst weitaus zum ge-
ringsten Theil aufgezählt; ein gewandter Kopf wird in ihnen eher einen
Sporn sie zu überwinden sehen, als vor ihnen zurückgeschreckt ste-
hen bleiben; der halbwegs einsichtige wird aber die Versuche ganz
unterlassen, wenn er nicht mit neuen, wirklich hilfreichen Mitteln hier
eindringen kann.


Die uns zu Gebote stehenden Erfahrungen über die Abhängigkeit
der Erregungsstärken von dem Wechsel in der Kraft sowohl als an-
dern Verhältnissen der Erreger, haben zu folgenden allgemeinen Er-
gebnissen geführt.


α) Eine gewisse Zahl von Mitteln erzeugt eine Erregung, wenn
sie in constanter, oder in einer nach der Zeit sehr wenig schwanken-
den Stärke einwirkt; dahin zählen die constanten Drücke, welche auf
den Seh- und den Hautnerven Licht- und Schmerzempfindung erzeu-
gen; hohe und sehr niedere Temperaturen, welche nicht mehr Wärme-
und Kälteempfindung, sondern Schmerz erzeugen, die den Geschmack
und Geruch erweckenden chemischen Substanzen, ein constan-
ter galvanischer Strom in den Empfindungsnerven und noch andere
später besonders hervorzuhebende Mittel. Die Erregung ist von der
Veränderung dieser Erreger insofern abhängig, als sie innerhalb
gewisser Grenzen mit der Stärke des Erregers wächst; bei einer ge-
wissen Höhe dieser letzteren erreicht die Erregung aber ein Maxi-
mum, welches nicht überschritten wird, mag der Erreger auch noch
so beträchtliche Zuwächse an seiner Intensität erfahren.


β) Eine andere Reihe von Mitteln wird dagegen nur dann zu Er-
regern, wenn sie mit einer stetigen Veränderung in ihren Intensitäten
auf den Nerven wirkt. So erzeugt z. B. ein constanter Druck auf das
Trommelfell niemals die Empfindung des Tons, der aber sogleich zu
Stande kommt so wie das Trommelfell in hin und hergehende Schwan-
kungen von einer bestimmten Geschwindigkeit geräth, wobei also der
von demselben auf die innern Gehörwerkzeuge ausgeübte Druck z.
B. zuerst ein zusammenpressender und dann ein ausdehnender wird.
Ebenso empfängt man die Empfindung der Wärme nicht durch eine
constante Temperatur, sondern nur dann und so lange als die Tempe-
ratur der Haut von einem niederen zu einem höheren Grade aufsteigt.
Ein constanter electrischer Strom bringt den Muskelnerven niemals in
einen Zustand, in welchem er eine Muskelzuckung hervorruft; dieses
geschieht aber, wenn ihn ein Strom von stets veränderlicher an- oder
absteigender Stärke durchfliesst. In diesen und zahlreichen andern
Fällen steigt die Erregung 1. mit der Geschwindigkeit des Wechsels,
[112]Beharrungsvermögen des Nerven.
den die Intensitäten der Erreger während ihrer Einwirkung auf den
Nerven erleiden; mit andern Worten sie ist von der in der Zeiteinheit
durchlaufenen Differenz der Erregerstärke abhängig. Eine nothwen-
dige Folgerung hieraus ist die, dass eine in der Zeiteinheit durch-
laufene grosse Differenz zwischen absolut niederen Werthen der Er-
reger eine stärkere Erregung erzeugt, als eine geringe Differenz
absolut höherer Werthe. So erscheint also z. B. wenn wir die Hand
aus Wasser von 8° plötzlich in das von 12° führen, dieses letztere
uns wärmer als das von 14°, wenn wir unmittelbar vorher die Hand in
Wasser von 12° getaucht hatten u. s. w. — Wenn aber 2. die Ge-
schwindigkeit des Wechsels gleich ist, so steigt in einzelnen Fällen
wenigstens die Stärke der Erregung mit der Intensität der erre-
genden Wirkung, so dass ein sich abgleichender gleich grosser Unter-
schied zwischen zwei intensiveren Erregern lebhafter wirkt, als der-
selbe zwischen weniger beträchtlicheren Kräften. Doch gilt für diesen
Fall ganz dasselbe, was für den unter 1) verzeichneten ausgesprochen
wurde, dass nemlich nur bis zu einem gewissen Grade mit dem
Wachsthum der Erregerintensität die Stärke der Erregung steigt, jen-
seits desselben aber constant bleibt, mag nun auch der Werth der
ersteren noch so sehr steigen. Unbekannt ist es ob auch die von der
Abgleichungsgeschwindigkeit herrührende Erregung ein Maximum
besitzt, über das hinaus sie mit dem Erreger nicht mehr wächst.


Sehr bemerkenswerth ist es noch für die Erregung durch constante
sowohl als durch schwankende Kräfte, dass durch ausserordentlich
unbeträchtliche, durch andere Mittel kaum messbare Einwirkungen
in den Nerven schon nahebei die Maxima der Erregung erzeugt
werden.


4. Von dem Beharrungsvermögen des Nerven oder von
der Zeit, welche verstreicht bevor auf Anwendung eines Erregungs-
mittels auf den Nerven dieser selbst in merklichen Grad von Erregung
gelangt, und derjenigen, welche der erregte Nerv bedarf um wieder
zur Ruhe zu kommen nach Entfernung des Erregunsmittels. Trifft ein
Erreger einen Nerven, so tritt, soweit uns bekannt, der Nerv an dem
angegriffenen Orte sogleich in den Zustand der Erregung über. — Die
eingetretene Erregung verschwindet nun auch meist momentan mit
der Entferuung des Erregers; dieses Verhalten ist jedoch kein allgemei-
nes, indem namentlich einzelne Nerven wie die der Retina auch die
Eigenschaft zeigen, längere Zeit in dem Zustand zu verharren, in den
sie durch einen intensiv oder anhaltend wirkenden Erreger versetzt
sind. — Aber selbst in diesen Nerven ist für die Erregung von mitt-
lerer Stärke das Problem gelöst, dass die inneren Zustände des Nerven
der Zeit nach ein fast genauer Abdruck der Erreger sind, indem sie
nahebei momentan mit dem Erreger erscheinen und verschwinden.


[113]Leitungen.

5. Gegenseitige Mittheilungen innerer Zustände. Lei-
tungen.


A. Im ruhigen (erregbaren) Zustande. In einer und derselben Ner-
venröhre können an verschiedenen Orten ihres Verlaufs verschie-
dene Grade der Erregbarkeit bestehen, so dass also an demselben
Rohre Stellen von stärkerer und schwächerer Erregbarkeit mit einan-
der abwechseln. Soweit gegenwärtige Erfahrungen den Thatbestand
aufgehellt haben, üben diese verschiedene Zustände keinen Einfluss
aufeinander aus; doch fehlen ebensowohl noch Beobachtungen als,
was viel schlimmer, Beobachtungswege, die diese Lehre aufzuhellen
vermöchten.


B. Im erregten Zustande. *)


a) Innerhalb einer und derselben Nervenröhre. Wird ein aliquoter
Theil einer Nervenprimitivröhre in Erregung versetzt, so theilt sich
dieser Zustand auch den übrigen ursprünglich nicht erregten Theilen
des Nerveninhalts mit, so dass alle diesseits und jenseits der erregten
Stelle liegenden Röhrenstücke ebenfalls aus ihrer Ruhe heraustreten.
Durch einen einfachen Versuch lässt sich zeigen, dass in allen ausser-
halb der nervösen Centralorgane gelegenen Nervenröhren diese Mit-
theilung der Erregung nur durch den Röhreninhalt und nicht durch die
Röhrenscheide vermittelt wird, indem nämlich ihre Weiterleitung von
einem Nervenstück auf das andere nur dann möglich ist, wenn sich die
Inhaltsmassen unmittelbar berühren. Hieraus folgt das von E. H. Weber
zuerst ausgesprochene wichtige Gesetz, dass die innerhalb einer Ner-
venprimitivröhre geschehene Erregung in dieser isolirt bleibt.


Noch vor Kurzem gab man allgemein vor, die Thatsachen verlangten die An-
nahme, dass alle Nervenröhren ohne Ausnahme nur nach einer Richtung hin ihre Erre-
gung weiter zu leiten vermögen, dass dagegen ein Theil von ihnen, nämlich die
empfindungserzeugenden nur zur centripetalen (von den Sinnesorganen zum Hirn)
und ein anderer, die bewegungserzeugenden nur zur centrifugalen Leitung befähigt
seien. Die Thatsachen, welche jene Annahmen erzeugten, erläutern sich aber sämmt-
lich auch ohne sie, wenn man bedenkt, dass nur im Hirn an den empfindenden und
nur in der muskulösen Peripherie an der bewegenden Nervenröhre ein Apparat sich
findet, aus dem die bestehende Erregung erkannt werden kann; die Richtigkeit der
Annahme einer einförmigen Leitung war erst dann entscheidbar, als man ein Mittel
fand um aller Orten in dem Nerven die vorhandene Erregung darzuthun; dieses Mit-
tel ist aber der Multiplikator, welcher einen, jede Erregung constant begleitenden,
Vorgang, die sogenannte negative Stromesschwankung, nachzuweisen vermag; du
Bois
hat nun in der That gezeigt, dass in jedem Nerven die disseits und jenseits der
erregten Stelle liegenden Molekeln in die negative Schwankung gerathen.


Der Versuch, welcher beweist, dass die Leitungsfähigkeit in den ausserhalb des
Rückenmarks gelegenen Theilen an die Gegenwart des Nerveninhaltes sich knüpft,
ist schon sehr alt. Schon das vorige Jahrhundert wusste, dass wenn man die Schlinge
Ludwig, Physiologie I. 8
[114]Leitung der Erregung.
eines Fadens um einen Nervenstrang legt und dieselbe gerade so fest zuzieht, dass an
der betreffenden Stelle das Nervenmark ausgequetscht wird, die Scheiden aber noch
in Berührung bleiben, so dass also durch den Faden der Nerv nicht durchgeschnürt
wird, die eingequetschte Stelle dem Fortgang der Erregung einen unüberwind-
lichen Widerstand entgegen setzt. Aus der anatomischen Thatsache, dass die Ner-
venröhre, meist ohne sich zu theilen, von den nervösen Centren bis zu der Periphe-
rie verlaufe, und aus der physiologischen Erfahrung, dass sowohl beschränkte Erre-
gungen unserer Sinneswerkzeuge beschränkte Empfindungen bedingen, als dass auch
unserm Willen es frei steht, ganz beschränkte Bewegungen einzuleiten, obwohl die
einzelnen Nervenröhren auf ihrem Verlauf zum Hirn in tausendfache Berührung
mit anderen kommen, schloss mit gewohnter Feinheit E. H. Weber das oben aus-
gesprochene Gesetz, welches durch Versuche von J. Müller noch weiter bestä-
tigt ist.


Die Mittheilung des erregten Zustandes geschieht, wie Helmholtz
in einer classischen Arbeit gezeigt hat, mit endlicher Geschwindigkeit.
Im Mittel verbreitet sich in den Haut- und Muskelnerven der lebenden
Menschen die Erregung um 61,5 Meter in der Zeitsekunde weiter. Diese
Leitungsgeschwindigkeit ist nun aber keineswegs eine constante,
sondern eine mit inneren Zuständen der Nerven wechselnde. Nament-
lich leitet das Nervenrohr im lebenden Menschen die Erregung dreifach
rascher als im Frosch, und ferner ist das auf 0° abgekühlte Nervenrohr
des Frosches ein viel schlechterer Leiter als der normal (10 — 12°)
temperirte.


Die Methode dieser Bestimmung beruht auf dem von Pouillet zuerst benutzten
Prinzip der Messung kleiner Zeiträume durch den elektrischen Strom. Die Winkel-
grösse um die eine Magnetnadel innerhalb kleiner Zeiten durch einen elektrischen
Strom abgelenkt wird, ist abhängig von der Intensität des Stromes und der Zeit-
dauer seiner Einwirkung, was sogleich verständlich ist, wenn man die Wirkungen des
elektrischen Stroms auf die Nadel als Stösse auffasst, welche in ununterbrochener
Reihenfolge auf dieselbe geschehen. Die Intensität des Stroms bedeutet dann soviel
als die Stärke der Stösse und die Zeitdauer der Einwirkung die Zahl der Stösse;
demnach ist die mechanische Leistung ein und desselben Stromes auf die Nadel pro-
portional der Zeit seiner Einwirkung oder, mit Beziehung auf die Nadel gespro-
chen, es wird, wenn man die Nadel nur um sehr kleine Winkel schwingen lässt, ihr
Schwingungsbogen bei Einwirkung von gleich starken aber ungleich andauernden
Strömen direkt proportional der Zeit ausfallen. Diesem Prinzip gemäss kann die
Leitungsgeschwindigkeit der Nervenerregung, oder der Zeitraum, welcher verfliesst
zwischen der Erregung eines Nervenstücks in bekannter Entfernung von einem Mus-
kel und dem Anlangen der Erregung an dem Muskel selbst, bestimmt werden, wenn es
gelingt einen um die Magnetnadel geleiteten Strom von bekannter Intensität, genau
in dem Momente zum Schluss zu bringen, in welchem die Erregung im Nerven be-
ginnt und genau in dem Moment ihn zu öffnen, in welchem die Erregung in dem Mus-
kel oder dem Empfindungsorgan angelangt ist. Diese Möglichkeit, welche Helmholtz
verwirklicht hat, wird uns durch folgendes Schema versinnlicht.


In Fig. 26 stellten A und B zwei gleich starke galvanische Säulen vor, 1, 2, 3,
4, 5, 6, 7, 8 leitende Drähte, a und b zwei isolirende Stäbchen, M eine Magnetnadel
mit umgewundenen Leitungsdrähten (Multiplikator), Q ein Quecksilbernäpfchen,
E N ein Nerv, P sein zugehöriger Muskel.


Dieses System von Apparaten kann entweder so zusammengestellt werden, dass
beide gleichstarke galvanische Säulen ihre Ströme in entgegengesetzter Richtung
durch dieselben Leitungsbogen senden, so dass die resultirende Wirkung beider auf
[115]Leitungsgeschwindigkeit der Erregung.

Figure 27. Fig. 26.


die Nadel gleich Null wird. Dieser Fall ereignet sich bei der gezeichneten Aufstel-
lung, wenn nämlich die Spitze bei 3 nicht in das Quecksilbernäpfchen taucht; oder
es lassen sich unsere Apparate auch so stellen, dass zwei Ströme entstehen die
sich an einem Punkte Q 3 berühren, was eintritt, wenn die Spitze 3 in das Queck-
silber Q getaucht wird. Die eine Strombahn, die wir die erregende nennen wol-
len, wird dargestellt durch A, 1, E, 2, 3, Q, 4 und die andere, welches die zeitmes-
sende ist, wird gebildet von B, 8, M, 7, 6, 3, Q, 5. Beide Bahnen zeigen noch die
wesentliche Einrichtung, dass sie eine Stelle besitzen, in der sie leicht unterbrochen
werden können, die erregende bei 4, die zeitmessende bei 6.


Will man den Versuch beginnen, so ordnet man den Apparat zunächst in die
erste Stellung, in der die resultirende des Stromes gleich Null ist, an, Nerv und Mag-
netnadel bleiben während desselben in Ruhe; dann stösst man die Spitze 3 in den
Quecksilbernapf Q, wodurch man die bisher vereinigten Ströme in zwei spaltet,
von denen der eine gerade in dem Moment seine Erregung auf den Nerven be-
ginnt, in welchem der andere (der zeitmessende) geschlossen wird. Da nun aber
im erregenden Stromkreis durch Vorschieben der Spitze 3 zugleich der isolirende
Stab vorgestossen und damit dies locker eingefügte Stück des Leiters 4 ausge-
stossen wird, so dauert dieser Strom, was zur Erregung des Nerven hinreicht, nur
momentan. — Der zeitmessende Strom, der, wie wir eben sahen, im Beginn der Ner-
venerregung geschlossen wurde, wird nun aber geöffnet, sowie der erregte Nerv N
den Muskel P in Zuckung versetzt hat, indem dieser dann das Plättchen bei 6
mittelst des isolirenden an ihn festgehefteten Stückes abhebt.


Der zeitmessende Strom wurde also genau so lange geschlossen gehalten, als
die Erregung Zeit bedurfte, um von dem Nervenstück E zu dem Muskel zu gelangen
und diesen selbst wieder in eine so kräftige Bewegung zu setzen, dass er den Strom
8*
[116]Leitungsgeschwindigkeit der Erregung.
öffnen konnte. Der hierzu nöthige Zeitraum ist aber nicht der zu messende, denn es
sollte ja nur die Zeit bestimmt werden, welche verstrich bis die Erregung an dem
Muskel angelangt war. Um diese zu finden, ist es nothwendig auf diesen ersten
Versuch einen zweiten folgen zu lassen, in dem man die Enden des erregenden
Kreises möglichst nahe an den Muskel bringt, sonst aber ihn gleich dem vorigen aus-
führt. Eine kurze Ueberlegung zeigt hier nun, dass die Zeitunterschiede, welche in
beiden Versuchen durch die Magnetnadel gegeben werden, einzig und allein davon
abhängen können, dass in dem ersten Versuch, der eine stärkere Ablenkung der Na-
del herbeiführte, die Erregung eine längere Nervenstrecke zu durchlaufen hatte als
im zweiten Versuch, mit andern Worten: die Differenz der in beiden Versuchen erhal-
tenen Zeiten ist diejenige, welche die Mittheilung der Erregung durch das zwischen
beiden Erregungsstellen liegende Nervenstück bedurfte. Kennt man die leicht zu
bestimmende Länge dieser Entfernung, so ist damit die Leitungsgeschwindigkeit ge-
geben.


Ueber die Einzelheiten dieses Verfahrens ist die Abhandlung von Helmholtz
selbst nachzusehen, namentlich um Belehrung darüber zu finden, durch welche sinn-
reiche Mittel dieser ausgezeichnete Gelehrte die so zahlreichen Fehlerquellen zu ver-
meiden wusste. — Ausser dieser hat er noch eine zweite Messungsmethode ange-
geben und angewendet. Müllers Archiv 1852. 199.


b) Mittheilung der Erregung von einem Nervenfaden zu einem
andern. Querleitung. *) Die Regel der isolirten Leitung ist, wenn auch
weitaus die häufigste, doch keine allgemein gültige; es finden sich
einzelne Oertlichkeiten und einzelne Erregungszustände, bei denen die
in einer Nervenröhre ursprünglich eingeleitete Erregung auch auf einen
nebenliegende übergeführt wird, so dass der erregte Nerv Erreger
seines Nachbarn wird. Diese Fälle ereignen sich 1) wenn ein starker
elektrischer Strom als Nervenerreger benutzt worden ist. Diese Er-
scheinung, welche du Bois entdeckt und auch sogleich in ihrem inneren
Zusammenhang entwickelt hat, ist bei der Lehre vom electrotonischen
Zustand abgehandelt worden (siehe pag. 83). 2) An gewissen Lokalitä-
ten der Nervenmasse, z. B. im Rückenmark, Hirn, Herznerven u. s. w.,
können die auf jede beliebige Art erregten Nerven Erreger der Nachbarn
werden. Bei den entsprechenden Apparaten wird auf die Erscheinungs-
lehre dieses theoretisch noch dunklen Gegenstandes eingegangen
werden.


Todter Zustand des Nerven. Ein so geringes physiologi-
sches Interesse die Untersuchung aller besonderen Erscheinungsfor-
men des todten Nerven bieten kann, so wichtig ist, die bisher noch
wenig ins Einzelne verfolgten Umstände und Bedingungen kennen zu
lernen, unter denen ein Nerv aus dem lebenden in den todten Zustand
geräth.


Der Eintritt des todten Zustandes ist von dem Zeitpunkt an ge-
geben, in welchem der Nerv seine Befähigung für immer verloren
hat in den erregten Zustand gerathen zu können; hiernach unterschei-
det sich der todte vom erschöpften oder ermüdeten Nerv, durch seine
[117]Todter Zustand des Nerven.
Unfähigkeit unter günstigen Umständen seine Erregbarkeit wieder zu
erlangen. Die allgemeinsten Bedingungen, unter denen der Nerventod
sich ereignet, sind Zerstörungen seiner Form, chemische Umwandlun-
gen seiner wirksamen Substanz, wie z. B. Verseifung seiner Fette, voll-
kommene Entziehung seines Wassers, Gerinnung des Eiweisses u. s. w.
und die damit in Verbindung stehende Einbusse seiner elektrischen
Eigenschaften.


Dieser letzte Punkt ist uns durch du Bois zugänglich gemacht;
er zeigte, dass einen Nerven, der seine physiologischen Leistungen
eingebüsst hat, entweder nur noch ganz schwache elektrische
Ströme in der ursprünglichen Richtung durchkreisen, oder dass
seine ursprüngliche Stromesrichtung sich umgekehrt hat, indem
seine negative Flächen positiv und die positiven negativ geworden
sind. Versucht man zu dieser Zeit die Bewegungserscheinungen
der elektrischen Nervenmolekeln zu erzeugen, so gelingt es wohl
noch in geringem Grade den sogenannten elektrotonischen Zustand,
niemals aber die elektronegative Schwankung herbeizuführen.
Alle diese mit geringer Intensität auftretenden Erscheinungen über-
dauern aber die physiologische Leistungsfähigkeit nur so kurze Zeit,
dass man auch hier behaupten kann, diese und die elektrischen Gegen-
sätze gehen gleichzeitig zu Grunde. —


Das Absterben der Nerven kann sich selbstverständlich im
lebenden Organismus ereignen, wie es im todten eintreten muss,
weil zu demselben nur die Bedingung gehört, dass die in der Zeit sich
häufenden Summen der schädlichen Einflüsse die der erhaltenden über-
wiegen. Da aber im lebenden Organismus diejenigen Umstände, welche
eine eingetretene Störung auszugleichen vermögen, zahlreich vorhan-
den sind, so erträgt während des Lebens der Nerv sehr auffallende
Verletzung ohne anders als vorübergehend zu erlahmen; das auffal-
lendste Beispiel für diesen Satz bieten durchschnittene Nerven, welche
wie wir in der Ernährungslehre erfahren werden, wieder zusammen-
heilen und damit ihre scheinbar schon vollständig verlorenen Lebens-
eigenschaften wieder erhalten. — Aber auch im todten Organismus
erscheint die Fähigkeit schädlichen Einflüssen zu widerstehen, sehr
verschieden. Hier sind folgende allgemeine Regeln bemerkenswerth:
1) die erregbareren Nerven sterben unter sonst gleichen Bedingungen
früher ab als die weniger erregbaren. In Uebereinstimmung hiermit
erlischt die Erregbarkeit beim Warmblüter schneller als beim Kalt-
blüter; und ferner gehen die Nervenröhren des Hirns, des Rücken-
marks und des Gesichtssinnes früher zu Grunde als die Röhren der
Nervenstämme und namentlich derjenigen, welche in die Muskeln sich
verzweigen. Hierher dürfte auch die von Stannius*) beobachtete That-
[118]Zur Theorie der Nervenkräfte.
sache zu ziehen sein, dass die Nerven eines während des Lebens ge-
lähmten Gliedes nach dem Tode langsamer absterben, als die des un-
gelähmten. 2) die Nerven, welche sich in bluthaltenden Körpertheilen
verzweigen, erhalten ihre Erregbarkeit länger als diejenigen der blut-
armen oder blutleeren; der Blutreichthum todter thierischer Theile zeigt
sich nach Kilian*) besonders auffallend, sowie man ihre Nerven
schädlichen das Absterben begünstigenden Einflüssen aussetzt. Wenn
man z. B. aus dem einen Bein desselben todten Frosches das Blut aus
den durchschnittenen Gefässen ausstreicht, während es in dem andern
erhalten wurde, und dann eine bestimmte Stelle ihrer zugehörigen
Nerven so lange erregt bis keine Muskelzuckungen mehr eintreten, so
erholen sich die Nervenstücke des bluthaltenden Schenkels in kurzer
Zeit wieder bis zu einem solchen Grade, dass durch seine Erregung
die Einleitung von Zuckungen gelingt, während der Nerv des blut-
armen in todtem Zustand verharrt. 3) Die Muskelnerven sterben in
der Richtung von ihrem Ursprunge aus Hirn und Rückenmark nach
den Muskeln hin ab, so dass von einem dem Rückenmark näher ge-
legenen Theil derselben schon keine Zuckung mehr eingeleitet werden
kann, wenn ein von ihm entfernterer sie noch zu erwecken vermag.
Zu diesem von Ritter und Valli aufgefundenen Gesetz fügt du Bois
die Thatsache, dass diese Reihenfolge des Absterbens weniger aus-
geprägt auftritt, wenn der Muskelnerv mit den nervösen Central-
theilen in Verbindung bleibt. Dieses sog. Ritter-Valli’sche Gesetz
verdient umsomehr Zutrauen als nach du Bois auch der Nerv in der
bezeichneten Reihenfolge seine Fähigkeit verliert, in die elektronega-
tive Stromesschwankung zu gerathen. Longet**) und Matteucci
behaupten auch die umgekehrte Erscheinung von den Nerven der Ge-
fühlswerkzeuge; es sollen dieselben nämlich von der Verbreitung in
der Haut nach den Ursprüngen im Hirn und Rückenmark absterben,
so dass die dem Ursprung näher stehenden Stücke länger erregbar
bleiben, als die entfernter liegenden.


Anfänge und Bruchstücke zur Theorie der Nerven-
kräfte
. — Der Nerv stellt wie aus dem Vorhergehenden einleuchtet,
einen sehr zusammengesetzten Apparat dar, dem keine der zahlrei-
chen Bedingungen, die in ihn eingehen, fehlen darf, wenn er die sog.
Lebenseigenschaften darbieten soll. Eine Theorie der Nervenkräfte
würde demnach zu entwickeln haben, wie aus allen den verschiedenen
in die Nerven eingehenden Bedingungen gerade die ihnen zukommen-
den Erscheinungen mit Nothwendigkeit herfliessen. So weit nun die
Wissenschaft auch noch entfernt ist von der Theorie in diesem stren-
gen Sinne, so wenig darf sie unterlassen ihre jeweiligen Kenntnisse
[119]Quellen der Nervenkräfte.
zum Versuch und zu Anfängen einer solchen zusammenzufassen. In
dieser Beschränkung mag Folgendes gelten.


1) Der Nerv entwickelt zu allen Zeiten seines lebendi-
gen Bestehens freie nach aussen hin übertragbare Kräfte
.
Während des Lebens finden sich die den Nerven constituirenden Theile
zu keiner Zeit im Gleichgewicht. Wäre dieses der Fall, so müssten die
in ihn eingegangenen kraftentwickelnden Substanzen sich gegenseitig
so gebunden halten, dass sie jenseits und innerhalb des Nerven keine
fortlaufenden Veränderungen oder stets sich neu erzeugenden Bewegun-
gen erwirken könnten. Im Widerspruch mit dieser Voraussetzung durch-
kreisen aber den Nerven stetig elektrische Ströme, die jenseits seiner
Grenzen die Magnetnadel ablenken, und der Nerv selbst erfährt, wenn
er anhaltend in dem Zustand sog. Ruhe oder sog. Thätigkeit war, eine
Umwandlung seiner chemischen und mechanischen Anordnung. Vorerst
ist festzuhalten, dass nur nach einem mangelhaften Sprachgebrauch
dem Nerven ein ruhiger im Gegensatz zu einem thätigen Zustand zu-
geschrieben wird. So weit ersichtlich unterscheidet sich die Erregbar-
keit (Ruhezustand) von der Erregung vielmehr nur dadurch, dass
während derselben alle oder ein Theil der wirksamen Massen eine Be-
wegung oder Spannung gegeneinander annehmen, die sie unter den
Bedingungen des gewöhnlichen Lebens mit einer gewissen Beharr-
lichkeit behaupten, indem sie aus derselben nur durch andere im ge-
wöhnlichen Leben nicht vorhandene Einflüsse zu entfernen sind und
in welche sie mit grösserer oder geringerer Geschwindigkeit zurück-
kehren, wenn sie aus derselben durch momentan wirkende Einflüsse
entfernt wurden.


2) Die Quellen dieser Kräfte sind chemische Umsetzun-
gen
. Die Ursachen der Kraftentwicklung in den Nerven ist wahrschein-
lich in dem chemischen Umsatz der in ihnen enthaltenen Stoffe zu su-
chen; hierfür spricht nicht allein die Thatsache, dass die Nerven nur dann
erregbar sind, wenn sie eine bestimmte chemische Zusammensetzung
besitzen, sondern noch mehr, dass die Nerven durch ihr lebensvolles
Bestehen, im erregten, wie im unerregten Zustand diese ihre normale
Zusammensetzung einbüssen.


Obwohl uns bis jetzt keine Analysen vorliegen, welche diese Behauptung gera-
dezu erweisen könnten, so erscheint sie dennoch haltbar, wenn man bedenkt, dass
1) jedes chemische oder physikalische Mittel die Erregbarkeit des Nerven vernichtet,
welches die Zusammensetzung desselben beträchtlich ändert. In dieser Beziehung
führen ganz verschiedene Einwirkungen, die in diesem einen Puncte zusammen-
treffen, zu ganz gleichem Ziel; denn es wirkt eben so vernichtend die Wärme,
welche das Wasser des Nerven verdunstet, als das Liegen im Wasser, welches
ihm Salze und Eiweiss (?) entzieht, dasselbe bewirken die Stoffe, welche seine
eiweisshaltige Substanzen zum Gerinnen bringen, seine Fette angreifen u. s. w.
2) Die mikroskopische Untersuchung eines Nerven, welcher während des Lebens für
längere Zeit dem Einfluss erregender Wirkungen entzogen war, lehrt, dass während
dieses Zustandes sogenannten Ruhe eine chemische Zersetzung der Nervensubstanz
[120]Die Nervenkräfte sind electrische.
vor sich gegangen. Auf eine Zersetzung des Nerven im erregten Zustand deutet
aber der Umstand, dass ein Nerv durch die Erregung seine Erregbarkeit um so ra-
scher einbüsst, je weniger er mit Blut getränkt ist, oder wie wir uns im Sinne un-
serer Hypothese ausdrücken könnten, je weniger Ersatzmittel für die durch die
Erregung herbeigeführten Verluste ihm geboten werden. — Aber selbst ohne diese
Thatsachen würde ein jeder, dem es auch nur wahrscheinlich ist, dass dem thieri-
schen Körper die Fähigkeit abgehe, Kräfte aus einem Nichts zu erzeugen, zu un-
serem Schluss kommen, weil nach den vorliegenden Thatsachen eine andere Mög-
lichkeit der Kraftentwicklung in den Nerven gar nicht gedacht werden kann.


3. Die Kräfte, welche durch den chemischen Prozess
in den Nerven frei werden, sind wahrscheinlich electrische
.
Nach den unendlich zahlreichen Erfahrungen der Chemie ergibt sich
als ausnahmslose Regel, dass durch den Act der chemischen Umsez-
zung nur auf dreierlei Art Kräfte entwickelt werden, welche jenseits
der entstandenen Verbindung bewegende Effecte zu erzielen vermögen.
Diese drei Arten der Kraftentwicklung sind bedingt 1) durch Volum-
veränderungen der in die Verbindung ein- oder austretenden Stoffe,
2) durch Entwicklung von Licht (oder strahlender Wärme) und 3) durch
Bindung oder Befreiung von Electricitäten. Da nun bei der geschilderten
Umsetzung des Nerven keine Volumveränderung eintritt, und auch der
Nerv, wie Helmholtz*) dargethan, weder im Zustand der Erregbar-
keit noch dem der Erregung nachweisbare Spuren von Wärme ent-
wickelt, so gestattet die Analogie nur den Schluss, dass die Nerven-
kräfte keine anderen als electrische seien.


In der That muss nun auch nach du Bois’ Untersuchungen der
Nerv angesehen werden als eine Zusammenhäufung von electrischen
Molekeln, deren Veränderungen und Zustände den sogenannten phy-
siologischen durchaus parallel gehen. Der einfachen Erregbarkeit
entsprach die peripolare Anordnung der Molekeln, und es war dieselbe
um so vollkommener je ausgesprochener der electrische Gegensatz
in dieser Anordnung vorhanden war. Während der physiologischen
Vorgänge im Nerven, welche Empfindung und Zuckung bedingten, trat
aber nach Umständen entweder die dipolare Anordnung oder die
negative Schwankung der Molekeln auf. Auch hier galt wie zwischen
peripolarer Lagerung und der Erregbarkeit der Satz, dass genau wie
die Intensität der physiologischen Wirkung die der elektronegativen
Schwankung wuchs. Obgleich wir bei den Muskelnerven noch einmal
auf dieses letzte Verhältniss zurückkommen werden, so ist es doch
hier schon schicklich folgendes anzumerken. Benutzen wir als Er-
regungsmittel der Muskelnerven den electrischen Strom, so ergibt sich,
dass dieser den Nerv nur dann in den zuckungserregenden Zustand
versetzt, wenn er von schwankender Dichtigkeit ist, nur unter dieser
Voraussetzung tritt auch die electronegative Schwankung ein; die
[121]Die Nervenkräfte sind electrische.
Zuckung wächst bis zu einer gewissen Grenze mit der Dichtigkeit des
Stroms genau so auch die Stärke der electronegativen Schwankung;
je länger das Stück, welches der erregende Strom durchfliesst, um so
stärker die Zuckung und electronegative Schwankung; schneidet der
erregende Strom die Längsachse der Nerven senkrecht, so verschwin-
det Zuckung und electronegative Schwankung; die erregte Nerven-
stelle erzeugt nur so lange Zuckung als eine ununterbrochene Verbin-
dung des Nervenmarks von ihr bis zum Muskel besteht, unterbindet
oder durchschneidet man den Nerven zwischen der erregten Stelle und
seiner Einsenkung in den Muskel, so hört die Zuckung auf zu erschei-
nen, und ebenso jenseits der unterbundenen oder durchschnittenen
Stelle die electronegative Schwankung.


Wenn diese vielfache Uebereinstimmung, der nirgends ein Wider-
spruch entgegentritt, unzweifelhaft beweist, dass die lebendigen Aktio-
nen des Nerven an die Gegenwart, an Bewegungen und Stellungen
von Molekeln, die mit electrischen Gegensätzen behaftet sind, sich
binden, so liegt nun auch die Annahme nahe, dass die Stellung u. s. w.
dieser Molekeln abhängig sei von ihren electrischen Anziehungen,
von Anziehungen, die, wie besonders zu betonen, nur auf eine sehr
beschränkte Entfernung hin ihre Wirksamkeit entfalten.


Im vollkommenen Einklang mit dieser Annahme ist von den an
dem Nerven selbst zu ermittelnden Thatsachen die Beobachtung von
Helmholtz über die verhältnissmässig geringe Mittheilungsge-
schwindigkeit des erregten Nervenzustandes, die sich vollkommen
begreift, wenn man diese Mittheilung als eine successiv auf einander
folgende Anordnung der Molekeln auffasst.


Die Einwürfe, welche man gegen diese Anschauung, die du Bois zwar niemals
geradezu für die seinige erklärt, die aber in Allem, was Richtiges daran, die seinige
ist und die er zur Theorie auszubilden berufen, vorbringt, sind aus Missverständ-
nissen erzeugt. Zunächst glaubte man, es sei unverträglich mit dem Vorgetragenen,
dass der durchschnittene und wieder aneinander gelegte oder mit einem feuchten
Faden fest unterbundene Nerv wohl einen elektrischen Strom, nicht aber den Zu-
stand der Nervenerregung weiter leite. Dieser Einwurf würde einen Sinn haben,
wenn die vorgetragene Lehre die Nervenleitung von einem den Nerven durchlaufen-
den elektrischen Strom abhängig machte. Durch die du Bois’schen Unter-
suchungen ist aber gerade erwiesen, dass die im Nerven entwickelten elektrischen
Vorgänge einen Strom erzeugen, der vorzugsweise die Molekeln umkreist und fer-
ner, dass aus den um alle die einzelnen Molekeln gehenden Strömen kein Gesammt-
strom resultirt, der als die Summe dieser Partialströme angesehen werden kann.
— Hiermit fällt auch ein zweiter oft gehörter Einwand zusammen, der nämlich, dass
ein im Nervenmark entwickelter elektrischer Strom in ihm nicht isolirt bleiben
könne, weil die Scheide desselben ein ebenso guter Leiter sei, als das Nervenmark
selbst. In der That erreichen ja, wie aus den du Bois’schen Beobachtungen hervor-
geht, die Partialströme kaum die Scheide mit merklicher Stärke, während sie viel-
leicht in der unmittelbaren Umgebung der Molekeln mit ausserordentlicher Stärke
verlaufen. Man vergisst hier, wie auch vorhin, dass die Theorie immer Molekeln
verlangt, welche selbst schon polarisirt durch die Wirkung der unmittelbar neben-
[122]Die Nervenkräfte sind electrische.
liegenden gerichtet werden. Demgemäss würde durch die Scheide hin die elektri-
sche Wirkung sich nur dann verbreiten, wenn sie selbst aus anordnungsfähigen
Molekeln bestünde. — Ebenso werthlos ist der Einwand, dass der Nerv, weil er ein
schlechter E. Leiter sei, nicht durch elektrische Kräfte wirksam sein könne. In der
That ist durch E. Weber’s *) genaue Untersuchungen ermittelt worden, dass der todte
Nerv nur dann leitet, wenn er mit Wasser durchtränkt ist, und endlich wird ein so
dünner Wasserfaden einen sehr grossen Leitungswiderstand bieten; aber dieser
Widerstand würde nur von Bedeutung für die physiologische Function sein, wenn
diese statt von einer Anordnung elektrischer Molekeln von elektrischen Strömen ab-
hängig wäre. —


Die Hypothesen, welche man der vorgetragenen entgegensetzt, sind insofern sie
beachtenswerth nur unvollkommene Formen der eben entwickelten. Zu diesen gehört
die von J. Müller**) und Henle***) herrührende, welche sich aus vor du Bois’-
scher Zeit herschreibt. Auch diese Gelehrten führen die Thatsachen zu der richtigen
Ansicht, dass der Nerv seiner Mischung und Form seine Kräfte, und einer Umände-
rung jener eine Umwandlung der Kräfte verdanke. Hiebei liessen Beide aber ganz
unerörtert, welche Art von Kräften durch diesen chemischen Akt entwickelt werden;
diese Theorie enthält also die richtigen Anfänge. Ganz anders verhält es sich mit der-
jenig en, welche vom Nervenagens, Nervenäther u. s. w. in der verschwommenen Art
medizinischen Raisonnements spricht; die Vorstellung, dass in dem Nerven ein Fluidum,
welches dem Lichtäther vergleichbar wäre, sich bewege, widersprechen die Entdeckun-
gen von Helmholtz über die Geschwindigkeit der Erregungsmittheilung vollkommen.
Denn ein Aether wäre eben kein Aether, wenn sich so langsam sein Zustand mittheilte.


Nach diesen Darstellungen dürften sich die besondern Fragen über
Nervenkräfte nun so gestalten: 1) Wie erläutern sich aus der chemi-
schen Zusammensetzung resp. den chemischen Prozessen der Nerven
die electrischen Eigenschaften derselben oder mit welcher chemischen
Umänderung steigt und fällt die Erregbarkeit und die Erregung. 2) Auf
welchem Wege bewirken die sogenannten Erregungsmittel eine elec-
trische resp. chemische Veränderung der Nerven und endlich 3) wie
werden durch die electrischen Wirkungen der Nerven die Acte der
Empfindung, Bewegung und Absonderung ermöglicht.


Auf die erste dieser Fragen haben wir beim gegenwärtigen Stand
der chemischen Kenntnisse weder eine Antwort noch auch nur Hoff-
nung demnächst zu einer schärfern Fragestellung zu gelangen. Die
zweite nach dem Warum und Wie der Veränderung, welche die Nerven
durch die Erregungsmittel erfahren, hängt zu innig mit der ersten zu-
sammen, um von ihr eine Erledigung erfahren zu können. Hier ist
aber der Ort darauf aufmerksam zu machen, wie es mit der vorge-
tragenen Theorie im Einklang steht, dass electrische Ströme so all-
gemeine und so intensive Erregungsmittel der Nerven sind, und daran
zu erinnern, wie wir eigentlich durch die Lehre vom electrotonischen Zu-
stand, der als ein Object der Empfindung eine besondere Form der
Erregung darstellt, für einen Fall in unserer Erkenntniss so weit ge-
diehen sind, als dieses ohne chemische Kenntnisse möglich, indem wir
[123]Die Nervenkräfte sind electrische.
aus der bekannten Wirkung des erregenden constanten electrischen
Stromes und der Gegenwart der electrischen Nervenmolekeln die Ver-
änderung des Nerven in einer den Thatsachen genau entsprechenden
Weise ableiten konnten. — Aus den allgemeinen Umrissen, die wir
vom lebenden Nerven zu geben vermögen, gelingt es uns aber auch
noch ersichtlich zu machen, warum die Stärke, Art und Zeitdauer der
Erregung nicht in geradem Verhältniss von den erregenden Einflüssen
abhängig ist. Denn es übertragen die Erregungsmittel ihre Bewegun-
gen, ihre Anziehungen u. s. w. nicht auf eine ruhende Masse von ein-
facher Anordnung, sondern es treten ihre Wirkungen nur als neue zu
einer grösseren Zahl schon vorhandener mannigfach geordneter theils
freier theils gebundener Kräfte hinzu. In einem solchen Falle können, je
nachdem ein neuer Einfluss gebundene Kräfte frei macht, oder je nach-
dem er vorhandene Bewegung hemmt, die mannigfachsten Folgen ein-
treten. Gesetzt z. B. es bestände das erregte Mittel aus gleichartigen
Theilen, von denen ein jeder bei einer in ihnen eingeleiteten Veränderung
selbst so viel Kräfte entwickelte, um seinen Nachbar in den gleichen oder
ähnlichen Zustand der Veränderung zu bringen, so würde ersichtlich ein
Minimum äusserer Einwirkung, wie der Funken auf eine Pulvertonne
genügen, um ausserordentliche Folgen zu erzeugen, die zwar augen-
blicklich mit dem Eintritt des äussern Einflusses begonnen, aber ein-
mal eingeleitet von diesem ganz unabhängig wären. Gerade unter diese
Kategorie von Kraftanordnung scheint der Nerv zu gehören.


Diese Disproportionalität zwischen Erregung und Erregungsmittel gab den älte-
ren Physiologen Veranlassung zu der Meinung, dass der Nerv rücksichtlich der nach
einer empfangenen Kraftmittheilung entwickelten Bewegung ganz ausserhalb dem
Bereich physikalischer Gesetze stehe. In der That war die Erscheinung unerklärlich,
so lange man den erregbaren Zustand des Nerven als einfache Folge eines mehr oder
weniger angehäuften Nervenfluidums ansah. Zu der Zeit, als den Physiologen die
Erscheinung noch räthselhaft war, bot die Technik schon eine Menge von analogen
Fällen. Man hatte hier längst erkannt, dass die Disproportionalität nur daher rühre,
dass durch eine Einwirkung nicht einfache Kräfte übertragen, sondern bisher ge-
bundene freigemacht wurden. Die Technik bezeichnete darum diesen Fall mit dem
Namen der Auslösung der Kräfte. Nachdem nun auch hier in der Nervenlehre
der wahre Sachverhalt entwickelt ist, erscheint es unpassend auf die unklaren Vor-
stellungen älterer Physiologen, die sie unter dem Worte Reaction zusammenfassen
weiter einzugehen.


Die dritte unserer allgemeinsten Aufgaben, wie die Veränderung
des Nerven selbst Veranlassung zu derjenigen physiologisch beige-
ordneter Organe werde, ist möglicher Weise auch ohne die Erledigung
der vorhergehenden zu einem gewissen Ziele zu führen, wenn die
beigeordneten Organe nur selbst bekannt sind. Namentlich gewähren
hier die Muskeln (und die electrischen Organe der Fische) Hoffnung,
indem es gelingen könnte das ganze Problem nur als ein electrisches
aufzufassen, ohne Berücksichtigung der besondern Stoffe, von denen
die electrischen Wirkungen ausgehen.


[124]

B. Ganglienkörper.


Da die Ganglienkörper noch nicht in der Menge isolirt worden
sind, um sie auf ihren physikalischen und chemischen Eigenschaften
zu prüfen, so mag es auch hier unterbleiben eine anatomische Cha-
rakteristik derselben zu geben, welche man ausführlich in dem neue-
sten Lehrbuch der Elementaranatomie von Kölliker findet.


Die Physiologen schrieben dem Ganglienkörper sehr mannigfache
Verrichtungen innerhalb des Nervensystems zu; namentlich ist aus-
gesprochen worden, dass sie 1. auf die Nervenröhren als Erreger zu
wirken im Stande seien; 2. dass sie die Mittheilung der Erregung
von einer Nervenröhre auf eine andere vermittelten; 3. dass sie die
in einem Nerven vorhandene Erregung, ihrem Modus und ihrer Quan-
tität nach zu verändern befähigt wären, entweder indem sie die im Ner-
ven vorhandene tetanische Erregung in eine rhythmische umwandel-
ten, oder eine momentane aber intensive in eine dauernde und
schwache umlegten, oder dass sie der in einem Nerven vorhandenen
Erregung in der Art entgegen zu wirken vermöchten, dass dieser
seine ihm auf analoge anatomische Elementartheile zustehende Wir-
kung nicht ausüben könnte.


Die Beweisse für die Behauptung so mannigfacher Leistungen
der Ganglienkörper schöpft man aus den am Hirn und Rückenmark, in
den Herznerven und im N. sympathicus beobachteten Thatsachen. An
diesen Orten finden sich wie bekannt die Nervenröhren mit Ganglien-
körpern in Verbindung und zugleich geschieht es, dass 1. die von
diesen Orten ausgehenden Nervenröhren in Erregung gerathen, ohne
dass irgend einer der uns bekannten Erreger auf sie gewirkt habe;
2. die Nervenröhren, welche innerhalb dieser Orte liegen, übertragen,
ohne dass ein nachweislicher Zusammenhang ihrer lumina besteht
(ohne dass sie sich also durch ihr Mark berühren), ihre Erregungs-
zustände aufeinander und endlich 3. bedingen tetanische Erregungen
die auf Nervenröhren treffen, welche durch diese Orte hindurchlaufen,
keine anhaltende Muskelzusammenziehung, sondern zwischen Zusam-
menziehung und Verlängerung schwankende Bewegungen u. s. w.,
oder gar statt einer Verkürzung eine Verlängerung des Muskels in
welchen der Nerv tritt. Das Unzureichende dieses Beweises leuchtet
aber sogleich ein, wenn man sich vor die Augen führt, dass keines-
wegs die einzige anatomische [ganz abgesehen von den uns unbe-
kannten chemischen und physikalischen] Verschiedenheit, zwischen
den Orten, welche jene physiologischen Eigenthümlichkeiten darbieten
und denjenigen, welchen sie fehlen, in der Gegenwart der Ganglien-
körper liegt. Noch weniger aber wird man geneigt jenen Behauptun-
gen Glauben beizumessen, wenn man aus einer genauen Zergliede-
[125]Ganglienkörper.
rung der Thatsache erfährt, dass die Nervenröhren mit Ganglienkörpern
in Verbindung sein können, ohne dass die drei der vorbemerkten
physiologischen Eigenthümlichkeiten zugleich an ihr haften, ja dass es
sogar Orte zu geben scheint, an denen sie mit keiner derselben be-
gabt sind. In der speciellen Nervenphysiologie werden wir noch hier-
auf zurückkommen, und wir wollen hier nur vormerken, dass in den
Ganglien der hintern Wurzeln der Rückenmarksnerven, weder je Ueber-
tragungen noch gar die selbsständige Entstehung einer Erregung beob-
achtet ist; dass von den untern Stücken des Rückenmarks, obwohl es
so viele Ganglienkörper enthält, ebenfalls keine selbstständigen Bewe-
gungsursachen ausgehen u. s. w.


Diese Thatsachen würden nun den Zusatz zu den obigen Darstel-
lungen, vorausgesetzt man wollte sie noch halten, erzwingen, dass ver-
schiedene Ganglienkugeln einen verschiedenen Einfluss auf die Nerven-
röhren ausübten. In diesem Sinne könnte man, wie es von einzelnen
Autoren auch geschehen, behaupten 1. der Ganglienkörper entwickelt
bei einer gewissen Verbindungsart mit den Nervenröhren die erregen-
den Einflüsse. Die sog. einstrahligen Ganglien, diejenigen von wel-
chen man die Nervenursprünge annimmt, deren Existenz aber über-
haupt noch zweifelhaft ist, sollen dieses vollführen. 2. Die Erregungs-
mittheilung soll dagegen durch die vielstrahligen geschehen; man hat
sich dieses nach Rud. Wagner so zu versinnlichen, dass eine Er-
regung, in welche der Nerv a geräth (siehe Fig. 27) sich nach der

Figure 28. Fig. 27.


Ganglienzelle c fortpflanze
und von da durch die Aeste
zu c2 und c3 begebe, welche
hinwiederum durch die Nerven
d1, d2, d3, auf die Muskeln e1,
e2, e3, wirken. Die Ganglien-
zellen wären demnach Knoten-
punkte verschiedener Röhren.
Diese Annahme, eine geringe
Modifikation der Marshall-
Hall’
schen reflectomotori-
schen Hypothese hat, wie wir
bei der Betrachtung der sogenannten Reflexbewegung sehen werden,
viel gegen und wenig für sich. 3. Die Veränderungen, welche in
der Art der Erregung eintreten, sollen von den zweistrahligen
(oder in den Verlauf der Nervenröhren eingelegten) Ganglienzellen
abhängen? u. s. w.


Sei dem nun aber wie ihm wolle, jedenfalls ist eins der Grund-
prinzipien, aus welchem die letztere Betrachtungsweise hervorging,
festzuhalten, dass nämlich die sog. physiologischen Wirkungen der
Ganglienkörper verschiedenartig sind. Diese Unterschiede der Wirkung
[126]Anatomisches Verhalten des Rückenmarks.
können aber begreiflich entweder daher rühren, dass die Ganglienkör-
per bei Gleichartigkeit der Nervenröhren verschiedene Kräfte entwickeln
oder dass die Ganglienkörper überall identisch aber auf verschiedene
Weise mit gleichartigen oder ungleichartigen Nervenröhren in Berüh-
rung gebracht sind. In beiden Fällen würde die Resultirende aus den
Gegenwirkungen der Nervenröhre und des Ganglienkörpers, oder wie
man dieselbe auch nennt, die physiologische Leistung des Ganglien-
körpers verschiedentlich ausfallen.


II. Besondere Nervenphysiologie.


A. Rückenmark und Rückenmarksnerven. *)


Anatomisches Verhalten**). — Das Rückenmark enthält
nach einigen Autoren feinkörnige Masse, kleine kernähnliche Zel-
len, Ganglienzellen und Nervenröhren; nach andern kommen ihm nur
die beiden letzteren Formen zu.


Die Nervenröhren wechseln innerhalb des Rückenmarks in
ihrem Durchmesser; im Allgemeinen sind diejenigen der Nerven-
wurzeln breiter als die der weissen Substanz und die in dieser
enthaltenen breiter als die der grauen. Da nun eine und dieselbe Ner-
venröhre sich an den drei bezeichneten Orten findet, so scheint da-
raus hervorzugehen, dass sie auf ihrem Verlauf verschiedene Durch-
messer annimmt. — Das Primitivband ist in den Nervenröhren des
R. M. sehr deutlich, nach einigen Angaben soll es sogar an bestimm-
ten Stellen eine Scheide entbehrend den einzigen Bestandtheil des
Nervenelementes ausmachen.


Die pulverigen Körner, kernartige Zellen und Ganglienkörper finden
sich nur in der grauen Substanz, und zwar so, dass erstere überall in
ihr, die zweiten in der substant. gelatinosa und der Nähe des sog.
Centralkanals, die dritten in den Vorderhörnern, der Basis der Hinter-
hörner und der grauen Commissur vorkommen.


Die Ganglienkörper des Rückenmarkes tragen die diesem Elemen-
tartheile allgemein zukommenden Kennzeichen: Zellen, Mark und
Scheide. Daneben unterscheiden sie sich aber mannigfach durch ihre
Grösse, die Zahl der Zellen, die Form der Scheide und die Färbung des
Markes. — Die grössten Ganglienkörper nehmen die Vorder- und die
[127]Faserung des Rückenmarks.
Basis der Hinterhörner ein; sie zeichnen sich noch besonders aus
durch die meist starke Pigmentirung ihres Markes und die zahlrei-
chen vielfach verästelten Fortsätze ihrer Scheide. Die kleinsten Gang-
lienkörper liegen in der substantia gelatinosa und der Umgebung des
Centralkanals oder in der ihn ausfüllenden Masse; sie sind pigment-
los, enthalten oft mehr Zellen, die Ausläufer ihrer Membrane sind bald
mehr bald weniger zahlreich. — Zwischen den beschriebenen extre-
men Formen finden sich alle möglichen Mittelstufen, namentlich in den
hintern Hörnern eingestreut. — Die grössten Widersprüche bestehen
rücksichtlich des Vorhandenseins der Eigenschaften und der Verbin-
dung der Ganglienfortsätze. Da die Ganglienkörper bald mit und bald
ohne Fortsätze erscheinen, so erklärt die eine Reihe von Beobachtern
die Fortsatzlosen für verstümmelte Formen, während die andere Reihe
sogenannter Forscher den Fortsatz als ein Kunstprodukt ansieht. —
Die Fortsätze aber, insofern man ihre Existenz nicht bestreitet, erklärt
man, wenn man von der Vorstellung ausgeht, dass die Fortsätze in
die Nerven übergehen, bald für die abgerissenen Nervenröhren, bald
aber auch nur für ein abgerissenes Primitivband; oder aber man hält
sie für Gebilde, die von den Nerven vollkommen unabhängig sind,
und die demnach entweder geschlossen endigen oder sich in die Fort-
sätze der anliegenden Körper münden.


Ueber die Zusammenfügung dieser anatomischen Bausteine im
Rückenmark und ihre Verbindung mit andern Nervenmassen gehen
mehrere Hypothesen. Bei mannigfachen Widersprüchen der sie stüz-
zenden Beobachtungen darf mit einiger Wahrscheinlichkeit als fest-
stehend angenommen werden, dass jede in das Rückenmark eintre-
tende Wurzelröhre durch die zunächst gelegene weisse in die graue
Masse dringt, Stilling. Weiterhin gelangen dann die vorderen
Wurzelröhren
zwischen die grossen vielstrahligen Ganglienkörper,
Kölliker, ziehen von da entweder sämmtlich oder vielleicht nur theil-
weise zur vordern weissen Commissur, Ed. Weber, und laufen in der
entgegengesetzten Rückenmarkshälfte entweder geradezu oder mit-
telst virtueller Fortsetzung (nach einer Unterbrechung) in das Hirn;
auf diesem Wege sind entweder alle oder nur einige Röhren mit einer
Ganglienzelle in solcher Verbindung, dass einer der Fortsätze in die
Nervenröhre unmittelbar übergeht, Schilling. Die hintern Wurzel-
röhren
durchschneiden die feinen Ganglienzellen der gelatinösen Sub-
stanz und kommen somit zwischen die etwas grösseren blassen der
Hinterhörner; ihre Fortsetzung jenseits derselben ist unbekannt.


Nach Stilling und Volkmann bilden den Grundstock des Rückenmarks die
Röhren des intermediären Systems, oder mit andern Worten, Röhren, welche gestrekten
Verlaufes vom Hirn bis zum Schluss des Rückenmarkes gehen und sich an die Ele-
mente der Nervenwurzeln anlegen, ohne in diese überzugehen. Senkrecht gegen
das intermediäre System verlaufen die Elementartheile der Nervenwurzeln, welche
also das Rückenmark vorzugsweise querdurchsetzen, und somit entweder gar nicht
[128]Faserung des Rückenmarks.
oder nur auf kurze Strecke nach der Längeaxe des Rückenmarkes aufsteigen;
sie sollen dann in der grauen Substanz auf eine noch unbekannte Art entspringen.


Die Gründe für diese Annahme sollen darin gefunden werden: dass nachweiss-
lich quer- und längslaufende Stränge von Nervenröhren im Rückenmark vorkom-
men, von denen wohl die querlaufenden, keineswegs aber die längslaufenden, in die
Nervenwurzeln verfolgt werden können; dass die Dicke des weissen Rückenmarks
in seinem Halstheile überhaupt nicht hinreicht, um alle aus ihm entspringenden Ner-
venwurzeln zu beherbergen und dass die verschiedenen Anschwellungen des Rücken-
marks an den Stellen, an welchen beträchtliche Nervenmengen aus ihm austreten,
sich leicht erläutern, wenn man sie durch den hier liegenden Ursprung der Ner-
venröhren erklärt. —


Dieser steht geradezu eine andere noch ins Genauere gehende Hypothese entge-
gen, welche von Kölliker zuerst scharf ausgesprochen ist, zu der aber von man-

Figure 29. Fig. 28.


nigfachen Seiten her Thatsachen geliefert sind. Nach ihr Fig. 28, treten die Nerven-
röhren der vordern Wurzeln V quer durch die weise Masse in die Vorderhörner der
grauen Substanz und fahren hier in zwei Hauptrichtungen auseinander; die eine von
ihnen, die aus dem innern Bündel der Wurzeln besteht, geht aus der grauen Sub-
stanz in die vordere weisse Commissur zur entgegengesetzten Rückenmarkshälfte
und biegt, wenn sie diese erreicht, nach aufwärts, um die sog. weissen Vorder-
[129]Faserung des Rückenmarks.
stränge zu bilden V C V1. Der andere Zug dagegen dringt aus den grauen Vorder-
hörnern in die Seitenstränge und steigt in diesen zum Hirn empor V S V1. Die hin-
tern Wurzeln H dringen durch die substant. gelatinosa in das hintere graue Horn,
und verhalten sich hier ebenfalls verschieden. Ein Theil biegt sogleich aus den hin-
tern Hörnern in die hintern Stränge derselben Seite und verläuft von da aufwärts;
ein anderer biegt etwas später aus den grauen Hörnern in die gleichseitigen Seiten-
stränge und verläuft in diesen nach dem Hirn, in der Zeichnung ist nur der erstere
Zug dargestellt (H H1). Zweifelhaft bleibt es, ob endlich ein dritter Zug hinterer
Wurzelfasern in der grauen Commissur zur entgegengesetzten Seite tritt und hier in
der grauen Masse oder den Hintersträngen aufwärts dringt. — Kölliker lässt es
zweifelhaft, ob ein eigenthümliches System von Rückenmarkfasern ein sog. inter-
mediäres vorhanden sei. — Diese Darstellung gründet sich darauf: dass der eben be-
schriebene Verlauf der Fasern aus Bildern von mikroscopisch feinen Längs- und
Querschnitten des Rückenmarks, das in Chromsäure oder chromsaurem Kali gehär-
tet ist, abgeleitet werden kann; dass die mikroskopische Untersuchung der Rücken-
markselemente keine Nervenursprünge erweisst; dass wenn man die beim Eintritt
in das Rückenmark zu Stande kommende Verschmälerung der Nervenröhren berück-
sichtigt, der Durchmesser des Rückenmarks allerdings ausreicht, um alle in den
Wurzeln enthaltenen Nervenröhren aufzunehmen; dass in den Anschwellungen des
Rückenmarkes, welche den Ursprüngen starker und zahlreicher Nervenwurzeln ent-
sprechen, keineswegs die weisse, sondern nur die graue Substanz zunimmt; dass die
Masse der weissen Substanz von unten nach oben stetig zunimmt und namentlich, dass
die Punkte, aus denen die sog. vordern Nervenwurzeln kommen, um so weiter von
der vordern Mittellinie des Markes sich entfernen, je mehr nach oben sie liegen,
während sie am con. terminal. die Mittellinie erreichen.


Bruchstücke zu einer Vorstellung über den Bau des Rückenmarks, die sich nur
theilweise mit jeder der beiden ersteren Anschauungen vereinigen lassen, geben die
Untersuchungen von Schilling*). Der Grundstock des Rückenmarks besteht
nach ihm in der weissen Masse aus Längsröhren und in der grauen Masse, wozu er
auch die vordere Commissur zählt, aus Querröhren. Diejenigen Längsröhren, welche
auf der Oberfläche das Rückenmark nach Art eines Mantels umkleiden, verlaufen
ohne nachweisbares Ende vom Hirn zum Conus; diejenigen, welche zwischen diesem
Mantel und der grauen Masse eingeschlossen sind, nehmen dagegen an Zahl von oben
nach unten hin ab, ungefähr proportional der Menge von fortlaufend aus dem
Rückenmark austretenden Wurzelröhren; da sie jedoch in die letztern nicht über-
gehen, so enden sie wahrscheinlich in den Ganglienkörpern der grauen Masse. Die
Querfasern verknüpfen, da sie wahrscheinlich gar nicht (und wenn nur zum klein-
sten Theil hinten) in Wurzelröhren übergehen, ebenfalls die Ganglienkörper mitein-
ander. Zwischen dieses, dem Rückenmark insbesondere angehörige Flechtwerk
treten nun die hinteren und vorderen Nervenwurzeln ein und dringen sogleich in die
zunächst gelegene graue Substanz; dort biegen die erstern, ohne sich mit den gegen-
überliegenden zu kreuzen, alsbald in den hintern Hörnern aufwärts, um wahrschein-
lich ohne Aufenthalt zum Hirn zu laufen, während die vordern Wurzeln nachweiss-
lich in die vielstrahligen Ganglienzellen der Vorderhörner münden. — Die Gründe,
welche Schilling für seinen Bauplan geltend macht, liegen, ausser der Ueberein-
stimmung mit den von ihm gefundenen mikroskopischen Bildern, theils in dem Zwei-
fel, dass die Kölliker’schen Messungen und Annahmen über das Verhältniss der
Querschnittssumme sämmtlicher Nervenwurzeln zu derjenigen des weissen Halsmar-
kes auf richtigen Voraussetzungen fussen, theils darin, dass die weisse Masse von
unten nach oben auf dem Querschnitte nicht in dem Maasse zunimmt, in welchem die
eintretenden Nervenwurzeln sich mehren. Im Gegentheil soll der Querschnitt des
weissen Markes periodisch an Umfang zu- und abnehmen, gerade so wie die Menge
9
[130]Peripherischer Verbreitungsbezirk der Rückenmarksnerven.
der aus einem Umfang austretenden Wurzelröhren, und nicht minder soll die Menge
des auf einem Querschnitt vorhandenen grauen Markes im Verhältniss zu der je-
weiligen Zahl von Wurzelursprüngen stehen, welche aus dem Umfang treten.


Diese drei Annahmen stehen sich rücksichtlich ihrer Wahrscheinlichkeit so lange
noch gleichberechtigt gegenüber, als die Untersuchungen, aus denen sie erschlossen
sind, keinen höheren Grad von Genauigkeit beanspruchen können.


Das Widersprechende und Zweifelhafte in der Anatomie des Rückenmarkes
findet seine hinreichende Erklärung, weil man die Fehlerquellen der Methoden gar
keiner Diskussion unterwirft. Namentlich vermisst man Mittheilungen darüber, wie
sich durch das Rückenmark hindurch pia mater und Gefässe verhalten; wie es gelungen
sei, den gemessenen Schnitt immer senkrecht gegen die Längsachse des Rückenmarks
zu führen; ob die Härtungsmittel ein überall proportionales Schrumpfen, namentlich
an Nervenstämmen und dem Rückenmark erzeugen; auf wie zahlreichen und genauen
Messungen sich die mittlere Verhältnisszahl gründe, die das Verschmälern der Ner-
venröhren im Rückenmark ausdrückt; welche Mittel dafür Bürgschaft leisten, dass
die Nervenröhren von normalem Durchmesser der Messung unterworfen wurden;
wie angenähert die hypothetische Form, die man bei der Rechnung für das Rücken-
mark zu Grunde legte, mit der wahren übereinstimmt u. s. w. u. s. w. — Ferner ist
es sehr natürlich, dass die willkürlich, nicht genau nach dem Faserverlauf angefer-
tigten Durchschnitte Bilder zum Vorschein bringen, welche sich in der Vorstellung
auf das Mannigfachste verknüpfen lassen; man muss sich nur darüber wundern, dass
die Zahl der hypothetischen Strukturen nicht schon zahlreicher ist.


Physiologisches Verhalten. — Die vom Rückenmarke
ausgehenden Nervenröhren stellen Bindeglieder zwischen ihm und den
peripherischen Verbreitungsbezirken dar, durch die irgend welche Er-
regung erzeugende Zustände des Rückenmarkes den äussern Organen
und umgekehrt solche der äussern Organe dem Rückenmarke mitgetheilt
werden können. Da nun ferner das Rückenmark die wirklichen oder
virtuellen Fortsetzungen der Wurzelröhren enthält, so müssen auch die
Erregungszustände dieser sich dem Hirn und die des Hirnes sich den
Nervenwurzeln mittheilen; in diesem Sinne ist es zu nehmen, wenn das
Rückenmark Leitungsorgan genannt wird. Ausser dieser Abstraction,
welche die anatomische Erfahrung an die Hand gibt, deckt aber der
physiologische Versuch noch anderweite Eigenthümlichkeiten des
Rückenmarkes auf, die sie beziehen auf eine besondere Art von
Verbreitung resp. Mittheilung der Erregung, auf eine eigene Weise
gegenseitiger Lagerung der Nervenröhren, auf ein spezifisches Ver-
halten gegen Erregungsmittel respective auf eigenthümliche Verhält-
nisse der Erregbarkeit. — Unsere Darstellung der Nervenwurzeln und
des Rückenmarkes wird die aufgezählten Eigenschaften der Reihe
nach in Betracht ziehen.


1. Verbreitungsbezirk der Rückenmarksnerven in der
Peripherie
. *) — Um den Verbreitungsbezirk einer Nervenwurzel mit
absoluter Schärfe zu erfahren, ist es nothwendig, ihre Nervenröhren in
[131]Peripherischer Verbreitungsbezirk der Rückenmarksnerven.
Erregung zu versetzen und diese in jenen isolirt zu erhalten, wäh-
rend die Nervenröhren und das Organ, auf das sie nach der Voraus-
setzung sichtlich einwirken, sich in vollkommen lebenskräftigem und
namentlich im erregbarem Zustand befindet, und der Nerv mit dem be-
treffenden Organ in normaler Berührung steht. — Diesen Anforde-
rungen ist nicht überall Genüge zu leisten.


Zur Erzielung der Erregung bedient man sich der bekannten Mittel; unter diesen
würden für unsere Zwecke chemische und mechanische vorzuziehen sein, wenn sie
nicht den Nachtheil mit sich führten, dass sie das unmittelbar getroffene Nervenstück
entweder meist vollkommen abtödteten oder es nicht erlaubten, die Erregung örtlich
nach Willkür zu beschränken. Wir sind demnach vorzugsweise auf den elektrischen
Strom angewiesen; er bietet namentlich den Vortheil, dass man bei seiner Anwen-
dung denselben Versuch oft wiederholen und damit das Ergebniss des Versuchs
fester stellen kann. Seine Benutzung ist darum in allen Fällen anzurathen, wenn es
möglich ist, den Nerven mit schwachen galvanischen Strömen, die vermittelst ver-
schiedener Hilfsmittel, die ihre Wirkung auf den Nerven isoliren, zur Entwicklung
seiner physiologischen Kräfte zu veranlassen. Ein schwacher galvanischer
Strom wird, wie aus früherem erhellt, nothwendig, weil hierdurch die unipolare und
die paradoxe Wirkung abgehalten wird. Behufs der Isolation des angewendeten
elektrischen Stroms auf den Nerven lässt man den ersteren durch möglichst
feine und einander möglichst genäherte, unmittelbar auf den Nerven angewendete
Spitzen ausströmen, nachdem man den Nerven vorher auf eine elektrisch isolirende
Grundlage (Glas, Glimmer, Wachstafft u. s. w.) gebracht hat. In vielen Fällen gelingt
es, trotz Anwendung aller dieser Hülfsmittel nicht, die Erregung innerhalb einer be-
stimmten, ursprünglich abgesondert in Thätigkeit gesetzten Zahl von Nervenröhren
gebunden zu erhalten, weil die natürliche, für unsere Kunstmittel unlösbare Verbin-
dung derselben mit andern Nervenröhren derartig angelegt ist, dass der erregte Zu-
stand des einen Nervenrohrs Erregungsmittel für die andern nebenliegenden wird.
In diesem Fall folgt unfehlbar auf Erregung eines Theils des Systems eine physiolo-
gischen Wirkung in allen ursprünglich auch nicht erregten Gliedern desselben, wobei
begreiflich der Nachweiss gar nicht geliefert werden kann, ob überhaupt der ur-
sprünglich erregte Nerv in die physiologisch reagirenden Organe sich begibt.


Schliesslich sind die erwähnten Versuche oft mit einer beträchtlichen Unsicher-
heit behaftet, weil nicht immer entschieden werden kann, ob das Ausbleiben eines
Erfolges von der ursprünglichen Anlage des Nerven, oder von einer Erschöpfung
der Leistungsfähigkeit des Nerven oder des entsprechenden Gewebes abhängt. Die-
ser Uebelstand wird von um so grösserer Bedeutung, wenn es in die Lebensfunk-
tionen eines Organes mit eingerechnet ist, unter gewissen noch nicht näher bekann-
ten Umständen zeitweise dem Einfluss der Nerven entzogen zu sein. Ein negatives
Resultat wird darum nur erst durch zahlreiche unter verschiedenen Umständen an-
gestellte und immer gleichlautende Ergebnisse werthvoll. Man muss sich, um zur
vollkommenen Einsicht in die Bedeutung der vorliegenden Untersuchungsmethode
zu gelangen, einprägen, dass selbst im glücklichsten Falle nur der Nachweiss einer ge-
wissen schliesslichen Vertheilung des Nerven geliefert, dagegen über den ganzen
Verlauf des Nerven keine Auskunft ertheilt wird. Die physiologische Methodik hat
noch keinen Versuch gemacht, diese letztere Frage experimental zu lösen, wozu
vielleicht der elektrotonische Zustand dienen könnte.


Bezüglich des Verbreitungsbezirkes der Rückenmarksnerven
hat es sich als ein unzweifelhaftes Resultat ergeben, dass alle Mus-
keln des Rumpfes, so weit sie überhaupt von dem Rückenmark ab-
hängig sind, nur durch die sog. vordern Rückenmarkswurzeln in Be-
9*
[132]Bell’s Gesetz.
wegung versetzt werden; dass dagegen alle Nervenröhren, welche
die einzelnen Rumpftheile mit den empfindenden Stellen des Hirnes
verbinden, durch die sog. hintern Wurzeln aus dem Rückenmark her-
vortreten. Dieser Satz, welcher unter dem Namen des Bell’schen
Gesetzes bekannt ist, wird gewöhnlich auch in der Weise ausge-
drückt, dass man die hintern Wurzeln die sensibeln, die vorderen
die motorischen nennt. Diese kurze Bezeichnung darf mit vollem
Rechte insofern aufgenommen werden, als es erwiesen ist, dass
durch die hintern Wurzeln keine Nervenröhren austreten, welche sich
mit den Muskeln in solcher Verbindung befinden, vermittelst welcher
sie Bewegungen derselben veranlassen könnten; und weiter, dass
durch Erregung der vordern mit dem Gehirn in Verbindung stehenden
Wurzeln niemals Empfindungen bewerkstelligt werden könnten. — Der
Gegensatz zwischen motorisch und sensibel findet demgemäss in der
vollkommensten Weise statt. Unerwiesen ist es dagegen, ob nicht
noch Nervenröhren in einer oder in beiden Wurzeln laufen, welche an-
dere physiologische Funktionen als die der Empfindung und der Mus-
kelkontraction anzuregen im Stande sind; es darf demnach der Aus-
druck sensible und motorische Wurzel nicht im exclusiven Sinne ge-
braucht werden.


Dieses Gesetz ist für alle Wirbelthierklassen bestätigt. Denn: durchschneidet
man bei erhaltener Verbindung des Rückenmarkes mit dem Hirn die vorderen Wur-
zeln eines bestimmten Theils, so ist alle willkürliche Bewegung in ihm erloschen,
die Empfindung desselben dagegen vollkommen erhalten, so dass durch entspre-
chende Einwirkungen (Druck, Brennen, Aetzen der Haut) Aeusserungen des lebhaf-
testen Schmerzes (Schreien, Fluchtversuche u. s. w.) von dem in Bezug auf seine
Muskelverrichtungen gelähmten Theile eingeleitet werden können. Hat man dage-
gen die hintern Wurzeln mit Erhaltung der vordern durchschnitten, so tritt die um-
gekehrte Reihe der Erscheinungen hervor, indem nun das Glied dem Willen voll-
kommen unterthan ist, aber von keinem Punkt desselben aus auch nur die geringste
Schmerzensäusserung erregt werden kann; jede selbst sanfte Berührung der mit dem
Rückenmark in Verbindung befindlichen Stümpfe der hintern Wurzeln erzeugt da-
gegen lebhafte Schmerzen.


Die Erscheinungen am durchschnittenen, vom Hirn getrennten Rückenmark er-
gänzen die ebengegebenen vollkommen; durchschneidet man die vordern Wurzeln
an einem solchen Stumpfe, so ist keine Erregung dieses letzteren im Stande, Muskel-
zuckungen zu bewerkstelligen, die aber augenblicklich hervortreten, wenn man die
Stücke der vordern Nervenwurzeln, welche mit den Muskeln noch in Verbindung sind,
den erregenden Einflüssen aussetzt. Durchschneidet man aber nur die hintern Wur-
zeln eines solchen Stumpfes, so folgt jedem Eingriff auf das Mark eine Bewegung;
sie bleibt dagegen vollkommen aus, sowie man die mit dem Gliedmaasse in Verbin-
dung stehenden hinteren Wurzeln den Einwirkungen mechanischer, elektrischer etc.
Effekte aussetzt.


Longet*) machte und widerrief aber später eine Beobachtung, welche im
Stande gewesen wäre, die ausschliessliche Geltung des Bell’schen Gesetzes aufzu-
heben. Nach ihr sollten nämlich auch die vordern Wurzeln empfindlich sein;
[133]Mengenverhältniss der hinteren und vorderen Wurzelröhren.
Magendie, der Longet’s Beobachtungen wiederaufnahm, erklärte darauf, dass
diese Empfindlichkeit den vordern Wurzeln mitgetheilt werde durch Röhren, welche
mit den hintern Wurzeln aus dem Rückenmark treten, sich dann an der Verbindungs-
stelle beider Nervenwurzeln umbiegen; denn es wurde nach Magendie die Empfin-
lichkeit der vordern Wurzeln vernichtet, wenn die entsprechenden hintern durch-
schnitten waren.


Die einfache Auslegung, welche die Thatsachen erfahren, wenn man aus ihnen
erschliesst, dass die vordern Wurzeln mit den zugehörigen Nerven zu den Verbin-
dungsgliedern zwischen Seele (oder Willensorgan) und den Muskeln, und dass die
hintern Wurzeln zu den Bindegliedern bestimmter empfindlicher Körperregionen und
der Seele (oder dem Empfindungsorgan) gehören, ist nicht allseitig anerkannt. Man
schliesst (oder schloss) gewöhnlicher, dass durch diese Versuche eine spezifische
Natur der Nerven erwiesen werde, vermöge deren jede Art der Nerven entweder
überhaupt nur zu einer ganz spezifischen Art der Reaktion befähigt wäre, d. h ent-
weder nur einen Bewegungs- oder einen Empfindungsakt einleiten könne, oder ver-
möge deren ein für beide Fälle gleichartiger innerer Zustand in den motorischen
Wurzeln nur nach der Peripherie (centrifugal, rechtläufig), in den sensiblen dagegen
nur nach dem Rückenmark und Hirn (centripetal, rückläufig) geleitet werden könne.
An einer andern Stelle kann erst die Seite 95 begonnene Widerlegung der ersten
dieser beiden Vorstellungen vollendet werden, während die der letzteren schon S. 113
gegeben ist.


Eine Vergleichung des Umfangs sämmtlicher hinteren und vor-
deren Wurzeln überzeugt uns, dass die hintern Wurzeln überwiegend
mehr Fasern enthalten, als die vordern. Diese Behauptung würde
schon richtig sein, wenn beide Wurzelmassen Nervenröhren von
gleichem Durchmesser enthielten; denn es verhält sich der Querschnitt
der vordern Wurzeln zu dem der hintern nach Blandin und Kölliker:
Am Halsmark = 1 : 2 oder = 1 : 2,9 mit Ausnahme des ersten Hals-
nerven.
„ Dorsalmark = 1 : 1 oder = 1 : 2,0
„ Lenden- und
Sacralmark = 2 : 3 oder = 1 : 2,2 bis zum dritten Sacralnerven incl.


Dieses Verhältniss der Zahl von distinkt aus dem Rückenmark
austretenden Fasern steigert sich dagegen noch sehr zu Gunsten der
hintern Wurzeln, wenn man bedenkt, dass der mittlere Durchmes-
ser der einzelnen Röhren in den vordern Wurzeln 0,0060‴ p. in der
hintern dagegen nur 0,004‴ p. beträgt. Ob dagegen die Summe der
wirksamen Partikeln des Nervenmarks in den vordern Röhren auf
einen entsprechenden Querschnitt beider Wurzeln geringer sei als
in den hintern bleibt wegen der vermehrten Primitivscheiden un-
gewiss.


Obgleich allseitig die physiologische Bedeutung der überwiegen-
den Zahl sensibler Röhren nicht ermittelt ist, so dürfte mindestens
durch dieselben das Ziel erreicht sein, dass vermittelst der hintern
Wurzeln ein grössere Zahl distinkter Puncte unserer Organe auf isolirte
Weise und mit dem Rückenmarke in Beziehung gesetzt sind als durch
die vordern.


[134]Weitere Verbreitungsgesetze der Rückenmarksnerven.

Nach dem Erkennen dieser Gesetze gestaltet sich nun die
nächste Aufgabe dahin, den Verbreitungsbezirken jedes einzelnen
Wurzelbündels (da dieses für die einzelnen Nervenröhre nicht ge-
schehen kann), in der Reihenfolge, in welcher sie vom Rückenmark
austreten, aufzusuchen.


Die ausserordentliche Unregelmässigkeit, die bei der Zusammenfassung der
Wurzelbündel zu Nerven waltet, lässt die Bestimmung der Verbreitungsbezirke einer
ganzen Wurzel weniger werthvoll erscheinen. — Die anatomische Methode der Ner-
venpräparation leistet zu obigem Zwecke, wegen der vielfachen Verschlingung der
feinen Nervenelemente, bei der Bildung von sogenannten Nervenstämmen, Plexus
und Aesten bekanntermassen nichts. Die physiologische Präparation, deren wir
uns schon zur Darstellung der verschiedenen Funktionen der hintern und vordern
Wurzeln bedienten, gibt uns dagegen in einer gewissen Beschränkung bei An-
wendung der nöthigen Vorsicht und Ausdauer sichern Aufschluss. — Die Verfol-
gung der motorischen Röhren, die auf ihrem Wege nicht in eine physiologisch
complizirte Funktion zu andern Nervenparthieen treten, und in quergestreiften Mus-
keln von normaler Erregbarkeit enden, denen keine andere Bewegungsursache in-
haerirt, gelingt dadurch, dass man vom Rückenmark die Wurzel vollkommen elek-
trisch isolirt und vermittelst derselben den Kreis einer nicht zu kräftigen, einfachen
galvanischen Kette schliesst, nachdem man noch den Muskel, in welchem man Be-
wegung erwartet, bloss gelegt hat. Nachdem man die Wirkung des betreffenden
Nerven unter dem Einfluss der Elektrizität ermittelt hat, muss man zur Controle des-
selben nie versäumen, noch schliesslich einen mechanischen oder chemischen Ein-
fluss auf den Nerven wirken zu lassen. Je erregbarer der Nerv und Muskel, um so
sicherer ist der Erfolg, der bei Warmblütern nur kurze Zeit nach dem Erlöschen des
Blutlaufs, bei Kaltblutern dagegen oft noch viele Stunden nach dem Stillstand des
Herzens erwartet werden kann. Besondere im Einzelnen zu erwähnende Schwierig-
keiten bietet dagegen die Untersuchung der Abhängigkeit des Herzens und der Ein-
geweidemuskeln von bestimmten Nervenwurzeln. — Die Untersuchung der Verbrei-
tung sensibler Nervenröhren gelingt schwieriger. Die allgemeinste Vorbereitung des
Versuchs besteht darin, dass man von den in das Rückenmark gehenden hintern
Wurzeln nur die eine zu untersuchende mit dem Rückenmark in Verbindung lässt,
alle übrigen hintern dagegen, oder wenigstens alle in der Nähe entspringenden
durchschneidet, und nun den vermuthlichen Verbreitungsbezirk mit schwächern
oder stärkern Empfindung erregenden Einflüssen (schwachen Kalien oder Säuren,
Salzlösungen, höherer Temperatur etc.) angreift.


Die Aenderung, welche die Schmerzhaftigkeit des Angriffs bezeugt, fällt ver-
schieden aus, je nachdem das Rückenmark noch unter dem Einflusse der sogenann-
ten Seelenwirkungen steht oder diesen (durch Betäubung des Thiers mit Opium,
Durchschneiden des Rückenmarks etc.) entzogen ist. Im ersten Falle sind die hier
eintretenden Zeichen des Schmerzes (dessen Aeusserungen, abgesehen von ihrer
Zweideutigkeit, auch noch an die Willkür des Thieres gebunden sind) so unsicher,
dass die zweite Methode unbedingt den Vorzug verdient. Die Anwendung des vom
Hirn getrennten Rückenmarkes ist auf die Erfahrung basirt, dass jede durch ein hin-
teres Nervenrohr eintretende Erregung vermöge einer eigenthümlichen Combination
desselben mit den Ausläufern der vordern Wurzeln in das Mark auch eine Erregung
in diesen, resp. eine Muskelzuckung bewerkstelligt, vorausgesetzt, dass sie dem
Willenseinflusse entzogen sind. Die auf Ermittlung dieser Verhältnisse gerichteten
Beobachtungen bedürfen einer zahlreichen Wiederholung, weil die Erregbarkeit der
sensiblen Fasern noch viel rascher nach dem Tode erlischt als die der motorischen.


Eine solche Versuchsreihe (für motorische und sensible Fasern) müsste nun für
ein der menschlichen Organisation näher stehendes Säugethier durchgeführt werden
[135]Weitere Verbreitungsgesetze der Rückenmarksnerven.
und dann erst dürfte man Hoffnung haben, aus der Beobachtung zufällig eintretender
Verletzungen einzelner Nerven und Rückenmarkstheile eine vollkommene Einsicht in
die Vertheilung der Rückenmarksnerven des Menschen zu gewinnen. — Eine solche
Reihe steht leider der Wissenschaft noch nicht zu Gebote.


Eine Zusammenstellung der bei verschiedenen Thieren gewonne-
nen Thatsachen über die Verbreitung der Rückenmarkswurzeln ergibt:


a. Die von einer Hälfte des Rückenmarks entspringenden Wur-
zeln versorgen nur Bestandtheile derselben Körperhälfte vorausge-
setzt, dass ihr Verbreitungsbezirk nicht in die Eingeweide fällt. —


b. Jede grosse räumlich oder functionell geschiedene Gruppe von
Bewegungsorganen erhält von einer begrenzten Abtheilung des Rük-
kenmarks ihre Nervenröhren, ohne Berücksichtigung ihrer relativen
Lage zum Rückenmark. Nach den bis dahin bekannten Beobachtungen
könnten in diesem Sinne die Nervenwurzeln in vier Gruppen ge-
bracht werden: α) Nerven der Wirbelsäule-, resp. der Rippen- und
Bauchmuskeln, insofern diese für die Bewegung der Wirbelsäule
benutzt werden; dieses System läuft durch das ganze Rückenmark
von oben bis unten, so dass sich sämmtliche Nervenwurzeln in einem
gewissen Umfangan ihm betheiligen. — β) Einathmungsnerven, zu
diesem Gliede dürfte zum Theil der 3. bis 6. (7.?) Halsnerv gezählt
werden können; die Muskeln, welche versorgt werden, sind wenn
auch wenige (Mm. scaleni, sternomastoidei, Diaphragma) doch sehr
auseinander gelegte, so dass sie sich ziemlich scharf ausschei-
den; ob und welche andere zu dieser Abtheilung noch gehören möch-
ten, muss zu entscheiden späteren Untersuchungen überlassen blei-
ben. — γ) Nerven der obern Extremität, zu denen bekanntlich der
grösste Theil der Wurzeln für den plexus brachialis zählt und der mit
seinen Aesten ebenso wie die vorhergehende Gruppe tief an den
Rumpf heruntergreift, um die an den Bewegungen des Schultergerüstes
oder Armes betheiligten Muskeln zu versorgen. — δ) Nerven der Geh-
werkzeuge; ein grosser Theil der Wurzeln des plexus lumbalis und
sacralis. — Ausser diesen Gruppen dürfte eine weitere Untersuchung
wahrscheinlich noch andere, die sich auf Bewegung des Kopfs, der
Zunge und des Kehlkopfs, der Muskeln zur Koth- und Harnentleerung
und endlich des Geschlechtsapparats beziehen, aufstellen.


c. Derselbe Muskel und dieselbe Hautstelle (oder überhaupt
empfindliche Fläche?) wird gleichzeitig von Röhren versorgt, welche
durch verschiedene Wurzeln aus dem Rückenmark austreten, und um-
gekehrt aus derselben Wurzel begeben sich an verschiedene (zu einer
grösseren Gruppe gehörige?) Muskeln und Hautstellen Nervenzweige
Eckhard.


Aus diesen Vertheilungsgesetzen, welche mit der höchsten Wahr-
scheinlichkeit als überall bestehende angesehen werden dürfen, er-
gibt sich die Nothwendigkeit und die Bedeutung der Plexusbildung
[136]Centrale Verbreitung der Rückenmarksnerven.
für die Muskel- und Hautnerven der grössern Bewegungswerkzeuge,
besonders wenn man noch hinzufügt, dass die in den verschiedenen
Wurzeln liegenden, aber für dieselben Regionen, Muskeln u. s. w.
bestimmten Röhren in einen Nerven zusammengefasst werden müssen.
Zugleich wird hierdurch der einzelne sog. Nervenast als ein Lager von
Röhren verschiedenartigen Ursprungs bezeichnet. —


Die Beziehungen der Nervenwurzeln zu den Muskeln und empfindenden Flächen
der Eingeweide werden bei der Darstellung des sog. nerv. sympathicus behandelt
werden.


2. Verbreitung der Wurzelröhren in dem Rücken-
mark
*). Nach der Feststellung des Bell’schen Gesetzes vermuthete
man sogleich, dass in den Vordersträngen des Rückenmarks die mo-
torischen und in den Hintersträngen die sensiblen Nerven aufsteigen
möchten. Diese Vermuthung hat sich insofern bestätigt, als erwiesen
ist, dass die Hinterstränge der Marksubstanz und die hintern grauen
Hörner ausserordentlich empfindlich sind, während die vordern Mark-
stränge im Erregungszustand motorisch wirken, niemals aber Empfin-
dungen erzeugen; ausserdem hat man in den Seitensträngen motori-
sche niemals aber sensible Nervenmassen gefunden. —


Die physiologische Erfahrung glaubt sich berechtigt zu diesen
allgemeinen Angaben noch folgende besondere beifügen zu können.
Die in die Vorderstränge eingetretenen Nervenröhren dringen (ent-
weder direct oder durch die sie repräsentirenden Fortsetzungen des
intermediären Systems) zum grössten Theil in dem gleichseitigen
Vorderstrang zum Hirn aufwärts, der kleinere Theil aber begibt sich
in den entgegengesetztseitigen Vorderstrang, nachdem auch er zuerst
während einer längeren Strecke in dem gleichseitigen verlaufen war.
— Aehnlich verhalten sich die sensiblen Bindeglieder zwischen Hirn
und Nervenwurzeln; denn es verbleibt auch von diesen letztern im
Rückenmark nur ein Theil auf der Seite, in welche sie eintraten,
während ein anderer Theil zur entgegengesetzten Seite übergeht


Die eben vorgetragenen Sätze gründen sich auf folgende Thatsachen. Durch-
schneidet man ein Rückenmark an beliebiger Stelle aber vollständig, so sind alle
Muskeln, welche ihre Nerven aus den Wurzeln enthalten, die unterhalb des Schnittes
aus dem Rückenmark austreten dem Willenseinfluss entzogen, während die Muskeln,
die ihre Nerven auch aus oberhalb des Schnittes abtretenden Wurzeln erhalten,
ihm noch vollkommen unterthan sind. Erregt man dann auf beschränkte Weise die
vorderen Stränge an der Schnittfläche des untern Rückenmarkstumpfes, so
erscheinen in allen Muskeln, deren Nerven unterhalb der Schnittstelle entspringen,
Bewegungen in ähnlicher Weise, als ob man die Wurzeln selbst erregt haben
würde. Diese Thatsache beweist unzweideutig das Aufsteigen der Wurzelröhren
[137]Hintere Rückenmarksstränge.
oder ihrer virtuellen Fortsetzung in den vorderen Strängen. — Zweideutig
sind die Beobachtungen ausgefallen, welche die theilweise Kreutzung der
motorischen Röhren im Rückenmark beweisen sollen. Nach einigen Beobachtern
soll ein einseitiger (bis zu den Längenfurchen geführter) Querschnitt einzig eine
vollkommene Lähmung der gleichseitigen Muskeln, und eine isolirte Erregung der
durchschnittenen Markhälfte nur Bewegung in den Muskeln der dem Schnitt ent-
sprechenden Seite hervorrufen. — Diese Thatsache würde der Annahme einer
Kreuzung widersprechen. — Andere Beobachter versichern dagegen, dass einseitige
Durchschneidung auf der gleichen Seite vollkommene und auf der entgegengesetzten
Seite unvollkommene Lähmung herbeiführen; dieses Resultat ist gar keiner Deutung
fähig, denn wenn auch die Halblähmung der Muskeln in der dem Rückenmarkschnitte
entgegengesetzten Seite für Kreuzung spricht, so ist doch die vollkommene Läh-
mung auf der gleichen Seite aus der Kreuzung vollkommen unklar. — Endlich behaup-
tet eine dritte Reihe von Beobachtern, dass halbseitige Durchschneidung des Rücken-
marks Halblähmung in beiden Körperhälften bedinge, so jedoch, dass die auf der
Seite des Schnittes gelegenen Muskeln dem Willen mehr entzogen seien, als die an
der entgegengesetzten Seite befindlichen. — Vielleicht erklärt sich die Verschieden-
heit der Resultate, welche die ersten und dritten Beobachter erhielten, dadurch, dass
sie verschiedene Thiere dem Versuch unterwarfen und den Schnitt in ungleichem
Abstand von den Nervenwurzeln führten. — Beim Frosche nämlich ist der Befund
günstiger für die Hypothese der Kreuzung als beim Säugethier; und je höher man
den Schnitt über den Wurzeln für die unteren Extremitäten beim Säugethier an-
brachte, um somehr scheinen sie ebenfalls für die Annahme theilweiser Kreuzung
zu passen. — Keine Beobachtung bestätigt dagegen die aus den anatomischen Beob-
achtungen gezogenen Schlüsse, wonach die Kreuzung der motorischen Elemente
nahe oder unmittelbar über dem Wurzeleintritt geschehen soll. — In wie weit alles
vorstehende auf das Rückenmark des Menschen übertragbar sei, müssen noch
gute pathologische Beobachtungen lehren; für jetzt scheint aus diesen letzten nur mit
Sicherheit geschlossen werden zu dürfen, dass die Vorderstränge die motorischen
Röhren enthalten. —


Die Resultate, welche die Versuche an den hinteren Strängen liefern, sind auf
den ersten Blick noch viel zweideutiger. Eine Erregung derselben auf einem mit
dem Hirn verbundenen Querschnitt bewerkstelligt allerdings lebhafte Schmerzens-
äusserungen, und nach Durchschneidung der hintern (und eines Theils der seitlichen?)
Stränge des Rückenmarks verhalten sich allerdings alle Rumpftheile, welche
ihre sensiblen Nerven aus dem vom Hirn getrennten Stücke beziehen, vollkommen
empfindungslos. Mit der Erregung treten dagegen fast unter allen Umständen Bewe-
gungen hervor, so dass auf den ersten Blick die Hinterstränge ausser den sensiblen
Röhren auch noch motorische zu enthalten scheinen. Eine genauere Vergleichung
der Bewegungen und der Umstände unter welchen nach Erregung der Hinterstränge
Bewegung eintritt, lehrt bald, dass die Versuche auf keine unmittelbare und ein-
fache, sondern auf eine sehr complizirte Beziehung zwischen Hintersträngen und
motorischen Functionen hinweisen. Denn 1) nach oberflächlicher Erregung eines
Querschnitts an dem Stumpfe, der mit dem Hirn in Verbindung steht, (centraler
Stumpf) treten Bewegungen in Muskeln ein, deren Nerven weit oberhalb des Schnit-
tes entspringen, obwohl alle Beobachtungen darin übereinstimmen, dass niemals die
motorischen Wurzeln im Rückenmark abwärts, sondern immer aufwärts laufen. — 2)
Eine Erregung auf dem Querschnitt des Hinterstrangs am peripherischen (vom Hirn
getrennten) Stumpfe führt ebenfalls zu Bewegungen, aber erst dann, wenn die Er-
regung in die Tiefe eindrang, während schon viel näher an der Oberfläche des Quer-
schnittes der vordern Stränge das erregende Mittel Bewegung einleitet. — 3) Wenn
in einem Thiere die Erregbarkeit der empfindenden Röhren abgestorben ist, was nach
dem Tode immer früher geschieht, als das Absterben der motorischen, so gelingt es
[138]Hintere Rückenmarksstränge. Graue Masse.
nicht mehr von den hintern Strängen aus Bewegung zu erwirken, während sie die
erregten vordern Stränge noch auszulösen vermögen. — 4) Endlich sind die Bewegun-
gen, welche auf Erregung der Hinterstränge eintreten, weder momentane Folgen
derselben, noch kann eine so innige Beziehung zwischen Intensität und Dauer der
Erregung und Bewegung festgestellt werden, wie diess unter gleichen Umständen
bei den Vordersträngen möglich ist. Die in den Muskeln eintretende Bewegung ist
keine constante, auf gewisse Muskeln (die sogleich vom Beginn der Erregung an
ergriffen waren) beschränkte, sondern sie wechselt in einer gewissen Folge allmä-
lig zwischen allen einzelnen Muskeln des Rumpfes, (sog. klonischer Krampf), so
dass mit steigender Dauer und steigender Intensität der Erregung einer bestimmten
Stelle nicht dieselben Muskeln in eine intensivere und dauerndere Bewegung ver-
setzt werden, sondern die Bewegungen in immer grösseren Kreisen (über mehr und
mehr Muskeln) sich ausbreiten, und die sich bewegenden Muskeln in eine immer
raschere Contractionsfolge gerathen. — Diesen Befund ergänzen nun einzelne pa-
thologische Beobachtungen beim Menschen, in welchen eine intensive Zerstörung
beider Hinterstränge vorhanden war; in diesen Fällen ist die dem zerstörten
Rückenmarkstück entsprechende Rumpfabtheilung vollkommen gefühllos; alle
willkürlichen Bewegungen in diesen Theilen sind dagegen vorhanden. In allen
Fällen ist aber die Bewegung des entsprechenden Rumpftheils gestört, insofern
sie unbewusst geschieht, und namentlich insofern sich einzelne Muskelgruppen zu
einer Bewegung combiniren, so dass z. B. der Gang, insofern er nicht mit besonderer
Aufmerksamkeit des Geistes ausgeführt ist, schwankend und unsicher wird. — Aus
allem diesen darf darum wohl mit vollkommener Berechtigung geschlossen werden,
dass die Hinterstränge nicht die Bindeglieder zwischen Seele und Muskeln enthalten;
wie die Beziehungen zwischen Muskelnerven und Hintersträngen aufzufassen sind,
werden wir alsbald ausführlicher darlegen.


Für die Annahme, dass die beiden hinteren Stränge ihre Röhren austauschen,
spricht das Resultat des Versuchs, dass nach vollkommener Durchschneidung einer
Rückenmarkshälfte die Empfindung der Oertlichkeit in den von dem abge-
trennten Rückenmark versorgten Rumpfstücken noch erhalten bleibt Inwiefern zum
vollkommenen Beweis einer Faserkreuzung nicht überhaupt Empfindung, sondern
auch die der Oertlichkeit verlangt wird muss einer erst später verständlichen Begrün-
dung überlassen bleiben; dass aber das Gefühl der Oertlichkeit besteht, geht daraus
hervor, dass die Thiere bei Verletzungen gegen die verletzte Stelle sich wenden und
mit den willkürlich beweglichen Theilen den verletzenden Gegenstand zu entfernen
suchen. Diese Kreuzung geschieht keinenfalls in einer dem Wurzeleintritt nahen Hori-
zontalebene, sondern in einiger Entfernung über demselben, weil die Empfindlichkeit
in allen Theilen vollkommen verschwindet, über deren zugehörigen Nervenwurzeln
der Schnitt unmittelbar durch das Rückenmark geführt ist, sich dagegen um so leb-
hafter erhält, je höher über den erregten Wurzelfaden der Schnitt liegt. —


Die Seitenstränge und namentlich ihr an die Vorderstränge grenzender Theil
führen jedenfalls motorische Fasern; dass die Seitenstränge und namentlich in den
Grenzparthieen gegen die Hinterstränge sensible führen, ist mindestens nicht erwie-
sen, und insofern nicht widerlegt, als die Versuche an Säugethieren den Einwand
erlauben, dass wegen einer durch die eingreifende Operation herbeigeführte Empfin-
dungslosigkeit geringe Mengen sensibler Fasern übersehen werden könnten. —


In die graue Substanz treten nach übereinstimmenden Angaben guter Autoren,
welche hierfür den Beweis durch directe Erregung der Querschnitte des Rücken-
marks zu führen suchten, keine motorischen Röhren ein; dieser Beweis scheint
kaum durch die Erscheinungen der willkürlichen Lähmung nach Durchschneidung
der ganzen vorderen Hälfte des Rückenmarks erschüttert werden zu können. Nach
dieser Operation bestehen allerdings noch schwache willkürliche Einflüsse auf die
unterhalb des Schnittes gelegenen Nerven, aber es bleibt auch nach dieser Operation
[139]Leitung der Erregung im Rückenmark.
neben der grauen Substanz noch ein grosser Rest der Seitenstränge unverletzt
übrig, die erwiesener Maassen motorische Fasern enthalten.— Sensible Röhren werden
dagegen von der grauen Substanz und zunächst von den Hinterhörnern aufgenommen,
denn diese zeigen sich bei directer Erregung empfindlich; es scheinen aber auch die
sensiblen Fasern in die Vorderhörner einzudringen, weil nach Durchschneidung der
hintern Hälfte des Rückenmarks in den unterhalb liegenden Parthieen Empfindung be-
steht, so lange überhaupt eine Brücke von grauer Substanz zwischen dem untern und
obern Rückenmarkstück erhalten ist, die aber sogleich verschwindet, wenn man den
letzten Rest der Vorderhörner abgetrennt hat. — Eine nicht zu vernachlässigende
Andeutung für den Gang weiterer Untersuchungen über die relative Lage der Ner-
venursprünge zur Rückenmarksfurche besteht darin, dass die vordern Wurzeln um
so weiter von derselben entfernt entspringen, je höher sie abtreten, so dass sie am
untern Ende unmittelbar aus der vordern Furche kommen, während die hintern
Wurzeln überall in annähernd gleicher Entfernung von der hintern Längsspalte
austreten.


3. Mittheilung der Erregungszustände in den Nerven-
röhren des Rückenmarks
*).


Die Erregung, welche innerhalb der Nervenröhren des Rücken-
marks besteht, kann sich auf verschiedene Art verbreiten; sie ist ver-
mögend sich entweder innerhalb der erregten Röhren zu isoliren, so
dass die Leitung des erregten Zustandes nur an den Berührungsstel-
len des Nervenmarkes vor sich geht, oder sie kann sich von einem
Rohr auf ein anderes verbreiten, so dass dann die Leitung durch die
Scheiden hindurch geschieht.


Auf die Gegenwart des ersten Falles, der sog. Längenleitung
schliessen wir, weil vom Willen aus ganz beschränkte Bewegungen
ausgeführt werden können, und weil ganz eng umgrenzte erregende
Einwirkungen auf empfindliche Flächen ebenso beschränkte Empfin-
dungen erzeugen. Beides wäre unmöglich, wenn die Erregung auf
dem Wege von oder nach dem Hirn nicht vollkommen isolirte Bahnen
fände.


Anderntheils kann aber auch eine von beschränkten Stellen in
das Rückenmark eintretende Erregung sich einem grossen Theil dessel-
ben mittheilen, ohne dass wir eine Kommunikation der Lumina der
ursprünglich und der secundär erregten Röhren nachweisen oder auch
nur wahrscheinlich machen können. Wir setzen also in diesem Fall
voraus, dass die Erregung einer Röhre die Veranlassung zur Erregung
der nebenliegenden gegeben habe. Querleitung. — Diesen gegensei-
tig erregenden Einfluss üben entschieden die sensiblen auf motorische
Röhren; ein Gleiches vermuthet man zwischen motorischen und
motorischen, sensiblen und sensiblen, motorischen und sensiblen.


A. Mittheilung der Erregung von sensiblen Röhren auf motorische.
Reflectorische Erregung, Reflexbewegung. Die Bedingungen zum
[140]Reflexbewegung.
Eintritt dieser Bewegungen bestehen im allgemeinen in einem günsti-
gen Zustand der Erregbarkeit aller in Betracht kommenden Nerven- und
Muskeltheile, einer zweckmässigen Anlegung der Erregungsmittel,
und einer möglichst vollständigen Vernichtung des Willenseinflusses
auf das Rückenmark.


Die Versuche, welche die reflektorische Erregung darthun, gestalten sich sehr
einfach. Man dekapitirt ein Thier und erregt auf irgend eine Art einen sensiblen
Nerven mit der Vorsicht, keinen motorischen zu treffen. Die Folge dieser Erregung
ist fast aller Orts eine Bewegung gewisser Muskeln oder Muskelgruppen. — Zum
Beweiss, dass diese Uebertragung der Erregung nur mit Hilfe des Rückenmarks ge-
schieht, trennt man die sensible Wurzel von diesem ab; nach dieser Operation blei-
ben die wie früher angewendeten Erregungsmittel ohne Erfolg, der aber sogleich
wieder in der ursprünglichen Weise hervortritt, wenn man den noch mit dem
Rückenmark verbundenen Stumpf der sensiblen Wurzel auf passende Weise erregt.
Die Gegenwart des ganzen und unverletzten Rückenmarks ist dagegen nicht nöthig;
es scheint als Regel ausgesprochen werden zu können, dass beim Bestehen aller an-
dern Bedingungen so lange Reflexbewegung erweckt werden kann, als
eine sensible mit einer motorischen Wurzel noch durch ein Stück-
chen unverletzten Rückenmarks in Verbindung steht
; die einzige Be-
schränkung, die dieser Satz zu erleiden hat, möchte darin bestehen, dass der
Schnitt, durch welchen man das Rückenmark verstümmelt hat, nicht zu nahe
am Austritt der Nervenwurzeln geführt sein dürfe, durch welche die Erregung in
das Rückenmark ein- und austritt. Denn: bei vollkommener Längstheilung des
Rückenmarks erhält sich die Reflexbewegung, aber natürlich nur auf einer Seite;
lässt man eine selbst kurze Verbindungsbrücke zwischen beiden Hälften, so kann
von einer Seite die ganze andere in Bewegung gesetzt werden; die Durch-
schneidung nur einer seitlichen hintern oder vordern Hälfte des Rückenmarks
verhindert nicht das Erscheinen der Reflexbewegung in den gleichen Par-
thien jenseits des Schnittes; eben so wenig ist das Erscheinen der Reflexbewe-
gung auf Erregung der Schwimmhaut des Frosches in der obern Extremität beein-
trächtigt, wenn man oberhalb der Nervenwurzeln für die untern Extremitäten eine
seitliche Hälfte des Rückenmarkes und kurz unterhalb der Wurzeln für die obern
Extremitäten die entgegengesetzte Hälfte durchschnitten hat.


Der Versuch gelingt überhaupt um so leichter, je höher die Erregbarkeit des
ganzen Nervensystems steht, namentlich bei jungen Säugethieren, deren Grosshirn
man mit Vorsicht entfernt hat, so dass der Blutkreislauf noch besteht, dann bei Am-
phibien, besonders im Frühjahr und Herbst und endlich vorzugsweise nach Vergif-
tung (örtlicher oder allgemeiner) mit Strychnin und Opium; nach ihrer Einwirkung
genügt ein Minimum des Erregungsmittels um die lebhaftesten Bewegungen zu
erzielen. —


Die Wahl der Erregungsmittel und des Orts seiner Applikation an demselben
Nerven und demselben Thier erscheint ebenfalls von Bedeutung. Zu den Erforder-
nissen des Gelingens ist in diesem Sinne zu rechnen, die Anordnung eines dauernd
wirkenden Erregungsmittels; sehr kurz vorübergehende Eingriffe auf die sensiblen
Nerven erzielen keinen Erfolg, wo Anwendung von Säuren, Alkalien oder länger
dauernde Einwirkung der elektrischen Inductionsströme ihn noch sichern. Dasselbe
Erregungsmittel auf die Nerven in ihrer Verbreitung auf Hautflächen angewendet, ist
wirksamer als auf den entsprechenden Nervenstamm, wenigstens bei Anwendung
von Drücken; bei Benutzung des Inductionsapparates erscheint dagegen der Unter-
schied zweifelhaft. Hierher gehört schliesslich auch die Thatsache, dass eine sehr
verbreitete (z. B. ein kaltes Bad) oder eine sehr intensive (z. B. das Glüheisen) Ein-
wirkung in allen Fällen Reflexe erzielt. —


[141]Charakter der Reflexbewegung.

Sehr bemerkenswerth ist der Einfluss, welchen die Schwächung oder Vernich-
tung einer gewissen Hirnwirkung auf das Rückenmark bei dem Entstehen der Re-
flexbewegungen übt. Man kann den Werth desselben beim Versuch an Thieren
und durch Beobachtung des gesunden oder kranken Menschen ermessen; sehr häufig
treten bei unverletzten Fröschen auf Einwirkung entsprechender Erregung keine den
reflectorischen auch nur entfernt ähnliche Bewegungen ein, während sie unfehlbar er-
scheinen, so wie man die Thiere dekapitirt; noch auffallender gestaltet sich dieses bei
Säugethieren; so lange man sie nicht enthirnt oder ihr Rückenmark vom Hirn nicht
getrennt hat, gehören die Reflexbewegungen in den Extremitäten zu den Seltenheiten,
sie kommen dagegen nach den erwähnten Operationen ganz regelmässig zum Vor-
schein, gerade so wie bei vollkommen selbstbewussten Menschen nur Reflexbewegun-
gen in Theilen beobachtet werden, welche entweder normal oder abnorm ganz
oder theilweise dem Willenseinfluss entzogen sind. — Eine Reihe von Thatsachen
zeigt nun, dass es nicht das Hirn im Allgemeinen sondern nur beschränkte Region
ist, welches diesen störenden Einfluss auf die Reflexbewegungen übt; schlafende,
trunkene, ohnmächtige Personen, bei denen noch eine beträchtliche Zahl von Hirn-
thätigkeiten bestehen, sind nichts destoweniger im günstigsten Zustande des Reflexes,
und eine Beobachtung an uns selbst lehrt, dass gewisse Reflexe nur nach langer
Uebung der Willensstärke niedergehalten werden können, und dass viele von ihnen,
die wir in aufmerksamen und geisteskräftigen Augenblicken niederzuhalten im
Stande sind, in Zuständen geistiger Schwäche erscheinen.


Der Charakter der Reflexbewegung ist insofern ein spezifischer,
als dieselbe niemals in einer stetigen Muskelzusammenziehung besteht,
welche die Erregungsdauer des sensiblen Nerven ununterbrochen be-
gleitet. Im Gegentheil, mit dem Eintritt der Erregung oder kurze Zeit
nach derselben beginnt ein wechselndes Spiel eintretender und
nachlassender Muskelzusammenziehung, wenn sich die Bewegung nur
auf einen oder mehrere ungefähr gleichartig wirkende Muskeln er-
streckt; dehnt sie sich auf alle Muskeln einer zu gewissen Funktionen
zusammengeordneten Muskelgruppe aus, wie z. B. auf Athem-,
Schling-, Geruch-, Gehmuskeln etc. so wechseln die Zusammenzieh-
ungen der einzelnen Bestandtheile derselben in regelmässiger Reihen-
folge ab und gestalten sich räumlich und zeitlich derartig, dass har-
monische, nach einem gewissen Plane zusammengefügte Bewegun-
gen zu Stande kommen.


Diese räumliche und zeitliche Combination der Muskeln veranlasst sehr häufig
Bewegungen, deren Effect in ganz bestimmter Beziehung zu dem einwirkenden Er-
regungsmittel steht, so dass das enthauptete Thier z. B., die mit Säure getränkte
Stelle mit Hinter- oder Vorderpfoten reibt, das drückende Instrument wegzustossen
oder gar zu entfliehen etc. sucht. Die Bewegung nimmt mit andern Worten in diesen
Fällen den Schein der Zweckmässigkeit, resp. der auf Empfindung folgenden will-
kürlichen Selbstbestimmung an.


Die besondere Form der Bewegung, d. h. die Zahl und Combina-
tion der in Bewegung gesetzten Muskeln wird durch die Oertlichkeit,
Dauer, und Intensität der Erregung des sensiblen Nerven bestimmt.
Auf eine weniger intensive Erregung einer bestimmten sensiblen
Fläche erfolgt mit maschinenmässiger Regelmässigkeit, vorausgesetzt
dass normale Verhältnisse bestehen, eine ganz bestimmte Bewegung.


[142]Charakter der Reflexbewegung.

Es wäre von grossem Interesse die reflektorisch zusammengehörigen sensiblen
und motorischen Nerven zu kennen; leider sind die hierzu nöthigen Arbeiten kaum
begonnen. Man weiss nur, dass Erregung des unteren Theils der hintern Extremitäten
eine Spring- (Frosch, Kaninchen) oder Streckbewegung hervorruft; Erregung der
Aftergegend das Einziehen des Schwanzes (Kaninchen, Hund) oder ein Strecken
und Rückwärtsschlagen der Oberschenkel (Frosch); das Betupfen der Bauchhaut mit
Säure ein Streichen des Unterschenkels gegen denselben (Frosch); das Kneipen der
Achselgrube ein Anziehen der Oberextremität u. s. w. bedingt. Ferner, dass eine Er-
regung in sensiblen Nerven eine Muskelbewegung auf derselben Körperhälfte aus-
löst, vorausgesezt, dass die Bewegungswerkzeuge paarig vorhanden sind. Aus
diesen Erfahrungen kann wegen der Mannigfaltigkeit der in alle diese Parthieen
dringenden Nerven gar kein Schluss auf die Zusammengehörigkeit gewisser sensib-
ler und motorischer Röhren gemacht werden.


Wirkt dagegen die erregende Ursache dauernder oder mit grös-
serer Intensität ein, so kann wahrscheinlich von allen Theilen der
äusseren Hautflächen eine Bewegung in allen Skeletmuskeln hervor-
gerufen werden, eine allgemeine Bewegung, die aber wahrscheinlich
immer mit der Contraktion derjenigen Muskeln eingeleitet wird, welche
in der nächsten reflectorischen Beziehung zu den affizirten Hautstellen
stehen. Den Beweiss, dass diese Erregung aller Skeletmuskeln von
einem Hautstücke aus unmittelbar vermittelst des Rückenmarkes, und
nicht etwa durch Erregung neuer Hautstücke vermittelst der einge-
leiteten Bewegungen geschehen, liefert die Thatsache, dass von einem
Gliede dessen zugehörige sensible Fasern noch erhalten, dessen mo-
totorische dagegen durchschnitten sind, Reflexbewegung in allen
andern noch mit dem Rückenmark in Verbindung stehenden Skelet-
muskeln hervorgerufen werden kann.


Wie erwähnt gestalten sich die zeitlichen Beziehungen der Er-
regung des motorischen zu der des sensiblen Nerven mannigfach.
Bald treten gleichzeitig mit der Erregung des sensiblen Nerven, bald
später als diese die Bewegungen auf, bald enden sie mit der sensiblen
Erregung, bald überdauern sie dieselbe beträchtlich. Es darf wahr-
scheinlich als Regel aufgestellt werden, dass die vom Rückenmark
ausgehenden reflektorischen Effekte um so intensiver und von der
Grösse des Eingriffs auf den sensiblen Nerven um so unabhängiger
ausfallen, je höher die Erregbarkeit des Rückenmarks steht.


Im Frühjahr und Herbst und namentlich nach Vergiftung mit Strychnin können
durch sehr unbeträchtliche und vorübergehende Eingriffe sehr andauernde Reflex-
bewegungen ausgelöst werden.


Eine Theorie der Reflexbewegung, selbst in den allgemeinsten
Umrissen gehalten, lässt sich nicht geben; mit andern Worten, es lässt
sich nicht nachweisen, warum die in Erregung versetzten Nerven-
röhren gewisser Abtheilungen des Rückenmarks unter Umständen
gerade in der bezeichneten Weise auf eine beschränkte Zahl Röhren
eines andern Theils wirken muss.


[143]Zur Theorie der Reflexbewegung. Röhrencommunikation.

Folgende mit der Theorie der Reflexbewegung in Verbindung ste-
hende Fragen hat man aufgeworfen, und zu lösen versucht. —


a) Wirken im Rückenmark die innerhalb des Nervenmarks ausser Gleichge-
wicht gesetzten Kräfte über die Scheide hinaus und welche Bedingungen veran-
lassen diese Fernwirkung der Nervenkräfte im Rückenmark? — Bevor es bekannt
war, dass die in den Nervenröhren entwickelten Kräfte eine Wirkung nach aussen
üben konnten, vermittelst deren sie anliegende Röhren in Erregung zu setzen im
Stande waren, suchte man die Meinung zu behaupten, dass die Reflexe von Röhren-
communikationen eines besonderen dem Willen nicht unterworfenen Systems (excito-
motorischen) abhängig seien; das Rückenmark sollte nach dieser Hypothese bestehen
aus willkürlich motorischen und empfindungerzeugenden Fasern, deren centrale
Enden im Hirn gesucht werden müssen, und ausserdem aus Fasern, welche gewisse
Eindrücke in das Rückenmark führen (excitores), die in andere bewegungserzeugen-
den (motores) unmittelbar übergehen. Diese Hypothese ist als vollkommen verfehlt
anzusehen, weil nach ihr jede empfindende Fläche mit jedem Skeletmuskel durch Ner-
venkommunikation in Verbindung stehen müsste; eine solche Complikation der Ner-
venröhren ist nicht nachgewiesen; ja sie kann geradezu als nicht vorhanden ange-
sehen werden, weil keine motorische Nervenröhre beobachtet sind, welche von einer
unteren Stelle des Rückenmarks aufwärts gegen höher gelegene Muskeln steigen,
obgleich in diesem Sinne die Reflexbewegungen sehr leicht erregt werden können.
Hiernach ist es nicht nöthig noch darauf aufmerksam zu machen, dass diese Hypo-
these es geradezu unmöglich macht zu erläutern, warum unter dem Willenseinfluss
die Reflexe nicht erfolgen, warum eine stetige sensible Erregung eine variable
motorische bewerkstelligt und endlich warum auf eine beschränkte Erregung nicht
jedesmal, sondern nur unter ganz gewissen Bedingungen eine allgemeine Bewegung
erfolgt.


Diese soeben erörterte Annahme wird man um so bereitwilliger aufgeben, seitdem
thatsächlich erwiesen ist, dass die Nervenkräfte in gewissen Zuständen der Erregung,
wie z. B. bei der dipolaren Anordnung der elektromotorischen Molekeln über die
Scheide hinaus erregend auf nebenliegende Röhren zu wirken im Stande sind, und so-
mit werden wir geneigt sein die Behauptung aufzustellen, dass die Nervenkräfte der
Rückenmarksröhre über ihre Scheide hinaus auf andere erregend zu wirken im Stande
sind. Die Bedingungen nun aber, welche vorzugsweise in den Rückenmarksröhren
vorhanden sind, um das häufige Erscheinen dieser Wirkung selbst unter Umständen
zu erzielen, unter denen sie in andern Nervenröhren nicht erscheinen, kann nicht an-
gegeben werden.


Begreiflich fehlt es aber nicht an Erklärungsversuchen; zu ihnen zählen: das
Nervenmark soll in den Spinalröhren erregbarer sein; die dünne Scheide soll der
Gegenwirkung geringeren Widerstand entgegensetzen; die Ganglienkörper sollen die
Vermittler der Erregungsübertragung sein; die Nervenröhren seien eigenthümlich
zueinander gelagert u. s. w. Diese Annahmen bedürfen keiner Widerlegung, so lange
man, wie bisher keinen Versuch gemacht hat, sie zu beweisen. Will man den Werth
dieser Angaben hoch anschlagen, so sind sie als Ausgangspunkte neuer Untersuchun-
gen anzusehen. —


b) Wovon hängt es ab, dass der Erregung jedes besondern sen-
siblen Nerven einer ganz bestimmten Bewegung entspricht, und
warum ist diese Bewegung immer eine geordnete? Indem man den
Reflex als ein Leitungsphänomen auffasst, findet man es natürlich,
dass die Erregung einer sensiblen Röhre sich zuerst auf seine Nach-
barn und von da ab auch auf entfernter liegende Nerven erstreckt, je
nach der Intensität, die die Erregung zuerst besass. Wie und wo die-
[144]Gruppirung der Nervenröhren.
ses Weiterschreiten geschieht, ist nun freilich vollkommen unklar;
deutlich ist nur, dass bei dieser Annahme es sich allerdings erläutert,
wie von bestimmten sensiblen Orten aus immer dieselben Muskeln in
Anregung gesetzt werden, wie jedem sensiblen Nerven ferner ein
bestimmter motorischer reflectorisch entspricht und endlich wie ein
sensibler Nerv je nach der Intensität der in ihm vorhandenen Erregung
sehr vielfache motorische zu erregen vermag, aber warum auch diese
Erregung immer nach einer gewissen Reihenfolge von Muskel zu
Muskeln übergeht. — Um die harmonische Zusammenfügung der Mus-
keln, ihr Zusammengreifen zu bestimmten Bewegungen in Folge der
Reflexe zu erläutern, setzt man voraus, es sei dieser letztere nur mög-
lich an Orten, in denen die den einzelnen Muskeln entsprechenden
Nerven, in einer gewissen Ordnung zusammengefasst seien, indem
man sich den motorischen Theil des Rückenmarks vorstellt als eine
sehr vielfache Verschlingung von Röhren, deren Knotenpunkte in pas-
sender Art auf die sensiblen aufgereiht sind. Diese scheinbar sehr
annehmbare und zugleich biegsame Hypothese empfängt aber einen
schweren Stoss durch die Erscheinung, dass sich eine dauernde sen-
sible in eine variable motorische Erregung umsetzt, und noch mehr
dass die motorische Erregung so häufig die sensible überdauert.
Diese Thatsachen zeigen, dass von einer einfachen Leitung, einer
Uebertragung der Kräfte nicht die Rede sein kann, sondern dass offen-
bar noch durch irgend welche Zwischenglieder die Erregung von den
sensiblen auf die motorischen Nerven übertragen wird. Geister, die
der Mystik zugewendet sind, haben auch sogleich als Zwischenglied
eine besondere Rückenmarksseele angenommen, die denn freilich etwas
ganz anderes sein müsste, als die denkende und bewusste Hirnseele,
da durch deren Dazwischentreten gerade die Reflexe gehemmt statt
begünstigt werden.


c) Rücksichtlich des Einflusses der Seelenthätigkeiten auf die
reflektorischen Apparate ist es vielleicht von Wichtigkeit sich zu erin-
nern, dass bei einer nachlässigen Haltung des Geistes Empfindung
und Reflexbewegung von einer und derselben beschränkt wirkenden
Erregung (z. B. einem Nadelstich) veranlasst werden; hieraus scheint
fast gefolgert werden zu können, dass die willkürliche Reflexhem-
mung nicht geschieht, weil durch gewisse Seelenvorgänge die Lei-
tung der Erregung nach der Länge der sensiblen Röhren begünstigt
wird, und somit die nach jeder andern Seite geschwächt, sondern viel-
mehr dadurch, dass der übertragende oder der angestossene Apparat,
d. h. die Zwischenglieder zwischen sensiblen und motorischen Röh-
ren oder diese letztern selbst, durch die Aufmerksamkeit mit einem
gewissen Widerstandsvermögen ausgerüstet werden.


Die Bedeutung, welche die Reflexerregung für den Organismus
gewinnt, zeigt sich darin, dass durch dieselbe unabhängig vom
[145]Mitbewegung.
Willen und dem Bewusstsein eine grosse Zahl sehr wohlberechneter
Bewegungen ausgeführt werden, deren regelmässige Wiederkehr für
die normale Funktion vieler wichtiger Organe unumgänglich nothwen-
dig ist; und dann darin, dass die stetigen Erregungen sensibler Nerven,
welche nicht alle gleichzeitig von der Seele aufgenommen werden
können, schon im Rückenmark innerhalb der motorischen Parthieen
stetige Spannungen und Erregungen herbeiführen. —


Unter die Bewegungen, welche in Folge der Reflexe am Rumpf sehr regelmässig
ausgeführt werden, zählt man: Athembewegung, Husten, Koth- und Harnentleerung;
bei der eigenthümlichen Stellung der Seele zum Organismus, vermöge deren sie
in langen Zeiträumen überhaupt nicht auf Bewegungsorgane wirkt (wie im Schlaf)
oder nach welcher sie, wenn sie in wirksamer Beziehung zum Organismus steht, nur
ein Bewegungsorgan gleichzeitig anzuregen im Stande ist, würden ohne Hülfe der Re-
flexe die Athembewegungen u. s. w. die beträchtlichsten Störungen erleiden, oder die
Seele zum blossen Diener vegetativer Prozesse herabsinken. Noch mehr: es würde
wahrscheinlich das Leben des Neugeborenen (vorausgesetzt, dass die thierische Or-
ganisation sich in den uns bekannten Schranken bewegte) in der grössten Gefahr
schweben, wenn er die complizirten Muskelfunktionen, die wir erwähnten, erst müh-
sam erlernen müsste. —


Wie wichtig fernerhin die stetigen in das Rückenmark eindringenden Erregun-
gen für das sichere Erscheinen selbst willkürlicher Muskelfunktionen sind, geht
daraus hervor, dass das Gehen z. B. ausserordentlich beeinträchtigt wird, wenn die
hintern Stränge des Rückenmarks in ausgebreiteter Weise leiden. Obgleich dann alle
Gehbewegungen noch willkürlich ausgeführt werden können, so erhält doch der
Gang etwas unsicheres und schwankendes. Man hat somit nicht ohne Schein der
Wahrheit die Vermuthung ausgesprochen, dass zur Erhaltung des Gleichgewichtes
unseres Rumpfes die grossen Mengen sensibler Fasern, die sich in der Fussohle
verbreiten von Einfluss seien.


B. Mittheilung der Erregung von motorischen Röhren auf motori-
sche. Mitbewegung*). Nach einer verbreiteten Annahme sollen auch
die in einem motorischen Nervenrohr des Rückenmarks erweckten
Erregungen auf die nebenliegenden motorischen übertreten können,
mit andern Worten, es soll auch Querleitung bestehen zwischen den
Elementen der Vorderstränge des Rückenmarks. Eine sorgfältige Zer-
gliederung der Thatsachen führt aber keineswegs zu der Ueberzeu-
gung, dass diese Art der Erregungsmittheilung besteht. — Man zählt
zu den die Mitbewegung beweisenden, resp. sie widerlegenden Thatsa-
chen, folgende: 1. Neben einer vom Willen beabsichtigten Bewegung tritt
eine andere nicht beabsichtigte in willkürlich beweglichen Muskeln
auf, z. B. einer beabsichtigten Bewegung eines Fingers folgt gleich-
zeitig die mehrerer anderer u. s. w. Man hat längst versucht diese
Art von Mitbewegung aus einer Ungeschicklichkeit der Seele zu er-
klären, in Folge deren sie vollkommen oder nahebei gleichzeitig neben
den wirklich beabsichtigten auch noch andere nicht beabsichtigte Be-
wegungen einleitet. Der Werth dieser letztern Erklärung ist um so
10
[146]Mitbewegung.
einleuchtender, als es in der That durch Uebung gelingt, Bewegungen,
die der Wille früher immer gemeinsam ausführte, voneinander zu son-
dern. 2. An das Eintreten einer unwillkürlichen Bewegung knüpft
sich häufig eine andere unwillkürliche, ohne dass es gelänge nach-
zuweisen, es habe auf beide bewegte Theile gleichzeitig eine geson-
derte Erregungsursache gewirkt. Diese Erscheinung beobachtet
man namentlich öfter bei Hemiplegischen, d. h. bei solchen Individuen,
deren eine Körperhälfte durch Blutergüsse in das Hirn dem Willens-
einfluss entzogen ist; bei diesen Kranken begleitet öfter das Gähnen,
Niessen, Husten die Bewegung eines Beins oder Arms an der dem
Willen nicht mehr untergebenen Seite. Begreiflich würden diese
Thatsachen aber nur dann für Mitbewegung sprechen, wenn man dar-
zuthun vermöchte, dass die das Gähnen u. s. w. veranlassende Ur-
sache nur auf den motorischen Nerven des Kiefers u. s. w. wirkte;
denn verbreitet sich die Erregung auch in sensible Nerven, so ist es
erlaubt den vorliegenden Fall auch unter die Reflexe zu subsummiren,
umsomehr als Glieder, die dem Seeleneinfluss nicht mehr gehorchen,
zu Reflexen geneigt sind. 3. Anscheinend viel beweisender sind die
Fälle, wo auf eine vom Willen ausgehende Bewegung auch andere
normal oder abnorm unwillkürlich bewegliche Muskeln in Thätigkeit
kommen. So erscheinen z. B. bei Hemiplegischen in Folge von will-
kürlichen Bewegungen der nicht gelähmten Glieder gleichzeitig Be-
wegungen in der gelähmten, dem Willen vollkommen entzogenen
Körperhälfte. Einige den erwähnten sehr analogen Beobachtungen aus
dem normalen Leben werden wir bei der Betrachtung der Hirnfunk-
tionen noch vorführen. — An diese Beobachtungen schliessen sich
dann noch mehrere (weniger zuverlässige?) Ergebnisse der Versuche
beim Säugethier an; in diesen werden, nachdem die Durchschneidung
einer seitl. Rückenmarkshälfte in ihren obern an das verlängerte Mark
grenzenden Theilen eine Lähmung der entsprechenden Körperhälfte her-
beigeführt hatte, die Glieder der gelähmten Seite bei energischen Bewe-
gungen der entsprechenden Abtheilungen der anderen nicht gelähmten
Hälfte mitbewegt. Diese letzteren Thatsachen würden unzweifelhaft das
Gesetz der Mitbewegung im oben ausgesprochenen Sinne beweisen,
wenn unsere Vorstellungen vom Gang der durch die Willenseinflüsse her-
beigeführten Erregungen zweifellos festständen, und wenn wir den nur
einseitigen Verlauf der Bewegungsfasern durch das Rückenmark des
Säugethiers mit derselben Bestimmtheit behaupten könnten wie wir ihn
beim Frosch zu verneinen vermögen. Wer gibt uns die Gewissheit, dass
der Willen ohne alle Zwischenorgane die Enden der motorischen Primi-
tivröhren anregt? und wenn in der That solche Zwischenorgane vor-
handen, wie ändern sie sich bei sog. einseitigen Lähmungen? Man
würde aber diese scheinbar zur Seite liegenden Fragen nicht aufwer-
fen, wenn nicht 4. durch eine überwiegende Zahl von Beobachtungen
[147]Mitempfindung.
gerade Erscheinungen zu Tage gefördert worden wären, die sich mit
der Theorie der Mitbewegungen in Folge sog. Querleitung in keiner
Weise vereinigen lassen. Zu diesen zählen wir dass nach einsei-
tigen Durchschneidungen des Rückenmarks in sehr zahlreichen Fällen
bei Säugethieren keine Mitbewegungen in Folge des Willenseinflusses
beobachtet sind, und dass nach vorsichtiger Erregung eines Vorder-
strangs auf seinem Querschnitt nur eine Bewegung in den zum erreg-
ten Strang gehörigen, und noch von ihm abwärts versorgten Muskeln
eintritt. — Der Erfolg dieses letzten Versuchs und zwar namentlich
die Abwesenheit der Bewegung in den Gliedmassen der nicht direct
erregten Hälfte, in Verbindung mit der Thatsache, dass an solchen
Stümpfen noch mit Leichtigkeit eine nach allen Seiten hin sich verbrei-
tende Reflexerregung von den hintern Strängen hervorgerufen werden
kann, macht es einleuchtend, dass wenn (was noch zu bestreiten ist)
in der That eine sog. Mitbewegung stattfindet, diese auf ganz andern
Bedingungen beruhen muss, als die Reflexerregung, mit andern Wor-
ten, dass sie einen von diesen verschiedenen Prozess vorstellt. —


C. Uebertragung der Erregung von sensiblen auf sen-
sible Nerven. Mitempfindung
. — Man hat fernerhin auch der Vor-
stellung gehuldigt, dass eine in die hintern Stränge eintretende partielle
Erregung sich auf andere ursprünglich nicht erregte sensible Theile
auszubreiten vermöge und dadurch die Erscheinung der Mitempfindung
veranlasse. Es kann nicht geleugnet werden, dass ziemlich constant
mit Erregung gewisser Hautstellen auch Empfindungen in nicht erregten
sensiblen Regionen auftreten; ob diese aber durch einfache Uebertragung
der Erregung zwischen den constituirenden Bestandtheilen der hintern
Stränge entsteht oder auf einem complicirteren Wege, ist aus den Be-
obachtungen nicht ersichtlich, ja meistens nicht einmal wahrscheinlich.


Offenbar muss von den Beweissmitteln für Mitempfindung die ganze Reihe von
Erscheinungen ausgeschieden werden, bei welchen die sog. Mitempfindung in sensib-
len Flächen auftritt, die gleichzeitig mit einem Muskelapparat, dessen Bewegung
selbst Empfindungen anregt, versehen sind; denn wenn nach einer sanften Berührung
der Nackenhaut eine eigenthümliche Empfindung über die Haut des Rückens, der
Schulter und der unteren Extremitäten eingeleitet wird, so kann diess sich als eine
Folge von einer reflektorischen Bewegung der Muskeln in den Drüsen und Haarbälgen
(die sog. Gänsehaut) darstellen; ebenso die Empfindung des Hustenreizes, resp. der
Husten selbst, welcher bei Berührung der Verzweigungen des ram. auric. vagi eintritt
u. s. w. — Scheidet man diese Beobachtungen aus, so bleiben nur einzelne Thatsa-
chen übrig, die zudem nicht einmal von allen gesunden Menschen empfunden werden;
hierher gehören z. B. Schmerzen in der Schulter bei Gegenwart schmerzhafter Blä-
hungen im Darmkanal, Erscheinungen, die so complizirter Natur zu sein scheinen,
dass es mindestens sehr gewagt ist, aus ihnen den bezeichneten Schluss zu ziehen. —
Die Beobachtungen, welche man am Krankenbette als sog. Beweisse für die Mitempfin-
dung gefunden zu haben glaubt, sind noch problematischer. Dahin gehören vorzugs-
weise die Ausbreitungen schmerzhafter Empfindungen nach schweren Verletzungen und
Neuralgien; Zustände, bei denen man trotz naheliegender Aufforderungen nicht ein-
mal den Versuch gemacht nach andern Ursachen der Schmerzensausbreitung zu
10*
[148]Reflexempfindung.
suchen. Hält man solchen vagen Thatsachen die Erscheinung gegenüber, dass jeder
gesunde Mensch in tausend unbeobachteten zum Entstehen der Reflexbewegungen
geschickten Augenblicken eine eindringende Erregung nur ganz örtlich fühlt, dass
also in den der Querleitung günstigen Zuständen des Rückenmarks die Mitempfindun-
gen dennoch nicht auftreten, so möchte man sehr geneigt sein, diese Lehre in der
bezeichneten Form ganz abzuweisen.


D. Uebertragung der Erregung von motorischen auf
sensible Röhren. Reflexempfindung
. *) Mit dem Namen der
Reflexempfindung führte man endlich noch eine vierte Art Querleitung
in die Wissenschaft ein; nach dieser Hypothese sollen auch die moto-
rischen Rückenmarksröhren ihre Erregungszustände auf die sensiblen
Fasern übertragen; mit andern Worten bei der Reflexempfindung soll
die Mittheilung der Erregung zwischen den Röhrenelementen des
Rückenmarks auf demselben Wege aber in umgekehrter Richtung
möglich sein, auf dem sie bei der Reflexbewegung geschieht. Der
Beweis ihres Bestehens ist abgesehen von allen andern Folgen
schon des Mechanismus der Reflexbewegung wegen von ausseror-
dentlicher Wichtigkeit. Er ist in der That aber so wenig geführt, dass
selbst die Anhänger der Hypothese von Mitempfindung und Mitbewe-
gung sich gegen die Annahme einer Reflexempfindung aussprechen.


Die Thatsachen, aus welchen man die Reflexempfindung erschloss, sind. a. Nach
Durchschneidung der Sehne eines Jahre lang verkürzten Muskels entsteht das eigen-
thümliche Gefühl eingeschlafener Glieder, obwohl durch die Operation kein Nerv ver-
letzt wurde. Man interpretirt dieses Gefühl des Eingeschlafenseins dahin, dass der
Nerv des dauernd contrahirten Muskels seine Erregung im Rückenmark auf die sen-
siblen Nerven übertragen habe, im Moment der Durchschneidung der Sehne werde
nun zugleich der motorische Nerv aus dem Zustand der Erregung in den der Ab-
spannung versetzt und damit auch die Reflexerregung des sensiblen Nerven aufge-
hoben. Diese Erscheinung, welche nicht constant beobachtet wurde, erläutert sich
mindestens ebenso einfach dadurch, dass die Nerven eines Gliedes, das nach Durch-
schneidung der verkürzten Sehne in eine andere Lage gebracht wird, einer Zerrung
unterworfen oder aus einer bisher vorhandenen gezerrten Stellung wieder befreit
werden. Gesetzt aber, es sei auch diese Erklärung für die Erscheinung unbrauch-
bar, so müsste, ehe die obige gelten sollte, erst noch gezeigt werden, dass ein Mus-
kel, resp. ein Nerv sich Jahre lang im Zustand der Erregung befinden kann, ohne zu
ermüden; ferner dass die Durchschneidung seiner Sehne den Muskel unfähig zur Con-
traktion macht, obgleich ausserhalb des Organismus ein Muskel noch in Bewegung ver-
setzt werden kann und Muskeln der Amputationsstümpfe sich weit zurückziehen oder
erschlaffen, je nach Umständen; und endlich, dass wenn ein Muskel unfähig zur Con-
traktion sei, in seinen zugehörigen Nerven kein Erregungszustand mehr bestehen
könne u. s. f. — b. Bei Verkrümmungen der Glieder in Folge von Muskelverkürzun-
gen findet sich häufig ein heftiger Schmerz an einem Theile des verkrümmten Gliedes,
ohne dass der diesen Theil versorgende sensible Nerv gedrückt ist (?). Nach
Durchschneidung der Sehne des verkürzten Muskels hebt sich der Schmerz. Nach
der eben gegebenen Auseinandersetzung bedarf diese Thatsache keiner weiteren
Beleuchtung — c. Man bringt ferner das Gefühl der Anstrengung, welches während
[149]Gruppirung der Nervenröhren im Rückenmark.
oder nach einer kräftigen Muskelwirkung beobachtet wird, in Verbindung mit unse-
rer Hypothese; da es nun aber feststeht, dass in die Muskeln sensible Nervenfasern
eingehen, so ist es mindestens wahrscheinlicher, dass das Gefühl von ihnen abhängig
sei, um so mehr, als sich beim Beginn der Muskelkontraktion die Empfindung nur
über den verkürzten Muskel erstreckt und erst später, vielleicht in Folge einer Ver-
änderung des Blutlaufes oder der Spannungen und Drücke auf den anliegenden Ner-
ven oder dergl. andere Gefühle hinzutreten.


Gegen diese wenigen und noch dazu so wenig beweisenden Thatsachen erhebt
sich nun aber die allbekannte Erfahrung, dass wir tausendmal Bewegungen bei un-
vollkommener Selbstbeherrschung ausführen, ohne die geringste sie begleitende
Empfindung. Wer möchte es da noch über sich nehmen, die Hypothese von den Re-
flexempfindungen zu vertheidigen?


Gesetzt aber, es bestehe auch der Vorgang der Reflexempfindung,
so würde ihr Auftreten doch jedenfalls zu den Seltenheiten gehören,
und darum sich mindestens der Ausspruch rechtfertigen, dass die Er-
regungsmittheilung zwischen denselben Röhren nach einer Richtung
(von hinten nach vorn) viel leichter geschehe, als nach der andern
(von vorn nach hinten). Diese Erscheinung macht uns mehr als Alles
darauf aufmerksam, dass die Querleitungserscheinungen nicht aus
allgemeinen Eigenschaften der Nervenröhren, sondern aus besonderen
Veranstaltungen z. B. ihrer Lagerung u. s. f. abzuleiten seien.


Diese besondern Einrichtungen müssten in reichlichem Maasse vor-
handen sein, wenn sich die anatomische Beobachtung feststellen würde,
dass ein intermediäres System von Röhren bestünde, welches die inner-
halb des Rückenmarks in ihrer Continuität unterbrochenen sensiblen
und willkürlich bewegenden Nervenwurzeln mit dem Hirn verbindet;
damit würde zugleich die Nothwendigkeit der Annahme gesetzt, dass
die Verbindungsstellen intermediärer- und Wurzelröhren eine Ein-
richtung besässen, wonach nicht allein eine gegenseitige Mittheilung
der Erregungszustände möglich wäre, sondern wodurch es auch be-
wirkt würde, dass die zwischen beiden Systemen stattfindenden Be-
ziehungen räumlich begrenzt würden. Mit andern Worten, es müsste
die von einzelnen Wurzelröhren in das Rückenmark getragene Er-
regung nur auf einzelne und zwar ganz bestimmte intermediäre Röh-
ren und umgekehrt übergehen, weil sonst die in gewissen Grenzen
isolirte Willens- und Empfindungserregung nicht möglich wäre. —
Eine solche Anordnung würde schon nach unsern gegenwärtigen Ein-
sichten keine unübersteigliche Schwierigkeit haben; es fehlt uns aber
vorerst noch jede Art des Nachweises derselben.


4. Besondere Gruppirung der Nervenröhren im Rük-
kenmark
*). Die motorischen Fasern des Rückenmarks sollen
sowohl unter sich als mit den sensiblen Röhren zu mannigfaltigen
Gruppen geordnet sein, der Art, dass bei Erregung einer oder
[150]Eigenthümliche Erregbarkeit des Rückenmarks.
mehrerer in eine solche Gruppe eintretender Röhren, alle andere zu-
gehörige in Erregung gerathen. Man erschliesst diese Construction
der motorischen Abtheilungen des Rückenmarks aus den Bewegungen,
welche nach Reflexerregung und directer Erregung der vorderen
Stränge auftreten, indem hier nach beschränkten primären Erregungen
verbreitete und geordnete Bewegungen hervortreten, und sucht Unter-
stützungsmittel für diese Hypothese aus den bis jetzt vorliegenden
anatomischen Untersuchungen des R. M. (?). — Ueber die besondere
Verbindung der einzelnen Glieder zu Gruppen ist nichts bekannt.


5. Eigenthümliche Erregbarkeit des Rückenmarks.
Im Allgemeinen stimmen die Erregbarkeitserscheinungen, welche
die Elementartheile des Rückenmarkes darbieten, sehr überein mit
denjenigen, welche wir als den Nervenröhren eigenthümlich beschrie-
ben haben; dennoch weichen sie in einigen Puncten immerhin so
beträchtlich von einander ab, dass man auf eine besondere Anord-
nung der kleinsten Theilchen in den anatomischen Elementen des
Rückenmarks schliessen darf.


A. Gewisse Umstände vermögen die nervösen Elementartheile
und namentlich die Nervenröhren des Rückenmarks noch in Erre-
gung zu versetzen, welche sich gegen die in den Nerven (ausser-
halb des Rückenmarks) enthaltenen Elementartheile unwirksam er-
weisen.


a. Strychninkrämpfe *). Durchtränkt man das lebende mit sei-
nen peripherischen Theilen (Nerven und Muskeln) in Verbindung ste-
hende Rückenmark mit einer Lösung von Strychnin oder Strychninsal-
zen, so gerathen mit dem Beginne der Einverleibung sämmtliche Rumpf-
und Gliedermuskeln in gleichzeitige und gleichstarke Zusammen-
ziehungen. Tonischer Krampf. Für die Stellung, die ein Glied unter die-
sen Voraussetzungen einnimmt, folgt begreiflich, dass sie jedesmal
diejenige ist, welche ihm die an Kraft überwiegenden Muskeln zu ge-
ben vermögen, so dass z. B. wenn die Strecker eines Gliedes kräftiger
sind als die Beuger, dieses in dem Krampfanfall gestreckt wird, eine
Streckung, die sich aber sogleich in eine Beugung umwandelt, wenn
man die Sehnen des Extensoren durchschneidet. Diese Krämpfe las-
sen nun aber während der fortschreitenden Vergiftung nach, um sich
nach einer gewissen Zeit von neuem einzustellen. Alles andere gleich-
gesetzt ist aber die Dauer der Anfälle im Wachsen begriffen mit der Stärke
der Vergiftung, während umgekehrt die Dauer der zwischen den Anfäl-
len liegenden Zeit mit ihr abnimmt; mit andern Worten, bei steigender
Vergiftung kehren heftigere und anhaltendere Anfälle in kurz aufeinan-
der folgenden Zeiten wieder, bis in einem derselben der Tod erfolgt.


[151]Eigenthümliche Erregbarkeit des Rückenmarks.

Der Beweis dafür, dass das Gift nur mittelst des Rückenmarkes
den tonischen Krampf hervorruft, liegt einfach darin, dass man wohl
durch örtliche Anwendung auf das Rückenmark eines Thieres (des-
sen Blutlauf durch das Ausschneiden des Herzens unterbrochen ist)
die Krämpfe erwecken kann, niemals aber durch Eintauchen des Ner-
ven in die Giftlösung, und ferner, dass niemals die Glieder eines
sonst unversehrten vergifteten Thieres in den Krampf gerathen, de-
ren motorische Nerven vom Rückenmark getrennt sind.


Es erhebt sich aber nun die Frage, auf welchen Theil das Gift
vorzugsweise seine Wirkung übt, ob auf motorische, ob auf sensible
Nerven, oder auf den beide zur Reflexbewegung verknüpfenden hypo-
thetischen Apparat z. B. die Ganglienkörper. Hier kann nach Stannius
und Meyer mit Sicherheit behauptet werden, dass das Gift nicht unmit-
telbar als Erreger der motorischen Nerven wirke, sondern die Krämpfe
durch Steigerung des reflectorischen Vermögens erzeuge, denn 1. Al-
les andere gleichgesetzt, treten die Krämpfe um so seltener hervor,
d. h. das Thier stirbt, ohne in auffallende Krämpfe zu gerathen, ab, je
weniger es während der Vergiftung Einflüssen ausgesetzt war, welche
Reflexbewegung erzeugen. Demnach werden die Krämpfe vermindert,
nach Durchschneidung aller sensiblen Nervenwurzeln und umgekehrt
vermehrt, resp. jedesmal hervorgerufen, wenn man die Haut des ver-
gifteten, aber sonst unversehrten Thieres kneipt oder anderweitig er-
regt. 2. Das reflektorische Vermögen des Thieres in der Vergiftung
ist ausserordentlich gesteigert, indem schon nach den sanftesten Be-
rührungen die heftigsten und allgemeinsten Zusammenziehungen ein-
treten. 3. Die Beziehung zwischen Strychninvergiftung und reflekto-
rischen Vermögen macht sich auch dadurch geltend, dass bei ersterer
die normalen Formen der Bewegung wesentlich geändert werden, in-
dem auf Berührung einer bestimmten Hautstelle sich die Bewegung
nicht auf die Muskeln beschränkt, welche in reflektorischer Beziehung
zu ihr stehen, sondern sich auch weiter verbreitet und namentlich,
dass statt des im normalen Zustand eintretenden Wechsels der Bewe-
gung unter den ergriffenen Muskeln eine gleichzeitige Bewegung aller
ergriffenen eintritt. 4. Endlich ist es bemerkenswerth, dass das erste
Symptom des durch Strychnin herbeigeführten Todes darin besteht,
dass das Thier sein reflektorisches Vermögen schon eingebüsst hat,
während seine motorischen Nerven noch erregbar sind, so dass also
auf directe Erregung der motorischen Nerven noch Zuckungen erfol-
gen, während sie von den sensiblen Nerven aus nicht mehr zu er-
wecken sind.


Die Versuche von Stannius verdienen mannigfaltige Abänderungen, sie
versprechen, mit Umsicht angestellt, noch sehr bemerkenswerthe Aufschlüsse.


Zur Beobachtung der Erscheinungen von Strychninvergiftung eignet sich am
besten der Frosch. Die Vergiftung kann entweder vorgenommen werden durch un-
mittelbare Anwendung der Lösung von essig- oder salpetersaurem Strychnin auf das
[152]Tonus.
blosgelegte Rückenmark eines herzlosen Thieres, oder durch Einbringen der Lösung
in den Blutlauf, indem man einige Tropfen der Lösung in den Magen oder in einen
Schnitt unter die Haut bringt. — Die Erscheinungen treten um so intensiver hervor,
je lebenskräftiger das vergiftete Thier war und je genauer man die Dosis getroffen,
welche gerade hinreicht, um das Thier zu tödten.


Von Bedeutung für die Aufhellung der Rückenmarksfunktionen dürften auch
die Vergiftungserscheinungen werden, welche Opium, Upas, Blausäure u. s. w. er-
zeugen.


b. Tonus *). Nach einer allgemeinen Annahme sollen alle mit
dem Rückenmark noch in Verbindung stehenden Nerven in einem
dauernden, wenn auch niedern Grad von Erregung erhalten werden.
Wenn diese Annahme sich auf vollkommen sichere Thatsachen stützte,
so würde daraus folgen, dass im Rückenmark entweder die gewöhn-
lichen Lebensbedingungen (Blutlauf, Anwesenheit sauerstoffhaltiger
Flüssigkeiten u. s. w.) schon als Erregungsmittel wirkten, oder dass
neue und besonders erregende Ursachen dort vorhanden seien. Die
Thatsachen zwingen aber zu dieser Annahme vorerst noch keines-
wegs.


Die Vertheidiger des Tonus führen für diesen an: 1. Wenn im lebenden Thier
die Sehne eines Muskels durchschnitten wird, dessen Nerv noch mit dem Rückenmark
in Verbindung steht, so ziehen sich die Schnittenden der Sehne auseinander. Man
darf diese Erscheinung aber mit vollkommenem Rechte für eine Folge elastischer
Spannung ansehen, weil sie sich auch ereignet nach Zerstörung des Rückenmarks,
bevor die Todtenstarre im Muskel eingetreten. Ed. Weber. — 2. Ein geköpfter
Frosch nimmt, so lange sein Rückenmark lebenskräftig ist, immer eine sitzende Stel-
lung an, und behauptet dieselbe trotz aller Versuche, ihn daraus zu verdrängen;
diese Beobachtung beweist aber nicht, dass der Frosch in dieser Stellung seinen
Muskeln eine dauernde Zusammenziehung ertheilt. Dass dieses letztere in Wahrheit
nicht geschieht, geht daraus hervor, dass wenn alle Nerven des Schenkels in ein
gleichmässige Spannung versetzt würden, ein gestreckte und nicht eine gebeugte
Lage des Gliedes erzeugt würde; ferner ergibt sich der Mangel an dauernder Er-
regung auch daraus, dass der Rumpf auf dem angezogenen Schenkel nicht getra-
gen wird, sondern platt auf der jeweiligen Unterlage liegt; diese Lage nimmt ferner
der Frosch nur in horizontaler Stellung des Rumpfs und der Glieder an, denn wenn
man den Frosch an seinem Vordertheil aufhängt, so zieht er wohl dann und wann
einmal die Schenkel an, meist aber hängen sie, der Schwere entsprechend, herab,
vorausgesetzt, dass man die Haut abgetrocknet hat, so dass die feuchten Flächen nicht
verkleben können; ferner müsste in Folge des Tonus nach Durchschneidung der
Schenkelbeuger das Glied in stetig gestreckter Lage verharren, was nicht der Fall.
Der Grund des Anziehens liegt offenbar nur in Reflexbewegungen, denn der Schenkel
bleibt in jeder beliebigen Lage, wenn man alle hintern Wurzeln eines Rückenmarkes
abgetrennt hat; und der Grund des Verharrens in der Beugung besteht einfach darin,
dass der Schenkel durch keine neue Muskelbewegung oder anderweitige Ursache
aus ihr gedrängt wird. Zudem würde der Tonus nur für das Froschrückenmark
gelten, da sich ähnliches nicht bei Hunden und andern Säugethieren, deren Rücken-
mark vom Hirn getrennt ist, findet. — 3. Die Bauchmuskeln eines geköpften Fro-
sches sollen sich noch so spannen, dass der Unterleib seine runde Form erhält? In
welcher Lage befand sich das Thier während der Beobachtung? — 4. Der m. sphinc-
ter ani einer geköpften Schildkröte soll noch so fest geschlossen bleiben, dass die in
[153]Veränderung der Erregbarkeit im Verlaufe der Nervenr. d. Rückenmarks.
ihren Mastdarm eingebrachten Flüssigkeiten nicht aus ihm ausfliessen. Dann aber ver-
hält sich der Afterschliesser ganz anders als der des Menschen, da nach Verletzungen
in Hals- und Brusttheilen des Rückenmarkes (also nach Abtrennung des Lendenmar-
kes vom Hirn) der Afterschliesser vollkommen erschlafft, so dass der Koth unwill-
kürlich abgeht.


Bringt man nun schliesslich in Erwägung, dass die Muskeln und Nerven auch
die geringste Anstrengung nicht ertragen, vorausgesetzt, dass sie eine dauernde ist,
so wird man mit Recht fragen, welche Hilfsmittel sie besitzen, um unter dem toni-
schen Vermögen des Rückenmarks nicht zu ermüden?


B. Die durch das Rückenmark tretenden Wurzelröhren, resp. ihre
Fortsetzung im intermediären System, müssen auf dem Verlauf durch
das Rückenmark an ganz constanten Orten ihres Wegs mit einem ge-
ringern Grade von Erregbarkeit begabt sein, als an andern *).


Diese Annahme sind wir nämlich zu machen genöthigt, wenn sich die Beobach-
tung bestätigen sollte, wonach eine den Gesammtquerschnitt des Rückenmarks
gleich heftig treffende Erregung eine verschiedene Stellung der hinteren und vorde-
ren Extremitäten erzeugt, je nachdem der erregte Querschnitt näher oder entfernter
vom Hirn gewählt war. Wenn, wie die anatomischen und physiologischen Beobachtun-
gen beweissen, die Wurzelröhren durch das Rückenmark aufwärts zum Hirn dringen
(wobei es begreiflich gleichgiltig erscheint, ob sie vollkommen ununterbrochen oder
an einer Stelle unterbrochen verlaufen) so muss eine Erregung jedes Querschnittes,
vorausgesetzt, dass dieser schon alle zu einer Extremität gehörenden Nervenwur-
zeln gefasst hat und alle Nervenröhren überall gleich erregbar sind, immer dieselben
Erfolge für die Stellung einer Extremität herbeiführen. Dieses soll aber nicht eintref-
fen, indem Erregung eines Querschnittes in einer den unteren Rückenmarksenden
nähern Gegend, Streckung, in einer höheren Beugung erzeugt; wenn in der That das
Erregungsmittel alle Nerven in den verschiedenen Versuchen gleich stark getroffen
hat, so würde das nichts anderes bedeuten können als: im Lendenmark über-
wiegt die Erregbarkeit der Strecknerven und im Halsmark die der
Beugenerven
.


C. Im Rückenmark gibt es Stellen, welche trotzdem, dass sie
nervöse Elemente enthalten, dennoch unter dem Angriff der gewöhn-
lichen Erreger gar keine sichtbare Erregungserscheinung veranlas-
sen **). Nach Angabe der bessern Beobachter zählt hierzu übereinstim-
mend die allernächste Umgebung des sogen. Centralkanals, obwohl
hier nicht allein Ganglienkugeln (kleine Art. Kölliker), sondern auch,
wenn gleich sparsam, Nervenröhren vorkommen.


D. Das Zeitverhältniss ***), welches zwischen der Einwirkungs-
dauer eines erregenden Einflusses und der durch ihn erzeugten Er-
regung besteht, gestaltet sich im Rückenmark anders, als in den Ner-
ven; in diesen letztern kommt und vergeht annähernd gleichzeitig mit
dem Erregungsmittel die Erregung, während in ersterm die Erregung
gewöhnlich die Anwesenheit des Erregungsmittels lange überdauert;
die Nachwirkungen des erregenden Mittels sind mit einem Worte im
[154]Hirn und Hirnnerven. — N. olfactorius.
Rückenmark beträchtlicher. Dieses Ueberdauern der Erregung über
das Erregungsmittel tritt ein, mag man dieses letztere geradezu auf
das Mark oder durch den sensiblen Nerven hindurch (reflektorisch)
angewendet haben. — Am überraschendsten gestaltet sich diese Nach-
wirkung, wenn sie sich rhythmisch einstellt, d. h. ihr Bestehen von
Zeiträumen, in denen sie fehlt, unterbrochen wird. So hinterlässt
z. B. ein Druck auf das Rückenmark auch nach seiner Entfernung
häufig wechselnd gesteigerte und nachlassende Bewegungen der
Hinterbeine, so dass in der Stärke der zurückbleibenden Erregung
sich gleichsam Wellenbewegungen sichtbar machen.


E. Die Verschiedenheit der innern Zustände in den nervösen Elemen-
tartheilen des Markos von den gleichen der Nervenstämme macht sich
nun endlich auch noch durch zwei andere Erscheinungen geltend, die
uns aber nur andeutungsweise bekannt sind. — Zuerst nämlich soll sich
die Erregbarkeit des motorischen Nerven unter dem Einfluss constanter
elektrischer Ströme ganz anders gestalten, wenn der Nerv noch in
Verbindung mit dem Rückenmark ist, als dann wenn er aus dieser
Verbindung gelöst wurde. Siehe hierüber den verkürzten Muskel; Ver-
änderungen der Erregbarkeit durch den elektrischen Strom. — Zwei-
tens aber sollen nach dem Aufhören des Blutlaufs die im Rückenmark
befindlichen Nervenröhren theils rascher, theils langsamer absterben
als die in den Nerven enthaltenen; die sensiblen Nerven sollen nämlich
früher ihre Lebenseigenschaften einbüssen, als die hintern Stränge,
Longet, und die motorischen Nerven später als die motorischen Stränge,
Valli, Ritter, so dass in dem sensiblen Gebilde der Tod auf — und
in dem motorischen absteigt. Diese letzte Thatsache ist begreiflich
nur aus ursprünglicher Abweichung der Widerstandsfähigkeit in den
verschiedenen Nervenröhren gegen die Todeseinflüsse abzuleiten.


B. Hirn und Hirnnerven.


1. Ausbreitungsbezirke und Funktionen der Hirn-
nerven
.


Die Hirnnerven betheiligen sich nicht allein an den Vorgängen,
welche Muskelbewegung, Absonderung und Gefühlsempfindung be-
dingen, sondern auch an der Licht-, Ton-, Geruchs- und Geschmacks-
empfindung.


Nerv. olfactorius*).


Die nervösen Elemente des n. olfactorius sind eigenthümliche,
blasse, kernhaltige, platte, marklose Röhren (oder Fasern?), welche
sich hirnaufwärts nicht weiter als in den sogenannten Riechkolben
[155]N. opticus.
verfolgen lassen. — Innerhalb der Nase verbreiten sich seine Fasern,
so weit bekannt, nur auf die convexe Fläche der beiden obern Nasen-
muscheln und den obern Theil der Scheidewand.


Nach seiner Verletzung beim Menschen ist der Geruch vollkom-
men zerstört, man darf ihn demnach für den einzigen Geruchsnerven
ansprechen. Zudem scheint er auch ausschliesslich Geruchsnerv
zu sein, da seine Verletzung bei Thieren keine Schmerzensäusserun-
gen hervorruft.


Nervus opticus*).


Der Tractus und N. opticus bis zur Retina setzen sich aus fei-
nen Nervenröhren zusammen; in seiner Ausbreitung als Retina fin-
den sich Nuclearmassen und verzweigte Nervenzellen an die Nerven-
röhren abgelagert. Der Ursprung des Tractus kann bis in die Vier-
hügel, das corpus geniculatum externum und den Sehhügel verfolgt wer-
den, auf seinem weiteren Verlauf legt er sich innigst an den Gross-
hirnstamm, das tuber cinereum und die lamina terminalis an; ob er
von diesen Gebilden Röhren aufnimmt, ist zweifelhaft. Im sogenannten
chiasma findet eine theilweise Kreuzung der Nervenröhren statt, der
Art, dass die nach aussen gelegenen jedes Tractus zum gleich-
seitigen, die inneren eines jeden dagegen in den entgegengesetzt lie-
genden Nervenstamm treten. Ausserdem laufen an der vordern und
hintern Kante des Chiasma Commissurenfasern. Jeder N. opticus
trägt demgemäss in beiden Augen zur Bildung der Retina bei.


Die Verletzung des Sehnerven bedingt vollkommene Blindheit; die
Durchschneidung des Stammes oder eine mechanische Verletzung der
Ausbreitung erzeugt beim Menschen keine Schmerzempfindungen.


Die Einsenkung und Kreuzung des Sehstreifens bis in die bezeichneten Stellen
wird ausser der anatomischen Präparation durch pathologische Fälle constatirt, in
welchen ein Schwinden des N. opticus in Folge einer Zerstörung der Retina eingetre-
ten war; in ihnen findet sich, wenn die Verkümmerung über das Chiasma hinaus bis in
den Sehstreifen sich erstreckt, entweder der gleich- oder der gegenseitige oder auch
die beiden Streifen verändert. Diese wechselnd vorkommenden Resultate lassen sich
nur aus obiger Hypothese erläutern, wenn sie noch den Zusatz erfährt, dass ein alle
Röhren des Nerven vor dem Chiasma treffender pathologischer Zustand sich nicht
gleichmässig durch das Chiasma hindurchzuerstrecken braucht. In einzelnen Fällen
auffallenden Schwindens kann man die eingesunkenen Massen bis in die bezeichne-
ten Hirnstellen verfolgen. — Die relative Menge der gekreutzten und nicht ge-
kreutzten Röhren fällt bei verschiedenen Thieren (wahrscheinlich je nach der Au-
genstellung) sehr verschieden aus, weshalb die vergleichend anatomischen Thatsa-
chen zu keinem Schluss für die menschliche Anatomie berechtigen. Ob die am hin-
tern Rand gelegene Commissur des Chiasma in Beziehung zum Sehnerven steht, kann
aus vergleichend anatomischen Gründen bezweifelt werden. S. Todd und Bow-
mann
loc. citat.


[156]N. acusticus; N. oculomotorius.

Nervus acusticus*).


Seine röhrigen Bestandtheile sind schmal, leicht zerstörbar; in
dem nervus vestibuli finden sich Ganglienkugeln mit Fortsätzen, die
in Nervenröhren übergehen, eingestreut, und zwar sowohl im Verlaufe
desselben, als in der Endigung auf Ampullen und Säckchen. In der
Ausbreitung des n. cochleae auf dem knöchernen Spiralblatt der Scheide
finden sich bipolare, in der Nervenscheide eingelagerte Ganglienkörper
Seine Wurzeln stammen nach verschiedenen Angaben aus sehr ver-
schiedenen Theilen des kleinen Gehirns und verlängerten Marks. Man
hat sich, so viel abweichende Meinungen auch bestehen, mindestens
darüber geeinigt, dass er seine Wurzeln von den Querfasern, die über
die Pyramide streichen (fibrac arcuatae), dann aus dem Boden der
vierten Hirnhöhle (striae medullares) und endlich aus dem corpus res-
tiforme bezieht. Diese Fasern kreuzen sich nachweisslich zum Theil
in der Mittellinie des Hirnes. Im weitern Verlauf ist er mit der Flocke
verbunden.


Seine Zerstörung bedingt vollkommene Taubheit; durch den Akt
der Verletzung wird kein Schmerz hervorgerufen.


Zur Bestimmung seiner Wurzelursprünge hat man sich des häufig vorkommenden
Schwindens des Nerven noch nicht bedient. — Ausser den oben angegeben Wurzeläs-
ten nennt man speciell noch den äussersten Markübergang der Brücke, den grauen
Ueberzug über den Boden des vierten Ventrikels vom calamus scriptor. bis zum
aqduct. Sylvii, das velum posterius, die inneren Querfasern der pons, den grauen
Kern des kleinen Gehirns u. s. w. — Ueber die verschiedene Bedeutung des nerv. ves-
tibuli und cochleae siehe das Gehörorgan.


Nerv. oculomotorius**).


Nach übereinstimmenden Angaben lassen sich seine Wurzelfäden
durch die Grosshirnstiele bis nahe unter den Boden des aquaeductus
Sylvii verfolgen, und treten in die dort vorhandene graue Substanz; ob sie
sich an diesem Ort, wo sie der Mittellinie sehr nahe liegen, kreuzen, be-
darf noch weiterer Bestätigung. Die Röhren ändern ihren Durchmesser,
wenn sie aus der grauen in die weisse Substanz treten, nach Art der
motorischen Rückenmarksnerven. Beim Menschen führt der Nerven-
stamm 15000 und zwar nur breite Röhren. Seine Verletzung inner-
halb der Schädelhöhle soll nach einzelnen Angaben schmerzlos, nach
anderen schmerzhaft sein; innerhalb seines Verlaufs durch die Augen-
höhle ist der oculomotorius offenbar empfindlich. Je nachdem man dem
einen oder andern Befund mehr Zutrauen schenkt, lässt man den Ner-
venstamm schon von seinem Ursprung an mit sensiblen Fasern ver-
sehen sein, oder erläutert seine Empfindlichkeit aus der bekannten
Anastomose, welche er mit dem n. trigeminus eingeht.


[157]N. trochlearis; N. abducens.

Wenn nicht ganz, so ist wenigstens unser Nerv seinem grössten
Theile nach motorisch. Abhängig sind von ihm die Bewegungen der
m. m. rectus superior, r. internus, r. inferior, obliquús inferior, des
Verengerers der Pupille, wahrscheinlich des musc. tensor choroideae
und endlich des m. levator palpebrae superioris.


Der n. oculomotorius der Säugethiere weicht bezüglich seiner Vertheilung vom
menschlichen sehr ab; bei ihnen begibt er sich nämlich nachweisslich auch noch zum
musc. rectus externus, musc. obliquus superior und dem eigenthümlichen retractor
bulbi; dass er beim Menschen nicht noch den m. rect. extern. und den m. obliq. sup.
versorgt, geht ausser der anatomischen Untersuchung auch noch daraus hervor, dass
bei Lähmungen des n. oculomotorius das Auge kräftig nach aussen gerichtet ist, und
um seine Längsachse (die sog. Sehachse) gedreht werden kann. Diese Lähmungen
liefern auch den Beweiss, dass er bei Menschen die Pupille verengert, weil unter die-
sen Umständen die Pupille zwar nicht besonders erweitert ist, aber durchaus nicht
mehr verengert werden kann. Die allgemeine Annahme, dass er Verengerer der Pupille
sei, wird auch noch dadurch unterstützt, dass bei intensiv - willkürlichen Erregungen
des n. oculomotorius und namentlich bei der Einwärtsstellung des Augapfels der
Durchmesser der Pupille sich verkleinert. — In wiefern seine Lähmungserscheinun-
gen beweissen, dass er auf den tensor choroideae wirkt, kann erst später erörtert
werden; seine sehr bemerkenswerthe Stellung zu verschiedenen Hirntheilen, wird
ebenfalls erst später in Frage kommen.


Nervus trochlearis*).


Die Wurzelfäden des Nerven kommen theils aus dem obern Ende
der grauen Substanz, welche den Boden der vierten Hirnhöhle bedeckt
und mit einem zweiten Bündel aus einer grauen Masse am Boden des
aquaeductus Sylvii. Sie treten dann über die Mittellinie hinaus auf die
entgegengesetzte Seite und kreuzen sich bevor sie die Hirnmasse
verlassen mit den gegenüberliegenden Nerven im velum anterius. Der
Stamm führt breite Röhren, ihre Gesammtzahl beträgt 1100 bis 1200.
Der Nerv versorgt wahrscheinlich nur den musc. trochlearis mit mo-
torischen Fasern.


Ausser dieser als gewiss anzugebenden Funktion schreibt man ihm zuweilen
auch noch eine sensible zu. Seine physiologische Stellung zu den andern Hirnthei-
len siehe beim Sehorgan.


Nervus abducens.


Seine Wurzelfasern sollen durch die Längs- und Querfasern der
Brücke hindurch verfolgt werden können bis in eine graue Masse,
welche am Boden der vierten Hirnhöhle gelegen ist. Der Stamm ent-
hält 2000 bis 2500 breite Röhren.


Seiner Vertheilung gemäss ist seine einzige Funktion in einer
Bewegung des m. rect. externus zu suchen; sensible Fasern besitzt er
nicht.


Was seine Verbindung mit sympathischen Zweigen im sinus cavernosus und die
Aestchen zu bedeuten haben, welche er öfter an das ganglion ciliare oder die Ciliar-
nerven schickt ist unbekannt. — Bei Säugethieren versorgt er zugleich mit dem
n. oculomotorius noch den m. retractor bulbi.


[158]N. trigeminus.

Nervus trigeminus*). —


Die sogenannte grosse Wurzel verfolgt man mit Sicherheit bis in
das corp. restiforme; eine andere Abtheilung soll auch bis in die graue
Substanz am hinteren Ende der Rautengrube sich erstrecken und hier
gegen die Mittellinie sich verlieren. Die grosse Wurzel enthält feine
und grobe Röhren im Gemenge. — Die kleine Wurzel dringt nach all-
gemeiner Angabe ebenfalls gegen und in die graue Substanz am hin-
tern Ende der Rautengrube. Sie führt im Stamm 9000 bis 10,000 breite
(aber keine feinen) Röhren. — In seinem Verlauf ausserhalb des Hirns
enthält er das Ganglion semilunare, welches sich vorzugsweise an
die Fortsetzung der grossen Wurzel anschliesst. Nach einigen An-
gaben liegen in diesem Ganglion alle Ganglienkörper in den Nerven-
röhren, nach andern soll dieses Vorkommen nur selten sein und die
Ganglienkugeln entweder zu den apolaren oder unipolaren zu zählen
sein. — Der übrige Verlauf des Nerven ist bekannt. —


Der Nerv. trigeminus vermittelt die Empfindlichkeit der vordern
Fläche des Ohrs und Gehörgangs, der Stirn, der Schläfen und Gesichts-
haut, der Augenhöhle und des Auges, der inneren Nasenfläche, des
Gaumens, des Zungenkörpers, des Bodens der Mundhöhle, der Zähne
und der dura mater (?), ob ein Theil der Geschmacksempfindung von
ihm anhängig, bleibt noch zweifelhaft. —


Abhängig sind ferner von ihm mm. temporalis, masseter, ptery-
goidei, mylohyoideus, digastricus anterior, tensor palati mollis
und tensor tympani. — Nachweislich wirkt er ferner auf die Verenge-
rung der Gefässe in der m. conjunctiva, iris (der Nasenfläche und des
Zahnfleisches?). — Ferner die Absonderung des Speichels in gl. pa-
rotis und submaxillaris, und der Thränen in der gl. laerymalis. Aus
Versuchen an Thieren geht hervor, dass die grosse Wurzel nur sen-
sible und die kleine alle motorischen Elemente enthält. —


Ob der Nerv auch die Nasenschleimabsonderung und die Funktion der übrigen
Speicheldrüsen vermittelt, ist wahrscheinlich, aber noch nicht erwiesen. Wenn
man bei Lähmungen des Nerven am Menschen die entsprechenden Schleimhäute
trocken fand, oder umgekehrt bei heftigen krankaften Erregungen (Hyperästhesie),
Speichel- oder Nasenschleimfluss, so kann dies auch aus reflektorischer Wirkung
abgeleitet werden. Die Controverse über die theilweise Abhängigkeit des Geschmack-
sinnes siehe den n. glossopharyngeus und Geschmacksinn. Die eigenthümlichen Einflüsse
des Nerven auf die Gefässe und die Muskeln der Iris werden in der Ernährungslehre
und beim Auge betrachtet werden. — Zur Ausmittlung der Funktionen dieses Nerven
bedient man sich einer eigenthümlichen, nur für diesen Nerven mit einiger Sicherheit
anwendbaren Durchschneidungsmethode. Man durchbohrt mit einem eigends con-
struirten Messer, dem sogenannten Neurotom **), den Schädel zwischen Ohröffnung
und Augenwinkel, fährt auf der Schädelbasis hin gegen die Ausbreitung des Nerven
[159]N. facialis.
auf dem grossen Keilbeinflügel und durchschneidet mit nach hinten und unten ge-
wendeter Schneide den Nerven. Obgleich sehr häufig der Erfolg durch Verwundung
von Hirntheilen, der Carotis, des sinus cavernosus etc. getrübt und öfter der ram.
III (wegen seines frühen Eintretens in den Knochen) nicht durchschnitten wird, so
gelingt es bei grosser Uebung doch öfter und was werthvoller ist, sicher nur den
n. trigeminus zu durchschneiden und das Thier bis zu 8 Tagen, ja monatelang am
Leben zu erhalten.


Nervus facialis*).


Bei seinem Austritt aus dem Hirn ist er aus zwei deutlich verschie-
denen Bündeln zusammengesetzt, einem grössern und einem kleinern,
der sogenannten portio intermedia Wrisbergi. — In das Hirn hinein sol-
len sich seine Röhren bis gegen die graue Substanz am Boden der
Hirnhöhle verfolgen lassen und theilweise gegen die Mittellinie drin-
gen. — Der Stamm setzt sich aus 4000 bis 4500 breiten Röhren zusam-
men. Ein Angriff auf den Nerven vor seinem Eintritt in den meatus
auditorius internus soll keine Schmerzen erzeugen; die Empfindlich-
keit, welche der Nerv nach seinem Austritt aus dem foram. styloma-
stoideum darbietet, muss demgemäss durch Nervenröhren bedingt
sein, welche aus andern Wurzeln stammend, in Anastomosen ihm bei-
gemengt werden. Am wahrscheinlichsten gehören diese Fasern ur-
sprünglich dem n. trigeminus und vielleicht dem n. vagus an. — Der
Nerv ist vorzugsweise ein motorischer; es hängen von ihm ab, sämmt-
liche zur concha auris gehörige Muskeln, m. stapedius, m. frontalis
und occipitalis (?), m. corrugator supercilii, m. orbicularis palpebrarum,
ferner sämmtliche Hautmuskeln der Nase, der Mundes mit Einschluss
des m. buccinatorius, und die des Kinns; das platysma myoides,
m. stylohyoideus, der hintere Bauch der m. digastricus, m. levator palati
mollis. Endlich leitet seine Erregung auch die Absonderung des Spei-
chels in der glandula parotis und submaxillaris ein.


Der Nachweiss, dass keine sensiblen Fasern in den Wurzeln des n. facialis ent-
halten seien, ist nach einigen Autoren dadurch geführt, dass nach Durchschneidung
des nerv. trigeminus in der Schädelhöhle auch der Stamm des n. facialis bei seinem
Austritt aus dem foramen stylomastoideum aufhört, empfindlich zu sein. — Einige
am Menschen beobachtete Thatsachen scheinen diese Angabe zu bestätigen; denn
nach einer auf den n. facialis beschränkten Lähmung ist an keinem Orte die Empfin-
dung verschwunden, und umgekehrt nach einer auf den n. trigeminus beschränkten
Lähmung ist in den gemeinschaftlichen Regionen beider nirgends eine Spur von
Empfindung erhalten. Die Behauptung, dass ihm der n. vagus durch seinen ram. auri-
cularis Empfindungsfasern zutheile, ruht auf keiner Beobachtung. — Die bemerkens-
werthe Anastomose zwischen n. acusticus und portio intermedia Wrisbergi ist in
ihrer Bedeutung nicht erläutert. — Die Angabe, dass die chorda tympani die Muskeln
der Ausführungsgänge der Speicheldrüse versorge, ist darum ungegründet, weil die-
sen Gängen das Muskelgewebe fehlt. — Die Bedeutung unseres Nerven für die Sin-
neswerkzeuge siehe bei diesen.


[160]N. glossopharyngeus.

Nervus glossopharyngeus*).


Vom Boden der Rautengrube, unmittelbar über dem calamus scrip-
torius dringen aus der grauen Substanz die Wurzeln des Nerven durch
die corpora restiformia; eine Kreuzung der Ursprungsfasern im Hirn
ist noch nicht sicher beobachtet, wohl aber vermuthet. — Es ist wahr-
scheinlich, dass die Grenzbündel zwischen n. glossopharyngeus und n.
vagus bald in den einen und bald in den andern Nerven gefasst werden.
Der Stamm ist aus 3500 bis 4000 Röhren dargestellt. Ausser in den
bekannten Stammganglien finden sich an seiner Verbreitung in der
Zunge Ganglienkugeln an ihn gelagert.


Der Nerv enthält öfter, wenn nicht immer, motorische Fasern,
welche zu den m. stylopharyngeus, constrictor faucium medius, m. leva-
tor palati mollis und m. azygosuvulae treten.


Fasern, deren Erregung Tastempfindung erzeugt, scheint der Nerv
wenige zu führen, indem seine Verletzung bei empfindlichen Thieren
nur geringe Schmerzensäusserungen erzeugt; die peripherische Ver-
breitung der sensiblen Elemente dürfte auf dieselben Stellen, wie die
der schmeckenden geschehen. Vorzugsweise ist er dagegen Ge-
schmacksnerv, und namentlich scheint er die Geschmacksempfindung
der Zungenwurzel und des weichen Gaumens zu vermitteln.


Die verschiedenen Angaben bezüglich der motorischen Wirkungen unseres Ner-
ven können nur aus Verschiedenheiten in der Zusammenfassung der Wurzelbündel
erläutert werden. — Der Mangel oder vielmehr die geringe Menge sensibler Fasern
im m. glossopharyngeus erhellt deutlich aus den Resultaten seiner Durchschneidung;
ein gleicher schmerzerzeugender Angriff auf gleic hgrosse Aeste des trigeminus oder
den ramus laryngeus superior n. vagi erzeugt viel heftigere Schmerzensäusserungen.
Das Verschwinden einiger reflektorischer Bewegungen nach Durchschneidung des n.
glossopharyngeus beweisst nichts für die speziell empfindliche Natur der betreffenden
Nervenröhren, weil auch die Geschmacksnerven Reflexbewegungen, analog den Wir-
kungen aller Sinnesnerven, auslösen können. Nach neueren Untersuchungen wird es
mehr als nur wahrscheinlich, dass der n. glossopharyngeus der einzige Geschmacksnerv
gewisser Säugethiere, z. B. der Katzen, ist. Denn aus allen guten Versuchen erhellt,
dass widerlich bitterschmeckende, geruchlose Substanzen (Chinin, Coloquin-
thenabsud) von dem Thier, dessen trigeminus durchschnitten war, selbst nach länge-
rem Fasten niemals genossen werden, so lange der n. glossopharyngeus erhalten ist;
diese Substanzen werden dagegen ohne den geringsten Widerwillen aufgenommen,
sowie man den n. glossopharyngeus durchschnitten und den n. trigeminus erhalten
hat. Beim Menschen sind die Thatsachen zweifelhafter. Hier sind allerdings Fälle
bekannt, wo nach alleiniger und scheinbar vollkommener Lähmung des n. trigeminus
die Geschmacksempfindung der Zungenspitze erhalten war; es stehen ihnen aber
andere entgegen, wo unter gleichen Umständen sie erloschen gefunden wurde.
Wenn man als Gegenbeweis gegen die Geschmacksfunktion des n. trigeminus gel-
tend macht, dass man bei sogenannten Hyperästhesien des n. trigeminus (d. h. bei
vom Hirn ausgehenden krankhaften Erregungen) keine subjektiven Geschmacks-
[161]N. vagus; N. accessorius Willisii.
empfindungen der Kranken beobachtete, so müsste erst erwiesen sein, dass diese
besondere Natur der Erregung überhaupt Geschmacksempfindungen bewerkstelligen
kann. Die wenigen pathologischen Fälle, in welchen eine Zerstörung des n. glossopha-
ryngeus beim Menschen beobachtet wurde, sind entweder mit andern Verletzungen
zu sehr complizirt oder nicht genau genug beobachtet, um Schlüsse zu erlauben.
Alle gegen die Geschmacksfunction des n. trigeminus vorgebrachten Gründe werden
wenig überzeugend sein, so lange nicht erwiesen ist, dass sich Fasern des n. glosso-
pharyngeus in die so empfindlich schmeckende Zungenspitze begeben, welche nach
den vorliegenden anatomischen Untersuchungen allein vom n. trigeminus beherrscht
wird. — Die Frage, ob die Fasern der Zungenspitze andere Geschmacksempfindungen
vermitteln, als die der Zungenwuzel, wird bei dem Geschmackssinn besprochen. —
Die Bedeutung des ram. tympanicus (Jacobsonii) ist vollkommen unbekannt. —
Die Behauptung, dass der n. glossopharyngeus der Absonderung des Rachenschleims
vorstehe, bedarf besserer Beweise als die bis dahin vorgebrachten.


Nervus vagus und n. accessorius Willisii.


Die innige anatomische Beziehung zwischen beiden Nerven macht
es zum Theil schwierig, zum Theil unmöglich, die jedem einzelnen zu-
gehörige Funktion zu ermitteln. Den vorliegenden Thatsachen ent-
sprechend wird hier zuerst jeder Nerv, so weit es angeht, gesondert,
und dann beide gemeinsam behandelt.


a. N. vagus. Seine Wurzeln treten zwischen Oliven und hintern
Strängen (corpora restiformia) durch die hier noch vorhandenen Reste
der gelatinösen Substanz in eine auf dem Boden der vierten Hirnhöhle lie-
gende graue Masse (die Fortsetzung der grauen Substanz des Rücken-
marks); indem sie in diese eintreten, werden die Nervenröhren so
blass und zart, dass sie sich nicht weiter verfolgen lassen. Seine
Wurzeln führen ungefähr 4000 dünne und 5000 dicke Röhren.


Eine isolirte Erregung seiner Wurzelbündel bedingt eine Bewe-
gung des m. levator palati mollis, m. azygos uvulae, arcus pharyngo-
palatinus, constrictor pharyngis supremus, medius (?), infimus, des
Oesophagus und des Magens, der mm. cricothyreoideus, cricoarytenoi-
deus posticus, lateralis und hyothyreoideus.


Ausserdem erregt eine Berührung seiner Wurzelfäden sehr hef-
tige Schmerzen; es fehlen aber noch die Angaben über die Endflächen,
in welche sich diese sensiblen Fasern verbreiten.


b. N. accessorius Willisii*). Seine vom Rückenmark ent-
springenden Wurzeln gehen durch die Seitenstränge in eine Anhäu-
fung grauer Substanz, welche den Vorderhörnern entspricht, von hier
gegen die commissura anterior und die Pyramidenkreuzung, wo sie
über die Mittellinie hinaustreten und in die entgegengesetzte Mark-
hälfte eingehen; in dem verlängertem Marke verhalten sich die ent-
springenden Röhren, wie die Vagusursprünge, an die sich die oberen
Wurzeln so anschliessen, dass sie nicht von ihnen unterschieden wer-
Ludwig, Physiolog. I. 11
[162]N. vagus; N. accessorius Willisii.
den können. Beim Eintritt in die graue Substanz verdünnen sich
die Fasern auffallend. Die meisten Röhren der ausgetretenen Wur-
zeln an Zahl 2000 bis 2500 gehören zu den stärkeren; ausserdem
führen sie noch dünne.


Seine unteren (Rückenmarks-) Wurzeln sollen, wie sie ihrem Ur-
sprung nach den vordern Rückenmarkswurzeln entsprechen, sich voll-
kommen unempfindlich verhalten; die obern sollen empfindlich sein.


Seine motorischen Funktionen erstrecken sich auf die mm. levator
palati mollis, tensor palati mollis, azygos uvulae, die Muskeln des
pharynx und den Oesophagus und einige noch nicht näher bestimmte
Muskeln des larynx. Ausserdem wirkt der Nerv motorisch auf die
mm. sternocleido - mastoideus und cucullaris. — Es ist bemerkens-
werth, dass verschiedene Wurzelbündel zu denselben Muskeln Zweige
absenden.


Die Isolation der n. Vagus- und Accessoriuswurzeln behufs der Erregung unter-
nimmt man entweder dadurch, dass man die Schädelhöhle des lebenden oder eben
getödteten Thieres öffnet, oder dadurch, dass man bei Kaninchen und Katzen (nicht bei
Hunden) am hintern Ast des n. accessorius empordringt und ihn möglichst nahe am for.
jugulare mit einer stumpfen Pinzette ausreisst. — Bei Anwendung der ersten Me-
thode sterben wegen Verblutung oder Lufteintritt in die Venen die Thiere bald und
nur unter besonderer Vorsicht ist es gelungen, die Thiere kurze Zeit am Leben zu
erhalten. Bei der zweiten sollen die Thiere länger am Leben bleiben; es fehlt aber
vollkommene Gewissheit ob man alle Wurzelfasern des n. accessorius und nur diese,
und nicht zugleich Vaguswurzeln mit ausgerissen hat.


c. Gemeinsamer Stamm des N. vagus und accessorius *) — Die
empfindlichen Flächen, welche von beiden Nerven, ohne dass sie einem
von ihnen besonders zugewiesen werden konnten, versorgt werden,
liegen an der hintern Wand des weichen Gaumens (?) im Schlund,
in der Speiseröhre, dem Magen, Kehlkopf, der Luftröhre, den Lungen und
dem Herzen.


Ausser den unter a und b erwähnten Muskeln regen die zum ge-
meinsamen Stamm vereinigten Nerven noch zur Bewegung an: die
kleinen Muskeln der Trachea, die des Lungengewebes (?) den Dünn-
darm und Uterus (?). Ausserdem aber wirkt er in einer ganz eigen-
thümlichen Art auf die Herzmuskulatur ein; Ed. Weber; denn es ruft
eine Erregung der rami cardiaci keine Zusammenziehung des verlän-
gerten, sondern vielmehr eine Erschlaffung des zusammengezogenen
Herzmuskels hervor, so dass der n. vagus dem Herzen gegenüber zu
gerade den entgegengesetzten Leistungen, die alle anderen Nerven
auf die Muskeln vermögen, geschickt ist. Bei der Betrachtung der
Herzbewegungen wird es sich jedoch herausstellen, dass dieser spe-
zifische Einfluss nur mit Hilfe von Zwischenapparaten erreicht wer-
[163]N. hypoglossus.
den kann, so dass genauer ausgedrückt, die erschlaffende Wirkung
der Vagusäste nicht auf die Muskelfasern, sondern auf diese Zwischen-
apparate geht.


Ausserdem schreibt man dem gemeinsamen Stamme noch einen
direkten Einfluss auf die Absonderungsthätigkeit der Magensaftdrüsen
und die Verengerung der Capillargefässe der arter. pulmonalis oder
a. bronchialis zu; ob mit Recht, ist noch nicht erwiesen.


Man hat in Anbetracht, dass Zweige der nn. vagus und accessorius (?) zum Ma-
gen sich begeben, von ihnen das Hungergefühl abhängig gemacht. Diese aus anato-
mischen Gründen wahrscheinliche Hypothese werden wir bei der Verdauung bespre-
chen. Dort wird auch die Frage über den Einfluss der Nerven auf die Verdauung ab-
gehandelt. Nach Durchschneidung beider Vagusstämme am Hals füllen sich die
Lungenbläschen bald mit einer eigenthümlichen Flüssigkeit an, welche durch Störung
des Athemgeschäftes den Tod herbeiführt. Es bleibt ungewiss ob diese Flüssigkeit von
den Lungen abgesondert wird, weil ihre Capillargefässe verändert oder weil die In-
tensität der Herzwirkungen vermehrt ist, oder ob sie aus der Mundhöhle durch die
gelähmte Stimmritze dringen; die verschiedenen Hypothesen und deren Begründung
wird bei den Athemfunctionen genauer mitgetheilt.


Am Oesophagus, Herz und wahrscheinlich auch an den Lungen dringt der Nerv
jeder Seite auf beide Hälften der genannten Organe.


Den Einfluss, den die Pulmonaläste des n. vagus auf die kleinen Muskeln der Lun-
gen ausüben, studirte man auf die Art, dass man in die Luftröhre ein heberförmig
gebogenes, mit etwas Wasser gefülltes Glasrohr luftdicht einband und darauf den
Stamm der n. vagi erregte. Wurde durch deren Erregung Zusammenziehung der Lun-
genmuskeln bedingt, so wurde die Lungenluft zusammengedrückt, in das Glasrohr
getrieben und das Wasser gehoben. Den älteren Beobachtungen von Willis und
Volkmann gegenüber leugnet Donders den erregenden Einfluss des n. vagus.


Nervus Hypoglossus.


So weit er verfolgbar, tritt er aus einer grauen Masse, die am
Boden des calamus scriptorius liegt, aus, kreuzt sich vollkommen, so
dass die ursprünglich rechten Fasern zur linken Seite und umgekehrt
treten und erscheint zwischen Olive und Pyramide auf der untern Fläche
des verlängerten Markes; seine Röhren verdünnen sich auffallend
innerhalb ihres Verlaufs durch die graue Masse. Im Stamm führt es nur
breite Fasern gegen 4500 bis 5000.


In der Schädelhöhle führt er keine (?) sensiblen Elemente; auf
seinem weitern Verlauf wird er dagegen durch Beimengung von Röh-
ren aus verschiedenen Nerven sehr empfindlich.


Seine motorischen Funktionen beziehen sich vorzugsweise auf die
Zunge; die besondern Muskeln, die er versorgt, sind bald nur mm.
styloglossus, hyoglossus, genioglossus, lingualis, thyreohyoideus,
dann nächst diesen auch sternohyoideus, omohyoideus? und sterno-
thyreoideus?


Dass die Zunge noch aus andern Quellen als den hier erwähnten Wurzeln moto-
rische Röhren erhält, werden wir später noch erfahren. —


Während *) der Darstellung der Verbreitungsbezirke aller Hirn-
11*
[164]Verlauf der motorischen Nervenröhren durch das Hirn.
nervenwurzelu haben wir schon wiederholt darauf hingewiesen, dass
sich durch den weitern Verlauf stetige Verflechtungen und Men-
gungen gesondert entspringender Röhren ereignen; hier ist nun
schliesslich noch darauf hinzuweisen, dass auch die Rückenmarks-
nerven vielfach in das Gebiet der Hirnwurzeln eingreifen; namentlich
dringen 1. durch den Halsstamm des N. sympathicus Zweige in das
Ganglion ciliare aus dem untern Halsmark; — 2. sendet wahrschein-
lich aus dem Dorsalmark der Sympathicus Zweige in den ram. recur-
rens vagi; — 3. Communiziren die obersten Halsnerven mit den Hirn-
nerven und namentlich 1ter und 2ter Halsnerv mit nn. vagus, acces-
sorius und hypoglossus.


2. Verlauf der motorischen Nervenröhren durch das
Hirn
*). — Bevor zu einer Mittheilung der Thatsachen geschritten
werden darf, ist es hier vor Allem nöthig, die Schwierigkeiten, die
sich ihrem Erwerb entgegensetzen, in Erwägung zu ziehen. — a. Auf
Erregung eines jeden bewegungerweckenden Hirntheils, erhält man
stets Bewegungen complicirter Art; denn niemals sind es einfache
stetige Zusammenziehungen eines oder mehrerer Muskeln, welche
genau so lange sich erhalten, als die Einwirkung des Erregers dauert,
sondern immer Bewegungen von Muskelgruppen, deren einzelne Ab-
theilungen nach einer solchen Reihefolge in die Zusammenziehung ein-
und aus ihr austreten, dass z. B. eine scheinbar auf ein bestimmtes
Ziel gerichtete Bewegung einer Gliedmasse oder ähnliches zu Stande
kommt. Da auf direkte Erregung der Hirnmasse diese Erschei-
nungen auch eintreten ohne irgend welches Zeichen von Schmerzhaf-
tigkeit, so führen sie zu dem Schluss, entweder dass die motorischen
Röhren im Hirn, vermöge ihrer Lagerung und ihrer Erregbarkeitsver-
hältnisse, schon für sich in eine solche Anordnung gebracht seien,
dass eine ausgedehnte (Gruppen von Nervenröhren treffende) Erre-
gung jedesmal eine sogenannte zweckmässige und rhythmische Bewe-
gung erzeuge, — oder dass es im Hirn unempfindliche reflektorische
Fasern gebe. Weil uns kein Mittel zu Gebote steht, diese Zweideutig-
keit wegzuräumen, so geben die Erfolge direkter Erregung zweifel-
haften Aufschluss über die gerade Fortsetzung des Röhrenverlaufs
durch das Hirn. — b. Auf ihrem Verlauf durch das Hirn sind die zu
einem Muskel gehörigen Nerven mit verschiedenen Erregerquellen in
Verbindung, mit seelischen, automatischen, reflektorischen; rücksicht-
lich der Stellung eines Muskels zu diesen verschiedenen natürlichen
Erregern, erscheint es vorerst gleichgiltig ob derselbe aus drei oder
noch mehr verschiedenen Orten verschiedene Nerven erhält, oder ob die
besonderen Erregerquellen auf verschiedenen Stellen des Verlaufes
eines und desselben Nerven angebracht sind, denn immer folgt aus
[165]Schwierigkeit seiner Auffindung.
der einen wie aus der andern Anordnung, dass Durchschnitte durch
das Hirn, welche selbst einen oder den andern zu einem Muskel ge-
henden Nerven treffen, dennoch keine vollkommene Lähmung des
Muskels erwirken. Weil uns nun aber bei Thieren nur gar zu häufig
das Criterium fehlt, ob eine Bewegung auf die eine oder die andere
Art ursprünglich erregt sei, so wird ohne eine genauere Untersuchung,
als man sie bisher anzustellen gewöhnt war, überhaupt die den Durch-
schnitt des Nerven begleitende Lähmung übersehen werden können;
und somit erweist sich auch der Versuch zweifelhaft, welcher aus der
den Durchschnitt begleitenden Lähmung, den Verlauf der motorischen
Nervenröhren zu erschliessen sucht. — c. Die Nervenröhren sind in
ihrem Verlauf durch das Hirn nun offenbar auch mit solchen Apparaten
in Verbindung, welche den erregten zuckungerzeugenden Zustand
des Nerven dahin umzusetzen vermögen, dass der Nerv statt Zuk-
kung Muskelruhe erzeugt; mit andern Worten, es gibt im Hirn Vor-
richtungen deren erregende Kräfte dazu verwendet werden den
schon anderweitig erregten Nerven zu beruhigen. Alle Nerven
die in einen solchen Apparat eingehen, werden aber in Folge ihrer
direkten Erregung Erschlaffung eines zusammengezogenen Mus-
kels und umgekehrt nach ihrem Durchschneiden am passenden
Orte Zusammenziehung eines erschlafften Muskels erzeugen. Auf
diese eigenthümliche Stellung des Nerven ist man bis dahin ebenfalls
noch nicht aufmerksam genug gewesen. — d. Die an den Individuen
einer Species oder Gattung gewonnenen Thatsachen dürfen nicht
unmittelbar auch als gültig angesehen werden für diejenigen anderer
Familien oder gar anderer Classen von Thieren. Denn wenn auch die
bisherigen physiologischen Versuche über das Hirn wenig lehrreich
waren, so haben sie uns doch mindestens die Versicherung gegeben,
dass es eine ganz willkürliche Fiktion ist, aus äusserlicher Form-
ähnlichkeit gewisser Hirntheile bei verschiedenen Thieren auf eine
functionelle Gleichartigkeit derselben schliessen zu wollen. — e. Zu
diesen im Hirnbau liegenden Schwierigkeiten kommt nun eine andere
Reihe, welche eingeführt werden durch die Operationsmethoden,
Schwierigkeiten, auf deren Beseitigung man bis heute noch nicht ge-
drungen hat; zu ihnen zählt, dass man, um zu tiefer gelegenen Hirn-
parthieen zu gelangen, den Schädel öffnen, das Hirn abkühlen, Blutun-
gen erzeugen und anderseits den Kreislauf des Blutes unterbrechen
muss. Wie unmessbar sind diese Störungen. Endlich sind die bis jetzt
angewendeten Erregermethoden weder in ihrer räumlichen Verbreitung,
noch in ihrer Intensität abgestuft genug um Gewähr zu leisten, dass
man nur die Nervenmassen erregt habe, mit denen der erregende Ap-
parat sich in unmittelbarer Berührung befand.


Wem die zahllosen Schwierigkeiten vor Augen treten, welche sich
hier der Untersuchung entgegen werfen, und wer, im Geiste den wun-
[166]Kreuzung motorischer Röhren im Hirn.
derbaren Bau des Hirns schauend, von Staunen ergriffen ist über die
Leistungen dieses zarten und verschlungenen Gefüges, der wird ge-
wiss mit Abscheu sich wegwenden von den rohen Versuchen jener
Classe von Henkern, welche blindlings durch den Schädel hindurch
mit Nadeln und Messern in das feinste aller Gebilde stechen und
schneiden, unter dem dreisten Vorgeben, der Wissenschaft einen Dienst
zu leisten. Das Beginnen dieser Hirnbohrer ist kaum weniger sinnvoll
als das Bestreben, durch Schüsse aus Flinten und Pistolen, die man in
eine Cylinderuhr sendet, die Funktionen ihrer Räder und Federn zu
ermitteln.


Nach diesen Einleitungen bitten wir, mit der höchsten Vorsicht
folgende Mittheilungen aufzunehmen.


a. Die motorischen Nervenröhren, deren Stümpfe in das Hirn stei-
gen, erleiden, insofern dieses nicht schon im Rückenmark geschehen,
eine totale Kreuzung, die, in den Pyramiden beginnend, innerhalb der
Brücke vollendet wird, so dass alle Rumpf- und Extremitätennerven
in den sogenannten Grosshirnschenkeln auf der ihrer Ausbreitung in
den Muskeln entgegengesetzten Körperhälfte verlaufen. Oberhalb der
Grosshirnschenkel lassen sich die Röhren nicht weiter mit Sicherheit
als continuirliche verfolgen; dringen sie in der That von hier aus noch
in ununterbrochener Fortsetzung durch Seh- und Streifenhügel zu den
Grosshirnlappen, so müssen sie in Beziehung auf ihre Erregbarkeit be-
trächtliche Modifikationen erfahren.


Den Durchgang der motor. Rückenmarksröhren durch die Pyramiden erschliessen
wir für den Menschen aus pathologischen Thatsachen, nach welchen eine nur auf die
Bewegungsorgane beschränkte Lähmung des Rumpfes eintritt, wenn Geschwülste, die
an der vorderen Wand des Rückgrathkanals gelegen sind, die Pyramiden zusammen-
gedrückt resp. zum Schwinden gebracht haben; dass in ihnen eine Kreutzung der Ner-
ven vor sich geht, wird dadurch bewiesen, dass das Fehlen nur einer Pyramide, sei
es eine Folge ursprünglicher Entwicklung oder nachträglichen Schwindens, eine Läh-
mung der Muskeln auf der entgegengesetzten Rumpfhälfte zur Folge hat. Versuche an
höher stehenden Säugethieren, namentlich dem Hunde, bei denen ebenfalls eine Kreu-
zung der Pyramiden auf anatomischem und physiologischem Wege erwiesen ist, ma-
chen es nun für den Menschen wahrscheinlich, dass die Kreuzung allmälig geschieht,
indem eine Verletzung des unteren Theils der Pyramide zugleich gegen- und gleich-
seitige Lähmung nach sich zieht. — Verletzungen des Hirns in der Brücke und in dem
Grosshirnschenkel lähmen nach ganz übereinstimmenden Angaben der bessern Patho-
logen immer die entgegengesetzte Rumpfhälfte; dass sich bis zu diesen Punkten die
Hirnfasern als mehr oder weniger unmittelbare Fortsetzungen der Rückenmarksfa-
sern gestalten, schliessen wir, weil direkte Erregung derselben bei höhern Säuge-
thieren, selbst nach Erlöschen aller reflektorischen Wirkungen, eine leb-
hafte Bewegung in den Gliedern der entgegengesetzten Seite hervorbringt. — Die
physiologischen Versuche berechtigen nun aber vorerst nicht zu der Annahme, dass
sich die Fasern aus den Grosshirnschenkeln ununterbrochen durch Seh- und Strei-
fenhügel in die Grosshirnhemisphären erstrecken, weil bei den höherstehenden Säu-
gethieren und namentlich dem Hunde durch die Erregung der letzteren Gebilde keine
Bewegung des Rumpfs eingeleitet werden kann; jedenfalls stehen aber beide er-
[167]Verlauf der sensiblen Nervenröhren durch das Hirn.
wähnte Hirnganglien und ebenso das Dach der Seitenventrikel in einer bestimmten
Beziehung zur Bewegung einer ganzen Körperhälfte, wie die folgenden Bemerkun-
gen lehren werden. —


b. Vom Verlauf der motorischen Kopfnerven innerhalb des Hirns
ist nur bekannt, das der n. hypoglossus in Erregung gesetzt wer-
den kann, wenn man den Boden der vierten Hirnhöhle an seiner hin-
teren Spitze mit mechanischen Mitteln angreift; Stilling, und fer-
ner, dass die Augenmuskelnerven durch Einstechen in die Vierhügel
in Thätigkeit gerathen. — Wie die Nerven des Rumpfs so erfahren
auch die des Kopfs eine totale Kreuzung.


Die Angabe älterer Pathologen, wonach die Kopfnerven entweder nur eine un-
vollkommene oder gar keine Kreuzung im Gehirn erfahren sollten, wurde durch
Beobachtungen veranlasst, in welchen drückende Körper, die sich in der Schädel-
höhle entwickelten, gleichzeitig auf die Rumpfnerven in ihrem Verlaufe durch das
Gehirn, und auf die Kopfnerven, nachdem sie aus dem Gehirn getreten waren, ein-
wirkten, so dass Lähmung des Rumpfes und des Gesichtes gleichzeitig aber auf ent-
gegengesetzten Seiten bestand. Romberg.


3. Verlauf der sensiblen Nervenröhren durch das Hirn.


Die sensiblen Nerven hat man im Einzelnen noch nicht durch das
Gehirn verfolgt; man weiss nur, dass Berührung einer gewissen An-
zahl von Theilen im Allgemeinen die Zeichen des Schmerzes erweckt,
während eine Berührung anderer Theile diese Folge nicht nach sich
zieht. Zu den schmerzhaften Hirnparthien zählt man allgemein: corpora
restiformia und olivaria, den Boden der vierten Hirnhöhle mit Aus-
nahme des calamus scriptorius und des aquaeductus Sylvii, crura ce-
rebelli ad corpor. quadrigemina, pedunculi cerebri. — Ueber die Em-
pfindlichkeit der Pyramiden und der unteren Fläche der Brücke besteht
noch Controverse; in die Vierhügel kann der n. opticus physiologisch
verfolgt werden.


4. Mittheilung der Erregungszustände in den Nerven-
röhren des Hirns
.


A. Reflektorische Erregung.


Wie das Rückenmark vermag auch das Hirn die Reflexbewegung
zu vermittlen; dieselben charakteristischen Merkmale wie dort bietet
sie auch hier. Wir bestimmen eine vom Hirn ausgehende Bewegung
als eine reflektorische, vorzugsweise dann, wenn sie gegen den Wil-
len erfolgt oder wenn sie nach vorausgegangenen sinnlichen Ein-
drücken in unwillkürlich beweglichen Muskeln hervortritt.


Die reflektorischen Bewegungen, welche die sensiblen Hirnnerven
erwecken, erstrecken sich nicht allein auf die Nerven des Hirns, son-
dern auch auf die des Rückenmarks. Eine gründliche Untersuchung
ist diesen wichtigen Verhältnissen noch nicht zu Theil geworden. —
Folgende reflektorische Beziehungen sind als die wichtigsten unter
den bekannteren hervorzuheben.


[168]Reflectorische Hirnbezirke.

a. Der n. opticus steht in nächster Beziehung zu den Zweigen
des n. oculomotorius, welche die Pupille versorgen; wirkt der Lichtein-
druck stärker, so erstreckt sich auch sein Einfluss auf den ramus nerv.
facialis pro orbiculo palpebrarum. — Ob er auf die Nerven der Thränen-
drüse einwirkt, steht noch dahin.


Die Erscheinung, dass nach längerem Sehen in die Sonne Niessen erregt wird,
kann wegen des Abflusses der Thränen in die Nasenhöhle, und darum, weil sich auf
der den warmen Sonnenstrahlen ausgesetzten vorderen Augenfläche Zweige des n.
trigeminus verbreiten, nicht als Beweiss gelten, dass der n. opticus auf reflektori-
schem Wege diesen complizirten Muskelakt hervorrufe.


b. Von der portio major nerv. trigemini findet sich der Ast für die
conjunctiva in Beziehung zum ram. pro orbiculo palpebrarum des n.
facialis und zu dem n. lacrymalis. — Seine Aeste für die innere Na-
senfläche vermitteln auf reflektorischem Wege das Niessen und wir-
ken demnach auf die Nasenäste des facialis, die Nerven für den arcus
glossopalatinus (?), die Inspirations- und die Exspirationsmuskeln,
und zwar auf alle diese in der eigenthümlichen Combination, dass auf
eine volle und tiefe Inspiration, eine kräftige und plötzliche Exspiration
während vollkommen offener Stimmritze bei Abschluss der Mundhöhle
von den Athemwegen erfolgt. — Der ram. lingualis soll reflektorisch auf
den nerv. hypoglossus und die portio minor n. trigemini wirken.


c. Nerv. acusticus soll die Muskeln der sogenannten Gehörknö-
chelchen reflektorisch affiziren (?).


d. Nerv. glossopharyngeus erregt reflektorisch die Speichelnerven
und die obern Muskeln des Schlingapparats, d. h. den ram. pharyngeus
des n. vagus und ram. stylopharyngeus des n. glossopharyngeus.


e. Unter den sensiblen Portionen des nerv. vagus und accesso-
rius steht der ram. laryngeus superior in inniger Beziehung zu dem
ram. recurrens vagi und den Exspirationsmuskeln, welche er nach
seiner Erregung zur sogenannten Hustenbewegung combinirt, ein
Akt, bei welchem plötzliche stossweise Exspirationen bei zusammen-
gelegter aber nicht gespannter Stimmritze geschehen. — Der ramus
pulmonalis überträgt seine Erregung auf die Inspirationsmuskeln und
zwar bei gesteigerter Erregung in ganz gewisser Reihenfolge, so
dass die Inspiration zuerst nur mit dem Zwerchfell und dann allmälig
auch mit den mm. scaleni, serratus posticus superior, intercostales,
levatores costarum u. s. w. vollführt wird, bis in den Bewegungsakt
endlich auch die Schulterblatt- und Oberarmmuskeln gezogen werden.
Der Schlund- oder Magenast soll im erregten Zustande auf die den
Brechakt bewerkstelligenden Muskeln seine Erregung reflectiren.


Einzelne dieser Reflexbewegungen gehen vollkommen beschränkt
nur zwischen ganz bestimmten Nerven vor sich; so erzeugt nur der
n. opticus, nie der n. acusticus oder n. glossopharyngeus eine Pupillen-
erregung; niemals wird durch Berührung der äusseren Nase Niesen,
[169]Mitbewegung; Mitempfindung.
oder durch Berührung der Zunge Husten eingeleitet. Bemerkenswerth
ist es ferner, dass dieselben Muskeln von verschiedenen sensiblen
Nerven in ganz verschiedener räumlicher oder zeitlicher Combination
erregt werden. — Nicht minder wichtig erscheint es, dass einzelne
Reflexbewegungen auch bei einseitiger Erregung des sensiblen Nerven
immer doppelseitig erscheinen, wie die Pupillenverengerung, Husten
und Niessbewegung, während andere nur einseitig vorkommen, wie
z. B. der Schluss des m. orbiculus palpebrar. — Die Muskeln, in welchen
selbst bei grösster geistiger Aufmerksamkeit Reflexe erfolgen, sind ent-
weder überhaupt unwillkürlich beweglich, wie die Pupille, oder minde-
stens in der gerade auftretenden Combination vom Willen schwer oder
gar nicht anzuregen.


Die Hirntheile, in welchen die erwähnten und überhaupt die re-
flectorischen Uebertragungen zwischen Kopfnerven geschehen, sind
das verlängerte Mark und die Vierhügel; letztere enthalten vorzugs-
weise den reflecktorischen Apparat für das Auge und werden darum
das Centralorgan des Gesichtssinnes genannt. Der Nachweis, dass die
bezeichneten Hirntheile die reflektorischen Herde darstellen, geht
daraus hervor, dass die Uebertragung noch geschieht, wenn man alle
übrigen Hirntheile ausser ihnen entfernt hat, ja dass sie dann am sicher-
sten vorkommt.


Es bedarf kaum der Errinnerung an die bekannte Thatsache, dass alle Kopfner-
ven bei höheren Erregungen schliesslich reflektorische Krämpfe fast aller Muskeln
des menschlichen Körpers bewerkstelligen können,


B. Mitbewegung, Mitempfindung und Reflexempfindung sollen
ebenfalls die Hirnnerven zu erzeugen im Stande sein; es ist aber hier
so wenig als am Rückenmark ein scharfer Beweis für ihr Bestehen zu
liefern.


1) Mitbewegung. — Mit Uebergehung aller andern gar nicht einmal zum Be-
weissverfahren zulässiger Thatsachen ist hier nur zu erwähnen, dass zwei unwill-
kürlich bewegliche Organe, das Herz und die Pupille von der Seele aus eine
Veränderung ihrer Erregung erleiden können, wenn gleichzeitig eine gewisse Zahl
von andern willkürlich motorischen Theilen in Bewegung kommt.


So können wir z. B. die Pupille nicht gesondert verengern, sogleich aber veren-
gert sie sich, wenn wir das Auge nach innen und oben stellen. Ob in diesem Fall
wirklich die Erregung aus den willkürlich beweglichen Aesten des n. oculomo-
torius auf den Irisast übergeht, oder ob in dieser Combination der Irisast direkt von
der Seele erregt werden kann, ist nicht zu entscheiden. Siehe hierüber Pupillen und
Herzbewegung.


2) Mitempfindung. — Sehen in das Licht, ein Sandkörnchen in der Conjunction
soll Kitzeln in der Nase hervorrufen? Hat man in diesem Falle die Thränen von der
Nase abgehalten, und den Kopf so gestellt, dass nicht zugleich die Sonne in die
Nasenöffnung schien? Oder ist hierbei gar eine Absonderung des Schleims in der
Nase übersehen worden? Nach Berührung des äussern Gehörgangs entsteht ein
eigenthümliches Kitzelgefühl im Kehlkopf und Neigung zum Husten, ist das nicht
vielmehr ein Reflex auf die Muskeln der Stimmritze? — Hören eines Tons nach
Streicheln der Wange kann ebenso als Reflex auf die Muskeln der Gehörknöchelchen
gedeutet werden u. s. w. Die einzige Erscheinung, welche vorerst keine andere Deu-
[170]Verbindungsmassen zwischen den Nerven-
tung zu erlauben scheint, ist die, dass nach dem Hören besonderer Töne ein eigen-
thümliches Gefühl in den Zähnen entsteht.


3) Reflexempfindung — Ein schielendes Auge soll lichtscheu sein; hat es
etwas auffallendes, dass ein wenig gebrauchtes Auge besonders empfindlich ist?


Man sieht aus dieser Musterung der Thatsachen, dass kaum eine derselben auch
nur die Hypothese wahrscheinlich macht, gegenüber den tausenden von Fällen in
denen isolirte Empfindung und Bewegung in den Hirnnerven vorkommt.


5. Verbindungsmassen zwischen den Fortsetzungen
der Nervenwurzeln und den Organen der Willkür
.


Eine grössere Zahl von Hirntheilen übt, ohne dass durch ihre di-
rekte Erregung im physiologischen Versuch eine Muskelbewegung ein-
geleitet werden kann, dennoch im Leben einen entschiedenen Einfluss
auf dieselbe und besonders insofern die Bewegungen vom Willen ab-
hängig sind. Dieser Einfluss äussert sich in verschiedenen Hirnmassen
verschieden.


a. Verletzung einiger Hirntheile zieht die Folge nach sich, dass
die vom Willen veranlassten Ortsbewegungen immer eine ganz be-
stimmte Form annehmen. Nach Durchschneidung des Streifen- und Seh-
hügels, eines Brückenschenkels oder Seitentheils vom cerebellum ent-
stehen bei Säugethieren keine Lähmungen, insofern sich die Thiere
bei vollkommener Ruhe auf ihre Gliedmassen wie im unverletzten Zu-
stand zu stützen vermögen; sowie die Thiere sich aber zu bewegen
streben, tritt die eigenthümliche Erscheinung hervor, dass sie nur nach
einer bestimmten Richtung hin sich zu bewegen im Stande sind, so
dass es scheint, als sei dem Willen die Fähigkeit geraubt, andere als
diese eine Combination der Muskeln zur Bewegung hervorzurufen. —
Diese an Säugethieren gewonnenen Erfahrungen werden (?) auch durch
pathologische Beobachtungen am Menschen bestätigt, indem auch bei
ihnen sogenannte Zwangsbewegungen beobachtet sein sollen.


Dieses Feld, der breite Tummelplatz des Dilettantismus, ist noch wenig bekannt und
die Früchte seines bisherigen Anbaues sind höchst zweifelhafter Natur. — Nach Durch-
schneidung des Sehhügels in seinen vordern Theilen soll das Thier eine Kreisbewegung
vollführen, in der Art, dass die verletzte Seite gegen den Mittelpunkt des Kreises ge-
richtet ist; nach Durchschneidung des hintern Sehhügelabschnittes und des Grosshirn-
stamms entsteht dieselbe Bewegung aber nach der entgegengesetzten Seite; während
dieser Bewegungen ist zugleich der Hals des Thieres nach der Richtung der Drehung
hin verzogen. — Durchschneidung der Brückenschenkel und Seitentheile des kleinen
Hirns bedingt eine Wälzung des Rumpfs um seine Längsachse, verknüpft mit stark
divergirender (auswärts schielender) Augenstellung. Verletzung des Streifenhügels
soll nach einzelnen noch bestrittenen Angaben die Thiere nach vorn zu laufen zwingen.
Die Behauptung, dass Ausreissen des nerv. facialis aus dem for. stylomastoideum bei
Kaninchen Drehbewegung erzeuge, ist nicht richtig. — Beim Menschen sollen krank-
hafte Umwandlungen oder Schwund der Brückenschenkel zwangsartige Drehbewe-
gungen des Rumpfs um seine Längsachse bedingen. Die eigenthümlichen Drehun-
gen, die man bei Thieren nach Verletzung der Sehhügel u. s. w. beobachtet, kom-
men beim Menschen nicht vor; wohl aber Lähmungen von Muskeln, welche immer
auf der dem verletzten Sehhügel entgegengesetzten Körperhälfte liegen, und ne-
ben diesen Verziehungen des Halses nach der gelähmten Seite.


[171]wurzeln und den Organen der Willkühr.

Die diesen dunklen Phänomenen untergeschobenen Deutungen sind mindestens un-
bedeutend; ihre Giltigkeit ist nicht erwiesen; so glaubt man, dass die Erscheinungen
der Drehbewegung von einseitiger Lähmung des Willens auf eine Seite abzuleiten
sei, oder von gleichzeitiger Lähmung des Adduktoren einer- und der Abduktoren an-
dererseits u. s w. — Am gerathensten würde es sein, den Gegenstand vorerst ganz
liegen zu lassen.


b. Verletzung anderer Theile, von denen aus im physiologischen
Erregungsversuch unter keinen Umständen Bewegung eingeleitet
werden kann, vernichtet die Abhängigkeit gewisser Nervenröhren von
dem Willen und der Empfindung vollständig, obwohl hiebei die Seelen-
funktionen und die Erregbarkeit der Nerven bis ins verlängerte Mark
hinein vollkommen unangetastet bleiben, wie dieses letztere nament-
lich aus dem Bestehen der Reflexbewegungen hervorgeht. Zu diesen
Hirnbestandtheilen gehören beim Menschen die Grosshirnhemisphären,
deren Verletzung gewöhnlich eine Lähmung der Empfindung und Be-
wegung, und zwar immer in gekreuzter Weise (d. h. in der Seite,
welche der verletzten Hemisphäre entgegengesetzt liegt) begleitet. Es
scheint zugleich, als ob beständig den lokalen Verletzungen der Hemi-
sphären lokale Lähmungen der Nervenwurzeln entsprächen; die sich
deckenden Punkte sind aber noch nicht ermittelt. Alle auf diese That-
sachenreihe bezüglichen Erscheinungen erläutern sich nur, wenn man
die ganz gewagte Annahme macht, dass zwischen den Nervenwur-
zeln (die im verlängerten Mark enden?) und den Seelenorganen ein
System von Nervenröhren u. s. w. gelegen sei, deren Erregbarkeit
eine andere sei, als diejenige der meisten übrigen Nervenröhren, so
dass sie von dem Willen, aber nicht durch die gewöhnlichen Erreger
in Thätigkeit versetzt werden könnten.


Die Erfahrungen über die Leistungen der menschlichen Grosshirnlappen können
nur aus pathologischem Befunde am Menschenhirn gemacht werden, weil die Gross-
hirnlappen nach den vorliegenden Versuchen bei verschiedenen Thieren eine ver-
schiedene Bedeutung haben. Hier scheint als Gesetz zu gelten, dass je geringer
die Ausbildung der Hirnlappen ist, um so unbeträchtlicher auch ihr Einfluss auf will-
kürliche Bewegung und Empfindung ausfällt. — Einem Frosch z. B. kann man die
sog. Grosshirnlappen ohne alle sichtbaren Folgen entfernen; bei den Vögeln erzielt
Wegnahme derselben kaum irgend eine Störung der Bewegung; die Thiere stehen,
fliegen, sehen u. s. w. Bei Kaninchen bewirkt die Entfernung derselben ebenfalls keine
Lähmungserscheinung und erst der Hund fällt nach Verletzung derselben gelähmt zu
Boden. Die durch Krankheitsprodukte herbeigeführten Hirnveränderungen werden
aber, abgesehen davon, dass sie meist an und für sich wenig lokalisirt sind, noch da-
durch vielseitig, dass sie ausser der örtlichen Zerstörung, die sie herbeiführen, man-
nigfache accessorische Wirkungen, z. B. durch Veränderung des Blutlaufs, allgemeinen
Hirndruck durch vermehrte Anfüllung der Schädelhöhle u. s. w. herbeiführen.


Man muss es für gewiss halten, dass einzelne Stellen der Grosshirnlappen nur
mit bestimmten Nerven in Beziehung stehen, weil die Beobachtungen nicht selten
sind, in denen auf eine beschränkte Verletzung in erstern entweder nur die Empfin-
dung oder seltener nur die Bewegung, oder nur die Bewegungsorgane des Rumpfs,
oder einzelner Glieder oder gar nur diejenigen eines einzigen Nerven gelähmt sind. —
Es hat aber trotz dieser Beobachtungen und der entsprechenden Hirnsektionen nicht
gelingen wollen, die zusammengehörigen Theile zu ermitteln, weil eine Affektion
[172]Eigenthümliche Erregbarkeit des Hirns.
desselben Nerven durch Krankheit der hintern, mittlern und vordern Grosshirnlappen
beobachtet wurde. Man muss nach dieser Beobachtung annehmen, dass die einer
Nervenfaser entsprechende Grosshirnfaser ununterbrochen durch die ganze Hemis-
phäre in mannigfachen Windungen hinzieht. — Hier ist auch die wichtige Beobach-
tung anzureihen, dass ein nach dem Längendurchmesser der Hemisphären geführter
Schnitt weit weniger schädlich wirkt, als ein Querschnitt — Den beim Menschen er-
schlossenen Zusammenhang kann man auch bei Säugethieren darstellen, wenn man
einzelne sensible Nervenstämme unterbindet und dauernden, schmerzhaften Erre-
gungen aussetzt. In diesem Fall treten öfter beschränkte Entzündungen und Eite-
rungen in einem Grosshirnlappen hervor, welche auf der der ursprünglichen Ver-
letzung entgegengesetzten Seite liegen. — Wir schliessen auf ein besonderes inter-
mediäres Röhrensystem (intermediär zwischen verlängertem Marke und Seelenor-
ganen [?]) daraus, dass in Folge von Zerstörung oder angebornem Mangel irgend
welcher Stücke der Grosshirnlappen, vorausgesetzt, dass das Leben längere Zeit
dabei bestand, immer ein theilweises Schwinden der Faserzüge beobachtet wird, die
sich von ihnen aus durch die Grosshirnstämme, in die Brücke bis zu den Pyrami-
den erstrecken, während im Rückenmarke kein Schwinden irgend eines Stranges
zu beobachten ist. — Vollkommen unklar ist es noch, warum sich bei einzelnen sog.
Hemiplegien Contrakturen, d. h. dauernde Verkürzungen einzelner Muskeln, nament-
lich der Flexoren finden, während sie andermale fehlen; sind hier die Einflüsse mus-
kelerschlaffender Hirnorgane vernichtet?


c. Obgleich nach theilweisen Zerstörungen der ebenfalls unem-
pfindlichen und auf direkte Erregung keine Bewegung veranlassenden
Kleinhirnhemisphären öfter einseitige mehr oder weniger ausgebreitete
Lähmungen entstehen, so müssen wir doch nach der Gesammtsumme
der vorliegenden Thatsachen behaupten, dass sie nicht wie die Gross-
hirnhemisphären weder im Ganzen noch im Einzelnen Vermittler zwi-
schen der Seele und den Nerven sind. Diese Behauptung rechtfertigt sich
vollkommen, wenn man erfährt, dass zahlreiche Fälle von fast voll-
kommener Zerstörung des kleinen Gehirns und sogar einer von Mangel
desselben beobachtet wurden, ohne dass Empfindung und willkürliche
Bewegung auch in nur einem Körpertheile fehlte. Wenn also in
einzelnen Fällen neben Zerstörung des Kleinhirns Lähmungen be-
obachtet werden, so müssen sie demgemäss Folgen anderer beglei-
tender Hirnveränderungen sein.


Die bekannten und oft wiederholten Versuche an Vögeln, wornach die Abtragung
des kleinen Gehirns die willkürlich ausgeführten Bewegungen schwach und unge-
schickt, den Gang schwankend machen, sind für die Physiologie des Menschen ganz
uninteressant, da man nie etwas ähnliches nach Verletzung seines Kleinhirns beob-
achtete.


6. Eigenthümliche Erregbarkeitsverhältnisseim Hirn.


Alle die Erscheinungen, welche wir unter der gleichen Ueber-
schrift im Rückenmark beschrieben haben, finden sich auch im Hirn
wieder, und namentlich zeigt sich, dass gewisse Gifte in derselben
Weise hier wie dort wirken; dass trotz der Gegenwart nervöser
Elemente dennoch einzelne Stücke des Hirns in keine sichtbare Erre-
gung durch die gewöhnlichen Erreger zu versetzen sind, und end-
lich, dass das Verhältniss der Andauer zwischen der Erregung und der
[173]Selbsterregung.
sie einleitenden Erregerwirkung sich ähnlich wie im Rückenmark ge-
staltet. — Als eine Besonderheit des Hirns vor dem Rückenmark ist
aber noch hervorzuheben, dass es eine eigenthümliche Art unwill-
kürlicher Erregungsquellen in sich führt, auf deren Betrachtung wir
im Folgenden eingehen.


Selbsterregung, Automatie. Vom Hirn aus werden ohne Zu-
thun des Willens und ohne dass auch eine reflektorische Ursache vor-
läge, eine Reihe von Bewegungen erregt; wir sind darum gezwungen,
noch einige besondere, Erregung erzeugende Umstände in ihm anzu-
nehmen, die wir in Ermanglung schärferer Bezeichnung mit den
obigen Namen belegen. Die besondern Erscheinungen, unter denen
die Selbsterregung auftritt, sind folgende: a) Die Orte des Hirns, von
welchem die automatischen Erregungen ausgehen, sind ganz be-
schränkt. — b) Jede automatische Erregung erstreckt sich nicht auf
einen, sondern immer auf eine Zahl von Muskeln; diese Muskeln wer-
den immer nur in einer und derselben, räumlich und zeitlich genau
geordneten Weise erregt, so dass der aus ihnen hervorgehende Be-
wegungseffekt als ein solcher erscheint, der auf ein bestimmtes
Ziel gerichtet ist; als Beispiele solcher Bewegungen dienen die
Athem- und Schlingbewegungen. — c) Die Erregung stellt sich in
mehr oder weniger regelmässigen Zwischenräumen wieder ein, oder
sie ist, wie man sich ausdrückt, eine rhythmisch wiederkehrende. Auf
die Beschleunigung, resp. die Verlangsamung des Rhythmus sind von
Einfluss: der Willen, indem es diesem gelingt, den selbsterregenden
Apparaten einen Anstoss zu geben, in Folge dessen die Bewegung in
gewöhnlicher Reihenfolge eintritt; die eigenthümliche Stellung des
Willens zu diesen Apparaten liegt darin ausgesprochen, dass es uns
für einzelne automatisch bewegte Apparate, wie in denen für den
Schlingakt, nicht gelingt, die Ordnung, in der die Muskeln sich zusam-
menziehen, umzukehren, wenn wir die Gesammtbewegung auch will-
kürlich einleiten können. Ferner wirkt auf den Rhythmus der Reflex,
wie am deutlichsten aus den Athembewegungen sichtbar wird, welche
durch Erregungen der empfindlichen Haut- und Lungennerven sehr
beschleunigt werden können. Ferner übt auf die Beschleunigung des
Rhythmus einen Einfluss aus eine gewisse Zusammensetzung des
Blutes
, indem bei Anwesenheit gewisser Stoffe (wie z. B. der Kohlen-
säure?) sich die Athembewegung beschleunigt, während bei Gegenwart
anderer, wie des Opiums, sie sich verlangsamt. — d) Zwischen Stärke
und Zeitfolge der Bewegung scheint die Beziehung zu bestehen, dass
die Intensität der Erregung mit der steigenden Beschleunigung der Auf-
einanderfolge abnimmt; mit andern Worten, die Bewegungen werden
um so weniger kräftig, je rascher sie folgen, wie uns am deutlichsten
die Athembewegungen zeigen. Eine durch die Erfahrung bestätigte
Folgerung dieses Satzes besteht darin, dass die zwei aufeinanderfol-
[174]Erregende Orte der Athem- und Schlingbewegung.
gende Bewegungen unterbrechende Pause niemals verschwinden
kann. — e) Das wirkungsvolle Bestehen der Selbsterreger knüpft sich
an die Gegenwart normal zusammengesetzten Arterienblutes im Hirn;
wird dieses den automatischen Hirnstellen nur kurze Zeit entzogen,
so büssen sie ihre physiologischen Leistungsfähigkeiten vollkom-
men ein.


Diese Thatsachen, welche mehr vorübergehend als in Folge gründ-
licher, eigens zur Erkennung der Selbsterregung unternommener Ver-
suche gewonnen sind, genügen begreiflich nicht, um eine Theorie der
den Erscheinungen zu Grunde liegenden molekulären Veränderungen
zu geben.


Die einzigen etwas genauer gekannten Orte, die der Selbsterre-
gung theilhaftig sind, befinden sich im verlängerten Mark; sie beherr-
schen α) die Athembewegung*). Die Hirnstelle, welche die
Athembewegungen anregt, liegt im verlängerten Mark, Legallois,
unmittelbar um die Wurzelfasern des nervus vagus und der obern des
nerv. accessorius. Ihre Ausdehnung beträgt der Länge nach kaum
eine Linie, Flourens; sie nimmt die Dicke des verlängerten Markes
nicht ein, indem man die corpora restiformia und die Pyramiden ab-
tragen kann, ohne dass der Rhythmus der Athembewegungen beein-
trächtigt wird, Longet; zugleich erstreckt sie sich nicht über die
Mittellinie des verlängerten Markes, da nach einer Längsspaltung des-
selben die Athembewegungen noch fortdauern, Longet. Von dieser
Stelle aus werden erregt das Zwerchfell, die mm. thyreoarytenoidei
postici, levatores, alae narium, scaleni, levatores costarum, interco-
stales externi, sternocleido-mastoidei, und fast sämmtliche Schulter-
blatt-Rumpfmuskeln und Armheber.


Wie jeder, auch der Aufänger weiss, werden nicht bei jeder Athembewegung
alle erwähnten Muskeln in Thätigkeit gebracht. Die näheren Umstände, unter denen
bald eine grössere, bald eine kleinere Zahl von ihnen in den Kreis der Thätigkeit
gezogen wird, sind in der Athemlehre angegeben.


²) Die Schlingbewegung**). Die automatische Erregungs-
stelle der Schlingnerven muss ebenfalls im verlängerten Mark gesucht
werden; von ihr sind abhängig mm. stylohyoidei, styloglossi, stylo-
pharyngei, und constrictores faucium supremi et medii.


Die Schlingbewegung tritt ebenfalls noch nach Wegnahme des kleinen und
grossen Gehirns ein, selbst wenn durch Bestreichen des Gaumens keine Reflexbewe-
gung mehr erzielt werden kann. — Das Genauere bei der Verdauungslehre.


Die auf die Seelenerscheinungen sich beziehenden Mitthei-
lungen sind an das Ende dieses Bandes gelegt.


Die Hirnbewegung wird in der Lehre vom Blutkreislauf abge-
handelt werden.


[175]

C. Sympathischer Nerv.


1. Bestimmung seiner Grenzen; anatomische Einlei-
tung
*). — Die Anatomen definiren den n. sympathicus noch immer
verschieden; die einen erklären ihn für einen mächtigen und ver-
wickelten Plexus cerebrospinaler Nerven in dem an verschiedenen
Stellen und auf verschiedene Weise Ganglienkugeln eingelagert sind,
die andern setzen hierzu noch die Ergänzung, dass von diesen Gang-
lienkugeln zahlreiche neue Röhren ausgehen, welche entweder über-
haupt oder mindestens kein sogenannt centrales Ende im Hirn und Rük-
kenmarke finden. Diese letzteren Anatomen sind dann geneigt, nur
die neuentspringenden Röhren als sympathische zu bezeichnen. In-
dem wir unentschieden lassen müssen, welche von beiden Ansichten
die berechtigte sei, werden wir hier die Funktionen abhandeln, welche
dem n. sympathicus im weitern Wortsinne zukommen.


Die Elementartheile, welche dem nerv. sympathicus zukommen, sind: 1) Röhren
von breiterem und feinerem Durchmesser; nach der berühmten Untersuchung von
Bidder und Volkmann glaubte man sich berechtigt, die feinen Röhren für die
dem Sympathicus spezifisch zukommenden, in ihm entspringenden ansehen zu müs-
sen; neue Untersuchungen, welche die feinen Röhren auch als einen unzweifelhaften
Bestandtheil des cerobrospinalen Systems nachweisen, haben diese Meinung sehr
erschüttert und dahin eingeschränkt, dass wenn die breiten Fasern auch ausschliess-
lich cerebrospinal sind, die feinen wenigstens nicht ausschliesslich als sym-
pathische angesehen werden können (Stannius, Kölliker). — 2) Ganglien-
kugeln in sehr beträchtlicher Zahl; diese sollen rings geschlossen zwei- und
zuweilen dreistrahlig sein. Die anatomische Controverse über diesen Punkt hat
sich dahin gestaltet, dass einige Anatomen die Gegenwart sämmtlicher Formen be-
haupten, andere nur die ringsgeschlossenen und einstrahligen, andere nur die ge-
schlossenen und zweistrahligen als vorhanden ansehen. Der bestimmende Grund für
die übereinstimmende Annahme astloser Ganglienkörper liegt darin, dass häufig die
Zahl der Ganglienkörper, welche zu einem Haufen vereinigt einen Nerven umgeben,
viel beträchtlicher ist, als die Zahl der zwischen ihnen verlaufenden Nervenröhren und
zugleich die gegenseitige Lagerung beider Elemente eine solche, dass der Verdacht
nicht entstehen kann, als ob ein Nervenrohr mehrere Ganglienkugeln durchsetze.
— Die Annahme einstrahliger Kugeln gründet sich wesentlich auf die von Bidder
und Volkmann entdeckte Thatsache, dass der auf der einen Seite in ein Ganglion
eintretende Nervenstamm viel weniger Röhren enthält, als der austretende; die inner-
halb des Ganglions demnach geschehene Faservermehrung glaubt man sich am ein-
fachsten unter der Voraussetzung von Röhrenursprüngen aus den Ganglienkugeln
erläutern zu können. Dieser Grund ist aber begreiflich nicht bindend, weil die Röhren-
mehrung auch noch durch mancherlei andere, zum Theil durch die Beobachtung bestä-
tigte Begebnisse erläutert werden kann, wie durch Theilung der Röhren, durch die An-
wesenheit dreistrahliger Ganglienzellen, von denen regelmässig nur ein Fortsatz in den
eintretenden, zwei andere dagegen in den austretenden Nerven verlaufen, und endlich
auch durch die Gegenwart von zweistrahligen Ganglienkugeln, deren Aeste nach einer
[176]Anatomisches Verhalten des N. Sympathicus.
Seite hin dringen. Das Vorkommen einstrahliger Ganglienzellen bleibt darum so
lange zweifelhaft, als man sie nicht in Präparaten nachgewiesen hat, die mittelst
Methoden dargestellt sind, welche die Mängel der bisher angewendeten vermeiden. —
Zur exclusiven Annahme der zweistrahligen Ganglienkugeln (neben den geschlos-
senen) glaubt man sich berechtigt, weil bei den Thieren, deren Ganglienhaufen wegen
der Deutlichkeit der Elementartheile sich leicht zergliedern lassen, überwiegend nur
zweistrahlige nachgewiesen sind; die einstrahligen, welche man bei andern Thie-
ren sehr häufig findet, glaubt man desshalb als Kunstprodukte ansehen zu müssen,
welche aus den zweistrahligen in Folge der schwierigen Präparation entstanden sind.
— 3) In einigen Ganglien finden sich Körnerhaufen einer Molekularmasse. — 4) End-
lich rechnet man zu den wesentlichen sympathischen Theilen die Remakschen
Fasern. Ob diese beiden und namentlich die letzteren Bestandtheile in der That nervöse
seien, muss so lange unentschieden bleiben, biss man dargethan, ob diese Fasern, deren
Aeusseres von dem der Nervenröhren ganz abweicht, die übrigen physiologischen und
physikalischen Besonderheiten der Nerven darbieten. — Die Zusammenlagerung der
verschiedenen (der cerebrospinalen und sympathischen) Röhren sowohl untereinander
als auch dieser mit den Ganglienkugeln schildern die Autoren nicht mit Uebereinstim-
mung. Die Verbindungsfäden zwischen Rückenmark und Grenzstrang sollen bald nur
reine Cerebrospinalnerven sein, die als Wurzeln des Grenzstrangs vom Rückenmark
ausgehen; bald aber neben diesen auch sympathische Fasern enthalten, die aus den
Ganglien des Grenzstrangs entspringend in die Rückenmarksnerven einlaufen. —
Neuerlichst scheint ein sicheres Mittel für die Entscheidung dieser wichtigen Frage
gefunden zu sein; es gründet sich dasselbe auf die Erfahrung, dass die sensiblen und
motorischen Röhren, welche von ihren Centraltheilen längere Zeit hindurch getrennt
sind, atrophisch d. h. in ihrem Bau verändert werden. Durchschneidet man die
Verbindungszweige des Rückenmarknerven und des Grenzstranges, oder zerstört
man gar das Rückenmark, während man das Leben des Thieres erhält, so wird
man aus der Lagerung der atrophischen Röhren auf die Stelle ihres Ursprung zu
schliessen im Stande sein, Budge*). Schiff**), der sich dieser Methode bediente, be-
hauptet, dass nach Zerstörung des Rückenmarks bei einer Taube alle innerhalb der
erwähnten Verbindungszweige liegende Röhren atrophisch geworden seien, so dass
also keine aus dem Sympathicus entspringende Röhre in diesen Verbindungssträngen
laufen.


Diese Röhren laufen nun in dem Grenzstrang auf- und abwärts, meist durch
mehrere Ganglien und treten dann gegen die Eingeweide; auf diesem Wege mehrt
sich nun die Zahl der Röhren (wie wenigstens bei Amphibien erwiesen), ob durch
Theilung oder neue Ursprünge aus den Ganglienzellen ist unentschieden.


Den Nervenröhren des Grenzstrangs und den an ihm oder seinen Zweigen liegenden
Ganglienmassen verhalten sich physiologisch auch noch andere Nervenmassen sehr
ähnlich. Man zählt sie darum wohl zuweilen ebenfalls zu dem sympathischen Sy-
stem. Hierher gehören vorzugsweise die Aeste des n. vagus in der Herzsubstanz.
Die Ganglia submaxillaria, ciliaria u. s. w., die man ebenfalls hierher zu zählen ge-
neigt war, geben dazu mindestens durch ihre physiologischen Eigenschaften keine
Berechtigung. Auf diese Nerven werden wir hier nicht eingehen. —


Physiologisches Verhalten. — Im Bereiche des sympathi-
schen Nerven wiederholen sich mit Ausnahme der auf die Seele be-
züglichen Verhältnisse sämmtliche Erscheinungen des Hirns. Insbe-
sondere führt er die drei spezifisch verschieden wirksamen Röhren-
gattungen; motorische, sensibel-reflektorische, absondernde; zwischen
seinen Röhren theilt sich die Erregung durch Querleitung mit; die Er-
[177]Verbreitungsbezirke der motorischen Röhren.
regbarkeit seiner Röhren sind eigenthümliche; seine bewegenden
Röhren wirken nach besondern Combinationen und endlich enthält er
selbsterregende Stellen.


1. Verbreitungsbezirke der motorischen Röhren. —
Die Untersuchung, welche die Ursprünge und Verbreitungsbezirke der
motorischen Röhren aufzudecken trachtet, hat mit besondern weit-
aus noch nicht überwundenen Schwierigkeiten zu kämpfen. Denn ab-
gesehen davon, dass einige Thatsachen die Wahrscheinlichkeit erhe-
ben, es mögten viele Muskelnerven im Sympathicus statt einer ver-
kürzenden eine erschlaffende Wirkung auf ihre zugehörigen Muskeln
üben, — eine Möglichkeit, welche alle bisherigen Untersuchungen
noch übersehen haben — stellen sich auch nachweislich folgende
Hemmnisse dem Beobachter entgegen: a. die Nerven sind während
des vollkommen gesunden Bestehens eines Thieres nicht immer in
einem solchen Zustande, dass sie die ihnen zukommende verkür-
zende Wirkung einleiten können, Wild. — b. Innerhalb des sympa-
thischen Systems finden sich automatische Einrichtungen, welche
unter noch unbekannte Bedingungen selbstständige Bewegungen
einleiten; treten demnach Bewegungen nach einem erregenden Einfluss
auf, so kann nicht entschieden werden, ob sie von diesem letzteren oder
vom automatischen Organ erzeugt worden sind. Diese Fehlerquelle ist
um so einflussreicher, als man meist unter Umständen zu operiren ge-
zwungen ist, (nach Eröffnung der Bauchhöhle u. s. w.) unter denen
wahrscheinlich auch eine verbreitete Erregung der automatischen Or-
gane eintritt. — c. Die auf eine tetanische oder momentane Erregung
eines sympathischen Nerven eintretende Muskelverkürzung beginnt we-
der in einer bestimmten und kurzen Zeit nach der Erregung, noch schliesst
sie mit derselben, noch geht sie endlich ihrem Modus parallel, indem
selbst auf dauernde Erregung eines Nerven der Muskel sich wech-
selnd bald verkürzt, bald verlängert. Aus diesen Gründen wird der
Schluss auf die Zusammengehörigkeit des Erregers und der Bewegung
getrübt. — d. Die Bewegung, welche in einem Abschnitt eines zum n.
sympathicus gehörenden Muskelapparates eingeleitet wurde, bleibt in-
nerhalb desselben nicht isolirt, sondern erstreckt sich auf mannigfache
Weise durch reflektorische Beziehungen weiter. Hieraus folgt, dass wir
nicht mit Sicherheit angeben können, welche Muskeln direkt von die-
sem oder jenem Nerven abhängig sind. Diese Fehlerquelle wird um so
bedeutender, da, wie sich aus c. ergibt, das Criterium im sympathischen
System fehlt, durch welches sich meist in cerebrospinalen die reflek-
torischen von den geradezu erregten unterscheiden. — Gegen diese
Uebelstände hat man, obwohl man sich ihrer mehr oder weniger deutlich
bewusst war, keine Abhilfegesucht oder gefunden, mit der einzigen Aus-
nahme, dass man die Bewegung der Eingeweide dem Auge sichtbar zu
machen suchte, ohne dieselben zu entblössen, wodurch allerdings
Ludwig, Physiologie I. 12
[178]Motorische Wirkungen des Grenzstranges.
die Grösse der unter b. erwähnten Fehlerquelle geschwächt wird.
Mittel, die man zu diesem Behuf anwendet bestehen: in Anlegen von
Darmfisteln; Blosslegung der Baucheingeweide ohne Oeffnung der Pe-
ritonäalhöhle u. s. w. — Nächst diesen Mängeln ist aber an der Me-
thodik der bisherigen Arbeiten über unsern Gegenstand noch der zu
beklagen, dass man nicht einmal den n. sympathicus nach einer stren-
gen örtlichen Reihenfolge erregt hat, so dass man z. B. zuerst ermit-
telt hätte, welche Erscheinungen treten ein nach Erregung der Verbin-
dungsäste der Rückenmarksnerven und des Grenzstranges; welche
darauf nach Erregung der Aeste des Grenzstrangs, welche nach Erre-
gung der Hauptganglien dieser Aeste u. s. w. — Nach diesen Anga-
ben wird man auf die Unsicherheit der über den vorliegenden Gegen-
stand geschehenen Mittheilungen schliessen können.


Auf Erregung des Grenzstranges am Halse erfolgt Verkürzung:


α) des Radialmuskels der Pupille Petit. Biffi*). An der Rich-
tigkeit dieser Thatsache kann kein Zweifel bestehen, da auf tetanische
Erregung des Nerven tetanische Erweiterung der Pupille erscheint.
Budge**) hat die Wurzeln der pupillenerweiternden Nerven des
Grenzstranges bis in das Rückenmark verfolgt und dort ihren Ursprung
in der Gegend des 5. bis 6. Halswirbels gefunden.


β) Verkürzung der Verengerer der Blutgefässe am Kopf. Ber-
nard
***) schliesst dieses, weil nach Durchschneiden des Grenz-
stranges am Hals bei Kaninchen die Haut des Gesichts dauernd eine
höhere Temperatur annimmt, was allerdings auf vermehrte Blutzufuhr
durch die erweiterten Gefässe hindeutet.


γ) Nach Angabe vieler Autoren soll nach Anspruch des Halstheils
vom Sympathicus noch erfolgen 1. beschleunigte Zusammenziehung
des Herzens; für das Kaninchen ist diese Behauptung vollkommen irr-
thümlich; wie ich nach einer unter meinen Augen von Weinmann
angestellten gründlichen Untersuchung behaupten kann. Siehe hier-
über Herzbewegungen.


δ) Verkürzung der Speiseröhre, eine Beobachtung, die aber noch
sehr zweifelhaft ist.


Rückentheil des Sympathicus.


α) Auf Erregung des Grenzstranges selbst sollen in peristal-
tische Bewegungen kommen: das Herz, eine Thatsache die noch sehr
zu bezweifeln; die Speiseröhre (?), die Verengerer der grossen Arte-
rien (?), die Gallengänge, Valentin, Magen und Dünndarm, J. Müller
[179]Motorische Wirkungen des Grenzstranges.
und Valentin, Uterus und Blase, Kilian*); die Wurzeln der Ner-
ven, welche die drei letzten der genannten Organe in Bewegung sez-
zen, hat Kilian bis in die Medulla oblongata und spinalis auf phy-
siologischem Wege verfolgt.


β) Auf Erregung der plexus coeliacus und mesaraicus sollen pe-
ristaltische Bewegungen im Dünndarm eintreten.


Lenden und Sacraltheil des Sympathicus.


α) Von allen Orten dieser Abtheilung soll zur peristaltischen Be-
wegung veranlasst werden können der ganze Darmkanal mit Ausnahme
des Magens; Valentin. Kilian gibt an auch diese Wurzeln bis in
den Rücken- und Lendentheil des Rückenmarks verfolgt zu haben.


β) Vom mittlern und untern Stück des Grenzstranges der Lenden
soll in Verkürzung gebracht werden der Harnleiter.


γ) Vom untern Lenden und obern Sacralstück endlich Harnblase,
Mastdarm, Samenleiter, Samenblase, Eileiter, Gebärmutter.


Um mit Sicherheit den Ursprung der im Rücken- und Lendentheil
des Grenzstrangs enthaltenen bewegenden Nervenröhren darzuthun
und um zugleich den Verdacht abzuschneiden, als ob die medulla oblon-
gata mittelst des die Eingeweide ebenfalls beherrschenden n. vagus
die Bewegung derselben bewirke, durchschnitt Kilian den n. vagus
und zugleich das Rückenmark an der Grenze des Halses und der
Brust und erregte dann nacheinander den Hals- und Brusttheil des-
selben.


Obwohl durch die Critik der Methoden den hier vorgeführten
scheinbar so reichhaltigen Thatsachen schon ihr wahrer Werth ange-
wiesen ist, so scheint es dennoch pflichtgemäss noch einmal be-
sonders der Erwägung zu übergeben, dass die Bewegung, welche
auf Erregung des vom Halstheil abwärts liegenden Grenzstran-
ges erfolgt, niemals momentan oder auch nur sehr kurze Zeit nach
dem Beginn derselben, ja häufig erst nach dem Schluss einer länger
dauernden Einwirkung der electrischen Schläge erscheint, und fer-
ner dass namentlich die Bewegung der Baucheingeweide, welche
nach Eröffnung der Bauchhöhle spontan auftritt, in vollkommenster
Ausbildung erscheint, wenn die Erregbarkeit des Rückenmarks abge-
schlossen oder ganz vernichtet ist. Beide Thatsachen können die
Deutung erfahren, dass alle oder ein Theil der vom Rückenmark zu
den Ganglien zweiter Ordnung sich erstreckende Röhren zu den be-
wegungshemmenden zu zählen seien.


2. Verbreitungsbezirke der empfindenden und reflek-
torischen Nerven
. — Die vom n. sympathicus versorgten Regionen
sind mit Empfindungen begabt; diese Empfindungen treten im gesunden
12*
[180]Empfindende, reflectorische u. absonderungerweckende Röhren.
Leben nicht mit Lebhaftigkeit hervor, sie steigern sich erst zu einer
merklichen bis zur Schmerzhaftigkeit gehenden Höhe dann, wenn sehr
heftige Bewegungen (Durchfall, Blähungen, Geburtswehen) oder krank-
hafte Ernährungserscheinungen in den Eingeweiden statt haben. —
Diese Empfindungen zeichnen sich ferner dadurch aus, dass sie nicht
das Gefühl einer bestimmten Oertlichkeit erwecken. Aus Krankheits-
erscheinungen und quetschenden Unterbindungen der Nerven von
Säugethieren ergibt sich, dass die Nerven des Peritonäums, der Leber,
des plex. coeliacus und der Nieren empfindungerregende Röhren ent-
halten. Von welchen Rückenmarksstellen diese Nerven entspringen
und welchen Verlauf sie nehmen ist nicht ermittelt worden.


Man glaubt sich berechtigt ausser diesen, bewusste Empfindun-
gen erregenden Nervenröhren, auch noch besondere reflektorische,
aber nicht Empfindung erzeugende, annehmen zu dürfen. Die Gründe
hierfür findet man in der Thatsache, dass öfter Bewegungen, welche
den Charakter der reflektorischen tragen in den Muskeln der Einge-
weide zu Stande kommen, ohne dass diese von Empfindungen beglei-
tet werden.


3. Verbreitungsbezirk der Absonderungsnerven. Man
findet es wahrscheinlich, dass einzelne Drüsen, namentlich das Pan-
creas, die Nieren und die in das vas deferens eingelegten Schläuche
ihre Säfte unter dem Einfluss der Nerven bilden. Da in diese Drüsen
nun in der That aus dem sympathischen Systemen Nerven eintre-
ten, so glaubt man sich berechtigt ihnen jene hypothetische Funktion
zuschreiben zu dürfen. Ueber den Werth dieser Vermuthungen soll
bei den betreffenden Organen eines Weiteren die Rede sein.


4. Mittheilung der Erregung zwischen den einzelnen
Bestandtheilen des sympathischen Systems und denjeni-
gen des sympathischen und cerebrospinalen
.


Reflexbewegung. Sie erscheint a. zwischen den sensib-
len sympathischen und motorischen cerebrospinalen Röhren, wie die
Erscheinungen des Erbrechens, der Kothentleerung u. s. w. darthun.
Nach Versuchen an Fröschen, Pickford*), liegt der reflektorische Herd
in der medulla oblongata. Ein genaueres Studium der Bahnen ist noch
nicht vorgenommen — b. AlsReflexe von sensiblen cerebrospinalen auf
motorische sympathische Röhren deutet man die Bewegung des vas
deferens (?) und der Samenbläschen bei der Samenjakulation,
die Darmbewegung nach Kitzel am After u. s. w. — c. Die Erschei-
nungen endlich, welche man als reflektorische innerhalb des sympa-
thischen Systems, von einem zum andern Rohr auffasst, sind beson-
ders darum noch unklar, weil sie sich nicht nach Belieben herstellen
lassen, indem nur zeitweise der Darm, die Geschlechtswerkzeuge u.
[181]Mitheilung der Erregung; Beharrungsvermögen.
s. w. sich in sogenannter reflektorischer Disposition finden. Aus die-
sem Grunde bleibt es in der That zweifelhaft, ob im reinen Gebiete des
n. sympathicus Reflexe eintreten; dieser Zweifel wird sehr gestützt
durch die anderweitige Betrachtung, dass alle Thatsachen aus
denen man den Reflex ableitet auch noch andere Deutungen erfahren
können. Zu den Beispielen, welche man gewöhnlich als Beweisse
der Gegenwart reflektorischer Leistungen im Kreise des n. sym-
pathicus vorführt, zählen: dass nach einer lokalen Einwirkung von
Erregern auf das peritonäum oder auf die Darmschleimhaut verbreitete
Bewegungen in den Darmmuskeln u. s. w. eintreten. Diese That-
sachen würden hier einen dem Reflex analogen Vorgang aber
nur dann wahrscheinlich machen, wenn eine Sicherung vorläge,
dass die eben erwähnten Erreger ausschliesslich nur solche Ner-
venröhren getroffen hätten, welche nicht geradezu mit Muskeln
in Verbindung stehen; dazu kommt, dass herausgeschnittene Stücke
eines Darmes, dessen Nerven untereinander nur noch mittelst
der Stämme in Berührung sein können, unter günstigen Umständen
ebenfalls auf ganz lokale Einwirkung in eine successiv fortschreitende
und sich wieder lösende Zusammenziehung verfallen, in eine Bewe-
gung die alle äusserlichen Charaktere der reflektorischen darbietet.


Mitempfindung, Mitbewegung. Die Thatsachen, welche
man unter dieser Aufschrift aus dem Bereich der Wirkungen des n.
sympathicus vorführt, sind sehr vager Natur. Nach Leiden der Leber
und des Colons, Blähungen u. s. w. treten Schmerzen in der Schulter,
bei Gegenwart von Eingeweidewürmern Jucken in der Nase auf u. s. w.
Was soll, vorausgesetzt selbst dass ein constanter Zusammenhang
zwischen jenen Affektionen und diesen Schmerzen besteht, den Be-
weiss liefern, dass er durch eine unmittelbare Uebertragung der Erre-
gung von diesem zu jenem Nervenrohr geschehe?


5. Verhältniss der Zeiten zwischen der Andauer der
Erregerwirkung und der durch sie im sympathischen Sy-
stem veranlassten Bewegung
. Da sich sämmtliche sympathische
Nerven in glatte Muskeln begeben, so wird ein momentan wirkender
Erreger immer eine allmählig steigende und sich allmählig lösende Mus-
kelverkürzung veranlassen; ausser dieser von der Muskeleigenthüm-
lichkeit herrührenden Erscheinung, welche hier, wo es sich um Ner-
venwirkungen handelt, nicht besonders erörtert werden soll *), ist aber
die andere hervorzuheben, dass nach einer tetanischen sowohl als einer
momentanen Erregerwirkung eine rhythmische Bewegung in den nor-
malen sympathischen Nerven auftritt, mit andern Worten der einmal in
Verkürzung gebrachte Muskelort erschlafft, verkürzt sich dann von
Neuem, erschlafft wiederum u. s. w. — Der einzige Unterschied der
[182]Anordnung der Bewegungen.
hier zwischen tetanischer und momentaner Erregung besteht, liegt
darin, dass nach tetanischer Erregung die rhythmische Bewegung statt
der erwarteten tetanischen Verkürzung immer zum Vorschein kommt,
während die momentane Erregung häufig auch nur eine einzige Zu-
sammenziehung zum Gefolge hat; — bei grösserer Erregbarkeit und
intensiven Erregern scheint der Rhythmus ein beschleunigterer zu
sein als bei entgegengesetzten Verhältnissen.


Diese Erscheinung bemerkt man sehr häufig auch noch in kleinen Stücken der
vom sympathischen Nerven beherrschten Muskelapparate, in denen man beiläufig
auch nach genauester mikroskopischer Zergliederung keine Ganglien wahrnehmen
kann; w. z. B. am Schlund der Hühner.


6. Verkettung der Einzelbewegungen zu einer zusam-
mengehörigen Reihenfolge von Bewegungen
. Wenn in
einer der grösseren, funktionell zueinander gehörigen Abtheilun-
gen, welche im sympathischen System enthalten sind, während eines
höhern Erregbarkeitsgrades derselben eine Bewegung eingeleitet
wird, so beschränkt sich meistentheils die Zusammenziehung nicht
auf die Oertlichkeit, in welcher sie zuerst auftrat. Dieses Umsichgrei-
fen der Zusammenziehung geschieht nach zwei verschiedenen Wei-
sen, und zwar entweder wie im Harn-, im Eileiter, dem Fruchthalter
und auch häufig im Darm nach dem sogenannten peristaltischen
oder wie gewöhnlich im Darm nach dem sogenannten penduliren-
den Modus
. Im ersteren der beiden verbreitet sich nach einer Rich-
tung hin die Verkürzung von der ursprünglich ergriffenen auf unmit-
telbar angrenzende Stellen, während sie, nachdem dieses geschehen,
sich von den ursprünglich ergriffenen zurückzieht. Diesem gemäss
geräth auf Veranlassung einer örtlichen Erregung die gesammte Mus-
kelsubstanz einer der angegebenen Canäle nach einer zeitlichen Rei-
henfolge in Zusammenziehung, in der Art, dass gleichzeitig jedesmal
nur ein kleiner begrenzter Abschnitt sich in dem bezeichneten Zustand
befindet. Die Richtung in welcher diese Bewegung fortschreitet geht
immer von oben nach unten also vom Magen, Nieren, Eierstöcken
nach dem After, der Blase, der Scheide. — Im pendelnden Modus
schreitet die Verkürzung nicht continuirlich sondern sprungweise fort,
so dass die der Zeit nach aufeinander folgenden Zusammenziehungen
örtlich nicht unmittelbar aneinander grenzen, sondern an Stellen vor
sich gehen, welche durch ruhige Stücke von einander getrennt sind.
Gewöhnlich kehrt im pendelnden Modus jede Einzelbewegung rhyth-
misch, d. h. nach einiger Zeit, wieder, so dass das ruhige zwischen
den zusammengezogenen Stellen liegende Stück wie ein Pendel bald
nach dieser und bald nach jener Seite geführt wird.


7. Automatische Erregung. Die bewegungserzeugenden Ner-
ven des sympathischen Systems gerathen in Erregung selbst dann noch,
wenn keines der Mittel, welche wir als Erreger kennen lernten, nach-
[183]Automatische Erregung.
weislich auf sie einwirkt, und sogar noch dann, wenn sie vom Hirn und
Rückenmark getrennt sind. Die durch diese automatische Erregung
veranlassten Bewegungen sind nicht allein rhythmische, sondern auch
regelmässig verkettete. Das Vermögen, automatische Bewegungen
einzuleiten, ist innerhalb der nervösen Apparate nicht zu jeder Zeit,
sondern nur mit Unterbrechungen vorhanden. Diese Pause, meist
noch besonders bemerkenswerth, weil während derselben vom Nerven
aus durch die bekannten Erreger keine Bewegungen eingeleitet wer-
den können, ist an den verschiedenen Organen von sehr wechseln-
der Dauer. Am Darm scheint nur einigemal des Tages die Zeit auto-
matischer Erregung einzutreten; Schwarzenberg*), während des
Bestehens dieser automatischen Erregungsperiode erfolgt jedoch nicht
nur eine, sondern in kürzeren aufeinanderfolgenden Pausen mehrere
Bewegungen des Darms. Am Ureter kehren dagegen die automati-
schen Bewegungen, ähnlich der Herzbewegung, nach kurzen Pausen
regelmässig wieder und man bemerkt in gleicher Zeit eine grössere
Zahl, wenn die Menge des abgesonderten Urines steigt. Wie sich die
Tuben und der Uterus verhalten, ist unbekannt.


Die veranlassenden Momente dieser Erregung können, ganz allgemein be-
trachtet, ebensowohl darin bestehen, dass in Folge bestimmt angeordneter Ernäh-
rungsverhältnisse die Erregbarkeit der Nerven einem periodischen Steigen und Sin-
ken unterworfen ist, so dass in dem eintretenden Maximum der Erregbarkeit nun
schon sehr schwache, unserer Aufmerksamkeit entgehende Erreger die Veranlassung
zur Auslösung der Kräfte geben; oder es können bei gleichbleibender aber spezifi-
scher andern Nerven nicht eigenthümlicher Erregbarkeit zu gewissen Zeiten im
Blutkreislauf sich ganz besondere Erreger bilden; oder endlich es können durch den
Stoffwechsel in dem Nerven selbst Veränderungen eintreten, welche unmittelbar die
Zustände der Erregung darstellen u. s. w. **). Zudem können diese erregenden Mo-
mente sich auf dem ganzen Verlauf des Nerven oder nur in irgend welchen Ab-
schnitten desselben entwickeln. Diese letztere Meinung erfreut sich gegenwärtig
zahlreicher Anhänger, welche als den besondern Sitz der sich bildenden Erreger,
die im sympathischen System enthaltenen Ganglienkugeln ansehen. Diese Meinung
gründet sich vornehmlich auf die Beobachtung, dass nach Durchschneidung der we-
sentlichen zu den Darmnerven gehörigen Ganglien die automatischen Erregungen aus-
bleiben. Dieser Versuch würde beweisskräftig sein, wenn es gelänge, die Durch-
schneidung der Ganglienkörper vorzunehmen, ohne dass man noch anderweitige
Verletzungen einführte, wie das bei dem jetzigen Verfahren geschieht. — Zu der
Annahme, dass die Ganglien die Erreger seien, fügt man gewöhnlich noch eine wei-
tere, die nämlich, dass eine grössere Zahl von zusammengehäuften Ganglienkugeln
jedesmal in einer innigen Beziehung zu einander stehen und dass diese zusammenge-
ordnete Nervenmasse auch jedesmal einen zusammengehörigen Muskelapparat be-
herrsche. Diese hypothetischen Organe nennt man die Centralorgane der Einge-
weide. — Da sich die automatischen Bewegungen der Harn -, Geschlechts- und
Verdauungswerkzeuge unabhängig von einander gestalten, so schreibt man endlich
jeder Organgruppe ein Centralorgan zu.


[184]Stellung der motorischen Röhren zum Willen.

Die Einpflanzung von Bedingungen zur Erzeugung von geordneten
Bewegungen im sympathischen System ist für die Lebensvorgänge in-
sofern von Wichtigkeit, als die von ihnen angeregten Organe bis zu
einem gewissen Grade unabhängig vom Hirn und Rückenmark werden.
Die Ueberzeugung von der Wahrheit dieser Behauptung ist uns durch
eine sehr bemerkenswerthe Versuchsreihe, welche Bidder*) an-
stellte, zu Theil geworden. Er zerstörte bei einigen Fröschen das
Hirn, bei anderen das Rückenmark, bei noch andern das verlängerte
Mark oder endlich gleichzeitig Hirn und Rückenmark; nach dieser
Operation gingen die Akte der Verdauung und namentlich die Weiter-
schaffung der Darmkontenta, des Harnes u. s. w. noch längere Zeit
ungestört vor sich.


5. Stellung der bewegenden Nervenröhren des n. sym-
pathicus zum Willen und zu andern erregenden Hirn-
stellen
. Kein Theil des n. sympathicus ist dem Willen unbedingt
unterworfen; in dem Zustande leidenschaftlicher Erregung ist dagegen
die Seele vermögend, einen beträchtlichen Einfluss auf die meisten,
wenn nicht alle motorischen Fasern des n. sympathicus zu üben. Die-
ser Einfluss, welchen die Seele in der Angst, dem geschlechtlichen
Verlangen u. s. w. gewinnt, unterliegt mehreren Beschränkungen; zu
diesen gehört, dass ein und dieselbe Leidenschaft nicht beliebig jeden,
sondern immer nur einen und denselben oder höchstens wechselnd
zwei Bewegungsapparate in Erregung zu bringen vermag, so dass,
wie die Leidenschaften in den Gesichtsmuskeln, sie somit auch in dem
Bereich des sympathischen Systems ihren bestimmten Ausdruck fin-
den. Eine andere Besonderheit in der Beziehung zwischen leiden-
schaftlich erregter Seele und dem sympathischen Bereich liegt darin,
dass die erstere einen Apparat, auf den sie einmal einwirkt, immer nur
in seiner Gesammtheit und in seinem Bewegungstypus erregt, so dass
die leidenschaftliche Erregung sich weder auf einzelne Stücke zu be-
schränken, noch auch die gewöhnlich in ihm vorkommende Reihen-
folge der Bewegungen umzudrehen vermag. An eine Theorie dieser
Erscheinungen kann natürlich gar nicht gedacht werden.


Die Kürze der vorstehenden Darstellung des sympathischen Sy-
stems findet ihren Grund weder darin, dass eine zu geringe Menge von
Versuchen über den n. Sympathikus angestellt ist, noch auch darin, dass
man wenige Meinungen über die Funktionen des Sympathikus ausge-
sprochen hat; im Gegentheil, die Litteratur über den n. sympathikus
gibt an Stattlichkeit keiner andern nach; so dass, wollte man auch
noch so kurz ihren wesentlichen Inhalt wiedergeben, man leicht einen
[185]Aeussere Bewegungswerkzeuge des Auges.
Band füllen könnte. Aber, was würde man erreicht haben? Nichts
anderes als die Erzählung mangelhaft angestellter Versuche und die
Angabe von luftigen oder dilettantenhaften Schlüssen. Das Bestreben
eines Lehrbuchs scheint vorerst dahin gehen zu müssen, mehr die
gröbsten Irrthümer zu meiden, als alle veröffentlichten Thatsachen
vorzulegen.


D. Der Gesichtssinn.


Die Grundbedingung dieses Sinnes ist gegeben durch die Gegen-
wart des nervus opticus, der seine Erregungszustände als Licht zur
Empfindung bringt; unser Sinn dehnt aber seine Wirksamkeit über die
engen Grenzen der Lichtempfindung weit aus, denn er unterscheidet
auch, ob derjenige seiner Erreger, welchen die Physiker Aether-
wellen nennen, von Punkten oder Flächen ausgeht, und in welcher
Richtung und Entfernung vom Auge diese leuchtenden Orte gele-
gen sind u. s. w. Diese weiteren Funktionen sind eine Folge
der brechenden und spiegelnden Flächen und Medien und der Be-
weglichkeit des Gesammtauges oder einzelner seiner Theile gegen-
einander. —


Diesen Thatsachen gemäss wird unsere Darstellung zuerst die
Leistungen der Muskeln, des dioptrisch katoptrischen Apparates und
der Nerven für sich und dann diejenigen zu betrachten haben, die aus
den gegenseitigen Beziehungen jener Organbestandtheile fliessen.


Aeussere Bewegungswerkzeuge des Auges.


Die Bewegungen des Auges, die durch den äusseren Muskel-
apparat desselben ausgeführt werden können, sind entweder Bewe-
gungen des Augapfels im Ganzen, und zwar sowohl Drehungen um
einen festen Mittelpunkt, als Ortsveränderungen des Augapfels mit
Verschiebung des Mittelpunktes, oder aber Bewegungen einzelner
Theile des Augapfels gegeneinander, Formveränderungen desselben.


Die Bewegungen des Auges im Ganzen sind gleichzeitig als
Dreh- und Ortsbewegungen möglich, weil die an dem hintern Umfang
des Augapfels liegenden Massen für sich eine hinreichende Steifig-
keit besitzen und an den Augapfel locker genug angeheftet sind, um
bei bestimmten Arten des Zugs, die auf den Augapfel wirken, unver-
rückt zu bleiben und zugleich als Widerlage für die Sclerotica zu
dienen, und andererseits doch nicht steif genug, um nicht bei anderen
Verhältnissen der auf das Auge wirkenden Züge verrückt zu werden.
Die Eigenthümlichkeit der Gesammtbewegung des Auges lässt sich
also dahin ausdrücken, dass das Auge in einer Gelenkpfanne gehe,
welche selbst verschiebbar ist. —


[186]Gelenkkopf, Drehpunkt; Gelenkgrube; Bänder.

1. Drehbewegungen *).


a) Gelenkkopf, Gelenkgrube, Bänder. Der Gelenkkopf wird durch
die hintere Fläche der Sclerotica gebildet, welche wahrscheinlich nach
einem Kugelabschnitt gekrümmt ist; als Gelenkgrube dient das Fett-
polster, welches die orbita ausfüllt; wie man sieht, verdient dieses
Polster nur insofern den Namen einer Gelenkgrube, als sich in der
That an der Grenze des Fettes und der Sclerotica eine freiere Verbin-
dung vorfindet. Als Bänder, welche theils hemmend, theils richtungs-
bestimmend auf die Bewegung wirken, sind anzuführen, der federartig
gestellte n. opticus, die Conjunctivafalte, die sich aufrollenden
Augenmuskeln, einige von der Scleroticafläche zum umliegenden
Fettpolster gehende Gefässe und Bindegewebsstränge. Eine genauere
Angabe der Wirkungen dieser Gebilde, und namentlich den Werth
der Hemmung, den sie den Bewegungen entgegenstellen, lässt sich
nach vorliegenden Untersuchungen nicht geben.


Der Drehpunkt des Gelenkes liegt nach Bestimmungen von Volk-
mann
in der Mitte der Sehachse, d. h. einer Linie, welche man vom
Scheitel der cornea gegen den Mittelpunkt des gelben Fleckes sich
gezogen denken muss.


Die empirische Bestimmung des Drehpuncts am lebenden Auge wird möglich, weil
wir bei jeder beliebigen Stellung dieses letztern die Richtung der Sehachse anzugeben
vermögen. Dieses gelingt darum, weil wir, wenn wir einen leuchtenden Punkt
scharf betrachten (visiren), das Auge so stellen, dass das Bild des Punktes auf
die Berührungsstelle von Retina und Sehachse fällt, und weil alle Objecte, die
auf der Verlängerung der Sehachse im Raume liegen, ihre Bilder sämmtlich auf
diese Berührungsstelle werfen, so dass von zweien in der Richtung der Sehachse
liegenden Punkten der dem Auge nähere immer den dem Auge ferneren deckt.
Daraus folgt, dass man für jede beliebige Stellung des Auges die Richtung der in
dem Raume verlängerten Sehachse bestimmen kann, wenn man einen leuchtenden
Punkt scharf visirt und zwischen ihn und das Auge einen andern in eine solche
Lage bringt, in welcher er den erstern deckt. Bestimmt man bei festge-
stelltem Kopf in mehr als zwei von einander abweichenden Augenstellungen die
Richtungen der Sehachse und verlängert dann sämmtliche Linien nach ihrer conver-
girenden Richtung, so schneiden sie sich in einem Puncte, woraus ohne Weiteres
folgt, dass die Visirlinie ein Radius sei, der um diesen Punct bei den verschiedenen
Augenstellungen gedreht wird. — Aus diesen Angaben folgt für die Bestimmung
des Drehpunkts in jeder Ebene am lebenden Auge nun sogleich folgendes Verfahren,
welches in Fig. 29 versinnlicht ist. Man bringe vor das Auge, der höchsten Erhabenheit
der Cornea gegenüber, eine horizontale oder senkrechte Tafel und visire unter der ent-
sprechenden Augenstellung nach einem leuchtenden Punkte 2 (z. B. einer Nadelspitze),
führe darauf einen zweiten leuchtenden Punkt 1 vor den ersten bis er diesen genau deckt;
dasselbe vollführe man bei festgestellten Kopfe aber einer andern Augenstellung mit
[187]Augenmuskeln, Drehbewegungen.
den Punkten 4, 3 und messe hierauf den Abstand des Punktes 3 oder 1 von der
höchsten Erhabenheit der Cornea. — Da 1, 2 und 3, 4 je zwei Punkte auf der Seh-

Figure 30. Fig. 29.


achse für die verschiedenen Lagen des
Auges darstellen, so kann man sogleich
die Linien 2, 1, I. und 3, 4, II ziehen,
welche sich in D dem Drehungspunkte
des Auges schneiden. Kennt man die Ent-
fernung, in welcher sich 3 vom Auge be-
fand, so ist damit auch der Abstand D
von der höchsten Hornhauterhabenheit
gegeben.


Die Mittel, welche bei den bis jetzt
unternommenen Messungen von Volk-
mann, Burow, Valentin
in Anwen-
dung gebracht sind, nähern sich jedoch
nur sehr entfernt der möglichen Genauig-
keit an; indess fand man übereinstim-
mend, dass der Drehpunkt 11,0 bis 14,1
M. M. von der vordern Hornhautfläche
entfernt liege, woraus der im Text gege-
bene Schluss über die Lage des Dreh-
punktes allerdings scheint abgeleitet
werden zu dürfen, da die halbe Länge der
Sehachse (die hintere Augenwand mitge-
rechnet) bekanntlich 11,9 M. M. im
Mittel beträgt.


b. Augenmuskeln. Man nimmt an, dass alle Augenmuskeln
in ihrer normalen Länge befindlich seien, so dass keiner von ihnen
ziehend auf den bulbus wirke, (Ruhestand des Auges, Nullpunkt der
Bewegung) wenn die Irisfläche senkrecht gegen den Boden und zu-
gleich parallel mit der senkrecht gerichteten Angesichtsfläche gestellt
ist; zur vollkommenen Bestimmung der Augenstellung fehlt dieser
Angabe, wie ersichtlich, noch ein Zusatz über die Lage eines Punk-
tes auf der Peripherie des Iriskreises zu einem beliebigen Theile des
Gesichts. Weicht von dieser Lage das Auge so ab, dass sich die
Ebene der Iris senkrecht gegen den Boden erhält, sich dagegen unter
irgend einem Winkel mit der Antlitzebene, deren Lage man sich
unverändert denkt, schneidet, so ist das Auge ein- oder auswärts ge-
dreht; in diesem Fall behält die Sehachse ihre horizontale Lage, weicht
aber mit ihrem freien in den Raum hineinragenden Ende gegen die
Nase (Einwärtsdrehung) oder das Ohr (Auswärtsdrehung) hin ab. Das
Auge ist erhoben oder gesenkt, wenn die Irisfläcke ihre senk-
rechte Richtung gegen den Boden aufgegeben hat; hierbei ist die
Sehachse gegen den obern (Aufwärtsdrehung) oder den untern (Ab-
wärtsdrehung) Augenhöhlenrand gerichtet. Erhält sich endlich
die Ebene der Iris parallel zur Gesichts- und senkrecht zur Boden-
fläche, dreht sie sich aber so, dass einem beliebigen Punkte der Or-
bita immer andere Punkte der Irisfläche gegenübertreten, während
[188]Augenmuskeln; Drehbewegungen.
die Lage der Sehachse ungeändert bleibt, so hat man das Auge ge-
rollt; und zwar geschah das Rollen einwärts, wenn ein Punkt der Iris-
peripherie, der bisher über dem innern Augenwinkel lag, unter den-
selben geführt wurde, während beim Auswärtsrollen das Auge ent-
gegengesetzt läuft. —


Diese Bewegungen sollen nun abhängig sein von den Muskeln in
folgender Art: aufwärts: m. rectus superior. m. obliq. inferior; — ab-
wärts: m. rectus inferior, m. obliquus superior; — einwärts m. rectus
internus, m. rectus superior; m. obliquus inferior (?); — auswärts
m. rectus externus, m. obliq. superior; — einwärts rollend m. obliquus
superior u. rectus superior (?); — auswärts rollend m. obliquus in-
ferior u. rectus inferior (?). —


Die Beobachtungsmethode, auf welche sich diese Angaben grün-
den, sind die zur Bestimmung der Muskelwirkung gebräuchlichen. —
Siehe die besondere Muskellehre.


Wer nun aber auch nur mit den ersten Anfängen der Mechanik vertraut ist, wird
das Ziel, nach dem die obigen Angaben, welches die gebräuchlichen sind, ringen
als ein sehr unvollkommenes ansehen müssen. Um dem Anfänger einen Begriff von
dem Problem, welches in den Augenmuskeln vergraben ist, und von seiner Lösung
zu geben, wollen wir in Folgendem eine Zergliederung eines ganz einfachen Falles
vornehmen.


Um zu einer Bestimmung des Nullpunktes, der Grösse und Richtung der Bewe-
gung zu gelangen, nehmen wir an, es sei ein doppeltes rechtwinkliges Coordinaten-
System durch das Auge gelegt, deren gemeinschaftlicher Nullpunkt in den Dre-
hungspunkt des Auges fällt, und die sich nur darin unterscheiden, dass das eine in
der Orbita als feststehend angesehen wird, während das andere mit dem Auge be-
weglich ist, so dass in der Ruhelage des Auges die zu beiden Systemen gehörigen
Achsen zusammenfallen. — Die Achsen selbst werden aber gegeben durch folgende
Bestimmungen. Die Richtung der Querachse sei dargestellt durch die Verbindungs-
linie der Drehungspunkte beider Augen; die Tiefenachse durch die Sehachse, wenn
beide Augen nach Vorwärts stieren; die Höhenachse schneide in der Richtung vom
Scheitel zur Fusssohle den Schnittpunkt der beiden vorhergehenden in ihrer horizon-
talen Lage senkrecht. — Denken wir uns nun, wie angegeben, das eine System
feststehend, das andere mit den Augen beweglich, so würde jetzt offenbar jede Augen-
drehung ihre Grösse und Richtung nach mit aller Schärfe durch die Winkel ausge-
drückt werden können, welche die Achsen beider Coordinatensysteme miteinander
bilden. Um die aus diesen Bestimmungen hervorgehenden Angaben praktisch
brauchbar zu machen, müssten an den sichtbaren Theilen der Orbita und des Aug-
apfels Kennzeichen gesucht werden, deren Bewegung sich in einer bestimmten Rela-
tion zu derjenigen der Achsen fänden und hierzu könnte ein Theil der gewöhnlichen
Bestimmungen benutzt werden.


Die Wirkung, welche einem Augenmuskel zukommt, ist sehr verschieden, je
nachdem er allein ohne jegliche weitere Bestimmung das Auge dreht, oder je nach-
dem sich noch andere Umstände, wie z. B. Widerstände der Bewegung, gleichzeitige
Wirkungen anderer Muskeln u. s. w. einmengen. — Zu unserer Zergliederung wählen
wir nun zunächst den einfachsten Fall den, dass auf das Auge nur ein Muskel wirke,
während gar keine Widerstände sich der Drehung entgegenstellen; wenn auch die-
ser Fall in der That niemals vorkommt, so ist er dennoch von Bedeutung, weil die
Kenntniss dieses einfachsten der aller übrigen vorausgehen muss. — Da die Muskeln
Werkzeuge sind, welche in der Richtung ihrer Fasern ziehen, so ist es zur Lösung
[189]Augenmuskeln; Drehbewegungen.
aller der Fragen, welche sich bezüglich seiner Wirkung aufwerfen lassen, nöthig zu
wissen: wie die Ansatz- und Endpunkte aller Fasern des Muskels zu den Achsen der
vorbeschriebenen Coordinatensysteme gelagert seien, wieviel Fasern resp. welchen
Querschnitt der Muskel besitze und welche Länge jeder Faser zukomme. Aus diesen
Angaben liesse sich zunächst bestimmen die resultirende Wirkung, welche aus sämmt-
lichen einzelnen zu dem Muskel gehörigen Fasern hervorginge. Ueber die Bestim-
mung dieser Resultirenden siehe die besondere Muskellehre. Wir wollen annehmen,
es sei diese Resultirende gefunden worden, wobei sich ergeben habe, dass sie
genau in eine der Ebenen falle, welche durch zwei Coordinatenachsen bestimmt
werden; dann würde das Problem folgende Gestalt gewinnen, siehe Fig. 30. In ihr be-

Figure 31. Fig. 30.


deutet der Kreis einen
Augendurchschnitt, der
bestimmt wird durch
den Drehpunkt D und
die Coordinatenachsen
x und y. Die Resulti-
rende des Muskels M′,
deren Ursprungspunkt
bei U liegt, greift das
Auge bei A′ an. Gesetzt
nun, die Linie M′, welche
die Resultirende vor-
stellt, sei nach einem
Längenmaass getheilt,
in der Art, dass ihre
Länge die Gesammt-
kraft der Resultirenden bedeute, so lässt sich mittelst des Parallellogramms
der Kräfte M′ in zwei andere Kräfte zerlegen, aus denen sie nach Richtung und Kraft
hervorgegangen sein könnte. Man bewerkstelligt diese Zerlegung für unsere Zwecke
am besten dadurch, dass man die eine Kraft in die Verlängerung des Radius A′ D und
die andere A′ F senkrecht auf den Radius legt. Da der Voraussetzung nach der
Drehpunkt D unverrücklich ist und jeder Punkt der Augenperipherie an seine Umge-
bung hinreichend festgeheftet ist, um durch einen Muskelzug nicht aus dem Zusam-
menhang mit derselben gelöst werden zu können, so wird jeder in der Richtung
A′ D wirkende Zug durch den Widerstand der Cohäsion und der Mittelpunktsbefesti-
gung aufgehoben. Umgekehrt aber wird die auf den Radius senkrecht wirkende
Zugrichtung A′ F, die am Kreis tangirende, zur vollkommenen Wirksamkeit gelangen,
da gerade darum, weil der Kreiss nur um den Mittelpunkt drehbar ist, die einzelnen
Punkte der Pheripherie nur nach der Tangente beweglich sind. Demnach wird der
Autheil der Gesammtkraft des Muskels, welcher bei der gegebenen Lage der Resul-
tirenden zur Augendrehung verwendet werden kann, durch die Linie A′ F ausge-
drückt. Mit diesem Werth ist die Resultirende aber in Wahrheit nur so lange wirk-
sam, als das Auge die bezeichnete Stellung behält; denn wäre z. B. diese Stellung
dahin verändert, dass nun der Resultirenden die Lage U A″ zukäme, so würde ihr
Gesammtzug in der Verlängerung des Radius A″ D wirksam sein und darum würde
er, vorausgesetzt, dass der Punct A″ durch Cohäsion mit dem Mittelpunkte hinrei-
chend befestigt wäre, gar keine Bewegung erzeugen. Befände sich aber umgekehrt
die Resultirende in der Lage U A‴ d. h. läge sie in der Verlängerung der Tangente,
so würde sie nun ihre Gesammtkraft auf die Drehung verwenden. Sehr wahrschein-
lich ist nun am Auge in der That der Resultirende aus den einzelnen Muskelfasern diese
letztere Lage zugehörig und zugleich scheint der Muskelsehne eine solche Einrich-
tung zu Theil geworden zu sein, dass während des ganzen Raumes, um welchen sich
ein Augenmuskel überhaupt verkürzen kann, der Ansatz diese Stellung behält. Die-
[190]Orts- und formverändernde Bewegungen.

Figure 32. Fig. 31.


ses ist (Fig. 31) dadurch erreicht worden,
dass die Sehne des Muskels U nicht an
ihren ersten Berührungspunkt A′ mit dem
Auge an letzteres sich anheftet, sondern
noch ein Stück z. B. bis A″ über das Auge
greift. Bei dieser Art von Verbindung zwi-
schen Auge und Sehne wird nämlich der An-
griffspunkt des Muskels so lange an der
Tangente bleiben, bis der Muskel sich so weit
verkürzt resp. das Auge so weit gedreht hat,
dass der Punkt A″ nach A′ gerückt ist.


2. Ortsverändernde Bewegungen *).


Ihre Möglichkeit ergibt die Beobachtung, dass der Bulbus mit-
telst eines Fingerdruckes und namentlich nach den Seiten hin ver-
schiebbar ist; ob sie aber in der That durch die Wirkung der Augen-
muskeln im Menschen vorkommt, ist noch zu erweisen. Die Bedin-
gungen, unter denen dieses geschehen würde, bestehen in gleichzei-
tiger Zusammenziehung zweier Antagonisten z. B. der mm. rectus su-
perior und inferior, der beiden mm. obliqui, so dass die drehenden Wir-
kungen derselben aufgehoben und nur die durch den Drehpunkt des
Auges und der Ansatzpunkte der Muskeln fallenden zur Aeusserung
kämen. Die mm. obliqui würden ihrem Ansatz gemäss den Dreh-
punkt nach vorn, die mm. recti dagegen ihn nach hinten ziehen.


3. Formverändernde Wirkungen der Augenmuskeln **).


Wenn ein Muskel einem Punkt des Auges eine Bewegung mitzu-
theilen strebt, während ein anderer Theil desselben festgeheftet ist,
so wird statt einer Bewegung eine Zerrung oder Pressung und vor-
ausgesetzt, dass eine hinreichende Verschiebbarkeit der Theilchen vor-
handen ist, eine Formveränderung des Auges erzeugt werden. Diese
wird abhängig sein: a) von der Stärke und Richtung des Muskel-
zuges und den gleichen Verhältnissen des bewegungshemmenden Ein-
flusses, in der Art, dass z. B. je nach den Orten des Widerstandes
ein und derselbe Muskelzug die mannigfachsten Formveränderungen
erzeugen kann; b) nach der Natur des gedrückten oder gezerrten
Körpers und namentlich je nachdem sich in ihm ein Druck gleich-
mässig oder ungleichmässig fortpflanzt und je nachdem er an einigen
Stellen widerstandsfähiger ist, als an andern. Da nun das Auge eine
mit Flüssigkeit gefüllte Kugel darstellt, in welcher sich der Druck
nach allen Seiten hin gleichmässig mittheilt, da ferner die Cornea und
die Umgrenzung des Auges aus ganz verschieden nachgiebigen
Stücken besteht, so könnte man zu dem Schluss gelangen, dass jede
[191]Nerven der Augenmuskeln.
Art von Pressung neben einer besondern von der Richtung der pres-
senden Einflüsse herrührenden, eine allgemeine immer wiederkehrende
Formveränderung erzeugte. Ob aber dieses oder ein anderes der Fall
sein möchte, ist den hier noch vollkommen fehlenden Experimentalar-
beiten zur Entscheidung zu überlassen.


Die gewöhnlichen Annahmen, dass das Zusammenwirken der geraden eine Ver-
kürzung, die der schiefen Muskeln eine Verlängerung des Auges in der Richtung der
Sehachse erzielen solle, entbehrt jeglichen Beweises. Vielleicht sind die Membranen
des lebenden Auges durch ihre pralle Anfüllung mit Flüssigkeit so stark gespannt,
dass die Augenmuskeln, selbst bei heftigen Contraktionsgraden, gar keine irgend
erhebliche Formveränderung zu Stande bringen. —


4. Nerven der Augenmuskeln; Verknüpfung der Bewegungen
der beiderseitigen Augenmuskeln *). Stellung zum Willen.


Ueber die Abhängigkeit der Muskeln von den Nerven siehe die
n. oculomotorius abducens, trochlearis.


Die Bewegungen beider Augen befinden sich in der innigsten gegen-
seitigen Abhängigkeit, die sich darin ausprägt, dass a) immer nur gleich-
zeitig Drehungen der beiden Augen um die Sechachse (Rotationen) nach
einer Richtung und um gleichviel Grade möglich sind, so dass die von uns
als Höhenachse bezeichnete, mit dem Auge beweglich gedachte Linie
in beiden Augen immer parallel liegt. — b) Ebenso können gleichzeitig
von beiden Augen nur solche Drehungen um die Querachse ausgeführt
werden, bei denen die Sehachsen um einen gleich grossen Winkel und
im gleichem Sinne gegen den Horizont geneigt sind, so dass wenn die
Sehachsen von der horizontalen Lage abweichen, sie entweder beide
nach oben oder beide nach unten gerichtet sind. — c) In der Richtung
von rechts nach links (um die Höhenachse) können beide Augen gleich-
zeitig so gestellt werden, dass die Sehachsen in jedem beliebigen Winkel
nach vorn convergiren, während die Augen nur in sehr beschränkter
Weise in eine Stellung geführt werden können, bei welcher die Seh-
achsen nach hinten convergiren, also nach vorn divergiren. Nach H.
Meyer ist der Divergenzwinkel, bis zu welchen die beiden Sehachsen
geführt werden können, um etwas grösser, wenn man das linke Auge
fixirt erhält und das rechte nach aussen führt, als umgekehrt wenn
man dem rechten eine fixe Stellung gibt und das linke nach aussen
wendet; das Maximum der Divergenz beträgt nach seinen Untersu-
chungen etwa 11°; bei einer bestehenden Schwäche der Sehkraft des
einen der beiden Augen ist es jedoch möglich die Divergenz noch
weiter zu treiben.


Die Stellung der Augenmuskeln zum Willen gestaltet sich dahin,
dass die mm. obliqui seinem Einfluss gänzlich entzogen sind; in
der Art dem Willen unterworfen, dass sie jedesmal nur gleichzeitig
[192]Geschwindigkeit der Bewegung.
bewegt werden können, sind die musc. recti superiores, und ebenso
die inferiores. In unbeschränkter Weise können die mm. recti interni,
oder der m. rectus externus des einen und m. rectus internus des an-
dern Auges willkührlich bewegt werden, während nur bis zu gewis-
sem Grade der Zusammenziehung die mm. recti externi gleichzeitig
dem Willen gehorchen.


Da die mm. recti zum Theil neben den wesentlichen Bewegungen um die Hö-
hen- und Querachsen des Auges auch Drehungen um die Sehachse unternehmen, so
verknüpfen sich unwillkürlich mit ihren Wirkungen auch diejenigen der mm. obliqui,
damit die Bedingung, welche verlangt, dass die Höhenachsen immer gleiche Neigung
zum Horizont besitzen, erfüllt werde, Hueck, Donders. Unter welchen Umständen
und in welchem Grade dieses geschieht, wird erst ermittelbar sein, wenn wir eine
genaue Anatomie der Augenmuskeln besitzen. — Zur Erläuterung der besonderen
Art von Abhängigkeit, in welcher die Nerven der Augenmuskeln zu den Willensor-
ganen stehen, sind bis dahin nur sehr wenig bedeutende Hypothesen zu Tage geför-
dert. Von Bedeutung für Ausgangspunkte zukünftiger Untersuchung ist die Behaup-
tung, dass man durch Uebung die gewöhnliche Verknüpfung der Muskeln lösen könne(?);
ferner, dass mit einer Erlahmung der Funktionen der Retina die Combinationen sich
ändern, Böhm; und endlich, dass nach Verletzung der Kleinhirnschenkel und Vier-
hügel ebenfalls Stellungen der Augen zu Stande kommen, die ohne diese Eingriffe
nicht möglich sind. — Die wichtige Frage, ob in allen den Stellungen der Augen, bei
welchen die Sehachsen unter gleichen Winkeln convergiren, auch die Summe der
Verkürzung, welche die betreffenden mm. recti interni oder externi erfahren, eine
gleiche sei, ist wegen der mangelhaften anatomischen Kenntnisse nicht zu lösen.


5. Geschwindigkeit der Bewegung *).


Veränderungen in dem Contraktionsgrad und der Combination
der einzelnen Augenmuskeln gehen, wie später bei der Lehre von
der Perspektive und von den entoptischen Figuren erläutert wird, mit
ausserordentlicher Geschwindigkeit vor sich.


Volkmann hat dieses bestritten, nach Versuchen, in welchen er auf zwei Win-
kel eines bekannten Dreiecks, dessen dritter mit dem Drehpunkt des Auges zusammen
fiel, Nadeln einfügte und nun versuchte, wie oft er in einer halben Minute Wechselnd
beide Nadeln sehen konnte. Aus diesen Versuchen ergab sich zwar im Allgemeinen,
dass grosse Zeiten selbst bei kleinen Bewegungen nothwendig waren, zugleich aber
das verdächtigende Resultat, dass zuweilen grössere Bewegungen eine kürzere Zeit
brauchen, als kleine. **) Wie es scheint mit Recht, bemerkte Brücke zu diesen Ver-
suchen, dass man in ihnen ausser der auf die Bewegung verbrauchten Zeit auch
noch die gemessen habe, welche der mehr oder weniger geübte Wille nöthig hatte,
um die Bewegung anzuregen und die angeregte zu hemmen. Eine fortgesetzte
Uebung in einer bestimmten Versuchsreihe dürfte wahrscheinlich die hier gemes-
senen Zeiten sehr verkleinern.


Einrichtungen zur Brechung der Lichtstrahlen im Auge.


1. Einige allgemeine Betrachtungen über den Gang des Lichtes
durch ein System von brechenden Flächen und Medien die sich denen
des Auges analog verhalten.


[193]Brechung des Strahls durch convexe Flächen.

Die folgende Darstellung ist für denjenigen berechnet, welchem die elementare
Optik der physikalischen Lehrbücher unzugänglich ist; indem sie sich der Verständ-
lichkeit wegen lediglich an die Anschauung hält, kann dieselbe weder zu so allge-
meinen, noch so scharfen Ableitungen gelangen, wie dieses durch die analytische
Methode möglich wird.


A. Erscheinungen, welche eintreten, wenn ein Lichtstrahl eine convexe Grenz-
fläche zweier optisch verschiedenen Medien überschreitet.


Gelangt ein Lichtstrahl an die Grenze zweier chemisch irgendwie verschiedener
Stoffe (optisch verschiedener Medien), so verlässt er, indem er dieselbe über-
schreitet, plötzlich seine bisher verfolgte Bahn und verläuft in dem neuen Medium
nach einer andern Richtung, so dass er an der Uebertrittsstelle aus einem in den
andern Stoff gebrochen erscheint. Um eine Vorstellung von der Grösse der Winkel,
um welche die Brechung geschah, zu erlangen, zieht man eine Linie, das Einfalls-
loth
, A B in Fig. 32 senkrecht auf den Ort G der Berührungsflächen beider Medien,

Figure 33. Fig. 32.


Figure 34. Fig. 33.


an welchen der Lichtstrahl E G die Grenze D C
überschreitet; darauf legt man mit beliebigem
Radius einen Kreis um den Punct G, den Schnitt-
punkt des Strahles und des Einfallslothes. Die
Vergleichung des Stückes der Kreisperipherie
A H, welche den Winkel A G Hden Ein-
fallswinkel
— umspannt, mit derjenigen B J,
welche den Winkel B G Jden Brechungs-
winkel
— umgreift, ergibt den Winkelwerth,
um welchen der Strahl von seiner ursprünglichen
Richtung abgelenkt ist.


Lässt man gegen den Punkt G, während die
Fläche und die durch sie begrenzten Stoffe un-
verändert erhalten werden, der Reihenfolge
nach Strahlen auffallen, welche mit dem Einfalls-
loth verschiedene Winkel bilden, und vergleicht
jedesmal die zugehörigen Einfalls- und Brech-
ungswinkel, so ergibt sich erfahrungsgemäss
dass das Verhältniss der die Winkel messenden
Bogenstücke kein sich gleichbleibendes ist.


Vergleicht man nämlich in der nach der
Erfahrung entworfenen Fig. 33 z. B. die
Verhältnisszahl welche die Bogenstücke
des zueinander gehörigen Einfalls- und
Brechungswinkels 1 Y 4 : 1 ′Y 4′ liefern mit
derjenigen die zwischen den Bogenstücken
der zugehörigen Winkel 2 Y 5 : 2′ Y 5′ be-
steht, so gewahrt man sogleich das ab-
weichende beider Zahlen. Fällt man da-
gegen von den Punkten 1, 2, 3, und 1′ 2′ 3,
wo die Lichtstrahlen den Kreis schneiden,
die senkrechte Linie 1 4, 1′ 4, 25, 2′ 5′ u.s.w.
auf das Einfallsloth und vergleicht man
je zwei zu einander gehörige, z. B. 1 4 : 1′ 4′;
2 5 : 2′ 5′ u. s. w., so findet sich, dass die
Längen dieser Linien bei allen Strahlen in
einem und demselben Verhältniss zu ein-
ander stehen. Diese Linien sind nun aber bekanntlich nichts anderes, als die Sinus
der entsprechenden Bogen oder Winkel; daraus folgt nun das für die Brechungs-
Ludwig, Physiologie I. 13
[194]Brechungsverhältniss.
erscheinungen fundamentale Gesetz, dass für dieselben optischen Medien die Sinus
der Einfalls- und Brechungswinkel sich in einem unveränderlichen Verhältniss zu
einander finden. Diese so eben mitgetheilte Thatsache fasst man kurz unter dem
Namen des Brechungsgesetzes zusammen, und bezeichnet dann als Brechungsverhält-
niss zweier Medien dasjenige, in welchem der Sinus des Einfalls- und des Brechungs-
winkels zu einander stehen. — Nächst diesem Gesetz lehrt die Erfahrung noch ein
zweites, dass nämlich das Einfallsloth, einfallender und gebrochener Strahl in einer
Ebene liegen.


Die einfachsten und allgemeinsten Folgerungen aus diesen Gesetzen sind fol-
gende: 1) Wenn das Brechungsverhältniss zweier Medien bekannt ist, und man
den Winkel (resp. dessen Sinus) kennt, welchen ein bestimmter Strahl beim Ueber-
tritt aus dem einen in das andere Medium mit dem Einfallsloth bildet, so ist auch
jedesmal der Brechungswinkel (resp. dessen Sinus) und damit der Verlauf des
Strahles im neuen Medium zu finden.


Figure 35. Fig. 33b.

[figure]

Das Verfahren, welches die Aufgabe lösst, ist
einfach folgendes Fig. 33b: Gegeben sei der Ver-
lauf des Strahles H Y im ersten Mittel, die Grenzfläche
beider Mittel D C, und das Einfallsloth A Y mit seiner
Verlängerung in das zweite Mittel B Y, und endlich
das Brechungsverhältniss des ersten zum zweiten
Mittel, das wir hier beispielsweise wie 1 zu 2 an-
nehmen wollen. — Man beschreibe nun mit dem be-
liebigen Halbmesser Y A einen Kreis um den Mittel-
punkt Y und errichte dann auf dem Einfallsloth eine
senkrechte von H nach A (den Sinus des Einfallswin-
kels), nehme darauf das Doppelte von H A zwischen
die Zirkelspitzen, und setze diese Länge senkrecht
auf die Verlängerung des Einfallslothes in das zweite
Mittel in der Art, dass ihr eines Ende das Einfallsloth,
ihr anderes die Kreisperipherie (bei J) berührt. Die
Verbindungslinie von Y nach J gibt die Richtung
des Strahls im neuen Mittel an; denn der Sinus des Winkels B Y J (des Brechungs-
winkels) steht zum Sinus des Einfallswinkels E Y A im verlangten Verhältniss.


2) Die Ablenkung, welche ein Strahl erfährt, wächst nicht geradezu mit dem
Einfallswinkel, sondern in einem beträchtlich steigenden Verhältniss. Dieses tritt
darum ein, weil der Winkel resp. der ihn messende Bogen bei seinem Wachsthum
von O bis zum Rechten sehr viel rascher und in einem ganz andern Verhältniss zu-
nimmt, als der Sinus, wie dies die Betrachtung der Fig. 33 lehrt. Demnach wird also
z. B. die Hälfte vom Sinus eines gegebenen Winkels nicht der Sinus des halben, son-
dern der eines viel kleineren Winkels als des halben sein.


Figure 36. Fig. 34.

Wir haben bisher auf die Gestalt der Trennungs-
fläche beider Mittel keine Rücksicht genommen, weil
bei der Betrachtung eines einzigen Strahles jedesmal
das unendlich kleine Stückchen derselben, auf das
er trifft, als eben angesehen werden kann; von jetzt
an werden wir auch die Eigenschaften der Be-
rührungsfläche der sog. brechenden Fläche in
Erwägung ziehen. Zu diesem Ende nehmen wir an, es
gelangen parallele Lichtstrahlen auf die Grenze
zweier Medien von bekanntem Brechungsverhältniss
während die brechende Fläche bald eben und bald
kugelig gekrümmt ist.


In Fig. 34 sei I. II. die ebene Berührungsfläche
der beiden Medien; 1,2,3 seien drei einander parallele
[195]Brennpunkt paralleler Strahlen.
Strahlen, so werden A B C ihre zugehörigen Einfallslothe sein; aus bekannten geo-
metrischen Gründen bilden die parallelen Strahlen mit den unter sich parallelen Ein-
fallslothen gleiche Winkel, sie werden also auch sämmtlich um einen gleichen Winkel
gebrochen werden, d. h. die Strahlen verlaufen im zweiten Mittel zwar in anderer
Richtung als im ersten, aber jedenfalls wiederum einander parallel. — In Fig. 35

Figure 37. Fig. 35.


setzen wir nun voraus, die Berüh-
rungsflächen I., II. beider Mittel sei
eine Kugelschale, welche um den Mit-
telpunkt O mit dem Radius O II. be-
schrieben worden sei; die im ersten
Mittel einander parallelen Strahlen
sind durch die Linien A′ B′ C A B dar-
gestellt; die Einfallslothe dieser
Strahlen sind die Radien oder ihre
Verlängerungen O 3′, O 2′, O 1, O 2,
O 3; da diese bekanntlich senkrecht
auf der Tangente des Kreispunktes
stehen, den sie berühren. Wie der
Augenschein ergibt, sind nun die Ein-
fallswinkel der Strahlen sehr ver-
schieden. C liegt geradezu in der
Verlängerung des Radius und bildet
somit gar keinen Winkel mit dem Ein-
fallsloth; von C aus aber wachsen
nach oben und unten symmetrisch die
Einfallswinkel, daraus geht nun aber
hervor, dass C, der sog. Achsen-
strahl
, gar keine Brechung erleidet,
während die von da nach der Peripherie gelegenen Strahlen eine steigend und stei-
gend stärkere Ablenkung erfahren müssen. Weil nun aber die Strahlen A B und A′ B′
im ersten Mittel mit dem Achsenstrahl parallel liefen, A′ A und BB′ im neuen Mittel
aber eine beträchtliche Ablenkung von ihrer ursprünglichen Richtung erhalten, wäh-
rend C diese letztere beibehält, so folgt daraus, dass im neuen Mittel, A und A′ sowohl
als B und B′ sich gegen den Achsenstrahl C neigen und ihn endlich im weiteren Ver-
laufe schneiden werden. Diese Schnittpunkte, in welchen sich die in verschiedenen
Strahlen verlaufenden Lichtmassen auf einen Punkt conzentriren, nennt man bekannt-
lich ganz allgemein die Brennpunkte.


Es fragt sich nun werden alle parallel auffallenden Strahlen nach ihrer Richtung
einander in einem Punkte schneiden. Diese Annahme liegt nahe; denn die von
der Achse entfernter liegenden Strahlen convergiren wie wir schon oben zeigten,
stärker als die der Achse nähergelegenen. Man konnte also zu dem Glauben geneigt
sein, dass sich diese beiden Momente, Entfernung von der Achse und Convergenz zu
einander so verhielten, dass sie sich zur Erzeugung eines einzigen Schnittpunktes aus-
glichen. Offenbar muss es auch eine krumme Fläche geben, die diesen Bedingungen
genügt, aber an der Kugel geschieht es nicht. Denn construirt man erfahrungsgemäss
die Strahlenbrechung durch dieselbe, wie in Fig. 36, so ergibt sich, dass das eine
Element die mit dem Abstand von der Achse steigende Brechung überwiegt, so
dass ganz allgemein die Behauptung gilt: je weiter seitlich von der Achse
die Strahlen die brechende Kugelfläche treffen, um so früher schneiden sie jene im
zweiten Mittel. Vergl. B1 im Verhältniss zu A1. Daraus folgt nun, dass nur die-
jenigen Strahlen, welche eine genaue symmetrische Lage zum Achsenstrahl besitzen,
einen gemeinsamen Brennpunkt haben werden, und ferner, dass die auf die Linse
auffallenden Strahlen unzählig viele hinter einander liegenden Brennpunkte bilden
13*
[196]Sphärische Aberration.

Figure 38. Fig. 36.


werden, so dass vom Gesichtspunkt der Theorie aus niemals von einem gemein-
schaftlichen Brennpunkt einer Kugelfläche die Rede sein kann. — Im Widerspruch mit
diesem theoretischen Ergebniss kennt dennoch die praktische Optik nur einen
Brennpunkt brechender Kugelflächen und in der That ist dieses bei der durch die
Praxis erzielbaren Genauigkeit innerhalb gewisser Grenzen auch erlaubt, denn wenn
die Einfallswinkel mit steigendem Abstand nicht zu rasch zunehmen, so liegt, zum
Theil wegen der oben erwähnten Compensation, der Brennpunkt der Strahlen, welche
in benachbarten Flächenstücken einfallen, im zweiten Mittel nahe genug, um als
zusammenfallend angesehen werden zu können. Diese relativ langsame Zunahme
der Einfallswinkel findet aber vorzugsweise für die Strahlen statt, welche um nur
wenige Bogengrade von der Achse entfernt in der brechenden Fläche eintreffen,
und es sind darum auch die im Umkreis von wenigen Graden einfallenden Strahlen,
welche einen für praktische Zwecke brauchbaren Brennpunkt bilden, während die
Brennpunkte der weiter seitlich eindringenden Strahlen zu weit abstehen, um auch
noch von einer wenig genauen Praxis mit den andern zusammengefasst werden zu
können. Dieses Auseinanderfallen der Brennpunkte in Folge der steigenden Krüm-
mung nennt die Optik die sphärische Aberration.


Bisher haben wir unter den Bedingungen der unveränderlichen Kugelfläche und
der wechselnden Lage der parallelen Strahlen die Orte des Brennpunktes (oder die
Stärke der Brechung) aufzufinden gesucht. Wir wollen uns nun die Lage der pa-
rallelen Strahlen im ersten Mittel constant denken und annehmen, es wechsle die
Kugelfläche des zweiten Mittels. In Figur 37 stellen A A′ B parallele Strahlen vor,
welche unter allen Umständen in dem constanten Abstand 1 2′ 1, 2 von der
Achse an die Grenze des zweiten Mittels treffen. Die kugelige Grenzfläche dieses
zweiten Mittels soll aber veränderlich sein in der Art, dass sie das einemal mittelst
des Radius II 2′ und das andere Mal mittelst des kürzeren Radius I 2′ beschrieben
sei. Bei dieser Annahme würden die Lothe, welche auf die Einfallsorte der Strahlen
[197]Steigende Brechung mit abnehmenden Krümmungshalbmesser.

Figure 39. Fig. 37.


A B A′ gezogen werden II 1′ II 2
II 2′, respect. I 1′ I 2 I 2′
sein. Wie ersichtlich bleibt in bei-
den Fällen der Winkel, welchen der
Strahl B mit dem Einfallsloth bil-
det, derselbe, d. h. = O; dagegen
unterscheiden sich die Einfalls-
winkel der Strahlen A A′ je nach-
dem sie auf die mit dem grösseren
oder dem kleineren Radius be-
schriebene Grenzfläche treffen,
durch ihre Grösse von einander;
und namentlich wächst der Einfallswinkel der Strahlen, wenn der Radius der Kugel-
fläche, auf die sie treffen, abnimmt. Demnach wird auch an der Grenze der kleinen Ku-
gel die stärkere Brechung stattfinden. — Man hat nun selbstverständlich zu derselben
Construction in jeder durch die Achse B II gelegten Ebene das Recht; folglich gelten
die bisher gezogenen Schlüsse auch für ein ganzes cylindrisches Strahlenbündel, so
dass wir also aussprechen dürfen: Strahlencylinder von gleicher Basis werden um
so stärker gebrochen werden, respect. ihren Brennpunkt um so näher am Scheitel
der Kugelfläche finden, je kleiner der Halbmesser dieser letztern, mit dem sie beschrie-
ben wurden. — Ausserdem geht aber auch noch aus unserer Betrachtung hervor, dass
Strahlencylinder von gleich grossem Querschnitt beim Auffallen auf Kugelflächen
von kleinen Halbmessern beträchtlichere Brennpunktsabweichungen darbieten wer-
den als beim Auffallen auf Kugelflächen von grossem Halbmesser; dieses wird so-
gleich klar sein, wenn man sich erinnert, wie die sphärische Aberration nur darin
ihren Grund findet, dass die Einfallswinkel der vom Achsenstrahl weiter und weiter
seitlich auffallenden Strahlen in einem so rasch steigenden Verhältniss zunehmen.


Unsere Untersuchung führt uns nun auf die Betrachtung der Brechungserschei-
nungen, (respekt. die Lage des Brennpunktes,) welche sich ereignen, wenn die Strah-
len statt parallel divergirend im ersten Mittel verlaufen, oder mit andern Worten,
wenn die Lichtquelle (z. B. ein leuchtender Punkt), deren Strahlen gebrochen wer-
den, nicht in unendlicher, sondern in endlicher Entfernung von der brechenden
Fläche liegt.


Wir werden auch hier wieder die Untersuchung so führen, dass wir zunächst
die Orte der leuchtenden Punkte oder die Divergenzwinkel der auf die Fläche
des zweiten Mittels auffallenden Strahlen wechseln lassen, während wir die
brechende Fläche selbst unveränderlich setzen. Eine vorerst ganz allgemein ge-
haltene Betrachtung lehrt, dass die aus dem ersten in das zweite Mittel diver-
girend einfallenden Strahlen nur dann einen Brennpunkt besitzen, wenn die Win-
kel, um welche sie an der Begrenzungsfläche des zweiten Mittels von ihrer ursprüng-
lichen Richtung abgelenkt werden, grösser sind als diejenigen, um welche sie im
ersten Mittel von der Achse divergirten. Dieser Ausspruch ist an Fig. 38 verdeut-
licht worden; in ihr ist O der Krümmungsmittelpunkt des zweiten Mittels, O 2 sein

Figure 40. Fig. 38.


Halbmesser, A der leuchtende
Punkt auf der Achse O A; einer
seiner Strahlen A 2 verlaufe im
ersten Mittel unter dem Diver-
genzwinkel 2 A 1 gegen die
Achse und treffe die Grenze des
zweiten Mittels bei 2. Wir setzen
voraus, dass er bei seinem Ein-
tritt in dasselbe eine Brechung
nach B erleidet, in Folge deren
[198]Brechung divergirender Strahlen.
er nun parallel mit der Achse läuft. Verlängern wir in der ursprünglichen Richtung
den Strahl A 2 in dem zweiten Mittel, so ist sogleich ersichtlich, dass der Winkel
B′ 2 B oder derjenige, um welchen der Strahl von seiner ursprünglichen Richtung
abgelenkt wurde, dem Winkel 2 A 1, d. h. demjenigen gleich ist, unter welchem
der Strahl im ersten Mittel von der Achse divergirte. Ohne weitere Zusätze wird
nun aber auch klar sein, dass wenn der Winkel B 2 B′ bei unverrückter Lage von
A 2 wachsen würde, der gebrochene B 2 die Achse irgendwo hinter dem Scheitel
1 schnitte. Demnach muss zu den Elementen (Einfallswinkel und Brechungsverhält-
niss), welche den Ort des Brennpunktes bestimmten als im ersten Mittel die Strahlen
zur Achse parallel liefen, jetzt noch der Divergenzwinkel der ursprünglichen Strahlen-
richtung in Betracht gezogen werden. Bei dieser Complikation gelingt es der An-
schauung nicht mehr, allgemeine Regeln über die Lage des Brennpunktes anzugeben;
nur Folgendes lässt sich noch ohne Construction des besonderen Falles darthun. In
Fig. 39 bedeute I II wieder den Durchschnitt der gekrümmten Fläche des zweiten

Figure 41. Fig. 39.


Mittels, welcher um den Mittelpunkt O mit dem Radius O A beschrieben worden ist.
1 A, 2 A, 3 A, 4 A sind Strahlen, welche von leuchtenden Punkten ausgehen,
die entweder wie 1 in unendlicher Ferne, oder wie 2, 3, 4 auf der Achse liegen.
Man sieht sogleich, dass wenn wie hier der Ort A, in welchen die Strahlen
das zweite Mittel treffen, nur in geringem Abstand von der Mitte liegt, der Diver-
genzwinkel A 2 O sowohl als der Einfallswinkel B A 2 nur wenig und zwar
gleichzeitig wachsen, wenn der leuchtende Punkt von unendlicher Entfernung bis
auf eine solche von wenigen Zollen (oder Linien) sich dem zweiten Mittel nähert.
Unter diesen Umständen folgt aus dem Vorhergehenden sogleich, dass die diesen
Entfernungen zugehörigen Brennpunkte auch nur um weniges von einander ver-
schieden sein können. Die Construction lehrt nun noch, dass bei parallelen Strahlen
der Brennpunkt dem Scheitel der krummen Fläche näher liegt, als für divergirende
und dass sich der Brennpunkt allmählig von der Grenzfläche entfernt, wenn der
Leuchtpunkt in den gegebenen Grenzen (von unendlich bis auf wenige Zolle) näher
rückt. Nähert sich nun aber der leuchtende Punkt aus dem Abstand in mehreren
Zollen (oder Linien) noch mehr an die Fläche, so nehmen nicht allein die Divergenz-
winkel, sondern auch die Einfallswinkel rasch an Grösse zu. In diesen Fällen lässt
uns nun unsere allgemeine Betrachtung vollkommen im Stich, so dass wir nur noch
durch die Construction oder die Rechnung Aufschluss erhalten. Diese gibt aber an,
dass für ein sehr geringes Näherrücken des Leuchtpunktes sich sehr rasch der Brenn-
punkt entferne, ja dass der näherrückende Punkt gar bald eine Lage erreicht, in
welcher selbst die Strahlen, die den Scheitel der brechenden Fläche in der näch-
sten Umgebung der Achse treffen, so sehr gegen letztere divergiren, dass sie im
zweiten Mittel gar nicht mehr convergirend, sondern wiederum, wenn auch schwä-
cher, divergirend laufen.


Nach Allem bedarf es keiner Erläuterung mehr, dass beim Wachsen oder Ver-
kleinern der Krümmungshalbmesser, mit dem die Fläche des zweiten Mittels beschrie-
ben ist, alles Andere gleichgesetzt, auch der Brennpunkt sich entfernt oder nähert.


[199]Brechung durch biconvexe Linsen; Achsenstrahl.

B, Brechung des Lichtes durch eine biconvexe Linse, deren beide Flächen von
optisch gleichartigen Mitteln umgeben sind.


Die ganz allgemeine Aufgabe, den Verlauf eines Strahles der aus dem
vordern Mittel durch die Linse in das hintere Mittel dringt, innerhalb der Linse
und hinter derselben anzugeben, kann gelöst werden, wenn uns bekannt sind:
der Ort, an welchem der aus dem ersten Medium kommende Strahl die vor-
dere Linsenfläche trifft, der Winkel, den er hier mit dem Einfallsloth bildet, das
Brechungsverhältniss zwischen der Substanz der Linse und dem vor und hinter
ihr gelegenen Mittel, die Krümmungshalbmesser der Linsenflächen, und die
Dicke der Linse, d. h. der Abstand ihrer Flächen. Da zur Lösung dieser Aufgabe
eine einfache Anwendung der schon entwickelten Prinzipien genügt, so wer-

Figure 42. Fig. 40.


den wir sie hier ohne ausführliche Er-
läuterung durch Fig. 40 darlegen.
In dieser Zeichnung stellt L L die
Linse, A 2 den Halbmesser der vor-
deren, A′ 3 den der hinteren Fläche
dar. Das Brechungsverhältniss des
Mediums der Linse zu seiner Umgebung
sei ¾ *). Ist also der Strahl 1 2 mit
dem Einfallswinkel 1 2 5 gegeben,
so construirt sich nach bekannten Re-
geln der Gang des Strahls 2 3 inner-
halb der Linse und die Richtung 3 4
jenseits der hinteren Fläche. Die Dicke
der Linse ist, wie ersichtlich, dadurch
von Bedeutung, dass sie die Länge des
Wegs bestimmt, welchen der an der
ersten Fläche abgelenkte Strahl in der
neuen Richtung zu durchlaufen hat.


Eine Durchmusterung aller möglichen Lagen, welche die Strahlen zur Linse an-
nehmen können, führt zu einigen wichtigen und allgemeinen Ergebnissen. Zuerst ist
es deutlich, dass es nur eine Lage des Strahles zur Linse gibt, in welcher der ein-
fallende Strahl ungebrochen durch dieselbe hindurchgeht. Fig. 41. Diese Forderung

Figure 43. Fig. 41.


kann nämlich nur dann erfüllt werden, wenn der
Strahl in der Verlängerung der Krümmungshalb-
messer beider Flächen liegt, und diese Eigenschaft
hat nur derjenige, der auf der geraden Verbin-
dungslinie A A′ beider Halbmesser gelegen ist,
denn nur in diesem Fall macht der Strahl keinen
Winkel mit einem derselben. In jeder beliebigen
andern Lage, die z. B. die Fortsetzung des Halb-
messers der vordern oder hintern Fläche dar-
stellt, B A, C A u. s. w. oder D A′, E A′ u. s. w.
erleidet der Strahl eine Brechung wegen des Win-
kels, den er mit dem Halbmesser der entgegen-
gesetzten Fläche ausmacht. Aus diesem Grunde
ist auch der Achsenstrahl an der Linse ein ganz
bestimmter, während er an einer kugeligen
Fläche, die wir früher in Betracht zogen, will-
kührlich unter unendlich vielen angenommen
werden konnte, in dem jeder um die Kugelfläche
gelegene Leuchtpunkt einen Strahl aussendet, der
in der Verlängerung des Radius liegt.


[200]Richtungstrahlen, Knotenpunkte.

An den Achsenstrahl reihen sich diejenigen an, welche wie der Strahl A′ A
in Fig. 42 parallele Linsenflächen durchsetzen. Diese Strahlen, die sogenannten
Richtungsstrahlen, bilden innerhalb der Linse mit den Einfallslothen an der

Figure 44. Fig. 42.


vordern und hintern Fläche gleiche Winkel
I 1 3, II 3 1, weil nämlich die Einfalls-
lothe dieser Flächen, welche senkrecht
auf letzter stehen sollen, einander pa-
rallel laufen. Daraus folgt aber, dass wenn,
wie in unserm Fall die Linse auf ihren bei-
den Flächen von demselben brechenden
Medium umgeben ist, der Strahl auch
beim Austritt auf der hinteren Fläche den
gleichen Winkel A 3 4 mit dem verlänger-
ten Krümmungshalbmesser oder dem Ein-
fallslothe bilde, den er vor aller Brechung
mit dem Einfallsloth auf der ersten brechen-
den Fläche A′ 1 2 darstellte. Mit andern
Worten, es wird der Strahl hinter der Linse
einen Verlauf nehmen, welcher dem vor der
Linse behaupteten parallel geht. Zugleich aber
wird der ausfahrende Strahl nicht die Ver-
längerung des einfallenden ausmachen, son-
dern beide werden gegen einander verschoben sein, eine Verschiebung, deren
Werth abhängig ist von der Länge des Weges 1 3 (respect. der Entfernung beider
Linsenflächen von einander), welche der Strahl A′ 1 nach seiner ersten Ablenkung
zu durchlaufen hat. Um eine deutliche Vorstellung von dieser Verschiebung (B′ B)
zu erhalten, genügt es, den Strahl in der ein und ausfahrenden Richtung gegen die Lin-
senachse I II zu verlängern A′ B′, A B. Die Punkte B′ und B, in welchen die ver-
längerten Strahlen die Achse schneiden und welche zwei zueinander gehörige Punkte
darstellen, hat man mit dem Namen der Knotenpunkte (Listing) belegt.


Dieser Richtungsstrahl empfängt für die dioptrische Construction eine Bedeu-
tung darum, weil alle andern von dem leuchtenden Punkte A′ ausgehenden Strahlen,
vorausgesetzt, dass sie hinter der Linse ihre Vereinigung finden, auf ihn wieder zu-
sammengebrochen werden müssen, wesshalb die Brennpunkte von A′ in der Richtung
von 3 A liegen. Diese Behauptung bedarf keiner weiteren Begründung, denn wenn
ein Strahlenbüschel einen Vereinigungspunkt hat, so muss dieser auf jedem Strahl
des Büschels und folglich auf dem Richtungsstrahl liegen. Ist demnach der Gang
des Richtungsstrahles bekannt so wird es jedesmal zur genauen Bestimmung der
Lage des Brennpunktes genügen, wenn man die gerade Entfernung E dieses letztern
von der hinteren Linsenfläche kennt; denn offenbar würde der Durchschnittspunkt des
Richtungsstrahls 3 A mit der Linie E A den Ort des Brennpunktes bezeichnen.


Der innigen Beziehung wegen, die zwischen den Knotenpunkten und dem Rich-
tungsstrahl besteht, kann man unter den Angaben, welche zur Bestimmung der Brenn-
punktslage dienen sollen, die der Knotenpunkte denjenigen des Richtungsstrahles
substituiren und es kann demnach, wenn die Lage eines leuchtenden Punktes, die-
jenige der Knotenpunkte, und die Entfernung des Brennpunktes von der hintern Lin-
senfläche gegeben ist, der Richtungsstrahl und der Ort des Brennpunktes durch lineare
Construction gefunden werden; zu diesem Behufe zieht man einfach eine gerade Ver-
bindungslinie zwischen dem Leuchtpunkt A′ und dem ersten Knotenpunkt B′; und
dann eine dieser parallele Linie vom zweiten Knotenpunkt B; es gibt dann die Linie
3 A den Verlauf des Richtungsstrahles nach der Brechung u. s. w.


Bei der ungemeinen Bequemlichkeit, die diese Constructionsmethode bietet, er-
scheint es werthvoll, die Lage und den Lagenwechsel der Richtungsstrahlen einer
[201]Wechselnde Lage der Knotenpunkte.
genauen Untersuchung zu unterwerfen, um zu ermitteln, inwieweit sie als allgemeine
Constructionshilfen zu gebrauchen seien. Hier ergibt sich nun: a) Alles Andere

Figure 45. Fig. 43.


Figure 46. Fig. 44.


gleichgesetzt wechselt der Richtungsstrahl
mit dem Brechungsverhältniss, und na-
mentlich weichen die Knotenpunkte um so
beträchtlicher auseinander, je grösser die
Unterschiede in den brechenden Kräften
beider Medien ausfallen. Diesen Satz macht
die Fig. 43 anschaulich, indem sie zeigt,
dass zum Verlauf 1 2 des Strahles inner-
halb der Linse ausserhalb dieser bald der
von A 1 und bald der von A′ 1 ge-
hört, je nach dem Verhältniss des Sinus
vom Brechungswinkel 7 8 zu dem Sinus
der Einfallswinkel 4 5 oder 3 6. Der
bekannten Construction nach fallen nun
die Knotenpunkte für das Verhältniss
von 7 8 : 3 6 auf B B; und für
7 8 : 5 4 auf C. C. — b) Alles An-
dere gleichgesetzt wechselt auch der Rich-
tungsstrahl mit der Lage des Leucht-
punktes (Fig. 44), und zwar wächst der
Abstand beider Knotenpunkte mit der
Grösse des Winkels, welchen das auf
die Einfallsorte 1, 2 der Richtungs-
strahlen A 1, A′ 2 u. s. w. gezogene Ein-
fallsloth I 1, I 2 u. s. w. mit der Lin-
senachse I II bildet.


Da nun endlich auch mit dem Wechsel in
dem Brechungsverhältniss, der Grösse des
Krümmungshalbmessers der Linsenflächen
und der Entfernung des Leuchtpunktes
von der Linse der Brennpunkt sich ver-
ändert, so ist ersichtlich,
dass das Construktionsver-
fahren aus der Lage der
Knotenpunkte und dem Ab-
stand des Brennpunktes je-
desmal ganz bestimmte An-
gaben nöthig macht.


In der That ist man nun
übereingekommen, an der
Linse die Lage der Knoten-
punkte als fixirt anzuneh-
men, unter den drei Voraus-
setzungen, dass die Linse in
einem und demselben Mittel
verweile, dass der Leucht-
punkt unendlich entfernt sei, also mit parallelen Strahlen zur Linse komme und nur
ein Strahlenbüschel in Betracht gezogen werde, dessen Berührungsorte mit der
Linienfläche am Krümmungsmittelpunkt einen unendlich kleinen Winkel mit der
Linsenachse ausmachen.


C. Der dioptrische Apparat des Auges besteht im Wesentlichen aus einer Ver-
bindung der beiden bisher untersuchten brechenden Zusammenstellungen; denn es
[202]Zurückführung der Brechungserscheinungen
dringt das Licht in den Augapfel aus der Luft durch die convexe Fläche der Cornea in
eine vorzugsweise wässerige Flüssigkeit, welche den Raum von der Cornea zur
Retina einnimmt; auf seinem Wege durch dieses zweite Mittel erfährt aber der Licht-
strahl noch eine zweite Ablenkung durch die Linse, welche vom optischen Gesichts-
punkt aus vorn und hinten durch dasselbe Mittel begrenzt ist. Die Angabe des
Verlaufes eines Strahles, der auf die vordere Fläche der Cornea trifft, wird also nur
ausführbar sein, wenn die nöthigen Data gegeben sind. Indem wir eine solche
Construktion zur Uebung jedem Anfänger überlassen, mag hier nur die Bemerkung
genügen, dass der Strahl bei Uebergang aus der Luft in die Cornea die grösste
Ablenkung erfährt, weil das Brechungsverhältniss zwischen Luft und Cornea sehr
viel beträchtlicher ist, als das der wässrigen und glasigen Feuchtigkeit zur Linse.


Jedermann, welcher nun einmal den Gang eines Strahles aus der Luft durch
das Auge nach den von uns gegebenen Vorschriften construirt hat, wird sogleich
einsehen, dass dieses Verfahren viel zu umständlich ist, als dass es zu praktischen
Zwecken dienen könnte. Man hat darum zu allen Zeiten noch andere, einfachere
Verfahrungsarten gesucht. Unter ihnen zeichnen sich diejenigen aus, welche von
Moser und vorzugsweise von Listing aus den ausgezeichneten dioptrischen Unter-
suchungen von Gauss und Bessel abgeleitet sind, weil sie den Vortheil bieten, ohne
die mindeste Beeinträchtigung der Genauigkeit, das Auge als nur eine Linse ansehen
zu dürfen. Dieses Verfahren, dessen nähere Begründung bei Listing nachzusehen,
verlangt, dass für ein beliebig complizirtes brechendes System angegeben werde:
die Achsen desselben und die Lage seiner vordern und hintern Hauptbrenn-
punkte, und diejenigen seiner Knoten und Hauptpunkte. Unter der Achse begreift
man die gerade Linie, welche die Krümmungsmittelpunkte sämmtlicher brechenden
Flächen vereinigt; die Hauptbrennpunkte sind diejenigen Punkte auf der Achse,
in welchen die Strahlen vereinigt werden, welche parallel auffallen auf eine der End-
flächen des Systems und zwar auf ein Stück der Fläche, dessen Radien einen sehr
kleinen Winkel mit der Achse am Krümmungsmittelpunkt einschliessen. Der vor-
dere Hauptbrennpunkt ist nun derjenige, welcher diesseits der vordersten Fläche
des Systems liegt, in welchen also die auf die hinterste Fläche einfallenden Strahlen
vereinigt werden, der hintere Hauptbrennpunkt der entgegengesetzt liegende. —
Die Knotenpunkte sind analog denjenigen Punkten, die wir an einer einfachen Linse
ebenfalls Knotenpunkte der Richtungsstrahlen und an der einfachen brechenden
Fläche den Kreuzungspunkt der Achsenstrahlen (den Krümmungsmittelpunkt)
nannten, und endlich sind die Hauptpunkte zwei Punkte, welche den Knotenpunkten
coordinirt sind, indem sie voneinander eben so weit entfernt liegen, als die Knoten-
punkte und der vorderste Hauptpunkt von dem vorderen Hauptbrennpunkt genau so
weit absteht, als der hintere Knotenpunkt von dem hintern Hauptbrennpunkt. Durch
die Achse denke man sich nun eine Ebene gelegt und senkrecht auf diese sechs
andere errichtet an den Orten, an welchen die Brenn-, Haupt- und Knotenpunkte die
Ebene treffen. Diese Ebenen sollen vordere und hintere Hauptbrennebenen, vordere
und hintere Hauptebenen und vordere und hintere Knotenebenen genannt werden.
Gesetzt es sei in Fig. 45 A A die Achse, B′ B′ die vordere und B″ B″ die hintere
Hauptbrennebene, H′ H′ die vordere und H″ H″ die hintere Hauptebene, K′ K′ die
vordere und K″ K″ die hintere Knotenebene und 1 sei ein im ersten Mittel vor
dem Linsensystem gelegener Leuchtpunkt. Um den Verlauf eines beliebigen Strahles
nach der Brechung hinter dem Linsensystem zu ermitteln, verfahre man folgen-
dermassen: Man verlängere einen beliebigen von 1 ausgehenden Strahl 2 bis er
die vordere Hauptebene schneidet und verbinde diesen Einschnittspunkt mit
der hintern Hauptebene durch eine zur Achse parallele Linie 2 3, lege dann pa-
rallel mit dem Verlauf des Strahles 1 2 aus dem vordern Hauptbrennpunkt b die
Linie b 4 bis sie ebenfalls die vordere Hauptebene schneidet, und verbinde
auch diesen Durchschnittspunkt durch eine zur Achse parallele Linie 4 5 mit
[203]am Auge auf die erläuterten Grundsätze.

Figure 47. Fig. 45.


der hintern Hauptbrennebene. Eine Linie 3 5, welche den Durchschnittspunkt von 2 3
mit der hintern Haupt- und von 4 5 mit der hintern Hauptbrennebene verbindet, stellt
die Richtung des Strahles hinter dem Linsensysteme dar. — Diese Construktionsme-
thode gewährt um so grösseren Vortheil, als es mittelst derselben gelingt, auch
den Vereinigungspunkt nicht paralleler Strahlen (der jenseits der hintern Haupt-
brennebene gelegen ist) aufzufinden, wenn man nämlich mehrere Strahlen desselben
Leuchtpunktes construirt und sie hinter dem Linsensysteme so weit verlängert,
bis sie sich schneiden. Die in unserer Fig. angegebenen Hilfsmittel und insbesondere
die Knotenpunkte geben ausserdem noch die Möglichkeit an die Hand, den sog.
Richtungsstrahl eines Leuchtpunktes zu finden; es ist dieses nämlich diejenige Linie
1 6, welche sich vom Leuchtpunkt 1 gegen den vordern Knotenpunkt 6 er-
streckt, die dieser parallel 7 8 vom hintern Knotenpunkt auslaufende, bezeichnet
den Richtungsstrahl d. h. den Strahl, welcher unter allen vom Punkt 1 ausgehenden
und durch das Linsensystem dringenden die geringste Brechung erleidet.


2. Formen, Dicken und Brechungsverhältnisse der durchsichtigen
Augentheile *). — Das Gesetz, nach welchem die Fläche der Cornea
gekrümmt ist, steht noch nicht fest. Die Begrenzungslinien eines hori-
zontalen Schnittes durch die höchste Hervorragung der Cornea schlies-
sen sich nach den genauen Messungen von Krause am besten einer
Parabel an, während sie Senff für elliptisch erklärt. Die Begrenzungs-
linie eines senkrechten Schnittes durch die höchste Hervorragung der
Cornea ist nach Senff ebenfalls nach einer Ellipse gekrümmt; nach
diesem letzten Autor sind zudem die Dimensionen dieser beiden Ellip-
sen verschieden in der Art, dass dem Scheitel der senkrechten ein
etwas kleinerer Krümmungskreis zukommt als dem Scheitel der hori-
zontalen.— Horizontale Schnitte durch die grössten Hervorragungen der
Linse liefern nach Krause elliptische Begrenzungslinien; der Krüm-
mungskreis des Scheitels derjenigen Ellipse, welche der vorderen
Fläche angehört, ist um einen grössern Halbmesser beschrieben als
derjenige, welcher dem Scheitel der hintern Grenzellipse zukommt. —
Aus Brechungserscheinungen, welche das Auge bietet, hat Sturm
schon geschlossen, dass die brechenden Flächen des Auges nach der
[204]Brechende Flächen und Brechungsverhältnisse der Augenmedien.
horizontalen Richtung anders gekrümmt sein müssen als nach der
vertikalen und Ad. Fick hat darauf ermittelt, dass der Halbmesser
der horizontalen Krümmungskreise ein grösserer ist, als derjenige
der vertikalen Krümmungskreise. Die absoluten Werthe der Parame-
ter der erwähnten Curven und demnach auch der Krümmungskreise
ihrer Scheitel sind bei den Augen verschiedener Individuen sehr ab-
weichend voneinander gefunden worden.


Die Verbindungslinie der einzelnen in Betracht kommenden Krüm-
mungsmittelpunkte soll nach Krause (und Senff?) keine gerade
sein; demnach würde keine optische Axe des Auges existiren.


Die Abstände zwischen den Scheiteln der brechenden Flächen und
namentlich die der Cornea von der vordern Linsenfläche; die dieser
letztern von der hintern Linsenfläche und endlich der hintern Linsen-
fläche von der Retina sind noch nicht allseitig genug untersucht worden.


Das Brechungsverhältniss zwischen Luft und der Hornhautsubstanz
ist nach Chossat = ; dasjenige zwischen Luft und wässeriger
Augenfeuchtigkeit nach Chossat und Brewster = . Die Bre-
chungsverhältnisse des Stoffes der Linse und des Glaskörpers sind nicht
bestimmbar, weil Linse und Glaskörper im Innern optisch ungleich-
artig und von sehr zahlreichen gekrümmten Flächen durchzogen
sind; Linse- und Glaskörperstücke wirken darum, auch wenn sie mit
parallelen Grenzflächen versehen nicht allein ablenkend durch das
Brechungsvermögen ihres Stoffes, sondern auch durch dasjenige der
in ihnen enthaltenen krummen Flächen. Um aber einen Anhaltspunkt
für die optische Behandlung des Auges zu erhalten, ist man dennoch
übereingekommen, die ganze Ablenkung, welche das Stück einer Linse
oder eines Glaskörpers mit parallelen Endflächen hervorzurufen vermag,
dem Brechungsvermögen des Stoffes zuzuschreiben. In diesem Sinne
ist der Brechungsexponent der Linse *) (die Luft als Einheit ange-
nommen) nach Senff = und derjenige des Glaskörpers nach Chos-
sat
und Brewster = . — Aus diesen Thatsachen ergibt sich nun,
dass man die brechenden Kräfte der Cornea, wässerigen Feuchtigkeit
und des Glaskörpers als identisch ansehen darf.


Die Methoden, nach denen die vorstehenden Messungen vorgenommen wurden,
sind in den gewöhnlichen physikalischen Lehrbüchern nachzusehen. Dass das, was
man Brechungsverhältniss der Linse nennt, zum Theil von ihrem lamellösen Bau und
nicht allein von ihrer chemischen Zusammensetzung bedingt ist, geht daraus hervor,
dass, obwohl der Linsenkern stärker bricht, als die peripherischen Stücke, die Ge-
sammtlinse dennoch noch stärker ablenkt als der Kern. — Der Einfluss der Formen
im Glaskörper scheint sich weniger geltend zu machen; namentlich aber brechen,
wie Pappenheim**) ermittelte, alle Schichten desselben gleichstark.


[205]Das mittlere Auge.

3. Das mittlere Auge *). Bei dem Mangel an Uebereinstimmung in
den Maasswerthen der Elemente verschiedener Augen, welche den Gang
des Strahles bestimmen, hat man sich zu verschiednen Zeiten aus sämmt-
lichen Messungen ein mittleres Auge abgeleitet, welches den optischen
Betrachtungen zu Grunde gelegt wurde. Das beste mittlere Auge scheint
das von Listing berechnete zu sein. — Die Brechungsverhältnisse des-
selben sind: das der Luft = 1; der wässerigen Feuchtigkeit = ; der
Linse = ; der Glasfeuchtigkeit = ; es betragen die Krümmungs-
halbmesser der horizontalen Begrenzungslinie am Scheitel der Cornea
+ 8 MM. **), der vordern Linsenfläche + 10 MM. der hintern Linsen-
fläche — 6 MM. Die Abstände der Scheitel jener brechenden Flächen
sind endlich zwischen Cornea und vordern Linsenfläche und zwischen
vorderer und hinterer Linsenfläche zu je 4 MM. angenommen. Der
ganze Durchmesser des Auges ist mit Einschluss der ihn begrenzenden
Sclerotica zu 24,5 MM. festgestellt. — Berechnet man für ein solches Sy-
stem die Lage der Brenn- Haupt- und Knotenpunkte für parallele
Strahlen, welche nur um kleine Winkelabstände von der Achse ein-
fallen, so findet sich von der Vorderfläche der Cornea aus gerechnet:
der erste Brennpunkt 12,83 MM. vor der Hornhaut, und hinter ihr der
zweite Hauptbrennpunkt 22,65 MM.; der erste Hauptpunkt 2,17 MM.
und 0,40 entfernt von diesem der hintere Hauptpunkt; der erste Kno-
tenpunkt 7,24 MM. und der zweite um 0,40 entfernt vom erstern. —
Abgesehen von den Annäherungen, welches dieses Listing’sche
Auge an die normalen Maassverhältnisse bietet, empfiehlt es sich
auch noch dadurch: dass entsprechend den im Leben vorkommenden
Brechungserscheinungen die hintere Hauptbrennfläche in die Retina
fällt, und dass der vordere Knotenpunkt ungefähr an der Stelle liegt,
welche ihr nach Messungen von Volkmann am lebenden Auge zu-
kommt.


Das mittlere Auge nimmt dagegen auf einen wichtigen Umstand des natürlichen
nicht Rücksicht, auf den nämlich, dass die Flächen des Auges weder sphärisch sind,
noch auch einem Rotationskörper angehören. Von diesem Mangel kann aber vorerst
noch Umgang genommen werden; ja es genügt sogar für die meisten physiologisch-
optischen Betrachtungen, das Auge als einen Körper anzusehen, der nur aus einem
gleichartigen optischen Mittel gebildet ist und von einer sphärischen Fläche begrenzt
wird. Diese freilich schon sehr von der Wahrheit abweichende Annahme gewährt
den Vortheil, dass durch sie die beiden Knoten- und Hauptpunkte auf je einen zu-
rückgeführt werden. Das Nähere hierüber siehe bei Listing l. c. p. 493. — Die
Bestimmung des vorderen Knotenpunktes ist von Volkmann nach einer Methode
ausgeführt worden, die mannigfachen Ausstellungen ausgesetzt ist. Zu genauern Re-
[206]Sehen in verschiedene Fernen.

Figure 48. Fig. 46.


sultaten dürfte es führen,
wenn man (Fig. 46) in die
Verlängerung der Sehachse
S S in verschiedener Entfern-
ung die Mittelpunkte zweier
kleinen symmetrischen und
sich ähnlichen Körper A′ A
und B′ B brächte, so dass sie
sich im Auge decken; offen-
bar würden dann die Punkte
A und B und ebenso A′ und B′ dieselben Richtungsstrahlen besitzen, deren Richtung
durch die Punkte A B und A′ B′ angegeben würden. Hätte man dann den Abstand
E C, nämlich den des Mittelpunktes unseres ersten Körpers von der höchsten Erha-
benheit der Cornea, ferner die Entfernung E D, und die Grösse A D und E B gemes-
sen, so würde man durch einfache Proportionsrechnung den Schnittpunkt der
Richtungsstrahlen K und zugleich dessen Lage im Auge bestimmen können.


4. Feststellung der hintern Brennfläche bei wechselnder Diver-
genz der in das Auge fallenden Strahlen. Sehen in verschiedene Fer-
nen; Einrichtung des Auges.


Mit der Entfernung des Leuchtpunktes von den Grenzflächen
eines Linsensystems wechselt bekanntlich der Ort des Vereinigungs-
punktes hinter der Linse, oder was dasselbe der Ort des deutlichen
Bildes, welches hinter der Linse von einem vor ihr liegenden Ge-
genstand entworfen wird. Wäre also das Problem zu lösen, trotz
wechselnder Entfernung des Gegenstandes, den Abstand des Bildes
von dem Linsensystem beständig zu erhalten, so würde dieses nur
möglich sein, indem man die brechenden Eigenschaften der Linsen
änderte in der Art, dass mit steigender Näherung die Brechkräfte
der Linsen im Zunehmen begriffen wären.


Dieses Verhalten ist nun auch eine Eigenschaft des physiologi-
schen Linsensystemes des Auges, welche durch ein eben so einfaches
als geistreich erdachtes Mittel, den Augenspiegel von Helmholtz, *)
zu Jedermanns Anschauung gebracht werden kann. Mittelst dieses
Spiegels ist man nach geringer Uebung im Stande die Retina eines
andern lebenden Menschen genau zu betrachten, und sowohl die ihr
zugehörigen Formen als auch unter günstigen Umständen die auf ihr
entworfenen Bilder äusserer Gegenstände scharf aufzufassen. Führt
man nun die Betrachtung einer lebenden Retina mit Berücksichtigung
der auf ihr entworfenen Bilder äusserer Gegenstände aus, so gewahrt
man, dass wenn ein Objekt, welches vor dem Auge sich findet, auf
der Retina scharf erscheint jedes ferner oder näher liegende sich
nicht deutlich abbildet. Zugleich aber ergibt sich, dass es dem Auge
möglich wird zu verschiedenen Zeiten auf dieselben Stellen der Seh-
haut Gegenstände sehr verschiedener Entfernung genau abzubilden;
hierbei tritt aber der wohl zu merkende Umstand ein, dass das ursprüng-
lich deutliche Bild seine Schärfe verliert, so wie das Bild eines entfern-
[207]Sehen in verschiedene Fernen; Augenspiegel.
teren oder näheren Gegenstandes zum Vorschein kommt, selbst wenn
die Richtung der Sehachse zum ersten Objekt unverändert bleibt, so
dass zu jeder Zeit die Strahlen desselben in das Auge gelangen können.


Aus allen diesem folgt nun, dass das brechende System des
Auges in einem bestimmten Zustand (unveränderlich gedacht) nur
von den Leuchtpunkten Bilder auf die Retina zu entwerfen vermag,
welche sich in einer ganz bestimmten Entfernung von dem Auge fin-
den; zugleich aber dass die Zustände des brechenden Systems in der
Art veränderbar sind, dass auch Gegenstände sehr verschiedener Ent-
fernung auf der Retina abgebildet werden können.


Diese letztere Eigenschaft, welche das Auge mit vielen künstli-
chen Linsensystemen theilt, nennt man das Einrichtungs-, oder Acco-
modationsvermögen des Auges.


Die Pupille des Auges erscheint bekanntlich vollkommen schwarz, obwohl sehr
beträchtliche Lichtmassen, welche im Innern des Auges gespiegelt werden, aus ihr
treten. Der Grund dieses scheinbar paradoxen Verhaltens ist aber durch einen Blick

Figure 49. Fig. 47.


Figure 50. Fig. 48.


auf Fig. 47 klar, welche zeigt, dass alle Strah-
len, welche vom leuchtenden Punkt A ausge-
hend in dem Auge bei A′ zusammengebrochen
und dann von hier gespiegelt das Auge verlas-
sen, auch im Raum wieder bei A zusammenge-
lenkt werden. Der Retinapunkt A und alle übri-
gen senden also das gespiegelte Licht immer
nach dem Ort, von dem aus sie erleuchtet
werden, und somit würde bei gewöhnlichem
Gange der Lichtstrahlen uns die Pupille eines
Andern nur dann hell erscheinen, wenn die
Erleuchtung der Retina des
Andern von unserm [Auge] aus-
ginge. Hält man dagegen
(Fig. 48) vor das Auge einen
unbelegten Spiegel (eine
Glassplatte) S S in der be-
zeichneten oder in einer ähn-
lich geneigten Stellung und
bringt einen leuchtenden Ge-
genstand bei L an, so werden
die von L ausgehenden und
auf S S fallenden Strahlen
zum Theil durch die Platte den
Weg der getüpfelten Linien
nehmen, zum Theil aber gegen
das Auge A A reflectirt und
von diesem nach R gebrochen werden. Die bei R vereinigten Strahlen werden
nun in der Richtung wieder nach aussen geworfen, in der sie eintraten, und von
neuem auf der Glasplatte anlangen. Ein Theil derselben wird nach L zurückgehen,
ein anderer aber durch das Glas dringen und bei B in dem Ort zur Vereinigung
kommen, in welchem auch scheinbar das Spiegelbild liegt. An diesen Ort muss
nun der Beobachter, welcher den Bildpunkt R im Auge A A sehen will, seine
Retina bringen. Würde er aber zu diesem Behuf sein Auge unmittelbar in den
Strahlenkegel zwischen B und die Platte führen, so würde, wegen der stark bre-
[208]Deutliches Sehen.
chenden Eigenschaften seines Auges, die Vereinigung der an und für sich convergiren-
den Strahlen schon vor der Retina erfolgen. Darum ist es noch nothwendig, in den
Gang der Strahlen die zerstreuende Linse L L einzufügen, wodurch dieselben aus
dem convergirenden in den parallelen oder divergirenden Verlauf gebracht und dann
durch das beobachtende Auge wieder zusammengebrochen werden. Durch diese Mit-
tel gelingt es, nicht allein den Punkt R zu sehen, sondern noch mehr, man gewahrt
ihn auch vergrössert, indem das vor R gelegene convexe Linsensystem des beob-
achteten Auges ungefähr wie ein 24 mal vergrösserndes Glas wirkt. Die Theorie
und das Genauere des Baues dieses auch für ärztliche Zwecke wichtigen Instru-
mentes siehe bei Helmholtz in der citirten Schrift.


Der Zeitraum, in welchem der Beobachter mittelst des Augenspie-
gels auf der Retina ein deutliches Bild des leuchtenden Gegenstandes
bemerkt, trifft nun mit demjenigen zusammen, in welchem das beob-
achtete Auge den Gegenstand scharf wahrnimmt. Daraus folgt unmit-
telbar, dass ein Gegenstand nur dann deutlich gesehen werde, wenn
er ein scharfes Bild auf der Retina entwirft. Die Nothwendigkeit die-
ses Zusammenhanges lässt sich nun auch noch anderweitig darthun *).


Figure 51. Fig. 49.

Nehmen wir an (Fig. 49), es sende ein unmittelbar vor der vorderen Haupt-
brennebene B B gelegener Gegenstand die Strahlenbüschel C C′ C″ und D D′ D″ aus,
so werden sie, vorausgesetzt, dass für parallele Strahlen die hintere Brennebene des
Auges auf der Retina R R gelegen sei, weit hinter der letztern ihre Vereinigung
finden. Die Punkte C und D des Gegenstandes C D werden demnach auf der Retina
durch Kreise — die Zerstreuungskreise — dargestellt. In demselben Falle
werden sich nun auch alle zwischen D und C gelegenen Punkte des Gegenstandes
C D finden. Je nach der Grösse des Durchmessers der Zerstreuungskreise würden
sich also die Bilder in mehr oder weniger grosser Anzahl neben einander liegender
Punkte decken, mit andern Worten, es werden verschiedene Stellen des Gegenstan-
des auf dieselben Flächen der Retina ihre Strahlen senden. Dieses bedeutet aber
nichts anderes, als dass die kleinen und gedrängt liegenden empfindenden Elemente
der Sehhaut gleichzeitig von verschiedenen Orten Eindrücke empfangen, welche, in-
dem sie sich gegenseitig stören, ein undeutliches Sehen erzeugen; offenbar wird also
mit der Grösse der Zerstreuungskreise auch die Undeutlichkeit des Sehens wachsen;
nimmt dagegen der Umfang der Zerstreuungskreise bis auf einen gewissen Werth ab,
so dass derselbe die Grösse eines empfindenden Netzhautelements nicht mehr über-
schreitet, so wird durch noch fortschreitende Verkleinerung desselben das deutliche
Sehen nicht weiter gefördert.


[209]Deutliche Sehweite; Optometrie.

Die Fähigkeit des Auges sich in zeitlicher Folge für Gegenstände
verschiedener Entfernung einrichten zu können, ist keine unbe-
schränkte, indem auch die besten Augen Gegenstände, die diesseits
und die meisten solche, die jenseits gewisser Entfernungen liegen
nicht mehr deutlich aufzufassen vermögen. Der Raum, innerhalb des-
sen sich die Gegenstände bewegen dürfen, damit von ihnen der
dioptrische Apparat des Auges noch scharfe Bilder auf die Retina ent-
werfen könne, führt den Namen der deutlichen Sehweite; die
Grenzpunkte dieses Raumes heissen Nähe- und Fernpunkte.


Zur Bestimmung der Sehweite eines Auges bedient man sich eines besondern
Verfahrens, (Optometrie) das auf den sogenannten Scheiner’schen Versuch ge-
gründet ist. Das Prinzip desselben ist folgendes: Man stösst durch ein undurch-
sichtiges Blatt (ein Kartenblatt) zwei feine Oeffnungen, welche einander näher lie-
gen, als der Durchmesser der Pupille, bringt dieselben nahe vor das Auge, und führt vor
und zwischen beide Löcher einen feinen Gegenstand (eine Nadelspitze); indem man
die Nadel von einem dem Auge sehr beträchtlich angenäherten Punkte allmählig bis
zu einem beträchtlich fern gelegenen in einer horizontalen Linie fortbewegt, er-
scheint die Nadelspitze zuerst doppelt, dann einfach und endlich wieder doppelt. Der
Raum, in welchem die Nadel einfach erscheint, ist derjenige der deutlichen Sehweite.
Denn gesetzt, es stelle in Fig. 50 A den leuchtenden Punkt dar, der dem Auge so an-

Figure 52. Fig. 50.


Figure 53. Fig. 51.


genähert worden, dass
die Vereinigung seiner
Strahlen erst weit hin-
ter der Retina R R zu
Stande komme, so wird er
durch den Zerstreuungs-
kreis 3 4 auf der letztern
dargestellt werden. Wird
nun in das Strahlenbü-
schel A 1 2 der von zwei
Oeffnungen 1 2 durch-
brochene Schirm S S ge-
halten, so werden auch
nurzwei, diesen Oeffnun-
gen entsprechende, Ab-
theilungen des Strahlen-
büschels auf die Retina
fallen, während die mitt-
lern Strahlen, durch das
Stück des Schirmes B auf-
gefangen, einen Schatten
dieses letztern auf die
Retina werfen. Ist dage-
gen (Fig. 51) der leuch-
tende Punkt A in eine sol-
che Entfernung gelegt,
dass die von ihm auf das
Auge fallenden Strahlen
sich schon vor der Retina
in C vereinigen, so werden sie nachdem sie im Vereinigungspunkt sich gekreuzt haben,
auseinander fahren, und abermals den Zerstreuungskreis 3, 4 auf der Retina bilden.


Ludwig, Physiologie I. 14
[210]Lage des Nähe- und Fernpunktes.

Werden nun auch in diesem Strahlenkegel durch den Schirm S S in der früheren
Weise die mittleren Strahlen abgehalten, so werden sich bei C auch nur zwei Strah-
lenbüschel kreuzen können, welche bei 3 und 4 die Retina erleuchten. Die beiden
vorgeführten Fälle unterscheiden sich darin voneinander, dass in dem ersteren
die Bilder auf der Retina entsprechend den Oeffnungen vor dem Auge liegen, wäh-
rend sie in dem zweiten gekreuzt sich finden, so dass das auf der Retina untere Bild
von den Strahlen herrührt, die durch die obere Oeffnung des Schirmes fielen und
umgekehrt. — Liegt aber endlich der Leuchtpunkt A in einer solchen Entfernung,
dass der Kreuzungspunkt seiner das Auge treffenden Strahlen auf die Retina fällt,
so kann begreiflich durch Einschiebung eines Schirmes, der einen Theil dieser Strah-
len abhält, keine andere Folge erzeugt werden als die, dass das Bild auf der Retina
lichtschwächer erscheint.


Die Weite des deutlichen Sehens sowohl, als die Lage der Gren-
zen zum Auge erweisst sich nun verschieden, je nach mannigfachen
Umständen. Namentlich aber ist a) das Auge niemals gleichzeitig für
die in der horizontalen und vertikalen Ebene verlaufenden Strahlen
eingestellt. Diese von Ad. Fick*) festgestellte Thatsache findet ihre
Begründung darin, dass die in der vertikalen Ebene liegenden Krüm-
mungshalbmesser der brechenden Flächen andere sind als die in der
horizontalen Ebene vorkommenden. Nach Ad. Fick sind die Augen ge-
wöhnlich für die Strahlen der horizontalen Ebene eingestellt. —
b) Wenn das Auge für die Strahlen eingestellt ist, welche auf den
mittleren Theil der Cornea fallen, so vereinigen sich auf der Retina
die Randstrahlen der Cornea nicht, Moser**). Diese Erscheinung fin-
det ihren Grund in der sphärischen Aberration. — c) Der Nähepunkt
rückt nach H. Meyer***) an das Auge um einige Millimeter heran,
wenn man dasselbe von aussen nach innen richtet. Auf die möglichen
Gründe dieser Erscheinung werden wir alsbald eingehen. d) Die Ent-
fernung der Grenzpunkte der deutlichen Sehweite der beiden Augen
ein und desselben Individuums ist sehr häufig eine verschiedene, in
der Art, dass von den beiden Augen das eine fernsichtiger ist als
das andere. — e) Die Ausdehnung der deutlichen Sehweite sowohl,
als die Entfernung ihres Nähepunktes von der Cornea wechselt bei
demselben Individuum mit dem Alter, namentlich entfernt sich mit
dem steigenden Alter der Nähepunkt vom Auge; mit andern Worten
das alternde Auge wird fernsichtig. — f) Durch eine Reihe von Arznei-
mitteln, welche örtlich auf das Auge angewendet werden, lässt
sich der Raum des deutlichen Sehens einengen, indem durch Einträu-
feln von flüssigem Belladonna- und Hyoszyamusauszug der Nähe-
punkt sich vom Auge entfernt; man schreibt diesen Erfolg einer Läh-
mung des muskulösen Einrichtungsapparates zu. — g) Die Augen der
einen Individuen sind entweder durch Erziehung oder durch ange-
[211]Mechanismus der Einrichtung.
borne Eigenthümlichkeit kurzsichtiger als die der andern. Namentlich
büssen die Augen durch anhaltendes Betrachten naher Gegenstände
die Fähigkeit ein sich für ferne Gegenstände einzurichten (Kurzsich-
tigkeit), während umgekehrt nach lange Zeit fortgesetztem Sehen in
die Ferne das Auge in einen Zustand geräth, in welchem stark diver-
girende Strahlen ihren Brennpunkt nicht mehr auf der Retina, sondern
hinter derselben finden (Fernsichtigkeit) *).


Diese Mittheilungen zeigen, dass es unthunlich sei, den Umfang der deutlichen
Sehweite des menschlichen Auges im Allgemeinen in Zahlen ausgedrückt anzugeben.
— Zahlreiche Beobachtungen haben nur den allgemeingiltigen Satz festgestellt,
dass die in das Auge convergirend einfallenden Strahlen niemals auf, sondern immer
vor der Retina ihre Vereinigung finden. Augen, denen das Einrichtungsvermögen
im besondern Grade zukommt, vereinigen die aus unendlicher Ferne (parallel)
kommenden Strahlen ebensowohl, als die aus einem Augenabstand von 80 bis
100 M. M. ausgehenden auf der Retina.


Die innern Veränderungen, welche im Auge vorgehen müssen,
um den Vereinigungspunkt der Strahlen bei wechselnder Entfernung
des Leuchtpunktes auf der Retina zu fixiren, beruhen auf der Verkür-
zung willkürlich beweglicher Muskelröhren und zwar scheint die
Verkürzung derselben dem Einrichtungszustand des Auges für die
Nähe zu entsprechen. Mit einiger Wahrscheinlichkeit darf dann noch
der Zusatz gemacht werden, dass durch die Muskelverkürzung die
Linse im Auge nach vorn geschoben werde, Hueck**).


Diese Angaben halten wir für berechtigt, weil wir willkürlich
unser Auge für verschiedene Entfernungen anpassen können, und
weil eine messbare Zeit nothwendig ist, wenn wir von der genauen
Betrachtung eines entfernten zu der eines nahen Gegenstandes über-
gehen wollen; diese Zeit, welche nach Volkmann***) durch den
Scheinerschen Versuch messbar sein soll, nähert sich derjenigen an,
welche zu kleinen Muskelverkürzungen nothwendig ist. — In dem
Zustand einer vollkommenen Ruhe, bei geschlossenen Augenliedern,
scheint das Auge für die Ferne eingerichtet zu sein, wie wir daraus
schliessen, dass nach Eröffnung der Augenlieder jedesmal die Accom-
modation für die Ferne vorhanden ist; Volkmann; und weil wir uns
beim Sehen in die Nähe einer Anstrengung des Auges bewusst
werden.


Die Hypothesen über den optischen Mechanismus, welcher dem Sehen in verschie-
dene Entfernungen zu Grunde liegt, sind zwar sehr zahlreich, aber bei weitem der
grösste Theil derselben verdient der Vergessenheit anheim gegeben zu werden. Zu
diesen letzteren zählen alle diejenigen, welche behaupten, dass auch ohne irgend
welche vorgängige Veränderung im Auge, alle Strahlenbüschel auf der Retina
ihre Vereinigung fänden, die von einem Leuchtpunkt innerhalb der Sehweite aus-
14*
[212]Mechanismus der Einrichtung; Durchmesserveränderung des Bulbus.
gehen *). Diese Annahme verlangt, dass das Auge gleichzeitig für alle in der Seh-
weite gelegenen Gegenstände accommodirt sei; da unser Auge aber in Wirklichkeit
nur für die Gegenstände einer einzigen Entfernung eingerichtet ist, resp. wenn wir
einen Gegenstand sehen, uns alle anderen undeutlich werden, so ist der Gegensatz zwi-
schen ihr und den Thatsachen bemerkenswerth genug. — Fernerhin sind zu verwer-
fen diejenigen Annahmen, welche auf eine Veränderung des Brechungscoeffizienten
der Augenmittel und eine Veränderung der Krümmungshalbmesser der brechenden
Flächen zählen. — Wenn man glaubte, dass durch eine irgendwie eingeführte Com-
pression der Augenmittel die Brechungskoeffizienten derselben erhöht werden, und
somit der Brennpunkt des Auges verschoben werden könnte, so bedachte man nicht
wie wenig compressibel die Augenflüssigkeiten sind. — Ein Apparat zur Verände-
rung der Krümmungshalbmesser der brechenden Flächen besteht aber entweder
gar nicht, wie z. B. an den Linsenflächen, oder es verändern sich thatsächlich bei der
Accommodation des Auges für verschiedene Fernen die Flächen nicht, wie dies für
die Cornea durch sehr genaue Versuche von Kohlrausch und Senff erwiesen ist **).
Es bleiben demnach von der Summe der möglichen Erklärungen nur diejenigen übrig,
welche eine Entfernung der Retina von einer oder allen brechenden Flächen vor-
aussetzen. In diesem letzten Sinne können aber nur zwei Hypothesen aufgestellt
werden ***).


Nach der ersten von beiden verändert sich die Augenachse durch den Druck, wel-
chen die Augenmuskeln auf den Augapfel ausüben. Diese Annahme schliesst in so fern
nichts ungereimtes in sich, als nicht bestritten werden kann, dass unter gewissen
Voraussetzungen die Augenmuskeln eine Verkürzung oder eine Verlängerung der
Augenachsen herbeizuführen im Stande sind, ohne zugleich Dreh- oder Ortsbewegungen
zu bewerkstelligen. Zur Erfüllung dieser Bedingung genügt es, dass die auf das Auge
wirkenden Kräfte am Mittelpunkt desselben nach den drei Dimensionen des Raumes
im Gleichgewicht sind; sie werden dann offenbar das Auge drücken, ohne es zu be-
wegen. Diese Bemerkung nimmt die Schwierigkeit hinweg, welche die meisten Physio-
logen veranlasste, die vorliegende Hypothese zu verwerfen, die nämlich, dass die Ac-
commodation für verschiedene Entfernungen bei derselben Stellung und umgekehrt
bei gleichen Entfernungen für verschiedene Stellungen des Auges möglich sei †);
denn offenbar kann der durch den Druck veränderte Bulbus, dessen Mittelpunkt im
Gleichgewicht sich findet, noch alle anderen möglichen Bewegungen ausführen. —
So unangreifbar demgemäss von dieser Seite die Hypothese ist, so unwahrschein-
lich wird sie, wenn man bedenkt, wie sehr die Retina, welche schon sanfte Drücke
schmerzlich empfindet, durch die starken Drücke, die der prall gespannte Augapfel zu
einer Formveränderung bedürfte, leiden müsste. Man bestreitet ausserdem (Rüte)
ihre Giltigkeit, weil pathologische Fälle von vollkommener Lähmung der Augenmus-
keln ohne wesentliche Beeinträchtigung des Accommodations-Vermögens beobachtet
sind, und umgekehrt nach Einträufeln von Belladonnaexract in das Auge die Accom-
modation geschwächt ist, ohne dass die Augenmuskeln in ihrer Funktion irgend wie
beeinträchtigt wurden. Zudem müsste erst auch bewiesen sein, ob und welche Form-
veränderungen die Augenmuskeln erzeugen. Zu Gunsten dieser Annahme führt man
an, dass durch das Optometer bei einzelnen Individuen nachweissbar sei, wie das
Auge bei seiner Stellung nach innen kurzsichtiger werde, als bei einer solchen nach
[213]Mechanismus der Einrichtung; Linsenbewegung.
aussen, und dass man durch einen Druck auf die Vorderfläche der Sclerotica einen
Kurzsichtigen fernsichtig zu machen im Stande sei. Diese Beobachtungen verdienen
noch weitere Verfolgung *).


Nach der anderen weit ansprechenderen Hypothese wird die Verschiebung
des Brennpunktes durch eine Veränderung in der Linsenstellung erzielt. Der Mecha-
nismus, durch den die Bewegung der Linse möglich ist, ruht in der Gegenwart und
der Ansatzweise des m. tensor choroideae, in der Anheftung der Linse an den
Glaskörper, dem Abschluss der wässerigen Feuchtigkeit von dem Zwischenraum
zwischen Choroidea und Retina, in der Anwesenheit der Choroidea, der plicae und
processus ciliares, in der Nachgiebigkeit der Gefässmembranen und endlich in der
annähernden Gleichheit der Spannung, unter der sich die Augenflüssigkeit und das
Blut in den Aderhäuten findet. — Untersuchen wir zunächst, Fig. 52 und 53, die Wir-
kungsweise des m. tensor choroideae (die Schraffirung bei T T), unter der Voraus-
setzung, dass sich seiner Wirkung kein anderer Widerstand bietet, als derjenige,
welcher von der Steifheit der angezogenen Membranen herrührt, so ergibt sich, dass
er bei seiner Zusammenziehung einen jenseits der hintern Linsenfläche gelegenen Ring
der Choroidea und demnach einen solchen der innig damit verbundenen Glashaut nach
vorn zuziehen vermag, wodurch er einen Ring grösseren Durchmessers auf einen
solchen kleinern reduziren wird; in Folge dessen wird der Aequator des Glaskörpers
abgeplattet und die auf dem vordern Glaskörperende sitzende Linse nach vorn ge-
schoben. Die Umwandlung der Formen machen in karrikirter Zeichnung, Fig. 52 und
53 deutlich. Die erstere stellt die Form des Glaskörpers bei ruhendem, die zweite bei
zusammengezogenem Muskel dar.


Figure 54. Fig. 52.

Figure 55. Fig. 53.

Gehen wir nun aber zu Widerständen der Bewegung über, so ergibt sich, dass
die Linse nicht in den prall mit der wässerigen Feuchtigkeit angefüllten vorderen
Raum dringen kann, wenn nicht irgendwie Platz gewonnen wird, und dass der Glas-
körper keine Abplattung seines Aequators erfahren kann, wenn nicht entweder die
Sclerotica sammt dem Fettpolster folgt, oder der zwischen Choroidea und Sclero-
tica entstehende Raum ausgefüllt wird. Beide Bedingungen, die Entleerung der
Augenkammern und die Anfüllung des Raumes zwischen Choroidea und Sclerotica
können möglicherweise erfüllt werden durch die Anfüllung resp. Entleerung der
Choroidealgefässe und der plicae und processus ciliares, deren Lage wie die Fig.
52 und 53 zeigen, in der That vollkommen passend zu diesem Zwecke angeordnet
ist. In den Figuren bedeuten die im Choroidealraum liegenden Kreise Durchschnitte
der Gefässe bei verschiedenen Linsenstellungen.


[214]Mechanismus der Einrichtung; Linsenbewegung.

Die Wahrscheinlichkeit für die Annahme, dass die Aderhäute des Auges in eben-
bezeichneter Weise die Linsenbewegung unterstützen, wird sehr erhöht: 1) Wenn
man auf den verhältnissmässig grossen Durchmesser der einzelnen sie constitui-
renden Gefässe Rücksicht nimmt; 2) durch die von C. Weber und mir gemein-
schaftlich gewonnene Beobachtung, wonach die Gefässhäute im Auge so nach-
giebig sind, dass ein in der vordern Augenkammer luftdicht eingesetztes Manometer
auf dem Kymographion (siehe d. Pulslehre im Abschnitt vom Blutkreislauf) jede
Veränderung des Pulses, rühre sie vom Herzschlag oder Respirationswirkung her,
aufzeichnet mit Excursionen, die im Manometer bei einem Hundeauge von mittlerer
Grösse bis zu 0,8 Kubikzentimeter betragen; 3) dass der hydrostatische Druck, unter
welchem die Flüssigkeit in den Augenkammern liegt, nahe an den mittleren Seiten-
druck reicht, welchen die Wandungen grösserer Gefässe zu ertragen haben. Man
sieht, dass unter diesen Umständen nur geringe Zuwächse zu dem in der vordern
Augenkammer vorhandenen Drucke hinreichen, um das Uebergewicht auf Seite der
wässerigen Feuchtigkeit zu bringen.


Mit der Darstellung der Möglichkeit der Linsenbewegung durch diesen Apparat
ist nun freilich noch nicht erwiesen, dass die Linse durch ihn in der That bewegt
wird; unzweifelhaft kann dieses — wie mir einige Vorversuche zeigten, — durch
einen Fühlhebel bewerkstelligt werden, der in einem von Wasser erfüllten und mit
der vordern Augenkammer kommunizirenden Raume leicht aufgehängt vor die vor-
dere Linsenfläche gebracht wird; er müsste eine Bewegung der Linse nach vorn an-
zeigen, wenn man nach Durchschneidung der Augenmuskeln den m. tensor cho-
roideae mittelst zweier gegen ihn eingestochenen Nadeln, durch welche ein wech-
selnder Induktionsstrom ginge, erregte. Dieser schwierige und delikate Versuch
ist nur an Hunden, welche einen etwas beträchtlichen m. tensor choroideae be-
sitzen, ausführbar.


Die Vertheidiger der Hypothese von der Linsenbewegung als der Ursache der
Accommodation führen nun zu ihrer Unterstützung noch an; a) Man könne in der
That bei Accommodation für die Nähe das Vorrücken der Linse beobachten, welche
die Iris vor sich herschiebe und wölbe. Hueck*) gibt die Grösse dieses Vorschiebens
von 0,7 bis zu 1,7 M. M., und Listing**) zu 1,5 M. M. an. Andere Beobachter läugnen
aber noch die Anwesenheit dieser Erscheinung. — b) Individuen, die in Folge der
Staaroperationen die Linsen verloren haben, büssen das Vermögen, in verschiedene
Fernen zu sehen, ein. Auch diese Beobachtung erfährt Widerspruch, indem mehrere
Kranke, die einige Jahre nach Vollendung der Operation untersucht wurden, das
Accommodationsvermögen wieder gewonnen hatten; man sucht nun diesen letz-
teren Beobachtungen ihre Beweiskraft gegen die Hypothese von der Linsenbewe-
gung dadurch zu rauben, dass man annimmt, es möchte sich die Linse (wie das
nach ärztlicher Erfahrung häufig geschieht) in diesen Fällen regenerirt haben.
Zudem wäre auch beim Fehlen der Linse eine beschränkte Accommodation durch
Verschieben der tellerförmigen Grube, welche dann als die zur Hornhaut gehörige
hintere Fläche einer biconvexen Linse betrachtet werden könnte, immer noch ge-
denkbar. c) Durch Einträufeln von Belladonna-Extrakt in das Auge wird das Accom-
modationsvermögen geschwächt und das Auge zugleich fernsichtiger, wie es in der
That die Theorie verlangt, wenn durch Aufnahme des wirksamen Stoffes der
Belladonna in die wässerige Feuchtigkeit der m. tensor choroideae gelähmt wird.


Der entscheidende Versuch für die vorliegende Hypothese kann nach meinem Da-
fürhalten dann geliefert werden, wenn es gelingt, mittelst der Schläge eines elek-
trischen Induktionsapparates, die man durch ein paar feine nahe dem Cornea-
rande oberflächlich in die Sclerotica gebrachte Drahtspitzen einleitet, den m. tensor
[215]Stellung des Einrichtungsapparates zum Willen. Zerstreuungsbilder.
choroideæ zur Contraktion zu veranlassen, ohne dass die Augenmuskeln an der
Bewegung Theil nehmen; ist die Thätigkeit des m. tensor choroideae und der mit
ihm verbundene Apparate Ursache der Accommodation für die Nähe so muss in
diesem Versuche während der Erregung das Auge kurzsichtig werden.


Die Behauptung, dass von dem wechselnden Durchmesser der Pupillenöffnung
die Einrichtung abhängig sei, verdient, als widerlegt, hier keine Stelle mehr.


Da wir den Mechanismus des Einrichtungsvermögens noch nicht
kennen, so gewährt es keinen Vortheil darauf einzugehen, welche
Veränderungen das Auge und namentlich die Verschiebung der Linse
u. s. w. erleiden müsse, um das Sehen unendlich oder 100 MM. ent-
fernter Gegenstände möglich zu machen.


Dagegen ist es von Wichtigkeit die Durchmesser der Zerstreu-
ungskreise festzustellen, welche ein leuchtender Punkt auf der Retina
des mittleren (Listing’schen) Auges bilden würde, wenn dieses
kein Einrichtungsvermögen besässe. Nach Listing würden diesel-
ben betragen für:


Aus dieser Tabelle ergibt sich, dass
das mittlere Auge keiner Einrichtung be-
darf, wenn sich der Gegenstand vom Un-
endlichen bis auf 65000 MM. nähert, weil
bei dieser Annäherung die Zerstreuungs-
kreise so ausserordentlich gering werden,
dass sie der Retina als noch gar nicht
vorhanden erscheinen. Je mehr sich da-
gegen von dieser Grenze an die Gegen-
stände dem Auge nähern, um so beträcht-
licher werden die Zerstreuungskreise,
wonach behauptet werden darf, dass für
gleiche Unterschiede der Entfernung in
weiten Abständen eine geringere Accom-
modationsbewegung nöthig als für die-
selben Unterschiede in nahen Abständen.
Daraus folgt dann noch, dass kurzsichtige Augen meist zu grösseren
Accommodationsanstrengungen befähigt sind als weitsichtige.


Ueber die Stellung des uns noch unbekannten nervösen Theiles
des Einrichtungsapparates zu andern Hirn- und Nervenmassen wird
wesentlich unter dem Abschnitt Sehen die Rede sein. Hier ist nur
anzumerken, dass er bei willkürlicher Erregung der mm. rect. in-
terni, meist aber nicht immer, ebenfalls in Thätigkeit gesetzt wird;
Porterfield.


Die Zerstreuungsbilder, welche sich bei unvollkommener
Einrichtung auf der Retina bilden, sind nach Umständen sehr mannig-
facher Gestaltung fähig; von zahlreichen in dieser Richtung unternom-
menen Beobachtungen heben wir nur heraus:


[216]Zerstreuungsbilder, Sphärische Abweichung.

a. Ein leuchtender Gegenstand *), der diesseits des Nähepunk-
tes tritt, wird in der horizontalen und ein solcher, der jenseits des
Fernpunktes zu stehen kommt, in der vertikalen Richtung verlängert;
so wird ein Punkt zu einer Linie, die um einen rechten Winkel gedreht
ist, je nach seiner Stellung diesseits oder jenseits des deutlichen Seh-
raumes. Eine kurze Ueberlegung zeigt, dass dieses Folge der unglei-
chen Krümmung der brechenden Flächen ist, indem die in horizontaler
Richtung liegenden Krümmungskreise grösser und somit schwächer
brechend als die in vertikaler Richtung gelegenen sind. Diese Abwei-
chungen sind häufig gross genug um zu ihrer Verbesserung be-
sonders geschliffene (Cylinder) Brillen zu verlangen.


b. Innerhalb des Zerstreuungskreises conzentrirt sich nach ein-
zelnen Stellen hin das Licht vorzugsweise, so dass bei Betrachtung
eines Gegenstandes durch nur ein Auge mehrfache Bilder entstehen.
Diplopia monophthalmica **). Je nachdem die Scheitel sämmtlicher
brechenden Flächen nicht auf einer Achse liegen, oder je nachdem
Seiten oder Mitteltheile des Systems an Brechkraft überwiegend sind,
können diese hellen Stellen bald hier bald dorthin fallen.


5. Ueber sphärische Abweichung des Auges; Mittel sie zu ver-
mindern.


Da den optischen Principien gemäss nur diejenigen Flächen einer
gewöhnlichen Linse den durchgehenden Strahlen einen gemeinsamen
Brennpunkt anweisen, deren Einfallsorte einen kleinen Winkel an dem
Krümmungsmittelpunkt einschliessen, oder die symmetrisch zur Achse
gelegen sind, so müssen, wenn die Einheit des Brennpunktes aufrecht
erhalten werden soll, entweder nur die erwähnten Strahlen zu seiner
Entwerfung benutzt werden, oder es müssen besondere Einrichtungen
gegeben sein, welche die sphärische Abweichung aufheben. — Das
Auge gehört nun, weil es mit einer Blendung von wechselnder Oeff-
nung — der Iris mit Pupille — versehen ist, zu denjenigen Linsen-
systemen, welche die beiden Wege einschlagen können; denn in der
That benuzt es bei beträchtlicher Lichtstärke des Leuchtpunktes nur
die in der unmittelbaren Nähe der Achse auffallenden Strahlen, wäh-
ren des bei Lichtschwäche auch noch die entfernteren aufnimmt. In die-
sem letzteren Falle treten dann besondere Hilfsmittel in Wirksamkeit.


a. Iris***). Vermöge ihrer Lagerung zwischen der Hornhaut und
Linse näher zu dieser letztern, ist sie befähigt den Durchmesser des
Strahlenkegels der durch beide zur Retina dringt zu beschränken;
[217]Vermeidung der sphärischen Aberration; Iris.
sie hat in der That genau die Lage und Form aller sogenannten Blen-
dungen optischer Instrumente.


Die Beweglichkeit der Oeffnung sowohl, wie die besondere Form
der Bewegungen, verdankt die Iris zwei besondern Muskeln *) einem
radialen, vom Hornhautrand zur Pupille verlaufenden und einen cir-
kulären, der in grössern und grössern Bogen die Pupillenöffnung um-
kreist. — Von diesen beiden Muskeln scheint nach Ed. Weber der
radiale das Uebergewicht zu besitzen, indem bei gleich starker Erre-
regung beider, die Pupille sich beträchtlich erweitert.


Die Muskeln erhalten ihre Nerven **) von sehr verschiedenen Orten
aus, die cirkulären empfangen sie aus dem n. trigeminus mit dem
centralen Ursprung aus den obersten Rückenmarkstheilen (?) Budge,
und durch den n. oculomotorius mit dem Ursprung aus den Vierhü-
geln. Die Nerven der Erweiterer treten dagegen durch den Hals-
theil des n. sympathicus aus der mittleren Region des Halsmarkes
zum Auge. Diese beiden Nerven gelangen im gewöhnlichen Verlaufe
des Lebens unter verschiedenen Umständen in Erregung.


Der Kreismuskel zieht sich zusammen: α) wenn der nerv. opticus
in den Erregungszustand geräth ***). Rücksichtlich der Lichtwirkung
hat Lambert ermittelt, dass innerhalb gewisser Grenzen die Pupil-
lenöffnung direkt proportional mit der abnehmenden Lichtstärke sich
erweitert. β) Wenn der innere gerade Augenmuskel in Thätigkeit
gesetzt wird, zieht sich auch der Kreismuskel zusammen; insofern
nun der erstere vom Willen abhängig ist, folgt auch der sphincter iridis
demselben. γ) Im Schlaf verengert sich die Pupille beträchtlich. — Die
Kreismuskeln der Iris beider Augen stehen in der innigsten Beziehung
zu einander, die sich dadurch ausdrückt, dass fortwährend dem Be-
streben Genüge geleistet wird, die beiden Kreismuskeln auf gleichem
Grade der Verkürzung zu erhalten; denn in der That verkleinert sich
jedesmal die Pupille beider Augen, wenn auch nur auf das eine der-
selben ein verengernder Einfluss wirkt; und es tritt für eine bestimmte
Menge von Licht, welche n. den opticus erleuchtet, dieselbe Summe
der Verkürzungen beider Kreismuskeln ein, sei es dass man die Licht-
massen vertheilt auf beide Augen, oder vereinigt auf nur eines von
beiden wirken lasse.


Durch genaue Versuche von E. H. Weber ist der alte Irrthum widerlegt
worden, als ob auch mit den Akkommodationsbewegungen des dioptrischen Ap-
parates sich der Kreismuskel zusammenziehe; diese fehlerhafte Meinung ist da-
durch erzeugt worden, dass bei einer Einrichtung für die Nähe gewöhnlich auch
die Augen durch den m. rectus internus bewegt, d. h. stark convergirend gestellt
werden. E. H. Weber macht auch darauf aufmerksam, dass man bei Messungen
[218]Vermeidung d. sphär. Abweichung; Bewegungen d. Iris; Linsenschichtung.
des Pupillendurchmessers am unverletzten Auge die Vergrösserung nicht ver-
nachlässigen dürfe, welche dieselbe für die Beobachtung durch die Cornea des
beobachteten Auges erfährt, die als eine vergrössernde Linse vor der Pupille sitzt;
das einfache empirische Mittel, um diese Wirkung der Cornea zu eliminiren, besteht
darin, dass man das Auge unter Wasser bringt dessen freie Oberfläche eben ist. —


Der Radialmuskel verkürzt sich, d. h. die Pupille wird erweitert
α) bei einigen Krankheiten und β) nach dem Einbringen von extractum
Belladonnae, Hyoscyami, Stramonii und aqua Laurocerasi in das Auge.
Diese Mittel wirken, gleichgiltig ob man sie direkt auf die conjuntiva
bulbi angewendet, oder sie in den Blutlauf gebracht hat. Die Dauer und
Stärke der Zusammenziehung nach dem Belladonnagebrauch wächst all-
mälig mit der Menge des angewendeten Giftes, und kann einen solchen
Grad erreichen, dass Stunde und Tage hindurch die Iris nur noch als
ein schmaler Streifen erscheint. Bei Säugethieren, denen der Halstheil
des n. sympathicus durchschnitten ist, wirkt die Belladonna weniger
kräftig. Diese Erscheinung hat man ableiten wollen von der Lähmung
des n. opticus, weil die Giftwirkung sich auch auf diesen erstreckt
und ihn namentlich unempfindlich macht; Himly widerlegte diese
Annahme durch die Beobachtung, dass auch an solchen Individuen,
deren Gesichtsnerv vollkommen gelähmt war, noch Pupillenerweiter-
ung eintrat. — Ferner wollte man sie erläutern durch Annahme einer
Lähmung des Kreismuskels; man übersah aber, dass während der
Belladonnawirkung ein starker Lichteinfluss noch eine Pupillenver-
engerung bewirken könne. — Man ist darum jetzt geneigt zu behaup-
ten, dass die Belladonna den Radialmuskel örtlich errege; zu dem Zu-
satz, dass diese Erregung eine örtliche und nicht durch das Hirn ver-
mittelte sei, wird man veranlasst, weil durch Anwendung des Giftes
auf nur ein Auge auch die Pupillenerweiterung auf dasselbe beschränkt
werden kann.


Ueber den Einfluss der Wärme auf die Irisbewegung, siehe Brown — Sequard
compt. rend. XXV. 508. — Die Iris der Vögel, welche aus quergestreiften Muskelfa-
sern besteht, wird durch Belladonna nicht angegriffen; Kieser.


b. Linsenschichtung. Wenn die Lichtintensität der Leucht-
punkte sich mindert, welche ihre Strahlen in das Auge senden, so
erweitert sich die Pupille, indem die Zusammenziehung des Sphincter
iridis an Stärke einbüsst. Hiermit vergrössert sich zugleich aber die
Basis des Strahlenkegels, die sogenannte Linsenöffnung, welcher auf der
Retina seine Spitze finden soll. Um auch unter diesen Bedingungen
die Strahlen zu einem Zusammenschluss zu bringen, muss eine Ein-
richtung gegeben sein, welche den von der Form der brechenden
Flächen herrührenden Umstand, dass die näher dem Rande auffallenden
Strahlen eine stärkere Neigung zur Achse erhalten, als die um die letz-
tere einfallenden, aufheben Dieses Hilfsmittel ist darin gefunden, dass
die Linsensubstanz gegen ihren Rand hin mit einem geringeren Bre-
chungsverhältniss begabt ist, als in ihrer Mitte. Die Ursache dieses
[219]Linsenschichtung; Chromatische Abweichung.
Unterschiedes der Brechungsverhältnisse ist aber mit Wahrscheinlich-
keit in der Linsenschichtung zu suchen.


Figure 56. Fig. 54.

Fig. 54 stellt eine Linse dar,
welche aus den vier in einander
geschachtelten A B C D besteht; die
symmetrischen Flächen derselben
seien sämmtlich um die Mittelpunkte
M1M2 beschrieben, jedoch so, dass
die Radien der äussersten Linsen-
fläche M1R1 und M2r1 grösser als
die darauf folgenden und die Ra-
dien der innersten Linse M1R4 und
M2r4 die kleinsten seien. Fallen
durch diese Linse Strahlen in den
Zwischenraum E D1, so werden
sie durch 8 Flächen, gebrochen
während sie, wenn sie in den Raum
D1C1 laufen nur durch 6 Flächen
abgelenkt werden; auf diesem
zweiten Gange erfahren sie also
offenbar eine geringere Ablenkung
als auf dem ersten, und zwar nicht
allein darum, weil überhaupt zwei
Flächen ausfallen, sondern weil die ausfallenden Flächen auch noch mit dem klei-
nern Krümmungshalbmesser begabt sind; dieser Darstellung entsprechend wird
nun die Ablenkung der durch C B gehenden Strahlen geringer sein, als der durch
C D laufenden und endlich der durch A B gehenden noch geringer der vorerwähnten.


Die Tha tsache, dass die hintern Linsenflächen um einen kleinern Halbmesser
beschrieben sind, als die vordern, hat man ebenfalls auf ihre Eigenschaft, der sphäri-
schen Aberration entgegenzuwirken, beziehen wollen. Vorerst lässt sich jedoch aus
allgemeinen Grundsätzen nicht ersichtlich machen, wie dieses hierdurch möglich sei.


Das gleichzeitige Vorkommen der geschichteten Linse und der
beweglichen Irisöffnung gibt dem Auge einen besonderen Vorzug, in-
dem hierdurch die Deutlichkeit und die Lichtstärke des Bildes, selbst
bei wechselnder Beleuchtung des Objektes, constant erhalten werden
kann.


6. Chromatische Abweichung am Auge *).


Die optischen Medien des Auges brechen die verschiedenen Wel-
len des Aethers, die farbigen Lichtstrahlen, mit wesentlich verschie-
dener Stärke, wie dieses auch alle übrigen brechenden Substanzen thun.
Namentlich folgen auch die Strahlen ihrer Brechbarkeit nach für das Auge
geordnet in der gewöhnlichen Reihe: Violett, blau, grün, gelb, orange,
roth. — Daraus folgt nun zweierlei: Einmal dass ein violetter Gegen-
stand noch in grösserer Nähe deutlicher gesehen werden kann als ein
rother, und ein rother noch in grösserer Ferne deutlicher als ein vio-
[220]Spiegelung der Retina; Stäbchen.
letter, eine Thatsache, die Fraunhofer zuerst festgestellt hat. Dann
aber muss auch jeder weiss beleuchtete Gegenstand auf die Retina
ein Bild mit farbigen Säumen werfen; dieses geschieht nun auch
und man bemerkt dieselben theils wenn man den Gegenstand nicht
genau auf die Retina einstellt, sondern im Zerstreuungskreis ansieht,
theils aber auch wenn man einen Gegenstand scharf visirt, während
man die Pupille halb zudeckt; Tourtual.


Die Augen Fernsichtiger sind mit einer stärkeren chromatischen
Aberration behaftet als die Nahsichtiger; Matthiessen.


Der Grund warum bei halbverdeckter Pupille die Farbensäume der Bilder schär-
fer hervortreten, ist in Fig. 55 erörtert. Gesetzt, es sende L weisses Licht auf ein be-

Figure 57. Fig. 55.


liebiges Linsensystem, so
wird hinter der Linse das
weisse Licht in seine far-
bigen Componenten zer-
legt sein, und zwar wer-
den in dem Zerstreuungs-
kreis Z Z die Farben so
aufeinander, dass an der
Peripherie desselben vio-
lett v v und im Mittel-
punkt roth r zu liegen
kommt. — Setzen wir nun
die Retina in den Ort
höchster Lichtconcen-
tration N N, so wird das zerlegte Weiss des untern Strahls sich mischen mit dem
zerlegten Weiss des obern, mit andern Worten: es wird sich die Zerstreuung der
beiden Strahlen compensiren; diese Compensation hört aber sogleich auf, wenn
man den einen Strahl abschneidet, während man den andern noch eintreten lässt.
Diese Betrachtung lehrt, dass nach Verdeckung der rechten Pupillenhälfte die
Farbensäume in umgekehrter Ordnung auftreten als nach Verdeckung der linken
Hälfte. Ferner zeigt sie, dass wir genau genommen immer nur Zerstreuungskreise
sehen. —


Einrichtungen zur Spiegelung der Lichtstrahlen im
Auge.


An der Grenze zweier Mittel, die ein Lichtstrahl überschreitet,
wird immer Licht zurückgeworfen; demnach muss auch das Auge
auf innern und äusseren Flächen Spiegelungen zeigen. Diese Spie-
gelungen würden noch sehr viel beträchtlicher sein, wenn nicht ein
grosser Theil der Augenflächen mit einem lichteinsaugenden Stoffe,
dem schwarzen Pigment, ausgekleidet wäre.


1. Spiegelung des Lichtes, welches auf der Retina zu einem
Brennpunkt vereinigt war *). Bei der grossen Durchsichtigkeit der
nervigten Retinatheile dringen die in ihnen zu einem Punkte verei-
nigten Strahlen durch sie hindurch und gelangen zunächst auf die
sogenannte Stäbchenschicht. Da diese nichts anders darstellt als
[221]Diffuse Spiegelung der Retina.
eine Reihe sehr kleiner Prismen, welche aufrecht gegen die Retina
gestellt sind und da sie aus einem stark brechenden Stoffe bestehen,
der in einen weniger stark brechenden eingebettet ist, so müssen,
wie Brücke darthat, die unter den erwähnten Bedingungen in sie
eingetretenen Strahlen eine totale Reflexion erleiden, so dass das in
einen Stab eingedrungene Licht wieder auf demselben Wege aus ihm
tritt, auf welchem es in ihn gelangte.


Der Beweiss für die Richtigkeit der Annahme von Brücke ergibt sich aus
Fig. 56. In ihr bedeuten A1A zwei Strahlen, welche in P nahe vor dem Prisma D D

Figure 58. Fig. 56.


sich kreuzen; F F ist das Mit-
tel von geringer Brechkraft,
welches das Prisma begrenzt.
Der grössern Einfachheit we-
gen werden wir in dieser Figur
den Gang nur eines von beiden
Strahlen betrachten. Dringt
nach der Kreuzung der Strahl
A1 in das Prisma, so wird er
auf der Fläche D D1 einen Ein-
fallswinkel A1B E1 bilden,
welcher sich einem rechten
sehr annähert; beim Uebertritt
in das neue schwächer bre-
chende Mittel F wird der Bre-
chungswinkel grösser als der Einfallswinkel werden müssen. Geschieht diese Ver-
grösserung um ein Merkliches, so dass der Brechungswinkel einen rechten über-
steigt und etwa den Werth C B E2 erreicht, so wird er gar nicht in das zweite
Mittel eintreten, mit andern Worten er wird von seinen Flächen zurück-
geworfen werden.


Diese Einrichtung zur Regelung der Spiegelung hinter der
empfindenden Fläche ist eine nothwendige Ergänzung zu der vor-
sorglichen Anordnung der brechenden Flächen; indem nur durch die
Gemeinschaft beider die Aufgabe: eine genau beschränkte Lichtwir-
kung zu erzeugen, lösbar war. — Denn in der That würden die ord-
nungslos hinter der Retina gespiegelten Strahlen die Nerven an andern
Orten rückwärts durchdrungen haben als die, in welche sie vorwärts
eingingen; damit wäre aber wieder dieselbe empfindende Stelle von
verschiedenen Lichtern getroffen worden, die sich gegenseitig ge-
stört haben würden.


2. Spiegelung des zerstreut in die Augen eintretenden Lichtes
von der Retina *). Neben dem Licht, welches durch die Linsensy-
steme gebrochen seinen Brennpunkt auf der Retina findet, dringt noch
Licht in das Auge, welches aus andern Entfernungen als denjenigen
kommt, für welche dasselbe accommodirt ist, und anderes, welches durch
[222]Empfindende Werkzeuge des Auges.
die nicht vollkommen undurchsichtige Sclerotica dringt u. s. w. — Da
diese Strahlen weder in der bestimmten Beziehung zu den Stäbchen
noch zu dem Linsensysteme stehen, wie die vorhin erwähnten, so
werden sie auch unregelmässig gespiegelt aus dem Auge austreten;
in der That geschieht dieses, so dass man unter günstigen Bedin-
gungen, welche Brücke zuerst ermittelte, die Pupille in rothem
Schein leuchten sieht.


3. Spiegelung auf der hintern und vordern Fläche der Cornea
und Linse *). — Drei dieser Flächen, beide Cornea- und die vordere
Linsenfläche stellen Convexspiegel dar; jeder Gegenstand der ausser-
halb ihrer Brennweite sich findet, liefert somit ein verkleinertes auf-
rechtes Spiegelbild. Die hintere Linsenfläche, als Concavspiegel,
entwirft dagegen vom Gegenstand ein verkehrtes Spiegelbild. — Das
Auftreten dieser Spiegelung kann an jedem Auge durch ein vorgehal-
tenes Kerzenlicht sichtbar gemacht werden. Purkinje’s Versuch.


Polarisirende Wirkungen der brechenden Mittel**).


Die durchsichtigen Augenmittel und namentlich Cornea und Linse sind so viel-
fach geschichtet, dass sie einem Plattensatz spiegelnder Fläche zu vergleichen sind.
Mit diesem theilen sie die Aehnlichkeit, dass sie das Licht wie ein solcher polarisi-
ren. Erlach.


Diese nachweislich polarisirende Eigenschaft der todten Linse (und der
Cornea?) drückt sich im Leben nach Haidinger auch dadurch aus, dass von der
Polarisationsebene eines passend vor das Auge gehaltenen Nichols farbige Büschel
ausstrahlen.


Empfindende Werkzeuge des Auges. Retina, Sehnerv.


1. Lichtempfindung. Erregungsmittel derselben. Den erregten
Zustand der Retina empfinden wir als weisses oder gefärbtes Licht;
der physiologische Ruhezustand derselben erweckt uns dagegen die
Vorstellung der Dunkelheit. Die empfindungserregenden Zustände der
Retina werden ausgelöst unter dem Einfluss der Aetherschwingungen,
mechanischer Eindrücke und elektrischer Ströme.


Da die Wellen des Aethers vorzugsweise die Retina erregen, und da zudem nur
die durch sie erregten Empfindungen als ein Element in den zusammengesetzten Akt
des Sehens eingehen, so hat man dieselben geradezu Licht und Farben genannt.
Die Ueberlegung, dass auch mechanische und elektrische Einwirkungen auf das
Auge die Empfindung des Lichtes erzeugen, gibt uns das Recht jenen populären Aus-
druck für physiologisch fehlerhaft zu erklären, und die Behauptung festzuhalten,
dass Licht und Farbe nichts anderes seien als Erregungszustände der Retina und des
Sehnerven.


A. Aetherschwingungen***). Die Berührungen des Licht-
[223]Erregungsmittel, Aetherschwingungen.
äthers mit den lichtempfindenden Flächen sind von verschiedentlichen
Folgen begleitet.


a. Die lichtempfindenden Flächen sind nicht überall durch die
Schwingungen des Aethers in Erregung zu versetzen; nach genauen
Beobachtungen von Hemlholtz empfindet man nur die Aetherstrah-
len als Licht, welche den Sehnerv auf seiner Ausbreitung in der
Retina treffen, nicht aber diejenigen, welche auf seinem Stamm und
namentlich auf dessen Eintrittsstelle in die Retina dringen.


Wenn man mittelst des Augenspiegels die Retina an den Orten erleuchtet, an
welchen der Sehnerv in dieselbe eindringt, so erkennt man in der Substanz des Stammes
bis in eine gewisse Tiefe den Verlauf der a. central. retinae, mit andern Worten der
Sehnerv wird vollkommen durchleuchtet. Erzeugte nun die Wirkung des Lichtäthers
an dieser Stelle des Sehnervenverlaufs eine Lichtempfindung, so müsste offenbar jetzt
das ganze Auge mit Licht erfüllt scheinen, da ja alle Röhren des Opticus getroffen wur-
den; hiervon tritt nun aber gerade das Gegentheil ein, indem das auf den besprochenen
Ort geworfene Bildchen dem beleuchteten Auge als ein engbegrenztes und viel licht-
schwächeres erscheint, als wenn es auf andere Stellen fällt. — Diese Beobachtungen von
Helmholtz erheben es zur Gewissheit, dass der schon längst bekannte blinde Fleck
von Mariotte nichts anderes sei, als die Eintrittsstelle des Sehnerven. Ist nun in der

Figure 59. Fig. 57.


That am Auge Fig. 57, dessen Knotenpunkte bei K liegen, die Eintrittsstelle des Sehnerven
für Aetherwellen unempfindlich, so müssen die Gegenstände, welche innerhalb der Gren-
zen 2 21 und 3 31 ihre Richtungsstrahlen in das Auge senden gar nicht gesehen werden.
Dieses trifft nun auch zu. Um diesen blinden Ort der Retina zu finden zeichne man sich
mehrere je 2 bis 3 Centimeter von einander abstehende in einer geraden Linie liegende
Punkte 1. 2. 3. 4. und führe einen derselben 1 gerade vor das Auge in die Verlän-
gerung der Sehachse 1 1, während man das andere Auge geschlossen hält. Richtet
man nun, während man die Augenstellung fixirt erhält, seine Aufmerksamkeit auf
die nach der äussern Seite vor das Auge gelegenen Punkte, so wird man gewahren,
dass die zwischen 2 und 3 befindlichen, aus dem Gesichtsfeld ausfallen, während
die nach innen und aussen von diesen gelegenen 1 und 4 sichtbar bleiben. Eine weitere
***)
[224]Farblose und farbige Aetherwellen.
Betrachtung unserer Figur zeigt, dass mit der wachsenden Entfernung des Punktes 1
auf der Sehachse K D vom Knotenpunkte K auch der Abstand der Punkte 3, 2 von
4 zunehmen muss, wenn sie verschwinden sollen. Daraus folgt die Regel, dass wenn
man sich mehrere Punkte in einer bestimmten Entfernung von einander auf ein Pa-
pier gezeichnet hat, einige derselben immer nur in einer ganz bestimmten Entfer-
nung des Papiers vom Auge verschwinden werden. Diesen Abstand von der Cornea
muss man, während man die Richtung der Sehachse constant erhält, durch allmä-
liges Annähern und Entfernen des Gegenstandes vom Auge aufsuchen. — Ist die
Entfernung des Punktes 1 vom Auge und die der Punkte 1, 2, 3, 4, von einander be-
kannt, so lässt sich mit Zugrundelegung des mittleren Auges die Lage und Ausdeh-
nung der unempfindlichen Stelle an der Retina berechnen, wie ein Blick auf unsre
Figur lehrt. Die nach dieser Methode ausgeführten Messungen haben ergeben, dass
die Ausdehnung der unempfindlichen Stelle nicht ganz dem Durchmesser des Sehner-
ven entspricht, Valentin;*) sind diese Messungen hinreichend genau, so folgt
daraus, dass die Unempfindlichkeit sich nicht über den ganzen Querschnitt erstreckt.


Die Beobachtung, dass die Röhren des Optikus nicht aller Orten von
dem bewegten Aether erregt werden, ist auf zweierlei Art zu deuten.
Entweder die lichtempfindlichen, in der Retinaausbreitung vorhandenen,

Figure 60. Fig. 58.


Enden der Nerven sind physikalisch und chemisch an-
ders geartet, als die Röhren des Stammes; oder die Ner-
ven sind im Stamm und der Ausbreitung gleichartig, so
dass sie nirgends geradezu von den Aetherwellen
erregt werden, aber sie sind in ihrem Verlauf durch die
Retina in Stoffe eingebettet, welche durch den Lichtäther
in einer solchen Art umgewandelt werden, dass sie
selbst nun Erregungsmittel der Nervenröhren werden.
Kölliker**), der sich der letzteren Annahme an-
schliesst, ist nach neuen anatomischen Untersuchungen
geneigt die sogenannten Stäbchen als diejenigen Form-
elemente der Retina zu bezeichnen, welche primär
von den Aetherschwingungen verändert werden.


Nach den neuern Untersuchungen über die Struktur der Retina
von Kölliker, Fig. 58. enden die entweder wie A oder wie B
geformten Stäbchen gegen das Pigment P mit abgestetzten Enden;
ihre dem Nerven zugewendete Seite spitzt sich zu und läuft
schliesslich in einen feinen Faden aus, der bis zur membrana
limitans dringt und somit die Körnerschicht K K und die Ganglien-
zellen und die Nervenröhren durchsetzt; auf welche Art der Faden
endet, ist Kölliker unklar geblieben. Rücksichtlich der Verthei-
lung der Nervenröhren und der Stäbchen behauptet er, dass das Fo-
ramen centrale, der lichtempfindlichste Theil der Netzhaut
Stäbchen aber keine Nervenröhren
besitze, während
die Eintrittsstelle der Sehnerven, der blinde Netzhautort, die
Stäbchen entbehre.
Unter Voraussetzung der Richtigkeit je-
ner Beobachtungen würde gegen die im Text erwähnte Annahme
von Kölliker nichts einzuwenden sein; die aufsteigenden Fäden
[225]Unsichtbare, farblose und farbige Aetherwellen.
der Stäbchen würden dann als die Uebermittler der Erregung von diesen auf die
Nerven anzusehen sein. — Ueber die Vertheilung der Stäbchen in den einzelnen
Parthien der Netzhaut siehe Brücke*) und Henle.**)


b. Die Wellen des Aethers sind nur dann im Stande Lichtempfin-
dungen zu erregen, wenn sich ihre Längen innerhalb gewisser Gren-
zen halten; namentlich sind alle Strahlen des Spektrums, deren Wellen
länger als die rothen und kürzer als die violetten sind, unsichtbar. Der
Grund dieser Unsichtbarkeit liegt nach Brücke darin, dass die Wel-
len der bezeichneten Länge von den brechenden Medien des Auges
absorbirt werden, so dass sie gar nicht zur Retina gelangen.


Der Nachweiss, dass das Spektrum noch von zwei unsichtbaren Wellensäumen
eingefasst ist, wird bekanntlich dadurch geführt, dass dasselbe jenseits seiner leuch-
tenden Theile noch chemische und thermische Wirkungen veranlasst; diese Wirkun-
gen auf die Thermosäule, auf jodirte Silberplatten, Guajactinctur u. s. w. werden nach
Brücke aufgehoben, wenn man zwischen diese Apparate und das Spektrum die
dursichtigen Augenmedien in der Art einschaltet, dass jene Strahlen durch letztere
dringen müssen.


c. Die optisch einfachen, durch das Prisma nicht weiter zerleg-
baren Strahlen des sichtbaren Spektrums erzeugen insgesammt die
Empfindung des Weissen, wenn die lebendige Kraft ihrer Schwingung,
die Lichtintensität, eine sehr beträchtliche ist. Helmholtz, Moser.
In allen andern Fällen erscheinen sie farbig; die bestimmte Farbe,
welche die einfache Aetherwelle erregt, ist abhängig von ihrer Wellen-
länge in der Art, dass die Wellen kürzester Länge violett, die der
grössten Länge roth, die zwischen liegenden aber blau, grün, gelb,
orange erscheinen. In den bezeichneten Grenzen der Lichtintensität
kommt den Farben des Spektrums die Fähigkeit zu, nur einen Farben-
eindruck zu erzeugen; Newton. Der berühmte Optiker Brewster
hatte auf neue Versuche gestützt, die Behauptung ausgesprochen,
dass jede der prismatischen Farben, die man bisher für einfach ge-
halten, durch absorbirende Mittel noch weiter zerlegbar sei, so dass
eine jede derselben selbst noch verschiedene Farbenempfindungen
erzeugen könne. Helmholtz, der die Lehre Newtons in Schutz
nimmt, hat die Gründe, aus denen Brewster irrt, nachgewiesen.


d. Gemischte Strahlen erscheinen entweder weiss oder farbig.
Die Empfindung des Weissen wird erzeugt durch Mischung der farbigen
Strahlen in einem solchen Verhältniss, in dem sie im unzerlegten
Sonnenlicht enthalten sind; ferner durch Mischung von blauen und
gelben Strahlen, und endlich durch diejenige aller solchen, aus
denen blau und gelb zusammengesetzt werden kann. Ueber die Far-
ben, welche durch Mischung einfacher Strahlen erzeugt werden
können, gibt die folgende, von Helmholtz entworfene Tabelle Auf-
schluss:


Ludwig, Physiolog. I. 15
[226]Gemischte Aetherwellen. Grundfarben.
  • Roth und Violett gibt Purpur
  • Roth und Blau „ Rosa
  • Roth und Grün „ Mattgelb
  • Roth und Gelb „ Orange
  • Grün und Blau „ Blaugrün
  • Gelb und Violett gibt Rosa
  • Gelb und Blau „ Weiss
  • Gelb und Grün „ Gelbgrün
  • Grün und Violett „ Blassblau
  • Blau und Violett „ Indigblau

Diese von den gewöhnlichen sehr vielfach abweichenden Angaben, wird man be-
stätigt finden, wenn man nicht, wie meist bisher geschehen, Pigmente, sondern Aether-
wellen mischt. Die einfachste Methode zur Erreichung dieser letzten Absicht besteht
nach Helmholtz darin, dass man ein dünnes Stück Glas senkrecht auf eine dunkle
Platte stellt, und vor die Fläche des Glases, von welcher aus der Beobachter an sie sieht,
ein gefärbtes Stück Papier oder dergl. legt, und darauf hinter das Glas auf den Ort,
an welchem das Spiegelbild der ersten Farbe erscheint, ein andersfarbiges Papier
bringt, so dass beide Farben auf demselben Wege in das Auge des Beobachters drin-
gen. Die durch dieses ingeniöse Mittel erworbenen Erfahrungen werden auch durch
den bekannten Farbenkreisel bestätigt, d. h. durch eine rasch rotirende Scheibe, auf
welche man die verschiedenen Farben als Sectoren aufgetragen hat. — Der Grund wa-
rum bei dem Mischen von Farbstoffen ganz andere Erscheinungen vorkommen, liegt da-
rin, dass in diesem Fall keine Mischung, sondern eine Aussonderung von Aetherwellen
stattfindet, indem aus dem Gemenge der Pigmente nur das Licht zu uns dringt, was von
jedem derselben durchgelassen wird. Löscht also z. B. ein blaues Pigment alle Far-
ben aus, ausser grün und blau, und gelb alle Farben ausser grün und gelb, so wird
durch ein Gemenge dieser Stoffe nur grün hindurchdringen können. Darum gibt auch
ein Gemeng von grün und roth u. s. w. schwarz oder wie man sich ausdrückte grau,
weil der grüne Farbstoff keine rothen und der rothe keine grünen Strahlen durch-
lässt u. s. w.


Indem man, nach der früheren von Helmholtz widerlegten An-
nahme, das weisse Licht immer als die Lichtgesammtheit, als das
wiedervereinigte Spektrum betrachtete, nannte man zwei Farben,
welche bei ihrer Mischung weiss gaben, complementäre. — Die-
ser Ausdruck muss, wenn er beibehalten werden soll, in einem andern
Sinn als früher genommen werden, da auf sehr mannigfache Art weis-
ses Licht entstehen kann, ohne dass dieses sämmtliche Farbenstrah-
len des Spektrums enthielte. Da man ferner früher glaubte, es könne
durch wechselnde Zusammensetzung der drei Farben Roth, Gelb, Blau
jegliche Farbe erzeugt werden, so nannte man sie die Grundfarben.
Auch diese Annahme ist nach der obigen Tafel unhaltbar; die Unter-
suchung von Helmholtz verlangt mindestens die Feststellung der
fünf Grundfarben: Roth, Gelb, Grün, Blau, Violett.


e. Wenn Lichtstrahlen von verschiedener Färbung gleichzeitig
differente Orte der Retina beleuchten, so erregt öfter der eine von ihnen
eine andere Empfindung als dann, wenn er für sich allein die Retina
getroffen haben würde. Diese scheinbare Farbe belegt man mit dem
Namen der Nebenfarbe, Contrast- oder subjektiven Ergänzungsfarbe.
Einen Ueberblick über die Nebenfarben, welche das weisse Licht an-
nimmt, wenn zugleich noch gefärbtes Licht auf die Retina trifft, gibt
die folgende Tabelle.


[227]Nebenfarben des weissen Lichtes.
  • Weisses Licht erscheint Grün, wenn gleichzeitig Roth auffällt
  • „ „ „ Violett „ „ Gelb „
  • „ „ „ Blau „ „ Orange „

und umgekehrt, es erscheinen die weiss erleuchteten Stellen Roth,
Gelb, Orange, wenn andere Orte desselben Auges gleichzeitig von
Grün, Violett, Blau getroffen werden.


Diese Färbung weissen Lichtes beobachtet man in vollkommener Schärfe, wenn
man in ein grösseres Stück eines durchsichtigen gefärbten Papieres (feines Brief- oder
Fliesspapier in Carmin-, Indigo- u. s. w. Lösung getaucht) eine Lücke schneidet und
auf dieselbe eine Scheibe weniger durchsichtigen weissen Papiers (Schreibpapier)
klebt, und diese Combination gegen das helle Fenster betrachtet, so dass gleichzeitig
durch beide Papiere das Licht in das Auge fällt. Im übrigen sind die Bedingungen der
scheinbaren Umsetzung weissen Lichtes noch durchaus nicht im Klaren; als feststehend
darf angesehen werden: 1.) Die primäre oder, wie sie Brücke nennt, die induzirende
Farbe muss einen grossen Theil des Sehfeldes einnehmen. — 2.) Die ursprünglich
gefärbten Strahlen müssen selbst noch mit weissem Licht gefärbt sein, denn es er-
eignet sich die scheinbare Färbung des weissen Lichtes an dem vorher beschriebe-
nen Papier nicht, wenn man dasselbe auf einen dunklen undurchsichtigen Körper
auflegt. 3.) Das rein weisse Licht muss etwas gedämpft sein, wenn es eine Fär-
bung annehmen soll. 4.) Die Lebhaftigkeit der Farbe des weissen Lichtes (induzirte
Farbe) steigert sich nur bis zu einem gewissen Grade mit der Tiefe der induzirenden.
5.) Die Lebhaftigkeit der induzirten Farbe steigert sich mit der Zeitdauer der An-
schauung der induzirenden. 6.) Nach Brewster und Fechner erscheint das weisse
Licht nicht immer in der oben bezeichneten Färbung sondern auch zuweilen in der
gleichartigen, so dass ein weisser Fleck auf roth ebenfalls roth wird. —


Fallen gleichzeitig zwei Farben auf die Retina, so heben sie sich
meist nur schärfer gegen einander ab, ohne sich aber in ihrem Ton
zu ändern. — Die einzige bekannte Ausnahme besteht darin, dass
wenn man dieselben Farben von stärkerer und geringerer Intensität
nebeneinander sieht, die schwächere (mit mehr weiss gemengte) die
Farbe annimmt, welche unter diesen Umständen das weisse Licht
erhalten würde, so dass z. B. ein helles roth neben einem tiefen roth
grün erscheint. Brücke, Fechner.


Aus diesen Thatsachen folgert sich, dass die Bestandtheile des
Sehnerven einen gegenseitigen, empfindungsbestimmenden Einfluss
auf einander üben. Diese Wechselwirkung zwischen den empfinden-
den Theilen ereignet sich wahrscheinlich im Hirn.


Ausser dieser Folgerung, respektive im Gegensatz zu ihr, liessen sich zwei
andre ziehen, die nämlich, dass die Contrastfarbe eine reelle, im Auge vorhandene
sei; und die andere, dass das Auftreten der Contrastfarbe in einer Täuschung des Ur-
theils begründet sei. — Die erste von beiden Annahmen entbehrt jeglicher Begrün-
dung, indem z. B. gar nicht abzusehen ist, wie das weisse Licht, welches einen Reti-
nafleck beleuchtet, sich in grünes verwandeln sollte, selbst wenn das Auge an den-
selben Stellen mit roth erhellt würde. — Die andere Hypothese erscheint dagegen,
namentlich wenn man die Richtigkeit der früheren Annahme über die Zusammen-
setzung des weissen Lichtes voraussetzt, annehmbarer. So lange man z. B. glaubte,
dass durch die Zusammensetzung von grün und roth weiss entstehe, konnte man es
auch wahrscheinlich finden, dass wenn gleichzeitig auf verschiedene Nervenröhren
weisses und rothes Licht wirke, die Seele im Gegensatz zu den rein rothen Strahlen
15*
[228]Farbenunterscheidung. Stärke der Lichtempfindung.
das Weisse, welehes neben roth noch grün besitzen sollte, als grün empfinden würde.
Dieser Annahme ist aber durch die überraschenden Entdeckungen vom Helmholtz
der Boden entzogen worden, da ja auch weiss aus blau und gelb entsteht u. s. w. —
Zudem erläutert die Vorstellung, dass eine Urtheilstäuschung dem Erscheinen der
Contrastfarben zu Grunde liege, auch andere Thatsachen nicht. Warum muss die
induzirende Farbe licht und das Weisse gedämpft sein? Warum erzeugt die intensi-
vere Farbe im Weiss eher die gleichartige als die contrastirende Färbung?


Die Behauptung, dass die gegenseitige Beziehung der Erregungszustände im Hirn
stattfinde, werden wir später begründen. —


f. Wenn weisses Licht eine Retinafläche erleuchtet, nachdem diese
unmittelbar vorher von einem intensiven farbigen Strahl getroffen war,
so erregt das Weiss des Sonnenlichtes eine Farbenempfindung; und na-
mentlich erscheint meist die Nebenfarbe des frühern vorhanden, so dass
z. B. der weisse Strahl nach dem Betrachten von Roth die Empfindung
von Grün u. s. w. erzeugt. Aus dieser Thatsache folgert man, dass in-
nerhalb der Nervenröhren die Empfindlichkeit für die eine Farbe abge-
stumpft werden kann, während die für eine andere in vollkommener
Kraft bestehen bleibe. Diese Folgerung wird um so wahrscheinlicher
als in der That nach anhaltendem Betrachten einer Farbe, diese an ihrer
Stärke verliert, während die unmittelbar nachher im Sehfeld erschei-
nende physiologische Nebenfarbe sehr lebhaft empfunden wird.


g. Verschiedene Individuen sind mit einem sehr abweichenden
Vermögen der Farbenunterscheidung begabt. Namentlich geht aus
den Untersuchungen von Seebek hervor, dass sich die Menschen,
welche die Farben mangelhaft unterscheiden, in zwei Classen bringen
lassen, von denen die eine alle Farben mangelhaft empfindet, während
die zweite gelb noch gut erkennt, während sie roth als grau und blau
als blaugrau sieht.


h. Ueber das Verhältniss zwischen der Stärke der Lichtempfin-
dung und der lebendigen Kraft, mit welchen die Aethermolekeln
schwingen, können wir nur einige wenige scharfe Aussagen machen,
weil uns ebensowohl ein Maass für die Empfindung als auch für die
lebendige Kraft der Aetherschwingungen fehlt und wir endlich auch
nicht wissen wie viel Licht auf dem Wege durch die brechenden
Medien des Auges verloren geht.


Die Stärke der Empfindung, welche durch den Lichtäther ange-
regt wird, ist abhängig von den Besonderheiten der Aetherwellen, der
Empfindlichkeit der Retina, dem Orte an welchem sie getroffen wird,
und der Summe der Nervenröhren, welche gleichzeitig erregt werden.


α) Innerhalb gewisser Grenzen wächst mit der Intensität des
Lichtes d. h. mit der Excursion, welche ein schwingendes Aether-
molekel macht, die Stärke der Lichtempfindung. — Wahrscheinlich
müssen die Aethermolekeln erst einen gewissen Grad von Schwin-
gungsstärke erreicht haben, bevor sie im Stande sind die Empfindung
zu wecken, haben sie diese erreicht, d. h. wird ein Lichtquell sicht-
[229]Stärke der Lichtempfindung. Mechanische Einwirkungen.
bar, so erhöht sich nun allmälig mit der Intensität der leuchtenden
Theilchen die Empfindung; bei fortgesetzter Steigerung des Lichtes
tritt aber endlich Blendung ein, das Analogon des Schmerzes, bei
deren Anwesenheit durch eine noch kräftigere Wirkung des Lichtes,
keine heftigere Empfindung mehr erzielt werden kann. — Auf die
Stärke der Empfindung übt ausser der Excursion des schwingenden
Theilchens auch die Wellenlänge einen Einfluss. Die Wellen kürzerer
Längen, d. h. die nach dem violetten Ende des Spektrums hin liegen-
den verschwinden, nämlich bei fortgesetzter Schwächung des Lichtes,
später als die nach dem rothen Ende hin gelegenen. Dove erläutert
dieses daraus, dass sich die rascher aufeinander folgenden Stösse
des blauen Lichtes in den Nerven summiren, während dieses bei den
langsamer aufeinander folgenden des rothen Lichtes nicht geschieht.


Alle übrigen Angaben und namentlich die, dass bei gleicher Lichtintensität die
Farben rücksichtlich der Stärke ihre empfindungserzeugenden Eigenschaften in der
abnehmenden Reihe gelb, grün, hellblau, orange, roth, violett geordnet werden könn-
ten, ruhen auf keinen sicheren Erfahrungen. — Die Methode, welche Plateau*) an-
wendete um emfindungserzeugende Kräfte der Farben zu messen, ist im Prinzip feh-
lerhaft. Sie gibt in der That nur Aufschluss darüber, in welchem Verhältniss die
Stärke der Nachwirkung steht, welche zwei Farbeneindrücke hinterlassen.


β) Die Empfindlichkeit der Retina gegen weisses Licht sowohl
als gegen gefärbtes, nimmt mit der Dauer ihrer Einwirkung auf die-
selbe ab und zwar um so rascher, je beträchtlicher die Intensität des
Lichtes war. Rücksichtlich des gefärbten Lichtes ist hierbei bemer-
kenswerth, dass durch anhaltende Einwirkung einer Farbe die Em-
pfindlichkeit des Sehnerven nur für diese, aber nicht zugleich für
andere Farben abgestumpft wird.


γ) Nach Brewster**) sollen die Seitentheile der Retina (bei
gleicher Pupillenweite?) ein constantes Licht lebhafter empfinden als
die mittleren.


δ) Je grösser die Retinaflächen sind, welche gleichzeitig vom
Licht getroffen werden, um so intensiver wirkt dasselbe, wie daraus
hervorgeht, dass ein grelles Licht mit einem, aber nicht mit zwei Au-
gen zugleich, ohne Blendung zu erzeugen, angesehen werden kann.


B. Mechanische Einwirkungen. Durch Druck oder Zerrung
wird unter uns noch unbekannten Umständen bald die Empfindung des
weissen, bald die des gefärbten Lichtes erzielt. — Auf diesem Wege
kommen die feurigen Kreise zu Stande, welche man bei einem gelinden
Fingerdruck auf das Auge, und zwar auf der dem Druck diametral ent-
gegengesetzt liegenden Augenseite, entstehen sieht; ferner das Fun-
kensehen bei heftigem Schlagen auf das Auge; ferner die leuchtenden
Ringe bei raschen Drehungen des Auges, welche von Zerrungen des
[230]Electrische Einwirkungen. Nachbilder.
Sehnerven rühren; ferner die bei sehr empfindlichen Zuständen auf-
tretenden, vor dem Auge hin und her fahrenden Funken, welche durch
die in den Capillarnetzen der a. centralis retinae verlaufenden Blutkör-
perchen veranlasst werden, und endlich wohl auch das sogenannte
Schattenfeld, welches in einem feinem Lichtstaub besteht, der beim
Schliessen der Augenlieder in selbst dunklen Räumen über die ganze
Ausbreitung der Retina beobachtet wird.


C. Elektrische Einwirkungen*). Abgesehen von den Feuer-
erscheinungen, durch welche die Electrizität erregend auf die Retina
wirkt, ist sie auch auf andere Art, nach Analogie ihrer Einwirkung
auf die übrigen Nerven zur Auslösung der Lichtempfindung geschickt.
— Es scheint sowohl der an Intensität constante, als schwankende
Strom Lichtempfindung zu erregen, so jedoch, dass bei der Schwan-
kung des Stroms das Licht lebhafter wird. Nach Pfaff, Ritter und
Purkinje erkennt der Sehnerv auch die Strömungsrichtung der
Elektrizität, und zwar soll der im Nerven aufsteigende (von der
Peripherie zum Gehirn gerichtete) Strom lebhafter wirken, als der
absteigende. Das Licht selbst, welches zur Empfindung kommt, ist
ein farbiges; nach Purkinje erscheinen violette und gelbliche Far-
bentöne, die sich jedoch nicht gleichmässig über die Sehfläche aus-
breiten, sondern von dunklen Stellen unterbrochen sind. Mit der Um-
kehr der Strömung verändert sich auch die Oertlichkeit der Licht- und
Schattenflächen in der Art, dass die früher dunklen Stellen hell und
die hellen dunkel werden.


2. Beharrungsvermögen; Nachbilder **).


Ein Lichtstrahl, der zu der Retina gedrungen ist, setzt sie in ver-
schwindend kleiner Zeit in Erregung, wie daraus hervorgeht, dass wir
das momentane Licht eines electrischen Funkens nicht allein sehen,
sondern auch die mit ihm beleuchteten Gegenstände erkennen. Volk-
mann.
Diese Erregungszustände der Retina werden aber nicht ebenso
momentan von der Seele empfunden; denn ein dunkler kreisförmiger
Gegenstand, der sich vor einer weissen Grundlage mit einer bedeu-
tenden Geschwindigkeit bewegt, bildet in der Empfindung einen dunk-
len Streifen, eine Thatsache, aus der hervorgeht, dass die unmittelbar
hinter dem dunklen Körper ins Auge fallenden weissen Strahlen nicht
augenblicklich zur bewussten Empfindung kommen; d’Arcy.


Die einmal zum Bewusstsein gekommene Lichtempfindung ver-
schwindet aber nicht momentan mit der Entfernung des objektiven
Lichtes; es bleibt eine Nachwirkung, ein Nachbild, zurück, welche
[231]Bedingungen der Andauer des Nachbildes.
namentlich die Form des gesehenen Gegenstandes mit grosser Treue
festhält.


Unser Sehfeld ist in der That fast ununterbrochen mit Nachbildern ausgefüllt,
welche von uns nur übersehen werden, so lange wir nicht durch genaue Selbst-
beobachtung die Fähigkeit erlangt haben, diese meist zarten Bilder neben den ge-
wöhnlich stärkern objektiven Lichteindrücken aufzufassen. Zum ersten Studium des
Nachbildes ist dasjenige einer nicht zu hellen Kerzenflamme empfehlenswerth. Sieht
man Abends in eine solche nicht zu helle Kerzenflamme 30 bis 60 Sekunden stier und
unverrücklich, schliesst dann die Augen und deckt sie noch mit den Händen, so wird
man das genaueste Abbild der Flamme vor sich schweben sehen. Da man das Ker-
zenlicht innerhalb gewisser Grenzen durch Entfernen desselben vom Auge schwächen
und steigern kann, so eignet es sich vortrefflich, um sich die grössere Zahl der im
folgenden erläuterten Erscheinungen vorzuführen. — Alle Versuche über Nachbilder
und noch mehr über Abklingen der Farben müssen mit der äussersten Sorgfalt ange-
stellt werden, weil sie Augenschwäche, ja gänzlichen Verlust der Sehkraft herbei-
führen können. Fechner, Plateau und Brücke, welchen wir vorzugsweise un-
sere Kenntnisse über die Nachbilder verdanken, haben ernste Folgen ihres Strebens
empfinden müssen.


Die Erscheinungen dieses Nachbildes sind nun verwickelter Art.


a. Obwohl jeder Lichteindruck ein Nachbild hinterlässt, wie das
Beispiel des electrischen Funkens darthut, so sind doch gewisse Be-
dingungen nöthig, wenn ein Strahl auch nach seiner Entfernung aus
dem Auge, während einer merklichen Zeit deutlich empfunden werden
soll. In dieser Beziehung lehrt die tägliche Erfahrung, dass wenn
auch ein Licht von jeder beliebigen Stärke ein Nachbild hervorruft,
doch ein intensives nur viel kürzere Zeit auf das Auge gewirkt zu
haben braucht, als ein weniger intensives, um die Nachwirkung deut-
lich zu erzeugen, und dass verschieden gefärbte Körper bei gleicher
Beleuchtungsstärke zu demselben Zwecke ungleicher Zeiten bedürfen.
Stellt man die Farben nach ihrer Fähigkeit ein Nachbild zu erzeugen
in eine Reihe, so folgen sie nach der Ordnung: weiss, gelb, roth,
blau; Plateau.


b. Die Zeit, während welcher ein deutliches Nachbild im Sehfeld
verharrt, ist abhängig α) von der Intensität des primären Lichtein-
drucks, in der Art, dass das Nachbild eines intensiven Lichteindrucks
länger verharrt als das eines schwachen. β) Je länger objektives
Licht die Retina traf, um so dauernder erweist sich die Nachwirkung.
γ) Alles andere gleichgesetzt, verbleiben die Nachbilder verschiede-
ner Farben, bis zu ihrem vollständigen Verschwinden, eine ungefähr
gleiche Zeit, dagegen verliert das Nachbild des Weissen rascher an
seiner Lebhaftigkeit als das des Gelben, Rothen, Blauen; Plateau.


Um die Zeiten der Nachbilder zu messen, wendete Plateau eine runde Scheibe
von bekanntem Durchmesser an, die mit verschiedener aber messbarer Geschwin-
digkeit gedreht werden konnte. Diese Scheibe überzog er mit einem lichtlosen
Grund (schwarzen Sammet) und befestigte auf diesem einen Kreissektor aus ge-
färbtem Papier. Dreht man nun diese Scheibe, so wird bei einer gewissen Geschwin-
digkeit derselben, dem Auge auch die schwarze Abtheilung mit der Farbe des Sektors
überzogen erscheinen; da man die Weglänge des schwarzen und gefärbten Theils
[232]Negative und positive Nachbilder. Farben derselben.
und die Umdrehungsgeschwindigkeit kennt, so lässt sich leicht berechnen, welche
Zeit verflossen ist während des Vorbeigangs des schwarzen Theils. Die ganze
Zeitdauer des Nachbildes wird nun gegeben sein durch die Umdrehungsgeschwin-
digkeit, bei welcher der lichtlose Theil der Scheibe gerade noch überall gefärbt ist.
Die Zeitdauer des ungeschwächten Lichtbildes aber ist durch die Drehungsgeschwin-
digkeit gegeben, bei welcher an allen Orten der Scheibe die Farbe eine gleichmäs-
sige ist, so dass das Auge nicht entscheiden kann, ob die schwarze oder gefärbte
Abtheilung an ihm vorübergeht.


c. Das Nachbild eines Gegenstandes, der aus mehr und weniger hell
beleuchteten Stücken besteht, prägt sich, wenn es bei verschlossenen
mit der Hand gedeckten Augen betrachtet wird, entweder so aus,
dass Object und Nachbild, rücksichtlich der Vertheilung des Hellen
und Dunklen, sich genau entsprechen — positives Nachbild — oder so,
dass die dunklen Parthien des Objektes im Nachbild hell und die hellen
des erstern im letztern dunkel sind — negatives Nachbild. — Lässt
man während des Bestehens eines positiven Nachbildes weisses Licht
in das Auge, so blasst ersteres ab und verwandelt sich sogar in ein
negatives Nachbild, dringt dagegen bei Gegenwart eines negativen
Nachbildes weisses Licht in die Retina, so wird dasselbe deutlicher.
Diese Erscheinung beweisst, dass das positive Nachbild auf einer
fortdauernden Erregung, das negative auf einer Abstumpfung der
Sehkraft in den betreffenden Stellen beruht; Brücke.


Erscheint z. B. nach dem Betrachten eines hellen Gegenstandes auf dunklem
Grunde in dem geschlossenen vor Licht vollkommen geschützten Auge ein positives
Nachbild, so wird dieses beim Zutritt weissen Lichtes (beim Oeffnen des’ Auges) un-
deutlicher weil durch das Licht der noch erregbarere den dunklen Grund nachempfin-
dende Retinatheil stärker erregt wird, als der durch den vorhergehenden Eindruck
schon angegriffene hell nachempfindende; es verschwinden also durch objektives
Licht nicht allein die Unterschiede der Erregung, sondern es erhält die vorher dunkle
Masse ein Uebergewicht von Helligkeit über die vorher weisse, mit andern Worten:
das positive Nachbild wird negativ. — Prägt sich das Nachbild eines weissen Ge-
genstandes auf schwarzem Grund dagegen im bedeckten Auge negativ aus, so müssen
beim Zutritt weissen Lichtes die hellen Parthien noch heller werden, weil sie durch die
früher weniger kräftige Erregung im geringeren Grade abgestumpft, das weisse
Licht deutlicher empfinden, als die durch den frühern kräftigern Eindruck ganz ab-
gestumpften dunklen Stellen; mit andern Worten, das im dunklen Auge negative
Nachbild wird beim Lichtzutritt noch deutlicher negativ.


d. Die Nachbilder erscheinen bald in der Farbe des ursprüng-
lichen Bildes, bald mit der Contrastfarbe desselben, d. h. ein grüner
Gegenstand wird roth, ein blauer orange, ein violetter gelb; man
unterscheidet darum gleichfarbige identische, und contrastfarbige
complementäre Nachbilder. Es können dieselben aber ausser der
Gleich- und Contrastfarbe auch noch mancherlei andere annehmen;
namentlich kommt es vor, dass die in der Nachempfindung begrif-
fenen Retinastellen durch einen gesetzmässigen Wechsel verschie-
dener Farbenempfindung zur Ruhe gelangen. Abklingen der Farben.


Auf dieses verschiedenartige Auftreten der Farben im Nachbild
übt einen Einfluss: die Stärke und die Mischung des erregenden Lich-
[233]Bedingungen für die Farbe des Nachbildes.
tes; die Beleuchtung des Auges während des bestehenden Nachbildes;
die Zeit selbst, während welcher das Nachbild bestand, indem dasselbe
Bild in der Zeit seine Farbe wechselt (Phasen des Nachbildes); Be-
wegungen des Auges bei gegenwärtigem Nachbilde und endlich die
besondern Eigenschaften der Sehnerven verschiedener Menschen. —
α) Einfarbiges Licht erzeugt immer nur gleich- und contrastfarbige
Nachbilder, Brücke; war das Licht schwach, so erscheint das Nach-
bild zuerst identisch und dann complementär, worauf es verschwindet,
war aber das erregende Licht intensiv, so entsteht in dem geschlosse-
nen Auge zuerst ein positiv complementäres, dann nach einer kleinen
Pause — einer Augenbetäubung nach Fechner — ein positiv iden-
tisches, darauf ein negativ complementäres, dann abermals ein posi-
tiv identisches u. s. w. bis schliesslich das Nachbild als ein negativ
complementäres verschwindet; Brücke. Beobachtet man das Auge
dagegen bei geöffnetem Auge gegen einen weissen Grund, so wird
das positiv gleichfarbige in ein negativ contrastfarbiges verwandelt;
Brücke.


Die complementär gefärbten Nachbilder erzeugt man sich am besten, wenn man
Abends vor dem gelblich schimmernden Milchglas der Lampe eine Federmesserklinge
rasch hin- und herführt. Die Klinge erscheint jedesmal, so oft sie einen neuen Ort
beschattet, blau (Tourtual). — Ebenso wenn man auf die Mitte eines Bogens durch-
scheinenden gefärbten Fliesspapiers ein Stück schwarzen Tuches klebt und nun den
Bogen sanft vor dem Auge hin- und herführt. Das Tuch erscheint dann complemen-
tär gefärbt.


β) Gemischtes und namentlich das ganze Sonnenlicht gibt nach
schwacher Einwirkung ein schwaches negatives Bild; bei stärkerer
Einwirkung zuerst ein positiv identisches und dann schliesst es durch
das Farbenabklingen hindurch mit einem negativ complementären.
Ueber das mannigfache Abklingen der Farben sind die staunens-
werthen Versuche von Fechner*) nachzusehen.


Die Dauer, mit der die verschiedenen in der zeitlichen Reihenfolge
vorkommenden Farben, die Phasen des Nachbildes, anhalten, die Rei-
henfolge der Farben selbst beim Abklingen ist bei verschiedenen
Menschen nicht dieselbe. — Bewegungen im Auge unterdrücken oft
ein Nachbild für kurze Zeit und noch mehr, die Farben desselben
wechseln oft während der Bewegung.


Bisher haben wir nur der Nachbilder Erwähnung gethan, welche
eintreten nach einer primären Erregung durch Aetherwellen; Drücke
und elektrische Ströme erzeugen aber auch Nachbilder, welche selbst
Tage lang anhalten können, Ritter, und die ebenfalls in der Farbe
erscheinen, die im Contrast steht zu derjenigen, welche den primären
Eindruck bedingt. Purkinje.


Zur Erklärung des Farbenabklingens und der contrastfarbigen Nachbilder
wusste die ältere Theorie einiges vorzubringen. Man nahm bekanntlich an, dass
[234]Irradiation; Induction; Contrast.
das weisse Licht im physiologischen Sinne aus drei Grundfarben, roth, gelb, blau be-
stehe, indem man glaubte, dass aus ihrer Mischung sämmtliche Farben entstehen
könnten.


Diesen drei Grundfarben entsprechend sollten im Sehnerven drei verschiedene
Arten von Veränderungen (gleichsam die subjektiven Grundfarben) vorgehen und
diese selbst sollten innerhalb des Sehnerven an Vorrichtungen geschehen, die in ge-
wisser Art unabhängig von einander bestanden, so dass diese Fähigkeit eine dieser
drei Farben zu sehen, erloschen sein konnte, ohne Alteration der übrigen. — Aus die-
ser Annahme liess sich nun folgern, dass wenn wir anhaltend eine der drei Grund-
farben oder Combinationen zweier betrachtet hätten, die Erregbarkeit für diese Farbe
oder Farben erloschen sein müsste, so dass, wenn ein weisses Licht oder ein Druck
der sonst als weiss empfunden wurde, den Nerven traf, dieses nicht mehr weiss son-
dern in einer Farbe gesehen werden musste, und zwar natürlich in der oder den-
jenigen, welche in dem früher betrachteten Bilde fehlten. So folgerte man z. B. in
Uebereinstimmung mit der Thatsache, dass nach anhaltender Betrachtung von rothem
Licht nun das Nachbild bei weisser Beleuchtung grün erscheinen müsse, weil grün
der alten Theorie gemäss eine Combination von blau und gelb war. — Diese Er-
klärung und alle daraus abgeleiteten Sätze, die zu einer bekannten Controverse
zwischen Fechner und Plateau führte, deren Nichtigkeit aber schon Brücke
und zwar auf dem Boden der alten Voraussetzungen gezeigt hatte, ist durch Helm-
holtz
als eine irrthümliche dargethan. Denn es sind ja roth, gelb und blau nicht
die physiologisch einfachen Farben; es gibt ja der gelbe und blaue Strahl kein
Grün u. s. w. —


3. Wechselseitiger Einfluss verschiedener Orte der Retina aufein-
ander; Irradiation, Induction, Contrast *).


Die einzelnen empfindenden Bestandtheile der Retina sind durch
irgend welche Vorrichtung in eine solche Beziehung zu einander ge-
bracht, dass der Erregungszustand eines derselben auf die Erregung
des andern einen Einfluss übt. Es drückt sich diese wechselseitige
Anregung auf verschiedene Weise aus.


a. Ausstrahlung. Mit diesem Namen bezeichnet man die freilich
nicht jedem Beobachter erscheinende Thatsache, dass ein weisser
Gegenstand auf dunklem Grund grösser erscheint, als derselbe gleich
grosse schwarze Gegenstand auf weissem Grund; diese Erscheinung
soll sich innerhalb der Grenzen deutlicher Sehweite noch ausprägen,
die Grösse der Ausstrahlung soll wachsen: mit der Helligkeit der
weissen Partien, mit der Betrachtungsdauer, beim Vorsetzen zerstreu-
ender Linsen vor das Auge, mit der Entfernung des Auges von dem be-
trachteten Gegenstand und endlich mit der Empfindlichkeit des Auges.
Die Verbreiterung, die ein weisser Gegenstand durch Irradiation erlei-
det, soll dagegen abnehmen: wenn zwei weisse Objekte durch einen
schmalen dunklen Gegenstand getrennt sind, so dass eine Irradiation
die andere beschränkt, und ferner, wenn man eine convexe Linse vor
das Auge bringt.


[235]Inducter; Contrast; Sehen.

Diese bem erkenswerthen Thatsachen hat meist Plateau gesammelt, der auch
eine Messungsmethode des Irradiationswerthes angibt. Plateau leitet dieselben
davon ab, dass die Erregung sich in der Retina allmälig von den erhellten Stellen
nach den dunklen ausbreite. Siehe die Kritik dieser unwahrscheinlichen Annahme
bei Fechner und Dove; der erstere von diesen ist geneigt, sie von Eigenthümlich-
keiten der brechenden Medien abzuleiten, während der letztere glaubt, dass sie ein
durch das Accommodationsvermögen bedingtes Phänomen sei.


b. Induction. Wird die Retina nur theilweise durch homogenes
Licht (einfache Farbstrahlen) erleuchtet und zum Theil beschattet,
so färbt sich der beschattete Ort ebenfalls in der Empfindung; Brücke,
der diese Erscheinung zuerst genau von ähnlichen gesondert hat, nennt
sie Farbeninduction. Nach diesem Beobachter erscheint der Schatten


  • grün wenn d. Beleuchtung durch roth geschah
  • grün „ „ „ „ grün „
  • blauviolett „ „ „ „ violett „
  • schwachblau o. grün „ „ „ „ blau „
  • schwachblau o. gelbgrün „ „ „ „ gelb „

Wenn sich bei diesen Versuchen kein Licht im Auge zerstreut, so
beweissen dieselben dass die sogenannte Mitempfindung eine für den
Sehnerven giltige Thatsache ist.


Zum Gelingen dieser Versuche ist es nothwendig, dass alles fremde Licht abge-
halten werde. Sie können darum nur in einem verfinsterten Zimmer angestellt wer-
den, das sein einziges Licht durch eine bunte Scheibe erhält, welche nur Strahlen
von einer Farbe durchlässt. Die Angaben Fechners über die induzirte Farbe weichen
merklich von denen ab, welche im Text nach Brücke mitgetheilt sind; wahrschein-
lich machen sich hier individuelle Verhältnisse geltend.


c. Contrast, Verstimmung. Werden zwei verschiedene Orte der
Retina gleichzeitig in Erregung versetzt, so heben sich die durch
sie veranlassten Empfindungen nicht allein schärfer gegen einander
ab (Contrast), sondern sie sind auch im Stande sich gegenseitig zu
verändern, Verstimmung. Beispiele, die den Contrast erläutern, sind
einem Jeden aus der gewöhnlichen Erfahrung zu Gebote; ein Beispiel
für die Verstimmung liefert die schon früher erwähnte Thatsache, dass
weisses Licht gefärbt erscheint, wenn mit ihm gleichzeitig aber an
verschiedenen Orten gefärbtes vorhanden ist (pag. 266). Der Con-
trast dürfte unzweifelhaft Folge einer im Hirn vor sich gehenden Ver-
gleichung beider Eindrücke sein, da er sich auch noch geltend macht,
wenn ein Eindruck nur je ein Auge trifft; H. Meyer. Die mit dem
Worte der Verstimmung bezeichneten Thatsachen bedürfen noch ge-
nauerer Untersuchung; siehe über diese Erscheinungen besonders
Fechner*) und Brücke.


Sehen.


Mit Hilfe des Sehnerven gelangen zu unserm Bewusstsein auch
noch Kenntnisse von anderen Eigenschaften der Dinge als ihre Färbung
und die Stärke ihrer Beleuchtung; diese Aufschlüsse, welche sich auf
[236]Das Sehen geschieht mittelst der Aetherwellen.
die räumlichen Verschiedenheiten innerhalb eines Objektes, die con-
stante oder wechselnde Ortslage eines solchen im Raume u. s. w.
beziehen, empfangen wir nun nicht allein vermittelst der Empfindungs-
eigenschaften des Sehnerven, sondern nur darum, weil entweder die
Nervenröhren in der Retina (und dem Hirn?) eigenthümlich angeord-
net sind, oder weil sich gleichzeitig mit der Erregung der Retina noch
diejenigen anderer Nerven einfinden, so dass das Urtheil aus der Re-
sultirenden beider Einwirkungen gefällt wird, jedoch in der Art, dass
die das Urtheil bestimmenden Elemente nicht gesondert, sondern so-
gleich als Resultirende auf die Seele wirken, und sonach den Ans-
chein einfacher Empfindung erzeugen. — Diese Akte bezeichnet man,
der Lichtemp findung gegenüber, mit dem Ausdruck Sehen.


Der Physiologe untersucht nur, welche Elemente sich betheiligen an den zu-
sammengesetzten Empfindungen des Sehens und überlässt dem Psychologen Fragen
und Antworten zu geben über die besondere Art, in welcher diese Elemente unter
sich und mit der Seele verknüpft werden.


1. Welche Erreger der Lichtempfindung zum Sehen benutzt wer-
den können. Eine Musterung der lichterregenden Einflüsse, mit Rück-
sicht auf den vor der Retina liegenden Apparat, ergibt sehr bald, dass
nur die Aetherschwingungen ein vollkommenes Sehen vermitteln
können. Mechanische Veränderungen des Augapfels werden wohl
ihrer Intensität nach, aber niemals ihrer Ausbreitung und Richtung
nach, mit Schärfe empfunden, weil ein auf das Auge geübter Druck
sich durch den mit Flüssigkeit gefüllten Augapfel nach allen Richtun-
gen hin mit gleicher Stärke fortpflanzt. Es wird also durch den
Druck jedesmal die ganze Retina in Erregung gebracht; dabei schlies-
sen jedoch die Eigenschaften der Retina nicht jede Empfindung der
örtlichen Druckwirkung aus, weil zugleich an dem relativ weichen
Augapfel durch den drückenden Körper besondere Formveränderun-
gen erzielt werden.


Von der Richtigkeit dieser Darstellung überzeugen uns die Folgen eines mit
dem Finger geübten Druckes auf ein Stück der äussern Wand des Auges, die auf
ihrer inneren Fläche noch mit Retina überzogen ist. Ein solcher Druck bringt in
Folge der örtlichen Einbiegung des Augapfels einen der Fingergrösse entsprechen-
den leuchtenden Kreis hervor, der aus später zu erwähnenden Gründen auf der der
Druckstelle entgegengesetzten Fläche des Auges gesehen wird, und ausser dem sehr
bald die Purkinje’sche Druckfigur, d. h. eine vor der ganzen Retina schwebende,
leuchtende Fläche, welche meist noch einzelne vor und hinter der Retina gelegene
anatomische Elementarformen enthält.


An den electrischen Strömen, welche das Auge durchlaufen,
kann man mit gespannter Aufmerksamkeit mehrere Eigenschaften
unterscheiden, nämlich Richtung, Stärke und Geschwindigkeit in den
Dichtigkeitsschwankungen des Stroms; es beziehen sich aber auch
hier die zur Unterscheidung zu bringenden Merkmale nur auf die In-
tensität der Wirkungen in ihrer zeitlichen Folge, aber nicht auf das
raumliche Nebeneinander, da wegen der überall gleich grossen Leitungs-
[237]Schärfe des Sehens; Bedingungen derselben.
widerstände, welche die Substanzen des Auges bieten, die Strömungs-
curven sich beträchtlich ausbreiten. Dem gemäss geschieht das Se-
hen fast nur unter dem Einfluss der Aetherschwingungen des soge-
nannten objektiven Lichtes.


2. Schärfe des Sehens *). Die Schärfe des Sehens, oder die Fähig-
keit jeden leuchtenden Punkt eines Gegenstandes in seiner Sonderung
und Umgrenzung von jedem zunächst liegenden zu unterscheiden,
ist erstens abhängig vom katoptrischen und dioptrischen Apparat,
insofern er die Aufgabe zu erfüllen hat, die von einem leuchtenden
Punkt auf das Auge fallenden Strahlen in einen Punkt der Retina zu
vereinigen, so dass niemals mehrere im Objekt getrennt liegenden
Punkte auf dieselben Stellen der Retina ihr Licht werfen. Wie schon
früher erwähnt, ist diese Bedingung nicht vollkommen erfüllt und
würde, wäre sie erfüllt, wegen anderer noch zu erwähnender Vorrich-
tungen auch nicht den entsprechenden Vortheil leisten. An diesem
Orte ist aber die Bemerkung noch schicklich, dass selbst bei starken
Zerstreuungskreisen ein Gegenstand mit annähernder Deutlich-
keit gesehen werden kann, wegen der hervorragenden Lichtstärke
des mittlern Theils desselben, welche im Contrast zu den schwächer
erleuchteten Rändern vorzugsweise als das dem Gegenstand entspre-
chende Bild empfunden wird. Aus diesem Grunde gelingt es auch
noch leicht Gegenstände, die ausserhalb der Grenzen deutlicher Seh-
weite liegen, scharf aufzufassen, wenn man dieselben durch feine
Oeffnungen betrachtet, wodurch die störenden Zerstreuungskreise der
Grenzpunkte eines leuchtenden Gegenstandes verkleinert werden.


Man halte, um sich von der Wahrheit der Thatsache zu überzeugen, den Knopf
einer Stecknadel so nahe vor das Auge, bis sie die Empfindung einer verwasche-
nen Fläche gibt und schiebe dann ein Kartenblatt, in welches man eine feine Oeff-
nung bohrte, so zwischen Auge und Stecknadel, dass ihre Strahlen durch die Pupille
fallen; augenblicklich wird die Form des Knopfes deutlich hervortreten.


Die Schärfe des Sehens ist ferner bedingt durch die Retina, weil es
von ihren Einrichtungen abhängt, ob sie die mit Hilfe des dioptrischen
und katoptrischen Apparats entworfenen Lichtpunkte dem Gehirn in der
Sonderung mittheilt, in welcher dieselben auf ihrer Oberfläche entwor-
fen wurden. Die Prüfung der Retina in dieser Beziehung ergibt, dass
sie an verschiedenen Orten ihrer Ausbreitung auf verschiedene Weise
die Schärfe des Gesichtes unterstützt; am vollkommensten erreicht sie
dieses im gelben Fleck, während ihr Vermögen zur gesonderten Em-
pfindung mehr und mehr gegen die Seitentheile abnimmt. Um zu
bezeichnen, dass nur mit dem gelben Fleck ein scharfes Sehen
möglich sei, nennt man das Sehen mittelst desselben und namentlich
mittelst des Punktes, der die Sehachse berührt Visio directa, das
Sehen mit den Seitentheilen der Retina dagegen Visio indirecta.


[238]Regio visionis directae.

Um sich eine ungefähre Vorstellung zu verschaffen, wie in der Retina die Orte
deutlichen und undeutlichen Sehens gelagert sind, wendet man ein Verfahren an,

Figure 61. Fig. 59.


was Purkinje erdacht hat,
Auf einem Brett B B C C
Fig. 59, das mit einem Aus-
schnitt B B versehen ist, be-
schreibt man die Kreislinie
C C, deren Mittelpunkt jen-
seits der Grenzen des Bret-
tes und zwar innerhalb des
Ausschnittes B B gelegen ist.
Darauf steckt man auf
der Kreislinie C C mehrere
Stifte I, II, III, IV, V u. s. w.
in immer gleichen Winkel-
abständen von einander auf,
und hält das Brett nun so
vor das Auge, dass die
Linie I A, welche einen Stift
und den Mittelpunkt des
Kreises A verbinden in die
Verlängerung der Sehachse
fällt, und dass zugleich der
Mittelpunkt des Kreises und
die Mitte zwischen den bei-
den Knotenpunkten zusam-
menfallen. Richtet man nun bei unverrückter Augenstellung der Reihe nach seine Auf-
merksamkeit auf die Stifte, so wird man bald gewahr, dass nur die in der Verlängerung
der Sehachse gelegenen oder um kleine Winkel von ihr abweichenden Nadeln der
Form und Grösse nach deutlich aufzufassen sind, während sie um so undeutlicher
erscheinen, je mehr seitlich sie stehen.


Setzt man voraus, es sei die Lage der Knotenpunkte im Auge bekannt und für
sämmtliche Strahlen, welche durch die Cornea dringen, unveränderlich dieselbe,
ferner, es sei die Retina nach einem Kreis gebogen, und endlich es seien die Radien
des Kreises C C und die Winkel II A I, III A I u. s. w., welche die Stifte am Mittelpunkt
miteinander einschliessen, gegeben, so lässt sich durch bekannte Construktion fin-
den, an welchen Orten der Retina I′ II″ III‴ u. s. w. sich die Stifte I II III abbilden.
Da nun aber in Wirklichkeit alle die Voraussetzungen nicht eintreffen, und es zugleich
schwierig sein möchte, dem Brett die verlangte Stellung zu ertheilen, so werden die
Angaben, welche durch Rechnung oder Construktion, wenn sie sich auf das Purkin-
je
’sche Verfahren gründen, gefunden sind, nur entfernt der Wahrheit angenähert sein.
— Nach den Versuchen von Huek, Volkmann, Valentin sollen die Gegenstände
am deutlichsten sein, welche das blinde Loch decken, weniger deutlich sollen schon
die sein, welche in einer Entfernung von 1 bis 1,5 M. M.′ vom Scheitelpunkt der Re-
tina (in dem gelben Fleck) auffallen; von hier sinkt die Deutlichkeit rasch ab, und
endlich verschwinden die Bilder ganz, wenn sie in der horizontalen Ebene zwischen
30° und 40°, und in der vertikalen um 20° bis 30° von der Sehachse entfernt gelegen
sind. — Die Regio visionis directae ist also sehr wenig umfangreich.


Die Undeutlichkeit der in der regio visionis indirectae entworfenen Bilder kann,
wie hier gleich bemerkt werden soll, ebensowohl von der geringen Zahl (?) hier
vorhandener empfindender Elemente, als auch von dem Mangel scharf auf ihnen
entworfener Bilder herrühren, da das Auge seiner sphärischen Aberration gemäss nur
in der Nähe der Sehachse auf der Retina die Gegenstände deutlich wiederzugeben
vermag.


[239]Grenzen der Schärfe des Sehens.

Da wir uns nun meist zum Sehen nur des blinden Lochs und des
gelben Flecks bedienen, so ist es von besonderem Werth genauer zu
ermitteln, wie gross hier der vom Licht getroffene Raum sein müsse,
um noch eine scharfe Empfindung zu veranlassen, und ferner, in wel-
chem Abstand zwei gleichzeitig auf die Retina fallende Eindrücke als
distinkt empfunden werden, oder mit andern Worten, bis zu welchem
Abstand zwei differente Lichteindrücke sich einander nähern müssen,
um zu einem einzigen mittleren zu verschmelzen. — Die hierauf bezüg-
lichen Untersuchungen scheinen, mit Rücksicht auf die erste Frage, er-
geben zu haben, α) dass die Grösse des erregenden Bildes auf der Retina
um so kleiner sein kann, je grössere Lichtstärke es besitzt; β) dass
bei gleicher Lichtstärke ein weisses Bild um noch gesehen zu werden
kleiner sein kann als ein gelbes, und dieses kleiner als ein rothes und
endlich ein rothes kleiner als ein blaues; Plateau. γ) Dass wenn
das Bild nach einer Dimension zunimmt, es unbeschadet seiner Deut-
lichkeit nach der andern Dimension abnehmen darf. Demnach ist ein
linienförmiger Körper von beträchtlicher Länge noch sichtbar, während
ein punktförmiger von gleicher Breite schon für das Sehen verschwin-
det. Die vorliegenden Thatsachen führen weiterhin mit hoher Wahr-
scheinlichkeit zu der Annahme, dass ein Bild, welches noch innerhalb
der Grenzen eines einzigen Nervenprimitivrohres fällt, d. h. die Breite
eines solchen nicht ausfüllt, noch sichtbar sei. — Wegen der mangel-
haften Kenntnisse über den Gang und die Vereinigung der Lichtstrah-
len im Auge sind scharfe Angaben über den Abstand zweier als ge-
sondert unterscheidbaren Bilder auf der Retina nicht möglich; darum
ist auch die aus der allgemeinen Nervenlehre als wahrscheinlich fol-
gende Behauptung, dass zwei Bilder so lange nicht verschmelzen, als
ihr Abstand die Breite einer Nervenprimitivröhre überschreitet, mit
andern Worten, dass zwei Bilder, welche in ein Primitivrohr fallen,
verschmelzen und diejenigen, welche zwei verschiedene treffen, ge-
sondert empfunden werden, nicht zu erweisen, aber auch nicht zu
widerlegen.


Volkmann*) suchte aus der Vertheilung des Sehnerven in der Retina die Frage
zu entscheiden, ob es zur gesonderten Empfindung zweier gleichzeitig erscheinender
Objekte nöthig sei, dass ihr Bild in zwei verschiedene Nervenröhren falle; er glaubte
sich berechtigt, diese Annahme verneinen zu dürfen; denn da der Querschnitt des
Sehnerven 600 mal kleiner sei als die Retinafläche, so müsse eine jede Primitivröhre in
der Retina durch Schlängelung u. s. w. einen sehr beträchtlichen Raum decken. —
Durch die Entdeckung von Helmholtz, dass die Röhren des Opticus für sich durch
das Licht nicht erregt werden, ist aber diese Frage auf einen ganz andern Boden,
wenn auch nicht der Lösung näher gebracht. Kölliker glaubte dadurch, dass er Stäb-
chen der Retina als die primär erregten Formen annimmt, das Räthsel gelöst zu
haben; und in der That scheint diese Art der Auffassung von Bedeutung, wenn ihr
der Zusatz gemacht wird, dass eine Einrichtung vorhanden sei, vermöge der eine
[240]Aufmerksamkeit; Sehen im Raume.
und dieselbe Retinafaser einen Eindruck verschieden auffassen könne, je nachdem
er von diesem oder jenem Stäbchen auf sie übertragen werde.


Die Schärfe des Sehens ist endlich abhängig von dem Grad der
Aufmerksamkeit, welchen die Seele den von der Retina aufgenomme-
nen Bildern zuwendet oder zuwenden kann. Aus tausendfältigen Er-
fahrungen jedes Menschen geht hervor, dass die Seele, nach in ihr
wohnenden Bestimmungen, im Stande ist, von allen den Bildern, welche
gleichzeitig auf die Retina fallen, nur das eine oder andere in den
Kreis ihrer Betrachtung zu ziehen und dass es ihr leicht gelingt bald
die von der Visio indirecta, bald die von der Visio directa ausgehen-
den Erregungen zu vernachlässigen, zum Vortheil derjenigen Primi-
tivröhren auf die sie, um mit dem Kunstausdruck zu reden, ihre In-
tention
richtet. Da nun aber die Seele, aus Gründen die im vorher-
gehenden enthalten sind, die genauesten Darstellungen der äusseren
Gegenstände durch die Bilder empfängt, welche auf dem gelben
Fleck entworfen sind, so richtet sie meist ihre Aufmerksamkeit nur
auf diesen, und bei vielen Menschen so ausschliesslich, dass sie
in den seitlichen Regionen der Retina sehr mangelhaft oder gar
nicht orientirt sind. — An einem spätern Orte wird uns die für das
vorliegende Thema wichtige Frage beschäftigen, ob die Grösse der
Flächen, resp. die Zahl der Nervenprimitivröhren, auf welche die
Seele innerhalb der Retina gleichzeitig ihre Intention richten kann,
begrenzt oder unbegrenzt ist, und ob sich die Grenzen der gleich-
zeitigen Intention bestimmen lassen.


3. Sehen der Gegenstände im Raume. Der Physiologe steht von
der vorerst noch metaphysischen Untersuchung ab, wie die Seele
mittelst des Gesichtssinnes die Vorstellung des Raumes gewinne;
indem er aber diese Vorstellung als einmal vorhanden annimmt, be-
trachtet er die Zustände des Sehorgans, welche mit besondern Raum-
vorstellungen Hand in Hand gehen, und diejenigen welche er mit grös-
serer oder geringerer Sicherheit als bestimmende Elemente des Ur-
theils für das Lagenverhältniss eines leuchtenden Punktes zu seinen
Nachbarn und für die Ausdehnung des Lichtes ansehen kann.


Die erste wichtige Thatsache, welche uns beim Eindringen in
den vorliegenden Gegenstand entgegentritt, ist, dass die vom Seh-
nerven auf die Seele geschehenden Erregungen nicht als Zustände
irgend eines Theiles dieses Nerven aufgefasst werden, obgleich er
doch offenbar die nächste Ursache der Empfindung enthält, sondern
dass der Mensch den Grund der Seelenerregung in den Weltenraum,
jenseits der Grenzen seines Sehorgans setzt. Die Annahme, dass der
Grund des Sehens ausserhalb der brechenden Medien des Auges gelegen
sei, macht die Seele nicht nur für die Erregungen des Sehnerven
durch die Aetherschwingungen, sondern auch für Lichtbilder, welche
ihre Entstehung einem Druck auf den Sehnerven oder seine Aus-
[241]Richtung des Sehens.
breitung verdanken; dieses letztere Resultat wird doppelt auffallend,
wenn wir mittelst des Drucks noch zugleich ein die Oertlichkeit be-
stimmendes Gefühl durch den Tastsinn erhalten, wie es geschieht,
wenn wir seitlich auf den Augapfel den Finger legen, wo wir den
kreisförmigen Druck in den Tastnerven auf der Oberfläche des Auges
fühlen und ausserhalb desselben, in Folge der gepressten Retina, den
drückenden Finger als Lichtring sehen. Dieses Nachaussensetzen
der Lichtempfindungen geschieht nun aber nicht willkürlich und ord-
nungslos, in Beziehung auf die Ausbreitung des Sehnerven und
des Sehorgans überhaupt, sondern soweit bekannt nach folgenden
Regeln:


a. Richtung des Sehens. Jeder empfindende Punkt der Retina
steht in Bezug auf die Richtung, nach welche die in ihm geschehene
Empfindung nach aussen gesetzt wird, in einer ganz bestimmten Be-
ziehung zum Raume; die Richtung, in welcher dieses scheinbare nach
Aussensetzen statt findet, erfolgt immer nach einer Linie, welche
der vorderen Richtungslinie eines Strahlenbüschels entsprechen würde,
der seine Vereinigung in dem erregten Netzhautpunkt fände. Man
kann demgemäss die Richtung des Sehens construiren, so wie man
den erregten Netzhautpunkt und die Lage der Knotenpunkte kennt,

Figure 62. Fig. 60.


wie diess in Fig. 60 er-
läutert ist. Es sei A der
erregte Netzhauptunkt, K″
der hintere, K′ der vordere
Knotenpunkt, so wird AK″
die hintere Richtungslinie
und BK′ die vordere Rich-
tungslinie eines in jeder
beliebigen Stelle der Linie
B C liegenden leuchtenden
Punktes sein, dessen di-
vergirende Strahlen in A
zur Vereinigung kommen;
B K′ wird demnach die Richtung darstellen, in welcher der erregte
Netzhautpunkt seine Empfindung in den Raum legt. Demgemäss wer-
den sich die erregten Netzhautstellen und ihre scheinbare Lage im
Raume derartig entsprechen, dass die auf der untersten Grenze der
Netzhaut liegenden Theile am meisten nach oben, die auf der obersten
Grenze liegenden am meisten nach unten, die auf der rechten liegen-
den am meisten nach links und die auf der linken liegenden am mei-
sten nach rechts in den Raum versetzt werden. Da es nun für die Be-
stimmung des gesehenen Lichteindruckes ganz gleichgiltig ist, ob
die Erregung von mechanischen, electrischen oder leuchtenden (im
optischen Wortsinn) Mitteln ausgeht, so hat man vorgezogen, die
Ludwig, Physiologie I. 16
[242]Sehstrahl.
Linie, durch welche die Sehrichtung angegeben wird, mit einem be-
sondern Namen, dem Sehstrahl, zu bezeichnen.


Die Beweise für die Richtigkeit der gegebenen Darstellung sind aus tausend-
fältigen Erfahrungen des menschlichen Sehens leicht zu geben. So zum Beispiel:
Ein Fingerdruck auf den Seitentheil des Augapfels erscheint als Lichtring immer
auf der entgegengesetzten Seite des Druckes *). Die Lagerung der Zerstreuungs-
kreise im Scheiner’schen Versuch gibt ebenfalls ein bemerkenswerthes Beispiel. Es

Figure 63. Fig. 61.


befinde sich vor dem Auge in Fig. 61 der leuchtende Punkt A dermassen aufgestellt,
dass die Vereinigung der von ihm ausgehenden Strahlen in B, also vor der Retina
geschehe (der leuchtende Gegenstand findet sich dann bekanntlich jenseits des Ferne-
punktes) so wird ein Theil des sichtbaren Zerstreuungskreises auf C und der andere
auf C′ fallen. Da die Sehstrahlen dieser Retinaorte dann D′ C′, bezüglich D C sind,
so wird C in der Richtung von D und C′ nach D′ hin gesehen werden. Schliesst
man nun mit einer Federmesserklinge eine von beiden Oeffnungen EE des Schirms,
so wird jedesmal das ausgelöscht werden, welches scheinbar auf derselben Seite im
Raume liegt, also nach Verschluss von E′ verschwindet D′ und nach Verschluss
von E das D. — Befindet sich dagegen der leuchtende Körper A diesseits des Nähepunk-

Figure 64. Fig. 62.


tes wie in Fig. 62, so werden, da nun die von dem Punkte A ausgehenden Strahlen erst
jenseits der Retina zur Vereinigung kommen, die Zerstreuungskreise auf B′ und B″
fallen und die ihnen entsprechenden Sehstrahlen sind B′ c′ und B″ c″. Deckt man
[243]Aufrechtsehen; Erklärungen desselben.
jetzt wiederum eine von beiden Oeffnungen so wird nicht das gesehene Bild der
entsprechenden Seite, sondern das entgegengesetzte ausgelöscht, wie es die Theorie
verlangt. — Zu den Beispielen zählt ferner, dass man alle oberhalb der Sehachse ge-
legenen Gegenstände, welche ihr Bild unterhalb derselben auf der Retina projiziren,
oberhalb sieht, woher das vielberufene Aufrechtsehen des verkehrten Retinabild-
chens kömmt. — Zur Erläuterung dieser Erscheinungen und insbesondere des
Nachaussensetzens der Lichtempfindung überhaupt, hat man hin und wieder der An-
nahme gehuldigt, als setze das Sehorgan während der Empfindung irgend etwas
Concretes nach aussen. Die Unklarheit dieses Erklärungsversuches wird sogleich
deutlich, wenn man fragt: was denn eigentlich nach aussen gesetzt werde; und wie
ein auf die Seele geschehener Eindruck als etwas Aeusseres empfunden werden kann,
wenn das Erregungsmittel neben einer von der Retina gegen das Hirn fortge-
pflanzten Wirkung noch eine zweite von der Retina gegen den Weltenraum drin-
gende erzielt (Valentin Lehrb. II. b. 174). — Das Wort nach Aussensetzen ist nur ein
bildlicher Ausdruck, um die Erscheinung zu bezeichnen, dass die Seele einen im Hirn
vorhandenen Zustand seiner Ursache nach auf einen ausserhalb des Auges befindlichen
Gegenstand bezieht. Der empirische Beweiss für die Fähigkeit der Seele eine ir-
gendwie in ihr gebildete Sehvorstellung nach aussen zu setzen, liefert das allbe-
kannte Beispiel der Träume. Welche Wege nun aber eingeschlagen sind, um ein
solches Urtheil möglich zu machen, und es so zu befestigen, dass es trotz unseres
besseren Wissens nicht umgestossen werden kann und wie das immer scheinbar un-
vermittelt, als in einfache sinnliche Anschauung auftritt, lässt sich noch nicht
angeben. —


Die Richtung, in welcher das nach Aussensetzen vom Auge aus geschehen soll,
d. h. die Beziehung, welche zwischen der Lage der erregten Netzhautpartikeln und
der scheinbaren Lage der Bilder im Raume besteht, ist ebenfalls Gegenstand der
Controverse gewesen. Nach der Annahme von Joh. Müller sollen die empfindenden
Punkte die Ursache ihrer Erregung nicht in einer mit der Sehachse gekreuzten,
sondern in einer mit ihr gleichläufigen Richtung nach aussen projiziren, so dass ein
auf die untern Abschnitte der Retina treffender Lichtstrahl der von einem oberhalb der
Sehachse liegenden Gegenstand kommt, in seiner Empfindung nicht wieder schräg nach
oben, sondern gerade aus unten vor dem Auge gesehen wird.


Dem Einwurf, dass eine solche Projektion Verwirrungen im Sehen herbeifüh-
ren müsse, weil Alles am verkehrten Orte gesehen werde, begegnet Joh. Müller
mit Recht dadurch, dass er darauf aufmerksam macht, wie der Begriff des Verkehrt-
sehens nicht entstehen könne, wenn eine Umkehr aller Theile in derselben Ord-
nung stattfinde, in der sie im Raume gelegen seien. Diese Hypothese ist demge-
mäss nicht absurd, sie ist aber nicht in Uebereinstimmung mit den Thatsachen. Denn
nach ihr müsste die Lichterscheinung, welche wir mittelst eines Fingerdruckes auf
das geschlossene Auge erzeugen, nicht in einer diametralen Richtung, sondern in
gerader Richtung mit dem Drucke erscheinen; nun geschieht aber gerade das Umge-
kehrte, welches nichts anderes bedeutet, als dass wir alle von der unteren Hälfte der
Retina her entstehenden Empfindungen nach oben u. s. w. setzen.


Der für die Seele unwiderleglich festgestellte Zusammenhang,
welcher zwischen der Oertlichkeit der erregten Netzhautparthien und
der Sehrichtungen besteht, weisst auf die Gegenwart eines feststehen-
den Mechanismus hin, durch den die Seele in ihrem Urtheil bestimmt
wird. Man hat sich sehr bemüht, die besondere Natur desselben zu
errathen; unter den verschiedenen Versuchen hierzu trifft wahrschein-
lich nur einer eines der vielen Elemente, die hier möglicher Weise in
Betracht kommen. Wir meinen den Erklärungsversuch, welcher behaup-
16*
[244]Einfluss der Muskelbewegung. Sehen mit zwei Augen.
tet, dass auf die Bestimmung unseres Urtheils über die Lage derGegen-
stände, die Bewegungen einiger dem Willen unterworfenen Muskeln
einen wesentlichen Einfluss übten, indem uns durch dieselben in unbe-
wusster Weise Aufschluss über die Lage der Retina gegeben würde.
Wie genau wir in der That, ohne es zu wissen, durch die Bewegungen
des Kopfes und der Augenmuskeln von der Lage unserer Retina
unterrichtet sind, erfahren wir zu unserem Erstaunen, wenn wir uns
ein längliches Nachbild, z. B. das einer Kerzenflamme, erzeugen und
dann Bewegungen des Kopfes oder der Augen ausführen; in diesem
Falle verändert sich die Lage des Nachbildes entsprechend der Lagen-
veränderung des Auges; Ruete; diese Thatsache bedeutet nichts
anderes als, dass wir eine gewisse Zahl von Punkten der Retina,
welche wir in aufrechter Kopfstellung in einer senkrechten Linie ge-
lagert glaubten, in horizontaler Kopflage für Theile einer horizontalen
Linie ansehen. Daraus erklärt sich auch warum ein vor das Auge ge-
stelltes Objekt seine Lage bei den erwähnten Bewegungen nicht
ändert, trotzdem dass während dieser letztern fortwährend andre Re-
tinapunkte das Object aufnehmen, wie man sich überzeugt, wenn man
sich ein senkrechtes lineares Nachbild erzeugt und dann einen senkrecht
vor das Auge gestellten Stab fixirt; bei aufrechter Kopfstellung fallen
Gegenstand und Nachbild der Richtung nach zusammen, bei seitlich
geneigtem Kopf behält der Stab seine senkrechte Richtung, während
sich das Nachbild mehr und mehr horizontal legt, so dass sich nun
Stab und Nachbild kreuzen.


b. Sehen mit zwei Augen *).


α) Einfachsehen. Zugeordnete, identische Netzhautstellen. Da
nach den bis dahin mitgetheilten Erfahrungen zwei durch einen
merklichen Zwischenraum getrennte Stellen einer Retina niemals
in der Empfindung zusammenfallen, sondern als räumlich geson-
dert aufgefasst werden, so liegt es nahe anzunehmen, dass sich auch
die Netzhäute beider Augen zueinander verhalten möchten, wie die
verschiedenen Netzhautparthien desselben Auges. — Die nächste
Folge dieser Annahme würde offenbar darin bestehen, dass wenn
ein Gegenstand gleichzeitig in beide Augen seine Strahlen sendete, er
als ein doppelter empfunden würde; dieses bestätigt sich aber keines-
wegs allgemein, da wir erfahrungsgemäss ganz gewöhnlich einen
Gegenstand, der in beide Augen sein Licht schickt einfach sehen. —
Der nächste Grund dieser Thatsache kann nur darin liegen, dass
irgendwelche Orte der beiden Augen die Ursache ihrer Erregung in
denselben Orten des Raumes suchen, mit andern Worten, dass gewisse
Stellen beider Augen dieselbe Ortsempfindung vermitteln. Solche
[245]Zugeordnete Netzhautstellen. Horopter.
Stellen zweier Augen, welche die Ursache ihrer Erregung in densel-
ben Orten zu finden glauben, nennt man identische, oder zugeordnete.


Die Lage der zugeordneten Stellen der beiden Sehhäute hat man auf zwei ver-
schiedenen Wegen auszumitteln gesucht.


1) Auflösung der Aufgabe mittelst der Horopterfläche. Wenn wir die beiden Augen
in einer bestimmten Stellung festhalten und unsere Aufmerksamkeit auf alle die
leuchtenden Punkte richten, welche in beiden Augen ein Bild entwerfen, so gewah-
ren wir bald, dass nur ein kleiner Theil dieser im Raume einfachen Körper
auch wirklich einfach gesehen wird; diejenige Fläche, welche nun sämmtliche im
Raume liegenden Punkte miteinander verbindet, die bei unverrückter Augenstellung
trotz ihrer Abbildung in beiden Augen einfach gesehen werden, ist die Horopterfläche.
Da nun offenbar die in der Horopterfläche gelegenen leuchtenden Punkte ihr Bild auf
identische Netzhautstellen werfen, so muss sic hdie Lage dieser letztern ermitteln las-
sen, wenn man irgend eine Horopterfläche und die zu dieser gehörige Augenstellung
kennt. Nachdem die Lage der identischen Netzhautstellen zu dem Horopter festge-
stellt ist, muss dann noch der Ausdruck für dieselben so geformt werden, dass sie auch
unabhängig von irgend welchem Horopter angegeben werden kann. Wir werden im
folgenden dieses Verfahren erläutern, wobei wir beispielsweise mit Joh. Müller vor-

Figure 65. Fig. 63.


aussetzen, es sei der Horopter eine Kugelschale. Gesetzt, es sei in Fig. 63 H O′ P ein
Durchschnitt des Horopters und es stellen A A′ die Drehungsmittelpunkte, B, B′ die zu
einem einzigen zusammengelegten Knotenpunkte, B′ O, B O die Durchschnitte der Kno-
tenebenen, und endlich D′ O′, D O′ die Sehachsen beider Augen vor. In diesem Falle
wird O′ seine Bilder auf D und D′ und ein anderer beliebiger Punkt P des Horopters
seine Bilder auf Q, und Q′ werfen; daraus ergibt sich sogleich, dass diese Punkte
beider Retinae einander zugeordnet sind.


Es handelt sich also nur noch darum, die Angabe über die Lage von D, D, Q und
Q′ so einzurichten, dass es ermöglicht werde, die Punkte wieder aufzufinden, auch
wenn nur das Auge gegeben ist. — Für D und D′ findet sich der Ausdruck sogleich
[246]Auffindung der zugeordneten Netzhautstellen.
darin, dass diese Stellen am Durchschnittspunkt der Retinae mit den Sehachsen ge-
legen seien. Für Q und Q′ behaupten wir aber, dass er nach gleichen Richtungen des
Raumes hingezählt sich in gleichem Abstand von D (dem Scheitelpunkt der Retina) finde,
oder mit andern Worten, dass die Punkte Q′ und Q an den Drehungsmittelpunkten
A, A′ mit den Sehachsen gleiche Winkel Q A D und Q′ A′ D′ einschliessen. Denn es sei
Q′ D′ = Q D so sind in den Dreiecken A B Q und A′ B′ Q′ ausser den Seiten
A B und A′ B′ (die constanten Entfernungen der Knotenpunkte vom Drehungs-
mittelpunkt) A Q und A′ Q′ (den Radien des Retinakreises) auch die Win-
kel B′ A′ Q′ und B A Q gleich (als Nebenwinkel der gleichen Winkel Q A D und
Q′ A′ D′). Darum ist auch der Winkel A B Q = dem Winkel A′ B′ Q′. Nennt man nun
K′, K die Neigungswinkel der Linien A O′ und A′ O′ gegen die Verbindungslinie
der beiden Drehpunkte A A′, und L, L′ die Neigungswinkel der Linie Q P und Q′ P′
gegen A A′, so ist in dem Dreieck O′ A A′ der Winkel A O′ A′ oder B′ O′ B = K′ — K
(weil K′ der Aussenwinkel von K und von A′ O′ A ist); und in dem Dreiecke P E E′
der Winkel E P E′ oder B P B′ = L — L. Ferner ist in dem Dreicke A B E der Win-
kel A B E = K — L und eben so in dem Dreiecke A′ B′ E′ der Winkel A′ B′ E′ =
K′ — L′
. Nun, ist wie gezeigt, der Winkel A B E = A′ B′ E′, daher K — L = K′ — L′,
mithin K′ — K = L′ — L; folglich der Winkel B P B′ = B O′ B′. Legt man also
durch die drei Punkte B, O′, B einen Kreis, so ist auch P ein Punkt desselben. In eben
diesem Kreise liegt auch der Punkt O, (der sich am Durchschnittspunkte der ver-
längerten Knotenebenen findet), weil O B und O B′ mit O′ B und O′ B′ gleiche Winkel
bilden. Nun sind aber nach der Voraussetzung diese Winkel rechte *) mithin ist
O′ O ein Diameter und die Mitte desselben der Mittelpunkt des Horopterkreises. —
Man sieht also, es würde sich ohne Schwierigkeiten die relative Lage der identi-
schen Punkte angeben lassen, wenn, was aber noch nicht mit entsprechender Schärfe
geschehen ist, das Gesetz der Horopterfläche ausgemittelt wäre.


2) In Ermangelung der Anwendbarkeit dieses genauen Verfahrens bedient man
sich eines andern, das ebenfalls von Joh. Müller zuerst in Anwendung gebracht
wurde; man drückt auf eine dem Finger zugängliche Stelle des einen Auges, und
tastet darauf auf dem zweiten Auge so lange mit dem Finger der andern Hand, bis
die beiden Lichtkreise, die durch die Fingerdrücke erzeugt wurden, in einen einzigen
zusammenfallen. Diese beiden Orte sind natürlich zugeordnete; begreiflich ist diese
Methode nur auf einen geringen Theil der ganzen Retinaausbreitung anwendbar und
immer sehr ungenau.


Mit Sicherheit kann man behaupten, es seien einander zugeordnet:
die Pole beider Netzhäute, d. h. das Retinaende der Sehachse;
die der Lage nach einander entsprechenden Abtheilungen der
Sehhäute, so dass, wenn wir uns wie in Fig. 64 die beiden Seh-

Figure 66. Fig. 64.


häute in ihrer natürlichen
relativen Lage zu einan-
der auf eine Ebene
projizirt und die hier-
durch dargestellten Kreise
in Quadranten getheilt
denken, der innere obere
Quadrant A′ des einen Au-
ges dem äusseren oberen
A′ des andern Auges identisch sein muss und so fort, wie es die ent-
sprechenden Buchstaben der Figur angeben.


[247]Organische Bedingungen der zugeordneten Netzhautpunkte.

Dieser letzten Angabe fügt man noch die genauere Bestimmung
bei, dass die symmetrisch um die Netzhautpole gelegenen Theile iden-
tisch seien, so dass an der horizontalen Durchschnittsebene derselben
die zugeordneten Punkte in dem einen Auge um so viel Grade nach
aussen gelegen seien, als sie am andern nach innen sich vorfinden,
während in dem senkrechten Durchschnitt die identischen Punkte bei-
der Augen um gleichviel Grade nach oben oder unten abweichen.
Diese Angabe bedarf aber noch der genaueren Bestätigung; sie läuft
darauf hinaus, dass der Horopter ein Kugelmantel ist.


Man ist nun aber nicht stehen geblieben bei diesen Thatsachen,
sondern hat auch noch weiter zu ermitteln gesucht, durch welche Ein-
richtungen die Anwesenheit der identischen Netzhautpunkte bedingt
sein möchte. Die zahlreichen Erklärungsversuche, die man bis dahin
aufstellte, lassen sich unter zwei obersten Gesichtspunkten zusammen-
fassen. Die eine Reihe von Hypothesen setzt nämlich voraus, dass
zwischen Retina und Empfindungsorganen des Hirns am Sehnerven
anatomische Einrichtungen — z. B. in dem Chiasma nervor. optic. —
vorhanden seien, vermöge welcher zwei von der Nervenausbreitung
herdringende räumlich gesonderte Erregungen zu einer mittleren
verschmolzen würden, die dann erst zur Empfindung kommen. Die
andere Hypothesengruppe verwirft die Gegenwart einer solchen
Hilfsvorrichtung und behauptet, dass die räumlich gesonderte Erre-
gung auch gesondert bis zum Empfindungsorgan vordringe um dort
erst verschmolzen zu werden. Die Thatsachen erscheinen vorerst
noch zu verwickelt, um schon jezt für die eine oder andere Vorstel-
lung benutzt werden zu können.


Die Beobachtungen, welche für die erstere der beiden Annahmen sprechen, be-
stehen darin, dass zwei Farben sich zur Mischfarbe vereinigen, wenn sie gesondert
die identischen Netzhautstellen der beiden Augen treffen; Dove, Regnault. Dieser
Versuch gelingt jedoch nicht immer; Dove gibt als eine der Bedingungen des Ge-
lingens an, dass man prismatische Farben und keine Pigmente benutzen müsse.
Für mein Auge gelingt es auch mit Pigmenten, indem mir die Empfindung des weissen
entsteht, wenn ich mit dem einen Auge gelb und mit dem andern blau sehe. — Für
die andere Meinung kann man dagegen anführen, dass wenn wir gleichzetig vor jedes
Auge eine Röhre halten, und durch diese beliebige aber verschieden gestaltete
Gegenstände sehen, die beiden Bilder derselben als sich deckende in demselben
Raume befindliche empfunden werden, so dass die identischen Netzhautstellen nur
die Empfindung des gemeinsamen Ortes aber nicht des gemeinsamen Inhaltes (des
mittlern Eindrucks aus den beiden gesonderten) angeben. — Aehnlich verhalten sich
auch die Augen vielen Farben gegenüber. So sieht man z. B., wenn man denselben
Gegenstand mit zwei Augen betrachtet, während man vor dieselben verschiedenfar-
bigen Gläser setzt, diesen Gegenstand nicht in der Mischfarbe beider Gläser, sondern
entweder nur in der des einen Glases, oder wechselnd bald in dieser bald in jener
(Wettstreit der Sehfelder).


β) Doppeltsehen. Aus der Lehre von den zugeordneten Seh-
punkten ergibt sich nun mit Nothwendigkeit, dass ein und derselbe
Gegenstand, welcher sein Bild auf nicht identische Stellen des Auges
[248]Doppeltsehen mit zwei Augen.
wirft, doppelt erscheinen muss; oder anders ausgedrückt, alle ausserhalb
des Horopter liegenden Gegenstände werden als doppelte empfunden,
wenn sie auch nur einmal im Raume vorhanden sind. Dieses tritt nun
in der That ein. Um das Doppeltsehen einfacher Gegenstände zu ge-
wahren, stecke man sich auf ein Stäbchen in gerader Linie drei Nadeln
in gegenseitigen Abständen von ungefähr einem Zoll und halte das-
selbe innerhalb der Sehweite in die Mitte zwischen beide Augen hori-
zontal und unter einem rechten Winkel gegen die Verbindungslinie
beider Augenmittelpunkte. Stellt man nun die beiden Augenachsen so,
dass sie sich auf der mittleren von den drei Nadeln gerade schneiden,
und hält die Augen in dieser Stellung unverrücklich fest, während man
seine Aufmerksamkeit auch auf die Bilder der andern Nadeln richtet,
so werden diese augenblicklich in Doppelbildern empfunden.


Die drei Nadeln geben also fünf Bilder, welche sich wie die
hier gezeichneten Punkte gruppiren. Das mittlere dieser Bilder,
welches von der Nadel erzeugt wird, die im Schnittpunkt beider Seh-
achsen liegt, gehört beiden Augen an. Von den Doppelbildern der
nähern Nadel ist das rechte dem linken und das linke dem rechten
Auge zugehörig, und umgekehrt von den Doppelbildern der entfernte-
sten Nadel gehört das rechte zum rechten und das linke zum linken
Auge. — Hiervon überzeugt man sich, wenn man bei unverrückten
Augen eines derselben schliesst; es verschwinden dann sogleich
zwei Bilder, und zwar in der Art, dass wenn man z. B. das rechte
Auge deckt, unter den Doppelbildern der nächsten Nadel das entge-
gengesetzt seitige, das linke, und unter denen der ferneren das gleich-
seitige, das rechte, ausfällt.


Figure 67. Fig. 65.

[249]Lage und Zahl der Doppelbilder.

Eine Erläuterung dieser merkwürdigen Erscheinung ist von J. Müller ge-
geben worden. Es seien in Fig. 65 A, B, C die drei Nadeln, und es sollen die Augen
I, II so gestellt sein, dass sich ihre Sehachsen I B und II B in B schneiden. B wird
demnach sein Bild auf I und II oder auf identischen Stellen entwerfen d. h. ein-
fach erscheinen. Unter dieser Voraussetzung bildet sich C in dem Auge I bei D
und in dem Auge II bei E ab und ebenso A bei F und G. Demnach treffen diese Bil-
der in den verschiedenen Augen auf nicht identischen Netzhautstellen und er-
scheinen doppelt. Nun sehen wir nach einem schon besprochenen Gesetz jeglichen
leuchtenden Punkt auf der Verlängerung seines Richtungsstrahles, es wird demnach
das Bild von D in der Richtung von D T′, und das Bild E in der Richtung E T″ und
ebenso F in der Richtung F H′ und G in der Richtung G H″ nach aussen gesetzt. Wie
wir aber später erfahren werden, bestimmen wir die Entfernung eines jeden Bildes nach
dem Abstand des Durchschnittspunktes beider Sehachsen vom mechanischen Mittel-
punkt des Auges; wir werden also alle 5 Bilder in der Entfernung B zu sehen glauben.
Nach diesen Angaben können wir nun den scheinbaren Ort der Doppelbilder
leicht construiren, wenn wir mit dem Radius K B von den mechanischen Mittelpunkten
der Augen aus Kreise ziehen; die Durchschnittspunkte H′, H″, F′, F″ derselben mit den
Richtungsstrahlen oder deren Verlängerungen werden die scheinbaren Orte der Bil-
der F, G, D, E sein.


Aus dieser Erläuterung folgt noch, dass mit der Verkleinerung des Zwischen-
raumes zwischen den Nadeln der Abstand zweier zu einem Gegenstand gehören-
den Bilder abnimmt. Ausserdem lässt sich mit Hilfe dieses einfachen Versuchs
auch noch darthun, dass in der That der Horopter keine endliche Dicke besitzt,
indem alle jenseits und diesseits des Fixationspunktes gelegenen Theile sogleich
doppelt erscheinen. Dem Anfänger ist bei Wiederholung des im Text erwähnten
Versuchs zu rathen, dass er ihn mit der Anwendung von nur zwei Nadeln beginne,
und wechselnd bald die nähere und bald die fernere visire.


Da der Horopter wahrscheinlich eine Kugelschaale, jedenfalls ein
Gebilde von verschwindender Dicke, darstellt, und da ausser den im
Horopter liegenden leuchtenden Punkte auch viele der jenseits und
diesseits desselben befindlichen ein Bild im Auge entwerfen, so muss
die Summe der zu Doppelempfindung Veranlassung gebenden Bildern
ausserordentlich viel grösser sein als die der einfach zu empfinden-
den. Da wir nun aber nachweisslich diese Doppelbilder nur sehr sel-
ten, und für das normale Auge nur unter ganz bestimmten schwierig
zu erzeugenden Umständen sehen, so müssen irgend welche Gründe
vorliegen, die es bedingen, dass wir die Doppelbilder ausser Acht las-
sen. Diese Gründe liegen nun wahrscheinlich darin, dass im Sehfeld
der normalen Augen zu allen Zeiten Bilder vorhanden sind, welche
zu einer einfachen Empfindung zusammengelegt werden können
und dass die einfach empfundenen Bilder der Seele einen intensiveren
Eindruck geben als alle übrigen, die darum unsere Aufmerksam-
keit (welche sich gleichzeitig nur auf beschränkte Stellen der Retinae
richten kann) vor allen andern in Anspruch nehmen. — Die erste
der angegebenen Bedingungen, dass in beide Augen immer Bilder
fallen, welche einfach empfunden werden können, wird durch die
schon früher erwähnte bestimmte Verkettung der Augenmuskeln
erzielt, in Folge deren die Augen stets eine solche Stellung erhalten,
dass sich die Sehachsen in einem vor den Augen gelegenen Punkt
[250]Vernachlässigung der Doppelbilder.
schneiden und die identischen Netzhautmeridiane einander parallel
laufen. Unter dieser Voraussetzung müssen selbstverständlich die im
Durchschnittspunkt beider Sehachsen liegenden Gegenstände ihre
Bilder auf identische Netzhautstellen senden. Diese hier entworfenen
Bilder wirken aber intensiver als alle übrigen, weil sie erstens auf
die empfindlichste Netzhautstelle treffen und dann, weil auf diesem
Wege die Seele denselben Eindruck doppelt empfängt und weil end-
lich, nach einem bemerkenswerthen Zusammenhang der zwischen
dem Accommodationsapparat und den Augenmuskeln besteht, der opti-
sche Apparat des Auges unwillkürlich gerade für die Entfernung ein-
gestellt ist, in welcher sich die Sehachsen schneiden.


Die Beziehung, welche zwischen der zur Convergenz der Sehachsen führenden
Augenbewegung und dem Accommodationsapparate besteht, scheint eine durch die
Erziehung der Augen erworbene zu sein. Wie Volkmann*) erwiesen, kommen wenig-
stens die Fälle zahlreich vor, wo der optische Apparat des Auges nicht für die Ent-
fernung des Convergenzpunktes beider Sehachsen eingestellt ist.


c. Grösse eines gesehenen Gegenstandes. Die Grösse eines
Gegenstandes, d. h. seine scheinbare Ausdehnung nach Höhe und
Breite, schätzen wir nachweislich unter Beihilfe mehrerer Elemente,
und namentlich: nach der Ausdehnung, welche das Bild des Gegen-
standes auf der Retina einnimmt; und nach dem Grade von Zusam-
menziehung, in welcher sich die Muskeln des dioptrischen Einrich-
tungsapparates und die mm. recti interni bulbi zu der Zeit befinden,
als der Lichteindruck des Bildes empfunden wurde.


Alles andere gleichgesetzt wächst, wie es scheint, unsre Vorstel-
lung von der Grösse eines Gegenstandes mit der Ausdehnung seines
Bildes auf der Retina oder seinem Sehwinkel.


Figure 68. Fig. 66.

Der Winkel A K B oder
D K′ C, Fig. 66, welchen die
vordern (A K, B K) oder
hintern (D K′ C K′) Rich-
tungsstrahlen der Grenz-
punkte A und B eines
Gegenstandes A B an den
Knotenpunkten einschlies-
sen, heisst der Sehwinkel.
Dieser Sehwinkel gibt, wie
man sieht, ein genaues
Maass für die Grösse des
auf der Retina entworfe-
nen Bildes, weil die Ent-
fernung der Knotenpunkte
von der ersteren eine constante bleibt. — Die obigen Angaben, dass ein Gegenstand in
unserm Urtheil wie der Sehwinkel wachse, bedarf keiner Erläuterung, da es jedem
bekannt ist, dass wenn er zwei Gegenstände, wie A B und a b in der Fig. 66, im Raume
aufeinanderlegt, der kleinere ½, ¼, u. s. w. mal so gross, als der grössere erscheinen
wird, wenn sein Sehwinkel a′ K′ b′ ¼ · ½ u. s. w. mal so gross ist.


[251]Urtheil über die Grösse aus dem Sehwinkel und der Accomodation.

Der physiologische Grund dieses Urtheils kann nur darin liegen,
dass die durch die Retina gehenden Eindrücke von der Seele als eine
Summe von Empfindungseinheiten aufgefasst werden, so dass die
Seele die Ausbreitung des Bildes direkt durch die Grösse dieser
Summe misst. Wir wissen nicht wie diese Maasseinheit hergestellt
werde, nehmen wir aber z. B. an, es sei die Maasseinheit die Empfindung,
welche eine Primitivröhre in das Hirn sendet, so würde die Vorstel-
lung von der Grösse eines Bildes wachsen mit der Summe der Primi-
tivröhren, welche von demselben erregt wurden.


Alles andere gleichgesetzt und namentlich den Sehwinkel und
die Convergenz unserer Augenachsen verkleinert sich in unserem
Urtheil ein Bild mit wachsender Einrichtung unseres Auges für die
Nähe. Den scharfen Beweiss für diese Behauptung liefert ein schon
seit lange bekannter Versuch: man erzeuge sich das Nachbild einer
Kerzenflamme und betrachte dieses mit einem Auge, bald während
man das Auge zum Sehen in die Ferne einrichtet (d. h. während man
z. B. auf die entfernte Wand des Zimmers sieht) und bald während
man für die Nähe accommodirt hat. Dieses Bild wird, wenn man vom
fernen zum nahen Sehen übergeht, trotzdem dass es immer densel-
ben Raum auf der Retina einnimmt, um ein sehr beträchtliches an
Grösse abzunehmen scheinen.


Die bis dahin erwähnten Elemente machen sich geltend, beim
Sehen mit einem und mit zwei Augen; — hierzu kommt nun aber
noch ein weiteres, welches vorzugsweise beim Binocularsehen sich
einflussreich erweist. Unser Urtheil über die Grösse eines Gegen-
standes, der mit zwei Augen betrachtet wird, hängt auch ab von dem
Convergenzwinkel der Sehachse beider Augen; und zwar gilt nach
H. Meyer*) der Grundsatz, dass alles andere gleichgesetzt, die
Grösse des Bildes in dem Maasse abnimmt, in welchem der Conver-
genzwinkel der Sehachsen wächst.


Figure 69. Fig. 67.

Den Beweis für dieses
Gesetz liefert Meyer mit-
telst desSpiegelstereosko-
pes von Wheatstone.
Dieses Instrument, Fig. 67,
besteht aber aus zwei unter
einem rechten Winkel auf-
gestellten Spiegeln S S′,
welche auf eine Holzplatte
H H so befestigt sind, dass
sie ihre Winkel und ihre
spiegelnden Flächen von
der Platte abwenden.
Platte und Spiegel sind in
einen hölzernen, vorn of-
fenen Kasten eingefügt,
[252]Urtheil über Grösse aus der Convergenz der Sehachsen.
dessen Seitenbretter H L, H R um den Abstand deutlicher Sehweite von den Spiegeln
entfernt stehen. Fügt man auf das Brett H R die perspektivische Ansicht eines Gegen-
standes, wie sie sich für das rechte Auge darstellt, und auf das Brett H L eine gleiche
für das linke Auge, und hält darauf die Augen A, A in gezeichneter Weise vor die
Spiegel, so vereinigen sich beide Bilder zu einem einzigen von stark perspektivischer
Wirkung, in dem Augenblick in welchem sich die identischen Netzhautstellen auf die
zusammengehörigen Punkte der Figuren einstellen. — Gesetzt nun, wir hätten an die
Seitenbretter die Zeichnungen I I angeheftet, so werden seine Spiegelbilder in I′ I′
erscheinen, denn die von ihnen ausgehenden Strahlenbüschel werden divergiren, als
kämen sie von dem Punkte I″ I″ (die punktirten Linien geben die bekannte katop-
trische Construktion über die Lage von I′ und I″). Um den innern Punkt von I einfach
zu sehen, müssen wir die Sehachse in die Richtungen A I″ stellen. Verrücken wir nun
dieselben Zeichnungen nach II II, so werden die Spiegelbilder in II′ II′ und die ihnen
scheinbar entsprechenden objektiven in II″ II″ auftreten. Um nun jeden der inneren
Punkte des Gegenstandes einfach zu sehen, müssen sich die Augenachsen nach A II″
stellen, also unter einem beträchtlich grösseren Winkel als vorher convergiren.
Indem man diese Verschiebung ausführt, entfernt sich das Bild, wie die Zeichnung
angibt, um ein Geringes und es müsste darum der früheren Regel nach wegen
des Einflusses des Accommodationsapparates das Bild sich scheinbar vergrössern.
In Wahrheit aber scheint es sich ganz ausserordentlich zu verkleinern. Da alle üb-
rigen Umstände unverändert geblieben sind und nur die Convergenz der Sehachse
wechselte, so können wir als Grund der veränderten Anschauung nur die ge-
steigerte Convergenz der Sehachsen ansehen.


Ausser den bisher mitgetheilten Thatsachen gibt es noch tausendfältige, welche
den Einfluss der drei Elemente auf unser Grössenurtheil beweisen, die aber erst ver-
standen werden, wenn man sie nach obiger Anleitung zergliedern lernte. — Dahin
gehört gleich die Erfahrung, dass die unter gleichen Sehwinkeln befindlichen Gegen-

Figure 70. Fig. 68a.


stände A, B, C, D, Fig. 68a, bis zu gewissen Grenzen mit der Entfernung vom Auge sich
fortwährend vergrössern, was unmöglich wäre, wenn unsere Grössenschätzung nur
vom Sehwinkel abhängig wäre. Da die Zunahme der Vergrösserung auch noch über
die Grenzen der Sehweite geschieht, so muss offenbar neben dem Einrichtungsapparat
noch ein anderes Element wirken. — Vergleicht man ferner die Grösse zweier in be-
trächtlichen Entfernungen von einander gehaltenen Gegenstände, z. B. die Fenster eines
gegenüberstehenden Hauses und ein in der Hand gehaltenes Bleistift, eine Messerklinge
etc., so wird der nähere Gegenstand scheinbar grösser, wenn man auf das Fenster ac-
commodirt und umgekehrt das Fenster auffallend kleiner, wenn man auf das Bleistift
accommodirt. Diese Thatsache kann nicht, wie Heermann will, aus der verschie-
denen Grösse der Bilder auf der Retina bei Einstellung auf Nähe oder Ferne abgelei-
[253]Urtheil über Entfernung.
tet werden, da im ersten Fall allerdings das scheinbare Grösserwerden des nähern
Gegenstandes mit seinem Erscheinen im Zerstreuungsbilde auf der Retina, also mit
einer wirklichen Vergrösserung zusammenfällt, im zweiten Falle dagegen die
scheinbare Verkleinerung des ferneren Gegenstandes ebenfalls mit einer wirklichen
Vergrösserung des Retinabildes zusammentrifft. Eine Erläuterung darüber zu geben,
wie diese drei Elemente zusammenwirken, und vermittelst welchem Mechanismus sie
auf die Seele wirken, ist unmöglich. Aufmerksamkeit verdient aber der Umstand, dass
die durch diese Elemente gegebene Grundlage der Vorstellung durch keine Erinne-
rung oder anderweitige bessere Ueberzeugung verdrängt oder bewältigt werden
kann; obwohl der Physiologe weiss, dass ein auf der Retina vorhandenes Nachbild
durch eine Acommodation der optischen Apparate auf verschiedenen Fernen in sei-
ner Grösse nicht verändert werden kann, so sieht er es sich doch mit den Accommo-
dationsbewegungen verändern.


Im Text sind nur die einfachsten Arten der Grössenbestimmung erwähnt; es
gibt aber in der That auch andere, complizirtere, welche zu einer gründlichen Zer-
gliederung noch nicht reif sind. Dahin gehört die Vorstellung, welche wir von der
Grösse eines Gegenstandes erhalten, indem wir das Auge über denselben hinführen.
Ob wir in diesem Falle die Zahl der differenten Eindrücke summiren, oder ob wir
nach der Muskelbewegung die Grösse des Winkels, den wir am Drehpunkt
des Auges beschreiben, schätzen und dergl., ist vollkommen unklar; darum
lässt sich auch die von Listing angeregte Controverse, ob derselbe Gegenstand
bei direktem Sehen (d. h. bei Ueberführung der Sehachse über denselben) klei-
ner erscheine, als bei indirektem, theoretischer Seits nicht erledigen, wenn auch
erwiesen ist, dass derselbe Gegenstand im indirekten Sehen einen grösseren Seh-
winkel besass, als im direkten. Ferner gehört hierher auch die verschiedene Grös-
senvorstellung, welche wir erhalten, wenn wir einen Gegenstand wechselnd bald mit
einem und dann mit zwei Augen fixiren. Endlich siehe weiteres bei Dove*).


d. Ausbreitung eines Bildes in die Tiefe, Anschauung des Kör-
perlichen und der Entfernung. Zur Vollendung unserer Vorstellun-
gen über das Sehen der Gegenstände im Raume, gehört noch die
Bildung eines Urtheils über ihre Ausbreitung in der sogenannten
dritten Dimension. Dieses Urtheil wird nachweislich bestimmt
durch den Zustand des Accommodationsapparats, Moser, die Conver-
genz der Sehachsen, Brücke, und wo diese Mittel nicht mehr ausrei-
chen, durch die relative Lichtstärke und vielleicht durch die verschie-
dene Grösse der Zerstreuungskreise, unter welchen die Gegenstände
erscheinen.


Da der Accommodationsapparat die Gegenstände verschiedener
Entfernungen in zeitlicher Reihenfolge zu deutlichen Bildern umsetzt,
und damit die Leuchtpunkte an das Auge zieht, oder sie von ihm loslöst,
so wird sein Werth für das Schätzen der Entfernung von vorne herein
wahrscheinlich. Thatsächlich wird nun auch diese Vermuthung er-
wiesen: dadurch dass die gesehenen Gegenstände um so näher
erscheinen, je divergirender die von ihren leuchtenden Punkten aus-
gehenden Strahlen in das Auge fallen. Wenn darum ein Gegenstand
[254]Einfluss der Accomodation und der Convergenz der Sehachsen.
auch seine Lage unveränderlich im Raume bewahrt, so wird er den-
noch dem Auge sich bald zu nähern und sich bald von ihm zu entfer-
nen scheinen, wenn zwischen ihn und das Auge optische Mittel einge-
schoben werden, durch welche der Convergenzwinkel seiner Strah-
len nach der einen oder andern Seite hin eine Aenderung erfährt.
Mit Rücksicht auf die Einrichtungswerkzeuge ausgedrückt bedeutet
dieses: die auf unserer Sehhaut abgebildeten Gegenstände erschei-
nen uns um so näher, je grössere Anstrengungen die Muskeln des
Einrichtungsapparates unternehmen mussten, um das Bild deutlich
zu entwerfen.


Als eines der bekanntesten Beispiele für diese Angaben kann es dienen, dass
ein Körper, welcher auf dem Boden eines leeren Glases liegt, gehoben erscheint,
nachdem man das Glas mit Wasser füllte. Als sich nur Luft über dem leuchtenden

Figure 71. Fig. 68b.


Punkte A, Fig. 68b, der auf dem
Boden des Gefässes G G gelegen
ist, vorfand, schickte er z. B.
drei beliebige Strahlen A C, A B,
A D
unter dem Winkel C A D aus,
welche wie wir voraussetzen,
von einem in B befindlichen
Auge wiederum auf einen Punkt
der Retina zusammen gebrochen
werden. Als nun eine Flüssig-
keit aufgegossen wurde, welche
einen höheren Brechungscoef-
fizienten als die Luft besitzt,
wurde aus bekannten Gründen an den Grenzflächen der Luft und der Flüssigkeit, die
Strahlen C F und D F nach C′ und D′ (welche früher auf C und D eintrafen) abgelenkt.
Die von demselben Orte austretenden Strahlen divergiren also stärker, als früher.


Beim Sehen mit zwei Augen unterstüzt der Convergenzwinkel
der Sehachsen, oder besser ausgedrückt die ihn bestimmende Muskel-
zusammenziehung, noch die Bildung eines Urtheils über die Entfer-
nung der Gegenstände. Je mehr sich die Gegenstände dem Parallelis-
mus nähern müssen, um auf einen zu sehenden Punkt einzuschneiden,
um so entfernter erscheint uns derselbe. Dieses wichtige Faktum ist
in seiner einfachsten Gestalt von H. Meyer*) dargestellt.


Meyer lehrte einen Versuch, in welchem es gelingt, ein und denselben Gegen-
stand durch wechselnde Convergenz der Sehachsen in verschiedene Entfernungen
zu sehen. Man fixirt, um dieses zu bewerkstelligen, einen Gegenstand scharf und
anhaltend, den man über einen Rohrsessel, oder eine fein gemusterte Tapete, oder
überhaupt über ein Gebilde hält, in welchen dieselben Formen in regelmässiger
Wiederkehr vorhanden sind. Beachtet man nun auch die Figuren dieses Gebildes,
während man den Fixationspunkt unverrücklich erhält, so rücken dieselben sehr bald
in die Ebene des scharf gesehenen Gegenstandes. Der Versuch gelingt am besten,
wenn man die fixirten Punkte in nicht zu grosse Entfernung von dem Rohrsessel
legt. Die Figur 69 erläutert, warum diese Erscheinung am leichtesten erzeugt
[255]Andere Hilfsmittel zur Schätzung der Entfernung.
werden kann, wenn man den fixirten Gegenstand auf einen andern von regel-
mässig wiederkehrendem Muster hält; denn nur dann ist es möglich, dass sich auch

Figure 72. Fig. 69.


ohne Kreuzung der
Sehachsen in der
Ebene des Musters
auf identischen Netz-
hautstellen entspre-
chende Abschnitte
desselben abbilden,
die zu einem Bilde zu-
sammengelegt wer-
den können. So sol-
len in der Figur die
kleinen Kreise das
regelmässig wieder-
kehrende Muster dar-
stellen. Wird nun ein
Punkt A jenseits, oder
ein Punkt B diesseits
desselben fixirt, so
fallen auch immer
ungefähr zusammen-
passende Abschnitte
der Kreise, die in der
Vorstellung leicht zu einem zusammengelegt werden können auf identische Netzhaut-
stellen. Beim Fixiren des Punktes A rückt also das Muster nach A und wird, wie aus
früheren Darstellungen folgt, grösser; bei scharfem Betrachten von B stellt sich
das Muster, indem es zugleich kleiner wird, näher. — Ist man einmal in diesem Ver-
such geübt, so sieht man auch bald, beim Federschneiden u. s. w. die entferntere
Tischplatte, die Schrift eines Buches u. dergl. vor das Auge rücken und mit der Fe-
der sich kreuzen.


Jenseits der deutlichen Sehweite und in Abständen, in wel-
chen die Gegenstände mit fast parallelen Sehachsen aufgefasst wer-
den, gewinnt die relative Lichtstärke ebenfalls einen Einfluss auf
Schätzung der Entfernungen; unzweifelhaft erscheinen uns ferne
Gegenstände, z. B. die den Horizont begrenzenden Bergmassen, je
nach dem Grad der Erleuchtung und der durch dieselbe bewirkten Son-
derung ihrer einzelnen Gruppen, näher oder ferner; keinenfalls aber ge-
winnt innerhalb der deutlichen Sehweite die Lichtstärke einen Einfluss;
noch niemals wird es gelungen sein, einen Schatten, den man auf einen
sonst erleuchteten ebenen Gegenstand wirft, als eine Vertiefung zu
sehen. Die Schätzung des Abstandes sehr entfernter Gegenstände ist
übrigens ungenau genug; so glaubt man den Mond unmittelbar auf
dem Gipfel entfernter Berge stehen zu sehen oder hält selbst hohle
Flächen z. B. in geschnittenen Steinen oder Gypsabgüssen für erhaben
und umgekehrt; Moser, Brewster.


Zu den oben erwähnten Beispielen über die Wirkung des Accommodationsappa-
rates als formbestimmendes Mittel fügen wir noch die Erscheinung des Nahe-
tretens der Gegenstände, die man durch ein Teleskop betrachtet; die scheinbare
[256]Stereoscop und seine Anwendung.
Entfernung oder Näherung eines auf der Retina vorhandenen Nachbildes, je nach-
dem man das Auge für die Ferne oder die Nähe accommodirt u. s. w.


Beim Sehen mit zwei Augen scheint der Accommodationsapparat eines jeden Auges
in der Weise in die Bestimmung der Ferne mit einzugehen, dass die mittlere Wirkung
beider das Maass abgibt. Hierfür scheint die Erfahrung zu sprechen, die man aus der
Beobachtung eines linienförmigen Körpers gewinnt, den man seitlich von der Ange-
sichtsfläche hält, so dass er dem einen Auge um ein beträchtliches näher steht, als dem
andern. Dieser rückt aus seinem scheinbaren mittleren Abstand in die Ferne, wenn
man das nähere Auge schliesst und umgekehrt aus dem scheinbaren mittlern Ab-
stand in die Nähe, wenn das fernere Auge geschlossen wird, nachdem man vorher
mit beiden Augen hinsah. Dieses Phänomen wird namentlich deutlich, wenn man
rasch mit dem Schliessen der Augen wechselt, wobei der körperliche Streifen in
deutliche Bewegung geräth.


Die Wirkung der Sehachsen Convergenz für die Bestimmung der Entfernung
wird vollkommen klar, wenn man zergliedert, wie sich beim Sehen mit zwei
Augen die Anschauung des Körperlichen entwickelt. Nach Brücke*), dem
alle Späteren gefolgt sind, bildet sich die Anschauung eines jedweden Körpers
nicht durch einen einzigen Blick, sondern aus einer Reihe rasch aufeinander
folgender, deren zeitlich getrennte Wirkungen die Seele auf einen einzigen Zeit-
moment bezieht. Diese Behauptung ist zunächst nur eine folgerechte Ableitung
aus der bekannten Thatsache dass wir mit beiden Augen überhaupt nur eine unend-
lich dünne Schicht des Raumes sehen, diejenige nämlich auf welche der Schnittpunkt
beider Sehachsen eingestellt ist. Der empirische B[e]weiss für dieselbe ist aber leicht
zu liefern, wenn man sich die Fähigkeit erworben hat, den stetigen in der Zeit erfol-
genden Schwankungen des Convergenzwinkels der Sehachsen einen Zaum anzulegen
und zugleich einen Körper zu den Augen in eine Lage bringt, bei welcher die einfache
Auffassung der einander naheliegenden Punkte nur geschehen kann mit Hilfe starker
Abweichungen in den erwähnten Winkeln. Hält man sich z. B. einen langen schmalen
Stab, z. B ein Bleistift, senkrecht gegen die Angesichtsfläche auf die Nasenwurzel
und fixirt einen beliebigen Punkt desselben, so wird man diesen Punkt einfach alle
übrigen aber doppelt sehen, so dass der Stab aus zwei gekreuzten zu bestehen scheint.
Je nach dem Orte, an welchem man beliebig die Sehachse zum Schneiden bringt,
wird man bald das den Augen zu- oder abgewendete Ende einfach sehen.


In diesem Prinzip findet nun Brücke auch den Grund der perspectivischen Wir-
kung der Stereoscope. Unter diesen letztern versteht man aber Einrichtungen, in
welchen man gleichzeitig mit den beiden Augen zwei perspectivische Bilder eines und
desselben Körpers betrachtet und zwar so, dass jedes der beiden Augen nur die ihm
angehörige perspectivische Zeichnung ansieht. Die Ueberzeugung dass ein Gegenstand,
der gleichzeitig mit beiden Augen betrachtet wird für jedes dieser letzteren ein be-
sonderes Bild entwirft und dass wir nur irrthümlich ein einziges zu sehen glauben,
wird man sogleich erhalten, wenn man einen beliebigen Körper, z. B. einen abgestutz-
ten Kegel, der Nasenwurzel gegenüber vor beide Augen hält und nun wechselnd das eine
und das andere schliesst. Entwirft man sich nun zwei perspektivische Ansichten dieses
Kegels, die eine für das rechte, die andere für das linke Auge, so hat man damit zwei
der verlangten stereoscopischen Zeichnungen. Die Mittel aber, um diese Zeichnungen
in verlangter Weise vor die Augen zu führen, sind sehr mannigfaltige; Wheatstone,
der überhaupt zuerst den Gedanken fasste, Bilder von rechter und linker Perspektive
zu entwerfen und zu beobachten, wendete das auf S. 251 erwähnte Spiegelstereoskop
an; dasselbe leisten zwei Röhren, Prismen u. s. w. —


Wir werden nun einen einfachen Fall stereoskopischer Betrachtung nach der
Brücke’schen Erläuterung behandeln. — Wenn wir einen abgestutzten Kegel vor die
beiden Augen halten, so dass er ihnen die abgestumpfte Spitze zuwendet, und seine
[257]Stereoskop.
Achse horizontal und senkrecht gegen die Verbindungslinien der beiden Augenmittel-
punkte gerichtet ist, dann entwirft er bei einer gewissen Entfernung in den Augen

Figure 73. Fig. 70.


Figure 74. Fig. 71.


zwei Bilder, etwa wie in Fig. 70, von diesen gehört R
dem rechten und L dem linken an; ihre Stellung zu
einander muss die hier gezeichnete sein, wenn sie im
Stereoskop als Kegel erscheinen sollen. Bringen wir
nun vor jedes Auge eine Röhre (eine Papierrolle) von
der Länge mehrerer Zolle Figur 71 A B, A′ B′ und legen
an ihr freies Ende die Zeichnungen L, R
in der bezeichneten Stellung, so decken
sich beide Figuren sehr bald und erzeu-
gen dann das Bild zweier vor einander
schwebender Kreise, von denen der klei-
nere den Augen beträchtlich näher liegt
als der grössere. Da nun die an der Zeich-
nung zu einander gehörigen Punkte der Kör-
per nicht gleichzeitig auf zugeordnete Netz-
hautstellen fallen, so kann das einfache Bild
aus beiden Figuren nicht durch ein gleich-
zeitiges Zusammenlegen der verschiede-
nen Bildpunkte, sondern nur dadurch ent-
stehen, dass die zugeordne-
ten Stellen in zeitlicher Folge
über die zugehörigen Bild-
punkte geführt werden; in-
dem dieses aber geschieht,
müssen sich die Conver-
genzwinkel der beiden Au-
genachsen ändern. Denn ge-
setzt, man wollte von den
zu einander gehörigen Punk-
ten der Zeichnungen I, I zu
den II, II übergehen, und
zwar beide Male den Ort mit
der beliebigen identischen
Stelle, die sich am Schnitt-
punkt der Sehachse mit der
Retina findet, betrachten, so
würde bei Betrachtung von
I I der Convergenzwinkel der Augenachsen D E F und für II, II der Convergenzwin-
kel G H J sein müssen. Da uns nun ein Gegenstand um so näher erscheint, je grös-
ser der Convergenzwinkel, mit dem wir ihn ansehen, so wird da D E F \> G H J
der Punkt I vor II zu schweben scheinen.


Durch welchen Mechanismus nun Lichtstärke, Accommodationsbewegung und
Achsenconvergenz das Urtheil bestimmen, ist noch nicht ermittelt; um die Psycho-
logen zu beruhigen, darf man zugeben, dass der aus den drei Elementen resultirende
Eindruck noch nicht die Vorstellung der Entfernung ist, es muss aber festgehalten
werden, dass sich in der Seele an eine besondere Combination der drei Elemente
so gewiss die zugehörige Vorstellung kettet, wie die Waagschale zu Boden sinkt,
wenn sie belastet wird. Insofern man die Ausbildung des Vermögens mit dem Vor-
handensein des Vermögens überhaupt verwechselte, hat man die sogenannte objek-
tive Natur dieser Phänomene (d. h. ihr Gebundensein an einen in dem Hirn vorge-
bildeten Mechanismus irgend welcher Art) oft verkannt.


Ludwig, Physiologie I. 17
[258]Bewegung der gesehenen Gegenstände.

Schliesslich darf die Bemerkung nicht unterlassen werden, dass noch mancherlei
andere Grundlagen zur Bildung eines Urtheils über Perspektive vorhanden sein müs-
sen als die gegebenen, was schon daraus hervorgeht 1. dass die entoptischen Gegen-
stände fast immer in gleicher Entfernung vor dem Auge schweben, wenn auch die
Achsenconvergenz und die Accommodation wechselt; 2. dass man nach Dove auch
noch in einem Stereoskop eine perspektivische Figur sieht, selbst wenn man die Bil-
der mit dem nur momentan dauernden elektrischen Funken beleuchtet hat; 3. dass
in dem Meyer’schen Versuch wohl die auf den mittleren, aber nicht die auf den
seitlichen Theilen der Netzhaut abgebildeten Gegenstände den Ort verändern, und
endlich 4. dass eine perspektivische Zeichnung für nur ein Auge ebenfalls körperlich
wirkt und zwar sehr auffallend, wenn man sie durch eine Röhre betrachtet.


Bewegung der gesehenen Gegenstände.


Da wir, wie erwiesen, von den Lagenverhältnissen der Retina
zum Raum, und der Empfindungsobjekte im Raume unterrichtet sind,
so folgt daraus mit Nothwendigkeit, dass wir auch einen Ortswech-
sel, sei es der Retina zum Raume, oder der Empfindungsobjekte
zu einander auffassen. Jeden solchen Wechsel machen wir bekannt-
lich von einer Bewegung abhängig d. h. wir schreiben ihn einem suc-
cessiven Fortrücken des in seiner Lage veränderten Gegenstandes
vom alten zum neuen Ort in der Retina zu.


Dieses Fortrücken der Bilder auf der Retina geschieht nun ent-
weder so, dass die äusseren Gegenstände mit verschiedenen Punkten
ihrer Ausdehnung über dieselben Netzhautpunkte gehen (wenn näm-
lich die Retina feststeht, während die Aussendinge sich bewegen),
oder umgekehrt, es bewegen sich verschiedene Netzhautpunkte über
dieselben äusseren Gegenstände (wenn die Retina fortrückt während
die Aussendinge fixirt sind). Diese beiden Fälle müssen nach Obigem
im Bewusstsein unterschieden werden können, und es fragt sich nur,
ob dieses Unterscheidungsvermögen begrenzt oder unbegrenzt ist.
Diese Frage ist von der Erfahrung dahin beantwortet, dass wir nicht
in allen Fällen in der Anschauung richtig urtheilen, ob die Verschie-
bung der Bilder auf den Sehnervenfasern von der Bewegung der Re-
tina oder einer Bewegung der Bilder abhängig sei. Diese Beschrän-
kung ist bedingt durch den Umstand, dass nur die Nerven einer ge-
wissen Zahl von Muskelgruppen einen Einfluss auf die Lagenbestim-
mung unserer Retina in unserer Anschauung gewinnen. Demgemäss
halten wir, wenn die Verschiebung der Bilder auf der Retina gleich-
zeitig mit der Thätigkeit dieser Muskelgruppen eintrifft, die Gegen-
stände für ruhig, und umgekehrt erscheinen uns die Gegenstände
bewegt, wenn die Verschiebung auftritt, ohne dass diese Muskeln in
Thätigkeit kommen, und dieses selbst dann noch, wenn uns auch das
Bewusstsein sagt, dass die Gegenstände ruhen und wir uns be-
wegen.


Erfahrungsgemäss erläutern wir die Verschiebung der Bilder auf
der Retina aus einer Bewegung dieser letztern, wenn folgende Mus-
[259]Glanz.
keln die Verschiebung des Auges bestimmen: 1) Die Muskeln der Wirbel-
säule und des Kopfes; 2) die Muskeln der obern und untern Extremi-
täten insofern sie zur Bewegung des Rumpfes verwendet werden;
3) die Muskeln des bulbus oculi und 4) die des Accommodations-
apparats.


Jedes andere Fortrücken der Bilder auf der Retina schieben wir
dagegen im Sehakte selbst auf eine Bewegung der Bilder, mögen
in der That es diese oder unsere Augen es sein, welche sich be-
wegen.


Unter die bekanntesten der fehlerhaften Schlüsse unseres Sehorgans zählt, aus-
ser den scheinbaren Bewegungen der Gegenstände, wenn wir fahren, derjenige, dass
die gesehenen Empfindungsobjekte zu wanken scheinen, wenn wir mit der Finger-
spitze einen Augapfel verschieben. Ausser diesen Fehlern sehen wir aber mit Rück-
sicht auf Bewegung noch mannigfaltige andere, welche zum grossen Theil durch
das Tastgefühl korrigirt werden können. Dahin gehören unter andern, dass wir ei-
nen bewegten Gegenstand für ruhig, dazu vergrössert und in einer ganz besondern
Gestalt sehen, wenn derselbe eine wiederkehrende Bahn mit solcher Geschwindigkeit
durchläuft, dass sein Nachbild auf den verlassenen Stellen der Retina noch nicht
verschwunden ist, wenn der Gegenstand wieder eintritt. Wir glauben ferner den
Gegenstand in Bewegung, wenn wir ihn nach Art des Scheiner’schen Versuches
durch eine feine Oeffnung im Zerstreuungsbilde sehen, während wir die Oeffnung ver-
schieben. Die Richtung der scheinbaren Bewegung erfolgt im umgekehrten Sinne
der wirklichen Verschiebung der Oeffnung, wenn der Gegenstand diesseits der deut-
lichen Sehweite liegt. Haben wir einen Gegenstand in fehlerhafter Accommodation
oder unter fehlerhafter Convergenz der Augenachsen erblickt, so verrückt er sicht-
bar, so wie wir für seine Entfernung accommodiren oder die Sehachsen auf ihn ein-
schneiden lassen u. s. w.


In wiefern der Begriff der Geschwindigkeit in das Gebiet der physiologischen
Untersuchung fällt, ist noch zu ermitteln; dass er hier eine Wurzel habe, kann nicht
bestritten werden, weil wir den Grad der Geschwindigkeit geradezu sehen.


4. Glanz. Das Auge unterscheidet noch eine eigenthümliche Be-
schaffenheit leuchtender Oberflächen, welche die Sprache mit dem
Namen des Matten und des Glänzenden bezeichnet. — Die Empfindung
des Glanzes wird uns zu Theil, entweder wenn das Licht von einer
glatten Oberfläche zurückgeworfen unser Auge trifft, oder wenn wir
im Stereoskop die beiden an und für sich matten Zeichnungen dessel-
ben Gegenstandes verschieden färben. Dove*).


Dove ist der Meinung, dass diese letztere sehr überraschende Beobachtung
überhaupt erläutere, wie das Licht beschaffen sein müsse, wenn es glänzen solle;
er glaubt nämlich, dass Glanz dem Auge nichts anders bedeute, als das gleichzeitige
Eintreffen verschieden gefärbter Strahlen in das Auge von zwei unmittelbar hinter-
einander gelegenen Flächen; denn in der That senden die spiegelnden Flächen Licht
von ihrer äussersten Grenze und aus der Tiefe ihrer Substanz in das Auge, und eben
dasselbe leisten die verschieden gefärbten stereoskopischen Bilder desselben Gegen-
standes, die in der Empfindung zu einem einzigen zusammengelegt werden. Dieser
Erklärung von Dove fügen sich aber nicht die Erscheinungen der Farbenmischung,
17*
[260]Sclerotica, Augenlider.
nach der Methode von Helmholtz, indem zwei matte Farben bei ihrer Mischung nie-
mals glänzend werden. — Die Figuren erscheinen im Stereoskop besonders schön
glänzend, wenn man eine derselben farbig und die andere schwarz anstreicht.


Schutzwerkzeuge des Auges.


Unter ihnen begreift man Gebilde sehr verschiedener Art und
verschiedener Funktion, welche nur darin Uebereinstimmung zeigen,
dass sie die in allernächster Beziehung zum Sehen stehenden Theile
des Auges vor gewissen schädlichen Einflüssen schützen. Man zählt
zu ihnen:


1. Die Sclerotica. — Vermöge ihres festen Gewebes bildet sie
eine Capsel, in welchem die zur Accommodation und zur Lichtempfin-
dung dienenden Organe aufbewahrt sind. Die Spannung, welche sie
während des Lebens zeigt, und die nach dem Tode rasch verschwin-
det, verdankt sie wohl zunächst der Anfüllung ihres innern Raumes,
soweit er nicht von den Brechungskörpern eingenommen ist, durch
die Blutgefässe der Choroidea.


2. Die Augenlider. Dieser gespaltene Deckel schliesst sich mit
seiner hintern der vordern Fläche des Auges fast überall genau an,
wenn seine freien Ränder aufeinander liegen; in diesem Zustand bleibt
einzig an der hinteren Kante der sich berührenden Augenlider wegen
der Abstumpfung der Ränder ein kleiner dreiseitiger Kanal, dessen
Basis durch Cornea und Sclerotica und dessen geneigte Flächen durch
die Augenlider gebildet werden.


Dieser Apparat ist bekanntlich mit einem knorpeligen Skelett,
einer Muskulatur, einer Drüsenreihe, die ein Sekret zur Befettung sei-
ner Ränder (Meibom’sche Drüsen) liefert, und einer Behaarung verse-
hen. Das Skelett, tarsus, erhält die schlitzförmige Gestalt der Augen-
lidspalte aufrecht, so dass bei beträchtlichen Seitenbewegungen des Au-
ges die Cornea noch vom Licht getroffen wird. Die geschlossene Spalte
wird eröffnet, indem der m. levator palpebrarum das obere Augen-
lid vermittelst des tarsus, (wie an einer Vorhangstange) emporhebt,
während das untere Lid durch seine Schwere herabfällt. — Die geöff-
neten Lider werden geschlossen durch den m. orbicularis palpebra-
rum, der wegen seiner Befestigung am inneren Augenwinkel (am lig.
palpebrale internum und Oberkieferknochen) zugleich den Augen-
deckel etwas nach innen zieht. — Beide Muskeln erhalten aus ver-
schiedenen Bahnen ihre Nerven, m. levator palpebrarum vom n. ocu-
lomotorius; m. orbicularis palpebrarum vom n. facialis. — Beide
Muskeln finden sich wechselnd im Erregungszustande, so dass das
Auge bald geöffnet und geschlossen wird. Der Zeitraum der Schlies-
sung geht gewöhnlich so rasch vorüber, dass die Nachbilder im Seh-
feld scheinbar keine Unterbrechung des Lichteintritts zulassen. —


Ausserdem werden die Augenlider reflektorisch geschlossen oder
wenigstens ihre Spalte durch den m. orbicularis verengert, wenn ein in-
[261]Thränenapparat. Entoptische Erscheinungen.
tensiver Lichteindruck auf die Retina geschieht oder wegen mangelhaf-
ter Wirkung des Accommodationsapparates Zerstreuungsbilder auf der
Retina auftreten. — Bemerkenswerth erscheint es nach den Unter-
suchungen von Bell*) dass mit dem Schliessen der Augenlider eine
unwillkürliche Bewegung des bulbus nach oben und innen erfolgt. —
Die Behaarung der Augenlidränder durch die sogenannten Cilien stellt
einen feinen Fühlapparat (Tasthaare) dar, auf deren Berührung das
Auge ebenfalls geschlossen wird, um mechanische Insulte zu verhüten.


3. Der Thränenapparat. Aus der Thränendrüse wird unter das
obere Augenlid aus mehreren punktförmigen Oeffnungen eine sehr
schwach salzige Flüssigkeit entleert, welche sich durch Capil-
larität und durch den Augenlidschlag über die vordere Fläche des
Auges verbreitet, sie stets befeuchtet (wodurch sie die Augenhäute
vor Verdunstung schützt und wäscht) und endlich gegen den inneren
Augenwinkel in den sog. Thränensee abfliesst. Während des Augen-
lidschlusses läuft sie nach diesem Raume hin durch den dreieckigen
Kanal der Augenlider. Ihr Ueberlaufen über die Augenlidränder wird in-
sofern die Thränen nicht massenhaft abgesondert werden, durch das fet-
tige Sekret der Meibom’schen Drüsen verhindert. Aus dem Thränensee
wird die Flüssigkeit durch die capillaren, wegen ihrer steifen Umge-
bung stets offen erhaltenen Mündungen der Thränenröhrchen aufge-
sogen und von da durch den Thränenkanal in die Nase geführt, wo
schliesslich ihr Wasser in Folge der durch das Athmen eingeführten
Luftströme verdunstet. Der Abfluss durch den Thränenkanal geschieht
wohl durch Fortkriechen der Flüssigkeit an den benetzbaren abschüs-
sig gelegenen Wandungen.


Anhang. Entoptische Erscheinungen**).


Die brechenden Medien des Auges enthalten Gebilde von ver-
schiedener Durchsichtigkeit; darum beleuchtet ein Lichtbüschel, wel-
cher mit parallelen Strahlen durch dieselben tritt, nicht allerwärts die
Retina gleich stark; aus der Stärke und Form der herbeigeführten Ver-
dunkelung kann man natürlich unmittelbar auf die Form und den Grad
der Undurchsichtigkeit der verdunkelnden Körper schliessen.


Um diese letztern der Retina sichtbar zu machen, hält man in der
vordern Brennebene des Auges einen dunklen Schirm in welchen man
eine 1/10 M. M. im Durchmesser haltende Oeffnung gebohrt hat; durch
den hier austretenden Lichtbüschel wird auf der Retina ein Zerstreu-
ungskreis gebildet, welcher der Pupillenöffnung entspricht.


[262]Entoptische Erscheinungen.
Figure 75. Fig. 72.

Die Figur 72 macht
das diesem Versuch zu
Grunde liegende Prinzip
ohne Weiteres klar; es
ist in derselben A A
die Brennebene, B der
leuchtende Punkt (die
Oeffnung des Schirms),
C C die Pupillenöffnung;
D D der entsprechende
Zerstreuungskreis auf
der Retina; E ein un-
durchsichtiger Körper
in den brechenden Medien; F der ihm entsprechende Schatten auf der
Retina.


Die Lage der undurchsichtigen Objekte in den verschiedenen Tie-
fen des Auges kann man ebenfalls beurtheilen entweder nach der von
Listing sog. entoptischen Parallaxe; oder nach Brewster und Don-
ders
aus der Entfernung nach der ihre doppelt entworfenen Bilder aus-
einander weichen, wenn unter verschiedenen Winkeln stehende Licht-
quellen parallele Strahlen durch das Auge schicken.


a. Methode von Listing. Wenn wir das Auge A Fig. 73. zuerst in
eine solche Stellung zur Lichtquelle bringen, dass die Sehachse A B
dem Gang der Strahlen parallel läuft, so werden sämmtliche auf dem
Verlauf der Sehachse etwa gelegenen dunklen Puncte nur einen Schat-
ten werfen; dreht man nun bei unveränderter Stellung der Lichtquelle

Figure 76. Fig. 74.
Figure 77. Fig. 73.


das Auge Fig. 74 so, dass die Sehaxe die Richtung C D empfängt, so
werden die Schatten der in der Sehaxe gelegenen dunklen Punkte aus-
einanderfallen und zwar wird der in der Ebene der Pupille gelegene in
den Mittelpunkt des Zerstreuungskreises, der vor der Pupille gelegene
über, und der hinter der Pupille gelegene unter den Mittelpunkt seinen
Schatten werfen. Listing nennt diese von den Bewegungen der Seh-
[263]Gehör.
achse abhängige Lagenveränderung des Schattens eines entoptischen
Gegenstandes im Zerstreuungskreis die relative entoptische Parall-
achse; demnach ist die relative entoptische Parallaxe Null für Objekte
in der Ebene der Pupille. — Ueber die Schätzung der Lage im Zer-
streuungskreise, und die Berechnung der Lage der Gegenstände in
dem Auge aus der Parallaxe siehe Listing l. c. p. 42 u. f.


b. Methode von Brewster und Donders. Setzen wir mit diesen
beiden Gelehrten gleichzeitig vor das Auge zwei leuchtende Punkte
A, B, (in Fig. 75) so entwerfen dieselben zwei Zerstreuungskreise C,
D
der Pupille auf der Retina; den Mittelpunkt eines jeden derselben
nimmt natürlich der Mittelpunkt der Pupille selbst ein; die vor der
Pupillenebene gelegenen Gegenstände bilden sich in beiden Kreisen
nach aussen von dem Mittelpunkt; alle hinter der Pupille gelegenen
Gegenstände nach innen von demselben ab. — Ueber die Berechnung
der wahren Lage siehe Donders p. 41.


Figure 78. Fig. 75.

Aus den für die Diagnosen der Augenkrankheiten wichtigen Untersuchungen über
wirklich bestehende entoptische Gegenstände hat sich ergeben das Vorkommen:


1) von veränderlichen entoptischen Gegenständen und zwar: a) sog. Mücken,
kleine im Glaskörper befindliche, bewegliche meist zellenartige Körperchen. b) Das
Spectrum mucolacrymale der Hornhaut (Thränenflüssigkeit, Staub und Schleim auf
derselben). c) Falten der Hornhaut nach vorausgegangenem Druck — 2) von be-
harrlichen und zwar a) Perlflecke; b) dunkle Flecken; c) lichte Streifen; d) dunkle
Streifen, welche zum Theil von bestimmten Figuren der Linse herrühren.


E. Gehör.


Der Gehörnerv wird auf eine so besondere Weise vom Felsen-
bein umschlossen, dass er der Einwirkung der grössern Zahl von
allgemeinen Nervenerregern ganz entzogen ist. Vorzugsweise zu-
gänglich ist er nur einer spezifischen Art von Erschütterung der pon-
derabeln Massen, welche unter dem Namen der Schallwellen bekannt
ist. Die allgemeinsten Eigenschaften der Schallwellen und die Leitung
derselben durch das Gehörorgan zum Nerven werden demnach zu un-
[264]Bewegung der Molekeln. Geschwindigkeit derselben.
tersuchen sein, bevor wir den durch sie erregten Empfindungen unsere
Aufmerksamkeit schenken.


Einleitende Betrachtungen über die dem Schalle zu Grunde lie-
genden Bewegungen
.


Die Diffusionserscheinungen fanden wir nur erklärlich unter der Voraussetzung,
dass das, was unseren Sinnen als eine undurchdringliche geschlossene Masse erscheint,
eine Zusammenhäufung äusserst kleiner noch durch Zwischenräume voneinander ge-
trennter Theilchen, der Molekeln, sei. Diese Vorstellung von der Anordnung der Mas-
sen erhält ihre Bestätigung und ihre noch genauere Bestimmung durch die Thatsachen
der Elastizitätslehre. Denn diese erwiessen, dass ganz allgemein einem jedem Molekel
innerhalb der Masse, der es angehört, ein bestimmter Ort in einer gemessenen Entfer-
nung von seinen Nachbarmolekeln angewiessen sei und zwar in Folge von den an-
ziehenden und abstossenden Wirkungen, welche durch diese Nachbarn ausgeübt
werden. Denn nur durch diese Annahme wird die Thatsache verständlich, dass bei-
des, das allseitige Zusammendrücken und das allseitige Auseinanderzerren einer
Masse, Widerstände erzeugt, welche wachsen ebensowohl mit der Abnahme als mit
der Zunahme des ursprünglich von der Masse eingenommenen Raumes, oder im Sinne
unserer Anschauung ausgedrückt mit der gegenseitigen Näherung oder Entfernung
der Molekeln. Indem wir die Thatsachen der Elastizität und namentlich die Press- und
Ausdehnbarkeit der verschiedenen Massen nach dieser Richtung hin deuten, lehren
sie uns ferner, dass die Abstände der Molekeln, und die absoluten und relativen Werthe
der Kräfte, welche den Ort derselben bestimmen weder bei verschiedenen Massen
noch jedesmal nach verschiedenen Richtungen innerhalb einer Masse dieselben sind.


Aus allem diesem folgt, die durch die Beobachtung bestätigte Ableitung, dass
sich die einzelnen Stücke einer scheinbar zusammenhängenden Masse unabhängig
von einander müssen bewegen können; diese Beweglichkeit der einzelnen Theile einer
Masse gegeneinander, oder schärfer ausgedrückt, der Spielraum und die Richtung,
in welcher die Verschiebung der Molekeln möglich und die Kräfte, welche zu dersel-
ben nöthig sind, muss den Elastizitätserscheinungen entsprechend mit der Natur der
Masse sehr wechseln; diese Mannigfaltigkeit der Erscheinung liegt aber offenbar
zwischen zwei Grenzfällen eingeschlossen. Denen nämlich, dass entweder die einer
Masse zugehörigen Theilchen sich an einander verschieben, ohne sich zu nähern,
oder dass sich die Theilchen, ohne ihre Lagenrichtung gegeneinander zu ändern ein-
ander nähern oder sich von einander entfernen. In dem erstern dieser Fälle, der vor-
zugsweise den sog. nicht zusammendrückbaren Körpern angehört, werden die Bewe-
gungen der einzelnen Stücke einer Masse zu Formveränderungen der Grenzen
dieses letztern führen, wie dieses z. B. am Wasser sichtbar ist, während die zweite Art
von Bewegung Verdichtungen und Verdünnungen der Masse erzeugt, wobei die
sichtbare Grenze der Masse möglicher Weise vollkommen unverändert sich erhalten
kann.


Ueber diese Bewegungen, welche unter gewissen Voraussetzungen die schaller-
zeugenden sind, lassen sich noch einige Mittheilungen machen, welche zum Verständ-
niss der Leistungen der Gehörwerkzeuge nicht ohne Bedeutung sein dürften. —
1) Jede Bewegung, welche einem beschränkten Stücke einer zusammenhängenden
Masse unabhängig von den ihm benachbarten mitgetheilt wird, erhält bei mehr als
momentan dauerndem Bestehen eine ab- oder zunehmende, eine ungleichför-
mige, niemals eine gleichförmige Geschwindigkeit
. Die Allgemeingiltig-
keit dieser Behauptung ist sogleich einleuchtend, wenn man erwägt, dass jedes in-
nerhalb der Masse sich bewegende Theilchen auf seinem Wege von den Nachbarn ent-
weder gehemmt oder unterstützt wird. Gehemmt aber muss es werden, wenn es
sich über die Grenzen des Normalabstandes von einem Theil seiner Nachbarn zu
entfernen und einem andern Theil derselben zu nähern sucht. Beschleunigt dagegen,
[265]Umfang und Uebertragung der Bewegung.
wenn es durch eine stossende Gewalt aus seiner normalen Lage entfernt in diese zu-
rückzukehren strebt, wobei es sowohl im gleichen Sinne von den Theilen, denen es sich
allzusehr genähert, abgestossen, als auch von denen angezogen wird, von welchen
es sich allzusehr entfernt hatte. 2) die Zeit, welche ein Theilchen nöthig ha-
ben wird, um eine solche Phase der Bewegung zu vollenden
, d. h. um
von einem gewissen Maximum der Geschwindigkeit auf diejenige von Null zu gelangen,
wird ganz allgemein betrachtet, abhängig sein von der Zeitdauer des Stosses, welcher
das Molekel aus seiner Lage zu entfernen strebt, und von der Stärke der zwischen
den Molekeln bestehenden Anziehung und Abstossung, oder wie man sich auch aus-
drückt, dem Grade der Spannung, welcher in der Masse vorhanden ist. Denn offen-
bar wird, alles andere gleichgesetzt, ein Molekel um so länger auf seiner Bahn ver-
harren, je allmäliger und andauernder der Stoss wirkt, welcher dasselbe aus seiner
Normallage entfernt, und umgekehrt wird, alles andere gleichgesetzt, die Bewe-
gung, welche ein momentan wirkender Stoss einem Molekel mittheilt, um so ra-
scher vollendet sein, je energischer der Widerstand ist, den die umgebenden Mole-
keln, dem Gang der ursprünglich bewegten entgegensetzen, oder je grösser die
Gewalt ist, mit der sie das aus seiner ursprünglichen Lage entfernte Molekel wieder
in dieselbe zurückzuziehen streben. Ausserdem dürfte auch das, was wir Spannung
nennen, insofern bestimmend für die Zeit wirken, während welcher ein Molekel eine
Phase seiner Bewegung vollendet, als von ihr auch die Ausdehnung des Weges ab-
hängt, den ein Theil der Masse unabhängig von seinem Nachbar durchlaufen kann.
— 3) Die Bewegung, welche in einem beschränkten Stücke einer zusammenhängen-
den Masse eingeleitet wird, muss sich allmälig auch auf die benachbarten Stücke
übertragen. Dieses ergibt sich mit Nothwendigkeit daraus, weil jedes von seinem
Orte innerhalb der Masse bewegte Molekel, seine Nachbarn entweder stossen oder
ziehen muss, wodurch es unmittelbar einen Theil seiner bewegenden Kräfte an die-
selben abgibt. Bei dieser Mittheilung von Bewegung kommt in Betracht die Ueber-
tragung resp. Vertheilung der Kräfte, die Geschwindigkeit und die Richtung der
Mittheilung. — Rücksichtlich der Kraft der Uebertragung gilt hier, wie überall, die
Regel, dass das Produkt aus Geschwindigkeit und Masse immer erhalten *) bleiben
muss, so dass, wenn die Schwingung von einer geringern auf eine grössere Zahl von
Molekeln übergeht, die Schwingungsintensität jedes einzelnen vermindert wird. Aus
dieser Regel und der andern vorher erwähnten, dass die Bewegung des einzelnen
Molekels eine steigende und bis auf Null fallende ist, folgt aber, dass sich die Be-
wegung in zeitlicher Reihenfolge durch die ganze Masse verbreiten muss. — Die Mit-
theilungsgeschwindigkeit d. h die Zeit, welche nothwendig ist, damit die Bewegung
von einem Theilchen auf ein anderes übertrete, muss nun nach allem vorhergehen-
den abhängig gedacht werden von dem Werthe der beschleunigenden Kräfte, unter
deren Einfluss die einzelnen Theilchen schwingen, und der Art der Verknüpfung dieser
letztern und namentlich von der Elastizität oder anders ausgedrückt von der Grösse des
Spielraums, welcher jedem einzelnen Theilchen für seine selbstständigen Bewegungen
zukommt. — Diesen an und für sich selbstverständlichen Betrachtungen entgegen, lehrt
nun die Erfahrung, dass nur in einer beschränkten Zahl von Fällen z. B. bei den
fortschreitenden Bewegungen im Wasser mit freier Oberfläche, bei den Beugungs-
wellen, u. s. w. beide der angegebenen Elemente von Einfluss sind, während in
andern z. B. bei der Fortpflanzung der Verdichtungswellen des Wassers u. s. w. die
Schwingungsintensität des einzelnen Theilchens einzig und allein von dem Werthe
der Elastizität abhängt. Diese Erfahrung scheint dahin gedeutet werden zu müssen,
dass in diesen letztern Fällen der Zusammenhang der einzelnen Theilchen in der
Masse sich als ein so inniger ausweisst, dass auch bei einer schon verschwindend
[266]Wellenlänge. Uebertragung der Bewegung zwischen ungleichartigen Massen.
kleinen Ortsveränderung eines Theilchens die benachbarten mit in die Bewegung
gezogen werden, eine Ortsveränderung, welche schon nach einer verschwindend
kleinen Zeit erreicht wird. — Die Richtung der Mittheilung anlangend, so muss ent-
sprechend der allseitig gleichen oder ungleichen Elastizität die Bewegungsmitthei-
lung innerhalb der Masse entweder nach allen Seiten hin mit gleicher Geschwindig-
keit und Kraft vor sich gehen oder nach einzelnen Richtungen vorzugsweise stark
und schnell geschehen. — 4) Wenn nun, wie es häufig vorkommt, die Schwingungs-
dauer eines Theilchens länger anhält, als die Zeit, welche nothwendig ist, damit sich
die Bewegung von ihm auf seine Nachbarn mittheile, so folgt daraus, dass bei räum-
lich noch so beschränktem Anstoss einer Masse doch bald ein grösserer Abschnitt
derselben gleichzeitig in Bewegung treten wird. Da aber die Bewegung der Theil-
chen, welche auf einen momentan wirkenden Stoss folgt, immer eine schwingende
ist, welche mit abnehmender und dann steigender Geschwindigkeit das Theilchen
von seiner ursprünglichen Lagerungsstätte entfernt und dasselbe wieder dahin zu-
rückführt, so müssen auch gleichzeitig immer eine Zahl von Theilchen nach einer
Richtung schwingen. — Belegt man eine solche hin- und hergehende Schwingung
mit dem Namen der Wellenbewegung, und nennt man insbesondere die eine Weg-
richtung die aufsteigende oder positive und die andere die absteigende oder nega-
tive, so kann man den obigen Satz auch dahin ausdrücken, dass an einer und der-
selben Wellenbewegung gleichzeitig viele Molekeln Antheil nehmen. Mit Hilfe der
schon entwickelten Grundsätze wird es nun anzugeben sein, wovon die Zahl der
nach einer Richtung schwingenden Theile, oder die Wellenlänge abhängig sein muss;
denn offenbar wird sie wachsen mit der Zeit, welche das erste und somit jedes fol-
gende Theilchen zur Vollendung seiner Schwingung nöthig hat, und mit der Mitthei-
lungsgeschwindigkeit, welche der Masse, innerhalb deren die Bewegung statt fand,
zukommt. — 5) Bis dahin wurde vorausgesetzt, dass die Fortleitung der Bewegung
durch eine homogene Masse geschehe; die Erscheinungen gestalten sich nun aber an-
ders, wenn eine Bewegung zwischen heterogenen Massen übertragen werden soll. Hier,
an den Grenzen der Massen treten nämlich andere Bedingungen ein, insofern als nun die
stossenden und gestossenen Molekeln keine Cohäsionswirkungen aufeinander üben,
und insofern als der Stoss sich zwischen Molekelreihen mittheilt deren einzelne Glieder
weder im gleichen Abstand von einander stehen, noch durch gleiche Kräfte an ihren
Lagerungsstätten erhalten werden. Denn es kann, wie schon erwähnt, vom mechani-
schen Gesichtspunkte aus, der hier allein in Betracht kommt, das Eigenthümliche, das
Bestimmende der Massen, nur in dem Unterschiede, ihrer Dichtigkeit und ihrer Elastizität,
oder mit andern Worten in den Differenzen der Molekelabstände und der anziehen-
den und abstossenden Kräfte gesucht werden. Die Folgen dieser veränderten Be-
dingungen sind nun ungefähr folgende: a) Innerhalb der homogenen Masse ver-
breitete sich die Schwingung von Molekel zu Molekel in der Art, dass bei der fort-
schreitenden Bewegung das der Zeit nach zuerst schwingende allmälig zur Ruhe
kommt, während andere in die Bewegung eintraten, mit andern Worten, es hatte ein
Molekel nach Vollendung seiner Schwingung seine ganze lebendige Kraft an die
Nachbarn abgegeben. Bei der Fortleitung des Stosses zwischen den Molekeln he-
terogener Massen geschieht dieses nun nicht. Die Grenze der heterogenen Masse
überschreitet nur ein Theil der bewegenden Kräfte, während ein anderer Theil
derselben in der stossenden Masse zurückbleibt, so dass nun gleichzeitig beide
Massen an der Bewegung sich betheiligen. Diese Thatsache spricht man gewöhnlich
entweder so aus: es setze sich dem Uebergang der Kräfte über die Grenzen
heterogener Massen ein Widerstand entgegen, oder, wenn man sich im Ausdruck
an die Erscheinung enger anschliessen will, auch so, dass die Schwingung an
der Grenze heterogener Massen zurückgeworfen werde. Dieser letztere Ausdruck
fusst bekanntlich darauf, dass die Bewegung, welche schwingend zur Grenze
des ersten Mittels hinlief und dann nur theilweise in das neue Mittel eintrat, von
[267]Schallleitung zum Gehörnerven.
dieser Grenze auch wieder gegen die ursprünglich bewegte Masse zurücktritt, und
so in verkehrter Richtung noch einmal die Bahn durchzieht, die sie schon einmal in
gerader Richtung durchwandert hatte *). Der innere Zusammenhang dieser Erschei-
nung, dass sich die Bewegung schwieriger zwischen den Molekeln heterogener als
denen homogener Massen mittheilt, leitet sich nun aus den obigen Voraussetzungen in
jedem einzelnen Falle leicht ab. Nehmen wir z. B. an, die Molekeln der einen Masse seien
sehr beweglich gegen einander, während die einer andern als nahebei feststehend anzu-
sehen wären, so würden, wenn die Molekeln der letztern Masse auf die der erstern
stiessen, sich schon bei Beginn des Stosses die leicht beweglichen von den unbe-
weglichen entfernen, so dass nach einem Verfluss einer sehr kurzen Zeit gar keine Be-
rührung und somit auch keine Stossmittheilung mehr statt fände. Ereignete es sich
dagegen, dass die beweglichen Molekeln schwingend auf die unbeweglichen träfen, so
müsste, da die letztern nicht ausweichen könnten, sehr bald an der Grenze eine Span-
nung entstehen, die sich so lange steigern würde, als die Kraft, welche die Geschwin-
digkeit der beweglichen Molekeln in der Richtung gegen die unbeweglichen erzeugt
gleich wäre der gerade vorhandenen Spannung. Von diesem Augenblick an wird die
Spannung, welche nach beiden Seiten hin treibend wirkt, die beweglichen Molekeln wie-
der von der Grenze zurück schleudern; mit einem Worte, es werden sich die letzten
Molekeln verhalten wie ein elastischer Ball, der auf einen festen Boden geworfen
wird. — Hieraus dürfte nun klar sein, dass die Summen lebendiger Kräfte, welche
bei jeder Schwingung das Molekel an den heterogenen Nachbar abgibt, Schwingungs-
intensität und Berührungsfläche gleichgesetzt, wachsen wird, mit der steigenden
Uebereinstimmung in der Dichtigkeit und Elastizität der in Berührung befindlichen
Stoffe. — b) Der Anstoss, welchen die schwingenden Molekeln des einen denen des
andern Stoffes mittheilen, unterscheidet sich seinen Folgen nach im wesentlichen
durchaus nicht von jeder andern schwingungserzeugenden Bewegungsanregung.
Daraus ergibt sich in Uebereinstimmung mit den früher geführten Betrachtungen,
dass die Art der Schwingung im zweiten Mittel (Beugung oder Verdichtung) ganz
unabhängig von derjenigen im ersten ist, ferner dass unter den früher bezeichneten
Bedingungen die Fortpflanzungsgeschwindigkeit im nenen Mittel unabhängig vom
Stosse ist, indem sie nur bedingt wird von der Verkettung der Molekeln des zwei-
ten Stoffes; ferner dass die Schwingungsdauer des angestossenen Molekels ab-
hängig ist von der Dauer des Stosses und der Verkettung der Molekeln der ange-
stossenen Stoffe, und endlich, dass die Wellenlänge von dieser Schwingungsdauer
und der Fortpflanzungsgeschwindigkeit bestimmt wird.


Schallleitung zum Gehörnerven.


Da die empfindungerregenden Zustände des Gehörnerven nur
durch die denselben zunächst berührenden Theile der Gehörwerkzeuge
ausgelöst werden können, so hat die Untersuchung über das Entsprechen
der Schallbewegung und der Empfindung zunächst die Aufgabe die
Veränderungen zu studiren, welche die Schallbewegung in den Hül-
len des Gehörnerven (das Wort Hüllen im weitesten Sinne genom-
men) erweckt. — Zu dem Hörnerven oder zu dessen nächster Umge-
bung dringt nun die im Weltenraum erzeugte Schallbewegung auf
zwei Wegen: durch die Kopfknochen im Allgemeinen und dann durch
die Paukenhöhle. — Auf beiden Wegen muss die Schallwelle beson-
ders verfolgt werden.


[268]Schallleitung durch die Paukenhöhle.

Die Aufgabe der physiologischen Akustik würde als gelöst anzusehen sein, wenn
man das Gesetz und den absoluten Werth der Schwingung des schallenden Theilchens
vor dem Eintritt in das Trommelfell, beziehungsweise in die Kopfknochen und nach
seinem Uebergang in die Gehörsäckchen und die Spiralplatte der Schnecke kennte;
diese Thatsachen können aber erst erworben werden, wenn für die Schallwelle ein ob-
jektives Mass gefunden ist. — Die besondere Art des Ueberganges durch die einzelnen
Theile des schallleitenden Apparates, d. h. die Veränderung der Form und Stärke
der Schallwelle, wie sie durch jeden Bestandtheil herbeigeführt wird, könnte dann
z. B. dadurch aufgefunden werden, dass man an einem todten Ohr oder Ohrmodell
den Uebergang untersuchte, nachdem man mit möglichster Erhaltung der übrigen
Theile der Reihe nach Stück für Stück des leitenden Apparates entfernt hätte. Diesen
geraden Weg hat man noch nicht eingeschlagen; es hätte ihn zudem nur ein genialer
Physiker betreten können. Um nun doch etwas zu thun, hat man sich einer andern,
freilich sehr ungenauen Methode bedient. Auf die Grösse und Form der Schallwelle
vor ihrem Eintritt in das Ohr schliesst man (was aber nur in seltenen Fällen mit
einiger Sicherheit möglich) aus dem Modus und der Stärke des Anstosses, welcher
im schallenden Körper die Schwingung veranlasst. Auf die Art und Stärke der
übergegangenen Welle erlaubt man sich nun gar zu schliessen aus der Tonempfin-
dung, ein Verfahren, welches sehr unzuverlässig erscheint, wenn man überlegt, dass
der Schall gar nicht als Bewegung empfunden wird; es würde gerade so genau sein,
wenn man so ohne Weiteres aus der bei der Reibung zweier Körper auftretenden
Wärme oder Elektrizität auf die Grösse der reibenden Kräfte schliessen wollte. —
Den Antheil, welchen die einzelnen Stücke des schallleitenden Apparates an dem
Uebergang nehmen, beurtheilt man aus Erscheinungen, welche an physikalischen
Apparaten beobachtet sind, die häufig genug eine nur gar zu entfernte Aehnlichkeit
mit den Gehörwerkzeugen bieten.


Demgemäss darf man in Folgendem nur sehr allgemein gehaltene, meist un-
sichere Hypothesen erwarten. Mit dem Tod unseres ausgezeichneten A. Seebeck
ist vorerst wieder ein grosser Theil der Hoffnungen verloren gegangen, in der nächst-
gelegenen Zeit zu wesentlichen Aufschlüssen zu gelangen.


A. Schallleitung durch die Paukenhöhle. —


Die Betrachtung gliedert sich hier naturgemäss der Art, dass sie die
Aufnahme und Veränderung der Schallwellen in der Ohrmuschel, in
dem äussern Gehörgang, in dem Paukenfell und den Gehörknöchelchen
in der membran. fenestr. ovalis und endlich in dem Labyrinthwasser
und den Verbreitungsbezirken der Gehörnerven untersucht.


Wir setzen hier zugleich ein und für alle mal den am gewöhnlich-
sten eintretenden Fall voraus, dass die Schallwelle aus der Luft in das
Gehörorgan dringt.


1. Ohrmuschel*). Ueber ihre Funktionen als schallleitendes
Organ gehen folgende Vermuthungen. a) die Schallwellen der Luft
gehen zum geringsten Theil in ihre Substanz ein; sie werden reflektirt
und namentlich werden die in die Concha fallenden Wellen gegen den
Tragus und von diesem in den Gehörgang geworfen. Diese Hypothese
gründet sich auf die Gestaltung des äusseren Ohres und auf die That-
sache, dass durch eine Veränderung des Neigungswinkels der Ohr-
muschel gegen den Kopf (resp. den Gehörgang) die Schärfe des Gehörs
[269]Ohrmuschel; Trommelfell; Form der Schallwelle im Trommelfell.
gemindert oder vermehrt werden kann. Nach Buchanan soll ein Nei-
gungswinkel von 25° bis 45° gegen die pars mastoidea am günstig-
sten wirken. So unbestreitbar es ist, dass die in die Concha dringenden
Wellen je nach ihrer Richtung mehr oder weniger gegen den Tragus
und von diesem in den meatus auditorius fallen, und damit die Schallbe-
wegung im meatus verstärken; so unzweifelhaft ist es auch, dass eine
reichliche Masse der auf die ganze Muschel treffenden Wellenzüge
niemals durch Reflexion in den Gehörgang eindringt; Esser. — b) Aus
diesem Grunde und zugleich wegen der Dünne und der Elastizität des
äussern Ohres vermuthet Savart, dass die Wellen in seine Substanz
eindringen und von allen Seiten gegen die schmale Wurzel zusam-
mentreffen. Von der Wurzel der Ohrmuschel sollen sie sich theilweise
durch den Kopf zerstreuen, zum Theil sollen sie aber in den knöchernen
Gehörgang und das sich hier anheftende Trommelfell übergehn. Unter
diesem Gesichtspunkte erhalten die vielfachen Unebenheiten des äus-
sern Ohrs eine besondere Bedeutung, indem sie an demselben für alle
Richtungen der Schallwellen Flächen erzielen, welche zur Ohrmuschel
senkrecht stehen, d. h. den günstigsten Einfallswinkel bieten.


Die Funktionen des äusseren Ohres für die Leitung der Schall-
wellen sind möglicher Weise viel mannigfaltigere, als die hier ange-
gebenen; doch sind sie schwerlich von fundamentaler Wichtigkeit
für das Hören, wie aus mehrfachen medizinischen Erfahrungen her-
vorgeht, da ein Verlust des äusseren Ohres das Hören nicht wesent-
lich beeinträchtigt. —


Man bezeichnet das äussere Ohr auch sehr häufig als einen Resonanzapparat.
Nun gibt es bekanntlich (Wellenlehre der Gebrüder Weber p. 530) zwei Arten
von Resonanz; eine derselben bewirkt nur eine vollkommenere Mittheilung der
tönenden Schwingung eines Mittels an ein anderes spezifisch verschiedenes; die
andere dagegen besteht in einer Summirung einer Reihe von Stössen in ein Medium,
die es der Zeit nach gesondert empfing, so dass die Theile desselben stärker bewegt
werden, als es durch jeden besondern einzelnen Stoss der ursprünglich tönenden
Masse möglich war. Danach sieht man nun ein, dass wenn man das Ohr eine Vorrich-
tung zum Resonniren nennt, dieses entweder nichts anders bedeutet, als das was
schon im Text erörtert wurde, oder dass man die ganz willkürliche Unterstellung
macht, es werde von den Grenzen der Muschel die Schallwelle immer so zurück-
geworfen, dass die neu eindringenden immer noch einen Rest sie unterstützender Be-
wegung vorfinden.


2. Trommelfell. An diesem Ort gelangt die Schallbewegung
aus einem luftigen in einen festen Körper; innerhalb des neuen Me-
diums schreitet die Welle nicht in der Form und auch nicht mit der le-
bendigen Kraft fort, welche ihr in der Luft eigenthümlich war.


a. Form der Welle des Trommelfells *). Die in der Luft als Ver-
dichtungswelle fortschreitende Schallbewegung wird beim Uebergang
in das Trommelfell wesentlich Beugungswelle werden müssen; Ed. We-
[270]Lebendige Kraft der Mitschwingung des Trommelfells.
ber. Der Beweis für diese Behauptung liegt darin, dass sich alle
Membranen in der bezeichneten Weise verhalten, wenn sie ähnlich wie
das Trommelfell der in der Luft fortschreitenden Schallbewegung ent-
gegengesetzt werden. Die theoretische Nothwendigkeit dieser Erschei-
nung ist dadurch gegeben, dass bei einer Befestigung, wie sie dem Trom-
melfelle angehört, die gegen das Centrum gelegenen Theile eine grös-
sere Beweglichkeit besitzen als die unmittelbar am Rande gelegenen.


b. Lebendige Kraft der Mitschwingung des Trommelfells *). —
Die lebendigen Kräfte des ursprünglichen, in der Luft vorhandenen
Schalles und diejenigen des mitschwingenden Trommelfells beurtheilen
wir einerseits nach dem zur Erzeugung des Tons verwendeten Kraft-
aufwand und anderseits nach der Stärke der Empfindung. Die aus
dieser Schätzung gezogenen Vergleiche müssen mangelhaft genug
sein, da abgesehen von allen früher gemachten Ausstellungen an dem
Verfahren die Empfindungswerkzeuge als Messinstrumente zu be-
nutzen, hier noch der besondere Umstand hinzu kommt, dass das
Trommelfell nicht das einzige schallleitende Stück zwischen Luft und
Nerv darstellt; die Gehörknöchelchen, das Wasser und die Häute des
Labyrinths könnten noch wesentliche Veränderungen an den Gegen-
ständen der Empfindung, d. h. an der Stärke der fortschreitenden
Schwingung erzeugen. Diese Bedenken würden es verbieten, auf
Grund der angeführten Methoden irgend etwas besonderes auszusa-
gen über die Kräfte der Schallschwingung im Trommelfell, wenn wir
es nicht möglich zu machen wüssten, den Spannungsgrad des Trom-
melfells unabhängig von einer Veränderung der übrigen schallleiten-
den Vorrichtungen zu steigern, so dass wenigstens der Einfluss einer
verschiedenen Spannung des Trommelfells mit einiger Sicherheit er-
mittelbar wird; ausserdem darf aber natürlich behauptet werden, dass
das was wir vom Luftton hören durch das Trommelfell gegangen sei.
— Nach allbekannten Erfahrungen werden im gewöhnlichen Zustand
des Ohres, in dem wir dem Trommelfell eine mittlere Spannung zu-
schreiben, auch noch durch Schallschwingungen, den ausserordent-
lich geringen Kräften, Empfindungen erregt; ausserdem unterschei-
den wir an den Tönen verschiedenartigster Höhe durch das Ge-
hör die relative Stärke mit der sie erzeugt worden sind. Hieraus
schliessen wir, dass der gesammte schallleitende Apparat und somit
auch das Trommelfell geeignet sei durch schwache Luftschwingung
zur Mitbewegung erregt zu werden und ferner, dass dasselbe propor-
tional den lebendigen Kräften der Töne von der allerverschiedensten
Höhe mitschwinge. Diese letztere Fähigkeit der Gehörwerkzeuge
ist jedoch selbst bei der normalen mittleren Spannung des Trommel-
[271]Mitschwingung des Trommelfells.
fells keine unbeschränkte, indem wir nachweislich sehr tiefe Töne
von einer ausserordentlichen objektiven Stärke doch nur als sehr
schwache vernehmen, während wir umgekehrt hohe Töne von objec-
tiver Schwäche als sehr starke hören. Sollten diese Unterschiede der
Hörbarkeit hoher und tiefer Töne nicht von dem Gehörnerven, sondern
von dem schallleitenden Apparat und insbesondere vom Trommelfell
abhängig sein, so würde es bedeuten, dass das letztere für höhere
Töne leichter als für tiefe mitschwingt. — Die Fähigkeit des Trommel-
fells, die Schallbewegungen ihrer Stärke entsprechend in sich einge-
hen zu lassen, erfährt dagegen nachweislich eine wesentliche Beein-
trächtigung, wenn es aus seiner normalen Spannung in eine höhere
versetzt wird; geschieht dieses ohne gleichzeitige anderweitige Ver-
änderung des Ohrs, so verlieren wir entweder die Empfindlichkeit für
eine grosse Reihe tiefer Töne vollkommen, oder wir werden wenig-
stens unempfänglicher für dieselben, so dass tiefe Töne von sehr be-
trächtlicher objektiver Stärke nur sehr schwache Empfindungen erzeu-
gen, während wir umgekehrt schwache hohe Töne stärker als ge-
wöhnlich hören; J. Müller. — Nach Beobachtungen von Wollas-
ton
soll auch die umgekehrte Erscheinung eintreten, die nämlich dass
in gewissen Spannungsgraden das Trommelfell seine Fähigkeit ein-
büsst, durch hohe Töne in Schwingung zu kommen. — Da die Em-
pfindung des Schalls momentan mit dem objektiven Ende desselben
verschwindet, so schliessen wir daraus, dass das Trommelfell nicht in
Nachschwingungen gerathe, welche noch andauern, wenn auch die
anstossende Gewalt ihre Einwirkungen eingestellt hat.


Im Allgemeinen gehen die Schallschwingungen aus der Luft dann am leichtesten
in feste Körper über, wenn diese eine membranförmige Gestalt besitzen; dieses er-
klärt sich daraus, dass in dieser Form der feste Körper der schwingenden Luft eine
grosse Fläche bietet, deren Molekeln wie bei allen festen Körpern verdichtet und
welche zugleich wegen ihres geringen Widerstandes im Ganzen gebeugt werden
kann. Ist die Bewegung einmal in die Membran übergegangen, so wird sie von hier
aus nun leicht auch auf feste Stoffe von beliebiger Gestalt, die mit ihr in Berührung
sind, übergeführt werden, so dass die Membranen vorzugsweise als Schallvermittler
zwischen Luft und festen Körpern angesehen werden können; Savart. Obwohl
nun aber allerdings die Schallwellen leichter in eine Membran als in einen Stab,
Saite u. s. w. dringen, so geht doch nicht jede Art von Schallbewegung gleich leicht
in dieselbe ein; diese Bemerkung gilt namentlich für die tönende Schallbewegung,
d. h. für diejenigen Schwingungen, welche in raschen und regelmässig auf einander
folgenden Zeiten wiederkehren. Für die Aufnahme der Tonschwingungen in Mem-
branen stehen erfahrungsgemäss die Regeln fest, dass die Töne am vollkommensten
eindringen, deren Schwingungszahlen entweder gerade übereinstimmen mit denje-
nigen des Eigentons der Membran, d. h. mit demjenigen, den diese für sich angeschla-
gen gibt, oder die wenigstens in einem einfachen Verhältniss zu dem Eigenton stehen.
Von allen übrigen Tönen werden wiederum diejenigen am leichtesten aufgenommen,
deren Schwingungszahl nicht allzuweit von der des Eigentons der Membran absteht,
und unter diesen die höhern besser als die tiefern. Mit diesem Verhalten der Mem-
bran steht es in Einklang, dass das Trommelfell bei stärkerer Spannung, wo es einen
hohen Eigenton gibt, den tieferen Tönen den Durchgang verwehrt; unbegreiflich er-
[272]Spannung des Trommelfells.
scheint es dagegen, dass überhaupt einer so grossen Tonreihe der Durchgang ge-
stattet ist. Denn unter allen Umständen müsste eine so kleine Membran von einem
so hohen Eigenton schon nicht mehr in merklicher Weise mit so tiefen Tönen als es
in der That geschieht, mitschwingen, oder mindestens durch einen tiefen Ton in sehr
viel schwächere Bewegung gesetzt werden, als durch die gleichstarke Schwingung
eines hohen Tones A. Seebeck hat diesen Widerspruch zu lösen versucht. Nach einer
von ihm angestellten Betrachtung ist die lebendige Kraft der Mitschwingung, voraus-
gesetzt, dass man die des erregenden Tons = 1 annimmt, auszudrücken durch einen
Bruch, in welchen neben den Schwingungszahlen des erregenden Tons und des Eigen-
tons der Membran auch noch die Widerstände vorkommen, welche die Mittel der Mit-
schwingung entgegensetzen, die die Membran hinten und vorn umgeben. Namentlich
aber stellt der Nenner dieses Bruchs eine Summe dar, die aus zwei Gliedern gebildet
ist; im ersten derselben kommt u. a. wesentlich die Differenz der erwähnten Schwin-
gungszahlen vor, im letzten von beiden aber der Widerstand des Mittels an den die
mitschwingende Membran ihre Bewegung übertragen soll. Daraus geht hervor, dass
wenn das letzte der additiven Glieder des Nenners, d. h. der Widerstand des zweiten
Mittels sehr gross wird, so wird die Mitschwingung zwar eine sehr geringe, aber es
verliert zugleich das erste Glied des Nenners wesentlich an seiner Bedeutung, und so-
mit wird die Stärke der Mitschwingung unabhängig von der Tonhöhe. In der That ist
nun an das Trommelfell der Hammer gefügt, der selbst wieder durch Ambos und Steig-
bügel gegen das Wasser des Labyrinthes andrückt, so dass immer das Trommelfell mit
diesen Theilen zugleich schwingen muss; hierdurch wird also ein von der Spannung
des Trommelfells unabhängiger Schwingungswiderstand erzeugt, und somit der
Grund gegeben für die Erscheinung, dass die Membran von einem hohen Eigenton
ebenso leicht mitschwingt für tiefe als für hohe Lufttöne. Diese Vorstellung, welche
theoretisch unangreifbar scheint, nöthigt den Physiologen zu dem Zusatz, dass der
Gehörnerv eine ungemeine Empfindlichkeit besitze; denn offenbar ist der Seebeck’schen
Meinung gegenüber die von Savart unhaltbar, welche das Trommelfell als eine
Vorrichtung bezeichnet, welche den Schall der Luft sehr wenig geschwächt auf-
nehme; diese Empfindlichkeit würde dann die Schwäche der Trommelfellbewegung
zur Erzeugung der Erscheinung, dass wir noch objektiv sehr schwache Schallbewe-
gung vernehmen, ausgleichen.


Spannungen des Trommelfells können auf zwei Wegen willkürlich erzeugt wer-
den: 1) Durch eine Aus- oder Einathmungsbewegung bei geschlossenem Mund und
geschlossener Nase mittelst der in die Trommelhöhle durch die tuba Eustachii einge-
triebenen oder ausgesogenen Luft 2) Durch Zusammenziehung des m. tensor tympani,
welche von einzelnen Menschen in willkürlicher Sonderung von allen übrigen Mus-
keln erzeugt werden kann (J. Müller), bei Jedermann aber gleichzeitig mit sehr
kräftigen Bewegungen der m. m. masseter und temporalis (L. Fick), oder auch bei
Schlingbewegungen und reflektorisch nach starken Gehöreindrücken (J. Müller)
geschieht. Da somit die Hammermuskeln durch Trommelfellspannung gewissen
Tönen den Eintritt verschliessen, so hat man sie auch Tondämpfer genannt und sie
mit dem Augenlidschliesser verglichen.


Die Abhängigkeit der Zeit der Trommelfellschwingung von derjenigen des er-
regenden Tones bringt A. Seebeck ebenfalls in Beziehung zu der Anlagerung der Ge-
hörknöchelchen an das Trommelfell; offenbar mit Recht, weil die Schwingung mit-
telst dieser Vorrichtung leicht an die übrigen festen Theile des Kopfes weiter gegeben
werden kann, und sie somit das beste Mittel darstellt, um das Trommelfell zu be-
ruhigen. — Ueber Wirkungen des Wassergehaltes der Trommelfellmembran und über
die Folge seiner Stellung und Form siehe Savart l. c. p. 26 und Gehler’s physikal.
Wörterbuch l. c. p. 1208.


[273]Gleichzeitige Bewegung von Hammer und Ambos.

3. Gehörknöchelchen. Der Betrachtung der akustischen Wir-
kungen der Gehörknöchelchen muss diejenige ihrer Gelenkbewegun-
gen voraufgehen.


Bewegungen jedes einzelnen Knöchelchens für sich.
Die Achse, um welche sich der Hammer bei einer gesonderten Be-
wegung drehen müsste, ist bestimmt durch die Anhaftung des proc.
folianius am Paukenring und durch die Form der Gelenkfläche des
Kopfes. Ob diese Bewegung in der That möglich, muss durch künf-
tige Untersuchungen entschieden werden. — Der Ambos ist nur be-
weglich, wenn er gleichzeitig an mehreren Gelenkflächen seine Lage
ändert; denn er ist an drei Orten (den Gelenkflächen zwischen Körper
und den beiden Fortsätzen) festgestellt, welche nicht in einer Linie
liegen. Da ihm kein Muskel zukommt, so werden diese Bewegungen
nur möglich sein, wenn sich gleichzeitig die beiden andern Knochen
an ihm verrücken. — Die isolirte Bewegung des Steigbügels ist
möglich, wenn der Ambos feststeht. Die Achse ist wahrscheinlich
durch das Köpfchen des Steigbügels und den hintern Winkel des
Fusstrittes zu ziehen, so dass die Bewegung sich als ein Erheben und
Senken des vordern Endes der Fusstrittplatte darstellt. Diese Bewe-
gung wird beschränkt durch das ringförmige Trittband und die Nach-
giebigkeit der membrana fenestrae rotundae; der Einfluss dieses
letztern macht sich nämlich dadurch geltend, dass die Membran des
eirunden Lochs, da sie immer von Labyrinth-Wasser bedeckt ist, nur
um so viel nach innen und aussen ausweichen kann, als die Nachgie-
bigkeit des Wassers beträgt; diese letztere ist aber abhängig von der
Nachgiebigkeit des runden Fensters; Ed. Weber. Die Bewegung wird
ausgeführt durch den m. stapedius, welcher senkrecht gegen die be-
zeichnete Achse sitzt und dem Lauf seiner Fasern gemäss (von hin-
ten nach vorn) das vordere Ende der Fussplatte aus dem runden
Fenster hebeln muss. Der Umfang der Wirkung dieses Muskels, resp.
der Umfang der durch ihn erzeugten Bewegung ist unbekannt. — Da
seine Nerven aus dem Stamm des n. facialis kommen, so vermuthet
man, dass sie auch aus den Wurzeln desselben stammen, eine Ver-
muthung, die noch dahin steht.


Gemeinsame Bewegungen der Gehörknöchelchen.
a. Gleichzeitige Bewegungen von Hammer und Ambos. Ed. Weber.
Die Achse dieser Bewegung ist bestimmt durch die Anheftung des
proc. folianus mallei und des proc. brevis incudis. Die Befesti-
gung der Endpunkte der Achse an der Paukenhöhle wird durch das
ligamentum mallei anterius (m. laxator longus) und das straffe Kap-
selband um den proc. brevis incudis bestimmt; diese beiden Fort-
sätze, die in gerader Linie fortlaufen, sind als eine Achse anzusehen
aus welcher unter rechten Winkeln nach der einen Seite der Handgriff
des Hammers und der lange Fortsatz des Amboses nach der andern
Ludwig, Physiologie I. 18
[274]Gleichzeitige Bewegung der drei Gehörknöchelchen.
Seite aber die Gelenkköpfe abstehen. Die Bahn der bewegten Fort-
sätze wird sonach ein Stück eines Kreisbogens senkrecht auf die
Verbindungslinie vom proc. folianus zum proc. brevis incudis dar-
stellen. Diese Bewegung wird gehemmt durch das Trommelfell, das
ligamentum mallei externum (m. laxator tymp. min.) und durch das
ligamentum suspensorium mallei. — Bekanntlich ist in dem Trom-
melfell der Handgriff des Hammers so befestigt, dass dieser letz-
tere aus der Ebene des Paukenrings heraus in die Trommelhöhle
hineingetrieben wird, mit andern Worten in der Art, dass das Trommel-
fell einen Trichter bildet, dessen weítere Oeffnung gegen den meatus
auditor. extern. hinsieht. In dieser Lage wird aber das Trommelfell er-
halten durch den proc. folianus, der eine Feder darstellt, welche sich
gegen den Paukenring anlegt und den Handgriff des Hammers nach
innen drängt. Demgemäss kann der Handgriff keine Bewegung aus-
führen ohne das Trommelfell mit sich zu führen, und nach dem vorhin
erwähnten, dem Handgriff möglichen Bewegungen kann diejenige
des Trommelfells nur in einem Zu- oder Abnehmen der Tiefe des
Trichters bestehen; das Trommelfell hemmt nun nachweislich die
Bewegung des Handgriffs nur bei der Vertiefung des Trichters, d. h.
dem Einziehen des Trommelfells. In dieser Leistung wird es sehr be-
trächtlich unterstützt durch das lig. mallei externum, während das lig.
suspensor. mallei das Eintreten des Trommelfells in den meat. auditor.
hemmt. — Diese eben geschilderten Bewegungen können nun veran-
lasst werden durch den musc. tensor tympani, und durch Ungleichheiten
des Luftdruckes diesseits und jenseits des Trommelfells, so dass im
ersten Fall der Angriffpunkt der bewegenden Kräfte am collum mallei
und im zweiten am Trommelfell sich findet. — Die Sehne des m. ten-
sor tympani geht, nachdem sie ihre Rolle verlassen, bekanntlich von
hinten nach vorn und trifft unter einem rechten Winkel gegen die
Ebene, in welcher die Hammer- und Ambosfortsätze gelegen sind,
oder was dasselbe bedeutet gegen die Projektion des Trommelfells in
der Ebene des Trommel rings; demnach zieht er das Trommelfell nach
hinten. Der Umfang seiner Bewegungen ist nicht bekannt. Die Ver-
kürzung vermittelt ein Zweig aus drittem Aste n. trigemini, wahr-
scheinlich liegen auch die Fasern desselben in den Wurzeln des Quin-
tus, da man die Verkürzung des Muskels erzeugen kann, wenn man
die den Unterkiefer schliessenden Muskeln kräftig verkürzt. Die Be-
wegung dieses Muskels erzeugt einen feinen hohen Ton, der wahr-
seheinlich durch die Zerrung des Trommelfells bedingt ist.


Um die Bewegung des Trommelfells bei energischen Kaubewegungen darzu-
thun, fügt L. Fick*) ein horizontales, enges Glasrohr, in dem sich ein Wassertröpf-
[275]Schallleitung durch die Gehörknöchelchen.
chen befindet, mittelst gefetteter Baumwolle luftdicht in den äusseren Gehörgang,
schliesst dann den Kiefer und presst nun noch durch eine kräftige Bewegung die
Zähne aufeinander. Hiebei hört man einen hohen feinen Ton, während zugleich das
Wassertröpfchen in der Richtung gegen das Innere des Gehörgangs bewegt wird.


Ausser dem m. tensor tympani veranlassen auch Luftstösse die
beschriebene Bewegung des Trommelfells und zwar sowohl solche,
welche durch den meatus auditorius extern. als auch die, welche durch
die tuba Eustachii und die Trommelhöhle zum Paukenfell dringen.


b. Gleichzeitige Bewegung von Hammer, Ambos und Steigbügel.
Der Steigbügel folgt, vorausgesetzt dass er nicht durch den m. stape-
dius festgestellt ist, den schon beschriebenen Bewegungen des Ham-
mers und Amboses; in Folge dessen muss die eiförmige Fensterhaut
entweder ein- oder ausgebogen werden, entsprechend der Trommel-
haut. Der Umfang der Bewegung wird auch hier abhängig sein von
der Nachgiebigkeit der Haut vor dem runden und ovalen Fenster.


Zu den Umständen, welche die gleichzeitige Bewegung de rdrei Gehörknöchelchen
veranlassen können, zählt Huschke ausser den schon erwähnten auch die Verkür-
zungen des m. stapedius; und zwar soll hiedurch die Bewegung, welche durch den
m. tensor tympani nach hinten geschah, nach vorn ausgeführt werden, so dass die
beiden Muskeln antagonistisch wirkten. Dieser Annahme gemäss müsste der Faser-
verlauf in der Zugrichtung beider Muskeln gerade entgegengesetzt sein, eine Be-
dingung, die jedoch nicht zutrifft.


c. Gleichzeitige Bewegungen von Ambos und Steigbügel ohne
eine entsprechende des Hammers dürfte endlich ebenfalls möglich
sein; sie tritt wahrscheinlich ein, wenn das Trommelfell und somit der
Hammerstiel so stark ein- oder auswärts gebogen ist, dass der Abstand
zwischen der Trommel- und Fensterhaut beträchtlich verändert ist.
In diesem Fall vergrössern oder verkleinern sich wahrscheinlich die
Winkel, unter welchen der Ambos mit dem Hammer und der Steigbü-
gel mit dem Ambos zusammentrifft, so dass sich die Kette der Knö-
chelchen verlängert oder verkürzt. Dieses scheint nothwendig, weil
die Haut des eiförmigen Fensters nicht in gleichem Maasse nachge-
ben kann wie die Trommelhaut. Diese Bewegungen dürften sich
vorzugsweise beim Aufblasen und Aussaugen der Trommelhöhle er-
eignen.


Nach der Erörterung der Beweglichkeit der Knöchelchen gehen
wir zu der Betrachtung der akustischen Vorgänge in ihnen
über. — Als die Schallbewegung aus der Luft in das Trommelfell ein-
getreten war, verwandelten sich die Verdichtungs- in Beugungswellen;
das nach innen und aussen schwingende Trommelfell wird auf die-
sem Wege die Reihe der Gehörknöchelchen mit sich ziehen und da-
durch wird sich sein bewegender Effekt auf die Haut des ovalen
Fensters und auf das Labyrinthwasser übertragen; Ed. Weber.
Dieser einfachen Annahme steht eine andere ältere gegenüber, wo-
nach durch die Kette der Knöchelchen wieder Verdichtungs- und Ver-
18*
[276]Schallleitung in das Labyrinth.
dünnungswellen geleitet würden, die in das Labyrinthwasser auch als
solche übergingen; beurtheilt man diese letztere Art der Leitung nach
den von Duhamel*) für ähnliche akustische Einrichtungen ermittel-
ten Grundsätzen, so wird durch die aus dem Trommelfell in den Ham-
mer eindringenden Wellen der letztere in zwei verschiedene
Schwingungsperioden versetzt werden. Die eine derselben ist ab-
hängig von der Spannung der in der Hammersubstanz enthaltenen
Theilchen, d. h. sie stellt den Eigenton des Hammers dar; die zweite
ist dagegen gleich derjenigen, welche dem Hammer vom Trommelfell
mitgetheilt wurde; erst bei hinreichend langer Dauer dieser letztern
würde die erste Bewegung verschwinden. Aehnlich dürfte sich der
Hammer zum Ambos und dieser zum Steigbügel verhalten.


Die Weber’sche Annahme scheint die wahrscheinlichere von
beiden; jedenfalls sind wenigstens die Bedingungen so gestaltet, dass
die von ihm beschriebene Bewegungsübertragung Statt finden muss.


Die besondere Lagerung der Gehörknöchelchen in der Trommelhöhle, vermöge
deren sie nur an wenigen Stellen mit der festen Wandung derselben in Berührung
sind, betrachtet Joh. Müller, welcher der zweiten der im Text erwähnten Ansich-
ten über Mittheilung der Schallbewegung anhängt, als ein Mittel, um die Schallbe-
wegung zu isoliren, da an den Grenzen zwischen Luft und festem Körper der Schall
bekanntlich reflektirt wird. Dieser Annahme widerspricht aber die mannigfache Be-
rührung zwischen den Gehörknöchelchen und der Trommelhöhle.


Auf eine andere Bedeutung der beweglichen Knochenkette in ihrer
Verbindung mit dem Trommelfell ist schon hingewiesen, als die Ein-
flüsse der Trommelfellspannung besprochen wurden.


3. Labyrinth **).


Die Form der vom Steigbügel an das Labyrinth übertragenen
Schallwelle, wird wiederum bald als gebeugte und bald als verdich-
tete angesehen. — Ed. Weber, der die erstere dieser Meinungen auf-
gestellt hat, macht darauf aufmerksam, dass am Labyrinthwasser die
Bildung einer Beugungswelle gestattet sei, weil dasselbe nicht von ab-
solut unnachgiebigen Wänden umgeben ist, indem die Oeffnung für den
Steigbügel am runden Fenster ein Gegenloch findet; nach Ed. Weber
wird also durch den Stoss der im Ganzen bewegten Gehörknöchel-
chen die eiförmige Membran in das Wasser des Vorhofs gedrängt, und
von hier die Ortsbewegung der Wassertheilchen fortgepflanzt durch die
Schnecke bis zu der Membran des runden Fensters, welche dadurch
eine entsprechende Ausbiegung erfährt. — Nach der andern Ansicht ver-
dichten die in den Knöchelchen vorhandenen Bewegungen die klein-
sten Theilchen der Masse der Membran und diese ihrerseits wieder
diejenigen des Wassers; die Membran soll auch hier vermittelnd
[277]Schallleitung in das Labyrinth.
für den Uebergang der Bewegung aus einem Medium in ein anderes
wirken.


Die von Ed. Weber gegebene Darstellung hat insofern viel ansprechendes,
als sie in Uebereinstimmung steht mit der Art von Beweglichkeit, welche dem
Wasser vorzugsweise eigen ist; und weil man nach ihr dem Trommelfell und den
auf den Hörnerven unmittelbar wirkenden Theilen eine grössere Beweglichkeit zu-
schreiben darf. Wollte man in der That annehmen, es sei das Trommelfell durch
die Gehörknöchelchen auf das in unnachgiebigen Wänden eingeschlossene Wasser
aufgestemmt, so würde weitaus der grösste Theil der schallmittheilenden Kräfte
reflektirt werden, wegen des Widerstandes, den das Wasser jeder merklichen Ver-
änderung seiner Dichtigkeit entgegensetzt. Endlich ist mit der Weber’schen Darstel-
lung eine alte ungereimte Ansicht beseitigt, diejenige nämlich von der doppelten Lei-
tung durch die Paukenhöhle. Dieser, noch von J. Müller vertretenen Annahme ge-
mäss sollte die eine Schallleitung vom Trommelfell zu den Gehörknöchelchen durch
das eirunde Fenster und zugleich eine andere mittelst der Luft der Paukenhöhle
durch das runde Fenster in das Labyrinthwasser gelangen. Die Müller’schen Ver-
suche zeigten, wie es die Theorie erwarten liess, eine ausserordentliche Abschwä-
chung des Schalles auf dem letzteren Wege, so dass die durch die Gehörknöchelchen
geleitete Welle die durch die Luft dringende an lebendiger Kraft weit übertrifft.
Für das Hören würde das bedeuten, dass man einen schwachen und einen sehr
lauten Ton zusammen vernähme. — Diesen Wahrscheinlichkeitsgründen gegen-
über erheben sich nun aber auch Bedenken gegen die Annahme von Ed. Weber;
unter ihnen wiegt das am schwersten, welches entsteht bei einer Vergleichung
der bewegenden Kräfte und der widerstehenden Lasten. Denn so weit die Weber’-
schen Darstellungen vorliegen, verlangen sie, dass gleichzeitig auch von den
schwächsten Schallbewegungen die grosse Last des Trommelfells, der Gehörknö-
chelchen und des Labyrinthwassers fortzuschaffen sei und zugleich die Reibungen
zu überwinden wären, die sich dieser Verschiebung entgegensetzen.


Unbekannt ist es, in welcher Form und Kraft die Welle in die
Gehörsäckchen, und insbesondere in das Bereich der Gehörsteine,
in die Spiralplatte der Schnecke und insbesondere in die Corti-
schen
Organe *) eintritt. Ebensowenig sieht man die Nothwendigkeit
ein, warum die Nerven mit Wasser umspült sein müssen. Ob durch
die eintretende Bewegung die Nerven zusammengedrückt, (verdichtet)
oder nur gebogen (umher geschleudert) werden ist unbekannt.


Die Mittheilungen über die Wirkung der Schallwellen im Labyrinth haben leider
noch mehr Probabilitäten abzuweisen als gesunde Hypothesen vorzuführen oder zu
bestätigen. — Die gewöhnliche Meinung, dass die in der Schnecke enthaltenen Ner-
ven durch die aus dem Steigbügel tretende Bewegung weniger angeregt würden, als
die der Ampullen und Säckchen, entbehrt besonders seit dem Bekanntwerden der
Untersuchungen von Corti jeglicher Begründung. — J. Müller nennt die Gehör-
steinchen einen Resonnanzapparat auf Grund der vermeintlichen Thatsache, dass ein
Beutelchen voll Steine, die man in Wasser hängt, den Schall gut aufnehmen und wie-
der abgeben; inwiefern wäre aber die Otolithenvorrichtung mit jener zu verglei-
chen? und ist die Fundamentalthatsache begründet? — Auch die von Bowmann
und Corti und besonders die von letzterem beschriebene Struktur hat schon Ver-
anlassung zu freilich ziemlich nichtssagenden Bemerkungen gegeben. Da nach die-
sen Entdeckungen die Spiralplatte der Schnecke mit sehr leichten und leicht beweg-
[278]Eustachische Röhre. Schallleitung durch die Kopfknochen.
lichen Körperchen bestreut ist, die in einem gut geschützten Raume eingebettet ihrer
Anheftung gemäss immer in dieselbe Lagerung zurückkehren, so müssen sie ähn-
liche Wirkungen erzeugen, als wir sie gewahren, wenn wir Sand auf eine Platte
streuen, die in Schwingungen geräth; es müssen sich nämlich, gleichgiltig ob Beu-
gungs- oder Verdichtungswellen in der Spiralplatte bestehen, die Körperchen der
habenula denticulata abheben; durch Vergrösserung des Weges der schwingenden
Theilchen wird demnach die Zeitdauer des Verweilens der Schwingung in der Spi-
ralplatte verlängert werden; Corti. Verfehlt ist dagegen die Meinung von Har-
less
*), welcher die freischwebenden Körper als Dämpfer ansieht; sie würden die-
ses nur sein können, wenn sie mit irgend welchen Theilen ausserhalb des Ohres in
direkter Verbindung ständen, so dass sie dorthin die von der Spiralplatte empfangene
Bewegung übertragen könnten. — Die Gegenwart des Gehörwassers suchte J. Müller
aus dem flüssigen Nerveninhalt begreiflich zu machen; er dachte sich, dass die im
Wasser vorhandene Schwingung in das Nervenmark, als in ein homogenes Mittel
besonders leicht und vollkommen übertrete. Diese Hypothese würde [annehmbar]
sein, wenn der Nerveninhalt nur Nervenmark wäre und dieser Inhalt das Wasser ohne
ein zwischen liegendes heterogenes Mittel (die Scheide) berührte; denn nur in diesem
Falle würden die Wellen des Wassers ungestört eingehen. — Anderweitige Annahmen
über die akustische Funktion des Labyrinths siehe bei J. Müller.


Ueber die merkwürdigen Aquaeductus, die man mit Unrecht als
abgethan ansieht, vergleiche die Literatur bei Huschke, Eingeweide-
lehre, p. 872. Anmerkung.


4. Eustachische Röhre.


Um Spielraum für die Bewegungen der Felle vor dem Trommelring,
vor dem runden Fenster und für die Gehörknöchelchen zu gewin-
nen, mussten alle diese Theile in eine Substanzlücke, die Trommel-
höhle gestellt werden. Diese Höhlung, die mit Luft gefüllt ist und
deren Wände mit gashaltigen Flüssigkeiten getränkt sind, ist bekannt-
lich durch die Trompete mit der Atmosphäre in Verbindung gesetzt.
Die Folgen dieser Verbindung lassen sich kurz dahin bestimmen, dass
a) die Luft ausserhalb keine andere Spannung erhalten kann als inner-
halb, eine Verschiedenheit, welche ohne diese Communikation eintre-
ten würde bei Veränderungen in der Zusammensetzung der Gase
des Blutes, in dem Barometerstande der Atmosphäre und bei Bewegun-
gen des Trommelfells durch den Hammer. Wie oben erwähnt würden
solche Veränderungen in der Spannung einen Wechsel in der Fähig-
keit des Trommelfells Töne aufzunehmen herbeiführen, mit andern
Worten die Empfindlichkeit des Ohrs einem stetigen Schwanken unter-
worfen sein. b) Aber selbst unter Voraussetzung gleicher Dichtigkeit
der Luft aussen und innen, würde bei mangelnder Communikation
zwischen Trommelhöhle und Atmosphäre jede Art von Bewegung des
Trommelfells erschwert werden, wegen der steigenden Verdichtung
oder Verdünnung der Luft. Dann würden sowohl die Wirkungen des
Hammermuskels als auch der Uebergang der Schallwellen in das
Trommelfell, die hier neben einer Verdichtung immer auch eine Beu-
gung hervorrufen, eine Hemmung erfahren haben.


[279]Gehörnerv.

Ausser diesen mechanischen Folgen der Trompete hat man öfter auch nach be-
sonderen akustischen geforscht; einsichtlich ist es, dass die Resonnanz der Luft in
der Trommelhöhle eine Veränderung erfährt, je nachdem ihre Wände rings geschlos-
sen oder theilweise geöffnet sind; ob aber das auf das Hören von Einfluss ist, steht
zu erweisen. Anderweitige Probalitäten finden sich noch in Müllers Handbuch der
Physiologie II Bd. 444.


B. Schallleitung durch die Kopfknochen.


Der zweite Weg, auf welchem Schallwellen, die im Raume erregt
worden zu den Gehörnerven gelangen können, sind die Schädel-
knochen. Wegen des schlaffen wenig gespannten Ueberzugs, wel-
chen die Weichtheile (Haut, Muskeln etc.) denselben gewähren, und
wegen des beträchtlichen Spannungsunterschiedes, in welchem sich
die Moleküle des Knochens gegenüber denen in eben diesen Weichtheilen
befinden, könnte ein Zweifel erhoben werden, ob überhaupt die Kopf-
theile insoweit zur Leitung fähig wären, dass eine merkliche Schall-
bewegung durch sie zum Gehörnerven dränge. — Dieser Zweifel
wird durch die Erfahrung dahin berichtigt, dass allerdings nur Luft-
wellen von sehr intensiven bewegenden Kräften durch die Kopfkno-
chen vernommen werden, während Schallwellen, welche unmittelbar
aus festen Körpern und namentlich durch die Zähne, in den Kopf ein-
dringen, ohne besondere Schwierigkeit in das Labyrinth gelangen.


Ob hohe oder niedre Töne leichter geleitet werden, ob und welche
Veränderungen an dem Gesetz der beschleunigenden Kräfte der schwin-
genden Theilchen auf dem Wege durch die Kopfmassen zum Vor-
schein treten, ist empirisch nicht festgestellt und theoretisch nicht be-
stimmbar. Sehr wahrscheinlich ist es aber, dass dieselbe Welle, je
nachdem sie durch die Trommelhöhle oder durch die Kopfknochen zu
den Hörnerven gedrungen ist, verschieden modifizirt anlangt; Bon-
nafond
*).


Im Labyrinth selbst wird nach einer begründeten Vermuthung
von E. H. Weber**) der durch die Kopfknochen dringende Schall
vorzugsweise in die Schneckennerven eintreten, weil er zu diesen
ohne irgend welche Reflexion gelangen kann; denn es verbreiten
sich ja die Schneckennerven in festen Theilen. Schwieriger und dem-
nach mit geringerer Intensität möchten sie dagegen in die Nerven
der Ampullen und Säckchen dringen, weil sie, um zu diesen zu ge-
langen, noch ein neues Medium, die Perilymphe zu überschreiten ha-
ben. — Die von Ed. Weber entdeckte Betheiligung dieser Art von
Schallfortpflanzung bei der Bestimmung der Richtung des Hörens wird
später behandelt werden.


Das einfache [Mittel] um die Leitungserscheinunges des Kopfes insbesondere zu
studiren besteht darin, das Trommelfell unfähig zu machen für die Aufnahme von
[280]Ton, Tonhöhe.
Luftschwingungen. Dieses geschieht nach Ed. Weber am sichersten, wenn man den
äusseren Gehörgang mit Ausschluss jeglicher Luftblasen voll Wasser füllt.


Gehörnerv.


Die auf die Seele wirkenden Erregungen der Hörnerven erzeu-
gen die Empfindung des Schalles. Dieser Empfindung steht die Stille
gegenüber, womit wir den Zustand bezeichnen, in welchen der Ge-
hörnerv keine Erregungen der Seele veranlasst.


1. Erregungsmittel.


Zu den Schall erregenden Mitteln zählt man erfahrungsgemäss
nur mechanische Erschütterungen, seitdem es zweifelhaft gewor-
den, ob durch den electrischen Strom Schallempfindung zu erzeugen
sei; E. H. Weber*). Jedoch nicht jede Veränderung in den me-
chanischen Spannungsverhältnissen der auf den Hörnerven einwir-
kenden ponderablen Masse ruft eine Schallempfindung hervor. Aus-
geschlossen von diesem Vermögen sind alle diejenigen mechanischen
Einwirkungen, welche eine für längere Zeit constante Spannungsver-
änderung, einen stetigen Druck und Zug auf den Gehörnerven bedingen.
Demgemäss werden nur fortlaufende Veränderungen in den Span-
nungs- oder Lagerungszuständen des Gehörnerven oder in den ihn
umgebenden Theilen als Schall empfunden. Diesen Veränderungen
müssen aber ausserdem, wenn sie schallerregende sein sollen, noch
gewisse Merkmale zukommen und namentlich müssen die beschleu-
nigenden Kräfte nach irgend einer Periode zu- und abnehmen, so dass
die Beschleunigung von einem Minimum zu einem Maximum aufsteigt,
und von diesem wieder zu seinem Minimum absinkt, ferner müssen
wahrscheinlich mehrere solcher Perioden der Zeit nach hintereinan-
der folgen, und endlich muss die durch die beschleunigenden Kräfte
erzielte Bewegung eine gewisse Geschwindigkeit erreichen. Eine so
beschaffene Bewegung erweckt nun verschiedene Empfindungen je
nach dem Zeitraum, welcher vom Beginn einer Periode bis zum Be-
ginn der nächsten verfliesst, je nach dem Gesetz der Beschleuni-
gung, welche die Bewegung beherrscht und endlich je nach dem abso-
luten Werth der Geschwindigkeit, mit welcher die Bewegung ge-
schieht.


a. Veränderung der Empfindung mit dem zeitlichen Abstand des
Beginns zweier Perioden. Ton, Tonhöhe. — Je nach dem Zeitraum,
welcher verfliesst vom Beginn einer Schwingung bis zum Beginn der
nächst folgenden wechselt die Empfindung. Den einer solchen Periode
parallel gehenden Empfindungsakt belegen wir mit dem Namen des
Tons, und wir nennen einen Ton um so höher, je kürzer der Zeitraum
einer Periode ausfällt. Wir empfinden dem gemäss die Zeit der Schwin-
gung, oder zählen mit andern Worten [durch die Art der Empfindung]
[281]Tonhöhe; Grenzen der Tonreihe; Klang.
die Summe der Perioden, welche in der Zeiteinheit abläuft. Für die
Tonhöhe ist das Beschleunigungsgesetz, welches die einzelne Schwin-
gung beherrscht, vollkommen gleichgiltig; so werden z. B. die in der
Fig. 76 verzeichneten Curven A, B, C, deren Abszisse x die Zeit und

Figure 79. Fig. 76.


deren Ordinaten y die in
den verschiedenen Zeiten
vorhandenen Geschwindig-
keiten des schwingen-
den Theilchens bedeuten,
sämmtlich den Eindruck
gleicher Tonhöhe machen,
weil die Zeiten von 0 bis 1
von 1 bis 2 und von 2 bis 3 einander gleich sind.


Die Tonreihe hat ihre obere (?) und untere Grenze, d. h. wenn
eine Periode ein gewisses Zeitmaass übersteigt, oder ein anderes Zeit-
maass nicht erreicht, so erweckt sie uns keine Tonempfindung mehr.
Mit einiger Willkür hat man festgesetzt, dass eine Schwingung, deren
Periode länger als Sec. und kürzer als Sec. dauert, keine
tonerzeugende Kraft mehr besitzt. Diese Annahme ist insofern will-
kürlich, als die Grenzen für verschiedene Menschen ganz verschieden
liegen; zudem ist nicht ermittelt ob die Gründe für das Verschwinden
der Hörbarkeit in den Nerven oder in den schallleitenden Gehörwerk-
zeugen liegen. — Bemerkenswerth ist, dass innerhalb dieser Grenzen
je nach den Zahlenverhältnissen, welche zwischen den Schwingungs-
zeiten der Töne bestehen, diese letzteren gewisse Analogien in der
Empfindung besitzen.


Der Beweis für die Richtigkeit der vorgetragenen Behauptungen wird durch die
in allen Lehrbüchern der Physik beschriebene Sirene oder das Savart’sche Zahn-
rad geliefert. — Weit ansprechender für die physiologische Bestimmung des Tons
würde es sein, wenn man ihn als das Maass für die Dauer einer abgelaufenen
Schwingung bezeichnete. Dieses ist aber nicht erlaubt, da man nach den Versuchen
von Seebeck*) auch die Zwischenzeit zweier Perioden, in denen die Bewegung selbst
sehr kurze Zeit hindurch (so z. B. gegen Ende von B in Fig. 76) Null sein kann mit in
die Bestimmung des Tons aufnehmen muss; ja was noch merkwürdiger, selbst wenn
die Geschwindigkeit von einem Maximum, wie in C bei a um ein nicht unbeträchtliches
absinkt und eine neue Steigerung bei b erfährt, so fassen wir doch beide Steigerungen
in einen Ton zusammen **). Demgemäss muss also die Bewegung schon eine gewisse
endliche Zeit auf das Ohr eingewirkt haben, ehe wir die Empfindung des Tons erhal-
ten, was sich in noch ungelöstem Widerspruch befindet mit der Thatsache, dass wir
mit dem Moment des Eintretens der tonerzeugenden Bewegung schon ein Urtheil über
die Tonhöhe bilden.


b. Veränderung der Empfindung je nach dem Gesetz der
Beschleunigung, welches die Schwingung beherrscht, Klang, Ton-
qualität. Die schwingende Bewegung kann begreiflich je nach ver-
[282]Klang; Untersuchung derselben mit der Sirene.
schiedenen Umständen innerhalb derselben Zeit auf eine unendlich
mannigfache Weise ihr Maximum erreichen und von demselben
absinken. Eine jede Veränderung in diesem Beschleunigungsge-
setz entspricht einer Veränderung der Empfindung, die wir den Klang
nennen, so dass ein Ton von derselben Höhe in unendlich verschie-
denen Klängen empfunden werden kann. Obwohl im Allgemeinen
durch E. H. und W. Weber, Cagnard Latour und Seebeck fest-
gestellt ist, dass der Klang aus dem Beschleunigungsgesetz der
Schwingung resultirt, so fehlt nun noch die Kenntniss der Beziehun-
gen beider und namentlich die Kenntniss der Grenzen zwischen Klang
und sogenannten Beitönen.


E. H. und W. Weber*) zeigten zuerst, dass eine gleich lange und gleich ge-
spannte Saite einen verschiedenen Klang desselben Tones gibt, je nachdem man sie
in der Mitte oder den Enden anzieht. — An der Sirene fand Cagnard-Latour
den Ton mehr der Trompete, Oboe und Fagott oder der menschlichen Stimme ähn-
lich, je nachdem die Entfernung der Löcher zu ihrem Durchmesser in verschiedenem
Verhältniss stand. Seebeck**) brachte auf einer Sirene die Löcher von 1- bis 60-
fachem Abstand ihres Durchmessers an; in diesen Fällen wurden die einzelnen Stösse
durch eine verschieden lange Zeit der Ruhe von einander getrennt. Diese Methode der
Tonerzeugung hat den Vortheil, dass man sich eine ungefähre Vorstellung von der
Ab- und Zunahme in der Geschwindigkeit der schwingenden Theilchen bilden kann.
Denn stellen wir uns vor, die Röhre, mittelst welcher die Sirene angeblasen werde,
habe eine kreisförmige Mündung von gleich grossem Durchmesser, wie derjenige der
Sirenenlöcher, so wird offenbar beim allmäligen Vorübergehen eines Sirenenlochs vor
der Mündung der anblasenden Röhre die Beschleunigung der Luft wachsen von der be-
ginnenden Berührung der Grenzen beider Oeffnungen bis zum vollständigen Aufeinan-
derpassen und dann wird von diesem Punkt ab die Beschleunigung wieder abnehmen
bis die Mündung der anblasenden Röhre in dem Raume zwischen zwei Löchern anlangt,

Figure 80. Fig. 77.


wo dieselbe ihr Minimum erreicht.
— Stellen wir uns dieses graphisch
vor, in der Art, dass Fig. 77 die Linie
X die Zeit, die auf sie aufgetragene
die Beschleunigung der Luft bedeu-
ten, so wird, wenn bei a x zuerst die
Grenzen beider Mündungen sich be-
rühren und bei b x die Mündungen
sich verlassen, das Gesetz der Be-
schleunigungscurve im Allgemei-
nen wie gezeichnet, ausfallen.


Je nachdem nun die gleichgrossen Mündungen mehr oder weniger nahe an einander
stehen, wird ein Ton zusammengesetzt aus einer Reihe mehr oder weniger nahe zu-
sammenstehender Bogen. Seebeck beobachtete nun, dass die Tonhöhe unverän-
dert blieb, wenn nur in gleichen Zeiten gleichviel Stösse zum Ohr gelangten, dass
dagegen der Ton mehr pfeifenartig wurde, wenn die einzelnen Stösse rascher auf-
einander folgten, wie in A, B, C der Fig. 78, dass sie dagegen einen schnarrenden
Klang annahmen, wenn sie in grossen Entfernungen geschehen, wie in C, D, E.
Wie man sieht, eröffnet sich mit diesen Versuchen der Forschung ein reiches
Gebiet.


[283]Tonstärke; Geräusch.
Figure 81. Fig. 78.

c. Veränderung der Empfindung nach dem absoluten Werth der
beschleunigenden Kräfte. Tonstärke. Eine Schwingungsperiode
von gleicher Zeitdauer und gleichem Gesetze in der Folge der Bewe-
gungen, also von gleicher Tonhöhe und gleichem Klang kann einen
verschieden starken Eindruck auf das Gehör machen, je nachdem die
absoluten Werthe der beschleunigenden Kräfte sich ändern. Diese An-
nahme wird dadurch erwiesen, dass eine Saite u. dergl. bei verschie-
den kräftigem Anschlag Töne von verschiedener Intensität gibt. Nach
welchem Gesetz die Intensität der Empfindung mit der Intensität der
Bewegung sich ändert, ist um so schwerer zu ermitteln, als die Em-
pfindlichkeit des Gehörnerven den mannigfachsten Schwankungen
unterliegt. Natürlich ist desshalb auch keine Angabe darüber möglich,
welche Kraft die Bewegung besitzen muss, um überhaupt noch gehört
zu werden.


d. Ausser den Tönen, die wir bisher betrachteten, werden dem Ge-
hör noch eine grössere Reihe anderer Bewegungen Gegenstand der Em-
pfindung, die mit dem allgemeinen, viel umfassenden Namen des Geräu-
sches
bezeichnet werden. Das Geräusch selbst wird je nach beson-
dern Modifikationen der Empfindung wieder als ein summendes, brausen-
des, schwirrendes, klapperndes u. s. w. bezeichnet. Ueber die Natur der
Bewegung, welche diese Geräusche veranlasst, fehlen uns alle Unter-
suchungen. Nach mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit hat man sie
bald als Folge einer Periode angesehen, welche in einer zu langen Zeit
abläuft, um noch die Empfindung des Tons zu ermöglichen, bald aber
auch als eine Combination vieler durcheinanderfahrender Tonbewegun-
gen, deren Beschleunigungsgesetze sich wechselseitig stören. In die-
sem letzteren Sinne vergleichen die Gebrüder Weber das Geräusch der
Empfindung der weissen Farbe; Seebeck macht die diese Behauptung
bestätigende Angabe, dass sich aus den Geräuschen einzelne deutliche
Töne hervorhören lassen, wenn man sich dem geräuscherzeugenden
Gegenstand mehr oder weniger nähere oder sich in verschiedener
Richtung gegen ihn stelle.


2. Gesondertes Hören gleichzeitig erregter Töne.


Die überraschende Thatsache, dass bei gleichzeitiger Erregung
verschiedener Schallbewegungen und bei gleichzeitigem Eindringen
derselben in das Ohr in diesem nicht eine aus allen Bewegungen re-
sultirende Empfindung geschieht, sondern die einzelnen Töne geson-
[284]Hören gleichzeitiger Töne.
dert gehört werden, hat man aus einer specifischen Eigenthümlichkeit
des Gehörorgans abzuleiten gesucht. Man glaubte, den besondern For-
men der Pauke oder des Labyrinths die Fähigkeit zuschreiben zu dür-
fen, dass diese vermögend seien eine ihnen mitgetheilte zusammenge-
setzte Bewegung, wieder in ihre Componenten, aus denen sie hervor-
gegangen sei, zu zerlegen. Abgesehen von der physikalischen Un-
möglichkeit, die dieser Vorstellung zu Grunde liegt, ist nun auch
durch Versuche von Seebeck erwiesen worden, dass jede schon
ausserhalb oder innerhalb des Ohres eintretende Combination zweier
oder mehrerer Schallbewegungen zu einer resultirenden, von den Ge-
hörnerven nur als diese resultirende empfunden wird. Wir müssen dem-
gemäss voraussetzen, dass jeder gesondert empfundene Ton sich auch
durch ein Merkmal aus einer Summe gleichzeitig erscheinender aus-
sondert, mit andern Worten, dass die gleichzeitig vorhandenen, spezi-
fisch verschiedenen Schallbewegungen sich im Ohr entweder über-
haupt nicht zu einer resultirenden Bewegung zusammensetzen, oder
wenn, doch zu einer solchen, welche die spezifischen Eigenthümlich-
keiten der einzelnen Töne nicht verdeckt. Wenn unsere physikalischen
Kenntnisse im akustischen Gebiet dereinst so weit gediehen sein wer-
den, dass wir die Bahnen, welche die Theilchen des schallenden Kör-
pers durchlaufen, kennen, wird es vielleicht gelingen, zu erörtern, dass
zu Gunsten der hier besprochenen Funktionen die Vertheilung der Ner-
ven in den besondern Flächen der Schnecke und der Säckchen ge-
schehen ist.


Die physikalisch und physiologisch gleich interessanten Versuche von See-
beck
*) wurden an der Sirene angestellt. Wenn er gleichzeitig aus zwei entgegen-
gesetzt gerichteten Röhren gegen die Löcher der drehenden Scheibe blies, so wurde
der Ton vollkommen ausgelöscht; im Ohr langten dann gleichzeitig zwei Töne gleicher
Stärke und Höhe aber entgegengesetzter Richtung an, die vollkommen interferirten.
Diesem entsprechend konnte bei derselben Art des Anblasens ein Ton um eine Ok-
tave heruntergestimmt werden, wenn er auf einer Scheibe zwei conzentrische Löcher-
reihen anbrachte, in der Art, dass die Löcher der einen Reihe jedesmal eines der an-
dern übersprangen, also nur ½ so zahlreich vorhanden waren, wie dies Fig. 79 angibt.

Figure 82. Fig. 79.


Figure 83. Fig. 80.


Hier interferirten begreiflich die Stösse der überein-
anderstehenden Oeffnungen, so dass nur die der
mittleren tonerzeugend wirkten. — Seebeck zeigte
ferner, dass wenn man von derselben Seite her gleich -
zeitig die Oeffnungen zweier conzentrischen Reihen
anblies, deren einzelne Glieder so gestellt waren,
dass die einen den Zwischenraum der andern halbir-
ten, (siehe Fig. 80) die Oktave des Tons erhielt,
welchen jede Löcherreihe für sich gab. Hier erhöhten
sich also zwei an verschiedenen Orten erzeugten
Töne. — An diesen Ort gehören wahrscheinlich auch
die bekannten Sorg’schen Töne und das, was man
in der Musik die Stösse nennt **); beide Erscheinungen
müssen aber noch eine bessere Erläuterung erfah-
[285]Nachtönen; Musikalisches Gehör; Nachaussensetzen des Tons.
ren, als die von Scheibler herrührende, welche in alle Lehrbücher der Physik
und Physiologie aufgenommen und dort nachzusehen ist. Nach dieser Erklärung
soll nämlich das Gehörorgan die Resultirende und dann auch wieder die Com-
ponenten hören, was natürlich nicht angeht.


3. Nachtönen.


Die Empfindung muss die Erschütterung der Gehörnerven über-
dauern, wie aus den Thatsachen über die Empfindung der Tonhöhe her-
vorgeht, aber dieses Ueberdauern beträgt nur sehr kurze Zeiten wie
daraus folgt, dass verschiedene rasch hinter einander erzeugte Töne
sich in der Empfindung nicht stören. Zudem ist es eine bekannte
Erfahrung, dass selbst nach anhaltender Einwirkung eines Tons kein
Nachtönen (ähnlich den Nachbildern) eintritt. Doch kann nicht alles
Nachtönen geläugnet werden; nach stunden- oder tagelangem An-
dauern eines Tons bleibt er endlich, selbst wenn das tönende Objekt
entfernt ist, im Ohr zurück. — Die Umstände seiner Entstehung be-
dürfen noch genauerer Untersuchung.


4. Feinheit der Tonunterscheidung; musikalisches Gehör.


Die Fähigkeit Töne überhaupt zu hören, ist wesentlich von dem
Vermögen, die gehörten Töne ihrer Höhe nach in eine richtige Reihen-
folge zu stellen, verschieden; bekanntlich ist ein scharfes Gehör noch
kein musikalisches. Ob die Gründe für die Feinheit des musikalischen
Gehörs nur in einer besonderen Ausbildung der Seelenfähigkeiten oder
auch in einer gleichzeitigen der Gehörnerven gesucht werden müssen,
ist vorerst eine müssige Untersuchung. Ueber das Vermögen selbst
genügt es, hier nur anzumerken, dass nach Seebeck*) von geübten Mu-
sikern mit Leichtigkeit noch Töne als verschieden erkannt und richtig
geordnet werden, welche auf 1200 Schwingungen in der Sekunde um
1 Schwingung differiren.


Die gewöhnlichen dürftigen Andeutungen über Accorde, Harmonie u. s. w.,
welche in den physiologischen Lehrbüchern abgehandelt werden, haben wir hier
absichtlich unterdrückt. Sie gehören in die Theorie der Tonkunst.


5. Nachaussensetzen der Gehörempfindung. Richtungen des
Hörens.


Die Empfindungszustände der Gehörnerven setzt die Seele, gleich
denen des Gesichtsnerven, nicht in die Nerven oder in unsern Körper,
sondern jenseits desselben in den Raum. Nach der bemerkenswerthen
Entdeckung von Ed. Weber sind es die Schwingungen des Trom-
melfells, welche uns diese Vorstellung verschaffen; denn es zeigte sich,
dass wir nur so lange die schallerzeugende Ursache als ausserhalb
unseres Körpers befindlich ansehen, als das Trommelfell zu Schwin-
gungen befähigt ist; während wir augenblicklich den ausserhalb unse-
[286]Richtung des Hörens.
res Kopfes erzeugten Schall in diesen selbst versetzen, sowie das
Trommelfell an seinen Schwingungen vollkommen behindert ist.


Zur Bestimmung der Richtungen des Schalles bedienen wir uns,
wie ebenfalls Ed. Weber entdeckte, der Ohrmuschel und der Trommel-
fellschwingung, und zwar unterscheiden wir das Oben und Unten, das
Hinten und Vorn durch das erstere Werkzeug, das Rechts und Links
dagegen mittelst des Trommelfells. Nach den Erfahrungen des täg-
lichen Lebens tritt ausserdem noch als das Bestimmungsmittel die ver-
schiedene Intensität des Schalles bei Drehungen des Kopfes um die
vertikale und horizontale Achse hinzu, indem wir die Richtung des
Schalles in die Verlängerung des Gehörganges bei der Stellung ver-
legen, in welcher die Empfindung die grösste Stärke erlangt. Von die-
sem Gesichtspunkt aus erhält auch die Gegenwart zweier Ohren und
ihre diametrale Stellung am Kopfe eine Bedeutung.


Die absolute Entfernung der schallerzeugenden Ursache von
unserem Ohr empfinden wir nur sehr unvollkommen; die relative beur-
theilen wir wahrscheinlich nur nach der verschiedenen Stärke der zu
uns dringenden Schallbewegung.


Um die Wirkungen des Trommelfells für die Empfindung der Richtung zu unter-
suchen, tauchte Ed. Weber den bald mit Luft gefüllten und bald vollkommen mit Was-
ser gefüllten Gehörgang unter Wasser; in dem ersten Falle, in welchem das Trom-
melfell noch schwingen konnte, legte der Beobachter den Ort eines Schalles, der im
Wasser erregt wurde, noch ausserhalb seines Körpers; auch unterschied er noch die
Richtung von rechts oder links, dagegen nicht mehr die von oben und unten. War
der Gehörgang aber unter diesen Bedingungen mit Wasser augefüllt, welches die
Schwingung des Trommelfells verhinderte, so erschien nun der Ort des Schalles im
Kopf selbst zu liegen und es konnte über die Richtung desselben gar nichts mehr
ausgesagt werden. — Die Leistungen der Ohrmuschel ermittelte er, entweder durch
Untertauchen des Kopfes, wodurch das Urtheil über oben, unten, hinten und vorn
verloren geht, oder er legte durch ein Band die Ohrmuschel fest an den Kopf und
drückte die Hand vor dem äussern Gehörgang fest auf die Wange, so dass sie unge-
fähr die Form der Ohrmuschel nachahmt. Unter diesen Umständen kehrt sich die
Richtung der Empfindung des vorn und hinten um, so dass der vor der Angesichts-
fläche erregte Schall vom Hinterhaupt her zu kommen scheint.


Man glaubte früher nach einer Beobachtung von Dove*) annehmen zu dür-
fen, dass beide Gehörnerven in ähnlicher Weise wie die identischen Netzhaut-
stellen ihre Empfindungen auf einander übertragen oder ausgleichen könnten. Diese
Behauptung soll hier nur erwähnt werden, um darauf hinzuweisen, dass sie von
Seebeck**) vollkommen widerlegt ist.


6. Binnentöne.


Töne, denen eine ausserhalb unseres Körpers liegende veranlas-
sende Schallbewegung fehlt, treten sehr häufig ein. Wir zählen zu ihnen:
1. Selbsttönen der Luft des äusseren Gehörganges. Dieses sogenannte
Selbsttönen der Luft im äusseren Gehörgang erscheint, wenn durch
fremde Körper, Ohrenschmalz etc. der Gehörgang verstopft ist; geringe
[287]Binnentöne; Geruchsinn.
Erschütterungen (durch die Kopfknochen ect.) reichen dann hin, um
stehende Schwingungen dieser Luft zu veranlassen. Sie verschwinden,
wenn die Communication zwischen Atmosphäre und Trommelfell wieder
hergestellt ist. — 2. Selbsttönen der Luft der Trommelhöhle. Dieses
Tönen erscheint, wenn die tuba Eustachii verstopft ist. — 3. Töne durch
Zerrungen am Trommelfell und durch Reibung der Gehörknöchelchen bei
Bewegung der Muskeln der Trommelhöhle. Sie sind schon früher er-
wähnt. — 4. Töne durch Erschütterungen des Felsenbeines mittelst
des Arterienpulses. Hierher gehören die klopfenden Töne bei Kopf-
kongestionen. — 5. Endlich beobachtet man noch sogenannte Binnen-
töne, die einen zu vollen und reinen Klang zeigen, als dass man ihren
Ursprung in einem der erwähnten Umstände suchen könnte. Woher
sie rühren, ist unbekannt.


F. Geruchsinn.


1. Anatomische Einleitung*). Die Verbreitungsbezirke des
n. olfactorius, an welche sich die Geruchsempfindungen knüpfen, sind
bekanntlich in eine vorzugsweise verengerte Stelle der Nasenhöhle,
nämlich den obern Theil der Nasenscheidewand und die beiden ersten
Muscheln gelegt. Die Besonderheit des Baues der Nasenwandungen
hierselbst liegen theils in der muscheligen Unebenheit derselben, theils
aber in der Gegenwart von besondern Drüsen und Oberhautbildungen.
Diese letzteren bestehen nach Beobachtungen von Bowmann aus
einem geschichteten Cylinderepithelium, dem hier, im Gegensatz zu
dem umgebenden, die Flimmerhaare fehlen. Dieses Epithelium zeichnet
sich auch noch durch seine ausserordentlich grosse Zerstörbarkeit,
insbesondere durch die von Seiten des Wassers aus; Kölliker. Die
Drüsen, welche man in den Verbreitungsstellen des n. olfactorius findet,
sind einfache Schläuche, die ihrem Bau nach in der Mitte zwischen den
Lieberkühn’schen und Schweissdrüsen stehen; über ihre Absonde-
rungsstoffe ist leider nichts bekannt. Man könnte sich denken, dass die
Abwesenheit der Flimmerhaare insofern Bezug auf die Leistungen der
Geruchswerkzeuge übe, als dadurch die Luftströmungen und Luftcon-
densationen auf der Nasenoberfläche verändert würden, und ferner,
dass die Gegenwart der Drüsen von Bedeutung sei für die Bildung
eines besonderen Lösungsmittels für die Riechstoffe.


2. Erregungsmittel. Zu ihnen zählt man a. Spannungs- und
Lagenveränderungen der Nerven, wie sie durch Drücke auf die Nase
herbeigeführt werden; Valentin**). Da die Geruchsnerven nur sehr
weniger Menschen auf diese Weise erregt werden, so bezweifelt man
[288]Erreger des Geruchnerven; Stärke des Geruchs.
die gerucherweckende Leistung der Drücke noch bis dahin *). —
b. Electrische Ströme. Gegen diese Angabe macht Schönbein mit
Recht geltend, dass es, seitdem er das Ozon aufgefunden, mindestens
zweifelhaft erscheinen müsse, ob der Geruch, welchen die Electricität
erregt, geradezu von einem Eingriffe des Stromes auf die Nervensub-
stanz oder von der Entwicklung des Ozons abhängig sei. — c. Eine
begrenzte Zahl luftförmiger Atome, die Riechstoffe, sind endlich die
gewöhnlichen Erreger des Geruchssinnes. Von welchen Eigenschaften
der Atome die gerucherzeugenden Wirkungen überhaupt abhän-
gig sind, ist gegenwärtig noch im Dunkeln; wir wissen nur, dass
wenn auch nicht alle Gase zu den Riechstoffen zählen, diese letzteren
jedoch, wenn sie riechbar sein sollen, gasförmig in die Nase gelangen
müssen; ferner, dass wahrscheinlich die Atome durch ihre chemisch-
verwandtschaftlichen Kräfte den Nerven oder dessen Umgebung er-
regen; wir schliessen dieses daraus, weil das sogenannte unerregte,
das gewöhnliche Sauerstoffgas geruchlos ist, entsprechend seinen
schwachen Verwandtschaften, während das erregte, das Ozon, sehr
kräftig riecht, und weil im Allgemeinen Stoffe mit kräftiger Verwandt-
schaft, wenn sie Riechstoffe sind, auch sich als intensive Erreger
des n. olfactorius auszeichnen.


Zu dem letzten Satz muss aber sogleich die Beschränkung kommen, dass nicht
jede Umänderung der Geruchsflächen durch chemische Mittel — also nicht jeder
Angriff derselben durch die Verwandtschaft einen Geruch erzeugt, wie die Zerstörun-
gen der Nase durch Aetzmittel darthun. — Ferner, dass die verwandtschaftlichen
Kräfte der Geruchsfläche ganz besondere sein müssen, da sonst milde Stoffe, wie
z. B. die ätherischen Oele, die Salzverbindungen der Aetherarten und dergl., so
intensive Gerüche erzeugen. — Der Untersuchung würdig dürfte es sein, ob man
nicht empirisch die scheinbar unsägliche Mannigfaltigkeit der Riechstoffe nach
ihren Geruchswirkungen in Gruppen, welche gleichartige Glieder enthielten, zerspal-
ten könnte, deren anderweite chemische und physikalische Analogien zu vergleichen
wären. Dieses Unternehmen erscheint nur von dem Gesichtspunkt aus bedenklich,
dass derselbe Stoff, je nach der Menge, in welcher er auf den Nerven wirkt, ver-
schiedene Gerüche erregen soll (Valentin**), weniger dagegen von dem, dass
nachweislich Stoffe der verschiedensten chemischen Constitution, wie Phosphor,
Arsenik und Knoblauch einen ähnlichen Geruch bieten. Mangelhafte Versuche hiezu
siehe bei Linné***), Lorrey†) und Fourcroy††)


3. Die Stärke des Geruchs steht in Abhängigkeit von dem Er-
regbarkeitsgrade der empfindenden Werkzeuge, dem Zustand der den
Nerven umgebenden und bedeckenden Theile (Gefässe, Bindegewebe,
Drüsen, Epithelien) und der besonderen Einwirkung der Riechstoffe.


Auf die wechselnde Erregbarkeit des empfindenden Theils der
Geruchsorgane schliessen wir, abgesehen von der Analogie mit allen
[289]Einfluss der bedeckenden Gebilde f der Geruchstärke.
andern nervösen Theilen, aus Vergiftungen des Nerven und aus den
sogenannten Verstimmungen des Geruchs in Nervenkrankheiten.


Strychnin örtlich und innerlich angewendet, soll nicht allein den Geruch in der
Art verschärfen, dass man nun Riechstoffe von einer Verdünnung wahrnimmt, in der
sie sonst nicht mehr empfunden werden, sondern es soll sich auch die Art der Em-
pfindung ändern. Andere Narkotika, namentlich Atropin und Morphin sind bei örtlichem
und allgemeinem Gebrauche ohne Einfluss auf den Geruch; Frölich.


Die Oberhaut, die Drüsen und das Bindegewebe der Geruchs-
flächen müssen von Einfluss auf die Wechselwirkung zwischen Nerven
und Riechstoffen sein. Dieses bedarf einer Erläuterung eben so wenig
für den Fall, dass wir uns vorstellen, es dringe der Riechstoff durch
diese Umgebungen hindurch zu dem Nerven, als wenn wir annehmen,
der Riechstoff trete nur zu den die Nerven umgebenden Stoffen, deren
Veränderungen sodann empfunden werden. Von der Art dieses Ein-
flusses auf die Geruchsempfindung sind wir nur wenig unterrichtet;
man erläutert aber aus denselben die Thatsachen, dass bei einem ver-
mehrten oder verminderten Erguss der Drüsensäfte in die Nase (bei Tro-
ckenheit der Nase und beim Schnupfen) die Schärfe des Geruchssinnes
leidet; ferner dass, wenn man in die Nase reines, körperwarmes Wasser
einbringt durch welches die Epithelialzellen nachweislich verändert
werden, der Geruch für kurze Zeit (1 bis 2 Minuten) ganz aufgehört
hat zu bestehen. E. H. Weber*).


Nach der Entdeckung von E. H. Weber lässt sich die Nasenhöhle eines horizon-
tal auf dem Rücken liegenden Menschen für einige Zeit dauernd mit Wasser füllen,
da sich auf reflektorischem Wege der arc. pharyngopalatinus vollkommen wasser-
dicht schliesst. Die Geruchsempfindlichkeit ist nach Entfernung des Wassers für
einige Minuten vollkommen aufgehoben, gleichgiltig, ob die Temperatur des Wassers
von 0° bis 50° C. schwankt, so dass demnach die Geruch zerstörende Wirkung nur dem
Wasser und nicht der Temperatur beigemessen werden muss. — Da die Empfindung
so rasch wiederkehrt, so kann man, abgesehen von den schon erwähnten Gründen
der Leichtveränderbarkeit der Zellen, die Unterbrechung der Thätigkeit des Ge-
ruchsorganes nur von einer Umwandlung in der Beschaffenheit der obersten Zellen-
lage ableiten, welche mit Wasser durchtränkt den Riechstoffen den Durchgang
erschwert. Hiermit wäre es vielleicht in Uebereinstimmung, dass bei diesem Ver-
fahren Essigsäure, Aether und Ammoniak (in Wasser lösliche Stoffe) früher wieder
empfunden werden, als ätherische Oele; Valentin. — Aus diesen Beobachtungen
erklärt sich nun auch die Mittheilung von Tourtual, welche E. H. Weber ver-
vollkommnete, dass Riechstoffe in flüssiger Form, z. B. verdünntes köllnisches
Wasser in die Nase gebracht, gar keine Geruchsempfindung erzeugen.


Endlich üben einen Einfluss auf die Stärke des Geruchs die Menge
der in den Geruchsflächen verbreiteten Riechstoffe, die Dauer ihrer An-
wesenheit daselbst, die Richtung und Stärke der durch die Nase
gehenden Luftströme. α) Die Menge des gleichzeitig in den Geruchs-
flächen vorhandenen und demnach auf die Nerven wirkenden Stoffes
kann geradezu nicht bestimmt werden; man schätzt sie dagegen ent-
Ludwig, Physiologie I. 19
[290]Wie die Art der erregenden Einwirkung die Geruchstärke bestimmt.
fernt angenähert aus der Menge von Stoff, welche in einem gegebenen
Luftvolum enthalten war, das in der Zeiteinheit bei einer Einathmung
durch die Nase strich. Aus solchen Schätzungen schliesst Valentin*),
dass wenn gleichzeitig auf den Geruchsflächen vertheilt sind noch weni-
ger als 0,0016 Milligram Brom, 0,02 M.G. Phosphorwasserstoff, 0,002
M.G Schwefelwasserstoff, 0,00005 M.G. Rosenöl deutliche Empfindung
entstehe, dass Moschus aber in noch viel geringerer Menge schon stark
rieche. Diese Thatsachen zeigen nicht allein, dass eine grosse Feinheit
der Geruchsreaktion, sondern auch, dass eine Scala der Verschiedenheit
für die Wirksamkeit der Riechstoffe besteht; es bleibt zweifelhaft, ob die-
ses herrührt von dem Widerstand, den die Umgebungen des Nerven dem
Durchdringen der Riechstoffe entgegen stellen, oder von einem eigen-
thümlichen Verhalten der Nerven selbst. In welchem Verhältniss mit der
Menge der in der Nase vorhandenen Riechstoffe die Stärke des Geruches
wächst, wissen wir begreiflich nicht; nur das ist bekannt, dass wenn wir
mit nur einer Nasenhälfte riechen, die Empfindung schwächer ist als bei
Einziehen der Luft in beide Nasenöffnungen. — β) Die Dauer der An-
wesenheit eines Riechstoffes wirkt nach entgegengesetzten Richtun-
gen bestimmend auf die Geruchsstärke. Einmal steigert sich, nament-
lich bei sehr verdünnten Riechstoffen mit der Dauer ihrer Anwesenheit
die Intensität des Geruchs (Valentin), dann aber nimmt allgemein
mit der Dauer der Einwirkung die Geruchsintensität ab. Diese Abstum-
pfung führen im Allgemeinen dichtere Riechstoffe eher herbei als ver-
dünnte; einzelne Substanzen, wie z. B. conzentrirter Moschus, sollen
nach Valentin so vernichtend wirken, dass der Zeitraum, in dem sie
Empfindung erregen, verschwindend klein ist. Aus dieser Eigenschaft
der Geruchswerkzeuge erläutert sich vielleicht auch die Erscheinung,
dass die von dem riechenden Individuum selbst dauernd ausströmenden
Gerüche nicht empfunden werden. γ) Luftströme, welche mit riechen-
den Stoffen geschwängert sind, erzeugen vorzugsweise Empfindungen,
wenn sie mit einer grossen Beschleunigung durch die Nase in der Rich-
tung von vorn nach hinten dringen; demgemäss erweitern wir unwill-
kürlich die Nasenmündung und ziehen rasch und stossweise die Luft
ein, wenn wir einen Gegenstand auf seinen Geruch prüfen wollen. Man
darf nach den vorliegenden Thatsachen schliessen, dass die nächste
Wirkung der rascheren Luftströme darin bestehe, die Geruchsflächen
auf eine vollkommenere Art mit den Riechstoffen in Berührung zu brin-
gen indem theils durch den Anstoss des Stromes und theils durch die
Reibung desselben ein die Absorption befördernder Druck erzeugt wird.
Ob sich aus diesem Gesichtspunkt auch die Thatsache erläutern lässt,
dass die aus der Lunge kommenden Luftströme weniger geeignet sind,
die Geruchsempfindung zu erwecken, als die in die Lunge tretenden,
bedarf genauerer Untersuchungen.


[291]Beharrung, Nachaussensetzen, Verknüpfung der Gerüche.

Den Einfluss der Richtung und Stärke der Luftströmung auf den Geruch hat be-
sonders Bidder*) behandelt; er zeigte, dass beim Fehlen der untern Nasenmuschel,
also bei mangelnder Beengung der Stromröhre, der Geruch abgeschwächt wird:
ferner dass beim Anblasen von riechenden Substanzen gegen die Riechflächen die
Empfindung fehlt oder schwach wird; ferner dass der in die Nasenhöhle ge-
haltene Kampfer, während des Anhaltens der Athmung einen sehr schwachen Geruch
gibt, der sich aber sogleich beim Einziehen von Luft steigert, und endlich dass, wenn
man Kampfer in die Mundhöhle bringt und gleichzeitig durch die Nase die Luft
ausstösst, eine nur schwache Empfindung auftritt.


4. Der Zeitraum, welcher verfliesst, bevor die Geruchsempfindung
erscheint nach dem Einbringen eines riechenden Luftstromes in die
Nase, ist noch nicht bestimmt; eben so wenig als die Dauer der Em-
pfindung nach Entfernung der Riechstoffe und die Geschwindigkeit,
mit der im Geruchsorgan die Empfindung wechseln kann. Wir haben
Ursache, zu vermuthen, dass alle diese Zeiträume einen verhältniss-
mässig beträchtlichen Werth besitzen.


5. Das Objekt der Geruchsempfindung legt die Seele geradezu in
den Luftstrom, welcher in die Nase dringt; insofern wir im Stande
sind, die örtlichen Verhältnisse dieses zu schätzen, vermögen wir auch
den Ort und die Richtung im Gange des Riechstoffes durch die Nase
zu bestimmen.


6. Vermischung der Geruchsempfindung zweier verschiedener
Riechstellen, und der Gerüche mit Gefühls- und Geschmacksempfin-
dungen. — α) Strömt in jedes der beiden Nasenlöcher gleichzeitig
ein verschiedener Geruch, so vereinigen sich, nach Valentin, die
beiden Gerüche nicht zu einem mittleren, sondern es entsteht ein
wechselndes Eintreten bald des einen und bald des andern Geruchs
in die Empfindung. — β) Gefühle und Gerüche, die von ein und
derselben Substanz in der Nase erweckt werden, combiniren sich
dagegen zu einer zusammengesetzten Empfindung; Beispiele hierfür
bieten die zugleich riechenden und ätzenden Stoffe wie das Ammoniak,
die Essigsäure u. s. w. Man empfindet in der That die Wirkungen zum
Theil wenigstens gesondert, wenn man die erwähnten Substanzen bei
angehaltenem Athem in die Nase bringt; sie ätzen dann den n. trige-
minus und regen zugleich die von ihm abhängigen Reflexe (Thränenlau-
fen, Niessen) an, ohne dass wir die Substanzen riechen, Bidder.
γ) Eben so häufig verschmelzen Geruch- und Geschmackempfindungen
zu einer einzigen; wir werden beim Geschmack hierauf zurückkommen.


7. Wie sich unmittelbar mit den Empfindungen des n. opticus
Raum- und mit denen des n. acusticus Zeitvorstellungen ver-
knüpfen, so verbindet sich die Geruchsempfindung gewöhnlich mit
einer leidenschaftlichen Stimmung, welche sich entweder begehrend
oder abstossend gegen das Geruch ausströmende Objekt verhält; die-
19*
[292]Geruchsvorstellungen; Binnengerüche.
sem Umstande verdankt man es, dass die Ausdrücke angenehmer,
widerlicher u. s. w. Geruch selbst beim Gebildeten weitaus die Oberhand
haben über die stoffliche Bezeichnung der Geruchsempfindung. Die
Leidenschaften, welche bestimmte Gerüche erwecken, sind aber be-
kanntlich nicht immer dieselben, so dass einen Geruch jedesmal den
Durst, Hunger, Geschlechtstrieb u. s. w. auslösste, sondern sie erregen
nach der gerade gegenwärtigen Seelenstimmung bald Ekel und bald
Durst u. s. w. Wir heben diesen Punkt hier nur hervor, um darauf
aufmerksam zu machen, dass man ihn im Gegensatz zu den gewöhn-
lichen Darstellungen des Geruchssinnes, trenne von der unmittelbaren
Beziehung zwischen Riechstoffe und Riechwerkzeugen. Im Einzelnen
lässt sich über diese merkwürdigen Erscheinungen noch nichts sagen.


8. Binnengerüche. — Ohne dass die Atmosphäre geruchausströ-
mende Stoffe enthält, entstehen doch häufig Geruchsempfindungen. In
der Mehrzahl der Fälle können dieselben zurückgeführt werden auf
die Gegenwart von Riechstoffen in den Lungen, der Mundhöhle, der
Nase, welche aus dem Blute, oder auf irgend welche andere Art, hier
abgesetzt sind. Seltener ereignet es sich, dass im Hirn Zustände ein-
treten, welche zum Geruch Veranlassung geben; Träume, in denen der
Geruch eine analoge Rolle spielt, wie Gesicht, Gehör und Gefühl, kom-
men, wenn überhaupt, gewiss sehr sparsam vor.


G. Geschmacksinn.


1. Anatomische Einleitung *). Die Flächen, die den Geschmack
zu empfinden vermögen, sind noch nicht festgestellt; nach allgemein
übereinstimmenden Angaben gehören zu den Trägern des Geschmack-
sinnes die Wurzel, die Ränder und deren nächste Umgebung auf
Ober- und Unterfläche, die Spitze der Zunge und ein Theil der Vorder-
fläche des weichen Gaumens; nach bestrittenen Aussagen rechnet
man aber auch dazu den Ueberzug der Mandeln, den Pharynx und
endlich sogar die hintere Fläche des weichen Gaumens und den
Schleimhautüberzug der Sublingualdrüsen.


Da es keine sichere anatomische Merkmale für die Ausdehnung dieses Sinnes
gibt, wie sie Gesicht, Gehör, und Geruch zukommen, und da die Nerven, an deren
Verbreitung sich der Geschmack kettet, nicht durchweg bekannt sind, so muss die Ver-
gleichung der Mundschleimhaut mit schmeckenden Stoffen in Anwendung gebracht
werden, um die Orte unseres Geschmackssinnes zu ermitteln. Diese Versuche ha-
ben mit manchen Schwierigkeiten zu kämpfen: α) Viele Empfindungen die sich aus
einer Combination von Gerüchen und Tästempfindungen der Mundhöhle zusammensez-
zen, werden als Geschmack gedeutet; die Versuche müssen darum entweder mit ge-
ruchlosen Stoffen angestellt werden, oder die Nasenlöcher müssen gut verstopft
sein. β) Viele Stoffe bedingen ganz besondere mechanische Umänderungen der Mund-
[293]Verbreiten und Erregen des Geschmackssinnes.
höhle, z. B. Verschrumpfungen, Anätzungen, Abkühlungen u. s. w., die mit einem
eigenthümlichen Gefühl empfunden werden; darum sind die Stoffe in mundwar-
men Lösungen anzuwenden, welche weder rasch verdunsten, noch am Zahnfleisch,
der Wangenfläche, oder überhaupt an Orten, die nachweislich nicht schmecken, die
bezeichneten Gefühle hervorrufen γ) Nicht alle Geschmacksmittel scheinen überall,
wo überhaupt die spezifische Empfindung vorhanden ist, wirksam zu sein; es müssen
darum jedesmal zur Prüfung verschiedene, mit entgegengesetzten Geschmäcken be-
gabte Stoffe in Anwendung gebracht werden. δ) Die schmeckenden Flächen der
Mundhöhle finden sich bei demselben Menschen nicht zu allen Zeiten in einem Zustand,
der sie zur Geschmacksempfindung befähigte, es sind darum entweder gleichzeitig
viele Menschen oder es ist derselbe Mensch zu verschiedenen Zeiten zu untersuchen.
ε) Da die Prüfungsmittel in wässeriger Lösung angewendet werden müssen, die Ge-
schmacksflächen aber mit capillaren Räumen überzogen sind, welche die Verbrei-
tung der Flüssigkeit begünstigen, und da endlich die Geschmacksempfindungen nur
lebhaft hervortreten, wenn die Schmeckstoffe über die Schleimhautflächen hin be-
wegt werden, so bietet die willkürliche Beschränkung der einwirkenden Stoffe
Schwierigkeiten. Um diese zu erzielen, bedient man sich der befeuchteten Pinsel
und Schwämme, schmeckender Pasten, die man in beschränkten Räumen bewegt,
oder man bedeckt mit Wachstafft und dergl. einzelne Theile der Zunge und des Gau-
mens, während man andere mit Flüssigkeiten bestreicht. Sollten sich die elektri-
schen Erregungsmittel nicht vorzugsweise zur Prüfung eignen?


Da auch Flächen, welche keine Papillen besitzen, Theil am Geschmackssinn neh-
men, so versteht es sich von selbst, dass die Papillen nicht die Bedingungen für
ihn enthalten; ob nicht dennoch aber an dem Orte, wo sie vorkommen, die Pa-
pille von Bedeutung ist für Modifikationen des Geschmackes, kann nicht entschieden
werden.


Die alte Streitfrage, ob die Geschmacksnerven nur in der Bahn des n. glosso-
pharyngeus oder zugleich auch in der des ram. III. n. trigemini laufen, muss so
lange als unerledigt angesehen werden, als nicht in alle Geschmacksflächen, wie
namentlich in die Zungenspitze, die Röhren aus den Zungenschlundkopfnerven ver-
folgt sind, oder aber bis sichere mit allen Cautelen angestellte Beobachtungen an
Individuen mit örtlichen Verletzungen des n. glossopharyngeus oder des ram. III.
n. trigem. vorliegen, welche zeigen, dass nach Abtödtung des ersten Nerven der Ge-
schmack überall erloschen oder nach Vernichtung des zweiten der Geschmack überall
erhalten ist.


2. Erreger der Geschmacksempfindung *). Der Sprachgebrauch
des gewöhnlichen Lebens ertheilt den Namen „Geschmack“ einer
grössern Reihe von Empfindungen, denen er im strengeren Wortsinn
nicht zukommt; namentlich werden Verknüpfungen von Temperatur-
oder Geruchseindrücken mit Tastempfindungen der Mundhöhle geradezu
als Geschmäcke bezeichnet, und ausserdem Verknüpfungen von Tem-
peratur- Tast- und Geruchseindrücken, mit wahren Geschmacksempfin-
dungen, mit Besonderheiten der Geschmäcke, verwechselt. Wie häufig
dieses in der That geschieht und wie sehr die eben so oft ausgespro-
chene als auch wieder vernachlässigte Meinung begründet ist, dass
die kühlenden, brennenden, stechenden, aromatischen Geschmäcke gar
nicht als besondere Empfindungen der oben genannten Flächen be-
stehen, lehrt tausendfältige und tägliche Erfahrung. Wenn man beim
[294]Falscher und wahrer Geschmack.
Genuss aromatischer, ätherisch-öliger Mittel, z. B. des Knoblauchs,
des Zimmts, der Vanille u. s. w., die Nasenöffnungen mit dem Finger
schliesst. In dem Moment, in welchem dieses geschieht, wird auch
der aromatische Geschmack ausgelöscht, der aber zurückkehrt so wie
die Nase der Luftströmung wieder geöffnet ist. Brennende, kühlende
und schrumpfende Geschmäcke können aber gleichgut auf den Lippen,
dem Zahnfleisch, kurz in jeglichem Mundtheil hervorgerufen werden,
wie auf den Geschmacksflächen; Chevreul. Da man nun auch in
den physiologischen, den Geschmack betreffenden Untersuchungen
sehr häufig diesen Punkt vernachlässigte, so dürften in den folgenden
Mittheilungen öfter Unrichtigkeiten enthalten sein. Als Erreger der
Geschmacksempfindung zählen nun:


a. Galvanische Ströme *). Diese Strömung erregt an dem Orte
ihres Eintritts in die Geschmacksfläche eine saure und an dem des
Austritts entweder keine oder eine schwache kalische Empfindung,
eine Empfindung, welche nach Versuchen von Volta und Monro
unabhängig von den in dem galvanischen Strom erscheinenden elec-
trolytischen Produkten der Mundflüssigkeit ist. — Ueber die beson-
dere Beziehung des Geschmacks zu der Richtung und Intensität der
Strömung gibt es bis dahin nur wenige Aufschlüsse; die in der Zunge
(von der Spitze zur Basis) aufsteigende Stromrichtung soll stärker
(oder sogar anders schmeckend?) wirken, als die absteigende;
Pfaff. Obwohl der Geschmack während der ganzen Dauer einer
geschlossenen Kette anhält, so sollen doch Schwankungen in der
Intensität des Stroms wie namentlich das Oeffnen desselben eine Ver-
stärkung erzeugen; Ritter und Lehot.


Legt man einen metallischen Bogen aus Kupfer und Zink an die Zunge, so dass
das Zink die Zungenspitze und das Kupfer den Zungenrücken berührt, so entwickelt
sich deutlich saurer Geschmack am Zink; da hier nun auch aus dem Speichel Säure
ausgeschieden wird, welche diese Empfindung hätte erzeugen können, so muss, wenn
gezeigt werden soll, dass der Strom geradezu, d. h. unabhängig von den Zersez-
zungsprodukten die Empfindung erregt, in die Umgebung des Zinkpoles eine alka-
lische Flüssigkeit gebracht werden, in welche die Zunge getaucht wird. Volta, der
diese Modifikation des Versuchs ausführte, erhielt dann ebenfalls noch den sauren
Geschmack. Andere beweisende Versuche siehe noch bei du Bois. — Dieser Ge-
schmackserreger bedarf neuer Untersuchungen.


b. Eine gewisse Zahl von Flüssigkeiten gehört ebenfalls zu den
Geschmackserregern; ihr allgemeines Merkmal, den geschmacklosen
Flüssigkeiten gegenüber, ist unbekannt.


A. Die Art der Empfindung. α) Zunächst ist diese bestimmt von
der chemischen Natur der Flüssigkeit; unter dieser ist hier jedoch keines-
wegs die Qualität und Quantität der Atome, aus der das Schmeckbare
[295]Schmackhafte Flüssigkeiten; Art des Geschmacks.
zusammengesetzt ist, zu verstehen, sondern gewisse allgemeine Ca-
tegorien der Verwandtschaft. Denn es erzeugen z. B. den Geschmack
des Sauren, des Kalischen, des Metallischen, des Salzigen Stoffe der
allerverschiedenartigsten chemischen Zusammensetzung, wie z. B.
Kali und Stibmethyliumoxyd, Schwefel- und Essigsäure, Eisen- und
Kupfersalze u. s. w.; gleichschmeckende Stoffe haben dagegen in dem
etwas gemeinsames, was man ihr electrochemisches Verhalten nennt.
Für mehrere Geschmäcke fehlt uns aber auch noch dieses gemeinsame
Merkmal, wie z. B. für das Süsse und Bittere; wir wissen insbeson-
dere nicht welches gemeinsame Merkmal den Süssigkeiten des Zuckers,
Glycerins, Glycocolls, Plumbum aceticum u. s. w. und anderseits den
Bitterstoffen Chinin, Salicin, der Magnesia sulfurica u. s. w. zukommt.
Bemerkenswerth für die Beziehung zwischen den Verwandtschafts-
und Geschmacksäusserungen der Atome ist noch die Erscheinung,
dass jedes Atom neben dem allgemeinen Geschmack des Sauren, Me-
tallischen u. s. w. noch einen besonderen Beigeschmack besitzt, ana-
log den Besonderheiten der Verwandtschaft, die jedes Atom vor an-
dern voraus hat.


Da das Geschmacksorgan ein vielseitigeres und ebenso allgemeines, wenn auch
kein so empfindliches chemisches Reagens ist, wie das Lakmuspapier, so würde es
schon im chemisch-technischen Interesse sein, die Geschmäcke genauer als bisher zu
prüfen, und Geschmacksreihen aufzustellen, in die man begreiflich nur die entschie-
den schmeckenden, chemisch reinen Verbindungen aufzunehmen hätte. Bei diesem
Verfahren wäre ausser andern erwähnten Vorsichtsmassregeln noch Rücksicht zu
nehmen auf die Speichelzersetzung, deren Einfluss schon Chevreul gewürdigt hat.


β) Der Ort der Empfindung soll in der Weise auf den Geschmack
Einfluss üben, dass ein und derselbe Stoff an der Spitze ganz anders
schmeckt als an der Basis der Zunge oder an den Gaumenflächen;
Horn*). So sollen namentlich der Zungenspitze mehrere Stoffe süss
oder sauer erscheinen, die der Gegend der umwallten Warzen bitter
vorkommen. Dieser Geschmackswechsel desselben Stoffes auf ver-
schiedenen Flächen unseres Sinnes gilt nun wohl nicht in der Ausdeh-
nung, wie ihn Horn zuerst behauptete, jedoch ist er für einzelne Stoffe,
namentlich für Salze, ausgesprochen genug. Auch dieser Gegenstand
verdient neuere und ausgedehntere Untersuchung.


Als Beispiele seien hier erwähnt:


B. Die Intensität der Geschmacksempfindung bei Gegenwart flüs-
siger Erreger ist abhängig von sehr zahlreichen Umständen und zwar
[296]Stärke des Geschmacks. Verknüpfungen des Geschmacks.
α) von dem Erregbarkeitszustand des Nerven, wie wir mehr vermu-
then als sicher wissen. — β) Von dem Ort der Erregung, indem nach
Guyot und Admirault gewisse Stoffe (Milch, Butter, Oel, Brod u.
s. w.) auf der Zungespitze gar nicht, dagegen im Gaumen, und der
Zungenwurzel sehr intensiv schmecken sollen. Auf welche Art von
Schätzung sich der gewöhnliche Ausspruch gründet, dass die Zungen-
spitze, oder nach andern der Gaumen, vorzugsweise fein schmecke,
ist nicht angegeben. — β) Die Menge der gleichzeitig erregten Röh-
ren der Geschmacksnerven; wir schmecken bekanntlich einen Stoff
der unsre ganze Mundhöhle ausfüllt intensiver, als einen solchen der
nur wenige Stellen der Zunge berührt. Der Unterschied von mehr
oder weniger gleichzeitig erregten Nerven zeigt sich namentlich
darin, dass sehr verdünnte wässrige Lösungen schmeckender Stoffe
keine Empfindung mehr erregen, wenn sie in geringer Menge in den
Mund genommen werden, während sie in grössern Quantitäten deut-
lich schmecken; Valentin. — δ) Zeitdauer der Einwirkung; der
Geschmack steigt zuerst mit der Dauer der Anwesenheit des schmek-
kenden Stoffes und nimmt dann mit ihr ab, analog den Empfindungen
der übrigen Sinne. — ε) Die Empfindung wird gesteigert durch den
Contrast, d. h. wenn Stoffe, welche verschieden schmecken, in rascher
zeitlicher Folge die Geschmacksnerven treffen. — ϑ) Zustände der
absondernden Drüsen der Mundhöhle und ihrer Säfte, des Epithelial-
überzugs, des Wassergehaltes; der Blutgefässfüllung, der Temperatur
der Geschmacksflächen. Die Wirkungen dieser Umstände sind nur sehr
oberflächlich bekannt; Kälte und Trockenheit des Mundes, Zungenbeleg,
gelinde Entzündungen der Mundhöhle vermindern die Empfindlichkeit,
wahrscheinlich nur darum, weil sie die Wechselwirkung der Nerven
und des Erregers beeinträchtigen. — η) Die Stärke des Geschmacks
wächst mit dem Procentgehalt einer Lösung an schmeckbaren Stof-
fen. Nach Valentin*) liegt für wässerige Lösungen von Zucker zu
1,2 pCt.; von Na Cl zu 0,2 bis 0,5 pCt.; von S O3 zu 0,001; von schwe-
felsaurem Chinin zu 0,003 pCt. die Grenze der Schmeckbarkeit, vor-
ausgesetzt dass die Stoffe unter den günstigsten Bedingungen in die
Mundhöhle gebracht wurden. — ζ) Die Fähigkeit des Schmeckens
wird unterstützt durch Bewegungen, welche die schmeckenden Flä-
chen und Stoffe aneinander vornehmen, wie durch Zungen- und Gau-
menbewegung oder durch Einpinseln der Schmeckstoffe auf Gaumen
und Zunge.


3. Geschwindigkeit des Eintrittes des Geschmacks; Nachge-
schmack, Wechsel des Geschmackes sind Namen die mehr auf zukünf-
tige, als schon begonnene Untersuchungen deuten.


4. Die Verbindungen der Leistungen der Geschmack-, Geruch-
und Tastnerven zu einer einzigen Empfindung ist noch niemals einer
[297]Geschmacksvorstellungen.
genauen Untersuchung unterworfen gewesen; aus den Thatsachen
des gewöhnlichen Lebens scheint aber zu folgen, dass nur der Geruch
als eine Erregung der Geschmacksnerven empfunden wird, dessen
erzeugender Luftstrom von der Mundhöhle ausgeht, während gleich-
zeitig die Tastnerven des Mundes in energischer Weise erregt sind.
Durch die Verknüpfung der Tast- und Geschmacksempfindung scheint
uns die Vorstellung der Oertlichkeit im Geschmackssinn zu entstehen;
denn wir schmecken bekanntlich jedesmal zugleich den Ort der Be-
rührung zwischen Schmeckstoff und Geschmackflächen.


4. In fast noch höherm Grade als an den Geruch knüpfen sich
an den Geschmack leidenschaftliche Vorstellungen, die auch hier sehr
häufig, selbst für Physiologen den Beweggrund abgeben von angeneh-
men, widerlichen, ekelhaften Geschmäcken zu sprechen, obwohl alle
diese Worte keine unmittelbare Geschmackseindrücke bedeuten, son-
dern sich auf Vorstellungen beziehen, die der Geschmack erweckte. —
Zugleich sind die Geschmacksnerven reflektorisch mannigfach verket-
tet, wie z. B. mit Speichelnerven, den Nerven der Schlingorgane zum
Einleiten des Schlingens und Brechens u. dgl. Treten solche reflekto-
rische Wirkungen neben den Geschmäcken ein, so entstehen besondere
weiter combinirte Gefühle, z. B. der Ekel und dgl., die man ebenfalls
häufig mit einfachen Geschmacksempfindungen verwechselt hat.


Binnengeschmäcke, denen eine andere Ursache als eine Verän-
derung in der Zusammensetzung der Mundsäfte zu Grunde liegt
sind nicht bekannt. Geschmacksträume sind ebenfalls nicht beobachtet.


H. Gefühlsinn.


Alle *) Massen und Flächen des menschlichen Körpers, welche
aus den hinteren Spinalwurzeln und den empfindlichen Stücken der
Nn. trigeminus, glossopharyngeus, vagus und accessorius ihre Nerven
erhalten, bringen gewisse Veränderungen ihrer Zustände unter der be-
sondern Empfindung des Gefühls zum Bewusstsein. Die Gefühle
aller dieser Körperregionen zeigen nun unter gewissen Umständen
eine vollkommene Uebereinstimmung; unter andern Bedingungen wei-
chen dagegen die Gefühle einer Reihe von Oertlichkeiten beträchtlich
ab von denen der übrigen. Die Uebereinstimmung liegt darin, dass
alle fühlenden Orte Schmerz empfinden; die Verschiedenheit begrün-
det sich aber dadurch, dass eine beschränkte Zahl von Stellen des
menschlichen Körpers neben dem Schmerze auch noch die Tempera-
tur- und Druckempfindung erzeugt. Die Stellung der Nerven zur Seele,
wenn sie schmerzen, zeichnet sich vor der mit noch andern Gefüh-
len begabten, auch dadurch aus, dass sie weniger deutliche Vorstel-
[298]Erreger des Schmerzes. Electricität.
lungen der empfindenden Oertlichkeit veranlassen; darum nennt man
ihre Empfindungen auch wohl Allgemeingefühl im Gegensatz zu den
deutlicheren Gefühlen des Druck-, Tast- und Temperatursinnes. —


A. Schmerz, Gemeingefühl.


Zur Schmerzempfindung sind alle Orte befähigt, in welchen sich
Enden und Stämme der oben erwähnten Nerven finden; da er nicht der
Art, sondern einzig der Stärke nach veränderlich ist, so beziehen sich
unsere Betrachtungen auch zunächst nur hierauf.


1. Erreger. a. Elektrizität; *) sie erzeugt sowohl als constanter
galvanischer, wie als schwankender oder momentaner Strom (In-
duktions- und Reibungselektrizität) Schmerzen; mit Rücksicht auf
den Nerven ausgedrückt, begleitet also nicht allein die negative
Schwankung, sondern auch die dipolare Anordnung seiner Molekeln
den Schmerz. — In dem ersten Falle wächst der Schmerz mit der
Stärke und Dichtigkeit des Stroms, und im zweiten mit der Grösse der
Schwankung, d. h. mit der in der Zeiteinheit sich abgleichenden Elek-
trizitätsmenge. — Die Stärke des Schmerzes, welchen die Schliessung
und Oeffnung der Kette, oder ein elektrischer Funke erzeugt, ist im-
mer beträchtlicher als diejenige, welche von der geschlossenen Kette
abhängt. Innerhalb dieser letztern tritt der Schmerz vorzugsweise
an der Körperstelle auf, die vom negativen Pol berührt wird.


Mit je mehr Funken man eine mit Stanniol überzogene Glasplatte lädet, um so
schmerzhafter wird der Schlag, welchen sie bei der Berührung ertheilt. Wenn man
zwei Platten von ungleicher Grösse so mit Electrizität füllt, dass die Spannung in
beiden gleich ist, mit andern Worten, dass das Verhältniss zwischen der aufgehäuf-
ten Elektrizität und der Oberfläche der Platten in beiden dasselbe ist, so schlägt die
grössere Platte stärker als die kleinere. Hieraus folgt auch erfahrungsgemäss, dass
Elektrizität von demselben Spannungsgrade einen Schlag mitzutheilen oder nicht
mitzutheilen vermag, je nachdem sie auf einer grossen oder kleinen Platte vertheilt war.
Schliesst man mittelst der befeuchteten Finger eine constante galvanische Säule von
vielen Plattenpaaren, so empfindet man den Schmerz während ihrer Schliessung zu-
nächst nur an den Fingern; steigert man die Summe der Kettenglieder, so erstreckt
er sich auch gegen den Arm in der Art, dass er an der Hand schwach, am Handge-
lenke stark, am Vorderarm schwach, am Ellbogengelenk wieder stark auftritt. Die
Ursache dieser Erscheinungsreihe sucht man darin, dass der electrische Strom an
den schmerzenden Stellen dichter ist; man vermuthet aber eine grössere Dichtigkeit,
weil man einzelne Bestandtheile der Gelenke (Knorpel oder andere) für schlech-
tere Leiter ansieht, als die Haut, Knochen und Muskeln.


b. Chemische Atome; von ihren schmerzerregenden Eigenschaften
ist nur bekannt, dass die verschiedensten Stoffe und Verwandtschafts-
kategorien, nämlich alle Arten von Säuren, Alkalien, Salze, Alkohol,
gepaarte Basen etc., im Stande sind Schmerzen zu erregen, wenn sie
in einiger Conzentration auf den Nerven wirken. —


c. Temperaturen. Die Zunahme sowohl als die Abnahme der nor-
malen Körpertemperatur bedingt bekanntlich Schmerzempfindung,
[299]Erreger des Schmerzes; Temperaturen, Mechanische Wirkungen.
wenn die Abweichung einen nicht zu beschränkten Werth erreicht;
wie bedeutend die Temperatur des Nerven zu dem Ende steigen
oder sinken muss, ist nicht ermittelt. Nach Beobachtungen von E. H.
Weber ist eine Steigerung der Oberhauttemperatur auf 48 bis 49° C. und
eine Erniedrigung derselben auf 12 bis 11° C. hinreichend um Schmerz
zu erregen. Ausserdem lehrt α. die tägliche Erfahrung, dass, alles An-
dere gleichgesetzt, der Schmerz innerhalb gewisser Grenzen, um so
heftiger wird, je höher, bezüglich je tiefer die einwirkende Temperatur
ausfällt. Mit irgend einem noch näher zu bestimmenden Werth der Tem-
peraturerniedrigung, oder ihrer Erhöhung scheint dagegen die Schmerz-
empfindung ihr Maximum zu erreichen, so dass dann mit noch weiter
getriebenem Steigen oder Sinken der Temperatur keine weitere Stei-
gerung der Schmerzempfindung proportional geht. β. Aus den Beobach-
tungen von E. H. Weber geht hervor, dass, alles andere gleichgesetzt,
der Schmerz anfänglich mit der Einwirkungsdauer der erregenden
Temperatur wächst und dann auch wieder mit ihr abnimmt.


Begreiflich kann aus der Temperatur der Oberhaut oder gar des Mediums z. B.
des Wassers, in welches ein Glied eingetaucht wird, die Temperatur der Nerven nicht
erschlossen werden, da die Temperatur, die Wärmeleitung u. s. w. des in dem Ner-
venlager strömenden Blutes, ebenfalls bestimmend für den Wärmegrad des Nerven
mit eintritt. Schon aus diesem Grund dürfte es schwer oder besser unmöglich sein,
den Temperaturgrad anzugeben, den ein Medium besitzen muss, damit ein in dasselbe
eingetauchtes Glied verschiedenen Menschen Schmerz erzeugt; denn je nachdem das
Blut in einem Gliede mehr oder weniger rasch kreisst oder gleichzeitig in grösseren
Mengen vorhanden ist, oder endlich eine etwas niedere oder höhere Eigenwärme be-
sitzt, wird es im Stande sein dem Eindringen einer fremden Temperatur, einen grös-
seren oder geringeren Widerstand entgegen zu setzen. — Die Steigerung des Schmer-
zes mit der Dauer der Temperatureinwirkung hat man verschieden erklärt: 1.) Man
nahm an, dass mit der Zeit erst die Wärme oder Kälte in einem zur Schmerzerzeugung
nöthigen Grad zu den Nerven dringe. Diese Annahme kann für sich geltend machen,
dass geringere Abweichungen von der Normaltemperatur der Nerven, längere Zeit
einwirken müssen um Schmerz zu erzeugen, als diess bei beträchtlichen Abweichun-
gen nöthig ist. Geringere Abweichungen werden aber aus bekannten Gründen
nur langsamer eine Veränderung der Normaltemperatur herbeiführen. — 2.) Erklärte
man die Erscheinung, dass sich die schmerzerregenden Eigenschaften der Tempera-
tur mit der Zeit steigern, daraus, dass sich die in den Nerven zeitlich getrennten Wir-
kungen im Hirn summiren. Diese Hypothese ist vorerst unerweisbar, aber auch unwi-
derleglich. — 3.) Endlich glaubte man auch annehmen zu dürfen, dass durch die längere
Dauer der einwirkenden Temperatur nicht allein der Wärmegrad der zunächst berührten
Nerven, sondern auch der unter der Haut gelegenen Stämme verändert werde; diese
Hypothese macht die alsbald zu besprechende Thatsache für sich geltend, dass die
Schmerzhaftigkeit der Empfindung mit der Ausbreitung der erregenden Ursache
wächst. — Die Abnahme der Schmerzhaftigkeit bei noch längerer Fortsetzung der
Einwirkung des erregenden Mittels erklärt sich aus der Abstumpfung der Empfind-
lichkeit überhaupt. —


d. Mechanische Einwirkungen. Welche Veränderung der Nerv
unter dem Einfluss mechanischer Gewalten erlitten haben muss, um
Schmerz zu erregen, ist unbekannt; es steht hier nur fest, dass nicht
jede Verstümmelung des Nerven schmerzhaft ist; denn ein rasch
[300]Bestimmung des schmerzenden Ortes.
durchschnittener Nerv erzeugt während und nach seiner Trennung
kaum einen Schmerz, den selbst schwache aber anhaltende Zerrungen
und Drücke der Haut sehr heftig erregen. —


Ausser von den Erregern und von der Erregbarkeit ist Stärke des
Schmerzes noch bedingt von der Ausbreitung und dem Orte der
Einwirkung des Erregers
. — Denn a. mit der Summe der gleich-
zeitig erregten Primitivröhren wächst der Schmerz. Diese Thatsache
weist auf eine Summirung der in den einzelnen Primitivröhren vor-
kommenden Erregung durch die Empfindungsorgane hin; E. H. Weber.
— b. Derselbe Angriff auf eine gleich grosse Zahl von Primitivröhren
desselben Nerven erscheint schmerzhafter, wenn man das Erregungs-
mittel auf die normale Verbreitungsstelle, als wenn man es auf den
Stamm des Nerven anwendet. Pag. 140.


Die Beweise für die erste dieser Angaben hat E. H. Weber geliefert, zu den be-
merkenswerthesten, unter seinen auf unsern Gegenstand bezüglichen Versuchen
dürfte der gehören, dass eine Flüssigkeit, deren Temperatur + 48° oder + 12° C
angenähert ist, nur dann Schmerzen erzeugt, wenn man die ganze Hand in sie
taucht, während beim Eintauchen nur eines Fingers kein Schmerz entsteht. — Die
zweite Behauptung ist aus der Thatsache abstrahirt, dass chemische und mechani-
sche Erregungsmittel, welche man auf den ganzen plexus ischiadicus des Frosches
anwendet, weniger auffallende Reflexbewegungen erzeugen, als wenn man sie be-
schränkt auf die Schwimmhaut anwendet. — Von dem Einfluss, den die Verbreitung
des Nerven auf sein Vermögen Schmerzempfindung zu wecken, äussert, lässt man auch
die Erscheinung abhängig sein, dass dieselben Erregungsmittel an manchen Hautstellen
Schmerz erwecken, an andern nicht; es ist aber die Frage ob diese Hautstellen nicht
einfach durch ihren grössern Nervenreichthum empfindlicher sind, oder etwa sich einer
Lagerung erfreuen, bei welcher, trotz scheinbar gleichstarker Anwendung eines Erre-
gungsmittels dasselbe in dem einen Nerven doch zu grösserer Wirksamkeit kommt
als im andern. Dieses ist z. B. offenbar der Fall bei der grössern Schmerzfähigkeit
einzelner Hautparthieen für die Temperatureindrücke, indem bei gleichen Wärme-
graden die mit einer zarten Epidermis bedeckten Stellen leichter und intensiver
schmerzen als die mit dicker Epidermis versehenen.


2. Bestimmung des schmerzenden Ortes. Die Schmerz-
empfindung ist stets mit einer Ortsempfindung verknüpft; und zwar
empfinden wir jedesmal den schmerzhaften Ort als einen Theil unseres
Leibes. Diese Ortsangabe wird nun insbesondere bestimmt durch den
in Erregung versetzten Nerven, in der Art, dass jeder Nerv eine be-
stimmte Ortsempfindung erweckt, die niemals durch einen andern ge-
geben werden kann. — Jeder Nerv scheint aber auch wiederum nur
zur Erzeugung einer einzigen Ortsempfindung geschickt zu sein,
so dass es in dieser Beziehung für die Empfindung gleichgültig ist,
auf welchem Punkt seines Verlauß er von der schmerzerregenden
Einwirkung getroffen wird. Dieser letzteren Angabe gemäss wird
der Ort eines Angriffs sehr häufig in der Empfindung ein anderer als der
des wirklichen Angriffs auf den Nerven sein; der scheinbare Ort
des Angriffs, auf welchen jedesmal die Empfindung verlegt wird, ist
immer derjenige der normalen peripherischen Verbreitung des Nerven.
[301]Scheinbarer Ort der Empfindung.
Wie dieser Ort sehr häufig nur der scheinbare des Angriffs ist, so ist
er auch immer derjenige der scheinbaren Empfindung, indem erwiese-
ner Massen nicht in der Peripherie des Nerven, sondern in irgend
einer noch näher zu bestimmenden Stelle des Hirns diejenige Wechsel-
wirkung zwischen Seele und Nerven stattfindet, welche zunächst die
Empfindung darstellt.


Den obigen Sätzen liegen tausendfältige, leicht zu beobachtende Thatsachen zu
Grunde. Zunächst wissen wir aus der täglichen Erfahrung, dass die Nerven eines
jeden Körpertheils nur die Empfindung einer Oertlichkeit veranlassen; es tritt hierin
niemals eine Verwechslung ein. Wenn aber auf irgendwelche Anregung neben dem
Orte des ursprünglich ergriffenen noch der eines anderen Nerven schmerzt, so liegt
der Grund hierfür nachweislich immer darin, dass durch den ursprünglich von der
schmerzhaften Empfindung ergriffenen Nerven innerhalb des Organismus ein Vor-
gang eingeleitet wird, vermöge dessen der Nerv des anderen Ortes ebenfalls in
Erregung kommt. Demgemäss empfindet man den zweiten Ort immer in Folge einer
besondern Affection eines zweiten Nerven. — Davon aber, dass ein Nerv, insofern
er schmerzt, nur eine einzige Ortsempfindung zu geben im Stande ist, selbst wenn
er auf sehr verschiedenen Stellen seines Verlaufs vom Hirn oder Rückenmark zur
Peripherie angeregt wurde, davon überzeugen uns die mannigfachsten Erscheinungen
an Gesunden und Kranken. So geben z. B. die in dem n. ulnaris verlaufenden sen-
siblen Fäden immer die Empfindung der Ulnarseite der Hand und der beiden letzten
Finger, mag man sie an ihrer Endverbreitung oder an ihrem Verlauf um den condylus
humeri internus, oder am humerus neben der arter. brachialis drücken. Aehnlich
verhalten sich der n. ischiadicus, medianus etc., kurz jeder Nerv, der den Ein-
wirkungen erregender Mittel noch an andern Stellen als an seiner peripheri-
schen Verbreitung zugänglich ist. Noch überraschender gestalten sich die Erschei-
nungen an Kranken; bei Anschwellungen in den Rändern derjenigen Knochenoeff-
nungen, durch welche Nervenstämme oder -Aeste treten, und einem durch diese An-
schwellungen auf den Nerven ausgeübten Druck suchen die Kranken jedesmal den
Sitz der heftigen Schmerzen in den peripherischen Enden des Nerven, d. h. es
schmerzt nicht die Stelle des Druckes, sondern das Glied, in welchem der gedrückte
Nerv sich ausbreitet. Dieses ist am auffallendsten, wenn in Folge einer Amputation
etc. die Peripherie des Nerven fehlt; es erscheint dann, wenn die noch mit dem Hirn
in Verbindung stehenden Stümpfe der Nerven, die zu dem abgeschnittenen Körper-
theil gehören, erregt werden, der Schmerz in den fehlenden Theilen mit einer sol-
chen Lebhaftigkeit, dass die Kranken den Verlust der Glieder vergessen. Die All-
gemeingiltigkeit dieser wichtigen, von J. Müller zuerst in ihrer ganzen Bedeu-
tung aufgefassten Thatsache ist von Volkmann bestritten worden. Er hob her-
vor dass, wenn man einen Nervenstamm auf seinem Verlaufe presse, man neben dem
Schmerz im Nervenende auch an der Stelle des Druckes eine schmerzhafte Em-
pfindung besitze. Dieses treffe namentlich zu, wenn man den nerv. ulnaris auf
seinem Verlauf um den condyl. intern. humeri presse. — Es besteht hier unzwei-
felhaft ein der Druckstelle entsprechender örtlicher Schmerz neben den Schmer-
zen der Hand; sehr wahrscheinlich rührt dieser aber nur von sehr zahlreichen
Ausbreitungen des n. cutan. internus her, die hier über dem n. ulnar. in der Haut
geschehen; denn in der That ist die von Volkmann hervorgehobene die einzige
Stelle, wo neben dem Schmerz in der Peripherie Schmerz an der Druckstelle erzielt
wird, wie man sich sogleich überzeugt, wenn man durch leises Zerren mit dem Fin-
ger den n. ulnaris neben der arter. brachialis erregt. Hier fühlt man deut-
lich ausser der Berührung der darüberliegenden Haut keinen
andern Schmerz als den der Hand
.


Die auf die Empfindung des Orts bezüglichen Thatsachen erklärt
[302]Weber’s Theorie des scheinbaren Ortes der Schmerzen. Nachschmerz.
eine von E. H. Weber angeregte und von J. Müller weiter gebaute
Hypothese; nach dieser sind die Nervenprimitivröhren in einer be-
stimmten örtlichen Beziehung zu den Empfindungsorganen im Hirn
gelagert, so dass jeder empfindliche Theil unseres Körpers im Hirn
durch eine Primitivröhre repräsentirt wird. Erregungszustände, welche
in diesen Primitivröhren stattfinden, dringen in denselben isolirt, ohne sich
einer benachbarten Röhre mitzutheilen, in das Empfindungsorgan. An
der Berührungsstelle dieses letztern mit dem Nervenprimitivrohr ge-
schieht die Empfindung. Aus diesem Theil der Hypothese ist begreif-
lich, dass jedes Nervenrohr nur eine Empfindung geben kann, mag
auch der Eindruck auf dasselbe wo immer geschehen; ferner dass die
Empfindung in gleicher Weise fortbesteht, so lange das Nervenrohr
noch in ungetrübter Verbindung mit dem Hirn sich findet, mag es auch
in seinem Verlauf noch so sehr verstümmelt sein und endlich, dass
jedes Nervenrohr eine von dem anliegenden verschiedene Empfin-
dung gibt. Um aber begreiflich zu machen, warum die Empfindung
nicht als ein Zustand des Hirns — d. h. des Ortes an dem sie nach
obiger Hypothese geschieht — sondern als ein solcher der Organe ge-
fühlt werde, muss man zu einer besondern Seelenwirkung seine Zu-
flucht nehmen, vermöge deren, um den Sprachgebrauch der Physio-
logen anzuwenden, die Empfindung ausserhalb des Hirns an die Peri-
pherie des Nerven gesetzt, d. h. auf eine Ursache an den Nervenenden
bezogen wird. Die Seele soll aber gerade auf diesen Ort des Nerven-
verlauß die Empfindung beziehen, weil dieser durch seine Lagerung
den meisten Angriffen ausgesetzt ist. —


Die vorgetragene Hypothese, welche sich bis auf die noch ganz unklare Lehre
vom Nachaussensetzen schon durch ihre Bestimmtheit und Einfachheit empfiehlt,
kann nicht weit fehl gehen, weil ohne ihr Bestehen der ganze Mechanismus des Ner-
vensystems, wie E. H. Weber richtig bemerkt, sinnlos wäre.


3. Beharrungsvermögen des Schmerzes; Nachschmerz.
Wie es scheint momentan mit dem Beginn der Einwirkung des erre-
genden Mittels entsteht die Empfindung. Keineswegs verliert sie sich
aber mit dem Verschwinden der Einwirkung des Erregungsmittels
unter allen Umständen. Sie kann die Zeit der Einwirkung dieses letz-
teren beträchtlich überdauern, wie die Thatsachen des gewöhnlichen
Lebens lehren. Die Art, in welcher sich diese sogenannte Nach-
empfindung geltend macht, ist verschiedenartig; entweder es be-
steht die Empfindung in ganz gleicher Weise fort, als während der
Gegenwart des Erregungsmittels; oder es ist die Empfindung in dem
früher schmerzhaften Nerv dumpfer, als in den benachbarten Stellen,
wenn sie beide gleichzeitig von einer anderweitigen Erregungsursache
getroffen werden. In beiden Fällen scheidet sich also der Nerv in der
Empfindung von seinen Nachbarn aus; in dem erstern wie es scheint,
durch einen dauernden Erregungszustand; in dem zweiten dagegen
offenbar dadurch, dass der Nerv geschwächt zurückbleibt, so dass er
[303]Nerven für besondere Gefühle.
nun durch eine neue Einwirkung weniger erregt wird, als seine un-
geschwächten Nachbarn. Die Nachschmerzen scheinen um so stärker
hervor zu treten, je anhaltender das Erregungsmittel einwirkte. Hier-
her gehören die Beispiele der andauernden Schmerzempfindung nach
langen Druckwirkungen seitens enger Kleidungsstücke etc.


Die Lehre von der Nachempfindung, d. h. von dem Antheil, welcher dem Nerven
an ihr zukommt, wird erst dann einen Fortschritt machen, wenn man die Folgen
genauer zu würdigen gelernt hat, welche das Erregungsmittel auf die den Nerv um-
gebenden Gewebe ausübt, deren Zustand unter vielen Umständen empfindungs-
erweckend auf den Nerven wirken kann.


B. Besondere Gefühle.


Die Orte der besondern Gefühle empfinden neben dem Schmerz
auch noch gelinde mechanische Einwirkungen, als Druck, Zug, Kitzel
u. s. w. und die Temperaturschwankungen als Wärme und Kälte; ihre
Nerven stehen ausserdem in engerer Beziehung zur Seele, durch die
sie vor allen Uebrigen deutliche Vorstellungen der erregten Oertlich-
keit erwecken, und endlich verknüpfen sich ihre Erregungen mit Be-
wegungsvorstellungen zur Erzeugung complizirterer Urtheile.


Zu diesen ausgedehnten Leistungen sind die Nerven befähigt,
welche sich in der äussern Haut, der Mundhöhle bis zum vordern Gau-
mensegel, einschliesslich dieses letztern, der Zunge, dem Eingang
der Nasen- und Afteröffnung verbreiten.


1. Eigenthümlichkeiten in der Verbreitung und den
Ursprüngen dieser Nerven
. Die Flächen, in welchen die erwähn-
ten Nerven ihr peripherisches Ende finden, sind mit Einrichtungen
versehen, welche in mehr oder weniger inniger Beziehung zu ihren
besondern Gefühlen stehen; E. H. Weber. a. Die Nervenröhren enden
in der Cutis und der Zunge wahrscheinlich als abgestuzte Fäden,
nachdem sie vorher mannigfache Plexus gebildet und sich wiederholt
getheilt haben; ihr Ende liegt aller Orten in den Fortsätzen, welche
als Papillen die Haut und Zunge bedecken und die, mögen sie gefäss-
haltig oder gefässlos sein, ein schwammiges, elastisches mit Flüssig-
keit durchtränktes Gewebe darstellen, welches einen Ueberzug aus
dem starren Pflasterepithelium erhält. Nach einer wichtigen Entdeckung
von Meissner und R. Wagner*), sind bestimmte Papillen, Hand-
fläche, des Handrückens, des rothen Lippenrandes, der Fusssohlen und
nach Kölliker**) auch die pap. fungiform. linguae ausserdem noch
mit einem eigenthümlich gebauten Theile, dem Tastkörperchen, ver-
sehen, das entfernt an ein Vater’sches Körperchen erinnert, in
welches der Nerv eindringt. An den Orten dieses Vorkommens
entbehrt die Papille, welche eine Nervenendigung in sich schliesst,
der Gefässe. Durch diese Einrichtungen wird die Haut geschickt
[304]Anatomische Eigenthümlichkeiten der besonderen Gefühlsnerven.
die Reibung mit den sie berührenden Oberflächen zu befördern,
und zugleich sind diese Orte der Nervenendigungen geeignet die
zartesten Veränderungen der umgebenden Temperatur dem Nerven
unter der Form von Zügen und Drücken mitzutheilen; denn da die
Papille die Haut überragt, so wird sie vorzugsweise leicht erwärmt
und erkältet werden, und da die Papille mit leicht ausdehnbarer Flüs-
sigkeit durchtränkt und mit einer unnachgiebigen Hornschichte über-
zogen ist, so muss die Temperaturänderung ausdehnende und zusam-
menpressende Spannung erzeugen. Die mit Tastkörperchen versehenen
Papillen werden in diesem Sinne besonders bevorzugt sein, und darum
wahrscheinlich auch der Blutgefässe entbehren, wodurch die subjek-
tiven Gefühle abgeschnitten werden, die Begleiter der wechselnden
Gefässdurchmesser hätten sein müssen. — b. Ueber den grössten
Theil der Haut finden sich Haare verbreitet, welche durch ihre innige
Anheftung an empfindliche Hautstellen kleine Sondern darstellen,
welche in Folge zarten Zugs und Drucks besondere Lagenverschie-
bungen der Haut erzeugen. — c. Die kleinen, von Kölliker entdeck-
ten Muskeln der Haut und Hautdrüsen sind dadurch von Bedeutung, dass
sie die Blutmenge sowohl als den Elastizitätscoeffizienten der Haut,
mit andern Worten Temperatur und Widerstandsfähigkeit derselben,
vorübergehend ändern können. Ihre Bewegungen erzeugen auch
geradezu eigenthümliche Temperatur- und Kitzelgefühle, welche unter
dem Namen des Ameisenlaufens, des Schauers u. s. w. bekannt sind.
— d. Unsere Flächen sind endlich zum Theil auf sehr bewegliche
Gliedmassen gestellt, wodurch die Haut der Hand, des Fusses, der
Lippen, der Zunge in mannigfaltige und beliebige Stellungen zu den
erregenden Gegenständen gebracht werden kann.


Nicht unwahrscheinlich ist es aber, dass nächst den erwähnten
besondern Bedingungen in der Haut, auch eine eigenthümliche in dem
Hirn erscheint. E. H. Weber hat auf den Umstand die Aufmerksamkeit
gelenkt, dass nach den häufig vorkommenden und zerstörenden Bluter-
giessungen in die Hirnmasse, welche das Dach des Seitenventrikels
darstellt, vorzugsweise nur die Empfindungen und Bewegungen der
Arme und Beine, aber nicht die des Rumpfes gelähmt sind. Diese
Thatsache zeigt allerdings, dass die Nerven der wesentlichsten Tast-
organe im Hirn einen andern Verlauf besitzen, als diejenigen des
Rumpfes Dieser zusammengedrängte Verlauf von Nerven, die aus-
serhalb des Hirns so weit auseinandergezerrt sind, gesondert von an-
dern, welchen sie an der Peripherie so nahe liegen, muss allerdings
auffallen.


Obwohl es noch durchaus nicht gelingt anzugeben, wie im einzel-
nen die erwähnten Eigenthümlichkeiten die Besonderheit der Empfin-
dung bedingen, so lässt sich doch mit Schärfe ihr im Allgemeinen be-
stimmender Einfluss durch Versuche zeigen. Denn a. dieselben Nerven-
[305]Erreger der besonderen Gefühle; Ortsinn.
röhren geben, je nachdem sie an ihrer Hautausbreitung oder in ihrem
Verlauf durch den Stamm erregt werden, entweder das besondere
oder nur das Schmerzgefühl; E. H. Weber. Taucht man z. B. den
Ellenbogen in eine Mischung von Eis und Wasser, bis dass die Ab-
kühlung allmälig durch die Haut zu dem n. ulnaris dringt, so ent-
steht in diesem niemals das Gefühl der Kälte, sondern nur des Schmer-
zes, welches sich aus bekannten Gründen gegen den Ulnarrand der
Hand erstreckt. Ebenso sind grosse Hautnarben, in denen die Cutis
vollkommen zerstört ist, nicht mehr geeignet Kälte- und Wärmeempfin-
dung zu erzeugen. Endlich entbehren auch die Hautflächen, welchen
die beschriebenen Organe fehlen, der ebengenannten Empfindungen,
so erzeugt z. B. Eiswasser, in den Magen oder Dickdarm eingebracht,
keine Kälteempfindung; E. H. Weber. — b. Nach Einathmung von
Aether tritt bekanntlich ein eigenthümlicher Zustand unseres Hirns
ein, in diesem empfinden wir höchst auffallender Weise sehr intensive
Verletzungen nicht mehr als Schmerzen, dagegen geben schwache
Angriffe auf die Haut Tastempfindungen; dieses Auslöschen der
Schmerzfähigkeit neben dem Bestehen der Tastempfindlichkeit scheint
allerdings darauf hinzudeuten dass diesen beiden spezifisch ver-
schiedene Prozesse des Hirns zu Grunde liegen; Gerdy, Pirogoff*).


2. Erreger der besondern Gefühle. — Die benannten Flächen
scheinen aber nur dann die besondern Empfindungen erzeugen zu
können, wenn die Erregung der Nerven einen gewissen Grad der In-
tensität nicht überschreitet; jede heftige Veränderung der Nerven
wird nämlich augenblicklich schmerzhaft, und damit verlieren wir die
Befähigung, gleichsam als ob die Vorstellung von der Empfindung über-
täubt würde, zur Auffassung einiger Besonderheiten der Erregung.


Wenn es nun zur Bildung der besondern Gefühle kommt, verknüpft
sich sogleich die Empfindung und die Vorstellung auf das innigste.
Darum scheint es E. H. Weber in der meisterhaften Darstellung
seiner fundamentalen Entdeckungen vorgezogen zu haben, die
nächsten und entfernteren Wirkungen der Erreger zugleich abzuhan-
deln, indem er die Gesammtheit der durch Druck, Zug und Tempera-
turschwankung in der Empfindung und Vorstellung hervorgerufenen
Erscheinungen beschreibt als Ort- Druck- und Temperatursinn. Wir
werden diese Reihenfolge, abweichend von der bisher bei den Sinnen
eingeschlagenen, ebenfalls zu Grunde legen.


3. Ortsinn. Dieser Namen bezeichnet die Fähigkeit, unmittel-
bar durch die von mechanischen Erregern erzeugten Empfindungen,
zu einer Vorstellung von der Gestalt der erregten sensiblen Flächen
zu gelangen. — Dieses Vermögen ist, wie die Versuche von E. H.
Weber lehren, an verschiedenen Stellen sehr verschieden ausgebildet.
20
[306]Feinheit des Ortsinnes.
Nach ihm besitzen den feinsten Ortsinn die Zungenspitze, die Volar-
seite des letzten Fingergliedes, dann, aber schon geringer, die rothen
Lippen und die Volarseite des zweiten Fingergliedes; in absteigender
Ordnung folgen dann aufeinander Dorsalseite der letzten zwei Finger-
glieder, Nasenspitze, Volarseite des Handtellers, Mittellinie und Seite
der Zunge, die einen Zoll von der Spitze entfernt ist, die fleischfar-
benen Lippen und Metacarpus des Daumens, Plantarseite des letzten
Grosszehengliedes, Rückenseite des zweiten Fingergliedes, Backen,
äussere Oberfläche des Augenlides, Mitte des harten Gaumens; Haut
auf dem vordern Theil des Jochbeins, Plantarseite des Mittelfusskno-
chens der grossen Zehe, Rückenseite des ersten Fingergliedes;
Haut der capitula ossium metacarpi auf der Dorsalseite, innere Ober-
fläche der Lippen; hinterer Theil des Jochbeins, unterer Theil der Stirn,
hinterer Theil der Ferse; behaarter Kopf, Hals unter der Kinnlade,
Handrücken; Kniescheibe, Kreutzbein, Hinterbacke, Unterarm, Unter-
schenkel; Brustbein; Rückgrath am obern und untern Theil des Halses
und Rückens, die Lenden; Rückgrath in der Mitte des Halses und des
Rückens, Mitte des Ober- und Unterschenkels.


Die mitgetheilte Classification der Hautstellen nach ihrem Ortsinn stützt sich
auf mehrere sinnreiche Versuchsreihen von E. H. Weber. In der ersten derselben
betastete er mit stumpfen (gedeckten) Spitzen eines in verschiedener Weite geöff-
neten Zirkels die Haut eines Menschen, dessen Augen verbunden waren, während
möglichst normaler Erregbarkeit desselben. Hier fand sich, dass die Zirkelspitzen
auf verschiedenen Hautstellen in verschiedener Entfernung von einander aufgestellt
werden mussten, wenn dieselben als zwei getrennte Punkte empfunden werden soll-
ten. So z. B. empfand die Zungenspitze, dass der Zirkel noch geöffnet sei, wenn seine
Spitzen um ½ Linie; das letzte Fingerglied, wenn sie um 1 Linie; die Haut des Ober-
arms aber erst, wenn sie um 30 Linien entfernt waren. Wurden sie mehr genähert,
so entstand an den betreffenden Punkten immer nur die Empfindung, als ob eine ein-
zige Zirkelspitze aufgesetzt gewesen sei. Eine Modifikation desselben Versuchs besteht
darin, dass man mit einem constanten Spitzenabstand über zusammenhängende Haut-
stellen verschiedener Feinheit des Ortsinns hinfährt. Tritt man aus den Regionen stum-
pferen Ortsinnes in die der feineren, so scheinen sich die Spitzen zu entfernen, während
sie sich beim umgekehrten Gang zu nähern scheinen. In einer andern Versuchsreihe
legte er verschiedene Hohlfiguren auf die Haut, z. B. die abgeschnittenen Ränder von
Röhren, Hohlprismen etc. War der Durchmesser des Hohlraumes kleiner als der Ab-
stand, in welchem zwei Zirkelspitzen getrennte Empfindungen erregen, so erschien
der Körper solid, im umgekehrten Falle kam es dagegen zum Bewusstsein, dass von
den Rändern ein freier Raum umschlossen wurde.


Diese Thatsachen erläutert Weber durch die Annahme, dass eine erregte Ner-
venröhre den Kreis von bestimmter Ausdehnung welchen sie versorge, in der Empfin-
dung als Einheit zum Bewustsein bringe. Demnach müssen also, wenn zwei gleich-
zeitig auf die Haut gemachte Eindrücke als gesondert unterschieden werden sollen,
wenigstens auch zwei solcher Gefühlskreise gleichzeitig getroffen werden; erfahrungs-
gemäss scheint es ihm jedoch für das Entstehen der Empfindung des Abstandes der
erregten Gefühlskreise nothwendig zu sein, dass auch zwischen den erregten noch ein
oder mehrere andere gelegen seien Je kleiner ein Gefühlskreis sei, und je gedrängter
dieselben liegen, um so zahlreicher sind dann die getrennten Empfindungen, welche
ein Hautstück vermitteln kann. Um begreiflich zu machen, wie es geschehe, dass
sich die gleichweit abstehenden Zirkelspitzen je nach dem Eintreten in mehr
[307]E. H. Weber’s Theorie des Ortsinnes.
oder weniger nervenreiche Hautstellen bald zu nähern, bald zu entfernen scheinen,
führt er die Annahme ein, dass der Mensch wegen häufigen Gebrauchs ein dunkles
Bewusstsein der gesonderten Gefühlskreise besitze und demgemäss zähle, wie viel
solcher Kreise zwischen den gerade erregten befindlich seien. Für die Richtigkeit
dieser Hypothese im Allgemeinen spricht die Thatsache, dass die Regionen des fein-
sten Ortsinnes mit sehr zahlreichen Nervenästchen versorgt werden; zugleich ist
sie eine nothwendige Folgerung der wohlkonstatirten Thatsachen von der isolirten
Leitung in den Nervenröhren und von der Besonderheit des Nervenrohres, nur eine
einzige Ortsempfindung vermitteln zu können. Mit dieser Annahme glaubten einige Ge-
lehrte aber verschiedene Thatsachen nicht in Einklang bringen zu können. Die meisten
ihrer Einwürfe scheinen aber Missverständnissen ihren Ursprung zu verdanken. Dahin
gehört namentlich 1) da die Zahl der Nervenröhren, welche in die Orte feinster
Tastempfindlichkeit eintreten, viel zu beträchtlich sei, als dass auf einem Kreis von
einer halben Linie Durchmesser nur ein Nervenrohr sich verästeln solle, so müsse
eigentlich die Feinheit in der Unterscheidung der Oertlichkeit noch unter diesen
Werth sinken. 2) Setzt man die Zirkelspitzen an dem Rumpf so auf, dass sie die
Mittellinie desselben zwischen sich fassen, so dass also die eine derselben diesseits
und die andere jenseits der Mittellinie zu liegen kommt, so entsteht dadurch dennoch
bei selbst beträchtlichem Abstand nur eine Empfindung, obgleich hier Röhren ver-
schiedener Rückenmarkhälften getroffen werden. 3) Man fand es ferner unbegreif-
lich, dass die in der Reihenfolge a b c liegenden Gefühlskreise die Empfindung der
gesonderten geben, wenn die Zirkelspitzen auf a und c aufgesetzt sind, während sie
sich einfach darstellen bei Auflage auf a und b sowohl als bei der auf c und b. Köl-
liker
*), Lotze**). Aus diesen Thatsachen können aber keine Einwürfe gegen
Weber hergenommen werden, da sie es gerade waren, welche Veranlassung gaben
zu dem Ausspruch, dass nicht durch die gleichzeitige Berührung der Verbreitungs-
orte zweier Nervenröhren überhaupt die Empfindung des doppelten Ortes entstehe,
sondern dass diese letzte Empfindung nur erzeugt werden könne, wenn ein oder
mehrere Empfindungskreise zwischen den erregten Stellen liegen. Diese Annahme
wird aber von Weber nicht allein aus den vorgeführten Thatsachen gefolgert,
sondern auch noch aus dem schon beigebrachten Versuch, dass zwei Zirkelspitzen
von konstantem Abstand sich zu nähern scheinen, wenn man mit ihnen aus nerven-
reichern in nervenärmere Hautstellen übertritt. Eine weitere Bürgschaft für diese
Weber’sche Behauptung, wonach die Seele gleichsam den Abstand der Nervenröhren
im Hirn schätzt, liegt endlich darin, dass sich bei günstigen Stimmungen und durch
Uebung die Grösse des Durchmessers der sogenannten Empfindungskreise verklei-
nert, während sie sich durch Einnehmen narkotischer Gifte, Atropin, Daturin, Morphin
vergrössert. Lichtenfels. ***)


Scheinbar bedeutender scheint der Einwurf, dass man das Fortrücken einer
Zirkelspitze innerhalb eines Raumes fühlt, das an zwei gleichzeitig aufgesetzten
Spitzen nur eine Empfindung erzeugt; es birgt also offenbar dieser im letzten Falle
als Einheit empfundene Raum die Möglichkeit differenter Raumempfindung; Lotze.
Auch dieses ist von Weber nicht übersehn worden. Der Grund des Widerspruchs
beider Beobachtungen scheint überhaupt nur gesucht werden zu dürfen in Verschie-
denartigkeiten, welche den beiden Erregungen zukommt, wie schon daraus sich er-
gibt, dass man bei der Bewegung der Spitze ausser dem Orte der Berührung auch
noch die Richtung der Bewegung empfindet. Die Aufgabe stellt sich also dahin, aus
der verschiedenen Art der Erregung unter Festhalten der gut begründeten Weber’-
schen Annahme den Unterschied der Wirkungen gleichzeitiger und ungleichzeitiger
Erregung abzuleiten.


20*
[308]Drucksinn; Hilfe der Muskeln.

4. Drucksinn bezeichnet die Leistung unserer Tastorgane
unmittelbar aus der Empfindung, eine Vorstellung über den Grad
der Zusammenpressung oder Ausdehnung, den unsere Haut durch
ein mechanisch wirkendes Mittel erfährt, zu erzeugen. Dieses
Vermögen äussert sich an verschiedenen Parthien der Haut nicht
so wechselvoll wie der Ortsinn. Die empfindlichsten Hautstellen
wie die Fingerspitzen unterscheiden noch einen Druckunterschied
eines Gewichtes von 20 : 19,2 Unzen, während der Vorderarm einen
solchen von 20 : 18,7 empfindet.


Weber prüfte die Feinheit des Drucksinns dadurch, dass er auf die Haut eines
Körpertheiles, der sehr gut unterstützt wurde, Gewichte von gleicher Grundfläche,
z. B. Geldstücke, auflegte, diese entfernte und rasch durch neue ersetzte. Wenn die Zeit,
welche zwischen dem Auflegen von einem Gewichte verstrich, hinreichend gering ist,
so gelingt es auf diese Weise viel unbedeutendere Gewichtsunterschiede zu empfin-
den, als dadurch, dass man auf verschiedenen Hautstellen gleichzeitig oder nach-
einander Gewichte auflegt. — Das Vermögen, auf derselben Hautstelle die Stärke
eines nicht mehr vorhandenen mit der eines noch bestehenden Erregungsmittels zu
vergleichen, nimmt für kleine Gewichtsdifferenzen mit der Zeit rascher ab, als für
grössere. So nahm Weber den Gewichtsunterschied von 14 (oder 14,5) zu 15
Unzen nur dann wahr, wenn zwischen dem Aufliegen beider kein grösserer Zeitraum
als der von 30 Sekunden verstrichen war. Verhielten sich die Gewichte wie 4 : 5, so
konnte aber noch nach 90 Sekunden der Unterschied bestimmt werden. Ein Zug
an den Haaren wird bekanntlich ebenfalls mit grosser Genauigkeit auf seinen
Werth bestimmt.


Die Thatsache, dass an nervenreichen Theilen das Unterscheidungsvermögen
für Drücke nicht oder nur weniges schärfer ist, als an nervenarmen, steht in noch
ungelösstem Widerspruch mit der Beobachtung, dass auf nervenreichen Theilen
schmerzerregende Mittel von gleicher Ausdehnung und Stärke viel intensiver wirken
als auf nervenarmen.


Die schon durch ihren Nervenreichthum bevorzugten Organe,
Fingerspitzen, Lippen und Zunge sind endlich, zur Vervollkommnung
ihres Vermögens Form und Druck zu empfinden, noch mit einer gros-
sen Beweglichkeit versehen; hierdurch erwächst begreiflich der Vor-
theil, dass durch Anschmiegen an die betasteten Flächen, durch will-
kürliches Hin- und Herführen über dieselben, ihre Form, Grösse, Wi-
derstand einzelner Parthien etc. sehr genau bestimmt werden kann.
Die Genauigkeit der Vorstellung die aus der Auflagerung der nerven-
reichen Hautstellen auf sehr bewegliche Organe erwächst, steigert
sich aber noch um ein beträchtliches dadurch, dass die Zusammen-
ziehungen der hier in Betracht kommenden Muskeln ebenfalls auf ir-
gend welche, in ihrem Mechanismus noch näher zu bestimmende
Weise dem Grade nach von der Seele geschätzt oder empfunden wer-
den. Aus diesem Zusammenhalten der zum Angreifen eines Körpers
nöthigen Bewegung, oder der zu seiner Fortbewegung nöthigen Mus-
kelanstrengung und der diese Bewegungen begleitenden Empfin-
dungen in der Haut, entstehen eine Zahl sehr complizirter Urtheile. Es
beziehen sich diese auf die Richtung und Stärke eines Widerstan-
[309]Wärmesinn.
des oder Zuges, auf die Bestimmung der Form eines complizirten Kör-
pers aus der Betastung weniger Flächen desselben, und endlich auf
die Bestimmung des Ortes, an welchem sich der empfindungerregende
Körper befindet.


Zu den hier erwähnten Erscheinungen, die im Zusammenhang bei dem sog. Mus-
kelsinn noch eine Besprechung finden werden, zählt a. Wir sind im Stande einen
viel geringeren Unterschied zweier Gewichte beim Emporheben derselben aufzu-
fassen, als beim Auflegen derselben auf die Hand; ebenso können wir bei leisen
Bewegungen des Kopfs eine an die Haare angebrachte Zugwirkung ihrer Rich-
tung nach sehr genau bestimmen. b. Bei der Bestimmung der Form eines der Be-
tastung unterworfenen Körpers erweist sich der Einfluss der Bewegungen auf
die Beurtheilung der von den Hautflächen gelieferten Empfindung in der Weise
helfend, dass wir dieselben Empfindungen als Folge ganz verschiedener Formen
erklären, je nach der Stellung, welche die Tastflächen bei der jeweiligen Be-
rührung zu einander besassen. So werden z. B. bekanntlich zwei Kugelflächen
als convergirend (zu einer Kugel gehörig) angesehen, wenn wir sie mit den
in der gewöhnlichen Fingerstellung einander zugekehrten Rändern der Finger-
spitzen umgreifen; dieselben Kugelflächen werden aber als divergirend (als zwei
verschiedenen Kugelflächen zugehörig) angesehen, wenn wir sie mit zwei im Ruhe-
zustand von einander abgewendeten Flächen der Fingerspitzen, wie diess beim Ueber-
einanderschlagen der Finger möglich ist, umfassen. c. Endlich empfinden wir viele
Eindrücke gleichzeitig in einer grösseren und geringeren Entfernung von den em-
pfindlichen Flächen, wenn diese Bewegungen ausführen. Weber hat darauf auf-
merksam gemacht, dass z. B. ein Stäbchen, welches wir auf den Tisch setzen, und
auf diesem bewegen, zwei Empfindungen veranlasst, von denen die eine an der Be-
rührungsstelle der Finger und des Stäbchens und die andere an der des Tisches und
Stäbchens gelegen ist. Dieser letztere Empfindungsort wird vorzugsweise beim sog.
Sondiren den Aerzten von Bedeutung. Als Sonden, die an dem menschlichen Orga-
nismus angewachsen sind, und demgemäss nur eine Empfindung, an ihren freien
Enden veranlassen, müssen die Zähne betrachtet werden.


5. Wärmesinn. Die freie Wärme erzeugt uns nur die Empfin-
dungen der Temperatur, wenn sie innerhalb gleich anzugebender
Grenzen Schwankungen in ihrer Intensität erleidet; sie büsst in diesen
Grenzen ihre erregenden Wirkungen ein, wenn sie in constanter Stärke
auf die Haut einwirkt; mit andern Worten: ein constanter Thermometer-
stand wird innerhalb der anzugebenden Grenzen nicht empfunden,
wohl aber seine Veränderung und zwar begleitet das Steigen der
Quecksilbersäule die Empfindung der Wärme und das Sinken derselben
die der Kälte. — Aber nur Schwankungen der Temperatur in engen
Grenzen bedingen Wärme- oder Kälteempfindungen; wenn sie unter
+ 10 bis 11° C. sinkt und auf + 46 bis 47° C. steigt, so ruft sie
Schmerz hervor.


Wie wenig eine constante Temperatur Empfindungen erweckt, beweist die That-
sache, dass wir eine verschiedene Temperatur unserer Hautflächen, z. B. der Stirn
und Finger, erst gewahren, wenn wir sie in gegenseitige Berührung bringen; d. h.
wenn wir das eine Glied auf Kosten des andern abkühlen.


Das Vermögen Temperaturunterschiede wahrzunehmen, scheint
innerhalb der angegebenen Grenzen unabhängig von dem absoluten
Stand des Thermometers; indem wir nach Weber + 14° von + 14,4° R.
[310]Wärmesinn; Verknüpfung von Druck und Wärmesinn.
eben so gut unterscheiden können als + 30° von + 30,4° R. Abhängig
ist es dagegen: a. von der Geschwindigkeit, mit welcher der Tempera-
turwechsel erfolgt; b. von der Temperatur der Haut; c. von der Grösse
der Hautflächen, welche gleichzeitig der Temperaturveränderung un-
terworfen werden und endlich d. von dem besondern Hautorte, in wel-
chem der Temperaturwechsel vorgeht. —


Zu a. Erfahrungsgemäss empfinden wir bei allmäligem Uebergange von einer
Temperatur zur andern den Abstand beider weniger scharf, als bei raschem Ueber-
gang. Dieser Umstand muss einen Einfluss auf die Fähigkeit der einzelnen Hautstel-
len, Wärmeunterschiede zu empfinden, ausüben; da die Haut mit einem die Wärme
schlecht leitenden Ueberzug und durch den stets kreisenden Strom des constanten
temperirten Blutes, mit einem Wärmeregulator versehen ist, so muss je nach
der Dicke der Epidermis und der Stromgeschwindigkeit des Bluts in verschie-
denen Hautparthien die Abkühlung oder Erwärmung der Nerven durch dieselbe
Temperatur in verschiedener Zeit erfolgen. — Zu b. Je entfernter die Tempe-
ratur, die jeweilig auf unsere Haut einwirkt, von derjenigen dieser letztern ist, um
so lebhafter wird der durch sie hervorgebrachte Eindruck sein, wie sich aus dem
vorhergehenden von selbst versteht und wie es die Erfahrung bestätigt. — Zu c. hat
Weber noch die ausserordentlich wichtige Bemerkung gefügt, dass zwei benachbart
gelegene Hautflächen sich mehr unterstützen als zwei entfernt gelegene; so dass,
wenn uns überhaupt die Differenzen zweier Temperaturen deutlicher bei Anwendung
derselben auf grössere als auf kleinere Hautflächen erscheinen, die grösseren wie-
derum am empfindlichsten wirken, wenn alle dem Temperaturwechsel ausgesetzten
Hautflächen im unmittelbaren Zusammenhang stehen. — Zu d. Endlich sind die Haut-
flächen, welche empfindlicher für den Temperaturwechsel sind, dieses nicht sowohl
durch ihren Nervenreichthum, sondern aus andern noch nicht erforschten Gründen.
Weber stellt folgende Reihenfolge der Temperaturempfindlichkeit auf, die von den
höheren Graden beginnt: Zungenspitze, Augenlider, Backen, Lippe, Hals, Rumpf;
von der Gesichts-, Brust- und Bauchhaut gilt als Regel, dass die der Mittellinie nä-
her gelegenen Theile weniger empfindlich sind, als die seitlichen. An den Extremi-
täten scheint bald dieser bald jener Theil eine grössere Fähigkeit zur Temperatur-
empfindung zu besitzen.


Die beste Prüfungsmethode für einen Temperaturunterschied besteht nach den
mitgetheilten Thatsachen darin, die verschiedenen Temperaturen auf eine und die-
selbe möglichst grosse Hautfläche in unmittelbar auf einander folgenden Zeiten ein-
wirken zu lassen.


Für eine zukünftige Theorie der Wärmeempfindung verspricht die
von Weber entdeckte Thatsache von Wichtigkeit zu werden, dass zwei
Gegenstände von gleichem absoluten Gewicht vom Drucksinn ver-
schieden schwer geschätzt werden, wenn ihre Temperatur ungleich
ist; der kältere erscheint schwerer.


Bemerkenswerth dürfte es auch sein, dass sehr heftige galvanische
Ströme wechselnd bald Wärme bald Kälte erzeugen, wie bei du Bois*)
angemerkt ist.


6. Ueber die Dauer der Nachwirkung in Folge von Drücken, Nachgefühl,
und der daraus hervorgehenden Verschmelzung von Eindrücken, hat Valentin**)
Versuche angestellt; er legte nämlich den Finger gegen ein Zahnrad, das sich mit
[311]Nachgefühl.
verschiedenen aber messbaren Geschwindigkeiten drehte; je nach dieser Umdre-
hungsgeschwindigkeit konnten die einzelnen Zähne noch als gesonderte unterschie-
den werden, oder es entstand durch Verschmelzung einzelner Eindrücke die Empfin-
dung des Glatten, indem, bevor der erste Eindruck verschwand, der folgende schon
eingetreten war. — Bei dieser Beobachtungsmethode wird unter allen Umständen
die Haut zusammengedrückt, welche als ein elastischer Körper eine endliche Zeit
zu ihrer Wiederausdehnung braucht; daraus ist ersichtlich, dass von dem Zahn zu-
gleich ein Rücklass in dem Nerven und in der Haut bleibt. Da Valentin hierauf
keine Rücksicht genommen, so lässt sich nicht angeben, wie die einzelnen von ihm
beobachteten Erscheinungen zu deuten sind. — Er gibt nur an, dass 640 *) Ein-
drücke in der Sekunde noch als stark gesonderte gefühlt werden. Die Sonderung der
Eindrücke soll begünstigt werden durch eine dünne Oberhaut; durch Excoriationen;
durch Baden in Blausäure, im wässerigem Opiumextrakt, in Kali, in Wasser von 40°
bis 45° C., Ueberzüge über die Finger von feinem Leder, von Oelpapier, von Wasser,
durch starken Druck von Seiten der Finger und spitzige Form der Zähne. — Die
Verschmelzung der Eindrücke soll aber begünstigt sein durch anhaltende Wasser-
bäder mittlerer Temperatur, durch Bäder in verdünntem Weingeist, in Kältemischung
und Wasser von + 54° C; durch Hemmung des Blutlaufs, durch Aetherbetäubung.


Andere besondere Gefühle, wie der Hunger, Durst, Wollustgefühl
u. s. w. werden bei der Verdauung u. s. w. abgehandelt.


[312]

Vierter Abschnitt.
Physiologie des Muskelsystems.


I. Allgemeine Muskelphysiologie.


Die Anatomen unterscheiden bekanntlich mehrere Formen des
Muskelelementes, die quergestreifte und die glatte. Da dieser Form-
verschiedenheit, wie wenigstens zum Theil nachweislich, auch eine Ab-
weichung in der Anordnung der Kräfte parallel geht, so muss die
Physiologie diesen Unterschied adoptiren.


A. Physiologie der quergestreiften Muskelröhre.


Anatomisches Verhalten. *) An der quergestreiften Mus-
kelröhre unterscheidet das bewaffnete Auge die Hülle, eine struktur-
lose häutige Röhre, die Kerne, d. h. Zellen, welche im mehr oder
weniger regelmässigen Abstande von einander an der inneren Fläche
der Hülle liegen, und endlich den Inhalt. — Ueber die Form dieses Letz-
teren, des wesentlichsten Bestandtheiles, lässt sich hier nur als wahr-
scheinlich angeben, dass sie aus regelmässigen, prismatischen Körn-
chen gebildet (Bowmanns primitive particles) sei, welche im leben-
den Zustand durch eine Zwischensubstanz zu mehr oder weniger homo-
genen Fäserchen vereinigt sind. Diese aus den Körnchen bestehen-
den Fäserchen, die in grösserer Zahl in einem Schlauch vereinigt
liegen, sind von einer Flüssigkeit, der Muskelflüssigkeit, durch-
tränkt. —


Die Bilder, welche man mit dem Mikroskop von der Muskelsubstanz ge-
winnt, sind bezüglich ihres Inhaltes sehr vieldeutig. Bald sieht man die Muskelröhren
nur mit Querstreifen versehen, die in regelmässigen Abständen aufeinander folgen;
diese Querstreifung, obgleich oft nur ganz oberflächlich erscheinend, gehört dennoch
nicht der Scheide an, weil sie auch noch besteht, wenn diese zerrissen ist und weil
man sie sehr häufig auch in die Tiefe des Muskelrohres verfolgen kann. In andern
Fällen und zwar sowohl während des Lebens als im Tode ist der Inhalt in eine Zahl
von feinen Längsfäden zerfallen. In noch andern gleichzeitig durch Längs- und
Querstreifen getheilt, so dass der Muskelinhalt von der Scheide befreit aus varikösen
[313]Chemisches Verhalten der quergestreiften Muskelröhre.
Fäden zu bestehen scheint. — Eine Hypothese, welche die Gestalt des Röhreninhaltes
erläutern soll, muss begreiflich eine Erklärung dieser verschiedenen Anschauungen
geben. Drei zählen zu diesen mit scheinbarer Gleichberechtigung. Die erste, welche
die meisten Anhänger findet, nimmt an, dass der Röhreninhalt aus feinen, chemisch
homogenen Längsfaden bestehe, welche in regelmässigen Abständen mit Einschnürun-
gen versehen seien (variköse Primitivfaser); die zweite erklärt den Inhalt für
Längsfasern, welche regelmässig wellig gekräuselt seien, und die dritte endlich be-
hauptet, der Inhalt werde durch kleine prismatische oder cylinderische Stücke
gebildet, welche durch eine chemisch verschiedene Zwischensubstanz zu Fasern
vereinigt würden (Bowmann, Lehmann). Die Thatsachen scheinen im gegen-
wärtigen Augenblicke für diese letztere Annnahme zu sprechen. Denn abgesehen
davon, dass sie die Bilder lebender Muskelsubstanz so gut erläutert, wie die beiden
andern Hypothesen, ist mit ihr in Harmonie, dass der Inhalt durch Essigsäure, con-
zentrirte Salz- und Salpetersäure, doppelt chromsaures Kali und Fäulniss in regel-
mässig parallelepipedische Stücke zerfällt, deren Länge ungefähr dem Abstande
der Querstreifung entspricht (Lehmann). Diese Thatsache ist vollkommen unver-
einbar damit, dass die Fasern gleichartig seien; denn unter dieser Voraussetzung
müssten sie unter dem Angriffe eines Lösungsmittels feiner und feiner werdend, ver-
schwinden. — Nächstdem muss aber auch noch eine zweite, anders zusammenge-
setzte, die einzelne Längsfasern verbindende Zwischensubstanz vorhanden sein.
Ihre Gegenwart lehrt die mikroskopische Beobachtung, indem das Muskelrohr auf
dem Querschnitt mit distinkten, durch eine Zwischenmasse getrennten Punkten,
die den abgeschnittenen Fasern entsprechen, versehen erscheint. Für die besondere
chemische Natur dieser Zwischenmasse erhebt sich die Beobachtung, dass durch Kali
und destillirtes Wasser die Längsstreifung vorzugsweise hervortritt unter Ver-
schwinden oder Zurücktreten der Querstreifung; es scheint hieraus hervorzugehen,
dass sich die der Länge nach eingelagerte Zwischenmasse löse und die chemisch
discontinuirliche Längsfaser aufquelle zur Bildung einer optisch gleichartigen Faser.
— Immerhin mag es aber noch besser sein, keine der Hypothesen für den wahren
Ausdruck der Thatsache anzusehen, sondern durch methodischere Untersuchung
tiefer in den Gegenstand einzudringen.


Chemisches Verhalten. *) Die organische Grundlage der drei
Formen des quergestreiften Muskelelements ist von verschiedener
chemischer Zusammensetzung. Die Hülle besteht wahrscheinlich aus
elastischer Substanz, die Kerne und der feste Röhreninhalt aus
besondern eiweissartigen Stoffen; von diesen beiden ist die letztere,
die Substanz der Fasern, charakterisirt durch ihre Leichtlöslichkeit in
sehr verdünnter Salzsäure (von o, 1 p. c. Liebig) und ihre Unlöslich-
keit in kohlensaurem Kali (Virchow). —


Die Behauptung, dass die Muskelhülle aus elastischem Stoff bestehe, gründet sich
auf die Schwerlöslichkeit derselben in Kali und Mineralsäuren. — Die Substanz der
Fasern nähert sich in ihren Eigenschaften dem geronnenen arteriellen Faserstoff; eine
Analyse des aus der salzsauren Auflösung gefüllten Stoffes ergab C 54,5; H 7,3;
N 15,8; S 1,1; O 21,4; Strecker. Diese Zahlen weichen nun freilich von den für den
Faserstoff gefundenen sehr ab. Obwohl wir nun den Stoff weder zum Faserstoff noch
zu einem andern eiweissartigen stellen können, so berechtigt uns diess dennoch
nicht, eine eigene Spezies von eiweissartigen Körpern aus dieser Substanz zu bilden,
und zwar um so weniger, als wir es schon wahrscheinlich fanden, dass die Faser
auf den verschiedenen Abschnitten ihrer Länge chemisch ungleichartig und somit
der analysirte Stoff ein Gemenge sei. — Der Stoff der Kerne löst sich leicht in K O,
[314]Muskelflüssigkeit.
dagegen widersteht er der verdünnten Salzsäure, und ist somit weder mit der Hülle
noch mit den Fasern identisch.


Ausser den erwähnten Stoffen enthält der feste Theil der Muskeln
noch Fett, das entweder zwischen den Fasern liegt, oder vielleicht
auch in ihnen selbst enthalten ist; denn häufig kommen dem bewaff-
neten Auge Fetttropfen innerhalb des frischen Muskelrohrs zu Gesicht;
jedesmal aber erscheinen sie in demselben, wenn aus der Scheide der
Stoff der Fasern durch verdünnte Salzsäure ausgezogen wurde.
Endlich enthält der feste Theil der Muskeln auch noch 2 Mg O, Ph O5;
2 Ca O, Ph O5 und 2 Fe2 O3, Ph O5. —


Diese festen Massen werden nun von einer Flüssigkeit sehr
wechselnder Zusammensetzung durchtränkt; im Falle höchster Com-
plication enthält sie Eiweiss; Kreatin; Kreatinin (Liebig) Hypoxan-
thin; Inosit; (Scherer) Inosinsäure (Liebig) Milchsäure (Berze-
lius
); Butter - Essig - Ameisensäure (Scherer); S O3; Ph O5; C O2;
ClH; Na O; K O; Ca O; Mg O; Sauerstoffgas und Wasser. Der Wechsel
in der Zusammensetzung dieser Flüssigkeit trifft soweit wir wissen,
vorzugsweise das Kreatin und die organischen Säuren.


Die Gruppirung dieser Stoffe zu Verbindungen zweiter Ordnung ist noch nicht
vollkommen gelungen, weil der Analytiker die Bestimmung nur zum kleineren Theil
aus der frischen Fleischflüssigkeit zum grössten Theil aber aus der Asche des Rück-
standes machen muss. Die indifferenten Eiweiss, Kreatin, Hypoxanthin und Inosit
befinden sich wahrscheinlich als solche in Lösung. Die organischen Säuren sind,
wahrscheinlich an K O und Na O gebunden; wir glauben dieses, weil die flüchtigen
Säuren erst nach einem Zusatz von S O3 zur Fleischflüssigkeit abzudestilliren sind und
aus der Gegenwart von kohlensauren Salzen und phosphorsauren mit 3 Atom fixer
Basis in der Asche, welche in der frischen Flüssigkeit nicht vorkommen. Die S O3, die
man in der Asche findet, ist wahrscheinlich ein bei dem Verbrennungsprozess aus dem S
der eiweissartigen Körper entstehendes Kunstprodukt; man hält sich zu dieser An-
nahme berechtigt, weil in der Fleischflüssigkeit kein S O3 nachweisbar ist (Liebig).
Das Cl ist an Na vorzugsweise aber an K gebunden. Die Ph O5 ist theils an die Ka-
lien theils an Erden geknüpft; mit den Erden bildet sie 2Mg O, Ph O5 und 2Ca O, Ph O5.
Die kalischen Salze der Phosphorsäure sind wahrscheinlich bald nach der Formel
2 K O, H O, Ph O5 bald nach der K O, 2 H O, Ph O5 zusammengesetzt. Obwohl in der
Asche zuweilen K O fast in solcher Menge vorhanden ist, um einer Verbindung von
der Form 3 K O, Ph O5 zu genügen, so ist man doch geneigt die Gegenwart des basischen
Kalisalzes zu verwerfen, weil die in der Flüssigkeit vorhandenen organischen Säuren
das Bestehen einer solcher Verbindung nicht erlauben, und weil beim Glühen mit kohlen-
sauren Salzen (die aus den organisch-sauren entstanden sind) das 2 K O, H O, Ph O5
unter Austreibung von C O2 in 3 K O, Ph O5 verwandelt wird. Meist genügt jedoch
nach Abzug des an Cl gebundenen Theiles, das in der Asche vorhandene K O nicht
einmal um sämmtliche Ph O5 als 2 K O, H O, Ph O5 zu binden; in diesem Falle muss
saures phosphorsaures Kali in der Fleischflüssigkeit vorhanden gewesen sein, da die
geringe Menge von Ph, welche frei (?) in den eiweissartigen Körpern vorhanden, die
Annahme nicht rechtfertigt, dass die überschüssige Phosphorsäure von seiner Ver-
brennung herrühre. — Die C O2 muss in der Fleischflüssigkeit diffundirt sein, da sie
beim Eindampfen derselben so vollkommen entfernt wird, dass der Rückstand bei
Uebergiessen mit Säuren nicht brausst. Der O ist ebenfalls als Gas aufgelöst.


Die Menge der einzelnen festen Theile der Fleischflüssigkeit ist wechselnd.
Helmholtz hat die wichtige Entdeckung gemacht, dass der in Alkohol lösliche
[315]Physiologisches Verhalten.
Theil des Rückstandes bedeutender wird wenn die Flüssigkeit aus einem angestreng-
ten Muskel gezogen ist. du Bois hat diese Beobachtung dahin vervollständigt, dass
der angestrengte Muskel sauer reagirt, während der ruhige sich neutral verhält.
Aus der Untersuchung von J. Liebig ergibt sich ferner, dass alle Muskeln, welche
sich bis zum Tode sehr lebhaft bewegten, mehr Kreatin enthalten, als die ruhig ver-
bliebenen Nach G. Liebig nimmt endlich mit der Muskelzusammenziehung auch die
Menge der C O2 zu. — Sehr bemerkenswerth erscheint es, dass die Muskelflüssigkeit
wie Braconnot entdeckte, vorzugsweise Kalisalze im Gegensatz zum Blutserum in
dem die Natronsalze das Uebergewicht haben, enthält. Diese eben geschilderten Ver-
schiedenheiten machen die quantitativen Analysen der Muskelflüssigkeit werthlos,
wenn diese letztere, was bisher unterblieb, nicht als eine mit den Muskelfunktionen
variable aufgefasst wird.


Ueber die Lagerung der einzelnen Bestandtheile der Fleischflüssigkeit befinden
wir uns ebenfalls noch nicht im Klaren. Man hat offenbar das Recht dazu, einen
Theil der Flüssigkeit für Blut, welches in den Gefässen der Muskelsubstanz enthalten
war, anzusprechen *). Aber abgesehen davon, dass man nicht weiss, welcher Theil
dem Blut und welcher dem Muskel angehört, ist wohl auch unzweifelhaft die eigent-
liche Muskelflüssigkeit selbst verschieden gelagert, so dass die die Röhren umspü-
lende Flüssigkeit eine andere Zusammensetzung besitzt, als die in ihnen enthaltene.
Es ist dieses darum mehr als wahrscheinlich, weil das zerhackte und mit Was-
ser ausgekochte Fleisch beim Verbrennen eine Asche hinterlässt die noch phos-
phorsaures Kali aber keine Cl Verbindungen oder C O2salze mehr enthält (Kel-
ler
). Das erste in Wasser lösliche Salz muss also sehr innig und inniger als die
andern dem Fleische adhäriren, da es durch das Auskochen mit Wasser nicht ent-
fernt werden konnte.


Physiologisches Verhalten.


Der Muskel wird dem thierischen Körper als Bewegungswerkzeug
von Wichtigkeit; hiezu wird er aber befähigt durch die Eigenthümlich-
keit seiner kleinsten Theilchen, verschiedene Stellungen gegen ein-
ander anzunehmen, vermöge deren das Muskelrohr bald kürzer und
breiter, bald länger und dünner erscheint. Diesen Veränderungen seiner
Form geht constant eine Reihe von andern Erscheinungen parallel, Er-
scheinungen, in denen zum Theil wenigstens der Grund der Form-
umwandlung zu liegen scheint; diese die Lagenveränderung der Theil-
chen begleitende Erscheinungen sind nun so beständig, dass sie selbst
auch dann noch eintreten, wenn der Muskel durch mechanische Hin-
dernisse gehemmt ist in die den andern vorhandenen Bedingungen
entsprechende Form zu gelangen; sie sind also constanter als die
Formumwandlungen. Wenn wir nun dennoch in den folgenden Be-
trachtungen die Ueberschriften der Abschnitte von den Formerschei-
nungen nehmen, so geschieht diess mit Vernachlässigung der Logik,
die wir alter Gewohnheit zu Liebe geschehen lassen und die nach
dieser Verständigung auch unschädlich ist. Weiterhin muss bemerkt
werden, dass die im Folgenden mitzutheilenden Ergebnisse meist von
Froschmuskeln gewonnen sind, die man darum als Beobachtungs-
[316]Verlängerter Zustand des Muskelrohrs. Elektrische Eigenschaften.
objekte wählte, weil sie weniger rasch veränderliche Apparate dar-
stellen, als die der warmblütigen Thiere.


A. Verlängerter Zustand des Muskelrohrs.


In verlängertem Zustand ist der Muskel mit besonderen elektri-
schen, elastischen, chemischen Eigenschaften und einer spezifischen
Form begabt.


1. Elektrische Eigenschaften. Aufschlüsse, welche uns
über die merkwürdigen elektrischen Eigenschaften des Muskels zu
Theil geworden sind, verdanken wir den auch hier ausserordentlichen
Leistungen von du Bois. Die Methoden, mittelst deren er die elektri-
schen Eigenschaften des Muskels untersucht, sind dieselben, die er
bei der Aufdeckung der gleichen Verhältnisse der Nerven anwendete.
Er bedient sich des Multiplikators und des stromprüfenden Frosch-
schenkels.


Der Multiplikator dient ihm abermals dazu, das Vorhandensein, das Wachsen,
Sinken und die Richtung der im Muskel vorhandenen Ströme anzuzeigen. Da aber
die Muskeln viel kräftigere Ströme nach aussen senden, als die Nerven, so ist es ge-
boten, hier ein Werkzeug von einer viel geringeren Zahl, von höchstens 4000 bis
6000 Windungen anzuwenden. Im Uebrigen ist aber die Einrichtung dieses Multipli-
kators ganz dieselbe, welche demjenigen für den Nervenstrom zukömmt; hier wie
dort münden die Drahtenden in Platinplatten aus, welche am oberen Ende gefirnisst,
am unteren mit einer Hülle von Fliesspapier überzogen sind, und eben so tauchen
sie in eine gesättigte Kochsalzlösung. In den beiden Gefässen, welche die Kochsalz-
lösung enthalten, liegt ausserdem der bekannte Zuleitungsbausch. Um den Kreis
fortwährend elektrisch gleichartig zu erhalten, werden beide Zuleitungsbäusche
durch den Schliessungsbausch überbrückt, und ihre freien Enden werden jedesmal
mit Eiweisshäutchen überkleidet, auf die der Muskel zu liegen kommt, wenn
er in den Multiplikatorenkreis eingeschaltet wird. Um leicht und allgemein ver-
ständliche Angaben über den Ort des auf die Bäusche aufgelegten Muskelstückes
machen zu können, denkt man sich auch den Muskel als einen Cylinder, und nennt
die der Längsausdehnung der Röhren entsprechende Seite den Längsschnitt, die seine
Länge halbirende Linie den Aequator, und die senkrecht auf die Längsausdehnung
gehende Richtung den Querschnitt, welcher den Namen des natürlichen führt, wenn
er noch mit der Sehne in Verbindung ist, so dass diese eigentlich als Fortsatz des
stumpfen Muskelendes den natürlichen Querschnitt vorstellt; künstlicher Querschnitt
heisst dagegen der senkrecht gegen die Längsausdehnung geführte Schnitt, welcher
das rothe Fleisch blosslegt.


Der Multiplikator ergibt unter der Voraussetzung gleicher Spann-
weite des ableitenden Bogens, dass auch ein Muskel durch den Draht
Ströme in der Richtung von der Oberfläche zum Querschnitt sendet
und dass je nach der Auflegung des Muskels sogenannte unwirksame,
schwache und starke Combinationen vorkommen, oder mit andern
Worten, dass bei Auflegung gewisser Muskelstellen gar keine, bei
Auflegung anderer, schwache, und bei Auflegung noch anderer, starke
Ablenkungen der Nadeln erwirkt werden.


Der Muskel schickt nämlich gerade wie der Nerv keinen Strom
durch den Multiplikator, wenn er mit zwei Punkten auf den Bäuschen
ruht, die symmetrisch zum Aequator liegen, gleichgiltig ob diese
[317]Ruhender Muskelstrom.
zwei Punkte des Längs- oder des Querschnittes sind. (Unwirksame
Combination.) Setzt man dagegen den einen Bausch auf den Aequator
und den andern in einen nahegelegenen Ort des Längsschnitts, so erhält
man eine schwache Nadelablenkung, die allmälig wächst, wenn man
bei gleichbleibender Entfernung der abgeleiteten Stellen gegen den
Querschnitt hinrückt; dasselbe ereignet sich, wenn man den einen
Bausch auf den Mittelpunkt des Querschnittes aufsetzt und den
andern gleichfalls auf den letzten in der Nähe des Mittelpunktes, und
dann bei gleichbleibender Entfernung der Bäusche auf den Querschnitt
sie gegen die Grenze des Längenschnitts vorrückt (Schwache An-
ordnungen). Die starke Anordnung erhält man endlich, wenn man
den einen Bausch auf den (künstlichen oder natürlichen) Quer- und
den andern auf den Längenschnitt auflegt. Aus dem Gang der
Nadelablenkung erhält man also das Gesetz der allmäligen Stromes-
zunahme durch dieselbe Curve ausgedrückt, die uns schon der
Nervenstrom gab. Fig. 81. Diese Curve hat zur Ordinatenachse die

Figure 84. Fig. 81.


geraden, welche
die Ecken des
Rechteckes hal-
biren, wodurch
der Muskeldurch-
schnitt dargestellt
ist. Sie bedeutet,
dass wenn man
die Bäusche auf
der Oberfläche
und zwar den
einen im und den
andern nahe bei
demAequator auf-
setzt (1) (2)
die Nadelablen-
kung gering ist und dass sie nach dem Werthe von 2 x; 3 x; 4 x; 5 x
wächst, wenn man die Bäusche auf 2, 3; 3, 4; 4, 5; u. s. w. fort-
rückt. Setzt man beide Bäusche zugleich an den Querschnitt an, so
erscheint auf ihm dasselbe Gesetz des Stromwachsthums, wenn man
mit der Stellung der Bäusche 6, 7 beginnt und zu 6, 5 fortschreitet.
Da die Ströme, welche den Muskel umkreisen, vom Aequator nach
entgegengesetzten Richtungen mit gleicher Stärke ausgehen und gegen
den Querschnitt gleichmässig ansteigen, so werden bei einer Anlegung
der Bäusche symmetrisch um den Aequator z. B. auf II, 2; 3, III u. s. f.
zwei Ströme von entgegengesetzter Richtung durch den Multiplikator
kreisen, deren Wirkungen auf die Nadel sich gegenseitig aufheben
müssen.


[318]Ruhender Muskelstrom.

Am Muskel gilt ebenfalls die Thatsache, dass der Strom mit der-
selben Gesetzmässigkeit an Stücken von allen Grössen wiederkehrt,
so dass man gleicher Richtung der Ströme und gleichen Gesetzen des
Anwachsens begegnet, mag man ein längeres oder breiteres Stück
noch so oft der Quer und Länge nach zerspalten. — Fernerhin ist
auch hier nachweislich, dass Oberfläche und Querschnitt von einer
Schichte indifferenten Leiters überzogen sind, und somit der Ort
der elektrischen Gegensätze in dem Innern des Muskels, oder in der
Muskelröhre zu suchen sei, denn ohne dieses würden die schwachen
Ströme auf Längs- und Querschnitt nicht erscheinen können, und man
dürfte kein Minimum geschweige, wie es der Fall ist, ein Maximum
der Nadelabweichung erhalten, wenn man die Anordnungen Bausch,
Längenschnitt, Querschnitt Längenschnitt, Bausch (s. d. entsp. Fig. 14
in der Nervenlehre) wählt.


Die Umstände, von denen bei sonst gleichen Verhältnissen die
Grösse der Nadelablenkung abhängt, sind wiederum dieselben, denen
wir bei den Nerven begegneten, die Länge, die Breite und die Lebens-
kräftigkeit des Muskels; denn es wächst die Nadelablenkung mit der
Verlängerung und Verbreiterung des Muskelstückes, und die Grösse
des elektrischen Gegensatzes zwischen Längen- und Querschnitt tritt
um so mächtiger hervor, je fähiger der Muskel sich zeigt, mechanische
Widerstände beim Uebergang der verlängerten in die verkürzte Form
zu überwinden, mit andern Worten: je weniger ermüdet er ist. Dem-
gemäss schliesst du Bois auch hier auf die Gegenwart sehr
kleiner, mit elektrischen Gegensätzen behafteter Theil-
chen, welche sich in der sogenannten peripolaren Anord-
nung finden
.


Nach allem diesen braucht nicht hervorgehoben zu werden, dass alles was bei
dem ruhendem Nervenstrom über das Grössenverhältniss zwischen dem Stromarm, der
die Molekeln unmittelbar umkreisst, und dem durch den Multiplikatordraht wandern-
den gesagt worden ist, auch hier seine Anwendung findet.


Der frische *) Muskel zeigt, so lange seine Sehne mit keinen
andern Flüssigkeiten als mit Blut und Lymphe in Berührung war, die
Eigenthümlichkeit, dass der von der Oberfläche zum Querschnitt
gehende Strom sehr schwach auftritt; er erscheint aber augenblick-
lich verstärkt, sobald man die Sehne in eine beliebige Flüssigkeit, die
nur eine andere als Blut und Lymphe sein muss, eintaucht; denselben
verstärkenden Einfluss übt eine Berührung der Sehne mit einem festen
Körper und noch lebhafter wird der Strom, wenn man die Sehne
ganz entfernt und statt des natürlichen den künstlichen Querschnitt
auf die Bäusche legt. Aus diesen Thatsachen geht hervor, dass
der frische nur mit Blut und Lymphe berührte Muskel an dem natür-
lichen Querschnitt eine leicht zerstörbare Schichte besitzen muss,
[319]Parelectronomische Schicht.
welche das Hervortreten des Gegensatzes zwischen Oberfläche und
Querschnitt verhindert. Du Bois vermuthet, es geschehe dieses
dadurch, dass von den zu einem peripolaren Systeme zusammengeord-
neten Molekeln am Ende der Röhre nur die eine Abtheilung vorhanden
sei, wie dieses die Fig. 82 versinnlicht, in welcher 1 u. 2 ein voll-

Figure 85. Fig. 82.


kommen peripolares Molekel
darstellen, 3 aber ein nur zur
Hälfte vorhandenes. Es be-
darf keiner Auseinandersez-
zung, dass durch eine solche
Einrichtung, welche Oberfläche und Querschnitt positiv macht, der
Gegensatz zum Verschwinden kommt. — Bei den Bewegungserschei-
nungen der Muskelmolekeln werden wir erfahren, warum gerade
diese Annahme die meisten Gründe für sich hat.


Diese besonders gelagerte Schichte von Muskelmolekeln, welche
du Bois mit dem Namen der parelectronomischen belegt, ist im
lebenden Thier in verschiedentlicher Ausbildung vorhanden; am aus-
geprägtesten oder vollständigsten erscheint sie bei Fröschen, welche
sich längere Zeit in der Temperatur des schmelzenden Eises aufhiel-
ten, so dass an den Muskeln dieser Thiere scheinbar gar kein Strom
oder auch ein Strom in umgekehrter Richtung erscheint. — Aber auch
hier genügt die nur kurz dauernde Berührung der Sehne mit Wasser,
Eiweiss, Alcohol, Säuren, Alkalien, Salzlösung u. s. w. u. s. w., um
den Strom zu erwecken.


Durch den stromprüfenden Froschschenkel gelingt der Nachweiss
des elektrischen Gegensatzes zwischen Längs- und Querschnitt eben-
falls leicht; und wegen der kräftigeren Ströme mit geringeren Hülfsmit-
teln als bei den Nerven. Es genügt, den freipräparirten n. ischiadicus des
stromprüfenden Schenkels auf den Längsschnitt zu legen und ihn dann
plötzlich mit einem andern Theile seiner Länge auf den Querschnitt zu
senken um die Zuckung erscheinen zu machen. Hiebei ist es gleichgül-
tig, ob man den natürlichen oder künstlichen Querschnitt wählt, voraus-
gesetzt, dass am erstern die parelectronomische Schicht durch ein
entsprechendes Mittel (Salzwasser, Erhitzen etc.) zerstört ist. — Der
hier erwähnte Versuch stellt die voreinst so berühmte Zuckung ohne
Metalle dar, welche von Galvani entdeckt und durch v. Humboldt
den Angriffen Volta’s gegenüber aufrecht erhalten wurde.


2. Elastische Eigenschaften. Die Untersuchung der
elastischen Eigenschaften des Muskels, welche von Ed. Weber*)
in ausgezeichneter Weise begonnen wurde, ist aus theoretischen und
praktischen Gründen von grosser Bedeutung. Zunächst gibt sie uns
Aufschluss über die sogenannten molekulären Verhältnisse des Mus-
kels, oder mit andern Worten, über den Werth der Kraft, mit welcher
[320]Elastische Eigenschaften.
die kleinsten Theilchen einer Masse ihre gegenseitige Lagerung zu
erhalten, oder wenn sie aus ihr entfernt sind, wieder einzunehmen
streben. Dieses Streben der kleinsten Theilchen einer scheinbar noch
so homogenen Masse, ihre gegenseitige Lagerung zu behaupten, ist
nun aber, wie die Erfahrung lehrt, meist nicht die Folge einer ein-
fachen, sondern sehr complizirter Gegenwirkungen, und so u. A.
namentlich der electrischen Spannungen, der Wärme, der Entfernung
der Moleküle von einander (des spez. Gewichts) u. s. w. Soll dem-
gemäss die Untersuchung über Elastizität dazu dienen uns über die
molekulären Verhältnisse in das Klare zu bringen, so muss dieselbe
mit Rücksicht auf die erwähnten und andere Umstände geschehen,
so dass z. B. die Ausdehnbarkeit einer Masse durch Gewichte be-
stimmt würde, während sie verschiedene Temperaturen, electrische
Spannungen u. s. w. angenommen hätte. Diese interessante Beobach-
tungsreihe ist am lebenden Muskel nicht in wünschenswerther Aus-
dehnung möglich, weil derselbe nur in sehr engen Grenzen möglicher
Veränderungen seine Lebenseigenschaften bewahrt. Weber hat sich
darum darauf beschränkt, die Elastizität des ruhenden Muskels in ihrer
Veränderlichkeit zu bestimmen, mit dem Wechsel der Entfernung der
Molekeln von einander (oder wie man auch sagt ihrer jeweiligen
Spannung) und mit ihrem Vermögen, mechanische Leistungen zu voll-
führen (oder mit dem Grade ihrer Ermüdung). — Die Untersuchung
der Muskelelastizität ist aber auch von nicht minderer praktischer
Bedeutung; denn es versteht sich von selbst, dass eine Substanz,
welche wie die des Muskels zum Tragen von Gewichten bestimmt
ist, untersucht werden muss auf die Veränderungen der Form, die
sie unter dem Einfluss der Gewichte erleidet.


Die Weber’schen Untersuchungen am frischen Froschmuskel ha-
ben gelehrt: a. Innerhalb niederer Grenzen des Werthes und der Zeit-
dauer der Ausdehnung ist die Elastizität (gleich der des Kautschouks)
eine sehr vollkommene, d. h. es nimmt der Muskel genau seine frü-
here Form wieder an, wenn die durch Gewichte veranlasste Ausdeh-
nung eine nicht allzubeträchtliche war, und wenn der Muskel nicht
allzulange im ausgedehnten Zustande verharren musste. — b. Mit zu-
nehmender Spannung des Muskels nimmt die Ausdehnbarkeit dessel-
ben rasch ab oder was Gleiches bedeutet, der Elastizitätscoeffizient
rasch zu; denn die Beobachtung gab das Resultat, dass durch kleine
Gewichte die Muskelfaser um einen grossen Bruchtheil ihrer Länge
ausgedehnt wurde, dass aber die proportionale Ausdehnung nicht ent-
sprechend dem Wachsthum der Belastung zunahm. Das Verhältniss zwi-
schen dem Zuwachs der Verlängerung und der Belastung ist durch die
Curve Fig. 83 versinnlicht. Auf die Ordinatenachse Y ist der Längenzu-
wachs in Bruchtheilen der Längeneinheit aufgetragen, welche durch
die an die Querschnittseinheit angehängten Gewichte, wie sie der Rei-
[321]Wärmeeigenschaften.
henfolge nach auf X verzeichnet sind, erzeugt wurde. *) — Vergleicht
man die von gleichen Gewichten 1 g; 1 g bis 2 g; 2 g bis 3 g; u. s. f.

Figure 86. Fig. 83.


erzeugten Verlängerungen O L′, L′ L″, L″
L‴
u. s. f. so sieht man sogleich, dass eine
gleich grosse Steigerung der Gewichte ei-
nen immer geringern Längenzuwachs er-
zeugt; demnach erhält die Curve eine Krüm-
mung deren Convexität nach oben geht. —
c. Die Ausdehnbarkeit des Muskels nimmt
mit steigender Ermüdung desselben um ein
Geringes zu.


Da die Muskelsubstanz in den verschiedenen Orten des thierischen Körpers einen
ungleichen Gehalt an Binde- und elastischem Gewebe besitzt, so kann der absolute
Werth der oben verzeichneten Ordinate (OL′ L′ L″, u. s. f.) nicht in allgemein giltiger
Weise angegeben werden.


3. Wärmeeigenschaften. Die Temperatur des lebensfähigen,
ruhenden Muskels ist in gewisse Grenzen eingeschlossen; für den
Froschmuskel liegen dieselben ungefähr zwischen — 3° C bis + 38° C;
tritt der Muskel aus dieser Temperatur heraus, so hat er momentan
entweder seinen lebensfähigen Zustand überhaupt oder seinen ruhen-
den Zustand eingebüsst. — Aber auch innerhalb dieser Grenzen ist
keineswegs jeder Grad gleich geeignet zur Erhaltung des Muskels;
zahlreiche Erfahrungen haben festgestellt, dass der Muskel, wenn
seine Temperatur dem obern oder untern Werthe der bezeichneten
Grenze sich nähert, unter sonst gleichen Bedingungen rascher seinen
lebensfähigen Zustand einbüsst, als wenn er auf die mehr gegen die
Mitte liegenden Temperaturgrade erwärmt wird.


Daraus geht die Folgerung hervor, dass die freie Wärme sehr be-
stimmend auf das molekuläre Verhalten des Muskels einwirkt; inwie-
fern muss durch weitere Versuche noch ermittelt werden.


Die bis dahin vorliegenden Untersuchungen beschränken sich darauf, die Zeit
zu ermitteln, welche nothwendig ist, damit ein in Wasser von constanter Tempera-
tur liegender Muskel seine Fähigkeit einbüsst, durch einen electrischen Schlag in
Zuckung versetzt zu werden. Diese Versuche, richtig angestellt, geben höchstens
Aufschluss darüber, dass überhaupt dem lebensfähigen ruhenden Muskel eine Nor-
maltemperatur nöthig sei. Vorerst leidet aber auch dieser Aufschluss noch an
schweren Mängeln; denn man hat sich weder überzeugt, wie rasch der schlecht
wärmeleitende Muskel die Temperatur des umgebenden Mediums annimmt; noch ob
das Wasser nicht unabhängig von der Temperatur schädlich sei; noch wieviel in je-
dem Fall auf die Eigenthümlichkeit der Zusammensetzung und auf die von der Tempe-
ratur unabhängige Veränderlichkeit des jeweilig untersuchten Muskels zu schieben
sei. Die wahre Aufgabe besteht nun aber darin, zu ermitteln, wie mit der Tempera-
tur die inneren Zustände des Muskels, ausgedrückt durch die chemische Zusammen-
setzung, die electrischen Ströme, und den Elastizitätscoeffizienten wechseln. Als An-
fänge zu einer solchen Betrachtung sind anzusehen du Bois Untersuchungen über die
Steigerung des parelectronomischen Zustandes am erkalteten (?) und die zeitweise
Ludwig, Physiologie I. 21
[322]Chemische Eigenschaften.
Umkehrung des Stroms am erwärmten Muskel; dieses letztere Verhalten werden wir
bei der Wärmestarre noch einmal erwähnen.


Zur Erhaltung seiner Normaltemperatur liefert der Muskel selbst
im Ruhezustand einen kleinen Beitrag, wie wir erschliessen, weil der
stets mit Sauerstoff durchdrungene Muskel CO2 entwickelt. Zum
grössten Theil aber empfängt der Muskel im lebenden Zustand seine
Wärme aus dem Blute. —


4. Chemische Eigenschaften. In der allgemeinen chemi-
schen Charakteristik des Muskels wurde schon erwähnt, dass die Zu-
sammensetzung desselben eine wechselnde sei, hier ist hinzuzufügen,
dass dieser Wechsel mit dem physiologischen Zustand Hand in Hand
geht. — Ob die ungelösten Bestandtheile des Inhaltes der Muskel-
röhre während ihrer Ruhe besondere nur diesem Zustand angehö-
rige Eigenschaften zeigen, ist unbekannt; wir wissen dagegen, dass
a. zur Behauptung der Lebenseigenschaften des Muskels die Ge-
genwart von freiem, in der Muskelflüssigkeit aufgelösten Sauerstoff-
gase nöthig ist. (Humboldt, du Bois, G. Liebig*). Dieser
Sauerstoff verbindet sich unter nachweisslicher CO2-Bildung fortlau-
fend mit einem Theil der Muskelsubstanz. b. Dass die Muskelflüssigkeit
wenn sie aus einem Muskel gewonnen wurde, der längere Zeit im Ru-
hezustand befindlich war, sehr wenige in Alkohol lösliche Stoffe ent-
hält (Helmholtz**) und neutral reagirt, sonach die sauren Salze oder
die freie Säure entbehrt (du Bois). c. Dass der Röhreninhalt solcher
Muskeln, welche unter sonst noch so günstigen Verhältnissen sehr
anhaltend der Ruhe überlassen blieben, allmälig sich nicht allein min-
dert sondern auch umwandelt.


Um die Nothwendigkeit der Gegenwart des in den Muskeln anwesenden Ogases
zu erweisen, hingen du Bois und G. Liebig die beiden Unterschenkel eines Fro-
sches in verschiedene Gasarten und setzten die Zeit fest, während welcher sie sich
in beiden Gasarten zuckungsfähig erhielten. Da jedesmal gleichzeitig die beiden
Unterschenkel in verschiedene auf ihre Wirkung zu vergleichende Gasarten gebracht
wurden, so waren damit die aus der Individualität des Frosches herrührenden Un-
gleichheiten beseitigt. Um den Gasen den Zutritt zur Muskelsubstanz zu erleich-
tern, waren die Schenkel vorsichtig ohne Verletzung der Fascien enthäutet; um das
Eintrocknen der Schenkel zu verhüten, war der Gasraum, in dem sie sich befanden,
gesperrt und mit HO-Gas gesättigt. Der electrische Schlag, durch den die Muskeln
zur Zuckung veranlasst wurden, war für beide Schenkel dadurch gleichgemacht,
dass derselbe zugleich durch beide Schenkel ging. Die Schenkel erhalten sich in
O länger als in atmosphärischer Luft zuckungsfähig, und in dieser länger als in
N, CO2, H. — Das um die Muskeln befindliche Ogas wird von ihnen absorbirt, und
zur Bildung von CO2 verwendet, welche in die Atmosphäre austritt. Diese Sauer-
stoffabsorption und CO2-Bildung ist um so lebhafter, je frischer der Muskel. Da
nun die Muskeln auch noch fortfahren, CO2 zu entwickeln, wenn sie durch Injection
mit Wasser von Blut befreit und ausserdem in eine Atmosphäre von N aufgehängt
waren, so muss O in der Muskelflüssigkeit aufgelöst gewesen sein, und daher rührt es
[323]Verkürzter Zustand.
denn auch, dass die Schenkel in der andern Gasart nicht sogleich, sondern erst nach
Verfluss einiger Zeit ihre Zuckungsfähigkeit einbüssen. — Das Genauere über die
Abnahme des Gewichts und der Form der Muskeln in dem Zustand anhaltender Ruhe
siehe bei der Ernährung derselben.


Die Gegenwart aller andern chemischen Stoffe in dem Muskel die für denselben
nicht als charakteristisch aufgeführt wurden, ist für diesen von verschiedener Be-
deutung; eine Zahl derselben zerstört die Lebenseigenschaft des Muskels für immer,
so dass derselbe auch nach ihrer Entfernung todt zurückbleibt; eine andere Zahl ver-
ändert die Lebenseigenschaften nur so lange als sie selbst anwesend sind; zu diesen
letztern gehört nach Stannius*) bemerkenswerther Weise die Blausäure; ein
mit diesem Stoff inprägnirter Muskel büsst zwar momentan seine Lebenseigenschaft
ein, ist aber die Säure, vorausgesetzt dass sie nicht zu lange einwirkte, verdunstet,
so kehrt die Zuckungsfähigkeit des Muskels zurück.


B. Verkürzter Zustand des Muskelrohrs.


Wenn der Muskel mit den bisher geschilderten Eigenthümlichkei-
ten angethan ist, so verwandelt er sich unter dem Hinzutritt einer
beschränkten Zahl von neuen Bedingungen in die verkürzte Form.
Mit dem Eintritt dieser Formveränderung erscheinen aber auch zu-
gleich seine elastischen, elektrischen, thermischen und chemi-
schen Eigenschaften geändert; mit einem Wort, es geschieht eine
vollkommene Umwandlung der molekulären Eigenschaften des Mus-
kels.


Da diese Umänderung der molekulären Eigenthümlichkeiten als
Folge einer Reihe von Bedingungen, die wir so eben als den lebenden,
ruhenden Muskeln beschrieben haben, und einer Reihe von neuen, die
man mit einem Worte Muskelerreger nennt, auftreten, so muss der Grad
der Ausbildung, mit welchem die Verkürzung in die Erscheinung tritt,
abhängig sein von dem Zustand des ruhigen Muskels und der Art und
der Stärke des Muskelerregers. Nun besteht aber der ruhige Zustand
des Muskels selbst wieder durch das Zusammenwirken einer sehr be-
trächtlichen Zahl von Bedingungen und es entwickelt sich darum die
logische Aufgabe, zuerst zu untersuchen, welche Einflüsse Muskelerre-
ger sind; ferner wie mit der Veränderlichkeit derselben und dem gleich-
bleibenden Zustand des Muskels, die Werthe der Formumänderung
wachsen und fallen; darauf wie sich die letztern gestalten, bei glei-
chem Werth des Muskelerregers, und einem verschiedenen Gehalt des
Muskels an Sauerstoff, Eiweiss, Säuren, Kreatin, Salzen u. s. w. oder
wenn die wissensaftlichen Hülfsmittel die Zergliederung des Phäno-
mens bis auf seine Elemente noch nicht erlauben, wie die Formverände-
rungen wechseln mit den primären resultirenden dieser Elementarfunk-
tionen, nämlich mit dem Elastizitätscoeffizienten, der Stärke der elek-
trischen Strömung, der Wärme des ruhenden Muskels.


1. Muskelerreger. Zuerst werden wir demnach die Schwan-
kungen der Muskelverkürzung mit der Veränderlichkeit der sogenann-
ten Muskelerreger aufzufassen suchen.


21*
[324]Muskelerreger. Willen, Reflex, Wärme, chemishe Atome, Druck.

Ueber die Methode zur Anstellung dieser Versuche gilt das früher bei den Ner-
ven bemerkte S. 109.


a. Die Verkürzung tritt jedesmal ein, wenn die in den Muskel ein-
gehenden Nerven
in den erregten Zustand oder genauer ausge-
drückt, in denjenigen gelangen, der durch die elektronegative Stromes-
schwankung charakterisirt ist. Die Umstände aber, unter welchen der
Muskelnerv überhaupt erregt wird, sind α. bestimmte nicht näher definir-
bare Seelenzustände, die wir mit dem allgemeinem Namen Willen be-
zeichnen. — β. Eigenthümliche Verhältnisse des Rückenmarks und Hirns,
die wir unter dem nichtssagenden Namen, automatischer und
reflektorischer Erregung, begreifen. — γ. Diejenigen Tem-
peraturen, welche momentan mit ihrem Eintritt den Nerven zerstören.
Nach Eckhard*) wird dieses im Froschnerven erreicht durch Tem-
peraturen, welche jenseits — 3° bis — 5° R. und ebenso jenseits
+ 53° bis + 54° R. liegen. Mit der Länge der von diesen Kälte- oder
Wärmegraden getroffenen Nervenstücke, wächst die Stärke der Zuk-
kung, sie ändert sich dagegen nicht mit der Entfernung des getroffe-
nen Stückes von dem Eintritt in den Muskel. — δ. Von den auf den Ner-
ven angewendeten chemischen Atomen erzeugen nach Eckhard**)
eine vorübergehende Zuckung begleitet von dem Absterben des
Nerven Lösungen, die über 1 bis 2p.C KO und NaO; über 10 bis
20p.C NO5 und ClH; über 45 bis 60 p.C SO3 enthalten; ferner Meta-
phosphorsäure, sehr conzentrirte Essig- und Weinsäure; wässriger Al-
kohol von über 90 p.C, Kreosot; AgONO5. — Anhaltende sog. tetanische
Erregung erzeugen dagegen die zwei- und mehrprozentigen Lösungen
von Na Cl; Ca Cl; Am Cl; KId; KO, 2CO2; NaO, 2CO2; NaO, SO3 und KO, SO3,
ferner sehr conzentrirte Zuckerlösungen. Durch Eintauchen in Wasser
mit einem Wort durch Auswaschen dieser Substanzen aus dem Ner-
ven werden die Zuckungen gehoben und es bleibt der Nerv erregbar
zurück. Zuckung erzeugt endlich ein rasches Eintrocknen des Nerven
also eine Wasserentziehung (?). — Zahllose andere conzentrirte Lö-
sungen selbst sehr kräftig wirkender chemischer Stoffe, wie die der ge-
wönnlichen Phosphorsäure, des Ammoniaks, der Metallsalze zerstören
zwar den Nerven bringen ihn aber nicht in den Erregungszustand. —
ε. Mechanische Veränderungen des Nerven erzeugen den zuckungserre-
genden Zustand desselben, aber nur vorausgesetzt, dass sie mit einer
gewissen Langsamkeit auf ihn eindringen, während sehr rasch verlau-
fende mechanische Affektionen des Nerven, wie z. B. eine rasche Durch-
schneidung desselben (Valentin) keinen solchen erzeugen. — ϑ. Zu
den Erregern des Muskelnerven gehört endlich der elektrische Strom;
dieser vermag jedoch nur dann den Nerven in den bewegungserzeu-
genden Zustand zu versetzen, wenn die Stärke desselben während der
[325]Elektricität. Gesetz der schwankenden Dichtigkeit.
Dauer seiner Einwirkung auf den Nerven in Schwankungen begriffen
ist; er erzeugt dagegen keine Zuckung so lange er mit gleichbleiben-
der Stärke durch den Nerven strömt. Dieses von du Bois zuerst aus-
gesprochene Gesetz wird durch eine graphische Darstellung in vollem
Umfang verständlich werden. Es mögen zu dem Behuf, Fig. 84, die
Ordinaten Y die Stärken des Stromes bedeuten, welche er in verschie-
denen Zeiten X1X2 … besitzt, während er auf den Nerven wirkt, *)

Figure 87. Fig. 84.


die Zeiten denken wir uns auf
die Abszisse aufgetragen. Dem
obigen Gesetz gemäss würde
also ein Strom, dessen Inten-
sitäten sich auf Y1, Y2, Y3, Y4
u. s. w. während der entspre-
chenden Zeit X1, X2, X3, X4 u.
s. w. ändern, erregend wirken, während ein Strom von der Form a c,
dessen Ordinaten während der ganzen Stromdauer unveränderlich
sind, den Nerven in scheinbarer Ruhe lässt.


Die Mittel um die Elektrizität in veränderlicher Dichtigkeit durch den Nerven
strömen zu lassen, sind sehr zahlreich; es möge genügen, einige derselben, die zu-
gleich als Bestätigung des Gesetzes dienen, anzuführen. Berührt man einen Nerven,
an dem noch der zugehörige Muskel befindlich, mit den Polen einer constanten elek-
trischen Batterie, so dass diese durch den Nerven geschlossen wird, so erscheint mit
der Schliessung eine Zuckung, — die Schliessungszuckung —, während der
Dauer des Schlusses bleibt der Muskel ruhig, er zuckt aber von Neuem, sowie man
den Pol von dem Nerven entfernt, — die Oeffnungszuckung —, im ersten Fall
stieg also der Strom in dem Nerven von Null bis zu dem hier möglichen Maximum sei-

Figure 88. Fig. 85.


ner Stärke an; im zweiten Fall sank er
von diesem auf Null zurück. — Die
Schwankung der Stärke, die hier
durch Oeffnung und Schliessung er-
zeugt wurde, kann begreiflich auch
erzielt werden durch Veränderung in
dem Leitungswiderstand bei geschlos-
sener Kette. Schliesst man z. B. wie in
Fig. 85 den Strom K, Z, B, N durch den
Nerven, so kann man letztern so oft
man will in den zuckungserregenden
Zustand versetzen, wenn man die Ne-
benschliessung B bald öffnet und bald
schliesst, weil hierdurch die Dichtigkeit
des Stromarmes, welcher durch den
Nerven kreist, fortwährend verändert
wird, indem dann die entwickelte E.
bald durch beide Stromarme gehen
kann, bald aber auch nur auf einen
sich beschränken muss.


[326]Steilheit der Stromcurve.

Aus dem du Bois’schen Gesetz folgt die wichtige Ableitung —
die praktisch aber schon früher bekannt war — dass man von dem
Nerven aus einen Muskel in dauernde oder tetanische Zusammen-
ziehung versetzen kann, wenn man auf ihn einen elektrischen Strom
von fortwährend veränderlicher Stärke (Intensität und Dichtigkeit)
wirken lässt. Zu den elektrischen Apparaten, welche fortwährend
veränderliche Ströme entwicklen und sich demgemäss zur Herbeifüh-
rung tetanischer Erregung besonders eignen, gehört die Saxton’sche
Maschine (elektromagnetischer Rotationsapparat) und das Neef’sche
Blitzrad, welches in einer von du Bois verbesserten Form *) sich
vorzugsweise dem Physiologen nützlich erweist. —


Das Abhängigkeitsverhältniss des zuckungserregenden Nerven-
zustandes von der elektrischen Strommesschwankung gestaltet sich
nun folgendermassen.


Der Umfang der Verkürzung wächst mit dem Werthe der Schwan-
kung die der Strom in der Zeiteinheit erfährt, du Bois. Dieser Ausspruch
ist in Fig. 86 graphisch dargestellt. Man trug zu dem Behuf auf die Abs-

Figure 89. Fig. 86.


zisse X wiederum die Zeit auf, während
deren ein Strom auf den Nerven wirkt,
und auf die Ordinate Y die Veränderun-
gen seiner Dichtigkeit während dieser
Einwirkung. Wir wollen nun annehmen,
es haben zu verschiedenen aber gleich
langen Zeiten o b zwei Ströme auf den
Nerven gewirkt, von denen der eine im
Moment seiner Einwirkung mit der
Stärke o a begann und nach Beendigung der Zeit o b mit Nullstärke
schloss, während der andre mit der Dichtigkeit o a begann und nach
Verfluss der Zeit o b mit einer solchen, welche b c entspricht, schloss,
Dem obigen Gesetz gemäss wird der Strom a c schwächere Zuckung
erregen als a b, weil die Steilheit des Abfallens der Schwankungs-
curve bei dem ersten Strom eine geringere war, als bei dem
letzteren.


Obwohl das genauere Verhältniss zwischen der Schwankung der Stromstärke
und dem Umfang der Zusammenziehung noch nicht ermittelt ist, so lässt sich doch in
der oben mitgetheilten Weise das Bestehen irgend welcher Proportionalität zwischen
beiden Vorgängen behaupten. Als eine der vielen Erfahrungen zur Stützung des Satzes
diene die unter dem Namen des Einschleichens in die Kette bekannte Thatsache. Es
besteht dieses Einschleichen darin, dass ein Muskel von einer sehr starken Kette nicht
zur Zuckung gebracht wird, wenn man die Stärke ihrer Wirkung sehr allmälig
wachsen lässt; dieses geschieht u. A. dadurch, dass man den Nerven in dieselbe ein-
schaltet, während man gleichzeitig noch einen ganz ausserordentlich grossen Wider-
stand in sie einschiebt, so dass im Moment des Nerveneintritts kaum ein Strom den
Kreis durchläuft; vermindert man nun ganz allmälig den Widerstand, oder mit andern
Worten steigert man ganz allmälig den Strom, so kann man den Nerven ohne eine
[327]Absoluter Werth der Stromstärke; Gesetz der Zuckungen.
Zuckung von ihm zu erhalten in einen Strom bringen, der den Nerven, vorausgesetzt,
dass derselbe rasch in ihn eingeführt worden wäre, in die lebhafteste Erregung ver-
setzt haben würde.


Die Grösse der Verkürzung wechselt ferner bei gleicher Schwan-
kung des Stromes mit dem absoluten Werth der Stromstärken zwi-
schen denen die Schwankung vor sich geht; graphisch ausgedrückt
wird also die durch die Curve a b Fig. 87 dargestellte Schwankung

Figure 90. Fig. 87.


eine grössere Wirkung ausüben
als die der Curve c d entsprechende.
Indem wir nämlich auch hier, nach
der uns schon geläufigen Bezeich-
nungsweise die Stromstärken und
Zeiten durch Y und X ausdrücken,
gewahren wir, dass die Differenzen
zwischen den Stromstärken, wel-
che zu Anfang und Ende der Zeit-
einheit bestanden, in beiden Fällen
gleich sind, dass dagegen die absoluten Werthe dieser Stromstärken
selbst in beiden Fällen verschieden waren. Dieses Wachsthum der
Muskelverkürzung mit dem Werthe der Stromsträrken gilt jedoch nur
so lange als der Strom überhaupt ein schwacher ist; ist die Dichtig-
keit des Stromes, welcher den Nerven durchfliesst nur einigermassen
bedeutend geworden, so erzielt er sogleich das Maximum der mögli-
chen Verkürzung d. h. es kann durch weitere Steigerung der Strom-
stärke keine noch weitergehende Verkürzung erzielt werden. —
Belege für diese Behauptung siehe bei Helmholtz. *)


In einem sehr merkwürdigen Verhältniss steht weiterhin die Er-
regung des Muskelnerven zu der Richtung des ihn durchkreisenden
Stromes; wir werden hier in der Kürze alle darauf bezügliche sichere
Thatsachen mittheilen, die unter dem Namen des Gesetzes der
Zuckungen
und der Veränderung der Erregbarkeit durch
den geschlossenen Strom
bekannt sind. —


Gesetz der Zuckungen. In den höhern Graden der Erregbarkeit erscheint
jedesmal eine Zuckung bei Schliessen oder Oeffnen eines den Nerven durchkreisen-
den Stromes gleichgiltig ob dieser in der Richtung vom Muskel zum Rückenmark —
aufsteigend**) — oder in der Richtung vom Rückenmark zum Muskel — abstei-
gend
— den Nerven durchfloss; wenn dagegen die Erregbarkeit sich allmählig ab-
schwächt, erscheint beim Schliessen des absteigenden Stroms eine heftige, bei Er-
öffnen desselben dagegen nur eine sehr schwache oder gar keine Zuckung mehr;
gerade umgekehrt verhält sich der aufsteigende Strom; beim Schluss desselben tritt
entweder keine oder nur eine sehr schwache Zuckung auf, während sie bei Eröff-
nung desselben ausserordentlich stark wird. Diese von Ritter zuerst aufgestellte
Regel erleidet jedoch mannigfache Ausnahmen, so dass unter Umständen die Strö-
[328]Veränderung der Erregbarkeit durch den Strom.
mungsrichtung sich zwar noch von Einfluss erweist, aber gerade umgekehrte Erfolge
erzeugt. Eine dieser Umkehrungen des Gesetzes der Zuckungen findet sich normal
nach Longet’s und Matteucci’s Erfahrungen an den vordern Wurzeln der Rük-
kenmarksnerven; wenn man auf diese, statt auf den Nervenstamm nach seinem Aus-
tritt aus dem Rückenmarkskanal verschiedene Strömungsrichtungen wirken lässt,
so erscheint, unter der Bedingung eines niederen Grades der Erregbarkeit, mit der
Schliessung des aufsteigenden Stroms und der Oeffnung des absteigenden Zuckung,
während sie bei der Oeffnung des aufsteigenden und der Schliessung des absteigen-
den ausbleibt.


Veränderung der Erregbarkeit durch den geschlossenen
Strom
. Der geschlossene Strom schwächt den Muskelnerven wie alle andere
ab, er verändert ihn aber auch eigenthümlich und zwar verschiedentlich, je nach der
Stromstärke, der Stromdauer und je nachdem der Strom auf den herausgeschnittenen
Nerven oder den des unversehrten Thiers einwirkt. — Lässt man den aus dem Thier
herausgelösten, nur noch mit einem Muskel in Verbindung befindlichen Nerven in
einem schwachen absteigenden Strom längere Zeit z. B. ½ bis 1 Stunde hindurch
liegen, so bleibt der Muskel bei wiederholtem Oeffnen und Schliessen der Kette
regungslos, er geräth dagegen unter denselben Umständen in die lebhaftesten Zuk-
kungen wenn der Strom in aufsteigender Richtung durch ihn drang. Es ist also we-
nigstens scheinbar durch den absteigenden Strom die Erregbarkeit gelähmt, durch
den aufsteigenden aber erhöht worden, Ritter. Anders gestaltet sich die Erschei-
nung, wenn man statt eines schwachen einen starken Strom anwendet; in diesem
Falle bleibt der Nerv scheinbar erregungslos zurück, wenn anhaltend ein Strom
gleichgiltig in welcher Richtung durch ihn ging, denn es kann durch Oeffnen oder
Schliessen desselben Stroms keine Zuckung erzeugt werden. Kehrt man nun aber
die Strömungsrichtung um, lässt man also z. B. einen Nerv, der bisher absteigend
durchflossen war, aufsteigend durchströmen, so verhält er sich dieser neuen Strö-
mungsrichtung gegenüber wieder erregbar; so kann man wechselnd den Nerven
bald für die aufsteigende, bald für die absteigende Richtung lähmen; während er
der Anregung des jeweilig entgegengesetzten Stroms Folge leistet. Voltaische
Alternative
. Die Zeitdauer, in welcher die vollkommene Trägheit des Nerven
gegen den gerade ihn durchkreisenden Strom eintritt, ist über eine gewisse Grenze
unabhängig von der Stromstärke, Marianini. Diese ganze Ercheinungsweise der
Voltaischen Alternative soll nach Marianini an dem unversehrten mit dem ganzen
Thier in Verbindung befindlichen Nerven nicht sichtbar werden, indem hier in jedem
Augenblick die durch den Strom erzielten Veränderungen von den nervösen Central-
theilen wieder ausgeglichen werden. — Siehe über diesen für die Theorie der Nerven-
wirkungen wichtigen Gegenstand du Bois, I. Bd. 258 u. f.


Einen besonderen Fall von Veränderung der Erregbarkeit durch den galva-
nischen Strom hat C. Eckhard erörtert, der nicht allein durch seine praktische
Folgen, sondern auch darum Wichtigkeit empfängt, weil er als eine Ableitung aus
der elektrischen Theorie der Nervenkräfte anzusehen ist. Dieser Fall besteht aber
darin, dass ein Muskelnerv, wenn ein aliquoter Theil desselben in den constanten gal-
vanischen Strom eingeschaltet ist, durch einen gleichzeitig anwesenden Erreger nicht
mehr in den zuckungserzeugenden Zustand versetzt werden kann; mit andern
Worten der Nerv ist so lange gelähmt als ein Theil desselben von
einem constanten Strom durchflossen wird
. Der Grund dieser Erschei-
nung scheint darin gesucht werden zu müssen, dass der constante Strom die elek-
trischen Molekeln der Nerven peripolar anordnet (in den elektrotonischen Zustand
versetzt p. 82) und sie somit verhindert in die Schwankungen zu gerathen, welche
der Erregung der Nerven eigen sind.


Der Versuch zur Darstellung dieser Erscheinung besteht darin, dass man durch
ein Stück eines ausgeschnittenen mit dem Muskel noch in Verbindung stehenden
[329]Einfluss des Stromlaufs zur Richtung und der Länge des N.
Froschnerven die Pole einer galvanischen Säule schliesst; wenn man dann die Schläge
eines Induktionsapparats, mechanische oder chemische Mittel, sei es auf das freie
Ende des Nerven oder auf das zwischen constanter Säule und Muskel liegende Stück
anwendet, so sind diese erst dann vermögend Zuckung zu erzeugen, wenn man die
constante Kette öffnet. — Unter den Variationen, welche Eckhard an diesem Grund-
versuch vorgenommen hat, sind diejenigen hervorzuheben, in welchen er sich als Er-
regungsmittel des elektrischen Stromes von schwankender Stärke bediente. Hiebei
ergab sich 1) dass das Verhältniss zwischen der Stärke des erregenden (schwan-
kenden) und constanten Stromes nicht gleichgiltig ist; soll der letztere die physio-
logische Wirkung des ersteren aufheben, so darf er nicht unter eine gewisse Stärke
sinken. 2) Die lähmende Wirkung der constanten Kette tritt beträchtlicher hervor,
wenn sie eingeschaltet ist zwischen den Muskel und die erregende, während sie
schwächer wirkt, wenn sie (vom Muskel an gerechnet) jenseits der erregenden liegt.
3) Die aufsteigende Richtung des Stromes (vom Muskel gegen das freie Ende) in der
constanten Kette hält stärkeren erregenden Strömen das Gleichgewicht als die ab-
steigende. Diese Versuche verdienen eine genaue Verfolgung mit dem Multiplikator.


Der Winkel, unter welchem der erregende elektrische Strom die
Längenachse des Nerven durchsetzt, ist von nicht minderer Bedeutung
für den Umfang der Verkürzung; durchdringt er den Nerven recht-
winklich, so bleibt er vollkommen wirkungslos. Seine volle Wirkung
entfaltet er nur dann, wenn er den Nerven nach der Längenachse des-
selben durchfliesst; Galvani.


Die einfachste und sicherste Methode zur Darstellung dieser Thatsache ist die,
den Nerven mit einem wohl befeuchteten leinenen Faden, der von einem Strom durch-
zogen wird, in Verbindung zu bringen und zwar bald in der Art, dass man den Ner-
ven senkrecht auf die Richtung des Fadens legt, bald ihn der Länge nach an ihn an-
schmiegt.


Endlich übt es einen Einfluss auf die Stärke der Zuckung, ob ein
kürzeres oder längeres Stück des Nerven zwischen die Pole der er-
regenden Säule gefasst wird; im Allgemeinen wächst mit der Ver-
längerung des eingeschalteten Nervstückes der Werth der Verkürzung;
du Bois.


b. Genau dieselben Mittel, welche den Nerven in die zuckungs-
erregende Beschaffenheit versetzen, bringen die Zuckung auch her-
vor, wenn sie direkt mit den Muskeln in Berührung kommen. Die Ueber-
einstimmung ist, so weit unsre Kenntnisse reichen, vollkommen ge-
nau, so dass alles hier und dort gleichmässig gilt; es lag darum die
Controverse nahe, dass der Muskel überhaupt nur durch den Nerv hin-
durch zur Zusammenziehung angeregt werde, indem man annahm,
dass auch die in den Muskel direkt eindringenden Einflüsse zunächst
auf die in ihm enthaltenen Nerven wirkten. Wir werden diese Con-
troverse erst an einen späteren Ort (p. 354) aufnehmen.


2. Muskelerregbarkeit. Wir wenden uns zu der zweiten
Reihe von Bedingungen mit denen der Werth der Verkürzung des
Muskels veränderlich ist; nämlich zu der Variation der inneren Zu-
stände des Muskels. — Leider ist dieser schwierige aber unendlich
wichtige Theil unseres Gegenstandes noch sehr wenig und da auch
[330]Muskelerregbarkeit abhängig vom 0, Extractivstoffe, elect. Gegensatz.
noch meist sehr mangelhaft in Angriff genommen. — a. Mit dem ver-
mehrten Sauerstoffgehalt des Muskels steigt nach Humboldt und
G. Liebig die durch denselben Erreger erzeugbare Verkürzung.


Die Beweise für diesen Satz liegen darin, dass ein in Ogas aufgehängter Frosch-
Schenkel schon durch ein Minimum von Anregung in ein Maximum der Verkürzung
kommt; Humboldt. Noch schärfer sind die Thatsachen von G. Liebig, welcher in
den oben beschriebenen Versuchen oft den Muskel, welcher in O haltendem Gase und
einen anderen der in N gas und H gas sich aufhielt, auf gleiche Weise erregte; hier
ergab der in O haltendem Gas hängende Muskel immer kräftigere Bewegungen.


b. Die Gegenwart bestimmt zusammengesetzter Extractivstoffe
übt einen Einfluss auf die Verkürzbarkeit; wir erschliessen dieses,
weil auf die tetanische Zusammenziehung des Muskels eine auffal-
lende Unfähigkeit zur Verkürzung folgt; der einzige nachweissliche
Unterschied zwischen dem Muskel vor und nach dem Tetanus besteht
nun aber darin, dass im letztern Zustand die Summe der wässrigen
Extracte ab-, um die der weingeistigen zugenommen, ferner, dass
die neutrale Reaction des Muskels in eine saure übergegangen ist, und
dass wahrscheinlich die im Muskel enthaltene CO2 sich gemehrt hat. —
c. Je ausgesprochener der elektrische Gegensatz zwischen Oberfläche
und dem von seiner parelectronomischen Schicht befreiten Querschnitt
erscheint, um so verkürzbarer ist der Muskel; du Bois. — d. Die Be-
deutung des Wärmegrades für den Muskel ist schon vorhin gewürdigt.


Da nun aber die Veränderlichkeit, welche in den Werth der Zuckung
durch den jeweiligen Muskelzustand eingeführt wird, nur in ganz we-
nigen Fällen auf einen ihrer wahren Gründe zurückgeführt ist, und die-
ses in dem einzelnen Versuch fast niemals geschehen kann und man
doch ein Wort zum Verständniss braucht, welches diese Veränderlich-
keit andeutet, so hat man sich die harmlosen Ausdrücke, Erregbar-
keit, Leistungsfähigkeit
gebildet, welche ohne auf den Grund
der Erscheinung einzugehen, die einfache Thatsache aussprechen, dass
der Grad der Zusammenziehung eines Muskels auch noch von etwas
anderem als dem besonderen Auftreten der Erreger abhängig sei.


Das Wort Erregbarkeit bezieht sich im Allgemeinen auf die Veränderlichkeit der
Verkürzung durch denselben Erreger, während die Leistungsfähigkeit hindeutet auf
das Vermögen, Gewichte zu einer bestimmten Höhe zu heben, oder während einer
bestimmten Zeit unter dem Einfluss eines Erregers seine Form zu behaupten.


Die Leistungsfähigkeit eines Muskels nimmt nun, wie Jedermann
bekannt, mit der unternommenen Anstrengung ab; diese besondere
Veränderung der Leistungsfähigkeit belegt man mit dem Namen der
Ermüdung. Wie demnächst bewiesen wird, ermüdet die Zusammen-
ziehung den Muskel darum, weil sie die chemische Beschaffenheit
umgestaltet. Man sollte darum auf den ersten Blick denken, dass es
sinnvoll wäre, dieses Mittelglied, die Beschaffenheitsveränderung des
Muskels, einmal ganz bei Seite zu setzen und den Grad der erniedrig-
ten Leistungsfähigkeit mit der Zeit und der Energie der sie bedingen-
[331]Ermüdung.
den Zusammenziehung zu vergleichen, d. h. die Ermüdung als eine
Funktion des letzteren Umstandes aufzufassen; in diesem Sinne
könnte denn auch die Ermüdung einen Massstab abgeben, wie mit
der Zusammenziehung die chemische Umwandlung der Muskelsub-
stanz wachse und falle. Diese Hoffnung verwirklicht sich aber in
nur sehr untergeordneter Weise, da es sich herausstellt, dass die
durch die Zusammenziehung eingeleiteten Veränderungen nicht die
einzigen sind, welchen der Muskel ausgesetzt ist. Namentlich aber
ergibt eine genauere Ueberlegung, dass die in der Ermüdung zum
Vorschein kommende Leistungsfähigkeit resultirt aus gleichzeitig vor-
handenen erhaltenden und vernichtenden Einflüssen.


Zu allen Zeiten und insbesondere auch in der Zeit der Zusammenziehung wirken
sich in Muskeln Umstände entgegen, von denen die einen eine erhaltende und die an-
dern eine zerstörende Resultirende erzeugen; die ersten dieser beiden, die erhalten-
den Einflüsse, wirken in dem Muskel, welcher sich noch mit dem lebendigen Blutstrom
in Berührung befindet, kräftiger, als in dem ausgeschnittenen. Dieses geht schon
daraus hervor, dass der ausgeschnittene Muskel durch viel geringere Anstrengung
ermüdet, als der noch im lebenden Thiere befindliche; sie fehlen jedoch auch
dort nicht, da erwiesener Maassen ein ausgeschnittener Muskel, der durch eine
vorhergehende Anstrengung seine Zusammenziehungsfähigkeit gänzlich verloren
hatte, sie nach einiger Zeit der Ruhe wieder gewinnt. Diese erhaltenden Einflüsse
sind wahrscheinlich dargestellt durch das Blut und die Muskelflüssigkeit, welche, ob-
wohl sie ebenfalls aus dem Blute stammt, doch in so fern neben ihm selbständig
steht, als sie unabhängig von demselben sich in ihrer Zusammensetzung ändert. Die
Betheiligung des Blutes zeigt sich eben darin, dass ein unversehrter, von normalem
Blute durchströmter Muskel später in die Ermüdung tritt; ferner darin, dass mit der
steigenden Muskelanstrengung der Verbrauch des Bluts wächst, und endlich, dass
man im Blute die Reste der umgesetzten Muskelstoffe findet. — Auf die erhaltenden
Wirkungen der Muskelflüssigkeit schliessen wir aber aus der Art und Weise, wie
sich der ausgeschnittene Muskel wieder erholt. Diese Wiederherstellung geschieht
nämlich nur in sehr engen Grenzen, indem der zum ersten Mal vollkommen erschöpfte
Muskel sich nur zu einem sehr untergeordneten Grad von Leistungsfähigkeit er-
hebt; wird diese noch einmal durch anhaltende Zusammenziehung vernichtet, so er-
holt sich der Muskel zwar noch einmal, aber in weit geringerem Maasse; hiermit
schliesst dann aber überhaupt die Erholungsfähigkeit; die ganze Erscheinung bietet
sonach das Aussehen, als ob die Wiederherstellung aus einem sich verbrauchenden
Vorrath von Ernährungsflüssigkeit geschehe. — Wie nun schon aus dem bisherigen
hervorgeht, muss die Bedeutung dieser erhaltenden Einflüsse mit den Umständen
sich sehr ändern, eine Ableitung, welche die Erfahrung vollauf bestätigt, da auch
ein und derselbe Muskel innerhalb des Thierkörpers, oder die gleichnamigen ausge-
schnittenen Muskeln möglichst gleichartiger Thiere durch dieselbe Anstrengung auf
ganz verschiedene Weise erschöpft werden.


Wollte man demgemäss in der oben angegebenen Weise die Er-
müdung, d. h. den vernichtenden Einfluss der Muskelzusammenzie-
hung studiren, so müsste man entweder die Erholung erzeugenden Um-
stände ganz zum Verschwinden bringen, oder sie wenigstens beim
Wechsel der ermüdenden Bedingungen gleich erhalten. Diese schwie-
rige Aufgabe hat man nun bis dahin nicht zu lösen versucht; es ist
somit Ermüdung im gewöhnlichen Sinne als der Zustand zu nehmen,
[332]Form des verkürzten Muskels.
welcher resultirt aus beiden Einflüssen. Bei der wahrscheinlichen Zu-
sammengesetztheit der Wirkungen eines jeden derselben, können na-
türlich die resultirenden Prozesse eine unsägliche Mannigfaltigkeit
besitzen. Im Allgemeinen scheint aber doch festzustehen, dass die
Ermüdung wächst mit der Zeitdauer der Anstrengung, mit dem Werthe
der Verkürzung und mit der Grösse des zu hebenden Gewichtes.


3. Form des verkürzten Muskels. Grösse der Verkür-
zung
. Die bei der Zusammenziehung stattfindenden sichtbaren Vor-
gänge bestehen darin, dass die während der Ruhe im Zickzack ge-
bogenen oder geschlängelten Muskelröhren sich unter Verminderung
ihrer Länge und Vergrösserung ihres Querschnitts gerade strecken;
zugleich erscheinen die Querstreifen schärfer und deutlicher, indem sie
näher aneinder rücke; Ed. Weber. — Um welchen Proportionaltheil der
ursprünglichen Länge sich der Muskel verkürzt, hängt von Umständen
ab, die wir theils schon kennen lernten, theils noch kennen lernen
werden; das von Ed. Weber unter den günstigsten Bedingungen beob-
achtete Maximum betrug ⅚ der Länge des ruhigen Muskels. Hiebei
verbreitert der Muskel nicht genau seinen Queerschnitt um eben soviel
als seine Länge abnimmt, so dass eine unbeträchtliche Volumänderung
und zwar eine Raumverkleinerung eintritt; bei der Umlegung der
einen in die andere Form verdichtet sich also der Muskel um ein Ge-
ringes; Erman.


Die mikroskopische Beobachtung des sich verkürzenden Muskels geschieht nach
Ed. Weber am besten, wenn man mit einem sehr dünnen Muskel eines Frosches
die Enden eines elektrischen Induktionsapparates überbrückt, welche in das Objek-
tivglas eingelassen sind. Während der Beobachtung setzt man den Muskel in teta-
nische Erregung. — Zur Bestimmung der Muskelverdichtung dient ein geschlossenes
mit Flüssigkeit gefülltes Gefäss, in das die Enden eines Induktionsapparates geleitet
sind, und das nach oben in ein feines, zum Theil mit Flüssigkeit gefülltes Röhrchen
ausläuft. Wen man nun den Muskel auf die Enden des Induktionsapparates in der
Flüssigkeit legt und durch denselben den Muskel in Zusammenbringung bringt, so
kann man aus dem Sinken und Steigen des Flüssigkeitsstandes im Röhrchen ersehen,
ob Volumveränderungen des Muskels eintreten. Bei Anstellung des Versuchs ist be-
greiflich nöthig, die Anwesenheit von Luftblasen in den Blutgefässen des Muskels
zu vermeiden, und zweckmässig als Flüssigkeit statt des Wassers Milch, Blut-
serum und ähnliche Stoffe zu wählen, weil in diesen der Muskel längere Zeit seine
Lebenseigenschaften erhält.


4. Zeitlicher Verlauf der Zusammenziehung*). Wenn
ein Erreger auf den Muskel wirkt, so beginnt nicht augenblicklich mit
dem Eintritt desselben die Verkürzung, sondern erst eine kurze Zeit
nach dem Eintreten jenes; hieraus folgt, das wenn ein Erreger wäh-
rend einer verschwindend kleinen Zeit den Muskel trifft, dieser seine
[333]Zeitlicher Verlauf der Zusammenziehung.
Zusammenziehung erst beginnt, nachdem der erregende Einfluss schon
entfernt war, wie sich dieses z. B. ereignet, wenn man durch den
Muskel einen electrischen Funken sendet; Helmholtz. Hat aber die
Bewegung des Muskels begonnen, so verkürzt er sich zuerst mit be-
schleunigter und dann abnehmender Geschwindigkeit und erreicht dabei
ein bestimmtes Maximum der Verkürzung; von hier ab verlängert sich
nun der Muskel und zwar mit allmälig steigender Beschleunigung.
Zwischen den Zeiten des Auf- und Absteigens scheint kein bestimmtes
Verhältniss zu bestehen. Die ganze Zeit, welche verwendet wird zur
Vollendung eines solchen Ganges wächst im Allgemeinen mit der
Grösse der Verkürzung (Ed. Weber, Helmholtz) mit der Schwere
des zu hebenden Gewichtes und mit der abnehmenden Leistungs-
fähigkeit des Muskels; Helmholtz.


Die zeitlichen Beziehungen, welche zwischen dem Eintritt des zuckungerregen-
den Einflusses dem Beginne und Maximum der Verkürzung und der Wiederherstel-
lung des verlängerten Zustandes stattfinden, sind beispielsweise in Fig. 88 ausge-

Figure 91. Fig. 88.


drückt. — In dieser Curve bedeuten die
Höhen, welche auf der Ordinate y ver-
zeichnet sind, die absoluten Werthe der
Verkürzung, welche eintreten, als ein mo-
mentaner elektrischer Schlag den Muskel
traf; die auf der Abszisse x gleichweit ab-
stehenden Zahlen 0, 1, 2, 3, 4, … 8 drücken die Zeiten aus, welche verbraucht wurden,
um den Muskel in den jeweiligen Zustand der Verkürzung zu bringen. Die gleichen
Zwischenräume zwischen je zwei aufeinander folgenden Zahlen entsprechen einer
Zeit von 0,025 Secunden; während der elektrische Schlag, welcher zur Zeit 0 den
Muskel traf, bei weitem noch nicht 0,0015 Sec. anhielt. Demgemäss kann die Zeit
während welcher der elektrische Schlag anhielt, als verschwindend klein gegen den
ganzen von 0 bis 8 betragenden Zeitraum angesehen werden. Betrachten wir nun die
Curve genauer, so ergibt sich, dass ungefähr 0,02 Sec. nach Anwendung des momen-
tan dauernden Erregers verstrichen, bevor der Muskel sich zu verkürzen anfing; dass
dann vom Beginn der Zuckung an sich der Muskel zuerst mit grösserer und dann
immer abnehmender Geschwindigkeit verkürzt, wie dieses durch die immer kleiner
werdenden Zwischenräume zwischen y° y1, y1y2 u. s. w. ausgedrückt wird, und um-
gekehrt, dass der Muskel sich zuerst langsamer und dann rascher und rascher
verlängert. Die ganze Zeit, in der vom Beginn der Verkürzung an der Muskel das
Maximum derselben erreichte, beträgt 0,180 Sec. und derjenige, welche zur Einkehr
in seine alte Lage nothwendig 0,105 Sec.


Die mitgetheilte Curve hat Helmholtz unmittelbar durch den Froschmuskel
zeichnen lassen; es geschah dieses nach den Grundsätzen des graphischen Verfah-
rens von Watt. Der Muskel wurde nämlich an seinem oberen Ende befestigt auf-
gehängt, an dem untern Ende wurde mittelst einer Klemme ein Schreibstift ange-
bracht, welches ohne Reibung auf einen berussten, ebenfalls vertikal stehenden Cy-
linder reichte; der Cylinder wurde dann mit gleichmässiger Geschwindigkeit be-
wegt, so dass fortlaufend andere Punkte desselben mit dem Stift in Berührung ka-
men; war der Muskel in seiner normalen Länge, so beschrieb er beim Umgang des
Cylinders auf diesen die Linie x (unserer Abszisse). Verkürzte er sich aber, so er-
hob sich der Stift und dieser zeichnete eine Linie, welche den zeitlichen Gang und
den Grad der Verkürzung darstellte. Ueber das Genauere dieser feinen Versuche siehe
Helmholtz.


[334]Elastische Eigenschaften.

Die Richtigkeit und Allgemeingültigkeit des Verlaufes der Curve hat Helm-
holtz
noch auf eine andere Weise und Volkmann durch ein ähnliches Verfahren
dargethan. Es braucht wohl kaum bemerkt zu werden, dass dagegen jede von einem
andern Muskel entnommene Curve Besonderheiten zeigen wird, entsprechend dem
ihm angehängten Gewicht und seiner Erregbarkeit.


Die über den zeitlichen Verlauf der Zuckung mitgetheilten That-
sachen fordern die Annahme, dass während derselben die kleinsten
Theilchen des Muskels unter der Einwirkung von Kräften stehen,
deren resultirende Wirkungen nach zwei entgegengesetzten Richtun-
gen gehen, indem die eine die Muskelröhren zu verkürzen strebt,
während die andere umgekehrt den ursprünglichen Zustand zu
erhalten oder den Muskel, wenn er verkürzt worden, wieder zu ver-
längern sucht. Betrachten wir nach dieser Voraussetzung die Curve
noch einmal, so sehen wir zunächst, dass von dem Augenblicke an, wo
die Wirkungen der verkürzenden Kraft in die Erscheinung treten,
diese zuerst ein steigendes Uebergewicht erhält, indem anfangs in gleich
langer aufeinanderfolgender Zeit grössere und grössere Strecken
auf der Bahn der Verkürzung zurückgelegt werden. Neben diesen ver-
kürzenden steigern sich aber auch bei einer gewissen Grösse der er-
langten Formumwandlung die verlängernden Kräfte, und erhalten so-
gar bald das Uebergewicht über die verkürzenden, was an der Curve
sich dadurch ausdrückt, dass von einem gewissen Zeitraum an die
Verkürzung mit abnehmender Geschwindigkeit geschieht; dieses
Wachsthum der verlängernden Kräfte steigert sich endlich zu dem
Grad, dass in der That eine Umkehr der Bewegung stattfindet, d. h.
dass der Muskel sich wieder so lange ausdehnt, bis er seine ursprüng-
liche Länge erhalten.


In Anbetracht der Untersuchungsweise von Helmholtz, bei welcher der Mus-
kel senkrecht, mit einem Federhalter beschwert, aufgehängt wird, so dass er bei der
Verkürzung neben seinem eigenen auch noch das angefügte Gewicht zu heben hat,
konnte man zu dem Glauben kommen, dass das, was wir verlängerende Resultirende
nannten, nichts anderes als die Schwere sei. Diese Annahme ist aber, wie Volk-
mann
besonders hervorhebt, widerlegt durch die Thatsachen, dass auch ein hori-
zontal gelegter Muskel sich nach gleichen Gesetzen verkürzt und verlängert; ferner,
dass der ermüdete Muskel langsamer steigt und fällt, als der noch frische und end-
lich, dass die Zeit des Auf- und Absteigens viel zu gross ist, um einzig von der be-
schleunigenden Kraft der Schwere abhängig sein zu können.


5. Elastische Eigenschaft des zusammengezogenen
Muskels
. Eine breite Bahn in das bisher so dunkle Gebiet der ela-
stischen Eigenschaften des zusammengezogenen Muskels hat Ed.
Weber
*) gebrochen. Die Entdeckungen, die ihm hier gelungen
sind, machen auf den Weiterbau dieses Gebietes sehr begierig.
Zuerst stellte er fest, dass der Elastizitätscoeffizient eines Muskels
sich erniedrigt, wenn dieser aus dem ruhigen in den zusammen-
gezogenen Zustand übergegangen ist; oder mit andern Worten, das-
[335]Abnahme des E coëfficienten in der Verkürzung.
selbe Gewicht dehnt denselben Muskel im zusammengezogenen Zu-
stand um einen grössern Bruchtheil seiner Länge aus, als im ruhigen
Zustande. Aus diesem Satz fliesst die, schon durch eine frühere
Untersuchung Schwann’s festgestellte Folgerung, dass die gesamm-
ten bei der Formumwandlung des Muskels thätigen Kräfte kein inni-
geres Zusammenhaften der Muskelmolekeln bedingen.


Obwohl der gegebene Ausdruck des Weber’schen Gesetzes keiner Missdeutung
fähig ist, so wollen wir doch noch zum vollkommenen Verständniss eine ihn erläu-
ternde Beobachtung beifügen.


Die Länge eines von Weber gemessenen ruhenden Muskels betrug bei Anhängen
eines Gewichtes von 5 Gr. = 41,9 m.m., als nun 30 Gr. an ihn gehängt wurden verlängerte
er sich auf 45,9 m. m. — Die proportionale Verlängerung des ruhenden Muskels durch
einen Gewichtszusatz von 25 Gr. erzielt, war also . Unter den
elektrischen Schlägen eines Rotationsapparates verkürzte sich derselbe Muskel wäh-
rend ein Gewicht von 5 Gr. an ihm hing, auf 16,75 m. m. und durch Vermehrung des
Gewichtes auf 30 Gr. verlängerte er sich auf 27,2 m. m. Die proportionale Ver-
längerung für einen Gewichtszusatz von 25 Gr. betrug also hier .


Diese Thatsache ist, wie man leicht erkennt, nicht im Widerspruch mit den
Schlüssen, welche aus der Untersuchung von Helmholtz gezogen sind, denn die
Ergebnisse dieses letzteren Gelehrten waren nur verständlich unter der Voraus-
setzung, dass die Verkürzung einen Gleichgewichtszustand darstellte hervorge-
gangen aus der Gegenwirkung verkürzender und verlängernder Kräfte; sie sagten
also aus, dass ein zu seinem Maximum verkürzter Muskel durch Anhängung
eines auch noch so kleinen Gewichtes sogleich verlängert werden musste; über
die Grösse der proportionalen Verlängerung durch Gewichte gaben sie jedoch keinen
Aufschluss.


In scheinbaren Widerspruch tritt dagegen die Erniedrigung des Elastizitäts-
Coeffizienten mit der Thatsache, dass der Muskel bei seiner Verkürzung sich ver-
dichtet. Es löst sich derselbe aber sogleich, wenn man in Erwägung zieht, dass die
Muskelsubstanz aus Stoffen von sehr verschiedenem physiologischem Werth besteht,
indem nur der Inhalt der Muskelröhre Theilchen enthält, deren Anziehung primär
geändert wird, während die Theilchen der primitiven und secundären Scheiden erst
durch die Lagenveränderung des Inhalts gespannt, oder auch zusammengepresst
werden. Man könnte sich versucht fühlen, irgend welche genauere Hypothese aus
dieser Betrachtung abzuleiten, indem man noch weiter voraussetzte, dass die Span-
nung und Zusammenpressung dieser Scheiden diejenigen Kräfte darstellte, welche
wir die verlängernden genannt haben, wenn Weber nicht die Thatsache gefunden
hätte, dass ein sehr ermüdeter aber ruhiger Muskel durch ein angehängtes Gewicht
in dem Moment, wo er durch die Induktionsschläge erregt wird, statt verkürzt zu
werden sich verlängert. Da in diesen Fällen also die verlängernde Kraft nicht durch
die aus einer Verkürzung des Muskels herrührende Spannung und Zusammenpres-
sung der Scheiden erzeugt sein konnte, so müssen noch andere ganz unbekannte
Umstände eintreten, die während die Muskelerregung das Zusammenhaften der
Theilchen mindern.


Nächst der wichtigen Thatsache, dass der Elastizitätscoeffizient
des Muskels sich bei der Zusammenziehung verkleinert, ermittelte Ed.
Weber
die nicht minder bedeutende, dass entsprechend der steigen-
den Ermüdung die Curve des Elastizitätscoeffizienten sich ändert;
[336]Abnahme des E coeffizenten mit der Ermüdung.
mit andern Worten, die stufenweis aufeinander folgende proportionale
Ausdehnung, welche durch dieselbe Reihenfolge angehängter Ge-

Figure 92. Fig. 89.


Figure 93. Fig. 90.


Figure 94. Fig. 91.


wichte erzeugt werden, ändert sich an dem-
selben Muskel mit der wachsenden Er-
müdung. Den allgemeinen Gang dieser Ver-
änderung geben die Curven 89, 90, 91. In
ihnen bedeuten die Werthe L, L′ — L,
L″ — L′ u. s. w. die in Bruchtheilen der
mittleren Muskellänge ausgedrückten Län-
genzuwächse, welche durch eine Stei-
gerung der Gewichte von 5 Gr. auf 10 Gr.,
15 Gr. u. s. w. erzielt wurden. Diese drei
Curven sind ein und demselben Muskel an-
gehörig; die zu je einer derselben gehöri-
gen Werthe gelten für einen während der
ganzen Beobachtung constant erhaltenen
Ermüdungsgrad, und zwar ist Fig. 89 nach
Beobachtungen bei der niedrigsten, Fig. 91
nach denen bei der höchsten Ermüdung
entworfen.


Hier ergibt sich nun, dass ein allmäli-
ger Uebergang im Gesetz des Wechsels
von dem niedrigsten zum höchsten Grad
der Ermüdung stattfindet. Merkwürdiger
Weise nähert sich bei höchster Leistungs-
fähigkeit die Curve der geraden Linie an,
d. h. es verhält sich die Elastizität wie die
eines getrockneten organischen Körpers, während die folgenden den
stufenweisen Uebergang dieser in die Curve des unthätigen Muskels
(S. 321) darstellen. Zugleich ergibt sich aber auch, dass der absolute
Werth des Coeffizienten der Ausdehnbarkeit (der unmittelbar durch
den Werth von L′, L″ — L′ u. s. w. ausgedrückt ist) für niedere Ge-
wichte bei grösseren Ermüdungen sehr viel beträchtlicher ist, als bei
grösserer Leistungsfähigkeit.


Die Beobachtungen über die Elastizität des nicht ermüdeten Muskels bewegen
sich leider in noch zu engen Grenzen; wahrscheinlich gehen die noch fehlenden
Curvenstücke in einer andern Richtung als die anfänglichen.


Zur Ermittlung der vorgeführten Thatsachen hing Ed. Weber den m. hyoglos-
sus des Frosches passend auf, beschwerte ihn mit einem Gewicht, mass dann auf
sichere Weise seine Länge; darauf setzte er ihn den Schlägen des Induktionsappa-
rates so lange aus, bis er das Maximum seiner Verkürzung erreicht hatte. Nachdem
die Länge des Muskels abermals gemessen war, öffnete er den Induktionskreis und
wiederholte den Versuch mit andern Gewichten und zwar in der Weise, dass er auf das
zuerst angehängte Gewicht von 5 Gr. der Reihe nach aufsteigend die von 10 Gr., 15 Gr.,
20 Gr., 25 Gr., 30 Gr., und dann der Reihe nach absteigend die von 25 Gr., 20 Gr., 15
Gr., 10 Gr., 5 Gr. folgen liess. Einer solchen auf- und absteigenden Beobachtungsreihe
[337]Electrische Eigenschaften.
wurde dann derselbe Muskel fünf bis sechsmal unterworfen. Diese sinnreiche Art
zu beobachten war nach verschiedenen Richtungen hin vortheilhaft. Zunächst näm-
lich konnte der Muskel zahlreichere Thatsachen liefern, als wenn er ununterbrochen
den erregenden Einflüssen ausgesetzt gewesen wäre, die ihm keine Zeit zur Er-
holung gegönnt hätten; dann aber ermöglichte das Anhängen der in regelmässi-
ger Folge auf- und absteigenden Gewichte, die verschiedenen Beobachtungen mit
einander vergleichbar zu machen, indem man unter der wahrscheinlichen Voraus-
setzung einer mit der Zeit und mit der Anstrengung geradezu wachsenden Ermüdung
die zu einer Reihe gehörigen Beobachtungen auf denselben Ermüdungsgrad redu-
ziren, d. h. den verlängernden Einfluss der Ermüdung eliminiren konnte. Denn in
einer jeden Reihe besass man ja für die Gewichte von 5 bis 25 Gr. zwei Beobach-
tungen, welche jedesmal gleichweit abstanden von der nur einmal vorhandenen mit
30 Gr.; aus den Muskellängen je zweier zu einander gehöriger Zahlen braucht man
also nur das Mittel zu nehmen, um sie mit der nur ein Mal vorhandenen Beobachtung
vergleichbar zu machen. In dieser Reihe ist die Länge des Muskels, welche er bei
5 Gr. Belastung annahm, als die normale, dem unbelasteten Zustand entsprechende
angesehen worden; dieses musste geschehen, weil der Muskel an und für sich zu
schlaff war, um eine sichere Messung seiner Länge zu erlauben.


6. Electrische Eigenschaften. Negative Stromes-
schwankung
. Unter Anwendung besonderer Vorsichtsmassregeln
ergibt sich nun, dass die am ruhigen Muskel zum Vorschein tretenden
electrischen Gegensätze beim zusammengezogenen scheinbar sich
mindern, indem nämlich je zwei abgeleitete Stellen eines zusammen-
gezogenen Muskels eine viel geringere Nadelablenkung erzeugen als
dieselben des ruhigen. Man gewinnt eine deutliche Vorstellung von
dem Gesetz, nach welchem die Nadelablenkung wechselt für den
Fall dass man mit gleichbleibendem Abstand der ableitenden Bäusche
um den zusammengezogenen Muskel allmälig herumwandert, wenn
man an der Fig. 81 dargestellten Curve die Ordinaten y, überall er-
niedrigt.


Zur Untersuchung der electrischen Eigenschaften des zusammengezogenen
Muskels durch die Magnetnadel kann nur der tetanisch erregte benützt werden, weil
die Wirkungen einer einzelnen Zuckung, gegen die Trägheit der Nadel gehalten, zu
flüchtig sind, um von dieser vollkommen aufgefasst zu werden. — Damit man
sicher sei, dass die Stellungsveränderungen der Nadel, welche beim Uebergang des
ruhigen Muskels in den zusammengezogenen eintreten, nicht die Folge unwesent-
licher Umstände sei, wie z. B. einer Veränderung des Leitungswiderstandes, erzielt
durch die Formumwandlung des Muskels oder die Verkleinerung der Berührungs-
stellen mit den Bäuschen u. s. w. legt du Bois einen Muskel auf, der an beiden
Enden so fest eingespannt ist, dass bei seinem Uebergang in den Tetanus auch nicht
die geringste Formveränderung zum Vorschein kommt. — Um endlich die reinen
Wirkungen des zusammengezogenen Muskels auf die Nadel zu erhalten, ist es noth-
wendig, den tetanisirten Muskel in den ganz gleichartigen Multiplikatorenkreis zu
bringen; daraus folgt die Regel, dass man in den gleichartigen Multiplikatorenkreis
nicht erst den ruhigen Muskel legen und diesen dann tetanisiren, sondern dass man
den Kreis sogleich durch den tetanisirten Muskel schliessen soll; denn offenbar
würde sonst durch den Strom des ruhenden Muskels eine Polarisation der Platin-
platten hervorgebracht, welche das klare Erschein en einer folgenden Stromverän-
derung wesentlich beeinträchtigen könnte.


Ludwig, Physiologie I. 22
[338]Negative Stromesschwankung.

Dieser Verminderung in der Ablenkung, welche die Nadel erleidet,
können zweierlei Arten von Verhalten des Muskelstromes zu Grunde
liegen; entweder es tritt in der That eine constante Erniedrigung
der Strömung ein, oder es wechseln während der Zusammenziehung
zwei im entgegengesetzten Sinne gerichtete Ströme so
rasch
miteinander ab, dass die träge Nadel nicht die Veränderung
jedes einzelnen, sondern nur der Resultirenden aus beiden Strömen
anzeigte. — Auf die Zustände des Muskels bezogen würde diese
Alternative die Bedeutung haben: entweder es nehmen die Gegensätze
zwischen Querschnitt und Oberfläche in der Zusammenziehung con-
stant ab, oder es tritt eine solche Schwankung ein, dass der Längen-
schnitt bald + und bald — und diesen entsprechend der Querschnitt
bald — und bald + würde.


Zur Entscheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten verhel-
fen die Eigenthümlichkeiten des stromprüfenden Froschschenkels,
und zwar sowohl seine verschwindende Trägheit, so dass er durch
einen auch nur momentan dauernden Strom erregt wird, als auch
die andere nicht minder wichtige Eigenschaft, nur durch electrische
Ströme von veränderlicher Dichtigkeit und Stärke zur Zuckung veran-
lasst zu werden.


In der That entscheidet der stromprüfende Froschschenkel zu Gun-
sten der Vorstellung, dass während der tetanischen Zusammenziehung
die electrischen Muskelmolekeln in stetigen Bewegungen begriffen
sind, denen zufolge die den Muskel umkreisenden electrischen Ströme
sowohl ihrer Richtung als auch ihrer Intensität nach in stetige
Schwankungen gerathen.


Denn überbrückt man gleichzeitig Quer- und Längenschnitt eines Muskels mit
dem Nerven des stromprüfenden Schenkels, so geräth dieser letztere augenblicklich
in Zuckung, sowie man den ersteren durch Erregung seines Nerven zur Zusammen-
ziehung bringt. Sekundäre Zuckung von Matteucci. Diese einmalige
Zuckung des stromprüfenden Schenkels verwandelt sich aber selbst in eine anhal-
tende, eine tetanische, sowie man den primär sich zusammenziehenden Muskel te-
tanisirt, du Bois; dieses würde aber nicht möglich sein, wenn der primär tetanisirte
Schenkel von einem Strom constanter Stärke umkreisst würde.


Wir haben bisher den Muskel betrachtet, welcher seiner parelec-
tronomischen Schicht (s. p. 319) beraubt war; es gewährt nun mit
Rücksicht auf die Richtung der Bewegung, welche die Molekeln aus-
führen, ein besonderes Interesse, sie auch an solchen Muskeln zu un-
tersuchen, welche mit dieser Schicht versehen sind. War dieselbe in
vollkommener Ausbildung vorhanden, so wurde dadurch, wie wir uns
erinnern, der natürliche Querschnitt entweder indifferent oder sogar
positiv gegen den Längenschnitt, so dass durch einen solchen Muskel
im ruhenden Zustand die Nadel entweder gar nicht oder umgekehrt
wie gewöhnlich abgelenkt wurde. Tetanisirt man nun einen solchen
[339]Wärmeeigenschaften.
Muskel, so erscheint auch hier die Schwankung der Magnetnadel, in
der Art jedoch, dass ihre Bewegung jedesmal auf einen eintretenden
oder noch verstärkten Strom von dem Querschnitt zur Oberfläche
deutet. Hieraus darf der wichtige Schluss gezogen werden, dass der
die Zusammenziehung des Muskels begleitende electrische Hergang
nicht in einer solchen Umstellung der Gegensätze bestehe, dass dahin,
wo im ruhenden Zustand das Positive gewesen war, jedesmal das
Negative hinkomme, sondern dass eine absolut negative Schwankung
der Molekeln eintrete, d. h. dass der Querschnitt immer positiver und
der Längenschnitt immer negativer werde. Du Bois nennt darum
den electrischen Vorgang des Muskels bei seiner Zusammenziehung
die negative Stromesschwankung.


Als sich von selbst verstehend ist die Bemerkung anzusehen, dass man den zu-
sammengezogenen Muskel, welchen man auf den Bäuschen liegend untersucht, ent-
weder durch andere als elektrische Mittel vom Nerven aus tetanisiren muss, oder
wenn man sich des Induktionsapparates bedient, Vorrichtungen zu treffen hat, die
den Eintritt der erregenden Ströme in den Multiplikatorenkreis hindern. — Der Ent-
decker der secundären Zuckung bemühte sich zu beweisen, dass dieselbe durch
keine Veränderung des den ruhenden Muskel umkreisenden Stromes erzeugt werde.
Es treten aber, wie bei du Bois*) des Ausführlicheren nachzusehen, die vorge-
brachten Beweise gerade für das Gegentheil der Matteucci’schen Behauptung in
die Schranken.


Die negative Schwankung vollendet die Analogie, welche die
electrischen Einrichtungen der Nerven und Muskeln bieten; es wird
darum alles das, was über die Zusammensetzung des Nerven aus
electrischen Molekeln gesagt wurde, hierher zu übertragen sein. Der
einzige bemerkenswerthe Unterschied zwischen dem electrischen
Verhalten der Nerven und Muskeln, soweit es uns bekannt ist,
beruht darauf dass die Muskeln nicht in den electrotonischen Zustand
gerathen.


7. Wärmeeigenschaften. Während seiner Zusammenziehung
entwickelt der Muskel eine gewisse Menge von Wärme, die jedoch
zu gering ist als dass sich überhaupt ermitteln liesse, in welchem
Verhältniss sie zur Masse und dem Verkürzungsgrad des Muskels steht.


Die Messung der im Muskel entwickelten Wärme geschieht durch die Thermo-
kette; M. Becquerel hat sie zuerst hiezu in Anwendung gebracht; seine Unter-
suchungsmethode ist jedoch mit zu vielen Fehlern behaftet, als dass die durch sie
gewonnenen Resultate werthvoll wären. Helmholtz**), der so ausserordentliche
Verdienste um die Lösung der schwierigsten Aufgaben der Muskel- und Nervenphy-
siologie besitzt, hat auch hier zuerst fehlerfreie Versuche angestellt. Sein Verfahren
bedient sich der folgenden Mittel: a) Seine Thermokette besteht aus einem sehr
dünnen und schmalen Eisenblech, an dessen beiden Enden entsprechende, je halb so
22*
[340]Wärmeeigenschaften.

Figure 95. Fig. 92.


lange Neusilberbleche angelöthet sind. Die Eisen-
Neusilberkette ist mit Ausnahme ihrer äussersten Enden
mit Firniss überzogen; diese Enden selbst laufen spitz
aus, damit man sie durch den Muskel bohren könne. Sol-
cher Bleche werden von Helmholtz mehrere, gewöhn-
lich drei in den Muskel gestossen, welche nach ihrer Ein-
führung in denselben zu einer Kette nach dem in Fig. 92
dargestellten Schema vereinigt werden. In der Zeich-
nung sind die Neusilberstücke schraffirt; die Kettenen-
den sind P P. — b) Thermomultiplikator; an die Ketten-
enden P P fügt man einen Multiplikator, dessen sehr
gut astatische Nadeln hier von einem dicken Draht von
nur 50 bis höchstens 100 Windungen umgeben sein dür-
fen, und dies zwar darum, weil die thermoelektrischen
Ströme an und für sich sehr schwach sind und sie an
ihrem Entstehungsort in der metallischen Kette keinen
nennenswerthen Widerstand zu überwinden haben. Sie
würden demnach durch den Leitungswiderstand einer
grösseren Zahl von Drahtwindungen bald so weit ge-
schwächt werden, dass der Verlust, der aus der
Schwächung der Stromintensität entstehen würde, nicht
zu ersetzen wäre durch die Multiplikation, die aus
den Drahtwindungen hervorgeht.


Erwärmt man die eine Reihe von Löthstellen unserer Kette, während man die
andere Reihe auf ihrer frühern niedrigern Temperatur erhält, so entsteht ein Strom
in der erwärmten Löthstelle in der Richtung vom Neusilber zum Eisen, dessen In-
tensität proportional der Temperaturdifferenz der beiden Reihen von Löthstellen
steigt. Desshalb gelingt es nun, da die Abhängigkeit der Winkelablenkung der
Magnetnadel von der Stromintensität bekannt ist, durch die Nadelablenkung den
Grad der Wärme zu bestimmen, welchen die zweite Löthstelle angenommen, wenn
die Temperatur der ersten bekannt ist. Bei Anwendung so feiner Apparate ist
es aber gerathener, ja nothwendig, geradezu das Verfahren der empirischen Gra-
duirung des Multiplikators zu benutzen, wenn man aus der Nadelablenkung auf
die Temperatur schliessen will. Helmholtz’s Apparat war so genau, dass mit
Sicherheit noch Temperaturdifferenzen beider Löthstellen von 0,0007° C ermittelt
werden konnten.


c) Der Muskel, welchen man der Untersuchung unterwirft, darf nicht mehr vom
Blut durchströmt sein, weil das venöse und arterielle Blut mit wesentlichen Tem-
peraturdifferenzen begabt sind, so dass je nach dem Uebergewicht der einen oder
andern Blutart sehr beträchtliche Fehler entstehen könnten; man wählt also am
besten einen ausgeschnittenen Froschschenkel, durchstösst diesen mit den Ketten-
gliedern, verbindet diese zur Säule und die Enden derselben mit dem Multiplikator,
wartet dann so lange, bis die Nadel des Multiplikators auf den Nullpunkt gegangen,
und versetzt endlich den Muskel in Zusammenziehung durch schwache electrische
Schläge, die man durch den Nerven des Muskels oder auch durch diesen selbst ohne
Schaden leiten kann, weil die Kette durch den Firnissüberzug innerhalb des Muskels
isolirt ist. Diese sehr feinen Versuche machen auch noch mannigfache Vorsichts-
massregeln nothwendig zur Erhaltung einer gleichmässigen Temperatur der nicht im
*)
[341]Chemische Eigenschaften.

Figure 96. Fig. 93


Muskel befindlichen Löthstellen,
worüber das Genauere bei
Helmholtz. — Das Schema
des ganzen Versuchs gibt die
Fig 93. N S bedeutet Nerv mit
den zugehörigen Muskeln; durch
den Oberschenkel des Frosch-
beins ist die hier nur eingliedrig
gezeichnete Kette eingeschoben;
die im Fleisch verborgene Loth-
stelle scheint in der Zeichnung
durch, die andere Lothstelle ist
frei; der Strom würde bei Er-
wärmung des Muskels in der
Richtung der Pfeile zum Multi-
plikator M gehen. — Die [Tempe-
raturerhöhung]
, welche Helm-
holtz
bei der Zusammenziehung
an den Froschmuskeln beobach-
tete, betrug im Mittel 0,16° C.


8. Chemische Eigenschaften. Während seiner Zusammen-
ziehung ändert der Muskel nachweisslich seine chemischen Eigen-
schaften; worin aber diese Veränderung bestehe, lässt sich bis jetzt
nicht auf eine, dem gegenwärtigen Standpunkt der Chemie entspre-
chende Weise ausdrücken. — Den ersten Nachweiss dass eine Verän-
derung vor sich gehe hat Helmholtz*) geliefert, indem er zeigte,
dass die festen in der Fleischflüssigkeit gelösten Substanzen, welche
aus dem bis zur Erschöpfung tetanisirten Muskel gezogen wurden,
verschieden von denjenigen seien, welche aus dem gleichnamigen
Muskel desselben Thieres, der sich in Ruhe befunden hatte gewonnen
werden konnten; namentlich hatte sich im zusammengezogenen Mus-
kel der in Weingeist lösliche Theil des Rückstandes der Fleischbrühe
gemehrt und der nur in Wasser lösliche gemindert. Aus den Unter-
suchungen von Liebig**) und Scherer***) scheint weiter der
Schluss gezogen werden zu können, dass sich in den zusammenge-
zogenen Muskeln die Menge des Kreatins (und Hypoxanthins?)
mehre. Denn sie fanden in den Muskeln lebhaft sich bewegender
und im Herzmuskel aller Thiere diesen Stoff in beträchtlichster
Menge. — Endlich hat du Bois noch entdeckt dass ein frischer Mus-
kel eines Thieres, das sich lange in Ruhe befunden, neutral reagire,
dass dagegen dieser Muskel sogleich eine saure Reaktion annehme,
sowie er einige Zeit hindurch in den Zustand der Verkürzung gebracht
worden war.


Ausser diesen unzweideutigen Thatsachen weisen aber noch andere, vieldeuti-
gere Erfahrungen darauf hin, dass eine Umsetzung der Muskelsubstanz bei ihrer
[342]Arbeitsleistung des Muskels.
Zusammenziehung vor sich gehe. Dahin zählt, dass die Sauerstoffmenge, welche
ein Mensch durch die Lunge aufnimmt, sich mehrt während der Muskelanstrengung
(Seguin) und dass sich während (Scharling*) und nach (Vierordt**) der
Muskelanstrengung die Menge der von der Lunge ausgehauchten CO2 sich beträcht-
lich steigere. — Nicht minder bemerkenswerth ist die von Lehmann***) beobach-
tete Thatsache, dass bei gleichbleibender Kost nach starken Anstrengungen der
Harnstoffgehalt des Urins sich mehrt.


9. Arbeitsleistung; Nutzwerth des Muskels†). Bevor
wir nun zu einer Betrachtung der noch übrigen besonderen Zustände
der quergestreiften Muskelsubstanz vorschreiten, wollen wir die Prin-
zipien erörtern, nach denen die sog. Arbeitskräfte des Muskels zu
beurtheilen sind. Der Muskel kann begreiflich und bekanntlich die
Bewegung, welche seine eignen Theile bei der Formveränderung
erleiden, andern Körpern mittheilen, und damit im Sinne der Mechanik
Arbeit verrichten. In dieser Beziehung fällt die Betrachtung unseres
Apparates mit derjenigen aller arbeitenden Maschinen zusammen.


Das Maass der lebendigen Kräfte, welches für die Leistungen
solcher Maschinen in Anwendung gebracht wird, ist wie allbekannt
ein Produkt aus den Faktoren der Zeit (f), der Gewichte (g) und der
Hubhöhe (h) also = g f h. Mit andern Worten dem Techniker ist es
wichtig zu wissen, welche Zeit hindurch oder wie oft in gegebener
Zeit und wie hoch ein gewisses Gewicht durch eine Maschine geho-
ben werden kann, weil nach diesen Angaben die Werthung der von
einer Maschine gelieferten auf andere Massen übertragbaren Kräfte
geschehen kann. Wir legen, indem wir dieses Maass auf die Muskel-
kräfte anwenden, zunächst ein und denselben Muskeln von einer be-
liebigen Einheit des Querschnittes und der Länge zu Grunde.


In Bezug auf den Faktor der Zeit gilt zuerst der Satz, dass
die Leistungsfähigkeit des Muskels mit der Dauer seiner Wirkung
abnimmt, mit andern Worten der Muskel entwickelt, wie in der Lehre
von der Ermüdung dargethan, den grössten Werth seiner Kräfte
im Beginn seiner Leistung, während nach einer gewissen gerin-
geren oder grösseren Andauer der Kraftentwicklung die Leistungsfähig-
keit Null wird; — diese dem Nutzeffekt des Muskels schädliche Wirkung
der dauernden Leistung ist jedoch nicht für alle Werthe von hg,
d. h. für jede Verkürzung und jedes Gewicht gleich; sie wächst mit
dem Werthe von hg und zwar wie es scheint viel rascherer als diese
selbst; aber auch für den niedrigsten Werth von hg, wenn z. B. das
zu hebende Gewicht in nichts anderm besteht, als in der eigenen
Masse des Muskels macht sie sich rasch geltend, wie jedermann aus
[343]Arbeitsleistung des Muskels.
Erfahrung weiss. Aus diesem Grunde ist der Muskel nicht dazu ge-
eignet einen Körper auf den ein stetig sich wiederholender Antrieb
wirkt in seiner Bewegung derartig zu hemmen, dass er constant
dieselbe Ortlage behauptet. Der schädliche Einfluss den die Dauer
der Verkürzung mit sich führt wird dagegen sehr gemindert wenn
der verlängerte und der verkürzte Zustand im Wechsel begriffen
sind, wenn, wie man sich ausdrückt, der Muskel in einer zwischen ge-
legten Ruhezeit von der Anstrengung sich zu erholen im Stande ist. —
Da sich aber rücksichtlich dieser Umstände nichts befriedigendes sa-
gen lässt, so werden wir im Folgenden die Zeit in welcher der Muskel
seine Leistung vollführt als so klein setzen, dass wir die Ermüdung
während derselben vernachlässigen können und darum als Maass des
Nutzeffektes nur gh ansehen, d. h. das Produkt aus dem Gewicht in
diejenige Höhe, auf welche es der Muskel zu heben vermag. Zur Be-
urtheilung des Nutzeffektes in diesem Sinne dienen uns die von Ed.
Weber
gelieferten Thatsachen über die elastischen Kräfte des zusam-
mengezogenen Muskels. Wir haben dort erfahren, dass ein Muskel im
Maximum seiner Zusammenziehung kein auch noch so kleines Ge-
wicht tragen kann ohne in seiner Form verändert beziehungsweise
verlängert zu werden, mit andern Worten er kann Null Gewicht auf
das Maximum der Hubhöhe bringen. Setzen wir diesen Werth in den
Ausdruck gh, wobei h eine bekannte in Millimeter oder Zollen aus-
gedrückte Zahl, g aber Null bedeutet, so sehen wir sogleich, dass in
diesem Fall der Nutzeffekt selbst Null wird. Anderseits lernten wir
aber auch aus den Weber’schen Beobachtungen, dass derselbe Zu-
wachs an Gewichten den Muskel um einen um so geringeren Bruch-
theil seiner Länge ausdehnt, je mehr er sich schon der Form genähert
hat, welche er besass bevor er durch die Zusammenziehung dieselbe
änderte, oder umgekehrt ausgedrückt, dass der Muskel um so be-
trächtlichere Gewichte zu heben vermag, je weniger er hierbei sich
verkürzt. Daraus folgt unmittelbar dass das Maximum des Gewichtes,
welches er überhaupt heben kann, gerade an dem Punkt liegt, wo er
im Begriff ist seine Verkürzung zu beginnen. Uebersetzen wir diesen
Fall wiederum in den Ausdruck gh, so wird nun h = Null, während
g ein in Grammen oder Pfunden ausdrückbares Gewicht darstellt;
also auch hier ist das Produkt, der Nutzeffekt = Null. Aus der Dar-
stellung dieser beiden Grenzfälle können wir schliessen, dass das
Maximum des Nutzeffektes zwischen beiden liege in der Art, dass
mit abnehmender Hubhöhe, wegen möglicher Steigerung des Gewichts,
der Nutzeffekt wächst bis zu dem Punkt, wo die Abnahme der Hub-
höhe zu gross geworden, um das Steigen des Faktors der Gewichte
zu kompensiren. — Es ist dieses der einzige allgemeine Ausdruck,
den wir für den Nutzeffekt des Muskels zu finden im Stande sind, weil
wir das Gesetz der wechselnden Ausdehnungscoeffizienten mit der
[344]Physikalisches Maas der Muskelkraft.
Zusammenziehung des Muskels noch nicht kennen, welches wie wir
erfuhren mit dem sog. Müdigkeitsgrade ein sehr veränderliches ist.


Gestaltete sich die Beziehung zwischen der Ausdehnbarkeit des Muskels und dem
angehängten Gewichte wie in der Curve 89, d. h. wäre die Ausdehnung immer
direkt proportional dem Gewichtszuwachs, so würde die für jeden Werth der Zusam-
menziehung erzielbare Leistung leicht abzuleiten sein; denn setzen wir voraus, es
betrage die Verkürzung des Muskels ohne Gewichte 4 M. M., die Last aber, welche
der Muskel ohne sich zu verkürzen tragen könnte 4 Gr., so würde er bei 3 M. M. Ver-
kürzung 1 Gr., bei 2 M. M. Verkürzung 2 Gr., bei 1 M. M. Verkürzung 3 Gr. heben;
der Nutzeffekt war also nacheinander 0, 3, 4, 3, 0 Millimetergramme.


Weil nun das Gesetz der mit der Verkürzung wechselnden Nutzeffekte unbe-
kannt ist, so hat man sich damit behelfen müssen, als vergleichbaren Werth einen
Ausdruck zu wählen, der von der Hubhöhe unabhängig ist, d. h. das Gewicht, wel-
ches gerade gross genug ist, um zu verhindern, dass der Muskel, wenn er aus der
Ruhe in den Zustand der Erregung tritt, seine Form ändert. — Siehe die hierzu an-
gewendete Verfahrungsarten bei Ed. Weber*). — Wenn man diesem Ausdruck
gemäss die Kraft verschiedener Muskeln untereinander vergleichen will, so muss
man die von einem Querschnitt bekannter, aber beliebiger Grösse ausgeführten
Leistungen auf die einer Querschnittseinheit zurückführen, was einfach geschehen
kann, da offenbar der Nutzeffekt in obengenommenem Sinne geradezu mit dem
Querschnitt wächst. — Nach solchen Bestimmungen war das Kraftmaass für den
Quadrat-Centimeter der Menschenmuskeln 1,087 Kilogr. und für den der Frosch-
muskeln 0,692 Kilogr. Ed. Weber.


Eine kurze Ueberlegung zeigt uns nun, wie im Allgemeinen der
Nutzwerth der Muskeln von ihrer Länge und ihrem Querschnitt abhän-
gig sei. Denn offenbar wird das Muskelrohr von gleichem Querschnitt
aber von grösserer Länge dasselbe Gewicht absolut höher heben
können als das von geringerer Länge, während ein Muskelrohr von
grösserem Querschnitt ein beträchtlicheres Gewicht auf gleiche Höhe
hebt als ein gleichlanger Muskel von geringerem Querschnitt.


10. Physikalisches Maass der Muskelkraft. Die jenseits
der Grenze eines Muskelrohrs oder eines Gesammtmuskels mittheilba-
ren Kräfte geben nun noch keineswegs eine Vorstellung von der
Grösse der Anziehungen, welche zwischen den wirksamen Theilen
innerhalb des Muskels bei der Zusammenziehung frei werden. Dass
dieses nicht geschehe, erhellt schon aus den Betrachtungen und That-
sachen die mitgetheilt wurden, als von dem zeitlichen Verlauf der
Zuckung und den elastischen Eigenschaften der Muskeln die Rede
war. Denn dort erwiess es sich dass der verkürzte Zustand des Mus-
kels Folge war von zwei nach entgegengesetzten Richtungen wirk-
samen Anziehungen, wodurch also offenbar wieder freie Kräfte in
gespannte umgesetzt wurden. Dazu ist es noch fraglich, ob die An-
ziehungen, welche zwischen den Molekeln wirksam sind in der Rich-
tung der Längenachse des Muskelrohrs geschehen, d. h. in derjenigen,
in welcher der Nutzeffekt wirkt. Wäre das nicht der Fall, so würde
dieser letztere selbst erst wieder eine Resultirende unbekannter Einzel-
[345]Muskelstarren; Wärmestarre.
kräfte sein. — Dieses mag genügen um auf die Aufgabe der eigentlich
wissenschaftlichen Maassbestimmung hinzudeuten; ihre Lösung ist
noch niemals auch nur andeutungsweise versucht worden.


C. Muskelstarren.


Zwei eigenthümliche Erscheinungsformen des Muskels die Wärme-
und die Todtenstarre, in welchen derselbe in eine andauernde Steif-
heit geräth sind endlich noch zu betrachten. Obwohl der lebende
Körper selten oder niemals die Bedingungen einschliesst, unter denen
jene Zustände sich erzeugen, so sind sie doch für uns von Wichtig-
keit weil sie überhaupt über das Wesen des Muskels Aufschluss ver-
sprechen.


1. Wärmestarre*). Verweilt ein Froschmuskel in Wasser
von 65° R. 25 Sekunden, (Pickford,) oder mehrere Minuten in Wasser
von 30° R., so wird derselbe, indem er sich verkürzt, steif und kann
durch die gewöhnlichen Muskelerreger nicht mehr in Zuckungen ver-
setzt werden. In diesem Zustande lenkt er die Magnetnadel nach
einer Richtung ab, welche darauf hinweisst, dass der Querschnitt
positiv und der Längenschnitt negativ sei; du Bois. Dieses Zusam-
mentreffen der Verkürzung mit einer constanten Umdrehung der elek-
trischen Molekeln ist bedeutsam genug. — Diese Starre löst sich
jedesmal nach einigen Minuten, vorausgesetzt dass die sie erzeu-
gende Temperatureinwirkung auf die oben bezeichneten Grade und
Zeiten sich beschränkte. Pickford.


Einen ganz analogen Zustand hat du Bois an den Nerven ent-
deckt und weiter verfolgt; setzte er einen Nerven den Strahlen eines
stark glühenden Körpers aus so kehrte sich der Strom des Nerven
um, und versetzte er in diesem Zustand den Nerven in Erregung, so
verstärkte sich dieser verkehrt gerichtete Strom noch. Wurde der
Nerv in Muskelfleisch eingebettet der Ruhe überlassen, so kehrte
nach einiger Zeit die normale Strömungsrichtung wieder.


2. Todtenstarre**). Der Muskel geht unter Bedingungen die
im todten Thiere gewöhnlich, im lebenden nur selten eintreten, eine
eigenthümliche Veränderung ein, bei der er seine Leistungsfähigkeit
einbüsst. Von den Eigenschaften die der todtenstarre Muskel bietet
sind folgende aufgedeckt worden:


a. Die optischen Erscheinungen der Muskelröhren sind nicht
wesentlich geändert; er erscheint etwas undurchsichtiger als wäh-
rend des Lebens und die Querstreifen sind deutlicher hervorgehoben.
Ausserdem sollen sich auch die Röhren wie bei der Zusammenziehung
[346]Todtenstarre. Ausdehnbarkeit, electrisches Verhalten.
während des Lebens um etwas verkürzen und verbreitern, was man
aus Stellungsveränderungen der Glieder, (wie z. B. dem Anziehen des
vorher geöffneten Kiefers u. s. w.) folgert, welche mit dem Beginne
der Todtenstarre sich einfinden. Hierüber fehlen aber noch genauere
Messungen.


b. Die Ausdehnbarkeit des Muskels ist vermindert; Ed. Weber.
Seine Cohäsion soll nach einigen Angaben vermehrt, (Busch) nach
andern vermindert sein; Valentin, Wertheim. Diese Wider-
sprüche werden darin ihre Erledigung finden, dass man bald zu An-
fang und bald zu Ende (bei schon beginnender Fäulniss) der Todten-
starre die Muskeln den sie zerreissenden Gewichten aussetzte.


c. Die elektrischen Gegensätze zwischen Oberfläche und Quer-
schnitt des Muskels sind im Beginn der Todtenstarre entweder noch in
gewöhnlicher oder aber in umgekehrter Ordnung vorhanden, so dass
nun der Querschnitt positiv und der Längsschnitt negativ geworden
ist; so oft sie aber vorhanden sind ist ihr Auftreten nur ein spurweises
gegen dasjenige im leistungsfähigen Muskel: hat die Todtenstarre
aber nur kurze Zeit hindurch bestanden, so verschwinden sie voll-
ständig; du Bois.


d. Eine chemische Charakteristik der Todtenstarre ist noch nicht
geliefert worden, indem bisher nur Muskeln untersucht werden konn-
ten, welche entweder schon in die Todtenstarre eingetreten waren oder
diese gar schon überstanden hatten. Man darf aus den von G. Liebig
beobachteten Thatsachen dagegen mit einiger Sicherheit schliessen,
dass in der Flüssigkeit der todtenstarren Muskeln kein freies Sauer-
stoffgas mehr aufgelöst sei. Er fand, wie oben angegeben, dass der
Verlust der Leistungsfähigkeit der Muskeln, resp. der Eintritt der
Todtenstarre, durch den Aufenthalt in sauerstofffreien Gasarten be-
schleunigt wurde; hiermit in Uebereinstimmung befindet sich die An-
gabe von Stannius dass am lebenden Thiere diejenigen Muskeln in
Todtenstarre versetzt werden können, zu welchen der Zutritt des
Blutes und damit der des Sauerstoffs abgehalten wurde. — Weiterhin
vermuthet Brücke, dass im todtenstarren Muskel der Faserstoff oder
eine ihm ähnliche gerinnbare Substanz fest geworden, welche im
leistungsfähigen Muskel flüssig zwischen den Bestandtheilen des
festen Inhaltes der Muskelröhren eingelagert sei; die Gründe für
diese Vermuthung findet er: in der offenbaren Analogie die die Er-
scheinungen des Eintritts der Todtenstarre mit einer Gerinnung zeigt,
und in der That bieten beide Vorgänge eine überraschende Aehnlich-
keit, wenn man die allmälige steigende Trübung und Steifung der
Muskeln ins Auge fasst; in der Uebereinstimmung, welche die Todten-
starre rücksichtlich der Zeiten ihres Eintritts und ihrer Lösung (durch
Fäulniss) mit den in dem Blute eintretenden Gerinnungserscheinungen
bietet. — Diese Gründe sind scheinbar sehr erschüttert worden durch
[347]Todtenstarre. Chemische Charakteristik.
die Untersuchungen von Stannius, welcher nachwiess, dass das in
den Muskelgefässen enthaltene Blut noch flüssig ist, wenn schon die
Todtenstarre eingetreten war und noch mehr dass die schon herein-
gebrochene Todtenstarre wieder gelöst, mit andern Worten der Mus-
kel in seinen leistungsfähigen Zustand zurückgeführt werden konnte,
wenn man den Blutstrom, durch dessen Unterbrechung der Muskel
todtenstarr geworden war, wieder durch die Muskelgefässe gehen
liess. Diese Thatsachen beweissen allerdings, dass wenn die Todten-
starre von einer Gerinnung einer im Muskelrohr enthaltenen Flüssig-
keit begleitet ist, diese Flüssigkeit unter andern Bedingungen gerin-
nen muss als der Blutfaserstoff. Aber indem man dieses zugibt,
verneint man noch nicht die Gegenwart des flüssigen Faserstoffs in
den Muskeln, da bekanntlich auch die Zeit der im Blut erschei-
nenden Gerinnung durch Zusatz von Salzen, das Abhalten der Luft
u. s. w. mannigfach modifizirt werden kann. Ebensowenig scheint die
Brückesche Anschauung durch die Thatsache widerlegt werden zu
können, dass es nicht gelingt flüssigen Faserstoff durch Auspressen
der frischen Muskeln zu erhalten, da nach Brücke während des
Auspressens die Muskeln todtenstarr werden. — Wenn nun die Ge-
genwart des geronnenen Faserstoffs in todtenstarren Muskeln nicht
widerlegt ist, so ist sie aber auch mindestens nicht erwiesen; be-
greiflich kann auch auf anderm Wege als durch die Gerinnung einer
faserstoffähnlichen Flüssigkeit die Steifigkeit und Trübung des tod-
tenstarren Muskels erläutert werden und in der That scheint das Ver-
sehwinden der electrischen Gegensätze, eine Thatsache die zur Zeit
der Entstehung jener Vorstellung noch nicht bekannt war, auf eine
tiefgreifende chemische Revolution innerhalb des Muskels hinzu-
weisen.


Die Zeit des Eintretens der Todtenstarre im verstorbenen Thier
ist eine sehr verschiedene; der Zeitraum, welcher im Menschen und im
Säugethier nach Nysten und Sommer, zwischen dem letzten Athem-
zug und der beginnenden Todtenstarre verfliesst, wechselt zwischen
zehn Minuten bis achtzehn Stunden. Die auf diesen Punkt bezüglichen
Angaben, haben für den Gerichtsarzt vorerst noch mehr Interesse als
für den Physiologen. Hier sei nur folgendes angemerkt. Je leistungs-
fähiger ein Muskel- während des Lebens war, um so rascher fällt er
der Todtenstarre anheim; heftige Anstrengung der Muskeln vor dem
Tode beschleunigen den Eintritt derselben; die Muskeln des Hauptes
und Halses werden früher todtenstarr als die der oberen Extremitäten
und diese früher als die der unteren Gliedmassen; Sommer. —


Die Todtenstarre stellt nun keinen bleibenden, sondern einen vor-
übergehenden Zustand des Muskels dar; sie verliert sich allmälig und
zwar nicht allein wie man bisher glaubte, durch die beginnende Fäul-
niss, sondern auch durch den Hinzutritt von arteriellem Blut; Brown-
[348]Lösung der Todtenstarre.
Sequard, Stannius — Unterbindet man an einem lebenden Ka-
ninchen nach Stannius die aorta abdominalis und gleichzeitig die art.
cruralis, so beginnt die Todtenstarre in der hinteren Extremität [und
zwar entgegen dem Sommerschen Gesetz in den Unterschenkeln zu-
erst] 1½ bis 3 Stunden nach vollendeter Operation einzutreten. Löst
man nach vollkommen ausgeprägter Starre (bis auf 5 Stunden nach Anle-
gung der Ligatur) die Unterbindung und stellt dadurch den Blutkreislauf
in der hintern Extremität wieder her, so verschwindet die Starre mehr
oder weniger vollkommen; die Zeit, welche der wiederhergestellte
Blutkreislauf zur Erzielung dieses Erfolges bedurfte, betrug in ver-
schiedenen Fällen von 20 Minuten bis zu 2 Stunden. — Die Zeit in wel-
cher der Fäulnissprozess die Lösung der Todtenstarre vollbringt, ist
eine viel beträchtlichere; wechselnd beträgt sie nach Erfahrungen von
Nysten 48 bis 150 Stunden seit dem Eintritt derselben. — Die einzigen
allgemeinen Regeln, welche zahlreiche Erfahrungen rücksichtlich der
Andauer der Todtenstarre geliefert haben sind die, dass sie um so
länger anhält, je später nach dem Tode sie auftrat. Eine Ausnahme von
dieser für alle Thierklassen giltigen Regel machen nur die Muskeln der
Frösche, welche an Strychninvergiftung starben, indem hier die Starre
kurz nach dem Tode eintritt und sich erst sehr spät löst.


Die Stärke der Todtenstarre beurtheilt man nach dem Werth ihres
Elastizitätscoeffizienten, d. h. nach dem Widerstand den die todten-
starren Muskeln der Ausdehnung entgegensetzen; zum Messen der
Nachgiebigkeit hat man aber nur sehr selten genaue Versuche ange-
stellt, sondern nur ungefähr den Widerstand geschätzt, welchen die
todtenstarren Muskeln den zerrenden oder drückenden Bewegungen
des Beobachters entgegensetzten. Aus diesen ganz unvollkommenen
Versuchen glaubt man sich berechtigt zu den Angaben, dass die lei-
stungsfähigsten Muskeln in die intensivste Starre gerathen, dass nach
dem Tod durch Verblutung beim Menschen die Todtenstarre schwächer,
bei Säugethieren aber stärker war u. s. w.


So unvollkommen die Angaben über die Todtenstarre auch noch
sind, so genügen sie doch weitaus um den eingewurzelten Irrthum zu
beseitigen, dass die Starre einen der Muskelzusammenziehung verwand-
ter Zustand darstelle. Denn es ergibt sich bei einer Vergleichung der
Eigenschaften beider Zustände, die durchgreifendste Verschiedenheit;
in der Zusammenziehung wird der Muskel weicher, in der Todtenstarre
härter; in der Zusammenziehung erscheint die negative Schwankung
des elektrischen Stromes, in der Starre verschwindet der Strom; die
Starre besteht bei Mangel an Sauerstoff, der zusammengezogene Mus-
kel bedarf desselben; der zusammengezogene Muskel entwickelt
Wärme, der starre keine; der zusammengezogene Muskel ermüdet im
Gegensatz zum starren u. s. w. —


[349]Muskulöse Faserzelle.

B. Physiologie der muskulösen Faserzelle.


1. Anatomisches Verhalten*). Die Faserzelle, das ana-
tomische Element der glatten Muskulatur, stellt ein verschiedenartig
gestaltetes Blättchen dar, dessen Ausdehnung nach einer Richtung (der
Länge) diejenige nach der andern überragt; die besonderen Formen
ihrer Umgrenzung gleichen bald mehr Spindeln bald einem Oblong. Das
einzelne Blättchen ist aus einer entweder optisch vollkommen homo-
genen oder einer leicht gestreiften Masse gebildet, in welche eine
kleine Zelle, ein sogenannter Kern, constant, eingebettet ist; Kölli-
ker
. — Die Anwesenheit einer sogenannten Scheide, d. h. eines ge-
schlossenen Säckchens, in welchem das Muskelgewebe läge, ist nicht
erwiesen. — Die Faserzellen sind meist mit ihren schmalen Enden
zur Bildung von Fasern aneinander gelegt.


2. Chemisches Verhalten**). Die Grundsubstanz der Fa-
serzellen theilt alle Eigenthümlichkeiten des Inhaltes der quergestreif-
ten Muskelröhre; die Flüssigkeit, welche die Grundsubstanz durch-
tränkt, ist nicht minder der Flüssigkeit des rothen Fleisches ähnlich;
nachweislich enthält sie Hypoxanthin, Kreatin, Jnosit, Butter- Milch- und
Essigsäure, grössere Mengen von Kali und phosphorsauren Salzen,
(Lehmann,) statt des Eiweisses bietet sie jedoch an einzelnen Orten
Käsestoff dar; Schultze. — Eine besondere Scheidensubstanz ist auf
chemischem Wege nicht nachzuweisen, indem durch Behandlung mit
einer verdünnten Salzsäure (1. p. m. haltende Lösung) die ganze
Masse mit Ausnahme der Kerne in Auflösung kommt. — Ueber die che-
mische Natur der Kerne ist nichts ermittelt. —


Die abweichenden Angaben über die Reaktionen der Muskelflüssigkeit auf Lack-
muspapier, Schultze fand sie alkalisch (Arterienhaut), Lehmann neutral (tunica
dartos) und sauer (tunica muscularis des Magens), sind begreiflich einander
nicht widersprechend; sie stellen die von du Bois, an der Flüssigkeit des gestreiften
Muskels entdeckte Thatsache am glatten vor.


3. Physiologisches Verhalten. Dieser Muskel besteht in ähn-
lichen Zuständen wie der quergestreifte. Die Eigenschaften derselben
und die Bedingungen ihres Eintritts sind uns aber weit weniger be-
kannt als bei dem quergestreiften.


a. Verlängerter Zustand. Seine besondern elastischen, chemi-
schen und calorischen Eigenschaften sind noch niemals Gegenstand
der Untersuchung gewesen.


Sein elektrisches Verhalten hat du Bois ganz analog dem des
ruhenden quergestreiften Muskels gefunden; der einzige Unterschied,
der sich herauszustellen scheint, liegt darin, dass die Stärke der ab-
geleiteten Ströme weitaus nicht so beträchtlich ist als die von dem
quergestreiften erhaltenen.


[350]Muskulöse Faserzelle.

b. Verkürzter Zustand. Um den glatten Muskel in den verkürzten
Zustand überzuführen, ist der Hinzutritt derselben äusseren Bedingun-
gen nothwendig, welche der quergestreifte bedurfte; wie mit der Ver-
änderung der Eigenschaften des Muskels selbst die Werthe der Verkür-
zung Hand in Hand gehen ist unbekannt.


Die Form des verkürzten glatten Muskels ist noch nicht unter-
sucht; die Maximalwerthe der beobachteten Verkürzung unter günsti-
gen Bedingungen betragen an der Darmmuskulatur nach Valentin
68 p. C. der Längeneinheit der ruhenden Faser. Die zeitlichen Erschei-
nungen der Zusammenziehung sind abweichend von denen des quer-
gestreiften Muskels; indem die im quergestreiften Muskel rasch inein-
ander übergehenden Akte hier sehr viel langsamer aufeinander folgen.
— Nach Einwirkung eines momentanen Erregungsmittels auf den
Nerven des Muskels oder auf den Muskel selbst beginnt meist (eine
Ausnahme scheint die Iris zu bilden) erst nach Verfluss von einigen
Sekunden der Akt der Zusammenziehung merklich zu werden, dann
steigt sie sehr allmälig an, verharrt scheinbar längere Zeit auf einem
Maximum und kehrt ebenso allmälig zum alten Zustand zurück. Die
Geschwindigkeit der Reihenfolge und Andauer dieser einzelnen Akte
ist jedoch an demselben Stück aus uns unbekannten Gründen sehr
wechselnd; dem Anschein nach hat alles andere gleichgesetzt die In-
tensität des einwirkenden Erregungsmittels einen wesentlichen Ein-
fluss auf die Geschwindigkeit der Zusammenziehung und die Andauer
derselben. Ed. Weber der zuerst zeigte, dass diese Langsamkeit der
Zuckung eine allgemeine Eigenschaft der glatten Muskelsubstanz sei,
schlägt vor, ihre Bewegung durch den Namen der organischen
von derjenigen der quergestreiften der animalischen zu unter-
scheiden. —


Die Eigenschaften der zusammengezogenen Faserzellen sind nicht
untersucht. —


c. Der veränderliche Werth der Nutzwirkung, welchen der glatte
Muskel mit der steigenden Verkürzung und Last; oder der absolute
Werth derselben, den die Querschnittseinheit bei Nullverkürzung zu
entwicklen vermag, ist der mangelnden Untersuchung über die Elasti-
zität halber nicht anzugeben. — Wegen des sehr allmäligen Eintritts
und Steigens der Verkürzung und der langen Dauer der letztern auf
Anwendung eines Erregers von momentaner Dauer ist der glatte Muskel
unabhängig von der dauernden Anwesenheit und sich steigernden In-
tensität der Erreger geschickt, sehr allmälige Bewegungen mitzuthei-
len und constante Veränderungen in der Ortlage der bewegten Gegen-
stände zu erzielen. Wir werden die Bedeutung dieser Eigenthümlich-
keit im thierischen Haushalte noch an mehreren Orten zu erwähnen
haben.


[351]Zur Theorie der Muskelkräfte.

d. Todtenstarre. Die todtenstarre Faserzelle charakterisirt sich
wie das starre quergestreifte Muskelrohr durch die Einbusse der me-
chanischen Leistungsfähigkeit, durch die elektrische Gleichartigkeit des
Längen- und Querschnitts und durch eine grössere Steifigkeit. —


Der Tod des Thieres führt die Bedingungen ihres Eintritts mit sich.
Nach Nysten erscheint sie bei warmblütigen Thieren am Darm 45
bis 55 Minuten nach dem letzten Athemzuge und beginnt sich schon
nach 24 Stunden zu lösen, Angaben die tausendfache Ausnahmen er-
leiden dürften. —


Zur Theorie der Muskelkräfte.


1. Der Muskel entwickelt zu allen Zeiten seines lebensvollen Be-
stehens mancherlei Kräfte, chemische, elektrische, thermische, mechani-
sche; die Theorie hat zuerst die Aufgabe diese Kräfte als Resultirende
aus den in den Muskeln eingetretenen elementaren Bedingungen zu
entwicklen, und dann nachzuweisen, welch innerer Zusammenhang
zwischen diesen Kräften selbst wieder bestehe; ob z. B. ein Theil der
mechanischen Leistungen als Folge der thermischen oder elektrischen
aufgefasst werden könne. — Solchen Anforderungen gegenüber er-
weist sich aber unser jetziger wissenschaftlicher Erwerb noch als
sehr kümmerlich.


Mit einiger Sicherheit kann man die Behauptung wagen, dass die
Wärmeentwicklung und die elektrischen Ströme des Muskels aus einer
gemeinsamen Quelle, dem chemischen Umsatz seiner Substanz her-
vorgehen, weil α. diese Wirkungen häufige Folgen der chemischen
Umsetzung sind. β. Weil der Entwicklung dieser Kräfte im Muskel
die Umsetzung wenigstens einzelner Theile desselben parallel geht
und diese Umsetzung Produkte (CO2) erzeugt, mit deren Bildung im-
mer Wärmeentwicklung verknüpft ist. — Auf welche Art von chemischer
Gruppirung der Stoffe sich aber die Elektrizitätsentwicklung und na-
mentlich die zu verschiedenen Zeiten verschiedene Richtung und
Stärke der Gegensätze der Ströme gründen, bleibt zu ermittlen den
Untersuchungen zukünftiger Zeiten vorbehalten. —


Ueber den Zusammenhang der einzelnen Kräfte untereinander
lässt sich Vermuthungsweise aussprechen, dass die Lagenverände-
rung der Molekeln, durch welche die sogenannte Zusammenziehung
bewerkstelligt wird, abhängig sei von ihren elektrischen Spannungen.
Diese Vermuthung gründet sich auf den von du Bois erwiesenen Pa-
rallelismus zwischen der Leistungsfähigkeit und der Ausprägung der
elektromotorischen Kräfte, ferner darauf, dass mit der Zusammen-
ziehung nachweislich Lagenveränderung der elektromotorisch wirk-
samen Molekeln vor sich geht. — Da nun bekanntlich auch die Elek-
trizität als mechanische Kraft benutzbar ist, so würde es einen auf
ganz grundlosem Boden beruhenden Zweifel verrathen, wenn man
[352]Uebereinstimmung zwischen Nerv und Muskel.
die oben ausgesprochene Vermuthung nicht als eine sehr wahrschein-
liche anerkennen wollte. Zur Gewissheit wird die Hypothese freilich
erst erhoben werden, wenn man zu entwickeln im Stande ist, dass die
Umlagerung, welche die elektrischen Molekeln beim Uebergang des
Zustandes, welcher den ruhenden Muskelstrom erzeugt, in denjenigen,
welcher der negativen Stromesschwankung angehört, die Erscheinung
der Muskelzusammenziehung nach sich ziehen muss.


Die Veränderungen der elastischen Eigenschaften, welche wäh-
rend der Zusammenziehung hervortreten erläutern sich, wie schon ein-
mal erwähnt, wenn man der Vorstellung huldigt, dass im erregten Zu-
stand nicht der ganze sondern nur ein Theil des Muskels seine An-
ziehungskräfte ändert. Indem dieser Theil, z. B. die elektromotorischen
Molekeln, den neuen Anziehungen durch Einnehmen einer andern Stel-
lung Genüge zu leisten streben, setzen andere Theile des Muskels
z. B. die primitive Scheide oder eingestreute elastische Massen, wel-
che ihre alte Anziehung behaupten, dieser Lagenveränderung einen
Widerstand entgegen; wenn nun mit der fortschreitenden Lagenver-
änderung dieser Widerstand im Wachsen begriffen ist, und wenn er
namentlich rascher wächst als die anziehenden Kräfte der Molekeln,
so muss es begreiflich dahin kommen, dass die elastischen Kräfte mit
steigender Verkürzung abnehmen.


Die grosse Aehnlichkeit zwischen den Muskeln und Nerven wird
auch ohne dass sie besonders hervorgehoben würde, schon aufgefal-
len sein. Denn es ist bemerkenswerth dass beide nur unter dem Be-
stande einer bestimmten chemischen Zusammensetzung ihre Lebens-
eigenschaften behaupten; dass mit der Entwicklung ihrer physiolo-
gischen Kräfte im ruhenden und thätigen Zustande chemische Umsez-
zungen in ihnen erfolgen, an denen sich das Sauerstoffgas betheiligt;
ferner dass sie eine sehr ähnliche wenn nicht gleichartige elektrische
Constitution besitzen; endlich dass sie von denselben Erregern
eine Umänderung in ihren molekularen Eigenthümlichkeit erleiden.
Darum sind aber die beiden Apparate noch nicht identisch, denn es
ist zunächst ihre mechanische Constitution eine verschiedene; ferner
ist die elektrische dadurch als eine voneinander abweichende bezeich-
net, dass den Muskeln die dipolare Anordnung (der electrotonische
Zustand) der electrischen Molekeln nicht zukommt und endlich ist auch
die chemische Zusammensetzung, wie wir aus den Hirnanalysen
schliessen dürfen eine in vieler Beziehung andere.


[353]Verknüpfung der Muskeln und Nerven.

II. Besondere Muskelphysiologie.


In hergebrachter Weise umspannt die besondere Muskel-
lehre die Verbindung der Muskelelemente zu Muskelmassen, und
deren Verknüpfung mit Sehnen und Scheiden; dieser erste Theil
der Aufgabe wird jedoch, da sich nur weniges im allgemeinen dar-
über mittheilen lässt, bei den zusammengesetzten Bewegungswerk-
zeugen beiläufig Erwähnung finden; ferner die Beziehungen zwischen
Muskel und Nerv und zugleich das Eingreifen der Muskelnerven in-
einander, und in die Seelenthätigkeiten; endlich die besondere Art
der Verwendung des Muskels zum Bewegen der aus Knochen, Knor-
pel und Bändern zusammengesetzten Maschinen, insbesondere aber
derjenigen, welche als das Rumpf-, Gliedmaassen- und Kehlkopfskelet
beschrieben werden.


A. Verknüpfung der Muskeln mit den Nerven.


1. Verbreitung der Nervenröhren in den Muskeln*).
In allen Muskeln, die einer genauen Untersuchung unterworfen wur-
den, hat man Nerven gefunden. Diese letztern treten in die kürzern
quergestreiften Muskeln an einer, in die längern an mehreren Stellen
ein; an diesen Orten des Eintritts bilden die Nervenröhren zahlreiche
Plexus und zerstreuen sich dann auf zweierlei Art durch den Muskel.
Die weitaus grösste Zahl derselben und namentlich alle breitern Röh-
ren beginnen sogleich sich vielfach zu theilen; E. Brücke, Joh.
Müller, R. Wagner
; diese Aeste endigen schliesslich auf der
Scheide des Muskelrohrs stumpf; Reichert. Nach einer genauen
Beschreibung von Reichert, der einzigen die wir besitzen, geschieht
die Nervenvertheilung in einem Hautmuskel des Frosches so häufig,
dass 7 bis 10 in den Muskel eintretende Nervenröhren innerhalb des-
selben in mindestens 290 bis 340 Aeste zerfallen. Das Lagenver-
hältniss dieser Aeste zu den Muskelröhren ist weder in ihrem Ver-
lauf noch in ihrem Ende ein regelmässig wiederkehrendes, jedoch
scheint es, dass mindestens einmal ein Ast mit einer Muskelröhre in
Berührung kommt und dass die Längendurchmesser der Nervenäste
und Muskelröhren im allgemeinen sich häufiger kreuzen als parallel
laufen. — Eine geringe Zahl der in die Muskeln eintretenden Nerven-
röhren, nach Bidder und Volkmann 10 bis 12 pCt., gehört zu den
feinern; auch sie sollen (jedoch in eine geringere Zahl) von Aesten
zerfallen und diese Theilung soll nur sehr allmälig geschehen; Köl-
liker
; man ist geneigt die letzteren für sensible zu halten.


2. Zahlenverhältniss zwischen Muskel- und Nerven-
röhren
. Ausser dem Mengenverhältniss zwischen den Muskelelemen-
ten und den Aesten der Nervenröhren ist auch das zwischen den in einen
Ludwig, Physiologie I. 23
[354]Zahl motorischer Nervenröhren innerhalb des Muskels.
Muskel eintretenden Nervenröhren und den in ihm enthaltenen Mus-
kelschläuchen von Bedeutung; denn wie das erstere Aufschluss gibt
über die Grösse der Berührungsfläche zwischen Muskel und Nerv,
so bestimmt das letztere die Berührungsfläche der Muskelnerven mit
dem Hirn. In Rücksicht hierauf liegen erst wenige brauchbare Unter-
suchungen vor; nach diesen laufen z. B. in der Bahn des n. oculo-
motorius 15000, in der des n. trochlearis 1100 bis 1200 und in dem n.
abducens 2000 bis 2500 Röhren; Purkinje und Rosenthal; im n.
medianus fand Harting*) 22500 und im n. cruralis 35400 Röhren.
Erwägt man die bedeutenden Hautflächen, welche die letztern beiden
Nerven neben sehr umfangreichen Muskeln versorgen, so ist ersicht-
lich, dass diese letzteren durch eine viel geringere Summe von Ner-
venröhren im Hirn vertreten sind, als die von den erstgenannten drei
Nerven abhängigen.


3. Veränderung der physiologischen Zustände der
Muskeln durch die Nerven
. — Wenn die Muskelnerven in die
Art der Erregung gerathen, welche von der negativen Schwankung
ihrer elektromotorischen Molekeln begleitet wird, so rufen sie in den
ihnen beigeordneten leistungsfähigen Muskeln Veränderungen her-
vor. Diese Veränderungen sind ihrer Natur nach verschiedene ja
scheinbar entgegengesetzte, denn es kann, ganz allgemein betrach-
tet, der erregte Nerv ebensowohl die der Verlängerung als die der
Verkürzung zu Grunde liegende Anordnung der Muskelmolekeln be-
dingen. Dieser Ausspruch ist jedoch dahin einzuschränken, dass
ein und derselbe in Erregung befindliche Nerv nicht beliebig seine
zugehörigen Muskeln verlängern oder verkürzen könne, sondern
dass ein Nerv seine zugehörigen Muskeln entweder nur verkür-
zen oder nur verlängern kann; gesetzt aber es kann ein Nerv seine
zugehörigen Muskeln auch auf beide Arten verändern, so kann er
doch immer nur ein und denselben Zustand bedingen, wofern der Ort
des Nerven, an welchem die Erregungsmittel angebracht sind, der-
selbe bleibt.


a. Verkürzung des Muskels durch den erregten Ner-
ven
. — Bei weitem die überwiegende Zahl der Muskelnerven führt
im erregten Zustand ihre zugehörigen Muskeln in die Verkürzung
über, gleichgiltig an welchem Orte ihres Verlaufes die Mittel wirken,
welche sie in Erregung brachten. — Nachdem wir schon früher die-
ses Verhalten der Muskelnerven kennen lernten, bleibt uns hier noch
übrig zu untersuchen: ob die Nerven unter allen Erregern einzig und
allein im Stande sind, die im ruhigen Muskel vorhandenen Bedingun-
gen so umzuändern, dass sich derselbe verkürze.


Der Gedanke, dass die Erreger nicht direkt, sondern nur durch
[355]Verkürzung des Muskels durch den Nerven.
Vermittlung der Nerven den Muskel zur Zusammenziehung bringen,
musste entstehen, weil dieselben Erreger die auf den Muskel an-
gewendet die Zusammenziehung veranlassen, auch dasselbe vermit-
telst alleinigen Anspruchs der Nerven leisten, und weil man, indem
man den Muskel als Erregungsort wählt, auch jedesmal den Nerven
mit in Angriff nimmt, wegen der innigen Verflechtung von Nerv und
Muskel. — Das Interesse, was sich an die Bestätigung oder Widerle-
gung dieser Vorstellung knüpft, wird ein sehr weitgreifendes, wenn
sich, wie geschehen, zugleich an dieselbe die Frage anreiht ob über-
haupt die Gegenwart der Nerven eine nothwendige Bedingung für die
Zusammenziehung resp. das lebensvolle Bestehen des Muskels sei.
In diesem weiteren Sinne gefasst kann die Streitfrage nur entschie-
den werden α) wenn es gelingt eine Zuckung zu erhalten von einem
Muskel der keine Nerven enthält, oder dessen Nerven bis an seine
äussersten Spitzen funktionell vernichtet sind; β) wenn es möglich
ist eine Zuckung durch ein Mittel zu erhalten, das den Nerven auf
jedem beliebigen Ort seines Verlaufs niemals in Erregung versetzt;
γ) oder wenn sich aus den Eigenthümlichkeiten des Nerven und des
Muskels der Nachweiss liefern lässt, dass die Nerven zum lebens-
vollen Bestehen des Muskels nothwendig oder ihm unnöthig sind, da
nur in diesem Falle ein negatives Resultat der unter α und β ange-
deuteten Versuchsreihen einen allgemein giltigen Charakter annehmen
würde. — Da die Mittel zur tadelfreien Ausführung der bemerkten Ver-
suche fehlen, so ist unser seit mehr als einem Jahrhundert geführte
Streit noch zu keinem Ende gebracht worden; wahrscheinlich ist es
aber, dass die Erregung des Nerven nur einen der mannigfachen Um-
stände darstellt, durch welche der Muskel zur Zusammenziehung ver-
anlasst werden kann. Denn es stimmen die Nerven und Muskeln in so
vielen Eigenschaften überein und namentlich zeigen sie durch die
gleiche Gruppirung ihrer elektromotorisch wirksamen Theile in der
Ruhe und Thätigkeit so viel Analogie, dass die Annahme nahe liegt, es
möchten beide Apparate auch gegen dieselben Erreger sich vollkom-
men gleich oder mindestens sehr analog verhalten, so dass damit erklärt
wäre, warum meist dieselben Einflüsse im Nerven und im Muskel die
negative Stromesschwankung erzeugen. Noch mehr aber spricht für
die Selbstständigkeit der Muskeln die Thatsache, dass es gelingt Zu-
stände in ihnen zu erzeugen die, wie es wenigstens scheint, denen
der Zusammenziehung sehr ähnlich sind, ohne dass zugleich die Ner-
ven in eine nachweisliche Erregung kommen. Hierzu zählt vor allem
der unter dem Namen der Wärmestarre beschriebene Zustand, der aus
diesem Grund vorzugsweise auf seine anderweitigen physikalischen
Eigenschaften untersucht zu werden verdiente.


Wir zählen nun noch eine Reihe von Versuchen auf, die zu keinem sichern Resul-
tat führen konnten, weil die zu Grunde liegende Methode eine mangelhafte ist; sie
23*
[356]Ist die Nervenerregung nothwendig zur Muskelverkürzung.
beruhen sämmtlich auf dem Prinzip den Nerven bei der Erregung zu eliminiren, man
stellte sich die Aufgabe Muskeln in Zusammenziehung zu versetzen, von welchen man
die Annahme machte, dass sie überhaupt keine Nerven enthielten. a. Zu dem Behuf
suchte man an mikroskopischen Muskelstücken, in denen man keinen Nerven nachwei-
sen konnte, Zusammenziehung zu veranlassen. Gelang dieses, so widerlegte es die
Hypothese der nothwendigen Gegenwart der Nerven nicht, weil bei der Schwierig-
keit der Beobachtung niemals mit Sicherheit die Abwesenheit aller Nerven behauptet
werden kann; misslang es den Muskel in Zusammenziehung zu bringen, so stützte die-
ses die Hypothese nicht, weil sehr kleine Muskelstücke ihre Lebenseigenschaften sehr
schnell einbüssen *). b. Oder man suchte Muskelpartien in einer Zeit ihrer Entwicke-
lung auf, in denen sie Beweglichkeit besitzen, ohne dass schon Nerven in ihnen
nachgewiesen werden konnten; R. Wagner**). Zu diesen Muskeln gehört u. A.
das Herz des Hühnerembryo, das am zweiten Tag der Bebrütung das rhythmische
Spiel seiner Bewegungen beginnt, zu einer Zeit, wo das Nervensystem überhaupt
noch durchaus keine den späteren analogen Formelemente darbietet; diese und
ähnliche Versuche sind darum beweisunkräftig, weil in jener Zeit auch die Mus-
keln noch nicht aus Muskelröhren zusammengesetzt sind. 2. Man suchte Muskeln
in Zusammenziehung zu bringen, deren zugehörige Nerven, ihre Erregbarkeit
vorübergehend oder für immer eingebüsst haben sollten. Hierher sind zu rechnen
a. die Beobachtung an den Nerven und Muskeln der Verdauungswerkzeuge; die
Muskelhäute dieser Apparate können zu Zeiten nur durch direkte Einwirkung der
Erreger auf die Muskeln, zu andern aber auch durch eine solche auf die Ner-
ven zur Verkürzung gebracht werden. b. Kurz vor dem vollkommenen Absterben
der Muskeln sind dieselben nicht mehr von den ihnen zugehörigen Nerven aus, son-
dern nur durch unmittelbare Ansprache zu verkürzen, Harless, Schiff. c. Endlich
die sehr zahlreich von Fontana, J. Müller, Sticker, Nasse, Stannius,
Longet
u. A. ausgeführten Versuchsreihen. Diese fussen auf der Beobachtung,
dass die Nervenröhren, welche von dem zugehörigen Centralorgane (Hirn oder Rük-
kenmark) getrennt sind, in den Stücken ihres Verlaufs, der in dem Nervenstamme
geschieht, ihre Erregbarkeit sehr rasch einbüssen, bei Säugethieren gewöhnlich nach
4 Tagen, während der Muskel seine Leistungsfähigkeit immer 6 bis 12 Wochen be-
wahrt Als ein constantes Resultat dieser Versuche ergab sich also, dass wenige Tage
nach Durchschneidung eines Nerven die Muskeln von dem mit ihm in Verbindung
stehenden Stumpf des ersteren nicht mehr in Verkürzung gebracht werden konnten,
während der Muskel durch unmittelbare Einwirkung der Erreger noch nach Wochen
und Monaten in Zusammenziehung kam. — Allen unter dieser Nummer verzeich-
neten Versuchen kann der vorerst nicht wegzuräumende Einwand entgegengesetzt
werden, dass die Nerven wohl im Verlauf durch den Stamm, nicht aber inner-
halb der Muskeln selbst ihre Erregbarkeit eingebüsst haben mögen. Dieser Einwurf
gewinnt an Stärke im Hinblick auf das Valli-Ritter’sche Gesetz des Absterbens
motorischer Nerven von dem Centralorgane zu der peripherischen Ausbreitung
(v. p. 118). Vielleicht liesse sich jetzt, seitdem man die Nervenendigungen in den
Muskeln kennt feststellen, ob die Nerven innerhalb derselben bei dem unter c erwähn-
ten Versuch ähnliche Strukturveränderungen erlitten haben, als in den Stämmen. Da-
mit würde der gegen ihn erhobene Einwurf beseitigt sein. 3. Man suchte endlich die
Erregung des Muskels auf sehr kleine Räume zu beschränken, und dann aus der Zer-
gliederung der eintretenden Verkürzungen den Beweis zu ziehen, dass der Muskel
ohne Zuthun der Nerven in Verkürzung gerathen sei; Wild, Ludwig. Streicht man
z. B. mit einer fein geschärften Holzkante (einem Scalpellstiel) über den Magen eines
eben getödteten Thiers, so kann man beliebige Formen und Ausbreitungen der Zu-
[357]Verlängerung des Muskels durch den erregten Nerven.
sammenziehung erzeugen; man findet diese Thatsache in einem scheinbaren Wider-
spruch mit der durch die Nervenerregung erzeugten Zusammenziehung, da diese sich
immer erstrecken müsste über das ganze Gebiet, welches dem erregenden Nerven
unterthan ist. Der Thatsache fehlt aber zum Beweis die Kenntniss der Vertheilung
der Nerven in dem Magen — respective Darmmuskeln.


b. Verlängerung des Muskels durch den erregten Ner-
ven
. Eine geringe Zahl von Nervenröhren scheint überraschender
Weise wenn sie in den von der negativen Schwankung der elektro-
motorischen Molekeln begleiteten Erregungszustand kommt eine Ver-
längerung in den ihnen zugehörigen Muskeln zu erzeugen. Als ein-
zig unzweifelhaftes Beispiel für diese Art des Zusammenhangs
zwischen Nerven und Muskeln dient das von Ed. Weber (und
Budge?) entdeckte Verhältniss zwischen dem n. vagus und der Herz-
muskulatur. Erregt man diesen Nerven vor seinem Eintritt in das Herz,
so folgen die Schläge dieses letztern in grössern Zwischenräumen als
vorher, so dass das Herz oft minutenlang in der Erweiterung stille steht,
und umgekehrt durchschneidet man den n. vagus, womit die Ausbrei-
tung des Nerven im Herzen dem Hirneinfluss entzogen ist, so mehrt
sich die Zahl der Herzschläge in einer ausserordentlichen Weise. Diese
Erfahrung bedeutet aber genauer ausgedrückt eigentlich etwas anderes,
als das, was wir vorhin aus ihr folgerten; denn offenbar berechtigt sie
nur zu dem Ausspruch, dass der erregte n. vagus ein die Zusammen-
ziehung des Herzens veranlassendes Moment wegzuräumen im Stande
sei. Dieser Ausspruch schliesst nun wie ersichtlich die Nothwendigkeit
der Annahme gar nicht in sich, dass der Nerv geradezu auf den Muskel
wirke. In Uebereinstimmung mit dieser Annahme steht die Thatsache,
dass der nerv. vagus vor seiner Einsenkung in die Muskeln mit zahl-
reichen Ganglienkugeln belegt ist, und dass der Nerv, wenn er jenseits
der Stellen, in denen er von dieser Masse umgeben ist, erregt wird, die
beschleunigte Zusammenziehung des Herzens veranlasst; Hoffa,
Ludwig
. Man darf hieraus mit einiger Wahrscheinlichkeit schliessen,
dass der Nerv, indem er das Herz beruhigt nicht auf die Muskeln
sondern auf die Ganglienkugeln wirkt.


Eine grössere Reihe anderer Beispiele, die man meist mit dem eben besprochenen
Fall zusammenstellt, ist noch zu dunkel, als dass sie schon einer genaueren Erwä-
gung unterworfen werden könnte. Hierher gehört: dass eine durch Reflex einge-
leitete Bewegung von dem Willen unterdrückt werden kann, wie z. B. die Zusam-
menziehung des m. orbicularis palpebrarum, wenn ein Schlag gegen das Auge
geführt wird; ferner vermuthet mit Wahrscheinlichkeit Kölliker*), dass die Erek-
tion des penis durch eine von der Nervenerregung eingeleitete Erschlaffung der ca-
vernosen Muskeln ermöglicht werde u. s. w. Da man in diesen Beispielen nicht
einmal den erregenden Einfluss kennt, so wäre es gedenkbar, dass hier dieser selbst
ein anderer wäre, in Folge dessen möglicher Weise die Nerven in einen von der
gewöhnlichen Erregung abweichenden Zustand kämen. Siehe hierüber noch Reflex-
bewegung und Willenshemmung.


[358]Anordnung der Muskelnerven im Hirn und Rückenmark.

Eine Hypothese über das Zustandekommen der Wechselwirkung
zwischen Muskeln und Nerven, welche in Uebereinstimmung mit den
bekannten Thatsachen sich befindet, ist nicht aufgestellt.


Durch die du Bois’schen Untersuchungen sind wir aber der Hoffnung auf eine
solche sehr viel näher getreten, und es lassen sieh jetzt schon aus der von ihm ent-
deckten gleichartigen elektrischen Constitution des Nerven und Muskels mancherlei
Vorstellungen, wie über die Weiterleitung der Erregung innerhalb des Nerven, so
auch über die Uebertragung der Erregung aus dem Nerven in den Muskel bilden.
Dennoch scheint es gerathener, nicht ins Nähere derselben einzugehen. bevor sie
einer genaueren Prüfung unterworfen sind.


4. Anordnung der Muskelnerven im Hirn und Rücken-
mark
. Unzweifelhaft sind in dem Hirn und Rückenmark die Muskel-
nerven durch irgend welchen Mechanismus in eine solche Beziehung
zueinander gebracht, vermöge welcher eine einfache räumlich und zeit-
lich beschränkte Erregung eine räumlich und zeitlich geordnete Be-
wegung zu erzeugen vermag. Diese Behauptung ist nichts anderes als
der Ausdruck der Thatsachen, dass auf eine vorübergehende Erregung
eines sensiblen Nerven die complizirten Muskelakte des Hustens,
Niesens, Schlingens u. s. f. eintreten; ferner dass die Seele, wenn sie
in Leidenschaften befangen ist, wo ihr die Fähigkeit abgeht mit Bewusst-
sein die Muskeln zu geordneten Bewegungen zu verknüpfen, unbewusst
einzelne Muskelgruppen in geordneter Weise anregt, die wir gewöhn-
lich als die leidenschaftlichen Ausdrücke des Schmerzes, der Freude,
des Zorns u. s. w. bezeichnen; ferner dass die Seele die Bewegungen
gewisser Muskeln nicht trennen kann, wie die der Augenmuskeln, des
Cirkelmuskels der Iris und des m. rectus internus bulbi, die Heber und
Senker des Zungenbeins, die beiderseitig entsprechend gelegenen Mus-
keln im Gaumensegel, larynx, pharynx, perinaeum u. s. w. Diese Ver-
knüpfung bezieht sich nun nicht allein auf ein räumliches Nebeneinan-
der, sondern auch auf die zeitliche Reihenfolge, da, wie wir wissen,
durch einen momentan wirksamen Willenseinfluss, oder auf reflektori-
schem Wege durch einen kräftigen aber vorübergehenden sensiblen
Eindruck eine Bewegung erzeugt werden kann, welche aus einzelnen
allmälig sich abwickelnden Akten besteht; Beispiele dafür bieten die
auf willkürliche Anregung des Schlundkopfs eingeleiteten peristalti-
schen Bewegungen der Speiseröhre u. s. w.


Die Gewissheit, dass diese Ordnung der Bewegung abhängig sei
von den Nervenmassen im Hirn und Rückenmark, gibt uns die Erfahrung
dass nach theilweisen oder gänzlichen Zerstörungen dieser letzteren
den Muskeln die Fähigkeit ein und für allemal fehlt, sich in der ange-
gebenen Weise zu combiniren.


Auf welche Weise diese Anordnung ausgeführt wurde, ist unbe-
kannt. Hindeutungen auf die Art des Zustandekommens dieser Ver-
knüpfung liegen jedoch darin, dass derselbe Muskel aus verschie-
denen Wurzeln Nervenröhren empfängt; ferner dass aus annähernd
gleichen Orten des Hirns und Rückenmarks die Nerven abgehen, wel-
[359]Muskelsinn.
che sich zu den Muskeln begeben, die an einer Gruppe von Bewegun-
gen betheiligt sind; und endlich dass Muskeln, welche in sehr viel-
fachen Verbindungen mit andern auftreten, auch stärkere Nerven-
stämme in sich zur Verbreitung bringen. Ueber das Einzelne der
Einrichtung dieser Bewegungsordner sind wir dagegen noch vollständig
ohne Kenntnisse. Schon bei der Betrachtung der Reflexbewegung
wurde hervorgehoben, dass man sie sich nicht als eine einfache, räum-
liche Gruppirung der Nervenröhren zu denken habe.


5. Veränderungen der Empfindungsorgane durch die
Muskeln oder Muskelnerven. Muskelsinn
. *) Die Mittheilungen,
welche der Seele vom jeweiligen Zustande der Muskeln zukommen,
äussern sich unter verschiedenen Formen.


a. Alle der Willkür unterworfenen Muskeln bringen das Be-
stehen und den Grad ihrer Zusammenziehung zum Bewusstsein
ohne jegliche Empfindung innerhalb der bewegten Mus-
keln
. Dieses Bewusstsein äussert sich entweder unmittelbar als
Vorstellung von der Stellung der Glieder, oder noch häufiger als eine
Modifikation unserer aus anderweitigen Erfahrungen gezogenen
Urtheile. — Solche Erscheinungen finden sich ausgesprochen


Im Tastsinn. α) Die Form eines Körpers wird uns nur dann zur
Vorstellung, wenn wir mit den beweglichen Gliedern, auf denen tas-
tende Flächen sich befinden, die Form umgreifen. Dass hier die
Muskelbewegung das Urtheil der Form wesentlich bedingt, ergibt
sich sogleich von selbst, wenn man bedenkt, dass den tastenden Flä-
chen beim Umgreifen eines Cylinders, Viereckes etc. mit den Fingern
selbst kein Unterschied in der Empfindung zu Theil werden
kann. — β) Wir beurtheilen aus unseren Bewegungen und aus
dem veränderlichen Drucke, welchen tastende Flächen von wider-
standleistenden Körpern erfahren, die Richtung, in welcher ein Wider-
stand oder ein Zug auf unsern Organismus wirkt; so z. B. aus Bewe-
gungen des Kopfes die Zugrichtung, welche auf unsere Haare
ausgeübt wird; E. H. Weber. — γ) Wir schätzen die Länge eines in
der Hand u. s. w. gehaltenen, und gegen eine unbewegliche Unter-
lage festgestemmten Gegenstandes aus dem Umfang der Muskel-
zusammenziehung, die nothwendig ist um ihn um gleiche Winkel
in ein und derselben Ebene zu drehen etc. —


Im Gesichtssinn. α) In das Urtheil über die Stellung der ge-
sehenen Gegenstände zum Horizont geht die Vorstellung über die
Lage des Rumpfes und Kopfes mit ein, wie dies unwiderleglich
dadurch bewiesen wird, dass dieselben Netzhautfasern, die von einem
Nachbild eingenommen sind, uns beim Aufrechtstehen des Kopfes
senkrecht und beim Biegen des Kopfes wagrecht gelagert erschei-
nen. (Rüte). — β. Die scheinbare Grösse des gesehenen Objekts ist
[360]Muskelsinn. Gleichgewichtsgefühl.
zum Theil abhängig von dem Zustande der Accommodationsmuskeln,
wie daraus erwiesen ist, dass genau dieselbe Netzhautfläche sehr
verschiedene Vorstellungen von ihrer Grösse erweckt, je nachdem
man das Auge auf einen fernen oder einen nahen Gegenstand einge-
stellt hat, wie aus dem instruktiven Versuche p. 251 hervorgeht. —
γ) Wir beurtheilen die Entfernung eines Gegenstandes aus dem Grad
der Zusammenziehung und der Art der Verbindung, in welcher sich die
einzelnen Augenmuskeln befinden; wie daraus hervorgeht, dass wir
denselben Gegenstand, wenn auch seine absoluten Entfernung von
der Netzhaut nicht verändert wird, in sehr verschiedene Entfer-
nungen sehen können, je nachdem wir denselben mit mehr oder
weniger convergirenden Augen betrachten; H. Meyer. — δ) Die
Bewegung eines gesehenen Gegenstandes schätzen wir endlich aus
der Bewegung unserer Augen, der des Kopfes und Rumpfes, und der
gleichzeitigen Bewegung des Bildes über die Retina, wie unzweifel-
haft die Thatsache erweist, dass ein Gegenstand uns ruhend oder
bewegt erscheint, je nachdem sein Bild über die Retina geführt wird,
während einer selbstständigen Bewegung des Rumpfes, Kopfes oder
Auges, oder während Rumpf, Kopf und Auge ohne Hinzuthun der ihnen
zugehörigen Muskeln weitergeschoben werden. —


Gefühl des Gleichgewichtes, Schwindel. Aus dieser
stetigen Einwirkung der Muskeln auf das Hirn scheint auch das Be-
wusstsein des Gleichgewichtes hervorzugehen; es möchte wenigstens
schwer sein dieses eigenthümliche, unwillkürliche Bestreben anders
zu erläutern, in Folge dessen bei einer Verrückung des Schwer-
punktes unseres Rumpfes, jedesmal eine Bewegung zur neuen Unter-
stützung desselben unternommen wird. Henle.


Endlich wird durch das Bewusstsein von dem Grad der
Muskelspannung die Fähigkeit
bedingt, Gewichte ihrer
Grösse nach
zu schätzen. Dieses Vermögen ist von allen den
erwähnten dasjenige, welches einer genauen Untersuchung, und
zwar durch E. H. Weber unterworfen worden ist. Um die Schätzung
der Gewichte, wie sie aus dem Druck auf die Hautnerven geschieht
nicht einwirken zu lassen, liess er die Hand ein mit Gewichten
beschwertes Tuch fassen, so dass kein Druck von Seiten des Ge-
wichtes auf die Haut der Hand ausgeübt, sondern das Tuch nur durch
Reibung festgehalten wurde; in allen Fällen wurde das Tuch mög-
lichst fest zwischen die Hautflächen gedrückt, viel fester als nö-
thig, um dasselbe zu halten. Selbst ungeübte Personen konnten dann
noch aus zwei Gewichten, von denen das eine 78, das andere 80
Unzen betrug, das leichtere aussuchen.


b. Die Muskeln, gleichgiltig ob sie der Willkür unterworfen,
oder ihr nicht unterworfen sind, erzeugen unter bestimmten Umstän-
den und zwar meist entweder während des Bestehens (langdauernder
oder heftiger) Zusammenziehungen, oder auch im unmittelbaren Ge-
[361]Muskelgefühle. Zur Theorie des Muskelsinns.
folge ihres Nachlasses Empfindungen, die mit dem ganz bestimmten
Bewusstsein vom Orte der Empfindung begleitet sind. —


Diese Empfindungen sind ebenfalls von E. H. Weber genauer
untersucht. Während die Muskeln auf Brennen und Schneiden etc.
kaum eine Empfindung geben, erwecken sie einen fast unerträglichen
Schmerz durch sehr intensive Zusammenziehung (z. B. beim Waden-
krampf), oder wenn sie sehr lange, selbst in sehr mässiger Zusam-
menziehung erhalten wurden (Ermüdung). In diesem letzten Fall
überdauert der Schmerz die Zusammenziehung oft sehr lange Zeit.
Diese Empfindung tritt auch in den unwillkürlich beweglichen Muskeln
wie in denen der Därme, dem Uterus, vielleicht in der Contraktion des
Magens (als Hunger?) oder der glatten Muskelfasern der cutis (als
Ameisenkriechen, Kitzeln u. dgl.) ein.


c. Es scheint, als ob einige Muskeln im Stande wären (vermittelst
der Nerven) dem verlängerten Mark oder andern Hirntheilen durch
den Zustand der Zusammenziehung Erregungen mitzutheilen, welche
Reflexbewegungen in andern Muskeln auslössten. Diese Fälle scheinen
selten zu sein und ihre Erklärung steht noch nicht ganz fest, wir ver-
weisen auf die Schlund- und Darmbewegung bei der Lehre von der
Verdauung.


Ob die Nerven, die dem Muskelsinne dienen, und diejenigen, welche
die Muskelbewegung veranlassen dieselben sind, ist gegenwärtig
schwer zu entscheiden. *) Es wäre denkbar und nicht unwahrschein-
lich, dass alle Einflüsse, welche durch willkürliche Nerven auf unsere
Vorstellungen und sinnlichen Urtheile ausgeübt werden, sogleich durch
den Akt der willkürlichen Erregung geschehen, so dass die Willens-
anstrengung nach einer oder der andern Richtung hin als ein Element
in unser Urtheil aufgenommen würde. Diese Meinung findet ihre
Stütze darin, dass die das Urtheil bestimmenden Bewegungen in
den überwiegend meisten Fällen gar nicht als Muskelempfindungen
auftreten. — Anderseits ist es dagegen wahrscheinlich, dass die
Muskelgefühle und Muskelschmerzen sogenannten sensiblen Ner-
venröhren ihren Ursprung verdanken, weil 1. fast allen ursprünglich
nur motorischen Nervenwurzeln auf ihrem Weg zu den Muskeln
sensible beigemengt werden; so den n. n. facialis, oculomotorius, hypo-
glossus u. s. w. 2. Weil man in unwillkürlich beweglichen Muskeln
ebenso heftige Schmerzen empfindet, als in willkührlich beweglichen.
3. Weil selbst die heftigsten Erregungsmittel auf die mit dem Rücken-
mark und Hirn in Verbindung stehenden vordern oder motorischen Ner-
venwurzeln angewendet keinen Schmerz erzeugen (Bellsches Gesetz.)
4. Weil endlich die nach dauernden Anstrengungen in den Muskeln ent-
stehenden Schmerzen noch Stunden und selbst Tage lang nach dem Auf-
hören der Erregung motorischer Nerven bestehen. Das Unternehmen
[362]Rumpf- und Glieder-Skelet.
eine solche Wirkung als Nachempfindung zu deuten, möchte schwer
seine Rechtfertigung in der Analogie finden; das Phänomen erläutert
sich dagegen einfach, wenn man annimmt, dass die Schmerzen durch
Erregungsmittel bedingt werden, die aus der chemischen Destruktion
der Muskeln hervorgehen, und die auf die in den Muskeln vorhandenen
sensiblen Nerven wirken. Solche Destruktionen sind nun aber be-
kanntlich immer die Folgen anhaltender Bewegung.


Gegen diese Reihe von Gründen lässt sich nur geltend machen,
dass auch die Muskeln auf Angriffe, als Zerschneiden, Brennen etc.,
die sonst in sensiblen Nerven sehr lebhafte Schmerzen erwecken,
nie oder selten mit Schmerzensäusserungen antworten. Dieser Ein-
wand ist aber nicht einmal bindend, weil auch viele andere nachweis-
lich sensible Flächen (Magenfläche, Speiseröhre u. s. w.) erst schmer-
zen, wenn die wenigen in ihnen enthaltenen sensiblen Nervenröhren
in ganz besondern Erregbarkeitszuständen sich finden.


Die Verbindungen der Muskeln mit den besondern Erregungsquellen,
und namentlich mit den Organen des Willens, der automatischen Erregung
und der reflektorischen Uebertragung würden nun zu behandeln sein.
Rücksichtlich der Stellung der Muskelnerven zum Willen verweisen
wir auf Seelenwirkung; den kärglichen Betrachtungen über Reflex
und Automatie, die wir schon gaben, ist nichts weiter zuzufügen.


B. Das Skelet mit seinen Muskeln.


Die folgende Betrachtung fasst das Skelet mit seinen Muskeln
einzig von dem mechanischen Gesichtspunkt auf. In diesem Sinne
stellt es ein Bewegungswerkzeug dar, das sich aus trägen, empfan-
gene Bewegung übertragenden (Knochen, Knorpelgebilden, Bänder,
Sehnen) und aus lebendigen, freie Kräfte erzeugenden Massen (Mus-
keln) zusammensetzt; oder nach einer andern Seite hin ausgedrückt,
das Skelet ist eine mannigfache Zusammenordnung zahlreicher Hebel,
welche von den zwischen liegenden Muskeln bewegt werden. —


Mit Hilfe der bekannten mechanischen Prinzipien würde das
Skelet und seine Bewegungen vollkommen zu verstehen sein, man
würde eben so leicht jede noch so complizirte Leistung desselben aus
ihren einfachen Bedingungen erläutern können, als man auch alle
seine Verrichtungen im Voraus zu bestimmen im Stande wäre, wenn
die mechanischen Eigenschaften desselben aufgedeckt sein würden.
Zu diesen wäre aber zu zählen, 1. die Festigkeit, die Elastizität und
das spezifische Gewicht des Baumaterials sämmtlicher Träger und
lebendiger Theile. 2. Die Form und das Gewicht der Hebel, die Lage
der Stützpunkte und der Angriffspunkte der Kräfte an ihnen. 3. Die
Verbindungen der Hebel unter einander, insbesondere die Art, die
Festigkeit und die Beweglichkeit derselben. 4. Die Kraft und die Rich-
tung, mit welcher die Muskeln gegen die einzelnen Angriffspunkte
angehen, und in welcher Ausdehnung sie sich verkürzen.


[363]Baumittel des Skelets. Knochenmasse.

Unternimmt man nun den Versuch, von diesem Gesichtspunkte
aus die Darstellung des Skelets durchzuführen, so gewahrt man bald,
dass ihm von Seiten der Anatomen fast noch nirgends vorgearbeitet
ist; sie beschreiben fast überall statt der wesentlichen die unwe-
sentlichen Dinge. Darum ist es auch vollkommen unmöglich, die
inhaltreichsten Fragen einer Beantwortung entgegenzuführen, z. B.
die nach der Harmonie des Skelets mit den übrigen Körperbestand-
theilen d. h. warum gerade diese und keine andere mechanischen
Prinzipien für den Aufbau des Skelets verwandt werden mussten, bei
der gegebenen Leistung der Verdauungskräfte des Herzens und der
von dem Skelet zu liefernden Arbeit; ferner die Ableitung der Grenzen
innerhalb der sich das Volum eines Skelettheils mindern oder mehren
darf, wenn einer der übrigen Skelettheile gegeben ist; ferner durch
welche Mittel ein, z. B. durch Krankheit ausfallender Theil compensirt
wird und wie weit diese Vertretung möglich; welche Muskeln und
Nerven sich an einzelnen Bewegungen betheiligen u. s. f. u. s. f. —


Baumittel des Skelets.


Die Formen der trägen Skeletbestandtheile sind dargestellt aus
Knorpel-, Knochen- und Bandmasse.


Die Knochenmasse verdankt im mechanischen Bezuge ihre
wichtigsten Eigenschaften dem Umstand, dass in ein elastisches von
Wasser durchtränkbares Grundgewebe eine kalkartige nicht oxydirbare
Masse inkrustirt ist, in gerade hinreichender Menge um dieser einen
hohen Grad von Steifheit und Festigkeit zu geben, so dass sie die Ei-
genthümlichkeit der Metalle und der Steine verbindet. — Eine Bestim-
mung des Coeffizienten der Federkraft und Festigkeit der Knochensub-
stanz überhaupt ist mit den bisher benützten Methoden nicht möglich.


Die Festigkeit und Federkraft der Knochenmasse muss, wie aus der Natur der
Sache hervorgeht, mit der Zusammensetzung, und noch mehr mit dem Gehalt an Mark-
kanälchen, Knochenhöhlen u. s. w. wechseln; die beiden Eigenschaften müssten darum
als Funktionen dieser Bedingungen bestimmt werden. Die Untersuchungen von Wert-
heim
*) sind darum nur von Bedeutung insofern sie zeigen, dass im Allgemeinen bei
Anhängen von Gewichten an möglichst gleichartige Knochenstreifen die Verlänge-
rungen direkt proporional mit der Vermehrung der Gewichte steigen; dass in der
Knochenmasse des Waden- und Schenkelbeins der absolute Werth des Elastizitäts-
coeffizienten mit dem Alter steigt und endlich, dass weder der Elastitäts- noch der
Cohäsionsmodul in einfacher Beziehung zu dem spezifischen Gewicht des Knochens
steht. Die Wertheim’sche Untersuchung ergab:


[364]Knorpel- und Bandmasse. Form der Knochen.

In dieser Tabelle bedeutet die Festigkeit das Gewicht in Kilogrammen, welches
nöthig war, um ein □ mm. Substanz zum Zerreissen zu bringen. Alle übrigen Zah-
len und Bezeichnungen sind für sich verständlich.


Das Gewebe der Knorpel zeichnet sich vor dem der Knochen
durch Biegsamkeit aus; neben dieser Biegsamkeit zeigt es jedoch
eine grosse Zähigkeit, welche aber namentlich in einzelnen Rich-
tungen grösser als in andern ist. Einen besondern Charakter erhält es
noch durch die zahlreichen mit incompressibler Flüssigkeit erfüllten
Höhlen, welche zwischen seine festen Massen gelagert sind. Allge-
meingiltige Cohäsions- und Elastizitätsmoduli sind aus ähnlichem Grunde
wie bei den Knochen nicht bestimmbar.


Zur Bildung der Bandmassen sind bekanntlich verschiedene
Elementargebilde benutzt; namentlich gibt es elastische, Bindegewebs-
und Fett - Bänder; von allgemeinerer Wichtigkeit sind Bindegewebs-
und elastische Bänder vorzüglich dadurch, dass sie bei niedern Span-
nungsgraden sehr dehnbar, bei höheren dagegen sehr steif sind, und
ferner dadurch, dass sie bei ihrer grossen Dehnbarkeit eine ausser-
ordentliche Festigkeit besitzen. —


Form der Knochen.


Die Form besitzt Antheil an der Bestimmung der Widerstands-
fähigkeit der Knochenmasse; ferner an der Richtung, Art und Ausdeh-
nung der Beweglichkeit der Knochen aneinander; ferner an der Wirkung
des auf sie ausgeübten Muskelzuges, vornehmlich ob dieser letztere
Druck oder Bewegung erzeuge; ferner welchen Umfang und welche
Geschwindigkeit die auf den Knochen übertragene Bewegung gewinne.


Ein und derselbe Stoss wird den Zusammenhang derselben Masse
je nach ihrer Vertheilung im Raume zu lösen oder nicht zu lösen ver-
mögen; bei gleichbleibender Anordnung und wechselnder Richtung eines
Stosses wird die Masse dem Angriff bald widerstehen oder durch ihn zer-
brechen. Diesen allgemeinen Grundsatz hat die Mechanik in seine Einzel-
heiten verfolgt und namentlich hat sie festgestellt, welche Widerstands-
fähigkeit dieselbe Masse je nachdem sie als Platte, Säule, Würfel, Kegel
u. s. w. geformt ist dem Stoss und Druck entgegensetzt, wenn letztere
senkrecht, parallel oder drehend gegen die verschiedenen Ebenen und
Kanten jener Gebilde treffen. Man hat es bis dahin versäumt in einer ge-
nauer durchgeführten Untersuchung eine Anwendung dieser Regeln auf
die Osteographie zu machen, so dass sich ausser selbst verständlichen
Dingen, w. z. B. ein Röhrenknochen, welcher an einem Ende befestigt ist,
zerbricht leichter durch einen Stoss der senkrecht gegen die Längen-
achse geht als durch einen der gegen die Cylinderbasis trifft u. s. w.,
nichts sagen lässt. Soweit aber eine oberflächliche Betrachtung Einsicht
gestattet, ist das menschliche Skelet den hier einschlagenden Regeln der
Mechanik gemäss gebaut, so dass z. B. Knochen und Knochenabthei-
lungen, welche grosse Lasten zu tragen, kräftigere Muskelzüge zu
[365]Form der Knochen.
erleiden haben, nicht allein massiver sind, sondern auch den zerdrück-
kenden Kräften in der Richtung grössten Widerstandes entgegen-
treten, oder dass wenn dieser Regel entgegen starke Drücke senk-
recht gegen grössere dünne Platten gehen, diese nicht aus einem,
sondern einer grösseren Zahl klotzförmiger Knochen bestehen u. s. w.


Die Richtung, nach welcher sich zwei berührende Knochen anein-
ander bewegen lassen, findet eine ihrer wesentlichen Bestimmungen
in der Form der sich treffenden Flächen; je nachdem diese säulen-
artig, kegelförmig, kugelig u. s. w. geformt sind wird der eine auf dem
andern Knochen in dieser oder jener oder in mehrere Ebenen verschieb-
bar sein. Der Umfang möglicher Bewegung wächst sowohl mit der freien
Stellung, die den Flächen an den Knochenenden zukommen, als auch
mit der Zahl der Grade, die ihre Krümmungen umschliessen, vorausge-
setzt dass dieselbe um einen Mittelpunkt gehen, oder wenn dieses nicht
der Fall, mit ihren Ausdehnungen. Die Festigkeit der Verbindung end-
lich, soweit sie vom Knochen selbst abhängt, steigt mit der Vermehrung
der sich berührenden Punkte. Auch diese wichtige Verhältnisse sind
bisher meist ganz oberflächlich behandelt, so dass eine Einordnung der
einzelnen Knochenformen in ein auf die vorliegenden Grundsätze ge-
bautes System unmöglich ist.


Die Längen und namentlich die Abstände der freien und einge-
lenkten Enden eines Knochens, der als Halbmesser um einen Dreh-
punkt oder eine Drehachse einen Kreis beschreibt, bestimmen das
Verhältniss der Geschwindigkeit am Ende und Anfang des Knochens.
Die Richtungen des Knochens gegen den Gelenkfortsatz, insbeson-
dere gegen die Achse der Bewegung, weissen den ziehenden Muskel-
kräften ihren Ansatzwinkel an, d. h. denjenigen, welchen die Richtung
der Muskelkräfte mit ihrem zugehörigen Hebelarm bildet. Je mehr sich
dieser Ansatzwinkel dem rechten nähert, ein um so grösserer Antheil
der Muskelkraft wird zur Ortsveränderung und ein um so kleinerer
zur Zusammenpressung der Gelenkenden verwendet. Je breiter end-
lich die nach einer Richtung hin sehende Fläche ist, welche der Kno-
chen den sich an sie setzenden Muskelfasern bietet, um so weniger
werden die zu einem Muskel zusammengefassten Röhren gegen die-
sen Knochen hin convergiren, so dass grosse Mengen gleich langer
in gleicher Richtung wirkender Muskelröhren hier entspringen können.


Demnächst wäre nun zu untersuchen, welche Folgen aus der Ver-
bindung mehrerer Knochenformen entstehen; d. h. wie sich der folgende
Knochen gestalten muss rücksichtlich seiner Gelenkfläche und der
Grösse und Lage seiner Muskelansatzorte, wenn der vorhergehende
gegeben ist. Unzweifelhaft dürften sich dann allgemeine mathematische
Ausdrücke nicht allein für jeden Knochen, sondern auch für die zu
einem kleineren oder grösseren System verbundenen herausstellen.
Dafür bürgt uns nicht allein die immerhin noch ausserordentliche
[366]Verbindungen der Knochen.
Uebereinstimmung der Form der Knochen bei den verschiedensten
Menschen, sondern noch mehr, dass trotz aller bestehenden Abwei-
chungen dieser Formen, gewisse unwillkürliche Leistungen des Ske-
lets von allen Menschen auf ganz ähnliche Art erzeugt werden, mit
andern Worten, dass trotz der sichtbaren Abweichung der betheilig-
ten Einzelkräfte doch immer dieselbe Resultirende zum Vorschein
kommt, die wir mit dem trivialen Ausdruck, Gehen, Schwimmen,
Sitzen u. s. w. bezeichnen. Diese auffallende Erscheinung einer glei-
chen Resultirenden bei abweichenden Componenten findet vielleicht
darin ihre Erklärung, dass die constanten und wesentlichen Eigen-
schaften des Skelets zu tief liegen, als dass wir sie durch eine nur
oberflächliche oder sog. anatomische Beobachtung sogleich herausfin-
den könnten. Diese Vermuthung gewinnt an Wahrscheinlichkeit, weil
z. B. auch die Drehpunkte, die Achsen der Gelenke u. dgl. gar nicht als
besonders wichtige Theile für das Auge ausgeprägt sind. Möglicher
Weise gleichen sich aber auch durch jedesmalige Abweichungen nach
entgegengesetzten Richtungen hin die Störungen aus, so dass wenn
ein Knochen eine Form annimmt, welche dem Zustandekommen einer
gewissen Resultirenden hinderlich ist, dieser hemmende Einfluss durch
eine Abweichung aufgehoben wird, welche ein anderer Knochen nach
entgegengesetzter Richtung erlangt.


Diese Untersuchungen, die allen Scharfsinn des theoretischen Mechanikers er-
fordern, würden die Osteologie aus dem traurigen Zustand heben, in den sie ver-
sunken ist. Die Resultate solcher Forschungen, zusammengehalten mit den Einflüssen,
welche die Aussenwelt auf die Weichtheile und durch sie auf das Knochensystem
übt, würden dann zu den höchsten Aufgaben der Morphologie führen, nemlich zu den
Fragen über die Stellung des Skelets in der Reihe organischer Wesen. Schon jetzt
erscheint es uns ohne alle tiefer eingehende Ueberlegung sinnvoll, dass ein Gebilde
von dem spezifischen Gewicht des menschlichen Körpers als Stützpunkt seiner Be-
wegung den festen Boden benützt; dass die Masse des festen Körpers, wenn sie sich
einmal auf zwei Beinen bewegt, in vorzugsweise senkrechter Richtung aufgethürmt
wurde und zwar in einer Aufeinanderfolge und Vertheilung, welche dem Schwer-
punkt der Gesammtmasse seine Lage annähernd in der Horizontalebene der Schen-
kelköpfe anweist. Voll innerer Nothwendigkeit erhebt sich von dem Rumpf in das
vorzugsweise schallleitende, durchsichtige, geruchführende Medium der Kopf als
Träger der Sinneswerkzeuge, durch seine Beweglichkeit zur Umschau befähigt.


Verbindungen der Knochen.


1. Ausser der Verbindung durch Nähte, welche meist so innig ist,
dass sie nur den Gewalten nachgibt, welche stark genug sind um
den Knochen zu zerbrechen, kommen zwei wesentlich verschiedene
Arten von Gelenken vor, die man in der Anatomie als Synchondrosen
und Artikulationen beschreibt. Die Synchondrose zeichnet sich der
Form nach dadurch aus, dass in ihr die einander gegenüberstehenden
Knochenenden durch steife Weichtheile, Knorpel und Bänder, ver-
wachsen sind. Rücksichtlich der Bewegung ist sie dadurch charak-
terisirt, dass sie den Knochenstücken, welche sie verbindet, eine be-
stimmte Lagerung gegeneinander anweist, aus der sie nur durch einen
[367]Synchondrose, Artikulation.
gewissen Kraftaufwand entfernt werden können. Die verbindenden
Zwischenstücke sind nun von dem beweglichen Rippenknorpel durch
die ligamenta intervertebralia hindurch bis zur symphysis sacroiliaca
von einer sehr verschiedenen Festigkeit und Steifigkeit. Einzelne
Synchondrosen sind endlich noch dadurch verwickelt, dass die einander
zugekehrten Knochenflächen bis zu dem Grade uneben gestaltet sind,
dass schon bei einer geringen Verbiegung des Knorpels die Knochen
aneinanderstossen. Da die Verschiebung der synchondrisch verbun-
denen Knochenmasse aus ihrer Ruhelage nur in Folge von Verdrehung,
Einknikung, Verkürzung und Verlängerung der elastischen Zwischen-
stücke geschen kann, so ergibt der Augenschein, dass die Beweglich-
keit der Synchondrose [oder schärfer ausgedrückt, der Umfang ihrer
Winkelbiegung im Verhältniss zur Grösse der bewegenden Kräfte] im
Allgemeinen wächst mit der Länge und abnimmt mit der Vergrösserung
des Querschnittes der verbindenden Masse. Bei der Mannigfaltigkeit
in der Zusammensetzung des Bindestückes aus Knorpel, Fett und elas-
tischem Bindegewebe, lässt sich jedoch keine vergleichende Bestim-
mung über die Beweglichkeit der einzelnen Synchondrosen geben.


Die Artikulation ist zu definiren als das Gelenk, welches zwi-
schen zwei sich berührenden freien Knochenenden besteht; diese Ge-
lenke haben noch ganz besondere Hilfswerkzeuge als Zugabe erhalten.
Namentlich bestehen diese aus knorpeligen oder faserigen Ueberzügen
der Gelenkflächen; aus Bandmassen, welche von einem Gelenkende zum
andern überspringen, in die unter Umständen noch Spannmuskeln,
Deckknochen, Bandbrücken und Fettpolster eingelagert sind; aus der
schlüpfrigen, Reibung vermindernden Gelenkschmiere; endlich in der
Luftleere der Gelenkhöhle, welche durch Ventile und Capselmembranen
erhalten wird. — Der allgemeinen Form der Fläche nach kann man die
Artikulationen eintheilen in solche, deren beide Flächen nach demselben
Gesetz gebogen sind, wo dann beide immer Rotationsflächen sind; und
in solche, deren beide Flächen nach einem verschiedenen Gesetze sich
krümmen.


a. Gelenke mit Flächen von einem Krümmungsgesetz. Zu dieser
Gruppe gehören die Kugel-, Kegel- und Säulengelenke u. s. w. Ihre
Flächen stellen niemals den ganzen Umfang einer Kugel, einer Säule
u. s. w., sondern immer nur ein Bruchstück derselben dar. Da von
den zu einem Gelenk gehörigen Flächen die eine immer concav und
die andere entsprechend convex gebogen ist, so sind beide ihrem gröss-
ten Theile nach in jeglicher Stellung des Gelenkes in Berührung.


Zur Beurtheilung der Richtung und Grösse der Bewegung dient:
Die Bewegung geschieht bei dem Kugelgelenk um den Mittelpunkt der
Kugel, beiden übrigen um die Achse der Rotationsfläche. Die Ausdehnung
der Bewegung wird bestimmt durch die Zahl von Graden, welche das
an dem einen der beiden Gelenkenden wirklich dargestellte Stück der
[368]Gelenke mit Rotationsflächen.
Rotationsfläche umspannt, durch das Vorhandensein oder Fehlen von
Knochenvorsprüngen in der Gelenkumgebung, durch die Spannung
oder Torsion der Gelenkbänder. Diese letzteren sind bei Kugel-, Ke-
gel- und Säulengelenken verschiedentlich eingerichtet. Beim Kugelge-
lenk werden sie durch einfache Streifen dargestellt, welche jedesmal
die einander grade gegenüberliegenden Punkte der Gelenkränder ver-
binden; diese Bänder genügen, um die Drehung nach allen möglichen
Achsen zu hemmen welche über einen gewissen Umfang hinausgehen.
Denn geschieht die Bewegung derartig, dass die Bandstreifen der einen
Seite erschlafft werden, so müssen sich die der entgegengesetzten
spannen; verschieben sich aber die in der Ruhe einander gegenüberlie-
genden Punkte der Gelenkränder, so werden alle Bandstreifen in einem
gewissen Grad verdreht. — Das Säulengelenk, der reine Ginglymus der
Anatomen, empfängt seine Hemmung durch Bänder, welche sich ex-

Figure 97. Fig. 94.


Figure 98. Fig. 95.


centrisch in dem Kreise ansetzen, in welchem
das Gelenk sich dreht, welche mit andern Wor-
ten ihren Ursprung an dem einen der Knochen
nicht in, sondern neben der Gelenkachse finden;
solche Bänder Fig. 94 sind aber nur dann be-
kanntlich im Minimum ihrer Spannung, wenn
sich ihre Ansatzpunkte an den beiden Knochen
A, B und der Einschnittspunkt der Gelenkachse
auf die Knochenoberfläche C in einer geraden
Linie befinden, und beide Ansatzpunkte zu-
gleich auf derselben Seite der Gelenkachse
liegen. — Die Hemmungsbänder des Kegel-
gelenkes Fig. 95 sind schief gegen die Achse
AA gestellt; wenn wie meistentheils zwei in
entgegengesetzten Richtungen verlaufende
Bänder B B und C C vorhanden sind, so wird
durch eine Bewegung aus der Stellung, in
welcher beide Bänder in mittlerer Spannung
liegen, das eine derselben (B B′) an und das
andre (C C′) abgespannt werden. — Alle Ge-
lenke erfahren zudem noch Beschränkungen
durch Muskeln, Sehnen, Fettpolster u. s. w. —


b. Den Gelenkenden, deren zugekehrte Flä-
chen nach verschiedenen Gesetzen gebogen
sind, kommt meist eine sehr complizirte Form
zu, so dass sogar öfter ein jedes Ende Abschnitte
ganz verschiedener Biegung trägt, die nicht auf
ein und dieselbe Curve zurückführbar sind;
oder es sind sogar die beiden Flächen nicht in
unmittelbarer Berührung, indem sich zwischen
[369]Unterkiefergelenk.
dieselben noch knorpelig elastische Massen, die Menisci, einfügen. Aus
dieser Angabe folgt, dass die Zahl der Berührungspunkte beider Ge-
lenkflächen je nach ihrer Stellung sehr wechseln muss. Ueber ihre
Beweglichkeit lässt sich im Allgemeinen nichts aussagen.


2. Die folgende Betrachtung der Gelenke im Einzelnen soll durch
ihre Lückenhaftigkeit zu neuen Untersuchungen auffordern.


Unterkiefergelenk.


Seine Schädelfläche a a stellt hinten eine Grube und vorn einen
Höcker dar; die Fläche des Gelenkkopfes b ist wenigstens keinem Um-
drehungskörper angehörig; auf dem Kopf schleift ein Meniscus der

Figure 99. Fig. 96.


vorn und hinten a, a an der Schädel-
fläche, rechts und links an dem Ge-
lenkkopfe befestigt ist. Das Gelenk
ist in seinen zwei ihm zukommenden
Stellungen verschieden beweglich.
a. Der Kopf steht in der hintern Grube,
der Meniscus klemmt sich fest zwi-
schen tuberculum articulare und den
Gelenkkopf, so dass er die vordere
Wand der Gelenkfläche bildet; sein
vorderes Verbindungsstück mit der
Schläfenfläche ist stark genug ge-
spannt, um sich bei der Bewegung des
Gelenkkopfes nicht zu verrücken. Die
Bewegung geschieht in dieser Stellung
um eine Achse, die durch die längste Ausdehnung (von rechts nach links)
des Gelenkkopfes geht, nach Art derjenigen eines Säulen- oder Cylinder-
gelenks. Hemmungen für die Bewegungen geben die Zähne, das Gelenk
der entgegengesetzten Seite, und die zwischen process. mastoideus und
dem Unterkieferast eingeklemmten Theile ab. — b. Der Gelenkkopf steht
auf dem tubercul. articulare, der Meniscus legt sich gegen die hintere
Fläche des Kopfes, und ist durch seine hintere Verbindung mit der Schlä-
fenfläche festgestellt; bei den Bewegungen folgt er dem Gelenkkopfe.
Die Bewegung selbst geschieht durch Verrückung des ganzen Gelenk-
kopfs nach vorn oder nach aussen und nicht durch Abwicklung sei-
ner Flächen indem die Achse um welche die Drehung geschieht durch
das gespannte lig. laterale externum bestimmt ist; H. Meyer. Die Hem-
mung geschieht durch das ligamentum laterale extern., den Meniscus,
die hintern Backenzähne und die mm. masseter und pterygoideus in-
ternus. — Durch allmäligen Uebergang beider Bewegungsweisen in
einander entsteht der Anschein einer Rotation um eine auf die längste
Ausdehnung des Kopfes senkrechte Achse. — Beide Kiefergelenke
gehen entweder in ihrer Bewegung gleichzeitig und gleichstark, oder es
Ludwig, Physiologie I. 24
[370]Gelenke am Hinterhaupt, Atlas und Epistropheus.
kann das eine festgestellt und das andere um dasselbe im Kreisbogen
gezogen werden.


Gelenk zwischen Hinterhaupt und Atlas. Beide Gelenken-
den schliesen genau auf einander; sie sind mit doppelter, ungleicher
Krümmung versehen; die Krümmung von rechts nach links, (von wel-
cher Fig. 97 den Durchschnitt gibt; A ist das occiput, B der Atlas) ist

Figure 100. Fig. 97.


mit einem grösseren Halbmesser beschrieben als die von vorn nach
hinten gehende. Aus diesem Grunde sind in diesem Gelenke Bewe-
gungen um zwei Achsen möglich von denen eine von vorn nach hinten
und die andre von rechts nach links geht; die Bewegungen um eine
senkrechte Achse, die Kopfverdrehung, kann dagegen nicht in ihm
vorgenommen werden. — Die Ausdehnung der möglichen Bewegungen
ist nicht unbeträchtlich, da die convexen Flächen des Hinterhauptes
die concaven des Atlas um ein bedeutendes übertreffen. Als Hemmun-
gen der Bewegung wirken, ausser den benachbarten Knochenvor-
sprüngen, ligam. obturatorium anterius et posterius und der apparat.
ligamentosus.


Gelenk zwischen Atlas und Epistropheus. — Zu ihm ge-
hören an jedem Wirbel drei Flächen; und zwar zwei schwach schief
ansteigende an den proc. obliqui und an dem Zahnfortsatz resp. am
vordern Atlasbogen. H. Meyer glaubt diese Flächen auf Stücke eines
Kegels mit concaver Erzeugungslinie zurückführen zu können, dessen
Achse mitten durch den Zahn, parallel seiner grössten Länge geht. Um
diese Achse geschieht auch die einzig mögliche Bewegung. Der Gang
am Zahn ist durch das ligamentum transversum gesichert. Die Hem-
mung geschieht durch das ligamentum longitudinale anterius, die lig.
alaria propria (zum Zahn) und accessoria (zum Epistropheuskörper)
(H. Meyer) in der bei dem Kegelgelenk erwähnten Weise. — Die Aus-
dehnung der Bewegung ist unbekannt.


Gelenke zwischen den übrigen Wirbeln*). Von den man-
nigfachen Verbindungs- und Berührungsstücken der Wirbel soll zuerst
die Synchondrose durch das lig. intervertebrale in Betracht gezogen wer-
den. Diese Bänder bestehen an ihrer Peripherie aus ineinandergesteckten
[371]Wirbelgelenke; lig. intervertebrale.
fibrös-knorpeligen aufrecht gestellten Röhren; E. H. Weber. In den
Räumen zwischen den einzelnen Röhren finden sich als Ausfüllungs-
mittel Fettmassen, die in Bindegewebe gehüllt sind. Im innersten Rohr,
also im Centrum des Intervertebralbandes liegt ebenfalls ein aus Fett
und Bindgewebe bestehender Inhalt, der Kern, eingeschlossen.
Die Ansicht eines Durchschnittes senkrecht auf die Achse der Cylin-
der gewährt Fig. 98. Der Kern ist aber in dem innersten Rohre nicht

Figure 101. Fig. 98.


blos locker eingelagert, sondern
er findet sich in ihm in einem be-
trächtlich comprimirten Zustand, so
dass er von der umgebenden Hülle
befreit, einen grösseren Raum, als
in der normalen Lage einnimmt.
Diese Spannung des Kerns, der
wahrscheinlich von endosmoti-
schen Wirkungen herrührt, übt einen Druck auf seine Umgebungen,
der wohl nach allen Richtungen hin mit gleicher Stärke geschieht,
weil der Kern flüssige und halbflüssige Substanzen enthält.


Nächst dieser erhalten die lig. intervertrebralia eine weitere Spannung
bei der aufrechten Stellung durch die Schwere der überliegenden Theile;
dieselbe wird ungleich stark auf die hintere und vordere Seite des Inter-
vertebralknorpels wirken, weil der gespannte nucleus als ein Hypomoch-
lion angesehen werden muss, um welches sich die seitlichen Theile
drehen, wenn ein einseitiger Druck auf sie fällt. H. Meyer glaubt be-
haupten zu dürfen unter Annahme eines gegen den Horizont senkrech-
ten Druckes der auf die vordere Hälfte der oberen Fläche der Wirbel-
körper fällt, dass die grösste Spannung in der Brustwirbelsäule an der
hinteren Wand und in der Lendenwirbelsäule an der vorderen Wand
gelegen sei, während in dem Uebergang einer zur andern Krümmung
sie allseitig gleichstark bestehe. Ausser diesen allgemeingiltigen
Verhältnissen zeigen die einzelnen Intervertebralbänder bekanntlich
noch Verschiedenheiten rücksichtlich ihrer Dimensionen, die von Ed.
Weber
genauer bestimmt sind. Nach Ed. Weber wächst der
Diameter der Querschnitte, die er annähernd als Kreise betrachtet
von dem obersten Halsknorpel bis zum vorletzten Lendenknorpel
von 14,7 bis 29,5 M. M. Die aus diesen Bestimmungen fliessende
Berechnung des Flächeninhalts darf nur annähernd als richtig be-
trachtet werden, weil in der That die Querschnitte keine Kreise,
sondern am Hals und Lendenwirbelsäule eine elliptisch, an der Rük-
kenwirbelsäule eine herzförmig begrenzte Fläche darstellen. —
Die Höhe der Knorpel nimmt in dem von Weber gemessenen Fall
vom obersten bis zum untersten Intervertebralknorpel mit mancher-
lei Sprüngen von 2,7 bis 10,9 M. M. zu. — Aus diesen Thatsachen
scheint der Schluss erlaubt, dass die Intervertebralknorpel der Hals-
24*
[372]Wirbelgelenke; lig. longitudinalia u. flava; processus obliqui.
wirbel durch dasselbe Gewicht beträchtlicher gedreht und geknickt
werden können, als die der Lendenwirbel und diese beträchtlicher als
die der Brustwirbel.


Ed. Weber hat, um die Vorstellung über die Beweglichkeit der Wirbelsäule,
insofern sie von den Intervertebralknorpeln abhängt, noch schärfer zu fassen,
sämmtliche Knorpel der Halswirbelsäule und ebenso die des Rücken- und die des
Lendentheils zu einem einzigen addirt. Indem er jedes dieser drei Stücke als Cy-
linder von gleichartiger Struktur und gleichen accessorischen Spannungen be-
trachtete, und annahm, dass eine sie beugende Kraft parallel der Achse dieses Cylinders
wirke, fand er, dass für gleiche Kräfte der Beugungswinkel der Hals-, Brust- und
Lendensäule sich verhalten würde nahe wie 846 : 297 : 298. Selbstverständlich
sind diese Zahlen kein Ausdruck für das Verhältniss der Beweglichkeit an den zu-
gehörigen Wirbelsäulestücken.


Die ligamenta longitudinale anterius und posterius, welche die hin-
tere und vordere Fläche der Wirbelkörper überziehen sind als Ver-
stärkungen der ligamenta intervertebralia anzusehen und zu beurthei-
len. Das ligamentum flavum, das sich bekanntlich zwischen die Bogen
legt, ist als eine Verstärkung des ligam. long. posterius zu betrachten,
welche an einem längern Hebelarm wirkt.


Die Bewegung der Wirbelsäule würde, wenn sie nur von den
Intervertebralknorpeln abhängig wäre, an allen Orten ungefähr mit
gleicher Leichtigkeit nach allen Richtungen hin geschehen; die ein-
zige Ungleichheit, die hier vorkommen könnte, würde bedingt sein
durch die bald mehr hinten, bald mehr vorn gesteigerte Spannung
der Wandungen, und durch das Gegenübertreten des steifen Brust-
beins und der Brustwirbel. Da nun aber in der That an verschie-
denen Stellen der Wirbelsäule die Bewegung mit ungleicher Leich-
tigkeit nach verschiedenen Richtungen hin stattfindet, so müssen
sich noch andere Beschränkungen finden. Diese letzteren liegen in
den Gelenkflächen der schiefen Fortsätze, welche ausser dieser Be-
stimmung auch noch darum von Bedeutung sind, weil sie als steife
Körper die Intervertebralknorpel vor einer Zusammenpressung durch

Figure 102. Fig. 99.


das Körpergewicht schützen. Um
eine Vorstellung von der Gelenk-
fläche zu erhalten, schneiden wir
dieselbe nach drei aufeinander senk-
rechten Richtungen. Ein Schnitt ge-
führt parallel mit der Längenachse
der Wirbelsäule von vorn nach hin-
ten, ergibt, dass in den oberen
Halswirbeln, Fig. 99, die Gelenk-
fläche AA einen sehr kleinen Win-
kel mit dem Horizont bildet, während
ein gleicher durch die Lendenwirbel,
[373]Schiefe Fortsätze.

Figure 103. Fig. 100.


Figure 104. Fig. 101.


Fig. 100, ein sehr steiles
Abfallen der Gelenkfläche
darlegt. Demnach wird in
den Halswirbeln die Beug-
ung und Streckung durch
die schiefen Fortsätze
keine Hemmung erfahren,
während sie in den Len-
denwirbeln wohl nur mög-
lich ist, wenn die beiden
Gelenkflächen sich in ir-
gend welchem Umfang von
einander abheben. — Ein
Durchschnitt parallel mit
der Wirbelsäule von rechts
nach links, zeigt dass die
Halswirbel, Fig. 101, mit
Leichtigkeit in dieser Ebe-
ne bewegt werden können,
da die den beiden Gelen-
ken angehörigen Flächen,
annähernd wenigstens ei-
nem und demselben Kreis-
bogen angehören. In der
Lendenwirbelsäule (Fig.
102.) ist dagegen die Be-
wegung nur möglich, wenn
sich während derselben die Flächen von einander heben, da die den
beiden schiefen Fortsätzen angehörigen Gelenkflächen einander parallel
laufen. — Zur Drehung um eine Längsachse sind, wie die Durch-
schnitte 103. 104. 105 lehren, nur Hals- und Rückenwirbel befähigt,

Figure 105. Fig. 102.


[374]Beweglichkeit der Wirbelsäule.

Figure 106. Fig. 103.


Figure 107. Fig. 104.


Figure 108. Fig. 105.


denn nur bei diesen (103.
104), gehört die Durch-
schnitts-Linie beider Flä-
chen A, A demselben Krei-
se an, während die beiden
Gelenkfortsätze in der Len-
denwirbel - Säule, wie die
Zähne eines Zahnrades ge-
stellt sind und somit grade-
zu jede Drehung in der Ho-
rizontal - Ebene hemmen;
E. H. Weber. Die Drehun-
gen der Hals- und Brust-
wirbel unterscheiden sich
voneinander dadurch, dass
der Drehungsmittelpunkt
der ersteren gegen die
Dorsalfortsätze, der der
letzteren gegen die Wir-
belkörper gelegen ist. —


Nach E. H. u. Ed. We-
ber
, welche über die Be-
weglichkeit der Wirbel-
säule Beobachtungen an-
gestellt haben, kann die
Halswirbelsäule nach allen
Richtungen sich biegen
und drehen; der Brustwir-
belsäule fehlt das Vermö-
gen der Beugung und
Streckung, während die
Lendenwirbelsäule sich
nicht um ihre Längeachse
drehen kann; dagegen
vermag sie sich rechts,
links, vorwärts und rück-
wärts zu beugen. Diese
letzten beiden Bewegun-
gen kann sie aber in
grösster Ausdehnung an
ihren Grenzen gegen die
Brustwirbel und das
Kreuzbein ausführen. —
Der Winkel, welchen der
[375]Symphysen des Beckens.
Kopf von vorn nach hinten zu umschreiben im Stande ist, vorausge-
setzt, dass er sich nur auf den kleinen Gelenken und der Halswirbel-
säule bewegt, beträgt nach Ed. Weber in Mittel 161°, während der
Beugungswinkel der Lendenwirbelsäule nur 84° umgreift. —


Symphyses sacroiliacae und ossium pubis. Da diese drei
Synchondrosen von annähernd gleicher Festigkeit sind und an demsel-
ben Ringe sitzen, so geschieht ihre Bewegung immer gleichzeitig;
bei dem grossen Widerstande, welchen die breiten und kurzen Knor-
pelmassen einer jeglichen Verbiegung entgegensetzen, gehören sehr
beträchtliche Kräfte dazu, um eine merkliche Bewegung in den durch
sie vereinigten Knochen zu veranlassen. Diese tritt u. A. ein, wenn zu
der des Rumpfs, noch andere grosse Lasten an die Wirbelsäule gehängt
werden. Da die Erläuterung dieses Falles, welche H. Meyer gegeben
hat, genügt, um eine Einsicht in den Mechanismus der Bewegung zu ge-
winnen, so werden wir uns auf die Zergliederung desselben beschrän-
ken. Wir setzen die Bedingung, dass eine zum Horizont senkrecht ge-
richtete Last die schief abgestutzte Kreuzbeinfläche treffe, und dass
die Schwerlinie, (ein vom Schwerpunkt der Last gegen den Boden ge-
fälltes Perpendikel) unterstützt sei von der Verbindungslinie zwischen
den Mittelpunkten der Schenkelköpfe. Zur Versinnlichung des Hergangs,
insbesondere der an der Kreuzdarmbeinsynchondrose eintretenden Be-
wegung soll die Fig. 106 dienen; sie stellt einen Durchschnitt durch das

Figure 109. Fig. 106.


Becken dar, welcher durch den Berührungspunkt der Schwerlinie und
der Kreuzbeinfläche A, und die Drehpunkte der beiden Schenkelköpfe
B B bestimmt ist. Der senkrechte Druck, welcher auf die schiefe Kreuz-
beinfläche fällt, wird dieselbe nach unten und hinten drücken; der ersten
dieser Druckrichtungen wird Folge gegeben werden können, da das
[376]Rippengelenke; Brust-Schlüsselbeingelenk.
Kreuzbein nach Art eines Keils mit nach oben sehender Spitze zwi-
schen dem Darmbein ruht C C, D D. Entsteht aber in der That eine Be-
wegung, so werden die obern Theile des Darmbeins, welche noch be-
sonders durch Bandmassen an dem Kreuzbein hängen, zugleich mit
nach unten gezogen, so dass sich die Schambeinfuge namentlich ihr
arcus pubis entsprechend spannt. Diese Spannung der Symphyse wird
dann nach Entfernung des Druckes dem Darmbein wieder behilflich
sein zur Annahme seiner alten Stellung. Durch die zweite Druck-
wirkung, nach hinten, wird das Kreuzbein aber nur an das Darmbein
gepresst, da der Knochenbau keine Bewegung erlaubt.


Rippengelenke. Die Rippe ist bekanntlich dreimal an relativ
festen Flächen angelehnt. Zuerst an die Wirbelkörper; die Krümmung
nach der die Flächen dieses Gelenkes gebogen, ist nicht genauer be-
stimmt; jedenfalls ist hier nur geringe Verschiebung möglich, theils
wegen der ligam. capituli radiatum, posterius und colli costae, theils
wegen des ligam. interarticulare, welches bekanntlich nach Art eines
Meniscus die Gelenkhöhle in 2 Abtheilungen bringt. — An der zweiten
Anlehnung in welcher die Rippe an den processus transversus liegt,
gehen zwei scheinbar ebene Flächen aufeinander; auch hier ist die
Beweglichkeit sehr untergeordnet; es kann wegen des ligam. costae
transversarium und wegen der gegenseitigen Lage von Rippe und Quer-
fortsatz eine nur geringe Erhebung und Senkung geschehen, welche
zudem noch durch das ligam. colli costae gehemmt ist. — Beide Ge-
lenkflächen am Wirbelkörper und Querfortsatz könnte man als zu einer
Kegelfläche gehörig ansehen, und von diesem Gesichtspunkt aus die
Bewegungen der Rippe construiren, wenn sie nicht nach vorn durch
den Rippenknorpel an das Brustbein geheftet wäre. Wegen dieser drei,
nicht in einer geraden Linie liegenden Befestigungspunkte kann sich
aber die Rippe, wie Helmholtz zuerst hervorgehoben, nur durch Ver-
biegungen in ihrer Masse, durch Veränderung ihrer Gestalt bewegen.
Die Beweglichkeit der Rippe wird demgemäss abhängen von der Bieg-
samkeit der Knochen und Knorpelsubstanz aus der sie besteht. Da diese
Massen aber immer einen merklichen Steifigkeitsgrad zeigen, und an
den drei erwähnten Punkten festgestellt sind, so wird die Rippe eine
stabile Gleichgewichtslage besitzen, in die sie immer zurückzukehren
strebt, wenn man sie nach oben oder unten daraus entfernt hat.


Brust-Schlüsselbeingelenk. Die Gelenkfläche des Sternums
ist in der Richtung von hinten zu vorn convex nach oben gebogen,
Fig. 107 A; von innen zu aussen ist sie concav nach oben Fig. 108 A.
Die Krümmungsgesetze beider Flächen sind unbekannt. Die Krüm-
mung des Schlüsselbeinkopfes von hinten zu vorn, entfernt sich we-
nigstens nicht allzusehr von einer Kreislinie Fig. 107 B; auch im
Durchschnitt des Kopfes von rechts zu links Fig. 108 B bietet sich
am obern innern Theil eine sehr schwache, am äussern untern Theil
[377]Gelenke zwischen Schulterblatt, Schlüsselbein u. Oberarm.

Figure 110. Fig. 107.


Figure 111. Fig. 108.


eine starke Krümmung, die vielleicht einem Kreis angehört. Zwischen
beiden Gelenkflächen ist ein starker Meniscus eingeschoben, der vorn
und innen vorzüglich an dem Schlüsselbeinkopf, aussen und hinten
aber an der Sternalfläche liegt; somit erscheint er auf jedem der beiden
dargestellten Schnitte C C. — Der letztern Biegung entsprechend kann
der Schlüsselbeinkopf von hinten nach vorn rollen, um eine Achse,
welche im Allgemeinen durch ihn horizontal in der Richtung von vorn
nach hinten geht; diese Bewegung hebt und senkt das Schlüsselbein;
Beschränkungen erleidet sie durch das Aufrollen des Meniscus, das
ligam. interclaviculare, costoclaviculare und die erste Rippe. — Die
andere dem Schlüsselbein zukommende Bewegung, bei welcher sein
Körper von hinten nach vorn tritt, ist weniger klar; es lässt sich über
dieselbe ohne eine genauere noch fehlende Untersuchung nur aus-
sagen, dass die Bewegung gehemmmt werde durch das lig. coraco-cla-
vicularia und den meniscus. Dieses wichtige und complizirte Gelenk
verdient vor allem eine gründliche Untersuchung.


Schulterblatt-Schlüsselbeingelenk. Um dieses schmale
Gelenk sind verschiedene Verbiegungen des Schulterblatts zulässig;
zuerst ein Vor- und Rückwärtsrücken desselben. Diese Bewegung wird
gehemmt durch einen starken Sehnenstreifen, der von der Mitte des
Schlüsselbeins zum proc. coracoideus tritt, welcher sich anspannt,
wenn das Schulterblatt nach hinten geht. Diese Bewegung addirt sich
zu der entsprechenden des Schlüsselbeins am Sternum. Eine zweite
Bewegung führt das Schulterblatt um eine Achse aus, welche von dem
untern Winkel desselben gegen dieses Gelenk zu ziehen ist. Diese
Bewegung, bei welcher sich der untere Schulterblattwinkel von der
Rippe abhebt, wird durch einen Bandstreifen gehemmt, der auf der
hintern Rumpffläche von innen nach aussen, von den Rippen zum
Schulterblatt läuft.


Achselgelenk. Der Mittelpunkt, um welchen die kugeligen Ge-
lenkflächen beschrieben sind, liegt im Oberarmbein ungefähr in glei-
[378]Ellenbogen- und Supinationsgelenk.
cher Höhe mit dem tuberculum majus. Die beiden Flächen am Schulter-
blatt und Oberarmbein, welche aufeinander gehen, sind ungleich gross;
die kleine gehört dem Schulterblatt an. Denkt man sich diese letztere
auf eine Ebene projizirt, so stellt sie ungefähr ein Dreieck dar, dessen
Höhe (von oben nach unten laufend) die Breite beträchtlich über-
wiegt; die obere Spitze dieses Dreiecks kommt nach der Schulterhöhe hin
zu stehen. Hemmungen der Bewegung geben ab das acromion, der
proc. coracoideus, ligam. caraco-acromiale und die an das Gelenk ver-
laufenden Muskeln. Da auch dieses Gelenk luftleer ist, so wird die
Fläche durch den Luftdruck zusammengepresst. Da aber die Ausdeh-
nung dieser Flächen noch nicht ermittelt ist, und ebensowenig das
mittlere Gewicht des Arms, so lässt sich nicht angeben, in welchem
Verhältniss das Gewicht der drückenden Luftsäule und dasjenige des
Arms zueinander stehen. Aus der chirurgischen Erfahrung, dass
nach Lähmungen der Oberarmmuskulatur Verrenkung des Gelenks er-
folgt (Baum), scheint hervorzugehen, dass der Luftdruck den Arm
nicht allein trägt.


Ellenbogengelenk. Das Ulnargelenk läuft auf einem zur
Sicherung des einseitigen Ganges von rechts nach links ausgeboge-
nen Cylinder; die Achse des Gelenkes geht durch die beiden Condy-
len, und berührt namentlich deren Flächen an dem Ansatzpunkt der

Figure 112. Fig. 109.


ligamenta lateralia. Die Berührung der beiden Ge-
lenkflächen wird nächst dem Luftdruck durch die
ligamenta lateralia bewerkstelligt; Hemmungen
geben die processus conoideus und anconaeus.


Das Radialgelenk ist ein flaches Kugelsegment;
sein Drehpunkt fällt in die Achse des Ulnargelenkes;
es ist darum im Stande den Bewegungen desselben
zu folgen. Ausser dieser ist ihm nur noch eine
andere Drehung um die Supinationsachse möglich;
die Bewegung nach der dritten Richtung gegen die
Mittellinie des Arms ist ihm wegen der Einspannung
des Radius an der Ulna versagt.


Supinations- und Pronations-Gelenke.
Sie werden durch vier zueinandergehörige Gelenk-
flächen dargestellt: zwischen der superficies capitata
humeri und dem radius; dem capitulum radii und
fossa sigmoidea minor ulnae; dem capitulum ulnae
und der incisura semilunaris radii; dem capitulum
ulnae und der cartilago triquetra. — Die gemein-
same Achse Fig. 109 I. II, um welche die Drehung
erfolgt, ist eine Linie, welche aus dem Mittelpunkt
der superficies capitata humeri gegen den Anhef-
tungspunkt der cartilago triquetra am process. sty-
[379]Vorderarm - Handwurzelgelenk.
loideus ulnae verlaufend gedacht werden muss. Um diese Achse ragen
zur Sicherung des Ganges auf entgegengesetzten Seiten zwei Cylin-
derflächen am obern Ende des Radius und am untern der Ulna hervor;
von diesen ist die zwischen fossa sigmoidea ulnae und capitulum ra-
dii gelegene noch durch das ligam. annulare regulirt. — Gehemmt
wird die Bewegung durch die chorda transversalis und den processus
styloideus ulnae. — Damit die Bewegung geschehen kann, muss be-
greiflich die Hand vor dem radius eine andere Beweglichkeit besitzen
als vor der ulna, oder es muss bei der einmal gegebenen Einrichtung
die am Radius befestigte Hand an der Ulna sich drehen können. Diese
Bedingung ist durch das Gelenk zwischen cart. triquetra und ulna
verwirklicht. —


Vorderarm-Handwurzelgelenk*). Erstes Handgelenk.
Dieses Gelenk ist nach zwei Richtungen gebogen; von der vola zum
dorsum und von dem Ulnarrand zum Radialrand. a) Die Biegung von
rechts nach links, Fig. 110.**) Am Vorderarm, wo die Fläche durch den

Figure 113. Fig. 110.


Radius und die cart.
triquetra dargestellt
wird, geht die Krüm-
mung nach einer Kreis-
linie; das vorhandene
Stück derselben um-
spannt gegen 69°. Die
andere von dem oss.
naviculare lunatum und
triquetrum dargestellte
Fläche weicht in ihrer
Biegung beträchtlich
von einem Kreisbogen
ab, namentlich gegen
das os naviculare hin.
Der Bogen, der am an-
näherndsten für sie gilt,
umspannt 110°. Der Halbmesser desselben verhält sich zu demjeni-
gen, welcher den Bogen am Vorderarm bestimmt = 13 : 18,5. Ueber
Bogenbestimmungen für die Krümmung der einzelnen Knochen siehe
in der vergleichsweise ausgezeichneten Abhandlung von Günther.


b) Die Biegung vom Rücken zur Hohlhand. Fig. 111. V bedeu-
tet vola***). Die Fläche am Radius und der Cartilago triquetra ist
auch in dieser Richtung nach einer Kreislinie gebogen. Der Halbmes-
ser des Kreises am Radius ist kleiner als der an dem Cartilago tri-
[380]Handwurzel-Handwurzelgelenk.

Figure 114. Fig. 111.


quetra. Sie verhalten sich zu einander wie
8 : 9,5. Die Bogengrade, welche die Kreise
umspannen, sind vom Radialrand gegen den
Ulnarrand im Wachsen begriffen, sie steigen
von 58° bis 68°; der Halbmesser dieser Krüm-
mung verhält sich zu dem in der andern Rich-
tung wie 8 und 9,5 : 18,5. — Die Krümmung
an dem Handwurzelknochen folgt dagegen
einem andern Gesetz. Gegen den Rücken
schliesst sie sich wohl ziemlich annähernd
einem Kreisbogen an, gegen die Hohlhand fällt
sie dagegen scharf nach innen. Der Halbmes-
ser des Bogens, welcher am meisten der Bie-
gung sich annähert, ist am os triquetrum
kleiner als am naviculare und lunatum; er
verhält sich zu diesem wie 4½ : 5½. Die
Gradzahl dieser Bogen wächst vom os tri-
quetrum gegen os naviculare, gerade umge-
kehrt wie an der Armfläche, von 108° bis
130°.


Diesen Biegungen gemäss kann das erste
Handgelenk eine Beugung von der Ulnar- zur
Radialseite, und eine zweite von der Rücken-
zur Hohlfläche ausführen.


Handwurzel-Handwurzelgelenk. Zweites Handgelenk.
Dieses sehr eigenthümliche Gelenk bedarf vorzugsweise noch der
genaueren Analyse. a) Die Biegung, die dasselbe vom Ulnar- gegen
den Radialrand zeigt, ist in Fig. 112*) dargestellt. Der am os mul-

Figure 115. Fig. 112.


tangulum majus (M I) und
minus (M II) vorhandene
Durchschnitt ist annähernd
nach einer Kreislinie gebo-
gen und ebenso der ihnen
zugekehrte Schnitt des os
naviculare; — os capitatum
scheint ebenfalls nach
einem Kreis gebogen zu
sein (C a); dass in einem
solchen Gelenk keine ein-
fache Seitwärtsbewegung
der Hand möglich, leuchtet
[381]Handbewegung.
von selbst ein. b) Die Biegung von dem Handrücken zur Hohlhand ge-
staltet sich an jedem Knochen verschieden. Im Allgemeinen nähern sich
die an der ersten Reihe der Handwurzelknochen gelegenen Schnitte
einer Kreiskrümmung, die aber mit sehr verschiedenen Halbmessern ge-
zogen sind, und eine ungleiche Zahl von Graden umspannen. Das Ge-
nauere siehe bei Günther. Die Biegungen am os naviculare, welche
den multangulis gegenüberstehen, ragen mit der convexen Fläche in das
Gelenk, stellen also einen sogenannten Kopf vor, während diejenige des
os naviculare, welche gegen os capitatum ragt, und diejenige des os
lunatum und os triquetrum Gelenkgruben sind. — Viel unregelmässi-
ger sind die der zweiten Handwurzelreihe angehörigen Gelenkflächen
gebogen. Ihr Gesetz ist vorerst unklar.


Die Bewegungen, welche im Gelenke ausführbar sind, geschehen
wahrscheinlich um einen in dem Kopf des os capitatum gelegenen
Mittelpunkt; wegen seiner Verbindung mit den übrigen ist aber nur
eine Bewegungsrichtung möglich, welche durch die auf der Rücken-
fläche des os naviculare liegende Gelenkfläche vorgezeichnet ist, eine
Dorsal- und Radialflexion.


Handbewegung. Die Bewegungen im Handgelenk sind
bekanntlich nach zwei Richtungen nach der Fläche und den Rän-
dern der Hand möglich. Die Bewegung nach den Rändern vertheilt
sich nach Versuchen von Günther auf die beiden Handgelenke in der
Art, dass eine geringere Beugung nach der Radialseite im ersten, da-
gegen eine stärkere nach dieser Seite im zweiten Gelenk ausgeführt
werden kann, und umgekehrt eine stärkere Beugung nach der Ulna
im ersten Gelenk und eine schwache Beugung nach dieser Seite im
zweiten Gelenk ausführbar ist.


Auch die Bewegungen in der Fläche vertheilen sich ähnlich auf
beide Gelenke. Aus der mittleren Lage kann die Hand nur durch das
erste Gelenk in die Flexion (Volarflexion) gebracht werden; in die
Streckung dagegen kommt sie nur bis zu sehr unbedeutendem Grade
durch das erste, vorzüglich aber durch das zweite Gelenk. — Aus-
ser diesen wichtigsten Bewegungen können auch noch pronirende
und supimirende in den beiden Gelenken auftreten. Günther.


Die Bänder sind noch keiner übersichtlichen, die Funktion scharf
treffenden Darstellung fähig.


Die Gelenkflächen, welche die einzelnen Handwurzelkno-
chen
einander zukehren, sind mit Rücksicht auf ihre physiologische
Bedeutung noch zu wenig untersucht. Bemerkenswerth ist nur, dass
die der Knochen erster Reihe sehr locker zusammenhaften, so dass
sie ihre gegen die zweite Reihe gekehrten Bogen beträchtlich abzu-
flachen vermögen, wodurch ein ganz besonderes Gelenk zum Vor-
schein kommt.


[382]Handwurzel-Mittelhandgelenke.

Das Gelenk zwischen os triquetrum und pisiforme ist
ein allseitig sehr freies; es ist bekanntlich nur zur Führung eines
Muskelansatzpunktes von Bedeutung.


Handwurzel-Mittelhandgelenke.


A. Das Mittelhandgelenk des Daumens ist nach zwei
Richtungen gebogen; vom Rücken zur Vola ist das os multangulum O.
M. I. Fig. 113. an der Fingerseite convex nach einem noch unbekannten
Gesetz gekrümmt, der Daumenknochen aber nach einem Kreis. Gün-

Figure 116. Fig. 113.


Figure 117. Fig. 114.


ther. Von dem Radial-
zum Ulnarrand ist die
Fingerseite des os mul-
tangulum concav nach
einem Kreise gekrümmt,
und der Daumenkno-
chen entsprechend con-
vex. Fig. 114. Die Radien
der Daumenkrümmung
sind, abgesehen davon, dass die Mittelpunkte der Kreise, zu denen sie
gehören, nach entgegengesetzten Richtungen liegen, verschieden;
der Halbmesser des Kreises von der Vola zum dorsum verhält sich
zu den andern = 7 : 5,5. Günther. Das Gelenk erlaubt also Beu-
gung und Streckung, Ab- und Adduktion, aber keine Drehung.


Die Bänder, welche die Bewegung beschränken, gehen vorzugs-
weise von der Rücken- und Hohlfläche des os multangulum schief
gegen den Rand und namentlich die hervorragenden Punkte des Dau-
menknochens. Sie spannen sich beim Abrollen der Gelenkfläche, da
sie in keinem Fall im Mittelpunkt einer Kreisfläche liegen.


B. Die Mittelhandgelenke der Finger sind genau nach dem-
selben Prinzip eingerichtet. Einer bemerkenswerthen Beweglichkeit
erfreut sich aber nur das Mittelhandgelenk des kleinen und des Ring-
fingers; Mittel- und Zeigefinger sind in der Mittelhand ziemlich unbe-
weglich. Für diese letztern Mittelhandknochen ist es darum bedeutend,
dass gerade ihre Basaltheile (die Handwurzelknochen) überall von
Spalten, die sich bis zum nächsten sehr beweglichen Theil erstrecken,
umgeben sind.


Die Metacarpal-Carpalgelenke bedingen vorzugsweise die Wölbung
der Hand von rechts nach links; doch sind sie nach Günther nicht
die einzigen Handwölber; auch die erste Reihe der Handwurzelkno-
chen gehört zu ihnen. Ein Blick auf die Volarseite derselben und na-
mentlich ihrer Berührungsflächen, sowohl untereinander als mit der
zweiten Handwurzelreihe, zeigt, dass ihnen eine solche Bewegung
möglich sein muss.


Metacarpal-Phalangengelenke. Die ersten Phalangen der
Finger sitzen mittelst einer Hohlkugel auf dem kugeligen Kopfe der
[383]Hüftgelenk.
Mittelhandknochen. Der Drehungsmittelpunkt liegt demnach in den
letzteren. Trotzdem sind die Bewegungen sehr beschränkt; Drehung
um eine durch die Längenrichtung der Finger gelegte Achse ist
unmöglich, und bei einem beträchtlichen Grad der Beugung hört, wie
H. Meyer zuerst bemerkte, auch das Vermögen der Ab- und Adduk-
tion auf. Der Grund dieser Hemmungen ist in den Lateralbändern zu
suchen, welche, ausserhalb des Drehungsmittelpunktes sitzend, na-
mentlich bei der Beugung sehr gespannt werden.


Alle übrigen Finger- und Daumengelenke enthalten
Cylinderflächen mit sanduhrartiger Biegung und sind darum wie die
Ulna am Oberarm nur nach einer Richtung beweglich.


Die Sesambeinchen des Daumens sind Muskelknochen zur Fixirung
eines Sehnenansatzes.


Hüftgelenk*). Dieses Gelenk ist bekanntlich ein Nussgelenk;
der Mittelpunkt der Kugel ist ungefähr in der Mitte von der Höhe des
grossen Trochanter zu suchen. Der dem Becken angehörige Ab-
schnitt der Hohlfläche umspannt eine geringere Zahl von Graden, als
die Kugel des Oberschenkels. Die Horizontalprojektion der Berüh-
rungsstellen beider Gelenkflächen ist nach Ed. Weber ungefähr so
gross, dass dieselbe, mit einer dem mittleren Barometerstand ent-
sprechenden Quecksilberhöhe multiplizirt, ein Gewicht giebt, wel-
ches annähernd der Schwere des ganzen Beins gleichkommt. Aus die-
sem Grunde ruht der Schenkel aequilibrirt in der Gelenkpfanne, d. h.
er wird ungefähr mit derselben Gewalt nach oben gedrückt, als er zu
fallen strebt, und übt darum keinen Druck auf seine Aufhängungs-
fläche aus. Desshalb ist die Reibung bei seinen Bewegungen auch so
sehr gering. Vor allem Andern ist an dieser Pfanne das supercilium
cartilagineum ausgebildet, welches nach Weber den Kopf bei Drehun-
gen in der Pfanne fortwährend glättet und sich elastisch an ihn an-
legt, und somit das Eindringen von Flüssigkeit in die Gelenkhöhle ver-
hindert. — Die Bewegungen werden gehemmt durch die schwach
sehnige Kapsel, welche überall an die Ränder gewachsen bei jeder
Bewegung gespannt und gedreht wird; durch das ligamentum supe-
rius (ileofemorale), welches die Ueberstreckung, und durch das liga-
ment. teres, welches in der Streckung die Adduktion unmöglich macht;
Ed. Weber. Diese beiden letzten Bänder (lig. superius und teres) sind
der Art gelagert, dass die mittleren Theile beider in zwei aufeinander
senkrechten Ebenen, wie sich dieses schon aus der Angabe ihrer
Wirkungen versteht, liegen.


Kniegelenk**). Beide Condylen des Kniegelenks sind von hin-
ten nach vorn und von rechts nach links gebogen. Die Biegung von
[384]Kniegelenk.
hinten nach vorn zeichnet sich dadurch aus, dass die Krümmungs-
halbmesser derselben nach der bezeichneten Richtung in einem ste-
tigen Wachsthum begriffen sind. Die Biegung von rechts nach links
scheint annähernd einer Kugel(?) und zwar an beiden Gelenkenden
derselben Kugel(?) anzugehören. — Das Gelenkende der Tibia ist
sehr flach gewölbt, nach welchem Gesetze ist unbekannt. Als ein
wesentlicher Theil des Gelenkbodens müssen die cartilag. semilunares
angesehen werden, indem vermittelst derselben die Berührungs-
flächen der Knochen vergrössert werden. Dem beweglicheren äusseren
Condylus des Oberschenkels entspricht darum auch ein beweg-
licherer Semilunarknorpel.


In dem Knie sind zwei Bewegungen ausführbar. Die eine be-
steht in einer Beugung und Streckung. Diese Beugung geschieht nach
Ed. Weber nicht durch ein vollkommenes Ueberrollen des gewölbteren
Femurendes über die ebenere Tibialfläche, sondern durch ein gleich-
zeitiges Schleifen und Rollen; das Schleifen ist, wie der Augenschein
ergibt, schon darum nöthig, weil die Tibialfläche eine viel geringere
Ausdehnung als die Schenkelfläche besitzt; es wird bedingt durch die
Hemmung, welche die Kreuz- und Seitenbänder dem Abrollen entge-
gensetzen. Die andere ausführbare Bewegung besteht in einer Dre-
hung des äussern Condylus um den innern; diese Pronation und Su-
pination ist nur in der Beugungsstellung des Gelenkes möglich, da
sie in der Streckung durch die gespannten Lateralbänder verhindert
wird.


Die Bandmassen des Gelenkes betheiligen sich an der Regulirung
der Bewegungen folgendermassen: die ligamenta lateralia werden
bei der Beugung erschlafft, jedoch das innere weniger als das äus-
sere; bei der Streckung spannen sich beide Bänder gleichmässig. Der
Grund dieser Spannung und Abspannung liegt darin, dass in der ge-

Figure 118. Fig. 115a.


Figure 119. Fig. 115b.


streckten Stellung der Ab-
stand des Knochens von
der Berührungsfläche bis
zum Ausatzpunkte des
Bandes grösser ist, als in
der Beugung des Gelenkes.
Fig. 115a u. 115b A A. Das
innere Band erschlafft bei
der Beugung weniger als
das äussere, weil es nicht
wie das äussere nur aus
parallelen, sondern auch
aus divergirenden Fasern
besteht; demgemäss bleibt
immer ein Theil derselben
[385]Tibial-Fibulargelenke.
gespannt, analog allen Lateralbändern der Cylindergelenke. Die Seiten-
bänder verhindern also die Ueberstreckung und stellen das Gelenk
während der aufrechten Stellung steif; Ed. Weber. Die ligam. cruciata
sind vorzugsweise in der Beugung des Gelenkes wirksam und bedingen
es, dass der Oberschenkelknochen auch in der Beugung auf der Tibia
hinrollen muss. Der Mechanismus, durch den sie wirken, liegt darin, dass

Figure 120. Fig. 116.


Figure 121. Fig. 117.


die im Oberschenkel
befindlichen Ansätze
aus einer wagrechten
in eine senkrechte Lage
bei verschiedenen Stel-
lungen übergehen und
zwar wird (Fig. 116 A)
der in der Streckung
senkrechte Ansatz-
punkt des vordern Ban-
des wagrecht bei der
Beugung (Fig. 117. A),
und der bei der Beu-
gung senkrechte An-
satzpunkt des hintern
Bandes wagrecht bei
der Streckung. Hie-
durch erfolgen stetige
Ab- und Aufwicklun-
gen einzelner Theile beider Bänder; Ed. Weber. — Die Bänder,
an welche die halbmondförmigen Knorpel geheftet sind, stellen den
innern in allen Stellungen des Gelenks fest.


Die Fettbänder endlich werden, da das Gelenk luftleer, in die
bei der Beugung vorn entstehenden grossen Lücken gedrängt; ihr
Gang wird durch die Anheftung an den Oberschenkelkochen ge-
sichert. Sie sind somit Ventile.


Das Kniescheibengelenk ist für das Kniegelenk ohne wesentliche Bedeu-
tung, wie daraus hervorgeht, dass die Kniescheibe ohne Störung des Mechanismus
der Kniegelenke am todten Bein ausgeschnitten werden kann. Die Kniescheibe ist
nichts anderes als ein Sehnenknochen. Die Wirkungen der besonderen Formen ihrer
Gelenkflächen sind noch nicht erörtert. Siehe hierüber Stehen.


Tibial-Fibulargelenke. Das obere ist ein Berührungsgelenk
mit überknorpelten Gelenkflächen, welches eine beschränkte Bewegung
nach oben und von hinten nach vorn gestattet. Seine Bewegungen
werden gehemmt durch das capitulum fibulae und die ligam. tibiofibu-
laria superiora. — Im unteren Gelenke berühren sich die beiden
Knochen nicht unmittelbar; zwischen beide ist ein aus Bindewebe und
Fett bestehendes Polster gelegt, so dass sich die Fibula ebensowohl
um ein Geringes von der tibia entfernen, als auch um die tibia drehen
Ludwig, Physiolog. I. 25
[386]Erstes Fussgelenk.

Figure 122. Fig. 118.


kann. Einen Querschnitt des Ge-
lenkes stellt Fig. 118 dar, in wel-
cher A die tibia und B die fibula
bedeutet. Hemmungen gewähren
die Befestigung der fibula im obern
Gelenk und die lig. tibiofibularia
inferiora.


Erstes Fussgelenk. Der Kopf des Astragalus ist ein Stück
einer Rolle, deren Achse etwas unterhalb des Malleolus internus von
rechts nach links läuft. Die obere Fläche der Rolle ist von rechts nach
links ausgehöhlt, ihre äussere Kante ist gegen das hintere Ende
hin abgestumpft. Der Querdurchmesser der Rolle A (Fig. 119) ist vorn

Figure 123. Fig. 119.


(V) schmal, verbreitet sich darauf
rasch und nicht unbeträchtlich, und
nimmt nach hinten (H) wieder ab. Die
Seitenwand, welche sie gegen den
malleolus der tibia wendet, ist sehr
kurz, von beträchtlicher Länge aber die
gegen den malleolus der fibula gerichtete. Die obere und innere
Fläche der Gelenkhöhle bildet die tibia, die äussere Seitenwand
derselben aber die fibula. Durch diese Bildung der Gelenkhöhle aus
zwei aneinander beweglichen Knochen wird es möglich der Gelenk-
höhle einen wechselnden Durchmesser zu geben, wie ihn die ver-
schieden breite Rolle des Talus bei seinem Durchgang durch das
Gelenk verlangt. Die Führung der Fibula um die Gelenkrolle und ihre
fortwährende Anlagerung an derselben wird bedingt durch die lig. tibio-
fibuaria antica und postica, talifibularia antica u. postica und calcaneo-
fibulare. Diese Bänder verhalten sich bei den verschiedenen Gelenk-
stellungen folgendermaassen. In der stärksten Beugung ist gespannt
der freie über die Rolle des astragalus hervorragende Rand der lig.
tibiofibulare anticum, das talifibulare anticum und calcaneofibulare, er-
schlafft dagegen ist talifibulare und tibiofibulare posticum. — In der
mittleren Stellung, wo der breiteste Theil der Astragalusrolle sich ein-
klemmt, wird die Fibula nach aussen geschoben, und es findet sich
tibiofibulare posticum in starker, das entsprechende anticum aber in
einer mittleren Spannung. In der stärksten Streckung, wobei der
schmalste Theil der Rolle mit äusserer abgestumpfter Kante in die
Gelenkhöhle tritt, zieht das lig. talifibulare anticum die Knochen an-
einander, während alle übrigen Bänder namentlich die tibiofibularia
erschlafft sind. Auf diesen besondern Mechanismus hat zuerst
H. Meyer hingewiesen. Ausser der vorzugsweise vorkommen-
den Beugung und Streckung soll nach Ed. Weber in der höchsten
Streckung des Fusses auch noch eine beschränkte Drehung desselben
um seine Längsachse möglich sein.


[387]Zweites und drittes Fussgelenk.

Zweites Fussgelenk. Der Talus kann sich an den ihn be-
grenzenden ossa calcanei und naviculare verschieben; dieses Gelenk
ist auf drei Flächen vertheilt, von denen zwei gegen den calcaneus
und eine gegen das os naviculare hinsehen. Die beiden nach dem
Fersenbein zugewendeten Flächen des talus sind im allgemeinen Ab-
schnitte von Ringen, die jedoch nach entgegengesetzten Richtungen
gebogen sind. Die hintere Fläche H in Fig. 120, die einen diagonal durch
den Talus geführten Durchschnitt darstellt, ist nemlich von rechts

Figure 124. Fig. 120.


nach links und von hinten nach vorn con-
cav d. h. ihr Krümmungsmittelpunkt liegt
nach der Fusssohle hin, während die vor-
dere V von hinten nach vorn und von
rechts nach links convex ist, so dass ihr
Krümmungsmittelpunkt gegen den Fuss-
rücken liegt. Die nach dem os naviculare
hinschauende Gelenkfläche ist wie es
scheint ein Kugelstück. Die am calcaneus
angebrachten dem talus entsprechenden
Gelenkflächen sind umfänglicher, die am os
naviculare befindlichen kleiner als der Ta-
luskopf, so dass zu ihrer Ergänzung noch
das ligam. calcaneonaviculare und oft ein
vorspringendes Stück des os cuboideum
herbeigezogen ist. Die Gelenkachse, welche
schief von unten nach oben und von aussen nach innen geht, ist be-
stimmt durch die Mittelpunkte der Krümmungen von V und H. Das Zu-
sammenheften zwischen talus und Fersenbein, wird durch den appa-
ratus ligamentosus L L bedingt; als wesentliche Beschränkungsbänder
dienen lig. calcaneonaviculare und calcaneofibulare. Da dieses letztere,
wie wir erfuhren, bei der vollkommenen Beugung des Fusses im ersten
Gelenk stark gespannt ist, so hemmt es dann die Bewegung auch im
zweiten Fussgelenk vollkommen. — Die Bewegung im zweiten Fuss-
gelenk hebt den innern oder äussern Fussrand von dem Erdboden auf.


Die Behauptung, dass die Bewegungen in dem Gelenke unterbrochen seien,
wenn die Last des Körpers durch das Sprungbein allein auf das Fersenbein über-
tragen werde, ist nicht richtig; stellt man sich aber auf die Fersen bei sark gebeug-
tem Fuss, so wird allerdings die beschriebene Bewegung unmöglich, was aber
ebensowohl der Fall ist bei erhobenem und stark gebeugtem Fuss.


Drittes Fussgelenk. Dieses Gelenk, welches H. Meyer
zuerst erklärt, geht zwischen talus und calcaneus einerseits und
andrerseits zwischen os naviculare und os cuboideum. Die Drehungs-
achse scheint durch die gegen die Fusssohle dringende Spitze des
os cuboideum und das ligam. calcaneo-cuboideum gegeben zu sein.
Die Bewegungen werden sich zu der des vorhergehenden addiren
und namentlich an der Erhebung des innern Fussrandes sich bethei-
25*
[388]Muskeln des Skelets; Sehnen derselben.
ligen, wenn die Bewegungen zwischen calcaneus und talus been-
digt sind. Die übrigen Fusswurzelknochenflächen bedürfen, um ver-
standen zu werden, einer genaueren Untersuchung als sie bisher er-
fahren.


Unter den Fusswurzel- Mittelfussgelenken erlaubt das
erste, vierte und fünfte eine wie es scheint schleifende Bewegung.


Metatarsal-Phalangengelenke. Die Biegung der vier letzten
Metatarsalköpfe von vorn nach hinten kann, wie H. Meyer angibt,
dargestellt werden durch zwei aneinander grenzende Kreisbogen von
verschiedenem Halbmesser; der Mittelpunkt des vordern Theiles liegt
(Fig. 121) bei M′, der des hintern bei M″. Die Krümmung von rechts

Figure 125. Fig. 121.


nach links gehört wahrschein-
lich auch einem Kreise an. Die
kleine Höhlung der Phalange ist
entsprechend der vordern Bie-
gung des Metatarsalkopfs ge-
krümmt, so dass sie nur hier
Biegung und Adduktion ausfüh-
ren kann; auf dem untern Stücke kann sie nur in der Beugungs-
ebene geführt werden.


Die Phalangengelenke entsprechen den gleichen an der Hand.
Die Sesamgelenke der grossen Zehe sind Rollen, ähnlich der Knie-
scheibe.


Muskeln des Skelets.


1. Sehnen, Faszien, Sehnenscheiden, Sehnenknochen. Die Mus-
keln, welche das Skelet bewegen, setzen sich nicht unmittelbar von
Knochen zu Knochen, sondern nur durch Vermittelung von Sehnen und
Faszien an. Die Sehnen sind im mechanischen Bezuge nichts anderes als
zähe und nicht sehr dehnbare Stränge, welche den breiten Querschnitt
des Muskels auf einen kleinen zurückführen, wodurch es gelingt die
Angriffsorte sehr breiter Muskelmassen auf Stellen sehr geringer Aus-
dehnung zu conzentriren. Zugleich übertragen sie die Muskelzüge
auf entferntere Punkte, darum sind sie bald länger bald kürzer ange-
legt und häufig gehen sie über Rollen, wodurch die Richtung des Zu-
ges, welche der Muskel ursprünglich ausübt, wesentlich geändert
wird. In diesen Leistungen werden die Sehnen unterstützt durch
feste und dichte Scheiden, welche ihnen eine ganz bestimmte Lage
und Zugrichtung anweisen; durch Synovialüberzüge, welche durch
eine abgesonderte Flüssigkeit und ihre eigene Glätte die Reibung der
Sehnen, die sie beim Durchtritt durch die Scheiden, Retinacula u. s.
w. oder beim Uebergang über Knochenvorsprünge erleiden, mindern.
An einzelnen besondern Punkten sind auch in die Sehnen Knochen
eingelagert, wie z. B. an der Sehne des flexor carpi ulnaris das os
pisiforme, an den kleinen Daumen- und Grosszehenmuskeln die ossa
[389]Fascien. Richtung des Muskelzuges.
sesamoidea, an den Unterschenkelstrecken die Kniescheibe. Diese
Knochen fixiren theils nach der Art von Rollen die Wirkung der
Muskeln nach einer einzigen Richtung, theils verbessern sie den An-
satzwinkel.


Die Faszien oder Sehnenhäute unterscheiden sich bekanntlich nicht
durch ihr Baumaterial, sondern durch ihre Form von den Sehnen.
Diese breiten Blätter sind als Mittel zu betrachten, durch welche
theils die Ansatzpunkte der Muskelsubstanz vervielfältigt werden, wie
dieses z. B. an den Faszien, welche den Vorderarm und Unter-
schenkelknochen verbinden, oder an den Blättern, welche man
ligam. intermuscularia etc. nennt, der Fall ist, theils aber auch als
Einrichtungen, durch welche (umgekehrt wie bei den Sehnen) die
von schmalen Muskelbündeln ausgehenden Züge auf breiten Flächen
vertheilt werden, wie dieses z. B. durch die fascia antibrachia und
fascia lata in Beziehung auf die an sie sich ansetzenden mm. biceps,
gluteus maximus, tensor fasciae u. s. w. geschieht.


2. Bestimmung der mechanischen Leistung eines Muskels.
a. Richtung*) des Muskelzuges. Die Muskelröhre kann, wie wir wis-
sen, einen Zug in der Richtung ihrer Länge ausüben; sind demnach
viele Röhren in einem Muskel so zusammengefasst, dass sie einander
sämmtlich parallel laufen, so wird der Gesammtzug derselben eben-
falls nach der Richtung der einzelnen gehen. Sind sie dagegen so
verbunden, dass sämmtliche Röhren nach einem Punkte hin zusam-
menlaufen, so wird offenbar nicht ohne weiteres anzugeben sein mit
welcher der Fasern die Richtung des Gesammtzuges zusammenfällt. Zur
Auffindung dieser abgeleiteten Zugrichtung hat Ad. Fick**) ein ein-
faches Verfahren angegeben, welches unter folgenden Bedingungen
anwendbar ist: α) Sämmtliche zu einem Muskel gehörende Röhren
sind um denselben Bruchtheil ihrer Länge verkürzt. Denn da mit der
proportionalen Verkürzung die Leistungsfähigkeit des Muskels ab-
nimmt, so sind nur unter der ausgesprochenen Beschränkung sämmt-
liche in den Muskeln enthaltenen Röhren als gleichkräftige anzu-
sehen. β) Innerhalb des Muskels werden die zwischen den wirk-
samen Theilen liegenden unwirksamen in einer vollkommen gleich-
mässigen Vertheilung angenommen γ) Sämmtliche Röhren müssen
nach einem in unendlicher oder endlicher Ferne liegenden Punkte
geradelinig convergiren. δ) Sämmtliche Muskelröhren sind in überall
einander parallelen Schichten angeordnet, so dass der ganze Muskel
[390]Kraft des Muskels.
eine von parallelen Ebenen begrenzte Platte darstellt, deren Dicken-
dimension unbedeutend gegen ihre übrigen Ausdehnungen ist.


Figure 126. Fig. 122.

Das Verfahren ist in Fig. 122 er-
läutert: Sei a b c d der für flächenar-
tig geltende Muskel und a′ b′ c′ d′ seine
Projektion auf die Y Z ebene; alsdann
ist die Halbirungslinie f c des Winkels
a′ c b′ die Projektion der gesuchten
Resultirenden auf dieselbe Ebene; denn
die Projektionen der sämmtlichen com-
ponirenden Kräfte (der einzelnen Fa-
sern) liegen um diese Halbirungslinie
offenbar symmetrisch vertheilt. Auf
dieselbe Weise verfährt man mit den
zwei übrigen Ebenen X Y und Z X, wo-
durch man nach den drei aufeinander
senkrechten Ausdehnungen des Rau-
mes die Projektion der Resultirenden erhält. Diese drei Projektionen liefern dann nach
bekannten Regeln die Resultirende des Muskels. Wo in der Anwendung ein Muskel
nicht mehr als in einer Ebene angesehen werden konnte, wie z. B. m. glutaeus maximus,
wurde er von A. Fick in mehrere Streifen zerlegt, die nahezu in einer Ebene lagen.


b. Indem wir nun die Frage nach der Kraft erheben, welche
dem resultirenden Muskelzuge zukommt, müssen wir zuerst voraus-
setzen, dass alle Veränderlichkeiten, welche von der Erregbarkeit,
der Erregung und der Zeitdauer der Verkürzung abhängen, eliminirt
seien, mit andern Worten: dass der Muskelstoff sich immer in einem
Maximum seiner ihm möglichen Leistungsfähigkeit befinde. Aber selbst
unter diesen Beschränkungen, die wir in der Wirklichkeit nicht schaffen
können, gebieten wir über kein absolutes Maass der Muskelkräfte, so dass
sich unsere Betrachtungen nur immer auf die Angaben von relativen Maas-
sen erstrecken können, welche sich ergeben aus dem Vergleiche mehre-
rer Muskeln mit einander. Als ein solches relatives Maass lassen wir nun
gelten das Gewicht oder die Dimensionen des überall als gleich wirk-
sam gedachten Stoffes; das Gewicht, weil wir ohne Zweifel annehmen
dürfen, dass eine grössere Masse, und zwar entsprechend ihrer
Gewichtsüberlegenheit, mehr Kräfte entwickle als eine kleinere. Die
Dimension aber bringen wir in Anschlag, weil der Stoff bei gleichem
Gewicht und einer verschiedenen Anordnung d. h. je nachdem er aus
wenigen langen oder zahlreichen kurzen Röhren zusammengefügt
ist, sich eignet entweder kleine Gewichte auf eine beträchtliche Höhe
oder beträchtliche Gewichte auf eine geringe Höhe zu heben. Aber
auch die auf Vergleichung der Gewichte und Dimensionen der Muskel-
substanz gegründete Beurtheilung der Muskelkräfte ist nur dann erst
wieder sinnvoll, wenn die Röhren der Muskelsubstanz sämmtlich ein-
ander parallel laufen, denn nur unter dieser Voraussetzung wird die
bewegende Kraft des Muskels gleich sein derjenigen, welche die
Summe seiner einzelnen Röhren auszuüben vermag. Denn neigen
[391]Bestimmungsweisen der Muskelkräfte.
sich diese letztere gegeneinander, so wird offenbar je nach der Grösse
des Neigungswinkels ein gewisser Antheil der Gesammtkraft des
Muskels innerhalb desselben durch die aufeinander erfolgenden Ge-
genwirkungen verzehrt und somit seinen bewegenden, auf andere
Massen übertragbaren Kräften entzogen. In der That ist aber auch
diese Bedingung gleichläufiger Fasern selten erfüllt.


Unter den bis dahin in Anwendung gebrachten scheint das relative Muskelmaass,
welches Ad. Fick vorschlägt, noch das vorzüglichere. Er stellt sich die Aufgabe,
die Maxima der Tragfähigkeit zu vergleichen; zu diesem Behufe setzt er die Kraft
des Muskels proportional dem grössten (nicht aber etwa einem mittleren) Quer-
schnitt desselben, den jener besitzt, bevor seine Röhren irgendwelche Verkürzung er-
fahren haben. Wie wir durch Ed. Weber und Schwann wissen (Seite 343), kommt
zu dieser Zeit dem Muskel die grösste Tragfähigkeit zu, oder wie wir uns dort aus-
drückten, er vermag das Maximum der Last auf Null Höhe zu heben. Diese Auf-
fassung ist allerdings mit der Einseitigkeit behaftet, von einer Vergleichung der
Hubhöhe ganz abzusehen; sie gewährt dagegen den Vortheil, dass sie die Muskeln
vergleicht, während die Fasern in dem möglichsten Parallelismus sich befinden, und
zugleich erlaubt sie die Zusammenstellung von solchen Muskelmassen, deren einzelne
Fasern von sehr verschiedener Länge sind, da im Beginn der Zusammenziehung allen
Röhren eine gleiche Kraft zukommt. — Den grössten Querschnitt findet man nun da-
durch auf, dass man aus dem zu untersuchenden Muskel an dem Orte seines grössten
Umfangs ein durch zwei parallele Schnitte begrenztes Stück ausschneidet, dasselbe
wiegt und seine Länge misst. Kennt man dann noch das spezifische Gewicht der Mus-
kelsubstanz, so ist der Querschnitt zu finden. Denn das absolute Gewicht des Muskel-
stückes (A) ist = dem Product aus dem spezifischen Gewicht (G) mit dem Volum
(V) des Muskels, d. h. A = SV. Das Volum V ist aber = Länge (L) mal Querschnitt
(Q), also A = SLQ und somit Q = .


Unüberwindliche Schwierigkeiten bietet es vorerst noch, wenn man die Muskeln
rücksichtlich ihres Nutzeffektes, oder auch nur mit Berücksichtigung ihrer Hubhöhe
auf ihre mechanischen Leistungen vergleichen will. Mit Beziehung hierauf lässt sich
kaum mehr aussagen, als dass der kurze Muskel die angehängte Last auf eine ge-
ringere Höhe bringen wird, als der längere. Die Schwierigkeiten, die einer weiteren
Beurtheilung entgegentreten, sind mannigfach; sie liegen zum Theil darin, dass wir
das Gesetz nicht kennen, nach welchem mit der proportionalen Verkürzung die Fähig-
keit des Muskels, Gewichte zu heben, abnimmt, d. h. in welchem Verhältniss der Trag-
fähigkeit gleich grosse Querschnitte verschieden stark zusammengezogener Muskeln
stehen. Da wir aber wenigstens im Allgemeinen wissen, dass die Tragfähigkeit ab-
nimmt, wenn die proportionale Verkürzung im Zunehmen begriffen ist, so schliessen
wir daraus, dass ein um einen bestimmten absoluten Werth verkürzter Muskel, der
aus Fasern von ungleicher Länge besteht, auf den verschiedenen Orten seines
Querschnitts eine grössere oder geringere Kraft besitzt, je nachdem durch den be-
treffenden Ort kürzere oder längere Fasern hindurchtreten. Hieraus folgt aber
sogleich, dass sich auch in diesem Falle die Richtung des Zuges fortlaufend mit der
Verkürzung ändern muss. Diese Schwierigkeit wäre nur wegzuräumen, wenn man
sämmtliche Faserlängen messen könnte; oder sie darf bei der Betrachtung der
im lebenden Menschen verwendeten Kräfte vernachlässigt werden, wenn sich das
Gesetz von Ed. Weber*) bestätigt, wonach sich bei den Gliederbewegungen die
einzelnen verschieden langen Röhren vermöge ihrer Anheftung an die Gelenk-
[392]Verwendung der Muskelkräfte.
enden immer um das gleiche proportionale Stück ihrer ursprünglichen Länge ver-
kürzten. — Zum weitern gelingt es aber auch darum nicht, die bewegende Kraft des
Muskels während seiner Verkürzung anzugeben, weil sich in der letztern bei allen
Muskeln mit convergirenden Fasern der Convergenzwinkel ändert. — Aus diesem
Grunde gibt eine Bestimmung von mittleren Längen und mittlern Querschnitten der
verschiedenen Muskeln, wie sie Ed. Weber als Maass für den Nutzeffekt gebraucht,
kaum noch einen weiteren Aufschluss, als das absolute Gewicht der Muskeln.


3. Verwendung der von den Muskeln auf das Skelet übertragenen
Kräfte. Die von den Muskeln entwickelten Kräfte übertragen sich auf
die einzelnen Hebel des Skelets und erzeugen dort entweder Span-
nungen [durch Druck und Zug] oder Bewegungen der Theile gegen-
einander. Die Aufgabe, welcher Antheil der von den Muskeln über-
tragenen Kräfte zur Bewegung und welcher zur Erzeugung von
Spannungen verwendet wird, ist zu lösen, wenn man die Lage der
Muskelresultirenden zu den Knochen und ihren Drehachsen (resp.
Drehpunkten) kennt und den Umfang der Bewegung, welche den Kno-
chen in ihren Gelenken zukommt.


Um diese Bedingungen zu erfüllen, bringt Ad. Fick das zu untersuchende Glied
A B. Fig. 123, dessen Muskeln präparirt sind, frei in das Innere eines aus Holz
dargestellten rechtwinkligen Coordinatensystems X, Y, Z, und hält es daselbst unver-
rücklich mittelst der Schrauben S, S, S fest. Dann entwirft er nach bekannter Methode
ebenso wohl von der Drehachse, als auch von der Resultirenden des Muskels M Pro-
jektion auf die Ebenen X Y, Z Y, X Z und bestimmt darauf ihre Lage zum Drehpunkt
auf jeder der Ebenen.


Figure 127. Fig. 123.

[393]Die Muskelkräfte erzeugen Druck und Bewegung.

Gesetzt es seien diese Bedingungen erfüllt, so dass der Punkt A
in Fig. 124 das Ende einer auf die Ebene des Papieres senkrechten

Figure 128. Fig. 124.


Achse bezeichnete, um welche sich die
beiden Knochen K′ und K″ in der Ebene
des Papieres drehen könnten, und BC
die Resultirende eines zwischen bei-
den Knochen ausgespannten Muskels
darstellte, so würden die Linien AB und
AC die Hebelarme und die Winkel ABC
und ACB die Ansatzwinkel sein. Die
Bewegung zwischen K′ und K″ kann
nun entweder geschehen, indem sich
beide Knochen gleichzeitig oder der
eine bewegliche sich dem andern fest-
stehenden nähert. Da das Resultat in
dem ersteren Fall sich zusammensetzt
aus den Einzelbewegungen des zwei-
ten, so wird es genügen die Prinzipien
zu geben, nach denen der zweite zu
beurtheilen ist. Wir nehmen an, es sei
K′ vollkommen unbeweglich und zu-
dem soll die Linie BC nach irgend
einem Längenmaasse in so viel Theile
getheilt sein, als die Resultirende
Gewichtseinheiten zu heben vermag; nach diesen Voraussetzungen
genügt es die Linie BC mittelst des Parallelograms der Kräfte in
zwei andere zu zerlegen, von denen die eine B D in der Richtung
des Hebelarmes AC und die andere DC senkrecht auf AC gelegen
ist; theilt man diese beiden Linien BD und CD nach demselben Län-
genmaass, in welchem auch die Länge von BC ausgedrückt war, so
wird die Zahl der Maasseinheiten jeder Linie zugleich den Kraft-
antheil der Resultirenden BC angeben, in welches sie nach den be-
zeichneten Richtungen wirkt, mit andern Worten den Druck, mit
welcher sie in der Richtung von DC die Knochen K″ und K′ gegenein-
ander presst und die bewegende Kraft, welche in der Richtung von B D
den Knochen K′ zieht. Da nun aber in dem rechtwinkligen Dreieck
= dem Sinus des Ansatzwinkels B C D ist, so wird B D = R
sin. B C D sein, wenn wir mit R die Kraft der Resultirenden B C und
mit B D diejenige des bewegenden Zuges B D bezeichnen. — Der
oben gefundene Werth von B D gilt aber nur so lange als die Kno-
chen die bezeichnete Stellung beibehalten; folgt in der That, durch
keinen weiteren Widerstand aufgehalten, der Knochen dem bewegen-
den Zuge, so wird ihn dieser nach der Kreislinie C E führen; neh-
[394]Hebellängen der Muskelkräfte.
men wir nun beispielsweise an, es sei der Knochen so gestellt wor-
den, dass sein Hebelarm von C nach E gekommen, so wird
jetzt B E die Lage der Resultirenden und A E B der Ansatzwinkel
sein, welcher wie der Augenschein lehrt beträchtlich grösser gewor-
den, so dass unter Voraussetzung gleicher Werthe von R das Pro-
dukt R sin. B C D kleiner als R sin. A E B wird. — Nun ändert sich
aber bei der Zusammenziehung des Muskels nicht allein die Verthei-
lung der Gesammtkraft zwischen den drückenden und bewegenden
Wirkungen, sondern auch wie wir wiederholt erwähnten, die Gesammt-
kraft selbst, in einer uns unbekannten Weise und öfter sogar die Lage
der Resultirenden im Muskel selbst, so dass die Anwendung der eben
gegebenen Grundsätze auf den einzelnen Fall sogleich unmöglich
wird, so wie man beabsichtigt die Wirkung des Muskels für mehr als
eine Stellung des Gliedes zu bestimmen.


Statt auf dem vorgezeichneten Wege, der das Problem in seiner ganzen Aus-
dehnung zu lösen verspricht, vorzuschreiten, hat man andere sogenannte empirische
Bestimmungsmethoden in Anwendung gebracht: 1. Um zu ermitteln, in welcher
Richtung ein Muskel ein Glied bewegen könne, bedient sich Ed. Weber der Mes-
sung der Abstände, in welchen sich die Muskelansätze befinden bei verschiedenen
Stellungen ihrer zugehörigen Knochen; offenbar wird der Muskel, da er durch seine
Verkürzung den Knochen bewegt, diejenige Stellung der letzten erzeugen können,
bei welcher die Muskelansätze aus einer grössern in eine geringere gegenseitige
Entfernung treten. Diese Bestimmungsweise erlaubt allerdings die bewegende Rich-
tung einer jeden einzelnen Faser eines Muskels zu bestimmen, sie sieht dagegen von
der drückenden ganz ab. — 2. Man sucht die sämmtlichen Fasern der lebenden Mus-
keln, während sie sich noch in ihren normalen Verbindungen befinden, mittelst anhal-
tender elektrischer Schläge in gleichmässige Zusammenziehung zu versetzen;
Duchenne*). Diese Methode wird erst dann als allgemeines Hilfsmittel Beach-
tung verdienen, wenn man im Stande ist, es mit Sicherheit zu bewerkstelligen,
dass die elektrischen Ströme in gleicher Stärke auf sämmtliche Fasern eines Mus-
kels isolirt von allen benachbarten Muskeln einwirken.


Die anatomischen Lehrbücher geben mit Vernachlässigung der Grösse der Zug-
kraft unter Muskelwirkung nur Angaben über die Richtung der Kraft; aber auch diese
sind ganz unvollkommen, wie abgesehen von allem Uebrigen daraus hervorgeht,
dass man nicht bei allen im Gelenk möglichen Verstellungen den Zug des Muskels
bestimmt, sondern nur bei einigen willkürlich angenommenen. So können z. B. offen-
bar fast alle Beuger und Strecker der Anatomen auch Rotatoren sein, wenn vor Be-
ginn der Wirkung des Muskels der Knochen um seine Längsachse gedreht war etc.


4. Hebellängen, an welchen die bewegenden Muskelkräfte wir-
ken. Je nach der grössern oder geringeren Länge des Hebelarmes,
an welche sie angreift, hebt eine bewegende Kraft bestimmten Wer-
thes geringe Lasten mit grösserer oder grosse Lasten mit geringerer
Geschwindigkeit, so dass das aus Geschwindigkeit (g) und Masse (m)
hervorgehende Produkt = m g für sie in allen Fällen dasselbe bleibt.
Dass diese bekannteste aller pkysikalischen Regeln auch in der Combina-
tion der Skelethebel mit den Muskelkräften ihre volle Anwendung hat,
[395]Aufspannung der Muskeln am Skelet.
scheint kaum bemerkenswerth. Als wichtig ist nur hervorzuheben,
dass die Skelethebel, weil sie mit Gelenken versehen sind, die in je-
der beliebigen Stellung durch die Druckkräfte umliegender Muskelbän-
der fixirt werden können, ihre Länge zu verändern im Stande sind.
Daraus folgt, dass das Verhältniss zweier zugehörigen Hebelarme, an
deren einem eine zu hebende Last, und am andern eine Muskelkraft
wirkt, manigfach veränderlich ist, so dass dieselbe Muskelkraft je
nach Umständen eine geschwinde oder eine kräftige Bewegung hervor-
ruft. Als bekanntes Beispiel diene hierfür die Last, die man bei ge-
strecktem oder gebeugtem Arm zu heben vermag. —


5. Aufspannung der Muskeln am Skelet in der Verlängerung und
Verkürzung.


a. Während der Ruhe finden sich die Muskeln zwischen ihren
Ansatzpunkten immer in einem gewissen Grade elastischer Spannung;
aus dieser Behauptung erläutert Ed. Weber mit Recht die Thatsache,
dass auch die Enden des in der Ruhe durchschnittenen Muskels, ge-
gen ihre Ansatzpunkte hin zurückfahren. Vermöge dieser Einrichtung
wird nicht allein der Muskel, wenn eine ihn bisher verkürzende Erre-
gung nachlässt wieder auf seine ursprüngliche Länge ausgedehnt,
sondern es beginnt auch mit der eintretenden Verkürzung sogleich
der Muskelzug seine Wirksamkeit auf den Knochen zu äussern. Durch
diese beiden Umstände werden die in der Richtung der Muskel-
röhren wirksamen Zugkräfte am vollkommensten für den Knochen nutz-
bar gemacht. — Da nun aber um alle und namentlich um die Berüh-
rungsgelenke Muskeln sitzen, welche nach gradezu entgegenge-
setzten Richtungen wirken, so muss die gesteigerte elastische Span-
nung, in welche die Muskeln der einen Seite treten, wenn sich die der
anderen zusammenziehen, der Verkürzung dieser letztern einen Wi-
derstand bieten. Wegen der Eigenthämlichkeit der Elastizitätscoeffi-
cienten der feuchten thierischen Stoffe, insbesondere der hier in Be-
tracht kommenden Muskel- und Sehnensubstanz bei geringen propor-
tionalen Ausdehnungen derselben sehr niedrig zu sein, wird jedoch
dieser Widerstand sich als nicht erheblich herausstellen, vorausge-
setzt, dass selbst bei einem Maximum der spannenden Gelenkdrehung
die proportionale Verlängerung des Muskels keine beträchtliche ist.
Diese Bedingung ist erfüllt dadurch, dass fast durchweg ein be-
deutender Längenunterschied zwischen den beiden Hebelarmen be-
steht, an welchen je ein Muskel diesseits und jenseits eines Gelenkes
zieht, so dass namentlich immer das eine Ende des Muskels nahe und
ein anderes entfernt von dem zugehörigen Gelenke sich anheftet. Dass
hierdurch für die Ausdehnung die bezeichnete Folge eintritt ergibt die An-
schauung ohne besondern Beweis. Setzen wir z. B. Fig. 125 zwei Anhef-
tungsweisen eines und desselben Muskels voraus, vermöge deren das
eine Mal der eine seiner Gelenkarme O M beträchtlich an Länge den an-
[396]Unterschied der Längen beider Hebelarme.

[figure]
Figure 129. Fig. 125.


dern O M′ übertreffe, während ein anderes Mal
beide Hebelarme O N und O N′ von gleicher
Länge sind, und denken wir uns nun den He-
belarm O M′ resp. O N, um den für beide glei-
chen Winkel M′ O K reps. N′ O L gedreht, so
wird der Muskel M′ M indem er die Länge MK
angenommen sich nur sehr unbeträchtlich
ausgedehnt haben im Vergleich zu der Verlän-
gerung des Muskel N N′ als das eine seiner
Enden N′ in die Lage L überging. Hieraus
ergibt sich die Regel, dass alles andere gleich-
gesetzt ein Muskel bei derselben Winkeldre-
hung einen um so geringeren proportionalen
Längenzuwachs erhält, je grösser die Dif-
ferenz seiner beiden Hebellängen ist. — Be-
deutungsvoll für die Verminderung des Wider-
standes ausgedehnter Muskeln ist es nun auch, dass die Sehne wenn
sie lang ist im Verhältniss zu der rothen Substanz eines Muskels
meist einen sehr geringen Querschnitt besitzt, so dass sie trotz der
geringen Dehnbarkeit ihrer Substanz dennoch leicht zu verlängern ist.


b. Die Muskelfasern sind nun aber auch um die Gelenke so ange-
gelegt, dass selbst bei dem Maximum ihrer möglichen Verkürzung
ihre ursprüngliche Länge um einen nicht all zu grossen Antheil ab-
nimmt, Joh. Müller*). Die nächste Folge, die sich mit Berücksich-
tigung bekannter Eigenthümlichkeiten der Muskelkräfte hieraus er-
gibt, besteht darin, dass dann das am Skelet angeheftete Muskelrohr
seinen Hebelarmen noch sehr beträchtliche Zug- und Druckkräfte mit-
theilen kann. Die besondern Umstände, durch welche diese Anord-
nung besteht liegen darin, dass: α. wie schon bemerkt ist, immer ein
sehr beträchtlicher Unterschied in der Länge der beiden zu je einem
Muskel gehörigen Hebelarme besteht; um zu zeigen wie durch diese
Einrichtung selbst bei einem Maximum der Beweglichkeit der propor-
tionale Werth der Verkürzung sehr gering werde, verweisen wir auf
Fig. 125. Nehmen wir an, es sei in ihr die Beweglichkeit der Hebel-
arme unbegrenzt, so dass z. B. der Winkel M O L bis zu Null abneh-
men d. h. die Punkte N und N′ zur unmittelbaren Berührung kommen
könnten; würde sich nun der Muskel N N′ um das Gelenk O so ange-
setzt haben, dass der Hebelarm O N gleiche Länge mit O L besässe, so
hätte die Länge des Muskels auf Null reduzirt werden müssen; setzt
sich dagegen, wie es in der That geschieht, der gleichlange Muskel
M′ M an die ungleichen Hebelarme O K und O M an, so wird bei der
vorausgesetzten Drehung, wobei der Punkt M′ auf P zu liegen kommt,
der Muskel noch die beträchtliche Länge M P = dem Unterschiede der
[397]Regeln für die Zusammenfassung der Muskeln.
Längen beider Hebelarme besitzen. — β. Wenn Muskeln mehr als
ein Gelenk überspringen, so dass in der Verkürzung ihre beiden An-
satzpunkte sich einander beträchtlich nähern werden, so sind sie
sehr lang genommen, während ihre Sehne sehr kurz ist, so dass sie
in der That eine beträchtliche Verkürzung zu ertragen im Stande sind.
Ed. Weber*) der zuerst die Längenverhältnisse der Muskeln mit
Rücksicht auf ihre mögliche Verkürzung in Betracht gezogen hat, gibt
an, dass im Mittel am menschlichen Skelet der Längenunterschied der
rothen Fasern zwischen möglichster Verkürzung und möglichster Ver-
längerung sich zu der grössten Länge derselben verhalte = 47 : 100.


Die möglichst grösste und geringste Länge misst Ed. Weber durch den Ab-
stand der Ansatzpunkte des Muskelfleisches am präparirten Muskel, nachdem er das
zugehörige Glied in die am meisten erschlaffenden und spannenden Grenzstellungen
gebracht, welche im Leben ausführbar sind. Da ein Muskel immer aus Röhren von
sehr verschiedener Länge besteht, so bestimmte er jedesmal die längste und kürzeste
Faser desselben. — An einem Körper, dessen Muskeln er sämmtlich in der bezeich-
neten Weise durchmass, schwankten die Maasse vom kürzesten zum längsten Muskel
von 5 bis zu 453 MM. Die längsten Fasern enthalten die Muskeln, welche sich zu-
gleich über zwei sehr bewegliche Gelenke spannen; und im Mittel sind die Muskeln
der Extremitäten länger als die des Rumpfes. Bei einer Vergleichung des Längenunter-
schiedes der Muskeln in der grössten Ausdehnung und grössten Verkürzung mit ihrer
grössten Länge ergab sich, dass die Verhältnisszahl weitaus in den meisten Fällen
dem angegebenen Mittel sehr nahe kam; jedoch gab es auch Abweichungen, indem die
kürzesten Fasern des m. brachialis internus die Verhältnisszahl 100 : 40 und die des
m. biceps femoris, semimembranosus und semitendinosus nur 100 : 80 gaben; diese
letzten Muskeln stehen jedoch mit ihrer grossen proportionalen Verkürzung sehr ver-
einzelt da. Ed. Weber behauptet auch nach seinen Messungen, dass wenn sich ein
Muskel aus verschieden langen Röhren zusammensetze, dennoch zwischen der
Grösse seiner Verkürzung und der grössten Länge das bezeichnete Verhältniss von
100 : 47 bestehe.


6. Ueber die Zusammenfassung der Muskelprimitivtheile zu Mus-
keln. — Eine Frage von eigenthümlichem Interesse ist weiterhin die,
welche mechanische Principien bei der Zusammenordnung der Mus-
kelröhren zu Muskeln befolgt seien. Auf den ersten Blick scheint
mit Rücksicht hierauf ohne bestimmte Regeln verfahren zu sein, in-
dem bald Muskelröhren von sehr verschiedener Richtung, wie an den mm.
deltoideus, cucullaris, glutaeus medius u. s. w. in eine Sehne zusam-
menlaufen, während ein anderes Mal Muskelröhren gleicher Richtung
wie z. B. im mm. biceps brachii, brachialis internus, supinator lon-
gus in den verschiedenen Sehnen am Vorderarm ausmünden. So weit
sich aber schon jetzt ersehen lässt, sind dennoch folgende Regeln festzu-
stellen: a. Wenn gleich gerichtete Muskelröhren in zwei oder mehr Mus-
keln gespalten sind, welche ein und dasselbe Gelenk nach derselben
Richtung ziehen, so ist der eine derselben an einen Kraft- und der andere
an einen Geschwindigkeitshebel befestigt. Da aber nach dem Vorher-
[398]Muskulöse Gegner und Helfer.
gehenden eine Ungleichheit in der Länge der Hebelarme stattfinden
muss, so wird zwischen den beiden Muskeln mit gleichgerichteten
Faserzügen eine solche Verschränkung der Ansätze stattfinden müssen,
dass einer der Muskeln am oberen Ende des Knochens A entspringt
und an das obere Ende des Knochens B sich befestigt, während der
zweite am unteren Ende des Knochens A seinen Ursprung und am
untern Theil des Knochens B sein Ende findet. Dieses Gesetz der
Verschränkung der nach gleicher Richtung ziehenden Mus-
keln
findet eine sehr verbreitete Anwendung, so dass es nicht noth-
wendig erscheint Beispiele derselben vorzuführen. — b. Wenn gleich-
gerichtete Muskelröhren in zwei oder mehr Muskeln gespalten sind, die
in gleicher Richtung auf dasselbe Gelenk wirken, ohne dass einer der-
selben an einen Last- und der andere an einen Geschwindigkeitshebel
sich ansetzt, so ist dem einen von beiden noch eine Nebenwirkung
auf ein anderes Gelenk zugetheilt; in diesem Fall springt mit andern
Worten der eine der Muskeln nur über ein und der andre über zwei
Gelenke fort, oder beiden ist für dasselbe Gelenk, neben einer gemein-
samen Wirkung auch noch jedesmal eine besondere anvertraut. Bei-
spiele hierfür liefern die mm. biceps brachii und brachialis internus, von
denen der erste Beuger und Supinator des Vorderarms, der letzte nur Beu-
ger ist; ferner der m. triceps brachii, dessen langer Kopf neben der mit
den kürzern gemeinsamen Vorderarmstreckung auch noch den Oberarm
im Schultergelenk bewegt; ferner die mm. biceps femoris (caput long.),
semitendinosus und semimembranosus, welche sämmtlich den Ober-
schenkel strecken und den Unterschenkel beugen, während diesen
der erstere Muskel zugleich nach auswärts und die letzteren ihn nach
einwärts rollen u. s. w. u. s. w. — Diese beiden so eben vorgeführ-
ten Grundsätze lassen die beiderseitige oder nur einseitige Isolation
gleichgerichteter Muskelröhren vollkommen sinnvoll erscheinen. Un-
möglich ist es dagegen aus ähnlichen allgemeinen Regeln das häufige
Vorkommen zu rechtfertigen, wonach ganz verschieden laufende in
ihrer Wirkung fast durchweg antagonistische Fasern in eine Sehne
zusammengefasst sind wie z. B. am m. cucullaris, m. glutaeus medius
u. s. w. —


7. Vertheilung der Muskeln um die Gelenkachsen; Gegner und
Helfer. Ein- und zweigelenkige Muskeln. Um alle Gelenke sind die
Muskeln so angelegt, dass für jede der Bewegungsrichtungen, welche
dem Gelenk vermöge seiner Flächen und Bandapparate zukommt, auch
Muskeln angelegt sind; daraus folgt, dass auch an den entgegenge-
setzten Enden derselben Gelenkmasse Muskeln ziehen, welche das
Hin und Her der Bewegung in ein und derselben Ebene bedingen, so
dass also, wenn wie am Hüft- und Schultergelenk, Bewegungen nach
allen Richtungen möglich sind, ein vollkommener Muskeltrichter vor-
handen ist, dessen Faserung annähernd parallel mit der Längenachse
[399]Ein- und zweigelenkige Muskeln.
des Knochens geht, welche dann noch von Muskelbändern gekreuzt
wird, deren Länge senkrecht gegen die des Knochens geht. Bei einer
solchen Anordnung versteht es sich aber von selbst, dass jedesmal nur
wenige der um ein Gelenk gelegten Fasern absolute Gegner sind, so
dass unter allen Umständen die Verkürzung der einen Faser eine Ver-
längerung der andern bedingen müsste. Im Gegentheil, es entspringt
aus einer solchen Anordnung die Folge, dass dieselben zwei Muskeln in
dem einen Fall Gegner und im andern Fall Helfer sind. So werden z. B.
die vordern mm. adductores femoris [pectineus, gracilis, adductor lon-
gus und brevis] weil sie den Oberschenkel beugen, dem m. glutaeus maxi-
mus entgegen wirken, sie werden dagegen in Verbindung mit dem letz-
tern Muskel den Oberschenkel adduziren u. s. w. — Zu antagonisti-
schen Wirkungen führen aber nicht allein die Muskelzüge unter sich,
sondern es vermögen begreiflich diesen letzten auch Knochenvor-
sprünge, Bänder, schwere Massen und dergleichen entgegen zu wirken.
Diese Bemerkung gilt namentlich für das Hüft-, Knie-, Schlüsselbein-,
Kiefergelenk und andre. So tritt z. B. der streckenden und adduziren-
den Wirkung der mm. glutaeus maximus und adductor magnus der ge-
meinsame Bandapparat, welcher aus dem ligament. superius, teres und
dem Stücke der fascia lata besteht, das sich von der spina ossis ilei
anterior superior über den trochanter major zum Unterschenkel erstreckt,
entgegen; dem Zuge des vierköpfigen Unterschenkelstrecker setzen
sich die ligamenta genu lateralia entgegen u. s. w. — In gleichem Sinne
ist der Antagonist der kräftigen Kopf- und Rückgrathstrecker die
Schwere der nach vorn liegenden Kopf-, Brust- und Bauchknochen und
Eingeweide u. s. w. Hieraus folgert sich aber nun weiter noch die
Assymetrie der Muskelmasse um die Gelenke, so dass z. B. den kräf-
tigen Adduktoren und Streckern des Oberschenkels, den Streckern des
Unterschenkels, den Hebern des Schulterblattes u. s. w. keine entspre-
chend starke Beuger u. s. w. gegenüber stehen.


Bei einer Vergleichung derjenigen Muskeln, welche nur ein Gelenk
bewegen mit denen die zugleich auf zwei wirken ergibt sich für die
grossen Gelenke als Regel, dass jedesmal die erstere Gruppe vollkom-
men vorhanden ist, so dass ein jedes dieser Gelenke nach allen Rich-
tungen hin unabhängig von den ihm benachbarten bewegt werden
kann. Die Regel, welche dagegen die Anordnung von zwei- und mehr-
gelenkigen beherrscht, ist vorerst noch unbekannt.


8. Besondere Muskelgruppen. Eine Besprechung der Leistungen
aller einzelnen an das menschliche Skelet gehefteten Muskeln wird
man nach dem Vorhergehenden nicht mehr erwarten. Wir beschränken
uns demgemäss auf einige Andeutungen über die Anordnung der Mus-
keln in den grossen Abtheilungen des Skelets.


a. Kiefermuskeln. Die Oeffner des Kiefers sind dünne und
möglichst lange Muskeln, ihr Ansatz geschieht in möglichster Entfer-
[400]Muskeln des Kiefers und Kopfes.
nung vom Drehpunkte des Gelenkes. Einer von ihnen (digastricus öff-
net den Kiefer allein, ein anderer (latissimus colli) Kiefer und Lippen
gleichzeitig.


Im direkten Gegensatz zu ihnen stehen die Kieferschliesser. Ihr
Querschnitt ist möglichst gross; darum ist für die oberen Ursprungs-
punkte noch der proc. zygomaticus über die Schläfenfläche gespannt und
die fossa pterygoidea interna gebildet und für die untern der Kieferast
emporgeschoben; die Schliessmuskeln sind ferner möglichst kurz und
setzen sich darum an einen kurzen Hebelarm aber unter einem für die
Wirkung auf die Zähne sehr günstigen Winkel an.


Die Vorwärtszieher endlich sind zum Theil Schliessmuskeln (pte-
rygoideus internus und masseter) zum Theil stellen sie eine eigne
kräftige Masse den m. pterygoideus externus dar, welche durch seinen
Ansatz an den Kopf und den meniscus beide gleichzeitig nach vorn
auf das tuberculum zieht.


Rückwärtszieher beim Eröffnen des Kiefers sind mm. geniohyoi-
deus und digastricus, und beim Schliessen m. temporalis.


b. Kopfmuskeln. Bei der Stellung des Kopfes über dem Rumpf
war es, unter Voraussetzung einer allseitigen Beweglichkeit, nothwen-
dig, dass er auf ein schmales Statif, den Hals aufgestellt wurde. Die
Länge dieses letzten wird ungefähr bestimmt durch die Grösse des
Neigungswinkels, welchen die kleine Kopfgelenke zulassen, den Um-
fang, welcher der Oeffnungsbewegung des Kiefers zukommt und den
Abstand der Kiefer und Hinterhauptspitze von der queren Gelenk-
achse des ersten Kopfgelenks. — Ed. Weber weist darauf hin, dass
die Leichtigkeit der Kopfbewegung sehr begünstigt werde durch die Auf-
stellung der schweren Masse auf Condylen von geringer Ausdehnung. —
Der Kopf ist beweglich entweder für sich oder zugleich mit der Wirbel-
säule, so dass er auch Stellungsveränderungen in seinen Verbindungs-
gelenken mit der Wirbelsäule gleichzeitig mit denen der Halswirbel
unter sich erfahren kann. — Die reine Kopfbewegung zwischen Atlas
und Hinterhaupt bewirken nach vorn und hinten mm. recti capitis antici
und postici; die nach den Seiten mm. rectus capitis lateralis und obliquus
superior; beide Muskelmassen sind klein und wirken an kurzen He-
belarmen. Die Drehung in der Horizontalebene besorgen mm. obliquus
inferior und rectus posticus major.


Die Combination der Hals- und Kopfbewegung wird ausgeführt 1)
durch ein System von schieflaufenden sich kreuzenden Fasern. Zu
diesen gehören in der einen Richtung m. sternocleidomastoideus,
die obere Partie des m. cucullaris, mm. complexus und biventer, welche
von den vordern und seitlichen Theilen des Rumpfsrespektive der Wirbel-
säule nach hinten und innen zum Kopf laufen; in entgegengesetzter
Richtung durch m. splenius, welcher von der hintern Mittellinie des Hal-
ses kreuzend mit den vorigen gegen den Seitentheil des Kopfes dringt.
[401]Muskeln der Wirbelsäule.
2) Durch drei grade Muskeln, von denen einer (rect. capitis long. an-
ticus) beugt, ein anderer den Kopf gegen die Schulter neigt (trache-
lomastoideus) und ein dritter (das innere Stück des biventer) streckt.


Die Ansatzpunte der Muskel an dem Kopf liegen demnach vor-
zugsweise am Ende zweier unter einem rechten Winkel sich kreuzen-
der Hebelarme, die den beiden oben erwähnten Achsen des Hinterhaupt-
gelenkes parallel gehen; ihre Endpunkte werden dargestellt durch den
processus mastoideus einerseits und durch protuberantia occipitalis und
pars basilaris anderseits. Insofern sie auf das Kopfgelenk allein wir-
ken sind demnach mm. splenii und sternocleidomastoidei, Rotato-
ren und Seitwärtsbeuger, mm. cucullaris, complexus und biventer Ro-
tatoren und Strecker; der Mangel der entsprechend kräftiger Beuger
erläutert sich daraus, dass der Schwerpunkt des Kopfes nach vorn
von dem Unterstützungspunkte gelegen ist.—


c. Muskeln der Wirbelsäule. Sie sind, wie Ed. Weber
zuerst bemerkte, nach demselben Plan angelegt, der bei der Construk-
tion der Hals- und Kopfmuskeln angewendet ist. Zunächst ist durch
die rückwärts beugenden mm. interspinosi; die seitwärts beugenden
mm. intertransversarii und die drehenden mm. multifidis ein Appa-
rat gegeben, vermittelst dessen, unabhängig von allen andern, ein
einziger Intervertebralknorpel in seiner Lage verändert werden kann.
Dann kann durch ein System gekreuzter und durch zwei Systeme gerade
verlaufender Fasern immer eine grössere Abtheilung der Wirbelsäule
gleichzeitig bewegt werden. Zu diesen letztern Wirbelsäulemuskeln
und zwar zu den am Rumpf gekreuzten Spiralen zählen die mm. semi-
spinales, obliqui abdominis, quadratus lumborum, intercostales, sterno-
costales; man sieht ein Theil derselben (mm. obliquus externus, qua-
dratus lumborum, intercostales externi) laufen im Sinne des m. sternoc-
leidomastoideus, ein anderer (m. obliquus intern, intercostales intern.)
in der Richtung des m. splenius. Die Richtung der obern Lage der einen
Seite ist die Fortsetzung der tiefern der andern Körperhälfte. Die äusser-
sten Punkte dieser Muskelflächen wirken, indem sie sich an das Becken
und die Rippen ansetzen, an langen Hebelarmen. In ihrer Wirkung auf
die Wirbelsäule unterstützen sich jedesmal je zwei Lagen, die je nach
der Art der Wirkung bald die gleichseitigen und bald die ungleichseitigen
sind. Diese Muskeln greifen aber auch auf die Athmungs- und Darm-
entleerungsbewegungen ein; sie werden in dieser Beziehung an den
betreffenden Orten noch erwähnt werden. — Die geraden Muskelzüge
werden hinten aus dem m. sacrolumbaris mit seinen Ausläufern den
mm. sacrocostalis, colli ascendens, longissimus dorsi, colli transversalis,
sacrospinalis, vorn durch die mm. rectus abdominis und longissimus
colli dargestellt. Aus demselben Grunde wie am Kopf, ist die Muskel-
masse an der hintern Seite stärker als an der vordern; zudem wirkt
Ludwig, Physiologie I. 26
[402]Muskeln des Brustgliedes.
m. rectus abdominis auch noch an einem längern Hebelarm als der
sacrolumbaris. —


d. Muskeln des Brustgliedes. Die Stellung des Armes auf
den Seitenflächen des höchsten Theiles der Brust, die ihm durch die
clavicula gesichert ist, gibt ihm den freiesten Spielraum der Bewegung
und überträgt zugleich den Endeffekt der Bewegung der untern Glied-
maasen und die des grössten Theils der Wirbelsäule auf ihn. Die dop-
pelte Gegenwart des Arms vermehrt die Vielfachheit der gleichzeiti-
gen Bewegungsrichtung und den Umfang des von dem Brustglied
umspannbaren Raumes; ihre symmetrische Stellung zur Wirbelsäule
bedingt eine der Ortsbewegung dienliche Vertheilung der Körperlast
und führt zugleich zur Bildung der sogenannten Schultern, d. h. zu
Flächen, die, weil sie senkrecht gegen die Längsrichtung der Wirbel-
säule stehen, besonders geeignet sind, die von der letztern ausgeübten
Stosskräfte auf fremde Körper zu übertragen.


Der Arm selbst, ein mehrfach gebrochener Stab, kann je nach-
dem er sich streckt oder beugt, oder je nachdem sein freies Ende unter
oder neben seinen Aufhängspunkt fällt, Last- oder Geschwindigkeits-
hebel werden, unter der Voraussetzung, dass die Last an der Hand und
die Kraft am Schultergelenke wirkt Die Hand endlich, eine Platte, wel-
che in einzelnen Stäben endigt, stellt eine nach allen Richtungen verbieg-
bare Fläche dar, die namentlich mittelst der Finger zum Haken, Stift,
Ring u. s. w. sich umgestalten kann. Die ausserordentliche Beweglich-
keit des ganzen Gliedes ist neben einer verhältnissmässig grossen
Festigkeit dadurch erzielt, dass eine vielfache Zahl von Stücken auf
einander eingelenkt sind, von denen jedes folgende auf dem vorher-
gehenden nur wenig beweglich und namentlich um so weniger beweg-
lich ist, je kleiner die Berührungsflächen beider Stücke sind. Es multi-
pliziren sich demgemäss die einzelnen Bewegungen; so kann z. B. das
Oberarmbein durch seine Einlenkung auf dem beweglichen Schulterblatt
alle Bewegungen, die es im Schultergelenk zu erfahren im Stande ist,
an allen Stellungen bewerkstelligen, die das Schulterblatt selbst ein-
zunehmen vermag; ein Gleiches gilt von dem Vorderarm gegenüber
dem Oberarm u. s. w. Aus diesem Grund war es auch, ohne der Be-
weglichkeit Eintrag zu thun, erlaubt, die jenseits des Oberarmkopfs
liegenden Gelenke nur nach einer oder nach zwei Richtungen hin zu-
sammenknickbar zu machen, nach der andern dagegen so zu steifen,
dass z. B. die Handfläche mit den Fingern ein steifes Brett, Oberarm
und Vorderarm eine feste Stange in der Streckung darstellen.


Ueber die Muskelordnung an der obern Extremität lässt sich fol-
gendes Allgemeine mittheilen. 1. Das Muskelfleisch, welches auf
der Streckseite der Gelenke liegt, die nur bis zur graden Linie ge-
streckt werden können, verschmilzt zu einer Sehne, die entweder nur
ein Gelenk übergreift (humerus-ulna) oder sogleich über mehrere geht
[403]Muskeln des Brustgliedes.
(Phalangen). 2. Jedes Gelenk, mit Ausnahme der sehr nahe zusammen-
gelegenen Carpal- und der beiden letzten Phalangengelenke ist durch
Muskelfleisch beweglich, welches sich nur über dasselbe ausspannt;
zugleich aber ist es mit Muskeln überzogen, welche bei ihrer Zusam-
menziehung jedesmal gleichzeitig das Nächstvorhergehende oder Fol-
gende in Bewegung setzen. Demgemäss ist mit Beziehung auf die
Ansatzpunkte die Muskulatur der obern Extremität zu zerfällen: In
Muskeln vom Rumpf zum Schultergürtel und vom Rumpf zum Oberarm;
in Muskeln vom Schultergürtel zum Oberarm und vom Schultergürtel
zum Unterarm; in Muskeln vom Oberarm zum Radius und vom Oberarm
zur Ulna und vom Oberarm zur Hand; in Muskeln von der Ulna zum
Radius und von beiden Knochen zur Hand und endlich von der Hand zu
den Fingern und von dem Unterarm zu den Fingern. Von diesen beiden
Muskelgruppen ist in vollkommener Ausbildung nur die kurze, eingelen-
kige vorhanden, indem sie jedesmal Muskelfasern nach so viel Richtun-
gen enthält, als das Gelenk Bewegungen zulässt. Diese vollständige
Anwesenheit der eingelenkigen Muskeln bedingt öfter noch eine beson-
dere Bildung der um das Gelenk liegenden Knochensubstanz; so musste
z. B. um für die Bewegung nach drei rechtwinklig einanderschneiden-
den Achsen Muskeln zu gewinnen, das Schulterblatt als eine Platte auf-
treten, auf der eine zweite unter einem Winkel aufgesetzt ist. (Acro-
mion). Ihre vollkommene Ausbildung bringt das schon bei der Kno-
chenzusammensetzung der oberen Gliedmassen erwähnte Prinzip zur
Vollendung dadurch, dass nämlich die Beweglichkeit des Stützpunktes
die Beweglichkeit des aufsitzenden Knochens multiplizire, denn da die
Ansatzpunkte der Muskulatur eines auf einem beweglichen Stücke siz-
zenden Gelenkes mit der Bewegung desselben selbst ihre Lage verän-
dern, so wird die Bewegung des Gelenkes vollkommen unabhängig von
irgend welcher besondern Stellung des beweglichen Grundstückes. —
Diese eingelenkige Muskelgruppe ist nun aber nicht allein vollkommen
vorhanden, sondern oft sind einzelne Glieder derselben doppelt ge-
genwärtig; so z. B. stellt der mittlere Theil des m. deltoideus dieselbe
Richtung dar, welche m. supraspinatus zukommt; diese Muskeln unter-
scheiden sich aber in Bezug auf die Hebellänge an der sie bei festste-
hendem Schulterblatt am Oberarm wirken. — Die über zwei Gelenke hin-
ausgehende Gruppe ist im Gegensatz zu der eben behandelten meist
nur in wenigen Richtungen dargestellt. So gibt es, um ein Beispiel zu
erwähnen, unter den Schulterblatt-Vorderarmmuskeln nur Heber (bi-
ceps) und Rückwärtszieher (langer Kopf des triceps) des Oberarms,
dagegen sind die Rumpfarmmuskeln Abwärtszieher und Rotatoren,
so dass erst die zwei Abtheilungen der zweigelenkigen Muskeln für
das Oberarmgelenk alle Bewegungen geben. Der Grundsatz aus dem
die Anordnung dieser Muskeln fliesst, liegt noch im Dunkeln. Beson-
dere Vortheile, welche die Anwesenheit zweigelenkiger Muskeln ge-
26*
[404]Muskeln des Bauchgliedes.
währt, liegen jedoch auf der Hand. Denn einmal sind darum all-
mälige Uebergänge zweier Bewegungen in einander möglich (Ed.
Weber
) und zugleich wirken die Muskeln in Bezug auf das
erste Gelenk, das sie überspringen, an Krafthebeln, indem sie sich
möglichst entfernt vom Drehpunkt desselben ansetzen, und auf das
zweite Gelenk an Geschwindigkeitshebeln, indem sie sich möglichst
nahe an den Drehpunkt desselben anheften.


e. Bauchglied. Das ganze Glied zeigt in verschiedenen Stel-
lungen eine sehr verschiedene Beweglichkeit. In der Streckung des
Ober- und Unterschenkels und der mittleren Beugung des Fusses wie sie
bei dem Stehen auf horizontalem Boden vorkommt ist es am unbeweg-
lichsten; denn es verhindern in diesem Fall im Hüftgelenk das lig.
superius eine weitere Streckung, das lig. teres und der durch den m. glu-
taeus maximus gespannte äussere Streifen der fascia lata Adduction.
Das Kniegelenk wird steifer, weil die ligamenta lateralia in Spannung
kommen und zugleich die mit einem grossen Krümmungshalbmesser
begabten vordern Abschnitte der Kniegelenksfortsätze am Oberschen-
kel auf der ebenen Pfanne der tibia in ausgedehnterer Weise aufru-
hen. Im ersten Fussgelenk klemmt sich aber der astragalus ein.


Mit dieser Einrichtung und zugleich mit dem Tragen und Fort-
schieben der Rumpflast steht im Zusammenhang die Eigenthümlich-
keit der Muskelvertheilung am Bauchglied, dass die Strecker der Hüfte,
des Knies und des Fusses und ebenso die auf der Plantarseite des Fus-
ses befindlichen Muskeln das Uebergewicht über die entgegengesetzt
liegenden behaupten, und dass nur die Beuger des Kniegelenks zu-
gleich Rotatoren desselben sind.


Die Einrichtung der ein- und zweigelenkigen Muskeln kehrt wie
am Arm wieder und in dieser Einrichtung ist abermals die Bestim-
mung, dass die eingelenkigen alle einem Gelenke möglichen Bewe-
gungsrichtungen enthalten. Am Hüftgelenk überwiegen die eingelen-
kigen an Querschnitt die zweigelenkigen weit aus, am Knie umge-
kehrt die zweigelenkigen die eingelenkigen.


Aufrechtes Stehen; Gehen.


Obwohl es streng genommen ausserhalb der Grenzen eines Lehr-
buchs der reinen Physiologie fällt, auch noch die komplizirten Bewe-
gungen des Skelets und seiner Muskeln zu besprechen, so werden
wir doch noch ganz übersichtlich die in der Ueberschrift bezeichneten
mühsam erworbenen Kunstfertigkeiten behandeln, und zwar darum,
weil dabei einige wesentlichen Eigenschaften der Bauchglieder be-
sonders hervortreten. Das Sitzen, Laufen, Schwimmen, Reiten, Tanzen
u. s. w. schliessen wir dagegen vollkommen aus.


A. Aufrechtes Stehen. Die allgemeinsten Bedingungen dessel-
ben sind erfüllt, wenn der Schwerpunkt unseres Körpers in den Raum
[405]Aufrechtes Stehen.
fällt, welchen die auf dem Boden aufstehenden Füsse umschliessen, und
die zwischen dem Rumpf und dem Boden liegenden Hüft-, Knie- und
Fussgelenke hinreichend gesteift sind, um ein Abgleiten der Gelenk-
flächen von einander zu verhüten. Diese letztere Bedingung kann in Er-
füllung gebracht werden entweder allein durch eine Wirkung der Mus-
keln, oder vorzugsweise durch eine Gegenwirkung zwischen Bandmas-
sen und der Schwere des Rumpfes; je nachdem das eine oder das an-
dere dieser Hülfsmittel in Anwendung gebracht ist, kann das Stehen
kürzere oder längere Zeit ertragen werden, mit andern Worten er-
scheint uns dasselbe ermüdend oder bequem. Da das erstere auf eine
ganz willkürliche und mannigfach veränderliche Weise hervorgebracht
werden kann, so verzichten wir auf seine Darstellung und fassen nur
das bequeme Stehen in das Auge. Die Mittheilungen, die hier dar-
über gegeben sind, folgen den Untersuchungen von H. Meyer.


1. Lage der Schwerpunkte des Rumpfes und des Gesammtkör-
pers. Schwerlinie. Von einer konstanten Lage des Schwerpunktes
am Rumpf kann natürlich keine Rede sein, da das Gewicht seiner ein-
zelnen Abtheilungen, wie namentlich das der Unterleibseingeweide
einem fortlaufenden Schwanken unterworfen ist, da ferner seine einzel-
nen Theile sich gegeneinander bewegen können, und insbesondere die
an seinen Enden angebrachten Fortsätze, die Arme und der Hals, sehr
verschiedene Stellungen einzunehmen vermögen. Die allgemeine An-
gabe über die Lage des Schwerpunktes müsste sich also auf die Gren-
zen beziehen, innerhalb deren sie wechseln kann. Diese sind uns
aber nicht bekannt; wir wissen nur aus einem von Ed. Weber un-
tersuchten Fall, dass der Schwerpunkt des Rumpfes, d. h. des mensch-
lichen Körpers mit Ausschluss der Beine, in der Höhe des Schwertfort-
satzes zu suchen ist, vorausgesetzt, dass die Arme am Leib herab-
hängen und die Wirbelsäule gestreckt ist. Die Lage des Schwerpunktes
unseres Gesammtkörpers (des Rumpfes und der Beine) ist aber begreif-
lich eine andere als die des Rumpfschwerpunktes. Nach einer Beobach-
tung von Ed. Weber fällt die letztere in das Promontorium. Diese
Lagen der Schwerpunkte des Rumpfes sowohl als des Gesammtkör-
pers setzen wir in dem Folgenden als gültig voraus.


Die Beobachtung eines ruhig stehenden Menschen lässt nun er-
kennen, dass eine senkrechte Linie, welche vom Schwerpunkt gegen
den Boden gezogen wird, in den Raum zwischen beide Füsse fällt.
Von dieser Senkrechten, der sog. Schwerlinie weichen nun aber die
Verbindungslinien der Drehpunkte und Achsen aller oben genannten
Gelenke merklich ab und namentlich verhalten sie sich nach Meyer
in der Weise wie sie Fig. 126 angibt. Dieselbe stellt die Profilprojek-
tion des menschlichen Körpers mit eingezeichneten Knochen dar; in
ihr bezeichnet R den Schwerpunkt des Rumpfes; seine Lage in dieser
Ansicht ist bestimmt durch die nicht unwahrscheinliche Annahme,
[406]Aufrechtes Stehen.

Figure 130. Fig. 126.


dass er annähernd in den geometrischen
Mittelpunkt des horizontalen Rumpfdurch-
schnittes falle, wonach er in der Profil-
projektion ungefähr in der Mitte einer Linie
liegen würde, welche man von dem pro-
cessus xyphoideus zur Wirbelsäule ziehen
kann. K gibt den Schwerpunkt des Ge-
sammtkörpers an, H den Drehpunkt des
Hüftgelenkes, A das Ende der Achse des
ersten Fussgelenks und endlich R K B die
Schwerlinie. Diese letztre verläuft nun in
der gegebenen Projektion zuerst hinter den
Drehpunkt des Hüftgelenks. H. Meyer
glaubt sich zu diesen Annahmen berech-
tigt, weil, wenn man bei einem bequem
stehenden Menschen den Faden eines Sen-
kels in die Mitte der Seitenfläche des Brust-
kastens anlegt, dieser hinter dem vorderen
Rand des grossen Trochanters, der be-
kanntlich im aufrechten Stehen die Lage
des Drehpunktes für das Hüftgelenk an-
gibt, herfällt. Darauf trifft sie annähernd auf
die Achse des Kniegelenks und zwar bald
vor und bald hinter dieselbe und endlich
konstant vor die Achse des ersten Fuss-
gelenkes, jedoch noch immer in den Fuss.


2. Steifung der Gelenke. a. Die Steifung
des Hüftgelenkes geschieht gemeinschaft-
lich durch die Zusammenziehung mehrerer
Muskeln, namentlich der nach auswärts roti-
renden und des m. glutaeus maximus, dann
durch die Spannung des ligamentum iliofe-
morale (lig. superius von Ed. Weber) ligam.
teres, ligam. iliotibiale (das äussere Blatt
der fascia lata) und die Schwere. Da den
gegebenen Thatsachen zufolge die Schwer-
linie des Rumpfes R D nicht auf sondern
hinter den Drehpunkt fällt, so kann dieselbe
mit Beziehung auf den letzten zerlegt wer-
den in eine auf H senkrechte R H und in
eine wagrechte D H. Der nach der Linie R H
wirkende Antheil der Schwere wird durch den Drehpunkt unter-
stützt, die nach H D wirkende sucht dagegen den Rumpf auf den
Schenkelkopf nach hinten zu drehen. Diesem letzteren Antheil von
[407]Aufrechtes Stehen.
der Gesammtkraft der Rumpflast wirkt nun die Spannung des lig. su-
perius entgegen, so dass an diesem Band der Theil der Last, welcher
von dem Oberschenkelkopf nicht getragen wird, geradezu hängt. Die
Fixation in der Ebene, die auf die eben bezeichnete senkrecht steht
überimmt die gemeinschaftliche Wirkung der lig. teres, lig. iliotibiale
und m. glutäus maximus. Dieser letztere streckt und adduzirt bekanntlich
zugleich; seiner Streckwirkung stellt sich das lig. superius entgegen,
während die Adduktion in bekannter Weise theils das lig. teres hemmt,
theils aber das vom äusseren Beckenrand über den trochanter major
zur tibia als eine starke Sehnenmasse hervortretende äussere Blatt
der fascia lata. Die vollkommene Befestigung in dieser Stellung, bei
welcher weder der Rumpf in einer von vorn nach hinten, noch in einer
von rechts nach links gehenden Ebene fallen kann, geben endlich die
Auswärtsroller, welche gleichzeitig die lig. superius und teres span-
nen. — b. Die Steifung des Kniegelenks ist gegeben: durch die in der
Streckung grosse Berührungsfläche der entsprechenden Gelenkenden
beider Knochen, durch die Zusammenziehung des vierköpfigen Strek-
kers, durch die Spannung der ligamta. iliotibiale, lateralia, cruciata und
poplitaeum; das Zusammenwirken dieser Massen ist aus dem bekann-
ten Mechanismus des Kniegelenkes für sich klar; hervorzuheben ist
nur, dass das äussere Blatt der fascia lata (lig. iliotibiale) schon durch
die Zusammenziehung des m. glutaeus maximus, der bekanntlich vor-
zugsweise in dieses Band sich einsetzt, in starke Spannung gebracht
ist. Danach ist es nicht unwahrscheinlich dass an diesem Band, wel-
ches den Streckmuskeln entgegen wirkt, der Rumpf auf ähnliche Weise
im Kniegelenk, wie am lig. iliofemorale im Hüftgelenk, hängt. —
c. Die Steifung im Sprunggelenk wird besorgt durch die Schwere,
durch die eigenthümliche Stellung der Sprungrolle in der Tibio-fibular-
pfanne, durch das Anpressen der Tibia gegen die Sprungrolle ver-
mittelst des condyl. internus femoris, des ligam. laterale genu inter-
num, poplitaeum und patellare und endlich durch die Auswärtsstellung
beider Füsse. Da die Schwerlinie K B des Gesammtkörpers nicht senk-
recht auf den Achsen der Sprungrolle steht, sondern vor dieselbe
fällt, so kann die Wirkung der Körperschwere ihrer Richtung nach
zerfällt werden in die auf die Sprungrolle senkrechte K E und die wag-
rechte A E. Diesem letzten Antheil der Schwere, der den Rumpf nach
vorn zu drehen strebt, kann nun keine Folge geleistet werden, und
zwar zunächst wegen der gegenseitigen Lage, die den Flächen der
beiden Sprungbeine zukommt. Denn wenn die beiden Unterschenkel
gestreckt und damit einander parallel gestellt sind, so schneiden sich die
Achsen der beiden Sprunggelenke in einem nach hinten offenen und
darum ihre Flächen in einem nach vorn offenen Winkel, so dass eine
gleichzeitige Beugung des Unterschenkels auf beiden Rollen unmög-
lich ist. Zudem kommt aber auch der Fuss beim Stehen in eine solche
[408]Aufrechtes Stehen.
Stellung gegen den Unterschenkel, dass der hintere schmale Theil der
Sprungrolle in der Gelenkfläche ruht; ist also ein Mechanismus vor-
handen der die beiden Unterschenkelknochen in dieser Lage scharf
gegen die Rollen anpresst, so wird ebenfalls die Beugung, bei welcher
der breitere Theil des Astragalus in die Gelenkhöhle treten müsste,
unmöglich. Dieses Zusammenpressen der Knochen wird aber gegeben
durch eine Drehung der Tibia um die Fibula, welche jedesmal einge-
leitet wird, wenn das Knie sich streckt, und zwar durch das Hervortre-
ten des langen condylus internus femoris, das ligam. laterale internum
und poplitaeum und den schiefen Ansatz der Kniestrecker gegen die
tuberositas tibiae. Unwahrscheinlich ist es dagegen dass die mm. gas-
trocnemii noch betheiligt sind bei dem Mechanismus, welcher das Vor-
wärtswerfen des Unterschenkels verhütet; ihre Verwendung würde
wenigstens, da sie zugleich das Knie beugen, sehr unvortheilhaft sein.
Kommt überhaupt eine Muskelkraft bei der Steifung des ersten Fuss-
gelenkes in Frage, so dürften nur die vom Unterschenkel zum Fuss
laufenden Muskeln, mm. tibialis posticus, peronaei postici und soleus
von Bedeutung sein.


3. Stellung des Sprungbeins auf dem Fussbogen. Das Sprungbein
A Fig. (127) stüzt sich am ergiebigsten auf das Fersenbein mit zwei

Figure 131. Fig. 127.


Flächen I, II zwischen
welchen der bekannte
Hohlraum bleibt, ferner
liegt es noch vorn auf der
Hohlfläche des Kahnbeins
und dem ligam. calcaneo-
naviculare. Dieser Lage
und Stellung gemäss über-
trägt es den grössten Theil des auf ihm lastenden Gewichtes gegen das
Fersenbein und drängt zugleich, wegen der entgegengesetzten Richtung
der gegen ossa calcanei und naviculare zugewendeten Flächen beide
Knochen auseinander und zwar das Fersenbein nach hinten und aus-
sen, das Kahnbein aber nach vorn und innen. Hiebei hemmen das lig.
calcaneo naviculare (III) und der Apparatus ligamentosus (IV), welche
senkrecht anfeinander stehen, das Auseinanderweichen der drei
Knochen.


Der auf das Fersenbein fallende Antheil der Körperlast überträgt
sich auf die Erde durch den Fersenhöcker, welcher beim Aufruhen
des Fusses auf ebenem Boden nach aussen und hinten von der Mittel-
ebene der Astragalusrolle liegt. Um diesen hinten gelegenen festen
Punkt des Fersenbeins würde die vorn wirkende Last den vordern
Fersenbeinfortsatz drehen, wenn er nicht vorn und innen durch das
lig. calcaneonaviculare und aussen durch einen spitzen unter das
Fersenbein dringenden Fortsatz des os cuboideum und das lig. calca-
[409]Aufrechtes Stehen.
neocuboideum getragen würde. Der dem os naviculare zukommende
Lastantheil theilt sich durch das os cuneiforme prim. und metatarsi
prim. und die zugehörigen Bänder den den Boden berührenden Sesam-
beinen mit, und ebenso geht der auf dem os cuboideum lastende durch
os metatarsi quintum auf den Boden über.


Wegen der nach allen Seiten sich verbreitenden Spannung der
Bänder kann der Fuss im Ganzen auch als ein Bogen angeschen wer-
den der auf drei Punkten aufruht, deren gegenseitige Lage zu einander
Fig. 128 angibt; Ca ist der aufruhende Punkt der Ferse, Se der des-

Figure 132. Fig. 128.


jenigen des Sesambeins und MV der des fünften Mittel-
fussknochens. Der Lastantheil, welchen jeder der drei
Punkte zu tragen hat, kann im einzelnen Fall nach be-
kannten Regeln ermittelt werden, wenn die Neigung der
Linie gegen den Horizont gegeben ist, die man ziehen
kann von dem Ort, wo die Last den Fuss trifft gegen die
genannten Berührungsstellen zwischen Boden und Fuss.
Beispielsweise sind an dem Fussdurchschnitt Fig. 127
zwei dieser Linien A B und A C ausgeführt. — In Er-
mangelung genauer auf diese Frage bezüglicher Mes-
sungen ergibt der Augenschein, dass beim Stehen auf
ebenem Boden die Ferse den grössten und der letzte Me-
tatarsalknochen den geringsten Lastantheil unterstützt. Auf die Vor-
theile, welche für die Sicherheit des Stehens aus der Gegenwart
dreier Stützpunkte jederzeit erwächst, braucht kaum aufmerksam
gemacht zu werden. Ebensowenig ist hervorzuheben, dass durch die
Rotation, welche entweder der ganze Fuss am os naviculare und cu-
boideum ausführt und durch die Bewegung des letzten Metatarsal-
knochens auf dem os cuboideum, die Möglichkeit gegeben ist, die
drei Punkte gegeneinander und gegen verschiedene Bodenuneben-
heiten zu verschieben.


Ein besonderes Problem bietet die Frage über das Stehen auf den
Ballen, auf dessen Lösung aber hier nicht eingegangen werden kann.
Es soll hier nur erwähnt werden, dass wir bei gebeugtem und ge-
strecktem Fussgelenk auf einem oder mehreren Metatarsalköpfchen
stehen können und dass, wenn das Stehen auf dem Ballen nur eines
Fusses sicher sein soll, wir die Zehen gleichzeitig auf den Boden
legen müssen, die sich dann dem Ballen gegenüber ähnlich verhalten
als die Ballen der Ferse gegenüber, wenn wir auf dem ganzen Fusse
ruhen.


B. Natürliches Gehen*). Unter ihm begreift man den Gang,
durch den mit möglichst geringer Muskelanstrengung der Rumpf in
einem gleichgrossen scheitelrechten Abstand vom Boden mit gleich-
[410]Natürliches Gehen.
förmiger Geschwindigkeit nach horizontaler Richtung mittelst der
Beine fortgeschoben wird. Bei den folgenden Darstellungen ist ein
wagrecht liegender Boden vorausgesetzt.


Diese Bewegung erfordert, wie aus ihrer Definition hervorgeht,
1. eine Kraft, welche in senkrechter Richtung wirkend den Schwer-
punkt des Körpers stützt; diese senkrechte Kraft muss genau so gross
sein wie die Schwere des Rumpfs, weil ohne diese Bedingung der
Rumpf steigen oder fallen würde; 2. eine Kraft, welche in horizon-
taler Richtung wirkend den Rumpf vorwärts schiebt, diese letztere
Kraft muss in jedem Augenblick der Geschwindigkeit nach vorn einen
gerade so grossen Zuwachs ertheilen, als in diesem durch den Luft-
widerstand verzehrt wird, weil ohne diese Gleichheit der beschleuni-
genden und verlangsamenden Kräfte der Gang nicht gleichförmig ge-
schwind ausfallen könnte.


Diese Bedingungen sind folgendermassen erfüllt. Der Rumpf wird
zuerst von einem senkrecht unter seinem Schwerpunkt stehenden Beine
unterstützt, im nächsten Moment verlängert sich dasselbe und schiebt,
indem es sich gegen den unnachgiebigen Boden stemmt, den beweg-
lichen Rumpf vorwärts; diese schief gegen den Boden wirkende Kraft
(Stemmkraft) lässt sich in eine horizontale und eine senkrecht wir-
kende zerlegen und genügt also zunächst den aufgestellten Forderun-
gen, aber nur für eine kurze Wegstrecke, so lange nämlich als das
stemmende Bein aus der Verkürzung in die Verlängerung übergehen
kann. Ist nun aber die Streckkraft dieses ersten Beins erschöpft, so
tritt die des andern Beins in Wirksamkeit, welches nämlich bisher in
der Luft schwebend an dem nach vorn geschobenen Rumpf gerade so
weit nach vorn schwingt, um in der neuen Lage desselben wieder als
Stütze des Schwerpunkts dienen zu können. Dieses zweite Bein über-
nimmt dann die Rolle des ersten.


Wir werden nun noch eine genauere Zergliederung der hier auf-
tretenden Bewegungen geben. Wir gehen dabei von dem Augenblick
aus, in welchem die Beine mit dem Boden in der Profilprojektion ein
rechtwinkliches Dreieck darstellen, dessen Catheten durch die auf den
Boden fallenden Verbindungslinien beider Beine und das den Schwer-
punkt senkrecht unterstützende Bein dargestellt werden; ein Augen-
blick, der also gerade dann besteht, wenn die Streckkraft des einen
Beins erschöpft und die des andern im Maximum möglich ist.


Das stützende, senkrecht stehende Bein muss in diesem Augen-
blick den Schwerpunkt des Körpers allein tragen; zu diesem Behufe
muss derselbe nach der Seite dieses Beines geworfen sein. Nach
H. Meyer geschieht dieses einfach dadurch, dass der Fuss im Sprung-
gelenk gebeugt wird. Denn da die Beugungsebene des Sprungbeins
schief von innen und hinten nach aussen und vorn von der Mittel-
ebene des Körpers geht, so muss durch diese Beugung das obere Ti-
[411]Natürliches Gehen.
bialende und damit der ganze Rumpf nach aussen, resp. auf die unter-
stützte Seite geführt werden. Ausserdem gilt für die Steifung der
Gelenke alles das was beim Stehen mitgetheilt worden ist. Geht nun
das Bein aus der unterstützenden in die stemmende Periode über,
so muss es sich verlängern, weil ohne dieses der Rumpf nicht in
horizontaler Richtung nach vorn geschoben und getragen werden
könnte. Diese Verlängerung geschieht zuerst durch Streckung des
Knies und dann des Fusses im Sprunggelenk, wodurch zugleich der
Rumpf um die Länge des Fusses, indem sich derselbe vom Boden ab-
wickelt, nach vorn geschoben wird. Hierauf wird eine noch weiter-
schreitende Verlängerung durch möglichste Streckung im Hüftgelenke
bewerkstelligt. Hat damit das Bein das Maximum seiner Verlängerung
erfahren, so hebt es sich um in dem nun folgenden Schwingungsakt
keine Reibung zu erleiden, durch Beugung im Kniegelenk von Boden
ab. Die Muskeln, die sich bei dem ganzen Akte betheiligen, sind mm.
gastrocnemii und soleus zur Streckung des Fusses, die vierköpfigen
Kniestrecker und die Hüftstrecker; am Schluss der Streckwirkung aber
wiederum die mm. gastrocnemii zur Beugung des Knies. Nach Mes-
sungen der Gebrüder Weber beläuft sich der ganze Werth der Ver-
längerung des Beines um ungefähr ⅐ derjenigen Länge, die es wäh-
rend des Stützens besitzt.


Als das erste eben betrachtete Bein sich in seiner grössten
Verkürzung befand, hatte das andere seine grösste Länge erreicht und
war in dem Augenblick als das erstere zum stemmenden wurde vom
Boden abgehoben. Einmal abgehoben schwingt es nach vorn, aber
nicht in Folge eines Muskelzuges, sondern einfach durch seine
Schwere; es schwingt wie ein aufgehangenes Pendel, und zwar in
der Richtung von innen und hinten nach aussen und vorn. Die Mög-
lichkeit einer solchen Schwingung ist durch die aequilibrinte Aufhän-
gung des Beins in der Pfanne gegeben, und der Beweiss für diese Art
von Bewegung liegt darin, dass nach Messungen von W. Weber die
Schwingungszeit am lebenden und todten Bein genau übereinstimmt
und zwar gerade so viel beträgt, als die eines Pendels von der Länge
des Beins und der ihm zukommenden Massenvertheilung.


Aus diesen Thatsachen ergeben sich nun alle auf die Schritt-
dauer
und die Schrittlänge bezüglichen Folgerungen, die durch
W. Webers genaue Messungen am gehenden Menschen bestätigt
sind.


Die Schrittdauer ist einerseits abhängig von dem Zeitraum,
in welchem beide Beine den Boden gleichzeitig berühren und ander-
seits von der Schwingungszeit des schwebenden Beins. Den ersten
Punkt anlangend so unterscheidet sich bekanntlich das Gehen vom
Laufen dadurch, dass im ersteren ein Zeitraum erscheint, in dem beide
Beine auf dem Boden stehen, und im letztern ein solcher, in dem beide
[412]Natürliches Gehen.
schweben; die Grenze beider Ortsbewegungen oder das sogenannte
schnellste Gehen ist also mit Rücksicht auf den vorliegenden Umstand
gerade dann erreicht, wenn der Zeitraum des gleichzeitigen Auftretens
Null wird, d. h. wenn das eine Bein den Boden im Augenblick verlässt,
in welchem das andere auftritt. — Die Schwingungszeit des schwe-
benden Beins ist aber abhängig von dem Abstand der Schenkelköpfe
vom Boden und der Zahl der Grade, welche die Schwingung des Beins
umspannt. Je kürzer die Beine durch das natürliche Wachsthum oder
je mehr sie angezogen sind, um so rascher werden sie dem Pendelge-
setz gemäss ihre Schwingungen vollenden. Die Zahl der Grade,
welche der Schwingungsbogen umfasst, findet ihren kleinsten Werth
in dem Bogenabschnitt, der vollendet werden muss von dem Punkt an,
wo das Bein vom Boden gehoben wird, bis zu dem, wo der Fuss senk-
recht unter dem Schwerpunkt liegt, also von irgendwelcher Erhebung
bis zur senkrechten Stellung des Beins. Beschränkt sich dasselbe auf
diesen Schwingungsumfang, mit andern Worten auf eine halbe Pendel-
schwingung, und schwingt nicht noch unnützer Weise jenseits des
angegebenen vorderen Grenzpunktes, so wird es damit für einen ge-
gebenen Stand der Schenkelköpfe die kleinstmögliche Schwingungs-
dauer erreichen.


Die Schrittlänge ist abhängig von der Länge des abge-
wickelten Fusses und ferner für alle durch Wachsthum gleichlange
Beine, von dem senkrechten Abstand zwischen dem Schenkelkopf und
dem Boden, in dem Augenblicke wo die Streckung des Beins
beginnt. — Der erste Punkt ist von selbst klar, und der zweite wird
es sogleich, wenn man bedenkt, dass die Verlängerung des Beins um
so mehr der horizontalen Bewegungsrichtung zu gute kommt, je
niedriger die Schenkelköpfe stehen.


Eine Combination der über Schrittdauer und Schrittlänge gegebe-
nen Mittheilungen ergibt, dass das schnellste Gehen, d. h. die grösste
Schrittlänge und kleinste Schrittdauer möglich wird, wenn die Schen-
kelköpfe möglichst niedrig getragen werden, was mit der täglichen
Erfahrung übereinstimmt.


In den Kreis unserer Betrachtung müssen nun noch die Bewe-
gungen und Stellungen gezogen werden, in welche der Rumpf und
die Brustglieder beim natürlichen Gehen gerathen. Zuerst ist hier zu
bemerken, dass der Rumpf, den der Luftwiderstand stetig in seiner
Bewegung von hinten nach vorn verzögert, unwillkürlich beim Gehen
nach vorn geneigt wird, und zwar um so beträchtlicher, je rascher die
Gangbewegung ist. Zweitens bewegt sich der Rumpf nicht vollkommen
in einer horizontalen Ebene, sondern sinkt am Ende der stemmenden
Wirkung eines Beins um ein Weniges, wird aber dann durch das als
Stütze eintretende Bein wieder gehoben. Drittens endlich wird auch
dem Rumpf eine kleine Drehung mitgetheilt durch das schwingende
[413]Musikalische Eigenthümlichkeit der Stimme.
Bein, welches den Rumpf in einer horizontalen Ebene um den fest-
stehenden Schenkelkopf des andern Beins zu rollen sucht. Diese Wir-
kung wird aber aufgehoben durch gleichgehende Bewegung des Armes
der entgegengesetzten Seite und entgegengesetzt gehende Bewegung
des gleichseitigen Armes. Aus diesem Grunde bewegt sich der Arm
auf der Seite des schwingenden Beins in einer diesem entgegenge-
setzten Richtung, während der anderseitige Arm gleiche Schwingungs-
richtung darbietet.


Die geringe Ermüdung unserer Muskeln, die beim natürlichen
Gang eintritt, und die es uns möglich macht, das Gehen weit längere
Zeit hindurch zu ertragen, als das Stehen, erläutert sich vorzugsweise
durch die Ruhe, welcher die Beine wechselnd hingegeben werden; in-
dem das jedesmal schwingende Glied, von der Luft getragen, ohne
Muskelanstrengung nach vorn bewegt wird.


Inwiefern die seitliche Symmetrie des Körpers von wesentlichem
Einfluss auf die Regelmässigkeit des Ganges ist, und wie die Assy-
metrie des Skelets zwischen hinten und vorn die Bewegung nur
nach einer Richtung hin vorzugsweise bedingt, ist bei E. H. Weber*)
nachzusehen.


Stimm- und Sprachwerkzeuge.


Mittelst willkürlich beweglicher Organe sind wir im Stande, auf
die mannigfaltigste Weise Töne zu erzeugen; unter diesen möglichen
Tonwerkzeugen sind aber nur die von hervorragendem Interesse,
welche in den Schling- und Athemapparat eingefügt sind.


Stimme**).

1. Musikalische Eigenthümlichkeiten der Stimme. Die
Stimme, welche im Kehlkopf erzeugt wird, gestaltet sich rücksichtlich
ihres Umfangs, ihrer Reinheit und ihres Klanges, vorausgesetzt, dass
sie durch die aus den Athemwerkzeugen strömende Luft erzeugt wird,
folgendermassen:


a. Der Umfang der Menschenstimme, d. h. der Abschnitt der Tonlei-
ter, welchen der menschliche Kehlkopf erzeugt, umfasst drei und eine
halbe Oktave; im Mittel hat ihr niedrigster Ton 80 ganze Schwingun-
gen in der Sekunde = E, und ihr höchster 992 ganze Schwingungen.
In diesen Gesammtumfang theilen sich nun die einzelnen Individuen
in der Art, dass eine gute Einzelstimme zwei bis zwei und eine halbe
Oktaven beherrscht. Indem man Rücksicht auf die Tonhöhe der Ein-
[414]Umfang, Klang.
zelstimmen nimmt, unterscheidet man Bass, Tenor, Alt, Sopran. Nach
ganz bekannten Angaben theilen sich diese Einzelstimmen in die
menschliche Tonleiter der folgenden Tafel gemäss.


[figure]

Bass und Tenor sind das Eigenthum der männlichen, Alt- und
Sopran das der weiblichen Stimme, so dass die tiefe weibliche
Stimme ungefähr um eine Oktave höher beginnt als die tiefe männ-
liche, und die hohe weibliche um eine Oktave höher endigt als die
hohe männliche.


Einzelne Bässe gehen noch viel tiefer herunter als hier angegeben; so er-
wähnt man Sänger, welche noch das mit 43 (ganzen) Schwingungen erzeugen
konnten. Knaben- und Castratenstimmen sollen öfter bis zum emporsteigen. Ganz
ausgezeichnete individuelle Stimmen gebieten über 3, ja in ganz seltenen Fällen
über 3½ Oktaven.


b. Klang. Die menschliche Stimme ist zahlloser Klangarten fähig;
man kann geradezu behaupten, dass jedes Individuum sich durch ei-
nen besondern Klang der Stimme auszeichnet. Aber in dieser unbe-
schreiblichen Mannigfaltigkeit des Klanges der menschlichen Stimme
überhaupt charakterisirt sich im Allgemeinen doch wieder die männ-
liche von der weiblichen Stimme durch eine besondere Tonfärbung,
und innerhalb der männlichen und weiblichen ist wiederum der Tenor
vom Bass und der Sopran vom Alt durch einen eigenthümlichen Klang
unterschieden. Nicht minder ist die Stimme eines Individuums sehr
zahlreicher Modifikationen ihres Klanges fähig. Von den verschiede-
nen Stimmarten des Individuums sind aber nur wenige dem musikali-
schen Ohr so wohlgefällig, um in der ausübenden Tonkunst verwen-
det zu werden. Die verwendeten Klangarten (Register) haben die
gemeinsame physiologische Eigenthümlichkeit, dass sie schon von
den wesentlichen Theilen des menschlichen Stimminstruments hervor-
gebracht werden. Man belegt diese einzelnen Register (welche also
den verschiedenen weiblichen Stimmen ebenso gut zukommen als den
männlichen) mit dem Namen der Brust- und Kopf- oder Fistelstimme. —
Die Bruststimme charakterisirt sich durch einen vollen, starken
Klang; ihren Namen hat sie daher erhalten, dass bei ihrer Erzeugung
die Brustwandungen in ein der aufgelegten Hand fühlbares Erzittern
gerathen. Die Fistelstimme zeichnet sich durch eine flötenartige
weiche Tonfärbung aus. Alle Töne, welche ein Individuum hervor-
bringen kann, vermag dasselbe übrigens nicht mit Brust- und Fistel-
stimme nach Belieben zu erzeugen. In das Gebiet der Bruststimme
[415]Stärke, Reinheit.
fallen jedesmal die tiefern, in das der Fistel die höhern Noten, und
nur wenige Töne, welche auf der Grenze zwischen Brust- und Fistel-
stimme gelegen sind, können nach Belieben in beiden Registern ange-
geben werden. Der Unterschied zwischen Fistel- und Brustklang ist
beim Weibe weniger ausgeprägt als beim Manne. —


c. Stärke der Stimme. Sie ist sehr verschieden, im Allgemeinen
aber bei Individuen mit kleinem Brustkasten und wenig geräumiger
Mundhöhle schwach. Ausserdem können jedesmal die tiefsten Töne,
die ein Individuum hervorzubringen vermag, nur schwach angegeben
werden, während die höchsten nur sehr laut ansprechen. Das all-
mälige Anschwellen eines Tones, sein Gang vom piano zum forte
oder umgekehrt, ist der menschlichen Stimme möglich, aber nur mit
Schwierigkeiten und nach einer besonderen Erziehung derselben.


d. Reinheit der Stimme. Man versteht hierunter bald die Reinheit
des Klangs, ihre Befreiung von schwirrenden Geräuschen und dann
auch wieder das Vermögen, den Ton von gewünschter Höhe zu tref-
fen. Im erstern Sinn wechselt sie bei demselben Individuum nach
der Lebensweise und dem Lebensalter beträchtlich; gewissen Lebens-
perioden ist sie vollkommen versagt; z. B. dem Greisen- und Säug-
lingsalter, der Zeit, in welcher vorzugsweise die Geschlechtsentwick-
lung stattfindet; nach starken Erhitzungen, während bestehender Ka-
tarrhe in der Rachenhöhle und in dem Kehlkopf, nach starken An-
strengungen der Stimme ist die Reinheit getrübt. Im zweiten Sinne
ist die Reinheit der Simme keine angeborne, sondern eine anerzogene
Eigenschaft, wie sogleich daraus erhellt, dass ein Individuum mit
mangelhaft ausgebildetem Gehör niemals eine reine, die Noten tref-
fende Stimme gewinnt, selbst wenn seine Stimmwerkzeuge sich auch
der höchsten Vollendung erfreuen.


2. Methoden, um die einzelnen Theile des Stimmapparates auf
ihre musikalischen Leistungen zu prüfen.


a. Nach dem bahnbrechenden Vorgange von Joh. Müller benutzt man zur Er-
mittlung des Antheils, den die einzelnen Gebilde an der Erzeugung der Stimme nehmen,
den todten ausgeschnittenen Kehlkopf. Zu diesem Zweck richtet man sich ihn auf ver-
schiedene Weise vor, je nachdem man nur den Kehlkopf für sich oder zugleich auch
die Mundwerkzeuge mit in den Kreis der Untersuchung ziehen will. — Im ersten
Fall trennt man den Kehlkopf vom Zungenbein, dem Kehldeckel und der Speiseröhre
und schneidet ihn darauf auch von der Luftröhre ab, jedoch so, dass noch ein län-
geres Stück derselben mit ihm in Verbindung bleibt. Dann entfernt man auch vor-
sichtig die oberen Stimmbänder, so dass man bequem die oberen freien Flächen der
unteren Stimmbänder sehen und mit Bequemlichkeit einen belastenden Körper z. B.
einen Messerstiel auf sie führen kann. Bei dieser Operation muss aber die Schleim-
haut, welche die mm. arytenoidei transversi überzieht, vollkommen erhalten blei-
ben. Nachdem man den Kehlkopf sorgfältig gereinigt hat, bindet man das ihm an-
hängende Luftröhrenrudiment auf ein weites rechtwinklich gebogenes Glasrohr
und befestigt den ganzen Kehlkopf und zwar am besten dadurch, dass man die cor-
nua superiora der cartilag. thyreoidea in einen Halter klemmt, wie sie in physikali-
schen und chemischen Laboratorien gebräuchlich sind. Dann schlingt man jederseits
[416]Untersuchungsmethoden der Stimmwerkzeuge.
um den Processus muscularis der cartil. arytenoidea einen dreifachen Faden; einer
derselben liegt in der Richtung des m. thyreoarytenoideus; zur bequemen Handha-
bung desselben führt man ihn auf die vordere Fläche der cartil. thyreoidea durch
eine Oeffnung, die man jederseits über die Mitte des Ansatzpunktes von m. thyreoary-
tenoideus gebohrt hat. Von den beiden andern Fäden legt man den einen nach der mitt-
lern Faserrichtung des m. cricoarytenoideus lateralis und die andere nach der Rich-
tung des m. arytenoideus proprius. Diese Fäden sucht man, indem man sie über eine fest-
stehende Rolle führt, in den bezeichneten Richtungen festzuhalten, so dass man dann
durch ein angehängtes Gewicht die Stimmritze in jede den Muskelwirkungen entspre-
chende Form bringen kann. — Andere Arten des Aufhängens und der Vorbereitung des
Kehlkopfes siehe bei Joh. Müller*) und Liscovius**). — Verwickelter wird die Vor-
bereitung des Kehlkopfs, wenn man ihn untersuchen will, während der Schlundkopf,
die Mund- und Nasenhöhle noch mit ihm in Verbindung sind. Da zudem die aus dem
Versuch mit einem solchen Kehlkopf gewonnenen Thatsachen höchst zweifelhafter Na-
tur sind, so mag die Beschreibung desselben hier unterbleiben. — Hat man nun mit-
telst der Fäden die Stimmritze in die zum Tonangeben nöthige Form gebracht, so bläst
man eine mit Wassergas gesättigte Luft, am besten geradezu die Ausathmungsluft eines
lebenden Menschen, durch das Rohr. Wenn es dem Beobachter von Bedeutung ist, die
Spannung zu kennen, welche die tonerzeugende Luft besitzt, so wird es noch noth-
wendig, seitlich in das anblasende Rohr eine heberförmig gebogene Glasröhre,
wie sie zum Druckmessen gebräuchlich ist, einzufügen, und einen Theil ihres auf- und
absteigenden Schenkels mit Wasser oder Quecksilber zu füllen. Man sollte auf den
ersten Blick denken, dass diese Vorrichtung vollkommen genüge, um nicht allein
über die Leistungen des Kehlkopfs, sondern über die Stimmbildung überhaupt ins
Klare zu kommen; denn es scheint, als ob man sich, untergeordnete Abweichungen
bei Seite gesetzt, den Stimmapparat vor Augen gelegt und so zugänglich gemacht
habe, dass man durch successive Veränderung der einzelnen Abtheilungen desselben
die Funktion einer jeden bestimmen könne. — Bei genauer Betrachtung ergeben
sich aber doch wesentliche, und was noch mehr, gar nicht zu berechnende Abwei-
chungen von den natürlichen Verhältnissen. Denn einmal ist überhaupt die Elastizität
der Weichtheile wesentlich verändert, wie sich sogleich daraus ergibt, dass in den Bän-
dern die Elastizität in einem Zusammenhang steht mit ihrer Temperatur und der Menge
von eingesogener Flüssigkeit, in den Muskeln aber zudem noch abhängig ist von den
Lebenseigenschaften und namentlich davon ob der Muskel noch erregbar, todtenstarr
oder schon gefault ist. Diese Abweichung der Elastizität wird die Folge mit sich füh-
ren, dass der Klang sich vollkommen ändert, dass die Züge, welche die Bänder auf
gleichen Spannungsgrad bringen sollten, im Leben und im Tod verschieden stark sein
müssen und endlich, dass dieselben Luftstösse nicht dieselben Intensitäten und Zah-
len der Schwingungen erzeugen werden. — Eine noch bedeutendere Abweichung des
präparirten vom lebenden Kehlkopf liegt aber darin, dass in dem ersten nicht allein
accessorische Werkzeuge entweder ganz ausfallen, oder wenigstens die durch
Muskelwerkzeuge erzeugbare Veränderung in der Spannung noch vorhandener
Hilfswerkzeuge zum Verschwinden kommt. Nun wirken aber bekanntlich in vie-
len Instrumenten die resonnirenden Theile wesentlich mit zur Bildung der Ton-
höhe. Ob der Stimmapparat zu dieser letzteren Art von Instrumenten gehöre, kann
darum am todten Kehlkopf nicht entschieden werden und begreiflich nützt die
Erhaltung der Luftröhre, des oberen Stimmbandes, des Kehldeckers u. s. w. am
todteu Kehlkopf nichts, wenn man nicht gleichzeitig auf eine dem Leben entspre-
chende Weise die Volumina der in diesen Räumen enthaltenen Luft und die Span-
nungen ihrer Wände zu ändern im Stande ist. — Diese Abweichungen so gross sie
[417]Orte der Stimmerzeugung.
sind, genügen aber nicht um wie Longet und Masson wollen die Untersuchung
der Leistungen des todten Kehlkopfs vollkommen zu verwerfen; im Gegentheil
scheint es unter allen Umständen nöthig, die Untersuchungen über die Stimme mit
der isolirten Betrachtung aller einzelnen stimmerzeugenden Werkzeuge und somit
auch des wichtigsten derselben zu beginnen. Es ist eines der zahlreichen grossen Ver-
dienste von Joh. Müller um die Experimentalphysiologie diese Wahrheit erkannt
und in vortrefflicher Weise ins Leben geführt zu haben.


b. Man macht den Kehlkopf am lebenden Thiere zugänglich und zwar entweder
nach Longet*) dadurch, dass man die Kiefer von Hunden und Katzen sehr weit
sperrt und die Zunge weit genug hervorzieht um die Stimmritze zu sehen, oder in-
dem man durch Einschnitte im Kehlraum den Kehlkopf zu Tage legt und ihn mannig-
fach verstümmelt, während man die Thiere durch Schmerzerzeugung zum Schreien
bringt. Die letzte dieser beiden Beobachtungsmethoden ist noch sehr zu vervollkomm-
nen, namentlich dadurch dass man die Luftröhre durchschneidet und in ihr Kehlkopf-
ende ein Rohr zum Anblasen anbringt, während man auf Mittel denkt einzelne Mus-
keln beliebig in Erregung oder Ruhe versetzen zu können.


c. Man beobachtet die äusserlich sichtbaren Theile der Stimmwerkzeuge des
Menschen während sie verschiedene Tonhöhen geben, und endlich


d. Bildet man auch auf künstliche Weise Instrumente nach, mit dem allgemei-
nen Charakter der menschlichen Stimmwerkzeuge. Auch dieser vielversprechende
Weg ist noch weiter zu betreten als bisher geschehen.


3. Orte der Stimmerzeugung. Die ursprünglich tönenden
Stellen des menschlichen Stimminstrumentes sind die unteren Stimm-
ritzenbänder und die durch ihre Spalte dringende Luft. Den Beweiss
für diese Annahme liefern mannigfaltige Thatsachen am lebenden und
todten Kehlkopf. Denn: jede Durchschneidung oder Texturveränderung
(Anschwellung u. s. w.) verändert am Lebenden die Stimme oder
hebt sie auch ganz auf, während durch keine andere Verletzung der
Rachenhöhle oder Luftröhre die Möglichkeit der Stimmbildung ver-
nichtet wird. Ebenso gelingt es am todten Kehlkopfe mittelst eines
durch die Stimmritze geblasenen Luftstroms noch einen dem mensch-
lichen sich annähernden Ton zu erzeugen, so lange die unteren
Stimmritzenbänder unverletzt in ihrer normalen Lage sich befinden,
mag man den Kehlkopf auch sonst noch so sehr verstümmelt haben.
Diese Fähigkeit des Kehlkopfes ist erloschen, wenn man an dem sonst
unverletzten Kehlkopf die Stimmbänder ausgeschnitten hat. Ebenso
wenig können aber auch die Bänder durch Anschlagen u. dergl., son-
dern nur durch Anblasen zu einem lauten, der menschlichen Stimm-
stärke entsprechenden Tone gebracht werden.


Nach dieser Erkenntniss ist es nun Aufgabe, die Bedingungen zu
untersuchen, von denen im Kehlkopf die Tonbildung überhaupt, ins-
besondere die Höhe und der Klang der Töne abhängt.


4. Bedingungen zur Tonbildung überhaupt. a. Das An-
dringen eines einigermassen kraftvollen Luftstosses gegen die Stimm-
häute; wir erschliessen dies, weil es uns nur beim Ein- und Ausathmen
gelingt, einen Ton im Kehlkopf zu erzeugen, und auch diesen nur
Ludwig, Physiologie I. 27
[418]Bedingungen zur Tonbildung.
dann, wenn der hierdurch erzeugte Luftstrom gegen die Bänder an-
dringt. Denn es ist die Möglichkeit, mittelst der Ausathmung eine
Stimme zu erzeugen, verschwunden, wenn zwischen Lunge und Kehl-
kopf eine Oeffnung in der Luftröhre sich befindet, durch welche die
aus der Lunge tretende Luft, ohne mit den Stimmbändern in Berüh-
rung zu kommen, entweichen kann. In Uebereinstimmung hiemit ist
es, dass man durch Anblasen des todten Kehlkopfs von der Trachea
her einen stimmähnlichen Ton erzeugen kann, keinen aber durch
Anschlagen der Bänder. Der Apparat, welcher im Leben den Luststoss
erzeugt, ist der Brustkorb, dessen Bewegungen beim Athmen be-
schrieben werden sollen.


Cagniard-Latour*), dem die seltene Gelegenheit wurde, einen
Menschen mit einer Luftröhrenfistel so weit zur Verfügung zu haben,
dass er mit der Luftröhre einen Druckmesser verbinden konnte, gibt
an, dass die Spannung der Luft in der Trachea das Gleichgewicht
hielt einer Wassersäule von 945 MM. Höhe, wenn der Kranke seinen
Namen laut ausrief; von 160 MM. wenn er einen mittleren Ton sang;
von 200 MM., wenn der Ton, ohne lauter zu werden, hoch stieg. Ein
todter Kehlkopf verlangte nach J. Müller zum Anspruch tiefer Töne
im Piano 13 bis 26, zu demjenigen hoher Töne im Fortissimo 80 bis
135 MM. Wasserdruck.


b. Die Bandmasse muss eine möglichst vollkommene Elastizi-
tät besitzen. Die Bänder bestehen bekanntlich aus elastischem Ge-
webe, auf welchem eine dünne Schleimhaut mit einem Pflasterepi-
thelium (H. Rheiner) aufsitzt. Verlieren dieselben entweder, wie
diess häufig während des Lebens geschieht, durch Infiltration ihrer
Schleimhaut mit wässerigen Flüssigkeiten, oder, wie oft am todten
Kehlkopf vorkommt, durch Austrocknen, ihre Elastizität, so geht die
Stimme verloren.


c. Die Flächen und Kanten der Bänder, welche die Stimmritze
umgrenzen, müssen frei sein. Eine geringe Belastung, namentlich der
obern Flächen, mit Schleim stört die Stimmbildung auffallend. —


Figure 133. Fig. 129.

d. Die Stimmbänder müssen in die beson-
dere Stellungen gebracht sein, bei welchen
sich die sogenannte Stimmritze bildet. Um diese
letztere herzustellen ist in die Stimmbänder
ein eigenthümlicher Mechanismus eingefügt.
— Jedes der beiden Stimmbänder, welche
man besser Stimmhäute nennen würde, (siehe
Fig. 129) entspringt bekanntlich von der con-
caven Kante der cart. thyreoidea A und hef-
tet sich dann an den innern obern Rand der
[419]Stellung der Stimmritze.
cartilago cricoidea B B fest und zwar von dem äussern Rand des
ligament. cricothyreoideum medium bis zur innern Seite der Ge-
lenkfläche für die cart. arytenoideae C C. In den hintern innern
Winkel dieser Stimmbänder ragt ein gebogenes Knorpelstück, der
proc. vocalis der cart. arytenoidea hinein, welches bei seinen Be-
wegungen die Hautfalte auf mannigfaltige Weise biegen kann und
namentlich so, dass ihre Fläche bald den Kanal des larynx mehr
oder weniger normal schneidet, bald dass sie sich annähernd den
Kanalwandungen parallel stellt. — Die Biegungen, welche hier
vorkommen können, werden bestimmt durch die besondere Art der
Gelenkverbindung zwischen cart. arytenoidea und cricoidea und
durch drei Muskelpaare von denen sich zwei an den proc. muscu-
laris und das eine an den proc. vocalis ansetzen. — Die Basis der
cart. arytenoidea reitet immer auf dem obern Ende der abschüssigen
Kante, durch welche die Platte in das schmale Stück der cart. cricoi-
dea übergeht in der Art, dass der Giesskannenknorpel leicht nach
vorn und hinten sich überbiegen und nach rechts und links drehen
kann, wobei bald die beiden process. musculares bald die process. vo-
cales schief in die Höhe gerichtet sind oder bald die einen oder die
andern mit ihren freien Enden gegen die Mittellinie des Kehlkopfs
sehen. In keinem Fall aber können sich die mittleren Theile des Knor-
pels selbst nähern, eine Bewegung, welche sowohl durch die Form der
Gelenkflächen, und die zwischen beiden liegenden Knorpelstücke als
auch durch die Bandverbindungen gehindert wird. — Die Muskeln be-
wirken immer bei ihrer Verkürzung folgende Stellungen der Stimmhäute.
Die mm. cricoarytenoidei postici. ziehen die proc. musculares mit ihren
freien Enden nach innen und unten, in Folge dessen steigt der proc. voca-
lis nach aussen und oben; im Maximum der Wirkung wird hierbei die
Stimmmembran fast vollkommen verstrichen, so dass keine spaltförmige
Verengerung, keine sogenannte Stimmritze sondern eine breite rauten-
förmige Oeffnung zwischen den freien Rändern der Stimmmembranen
bleibt. Bei dieser Stellung kann niemals eine Stimme erzeugt wer-
den. — Die mm. cricoarytenoidei laterales ziehen bei ihrer Verkür-
zung die proc. musculares nach aussen und unten, in Folge dessen
treten die Spitzen der process. vocales nach oben und nach innen bis
zur gegenseitigen Berührung; hierbei wird der Theil der Stimmhaut,
welcher eingeschlossen ist vom vordern Rand des proc. vocalis, der
cartil. cricoidea und thyreoidea nach innen und oben gebogen, so dass
sich nun die freien Ränder der Stimmhäute von dem process. vocalis
bis zur concaven Kante der cart. thyreoidea an einander lagern; der
zwischen ihnen bleibende Spalt ist die Stimmritze. Die Ränder der Stimm-
häute aber, welche eingeschlossen sind zwischen der hintern Grenze
der proc. vocales und der höchsten Stelle der Ringplatte, weichen zur
Bildung einer dreieckigen Oeffnung, der Athemritze, auseinander. Auf
27*
[420]Stellung der Stimmritze.
einem senkrechten Schnitt erscheinen die freien Ränder der Stimmritze
abgerundet. — Die mm. thyreoarytenoidei endlich ziehen die proc.
vocales nach vorn, innen und unten; hierdurch werden die Stimm-
häute in ähnlicher Weise wie vorher bis zur Berührung ihrer freien
Ränder gegen einander geführt, jedoch mit der Modification, dass
diese Letzteren nicht abgerundet, sondern mit stark ausgeprägten vor-
springenden Lappen versehen sind.


Diese beiden letzten Stellungen sind es, welche sich zur Bildung
der Stimme nothwendig erweisen. Die Stimme spricht nun aber, wie
aus Versuchen am todten Kehlkopf hervorgeht, beim Durchblasen von
Luft um so besser an, je mehr zugleich die mit dem Namen der Athem-
ritze bezeichnete dreiseitige Oeffnung zwischen den hintern Rändern
der proc. vocales geschlossen ist. Dieser Verschluss scheint auf zwei
Arten möglich, durch die mm. thyreoarytenoidei und arytenoidei pro-
prii. Bei der Wirkung der mm. thyreoarytenoidei legen sich die vor-
deren abgestumpften Spitzen der proc. vocales sehr innig zusammen,
viel inniger als bei der Wirkung der mm. cricoarytenoid. laterales und
drängen zugleich einen Theil des die Athemritze umkleidenden Band-
streifens in dieselbe, so dass deren Oeffnung schon sehr geschmälert
wird; vollkommen geschlossen kann sie werden, wie es scheint,
durch die aufrecht stehenden Stücke der cart. arytenoideae, wenn sie
nach einwärts und vorn gezogen sind, eine Bewegung, die ihnen durch
die mm. thyreoarytenoidei gleichzeitig mit der Stellung der Stimmritze
mitgetheilt wird. — Wird dagegen die Stimmritze gebildet durch die
Wirkung der mm. cricoarytenoidei laterales, so bleibt der dreieckige
Raum unverschlossen, und zu seiner Verschliessung könnten dann
möglicherweise mm. arytenoideus transversus und obliquus helfen,
durch welche die aufrecht stehenden Aeste (nicht aber die Basen) der
cartil. arytenoideae einander genähert werden; bei dieser Annäherung
wird wahrscheinlich eine Schleimhautfalte vorgeschoben, welche wie
ein Pfropf in die Oeffnung dringt. —


Ueber die Form, welche die Stimmritze im lebenden Zustand beim
Tonangeben besitzt, besteht nach Beobachtungen an Menschen, deren
Stimmritze durch zufällige Verletzungen bloss gelegt war, die überein-
stimmende Angabe, dass dieselbe einen linienförmigen Spalt darstelle;
Mayo, Rudolphi. Nach Beboachtungen an Thieren soll die vordere
Stimmritze, d. h. die Oeffnung zwischen der cart. arytenoidea und der
cart. thyreoidea bei Hunden eine elliptisch und bei Katzen eine gerad-
linig begrenzte Spalte darstellen. Dabei soll der dreieckige Raum zwi-
schen den cartilag. arytenoideis bald geschlossen sein und bald offen
stehen, je nachdem die Thiere mehr oder weniger laut schreien; Magen-
die, Longet
. — Der todte Kehlkopf des Menschen verlangt zur An-
sprache eine Stellung der eigentlichen Stimmbänder, bei welcher die
[421]Spannung der Stimmhäute.
zwischen ihnen bleibende Ritze eng ist, während der hintere drei-
eckige Raum so gut wie vollkommen geschlossen sein muss; J. Müller.


Rudolphi, Mende, Mayo, Bell etc. *) zeigten an lebenden Menschen deren
Stimmhäute durch eine Verwundung des Kehlkopfs blosgelegt waren, und Magen-
die
durch Versuche an Thieren, dass beim Stimmangeben die Stimmbänder zur Bil-
dung einer Stimmritze sich nähern müssen; Kempelens (ibid) Behauptung, dass die
Stimmritze nicht breiter als eine Linie sein dürfe, wenn ein Ton entstehen solle, bestä-
tigte J. Müller durch Untersuchungen am todten Kehlkopf in so fern er zeigte, dass
ein Luftstoss, der durch eine beträchlich erweiterte Stimmritze fährt, ein blasendes Ge-
räusch aber keinen Ton erzielt. Ferner lehrte J. Müller, dass das Stimmorgan
ungewöhnlich schwer anspricht, wenn die Athemritze offen geblieben, seien auch
sonst die Stimmhäute noch so günstig gelagert. — R. Willis**) machte darauf auf-
merksam, wie es wohl nicht genügen möchte, wenn überhaupt die Bäuder sich zur
Bildung einer Spalte zusammenlegen, sondern dass die Band ränder, die die Spalte
einschliessen, eine besondere Form besitzen müssen. — Die Mechanismen zur Bildung
der Stimmritze sind übrigens ausserordentlich mangelhaft untersucht. —


e. Zu den Bedingungen, unter denen ein Kehlkopf Töne erzeugen
kann, gehören ferner bestimmte Grenzen von Spannung in den Stimm-
häuten. Uebersteigt ihr Spannungsgrad dieselben, so spricht, selbst
wenn alle andern Umstände noch so günstig, der Ton nur sehr unvoll-
kommen und schreiend an; befindet sich der Spannungswerth dagegen
unterhalb derselben, so wird nur ein undeutliches Brummen möglich.
— Die Einrichtungen aber und Umstände, durch welche die Stimm-
häute in ihrer Spannung verändert werden können, sind verschiedener
Natur. — α) Es können die Stimmhäute durch Vergrösserung oder
Verringerung der Entfernung zwischen cartil. thyreoidea und der cart.
arytenoidea in ihrer Länge verändert und damit verschiedentlich ge-
spannt werden. Zur Veränderung der genannten Entfernung tragen
zwei Muskelpaare bei, in dem sie (Fig. 130) die cartilago thyreoidea um

Figure 134. Fig. 130.


ihr Gelenk bei C drehen, und zwar
verkürzen die mm. thyreoarytenoidei
den genannten Abstand, während die
mm. cricothyreoidei ihn vergrössern. —
Eine mittlere Stellung der cart. thyreoi-
dea wird endlich durch das lig, crico-
thyreoideum L gegeben. Ein Theil die-
ses Spannungsapparats die mm. crico-
thyreoidei nemlich kann begreiflich in Wirksamkeit treten, mag die
Stimmritze durch die mm. cricoarytenoidei laterales oder durch die mm.
thyreoarytenoidei gestellt sein; im letztern Fall, wo den mm. cricothy-
reoidei Antagonisten entgegentreten, wird dann nur die Differenz der
gerade verwendeten Kräfte beider Muskelpaare der Längenausdehnung
der Stimmhäute zu Gute kommen, so dass also wenn mm. cricothyreoidei
überwiegen die mm. thyreoarytenoidei die Stellung aber nicht die Span-
[422]Spannung der Stimmhäute.
nung der Stimmhäute ihrer Länge nach bestimmen. Ob sich hierbei die
nach aussen gelegenen Theile der Stimmhäute weniger spannen als
die nach innen gelegenen (Rinne), bedarf noch weiterer Untersuchung.


β. Die Stimmhäute können durch seitlichen Druck mittelst der
Platten des Schildknorpels eine Spannungsveränderung erfahren. Der
tiefe Einschnitt (von oben nach unten) an der Kante des Schildknor-
pels und die geringere Dicke (in der Richtung von vorn nach hinten)
desselben an der Kante machen es möglich, dass die freien hin-
tern Enden von einer verhältnissmässig geringen Kraft gegenseitig
genähert werden können. Diese Möglichkeit wird realisirt durch ein
Fascikel des m. thyreocricoideus, welcher von der cart. cricoidea
entspringt, nachdem diese schon in den von den Platten der c. thy-
reoidea umschlossenen Raum getreten ist, welches also von innen
nach aussen und zudem ein weniges von unten nach oben und von
vorn nach hinten läuft. Diese Bewegung verschmälert um ein geringes
die Breite des Stimmbandes (?).


γ. Auf die Stimmmembranen ist der m. thyreoarytenoideus so auf-
gelagert, dass er als ein integrirender Theil derselben angesehen wer-
den muss, namentlich erstreckt er sich der Art über die ganze Breite
der Membranen, dass er nur einen sehr schmalen Theil des freien
Randes unbedeckt lässt. Dieser schmale Theil, das Stimmritzenband
der Anatomen, scheint sich als Sehne gegen die mm. thyreoarytenoi-
dei zu verhalten, indem es den Anschein hat, als ob die Muskelfasci-
kel, welche schief gegen den freien Rand treten, hier an der elasti-
schen Masse endeten. Demgemäss dürfte der m. thyreoarytenoideus
abgesehen von anderen Wirkungen dadurch von Bedeutung wer-
den, dass er durch seine Zusammenziehung die Dimensionen (das
Verhältniss der Länge zur Dicke) und den Elastizitätscoeffizienten der
schwingenden Massen ändert. Ob aber der Muskel auch noch durch
Spannungen einzelner Abtheilungen des freien Randes einen Einfluss
auf den Steifigkeitsgrad der ganzen Membran gewinnen kann, bleibt
dahingestellt. —


δ. Schliesslich können die Stimmhäute noch durch einen Luft-
strom, der sie von der Luftröhre her trifft, in Spannung versetzt wer-
den; durch denselben werden die in der Ruhe ebenen Stimmhäute
nach oben in den ventriculus Morgagni hineingewölbt. Der Umfang
dieser Wölbung wird wachsen mit dem Druck, unter welchem die Luft
strömt und mit der Entfaltung der Stimmhaut vor dem Querschnitte der
Luftröhre; diesem letztern Umstand gemäss wird alles Andere gleich-
gesetzt, der Luftstrom von grösserer Wirksamkeit werden, wenn die
Stimmritze durch die mm. thyreoarytenoidei, als wenn sie durch die
mm. cricoarytenoidei laterales gestellt ist, weil dann die Stimmhäute
dem spannenden Luftstrom mehr Fläche darbieten. In der That sieht
man auch am todten Kehlkopf die Stimmhäute durch einen gleichstar-
[423]Bedingungen für die Veränderung der Tonhöhe.
ken Luftstoss sich viel beträchtlicher wölben, wenn man ihnen die
Stellung gegeben, wie sie ihnen durch eine Contraktion des m. thyreo-
arytenoideus zukommt, als dann, wenn man sie nach der durch die
mm. cricoarytenoidei laterales bewirkten Art gestellt hat.


Als Bezeichnungen, welche den Funktionen gemäss den Kehlkopfsknorpeln zu
geben wären schlage ich vor, die cart. cricoidea Grundknorpel, die cart. thyreoidea
Spannknorpel und die cart. arytenoideae Stellknorpel zu nennen.


f. Endlich soll die Anwesenheit des ventriculus Morgagni noth-
wendig sein, wenn ein Ton analog demjenigen, den ein unverletztes,
lebendes Stimmorgan hervorbringt, erzeugbar sein soll. Ueber diesen
Punkt bestehen jedoch entschiedene Controversen; nach Longet
kann ein Thier, nachdem man seinen Kehlkopf gerade über dem untern
Stimmbande durchschnitten hat, nur noch mit ausserordentlich starken
Bewegungen des Brustkastens, wie sie der heftigste Schmerz erzeugt,
einen schwirrenden Ton hervorbringen, selbst bei noch so günstiger
Stellung der Stimmritze. Brachte er dagegen ein passendes Kaut-
schouckrohr über die Stimmbänder, als Ersatz des ventric. Morgagni,
so wurde auch bei geringen Pressungen der im thorax enthaltenen
Luft wieder ein Ton möglich, ähnlich dem normalen des Thieres. —
Im vollkommenen Widerspruch hiemit ist die Beobachtung von Joh.
Müller
am todten Kehlkopf, der bei geringen Pressungen noch Töne
nach Abtragen des ventric. Morgagni erzeugt. Uebereinstimmend mit
diesen letzten Erfahrungen beobachtete auch Mayo noch an einem
Menschen Stimmbildung, der sich gerade über den Stimmbändern mit
Verletzung des einen der beiden, den Kehlkopf durchschnitten hatte.


5. Bedingungen für die Veränderung der Tonhöhe. —
Zur Ermittelung der Veränderungen, welche das lebende Stimmorgan
erfährt, wenn es von den tiefsten zu den höchsten seiner Töne auf-
steigt, sind wir vorzugsweise angewiesen auf die Beobachtung des
unverletzten Menschen, da sich nur selten Gelegenheit bietet einen
Menschen mit freigelegter Stimmritze oder offener Luftröhre zu beob-
achten, und da es vorerst nicht zulässig erscheint die Ergebnisse der
Versuche am todten Kehlkopf unmittelbar als bindend für den lebenden
gelten zu lassen. — Entsprechend diesen unvollkommnen Beobach-
tungsmitteln können wir behaupten: a. Alles andere gleichgesetzt,
steigt der Ton im Allgemeinen mit der Luftspannung in der Trachea,
wie dieses nicht allein aus den mitgetheilten Beobachtungen von
Cagniard-Latour, sondern auch daraus folgt, dass wir die höchsten
der möglichen Töne nur im forte und die tiefsten nur im piano angeben
können. — b. Die Stimmlage steht in Beziehung zur Grösse des Kehl-
kopfs und insbesondere zu seiner Ausdehnung von hinten nach vorn.
Denn die Kinder und Frauen, deren Stimme höher als die der Männer ist,
haben kleinere Kehlköpfe als die letztern; und unter den Männern ge-
hören die kleinsten Kehlköpfe den Tenoristen. Leider sind bisher noch
[424]Bedingungen für die Veränderung der Tonhöhe.
nicht alle Dimensionen des Kehlkopfs gemessen; durch Joh. Müller
ist bekannt, dass die Entfernung zwischen cart. thyreoidea und
arytenoideae bei Männern zu derjenigen bei Frauen sich verhalte
= 3 : 2. — c. Bei dem Steigen der Töne nähern sich die vordern Kan-
ten der cartilagines thyreoidea und cricoidea; dieses fühlen wir wenn
wir einen Finger sanft an den Ort des ligam. cricothyreoideum medium
anlegen. Bei der eigenthümlichen Verbindung der beiden Knorpel be-
deutet dieses aber nichts anderes, als dass hiedurch die untern Stimm-
ritzenbänder und die Seitenwandungen der ventricul. Morgagni in der
Richtung von hinten nach vorn gedehnt und in einen höhern Grad von
Spannung versetzt werden. Nach Longet*) wird auch die Stimme
der Hunde tief und rauh, wenn man ohne anderweite Verletzung den
Nerven der mm. cricothyreoidei durchschneidet. Diese Rauhigkeit wird
aufgehoben, wenn man die genannten Knorpel mit der Pinzette nähert.
— d. Bei dem Emporgehen des Tones tritt der ganze Kehlkopf unwill-
kürlich in die Höhe, beim Sinken des erstern steigt dagegen der letz-
tere herunter, so dass also der Halstheil der Luftröhre in dem einen
Falle gespannt im andern erschlafft wird, und sich zugleich der Luft-
raum über den Stimmbändern bald verkleinert und bald vergrössert. —
Begreiflich lässt sich nun aber weder aussagen, ob diese Veränderun-
gen die einzigen sind, welche beim Tonwechsel an den Stimmorganen
vorgehen, noch ob jede derselben von gleicher Wichtigkeit ist, da es
uns nicht gelingt die einzelnen Vorgänge zu sondern.


Diese lückenhaften Thatsachen hat man durch Beobachtungen am
todten Kehlkopf zu ergänzen gesucht; aus den mit ihm angestellten
Beobachtungen geht hervor, dass an ihm die Tonhöhe abhängig sei
a. von der Spannung der Stimmhäute, in der Art, dass mit dem Wachs-
thum der letztern die erstere steigt; b. von der Ausbreitung der Stimm-
häute von rechts nach links und von hinten nach vorn und zwar so,
dass die Töne sich erhöhen, wenn die Stimmhäute nach diesen Rich-
tungen abnehmen (sich verschmälern und verkürzen). — Unabhängig
ist aber die Tonhöhe von dem queren Durchmesser der Stimmritz-
öffnung, der Länge der Röhren, die an sein oberes und unteres Ende
gesetzt würden und dem Spannungsgrad, welchen man den Wandun-
gen dieser angesetzten Röhren mittheilte.


Die Versuche am todten Kehlkopf haben folgende Ergebnisse geliefert. — a. Lon-
gitudinale Spannung der Stimmhäute; Joh Müller. Man erzeugt dieselben analog der
Wirkung der lebendigen mm. cricothyreoidei durch einen Zug, der von der vordern
Fläche der cartil. thyreoidea gegen die cartil. cricoidea gerichtet ist. Der Ton erhöht
sich bei steigender Spannung der Bänder, gleichgiltig ob die Stimmritze nach Art der
mm. cricoarytenoidei laterales oder der mm. thyreoarytenoidei gestellt ist. Hiebei
werden jedoch die tiefsten der möglichen Töne nur erzeugt bei der letztern Stellung,
wobei die Bänder am meisten erschlafft werden können, während die höchsten der
möglichen Töne nur in der ersteren Stellung zum Vorschein kommen. Der Unter-
[425]Veränderung der Tonhöhe am todten Kehlkopf.
schied den beide Stellungen rücksichtlich der Tonhöhe herbeiführen liegt also darin,
dass in dem einen Falle die Scala tiefer beginnt und früher endet, im andern aber
höher anfängt und auch später schliesst. Eine Anzahl von Tönen können jedoch in
beiden Stellungen hervorgebracht werden, so dass beide Scalen ineinander greifen. —
Der Gesammtumfang der Töne eines erwachsenen Kehlkopfs beträgt über zwei Ok-
taven. Die Töne finden ihre Grenze nach der Tiefe hin früher als die mögliche An-
näherung der cartil. thyreoidea und arytenoidea erreicht ist, und ebenso nach der
Höhe hin ehe die möglichste Entfernung gegeben, indem über einen gewissen Grad
von Ab- und Anspannung hinaus der Ton unrein, brummend oder schreiend, wird. —
Der Entwicklung des Gesetzes der Abhängigkeit zwischen Tonhöhe und spannenden
Gewichten setzen sich theils darum Schwierigkeiten entgegen, weil der durch das
spannende Gewicht herbeigeführte Zug nicht einzig den Stimmbändern zu Gute
kommt in Folge des Widerstandes anderer Theile, insbesondere der Gelenkbänder
und Flächen und theils weil es nicht gelingt anzugeben, um wieviel der Luftstrom,
welcher zum Anblasen gebraucht wird, die Spannung mehrt. Joh. Müller hat nun
durch Versuche gefunden, dass immer nur ein Ton entsteht, wenn auch die beiden
Bänder gleichzeitig besondere Stimmung haben; ferner, dass die Tonhöhe annähernd
steige, wie die Wurzeln der spannenden Gewichte, so dass wenn man das Gewicht
von 4 zu 16 erhöht die Schwingungszahl der Töne um das Doppelte zunimmt; keiner
der von ihm untersuchten Fälle erreicht jedoch den verlangten Werth, indem niemals
bei der beispielsweise angegebenen Gewichtsvermehrung die Oktave, sondern immer
ein etwas tieferer Ton erscheint. — Die Stimmlage des todten Kehlkopfs ist im All-
gemeinen etwas höher als die eines lebenden Stimmorgans von entsprechenden
Dimensionen.


b. Durch Verkürzung der Stimmbänder kann, wenn auch ihre Spannung und die
Stärke des anblasenden Luftstroms dieselbe bleibt, der Ton erhöht werden; diese Er-
höhung ereignet sich also sogleich, wenn man bei sonst unveränderten Umständen
den freien Rand des Stimmbandes mit einem festen Körper berührt, welcher Veran-
lassung zu Schwingungsknoten gibt. Auf diese Weise erklärt sich die dem früheren
scheinbar widersprechende Beobachtung, dass bei möglichster Abspannung der
Stimmhäute der Ton statt sich zu vertiefen höher wird; es hat nämlich in diesem Fall
durch eine gegenseitige Berührung der Stimmhäute die Bildung von Schwingungs-
knoten stattgefunden; Joh. Müller.


c. Ebenso wird der Ton bei sonst gleichbleibenden Verhältnissen erhöht, wenn
man den angewachsenen Theil der Stimmhäute mit Gewichten beschwert, oder die
Platte der cartilago thyreoidea zusammendrückt, so dass nicht mehr die Stimmhaut
in ihrer ganzen Ausdehnung nach der Breite, sondern nur noch mit ihrem freien
Rand schwingen kann; Liscovius. Durch das letztere der beiden Mittel gelingt
es leicht den Ton um mehr als eine Octave zu erhöhen.


d. Verändert man weder die Stellung der Stimmbänder noch ihre spannenden
Gewichte, steigert aber die Stärke des anblasenden Luftstroms, so erhöht sich der
Ton; Ferrein. Das genauere dieses Abhängigkeitsverhältnisses ist nicht bekannt.
Nach J. Müller kann man durch allmälige Steigerung des Anblasens in den Gren-
zen, wie sie dem Lebenden vergönnt sind, den Ton um eine Quinte erhöhen. Diese
Tonsteigerung soll nach dem letzteren Autor davon abhängig sein, dass sich die
Stimmbänder durch eine Wölbung in dem ventriculus Morgagni anspannen.


Der Beweiss, dass die Tonhöhe unabhängig steige und sinke von der Stimmritzen-
weite, ist auf einfache, selbstverständliche Weise zu erbringen. — Die Einflusslosigkeit
der Länge und der Wandspannung der angesetzten Röhren stellt man nach Joh. Müller
am einfachsten dar, wenn man an das Rohr zum Anblasen noch ein Stück menschlicher
Luftröhre und ausserdem zwei ineinander schiebbare Röhren einsetzt; so kann man
ein Stück Wandung an- und abspannen und das Ansatzrohr verkürzen oder verlän-
gern. Diese Unabhängigkeit des Kehlkopfs und insbesondere diejenige von den Län-
[426]Theorie der Stimme.
gen der Ansatzröhren, versetzte denselben in eine Ausnahmsstellung zu den ihm ver-
wandten Instrumenten. Denn an allen Zungeninstrumenten, die in ihrem schemati-
schen Bau eine grosse Aehnlichkeit mit dem Kehlkopf darbieten, kann der ursprüng-
liche von der Zunge abhängige Ton durch allmälige Verlängerung der Ansatzröhren
um eine ganze Oktave vertieft werden. Rinne, der nach der Ursache dieses eigen-
thümlichen Verhaltens forschte, fand, dass dann jedesmal eine Accomodation zwi-
schen dem ursprünglichen Ton im Zungeninstrument und der mit ihm in Ver-
bindung gebrachten umgrenzten Luftsäule fehlt, wenn die Zunge in der Weise in das
angesetzte Rohr eingefügt wird, dass dieselbe dem Ausströmen der in der Röhre be-
wegten Luft keinen besonderen Widerstand entgegensetzt. Diese Accomodation fehlt
also z. B. wenn der Spalt in welchem die Zunge schwingt im Verhältniss zu den Di-
mensionen der Röhre weit geöffnet ist, oder die Zunge auf sehr nachgiebigen Flächen
schwingt. Diese Bedingungen scheinen nun an der Stimmritze, deren begrenzende
Bänder als Zungen aufgefasst werden können, verwirklicht zu sein *)


Von hervorragendem Interesse für die Feststellung der Bedingungen, von wel-
chen die Tonhöhe abhängig ist, würde, seine tadelfreie Ausführung vorausgesetzt, der
Versuch von Liscovius sein, die Stimmbänder des lebenden Menschen mit ei-
nem anderen Gase, als der gewöhnlichen Ausathmungsluft anzublasen. Lisco-
vius
**) der den Versuch mit Wasserstoffgas, das er einathmete, unternahm, fand
eine Veränderung der Tonhöhe seiner Stimme; leider ist aber der Versuch so ange-
stellt zu unvollkommen, da man wegen der Nichtathembarkeit des Wasserstoffga-
ses, dieses ohne zu ersticken nur in kleinen Quantitäten in der Lunge beherbergen
kann. —


6. Zur Theorie der Tonbildung in dem Kehlkopf und
insbesondere zur Bildung der Tonhöhe
. Wenn die durch den
Druck des Brustkastens in Strömung versetzte Luft der Lunge und der
Luftröhre die Befähigung zum Tönen erhalten soll, so muss ihre ur-
sprünglich gleichförmige Geschwindigkeit, wie sie dem constanten
Druck der Brustmuskeln entspricht, in eine rasch veränderliche, perio-
disch steigende und fallende versetzt werden. Diese Umsetzung des
gleichmässigen in einen unterbrochenen oder wellenförmigen Strom
geschieht an der Stimmritze, vorausgesetzt, dass die Stimmhäute eine
Stellung einnehmen, bei welcher sich ein beträchtlicher Theil ihrer
[Ausdehnung] senkrecht auf die Richtung des Luftstroms stellt; mit an-
dern Worten eine Stellung, bei welcher ihre freien Ränder weit in das
Lumen der Luftröhre ragen. In diesem Fall werden sie durch den an-
stossenden Luftstrom gegen den ventric. Morgagni hin bewegt wer-
den und zwar so lange, bis die durch die Ausdehnung ihrer Masse er-
zeugte Spannung das Gleichgewicht hält der zuerst mitgetheilten Stoss-
kraft. In dieser Stellung, welche resultirt aus dem Gleichgewicht des
ursprünglichen Stosses und der elastischen Spannung, sind aber die
Lippen der Stimmritze nicht mehr unter einem rechten Winkel gegen
den Luftstrom geneigt, so dass die Summe der Drücke, welche ihre
Fläche von Seiten der Luft erfährt, geringer geworden, und zugleich
hat sich auch mit der Lagenveränderung der Stimmhäute die Grösse
[427]Theorie der Stimme.
der Stosskraft vermindert, da in der bezeichneten Stellung sich die
Oeffnung der Stimmritze vergrösserte, womit sich auch die Span-
nung der Luft, in Folge des erleichterten Ausströmens verringert. Die
gespannte Stimmhaut wird demnach keinen entsprechenden Widerhalt
mehr von Seiten des Luftstroms finden und in Folge dessen sich wie-
der zurück gegen ihre ursprüngliche Lage hin bewegen; je mehr sie
sich aber derselben nähert, um so günstiger wird sie sich wieder für
den Empfang des Stosses stellen und um so mehr wird sie auch wie-
der die strömende Luft hemmen und spannen, so dass endlich wie-
der die sich entgegenwirkenden Stösse der Elastizität und des Luft-
druckes das Gleichgewicht halten; da nun aber in dieser neuen
Lage die Stimmhaut keine elastische Spannung mehr besitzt, so wird
sie von Neuem durch den Luftstrom gegen den ventric. Morgagni ge-
führt werden u. s. w. — Diese schwingende Bewegung der Stimm-
bänder führt nun eine abwechselnde Hemmung und Beschleunigung
in den Luftstrom, der aus der Trachea in den ventriculus Morgagni
dringt. Da aber dieser Luftstrom innerhalb des Kehlkopfs und ebenso
über und unter ihm von mannigfach vorspringenden Wandungen um-
schlossen ist, so theilt er seine Stösse letztern mit, und da die Wan-
dungen aus elastischen Stoffen gebildet sind, so werden sie durch
diese Stösse in Schwingungen gerathen, welche die Periode der
schwingenden Stimmritzenbänder einhalten. Die Bewegung, die im
ersten Moment die Stimmritzenbänder allein ausführten, verbreitet sich
somit alsbald auf den gesammten Kehlkopf, Luftröhre und Lungen-
wandung und dann wird auf gleichmässige Weise der ganze Luftinhalt
dieser Gebilde erschüttert. Somit wird also im Allgemeinen nicht allein
ersichtlich, dass der aus der Trachea dringende Luftstrom, eine be-
stimmte Stellung der Stimmritzenbänder vorausgesetzt, tönen muss,
sondern dass er wegen vielfacher Resonnanz auch kräftig tönen muss.


Aber nur bis zu diesen Ableitungen, und nicht weiter führen uns
die Thatsachen mit Sicherheit, und darum beginnt auch jenseits der-
selben sogleich die Controverse. — Diese erstreckt sich zunächst
darauf, von welchen besondern Bedingungen die Tonhöhe oder die
Zahl der Schwingungen in der Zeiteinheit abhängig sei. Eine An-
nahme, welche Joh. Müller vertritt, behauptet, dass sich der Luft-
strom den Stimmbändern gegenüber verhalte, wie der Bogen gegen-
über den Saiten eines Streichinstruments. Nach ihm ist nämlich die
Zahl der Schwingungen einzig abhängig von dem Spannungsgrade der
Bänder, so dass wenn dieser letztere unverändert bliebe, sich auch
der Ton gleichbleiben würde, möchte die Stärke des Luftstroms auch
noch so grossen Schwankungen unterworfen sein. — Dieser Behaup-
tung traten früher Liscovius, bevor er sich zu der Müller’schen
Ansicht bekehrte und neuerlichst Longet und Masson mit einer an-
dern entgegen; den wesentlichen Bestimmungsgrund der Tonhöhe
[428]Theorie der Stimme.
finden sie in der Pressung, welche die Luft in der Stimmritze erfährt
und in der Spannung, welche die mitklingenden Gebilde insbesondere
die Wandungen des ventric. Morgagni besitzen. Nach ihnen steigert
sich die Tonhöhe, wenn bei unveränderlicher Stimmbänderspannung
und gleichbleibender Stimmritzenöffnung die Stärke des Luftstroms
wächst, oder wenn bei gleichbleibender Stimmbänderspannung und
unverändertem Luftstrom der Durchmesser der Stimmritzenöffnung
abnimmt. Beide Annahmen, die Müller’sche und Masson’sche, sind
weder zu beweisen noch zu widerlegen.


Von physikalischer Seite her sind beide Annahmen insofern unangreifbar, als
durch beide sich die Möglichkeit der Bildung einer Stimme mit den Eigenschaften
der menschlichen einsehen lässt. — Der Einwand, der sich der Hypothese von J.
Müller entgegnen liesse, ob Häute von so kleiner Ausdehnung, wie die Stimmbänder
befähigt seien eine so vollklingende und so ausgedehnte Tonreihe zu bilden, ist in
der That widerlegt Denn es geben schon kleine Kautschoukplatten, wie sie J. Müller
zur Construktion des schematischen Kehlkopfs anwendete, mehrere Oktaven, ob-
wohl ihre Elastizität diejenige der Stimmbänder in keiner Weise erreicht. Denn
diese letzteren haben nicht allein eine vollkommenere Elastizität, als ein durchfeuch-
teter thierischer Stoff, sondern es steigert sich ihr Elastizitätscoeffizient zugleich mit
der Spannung, so dass diese bei einer sehr geringen Längenausdehnung des Bandes
schon einen sehr beträchtlichen Werth besitzt. — Zur Begründung der andern Vor-
stellung hat Masson*) Versuche von Savart verfolgend, die akustischen Erschei-
nungen untersucht, welche ein Luftstrom bietet, der sich durch eine Oeffnung in einer
Metallplatte drängt. Er fand a. dass wenn die [Luft] durch eine Oeffnung von belie-
biger Form und Grösse tritt, der Strom hinter derselben jedesmal ein wellenförmiger
wird, weil die Ränder der Oeffnung in eine schwingende Bewegung gerathen. b. Die
durch diese Schwingungen erzeugten Töne, welche an und für sich sehr schwach
sind, werden aber sehr voll, wenn man auf die Oeffnung ein Rohr von passender Länge
aufsetzt, dessen Luft in Mitschwingungen geräth c. Der Ton, welchen eine bestimmte
Oeffnung und ein bestimmtes Rohr geben, bleibt unverändert, wenn sich die Stärke
des Luftstroms innerhalb enger Grenzen ändert, mit einer weitern Steigerung der
Stromstärke erhöht sich der Ton. d. Jede noch so kleine Verbiegung der Ränder
der Oeffnung oder der Platte, durch welche der Luftstrom tritt, verändert so-
gleich die Tonhöhe, welche derselbe Luftstrom vorher gab. e. Röhren mit häutigen
Wandungen verstärken den Ton viel beträchtlicher, als solche von Holz und Metall;
ist man im Stande den Wandungen wechselnde Spannungen zu ertheilen, so kann
dasselbe Rohr, durch dieselbe Oeffnung angeblasen, die mannigfaltigsten Töne
geben, und zwar steigt mit der Spannung der Röhrenwand die Tonhöhe. f. Ebenso ist
ein beträchtlicher Tonwechsel möglich, wenn man innerhalb des Rohres die Grösse
der mitschwingenden Luftsäule durch theilweise Verstopfung des Rohrs veränder-
lich machen kann. g. Die Drücke, welche der Luft mitgetheilt werden müssen, um
an einem solchen Apparat Töne zu erzeugen, sind immer sehr niedrig. So erhielt
Masson aus Oeffnungen von 2 bis 7 M. M. Durchmesser, die in Platten von 3 bis
5 M. M. Dicke gebohrt waren, eine Tonreihe, die neun Oktaven umspannte, wäh-
rend der Druck von 2 bis 100 M. M. Wasser wechselte.


Hält man nun die am todten und lebenden Kehlkopf aufgefundenen Thatsachen
mit den Bedingungen und Anforderungen dieser beiden Vorstellungen zusammen, so
passen sie mehr oder weniger für beide. So spannen sich z. B. in der That mit einem
Steigern der Tonhöhe die Stimmbänder, wie es Müller verlangt, zugleich aber mehrt
sich der Masson’schen Hypothese entsprechend die Spannung der resonnirenden
[429]Brust- und Fistelstimme.
Gebilde. — Ferner steigt mit der Stärke des Luftstroms, vorausgesetzt, dass der
Contraktionsgrad der Muskeln derselbe blieb, die Stimme, wie es Masson verlangt,
zugleich aber spannt auch der stärkere Luftstrom die Stimmbänder mehr an. Nach
Longet soll die Stimme der Thiere nach Abtragung des Morgagnischen Ventrikels
im wahren Wortsinn verschwinden, indem sie dann nur noch unter heftigen Anstren-
gungen einen einzigen explosiven Ton zu erzeugen vermöge; mit dieser Thatsache
steht es aber in direktem Widerspruch, dass ein ausgeschnittener Kehlkopf des
Menschen an dem man die oberen Stimmbänder abgetragen, noch zur Stimmbildung
befähigt ist u. s. w.


Zur vollendeten Bestätigung der Ansicht von Joh. Müller, würde es nöthig
sein, das empirisch gefundene Abhängigkeitsverhältniss zwischen Tonhöhe und
spannenden Gewichten, als eine nothwendige Folge der eigenthümlichen Elastizität
der Stimmbänder und ihrer besonderen Art der Aufhängung zu erweisen, und zugleich
müsste allgemein gezeigt werden, dass sich die über und unter dem Stimmband
liegende Luft und Bandmasse am lebenden Kehlkopf nicht wesentlich an der Erzeu-
gung und Bestimmung der Tonhöhe betheiligen. — Die Annahme von Masson dürfte
dagegen erst als feststehend anzusehen sein, wenn beim Gleichbleiben der Oeffnung
der Stimmritze, der Spannung der Bänder und der Stärke des Luftstroms der Ton
sich erhöhte mit steigender Spannung der Wandungen des ventriculus Morgagni; oder
wenn bei Unveränderlickeit in der Spannung der Stimmbänder und der Ventrikel-
wände die Tonhöhe wüchse mit dem abnehmenden Durchmesser der Stimmritzen-
öffnung. Masson müsste auch darthun wie es zu erläutern sei, dass dieser Einfluss
der Weite der Stimmritze am todten Kehlkopf, wie dieses Müller gezeigt, fehlen
und am lebenden vorhanden sein könne u. s. w. Keinenfalls aber darf der Ausspruch
unterlassen werden, dass bei der gegenwärtigen Sachlage die Annahme von Müller
das Uebergewicht über die andere hat, indem es gelingt aus derselben die Erschei-
nungen am lebenden und todten Kehlkopf vollkommen zu erklären.


7. Bedingungen für die Bildung der Brust- und Fistel-
stimme; Theorie derselben
. Die Beobachtungen über die Vor-
gänge in den Stimmwerkzeugen beim Uebergang der Töne aus dem
einen in das andere Register bestehen darin: dass bei der kräftigen
Bruststimme, niemals aber bei der Fistelstimme, die Wandungen des
ganzen Brustkorbes in ein fühlbares Mitschwingen gerathen; ein Um-
stand, der darauf hindeutet, dass sich bei ihrer Bildung dem Luftstrom
eine beträchtliche Hemmung an der Stimmritze entgegensetzt. In
Uebereinstimmung hiermit gibt Garcia*) an, dass bei gleicher An-
füllung des Brustkastens mit Luft dieselbe Note gleichlaut gesungen
im Brustton länger gehalten werden könne, als im Fistelton, mit an-
dern Worten bei Anwendung des ersten Registers entweicht die Luft
nicht so leicht als bei Benutzung des zweiten. Ausserdem ist noch
bekannt, dass dem Gefühl des Sängers nach die Kehlkopfsmuskeln bei
der Bruststimme angestrengter sind als bei der Fistelstimme.


Bei der Unmöglichkeit weitere direkte Aufschlüsse zu erlangen,
hat man sich auch hier zu den Versuchen an dem todten Kehlkopf ge-
wendet und dabei erfahren: a. Am todten Kehlkopf sind die beiden
Stimmarten zu erzeugen und zwar mit einem Klang, der selbst nach
dem Urtheil von gebildeten Sängern demjenigen der lebenden mensch-
[430]Brust- und Fistelstimme.
lichen Stimme sich sehr annähert. — b. Fisteltöne entstehen auf dem
todten Kehlkopf, wenn sichtlich nur die freien Ränder der Stimm-
membranen schwingen, während wenn die letztern in ihrer ganzen
Ausdehnung vibriren der Brustton erscheint; Lehfeldt. — c. Der
Mechanismus, der die Möglichkeit herbeiführt, dass die Stimmhäute in
ihrer ganzen Ausdehnung schwingen, scheint gegeben zu sein, wenn
der m. thyreoarytenoideus die Stimmritze stellt, wodurch die Stimm-
häute möglichst in das Lumen der Luftröhre hineingezogen werden;
wenigstens erscheint nach Müller und Liscovius die Bruststimme
am angeblasenen todten Kehlkopf, wenn man die Stimmritze so stellt,
wie sie voraussichtlich am lebenden durch den erwähnten Muskel ge-
formt wird. Die freien Ränder der Stimmbänder schwingen dagegen
für sich, wenn man die Stimmritze auf die Weise, wie sie im Leben
wohl durch die Zusammenziehung der mm. cricoarytenoidei dargestellt
wurde, formt.


Diese Beobachtungen am todten und lebenden Stimmorgan finden
sich, so weit unsere Einsicht reicht, in voller Uebereinstimmung mit-
einander: 1) die Brusttöne sind die tieferen des mensehlichen Stimm-
umfangs entsprechend der Behauptung, dass sie gebildet werden bei
der durch die Zusammenziehung der mm. thyreoarytenoidei erzeugten
Stellung der Stimmbänder; denn dieser Muskel wirkt erschlaffend auf
das Stimmband. — 2) Bei der Bruststimme geht alles übrige gleichge-
setzt, weniger Luft verloren und in der That ist auch bei der angege-
benen Stellung der Stimmbänder, wobei die Stimmritze enger ist, der
Luft ein grösseres Hinderniss gesetzt.


Neben diesen von Lehfeldt, Liscovius*) und Joh. Müller**) ausgespro-
chenen Annahmen, haben noch Andere wie Petrequin nnd Diday***); Segond†);
Savart; Longet und Masson‡) Angaben über den bei der Fistel- und Brust-
stimme bestehenden Vorgang gemacht; dieselben sind jedoch, insofern sie nicht ganz
widerlegt sind, nur mehr oder weniger annehmbare physikalische Probalitäten.


Petrequin und Diday erläutern die Bruststimme übereinstimmend mit Joh.
Müller
, die Fistelstimme soll dagegen in nichts anderm als in einer Schwingung der
Luft in der Luftröhre und dem Kehlkopf, ohne Beihülfe irgend einer Bandschwingung
bestehen. Ihr ganzer Beweis ruht darauf, dass die Fistelstimme einen flötenartigen
Klang hat. — Longet und Masson behaupten, dass in der Bruststimme die Luft
der Luftröhre und des Kehlkopfs im Zusammenhang schwinge, dass aber in der Fis-
telstimme sich in der Stimmritze ein Schwingungsknoten bilde, so dass die Luft
in zwei gesonderte schwingende Abtheilungen zerfalle. — Segond, welcher, auf
Vivisektion an Katzen gestützt, angab, dass die Fistelstimme erzeugt werde durch
Schwingungen der oberen Stimmritzenbänder, ist von Longet widerlegt worden.


8. Mittönende Stimmwerkzeuge. Die Luft der Lunge, Luft-
röhre, Rachen-, Mund- und Nasenhöhle und die elastischen Wände die-
[431]Compensation am Stimmorgan.
ser Höhlen üben einen Einfluss auf Klang und Stärke, keinen aber auf
die Höhe des Tons. Der Beweis dafür, dass sie nur mitklingen, lässt
sich auf zahlreiche Weise geben; so ändert sich die Höhe eines ange-
gebenen Tons nicht beim Oeffnen und Schliessen des Mundes. Der Ton
nimmt an Höhe nicht zu mit der steigenden Verminderung der Luft in
der Brusthöhle beim Ausathmen u. s. w. Dagegen verliert er an Klang
und Stärke wenn die Lunge, Rachen-, Nasen- und Mundhöhle patholo-
gische Veränderungen erleiden, ebenso wenn der Kehlkopf verknö-
chert u. s. w. —


Die erwähnten Luftbehälter sind bekanntlich mit Muskeln verse-
hen, durch welche theils das Volum ihres Inhalts und theils die Wand-
spannung veränderlich wird. An einigen dieser Apparate sind die
Nerven dieser Muskeln in eine ähnliche Beziehung zu den wesentli-
chen Stimmwerkzeugen gesetzt, wie wir sie auch anderswo z. B. an
den Augenmuskeln und der Iris finden; unwillkürlich tritt nämlich mit
der Erregung der einen Muskelabtheilung auch die einer andern auf. In
einer solchen Verkettung mit den eigentlichen Stimmmuskeln, [die sich
nur zwischen den Kehlkopfknorpeln her erstrecken] scheinen zu
stehen mm. thyreohyoidei, sternohyoidei (?) sternothyreoidei, leva-
tores palati mollis, azygos uvulae. — Namentlich nähert sich beim
Erhöhen des Tons der Kehlkopf dem in seiner Lage verharrenden
Zungenbein und es zieht sich zugleich das Zäpfchen bis zum Ver-
schwinden in den Vorhang; Valentin*). Umgekehrt aber steigt
der Kehlkopf herab, wenn sich der Ton vertieft; der ganze Umfang
dieser Kehlkopfsbewegung beträgt von einem halben bis zu einem
ganzen Zoll.


Zudem sind wir aber noch willkürlich die Resonnanz zu modifici-
ren im Stande je nach der Stellung, die wir den Lippen, den Zähnen,
der Zunge, dem Gaumenbogen u. s. w. geben.


9. Vergleichung des Kehlkopfs mit nahe stehenden musikalischen
Instrumenten; Compensation am Stimmorgan. Offenbar steht
unser Kehlkopf unter allen Instrumenten keinem so nahe, als der Zun-
genpfeife (Hoboe, Clarinette, Zungenpfeifen der Orgel etc.) In diesen
dringt, wie im Kehlkopf, ein Luftstrom gegen eine elastische Platte,
welche hierdurch in Schwingungen versetzt wird; in beiden Fällen
ist die Platte so gegen den Luftstrom gestellt, dass sie den Stoss des-
selben je nach der Richtung ihrer Schwingung bald mehr und bald
weniger zu hemmen im Stande ist; in beiden Instrumenten wird die
Höhe des Tons wesentlich bestimmt durch die Zahl von [mehr oder
weniger vollkommenen] Unterbrechungen, welche der Luftstrom bei
seinem Hergang an der elastischen Platte durch die Schwingungen
derselben erleidet. — Das Stimminstrument zeichnet sich aber durch
[432]Motorische Nerven der Stimmwerkzeuge.
folgende bemerkenswerthe Eigenschaften vor den gewöhnlichen Zun-
genpfeifen aus. — a. Die schwingende Platte ist keine metallene, son-
dern eine elastische Membran; weil diese im normalen (ungespann-
ten) Zustand einen niedrigen Elastizitätscoeffizienten besitzt, bei Aus-
dehnungen aber die Spannungen zwischen den Molekeln der Membran
sehr rasch wachsen, so ist es möglich Schwingungen von sehr ver-
schiedener Dauer in ihr zu erregen, ohne dass die Länge der Membran
beträchtlichen Wechsel bedürfte. — b. Das Stimmorgan besitzt verschie-
dene Mittel zur Veränderung der Tonhöhe, wodurch ihm ein akustisches
Ausgleichungsvermögen in einem Grade und einer Ausdehnung zu-
kommt, wie es keinem andern Zungeninstrumente eigen ist. Viele In-
strumente zeigen bekanntlich die Eigenthümlichkeit beim starken An-
spruch (heftigem Blasen oder Streichen) einen Ton von grösserer
Höhe zu geben, als bei schwachem Anspruche. Dieser Uebelstand der
das Anschwellen eines und desselben Tones vom piano zum forte un-
möglich macht, kann durch verschiedene Mittel ausgeglichen (compen-
sirt) werden. — In der That gelingt nach W. Webers Vorschriften auch
die Compensation an Zungenpfeifen aber nur dann, wenn man die Zun-
genpfeife für einen einzigen Ton einrichtet; hieraus folgt aber die wei-
tere Störung, dass ein Instrument aus gerade so viel Röhren zusammen-
gesetzt sein muss, als es Töne erzeugen soll *). — Einer viel grösseren
Vollkommenheit der Compensation erfreut sich nun das Stimmorgan,
indem es innerhalb weiter Grenzen durch stetige Correktur zweier
spannender Einflüsse jede Tonhöhe bei jeder Luftstärke erzeugt. Die
Einflüsse, welche hier compensirend auftreten sind die Stärke des
Luftstosses und die Grösse der Muskelcontraktion, in der Art, dass
wenn ein Ton allmälig stärker oder allmalig schwächer angegeben wer-
den soll, die Muskeln in ihrer Contraktion allmälig steigen oder nachlas-
sen, so dass in diesem Fall durch die Muskeln und durch Anblasen
gleichzeitig eine Spannungsänderung erwirkt wird, die von gleichem
Werth ist, aber im umgekehrten Sinn liegt. — Alle Töne mit Ausnahme
der tiefsten und höchsten können unter den Einflüssen dieser compen-
sirenden Mittel ab- und anschwellen.


10. Motorische Nerven der Stimmwerkzeuge, Reflexe auf die-
selben **).


Die Muskeln des Stimmapparats sind, wie aus dem Vorhergehen-
den erhellt, sehr zahlreich und auf mannigfache Weise an unserem
Körper vertheilt. Ein grosser Theil derselben, wenn nicht alle, sind
[433]Nerven der Stimmhautsteller und Spanner
dafür berechnet, neben der Stimmbildung noch andere Funktionen zu
erfüllen, und namentlich sind sie theils Schling- und theils Athemmus-
keln. Diese Häufung der Funktionen, welche in ganz verschiedener
Stellung zum Hirn und Rückenmarke stehen, macht es wahrscheinlich,
dass die Muskeln behufs der Stimmbildung durch Nerven erregt wer-
den, die aus andern Hirntheilen entspringen als die, welche Athem-
und Schlingbewegung einleiten. — Diese Vermuthung erhält daran
eine Stütze, dass die Muskeln der Stimmritze in der That Nerven, die
in ursprünglich verschiedenen Bahnen verlaufen, empfangen, und sie
wird fast zur Gewissheit durch die pathologische Beobachtung. Diese
letzte lehrt nämlich, dass in Folge von Hirnkrankheiten und zwar ohne
irgend eine weitere Störung der Lebenserscheinungen, die bisher vor-
handene und wohlausgebildete Fähigkeit der Tonbildung erlöschen
kann. Die hier in Frage kommenden Kranken können dann noch will-
kürlich und unwillkürlich die Athem- und Schlingbewegungen ver-
richten, sie können dagegen weder willkürlich noch unwillkürlich eine
Stimme bilden.


a. Nerven der Stimmhautsteller und Stimmhautspanner.


Die Stimmhautsteller und namentlich mm. thyreoarytenoidei, crico-
arytenoidei postici und laterales, arytenoidei proprii erhalten ihre Ner-
ven zunächst aus dem ram. recurrens n. vagi, während der m. crico-
thyreoideus denselben aus dem ram. laryngeus sup. empfängt. Nach
Bischoff treten durch den n. accessorius die Nervenfäden aus dem
Hirn, welche für die Muskeln zur Stellung und Spannung der Stimm-
ritze bestimmt sind; denn er beobachtete nach Durchschneidung aller
Wurzelfäden dieses Nerven in der Schädelhöhle vollkommenen Verlust
der Stimme. Seine Angaben bestätigt Longet. Volkmann spricht
dagegen den Vaguswurzeln einzig und allein die Beherrschung der
kleinen Kehlkopfsmuskeln zu. Diesen Widerstreit vereinigt Bernard
dahin, dass er behauptet es verbreiteten sich im ram. laryng. inferior
Nervenröhren, welche ursprünglich in den Wurzeln des n. vagus und
n. accessorius W. lagen; während zu dem m. cricothyreoideus nur
Nerven aus den Wurzeln des n. accessorius treten sollen.


Bernard behauptet in Uebereinstimmung mit Bischoff, dass dem n. acces-
sorius die Stimmbildung obliege; nach Ausrottung dieses Nerven beobachtete er
nicht allein vollkommene Stimmlosigkeit, sondern auch Unfähigkeit die Stimmritze
in einem solchen Grad zu schliessen und ihre Umgrenzungen so zu spannen, wie es
die Stimmbildung erfordert. — Ob hierdurch, wie Bernard glaubt, der Beweis dafür
geliefert ist, dass der n. accessorius nur Stimmnerv sei, ist um so unwahrschein-
licher als auch beim Schlingen die Stimmritze nicht mehr in normaler Weise ge-
schlossen werden konnte. — Möglicher Weise waren in den von ihm beobachteten
Fällen Stimmritzenverengerer und Spanner vollkommen gelähmt, indem die geringen
Verengerungen der Stimmritze, die er als vorhanden angibt, von elastischen Wirkun-
gen, Luftstössen etc. abhängig waren.


b. Die Nerven für die Muskeln der tonverstärkenden Apparate. —
In das Gaumensegel geht nach früherem n. accessorius und n. va-
Ludwig, Physiologie I. 28
[434]Nerven der Resonnanzapparate.
gus gleichzeitig; wie sie sich in die Funktionen die dieser Falte zu-
kommen theilen, ist unbekannt. — Mm. thyreohyoideus und sternothy-
reoideus empfangen ihre Zweige aus dem ram. descend. hypoglossi;
wahrscheinlich also aus Halsnerven und Hypoglossuswurzeln gleich-
zeitig.


c. Die Nerven für die Stimmmuskeln des Brustkorbs. — Die Ex-
spirationsbewegungen, deren wir uns bei der Stimmbildung bedienen,
zeichnen sich durch ihre grosse Dauer aus, während die gewöhnliche
Exspiration sehr rasch beendet ist. — Dieser Modus kann begreiflich
entweder durch einen sehr allmäligen Nachlass der Einathmungsmus-
keln bedingt sein, so lange sich der Brustkorb bis zu dem Raum ver-
engert, den er gemäss seiner natürlichen Elastizität einnimmt, oder
durch eine sehr allmälige Contraktion der Exspirationsmuskeln, wenn
er sich über diese Grenze noch verengern soll. Ob für diese Modifi-
kation der Exspirationsbewegung besondere Nerven vorhanden?


Bernard bezeichnet die mm. cucullaris und sternocleidomastoideus als Brust-
stimmuskeln und demgemäss als Bruststimmnerven den n. accessorius Willisii,
welcher in diese beiden Muskeln eingeht. Dieser dürfte aber keinenfalls der gewöhn-
liche Bruststimmnerv sein, da sich nur ausnahmsweise diese beiden Muskeln an einer
Exspirationsbewegung betheiligen. —


Die reflektorischen Beziehungen unseres Apparates sind wegen
der innigen und ganz eigenthümlichen Seelenwirkungen auf densel-
ben schwer zu ermitteln, jedenfalls aber dürfte das Aussprechen des
Zweifels am Platz sein, ob jede in Folge der Erregung sensibler Ner-
ven auftretende Stimme ein Beweiss dafür sei, dass die Seele einen
Empfindungseindruck empfangen habe.


Sprache.*)

Die akustischen Eigenthümlichkeiten der Sprache unterscheiden
sich weit ab von denen der Stimme. Während das Gebiet der letzteren
durch eine musikalische Tonreihe dargestellt wird, besteht die Sprache
aus einer Zahl von besonderen Klangarten oder besser Geräuschen;
das Stimminstrument könnte darum mit vollkommenem Recht ein mu-
sikalisches genannt werden, das Sprachinstrument ist dagegen
ein ganz eigenthümlicher akustischer Apparat, der von den Wirkun-
gen, welche die Schwingungszahlen der Töne erzeugen, ganz absieht,
und zu seinen Leistungen nur das Beschleunigungsgesetz (die Form)
der Schallwellen benutzt. Die Sprachlehre hat nun diese einzelnen
Geräusche, aus denen die Sprache zusammengesetzt ist, zu ermitteln
gesucht und mit besondern Schriftzeichen bezeichnet; die Buchstaben
sind also gleichsam die Noten der Sprache, welche aber hier keine
Tonhöhen, sondern Tonfärbungen andeuten.


[435]Sprache.

1. Allgemeine Bedingungen zur Spracherzeugung.


Die Sprache oder besser die einzelnen zur Sprache gehörigen
Laute werden erzeugt, indem die vom Brustkasten eingesogene oder
ausgestossene Luft durch die Mund- oder Nasenhöhle hindurchstreicht,
während die einzelnen beweglichen Theile derselben, Lippe, Unter-
kiefer mit der Zahnreihe, Zunge, Gaumen eine gewisse Stellung ein-
genommen haben oder einzunehmen im Begriff sind. In diesem Sinne
bezeichnen die Buchstaben auch gewisse Stellungen der Mundtheile
während eines durch dieselben dringenden Luftstroms.


Die allgemeine physiologische Aufgabe, welche sich nach dieser
Mittheilung stellt, bestünde darin, anzugeben, welche Geräusche mit-
telst der erwähnten Hilfsmittel erzeugt werden können, und welche
Beziehungen zwischen den erzeugten Geräuschen und den erzeugen-
den Hilfsmitteln bestehen, d. h. warum mit Nothwendigkeit den Stel-
lungen der Mundtheile die hervorgebrachten Laute entsprechen. In
dieser allgemeinen Form ist aber unsere Aufgabe bei dem niedrigen
Stand der akustischen Fundamente noch nicht angreifbar. Man be-
gnügt sich damit, empirisch zu ermitteln, welche Veränderungen der
Sprachwerkzeuge zur Erzeugung der beschränkten Zahl von Lauten
nothwendig sind, welche die Sprachen zur Bildung ihrer Worte be-
nutzen. — In diesem beschränkten Sinne werden wir nun ebenfalls un-
sere Mittheilungen halten müssen, die unter allen Umständen schon
darum etwas sehr scwankendes haben, weil für den einzelnen
Laut der betreffenden Sprache die akustische Bestimmtheit fehlt, in-
dem er von verschiedenen Menschen verschieden ausgesprochen wird.


Die Sprachbildung ist unabhängig von der Stimmbildung im Kehl-
kopf, kann aber mit ihr in Combination treten; Flüstern und Lautiren.


Bekanntlich können wir beim Ausstossen der Luft, wenn die
Stimmritzenbänder so gestellt sind, dass sie keinen Ton angeben,
sprechen; die einzelnen hier gebildeten Geräusche sind vollkommen
distinkt, die aus ihnen zusammengesetzten Worte vollkommen ver-
ständlich, aber die Sprache ist klanglos, flüsternd. Der besondere
Beweis, dass in diesem Fall der Kehlkopf keinen Theil an der Sprache
nimmt, liegt darin, dass dieselbe mit gleichen oder wenigstens sehr
ähnlichen akustischen Eigenschaften auch beim schwachen Einziehen
der Luft, wobei der Kehlkopf gar keinen Ton zu geben im Stande ist,
gebildet werden kann. Diese Art zu sprechen, benützen wir nur aus-
nahmsweise, gewöhnlich aber erzeugen wir die Sprache gleichzeitig
mit Sprech- und Stimmwerkzeugen, so dass der gehörte Laut eine re-
sultirende Schallbewegung aus den Wirkungen beider wird. Dass
hier aber wiederum die Sprachwerkzeuge den bestimmenden, den
Laut charakterisirenden Einfluss üben, ergibt sich daraus, dass wenn
wir alle Laute bei derselben, oder umgekehrt einen Laut bei sehr ver-
schiedenen Tonhöhen sprechen, die Sprache nichts von ihrer Verständ-
28*
[436]Bildung der Buchstaben.
lichkeit verliert, wie uns eintönige Gespräche und tonreiche Lieder
beweisen.


2. Bedingungen zur Bildung der einzelnen Laute; Buchstaben.


Bei der Bildung eines möglich reinen a nähern sich Kehlkopf und
Zungenbein durch Erhebung des erstern, die Zunge legt sich auf den
Boden der Mundhöhle, die Mundöffnung kann eine beliebige Form an-
nehmen, doch darf sie nicht zu weit und nicht zu einer runden Oeff-
nung verengert sein. — Bei e erhebt sich das Zungenbein, die Zunge
wird dem harten Gaumen mehr genähert; alles Andere wie bei a. —
Bei i tritt das Zungenbein noch höher und nach vorn, der Kanal zwi-
schen Zunge und hartem Gaumen wird noch mehr verengert. Alles
Andere wie bei e und a. — Bei o ist der Kehlkopf dem Zungenbein
weniger genähert als bei a, e und i. Die Zunge hinten gehoben, vorn
flach, die Mundöffnung bei vorgeschobenen Lippen in Form eines run-
den Loches verengt. — Bei u steht das Zungenbein so hoch als bei a
und nach vorn wie bei i, der Raum zwischen Zungenbein und Kehl-
kopf ist aber wegen der Senkung des letzteren vergrössert, die Zunge
ist dem Gaumen hinten stärker genähert als bei o, vorn liegt sie flach
und die Mundöffnung bildet ein rundes Loch, welches noch enger als
bei o ist.


Diese fünf Buchstaben stellen die von den Grammatikern so
genannten reinen Vokale der germanischen und romanischen Spra-
chen dar. — Diese Sprachen bedienen sich ausserdem noch Modifi-
kationen derselben, welche hervorgehen a) aus den Stellungen der
Mundtheile, die in der Mitte liegen zwischen einem der reinen Vokale.
Hierher gehören Laute, die von dem durchziehenden Luftstrome gebildet
werden, nachdem die Sprachwerkzeuge eine Stellung zwischen e und
a, a und o, i und u, e und o und endlich zwischen a, o und e ange-
nommen haben. b) Bei der den Vokalen entsprechenden Veränderung
in der Stellung des Kehlkopfs, des Zungenbeins und der Zunge wäh-
rend unveränderter, in allen Fällen mässig geöffneter Mundhöhle ent-
stehen die sogenannten unvollkommenen Vokale (Vokale der Englän-
der). c) Aus der den Vokalen entsprechenden Veränderung der Rachen-
und Mundtheile mit einer solchen Stellung des Gaumensegels, dass
die Luft zugleich durch Mund- und Nasenhöhle streichen kann, bilden
sich die Vokale mit Nasenton. Für diese Modifikation ist also die
Resonnanz der Luft in der Nasenhöhle charakteristisch. d) Gehören zu
der Modifikation der Vokale die sogenannten Diphthonge, welche
durch den vorbeiziehenden Luftstrom gebildet werden, während
die Sprachwerkzeuge aus der Stellung für einen Vokal in den andern
übergehen.


Im Vorhergehenden ist der Verabredung gemäss nur die Bildung der Vokale
erwähnt, wie sie der Sprache geläufig ist. Sie lassen sich aber noch auf mannigfache
Weise bilden; namentlich beim Einziehen sowohl, als beim Ausstossen der Luft, und
dann auch während die Zunge aus dem Mund gestreckt und in dieser Stellung auf die
[437]Bildung der Buchstaben.
mannigfachste Weise verbogen wird. — Diese Bildungsweisen sind für die Theorie
sehr bemerkenswerth, weil daraus hervorgeht, dass sie ebenso gut, wie alle andern
Buchstaben in dem Mund, resp. in der Rachenhöhle nicht aber in dem Kehlkopf
entstehen. Die verschiedenen Versuche die Sprache des Menschen mittelst
mechanischer Apparate nachzuahmen, haben namentlich auch auf verschiedene
Methoden der Vokalbildung geführt. Die ältern bahnbrechenden Beobachtungen von
Kempelen und Kratzenstein sind von Willis sehr vervollkommnet, welcher
darthut, dass man ebensowohl, wenn man auf ein Zungeninstrument mit frei durch-
schlagender Zunge einen flachen Trichter setzt und dessen Oeffnung immer weiter
verschliesst, der Reihe nach die Vokale i, e, a, o, u erhält, als wenn man an dieses
Zungeninstrument ein Ansatzrohr setzt. Bei allmäligem Verlängern dieses Ansatz-
rohres treten die Vokale wieder in der Reihe i, e, a, o, u auf; erreicht das Ansatz-
rohr ein ¼ oder ein vielfaches vom ¼ der Wellenlänge des Tons, welchen dies
Zungeninstrument gibt, so tritt ein Wendepunkt ein, indem nun die Vocale bei stei-
gender Verlängerung in umgekehrter Ordnung u, o, a, e, i erscheinen. Diese Erfah-
rung hat die Phonetiker bestimmt, die erwähnte Reihenfolge der Vokale die natür-
liche zu nennen. — Brücke hält diese künstlichen Bedingungen der Entstehung mit
den natürlichen insofern übereinstimmend, als hier, wie dort die Reihe von i zu a
aufsteigend erhalten wird durch allmälige Verlängerung des Ansatzrohrs, und a und
o zu u durch allmälige Verengung der Ausflussöffnung für die Luft sich bildet. Er
findet dagegen noch die Art wie beim Sprechen die Zungenstellung auf die Vokal-
bildung wirkt, räthselhaft. —


Den bisher beschriebenen Lauten steht das h insofern nahe als
hier wie dort bei der Bildung der Mundkanal ziemlich weit offen bleibt.
Ler Laut h (die aspirata) kann in der That auch mit allen Vokalen
gleichzeitig gebildet werden; der Unterschied der Vokale und des h
in Bezug auf ihre Entstehung scheint einzig in dem Modus der Luft-
strömung zu bestehen, so dass bei h der Luftstoss plötzlicher und
rascher durch die zum Vokal gestellten Mundtheile hindurchfährt als
bei a, e, i, o, u.


Die Bildung der noch übrigen Laute unseres Alphabets zeigt die
Uebereinstimmung, dass die Luft auf dem Wege von der Stimmritze
bis zur Mundöffnung einen Verschluss oder eine beträchtliche Ver-
engerung findet, wesshalb sie im Vorbeiströmen ein auffallendes Ge-
räusch bildet, während die Stellung des Zungenbeins zum Kehlkopf
keine oder nur unwesentliche Veränderungen erfährt. Man hat sie
darum immer auch vorzugsweise als Mundlaute betrachtet. — Nach
Brücke kann man sie je nach dem Ort, an welchem sich der Verschluss
oder die Verengerung bildet, in drei Gruppen zerfällen, an deren
Spitzen die von der Grammatik her bekannten mutae p, t, k stehen.


Die erste Gruppe besteht aus p, b, f, v, w, m; den Verschluss oder
die enge Mündung bilden Lippe mit Lippe oder eine der beiden Zahn-
reihen mit den Lippen. — p wird durch ein plötzliches Oeffnen oder
Schliessen der vorher festgeschlossenen oder geöffneten Lippen er-
zeugt (z. B. in pa und ap), während ein Luftstrom aus dem Kehlkopf
gegen die Mundöffnung dringt; es kann auch mittelst raschen Oeffnens
der durch Zähne und Lippen geschlossenen Mundhöhle bei Vorhanden-
sein des erwähnten Luftstroms erzeugt werden. Der Buchstabe kann
[438]Bildung der Buchstaben.
nicht mit einem Ton verbunden werden. — Bei b ist alles dem p gleich,
nur sind die verschliessenden Lippen weniger energisch gespannt
und der Verschluss oder das Oeffnen geschieht allmäliger. Aus die-
sem Grund kann mit ihm ein Tönen verbunden sein. Kempelen und
Brücke stellen darum die Charakteristik von p und b folgender-
massen: p bedeutet Absperrung des Nasenkanals und geschlossene
Lippen bei erweiterter Stimmritze; b dagegen Absperrung des Nasen-
kanals und geschlossene Lippen bei zum Tönen verengerter Stimm-
ritze. — f wird gebildet indem wir eine Lippe an die entgegengesetz-
ten Schneidezähne lose auflegen und einen Lufstrom hindurchsenden;
v (gleich einem milden f) indem wir die Lippen lose aufeinander legen,
so dass eine kleine Oeffnung bleibt, durch die wir hindurchblasen; w
aber dadurch, dass wir, während wir die Stellung der Lippen zum f
oder v beibehalten, die Stimme mittönen lassen. Das m entsteht
schliesslich, wenn man die Lippen wie zum b stellt und die Luft mit
tönender Stimme zur Nase hinausströmen lässt.


Die zweite Gruppe umfasst t, d, ein hartes und ein weiches s, l,
n
. Für diese bildet die Zunge den Verschluss oder die enge Oeffnung
mit den Schneidezähnen oder dem vorderen Theil des harten Gau-
mens. — t ist also ein stummer Laut, der gebildet wird während dem
Luftstrom ein Ausweg geöffnet oder verschlossen wird durch Anstem-
men der Zunge gegen Schneidezähne und Gaumen (ta oder al). —
d entsteht aus t wie p aus b, nur mit dem Unterschied, dass hier die
Zunge statt der Lippen allmälig bei tönender Stimmritze den Ver-
schluss öffnet. Das harte s bildet sich, wenn bei der dem t zuge-
hörigen Zungenstellung eine kleine Spalte geöffnet und durch diese
die Luft gestossen wird; das harte s aber geht in ein weiches s über,
wenn man gleichzeitig die Stimme mittönen lässt. — Das l entsteht,
wenn man den Verschluss mit der Zunge vorn wie bei t festhält, da-
gegen hinten neben den Backzähnen beiderseitig eine kleine Oeffnung
lässt, durch welche die Luft hindurchstreicht. Wird endlich die Zunge
wie zum d gestellt und bei tönender Stimmritze die Luft zugleich
durch die Nase getrieben, so entsteht n.


In die dritte Gruppe gehören k, g, ch, j und das sogenannte Gau-
men n oder n nasale. — k entsteht wie p und t nur mit dem Unter-
schied, dass der Verschluss durch den hintern Theil der Zunge und
des Gaumens gebildet ist. g entspricht d und b; ch ist dem harten s
und f entsprechend, indem es ein Reibegeräusch an einer kleinen
Oeffnung zwischen dem hinteren Theil des Gaumens und der Zunge
darstellt; j (dem weichen s und w entsprechend) bildet sich bei der
Zungenstellung zum ch und tönender Stimmritze und endlich entsteht
ein eigenthümlicher n Laut wenn man bei Stellung der Zunge zum j
und tönender Stimmritze den Luftstrom durch die Nase richtet.


Von den einfachen Consonanten der Grammatiker bleibt uns noch
[439]Bildung der Buchstaben.
das r übrig; wir erwähnen es hier, weil es als ein Glied aller drei
Gruppen aufgeführt werden kann, indem wir ein r labiale, linguale
und gutturale bilden können. Charakteristisch für seine Bildung ist
es, dass wir einen der leichtschwingenden Mundtheile mittelst des
Luftstroms in Wellenbewegungen versetzen, deren einzelne Stösse
so langsam auf einander folgen, dass wir sie gesondert unterschei-
den. — Das r labiale entsteht demgemäss, wenn wir unsere Lippen
lose wie zum b aneinanderlegen und durch den Luftstrom in Bewe-
gung versetzen. — Das r linguale ist der hörbare Ausdruck der Vi-
brationen, in welche die Zunge geräth, wenn dieselbe wie zum t ge-
stellt und durch den Luftstrom vom Gaumen abgedrängt wird; das
r gutturale oder uvulare endlich entsteht durch Schwingungen des
Zäpfchens, wenn man die Zunge wie zur Bildung des ch stellt, aber
in der Mitte entsprechend der Lage des Zäpfchens eine Rinne bildet.


Ausser diesen einfachen Consonanten bildet das menschliche
Sprachwerkzeug noch zusammengesetzte, welche entstehen wenn
die Mundwerkzeuge gleichzeitig zwei Stellungen einnehmen, von
denen jede für sich der Bildung eines Consonanten entspricht; hierher
gehört sch, sf u. s. w. Mit diesen dürfen begreiflich nicht zwei ge-
sondert gesprochene, aber rasch aufeinanderfolgende Consonanten
verwechselt werden, was um so leichter geschieht, wenn diese aus
Bequemlichkeit von der Schrift in einen Buchstaben zusammengefasst
sind, wie das deutsche z und das griechische ξ und ψ.


Vorstehende fragmentarische Betrachtung der Laute, bei der
wir vorzugsweise den ausgezeichneten Beobachtungen von E. Brücke
gefolgt sind, kann nur als ein Anregungsmittel zu weiteren Literaturstu-
dien betrachtet werden. Die Beschränkung auf das Gegebene erschien
um so mehr geboten, als sonst auch andere erlernte Fähigkeiten un-
serer Bewegungsorgane — denn eine solche ist die Sprache — eine
Berechtigung zur Besprechung erhielten. Es versteht sich von selbst,
dass die rationelle Grammatik den hier abgebrochenen Faden aufnimmt
und auf das Gründlichste verfolgt.


3. Nerven der Sprachwerkzeuge.


Zu ihnen zählen wir den n. facialis, welcher sich in den m. or-
bicularis oris, die mm. incisivi, m. stylohyoideus und m. digastricus
posterior begibt, und den n. hypoglossus, welcher in die Zungen-
muskeln, m. geniohyoideus und den m. hyothyreoideus eindringt. —
Welcher der Gaumennerven, ob n. vagus, accessorius oder facialis
als Sprechnerv des Gaumens aufzufassen sei, bleibt ungewiss.


Ueber die Stellung dieser Nerven zu den Seelenorganen gelten
die bei den Stimmnerven erwähnten Bemerkungen um so eher, als
das schon vorhandene Vermögen zu sprechen in Folge von Hirnver-
letzungen zu Grunde gehen kann, ohne dass die Schlingfunktionen
der Zunge etc. gelähmt sind.


[440]

Fünfter Abschnitt.
Physiologie der Seelenorgane.


Entsprechend den unbedeutenden Hilfsmitteln, die uns zu Gebote
stehen für die Untersuchung der vom Hirn ausgehenden Wirkungen
und dem Mangel einer genauen chemischen und anatomischen Zerglie-
derung dieses Organs, neben dem meist nicht auf Beobachtung gerich-
teten Bestreben der Psychologen, lässt sich nur wenig Thatsächliches
über die Seelenerscheinungen mittheilen; besonders wenn man sich
vorsetzt, nicht zu einer Aufzählung der mannigfachen Erscheinungen
zu schreiten, sondern die denselben zu Grunde liegenden fundamen-
talen Hergänge zu ermitteln. — In diesem letztern Sinne sind, wenn
auch noch sehr mangelhaft, nur die Empfindung, die willkürliche Er-
regung und der Schlaf angreifbar.


Organe der Empfindung.


1. Die Umstände, durch deren Zusammenwirken die Empfindung
entsteht, sind so gut wie unbekannt. Da dem gesunden wachen-
den Menschen nur dann Empfindungen zu Theil werden, wenn
seine Nerven in den erregten Zustand gerathen, so liegt es nahe,
die Erregung der Nerven und die Empfindung für gleichbedeutend
zu erklären. Eine solche Annahme wäre aber vollkommen feh-
lerhaft, einmal weil nicht ein jeder erregte Nerv innerhalb des
normalen Lebens Empfindung erzeugt, sondern nur eine ganz
beschränkte Zahl derselben und insbesondere die drei höhern Sin-
nesnerven, die grosse Wurzel des fünften und Abtheilungen des
neunten, zehnten und elften Hirnnerven und die hintern Wur-
zeln der Rückenmarksnerven. Aber auch diese Nerven erwecken
nur Empfindungen wenn ihre reellen oder virtuellen Fortsetzungen
ununterbrochen durch das Hirn bis in die Sehhügel und die mitt-
leren Lappen der grossen Hemisphären verlaufen. Alle diejenigen
der erwähnten Nervenröhren, die abwärts von den genannten Orten
eine Unterbrechung ihres Zusammenhangs erlitten haben, verlieren
nach den Erfahrungen am Krankenbette damit sogleich ihre empfin-
dungserzeugenden Fähigkeiten, selbst dann, wenn sie zum Zeichen
[441]Empfindung.
vollkommener Unverschrtheit in der medulla spinalis und oblongata,
durch ihre Erregung noch Reflexbewegungen einleiten können. Diese
letztere Thatsache, dass Reflex, also eine Verknüpfung der Erregung
von sensiblen und motorischen Nervenröhren, bestehen kann, ohne
dass eine Empfindung daraus wird, widerlegt auch zur Genüge den
Verdacht, als ob das physiologische Zusammenwirken der Nervenröh-
ren im Hirn und Rückenmark die Bedingung der Empfindung sei.
Die Widerlegung dieser letzteren Probabilität musste aber noch aus-
drücklich hervorgehoben werden, weil, wie wir bei den Sinnes-
werkzeugen gesehen haben, mannigfache Akte der Empfindung, z. B.
beim Tasten, dem Sehen in bestimmter Richtung, Entfernung und
Ausdehnung u. s. w. in der That nur unter dem Zusammengreifen
der Erregungszustände eines motorischen und eines sensiblen Nerven
geschehen. Somit muss jenseits der erwähnten Hirnstellen, sei es in
den Lappen oder Commissuren, noch etwas zu dem erregten Nerven
hinzutreten, damit sich die Empfindung bilde. Für die Richtigkeit die-
ser Annahme bürgt uns nun auch die Jedermann bekannte Thatsache,
dass wir den Erregungszustand eines sensiblen Nerven nur so lange
und in dem Grade empfinden, als wir ihm die Aufmerksamkeit zuwen-
den; tausende von Lichtstrahlen die sich zu Bildern auf der Retina ord-
nen, und tausende von Schallwellen die in das Labyrinth unseres Oh-
res dringen, werden von uns nicht gesehen oder gehört, wenn unsre
Aufmerksamkeit mit aller Macht einem ernsten Gedanken, einer schwie-
rigen Muskelbewegung, einer Geschmack- oder Hautempfindung und
dgl. zugewendet ist. —


Die nur um ein Weniges weitergehende Zergliederung der Empfin-
dungsakte gibt nun auch zu erkennen, dass sich jede Empfindung
noch mit etwas ganz besonderem verknüpft, nämlich mit der Vorstel-
lung. Denn niemals empfinden wir den erregten Nerven im Hirn, son-
dern ausserhalb desselben und zwar wie bei allen Sinnen erwähnt
wurde nach gewissen Richtungen und Ausdehnungen hin. Diese un-
ter allen Umständen der Empfindung beigefügten Zusätze können aber
wie es scheint ganz unmöglich begriffen werden aus der Nervener-
regung.


Hält man mit dieser zuletzt hervorgehobenen Thatsache zusam-
men, dass dieselben Erregungszustände der Nerven bei Menschen von
verschiedener Ausbildung Empfindungen von verschiedenen Eigen-
thümlichkeiten erwecken, und gar dass der Mensch im Traum, in der
Trunkenheit, in sogenannten Geisteskrankheiten und dgl. ohne die
entsprechenden Nervenerregungen zu den lebhaftesten Empfindungen
gelangt, die man gemeinhin mit dem Namen der Traumbilder, der Vi-
sionen, Halluzinationen und dgl. belegt, so könnte es fast scheinen
als sei die Empfindung etwas von dem Nerven insofern unabhängi-
ges, als zu ihrer Entstehung die Nervenerregung gar nicht nothwen-
[442]Empfindung.
dig sei, sondern die Nerven selbst nur eine der möglichen Veranlas-
sungen zur Empfindung abgeben, mit einem Worte dieselbe nur erregen.


Will man also die Bedingungen der Empfindung aufzählen, so
muss man offenbar auch anzugeben im Stande sein, worin dieses im
Hirn neu hinzutretende oder angeregte, bestehe; gerade das ist
aber unmöglich.


Die gewagten Annahmen, mit denen man sich gewöhnlich behilft, sind nicht im
Stande Jemanden zu befriedigen, der in strenger Weise der Physiologie obliegt. Zu
ihnen gehört z. B. die eines Seelenatoms; diese scheinbar einfache Annahme, mehr
entsprungen aus der mathematischen Anschauung des Differentials als der des physi-
kalischen Atoms, macht aber bei genauer Durchführung unzählige ganz ungerechtfer-
tigte Hilfshypothesen nothwendig wie z. B. die Annahme mannigfacher Zwischenorgane
zwischen Nerven und Seele, damit man die Befähigung des Nervenrohrs zu spezi-
fisch verschiedenen Empfindungen begreife, je nachdem dasselbe aus dem Auge oder
dem Ohr u. s. w. kommt, oder um den Einfluss des Schlafs, der Gifte, der Uebung und
dergleichen auf die Empfindung erklärlich zu machen. Man würde den kaum errungenen
Boden des Thatsächlichen wieder preisgeben, wenn man auf die Vorstellung von dem
Seelenatom, das seine Existenz auf geradem Wege auch nicht einmal wahrscheinlich
machen kann, und dessen Annahme, wie erwähnt, zahllose complicirte Hilfshypothesen
verlangt, noch genauer eingehen wollte. — Ebenso ungerechtfertigt ist aber auch die
Annahme, dass die Nervenröhren und Ganglienkugeln oberhalb der Sehhügel empfinden
sollen; denn unterhalb derselben vermögen sie es doch nicht.


2. Der eben gegebenen Darstellung gemäss wird die nächste
Aufgabe der Wissenschaft einzig darin bestehen können, Wege aus-
findig zu machen, auf denen man unserm Problem durch den Versuch
näher tritt. Da wir nun den Empfindungsakt des wachenden gesun-
den Menschen vorläufig zerlegt hatten in einen dem Hirn eigenthüm-
lichen und einen den Nerven angehörigen Hergang, so wird der all-
gemeinsten Untersuchungsmethode gemäss, zunächst darauf zu den-
ken sein, den einen der Faktoren nach allen Richtungen hin verän-
derlich zu machen, während der andere unveränderlich erhalten wird.
— Die Variation der von den Nerven ausgehenden Wirkungen ist nun
aber in mehr oder weniger vollkommener Art zu ermöglichen in-
dem man nach Belieben verändern kann: die Zahl und die Art der
gleichzeitig erregten Nervenröhren; die Stärke, die Zeitdauer und die
Geschwindigkeit des zeitlichen Wechsels der Erregung innerhalb der-
selben oder ihrer inneren Natur nach verschiedenartiger Nerven. —
Viel schwieriger, ja meist unmöglich dürfte es dagegen erscheinen
auf ähnliche Weise auf die bei der Empfindung betheiligten Vorrich-
tungen des Hirns zu wirken, sei es, dass man sie veränderlich machen
oder unveränderlich erhalten wollte; da wir seine Leistungen nur am
bewussten urtheilsfähigen Menschen zu prüfen im Stande sind, so fin-
den sie sich nicht allein den unberechenbaren Einflüssen ausgesetzt,
die aus dem Verlaufe des leiblichen Lebens (Blutzusammensetzung,
Blutdruck, Wärme u. s. w.) fliessen, und die Nachrichten die wir über
ihre Funktionirung erhalten, sind nicht allein abhängig von den Ge-
wohnheiten, Uebungen und Ermüdung der Urtheilsfähigkeit, sondern wir
[443]Empfindung.
vermögen auch nicht nach Willkür und namentlich nicht innerhalb
kurzer Zeit nach Belieben Umänderungen an ihnen hervorzubringen. —
Trotz alle dem ist jedoch die Hoffnung auf eine Besiegung dieser
Schwierigkeiten nicht aufzugeben. Denn wir wissen einerseits, dass
bei dem gesunden wachenden Menschen die Gewohnheit, Uebung
u. s. w. die empfindenden Hirntheile niemals jenseits gewisser Gren-
zen zu ändern vermag, so dass dieselben je nachdem sie geübt oder
ungeübt wären einen bestimmten Zustand des Nerven ganz abweichend
empfänden, z. B. das Blaue für gelb oder umgekehrt ansähen; ander-
seits aber sind wir auch vermögend durch Einführung von Giften in
das Blut, wie z. B. von Aether, Alkohol, Opium, Lustgas u. dgl. Ver-
änderungen in den empfindenden Hirntheilen zu erzeugen, die bei al-
len Menschen etwas Gemeinsames darbieten und zudem nicht immer
die Nerven in merkbarer Weise aus ihren normalen Zuständen zu brin-
gen vermögen. —


Diese thatsächlichen Andeutungen für den Gewinn einer Unter-
suchungsmethode sind aber um so fester zu halten, und ihre Weiter-
bildung um so mehr zu versuchen, weil in dieser Richtung die ein-
zige Möglichkeit zu liegen scheint Aufschlüsse zu erhalten nicht allein
über die Erscheinungslehre der Empfindung, sondern auch über die
den empfindenden Hirntheilen zu Grunde liegenden elementaren Beding-
ungen; und dieses letztre um so mehr, wenn die Aufhellung des ana-
tomischen und chemischen Hirnbaues gelingen sollte, indem wir dann
möglicher Weise durch vielleicht complizirte aber sichere Schlüsse
den wahren Vorgang der Hirnvergiftung, die Folgen der Blutdrücke
u. s. w. auszumittlen vermöchten. Gelänge es aber nicht den ange-
deuteten Weg zu betreten, so dürfte man überhaupt die Hoffnung auf-
zugeben haben, in dieses dunkle Gebiet einzudringen.


Dieses Ziel hat nun auch in der That den bessern Physiologen
und unter diesen vor Allen dem unsterblichen E. H. Weber vorge-
schwebt; das was sie in dieser Richtung geleistet haben, ist schon
zum grössten Theil bei den Sinneswerkzeugen und dem Muskelsinn
mitgetheilt worden. Ergänzend ist nur noch folgendes beizufügen.


3. Wenn eine grössere Zahl von Nervenröhren gleichzeitig und
zwar bis zu einer solchen Stärke erregt wird, dass die Empfindung
die Bildung von deutlichen Vorstellungen über den Ort und die Art der
Erregung erlaubt, so können gleichzeitig nicht alle, sondern nur ein-
zelne der erregten Nerven empfunden werden. — Wir haben schon
erwähnt, dass sich Fälle ereignen, in welchen keiner der erregten
Nerven zur Empfindung kommt, und erwähnt, dass dieselben eintre-
ten, wenn die Erregung zu einer Zeit geschieht, in welcher der Mensch
in leidenschaftlichen Zuständen sich befindet, oder mit der Bildung von
ergreifenden Gedanken oder der Ausführung von schwierigen Muskel-
bewegungen beschäftigt ist. Diese allbekannte Thatsache drückt man
[444]Empfindung.
gewöhnlich populär so aus, dass die Aufmerksamkeit vermögend sei,
sich von den empfindungserzeugenden Einflüssen wegzuwenden.
Dieser Ausdruck bedarf jedoch insofern der Vervollkommnung, als sich
die Aufmerksamkeit nur dann wegzuwenden vermag, wenn sie sich
andern Dingen zuwendet. Denn es gelingt, wie man an sich selbst
leicht bestätigen kann, einzig und allein unter den obigen Bedingun-
gen empfindungslos zu werden. Befindet sich aber der Mensch in der
That in dem empfindlichen Zustand, so wird aus der grössern Summe
der erregten Nerven nur der eine oder andre wirkliches Objekt der
Empfindung. Welcher unter den Nerven das Uebergewicht erhält,
scheint aber bedingt zu sein, entweder durch die grössere Erregung
eines derselben, so dass der thätigere den weniger thätigen aus der
Empfindung verdrängt, oder von den jeweiligen geistigen Zuständen,
indem je nach Gewohnheit, oder nach den gerade gegenwärtigen Gedan-
kenbildungen einer der Nerven die Oberhand behält, selbst wenn er
unter allen der am wenigsten stark erregte ist. — Die Zahl der gleich-
zeitig, innerhalb sehr beschränkter Grenzen, zur Empfindung kom-
menden Primitivröhren hängt von dem gerade vorhandenen Hirnzu-
stande ab. Namentlich kann bis zu einem gewissen Grade die Summe
der zur Empfindung kommenden beschränkt werden, indem man in der
That z. B. aus vielen gleichzeitig das Ohr treffenden Tönen, oder aus
vielen in die Retina gelangenden Lichtstrahlen nur einen oder einige zur
Empfindung bringen kann. Wie weit diese Vernachlässigung der erreg-
ten Nervenröhren im Allgemeinen zu gehen im Stande ist, ist unbekannt;
denn wenn es in der Retina auch scheint als ob man vermögend sei,
nur ein Rohr, mit Hintenansetzung aller übrigen, zu empfinden, so ist
es mindestens zweifelhaft ob für das Ohr etwas ähnliches gelingt. Of-
fenbar beschränkt ist aber das Hirn in der gleichzeitigen Aufnahme
von Empfindungen, indem jedesmal wenn wir unsre Aufmerksamkeit
zugleich auf zwei Sinne lenken nur die Eindrücke des einen der bei-
den wirklich empfunden werden; diese Behauptung ist durch scharfe
Zeitbestimmungen des sogenannten subjektiven Fehlers derjenigen
astronomischen Beobachtung erwiesen, bei welcher man mittelst Zäh-
len der Pendelschläge eines Uhrwerks den Zeitpunkt, in welchem ein
Stern vor dem Fadenkreuz des Fernrohrs erscheint, festzustellen
sucht. In diesem Falle notirt kein Beobachter, und sei er in dieser
einfachen Operation auch noch so geübt, genau die Zeit, in welcher
der Stern in der That in das Fadenkreuz tritt, sondern immer eine spä-
tere. — Andre Versuche über diese wichtige Erscheinung fehlen, na-
mentlich ist zu erledigen, mit welchen Umständen die Geschwindigkeit
des Uebergangs der Empfindung von einem zum andern Nervenrohr
wechselt.


4. Wird eine grosse Zahl von Nerven dagegen bis zu dem Grade
der Schmerzerzeugung erregt, so gelangt die Gesammtsumme dersel-
[445]Empfindung.
ben zur Empfindung und zwar in der Gestalt, dass mit Vermehrung
der erregten Nervenröhren die Intensität der Empfindung steigt. Die-
ser Satz leitet sich nicht allein aus der bekannten Erfahrung ab, dass
eine Lichtquelle deren Strahlen das halbverdeckte Auge gerade noch
ertragen kann, sogleich auf das heftigste blendet, wenn man sie mit
dem ganz geöffneten Auge ansieht, sondern auf eine noch viel schär-
fere Art aus den Beobachtungen an den Hautnerven von E. H. Weber.
Heisses Wasser erzeugt nämlich um so heftigere Schmerzen in je
grösserer Ausdehnung dasselbe die Haut trifft. Diese Summirung der
Erregungen der einzelnen Nervenröhren in dem Hirn geschieht aber
nicht unter allen Umständen gleich leicht, indem die Ausbreitung der
Erregung über benachbarte Hautstellen die Empfindung beträchtlicher
steigert, als wenn gleichzeitig weiter von einander entfernte gleich-
grosse und gleichnervenreiche Stellen der Einwirkung der heissen
Flüssigkeit ausgesetzt sind.


Hier ist nun noch einmal auf viele bei den Sinnen schon abge-
handelte Punkte, mit der ausgesprochenen Absicht, sie den experi-
mentirenden Psychologen zu empfehlen, hinzuweisen; wie z. B. auf
die Thatsache, dass die Empfindung der Grösse von gesehenen Ge-
genständen auf einem Quotienten oder einer Differenz beruht, welche
gebildet wird aus der Summe gleichzeitig erregter Sehnervenfasern
und der Erregungsintensität der Nerven für den Einrichtungsapparat
des Auges und den m. rectus internus bulbi; denn es nahm ja die
Grösse des gesehenen Gegenstandes zu mit der Summe gleichzeitig
erregter Opticusröhren und ab mit der Stärke der Erregung der erwähn-
ten Muskeln. — Ferner, dass der Ort und die Richtung des Gesehe-
nen, Gehörten und Gefühlten bedingt war von dem Orte des gleichzei-
tig erregten Empfindungs- und Muskelnerven. — Ferner, dass die Vor-
stellung von der Intensität einer beliebigen Empfindung in der Errine-
rung rasch absinkt nach dem Aufhören der Nervenerregung, welche
sie erweckte, wie aus dem bemerkenswerthen Versuche von E. H. We-
ber
über relative Grössenschätzung hervorgeht u. s. w. — Bevor
nicht diese und ähnliche tiefgreifende Erscheinungen genauer zerglie-
dert und durch weitere Versuche ins Klare gesetzt sind, lässt sich an
einen theoretischen Fortschritt der Empfindungslehre nicht denken. —


5. Von der Stellung des blinden Flecks, bezüglich der ihn um-
gebenden Nervenröhren zu der Empfindung. Aus den physiologisch
bemerkenswerthen Thatsachen, welche Ad. Fick und der jüngere
du Bois-Reymond beobachtet haben, ergibt sich, dass uns eine Vor-
stellung gegeben ist von dem Abstand der den blinden Fleck umge-
benden Grenzen, und ferner, dass wir in der Empfindung den vom
blinden Fleck erfüllten Raum der Retina ergänzen, wenn die Umge-
bungen erregt sind.


Wenn man nach den erwähnten Beobachtern a. das Auge auf einen schwarzen
[446]Willkürliche motorische Erregung.
Streifen in hellem Grunde so einstellt, dass das eine Ende desselben auf den blinden
Fleck fällt, so erscheint jener um den Theil seiner Länge, mit welchem er den blin-
den Fleck trifft, verkürzt; verschiebt man nun aber den Streif, so dass sein Bild
beiderseits den blinden Fleck überragt, so verlängert er sich plötzlich, und zwar
nicht bloss um den Werth, mit welchem er in die empfindlichen Theile gelangt, son-
dern auch um den Durchmesser des blinden Flecks. — b. Stellt man das Auge auf
einen gradlinig begrenzten dunklen (oder hellen) Streifen auf hellem (oder dunklem)
Grund so ein, dass der blinde Fleck noch innerhalb seines Verlaufs in der Retina
fällt, mit andern Worten, so dass das Bild des Streifens den blinden Fleck beider-
seits überragt, so erscheint er ununterbrochen, unverkürzt, in Form und Farbe unver-
ändert. — c. Stellt man das Auge auf eine dunkle Scheibe auf hellem Grund oder
einen wellenförmig begrenzten Streifen so ein, dass der blinde Fleck in die Grenzlinie
der Curve fällt, so ersetzt die Vorstellung das ausfallende Curvenstück durch eine
gerade Linie, mit andern Worten das vorspringende Curvenstück erscheint abge-
schnitten durch die Farbe des Grundes, das eingebogene aber ausgefüllt mit der
Farbe welche die Fläche der Curve begränzt. — d. Färbt man ein Kreuz, das aus fünf
Quadraten besteht derartig, dass die vier äusseren Quadrate gleichfarbig, das innere
fünfte aber andersfarbig wird, und stellt den blinden Fleck auf das mittlere Quadrat
ein, so erscheint ein volles Kreuz in der Farbe der äusseren Quadrate.


Willkürliche motorische Erregung. *)


1. Unserem Hirn wohnt das Vermögen bei, eine bestimmte Zahl von
Muskel- (und Drüsen?) nerven so zu beherrschen, dass es dieselben
aus dem physiologischen Ruhestand in den der Erregung versetzen
kann und umgekehrt, dass es die aus andern Gründen (durch Reflexe)
erregten Nerven zu beruhigen vermag. Dieses Vermögen zu erregen
und bestehende Erregung zu dämpfen, geht der Thatsache des Be-
wusstseins gemäss, scheinbar von ein und derselben Substanz aus,
und was noch merkwürdiger, es scheint die Unterbrechung einer be-
stehenden Bewegung oder ihre Einleitung von derselben Art der Kräfte
abzuhängen; denn der Thatsache des Bewusstseins nach sind wir es,
welche ein bis dahin ruhiges Glied bewegen und die in ihm vorhan-
dene Bewegung hemmen, und wir machen hierzu eine und dieselbe
Kraftanstrengung. Noch auffallender aber, es kann der Grad der
Bewegungsanregung oder Bewegungshemmung nach Belieben be-
stimmt werden, so dass auf dieselbe äussere Anregung hin, jeder
Grad von Muskelcontraktion, oder jede mögliche Geschwindigkeit in
der Reihenfolge der Zusammenziehung der einzelnen Muskeln eintre-
ten kann. — So hingestellt scheint das Vermögen ausser den Grenzen
aller Analogie mit anderen Naturvorgängen zu liegen; aber gerade
diese Entfernung von aller Analogie wird den Physiologen vorerst
nur zu der Annahme bestimmen, dass die zur Erläuterung der Erschei-
nung gegebene Theorie vollkommener Freiheit ebenso mangelhaft ist,
als die Darstellung der Erscheinungen selbst; und aus eben diesem
[447]Willkürliche motorische Erregung.
Grunde wird er es auch verschmähen durch andere, leicht zu findende,
zum Theil plausible Unterstellungen, die Annahme zu bekämpfen,
welche die Hirnfunktionen ganz unnöthigerweise als ausserhalb der
Naturgrenzen stehend ansieht. Die Wissenschaft verschmäht die
Scheingefechte.


2. Der Willkürbewegung sind nur eine beschränkte Zahl von
Muskeln und Drüsennerven unterworfen und zwar in ganz verschie-
dener Weise.


a. Unbeschränkt der Willkür unterworfen sind, wie es scheint,
die inneren Augenmuskeln, die mimischen Gesichtsmuskeln, die der
Zunge, die Strecker und Beuger der Wirbelsäule und des Kopfes, das
Zwerchfell (?) und die Muskeln der Arme und Beine. Diese Muskeln
können in jeder beliebigen Reihenfolge, in jeglicher gleichzeitiger
Verbindung miteinander und zu jeder beliebigen Zeit gehemmt oder
bewegt werden.


b. Eine andere Zahl von Muskeln ist nur unter gewisser Combi-
nation mit andern der Willkür unterthan, z. B. die Iris nur mit den
Accommodationsmuskeln und den inneren und oberen Augenmuskeln;
ferner die beiden mm. recti bulbi externi nicht gleichzeitig, wenn die
Erregungsstärke einen gewissen Grad übersteigt; ferner der m. hyo-
thyreoideus nur beim Schlingen oder Tonangeben, der tensor tympani
beim Kauen, die constrictores pharyngis nur beim Schlingakt; gemein-
sam auf beiden Seiten nur die Muskeln des larynx, pharynx, des Gau-
mensegels und Perinäums.


c. Eine dritte Zahl endlich ist nur in gewissen (sogenannten
leidenschaftlichen) Zuständen der Willkür unterworfen. Hierher zählt
die Herzhemmung oder Beschleunigung bei Angst oder Spannung, die
Durchfälle nach Angst, die Erektion des Penis in dem Geschlechtstrieb,
die Thränenabsonderung beim Kummer, die Speichelabsonderung bei
Essbegier u. dgl.


Die unter den beiden letzten Buchstaben erwähnten Muskeln und Akte bedürf-
ten einer genauen Aussonderung. Hier wäre auch Rücksicht auf die Hirnzustände
zu nehmen, in welchen nur einzelne von den unbeschränkt der Willkür unterwor-
fene Bewegungsapparaten dem Willen vollkommen gehorchen, während andre vor-
übergehend ganz ausgeschlossen sind, wie beim Nachtwandlen, Alpdrücken u. s. w.


3. Niemals können alle der Willkür unterworfenen Muskelnerven
gleichzeitig durch dieselbe in Erregung versetzt werden; die Zahl der
möglicher Weise gleichzeitig erregbaren Nerven ist jedoch unbe-
kannt; Joh. Müller.


Zuerst scheint die Erfahrung dafür zu sprechen, dass man niemals
weniger Nervenröhren gleichzeitig zu erregen im Stande ist, als
soviel sich zu einem geschlossenen Muskel begeben, da Niemand, so
weit bekannt, nur einzelne Bündel eines solchen isolirt bewegen kann.
— Ferner scheint es, dass sich bei den bedingt willkürlichen Bewe-
gungen jedesmal die Anregung über eine grössere Zahl von Nerven
[448]Willkürliche motorische Erregung.
erstrecken müsse, da man niemals das Auge nach innen stellen kann,
ohne die Pupillenverengerer in Wirksamkeit zu bringen, niemals, ohne
zu speicheln, kaut u. s. w., und niemals in der Freude oder Angst den
Veränderungen der Herzbewegungen Einhalt zu thun vermag. —
Complizirtere Muskelakte dagegen können nie gleichzeitig von der
Willkür in Anregung gebracht werden; wenn man sie in der That
gleichzeitig ausführt, indem man z. B. gleichzeitig schreibt und
spricht u. dgl., so werden die einzelnen nöthigen Bewegungen
dennoch nicht gleichzeitig veranlasst, wie eine genauere Selbst-
beobachtung lehrt; diese gibt namentlich Aufschluss, wenn beide
oder eine von beiden Bewegungen noch nicht geläufig sind; man er-
kennt dann deutlich, dass die Anstösse zu den Bewegungen aufein-
ander folgen, indem die gleichzeitige Ausführung dieser letzten un-
möglich ist; man vergisst, um in einem gebräuchlichen Ausdruck zu
sprechen, die eine der Bewegungen über die andere. Aus dieser That-
sache darf man schliessen, dass die bei späterer Geläufigkeit der Be-
wegungen eintretende Gleichzeitigkeit derselben dadurch bedingt ist,
dass die erregende Ursache fortlaufend den Erregungsort wechselt
und zwar so rasch, dass noch ehe die durch den Anstoss derselben
veranlasste Bewegung zur Ruhe gekommen ist, schon wieder ein An-
stoss zu einer neuen Bewegung erfolgt. Inwiefern zu dieser Hypo-
these die Einrichtungen in den Muskeln berechtigen, ist schon früher
erwähnt — Jedenfalls scheint man aber zu weit zu gehen, oder bes-
ser gesagt Unbewiesenes auszusprechen, wenn man auf diese That-
sache fussend, die Behauptung aufstellt, es könne niemals die Willkür
mehr als eine oder wenige Primitivröhren in Erregung setzen; um
auch die ebenerwähnten widersprechenden Beobachtungen hiemit in
Einklang zu bringen, legt man die Hypothese unter, dass entweder
die gleichzeitig erregbaren Röhren in eine einzige verschmelzen, so
dass je ein Muskel nur mittelst einer Primitivröhre an der Hirnstelle
vertreten sei, an der er die Erregung empfängt; oder man nimmt an,
dass in Folge von Querleitungen die Bewegung des einen Muskels
eine Mitbewegung von der ursprünglich durch die Willkür erregte
eines andern sei. Beide Annahmen sind vollkommen willkürlich. — Sehr
bemerkenswerth ist noch die bekannte Erfahrung, dass man durch ste-
tige Uebung es dahin bringt, Nervenröhren isolirt in Anregung zu
setzen, die man ursprünglich nur in Verbindung mit andern erregen
konnte, und dass man in Zuständen geistiger Trübung (wie in der
Trunkenheit) dieses erworbene Isolationsvermögen wieder verliert.
So versetzen ungeschickte Menschen und ganz allgemein Kinder,
wenn sie eine bestimmte Bewegung beabsichtigen noch viele Mus-
keln, die zum vorgesetzten Zwecke gar keine Beziehung haben, in den
zusammengezogenen Zustand, namentlich verzerren Viele beim Greifen
mit dem Arm nach gewissen Richtungen die Gesichtsmuskeln u. s. w.


[449]Wüllkürliche motorische Erregung.

4. Wie rasch kann der Uebergang der willkürlichen Erregung
von einem Nerven zum andern wechseln? Kann man mit grösserer
Geschwindigkeit zwei weniger intensive Bewegungen aufeinander
folgen lassen, als zwei kräftigere? Sind gewisse Muskelgruppen in
rascherer Zeitfolge in Anregung zu setzen als andere? Diese und
andere ähnliche Fragen sind oft aufgeworfen, aber noch keinmal durch
gründliche Versuche beantwortet.


5. Besondere Schwierigkeiten bietet die Erläuterung der Erschei-
nung, dass es dem willkürlich erregenden Vermögen, ohne eine Vor-
stellung von der anatomischen Lagerung der Nervenröhren im Hirn
und ihrer zugehörigen Muskeln zu besitzen, gelingt, nach in ihm woh-
nenden Bestimmungen bald diesen oder jenen im Voraus gewussten
Bewegungseffekt einzuleiten. Soweit unsere in diesem Punkt noch
unvollkommene Kenntniss zu schliessen erlaubt, geschieht dieses da-
durch, dass dem erregenden Prinzip durch Erfahrung allmälig die Zu-
stände oder auch die Richtungen, die die Erregung nehmen muss, be-
kannt werden, welche zu einer bestimmten Bewegung nothwendig
sind. Diese Erfahrungen sammelt aber das Bewusstsein durch die
Sinnesnerven; denn jede Bewegung eines Gliedes wird durch die im
Gliede selbst oder in einem andern Sinne (Auge oder Ohr) erweckten
Empfindungen wahrgenommen, indem nun das besondere Bewegungs-
bestreben und die jenes Bestreben begleitende Bewegung im Gedächt-
niss bleiben, gelingt es allmälig die Bewegungen nach Belieben her-
vorzurufen.


Der Beweis für diese Auffassung liegt darin, dass a. der Säugling nur sehr all-
mälig den Gebrauch seiner Glieder kennen lernt; b. dass wenn ein Sinn, der den Men-
schen einzig und allein über gewisse Bewegungseffekte unterrichtet, ausfällt, diese
Bewegungen selbst der Willkür nur sehr mangelhaft unterthan werden, wie z. B.
nach Gehörmangel keine reine Stimme im musikalischen Wortsinn sich bildet; c. end-
lich aber weist auf die stetige Mitwirkung der sinnlichen Erfahrung zur willkürlichen
Muskelerregung die Thatsache hin, dass wir den Grad der Zusammenziehung ir-
gend welcher Muskeln stetig nach den besondern sinnlichen Eindrücken (oder auch
nach Erinnerungen an dieselben) bemessen. So gehen wir im Dunklen auf uns unbe-
kanntem Boden unsicher; wir richten die Muskelkontraktion für einen Steinwurf
auf einen gesehenen Gegenstand nach dem Grade der Schärfe unseres Augenmas-
ses ein u. s. w.


6. Die Kraftsumme, welche der muskulöse Apparat des mensch-
lichen Körpers unter dem Einfluss des willkürlich erregenden Prin-
zips entwickelt, oder zu entwicklen vermag, kann unter günstigen Um-
ständen einen sehr beträchtlichen Werth erreichen. Diese Thatsache
gab in früherer Zeit zu der Meinung Veranlassung, dass die erregen-
den Hirntheile selbst grosse Kräfte entwicklen, indem man glaubte,
dass alle die Kräfte, welche von unsern Muskeln zur Bewegung des
Skelets oder der an dasselbe angehängten Gewichte, und zur Ueber-
windung von allen den Widerständen, die in den Muskeln und in den
Skelettheilen der Bewegung entgegentreten, verwendet werden, von
Ludwig, Physiologie I. 29
[450]Mechanischer Werth der Willkürerregung.
den willkürlich erregenden Hirntheilen geradezu auf die Bewegungs-
werkzeuge übertragen würden. Es ist diese Annahme so weit die Er-
fahrungen reichen mit vollkommnem Recht in ihr Gegentheil umge-
schlagen. Wir glauben jetzt, auch ohne die von den erregenden Hirnthei-
len direkt entwickelbaren mechanischen Kräfte gemessen zu haben, be-
haupten zu dürfen, dass die in jedem kleinsten Zeittheil ent-
wickelten erregenden Kräfte des Willens sehr klein sind
.
Diese Behauptung ergibt sich augenblicklich, wenn man sich die Art
des Aufbaues und Zusammenhangs der Muskeln und Nerven in das
Gedächtniss ruft. Muskeln und Nerven waren Gebilde, die auf eine
sehr verwickelte Weise zusammengesetzt waren, und zwar aus Stof-
fen, welche bei ihrer Umsetzung beträchtliche mechanische Kräfte
frei machten. Zugleich waren diese Stoffe innerhalb der genannten
Gebilde unter solchen Bedingungen enthalten, dass es nur unbedeutender
Veranlassungen bedurfte, um die Zersetzungen einzuleiten. Denn wir
erfuhren ja, dass Einflüsse von kaum mehr messbaren mechanischen
Effekten, die sogenannten Erreger, die Muskel- und Nervenkräfte aus-
lösen konnten. Die Zusammenordnung der Muskeln und Nerven hatte
aber in der Art statt, dass sich die Erregbarkeit der Gebilde vom Mus-
kel durch den Nervenstamm bis in das Rückenmark fortwährend stei-
gerte. Denn es wurde durch dasselbe Erregungsmittel ein geringer
Effekt erzeugt, wenn es geradezu auf den Muskel, ein grösserer,
wenn es durch den Nervenstamm, und ein noch beträchtlicherer, wenn
es durch das Rückenmark auf den Muskel wirkte. Auch war noch da-
zu festgestellt worden, dass nur innerhalb sehr beschränkter Grenzen
mit der steigenden Stärke des Erregers die entwickelten Muskelkräfte
wuchsen, so dass wenn einmal ein gewisser, meist sehr niederer Grad
der Erregerstärke erreicht war, eine weitere Erhöhung derselben keine
Steigerung der Muskelkräfte bedingte. Da nun das willkürlich erregende
Prinzip die Muskelzusammenziehung von einem sehr geringen bis zu
einem beträchtlichen Werth steigern kann, so muss dasselbe wenn es
nicht vollkommen sinnlos angelegt ist, sehr geringe motorische Effekte
irgend welcher Art (Stösse oder Anziehungen) entwickeln. So gering
sie aber auch sein mögen in jedem Augenblick, so beträchtlich muss
die Summe der im Verlauf der Zeiten entwickelten Anregungen werden.
Zu einer weiteren Definition der Kräfte des willkürlich erregenden
Prinzips scheint nur noch hinzugefügt werden zu können, dass ihr
Maximalwerth mit gewissen körperlichen Zuständen schwankt.


Die Kraft, die irgend eine willkürliche Muskelbewegung entwickelt, resultirt,
wie sich nach dem Vorigen von selbst versteht, aus den ursprünglich in den Nerven
und Muskeln gespannten Kräften und verändert sich ausserdem mit der Energie
deren die Willenserregung fähig ist. Zum Studium der offenbar in der letzteren ein-
tretenden Schwankungen der Erregungsfähigkeit würde es natürlich nöthig sein, den
Antheil der beiden ersteren Apparate an der resultirenden Bewegungskraft bestimmen
zu können, was aber noch zur Zeit ganz unmöglich ist. — Jedenfalls sind aber die
[451]Uebung.
Fälle unsere Aufmerksamkeit zu fesseln geeignet, in welchen die Fähigkeit zu Bewe-
gungen sehr abnimmt, obwohl kein Grund zu der Annahme vorliegt, dass die Nerven
oder Muskeln eine Schwächung ihrer Kräfte erlitten haben; wir zählen hierher die
Ermüdung nach geistigen Anstrengungen, nach einer plötzlichen Gemüthsbewegung,
nach dem Genuss von Opium u. s. w. Da in einzelnen dieser Beispiele das erregende
Prinzip durch seine Thätigkeit seine Kräfte verzehrt, — wie nach längerem Nach-
denken — oder in der Ausübung derselben durch Gegenwart eines chemisch wirk-
samen Stoffes gehindert wird; da ferner durch eine angemessene Ruhe die Fähigkeit
zur Kraftentwicklung wiederkehrt, so liesse sich der Zusammenhang der Erschei-
nungen so deuten, dass das willkürlich erregende Prinzip von Ernährung-, resp.
chemischen Veränderungen in seinen Kraftentwicklungen, abhängig wäre. Liesse sich
diese Vermuthung zur Gewissheit erheben, so würde ein beträchtlicher Schritt zur
Erkenntniss des räthselhaften Vermögens geschehen sein.


7. Mit dem Worte Uebung bezeichnet man Beziehungen zwischen
dem willkürlich erregenden Prinzip und den Nerven, die denen analog
sein mögen, welche man zwischen Empfindung und Nerven mit dem
Namen der Gewohnheit belegt. — Durch häufige Einwirkungen der
willkürlichen Erregung auf einzelne Bewegungsnerven geschieht es,
dass die den letztern zugehörigen Muskelbewegungen eine grössere
Kraft gewinnen; da die Erregbarkeit durch öftere Thätigkeit der Mus-
keln und Nerven derselben wächst, so kann die Erscheinung unge-
zwungen hiervon abgeleitet werden. — Durch Uebung werden aber
auch die Muskeln befähigt mit grösserer Geschwindigkeit in zeitlicher
Reihenfolge in Contraktion zu gerathen, und ausserdem wird die Mög-
lichkeit der gleichzeitigen Bewegung verschiedener Muskeln durch
Uebung verändert. — In ersterer Beziehung ist es eine tägliche Er-
fahrung, dass Bewegungen, welche äusserst langsam aufeinander
folgten, als sie zuerst unternommen wurden, später, nach häufiger
Wiederholung, mit der grössten Geschwindigkeit hintereinander ge-
schehen. Das gleichzeitige Nebeneinander der Bewegungen betreffend,
so können durch Uebung sowohl eine Anzahl scheinbar angeborner Com-
binationen gelöst, als auch neue früher unmögliche eingeführt werden.
Beide Vermögen, das der Vereinzelung und das des gleichzeitigen Ein-
tretens haben aber eine wohlgezogene Grenze, über welche hinaus
die Uebung nicht mehr wirkt. —


Für das Vermögen der Isolirung und neuen Combination dienen als Beispiele die
Erfahrungen, dass man durch Uebung die einzelnen Finger gesondert beugen, ferner
dass man gleichzeitig nach zwei verschiedenen Richtungen Arme und Beine rotiren
lernt u. s. w. — Ob es gelingt die Sonderung in der Bewegung auch auf einzelne Mus-
kelbündel auszudehnen, oder gar die Accommodations- oder Irisbewegung von der
des Bulbus zu sondern, oder aus dem Schlingakt einzelne Muskeln auszuscheiden etc.
ist sehr problematisch. Ganz überraschend und unheimlich ist die Erscheinung, dass
gewisse Combinationen der Bewegung, wenn sie öfter wiederholt wurden, endlich
gegen den Willen geschehen. Die Richtigkeit der Beobachtung steht bei der Schwie-
rigkeit derselben noch in Frage. Denn wer kann wissen, ob nicht ein Zucken der Ge-
sichtsmuskeln, oder gar Krämpfe u. dgl., welche man als Folgen der Angewöhnung
ansieht, doch Folgen eines besonderen Hirnleidens sind?


29*
[452]Ist die Seele eine einfache Substanz.

Sitz der Seele.


Die Apparate, welche die Bedingungen der seelischen Lei-
stungen enthalten sollen, werden verschieden gedeutet. Nach der
einen Gruppe der Hypothesen, liegt den geistigen Funktionen eine
besondere Substanz, die Seele, zu Grunde, welche dem Lichtäther
ähnlich, zwischen den wägbaren Massen der Hirnsubstanz schwebt,
und mit dieser so verkettet ist, dass ihre Veränderungen mit der-
jenigen der Hirnsubstanz Hand in Hand gehen, wie das auch der
Physiker vom Lichtäther und den ihn umgebenden Stoffen annehmen
muss. Damit aber diese Hypothese alle Erscheinungen erläutere,
verlangt sie den nicht mehr naturwissenschaftlich zu rechtfertigen-
den Zusatz, dass der Seelenäther aus innern Gründen (willkür-
lich) veränderlich sei. — Die Anhänger der zahllosen Abstufungen
realistischer Weltanschauung haben sich, insofern sie sich überhaupt
zur Bildung einer Vorstellung entschliessen konnten, darüber geeinigt,
dass die Seelenerscheinungen resultiren aus einer gewissen Summe
im Hirn und Blut enthaltener Bedingungen, weil mit dem Entstehen, der
Entwicklung und dem Vergehen des Hirns und mit dem Wechsel in
der Blutzusammensetzung Verstand, Empfindung und Wille kommen,
schwinden oder sich ändern. Wer den Schluss aus Analogien gelten lässt
und durch seine Kenntnisse befähigt ist zu gründlichen Vergleichun-
gen der Seelenerscheinungen mit den übrigen Naturereignissen, wird,
wenn er wählen muss, nicht zweifelhaft sein, welcher von beiden
Meinungen er beistimmen soll; wer aber einen unumstösslichen Be-
weis für eine der beiden Anschauungen verlangt, wird eingestehen,
dass er noch nicht geliefert sei.


Die Wege, die man versucht, um den Sitz der Seele zu finden,
haben bis dahin noch nicht so weit geführt, um die Gründe für die eine
oder die andere Alternative zu erbringen. Ueberhaupt scheint man
sich aber nur zwei Fragen, insofern dieselben überhaupt hierher gehö-
rig sind, vorgelegt zu haben; namentlich ob die sämmtlichen Seelen-
erscheinungen von einer und derselben Substanz ausgehen, und wel-
cher Ort des Hirnes es sei, an dessen wohlerhaltenes Bestehen die
Seele sich knüpft.


1. Empfindung, willkürliche Erregung der Bewegungsnerven und
Gedankenbildung sollen nach gewöhnlicher Annahme von einer und
derselben Substanz ausgehen. Zu ihr glaubt man sich berechtigt: a)
Weil das Bewusstsein sagt, dass dasselbe einfach die drei besonderen
Funktionen erfülle. Diese Thatsache erscheint aber solange nichts-
sagend, als man nicht ermittelt hat, welche Stellung das Bewusstsein
zu den drei Funktionen einnimmt, indem sich denken liesse, dass
sie in dasselbe fallen, ohne mit ihm identisch zu sein. Diese letztere
[453]Beziehungen des grossen Gehirns zur Seele.
Unterstellung erhält sogar aus den Traumerscheinungen einige Wahr-
scheinlichkeit, indem hier unsere eigenen Empfindungen und Vorstel-
lungen uns als absolut äussere erscheinen, die wir z. B. fragen.
b) Die Identität soll ferner daraus hervorgehen, dass innerhalb
gewisser Grenzen die drei Funktionen sich ausschliessen, wie
man bekanntlich über eifriges Denken das Bewegen oder Empfinden,
oder über eifriges Empfinden das Denken oder Bewegen u. s. w. ver-
gisst. Wie wäre es aber dann zu erläutern, dass beim Sehen von
körperlichen Dingen, beim Tasten u. s. w., wobei sich Bewegung und
Empfindung combiniren, diese beiden Akte in eine Vorstellung zusam-
menfliessen? c. Endlich soll der Beweis der Identität durch die Er-
müdung geliefert werden, welche im Empfinden oder im Bewegen
nach dem emsigen Denken, oder im Denken und Bewegen nach emsi-
gem Empfinden u. s. w. eintritt. Dieser Satz beweisst aber wenig, so
lange man nicht den Einwurf beseitigt, dass möglicher Weise die drei
Organe aus derselben Quelle ihre Nahrung ziehen u. s. w.


Zudem steht der Hypothese eine ganz unlösbare Schwierigkeit
entgegen. Wie wir schon wiederholt bemerkten, liegen nirgends
Gründe vor, die uns bestimmen konnten, eine wesentliche Verschie-
denheit in den empfindenden und bewegenden Nervenröhren anzu-
nehmen. Und wenn diese nicht besteht, woher soll denn die Verschie-
denheit in der Resultirenden der Gegenwirkungen der gleichartigen
Nerven und der gleichartigen Seele erläutert werden? — Diese
Schwierigkeit mahnt uns daran, wenigstens daran zu denken, dass
das, was man Seele nennt, ein sehr complizirtes Gebilde sei, des-
sen einzelne Theile in einer innigen Wechselbeziehung stehen, ver-
möge deren die Zustände eines Theils sich dem Ganzen leicht mit-
theilen.


2. Zu den Bedingungen an deren Vorhandensein sich die Seelen-
erscheinungen knüpfen, gehört unzweifelhaft das normale Bestehen
des grossen Gehirns; denn dorthin laufen alle der Empfindung und
Willkürbewegung untergebenen Nervenröhren zusammen; dazu
kommt, dass ausgebreitete Verletzungen des grossen Gehirns so-
gleich die Seelenthätigkeiten in ausgesprochenerer Weise vernichten,
als die eines jeden andern nervösen oder irgendwie sonst gebauten
Organs. Der besondere Ort des grossen Organs aber, in dem die
Seelenerscheinungen vor sich gehen, ist unbekannt. —


Alle Methoden *) zur Ermittelung des Sitzes der Seele, leiden an zwei Grund-
fehlern. Wenn man, wie es jedesmal geschieht, aus dem Wegfall des einen oder
andern Hirntheils und einem entsprechenden Mangel geistiger Leistungen einen Schluss
auf den ursächlichen Zusammenhang beider macht, so bleibt zu wünschen übrig:
a. Ein sicheres Reagens für die Gegenwart oder Abwesenheit der
geistigen Erscheinungen
. Schon in der Beurtheilung über die Gegenwart der
[454]Beziehungen des Gehirns zur Seele.
Empfindung macht sich das geltend, indem man darüber streitet, ob die Em-
pfindung ihren Sitz in den Grosshirnlappen oder der Brücke habe. Nach Exstirpation
der erstern leiten selbst Säugethiere (noch mehr aber Vögel), auf heftige Erregung
der Sinnes- und namentlich der Hautnerven, sehr complizirte Muskelbewegungen ein,
die viel Aehnlichkeit mit Schmerzensbewegungen zeigen, während nach Exstirpation
der Brücke (unter Zurücklassung der Pyramiden, Oliven u. s. w.) diese complizir-
ten Bewegungen (Schreien, Zusammenfahren u. s. w.) wegfallen. Warum ist aber
zur Erzielung dieser Bewegungen Empfindung nöthig? warum sind das nicht
complizirte Reflexbewegungen? Ebenso unmöglich als sie eben war, wird eine
Antwort auf die Frage, ob ein höheres geistiges Vermögen weggefallen sei oder
noch bestehe. Wer sieht dem Chloroformirten an, dass er noch auf die sanfteste
Art träumt, während seine sonst so empfindlichen Nerven zerschnitten werden.
Wer steht uns also dafür, dass sich nicht eine Taube, der man die Grosshirnlap-
pen wegnahm oder der Cretin, dem sie in der Entwickelung verkümmert sind in
ganz gleichem Zustande befinde. — b. Sollte aber in der That der Ausfall einiger oder
aller geistiger Erscheinungen auch erwiesen sein, so müsste nun erst noch darge-
than werden, in welcher besondern mehr oder weniger direkten Beziehung das
fehlende und zerstörte Organ und das mangelnde Seelenvermögen zu einander
stehen. Sucht man sich hiervon nicht genau Rechenschaft zu geben, so wird man
nothwendiger Weise in den Fehler der alten Psychiatrikern zurückfallen, den Sitz
der bestimmten Seelenvermögen in Organen zu suchen, die doch nur entfernter
Weise und nur unter einzelnen günstigen Umständen die Seele zur Entwickelung
derselben stimmen konnten. Der Unterschied zwischen dem Fehler der Aelteren und
dem der Neueren wird nur darin liegen, dass die älteren den Sitz ihrer sogenannten
Seelenkräfte ausser dem Hirn (z. B. in das Herz, die Leber etc) versetzten, während
sie die Neueren in das Hirn an Orte setzen, wohin sie nicht gehören. — Zu diesen
allgemeinen Fehlern zeigt nun jede einzelne Verfahrungsart noch besondere.


α. Die vergleichend anatomische Methode geht von dem Prinzip aus,
die verschiedenen Thiere, sowohl in Rücksicht auf ihre geistigen Leistungen zu ver-
gleichen, als auch in Rücksicht auf die absolute und relative Grösse ihres Hirns und
auf das Vorkommen, die Ausbildung und die besondere Gestaltung einzelner For-
men. — Hätte sie in der That auf diesem etwas schwierigen Wege ermitteln wollen,
welchen Einfluss die Massen und Formen des Hirns auf die Entwickelung der geisti-
gen Fähigkeit ausüben, so hätte sie begreiflich auch noch angeben müssen, von
welchem Einfluss alle anderweitigen Umstände sind, die bei verschiedenen Thieren
verschieden sich vorfinden. — Den Versuch hat sie nicht gewagt und wird ihn nicht
wagen. Zudem sind nun aber auch die Vergleiche zwischen den geistigen Fähigkeiten
ganz werthlos, ohne einen Maasstab für dieselben. Wie mangelhaft hat sie aber erst
das einzige was sie ohne zu grosse Schwierigkeit ausführen konnte, die Vergleichung
der Hirngewichte, unternommen? Gibt uns eine der vielen Wägungen und Beschrei-
bungen eine Vorstellung von der relativen Grösse einzelner Hirntheile?


β. Die Excisionsmethode gibt vor aus dem Unterschied der geistigen Fähigkeit
vor und nach dem Ausschneiden eines Hirntheils auf den Werth dieses Hirntheils für
die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten schliessen zu können. — Dieses Verspre-
chen würde sie halten, wenn sie ein lebendes Hirn so zerstückeln könnte, dass sie nur
die beabsichtigte Verletzung anbrächte. — Da sie aber neben der Entfernung dieses
oder jenes Stückes, noch in allen andern den Blutlauf stört, sie abkühlt, erschüttert,
unter andere mechanische Spannungen bringt u. s. w., so fehlt jede Entscheidung da-
rüber, ob der Ausfall dieser oder jener Funktion von der Entfernung des Hirnstücks
oder von einer der vielen Nebenverletzungen herrührt. —


γ. Die pathologische Beobachtung. Die Beobachtung solcher Menschen,
die an mehr oder weniger ausgedehnten, angebornen oder erworbenen Verstümmlun-
gen des Hirns, ohne Beeinträchtigung des Lebens, leiden, liefert endlich ebenfalls ein
[455]Beziehungen des Gehirns zur Seele.
Merkmal, aus dem man auf die Betheiligung einzelner Hirntheile an den geistigen
Fähigkeiten Schlüsse zieht. Diese Beobachtungen gewähren, wie es scheint, häufig
den Vortheil ganz isolirte Hirnzerstörungen in ihren Wirkungen bemessen zu kön-
nen; die Wirkungen aber selbst sind theils augenfälliger, theils schärfer festzustellen,
weil sie sich an geistig hochstehenden, deutlich selbst bewussten Organismen äussern,
die noch dazu meist längere Zeit hindurch der Beobachtung unterworfen sind. Und
dennoch sind die auf diesem Wege gewonnenen Resultate einander so widerspre-
chend. Rührt das von mangelhafter Beobachtung oder davon, dass die bisherigen
Schlussfolgerungen vollkommen fehlerhaft waren?


So mühelos hier eine treffende Kritik ist, so schwer wird es sein durch Anbah-
nung treffender Mittel und Wege den Zustand dieses Theils der Wissenschaft zu
verbessern.


Die Resultate, welche die erwähnten Methoden geschaffen haben, sollen noch
erwähnt werden, weil dieses dazu beitragen wird, ihre Mängel noch eindringlicher
zu machen.


Grosshirnlappen. Alle drei Methoden häufen scheinbar Wahrscheinlichkei-
ten dafür, dass Seelenthätigkeiten und namentlich die höheren in Beziehung stehen
zur Ausbildung der Grosshirnlappen. Denn mangelhafte Entwicklungen, Verkümme-
rung in seiner Ernährung, Ausschneiden derselben bei Tauben, sind häufig mit einem
Stumpfsinn begleitet. — Aber diesen zahlreichen Thatsachen stehen andere entgegen,
indem grosse Massen der Grosshirnlappen bei Menschen durch angeborne Eigen-
thümlichkeit fehlten, oder auch durch Verwundungen, Blutaustritte, fremde Ge-
schwülste u. s. w., zerstört wurden, ohne dass auch nur die geringste Abweichung
von den normalen geistigen Funktionen eingetreten wäre; wenn eine nothwendige
Verknüpfung zwischen Seele und den Grosshirnlappen bestünde, so wäre das letzte
Resultat unmöglich, denn es ist begreiflich eine ganz vage Redensart, wenn man be-
hauptet, dass die nach Verletzungen zurückgebliebenen Stücke die Funktionen der
entfernten übernommen hätten. — Der Widerspruch könnte sich nur dann lösen,
wenn etwa nur einzelne Regionen des Grosshirnlappen mit dem Seelenvermögen in
Verbindung stünden; man hat dieses in der That behauptet, indem eine Zahl von
Autoren vorzugsweise die vordern, eine andere aber vorzugsweise die hintern
Lappen als die Träger der Seele ansahen. Der Widerspruch in den Meinungen rührt
daher, dass die einen nur Geistesstörung mit Vernichtung der vordern, nicht aber
mit Vernichtung der hintern Lappen sahen, während andere gerade die umgekehrten
Fälle beobachteten; dieser Widerspruch in den Beobachtungen genügt zur Wider-
legung der einen oder andern Hypothese.


Grosshirncommissuren, insbesondere der Balken. Nach Zerstörungen
und Verletzungen derselben und namentlich der unteren Commissuren tritt gewöhnlich
rasch der Tod ein; öfter aber überleben die Kranken lange die Folgen namentlich von
Balkenverletzungen; es sind auch Fälle beobachtet worden, in welchen ein angebor-
ner Mangel des Balkens vorhanden war. Viele der sogenannten Seelenthätigkeiten,
namentlich das Selbstbewusstsein, die Empfindung und willkürliche Bewegung,
waren nicht gestört, häufig aber die Denkfähigkeit; und auch diese nicht immer.
Dazu kommt, dass dieses Vermögen oft beeinträchtigt ist ohne jegliche Kränkung
der Commissuren.


Kleines Gehirn. Wegen der Seltenheit des gleichzeitigen Vorkommens von
Geistesstörung und Kleinhirnleiden, hat man nur sehr vereinzelt die Hypothese ge-
wagt, das kleine Hirn als ausschliesslichen Sitz der geistigen und namentlich der höhern
geistigen Vermögen anzusehen; man hat dagegen nach dem Ergebniss von Vivisek-
tionen, und pathologischen Beobachtungen sich für berechtigt gehalten anzunehmen,
dass hier der Sitz der Empfindung, des willkührlichen Verbindungsvermögen der
Muskelnerven zu geordneten Bewegungen (des Gehens u. s. w.) und der niederen
[456]Schlaf, Traum.
geschlechtlichen Leidenschaften zu suchen sei. Alle diese Hypothesen sind widerlegt
durch sehr zahlreiche Fälle von Verletzungen und durch einen sehr bemerkenswer-
then Mangel des kleinen Gehirns, in welchem alle die dem kleinen Gehirn zuge-
schriebenen Funktionen ungehindert von Statten gingen.


Brücke. Vögel, namentlich Tauben überleben die Ausschneidung der Gross-
hirnhemisphäre längere Zeit; sie erweisen sich dann noch wie es scheint empfind-
lich, indem sie nach heftigem Geräusche zusammenfahren, nach Lichteindrücken
noch das Auge schliessen u. s. w. Nicht minder beobachtet man bei Kaninchen nach
Exstirpation des ganzen Gehirns bis auf die Brücke und verlängertes Mark noch
heftige Angstschreie, wenn man ihnen den n. trigeminus kneift. Diese Thatsachen
benutzt Longet, um zu behaupten, dass die Brücke das Empfindungsvermögen be-
wirke. Diese Behauptung würde, wenn sie erweisbar wäre, von ausserordentlichem
Interesse sein, indem man daraus, und wohl mit Recht, einen Schluss auf die zusam-
mengesetzte Natur der Seele machen könnte. — Aber die Erfahrungen am Menschen
widerlegen Longet vollkommen; denn wie oft wird durch Blutextravasate (Schlag-
flüsse), die in das Dach der Seitenventrikel geschehen, die Empfindlichkeit einzelner
Glieder gelähmt, obwohl die gelähmten Nerven von den Gliedern aufwärts noch in
vollkommener Verbindung mit der unverletzten Brücke stehen.


So wenig Sicheres diese Thatsachen geben, das steht fest, dass keins der Or-
gane, die wir erwähnt, so ohne Weiteres die Seelenfunktion entwickelt, wie etwa
ein Muskel zwei Knochen gegeneinander bewegt u. s. w. —


Schlaf. Traum*).


1. Die wesentlichsten der vielfachen und ihrem inneren Zusam-
menhang nach wahrscheinlich sehr verschiedenen Erscheinungen,
welche man mit dem Namen des Schlafs belegt, dürften sich folgen-
dermassen zusammenfassen lassen:


a. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Sinnesnerven
und der Seele sind vorübergehend gelöst, während die Seele ihre
Fähigkeit zur Gedankenbildung und die Möglichkeit ihrer Einwirkung
auf alle oder einzelne Muskel bewahrt hat. Zu dieser Art des Schlafs
gehört das sogenannte Nachtwandlen, das Sprechen im Schlaf u. s. w.
In vielen dieser Fällen scheint jedoch auch die Funktion der Gedanken-
bildung bis zu einem gewissen Grade beeinträchtigt; ob in allen Fällen,
ist sehr zweifelhaft.


b. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Seele und den
Muskelnerven sind gelöst, es besteht dagegen noch die Fähigkeit zur
Gedankenbildung und die Einwirkung der Sinnesnerven auf die Seele.
Diese sehr häufige Form des Traums erreicht im sogenannten Alp
ihren ausgebildetsten Typus, in welchem man sehr lebhaft von unan-
genehmen Empfindungen bedrückt wird, ohne die Fähigkeit zu be-
sitzen, Bewegungen, die man selbst für hilfreich hält, ausführen zu
können. Die bestehenden Erregungen, wie der Druck eines Kleidungs-
stückes oder ein Ton u. dgl., werden auf den richtigen Ort der Erre-
gung (die gedrückte Stelle), in einer dem Erregungszustand des
Nerven (als ein bestimmter Ton, eine angenehme oder unangenehme
[457]Schlaf, Traum.
Hautempfindung etc.) entsprechenden Weise empfinden, sie geben aber
gewöhnlich zu andern Gedankencombinationen Veranlassung und wer-
den namentlich von dem Verstande andern Ursachen als während des
Wachens zugeschrieben.


c. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Seele einerseits
und den Muskel- und Sinnesnerven andrerseits sind gelöst, es bleibt
dagegen noch das Vermögen der Gedankenbildung erhalten. Der
Grund, aus welchem die Nerven den seelischen Einflüssen entzogen
sind, darf nicht in einer Abschwächung oder gar einer Vernichtung
der Erregbarkeit der Nerven gesucht werden, weil es sehr leicht ge-
lingt, durch Einwirkungen der bekannten Erregungsmittel auf die
Sinnesnerven die entsprechenden Reflexe zu erzielen; Lichteindrücke
auf die Retina bedingen Iriscontraktionen, sanftes Bestreichen der
Handfläche oder Achselhöhle u. s. w., lösen Muskelbewegung der
Hand oder des Oberarms aus u. s. f. — Nach fast allgemein überein-
stimmenden Angaben sind in diesem Zustande aber auch die höheren
Seelenerscheinungen, (die Bildung der Gedanken und Vorstellungen)
wesentlich abweichend in ihrer Erscheinung von dem des Wachens.
Denn 1. die Vorstellungen sinnlicher Gegenstände erhalten den Cha-
rakter der Empfindung (Phantasmata), d. h. man glaubt die Gegen-
stände und Personen, welche man sich im Traume vorstellt, zu sehen,
zu hören, zu fühlen und zu schmecken. Sehr bemerkenswerth ist es,
dass Blinde, vorausgesetzt, dass sie sich während der ersten Jahre
ihrer Lebzeit des Augenlichtes erfreuten, nur im Traume die Täuschung
sehen zu können geniessen. 2. Das Bewusstsein, dass die Gedanken
und Vorstellungen von uns ausgehen, ist zum Theil verschwunden;
wir legen bekanntlich unsere eignen Gedanken den gesehenen Phan-
tasmen unter, und sind oft überrascht sehr geistreiche und scheinbar
völlig fremde oder wenigstens fernliegende Bemerkungen aus dem
Munde der Phantasmen zu hören. 3. Den Schlüssen, welche wir bilden,
fehlt die Logik, obwohl wir das Bedürfniss zur Bildung von Urtheilen
besitzen. 4. Die Gedanken treten meist in sehr raschem Wechsel auf,
können nicht willkürlich festgehalten, noch weniger auf einen be-
stimmten Punkt gerichtet werden, und entschwinden sehr leicht dem
Gedächtniss.


d. Endlich soll es Zustände vollkommener Loslösung der Seele
von Bewegungs- und Empfindungsnerven und gleichzeitigen voll-
kommenen Stillstandes in der Gedankenbildung geben. Diese Behaup-
tung wird von allen Psychologen sehr eifrig bestritten, welche die
Seele als ein absolut einfaches Wesen ansehen, welches die Bedin-
gungen seiner Thätigkeit in sich selbst trägt. Die Controverse lässt
sich leider nicht erledigen, da wenn wir uns auch häufig keiner Träume
aus einem tiefen Schlafe erinnern, damit die Gegenwart von Träumen
nicht widerlegt ist, die keine Erinnerung zurückliessen.


[458]Schlaf; Traum.

2. Von den nächsten Bedingungen zum Eintritte des Schlafes,
d. h. von den Hirnzuständen, die unmittelbar den Schlaf darstellen, ist
uns nichts bekannt; kaum dass wir einige Veranlassungen zum Schlaf
kennen. Zu diesen zählen wir a. Anstrengungen der willkürlichen
Erregung, der Empfindung und des Denkens. b. Monotone Erregungen
oder Abwesenheit der Erregungen des Nerven und des Denkvermö-
gens, z. B. ruhige ausgestreckte Lage im Halbdunkel, Lesen in gleich-
gültigen Büchern etc. c. Gewisse chemische Veränderung des Bluts,
z. B. Anhäufung von CO2, oder Gegenwart von Aether, Opium u. s. w.
im Blute. — Noch weniger sind uns die Bedingungen bekannt, die den
Uebergang der vorhin aufgezählten Formen des Schlafes ineinander,
der leicht und häufig vorkommt, bewirken.


3. Die Einflüsse, welche den Schlaf in das Wachen zurückführen,
sind zuerst die entgegengesetzten der eben angeführten, wie z. B.
lebhafte Vorstellung, kräftige Sinneseinwirkungen. Ausser diesen
wirkt aber auch erweckend, die Dauer des Schlafes selbst, indem
wahrscheinlich die vom Blute aus eingeleiteten chemischen Ver-
änderungen die Bedingungen zum Schlaf aufheben; ferner verhin-
dern den Eintritt des Schlafes eine Anzahl chemischer Körper, wenn
sie in das Blut eingetreten sind, wie z. B. Caffee.


4. Die schon aufgezählten wesentlichen Erscheinungen des
Schlafes werden meist, oder können wenigstens begleitet werden von
besondern Symptomen in Abtheilungen des Nervensystems, die in
entfernten Beziehungen zur Seele stehen. Dahin gehört eine Verlang-
samung der Athemzüge, des Herzschlags, der Darmbewegung, der
Speichel- und Thränenabsonderung. Ob nun dies Zurücktreten der
physiologischen Funktion dieser nervösen Gebilde von ähnlichen Be-
dingungen abhängt, als die Ruhe der seelischen Gebilde, oder ob diese
Erscheinungsreihen nur eine Folge des Schlafes der nächsten Um-
gebungen der Seele sind, bleibt dahingestellt. Das Letztere ist nicht
unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass die Nerven im Schlaf ihre
Fähigkeit zu reflektorischen Bewegungen, also auch ihre Erregbar-
keit, nicht einbüssen.


Aus diesen Nervenwirkungen, den wesentlichen sowohl als acces-
sorischen, fliessen nun weiterhin viele Folgen für den schlafenden Or-
ganismus, die in einem vollkommenen Bild des Schlafes noch aufge-
nommen werden müssten, wie Veränderung in dem Respirationspro-
cess, der thierischen Wärmebildung, der Ernährung einzelner Gewebe
u. s. w. Die Veränderungen dieser Prozesse sind um so wichtiger,
als mit Wahrscheinlichkeit gerade hierdurch die wohlthätigen kräfti-
genden Wirkungen des Schlafes herbeigeführt werden. Sie können
aber erst unter den Abschnitten: Kreislauf des Blutes, Respiration,
Muskelernährung, thierische Wärme u. s. w. behandelt werden.


[]

Appendix A INHALT.


  • Seite
  • Einleitung 1
  • Erster Abschnitt.
  • Physiologie der Atome 15
  • Zweiter Abschnitt.
  • Physiologie der Aggregatzustände 51
  • Dritter Abschnitt.
  • Physiologie des Nervensystems 71
  • I. Allgemeine Nervenphysiologie 71
  • A. Physiologie der Nervenröhren 71
  • B. Ganglienkörper 124
  • II. Besondere Nervenphysiologie 126
  • A. Rückenmark und Rückenmarksnerven 126
  • B. Hirn und Hirnnerven 154
  • C. Sympathischer Nerv 175
  • D. Gesichtssinn 185
  • E. Gehör 263
  • F. Geruchssinn 287
  • G. Geschmackssinn 292
  • H. Gefühlssinn 297
  • Vierter Abschnitt.
  • Physiologie des Muskelsystems 312
  • I. Allgemeine Muskelphysiologie 312
  • A. Physiologie der quergestreiften Muskelröhre 312
  • B. Physiologie der muskulösen Faserzelle 349
  • Seite
  • II. Besondere Muskelphysiologie 353
  • A. Verknüpfung der Muskeln mit den Nerven 353
  • B. Das Skelet mit seinen Muskeln 362
  • C. Stimm- und Sprachwerkzeuge 413
  • Stimme 413
  • Sprache 434
  • Fünfter Abschnitt.
  • Physiologie der Seelenorgane 440
  • Organe der Empfindung 440
  • Willkürliche motorische Erregung 446
  • Sitz der Seele 452
  • Schlaf. Traum 456

[][][]
Notes
*)
das heisst überzögen sich in Folge der Berührung B mit positiver und die Flüssigkeit mit
negativer Electrizität u. s. w.
*)
Helmholtz, die Erhaltung der Kraft. Berlin 1847, p. 37 u. f.
*)
Grundriss der organischen Chemie. Braunschweig 1851, p. 35.
*)
Annalen der Chemie v. Liebig. 76. Bd. 1.
**)
Liebig’s Annalen LXV.
***
Pharmazeut. Centralblatt 1851. 645.
*)
Poggendorf Annalen LXXX. 114.
**)
Laurent u. Gerhardt. Liebigs Annal. LXXII.
*)
Essigsäure zählt auch zu den organischen Körpern, welche durch Composition unorganischer
gebildet werden können, indem das Cl2 O3 C2 Cl3; HO die sogenannte Chlorkohlenoxalsäure
künstlich darstellbar ist, aus welcher durch Behandeln mit Kali und Wasser Essigsäure er-
zeugt werden kann. (Kolbe).
*)
Liebig’s Annalen 70. — Laurent u. Gerhardt compt. rend. des travaux d. chim. 1819. 343.
*)
Poggendorf Annalen LXXIX. 524.
*)
Liebig Art. Gährung im Handwörtb. d. Chemie. III. Bd.
**)
Scherer. Eine neue Zuckerart. Verhandlungen der physikalisch-medizinischen Gesellschaft
in Würzburg. I. Bd. p. 51 u. Annalen d. Chemie. 1852. Märzheft.
*)
Strecker, Liebigs Annalen LXXV. 27.
*)
Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. 1850. — Lieb. Annalen 1850.
*)
Buchner, Ueber einige neue Gährungs- und Verwesungserscheinungen. Liebigs Anna-
len LXXVIII.
*)
Liebig’s Annalen 73. p. 330.
*)
Scherer, Liebigs Annalen 73. p. 328.
*)
Compt. rend. Tom. XXXII. 414.
*
Verhandlungen der physikal.-medizinischen Gesellschaft in Würzburg II. Bd. 298.
**)
Ueber pathologische Pigmente in Virchow’s Archiv. 1. Bd.
***)
Virchow, Liebigs Annalen 78. Bd.
*)
Liebigs Annalen 57. Bd.
**)
Lieberkühn Poggend. Annall. 86. Bd. 110.
***
Scheerer, pharmaz. Centralblatt 1852. p. 216.
†)
Henle, rationelle Pathologie II. Bd. p. 150.
††)
Henle l. c.
*)
Bruch in Henle’s Zeitschrift 9. Bd.
*)
Dieses fällt besonders auf, wenn man die Zahlen der genauen Analytiker Cahours, Mul-
der, Scherer, Liebig, Dumas
u. s. w. vergleicht.
**)
Liebigs Annalen 61. Bd. 156.
***)
De la Rue gibt das Tyrosin nach der Formel C18 H11 NO6 zusammengesetzt an.
*)
Eigenthümliche Theorien über diese Säure siehe bei van d. Pant in scheikondige Onderz.
5. Deel.
**)
Helmholtz in Müller’s Archiv 1843. — Struve u. Döpping. Petersburger akademische
Bülletins VI. 145.
***)
Blondeau Journ. de pharmac. XII.
*)
Buchner, Ueber einige neue Gährungs- und Verwesungserscheinungen. Liebigs Annalen
78. Bd.
**)
Charakteristik der epid. Cholera. 58 u. f.
*)
Liebigs Annalen Bd. 61. p. 168.
*
Liebigs Annalen 61. Band. Siehe hierüber die Magenverdauung.
*)
Wenn man den Begriff Krystallisation nicht so weit wie Frankenhein ausdehnt; dann ist
aber auch Eiweiss krystallinisch. Krystallisation u. Amorphie. Breslau 1852.
**)
Müllers Archiv 1849.
***)
Lehmann, Pharmazeut. Centralblatt 1852. N. 226.
†)
Chevreul. Annales de chimie et de physique XIX. (1821). Liebig, Untersuchungen über
einige Ursachen der Säftebewegung. 1848. p. 8 u. f.
††)
Annales de chimie XXI. (1847). p. 358.
*)
Ed. Weber quæstiones physiologieæ de phænomenis galvano-magneticis etc. Leipzig 1836.
*)
Artikel Synovia in Wagners Handwörterbuch. III. A.
**)
Ueber den flüssigen Schleimstoff, Liebigs Annalen 57. Bd.
***)
Specimen chemico-physiol. inaug. contin. quædam de saliva et muco. 1849.
Ludwig, Physiolog. I.
*)
Verhandlungen der med. physikalischen Gesellschaft zu Würzburg II. Bd. 321.
*)
Poggendorf Artikel Diffusion im Handwörterbuch der Chemie 2. Bd.
*)
Graham on the motion of gases. Philosophical Transactions Part IV for 1846.
*)
E. Brücke de diffusione humorum p. septa viva etc. Berl. 1842 u. Poggend. Annalen 1843.
Poggendorf Art. Absorption im Handwörterbuch d. Chemie I. Bd. u. Diffusion ibid. II. Bd. 596.
Vierordt Bericht über die bisherigen die Endosmose betreffende Untersuchungen u. s. w.
im Archiv v. Roser u. Wunderlich 1846, 47 u. 48. — Liebig, Untersuchungen über einige Ur-
sachen der Säftebewegung. Braunschweig 1848. Jolly, Experimentaluntersuchungen über
Endosmose. Zeitschrift für ration. Medicin Vol. VII. — C. Ludwig über endosmot. Aequiva-
lente u. endosm. Theorie ibid. Vol. VIII. Cloetta Diffusionsversuche durch Membranen mit
2 Salzen. Zürich 1851. — Olechnowitz experimenta quædam de endosmosi. Dorpat 1851. —
Wistingshausen experimenta quædam endosmotica etc. Dorp. 1851. Ausserdem sind wich-
tig die Berliner physikal. Jahresberichte für 1845 p. 26 für 1847 p. 14 u. 1848 p. 24. Verfasst
von E. Brücke.
*)
Philosoph. Magaz. XXIV. 1.
**)
Annal. d. chim. et phys. 3. Ser. XXXIII.
*)
Liebigs Annalen 77. Bd. u. ibid. 80. Bd.
*)
Siehe die Literatur mit Auszügen bei Gmelin Handbuch der Chemie IV. Aufl. I. Bd. 525.
*)
d. h. des Werthes, welchen das Aeq. besitzt, so lange noch keine merkliche Veränderung in
den dasselbe bedingenden Umständen eingetreten.
*)
Kölliker, Mikroskopische Anatomie II. Bd. a. 391 u. f.
*)
Lehmann physiologische Chemie III. 114.
**)
Untersuchungen über thierische Electricität I. u. II. Bds. 1. Abth. Berlin 1848 u. 1849.
*)
Die um ein kleines geringere Stärke, welche der elektrotonische Zuwachs in der negativen
Phase constant gegen den der positiven Phase zeigt ist hier vernachlässigt worden.
*)
Die obige Angabe enthält noch, wie der Wissende sogleich sieht, eine Unrichtigkeit. Dieser
Fehler hätte nur vermieden werden können, wenn man entweder ausführlicher als hier
möglich die Lehre von den isoelektrischen Curven entwickelt oder ganz darauf verzichtet
hätte die Theorie des peripolaren Molekels zu erläutern.
*)
J. Müller Handbuch der Physiologie 4. Aufl. — Volkmann Nervenphysiologie in R. Wag-
ners
Handwörterbuch. 2. Bd. — Spiess Physiologie des Nervensystems. Braunschweig 1844.
E. H. Weber Tastsinn, Wagners Handwörterb. 3. Bd.
*)
Müllers Archiv 1842. Sehr merkwürdige auf diesen Gegenstand bezügliche Erfahrungen
siehe bei Flourens. Heusingers Zeits. für org. Physik Bd. II. 1828.
*)
Ueber die Einwirkung der Temperatur etc. Henle u. Pfeufer X. Bd. 165. Die von Pick-
ford
im ersten Band der neuen Folge derselben Zeitschrift gegebenen Mittheilungen über
denselben Gegenstand können leider nicht benutzt werden, weil sie theils sich selbst wider-
sprechen, vorzugsweise aber weil die Methoden, die zur Feststellung der Thatsachen be-
nutzt wurden, vielfach mit Fehlern behaftet sind.
*)
Joh. Müller, Lehrbuch der Physiologie. 4. Aufl. I. — Helmholtz, Messungen über den zeit-
lichen Verlauf u. s. w. Müllers Archiv 1850. 276. — du Bois Reymond Untersuchungen
über thier. Electr. Bd. II. p. 570 u. f. — E. H. Weber Artikel Tastsinn in Wagners Hand-
wörterbuch.
*)
Volkmann Artikel Nervenphysiologie. — Joh. Müllers Lehrbuch. — du Bois Reymond
thier. Electricität II. 529 u. f. u. 595 u. f.
*)
Stannius, Müllers Archiv 1847.
*)
Versuche über die Restitution der Nervenerregbarkeit nach dem Tode. Giessen 1847.
**)
Archiv. general. d. Med. 1847.
*)
Müllers Archiv 1848. Ueber die Wärmeentwickelung bei der Muskelaction.
*)
Ed. Weber. Quæstiones physiologicæ de phænomenis galvano-magneticis etc. 1836.
**)
Physiologie. IV. Aufl. 544.
***)
Rationelle Pathologie I. Bd. 110.
*)
In der folgenden Darstellung habe ich es häufig vermieden einen Gewährsmann für die vor-
gebrachten Thatsachen anzuführen, nicht darum weil etwa nicht ein oder der andere Phy-
siologe bekannt wäre, welcher diese oder jene Thatsache beobachtet hätte, wohl aber dess-
halb, weil der Entdecker, der einzige, dem die Ehre der Berufung gebührt, nicht feststeht;
es schien mir desshalb vorzüglicher, lieber ganz zu schweigen als geradezu Unrecht zu thun
**)
Kölliker, Mikroskopische Anatomie II. Bd. 1. Abthlg.
*)
De medullæ spinalis textura ratione inprim. etc. Dorp. 1852.
Ludwig, Physiologie I.
*)
Longet, Anatomie et Physiologie du systeme nerveux de l’homme etc. I. 1842. — Volk-
mann
, Artikel Nervenphysiologie in Wagners Handwörterbuch II. Bd. — Eckhard,
Ueber Reflexbewegung der vier letzten Nervenpaare des Frosches. Henle u. Pfeufer
VII. Bd. — Stannius, das peripherische Nervensystem der Fische 1849.
*)
Longet, Traité de physiologie. Paris 1850. II. Bd. 2e part. 274. — Schiff, Archiv für physiol.
Heilkunde X. Bd. 133.
*)
Ausser der früher angeführten Literatur Eigenbrod, Ueber die Leitungsgesetze im Rücken-
mark; Giessen 1849. — Kölliker, mikroskop. Anatomie II. 1. 439. — Brown — Séquard de la
transmission des impressions sensitives etc. Compt. rend. 1850. XXXI. Bd. — L. Türk, Ueber
den Zustand der Sensibilität. Wien. Zeitschrift für d. G. d. A. März 1851. — Ergebnisse phy-
siolog. Untersuchungen, Sitzungsberichte der Wiener Akadem. Apr. 1851. — Ueber secundäre
Erkrankung einzelner Rückenmarksstränge und ihrer Fortsetzung. Ibid. März 1851.
*)
Kürschner, Uebersetzung von Marshall Hall’s Abhandlungen über das Nervensystem.
Marb. 1840. — Volkmanns Artikel Nervenphysiologie. Wagners Handwörterb. II. 529. —
Henle, rationelle Pathologie I. Bd. 204.
*)
Müller 1. c. I. p. 587 u. II. 85. Henle ration. Pathol. I. 205 u. f.
Ludwig, Physiologie I.
*)
Stromeyer de combinatione actionis nervorum et motoriorum et sensoriorum. Erl. 1839. —
Valentin, Lehrbuch der Physiologie. II. b. 492. — Volkmann, Nervenphysiologie Wag-
ners
Handwört. II. B. 530. — Henle, rationelle Pathologie l. c.
*)
Kürschner in der Uebersetzung von Marshall Hall’s Abhandlung über Reflexbewe-
gung. Marburg 1840. — Volkmann, Artikel Nervenphysiologie. — Todd and Bowmann,
physiologie and physiological anatomy I. 320 u. f.
*)
Stannius, Müllers Archiv 1837 u. 1852. — Stilling, Untersuchungen über die Funktion
des Rückenmarks. — Valentin, Lehrbuch der Physiologie. 2. Aufl. II. Bd. 6. — H. Meyer,
Ueber die Natur des durch Strychnin erzeugten Tetanus. Henle u. Pfeufer Bd. V. 257. —
*)
Henle, Allgemeine Anatomie. Leipzig 1840. 727.
*)
Engelhard, Müllers Archiv 1841. — Harless ibid. 1845. — Siehe auch Budge, Untersu-
chungen über das Nervensystem. — Volkmann, Müllers Archiv 1845.
**)
Siehe bei Kürschner und Eigenbrodt.
***)
Volkmann, Beitrag zur nähern Kenntniss der motorischen Nervenwirkungen. Müllers
Archiv 1845.
*)
Todd and Bowmann physiological anatomy and physiology III. p. 9.
*)
Longet, Anatomie et Physiologie du Système etc. II. 50. — Todd and Bowmann l. c. 39.
Foville, Anatomie du système cerebrospinal I. p. 510. — Brücke, das Auge. Berlin 1817. —
Kölliker, mikroskop. Anatomie II. 1. 480 u. 517. — Hannover, im Jahresbericht über spe-
cielle Anatomie für das Jahr 1851 v. Henle p. 61.
*)
Zu den angeführten Werken noch Pappenheim u. Corti in Köllikers mikroskopischer
Anatomie II, 1. 519. — Czermak ibidem. — Corti recherches sur l’organe de l’ouie etc.
Zeitschrift für wissenschaftl. Zoologie 1851. 134.
**)
Stilling, Bau des Hirnknotens. Jena 1846. — Rosenthal de numero atque mensura micros-
copica fibrillarum. Breslau 1845.
*)
Ed. Weber, Artikel Muskelbewegung in Wagners Handwörterb. III. 2. Abth. — Stilling,
der Bau des Hirnknotens. Jena 1846.
*)
Romberg, Lehrbuch der Nervenkrankheiten I. Bd. 33 u. 215. — Rahn, Untersuchungen
über Wurzeln und Bahnen u. s. w. Henle u. Pfeufer, Neue Folge. I. Bd.
**)
Vid. Valentin, Lehrbuch der Physiologie II. 6. 362.
*)
Nuhn, Versuche über den Einfluss d. N. facialis auf die Bewegungen des Gaumensegels in
dessen Untersuchungen u. Beobachtungen aus dem Gebiete der Anatomie etc. Heidelb. 1849.
*)
Stannius. Ueber die Funktionen der Zungennerven. Müllers Archiv 1848. — Romberg,
Nervenkrankheiten. I. Bd. 256. — Mayer, diss. sistens paralyseos nervi trigemini casum.
Fref. ad. Mœn. 1847. — Kölliker, Mikroskop. Anatomie II. b. 33. u. Verhandlungen d. physik.
medizinischen Gesellschaft II. 169. — Riffi u. Morgauti, Su i nervi della lingua etc. in Va-
lentin
, Jahresbericht über 1846. 197.
*)
Claude Bernard. Recherches expérimentales sur les fonctions du nerf spinal etc. Archiv.
général. 1844.
*)
Donders. Onderzoekinge gedaan in het physiologisch Laboratorium der utrechtsche Hooge-
school 2. Jaar 1849. p. 9 in der Abhandlung über den Zusammenhang zwischen Blutlauf und
Athemholen. — Kilian. Einfluss d. medull. oblongata etc. Henle u. Pfeufer. Neue Folge
II. Bd. — Fowelin de causa mortis post nervos vagos dissectos. Dorpati 1851.
*)
Volkmann, Artikel Nervenphysiologie. — Budge, Neurolog. Mittheilungen, Zeitschrift für
wissenschaftl. Zoologie 1851. — Compt. rend. 1851. 33. Bd.
*)
Longet, Anatomie et physiologie etc. 1. Bd. — Volkmann, Artikel Hirn in Wagners
Handwörterbuch 1. Bd. — Valentin, Lehrbuch der Physiologie 2. Aufl. II. Bd. b.
*)
Flourens, détermination du point vital de la moëlle allongée compt. rend. XXXIII. 437. —
Longet, Traité de physiologie. Paris 1850. II Vol. deux. part. p. 206.
**)
Wild, Ueber die peristaltische Bewegung des Oesophagus u. s. w. Henle u. Pfeufer V. Bd. 76
*)
Kölliker, Mikroskop. Anatomie II. a. p. 522. — R. Wagner, Bericht über die gemeinschaftl.
etc. angestellte Beobachtung. Göttinger, gelehrte Anzeigen 1851. Nr. 14. — Stannius,
Neurolog. Erfahrungen. — Göttinger, gelehrte Anzeigen 1851. Nr. 17. p. 235.
*)
Budge. Neurolog. Mittheilungen. Ztschrift f. wiss. Zoolog. III. Bd.
**)
Schiff über d. anatom. Charakter etc. Archiv für physiologische Heilkunde. IX. Bd. 145.
*)
Valentin II. a. 424.
**)
Zeitschrift für wissenschaftl. Zoologie III. Bd. S. 347. — Valentin, Jahresbericht für 1851.
p. 173 u. f.
***)
Compt. rend. 1852 Febr.
*)
Henle u. Pfeufer. Neue Folge. 2. Bd. pag. 1 u. f.
*)
Roser u. Wunderlichs Archiv. II. Bd.
*)
Siehe hierüber in der allgemeinen Muskellehre die glatte Muskelfaser.
*)
Henle u. Pfeufer. VII. Bd.
**)
Siehe hierüber auch die Beobachtungen von Schiff, wonach Compression der Aorte die
automatischen Organe des Unterleibs erregen soll — Froriep, Tagesberichte 1851. Nr. 327.
*)
Müllers Archiv 1844. Erfahrungen über die funktionelle Selbstständigkeit u. s. w. Aehnliche
Beobachtungen an Schildkröten, Fröschen und Tauben haben Brown-Sequard. Compt.
rend. Tom. XXX. (Gazette medicale 1851, Nr. 26 u. 30) und Schiff angestellt, die aber nichts
Neues über diesen Gegenstand lehren.
*)
Tourtual, Beobachtungen an einem Auge mit einer seltenen Difformität. Müllers Arch.
1846. — Volkmann, Artikel Sehen in Wagners Handwörterbuch III. a. — Donders Bei-
trag zur Lehre von den Bewegungen des menschl. Auges. Holländ. Beiträge I. 105. — Ruete,
Lehrbuch d. Ophthalmologie. Göttingen 1845. p. 8. — Bernh. Gudden quæstiones de motu
oculi humani. Diss. inaugur. Hall. 1848.
*)
Rüte, Ophthalmologie p. 14.
**)
Müller, Lehrb. d. Physiologie II Bd. 333. — Brücke in den Berliner Berichten über Fort-
schritte d. Physik. I. Bd. 203.
*)
H. Meyer. Zur Lehre v. der Synergie d. Augenmuskeln. Poggendorfs Annal. Bd. 85. 1852.
J. Müller, Lehrbuch der Physiologie II. Bd. p. 85. — Böhm, das Schielen. Berlin 1845.
p. 15 u. f.
*)
Volkmann, Artikel Sehen in Wagners Handwörterb. III. Bd. 1. Abthl. p. 276. — Brücke,
Berliner Berichte II. p. 215.
**)
Tab. I und II mit einem Auge, Hüttenheim.
*)
So dass wenn der Sinus des Einfallswinkels die Länge von 4 habe, der des Brechungswinkels
3 sei.
*)
Krause, Poggendorf. Annal. 39. Bd. (1836) p. 529. — Senff in Volkmanns, Artikel Sehen,
Wagners Handwörterbuch III. Bd. I. Abthl. 271. — Ad. Fick, Erörterung eines physiolog.
optischen Phänomens. Henle u. Pfeuffer. Neue Folge II. Bd. 83. — E. Brücke, Anatomische
Beschreibung des menschlichen Augapfels. Berlin 1847. — Sturm sur la theorie de la vision
Poggendorf. Annalen 65. Bd. 116.
*)
Diese Bestimmung gilt nun begreiflich nur für Linsenstücke vom grössten Dickendurchmes-
ser, welche also sämmtliche innere brechende Flächen enthalten.
**)
Compt. rend. XXV. 190.
*)
Moser, über das Auge. Repertor. der Physiol. v. Dove. V. Bd. 337. — Listing. Zur Dioptrik
des Auges. Wagners Handwörterbuch IV. Bd. — Volkmann. Neue Beiträge zur Physiologie
des Gesichtssinnes. Leipzig 1836. p. 24 u. Artikel Sehen in Wagners Handwörterbuch. III.
1. Abthl. 287.
**)
Das + vor 8 u. 10 im Gegensatz zum — vor 6 bedeutet, dass in den ersteren Fällen die Krüm-
mung mit der convexen Seite nach vorn und im letztern mit der convexen Seite nach hinten
schaut.
*)
Helmholtz, Beschreibung eines Augenspiegels. Berlin 1851.
*)
Volkmann. Neue Beiträge etc. 105 u. f.
*)
Henle u. Pfeufer. Neue Folge II. Bd. — Siehe hierüber auch Müller in Poggendorfs An-
nalen 86 Bd.
**)
Dove’s Repertor. l. c.
***)
Henle u. Pfeufer V. Bd. 388 (1846).
*)
Holke Disquisitio de acie oculi u. s. w. Siehe in Valentins Lehrbuch d. Physiologie II. Bd.
3. Abthl. 250.
**)
Die Bewegung der Krystallinse. Leipzig 1841.
***)
Wagners Handwörterb. III. 1. 309.
*)
Die eleganteste unter diesen hat Sturm in einer lesenswerthen Abhandlung entwickelt.
Poggend. Annal. 65. Bd.
**)
Wie sehr sich die Verhältnisse bei Vögeln anders gestalten als beim Säugethier ist aus der
ausgezeichneten Abhandlung von Brücke zu ersehen. Ueber den Muscul. cramptonianus
u. den Spannmuskel der Choroidea. Müllers Arch. 1846.
***)
Listing, Zur Dioptrik des Auges, Wagners Handwörterbuch IV. Bd. 498.
†)
Donders, Ueber den Zusammenhang zwischen d. Convergiren der Sehachsen etc. Valen-
tins
Jahrb. f. Physiol. 1849. p. 153.
*)
H. Meyer, Ueber den Einfluss der Augenmuskeln für die Accommodation des Auges. Henle
u. Pfeufer
V. 388.
*)
Bewegung der Krystalllinse. Leipzig 1841.
**)
Wagners Handwörterbuch IV. Bd. p. 504.
*)
Sturm sur la théorie etc. l. c. — H. Meyer, Zeitschrift von Henle u. Pfeufer. V. Bd. 368. —
Challis, Philosoph. Magazin XXX. 366. A. Fick l. c.
**)
Tourtual, Jahresbericht über Physiologie des Gesichtssinnes. Müllers Archiv 1840.
XLV u. f. — Volkmann, Artikel Sehen p. 29.
***)
E. H. Weber, Summa doctrinæ de motu iridis ex. ann. 1851. Annota tiones anatomicæ etc.
fascic. III.
*)
Brücke, Beschreibung des menschlichen Augapfels. Berlin 1847.
**)
Budgeu. Waller in Valentins Jahresbericht d. Physiol. für 1851. 173.
***)
Mayo sur les nerfs etc. in Magendie’s Journ. de physiol. Tom. III. — Lambert bei E. H.
Weber p. 95.
*)
Fraunhofer, Gilberts Annalen 56. p. 304. — Matthiessen mémoire sur le chroma-
tisme etc. Compt. rend. XXIV. 875. — Tourtual in Meckels Archiv 1830. — Niedt de diopt.
ocul. colorib. Berlin 1842. — Valée compt. rend. XXIV. 1096. Die Annahmen dieses Autors
sind gänzlich unerwiesen.
*)
Brücke, über die physiologische Bedeutung der stabförmigen Körper und der Zwillings-
zapfen in den Augen. Müllers Archiv 1844.
*)
E. Brücke, über die leuchtenden Augen der Wirbelthiere. Müllers Arch. 1845. — Ders.,
über Leuchten der menschlichen Augen ibid. 1847. — Helmholtz, der Augenspiegel. p. 9.
*)
Purkinje commentatio de examine physiologico organi visus. Vratislav. 1823. — H. Meyer,
über den Sanson’schen Versuch. Henle u. Pfeufer Zeitschrift V. Bd.
**)
K. v. Erlach, Mikroskopische Beobachtungen über organ. Elementartheile u. s. w. Müllers
Archiv 1847. — du Bois-Reymond, Fortschritte der Physik III. Bd. 138. — Haidinger,
Poggendorf
Annalen 53., 55. u. 58. Bd. u. Fortschritte der Physik II. Bd. 183, III. Bd. 149-155.
***)
Helmholtz, der Augenspiegel p. 39. — Helmholtz, über die Theorie der zusammenge-
setzten Farben. Müllers Archiv 1852. — E. Brücke, über das Verhalten der optischen
***)
Medien des Auges gegen Licht u. Wärmestrahlen Müllers Archiv 1845. 262. — Fechner,
über subjective Nach- und Nebenbilder. Poggend. Annalen 50. Bd. ibid. 44. Bd. — E. Brücke,
Untersuchungen über subjective Farben. Wien 1851 u. Poggend. Annalen. 84. Bd. 418. —
Seebeck. Poggend. Annalen 42. Bd. — Dove, über den Einfluss der Helligkeit etc.
Poggend. Annal. LXXXV. Bd. — Helmholtz. Ueber Hrn. D. Brewsters neue Analyse
des Sonnenlichts. Poggend. Annal. LXXXVI. Bd.
*)
Lehrbuch der Physiologie II. Bd. 2. Abthl. 165.
**)
Handbuch der Gewebelehre. Leipzig 1852. p. 606.
*)
Brücke, Beschreibung des menschlichen Augapfels. Berlin 1847.
**)
Henle in Henle u. Pfeufer Zeitschrift. Neue Folge II. Bd. 304.
*)
Radicke, Handbuch der Optik II. Bd. 259.
**)
Poggendorf Annalen 27. Bd. 497.
*)
Du Bois-Reymond, Thier. Electricität I. 284 u. 345.
**)
Volkmann, Artikel Sehen. Wagners Handwörterbuch. — Radicke, Handbuch d. Optik
II. Bd. 255 u. f. Ausserdem die erwähnten Abhandlungen von Brücke in Fechner.Tour-
tual
Jahresbericht über Fortschritt der Physiol. des Gesichtssinnes in Müllers Archiv. —
Plateau Poggend. Annalen Bd. 32 u. Annal. de chimie et physique LVIII. Bd.
*)
Poggend. Annal. 50. Bd. 445.
*)
Plateau, Poggend. Annal. I. Ergänzungsband. p. 79; Fechner ibid. 50. Bd. 195. —
Brewster, Poggend. Annal. 27. Bd. 490. — Brücke, Untersuchungen über subjective
Farben. III. Bd. der k. k. akad. Denkschriften. 1851. — H. Meyer, Wiener Akad. Bd. VII. 454.
Dove, Ueber Ursachen d. Glanzes und der Irradiation. Poggend. Annal. 83. Bd.
*)
l. c. 433.
*)
Hueck, Müllers Archiv 1840. — Volkmann, Artikel Sehen l. c. — Radicke, Handbuch
der Optik II. Bd. 259.
*)
Gegen Volkmann siehe E. H. Weber; Tastsinn. Wagn. Handwörterb. III. B. 532.
*)
Hierbei erscheint jedoch jedesmal nach einer Bemerkung von E. Becher, auch an der Druck-
stelle eine schwache Lichtempfindung, die wahrscheinlich ihren Grund in der Erregung einer
Netzhautpartie auf der entgegengesetzten Seite hat, wohin sich der Druck fortpflanzt.
*)
Joh. Müller, Handbuch der Physiologie. II. Bd. — Wheatstone, Poggend. Annalen
1. Ergänzungsband. — Brücke in Müllers Archiv 1841. p. 459. — Dove, Poggend. Annalen
71. Bd. — Regnault u. Foucault in Valentins Jahresbericht 1849 p. 177.
*)
Da die Sehachse senkrecht auf der Knotenebene steht.
*)
Wagners Handwörterbuch III. Bd. 307.
*)
Ueber die Schätzung der Grösse u. s. w. Poggend. Ann. 85. Bd. 198.
*)
Poggendorf Annalen. 81 Bd. 118.
*)
Archiv für physiolog. Heilkunde. I. Bd. — Brewster, Philosoph Magaz. XXX. 366.
*)
Müllers Archiv. 1841. l. C.
*)
Poggendorf, Annalen 83. Bd.
*)
Bei Tourtual in Müllers Archiv 1838. 323.
**)
Listing, Beitrag zur physiologischen Optik. Göttingen 1845. F. C. Donders Beitrag zur
Bestimmung des Sitzes der entoptisch wahrnehmbaren Gegenstände im Auge. Archiv für
physiol. Heilkunde VIII. 30. ein Auszug aus einer grösseren Abhandlung in Nederlandsch
Lancet. II. 558.
*)
Begreiflich bleibt aber innerhalb einer begrenzten Masse dieses Produkt nur so lange unver-
ändert als dieselbe keine bewegenden Kräfte jenseits ihrer Grenzen abgibt.
*)
Die Thatsache der Reflexion bedarf keiner besonderen Erläuterung mehr, wenn einmal fest-
steht, dass die Grenzpartikel nicht ihre ganze Kraft an die neue Masse abgibt; offenbar wird
dann nämlich das schwingende Endtheilchen seine Bewegungen auf die homogenen Nach-
barn übertragen, u. s. w.
*)
Esser, Annales des seiences naturelles. F. XXVI. 1832. Valentin, Physiologie II. Bd. 243.
*)
Ed. Weber, Berichte der Leipziger Gesellsch. der Wissenschaften. Mathem. phys. Klasse
1851. p. 29. —
*)
Savart sur les usages du tympan. Ann. d. chimie XXVI. Bd. — Seebeck in Repertor. d.
Physik v. Dove VIII. Bd. Akustik p. 60 u. 103. — Gehler, physikal. Wörterbuch IV. Bd.
1208. u. 1268.
*)
Müllers Archiv 1850. 526. Siehe ausserdem über Bewegung des Hammermuskels; Luschka
Archiv für physiolog. Heilkunde, IX. Bd. p. 80 und Hauff, Valentins Jahresbericht über
1850. p. 119.
*)
Compt. rend. XV. 1.
**)
E. H. Weber, Gesammelte Programme 1. Bd. Leipzig 1834. p. 25 de utilitate eochleæ in organ.
aud. — Joh. Müller, Handbuch der Physiol. II. Bd. p. 459. — Ed. Weber l. c. und Berichte
der Naturforscher-Versammlung zu Braunschweig.
*)
Recherches sur l’organe de l’ouïe etc. Zeitschrift für wissenschaftl. Zoologie von Kölliker
III. Bd. 1. Hft.
*)
Harless, Artikel Hören in Wagners Handwörterbuch. IV. Bd. 447.
*)
Valentins Jahresbericht über Physiologie 1851. p. 162.
**)
De utilitate cochleæ etc. 1. c.
*)
Artikel Tastsinn in Wagners Handwörterbuch p. 508.
*)
Dove Repertor. d. Physik. VI u. VIII. Akustik.
**)
Seebeck l. c. VI. p. 7. — S. auch Savarts Versuche mit dem Zahnrad. Annales d. chim. et
phys. 44. u. 47. Bd.
*)
Wellenlehre p. 458.
**)
Repertor. v. Dove VIII Bd. Akustik p. 1 u. f.
*)
Dove’s Repertorium VI. u. VIII. Bd.
**)
Dove’s Repertorium III.
*)
Dove’s Repertorium VIII. Akustik 106.
*)
Repertorium III. 404.
**)
Repertor. VIII. Bd. Akustik 107.
*)
Kölliker, Handbuch der Gewebelehre 1852. p. 632.
**)
Lehrbuch der Physiologie II. Bd. b. 2te Aufl. 292.
*)
Frölich in Valentins Jahresbericht der Physiologie über 1851. 163.
**)
l. c. 283 u. 288.
***)
Amœnitates academicæ tom. III. 1756. p. 183.
†)
Observations sur les parties volatiles et odorants etc. Hist. et memor. de la société royale de
méd. 1785. p. 306.
††)
Mémoire sur l’esprit recteur etc. Ann. d. chim. 26. Bd.
*)
Müllers Archiv 1847. p. 351
*)
l. c. p. 281 u. f.
*)
Wagners Handwörterbuch II. Bd. p. 920. Siehe jedoch auch Longet, Traité de physiologie.
Paris 1850. p. 159 u. f.
*)
Longet, Traité de physiol. II. Bd. a. 165. — Bidder, Art. Schmecken in Wagners Hand-
wörterbuch III. Bd. a.
*)
Chevreul. Journal de physiol. experimentale tom. IV. 1824.
*)
du Bois-Reymond l. c. 1. Bd. p. 287 Anmerk. u. p. 339.
*)
Ueber den Geschmackssinn der Menschen. Heidelberg 1825. Siehe einen Auszug mit Tabelle
in Valentins Lehrbuch der Physiol. II. b. 301. — Guyot u. Admirault bei Longet l. c.
p. 166.
*)
Lehrbuch der Physiologie II. Bd. b. p. 301.
*)
E. H. Weber Artikel Tastsinn in Wagners Handwörterbuch.
*)
Du Bois-Reymond 283 und 354.
*)
Gottinger gelehrte Anzeige, Februar 1852. — Müllers Archiv 1852. 493.
**)
Kölliker, Handbuch der mikrosk. Anatomie p. 85.
*)
E. H. Weber l. c. p. 563.
Ludwig, Physiolog. I.
*)
Lehrbuch der mikrosk. Anatomie II. a. p. 39 u. f.
**)
Lotze medizinische Psychologie. Leipzig 1852. p. 395 u. f.
***)
Lichtenfels, Sitzungsberichte der Wiener Akademie. VI. 338.
*)
l. c. 1. Bd. 283.
**)
Archiv für physiolog. Heilkunde. XI. Bd. 3. u. 4. Heft.
*)
Valentin dürfte den bei dieser Gelegenheit gemachten Fehler über Leitungsge-
schwindigkeit der Erregung
irgendwo selbst verbessern.
*)
Kölliker, Mikroskopische Anatomie II. 1. p.
*)
Lehmann, physiolog. Chemie. Leipzig 1851. III. Bd. 76.
*)
Siehe über Asche des ganzen Pferdefleisches (der ursprünglich festen und flüssigen Theile)
nach und vor Austreiben des Blutes aus den Gefässen Weber in Poggendorf Annal. 76. Bd.
p. 305 und 81. Bd. p. 91.
*)
du Bois Fortsetzung der Untersuchungen über thier. Electrizität. Berliner akadem. Monats-
berichte. Juni 1851.
*)
Muskelbewegung in Wagner’s Handwörterb. III. 2. Abth.
*)
Sie ist nach den Grundzahlen v. Ed. Weber l. c. p. 109 entworfen.
*
Müllers Archiv 1850. 393.
**
Müllers Archiv 1845. 72.
*)
Müllers Archiv 1852.
*)
Henle u. Pfeufer X. 164.
**)
Henle u. Pfeufer Neue Folge II. Bd.
*)
Die Ordinaten bedeuten also die Menge von Electrizität, welche in jedem unendlich kleinen
Zeittheil durch den Querschnitt des Nerven strömt.
*)
Du Bois; thierische Electr. II. Bd. 1. Abth. 393 Note.
*)
Messungen über den zeitlichen Verlauf u. s. w. Müllers Archiv 1850.
**)
In gebräuchlicher Weise verstehen wir auch hier unter Stromesrichtung die des positiven
Stromes, welcher durch die flüssigen Theile der Kette in der Richtung von dem positiven
zum negativen Metall geht.
*)
Helmholtz, Ueber den zeitlichen Verlauf u. s. w. Müllers Archiv 1850. 276. Messungen
über Fortpflanzungsgeschwindigkeit u. s. w. ibid. 1852. 199. — Volkmann, Ueber das Zu-
standekommen der Muskelcontraktion. Leipziger Berichte. Mathemat. physische Classe 1851. 1.
Ueber die Kraft u. s. w. ibid. 1851. 54.
*)
Wagners Handwörterbuch III. 1. 110.
*)
II. Bd. 1. Abthl. p. 93 u. f.
**)
Ueber die bei der Muskelaction entwickelte Wärmemenge. Müllers Archiv 1848.
*)
Annales de chim. et physiq. 2° ser. 39. Bd. 132.
*)
Müllers Archiv 1845. Ueber den Stoffverbrauch bei der Muskelaktion.
**)
Annal. d. Chem. v. Liebig u. Wöhler. Bd. 62.
***)
Annal. d. Chem. v. Liebig u. Wöhler 73. Bd.
*)
Journal für prakt. Chemie Bd. 48. p. 435.
**)
Wagners Handwörterbuch II. Bd. p. 886.
***)
Physiolog. Chemie 1. Bd. 2. Aufl. p. 169.
†)
Ed. Weber. Wagners Handwörterbuch III. 2. Abth. p. 91.
*)
l. c. p. 86 u. f.
*)
du Bois II. Bd. 1. Abth. p. 178 u. 550. — Pickford, Zeitschrift für rat. Medizin. Neue Folge.
I. 110.
**)
Valentin, Lehrbuch der Physiologie II. a. 113. — Stannius, Untersuchungen über Lei-
stungsfähigkeit d. Muskeln u. Todtenstarre. Archiv f. phys. Heilkunde XI. — Brown-Sequard,
Compt. rend. Juni u. August 1851. — du Bois, Thier. Electr. II. Bd. 1. Abth. 156.
*)
Henle, Jahresbericht für Fortschritte d. allgem. Anatomie in den Jahren 1847 u. 1850.
**)
Lehmann, physiolog. Chemie III. 64.
*)
Kölliker, Lehrbuch der mikrosk. Anatomie II. a. 238. — Reichert, Ueber das Verhalten
der Nervenfaser u. s. w. Müllers Archiv 1851.
*)
Recherches micrometriques. Utrecht 1845.
*)
S. hierüber besonders R. Wagner. Gött. gel. Anzeigen 1851. N. 14.
**)
Göttinger gelehrte Anzeigen 1850. N. 15.
*)
Verhandlungen der physik. med. Gesellschaft in Würzburg II. Nr. 8 u. 9.
*)
E. H. Weber, Tastsinn in Wagners Handwörterbuch III. b.
*)
Spiess, Physiologie des Nervensystems. Braunschweig 1844. p. 76.
*)
Annal. de chim. et physiq. XXI. 1847.
*)
E. H. Weber, Hildebrand’s Anatomie II. Bd. p. 145 u. 161. — Ed. u. W. Weber, Mecha-
nik der Gehwerkzeuge §. 42 u. f. — Ein Manuscript von H. Meyer. — E. H. Weber, Ueber
den Bau des Seehundes. Leipziger Berichte II, 128.
*)
Günther, das Handgelenk. 1841.
**)
Günther l. c. Taf. V. Fig. 4.
***)
Günther l. c. Taf. VI.
*)
Günther l. c. Taf. VII.
*)
Ed. u. W. Weber, Mechanik der Gehwerkzeuge.
**)
Ed. u. W. Weber, Mechanik der Gehwerkzeuge.
*)
Wie der Kundige aus dem Worte Richtung des Muskelszugs entnimmt macht der Text die
Voraussetzung, dass jeder einzelne Muskel des menschlichen Körpers so zusammengeordnet
sei, dass aus allen in ihm enthaltenen Röhren eine einzige Resultirende hervorgehe. Diese
Voraussetzung ist durchaus noch nicht allgemein erwiessen, aber für die meisten Muskeln
allerdings wahrscheinlich.
**)
Ad. Fick, Statische Betrachtung der Muskulatur u. s. w. Henle u. Pfeufer IX. Bd.
*)
Ed. Weber, Ueber die Längenverhältnisse der Fleischfasern s. u. w. Leipziger Berichte;
mathematisch physische Classe 1851. — Derselbe; über die Gewichtsverhältnisse der Muskeln
u. s. w ebendaselbst 1849..
*)
Duchenne in Valentin’s Jahresbericht der Physiologie 1851. p. 150.
*)
Lehrbuch II. Bd. p. 199. Anmerk.
*)
Ed. Weber, Ueber die Längenverhältnisse u. s. w. Leipziger Berichte; physisch-mathem.
Classe 1852. 63.
*)
Ed. u. W. Weber, Mechanik der Gehwerkzeuge. Göttingen 1836.
*)
Hildebrandts Anatomie 4. Aufl. 1. Bd. 125.
**)
J. Müller, Handbuch der Physiologie II. Bd. 133. — Liscovius, Physiologie der mensch-
lichen Stimme. Leipzig 1846. — Rinne, das Stimmorgan etc. Müllers Archiv 1850. — Lon-
get
traité de Physiologie I. Bd. 3. Heft 1852. — Ueber die hier nicht besprochene Stimme beim
Einathmen siehe Liscovius l. c. p. 50 u. Segond, Compt. rend. XXVI. Bd.
*)
l. c. p. 185.
**)
l. c. p. 14.
*)
l. c. p. 175.
*)
L’institut. janvier 1838.
*)
Magendie’s Physiologie ed. Heusinger I. 243.
**)
Magendie l. c p. 265.
*)
Recherch. experim. sur les fonctions des nerfs etc. Gazette medic. 1841.
*)
Eine populare Darstellung der auf Zungeninstrumente bezüglichen Fundamente siehe bei
Bindseil, Akustik. Potsd. 1839.; das hier Einschlagende p. 453 u. f.
**)
l. c. p. 35.
*)
Recherches experim. sur le mouvement etc. Compt. rend. XXVI. 257.
*)
Valentin Lehrbuch der Physiolog. II. a. §. 3132.
*)
l. c. p. 42.
**)
l. c. p. 194 u. f.
***)
Gazette medic. 1844. Nro. 8 u. 9.
†)
Archiv general. XVII. u. XX. Bd. 1848 u. 1849.
‡)
l. c. 186.
*)
Lehrbuch II. a. p. 388.
*)
Bindseil. l c. p. 222 u. 481.
**)
Th. Bischoff; commentatio de nervi accessor. Willisii etc. Darmstadt 1832. — Volkmann,
Artikel Nervenphysiologie. Wagners Handwörterbuch II. Bd. p. 585 u. 589. — Donders u.
Moleschott
in Henles Zeitschrift f. rat. Med. IV. Bd. 219. — Bernard, Archiv general. 1844
und im ausführlichen Auszug in Valentins Jahresbericht Jahrg. 1845. 217. — Longet,
Recherches experim. sur les fonct. etc. Gazette med. 1841 und in dessen Traité de physiol.
l. c. 147.
*)
J. Müller, Handbuch der Physiologie II. 229. — E. Brücke, Untersuchungen über Lautbil-
dung und das natürliche System der Sprachlaute. Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie
der Wissenschaften. Wien 1849. Märzheft.
*)
J. Müller’s Physiologie II. Bd. 63 u. f. — Debrou in Longet Traité de physiologie I. Bd.
III. fascic. p. 57.
*)
Longet, Traite de physiologie II. Bd. 2. fasc. p. 35 u. f. — Lebert in Virchow’s Archiv
III. 524.
*)
Purkinje; Wagners Handwörterbuch III. Bd. 2. Abthl.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Ludwig, Carl. Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpv3.0