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ÜBER DAS GEDÄCHTNIS.
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ÜBER DAS
GEDÄCHTNIS.

UNTERSUCHUNGEN
ZUR
EXPERIMENTELLEN PSYCHOLOGIE


„De subjecto vetustissimo
novissimam promovemus scientiam.“


[figure]

LEIPZIG,:
VERLAG VON DUNCKER \& HUMBLOT.
1885.

[]
[[V]]

Vorwort.


Die Bemühungen, für die mächtigen Hebel der exakten
Naturforschung, Experiment und Zählung, auch in der Welt
der psychischen Vorgänge geeignete Angriffspunkte zu ge-
winnen, sind bisher wesentlich auf das groſse Gebiet der
Sinnesempfindungen und die psychologische Zeitmessung be-
schränkt geblieben. Mit den Untersuchungen, deren Methode
und vorläufige Resultate ich im folgenden mitteile, habe ich
versucht, einen Schritt weiter in das Innere des psychischen
Geschehens zu thun und die Erscheinungen des Gedächtnisses
im weitesten Sinne (das Aufnehmen und Behalten, die Asso-
ciationen und Reproduktionen von Vorstellungen) einer experi-
mentellen und messenden Behandlung zu unterwerfen.


Die hauptsächlichsten Bedenken, welche sich gegen die
Möglichkeit einer solchen Behandlung von vornherein erheben,
habe ich in der Schrift selbst ausführlich besprochen und teil-
weise zum Gegenstande der Untersuchung gemacht. Ich darf
daher diejenigen, welchen die Unmöglichkeit des Versuchs
nicht bereits a priori feststeht, bitten, ihr Urteil über die
Ausführbarkeit eine Weile aufzuschieben.


Die Mitteilung vorläufiger Resultate wird man im
Hinblick auf die Schwierigkeit des Gegenstandes und den
[VI] zeitraubenden Charakter der Versuche wohl entschuldigen,
und man wird ihnen billigerweise nicht gerade die vielfachen
Mängel, welche auf ihrer Unabgeschlossenheit beruhen, als
ebensoviele Einwände entgegenhalten. Am meisten bemerkt
werden von solchen Mängeln wird vermutlich die individuelle
Beschaffenheit der Resultate. Die Versuche sind sämtlich an
mir angestellt und die Resultate haben daher zunächst nur
für mich Bedeutung. Natürlich werden sie nicht ausschlieſs-
lich bloſse Idiosynkrasien meiner Organisation wiederspiegeln;
sind auch vielleicht die absoluten Werte der gefundenen
Zahlen durchweg nur individuell, so wird in den Beziehungen
dieser Zahlen zu einander oder gar in den Beziehungen von
Beziehungen doch manches Verhältnis von allgemeinerer
Gültigkeit enthalten sein. Aber wo dies der Fall ist und wo
nicht, kann ich erst hoffen, nach Beendigung weiterer und
vergleichender Versuche zu entscheiden, mit denen ich be-
schäftigt bin.


[[VII]]

Inhalt.


  • Seite
  • Vorwort V
  • I. Unser Wissen über das Gedächtnis1
  • § 1. Das Gedächtnis in seinen Wirkungen 1
  • § 2. Das Gedächtnis in seiner Abhängigkeit 3
  • § 3. Mangelhaftigkeit unseres Wissens über das Gedächtnis 5
  • II. Möglichkeit der Erweiterung unseres Wissens über das
    Gedächtnis
    9
  • § 4. Die naturwissenschaftliche Methode 9
  • § 5. Einführung numerischer Bestimmungen für das im Gedächt-
    nis Aufbewahrte 10
  • § 6. Die Möglichkeit der Herstellung konstanter Versuchs-
    bedingungen 15
  • § 7. Konstante Durchschnittszahlen 17
  • § 8. Das Fehlergesetz 20
  • § 9. Résumé 25
  • § 10. Der wahrscheinliche Fehler 27
  • III. Methode der Untersuchung30
  • § 11. Sinnlose Silbenreihen 30
  • § 12. Vorzüge des Materials 31
  • § 13. Herstellung möglichst konstanter Versuchsumstände 33
  • § 14. Fehlerquellen 36
  • Seite
  • § 15. Messung der gebrauchten Arbeit 41
  • § 16. Perioden der Versuche 45
  • IV. Die Brauchbarkeit der Durchschnittszahlen47
  • § 17. Gruppierung der Versuchsresultate 47
  • § 18. Gruppierung der Resultate für die einzelnen Reihen 55
  • V. Die Schnelligkeit des Lernens von Silbenreihen als Funk-
    tion der Länge derselben
    62
  • § 19. Versuche der späteren Periode 62
  • § 20. Versuche der früheren Periode 66
  • § 21. Steigerung der Schnelligkeit des Lernens bei sinnvollem
    Material 68
  • VI. Das Behalten als Funktion der Anzahl der Wieder-
    holungen
    70
  • § 22. Stellung der Frage 70
  • § 23. Die Versuche und ihre Resultate 74
  • § 24. Einfluſs der Erinnerung 79
  • § 25. Erhebliche Vermehrung der Anzahl der Wiederholungen 81
  • VII. Das Behalten und Vergessen als Funktion der Zeit85
  • § 26. Erklärungen des Behaltens und Vergessens 85
  • § 27. Methode der Untersuchung des thatsächlichen Ver-
    haltens 89
  • § 28. Resultate 93
  • § 29. Diskussion der Resultate 103
  • § 30. Kontrollversuche 107
  • VIII. Das Behalten als Funktion wiederholten Erlernens110
  • § 31. Fragestellung und Untersuchung 110
  • § 32. Einfluſs der Länge der Reihen 114
  • § 33. Einfluſs des wiederholten Erlernens 116
  • § 34. Einfluſs der einzelnen Wiederholungen 118
  • IX. Das Behalten als Funktion der Aufeinanderfolge der
    Reihenglieder
    123
  • § 35. Die Association nach der zeitlichen Folge und ihre Er-
    klärung 123
  • Seite
  • § 36. Methode der Untersuchung des thatsächlichen Ver-
    haltens 130
  • § 37. Resultate. Association der mittelbaren Folge 136
  • § 38. Versuche mit Ausschluſs des Wissens 139
  • § 39. Diskussion der Resultate 146
  • § 40. Rückläufige Associationen 151
  • § 41. Die Association der mittelbaren Folge in ihrer Abhängig-
    keit von der Anzahl der Wiederholungen 156
  • § 42. Indirekte Verstärkung von Associationen 161
[]

I.
Unser Wissen über das Gedächtnis.


§ 1.
Das Gedächtnis in seinen Wirkungen.


Indem die Sprache des Lebens sowohl wie der Wissen-
schaft der Seele ein Gedächtnis beilegt, will sie einen That-
bestand und eine Auffassung desselben bezeichnen, die sich
etwa folgendermaſsen beschreiben lassen.


Psychische Zustände jeder Art, Empfindungen, Gefühle,
Vorstellungen, die irgendwann einmal vorhanden waren und
dann dem Bewuſstsein entschwanden, haben damit nicht ab-
solut aufgehört zu existieren. Obschon der nach innen ge-
wandte Blick sie auf keine Weise mehr finden mag, sind sie
doch nicht schlechterdings vernichtet und annulliert worden,
sondern leben in gewisser Weise weiter, aufbewahrt, wie man
sagt, im Gedächtnis. Freilich können wir dieses ihr gegen-
wärtiges Dasein nicht direkt beobachten, aber mit derselben
Sicherheit wie die Fortexistenz der Gestirne unter dem Hori-
zont läſst sich auch die ihre erschlieſsen aus den Wirkungen,
die davon zu unserer Kenntnis kommen. Diese sind von
verschiedener Art.


Erstens können wir in zahlreichen Fällen die anscheinend
verlorenen Zustände (oder doch, falls diese z. B. in unmittel-
Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 1
[2] baren Wahrnehmungen bestanden, ihre getreuen Phantasie-
bilder) durch eine darauf gerichtete Anstrengung des Willens
ins Bewuſstsein zurückrufen, wir können sie willkürlich
reproducieren
. Bei den Versuchen dazu, dem Besin-
nen
, treten zwar nebenher allerlei Gebilde ans Licht, auf die
unsere Absicht nicht gerichtet war, oft genug auch verfehlt die
letztere ihr Ziel gänzlich, aber im allgemeinen findet sich
unter den Resultaten auch dasjenige, welches wir suchten und
nun unmittelbar als das früher Dagewesene wieder erkennen.
Es wäre absurd, anzunehmen, daſs unser Wille es ganz von
neuem und gleichsam aus dem Nichts geschaffen habe, es
muſs vielmehr irgendwie und irgendwo noch vorhanden ge-
wesen sein; der Wille hat es sozusagen nur aufgefunden und
uns wieder vorgeführt.


In einer zweiten Gruppe von Fällen zeigt sich dieses
Nachleben fast noch frappanter. Die einmal bewuſst gewesenen
Zustände kehren nämlich oft, und oft noch nach Jahren, ohne
jedes Zuthun des Willens, scheinbar von selbst ins Bewuſstsein
zurück, sie werden unwillkürlich reproduciert. Meist
erkennen wir auch hier unmittelbar das Wiedergekehrte als
ein früher Dagewesenes, wir erinnern uns seiner; unter
Umständen aber fehlt dieses begleitende Bewuſstsein, wir
wissen dann nur mittelbar, daſs das Jetzige identisch sein
müsse mit einem Früheren, erhalten dadurch aber nicht min-
der einen vollgültigen Beweis für seine Fortexistenz in der
Zwischenzeit. Wie die genauere Beobachtung dabei lehrt,
geschehen diese unwillkürlichen Reproduktionen nicht ganz
beliebig und zufällig. Vielmehr werden sie veranlaſst und
verursacht durch andere, jetzt gerade gegenwärtige psychische
Gebilde, und zwar in gewissen regelmäſsigen Weisen, die in
den sogenannten Associations-Gesetzen in allgemeinen
Zügen beschrieben werden.


[3]

Endlich kann noch eine dritte reiche Gruppe von Er-
scheinungen hierher gerechnet werden. Die entschwundenen
Zustände geben auch dann noch zweifellose Beweise ihrer
dauernden Nachwirkung, wenn sie selbst gar nicht, oder
wenigstens gerade jetzt nicht, ins Bewuſstsein zurückkehren.
Die Beschäftigung mit einem gewissen Gedankenkreise er-
leichtert unter Umständen die spätere Beschäftigung mit einem
ähnlichen Gedankenkreise, auch wenn jene erste weder in
ihrer Methode noch in ihren Resultaten direkt vor die Seele
tritt. Das unermeſsliche Gebiet der Wirkung angesammelter
Erfahrungen gehört hierher. Dieselbe beruht darauf, daſs
irgendwelche Zustände oder Vorgänge sehr häufig bewuſst
verwirklicht wurden. Sie besteht in der Erleichterung des
Eintritts und Ablaufs ähnlicher Vorgänge. Aber diese Wir-
kung ist nicht daran gebunden, daſs nun die die Erfahrung
konstituierenden Momente sämtlich wieder in das Bewuſstsein
zurückkehren. Dies kann mit einem Teil derselben nebenbei
auch der Fall sein; in zu groſser Ausdehnung und mit zu
groſser Klarheit darf es nicht geschehen, sonst wird der Ab-
lauf des gegenwärtigen Vorgangs geradezu gestört. Der gröſsere
Teil des Erfahrenen bleibt dem Bewuſstsein verborgen und
entfaltet doch eine bedeutende und seine Fortexistenz doku-
mentierende Wirkung.


§ 2.
Das Gedächtnis in seiner Abhängigkeit.


Den Kenntnissen von dem Dasein des Gedächtnisses und
seinen Wirkungen geht zur Seite ein mannigfaltiges Wissen
um die Bedingungen, von denen die Intensität des inneren
Nachlebens, sowie die Treue und Promptheit der Reproduk-
tionen sich abhängig zeigen.


1*
[4]

Wie verschieden verhalten sich die verschiedenen Indivi-
duen
in dieser Beziehung! Nicht nur verglichen mit anderen
behält und reproduciert dieser gut, jener schlecht, sondern
auch verglichen mit sich selbst jeder anders in anderen Phasen
seines Daseins; verschieden am Morgen und am Abend, in
der Jugend und im Alter.


Von erheblichem Einfluſs ist die Verschiedenheit des
Inhalts des Reproducierten. Melodien können zur Qual
werden durch die unerwünschte Hartnäckigkeit ihrer Wieder-
kehr. Formen und Farben pflegen sich nicht gerade aufzu-
drängen; und wenn sie sich wieder einstellen, geschieht es
mit merklicher Einbuſse an Deutlichkeit und Sicherheit. Der
Musiker schreibt für Orchester nieder was die inneren Stim-
men ihm zusingen; der Maler verläſst sich selten ohne Nach-
teil ganz auf das innerlich Angeschaute, er schafft nach der
Natur und kombiniert nach Studien. Vergangene Gefühls-
zustände endlich vergegenwärtigt man sich fast mit Mühe, in
ziemlich blassen Schemen und oft nur durch die sie beglei-
tenden Bewegungen. Gefühlswahrer Gesang ist seltener als
korrekter Gesang.


Nimmt man die beiden vorigen Gesichtspunkte zusam-
men — das Verhalten verschiedener Individuen zu ver-
schiedenen Inhalten —, so zeigen sich unendliche Diffe-
renzen. Der eine strömt über von poetischen Reminiscenzen,
der andere dirigiert Symphonien aus dem Kopfe, während
Zahlen und Formeln, die dem dritten fast ohne sein Zu-
thun anfliegen, von jenen abgleiten wie von poliertem Stein.


Auſserordentlich groſs ist die Abhängigkeit des Behaltens
und Reproducierens von der Intensität der Aufmerksam-
keit und des Interesses
, welche sich bei dem ersten
Dasein der psychischen Zustände an diese hefteten. Das ge-
brannte Kind scheut das Feuer und der geschlagene Hund
[5] den Stock nach einer einzigen höchst eindrucksvollen Erfah-
rung; Menschen, für die man sich nicht interessiert, kann
man täglich sehen, ohne sich gelegentlich einmal auf die Farbe
ihrer Haare oder Augen besinnen zu können.


Unter gewöhnlichen Umständen freilich sind häufige
Wiederholungen
unerläſslich, damit die Reproduktion eines
Inhalts möglich sei. Vokabeln, gröſsere Gedichte, Reden ver-
mag man bei gröſster Anspannung und Begabung nicht durch
einmalige Vorführung sich anzueignen. Durch genügende Re-
petition gelingt ihre endliche Beherrschung und durch weitere
Steigerung der Wiederholungen gewinnen die späteren Re-
produktionen an Sicherheit und Leichtigkeit.


Sich selbst überlassen verliert jeder psychische Inhalt
allmählich die Fähigkeit des Wiederauflebens oder erleidet
doch Einbuſse an ihr durch den Einfluſs der Zeit. Von der
Fülle von Kenntnissen, die man sich für die Bedürfnisse eines
Examens einprägt, ist derjenige Teil, der durch die frühere
Beschäftigung nicht genügend fundiert war und durch die
spätere nicht genügend aufgefrischt wird, bald verflogen. Aber
selbst ein so früh und tief Fundiertes wie die Muttersprache
wird durch mehrjährigen Nichtgebrauch merklich geschädigt.


§ 3.
Mangelhaftigkeit unseres Wissens über das
Gedächtnis.


Das vorstehend skizzierte Bild unseres Wissens vom Ge-
dächtnis macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die
Psychologie kennt noch eine Reihe von Sätzen, die sich ihm
einfügen lieſsen: „wer schnell lernt, vergiſst auch schnell“,
„relativ lange Vorstellungsreihen haften fester als relativ
kurze“, „der alternde Mensch vergiſst das Spätestgelernte am
[6] schnellsten“ u. s. w.; sie pflegt namentlich das Bild reichlich
mit Beispielen oder auch Anekdoten auszumalen. Allein —
worauf es hier ankommt — bei der weitestgehenden Detail-
lierung unseres Wissens, zu der wir im stande sind, behält
alles, was wir sagen können, den unbestimmten, allgemeinen,
komparativen Charakter der oben angeführten Sätze. Unsere
Kenntnis stammt fast ausschlieſslich aus der Beobachtung ex-
tremer, besonders frappanter Fälle. Wir vermögen diese in
allgemeiner Weise und in den vagen Ausdrücken des Mehr
und Minder ganz zutreffend zu beschreiben und setzen —
wiederum ganz zutreffend — voraus, daſs sich bei dem nicht
besonders auffallenden, aber tausendfach häufigeren alltäglichen
Wirken des Gedächtnisses dieselben Einflüsse in abgeschwächter
Weise geltend machen werden. Aber treibt man die Neu-
gier weiter und verlangt speciellere Aufschlüsse über das
Detail der aufgezählten und anderer Abhängigkeitsbeziehungen,
über ihre innere Struktur sozusagen, so verstummen die Ant-
worten. In welcher Weise hängt das Schwinden der Repro-
ducierbarkeit, das Vergessen, von der Länge der Zeit ab,
innerhalb deren keine Wiederholungen stattfanden? In wel-
chem Grade nimmt die Sicherheit der Reproduktionen zu mit
der Anzahl jener Wiederholungen? Wie ändern sich diese
Beziehungen bei verstärkter oder verminderter Intensität des
Interesses an den reproducierbaren Gebilden? Das und der-
gleichen vermag niemand zu sagen.


Und zwar besteht dieses Unvermögen nicht etwa deshalb,
weil diese Verhältnisse zufällig noch nicht untersucht sind,
aber morgen, oder wann man sich die Zeit dazu nähme, unter-
sucht werden könnten. Sondern man fühlt unmittelbar aus
den Fragen heraus, daſs zwar die in ihnen enthaltenen Vor-
stellungen von Graden des Vergessens, der Sicherheit, des
Interesses ganz korrekte sind, daſs uns aber die Mittel fehlen,
[7] in unseren Erfahrungen solche Grade anders als in den
gröbsten Extremen und ohne jeden Anspruch auf genaue Be-
grenzung festzustellen, daſs wir also zur Vornahme jener
Untersuchungen gar nicht im stande sind. Unsere an ge-
wissen frappierenden Erfahrungen gebildeten Begriffe ver-
mögen wir in der Masse der mit jenen gleichartigen aber
minder auffallenden Erfahrungen nicht verwirklicht zu finden;
und umgekehrt: manche Begriffe, die uns zum Eindringen in
das Detail der Thatsachen und zur theoretischen Beherrschung
derselben dienlich und unentbehrlich sein würden, haben wir
vermutlich noch nicht gebildet.


Denn diese beiden, die Erkenntnis des Einzelnen und die
theoretische Verarbeitung desselben, hängen wechselseitig von
einander ab, sie wachsen an und durch einander; und weil
unser ganzes Wissen so unbestimmt und wenig specialisiert
ist, deshalb ist es auch für ein eigentliches Verständnis, eine
Theorie der Gedächtnis-, Reproduktions- und Associations-
vorgänge bisher so unfruchtbar geblieben. Bei unseren Vor-
stellungen z. B. über ihre körperlichen Grundlagen bedienen
wir uns verschiedener Metaphern, von aufgespeicherten Vorstel-
lungen, eingegrabenen Bildern, ausgefahrenen Geleisen u. s. w.,
von denen nur das eine ganz sicher ist, daſs sie nicht zu-
treffen.


Natürlich hat das Bestehen aller dieser Mängel seine
vollkommen zureichende Begründung in der auſserordentlichen
Schwierigkeit und den Verwickelungen der Sache, und es steht
dahin, ob wir trotz der klarsten Einsicht in das Unzuläng-
liche unseres Wissens jemals wesentlich weiter kommen
können. Vielleicht bleiben wir zu dauernder Resignation ge-
zwungen. Allein eine etwas gröſsere Zugänglichkeit, als man
bisher verwertet hat, läſst sich dem Gebiete, wie ich sogleich
darzuthun hoffe, nicht absprechen. Wenn sich aber irgendwie
[8] ein Weg zu tieferem Eindringen zeigt, dann wird man, bei
der Bedeutung des Gedächtnislebens für alles psychische Ge-
schehen, auch wünschen müssen, daſs er einmal betreten
werde. Denn schlimmsten Falls wird man jene Resignation
lieber dem Scheitern ernstgemeinter Untersuchungen als dem
dauernden ratlosen Staunen vor ihren Schwierigkeiten ent-
springen sehen.


[[9]]

II.
Möglichkeit der Erweiterung unseres Wissens
über das Gedächtnis.


§ 4.
Die naturwissenschaftliche Methode.


Das seiner Natur nach allgemein gültige Verfahren zur
Gewinnung genauer, d. h. numerisch genauer, Einsichten in die
innere Struktur von Kausalbeziehungen ist von den experi-
mentellen Naturwissenschaften so vorwiegend angewandt und
so vollkommen ausgebildet worden, daſs man es in der Regel
als etwas ihnen Eigentümliches, als naturwissenschaftliches
Verfahren bezeichnet. Es gilt aber, wie gesagt, seiner logi-
schen Natur nach allgemein, für alle Gebiete des Seins und
Geschehens; und die Möglichkeit, das thatsächliche Verhalten
irgendwelcher Vorgänge genau und exakt zu beschreiben und
damit der intuitiven Erfassung ihres Zusammenhanges eine
zuverlässige Basis zu geben, hängt überall an der Möglich-
keit, dieses Verfahren auf sie anzuwenden.


Worin es besteht, ist bekannt: man sucht den Komplex
von Bedingungen, die sich für das Zustandekommen eines ge-
wissen Effekts als maſsgebend erwiesen haben, konstant zu
erhalten, variiert eine dieser Bedingungen isoliert von den
[10] übrigen und in numerisch fixierbarer Weise, und konstatiert
dann auf der Seite des Effekts wiederum in einer Messung
oder Zählung die begleitende Veränderung.


Einer Übertragung dieses Verfahrens auf die Unter-
suchung psychischer Kausalbeziehungen im allgemeinen und
derjenigen des Gedächtnislebens im besondern scheinen frei-
lich zwei fundamentale und unüberwindliche Schwierigkeiten
entgegenzustehen. Wie wollen wir erstens die verwirrende
Fülle maſsgebender Bedingungen, die, soweit sie geistiger
Natur sind, sich unserer Herrschaft so gut wie ganz entziehen
und dazu noch unerschöpflich und unablässig sich ändern,
wie wollen wir diese auch nur einigermaſsen konstant hal-
ten? Wie wollen wir es zweitens möglich machen, den psy-
chischen Vorgängen, den zeitlich schnell verfliegenden und
begrifflich schwer zu analysierenden, mit einer Zählung bei-
zukommen?


Ich diskutiere zunächst die zweite Schwierigkeit, und
zwar in Beziehung zu dem uns beschäftigenden Gedächtnis-
leben.


§ 5.
Einführung numerischer Bestimmungen für das im
Gedächtnis Aufbewahrte.


Überblickt man noch einmal die oben (§ 2) aufgeführten
Bedingungen des Behaltens und Reproducierens, mit Rück-
sicht jetzt auf die Möglichkeit einer Zählung, so erkennt man,
daſs bei zweien derselben eine numerische Fixierung und
ebenso eine numerische Variierung wohl möglich ist: die ver-
schiedenen Zeiten, welche verflieſsen zwischen der ersten Er-
zeugung und der Reproduktion von Vorstellungsreihen, kann
man messen, und die Wiederholungen, welche nötig sind, um
[11] die Reihen reproducierbar zu machen, kann man zählen. Etwas
Ähnliches fehlt zunächst auf der Seite der Wirkungen. Hier
giebt es nur eine Alternative: eine Reproduktion ist entweder
möglich oder sie ist unmöglich; sie geschieht oder bleibt aus.
Wir setzen zwar voraus, daſs sie unter verschiedenen Um-
ständen dem wirklichen Eintreten auch mehr oder weniger
nahe sein könne, daſs das eigentliche innere Leben der Reihen
also graduelle Verschiedenheiten habe. Allein, solange wir
unsere Beobachtungen auf das beschränken, was aus der in-
neren Welt zufällig, oder auch auf den Ruf unseres Willens,
nach auſsen tritt, sind alle diese inneren Verschiedenheiten
für uns in gleicher Weise nicht vorhanden.


Bei etwas geringerer Beschaulichkeit können wir sie in-
dessen auf einem Umwege auch äuſserlich hervortreten lassen.


Ein Gedicht werde auswendig gelernt und dann nicht
wieder repetiert. Wir wollen annehmen, daſs es nach einem
halben Jahre vergessen sei: keine Anstrengung des Besinnens
vermöge es wieder ins Bewuſstsein zurückzurufen, höchstens
vereinzelte Bruchstücke kehren wieder. Gesetzt, es werde
jetzt aufs neue auswendig gelernt. Dann zeigt sich, daſs es,
obwohl allem Anschein nach total vergessen, doch noch eine
kräftige Wirkung entfaltet. Das Auswendiglernen wird merk-
lich weniger Zeit oder merklich weniger Wiederholungen in
Anspruch nehmen, als das erste Mal; oder auch als jetzt nötig
sein würden, um ein ähnliches und gleichlanges Gedicht aus-
wendig zu lernen. An der Differenz dieser Zeiten oder Wieder-
holungen gewinnen wir offenbar ein gewisses Maſs für die
innere Energie, welche dem das Gedicht ausmachenden ge-
ordneten Vorstellungskomplex ein halbes Jahr nach seiner
ersten Einprägung noch beiwohnt. Nach einer kürzeren Zeit
würde die Differenz vermutlich gröſser gefunden werden, nach
einer längeren geringer; war das erste Auswendiglernen ein
[12] sehr sorgfältiges und lange fortgesetztes, so wird sie wiederum
gröſser sein, als wenn es flüchtig geschah und bald abge-
brochen wurde.


Kurz, wir haben in diesen Differenzen jedenfalls nume-
rische Ausdrücke für die inneren Verschiedenheiten nachleben-
der Vorstellungsreihen, die wir sonst zwar voraussetzen müssen,
aber durch direkte Beobachtung nicht nachzuweisen vermögen.
Damit aber haben wir in ihnen auch etwas, was mindestens
dem gleicht, was wir suchen, um eine Handhabe für die An-
wendung der naturwissenschaftlichen Methode zu gewinnen:
wohl konstatierbare, bei Variierung der Umstände ebenfalls
variierende, numerisch fixierbare Erscheinungen auf der Seite
der Effekte. Ob wir in ihnen richtige Maſszahlen besitzen
für jene inneren Verschiedenheiten, und ob wir dementspre-
chend durch sie zu richtigen Einsichten in die Kausalver-
bindungen gelangen, in welche jenes innerlich Lebende ein-
geht, das läſst sich nicht a priori bestimmen. Ganz ebenso
wenig wie die Chemie a priori bestimmen konnte, ob es die
elektrischen oder thermischen oder andere Begleiterscheinungen
der chemischen Verbindungsvorgänge seien, an denen sie ein
richtiges Maſs der ins Spiel tretenden Affinitätskräfte habe.
Dazu giebt es nur den einen Weg, daſs man zusieht, ob
man unter Voraussetzung der Richtigkeit zu wohlgeordneten,
widerspruchslosen Resultaten und zu richtigen Anticipationen
der Zukunft zu gelangen vermag.


Statt des einfachen Geschehens, Eintreten oder Ausblei-
ben einer Reproduktion, welches keine numerischen Unter-
schiede zuläſsst, will ich also versuchsweise einen zusammen-
gesetzteren Vorgang als den Effekt betrachten, dessen Ver-
änderungen bei Variierung der Umstände ich messend beob-
achte: nämlich die künstliche Herbeiführung einer nicht von
[13] selbst eintretenden Reproduktion durch eine entsprechende
Anzahl von ihr entgegenkommenden Wiederholungen.


Allein damit diese Verwertung auch nur versuchsweise
möglich sei, müssen jedenfalls noch zwei Bedingungen er-
füllt sein.


Es muſs einmal möglich sein, den Moment, in dem das
Auswendiglernen beendet wird, weil sein Zweck, das Aus-
wendigwissen, als erreicht gilt, mit einiger Sicherheit zu präci-
sieren. Denn wenn das Auswendiglernen bald länger, bald
weniger lange fortgesetzt würde, so würde ein Teil der unter
verschiedenen Umständen gefundenen Differenzen auf Rech-
nung dieser Ungleichheit kommen und mit Unrecht auf innere
Verschiedenheiten von Vorstellungsreihen gedeutet werden.
Man muſs also unter den verschiedenen Reproduktionen, die
man bei dem Auswendiglernen z. B. eines Gedichts diesem
zu teil werden läſst, eine als besonders charakteristisch be-
zeichnen und dieselbe zugleich praktisch gut wieder auffinden
können.


Man muſs zweitens voraussetzen dürfen, daſs die Anzahl
von Wiederholungen, durch welche unter sonst gleichen
Umständen
diese charakteristische Reproduktion herbei-
geführt wird, allemal dieselbe sei. Denn ist diese Zahl auch
unter sonst gleichen Umständen bald so bald anders, so ver-
lieren natürlich die Differenzen, die sich unter verschiedenen
Umständen herausstellen, jede Bedeutung für die Beurteilung
dieser Verschiedenheiten.


Was nun die erste Bedingung anbetrifft, so ist sie da,
wo man von einem Auswendiglernen überhaupt nur sprechen
kann, bei Gedichten, Wortreihen, Tonfolgen u. s. w., wohl
erfüllbar. Wir sehen hier überall mit zunehmender Zahl der
Wiederholungen die Reproduktionen erst stückweise und
stockend möglich werden, weiter an Sicherheit zunehmen und
[14] schlieſslich glatt und fehlerlos ablaufen. Man kann offenbar
die der Zahl nach erste Reproduktion, bei der dieser letzte
Erfolg eintritt, als besonders charakteristische nicht nur be-
zeichnen, sondern auch praktisch erkennen. Ich bezeichne sie
gelegentlich kurz als die erstmögliche Reproduktion.


Es fragt sich also, erfüllt diese die obige zweite Be-
dingung? ist die Anzahl der zu ihrer Herbeiführung erforder-
lichen Wiederholungen, unter übrigens gleichen Umständen,
allemal dieselbe?


Jedoch in dieser Form wird die Frage mit Recht zurück-
gewiesen werden, weil sie das eigentlich Fragliche und den
wahren Kern der Sache gewissermaſsen als selbstverständliche
Voraussetzung oktroyiere und nun nur eine irreleitende Ant-
wort zulasse. Daſs jenes Abhängigkeitsverhältnis bei völ-
liger Gleichheit der Versuchsbedingungen
ein
konstantes sei, wird man ohne Bedenken zuzugeben bereit
sein. Die vielberufene Freiheit der Seele wenigstens ist
schwerlich schon von jemandem so miſsverstanden worden,
daſs sie hier Platz griffe. Allein diese theoretische Konstanz
ist von geringer Bedeutung; wie soll ich sie finden, wenn die
Umstände, unter denen ich thatsächlich zu beobachten ge-
zwungen bin, niemals die gleichen sind? Ich muſs also viel-
mehr fragen: kann ich die unvermeidlich und immer schwan-
kenden Umstände wenigstens soweit in meine Gewalt bekom-
men und ausgleichen, daſs die vermutlich in ihnen waltende
Konstanz des in Rede stehenden Abhängigkeitsverhältnisses
für mich sichtbar und greifbar wird?


Und so hätte uns denn die Erörterung der einen Schwierig-
keit, die sich der exakten Untersuchung von Kausalverhält-
nissen auf dem psychischen Gebiet entgegenstellt (§ 4), von
selbst auf die andere geführt. Eine numerische Fixierung
von einander korrespondierenden Änderungen der Ursachen
[15] und Wirkungen erscheint uns unter Umständen wohl möglich,
wenn wir nur bei den Wiederholungen unserer Versuche die
an und für sich schon erforderliche Gleichheit der maſsgeben-
den Bedingungen verwirklichen können.


§ 6.
Möglichkeit der Herstellung konstanter Versuchs-
bedingungen.


Wer an die komplicierten Vorgänge des höheren psychi-
schen Lebens denkt oder herkommt von der Beschäftigung
mit den noch komplicierteren Erscheinungen des Staats- und
Gesellschaftslebens, wird im allgemeinen geneigt sein, die
Möglichkeit, behufs psychologischer Experimente konstante
Versuchsumstände herzustellen, zu verneinen. Nichts ist uns
geläufiger als die Willkür, das aller Vorsicht und Berechnung
Spottende des geistigen Geschehens. Faktoren, die offenbar
höchst maſsgebende sind und ebenso höchst wandelbare, die
geistige Frische, das Interesse an dem Gegenstande, die An-
spannung der Aufmerksamkeit, die durch plötzliche Einfälle
und Entschlüsse bewirkten Veränderungen des Gedankenlaufs,
haben wir gar nicht oder nur in ungenügender Weise in un-
serer Gewalt.


Indessen man wird sich doch hüten müssen, diesen rich-
tigen Einsichten zu viel Wichtigkeit beizulegen auſserhalb der
Vorgänge, aus deren Beobachtung sie gewonnen wurden. Alle
jene unbotmäſsigen Momente sind von der gröſsten Wichtig-
keit für die höheren geistigen Vorgänge, die überhaupt nur
bei einer besonders günstigen Konkurrenz der Umstände zu
stande kommen. Die niederen, alltäglichen und ohne Unter-
laſs geschehenden Prozesse sind ihrem Einfluſs keineswegs
entzogen, aber wir haben es allerdings meist in unserer Ge-
walt, da, wo es darauf ankommt, denselben praktisch wenig
[16] störend zu machen. Das sinnliche Wahrnehmen z. B. ge-
schieht gewiſs mit gröſserer oder geringerer Genauigkeit je
nach dem Grade des Interesses, es wird fortwährend in an-
dere Bahnen gelenkt durch den Wechsel der äuſseren Ein-
drücke und durch innere Einfälle. Aber trotzdem sind wir
im allgemeinen ganz befriedigend im stande, ein Haus eben
dann zu sehen, wenn wir es sehen wollen und bei zehnmaliger
Wiederholung dieser Betrachtung zehnmal hinter einander
praktisch dasselbe Bild von ihm zu empfangen, falls keine
objektive Veränderung eingetreten ist.


Daſs es sich mit dem alltäglichen Behalten und Reprodu-
cieren, welches man doch mit allseitiger Übereinstimmung
dem sinnlichen Wahrnehmen zunächst zu rangieren pflegt,
ähnlich verhalten solle, hat von vornherein nichts Ungereimtes.
Ob es sich aber thatsächlich so verhält oder nicht, das, sage
ich wiederum wie vorhin, können wir uns nicht anmaſsen
a priori entscheiden zu wollen. Unser gegenwärtiges Wissen
ist viel zu fragmentarisch, zu allgemein, zu sehr von dem
Auſsergewöhnlichen abstrahiert, als daſs wir diese Entscheidung
bei ihm suchen könnten; sie muſs eigens darauf gerichteten
Untersuchungen vorbehalten bleiben. Man muſs diejenigen
Umstände, deren Einfluſs auf das Behalten und Reproducieren
man kennt oder vermutet, versuchsweise einmal so konstant
zu halten suchen wie man eben kann, und zusehen, ob das
genügt. Das Material wird man so zu wählen haben, daſs
erhebliche Verschiedenheiten der Anteilnahme ausgeschlossen
erscheinen; die Gleichheit der Aufmerksamkeit läſst sich be-
fördern durch Fernhaltung äuſserer Störungen; plötzliche Ein-
fälle hat man nicht in der Gewalt, aber im allgemeinen ist
ihre störende Wirkung auf Momente beschränkt und wird
verhältnismäſsig weniger ins Gewicht fallen, wenn man das
Experiment zeitlich ausdehnt u. s. f.


[17]

Wenn wir aber nun in solcher Weise die uns erreichbare
gröſstmögliche Konstanz der Umstände verwirklicht haben,
woran wollen wir erkennen, ob dieselbe für unsere Zwecke
praktisch hinreicht? Wann sind die Umstände, die ja doch
der schärferen Betrachtung immer noch genug Verschieden-
heiten darbieten werden, genügend konstant? Man wird
antworten: dann, wenn bei Wiederholung der Untersuchungen
die Resultate konstant bleiben. Dies letztere scheint einfach
genug zu sein, um sich unmittelbar und von selbst zu er-
kennen zu geben. Aber der Sache näher tretend stöſst man
doch auf eine Schwierigkeit.


§ 7.
Konstante Durchschnittszahlen.


Wann sollen die unter möglichst gleichen Umständen aus
wiederholten Untersuchungen gewonnenen Resultate als kon-
stant oder als genügend konstant gelten? Wenn eines den-
selben Wert hat wie das andere, oder doch so wenig davon
abweicht, daſs die Differenz im Verhältnis zu seiner eigenen
Gröſse und zu unseren Zwecken nicht in Betracht kommt?


Offenbar nicht. Das wäre zu viel verlangt und wird auch
von den Naturwissenschaften nicht überall geleistet. Also
wohl dann, wenn die Durchschnittszahlen aus gröſseren Grup-
pen von Versuchen jenes Verhalten zeigen?


Offenbar auch nicht. Das wäre zu wenig verlangt. Denn
wenn Beobachtungen von Vorgängen, die nur unter irgend
einem Gesichtspunkt eine Ähnlichkeit zeigen, in genügend
groſser Zahl zusammengeworfen werden, so kommt man fast
überall zu leidlich konstanten Durchschnittszahlen, die doch
für solche weiteren Zwecke, wie wir sie hier im Auge haben,
keine oder nur geringe Bedeutung besitzen. Die genaue Ent-
Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 2
[18] fernung zweier Signalstangen, die Position eines Sterns zu
bestimmter Stunde, die Ausdehnung eines Metalls für eine
bestimmte Temperaturzunahme, alle die zahlreichen Expo-
nenten, Koefficienten und sonstigen Konstanten der Physik
und Chemie werden uns immer nur gegeben als sehr an-
nähernd konstante Durchschnittswerte aus differierenden Einzel-
beobachtungen. Andrerseits sind die Anzahl der Selbstmörder
in einem bestimmten Monat, die mittlere Lebensdauer an
einem Orte, die Zahl der Wagen und Passanten pro Tag an einer
bestimmten Straſsenecke u. s. w. ebenfalls je im Durchschnitt
aus gröſseren Gruppen von Beobachtungen merklich konstant.
Allein beide Arten von Zahlen, die ich vorübergehend als
naturwissenschaftliche und statistische Konstanten bezeichnen
will, sind, wie jedermann weiſs, konstant aus verschiedenen
Gründen und mit ganz verschiedenem Nutzen für die Er-
kenntnis von Kausalverhältnissen.


Man kann die Unterschiede etwa folgendermaſsen for-
mulieren.


Bei der Hervorbringung der naturwissenschaftlichen Kon-
stanten wird jeder einzelne Effekt erzeugt durch eine Kom-
bination von ganz denselben Ursachen. Die Einzelwerte
fallen dabei etwas verschieden aus, weil eine gewisse Anzahl
jener Ursachen nicht immer mit genau denselben Werten in
die Kombination eingeht (kleine Fehler bei der Einstellung
und dem Ablesen der Instrumente, Unregelmäſsigkeiten in der
Textur und Zusammensetzung der untersuchten oder benutzten
Körper u. s. w.). Dieses Schwanken einzelner Ursachen je-
doch geschieht erfahrungsmäſsig nicht absolut regellos,
sondern pflegt begrenzte, verhältnismäſsigkleine Kreise
von Werten symmetrisch um einen Mittelwert zu
durchlaufen, oder besser durchzuprobieren. Bei Zusammen-
fassung mehrerer Fälle müssen sich dadurch die Effekte der
[19] einzelnen Schwankungen mehr und mehr kompensieren zu dem
Effekt des mittleren Wertes, um den herum sie stattfinden.
Und das schlieſsliche Resultat der Zusammenfassung wird an-
nähernd dasselbe sein, als ob die thatsächlich veränderlichen
Ursachen nicht nur begrifflich sondern auch numerisch ganz
dieselben geblieben wären. Der Durchschnittswert ist also
in diesen Fällen der adäquate zahlenmäſsige Repräsentant
eines begrifflich bestimmten, wohlumschriebenen Zusammen-
wirkens; wird ein Glied der Konfiguration variiert, so geben
wiederum die begleitenden Veränderungen dieses Durchschnitts-
wertes die richtigen Maſse für den Effekt jener Variierungen
auf den gesamten Komplex.


Bei den statistischen Konstanten dagegen kann man unter
keinem möglichen Gesichtspunkt mehr sagen, daſs jeder Einzel-
wert durch das Zusammenwirken von denselben Ursachen
erzeugt worden sei, die teilweise, innerhalb mäſsiger Grenzen
und im ganzen in symmetrischer Weise schwankende Werte
gehabt hätten. Die Einzeleffekte entspringen vielmehr einer
oft unentwirrbaren Fülle von ganz verschiedenartigen Ursachen-
kombinationen, die zwar zahlreiche Momente mit einander
teilen mögen, aber im ganzen keine begriffliche Ge-
meinschaft
haben und wesentlich nur in irgend einem
Merkmal der Effekte übereinstimmen. Daſs die Werte der
einzelnen Effekte dabei sehr verschieden werden müssen, ist
sozusagen selbstverständlich. Daſs nichtsdestoweniger auch
hier bei Zusammenfassung groſser Gruppen annähernd kon-
stante Zahlen zu Tage treten, bringen wir uns dadurch näher,
daſs wir sagen, in gleichen und ziemlich groſsen Zeitstrecken
oder Raumgebieten werden die einzelnen Ursachenkombina-
tionen annähernd gleich häufig verwirklicht; ohne daſs wir
freilich damit mehr thun, als eine eigenartige und wunder-
bare Veranstaltung der Natur als solche zu konstatieren.
2*
[20] Diese konstanten Durchschnittszahlen repräsentieren demnach
nicht bestimmte und einzelne Ursachensysteme, sondern Zu-
sammenfassungen von solchen, die ohne weitere Hülfsmittel
nicht durchsichtig sind. Ihre Veränderungen bei Variierung
der Umstände geben daher auch keine eigentlichen Maſszahlen
für die Effekte dieser Variierungen, sondern nur Fingerzeige
für dieselben. Sie sind nicht direkt zu verwerten für die
Aufstellung numerisch genauer Abhängigkeitsbeziehungen, aber
sie arbeiten dieser vor.


Kehren wir hiernach zurück zu der am Anfang dieses
Paragraphen gestellten Frage: „wann ist die von uns nach
bestem Können versuchsweise verwirklichte Gleichheit der
Umstände als genügend zu betrachten?“ — so lautet die Ant-
wort: dann, wenn die Durchschnittswerte aus mehreren Be-
obachtungen annähernd konstant sind, und wenn wir gleich-
zeitig annehmen können, daſs die einzelnen Fälle stets dem-
selben System von Ursachen entsprungen sind, dessen Glieder
dabei nur nicht auf durchaus konstante Werte beschränkt
waren, sondern kleine Kreise numerischer Möglichkeiten sym-
metrisch um einen Mittelwert durchlaufen durften.


§ 8.
Das Fehlergesetz.


Indessen abschlieſsend wird durch die eben gefundene
Auskunft unsere Frage doch noch nicht beantwortet. Gesetzt,
wir hätten für irgend ein psychisches Geschehen auf irgend
eine Weise befriedigend konstante Durchschnittszahlen gefun-
den, wie denken wir nun zu erfahren, ob wir die zu ihrer
weiteren Verwertung erforderliche Annahme einer gleichartigen
Verursachung machen dürfen oder nicht? Der Physiker weiſs
im allgemeinen voraus, daſs er es mit einer einzigen Ursachen-
[21] kombination, der Statistiker, daſs er es mit einer, trotz aller
Zerlegungen immer noch unentwirrbaren Fülle derselben zu
thun haben wird; beide aus der gröberen Kenntnis der Vor-
gänge heraus, die sie bereits besitzen, ehe sie an die feinere
Untersuchung herantreten. Wenn uns aber vorhin das gegen-
wärtige Wissen der Psychologie zu unbestimmt und zu un-
zuverlässig erschien, um daraufhin über die Möglichkeit der
Herstellung konstanter Versuchsbedingungen zu entscheiden, so
wird dasselbe jetzt wohl auch nicht zureichen, um befriedigend
auszumachen, ob wir es in einer gegebenen Gruppe von Fällen
mit einer überall gleichartigen Ursachenkombination zu thun
haben oder mit einer zufällig einmal zusammenwirkenden
Mehrheit von solchen. Es fragt sich daher, können wir viel-
leicht noch durch die Hülfe eines sonstigen Kriteriums über
die Art der Verursachung der Resultate ins klare kommen,
die wir bei der uns möglichen Gleichhaltung der Umstände
gewinnen?


Man muſs antworten: nicht mit absoluter Sicherheit, aber
allerdings mit groſser Wahrscheinlichkeit. Ausgehend näm-
lich von Voraussetzungen, welche denjenigen möglichst nahe-
kommen, die bei der Gewinnung physikalischer Durchschnitts-
zahlen verwirklicht werden, hat man die Konsequenzen unter-
sucht, welche sich aus denselben — ganz unabhängig von der
sachlichen Beschaffenheit der Ursachen — lediglich für die Lage-
rung der differierenden Einzelwerte um den resultierenden
Mittelwert ergeben. Wiederholte Vergleiche mit thatsächlich ge-
machten Beobachtungen haben gezeigt, daſs die Ähnlichkeit
der Voraussetzungen in der That groſs genug ist, um zu einer
Übereinstimmung der Folgen zu führen: das Resultat jener
Spekulationen trifft mit groſser Annäherung die Wirklichkeit.
Es besteht darin, daſs die Gruppierung einer gröſseren Zahl
von Einzelwerten, die durch gleichartige Verursachung unter
[22] den mehrbesprochenen Modifikationen zu stande gekommen sind,
zutreffend beschrieben werden kann durch eine mathematische
Formel, das sogenannte Fehlergesetz, welche besonders da-
durch charakteristisch ist, daſs sie nur eine einzige Unbekannte
enthält. Diese Unbekannte miſst die relative Dichtigkeit der
Scharung der Einzelwerte um ihren Mittelwert, sie wechselt
demnach mit der Art der Beobachtungen und wird im übrigen
aus diesen selbst durch Rechnung bestimmt.


Anmerkung. Für das nähere in Bezug auf diese Formel, auf das es
hier nicht ankommt, muſs ich auf die Lehrbücher der Wahrscheinlich-
keitsrechnung und Fehlertheorie verweisen. Für Leser, welche mit der

[figure]

[23] letzteren nicht vertraut sind, wird eine graphische Erläuterung ver-
ständlicher sein als die Mitteilung und Diskussion der Formel. Man
denke sich eine bestimmte Beobachtung 1000mal wiederholt. Jede Be-
obachtung als solche werde repräsentiert durch den Raum eines Qua-
dratmillimeters, ihr numerischer Wert aber, oder vielmehr ihre Ab-
weichung von dem Mittelwert der sämtlichen 1000 Beobachtungen durch
ihre Anordnung längs einer der Horizontallinien p q der nebenstehen-
den Fig. 1. Für jede Beobachtung, die mit dem Mittelwert gerade
übereinstimmt, werde 1 □mm auf die Vertikallinie m n gelegt, für jede
Beobachtung, die um eine Einheit nach oben abweicht, 1 □mm auf
eine Vertikallinie rechts von m n, die um 1 mm entfernt ist u. s. w.;
für jede Beobachtung, die um x Einheiten nach oben (resp. unten) von
dem Mittel abweicht, komme 1 □mm auf eine um x mm rechts (resp.
links) von m n entfernte Vertikale. Sind alle Beobachtungen in dieser
Weise angeordnet, so denke man sich die äuſsere Kontur der belegten
Fläche so weit zusammengedrückt, daſs die vorspringenden Ecken der
einzelnen Quadrate sich in eine gleichmäſsig verlaufende Kurve ver-
wandeln. Waren nun die differierenden Einzelwerte so entstanden, daſs
ihr Mittel betrachtet werden kann als eine Konstante im naturwissen-
schaftlichen Sinne, so ist die Gestalt der resultierenden Kurve von
der Art
der in Fig. 1 mit a und b bezeichneten; ist der Mittelwert
eine statistische Konstante, so hat die Kurve irgend eine anders-
artige Form. (Die Kurven a und b schlieſsen mit den Linien p q ge-
rade je 1000 □mm ein. Genau ist das nur bei unendlicher Verlänge-
rung der Kurven und der Linien p q der Fall, aber dieselben nähern
sich einander schlieſslich so sehr, daſs da wo die Zeichnung abbricht, für
jeden Kurvenzweig nur noch 2—3 □mm an der vollen Zahl fehlen.) Ob für
eine bestimmte Gruppe von Beobachtungen die Kurve mehr eine steile oder
mehr eine flache Form hat, hängt von der Natur dieser Beobachtungen
ab. Je genauer sie sind, desto mehr häufen sie sich um den Mittel-
wert an, desto seltener sind grobe Fehler, desto steiler ist also die
Kurve, und umgekehrt. Im übrigen ist das Bildungsgesetz der Kurve
allemal dasselbe. Entnimmt man also einem bestimmten Beobachtungs-
komplex irgend einen Maſsstab für die Dichtigkeit der Scharung der
Beobachtungen, so übersieht man die Gruppierung der ganzen Masse.
Man könnte z. B. angeben, wie oft eine Abweichung von bestimmter
Gröſse vorkommt, oder wie viel Beobachtungen zwischen bestimmten
Abweichungen gezählt werden. Oder aber — wie ich im folgenden
thun werde — man giebt an, welche Abweichung zwischen sich und
dem Mittelwert einen bestimmten Prozentsatz aller Beobachtungen ein-
[24] schlieſst. Die Linien + w und — w unserer Figur schneiden z. B.
aus der ganzen, die Beobachtungen repräsentierenden Fläche gerade
die centrale Hälfte heraus. Aber bei den genaueren Beobachtungen
von 1b sind sie nur halb so weit von m n entfernt, wie bei 1a. Die
Angabe ihrer verhältnismäſsigen Entfernung giebt also ebenfalls einen
Maſsstab für die Sicherheit der Beobachtungen.


Man kann demnach sagen: überall, wo eine Gruppe von
Wirkungen betrachtet werden kann als hervorgegangen jedesmal
aus derselben Ursachenkombination, die sich allerdings jedes-
mal nur unter sogenannten zufälligen Störungen verwirklichte,
da gruppieren sich diese Werte entsprechend dem Fehler-
gesetz.


Nun gilt freilich nicht ohne weiteres auch die Umkeh-
rung dieses Satzes, daſs nämlich überall, wo eine Gruppierung
von Werten gemäſs dem Fehlergesetz angetroffen wird, auf
jene Art der Verursachung derselben zurückgeschlossen wer-
den darf. Warum sollte die Natur nicht gelegentlich auf
kompliciertere Weise eine analoge Gruppierung herbeiführen
können? Thatsächlich nur scheint das ein auſserordentlich
seltenes Vorkommnis zu sein. Denn unter allen den Zahlen-
gruppen, welche die Statistik zu Durchschnittszahlen zusammen-
zuziehen pflegt, ist bisher nicht eine einzige gefunden worden,
welche zweifellos einer Vielheit von Ursachensystemen ent-
stammte und dabei die durch das Fehlergesetz beschriebene
Anordnung zeigte *.


[25]

Man wird sich daher dieses Gesetzes, wenn nicht als
eines unbedingt sicheren, so doch als eines mit groſser Wahr-
scheinlichkeit orientierenden Kriteriums bedienen können, um
zu erkennen, ob die annähernd konstanten Mittelwerte, die
man durch irgend ein Verfahren erhält, als wahre naturwissen-
schaftliche Konstanten versuchsweise weiter verwertet werden
dürfen oder nicht. Dasselbe giebt nicht die hinreichenden, aber
eine der notwendigen Bedingungen für diese Verwertbarkeit,
und die endliche Aufklärung muſs man von dem Fortgange
eben der Untersuchungen erwarten, denen es eine gewisse
Sicherheit der Unterlage geben hilft. Den von ihm gebotenen
Maſsstab habe ich daher auch zur Beantwortung unserer im-
mer noch schwebenden Frage angelegt: ist die durchschnitt-
liche Anzahl von Wiederholungen, die erforderlich sind, um
unter möglichst gleichen Umständen gleichartige
Reihen bis zur „erstmöglichen“ Reproduktion zu lernen, eine
konstante Durchschnittszahl im naturwissenschaftlichen Sinne?
Und wie ich gleich vorwegnehmend bemerke, ist die Antwort
hierauf in den untersuchten Fällen bejahend ausgefallen.


§ 9.
Résumé.


Gegen die Übertragung der sogenannten naturwissen-
schaftlichen Methode auf die Untersuchung psychischer Vor-
gänge erheben sich zwei, wie es scheint, fundamentale Schwierig-
keiten: 1) der stete Fluſs und die Unbotmäſsigkeit des
psychischen Geschehens erlauben nicht die Herstellung kon-
stanter Versuchsbedingungen; 2) die psychischen Vorgänge
bieten keine direkte Handhabe für eine Messung oder Zählung.


Für das specielle Gebiet des Gedächtnislebens (Lernen,
Behalten, Reproducieren) läſst sich die zweite Schwierigkeit
[26] einigermaſsen überwinden. Unter den äuſseren Bedingungen
dieser Vorgänge sind einige der Messung direkt zugänglich (Zeit,
Zahl der Wiederholungen). Dieselben lassen sich verwerten,
um auch da indirekt ein numerisches Element zu gewinnen,
wo dies direkt nicht mehr möglich ist. Man muſs nicht ab-
warten, bis die dem Gedächtnis anvertrauten Vorstellungs-
reihen von selbst wieder ins Bewuſstsein treten, sondern man
muſs ihnen entgegenkommen und sie so weit auffrischen, bis
sie gerade fehlerlos reproduciert werden können. Die dazu
unter bestimmten Umständen erforderliche Arbeit betrachte
ich versuchsweise als ein Maſs für den Einfluſs dieser Um-
stände; die bei Abänderung der Umstände hervortretenden
Arbeitsdifferenzen als Maſse für den Einfluss eben jener Ab-
änderungen.


Ob sich auch die erste Schwierigkeit, die der Herstel-
lung konstanter Versuchsumstände, befriedigend überwinden
lasse, kann a priori nicht entschieden werden. Man muſs
einmal Versuche unter möglichst gleichen Umständen anstellen
und zusehen, ob die, im einzelnen voraussichtlich immer von
einander abweichenden Resultate bei Zusammenfassung gröſse-
rer Gruppen konstante Durchschnittswerte liefern. Indes an
und für sich ist das noch nicht hinreichend, um die gefun-
denen Zahlen zur Aufstellung numerischer Abhängigkeits-
beziehungen im naturwissenschaftlichen Sinne zu verwerten.
Die Statistik operiert mit einer groſsen Menge konstanter
Durchschnittszahlen, die gar nicht der häufigen Wiederholung
eines begrifflich gleichartigen Geschehens entspringen und
also auch nicht zu weiteren Einsichten in ein solches ver-
helfen können. Bei der groſsen Kompliciertheit des psychi-
schen Lebens läſst sich die Möglichkeit nicht abweisen, daſs
etwa gefundene konstante Mittelwerte von der Art solcher
statistischen Konstanten sind. Um darüber zu orientieren,
[27] untersuche ich die Gruppierung der einzelnen, zu einem
Durchschnittswert zusammengefaſsten Zahlen. Entspricht die-
selbe derjenigen Verteilung, die in den Naturwissenschaften
überall gefunden wird, wo die wiederholte Beobachtung eines
gleichartigen Geschehens differierende Einzelwerte giebt, so
nehme ich — wiederum versuchsweise — an, daſs auch der
betreffende wiederholt untersuchte psychische Vorgang allemal
unter genügend gleichen Umständen für unsere Zwecke
von statten gegangen sei. Zwingend ist diese Annahme nicht,
aber sehr wahrscheinlich. Ist sie falsch, so wird der Fort-
gang der Untersuchungen dies voraussichtlich von selbst leh-
ren: die von verschiedenen Gesichtspunkten gestellten Fragen
werden zu widersprechenden Resultaten führen.


§ 10.
Der wahrscheinliche Fehler.


Die Gröſse, welche die Dichtigkeit der gewonnenen Be-
obachtungen miſst und die ihre Verteilung darstellende For-
mel für jeden Fall zu einer bestimmten macht, kann man,
wie schon erwähnt, verschieden wählen. Ich benutze den
sogenannten „wahrscheinlichen Fehler“ (w), d. h. diejenige
Abweichung von dem Mittelwert nach oben und nach unten,
welche von den Einzelwerten ebenso oft überschritten wie
nicht erreicht wird, welche also zwischen ihrem positiven und
negativen Betrag gerade die Hälfte aller Beobachtungsresul-
tate, symmetrisch um den Mittelwert gelagert, einschlieſst.
Man kann sie, wie aus ihrem Begriff ersichtlich, aus diesen
Resultaten durch einfaches Abzählen herausfinden, genauer
geschieht dies durch eine theoretisch begründete Berechnung.


Hat man nun für irgend eine Gruppe von Beobachtungs-
werten diese Berechnung versuchsweise angestellt, dann erkennt
[28] man eine dem Fehlergesetz entsprechende Gruppierung jener
Werte daran, daſs innerhalb der Teile und Multipla des ver-
suchsweise berechneten wahrscheinlichen Fehlers annähernd
so viel Einzelwerte in symmetrischer Verteilung um den
Mittelwert gezählt werden, wie die Theorie jenes Gesetzes
verlangt.


Nach dieser sollen beispielweise fallen von je 1000 Be-
obachtungen:


Besteht diese Übereinstimmung in genügender Weise,
dann reicht die einzige Angabe des wahrscheinlichen Fehlers
hin, um die Lagerung sämtlicher Beobachtungen zu charak-
terisieren, und gleichzeitig giebt seine Gröſse einen brauch-
baren Maſsstab für die Dichtigkeit ihrer Scharung um den
Mittelwert, d. h. für ihre Genauigkeit und Vertrauenswürdigkeit.


Und wie in solcher Weise von einem wahrscheinlichen
Fehler der einzelnen Beobachtungen (wb), so kann man auch
sprechen von einem wahrscheinlichen Fehler der Mittelwerte
(wm). Derselbe beschreibt ganz entsprechend die Gruppierung,
welche sich für verschiedene Mittelwerte herausstellen würde,
wenn man die Beobachtung desselben Phänomens noch sehr oft
[29] wiederholte und jedesmal ebenso viele Beobachtungen wie
gegenwärtig zu einem Mittelwert zusammenfaſste; er giebt
eine kurze aber zureichende Charakteristik der Schwankungen
der aus Wiederholung der Beobachtungen resultierenden
Mittelwerte und damit ebenfalls ein Maſs für die Sicherheit
und Vertrauenswürdigkeit des gegenwärtig gefundenen. Er
ist daher im folgenden überall beigefügt worden. Wie er be-
rechnet wird, kann wiederum hier nicht auseinandergesetzt
werden, wenn nur klar ist, was er bedeutet. Er sagt also,
daſs man auf Grund des Charakters der sämtlichen Beobach-
tungen, aus denen man gegenwärtig einen Mittelwert gewon-
nen hat, mit der Wahrscheinlichkeit 1 zu 1 hoffen darf,
dieser Wert weiche höchstens um die Breite seines wahr-
scheinlichen Fehlers von demjenigen Mittelwert ab, der aus
unendlich oft wiederholten Beobachtungen als der präsumtiv
richtige resultieren würde. Eine gröſsere Abweichung fängt
gerade an, unwahrscheinlich im mathematischen Sinne zu
werden, d. h. eine gröſsere Wahrscheinlichkeit gegen sich als
für sich zu haben. Und, wie ein Blick auf die eben mit-
geteilte Tabelle lehrt, wächst die Unwahrscheinlichkeit gröſse-
rer Abweichungen auſserordentlich schnell mit zunehmender
Gröſse der letzteren. Dafür z. B., daſs die Abweichung des
gefundenen Mittelwertes von dem präsumtiv richtigen die
2½ fache Breite des gleichzeitig gefundenen wahrscheinlichen
Fehlers übersteige, besteht nur die Wahrscheinlichkeit 92:908,
also etwa 1:10, für Überschreitung der vierfachen Breite die
geringe Wahrscheinlichkeit 7:993 (d. h. 1:142).


[[30]]

III.
Methode der Untersuchung.


§ 11.
Sinnlose Silbenreihen.


Um den Weg zu tieferem Eindringen in die Gedächtnis-
vorgänge, auf den die vorangegangenen Überlegungen hin-
weisen, einmal praktisch — allerdings nur für ein sehr be-
schränktes Gebiet — zu erproben, habe ich folgendes Ver-
fahren eingeschlagen.


Aus den einfachen Konsonanten des Alphabets und un-
seren elf Vokalen und Diphthongen wurden alle überhaupt
möglichen Silben einer bestimmten Art gebildet, und zwar alle
in der Weise, dass ein Vokallaut in der Mitte steht und zwei
Konsonanten ihn umgeben *. Diese Silben, ca. 2300 an der
Zahl, wurden durcheinander gemengt und dann, wie der Zu-
fall sie in die Hand führte, zu Reihen von verschiedener
Länge zusammengesetzt, deren mehrere jedesmal das Objekt
[31] eines Versuchs bildeten *. Bei der Zusammensetzung der Silben
wurden ursprünglich, übrigens nicht gerade peinlich, einige
Regeln beobachtet, die eine allzu rasche Wiederkehr ähnlich
klingender Elemente verhindern sollten; später wurde von
diesen abgesehen und nur der Zufall walten gelassen. Die
jedesmal benutzten Silben wurden besonders aufbewahrt, bis
die ganze Masse durchgebraucht war, dann aufs neue gemischt
und wieder verwendet.


Alle mit diesen Silbenreihen angestellten Versuche liefen
schlieſslich darauf hinaus, die einzelnen Reihen durch wieder-
holtes lautes Durchlesen soweit einzuprägen, daſs sie gerade
eben willkürlich reproduciert werden konnten. Dieses Ziel galt
als erreicht, wenn eine Reihe zum erstenmale, nach ge-
gebenem Anfangsglied, ohne Stocken, in einem
bestimmten Tempo und mit dem Bewuſstsein der
Fehlerlosigkeit
auswendig hergesagt werden konnte.


§ 12.
Vorzüge des Materials.


Das beschriebene, völlig sinnlose Material bietet, zum
Teil wegen seiner Sinnlosigkeit, mannigfache Vorteile. Es
ist zuvörderst verhältnismäſsig einfach und verhältnismäſsig
*
[32] gleichartig. Bei den zunächst sich darbietenden Stoffen, Ge-
dichten oder Prosastücken, muſs der bald erzählende, bald
beschreibende, bald reflektierende Inhalt, hier eine pathetische,
dort eine lächerliche Wendung, die Schönheit oder Härte der
Metaphern, die Glätte oder Eckigkeit von Rhythmus und Reim
eine Fülle von unregelmäſsig wechselnden und deshalb stören-
den Einflüssen ins Spiel bringen: hin- und herspielende Asso-
ciationen, verschiedene Grade der Anteilnahme, Rückerinne-
rungen an besonders treffende oder schöne Verse u. s. w.
Alles dies wird bei unseren Silben vermieden. Unter vielen
tausend Kombinationen begegnen kaum einige Dutzend, die
einen Sinn ergeben, und unter diesen wiederum nur einige
wenige, bei denen während des Lernens auch der Gedanke
an diesen Sinn geweckt wurde.


Freilich darf man die Einfachheit und Gleichartigkeit des
Materials nicht überschätzen; sie bleiben weit von dem ent-
fernt, was man zu erreichen wünschen möchte. Das Lernen
der Silben zieht immer noch drei Sinnesgebiete in Mitleiden-
schaft, das Auge, das Ohr und den Muskelsinn der Sprach-
organe. Und wenn auch diese in wohlumschriebener und
immer sehr ähnlicher Weise beteiligt werden, so wird man
doch wegen ihrer zusammengesetzten Beteiligung auch eine
gewisse Kompliciertheit der Resultate voraussehen müssen.
Namentlich aber bleibt die Gleichartigkeit der Silbenreihen
erheblich hinter dem zurück, was man in Betreff ihrer er-
warten würde; sie zeigen sehr bedeutende und fast unver-
ständliche Differenzen der Leichtigkeit und Schwierigkeit.
Ja es scheint beinahe, als ob unter diesem Gesichtspunkt die
Unterschiede zwischen sinnvollem und sinnlosem Material
praktisch bei weitem nicht so groſs seien, als man a priori
geneigt ist, sich vorzustellen. Wenigstens fand ich bei dem
Auswendiglernen einiger Cantos von Byrons Don Juan ver-
[33] hältnismäſsig
keine gröſsere Streuung der Zahlen als bei
Silbenreihen, auf deren Erlernen eine annähernd gleich lange
Zeit verwendet worden war. Dort scheinen die vorhin an-
gedeuteten zahllosen störenden Einflüsse sich doch bald zu
einem gewissen mittleren Effekt zu kompensieren; während
hier die Prädisposition für verschiedene Buchstaben- und Sil-
benkombinationen, durch den Einfluſs der Muttersprache, eine
sehr ungleichartige sein muſs.


Unzweifelhafter sind die Vorzüge unseres Materials in
zwei anderen Hinsichten. Einmal erlaubt es eine unerschöpf-
liche Fülle neuer Kombinationen von ganz gleichartigem Cha-
rakter, während verschiedene Gedichte, verschiedene Prosa-
stücke immer etwas Unvergleichbares haben. Sodann gestattet
es eine sichere und bequeme quantitative Variierung; wogegen
ein Abbrechen vor dem Ende, ein Anfangen in der Mitte
einer Strophe oder eines Satzes durch die verschiedenartigen
Störungen des Sinnes, die es mit sich bringt, auch wieder zu
neuen Komplikationen führt.


Zahlenreihen, die ich ebenfalls versuchte, schienen mir
für gröſsere Untersuchungen sich zu schnell zu erschöpfen
wegen der geringeren Anzahl ihrer Grundelemente.


§ 13.
Herstellung möglichst konstanter Versuchsumstände.


Für das Auswendiglernen waren folgende Bestimmungen
getroffen:


1. Die einzelnen Reihen wurden immer vollständig von
Anfang bis zu Ende durchgelesen; sie wurden nicht in ein-
zelnen Teilen gelernt, die dann zusammengeschweiſst worden
wären; auch wurden nicht einzelne, besonders schwierige
Stellen herausgegriffen und häufiger memoriert. Mit dem
Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 3
[34] Durchlesen und den ab und zu notwendigen Versuchen des
Auswendighersagens wurde zwanglos abgewechselt. Auch
für die letzteren aber galt als Regel, daſs bei einer eintreten-
den Stockung erst der Rest der Reihe zu Ende gelesen und
dann auf ihren Anfang zurückgegriffen wurde.


2. Durchlesen und Hersagen geschahen stets mit gleich-
förmiger Geschwindigkeit, nämlich im Takt von 150 Schlägen
auf die Minute. Zur Regelung derselben wurde ursprünglich
ein entfernt aufgestelltes Metronom mit Schlagwerk benutzt;
sehr bald aber, viel einfacher und weniger störend für die
Aufmerksamkeit, das Ticken einer Taschenuhr. Die Echappe-
mentsvorrichtung der meisten Taschenuhren pendelt nämlich
300 mal in der Minute.


3. Da es fast unmöglich ist, andauernd ohne Unterschiede
der Betonung zu sprechen, so wurden, damit diese Unter-
schiede stets dieselben seien, entweder je drei oder je vier Sil-
ben sozusagen zu einem Takt zusammengefaſst, und also ent-
weder die 1ste, 4te, 7te, oder die 1ste, 5te, 9te u. s. w. Silbe
mit einem mäſsigen Iktus versehen. Sonstige Erhebungen der
Stimme wurden möglichst vermieden.


4. Nach Erlernung jeder Einzelreihe wurde eine Pause
von 15 Sekunden gemacht und zur Aufzeichnung des Resul-
tats benutzt. Dann wurde unmittelbar zu einer folgenden
Reihe desselben Versuchs fortgeschritten.


5. Soweit es anging, wurde während des Lernens stets
die Absicht festgehalten, das erstrebte Ziel so schnell als
möglich
zu erreichen. Es wurde also, in dem begrenzten
Maſse, in dem der bewuſste Wille hier von Einfluſs ist, be-
ständig versucht, die Aufmerksamkeit auf die ermüdende
Arbeit und ihren Zweck möglichst koncentriert zu halten.
Selbstverständlich wurde zur Ermöglichung dieser Absicht
auf die gänzliche Fernhaltung äusserer Störungen Bedacht
[35] genommen; auch die geringeren Zerstreuungen, die durch An-
stellung der Versuche in verschiedener Umgebung herbei-
geführt werden, wurden thunlichst vermieden.


6. Es wurde niemals versucht, die sinnlosen Silben durch
irgendwelche hineingedachte Beziehungen, z. B. nach den
Regeln der Mnemotechniker, zu verbinden; das Lernen er-
folgte rein durch die Einwirkung der blossen Wiederholungen
auf das natürliche Gedächtnis. Da ich nicht die mindeste prak-
tische Kenntnis der mnemotechnischen Künste besitze, hatte die
Erfüllung dieser Bedingung für mich keine Schwierigkeit.


7. Endlich und hauptsächlich wurde darauf geachtet, daſs
die äuſseren Lebensumstände, während der Perioden der Ver-
suche, wenigstens vor allzu groſsen Veränderungen und Un-
regelmäſsigkeiten bewahrt blieben. Natürlich ist dies im Ver-
lauf vieler Monate nur mit erheblichen Einschränkungen mög-
lich. Allein es wurde dann wenigstens Sorge getragen, daſs
diejenigen Versuche, deren Resultate direkt mit einander ver-
glichen werden sollten, unter möglichst gleichen Bedingungen
der Lebensweise angestellt wurden. Namentlich war die den
Versuchen unmittelbar vorausgehende Beschäftigung immer
möglichst gleichartig. Da das geistige Leben des Menschen,
nicht minder wie das körperliche, einer deutlich hervortreten-
den 24 stündigen Periodicität unterworfen ist, so wurde be-
stimmt, daſs gleiche Versuchsumstände nur zu gleichen Tages-
zeiten vorausgesetzt werden sollten. Indes wurden, um einen
Tag zu mehr als einem Versuche auszunutzen, gelegentlich
verschiedene Untersuchungen zu verschiedenen Tageszeiten
gleichzeitig betrieben. Bei allzu groſsen Änderungen des
äuſseren oder inneren Lebens wurden die Versuche vorüber-
gehend ausgesetzt. Ihrer Wiederaufnahme gingen dann, ver-
schieden je nach der Dauer der Unterbrechungen, einige
Tage erneuter Einübung voraus.


3*
[36]

§ 14.
Fehlerquellen.


Der leitende Gesichtspunkt bei der Wahl des Materials
sowie bei den Bestimmungen für seine Verwendung war, wie
man erkennt, überall das Streben, die Bedingungen, unter
denen die zu beobachtende Gedächtnisthätigkeit ins Spiel trat,
möglichst zu vereinfachen und möglichst konstant zu erhalten.
Natürlich entfernt man sich, je besser dies gelingt, nur
desto mehr von den komplicierten und wechselnden Verhält-
nissen, unter denen diese Thätigkeit im gewöhnlichen Leben
funktioniert und für uns von Bedeutung ist. Aber das ist
kein Einwand gegen die Notwendigkeit jenes Verfahrens.
Der freie Fall, die reibungslosen Maschinen u. s. w., mit denen
sich die Physik beschäftigt, sind auch im Vergleich mit dem,
was im wirklichen Geschehen der Natur vorkommt und für
uns wichtig ist, nur Abstraktionen. Ein annäherndes Ver-
ständnis des Komplicierten und Wirklichen ermöglichen wir
uns fast nirgendwo direkt, sondern auf Umwegen, durch suc-
cessive Zusammensetzung von Erfahrungen, deren jede an
künstlich zurechtgemachten und von der Natur selbst in dieser
Weise selten oder nie erzeugten Fällen gewonnen wurde.


Einstweilen ist es nicht sowohl von Bedeutung, daſs der
Anschluſs an die Bethätigung des Gedächtnisses im gewöhn-
lichen Leben vorläufig verloren geht, sondern vielmehr um-
gekehrt, daſs dieser Anschluſs an die Verwickelungen und
Schwankungen des Lebens notgedrungen immer noch ein zu
enger ist. Jenes Streben nach möglichst einfachen und gleich-
artigen Bedingungen stöſst natürlich in zahlreichen Punkten
auf Schwierigkeiten, die in der Natur der Sache wurzeln und
es vereiteln. Die unvermeidliche Ungleichartigkeit des
[37] Materials und die ebenso unvermeidlichen Unregelmäſsigkeiten
der äuſseren Lebensbedingungen habe ich bereits berührt.
Ich weise noch auf zwei andere solcher unumgänglichen
Fehlerquellen hin.


Die Reihen werden durch die successiven Wiederholungen
sozusagen auf ein immer höheres Niveau gehoben. In dem
Moment, wo sie zuerst hergesagt werden können, ist das er-
reichte Niveau, wie man annehmen sollte, allemal ein gleiches;
und nur wenn das der Fall ist, wenn das charakteristische
erstmalige Hersagen überall ein äuſserlich gleiches Zeichen
einer innerlich gleichen Festigkeit der Reihen ist, hat es ja
für uns eigentlich einen Wert. Thatsächlich nun ist das doch
nicht der Fall; die inneren Zustände verschiedener Reihen in
dem Moment der erstmöglichen Reproduktion sind nicht immer
dieselben, sondern höchstens kann man annehmen, daſs sie
bei verschiedenen Reihen immer um denselben Zustand innerer
Festigkeit herum oscillieren. Man erkennt dies deutlich,
wenn man nach Erreichung jenes ersten spontanen Hersagens
mit dem Wiederholen und Lernen der Reihen weiter fortfährt.
In der Regel bleibt dann die gewonnene Möglichkeit willkür-
licher Reproduktion bestehen; in zahlreichen Fällen dagegen
ist sie unmittelbar nach ihrem ersten Auftreten wieder ver-
schwunden und wird erst durch mehrmaliges Wiederholen
aufs neue erworben. Dies beweist, daſs die Prädisposition für
die Aufnahme der Reihen, abgesehen von ihren Unterschieden
im groſsen, je nach den Tageszeiten, den äuſseren und inneren
Umständen u. s. w., kleinen, kurzdauernden Schwankungen
unterliegt, mag man diese nun als Schwankungen der Auf-
merksamkeit oder sonstwie bezeichnen. Nähert sich die Festig-
keit des Gelernten dem gewünschten Punkt, und es tritt ein
vorübergehender Moment besonderer Lucidität ein, so erhascht
man die Reihe gewissermaſsen im Fluge, oft zur eigenen
[38] Verwunderung, aber man kann sie nicht lange festhalten.
Durch das Dazwischentreten eines Moments besonderer Schwer-
fälligkeit wird umgekehrt die fehlerlose Reproduktion eine
Weile hinausgeschoben, obgleich man wohl fühlt, daſs man
die Reihe „eigentlich“ beherrscht und sich ebenfalls wundert
über die immer wieder auftretenden Stockungen. Im ersten
Falle bleibt die Reihe trotz der Gleichheit des äuſserlich Er-
scheinenden etwas unter dem Niveau der durchschnittlich
hiermit verbundenen inneren Festigkeit, im zweiten geht sie
etwas darüber hinaus, und man kann, wie gesagt, höchstens
die plausible Vermutung aufstellen, daſs diese Abweichungen
sich bei gröſseren Gruppen von Reihen kompensieren werden.


Die andere Fehlerquelle kann ich nur als eine möglicher-
weise vorhandene, dann aber als eine sehr gefährliche be-
zeichnen. Das ist der geheime Einfluſs von sich bildenden
Theorien und Ansichten. Eine Untersuchung pflegt auszu-
gehen von bestimmten Voraussetzungen in Betreff der Resul-
tate. Ist das aber auch von vornherein nicht der Fall, so
bilden sich diese allmählich, falls man gezwungen ist, alleine
zu experimentieren. Denn es ist unmöglich, die Untersuchung
längere Zeit fortzuführen, ohne von den Resultaten Kenntnis
zu nehmen. Man muſs wissen, ob die Fragestellung eine
richtige war, oder ob sie vielleicht einer Ergänzung oder Kor-
rektur bedarf; man muſs die Schwankungen der Resultate
kontrollieren, um die Einzelbeobachtungen so lange fortzusetzen,
daſs der Mittelwert die für den jeweiligen Zweck erforderliche
Sicherheit erhält. Dabei ist es unvermeidlich, daſs sich nun
hinterher an der Anschauung der Zahlen Vermutungen ent-
wickeln über die Gesetzmäſsigkeit, die in ihnen verborgen
sein könnte und — einstweilen noch unvollkommen — zur
Erscheinung kommt. Bei der Fortsetzung der Untersuchungen
bilden dann diese Vermutungen ebenso wie die anfänglich
[39] schon vorhandenen ein komplicierendes Moment, welches auf
den ferneren Ausfall der Resultate wahrscheinlich einen ge-
wissen Einfluſs übt. Selbstverständlich meine ich keine irgend-
wie bewuſste Beeinflussung, sondern ein ähnliches Geschehen,
wie wenn man sich Mühe giebt, recht unbefangen zu sein
oder sich eines Gedankens zu entschlagen und eben dadurch
Gedanken und Befangenheit erst recht nährt. Man geht den
Resultaten mit einer halbwegs anticipierenden Kenntnis, mit
einer Art von Erwartung entgegen. Dadurch, daſs man sich
immer wieder sagt, dieselbe dürfe natürlich die Unbefangen-
heit der Untersuchung nicht alterieren, geschieht dies doch
nicht ohne weiteres, vielmehr bleibt sie und spielt in der
inneren Gesamtattitüde ihre Rolle. Jenachdem man merkt
(und im allgemeinen merkt man dies ja während des Lernens),
daſs sie sich bestätigt oder nicht bestätigt, wird man, wenn
auch in noch so geringem Grade, eine Art Vergnügen oder
Überraschung empfinden. Und sollte nicht, trotz der gröſsten
Gewissenhaftigkeit, die Überraschung über besonders auf-
fallende Abweichungen nach oben oder nach unten ganz un-
willkürlich dahin führen, daſs man sich dort etwas mehr zu-
sammennimmt, hier etwas mehr gehen läſst, als ohne jede
Kenntnis oder Voraussetzung von der präsumtiven Gröſse des
Resultats geschehen wäre? Ich kann nicht behaupten, daſs
dies immer oder auch nur häufig der Fall sei, da es sich nicht
um direkt zu Beobachtendes handelt, und da zahlreiche Re-
sultate, bei denen man eine solche geheime Beugung der
Wahrheit am ehesten erwarten sollte, eine evidente Unab-
hängigkeit zeigen. Ich muſs nur sagen: nach unserer sonstigen
Kenntnis von der menschlichen Natur müssen wir auf solche
Machinationen, sozusagen, gefaſst sein, und bei Untersuchungen,
bei denen die jeweilige innere Haltung von viel gröſserer Be-
deutung ist, als z. B. bei Experimenten über Sinnesempfin-
[40] dungen, müssen wir ihren möglichen täuschenden Einfluſs
besonders aufmerksam im Auge behalten.


Man erkennt, wie sich dieser Einfluſs im allgemeinen
äuſsern würde. Bei mittleren Werten würde er auf die Be-
schneidung der Extreme hinzielen, bei solchen, bei denen man
eine erhebliche Gröſse oder eine erhebliche Kleinheit voraussieht,
auf eine weitere Erhöhung resp. Herabdrückung der Zahlen.
Eine sichere Vermeidung des Einflusses ist nur da zu hoffen,
wo die Versuche von zwei Personen gemeinsam angestellt wer-
den, von denen eine für geraume Zeit das Lernen über sich
ergehen lieſse, ohne nach Zweck und Resultaten desselben zu
fragen. Anderenfalls kann man sich auf Umwegen, und dann
vermutlich nur teilweise, helfen. Man kann die genauen Re-
sultate, wie ich immer gethan habe, wenigstens möglichst
lange
vor sich selbst verbergen; man kann die Untersuchung
ausdehnen auf möglichst extreme Werte der Veränderlichen,
sodaſs die eventuelle Beugung der Wahrheit immer schwieriger
wird und relativ immer belangloser; und man kann endlich
möglichst vielfache und für unsere Einsicht von einander un-
abhängige Fragen stellen, in der Erwartung, daſs dadurch
das wahre Verhalten des innerlich Zusammenhängenden sich
doch schlieſslich Bahn brechen werde.


Wie weit nun bei den im folgenden mitgeteilten Resul-
taten die besprochene Fehlerquelle eine Trübung herbeigeführt
hat, entzieht sich natürlich genauerer Schätzung. Die abso-
lute
Gröſse der Zahlen wird durch sie zweifellos vielfach
tangiert sein, allein da die Absicht der Untersuchungen einst-
weilen nirgendwo auf die genaue Bestimmung absoluter Zahlen
gerichtet sein konnte, sondern auf die Gewinnung kompara-
tiver (allerdings numerisch komparativer) und verhältnismäſsig
immer noch allgemeiner Resultate, so ist kein Grund zu allzu
ängstlichem Miſstrauen gegeben. In einem wichtigen Falle (§ 38)
[41] konnte ich mich direkt vergewissern, daſs durch Ausschluſs
jedes Wissens der Charakter der Resultate keine Verände-
rung erlitt; wo, in einem anderen Falle, ich selbst einen Zweifel
nicht ausschlieſsen konnte, habe ich ihn ausdrücklich hervor-
gehoben. Jedenfalls wird derjenige, der a priori geneigt ist,
den unwillkürlichen Einfluſs geheimer Wünsche auf die geistige
Gesamthaltung sehr hoch zu veranschlagen, billigerweise auch
berücksichtigen müssen, daſs der geheime Wunsch, sachliche
Wahrheiten zu finden und nicht mit unverhältnismäſsiger
Mühe Geschöpfe der eigenen Phantasie auf thönerne Füſse zu
setzen, in dem verwickelten Getriebe jener möglichen Beein-
flussungen ebenfalls eine Stelle beanspruchen darf.


§ 15.
Messung der gebrauchten Arbeit.


Die Anzahl der Wiederholungen, welche für das Aus-
wendiglernen einer Reihe bis zur erstmöglichen Repro-
duktion erforderlich war, bestimmte ich ursprünglich nicht
direkt durch Nachzählen derselben, sondern indirekt durch
Messung der Zeit in Sekunden, welche für das Lernen ge-
braucht wurde. Ich wollte so die mit dem Nachzählen even-
tuell verbundene Zerstreuung vermeiden und konnte ja andrer-
seits voraussetzen, daſs Proportionalität bestehen würde zwi-
schen den Zeiten und der jedesmaligen Anzahl der in be-
stimmtem Rhythmus geschehenden Wiederholungen. Als eine
ganz genaue kann man diese Proportionalität freilich von vorn-
herein nicht erwarten, da bei der Messung der Zeit die
Momente des Stockens und Besinnens mitgemessen werden,
bei dem Zählen der Wiederholungen nicht. Schwierige Reihen,
bei denen ja die Stockungen relativ häufiger sein werden,
[42] bekommen dadurch bei der Messung der Zeiten verhältnis-
mäſsig gröſsere, leichte Reihen verhältnismäſsig kleinere Zahlen
als bei Bestimmung der Wiederholungen. Allein bei gröſseren
Gruppen von Reihen darf man offenbar ein leidlich gleich-
artiges Vorkommen der schwierigen und leichten Reihen vor-
aussetzen, sodaſs sich für jede Gruppe die Abweichungen von
der Proportionalität in derselben Weise kompensieren würden.


Als für bestimmte Versuche das direkte Abzählen der
Wiederholungen dennoch notwendig wurde, habe ich mich
folgenden Verfahrens bedient. Kleine hölzerne Kugelkappen
von ca. 14 mm Durchmesser und 4 mm gröſster Dicke, die in der
Mitte durchbohrt waren (sogenannte Knopfformen), wurden
auf eine so starke Schnur gezogen, daſs sie sich an derselben
noch bequem verschieben lieſsen, aber nicht von selbst hin-
und hergleiten konnten. Jedes zehnte Holzstückchen war
schwarz, die übrigen hatten ihre Naturfarbe. Während des
Lernens wurde die Schnur in den Händen gehalten und bei
jeder neuen Wiederholung ein Holzstückchen um einige Centi-
meter von links nach rechts verschoben. Konnte die Reihe
hergesagt werden, so genügte, bei der dekadischen Einteilung
der Holzstückchen, ein Blick auf die Schnur, um die Anzahl
der erforderlich gewesenen Wiederholungen zu erfassen. Die
Manipulation erforderte so wenig Aufmerksamkeit, daſs an den
Mittelwerten der (immer gleichzeitig notierten) gebrauchten
Zeiten keine Verlängerung gegen früher wahrzunehmen war.


Durch diese gleichzeitige Messung der Zeit und der
Wiederholungen wurde beiläufig Gelegenheit gegeben, das,
was über das Verhältnis der beiden zu einander vorauszusehen
war und soeben angedeutet wurde, zu bestätigen und genauer
zu präcisieren. Bei genauer Innehaltung des vorgeschriebenen
Rhythmus von 150 Schlägen auf die Minute müſste auf jede
Silbe eine Zeit von 0,4 Sekunden entfallen, und bei Unter-
[43] brechung des einfachen Lesens der Reihen durch Versuche,
sie auswendig herzusagen, müſste diese Zeit wegen der un-
vermeidlichen Stockungen eine mäſsige und durchschnittlich
gleiche Verlängerung erfahren. Dies zeigte sich im allgemeinen
aber nicht ganz genau bestätigt, vielmehr ergaben sich fol-
gende Modifikationen.


Bei vorwiegendem Durchlesen der Reihen fand leicht ein
gewisses Drängen, eine Beschleunigung des Rhythmus statt,
die, ohne zum Bewuſstsein zu kommen, doch im ganzen den
Durchschnitt der auf jede Silbe fallenden Zeit noch unter den
Normalwert 0,4 herabdrückte. Bei Abwechslung von Durch-
lesen und Hersagen dagegen war die eintretende Verlänge-
rung nicht überall annähernd gleich, sondern bei gröſserer
Länge der Reihen wesentlich gröſser. Es trat in diesem
Falle, da die Schwierigkeit mit wachsender Länge sehr rasch
zunimmt, wiederum unwillkürlich und direkt nicht bemerkbar,
eine Verlangsamung des Tempos ein. Beides wird durch
folgende Zusammenstellung einiger Zahlen illustriert.


[44]

Sobald übrigens die Richtung dieser Abweichungen von
genauer Proportionalität bemerkt wurde, trat bei dem Lernen
eine gewisse bewuſste Reaktion gegen sie ein.


Endlich zeigte sich noch, daſs die wahrscheinlichen Fehler
der Zeitbestimmungen verhältnismäſsig etwas gröſser aus-
fielen als diejenigen der Wiederholungen. Dieses Verhalten
ist wohl verständlich, wenn man sich des vorhin Auseinander-
gesetzten erinnert. Bei der Messung der Zeiten müssen die
gröſseren Werte, die natürlich an den schwierigeren Reihen
gewonnen wurden, relativ noch etwas gröſser ausfallen als bei
Zählung der Wiederholungen, weil sie relativ am meisten
durch Stockungen verlängert werden; die kleineren Zeiten
umgekehrt werden relativ etwas kleiner sein als die kleineren
Anzahlen von Wiederholungen, weil sie im allgemeinen den
leichteren Reihen entsprechen werden. Die Streuung der
Werte für die Zeiten ist also gröſser als die der Werte für
die Wiederholungen.


Die Differenzen der beiden Bestimmungsweisen sind, wie
man sieht, erheblich genug, um unter Umständen, bei sehr
genauen Untersuchungen, zu verschiedenen Resultaten zu
führen. Bei den bisher gewonnenen Ergebnissen ist das nicht
der Fall; es ist also für das folgende einerlei, ob man sich
an die Zahl der Sekunden oder die der Wiederholungen hält.


Welche Art des Messens die richtigere sei, d. h. ein
adäquateres Maſs der aufgewandten psychischen Arbeit, läſst
sich a priori nicht ausmachen. Man kann sagen, die Ein-
prägung finde lediglich durch die Wiederholungen statt; sie
seien also das, worauf es ankomme; eine stockende Wieder-
holung sei ebenso gut wie eine glatt verlaufende nur eine
einmalige Vorführung der Reihe, und beide müſsten gleich
gezählt werden. Allein andererseits kann man doch bezwei-
feln, daſs die Momente des Besinnens reiner Verlust seien.
[45] Es findet in ihnen jedenfalls meist eine gewisse Energieent-
faltung statt: einerseits eine sehr rapide nochmalige Zusammen-
fassung des unmittelbar Zurückliegenden, ein neuer Anlauf
sozusagen, um über den Punkt des Anstoſses hinwegzukommen,
andererseits eine erhöhte Anspannung der Aufmerksamkeit
für das Folgende. Wenn hiermit, wie doch wahrscheinlich,
eine festere Einprägung der Reihen an den betreffenden Stellen
verbunden ist, so haben diese Momente auch Anspruch auf
Berücksichtigung, die ihnen nur durch Messung der Zeiten
zu teil wird.


Erst wenn einmal irgendwo eine erhebliche Verschieden-
heit der durch die beiden Messungsweisen erhaltenen Resul-
tate zu Tage tritt, wird man die eine Art vor der anderen
bevorzugen können. Man wird dann diejenige wählen, welche
die einfachere Formulierung der betreffenden Resultate ge-
stattet.


§ 16.
Perioden der Versuche.


Die Versuche sind in zwei Perioden, nämlich in den
Jahren 1879/80 und 1883/84 angestellt worden und erstreckten
sich jedesmal reichlich über ein Jahr. Den definitiven Ver-
suchen der ersten Periode waren während geraumer Zeit
tastende Versuche ähnlicher Art vorangegangen, sodaſs für alle
mitgeteilten Resultate die Zeit der wachsenden Übung wesent-
lich als überwunden angesehen werden darf. Zu Beginn der
zweiten Periode wurde auf eine erneute Einübung Bedacht
genommen. Diese zeitliche Verteilung der Versuche, mit einer
trennenden Zwischenzeit von über drei Jahren, giebt die er-
wünschte Möglichkeit einer gewissen gegenseitigen Kontrolle
mancher Resultate. Freilich sind dieselben nicht vollkommen
[46] vergleichbar. Bei den Versuchen der ersten Periode war nämlich,
um das oben (§ 14) erwähnte flüchtige Erhaschen der Reihen
in Momenten besonderer Koncentration einzuschränken, die Be-
stimmung getroffen, dass die Reihen gelernt würden, bis zwei
fehlerfreie Reproduktionen nach einander möglich seien. In
der späteren Zeit habe ich diese Bestimmung, die ihren Zweck
doch nur unvollkommen erreicht, wieder fallen gelassen und
an der ersten glatten Reproduktion festgehalten. Durch
die ältere Bestimmung wird offenbar in manchen Fällen ein
etwas längeres Lernen bedingt. Auſserdem bestand ein Unter-
schied der Tagesstunden für die Versuche. Die der späteren
Periode fallen alle in die Nachmittagsstunden von 1—3 Uhr,
die der früheren verteilen sich ungleich auf die Stunden
10—11 Vorm., 11—12 Vorm., 6—8 Nachm., die ich der Kürze
halber gelegentlich mit A, B, C bezeichne.


[[47]]

IV.
Die Brauchbarkeit der Durchschnittszahlen.


§ 17.
Gruppierung der Versuchsresultate.


Die erste Frage, welche aus den in der beschriebenen
Weise angestellten Untersuchungen eine Antwort erwartet,
ist nach den Erörterungen von §§ 7 und 8 die nach der
Natur der gewonnenen Durchschnittszahlen. Sind die immer-
hin schwankenden Zeiten, welche erforderlich waren, um
Reihen von bestimmter Länge unter möglichst gleichen
Umständen
gerade auswendig zu lernen, so gruppiert, daſs
man ihre Mittelwerte mit Wahrscheinlichkeit als Maſszahlen
im physikalischen Sinne ansehen darf oder nicht?


Geschehen die Versuche in der oben auseinandergesetzten
Art, sodaſs nämlich immer mehrere Reihen unmittelbar hinter-
einander gelernt werden, so wird man bei den Zeiten, die
für das Lernen der einzelnen Reihen erforderlich waren,
eine solche Gruppierung von vornherein nicht wohl erwarten
dürfen. Denn bei längerer Dauer des Lernens treten bei den
einzelnen Reihen variable Bedingungen ins Spiel, deren Schwan-
kungen wir, nach unserer Kenntnis von ihnen, nicht als sym-
metrisch um einen Mittelwert voraussetzen können. Die
[48] Gruppierung der Resultate muſs dadurch ebenfalls eine un-
symmetrische werden und kann also dem Fehlergesetz
nicht entsprechen. Solche Bedingungen sind z. B. die ab-
nehmende geistige Frische, die zuerst sehr schnell, dann im-
mer langsamer einer gewissen Ermüdung Platz macht, sodann
die Schwankungen der Aufmerksamkeit. Die Verlangsamung
des Lernens durch eine auſsergewöhnliche Zerstreuung kennt
sozusagen keine Grenzen; die Lernzeit einer Reihe kann durch
sie gelegentlich auf das doppelte und mehr ihres mittleren
Betrages gesteigert werden. Der entgegengesetzte Effekt einer
auſsergewöhnlichen Anspannung dagegen kann, der Natur der
Sache nach, ein gewisses Maſs nie überschreiten; er kann nie
etwa einmal die Lernzeit auf Null reducieren.


Nimmt man dagegen Gruppen von jedesmal gleich viel
unmittelbar hinter einander gelernten Reihen, so können für
diese jene störenden Schwankungen als wegfallend oder bei-
nahe wegfallend betrachtet werden. Die allmähliche Abnahme
der geistigen Frische wird bei einer Gruppe ungefähr in
derselben Weise geschehen wie bei einer anderen. Die
Schwankungen der Aufmerksamkeit nach oben und nach unten,
die während einer Viertel- oder halben Stunde unter sonst
gleichen Umständen vorkommen, werden zusammengerechnet
heute ungefähr denselben mittleren Effekt haben wie morgen.
Man wird also nur fragen können: zeigen die Zeiten, welche
für das Lernen gleicher Gruppen von Reihen erforderlich
waren, die gewünschte Verteilung?


Diese Frage kann ich mit befriedigender Sicherheit be-
jahen. Die beiden gröſsten Reihen von unter gleichen Um-
ständen gewonnenen Zahlen, die ich besitze, sind zwar noch
nicht groſs, in dem Sinne, in dem die Theorie dies voraus-
setzt; sie leiden ferner an dem Übelstand, daſs sie aus ver-
hältnismäſsig langen Zeitperioden stammen, in denen natür-
[49] lich gröſsere Ungleichheiten der Umstände unvermeidlich sind,
allein ihre Gruppierung kommt trotzdem der von der Theorie
verlangten so nahe wie man nur erwarten kann.


Die erste Versuchsreihe aus den Jahren 1879/80 umfaſst
92 Versuche. Jeder Versuch bestand in dem Lernen von
acht Reihen zu 13 Silben, welches fortgesetzt wurde bis ein zwei-
maliges Hersagen jeder Reihe möglich war. Die dazu er-
forderliche Zeit betrug für alle acht Reihen zusammen, ein-
gerechnet die Zeit des Hersagens selbst (aber natürlich nicht
die Pausen s. S. 34, 4), im Mittel 1112 Sekunden mit dem
wahrscheinlichen Beobachtungsfehler ± 76. Die Schwankungen
der Resultate waren also verhältnismäſsig sehr bedeutend: in
das Intervall 1036 bis 1188 fiel nur die Hälfte der erhaltenen
Zahlen, die andere Hälfte nach oben und unten darüber hin-
aus. Im einzelnen ist die Gruppierung der Zahlen folgende:


In dem Intervall ¼ w bis ½ w findet eine kleine An-
häufung der Werte statt, die durch eine gröſsere Leere in
dem nächstfolgenden Intervall ½ w bis w kompensiert wird;
abgesehen hiervon ist die Übereinstimmung befriedigend. Zu
wünschen läſst die Symmetrie der Verteilung. Die unterhalb
des Durchschnitts liegenden Werte überwiegen etwas an Zahl,
Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 4
[50] die oberhalb liegenden dafür etwas an Gröſse der Abweichung:
von den acht gröſsten Abweichungen liegen nur zwei von dem
Mittelwert nach unten. Der soeben angedeutete Einfluſs der
Aufmerksamkeit, deren Schwankungen bei den Einzelreihen
gröſsere Abweichungen nach oben als nach unten bewirken,
ist also hier durch die Zusammenfassung mehrerer Reihen
noch nicht ganz kompensiert worden.


Erheblich verbessert zeigt sich die Sicherheit der Beob-
achtungen und die Übereinstimmung ihrer Verteilung mit der
theoretisch geforderten bei der zweiten gröſseren Versuchs-
reihe. Dieselbe umfaſst die Resultate von 84 Versuchen aus
den Jahren 1883/84. Jeder Versuch bestand in dem Lernen
von je sechs Reihen zu 16 Silben, jedesmal bis zum ersten
fehlerfreien Hersagen. Die hierzu erforderliche Gesamtzeit
betrug im Mittel 1261 Sekunden mit dem wahrscheinlichen
Beobachtungsfehler ± 48,4; d. h. die Hälfte aller 84 Zahlen
fällt in das Intervall 1213 bis 1309. Die Genauigkeit der
Beobachtungen war also gegen früher erheblich gesteigert*:
[51] das von dem wahrscheinlichen Fehler eingeschlossene Intervall
beträgt nur mehr 7½ % des Mittelwertes, gegen 14 % bei den
älteren Versuchen. Im einzelnen verteilen sich die Zahlen so:


Auch die Symmetrie der Verteilung ist hier, wenn man
absieht von den Zahlen, die wegen ihrer Kleinheit nicht ins
Gewicht fallen, befriedigend gewahrt.


Die absolut gröſste Abweichung ist eine solche nach unten.


Wurden also mehrere unserer Silbenreihen zu Gruppen
vereinigt und dann einzeln gelernt, so fielen zwar bei wieder-
holten Versuchen die Zeiten, welche für das Lernen einer
ganzen Gruppe erforderlich waren, sehr verschieden von
4*
[52] einander aus, aber trotzdem gruppierte sich ihre ganze Masse
in eben derselben Weise wie die, untereinander ebenfalls
differierenden, Werte, welche man bei Beobachtung begrifflich
gleichartiger naturwissenschaftlicher Vorgänge erhält. Es darf
also, mindestens versuchsweise, als erlaubt gelten, die aus
mehreren jener Versuchszahlen gewonnenen Durchschnitts-
werte für die Feststellung ursächlicher Beziehungen ganz
ebenso zu verwerten wie die Naturwissenschaft dies mit ihren
Mittelwerten thut.


Die Anzahl von Silbenreihen, welche dabei zu einer Gruppe,
zu einem Versuch, zusammenzufassen sind, ist natürlich durch
nichts bestimmt. Man wird nur erwarten, daſs mit wachsen-
der Anzahl auch die Übereinstimmung zwischen der Gruppie-
rung der gefundenen Zeiten und dem Fehlergesetz eine gröſsere
werde, und man wird praktisch diese Anzahl so groſs zu
nehmen suchen, daſs eine noch weitere Steigerung derselben
und die dadurch erzielte noch gröſsere Übereinstimmung nicht
mehr für den Mehraufwand von Zeit entschädigt, den sie er-
fordert. Verringert man die Zahl der Reihen jedes Versuchs,
so wird voraussichtlich auch die gewünschte Übereinstimmung
unvollkommener. Man wird indes verlangen, daſs auch dann
die Annäherung an die theoretisch geforderte Verteilung der
Zahlen immer noch erkenntlich bleibe.


Auch dieser Forderung aber wird durch die gefundenen
Zahlen Genüge geleistet. Bei den beiden eben beschriebenen
gröſsten Versuchsreihen habe ich die Zeiten untersucht, welche
für das Lernen der ersten Hälfte jedes Versuchs erforderlich
waren. Bei der älteren Reihe sind dies also die Lernzeiten
für jedesmal 4, bei der jüngeren für jedesmal 3 Silbenreihen
zusammengenommen. Es fand sich:


1. bei der älteren Reihe: Mittelwert (m) 533, wahr-
scheinlicher Beobac [...]hler (wb) 51,


[53]

Verteilung der Einzelwerte


2. bei der jüngeren Reihe: m = 620, wb = ± 44;


Verteilung der Einzelwerte


Durch beide Tabellen wird die eben gemachte Voraus-
setzung einer minder vollkommenen aber immer noch ersicht-
lichen Übereinstimmung zwischen der beobachteten und be-
rechneten Gruppierung der Zahlen wohl bestätigt.


Ganz dieselbe annähernde Übereinstimmung nun wird
auch vorausgesetzt werden müssen, wenn zwar nicht weniger
[54] Reihen zu einem Versuch zusammengenommen werden, wohl
aber die Gesamtzahl der Versuche eine geringere ist. Auch
hierfür füge ich noch einige bestätigende Übersichten bei.


Aus der Zeit der älteren Versuche besitze ich zwei
gröſsere Versuchsreihen, die im übrigen unter gleichen Um-
ständen wie die oben erwähnte Reihe, aber zu den späteren
Tageszeiten B und C gewonnen worden sind.


Die eine (B) umfaſst 39 Versuche mit je sechs, die an-
dere (C) 38 Versuche mit je acht Einzelreihen, jede Einzel-
reihe zu 13 Silben. Es fand sich:


1. für die Versuche der Zeit B: m = 871, wb = ± 63.


Verteilung der Einzelwerte


2. für die Versuche der Zeit C: m = 1258, wb = ± 60.


Verteilung der Einzelwerte


[55]

Auſserdem erwähne ich noch eine Reihe von nur 20 Ver-
suchen, mit der ich diese Übersichten abschlieſse. Jeder Ver-
such bestand in dem Lernen von acht dreizehnsilbigen Einzel-
reihen, welche gerade einen Monat vorher schon einmal gelernt
worden waren. Das Mittel betrug in diesem Falle 892 Se-
kunden mit dem wahrscheinlichen Beobachtungsfehler 54. Die
Einzelwerte gruppieren sich folgendermaſsen:


Die Übereinstimmung zwischen der theoretischen Berech-
nung und der Zählung der Abweichungen ist in allen diesen
Fällen noch eine so gute, daſs man auch bei einer noch ge-
ringeren Anzahl von Versuchen den Mittelwerten — selbst-
verständlich immer nur mit Berücksichtigung der weiten
Fehlergrenzen — eine Verwertbarkeit in dem oben mehrfach
besprochenen Sinne zugestehen wird.


§ 18.
Gruppierung der Resultate für die einzelnen Reihen.


Die vorhin ausgesprochenen Vermutungen über die Grup-
pierung der für das Lernen der einzelnen Reihen erforder-
lichen Zeiten waren natürlich nicht bloſs theoretische Voraus-
setzungen, sondern bereits bestätigt durch die Betrachtung
[56] thatsächlich gefundener Gruppierungen. Die beiden erwähnten
gröſseren Versuchsreihen von 92 Versuchen zu acht und 84
Versuchen zu sechs Einzelreihen, also mit 736 und 504 Einzel-
werten, geben dabei der Beurteilung eine genügend breite
Unterlage. Beide Zahlengruppen zeigen nun und zwar beide
in ganz analoger Weise, folgende Eigentümlichkeiten:


1. Die Streuung der Werte von ihrem arithmetischen
Mittel nach oben ist merklich lockerer und reicht namentlich
bedeutend weiter als nach unten. Die entferntesten Werte
nach oben liegen 2-, resp. 1,8 mal soweit von dem Mittel wie
die entferntesten nach unten.


2. Durch dieses Überwiegen hoher Zahlen wird das
Mittel aus der Gegend der dichtesten Scharung etwas nach
oben abgelenkt, und dadurch wiederum bekommen die Ab-
weichungen nach unten an Zahl das Übergewicht. Es ent-
fallen 404 resp. 266 Abweichungen nach unten auf 329 resp.
230 nach oben.


3. Die Anzahl der Abweichungen von der Stelle gröſster
Dichtigkeit aus nach beiden Seiten nimmt nicht gleichmäſsig
ab — wie man doch bei verhältnismäſsig so hohen Gesamt-
zahlen sehr annähernd erwarten sollte —, sondern es zeigen
sich deutlich noch mehrere Maxima und Minima der An-
häufung. Es waren demnach bei der Erzeugung der Einzel-
werte, d. h. also bei dem Lernen der einzelnen Reihen,
konstante Fehlerursachen im Spiel, welche teils eine unsym-
metrische Streuung der Zahlen bewirkten, teils eine Anhäufung
derselben in gewissen Gegenden begünstigten, und man kann
nach den vorangegangenen Untersuchungen dieses Abschnitts
nur voraussetzen, daſs sich diese Einflüsse bei Zusammen-
fassung der Werte für mehrere hintereinander gelernte Reihen
allmählich kompensierten.


Als wahrscheinliche Ursache der unsymmetrischen Verteilung
[57] machte ich schon die eigentümliche Verschiedenheit der Wir-
kung groſser Aufmerksamkeits- und groſser Zerstreuungsgrade
geltend (S. 48). Die Ursache der mehrfachen Anhäufung von
Werten zu beiden Seiten des Mittels wird man unschwer in
der Stellung der einzelnen Reihen innerhalb jedes Versuchs
vermuten. Summiert man bei einer gröſseren Versuchsreihe
die Werte für die sämtlichen ersten, die sämtlichen zweiten,
dritten u. s. w. Reihen und nimmt aus diesen Summen jedes-
mal das Mittel, so fallen, wie man voraussieht, diese Mittel
merklich verschieden aus. Die Einzelwerte jeder Summe
gruppieren sich nun zwar nur mit mäſsiger Annäherung nach
dem Fehlergesetz um ihr Mittel, allein sie liegen doch un-
gefähr in seiner Gegend am dichtesten zusammen, und diese
einzelnen Anhäufungen müssen sich nachher auch in der Ge-
samtmasse noch wieder zeigen.


Man wird ergänzend hinzufügen: wegen der, im Laufe
eines Versuchs allmählich zunehmenden geistigen Ermüdung
müſsten jene Mittelwerte mit wachsender Ordnungszahl der
Reihen immer gröſser werden; man trifft aber damit nicht
den eigentümlichen Sachverhalt.


[figure]
[58]

Nur in einem Falle nämlich habe ich etwas dieser Vor-
aussetzung Entsprechendes konstatieren können, bei der groſsen
und deshalb allerdings gewichtigen Versuchsreihe von 92 Ver-
suchen mit acht dreizehnsilbigen Reihen. Bei dieser fanden
sich für das Lernen der sämtlichen 92 ersten, zweiten u. s. w.
Reihen die Mittelwerte 105, 140, 142, 146, 146, 148, 144,
140 Sekunden, deren relative Lage Fig. 2 veranschaulicht.
Für alle übrigen Fälle, die ich untersuchte, ist dagegen viel-
mehr ein Gang der Zahlen typisch, wie er sich bei den 84
Versuchen mit sechs sechzehnsilbigen Reihen herausstellte und
wie ihn Fig. 3 wiedergiebt.


[figure]

Die Mittel waren hier 191, 224, 206, 218, 210, 213 Se-
kunden. Dieselben setzen, wie man sieht, ziemlich tief unter
dem Gesamtmittel ein, erheben sich aber sofort zu einer Höhe
über demselben, die im weiteren Verlauf des Versuchs nicht
wieder erreicht wird, und oscillieren dann in ziemlich be-
trächtlichen Schwankungen auf und nieder. Einen ganz ana-
logen Gang zeigen z. B. die Zahlen bei 7 Versuchen mit je
neun zwölfsilbigen Reihen, nämlich:


71, 90, 98, 87, 98, 90, 101, 86, 69 (Fig. 4),


[59]
[figure]

ferner die Werte für 39 Versuche mit sechs dreizehn-
silbigen Reihen, die zur Zeit B gewonnen wurden


(118, 150, 158, 147, 155, 144 — Fig. 5 untere Kurve),


[figure]

diejenigen für 38 Versuche mit acht 13silbigen Reihen der
Zeit C (139, 159, 167, 168, 160, 150, 162, 153 — Fig. 5 oben),


sowie endlich die aus 7 Versuchen mit je sechs Stanzen
des Byronschen Don Juan erhaltenen Zahlen (189, 219, 171,
204, 183, 229) u. s. w.


Ja, auch bei der ersterwähnten widersprechenden Gruppe
von Versuchen zeigt sich eine übereinstimmende Gruppierung
der Einzelmittel mit der sonst allgemein gefundenen, wenn
[60] man die je 92 Reihen nicht alle zugleich in Rechnung zieht,
sondern in einige Fraktionen teilt, d. h. also, wenn man
Versuche zusammenfaſst, die sich zeitlich näher stehen und bei
denen eine gröſsere Ähnlichkeit der Versuchsumstände voraus-
gesetzt werden kann.


Man darf natürlich aus diesen Zahlen nicht schlieſsen,
daſs ein Einfluſs der allmählich zunehmenden geistigen Ab-
spannung während der — je etwa 20 Minuten dauernden —
Versuche nicht stattgefunden habe.


Man muſs nur sagen, daſs der vorauszusetzende Einfluſs
der letzteren auf die Zahlen bei weitem übertroffen wird
durch eine andere Tendenz, auf die man a priori nicht so
leicht gekommen wäre, nämlich durch eine Tendenz, auf ver-
hältnismäſsig niedrige Werte verhältnismäſsig hohe folgen zu
zu lassen und umgekehrt. Es scheint eine Art periodischer
Oscillation der geistigen Empfänglichkeit oder der Aufmerk-
samkeit zu bestehen, bei der dann die zunehmende Ermüdung
sich so äuſsern würde, daſs die Schwankungen um eine all-
mählich sich verschiebende Mittellage geschehen*.


[61]

Nach diesen Orientierungen über die Art und die Ver-
wendbarkeit der durch das Auswendiglernen gewonnenen
Zahlen wenden wir uns nunmehr zu dem eigentlichen Zweck
der Untersuchung, der numerischen Beschreibung von Kausal-
verhältnissen.



[[62]]

V.
Die Schnelligkeit des Lernens von Silbenreihen
als Funktion der Länge derselben.


§ 19.
Versuche der späteren Periode.


Es ist hinreichend bekannt, daſs die Einprägung von Vor-
stellungsreihen, die zu einer bestimmten späteren Zeit repro-
duciert werden sollen, um so schwieriger ist, je länger die
Reihen sind. Das heiſst, diese Einprägung erfordert nicht
nur absolut genommen mehr Zeit bei gröſserer Länge der
Reihen, weil eben jede Wiederholung länger dauert, sondern
sie beansprucht auch verhältnismäſsig mehr Zeit, weil
eine wachsende Anzahl von Wiederholungen nötig wird. Sechs
Verse eines Gedichtes kosten, um gelernt zu werden, nicht
nur dreimal soviel Zeit wie zwei, sondern erheblich mehr.


Ich habe dieses Abhängigkeitsverhältnis, welches sich natür-
lich auch bei der ebenmöglichen Reproduktion sinnloser Silben-
reihen geltend macht, nicht eigens untersucht, aber beiläufig
dafür einige Zahlen gewonnen, die, ohne besonders inter-
essante Beziehungen darzubieten, immerhin der Mitteilung
wert sind.


[63]

Die in Betracht gezogenen Reihen umfaſsten (bei den
Versuchen der Jahre 1883/84)


je 12, 16, 24 oder 36 Silben, und zwar waren hierbei
je 9, 6, 3 oder 2 Reihen jedesmal zu einem Ver-
such zusammengefaſst.


Für die Anzahl von Wiederholungen, welche in diesen
Fällen nötig waren, um die Reihen bis zur ersten fehlerfreien
Reproduktion (diese mitgerechnet) zu lernen, fanden
sich folgende Zahlen:


Um die Anzahl der Wiederholungen vergleichbarer zu
machen, muſs man sie, sozusagen, auf einen Generalnenner
bringen und jedesmal durch die Zahl der Reihen dividieren.
Man erfährt so, wieviel Wiederholungen verhältnismäſsig
nötig waren, um einzelne Reihen gerade auswendig zu lernen,
die sich nur durch die Zahl der Silben von einander unter-
schieden und jedesmal mit soviel anderen derselben Art zu-
sammengenommen waren, daſs die Dauer des ganzen Ver-
suchs 15—30 Minuten betrug*.


[64]

Auſserdem aber kann man den Zahlen nach der Seite
der abnehmenden Silben einen Abschluſs geben. Man kann
fragen: wie groſs ist diejenige Zahl von Silben, welche un-
mittelbar nach einmaligem Durchlesen derselben gerade noch
fehlerlos hergesagt werden kann? Für mich beträgt diese
Anzahl ziemlich genau 7 Silben. Es gelingt zwar auch oft,
8 Silben wiederzugeben, aber nur zu Anfang der betreffenden
Versuche und im ganzen in der groſsen Minorität der Fälle.
Bei 6 Silben andererseits kommt sozusagen nie ein Fehler
vor; bei ihnen ist also ein aufmerksames einmaliges Durch-
lesen schon zuviel Energieentfaltung für eine unmittelbar
darauf folgende Reproduktion.


Fügt man also dieses letztere Gröſsenpaar hinzu, vollzieht
die eben geforderte Division und bringt endlich die Wieder-
holung, die in dem letzten fehlerfreien Hersagen besteht, also
nicht mehr auf das Lernen verwandt wurde, in Abzug, so
ergiebt sich folgende Tabelle.



[65]

Den regelmäſsigen Gang dieser — für die geringe Zahl
der Versuche ziemlich sicheren — Zahlen veranschaulicht die
gröſsere der nebenstehenden beiden Kurven. Wie sie zeigt,
wuchs in den untersuchten Fällen die Anzahl der Wiederho-

[figure]

lungen, die für das Lernen
von Reihen mit zuneh-
mend gröſserer Silbenzahl
nötig waren, auſserordent-
lich schnell mit der Zu-
nahme der Silben. Na-
mentlich zuerst ist der An-
stieg der Kurve ein sehr
steiler, weiterhin scheint
er sich allmählich zu ver-
flachen. Zur Bewältigung
des Fünffachen von der-
jenigen Silbenzahl, die ge-
rade noch nach einmaligem
Durchlesen (d. h. etwa nach 3 Sekunden) reproduciert werden
konnte, waren über 50 Wiederholungen notwendig, welche die
ununterbrochene und anstrengende Arbeit einer Viertelstunde
in Anspruch nahmen.


Die Kurve hat ihren natürlichen Ausgangspunkt im Null-
punkt der Koordinaten. Das kurze Anfangsstückchen bis zu
dem Punkt x = 7, y = 1 kann man so deuten: um Reihen
von 6, 5, 4 u. s. w. Silben auswendig hersagen zu können,
ist natürlich immer ein einmaliges Durchlesen derselben er-
forderlich, aber dasselbe braucht (für mich) nicht, wie bei
*
Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 5
[66] 7 Silben, mit möglichst gespannter Aufmerksamkeit zu ge-
schehen, sondern kann immer flüchtiger sein, um je weniger
Silben es sich handelt.


§ 20.
Versuche der früheren Periode.


Selbstverständlich haben die mitgeteilten — an einem
einzigen Individuum gewonnenen Zahlen — auch nur für
dieses eine Individuum Bedeutung. Es fragt sich, ob sie nun
auch wenigstens für dieses Individuum von genereller Be-
deutung sind, also bei Wiederholung der Versuche zu anderen
Zeiten in annähernd ähnlicher Gröſse und Gruppierung wieder
erwartet werden dürfen oder nicht.


Eine Reihe von Versuchsresultaten der älteren Periode
giebt die erwünschte Möglichkeit einer Kontrolle in dieser
Richtung. Dieselben sind wiederum beiläufig gewonnen (also
unbeeinfluſst durch Erwartungen und Voraussetzungen), und
zwar aus Versuchen, die unter etwas anderen Umständen an-
gestellt sind als die eben mitgeteilten. Die Tageszeit war eine
frühere, auſserdem wurde das Lernen fortgesetzt, bis die ein-
zelne Reihe zwei Mal hintereinander ohne Fehler hergesagt
werden konnte. Ein Versuch umfaſste


  • 15 Reihen von je 10 Silben
  • oder 8 „ „ „ 13 „
  • „ 6 „ „ „ 16 „
  • „ 4 „ „ „ 19 „

Es sind also wiederum 4 verschiedene Reihenlängen in
Betracht gezogen, dieselben liegen aber auf einer viel kürzeren
Strecke zusammengedrängt.


Da die Wiederholungen — auf die es hier ankommt —
in der älteren Periode überhaupt nicht gezählt wurden, so
[67] muſste ihre Anzahl aus den Zeiten berechnet werden. Dazu
ist die oben (S. 43) mitgeteilte Tabelle, nach entsprechender
Interpolation, benutzt worden. Werden die gefundenen Zahlen
gleich auf je eine Reihe reduciert und dabei die beiden Wieder-
holungen, welche das Hersagen ausmachen, wie oben, abge-
zogen, so ergiebt sich:



Die kleinere Kurve der obigen Fig. 6 veranschaulicht
graphisch die Lage dieser Zahlen. Wie man sieht, war
für gleichlange Reihen die Anzahl der für das Auswendig-
lernen nötigen Wiederholungen in der älteren Zeit überall
etwas gröſser als in der späteren. Eben wegen seiner Gleich-
förmigkeit wird dieses Verhalten in der Verschiedenheit der
Versuchsumstände, in den Ungenauigkeiten der Umrechnung,
vielleicht auch in der gesteigerten Übung der späteren Periode
seinen Grund haben. Immerhin fallen die älteren Zahlen sehr
annähernd in die Gegend der jüngeren, und — was die
Hauptsache ist — die beiden sie darstellenden Kurven schmie-
gen sich, auf der allerdings kurzen Strecke ihres gemein-
samen Verlaufs, so vollkommen aneinander an, wie man es
für Versuche, die durch ca. 3½ Jahre voneinander getrennt
sind und ganz sicher keiner Trübung durch irgend welche
Erwartung unterlagen (§ 14), nur immer wünschen kann. Man
5*
[68] wird also mit erheblicher Wahrscheinlichkeit behaupten dürfen,
daſs das durch jene Kurven dargestellte Abhängigkeitsverhält-
nis zwar nur individuell ist, aber für das eine Individuum,
an dem es gefunden wurde, über gröſsere Zeiten hinweg
konstant bleibt und deshalb für dieses charakteristische Be-
deutung besitzt.


§ 21.
Steigerung der Schnelligkeit des Lernens bei sinn-
vollem Material.


Um auf die Gleichförmigkeiten und Verschiedenheiten
zwischen sinnlosem und sinnvollem Material aufmerksam zu
werden, habe ich gelegentlich, wie schon erwähnt, Lernver-
suche mit Byrons Don Juan (mit dem englischen Original)
angestellt. Dieselben gehören insofern nicht eigentlich hierher,
als ich bei ihnen die Länge des jedesmal zusammengefaſsten
Quantums nicht variiert habe, sondern immer nur einzelne
Stanzen auswendig lernte. Indes die Angabe der hierzu er-
forderlich gewesenen Anzahl von Wiederholungen ist durch
ihren Kontrast mit den eben mitgeteilten Zahlen auch an und
für sich interessant.


In Betracht kommen nur 7 Versuche (1884), deren jeder
6 Stanzen umfaſste. Wurden diese, jede für sich, bis zur
erstmöglichen Reproduktion gelernt, so waren für alle 6 zu-
sammen durchschnittlich 52 Wiederholungen (wm = ± 0,6)
nötig. Für jede Stanze ergiebt das knapp 9, oder, nach
Abzug der Wiederholung für das Hersagen, knapp 8 Wieder-
holungen*. Erwägt man, daſs jede Stanze 80 Silben umfaſst,
[69] (die allerdings durchschnittlich etwas weniger als 3 Buch-
staben zählen dürften), so gewinnt man durch Vergleichung
der jetzt gefundenen Zahl von Wiederholungen mit den obigen
einen wenigstens ungefähren numerischen Ausdruck für
die auſserordentliche Begünstigung, welche der Einprägung
von Reihen durch die vereinigten Bande des Sinnes, des
Rhythmus, des Reims und der Zugehörigkeit zu einer ein-
zigen Sprache zu Teil wird. Denkt man sich unsere obige
Kurve in der Krümmung, die sie einzuschlagen scheint, noch
eine Strecke fortgeführt, so muſs man voraussetzen, daſs ich
sinnlose Reihen von 70—80 Silben nach 70—80maliger Wieder-
holung auswendig hersagen könnte. Waren die Silben durch
die eben erwähnten Fäden äuſserlich und innerlich aneinander
gekettet, so reducierte sich also dieses Erfordernis für mich
auf etwa 1/10 seines Betrages.



[[70]]

VI.
Das Behalten als Funktion der Anzahl der
Wiederholungen.


§ 22.
Stellung der Frage.


Das Resultat des vierten Abschnittes war das folgende:
wenn ich in wiederholten Fällen Silbenreihen von bestimmter
Länge so oft einprägte, daſs sie gerade auswendig hergesagt
werden konnten, so fielen zwar die dazu nötigen Zeiten (oder
Anzahlen von Wiederholungen) erheblich verschieden von ein-
ander aus, gleichwohl aber hatten die aus ihnen gewonnenen
Mittelwerte den Charakter echter naturwissenschaftlicher Kon-
stanten. Ich pflege also gleichartige Silbenreihen unter gleich-
artigen Umständen je nach einer durchschnittlich gleichen
Anzahl von Wiederholungen gerade auswendig zu wissen. Die
grossen Abweichungen der Einzelwerte von einander ändern
daran nichts; sie bewirken nur, daſs eine genauere Ermitte-
lung der für bestimmte Umstände erforderlichen Anzahl
ziemlich zeitraubend wird.


Was wird nun geschehen, kann man fragen, wenn die
Anzahl von Wiederholungen einer bestimmten Reihe hinter
der für das Auswendiglernen derselben erforderlichen Anzahl
[71] zurückbleibt? oder wenn sie über das erforderliche Minimum
hinaus noch gesteigert wird?


Was im allgemeinen geschieht wurde früher bereits an-
gedeutet. Natürlich sind in dem zweiten Falle die über-
schieſsenden Wiederholungen nicht verloren. Wenn auch der
gegenwärtige Effekt, das fehlerfreie glatte Hersagen, durch
sie nicht geändert wird, so kommen sie doch zur Geltung,
indem sie seine Möglichkeit für eine mehr oder minder ent-
fernte Zukunft sicherstellen. Je länger man lernt, desto länger
behält man. Und auch in dem ersten Falle geschieht offenbar
etwas, wenn auch die Wiederholungen für die Ermöglichung
einer freien Reproduktion noch nicht zureichen. Es wird durch
sie die erstmögliche Reproduktion doch wenigstens angebahnt,
und die einstweilen stückweise, stockend und fehlerhaft ge-
schehenden Reproduktionen nähern sich ihr mehr und mehr.


Man kann diese Verhältnisse auch durch Vermittelung
der — zunächst bildlichen — Vorstellung einer inneren Festig-
keit der Reihen beschreiben. Mit Benutzung derselben würde
man sagen: durch eine zunehmende Zahl von Wiederholungen
werden Vorstellungsreihen immer fester und unvertilgbarer
eingegraben; ist die Zahl gering, so ist auch die Festigkeit
gering, nur hie und da haften flüchtige Spuren der Reihe auf
kurze Augenblicke; bei einer gewissen gröſseren Anzahl sitzt
die Reihe so fest, daſs sie in ihrer ganzen Ausdehnung —
wenigstens für kurze Zeit — reproducierbar ist; werden die
Wiederholungen auch darüber hinaus fortgesetzt, so verbleicht
das sehr gefestigte Bild der Reihe erst nach immer längeren
Zeiträumen.


Wenn man nun nicht zufrieden wäre mit dieser allge-
meinen Statuierung eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen
der Anzahl von Wiederholungen und der durch sie erreichten
inneren Festigkeit, wenn man dasselbe näher und im einzelnen
[72] präcisieren wollte, wie müſste man sagen? Das Thermometer
steigt mit steigender Temperatur, die Magnetnadel wird um
wachsende Winkel abgelenkt mit wachsender Intensität des
sie umkreisenden elektrischen Stromes. Aber während dort
für gleiche Temperaturzunahmen die Quecksilbersäule immer
um gleiche Strecken steigt, werden hier für gleiche Zuwüchse
der Stromintensität die Zuwüchse der Ablenkungswinkel immer
kleiner. Was gilt nun nach dieser Analogie von der inneren
Festigkeit mehrfach wiederholter Reihen? Soll man sie ohne
weiteres proportional setzen der Anzahl der Wiederholungen
und sie demnach als doppelt oder dreimal so groſs bezeichnen,
wenn gleichartige Reihen bei gleicher Aufmerksamkeit dop-
pelt oder dreimal so oft wiederholt wurden als andere? Oder
wächst sie bei gleicher Zunahme der Wiederholungen um
immer geringere Bruchteile? oder wie sonst?


Offenbar hat diese Frage ihren guten Sinn; ihre Beant-
wortung wäre theoretisch sowohl wie praktisch von Interesse
und Wichtigkeit. Mit den bisherigen Hülfsmitteln kann man
sie indes weder entscheiden noch auch untersuchen; ja nicht
einmal ihre einfache Auffassung ist ganz sichergestellt, solange
die Worte „innere Festigkeit“, „Eingegrabensein“, mehr etwas
Unbestimmtes und Bildliches als etwas klar und anschaulich
Definiertes bezeichnen.


In Anwendung der oben (§ 5) entwickelten Principien
definiere ich die innere Festigkeit einer Vorstellungsreihe, den
Grad ihres Haftens, durch die gröſsere oder geringere Bereit-
willigkeit, mit der sie zu einer bestimmten Zeit nach ihrer
ersten Einprägung ihrer Reproduktion entgegenkommt. Diese
Bereitwilligkeit messe ich an der Arbeitsersparnis, welche bei
dem Auswendiglernen der irgendwie haftenden Reihe statt-
findet, gegenüber derjenigen Arbeit, welche für eine gleich-
artige aber noch nicht eingeprägte Reihe nötig sein würde.
[73] Die Zeit nach der ersten Einprägung, zu der die Konstatie-
rung der Arbeitsersparnis vorgenommen wird, kann man zu-
nächst natürlich beliebig bestimmen; ich habe dafür den Zeit-
raum von 24 Stunden gewählt.


Da es sich bei dieser Definition nicht um Fixierung eines
allgemeinen Sprachgebrauchs handelt, so kann man nicht
eigentlich fragen, ob sie richtig, sondern nur, ob sie zweck-
mäſsig sei, allenfalls noch, ob sie die ganz unbestimmten Vor-
stellungen treffe, die sich mit dem Gedanken an ein ver-
schieden starkes psychisches Festsitzen verbinden. Das letz-
tere wird man vielleicht zugestehen. Ueber die Zweckmäſssig-
keit aber läſst sich von vornherein nichts sagen; man wird
sie erst beurteilen können nach Gewinnung umfassenderer
Resultate. Und zwar wird der Ausfall des Urteils wesentlich
davon abhängen, ob die mit Hülfe des definierten Maſses ge-
wonnenen Ergebnisse die Grundforderung erfüllen, die wir an
ein zweckmäſsiges Maſs zu stellen pflegen. Diese besteht da-
rin, daſs bei beliebiger Aenderung der willkürlichen Bestim-
mungen, welche jedes Maſs enthält, die mit dem geänderten
Maſs gewonnenen Resultate durch Multiplikation mit ein und
derselben Konstanten auf die alten Maſszahlen zurückgeführt
werden können. Man müſste in unserem Falle also z. B.
wissen, ob der Charakter der Resultate derselbe bleibt, wenn
statt der willkürlich festgesetzten Zeit von 24 Stunden für
die Bestimmung der Nachwirkung der Wiederholungen irgend
ein anderes Intervall eingeführt würde, oder ob dadurch die
ganze Gesetzmäſsigkeit der Resultate ebensowohl eine andere
würde, wie dies natürlich mit ihren absoluten Werten der Fall
ist. Darüber aber kann man selbstverständlich a priori nicht
diskutieren.


Für die Ermittelung des Abhängigkeitsverhältnisses zwi-
schen der zunehmenden Anzahl von Wiederholungen einer
[74] Reihe und der dadurch gewonnenen immer festeren Einprä-
gung derselben habe ich demnach die Frage so gestellt:
wenn gleichartige Reihen durch verschieden häufige Wieder-
holungen verschieden fest eingeprägt und dann 24 Stunden
später bis zur erstmöglichen Reproduktion auswendig gelernt
werden, wie verhalten sich die hierbei hervortretenden Ar-
beitsersparnisse zu einander und zu den jedesmal voran-
gegangenen einprägenden Wiederholungen?


§ 23.
Die Versuche und ihre Resultate.


Um über die eben formulierte Frage zu orientieren, habe
ich 70 Doppelversuche, je mit sechs 16 silbigen Reihen, an-
gestellt. Jeder Doppelversuch bestand darin, daſs die ein-
zelnen Reihen — jede für sich — erst eine bestimmte An-
zahl von Malen aufmerksam gelesen (resp. nach häufig wieder-
holtem Lesen auch auswendig hergesagt) wurden, und daſs ich
dann 24 Stunden später die so eingeprägten und halbwegs
wieder vergessenen Reihen bis zur erstmöglichen Reproduktion
auswendig lernte. Das erstmalige Lesen der Reihen geschah
entweder 8 oder 16, 24, 32, 42, 53, 64 mal.


Eine Steigerung der einprägenden Wiederholungen über 64
hinaus erwies sich, wenigstens für sechs Reihen dieser Länge,
als schwer thunlich. Denn bei dieser Zahl nimmt jeder Ver-
such eine Dauer von etwa ¾ Stunden in Anspruch und gegen
das Ende dieser Zeit stellten sich manchmal Abspannung,
Eingenommenheit des Kopfes u. s. w. ein, welche bei weiterer
Steigerung die Versuchsumstände kompliciert hätten.


Die Versuche waren regelmäſsig auf die untersuchten
sieben Anzahlen von Wiederholungen verteilt, sodaſs also auf
jede derselben 10 Doppelversuche kommen. Die Resultate
[75] waren, jedesmal für die sechs Reihen eines Versuchs zusammen
und ohne Abzug der Zeit für das Hersagen, die folgenden.


Nach voraufgegangener Einprägung der Reihen durch
x Wiederholungen wurden dieselben 24 Stunden später ge-
lernt mit einem Aufwand von y Sekunden.


[76]

Die vorstehend mitgeteilten Zahlen bedeuten die Zeiten,
welche gebraucht wurden, um die 24 Stunden vorher ein-
geprägten Reihen grade auswendig zu lernen. Da es uns
aber nicht sowohl auf die gebrauchten als vielmehr auf die
ersparten Zeiten ankommt, so müſsten wir wissen, in wie viel
Zeit dieselben Reihen auswendig gelernt worden wären, wenn
keine vorherige Einprägung stattgefunden hätte. Für die-
jenigen Reihen, welche 42, 53 und 64 mal wiederholt wurden,
kann man diese Zeit aus den Versuchen selbst kennen lernen.
Denn bei ihnen ist die Anzahl der Wiederholungen gröſser
als das durchschnittlich für die erstmögliche Reproduktion er-
forderliche Minimum, welches bei einer 16silbigen Reihe (nach
S. 63) 31 Wiederholungen beträgt. Man kann hier also konsta-
tieren, bei der wievielten der nachher weiter fortgesetzten Wieder-
holungen eben diese erste fehlerfreie Reproduktion jeder Reihe
eintrat. Allein durch die nachherige Fortsetzung der Wiederho-
lungen und die damit zusammenhängende Ausdehnung der Ver-
suche über eine längere Zeit werden die Umstände etwas andere
als bei dem gewöhnlichen Auswendiglernen nicht eingeprägter
Reihen. Für die durch eine geringere Anzahl von Wieder-
holungen eingeprägten Reihen kann man ohnedies jene zur
Vergleichung nötige Zahl nicht an ihnen selbst gewinnen, da
sie ja eben im Interesse des Experiments nicht vollständig
auswendig gelernt werden sollen. Ich habe daher überall
vorgezogen, die gesuchten Arbeitsersparnisse zu ermitteln
durch Vergleichung mit der Zeit, welche das Auswendiglernen
nicht derselben, sondern gleichartiger, aber bis dahin un-
bekannter Reihen erforderte. Hierfür besitze ich aus eben der
Zeit, aus der die gegenwärtig besprochenen Versuche stammen,
eine ziemlich sichere Zahl: je sechs 16silbige Reihen wurden
im Durchschnitt aus 53 Versuchen gelernt in 1270 Sek., mit
dem geringen wahrscheinlichen Fehler ± 7.


[77]

Stellt man, unter Zuziehung dieses letzteren Wertes, sämt-
liche Mittelwerte zusammen, so resultiert folgende Tabelle:


Die in diesen Zahlen annähernd verwirklichte einfache
Beziehung liegt auf der Hand: die Anzahl der die Reihen
einprägenden Wiederholungen (Kol. I) und die 24 Stunden
später als Folge der Einprägungen noch konstatierbaren Ar-
beitsersparnisse bei dem Lernen der Reihen (Kol. III) schreiten
in ganz derselben Weise fort. Division der jedesmaligen Ar-
beitsersparnisse durch die zu ihrer Hervorbringung erforder-
lichen Wiederholungen führt überall fast zu derselben Zahl
(Kol. IV).


Die Resultate der Versuche lassen sich also zusammen-
fassend so formulieren: wurden 16silbige sinnlose Silbenreihen
durch aufmerksame Wiederholung dem Gedächtnis mehr und
mehr eingeprägt, so wuchs die ihnen dadurch zu teil wer-
dende innere Festigkeit, gemessen an der gröſseren Bereit-
willigkeit, die sie nach 24 Stunden ihrer Reproduktion ent-
gegenbrachten, innerhalb gewisser Grenzen annähernd pro-
[78] portional der Anzahl jener Wiederholungen. Die Grenzen,
innerhalb deren dieses Verhalten konstatiert wurde, waren
einerseits Null, andererseits etwa das Doppelte derjenigen
Anzahl von Wiederholungen, die für das Auswendiglernen der
Reihen durchschnittlich gerade zureichte.


Für 6 Reihen zusammen betrug die Nachwirkung jeder
Wiederholung, die durch sie ermöglichte Ersparnis, im Mittel
12,7 Sekunden, für jede einzelne Reihe demnach 2,1 Sekun-
den. Da die Wiederholung selbst, bei einer 16silbigen Reihe,
6,6—6,8 Sekunden dauert, so betrug also die nach 24 Stunden
von ihr noch verbliebene Nachwirkung ein knappes Drittel
ihrer eigenen Dauer. Mit anderen Worten: für je drei Wie-
derholungen, die ich heute auf die Einprägung einer Reihe
mehr verwandte, ersparte ich nach 24 Stunden beim Wieder-
lernen derselben Reihe durchschnittlich und ungefähr eine
Wiederholung, und dabei war es innerhalb der bezeichneten
Grenzen einerlei, wie viele Wiederholungen im ganzen auf
die Einprägung der Reihe verwandt waren.


Ob den gefundenen Resultaten eine irgendwie allgemeinere
Bedeutung zukommt, oder ob sie bloſs für das einmalige Ge-
schehen gelten, an dem sie ermittelt wurden und hier nur
aus zufälligen Gründen eine sonst nicht vorhandene Regel-
mäſsigkeit vorspiegeln, kann ich vorläufig nicht ausmachen.
Direkte Kontrolversuche besitze ich nicht; eine indirekte Be-
stätigung kann ich allerdings weiterhin (Abschn. VIII § 34)
noch mitteilen, indem Antworten, die beim Ausgehen von einer
ganz anderen Fragestellung gefunden wurden, sehr gut mit
den gegenwärtigen Resultaten zusammenstimmen. Ich würde
daher geneigt sein, den letzteren wenigstens für meine eigene
Individualität eine allgemeinere Gültigkeit zuzuschreiben.


Anmerkung. Den Versuchen haftet eine innere Ungleichheit an,
die ich weder vermeiden, noch durch eine Korrektion beseitigen, son-
[79] dern eben nur bezeichnen kann. Nämlich eine geringe Anzahl von
Wiederholungen der Reihen nimmt nur wenige Minuten in Anspruch;
ihre ganze Wirkung fällt also in eine Zeit groſser geistiger Frische.
Bei 64 Wiederholungen dauert die ganze Thätigkeit etwa ¾ Stunde;
die Mehrzahl der Reihen wird daher in einem Zustand minderer Frische
oder sogar einer gewissen Abspannung eingeprägt, und die Wieder-
holungen werden also verhältnismäſsig minder wirksam sein. Umgekehrt
ist es bei der Reproduktion der Reihen am nächsten Tage. Die vor-
her durch 8malige Wiederholung eingeprägten Reihen erfordern fast
die dreifache Zeit, um gelernt zu werden, wie die durch 64malige
Wiederholung eingeprägten. Letztere werden daher, ganz abgesehen
von der gröſseren Festigkeit, die sie haben, schon deshalb verhältnis-
mäſsig etwas rascher gelernt werden, weil sie in eine Zeit von durch-
schnittlich etwas besserer Prädisponierung fallen. Beide Unregelmäſsig-
keiten wirken gegen einander, wie man sieht, und heben sich dadurch
zum Teil auf: das unter den verhältnismäſsig ungünstigeren Umständen
Eingeprägte wird unter verhältnismäſsig günstigeren Umständen wieder
gelernt und umgekehrt. Inwieweit aber diese Kompensation stattfindet
und inwieweit noch ein Rest der Ungleichheit der Bedingungen die
Resultate trübt, vermag ich nicht zu bestimmen.


§ 24.
Einfluſs der Erinnerung.


An dem regelmäſsigen Gange der gefundenen Resultate
scheint mir ein Moment noch besondere Beachtung zu ver-
dienen. Bei den Äuſserungen des Gedächtnisses im gewöhn-
lichen Leben ist der Unterschied von gröſster Bedeutung, ob
die Reproduktionen mit Erinnerung geschehen oder nicht, ob
also die wiederkehrenden Vorstellungen bloſs einfach wieder-
kehren, oder ob sich mit ihnen gleichzeitig ein Wissen davon
verbindet, daſs sie früher schon einmal vorhanden waren, und
eine Vorstellung der Umstände, von denen sie damals be-
gleitet waren. In diesem zweiten Falle nämlich gewinnen
sie für die praktischen Zwecke, die wir verfolgen, und für
die Bethätigung höheren geistigen Lebens einen höheren und
[80] besonderen Wert. Es fragt sich nun, in welchem Zusammen-
hange steht dieses komplicierte Phänomen Erinnerung, welches
das Hervortreten von Vorstellungen aus dem Gedächtnis unter
Umständen begleitet, unter Umständen nicht begleitet, zu dem
sonstigen inneren Leben dieser Vorstellungen. Zur Beant-
wortung dieser Frage liefern unsere Resultate einen gewissen
Beitrag.


Wurden die Reihen durch 8 oder 16 Wiederholungen
eingeprägt, so waren sie mir am nächsten Tage fremd ge-
worden. Ich wuſste natürlich indirekt sehr genau, daſs es
dieselben sein muſsten, die am Tage vorher eingeprägt waren,
aber ich wuſste dies eben nur indirekt, ihnen selbst merkte
ich es nicht an, ich erkannte sie nicht wieder. Bei 53 oder
64 Wiederholungen dagegen begrüſste ich sie meist, wenn
nicht sofort, doch sehr bald als alte Bekannte, ich erinnerte
mich ihrer mit voller Bestimmtheit. An den Zeiten für das
Auswendiglernen der Reihen, resp. an den dabei hervor-
tretenden Arbeitsersparnissen, findet sich nichts diesem Unter-
schied Entsprechendes. Sie sind verhältnismäſsig nicht kleiner,
da wo von Erinnerung keine Rede ist, und verhältnismäſsig
nicht gröſser, da wo diese sehr sicher und lebendig auftritt.
Die Gesetzmäſsigkeit der Nachwirkung bei vielen Wieder-
holungen tritt nicht merklich heraus aus der Linie, die durch
den Effekt einer geringen Anzahl von Wiederholungen gleich-
sam vorgezeichnet wird, obwohl die Konstatierung dieser Nach-
wirkung im ersten Falle ebenso unzweifelhaft von Erinnerung
begleitet ist, wie sie im zweiten derselben entbehrt.


Ich begnüge mich, auf dieses bemerkenswerte Verhalten
hinzuweisen. Allgemeine Folgerungen daraus würden in der
Luft schweben, solange die Allgemeinheit der Unterlage nicht
genügender dargethan werden kann.


[81]

§ 25.
Erhebliche Vermehrung der Anzahl der Wieder-
holungen.


Es wäre von Interesse zu wissen, ob die annähernde
Proportionalität zwischen der Anzahl der Wiederholungen
einer Reihe und der dadurch ermöglichten Arbeitsersparnis bei
dem Wiedererlernen der letzteren, die für meine Individualität
innerhalb gewisser Grenzen stattzufinden scheint, auch noch
jenseit dieser Grenzen fortbesteht. Wenn auch weiterhin
durch jede Wiederholung für die Reproduktion nach 24 Stun-
den ein knappes Drittel ihres eigenen Wertes gespart wird,
so müſste ich eine 16silbige Reihe nach 24 Stunden bei ge-
gebenem Anfangsglied gerade noch spontan reproducieren
können, falls ich sie heute reichlich dreimal so lange memo-
rierte, als zu ihrem Auswendiglernen gerade erforderlich ist.
Da dieses letztere Erfordernis etwa 31—32 Wiederholungen
beträgt, so wären zur Erreichung des erstgenannten Zieles
ungefähr 100 Wiederholungen nötig. Überhaupt könnte man
dann — bei allgemeinerer Geltung der gefundenen Bezie-
hung — für eine beliebige Art von Reihen, für die man erst
sozusagen den Nachwirkungskoefficienten der Wiederholungen
ermittelt hätte, direkt berechnen, wie oft sie jetzt wiederholt
werden müſsten, damit sie nach 24 Stunden noch gerade her-
gesagt werden könnten.


Ich habe diese Frage nicht durch weitere Steigerung der
Wiederholungen von bis dahin unbekannten 16silbigen Reihen
untersucht, weil, wie oben schon gesagt, bei erheblicher Aus-
dehnung der Versuche die zunehmende Ermüdung und eine
gewisse Schläfrigkeit Komplikationen herbeiführen. Vielmehr
habe ich probeweise einige Versuche teils mit kürzeren, teils
Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 6
[82] mit schon bekannten Reihen angestellt, die übereinstimmend
ergeben, daſs die in Frage stehende Proportionalität bei wei-
terer Vermehrung der Wiederholungen allmählich aufhört.
Der Effekt der späteren Wiederholungen, gemessen wie oben
an der nach 24 Stunden noch konstatierbaren Arbeitserspar-
nis, wird nach und nach geringer.


Zwölfsilbige Reihen (deren je 6 zu einem Versuch zu-
sammengefaſst waren) wurden bis zur erstmöglichen Repro-
duktion gelernt und jede Reihe, unmittelbar nach dem fehler-
freien Hersagen, noch dreimal (im ganzen also viermal) so
oft wiederholt, als das Auswendiglernen (excl. Hersagen) be-
ansprucht hatte. Nach 24 Stunden wurden dann dieselben
Reihen bis zur erstmöglichen Reproduktion wiedergelernt.
Vier Versuche ergaben dabei folgende Resultate (die Zahlen
bedeuten Wiederholungen):


Innerhalb mäſsiger Grenzen ist — für mich — bei 12 sil-
bigen Reihen die Nachwirkung der Wiederholungen nach
24 Stunden etwas geringer als bei 16silbigen; man muſs sie
aber mindestens auf 3/10 des Betrages der Wiederholungen
veranschlagen. Wenn nun dieses Verhältnis auch bei sehr
zahlreichen Wiederholungen annähernd fortbestände, so sollte
man erwarten, daſs Reihen, auf deren Einprägung viermal so
[83] viel Wiederholungen verwandt wurden als für das Lernen bis
zur erstmaligen Reproduktion nötig waren, nach 24 Stunden
ohne jeden neuen Arbeitsaufwand hergesagt werden könnten.
Statt dessen erforderte in den untersuchten Fällen das Wieder-
lernen noch etwa 35 % des Aufwandes für das erstmalige
Lernen; der Effekt von durchschnittlich 410 Wiederholungen
war eine Ersparnis von nur ⅙ dieser Summe. Waren nun
hierbei die ersten Wiederholungen mit etwa 3/10 ihres Be-
trages beteiligt, so muſs umsomehr der Effekt der späteren
ein verhältnismäſsig sehr geringer gewesen sein.


Zu demselben Ergebnis führten Untersuchungen der fol-
genden Art, die ich nicht weiter detailliert mitteile. Silben-
reihen verschiedener Länge wurden durch häufige Wieder-
holungen, die aber nicht an demselben Tage stattfanden, son-
dern über mehrere aufeinanderfolgende Tage verteilt waren,
successive fester eingeprägt (Abschn. VIII). Waren dann, nach
mehreren Tagen, nur noch wenige Wiederholungen erforder-
lich, um die Reihen auswendigzulernen, so wurden sie drei-
bis viermal so oft wiederholt, als für das erste fehlerfreie
Hersagen in diesem Stadium der Festigkeit nötig war. Aber
in keinem einzigen Falle gelang nun 24 Stunden später die
fehlerfreie Reproduktion der Reihen, wenn sie nicht wiederum
noch ein oder einigemale durchgelesen wurden. Der Einfluſs
der mehrfachen Wiederholungen zeigte sich zwar immer noch
in einer gewissen Arbeitsersparnis, aber diese wurde verhält-
nismäſsig immer geringer, je weniger noch zu ersparen übrig
blieb. Die Beseitigung des letzten Restes von Arbeit bei dem
Wiederlernen der Reihen durch Wiederholungen, die dem-
selben 24 Stunden voraufgingen, war eine sehr schwierige.


Die Wirkung zunehmender Wiederholungen von Silben-
reihen auf die innere Befestigung derselben in dem oben de-
finierten Sinne wuchs also, um alles zusammen zu fassen, zu-
6*
[84] nächst annähernd proportional der Anzahl der Wiederholungen,
wurde dann allmählich schwächer und war schlieſslich sehr
gering, wenn die Reihen so festsaſsen, daſs sie nach 24 Stun-
den noch beinahe spontan repetiert werden konnten. Da
diese Abnahme der Wirkung als eine allmähliche und kon-
tinuierliche aufzufassen sein wird, würde sich für genauere
Untersuchungen vermutlich ein Beginn derselben auch schon
innerhalb der Grenzen gezeigt haben, innerhalb deren wir
oben noch Proportionalität fanden, während derselbe jetzt bei
seinem geringen Betrage und den weiten Fehlergrenzen ver-
deckt wird.


[[85]]

VII.
Das Behalten und Vergessen als Funktion
der Zeit.


§ 26.
Erklärungen des Behaltens und Vergessens.


Alle Arten von Vorstellungen, die sich selbst überlassen
bleiben, werden allmählich vergessen. Der Thatbestand, den
dieser Satz bezeichnet, ist allgemein bekannt. Gruppen oder
Reihen von Vorstellungen, die wir zuerst leicht und lückenlos
ins Bewuſstsein zurückzurufen vermochten, oder die von selbst
häufig und in lebhaften Farben wiederkehrten, stellen sich
allmählich seltener und in abgeblaſsterer Färbung ein, können
durch willkürliche Anstrengung nur mühsam und bruchstück-
weise reproduciert werden. Nach längeren Zeiten pflegt beides
ganz aufzuhören, freilich nicht ohne seltsame Ausnahmen.
Namen, Gesichter, Kenntnisse und Erlebnisse, die seit Jahren
vollständig verloren schienen, stehen plötzlich, namentlich in
Träumen, wieder vor der Seele, mit allen Details und in
groſser Lebhaftigkeit, ohne daſs man auch nur vermutet, woher
sie kommen, und wie sie es anfingen, sich in der Zwischen-
zeit so gut verborgen zu halten.


[86]

Die Psychologen pflegen diese Thatsachen — je nach dem
Ganzen ihrer Ansichten — unter verschiedenen Gesichtspunkten
aufzufassen, die sich nicht vollkommen ausschlieſsen, aber auch
nicht vollkommen mit einander harmonieren.


Die einen halten sich, wie es scheint, vorwiegend an die
auffallende Wiederkehr lebhafter Erinnerungsbilder selbst nach
gröſseren Zeiträumen. Sie nehmen an, daſs von den Empfin-
dungen, die durch Eindrücke der Auſsenwelt erregt werden,
abgeblaſste Bilder, „Spuren“, zurückbleiben, die zwar in jeder
Beziehung schwächer, luftiger seien als ihre Empfindungs-
vorbilder, aber in der Intensität, die sie nun einmal haben,
ziemlich unverändert und dauernd fortbestehen. Gegen die
viel intensiveren und derberen Empfindungskomplexe des
wachen Lebens haben jene Phantasiebilder einen schweren
Stand; aber wo die ersteren ganz oder gröſstenteils fehlen,
z. B. im Schlaf, da herrschen sie um so unumschränkter.
Dabei werden die früher erworbenen Bilder mehr und mehr
überlagert sozusagen und überschüttet durch die späteren.
Die Möglichkeit des Wiederhervortretens bietet sich für jene
also seltener und schwieriger. Wenn aber durch eine zufäl-
lige und günstige Fügung der Umstände die angesammelten
Schichten einmal bei Seite geschoben werden, dann muſs natür-
lich noch nach beliebig langer Zeit das darunter Verborgene
auch in seiner ursprünglichen, ihm immer noch beiwohnenden
Frische wieder erscheinen*.


[87]

Für andere* erleiden die Vorstellungen, die zurückblei-
benden Phantasiebilder, allerdings eine ihr Wesen mehr und
mehr tangierende Veränderung; der Begriff der Verdunkelung
ist hier maſsgebend. Ältere Vorstellungen werden durch
jüngere gewissermaſsen zurückgedrängt und zum Sinken ge-
bracht; sie erleiden mit zunehmender Zeit immer gröſseren
Schaden an einer allen gemeinsamen Eigenschaft, nämlich
an innerer Klarheit und Bewuſstseinsintensität. Verbindungen
und Reihen von Vorstellungen unterliegen demselben Prozeſs
wachsender Schwächung; unterstützt wird derselbe bei ihnen
noch durch eine Auflösung in ihre Teile; dadurch nämlich,
daſs die nur noch locker zusammengehaltenen Glieder even-
tuell gleichzeitig in neue Verbindungen eingefügt werden.
Das völlige Entschwinden des mehr und mehr Zurück-
gedrängten tritt erst nach langer Zeit ein. Während der
allmählich zunehmenden Verdunkelung aber sind die zurück-
gedrängten Vorstellungen nicht eigentlich als abgeblaſste Bilder
vorhanden zu denken, sondern als Strebungen, als „Disposi-
tionen“ zur Wiedererzeugung eben der Vorstellungsinhalte,
*
[88] welche die Nötigung des Sinkens traf. Erfahren diese Dis
positionen irgendwoher eine Unterstützung und Stärkung, so
kann es jederzeit kommen, daſs die unterdrückenden und
hemmenden Vorstellungen ihrerseits zu unterdrückten werden
und das scheinbar Vergessene in voller Klarheit wieder ersteht.


Nach einer dritten Ansicht endlich ist es statt einer
gradweisen Verdunkelung vielmehr ein Zerbröckeln in Teile
und der Verlust einzelner Teile, in denen wenigstens bei zu-
sammengesetzten Vorstellungen das Vergessen besteht. Die
vorhin aushülfsweise herangezogene Vorstellung der Auflösung
bestreitet hier alleine die Erklärung. „Das Bild eines zu-
sammengesetzten Gegenstandes ist in unserer Erinnerung nicht
darum dunkel, weil es mit der geordneten Gesamtheit aller
seiner Teile vorhanden und nur im ganzen von einem schwä-
cheren Lichte des Bewuſstseins bestrahlt wäre; sondern es ist
lückenhaft geworden; einzelne Teile fehlen ihm ganz; vor
allem aber pflegt die genaue Verbindungsweise der noch vor-
handenen zu mangeln und wird nur durch den Gedanken
ersetzt, daſs irgend eine Art der Verknüpfung zwischen ihnen
stattgefunden habe; die Weite des Spielraums, innerhalb
dessen wir, ohne uns entscheiden zu können, diese oder jene
Verknüpfung gleich wahrscheinlich finden, bestimmt den Grad
der Dunkelheit, den wir dieser Vorstellung zuschreiben*.“


Jede dieser Auffassungen empfängt eine gewisse, aber
keine eine ausschlieſsliche Unterstützung durch die thatsäch-
lichen, oder doch für thatsächlich gehaltenen, inneren Erfah-
rungen, die sich uns gelegentlich darbieten. Und woran liegt
das? Daran, daſs diese gelegentlich und direkt gewonnenen
inneren Erfahrungen viel zu vage, oberflächlich und vieldeutig
sind, um in ihrer Gesamtheit nur eine einzige Interpretation
[89] zu gestatten oder auch nur als überwiegend wahrscheinlich er-
scheinen zu lassen. Wer vermöchte denn das vorausgesetzte all-
mähliche Überschüttetwerden oder Sinken oder Zerbröckeln der
Vorstellungen in dem thatsächlichen Verlaufe dieser
Allmählichkeit auch nur einigermaſsen exakt zu beschreiben?
Wer weiſs etwas Befriedigendes zu sagen über die von Vor-
stellungsmassen verschiedenen Umfangs ausgehenden Hem-
mungen, oder über die Auflockerungen, die ein irgendwie
festgefügter Komplex erleidet durch Verwendung seiner Be-
standteile in neuen Kombinationen? Mit einer „Erklärung“
dieser Vorgänge ist jeder für sich längst im reinen, aber
das thatsächliche Verhalten der Dinge, welches doch schlieſs-
lich erklärt werden sollte, ist uns allen in gleicher Weise
unbekannt.


Und bei der Beschränkung auf die direkte Beobachtung
und die ihr gelegentlich sich bietenden brauchbaren Erfah-
rungen scheint kaum eine Aussicht vorhanden, daſs es hiermit
besser werden könnte. Wie will man etwa den zu einer
bestimmten Zeit erreichten Grad der Verdunkelung oder die
noch übrige Zahl von Fragmenten bestimmen? Oder wie den
vermutlichen Fortgang der inneren Prozesse verfolgen, wenn
die fast ganz vergessenen Vorstellungen gar nicht mehr zum
Bewuſstsein zurückkehren?


§ 27.
Untersuchung des thatsächlichen Verhaltens.


Mit Hülfe unserer Methode ist eine Möglichkeit geboten,
der Beantwortung der eben aufgeworfenen Fragen auf einem
bestimmt umgrenzten kleinen Gebiet indirekt näher zu treten
und unter vorläufiger Fernhaltung jeder Theorie eine solche
vielleicht anzubahnen.


[90]

Die von der Einprägung einer Silbenreihe nach bestimmter
Zeit etwa noch vorhandenen verborgenen Dispositionen kann
man unterstützen durch abermaliges Auswendiglernen der
Reihe, die übrig gebliebenen Fragmente eben dadurch aufs
neue zu einem Ganzen verbinden. Die hierzu erforderliche
Arbeit, verglichen mit derjenigen, die bei Abwesenheit von
Dispositionen und Fragmenten nötig war, giebt ein Maſs für
das Verlorengegangene und das noch Vorhandene. Die von
verschiedenartigen und verschieden umfangreichen Vorstel-
lungsmassen auf andere ausgeübten Hemmungen müssen sich
verraten, nach der Einschiebung verschiedener wohldefinierter
Vorstellungskomplexe zwischen Lernen und Wiederlernen, da-
durch, daſs die Arbeit des Wiederlernens eine mehr oder
minder erschwerte wird. Die Auflockerung eines Verbandes
durch anderweitige Verwendung seiner Bestandteile läſst sich
in ähnlicher Weise untersuchen, indem man nach Einprägung
gewisser Reihen neue Kombinationen derselben Silben ein-
prägt und immer zusieht, welche Änderungen dadurch die
Arbeit des Wiederlernens der ursprünglichen Kombination
erleidet.


Ich habe von diesen Beziehungen zunächst die an erster
Stelle erwähnte einer Untersuchung unterworfen und die
Frage gestellt: wenn Silbenreihen einer bestimmten Art aus-
wendig gelernt und dann sich selbst überlassen werden, in
welcher Weise werden sie, lediglich unter dem Einfluſs der
Zeit, respektive des diese erfüllenden alltäglichen Lebens, all-
mählich vergessen? Die Konstatierung der erlittenen Verluste
geschah in der eben angedeuteten Weise, dadurch nämlich,
daſs die auswendig gelernten Reihen nach bestimmten zeit-
lichen Intervallen abermals auswendig gelernt und die in
beiden Fällen erforderlichen Zeiten mit einander verglichen
wurden.


[91]

Die bezüglichen Untersuchungen fallen in die Jahre
1879/80 und umfassen 163 Doppelversuche. Jeder Doppel-
versuch besteht in dem Lernen und dem nach einer bestimm-
ten Zeit erfolgten Wiederlernen von acht 13silbigen Reihen;
mit Ausnahme von 38 Doppelversuchen aus der Zeit von
11—12 U. Vorm., die nur je sechs Reihen umfassen. Das
Lernen wurde fortgesetzt, bis ein zweimaliges fehlerfreies
Hersagen der betreffenden Reihe möglich war. Das Wieder-
lernen geschah ebensolange; es wurde vorgenommen zu einer
der folgenden 7 Zeiten, nämlich nach ca. ⅓ Stunde, ca.
1 Stunde, ca. 9 Stunden, 1 Tag, 2 Tagen, 6 Tagen oder
31 Tagen.


Die Zeiten wurden gemessen von Beendigung der
ersten Reihe des erstmaligen Lernens ab
, wobei
für die gröſseren Intervalle natürlich keine ängstliche Genauig-
keit nötig war. Der Einfluſs der letzten vier Zeiten wurde
zu drei verschiedenen (nämlich zu den S. 46 erwähnten) drei
Tageszeiten untersucht.


Der Mitteilung der gefundenen Resultate müssen noch
einige Bemerkungen vorangehen.


Für die nach ganzen Vielfachen von Tagen wiederholten
Reihen kann man im allgemeinen das Bestehen gleicher Ver-
suchsumstände voraussetzen. Jedenfalls hat man kein Mittel,
den thatsächlichen Schwankungen derselben, auch nach Her-
stellung möglichster äuſserer Gleichheit, anders zu begegnen
als durch Vervielfältigung der Versuche. Wo daher die
innere Ungleichheit mutmaſslich am gröſsten ist, für den Zeit-
raum eines vollen Monats, habe ich die Zahl der Versuche
etwa verdoppelt.


Bei einem Intervall von 9 Stunden dagegen und auch
noch von einer Stunde zwischen Lernen und Wiederlernen
besteht für beide eine merkliche konstante Differenz in den
[92] Versuchsumständen. Mit den vorrückenden Tagesstunden
nimmt die geistige Frische und Empfänglichkeit mehr und
mehr ab. Die am Vormittag gelernten und zu einer späteren
Stunde wiedergelernten Reihen erfordern also, abgesehen von
allem anderen, für dieses Wiederlernen mehr Arbeit, d. h.
mehr Zeit, als wenn es in einem Zeitpunkt ebensolcher Frische
geschehen wäre wie das erste Lernen. Die für das Wieder-
lernen gefundenen Zahlen müssen daher, um vergleichbar
zu werden, einen Abzug erleiden, der, wenigstens bei 8 Stun-
den, so bedeutend ist, daſs man ihn nicht mehr vernachläs-
sigen kann. Man muſs ermitteln, um wieviel länger es dauert,
Reihen, die zur Zeit A in a Sekunden gelernt wurden, zur
Zeit B zu lernen. Die genaue Bestimmung dieser Gröſse
aber setzt mehr Versuche voraus, als ich bisher besitze. Durch
die Anbringung einer notwendigen aber ungenauen Korrektion
werden daher die für 1 und 8 Stunden gefundenen Zahlen
noch etwas unsicherer als sie an sich schon sind.


Bei dem kleinsten Intervall von ⅓ Stunde kehrt derselbe
Übelstand in abgeschwächter Form wieder, wird aber ver-
mutlich ausgeglichen durch einen anderen Umstand. Bei der
Kürze des ganzen Intervalls schloſs sich hier das Wieder-
lernen
der ersten Reihe eines Versuchs ziemlich unmittel-
bar, nach Einschiebung einer Pause von 1—2 Minuten, an
das Lernen der letzten Reihe desselben Versuchs. Das Ganze
bildet dadurch gewissermaſsen einen zusammenhängenden
Versuch, bei dem also das Wiederlernen der Reihen unter
allmählich ungünstigere Bedingungen der geistigen Frische
fiel. Andrerseits aber geschah das Wiederlernen nach so
kurzer Zeit noch ziemlich schnell; es beanspruchte kaum die
halbe Zeit des Lernens. Dadurch wurde das Intervall zwi-
schen dem Lernen und Wiederlernen bestimmter Reihen all-
mählich etwas kleiner; die späteren Reihen traten also unter
[93] immer günstigere Bedingungen des zeitlichen Intervalls.
Bei der Schwierigkeit genauerer Bestimmungen habe ich an-
genommen, daſs sich diese beiden zu vermutenden aber sich
entgegenwirkenden Einflüsse annähend kompensieren.


§ 28.
Resultate.


In den folgenden Tabellen bezeichnet
L die Zeit für das erstmalige Lernen der Reihen in Se-
kunden, so wie sie gefunden wurde, also einschlieſs-
lich der Zeit für zweimaliges Hersagen.
WL die Zeit für das Wiederlernen der Reihen, ebenfalls
einschlieſslich derjenigen für das Hersagen.
WLk die erforderlichen Falls durch eine Korrektion redu-
cierte Zeit für das Wiederlernen.
Δ die Differenz L — WL, resp. L — WLk, also die bei
dem Wiederlernen gefundene Arbeitsersparnis.
Q das Verhältnis dieser Arbeitsersparnis zu der für das
erstmalige Lernen nötigen Zeit in Prozenten. Bei
Berechnung dieses Quotienten wurde nur die für das
bloſse Lernen gebrauchte Zeit berücksichtigt, also
die Zeit für das Hersagen in Abzug gebracht*. Dieselbe
[94] wurde für zweimaliges Hersagen von 8 dreizehnsilbigen
Reihen mit 85 Sekunden berechnet, was für jede Silbe
einer Dauer von 0,41 Sek. entspricht (s. S. 43). Es
ist also . Endlich bedeuten A, B, C die
mehrerwähnten Stunden: 10—11 V., 11—12 V.,6—8 N.


I. 19 Minuten. 12 Versuche. Lernen und Wiederlernen
zur Zeit A.


II. 63 Minuten. 16 Versuche. Das Lernen zur Zeit A,
das Wiederlernen zur Zeit B. Zur Ermittelung des Einflusses
dieser Verschiedenheit der Tageszeiten habe ich folgende
Daten. Sechs 13silbige Reihen wurden zur Zeit Bgelernt
(also ohne Berücksichtigung der Zeit des Hersagens), im Mittel
*
[95] aus 39 Versuchen, in 807 Sekunden (Wm = 10). Ebenso-
viele Reihen derselben Art zur Zeit A, im Mittel aus 92 Ver-
suchen, in 763 Sekunden (Wm = 7). Die später gewonnenen
Zahlen sind also um ca. 5 % ihres eigenen Betrages zu groſs
gegen die früher gewonnenen. Man wird demnach die zur
Zeit B durch Wiederlernen gefundenen Zahlen ebenfalls um
5 % ihres Wertes verkleinern müssen, um sie den für das
Lernen gefundenen vergleichbar zu machen.


III. 525 Minuten. 12 Versuche. Das Lernen zur Zeit A,
das Wiederlernen zur Zeit C. Der verschiedene Einfluſs der
beiden Tageszeiten berechnet sich so: acht 13 silbige Reihen
erforderten bei 38 Versuchen zur Zeit C 1173 Sek. (Wm = 10);
gleichartige Reihen bei 92 Versuchen zur Zeit A 1027 Sek.
(Wm = 8). Die erste Zahl ist um 12 % ihres Wertes gröſser
als die zweite; soviel habe ich daher auch von den zur Zeit
[96]C für das Wiederlernen gefundenen Zahlen in Abzug ge-
bracht.


IV. Ein Tag. 26 Versuche, davon 10 zur Zeit A, 8 zur
Zeit B (hier wie überall mit nur je 6 Reihen), 8 zur Zeit C.


[97]

Die zu den verschiedenen Tageszeiten gefundenen mitt-
leren Differenzen zwischen den Zeiten für das Lernen und
denen für das Wiederlernen sind den absoluten Werten nach
ziemlich verschieden (natürlich muſs man bei B die Zahl 254
erst mit 4/3 multiplicieren, weil sie sich nur auf 6 Reihen be-
zieht). Die Verhältnisse aber dieser Differenzen zu den
Zeiten für das erste Lernen (die Q) stimmen mit befriedigen-
Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 7
[98] der Annäherung überein. Vereinigt man daher sämtliche Q
zu einem Gesamtmittel, so ergiebt sich Q = 33,7 (Wm = 1,2).


V. Zwei Tage. 26 Versuche, und zwar 11 zur Zeit A,
7 zur Zeit B, 8 zur Zeit C.


[99]

Zusammenziehung der drei wiederum sehr nahe anein-
ander fallenden prozentischen Mittelwerte ergiebt für sämt-
liche 26 Versuche Q = 27,8 (Wm = 1,4).


VI. Sechs Tage. 26 Versuche, und zwar in der Vertei-
lung 10, 8, 8 auf die drei mehrgenannten Zeiten.


7*
[100]

Der Durchschnitt der sämtlichen 26 prozentischen Arbeits-
ersparnisse beträgt 25,4 (Wm = 1,3).


VII. 31 Tage. 45 Versuche, in der Verteilung 20, 15, 10
auf die Zeiten A, B, C.


[101]
[102]

Durchschnitt der sämtlichen 45 prozentischen Arbeits-
ersparnisse = 21,1 (Wm = 0,8).


Wie ein flüchtiger Blick über die vorstehenden Zahlen
lehrt, haben für jedes Zeitintervall die bei dem Wiederlernen
der Reihen hervortretenden Arbeitsersparnisse (die also je
ein Maſs sein sollen für das nach Ablauf der betreffenden
Zeit noch Behaltene) sehr schwankende Werte. Dies gilt
namentlich von ihren absoluten Beträgen (Δ), aber auch von
den Verhältniszahlen (Q). Die Ergebnisse stammen eben aus
der früheren Periode der Untersuchungen und leiden unter
allerlei störenden Einflüssen, auf die ich erst durch die Ver-
suche selbst aufmerksam wurde.


Trotz aller Unregelmäſsigkeiten im einzelnen aber grup-
pieren sie sich im ganzen mit befriedigender Sicherheit zu
einem in sich wohl zusammenstimmenden Bilde. Um das-
selbe zu erkennen, sind die absoluten Gröſsen der ersparten
Arbeiten weniger brauchbar. Dieselben hängen offenbar von
den Tageszeiten ab, d. h. von den durch diese bewirkten
[103] Veränderungen in der Zeit für das erste Lernen. Wo letztere
am gröſsten ist (Zeit C), sind auch die Δ am gröſsten, für
die Zeit B sind sie (nach Multiplikation mit 4/3) dreimal
unter vier Fällen gröſser als für die Zeit A. Dagegen sind
die für das Verhältnis der jedesmaligen Arbeitsersparnis
zu der ursprünglich aufgewandten Zeit gefundenen Zahlen (Q),
wie es scheint, annähernd unabhängig von diesem Einfluſs.
Ihre Mittelwerte liegen für alle drei Tageszeiten stets dicht bei-
sammen und lassen keinen bestimmten Charakter der Zu-
oder Abnahme mit den späteren Stunden erkennen. Ich
stelle daher letztere zusammen:

§ 29.
Diskussion der Resultate.


1. Daſs das Vergessen anfänglich sehr schnell und weiter-
hin langsamer geschehe, wird man vermutlich behaupten, im
allgemeinen vorausgesehen zu haben. Indes dürfte sowohl
die anfängliche Schnelligkeit als die spätere Langsamkeit, so wie
sich diese hier unter den bestimmten Bedingungen unserer
[104] Experimente für eine bestimmte Individualität und bei 13 sil-
bigen Reihen herausstellten, überraschen. Eine Stunde nach
Aufhören des Lernens war das Vergessen bereits soweit vor-
geschritten, daſs über die Hälfte der ursprünglich aufgewandten
Arbeit erneuert werden muſste, ehe die Reihen wieder repro-
duciert werden konnten; nach 8 Stunden betrug das zu Er-
setzende fast ⅔ des ersten Aufwandes. Allmählich aber ver-
langsamte sich der Prozeſs, so daſs selbst für gröſsere Zeit-
räume die Verluste nur eben noch sicher konstatierbar waren.
Nach 24 Stunden haftete immer noch etwa ein Drittel, nach
6 Tagen ein Viertel und nach Ablauf eines vollen Monats
noch ein reichliches Fünftel der erstverwandten Arbeit in
seinen Nachwirkungen. Die Abnahme dieser Nachwirkung
während der letzten Zeitintervalle ist augenscheinlich eine so
langsame, daſs sich unschwer voraussagen läſst, eine völlige
Verflüchtigung der Effekte des ersten Auswendiglernens würde
bei diesen Reihen, falls sie sich selbst überlassen geblieben
wären, erst nach sozusagen unendlich langer Zeit zu konsta-
tieren gewesen sein.


2. Am mindesten befriedigend an den gefundenen Re-
sultaten ist die geringe Differenz zwischen der 3ten und 4ten
Zahl, im Verhältnis namentlich zu der gröſseren zwischen der 4ten
und 5ten. In dem Zeitraum von 9—24 Stunden müſste darnach
die Abnahme der Nachwirkung 2,1 % betragen haben, in der Zeit
von 24 bis zu 48 Stunden 6,1 %; in späteren 24 Stunden daher
etwa 3 mal so viel als in früheren 15. Da nach allen übrigen
Zahlen die Abnahme der Nachwirkung mit zunehmender Zeit
eine erhebliche Verzögerung erleidet, ist ein solches Verhält-
nis nicht glaublich. Selbst nicht unter Zuziehung der — übri-
gens plausibeln — Annahme, daſs Nacht und Schlaf, die den
gröſseren Teil jener 15, aber den kleineren der 24 Stunden
ausmachen, die Abnahme der Nachwirkung ganz besonders
[105] verlangsamen. Man wird daher annehmen müssen, daſs durch
zufällige Störungen einer dieser drei Werte besonders stark
beeinfluſst ist. Mit Rücksicht auf andere Beobachtungen
würde es gut passen, die Zahl 33,7 % für das Wiederlernen
nach 24 Stunden als etwas zu groſs anzusehen und zu ver-
muten, daſs sie bei genauerer Wiederholung der Versuche um
1—2 Einheiten kleiner ausfallen würde. Indes wird sie durch
gleich mitzuteilende Beobachtungen doch auch wieder gestützt,
so daſs ich eine Entscheidung nicht geben kann.


3. Bei dem speciellen, individuellen und noch dazu un-
sicheren Charakter unserer Zahlen wird man nicht gleich das
„Gesetz“ zu wissen verlangen, welches in ihnen zur Erschei-
nung kommt. Immerhin ist es merkwürdig, daſs sich alle
7 Werte, welche eine Zeit von ⅓ Stunde bis zu 31 Tagen
(also vom ein fachen bis zum 2000fachen) umfassen, mit leid-
licher Annäherung einer ziemlich einfachen mathematischen
Formel einfügen lassen. Ich nenne


t die Zeit in Minuten, gerechnet von 1 Minute vor Be-
endigung des Lernens,


b die bei dem Wiederlernen hervortretende Arbeitserspar-
nis, das Äquivalent des von dem ersten Lernen her Behal-
tenen, ausgedrückt in Prozenten der für dieses erste Lernen
nötig gewesenen Zeit,


c und k zwei gleich zu bestimmende Konstanten.


Dann kann man schreiben

Setzt man für gemeine Logarithmen nach ungefährer
Schätzung und ohne genauere Berechnung durch kleinste
Quadrate
so ergiebt sich:
[106]

Die Abweichungen der berechneten von den beobachteten
Zahlen gehen nur bei dem 2ten und 4ten Wert nennenswert
über die wahrscheinlichen Fehlergrenzen hinaus. Für den
vierten Wert sprach ich schon vorhin die Vermutung aus,
daſs die Versuche ihn vielleicht etwas zu groſs ergeben haben
könnten; der zweite leidet durch die Unsicherheit der an-
gebrachten Korrektion. Durch die für t getroffene Bestim-
mung hat die Formel den Vorteil, daſs sie auch für den Mo-
ment gilt, in dem das Lernen gerade aufhört (t = 1) und
hier richtig b = 100 giebt. In dem Moment, in dem die
Reihen gerade hergesagt werden können, bedarf es natürlich
für das Wiederlernen gar keiner Zeit mehr, die Ersparnis ist
also eben so groſs wie die aufgewandte Arbeit.


Löst man die Formel nach k auf, so hat man
In diesem Ausdruck ist 100 — b, das Komplement der er-
sparten
Arbeit, nichts anderes als die bei dem Wieder-
lernen gebrauchte Arbeit, das Äquivalent des von dem
Lernen her schon Vergessenen. Nennt man dasselbe v, so
resultiert folgende einfache Beziehung:
[107] In Worten: wurden dreizehnsilbige sinnlose Reihen auswendig
gelernt und nachher nach verschiedenen zeitlichen Intervallen
wieder gelernt, so waren die Quotienten aus den hierbei er-
sparten und den hierbei gebrauchten Arbeitszeiten annähernd
umgekehrt proportional einer kleinen Potenz der Logarithmen
jener zeitlichen Intervalle. Oder kürzer und ungenauer: die
Quotienten aus Behaltenem und Vergessenem verhielten sich
umgekehrt wie die Logarithmen der Zeiten.


Natürlich hat dieser Satz und die ihm zu Grunde
liegende Formel hier keinen anderen Wert, als den einer
kurzen Notierung der obigen, unter den beschriebenen Um-
ständen gefundenen, einmaligen Resultate. Ob sie darüber
hinaus eine allgemeinere Bedeutung besitzen, wo dann die
Verschiedenheiten anderer Umstände oder anderer Individuali-
täten in anderen Konstanten ihren Ausdruck finden würden,
kann ich einstweilen nicht ausmachen.


§ 30.
Kontrollversuche.


Immerhin kann ich, allerdings immer nur für meine
eigene Individualität, zwei der mitgeteilten Werte einiger-
maſsen stützen durch Versuche, die zu anderen Zeitperioden
angestellt waren.


Aus einer noch älteren Periode als der der bisher mit-
geteilten Untersuchungen besitze ich einige Versuche mit
zehnsilbigen Reihen, deren je 15 zu einem Versuch zusammen-
gefaſst waren. Die Reihen wurden erst gelernt und dann,
jede Reihe durchschnittlich 18 Minuten nach der Beendigung
des Lernens, wieder gelernt. Sechs Versuche ergaben dabei
folgende Resultate:
[108]

Bei dem Wiederlernen zehnsilbiger Reihen 18 Minuten
nach dem vorangegangenen ersten Auswendiglernen derselben
wurden also 56 % der zuerst erforderlichen Arbeit gespart.
Diese Zahl stimmt befriedigend genug mit derjenigen, die sich
oben (S. 94) für das Wiederlernen dreizehnsilbiger Reihen
nach 19 Minuten herausgestellt hatte, nämlich 58 %. Auch
daſs letztere, trotz der etwas längeren Zwischenzeit, doch noch
etwas gröſser ist, harmoniert, wie wir sehen werden, voll-
kommen mit den Ergebnissen des nächsten Abschnitts, nach
denen auswendig gelernte kürzere Reihen etwas schneller
vergessen werden als längere.


Aus der Versuchsperiode 1883/84 besitze ich 7 Versuche
mit je neun 12silbigen Reihen, die 24 Stunden nach dem
ersten Auswendiglernen wiedergelernt wurden. Dieselben er-
gaben folgende Zahlen:
(Tabelle siehe folgende Seite.)
[109]

Die von dem ersten Auswendiglernen nach 24 Stunden
noch konstatierbare Nachwirkung war also hier äquivalent
einer Arbeitsersparnis von 33,4 % des ersten Aufwandes. Auch
diese Zahl stimmt sehr befriedigend mit derjenigen überein,
die oben für das Wiederlernen nach 24 Stunden bei 13 sil-
bigen Reihen mitgeteilt wurde (33,7), obwohl beide in sehr
weit auseinanderliegenden Zeitperioden und im Verfolg ganz
verschiedener Untersuchungen erhalten wurden.


[[110]]

VIII.
Das Behalten als Funktion wiederholten
Erlernens.


§ 31.
Fragestellung und Untersuchung.


Auswendig gelernte, dann sich selbst überlassene und
später aufs neue gelernte Silbenreihen befinden sich, wie man
annehmen muſs, in den Momenten, in denen sie gerade her-
gesagt werden können, in gleichen inneren Zuständen. Die
Energie der auf sie gerichteten und sie abbildenden Vorstel-
lungsthätigkeit ist in beiden Fällen gerade so weit gesteigert,
daſs bestimmte gleiche Bewegungskombinationen sich an sie
anschlieſsen. Für die Zeiten nach dem Hersagen hört jene
innere Gleichheit bald auf. Die Reihen werden allmählich
vergessen, aber — wie man im allgemeinen genügend sicher
weiſs — die zweimal gelernten erheblich langsamer als die
einmal gelernten. Geschieht das Wiederlernen nach einiger
Zeit zum zweiten, dann zum dritten Male u. s. f., so graben
sich die Reihen immer fester ein, sie weichen immer schwerer
und könnten schlieſslich, wie man voraussieht, ganz ebenso
zu einem stets bereiten Besitz der Seele gemacht werden
wie andere, sinnvolle und nützliche, Vorstellungsreihen.


[111]

Für dieses Abhängigkeitsverhältnis zwischen der zuneh-
menden Festigkeit der Reihen und der Anzahl von Malen,
die sie durch erneutes Lernen wieder zur erstmöglichen Re-
produktion gebracht worden sind, habe ich ebenfalls versucht,
einige numerische Daten zu gewinnen. Die Beziehung ist
eine ganz ähnliche wie die im VIten Abschnitt besprochene
zwischen der zunehmenden Festigkeit und der Anzahl von
Wiederholungen der Reihen. Aber in dem gegenwärtigen
Falle geschehen die Wiederholungen nicht auf einmal, sondern
zu verschiedenen Zeiten und in immer abnehmender Häufig-
keit. Bei unserer beschränkten Einsicht in den inneren Zu-
sammenhang dieser Vorgänge würde man gewiſs nicht wagen,
aus der Kenntnis des einen Verhältnisses etwas über das
andere vorauszusagen.


Für die zeitlichen Intervalle zwischen den einzelnen
Malen, zu denen das Wiederlernen stattfand, habe ich nur
eine einzige Gröſse gewählt, nämlich 24 Stunden. Dafür habe
ich diesmal Reihen von verschiedener Länge in Untersuchung
gezogen und zwar solche von 12, 24 und 36 Silben. Von
den ersten waren jedesmal 9, von den zweiten 3 und von
den dritten 2 zu einem Versuch vereinigt. Auſserdem habe
ich mehrere Versuche mit je sechs Stanzen des Byronschen
Don Juan angestellt.


Die Versuche bestanden also darin, daſs die betreffende
Anzahl von Reihen erst gelernt und dann an mehreren auf-
einanderfolgenden Tagen immer zur selben Stunde wiedergelernt
wurde, jedesmal bis zur erstmöglichen Reproduktion. Bei den
Silbenreihen betrug die Zahl dieser Tage sechs, bei den Byron-
schen Stanzen nur vier. Am 5ten Tage nämlich konnten die
Stanzen im allgemeinen ohne erneute Wiederholung noch
fehlerfrei hergesagt werden, sodaſs die aufgeworfene Frage von
hier ab ihren Sinn verlor. Für jede Art von Reihen habe
[112] ich 7 Versuche angestellt. Die Gesamtzahl der Einzelversuche
beträgt demnach 154, von denen einige allerdings nur wenige
Minuten in Anspruch nahmen.


Die Zahlen der folgenden Tabellen bedeuten die Wieder-
holungen, welche nötig waren, um die betreffenden Reihen
gerade bis zur erstmöglichen Reproduktion (diese incl.) zu
lernen; die römischen Ziffern bezeichnen die aufeinanderfol-
genden Tage.


1. Neun Reihen zu zwölf Silben.


2. Drei Reihen zu 24 Silben.


[113]

3. Zwei Reihen zu 36 Silben.


4. Sechs Stanzen aus Byrons Don Juan (Canto X).


Um die verschiedenen Beziehungen zwischen den resul-
tierenden Mittelwerten anschaulicher hervortreten zu lassen,
ist es nötig, sämtliche Zahlen auf dieselbe Einheit zu redu-
cieren, d. h. sie durch die jedesmalige Anzahl der zu einem
Versuch zusammengefaſsten Reihen zu dividieren. Geschieht
dies (s. oben S. 63) und wird gleichzeitig die für das Her-
sagen erforderliche Wiederholung in Abzug gebracht, so er-
giebt sich folgende Tabelle (die Zahlen sind auf halbe, resp.
viertel Einheiten abgerundet):


Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 8
[114]

Diese Zahlen geben unter mehreren Gesichtspunkten
Anlaſs zu näherer Besprechung.


§ 32.
Einfluſs der Länge der Reihen.


Wenn wir zunächst bloſs die Resultate für den ersten
und zweiten Tag des Lernens berücksichtigen, so erhalten
wir eine zwar vorauszusehende aber immerhin willkommene
Ergänzung der im Vten Abschnitt mitgeteilten Abhängigkeits-
beziehung. Dort zeigte sich, daſs bei wachsender Länge der
Reihen in sehr schneller Zunahme wachsende Anzahlen von
Wiederholungen nötig waren, um sie gerade zu lernen. Hier
ergiebt sich, daſs der Effekt dieses Mehrbedarfs an Wieder-
holungen in den untersuchten Fällen nicht bloſs darin bestand,
die Reihen eben reproducierbar zu machen, sondern daſs
durch die zahlreicheren Wiederholungen die längeren Reihen
auch fester eingeprägt wurden. Nach 24 Stunden konnten
sie mit einer absolut und relativ gröſseren Ersparnis an
Wiederholungen bis zur abermaligen erstmöglichen Reproduk-
tion wieder gelernt werden.


Die nachfolgende Tabelle läſst dieses Verhältnis deutlich
erkennen.


[115]

Bei den kürzesten der untersuchten Reihen betrug die
Ersparnis bei dem zweiten Lernen ⅓ des ersten Aufwandes,
bei den längsten etwa 6/10. Man könnte also sagen, die
Reihen von 36 Silben seien durch das Lernen bis zur erst-
möglichen Reproduktion verhältnismäſsig beinahe dop-
pelt so fest eingeprägt worden als die von 12 Silben.


Hierin liegt nun nicht gerade etwas besonders Neues.
Auf Grund der bekannten Erfahrung, daſs das mit gröſseren
Schwierigkeiten Gelernte dafür desto fester zu haften pflegt,
hätte man sich wohl getraut, einen solchen Effekt der gröſseren
Anzahl von Wiederholungen vorher zu sagen.


Was man vielleicht nicht vorausgesagt hätte und was
doch auch Beachtung verdient, ist die nähere Bestimmung
dieses allgemeinen Verhältnisses. Soweit die Zahlen nämlich
gehen, scheinen sie darzuthun, daſs zwischen der Zunahme
der für das erste Lernen nötigen Wiederholungen und der
Zunahme der durch sie jedesmal bewirkten inneren Festigkeit
der Reihen nicht etwa Proportionalität besteht. Weder die
absoluten noch die relativen Arbeitsersparnisse schreiten in
derselben Weise fort wie die Anzahlen der Wiederholungen;
jene vielmehr merklich schneller, diese merklich langsamer.
Man darf also nicht im genauen Sinn der Worte sagen: je
häufiger
eine Reihe heute wiederholt werden muſste, um aus-
wendig hergesagt werden zu können, desto mehr Wieder-
holungen werden bei ihrer Repetition nach 24 Stunden ge-
8*
[116] spart. Die obwaltende Gesetzmäſsigkeit scheint vielmehr ver-
wickelterer Art zu sein, und ihre genauere Feststellung bedürfte
umfassenderer Untersuchungen.


Das Verhältnis der Wiederholungen für das Lernen und
das Repetieren der englischen Stanzen bedarf keiner Erläute-
rung. Dieselben wurden am ersten Tage auswendig gelernt
mit weniger als der Hälfte der Wiederholungen, die für die
kürzesten der untersuchten Silbenreihen nötig waren. Sie
erlangten aber dadurch eine so groſse Festigkeit, daſs für ihre
Repetition am nächsten Tage verhältnismäſsig nicht mehr
Arbeit erfordert wurde als für Silbenreihen von 24 Silben,
nämlich etwa die Hälfte des ersten Aufwandes.


§ 33.
Einfluſs des wiederholten Erlernens.


Wir fassen jetzt die Resultate für die sämtlichen auf-
einanderfolgenden Tage ins Auge. An jedem folgenden Tage
ist die durchschnittliche Anzahl von Wiederholungen für das
Auswendiglernen einer bestimmten Reihe geringer als an dem
vorangegangenen. Diese Abnahme der für die Herbeiführung
der erstmöglichen Reproduktion jedesmal erforderlichen Ar-
beitsleistungen ist bei den längeren Reihen, bei denen der
erste Aufwand groſs ist, eine verhältnismäſsig schnellere, bei
den kürzeren, bei denen der erste Aufwand kleiner ist, eine
verhältnismäſsig langsamere. Dadurch nähern sich die für
die verschiedenen Reihen erforderlichen Anzahlen von Wieder-
holungen mehr und mehr. Bei den Reihen von 24 und 36
Silben springt das schon vom zweiten Tage ab in die Augen;
vom vierten Tage ab fallen die Zahlen für beide Reihenlängen
geradezu zusammen. Und am fünften Tage sind sie auch
den nach minder schneller Abnahme noch erforderlichen An-
[117] zahlen von Wiederholungen für das Lernen 12silbiger Reihen
sehr nahe gerückt.


Eine einfache Gesetzmäſsigkeit läſst sich in diesen suc-
cessiv abnehmenden Arbeitserfordernissen nicht erkennen. Die
Quotienten der an zwei aufeinanderfolgenden Tagen nötigen
Wiederholungen nähern sich allmählich der Einheit. Werden
die Wiederholungen für das Hersagen nicht, wie in der Schluſs-
tabelle des § 31 geschehen ist, abgezogen, sondern hinzu-
gerechnet, so geschieht diese Annäherung noch etwas rascher.
(Bei den englischen Stanzen findet sie überhaupt nur in
diesem Falle statt.) Indes der Gang der Zahlen läſst sich
nicht durch eine einfache Formel beschreiben.


Eher ist dies der Fall, wenn man nicht die allmählich
abnehmenden Arbeitserfordernisse, sondern die ebenfalls all-
mählich abnehmenden Arbeitsersparnisse in Betracht zieht.


Von diesen Zahlenfolgen bilden zwei, nämlich die zweite
und vierte Reihe, mit groſser Annäherung abnehmende geo-
metrische Progressionen mit dem Exponenten 0,5. Sehr
geringe Änderungen der Zahlen würden genügen, um die
Übereinstimmung vollständig herzustellen. Auch die Reihe
No. 1 würde noch durch mäſsige Änderungen in eine geo-
metrische Progression mit dem Exponenten 0,6 verwandelt
werden können. Dagegen würde man, um aus No. 3 eben-
[118] falls eine geometrische Progression zu gewinnen (deren Ex-
ponent dann etwa ein Drittel sein würde), schon einen groben
Fehler in den Untersuchungsresultaten annehmen müssen.


Wenn nicht für alle, so kann man also doch für die
Mehrzahl der gefundenen Resultate den Zusammenhang, in
dem sie stehen, so formulieren: wurden sinnlose Silbenreihen
oder Strophen eines Gedichtes an mehreren aufeinanderfol-
genden Tagen jedesmal bis zur erstmöglichen Reproduktion
auswendig gelernt, so bildeten annähernd die successiven Diffe-
renzen der dazu erforderlichen Wiederholungen abnehmende
geometrische Progressionen. Bei Silbenreihen verschiedener
Länge waren die Exponenten dieser Progressionen kleiner
für die längeren, gröſser für die kürzeren Reihen.


Da gerade die hier besprochenen Versuche, wenn sie auch
im einzelnen nicht zeitraubender sind als die anderen, doch
verhältnismäſsig sehr viele Versuchstage beanspruchen, so sind
die einzelnen Zahlen Mittelwerte aus je einer ziemlich gerin-
gen Anzahl von Beobachtungen. Ob also die in den bisheri-
gen Resultaten annähernd verwirklichte einfache Gesetz-
mäſsigkeit bei einer Wiederholung oder weiteren Ausdehnung
der Versuche Stich halten würde, kann ich hier noch weniger
sicher sagen, als anderswo. Ich begnüge mich, auf sie auf-
merksam zu machen, ohne sie irgendwie besonders accen-
tuieren zu wollen.


§ 34.
Einfluſs der einzelnen Wiederholungen.


Die Fragestellung des gegenwärtigen Abschnitts ist, wie
schon gesagt wurde, nahe verwandt derjenigen des VIten Ab-
schnitts. In beiden Fällen wird der Einfluſs zunehmender
Anzahlen von Wiederholungen auf die dadurch erzielte immer
[119] festere Einprägung von Silbenreihen untersucht. Nur wur-
den dort die sämtlichen Wiederholungen unmittelbar hinter
einander vorgenommen, ohne Rücksicht darauf, ob und wie
das spontane Hersagen der Reihen durch sie erreicht wurde;
hier waren sie über mehrere aufeinanderfolgende Tage ver-
teilt, und für ihre Zumessung an die einzelnen Tage war
die jedesmalige Erreichung der erstmöglichen Reproduktion
maſsgebend. Haben nun die in beiden Fällen gefundenen
Resultate, wenigstens für meine eigene Individualität, eine
allgemeinere Gültigkeit, so wird man erwarten, daſs sie, so-
weit eine Vergleichung möglich ist, auch mit einander har-
monieren. D. h. man wird erwarten, daſs auch hier, so wie
es oben gefunden wurde, die Wirkung der späteren Wieder-
holungen (also derjenigen des IIten, IIIten u. s. w. Tages) zuerst
ungefähr eben so groſs ist wie diejenige der früheren, um
weiterhin mehr und mehr abzunehmen.


Eine genauere Vergleichung ist nun allerdings nicht
möglich. Zunächst haben die Reihen des VIten Abschnitts und
die jetzt besprochenen verschiedene Länge. Dann aber wäre
das, worauf es ankommt, die abgesonderte Ermittelung des
reinen Einflusses der an den einzelnen Tagen stattfindenden
Wiederholungen, nur durch Annahmen möglich, die an sich
plausibel sein möchten auf Grund der vorliegenden Daten,
aber wegen der Unsicherheit dieser Daten allzu anfechtbar
bleiben würden.


Wir fanden z. B., dass neun 12silbige Reihen an sechs
aufeinanderfolgenden Tagen gelernt wurden mit 158, 109, 75,
56, 37, 31 Wiederholungen. Der Effekt der ersten 158 Wieder-
holungen ist hier unmittelbar gegeben in den 109 Wieder-
holungen des zweiten Tages, resp. in der Differenz 158—109.
Aber wenn wir nun weiter den reinen Effekt dieser hinzu-
getretenen 109 Wiederholungen wissen wollen, die durch sie
[120]allein bewirkte Ersparnis am dritten Tage, so dürfen wir diese
nicht einfach in der Differenz 109—75 erblicken. Wir müſsten
vielmehr wissen, mit wieviel Wiederholungen (x) die Reihen
am dritten Tage gelernt worden wären, wenn am zweiten
Tage gar keine Wiederholungen stattgefunden hätten, und
hätten dann in der Differenz x—75 die abgesonderte Wirkung
der thatsächlich vorgenommenen 109 Wiederholungen. Da
das Vergessen vom zweiten zum dritten Tage etwas fort-
schreitet, so würde x etwas gröſser sein als 109. Ebenso
müſsten wir zur Ermittelung des weiteren Einflusses der 75
Wiederholungen des dritten Tages irgendwoher erfahren können,
mit wieviel Wiederholungen (y) Reihen, die am ersten Tage
158 mal, dann am zweiten Tage 109 mal wiederholt wurden,
am vierten Tage auswendig gelernt worden wären. Die
Differenz y—56 ergäbe dann das Maſs jenes Einflusses u. s. f.
Für die Ermittelung von x würden die Untersuchungen des
VIIten Abschnitts einen gewissen Anhalt liefern. Dort ergab
sich, daſs bei 13silbigen Reihen das nach 24 Stunden Ver-
gessene zu dem nach 2 × 24 Stunden Vergessenen sich
etwa verhält wie 66 : 72. Aber die Benutzung dieses — noch
dazu unsicheren — Verhältnisses würde nur für die 12silbigen
Reihen angehen und für die Berechnung von y u. s. f. wäre
damit auch nicht geholfen. Man könnte höchstens annehmen,
daſs die dafür in Betracht kommenden Quotienten der Einheit
noch näher kämen.


Ich verzichte daher auf diese unsicheren Annahmen ganz
und teile einfach die Verhältnisse der successive vorgenommenen
Wiederholungen zu den successive hervortretenden Arbeits-
ersparnissen mit, indem ich darauf aufmerksam mache, daſs
die vorauszusetzende reine Wirkung der einzelnen Wieder-
holungen durch etwas gröſsere und vermutlich weniger diver-
gierende Zahlen repräsentiert werden würde.


[121]

Obwohl der Gang dieser (in ihren absoluten Werten, wie
gesagt, ungenauen) Zahlen nur bei den 24silbigen Reihen ein
leidlich regelmäſsiger ist, paſst sein allgemeiner Charakter
doch überall ganz wohl zu dem, was man nach den Ergeb-
nissen des vierten Abschnittes erwarten sollte. Der Effekt der
Wiederholungen ist zuerst (für Tag I u. II) annähernd konstant,
die durch sie erzielten Arbeitsersparnisse wachsen also ziemlich
lange proportional ihrer Anzahl; allmählich wird die Wirkung
eine geringere; und endlich, wenn die Reihen so fest sitzen,
daſs sie nach 24 Stunden noch beinahe spontan hergesagt
werden können, zeigt sie sich sehr abgeschwächt. Die Resul-
tate des vierten und die des gegenwärtigen Abschnittes stützen
sich also, soviel man erkennen kann, gegenseitig.


Indes mache ich noch auf einen bemerkenswerten Unter-
schied aufmerksam. Wir fanden oben (S. 82), daſs sechs
12silbige Reihen, die zu einer bestimmten Zeit durchschnitt-
lich 410 mal wiederholt worden waren, 24 Stunden später
nach durchschnittlich 41 maliger Wiederholung wieder auswendig
hergesagt werden konnten. Für eine einzelne 12silbige Reihe
hatten demnach 68 unmittelbar aufeinanderfolgende Wieder-
holungen den Effekt, daſs am nächsten Tage das erste fehler-
freie Hersagen nach 7 Wiederholungen möglich wurde. Bei
den gegenwärtigen Versuchen mit Verteilung der Wieder-
holungen auf mehrere Tage trat derselbe Effekt etwa am
vierten Tage ein: neun 12silbige Reihen wurden mit 56 Wieder-
[122] holungen auswendig gelernt, jede Reihe also mit etwa 6 Wieder-
holungen. Aber die zur Erzielung dieser Wirkung vorher
nötig gewesene Anzahl von Wiederholungen betrug für neun
Reihen nur 158 + 109 + 75 = 342, für eine einzelne Reihe
also 38. Auf das Wiederlernen einer 12silbigen Reihe zu
einer bestimmten Zeit hatten demnach 38 Wiederholungen,
in gewisser Weise auf die drei vorangegangenen Tage ver-
teilt, einen ebenso günstigen Einfluſs wie 68 Wiederholungen,
die unmittelbar nacheinander am Tage vorher vorgenommen
wurden. Macht man hier der Unsicherheit der nur auf wenige
Versuche basierten Zahlen selbst die gröſsten Konzessionen,
so bleibt ihre Differenz immer noch erheblich genug. Sie
macht die Annahme wahrscheinlich, daſs bei einer gröſse-
ren Anzahl von Wiederholungen
eine angemessene
Verteilung derselben über einen gewissen Zeitraum bedeutend
vorteilhafter ist als ihre Kumulierung auf eine bestimmte Zeit.
Das instinktive Verfahren der Praxis stimmt mit diesem, hier
nur für sehr beschränkte Bedingungen gewonnenen Resultat
überein: ein Schulknabe pflegt das Auswendiglernen seiner
Vokabeln und Regeln nicht auf einmal am Abend erzwin-
gen zu wollen, er weiſs, daſs er sie am nächsten Morgen
nochmal einprägen muſs; ein Lehrer verteilt das Klassen-
pensum nicht gleichmäſsig über die ganze dafür zur Verfügung
stehende Zeit, sondern reserviert von vornherein einen Teil
derselben für ein- oder mehrmalige Repetition.


[[123]]

IX.
Das Behalten als Funktion der Aufeinanderfolge
der Reihenglieder.


„How odd are the connections
„Of human thoughts which jostle in their flight.“

§ 35.
Die Association nach der zeitlichen Folge und ihre
Erklärung.


Ich wende mich zu einer zusammengehörigen Gruppe von
Untersuchungen über Associationsverhältnisse, deren Resultate,
wie mir scheint, theoretisch von besonderem Interesse sind.


Das unwillkürliche Wiederauftauchen psychischer Gebilde
aus dem Dunkel des Gedächtnisses an das Licht des Bewuſst-
seins geschieht, wie man weiſs und wie schon erwähnt wurde,
nicht beliebig und zufällig, sondern in gewissen regelmäſsigen
Formen, gemäſs den sogenannten Associationsgesetzen. Das
allgemeine Wissen um diese ist eben so alt wie die Psycho-
logie selbst, seine genauere Fassung dagegen ist — charak-
teristisch genug — bis in die Gegenwart hinein streitig ge-
blieben. Jede neue Darstellung setzt sich aufs neue aus-
einander mit dem Inhalt einiger Zeilen des Aristoteles, und
nach dem Stande unseres Wissens hat sie allerdings auch die
Verpflichtung dazu.


[124]

Von diesen „Gesetzen“ nun — wenn man sich mit dem
Sprachgebrauch und hoffentlich in Anticipation der Zukunft
die Anwendung eines hohen Wortes auf Formeln von ziem-
lich vagem Charakter gestattet — von diesen Gesetzen ist
eines niemals bestritten und angezweifelt worden. Es pflegt
etwa so formuliert zu werden: Vorstellungen, welche gleich-
zeitig oder in unmittelbarer Aufeinanderfolge in demselben
Bewuſstsein erzeugt wurden, reproducieren sich gegenseitig,
und zwar mit gröſserer Leichtigkeit in der Richtung der ur-
sprünglichen Folge, und mit um so gröſserer Sicherheit, je
häufiger sie beisammen waren.


Diese Art der unwillkürlichen Reproduktion ist eine der
best beglaubigten und häufigst verwirklichten Thatsachen des
ganzen psychischen Geschehens; sie durchsetzt in unabtrenn-
barer Weise jede, auch die sogenannte willkürliche, Repro-
duktion. Der bewuſste Wille z. B. in allen den zahlreichen
Reproduktionen von Silbenreihen, die wir kennen lernten, be-
schränkte sich auf die allgemeine Absicht des Reproducierens
und auf die Ergreifung des Anfangsgliedes. Das Übrige
schloſs sich daran sozusagen von selbst und eben in Erfüllung
jenes Gesetzes, daſs reihenförmig Zusammengewesenes sich in
derselben Reihenform reproduciert.


Indessen man hat sich, wie natürlich, nicht begnügt mit
der Anerkennung dieser evidenten Thatsache, sondern man
hat versucht, sie zu verstehen, einzudringen in das innere
Getriebe, dem sie als Wirkung entspringt. Geht man diesen
Spekulationen über das Warum einen Augenblick nach, so
stöſst man nach zwei Schritten auf Unklarheiten und auf die
Grenze unseres Wissens über das Wie.


Gewöhnlich beruft man sich zur Erklärung dieser Form
der Association auf die Natur der Seele. Die psychischen Vor-
gänge, sagt man, sind nicht ein passives Geschehen, sondern
[125] Thätigkeiten eines Subjekts. Was ist nun natürlicher, als
daſs dieses einheitliche Wesen die Inhalte seiner ebenfalls
einheitlichen Akte in gewisser Weise zusammenschnürt? Das
was gleichzeitig oder unmittelbar nacheinander vorgestellt
wird, wird in einem Akt des Bewuſstseins erfaſst und eben-
dadurch innerlich aneinander gekettet, natürlich um so fester,
je häufiger dieses Band einer Bewuſstseinseinheit darum ge-
schlungen wurde. Wird nun einmal durch irgend einen Zu-
fall nur ein Teil eines so zusammengehörigen Komplexes er-
zeugt, wie kann er anders, als die übrigen Teile an jenem
alle zusammenhaltenden Bande nach sich ziehen?


Zunächst erklärt diese Vorstellung nicht ganz was sie wollte.
Denn die übrigen Teile des Komplexes werden nicht nur ein-
fach herbeigezogen, sondern sie folgen dem Zuge in einer
ganz bestimmten Ordnung. Werden die Teilinhalte lediglich
durch ihre Zugehörigkeit zu einem Bewuſstseinsakt, und
demnach doch alle in gleicher Weise, zusammengefaſst, wie
kommt es, daſs eine Folge von Teilinhalten gerade in der-
selben
Folge und nicht in einer beliebigen Permutation
wiederkehrt? Um auch dies verständlich zu machen, kann
man in zwiefacher Weise weitergehen.


Entweder man kann sagen: eine Zusammenfassung des
in einem Bewuſstseinsakt gleichzeitig Gegenwärtigen ge-
schieht nur von Glied zu Folgeglied, aber nicht über andere
Glieder hinweg; sie wird aus irgendwelchen Gründen durch
Zwischenglieder inhibiert, aber nicht durch das Dazwischen-
treten von Pausen, wofern nur Anfang und Ende der Pause
noch in einem Bewuſstseinsakt erfaſst werden können. Da-
mit ist man zu den Thatsachen wieder zurückgekehrt, aber
der Vorteil, den die ganz plausible Berufung auf die ein-
heitlichen Bewuſstseinsakte bot, ist stillschweigend wieder
preisgegeben. Denn wie sehr man auch über die Zahl von
[126] Vorstellungen streiten möge, welche ein Bewuſstseinsakt zu
umfassen vermag, es ist ganz sicher, daſs wir, wenn nicht
immer, so doch zumeist mehr als zwei Glieder einer Folge
noch in einem solchen Akte ergreifen. Benutzt man aber
die eine Seite des Erklärungsgrundes, die Einheitlichkeit, als
willkommenes Moment, so muſs man sich auch mit der an-
deren Seite, der Vielheit von Gliedern, abzufinden wissen und
ihr nicht, auf vermutete aber unangebbare Gründe hin, das
Dreinreden verbieten. Sonst hat man im Grunde doch nur
gesagt, wobei man ja möglicherweise stehen bleiben muſs:
es ist so, weil es Gründe giebt, daſs es so ist.


Man wird also vielmehr versucht sein, so zu sagen. Die
in einem Bewuſstseinsakt aufgefaſsten Vorstellungen werden
allerdings alle mit einander verknüpft, aber nicht alle in der-
selben Weise. Die Stärke der Verbindung ist vielmehr eine
abnehmende Funktion der Zeit oder auch der Anzahl der
Zwischenglieder; sie ist um so geringer, je gröſser das Inter-
vall ist, welches die einzelnen Glieder trennt. Sei a, b, c, d
eine Reihe, die gerade noch in einem Akt vorgestellt wird,
so wird die Verknüpfung des a mit b stärker sein als die
mit dem späteren c, und diese wiederum stärker als die mit
d. Wird a irgendwoher wiedererzeugt, so bringt es zwar so-
wohl b wie c und d mit sich, aber das ihm enger verknüpfte
b muſs sich leichter und eher einstellen, dann das diesem
eng verbundene c u. s. f. Die Reihe muſs also, obwohl alle
ihre Glieder unter einander verknüpft sind, doch gerade in
der ursprünglichen Folge wieder ins Bewuſstsein treten.


Eine solche Vorstellung ist in folgerichtiger Weise von
Herbart ausgesponnen worden. Den Grund der Verknüpfung
der unmittelbar aufeinanderfolgenden Vorstellungen sieht er
nicht direkt in der Einheitlichkeit der Bewuſstseinsakte, aber
in etwas Ähnlichem: gegensätzliche Vorstellungen, die in der
[127] einheitlichen Seele zusammen zu sein gezwungen sind, können
dies nur dadurch, daſs sie sich teilweise hemmen und dann
in ihren Resten mit einander verschmelzen, sich verknüpfen.
Doch dies ist für unseren Zweck nebensächlich; er fährt
dann fort:


„Eine Reihe a, b, c, d ... sei in der Wahrnehmung ge-
geben worden, so ist durch andere, im Bewusstsein vorhan-
dene, Vorstellungen schon a, von dem ersten Augenblicke der
Wahrnehmung an, und während deren Dauer, einer Hem-
mung ausgesetzt gewesen. Indessen nun a, schon zum Teil
im Bewusstsein gesunken, mehr und mehr gehemmt wurde,
kam b dazu. Dieses, Anfangs ungehemmt, verschmolz mit
dem sinkenden a. Es folgte c, und verband sich, selbst un-
gehemmt, mit dem sich verdunkelnden b und dem mehr ver-
dunkelten a. Desgleichen folgte d, um sich in verschiedenen
Abstufungen mit a, b, c zu verknüpfen. — Hieraus entspringt
für jede von diesen Vorstellungen ein Gesetz, wie sie, nach-
dem die ganze Reihe eine Zeitlang aus dem Bewusstsein ver-
drängt war, auf eigne Weise beim erneuerten Hervortreten
jede andre Vorstellung der nämlichen Reihe aufzurufen be-
müht ist. Angenommen, a erhebe sich zuerst, so ist es mehr
mit b, minder mit c, noch minder mit d u. s. w. verknüpft;
rückwärts aber sind b, c, d sämmtlich im ungehemmten Zu-
stande den Resten von a verschmolzen; folglich sucht a sie
alle völlig wiederum bis zum ungehemmten Vorstellen zu
bringen; aber es wirkt am schnellsten und stärksten auf b,
langsamer auf c, noch langsamer auf d u. s. w. (wobei die
feinere Untersuchung ergibt, dass b wieder sinkt, indem c
noch steigt; ebenso c sich senkt, während d steigt u. s. w.);
kurz, die Reihe läuft ab, wie sie gegeben war. — Nehmen
wir dagegen an, c werde ursprünglich reproduciert, so wirkt
es zwar auf d und die nachfolgenden gerade, wie eben von
[128]a gezeigt, das heisst, die Reihe c, d ... läuft ihrer Ordnung
gemäss allmählich ab. Hingegen b und a erfahren einen
ganz anderen Einfluſs;
mit ihren verschiedenen Resten war
das ungehemmte c verschmolzen; es wirkt also auch auf sie
mit seiner ganzen Stärke und ohne Zögerung, aber nur, um
den mit ihm verbundenen Rest von a und von b zurückzu-
rufen, also um einen Theil von b und einen kleineren Theil
von a ins Bewusstsein zu bringen. So geschieht es, wenn
wir an irgend etwas aus der Mitte einer uns bekannten Reihe
erinnert werden; das Vorhergehende stellt sich auf einmal,
in abgestufter Klarheit dar;
das Nachfolgende hingegen läuft
in unsern Gedanken ab
, wie die Reihenfolge es mit sich
bringt. Aber niemals läuft die Reihe rückwärts, niemals ent-
steht, ohne geflissentliches Bemühen, ein Anagramm aus einem
wohlaufgefassten Worte*.“


Nach dieser Auffassung also sind die associativen Fäden,
welche eine innerlich behaltene Reihe zusammenhalten, nicht
nur einfach zwischen Glied und Folgeglied gesponnen, son-
dern es bestehen solche Fäden zwischen jedem einzelnen
[129] Glied und allen zeitlich benachbarten, über die Zwischen-
glieder hinweg. Die Stärke der Fäden variiert mit der Di-
stanz der Glieder, aber selbst die schwächeren von ihnen
müſsten immer noch als relativ erhebliche angesehen werden.


Für unsere Vorstellungen von dem inneren Zusammen-
hang des geistigen Geschehens, von der Reichhaltigkeit und
Kompliciertheit seiner Gruppen und seiner Gliederung ist die
Annahme oder Verwerfung dieser Auffassung offenbar von
groſser Bedeutung. Aber ebenso offenbar ist es ziemlich
müſsig, über sie zu streiten, wenn man sich auf die Beobach-
tung des bewuſsten geistigen Lebens beschränkt, auf die Re-
gistrierung dessen, was das Meer dieses Lebens zufällig und
gelegentlich einmal gerade bis an die Oberfläche wirbelt.
Denn da, der Voraussetzung nach, die von Glied zu Folge-
glied gesponnenen Fäden zwar nicht die einzigen, aber doch
die stärkeren sein sollen, so werden sie für das dem Bewuſst-
sein Erscheinende im allgemeinen die maſsgebenden und also
die einzig zu beobachtenden sein.


Dagegen erlaubt die den bisher mitgeteilten Untersuchun-
gen zu Grunde gelegte Methode, bestehende Verbindungen
selbst von geringer Stärke aufzudecken, dadurch, daſs sie
künstlich verstärkt werden, bis sie ein bestimmtes gleiches
Niveau der Reproducierbarkeit erreichen. Ich habe daher
nach dieser Methode noch eine gröſsere Anzahl von Versuchen
angestellt, um die in Frage stehende Auffassung auf dem Ge-
biet unserer Silbenreihen experimentell zu prüfen und einer
etwaigen Abhängigkeit der Stärke der Association von der
Folge der nach einander ins Bewuſstsein tretenden Glieder
der Reihe auf die Spur zu kommen.


Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 9

[130]

§ 36.
Methode der Untersuchung des thatsächlichen
Verhaltens.


Die Versuche wurden wiederum mit 6 Reihen zu je
16 Silben angestellt. Zu gröſserer Klarheit bezeichne ich
vorübergehend die Reihen mit römischen, die einzelnen Silben
mit arabischen Ziffern. Den Gegenstand eines Versuchs bil-
dete dann also jedesmal eine Silbengruppe folgender Form:


  • I1I2I3 . . . . . . I15I16
  • II1II2II3 . . . . . . II15II16
  • . .
  • . .
  • . .
  • VI1 . . . . . . . . . . . VI16

Wenn ich eine solche Gruppe — jede Reihe für sich —
bis zur ersten fehlerfreien Reproduktion auswendig lerne und
24 Stunden später in ganz derselben Reihenfolge der
Silben
bis zur Erreichung desselben Zieles repetiere, so ist
diese Repetition in etwa ⅔ der zuerst erforderlichen Zeit
möglich*. Die resultierende Arbeitsersparnis von ⅓ miſst
[131] dabei offenbar die Stärke der Associationen von Glied zu
Folgeglied,
welche sich durch das erstmalige Lernen bei
mir bilden.


Man nehme nun an, die Reihen würden nicht in ganz
derselben Reihenfolge
der Silben repetiert, in der sie
zuerst gelernt wurden. Die in der Anordnung I1 I2 I3 ....
I15 I16 gelernten Silben mögen z. B. in der Anordnung
I1 I3 I5 ... I15 I2 I4 I6 .... I16 repetiert werden und die
übrigen Reihen in derselben Umformung. Es werden also
erst die sämtlichen Silben, die ursprünglich an ungeraden,
dann die sämtlichen, die an geraden Stellen standen, unmittel-
bar hinter einander gesetzt und die so erhaltenen neuen, aber
ebenfalls 16silbigen Reihen auswendig gelernt. Was wird
geschehen? Jede Silbe der umgeformten Reihen war von den
ihr jetzt unmittelbar benachbarten Silben bei der ursprüng-
lichen Anordnung durch ein Zwischenglied getrennt, abgesehen
von der Mitte, wo ein Bruch stattfindet. Sind diese Zwischen-
glieder wesentliche Hindernisse der associativen Ver-
knüpfung, so sind die abgeleiteten Reihen so gut wie ganz
unbekannte. Trotz des vorangegangenen Lernens der Silben
in der ursprünglichen Reihenfolge kann man für die Repe-
tition der Umformungen keine wesentliche Arbeitsersparnis
erwarten. Spannen sich hingegen bei dem ersten Lernen
Associationsfäden nicht nur von Glied zu Folgeglied, sondern
auch über die Zwischenglieder hinweg zu entfernteren Silben,
so bestehen für die neuen Reihen schon gewisse Prädispo-
sitionen. Die jetzt aufeinanderfolgenden Silben sind insgeheim
schon mit einer gewissen Stärke aneinander geknüpft. Bei
dem Lernen der Reihen wird sich dies dadurch verraten
*
9*
[132] müssen, daſs es einen merklich geringeren Arbeitsaufwand
erfordert als das Lernen ganz neuer Reihen, obschon immer-
hin einen gröſseren als das Repetieren von vorher gelernten
Reihen bei ungeänderter Reihenfolge der Silben. Und dabei
würde dann wiederum die etwa gefundene Arbeitsersparnis
ein Maſs bilden für die Stärke der über ein Zwischenglied
hinweg stattfindenden Associationen.


Leitet man aus der ursprünglichen Anordnung der Silben
neue Reihen ab durch Überspringen von 2, 3 und mehr
Zwischengliedern, so ergeben sich analoge Betrachtungen.
Die abgeleiteten Reihen werden entweder unverändert ohne
jede merkliche Ersparnis von Arbeit gelernt werden, oder
aber es werden jedesmal gewisse Arbeitsersparnisse resultieren,
und diese werden dann bei wachsender Anzahl der Zwischen-
glieder immer kleiner werden.


Auf Grund dieser Erwägungen habe ich nun folgendes
Verfahren eingeschlagen. Ich bildete Gruppen von 6 Reihen
zu je 16 Silben in beliebiger Zusammensetzung der letzteren.
Aus jeder Gruppe wurde dann eine neue abgeleitet, wiederum
zu 6 Reihen von 16 Silben, und zwar so, daſs die unmittel-
bar benachbarten Silben der neuen Formation in der ursprüng-
lichen durch entweder 1 oder 2 oder 3 oder 7 Zwi-
schensilben getrennt waren
.


Bezeichnet man die einzelnen Silben durch die Stellen,
welche sie in der ursprünglichen Anordnung innehaben, so
erhält diese selbst, wie eben angegeben, das Schema


  • I1I2I3 . . . . . . I15I16
  • II1II2II3 . . . . . . II15II16
  • . .
  • . .
  • . .
  • VI1 . . . . . . . . . . VI16

Bei Beibehaltung dieser Bezeichnung sehen dann die ab-
geleiteten Gruppen so aus:


[133]

Beim Überspringen von 1 Silbe:


  • I1I3I5 . . . . . I15I2I4I6 . . . . . I16
  • II1II3II5 . . . . . II15II2II4II6 . . . . . II16
  • .
  • .
  • .
  • VI1VI3 . . . . . . . VI15VI2VI4 . . . . . . . VI16

Beim Überspringen von 2 Silben:


  • I1I4I7I10I13I16I2I5I8I11I14I3I6I9I12I15
  • II1II4II7 . . . . . II16II2II5 . . . . II14II3II6 . . . . II15
  • . . .
  • . . .
  • . . .
  • VI1VI4. . . . . . . VI16VI2VI5 . . . . VI14VI3VI6 . . . . VI15

Beim Überspringen von 3 Silben:


  • I1I5I9I13I2I6I10I14I3I7I11I15I4I8I12I16
  • II1II5 . . . . II2II6 . . . . . II3II7 . . . . II4II8 . . II16
  • . . .
  • . . .
  • . . .
  • VI1VI5 . . . . VI2VI6 . . . . . VI3VI7 . . . . VI4VI8 . . VI16

Beim Überspringen von 7 Silben:


  • I1I9II1II9III1III9IV1IV9V1V9VI1VI9I2I10II2II10
  • III2III10IV2IV10V2V10VI2VI10I3I11II3II11III3III11IV3IV11
  • . . .
  • . . .
  • . . .
  • V7V15VI7VI15I8I16II8II16III8III16IV8IV16V8V16VI8VI16

Wie ein Blick auf diese Schemata lehrt, waren nicht
alle benachbarten Silben der abgeleiteten Reihen ursprüng-
lich durch die jedesmal angegebene Zahl von Silben getrennt.
An einzelnen Stellen sind, um wieder Reihen von 16 Silben
zu erhalten, gröſsere Sprünge gemacht worden, nirgendwo
aber kleinere. Solche Stellen sind z. B. beim Überspringen
von 2 Silben die Übergänge von I16 zu I2 und von I14 zu I3.
Bei dem Überspringen von 7 Silben hat sogar an den 7 Stellen
jeder Reihe, wo Silben aus ursprünglich verschiedenen Reihen
aufeinander folgen (I9 II1, II9 III1 u. s. w.), gar keine vorherige
Verknüpfung der Silben stattgefunden, da die Reihen, wie oft
erwähnt, jede für sich gelernt wurden. Die Anzahl solcher
[134] Bruchstellen, sozusagen, ist verschieden je nach der Art der
Ableitung, und zwar jedesmal ebenso groſs wie die der über-
sprungenen Silben. Wegen dieser Verschiedenheit leiden die
abgeleiteten Reihen an einer gewissen, durch die Natur des
Verfahrens ihnen anhaftenden Ungleichheit.


Im Verlauf der Untersuchung erwies sich ein Über-
springen von noch mehr als 7 Zwischengliedern als wün-
schenswert, jedoch nahm ich davon Abstand. Die Unter-
suchungen waren mit sechs 16 silbigen Reihen schon ziemlich
weit vorgeschritten, und wenn aus diesen durch Einführung
gröſserer Intervalle ebensolche Gruppen hergeleitet werden
sollen, so erlangen dabei die eben erwähnten Bruchstellen zu
sehr das Übergewicht. Die abgeleiteten Reihen enthalten
dann schlieſslich immer weniger Silbenfolgen, für welche durch
das Lernen der ursprünglichen Anordnung eine etwaige Ver-
knüpfung möglich gewesen wäre; sie werden also immer un-
vergleichbarer.


Die Untersuchungen selbst bestanden nun darin, daſs
jedesmal die sechs Reihen erst in der ursprünglichen, dann
24 Stunden später in der hieraus abgeleiteten Anordnung der
Silben gerade eben auswendig gelernt und die dazu nötigen
Zeiten verglichen wurden. Bei Beschränkung indessen auf
die bisher beschriebenen Ableitungen würden die Resultate
unter Umständen einem triftigen Einwande ausgesetzt sein.
Gesetzt nämlich, es stellte sich heraus, daſs wirklich die ab-
geleiteten Reihen mit einer mäſsigen Zeitersparnis gelernt
würden, so brauchte diese doch nicht der vermuteten Quelle,
nämlich einer Association von Silben über Zwischenglieder
hinweg, zu entspringen. Man kann vielmehr auch so argu-
mentieren. Die zuerst gelernten und nach 24 Stunden in
anderer Anordnung wieder gelernten Silben sind eben in
beiden Fällen dieselben Silben. Durch das erste Lernen
[135] werden sie nicht nur in ihrer bestimmten Anordnung, son-
dern auch abgesehen davon, rein als einzelne Silben eingeprägt;
bei der Wiederholung sind sie daher noch einigermaſsen be-
kannt, wenigstens bekannter als andere kurz vorher nicht ge-
lernte Silben. Auſserdem haben die aus ihnen gebildeten
neuen Reihen zum Teil dieselben Anfangs- und Endglieder
wie die alten. Werden sie also in etwas geringerer Zeit
wiederholt als zuerst gelernt, so ist das nicht wunderbar. Der
Grund davon braucht gar nicht in der künstlichen und syste-
matischen Abänderung der Anordnung zu liegen, sondern er
beruht möglicherweise lediglich auf der Identität der Silben.
Würden diese am 2ten Tage in einer ganz beliebigen neuen
Anordnung wiederholt, so würde sich vermutlich ebenfalls
eine Arbeitsersparnis herausstellen.


In Berücksichtigung dieses Einwandes und zur Kontrolle
der übrigen Resultate habe ich daher noch eine weitere, fünfte
Art abgeleiteter Reihen eingeführt. Anfangs- und Endsilben
der ursprünglichen Reihen wurden an ihrer Stelle belassen,
die sämtlichen zwischen ihnen befindlichen 84 Silben aber
wurden ganz beliebig durcheinander gewürfelt und dann, wie
der Zufall sie in die Hand führte, zur Herstellung neuer
Reihen zwischen den ursprünglichen Anfangs- und Endsilben
verwendet. Durch das Lernen der ursprünglichen und der
abgeleiteten Reihen auch in diesem Falle muſste sich un-
mittelbar ergeben, ein wie groſser Teil der etwaigen Arbeits-
ersparnis lediglich der Identität der Silbenmasse, sowie der
Identität der Anfangs- und Endglieder der einzelnen Reihen
zuzuschreiben sei.


[136]

§ 37.
Resultate. Association der mittelbaren Folge.


Für jede Gruppe ursprünglicher und abgeleiteter Reihen
wurden zunächst 11 Doppelversuche, im ganzen also 55, an-
gestellt, die unregelmäſsig über ca. 9 Monate verteilt sind.


Die Resultate waren die folgenden.


1) Bei Ableitung der Reihen durch Überspringen von
1 Zwischensilbe

2) Bei Ableitung der Reihen durch Überspringen von
2 Zwischensilben

[137]

3) Bei Ableitung der Reihen durch Überspringen von
3 Zwischensilben

4) Bei Ableitung der Reihen durch Überspringen von
7 Zwischensilben

[138]

5) Bei Ableitung der Reihen durch Beibehaltung der
Anfangs- und Endsilben und beliebige Permutierung der
übrigen Silben

Es wurden also, um die Resultate zusammenzufassen, bei
Ableitung der neuen Reihen durch Überspringen von
1, 2, 3, 7 Zwischengliedern
die abgeleiteten Reihen gelernt mit einer mittleren Erspar-
nis von 152, 94, 78, 42 Sekunden.


Bei Ableitung der neuen Reihen durch bloſse Permutierung
der Silben ergab sich nur eine mittlere Ersparnis von 12 Se-
kunden.


Um die Bedeutung dieser Zahlen zu würdigen, muſs man
sie vergleichen mit derjenigen Arbeitsersparnis, welche bei
dem Wiedererlernen von ganz unveränderten Reihen nach
24 Stunden bei mir stattfindet. Dieselbe betrug bei 16silbigen
Reihen etwa ⅓ der für das erste Lernen erforderlichen Zeit,
also ungefähr 420 Sekunden. Diese Zahl miſst die Stärke
der von Glied zu Folgeglied stattfindenden Verknüpfung, also
[139] der unter den festgesetzten Bedingungen überhaupt möglichen
Maximalwirkung der Association. Betrachtet man sie als
Einheit, so ist die Stärke der Verknüpfung jedes Gliedes
mit dem zweitfolgenden mit reichlich ⅓ und der Verknüpfung
jedes Gliedes mit dem drittfolgenden mit knapp ¼ zu be-
zeichnen u. s. w.


Der Gang der gewonnenen Resultate bestätigt demnach —
für mich und für die untersuchten Fälle — die oben an
zweiter Stelle und mit Heranziehung Herbarts erörterte Auf-
fassung: bei wiederholter Erzeugung von Silbenreihen asso-
ciierten sich nicht nur die einzelnen Glieder mit ihren un-
mittelbaren Folgegliedern, sondern es bildeten sich Ver-
knüpfungen zwischen jedem Glied und mehreren ihm zunächst
folgenden, über die Zwischenglieder hinweg. Es scheint, wie
man sich ausdrücken kann, um eine kurze Bezeichnung zu
haben, nicht nur eine Association der unmittelbaren, sondern
auch eine solche der mittelbaren Folge zu bestehen. Die
Stärke jener Verknüpfungen nahm ab mit der Zahl der
Zwischenglieder; bei einer geringen Anzahl war sie, wie man
zugeben wird, von überraschender und nicht vorauszusehender
Erheblichkeit.


Eine wesentliche Erleichterung des Wiederlernens der
Reihen dagegen durch die Identität der Silbenmasse und durch
die Identität der Anfangs- und Endsilben der Reihen hat in
den untersuchten Fällen nicht stattgefunden.


§ 38.
Versuche mit Ausschluſs des Wissens.


Ich habe vorläufig die wahrscheinlichen Fehler der Re-
sultate nicht mitgeteilt, um jetzt die Vertrauenswürdigkeit der
letzteren ausführlicher zu besprechen.


[140]

Als ich an die Versuche herantrat, hatte ich keine ent-
schiedene Meinung zu gunsten des schlieſslichen Resultats.
Eine Arbeitserleichterung für das Lernen der abgeleiteten
Reihen fand ich nicht wesentlich plausibler als das Gegenteil.
Erst allmählich, nachdem mehr und mehr Zahlen für das
Bestehen einer solchen Arbeitserleichterung sprachen, erschien
mir diese auch als das Richtigere und Naturgemäſse. Man
könnte nun denken, nach dem oben (S. 38 f.) Auseinander-
gesetzten, diese Vorstellung habe bei den noch übrigen Ver-
suchen möglicherweise ein aufmerksameres und deshalb schnel-
leres Lernen der abgeleiteten Reihen begünstigt und so die
resultierenden Arbeitsersparnisse, wenn nicht überhaupt ver-
anlaſst, so doch mindestens sehr verstärkt.


Für die drei gröſsten der gefundenen Zahlen, also für
die Arbeitserleichterungen, die sich beim Überspringen von
1, 2 und 3 Zwischengliedern herausstellten, ist dieser Einwand
von geringer Erheblichkeit. Denn diese sind verhältnismäſsig
so bedeutend, daſs man einer unwillkürlichen Anspannung der
willkürlich ohnedies möglichst koncentrierten Aufmerksamkeit
(S. 34, 5) zuviel beimessen würde, wenn man ihr hier einen
wesentlichen Einfluſs zuschriebe. Auſserdem aber und nament-
lich würde dadurch die aus den hin- und herfallenden Einzel-
werten schlieſslich hervorgehende Abstufung der Zahlen, par-
allel der Anzahl der übersprungenen Zwischenglieder, geradezu
unbegreiflich werden. Denn die vorausgesetzte gröſsere An-
spannung der Aufmerksamkeit könnte offenbar nur ganz im
allgemeinen wirken. Wie sollte sie es vermögen, noch dazu
für Versuche, die durch Wochen und Monate von einander
getrennt waren, eine so regelmäſsige Stufenfolge der Zahlen
hervorzubringen?


Einigermaſsen zweifelhaft durch das angeführte Bedenken
wird nur allerdings das vierte Resultat, die verhältnismäſsig
[141] kleine Arbeitserleichterung für das Lernen von Reihen, die
durch Überspringen von 7 Zwischengliedern aus anderen ab-
geleitet sind. Offenbar aber hat gerade in diesem Falle die
sichere Konstatierung der Differenz ein besonderes Interesse,
wegen der bedeutenden Gröſse des Intervalls, über welches
hinweg doch noch eine Association stattfände.


Bei den gegenwärtigen Untersuchungen besteht nun die
Möglichkeit, sie so anzustellen, daſs das Mitwissen um den
Ausfall der allmählich sich ansammelnden Resultate aus-
geschlossen ist, sodaſs also auch der etwaige trübende Einfluſs
von geheimen Ansichten und Wünschen in Wegfall kommt.
Ich habe daher, zur Kontrolle der obigen Resultate und
namentlich des mindest sicheren von ihnen, eine weitere
Gruppe von 30 Doppelversuchen in folgender Weise angestellt.


Je sechs beliebig zusammengesetzte 16silbige Reihen wur-
den auf die Vorderseite eines Blattes geschrieben und auf die
Rückseite desselben Blattes 6 Reihen, die aus jenen durch
eine der oben (S. 132) beschriebenen Ableitungsarten gewon-
nen waren. Für jede der 5 Umformungen wurden in dieser
Weise 6 Blätter hergestellt, deren Vorderseiten wohl von den
Rückseiten, die aber nicht untereinander durch irgend ein
Abzeichen zu unterscheiden waren. Sämtliche 30 Blätter
wurden gemischt und solange beiseite gelegt, bis jede etwaige
Erinnerung an das Vorkommen einzelner Silben in bestimmten
Umformungen als erloschen gelten durfte. Dann wurde die
Vorderseite und 24 Stunden später die Rückseite eines be-
liebigen Blattes auswendig gelernt. Die für das Lernen der
einzelnen Reihen erforderlichen Zeiten wurden notiert,
aber nicht eher zusammengerechnet und weiter verarbeitet, als
bis alle 30 Blätter durchgebraucht waren. Darnach fanden
sich folgende Zahlen:


[142]

1) Bei Ableitung der umgeformten Reihen durch Über-
springen von 1 Zwischensilbe

2) Bei Ableitung der Reihen durch Überspringen von
2 Zwischensilben

3) Bei Ableitung der Reihen durch Überspringen von
3 Zwischensilben

[143]

4) Bei Ableitung der Reihen durch Überspringen von
7 Zwischensilben

5) Bei Ableitung der Reihen durch Beibehaltung der
Anfangs- und Endsilben und beliebige Permutierung der übri-
gen Silben

Bei Ableitung der umgeformten Reihen durch Über-
springen von
1, 2, 3, 7 Zwischensilben
wurden also die abgeleiteten Reihen gelernt mit einer mitt-
leren Ersparnis von
110, 79, 64, 40 Sekunden.


Dagegen bei Ableitung durch Permutierung der Silben erfor-
derte das Lernen der umgeformten Reihen einen mittleren
Mehraufwand von 5 Sekunden.


[144]

Der allgemeine Gang dieser Resultate bestätigt, wie man
sieht, genau das erstgefundene Ergebnis. Trotz der verhältnis-
mäſsig geringen Anzahl der Versuche und bei völligem Aus-
schluſs des Mitwissens um das jedesmal angestellte Experi-
ment und seinen Ausfall gruppieren sich die im einzelnen
ganz unregelmäſsig und scheinbar regellos fallenden Zahlen
im ganzen zu einer einfachen Gesetzmäſsigkeit. Je weniger
Zwischenglieder zwei Silben einer auswendig gelernten Reihe
von einander trennten, desto geringeren Widerstand setzten
nachher die jetzt getrennten Silben der Einprägung ihrer
Aufeinanderfolge entgegen, desto stärker also muſsten sie sich
bei dem Lernen der Reihe, über die Zwischenglieder hinweg,
schon mit einander verbunden haben.


Wie in ihrem allgemeinen Gange, so stimmen die Zahlen
der beiden Versuchsgruppen auch noch darin überein, daſs
die Differenz zwischen der ersten und zweiten Zahl den gröſs-
ten und die zwischen der zweiten und dritten den kleinsten
Wert hat. Dagegen muſs es auffallen, daſs der absoluten
Gröſse nach die Zahlen der zweiten Gruppe durchweg kleiner
sind als die der ersten. Zur Erklärung dieses, bei seiner
Gleichförmigkeit kaum zufälligen, Verhaltens könnte man an
zwei Ursachen denken. Entweder offenbart sich hier in der
That der vorhin berührte Einfluſs der Erwartung. Die Zahlen
der ersten Gruppe sind etwas zu groſs ausgefallen, weil im
Laufe der Untersuchung das Bestehen einer Arbeitsersparnis
für die abgeleiteten Reihen als wahrscheinlich vorausgesetzt
wurde und dadurch das Lernen dieser Reihen unwillkürlich
mit etwas gröſserer Anspannung geschah.


Oder aber, es hat bei den Zahlen der zweiten Gruppe,
gerade in Folge des ausgeschlossenen Mitwissens, ein stören-
des Moment mitgewirkt, welches sie verkleinert hat. Es machte
sich nämlich allerdings in diesem Falle während des Lernens
[145] der abgeleiteten Reihen vielfach eine sehr lebhafte Neugier
geltend, herauszubekommen, welcher Kategorie von Umfor-
mungen die gerade gelernten Reihen angehörten. Daſs diese
zerstreuend und dadurch verlangsamend eingewirkt haben muſs,
ist nicht nur an sich wahrscheinlich, sondern auch noch durch
das Resultat bei den durch Silbenpermutation abgeleiteten
Reihen. Man erwartet, daſs die Identität der Silbenmasse
sowie der Anfangs- und Endsilben sich bei diesen durch eine,
wenn auch noch so geringe, Arbeitsersparnis geltend mache.
Dies zeigt sich auch bei den Versuchen der ersten Gruppe.
Bei denen der zweiten Gruppe dagegen wird an ihrer Stelle
ein geringer Mehraufwand an Zeit bemerklich, der, wenn er
nicht bloſs zufällig ist, kaum anders als durch jene zer-
streuende Neugier erklärt werden kann.


Möglicherweise haben beide Ursachen gleichzeitig ein-
gewirkt, sodaſs also die ersten Versuche etwas zu hohe, die
zweiten etwas zu kleine Zahlen ergeben haben. Erlaubt man
sich unter dieser Voraussetzung, die beiden Zahlenreihen zu-
sammenzuwerfen, um die entgegengesetzten Fehler in etwa
zu kompensieren, so gewinnt man schlieſslich aus sämtlichen
85 Doppelversuchen folgende Tabelle. (Die Zahlen der vier
mittleren Kolumnen bedeuten Sekunden.)



Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 10

[146]

§ 39.
Diskussion der Resultate.


Ein besonderes Interesse, wie mir scheint, knüpft sich
bei der eben mitgeteilten Tabelle an die letzte und nament-
lich an die vorletzte Zahlenreihe. Bei völliger Identität der
gesamten Silben und bei Belassung der Anfangs- und End-
silben an ihren Plätzen war eine Zeitersparnis bei dem Lernen
der abgeleiteten Reihen im Durchschnitt aus 17 Versuchen
kaum konstatierbar. Dieselbe fiel innerhalb der Hälfte ihres
wahrscheinlichen Fehlers. Die Silben an sich, auſser dem
Zusammenhang, waren also für mich so bekannt, daſs sie
durch eine etwa 32malige Wiederholung nicht merklich be-
kannter wurden. Dagegen wurde, bei ebenso häufiger Wieder-
holung einer zusammenhängenden Reihe, jede Silbe mit der
ihr an achter Stelle folgenden noch so fest verknüpft, daſs
24 Stunden später eine Nachwirkung dieser Verknüpfung in
ganz zweifelloser Weise konstatiert werden konnte. Dieselbe
erreicht den sechsfachen Wert ihres wahrscheinlichen Fehlers;
sie darf demnach, natürlich nicht gerade in ihrer oben gefun-
denen Gröſse, aber doch in ihrer Existenz überhaupt, als voll-
kommen gesichert betrachtet werden. Ist sie auch, dem ab-
soluten Betrage nach, gering, so beträgt sie doch immerhin
den zehnten Teil von der Nachwirkung derjenigen Verknüpfung,
welche jedes Glied an das ihm unmittelbar folgende bindet.
Sie ist noch so bedeutend und gleichzeitig ist die Abnahme
der Nachwirkungen für die Verknüpfungen, welche sich über
2, 3, 7 Zwischenglieder hinweg bilden, eine so allmähliche,
*
[147] daſs man ohne weiteres behaupten kann, auch die noch weiter
von einander abstehenden Glieder seien bei dem Lernen der
Reihe durch Fäden von merklicher Stärke innerlich an einander
gebunden worden.


Ich fasse die bisherigen Ergebnisse in hypothetischer Ver-
allgemeinerung zusammen. Bei der Wiederholung von Silben-
reihen bilden sich gewisse Verknüpfungen zwischen jedem
Gliede und allen darauf folgenden. Dieselben äuſsern sich
darin, daſs fernerhin die so verknüpften Silbenpaare in der
Seele leichter, mit Überwindung eines geringeren Widerstandes
wieder hervorgerufen werden können als andere, bisher nicht
verknüpfte, aber sonst gleichartige Paare. Die Stärke der
Verknüpfung, also die Gröſse der eventuell ersparten Arbeit,
ist eine abnehmende Funktion der Zeit oder der Anzahl der
Zwischenglieder, welche die betreffenden Silben in der ur-
sprünglichen Reihe von einander trennten. Sie ist ein Maxi-
mum für die unmittelbar aufeinander folgenden Glieder. Die
nähere Beschaffenheit der Funktion ist unbekannt, nur nimmt
sie für wachsende Entfernungen der Glieder zuerst sehr schnell
und allmählich sehr langsam ab.


Setzt man an die Stelle der konkreten Vorstellungen
von Arbeitsersparnis, leichterer Wiedererzeugung, die abstrak-
ten aber geläufigen Vorstellungen von Kraft, Disposition, so kann
man auch folgendermaſsen sagen: durch das Lernen einer Reihe
erhält jedes Glied eine Tendenz, eine latente Disposition, bei
seiner eigenen Wiederkehr ins Bewuſstsein die sämtlichen
folgenden Glieder der Reihe nach sich zu ziehen. Diese
Tendenzen sind indes von verschiedener Stärke; am stärksten
für die unmittelbar folgenden Glieder. Im allgemeinen wer-
den daher diese am leichtesten wirklich in das Bewuſstsein
gezogen werden; ohne Intervention anderer Einflüsse wird
die Reihe in der ursprünglichen Ordnung wiederkehren, wäh-
10*
[148] rend die auf Herbeiziehung der übrigen Glieder gerichteten
Kräfte nur durch Hinzutreten anderer Umstände auch äuſser-
lich erkennbar werden.


Es ist natürlich nicht glaublich, daſs durch eine Caprice
der Natur die Gültigkeit der gefundenen Sätze ausschlieſslich
an das begrenzte Material gebunden sei, an dem sie gewonnen
wurden, an sinnlose Silbenreihen; sie werden in analoger
Weise von jeder Art von Vorstellungsreihen und deren Glie-
dern behauptet werden dürfen. Selbstverständlich werden
sie da, wo zwischen den einzelnen Vorstellungen noch andere
Beziehungen bestehen als die der Zeitfolge und der Trennung
durch Zwischenglieder, das associative Geschehen nicht aus-
schlieſslich beherrschen, sondern nur mit Berücksichtigung aller
der Modifikationen und Komplikationen, welche durch Ver-
hältnisse verschiedenartiger Verwandtschaft, des Zusammen-
hangs, Sinns u. s. w. herbeigeführt werden.


Jedenfalls aber, wie man nicht leugnen wird, würde durch
eine allgemeinere Gültigkeit dieser Resultate die Lehre von der
Association eine wesentliche Abrundung und sozusagen eine
gröſsere Vernünftigkeit gewinnen. Die gewöhnliche Formu-
lierung: „Vorstellungen associieren sich, wenn sie wiederholt
gleichzeitig oder unmittelbar aufeinander folgend erzeugt wer-
den“ hat etwas Irrationales. Nimmt man es mit der Un-
mittelbarkeit der Folge genau, so widerspricht der Satz den
gewöhnlichsten Erfahrungen. Nimmt man es nicht genau, so
wird es schwer, klar anzugeben, welche Art der Folge man
eigentlich meint. Gleichzeitig sieht man nicht ein, weshalb
das nicht ganz unvermittelte Folgen einen Vorzug haben soll,
der bei dem etwas mehr vermittelten plötzlich wegfällt. Wie
wir jetzt erkennen, ist die Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit
der Folge auf die allgemeine Art des Geschehens zwischen
den sich folgenden Vorstellungen ohne Einfluſs. In beiden
[149] Fällen bilden sich Verknüpfungen, die man, bei ihrer völligen
Gleichartigkeit nicht anders als mit dem gemeinsamen Namen
„Associationen“ bezeichnen kann. Nur sind dieselben von ver-
schiedener Stärke. Je mehr die Aufeinanderfolge der verknüpften
Vorstellungen sich der idealen Unmittelbarkeit nähert, desto
stärker, je weiter sie sich davon entfernt, desto schwächer
sind die zusammenhaltenden Fäden. Die Associationen der
entfernteren Glieder, obwohl thatsächlich vorhanden und durch
geeignete Mittel nachweisbar, haben doch, wegen ihrer gerin-
gen Stärke, praktisch keine Bedeutung mehr; die der näheren
dagegen sind von relativer Erheblichkeit und werden darum
ihren Einfluſs wohl vielfach geltend machen. Wären freilich die
Reihen ganz sich selbst überlassen, und würden sie immer nur in
derselben Ordnung erzeugt, so würde für jedes Glied immer
nur eine Association zum Vorschein kommen, die relativ
stärkste, die Association mit dem unmittelbar folgenden Gliede.
Aber Vorstellungsreihen sind eben nie sich selbst überlassen.
Reiche und rasch wechselnde Schicksale bringen sie in die
vielfältigsten Beziehungen; sie kehren wieder in den verschie-
densten Kombinationen ihrer Glieder. Und da müssen unter
Umständen auch die stärkeren der minder starken Associa-
tionen zwischen entfernteren Gliedern Gelegenheit finden, ihr
Vorhandensein zu dokumentieren und modificierend in das
innere Getriebe einzugreifen. Man erkennt leicht, wie sie ein
schnelleres Wachstum der von der Seele beherrschten Vor-
stellungsmassen, eine reichere Gliederung und eine vielsei-
tigere Verzweigung derselben begünstigen müssen; freilich auch
eine gröſsere Mannigfaltigkeit und damit scheinbar eine
gröſsere Willkür und Unregelmäſssigkeit des geistigen Ge-
schehens.


Ehe ich weiter gehe, noch einige Worte über die oben
(S. 124) berührte „Ableitung“ der Association von aufeinander
[150] folgenden Vorstellungen aus den einheitlichen Bewuſstseins-
akten der einheitlichen Seele. Derselben droht nämlich eine
gewisse Gefahr aus der Zusammenhaltung eines jetzt gefun-
denen Ergebnisses mit einem früher gefundenen. Ich erwähnte
oben (S. 64), daſs die Anzahl der Silben, die ich gerade noch
im stande bin, nach einmaligem Lesen fehlerfrei herzusagen,
etwa sieben beträgt. Man kann mit einem gewissen Recht
diese Zahl als ein Maſs dessen ansehen, was ich von Vor-
stellungen solcher Art eben noch in einem einheitlichen Be-
wuſstseinsakt zusammenzufassen vermag. Wie wir nun jetzt
sahen, bilden sich, ebenfalls bei mir, noch Associationen von
merklicher Stärke über sieben Zwischenglieder hinweg, also
zwischen Anfang und Ende einer aus neun Silben bestehenden
Reihe. Und wegen der Gröſse der gefundenen Zahlen und
der Art ihrer Abstufung erschien es wahrscheinlich, daſs selbst
bei einer noch gröſseren Anzahl von Zwischensilben Verknüpf-
ungen zwischen den am weitesten von einander abstehenden
Gliedern stattfinden. Bilden sich aber Associationen über
ebensoviele oder mehr Glieder hinweg, als das Bewuſstsein
in ein und demselben Akt zu umfassen im stande ist, so
ist es nicht mehr möglich, das Zustandekommen jener
Associationen aus der gleichzeitigen Anwesenheit der ver-
knüpften Glieder im Bewuſstsein zu erklären.


Indes ich bemerke gleich, daſs sich diejenigen, welchen
eine solche Ableitung am Herzen liegt, welche die einheit-
lichen Akte der einheitlichen Seele für ursprünglichere, durch-
sichtigere oder besser beglaubigte Thatsachen halten als die
oben beschriebenen einfachen Fakta der Association, sodaſs
mit der Zurückführung der letzteren auf die ersteren etwas
Erhebliches gewonnen würde, daſs sich diese also durch die
obige Argumentation doch nicht auſser Fassung bringen zu
lassen brauchen. Man braucht nur zu sagen, daſs zwar bei
[151] einer bis dahin ganz unbekannten Folge von Silben das
Bewuſstsein nur etwa 7 Glieder in einem Akte zu umspan-
nen vermöge, daſs aber bei häufigerer Wiederholung und all-
mählichem Bekanntwerden der Reihe auch diese Capacität
des Bewuſstseins eine Steigerung erfahre, und daſs z. B. eine
Reihe von 16 Silben, die vollständig auswendig gewuſst werde,
auch in einem Akt des Bewuſstseins gegenwärtig sei. Dann
ist die „Erklärung“ ohne Zwang wieder herstellbar; diejenigen,
denen sie etwas wert war für die Association der Gleich-
zeitigkeit und der unmittelbaren Folge, können sie ganz
ebenso verwerten für unsere Associationen der mittelbaren
Folge. Und bei den mäſsigen Ansprüchen, welche man in
der Psychologie an Erklärungen zu stellen sich vielfach be-
scheidet, wird sie zweifellos noch lange fortfahren, den Blick
für die unbefangene Anerkennung eines der wunderbarsten
Rätsel alles Geschehens als eines solchen zu trüben und dem
Suchen nach seinem wahrhaften Verständnis hinderlich zu sein.


§ 40.
Rückläufige Associationen.


Von den mannigfachen Fragen, welche sich an die bis-
herigen Ergebnisse anschlieſsen, habe ich einstweilen nur
wenige untersuchen können und auch diese nur mit einer
geringen Zahl von Experimenten.


Durch häufige Wiederholung einer Reihe a b c d . .
bilden sich gewisse Verknüpfungen ab, ac, ad, bd u. s. w.
Die Vorstellung a bekommt gewisse, verschieden starke Ten-
denzen, bei ihrem irgendwie veranlaſsten Wiedereintritt ins
Bewuſstsein auch die Vorstellungen b, c, d wieder zu be-
wuſsten zu machen. Beruhen nun diese Verknüpfungen und
Tendenzen auf Gegenseitigkeit? Das heiſst, wenn einmal c
[152] und nicht a die zufällig wiedererzeugte Vorstellung ist, hat
diese auſser dem Bestreben, d und e nach sich zu ziehen,
ein ebensolches Bestreben rückwärts für b und a? Oder in
anderer Ausdrucksweise: werden durch das vorangegangene
Lernen von a b c d . . hinterher nicht nur die Aufein-
anderfolgen a b c . ., a c e . . leichter gelernt als irgend-
welche gleichlange Gruppierung der vorher gar nicht berührten
p, q, r . ., sondern auch die Folgen . . . c b a, . . e c a?
Bilden sich durch mehrfache Wiederholung einer Reihe Asso-
ciationen der Glieder auch nach rückwärts?


Die Ansichten der Psychologen hierüber scheinen sich
entgegenzustehen. Die einen machen auf das unzweifelhafte
Faktum aufmerksam, daſs man trotz völliger Beherrschung
z. B. des griechischen Alphabets schlechterdings nicht im stande
sei, dasselbe geläufig rückwärts herzusagen, wenn man es
nicht in dieser Form noch besonders gelernt und geübt habe.


Die anderen machen von rückläufigen Associationen, als
von etwas Selbstverständlichem, ausgiebigen Gebrauch bei der
Erklärung des Ursprungs willkürlicher und zweckmäſsiger
Bewegungen. Die Bewegungen des Kindes sind nach ihnen zu-
nächst unwillkürlich und zufällig. An gewisse Kombinationen
derselben schlieſsen sich lebhafte Lustgefühle. Von Bewegungen
wie Gefühlen hinterbleiben Gedächtnisvorstellungen, die sich
durch Wiederholung dieses Geschehens immer fester mit ein-
ander associieren. Hat diese Verbindung eine gewisse Stärke
erlangt, so schlieſst sich dann rückwärts an die bloſse Vor-
stellung des Lustgefühls die Vorstellung der es erzeugenden
Bewegung, an diese die wirkliche Bewegung und damit auch
das sinnlich reale Gefühl.


Die Auffassung Herbarts, die wir kennen lernten (S. 128),
hält zwischen diesen beiden Ansichten sozusagen die Mitte.
Die Vorstellung c, die im Verlauf einer Reihe auftritt, ver-
[153] schmilzt mit den noch vorhandenen, aber schon verdunkelten
Vorstellungen b und a, die ihr vorangegangen waren. Wird
später c wiedererzeugt, so bringt es zwar b und a mit sich,
aber nur als verdunkelte, nicht als völlig ungehemmte und
klar bewuſste. Wir überschauen beim plötzlichen Auftauchen
eines Gliedes aus der Mitte einer Reihe das Vorangegangene
„auf einmal in abgestufter Klarheit“; niemals aber kommt
es dazu, daſs die Reihe etwa rückwärts abläuft. Sondern an
das auftauchende Glied schlieſsen sich als voll bewuſste suc-
cessive diejenigen, die in der früher dagewesenen Reihe darauf
folgten.


Zur Prüfung des thatsächlichen Verhaltens habe ich ein
ganz ähnliches Verfahren eingeschlagen wie bei den vorhin
besprochenen Untersuchungen. Aus Gruppen von je sechs 16 sil-
bigen Silbenreihen, die durch beliebige Zusammenstellung
entstanden waren, wurden neue Gruppen abgeleitet, und zwar
entweder durch bloſse Umkehrung der Silbenfolge oder durch
Umkehrung der Silbenfolge und gleichzeitiges Überspringen
einer Zwischensilbe. Dann wurden je zwei zusammengehörige
Gruppen auswendig gelernt, die abgeleitete Form 24 Stunden
später als die ursprüngliche.


Entspricht einer der ursprünglichen Reihen das Schema
I1I2I3 . . . . . . I15I16,
so muſs demnach die entsprechende abgeleitete Reihe be-
zeichnet werden:
bei bloſser Umkehrung der Silbenfolge mit
I16I15I14 . . . . . . I2I1,
bei Umkehrung der Silbenfolge und gleichzeitigem Über-
springen einer Zwischensilbe mit
I16I14I12 . . . . I4I2I15I13 . . . . I3I1.
Für die erste Art der Ableitung habe ich zehn Versuche an-
gestellt, für die zweite nur vier.


[154]

Die Resultate sind diese:


1) Bei Ableitung der umgeformten Reihen durch bloſse
Umkehrung der Silbenfolge

Im Verhältnis zu der Lernzeit für die ursprünglichen
Reihen beträgt die Ersparnis 12,4 %.


2) Bei der Ableitung der umgeformten Reihen durch Um-
kehrung der Silbenfolge und gleichzeitiges Überspringen einer
Zwischensilbe

Im Verhältnis zu der Lernzeit für die ursprünglichen Reihen
beträgt die Ersparnis 5 %.


Es bildeten sich also in der That durch das Lernen
einer Reihe gewisse Verknüpfungen der Glieder unter einan-
[155] der nach rückwärts ganz ebenso wie nach vorwärts. Die-
selben äuſserten sich dadurch, daſs Reihen, welche aus der-
artig verknüpften Gliedern zusammengesetzt waren, leichter
gelernt wurden als gleichlange Reihen, deren Glieder an sich
ebenso bekannt waren, aber vorher nicht in dieser Weise
mit einander verknüpft wurden. Die Stärke der so ge-
schaffenen Prädispositionen war wiederum eine abnehmende
Funktion der Entfernung der Glieder von einander in der
ursprünglichen Reihe. Nur war sie bei gleichen Entfernungen
für die Verknüpfungen rückwärts erheblich geringer als für
diejenigen vorwärts. Bei durchschnittlich gleich häufiger Wie-
derholung einer Reihe wurde jedem Glied das ihm unmittel-
bar vorangegangene nicht sehr viel fester verbunden als das
zweitfolgende, das zweitvorangegangene — soviel sich aus den
wenigen Versuchen überhaupt schlieſsen läſst — kaum so fest
als das drittfolgende.


Könnte man für dieses, hier zunächst bei Silbenreihen
gefundene Verhalten eine allgemeinere Geltung voraussetzen,
so würden, wie ich glaube, die soeben angeführten, sich ent-
gegenstehenden Erfahrungen ganz wohl verständlich. Wo
eine Reihe nur aus zwei Gliedern besteht
— wie
bei der Verbindung einer einfachen Bewegungsvorstellung mit
der Vorstellung eines Lustgefühls — da wird allerdings durch
häufige Wiederholung das Endglied eine so starke Tendenz
erlangen können, das Anfangsglied nach sich zu ziehen, daſs
dieses thatsächlich eintritt. Denn hier ist für das zweite Glied
die Herbeiführung des ihm vorangegangenen ersten das ein-
zige, wofür es durch die häufigen Wiederholungen überhaupt
eine Disposition hat empfangen können. Niemals aber wird,
nach noch so häufiger Wiederholung einer längeren Reihe,
bei Erzeugung eines mittleren Gliedes die Reihe nach rück-
wärts ablaufen können. Denn wie leicht auch an das wieder-
[156] gekehrte Glied das unmittelbar vorangegangene sich knüpfen
möge, das unmittelbar folgende tritt jedenfalls noch bei weitem
leichter ein und muſs also — beim Fernbleiben anderer Ein-
flüsse — den Sieg davon tragen. Wer daher das griechische
Alphabet noch so lange auswendig lernt, wird nie dahin
kommen, es ohne weiteres rückwärts hersagen zu können.
Wohl aber wird er, falls er sich einfallen läſst, es eigens auch
rückwärts zu lernen, dies jetzt voraussichtlich in merklich
kürzerer Zeit bewerkstelligen, als vorher das Lernen in der
gewöhnlichen Folge. Man wird nicht einwerfen, daſs man
doch ein Gedicht oder eine Rede, die man auswendig weiſs,
rückwärts nicht schneller lerne, als zuerst vorwärts. Denn
hier werden bei dem Lernen der Umkehrung die zahllosen
Bande des inneren Zusammenhangs vernichtet, auf deren Be-
stehen das schnelle Lernen der sinnvollen Folge zu allermeist
beruhte.


§ 41.
Die Associationen der mittelbaren Folge in ihrer Ab-
hängigkeit von der Anzahl der Wiederholungen.


Die durch häufige Wiederholungen geknüpfte Verbindung
zwischen den unmittelbar auf einander folgenden Gliedern
einer Vorstellungs- oder Silbenreihe ist eine Funktion der
Anzahl jener Wiederholungen. Bei den eigens auf Ermitt-
lung dieses Verhältnisses gerichteten Untersuchungen des
VIten Abschnitts hatte sich innerhalb ziemlich weiter Grenzen
annähernde Proportionalität herausgestellt zwischen der An-
zahl der Wiederholungen und der durch sie bewirkten Stärke
der Verknüpfung. Die letztere war dabei gemessen worden,
ganz wie bei den Untersuchungen des gegenwärtigen Ab-
schnitts, an der Gröſse der Arbeitsersparnis bei dem Wieder-
lernen der verknüpften Reihen nach 24 Stunden.


[157]

Wenn nun durch die Wiederholungen auch zwischen den
nicht unmittelbar auf einander folgenden Gliedern der Reihe
Verknüpfungen geschaffen werden, so ist die Stärke dieser
letzteren natürlich ebenfalls irgendwie abhängig von der An-
zahl der Wiederholungen. Es fragt sich, in welcher Weise
in diesem Falle die Abhängigkeit stattfindet. Wird hier eben-
falls Proportionalität bestehen? Werden also die verschieden
starken Fäden, welche die sämtlichen Glieder einer auswendig
gelernten Reihe unter einander verbinden, doch alle in
gleichem Verhältnis an Stärke zunehmen, wenn die Zahl
der Wiederholungen gesteigert wird? Oder ist, ganz ebenso
wie die Stärke der Fäden selbst, so auch die Art und Schnellig-
keit ihrer Verstärkung eine verschiedene? Für selbstverständ-
lich wird man bei dem Stande unseres Wissens weder die
eine noch die andere dieser Möglichkeiten erklären können.


Zur Anbahnung einer Einsicht in das thatsächliche Ver-
halten habe ich einige vorläufige Untersuchungen in folgender
Weise angestellt. Je sechs 16 silbige Reihen wurden durch
entweder 16- oder 64 malige aufmerksame Wiederholung dem
Gedächtnis eingeprägt. Nach 24 Stunden wurden gleich viele
und gleich lange abgeleitete Reihen, die aus den jedesmal
eingeprägten durch Überspringen von 1 Zwischensilbe ge-
wonnen waren, bis zur erstmaligen Reproduktion auswendig
gelernt. Die Methode der Ableitung war in diesem Falle,
um die Untersuchungen noch anderweitig nutzbar zu machen,
etwas verschieden von der oben (S. 133) beschriebenen. Es
wurden nicht wie dort an die sämtlichen Silben, die in einer
ursprünglichen Reihe an ungeraden Stellen standen, diejenigen
unmittelbar angeschlossen, welche in derselben Reihe an den
geraden Stellen gestanden hatten. Sondern erst wurden die
sämtlichen Silben der ungeraden Stellen von zwei ursprüng-
lichen Reihen zu einer neuen 16silbigen Reihe zusammen-
[158] gefaſst, dann die Silben der geraden Stellen derselben ur-
sprünglichen Reihen zu einer 2ten neuen Reihe. Das Schema
der abgeleiteten Reihen war also nicht, wie oben.


  • I1I3I5 . . . . I15I2I4 . . . . I16
  • II1II3II5 . . . . II15II2II4 . . . . II16

sondern vielmehr


  • I1I3I5 . . . . I15I1I3 . . . . I15
  • I2I4I6 . . . . I16II2II4 . . . . II16

Der Effekt der Ableitung resp. des Lernens der abge-
leiteten Reihen kann, wie es scheint, durch diese geringe Än-
derung nicht wesentlich tangiert werden. Hier wie bei der
oben beschriebenen Ableitungsart werden Silben, die bei einer
ersten Einprägung je durch eine Zwischensilbe von einander
getrennt waren, 24 Stunden später in unmittelbarer Auf-
einanderfolge auswendig gelernt.


Für jede Anzahl von einprägenden Wiederholungen habe ich
8 Doppelversuche angestellt, welche folgende Resultate ergaben:


Anzahl der Wiederholungen für das Einprägen jeder ein-
zelnen der ursprünglichen Reihen


16 64


Anzahl der Sekunden für das Lernen der sechs abge-
leiteten Reihen nach 24 Stunden (incl. Hersagen):

Bei der geringen Zahl der Versuche sind die resultieren-
den Mittelwerte leider noch sehr ungenau; allein der
[159] allgemeine Charakter des Resultats würde derselbe bleiben,
wenn man selbst jeden Wert um die ganze Breite seines
wahrscheinlichen Fehlers für falsch hielte. Man erkennt diesen
Charakter nach Zuziehung des oben (S. 76) mitgeteilten Wertes
für das Auswendiglernen von sechs vorher nicht eingeprägten
16silbigen Reihen. Dasselbe fand statt in 1270 Sekunden.
Nach vorausgegangener 16maliger Wiederholung der ursprüng-
lichen Reihen wurden demnach die abgeleiteten Reihen ge-
lernt mit einer Ersparnis von 100 Sekunden, nach voraus-
gegangener 64maliger Wiederholung mit einer solchen von
161 Sekunden. Die vierfache Zahl von Wiederholungen be-
wirkte nur wenig mehr als die anderthalbfache Ersparnis.
Die Verstärkung der über ein Zwischenglied hinweg statt-
findenden Associationen geschah also in den untersuchten
Fällen keineswegs proportional der Anzahl der Wiederholungen,
selbst nicht innerhalb der Grenzen, in denen dies für die
Associationen von Glied zu Folgeglied merklich der Fall war.
Vielmehr nahm die Wirkung der Wiederholungen für die Asso-
ciationen der mittelbaren Folge erheblich früher und erheblich
schneller ab als für diejenigen der unmittelbaren Folge.


Sehr gut paſst zu dem gefundenen Wertepaar die oben
(S. 136,1) — wie hier ohne Ausschluſs des Wissens — ermittelte
Zahl für das Lernen von abgeleiteten Reihen, die Tags vor-
her in ihrer ursprünglichen Form bis zur erstmöglichen Re-
produktion eingeprägt worden waren. Dieselbe ist allerdings
unter etwas anderen Bedingungen erhalten worden. Erstens
wurde auf die Einprägung nicht immer dieselbe Anzahl von
Wiederholungen verwandt, sondern jedesmal so viele, wie für
die Erzielung der erstmöglichen Reproduktion nötig waren,
d. h. nicht genau, sondern durchschnittlich 32. Auſserdem
war die Art der Ableitung der Reihen eine etwas andere,
wie soeben auseinandergesetzt wurde. Allein diese Verschie-
[160] denheiten fallen bei Zahlen, die ohnedies nicht auf groſse Ge-
nauigkeit Anspruch machen können, nicht sehr ins Gewicht.
Ich ziehe diesen Wert also zur Vergleichung heran und auſser-
dem die im VIten Abschnitt mitgeteilten Zahlen für den Ein-
fluſs einprägender Wiederholungen auf das Wiederlernen der-
selben, nicht umgeformten Reihen. Es ergiebt sich dann fol-
gende Tabelle:


(Die Zahlen der vier mittleren Kolumnen bedeuten Se-
kunden.)


Ich mache wiederholt darauf aufmerksam, daſs die vor-
stehenden Zahlen zum Teil ziemlich unsicher sind und unter
sehr eingeschränkten Bedingungen gewonnen wurden. Immer-
hin wird es gestattet sein, das Bild, welches sie für eine
wichtige Gruppe innerer Vorgänge nun doch als das wahr-
scheinlichste erscheinen lassen, und welches eine bis dahin
leere Stelle unseres Wissens mit einer ansprechenden und in
sich geschlossenen Anschauung füllt, zusammenfassend und in
hypothetischer Erweiterung zu skizzieren:


Bei der Einprägung und inneren Befestigung von Vor-
stellungsreihen durch mehrfache Wiederholung derselben bil-
[161] den sich innere Verknüpfungen, Associationen, zwischen allen
einzelnen Gliedern der Reihe. Das Wesen derselben besteht
darin, daſs fernerhin Reihen aus derartig verknüpften Gliedern
leichter, unter Überwindung eines geringeren Widerstandes,
aufgenommen und reproduciert werden, als gleichartige Reihen
aus bis dahin nicht verknüpften Gliedern, oder — wie man
auch sagen kann — darin, daſs jedes Glied der Reihe gewisse
Tendenzen erhält, bei seiner Wiederkehr ins Bewuſstsein auch
die anderen herbeizuführen. Diese Verknüpfungen resp. Ten-
denzen sind unter mehrfachen Gesichtspunkten von verschie-
dener Stärke. Für entferntere Glieder der ursprünglichen
Reihe sind sie schwächer als für nähere; für bestimmte Ent-
fernungen nach rückwärts schwächer als für dieselben Ent-
fernungen nach vorwärts. Bei zunehmender Anzahl der Wie-
derholungen wächst die Stärke sämtlicher Verknüpfungen.
Aber die von vornherein schon stärkeren Fäden zwischen den
näheren Gliedern werden hierbei noch erheblich schneller
verstärkt als die schwächeren Fäden zwischen entfernteren
Gliedern. Je mehr die Zahl der Wiederholungen also steigt,
desto stärker werden, absolut und relativ, die Verknüpfungen
der unmittelbar auf einander folgenden Glieder, desto aus-
schlieſslicher und maſsgebender wird die Tendenz jedes Glie-
des, bei seiner eigenen Wiederkehr ins Bewuſstsein dasjenige
nach sich zu ziehen, welches ihm bei den Wiederholungen
immer zunächst gefolgt war.


§ 42.
Indirekte Verstärkung von Associationen.


Ich schlieſse ab mit der Erwähnung eines merkwürdigen
Verhaltens, welches sich bei den im vorigen Paragraphen mit-
geteilten Untersuchungen nebenbei noch herausstellte. Bei
Ebbinghaus, Über das Gedächtnis. 11
[162] der Unsicherheit der in Betracht kommenden Zahlen kann
ich nur mit groſser Reserve darauf aufmerksam machen.
Aber ganz übergehen möchte ich es nicht, weil es in sich
wahrscheinlich ist und weil es, bei fernerer Bestätigung, ein
charakteristisches Licht auf thatsächlich vorhandene, aber un-
bewuſst bleibende innere Vorgänge werfen würde und auf die
relative Unabhängigkeit derselben von bewuſsten Begleiterschei-
nungen, auf die ich schon oben einmal hinwies (§ 24).


Die Ableitung der umgeformten Silbenreihen geschah,
wie erwähnt, bei den zuletzt besprochenen Untersuchungen
in der Weise, daſs aus zwei beliebig zusammengesetzten
16silbigen Reihen erst die sämtlichen Silben der ungeraden
Stellen zu einer neuen Reihe vereinigt wurden, dann die
sämtlichen Silben der geraden Stellen zu einer zweiten, un-
mittelbar folgenden Reihe. Bei einer aus sechs Reihen dieser
Art bestehenden Gruppe enthielt also die abgeleitete Reihe II
lauter Silben, welche bei der vorangegangenen ersten Einprä-
gung auf die entsprechenden Silben von Reihe I unmittelbar
gefolgt waren, ebenso die abgeleitete Reihe IV im Verhältnis zu
III, VI im Verhältnis zu V. Es zeigte sich nun — und darin
besteht eben das zu erwähnende eigentümliche Verhalten —,
daſs bei dem Auswendiglernen von derartig abgeleiteten
Reihengruppen für die Reihen II, IV, VI im Durchschnitt
etwas weniger Zeit erforderlich war als für die Reihen I, III,
V, während bei allen anderen daraufhin untersuchten Reihen-
gruppen (abgeleiteten oder nicht abgeleiteten) gerade das Um-
gekehrte stattfand.


Ich belege zunächst das letztere Verhältnis mit einigen
Zahlen.


Aus den Versuchen mit sechs 16silbigen Reihen, die zum
erstenmal auswendig gelernt wurden, greife ich ganz beliebig
je 10 auf einander folgende Versuche aus zwei verschiedenen
[163] Zeitperioden heraus, indem ich jedesmal die Zeiten für das
Auswendiglernen der Reihen I, III, V und diejenigen für das
Lernen von II, IV, VI zusammenrechne.


11*
[164]

Die Summe der IIten, IVten und VIten Reihe ist hier,
wie man sieht, im Durchschnitt der 10 Versuche beide Male
erheblich gröſser als die Summe der Reihen I, III, V. Bei
den einzelnen Versuchen sind die Differenzen allerdings von
sehr verschiedenem Betrage; in je einem Falle haben sie so-
gar erhebliche negative Werte; aber diese Schwankungen
werden repräsentiert durch die groſsen wahrscheinlichen Fehler
der Durchschnittsdifferenzen, und trotz der Gröſse dieser
Fehler darf der positive Charakter der Differenzen als ziem-
lich gesichert gelten.


In allen anderen untersuchten Fällen zeigte sich dasselbe:
groſse Schwankungen der Differenzen bei den einzelnen Ver-
suchen, aber bei Zusammenfassung mehrerer Versuche ein
entschiedenes Überwiegen der Σ (II, IV, VI), meist allerdings
von geringerem Betrage als bei den mitgeteilten beiden Ver-
suchsreihen. So fand sich z. B. bei den 11 älteren Versuchen,
in denen Reihen auswendig gelernt wurden, die durch Über-
springen von 1 Zwischensilbe abgeleitet und Tags zuvor in
ihrer ursprünglichen Form gelernt waren (S. 136, 1),
Bei den 6 späteren Versuchen derselben Art (S. 142, 1),
Bei den 10 Versuchen mit Reihen, die Tags vorher je 16 mal
wiederholt worden waren (S. 75),
u. s. f.
Eine einzelne der letztgenannten Zahlen hätte bei der Gröſse
der wahrscheinlichen Fehler kaum irgendwelche Beweiskraft,
durch ihre Üebereinstimmung hinsichtlich der Art der Diffe-
renz gewinnen sie an Wahrscheinlichkeit, zumal dieses Ver-
halten nach den Ergebnissen des § 18 ganz wohl verständlich
ist. Dort hatte sich — besonders deutlich bei 16silbigen
Reihen — gezeigt, daſs das Lernen der einzelnen Reihen in
[165] ziemlich regelmäſsigen Oscillationen geschieht, der Art, daſs
auf eine verhältnismäſsig schnell gelernte Reihe eine verhält-
nismäſsig langsam gelernte folgt und umgekehrt (S. 58 Fig. 3).
Da nun die erste Reihe durchschnittlich die am schnellsten
gelernte, die zweite fast die langsamst gelernte jedes Ver-
suchs ist, so werden durch Zusammenfassung von I, III, V
die durchschnittlichen Minima, durch Zusammenfassung von
II, IV, VI die durchschnittlichen Maxima der gebrauchten Zei-
ten vereinigt. Die Differenz Σ (II, IV, VI) — Σ (I, III, V)
wird also im allgemeinen positiv sein.


Hiernach muſs es in der That auffallen, daſs bei den
beiden im vorigen Paragraphen besprochenen Versuchsreihen
diese Differenz vielmehr ein negatives Vorzeichen hat.


1) Bei dem Lernen der abgeleiteten Reihen, die in der
ursprünglichen Form Tags vorher 16mal wiederholt worden
waren, fand sich:

2) Bei dem Lernen der abgeleiteten Reihen, die in der
ursprünglichen Form Tags vorher 64mal wiederholt worden
waren, fand sich:
[166]

Die Schwankungen der Zahlen bei den einzelnen Ver-
suchen sind auch hier sehr groſs, indes erkennt man auf den
ersten Blick, ohne weitere Zusammenfassung, daſs eine starke
Verschiebung der Differenzen in das Negative stattgefunden
hat, die denn auch in den Durchschnittswerten zum Ausdruck
kommt. Die Reihen II, IV, VI zusammengenommen, sind,
entgegen dem sonst hervortretenden Verhalten, in etwas kür-
zerer Zeit gelernt worden als die Reihen I, III, V.


Daſs diese Abweichung auf bloſsem Zufall beruhe, ist
möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Dazu sind die wahr-
scheinlichen Fehler, obschon groſs, doch nicht groſs genug.


Viel eher würde ich fürchten, daſs hier eine Trübung der
Resultate durch die mehrerwähnte Fehlerquelle anticipieren-
der Erwartung vorliege (S. 38 ff. u. S. 140). Während der
fortschreitenden Versuche glaubte ich allerdings mit wachsen-
der Sicherheit den geringeren Zeitaufwand für das Lernen
der Reihen II, IV, VI voraussehen zu können, und nur weil
ich etwas Derartiges vermutete, hatte ich überhaupt die Ab-
leitungsweise der umgeformten Reihen geändert. Ich kann
sonach die Möglichkeit durchaus nicht ausschlieſsen, daſs ledig-
lich auf Grund dieser geheimen Voraussetzung, in einer für
[167] das Bewuſstsein ganz unmerklichen Weise, bei dem Lernen
von II, IV, VI eine gröſsere und bei dem Lernen von I, III, V
eine geringere Anspannung der Aufmerksamkeit stattgefunden
habe. Indes positiv als richtig behaupten läſst sich diese
Vermutung auch nicht, und durch die Annahme, daſs der
ganze gefundene Unterschied auf den Einfluſs dieser Fehler-
quelle zurückzuführen sei, wird jedenfalls den unwillkür-
lichen und unbemerkt bleibenden Akkomodationen der Auf-
merksamkeit an eine geheime Erwartung eine ziemlich er-
hebliche Leistung zugeschrieben.


Es bleibt demnach immerhin eine gewisse Wahrschein-
lichkeit für die dritte Möglichkeit, daſs nämlich die gefundene
Verschiedenheit in dem Charakter der Durchschnittsdifferenz
wenigstens teilweise sachlich begründet sei, daſs das schnel-
lere Lernen der abgeleiteten Reihen II, IV, VI eben durch die
Art ihrer Ableitung verursacht werde.


Wie man sich diese Verursachung eigentlich zu den-
ken habe, würde wohl nur durch Heranziehung physiologischer
Vorstellungen, die noch erst der Bildung oder mindestens der
Durchbildung bedürfen, deutlich zu machen sein. Bedient
man sich der Sprache der Psychologie, so kann man sich,
wie bei allem unbewuſsten Geschehen, nur uneigentlich und
bildlich ausdrücken.


Durch das Auswendiglernen einer Reihe in der ursprüng-
lichen Anordnung, so muſs man sagen, erhalten die einzelnen
Silben ziemlich starke Tendenzen, bei ihrer eigenen Wieder-
kehr ins Bewuſstsein die zunächst folgenden Silben nach sich
zu ziehen. Werden also die Silben 1, 3, 5 u. s. w. wieder-
erzeugt, so erhalten 2, 4, 6 u. s. w. gewisse Antriebe, eben-
falls wieder hervor zu treten. Diese Antriebe sind bei weitem
nicht stark genug, um ein bewuſst bemerkbares Geschehen,
ein wirkliches Eintreten von 2, 4, 6 zuwege zu bringen.
[168] Letztere geraten nur in einen gewissen inneren Erregungszustand,
es geschieht irgend etwas mit ihnen, was unterbleiben würde,
wenn 1, 3, 5 nicht wiederholt wären. Sie verhalten sich ähn-
lich wie ein vergessener Name, den man durch Besinnen
wieder zu beleben sucht. Bewuſst ist dieser nicht vorhanden,
man sucht ihn ja eben. In gewisser Weise aber, auf dem
Wege zum Bewuſstsein sozusagen, ist er doch auch unleug-
bar vorhanden. Denn wenn allerlei Vorstellungen wachgerufen
werden, die mit früher dagewesenen Namen in Verbindung
stehen, so vermag man meist anzugeben, ob sie mit dem jetzt
gerade gesuchten und noch nicht gefundenen zusammenstim-
men oder nicht. In einen ähnlichen wenig intensiven Er-
regungszustand zwischen dem bewuſsten Hervortreten einer-
seits und dem einfachen Nichtvorhandensein andrerseits werden
also auch die Silben 2, 4, 6 versetzt durch die häufige Wie-
derholung der mit ihnen vorher verbunden gewesenen 1, 3, 5.
Und diese Erregung hat nun, so scheint es nach unseren Ver-
suchen, eine ganz ähnliche Wirkung wie das wirkliche Be-
wuſstwerden. Es bilden sich innere Verbindungen zwischen
successive innerlich erregten Silben gerade wie zwischen
successive bewuſst gemachten Silben, nur natürlich von
geringerer Stärke; es spinnen sich geheime Fäden, welche
die gar nicht bewuſst werdenden 2, 4, 6 aneinanderfesseln
und der bewuſsten Erzeugung ihrer Aufeinanderfolge vor-
arbeiten. Solche Fäden bestanden freilich schon in gröſserer
Stärke von dem Lernen der ursprünglichen Reihe her; die
gegenwärtige Wirkung wird sich also so äuſsern, daſs sie die
bestehenden Verknüpfungen etwas verstärkt. Und das ist
nichts-anderes als das oben Gefundene: sind zwei Silben-
kombinationen 1, 3, 5 .. und 2, 4, 6 .. häufig zusammen
bewuſst gemacht worden (Lernen der ursprünglichen Reihen),
so hat hinterher das Lernen der zweiten Kombination (ab-
[169] geleitete Reihen II, IV, VI) bald nach dem Lernen der ersten
(abgeleitete Reihen I, III, V) einen etwas geringeren Wider-
stand zu überwinden als das letztere. Es findet eine gewisse
Verstärkung von Associationen statt, nicht nur direkt, durch
bewuſste Wiederholung der associierten Glieder, sondern auch
indirekt, durch bewuſste Wiederholung anderer Glieder, mit
denen jene ersten lediglich häufiger zusammen waren.


Diese Vorstellungsweise der Sache liegt ganz in der
Konsequenz der oben (S. 150) erforderlich gewordenen An-
nahme von der Bildung associativer Verknüpfungen über mehr
Zwischenglieder hinweg, als sich in einem deutlichen Bewuſst-
seinsakt auf einmal umfassen lassen. Sie würde sich frucht-
bar machen lassen für die Erklärung mancher auffallenden
Erscheinungen des Gedächtnis- und Erinnerungslebens, aber
bei der Unsicherheit der Erfahrungsgrundlagen, die ich ihr
gegenwärtig geben kann, nehme ich einstweilen davon Ab-
stand, ihr weiter nachzugehen.


[]

Appendix A

Pierer’sche Hofbuchdruckerei Stephan Geibel \& Co. in Altenburg.


[][][]
Notes
*
Die Zahlen, welche das Vorkommen von Knaben- resp. Mädchen-
geburten unter je einer gröſseren Anzahl von Gesamtgeburten angeben,
sollen sich sehr genau gemäſs dem Fehlergesetz gruppieren. Aber bei
diesen wird es ebendarum sehr wahrscheinlich, daſs sie einer gleichartigen,
auf die Erzeugung eines ganz bestimmten Verhältnisses sozusagen hin-
zielenden Kombination physiologischer Ursachen entspringen (s. Lexis,
Zur Theorie der Massenerscheinungen in der menschlichen Gesellschaft

u. a. S. 64).
*
Die benutzten Vokallaute waren, a, e, i, o, u, ä, ö, ü, au, ei, eu.
Am Anfang der Silben wurden verwandt die Konsonanten b, d, f, g, h,
j, k, l, m, n, p, r, s (= sz), t, w, auſserdem ch, sch, weiches s und das
französische j (zusammen 19); am Ende f, k, l, m, n, p, r, s (= sz), t,
ch, sch (zusammen 11). Für den Auslaut wurden weniger Konsonanten
*
Ich werde die hier angedeuteten Bezeichnungen im folgenden bei-
behalten und nenne also „Versuch“ eine Gruppe von mehreren „Silben-
reihen“ oder „Einzelreihen“. Eine Mehrheit von „Versuchen“ nenne ich
„Versuchsreihe“ oder „Versuchsgruppe“.
*
benutzt als für den Anlaut, weil eine deutsche Zunge, selbst nach mehr-
jähriger Übung in fremden Sprachen, sich mit der korrekten Aussprache
der mediae am Ende nicht recht befreundet. Aus demselben Grunde
wurde von der Verwendung anderer fremdsprachiger Laute, die ich zur
gröſseren Bereicherung des Materials zuerst versuchte, wieder Abstand
genommen.
*
Die hier erreichte Genauigkeit vermag natürlich keinen Vergleich
mit physikalischen, wohl aber mit physiologischen Messungen auszuhalten,
an die man naturgemäſs auch zunächst denken wird. Zu den genauesten
Messungen der Physiologie gehören die letzten Bestimmungen der Ge-
schwindigkeit der Nervenleitung durch v. Helmholtz und Baxt. Eine als
Beispiel für ihre Genauigkeit mitgeteilte Versuchsreihe dieser Unter-
suchungen (Mon. Ber. d. Berl. Akad. 1870, S. 191) giebt nach entsprechen-
der Berechnung einen Mittelwert 4,268 mit dem wahrscheinlichen Beob-
achtungsfehler
0,101. Das von diesem eingeschlossene Intervall beträgt
also 5 % des Mittelwertes. Alle früheren Bestimmungen sind bei wei-
tem
ungenauer. Bei der sichersten Versuchsreihe der ersten durch
v. Helmholtz angestellten Messungen berechnet sich jenes Intervall auf
ca. 50 % des Mittelwertes (Arch. f. Anat. u. Physiol. 1850, S. 340). Auch
die Physik muſs sich übrigens, bei erstmaligen Untersuchungen, oft mit
einer geringen Sicherheit ihrer Zahlen begnügen. Bei den ersten Be-
stimmungen des mechanischen Äquivalents der Wärme fand Joule die
Zahl 838 m. d. wahrsch. Beobachtungsfehler 97. (Phil. Mag. 1843, S. 435 ff.)
*
Wenn es einmal von Interesse werden sollte, könnte man auch
noch versuchen, die verschiedenen Effekte jener Tendenz in verschiedenen
Fällen numerisch näher zu präcisieren. Ein Maſs nämlich für den Ein-
fluſs der zahlreichen zufälligen Störungen, denen das Auswendiglernen
von einem Tag zum anderen ausgesetzt ist, hat man in den wahrschein-
lichen Beobachtungsfehlern der für Reihengruppen erhaltenen Zahlen.
Wäre nun das Lernen der einzelnen Reihen im allgemeinen nur den-
selben oder ähnlichen Schwankungen der Umstände ausgesetzt, wie sie
von Versuch zu Versuch stattfinden, so müſste, nach den Grundsätzen der
Fehlertheorie, ein aus den Einzelwerten direkt berechneter wahrschein-
licher Beobachtungsfehler sich zu dem eben erwähnten verhalten wie
1 : wo n die Anzahl der zu einem Versuch zusammengenommenen
Einzelreihen bezeichnet. Machen sich aber bei dem Lernen dieser Einzel-
reihen, wie es in unserem Falle scheint, noch besondere Einflüsse geltend,
welche die Werte stärker von einander treiben als es die sonstigen Schwan-
*
kungen der Umstände thun würden, so muſs das aus den Einzelwerten
berechnete wb etwas zu groſs ausfallen, das eben genannte Verhältnis
also zu klein, und zwar beides um so mehr, je stärker solche Tendenzen
wirken.
Eine Prüfung des thatsächlichen Verhaltens ist zwar etwas mühsam,
bestätigt das Gesagte aber vollkommen. Bei den 84 Versuchen mit sechs
sechzehnsilbigen Reihen ist = 2,45. Als wahrscheinlichen Beobach-
tungsfehler der 84 Versuchszahlen fanden wir 48,4. Der wahrscheinliche
Beobachtungsfehler der 504 Einzelwerte ist 31,6. Der Quotient 31,6:48,4
ist 1,53; also nicht einmal ⅔ des Wertes von
*
Man könnte einwenden, daſs durch diese Division auf die Durch-
schnittswerte für das Lernen der einzelnen Reihen zurückgegriffen und
daſs damit das Resultat des vierten Abschnittes auſser Acht gelassen
würde. Denn nach diesem durften zur Ermittelung von Abhängigkeits-
beziehungen zwar die Mittelwerte aus den für Reihengruppen aber
nicht aus den für einzelne Reihen erhaltenen Zahlen verwandt wer-
*
den. Allein es wird gar nicht behauptet, daſs die oben durch Division
zu gewinnenden Zahlen richtige Durchschnittswerte für die den einzelnen
Reihen zukommenden Zahlen bildeten, d. h. daſs letztere sich gemäſs dem
Fehlergesetz um sie gruppieren. Sondern die Zahlen sind als Durch-
schnittszahlen für Reihengruppen zu betrachten, bei denen nur zur bes-
seren Vergleichung mit anderen ein Umstand, der der Natur der Sache
nach nicht überall derselbe sein konnte, durch Division ausgeglichen ist-
*
Der ihre Sicherheit messende wahrscheinliche Fehler ist nicht aus den
Zahlen für die Einzelreihen, sondern aus denen für die Reihengruppen
berechnet.
*
Die wahrscheinlichen Fehler beruhen ebenfalls auf Umrechnung
und haben nur einen ungefähr orientierenden Wert.
*
Zur richtigen Würdigung der Zahlen und zum richtigen Anschluſs
an etwaige eigene Beobachtungen wolle man das S. 33, 1 Gesagte beachten.
Die Stanzen wurden, der Gleichförmigkeit des Verfahrens halber, immer
*
von Anfang bis zu Ende durchgelesen; schwierigere Stellen wurden also
nicht etwa besonders gelernt und dann eingefügt. Geschah das letztere,
so fielen die Zeiten erheblich geringer aus; von der Anzahl von Wieder-
holungen kann man dann nicht mehr sprechen. Natürlich geschah das
Lesen zwar möglichst mit gleichförmiger Schnelligkeit, aber nicht in dem
langsamen und mechanisch geregelten Tempo, welches für die Silben-
reihen festgesetzt war. Die Regelung der Geschwindigkeit war der freien
Schätzung überlassen; einmaliges Durchlesen einer Stanze erforderte
20—23 Sekunden.
*
Diese Auffassung ist die, immer noch vielfach maſsgebende, des
Aristoteles. Neuerdings hat z. B. Delboeuf sie wieder aufgenommen und
zu einer Ergänzung seiner „théorie générale de la sensibilité“ benutzt. In
seiner Abhandlung Le sommeil et les rêves (Rev. philos. IX S. 153 f.)
sagt er: „Nous voyons maintenant que tout acte de sentiment, de pen-
sée ou de volition en vertu d’une loi universelle imprime en nous une
trace plus ou moins profonde, mais indélébile, généralement gravée sur
*
Herbart und seine Anhänger. Siehe z. B. Waitz, Lehrbuch der
Psychologie § 16.
*
une infinité de traits antérieurs, surchargée plus tard d’une autre infinité
de linéaments de toute nature, mais dont l’écriture est néanmoins indé-
finiment susceptible de reparaître vive et nette au jour.“ Er fährt zwar
weiterhin fort: „néanmoins . . il y a quelque vérité dans l’opinion qui
veut que la mémoire non seulement se fatigue mais s’oblitère“, erklärt
dies aber daraus, daſs eine Erinnerung die andere an ihrem Wieder-
hervortreten verhindern könne. „Si un souvenir ne chasse pas l’autre on
peut du moins prétendre qu’un souvenir empêche l’autre et qu’ainsi pour
la substance cérébrale, chez l’individu, il y a un maximum de saturation.“
Auch die merkwürdige und weder physiologisch noch psychologisch
auszudenkende Hypothese Bains und anderer von der Besetzung einzelner
Ganglienzellen durch einzelne Vorstellungen wurzelt in gewisser Hinsicht
in der aristotelischen Auffassung.
*
Lotze, Metaphysik (1879) S. 521; auch Mikrokosmus3 I S. 231 ff.
*
Eine theoretisch korrekte Berechnung der wahrscheinlichen Fehler
der ermittelten Differenzen und Quotienten würde sehr schwierig und um-
ständlich sein. Bei derselben wären die direkt beobachteten Werte L
und WL zu Grunde zu legen. Die gewöhnlichen Regeln der Fehler-
theorie können aber auf deren Verwertung keine Anwendung finden, weil
letztere nur für Beobachtungen gelten, die von einander unabhängig sind,
L und WL aber dadurch, daſs sie je an denselben Reihen gewonnen
werden, innerlich zusammenhängen. Die Fehlerquelle „Schwierigkeit der
Reihen“ variiert nicht beliebig, sondern für jedes Wertepaar in derselben
Weise. Ich habe daher hier Lernen und Wiederlernen derselben Reihe
*
als einen einzigen Versuch aufgefaſst und das resultierende Δ resp. Q
als dessen numerischen Ausdruck. Aus den verschiedenen berechneten
Δ und Q sind dann die wahrscheinlichen Fehler wie aus unmittelbaren
Beobachtungszahlen abgeleitet. Zur ungefähren Beurteilung der Ver-
trauenswürdigkeit der Zahlen reicht das vollkommen aus.
*
Herbart, Lehrb. z. Psychol. § 29 (W.W.1 V S. 26 f.). Eine ähnliche
„ansprechende“ Ansicht, wie er sie nennt, entwickelt Lotze, Metaphysik
(1879) S. 527, mit der Modifikation, daſs er die verschiedene Stärke der
Vorstellungen, die er verwarf, zu eliminieren sucht. Er hängt freilich
nicht sehr daran. Den eigentlichen Grund der getreuen Reproduktion
von Reihen sieht er, übereinstimmend mit der oben zuerst besprochenen
Ansicht, darin, daſs sich die Association nur von Glied zu Folgeglied
knüpft. Dementsprechend lehrt er in den Vorlesungsdiktaten über Psycho-
logie (S. 22): „Jede zwei Vorstellungen, gleichviel, welches ihr Inhalt
sein mag, associieren sich, wenn sie entweder gleichzeitig oder unmittel-
bar, d. h. ohne ein Zwischenglied, aufeinander folgend erzeugt werden.
Und hierauf würde auch ohne weitere Künste die besondere Leichtigkeit
zu gründen sein, mit der wir eine Anzahl Vorstellungen ihrer Reihe nach,
aber nicht ausser der Reihe wiederholen.“ Mit den „weiteren Künsten“
ist doch wohl der Herbartsche Versuch einer Zurechtlegung gemeint.
*
Ich habe einige Versuche für 16silbige Reihen, aus denen diese
Zahl sich ergiebt, oben nicht weiter mitgeteilt, weil die Resultate des
sechsten Abschnitts sie mit genügender Annäherung belegen. Dort fand
sich (S. 75), daſs sechs 16silbige Reihen, die je 32mal wiederholt wur-
den, nach 24 Stunden in durchschnittlich 863 Sekunden auswendig ge-
lernt werden konnten. 32 Wiederholungen sind aber durchschnitt-
lich
gerade erforderlich zur Herbeiführung der erstmöglichen Reproduktion
für 16silbige Reihen; bei der bestehenden Proportionalität zwischen der
Zahl der Wiederholungen und der Arbeitsersparnis am nächsten Tage
kann es daher nicht viel Unterschied machen, ob die Reihen je 32mal
wiederholt oder je bis zur erstmöglichen Reproduktion auswendig gelernt
werden. Da das letztere ca. 1270 Sekunden erfordert, so beträgt die
Arbeit für die Repetition am nächsten Tage, wie oben angegeben, ca. ⅔
dieser Zeit. Die verhältnismäſsige Ersparnis bei dem Wiederlernen
*
16silbiger Reihen nach 24 Stunden ist also kaum verschieden von der
für 12- und 13silbige Reihen gefundenen (Abschnitt VII und VIII), wäh-
rend sie bei noch gröſserer Länge der Reihen allmählich zunimmt.
*
Die wahrscheinlichen Fehler sind berechnet aus den einzelnen
*
Arbeitsersparnissen, indem diese, die thatsächlich durch Subtraktion er-
mittelt sind, als direkt gefundene Beobachtungsresultate betrachtet wur-
den (s. S. 93 Anm.).

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Ebbinghaus, Hermann. Über das Gedächtnis. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpv0.0