[][][][][][][]
Der Streit
des
Philanthropiniſmus
und
Humaniſmus

in der Theorie
des Erziehungs-Unterrichts unſrer Zeit


Jena,:
bei Friedrich Frommann
1808.

[][]

Ihrer
Koͤniglichen Majeſtaͤt
der Koͤniginn
Caroline
von Baiern


[]

in tiefſter Ehrfurcht gewidmet
von

dem Verfaſſer.


[]

Allergnaͤdigſte Koͤniginn!


Wer fuͤr eine heilige Angelegenheit der Menſch-
heit ſpricht, darf mit der Zuverſicht, nicht
ungehoͤrt zu ſprechen, an Eure Koͤnigliche Ma-
jeſtaͤt ſich wenden.


Dieſe feſte Ueberzeugung hat auch mir
den Muth gegeben, vor dem Throne Eurer
Majeſtaͤt dieſe Schrift niederzulegen, die ein
oͤffentliches Document ſeyn ſoll, mit welcher
hohen Achtung und mit welchem Ernſt ich fuͤr
den wichtigen Beruf erfuͤllt bin, Theil zu
[] nehmen an der Leitung der oͤffentlichen Bil-
dung des biedern, kraftvollen, in der Cul-
tur Germaniens zu einer großen Rolle berufe-
nen Volkes, das ſich mit Stolz Ihr Volk
nennt.


Mit tiefſter Ehrſucht


Eurer Koͤniglichen Majeſtaͤt


allerunterthaͤnigſtgehorſamſter


Niethammer.

[[1]]

Ueber
die Unterrichts-Syſteme
unſrer Zeit
.


1
[[2]][[3]]

Einleitung.


Der Streit der beiden entgegengeſetzten Extreme der
Paͤdagogik, der ſich in unſern Tagen zum Ausbruch
entzuͤndet hat, betraf zunaͤchſt nur die Gymnaſien und
Gelehrten-Schulen. Die Wichtigkeit dieſer Inſtitute,
die eigentlich den Kern der Nationalbildung zu pflegen
beſtimmt ſind, begruͤndet und rechtfertiget hinreichend
das lebhafte Intereſſe, das ſich fuͤr die Entſcheidung
jenes Streitpunktes gezeigt hat, und eine ruhige Unter-
ſuchung des Gegenſtandes noch immer zu wuͤnſchen und
ſelbſt zu fordern ſcheint. Allein dieſer Streit ſelbſt iſt
nicht befriedigend zu entſcheiden, ohne ihn auf den gan-
zen Umfang des Erziehungsunterrichts*) aus-
1*
[4]Einleitung.
zudehnen, und das Grundprincip der Oppoſition im Gan-
zen zu faſſen. Derſelbige Gegenſatz der Paͤdagogik,
der in Anſehung des Gymnaſialunterrichts als
verderblich angeklagt worden, hat auch in dem uͤbrigen
Schulunterricht wie in dem Privatunterricht
das Uebergewicht gewonnen, und wirkt nur um ſo
nachtheiliger, weil die Meiſten das Uebel nicht einmal
recht kennen, und fuͤr Geſundheit halten, was die ei-
gentliche Krankheit iſt. Dem paͤdagogiſchen Beduͤrfniß
der Zeit waͤre ſonach durch bloße Beilegung des uͤber
*)
[5]Einleitung.
den Gymnaſialunterricht erhobnen Streites nicht gehol-
fen: es iſt hier weniger noͤthig, den Frieden zu bringen
als den Krieg, den einmal erhobnen Streit in ſeiner
ganzen, noch nichtdurchaus erkannten, Allgemeinheit auf-
zufaſſen, und das herrſchende Unterrichtsſyſtem unſeres
Zeitalters in ſeinem ganzen Umfang anzugreifen.


Ich verkenne nicht die großen Schwierigkeiten,
welche dieſem Unternehmen entgegenſtehen. Fuͤrs erſte
kann es ſchon an ſich leicht uͤbel gedeutet werden, mit
einer ſolchen allgemeinen Beſchuldigung gegen ein gan-
zes Zeitalter aufzutreten; zumal zu einer Zeit, wo man
ohnedem bis zum Ueberdruß oft das Zeitalter, gerecht
und ungerecht, ins Allgemeine hin angeklagt hoͤren muß,
und wo ſich uͤberdies durch ſo manche Stimme, welche
oͤffentlich vernommen worden, wohl bewieſen hat, daß
es auch in dieſem Fache noch nicht an Maͤnnern fehle,
die das Rechte kennen. Fuͤrs andre iſt ſelbſt durch die
Erbitterung, mit welcher der zuerſt entſtandne Streit
gefuͤhrt worden, eine ruhige Entſcheidung ſehr erſchwert,
und eine parteiloſe Beurtheilung der anzuſtellenden Un-
terſuchung kaum zu hoffen. Fuͤrs dritte, da es nicht
einmal bloß darauf ankoͤmmt, jenen Streit beizulegen,
der, als ein wiſſenſchaftlicher rein in den Graͤnzen des
wiſſenſchaftlichen Gebietes gehalten, eine reine Entſchei-
dung wenigſtens zuließe; da es vielmehr darauf an-
koͤmmt, ein Unterrichtsſyſtem anzugreifen, das, in der
herrſchenden Denkart der Zeit wurzelnd, ſelbſt ohne
noch als Syſtem in ſeiner vollen Beſtimmtheit ſcienti-
fiſch dargeſtellt zu ſeyn, einen weit verbreiteten Einfluß
[6]Einleitung.
gewonnen hat, der weniger auf deutlich gedachten
Gruͤnden, als auf vorgefaßten Meinungen, unbeſtimm-
ten Intereſſen und unentwickelten Anſichten beruht, ge-
gen die am Ende eine wiſſenſchaftliche Eroͤrterung nicht
viel vermag: kann der Einzelne, der den Angriff wagt,
als einer, der gegen den Strom ſchwimmt, ſich kaum
einen guͤnſtigen Erfolg verſprechen.


Bei der hohen Wichtigkeit aber, welche die Ange-
legenheit hat, koͤnnen alle Bedenklichkeiten mich nicht
abhalten, meine Ueberzeugung von der Nothwendigkeit
einer allgemeinen Reform des Erziehungsunterrichts
uͤberhaupt, eben ſo wie meine Anſicht der dabei zu
befolgenden Grundſaͤtze freimuͤthig auszuſprechen. Ich
beſcheide mich gern, daß ich Vielen damit nichts Neues
ſagen werde; aber auch ſie werden es nicht mißbilligen
koͤnnen, daß die Grundſaͤtze eines richtigeren Unter-
richtsſyſtems oͤffentlich zur Sprache gebracht und zur
weiteren Pruͤfung vorgelegt werden, welche ſie zwar
fuͤr ſich laͤngſt gekannt und geuͤbt haben moͤgen, aber
allgemeiner bekannt und gemeinnuͤtziger zu machen bis
jetzt verhindert waren. Eben ſo beſcheide ich mich
auch gern, nicht den ganzen voreingenommenen Theil
des Publicums uͤberzeugen zu koͤnnen; wohl wiſſend,
daß uͤberhaupt eine Meinung, die ihren Sitz mehr in
Gewohnheit und Neigung als in deutlich gedachten
Gruͤnden hat, immer ſchwer zu aͤndern ſey, und daß
insbeſondre es auch den Vertheidigern des modernen
Unterrichtsſyſtems an ſcheinbaren Gruͤnden nicht fehlen
koͤnne. Aber ich weiß doch auch, daß ſelbſt von denen,
[7]Einleitung.
die jetzt mit dem Strome ſchwimmen, Viele gern um-
kehren wuͤrden, wenn ſie nur wuͤßten, woran ſie ſich
halten ſollten, und daß es fuͤr ſie vielleicht nur einer
klaren Andeutung des rechten Weges bedarf, um ſie
darauf zuruͤck zu bringen: beſonders aber, daß ſich nicht
wenige Aeltern finden, die, fuͤr eine zweckmaͤßige Bil-
dung ihrer Kinder beſorgt, durch den ſchwankenden
Zuſtand der Unterrichtstheorie nur um ſo mehr beun-
ruhiget ſind, je mehr ſie das Mangelhafte der herr-
ſchenden Methode ſo wie das Gewicht der dagegen
erhobnen Beſchwerden fuͤhlen, ohne doch aus der Ver-
wirrung der ſich widerſprechenden Meinungen ſich ſelbſt
zu einer klaren und feſten Ueberzeugung durcharbeiten
zu koͤnnen. Darf ich mir verſprechen, auch nur Eini-
gen aus dieſer Zahl Beruhigung zu geben und Ver-
trauen zu Befolgung einer richtigern Methode zu er-
wecken: ſo darf ich mein Unternehmen wenigſtens nicht
fuͤr uͤberfluͤſſig halten, wenn es mir auch nicht gelin-
gen ſollte, den groͤßeren Zweck zu erreichen, den ich
dabei im Auge habe.


Wenn dieſer Zweck in der Aufſchrift der Ab-
handlung nicht in ſeinem ganzen Umfang ausgedruͤckt
ſcheinen ſollte, indem man auf den erſten Anblick glau-
ben koͤnnte, Philanthropinismus und Hu-
manismus
zunaͤchſt nur auf die beiden uͤber den
Gymnaſial-Unterricht entzweiten Parteien deuten zu muͤſ-
ſen: ſo wird eine naͤhere Anſicht zeigen, daß die ge-
waͤhlten Namen vollkommen geeignet ſeyen, den Gegen-
ſatz des modernen und aͤlteren Unterrichts-
[8]Einleitung.
ſyſtems uͤberhaupt und ſogar der alten und mo-
dernen Paͤdagogik
ſelbſt im Allgemeinen zu be-
zeichnen; ſo paradox es auch uͤbrigens klingen mag,
zwei ſo ſcharf entgegengeſetzte Syſteme durch ſo nah
verwandte Namen gleichzuſetzen. Die Benennung des
Humanismus paßt keinesweges bloß auf die Par-
tei, welche das Studium der ſogenannten Humanio-
ren
in den Gelehrten-Schulen gegen uͤbel berechnete
Beeintraͤchtigungen in Schutz nimmt; ſie paßt vielmehr
in einem noch weit eminenteren Sinne auf die ganze
aͤltere Paͤdagogik uͤberhaupt, deren Grundcharakter es
immer war, mehr fuͤr die Humanitaͤt als fuͤr die
Animalitaͤt des Zoͤglings zu ſorgen, und die ihre
Forderungen gegen die moderne uͤberwiegende Bildung
zur Animalitaͤt noch immer, obgleich nur als minder-
zaͤhlige Oppoſition, fortſetzt. Das moderne Erziehungs-
ſyſtem dagegen, welchem vermoͤge deſſelben Eintheilungs-
grundes die Benennung des Animalismus zukaͤme,
wird ſchicklicher durch den Namen des Philanthro-
pinismus
bezeichnet: nicht nur weil dieſes Syſtem
in ſeinem vollendeten Gegenſatze gegen das aͤltere zu
allererſt in dem Philanthropin hervortrat, und
weil die Erinnerung an ſeinen geſchichtlichen Zu-
ſammenhang mit jenem genug bekannten Inſtitute ſeine
weſentliche Eigenthuͤmlichkeit am beſtimmteſten ausdruͤckt;
ſondern auch, weil jenes Syſtem von ſeinen allerneue-
ſten Pflegern und Vertheidigern nicht weniger als von
ſeinen fruͤheren Begruͤndern als eine Wohlthat
fuͤr die Menſchheit
betrachtet und angekuͤndiget
wird. Dieſes Bezeichnende der beiden Benennungen
[9]Einleitung.
ſelbſt wird zugleich zur Rechtfertigung dienen, daß
uͤberhaupt die Oppoſition mit beſonderen Namen be-
zeichnet worden; da ſonſt allerdings Namen der Sy-
ſteme bei Beſchreibung und Beurtheilung derſelben
nicht nur meiſtens unnoͤthig, ſondern, wiefern ſie leicht
als Sectenbezeichnungen gehaͤſſig gedeutet werden koͤn-
nen, ſogar nachtheilig und verwerflich ſind.


Der Ruͤckblick auf die erſte Entſtehung des Philan-
thropinismus, womit die Abhandlung ſelbſt beginnt,
ſchien um ſo nothwendiger, da es von der einen Seite
fuͤr die richtige Beurtheilung des herrſchenden Erzie-
hungs- und Unterrichts-Syſtems unſrer gegenwaͤrtigen
Zeit ſelbſt ſo wichtig iſt, die Anfaͤnge deſſelben in der
Periode ſeines erſten Erſcheinens aufzufaſſen und ſeine
allmaͤlige Ausbreitung in den Ereigniſſen, die ihm den
Weg gebahnt haben, zu beobachten, von der andern
Seite aber unlaͤugbar dieſer geſchichtliche Zuſammen-
hang ſo haͤufig verkannt oder uͤberſehen wird, daß die
in unſern Tagen heftiger erneuerten Bewegungen des
Philanthropinismus vielen der Zuſchauer des Streites
fuͤr ein ganz anderes neues Phaͤnomen gelten, und
ſelbſt viele der Vertheidiger wie der Widerſacher jener
neueſten paͤdagogiſchen Oppoſition verwundert ſeyn
duͤrften, als philanthropiniſche Grundſaͤtze
aufgefuͤhrt zu ſehen, was ſie als ein allerneueſtes
paͤdagogiſches Evangelium
ergriffen oder ver-
worfen, gehaßt oder geliebt haben.


Daß der Philanthropinismus in der kurzen ge-
ſchichtlichen Ueberſicht ſeiner Entwickelung weniger von
[10]Einleitung.
der Seite ſeines Einfluſſes auf die Volksſchulen und
auf den haͤuslichen Erziehungsunterricht, als von der
Seite ſeines Verhaͤltniſſes zu den Gelehrten-Schulen
aufgefaßt iſt, wird inſofern, als eben in den letztern
Anſtalten die Erſcheinungen deſſelben am ſtaͤrkſten her-
vortreten, nicht mißbilliget werden; ſo wie auch das
Entſchuldigung verdienen wird, daß ich, von Erſchei-
nungen unſeres Zeitalters redend, als Teutſcher da-
bei nur Teutſchland im Sinne hatte.


Muͤnchen, den 28ſten Febr. 1808.

[[11]]

Erſter Abſchnitt.
Hiſtoriſcher Geſichtspunkt der
Unterſuchung
.


In der neueren Erziehungsgeſchichte von Teutſchland
ſind die Philanthropine der hervorſtechendſte Punkt.
Durch ſie iſt die Oppoſition rein ausgeſprochen, welche
ſich gegen die aͤltere Paͤdagogik uͤberhaupt und gegen
das fruͤhere Unterrichts-Syſtem insbeſondere nach und
nach gebildet und ſeitdem nicht nur auf alle oͤffentli-
chen Unterrichtsanſtalten, ſondern auch auf die haͤusliche
Erziehung, nur bald mehr bald weniger, Einfluß ge-
wonnen hat.


Waͤre auch nicht der Urſprung des allerneueſten
Unterrichts-Syſtems, das in unſern Tagen den hefti-
gen Streit uͤber Erziehungs-Unterricht und oͤffentliche
Unterrichtsanſtalten veranlaßt hat, in der That aus
der Anſicht des Philanthropinismus unmittelbar abzu-
leiten; ſo muͤßten wir doch, um den Zuſtand des oͤf-
fentlichen und haͤuslichen Unterrichts unſrer Zeit in
[12]Erſter Abſchnitt.
dem lehrreichen Zuſammenhang ſeiner allmaͤligen Bil-
dung zu erkennen und den daruͤber erhobnen Streit
der beiden entgegengeſetzten Theorieen nicht theoretiſch,
ſondern praktiſch entſcheiden zu [lernen], auf jene Pe-
riode der Philanthropine mit unſrer Betrachtung zuruͤck-
gehen.


Wie aber fuͤr den Hiſtoriker uͤberhaupt ſich in
dem Fluſſe der Begebenheiten nichts iſolirt, und ſelbſt
ſolche hervorſtechende Punkte ihm nicht als außer dem
Zuſammenhange des Ganzen entſtandne fremde Phaͤno-
mene, vielmehr ſelbſt als Producte der gleichzeitigen
Ereigniſſe und in mannichfaltiger Wechſelbeziehung mit
denſelben ſtehend erſcheinen: ſo duͤrfen wir auch die
Philanthropine nicht als eine im bloßen Reiche der Be-
griffe von ungefaͤhr entſtandne Theorie, als einen
Einfall, der ſich geltend zu machen gewußt habe, be-
trachten; wir muͤſſen vielmehr auch ſie in ihrem Zu-
ſammenhang mit der damaligen Bildungs-Periode uͤber-
haupt, und aus dem Umtriebe des damaligen Zeitgei-
ſtes im Ganzen erkennen.


Eine Veranlaſſung, welche zunaͤchſt die Unter-
richts-Methode des Philanthropinismus
,
die uns hier vorzugsweiſe beſchaͤftiget, in Anregung
gebracht hat, zeigt ſich allerdings theils in der Man-
gelhaftigkeit der oͤffentlichen Unterrichtsanſtalten, die
von Tag zu Tag fuͤhlbarer wurde, theils in der wirk-
lichen Fehlerhaftigkeit, zu welcher die urſpruͤngliche Ein-
[13]Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
richtung der Schulen und Gymnaſien nach und nach
ausgeartet war.


In der Zeit des Wiederaufbluͤhens der Wiſſen-
ſchaften in Teutſchland, welche auch den oͤffentlichen
Lehranſtalten ihre im Ganzen noch bis auf den heutigen
Tag erhaltne Grundform gegeben hat, in jener Zeit,
wo die alten Sprachen noch als die einzigen Sprachen
der Cultur und inſofern als ausſchließende Bedingung
aller Bildung galten, wo jene Sprachen uͤberdies oft
ſelbſt die ganze Summe des Wiſſens bei den Lehrern
ausmachten, — war es natuͤrlich und ſelbſt nothwen-
dig, daß in dem Erziehungsunterricht fuͤr alle, die auf
Bildung Anſpruch machten, ein Uebergewicht auf die
Erlernung jener alten Sprachen gelegt wurde. Dieſe
Grundform der oͤffentlichen Unterrichtsanſtalten fuͤr Ge-
lehrte blieb lange unveraͤndert. Theils lebte noch in
den Anſtalten ſelbſt der beſſere Geiſt fort, der ſie be-
gruͤndet hatte, und man hatte Grund, mit ihren Zoͤg-
lingen zufrieden zu ſeyn; theils waren alle Verhaͤltniſſe
der Verfaſſungen und des Lebens einfacher, die Zeit
weniger unruhig, die Noth weniger druͤckend, der Um-
trieb der Menſchen weniger heftig, und man machte
daher auch an die Erziehung ſelbſt weniger ſtrenge For-
derungen. Gleichwohl mußte ſchon die immer haͤufiger
werdende Ausartung jener Anſtalten, die den ganzen
Unterricht mehr und mehr in ein bloßes mechaniſches
Erlernen der alten Sprachen verwandelten, zuletzt einen
Widerwillen gegen dieſelben erregen, der in dem Grade
zunehmen mußte, in welchem die Einſicht lebendiger
[14]Erſter Abſchnitt.
wurde, daß das Studium der alten Sprachen nicht
Zweck an und fuͤr ſich ſelbſt, ſondern nur Voruͤbung
und Mittel ſeyn ſolle, die vollendetſten Meiſterwerke
der Cultur mit der Leichtigkeit, die der Genuß eines
Kunſtwerkes und die davon zu erlangende Bildung for-
dert, leſen und ſtudiren zu koͤnnen. Da nun, dieſer
Einſicht gerade entgegen, die Schulen immer mehr
uͤber dem bloßen Mittel den Zweck ſelbſt zu vergeſſen
ſchienen, die Sprachen nur um der Sprachen willen
trieben, und hie und da ihren ganzen Unterricht in
ein mechaniſches Wort- und Buchſtabenweſen ausarten
ließen, ſo mußte der laͤſtige und nutzloſe Zwang des
Sprachunterrichts nur um ſo verhaßter, und eben des-
halb eine Erloͤſung davon als erſte Bedingung einer
gruͤndlichen Reform des Erziehungsunterrichts betrachtet
werden.


In dieſem Haſſe lag einer der erſten Keime des
Philanthropinismus. Wie der Haß aber nie Maͤßi-
gung kennt, ſo uͤberſprang er auch hier ſein Ziel. Man
begnuͤgte ſich nicht damit, den wirklichen Mißbrauch
anzugreifen, und deſſen Abſtellung zu verlangen, ſon-
dern gieng zu dem andern Extrem einer gaͤnzlichen
Herabwuͤrdigung des allgemeinen Studiums der ſoge-
nannten gelehrten Sprachen uͤber.


Allein ſelbſt dieſe eine negative Veranlaſſung des
Philanthropinismus wird nur unvollkommen erklaͤrt,
wenn man ſie bloß von dieſer Seite auffaßt; ſelbſt dieſe
Geringſchaͤtzung der alten Sprachen hat weit
[15]Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
tiefer in der zur Herrſchaft vorgedrungenen Denkart
jenes Zeitalters liegende Gruͤnde. Noch weit weniger
aber laͤßt ſich die poſitive Oppoſition des Philanthropi-
nismus, welche den eigenthuͤmlichen Charakter von deſ-
ſen Unterrichtstheorie ausmacht, die uͤberwiegende
Tendenz auf ſogenannten Real-Unterricht
,
aus der bloßen Negation des Sprach-Unterrichts er-
klaͤren. Um die merkwuͤrdige Erſcheinung recht zu be-
greifen, muß man die herrſchende Denkart des Zeital-
ters im Ganzen auffaſſen.


Der große Impulſator ſeiner Zeit, mit welchem
fuͤr Teutſchland eine neue Bildungs-Epoche uͤberhaupt
beginnt, und der auch die Umgeſtaltung der Erziehungs-
lehre unter uns begruͤndet hat, iſt Friedrich der Zweite.
In dem Reiche, das er durch ſeinen kraͤftigen Geiſt
erſchaffen hat, erhielt zuerſt die teutſche Cultur eine
vorherrſchende Richtung auf Induſtrie und Gewerbfleiß.
Die Forderung realer Nuͤtzlichkeit war jetzt an
der Tagesordnung; reale Nuͤtzlichkeit aber hieß nur
Eintraͤglichkeit, materielle Production. Die
laute, von der Regierung ſelbſt ausgehende Anpreiſung
und auszeichnende Beguͤnſtigung des Landbaues, des
Fabrikenweſens, des Handels, der Induſtrie ꝛc. mußte
unausbleiblich auf uͤberwiegende Schaͤtzung mechani-
ſcher und techniſcher Geſchicklichkeit wirken. Allein, es
iſt nicht bloß mechaniſche Betriebſamkeit, Gewerb- und
Kunſtfleiß, Handel und jede Art von Induſtrie, die
man aus dem maͤchtig angeregten Umtriebe hervorgehen
ſieht: derſelbe Geiſt, dieſelbe Tendenz, dieſelbe Reg-
[16]Erſter Abſchnitt.
ſamkeit zeigt ſich auch in allen Zweigen des Denkens
und der Bildung uͤberhaupt. In der Erziehung, in
der Religion, in der Philoſophie, in dem ganzen Um-
kreiſe der Geiſtesthaͤtigkeit, war „praktiſch“ jetzt
das allgemeine Loſungswort; nur was unmittelbar
ins Leben eingreifend, in der Anwendung foͤrderlich
war, wurde geachtet. Das ganze Gebiet des Wiſſens
gewann dadurch neues Leben und eine neue Geſtalt;
die Wiſſenſchaften wurden mit angeſtrengtem Ei-
fer umgearbeitet, um ſie von ihrer praktiſchen
Seite darzuſtellen, und ſie fuͤr die Praxis nuͤtzlich zu
machen.


Was der große Reformator ſeiner Zeit durch dieſe
aufgeregte allgemeine Thaͤtigkeit nach Außen zunaͤchſt
in ſeinem Volk bewirkte, hat die Mitwelt in Erſtaunen
geſetzt, und muß bei der ſpaͤten Nachwelt noch Bewun-
derung finden. Aber nicht bloß ſein Reich hat er durch
ſeinen gewaltigen Geiſt umgeſchaffen; von ihm gieng un-
verkennbar auch der Impuls aus, der nach und nach eine
Totalreform der teutſchen Cultur bewirkte. Die Haupt-
ſtadt ſeines Reiches war es, die den Ton in der ſchrift-
ſtelleriſchen Welt in Teutſchland angab, wie ſeine Ar-
mee es war, die uͤberall zum Muſter genommen wurde,
und ſeine Regierungskunſt, die uͤberall eifrige Nach-
ahmung fand. Dankbar wird die Geſchichte ſeine Zeit
als Epoche einer hoͤchſtnoͤthigen und hoͤchſtwohlthaͤtigen
Geiſtes-Revolution bezeichnen, durch welche der Geiſt
der Traͤgheit und der muͤſſigen Speculation verbannt,
das Reich des Aberglaubens erſchuͤttert, die Feſſel der
[17]Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
ſupranaturaliſtiſchen Buchſtaben-Auctoritaͤt zerbrochen,
die ſchlummernde Kraft geweckt, das Denken frei gemacht
worden iſt.


Aber ſelbſt durch dieſe glaͤnzenden Vorzuͤge wird
der Hiſtoriker ſich nicht blenden laſſen, dieſelbe Epoche
nicht zugleich als den Zeitpunkt zu bezeichnen, mit wel-
chem der Erdgeiſt ſeine verderbliche Herrſchaft unter
uns begonnen.


Wie die Richtung des Geiſtes auf die Erde in
der angeregten aͤußeren Betriebſamkeit mehr und mehr
zunahm, der Trieb nach Geld und Gewinn durch die
Eintraͤglichkeit der materiellen Productionen aller Art
immer mehr gereizt wurde, und dadurch die Geſammt-
kraft der Nation uͤberwiegend nach dieſer Seite lenkte,
theilte ſich dieſelbe Richtung auch der geiſtigen Thaͤtig-
keit mehr und mehr mit. Nicht nur gewannen die
Zweige des Wiſſens, die mit der materiellen Production
in naͤherer Beziehung ſtehen, wie z. B. Mathematik,
Phyſik, Chemie, ein entſchiednes Uebergewicht, und wur-
den in dem Maße, in welchem ſie ſich durch Erfin-
dung realer Vortheile fuͤr Gewerb und Induͤſtrie aus-
zeichneten, mehr geſucht und mehr bezahlt, waͤhrend
rein wiſſenſchaftliche Behandlung derſelben Zweige
des Wiſſens immer weniger Freunde fand: ſondern
ſogar das rein geiſtige Gebiet des Wiſſens blieb von
dem Einfluſſe jenes Geiſtes nicht ganz frei, ſelbſt das
Reinſte und das Hoͤchſte ward nicht unbefleckt erhalten:
die Religion zu gemeinem Moralismus, das Chriſten-
2
[18]Erſter Abſchnitt.
thum zum Eudaͤmonismus, die Theologie zum Na-
turalismus, die Philoſophie zum Synkretismus und
Materialismus, die Weltweisheit zur Erdweisheit, die
Wiſſenſchaft zur Pulsmacherei erniedrigt. So begann
in der Geiſtesrevolution der damaligen Zeit, neben den
unverkennbaren Fortſchritten vielfaͤltiger Bildung, zu-
gleich unter dem Namen von Aufklaͤrung ein
Ruͤckſchreiten der wahren Cultur, ein Haß alles rein
Geiſtigen, Idealen, in Kunſt und Wiſſenſchaft, durch
welchen auch jedes Erheben uͤber das Irdiſche als
myſtiſche Glaͤubelei in uͤbeln Ruf gebracht, alles Leben
in Ideen als Enthuſiaſterei verſpottet wurde.


Wem dieſe Schilderung von der Schattenſeite je-
ner merkwuͤrdigen Entwickelungsperiode teutſcher Cultur
zu grell ſcheinen moͤchte, erinnere ſich nur an die lau-
ten Klagen der Beſſeren jener Zeit, die der geruͤhmten
Aufklaͤrung als einer wahren Entgeiſtung der
Nation ſich vergebens entgegen ſtemmten.


Was in einem ſolchen Reiche, bei ſolcher Stim-
mung der Mehrzahl, bei vorherrſchender Auctoritaͤt
jener Denkart, auch die Erziehung fuͤr eine Rich-
tung nehmen, und wie ſie, zuruͤckwirkend, der allge-
meinen Tendenz eine verdoppelte Geſchwindigkeit geben
mußte, iſt leicht zu erachten.


Von der einen Seite zeigt ſich das Gute der all-
gemeinen Tendenz auch in der Paͤdagogik. Mehr Be-
[19]Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
triebſamkeit, Thaͤtigkeit kam auch in den Unterricht;
der alte Schlendrian ward aus ſeiner traͤgen Behag-
lichkeit aufgeſtoͤrt; man berechnete mehr, was eigentlich
zu thun ſey, was man bezwecke, und wie mans am
beſten erreichen koͤnne; Maͤngel und Gebrechen der her-
gebrachten Erziehungsweiſe wurden kuͤhn angegriffen,
der Mißbrauch des bloßen Zeichen- und Buchſtabenwe-
ſens im Erziehungsunterrichte der verdienten Gering-
ſchaͤtzung bloßgeſtellt; ein groͤßerer [Umfang] der Lehrge-
genſtaͤnde und vielſeitigere Behandlung derſelben wurde
unerlaßlich gefordert, und dadurch zugleich um ſo noth-
wendiger gemacht, auf Verbeſſerung der Methode zu
denken, um in kuͤrzerer Zeit mehr zu leiſten.


Von der andern Seite aber zeigt ſich auch das
Nachtheilige der allgemeinen Tendenz eben ſo unverkenn-
bar in der Paͤdagogik. Da der Impuls der Cultur aus
dem Realen kam, aus dem aufgeregten Intereſſe fuͤr
die Außenwelt und den Gewinn, der in derſelben und
fuͤr dieſelbe zu machen war; ſo mußte ſchon dies auch
der Paͤdagogik eine uͤberwiegende Richtung nach Außen
geben, die Kenntniß der Außenwelt zur erſten For-
derung des Unterrichts erheben, und dagegen die Be-
ſchaͤftigung des Lehrlings mit den geiſtigen Gegenſtaͤn-
den der Innenwelt in Mißcredit bringen. Doch haͤtte
ſich damit die Forderung der allgemeinen Bil-
dung
, welche die Hauptaufgabe der Schule iſt, viel-
leicht noch vereinigen laſſen, wiefern durch verbeſſerte
Lehrmethode und angeſtrengten Fleiß der Lehrer und
Schuͤler auch noch fuͤr die neugeforderten Lehrgegen-
2*
[20]Erſter Abſchnitt.
ſtaͤnde Zeit gewonnen worden waͤre. Da aber die
Verfaſſung des neu geſchaffnen Reiches zugleich von
allen Seiten die Beduͤrfniſſe vermehrt, die Laſten er-
hoͤht, die Nothwendigkeit ſchnellen Erwerbes vergroͤßert,
und die Unterthanen gezwungen hatte, alle ihre Kraͤfte
fuͤr ihre Subſiſtenz anzuſtrengen; da zu eben dieſem
Zwecke auch die Kinder fruͤher zur Arbeit angehalten
werden mußten und alles in Amt und Brod zu kom-
men eilte: da mußte nicht nur die Schulzeit abgekuͤrzt,
ſondern auch unmittelbar fuͤr Erwerbszweck und Brod-
wiſſenſchaft verwendet werden; da kamen die Realien
zur Tagesordnung in den Schulen, da mußte vor allem
andern auf materielle Kenntniſſe das Hauptgewicht
gelegt, und die Uebung geiſtiger Lehrgegenſtaͤnde hintan-
geſetzt werden. In dieſer Stimmung mußte man ins-
beſondre bald auch finden, daß es weit beſſer in der
Welt forthelfe, lebende Sprachen zu verſtehen, als jene
todten, die als ein todtes Capital ohne Vortheil ſeyen;
und man darf ſich kaum noch wundern, daß die Herab-
wuͤrdigung des Studiums der alten Sprachen bis zu
dem Grade zunahm, daß endlich ſogar laut und oͤffent-
lich die Erlernung jener Sprachen fuͤr entbehrlich er-
klaͤrt wurde, und ſelbſt Maͤnner von Anſehen, die ſich
der einſeitigen Behauptung ernſtlich widerſetzten, doch
nicht verhindern konnten, daß nicht nur die Erlernung
der alten Sprachen, ſondern das philoſophiſche Stu-
dium uͤberhaupt und die Bekanntſchaft mit der alten
claſſiſchen Welt, in den Schulen immer mehr vernach-
laͤſſiget wurde, und am Ende faſt nur noch in einigen
Cloſterſchulen — die aber eben deshalb als Muſter des
[21]Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
Pedantismus galten — ein ganz ungeſtoͤrtes Aſyl
fand.


In dieſer Gaͤhrung der alten und der neuen Un-
terrichts-Methode, waͤhrend noch in den Gymnaſien
bald die eine bald die andere ſich im Uebergewicht er-
hielt, trat mit einemmal das Philanthropin als
erſter Verſuch einer vollſtaͤndigen Darſtellung der mo-
dernen Theorie hervor.


Was lange zuvor ſchon in einzelnen Schulen im
Eizelnen verſucht, der alten Lehrart im Stillen unter-
geſchoben, mit den alten Lehrgegenſtaͤnden nach und
nach vertauſcht worden war, ohne großes Aufſehen zu
erregen, frappirte gleichwohl jetzt, da die Oppoſition,
als zuſammenhangende Theorie in einer Anſtalt von
ganz neuer Art ausgefuͤhrt, auftrat. Auch war der
Beyfall, den das moderne Inſtitut fand, nicht von
langer Dauer, und die Erſcheinung gieng geſchwind
genug voruͤber.


Im Ganzen aber taͤuſcht auch nur jenes Voruͤber-
gehende der Erſcheinung uͤber den merkwuͤrdigen Gang,
den ſie genommen. Eigentlich nur der Name des
Philanthropins
verſchwand, das Syſtem ſelbſt
aber, welches in Verfaſſung, Beduͤrfniß und herrſchen-
der Denkart ſeine Wurzel hatte, breitete ſich ſelbſt nach
allen Seiten weiter aus. Wer die Ereigniſſe ſchaͤrfer
ins Auge faßt, ſieht das Syſtem des Philan-
thropinismus
, mit Verlaͤugnung des verdaͤchtig ge-
[22]Erſter Abſchnitt.
wordnen Namens, nicht nur in eignen Inſtituten wirklich
fortdauern, ſondern auch in oͤffentliche und Privat-Erzie-
hungsanſtalten mehr und mehr uͤbergehen, und ſelbſt in
der paͤdagogiſchen Schriftſtellerei — von dem baͤnderei-
chen Reviſionswerk an bis auf die kindiſchſte der zahllo-
ſen ſeitdem emanirten Kinderſchriften herab — herrſchen.


Denſelben Gang, den die teutſche Cultur uͤberhaupt
von dem Reiche des großen teutſchen Koͤniges aus zu den
andern Staaten unſers Vaterlandes nahm, ſieht man
auch den Philanthropinismus nehmen; und es verdient
als eine merkwuͤrdige Erſcheinung ausgehoben zu wer-
den, daß jene moderne Erziehungsweiſe von den Regie-
rungen in dem Maße mehr beguͤnſtiget wurde, in wel-
chem ſie dem Beiſpiel des großen Vorbildes getreu,
auch die ſogenannte Landes-Cultur, naͤmlich Ackerbau,
Gewerb- und Kunſtfleiß aller Art, vorzugsweiſe be-
guͤnſtigten.


Inzwiſchen blieben doch uͤberall die oͤffentlichen
Unterrichtsanſtalten geſetzlich in der alten Form und
Verfaſſung. Man erkannte zwar die alte Methode von
Tag zu Tag mehr als unbefriedigend, je dringender
das Beduͤrfniß mechaniſcher und techniſcher Fertigkeiten
zum Behuf des wachſenden Gewerbumtriebes wurde;
und als man endlich in dieſem Treiben und Draͤngen
die eigentliche Beſtimmung der Schule ganz vergaß,
und ſich zu der Hoͤhe des Princips, ſie als bloße Vor-
ſchule zur kuͤnftigen buͤrgerlichen und Berufs-Beſtim-
mung zu erklaͤren, erhoben hatte, mußte die Zweckwi-
[23]Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
drigkeit des herkoͤmmlichen Gymnaſialunterrichts, der
eigentlich bloß auf allgemeine Bildung (wie es
dem Erziehungsunterricht zukoͤmmt) und, wiefern er
auf ſpecielle Bildung Ruͤckſicht nahm, bloß auf
Gelehrten-Bildung
berechnet war, nur um ſo
greller hervortreten, nachdem inzwiſchen auch das Be-
duͤrfniß und die Gelegenheit, durch Kenntniß und Ge-
ſchick in den vielfaͤltigen Verhaͤltniſſen des aͤußeren prakti-
ſchen Lebens ſchnell ſein Gluͤck zu machen, die Zahl der
Studirenden vermindert, und dagegen einen ganz
neuen Stand von Schuͤlern erzeugt hatte, die in der
Schule nichts weiter ſuchten, als nur ſo ſchleunig wie
moͤglich fuͤr den Gewerbsberuf, dem ſie ſich beſtimmten,
die noͤthigen Vorkenntniſſe zu erwerben. Als man nun
die Gymnaſien, denen es ohnehin an Schuͤlern, die
ſich dem Studiren widmeten, hie und da ſchon zu
mangeln anfieng, mehr den Beduͤrfniſſen jener neuen
Art von Schuͤlern anzupaſſen verſuchte, wurde eben die-
ſes Zuſammenmiſchen heterogener Lehrbeduͤrfniſſe in ei-
ner und derſelben Lehranſtalt gerade dadurch, daß Lehr-
linge von ſo ganz verſchiedenartiger kuͤnftiger Beſtimmung
ihre Vorbereitung durch einerlei Unterricht erhalten ſoll-
ten, als die hoͤchſte Unvollkommenheit der oͤffentlichen
Schulen fuͤhlbar. Gleichwohl fehlte es bald an Geld,
bald an Muth zu einer gaͤnzlichen Reform der Lehran-
ſtalten, und man begnuͤgte ſich damit, den Unterricht
in dieſem und jenem Stuͤcke, bald mehr bald weni-
ger, nach dem Beduͤrfniß des Augenblicks zu modeln
und dem herrſchenden Zeitgeſchmack anzupaſſen. Die
Halbmethode, die dadurch eingefuͤhrt wurde, die nur
[24]Erſter Abſchnitt.
hie und da im Einzelnen beſſerte, bald dieſem bald
jenem Lehrſtoff etwas abbrach und es dem andern zu-
legte, im Ganzen aber die Mangelhaftigkeit nur ver-
mehrte, wurde theils in ihrer Mangelhaftigkeit nicht
erkannt, theils ließ man ſich durch ein dunkles Gefuͤhl —
obgleich man es ſich ſelbſt vielleicht nur als einen
unverdienten Reſpect vor dem Alterthum des Schlen-
drians erklaͤrte — noch immer abhalten, die ganze alte
Methode geſetzlich umzuwerfen; theils ertrug man das
Mangelhafte ſtillſchweigend in dem Vertrauen, daß
verſtaͤndige Lehrer, was der Methode gebrach, in der
Anwendung durch ihre Lehrweisheit erſetzen wuͤrden.
In der That hatte auch hier die Praxis Auswege ge-
funden, die Fehler der Theorie zu mildern, indem die
Lehrer ſelbſt mehr Ruͤckſicht auf den kuͤnftigen Beruf ihrer
Lehrlinge nahmen, und dieſem Unterſchiede gemaͤß dafuͤr
ſorgten, keinen mit Dingen, die fuͤr ihn entbehrlich
waren, aufzuhalten, und dagegen auf andre, deren
Kenntniß fuͤr ſeinen kuͤnftigen Berufskreis noͤthiger
ſchienen, deſto mehr Gewicht zu legen.


So war, bei uͤbrigens unrichtiger Theorie und
unſyſtematiſchem Verfahren, durch die Praxis fuͤr das
dringendſte Beduͤrfniß noch leidlich geſorgt, und zu-
gleich, durch geſetzliche Erhaltung der alten Form der
Schulen, fuͤr eine kuͤnftige Zeit, wo eine richtigere
Theorie ſich wieder zum leitenden Princip erheben wuͤr-
de, die Werkſtaͤtte einer gruͤndlicheren Bildung be-
wahrt.


[25]Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.

In dieſem ungewiſſen Zuſtande ſchwankte der
Philanthropinismus mehrere Jahrzehnte hin-
durch, im dunkeln Gefuͤhl ſeiner Untauglichkeit alle
Formen verſuchend, ſeit der Auferſtehung der Philoſo-
phie vor dem maͤchtig vordringenden beſſeren Geiſte
auf der Flucht, und ſchon auf die letzte Hoffnung ei-
nes Succurſes aus der Peſtalozziſchen Schule beſchraͤnkt.
Da erſchien er ploͤtzlich in ſeiner gefaͤhrlichſten Geſtalt,
auf der Hoͤhe ſyſtematiſcher Vollendung kuͤhn genug,
nicht nur ſeine Theorie als die allein wahre zu erklaͤ-
ren und zur geſetzlichen Norm zu erheben, ſondern zu-
gleich auch die einer guͤnſtigeren Zukunft geſetzlich noch
erhaltnen Freiſtaͤtten der allgemeinen Bil-
dung
, durch Verwandlung in bloße Berufsſchu-
len
, fuͤr immer zu zerſtoͤren.


Durch dieſen Angriff aber auf die letzte Schutz-
wehr einer beſſern Bildung hat er ſelbſt die allgemeine
Stimme gegen ſich aufgerufen, und oͤffentliche War-
nungstafeln gegen ſeinen Irrthum auszuſtellen genoͤthi-
get. Mit jenem Schritte hat er ſeinen Kreis nunmehr
durchlaufen und ſeine Beſtimmung — wiefern ihm eine
ſolche in der allgemeinen Bildungsgeſchichte der Menſch-
heit zuerkannt werden kann — in ſo weit erfuͤllt, als
er in ſeiner fruͤheren Periode dem Erziehungsunterricht
uͤberhaupt einen neuen Impuls gegeben und umfaſſen-
dere Anſpruͤche an denſelben zur Sprache gebracht, in
ſeiner neueſten Geſtalt aber gegen ſeinen eignen Miß-
brauch die allgemeine Aufmerkſamkeit aufgerufen und
das Beduͤrfniß einer gaͤnzlichen Reform ſeiner Unter-
[26]Erſter Abſchnitt.
richtsanſtalten fuͤhlbar gemacht, zugleich aber auch die
noͤthige Umwandlung der Schulen und Gymnaſien
durch das Beiſpiel ſeiner eignen Organiſationen naͤher
gelegt und als ausfuͤhrbar gezeigt, und fuͤr die Reform
ſelbſt die doppelte Warnung gegeben hat, die Mißgriffe
und Ausartungen der alten Methode nicht zu uͤber-
ſehen, und die gegruͤndeten Forderungen der neuen
Theorie nicht zu verkennen.


Fragt man uͤbrigens, was denn der Philanthro-
pinismus in ſeiner allerneueſten Geſtalt Eigenthuͤmli-
ches habe, ſo findet man, außer der charakteriſtiſchen
Aneignung eines problematiſchen Satzes, von welchem
weiter unten noch die Rede ſeyn wird, kaum etwas
anderes, als die Kuͤhnheit, die Extreme einer ſtrengen
Folgerung aus dem Princip nicht zu ſcheuen, welche
ſich da insbeſondre aͤußerte, wo es darauf ankam, fuͤr
die erweiterten Lehranſtalten den Umfang der Lehrge-
genſtaͤnde zu beſtimmen. In allem andern zeigt ſich
nur eine groͤßere Ausdehnung der fruͤheren Anſichten
und Behauptungen. So iſt in Abſicht des Verhaͤlt-
niſſes zwiſchen Sprach- und Sach-Studium der erſte
rohe Gegenſatz, der beide als contradictorie opposita
betrachtet, nur dahin erweitert worden, daß jenes ſo-
genannte Sach-Studium (worunter ſie ſtreng genom-
men nur die Bekanntſchaft mit dem Gewerb-Material
verſtehen) nicht bloß dem kuͤnftigen Handwerksmann,
ſondern ſelbſt dem Gelehrten unentbehrlich ſey, um ihn
von der Einſeitigkeit des ſogenannten Sprach-Stu-
diums abzubringen. In Abſicht des Sprach-Studiums
[27]Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
ſelbſt vermißt man ſogar die oben geruͤhmte Kuͤhnheit
der Conſequenz. Denn, obgleich die alten Sprachen auf
ein Minimum von Zeit fuͤr etwas weniges Latein be-
ſchraͤnkt, und faſt durch ein „graeca sunt, non legun-
tur!“
abgefertiget ſind: ſo muß man ſich doch ſelbſt
uͤber dieſe geringe Condeſcendenz zu dem alten Schlen-
drian um ſo mehr wundern, je naͤher von der einen
Seite es lag, den Nicht-Gelehrten von jenem, noch
aus den Anfaͤngen der Gymnaſial-Einrichtung abſtam-
menden, Zwange ganz zu befreien, und je ſchein-
barer von der andern Seite ſelbſt fuͤr den Gelehrten
das Studium der alten Sprachen ſich als ganz ent-
behrlich erklaͤren ließ, nachdem die teutſche Cultur die
Hoͤhe wirklich erreicht hat, in ihrer eignen Sprache
alle Wiſſenſchaften behandeln, die claſſiſchen Schriften
der Alten darſtellen, und ſelbſt Claſſiker aufweiſen zu
koͤnnen. Um ſo mehr aber verdient jene Kuͤhnheit des
Syſtems in Beſtimmung des Umfangs der Lehrgegen-
ſtaͤnde Bewunderung, nachdem es ſogar jenes ſich von
ſelbſt anbietende Auskunftsmittel zu Vereinfachung des
ſogenannten Lehrſtoffes von der Hand gewieſen hatte.
Bedenkt man naͤmlich alle die Schwierigkeiten, welche
der philanthropiniſche Grundſatz, „daß die Schulen
uͤberhaupt vor allen Dingen als Vorſchulen fuͤr den
kuͤnftigen Beruf der Lehrlinge betrachtet und behandelt
werden muͤſſen,“ in ſeiner wirklichen Anwendung auf
die Lehranſtalten findet; wie wenig fuͤrs erſte ſchon an
und fuͤr ſich waͤhrend der Schuljahre eines Menſchen
deſſen kuͤnftiger Beruf ſich mit ſolcher Sicherheit beſtim-
men laͤßt, daß die Vorkenntniſſe, die er in der Folge
[28]Erſter Abſchnitt.
noͤthig haben werde, darnach berechnet werden koͤnnten;
wie mannichfaltig und verſchiedenartig fuͤrs zweite die
Lehrgegenſtaͤnde einer Anſtalt werden muͤſſen, welche
fuͤr alle Arten von Beruf die erforderlichen Vorkennt-
niſſe zu lehren uͤbernimmt; um wie vieles endlich dieſe
Schwierigkeit noch ſteigt, wenn in einer und ebender-
ſelben Art von Lehranſtalten nicht nur die geſammte
hoͤhere Buͤrger-Bildung, ſondern zugleich auch die Ge-
lehrten-Bildung vereiniget werden foll: ſo muß man
geſtehen, daß der Muth, zur Ausfuͤhrung ſolcher An-
ſtalten wirklich Hand anzulegen, nur auf der Hoͤhe des
Princips begreiflich wird, zu welchem ſich der aller-
neueſte Philanthropinismus erhoben, und das er auf
eine ihm ganz eigenthuͤmliche charakteriſtiſche Weiſe
verſtanden und angewendet hat, des Princips naͤmlich:
„daß die Bildung uͤberhaupt nur Eine, mithin der
„Art nach
gar nicht verſchieden ſey, und ſich darin
„kein anderer als ein Grad-Unterſchied denken
„laſſe.“ Nur auf dieſer Hoͤhe des Princips war es
moͤglich, fuͤr die verſchiedenſten Arten von Lehrlingen
einerley Lehrform und Lehrſtoff anzuordnen und zu dem
letzteren die ganze Encyklopaͤdie des Wiſſens aufzuneh-
men. In dieſer Anſicht iſt ſogar auch das conſequent,
ſelbſt dem Nicht-Gelehrten die Erlernung der gelehrten
Sprachen nicht ganz zu erlaſſen.


Conſequenz alſo kann man dieſem allerneueſten
Syſtem des Philanthropiniſmus nicht abſprechen. Aber,
ob dieſe Conſequenz auch reale Wahrheit habe, ob
dieſe Methode, bei allem Anſchein von praktiſcher Vor-
[29]Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
zuͤglichkeit, den ſie ſich zu geben ſucht, auch den wah-
ren praktiſchen Beduͤrfniſſen entſpreche, iſt eine hoͤhere
und ſehr nothwendige Frage.


Das Folgende hat die Abſicht, dieſe Frage einer
wiſſenſchaftlichen Pruͤfung zu unterwerfen. Hier, in
dieſem hiſtoriſchen Abſchnitte, ſey es mir nur noch er-
laubt, einige geſchichtliche Reſultate zu ziehen, und auf
einige Zeichen der Zeit hinzudeuten, welche in Bezie-
hung auf dieſen Gegenſtand der Aufmerkſamkeit werth
ſeyn duͤrften.


Erſtens fuͤr die philanthropiniſche Lehrart ſelbſt
ſpricht der Erfolg nichts weniger als guͤnſtig. Was iſt
denn aus den Philanthropinen, in denen doch die Lehr-
art nach ihrem ganzen Umfang ungehindert wirken kann,
Hohes und Vortreffliches hervorgegangen? Haben ſie
denn auch nur Einen Lehrling aufzuweiſen, der ſelbſt
im Felde des praktiſchen Wiſſens etwas Großes gelei-
ſtet, oder in irgend einem praktiſchen Geſchaͤft ſich vor-
zuͤglich ausgezeichnet haͤtte? Soll denn nun die Schuld
von dieſer auffallenden Erſcheinung gar nicht in der
Lehrart ſelbſt, ſondern nur in zufaͤlligen Hinderniſſen,
die ihrer vollen Ausuͤbung im Wege ſtanden, geſucht
werden? Sollte wirklich ein ganz eignes Ungluͤck des
Philanthropiniſm gewollt haben, daß ſich unter ſo vielen
Lehrlingen, die durch ſeine Schule gelaufen ſind, auch
nicht Ein vorzuͤglicher Kopf gefunden haͤtte? Dies iſt
ſo wenig wahrſcheinlich, daß man vielmehr, ohne un-
gerecht zu ſeyn, den Schluß ziehen darf: daß die Lehr-
[30]Erſter Abſchnitt.
art die Schuld trage, daß ſie die Kraft der Seele nicht
uͤbe, den Flug des Geiſtes laͤhme, und daß, durch ſie
zur Erde herabgezogen, der Menſch (wofern nicht eine
ausgezeichnet treffliche Natur ihn in die Hoͤhe haͤlt,)
in Gemeinheit verſinke, und fuͤr allen Adel der Denk-
art, fuͤr alle wahre Humanitaͤt, wahrhaft verbildet und
unempfaͤnglich gemacht werde.


Will man aber von dem Philanthropiniſmus, was
er in ſeiner Ganzheit nicht leiſtet, in ſeiner Halbheit
erwarten? Haben denn die Zwitterſchulen, die halb
neologiſch dem Philanthropiniſmus, halb palaͤologiſch
dem alten Schlendrian huldigten, auf den alten Rock
den neuen Lappen flickten, viel Großes bewirkt? Es
iſt doch eine eigne hiſtoriſche Erſcheinung, daß man faſt
immer, wo man nach der Bildung eines ausgezeichne-
ten Mannes fragt, auf eine alte Schule trifft, und wo
man eines ausgezeichneten Mannes bedarf, noch immer
gern nach Maͤnnern aus der alten Schule fragt. Wenn
nun das nicht ebenfalls bloß Zufall ſeyn ſoll, und mit-
hin das Verdienſt von dieſer, wie die Schuld von je-
ner Lehrart, nicht wohl bezweifelt werden kann: ſo muß
man geſtehen, daß die Geſchichte ihre Warnung deut-
lich genug ausgeſprochen hat.


Zweitens aber weit wichtiger noch iſt die Lehre,
welche die Geſchichte uͤber die Folgen der Denkart, die
den Philanthropiniſmus erzeugt und von ihm genaͤhrt
wird, ausgeſprochen hat. Wohin jene Denkart fuͤhre,
die das irdiſche Intereſſe zum hoͤchſten erhebt, das gan-
[31]Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
ze Gluͤck einer Nation in die Maſſe materieller Pro-
duction, den ganzen Werth des Einzelnen in den Er-
werb mechaniſcher Fertigkeit ſetzt, alle Aufklaͤrung in
der Leerheit von ſchimpflichem Aberglauben ſucht und
alle geiſtige Thaͤtigkeit auf dieſe Ausleerung beſchraͤnkt,
das wahre hoͤhere Intereſſe dagegen nicht kennt, alles
Ideale fuͤr Traͤumerei erklaͤrt und haßt, — wie dieſe
Denkart jede beſſere Triebfeder im Menſchen laͤhme,
jede hoͤhere Kraft zerſtoͤre, jeden wahren Enthuſiasmus
toͤdte, jeden aͤchten Patriotiſmus im Keime erſticke, al-
les zum ſeelenloſen Maſchiniſmus herunterziehe, und da-
mit ſelbſt die Selbſtſtaͤndigkeit der Nation gefaͤhrde:
das kann fuͤr die, die ſehen wollen, in unſern Tagen
nicht mehr zweifelhaft ſeyn.


Man kann dieſen Anſichten, wiefern ſie die Noth-
wendigkeit einer gaͤnzlichen Umwandlung der oͤffentli-
chen Unterrichtsanſtalten andeuten ſollen, wichtige hiſto-
riſche Bemerkungen entgegenſetzen.


„Den herrſchenden Zeitgeiſt, kann man ſagen, hat
zu keiner Zeit eine Erziehungslehre gemeiſtert, vielmehr
wo einmal eine vorherrſchende Richtung eines Zeital-
ters ſich zeigt, da findet eine neue Erziehungslehre nur
Eingang und Einfluß, wiefern ſie mit jener Richtung
harmoniſch iſt. Auch der Philanthropiniſmus war mehr
Erzeugniß als Urſache der Bildung ſeiner Zeit. Wie
will man denn jetzt mit einer neuen Unterrichtstheorie,
die dem Geiſt der Zeit zuwider iſt, den Geiſt der Zeit
zu bannen hoffen? Waͤre dies nicht eben ſo thoͤricht,
[32]Erſter Abſchnitt.
als den rollenden Wagen durch Eingreifen in ein Rad
aufhalten zu wollen? Wie ſollte auch nur eine ſolche
Theorie Eingang finden? Wie ſoll die gegenwaͤrtige
Generation zu dem Willen gelangen, die kommende an-
ders zu erziehen, ſo lange ſie ihr Wollen und Thun,
ihr Streben und Treiben fuͤr das rechte und wahre
haͤlt? Will man hoffen, daß die Regierungen einer
ſolchen Theorie durch geſetzliche Vorſchrift Eingang ver-
ſchaffen, ſo iſt woͤhl zu bedenken, ob nicht vielmehr die
Schulen leer ſtehen werden, wenn ſie den Forderungen
des Zeitgeſchmackes ſo wenig entſprechen? — Und
dann, empfaͤngt nicht die Cultur jetzt ihre Richtung von
der Noth der Zeit? Man muß jetzt fuͤr den Augen-
blick nur ſorgen; der Vater will nur das vom Sohn
erlernt, was ihm im Augenblick zu Brod verhilft; es
wird nicht helfen, wenn wir etwas anders lehren laſ-
ſen; und es wuͤrde ſelbſt nicht billig ſeyn, da ideale
Bildung zu verlangen, wo mit realer Noth ein ſchwe-
rer Kampf um Subſiſtenz zu kaͤmpfen iſt.“


So ſcheinbar aber auch dieſe hiſtoriſchen Einwen-
dungen ſich moͤgen machen laſſen, ſo ſind ſie doch kaum
mehr als ein Glaukom. Fuͤrs erſte iſt die Noth der
Zeit ſo furchtbar nicht, als Traͤgheit und Gleichguͤltig-
keit gegen das Beſſere, die zu allen Zeiten den durch-
greifenden Reformen aͤhnliche Wehklagen entgegenzuſtel-
len geſucht haben, in uͤbertriebnen Schilderungen vor-
ſpiegeln moͤchten: und eine Regierung, die das Rechte
will, kann jenes Herandraͤngen zum fruͤhen Brod und
Gewinn nicht zum Maßſtab der oͤffentlichen Erziehung
[33]Hiſtoriſcher Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
nehmen wollen; ſie wird vielmehr demſelben einen
Damm entgegenſetzen muͤſſen. Fuͤrs zweite iſt auch das
Zeitalter keineswegs ſo unempfaͤnglich fuͤr das Ideale,
daß ein Erziehungsplan, der darauf mehr Gewicht als
auf das Materiale legt, einen allgemeinen Widerſpruch
zu fuͤrchten haͤtte. Zwar hat das philanthropiniſche
Syſtem ſo vieles, was dem oberflaͤchlichen Raͤſonne-
ment ſehr gruͤndlich ſcheint und wohlgefaͤllt; deswegen
kann es ihm an einer großen Zahl von Freunden und
Vertheidigern nicht fehlen. Allein als herrſchende Denk-
art kann dies Niemand ausrufen wollen, der auf die
Zeichen der Zeit merkt, und ſie verſteht.


Ein andrer Geiſt, dem jener der Aufklaͤrung nur
als Vorlaͤufer Platz gemacht hat, iſt mit der Wieder-
auferweckung des aͤchten philoſophiſchen Denkens unter
uns erſchienen, und hat ſeit zwanzig Jahren aller beſ-
ſern Koͤpfe unter uns in allen Arten des Wiſſens und
des Geſchaͤftes ſich bemaͤchtiget. Dieſelbe merkwuͤrdige
Reform, welche das Ideale wieder zu der Ehre, Rea-
litaͤt zu ſeyn, hervorgerufen hat, iſt in dem ganzen Um-
kreis unſrer Bildung, in Wiſſenſchaft und Kunſt, in
Philoſophie und Religion, in allen Zweigen des Thuns
und Lebens in unzweideutigen Erſcheinungen ſichtbar;
die Ueberzeugung von der Schaͤdlichkeit nicht nur, ſon-
dern ſelbſt von der gaͤnzlichen Untauglichkeit jenes plum-
pen Realiſmus iſt nicht mehr bloße unſichere Meinung
dieſes oder jenes Einzelnen; die Idealitaͤt der Wahr-
heit und die Wahrheit des Idealen, von aller Vernunft
als Wahrheit Geforderten und Vorausgeſetzten, wird
3
[34]Erſter Abſchnitt. Hiſtor. Geſichtsp. d. Unterſ.
immer allgemeiner und lauter anerkannt, die Stimme
derer, die jene Ueberzeugung hoͤhnen, immer heimlicher
und ſchwaͤcher. Mit einem Wort, ein beſſerer Geiſt,
der Geiſt des Humaniſmus, hat ſich wieder auf-
gerichtet; und die ſich noch in den Zeiten des anbre-
chenden Philanthropiniſmus glauben und halten,
werden ſich bald um ein halbes Jahrhundert aͤlter fin-
den, als die Zeit, welche ſie als fuͤr das Beſſere
noch unreif mit naiver Keckheit zu verſchreien ſuchen.


Dieſe Stimmung, die ſich eben in der Paͤdagogik
am ſtaͤrkſten ausgeſprochen hat, in dem Unwillen, mit
welchem der modernſte Philanthropiniſmus aufgenom-
men worden iſt, verſpricht auch einer gruͤndlichen Re-
form der Paͤdagogik einen guͤnſtigen Erfolg, den man
mit um ſo groͤßerer Zuverſicht erwarten und verheißen
kann, je zuverſichtlicher jenes allgemeine Aufſtreben ei-
nes beſſeren Geiſtes der Humanitaͤt erwarten laͤßt,
daß — ſofern nur nicht zunehmende Roth der Zeit die
Menſchen in ihrer phyſiſchen Exiſtenz bedraͤngt und ſie
in die ausſchließende Sorge fuͤr das animale Leben
zuruͤckſchreckt, — bald die Rede nicht mehr ſowohl da-
von ſeyn werde: ob man mit einem neuen Unterrichts-
plane dem Zeitalter vorauseilen duͤrfe oder koͤnne? als
vielmehr davon: ob man mit dem Unterrichtsplane hin-
ter dem Zeitalter zuruͤckbleiben, und daſſelbe aufhalten
wolle?


[[35]]

Zweiter Abſchnitt.
Wiſſenſchaftlicher Geſichtspunkt
der Unterſuchung
.


Eine bloß hiſtoriſche Andeutung entgegengeſetzter
Syſteme ſetzt der wiſſenſchaftlichen Unterſuchung derſel-
ben allerlei Schwierigkeiten entgegen. Da die wiſſen-
ſchaftlichen Gegenſaͤtze ſich in der Erfahrung nicht leicht
in ihrer ganzen ſcharfbegraͤnzten Geſtalt darſtellen, ſon-
dern meiſtens gleich wechſelſeitig etwas von dem ent-
gegengeſetzten Extreme zur Milderung aufnehmen, ſo-
nach die Praxis in der Regel anders erſcheint als die
Theorie: ſo finden ſich nicht nur auf beiden Seiten
leicht allerlei Ausfluͤchte, Berufungen auf Ausnahmen
und Modificationen, durch welche den Einwuͤrfen ſchon
vorgebeugt ſeyn ſoll, ſondern auch Recriminationen von
Uebertreibung, Einſeitigkeit und Befangenheit, die den
Streit endlos machen wuͤrden, wenn der Streitpunkt
ſelbſt erſt uͤberall dagegen geſichert werden muͤßte. Die
vorangeſchickte kurze hiſtoriſche Ueberſicht hat daher
auch nicht die Abſicht, den Geſichtspunkt der Unterſu-
3*
[36]Zweiter Abſchnitt.
chung ſelbſt zu fixiren, ſondern ſollte nur zum Belege
dienen, daß die Syſteme, die hier dargeſtellt und ge-
pruͤft werden ſollen, nicht bloß in Gedanken, ſondern
in der That exiſtiren, und die Gefahr, auf welche hin-
gedeutet wird, nicht bloß eine eingebildete ſey. Dage-
gen ſollen hier die beiden Syſteme des Erziehungs-Un-
terrichts, ohne alle weitere Ruͤckſicht auf ihre hiſtoriſche
Beſchaffenheit, mit welcher ſie ſich in der Erfahrung
zeigen, einzig als ſtreng wiſſenſchaftlicher Gegenſatz auf-
gefaßt und gepruͤft werden. So allein wird es moͤg-
lich ſeyn, nicht nur die wiſſenſchaftliche Pruͤfung, ohne
Beſchuldigung einer Parteilichkeit, ruhig durchzufuͤhren,
ſondern auch, von dem wiſſenſchaftlich beſtimmten Ge-
ſichtspunkt aus, beiden Syſtemen volle Gerechtigkeit wi-
derfahren zu laſſen, das Extrem in beiden und den
Vereinigungspunkt beider ſicher zu erkennen.


1.


Der Hauptgegenſatz, auf den es bei Beur-
theilung der entgegengeſetzten Unterrichtsſyſteme an-
koͤmmt, liegt unſtreitig in der Idee des Menſchen
ſelbſt und ſeiner Beſtimmung, oder vielmehr in der
willkuͤrlichen Conſtruction des Begriffes
vom Menſchen
, in welcher jene Idee (oder, nach
der wiſſenſchaftlichen Sprache, der Begriff a priori
von dem Menſchen) von der einen oder von der an-
dern Seite unvollſtaͤndig und unrichtig aufgefaßt wird.
Da der willkuͤrlich conſtruirte Begriff vom Menſchen
dem Syſteme der Erziehung und Bildung deſſelben
zum Grundprincip dienen muß, ſo wird nothwendig
[37]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
das Syſtem ſelbſt auch vollſtaͤndig oder unvollſtaͤndig,
richtig oder unrichtig, je nachdem der aufgeſtellte oder
ſtillſchweigend zu Grunde gelegte Begriff vom Men-
ſchen gefaßt iſt. In den Hauptbeziehungen, in denen
die Idee des Menſchen verſchieden aufgefaßt werden
kann, iſt deshalb auch der Hauptgegenſatz der beiden
Unterrichtsſyſteme zu ſuchen: in dem Gegenſatz von
Geiſt und Thier, Vernunft und Kunſtver-
ſtand, Rationalitaͤt und Animalitaͤt
, die in
dem Menſchen zu Einem wunderbaren Ganzen ver-
knuͤpft ſind.


So alt auch die Unterſcheidung dieſer zweifachen
unerklaͤrbar zuſammengeſetzten Natur des Menſchen
iſt, ſo vielſeitig ſie auch beleuchtet, ſo wiederholt ſie
bei den verſchiedenſten Veranlaſſungen in Erinnerung
gebracht worden: ſo wird ſie doch von Theoretikern
und Praktikern, die es mit dem Menſchen zu thun ha-
ben, immer aufs Neue wieder uͤberſehen; und man
darf ſich nicht wundern, auch in Theorie und Praxis
des Erziehungsunterrichtes den Gegenſatz vergeſſen und
durcheinander gemengt, oder einſeitig aufgefaßt zu fin-
den. Der letztere Fall iſt hier naͤher in Betrachtung
zu ziehen.


2.


Wird in dem Erziehungsunterrichte die zweifa-
che Natur
und Beſtimmung des Menſchen, durch
Abſtraction von ſeiner animalen Natur und ſei-
[38]Zweiter Abſchnitt.
nem Verhaͤltniſſe zur Außenwelt, verkannt, ſeine gei-
ſtige Natur
allein als ſein ganzes Weſen, ſein Leben
in Ideen als ſeine einzige Beſtimmung betrachtet: ſo
werden dadurch zwar ſehr hohe Forderungen in Ruͤck-
ſicht der Erziehung und des Unterrichtes begruͤndet,
und es kann ſogar fuͤr die Theorie vortheilhaft ſeyn,
durch eine ſolche Abſtraction ſich die Aufgabe des Er-
ziehers in ihrer hoͤchſten Wichtigkeit zu vergegenwaͤrti-
gen, um nicht, durch den Blick auf die mannichfaltigen
aͤußeren Verhaͤltniſſe und Beduͤrfniſſe des Menſchen ver-
worren, auf das minder Wichtige zu viel Gewicht zu
legen, und dagegen das unbedingt Wichtige zu vernach-
laͤſſigen. Allein, wie alle Abſtraction einſeitig iſt und
auf einſeitige Anſichten und Reſultate fuͤhrt, wofern ſie
nicht, bloß zum Behuf der freien Betrachtung vorge-
nommen, um einen Gegenſtand theilweiſe deſto ſchaͤrfer
aufzufaſſen, vermittelſt gleichmaͤßiger Beachtung und Zu-
ſammenfaſſung aller Theilmerkmale, vollſtaͤndig durch-
gefuͤhrt wird: ſo muß auch ein Erziehungsſyſtem, das
den Menſchen, mit der bezeichneten Abſtraction, bloß
in ſeiner geiſtigen Natur und Beſtimmung betrachtet,
auf Forderungen gefuͤhrt werden, die nicht nur in den
beſchraͤnkten aͤußeren Verhaͤltniſſen, unter denen die al-
lermeiſten Menſchen in dieſer Welt leben muͤſſen, un-
ausfuͤhrbar ſind und inſofern mit allem Recht uͤber-
ſpannt heißen, ſondern die auch uͤberall kein Object
ihrer Anwendung haben und inſofern fuͤr zwecklos gel-
ten, und noch mehr, die in ſich ſelbſt unguͤltig, einſei-
tig und unvollſtaͤndig ſind.


[39]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.

Auf dieſer einen Seite ſteht daß Syſtem des oben
ſo benannten Humaniſmus, das bei aller Wuͤrde
und Erhabenheit ſeiner Anſichten von dem Weſen und
der Beſtimmung des Menſchen, bei aller Vortrefflich-
keit ſeiner Forderungen an die Erziehung und Bildung
deſſelben, gleichwohl von dem Vorwurfe der Einſeitig-
keit und Ueberſpannung nicht freigeſprochen werden
kann, ſofern es ſeiner Grundanſicht conſequent bleibt.
Es iſt wahr, das Unbedingte in dem Menſchen iſt die
Vernunft, und ſeine geiſtige Natur begruͤndet
ſein eigentliches Weſen; das Animale hingegen, was
er mit der ganzen uͤbrigen thieriſchen Welt gemein hat,
wird nicht ohne Grund zu ſeinem Weſen ſo wenig ge-
zaͤhlt, daß die Benennung der Menſchheit, der
Humanitaͤt, bloß ſeine geiſtige Natur, mit
gaͤnzlicher Abſtraction von der animalen, bezeichnet.
Es ſcheint daher auch vollkommen begruͤndet, daß die
Erziehung und Bildung des Menſchen ſich, mit Hintan-
ſetzung ſeiner niedrigen Natur, ausſchließend mit dem
beſchaͤftige, was nicht nur als das Hoͤchſte in ihm,
ſondern ſogar als ſein Weſen ſelbſt gedacht wird. Al-
lein der Menſch iſt weder jene geiſtige noch jene ani-
male Natur allein, weder das eine noch das andre
Abſtractum allein; und nicht nur der Menſch ſelbſt
wird unrichtig gedacht, wenn er als der eine oder als
der andre unterſchiedne Theil ſeines Weſens allein ge-
dacht wird, ſondern auch der eine wie der andre Theil
ſeines Weſens
wird unrichtig gedacht, wenn er
außer der Verbindung mit dem andern gedacht wird.
Was uͤbrig bleibt, wenn ich in dem Weſen des Men-
[40]Zweiter Abſchnitt.
ſchen Geiſt und Vernunft wegdenke, erſcheint frei-
lich, als bloße Thierheit, veraͤchtlich; aber die Thier-
heit im Menſchen iſt von Geiſt und Vernunft nicht
abgeſondert, durch die Verbindung mit dieſen aber ſelbſt
etwas Heiliges; und man duͤrfte wohl den Paͤdagogi-
kern, welche die animale Natur des Menſchen mit Fuͤ-
ßen treten zu muͤſſen meinen, mit dem Apoſtel zurufen:
„wiſſet, daß euer Leib ein Tempel des heiligen Geiſtes
iſt, der in euch iſt!“ Eben ſo erſcheint das, was uͤbrig
bleibt, wenn ich in dem Weſen des Menſchen al-
les Animale wegdenke, als reine Geiſtigkeit,
als das allein Ehrwuͤrdige in ihm: aber die Geiſtig-
keit im Menſchen iſt ſo wenig ein von Animalitaͤt ab-
geſondert fuͤr ſich Beſtehendes, als die Thierheit in
ihm ein von Geiſt und Vernunft iſolirtes fuͤr ſich Be-
ſtehendes iſt; in der Verbindung mit dem Animalen
aber ſteht auch die geiſtige Natur des Menſchen un-
ter ganz andern Bedingungen, als wir ſie denken,
wenn wir ſie durch Abſtraction iſolirt als reinen Geiſt
denken.


Die Weltleute laͤcheln, oder lachen auch wohl gar,
uͤber die Schulphiloſophen mit ihren Redensarten von
der rein geiſtigen Natur des Menſchen; und ſie ſind
ihres Triumphes immer gewiß, indem ſie nur auf die
unabweiſbaren, zum Theil ſchreienden, Beduͤrfniſſe hin-
deuten duͤrfen, die den Philoſophen wie die uͤbrigen
Menſchen an ſeine thieriſche Natur und ſeine irdiſche
Abſtammung mahnen. Eben dadurch iſt es ihnen auch
ſo leicht, alle die Forderungen einer beſondern Sorg-
[41]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
falt fuͤr die hoͤhere Natur des Menſchen, die von den
Philoſophen aufgeſtellt werden, entweder durch Hinwei-
ſung auf die Noth phyſiſcher Beduͤrfniſſe der Menſchen
niederzuſchlagen, oder als bloße gutmuͤthige Schwaͤr-
merei abzuweiſen.


Trifft gleich jener Spott nicht den rechten Punkt,
ſo trifft er doch nicht unverſchuldet. Indem die Hu-
manitaͤts-Philoſophen durch logiſche Abſtraction die
geiſtige Natur des Menſchen iſoliren, und dieſes logi-
ſche Abſtractum allein als das eigentliche Weſen des
Menſchen vorſtellen, begehen ſie einen logiſchen Fehler,
der ſie zu ſchwaͤrmeriſchen Anſichten in der That ver-
leitet. Indem ſie aber auf jenes logiſche Gebilde, das
zwiſchen Himmel und Erde ſchwebend nirgends eine
wahre Heimath hat, praktiſche Forderungen gruͤnden,
fehlt dieſen ſelbſt auch Zweck und Bedeutung. Wird
das Weſen des Menſchen als reine Geiſtigkeit iſolirt
gedacht, ſo wird er ſelbſt damit von der ganzen ſicht-
baren Welt iſolirt, ſo hat er mit ihr keinen andern Zu-
ſammenhang und ſie fuͤr ihn keine andere Bedeutung,
als daß er von ihr Nahrung fuͤr ſein thieriſches Leben
bezieht, das er ſelbſt als etwas Erniedrigendes und faſt
als eine Verunreinigung an ſich betrachtet, und von
welchem er befreit zu werden ſich ſehnt und ſich ſelbſt
zu befreien ſtrebt, um als reiner Geiſt in ſeinem unge-
truͤbten Glanze hervorzugehen! Daran hangen dann,
fuͤr diejenigen wenigſtens, die ihren Anſichten conſequent
bleiben, alle die Schwaͤrmereien der Geringſchaͤtzung
und Verachtung dieſes Erdenlebens, die in der Idee
[42]Zweiter Abſchnitt.
zwar mit einem reinen andaͤchtigen wahrhaft ehrwuͤrdi-
gen Gemuͤthe verbunden ſeyn koͤnnen, in der Praxis
aber auch ſelbſt bei einem ſolchen Gemuͤthe ihre Un-
tauglichkeit dadurch zeigen, daß ſie alles kraͤftige Wir-
ken nach Außen laͤhmen, alles Beſtreben des Geiſtes,
ſeinen Ideen in der Außenwelt Wirklichkeit zu geben,
worinn allein das wahre Handeln beſteht, hindern, und
dem Leben eines ſolchen Gemuͤthes in ſeinen Ideen,
dem Streben deſſelben nach Vervollkommnung und Voll-
endung, eine Verſchloſſenheit geben, durch die es als
der vollendetſte Egoiſmus erſcheint, indem alle ſeine Ar-
beit und Muͤhe keinen andern Zweck hat, als es ſelbſt
und ſeine eigne Vollkommenheit, lediglich um vollkom-
men zu ſeyn.


Jene falſche Abſtraction und die daraus entſprin-
gende Einbildung von der reinen Geiſtigkeit des Men-
ſchen erſcheint aber praktiſch noch ſchaͤdlicher und zu-
gleich in großer Albernheit bei denen unſrer jungen
Zeitgenoſſen, die auf ihrem rein geiſtigen Standpunkt
ſich fuͤr alle Verhaͤltniſſe des eigentlichen Geſchaͤftes auf
Erden zu vornehm duͤnken, die fuͤr die hohen Ideen,
mit welchen ihre Intelligenz das Univerſum zu umfaſ-
ſen waͤhnt, auf dieſer Erde keinen Punkt der Anwen-
dung ſehen, durch den nicht ihre reine Geiſtigkeit ver-
unreiniget wuͤrde, die eben deshalb jede poſitive Kennt-
niß und jede Fertigkeit veraͤchtlich von ſich weiſen, die
noͤthig iſt, um den Ideen Wirklichkeit in dieſer Erden-
welt zu geben. An deren Beiſpiel zeigt ſich um ſo
auffallender, daß mit dem Abſtractionswahn, der den
[43]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
Menſchen als reine Intelligenz nimmt, nicht nur eine
ungegruͤndete Verachtung ſeiner animalen Natur ver-
bunden iſt, ſondern auch die hohe Bedeutung ſelbſt ver-
loren geht, welche die ganze ſichtbare Welt eben durch
den unerklaͤrbaren Zuſammenhang und die unaufloͤsliche
Einheit derſelben mit dem Unſichtbaren hat, und welche
der Menſch auch ſeinem Handeln in dieſer Welt beile-
gen muß, ſobald er erkennt, daß ſein Leib nicht, von
dem Geiſte getrennt, bloß die Maſchine iſt, ſein thieri-
ſches Leben zu tragen, ſondern, von dem Geiſte innigſt
durchdrungen, das Organ, ſein geiſtiges Leben in der
aͤußeren Welt darzuſtellen und ihm dadurch einen Inn-
halt zu verſchaffen, ohne welchen es in leerer Traͤume-
rei verkoͤmmt.


Dahin fuͤhrt, ſobald nur Conſequenz beobachtet
wird, die einſeitige Abſtraction, die den Begriff des
Menſchen nur von dieſer einen Seite faßt; und es iſt
hohe Zeit, offen zu geſtehen, daß die bezeichnete Huma-
nitaͤts- Philoſophie nicht ohne Schuld iſt, wenn ihren
theoretiſchen Behauptungen Myſticiſmus und ihren prak-
tiſchen Forderungen Unausfuͤhrbarkeit und Untauglich-
keit in den Lebensverhaͤltniſſen vorgeworfen wird; daß
vielmehr die philoſophiſche Weisheit auch darinn von
dem Weltverſtand, den ſie ſo gern uͤberall herunterſe-
tzen moͤchte, beſchaͤmt und mit Recht verſpottet und zu-
ruͤckgewieſen wird, ſo lange ſie auf unvollſtaͤndige Ab-
ſtractionen Theorieen baut, denen ſie mit verblendetem
Eifer Einfuͤhrung ins Leben und ſogar geſetzliche Kraft
zu verſchaffen trachtet.


[44]Zweiter Abſchnitt.

Auf demſelben Abwege nun finden wir unlaͤugbar
auch das Extrem des Erziehungsunterrichts, welches
durch den Humaniſmus repraͤſentirt, in ſeiner hi-
ſtoriſchen Erſcheinung zwar auf mancherlei Weiſe modifi-
cirt und gemildert, im Ganzen aber auf dieſelbe Weiſe
ausgeſprochen wird. Indem der Humaniſmus fordert:
„daß ausſchließend der Geiſt des Menſchen geuͤbt und
gebildet, mit Bildung des Koͤrpers keine Zeit verloren,
auch die Geiſtesuͤbung ſelbſt ausſchließend an geiſtigen
Gegenſtaͤnden, an den heiligen Ideen, die allein einen
unvergaͤnglichen ewigen Werth haben, angeſtellt, auf
materielle Gegenſtaͤnde der ſichtbaren vergaͤnglichen Welt
gar keine Ruͤckſicht dabei genommen werde, u. dgl.;“
macht er ſich, zwar nicht der Inconſequenz, aber der
Einſeitigkeit, die aus der Halbheit ſeines Princips her-
vorgeht, unſtreitig ſchuldig; und man darf ſich nicht
wundern, wenn ihn in dem Urtheil der verſtaͤndigen
Weltleute alle die Vorwuͤrfe der Ueberſpannung, der
Schwaͤrmerei, des Mangels an Weltkenntniß u. ſ. w.
treffen, die oben im Allgemeinen als gegruͤndet aufge-
zeigt worden ſind.


Damit kann jedoch keinesweges geſagt ſeyn ſollen:
daß der Humaniſmus nichts Wahres enthalte; am al-
lerwenigſten aber: daß diejenigen recht haben, die, ver-
kennend das Wahre, ewig Ehrwuͤrdige, das der Huma-
niſmus in Schutz nimmt, in demſelben nur das Ein-
ſeitige und Ueberſpannte erblicken und verſpotten, ſelbſt
aber nicht weniger einſeitig auf das entgegengeſetzte Ex-
trem uͤberſpringen und, indem ſie den Maͤngeln von
[45]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
jenem abzuhelfen meinen, dem allerverderblichſten Miß-
brauch huldigen. Die folgende Pruͤfung beider Syſte-
me wird dies einleuchtend genug zeigen; jetzt iſt es vor
allem andern darum zu thun, auch den Gegenſatz mit
moͤglichſter Beſtimmtheit aufzufaſſen.


3.


Wird in dem Erziehungsunterrichte die zweifa-
che Natur
und Beſtimmung des Menſchen, durch Ab-
ſtraction von ſeiner geiſtigen Natur und ſeinem
Verhaͤltniſſe zur Innenwelt, verkannt, ſeine animale
Natur
als die unzweifelhafte ſolide Realitaͤt ſeines
Weſens, ſein Schaffen und Wirken in materiellen Din-
gen als die einzige unzweifelhafte Beſtimmung deſſelben
betrachtet: ſo muß dies zwar ohne Zweifel in den Maß-
regeln des Erziehens und Unterrichtens von der einen
Seite eine gewiſſe Nuͤchternheit begruͤnden, die vor my-
ſtiſcher Verbildung der Zoͤglinge hinlaͤnglich ſichert, und
von der andern Seite antreiben, fuͤr alles zu ſorgen,
was dem Lehrling im ſpaͤteren Leben zu ſeinem Berufe
in dieſer Welt und zu einem gluͤcklichen Fortkommen
in derſelben behuͤlflich und in Zeiten des Dranges und
der Noth zu wiſſen unentbehrlich ſeyn duͤrfte. Allein,
wenn jene erſte Abſtraction, die den Menſchen als bloß
geiſtige Natur betrachtet, ſchon theoretiſch unguͤltig und
praktiſch nachtheilig iſt, ſo muß beides noch bei weitem
mehr in dieſer letztern Abſtraction eintreten, die den
Menſchen als bloß animale Natur betrachtet. Was je-
ne Anſicht vom Menſchen auffaßt, iſt in jeder Bezie-
hung der wichtigere Theil ſeines Weſens, ſeine hoͤ-
[46]Zweiter Abſchnitt.
here Natur; welche verkennen, das Weſen des Men-
ſchen ſelbſt, die Humanitaͤt, verkennen heißt: was
dagegen die letztere Anſicht vom Menſchen auffaßt, iſt
in jeder Beziehung der minder wichtige Theil ſeines
Weſens, ſeine niedere Natur, das, was er mit
dem ganzen Thierreiche gemein hat, und was eben des-
halb auch mit Recht den Namen der Humanitaͤt nicht
theilt, ſondern als Animalitaͤt der Menſchen-Natur
nur beigezaͤhlt wird. So gewiß es uͤberall nachtheili-
ger iſt, die Sorge fuͤr das minder Wichtige zu uͤber-
treiben und das Wichtigere daruͤber zu vernachlaͤſſigen,
als umgekehrt, mit Hintanſetzung des minder Wichtigen,
das Wichtigere mit einer zu aͤngſtlichen Sorgfalt zu
pflegen: ſo gewiß muß der Nachtheil, den die Einſei-
tigkeit der letztern Abſtraction des Begriffes vom Men-
ſchen in dem Unterrichtsſyſteme zur Folge hat, unend-
lich viel groͤßer ſeyn, als in dem entgegengeſetzten Sy-
ſteme je zu fuͤrchten iſt. Die Gefahr erſcheint aber noch
um ſoviel furchtbarer, wenn man bedenkt: fuͤrs erſte,
daß die Sorge fuͤr geiſtige Bildung des Menſchen uͤber-
haupt, — da ein freiwilliger natuͤrlicher Antrieb dazu ihm,
bei ſeiner Traͤgheit zur Reflexion, (welche ſogar als die
Erbſuͤnde bezeichnet worden,) faſt ganz mangelt, — ſo
unentbehrlich, und eben deshalb nicht ſo leicht zu uͤber-
treiben iſt, als die Sorge fuͤr die animale Bildung,
welche bei dem ohnehin ſo maͤchtigen Antriebe dazu,
der in der Natur des Menſchen ſelbſt liegt, nur gar zu
leicht uͤbertrieben werden kann; fuͤrs zweite aber, daß
aus demſelben Grunde auch die Vernachlaͤſſigung der
beſondern Sorge des Erziehers fuͤr die animale Bil-
[47]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
dung ſeines Zoͤglings, wenn er ihn dafuͤr im Geiſtigen
mehr uͤbt, wenig Nachtheil haben kann, da die an gei-
ſtigen Gegenſtaͤnden erlangte Geiſtesfertigkeit ihm er-
forderlichen Falles auch fuͤr animale Zwecke dienen kann,
und uͤberdies theils eigner Vortheil theils oft ſelbſt die
Noth ein ſcharfer Sporn iſt, ihn noch ſpaͤterhin zum
Erlernen verſaͤumter fuͤr animale Zwecke noͤthiger Kennt-
niſſe anzutreiben, dagegen aber die vernachlaͤſſigte gei-
ſtige Bildung einerſeits von keiner Art animaler Bil-
dung erſetzt werden kann, andrerſeits in irdiſchem Vor-
theil und leiblicher Noth ſo wenig einen Sporn findet,
der den Menſchen zum Nachholen des Verſaͤumten an-
triebe, daß vielmehr beide ſogar der gereifteren geiſti-
gen Bildung noch gefaͤhrlich werden, um ſo mehr alſo
den kaum aufgekeimten Saamen derſelben zu erſticken
drohen; ſo daß eine Bildung, die den Zoͤgling mit uͤber-
wiegender Sorgfalt zur Vernunft zu wecken verſaͤumt,
und dagegen die animale Thaͤtigkeit noch mehr in ihm
aufregt, die Humanitaͤt deſſelben, wofern nicht eine
beſonders kraͤftige Natur ihn bewahrt oder ein eigner
Schutzgeiſt ihn rettet, unfehlbar verbildet, und es we-
nigſtens das Verdienſt des animalen Bildners nicht iſt,
wenn ſeine Kunſt nicht in eine Bildung zur Beſtia-
litaͤt
*) ausſchlaͤgt.


[48]Zweiter Abſchnitt.

Auf dieſer Seite ſteht das Syſtem des oben ſo
benannten Philanthropinismus, das bei aller
Soliditaͤt und Nuͤchternheit ſeiner Anſichten von dem
Weſen und der Beſtimmung des Menſchen, und bei
aller Nachdruͤcklichkeit ſeiner Forderungen an die Erzie-
hung und den Unterricht deſſelben, gleichwohl dem Vor-
wurfe der gefaͤhrlichſten Einſeitigkeit nicht entgehen
kann: — gefaͤhrlich, nicht bloß weil ſie das unbedingt
Wichtige verkennt, und das unbedingt Nothwendige
verſaͤumt, ſondern auch weil ſie, den Sinn auf das
Sichtbare heftend, den Unglauben in Abſicht auf das
Unſichtbare verbreitet und vermehrt. Es iſt wohl na-
tuͤrlich, auf die Realitaͤt dieſer ſichtbaren Welt etwas
rechtes zu halten; und ich will in dieſem ſoliden Glau-
ben um ſo weniger jemanden ſtoͤren, da ich die Bedeu-
tung recht wohl kenne, in welcher er wirklich ſolid iſt,
welche jedoch ſchwerlich bei jenen zutreffen moͤchte, die
das Zuverlaͤſſige in die Handgreiflichkeit ſetzen. Aber
es iſt doch auch faſt handgreiflich unwahr, daß dem
Sichtbaren allein Realitaͤt zukomme, und der Menſch
muß ſeine ganze beſſere Natur verlaͤugnen, dem nichts
fuͤr wahr und unbezweifelt gilt, als was ihm in die
Sinne faͤllt, und der darauf den ſeichten Grundſatz
baut: am ſicherſten ſey es, fuͤr das zu ſorgen, was
wir gewiß haben! Welche Gewißheit, der das Evange-
lium entgegenſetzt: du Narr, dieſe Nacht wird man
deine Seele von dir fordern!



[49]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.

Es iſt aber um ſo mehr nothwendig, dieſe Denk-
art hier in ihrem wahren Lichte zu zeigen, nicht bloß
weil ſie ſo natuͤrlich iſt und deshalb ſo viele Anhaͤnger
hat, ſondern insbeſondre auch weil ſie als die Haupt-
grundlage des Philanthropinismus noch nicht genug
beachtet iſt. Folgendes ſind die Grundzuͤge zu einer
vollſtaͤndigeren Schilderung dieſes einſchmeichelnden Sy-
ſtems.


„Dieſes Erdenleben hat der Menſch; ſeinen Koͤr-
per fuͤhlt er, und die Luſt, die in ihm ſich regt; die
Welt, die in ihm ſich ſpiegelt, beruͤhrt er, um ſich von
ihrer Soliditaͤt unwiderſprechlich zu uͤberzeugen, und den
hohen Werth, den ſie fuͤr ihn hat, ſpuͤrt er in dem
Vergnuͤgen, das er nicht nur von ihrem Anblick, ſon-
dern noch kraͤftiger, indem er von ihr verſchlingt, em-
pfindet. Doch waͤr er darinn nur dem Thiere gleich,
das auch, wie er, des Daſeyns Luſt genießt. Allein
ſein hoher Vorzug vor dem Thiere wird ihm unverkenn-
bar durch das Bewußtſeyn ſeines Geiſtes ſelbſt bewaͤhrt.
Zwar, ihn, den Unſichtbaren, ſehen kann er nicht:
allein die Wahrheit ſeines Daſeyns bleibt ihm doch
nicht zweifelhaft; er erkennt ſie in den Lebensplanen,
die ſein Geiſt entwirft, die ſeinem Leben erſt Bedeu-
tung, Zweck und Einheit geben. Kann auch das Thier
mit Zweck und Plan ſich dieſe Erde unterwerfen, aus
tauſend Freuden und Genuͤſſen, die ſie darbeut, ſich
die reizendſten, die reichſten und die dauerndſten erwaͤh-
len, die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft klug
in Eins verbinden, mit Scharfſicht und geuͤbtem Blick
4
[50]Zweiter Abſchnitt.
Erfahrungen vergleichen und darnach vorausgeſehne
Folgen ſchlau berechnen und verhuͤten oder ſuchen, und
ſo durch uͤberlegten Plan die Freude ſeines Daſeyns
ungetruͤbt erhalten und verdoppeln? Das aber kann der
Menſch durch ſeinen Geiſt, und das verbuͤrgt ihm das
reale Daſeyn dieſes Geiſtes, durch den er das vermag.
Das aber deutet ihm auch die Beſtimmung ſeines Gei-
ſtes, den Zweck, wozu er ihn erhalten hat, und wozu
er ihn auch mit Sorgfalt bilden und gebrauchen ſoll:
das Leben naͤmlich moͤglichſt angenehm zu machen, die
Arten und die Mittel des Genuſſes moͤglichſt zu ver-
mehren, des Lebens Leiden und Gefahren kluͤglich vor-
zubeugen oder auszuweichen, ſein Gluͤck nicht ſelbſt
durch Unbedachtſamkeit zu ſtoͤren, und keine guͤnſtige
Gelegenheit der Freude zu verſaͤumen, um nach voll-
brachter Laufbahn einſt, zufrieden mit ſich ſelbſt, im
Frieden ſich zu ſeinen Vaͤtern zu verſammeln. — Wel-
cher Gebrauch, den der Menſch von ſeinem Geiſte ma-
chen moͤchte, haͤtte mehr Realitaͤt, als eben dieſer?
Welche Bildung, die man ihm geben moͤchte, waͤre
ſeiner wuͤrdiger, ſeiner eigentlichen Beſtimmung ange-
meſſener, als eben die, die ihn am ſicherſten in den
Stand ſetzt, die Erforderniſſe eines gluͤcklichen Daſeyns
moͤglichſt vollkommen zu erfuͤllen? — Ueber dieſe Graͤnze
hinaus liegt ein uns unbekanntes Land, vielleicht das
leere Nichts! Vielleicht auch, — laͤugnen koͤnnen wir
es nicht, — ein neues Land der Freude fuͤr die Sterb-
lichen in ſeeliger Unſterblichkeit! Doch wer verbuͤrgt es
uns? Die Menſchen moͤgen ſich daran im ſtillen An-
ſchauen weiden und ergoͤtzen, die Leidenden ſich Troſt
[51]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
aus dieſer Hoffnung ſchoͤpfen: der Kluge laͤßt ſich nicht
bethoͤren, ſein Handeln darnach zu berechnen. Er haͤlt
ſich an die Gegenwart, an das, was keinem Zweifel
unterworfen iſt; fuͤr eine ungewiſſe Zukunft ſeine Zeit
und ſeine Kraft verwenden, nennt er bei dem rechten
Namen: Schwaͤrmen! und weiß von dieſem Fehler
rein ſich zu erhalten. Was da iſt, faßt er, und ge-
brauchts; was ſeyn wird, laͤßt er ſich nicht kuͤmmern:
wie er es weder laͤugnet noch behauptet, ſo hoffet er
auch nichts und fuͤrchtet nichts davon! Koͤmmt eine
beßre Zukunft? Wohl! er wird, auch ſie zu brauchen,
ſchon verſtehen oder lernen. Koͤmmt ſie nicht? ſo hat
er wenigſtens auch nichts auf ſie vorausbezahlt, und
ſeine Rechnung ſchließt ihm rein! So kann er dem
Beruf der Gegenwart, den er mit Sicherheit erkennt,
mit ganzer Kraft und ganzer Seele leben.“


Es iſt nicht zu verkennen, daß die angedeuteten
Grundſaͤtze des Syſtems ſich ſehr verſtaͤndig und un-
ſchuldig ankuͤndigen. Nichtsdeſtoweniger ſind ſie ſo
entſchieden unvernuͤnftig und verderblich, die Vernunft
und Menſchheit entehrend, daß es fuͤr die, die ſehen
wollen, hier nicht einmal eines beſondern Beweiſes die-
ſer Beſchuldigung bedarf.


Und doch ſind ſie die Hauptgrundlage des Phil-
anthropinismus! Ihr werdet das mir nicht glauben;
und ich glaube euch gern, daß ihr entweder den Phil-
anthropinismus nicht fuͤr ſo gefaͤhrlich, oder das, was
ihr mit euern Kindern treibet, nicht fuͤr Philanthro-
4*
[52]Zweiter Abſchnitt.
pinismus haltet: wuͤrdet ihr denn ſonſt ſo ganz mit
Abſicht eure Kinder ſelbſt verderben? Aber eben darum
halte ich nur fuͤr um ſo dringender, euch auf das, was
ihr mit euern Kindern treibet oder treiben laſſet, auf-
merkſam zu machen, und euch wohlmeinend nachdruͤck-
lich zu warnen.


Philanthropinismus iſt es, wenn ihr unter-
laſſet, fruͤh ſchon in dem Herzen eurer Kinder den
Glauben, dieſe zarte Pflanze, die der Menſchheit Keim
enthaͤlt, zu naͤhren und zu pflegen, den Glauben an
das Unſichtbare, Goͤttliche, an die Ideen, an das,
was allein den Menſchen groß und hoch macht und
ehrwuͤrdig, was realer iſt und wahrer und beſtaͤndiger,
als alles, was man mit den Haͤnden greift; wenn ihr
dieſen Glauben, der, in des Geiſtes tiefſtem Inneren
gegruͤndet, fuͤr den Menſchen das Sigel der Vernunft
und ihre Offenbarung und, wie die Vernunft ſelbſt,
in ihm unvertilgbar iſt, nicht achtet in dem Kinde;
wenn ihr dieſem Glauben, der nur durch Glauben
koͤmmt und nur im Glauben ſeine Nahrung findet, mit
Unglauben nur begegnet; wenn ihr aus kindiſcher Ge-
ſpenſterfurcht vermeidet, euern Kindern Gott, den Un-
ſichtbaren, nur zu nennen, damit ſie daran ja nicht
etwa lernen moͤchten, an Geiſter, Hexen, wohl gar an den
Teufel ſelbſt zu glauben; wenn ihr meinet, den fruͤh
erſtickten und erſtorbnen Keim des Glaubens ſpaͤterhin,
wenn erſt der Lehrling zum Verſtand gekommen, durch
eure Katechismusformeln, oder gar durch eure trocke-
nen Begriffe und Beweiſe von dem Daſeyn Gottes und
[53]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
einer hoͤhern Welt leicht wieder zu beleben, oder zu er-
ſetzen: wenn ihr uͤberhaupt verſaͤumet, in dem Lehrling
fruͤh den Sinn fuͤr Geiſt und Geiſtiges zu wecken, die
Innenwelt, die ihm noch naͤher liegt als ſelbſt die
Außenwelt, ihm aufzuſchließen; wenn ihr ihm die Welt
der Phantaſie, das eigentliche Jugendland, verſchließet,
und dagegen ihn in den Kreis der ſtarren aͤußeren Um-
gebungen hinein methodiſch bannet; wenn ihr nichts
eiliger und eifriger mit ihm betreibt, als die Materie
und ihre Formen von allen Seiten zu betrachten, und
zu meſſen und zu zaͤhlen; wenn ihr nichts angelegent-
lichers wißt, als mit Beſchauen eurer Cabinete, bunter
Voͤgel, Schnecken, Muſcheln, Steine und ſo weiter,
die ganze Unterrichtszeit auszufuͤllen; wenn ihr ſogar
in euern Bilderbuͤchern euern Kindern nicht etwa ſchoͤ-
ne Formen oder auch nur freie luſtige Geſtalten, ſon-
dern Meſſer, Scheere, Nadel, und dergleichen Dinge
zeichnet, die ſie richtiger und wahrer taͤglich in natura
ſehen, und die in aller Welt nichts weiter als ihre
eigne unbedeutende Geſtalt vermoͤgen zu bedeuten oder
anzudeuten; wenn ihr den Menſchen, anſtatt in ſeinen
großen Muſtern ihn zu zeigen, in denen er in ſeiner
Herrlichkeit erkannt wird und das Herz zum Glauben
an der Menſchheit Adel und zu Muth und That begei-
ſtert, dem Lehrling nur in einer anatomiſchen Tabelle
weiſet, ihn die Ribben zaͤhlen laſſet, und eine Weis-
heit darein ſetzet, daß er etwa einen Muſkel euch mit
Namen nenne; wenn ihr Fauſts Geſundheits-Katechis-
mus mit dem Chriſtlichen vertauſchet; wenn ihr zum
ernſten Gegenſtand des Unterrichts ſogar das Compli-
[54]Zweiter Abſchnitt.
mentenbuͤchlein machet: wenn ihr uͤberhaupt eure Kin-
der hunderterlei mit einemmal lernen und treiben laſ-
ſet, um ihnen die Zeit zu verkuͤrzen: wenn ihr — auf
der einen Seite hart gegen ihren Koͤrper, ſie in kaltem
Waſſer, Regen, Schnee und Eiß umtreibet, um ſie ab-
zuhaͤrten, als haͤtten ſie in Lappland ihre Unterkunft zu
ſuchen, — auf der andern Seite uͤbertrieben weich, vor
jeder geiſtigen Anſtrengung aͤngſtlich ſie bewahret; die
Elemente eiligſt uͤberſpringet, damit das Kind nur
nicht verdrießlich werde, in keiner Uebung eine Virtuo-
ſitaͤt, nichts Fleckenloſes, fordert, um nur ja das Kind
zu uͤbler Laune nicht zu reizen; euch ſcheuet, zu Ge-
daͤchtnißuͤbungen es anzuhalten, weil es damit ſich quaͤ-
len moͤchte, dafuͤr ihm lieber etwas vorerklaͤrt und vor-
erzaͤhlt, und mit ihm leſet, und ſo ihm Fluͤchtigkeit
und Oberflaͤchlichkeit, Zerſtreuungsſucht und Leſewuth
zur anderen Natur erziehet: — — —


Das alles, und noch vieles dieſer Art, was ich
euch treiben ſehe, iſt Philanthropiniſmus, der
aus Unglauben koͤmmt, und, wo er auch nicht da-
her koͤmmt, doch dahin fuͤhrt. Ich bin jedoch weit
entfernt, euch alle zu beſchuldigen, daß die Vorliebe, die
ihr zu dieſer Art von Paͤdagogik und Erziehungsun-
terricht gefaßt habt, auch bei euch aus jener vergifte-
ten Quelle komme: wie koͤnnte ich auch ſo vermeſſen
und ungerecht ſeyn wollen! Ich kenne ſelbſt ſo Viele,
die in der beßten Ueberzeugung dieſen Weg fuͤr ihre
Kinder waͤhlen, weil ſie nicht ahnen, wohin er fuͤhrt:
ſie freuen ſich vielmehr der Weisheit unſrer Paͤdago-
[55]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
gen, die einen Weg erfunden haben, auf dem die Kin-
der weit fruͤher, ſchneller, leichter zur Vernunft zu fuͤh-
ren ſind, als nach dem pedantiſchen Wegweiſer der al-
ten Paͤdagogik jemals moͤglich geweſen waͤre. — „Was
wiſſen nicht jetzt alles unſre Kinder ſchon in zarter
Kindheit, was ihren Aeltern ſelbſt in ſpaͤten Jahren
noch ganz unbekannt iſt? wie entwickelt zeigt ſich nicht
ihr Geiſt ſchon in der fruͤhſten Jugend? wie loͤſen ſie
nicht, zu einer Zeit, wo ſonſt die Kinder kaum anfien-
gen ihr Einmaleins muͤhſam zu memoriren, die ſchwer-
ſten Rechnungsexempel ſchon mit Leichtigkeit im Kopfe
auf? wie wiſſen ſie nicht, in einem Alter, wo ſonſt
die Kinder kaum Buchſtaben zuſammenzuſetzen verſtan-
den, ſchon Sachen aller Art mit Gelaͤufigkeit in ihre
Theile zu zerlegen und die Theilſtuͤcke puͤnktlich anzuge-
ben und zu beſchreiben? Was muß ſich nicht von ei-
ner Methode, die den jungen Geiſt ſo fruͤh zu wecken
und herauszubilden verſteht, fuͤr ein maͤchtiger Fortſchritt
der einzelnen Lehrlinge und der ganzen Cultur erwar-
ten laſſen? —“ So denket ihr, und habt nichts Ar-
ges draus; ihr ahnet nicht, daß es nur Spreu und
Kohlen ſind, die durch eine Art von Zauberei als Gold
herumgeboten werden! Ihr haltet fuͤr Vernunft,
was nur der aufgeregte animale Geiſt iſt!


Dieſer animale Geſt, den der Apoſtel den na-
tuͤrlichen Menſchen
(ψυχικὸν ἄνϑϱωπον) nennt,
flieht die Vernunft! Gewohnt, auf derbem Grund
und Boden alles feſt zu faſſen, ſcharf zu greifen, mit
leiblich hellem Auge alles klar zu ſehen, muß er eine
[56]Zweiter Abſchnitt.
natuͤrliche Abneigung gegen das Land der Vernunft
haben, wo er fuͤr ſeinen Tact nichts Feſtes findet, wo
ſeiner Zerlegungskunſt die Geſtalten nicht [ſtehen], wo er
mit offnem Auge im Dunkeln tappt. Dar inn liegt die
Gefahr dieſer Unterrichtsweiſe, die — obgleich nicht
gerade uͤberall aus Haß der Vernunft — das Land der
Vernunft flieht und den Lehrling in dem Lande der
materiellen Soliditaͤt eingeſchloſſen haͤlt: ſie gruͤndet
die Gewohnheit, das Reale ausſchließend nach dieſer
Soliditaͤt zu meſſen, und fuͤhrt dadurch unausbleiblich
zum Unglauben, d. i. zum Mangel an Ver-
nunft
; denn Glaube iſt Vernunft! — Was aber
die Fortſchritte der Geiſtes-Cultur betrifft,
die ihr von der geruͤhmten paͤdagogiſchen Methode
euch verſprechet, und die ihr vielleicht als Fortſchrit-
te der Vernunft
betrachtet; ſo taͤuſcht euch nur
auch darinn der animale Geiſt. Habt ihr denn
von eurer Bildungsweiſe andre Proben von Cultur,
als die von animalem Kunſtverſtand und Kunſtfleiß
zeugen, aufzuweiſen? Iſt aber darinn etwas andres,
als ein hoͤherer Grad von dem, was wir auch bei den
Thieren finden? Kunſt- und Zweck-Verſtand
iſt nicht Vernunft! und zur freien Kunſt, die
der Vernunft angehoͤrt, erzieht ihr jenen nie! Auch
kann euch aus der Voͤlkergeſchichte nicht unbekannt
ſeyn, daß die Cultur des Kunſtverſtandes ziemlich enge
Graͤnzen hat, und daß ein hoher Grad deſſelben neben
faſt verſchwundener Vernunft ſtatt finden kann!


Nur ſoviel wollte ich gleich hier vorlaͤufig zur
[57]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
Warnung ſagen; ich hoffe, weiterhin die Taͤuſchung
und die Gefahr, womit ſie die wahre Cultur bedroht,
klar ins Licht zu ſetzen. Ich kehre jetzt zur wiſſenſchaft-
lichen Beſtimmung des Geſichtspunktes zuruͤck, der oben
als das Grundmerkmal dieſes einen Extrems des Er-
ziehungsunterrichts angegeben worden iſt.


Wie unvollſtaͤndig dieſes Unterrichtsſyſtem den Be-
griff des Menſchen gefaßt habe, wird nur um ſo auf-
fallender, wenn man die Ruͤckſicht auf die Zukunft,
die es eine ungewiſſe nennt, ganz beſeitiget. Iſt denn
der Menſch, wenn wir ihn auch nur nach ſeinem
Daſeyn in dieſer Erſcheinungswelt betrachten, als eine
bloß animale Natur
zu beurtheilen und zu be-
handeln? Man mag die beiden Elemente ſeines We-
ſens, Geiſt und Leib, Vernunft und Thier,
nehmen und beſtimmen, wie man will; immer muß
daraus hervorleuchten, daß er durch beide einer zwei-
fachen Ordnung von Gegenſtaͤnden angehoͤrt, und daß
es alſo ſchon nicht logiſch richtig ſey, beide Elemente
in der Vereinigung, in der ſie den Menſchen conſtitui-
ren, nicht wechſelſeitig beide durcheinander, ſondern
einſeitig nur das eine durch das andre zu beſtimmen.
Wer wollte denn aus jener logiſchen Combination des
Begriffes vom Menſchen, als eines Vernunftkoͤr-
pers
, mit logiſcher Conſequenz ein Recht ableiten, die
Vernunft nur als ein Accidens des Koͤrpers, als
etwas, das nur durch und fuͤr den Koͤrper da iſt, zu
betrachten? Fuͤrs erſte laͤßt es ſich — und einen ſo
bedeutenden moͤglichen Fall darf die Abſtraction nicht
[58]Zweiter Abſchnitt.
uͤberſpringen — wenigſtens als moͤglich denken, daß je-
ne beiden in dem Begriffe vom Menſchen abgeſondert
und wieder vereinigt gedachten Elemente ſeines Weſens
auch in ihrer Vereinigung ihre eigne Beſtimmung ab-
geſondert behielten: das Rationale die ſeinige in der
Geiſterordnung, in dem Reiche der Vernunft; das Ani-
male
die ſeinige in der Koͤrperordnung, in dem Reiche
der Thierheit. Fuͤrs zweite aber, will man dies auch
in Anſpruch nehmen, und nicht gelten laſſen, daß Ver-
nunft und Koͤrper in ihrer Vereinigung doch iſolirt ne-
ben einander beſtehen und jedes ſeine eigne Beſtimmung
haben ſoll; ſo wird man doch eben ſo wenig einen con-
ſequenten Grund zu entdecken vermoͤgen, welcher zu
der Behauptung berechtigte: daß die Vernunft nur
durch den Koͤrper beſtimmt werde; wie in dem Sy-
ſtem geſchieht, das dem Philanthropiniſmus zu
Grunde liegt, wo die Vernunft fuͤr gar nichts wei-
ter gilt, als was den Koͤrper fuͤr ſeine Zwecke diri-
girt; als man im Gegentheil logiſch conſequent finden
kann, zu behaupten: daß der Koͤrper nur durch die
Vernunft beſtimmt werde; wie in dem Syſteme ge-
ſchieht, das dem Humaniſmus zu Grunde liegt,
wo der Koͤrper fuͤr gar nichts anderes gilt, als was
die Vernunft fuͤr ihre Zwecke traͤgt.


Soll unſre Anſicht von der wunderbaren Einheit
der Doppelnatur des Menſchen nicht durch unſre Con-
templation einſeitig werden, ſo muß unumgaͤnglich die
Beſtimmung der beiden Elemente, in welche wir uns
die Natur des Menſchen zerlegen, als wechſelſeitig ge-
[59]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
faßt werden. Wir muͤſſen uns eben ſo den Koͤrper
beſtimmt durch die Vernunft denken, wie die Ver-
nunft
beſtimmt durch den Koͤrper. Beide erſchei-
nen dadurch anders, als die iſolirte, oder einſeitig ver-
bundne, Betrachtung ſie uns zeigt. Der Koͤrper,
beſtimmt durch die Vernunft, iſt geheiliget zum
Tempel des Geiſtes Gottes, aber auch zugleich geweiht
zum Werkzeug der Vernunft, und berufen zu dem Dien-
ſte des Herrn, zu deſſen Plan und Willen, der in der
Vernunft geoffenbart iſt und durch die Vernunft er-
kannt wird, thaͤtig mitzuwirken mit aller Kraft und al-
len Miteln, welche ihm gegeben ſind. Die Vernunft,
beſtimmt durch den Koͤrper, findet eben dadurch ein
beſtimmtes Ziel ſich vorgezeichnet, und eine beſtimmte
Bahn zu dieſem Ziele, ihre angewieſene Arbeit, einen
ſichern Wirkungskreis, der ihrer unbeſtimmten Thaͤtig-
keit die feſte Richtung giebt.


Koͤnnen nun die Philanthropiniſten nur dieſe wiſ-
ſenſchaftliche Forderung nicht verwerfen, ſo koͤnnen ſie
auch nicht laͤugnen, daß der Menſch ſeine Beſtimmung
nicht aus dem Koͤrper erkennen und nach dem anima-
len Beduͤrfniß berechnen koͤnne, daß er ſie vielmehr
aus der Vernunft und durch die Vernunft einſehen
muͤſſe, und daß dazu unumgaͤnglich vor allen andern
ſeine Vernunft geuͤbt und gebildet werden muͤſſe.


So laͤßt ſich nach bloß ſtreng logiſcher Conſequenz
die Einſeitigkeit dieſes Syſtems einleuchtend darthun,
und es kann nichts weiter helfen, dagegen ſich auf die
[60]Zweiter Abſchnitt.
inconſequenten Anwendungen eben dieſes Syſtems, in
denen allerlei Nachhuͤlfen angebracht ſind, zu berufen,
da dieſe vielmehr ſelbſt die unzweideutigſten Zeugen
von der gefuͤhlten Untauglichkeit des Syſtems ſind.


4.


Dieſer durch willkuͤrliche Conſtruction des Be-
griffes vom Menſchen entſtehende Gegenſatz bildet un-
ſtreitig die Hauptgrundlage des Unterſchiedes der beiden
entgegengeſetzten Unterrichtsſyſteme; und eine charakteriſti-
ſche Schilderung derſelben wird immer auf dieſen Gegen-
ſatz zuruͤckgehen muͤſſen. Andere Verſchiedenheiten der
beiden entgegenſtehenden Extreme gehen als entferntere
Folgen aus derſelben Grundlage hervor. Es iſt aber
fuͤr den gegenwaͤrtigen Zweck entbehrlich, ſie beſonders
auszuheben und abzuleiten; ſie werden in der folgenden
Unterſuchung der Grundſaͤtze beider Syſteme ausfuͤhr-
lich genug zur Sprache kommen. Dagegen wird es
nicht uͤberfluͤſſig ſeyn, an eine andre Hauptruͤckſicht
gleich hier noch zu erinnern, die nicht ſowohl den Streit
uͤber den Unterricht als vielmehr uͤber den Erziehungs-
Unterricht betrifft.


Das eine Erziehungsſyſtem ſchließt aus dem Kreiſe
des Erziehungs-Unterrichts alle Ruͤckſicht auf
kuͤnftige Lebensbeſtimmung ganz und gar aus; das an-
dre will in denſelben Kreis des Unterrichts durchaus
nichts aufnehmen laſſen, wovon nicht eine beſtimmte
Beziehung auf kuͤnftige Berufsbeſtimmung zu erkennen
iſt. Dieſelbe Verſchiedenheit der Forderungen liegt
[61]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
zwar auch ſchon in der oben gezeichneten Grundlage
beider Syſteme; ſie hat aber doch zugleich einen aͤußern
Grund, den man beſſer geradezu ans Licht zieht, als
ihn ſein Weſen im Verborgnen fort treiben laͤßt.


Es zeigt ſich naͤmlich ein uͤberwiegender Hang,
die Vorbereitung auf den kuͤnftigen Lebensberuf der
Kinder in die Erziehungsperiode hineinzuziehen; und
man ſucht dieſe Maßregel von der einen Seite durch
die Noth, die Kinder moͤglichſt fruͤh zum Brodverdienſt
zu bringen, von der andern Seite aber dadurch zu be-
gruͤnden, daß man in der Schule nicht nur die beßte,
ſondern ſogar die einzige Gelegenheit habe, die Kinder
mit richtigeren Kenntniſſen ihres Berufs bekannt zu
machen, welche man um ſo weniger ungenuͤtzt laſſen
duͤrfe, da die gewoͤhnlichen Gelegenheiten, ein Gewerb
oder ein Handwerk ꝛc. zu lernen, gar zu untaug-
lich und zu weit hinter den Fortſchritten der techniſchen,
oͤkonomiſchen ꝛc. Theorie zuruͤckgeblieben ſeyen, und
folglich die Cultur des Landes die erwuͤnſchten Fort-
ſchritte gar nicht machen koͤnne, wenn man nicht jene
Gelegenheit zu Huͤlfe nehme. Inzwiſchen wuͤrde dieſe
Anſicht hier nicht einmal eine Erwaͤhnung verdienen,
wenn ſie nicht zugleich als Beweis betrachtet werden
muͤßte, daß die richtige Anſicht von der eigentlichen
Beſtimmung des Erziehungsunterrichts faſt ganz zu
Grund gegangen ſey. Der Vorſchlag ſteht ungefaͤhr
jenem gleich, der zum Gegenſtand der Predigten auch
Diaͤtetik, Oekonomik u. dergl. erheben wollte. Ohne
ein gaͤnzliches Verkennen des wahren Zweckes jener
[62]Zweiter Abſchnitt.
Anſtalten, und eine daraus entſpringende Geringſchaͤtzung
deſſen, was ſie thun und leiſten, haͤtte ein ſolcher Vor-
ſchlag, ſeiner ſoliden Vortheilhaftigkeit unerachtet, doch
nimmermehr gemacht werden koͤnnen. Wie koͤnnte et-
was ſo Frivoles vorgeſchlagen werden, wenn die hohe
Wichtigkeit jener Anſtalten erkannt und ihre ehrwuͤrdige
Beſtimmung geachtet waͤre?


Daran alſo iſt hier zu erinnern: daß die Er-
ziehung
die Erweckung und Bildung der Ver-
nunft
in dem Kinde ſey; daß die Periode der Kind-
heit dies nicht nur vor allem andern beduͤrfe, ſondern
ſogar unbedingt fordere; daß, dieſe Forderung vernach-
laͤſſigen, die Grundpflicht der Erziehung verſaͤumen,
und dagegen, willkuͤrlich eine andre Forderung an
die Stelle von jener ſetzen, die aͤlterliche Vollmacht
uͤberſchreiten und das Recht des Kindes verletzen heiße.
Woher erhielte doch (wenn wir nicht den Geſetzen der
Barbarei noch Kraft und Guͤltigkeit einraͤumen wol-
len?) der Vater ein Recht, die Erziehung ſeines Kin-
des nach Willkuͤr zu behandeln? Hat uͤberhaupt ſein
Recht, es zu erziehen, einen andern Grund, als ſei-
ne — in dem allgemeinen Geſetze der Fortpflanzung
der Vernunft gegruͤndete — Pflicht, es zum Men-
ſchen d. i. zur Vernunft
zu erziehen, weil Ver-
nunft nur durch Vernunft gebildet wird, und es ſich
mithin nicht ſelbſt zur Vernunft bilden kann? Wie darf
der Vater, dieſem allgemeinen Vernunftgeſetz entgegen,
jene Beſtimmung willkuͤrlich aͤndern?


[63]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.

Iſt aber dieſer Grundſatz nicht zu verwerfen, ſo
kann uͤber die Beſtimmung des Erziehungsunter-
richts
ebenfalls kein Zweifel weiter obwalten, und
das eine Extrem, welches ihm eine ausſchließende Be-
ziehung auf kuͤnftige Berufsbeſtimmung geben will, muß
ohne weiters als voͤllig unerlaubt abgewieſen werden,
ſobald nicht mehr zweifelhaft iſt, daß Bildung zum
Beruf
nicht Bildung der Vernunft, ſondern Bil-
dung bloß des Kunſtverſtandes
ſey, deren theo-
retiſche Verwechſelung allein jene praktiſche Umtauſchung
noch entſchuldbar macht. Das andere Extrem, das
aus dem Erziehungsunterricht alle Ruͤckſicht auf kuͤnf-
tige Berufsbeſtimmung unbedingt ausſchließt, kann da-
gegen hoͤchſtens inſofern einer Uebertreibung beſchuldiget
werden, als es entweder uͤberhaupt alle Unterrichtsge-
genſtaͤnde, die auf Berufsverhaͤltniſſe und Lebensbeduͤrf-
niſſe Beziehung haben, verwirft, ohne zu beachten,
daß dieſelben Gegenſtaͤnde auch zur Vernunftbildung
angewendet werden koͤnnen, oder ſie auch dann in die
Erziehungsperiode durchaus nicht aufnehmen will, wenn
ſie unbeſchadet des eigentlichen Erziehungszweckes, der
Vernunftbildung, mit angeknuͤpft werden koͤnnten.


Das wahre Verhaͤltniß der Ausdehnung oder Be-
ſchraͤnkung des Erziehungsunterrichts in dieſer letztern
Ruͤckſicht laͤßt ſich, wiefern der Gegenſatz ſelbſt nur aus
aͤußeren Verhaͤltniſſen abgenommen iſt, auch aus dieſen
nur entſcheiden: aus der Dauer der Erziehungsperiode
hauptſaͤchlich, und aus der Faͤhigkeit der Lehrer und
der Lernenden. Die Frage iſt dann aber nicht mehr
[64]Zweiter Abſchnitt.
allgemein: was in den Umfang des Erziehungsunter-
richts gehoͤre? ſondern ſie verwandelt ſich in die beſon-
dre Frage: was der Erziehungsunterricht, wenn er
hoͤchſtens bis zum zwoͤlften Lebensjahr des Zoͤglings
fortgefuͤhrt werden kann, alles aufzunehmen und zu
leiſten vermoͤge? Muß man dieſe Graͤnze der Erzie-
hungsperiode als durch Noth oder Geſetz beſtimmt gel-
ten laſſen, ſo kann zwar beſſere Methode, Faͤhigkeit
und Fleiß der Lehrer und der Schuͤler noch einigen Un-
terſchied in der Ausdehnung des Unterrichts begruͤnden;
doch hat dies in dem allgemeinen Naturgeſetze der Ent-
wickelung des Geiſtes ſeine Graͤnze, und man kann
nicht eine Ausdehnung ins Unendliche annehmen: als
Regel aber laͤßt ſich wohl behaupten, daß ſelbſt unter
den guͤnſtigſten Umſtaͤnden vor dem zwoͤlften Lebensjahre
die Vernunftbildung den Grad der Vollendung ſchwer-
lich ſchon erreicht haben koͤnne, daß ihrer unbeſchadet
auch noch allerlei anderes mit dem Lehrling nach Ge-
fallen betrieben werden koͤnne; vielmehr iſt es in der
Regel ſicher zu fruͤh, die Periode der Erziehung ſchon
mit dem zwoͤlften Lebensjahre zu ſchließen, und der Ge-
ſetzgeber muß die Noth uͤberwiegend finden, um eine
ſolche Abkuͤrzung der Erziehungsperiode im Allgemeinen
zu geſtatten. Iſt dies aber unveraͤnderlich beſtimmt,
ſo muß man die gegebne Zeit nur um ſo ſorgſamer
zu Rathe halten.


Ich kann den Streit der beiden Extreme uͤber die-
ſen Punkt nicht treffender erlaͤutern, als durch Ver-
gleichung mit einer wohlgeordneten Staatsoͤkonomie, in
[65]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
welcher nicht nur auf Verbeſſerung der Einnahmen und
Verminderung der Ausgaben, ſondern hauptſaͤchlich auf
Purification der Etats gedrungen und jede Forderung,
die nicht ſtreng zu dem beſtimmten Verwaltungszweig
gehoͤrt, unerbittlich abgewieſen wird. Soll dieſe heil-
ſam ſtrenge Ordnung nur in den Finanzabtheilungen,
nicht auch in den Geſchaͤftskreiſen eingefuͤhrt werden?
Dadurch entſteht die groͤßte Verwirrung in dem Unter-
richtsgeſchaͤft, daß man ihm alles zuweiſen, von ihm
alles fordern zu duͤrfen glaubt, was man durch Unter-
richt verbeſſern zu muͤſſen oder zu koͤnnen meint. Wie
tauſendmal und bis zum Ueberdruß und Aerger hoͤrt
und lieſt man die Frage wiederholt: „ſollte man nicht
auf dies und dies auch ſchon in den Schulen Ruͤck-
ſicht nehmen?“ Fragte man doch dagegen auch nur ein
einzigesmal: reicht denn auch der Geſchaͤfts-Etat der
Schulen ſo weit? oder: wie weit reicht er uͤberhaupt?
reicht die Ennahme (wenn die Schulzeit geſetzlich nur
vom ſechſten bis zum zwoͤlften Lebensjahre dauert, und
in den Volksſchulen alſo, die noch immer meiſtens bloß
im Winter gehalten werden, nicht mehr als drei Jahre
einer fruͤhen, die Geiſtesentwickelung kaum beginnenden
Lebensperiode zaͤhlt) auch nur fuͤr die nothwendige Aus-
gabe (die Vernunft-Erweckung) zu? Sicher wuͤrde,
wenn man nur daran haͤtte denken wollen, ſo manche
unbeſonnene Zumuthung an den Erziehungsunterricht
unterblieben, und ſo mancher wirkliche Mißgriff in
demſelben nicht geſchehen ſeyn! Es iſt deshalb eine
hoͤchſt nothwendige Forderung an die Paͤdagogiker:
ihren Etat rein zu erhalten.


5
[66]Zweiter Abſchnitt.

5.


Was aber nun die Vereinigung der bei-
den entgegengeſetzten Unterrichtsſyſteme

und den wiſſenſchaftlichen Geſichtspunkt der Beurthei-
lung derſelben betrifft, ſo fuͤhrt uns auch dazu am
natuͤrlichſten und einfachſten die moͤglichſt vollſtaͤndige
und umfaſſende Conſtruction des Begriffes vom Men-
ſchen. Begruͤndet die unvollſtaͤndige, nach einer ein-
ſeitigen Abſtraction gefaßte, Conſtruction jenes Begrif-
fes die beiden Extreme der Unterrichtstheorie; ſo laͤßt
ſich ſchon daher erwarten, daß die Ergaͤnzung des Be-
griffes durch Zuſammenfaſſen der einſeitigen Abſtractio-
nen den Mittelpunkt bilden werde, in dem ſich die
beiden Extreme vereinigen, und von welchem aus
es moͤglich ſeyn wird, eine Ueberſicht uͤber beide zu
gewinnen, das, was in beiden Wahres iſt, zu erken-
nen, und eben deshalb mit voller Gerechtigkeit beide
zu beurtheilen.


Es wird dabei fuͤr unſern Zweck nicht noͤthig ſeyn,
auf eine tiefere Eroͤrterung der metaphyſiſchen Ele-
mente des Begriffes vom Menſchen
einzuge-
hen; es iſt hinreichend, die angezeigten Elemente die-
ſes Grundbegriffes unſrer Theorie — Geiſt und
Leib, Vernunft und Thier
— aufzufaſſen, ihrer
Trennung als einer logiſchen Operation eingedenk zu
bleiben, die Willkuͤrlichkeit, mit welcher das eine oder
das andre Abſtractum fuͤr das Ganze genommen iſt,
aufzuheben, und ſo den Begriff durch eine vollſtaͤndi-
ge Conſtruction in ſeiner Ganzheit herzuſtellen. Wie
[67]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
aber uͤberall durch bloßes Aneinanderknuͤpfen zweier
Endpunkte der Mittelpunkt nicht hergeſtellt wird, ſo
reicht es auch hier nicht zu, die beiden Abſtracta bloß
aneinander zu reihen, um den Begriff vollſtaͤndig zu
faſſen: es iſt vielmehr ſehr wohl zu beruͤckſichtigen, daß
die beiden Elemente ſich durchdringen, und Ein drittes
aus beiden zuſammengeſetztes Ganze bilden, deſſen Zu-
ſammenſetzung ſelbſt nicht weiter erfaßt und verſtanden
werden kann, ſo daß ſich kein Punkt angeben laͤßt, von
dem man ſagen moͤchte: da hoͤre die Thierheit auf und
fange die Vernunft an; oder umgekehrt: da hoͤre die
Vernunft auf und fange die Thierheit an.


Nach dieſer Forderung den Begriff des Men-
ſen
aufgefaßt, muß einleuchtend werden, was nicht zu
oft erinnert werden kann, daß der Menſch nicht nur
weder Vernunft allein noch Thier allein,
ſondern auch nicht beides nebeneinander, ſondern durch-
aus beides als Eines, und inſofern uͤberhaupt weder
Vernunft, noch Thier
, ſondern ein Drittes aus
beiden, durch Vernunft modificirte Thier-
heit
und durch Thierheit modificirte Ver-
nunft
, ſey; die Vernunft in ihm durchaus an Thier-
heit (an ſinnliches Bewußtſeyn), und Thierheit durch-
aus an Vernunft (an rein geiſtiges Bewußtſeyn) ge-
bunden: der Leib durchaus ein Tempel des heiligen
Geiſtes, der Geiſt durchaus umſchloſſen von der Welt,
dem Tempel Gottes.


Faſſen wir nun darnach auch die Beſtimmung
des Menſchen
, ſo tritt dabei derſelbige Fall ein,
5*
[68]Zweiter Abſchnitt.
daß die wahre Anſicht nicht durch bloßes Aneinander-
knuͤpfen der beiden Gegenſaͤtze gefunden werden kann,
ſondern nur indem man beide als einander wechſelſeitig
durchdringend und beſtimmend denkt.


In der Thierheit laͤßt ſich der Begriff von
Beſtimmung des Menſchen nicht ſuchen, da die
Thierheit in dem Menſchen nicht von der Vernunft
iſolirt gedacht werden kann, durch die Verbindung mit
der letztern aber nicht nur (negativ) aufhoͤrt reine
Thierheit zu ſeyn, ſondern auch (poſitiv) etwas ande-
res wird. Es darf naͤmlich ja nicht uͤberſehen werden,
daß der Vorzug, den der Menſch durch jene Verbin-
dung der Vernunft mit der Thierheit in ihm vor dem
Thiere voraus hat, nicht bloß in dem ſinnlichen
Bewußtſeyn
ſeines thieriſchen Lebens beſteht, ſon-
dern in dem geiſtigen Bewußtſeyn von ſeiner
animalen Natur; in welchem Bewußtſeyn der Menſch
ſelbſt ſeine Thierheit uͤber die Thierheit erhoben erblickt,
ſo daß er ſogar im thieriſchen Genuſſe Vernunft bleibt,
und einen hoͤhern Zweck deſſelben ſieht, und in allen
Arten von Genuß Geiſt ſucht und fordert, nicht etwa
nur zu Erhoͤhung der Luft den Genuß zu wuͤrzen, ſon-
dern ihn zu weihen, und ihn ſeiner wuͤrdig zu machen;
wie man im Gegentheil von dem, der die rohe ſinnli-
che Luſt ſucht, allgemein den Ausdruck braucht: daß
er ſich zum Thier erniedrige. Verkennt man
nur dieſe Umwandlung der animalen Natur des Men-
ſchen nicht, welche die Verbindung mit Vernunft in
ihr hervorbringt, ſo muß man auch erkennen, daß der
[69]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
Menſch einer von der ſinnlichen Ordnung der Dinge
verſchiednen hoͤhern geiſtigen Ordnung angehoͤ-
re, in welcher ſeine eigentliche Beſtimmung um
ſo gewiſſer zu ſuchen ſey, da er ſelbſt ſeine animale
Natur dazu erhoben und darauf angewieſen findet.


Eben ſo muß auf der andern Seite die Beſtim-
mung des Menſchen
nicht aus ſeiner Ver-
nunft
allein, ſondern aus ihrer Verbindung mit der
Thierheit in ihm, abgeleitet werden. Die Vernunft,
als reine Vernunft in dem Menſchen gedacht, iſt ein
durchaus Unbeſtimmtes, das wir in dieſer Abſtraction
weder an ſich ſelbſt begreifen, noch auch in ſeinen Aeu-
ßerungen (den Ideen) faſſen und verſtehen, die fuͤr
uns erſt Innhalt und Beſtimmtheit bekommen in ihrer
Anwendung auf die objective Welt. Wir begreifen ſo-
gar die Vernunft ſelbſt nicht anders als in ihrer Be-
ziehung auf ein Objectives, und die Ideen, wenn wir
ſie in ihrer abſoluten Reinheit auffaſſen wollen, wer-
den uns voͤllig innhaltleer oder verſchwinden uns viel-
mehr ganz; wie — um nur dies eine Beiſpiel zur Er-
laͤuterung zu nennen — die Ideen der Moral ohne
beſtimmte Bedeutung ſind, wenn wir ſie ohne ihre Be-
ziehung auf die objecte Welt denken wollen, und eine
Moralitaͤt, die nicht ein Darſtellen moraliſcher Ideen
in der objectiven Welt ſeyn will, eine leere Schwaͤr-
merei iſt. So wird die Vernunft dem Menſchen ſelbſt
erſt durch ſeine animale Natur zum beſtimmten Be-
wußtſeyn fixirt, und ſonach kann ſeine Beſtimmung
weder aus der Vernunft allein erkannt, noch durch
[70]Zweiter Abſchnitt.
Vernunft allein ausgefuͤhrt werden. Ueberſieht man
nun nur dieſe weſentliche Beziehung nicht, in welcher
die animale Natur des Menſchen zu ſeiner Vernunft
ſteht, ſo wird man auch um ſo weniger in der Abſtrac-
tion reiner Geiſtigkeit die eigentliche Be-
ſtimmung
deſſelben ſuchen wollen, da er durch die
Vernunft ſelbſt an ſeine animale Natur und durch die-
ſe an die objective Welt gewieſen iſt, um darinn die
beſtimmten Andeutungen der Vernunft zu verſtehen.


Wenden wir nun dieſe Anſichten von dem Be-
griffe des Menſchen auf die Theorie des Erzie-
hungsunterrichts
an, ſo finden wir die Vereini-
gung der beiden entgegengeſetzten Extreme in der be-
ſchriebnen Doppeleinheit der menſchlichen Natur. Der
Unterricht, der den Menſchen zur Vernunft zu bilden
hat, muß ihn als dieſe Doppel-Natur betrachten und be-
handeln, als ein Weſen, welches nicht bloß zur Ver-
nunft geweckt, ſondern auch, die Vernunft in Wort
und Werk außer ſich darzuſtellen, befaͤhiget werden
ſoll. Keine von beiden Bedingungen darf der Erzie-
her in ſeinem Unterrichte vernachlaͤſſigen, wenn er die
Forderung vollſtaͤndig erfuͤllen will, die Zoͤglinge zum
vollen Gebrauche ihrer Vernunft und zu umfaſſender
Erfuͤllung ihrer Beſtimmung auf Erden anzuleiten.


Damit iſt zugleich der Hauptgeſichtspunkt zur Be-
urtheilung der beiden entgegengeſetzten Unterrichtsſyſte-
me feſtgeſetzt, von welchem aus es leicht iſt, beiden
volle Gerechtigkeit widerfahren zu laſſen. Hier mag
[71]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.
es hinreichend ſeyn, das Verhaͤltniß derſelben gegenſei-
tig zu einander und wechſelſeitig zu dem umfaſſende-
ren Syſteme in einigen Umriſſen zu zeichnen.


In ihrer ſtrengen Conſequenz wiſſenſchaftlich ge-
faßt, ſind beide nothwendig ganz falſch; wie uͤberall,
wo ein Theil fuͤr das Ganze genommen wird, alle auf
die einſeitige Anſicht gegruͤndete Behauptungen durchaus
falſch ſind. Dies hindert aber nicht, einzuraͤumen, daß
in beiden ein Theil des wahren Syſtems ſey, und daß
ſie gegenſeitig einander rectificiren und ergaͤnzen. Der
Philanthropiniſmus nimmt gegen den Huma-
niſmus
die Nothwendigkeit in Schutz, in der Vil-
dung des Lehrlings ſeine Beziehung zur objectiven
Welt zu beruͤckſichtigen; und hat darinn — von dem
wiſſenſchaftlichen Geſichtspunkt aus beurtheilt — voll-
kommen recht. Iſt der Menſch nicht bloß Geiſt, und
kann er als bloßer Geiſt nicht handeln, ſondern muß
ſogar ſeine Aufgabe ſich nach ſeiner Beziehung auf die
objective Welt erſt beſtimmen, ſo muß er auch,
wenn er nicht fuͤr dieſe Welt verbildet und in der Er-
fuͤllung ſeiner Beſtimmung in derſelben behindert wer-
den ſoll, fuͤr dieſe Welt geuͤbt werden. Allein eben
dieſe Grundanſicht des Philanthropiniſmus iſt nur wahr
als Gegenſatz des Humaniſmus, der die Natur des
Menſchen, die er ganz vergeiſtiget, von jener Seite ver-
kennt; an und fuͤr ſich ſelbſt aber iſt ſie unwahr, nicht
nur inwiefern ſie dieſelbe Beziehung auf die objective
Welt in einer niedrigen Ruͤckſicht faßt, den Menſchen
als fuͤr die Erde allein beſtimmt betrachtet, ſondern
[72]Zweiter Abſchnitt.
auch inwiefern ſie ſich iſolirt und in dem Erziehungs-
unterricht als ausſchließend conſtituirt, die geiſtige Na-
tur des Menſchen nicht als etwas Selbſtſtaͤndiges aner-
kennt, und fuͤr dieſelbe keine andre Ruͤckſicht gelten laſ-
ſen will, als die fuͤr ihre Anwendung in der materiel-
len Welt ſorgt. Der Humaniſmus dagegen nimmt
gegen den Philanthropiniſmus die Selbſtſtaͤn-
digkeit der geiſtigen Natur des Menſchen und ihre Un-
abhaͤngigkeit von der materiellen Welt in Schutz, und
behauptet damit etwas ganz Wahres. Iſt der Geiſt
des Menſchen nicht bloß ſinnliches Bewußtſeyn, nicht
bloß das Raͤderwerk, das die thieriſche Maſchine in Be-
wegung und Leben erhaͤlt, ſondern vielmehr geiſtiges
Bewußtſeyn, Kraft und Bewußtſeyn eines rein geiſti-
gen Lebens, ſo muß auch dieſes hoͤhere Daſeyn und
Bewußtſeyn im Menſchen zur lebendigen Erkenntniß
gebracht und in dem Lehrling ausgebildet werden. Al-
lein dieſe Grundanſicht des Humaniſmus iſt ebenfalls
nur wahr als Gegenſatz des Philanthropiniſmus, der
das Daſeyn einer rein geiſtigen Natur des Menſchen,
durch welche er mit einer hoͤhern Ordnung der Dinge
zuſammenhange, nicht anerkennen will, und dem Geiſte
kein anderes reales Seyn als in ſeinem Verhaͤltniß zu
der materiellen Welt zugeſtehen will: ſobald aber der
Humaniſmus ſeine Anſicht als ausſchließend in dem
Erziehungsunterricht conſtituiren, und den Unterricht
auf rein geiſtige Uebung des Lehrlings anlegen will,
iſt er nicht minder in ſeinem ganzen Umfang unwahr,
als der Philanthropiniſmus auf dem entgegengeſetzten
Extreme.


[73]Wiſſenſchaftl. Geſichtspunkt d. Unterſuchung.

Ein großer bedeutender Unterſchied aber zwiſchen
dieſen beiden Extremen findet in Vergleichung mit dem
oben entwickelten hoͤheren Geſichtspunkt, zum Vor-
theil des Humaniſmus,
ſtatt, der dem letztern
einen entſchiednen Vorzug, ſelbſt in ſeiner Einſeitigkeit,
vor dem entgegengeſetzten Unterrichtsſyſteme ſichert. Der
Theil der zweifachen Natur des Menſchen, den der
Humaniſmus vorzugsweiſe bildet und gegen die Unter-
druͤckung des Philanthropiniſmus beſchuͤtzt, iſt eben ſo
in jeder Hinſicht der wichtigere, wie der andere Theil
der menſchlichen Natur, den er vernachlaͤſſiget, in jeder
Hinſicht der minder wichtige iſt. Was er verſaͤumt,
wenn er in der ſtrengſten Conſequenz ſeines Gegenſatzes
den Lehrling lediglich in Ideen und zu Ideen bilden
will, iſt hoͤchſtens die Uebung, die Ideen in ihrer Be-
ziehung auf die objective Welt zu erkennen und ihnen
in dieſer Welt Wirklichkeit zu geben. Darauf beſchraͤnkt
ſich auch der Hauptvorwurf, den der Philanthropiniſ-
mus ihm macht: daß er die Lehrlinge nicht zum prak-
tiſchen Leben
bilde, und ſie nur in Worten nicht
in Sachen uͤbe. Allein, abgeſehen davon, daß der
Unterricht, ſobald er nur wirklich Ideen (des Wah-
ren, Guten und Schoͤnen) und nicht leere Traͤu-
mereien
zum Gegenſtand haben ſoll, irgend eine Art
der Darſtellung der Ideen, welche immer objectiv iſt,
zu Huͤlfe nehmen muß, wodurch jener Vorwurf ſich
vollkommen hebt, wird die Kunſt, den Ideen objective
Wirklichkeit zu geben, in der That am natuͤrlichſten
zuerſt in den Worten geuͤbt, indem das Kind ange-
leitet wird, ſeine Gedanken und Gefuͤhle auszudruͤcken,
[74]Zweiter Abſchnitt. Wiſſenſch. Geſichtspunkt ꝛc.
welche dabei als Sachen gelten, die es behandeln
lernt. Zudem iſt die Behandlung der Sachen, ſo-
fern darunter materielle Gegenſtaͤnde verſtanden wer-
der, als ein beſondrer Beruf zu betrachten, dem
eine Uebung darinn zwar noͤthig iſt, der aber ſein Be-
duͤrfniß nicht zu einer Forderung der allgemeinen
Bildung
machen darf, und fuͤr ſeine Zwecke jene Ue-
bung ſpaͤterhin nach der Erziehungsperiode noch lange
erwerben kann, und um ſo leichter erwerben wird, je
mehr Fertigkeit er in der hoͤheren in der That allge-
mein menſchlichen
Kunſt erlangt hat, Ideen in
Worten darzuſtellen. Dagegen iſt der Theil der
menſchlichen Natur, auf deſſen Ausbildung der Philan-
thropiniſmus das Hauptgewicht legt, in jeder Hinſicht
der minder wichtige, wie der Theil, den er vernachlaͤſ-
ſiget, der unbedingt wichtige iſt; ſo daß man bei dem
Anblick all ſeines mannichfaltigen aͤngſtlichen irdiſchen
Treibens wohl anwenden moͤchte, was da geſchrieben
ſteht: „Martha, Martha, du haſt viel Sorge und Muͤ-
he; Eins aber iſt noth: Maria hat das gute Theil er-
waͤhlet!“


Deshalb wird auch im Folgenden, bei aller Un-
parteilichkeit, die Vergleichung der beiden entgegenge-
ſetzten Unterrichtsſyſteme doch durchaus ſo entſchieden
zu Gunſten des Humaniſmus ausfallen, daß man bei-
nah ſelbſt an den Uebertreibungen dieſes Syſtemes Ge-
fallen finden, und ſonach den Namen — der ohnehin
fuͤr ein einſeitiges Syſtem wohl zu gut iſt — wieder
fuͤr die richtige Theorie in Beſitz nehmen moͤchte.


[[75]]

Dritter Abſchnitt.
Von den Grundſaͤtzen des Erziehungsunterrichts
im Allgemeinen
.


Erſte Abtheilung.
Darſtellung der Grundſaͤtze beider Syſteme
.


Es ſind zwei Hauptruͤckſichten, aus denen der
Streit der beiden entgegengeſetzten Unterrichtsſyſteme
gefaßt werden muß: die eine betrifft den Zweck des
Erziehungsunterichts,
die andre die Mittel
zu dieſem Zwecke
. In Anſehung beider findet zwi-
ſchen beiden Syſtemen eine große Differenz ſtatt, wel-
che hier mit moͤglichſter Beſtimmtheit dargeſtellt, jedoch
nicht in ihren anſtoͤßigen Extremen, in welchen die Wi-
derlegung leicht aber auch nicht befriedigend iſt, ſon-
dern in einer moͤglichſt veredelten Geſtalt gezeichnet
werden ſoll.


[76]Dritter Abſchnitt.

Um deſto leichter die Verſchiedenheit beider Sy-
ſteme uͤberſehen zu koͤnnen, werden die Hauptgrundſaͤtze
beider nebeneinander geſtellt.


Grundſaͤtze

A.
des Humaniſmus.
B.
des Philanthropiniſmus.

I.
Ueber den Zweck des Erziehungs-
unterrichts
.

1. Der Erziehungsunter-
richt hat einen eignen fuͤr
ſich beſtehenden Zweck, all-
gemeine Bildung des
Menſchen
.
2. Es koͤmmt bei dem
Erziehungsunterricht nicht
ſowohl darauf an, be-
ſtimmte Kenntniſſe
zu ſammeln,
als viel-
mehr darauf, den Geiſt
zu uͤben
.
1. Der Erziehungsun-
terricht hat keinen eige-
nen fuͤr ſich beſtehenden,
ſondern nur den relativen
Zweck, Bildung des
Menſchen fuͤr ſeine
kuͤnftige Beſtimmung
in der Welt
.
2. Es koͤmmt bei dem
Erziehungsunterricht nicht
ſowohl darauf an, den
Geiſt an und fuͤr ſich
zu uͤben,
als vielmehr
darauf, ihn mit der
moͤglich groͤßten Maſ-
ſe brauchbarer Kennt-
niſſe auszuruͤſten
.
[77]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Humaniſmus.
3. Der Erziehungsunter-
richt uͤbt den Geiſt der
Lehrlinge, nicht ſowohl um
ihn zu beſtimmten Ge-
ſchaͤften geſchickt zu
machen,
ſondern es iſt
ihm vielmehr Bildung
des Geiſtes an und
fuͤr ſich ſelbſt Zweck
.
4. Es iſt uͤberhaupt in
dem Erziehungsunterrichte
nicht ſowohl darum zu
thun, den Lehrling
fuͤr dieſe Welt zu bil-
den;
wozu er in ſpaͤte-
ren Jahren ſeines Lebens
noch Zeit und Gelegenheit
genug findet; als vielmehr
fuͤr die hoͤhere Welt
des Geiſtes ihn zu
bilden;
welche Bildung,
wenn er nicht darinn ei-
nen feſten Grund in ſeiner
Jugend gelegt hat, fuͤr ihn
oft ganz verloren iſt, da
ihm in ſpaͤtern Jahren
Philanthropiniſmus.
3. Dem Erziehungsun-
terricht kann Bildung
des Geiſtes an und
fuͤr ſich ſelbſt nicht
Zweck ſeyn;
ſie gilt ihm
vielmehr fuͤr etwas zweck-
loſes, ſofern nicht dadurch
der Geiſt zu beſtimm-
ten Geſchaͤften ge-
ſchickt gemacht
werden
ſoll.
4. Es iſt zweckwidrig,
in dem Erziehungsunter-
richte ſchon den Lehrling
zu der hoͤhern Bil-
dung des Geiſtes fuͤr
eine andre Welt
fuͤh-
ren zu wollen; wozu er
in ſpaͤtern Jahren ſeines
Lebens erſt die erforderli-
che Reife des Verſtandes
erlangt: dagegen iſt es um
ſo nothwendiger, die Bil-
dung fuͤr dieſe Welt

in Zeiten mit ihm anzu-
fangen; ihn mit Sachen
bekannt zu machen, damit
nicht die bloß an Wor-
[78]Dritter Abſchnitt.
Humaniſmus.
das, was er fuͤr ſeinen
Beruf zu lernen und zu
thun hat, meiſtens keine
Zeit mehr laͤßt, an jener
hoͤhern Bildung des
Geiſtes fuͤr eine an-
dre Welt
mit Ernſt und
Erfolg zu arbeiten.
Philanthropiniſmus.
ten betriebene Bildung
ihn mit der Welt fremd
laſſe, fuͤr das eigentliche
Handeln untauglich ma-
che, und ihn wohl gar auf
den Abweg ſchwaͤrme-
riſcher Ideen
und dar-
aus entſpringenden un-
thaͤtigen Lebens
ver-
leite.

II.
Ueber die Mittel des Erziehungs-
unterrichts,

a. die Unterrichtsgegenſtände betreffend.

1. Der Erziehungsun-
terricht bedarf fuͤr ſeinen
Zweck nicht viele Un-
terrichtsgegenſtaͤnde;

wodurch der Lehrling nur
zerſtreut und an gruͤnd-
lichem Lernen
gehin-
dert wird: dafuͤr muß der
Lehrling in den wenige-
ren Unterrichtsgegen-
ſtaͤnden
bis zur hoͤch-
ſten Stufe der Kennt-
1. Der Erziehungsun-
terricht kann ſich, bei der
taͤglich wachſenden Aus-
dehnung des unermeßlichen
Reiches des Wiſſenswuͤr-
digen, nicht mehr darauf
beſchraͤnken, den Lehrling
die ganze Erziehungsperio-
de hindurch mit einigen
wenigen Gegenſtaͤn-
den
aufzuhalten, es muß
vielmehr darauf geſehen
[79]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Humaniſmus.
niß und der Fertig-
keit
fortgefuͤhrt werden.
2. Fuͤr die Uebung
des Geiſtes,
wie ſie
von dem Erziehungsunter-
richt gefordert werden kann,
eignen ſich nicht Sachen,
ſondern Ideen, nicht
materielle, ſondern gei-
ſtige Gegenſtaͤnde,
um
den Lehrling des hoͤchſten
menſchlichen Vorzuges, des
Lebens in Ideen oder
einer freien Erkennt-
niß,
ſoviel nur immer
moͤglich iſt, theilhaftig zu
machen, damit er nicht in
dem ſpaͤter folgenden thaͤ-
tigen Leben
ſich in die
Region gemeiner Brod-
kenntniß
ganz vexliere.
3. Die beſtimmten
Philanthropiniſmus.
werden, den Kreis der
Unterrichsgegenſtaͤn-
den moͤglichſt zu er-
weitern,
um dem Kin-
de ſchon den moͤglich
groͤßten Umfang von
Kenntniſſen
zu ver-
ſchaffen.
2. Fuͤr die Uebung
des Geiſtes,
wie ſie
von dem Erziehungsunter-
richt geleiſtet werden ſoll,
eignen ſich nicht Ideen,
welche ſtreng genommen
nur Worte ſind, ſondern
Sachen, nicht geiſtige
Gegenſtaͤnde,
ſondern
materielle, damit nicht
der Geiſt durch bloße Be-
ſchaͤftigung mit Buchſta-
ben und anſchauungs-
leeren Worten ſich in die
Region hohler Wort-
kenntniß
verirre und
fuͤr das thaͤtige Leben
ganz untauglich werde.
3. Die beſtimmten
[80]Dritter Abſchnitt.
Humaniſmus.
Kenntniſſe, die der
Lehrling durch den Erzie-
hungsunterricht erlangen
ſoll, ſind ebenfalls nur
geiſtiger Art, die
Ideen des Wahren,
Guten und Schoͤnen;

denn es iſt die Hauptauf-
gabe der Erziehung, bei
dem Kinde einen ſolchen
Grund jener Bildung in
Ideen zu legen, daß es,
hinausgehend aus der
Schule ins Leben und in
beſtimmte Berufsgeſchaͤfte,
jene Bildung der Hu-
manitaͤt,
die eigentliche
Menſchenbildung, ſei-
nem Geiſte ſo tief einge-
praͤgt mit ſich nehme, daß
ſie unter allem Drang
kuͤnftiger Berufsarbeit un-
vertilgbar und unter aller
Noth eines kuͤmmerlichen
Schickſals unzerſtoͤrbar blei-
be.
Philanthropiniſmus.
Kenntniſſe, die der
Lehrling durch den Erzie-
hungsunterricht erlangen
ſoll, ſind meiſtens mate-
rieller Art,
eine aus-
gebreitete Sachkennt-
niß;
denn es iſt die Haupt-
aufgabe der Erziehung, den
Lehrling mit allen zu ſei-
ner kuͤnftigen Lebensbeſtim-
mung erforderlichen Vor-
kenntniſſen ſo auszuruͤſten,
daß er, hinaustretend aus
der Schule in das Leben
und in beſtimmte Berufs-
geſchaͤfte, alle die Kennt-
niſſe und Fertigkeiten mit
ſich bringe, die eine gruͤnd-
liche Erlernung ſeines Be-
rufes vorausſetzt, und die
ihn allein in den Stand
ſetzen, ſein Berufsgeſchaͤft
uͤber das Handwerksmaͤ-
ßige zu erheben, und durch
Erweiterung und Verfei-
nerung deſſelben ſeinen Ar-
beiten die Vollendung zu
geben, die den Producten
cultivirter Nationen eigen
[81]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Humaniſmus.
4. Die Unterrichtsgegen-
ſtaͤnde, oder die Darſtel-
lungen jener Ideen, muͤſ-
ſen eine durchaus claſſi-
ſche
Form haben; die Aus-
wahl derſelben kann eben
darum kein anderes
Gebiet als das des
Alterthums
finden, in-
dem unlaͤugbar wahre Claſ-
ſicitaͤt in allen Arten der
Darſtellung des Wahren,
Guten und Schoͤnen in
ihrer groͤßten Vollendung
nur bei den claſſiſchen Na-
tionen des Alterthums an-
getroffen wird.
Philanthropiniſmus.
iſt und den Wachsthum
der Cultur eines Volkes
am ſicherſten documentirt.
4. Der Form nach muͤſ-
ſen die Unterrichtsgegen-
ſtaͤnde nur moͤglichſt deut-
lich und beſtimmt

ſeyn; welches die einzige
Claſſicitaͤt iſt, die hier ſtatt
findet. Die Auswahl der-
ſelben aber kann auf das
Gebiet des Alter-
thums um ſo weni-
ger beſchraͤnkt
werden,
da unlaͤugbar in allen Ge-
genſtaͤnden des Wiſſens
insbeſondre der phyſikali-
ſchen und techniſchen Kennt-
niſſe die neuere Zeit Fort-
ſchritte gemacht hat, von
denen das Alterthum noch
nicht einmal eine Ahnung
hatte.

b. die Unterrichtsmethode betreffend.

1. Der Erziehungsun-
terricht muß das Lernen
durchaus als ernſtes
1. Der Erziehungsunter-
richt muß das Lernen
auf jede moͤgliche
6
[82]Dritter Abſchnitt.
Humaniſmus.
Geſchaͤft behandeln,
um den Lehrling durch
fruͤh angeſtrengte Thaͤtig-
keit zum Fleiß und zur
Arbeitſamkeit zu gewoͤh-
nen.
2. Es muͤſſen nicht al-
le Unterrichtsgegen-
ſtaͤnde mit Einemmal

angefangen werden; der An-
fangsunterricht iſt vielmehr
auf die wenigen ei-
gentlichen Elemen-
taruͤbungen zu be-
ſchraͤnken,
theils um den
Lehrling nicht durch An-
haͤufung von Lehrſtoff ver-
worren und verzagt zu
machen, theils um ihn de-
ſto ſchneller zu der unerlaß-
lichen Fertigkeit in den
Elementen zu fuͤhren. Der
Fortſchritt zu einer hoͤhern
Lehrperiode iſt nach er-
langter hinreichen-
der Fertigkeit in den
vorgeſchriebnen Lehr-
Philanthropiniſmus.
Weiſe erleichtern
und verſuͤßen,
um dem
Lehrling das Geſchaͤft zur
Luſt zu machen, und da-
durch Neigung zur Arbeit
in ihm zu erwecken und
zu begruͤnden.
2. Es muͤſſen alle Un-
terrichtsgegenſtaͤnde
mit Einemmal
an-
gefangen werden, und der
Anfangsunterricht iſt nicht
auf die wenigen ei-
gentlichen Elemen-
taruͤbungen zu be-
ſchraͤnken,
theils um
den Lehrling nicht durch
die Trockenheit der einfoͤr-
migen Beſchaͤftigung ab-
zuſchrecken und verdrießlich
zu machen, theils um ihn
gleich von Anfang an zu
einer umfaſſenderen Be-
ſchaͤftigung, wie ſie der
Reichthum ſo mannichfal-
tiger zu erlernender Gegen-
ſtaͤnde erfordert, zu gewoͤh-
nen. Der Fortſchritt zu
[83]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Humaniſmus.
kenntniſſen zu bemeſ-
ſen.
3. Der Erziehungsun-
terricht uͤberhaupt muß ſich
auf einzelne Kreiſe
des Wiſſens be-
ſchraͤnken,
die er den
Lehrling nicht nur in der
ganzen Mannichfaltigkeit
ihrer einzelnen Gegenſtaͤn-
de auffaſſen, ſondern auch
ſyſtematiſch ordnen lehrt,
um ihn dadurch zum ſtreng
logiſchen Denken zu ge-
woͤhnen, und ihn die Kunſt
des ſyſtematiſchen Ordnens
an den kleineren Kreiſen,
die er zu uͤberſehen vermag,
ſo gruͤndlich zu lehren, daß
er, wenn er ſich in der
Folge an umfaſſendere Ge-
biete des Wiſſens wagt,
nicht in den ungluͤcklichen
Wahn verfalle, irgend ein
Gebiet des Wiſſens durch
Philanthropiniſmus.
einer hoͤheren Lehrperiode
iſt nach dem allgemei-
nen Fortgang in dem
geſammten Lehrſtoff

zu beſtimmen.
3. Der Erziehungsun-
terricht muß ſich auf die
ganze Sphaͤre des
Wiſſens ausdehnen,

die er, ſo weit es nur irgend
ausfuͤhrbar iſt, in ihrer
Allgemeinheit und in ih-
rem durchgaͤngigen Zuſam-
menhang encyklopaͤdiſch mit
dem Lehrling zu umfaſſen
ſucht, indem das Einzelne
nur aus ſeiner Allgemein-
heit richtig begriffen wer-
den kann, und derjenige,
dem es an Ueberſicht des
Ganzen fehlt, der nicht
die ganze Sphaͤre des Wiſ-
ſens aus ihrem Mittel-
punkt zu uͤberſchauen ver-
mag, auch von den einzel-
nen Kreiſen des Wiſſens
und ihren einzelnen Ge-
genſtaͤnden nur halbe und
6*
[84]Dritter Abſchnitt.
Humaniſmus.
Ueberfliegen des Stoffes
umfaſſen zu koͤnnen.
4. Der Erziehungsun-
terricht muß darauf berech-
net werden, von den Gei-
ſtesthaͤtigkeiten, welche die
Natur bei dem Menſchen
zuerſt entwickelt, den moͤg-
lichſten Vortheil zu ziehen,
und ſie zugleich zu einem
vorzuͤglichen Grade auszu-
bilden; weshalb insbeſon-
dere das Gedaͤchtniß
des Lehrlings zu uͤben und
zu benutzen iſt, indem die
Uebung deſſelben die Seele
ſtaͤrkt und naͤhrt, und der
Menſch nur das Wiſſen,
was er in ſeinem Gedaͤcht-
niß feſt haͤlt, ſein Eigen-
thum nennen kann.
Philanthropiniſmus.
ſchiefe Vorſtellungen ha-
ben kann.
4. Der Erziehungsun-
terricht muß darauf berech-
net werden, der Natur
in Entwickelung der Gei-
ſteskraͤfte an die Hand zu
gehen, und vorzuͤglich die
ſogenannten hoͤhern See-
lenvermoͤgen, die den
Hauptvorzug des Menſchen
ausmachen, moͤglichſt fruͤ-
he in dem Kinde zu erwe-
cken, um ſie zu einer aus-
gezeichneten Fertigkeit zu
bilden; weshalb insbeſon-
dre die Urtheilskraft
des Lehrlings fruͤh zu uͤben
iſt, indem vorzuͤglich durch
deren Uebung die Ver-
nunft geweckt wird, und
der Menſch nur das, was
er im klaren Begriffe hat,
ſein Eigenthum nennen
kann.

[85]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Zweite Abtheilung.
Vergleichung der Grundſaͤtze beider Syſteme
.


I.
Ueber den Zweck des Erziehungs-
unterrichts
.

1.

„Welchen eignen fuͤr ſich beſtehenden Zweck
ſollte doch der Erziehungsunterricht haben? Das
Kind iſt nur Keim des Menſchen, die Erziehung
nur die Pflege dieſes Keimes zur Entwickelung,
die Kindheit nur die Zeit der Vorbereitung fuͤr
das eigentliche Leben und die Zeit des Handelns. Wie
das Kind ſelbſt an und fuͤr ſich keine Beſtimmung hat,
als die Beſtimmung der Entwickelung zu einem kraftvoll
thaͤtigen Leben in ſpaͤteren Jahren, ſo muß auch der Zweck
der Erziehung
und des Erziehungsunterrichts in den
ſpaͤteren Lebensjahren des Menſchen
geſucht
werden.“


Mit dieſem ſiegenden Argumente fuͤr ſeinen erſten
Grundſatz kann der Philanthropinismus beginnen. Al-
lein in dieſer Allgemeinheit der Anſicht liegt der Streit-
punkt nicht. Auch der Hamanismus leitet den Zweck
des Erziehungsunterrichts von der ſpaͤteren Lebensbe-
ſtimmung des Lehrlings ab. Die eigentliche Differenz
beider entſteht vielmehr von der einen Seite eben in
[86]Dritter Abſchnitt.
der Frage uͤber die Lebensbeſtimmung des Menſchen
uͤberhaupt, von der andern Seite in der Frage uͤber
das Geſchaͤft der Vorbereitung zu jener Beſtimmung
und den Antheil daran, der dem Erziehungsunterricht
zukomme.


Zunaͤchſt alſo, um den eigentlichen Gegenſatz recht
zu faſſen, muͤſſen wir auf die Frage zuruͤckgehen: Was
iſt die Beſtimmung des Menſchen auf Erden?


Betrachtet man, in der mißverſtandnen Anſicht des
einen Extrems, deſſen Einfluß auf die fruͤhere Paͤdago-
gik unverkennbar iſt, die Erde nur als ein Jammer-
thal, das der Menſch nur zu durchwandern habe, um
ſich von allem Irdiſchen zu reinigen und ſich zum Him-
mel, in welchem ſeine eigentliche Heimath ſey, nach der
ſich ſeine Seele ſehne, wuͤrdig zu bereiten: ſo hat der
Menſch mit dieſer Erde nichts zu thun, und auch fuͤr
ſie nichts zu lernen. Dafuͤr iſt es um ſo wichtiger fuͤr
ihn, zu lernen, wie er der Erde ſich entſchlagen, alles
Irdiſchen ſich entaͤußern, und dagegen der geiſtigen
Seeligkeit des Anſchauens Gottes wuͤrdig, und zum
Theil ſchon hienieden theilhaftig werden koͤnne.


Wird der Zweck des Erziehungsunterrichts nach
dieſer Anſicht von der Beſtimmung des Menſchen
gefaßt, ſo wird freilich dieſer Zweck ein ganz eigener,
naͤmlich: der natuͤrlichen Richtung des Blickes auf die
Erde gleich von Anfang an bei dem Kinde entgegenzu-
arbeiten, es mit bloßen Abſtractionen und mit Ueber-
[87]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
irdiſchem zu beſchaͤftigen, um ihm vorzuͤglich durch den
Unterricht, als das wirkſamſte Mittel, die Richtung
des Blickes nach dem Himmel zur zweiten beſſeren Na-
tur zu erziehen. Aber, wie waͤre jene Anſicht zu ver-
theidigen?


Wir wollen nicht unterſuchen, wiefern die dem
Philanthropinismus entgegengeſetzte aͤltere Paͤdagogik
ſich dieſer Verkehrtheit ſchuldig gemacht habe; aber ge-
ſtehen muͤſſen wir doch, daß der aͤußere Zuſtand der
Menſchen, der Staaten und der ganzen Cultur, den
uns die Geſchichte als gleichzeitig mit jener Erziehungs-
weiſe zeigt, zum wenigſten nicht glaͤnzend ſey.


Unſtreitig hat der Philanthropinismus gegen jene
Uebertreibung recht; und es war ein wahres Verdienſt,
daß er an den Mißbrauch derſelben erinnerte, und ge-
gen den Abweg, auf den ſie gefuͤhrt hatte, eingreifend
warnte. Der Philanthropinismus war es, der zuerſt
mit vollem Eifer die Forderung geltend machte: daß
der Menſch, auch der Erde angehoͤrig, ſeinen Blick
nicht bloß gen Himmel richten koͤnne, und — wenn er
auch nicht gerade ſeinen Himmel auf Erden finden
wolle — doch auch auf Erden eine vernuͤnftige Ord-
nung zu ſchaffen, und moͤglichſt zu vervollkommnen und
zu befeſtigen habe; daß der Blick, der, bloß gen Him-
mel gerichtet, die Erde vergeſſen wolle, unſtatthafte
Ueberſpannung, wahre Schwaͤrmerei ſey, welcher man
kraͤftig entgegen arbeiten muͤſſe; und daß dieß nicht
zweckmaͤßiger geſchehen koͤnne, als indem man an die
[88]Dritter Abſchnitt.
des Menſchen ſo wuͤrdige Aufgabe: „daß es durch ſein
Wirken beſſer auf Erden werden muͤſſe,“ nachdruͤcklich
erinnere, und dieß ſchon dem jugendlichen Gemuͤthe
tief einpraͤge, und daſſelbe zu dieſer beſtimmten Thaͤtig-
keit von der fruͤheſten Entwickelung an gewoͤhne und
anleite.


Allein ſo wahr und zweckmaͤßig in ihrer Art auch
dieſe Anſicht iſt, ſo iſt ſie doch nur wahr als Gegen-
ſatz gegen jenes Extrem des Humanismus. Und ſelbſt
in dieſem Gegenſatze laͤßt ſich eine Uebertreibung nicht
verkennen, indem die Gefahr weit groͤßer vorgeſtellt
wird, als ſie in der That iſt. Liegt denn etwa in dem
Kinde an und fuͤr ſich eine vorherrſchende Richtung
des Blickes uͤber die Erde weg nach dem Himmel, daß
es ſo noͤthig waͤre, eine Gewoͤhnung zur entgegengeſetz-
ten Richtung zur allgemeinen Aufgabe des Erziehungs-
unterrichts zu machen? Oder iſt nicht vielmehr die
Richtung des Blickes nach der Erde die erſte, natuͤrliche,
allgemeine, vorherrſchende bei dem Kinde? und muß
nicht vielmehr alſo eine Gewoͤhnung zur entgegengeſetz-
ten Richtung allgemeine Aufgabe der Erziehung ſeyn,
wenn der Menſch nicht durch ſeine eigne Natur mit
ſich ſelbſt und ſeinem wahren Weſen entzweit werden
ſoll? Jene Anſicht kann alſo nur gegen eine zufaͤllige
Verbildung, gegen eine wirkliche Ausartung der rechten
Methode, Wahrheit und Recht haben. Wo der Er-
ziehungsunterricht die Kinder wirklich zu Schwaͤrmern
verbildet, wo er ſie gewoͤhnt, die Erde ganz zu vergeſſen
und ſelbſt zu verachten, wo er anfaͤngt, ſie zu einem
[89]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
muͤſſigen Beſchauen einer unſichtbaren Welt zu gewoͤh-
nen, und gegen wahre Anſtrengung der Geiſteskraft
gleichguͤltig zu machen, — da waͤre es Zeit, der ge-
faͤhrdeten Jugend ſich anzunehmen, und zum Thun,
zur Praxis, zu rufen. — Wo aber hat irgend ein
Schulunterricht bis jetzt jene Wirkung hervorgebracht?
Kann uͤberall ein Jugendunterricht dieſe Wirkung her-
vorbringen? Wer hat je den Blick eines Kindes ſo zum
Himmel zu richten vermocht, daß es der Erde ganz
vergeſſen haͤtte? Die Erde ſelbſt hat Schwerkraft genug
im Menſchen, um ihn zu ſich hinabzuziehen, wie er
auch kuͤnſtlich uͤber ſie hinausgehoben werden moͤchte;
und es kommen fuͤr die Meiſten fruͤh genug Beduͤrf-
niß, Drang und Noth, die ſie zur koͤrperlichen Arbeit
rufen und ſie maͤchtig genug an die Erde mahnen.


Will man alſo ganz aufrichtig ſeyn, ſo wird man
geſtehen muͤſſen, daß der Philanthropinismus, ſofern
er gegen eine poſitive Schaͤdlichkeit des aͤlteren
Erziehungsunterrichts ſich richtete, faſt nur mit ſelbſt-
geſchaffnen Geſpenſtern kaͤmpfte, und daß ſeine Anklage
nur einen Punkt der Anwendung in der negativen
Nachtheiligkeit
des aͤlteren Erziehungsunterrichts
finde, inwiefern darinn nichts gethan wurde, das
Kind zu ſeinem kuͤnftigen Wirken auf Erden anzuleiten.
Gerade dies aber: ob dies geſchehen ſolle? iſt erſt noch
die Frage.


Dagegen wird mit weit mehr Grunde dem Philan-
thropinismus das entgegengeſetzte Extrem vorgeworfen,
[90]Dritter Abſchnitt.
daß er die Erde ſelbſt als die Beſtimmung des Men-
ſchen auf Erden betrachte, und daß ſeine Unterrichts-
weiſe den Lehrling dahin bringe, uͤber der Erde den
Himmel zu vergeſſen und ſelbſt zu verachten, oder —
damit mir Niemand dieſen Ausdruck als Myſticismus
mißdeute! — in dem irdiſchen Treiben Gott und die
Religion zu verlaͤugnen, und ſeine eigne hoͤhere Natur
und ſeine wahre Beſtimmung zu verkennen.


Wollen wir indeß auch einraͤumen, daß in dieſem
Vorwurf ebenfalls Uebertreibung liege, daß der Philan-
thropinismus wenigſtens nicht direct auf dieſe materielle
Verbildung ausgehe, ſo wird man doch fuͤrs erſte nicht
laͤugnen koͤnnen, daß er indirect dahin fuͤhre, und fuͤrs
zweite wird man auch einraͤumen muͤſſen, daß der Hu-
manismus eben ſo wenig direct auf ideelle Verbildung
ausgehe. Sind aber beide Syſteme in Abſicht auf den
Gegenſatz, den ſie uͤber die erſte Hauptfrage bilden,
als Extreme in gleichem Grade verwerflich erkannt: ſo
laͤßt ſich um ſo unparteiiſcher von dem wiſſenſchaftlichen
Geſichtspunkt uͤber beide entſcheiden.


Gehen wir auf die umfaſſende Anſicht von der
zweifachen Beſtimmung des Menſchen zuruͤck,
und betrachten dieſe ſogar als von beiden Syſtemen
des Philanthropinismus und Humanismus ebenfalls
anerkannt; ſo entſteht zwiſchen beiden doch die neue
Frage: ſoll der Erziehungsunterricht auf beide Beſtim-
mungen des Menſchen Ruͤckſicht nehmen oder nur auf
Eine von beiden, und auf welche von beiden? Nach
[91]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
dieſer Ruͤckſicht unterſcheiden ſich eigentlich die beiden
Syſteme uͤber die Frage: ob der Erziehungsunter-
richt einen eignen Zweck habe
?


Sprechen wir naͤmlich beide Syſteme auch ganz
von der einſeitigen Anſicht uͤber die Beſtimmung des
Menſchen frei, und geben zu, daß weder der Philan-
thropinismus fuͤr die Erde allein, noch der Humanis-
mus fuͤr den Himmel allein den Menſchen bilden wolle, ſo
ſtehen doch beide darinn einander entgegen, daß das eine
dieſe, das andre die entgegengeſetzte Ruͤckſicht zur aus-
ſchließenden des Erziehungsunterrichts erheben will. Der
ſtrengere Humaniſmus nimmt die Erziehungsperiode fuͤr
die hoͤhere geiſtige Bildung des Menſchen, fuͤr die Hu-
manitaͤtsbildung
, als das Wichtigere ausſchließend
in Anſpruch, und weiſt dagegen die Bildung fuͤr das thaͤ-
tige Leben und die Berufsbeſtimmung ausſchließend dem
ſpaͤteren Lebensalter zu; der Philanthropiniſmus hinge-
gen will auch ſchon die Erziehungsperiode fuͤr die
Berufsbildung
benutzen, und kann wenigſtens als
Ausrede vorſchuͤtzen, daß die Bildung gleich von An-
fang an, um Einſeitigkeit zu vermeiden, ſich uͤber den
ganzen Umfang der Unterrichtsgegenſtaͤnde verbreiten
muͤſſe.


Darauf alſo ruht der Gegenſatz in der Behaup-
tung des Humaniſmus: daß der Erziehungsunterricht
einen eignen fuͤr ſich beſtehenden Zweck habe;
gegen die Behauptung des Philanthropiniſmus: daß
der Erziehungsunterricht keinen eignen fuͤr ſich
[92]Dritter Abſchnitt.
beſtehenden Zweck habe; — und die Entſcheidung
zwiſchen beiden koͤmmt nun auf die allgemeinere Frage
der Methodik zuruͤck: laͤßt ſich die Vertheilung der
Unterrichtsgegenſtaͤnde rechtfertigen, die einer gewiſſen
Periode des Unterrichts nur eine gewiſſe Claſſe von
Gegenſtaͤnden zuweiſt, oder iſt es zweckmaͤßiger, alle
Unterrichtsgegenſtaͤnde gleich vom Anfang des Unterrichts
an zugleich zu betreiben? Verdient die ſimultane oder
die ſucceſſive Ordnung in Behandlung der Unterrichts-
gegenſtaͤnde den Vorzug?


Was uͤber dieſe Frage von der Seite der Methodik
zu ſagen iſt, wird weiter unten ſeine Stelle finden;
hier muͤſſen wir ſie von der Seite ihrer unmittelbaren
Beziehung auf die zweifache Natur und Beſtimmung
des Menſchen faſſen.


Unlaͤugbar iſt, fuͤrs erſte, daß die Bildung zur
Vernunft bei dem Menſchen uͤberhaupt Schwierigkeit
findet, indem die ſinnliche Thaͤtigkeit von Natur bei
ihm ein entſchiednes Uebergewicht, und dagegen in
demſelben Maße die rein geiſtige Thaͤtigkeit weniger
Regſamkeit hat, ſo daß ſie, ſich ſelbſt allein uͤberlaſſen,
uͤber jene ſich kaum emporarbeiten wuͤrde, und einer
beſondern Erweckung und Pflege durchaus nicht ent-
behren kann, um zu einer Selbſtſtaͤndigkeit zu gelangen.
Wir beduͤrfen fuͤr dieſe Behauptung weder pſychologiſche
noch tiefere metaphyſiſche Gruͤnde; hieruͤber iſt die taͤg-
liche Erfahrung ein unverwerflicher Zeuge, wir duͤrfen
nur ſehen, wie die Kinder, ohne alle abſichtliche
[93]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Belehrung, unmittelbar durch ihre vernuͤnftige oder
unvernuͤnftige Umgebung ſind und werden. Kann
man aber dies nicht laͤugnen, ſo muß man ſchon
daraus die Nothwendigkeit anerkennen, dieſen Zweig
der Bildung zum Gegenſtand der ſorgfaͤltigſten Pflege
zu machen. Welche Pflege aber waͤre ſorgſamer,
oder vielmehr welche andre abſichtliche Pflege ge-
nießt das Individuum, als die der Erziehung? Schon
darum alſo muͤßte der Erziehungsunterricht die Bildung
der Vernunft zu ſeinem Hauptzweck machen. Fuͤrs
zweite aber, die Bildung der Vernunft gedeiht nur
leicht in einem offnen, unbefangnen, noch unzertheilten
und unverbildeten jugendlichen Gemuͤth, und wird im
ſpaͤtern Lebensalter in dem Maße ſchwieriger, in dem
die Vernunft laͤnger unangeregt geblieben und dagegen
der ſinnliche Verſtand herausgebildet worden. Wird
alſo die Bildung der Vernunft im Jugendunterricht
verſaͤumt, ſo iſt der Lehrling in der groͤßten Gefahr,
daß ſie fuͤr ſein ganzes Leben verſaͤumt ſey; und der
Erzieher, dem die Vormundſchaft der Vernunft uͤber
den noch unmuͤndigen Lehrling anvertraut war, hat eine
ſchwere Verantwortung.


Dieſen Anſichten zufolge laͤßt ſich keinen Augenblick
zweifeln, daß der Erziehungsunterricht die Bildung
der Vernunft
, die eigentliche Humanitaͤtsbil-
dung
, zu ſeinem Hauptzweck machen muͤſſe, und daß
die Periode der Erziehung nicht ohne Grund fuͤr dieſen
Zweck ausſchließend in Anſpruch genommen werde.
Denn auch dies iſt uͤberdem noch ganz unlaͤugbar wahr,
[94]Dritter Abſchnitt.
daß gerade das Unſichtbare, Hohe, Goͤttliche, was zum
ganzen Menſchen und zwar eminent gehoͤrt, und doch
in ihm nicht durch ſich ſelbſt allein mit Sicherheit zum
Leben und zur Herrſchaft koͤmmt, durch die Erziehung
zur Gewoͤhnung und zum feſten Glauben kommen muͤſſe,
und daß, wo immer die Erziehung dies verſaͤume, ein
Zufall nur die Menſchheit in dem Menſchen rette, den
ein uͤberwiegendes Gewicht zur Erde niederzieht, wenn
die Erziehung nicht das Gegengewicht, das allerdings
auch in ihm liegt, zum kraͤftigen Entgegenwirken frei
macht. Wo aber gar durch die Erziehung ſelbſt das
natuͤrliche Uebergewicht im Menſchen noch durch Kunſt
vermehrt wird, da wird man wenigſtens ſich nicht ver-
wundern duͤrfen, wenn Gleichguͤltigkeit gegen das Hoͤchſte,
Unempfaͤnglichkeit fuͤr das Ehrwuͤrdigſte, Kaltſinn gegen
Religion, Geringſchaͤtzung wahrer Geiſtesgroͤße und
niedriger Sklavenſinn uͤberhand nimmt.


Aus Gruͤnden alſo, die in der Natur des menſch-
lichen Geiſtes ſelbſt und in dem allgemeinen Geſetze
ſeiner Entwickelung liegen, wird jene Ausſcheidung
gerechtfertiget, die der Humaniſmus macht, indem er
die Humanitaͤtsbildung zum ausſchließenden
Zweck
des Erziehungsunterrichts beſtimmt.


Aber auch ſelbſt den aͤußeren Umſtaͤnden, unter
welchen die meiſten Menſchen leben, iſt jene Forderung
des Humaniſmus angemeßner als der Grundſatz des
Philanthropiniſmus.


[95]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Iſt es denn nicht wirklich ſo im Leben, daß die
Periode des Menſchen, bis zu ſeinem Eintritt in die
Welt, die einzige iſt, in welcher er Zeit hat, fuͤr ſeine
Bildung zur Vernunft zu ſorgen? Sobald die Periode
eintritt, wo die Sorge fuͤr ſeine buͤrgerliche Exiſtenz
anhebt, muß jene Forderung weichen, und tritt in den
Hintergrund zuruͤck. Iſt alſo ſeine Bildung zur Huma-
nitaͤt in jener fruͤheren Periode verſaͤumt, ſo iſt nicht
nur die Gelegenheit nicht mehr fuͤr ihn da, — denn
mit ſolcher Sorgſamkeit auf die Faſſungskraft der ein-
zelnen Individuen berechnet, als es im Erziehungsun-
terricht geſchehen ſoll, wird die Belehrung uͤber Gott
und Goͤttliches und Geiſtiges, wenigſtens in keiner
andern oͤffentlichen Anſtalt ertheilt — ſondern es fehlt
ihm ſelbſt die Zeit, um das Verſaͤumte wieder einzu-
bringen.


Der Grundſatz des Philanthropiniſmus ſetzt eine
ganz ideale Anſicht des Menſchenlebens, wie dieſes in
der Praxis gar nicht vorhanden iſt, voraus, um richtig
erfunden zu werden. Nur dann laͤßt ſich der Grund-
ſatz: „ſchon die Erziehungsperiode als Vorbereitung
auf die ſpaͤtere Berufsbeſtimmung zu behandeln,“ recht-
fertigen, wenn man das ganze Leben des Menſchen als
Eine gleichfoͤrmige Folge von Bildung annimmt. Nur
dann waͤre es moͤglich und raͤthlich, ſchon den Erzie-
hungsunterricht zu Einlernung von Kenntniſſen fuͤr den
kuͤnftigen Beruf zu verwenden, wenn die kuͤnftige Be-
rufsbeſtimmung ſelbſt auch fuͤr die weitere Ausbildung
der Humanitaͤt noch Zeit und Gelegenheit anboͤte. Wo
[96]Dritter Abſchnitt.
dies nicht iſt, — wie es denn wirklich nicht iſt, und
unter den gegebnen Verhaͤltniſſen unſrer Staats- und
buͤrgerlichen Verfaſſungen ſich auch nicht erwarten
laͤßt — da wird die Humanitaͤtsbildung auf
Koſten der Berufsbildung vernachlaͤſſiget und auf-
geopfert, wenn man nicht den Erziehungsunterricht der
erſteren allein beſtimmt, ſondern ihn auch fuͤr die letztere
zugleich, oder gar ausſchließend benutzen will.


Wem dies noch einen Augenblick zweifelhaft ſeyn
koͤnnte, der kann ſich noch von einer andern Anſicht
aus eine Ueberzeugung darin verſchaffen, wenn er ſich
nur die Frage vorlegt: mit welchem Rechte der Staat
die Volksſchulen als Zwangsſchulen erklaͤren koͤnnte,
wenn er ſelbſt ſie als bloße Vorſchulen fuͤr den kuͤnfti-
gen Veruf einrichten laſſen wollte? Wer nicht ſchon
eine unbefugte Ausdehnung der polizeilichen Gewalt
als Recht des Staates vorausſetzt, wird ſchwerlich ein
Recht kennen, die Staatsbuͤrger zu einer vollkommneren
Erlernung von Gewerb, Handthierung, Induſtrie ꝛc.
zu zwingen; ſo ſehr auch die Bequemlichkeit, Ge-
maͤchlichkeit, der Glanz, Erwerb, Reichthum, und was
alles noch ſonſt aus jener Cultivirung der Gewerbsge-
ſchicklichkeit Nuͤtzliches hervorgehen mag, fuͤr das Beſ-
ſerbefinden der Geſellſchaft erwuͤnſcht ſeyn moͤgen. Der
Staat kann durch die Regierung alle polizeilichen Er-
munterungsmittel fuͤr jenen Zweig der Cultur in Bewe-
gung ſetzen; er kann die veralteten Einrichtungen, die
durch altvaͤteriſchen Handwerksſchlendrian den Fortſchritt
der Kunſtgeſchicklichkeit aufhalten, einer Reform unter-
[97]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
werfen, das gewoͤhnliche Lehrjungen-Geſellen- und
Meiſterweſen, ſofern es die Kunſt- und Gewerbs-Cultur
hindert, entweder ganz aufheben oder doch einer ſtrengen
Aufſicht unterordnen, die Befugniß, Lehrjungen anzu-
nehmen, auf die geſchickteren Meiſter beſchraͤnken, und
daneben, wo es ausfuͤhrbar iſt, ſelbſt oͤffentliche In-
duſtrie-Handlungs- und Handwerks-Schulen anlegen,
Lehrlinge darinn mildthaͤtig unterſtuͤtzen, durch Preiße
aufmuntern, in Anſtellungen beguͤnſtigen u. ſ. w. —
aber, ſelbſt zu dieſen Schulen zu zwingen, wird
eine weiſe Regierung nicht geſtatten: Wie wollte ſie
denn zu jenen allgemeinen Volksſchulen zwingen,
wenn ſie auch nichts anderes als Handwerksſchulen
werden ſollten? Das Recht des Staates, zur Volksſchule
zu zwingen, beruht, mit Einem Wort, nicht auf einem
willkuͤrlichen, ſondern auf einem unbedingten
Zwecke des Staats, auf der unbedingten Forderung
an jeden Staatsbuͤrger, daß er Menſch ſey, d. h.
daß er Religion habe, eine hoͤhere Welt und eine
hoͤhere Beſtimmung des Menſchen erkenne und durch
dieſelbe Recht und Pflicht zu unterſcheiden vermoͤge,
daß er an die Realitaͤt der Vernunft glaube und die
Forderungen derſelben dadurch praktiſch ehre, daß er
auch in ſeinem Thun auf Erden alles ihren Idealen
moͤglichſt anzunaͤhern ſtrebe.


Darinn liegt der eigne fuͤr ſich ſelbſt beſte-
hende Zweck
des Erziehungsunterrichts; dazu benutzt
der Staat die Volksſchule, zu der er zwingen kann,
denn dazu — wir koͤnnen dieſe Beſchaͤmung nicht ver-
7
[98]Dritter Abſchnitt.
bergen! — iſt Zwang bei den Meiſten noͤthig, weil
kein ſinnlicher Vortheil dazu lockt. Eben deshalb iſt
es um ſo wichtiger, den Zweck des Erziehungsunter-
richts zu iſoliren, und alle Ruͤckſicht auf das ſpaͤtere
Berufsleben abzuſchneiden, den Lehrling anzuhalten, daß
er ohne einen ſchon vorliegenden handgreiflichen Vor-
theil lerne, damit in ihm fruͤhe der Sinn geweckt und
gebildet werde, der nicht bei allem, was er thun ſoll,
ſogleich fragt, wozu das nuͤtzt, und faͤhig iſt, etwas
auch um ſein ſelbſt willen zu lieben und zu achten und
mit Ernſt zu treiben.


Dazu iſt die Schule und die Schulzeit. Das hat
in unſern alten Schulen (wenn auch nicht nach einem
ſo beſtimmt ausgeſprochnen Princip angeordnet) tief
gelegen, die mit der Chriſtenlehre, neben Schreiben,
Leſen und Rechnen, den ganzen Ingendunterricht der
Mehrheit ausfuͤllten. Das aber hat die Weltklugheit
des Philanthropiniſmus leer und unnuͤtz und ſogar
verbildend gefunden.


Es mag auch ſeyn, daß es hie und da in der
That ſo war, daß mit dem Princip des Humaniſmus
Mißbrauch getrieben, daß wirklich ein Uebergewicht der
Bildung fuͤr das Nichtſinnliche dadurch bewirkt und
eine Ungeſchicklichkeit fuͤr das thaͤtige Leben erzeugt
wurde. Aber dann hat es nur an Mangel und Feh-
lerhaftigkeit der Methode gelegen, und eine Reform
derſelben erfordert, mehr nicht. Die Methode ſelbſt
laͤßt ſich aus dem Mißbrauch derſelben nicht widerlegen.
[99]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Auf die Frage: wird der Schuͤler fuͤr ſein ganzes Leben
und Handeln in der ſichtbaren Welt verbildet, wenn
er nicht ſchon in der Schule dafuͤr gebildet wird? iſt
die Entſcheidung nicht ſchwer. Welche Gefahr fuͤr das
praktiſche Leben braͤchte denn jene Beſchraͤnkung des
Erziehungsunterrichts auf das Hoͤhere, Geiſtige, rein
Menſchliche? Wird denn dadurch das Bilden des Lehr-
lings fuͤr das Leben und den Beruf uͤberhaupt ausge-
ſchloſſen, oder wird es nur aus dem Erziehungsunter-
richt ausgeſchloſſen? Wird es nicht vielmehr als Unter-
richtsaufgabe fuͤr die der Schule unmittelbar folgende
Periode durch das Princip des Humaniſmus ſelbſt
gefordert? Fordert denn das Princip des Humaniſmus
etwas anderes, als daß nur nicht beide Aufgaben ver-
einiget, beide Arten des Unterrichts zugleich betrieben
werden ſollen?


Ihr koͤnnet darauf erwiedern: wir muͤſſen darum
beides in der Schule verbinden, weil fuͤr den groͤßten
Theil der Menſchen die Schule die einzige Gelegenheit
iſt, in der ſie eigentlichen Unterricht erhalten, und ſie
folglich gar nicht lernen, was ſie nicht in der Schule
lernen. Allein ich kann euch antworten: fuͤrs erſte iſt
zu ſolchem Unterricht Gelegenheit zu machen; fuͤrs zweite
iſt der eigentliche Unterricht, die theoretiſche Anweiſung,
nicht die einzige und — beſonders in Abſicht auf die
eigentliche Praxis in Gewerb und Induſtrie — nicht
einmal die zweckmaͤßigſte Gelegenheit des Lernens. Die
eigentliche Schule fuͤr die Praxis iſt die Praxis, und
der Lehrling lernt das Leben fuͤr die Welt am ſicherſten
7*
[100]Dritter Abſchnitt.
durch das Leben in der Welt, ſeinen Beruf am gruͤnd-
lichſten, indem er Hand anlegt. So wird die ſchein-
bare Verſaͤumniß der Schule bei dem Lehrling nach
ſeinem Austritt aus der Schule erſetzt. Welchen Erſatz
aber bietet das ſpaͤtere Leben des Schuͤlers an, wenn
in der Schule die hoͤhere Bildung der Vernunft an
ihm verſaͤumt worden, die ſpaͤterhin — da ſie noch die
ungetheilte Offenheit und Empfaͤnglichkeit des jugend-
lichen Gemuͤths bedarf, um wahres Eigenthum des
Menſchen zu werden — kaum mehr zu erſetzen iſt?


Dagegen werdet ihr kaum in Abrede ſtellen koͤnnen,
daß man mit Recht die groͤßte Beſorgniß von eurem
Grundſatz hege, durch den ihr als Zweck des Erzie-
hungsunterrichts die Vorbereitung des Lehrlings auf
ſein Berufsgeſchaͤft erklaͤret, den Hauptzweck der Er-
ziehung aus den Augen ruͤcket, und der Schule die
fuͤr ihre eigentliche Beſtimmung noͤthige Zeit entziehet.
Ihr werdet deshalb auch es mir nicht verargen, wenn
ich meine Beſorgniß laut werden laſſe, und vor einem
Mißgriff oͤffentlich warne, den ich fuͤr wahre Bildung
hoͤchſt gefaͤhrlich halte. Die Schule iſt die Bil-
dungszeit des Menſchen
, naͤmlich der Menſchheit
in dem Menſchen; und dieſe edle Zeit den Kindern
rauben, um ihr jugendlich Gemuͤth mit allem Tand
der Erde anzufuͤllen, iſt gleich ſo unerlaubt, als ſie
dem Moloch opfern!


Die Zeit iſt gekommen, wo man dies wieder ſagen
kann, weil man damit nicht mehr iſt, wie die Stimme
[101]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
des Predigers in der Wuͤſten, weil man auf gleiche
Denkart da und dort ſchon rechnen darf.


Aber ich kann eure Beſorgniß von dem Grundſatz
des Humaniſmus, daß er die Lehrlinge fuͤr die Welt
und das praktiſche Leben verbilde, euch noch von einer
andern Seite her als uͤbertrieben und ungegruͤndet
zeigen.


Fuͤrs erſte, wer fuͤr das Unbedingte gebildet iſt,
der iſt allein eigentlich gebildet, und bringt Bildung
auch zum Bedingten mit. Wer eine andere Realitaͤt,
als die der Erde, kennen, und eine hoͤhere Beſtimmung
dieſer Welt und ſeines Lebens glauben gelernt hat, fuͤr
einen ſolchen hat dieſes Leben einen ganz andern Ernſt,
als den der Noth! Der letztere allein macht kleinlich
und gemein, der erſtere erhebt den Menſchen: den letz-
tern aber allein kennt der, der bloß fuͤr das Bedingte
gebildet wird, und ihm iſt alles Spielerei, wo nicht
die Noth mit ihrem Ernſte ihm entgegentritt. Mit
einem weit edleren Sinne nimmt jener das Leben, als
dieſer. Ein Gemuͤth, erhoben zum Himmel durch Re-
ligion, erblickt ſelbſt die Erde in einem himmliſchen
Lichte; waͤhrend ein Gemuͤth, verſunken in irdiſchem
Treiben und Thun, ſelbſt fuͤr den Himmel nur einen
irdiſchen Blick behaͤlt. Jener treibt ſein irdiſches Ge-
ſchaͤft mit der Begeiſterung, die nur aus dem Glauben
an das Goͤttliche koͤmmt, und ertraͤgt das Ungluͤck mit
der Reſignation, die nur der Glaube an ein hoͤheres
Daſeyn giebt; waͤhrend der Andre fuͤr ſein irdiſches
[102]Dritter Abſchnitt.
Geſchaͤft keinen andern Trieb, als den des groͤbern
oder feinern Eigennutzes, kennt, und im Ungluͤck keine
andre Reſignation, als den verbißnen Unmuth der
Verzweiflung. So wird die Bildung fuͤr das Zeitliche
ſelbſt durch die zu Grund gelegte Bildung fuͤr das
Ewige veredelt.


Fuͤrs zweite aber, auch ſogar die Bildung fuͤr
die Welt und das Leben
wird gruͤndlicher, als
nach dem Grundſatze des Philanthropiniſmus geſchieht,
vorbereitet, wenn die Bildung zur Vernunft im
Erziehungsunterricht vorausgeſchickt und zur Grundlage
von jener gemacht wird. Ihr fuͤrchtet den Unterricht
des Humaniſmus, weil ſich gar kein Gegenſtand, mit
dem er es zu thun haͤtte, ſehen laͤßt, und es den An-
ſchein hat, daß er am Ende ſich nur mit Traͤumereien
abgebe. Allein, was der Humaniſmus will, iſt ja
nicht ein Umtreiben des Lehrlings in gehalt- und form-
loſen Phantaſieen von einer unſichtbaren Welt. Iſt
gleich der Gegenſtand des Unterrichts, mit dem er ſich
beſchaͤftiget, nicht ein roher Stoff, mehr das leibliche
Auge im Betaſten, als das geiſtige Auge im Fixiren
zu uͤben tauglich, ſo iſt er doch nichts deſto weniger
ein Gegenſtand, und, obſchon nur in Worten
dargeſtellt, doch nicht ein bloßes Wort: das Wort
iſt nur die Form, in der ſich die Ideen, die hier
die Sachen ſind, dem Bewußtſeyn darſtellen; und es
wird Niemand, der die Geſetze der Entwickelung des
Geiſtes kennt, zu laͤugnen wagen, daß dem Blicke, der
an ſolchen Gegenſtaͤnden der Innenwelt im Auffaſſen
[103]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
geuͤbt und geſchaͤrft worden, auch die Gegenſtaͤnde der
Außenwelt mit Beſtimmtheit zu faſſen und mit Klarheit
zu durchſchauen weit eher moͤglich ſeyn werde, als dem,
der noch ſoviel mit materiellem Stoffe oder ſogenannten
Sachen umgetrieben worden.


So erhellt, daß ſelbſt fuͤr den Zweck, den der Philan-
thropiniſmus fuͤr den hoͤchſten oder vielmehr fuͤr den
einzigen des Erziehungsunterrichts erklaͤrt, mehr gewon-
nen als verloren werde, wenn man die Periode der
Erziehung
ausſchließend der Humanitaͤtsbil-
dung
beſtimme; und daß der Philanthropiniſmus,
ſelbſt wenn er den Erziehungsunterricht bloß als Vorbe-
reitung fuͤr die Berufsbeſtimmung der Lehrlinge betrachtet,
demſelben keinen zweckmaͤßigeren Gegenſtand vorſchreiben
koͤnnte, als die Uebung an Ideen, wie ſie die Hu-
manitaͤtsbildung fordert.


Endlich iſt auch noch zu bedenken, daß ſich dieſe
Ordnung nicht umkehren laͤßt, wie der Philanthro-
piniſmus anzunehmen ſcheint. Die Uebung an dem
rohen Stoffe giebt dem Geiſte nicht die Uebung, auch
das Unſichtbare zu ergreifen; ſie lehrt ihn nicht einmal
das Sichtbare recht faſſen. Daß ihr mit dem Kinde
ſpielend um die Erde laufet, wird ſeinen Geiſt nicht
wecken, nicht beleben, nicht erheben; die Erde liegt
dem Kinde viel zu nah, um ſeinem Geiſte die rechte
Nahrung zu geben; das Sehenswerthe an der Erde
ſelbſt iſt das Unſichtbare, was aber, wenn das Auge
des Geiſtes nicht ſchon an den Ideen ſich fuͤr das
[104]Dritter Abſchnitt.
Unſichtbare geuͤbt hat, an dem Sichtbaren nur um ſo
ſchwerer iſt zu ſehen und ſehen zu lehren. Deshalb
iſt es um ſo bedenklicher, den Erziehungsunterricht auf
Uebung an Sachen zu beſchraͤnken; denn, ſoll er
ſich bloß mit der Oberflaͤche und den rohen Theilſtuͤcken
der Sachen beſchaͤftigen, ſo iſt und bleibt und macht
er geiſtlos, und kann ſelbſt als bloße Voruͤbung auf
Ideen
ſo wenig gelten, daß er vielmehr den Blick
dafuͤr mehr und mehr abſtumpft; ſoll er aber die Ideen
in den Sachen faſſen
lehren, ſo faͤngt er offenbar
beim Schwerſten an, und fuͤhrt — was ihr mir viel-
leicht am ſchwerſten glauben werdet — am leichte-
ſten zu dem, was ihr am meiſten fuͤrchtet, zur
Schwaͤrmerei!


Es bleibt ſonach, von welcher Seite man auch
den Streitpunkt faſſe, unverkennbar die richtigere An-
ſicht, die dem Erziehungsunterrichte einen eignen
fuͤr ſich beſtehenden Zweck
beſtimmt, die Huma-
nitaͤts-Bildung
— welche aufs hoͤchſte gefaͤhrdet
iſt, wenn ihr nicht der ganze Unterricht der Erziehungs-
periode gewidmet bleibt.


Man koͤnnte nur noch fragen: ob nicht wenigſtens
bei denjenigen Lehrlingen, bei denen die Periode des
Erziehungsunterrichts viel laͤnger, und ſogar bis uͤber
das achtzehnte Lebensjahr hinaus, dauere, eine Ver-
bindung der beiden Zwecke ſtatt finde, und der Unter-
richt ſich auch auf Berufsbildung ausdehnen laſſe?
Es iſt darauf aber hier nur Folgendes zu antworten.


[105]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Die Humanitaͤtsbildung hat in Ruͤckſicht
auf Extenſion und Intenſion verſchiedne Grade. In
der gewoͤhnlichen Schulbildung muß man ſich meiſtens
ſchon damit begnuͤgen, den Geiſt nur einigermaßen von
den Feſſeln der Animalitaͤt frei zu machen, um ihn vor
dem Untergehen in der Thierheit zu bewahren. Dieſer
Grad der Vernunftbildung in der groͤßern Maſſe der
Einzelnen wuͤrde aber nicht hinreichen, die Vernunftbil-
dung im Ganzen zu erhalten; vielmehr ſetzt die Erhal-
tung von jener ſelbſt die letztere voraus. Dieſe letztere
aber iſt nur moͤglich durch die Claſſe von Individuen,
die, von dem Schickſal beguͤnſtiget, freier von dem
Druck der thieriſchen Noth, ausgezeichnet durch Kraft
und Regſamkeit des Geiſtes, berufen ſind, als Prieſter
der Vernunft ihr heiliges Feuer auf Erden zu bewahren
und zu erhalten. Wer dieſem heiligen Dienſte ſich
weiht, uͤbernimmt die Verbindlichkeit, die Humanitaͤts-
bildung bis zur moͤglichſten Vollendung in ſich zu reali-
ſiren; und fuͤr ihn dauert eben deshalb auch die Periode
des Erziehungsunterrichts nothwendig laͤnger, ohne daß
ihm jedoch dieſe laͤngere Dauer der Erziehungsperiode
Zeit zu andern heterogenen Zwecken anboͤte. Wer jenen
heiligen Zweck der hoͤheren Humanitaͤtsbildung
kennt, und einſieht, daß ſie nicht einer beſondern Kaſte,
ſondern der ganzen Claſſe angehoͤrt, die ſich vorzugs-
weiſe die gebildete nennt; wer zugleich weiß und
bedenkt, wie wichtig es fuͤr die ganze Menſchheit iſt,
daß jener Zweck in ſeinem weiteſten Umfang erfuͤllt
werde: der muß es fuͤr ein Verbrechen gegen die
Menſchheit anerkennen, die edle fuͤr dieſen Zweck be-
[106]Dritter Abſchnitt.
ſtimmte Zeit ſo gering zu achten, daß er rathen koͤnnte,
ſie zum Behuf des Broderwerbes abzukuͤrzen! Was fuͤr
ein Mittel bliebe uns denn noch, die Bildung der
Vernunft
zu erhalten, wenn wir ſie nicht mehr in
dem Kreiſe der Gebildeten durch eine dem Ideale
ſich moͤglichſt annaͤhernde Humanitaͤtsbildung
erhalten wollten?


2.

Nicht nur, daß der Erziehungsunterricht einen
eignen fuͤr ſich beſtehenden Zweck habe, ſondern auch,
worinn dieſer Zweck beſtehe, iſt in dem Obigen bereits
im Allgemeinen ausgeſprochen. Gleichwohl zeigen ſich in
Abſicht auf naͤhere Beſtimmung des letztern Punktes
neue Differenzen, die einer beſondern Eroͤrterung be-
duͤrfen.


Es findet in Abſicht auf den Zweck des Er-
ziehungsunterrichts
ein zweifacher Hauptgegen-
ſatz ſtatt; ſofern dieſer Zweck entweder bloß formell,
von Bildung des Geiſtes an und fuͤr ſich
ſelbſt
, oder bloß materiell, von Erwerbung be-
ſtimmter Kenntniſſe
, verſtanden, dieſer zweifache
Gegenſatz ſelbſt aber wiederum auf bloß geiſtige
oder auf bloß materielle Gegenſtaͤnde, und
entweder auf bloße Contemplation oder auf bloße
Praxis
bezogen wird. Nach dem Princip des
Humaniſmus
naͤmlich hat der Erziehungsunterricht
erſtens bloß formelle Bildung des Geiſtes
[107]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
zum Zweck, und zweitens dieſe formelle Bildung des
Geiſtes einerſeits auf Uebung an bloß geiſtigen
Gegenſtaͤnden
zu beſchraͤnken, andrerſeits auf bloß
contemplative Fertigkeit
zu beziehen. Nach
dem Princip des Philanthropiniſmus hinge-
gen hat der Erziehungsunterricht erſtens bloß mate-
rielle Uebung des Geiſtes
zum Zweck, und
zweitens dieſe materielle Bildung des Geiſtes einerſeits
auf Kenntniß bloß materieller Gegenſtaͤnde
zu beſchraͤnken, andrerſeits auf bloß praktiſche
Anwendbarkeit
zu beziehen.


Es iſt um ſo nothwendiger, den eigentlichen Wi-
derſtreit der beiden Syſteme uͤber dieſen Punkt durch eine
ausfuͤhrlichere Eroͤrterung ins Licht zu ſetzen, da er in
Theorie und Praxis haͤufig mißverſtanden worden und
Mißgriffe veranlaßt hat, und in der That auch weder richtig
verſtanden noch richtig aufgeloͤſt werden kann, wenn nicht
die verwickelten Beziehungen ſcharf ins Auge gefaßt
werden.


Auf den erſten Anblick ſcheint vielleicht Manchen
die Vereinigung beider Extreme keiner großen Schwie-
rigkeit unterworfen, indem man ja nur die entgegenge-
ſetzten Forderungen verbinden, mit der formellen
Bildung des Geiſtes
die materielle verknuͤpfen,
und beide ſowohl auf geiſtige als auf materielle
Gegenſtaͤnde
ausdehnen, und eben ſowohl auf con-
templative
als auf praktiſche Geſchicklichkeit be-
ziehen duͤrfe.


[108]Dritter Abſchnitt.

Allein, nehmen wir die beiden Unterrichtsſyſteme
in dem oben aufgeſtellten ſtrengen Gegenſatz, ſo iſt
dieſer Vereinigungsvorſchlag eine wahre petitio prin-
cipii;
denn, nach jener ſtrengen Entgegenſetzung wird
eben das von beiden gelaͤugnet, daß zum Ideale
menſchlicher Bildung
die vereinigte Erfuͤllung
jener entgegengeſetzten Forderungen noͤthig ſey. Neh-
men wir aber auch beide Syſteme hier nicht in dem
ſcharfen Extrem, und ſetzen ihre Differenz fuͤr die
gegenwaͤrtige Unterſuchung bloß darein: daß beide, von
derſelben Vorausſetzung des Ideals menſchlicher
Bildung uͤberhaupt
ausgehend, nur fuͤr unmoͤg-
lich erkennen, daſſelbe im Erziehungsunterricht
ganz zu erfuͤllen, und deshalb nothwendig finden, die
in dem Ideale vereinigten Forderungen deſſelben zu
trennen, und nur Einen der beiden Haupttheile
zur eigenthuͤmlichen Aufgabe des Erziehungsunterrichts
zu machen; ſo verfehlt gleichwohl der obige Vereini-
gungsvorſchlag den eigentlichen Streitpunkt ganz. Ge-
hen die Syſteme ſchon von der Vorausſetzung aus,
daß der Erziehungsunterricht, weil er nicht die
beiden Hauptbedingungen des Ideals menſchlicher Bil-
dung zu erfuͤllen vermoͤge, auf Eine von beiden
allein beſchraͤnkt werden muͤſſe; ſo kann man verſtaͤn-
digerweiſe nicht mehr den Gegenſatz dadurch aufloͤſen
wollen, daß man ohne weiters vorſchlaͤgt: der Er-
ziehungsunterricht
ſoll beide Hauptbedin-
gungen
erfuͤllen. Wenn nur Eines von den beiden
direct entgegengeſetzten Extremen in dem Erziehungsun-
terricht ſtatt finden kann, ſo gibt es keinen andern
[109]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
directen Ausweg, als ſich fuͤr Eines von beiden unbe-
dingt zu erklaͤren; und das einzige Princip fuͤr dieſe
Entſcheidung iſt die Wichtigkeit oder Unentbehrlichkeit
der einen oder der andern Beſtimmung des Erziehungs-
unterrichts.


Wenn man bei dem Streit uͤber das letztere Ent-
ſcheidungsprincip auch nicht auf jene entferntere Dif-
ferenz der beiden Syſteme uͤber den Begriff von dem
Weſen und der Beſtimmung des Menſchen zuruͤckgehen
will, um von dorther die Entſcheidung uͤber die Wich-
tigkeit des Geiſtigen oder Materiellen zu begruͤnden; ſo
wuͤrde man doch uͤber den vorliegenden Punkt der Un-
terſuchung fuͤr das Princip des Humaniſmus ein Ueber-
gewicht darinn anerkennen muͤſſen, daß er denjenigen
Theil der Geiſtesbildung zum Zweck des Erziehungsun-
terrichts erhebt, fuͤr den außer dem Erziehungsunterricht
ſo wenig geſorgt und ſo ſchwer zu ſorgen iſt.


Aber es iſt keinesweges noͤthig, ſich fuͤr eines der
beiden Extreme direct zu entſcheiden; es zeigt ſich noch
ein anderer Ausweg, der einer naͤheren Erwaͤgung
werth iſt, waͤre es auch nur, um die Entſcheidung
nicht zu uͤbereilen. In derſelben Ruͤckſicht iſt es wohl
nicht uͤberfluͤſſig, die Faͤlle der Entſcheidung hier zur
Ueberſicht zuſammenzuſtellen.


Angenommen, daß der Erziehungsunterricht
nicht zureicht, das Ideal menſchlicher Bildung in
ſeinen beiden Hauptforderungen vollſtaͤndig zu er-
[110]Dritter Abſchnitt.
fuͤllen, und man ſich begnuͤgen muͤſſe, die Aufgabe
theilweiſe zu vollziehen; ſo iſt dieſe Theilung auf
zweierlei Weiſe moͤglich: man kann naͤmlich entweder
bloß den Einen in dem Ideal enthaltnen Haupttheil,
oder von jedem der beiden Haupttheile einen
Theil
in den Erziehungsunterricht aufnehmen. Der
erſtere dieſer beiden Faͤlle iſt weniger verwickelt, und
bedarf keiner weitlaͤufigen Unterſuchung; was uͤber
denſelben ſo eben kurz beruͤhrt worden iſt, mag hier
hinreichen. Der andre Fall dagegen koͤmmt hier mehr
in Betracht, weil er den Mittelweg enthaͤlt, den die
gewoͤhnliche Praxis, die Extreme ſcheuend, ſich erwaͤhlt,
und auf dem ſie, eines feſten leitenden Princips ent-
behrend, ſich in unaufloͤsliche Unbeſtimmtheit verwickelt.


Will man alſo, nach der zweiten hier bezeichneten
Anſicht, den Gegenſatz beider Extreme gleichwohl durch
Vereinigung beider aufloͤſen, beide entgegengeſetzte
Forderungen in dem Erziehungsunterricht verbinden: ſo
kann dies nur dadurch geſchehen, daß man dieſe For-
derungen beide nur zum Theil erfuͤllt, von bei-
den nur Etwas
in den Erziehungsunterricht
aufnimmt.


Allein damit iſt der Streit zwiſchen beiden Extre-
men nicht entſchieden, vielmehr erneuert er ſich damit
unausbleiblich. Dann fragt ſich naͤmlich erſt von
neuem: Wieviel von jedem Extrem ſoll in den Er-
ziehungsunterricht aufgenommen werden? von beiden
gleich viel? oder von dem einen mehr, von dem
[111]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
andern weniger? und von welchem von beiden mehr,
von welchem weniger?


Freilich hat ſich die Praxis hie und da die Ent-
ſcheidung uͤber dieſe Fragen leicht zu machen gewußt,
indem ſie ein bischen Philanthropiniſmus ihrer alther-
gebrachten humaniſtiſchen Methode anfuͤgte, oder ein
bischen Humaniſmus ihrer modernen philanthropiniſchen
Unterrichtsweiſe beimiſchte: von beidem nach Gutduͤnken!
Manche ſind ſogar der toleranten Meinung, daß es
am Ende gleichviel ſey, das eine oder das andre Prin-
cip anzunehmen, wenn man ſich nur vor den aus-
ſchweifenden Folgerungen in Acht nehme, deren das eine
wie das andre Syſtem ſich ſchuldig mache, indem es
ſeinen Satz zu weit treibe. Es ſcheint ihnen, man
koͤnne ſich das Princip des Humaniſmus allen-
falls gefallen laſſen, den Erziehungsunterricht auf den
bloß formellen Zweck, der Bildung des Geiſtes,
zu beziehen; wenn man nur die Einſeitigkeit vermeide,
die bloß Folge der uͤberſpannten Grundanſicht des Hu-
maniſmus (von dem Menſchen als rein geiſtigem Weſen)
ſey, alle materielle Uebungsgegenſtaͤnde ganz
auszuſchließen, und auf praktiſche Bildung des
Geiſtes gar keine Ruͤckſicht zu nehmen: oder auch um-
gekehrt, man koͤnne das Princip des Philan-
thropiniſmus
wohl gelten laſſen, den Erziehungs-
unterricht auf den bloß materiellen Zweck, der
Erlernung beſtimmter Kenntniſſe, zu beziehen; wenn
man ſich nur vor der Uebertreibung huͤte, die bloß aus
der einſeitigen Grundanſicht des Philanthropiniſmus (von
[112]Dritter Abſchnitt.
dem Menſchen als animalem Weſen) herruͤhre, alle
Erlernung geiſtiger Gegenſtaͤnde ganz auszu-
ſchließen, und auf contemplatives Wiſſen gar
keine Ruͤckſicht zu nehmen.


Allein von dergleichen Reconciliatoren, denen ein
Extrem ſoviel gilt als das andre, indem ſie in einer
beliebigen Zuſammenmiſchung das eine durch das andere
ſo lange modificiren, bis ſie beide wie identiſch ausſehen,
kann hier eben ſo wenig im Ernſt die Rede ſeyn, als
von jenen Praktikern, die mehr der Mode wegen, als
aus innrer Ueberzeugung, hier ein wenig dem Humaniſ-
mus und dort ein wenig dem Philanthropiniſmus
huldigen, und bloß nach Gutduͤnken bald von dieſem
bald von jenem eine beliebige Doſis gebrauchen. Die
Rede kann vielmehr nur davon ſeyn, das Princip
aufzuſtellen, nach welchem die vorgeſchlagne, theilweiſe
vorzunehmende, Vereinigung der entgegengeſetzten For-
derungen beſtimmt, und feſtgeſetzt werden ſoll, wie-
viel
von jedem der beiden Extreme in den Umkreis
des Erziehungsunterrichts aufzunehmen ſey.


Bei dem Verſuche aber, ein ſolches Princip
aufzuſtellen, zeigt ſich ſogleich, daß man auf den ent-
ferntern ſtrengen Gegenſatz der beiden Unterrichtsſyſteme
zuruͤckgefuͤhrt wird; denn der eigentliche Streitpunkt
betrifft nicht ſowohl die Beiordnung als vielmehr
die Unterordnung beider Extreme. In der Bei-
ordnung beider, wenn das Materielle fuͤr eben ſo
wichtig gilt als das Geiſtige, und umgekehrt das
[113]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Contemplative fuͤr eben ſo wichtig als das Prak-
tiſche
, gaͤbe es kein anderes Princip der Vereinigung
als die voͤllige Gleichheit des Quantums, daß
naͤmlich der Erziehungsunterricht auf beide For-
derungen gleichviel Ruͤckſicht
zu nehmen habe.
Allein mit dieſer Entſcheidung wird keines von beiden
Syſtemen ſich befriedigen, da jedes derſelben ſeine For-
derung fuͤr wichtiger haͤlt, ſonach ihr Princip ſelbſt
ſchon das der Unterordnung des entgegengeſetzten
Syſtems iſt, wenn ſie auch von der allerſtrengſten
Forderung ihres Extrems etwas nachzulaſſen ſich ent-
ſchließen koͤnnen. Der Streit iſt alſo in der That nur
durch das Princip der Unterordnung zu ent-
ſcheiden, und man kann nicht vermeiden, auf die Unter-
ſuchung zuruͤckzugehen: welches von beiden Syſtemen
das Wichtigere fordere?


Wir werden, nach der oben ſchon naͤher bezeich-
neten Forderung der beiden Syſteme, die Frage auch
in der Ruͤckſicht des zweifachen Gegenſatzes zweifach
auffaſſen muͤſſen: a) iſt Bildung des Geiſtes an
und fuͤr ſich
, oder Erwerbung einer beſtimm-
ten Maſſe von Kenntniſſen
der wichtigere Zweck
des Erziehungsunterrichts? b) iſt das Geiſtige und
Contemplative
oder das Materielle und
Praktiſche
die wichtigere Aufgabe deſſelben?


a.

Der erſtere Hauptgegenſatz ſcheint zwar fuͤrs
erſte mit dem Grundprincip des Widerſtreits zwiſchen
8
[114]Dritter Abſchnitt.
Humaniſmus und Philanthropiniſmus gar nichts ge-
mein zu haben, und inſofern nicht hieher zu gehoͤren,
fuͤrs zweite uͤberhaupt nur eine theoretiſche Spitzfindig-
keit zu ſeyn, die ſich in der Praxis von ſelbſt aufhebe.


Allein, was den erſtern Punkt betrifft, ſo laͤßt ſich leicht
erkennen, daß ſich die Grundtendenz des einen wie des an-
dern Syſtems nur verſteckt, die dem Gegenſatz allerdings zu
Grunde liegt. Streng genommen, will naͤmlich der Hu-
maniſmus die formelle Geiſtesbildung in dem Er-
ziehungsunterricht in der Abſicht iſoliren, um die Ab-
neigung gegen alle materiellen Unterrichts-
gegenſtaͤnde
, die ihm eigenthuͤmlich iſt, deſto unge-
ſtoͤrter befriedigen zu koͤnnen. Aus demſelben Grunde
will der Philanthropiniſmus die materielle Geiſtes-
bildung
(die, in der Allgemeinheit dieſes Gegenſatzes
genommen, nicht zu denken iſt als Erwerbung
bloß materieller Kenntniſſe
mit Ausſchluß aller
Kenntniß geiſtiger Gegenſtaͤnde, ſondern als
Erwerbung beſtimmter Kenntniſſe uͤber-
haupt
ſowohl von geiſtigen als von materiellen Ge-
genſtaͤnden,) in dem Erziehungsunterricht iſoliren, um
die Abneigung gegen alle geiſtige Erkennt-
nißgegenſtaͤnde
, die ihm eigenthuͤmlich iſt, um ſo
ungehinderter ausuͤben zu koͤnnen. Schon inſofern ge-
hoͤrt die Eroͤrterung dieſes Gegenſatzes allerdings hieher,
und duͤrfte hier nicht uͤbergangen werden, wenn auch
nicht andre Ruͤckſichten dieſer Unterſuchung hier eine
Stelle ſicherten.


[115]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Was aber den zweiten Punkt betrifft, ſo iſt zwar
nicht zu verkennen, daß formelle und materielle
Bildung des Geiſtes
gar nicht von einander zu
trennen ſind, indem ſie in Wechſelwirkung ſtehen und
einander wechſelſeitig vorausſetzen und bedingen. Es
iſt uͤberall keine Uebung des Geiſtes durch Un-
terricht
denkbar, die nicht ein Etwas der Er-
kenntniß
zum Gegenſtande habe; und umgekehrt: es
iſt uͤberall kein Erwerben einer Kenntniß durch
Unterricht
denkbar, das nicht zugleich eine Uebung
des Geiſtes
bewirke. Indem alſo der Geiſt an einem
beſtimmten Gegenſtand der Erkenntniß geuͤbt wird,
erwirbt er ſich zugleich die Kenntniß deſſelben; und
umgekehrt: indem er ſich die Kenntniß beſtimmter Ge-
genſtaͤnde erwirbt, wird er an denſelben zugleich geuͤbt.
Es ſcheint demnach ein wahrer Gegenſatz hierinn gar
nicht ſtatt finden zu koͤnnen. Allein, obſchon Uebung
des Geiſtes mit Erlernung von beſtimmten Kenntniſſen,
und Erlernung von beſtimmten Kenntniſſen mit Uebung
des Geiſtes nothwendig verbunden, und eine ohne be-
ſtimmte Erkenntnißgegenſtaͤnde vorzunehmende Uebung
des Geiſtes eben ſo undenkbar iſt, als eine ohne alle
Uebung des Geiſtes zu erwerbende Erlernung beſtimmter
Erkenntnißgegenſtaͤnde: ſo laͤßt ſich doch jene Entgegen-
ſetzung in dem Princip des Humaniſmus und des
Philanthropiniſmus damit nicht als in ſich widerſpre-
chend, oder als etwas, das ſich durch die Praxis von
ſelbſt hebe, abweiſen. Der wahre, die Praxis ſelbſt
weſentlich veraͤndernde, Gegenſatz liegt naͤmlich nicht in
der Trennung jener beiden Zwecke des Unterrichts,
8*
[116]Dritter Abſchnitt.
ſondern in der Frage: welcher von beiden in dem Er-
ziehungsunterricht als der primaͤre behandelt wer-
den ſolle?


Nach dieſer Anſicht von dem Verhaͤltniß der beiden
Unterrichtszwecke entſteht die in der That verſchiedne
zweifache Beſtimmung des Erziehungsunterrichts: wird
die Bildung des Geiſtes als der primaͤre Zweck
angenommen, ſo ſind die Unterrichtsgegenſtaͤnde nur
als Mittel zu betrachten; iſt aber die Erwerbung
beſtimmter Kenntniſſe
als der primaͤre Zweck
anzuſehen, ſo iſt die Uebung des Geiſtes nur Mittel.
Im erſtern Falle wird die Wahl der Unterrichts-
gegenſtaͤnde
lediglich nach der Tauglichkeit derſelben
zu der beabſichtigten Geiſtesbildung beſtimmt: es wer-
den aus dem ganzen Umfang der Erkenntnißgegenſtaͤnde
nur diejenigen und nur ſo viele auserleſen, als den
Forderungen der bezweckten Geiſtesuͤbung angemeſſen
ſcheint; ohne alle Ruͤckſicht darauf, ob dieſe Erkennt-
nißgegenſtaͤnde dem Lehrling auch noch ſonſt zu etwas
nuͤtz, oder ob ihm nicht zu anderen Zwecken andre
Erkenntnißgegenſtaͤnde noch weit noͤthiger ſeyn moͤchten.
Im andern Falle hingegen muß entweder die Wahl
der Unterrichtsgegenſtaͤnde
auf den ganzen
Umkreis der Erkenntniß
ausgedehnt werden,
weil Alles wiſſenswuͤrdig iſt; — wie denn auch der
modernſte Philanthropiniſmus in ſeiner ſyſtematiſchen
Vollendung in dieſes Labyrinth gerathen iſt, aus dem
er, da keine ſchuͤtzende Ariadne einen leitenden Faden
reichen wollte, keine andre Rettung fand, als ſich in
[117]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
das Meer der geſammten Encyklopaͤdie des
Wiſſens
zu ſtuͤrzen; — oder es muß, da doch am
Ende nicht die ganze Encyklopaͤdie des Wiſſens in den
Erziehungsunterricht aufgenommen werden kann, ent-
weder willkuͤrlich ein Theil von Erkenntnißgegenſtaͤnden
ausgehoben, oder nach einem aͤußeren Zweck ein mehr
oder minder Wichtiges von Kenntniſſen ausgeſchieden
werden, deſſen Erlernung als Zweck des Erziehungs-
unterrichts zu fordern waͤre: welche Beſtimmung der
Auswahl in neue endloſe Schwierigkeiten verwickelt.


Eine gleiche Differenz entſteht, durch den aufge-
faßten Gegenſatz uͤber den Zweck des Erziehungsunter-
richts, auch in Abſicht auf die Behandlung der
Unterrichtsgegenſtaͤnde
. Es laͤßt ſich leicht ein-
ſehen, wie ganz anders der Unterricht betrieben werden
muß, wenn er lediglich dazu beſtimmt wird, dem Lehr-
ling eine gewiſſe Maſſe von Gegenſtaͤnden
beizubringen
, als wenn es darauf ankoͤmmt, den
Geiſt des Lehrlings zu wecken und zu bilden
.


Sucht man nun eine Entſcheidung dieſes Streites
nach dem Princip der Unterordnung, ſo muß die Er-
klaͤrung ohne Zweifel fuͤr das Syſtem des Humaniſmus
ausfallen. Erſtens, den Geiſt zu bilden, den
Menſchen zur Vernunft zu erwecken, iſt nicht
nur die wichtigere, ſondern ſogar die unbedingte
Aufgabe des Erziehungsunterrichts; und was der Er-
zieher auch durch ſeinen Unterricht ſonſt leiſten moͤchte,
ſofern er dabei verſaͤumt, den Geiſt des Lehrlings frei
[118]Dritter Abſchnitt.
zu machen und die Vernunft deſſelben zur Selbſtſtaͤn-
digkeit zu entwickeln, waͤre im Vergleich mit dieſem
Zwecke nicht nur werthlos, ſondern ſogar eine unverant-
wortliche Verletzung der heiligen Pflicht, welche den
Grund und Zweck aller menſchlichen Erziehung aus-
macht. Zweitens — beduͤrfte es noch irgend eines
zweiten Grundes fuͤr dieſe Entſcheidung — kann Nie-
mand bezweifeln, daß, wenn man auch die Wichtigkeit
der entgegengeſetzten Zwecke des Erziehungsunterrichts
nur nach der groͤßeren Nuͤtzlichkeit und Brauchbarkeit
abmeſſen wollte, gleichfalls die Anſicht des Humaniſmus
den Vorzug verdiene. Ein durch Unterricht aufgeweckter
und ſich ſelbſt gegebner Geiſt beherrſcht leicht und ſicher
jedes Geſchaͤft und jeden Gegenſtand, und es bedarf
in der That des muͤhſaͤligen Ringens mit dem rohen
Stoffe nicht, um ihn der Herrſchaft unſres Geiſtes zu
unterwerfen, der Geiſt kann dieſe Uebermacht in ſeiner
eignen Sphaͤre ſich erringen. Eine noch ſo große Maſſe
von Kenntniſſen dagegen, womit der Unterricht den
Geiſt anfuͤllen mag, macht an und fuͤr ſich den Lehrling
noch nicht brauchbar, vielmehr bedarf ſie ſelbſt, um
nicht eine todte unbrauchbare Maſſe zu bleiben und
wohl gar den Geiſt zu erdruͤcken, der Belebung und
Beherrſchung des zur Selbſtſtaͤndigkeit gebildeten Gei-
ſtes. Drittens iſt auch die Bildung des Geiſtes die
ſicherſte und unverlierbarſte Wirkung des Erziehungs-
unterrichts, waͤhrend die Summe eingeſammelter Kennt-
niſſe bei Vielen in Vergeſſenheit verſchwindet, oft ohne
eine Spur zuruͤckzulaſſen.


[119]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Man darf alſo unbedenklich ausſprechen: daß Bil-
dung des Geiſtes
der Hauptzweck des Er-
ziehungsunterrichts
ſey. Dadurch aber wird
nicht ausgeſchloſſen, daß zugleich auch auf Erwerbung
beſtimmter Kenntniſſe Ruͤckſicht genommen werde. Ohne
hier noch zu unterſuchen, welche beſtimmte Kenntniſſe
der Erziehungsunterricht ſich zur Aufgabe machen koͤnne,
laͤßt ſich doch im Allgemeinen die Forderung aufſtellen:
daß nicht bloß auf Bildung des Geiſtes uͤber-
haupt, ſondern zugleich auch auf Erwerbung
beſtimmter Kenntniſſe
bei dem Lehrling zu ſehen
ſey; denn es wird mit Recht als ein weſentlicher Theil
der allgemeinen Bildung betrachtet, daß der
Menſch von dem unermeßlichen Reiche des Wiſſens-
wuͤrdigen eine moͤglichſt ausgebreitete und beſtimmte
Kenntniß habe.


Dieſe Forderung ſteht mit der erſtern nicht mehr
im Widerſpruch; vielmehr ſind, in dieſer Unterordnung,
beide vollkommen vereiniget. Erſtens kann nach der
hier feſtgeſtellten Unterordnung der Hauptzweck nicht
mehr dem Nebenzweck aufgeopfert, das unbedingt Wichtige
nicht mehr uͤber dem minder Wichtigen verſaͤumt werden,
und gleichwohl iſt neben der Forderung des unbedingt
Nothwendigen, — ſofern durch Fleiß, beſſere Methode
und ſorgfaͤltigere Benutzung der vollkommneren Unter-
richtsmittel nicht nur jener Hauptzweck erfuͤllt, ſondern
auch noch zu Erweiterung des Planes Zeit gewonnen wer-
den kann, — dem minder Nothwendigen, bloß Nuͤtzli-
chen, der Erwerbung empfehlungswuͤrdiger Kenntniſſe,
[120]Dritter Abſchnitt.
die ausgebreitetſte Beruͤckſichtigung nicht verſagt. Zwei-
tens aber laͤßt ſich die Erwerbung beſtimmter Kennt-
niſſe mit der Hauptaufgabe der Uebung des Geiſtes
um ſo leichter vereinigen, inwiefern ſelbſt fuͤr den Zweck
der geiſtigen Uebung die Erkenntnißgegenſtaͤnde ſo ge-
waͤhlt werden koͤnnen, daß ſie jenem zweiten unterge-
ordneten Zwecke zugleich entſprechen.


b.

Der zweite Hauptgegenſatz, der uͤber den Zweck
des Erziehungsunterrichts zwiſchen dem Humaniſmus
und Philanthropiniſmus ſtatt findet, und der oben in
der Frage ausgedruͤckt worden: „iſt das Geiſtige
und Comtemplative
oder das Materielle und
Praktiſche
die wichtigere Aufgabe des Erziehungs-
unterrichts?“ — laͤßt ſich am beſtimmteſten faſſen und
zur Aufloͤſung vorbereiten, wenn man die Einwuͤrfe
ſelbſt hoͤrt, welche die Syſteme ſich wechſelſeitig machen.


Wenn der Humaniſmus nicht bloß den Er-
ziehungsunterricht auf formelle Bildung des Geiſtes,
ſondern auch die formelle Geiſtesuͤbung auf
das Gebiet des Geiſtes beſchraͤnkt, wird von dem
Philanthropiniſmus mit Recht dagegen eingewendet:
daß dadurch ſelbſt die formelle Bildung des
Geiſtes einſeitig werde
. „Soll denn der Geiſt
nur den Geiſt ſehen, nicht auch die Welt erkennen
lernen? Kann die Bildung des Geiſtes fuͤr eine voll-
ſtaͤndige gelten, die ihn nur fuͤr die geiſtige Erkenntniß
ausruͤſtet, fuͤr das große Gebiet der Weltkenntniß aber
[121]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
ihn ganz ungeuͤbt und ungebildet laͤßt? Muß nicht, wie
das Object der Erkenntniß ein zweifaches iſt, auch die
Uebung des Geiſtes eine zweifache ſeyn? Der Erziehungs-
unterricht muß alſo, wenn auch nur formelle Bildung
des Geiſtes ſein Zweck ſeyn ſoll, ſich gleichwohl auf
beide Arten der Erkenntniß ausdehnen, auch materielle
Gegenſtaͤnde mit aufnehmen, und den Lehrling auch
zur Weltbetrachtung anleiten: ſonſt erfuͤllt er ſeinen
Zweck nur halb, und fuͤhrt offenbar zur Einſeitigkeit;
wie man an den Lehrlingen des Humaniſmus auch
unlaͤugbar ſieht und mit Recht tadelt.“


Wenn aber auch der Humaniſmus materielle
Gegenſtaͤnde
des Unterrichts mit aufnimmt, und
den Lehrling an Objecten der Außenwelt uͤbt, dabei
aber die materiellen wie die geiſtigen Unterrichtsgegen-
ſtaͤnde bloß zum Objecte der Contemplation macht,
und den Lehrling nur zu contemplativer Fertig-
keit
uͤbt; ſo wird dagegen abermals mit Recht von
dem Philanthropiniſmus eingewendet: daß dadurch, nur
von einer andern Seite, ſelbſt die formelle Bil-
dung des Geiſtes einſeitig werde
. „Iſt denn
der Menſch bloß zum Beſchauen und Betrachten, und
nicht vielmehr zum Thaͤtigſeyn, zum Handeln, geboren?
Wie ſoll er denn handeln in der Welt, wenn er nur
zum Speculiren angeleitet worden? Wollen wir lauter
Stubengelehrte erziehen? Wie ſoll das praktiſche Leben
zur rechten Regſamkeit und zum noͤthigen Umtrieb kom-
men, wenn man ſchon die Kinder zur muͤſſigen Con-
templation verbildet? Was helfen uns alle Wiſſenſchaft
[122]Dritter Abſchnitt.
und Gelehrſamkeit, wenn ſchon der Erziehungsunterricht
allen praktiſchen Blick ertoͤdtet, und alles praktiſche
Geſchick unmoͤglich macht? Das aber thut jene Einſei-
tigkeit des Humaniſmus, die ſelbſt den Bauer und den
Handwerksmann im Unterricht behandelt, als waͤren ſie
zu bloßen Buchſtabengelehrten geboren, ſie nicht nur
von der aͤußeren Welt ganz abzieht und ſie bloß mit
Religion und dergleichen Gegenſtaͤnden des unſichtbaren
Geiſterreiches beſchaͤftiget, ſondern auch ſelbſt an den
Gegenſtaͤnden der Außenwelt, die ſie ihnen vielleicht
noch hie und da zeigt, ſie durchaus nur zur ſpeculati-
ven Contemplation hinlenkt, und jede Hinweiſung auf
praktiſche Anwendung ſorgfaͤltig vermeidet. Was koͤn-
nen da ſelbſt die materiellen Uebungsgegen-
ſtaͤnde
zu der ſo unentbehrlichen Bildung fuͤr die
Praxis
nuͤtzen, wenn man ſie bloß zum Gegenſtand
ſcientifiſcher Betrachtung macht?“


In dieſer zweifachen Beſchuldigung gegen den
Humaniſmus, in welcher ſein Grundſatz uͤber den
Zweck des Erziehungsunterrichts ſowohl in Ruͤckſicht
der Materie als in Ruͤckſicht der Form als ein-
ſeitig
dargeſtellt wird, zeigt ſich die Forderung des
Philanthropiniſmus faſt ſiegend, und wer den Streit-
punkt nur von dieſer einen Seite faßt, der wird immer
geneigt ſeyn, ſich fuͤr die Anſicht des Philanthropiniſ-
mus zu erklaͤren, die an ſich bei den Meiſten die groͤßere
Evidenz fuͤr ſich hat. Allein es iſt deshalb nur um
ſo noͤthiger, auch die entgegengeſetzte Anſicht ſchaͤrfer
ins Auge zu faſſen, um ſich zu uͤberzeugen, daß ſie,
[123]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
in ihrer ſtrengen Conſequenz genommen, nicht weniger
einſeitig ſey.


Wenn der Philanthropiniſmus nicht bloß
den Erziehungsunterricht auf materielle Bildung des
Geiſtes, d. i. auf Erwerbung einer beſtimmten Maſſe
von Kenntniſſen, beſchraͤnkt, ſondern auch dieſe Maſſe
beſtimmter Kenntniſſe ausſchließend aus dem Gebiete
der Materie
im ſtrengen Sinne des Wortes, aus
dem Koͤrperreiche, waͤhlt; ſo wird von dem Humaniſ-
mus dagegen mit Recht eingewendet: daß dadurch
ſelbſt die materielle Bildung des Geiſtes ein-
ſeitig
werde. „Soll denn der Geiſt nur die Materie,
nicht auch den Geiſt erkennen? Iſt nur die ſichtbare
Welt fuͤr den Menſchen wiſſenswuͤrdig? Darf er mit
der unſichtbaren Welt ganz unbekannt gelaſſen werden?
Kann ſein Wiſſen fuͤr vollſtaͤndig gelten, wenn er bloß
die Sachenwelt kennt, in der Ideenwelt aber fremd
bleibt? Muß nicht, wie das Object der Erkenntniß
ein Zweifaches iſt, auch das Wiſſen ein zweifaches
ſeyn? Der Erziehungsunterricht muß alſo, wenn er
ſich auch nur materielle Bildung des Geiſtes zum Zweck
nimmt, ſich gleichwohl auf beide Arten von Kenntniß
ausdehnen, auch geiſtige Gegenſtaͤnde mit aufnehmen,
und das Wiſſen des Lehrlings auch auf das Gebiet
der Ideen erweitern: ſonſt erfuͤllt er ſeinen Zweck nur
halb, und fuͤhrt offenbar zur Einſeitigkeit; wie man
an den Lehrlingen des Philanthropiniſmus auch unver-
kennbar ſieht, und mit Recht tadelt.“


[124]Dritter Abſchnitt.

Wenn aber auch der Philanthropiniſmus geiſtige
Gegenſtaͤnde
des Unterrichts mit aufnimmt, und
den Lehrling mit dem Gebiete der Ideen bekannt macht,
ſo iſt damit die Forderung, die an den Erziehungsun-
terricht zu machen iſt, noch nicht erfuͤllt. Wenn man
alles Lernen, der geiſtigen eben ſowohl als der mate-
riellen Gegenſtaͤnde, lediglich nach ihrer praktiſchen
Anwendbarkeit
bemißt, und nur das lernen laͤßt,
was fuͤr irgend einen praktiſchen Zweck nothwendig
iſt: ſo wird dies von dem Humaniſmus ebenfalls mit
Recht fuͤr Einſeitigkeit erklaͤrt
. „Iſt denn
der Menſch nur des Handthierens wegen in der Welt,
daß er nichts wiſſen und nichts lernen ſoll, als was
er dazu braucht? Iſt es nicht des Menſchen hoͤchſter
Vorzug, daß er als Intelligenz ſich frei von allem,
was ihn an ſeine irdiſche Abkunft und an ſeine Ver-
gaͤnglichkeit erinnert, zu reinem Anſchauen ſeiner eignen
hoͤheren Natur, des Geiſterreiches und des ganzen Uni-
verſums erheben kann? Wollen wir ſchon in dem Kinde
dieſen hohen Vorzug ſeines Geiſtes verbilden, daß wir
ſo eifrig ſind, alle ruhige Betrachtung von ihm ganz
entfernt zu halten, und ſogar ſein Lernen in der Schule
(die einzige Beſchaͤftigung in dem Leben der Allermei-
ſten, in der ſie zu einer freien Betrachtung gelangen
koͤnnen) durchgaͤngig auf irdiſchen Zweck und Gewinn
zu beziehen? Iſt denn der Menſch zum Laſtthier nur
geboren, daß er ſogar nichts lernen ſoll, was ihm
nicht ziehen oder tragen helfe? Wie ſoll er jemals ſei-
nen Geiſt zum Himmel frei erheben, wenn er ſelbſt
auf Erden nichts frei und ohne Umſicht nach Gewinn
[125]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
betrachten ſchon in fruͤhſter Kindheit lernen ſoll? Wie
will der Menſch zu reiner Betrachtung, die allein
wahrhaft die Seele hebt und ſtaͤrkt, ſich je aufrichten,
wenn er ſchon als Kind nichts rein betrachten darf?
Was ſoll aus der Menſchheit werden, wenn wir ſelbſt
durch unſern Unterricht im Kinde ſchon des Geiſtes
Fluͤgel laͤhmen und zerknicken? Das aber thut jene
Einſeitigkeit des Philanthropiniſmus, die ſelbſt den
Gelehrten im Unterricht behandelt wiſſen will, als waͤre
er beſtimmt den Pflug zu fuͤhren oder an dem Weber-
ſtuhl zu ſitzen, die nicht nur den Lehrling uͤberhaupt
von der inneren Welt ganz abzieht und ihn bloß mit
der Natur in dem ſichtbaren Koͤrperreiche beſchaͤftiget,
ſondern auch ſelbſt an den Gegenſtaͤnden der Innen-
welt, die Wohlſtandes halber mit zum Unterricht noth-
duͤrftig beigezogen werden muͤſſen, ihn nicht zu einer
reinen ruhigen Contemplation anleitet, ihn vielmehr
mit ſtaͤtem Umblicken nach Praxis und Anwendbarkeit
umtreibt, und ſelbſt beim Unterricht uͤber Moral und
Religion ihn alles darauf beziehen lehrt, daß er ſich
des langen Lebens und Wohlergehens auf Erden be-
fleißige! Was koͤnnen da ſelbſt die geiſtigen Unter-
richtsgegenſtaͤnde
zu der ſo unerlaßlichen Bil-
dung der Humanitaͤt
helfen, wenn man auch ſie
als bloß zu irdiſchem Zweck und Gebrauch
beſtimmt betrachten und anwenden lehrt?“


Wird dieſe zweifache Anklage gegen die Einſeitig-
keit des Philanthropiniſmus in Abſicht auf den Zweck
des Erziehungsunterrichts einer aufmerkſameren Beach-
[126]Dritter Abſchnitt.
tung gewuͤrdiget, ſo werden doch ſelbſt die Anhaͤnger
dieſes Syſtems das große Gewicht, das die Gegen-
gruͤnde des Humaniſmus haben, nicht ablaͤugnen koͤn-
nen, und anerkennen muͤſſen, daß auf die Forderungen
des letzteren nothwendig Ruͤckſicht zu nehmen ſey.


Aber, eben indem man die Extreme verlaͤßt und
eine als nothwendig anerkannte Vereinigung derſelben
verſucht, erhebt ſich der Streit uͤber das Princip der
Vereinigung von neuem. Wie ſoll die Vereinigung
der entgegengeſetzten Forderungen in dem Erziehungs-
unterricht geſchehen? Wie viel von jedem der bei-
den Extreme ſoll aufgenommen werden? von beiden
gleich viel? oder von welchem mehr, von welchem
weniger?


Eine Aufloͤſung dieſes Problems, die in der obigen
Darſtellung des Gegenſatzes angedeutet iſt, kann hier
wenigſtens beruͤhrt werden. Wenn wir das Menſchen-
geſchlecht nach der zweifachen Hauptverſchiedenheit der
Berufsbeſtimmung auf Erden getheilt betrachten, ſo
ſcheint die natuͤrlichſte Aufloͤſung des Streites, daß
man dem Humaniſmus die Gelehrten, dem
Philanthropiniſmus die Gewerbsleute zu-
weiſe, indem jenen das geiſtige Gebiet der Innenwelt
zur Contemplation, dieſen hingegen das materielle Ge-
biet der Außenwelt zur Praxis ohnehin angehoͤre. Da
dieſe Abtheilung durch den geſellſchaftlichen Verein der
Menſchen ſelbſt nothwendig gemacht und in den buͤr-
gerlichen Verhaͤltniſſen unſrer Staaten durchaus einge-
[127]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
fuͤhrt iſt, ſo ſcheint in der That auch ein zweifacher
Zweck des Erziehungsunterrichts dadurch begruͤndet zu
ſeyn, welcher nicht in jedem Individuum, ſondern nur
im Ganzen der buͤrgerlichen Geſellſchaft in Erfuͤllung
gehen ſoll.


Darnach haͤtte dann der Philanthropiniſmus recht,
ſeinen Antheil an dem Erziehungsunterricht zuruͤckzufor-
dern, der ihm bisher durch die Alleinherrſchaft des
Humaniſmus entzogen war, indem der Erziehungsun-
terricht fuͤr alle Lehrlinge aller Arten und Claſſen ohne
Unterſchied bloß auf geiſtige Gegenſtaͤnde und contem-
plative Uebung bezogen wurde; und er haͤtte nur darinn
Unrecht, daß er die Forderung zum vollſtaͤndigen Ex-
trem umkehrte, fuͤr alle Lehrlinge aller Arten und Claſ-
ſen ohne Unterſchied den Erziehungsunterricht bloß auf
materielle Gegenſtaͤnde und praktiſche Uebung zu be-
ziehen.


Allein der hier vorgeſchlagne Ausweg zur Ent-
ſcheidung des Streites fuͤhrt nicht auf den rechten Punkt.
Auf dieſem Wege wuͤrde die Trennung, welche
durch die Aufgabe des geſelligen Vereins begruͤndet
und eine Unvollkommenheit iſt, die durch die Er-
ziehung
, ſo weit es die Beſchraͤnkungen geſtatten, auf-
geloͤſt
werden ſoll, vielmehr vollendet und ver-
ewiget
werden. Eben dann, wenn ſchon die Er-
ziehung
in den Individuen nicht den Menſchen,
ſondern den Buͤrger beruͤckſichtigte, wuͤrde das
Handwerksprincip
uͤber beide Hauptclaſſen des
[128]Dritter Abſchnitt.
geſelligen Vereins ausgedehnt, und der ehrwuͤrdige
Vereinigungspunkt, in welchem ſich beide als Eins
und zu Einer Beſtimmung berufen, als Glieder Eines
Leibes, als Werkzeuge Einer Vernunft, und als Kinder
Eines Gottes erkennen lernen, unverantwortlich ver-
nichtet. Nach einer ſolchen Theilung des Erziehungs-
unterrichts wuͤrde auch der Gelehrte nur zum Hand-
werker ſeiner Art gebildet, und es waͤre fuͤr reine
Fortbildung der Vernunft nirgend eine Anſtalt vor-
handen.


Nimmt man aber, dieſer Anſicht zufolge, die
Menſchenbildung als Eigenthum aller Individuen,
und will fuͤr keine Claſſe von Lehrlingen die Forderun-
gen des einen oder des andern Syſtems allein und
ausſchließend gelten laſſen; ſo waͤre noch ein anderer
Ausweg der Entſcheidung durch Trennung der beiden
Forderungen: wenn man naͤmlich fuͤr alle Claſſen von
Lehrlingen entweder den Zweck des Humaniſmus oder
den des Philanthropiniſmus zur ausſchließenden Aufgabe
des Erziehungsunterrichts machte, und die entgegenge-
ſetzte Forderung der ſpaͤteren Lebensveriode des Men-
ſchen zuwieſe. Allein, welches von beiden Syſtemen
man auch fuͤr den Erziehungsunterricht waͤhlen moͤchte:
ſo bliebe doch immer fuͤrs erſte die gegruͤndete Einwen-
dung, daß der fruͤhſte Unterricht am entſcheidendſten
und bleibendſten wirke und ſonach durch jene Einrich-
tung auf die eine oder die andre Seite ein Uebergewicht
gelegt, und inſofern Einſeitigkeit begruͤndet werden
wuͤrde; fuͤrs zweite bliebe doch noch immer zweifelhaft
[129]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
und von einem hoͤheren Princip aus zu entſcheiden,
welches von beiden Syſtemen den wahren Zweck des
Erziehungsunterrichts in der That am vollkommenſten
erfuͤlle. Daß auf die Seite des Humaniſmus auch
hier die Entſcheidung ausfallen muͤßte, laͤßt ſich zwar
zum voraus erwarten. Allein, da die Gruͤnde der
Entſcheidung bei der nachfolgenden Pruͤfung des Ver-
einigungsvorſchlages ohnehin ausfuͤhrlicher zur Sprache
kommen muͤſſen, ſo kann die Unterſuchung uͤber dieſen
Punkt um ſo mehr ausgeſetzt bleiben, da auch noch
andre Gruͤnde vorhanden ſind, die auf keinen Fall
eine ſolche Trennung geſtatten, und dieſer Fall nur in
der Abſicht hier beſonders angefuͤhrt worden iſt, um
keine von den moͤglichen Hauptanſichten der Aufloͤſung
des Problems ganz unberuͤhrt zu laſſen.


Es waͤre ſonach auch in Abſicht auf dieſen zweiten
Hauptgegenſatz uͤber den Zweck des Erziehungsunter-
richts nur noch der Ausweg uͤbrig, die entgegengeſetzten
Forderungen theilweiſe zu vereinigen, die Lehrlinge
theils zur Contemplation an materiellen ſowohl
als an geiſtigen Unterrichtsgegenſtaͤnden anzuleiten,
theils zur Praxis an geiſtigen ſowohl als mate-
riellen Unterrichtsgegenſtaͤnden zu uͤben.


Allein auch hier tritt wieder derſelbe Fall ein,
wie oben. Daß man nach Gutduͤnken mit der con-
templativen Uebung des Schuͤlers an geiſtigen Gegen-
ſtaͤnden auch ein bischen contemplative Uebung an ma-
teriellen Gegenſtaͤnden, zugleich aber auch mit der con-
9
[130]Dritter Abſchnitt.
templativen Uebung ein bischen praktiſche,
und zwar nicht nur an geiſtigen, ſondern auch ein
bischen an materiellen Gegenſtaͤnden, im Unterricht
verbinde, oder auch umgekeht: entſcheidet in der Sa-
che nichts, giebt fuͤr die Theorie des Erziehungsunter-
richts kein Licht, fuͤr die Praxis deſſelben kein leitendes
Regulativ. Mit einem Wort, es iſt auch hier keine
andre Entſcheidung anwendbar als durch das Prin-
cip der Unterordnung
. Auf die Frage alſo-
Welche von beiden Hauptruͤckſichten iſt in
dem Erziehungsunterricht die wichtigere
?“
muͤſſen wir zuruͤckkommen; die Beantwortung von die-
ſer Frage aber iſt von dem Begriff des Menſchen,
als dem Grundprincip, und von der unbedingten Be-
ſtimmung der Erziehung (als Bildung der Ver-
nunft) abzuleiten.


Als der unbedingt wichtigere Theil von dem We-
ſen des Menſchen wird die Vernunft anerkannt; die
Vernunft erhalten, heißt die Menſchheit erhal-
ten. Die Erhaltung der Vernunft auf Erden aber iſt
die unbedingte Aufgabe der Erziehung, und darauf
ruht der ganze Begriff der allgemeinen Bildung,
die auch aus dem Grunde mit Recht die Humanitaͤts-
oder Menſchen-Bildung heißt, weil ſie als an-
gebornes Recht des Menſchen anerkannt werden muß,
und deshalb auch von jedem menſchlichen Individuum
gefordert wird.


Darnach entſcheidet ſich die obige Frage. Erſtens,
die geiſtigen Gegenſtaͤnde gehoͤren unmittelbar
[131]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
dem Gebiete der Vernunft an; unbekannt mit ihnen
kann Keiner ſeyn, der zur Vernunft gebildet ſeyn ſoll.
Die Erziehung alſo, deren ausſchließende Beſtimmung
es iſt, die Individuen zur Vernunft zu bil-
den
, darf ſie mit jenen Gegenſtaͤnden nicht unbekannt
laſſen. Dies iſt laͤngſt ſo entſchieden anerkannt, daß es
ſogar als Geſetz unter uns aufgeſtellt und angenom-
men iſt: die Freiſprechung der Kinder aus der Schule
vorzugsweiſe nach ihren Kenntniſſen in den geiſtigen
Unterrichtsgegenſtaͤnden abzumeſſen. Zweitens, die
reine Contemplation iſt das wirkſamſte Erwe-
ckungsmittel fuͤr den Geiſt, und ein ſo weſentliches
Bildungsmittel der Vernunft, daß nur ſie den Men-
ſchen eigentlich in dem Wirbel ſinnlicher Eindruͤcke
und Beſtrebungen aufrecht erhaͤlt. Was vermoͤchte
denn den Geiſt frei zu machen von den Gegenſtaͤnden,
und ihn zu einer Herrſchaft uͤber ſie zu erheben, wenn
es nicht die ruhige Betrachtung vermoͤchte? Die Er-
ziehung kann alſo die Anleitung der Lehrlinge zur rei-
nen Contemplation durchaus nicht entbehren, und ar-
beitet entſchieden ihrer hohen Beſtimmung entgegen,
wenn ſie die Betrachtung goͤttlicher und menſchlicher,
irdiſcher und himmliſcher Dinge durch Beziehungen
auf allerlei willkuͤrliche Zwecke ſtoͤrt und truͤbt, und
durch ſtaͤtes Hinweiſen auf Erreichung ſolcher Zwecke
zwar den Verſtand uͤbt, die Vernunft aber in demſel-
ben Maße verwahrloſt.


So tritt die Forderung des Humaniſmus nicht
nur als die wichtigere, ſondern als die in der
9*
[132]Dritter Abſchnitt.
That unbedingte voran. Dieſe Forderung muß
der Erziehungsunterricht vor allen andern, und zwar
ſo vollſtaͤndig als moͤglich erfuͤllen.


Wollte auch der Philanthropiniſmus dawider noch
einwenden: daß der Lehrling zu jenen hohen Gegen-
ſtaͤnden ſo fruͤh noch gar nicht reif ſey, und daß
ſonach mit einem Unterricht, fuͤr welchen dem Kinde
noch die Faͤhigkeit fehle, die Zeit verſchwendet werde,
die weit zweckmaͤßiger mit anderen, dem jugendlichen
Geiſte angemeßneren, Gegenſtaͤnden ausgefuͤllt werden
koͤnnte; — ſo iſt dies nur eine von den gewagten Be-
hauptungen, die zwar auf den erſten Anblick blenden,
bei naͤherer Beleuchtung aber in ihrer ganzen Nich-
tigkeit erkannt werden. Das Gebiet des Geiſtes und
der Vernunft in ſeinen Gruͤnden zu erfaſſen, als ſcien-
tifiſche Metaphyſik aus Principien es zu conſtruiren,
iſt freilich keine Aufgabe fuͤr den erſt ſich entwickelnden
Geiſt. Aber, ſollen wir glauben, daß es eine fuͤr einen
ſolchen Geiſt angemeßnere Aufgabe ſey, das Gebiet der
Materie und der Natur in ſeinen Gruͤnden zu erfaſ-
ſen und als ſcientiſiſche Phyſik aus Principien es zu
conſtruiren? Und doch wollt ihr die Natur zum er-
ſten Gegenſtand des Unterrichts machen? Wo mag
denn alſo der Unterſchied liegen? Darinn, weil die
Natur ſich mit Haͤnden greifen laͤßt? — Wenn ihr
es freilich ſo verſteht, dann iſt gar nichts mehr dage-
gen zu ſagen, als daß ihr ſehr genuͤgſam ſeyd mit
dem, was ihr Vernunftbildung nennet. Aber, wenn
ihr erſt einſehen werdet, — es wird freilich dann
[133]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
ſchon viel verdorben oder verloren ſeyn! — daß ein
Studium der Natur, das zur Vernunftbildung dienen
ſoll, ganz andre Anſichten nehmen, ganz andre Forde-
rungen erfuͤllen muͤſſe: dann werdet ihr auch geneigt
ſeyn, zu geſtehen, daß die Natur in der That noch
weniger als die Vernunft unmittelbar ſich zum Ge-
genſtand des Erziehungsunterrichts eigne, und daß zum
Studium der Natur, wenn es nicht in muͤſſige Spie-
lerei ausarten ſoll, ſchon ein erſtarkter Geiſt erfordert
werde. Wollen wir aber von einer Betrachtungsart
ſprechen, wie ſie dem jugendlichen Geiſte angemeſſen
iſt, ſo iſt nicht abzuſehen, warum dem Kinde die Welt
des Geiſtes, die es in ſeinem Herzen traͤgt, fremder
ſeyn ſoll, als die Welt des Koͤrpers, die von außen es
umgiebt. Es iſt alſo nur Uebereilung, welche eine Ue-
bung des Kindes an geiſtigen Gegenſtaͤnden fuͤr zu
ſchwer oder gar fuͤr unmoͤglich erklaͤrt, und uͤberdies
materielle Gegenſtaͤnde des Unterrichts als Voruͤbung
vorſchlaͤgt, da vielmehr die letztern ſelbſt (ſofern ſie zu
einer wahren Vernunftuͤbung, nicht bloß zu einer ſinn-
lichen Beſchauung, dienen ſollen) eine hoͤhere Uebung
des Geiſtes ſchon vorausſetzen, und dagegen die geiſti-
gen Gegenſtaͤnde eine ganz andre Voruͤbung erfordern.


Ueberdies ſprechen fuͤr die Forderung des Humaniſ-
mus auch noch die zufaͤlligen Ruͤckſichten: erſtens, daß
die meiſten Menſchen, wenn ſie nicht in ihrem Erzie-
hungsunterricht gelernt haben, ihren Geiſt zu freier,
reiner, ungetruͤbter und uneigennuͤtziger Betrachtung
der Welt aufzurichten und zu dem unſichtbaren Hoͤch-
[134]Dritter Abſchnitt.
ſten zu erheben, in ihrem ſpaͤtern Lebensalter weder
Neigung noch Kraft noch Zeit dazu finden, und mit-
hin dieſe Grundlage und erſte Bedingung aller all-
gemeinen menſchlichen Bildung
fuͤr ihr ganzes
Leben entbehren: zweitens, daß die groͤßte Maſſe ma-
terieller Kenntniſſe ihm dieſer Mangel nicht erſetzen
kann; indem, wenn er auch zu ſeinem Berufsgeſchaͤfte
alle die Kennntiſſe mitbringt, die er dazu braucht, er
doch gerade das nicht weiß, was er als Menſch
vor allem andern wiſſen ſollte: drittens endlich, daß
nicht die Uebung der contemplativen Fertigkeit an und
fuͤr ſich zur Praxis verbildet, ſondern nur eine verkehr-
te Behandlung der contemplativen Beſchaͤftigung zu
dem praktiſchen Ungeſchick fuͤhrt, das man als den
Fehler ſogenannter Buchſtaben- und Schulgelehrten ta-
delt; daß vielmehr der Geiſt, der ſich durch contem-
plative Uebung zum ſcharfen Auffaſſen und genauen
Durchforſchen ſeines Gegenſtandes gewoͤhnt hat, durch
dieſelbe Uebung auch Mittel und Zweck richtig zu faſ-
ſen und zu verbinden im Stande ſeyn muß, ſonach
die ſicherſte Uebung zur Praxis mitbringt, die von
theoretiſchem Unterricht zu erwarten iſt.


Wird nun aber gleich auf dieſe Weiſe auch hier-
inn die Forderung des Humaniſmus uͤber den Zweck
des Erziehungsunterrichts obenan geſtellt; ſo wird doch
dadurch die Ruͤckſicht auf die entgegengeſetzte
Forderung des Philanthropiniſmus
uͤber
denſelben Punkt nicht ausgeſchloſſen, ſondern vielmehr
ausdruͤcklich verlangt, daß auch auf dieſe ſo ſorgfaͤltig
[135]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
und ſo viel Bedacht genommen werde, als die hoͤhere
unbedingte Forderung der allgemeinen Menſchen-
bildung es geſtattet, und die durch verbeſſerte Methode
und wohlberechnete Benutzung der Erziehungsjahre zu
gewinnende Zeit moͤglich macht. Der Erziehungsun-
terricht ſoll allerdings den Lehrling auch zur Weltbe-
trachtung fuͤhren, ihn auf den Reichthum und die Wun-
der der Natur aufmerkſam machen, ihn die großen Tha-
ten der Menſchen und ihre merkwuͤrdigen Schickſale ken-
nen lehren, und ihn uͤberhaupt mit den mannichfaltigſten
materiellen Kenntniſſen ausruͤſten. Die Graͤnze aber
fuͤr dieſe, unſtreitig auch lobenswuͤrdige, Erweiterung
des Wiſſens und der Kenntniſſe in dem Erziehungs-
unterricht bleibt jene unbedingte Forderung der
Vernunftbildung. Nur ſofern die materiellen
Unterrichtsgegenſtaͤnde entweder ſelbſt als Bedingung
und Mittel zur Vernunftbildung mitgehoͤren, — ſofern
der Menſch auch in der Außenwelt die Vernunft und
Gott erkennen, nicht gedankenlos wie das Thier die
Erde anſtarren und den Himmel gar nicht ſehen, ſon-
dern die Wunder Gottes auch in ſeiner Welt erblicken
und verehren lernen ſoll, — oder unbeſchadet jener hoͤ-
heren Bildung des Geiſtes dem Erziehungsunterricht
noch angefuͤgt werden koͤnnen: nur inſofern, und
nur in dieſer Unterordnung kann es verſtattet
ſeyn, ſie aufzunehmen.


Was aber die geforderte praktiſche Uebung der
Lehrlinge betrifft, ſo iſt dieſe allerdings fuͤr eine ganz
verfehlte Anſicht zu erklaͤren, da nicht nur die Gegen-
[136]Dritter Abſchnitt.
ſtaͤnde des Erziehungsunterrichts uͤberhaupt zu einer
ſolchen Anweiſung ſich gar nicht eignen, ſondern uͤber-
all ein Lehren der Praxis ohne Praxis wenig
fruchten kann, und die ſpaͤter folgende Praxis die
praktiſche Geſchicklichkeit
noch ſtreng genug
uͤbt.


II.
Ueber die Mittel des Erziehungs-
unterrichts
.

Die Verſchiedenheit der Principien uͤber den
Zweck des Erziehungsunterrichts muß von ſelbſt
auch uͤber die Mittel zu Erreichung dieſes Zweckes
verſchiedne Anſichten und Forderungen begruͤnden. Es
zeigen ſich aber bei naͤherer Betrachtung der vorge-
ſchlagnen Mittel ſelbſt noch mancherlei Verſchiedenhei-
ten, die bei Vergleichung der Grundſaͤtze uͤber dieſen
Punkt der entgegengeſetzten Unterrichtsſyſteme zur Spra-
che zu bringen ſind, wenn der Geſichtspunkt der Be-
urtheilung richtig gefaßt, und der Streit unparteiiſch
entſchieden werden ſoll.


Die Eintheilung der Mittel des Erziehungsunter-
richts in die zwei Hauptclaſſen, a) der Unterrichts-
gegenſtaͤnde, b)
der Unterrichtsmethode,
kann der Anordnung dieſer Unterſuchung zur Grundla-
ge dienen.


[137]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
a.
Von den Unterrichtsgegenſtaͤnden.

1.

Die erſte Hauptdifferenz zwiſchen Humaniſmus und
Philanthropiniſmus in Abſicht auf die Gegenſtaͤnde des
Unterrichts betrifft die Zahl derſelben.


Nach der althergebrachten Weiſe des Humaniſmus
war der Erziehungsunterricht auf ſehr wenige Gegen-
ſtaͤnde beſchraͤnkt. Nicht nur fuͤr die Volksbil-
dung
begnuͤgte man ſich mit Leſen, Schreiben,
Rechnen und Religion
, ſondern auch ſelbſt fuͤr
die Gelehrtenbildung
forderte man kaum etwas
mehr als eine vertrautere Bekanntſchaft mit den Spra-
chen und der Geſchichte Latiums und Graͤ-
ciens
. Dieſe Beſchraͤnkung des Umfangs der Unter-
richtsgegenſtaͤnde mag wohl zum Theil von der Be-
ſchraͤnktheit hergekommen ſeyn, in welcher der ganze
Zuſtand des Wiſſens und der Gelehrſamkeit uͤberhaupt
noch bei unſern Voraͤltern ſich befand, und von dem
beſchraͤnkten Ideale, nach welchem man die Vollen-
dung der Bildung in jenen fruͤheren Zeiten maß; ſo
wie ſpaͤterhin die Bequemlichkeit des Schlendrians das
Ihrige beigetragen haben mag, jene Beſchraͤnkung zu
erhalten. Allein es iſt doch auf der anderen Seite
nicht zu mißkennen, daß ſich dieſelbe Beſchraͤnkung des
Umfangs der Unterrichtsgegenſtaͤnde auch als eine frei-
willige, auf den ganz verſtaͤndigen Grund gebaut,
denken laͤßt, der in der Maxime ausgedruͤckt iſt:
[138]Dritter Abſchnitt.
beſſer, Weniges ganz, als Vieles halb
wiſſen
.“ Auch hat die alte humaniſtiſche Unterrichts-
weiſe jene Beſchraͤnkung in der That dazu benutzt, dem
Wiſſen und der Bildung der Lehrlinge in der kleineren
Ausbreitung mehr Tiefe, in dem engeren Kreiſe mehr
Sicherheit und Vollendung zu geben, die wenigeren
Unterrichtsgegenſtaͤnde zu einer deſto hoͤheren Stufe
der Crkenntniß und Fertigkeit fortzufuͤhren.


Der Philanthropiniſmus hat dagegen nicht ohne
Grund auf Erweiterung dieſes eng gezognen Kreiſes
gedrungen. Man kann freilich dabei einen Augenblick
in Verſuchung ſeyn, ihm den Vorwurf zu machen,
daß er der unſtreitig richtigen Maxime: „beſſer, We-
niges ganz, als Vieles halb wiſſen
,“ die un-
ſtreitig falſche: „ex omnibus aliquid in toto nihil“
vorgezogen habe. Allein die Gerechtigkeit fordert, die
Gruͤnde, welche wenigſtens die verſtaͤndigeren Philan-
thropen geleitet haben, in einem guͤnſtigeren Lichte zu
zeigen.


Fuͤrs erſte, koͤnnen die Philanthropen ſagen, hat
ſich das Gebiet des Wiſſens und der Gelehrſamkeit
nach allen Seiten zu unuͤberſehbar erweitert, und es
ſind eben dadurch in gleichem Maße auch die Forde-
rungen geſteigert worden, die man ſowohl in Ruͤckſicht
der Bildung uͤberhaupt an jeden Einzelnen zu machen
berechtiget iſt, als auch an den Erziehungsunterricht
ſtellen muß. Zu einer Zeit, wo der Baum der Er-
kenntniß, ſchon zu einem unermeßlichen Umfang ange-
[139]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
wachſen, taͤglich neue Zweige treibt, ſollte der Erzie-
hungsunterricht allein ſich an ein paar faſt abgeſtorb-
ne Aeſte halten? Wie wollten wir bei unſern Kin-
dern ſelbſt einſt, wann ſie muͤndig geworden, eine ſol-
che Vernachlaͤſſigung verantworten?


Fuͤrs zweite aber iſt nicht nur uͤberhaupt jetzt
mehr als ſonſt zu lernen, und deshalb auch ſchon in
dem Erziehungsunterricht die Maſſe der Lehrgegenſtaͤnde
zu vergroͤßern, ſondern es iſt vor allem auch nothwen-
dig, den Geiſt ſchon fruͤh an eine groͤßere Ausbreitung
zu gewoͤhnen, indem er bei der entgegengeſetzten Ge-
woͤhnung des Humaniſmus, ſich in einige wenige Krei-
ſe des Wiſſens gleichſam einzuſchließen, nicht dazu
gelangen kann, die große Maſſe von Kenntniſſen zu
beherrſchen, die durch unermuͤdete Forſchungen der
Einſichtsvollſten ans Licht gebracht und der Menſchheit
als Gemeingut gegeben ſind.


Fuͤrs dritte, was jene geruͤhmte Maxime betrifft:
beſſer, Weniges ganz, als Vieles halb
wiſſen
; ſo muß man, bei aller Wahrheit, die ſie ent-
halten mag, doch auch nicht vergeſſen: erſtens, daß
ſelbſt durch das ganz Wiſſen das wenig Wiſſen nicht
erſetzt wird, und bei dem vielen Wiſſenswuͤrdi-
gen
, deſſen Kenntniß man heut zu Tage von jedem
Menſchen mehr oder weniger fordert, wenigſtens das
Wenig Wiſſen in keiner Ruͤckſicht als ein Vorzug
vorgeſtellt werden ſollte; zweitens, daß bei dem we-
nig Wiſſen
ſelbſt die Tendenz auf das ganz Wiſ-
[140]Dritter Abſchnitt.
ſen nur Pedanten macht, die, um das große Ganze
des Reiches der Erkenntniß unbekuͤmmert, Maulwuͤrfen
gleich nur einen Punkt ſuchen, an dem ſie ſich eingra-
ben, um eine kleine Flaͤche nach allen Richtungen zu
durchwuͤhlen, nie aber ſich zum Lichte durcharbeiten,
ſondern vielmehr, auch darinn jenem Vorbilde gleich,
von allen Seiten, wo ſie ſich zu einem lichten Punkt
des Uebergangs zum Lande der wahren vollen Erkennt-
niß durchgegraben, blind und ſcheu ſich in ihre ſelbſt-
gegrabnen Gaͤnge zuruͤckziehen.


Fuͤrs vierte, muß man auch nicht uͤberſehen, daß
mit der Erweiterung des Wiſſens uͤberhaupt auch die
Unterrichtsmethode merkwuͤrdige Fortſchritte gemacht
hat, durch die es moͤglich iſt, ſchon im Erziehungsun-
terricht unbeſchadet der Gruͤndlichkeit der Kenntniſſe
den Umfang derſelben betraͤchtlich zu erweitern. Wie
vieles hat man nicht durch die Verbeſſerung der Me-
thode in der kuͤrzeſten Zeit zu lehren gelernt, womit
man ehedem einen großen Theil der Unterrichtszeit zu-
brachte? um wie viel geht durch die geſchicktere Be-
handlung jetzt das Lernen ſchneller? Iſt alſo auch jetzt
mehr, als ſonſt, zu lernen, ſo iſt dafuͤr jetzt auch
manches leichter zu lernen, als es ſonſt zu lernen
war. Man kann alſo auch jetzt mehr lehren und mehr
fordern. Und man muß ſogar den Umfang der Lehr-
gegenſtaͤnde erweitern, wenn nicht der Lehrling, den
ſchon vordem die Eintoͤnigkeit des Unterrichts bei ſo
wenigen Gegenſtaͤnden mit Langerweile quaͤlte, jetzt bei
einem durch beſſere Methode aufgeweckteren Kopfe al-
[141]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
le Luſt zum Lernen, und ſeine Zeit ſelbſt, verlie-
ren ſoll.


So geneigt man aber auch ſeyn mag, dieſen Gruͤn-
den des Philanthropiniſmus Gerechtigkeit widerfahren
zu laſſen, ſo kann man doch nicht verkennen, daß ſie
bei ſchaͤrferer Pruͤfung mehr glaͤnzend als wahr befun-
den werden.


Fuͤrs erſte, was zunaͤchſt die geruͤhmten Fortſchrit-
te in Verbeſſerung der Unterrichtsmethode betrifft, ſo
kann man, bei aller Anerkennung des wirklich Guten,
das die modernen Paͤdagogiker darinn geleiſtet haben,
ſich doch nicht verbergen, daß die errungnen Vortheile
bei weitem zu hoch angeſchlagen werden. Es iſt un-
laͤugbar, daß mehrere der verſuchten Erleichterungen
und Abkuͤrzungen des Unterrichts, zur Ergoͤtzlichkeit der
Lehrlinge und zur Zeiterſparniß erſonnen, ſich, gleich
andern Plusmachereien, als bloß ertraͤumte Vortheile
bewieſen haben, und als wahre Unwege erfunden wor-
den ſind, andre derſelben Art die alte Methode an we-
ſentlichem Vortheil wenigſtens nicht uͤbertrafen, und
uͤberhaupt — wenn man recht aufrichtig ſeyn will —
die ganze neue Methode des Unterrichts nur durch ei-
ne kuͤnſtliche Acceleration der Entwicklung
der Lehrlinge den Schein erlangt, ſchneller zum
Ziel zu fuͤhren
; gegen welche traurige Taͤuſchung
das „canis festinans coecos peperit catulos!“ wohl
zur nachdruͤcklichen Warnung aufgeſtellt werden darf.


[142]Dritter Abſchnitt.

Wenn man aber auch einraͤumt, daß die moderne
Paͤdagogik durch weſentliche Verbeſſerungen der Me-
thode moͤglich gemacht habe, den Lehrling, unbeſchadet
der Gruͤndlichkeit, in kuͤrzerer Zeit weiter zu bringen,
als nach der alten Methode moͤglich war: ſo muß man
doch dieſe geruͤhmten Fortſchritte der Methodik mit
Beſonnenheit beurtheilen, und nicht ſogleich von unge-
meßnen Vortheilen traͤumen. Alles Lernen hat ſeine
Schwierigkeiten, die ſich durch keine Methode ganz he-
ben oder auch nur ins Unendliche vermindern laſſen,
und die Entwickelung des Geiſtes iſt an Naturgeſetze
gebunden, deren Graͤnze keine Kunſt der Lehrart zu
uͤberſchreiten vermag. Dies muß man im Auge be-
halten, um nicht mit jenen Paͤdagogikern zu waͤhnen,
daß man durch jene Verbeſſerung der Methode Berge
verſetzen, die Lehrlinge mit dem ganzen Umfang des
Wiſſens bekannt machen, oder doch die Lehrgegenſtaͤnde
des Erziehungsunterrichts nach Willkuͤr vermehren
koͤnne.


Was aber den Einfall betrifft, als beduͤrfe es ei-
ner Vermehrung der Unterrichtsgegenſtaͤnde, um dem
Kinde die Langeweile zu vertreiben, und ihm nicht Un-
luſt am Lernen durch Einfoͤrmigkeit deſſelben zu erwe-
cken; ſo mag man wohl zugeben, daß die geringe Zahl
von Lehrgegenſtaͤnden oͤfters dem Lehrling Langeweile
verurſacht habe: aber dann war es ſicher nicht Schuld
der Lehrgegenſtaͤnde, die inneren Gehalt genug haben,
um die ganze Aufmerkſamkeit des Kindes zu beſchaͤf-
tigen, oder ihrer geringen Zahl, die ſo viel Abwechſe-
[143]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
lung, als noͤthig und heilſam iſt, ſchon anbieten, ſon-
dern des Lehrers, der den Lehrgegenſtaͤnden kein In-
tereſſe abzugewinnen, und die Aufmerkſamkeit des
Schuͤlers nicht zu erregen wußte. Bei einem ſolchen
Lehrer aber wird auch die groͤßte Mannichfaltigkeit von
Lehrgegenſtaͤnden die Langeweile der Schuͤler nicht ver-
hindern koͤnnen. Dagegen laͤßt ſich mit mehr Grund
behaupten, daß uͤbermaͤßige Anhaͤufung des Lehrſtoffes
Lehrer und Schuͤler verwirren, und die letztern theils
durch die Maſſe erſchrecken, theils durch die Mannich-
faltigkeit zerſtreuen werde.


Fuͤrs zweite, es iſt allerdings ein glaͤnzendes Ar-
gument, das man von der Erweiterung aller Wiſſen-
ſchaften nimmt, um dadurch die Forderungen an den
Erziehungsunterricht zu ſteigern, indem man daran er-
innert, wie viel heutzutage zu lernen ſey, um mit dem
taͤglichen Fortruͤcken aller Wiſſenſchaften nur einiger-
maßen gleichen Schritt zu halten, und alles das zu
lernen, was in unſern Tagen Keinem mehr unbekannt
ſeyn duͤrfe, der auf den Namen eines Gebildeten An-
ſpruch mache. Aber wir ſind dabei in einem gefaͤhrli-
chen Irrthum befangen, und taͤuſchen uns ſelbſt zu
unſrer eignen und unſrer Kinder Qual und Verbil-
dung.


Es iſt ſchwer, hieruͤber die volle Wahrheit zu ſa-
gen; denn man kann den Irrthum nicht von Grund
aus heben, ohne den faulen Fleck unſrer ganzen mo-
dernen Cultur empfindlich zu beruͤhren.


[144]Dritter Abſchnitt.

Eben darinn liegt der Hauptſitz des Verderbens
unſrer ganzen Cultur uͤberhaupt, daß wir den Wahn
haben herrſchend werden laſſen, die wahre Cultur
beruhe ausſchließend in dem Wiſſen, und liege in
der Breite des Wiſſens
. Wir haben uns bere-
den laſſen, die Bildung beſtehe in dem Wiſſen ſelbſt,
und bilden uns ein, daß ein Menſch in dem Grade
gebildeter ſeyn muͤſſe, in dem er mehr Kenntniſſe aller
Art habe. Dadurch ſind wir dahin gekommen, daß
unſer ganzes Beſtreben nach Bildung in die
Tendenz nach Vielwiſſerei ausgeartet iſt; daß
wir von jedem, der fuͤr gebildet gelten will, for-
dern, daß er eine Art von lebendiger Encyklopaͤdie des
Wiſſens, zum wenigſten in compendio, vorſtelle, und
von allem mitzuſprechen verſtehe; daß wir als ſchimpf-
lich fuͤr jeden ſogenannten Gebildeten erklaͤren, nicht
von allem Beſprechbaren wenigſtens etwas zu wiſſen,
und irgend einen Punkt auf dem ganzen weiten Ge-
biete des Wiſſens anzuerkennen, uͤber welchen er nicht
jeden ſeines Gleichen eben ſo gut belehren als etwas
von ihm lernen koͤnnte. Seitdem iſt die Polyhiſtorie
Ton geworden, und durch den Zwang der Mode un-
umgaͤngliches Erforderniß an jeden, der auf ſogenann-
ten guten Ton Anſpruch macht, ſeitdem iſt die Ta-
ſchenbuchs-Weisheit, die Magazins- und Journal-Wiſ-
ſenſchaft an der Tagesordnung, ſeitdem ertoͤnen von
allen Seiten Vorleſungen fuͤr Frauen und Dilettanten,
ſeitdem ſtudirt und lieſt alles, um ſich zu bilden, und
dieſe Bildungsliebe iſt in das National-Laſter einer
unerſaͤttlichen Leſegier ausgeartet, die immer nur Neues
[145]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
verſchlingen will und, um nur mit der Weisheit des
Tages gleiche Linie zu halten, verſchlingen muß.


In dieſem Schwindel fordern wir nun freilich
unvermeidlich auch ſchon im Erziehungsunterricht ei-
ne Menge von Kenntniſſen. Wer Alles lernen ſoll,
muß wohl unſtreitig fruͤh anfangen Viel zu ler-
nen. Soll der Lehrling auch nur in den Stand
kommen, nach der Schule das ſouveraͤne Bildungsmit-
tel der Journal- und Zeitungen- Leſerei mit Nutzen
zu gebrauchen, ſo muß er ja doch ſchon in dem Reich-
thum von Ideen, die darinn vorkommen, einigerma-
ßen orientirt ſeyn; und umgekehrt: der Vorrath von
Kenntniſſen, die der Lehrling in der Schule einſam-
melt, kann um ſo ausgebreiteter ſeyn, da das
Approfondiren derſelben in der Schule nicht mehr
ſo noͤthig iſt, nachdem eben durch jenes ſouveraͤne
Mittel fuͤr die Fortbildung der in der Schule nur zu
eroͤffnenden Kenntniſſe hinreichend geſorgt iſt.


Koͤnnten wir uns doch von dieſem Schwindel
einen Augenblick erholen, um klar zu ſehen, wohin wir
uns mit unſrer ganzen Cultur verirrt haben! Es iſt
offenbar, daß wir den Cirkel von der Seite des Er-
ziehungsunterrichts allein weder theoretiſch noch praktiſch
loͤſen koͤnnen; wir muͤſſen der andern Wechſelwirkung
zugleich begegnen. So lange jene Anſicht die herr-
ſchende bleibt, der Wiſſerei fuͤr Cultur gilt; ſo
lange muß nicht nur im Allgemeinen die Tendenz nach
Wiſſerei ebenfalls herrſchend bleiben, ſondern eben
10
[146]Dritter Abſchnitt.
deshalb auch im Erziehungsunterricht die Oberhand
behalten. Wir muͤſſen daher auf jene Anſicht, als den
tiefer liegenden Grund des Irrthums, mit unſrer Pruͤ-
fung zuruͤckgehen.


Faſſen wir die herrſchende Meinung ſchaͤrfer, und
fragen uns: iſt denn die Vorausſetzung wahr, daß
eine ſolche Wiſſerei zur Bildung des Individuums
gehoͤre? iſt es denn wahr, daß ein Menſch, um ge-
bildet
zu ſeyn, von Allem, was auf dem weiten
Reiche des Wiſſens vorgeht, wiſſen muͤſſe? — Wir
wollen nicht laͤugnen, daß Wiſſen ein Mittel der
Bildung ſey: aber iſt es denn das einzige Mittel
der Bildung? und, iſt es auch nur ein ſicheres
Mittel
derſelben? Wir wollen den Irrthum, daß
das Wiſſen an und fuͤr ſich, die Maſſe eingeſammelter
Kenntniſſe, Bildung gebe, zunaͤchſt noch nicht einmal
beruͤhren; wir wollen auch an die traurige Erfahrung
nicht einmal erinnern, daß mit einer großen Maſſe
von Kenntniſſen ein großer Grad von Uncultur in Ei-
nem Individuum verbunden keine ganz ungewoͤhnliche
Erſcheinung ſey. Wir wollen uns vorerſt nur an die
Frage halten: ob die Allwiſſerei, die Ausbreitung
uͤber das ganze Gebiet des Wiſſens, eine nothwendige
Bedingung der Bildung ſey?


Man kann freilich fuͤrs erſte mit Grund behaupten,
daß das wenig Wiſſen uns die Pedanten mache,
die engherzig und einſeitig, nur einen iſolirten Punkt
des Wiſſens kennend, uͤber alles andre außer ihrem
[147]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Kreiſe unwiſſend, nur das fuͤr wichtig hltaen, was
ſie wiſſen, und mit ihrer beſchraͤnkten handwerksmaͤßi-
gen Kenntniß in jeder Geſellſchaft von gutem Ton
entweder ganz ſtumm bleiben muͤſſen, oder laͤcherlich
und unertraͤglich werden; und es ſcheint allerdings,
daß das Uebel am gruͤndlichſten gehoben werde,
wenn man eine Bekanntſchaft mit dem ganzen Umfang
alles Wiſſens als allgemeine Bedingung der Bildung
aufſtelle, indem der Pedantiſmus in der Wiſſen-
ſchaft nicht ſowohl in der Beſchraͤnktheit auf einen
iſolirten Punkt des Wiſſens, als vielmehr darinn be-
ſtehe, dieſen iſolirten Punkt fuͤr das ganze allein merk-
wuͤrdige Wiſſen zu halten und ſowohl das große Ganze
der Erkenntniß ſelbſt als den Zuſammenhang jenes
einzelnen Punktes mit demſelben zu ignoriren.


Allein zuvoͤrderſt, die den Pedantiſmus ſo
veraͤchtlich hinſtellen, vergeſſen meiſtens, daß das, was
ſie ſo nennen, mehr Großes in der Welt geleiſtet hat,
als jenes, was ſich aufgeblaſen dem Pedantiſmus ge-
genuͤber ſtellt, je leiſten wird. Der Pedantiſmus iſt
freilich nur Einſeitigkeit, und inſofern in Ver-
gleichung mit dem Ideal des Wiſſens, das in ſeiner
Vollendung Allſeitigkeit verlangt, Unvollkommen-
heit. Allein, bedenke man doch recht, was man denn
fordert, wenn man von Allen Allſeitigkeit des Wiſſens
fordert! Wer weiß, wie viel dazu gehoͤrt, den ganzen
Kreis des Wiſſens ſein zu nennen, der wird von ſelbſt
es unmoͤglich finden, die Forderung ſo allgemein zu
ſtellen. Nur die wenigen Auserwaͤhlten, von der
10*
[148]Dritter Abſchnitt.
Gottheit Genius Geweihten, duͤrfen ungeſtraft die Hand
nach jenem Preiß ausſtrecken. Wir andern wollen,
ſelbſt mit Gefahr ſo Vielen als Pedanten zu erſcheinen,
uns beſcheiden, vor allem andern ganz das Wenige zu
wiſſen, was wir zu treiben in der Welt von Gott be-
rufen ſind, und uns nicht laſſen zu dem Frevel bereden,
des Berufs vergeſſend nach jenem Alles Wiſſen auszu-
ſchweifen. Die Breite des Wiſſens ſteht mit der Tiefe
deſſelben fuͤr die endliche Kraft des Menſchen im um-
gekehrten Verhaͤltniß, und bei den Meiſten muß es in
dem Maße flacher werden, in welchem es an Umfang
waͤchſt. Von Allem tief zu ſchoͤpfen, uͤberſteigt die
Kraft und Zeit der Meiſten: von Allem aber nur die
Oberflaͤche faſſen, macht fad und leer, und mag viel-
leicht den Schein der Politur verſchaffen, wird aber
laͤcherlicher Wahn, wenn ſichs als hohe Bildung
bruͤſtet.


Sodann, haben wir denn mit unſerm Alleslernen
den boͤſen Daͤmon des Pedantiſmus wirklich ausge-
trieben, oder iſt er nicht mit mehr als ſieben andern
boͤſen Geiſtern zuruͤckgekehrt? Der Maͤnner Pedantiſmus
wurde ſonſt doch noch durch der Frauen unverkuͤnſteltes
Gemuͤth und ihren freien Sinn gemildert: aber jetzt?
Sind nicht ſie ſelbſt, die Alleswiſſerinnen, von dem
allerſchlimmſten Pedantiſmus ergriffen? Koͤnnen wir
denn noch die Studirſtube in ihrer Geſellſchaft ver-
geſſen? Koͤnnen wir denn noch bei ihnen unſer Wiſſen
gegen reines Gold natuͤrlichen Gefuͤhls und unver-
ſchrobnen Urtheils austauſchen? Zahlen ſie nicht jetzt
[149]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
uns mit unſrem eignen Papier? So weit haben wir
uns mit unſerm falſchen Ideal von Bildung, und mit
unſrer Sucht des Wiſſens verirrt. Wir ſind alle,
Maͤnner und Frauen, ſo gelehrt und ſo allwiſſend
geworden, daß kein Austauſch von Ideen mehr zwi-
ſchen uns ſtatt findet, das Keiner mehr von irgend
etwas reden kann, wovon die Andern nicht wenigſtens
die Miene annehmen, eben ſo viel oder noch mehr zu
wiſſen. Ein ſolches Uebermaß von Pedantiſmus haben
wir erzeugt, das Uebel uͤberall verbreitet, das wirk-
ſamſte Gegenmittel ſelbſt zerſtoͤrt, und ſo die Krankheit
faſt unheilbar gemacht.


Ueberdies iſt jener Aufwand weder erforderlich
noch vermoͤgend, dem Uebel zu begegnen. Der e[i]gent-
liche Pedantiſmus in dem Wiſſen, und die daraus
entſpringende Einſeitigkeit der Kenntniß und der Bildung,
woruͤber man mit Recht klagte, kam nicht von der
Beſchraͤnkung auf wenige Gegenſtaͤnde des Wiſſens,
ſondern davon her, daß man theils das Erlernen der
wenigen Gegenſtaͤnde ſelbſt einſeitig betrieben, theils an
den Zuſammenhang derſelben mit dem großen Ganzen
der Erkenntniß gar nicht gedacht hat. Dieſer offenbare
Mißbrauch durfte allerdings nicht bleiben, und es iſt
ein unlaͤugbares Verdienſt der modernen Cultur, daß
ſie darauf aufmerkſam gemacht und auf eine gruͤndliche
Reform deſſelben gedrungen hat. Allein ſie hat ſich
in dem Mittel dagegen vergriffen. Es iſt weder eine
den Kraͤften des Idividuums unangemeſſene Ausdeh-
nung uͤber das geſammte Gebiet des Wiſſens, noch
[150]Dritter Abſchnitt.
eine Ausbreitung auf mehrere Kreiſe deſſelben erforder-
lich, um uns vor der gefuͤrchteten Einſeitigkeit zu ver-
wahren: es iſt fuͤr dieſen Zweck vollkommen hinreichend,
wenn nur einerſeits der kleinere Kreis von Kenntniſſen
ſelbſt nicht mehr mit der kleinlichen Pedanterie unbe-
deutender und unfruchtbarer Anſichten und ſchaler Be-
merkungen betrachtet, mit mehr Umſicht, Geiſt und
Kraft behandelt, andrerſeits aber dabei ſtaͤts das Be-
wußtſeyn klar erhalten wird, daß die Kenntniſſe, die
man cultivirt, nicht ein in ſich beſchloſſenes iſolirtes
Ganzes ausmachen, ſondern nur integrirende Theile des
großen Ganzen ſeyen.


„Sollen wir denn aber — kann man nun fuͤrs zweite
ſagen — von dem ganzen Reichthum, der ſich in allen
Gebieten der Wiſſenſchaft durch die unermuͤdeten An-
ſtrengungen der Forſcher taͤglich vermehrt, gar keine
Notiz nehmen, gar keinen Nutzen ziehen?“ — Ich
will nicht noch einmal fragen: ob eine ſolche Aufgabe
nicht unſre Kraͤfte uͤberſteige? Wir muͤßten am Ende,
mit Anerkennung der Schranke unſrer Kraft, das Ideal
gleichwohl anſtreben, und ſeine Forderung ſo weit als
moͤglich zu erreichen ſuchen! Aber wichtiger iſt es, uns
mit Beſonnenheit zu fragen: ob denn auch die For-
derung ſelbſt gegruͤndet ſey und wir nicht etwa mit
einem bloßen Phantom uns taͤuſchen?


Es iſt wahr, es laͤßt ſich kaum zweifeln, daß es
eine Aufgabe fuͤr den menſchlichen Geiſt ſey, das ganze
Gebiet der Erkenntniß zu erſchoͤpfen, und daß Alles,
[151]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
was das gemeinſame Beſtreben fuͤr die Erkenntniß zu
Tage foͤrdert, als Gemeingut fuͤr Alle beſtimmt ſey.
Allein es miſcht ſich hier ein neuer zweifacher Irrthum
ein: wir nehmen als Aufgabe fuͤr jedes einzelne Indi-
viduum, was die Aufgabe nur der Menſchengattung
im Ganzen ſeyn kann; und wir ſuchen die Theilnahme
der Individuen an dem errungenen Gemeingut der
Erkenntniß nur im Wiſſen und im Unterricht, die
wir vielmehr nur im Leben und in der Praxis,
als Antheil an dem allgemeinen Fortſchritt der Cultur
durch Wiſſen, ſuchen ſollten.


Was das Erſtere betrifft, ſo vernichten wir die
wahre Aufgabe durch die falſche Anſicht, die wir davon
nehmen. Gerade dadurch, daß wir die ganze Aufgabe
als fuͤr jeden Einzelnen ganz gegeben betrachten und
behandeln, halten wir die Erreichung derſelben unaus-
bleiblich auf. Die endliche Kraft des Menſchen faßt
die ganze Aufgabe nur in ihrer Vertheilung an die
Individuen, und nur dadurch, daß die Einzelnen nach
Gaben und nach Kraͤften ſich in das Einzelne theilen
und jeder ſeinen Theil ganz zu erfuͤllen ſtrebt, koͤnnen
wir im Ganzen uns dem Ideale der Bildung naͤhern,
deſſen Vollendung wir fordern. Kehren wir nun dieſe
wahre Anſicht um, fordern wir von jedem Einzelnen
das Ganze, ſollen Alle Alles wiſſen und erlernen: ſo
verzehrt ſich die endliche einzelne Kraft in fruchtloſer
Anſtrengung, bleibt in wahrer individueller Bildung
zuruͤck, und kann unmoͤglich die allgemeine Bildung
vorwaͤrts bringen. Wird dieſe falſche Beſtrebung, wie
[152]Dritter Abſchnitt.
ſie in unſrer modernen Cultur taͤglich mehr das Ueber-
gewicht gewinnt, in irgend einem Zeitalter allgemein,
ſo muß damit ein allgemeines Ruͤckſchreiten der Cultur
beginnen. Auf dieſem gefaͤhrlichen Punkte ſtehen wir,
und es iſt die hoͤchſte Zeit, daß wir die verkehrte An-
ſicht verlaſſen, und die ungereimte Forderung praktiſch
aufgeben und theoretiſch vernichten. Es iſt die hoͤchſte
Zeit, daß wir zu der Beſonnenheit kommen, einzu-
ſehen, daß unſre Sucht nach vielem Wiſſen und unſer
wechſelſeitiges Ueberbieten durch Mehr Wiſſen eine
Verirrung ſey, die uns um alle wahre Bildung im
Ganzen und im Einzelnen bringt, daß wohlverſtandner
Eifer fuͤr Erhaltung und Erhoͤhung der Cultur nichts
dringender von uns fordere, als daß wir auf den
falſchen Ruhm des Alles Wiſſens Aller ganz verzichten,
daß nicht jeder Einzelne das Wiſſen als ſeine Be-
ſtimmung betrachte und in ſeiner weiteſten Ausdehnung
ſuche, ſondern vielmehr anerkenne, daß das Wiſſen
nur Weniger, das Thun aber Aller Beruf in der
Welt ſey, und Alle dem Wiſſen nur ſo viel Kraft
und Zeit widmen ſollen, als ſie nicht verhindert, durch
Thun in ihrem Berufe das Hoͤchſte zu leiſten.


„So ſollten wir alſo in der That zu der alten
Beſchraͤnktheit und Duͤrftigkeit der Kenntniſſe zuruͤck-
kehren? ſo ſollten wir wieder in allem unwiſſend blei-
ben, was nicht das Tagwerk unſers Lebens unmittelbar
beruͤhrt? ſo ſollten all die herrlichen Entdeckungen, die
der lebendig aufgeregte Geiſt in allen Zweigen der Wiſ-
ſenſchaft taͤglich macht, wieder in den engen Kreis der
[153]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
gelehrten Innung eingeſchloſſen werden, und es ſoll
nichts mehr davon auf alle Einzelnen uͤbergehen?“ —
Allerdings! Es ſoll nicht nur, ſondern es wird unaus-
bleiblich uͤbergehen! — nur nicht unmittelbar, nicht
dadurch, daß Alle es lernen, und zum Gegenſtand
des Wiſſens machen, ſondern durch die Beruͤhrung
in den Reſultaten und das daraus hervorgehende all-
gemeine Leben
des Geiſtes und der Ideen, das
allein die Bildung aus Wiſſen iſt, die Allen
angehoͤrt und ungelernt in Alle uͤbergeht. Das
Wiſſen fuͤhrt ja nicht allein zur Bildung, und
ſelbſt die Bildung, die aus Wiſſen koͤmmt, ſollen nicht
Alle durch Wiſſen erlangen. Der Wege zur Bildung
ſind mancherlei, und die verſchiednen Individuen ſollen
die verſchiednen Wege gehen. Die berufen ſind, das
Feld des Wiſſens anzubauen, und in dieſer Art von
Thaͤtigkeit zu der allgemeinen Cultur mitzuwirken,
moͤgen ihr Leben dem Wiſſen weihen; denn ſie erfuͤl-
len ihre Beſtimmung nur durch Wiſſen. Die ihre
Eigenthuͤmlichkeit zu einer andern Arbeit ruft, koͤnnen
nicht ihr Leben derſelben Thaͤtigkeit des Wiſſens wid-
men, in einem andern Kreiſe haben ſie zu wirken, und
daß ſie dieſen ganz erfuͤllen, darinn ruht ihre eigne Bil-
dung und ihr Beitrag zu der allgemeinen Bildung. Die
Bildung koͤmmt ja nicht allein aus Wiſſen; ihre
Quelle ſtroͤmt aus jeder individuellen Thaͤtigkeit des
Geiſtes, wie verſchieden ſie auch ſey, ſobald ſie nur in
ihrer ganzen Kraft ſich regt, und mit ſich ſelbſt har-
moniſch ſich entwickelt: und doch wollen wir, der
mannichfaltigen Gaben Gottes vergeſſend, auf die Eine
[154]Dritter Abſchnitt.
Art von Bildung uns alle eigenſinnig beſchraͤnken?
Darinn eben fehlen wir mit unſerm Alles Lernen
wollen: wir nehmen irrig das Product der mannich-
faltigſten Geiſtesthaͤtigkeit fuͤr die Aufgabe aller indivi-
duellen Thaͤtigkeit, das, was aus dem einzelnen Thun
Aller hervorgeht, fuͤr das, was jeder Einzelne thun
ſolle. Die Bildung koͤnnen wir dem Bluͤthenduft
in einem Blumengarten vergleichen, dem erquickenden
Hauche, der dem ſtillen kraͤftigen Leben der man-
nichfaltigſten einzelnen Blumen entſtroͤmt, jeder einzel-
nen als erhoͤhtes Labſal zuruͤckkehrt. Woher ſoll
uns die Bildung kommen, wenn wir alle ein-
zeln das ſtille eigenthuͤmliche Leben fliehen, das indi-
viduelle Seyn und Wirken unſrer nicht wuͤrdig, und
eine Vertheilung und Aufloͤſung unſrer Kraft ins unbe-
ſtimmte Allgemeine fuͤr unſre wahre hoͤhere Beſtimmung
halten? Aber, wollten wir auch dieſe Anſicht nicht
gelten laſſen, daß die wahre allgemeine Bildung
nur das Product der individuellen, des ſtillen Wir-
kens und der ruhigen Entwickelung der Eigenthuͤmlich-
keit der Einzelnen ſey; wollten wir auch glauben, daß
ſich eine allgemeine Bildung als eine ſtehende Maſſe
denken laſſe, von der ſich jeder nach Gefallen ſeinen
vollen Antheil bis zur Ueberſaͤttigung ſelbſt zutheilen
koͤnne; glaubten wir auch, Schmetterlingen gleich, die
von einer Blume zur andern fliegend eine ganze Flora
ſich zueignen, die Fruͤchte der Beſtrebungen Anderer
im leichten Fluge erhaſchen zu koͤnnen: ſo iſt wohl zu
bedenken, daß Bildung nicht wie Blumenſtaub
ſich einathmen laͤßt, ſondern das innre Leben ſelbſt iſt,
[155]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
das aus den Producten eines Andern und mit denſel-
ben eben ſo wenig in uns uͤberzugehen vermag, als
das Leben der Pflanze in den Schmetterling. Es iſt
unwiderſprechlich: ein Wiſſen, das der Neigung des
Individuums zuwider aufgedrungen, mit Widerwillen
und mit zerſtreuender Oberflaͤchlichkeit betrieben, kaum
etwas mehr als ein leichtes Naſchen von dem Baume
der Erkenntniß iſt, kann weder fuͤr die allgemeine noch
fuͤr die individuelle Bildung etwas leiſten, und ſelbſt
die geiſtige Beſchaͤftigung des Lernens bildet nur da-
durch, daß ſie, der Eigenthuͤmlichkeit des Individuums
angemeſſen, der Neigung entſprechend, mit Liebe, mit
geſammeltem Gemuͤthe und mit vollem Ernſt getrieben
wird; dagegen, das Gemuͤth mit erkuͤnſtelter Gewalt
zum Wiſſen zwingen und zugleich auf tauſendfaͤltige
Gegenſtaͤnde zerſtreuen, bildet nicht nur nicht, ſondern
fuͤhrt unausbleiblich zur Verbildung.


Koͤnnen wir von jenem ungluͤckſeligen Wahn und
Streben nicht zuruͤckkommen, die Bildung in der Maſſe
und Mannichfaltigkeit der Kenntniſſe zu ſuchen, ſo
hilft ohne Zweifel auch alles Predigen uͤber Erziehung
und Unterricht nichts. Muͤſſen Alle Alles wiſſen, ſo
muͤſſen auch Alle Alles lernen; und da die moderne
Cultur, indem ſie durch jene ungemeßne Forderung die
Kunſt um ſo vieles laͤnger gemacht hat, nicht zugleich
auch das Leben laͤnger machen konnte, ſo muß in die
Intenſion des Lebens gelegt werden, was in der Pro-
tenſion deſſelben keinen Raum gewinnen kann, ſo muß
ſchon das Kind angehalten werden, eine groͤßere Maſſe
[156]Dritter Abſchnitt.
von Kenntniſſen zu verſchlingen und ſich zugleich an
Verſchlingen groͤßerer Kenntnißmaſſen zu gewoͤhnen,
um durch dieſe Gewohnheit ſo viel moͤglich jener un-
uͤberſehbaren Aufgabe der Cultur gewachſen zu werden.
Waͤre es dagegen moͤglich, jenen Wahn im Ganzen unſrer
Cultur wieder zu verdraͤngen und die richtigere Anſicht
uͤber wahre Bildung geltend zu machen; ſo muͤßte dies
von ſelbſt auf den Erziehungsunterricht den wohlthaͤti-
gen Einfluß haben, daß wir die Zahl der Lehrgegen-
ſtaͤnde nach einem andern Maßſtabe beſonnener waͤhl-
ten; und wir ſollten ſchon darum uns aufs ſorgfaͤltigſte
vor uͤbelberechneter Anhaͤufung des Lehrſtoffes fuͤr unſre
Kinder huͤten, damit wir nicht ſelbſt ſchon durch den
fruͤhen Unterricht ſie verleiten, ſich ein Ziel zu ſetzen,
das die Allerwenigſten ohne Nachtheil anſtreben koͤnnen.


Iſt es aber gleich nicht moͤglich, jene Tendenz der
Zeit in ihrem Laufe zu hemmen, iſt deshalb ſogar auch
zu erwarten, daß ſelbſt dieſe dawider aufgeſtellte War-
nung mit dazu beitragen werde, der darauf zu gruͤn-
denden Forderung fuͤr den Erziehungsunterricht das
Ohr zu verſchließen; ſo kann doch die Theorie ihre
Pflicht nicht vergeſſen noch verlaͤugnen, den Sitz der
Krankheit aufzudecken, und die vorzuſchlagenden Heil-
mittel darnach zu berechnen. Fangen wir wenigſtens
an, dem allgemeinen Verfall der Cultur durch beſſer
uͤberlegte Bildung der kommenden Generation entge-
gen zu arbeiten, hoͤren wir doch auf, nach jenem ver-
ſchrobnen Ideale unſre Kinder mit verkehrtem Treiben
zu verbilden, die Kraͤfte ihres kaum erwachten Geiſtes
[157]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
in einem Meer von Sachen zu verſchwemmen, ihren
Geiſt mehr zu zerſtreuen als zu ſammeln, ihnen gleich
von Jugend an die falſche Richtung auf das unbe-
ſtimmte Allgemeine zu geben, anſtatt ſie zu ruhigem
energiſchem individuellem Seyn und Wirken vorzu-
bereiten.


Aber die Frage von der Zahl der Gegenſtaͤnde,
welche der Erziehungsunterricht beduͤrfe, laͤßt ſich von
jener allgemeinen Anſicht aus allein nicht entſcheiden;
denn, theile man nach dem Obigen dem Erziehungs-
unterricht Viel oder Wenig zu lehren zu, ſo bleibt
doch immer die naͤhere Frage: Wie viel oder wie
wenig
? Und uͤberhaupt duͤrfen, wir nicht aus den
Augen laſſen, daß wir auf die Anſichten von dem
Zweck des Erziehungsunterrichts zuruͤckgehen muͤſſen,
um ſowohl die Frage als die Antwort ſelbſt beſtimmt
zu faſſen.


Hat der Erziehungsunterricht die Vorbereitung des
Lehrlings zu ſeiner kuͤnftigen Berufsbeſtimmung zum
Zweck, ſo iſt unſtreitig ſchon deshalb eine große Zahl
von Lehrgegenſtaͤnden aufzunehmen, weil der kuͤnftige
Beruf des Lehrlings ſo fruͤhe noch nicht ſo beſtimmt
ſeyn kann, daß man darnach ſein Unterrichtsbeduͤrfniß
ſo genau berechnen koͤnnte. Da man nicht wiſſen kann,
zu was fuͤr einem Berufe der Lehrling in der Folge
noch Anlage und Luſt zeigen werde, und da es nicht
einmal recht waͤre, ſeine Lebensbeſtimmung durch den
Unterricht ſelbſt gleichſam deſpotiſch feſtſetzen zu wollen,
[158]Dritter Abſchnitt.
ſo muß man ihm waͤhrend der Erziehungsperiode vie-
lerlei Kenntniſſe beibringen, damit er — nach der ge-
meinen Redensart — in alle Saͤttel gerecht ſey!


Man ſollte freilich meinen, es waͤre weit natuͤrlicher,
dieſes Argument vielmehr umzukehren: da man ſo fruͤh
nicht wiſſen koͤnne, zu welcher Art von Geſchaͤft ſich
bei dem Lehrling Anlagen und Neigung, zum Theil
durch den Unterricht ſelbſt, entwickeln werden, ſo koͤnne
man den Unterricht nicht als Vorbereitung auf eine
noch nicht zu beſtimmende Beſtimmung behandeln, und
es ſey die natuͤrlichſte Maßregel, ſich vor Mißgriffen
ſicher zu ſtellen, wenn man den ganzen Unterricht des
Kindes ausſchließend auf das beziehe, was an ihm
beſtimmt iſt, und worauf der Unterricht doch immer
fruͤher oder ſpaͤter bezogen werden muß, auf die
Menſchheit
in ihm. Allein wir ſind ſo kuͤnſtlich
geworden, daß uns das Natuͤrlichſte nirgend mehr ge-
nuͤgen will, weil wir uns alles zutrauen. Inzwiſchen
laͤßt ſich doch kaum laͤnger verbergen, daß wir uns
verirrt und verrechnet haben, und was weiter oben
uͤber den Zweck des Erziehungsunterrichts vorgebracht
worden iſt, wird wenigſtens hinreichen, einiges Miß-
trauen gegen jene moderne Beſtimmung deſſelben zu
erregen, die man mit ſolcher Zuverſicht als Grundſatz
ausgeſprochen und in der Praxis befolgt hat. Inſofern
kann ich auch hier das Argument fuͤr die Nothwendig-
keit vieler Gegenſtaͤnde des Erziehungsunterrichts
wenigſtens als zweifelhaft annehmen und daneben fuͤr
die entgegengeſetzte Behauptung das Recht, gehoͤrt zu
werden, geltend machen.


[159]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Hat der Erziehungsunterricht nur die Bil-
dung des Lehrlings zum Menſchen zu ſeinem Zwecke,
ſo iſt unſtreitig ſchon deshalb keine große Zahl von
Lehrgegenſtaͤnden aufzunehmen, weil dieſe Bildung, wie
oben erinnert worden iſt, uͤberhaupt im Wiſſen allein
nicht beſteht, am allerwenigſten aber in der Maſſe von
Kenntniſſen und in der Vielwiſſerei, welche vielmehr
unausbleiblich Verbildung nach ſich zieht. Wie alle
Bildung nur durch energiſchen Gebrauch der Kraͤfte
erzeugt wird, dadurch daß man etwas rechtes und
tuͤchtiges leiſtet, ſo kann auch die Bildung, die durch
Wiſſen erworben werden ſoll, nicht durch das viel
und oberflaͤchlich Wiſſen, das den Geiſt vielmehr zer-
ſtreut als anſtrengt, ſondern nur durch das recht und
gruͤndlich Wiſſen erlangt werden; und es ergiebt ſich
daraus fuͤr die Beſtimmung der Zahl von Lehrgegen-
ſtaͤnden des Erziehungsunterrichts das unverwerfliche
Regulativ: nicht mehrere Gegenſtaͤnde aufzu-
nehmen, als zufolge der Entwickelungsſtufe
der Lehrlinge und der gegebenen Unter-
richtsfriſt gruͤndlich gelernt werden koͤnnen
.
Da das gruͤndliche Wiſſen zwar zunaͤchſt auf
Erſchoͤpfung eines Gegenſtandes und ſeiner beſtimmten
Sphaͤre gerichtet ſeyn muß, jedoch auch die Ausbrei-
tung auf die naͤchſtverwandten Gegegenſtaͤnde und ihre
Kreiſe nicht nur nicht ausſchließt, ſondern vielmehr —
ſofern die Erſchoͤpfung eines Gegenſtandes dadurch be-
dingt iſt — ausdruͤcklich fordert: ſo werden ſelbſt die,
die dem entgegengeſetzten Syſteme zugethan ſind, dieſes
Regulativ nicht ganz verwerflich finden.


[160]Dritter Abſchnitt.

Noch ein anderer Unterſchied aber in Ruͤckſicht der
[Quantitaͤt] der Unterrichtsgegenſtaͤnde koͤmmt zum Vor-
ſchein, wenn man auf die zweite Differenz uͤber den
Zweck des Erziehungsunterrichts ſein Augenmerk richtet;
wiefern entweder bloß auf formelle oder bloß auf mate-
rielle Bildung des Geiſtes geſehen wird.


Koͤmmt es auch bloß auf formelle Bildung des
Geiſtes an, ſo ſcheint doch die Zahl der Unterrichtsge-
genſtaͤnde, ſelbſt wenn man dabei bloß die Bildung
des Menſchen als Menſchen im Auge hat, nicht ge-
ring ſeyn zu koͤnnen, wenn nicht abermals der Vor-
wurf ſtatt finden ſoll, daß der Erziehungsunterricht zur
Einſeitigkeit fuͤhre; denn vielſeitig kann die Bil-
dung an einfoͤrmigem Uebungsſtoff und einartigen
Lehrgegenſtaͤnden doch nicht wohl werden. Fuͤrs erſte aber
ſcheint es in der That nur ſo; denn warum ſollte
nicht vielſeitige Betrachtung Eines Gegenſtandes
ebenfalls zu einer vielſeitigen Bildung fuͤhren?
und umgekehrt, wie ſollte die Betrachtung vieler
Gegenſtaͤnde, die aus Mangel an Zeit einſeitig
werden muß, eine vielſeitige Bildung begruͤnden
koͤnnen? Fuͤrs zweite, wenn gleichwohl zugeſtanden
werden muß, daß die Bildung des Geiſtes durch Un-
terricht einen groͤßeren Umfang von Gegenſtaͤnden erfor-
dere, ſo folgt daraus noch lange nicht die Nothwen-
digkeit einer ungemeſſenen Vermehrung derſelben; viel-
mehr kann es vollkommen hinreichend ſeyn, nur einige
der verſchiedenſten Arten von Gegenſtaͤnden zu waͤhlen,
um durch deren Diverſitaͤt den Geiſt in den am meiſten
[161]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
entgegengeſetzten Richtungen zu uͤben: welcher Verviel-
faͤltigung von Uebungsgegenſtaͤnden durch das oben
aufgeſtellte Regulativ eine unverletzliche Graͤnze vorge-
zeichnet iſt.


Koͤmmt es aber auf materielle Bildung des Geiſtes,
auf das Erlernen einer beſtimmten Maſſe von Kennt-
niſſen an, welche der Erziehungsunterricht dem Lehrling
beibringen ſoll; ſo kann man in Abſicht auf die Quan-
titaͤt der Unterrichtsgegenſtaͤnde eine Graͤnzlinie ſchon
dadurch ziehen, daß man den Zweck des Erziehungsun-
terrichts auf Bildung des Menſchen als Menſchen
beſchraͤnkt: wodurch die ganze Maſſe von Kenntniſſen,
die fuͤr irgend einen willkuͤrlichen Zweck gefordert wer-
den moͤchten, abgeſchnitten wird. Fuͤrs zweite, inwie-
fern ſelbſt zur Bildung des Menſchen als Menſchen
eine gewiſſe Summe beſtimmter Kenntniſſe gefordert
werden will, iſt erſtens ſchon oben gezeigt, daß ſich
dieſe Forderung uͤberhaupt nicht auf das ganze Ideal
des Wiſſens ausdehnen laſſe, und bei Allen, deren
Beruf nicht die Wiſſenſchaft ſelbſt iſt, auf einen kleinen
Kreis beſchraͤnkt ſey, und darauf ſogar beſchraͤnkt wer-
den muͤſſe, um nicht in die ungluͤckliche Sucht nach
Wiſſerei und ſomit in wahre Verbildung auszuarten.
Sodann laͤßt ſich eben dieſe Beſchraͤnkung ſowohl im
Allgemeinen als fuͤr den Erziehungsunterricht noch naͤher
dadurch beſtimmen, daß 1) zur Bildung des Menſchen
als Menſchen keine andere beſtimmte Kenntniß unbe-
dingt gefordert wird, als die der Ideen, 2) ſelbſt
aus dieſem Gebiete der Erkenntniß nur die Ideen der
11
[162]Dritter Abſchnitt.
Religion und Pflicht in den gewoͤhnlichen Umfang
des Erziehungsunterrichts fuͤr alle die aufgenommen
werden, die demſelben nicht eine laͤngere Reihe von
Jahren widmen koͤnnen, 3) die Erwerbung aller an-
deren materiellen Kenntniß aber theils dem ſpaͤteren
praktiſchen Leben zugewieſen, theils nur als Uebungs-
mittel fuͤr die Bildung des Geiſtes behandelt, theils
nur als Zugabe mitgenommen wird, in der Unterord-
nung unter die Erwerbung der noͤthigen Fertigkeit in
jenen unbedingt nothwendigen Kenntniſſen, wenn dieſen
letztern noch ein Theil der Unterrichtszeit durch Fleiß
und beſſere Methode abgewonnen werden kann, endlich
4) daß man der allgemeinen Bildung, (der
Bildung des Menſchen zum Menſchen,) in Abſicht auf
Erwerbung beſtimmter Kenntniſſe nur bei denen eine
groͤßere Ausdehnung giebt, die eine laͤngere Reihe von
Jahren dem Erziehungsunterricht widmen koͤnnen. Aber
auch dabei iſt noch vor einer Verirrung zu warnen.
Da dieſe Letztern die Gluͤcklichen ſind, die, von dem
Schickſal mit Mitteln und Kraͤften dazu beguͤnſtiget,
den Beruf haben, ſelbſt einen hoͤhern Grad der
allgemeinen Bildung
zu erlangen, und zu Erhal-
tung und Erhoͤhung der Humanitaͤtsbildung auf Erden
mitzuwirken, ſo muͤſſen eben deshalb auch dieſe dem
Erzieher als die Geweihten gelten, die er nicht wagen
ſollte mit unheiligen Haͤnden anzutaſten, und auf den
Abweg der Barbarei zu fuͤhren, daß ſie ihre der Hu-
manitaͤt und Vernunft geweihte Bildungszeit durch
Fach- und Handwerksſtudien vergeuden und ent-
heiligen.


[163]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

So loͤſt auch dieſe Frage von der Zahl der Ge-
genſtaͤnde
, die der Erziehungsunterricht aufzunehmen
habe, ſich zu Gunſten des Humaniſmus auf, ohne daß
jedoch die Mangelhaftigkeit deſſelben uͤber dieſen Punkt,
auf welche der Philanthropiniſmus aufmerkſam gemacht
zu haben das Verdienſt hat, in Schutz genommen oder
fortgepflanzt wuͤrde. Das Beſtreben des Philanthro-
piniſmus, dem Erziehungsunterricht mehr Umfang und
Ausdehnung zu geben, iſt an ſich nicht tadelhaft; aber
wenn dieſe Ausdehnung erſtens uͤberhaupt nach einem
uͤberſpannten Ideale gemacht wird, zweitens den wich-
tigeren Gegenſtaͤnden Abbruch thut, und drittens der
Gruͤndlichkeit des Lernens und der Kenntniſſe ſchadet
und zur Zerſtreuung und Oberflaͤchlichkeit des Wiſſens
verleitet, dann iſt es noͤthig, laut dagegen zu warnen,
und zu einem uͤberlegteren Verfahren aufzufordern.


2.

Die zweite Hauptdifferenz zwiſchen Humaniſmus
und Philanthropiniſmus in Abſicht auf die Gegenſtaͤnde
des Erziehungsunterrichts betrifft die Art derſelben.


Hier treffen wir den Punkt, in welchem der Ge-
genſatz der beiden Unterrichtsſyſteme in unſern Tagen
am ſchaͤrfſten hervorgetreten iſt. Es war von Anbeginn
an und iſt noch das Feldgeſchrei der Philanthro-
piniſten: „nicht Worte ſondern Sachen!“ Man
wollte gefunden haben, daß der Humaniſmus Menſchen
bilde, denen der Buchſtabe alles gelte, die nicht die
Sachen ſondern, die Zeichen derſelben, die Worte
11*
[164]Dritter Abſchnitt.
fuͤr das Wichtigſte halten, und die eben darum in den
Sachen meiſt unwiſſend bleiben. Ganz ungegruͤndet
war auch die Beſchuldigung nicht. Der Humaniſmus
hatte in ſeiner Ausartung nicht nur den hoͤheren Un-
terricht großentheils auf Philologie, und dieſe auf
Wort- und Buchſtabenſtudium reducirt, ſondern
auch den niederen Unterricht, außer den mechaniſchen
Beſchaͤftigungen des Leſens, Schreibens und Rechnens,
meiſt auf eine trockne Worterklaͤrung des Katechis-
mus beſchraͤnkt, und dadurch in beiden Arten des Un-
terrichts den Geiſt zur Beſchaͤftigung mit lauter leeren
Formeln und Zeichen ohne alle Lebendigkeit der An-
ſchauung gewoͤhnt. Daß ein ſolcher Unterricht den
Geiſt in der That verbilde, und es eine Wohlthat fuͤr
die Menſchheit ſey, dieſen unverantwortlichen Mißbrauch
auszurotten, kann kein Unbefangner einen Augenblick
laͤugnen. Allein, einestheils hat der Philanthropiniſ-
mus dieſen Vorwurf offenbar uͤbertrieben, anderntheils
den Humaniſmus in ſeiner richtigeren Anſicht daruͤber
nicht einmal begriffen und eben deshalb eine im Gan-
zen in der That irrige und ungegruͤndete Beſchuldigung
vorgebracht. Ueberdies, indem er eben davon Veran-
laſſung nahm, im Gegenſatz von Worten jetzt viel-
mehr Sachen als Gegenſtaͤnde des Erziehungsunter-
richts zu fordern, iſt damit nur ein anderer, nicht
weniger nachtheiliger, Mißbrauch an die Stelle getreten,
und jenem Uebel doch nicht abgeholfen.


Es muß vor allen Dingen das Mißverſtaͤndniß
aufgeloͤſt werden, wodurch der Philanthropiniſmus zu
[165]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
jenem Irrthum verleitet worden, und welches auf der
verworrenen Entgegenſetzung von Sachen und Wor-
ten
beruht.


Geht man auf die Eintheilung der Gegenſtaͤnde
uͤberhaupt
zuruͤck, ſo zeigt ſich zunaͤchſt die Unter-
ſcheidung derſelben in die der Außenwelt und die
der Innenwelt, die mit einer bekannten Benennung
als reale und ideale einander entgegengeſetzt wer-
den. Allein die Unvollſtaͤndigkeit dieſer Eintheilung
und Benennung macht ſich ſchon dadurch kenntlich,
daß man, den einen Theil des Gegenſatzes Sachen
nennend, fuͤr den andern Theil keine andre Bezeichnung
kennt, als die der Worte. Zwar giebt es eine Anſicht,
von welcher aus auch ſelbſt dieſer Entgegenſetzung etwas
Wahres zugeſtanden werden kann: wiefern naͤmlich die
hoͤchſten idealen Gegenſtaͤnde (die Ideen) in dem
Worte ihre eigenthuͤmlichſte Erſcheinungsweiſe fuͤr uns
haben. Dann aber wird dem Ausdruck Wort eine Aus-
dehnung der Bedeutung gegeben, die ihm in dem Sprach-
gebrauche uͤberall nicht zukoͤmmt, und die eben deshalb
nur Verwirrung anrichten kann. Aber der eigentliche
Grund der Verwirrung, die ſich in dem paͤdagogiſchen
Streite uͤber die Unterrichtsgegenſtaͤnde findet, liegt
weit tiefer in dem Mangel richtiger Unterſcheidung der
Gegenſtaͤnde uͤberhaupt, und in dem Ueberſprin-
gen und Verwechſeln der Eintheilungsgruͤnde,
das durch unbeſtimmte Benennungen der Ge-
genſaͤtze veranlaßt und unterhalten wird. Da dieſe von
den Meiſten vernachlaͤſſigte ſchaͤrfere Unterſcheidung in
[166]Dritter Abſchnitt.
der Paͤdagogik uͤberhaupt ſo vielfaͤltige Verwirrung
zur Folge hat, und bei der gegenwaͤrtigen Frage un-
erlaßlich iſt, ſo wird eine ausfuͤhrlichere Auseinander-
ſetzung derſelben hier ſelbſt von denen nicht als uͤber-
ſtuͤſſig erklaͤrt werden, die fuͤr ſich nichts Neues darinn
finden.


Halten wir uns zunaͤchſt an die Haupteintheilung,
die der Philanthropiniſmus im Auge hat, indem er
den Humaniſmus des bloßen Wortkrams im Er-
ziehungsunterricht beſchuldiget, und dagegen Sachen
oder, wie er es auch nennt, Realien als die einzigen
wahren Unterrichtsgegenſtaͤnde mit ſolchem Ungeſtuͤm
fordert. Er laͤßt es keinen Augenblick zweifelhaft, was
er unter dieſen ſogenannten Realien verſtehe, naͤm-
lich die materiellen Gegenſtaͤnde der Außen-
welt
; was er alſo aus dem Erziehungsunterricht ent-
weder ganz oder doch großentheils ausgeſchloſſen haben
will, muͤſſen wir, den Geſetzen des Gegenſatzes zufolge,
als die geiſtigen Gegenſtaͤnde der Innenwelt
bezeichnen, welche wir, der Sprachanalogie gemaͤß,
Idealien nennen koͤnnen. So ſchiene nicht nur an
ſich in dieſer Entgegenſetzung kein ſonderlicher Mißver-
ſtand ſtatt zu finden, ſondern auch die zu unterſuchende
Frage, nach der einfachen Eintheilung, leicht ſo zu
ſtellen: ſollen zu Gegenſtaͤnden des Erziehungsunter-
richts bloß Realien oder bloß Idealien oder beides
zugleich gebraucht werden?


Allein in Ruͤckſicht auf beide bezeichnete Zweige
des Unterrichtsmaterials ſind bedeutende Mißverſtaͤnd-
[167]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
niſſe verborgen, die auf Theorie und Praxis des Un-
terrichts einen nachtheiligen Einfluß haben, wenn ſie
unaufgedeckt umgangen werden.


Selbſt in Abſicht auf die Realien, deren Be-
ſtimmung keiner großen Vieldeutigkeit oder Unbeſtimmt-
heit zu unterliegen ſcheint, wenn man ſie, im reinen
Gegenſatz gegen das Geiſtige, als das Ausge-
dehnte, Raͤumliche, Materielle
betrachtet, findet
doch eine verkehrte Anſicht und Anwendung im Unter-
richt ſtatt, indem (durch den Gegenſatz) die Gegen-
ſtaͤnde der materiellen Welt bloß atomiſtiſch als eine
zertheilte Maſſe vorgeſtellt, und weder von dem innern
Leben der einzelnen Koͤrper, von ihrem dynamiſchen
Seyn, noch von ihrem vereinigten Seyn durch Wech-
ſelwirkung die rechte Anſicht gefaßt, und noch viel
weniger auf die hoͤhere Bedeutung der materiellen
Natur
Ruͤckſicht genommen wird, daß ſie als eine
Erſcheinungsart der Idee betrachtet werden kann, in
welcher eben ſo, wie in der geiſtigen Natur, das
dieſen beiden gemeinſchaftliche Dritte Hoͤhere geoffen-
bart iſt. In dieſer letztern Ruͤckſicht gefaßt und behan-
delt, waͤre auch die materielle Welt ein zur Ver-
nunftbildung
ganz geeigneter Gegenſtand, Aber,
nimmt der Philanthropiniſmus wohl dieſe Anſicht von
den Realien, die er fordert? Und waͤren ſie dann
fuͤr den Erziehungsunterricht zu gebrauchen?


Bei weitem groͤßer aber iſt die Unbeſtimmtheit in
Abſicht auf die Idealien im Unterricht, indem ſich
[168]Dritter Abſchnitt.
unter der allgemeinen Anſicht von dem Reiche des
Geiſtes
leichter mehrere unaufgeloͤſte Gegenſaͤtze ver-
ſtecken. Man begnuͤgt ſich meiſtens, das Gebiet der
geiſtigen Gegenſtaͤnde durch den Gegenſatz bloß
negativ beſtimmt zu denken, und begreift darunter in
einem unbeſtimmten Gedanken alles was nicht
Sache
, nicht dem materiellen raͤumlichen Object ange-
hoͤrig iſt. Allein die Negation an ſich giebt uͤberhaupt
keine Beſtimmung, und das durch dieſe Negation abge-
ſonderte geiſtige Gebiet enthaͤlt eine verwirrende
Mannichfaltigkeit von Gegenſtaͤnden, die uͤberdies nichts
Stehendes ſind und fuͤr die Betrachtung ſich ſchwer
fixiren laſſen; es bedarf alſo hier der ſorgfaͤltigſten
Unterſcheidung derſelben, um eine klare Ueberſicht zu
gewinnen und feſtzuhalten.


Nehmen wir den Geiſt uͤberhaupt in ſeiner gaͤnz-
lichen Abſonderung von allem Koͤrperlichen und
Materiellen, ſo bleibt uns gar nichts uͤbrig,
als ſein freies Thun und Denken und das Geſetz
von beiden: darauf beſchraͤnkte ſich das rein geiſtige
Gebiet
. Aber eben dieſes rein geiſtige Gebiet iſt
voͤllig inhaltleer, und wir koͤnnen dabei gar nichts
Beſtimmtes und — da ein unbeſtimmtes Denken kein
Denken iſt — uͤberall gar nichts denken. Wir muͤſſen
alſo, um irgend einen ſogenannten geiſtigen Ge-
genſtand
denken zu koͤnnen, jene Abſonderung zum
Theil wieder aufheben, und den in der Abſtraction
abgeſonderten Geiſt in ſeiner Beziehung zu einem Ob-
jectiven
denken. Naͤhmen wir nun dieſes Objective
[169]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
nur als die Koͤrperwelt, und den Geiſt als Den-
kendes bloß in ſeiner Beziehung zu dieſer, ſo muͤßten
wir das ganze Gebiet des Geiſtes auf Begriffe
und Empfindungen von der Koͤrperwelt und ſeinem
Thun und Leiden in derſelben reduciren; dann waͤre
die ganze geiſtige Welt nichts anderes als der Be-
griff der koͤrperlichen
, das durch die Abſtractions-
kraft des Geiſtes zu Stande gebrachte ideale Gegen-
bild der koͤrperlichen Welt
. Dann gaͤbe es
auch keinen andern Unterſchied zwiſchen materiellen
und geiſtigen Gegenſtaͤnden, als den zwiſchen
Sache und Begriff, Gegenſtand und Ab-
ſtractum
.


Auf dieſer unvollkommnen Unterſcheidung beruht
jener Vorwurf, den der Philanthropiniſmus dem Hu-
maniſmus macht, daß er gaͤnzlich verabſaͤume, die
Lehrlinge mit Sachen zu beſchaͤftigen oder — wie es
die Peſtalozziſche Schule ausdruͤckt — ſie zur An-
ſchauung
zu fuͤhren, durch welches Verſaͤumniß alle
Lebendigkeit der Erkenntniß verloren gehe und ſich in
eine bloß formelle Einſicht verwandle. Inſofern die aͤltere
Paͤdagogik in der That den Fehler begangen haͤtte, im
Unterricht uͤber materielle Gegenſtaͤnde anſtatt
der anſchaulichen Belehrung ſich bloß abſtracter
Beſchreibungen
ſolcher Gegenſtaͤnde zu bedienen,
waͤre jener Vorwurf nicht ungegruͤndet, und die Zu-
ruͤckfuͤhrung auf Anſchauung eine weſentliche Ver-
beſſerung des Unterrichts uͤber materielle Gegen-
ſtaͤnde
. Aber es beſteht weder der eigentliche Fehler
[170]Dritter Abſchnitt.
des Humaniſmus darinn, noch iſt der Vorſchlag des
Philanthropiniſmus das rechte Mittel gegen den eigent-
lichen Fehler des Humaniſmus. Nicht die bloß ab-
ſtracte Behandlung materieller Gegenſtaͤnde

iſt dem Unterricht des Humaniſmus vorzuwerfen, ſon-
dern das Ausſchließen materieller Gegen-
ſtaͤnde
uͤberhaupt aus dem Unterricht, und das Be-
ſchraͤnken deſſelben auf bloß geiſtige Gegen-
ſtaͤnde
. Um die Bedeutung dieſes Gegenſatzes voll-
ſtaͤndig zu faſſen, muß man auf einen ganz andern
Eintheilungsgrund zuruͤckgehen.


Die Koͤrperwelt iſt nur ein Theil des Objec-
tiven
, mit welchem wir den Geiſt als Denkendes
in Beziehung zu denken haben: der Geiſt, als Denken-
des, bezieht ſich auf das ganze Object, in welchem
Geiſterwelt und Koͤrperwelt vereiniget iſt. In
der erſtern Beziehung hat der Geiſt ſich ſelbſt zum
Object, und eben deshalb nicht bloß Begriffe und
Empfindungen von materiellen Gegenſtaͤn-
den
und ihrem Wirken und ihren Geſetzen, ſon-
dern auch Vorſtellungen und Gefuͤhle von
geiſtigen Gegenſtaͤnden, von ſeinem eignen
Denken, Handeln und Leiden und den Geſetzen
deſſelben. Dieſer Unterſchied zwiſchen materiellen
und geiſtigen Gegenſtaͤnden
iſt ein ganz andrer
als der oben angedeutete, in welchem das Geiſtige
bloß als das abſtrahirte Bild des Materiellen
gefunden wurde. In dem hier aufgezeigten letzteren
Gegenſatz iſt das Geiſtige von dem Materiellen
[171]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
ganz unabhaͤngig, eine von allem Koͤrperlichen, Raͤum-
lichen ganz verſchiedne Art.


Aber auch ſelbſt in dieſer hoͤheren Bedeutung iſt
der Gegenſatz noch nicht erſchoͤpft. Der Geiſt iſt
nicht bloß der Materie, ſondern dieſe beiden zugleich
ſind einem gemeinſchaftlichen Dritten Hoͤheren entge-
genzuſetzen. Indem wir den Geiſt als Denkendes auch
auf dieſes Hoͤhere beziehen, finden wir den hoͤchſten
Kreis geiſtiger Gegenſtaͤnde. Wir koͤnnen die-
ſes Hoͤchſte, von dem Geiſt und Koͤrper gemein-
ſchaftlich ausgehen oder abſtammen, das Abſolute,
zwar nicht unter den Begriff bringen, aber doch als
Idee faſſen, und in der zweifachen Reihe ſeiner indi-
viduellen ſowohl geiſtigen als koͤrperlichen Er-
ſcheinungen zum Gegenſtand unſrer Betrachtung, Be-
wunderung, auch wohl unſrer dynamiſchen oder atomi-
ſtiſchen Erklaͤrung machen.


Dieſe Gegenſtaͤnde alle zuſammengenommen begreift
man unter der Claſſe von geiſtigen Gegenſtaͤn-
den
, wenn man ſie den materiellen entgegenſetzt.
Dieſe alſo, nicht jene Abſtractionen von koͤrperlichen Ge-
genſtaͤnden und deren Einwirkungen auf den Geiſt, (ob-
gleich auch dieſe Abſtractionen nur moͤglich ſind durch
die Ideen, die ihnen zu Grunde liegen,) machen, im
Gegenſatze von den Realien des Unterrichtsmaterials,
die Idealien deſſelben aus, und ſollen hier aus-
ſchließend durch die Benennung von geiſtigen Un-
terrichtsgegenſtaͤnden
, wie die Realien durch
[172]Dritter Abſchnitt.
die Benennung materieller Gegenſtaͤnde be-
zeichnet werden.


Ein weſentliches Mißverſtaͤndniß aber in Abſicht
auf die geiſtigen Gegenſtaͤnde, welches den Streit
des Philanthropiniſmus gegen den Humaniſmus am
meiſten verwirrt hat, ruht noch auf einer andern irri-
gen Anſicht und bedarf noch einer beſondern Aufloͤſung.
Die geiſtigen Gegenſtaͤnde uͤberhaupt, die hoͤch-
ſten Ideen ſelbſt wie ihr leiſeſter Abdruck in Gefuͤhlen
und Ahnungen des Hoͤchſten, Ewigen, welche nicht in
den Raum hervortreten und dem leiblichen Auge er-
ſcheinen koͤnnen, geſtalten ſich in dem Schema der
Sprache, und erſcheinen, indem ſie — wie ein gluͤck-
lich gefundner, obſchon durch unverſtaͤndige Nachbeterei
faſt widerlich gewordner Ausdruck trefflich bezeichnet —
ſich ausſprechen. So iſt das Wort die natuͤr-
liche Erſcheinungsform der Ideen und reingeiſtigen
Gegenſtaͤnde.


Aber eben daraus, daß dieſe Form der geiſtigen
Gegenſtaͤnde oͤfters theils nicht tief genug erwogen, theils
nicht genau genug von der Sache unterſchieden wird,
entſtehen die ſonderbarſten Mißgriffe. Erſtens, indem
eine Idee, ein Gefuͤhl ꝛc. in einem einzelnen Wort
ausgeſprochen iſt, und folglich mit dem Wort, wenn
es verſtanden werden ſoll, die Idee, das Gefuͤhl ꝛc.
vollſtaͤndig verbunden werden muß, bleibt das Wort
fuͤr Alle, denen die damit bezeichnete Idee ꝛc. fremd
iſt, ein leerer Schall, mit welchem ſie gleichwohl
[173]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
irgend ein verworrnes Etwas von Gedanken vielleicht
verbinden. Zweitens, indem von einem ſolchen Wort
eine Erklaͤrung in Worten gegeben wird, bildet
man ſich oft ein, den geiſtigen Gegenſtand durch
die Erklaͤrung des Wortes erfaſſen zu koͤnnen,
taͤuſcht ſich aber oft nur durch eine etymologiſche Ab-
leitung, die nur zufaͤllig den rechten Sinn andeutet,
haͤufig aber von demſelben abfuͤhrt; oder die zur Er-
klaͤrung gebrauchten Worte werden ſelbſt nicht ver-
ſtanden, weil die Ideen, die ſie enthalten, dem Ler-
nenden ebenfalls fremd ſind. Drittens kann allerdings
eben dieſe Art von Belehrung, durch Erklaͤrung von
Worten, welche bei geiſtigen Gegenſtaͤnden
angewendet wird, auch zu dem Mißbrauch verleiten,
ſie auf die materiellen Gegenſtaͤnde auszudeh-
nen, die ja auch an beſtimmte Worte, als ihre Zei-
chen, gebunden ſind: es ſcheint naͤmlich, daß man
ein Sachwort eben ſo gut als ein Ideenwort
durch Erklaͤrung oder Beſchreibung deutlich machen,
und ſonach die Anſchauung umgehen koͤnne. Dies
Letztere nun iſt durchaus fehlerhaft, indem die Sache
ganz verſchieden iſt von der Idee; dieſe, als der
Vernunft eigenthuͤmlich, kann von jedem vernuͤnftigen
Individuum unmittelbar conſtruirt und eben dadurch
auch verſtanden werden; jene, als von dem Indivi-
duum unabhaͤngig vorhanden, kann nur durch wirkliche
Anſchauung verſtanden werden, und aller Aufwand
von Worten, der zu Beſchreibung derſelben gemacht
wird, iſt nur Verſchwendung von Zeit und Muͤhe,
und in der That ein bloßer Wortkram, den man
[174]Dritter Abſchnitt.
mit Recht aus dem Unterrichte verbannt wiſſen will.
Viertens, in Abſicht auf die Darſtellung der geiſtigen
Gegenſtaͤnde
durch Wort und Rede, iſt vorzuͤg-
lich der Unterſchied wohl zu beherzigen, ob die Dar-
ſtellung unmittelbar das Ausſprechen der Ideen, der
Gefuͤhle ꝛc. zur Mittheilung an Andre, und inſofern
gleichſam die Erſcheinung derſelben ſelbſt, oder ob ſie
nur mittelbar die Beſchreibung dieſer Erſcheinung ſeyn
ſolle. Die Darſtellungen der erſtern Art gehoͤren der
Kunſt, die der letztern Art der Wiſſenſchaft an.


Dieſe Unterſcheidung iſt fuͤr den Erziehungsunterricht
um ſo mehr von Wichtigkeit, weil die Vernachlaͤſſigung
derſelben ohne Zweifel Schuld iſt, daß man das eigentliche
Object des Unterrichts in geiſtigen Gegenſtaͤnden
ſo haͤufig verkannt hat, naͤmlich die Darſtellungen derſel-
ben in der Kunſt der Rede, in denen ſie nicht nur
die Seele durch Aufregung der innerſten Tiefen des
Geiſtes ergreifen, ſondern ſich auch in einer feſten Ge-
ſtaltung gleichſam fuͤr die Betrachtung fixiren. Die
hoͤchſten Ideen, die zwar in allen vernuͤnftigen Indivi-
duen liegen, aber nicht in allen zu beſtimmten Gedan-
ken hervortreten, laſſen ſich in ſolchen Darſtellungen
begeiſterter Maͤnner zum Eigenthum Aller erheben, und
insbeſondre auch zum allgemeinen Object des Unterrichts
machen.


Man ſieht deutlich, daß die Paͤdagogen eben da-
durch, weil ſie dieſen letzteren Unterſchied nicht ſcharf
genug gefaßt hatten, mit dem Erziehungsunterricht
[175]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
uͤber die geiſtigen Gegenſtaͤnde in Verlegenheit
kamen. Die Schwierigkeit, dieſe Gegenſtaͤnde fuͤr die
Betrachtung des Lehrlings zu fixiren, ſchien ihnen faſt
unuͤberwindlich, und da ſie eigentlich keine andre Dar-
ſtellung von geiſtigen Gegenſtaͤnden kannten, als
die Beſchreibung derſelben in ſchulgerechten Definitio-
nen, ſo waren ſie nicht ohne Grund beſorgt, daß dieſe
den Horizont der Kinder uͤberſteigen, und die beſchrie-
benen Gegenſtaͤnde ſelbſt ihrer Einſicht verſchloſſen blei-
ben moͤchten: wodurch abermals eine wahre Seite des
Vorwurfs gegen den Humaniſmus der aͤlteren Paͤda-
gogik hervorgeht: daß er nicht Sachen ſondern nur
Worte gelehrt habe; denn zu bloßen Worten
der leeren Form der geiſtigen Gegenſtaͤnde — arten
alle Darſtellungen von Ideen in der Rede allerdings
aus, ſobald die Ideen ſelbſt, die hier die Sachen
ſind, nicht verſtanden werden.


Eben damit aber hebt ſich auch die geringſchaͤtzige
Meinung von ſelbſt auf, die der Philanthropiniſmus
uͤber Wort und Sprache, als Gegenſtaͤnde des
Erziehungsunterrichts, laut gemacht und verbreitet hat,
und es zeigt ſich vielmehr, welche hohe noch immer
nicht genug beachtete Bedeutung Wort und Spra-
che
nicht nur an und fuͤr ſich ſondern auch als Unter-
richtsgegenſtand haben. Die Sprache iſt die Er-
ſcheinungsform des Geiſtes, ſein unmittelbarer Leib; in
ihr ſpricht er aus und ſtellt dar fuͤr ſich ſelbſt und An-
dere ſeines gleichen nicht nur ſich ſelbſt und ſein eignes
innerſtes Weſen, ſondern auch was hoͤher und was
[176]Dritter Abſchnitt.
niedriger iſt, als er. Durch das Wort wird die
koͤrperloſe Idee verkoͤrpert und fuͤr die Betrachtung
fixirt, die geiſtloſe Sache vergeiſtiget und fuͤr die Be-
obachtung beweglich gemacht. Der Unterricht knuͤpft
ſich deshalb nicht nur nothwendig an das Wort an,
ſelbſt da wo die Sache vorgezeigt werden kann, ſon-
dern es iſt auch, wenn man das Wort ſelbſt und
ſeine Form zum Gegenſtand des Unterrichts erhebt,
ſo wenig ein leerer Wortkram zu fuͤrchten, daß man
vielmehr umgekehrt behaupten darf: der ſchlechteſte
Wortunterricht (da vom Worte einerſeits die
Idee, das Gefuͤhl ꝛc. andrerſeits die Sache nie ſo
getrennt ſeyn kann, daß der Geiſt nicht wenigſtens be-
ſtrebt waͤre, dem Schalle ein geiſtiges Bild oder
Schema unterzulegen,) rege noch immer mehr Geiſt
auf, als ein nicht ganz guter Sachunterricht. —
In der That vertheidigen die den Humaniſmus uͤber
ſeine Liebe zum Wort und Wortſtudium gar ungeſchickt,
die zu verſtehen geben, daß ja das Wortſtudium
ein nothwendiges Uebel ſey, wenn man der Sachen
und Genuͤſſe, die das Alterthum anbiete, theilhaftig
werden wolle!


Mit dieſer, freilich nur unvollkommnen, Unterſchei-
dung der verwickelten Gegenſaͤtze, (die nur in der hoͤch-
ſten Wiſſenſchaft mit vollſtaͤndiger Beſtimmtheit aus-
einander geſetzt werden koͤnnen,) iſt gleichwohl die Ver-
wechſelung und verworrne Anſicht von Begriff und
Gegenſtand, geiſtigen und materiellen Ge-
genſtaͤnden, Wort und Sache, Idealem und

[177]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Realem, wenigſtens ſo weit aufgeloͤſt, daß wir theils
die mißverſtandne Anklage des Philanthropiniſmus ge-
gen den Humaniſmus uͤber dieſen Gegenſtand zur Ent-
ſcheidung bringen, theils die Frage ſelbſt, auf die es
hier vornehmlich ankoͤmmt: ob materielle oder
geiſtige Gegenſtaͤnde den Hauptinnhalt
des Erziehungsunterrichts ausmachen
ſollen
? mit der erforderlichen Beſtimmtheit beant-
worten koͤnnen.


Wenn der Philanthropiniſmus dem aͤlteren Unter-
richtsſyſteme Mangel an Ruͤckſicht auf Sachkennt-
niß
vorwirft, ſo gewinnt dieſe Beſchuldigung dadurch
vorzuͤglich den Schein von großer Wichtigkeit, weil
man Begriff und Sache mit Abſtraction und
Anſchauung verwechſelt und deshalb als ausgemacht
annimmt, daß der Humaniſmus, der die Sachen
vom Erziehungsunterricht ausſchließe, eine Beſchaͤfti-
gung mit bloßen Abſtractionen ſey, und dem
Lehrling anſtatt des lebendigen Baumes der Erkenntniß
ein ausgedoͤrrtes Gerippe logiſcher Abſtractionen, Defi-
nitionen und Deſcriptionen gebe.


Aber, man vergeſſe nur ja nicht, daß erſtens dem
Begriffe nicht bloß Sachen ſondern auch Ideen
gegenuͤberſtehen und ſowohl Sachen als Ideen durch
die Anſchauung mit dem Begriffe vermittelt ſeyn
muͤſſen, wenn dieſer nicht eine bloße hohle Form ſeyn
ſoll; daß zweitens der Begriff eben ſo wie er bei
materiellen Gegenſtaͤnden
durch die aͤußere An-
12
[178]Dritter Abſchnitt.
ſchauung auf die Sache bezogen werden muͤſſe, um zu
einer wahren lebendigen Erkenntniß erhoben zu werden,
bei geiſtigen Gegenſtaͤnden durch die innere
Anſchauung auf die Idee und ihre Conſtruction im
Gedanken oder ihre Erſcheinung im Gefuͤhl bezogen
werden muͤſſe, um eine wahre Erkenntniß zu ſeyn.
Wo dieſe Belebung des Begriffes durch Anſchauung
und Beziehung auf ſeinen Gegenſtand, dieſer ſey nun
Sache oder Idee, unterlaſſen wird, da iſt er ſelbſt
nichts anderes als ein bloßes Abſtractum, und
die Beſchaͤftigung mit ſolchen Abſtracten fuͤhrt allerdings
zu dem Fehler — den man dem Humaniſmus vorge-
worfen hat — einer todten Erkenntniß bloßer Formeln,
die in der That nichts weiter ſind als ein ſeelenloſer
Wortkram.


Allein, derſelbe Fehler, der allerdings ein großer
Fehler iſt, kann bei beiden Arten von Gegenſtaͤnden,
bei den materiellen wie bei den geiſtigen, bei
den Sachen wie bei den Ideen, ſtatt finden, und
wird dadurch nicht verbeſſert, daß man die Gegen-
ſtaͤnde wechſelt. In dem Gebiete der Sachen,
wie in dem Gebiete der Ideen, kann derſelbe
geiſtloſe Mechaniſmus einreißen, daß man ſich und An-
dere gewoͤhnt, Begriffe in ihrer gaͤnzlichen Abſtraction
von der Sache zu denken, das Zeichen anſtatt des
Bezeichneten feſtzuhalten, die lebendige Anſchauung uͤber
der todten Formel ganz zu vergeſſen. Aber dieſen Feh-
ler dadurch verbeſſern wollen, daß man, anſtatt in
beiden Arten von Gegenſtaͤnden die Anſchauung
[179]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
ſelbſt mit dem Begriffe zu verbinden, neben todte
Formeln und Zeichen von Gegenſtaͤnden der in-
nern Anſchauung
todte Beſchauung von Gegen-
ſtaͤnden der aͤußeren Anſchauung
ſtellt, heißt
aus uͤbel nur aͤrger machen. Wird denn z. B. der,
den wir mit einer geiſtloſen Buchſtabengelehrſamkeit
und trocknen grammatiſchen Wortkraͤmerei zu einer
lateiniſchen oder griechiſchen Sprachmaſchine gebildet
haben, dadurch Geiſt und Leben bekommen, daß wir
ihn mit allen Steinen, Pflanzen und Thieren der Erde
bekannt machen laſſen? Es bleibt ewig wahr: was
vom Fleiſche geboren iſt, das iſt Fleiſch, und was
vom Geiſte geboren wird, das iſt Geiſt. Dem Geiſte
wird auch die Materie Geiſt, waͤhrend dem Mechaniſ-
mus auch ſogar der Geiſt verknoͤchert; und ſo kann
eure mechaniſche Sachkenntniß das Gebrechen der
leeren Wortkenntniß nicht heilen, ſondern wird
vielmehr die Zahl der Gebrechen nur vermehren, und
beide ſind in gleicher Verdammniß. Die wahre Loͤſung
des Raͤthſels iſt, daß man im Gebiete der aͤußeren,
wie in dem der inneren Anſchauung weder den Ge-
genſtand allein
noch deſſen Begriff allein in
ſeiner Abſtraction auffaſſe und verfolge, ſondern in
beiden Gebieten Gegenſtand und Begriff in
ihrer Vereinigung
behandle, beide zwar unter-
ſcheide, aber auch beide wieder verbinde. Aber im Ge-
biete der innern Anſchauung
nur mit Ab-
ſtractionen
, im Gebiete der aͤußeren An-
ſchauung
nur mit Sachen ſich beſchaͤftigen, bringt
ſo wenig die intendirte Vereinigung hervor, daß es
12*
[180]Dritter Abſchnitt.
vielmehr die Trennung nur vermehrt. — Wo aber
die Beſchaͤftigung mit geiſtigen Gegenſtaͤnden
jene Forderung ſchon erfuͤllt, das Innere des Geiſtes
mit lebendiger Anſchauung auffaßt und dadurch die
Beziehung ſowohl als die Erklaͤrung der Gefuͤhle,
Ideen
ꝛc. ſelbſt belebt: da findet erſtens der Vorwurf
nicht ſtatt, daß es den Begriffen an Sachen fehle;
denn hier ſind die Ideen und Gefuͤhle ſelbſt die
Sachen d. h. der Innhalt der Begriffe; und zwei-
tens bedarf es keines Ueberſprungs in das Gebiet der
materiellen Gegenſtaͤnde, um zu jenen (entwe-
der wirklich oder nur vermeintlich) leeren Begrif-
fen Sachen
zu finden, die auf dieſem Gebiete gar
nicht zu ſuchen ſind.


Ob aber, wenn auch jener richtig bemerkte Fehler
in der Behandlung der geiſtigen Unterrichtsge-
genſtaͤnde
auf die bezeichnete Weiſe vermieden oder
verbeſſert wird, es nicht gleichwohl nothwendig bleibe,
auch materielle Gegenſtaͤnde in den Erziehungs-
unterricht aufzunehmen? — iſt eine andere Frage, die,
nach der obigen Berichtigung beſtimmter geſtellt, aller-
dings naͤher erwogen werden muß. Beduͤrfen wir auch
nicht der Beſchaͤftigung des Lehrlings mit materiellen
Gegenſtaͤnden als eines Correctivs gegen die fehlerhafte
Beſchaͤftigung deſſelben mit geiſtigen Gegenſtaͤnden, ſo
kann ſie doch in andern Ruͤckſichten noͤthig, und viel-
leicht ſogar noͤthiger, als die Beſchaͤftigung mit geiſti-
gen Gegenſtaͤnden ſeyn. Dies fuͤhrt uns denn auf
unſre Hauptfrage zuruͤck, mit deren Entſcheidung auch
dieſer Zweifel ſich von ſelbſt loͤſt.


[181]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Faßt man die Frage: ob der Erziehungsun-
terricht ſich mit geiſtigen oder mit mate-
riellen Gegenſtaͤnden beſchaͤftigen ſolle
? in
Beziehung auf den Zweck deſſelben im Allgemeinen, ſo
theilt ſich abermals die Antwort nach der Differenz
der beiden entgegengeſetzten Unterrichtsſyſteme uͤber den
Zweck des Erziehungsunterrichts. Wird, nach der An-
ſicht des Philanthropiniſmus, die Vorbereitung auf die
ſpaͤtere Berufs- und Lebens-Thaͤtigkeit des Lehrlings
zum Hauptzweck des fruͤheren Unterrichts erhoben, ſo iſt
es allerdings nicht conſequent, allgemein fuͤr alle Lehr-
linge das Hauptgewicht auf die materiellen Unter-
richtsgegenſtaͤnde
zu legen. Da die Berufs- und
Lebens-Beſchaͤftigung ſelbſt ſich nach den Objecten in
zwei Hauptarten abtheilt, deren eine die materiel-
len
, die andre die geiſtigen Gegenſtaͤnde zum
unmittelbaren Objecte hat, ſo muͤßte auch der Er-
ziehungsunterricht den einen Theil der Lehrlinge fuͤr
materielle, den andern fuͤr geiſtige Berufsbe-
ſtimmung
vorbereiten, ſonach auch den einen mit
materiellen, den andern aber mit geiſtigen Un-
terrichtsgegenſtaͤnden
vorzugsweiſe beſchaͤftigen.
Demnach haͤtte auch hierinn der Humaniſmus, der den
Erziehungsunterricht auf geiſtige Gegenſtaͤnde beſchraͤnkt,
wenigſtens eben ſo viel und — inwiefern die geiſtige
Berufsart unſtreitig immer die wichtigere bleibt und
am wenigſten vernachlaͤſſiget werden darf, wo die wahre
und allſeitige Cultur eines Landes nicht untergehen
ſoll, — ſogar noch weit mehr Recht, als der Philan-
thropiniſmus; und der ganze Streit zwiſchen beiden
[182]Dritter Abſchnitt.
loͤſte ſich zur Verwunderung einfach dadurch auf, daß
man dem einen wie dem andern die ihm gebuͤhrende
Claſſe von Lehrlingen ausſchließend zuwieſe, und dem
einen ſo wenig als dem andern verſtattete, ſich entwe-
der ganz oder auch nur theilweiſe in die ihnen nicht
zuſtaͤndigen Lehrclaſſen zu verbreiten, daß weder der
Humaniſmus die zu kuͤnftigem materiellem Berufe
beſtimmten Lehrlinge mit geiſtigen, noch der Philan-
thropiniſmus die zu kuͤnftigem geiſtigem Berufe
beſtimmten Lehrlinge mit materiellen Unterrichts-
gegenſtaͤnden
aufhalten, noch weniger aber eine
Vereinigung beider zu einer ungluͤckſeeligen, beide
Zwecke zugleich zerſtoͤrenden, Zwitteranſtalt ſtatt finden
duͤrfte.


Allein, iſt denn die Vorausſetzung ſo ganz uͤber
alle Einwendung erhoben? Liegt nicht vielmehr der
erſte Erſchleichungsfehler, der die ganze Verwirrung in
Theorie und Praxis des Erziehungsunterrichts gebracht
hat, eben darinn, daß man ſich hat bereden laſſen,
Vorbereitung auf die Berufsbildung ſey der
Zweck des Erziehungsunterrichts? So lange wir uns
nicht von dieſem Grundirrthnm wieder gaͤnzlich befreit
haben, iſt in dem wichtigſten Geſchaͤft der Erziehung
kein Heil zu hoffen. Auf dieſen Punkt muß alſo im-
mer wieder zuruͤckkommen, wer dem Uebel gruͤndlich
begegnen will. Strenger noch, als oben geſchehen iſt,
darf der Gegenſatz ausgeſprochen werden:


Vorbereitung auf die Berufsbildung iſt
durchaus nicht unmittelbarer Zweck des Erziehungs-

[183]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
unterrichts, ſondern der unmittelbare Zweck deſſel-
ben iſt ausſchließend Menſchenbildung.


Nicht darinn hat der Humaniſmus unrecht, daß
er die Menſchenbildung zum ausſchließenden Zweck
des Erziehungsunterrichts beſtimmte, ſondern nur darinn,
daß er, ſeiner Grundtendenz ungetreu, geiſtige Berufs-
bildung
mit Menſchenbildung verwechſelte, und
die Lehrlinge mehr zu Gelehrten als zu Menſchen
bildete. Inzwiſchen iſt es eine in der That nicht bloß dem
Humaniſmus eigene, ſondern auch von dem Philan-
thropiniſmus verſchuldete Verwechſelung von Begriffen,
die ſich in der vorherrſchenden Richtung unſrer ganzen
modernen Cultur auf die moͤglich groͤßte Maſſe von
Kenntniſſen ſogar als allgemein verbreitet zeigt, daß
die Menſchenbildung oder — wie ſie nach dem
gewoͤhnlicheren Sprachgebrauche der Paͤdagogik heißt —
die allgemeine Bildung, im Gegenſatze von Be-
rufsbildung
, faſt ganz als gleichbedeutend mit
gelehrter Bildung behandelt wird. Aber es iſt
deshalb nur um ſo noͤthiger, beides ſchaͤrfer von einan-
der zu unterſcheiden, und vorzuͤglich den Begriff der
Menſchenbildung, die wir als ausſchließenden
Zweck des Erziehungsunterrichts betrachten, genauer zu
beſtimmen.


Im Allgemeinen begreift man unter Menſchen-
bildung
Bildung des Menſchen als Menſchen,
abgeſehen von aller Verſchiedenheit individueller Be-
ſchaffenheiten und Beziehungen deſſelben, oder die
[184]Dritter Abſchnitt.
Bildung der Menſchheit in dem Individuum. Da-
durch iſt der Gegenſatz gegen Berufsbildung aller-
dings inſofern ſchon naͤher bezeichnet, als bei der letz-
tern eine Ruͤckſicht auf die mannichfaltigſte Verſchieden-
heit der Geſchaͤfte und der dazu erforderlichen Kenntniſſe
und Fertigkeiten nothwendig eintritt. Doch iſt dies
eigentlich nur eine negative Beſtimmung dieſes Gegen-
ſatzes, und insbeſondre der Unterſchied zwiſchen Men-
ſchenbildung
und gelehrter Bildung laͤßt ſich
daraus keinesweges befriedigend darthun. Außerdem
aber iſt jene allgemeine Beſtimmung des Begriffes von
Menſchenbildung auch an ſich unzureichend, den
Begriff zu erſchoͤpfen.


Fragt man aber naͤher: worinn beſteht die Bil-
dung
des Menſchen als Menſchen, oder die Bil-
dung der Menſchheit in dem Individuum? ſo laͤßt
ſich leicht erkennen, daß man abermals auf den Begriff
der Menſchheit, als das Grundprincip, zuruͤckge-
fuͤhrt wird, und daß die Schwierigkeit, dieſen letztern
Begriff beſtimmt zu faſſen, und die entgegengeſetzten
Anſichten, aus welchen er wirklich gefaßt wird, den
Hauptgrund enthalten, warum der Begriff der Men-
ſchenbildung
theils ſo unbeſtimmt, theils ſo verſchie-
den verſtanden wird. Gehen wir nun auf jenen Grund-
begriff mit unſrer Frage zuruͤck, ſo iſt ohne Zweifel
das Erſte, was wir am wenigſten uͤberſehen duͤrfen,
das unbedingte Merkmal der Menſchheit, die Ver-
nunft
, die den weſentlichen Unterſchied des Men-
ſchen
von dem Thiere begruͤndet, und bei aller Ver-
[185]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
ſchiedenheit der menſchlichen Individuen in allen
Eine und dieſelbe iſt
. Demnach waͤre Men-
ſchenbildung
nichts anderes als Bildung der
Vernunft
in dem Individuum.


Iſt aber Menſchenbildung in dieſem Sinne
des Wortes, als Vernunftbildung, die aus-
ſchließende Aufgabe des Erziehungsunterrichts, ſo folgt
daraus von ſelbſt, daß dieſer Unterricht ſich auch nur
mit Vernunftgegenſtaͤnden, alſo mit geiſtigen
Gegenſtaͤnden
in der engſten Bedeutung des Wor-
tes, zu beſchaͤftigen habe. Die Kenntniſſe, die allein
nothwendig durch den Erziehungsunterricht in dem
Lehrling entwickelt werden muͤſſen, ſind die Ideen der
Gottheit, Nothwendigkeit und Freiheit,
welche das ganze Object der Vernunft umfaſſen.
Darinn, daß der Menſch die Idee des Ewigen und
ſeiner Erſcheinung in dem Naturreiche und dem
Menſchenſtaate, oder — wie es vielleicht populaͤrer
ausgedruͤckt wird — ein hoͤheres Seyn uͤberhaupt
und eine darauf gegruͤndete und ſich beziehende hoͤhere
Bedeutung ſowohl der Naturwelt als der Men-
ſchenwelt
erkenne, beſteht die intellectuelle
Vernunftbildung
; die praktiſche Ver-
nunftbildung
aber einerſeits in lebendigem Glau-
ben an Gott und ſein unſichtbares ewiges Reich, in
feſtem Vertrauen auf ſeine Regierung der Natur- und
Menſchenwelt und ihrer Schickſale, in tiefer Achtung
der uns noch unaufgedeckten Beſtimmung dieſer ſicht-
baren Welt, und in ehrfurchtsvoller Beachtung der
[186]Dritter Abſchnitt.
wunderſamen Werke und des unermeßlichen Stre-
bens und Wirkens der Natur- und Menſchenkraͤfte,
andrerſeits in thaͤtiger Mitwirkung zu Bearbeitung die-
ſer ſichtbaren Welt nach dem in unſerer Vernunfter-
kenntniß liegenden Ideale ihrer Vollendung d. i. in
Religioſitaͤt und Moralitaͤt; welche letztere ih-
rem Innhalte nach nichts anderes ſeyn kann, als die
Virtuoſitaͤt des Individuums in Abſicht auf das
Ideal der Vollendung ſowohl der Natur als des Men-
ſchenvereins. — Beides zuſammengenommen begruͤndet
weſentlich die Vernuͤnftigkeit des Menſchen, und
muß bis auf einen gewiſſen Grad von Lebendigkeit
der Einſicht und des Gefuͤhls bei jedem Individuum
vorhanden ſeyn, wofern es fuͤr vernuͤnftig gel-
ten ſoll.


Inwiefern nun der Menſch nur dadurch, daß er
zum Bewußtſeyn und zur Erkenntniß der Vernunft
erweckt worden iſt, fuͤr vernuͤnftig und ſonach fuͤr
einen Menſchen gelten kann, durch die Vernunft-
bildung
alſo die Bildung zum Menſchen be-
dingt iſt, macht dieſe Vernunftbildung unſtreitig die
unbedingte Aufgabe des Erziehungsunterrichts ſo ent-
ſchieden aus, daß von Rechtswegen bei keinem Indivi-
duum die Erziehung beendiget werden ſollte, ſo lange
jene nothwendige Menſchenbildung bei demſel-
ben noch zweifelhaft waͤre. Aus demſelben Grunde
aber wird auch der Erziehungsunterricht auf dieſe Ver-
nunftbildung
bei derjenigen Claſſe von Lehrlingen
mit Recht beſchraͤnkt, die entweder, durch den Drang
[187]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
aͤußerer Umſtaͤnde auf eine kurze Erziehungszeit beengt,
zu fruͤhe zur Berufsarbeit uͤbergehen muͤſſen, um eine
ausgebreitetere Bildung ſich zu eigen machen zu koͤnnen,
oder, durch innre Geiſtesbeſchraͤnkung verhindert, zu
einer freieren Bildung ſich zu erheben nicht vermoͤgen.


Allein, dieſe Vernunftbildung wuͤrde in Ab-
ſicht auf die bedeutende Claſſe derjenigen Lehrlinge, bei
denen eine laͤngere Reihe von Jahren der Erziehung
gewidmet iſt, den ganzen Umfang des Erziehungsun-
terrichts in der That nicht ausfuͤllen. Man koͤnnte
zwar jene Aufgabe der Vernunftbildung intenſiv ſteigern,
die Behandlung des beſtimmten geiſtigen Unterrichts-
materials bis zu einer hoͤheren Stufe der Entwickelung mit
dem Lehrling fortſetzen: aber, theils iſt eine ſolche inten-
ſive Steigerung weniger Unterrichtsgegenſtaͤnde, bei der
es bloß darauf angelegt iſt, die Zeit auszufuͤllen, an ſich
ſchon tadelhaft; theils waͤre es ein offenbarer Miß-
brauch dieſes Unterrichts, wenn er die Vernunft des
Lehrlings nicht bloß wecken und anregen, ſondern im
eigentlichen Sinne ausfuͤllen wollte; theils ſoll der fuͤr
eigentliche Vernunftentwickelung nicht nothwendige Theil
der Unterrichtszeit allerdings zu andern Zwecken ver-
wendet werden; theils bedarf uͤberhaupt die Vernunft-
bildung bei denen, deren Erziehung eine laͤngere Periode
von Jahren dauert, weniger einer ſolchen unmittelba-
ren Einwirkung durch Unterricht uͤber Vernunftgegen-
ſtaͤnde, indem bei einer laͤngeren Dauer der Erziehung
die Vernunft mehr der natuͤrlichen Entwickelung uͤber-
laſſen werden kann. Bei dieſer Claſſe von Lehrlingen
[188]Dritter Abſchnitt.
ſcheint es alſo nicht nur erlaubt, ſondern ſogar zweck-
maͤßig, ſie nicht mit dem kleineren Kreiſe eigentlicher
Vernunftgegenſtaͤnde aufzuhalten, und ſie in Zeiten zu
andern Kenntniſſen fortzufuͤhren, um ſie nicht durch
Beſchraͤnktheit des Unterrichtskreiſes und Einfoͤrmigkeit
des Materials theils zu ermuͤden, theils zu einer klein-
lichen und pedantiſchen Verarbeitung ins Einzelne zu
verfuͤhren.


So gegruͤndet aber auch an ſich die Anſicht iſt, daß
wenigſtens fuͤr Lehrlinge dieſer Art der Erziehungsun-
terricht uͤber den Umkreis der bloßen Vernunftbil-
dung
erweitert werden muͤſſe, ſo iſt es doch nichts
deſtoweniger eine Uebereilung, wenn man ſich dadurch
verleiten laͤßt, ſowohl den oͤffentlichen Unterricht in
Buͤrgerſchulen und Gymnaſien, als auch den Privat-
unterricht, ſoweit er jenen Anſtalten parallel laͤuft,
faſt ausſchließend der Vorbereitung auf den kuͤnfti-
gen Beruf
der Lehrlinge zu beſtimmen. Man hoͤrt
freilich fragen: was ſollen denn die Lehrlinge, die bis
ins fuͤnfzehnte oder achtzehnte Lebensjahr oder auch noch
laͤnger im Unterricht bleiben, außer den gewoͤhnlichen
Schulkenntniſſen (die doch wohl nicht ins Unendliche
fort intenſiv geſteigert werden ſollen?) noch lernen,
wenn man ſie nicht mit unmittelbaren Voruͤbungen
zu ihrem kuͤnftigen Berufe
beſchaͤftigen will?
und wozu koͤnnte man die Zeit, die ſolche Schuͤler ha-
ben, nuͤtzlicher anwenden? Aber, laſſe man ſich nur
darinn nicht irre machen: alle unmittelbare Ruͤckſicht
auf Berufsbildung muß von dem Erziehungs-
[189]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
unterricht ſchlechthin ausgeſchloſſen bleiben. Wir
koͤnnen zwar eine Lehranſtalt anlegen, in der wir alle
Kenntniſſe, die z. B. dem kuͤnftigen Handelsmann,
Forſtmann, Architekten, Chirurgen und jeder andern
Art von Profeſſion oder Gewerb noͤthig oder nuͤtzlich
ſeyn moͤgen, lehren laſſen; und dieſe Anſtalt kann eine
ſehr zweckmaͤßige, heilſame, dringenden Beduͤrfniſſen
angemeſſene ſeyn. Aber, was ſie auch ſeyn mag, eine
Erziehungsſchule iſt ſie nicht. Es giebt nur zwei
Arten von Schulen: Erziehungsſchulen und
Berufsſchulen; und das unterſcheidende Merkmal
der erſtern iſt, daß ſie ſich ausſchließend mit Men-
ſchenbildung
beſchaͤftigen.


Iſt denn aber nicht ſchon durch die obige Eroͤr-
terung ſelbſt beſtaͤtiget, daß die Menſchenbildung
zu wenig Stoff zu Beſchaͤftigung der Lehrlinge auf eine
laͤngere Dauer der Erziehungsperiode anbiete?


Vergeſſen wir nur nicht, daß in dem Obigen die
Rede allein von Vernunftbildung war, welche
nicht die ganze Menſchenbildung, obgleich das
erſte weſentliche Erforderniß und ein Haupttheil der-
ſelben iſt. Darinn eben liegt die Taͤuſchung, die durch
eine ſchaͤrfere Unterſcheidung des Begriffs von Men-
ſchenbildung
gehoben werden muß.


Von dem Begriff der Menſchenbildung
finden zwei Hauptanſichten ſtatt, jenachdem man dabei
entweder nur das Grundmerkmal oder das
[190]Dritter Abſchnitt.
Ideal der Menſchheit in dem Individuum vor
Augen hat. Sofern der Unterricht bloß darauf gerich-
tet iſt, Bewußtſeyn und Erkenntniß der Vernunft
in dem Lehrling zu erwecken, iſt er zwar allerdings
Menſchenbildung, und verdient mit Recht dieſen
ehrwuͤrdigen Namen, weil die Vernunft das Grund-
merkmal der Menſchheit iſt. Aber, ſo wenig die
Vernunft der ganze Menſch iſt, ſo wenig kann
jene Vernunftbildung fuͤr die ganze Men-
ſchenbildung
gelten. Der ganze Menſch iſt die
mit den mannichfaltigſten Anlagen und Kraͤften zu
Einem wunderbaren Ganzen vereinigte Vernunft:
die vollendete allſeitige und harmoniſche Ausbildung
dieſes Einen Ganzen iſt das Ideal der Menſchheit,
dem wir den alten oft verkannten ehrwuͤrdigen Namen
der Humanitaͤt mit Recht erhalten. Sofern der
Unterricht darauf gerichtet iſt, dieſe Forderung des
Ideals der Menſchheit in den Lehrlingen, ſo weit es
moͤglich iſt, zu realiſiren, iſt er hoͤhere Menſchen-
bildung
, und kann nicht treffender als mit dem
Namen der Humanitaͤtsbildung in dem be-
deutungsvollſten Sinne dieſes Wortes bezeichnet werden.
Sonach theilt ſich die Menſchenbildung uͤber-
haupt
in Vernunftbildung und Humani-
taͤtsbildung
, oder — nach einer anderen An-
ſicht — in nothwendige und freie Menſchen-
bildung
: die Vernunftbildung als nothwen-
dig
, inwiefern ſie als Bedingung der Menſchheit nicht
nur von allen Individuen, die menſchliches Antlitz
tragen, ohne Ausnahme gefordert wird, ſondern auch
[191]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
in dem Verein vernuͤnftiger Weſen Gegenſtand des
Zwanges iſt, den die entwickelte Vernunft gegen die
noch Unmuͤndigen anzuwenden die Befugniß und Ver-
pflichtung hat; die Humanitaͤtsbildung als frei,
inwiefern die Forderung des Ideals der Menſchheit
nur Gegenſtand des freien Anſtrebens der Individuen
ſeyn kann.


Nach dieſer genaueren Unterſcheidung kann wohl
der Grundſatz, der die Menſchenbildung als aus-
ſchließenden Zweck des Erziehungsunterrichts aufſtellt
und damit alle unmittelbare Ruͤckſicht auf kuͤnftigen
Beruf der Lehrlinge aus jenem Kreiſe ganz und gar
ausſchließt, wenigſtens von der Seite Niemanden mehr
zweifelhaft ſeyn, daß dieſe Aufgabe ein zu beſchraͤnktes
Material fuͤr diejenigen Lehrlinge anbiete, deren Er-
ziehung ein groͤßerer Theil ihrer Lebenszeit gewidmet
iſt; vielmehr iſt ſelbſt fuͤr dieſe Claſſe von Lehrlingen
die Forderung der Humanitaͤtsbildung eine Auf-
gabe, zu deren vollſtaͤndiger Erfuͤllung ſogar die ihnen
vergoͤnnte laͤngere Reihe von Erziehungsjahren kaum
zureicht. Fuͤr alle Claſſen und Arten von Lehrlingen
bleibt alſo der volle Gegenſatz der Menſchenbildung
und Berufsbildung in dem Erziehungsunterricht:
bei keiner Art von Lehrlingen ſoll die letztere einge-
miſcht, fuͤr alle ohne Unterſchied die erſtere, nur mit
der den Verhaͤltniſſen und Kraͤften der Lehrlinge ange-
meſſenen Abſtufung, allein und ausſchließend beruͤckſich-
tiget werden.


[192]Dritter Abſchnitt.

Eben damit aber iſt nicht nur die Ruͤckſicht auf
materielle ſondern auch die auf geiſtige Berufs-
arten
von dem Umfang des Erziehungsunterrichts
ausgeſchloſſen, und es ſoll nicht mehr Bildung zum
Gelehrtenberuf
mit Humanitaͤtsbildung ver-
wechſelt werden. Der Gelehrten- und Geſchaͤfts-
Beruf
iſt wie der Kuͤnſtler- und Gewerbs-Be-
ruf
getheilte und beſchraͤnkte Thaͤtigkeit des Menſchen,
und darinn hat der erſtere vor dem letzteren nichts
voraus; der eine ſo wenig als der andre giebt
eine freie Bildung; der eine wie der andre, und
oft der erſtere noch mehr als der letztere, wenn er
nicht auf freie Bildung gegruͤndet iſt, macht ein-
ſeitig, kleinlich, pedantiſch, zunftmaͤßig. So wenig
kann eigentliche Gelehrtenbildung mit Humani-
taͤtsbildung
fuͤr gleichbedeutend gelten. Wodurch
aber unterſcheiden ſich denn beide? — Gerade darinn,
was wir in unſerer modernen Cultur ſo auffallend ver-
wechſelt finden; darinn: daß die Gelehrtenbil-
dung
das Wiſſen als Wiſſen und um des Wiſ-
ſens willen zu ihrer Berufsaufgabe hat, und auf
dieſe einzige Thaͤtigkeit ſich beſchraͤnkt, waͤhrend die
Humanitaͤtsbildung das Wiſſen nur als
Bildungsmittel behandelt und dieſe Thaͤtigkeit
nicht als die einzige, ſondern nur als eine von den
mehreren, die ſie zu uͤben hat, betrachtet. Wir haben
die freie Bildung gaͤnzlich aus den Augen verloren,
ſeitdem unſre Cultur einzig nach gelehrter Bildung
ſtrebt, und es iſt faſt ſeltſam, daß man in einem Zeit-
alter, in welchem bloß Gelehrſamkeit als Bil-
[193]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
dung gilt, die Humaniſten, die doch ſicher nicht
zu den Letzten unter den Gelehrten gehoͤren, am
meiſten herabſetzt! Es iſt Zeit, daß jene ungluͤckliche
Verwechſelung der beiden Begriffe aufgedeckt, und
einſtweilen wenigſtens aus der Theorie des Erziehungs-
unterrichts weggeſchafft werde.


Demnach ſoll von Rechtswegen ſelbſt aus dem
Gymnaſialunterricht die Gelehrtenbildung gaͤnzlich
ausgeſchloſſen werden. Manchen wird die Behauptung
paradox vorkommen, und ſie werden mit einer Miene
triumphirender Ueberlegenheit fragen: „ſoll alſo ſelbſt
der Gymnaſialunterricht nicht mehr Vorberei-
tung zum akademiſchen ſeyn?“ — Die Gymna-
ſien
waren in ihrer urſpruͤnglichen Einrichtung An-
ſtalten der freien Bildung
; wie auch ihre innere
Einrichtung veraͤndert worden ſey oder noch veraͤndert
werden moͤge, jene Beſtimmung derſelben muß heilig
und unverletzlich erhalten werden. Jene Anſtalten zu
einer unfreien Bildung verwenden, iſt ein Ver-
gehen an der Menſchheit. Den Kern der Cultur einer
Nation bildet und bewahrt die Zahl der gluͤcklichen,
von der Gottheit mit aͤußeren Mitteln und inneren
Kraͤften beguͤnſtigten Staatsbuͤrger, denen es eben durch
dieſe Vorzuͤge vergoͤnnt iſt, das Ideal der freien
Menſchenbildung
anzuſtreben: moͤgen ſie dann ſich
dem Staatsdienſt, der Wiſſenſchaft, der Kunſt oder
was immer fuͤr einer Berufsbeſtimmung widmen, oder
durch ihre Lage im Falle ſeyn, ohne beſtimmte Berufs-
beſchaͤftigung zu leben, — durch jene gemeinſchaftliche
13
[194]Dritter Abſchnitt.
freie Erziehung ſind ſie ſich gleich, und machen den
Stand der Gebildeten aus, der, von allen Staͤn-
den und Claſſen der Staatsbuͤrger ausgehend, das
geiſtige Leben der Nation, deſſen Verderbniß alſo der
geiſtige Tod derſelben iſt. Verdorben aber werden ſie
unausbleiblich, wenn Zeit und Mittel, die ihnen zur
freien Menſchenbildung gegeben ſind, zu un-
freier Berufsbildung
verbraucht werden. Alle
Berufsbildung iſt als ſolche ihrer Natur nach
unfrei, ſelbſt die des Gelehrtenberufes nicht
ausgenommen; und nur dadurch, daß ſie auf die
Grundlage einer freien Bildung gebaut wird, wird
ſie ſelbſt frei. Die wahre Vorbereitung zum akademi-
ſchen Unterricht geben daher die Gymnaſien, indem
ſie, ihrer urſpruͤnglichen Beſtimmung getreu, bei ihren
Lehrlingen einen feſten Grund der freien Menſchen-
bildung
legen, die der akademiſche Unterricht zuerſt
vollendet, ehe er ſeine Zoͤglinge zu einem ſpeciellen
Berufsſtudium
fortfuͤhrt. Eine andre Vorbereitung
fuͤr die Univerſitaͤt laͤßt ſich den Gymnaſien nicht auf-
dringen, ohne ihrer weſentlichen Beſtimmung und der
wahren Cultur der Nation ſelbſt zuwider zu handeln.
Welche andre Vorbereitung aber koͤnnte man auch mit
Recht von ihnen fordern? Wer mit einem gewiſſen
Grade von Vollendung freier Bildung zu ſei-
nem Berufsſtudium uͤbergeht, wird ſicher darinn
nicht langſamer fortſchreiten als der, deſſen Vorberei-
tung im Zuſammenſchleppen einer ganzen Maſſe von
Vorkenntniſſen beſtand. Was aber noch weit und uͤber
allen Vergleich mehr ſagen will — mit welchem ganz
[195]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
andern Sinn wird jener ſein Berufsſtudium anſehen
und treiben, als dieſer?


Was man alſo auch einwenden moͤge; es bleibt
unumſtoͤßlich: fuͤr alle Arten und Claſſen von Lehrlin-
gen nach den verſchiednen Abſtufungen derſelben iſt
Menſchenbildung der ausſchließende Zweck des
Erziehungsunterrichts. Sonach laͤßt ſich die Frage: ob
die Gegenſtaͤnde des Erziehungsunterrichts geiſtig
oder materiell ſeyn ſollen? nicht nach der obigen
Vorausſetzung entſcheiden: daß die Gegenſtaͤnde nach
den verſchiednen Berufsbeſtimmungen der Lehr-
linge verſchieden zu waͤhlen ſeyen; vielmehr muͤſſen wir
dieſe Vorausſetzung ſelbſt, als irrig erkannt, verlaſſen,
und die Frage nunmehr unmittelbar darauf ſtellen:
erfordert die Menſchenbildung geiſtige oder
materielle Unterrichtsgegenſtaͤnde
?


Sehen wir dabei, nach der obigen Unterſcheidung,
bloß auf die nothwendige Menſchenbildung,
ſo muͤſſen wir den geiſtigen Unterrichtsgegen-
ſtaͤnden
, wie ebenfalls ſchon oben bemerkt worden,
wenn auch nicht den ausſchließenden Vorzug doch die
erſte Stelle einraͤumen. Es fordert an und fuͤr ſich
ſchon die Natur der Vernunftbildung die Beſchaͤf-
tigung mit Vernunftgegenſtaͤnden, inwiefern durch Be-
trachtung derſelben das Bewußtſeyn der Vernunft in
dem Individuum geweckt und belebt wird. Außerdem
aber machen es auch noch andre Gruͤnde noͤthig, gerade
diejenigen Lehrlinge, bei denen der Erziehungsunterricht
13*
[196]Dritter Abſchnitt.
auf jene Vernunftbildung im ſtrengſten Sinne des
Wortes beſchraͤnkt iſt, vorzugsweiſe mit geiſtigen
Gegenſtaͤnden zu beſchaͤftigen. Fuͤrs erſte iſt fuͤr die
Lehrlinge dieſer Art meiſtentheils die kurze Erziehungs-
zoit die einzige, in der ſie zu einem beſonnenen Nach-
denken uͤber die hoͤchſten und heiligſten Angelegenheiten
des Menſchen geweckt und angehalten werden koͤnnen;
und es iſt um ſo wichtiger, dieſe Zeit fuͤr jene Ange-
legenheiten mit moͤglichſter Sorgfalt zu benutzen, da
nur dann, wenn der Erziehungsunterricht einen feſten
Grund in dieſer Art von Vernunfterkenntniß gelegt hat,
dieſelbe auch noch ſpaͤterhin klar und lebendig genug
iſt, um nicht unter dem Druck koͤrperlicher Arbeit und
eines ſorgenvollen Lebens ganz unterzugehen. Fuͤrs
zweite muß die Erziehungszeit zum Unterricht in jenen
Gegenſtaͤnden auch aus dem Grunde vorzugsweiſe ver-
wendet werden, weil einestheils nur, wenn das Be-
wußtſeyn derſelben fruͤh belebt wird, der feſte Glaube
ſich bildet, der die wahre Grundlage der Vernunftbil-
dung iſt, anderntheils aber, da die natuͤrliche Richtung
des Sinnes mehr auf das materielle Object geht und
keine Neigung zu genauerer Erwaͤgung jener hoͤheren
geiſtigen Gegenſtaͤnde fuͤhrt, ausdruͤckliche Anleitung
und bei Vielen ſogar Zwang erforderlich iſt, um ſie
zum Nachdenken uͤber dieſelben zu erwecken und zu ge-
woͤhnen, dazu aber nur die Erziehungszeit Gelegenheit
und Befugniß anbietet. Fuͤrs dritte iſt es auch in
Hinſicht auf formelle Bildung des Geiſtes von Wich-
tigkeit, gerade die Claſſe von Lehrlingen, die durch ihre
ganze Lebens- und Berufsbeſtimmung an die materielle
[197]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Welt angewieſen und gewiſſermaßen gefeſſelt ſind, we-
nigſtens im Erziehungsunterricht auch zu Betrachtung
der geiſtigen Welt anzuleiten, inwiefern fuͤr die Bil-
dung des Geiſtes uͤberhaupt und ſelbſt fuͤr die Beſchaͤf-
tigung mit materiellem Stoff die Uebung an geiſtigen
Gegenſtaͤnden (da ſie groͤßere Anſtrengung fordert) wirk-
ſamer iſt, als die Uebung an materiellen. — Inzwi-
ſchen iſt Beſchaͤftigung mit materiellen Unter-
richtsgegenſtaͤnden
doch auch ſelbſt bei Lehrlingen
dieſer Art nicht ganz ausgeſchloſſen: einestheils, inwie-
fern eine aufmerkſamere und verſtaͤndige Betrachtung
der materiellen Gegenſtaͤnde allerdings auch ein weſentli-
ches Erforderniß der Bildung iſt, und umgekehrt mate-
rielle Gegenſtaͤnde zu Uebung genauer Beobachtung einen
ſehr zweckmaͤßigen Stoff anbieten; anderntheils, inwie-
fern ſich auch in der materiellen Welt die geiſtigen
Gegenſtaͤnde, die Ideen, die Werke und Wunder Got-
tes erkennen laſſen, die einen Theil von dem Innhalt
der Vernunftbildung ausmachen, und es zu einer feſten
Begruͤndung der Vernunftbildung nicht wenig beitraͤgt,
wenn Lehrlinge dieſer Art gewoͤhnt werden, auch durch
die Naturbetrachtung ihr Gemuͤth zum Unſichtbaren zu
erheben und Gott auch in der Natur zu ſehen.


Auf dieſe beiden Ruͤckſichten aber iſt bei ſolchen Lehrlin-
gen die Beſchaͤftigung mit materiellen Gegenſtaͤn-
den
zu beſchraͤnken, und nicht nur der Belehrung uͤber
geiſtige Gegenſtaͤnde im engeren Sinne des Wortes,
ſondern auch der Uebung derjenigen Fertigkeiten, die als
weſentliche Huͤlfsmittel der Selbſtbildung zu betrachten
[198]Dritter Abſchnitt.
ſind, naͤmlich der Uebung des Leſens und Schrei-
bens
, unterzuordnen. So nuͤtzlich und foͤrderlich es
auch immer fuͤr ſolche Lehrlinge in Hinſicht ihres Be-
rufes und Gewerbes ſeyn moͤchte, ſie mehr mit mate-
riellen Gegenſtaͤnden bekannt zu machen, ſo muß doch
jeder ſolche Verſuch aus dem Kreiſe des Erziehungs-
unterrichts ganz ausgeſchloſſen bleiben, wenn er nicht
ſeiner weſentlichen Beſtimmung, die Lehrlinge zur Ver-
nunft zu fuͤhren und ihren Kopf aufzuwecken, ungetreu
werden ſoll.


Betrachten wir aber die Gegenſtaͤnde des Erzie-
hungsunterrichts in ihrer Beziehung auf die freie
Menſchenbildung
, ſo zeigt ſich in Abſicht auf
die Wahl zwiſchen geiſtigen und materiellen
Unterrichtsgegenſtaͤnden
ein voͤllig veraͤndertes
Verhaͤltniß. Sobald wir uns nur von dem Vorur-
theil, das ſich eingeſchlichen hat, wieder losmachen
koͤnnen: die freie Bildung darein zu ſetzen, daß
der bewundernswuͤrdigen Mannichfaltigkeit von Anlagen
und Kraͤften zum Trotz alle Individuen in Eine
Form eingezwaͤngt
werden; — muß uns auch
uͤber jenen Streitpunkt wieder die natuͤrliche Anſicht
aufgehen.


Es iſt der widernatuͤrlichſte Widerſpruch, der je
zur wirklichen Ausfuͤhrung gekommen, daß wir unſrer
freien Bildung durchaus die Richtung geben, eine
totale Einfoͤrmigkeit aller Individuen zu
erzwingen. Waͤhrend ein beſſerer Geſchmack die Schnei-
[199]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
derſcheere aus unſern Gaͤrten verbannt hat, haben wir
ſie in unſern freien Bildungsanſtalten eingefuͤhrt. Da
ſoll kein Lehrling der natuͤrlichen Richtung ſeiner Anla-
gen folgen, da ſoll keine ausgezeichnete Kraft ſich ihrer
Natur gemaͤß ungehindert entwickeln, da ſollen Alle
ſich in gleicher Linie bewegen, Alle daſſelbe treiben,
Alle in Allem etwas leiſten, Alle derſelben Cenſur un-
terliegen. Und dies iſt nicht etwa nur durch einen
zufaͤlligen Mißgriff ſo; nein! man hat es in ein foͤrm-
liches Syſtem gebracht, und auf ein Princip gegruͤndet,
mit dem man den [Gipfel] paͤdagogiſcher Weisheit er-
rungen zu haben glaubt. Man hat ſich ein Ideal
des vollendeten Menſchen
erſonnen, das jeder
einzelne Menſch
als moͤglichſt vollendetes
Exemplar
darſtellen ſoll; und jenes Ideal hat man
zuſammengeſetzt aus allen erdenklichen Eigenſchaften,
Vorzuͤgen und Vollkommenheiten, die ſich in den ein-
zelnen Individuen zerſtreut und — weil ſie, als vor-
herrſchend im Einzelnen, andre Eigenſchaften, Vorzuͤge
und Vollkommenheiten in demſelben Individuum zu-
ruͤckdraͤngen, — vereinzelt finden. Man hat ferner
angenommen, daß dieſe Vereinzelung nur aus der Er-
ziehung komme, die nicht Sorge genug getragen habe,
alle Kraͤfte in jedem Individuum auszubilden, und
daraus hat man geſchloſſen, daß man nur dieſe Ein-
ſeitigkeit der Bildung vermeiden duͤrfe, um alle
menſchliche Vollkommenheiten
bis zu einem
Grade in jedem Individuum zu vereinigen. Daher
will man auch in Abſicht auf die Erziehung und Bil-
[200]Dritter Abſchnitt.
dung der Individuen durchaus keinen Unterſchied der
Art ſondern nur dem Grade nach zugeben.


Die Moͤglichkeit, wie ein ſolcher Widerſpruch habe
Platz greifen und ſich ſo weit verbreiten koͤnnen, laͤßt
ſich aus der hier angedeuteten Anſicht allenfalls begrei-
fen, der Widerſpruch ſelbſt aber wird dadurch nur um
ſo auffallender. Das nennt man Bildung und noch
dazu freie Bildung des Menſchen, daß man
ſeine Individualitaͤt vernichtet, und ihn zu
einem duͤrftigen Compendium aller menſchlichen Fertig-
keiten und Geſchicklichkeiten umgeſtaltet? So wenig
achtet man das Weſen der Menſchheit, die eben in
dem mannichfaltigſten Reichthum von Individualitaͤt in
ihrer herrlichſten Kraft erſcheint, daß man die Ver-
nichtung dieſer Individualitaͤt
als das Ideal
der Bildung des Menſchengeſchlechts betrach-
tet? So wenig kennt man die Graͤnzen des Bildungs-
geſchaͤfts, daß man, anſtatt die natuͤrliche Entwicke-
lung der Individualitaͤt
bloß zu leiten und zu
unterſtuͤtzen, ſie vielmehr aufzuheben und nach einem
unbeſtimmten allgemeinen Schema umzubil-
den trachtet? — Zum Gluͤck gelingt es der Kunſt nicht
leicht, die Natur zu unterdruͤcken, und ſo wird auch
jener Mißgriff unſrer Erziehungsweiſe wenigſtens die
kraͤftigere Individualitaͤt nicht uͤberwinden und vielleicht,
wie es in der Welt der Freiheit ſo oft geſchieht, der
unnatuͤrliche Zwang nur die Kraft um ſo mehr aufre-
gen. Unterdeſſen bedarf dieſe Claſſe von Individuen
uͤberhaupt am wenigſten der kuͤnſtlichen Nachhuͤlfe der
[201]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Erziehung, und dagegen wird die groͤßere Zahl, deren
Entwickelung die Leitung der Kunſt beduͤrfte, durch
eben dieſe Kunſt nach jener Anſicht mißleitet und, ſo
weit die Wirkung der kuͤnſtlichen Erziehung reicht, in
der That verbildet. Ueberhaupt aber, auch abgeſehen
von dieſen Folgen, iſt das Beſtreben an ſich ſchon ver-
kehrt, die Individualitaͤt nach einem Ideal, das
nur ein Abſtractum der verſchiednen Indivi-
dualitaͤten
iſt, und das nirgend als in der ungeſun-
den Phantaſie des unbedachtſamen Abſtrahenten exiſtirt,
bilden zu wollen. Eilen wir doch, uns von dieſer un-
natuͤrlichen Einbildung wieder frei zu machen, und
kehren mit unſerm Bildungsgeſchaͤft zu der allein
naturgemaͤßen Aufgabe zuruͤck, die Individualitaͤt
der Lehrlinge
zur moͤglichſten Vollendung
zu entwickeln.


Iſt nur erſt dieſer ungluͤckſeelige Irrthum aufge-
deckt, ſo loͤſt ſich ſchon damit auch ein Theil der Frage
uͤber die Art der Gegenſtaͤnde des Erziehungsunterrichts
von ſelbſt auf. Wie die Lehrlinge nach der Verſchie-
denheit ihrer individuellen Natur verſchiedne Neigun-
gen, Anlagen, Talente haben, die eine verſchiedne Be-
ſtimmung und Ausbildung zu verſchiednen Fertigkeiten
erfordern, und ſchon dadurch eine groͤßere Mannich-
faltigkeit der freien Bildung
begruͤnden; ſo
erfordert dieſelbe Verſchiedenheit auch im Unterricht die
gleiche Ruͤckſicht. Wie ſich bei dem einen Lehrling
mehr koͤrperliche, bei dem andern mehr geiſtige
Gewandtheit
findet, ſo iſt auch ſelbſt in der gei-
[202]Dritter Abſchnitt.
ſtigen Entwickelung und Bildung der eine mehr
fuͤr die geiſtigen, der andre mehr fuͤr die mate-
riellen
Gegenſtaͤnde empfaͤnglich, der eine mehr ge-
ſchickt, die geiſtige, der andre mehr die materielle
Welt
geiſtig zu faſſen und zu durchdringen. Wollen
wir nun den fuͤr geiſtige Gegenſtaͤnde Empfaͤng-
licheren mit materiellen, und den fuͤr materielle
Gegenſtaͤnde
Empfaͤnglicheren mit geiſtigen Ge-
genſtaͤnden quaͤlen, und die freie Bildung darein
ſetzen, daß beide wider ihre Neigung und Anlage ge-
zwungen werden, ſich etwas anzueignen, was ihrer
Individualitaͤt zuwiderlaͤuft? Oder verlangt nicht viel-
mehr die freie Bildung, auch darinn die Indivi-
dualitaͤt frei zu laſſen, daß wir die Unterrichtsgegen-
ſtaͤnde nach der individuellen Verſchiedenheit der Lehr-
linge waͤhlen?


Freilich kann man dieſe Ruͤckſicht auch zu aͤngſt-
lich nehmen. Den Erziehungsunterricht fuͤr jedes In-
dividuum individuell einzurichten, iſt nicht nur unaus-
fuͤhrbar, weil im tauſendſten Falle ſogar die oͤkonomi-
ſchen Mittel dazu fehlen, ſondern auch an ſich unthun-
lich, weil eine ſo aͤngſtlich berechnete kuͤnſtliche Behand-
lung des Lehrlings dem Zweck einer freien Bildung
widerſpricht. Es iſt hinreichend, die Unterſcheidung
nur im Allgemeinen anzuwenden, den Lehrling vorzuͤg-
lich mit derjenigen der beiden Hauptarten von Lehrge-
genſtaͤnden zu beſchaͤftigen, fuͤr welche ſich bei ihm
eine vorherrſchende Anlage zeigt.


[203]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Die Beſorgniß, daß eben durch ein ſolches An-
ſchließen des Unterrichts an die individuelle Verſchie-
denheit der Lehrlinge nicht nur dem Ideal der Bil-
dung
, welches die Entwickelung aller Kraͤfte in dem
Individuum verlange, nicht entſprochen, ſondern ſogar
wirkliche Einſeitigkeit erzogen werde, hebt ſich
dadurch von ſelbſt, daß es fuͤrs erſte nur ein mißver-
ſtandnes Ideal iſt, nach welchem man eine ſolche
unbedingte Allſeitigkeit der Bildung bei den Individuen
bezielt, das wahre Ideal der Bildung vielmehr
nur eine harmoniſche Ausbildung der indivi-
duellen Anlagen
fordert, fuͤrs zweite aber nur eine
ganz irrige Anſicht individuelle Ausbildung
mit Einſeitigkeit verwechſeln kann, vielmehr die
wahre Bildung der Individualitaͤt allerdings auch
daruͤber wachen muß, die Einſeitigkeit abzuhalten;
wozu aber nicht eine ausfuͤhrliche Kenntniß des entge-
gengeſetzten Unterrichtsmaterials, ſondern nur eine Hin-
deutung auf daſſelbe erforderlich, und meiſt ſchon die
bloße Erwaͤgung der naͤchſten Verwandtſchaftskreiſe
beider Gebiete hinlaͤnglich iſt.


Wir koͤnnen ſonach ſchon aus der hier entwickelten
Anſicht den Grundſatz aufſtellen: daß fuͤr die freie
Bildung
der Unterrichtskreis ſich in die zwei Haupt-
gebiete der geiſtigen und der materiellen Unter-
richtsgegenſtaͤnde theile.


Ob dieſem Grundſatze zufolge auch unſre freien
Bildungsanſtalten
ſelbſt in zwei ganz verſchiedne
[204]Dritter Abſchnitt.
Inſtitute zu theilen waͤren? iſt eine Frage, die dar-
aus allein noch nicht entſchieden werden kann. Inzwi-
ſchen iſt damit auf jeden Fall die Nothwendigkeit an-
gedeutet, in der Anordnung des Erziehungsunterrichts
auf jene Hauptverſchiedenheit der Individualitaͤt Ruͤck-
ſicht zu nehmen; und dies betrifft ſowohl den Haupt-
vorwurf, den man der alten humaniſtiſchen Einrichtung
unſrer Gymnaſien gemacht hat, als die vermeinte Ver-
beſſerung, die man von der modernen philanthropiniſti-
chen Reform derſelben ſich verſpricht. Durch die vor-
malige Beſchraͤnkung des Unterrichts auf geiſtige Ge-
genſtaͤnde
war allerdings nur fuͤr die Individualitaͤt
der einen Hauptclaſſe von Lehrlingen geſorgt, und man
klagte mit Recht, daß eine große Zahl von Schuͤlern
ohne allen Erfolg und Nutzen mit Dingen gequaͤlt
werde, fuͤr welche ſie kein Talent und oft nicht einmal
Sinn haben. Aber dieſelbe Klage erſchallt bereits von
unſern philanthropiniſtiſchen Lehranſtalten, die den Un-
terricht faſt ausſchließend auf materielle Gegenſtaͤnde
beſchraͤnkt haben; eine große Zahl von Schuͤlern (und
zwar meiſt die talentvolleren) jammern, daß ſie ihre
beſte Zeit mit Zaͤhlen und Anatomiren von Steinen,
Kraͤutern, Thieren und dem ganzen rohen Stoff, aus
dem man das moderne Lehrmaterial zuſammengeſetzt
hat, verlieren muͤſſen.


Von beiden Seiten wird der Grund der Be-
ſchwerde inſofern unrichtig gefaßt und angegeben, daß
man die Verſchiedenheit von dem kuͤnftigen Beruf
der Schuͤler ableitet, und behauptet: dem kuͤnftigen
[205]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Gelehrten und Geſchaͤftsmann nuͤtze der materielle
Lehrſtoff
nichts, weder an ſich ſelbſt ſeinem Innhalt
nach, noch durch die formelle Geiſtesuͤbung fuͤr mate-
rielle Gegenſtaͤnde, mit welchen er unmittelbar nie
etwas zu thun habe; dagegen nuͤtze eben ſo wenig der
ideelle Lehrſtoff
dem kuͤnftigen Gewerbs- und Hand-
werksmann etwas, indem der Theil des ideellen Wiſ-
ſens, den er als Menſch beduͤrfe, ſich auf Religions-
und Pflichtenlehre beſchraͤnke, die formelle Geiſtesuͤbung
aber fuͤr ideelle Gegenſtaͤnde, mit denen er nie etwas
unmittelbar zu thun habe, ihm entbehrlich, die Uebung
fuͤr materielle Gegenſtaͤnde aber um ſo nothwendiger
ſey. — Was dieſe Behauptung Wahres hat, iſt nur
wahr, wenn die Anſicht umgekehrt wird. Das Unter-
richtsbeduͤrfniß wird entſchieden durch die Individualitaͤt
der Lehrlinge; die darnach eingerichtete Bildung ent-
ſcheidet den kuͤnftigen Beruf. Dies iſt der natuͤrliche
Gang, der ſich nicht nach Willkuͤr umkehren laͤßt.
Will man den kuͤnftigen Beruf zur Richtſchnur des
Erziehungsunterrichts nehmen, wer entſcheidet denn den
kuͤnftigen Beruf des Lehrlings? Der muͤndige Erzieher
freilich; aber doch wohl nicht nach Laune und nach eitlem
Streben? und uͤberhaupt, wornach vernuͤnftigerweiſe
anders, als nach den Anlagen des Kindes, die der
erſte Unterricht beſtimmt genug erkennen laͤßt? Sind
aber die Anlagen des Kindes fuͤr die eine oder die
andre Hauptart der Bildung als vorherrſchend erkannt,
ſo behandle man es auch im Unterrichte ſeiner Natur
gemaͤß, und unternehme nicht, es gewaltſam in das
entgegengeſetzte Gebiet hinuͤber zu treiben. Daß das
[206]Dritter Abſchnitt.
Individuum in ſeiner Art etwas Vollendetes leiſte,
iſt das wahre Ideal der Bildung; die Individuen
in ihrer Art zu vollenden, iſt ſonach die wahre Auf-
gabe auch des Erziehungsunterrichts. Die in ihrer
Art
vollendet aus dem Erziehungsunterricht der freien
Bildung hervorgehen, ſind auch vollendet fuͤr ihre
Art des Berufes
gebildet, und werden ſicher in
demſelben etwas Vorzuͤgliches zu leiſten vermoͤgen. So
beſtimmt die freie Bildung den kuͤnftigen Be-
ruf
des Individuums, nicht umgekehrt: der kuͤnftige
Beruf
die freie Bildung deſſelben.


Die gegenſeitige Beſchwerde ſelbſt loͤſt ſich ſonach
in die richtigere Anſicht auf, daß erſtens die Unter-
richtsgegenſtaͤnde
uͤberhaupt nicht nach dem kuͤnf-
tigen Beruf
ſondern nach dem gegenwaͤrtigen
Beduͤrfniß der Lehrlinge
zu waͤhlen ſind, zwei-
tens eine Verſchiedenheit des Unterrichtsbeduͤrfniſſes
unmittelbar durch die individuelle Verſchieden-
heit der Lehrlinge
beſtimmt wird, und folglich
drittens es allerdings ein verkehrtes Verfahren iſt, ein
Talent fuͤr Ideelles mit Materiellem, und dagegen ein
Talent fuͤr Materielles mit Ideellem umzutreiben, wo-
durch hoͤchſtens eine Mittelmaͤßigkeit erreicht werden
kann, und in jedem Falle die Schuͤler mit Unrecht,
und dem Weſen der freien Bildung zuwider, ge-
quaͤlt werden.


Ob man nach dieſer Anſicht die Lehranſtalten in
verſchiedne Inſtitute trennt, oder in Einer und derſelben
[207]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Anſtalt fuͤr das verſchiedne individuelle Beduͤrfniß der
Lehrlinge durch verſchiedne Abtheilungen ſorgen will,
iſt an ſich gleichguͤltig. Die Hauptſache iſt, daß dem
Grundſatze zufolge der Erziehungsunterricht die Indi-
vidualitaͤt der Lehrlinge ſchone und ehre
,
und derſelben gemaͤß die Unterrichtsgegenſtaͤnde
auch ihrer Art nach beſtimme. Mit allem Recht
fordert man, daß nicht alle Zoͤglinge der freien
Bildungsanſtalten bloß mit geiſtigen Gegenſtaͤn-
den
beſchaͤftiget werden; weil dies diejenigen, die da-
fuͤr nicht Talent haben, nur aufhaͤlt, anſtatt daß ſich
ihr Geiſt durch Uebung an materiellen Gegenſtaͤnden
ſchnell und kraͤftig entwickeln wuͤrde. Aber mit dem
gleichen Rechte fordert man, daß nicht alle Zoͤglinge
der freien Bildungsanſtalten bloß mit materiellen
Gegenſtaͤnden
beſchaͤftiget werden; weil dadurch alle,
die nicht ausgezeichnetes Talent dafuͤr haben, nur auf-
gehalten werden, anſtatt daß ſich durch Uebung an
geiſtigen Gegenſtaͤnden ihr Geiſt weit ſchneller und
kraͤftiger entwickeln wuͤrde.


Um aber dieſe Entſcheidung ganz unparteiiſch zu
faſſen, muß man ſich noch von einem andern Vorur-
theil frei gemacht haben.


Soll der Unterricht uͤber materielle Gegenſtaͤnde
eben ſo wie der Unterricht uͤber geiſtige Gegenſtaͤnde
ſeinen Hauptzweck erfuͤllen, den Geiſt der Lehrlinge zu
bilden, ſo kann er eben ſo wenig in bloßem Beſchauen
und Zergliedern einzelner koͤrperlicher Objecte als in
[208]Dritter Abſchnitt.
dem Enumeriren und Betrachten des aͤußeren Zuſam-
menhanges ihrer Geſammtheit als eines Naturſyſtems
beſtehen. Man kann freilich damit den Anfang ma-
chen, die Aufmerkſamkeit des Lehrlings auf die Außen-
welt zu richten, indem man ihn einzelne Naturobjecte
naͤher ins Auge faſſen und beobachten laͤßt. Man
kann ſolche Beobachtungen einzelner materieller Gegen-
ſtaͤnde auch als Anfangsuͤbungen des Geiſtes benutzen,
inwiefern es nicht nur leichter ſcheint, analyſirende
Operationen des Geiſtes an ſolchen Gegenſtaͤnden vor-
zunehmen, die als fixirte und ruhende der Betrachtung
leichter ſtehen, um ſie nach ihren einzelnen Eigenſchaf-
ten aufzufaſſen, ſondern es auch allem Anſehen nach
eine einfachere Operation des Geiſtes iſt, einen von
außen gegebnen Gegenſtand zu analyſiren, indem dies
nur die einfache contemplative Thaͤtigkeit des Geiſtes
erfordert, waͤhrend bei einem geiſtigen (obgleich auch
gegebnen) Gegenſtand zugleich die productive Thaͤtigkeit
des Geiſtes noͤthig iſt, um den Gegenſtand fuͤr die
Betrachtung zu fixiren. Allein, was das Erſtere betrifft,
ſo hat der Menſch die Außenwelt ſo nah vor Augen,
und ſie dringt ſich ihm ſo unwillkuͤrlich und unabweis-
lich auf, daß man es wohl als entbehrlich erklaͤren
kann, erſt auf eine kuͤnſtliche Weiſe den Blick des
Lehrlings auf ſie zu richten. In Ruͤckſicht auf das
Zweite aber, die Anfangsuͤbungen mit ſolchen materiel-
len Gegenſtaͤnden zu machen, iſt wohl zu bemerken,
daß eben die geprießene Leichtigkeit den Vorſchlag ver-
daͤchtig macht. Denn, wird eine ſolche Betrachtung
ſogenannter Naturgeſtaͤnde wirklich leicht gemacht, ſo
[209]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
iſt ſie nur eine Spielerei, die das Kind zwar eine
Weile amuͤſiren mag, ſeinen Geiſt aber vielmehr laͤhmt
als ſtaͤrkt; ſoll ſie aber ſo angeſtellt werden, daß ſie
den Geiſt wirklich erweckt und erhebt, ſo hoͤrt ſie auf
leicht zu ſeyn: denn, ſie muß dann nicht ein bloßes
Hin- und Herfahren auf der Oberflaͤche der Objecte,
ſondern ein Eindringen in deren innere Natur ſeyn,
was aber nicht mit dem anatomiſchen Meſſer (welches
nur Bruchſtuͤcke des Ganzen und eine vervielfaͤltigte
Oberflaͤche deſſelben vorlegen kann) ſondern mit der
Idee geſchehen muß, die allein das Innere auch der
koͤrperlichen Natur faßt. Ob dieſe Aufgabe aber, ein
materielles Object auf die angedeutete Weiſe geiſtig zu
faſſen, leichter ſey, als die gleichmaͤßige geiſtige Be-
trachtung eines geiſtigen Objects, laͤßt ſich mit Grunde
bezweifeln, und wird noch problematiſcher, wenn man
zugleich bedenkt, daß auch die geiſtigen Gegenſtaͤnde
wie die materiellen gegebne (naͤmlich in Beziehung
auf die contemplative Function des Geiſtes) ſind, bei
deren Betrachtung alſo der Geiſt ebenfalls nur einfach
thaͤtig iſt, inwiefern die Ideen eben ſo wenig als die
Koͤrper durch die Contemplation erſt hervorgebracht,
ſondern vielmehr eben ſo wie die letztern nur aufgefaßt
werden. Selbſt, daß die geiſtigen Gegenſtaͤnde durch
eine beſondre Thaͤtigkeit des Geiſtes fuͤr die Betrach-
tung erſt fixirt werden muͤſſen, waͤhrend die materiellen
als ruhende ſich von ſelbſt darſtellen, hat nur inſofern
Grund, als man die Lehrlinge unmittelbar in ihr eig-
nes Innre zuruͤckfuͤhren, und ſie ihr Bewußtſeyn zer-
gliedern und aus demſelben unmittelbar die Ideen und
14
[210]Dritter Abſchnitt.
Gefuͤhle auffaſſen lehren will. Dies moͤchte freilich als
Anfangsuͤbung ſeine großen Schwierigkeiten haben, iſt
aber auch ganz und gar nicht nothwendig; denn
Ideen und Gefuͤhle, durch einen eminenten Geiſt
gefaßt und in Worten dargeſtellt, ſind nicht we-
niger als ein Koͤrper ein ruhendes Object fuͤr
die Betrachtung: und mit dieſen geiſtigen Objecten
die geiſtige Betrachtung beginnen, kann zum
mindeſten nicht ſchwerer ſeyn als dieſelbe Operation an
materiellen Objecten.


So zeigt es ſich, daß die wahre Natur der gei-
ſtigen Unterrichtsgegenſtaͤnde
eben ſo ſehr ver-
kannt iſt, als die der materiellen, und daß die
Meinung von der groͤßeren Leichtigkeit der letzteren nur
auf jener irrigen Anſicht derſelben beruht. Es wird
nicht uͤberfluͤſſig ſeyn, in Abſicht auf die letztern hier
noch eine beſtimmtere Erklaͤrung hinzuzufuͤgen.


Die Außenwelt, recht betrachtet, kann ein Gegen-
bild der Innenwelt, die Welt der Sachen ein Abdruck
von der Welt der Ideen genannt werden. Die Außen-
welt mit Geiſt ſehen lehren, heißt lehren, ſie als des
Geiſtes Abbild zu betrachten. Soll alſo der Unterricht
uͤber materielle Gegenſtaͤnde ſeinen Zweck erfuͤl-
len, ſo muß er von Ideen ausgehen und zu denſelben
hinfuͤhren. Die Sachen als Sachen ſind nicht das
Object des Erziehungsunterrichts, ſofern es dabei
hauptſaͤchlich auf Bildung des Geiſtes ankoͤmmt; das
bloße Auffaſſen derſelben iſt ein faſt mechaniſcher Act,
[211]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
der den Geiſt wenig uͤbt: die Ideen, die ſich in den
Sachen darſtellen, ſind es eigentlich, die den Gegen-
ſtand des Unterrichts ausmachen, ſofern er ſich mit
Sachen beſchaͤftiget. Sonach iſt es auch an den mate-
riellen Unterrichtsgegenſtaͤnden eigentlich das Geiſtige,
Unſichtbare, was der Geiſt des Lehrlings zu faſſen und
zu fixiren lernen muß. Ein Unterricht, der die Rea-
lien
nach der hier vorgeſchriebnen Weiſe behandelt,
erhebt ſich allerdings uͤber den Vorwurf, den man dem
Philanthropiniſmus zu machen hat; aber er fuͤhrt auch
in der That zum Idealen, wohin — als zur
Schwaͤrmerei — der Philanthropiniſmus eben nicht
will, zum Theil aber auch nicht aus Grundſatz ſondern
nur aus Ungeſchick nicht gelangt.


Wird man auch in dem, was hier geſagt iſt,
Schwaͤrmerei finden? Es iſt beinah zu fuͤrchten, denn
es klingt ja beinah naturphiloſophiſch! Ich koͤnnte mir
die Beſchuldigung allenfalls gefallen laſſen. — Das
Uebrige lautet doch, hoffe ich, natuͤrlich und ſcharf
genug, um mich der Schwaͤrmerei nicht verdaͤchtig zu
machen. Aber das Schlimmre kann ich bei dem Obi-
gen mit der Naturphiloſophie leicht gemeinſchaftlich
haben, daß es von den Paͤdagogen eben ſo wie jene
von den Philoſophen mißverſtanden wird. Einſtweilen
will ich mich hier damit ſchuͤtzen, daß ich an ein Ana-
logon erinnre, das in der Peſtalozziſchen Methode auf-
genommen iſt, nach welcher die materiellen Unterrichts-
gegenſtaͤnde mehr nach ihren Verhaͤltniſſen als in ihrer
Subſtantialitaͤt aufzufaſſen gelehrt wird. Aber, ich
14*
[212]Dritter Abſchnitt.
ſage abſichtlich: ein Analogon; denn, da in jener
Schule der hoͤchſte Werth auf aͤußere Anſchauung ge-
legt, ſonach nur die raͤumlichen Verhaͤltniſſe beachtet
werden, ſo bleibt die Idee unberuͤhrt, und es laͤßt ſich
noch mit Grund bezweifeln, ob durch die Peſtalozziſche
Behandlungsweiſe der materiellen Unterrichtsgegenſtaͤnde
der Geiſt nur ſo viel Uebung erlange, als durch
philanthropiniſtiſches Sachſtudium dann erreicht werden
kann, wenn dabei vorzugsweiſe auf ſyſtematiſche Ueber-
ſicht einzelner Gebiete von Naturgegenſtaͤnden gedrun-
gen wird.


Findet ſich aber obige Anſicht ſowohl der mate-
riellen
als der geiſtigen Unterrichtsgegen-
ſtaͤnde
gegruͤndet, ſo geht auch von dieſer Seite her-
vor, daß jede der beiden Hauptarten ihre eigne Stei-
gerung und Rangordnung vom Leichteren zum Schwie-
rigeren hat, jede alſo fuͤr ſich unabhaͤngig von der
andern mit dem Lehrling durchgefuͤhrt werden kann, je
nachdem er vermoͤge ſeiner Individualitaͤt fuͤr die eine
oder die andre mehr Anlage hat.


Damit iſt vorerſt die irrige Anſicht verworfen,
welcher zufolge der Unterricht uͤber materielle
Gegenſtaͤnde
als der leichtere nicht nur den Anfang
des Unterrichts bei allen Lehrlingen ohne Unterſchied
machen, ſondern auch als Vorbereitung auf die gei-
ſtigen Lehrgegenſtaͤnde
dienen ſoll. Wenn der
Unterricht uͤber Naturgegenſtaͤnde nach der obigen An-
gabe das Ideelle an denſelben auffaſſen lehren ſoll, ſo
[213]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
iſt die Aufgabe, wie ſich leicht erkennen laͤßt, fuͤr den
Anfaͤnger viel zu ſchwer; er muß vielmehr ſelbſt ſchon
mehrere Stufen des Naturunterrichts durchlaufen, um
ſich fuͤr jene ideelle Naturanſicht vorzubereiten, die
allein als Vorbereitung im Materiellen zu dem Unter-
richt uͤber geiſtige Gegenſtaͤnde gelten kann. Wenn
aber jener Anfang des Naturunterrichts auch nicht
bloß ſo mechaniſch, wie gewoͤhnlich, oder als bloße
Spielerei betrieben wird, wobei der Geiſt uͤberhaupt
ſo wenig fuͤr Natur- als fuͤr Ideen-Anſicht etwas ge-
winnen kann; wenn er auch in der That richtig ſo
behandelt wird, daß er als zweckmaͤßige Vorbereitung
auf die hoͤhere Anſicht der Natur fuͤr diejenigen Lehr-
linge, die dafuͤr mehr als fuͤr das rein geiſtige Gebiet
der Ideen Anlage haben, dient, ſo iſt dieſe Uebung
doch ihrer Art und Natur nach von der entgegenge-
ſetzten des Auffaſſens der rein geiſtigen Gegenſtaͤnde ſo
verſchieden, daß ſie als eigentliche Vorbereitung auf
das Letztere nicht angewendet werden kann. Diejenigen
Lehrlinge alſo, die fuͤr das Letztere mehr Anlage haben,
ſind auch zunaͤchſt in dieſer letztern Art gleich von An-
fang an zu uͤben, und in dieſem Gebiet nach und
nach zu der hoͤhern Anſicht fortzufuͤhren.


Dies kann um ſo weniger bezweifelt werden, da
fuͤrs zweite in dem Obigen zugleich die irrige Anſicht
aufgedeckt iſt, als faͤnden ſich in dem Gebiete der rein
geiſtigen Unterrichtsgegenſtaͤnde
ſolche Schwie-
rigkeiten, die fuͤr den Anfaͤnger unuͤberwindlich waͤren;
weshalb man eben ſeine Zuflucht zu den Naturgegen-
ſtaͤnden wenigſtens fuͤr den Anfang nehmen muͤſſe.


[214]Dritter Abſchnitt.

Das Verhaͤltniß kehrt ſich vielmehr in der That
um. Da die Naturgegenſtaͤnde mit dem Kinde am
Anfang des Erziehungsunterrichts die ernſte und tiefe
Behandlung, die allein zu einer wahren Naturkenntniß
vorbereiten und fuͤhren kann, nicht zulaſſen, ſo kann
ſelbſt bei denjenigen Lehrlingen, die durch ihre Indivi-
dualitaͤt mehr fuͤr das Naturſtudium geeignet ſind, der
Anfang des Unterrichts nicht mit Naturgegenſtaͤnden
gemacht werden; vielmehr muß ſelbſt dieſe Claſſe von
Lehrlingen anfaͤnglich an geiſtigen Gegenſtaͤnden
geuͤbt werden, die auch in ihren leichteſten Anfaͤngen
doch zu ideeller Bildung fuͤhren, die zum rechten
Naturſtudium nicht weniger als zum Ideenſtudium er-
forderlich iſt, man mag dabei auf materielle beſtimmte
Kenntniß der Natur oder nur auf die an dem Stu-
dium derſelben zu erwerbende formelle Bildung des
Geiſtes ſehen.


Dieſelbe Forderung, auch bei dieſer Claſſe von
Lehrlingen den Anfang des Unterrichts mit geiſtigen
Gegenſtaͤnden
zu machen, geht zugleich auch daraus
hervor, daß am Eingang des Erziehungsunterrichts ohne-
hin die Anlagen der Lehrlinge ſelten ſich ſchon ſo ent-
ſchieden zeigen, daß man beſtimmt ſagen koͤnnte, zu
welcher der beiden Hauptarten von Studien ſie ſich
eignen werden, ſonach der Elementarunterricht ſelbſt
erſt daruͤber entſcheiden muß. Nun koͤnnte es zwar
ſcheinen, daß es am natuͤrlichſten waͤre, die Probe mit
beiden Arten von Gegenſtaͤnden zu machen. Allein,
außerdem daß aus dem oben aufgewieſenen Grunde
[215]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
die Probe mit Naturgegenſtaͤnden nicht gemacht werden
kann (indem eine bloß oberflaͤchliche ſpielende Beſchaͤf-
tigung mit Naturgegenſtaͤnden bei allen Kindern ohne
Unterſchied eine gewiſſe Liebhaberei findet, ohne daß
ſich daraus auf wahre Neigung oder Anlage zu denſel-
den ſicher ſchließen ließe); — außerdem iſt auch mit
unſichern Proben keine Zeit zu verlieren, und muß
folglich auch aus dem Grunde mit den geiſtigen
Unterrichtsgegenſtaͤnden
bei allen Lehrlingen
ohne Ausnahme der Anfang gemacht werden, weil dieſe
Gegenſtaͤnde erſtens materiell als beſtimmte Kenntniſſe
von jedem Individuum wenigſtens in einem gewiſſen
Umfang gefordert werden, zweitens formell in Abſicht
auf Uebung des Geiſtes auch fuͤr das Naturſtudium
eben ſo wie fuͤr das Ideenſtudium eine zweckmaͤßige
Uebung des Geiſtes geben, folglich jeden Lehrling,
zu welcher von beiden Hauptarten von freier Bil-
dung er in der Folge uͤbergehen moͤge, gehoͤrig vorbe-
reiten.


So geht der Erziehungsunterricht in Abſicht auf
die Verſchiedenheit der Unterrichtsgegenſtaͤnde nothwen-
dig bei allen Lehrlingen ohne Ausnahme von den gei-
ſtigen Gegenſtaͤnden
aus, theilt ſich aber, ſobald
die Individualitaͤt der Lehrlinge ſich hinreichend entwi-
ckelt hat, um ihre Anlagen fuͤr die eine oder die andre
der beiden Hauptarten entſchieden erkennen zu laſſen,
in zwei verſchiedne Claſſen, deren jede in ihrer Art
die Lehrlinge zur moͤglich hoͤchſten ihrer Stufen hinan
fuͤhrt.


[216]Dritter Abſchnitt.

Keine der beiden entgegengeſetzten Claſſen aber
ſchließt die Unterrichtsgegenſtaͤnde der andern unbedingt
aus. Die Vereinigung aber, da ſie auch hier nicht
nach Willkuͤr geſchehen kann, ſo daß man nach Gut-
duͤnken dem Unterricht uͤber materielle Gegenſtaͤnde ein
wenig von geiſtigen Gegenſtaͤnden, oder umgekehrt dem
Unterricht uͤber geiſtige Gegenſtaͤnde ein wenig von ma-
teriellen beimiſchte, ſteht unter dem Geſetze der Un-
terordnung und wird darnach ſo beſtimmt: daß in je-
der der beiden entgegengeſetzten Unterrichtsarten auf
die Unterrichtsgegenſtaͤnde der andern ſoviel Ruͤckſicht
genommen werde, als noͤthig iſt, um den Zuſammen-
hang beider in dem geſammten Umfang des Wiſſens zu
der Klarheit und Lebendigkeit des Bewußtſeyns zu er-
heben, die erforderlich iſt, von beiden Seiten Einſeitig-
keit und Pedantiſmus, das wahre Widerſpiel aller freien
Bildung, abzuhalten.


Beſondere Anmerkung.

Es liegt nicht in den Graͤnzen dieſer allgemei-
nen Eroͤrterung
des Grundſatzes uͤber die Art
der Unterrichtsgegenſtaͤnde
, die Gegenſtaͤnde
ſelbſt einzeln aufzuzaͤhlen, und ihr Verhaͤltniß zum Er-
ziehungsunterricht naͤher zu beſchreiben. Eine Ausnahme
davon macht aber mit Recht der eine Gegenſtand, der
ein Hauptpunkt des Streites zwiſchen Humaniſmus und
Philanthropiniſmus iſt, naͤmlich das Sprachſtu-
[217]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
dium oder die Philologie im engeren Sinne des
Wortes.


Der Philanthropiniſmus hat dieſes Studium als
leeren Wortkram angeklagt, und als Bildungs-
mittel
geradezu verworfen. Denn was er davon als
Nothbehelf noch beibehalten hat, kann weder zur Bil-
dung dienen, noch iſt es in dieſer Abſicht aufgenommen
worden, ſondern wird nur noch gelehrt und gelernt,
inwiefern es in irgend einer Beziehung als Erwerb-
mittel
dienen kann. Man hat die Heftigkeit, mit
der gegen jene Maßregel geſprochen worden, einſeitig,
eigenliebig, illiberal gefunden: ich gedenke auch nicht
die Heftigkeit, als ſolche, zu vertheidigen. Aber, wer
die Folgen jener Maßregel in ihrem ganzen Umfang
uͤberſieht, wird nicht verwunderlich finden, daß der
Genius der Menſchheit zuͤrnend hervortritt, wenn dieſe
in Gefahr iſt, planmaͤßig — wenn auch in der redlich-
ſten Abſicht — der Barbarei zugefuͤhrt zu werden.


Ich will mich hier nicht darauf berufen, daß es
das erſte Geſetz in der Bildung des Menſchengeſchlech-
tes iſt: keinen Punkt einmal errungner Bil-
dung untergehen zu laſſen
; und daß man aus
dieſem Grunde berechtiget iſt zu fordern, daß eine
gruͤndliche Kenntniß von den reichen Schaͤtzen errung-
ner Bildung der großen Nationen der Vorwelt mit
Sorgfalt gepflegt und unterhalten werde. Kein Staat
kann jenen Theil der freien Bildung vernachlaͤſſigen,
ohne den Zuſammenhang mit der alten Welt zu unter-
[218]Dritter Abſchnitt.
brechen, die Bekanntſchaft mit den bereits geſchehenen
Fortſchritten der Vernunft als entbehrlich zu erklaͤren,
und mit dieſem Undank gegen die herrlichſten Werke
der Menſchheit und die glaͤnzendſten Offenbarungen
der Vernunft in eine Unwiſſenheit zu verfallen, die zu
allen Zeiten als Barbarei mit Recht verrufen worden
iſt, die in einem verworrenen und verwerflichen Stre-
ben, das laͤngſt Erfundne zu erfinden, das laͤngſt Voll-
endete von neuem zu erſchaffen, die Kraft ohne Frucht
zu bringen verzehrt, und ſo den ſichern Fortſchritt der
Cultur aufhaͤlt, und ein unvermeidliches Ruͤckſchreiten
beginnt. Sicher gehoͤrt es zu den erſten Forderungen an
einen Staat, der fuͤr civiliſirt gelten will, daß in ſeiner
Grundverfaſſung dafuͤr geſorgt ſey, die Bekanntſchaft
mit der fruͤheren Cultur
zu erhalten, und die
gelehrte Bildung, deren Beſtreben vernuͤnftiger-
weiſe nur auf jenen Zweck gerichtet ſeyn kann, auf
alle Art zu unterſtuͤtzen und zu beguͤnſtigen; und wo
dies fehlt, wo dies Beſtreben vielmehr geringſchaͤtzig
behandelt, ohne Aufmunterung bleibt, da bedarf es
nicht einmal einer poſitiven Unterdruͤckung, um in
Kurzem Barbarei und Vandaliſmus herbeizufuͤhren.


Man halte mir nicht entgegen, daß nur laͤcherli-
cher Eigenduͤnkel pedantiſcher Philologen ſich einbilden
koͤnne, das Heil einer Nation hange vom grie-
chiſch und lateiniſch Lernen
derſelben ab, da
dieſe Praͤconen der alten Sprachen doch vielmehr gerade
an der von ihnen am meiſten geprießenen Nation, den
Griechen ſelbſt, den klarſten Beweis vom Gegentheil
[219]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
erblicken wuͤrden, wenn ihr Worteifer den philologi-
ſchen Nebel vor ihren Augen nur einen Augenblick
zu zerſtreuen vermoͤchte. „Wie ſind denn die Grie-
chen
zu ihrer hohen Cultur gelangt, die doch be-
kanntlich nicht lateiniſch und griechiſch gelernt
haben?“ Der Triumph, mit dem ſich dieſe Einwendung
ankuͤndiget, iſt viel zu voreilig. Es bliebe mir noch
immer uͤbrig, zu ſagen, daß ein originelles Volk, das
ſich ſelbſt Muſter ſeyn mußte und, unter den auszeich-
nendſten Beguͤnſtigungen ſeiner Lage und ſeiner Schick-
ſale, ſeyn konnte, ſich nicht als Maßſtab fuͤr andre
Nationen anwenden laſſe. Sodann koͤnnte ich mich
auf das Beiſpiel der Roͤmer berufen, deren Cultur
bekanntlich in Abſicht ihres glaͤnzendſten Theils ſich
auf griechiſch Lernen zuruͤckfuͤhren laͤßt. Daß die
ganze neuere Cultur durch wiedererwecktes Studium der
alten Cultur begruͤndet iſt, wird auch Niemand laͤugnen
wollen. Ich koͤnnte endlich auch das wichtige Wort
fuͤr mich geltend machen, das unlaͤngſt von dem be-
ruͤhmten Gelehrten-Inſtitut in Frankreich durch ſeine
Repraͤſentanten vor den Thron des Kaiſers gebracht,
auf den Verfall der alten Literatur, eine Folge der
revolutionaͤren Barbarei, ernſtlich warnend hindeutete.
Es fehlt mir alſo nicht an Gruͤnden und Auctoritaͤten,
die ich jener Behauptung entgegenſetzen koͤnnte. Aber
ich wuͤrde Unrecht haben, durch bloße Berufung auf
die letztern mich der hiſtoriſchen Unwiſſenheit theilhaftig
zu machen, die in der Einwendung ſelbſt liegt. Haben
denn nicht auch die Griechen die Cultur ihrer
Vorwelt
gekannt, ſtudirt und benutzt? Und wenn
[220]Dritter Abſchnitt.
ſie aus Nationalparteilichkeit die fremde Quelle, aus
der ſie geſchopft hatten, oft zu verbergen wußten, ſol-
len wir deshalb blindlings alles als ihr Eigenthum
annehmen? Wollen wir vergeſſen, was ſie von Aegyp-
tern, Perſern, Indiern ꝛc. gelernt und geborgt haben,
und wovon wir in ihrer Religion, in ihrer Philoſopie
beſonders die unverkennbarſten Spuren finden? Freilich
haben ſie nicht das Studium der Sprachen jener Voͤl-
ker zum allgemeinen Gegenſtand ihres Erziehungsunter-
richts gemacht: aber das wollen ja auch wir nicht.
Nur die gelehrte Bildung ſoll in jedem civiliſirten
Staate erhalten und gepflegt werden, und nur die In-
dividuen, die durch ihr Talent dazu berufen ſind, den
von der Vorwelt uns uͤberlieferten Schatz der allgemei-
nen Bildung bewahren zu helfen, ſollen auch die Spra-
chen der Vorwelt (und zwar nicht bloß der occidentalen
ſondern auch der orientalen) lernen und kennen. Dies iſt
auch bei den Griechen nicht verſaͤumt worden, in deren
gelehrten Schriften noch Belege genug davon zu finden
ſind. Wenn ſie es aber auch verſaͤumt haͤtten,
ſo wuͤrde dies noch immer gegen unſre Forderung
nichts beweiſen, da unſtreitig ſo Vieles von der aͤlte-
ren Cultur durch die Ueberlieferung ſo entſtellt zu uns
gelangt iſt, daß wir wenigſtens das Studium der alten
Sprachen ſelbſt noch jetzt nicht entbehren koͤnnen, um
aus den uns erhaltnen Urkunden uns eine richtigere
Vorſtellung von der ganzen alten Welt und ihrer Cul-
tur zu verſchaffen.


Mit der letzteren Bemerkung koͤnnte ich auch der
andern Einwendung begegnen, die das Studium der
[221]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
alten Sprachen aus dem Grunde als entbehrlich ver-
urtheilt, weil man die Sache ſelbſt, den Innhalt, aus
Ueberſetzungen eben ſo gut kennen zu lernen im Stande
ſey. Allein, ich habe bereits erklaͤrt, daß ich es uͤber-
haupt fuͤr eine unzulaͤngliche Vertheidigung des Stu-
diums der alten Sprachen halte, wenn man es bloß
als das Mittel vorſtellt, zu einer nothduͤrftigen Bekannt-
ſchaft mit dem Innhalt derſelben zu gelangen; und
obgleich jene oben entwickelte Forderung, die Kenntniß
der geſammten fruͤheren Cultur der Vorzeit in keinem
civiliſirten Staate untergehen zu laſſen, ein Grund fuͤr
das Studium der alten Sprachen iſt, der — insbeſon-
dre, wenn er als Angelegenheit nicht ſowohl des Indi-
viduums als vielmehr des Staates und des kosmopo-
litiſchen Intereſſe’s im Ganzen der Menſchheit betrachtet
wird — ein unverkennbar ſchweres Gewicht hat: ſo
will ich ihn doch hier nicht einmal in Anſchlag brin-
gen, ſondern die Forderung, das Studium der
Sprachen
zu einem weſentlichen Mittel der
freien Bildung
zu machen, lediglich auf den Werth
des Sprachſtudiums an und fuͤr ſich ſelbſt gruͤnden.


Iſt nicht die Sprache das unmittelbarſte Medium,
in welchem der Geiſt ſeine herrlichſten Schoͤpfungen
darſtellt? Und wer will zum Genuß der Bluͤthen der
hoͤchſten Cultur eines Volkes gelangen, ohne deſſen
Sprache zu verſtehen, in deren faſt nie durch eine
Nachahmung zu erreichenden Eigenthuͤmlichkeit jene
Bluͤthen ſich geſtaltet haben? Philologie iſt freilich
nur Liebe zum Wort — und mit dieſer philologi-
[222]Dritter Abſchnitt.
ſchen Witzelei mag man veraͤchtlich auf dieſe Liebe als
etwas Kleinliches hindeuten! Aber, vergeſſe man nur
nicht, daß dieſe Liebe zum Wort eine wahre Kunſt-
liebe
iſt. Was wollen doch die Miſologen mit
ihrem Haß gegen das Wort? Wer will denn reden
wider das Wort, als ob es nichts waͤre? und wider
die Rede, als waͤre ſie keiner Achtſamkeit werth? Iſt
denn nicht das Wort das unmittelbarſte, allgemeinſte,
freieſte, bedeutungsvollſte, bildſamſte Werk des Geiſtes,
in dem er ſich ſelbſt darſtellt? Iſt die Rede nicht eine
hohe Kunſt, eine Vereinigung von Kuͤnſten — Muſik,
Plaſtik, Mahlerei? Wie ſtellt nicht der Geiſt durch die
Rede, ſcharf abgeſchnitten und — wo das rechte Ver-
moͤgen des Ausdrucks iſt — zugleich glatt abgerundet,
in dem Subjecte des Satzes die hervortretende plaſti-
ſche Geſtalt dar? Wie belebt er nicht eben dieſe plaſti-
ſche Geſtalt mit mahleriſcher Kunſt, mit Mitteln, die
ſogar noch innhaltvoller und beweglicher als die der
Mahlerei ſelbſt ſind, indem er den Gegenſtand in kuͤnſt-
leriſcher Ordnung vor die Phantaſie bringt und vor
ihr voruͤbergehen laͤßt, ihn in Praͤdicaten mahlt, die
eben ſo klar und lebendig ſein Inneres als ſein
Aeußeres erblicken laſſen, wo jedes Wort eine Geſtalt,
jede Wendung eine Gruppirung, jede Wahl des Wor-
tes eine Nuͤance des Gemaͤhldes ausdruͤckt, wo auch
die Sylbe ſignificant wird, wo alles charakteriſtiſch
ſeyn muß? Und wie vereiniget nicht die Kunſt der Rede
mit der Darſtellung fuͤr das Auge zugleich ſo wunder-
bar eine eigne Kunſt der Darſtellung fuͤr das Ohr —
in Wohlklang, in Rhythmus, in Gang und Fall der
[223]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Sylben und Worte: beide Motive fuͤr Auge und Ohr
ſo in einander verſchmolzen, wie nur Muſik und Mi-
mik ſie verſchmelzen koͤnnen; indem ſie die Zeichnung
des Wortes fuͤr das Auge mit der Zeichnung des Rhyth-
mus fuͤr das Ohr verbindet, den luſtig in Zweigen
bewegten Vogel z. B. zugleich in der Lieblichkeit ſeiner
Toͤne nachahmt, oder das Stampfen des Roſſes im
Klang der Worte ertoͤnen laͤßt.


Und von dem Studium dieſer Kunſt, in welcher
als Naturkunſt (ſofern ſie nicht durch Reflexion von
gegebenen Vorbildern abſtrahirt und darnach gelernt
war) die Alten Meiſter ſind, will man mit der Ver-
achtung ſprechen, als toͤdte es im Worte den Geiſt.
Freilich, wem es uͤberhaupt gleich gilt, wie er ſich
ausdruͤcke, wem von dem Geiſt, der in der Rede ſelbſt
erſcheint, nichts geoffenbart, wem der Nerv jenes in-
nern Auges und Ohres, womit die Schilderei des
Wortes erfaßt ſeyn will, erſtorben oder abgeſtochen iſt,
dem kann die Kunſt ſelbſt nichts gelten, dem muß das
Studium derſelben leer und zwecklos duͤnken, der wird
auch das hier Geſagte — Boͤhmiſch finden. Doch
wird es Wenigen ſo ganz an Sinn fuͤr die Kunſt der
Sprache fehlen, daß ihnen nicht wenigſtens in groben
Zuͤgen etwas davon einleuchtend gemacht werden koͤnnte.
Die von ihnen es wagen, das Sprachſtudium zu hoͤh-
nen, mag man nur daran erinnern, wie oft ſie das,
was ſie gedacht haben, auf eine Weiſe ſagen, in
welcher Niemand ihr Gedachtes recht erkennen kann,
und wo ſie nicht ſelten ſich ſelber nachhelfend erklaͤren
[224]Dritter Abſchnitt.
muͤſſen: „ſo wollt’ ich ſagen!“ Sie ſprechen frei-
lich gewoͤhnlich dieſe Correctivformel ſo unbefangen aus,
daß man wohl ſieht, ſie halten es nicht fuͤr eine Schan-
de, oder fuͤhlen vielleicht gar die Schande nicht, zu be-
kennen, daß ſie die Kunſt des Sprechens — des
Darſtellens des Gedachten durch Worte — dieſe Kunſt,
die ein weſentlicher Vorzug des Menſchen iſt, nicht
verſtehen; und wenn man ſie daran erinnert, ſo nen-
nen ſie das Pedantiſmus, und meinen: „in verbis
simus faciles,“
— oder zu Teutſch: „auf eine Hand-
voll Worte mehr oder weniger koͤmmt es nicht an!“ —
gerade wie es dem ſchlechten Mahler auf einen Topf
voll Farben auch nicht ankoͤmmt! Das moͤchte ihnen
denn auch fuͤr ihre Perſon hingehen. Aber wenn ſie
nun kommen, und uns die Kunſt, in der ſich die Bil-
dung des Geiſtes erprobt, wie ſich an dem Studium
ihrer Werke der Geiſt bildet, herunterſetzen und das
Studium derſelben als unnuͤtz vorſtellen wollen, dann
verſchulden ſie, daß man ohne Schonung ihnen an der
Rede ihres Mundes den Unterſchied unter recht und
nicht recht Sagen des Gedachten, zugleich aber auch
den Schimpf, dieſer dem menſchlichen Geiſte unerlaß-
lichen Kunſt ſo ganz zu ermangeln, einleuchtend mache,
damit ſie ſich beſcheiden muͤſſen, nicht fuͤr Schwaͤr-
merei
zu erklaͤren, was uͤber Kunſt des Sprechens
und deren Studium die Kuͤnſtler — die Philolo-
gen — ſagen.


„Wenn man aber — koͤnnen die Philanthropen
dagegen einwenden — dieſer erkuͤnſtelten Wortverthei-
[225]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
digung auch noch ſo viel einraͤumen will, ſo beweiſt
ſie doch hoͤchſtens nur fuͤr Sprachſtudium uͤber-
haupt
als Bildungsmittel. Das aber haben wir ſo
wenig jemals gelaͤugnet, daß wir vielmehr das Stu-
dium der Mutterſprache
weit dringender als je
ein Philolog empfohlen und betrieben haben: nur das
haben wir zweckwidrig befunden, daß der Schuͤler ſeine
ganze Zeit auf die Sprachen des alten Roms und Grie-
chenlands wende, in ſeiner eignen Mutterſprache aber
ein Fremdling bleibe. Und in dieſer Meinung kann
uns das ganze obige Roͤſonnement nicht ſtoͤren, da
vollkommen alles, was darinn von dem Sprachſtu-
dium geruͤhmt iſt, auch durch das Studium der Mut-
terſprache erreicht werden kann.“


Was die Philologen auf dieſe Einwendung laͤngſt
gruͤndlich erwiedert haben, koͤmmt mir nicht zu, hier
zu wiederholen. Es wird hinreichend ſeyn, Folgendes
zu bemerken.


Zuvoͤrderſt iſt es allerdings wahr, daß man an
jeder gebildeten Sprache, und folglich auch an der
unſrigen, die ihre Claſſiker hat, die Sprache ſtudi-
ren kann. Allein, ſelbſt mit der groͤßten Parteilich-
keit wird es Niemand wagen zu behaupten, daß die
Muſterhaftigkeit der alten Schriftſteller von den neue-
ren erreicht ſey. Wo iſt denn bei einem Schriftſteller
unſrer Nation — die doch in Vergleichung mit den
Schriftſtellern andrer neuern Nationen einen ehrenvollen
Rang einnehmen — die Leidenſchaftloſigkeit, die Ruhe,
15
[226]Dritter Abſchnitt.
die Laune im Ernſt und der Ernſt in der Laune, die
ungeſtoͤrte Harmonie des Innhalts und der Darſtellung,
die Gleichfoͤrmigkeit, Sicherheit, Einheit und Einfach-
heit, die den Schriften der Alten das Gepraͤge hoher
Vollendung giebt? Sollten wir denn nun an dem
weniger Vollendeten uns uͤben? Sollten wir uns mit
unſerm Studium auf die Copieen beſchraͤnken, da wir
die Originale vor uns haben, nach denen unſre Mei-
ſter ſelbſt ſich erſt gebildet haben? Es iſt aber um ſo
wichtiger, ſich bei dieſem Studium an die vollen-
detſten Muſter zu halten, da es dabei nicht ſowohl
darauf ankoͤmmt, grammatiſche, rhetoriſche und poe-
tiſche Regeln zu abſtrahiren, nach denen man ſeine
eignen Darſtellungen modle, als vielmehr darauf, ſich
von Gehalt und Form der Meiſterwerke unmittelbar
begeiſtern zu laſſen.


Sodann aber, ſelbſt was das grammatiſche Stu-
dium der Sprache betrifft, ſo iſt die Grammatik zwar
im Ganzen in allen Sprachen dieſelbe und inſofern
wenig Unterſchied, an welcher beſtimmten Sprache ſie
gelernt werde. Doch iſt jede lebende, ſich ſonach noch
weiter bildende, Sprache zu jenem Zwecke ſchon we-
niger geſchickt, weil ſie noch immer zu viel Unent-
ſchiednes darbietet, das zwar die Regel ſelbſt nicht
zweifelhaft machen kann, aber doch das Auffaſſen der-
ſelben, da ſie nicht gleichfoͤrmig anzuwenden und ſo-
gar die Zahl der Ausnahmen noch nicht einmal zu be-
ſtimmen iſt, ſehr erſchwert. Noch mehrere Schwie-
rigkeiten aber hat, nach bekannten Erfahrungen, das
[227]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
grammatiſche Studium, wenn es an der Mutterſprache
erlernt werden ſoll; ſo daß ſelbſt nach der philanthro-
piniſchen Methode haͤufig vorgezogen wird, mit den
Lehrlingen, die irgend eine andre lebende Sprache er-
lernen ſollen, die grammatiſchen Uebungen lieber an
dieſer letztern anzuſtellen. Bei den Lehrlingen alſo,
die eine oder die andre alte Sprache zu erlernen ha-
ben, wird man dieſe mit um ſo mehr Recht auch zur
Grundlage der grammatiſchen Uebungen machen duͤrfen,
da man dabei nichts verlieren ſondern nur gewinnen
kann. Man darf aber unbedenklich noch um einen
Schritt weiter gehen, und fordern, daß nicht nur die
zum eigentlichen gelehrten Studium geeigneten Lehr-
linge, ſondern auch diejenigen, die zum wenigſten
Eine neuere fremde Sprache zu lernen haben, die auf
die alte lateiniſche gepfropft iſt, dem alten Grundſatze
der Gruͤndlichkeit gemaͤß im Lateiniſchen wenigſtens
einen Grund legen, und deshalb auch ihre Grammatik
an jener alten Sprache erlernen ſollen.


Endlich, will man denn fuͤr nichts rechnen, daß
die alten Sprachen nicht nur das Vorbild aller neueren
cultivirten Sprachen und ihre ſchriftſtelleriſchen Werke
das Muſter fuͤr die Claſſiker aller neuen cultivirten
Nationen ſind, ſondern daß ſie auch das einzige ge-
meinſchaftliche Band ausmachen, das die Cultur aller
neueren Voͤlker umſchlingt, nicht nur die gemeinſchaft-
liche Quelle, aus der ſie alle geſchoͤpft haben, ſon-
dern auch den einzigen gemeinſchaftlichen Grund und
Boden, auf dem ſie alle unmittelbar ſich erkennen und
15*
[228]Dritter Abſchnitt.
verſtehen? Kann irgend ein Volk die Kenntniß jener
Sprachen der vollendetſten Geiſtescultur der Vorwelt
bei ſich untergehen laſſen, ohne auf den Genuß der
herrlichſten Geiſteswerke der alten Zeit Verzicht zu thun,
und ſich zugleich von dem gemeinſchaftlichen Vereini-
gungspunkte aller Cultur der neuen Zeit auszuſchließen?


Will man aber auch alles dies nicht als beweiſend
genug gelten laſſen, um das Studium der alten
Sprachen
zu einem nothwendigen Gegenſtand
des freien Erziehungsunterrichts zu machen;
will man alſo durchaus keinen materiellen Zweck
der Erziehung
anerkennen, zu welchem das Stu-
dium der alten Sprachen ein nothwendiges Mittel ſey:
ſo wird man doch in Hinſicht auf formellen Zweck
der Erziehung
wenigſtens das nicht in Abrede ſtel-
len wollen, daß das Studium der alten Sprachen
vermoͤge deren inneren Feſtigkeit, Geſetzmaͤßigkeit und
Conſequenz eine Uebung des Geiſtes ſey, die dem Stu-
dium der Mathematik voͤllig gleich komme, gleichwohl
aber von dem letztern auch wieder ſo verſchieden ſey,
daß nicht nur von einem und demſelben Schuͤler beide
zugleich mit Nutzen getrieben werden koͤnnen, ſondern
es auch nach der individuellen Verſchiedenheit der
Koͤpfe bei manchem Schuͤler, deſſen Geiſt fuͤr die
Mathematik weniger empfaͤnglich iſt, ein faſt unerſetz-
liches Surrogat der letztern ſey, und deshalb mit
Recht immer als ein Hauptmittel der freien Bildung
beibehalten und geachtet werden muͤſſe.


[229]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
3.

Die dritte Hauptdifferenz zwiſchen Philanthropi-
niſmus und Humaniſmus in Abſicht auf die Unterrichts-
gegenſtaͤnde betrifft die Form derſelben uͤberhaupt und
den Werth des claſſiſchen Alterthums in Beziehung auf
den Erziehungsunterricht insbeſondre.


Nach dem, was bereits im Vorhergehenden ge-
ſagt iſt, kann die Beantwortung dieſes Punktes kuͤr-
zer gefaßt werden.


Es laͤßt ſich zum voraus nicht anders erwarten,
als daß der Philanthropiniſmus, nachdem er das
ganze Gewicht der Bildung auf die Maſſe des
Wiſſens geworfen, von der Form nicht viel halten
koͤnne. Noch weniger aber kann er eine beſondre
Forderung in Anſehung der Form der Unterrichtsgegen-
ſtaͤnde als wichtig anſehen, da die Sachen, auf
deren Kenntniß er das Hauptgewicht legt, auch in
der Darſtellung fuͤr den Unterricht keine andere als die
ihrer Natur entſprechende moͤglichſt ſcharf begraͤnzte
Form erheiſchen.


Wenn man aber auch noch nicht einmal die For-
derungen der freien Bildung dagegen geltend ma-
chen will, die in Abſicht der Form ohne allen Zwei-
fel hoͤher geſtellt werden muͤſſen; wenn man auch nur
die nothwendige Bildung, die der Erziehungs-
unterricht zu leiſten hat, nicht in der ganz graſſen
Beſchraͤnkung auf ſogenannte Sachgegenſtaͤnde
[230]Dritter Abſchnitt.
nimmt, ſondern auf die oben bezeichneten Ideen aus-
dehnt: ſo geht ſchon die ganz entgegengeſetzte For-
derung in Anſehung der Form hervor. Die Ideen
werden nicht objectiv ohne durch die Form ihrer
Darſtellung
. Sobald ich alſo Ideen als Gegen-
ſtaͤnde des Erziehungsunterrichts anerkenne, muß ich
auch eine Ruͤckſicht auf die Form der Unterrichtsge-
genſtaͤnde als nothwendig anerkennen, und zugeben,
daß es keinesweges gleichguͤltig iſt, in welcher Form
z. B. die Religionsgegenſtaͤnde fuͤr den Erziehungsun-
terricht dargeſtellt ſeyen.


Nimmt man aber erſt eine naͤhere Ruͤckſicht auf
die freie Bildung durch Erziehungsunterricht, dann
muß man die Forderung in Abſicht auf die Form der
Unterrichtsgegenſtaͤnde als ganz unerlaßlich erkennen,
man mag auf materielle oder formelle Bildung des
Geiſtes ſehen. In Abſicht auf die materielle Bil-
dung des Geiſtes
, oder die beſtimmten Kennt-
niſſe, mit denen der Erziehungsunterricht die Lehrlinge
auszuruͤſten hat, kommen zwar auch bei der freien
Bildung Unterrichtsgegenſtaͤnde vor, bei denen wenig-
ſtens auf freie Form nicht Anſpruch gemacht wer-
den kann; aber ſelbſt bei dieſen iſt es nicht gleich-
guͤltig, in welcher Form uͤberhaupt ſie darge-
ſtellt werden: am allerwenigſten aber kann es gleich-
guͤltig ſeyn in Abſicht auf die Unterrichtsgegenſtaͤnde,
die einer freien Form nicht nur empfaͤnglich ſind, ſon-
dern ſie auch ausdruͤcklich fordern. In Abſicht auf
die formelle Bildung des Geiſtes aber iſt es
[231]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
ohnehin von der groͤßten Wichtigkeit, daß die Idee
der Schoͤnheit dem jugendlichen Geiſte durch ſorgfaͤltig
gewaͤhlte muſterhafte Formen der Unterrichtsge-
genſtaͤnde tief eingepraͤgt und gleichſam zur Gewohn-
heit oder zur zweiten Natur werde. — Hat doch ſelbſt
der Philanthropiniſmus noͤthig gefunden, den Kin-
dern von den Sachgegenſtaͤnden, die man fuͤr ſie ſo
nothwendig haͤlt, geſchmackvollere Bilder in die Haͤnde
zu geben; wie ſollte man in Abſicht auf die Ideen,
bei deren Darſtellung die Form weit wichtiger iſt, ge-
ringere Forderungen machen? Wie die Ideen ſelbſt,
als das eigenſte Eigenthum des Geiſtes, den Geiſt am
kraͤftigſten anregen, und deshalb vorzugsweiſe zu Ge-
genſtaͤnden des Erziehungsunterrichts beſtimmt ſind, ſo
wird auch durch die Form der Darſtellung der Ideen
in der Sprache das Gemuͤth am maͤchtigſten ergriffen,
und es iſt deshalb vorzuͤglich eine unerlaßliche Forde-
rung, bei den Gegenſtaͤnden des Erziehungsunterrichts
darauf die ſorgfaͤltigſte Ruͤckſicht zu nehmen.


Welche Folgerung daraus in Abſicht auf den zwei-
ten obigen Differenzpunkt, die Unentbehrlichkeit
des claſſiſchen Alterthums
, ſich ergebe, iſt
leicht zu erachten.


Sieht man bloß auf eigentliche ſogenannte Sach-
gegenſtaͤnde
, ſo muß man darinn, wenigſtens
was die Sachen betrifft, wohl der neueren Zeit
die Gerechtigkeit widerfahren laſſen, daß ſie ſowohl
in ausgebreiteterem Umfaſſen des ganzen Objects der
[232]Dritter Abſchnitt.
Natur, als auch in feinerem beſonders mechaniſchem
Zergliedern einzelner Objecte und hauptſaͤchlich in
kunſtmaͤßigerem Experimentiren, die aͤltere Zeit
allerdings uͤbertroffen habe. Inſofern koͤnnen wir alſo
die letztere, als Lehrmeiſterin, entbehren. Doch hat
ſelbſt in dieſer Hinſicht die aͤltere Zeit einen Vor-
zug vor der neueren, den kein Verſtaͤndiger laͤug-
nen und am allerwenigſten gegen die Vorzuͤge unſrer
Sachkenntniſſe verachten wird: den Vorzug der rei-
nen Beobachtung
, des ruhigen Naturblickes, der
die Erſcheinungen ſcharf faßt und durchdringt; — wie
denn z. B. die Beobachtungen eines Hippokrates, nach
dem einſtimmigen Zeugniſſe aller Aerzte und Naturfor-
ſcher, ein bis auf den heutigen Tag unerreichtes Mu-
ſter ſind.


Selbſt in Hinſicht auf die Sachgegenſtaͤnde
alſo iſt es eine ungegruͤndete Behauptung, daß wir
das claſſiſche Alterthum ganz entbehren koͤnnen.
Vielmehr auch in dieſer Ruͤckſicht bleibt das Studium
des Alterthums ein hoͤchſt dringendes Beduͤrfniß unſrer
Zeit. Man kann von unſerer Naturforſchung ſagen:
daß ſie den Kampf der Elemente aufgeregt habe; —
und dieſer glaͤnzende Vorzug unſrer Zeit laͤßt ſich viel-
leicht nicht bezeichnender und ruhmvoller zugleich aus-
druͤcken! — Aber ſie iſt ſelbſt nun im Kampfe mit den
Elementen begriffen, und greift noch ohne ſicheren
Richtpunkt da und dort mit ihrem Ruͤſtzeug zwar kraͤf-
tig und ruͤſtig ein, aber ohne recht zu wiſſen, wo
es hinaus will. In dieſem Zuſtand einer allgemeinen
[233]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Gaͤhrung der Naturwiſſenſchaften iſt ein Punkt, an
dem ſich die Forſcher orientiren moͤgen, unentbehrlich:
in dieſem allgemeinen Kampfe, deſſen Verſohnung erſt
in einer fernen Zukunft zu hoffen ſteht, beduͤrfen die
Kaͤmpfer einen Ruhepunkt, der ſie wenigſtens zu
momentaner Verſoͤhnung vereinige. Welchen andern
Punkt aber, das unruhige Streben wenigſtens auf Au-
genblicke zu beſaͤnftigen, koͤnnten ſie finden, als eben
jene ruhige noch nicht zum Streit entzuͤndete Anſicht
der Natur, die uns als Muſter in den Ueberreſten
der alten claſſiſchen Zeit aufbewahrt iſt?


Daß nicht auch in Abſicht auf die Form der
Darſtellung unſre Naturforſcher von den Alten ſollten
zu lernen haben, und die Letzteren auch in dieſer Ruͤck-
ſicht unentbehrliche Muſter fuͤr uns ſeyen: wer moͤchte
daran zweifeln? Welche moderne Schrift dieſer Art
ließe ſich denn aufweiſen, in der die Form mit der
Sache ſo ganz Eines waͤre, wie wir auch dies in
jenen Muſtern des Alterthums finden?


Sehen wir aber auf die ideellen Gegenſtaͤnde
des Unterrichts, ſo kann das Beduͤrfniß, ſich an die
Muſter des Alterthums zu halten, noch weit weniger
zweifelhaft ſeyn. Unſtreitig haben auch wir in dieſem
Gebiete des Ideellen, in Abſicht auf Innhalt und
Form, unſre Claſſiker, und es waͤre eine offenbare
Ungerechtigkeit gegen die Schriftſteller unſrer Nation, zu
behaupten, daß man nichts Muſtermaͤßiges bei ihnen
finde. Allein fuͤrs erſte wird doch auch darinn kein
[234]Dritter Abſchnitt.
Unparteiiſcher den Vorzug des Alterthums laͤugnen wol-
len, und es alſo ſchon inſofern eine unerlaßliche Auf-
gabe der freien Bildung bleiben, ſich zum Anſchauen
der unerreichten Originale ſelbſt zu erheben. Fuͤrs
zweite auch in dieſem Gebiete der Ideen iſt unſre
Zeit
in Abſicht auf Innhalt und Form in einem
Kampfe begriffen, der ſeine Verſoͤhnung erſt von der
Zukunft erwartet. Man entruͤſtet ſich gegen die Ver-
kehrtheit unſerer jungen Generation, man klagt uͤber
ihre Keckheit und Meiſterloſigkeit, man zuͤrnt oder
ſpottet uͤber ihre Schwaͤrmerei und Abgeſchmacktheit,
und man moͤchte gern das ganze Unweſen mit Feuer
und Schwerdt vertilgen, das man als den Keim der
Zerſtoͤrung unſrer ganzen Cultur betrachtet. Dem Ru-
higeren erſcheint die Gefahr nicht ſo groß, und er
kann auf keinen Fall wuͤnſchen, daß gegen jenes frei-
lich noch verworrne Streben Gewalt angewendet
werde: „iſt das Werk von Gott, — denkt er mit Ga-
maliel — ſo werdet ihrs nicht hindern.“ Wohl aber
muß er wuͤnſchen, daß, die ſo klagen, ihrer eignen
Schuld dabei nicht vergeſſen moͤchten, um das wahre
Huͤlfsmittel nicht laͤnger zu verkennen. Auch auf dem
Gebiete der Ideen iſt das Ungluͤck nicht jener unver-
ſoͤhnte Kampf uͤber Innhalt und Form: durch den
Kampf muß die Verſoͤhnung kommen. Das Ungluͤck
vielmehr iſt, daß der Kampf durch eine zufaͤllige Aus-
artung entſtellt iſt, und der einzig ſichre Punkt, ſich
zu orientiren, von den Kaͤmpfern theils nicht gekannt,
theils nicht genug beachtet iſt. Weſſen aber iſt die
Schuld davon, als eben derer, die jenen Punkt in
[235]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
unſrer Cultur faſt haben untergehen laſſen — die
Kenntniß der Urbilder der Vorzeit, die, aus noch
ungetrenntem Gemuͤth und ungetheiltem Streben her-
vorgegangen, durch Harmonie des Gefuͤhls und des
Gedanken, des Innhalts und der Form, durch ihre
Einheit, Innigkeit und Gediegenheit wie durch ihre
Reinheit, Klarheit und Haltung nicht nur uner-
reichte Muſter fuͤr uns ſind, uns zu erheben und zu
begeiſtern, ſondern auch leuchtende Sterne, in dem
Kampfe der Zeit unſerm Herzen Beruhigung und Hoff-
nung auf die Zukunft der Verſoͤhnung einzufloͤßen, und
dem Geiſt in der Verwirrung des Streites das rechte
Ziel unverruͤckt vor Augen zu halten? Duͤrfen wir
uns wundern, wenn der Streit der Generation, wel-
cher der Leitſtern der Vorzeit verſchwunden iſt, kein
Ziel mehr kennt?


Endlich keine von allen Nationen der neueren Zeit
kann in Abſicht auf Bildung des Geſchmackes der Mu-
ſter des Alterthums weniger entbehren, als gerade
die unſrige. Die Italiener, die Spanier, die Eng-
laͤnder, die Franzoſen haben ihre Claſſiker und halten
darauf. Die Teutſchen aber? Ihre Claſſiker haben
ſie wohl unſtreitig ſo gut, wie jene: aber halten ſie
denn auch darauf? Hat nicht ein unſeeliger Schwin-
delgeiſt unſre Nation in ihrer Leſewuth ergriffen? Wird
nicht der aͤrmlichſte Roman, das frivolſte Schauſpiel
mit eben der Gier als ein Meiſterwerk von Goͤthe oder
Schiller verſchlungen, mit eben dem Leichtſinn das
letztere wie die erſtern vergeſſen? Welche Plattheit
[236]Dritter Abſchnitt.
herrſcht in dem oͤffentlichen Urtheil uͤber Geiſteswerke?
Mit welcher Frivolitaͤt werden die erſten Geiſter unſrer
Nation in unſrer Mitte ſelbſt herabgeſetzt? Welche
andre Nation hat mit gleicher Geringſchaͤtzigkeit und
Unbeſonnenheit ihre Nationalwerke behandelt? Welchen
unſrer Claſſiker kennt und ehrt denn das Volk? Wel-
chen koͤnnen wir ihm nennen, den es als untadel-
haftes Muſter gelten ließe? So fehlt es der Mehr-
zahl unter uns nicht nur an allem Geſchmack und
Kunſtgefuͤhl, ſo wie an aller Sicherheit des Urtheils
uͤber Kunſtwerth aͤchter Geiſteswerke, ſondern — was
das Schlimmſte iſt — es fehlt uns auch das Mittel,
dieſem Mangel zu begegnen. Die Bildung des Ge-
ſchmacks und Kunſturtheils einer Nation iſt nur da-
durch moͤglich, daß ſie ihre eignen Meiſterwerke kennt
und ehrt, und ſie von Mund zu Mund fortpflanzt.
Wer aber nennt mir auch nur Eins von unſern teut-
ſchen Meiſterwerken, dem dieſes Gluͤck geworden waͤre?
Hat nicht das Herrlichſte wie das Gemeinſte das glei-
che Schickſal der Ephemere? Was koͤmmt denn unter
uns auch nur zum zweiten Leſen, ich will nicht ſagen
auf die zweite Generation? An welchem Werke der
teutſchen Kunſt ſollte alſo ſich der Geſchmack unſrer
Nation bilden? Wir ſetzen dafuͤr unſer Heil auf die
Aeſthetik, und hoffen ſchon durch dieſe es noch zu
zwingen! Aber wir bedenken nicht, daß erſtens ſelbſt
die vollendetſte Kunſttheorie zwar das Kunſturtheil
ſchaͤrfen und berichtigen, Kunſtgefuͤhl aber nicht ge-
ben kann; zweitens aber unſre Aeſthetik ſelbſt in der
hoͤchſten Verwirrung und im Streit, und mit nichts
[237]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
eifriger beſchaͤftiget iſt, als die Kunſtwerke unſrer Na-
tion herabzuwuͤrdigen, das Vertrauen zu denſelben zu
zerſtoͤren, und ſo den ſicherſten Maßſtab des nationa-
len Kunſturtheils zu verdraͤngen, um ein Gewirr ge-
wagter Kunſtregeln dafuͤr an die Stelle zu ſetzen. —
In dieſem Zuſtande beduͤrfen wir nichts dringender als
Kunſtmuſter, die eine unwiderſprochene Auctoritaͤt ha-
ben, an denen ſich das Kunſturtheil in der Verwor-
renheit unſrer Aeſthetik — in der die Verſoͤhnung des
Kampfes noch am allerweiteſten entfernt zu ſeyn ſcheint —
einſtweilen wenigſtens orientiren und aufrecht erhalten
koͤnne. Und dieſe einzige unangefochtene Rettung
unſres Geſchmacks vor unſrer Aeſthetik bieten uns nur
die claſſiſchen Kunſtwerke des Alterthums an. Moͤge
nur der gute Genius unſrer guten Nation dieſes Licht
unter uns nicht verloͤſchen laſſen, daß es uns leuchte,
bis der Tag (unſrer Aeſthetik) anbreche und der Mor-
genſtern aufgehe in unſern Herzen!


Uns aber bleibt fuͤr die Bildung eines National-
geſchmacks noch etwas anderes durch den Erziehungs-
unterricht zu thun, naͤmlich: unſre nationalen Geiſtes-
werke national zu machen! Dies kann nicht geſchehen,
ſo lange wir nicht das wahrhaft Vortreffliche und wirk-
lich Claſſiſche bleibend und feſt zu machen ſuchen, ſo
lange nicht das Beßte von Munde zu Munde geht, ſo
lange nicht von Generation zu Generation daſſelbe
Meiſterwerk fortgepflanzt und geehrt wird, ſo lange
die unſeelige Sucht nach ewigem Wechſel unter uns
wuͤthet, ſo lange wir von dem ſchrecklichen Leſeſchwin-
[238]Dritter Abſchnitt.
del uns nicht erholen. Wie ſollen wir aber uns davon
erholen, ſo lange wir ſelbſt in unſerm Erziehungsun-
terricht nichts Stehendes anerkennen, ſo lange wir
unſern Kindern ſelbſt die Sucht nach Varietaͤt anbilden,
ſo lange wir nicht nur die Leſebuͤcher, ſondern ſelbſt die
Katechismen in unſern Schulen ins Unendliche fort
veraͤndern und vervielfaͤltigen, ſo lange wir fortfahren,
in dem Material der Geiſtesbildung nicht nur Genera-
tion von Generation, und Stand von Stand, ſondern
ſogar Familie von Familie zu trennen, ſo daß nicht
nur der Vater den Sohn und die Mutter die Tochter,
ſondern auch der Hoͤhere den Niedrigern und ſogar ein
Schuͤler den andern uͤber gar nichts mehr verſteht, was
ſie gelehrt werden? Soll es mit unſrer Bildung beſſer
werden, ſo muͤſſen wir ernſtlich darauf denken, in dem
Unterrichtsmaterial feſte Punkte herzuſtellen, die als Ver-
einigungspunkte der Bildung dienen koͤnnen. Und dazu
ſollten wir vor allem andern die claſſiſchen Geiſteswerke
unſrer Nation anwenden. Das Herrlichſte aus ihnen
muͤßte ſchon durch den Erziehungsunterricht zum Ge-
meingut der Nation erhoben werden; das muͤßten Alle
lernen und Alle kennen, damit unbekannt zu ſeyn muͤßte
als Beweis von Barbarei beſchimpfend ſeyn — Dies
ſelbſt ſchon wuͤrde eine ſichere Grundlage der National-
bildung ſeyn, zugleich aber auch noch dadurch wohlthaͤ-
tig auf die Bildung unſrer Nation wirken, daß der
Hang zu immerwaͤhrender Veraͤnderung geiſtiger Ge-
nuͤſſe etwas gemindert, ein ſichrer Maßſtab des wirk-
lich Achtungswerthen gebildet, gegen das Mittelmaͤßige
Eckel, gegen das Platte und Frivole Abſcheu erzeugt,
[239]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
zugleich aber mehr Verehrung des Vortrefflichſten unter
uns erweckt, Vertrauen auf die Kraft der Nation und
ihre Geiſteswerke genaͤhrt und der gegruͤndete National-
ſtolz gepflegt wuͤrde, deſſen Mangel ſich in der uͤber-
triebenen Demuth, womit wir fremde Werke uͤber-
ſchaͤtzen, noch immer zu unſerm Nachtheil offenbart.


b.
Die Unterrichtsmethode betreffend.

1.

Der Grundſatz des Philanthropiniſmus, „das
Lernen dem Lehrling auf jede moͤgliche Weiſe
zu erleichtern und zu verſuͤßen
, hat vorzuͤglich
folgende zwei ſcheinbare Gruͤnde fuͤr ſich anzufuͤhren’:
1) fruͤhe allzugroße Anſtrengung ſey fuͤr die Geſundheit
nachtheilig; 2) nach einer bekannten pſychologiſchen
Beobachtung habe die Schwierigkeit der Arbeit etwas
Abſchreckendes, und im Gegentheil mache Luſt und
Lieb zu einem Ding alle Muͤh und Arbeit
gering
.


Allein, ohne noch an den ſchimpflichen Mißbrauch
zu erinnern, der die Maxime des Verſuͤßens der
Arbeit fuͤr die Kinder bis zu der Albernheit, das Al-
phabet in Zucker
zu backen, ausgedehnt hat, iſt
dieſe methodiſche Maßregel, als in ſich verwerflich,
ſelbſt bei maͤßigerem Gebrauche doch nicht zu vertheidi-
[240]Dritter Abſchnitt.
gen. Es wird hinreichend ſeyn, den angegebnen
Gruͤnden nur die wichtigſten Einwendungen entgegen-
zuſtellen.


Erſtens, was den Nachtheil fuͤr die Geſundheit
betrifft, welchen die fruͤhe große Anſtrengung der Kin-
der zum Lernen haben ſoll, ſo iſt die Uebertreibung
ganz offenbar. Man duͤrfte ſich dagegen nur auf die
Erfahrung berufen, wie viele Gelehrte, die von ihrer
zarteſten Kindheit an in geiſtiger Anſtrengung zugebracht
haben, langer Lebensdauer und der vollſten Geſundheit
genießen. Freilich fehlt es auch nicht an Beiſpielen
ſolcher, die fruͤher ſterben, oder doch an ſchwaͤchlicher Ge-
ſundheit leiden. Allein man vergleiche nur die Zahl
von jenen und dieſen, und vergeſſe nur nicht, wie
viele der Letztern von der Geburt an ſo ſchwaͤchlich
waren, daß ſie bei jeder andern Lebensart wahrſchein-
lich ſich noch fruͤher verzehrt haͤtten, und zum Theil
um dieſer Schwaͤchlichkeit willen den Gelehrten-Stand
erwaͤhlt haben: ſo wird man noch immer ein großes
Mißverhaͤltniß zum Vortheil der Erſtern finden. Wollte
man dagegen auch auf der andern Seite abrechnen,
daß die Gelehrten durch frugale Lebensart, die ihnen
meiſt durch kuͤmmerliche Verhaͤltniſſe von Jugend an
zur Nothwendigkeit geworden iſt, an Geſundheit und
Lebensdauer gewinnen, und man nicht als Beweis von
allgemeiner Unſchaͤdlichkeit fruͤher geiſtiger Anſtrengung
aufſtellen duͤrfe, was auf ganz andern Gruͤnden beruhe;
ſo koͤnnte doch ſelbſt dieſe Berechnung jenes Verhaͤltniß
nicht ſo zum Nachtheil aͤndern, daß man nicht noch
[241]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
immer jene Erfahrung als Gegenbeweis gegen die uͤber-
triebne Beſoxgniß anfuͤhren duͤrfte.


Allein, wir beduͤrfen nicht einmal jener Erfahrung
als Gegenbeweiſes, da das Argument ſelbſt, was man
auch zu deſſen wirklicher Begruͤndung oder bloßer Aus-
ſchmuͤckung vorbringe, ſchon auf den erſten Anblick ſich
als eine von den Uebertreibungen ankuͤndiget, an denen
unſer Zeitalter ſo reich iſt, wo es auf neologiſche Ver-
folgung und Ausrottung einer alten, obgleich erprob-
ten, Gewohnheit oder Sitte ankoͤmmt, die der Weich-
lichkeit der Zeit nicht gefaͤllt.


Anſtrengung des Geiſtes kann dem Koͤrper nie
anders, als nur auf einem hohen Grade des Miß-
brauchs, nachtheilig ſeyn. Man darf ſogar ohne Be-
denken behaupten, daß mehr Kinder durch zu fruͤhe
koͤrperliche Anſtrengung zu Grunde gehen, als durch
geiſtige: ſo daß in Abſicht auf die koͤrperlich arbeitende
Volks-Claſſe die Schule, als Bewahrung vor allzu-
fruͤher harter Arbeit, oͤfters zur Schonung der Geſund-
heit der Lehrlinge dient. Will man aber auch das Ge-
ſundheitsargument nicht ſowohl von dieſer Seite geltend
machen, als vielmehr von der unmittelbar koͤrperlichen;
wie man denn vorzuͤglich uͤber Mangel an Bewegung,
freier Luft u. ſ. w. geſchrieen hat: ſo iſt doch auch an
all dem Geſchrei nichts weiter, als daß man uns eine
an einigen Siechlingen gemachte Beobachtung als all-
gemeine Regel, und ungereimte Uebertreibungen hypo-
chondriſcher Makrobiotiker als gruͤndliche Beobachtung
16
[242]Dritter Abſchnitt.
aufdringen will. Wer einen Siechling zu erziehen
hat, der mag ihn auch ruͤckſichtlich der geiſtigen Be-
ſchaͤftigung nach den aͤngſtlichen Vorſchriften der Ma-
krobiotik behandeln: aber als Regel ſtelle man uns
nur nicht vor, was nur fuͤr die Siechlinge paßt, und
nur der Faulheit der Geſunden ſchmeichelt! Noch iſt
unſre Generation im Ganzen nicht zu dem Grade koͤr-
perlicher Aſthenie herabgeſunken, daß wir unſern Kin-
dern nichts rechtes mehr zuzumuthen uns getrauen
duͤrften.


Fuͤrs zweite aber, was die pſychologiſche Bemer-
kung betrifft, daß man dem Kinde die Arbeit verſuͤßen
muͤſſe, um ihm Luſt zur Arbeit zu machen: ſo gehoͤrt
ſie zu den ſchielenden Anſichten, die ihre Oberflaͤchlich-
keit durch einen gewiſſen Glanz der Neuheit zu verber-
gen wiſſen, indem ſie ſich einem wahren Mißbrauch
gegenuͤber ſtellen, gegen den ſie allerdings recht haben.
Freilich kann man einem Kinde den Unterricht zum
Eckel machen, wenn der Lehrer aus Ungeſchick den
Gegenſtand falſch angreift und den Lehrling nur mar-
tert; und es fehlt auch nicht an Beiſpielen von Einzel-
nen, denen gewiſſe Lehrgegenſtaͤnde durch ihre Lehrer
verhaßt geworden ſind. Allein welcher ſchiefe Schluß
iſt es, der von dieſem Datum auf Verleidung der Ar-
beit durch Anſtrengung uͤberhaupt gemacht wird. Nicht
die Anſtrengung, ſondern die verkehrte und fruchtloſe
Anſtrengung macht eine Arbeit verhaßt. Im Gegen-
theil die Anſtrengung ſelbſt macht die Arbeit zur Luſt,
ſobald ſie nur gedeiht. Das iſt eine ganz bekannte
[243]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
und unlaͤugbare Erfahrung, daß dem Kinde gerade
das die meiſte Freude macht, was es mit Muͤhe errun-
gen hat. Die Muͤhe, wenn ſie nur gelingt, hat ihren
Lohn in ſich ſelbſt: das Kind fuͤhlt ſich in dem, was
es geleiſtet hat, und ſchoͤpft aus dem Gelungnen ſelbſt
den Muth zu neuem Unternehmen.


Ich muß hier noch eine andre Bemerkung machen,
die damit in Verbindung ſteht. Die dem Kinde alles
zur Luſt machen wollen, waͤhlen auch das hoͤchſt ver-
werfliche Mittel, das Kind fuͤr alles zu bezahlen. „Daß
du verdammt ſeyeſt mit deinem Gelde,“ moͤchte man ei-
fernd mit dem Apoſtel ausrufen! Soll denn alles in der
Welt nur um des Geldes willen geſchehen? und was
fuͤr ein anderes Intereſſe will man denn von Menſchen
in der Folge fordern, denen man ſchon als Kindern dies
als das einzige Motiv einpraͤgt, in denen man dadurch
ſelbſt alles beſſere und wahre Intereſſe toͤdtet? Will
man denn recht mit Gewalt den ſchoͤnen Sinn vernich-
ten, der die Arbeit um der Arbeit willen thut, und
ſich belohnt findet, wenn ſie gelungen iſt? Und, wenn
man dieſen Lohn nicht belebend genug fuͤr das Kind
haͤlt (obgleich eine richtige Beobachtung das Gegentheil
ſicher entdecken wird), wenn man eine aͤußere Beloh-
nung noͤthig glaubt: ſoll denn des Lehrers und der
Aeltern Beifall ganz und gar nichts gelten, — er,
deſſen Gewicht alles Gold der Welt fuͤr ein nicht ver-
bildetes Kind aufwiegen muß?


Noch weit verkehrter aber wird jene Anſicht, wenn
man die Natur des Menſchen ſelbſt genauer auffaßt.
16*
[244]Dritter Abſchnitt.
Die Kraft der Traͤgheit in dem Menſchen iſt nicht bloß
eine Negation von Kraft, ſie iſt vielmehr eine wider-
ſtrebende Kraft. Eigentliche Luſt zur Arbeit iſt eben
darum von Natur nicht in ihm; vielmehr dem naͤmli-
chen Geſchaͤft, das er ſpielend thut, wenn ers aus
Laune und aus freiem Willen gewaͤhlt hat, widerſtrebt
ſein Trieb, ſobald er es als Arbeit, die ihm auferlegt
iſt, betrachtet. Dies kann man taͤglich an den Kindern
ſehen, und ſieht es auch zu ſeinem Aerger an Alten,
die wie Kinder in dieſer Ruͤckſicht geblieben ſind. Das
naͤmlich koͤmmt heraus bei jener Zucht, die alle Arbeit
nur auf Luſt des Kindes will ankommen laſſen: alte
Kinder, die zu jeder Arbeit eine eigne Laune abwarten
wollen, und immer von der Stimmung reden, die erſt
kommen muͤſſe, ehe ſie etwas zu thun vermoͤchten, die
nur dann arbeiten, wenn ſie die Arbeit zum Beduͤrfniß,
zum Vertreiben der Langenweile noͤthig haben.


Ob das Menſchen ſind, wie man ſie in der Welt
braucht, will ich hier gar nicht fragen. Die Welt hat
darinn eine eigne Zucht; die Noth lehrt nicht bloß
beten, ſie lehrt auch arbeiten, und wers nicht in ſeiner
Jugend gelernt hat, der muß es doch noch oft in ſpaͤ-
tern Jahren lernen: er verliert dabei am meiſten, durch
den Schmerz, den ihm der Druck der Noth nun dop-
pelt fuͤhlbar macht. Aber davon muͤſſen wir doch
reden, daß die Erziehung ihre Pflicht ſehr ſchlecht er-
fuͤllt, wenn ſie die Noth zum Supplement erſt noͤ-
thig hat!


[245]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Dann aber, wie wenig iſt es doch des Menſchen
wuͤrdig, nicht Herr ſeiner ſelbſt zu ſeyn! Herr ſeiner
ſelbſt iſt der Menſch nur durch die Kraft ſeines Ent-
ſchluſſes; dieſer muß auch fuͤr das Unerfreuliche ihm
zu Gebote ſtehen. Arbeitſamkeit iſt eine Tugend des
Willens, eine Gewoͤhnung des Entſchluſſes, eine zweite
Natur durch Uebung. Ohne eine ſolche Umwandlung
zu einer andern Natur findet keine eigentliche Arbeit-
ſamkeit ſtatt, keine Feſtigkeit noch Staͤtigkeit im Thun.
Wie aber ſoll dieſe andre Natur, die nur durch Ge-
woͤhnung werden kann, entſtehen, wo die Gewoͤhnung
ganz verſaͤumt, und ſogar die entgegengeſetzte Gewoͤh-
nung (der Arbeitsſcheue, des ſich ſelber Nachſehens,
des unentſchloßnen Umgehens) zur zweiten Natur erzo-
gen wird? Nur wer ſeines Entſchluſſes Herr iſt, wird
jede Arbeit auch entſchloſſen angreifen; und nur wer
im entſchloßnen Angreifen ſeiner Arbeit eine lange Ue-
bung bis zur Fertigkeit hat, wird ohne Scheu und
ohne Widerwillen an ſeine Arbeit denken.


Dahin muß die Erziehung es bringen, die Natur
des Menſchen darinn umzuaͤndern; und dazu iſt der
einzig wahre Weg, das Kind ſchon fruͤh zu abgemeßner
Arbeit anzuhalten. Deshalb iſt es ſchon von Wichtig-
keit, fruͤhzeitig eine Zahl von Stunden taͤglich feſtzu-
ſetzen, die dem Geſchaͤft gewidmet ſind, und in unun-
terbrochner Ordnung eingehalten werden. Dies aber iſt
es nicht allein. Vorzuͤglich iſt das Lernen (die gei-
ſtige Beſchaͤftigung) ein durchgreifendes Mittel zu jenem
Zweck. Denn Traͤgheit zur Reflexion, Scheue vor
[246]Dritter Abſchnitt.
Anſtrengung des Kopfes, hauptſaͤchlich iſt es, was den
Menſchen in tauſend Faͤllen am Handeln hindert. Und
dies zeigt ſich ſelbſt auch ſchon am Kinde. Noch im-
mer leichter wird ein Kind zu koͤrperlicher Arbeit ſich
anhalten laſſen, als zu geiſtiger; und man kann wohl
ſehen, daß ein Kind der Schule zu entgehen jede koͤr-
perliche Arbeit willig uͤbernimmt, nicht aber umgekehrt,
daß es, um koͤrperlicher Arbeit zu entfliehen, ſich zur
Schule fluͤchtet. Gerade dies iſt der Beweis, daß man
das rechte Mittel getroffen hat, das Kind zur Arbeit
zu gewoͤhnen, wenn man damit anfaͤngt, was es am
wenigſten thun mag. Das uͤbt die Kraft des Willens,
die Traͤgheit uͤberall zu uͤberwinden. Und, wie es des
Menſchen Loos iſt, nichts rechtes ohne Kampf zu ſeyn
und zu beſitzen, ſo iſt ihm eben dieſe Uebung, die ihm
einen ernſten Kampf mit ſich ſelbſt auflegt, vor allen
andern noͤthig.


Der Humaniſmus hat auch hierinn alſo in dop-
pelter Hinſicht das Rechte getroffen. Der Grundſatz,
den er uͤber dieſen Punkt aufſtellt, iſt ohne Zweifel
richtig, und zeugt von einer weit unbefangneren und
tieferen Beobachtung der Natur des Menſchen, als der
entgegengeſetzte Grundſatz des Philanthropiniſmus.
Ueberdies aber iſt auch ſelbſt das Mittel, das der
Humaniſmus vorzieht, in der That vorzuͤglich fuͤr den
Zweck geeignet. Gerade weil der Menſch die geiſtige
Beſchaͤftigung am meiſten ſcheut, und dieſe alſo den
ſtaͤrkſten Entſchluß fordert, iſt es zweckmaͤßig, nicht nur
uͤberhaupt mit dem Lernen, und ſonach mit geiſtiger
[247]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Beſchaͤftigung, die Gewoͤhnung zum Geſchaͤft anzufan-
gen, ſondern mit dem Schwereren des geiſtigen Ge-
ſchaͤfts, indem der Geiſt von allem Sachwerk, das die
Traͤgheit und Paſſivitaͤt des Geiſtes naͤhrt, ganz ent-
fernt, und in das Gebiet der geiſtigen Objecte ſelbſt
gleich eingefuͤhrt wird. Dadurch koͤmmt in das Ge-
ſchaͤft der rechte Ernſt; die Spielerei, die an das Sach-
object ſich immer leicht anhaͤngt, faͤllt weg, der Lehr-
ling muß zu ernſter Arbeit ſich bequemen, und wenn
darinn der Geiſt erſt recht erſtarkt iſt, geht er mit
voller Kraft zu jeder andern Arbeit uͤber, jede andre
im Vergleich mit jener leicht findend, und durch Ue-
bung in dem Schwereren jedem andern Geſchaͤfte ganz
gewachſen.


Eben ſo verhaͤlt es ſich von einer andern Seite.
Die Arbeitſamkeit iſt naͤmlich auch noch in einer andern
Ruͤckſicht Gewoͤhnung, und muß in der Erziehung mit
gebildet werden. Wer die Arbeit nur als Uebergang
zur Ruhe betrachtet, und nur arbeitet, um auszuruhen,
verdient nicht den Namen eines Arbeiters. Das Leben
des Menſchen iſt Thun, und Erhohlung iſt nur Mittel
zur Arbeit; jenes alſo heißt die Ordnung der Vernunft
verkehren. Dahin aber fuͤhrt auch jene Maxime des
Philanthropiniſmus, die den Lehrling nicht will an-
ſtrengen laſſen. Soll das Kind nur arbeiten, ſo lange
es Luſt hat, ſo tritt unausbleiblich jene verkehrte Ord-
nung ein; der Lehrling ermuͤdet bald, und um ſo eher,
wenn er weiß, daß er der Arbeit los wird, ſobald er
ſich derſelben uͤberdruͤſſig zeigt. So wird man nie ihn
[248]Dritter Abſchnitt.
dahin bringen, daß der groͤßere Theil ſeiner Zeit der
Arbeit gewidmet werde; unvermeidlich wird die Zeit
des Spielens und des Muͤſſigganges ſich verlaͤngern,
und die Stundenzahl fuͤr das Geſchaͤft der kleinere
Theil des Lebens werden. Wo ſoll dann der Lehrling
rechte Arbeitſamkeit lernen, wenn man ihm ſchon von
der fruͤhſten Jugend an ſeinen Hang zur Traͤgheit auch
zur zweiten Natur angebildet hat? Wird ihm nicht jede
Eintheilung ſeiner Zeit, die mehr der Arbeit als dem
Nichtsthun zuweiſen will, eine Laſt ſeyn, der er auf jede
moͤgliche Weiſe ſich zu entziehen ſucht? Wie viel
darinn die Gewoͤhnung thue, beweiſen die vielen Bei-
ſpiele der entgegengeſetzten Art, von Maͤnnern, denen
es unertraͤglich und das Leben ſelbſt eine Laſt iſt, wenn
ſie nicht beſtimmte Arbeit zu thun haben. — Laſſe
man nur nicht ſolche Erfahrungen ungenutzt, und erwarte
das Unmoͤgliche! Soll die Erziehung etwas ſeyn und
leiſten, ſo kann ſies nur, wenn ſie den Menſchen zu
dem Beſſern fuͤhrt, die Tugenden ihm giebt, zu de-
nen eigner Trieb durch Neigung nicht in ihm iſt,
weil ihn vielmehr der entgegengeſetzte Trieb zu et-
was anderm treibt. Erziehung uͤberhaupt, was iſt
ſie, wenn ſie nicht die Erſchaffung einer andern Natur
des Menſchen iſt? Nicht einer ihm fremden Natur —
welches abermals eine Unmoͤglichkeit fordern hieße —
aber der beſſern Natur, die nur durch den Willen, und
den Entſchluß, und die Gewohnheit des Entſchluſſes
zum Durchbruch und zum Stehen koͤmmt. Jung ge-
wohnt, alt gethan
! iſt ein altes Sprichwort, das
durch ſein Alter nichts an ſeinem Reſpect verloren ha-
[249]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
ben ſollte. Gewoͤhne man das Kind zur Spielerei,
verſuͤße ihm die Arbeit, um ſie ihm zum Spiel zu
machen — es wird nicht fehlen, daß es durch ſein
ganzes Leben mit der Arbeit ſpiele. Die ſchlechte Na-
tur fruͤh durch Gewoͤhnung uͤben, heißt, ſie unausrott-
bar machen! Gewoͤhne man das Kind zum Ernſt und
Fleiß, erſchwere ihm zwar nicht die Arbeit, aber be-
harre dabei unerbittlich, als auf einer unumſtoͤßlichen
Ordnung der Natur, daß geſchehe, was geſchehen ſoll,
daß es thue, was aufgegeben iſt, und regelmaͤßig und
mit Fleiß es thue: das Kind wird bald die Arbeit
lernen
, und endlich ſelbſt mit Freude thun, und
ein Beduͤrfniß zu der Arbeit fuͤhlen. Iſt ſo bei ihm
die zweite beſſere Natur zur Reife gelangt, dann iſt
der Menſch er ſelbſt geworden, dann kann man ruhig
ihn ſich ſelber uͤberlaſſen.


2.

Der Philanthropiniſmus hat, ſeiner ganzen Rich-
tung gemaͤß, auch den Grundſatz der Methodik fuͤr
den Erziehungsunterricht aufgeſtellt: „daß man den
geſammten Lehrſtoff gleich vom Anfang des Un-
terrichts an in ſeinem vollſtaͤndigen Umfang auffaſſen
und als ein ſyſtematiſches Ganze durch alle
Stufen des Unterrichts durchfuͤhren muͤſſe;“ — und es
gilt ziemlich allgemein fuͤr eine bedeutende Verbeſſerung
der Methode, die dadurch gewonnen worden ſey.


Stellt man den Fragepunkt bloß darauf: ob man
nur Einen Lehrgegenſtand, oder doch nur we-
[250]Dritter Abſchnitt.
nige, mit Einemmal betreiben, oder mit mehreren
zugleich
den Lehrling beſchaͤftigen ſolle? ſo iſt der
Streit nicht neu, ſondern ſchon aus den aͤlteſten Zei-
ten der Paͤdagogik bekannt, und nach entgegengeſetzten
Anſichten entſchieden worden. Allein in dieſem be-
ſchraͤnkten Sinne darf hier die Frage nicht gefaßt wer-
den; es liegt vielmehr in der Natur des vollendeten
Philanthropiniſmus, ihr eine umfaſſendere Bedeutung
zu geben. Die Hauptanſicht naͤmlich, von der wir
ausgehen muͤſſen, um den Sinn des modernen Unter-
richtsſyſtems auch in dieſem Punkte vollſtaͤndig darzu-
ſtellen, beruht darauf, daß wir den geſammten Lehr-
ſtoff als ein Syſtem betrachten, das nicht theil-
weiſe
ſondern, immer als ein Ganzes, nur grad-
weiſe
aufzufaſſen ſey. Das Hauptargument fuͤr den
obigen Grundſatz beſteht deshalb auch nicht ſowohl
darinn: a) daß die Trockenheit der einfoͤrmigen Be-
ſchaͤftigung mit wenigen Lehrgegenſtaͤnden den Lehrling
verdrießlich mache und vom Lernen abſchrecke; —
obgleich auch dieſer Grund von den Philanthropiniſten
nicht verſchmaͤht wird; — als vielmehr darinn: b)
daß man gleich von Anfang an den Lehrling theils an
umfaſſende Beſchaͤftigung uͤberhaupt, theils an Ueber-
ſicht ſeines Gegenſtandes gewoͤhnen muͤſſe; c) der ſyſte-
matiſchen Verbindung des geſammten Lehrſtoffes aber
insbeſondre auch dazu beduͤrfe, um das Ineinander-
greifen der Lehrgegenſtaͤnde zu den ſchnelleren Fort-
ſchritten zu benutzen, die heut zu Tage im Erziehungs-
unterricht gemacht werden muͤſſen, wenn man nur
einigermaßen dem Reichthum der Kenntniſſe gewachſen,
[251]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
und mit den reißenden Fortſchritten der Wiſſenſchaften
auf gleicher Linie bleiben wolle.


Von der Guͤltigkeit dieſer Gruͤnde insbeſondre
haͤngt alſo auch die Entſcheidung uͤber den obigen
Grundſatz ab.


Was nun zunaͤchſt den zuletzt geſtellten Grund be-
trifft, ſo iſt ein Theil deſſelben ſchon durch die fruͤ-
here Unterſuchung niedergeſchlagen, indem die Voraus-
ſetzung, daß der ſogenannte Lehrſtoff fuͤr den Erzie-
hungsunterricht eine unermeßliche Ausdehnung uͤber die
geſammte Encyklopaͤdie des Wiſſens erfordere, als
unguͤltig aufgezeigt worden iſt. Wird dieſe ungegruͤn-
dete Vorausſetzung verlaſſen, und der Umfang der
Gegenſtaͤnde des Erziehungsunterrichts auf ſeine natuͤr-
lichen Graͤnzen zuruͤckgefuͤhrt, ſo erſcheint es ſchon
um einen großen Theil weniger bedenklich, den Lehr-
ling in allen Unterrichtsperioden mit dem ganzen Kreiſe
des Lehrſtoffes zu beſchaͤftigen. Inzwiſchen haͤngt die
Guͤltigkeit oder Unguͤltigkeit des Grundes von der groͤ-
ßern oder kleinern Zahl der Lehrgegenſtaͤnde nicht ab,
und man wuͤrde ſich irren, eine weitere Unterſuchung
daruͤber nach der ſchon oben vorgenommnen Reduction
der Lehrgegenſtaͤnde fuͤr uͤberfluͤſſig zu halten. Auch bei
wenigen Gegenſtaͤnden des Unterrichts bleibt immer die
Frage: ſoll man ſie alle zugleich oder alle einzeln
nacheinander mit dem Lehrling betreiben? Und wenn
fuͤr die erſtere Methode durch den Grund entſchieden
werden ſoll, daß von der ſyſtematiſchen Verbindung
[252]Dritter Abſchnitt.
der Lehrgegenſtaͤnde und ihrem Ineinandergreifen ein
ſchnellerer Fortſchritt des Lernens zu erwarten ſey, ſo
fragt ſich erſt noch, ob denn auch dieſe Anſicht fuͤr
ſo ganz unbezweifelt gelten koͤnne? In der That liegt
dabei eine Taͤuſchung zu Grunde. Man kann aller-
dings durch Verbindung einzelner Lehrgegenſtaͤnde das
gleichzeitige Erlernen derſelben befoͤrdern; man kann
z. B. das Leſenlernen durch gleichzeitig angeſtellte
Schreibuͤbungen unterſtuͤtzen, man kann Arithmetik mit
Geometrie, Phyſik mit Mathematik, Mathematik und
Naturkunde mit Geographie, auch Logik mit Mathe-
matik, u. ſ. w. verbinden: und es laͤßt ſich ſogar ein
wichtiger Grund fuͤr dergleichen Vereinigungen von
Lehrgegenſtaͤnden aus der pſychologiſchen Beobachtung
ableiten: daß die Lehrlinge nicht ſelten das, was nur
als Nebenbemerkung, oft bloß beiſpielsweiſe eingeſchaltet,
im Unterricht vorkoͤmmt, ſchaͤrfer faſſen, als das,
worauf man direct ihre Aufmerkſamkeit richten will.
Allein fuͤrs erſte kann, was bei den unmittelbar ver-
wandten Unterrichtsbeſchaͤftigungen ſtatt findet, nicht
als eine in der ganzen Ausdehnung auf den geſammten
Umkreis der Lehrgegenſtaͤnde guͤltige Regel aufgeſtellt
werden; denn, obgleich alle Theile des Wiſſens ver-
wandt ſind, ſo wird doch der Vortheil, den die ent-
fernteren Verwandtſchaften anbieten, zu unbedeutend,
um den Schwierigkeiten, die ſich in jedem einzelnen
Theile finden, in ihrer Zuſammenhaͤufung das Gleich-
gewicht zu halten. Fuͤrs zweite iſt nicht zu uͤberſehen,
daß man ſogar bei ſehr nahe verwandt ſcheinenden
Beſchaͤftigungen ſich in den Hoffnungen eines großen
[253]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Zeitgewinns, die man ſich gemacht hatte, getaͤuſcht
gefunden hat. Man hat z. B. viel Aufhebens von der
vermeinten Verbeſſerung machen hoͤren, gleich mit den
Anfangsuͤbungen des mechaniſchen Leſens ein ſtaͤtes
Hinweiſen des Kindes auf den Sinn des Geleſenen zu
verbinden; haͤtte aber das unzeitige Triumphiren uͤber
die angebliche Unvernunft der alten Methode eine kalt-
bluͤtige Beobachtung zugelaſſen, ſo wuͤrde man ſchon
laͤngſt allgemein bemerkt haben, daß der Gewinn nur
ſcheinbar ſey, daß die Kinder, denen die Aufmerkſam-
keit auf das Zeichen und die mechaniſche Beſchaͤftigung
mit demſelben laͤſtig iſt, nur zu geneigt ſind, auf das
Bezeichnete uͤberzuſpringen, und dann nur mit um ſo
mehr Ernſt und Zwang zum Zeichen zuruͤckgefuͤhrt wer-
den muͤſſen, und gleichwohl nur um ſo laͤnger mit
dem laͤſtigen Geſchaͤft des mechaniſchen Leſenlernens zu-
bringen und ſich martern muͤſſen; ſo daß ein Kind, mit
dem man beide Beſchaͤftigungen getrennt nach einander
vornimmt, unſtreitig leichter und ſchneller, als nach
jener Methode, zum Ziele koͤmmt. Fuͤrs dritte laͤßt
ſich derſelbe Vortheil, den das gleichzeitige Behandeln
des ganzen ſyſtematiſch verbundnen Unterrichtsſtoffes
bewirken ſoll, vollkommen erreichen, wenn bei ge-
trennter Behandlung deſſelben der Lehrer, was etwa
von einem verwandten Gegenſtande benutzt werden
kann, als Aufmunterungsmittel bloß wie zufaͤllig ein-
fließen laͤßt; ohne daß dazu noͤthig waͤre, ſaͤmmtliche
Gegenſtaͤnde fuͤr jede Unterrichtsſtufe ſyſtematiſch an
einander gereiht zu behandeln.


[254]Dritter Abſchnitt.

Eben ſo wenig beweiſt der zweite Grund die
Nothwendigkeit einer ſolchen Unzertrennlichkeit der Un-
terrichtsgegenſtaͤnde. Fuͤrs erſte, verlaͤßt man die
falſche Richtung, die unſre moderne Cultur genommen
hat, die wahre Bildung in einer encyklopaͤdiſchen Ver-
breitung uͤber das geſammte Gebiet des Wiſſens zu
ſuchen, ſo faͤllt von ſelbſt auch das vermeinte Be-
duͤrfniß jener formellen Geiſtesuͤbung, durch die ſchon
das Kind zu einer ſolchen widernatuͤrlichen Verbreitung
gewoͤhnt werden ſoll: Man wird fuͤrs zweite vielmehr
um ſo noͤthiger finden, die ſchwerere Gewoͤhnung
des Kindes, daß es ſich auf Einen Gegenſtand con-
centriren lerne, zur formellen Hauptaufgabe des Un-
terrichts zu machen, und deshalb auch der vereinzelten
Behandlung der Unterrichtsgegenſtaͤnde den Vorzug zu-
erkennen. Fuͤrs dritte iſt es in der That hoͤchſt unpſy-
chologiſch, eine Gewoͤhnung zur Ueberſicht durch An-
haͤufung von Gegenſtaͤnden, die den noch ungeuͤbten
Blick nur verwirren kann, bewirken zu wollen, waͤh-
rend man dagegen das einzige methodiſche Mittel fuͤr
jenen Zweck — naͤmlich den Lehrling zunaͤchſt zur Ueber-
ſicht einzelner Gegenſtaͤnde zu gewoͤhnen, und ihn eben
dadurch zu einer allgemeinen Ueberſicht uͤber den gan-
zen Umfang derſelben vorzubereiten — gerade durch
jene Maßregel ſelbſt zerſtoͤrt. Die alte Lehrmethode
hat allerdings darinn haͤufig gefehlt, daß ſie bei ihrer
Vereinzelung der Lehrgegenſtaͤnde im Erziehungsunter-
richt an eine Vereinigung derſelben zu wenig gedacht,
und die Lehrlinge oft bloß beim Vereinzelten feſtgehal-
ten hat. Gegen dieſen Mißbrauch hat alſo zwar der
[255]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Philanthropiniſmus recht; aber das entgegengeſetzte
Extrem, zu dem er uͤbergegangen iſt, hat in der That
mehr Nachtheil als jener Mißbrauch ſelbſt, den man
entweder durch ein am Ende der Unterrichtsperiode
vorgenommenes Zuſammenfaſſen der erlernten Gegen-
ſtaͤnde leicht ergaͤnzen, oder auch ohne eine eigene
Anweiſung daruͤber den Lehrlingen ſelbſt zur Ergaͤnzung
uͤberlaſſen kann.


Das Hauptargument alſo fuͤr den obigen Grund-
ſatz, welches die Nothwendigkeit darthun ſollte, den
geſammten Lehrſtoff gleichzeitig in allen ſeinen Theilen
durch alle Stufen des Erziehungsunterrichts durchzu-
fuͤhren, zeigt ſich als unhaltbar; und ſomit koͤmmt die
ganze Differenz auf die alte didaktiſche Streitfrage zu-
ruͤck, welche nicht von einer ſyſtematiſchen Gleichzeitigkeit
aller Lehrgegenſtaͤnde durch alle Lehrperioden hindurch,
ſondern nur davon handelt: ob man mehrere Unter-
richtsgegenſtaͤnde zu gleicher Zeit neben einander mit
dem Lehrling anfangen und betreiben ſolle, oder ob es
rathſamer ſey, ſich bei Einem Gegenſtande ſo lange
aufzuhalten, bis der Lehrling darinn eine hinlaͤngliche
Fertigkeit erworben habe?


Wenn aber auch der Streitpunkt nur ſo geſtellt
wird, ſo zeigt ſich doch, daß nur gegen den wirklichen
Mißbrauch der Vereinzelungsmethode das Argument
gilt, das man fuͤr die entgegengeſetzte Cumulationsme-
thode geltend zu machen ſucht. Einfoͤrmige Beſchaͤfti-
gung widerſtrebt allerdings der beweglichen und fluͤch-
[256]Dritter Abſchnitt.
tigen Natur des Kindes, und erregt ihm eben deshalb
Langeweile und bei fortdauernder Anſtrengung Wider-
willen. Dies ſcheint hinreichend fuͤr die Nothwendig-
keit zu beweiſen, mehr Mannichfaltigkeit in das Unter-
richtsgeſchaͤft zu bringen. Allein, man hat ſich auch
darinn viel zu ſehr uͤbereilt. Fuͤrs erſte iſt ja uͤberall
nicht die Rede davon, das Kind den ganzen Tag un-
unterbrochen mit Einem und ebendemſelben Lehrgegen-
ſtande zu beſchaͤftigen. So ſtreng auch die Unterrichts-
ſtunden ſelbſt gleich vom erſten Anfang an mit dem
Kinde eingehalten werden muͤſſen, ſo iſt doch die Zahl
derſelben Anfangs nothwendig beſchraͤnkt, und die ganze
uͤbrige Zeit wird dem Kinde freigelaſſen. Sobald man
nur dies Eine recht bedenkt, ſo wird man ſchon die
Beſorgniß uͤbertrieben finden, dem Lehrling Widerwillen
zu erregen, wenn man ihn taͤglich einige Stunden fuͤr
Eine Beſchaͤftigung fixiren wollte; der beſonnene Er-
zieher wird vielmehr den Unterricht als Mittel betrach-
ten, das Kind in ſich ſelbſt zu ſammeln und allmaͤlig
zu ernſterem Nachdenken zu gewoͤhnen; um ſo weniger
alſo kann er wuͤnſchen, durch Mannichfaltigkeit von
Lehrgegenſtaͤnden den Unterricht ſelbſt zu einem Zerſtreu-
ungsmittel zu machen. Fuͤrs zweite begruͤndet Einzeln-
heit des Gegenſtandes an und fuͤr ſich noch gar nicht
Einfoͤrmigkeit der Beſchaͤftigung mit demſelben. Ein
Lehrer, der den Gegenſtaͤnden Intereſſe abzugewinnen
weiß, wird das Mittel verſchmaͤhen, durch Anhaͤufung
von Lehrſtoff die Aufmerkſamkeit des Lehrlings zu un-
terhalten; er wird, ſo viel als mit dem Zwecke des
Unterrichts vertraͤglich iſt, Mannichfaltigkeit und In-
[257]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
tereſſe in jeden einzelnen Gegenſtand zu legen vermoͤ-
gen; ein ungeſchickter Lehrer aber wird durch alles Zu-
ſammenhaͤufen von Lehrſtoff die Langeweile nicht abwen-
den, die ſein Unterricht dem Kinde verurſacht. Fuͤrs
dritte muß man nur nicht vergeſſen, die Unterrichtsperio-
den zu unterſcheiden, und nicht, was fuͤr den aller-
erſten Anfang des Unterrichts gilt, auf die ganze
Dauer der Unterrichtszeit ausdehnen. So wie die
Zahl der nach und nach einzeln erlernten Lehrgegen-
ſtaͤnde ſich vermehrt, waͤchſt erſtens die Mannichfaltig-
keit des Unterrichtsmaterials von ſelbſt an, indem neben
den neuen Aufgaben die aͤlteren wiederholt werden
muͤſſen, und zweitens, ſo wie die Uebung des Lehrlings
zunimmt, wird es auch um ſo leichter moͤglich, mehrere
Gegenſtaͤnde zugleich in den Unterricht aufzunehmen.


Eine Uebertreibung alſo iſt in jener Anſicht nicht
zu verkennen. Inzwiſchen ſoll aus den hier entgegen-
geſtellten Bemerkungen nicht gerade gefolgert werden,
daß der erſte Unterricht ſchlechthin nur mit einem einzi-
gen Gegenſtand anzufangen ſey; die Abſicht war ledig-
lich, den uͤbereilten Schluß ins Licht zu ſetzen, welcher,
zufolge einer halbwahren Vorausſetzung, eine unbe-
ſtimmte Vervielfaͤltigung der Unterrichtsgegenſtaͤnde un-
bedingt fordert.


Erſcheint aber dieſe Forderung, der obigen Pruͤ-
fung zufolge, als grundlos, ſo zeigt ſie ſich ſogar als
voͤllig verwerflich, wenn man auf die Gruͤnde der ent-
gegengeſetzten Forderung ſieht.


17
[258]Dritter Abſchnitt.

Es iſt laͤngſt durch eine allgemeine Beobachtung
beſtaͤtiget, daß nichts die Fortſchritte des Lernens mehr
aufhaͤlt, als wenn vielerlei mit Einemmal angefangen
wird. Die Anhaͤufung des Lehrmaterials an ſich ſchon
macht den Lehrling zaghaft, indem er ſich die Arbeit,
die er nicht uͤberſehen kann, noch weit ſchwieriger denkt,
als ſie wirklich iſt. Noch mehr aber muß er ſich nie-
dergeſchlagen fuͤhlen durch die langſamen Fortſchritte,
die er in den mannichfaltigen Uebungen macht, in de-
nen er ſich verſucht; waͤhrend er, wenn ſeine Kraft auf
wenigere Aufgaben concentrirt wird, in dem ſchnelleren
Ueberwinden der Schwierigkeit ſeine Kraft fuͤhlt, und
die merklichen Fortſchritte, die er zu machen im Stande
iſt, ihm Luſt erwecken, und ihn mit Muth zur An-
ſtrengung und Vertrauen zu ſich ſelbſt fuͤr die folgen-
den ſchwereren Aufgaben beleben. Sodann iſt es auch
keinem Zweifel unterworfen, daß es nur ein ſcheinbarer
Gewinn iſt, wenn der Lehrling in vielerlei Gegenſtaͤn-
den zugleich etwas lernt. Die Rechnung (wenn etwas
dieſer Art dem Calcul unterliegt) iſt ganz einfach.
Soll eine gewiſſe Zahl von Gegenſtaͤnden in einer be-
ſtimmten Zeit bis zu einem gewiſſen Grade der Fertig-
keit erlernt werden, ſo iſt das Facit daſſelbe, ob man
jeden der vorgeſchriebnen Gegenſtaͤnde einzeln bis zu
dem beſtimmten Grade von Fertigkeit uͤbt, und ſo den
ganzen Umkreis der Gegenſtaͤnde nacheinander durch-
laͤuft, oder ob man alle vorgeſchriebnen Gegenſtaͤnde
gleichzeitig in einer gewiſſen Reihenfolge von Graden
uͤbt, und ſo mit allen zugleich dem beſtimmten Grade
von Vollendung entgegenruͤckt. Demnach waͤre auf
[259]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
der einen Seite ſo wenig als auf der andern ein Ge-
winn; und der Streit waͤre voͤllig leer und grundlos.
Bei genauerer Betrachtung aber zeigt ſich, daß der Cal-
cul nicht anwendbar iſt, und daß es den Geſetzen der
Geiſtesentwickelung mehr entſpricht, die Uebungen zu
vereinzeln. Sollen mehrere Elemente zugleich geuͤbt
werden, ſo dauert nothwendig die Elementaruͤbung viel
zu lang, indem jedem Uebungsgegenſtand zu wenig
Zeit gewidmet werden kann, um ſchnelle Fortſchritte
darinn zu thun. Die Folge davon iſt, daß entweder
der Lehrling, der in keiner der Aufgaben einen rechten
Fortgang ſieht, in der That verdrießlich wird und
dann um ſo weiter zuruͤckbleibt, oder der Lehrer, um
dieſem Uebel zuvorzukommen, uͤber die Elemente hin-
wegeilt, wodurch der letzte Betrug aͤrger wird als der
erſte. Man kann vor dieſem Verſehen nicht oft und
ernſtlich genug warnen. Es liegt ohnehin nur zu ſehr
in unſerm paͤdagogiſchen Zeitgeiſte, nicht nur die unnoͤ-
thigen ſondern auch die unvermeidlichen Schwierigkeiten
des Unterrichts zu beſeitigen, und alles zu umgehen,
was dem Lehrling Unluſt erregen koͤnnte; und dieſelbe
Stimmung hat es zu einem allgemeinen Beſtreben ge-
macht, alle wahre Elementaruͤbung zu verwerfen. Wie
man in der Muſik fuͤr pedantiſche Barbarei haͤlt, den
Lehrling mit dem Fingerſatz, mit der Scala u. ſ. w.
einen Augenblick aufzuhalten, vielmehr gleich damit
anfaͤngt, ein Stuͤckchen klimpern, ein Liedchen traͤllern
zu lehren, wobei ſich die Kinder ungemein, nebenher
aber noch weit mehr die kindiſchen Alten amuͤſiren, die
nun ſchon von der kuͤnftigen Virtuoſitaͤt der kleinen
17*
[260]Dritter Abſchnitt.
Virtuoſen traͤumen: ſo treibt mans, ſo gut es gehen
will, in allen Theilen des Unterrichts. Die Folge da-
von iſt, daß ein guter Theil der Lehrlinge ſich das
ganze Leben hindurch mit den Elementen plagen muß,
in den ſpaͤteren Unterrichtsperioden, wo den wichtig-
ſten Gegenſtaͤnden die ganze Zeit gewidmet ſeyn ſollte,
durch immerwaͤhrendes Zuruͤckkehren zu Elementarpunk-
ten unaufhoͤrlich unterbrochen und gehindert iſt, und
zu einer Zeit, wo er ſich zu weit wichtigeren Beſchaͤfti-
gungen reif erkennt, mit Verdruß und Widerwillen zu
den verſaͤumten Elementen ſich zuruͤckgewieſen ſieht,
eben deshalb ungeduldig das Studium derſelben mei-
ſtens ganz von ſich weiſt, und ſelbſt wenn er noch Ge-
duld genug dazu gewinnen koͤnnte, doch nicht mehr
Geſchick genug dazu hat, ſie ſich ſo ganz eigen zu
machen, daß er nicht immerfort dem gruͤndlicher Unter-
richteten Bloͤßen geben, und ſich tauſendfaͤltigen Be-
ſchaͤmungen ausgeſetzt ſehen ſollte. Das Allerſchlimmſte
aber iſt, daß das Ueberſpringen der Elemente ſelbſt den
Faͤhigeren ein unuͤberwindliches Hinderniß wird. [Eine]
wahre Virtuoſitaͤt iſt in keiner Art von Uebung zu er-
warten, wenn die Elemente verſaͤumt werden. Wollen
wir alſo nicht ſelbſt durch unſre Methode Mittelmaͤßig-
keit und Stuͤmperhaftigkeit bei unſern Kindern ein-
heimiſch machen, ſo muͤſſen wir auf das kindiſche Prun-
ken mit dem Koͤnnen unſrer Kinder Verzicht thun, ſo
muͤſſen wir uns das Hinwegeilen uͤber die Elemente
nicht ferner erlauben, ſo muͤſſen wir es fuͤr einen Ge-
winn achten lernen, wenn unſre Kinder in allem an-
dern außer den Elementen unwiſſend ſind. Sollen
[261]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
aber die Kinder bei den Elementen feſtgehalten werden,
ſo kann man nicht hunderterlei Uebungen mit ihnen gleich-
zeitig anfangen, um ſie doch durch concentrirte Kraft
uͤber eine Art der Elementaruͤbung um die andre moͤg-
lichſt ſchnell hinwegzubringen.


Daß dabei nicht die Meinung ſeyn kann, jeden
einzelnen Lehrling bei den Elementaruͤbungen ſo lange
aufzuhalten, bis er z. B. in den Schreibuͤbungen die
Grundſtriche eben ſo vollkommen zu machen verſteht als
der talentvollſte ſeiner Mitſchuͤler, kann hoͤchſtens fuͤr
die, die gern mißdeuten wollen, dieſer ausdruͤcklichen
Erwaͤhnung beduͤrfen: die Grade der Schuͤler werden
bei jeder Methode verſchieden bleiben.


3.

Eine dritte Hauptdifferenz in Abſicht auf die Me-
thode des Erziehungsunterrichts hat die moderne Didak-
tik dadurch begruͤndet, daß ſie dem Lehrling alle Unter-
richtsgegenſtaͤnde in der ſyſtematiſchen Form geben
zu muͤſſen meint. Man will in allem vom Princip
mit dem Lehrling ausgehen, ihn alles aus dem Funda-
mente begreifen laſſen; er ſoll ſelbſt das Abc nicht
mehr anders als aus der Mechanik der Sprachorgane
lernen. Dies glaubt man nothwendig, theils um den
Lehrling an gruͤndliches ſyſtematiſches Wiſſen zu gewoͤh-
nen, theils weil man eine richtige Erkenntniß des Be-
onderen und Einzelnen nur aus dem Allgemeinen fuͤr
moͤglich haͤlt. Welche Scheinweisheit zu dieſen Be-
[262]Dritter Abſchnitt.
hauptungen verleitet hat, ſoll die folgende Unterſuchung
wenigſtens andeuten.


Unſtreitig iſt es eine Behauptung, die ſich hoͤren
laͤßt: „daß die volle Beſtimmtheit der Erkenntniß nur
aus dem Allgemeinen kommen koͤnne, daß alle Betrach-
tung und Unterſuchung des Einzelnen uns deſſen Weſen
nicht aufzuſchließen vermoͤge, daß wir, um dieſes zu
erkennen, aufſteigen muͤſſen zu der Idee, und daß ſelbſt
die Idee des Einzelnen, wenn ſie mehr ſeyn ſoll als
ein bloßer Einfall, nur aus der Grundidee des Ganzen
zu erfaſſen ſey; daß ſonach halbe und ſchiefe Vorſtel-
lungen unbedenklich ſelbſt die beſtimmteſten Kenntniſſe,
wenn ſie nur im Einzelnen aufgefaßt worden, genannt
werden duͤrfen, ſofern das Einzelne nur halb erkannt
iſt, wenn es nur als Einzelnes, und nur als Ge-
genſtand, und nicht in der Idee des Ganzen gedacht
und erkannt wird; welche halbe Erkenntniß, ſofern
ſie ſich als ganze nimmt und giebt, auch eine
ſchiefe iſt.“


In dem Sinne aber, der ſtreng genommen jener
Behauptung zu Grunde liegt, — daß nur in der hoͤch-
ſten metaphyſiſchen Erkenntnißart die volle Wahrheit
der Erkenntniß zu finden ſey, — wird ſie am allerwe-
nigſten von dem Philanthropiniſmus verſtanden, der
ſo weit entfernt iſt, der Metaphyſik eine Wahrheit ein-
zuraͤumen, daß er vielmehr ſolche ausſchließend in der
materiellen Realitaͤt und ihrer Beobachtung ſucht. Ihm
hat die Behauptung vielmehr nur den Sinn: man
[263]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
muͤſſe den Lehrling in allen einzelnen Zweigen des Wiſ-
ſens von den allgemeinen Anſichten, die man durch
Beobachtung errungen habe, ausfuͤhren, und eben des-
halb auch ſo viel moͤglich von dem allgemeinſten Zu-
ſammenhang alles Wiſſens mit ihm ausgehen, ihn
durchaus vom Centrum zur Peripherie, vom Allgemei-
nen zum Beſondern, vom Abſtracten zum Concreten
fuͤhren.


In welchem Sinne man aber auch die Behaup-
tung nehme, ſo iſt doch immer jene Anwendung ver-
kehrt, die man davon auf die Unterrichtsmethode zu
machen verſucht. Wir wollen nicht in Anregung brin-
gen, was ſich gegen die Behauptung ſelbſt, im einen
wie im andern Sinne verſtanden, einwenden ließe; wir
wollen nicht geltend machen, daß eine unmittelbare
Erkenntniß der hoͤchſten metaphyſiſchen Wahrheit (vor-
ausgeſetzt auch, daß die Metaphyſiker damit ſchon ganz
im Reinen waͤren,) der Natur dieſer Erkenntnißart
zufolge immer nur den Allerwenigſten zu Theil werden
kann, dagegen aber die natuͤrliche Erkenntnißart, die
das Eigenthum Aller iſt, durch Beobachtung und Ver-
gleichung des Einzelnen volle Deutlichkeit, Beſtimmtheit
und Wahrheit in ihrem Kreiſe erlangen kann, ohne zu
dem hoͤchſten Princip aufzuſteigen; auch den Vorwurf,
den man der Allgemeinheit empiriſcher Kenntniſſe und
Grundſaͤtze macht, wollen wir jener Behauptung nicht
entgegenhalten: nur gegen die Anwendung, die man
davon auf die Methode des Erziehungsunterrichts ge-
macht hat, wollen wir unſre Einwendung richten.


[264]Dritter Abſchnitt.

Koͤnnten wir denn verſtaͤndigerweiſe, wenn auch
das ganze Syſtem des Wiſſens vollendet da ſtaͤnde, als
Grundſatz der wahren Methode aufſtellen, den Unter-
richt beim hoͤchſten Princip anzufangen? Wie wenig
muß doch der, dem dieſer Weg der rechte duͤnken
koͤnnte, die Natur des Geiſtes und ſeiner Entwickelung
kennen. Nirgend hebt das Erkennen mit dem Allge-
meinen an; die natuͤrliche Ordnung fuͤhrt zuerſt auf
das Einzelne und Beſondre, und fordert erſt an dieſem
und durch dieſes das Hoͤhere und Allgemeinere; der
Trieb, das Aehnliche zu ſuchen (der Trieb der Syn-
theſis), iſt fruͤher als der Trieb, die Unterſchiede zu
erkennen (der Trieb der Analyſis). Die Erkenntniß iſt
in ihrem Entſtehen nur auf beſtimmtes Einzelnes ge-
richtet, und geht erſt ſpaͤter zunaͤchſt auf eine Ver-
knuͤpfung der Dinge ihrem aͤußeren Zuſammenhang nach,
und dann erſt auf Erforſchung ihres inneren Weſens
und auf eine Vereinigung derſelben ihrem inneren Zu-
ſammenhang nach. Dieſe Ordnung der ſtufenweiſe ſich
entwickelnden Erkenntniß, wie ſie ſich auch in der Ge-
ſchichte der Entwickelung des menſchlichen Geiſtes zeigt,
laͤßt ſich nicht willkuͤrlich umaͤndern.


Man kann dagegen etwa noch einwenden: „dieſen
Gang mußte die Entwickelung der menſchlichen Erkennt-
niß uͤberhaupt nehmen, um unſer Geſchlecht zu der Ein-
heit des Wiſſens, als zu dem Mittelpunkte, hindurch
zu fuͤhren, von dem wir die ganze Sphaͤre der Erkennt-
niß uͤberſchauen und beherrſchen; nachdem aber der
menſchliche Geiſt jene Hoͤhe der Erkenntniß einmal er-
[265]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
ſtiegen hat, ſind auch die Individuen von der Laſt
befreit, daß ſie noch immer alle einzeln dieſelbe ſteile
und rauhe Bahn muͤhſam durchwandeln muͤßten, und
eben dies iſt der Triumph der Methode, daß ſie jeden
einzelnen Lehrling auf ebenem Wege von den gewonne-
nen allgemeinen Anſichten aus leicht und ſchnell durch
die ganze Maſſe der Erkenntniſſe hindurch fuͤhrt, und
ihm die Zeit und Muͤhe ſpart, ſich aus dem chaotiſchen
Gewirr von Gegenſtaͤnden zu einer allgemeinen Anſicht
erſt hinaufzuarbeiten.“


Wie eine ſolche Meinung habe entſtehen koͤnnen,
laͤßt ſich wohl begreifen. Bei einem Lehrer, der eben
erſt den muͤhſamen Weg vom Einzelnen zum Allgemei-
nen durchlaufen, und von der einen Seite noch im
friſchen Angedenken hat die Muͤhe, die es ihn gekoſtet,
ſich aus dem Chaos des Einzelnen zu einer klaren Ue-
berſicht empor zu ſchwingen, von der andern Seite
aber zu der Einſicht durchgedrungen iſt, wie wenig doch
an und fuͤr ſich die bloße Einzeln-Kenntniß ſey, wie
ſie theils nur etwas werde, von einem hoͤhern Stand-
punkt angeſehen, theils uͤberall nur Werth habe als
die Unterlage des Allgemeinen, wie dagegen durch die
allgemeine Anſicht ſelbſt das Einzelne ein ganz ande-
res Licht gewinne, eine Tiefe und Bedeutſamkeit, die
alle Klarheit und Beſtimmtheit des einzelnen Beſchauers
und Beobachters ihm nicht zu geben vermochte; —
was iſt natuͤrlicher, als daß er im erſten Feuer waͤhnt:
er ſey den ganz verkehrten Weg gekommen, und es ſey
ſeine Pflicht, ſeine Zoͤglinge richtiger zu fuͤhren. Wozu
[266]Dritter Abſchnitt.
ſoll er ſie erſt durch alle die Irrſale auch hindurch
ſchleppen, die er durchwandern muͤſſen, um zu dem
Licht hindurch zu dringen? warum ſie nicht alſogleich
zu dem hoͤchſten Standpunkt ſelbſt fuͤhren, um von da
aus mit ihnen das unermeßliche Gebiet des Wiſſens,
uͤberſchauend und ordnend nach dem Princip, zu durch-
wandern? Was fuͤr einen ganz anderen Geiſt muß
nicht der Unterricht gewinnen, wenn er gleich vom
Princip, von der umfaſſenden, erleuchtenden und ord-
nenden Anſicht, ausgeht? Wie viele Zeit wird da
nicht gewonnen, die ſonſt in dem Kampfe mit der
unerkannten ungeordneten Maſſe verloren geht, um
nur einige freie Ausſicht zu erringen?


Natuͤrlich iſt alſo ohne Zweifel dieſe Anſicht: —
aber iſt ſie denn auch wahr? Schon dieſe kurze Ge-
ſchichte ihrer Enſtehung zeigt, daß ſie nicht auf Gruͤn-
den einer ruhigen Ueberlegung und einer erprobten Er-
fahrung ruht, ſondern vielmehr nur in der feurigen
Einbildung von Lehrern ihren Sitz hat, die jung und
jugendlich zu ihrem Geſchaͤfte kommen, und in demſel-
ben noch neu und unerfahren, mit den Gruͤnden der
alten bewaͤhrten Methode unbekannt, ſich zu Reforma-
toren der Didaktik berufen glauben. Doch, einer ſol-
chen indirecten Widerlegung beduͤrfen wir nicht; wir
wollen lieber geradezu aufweiſen, daß die vorgeſchla-
gene Verbeſſerung der Methode die hoͤchſte Unnatur
und ein Verkennen der Geſetze des Geiſtes und der
Erkenntniß ſey.


[267]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Fuͤrs erſte iſt es ein fruchtloſes Bemuͤhen, dem
Individuum die Muͤhe erſparen zu wollen, daß es ſich
ſelbſt vom Einzelnen der Erkenntniß zum Allgemeinen
erhebe; wie es nur eine Taͤuſchung iſt, zu glauben,
daß ſich das Allgemeine der Erkenntniß geben
laſſe. Das Allgemeine will der Geiſt nicht ler-
nen;
und er lernts auch nimmermehr! Er muß es
finden als ſein Eigenthum, in dem er ſich ſelbſt fin-
det. Ihr aber wollet es ihm lehren, verſuchts,
ihm ſolches aufzudringen, und bedenket nicht, daß ihr
nichts anderes koͤnnet, als es ihn finden laſſen, daß
er, wenn ihr es ihm unmittelbar geben wollet, es
nicht verſteht, und wenn er es auch verſteht, es nicht
von euch empfaͤngt, und verſchmaͤhen wuͤrde, wenn es
bloß von euch kaͤme. In dem Allgemeinen, das ihr
ihm unmittelbar zu geben verſuchet, ohne es ihn ſelbſt
finden zu laſſen, gebt ihr ihm euch ſelbſt: euch aber
will er nicht, er will nur ſich durch euch. Und in
der That, es iſt ein Gluͤck, daß es ſo iſt. Waͤre ihm
denn Wahrheit, was er auf euer Wort euch glaubte?
und wuͤrde nicht der Sinn fuͤr Wahrheit ſelbſt in ihm
am allermeiſten dann gefaͤhrdet, wenn er, was ihr als
Grund und Boden aller Wahrheit ihm verkuͤndet, auf
euer bloßes Wort und Zeugniß ohne Pruͤfung glaubte?


Fuͤrs zweite, dann eben iſt das Allgemeine ein
todter anſchauungsloſer Begriff fuͤr den Lehrling, wenn
er ihn von euch empfangen, ihn nicht ſelbſt gebildet
hat; und wenn auch nicht verſaͤumet wird, — was
doch bei jener Generaliſirmethode ſo haͤufig geſchieht, —
[268]Dritter Abſchnitt.
das Abſtractum zum wenigſten an einigen concreten
Exemplaren nachzuweiſen, ſo wird dies doch dem allge-
meinen Begriffe nicht die Lebendigkeit zu geben vermoͤ-
gen, die er haben wird, wenn der Lehrling angewieſen
worden iſt, ihn aus dem Concreten ſelbſt zu finden.
Wo aber ſogar auch jenes verſaͤumt wird, wo der
Lehrer, um den Lehrling nur deſto weiter in dem Ge-
biet des Wiſſens umherzufuͤhren, bei den allgemeinen
Anſichten verweilt, da artet der Unterricht, — weit
entfernt, den Geiſt, wie man ſich einbildet, zu erwe-
cken und zu erheben, — vielmehr in den geiſtloſen
Mechaniſmus eines bloßen Formelweſens aus, und ge-
rade das, was der Philanthropiniſmus dem Humaniſ-
mus am empfindlichſten vorgeworfen hat, „daß er in
Buchſtaben und Formeln den Geiſt ertoͤdte,“ geſchieht
nach jener Methode, die den Lehrling zwar zu den Sa-
chen fuͤhrt, um ihn durch reale Anſchauung gegen lee-
re Begriffe zu verwahren, ſtatt der Sachen ſelbſt aber
(um ihm deſto mehr zu geben) ihm nur todte Abſtrac-
ta, hohle Formeln und anſchauungsleere Begriffe giebt,
die weder fuͤr den Verſtand noch fuͤr die Anſchauung
ſind, und ſelbſt im Gedaͤchtniß nicht einmal haften.
So macht man den Lehrling erſt recht zur Maſchine,
waͤhrend man ihn am lebendigſten zur Anſchauung der
Natur und zum Umfaſſen derſelben in großen Blicken
gefuͤhrt zu haben waͤhnt.


Fuͤrs dritte, eben durch die Methode, den ganzen
Unterricht durchaus nur auf allgemeine Anſichten zu
gruͤnden oder gar zu reduciren, wird der Lehrling ver-
[269]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
woͤhnt, uͤber das Beſondere ganz wegzuſehen, das Ein-
zelne als Einzelnes ſeiner Aufmerkſamkeit gar nicht
werth zu halten, die Beobachtung — die er bald mit
einem Secten-Namen Empiriſmus nennen lernt, —
hochmuͤthig zu verachten, in erlernten abſoluten For-
meln ſich allein weiſe zu duͤnken und aus nachgeſproch-
nen unverſtandnen Principien uͤber alles a priori ab-
zuſprechen; ſo daß ganz eigentlich von ſolchen gilt,
was oben in dem Grundſatze des Humaniſmus ſo aus-
gedruͤckt worden, daß ſie durch Ueberfliegen des
Stoffes
die Gebiete des Wiſſens am ſicherſten und
allein umfaſſen zu koͤnnen waͤhnen.


Die Natur des Geiſtes fordert den gerade umge-
kehrten Weg. Zuerſt faßt der Geiſt das Einzelne, und da-
mit er es nicht unbeſtimmt und flatterhaftig faſſe, vom
Einzelnen zum Einzelnen leichtſinnig uͤberſpringe, ohne ir-
gend einen Gegenſtand oder Gedanken recht feſtzuhalten,
muß er geuͤbt werden, bei dem Einzelnen betrachtend zu
verweilen. So muß er auch das naͤchſte wie das hoͤhere
Allgemeine, worinn das Einzelne zuſammenhaͤngt, durch
einzelne Verbindungen von Einzelnem kennen lernen,
die er haͤufig von ſelbſt ohne alle beſondre Anleitung
findet, oder zu denen man ihn durch Anleitung leicht
fuͤhren kann. Daß er die allgemeinen Anſichten findet,
wenn er dazu angeleitet wird, ſie zu ſuchen, iſt nicht
weniger wunderbar, als daß er ſie auch ohne alle An-
leitung findet; vielmehr iſt das Erſtere ſelbſt nur durch
das Letztere moͤglich: und darinn liegt der Hauptauf-
ſchluß uͤber dies ganze Unterrichtsgeheimniß. Die all-
[270]Dritter Abſchnitt.
gemeinen Begriffe, die nach der gewoͤhnlichen Anſicht
als Abſtractionen betrachtet werden, die man durch
Induction finde, ſind nichts anders als die Ideen
ſelbſt, die ſich in den Gegenſtaͤnden darſtellen, und die-
ſe Ideen ſind das Eigenthum des Geiſtes. Dem Lehr-
ling kann daher der allgemeine Zuſammenhang der Din-
ge nicht fremd ſeyn, vielmehr iſt die hoͤchſte Ein-
heit derſelben in dem Weſen des Geiſtes ſelbſt ausge-
druͤckt. Deshalb wacht das Streben nach jener Ein-
heit der Erkenntniß von ſelbſt in ihm auf, und es be-
darf nicht großer Kunſt, es zu wecken, vielmehr einiger
Vorſicht, es nicht zu fruͤh hervorzurufen oder hervor-
treten zu laſſen, und es unter ſo geregelter Diſciplin zu
halten, daß es die Mittelſtufen nicht uͤberſpringe, und
unbekuͤmmert um das naͤchſte Allgemeine unmittelbar
auf das entferntere uͤbergehe.


Aus dem letztern Grunde iſt es um ſo nothwen-
diger, die Kunſt des Generaliſirens der Begriffe und
des ſyſtematiſchen Ordnens der Gegenſtaͤnde an kleine-
ren Kreiſen von Kenntniſſen, von unten auf vom Ein-
zelnen, mit dem Lehrling zu uͤben. Hat er nur einen
Schritt zu der Allgemeinheit der Erkenntniß ſelbſtthaͤ-
tig gethan, ſo entſteht ihm damit ſelbſt die Ahnung ei-
nes groͤßeren Zuſammenhanges, und ſo wie er in meh-
reren einzelnen Gebieten des Wiſſens ſich zu einer glei-
chen Allgemeinheit erheben lernt, erweitert ſich die For-
derung einer umfaſſenderen Vereinigung, und tritt im-
mer klarer und beſtimmter das Bewußtſeyn der unbe-
dingten Einheit als der hoͤchſten Form des Geiſtes und
[271]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
des Wiſſens bei ihm hervor. Nur wenn er die
Schritte zu der Allgemeinheit der Erkenntniß auf die
bezeichnete Weiſe regelmaͤßig thun lernt, kann fuͤr ihn
die Forderung einer unbedingten Einheit der Erkennt-
niß Innhalt und Bedeutung haben.


So wichtig iſt es, daß darinn die rechte Methode
beobachtet werde. Eine allgemeine Anſicht, die der
Lehrling ſelbſt gefunden hat, fuͤhrt ihn weiter, und
weckt ihn lebendiger zur Univerſalitaͤt des Wiſſens, als
alle allgemeinen Saͤtze, die ihr ihm inoculiren wollt.
Und noch mehr! Die Eine allgemeine Anſicht, die er
ſelbſt gefunden, hat in ſich fuͤr ihn weit mehr Wahr-
heit, Deutlichkeit und Anwendbarkeit, als alles Allge-
meine, was ihr ihm in noch ſo kuͤnſtlich ausgedachten
Formeln geben koͤnnet, die fuͤr ihn um ſo bedeutungs-
loſer und unverſtaͤndlicher ſind, je geſunder und kraͤfti-
ger ſein Geiſt iſt.


Und jene aͤchte didaktiſche Kunſt hat der moderne
Paͤdagogiſmus verdraͤngt, der keinen Unterricht fuͤr
gruͤndlich haͤlt, der nicht die Spitze des Princips zur
Baſis macht. In der That erſcheint jenes Beginnen
eben ſo verkehrt, als wollte jemand, der die weiteſte
Ausſicht auf der Spitze der Pyramide gefunden, fuͤr
Andere dieſe Spitze mit der herrlichen Ausſicht auf den
Boden herunterſtellen, um ihnen zum Hinaufſteigen an
die Baſis Luſt zu machen. Jenes Beginnen wird nur
darum nicht durchaus eben ſo verkehrt gefunden, als
dieſes, weil die Seichtigkeit unſrer Pſychologie noch
[272]Dritter Abſchnitt.
immer den Wahn unterhaͤlt, als koͤnne man den Geiſt,
den man, als frei, zugleich geſetzlos denkt, nach Will-
kuͤr behandeln und lenken. Vergeſſe man nur auch
hierbei nicht, daß der Geiſt unter unwandelbaren Ge-
ſetzen ſtehe, und ſich wider dieſelben nicht behandeln
laſſe. Seine Entwickelung iſt in keiner Hinſicht der
Kunſt ſo unterworfen, daß jede Kuͤnſtelei an ihm aus-
fuͤhrbar waͤre: ſie iſt es auch in dieſer Ruͤckſicht nicht,
und eben deshalb wird auch kein Unbefangner ſich
wundern, daß die Methode unſrer modernen Paͤdago-
gik mit allen ihren allgemeinen Anſichten, Grundſaͤtzen
und Begriffen, die ſie in allen Faͤchern des Wiſſens
an ihre Lehrlinge austheilt, nichts andres als einge-
bildete Schwindelkoͤpfe bildet, die aller ſoliden Kennt-
niſſe baar und ledig mit einigen unverſtandnen For-
meln das ganze Gebiet des Wiſſens zu beherrſchen ſich
anmaßen, und ihre abſolute Ignoranz ungeſchickt genug
hinter einem hohlen Geſchwaͤtz vom Abſoluten zu ver-
ſtecken ſuchen, wodurch ſie die Lehre vom Abſoluten
ſelbſt beſchimpfen.


Es giebt nur Eine wahre, den Geſetzen des Gei-
ſtes ganz angemeſſene, Methode, kuͤnſtlich, durch Un-
terricht zu Entwickelung einer gruͤndlichen Allgemeinheit
und Einheit der Erkenntniß bei dem Lehrling mitzuwir-
ken. Und dieſe Eine Methode iſt: vom Einzelnen und
Vielen, als der breiten Baſis, zur Einheit des Prin-
cips allmaͤlig aufzuſteigen, und in einzelnen kleineren
Kreiſen, die der Lehrling bald zu uͤberſehen vermag,
das Eine im Vielen finden, und dann wieder das Eine
[273]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
in dem Vielen ſuchen zu lehren. Dieſelbe Norm gilt
aber nicht nur fuͤr alle einzelne Gebiete der Erkenntniß,
zu welchen man den Lehrling einfuͤhren will; ſie gilt
auch fuͤr die Vereinigung der einzelnen Gebiete des
Wiſſens zu einem allgemeinen Syſteme. Von der Ein-
heit einzelner Erkenntnißkreiſe zur Verknuͤpfung derſelben
in einer allgemeineren ſyſtematiſchen Einheit der ver-
ſchiednen einzelnen Kreiſe von Kenntniſſen muß der
Lehrling fortgefuͤhrt werden, damit er auch das ganze
Syſtem der Erkenntniß als Eines in dem Vielen, und
als Vieles in dem Einen, mit eigner Anſchauung und
mit eigner Einſicht aufbauen lerne. So ſoll er vom
Einzelnen zum Hoͤheren, vom Hoͤheren zum Hoͤheren
und Hoͤheren und Hoͤchſten fortſchreiten: dies iſt die
Stufenleiter der empiriſchen Erkenntniß, die jeder durch-
laufen muß, der eine wahre lebendige eigene Anſchauung
und Erkenntniß von der Einheit des Syſtems in dem
Umfang alles Wiſſens erlangen ſoll, und nicht auf
fremde Treu und Glauben blindlings nachbeten will,
was dieſer oder jener ihm von einer ſolchen Einheit
vorgeſprochen. Nur ſo wird auch der Lehrling zugleich
vor dem Wahn bewahrt werden, daß das Einzelne
Nichts und ſeiner Aufmerkſamkeit nicht werth ſey, und
vielmehr lernen muͤſſen, daß das Allgemeine Nichts ſey,
wenn es nicht das Einzelne zur lebendigen Unterlage
habe.


Dies iſt die unbedingte, auf einem unabaͤnderli-
chen Geſetze des Geiſtes ruhende Forderung, und man
wuͤrde daran nie haben zweifeln koͤnnen, wenn man
18
[274]Dritter Abſchnitt.
nicht vergeſſen haͤtte, daß die Erkenntniß, die der Un-
terricht zu entwickeln hat, nicht die unbedingte, ſondern
eine empiriſche ſey, die der unbedingten nur zur Er-
weckung dienen ſoll. Indem man glaubte, die unbe-
dingte Erkenntniß ſelbſt unmittelbar, mit Umgehung der
empiriſchen, geben zu koͤnnen, hat man eben die Miß-
griffe gemacht, die mit der abſoluten Hohlheit der un-
gluͤcklichen Individuen endigten, an denen der verkehrte
Verſuch angeſtellt worden iſt.


Endlich iſt noch anzumerken, daß allerdings nicht
alle Lehrlinge zu der hoͤchſten Einheit der Erkenntniß zu
fuͤhren ſind, daß aber auch fuͤr ſolche, die nur einen
kleinen Umfang von Kenntniſſen ſich zu erwerben im
Stande ſind, die bezeichnete Methode die allein richtige
ſey, indem ſie immer in den beſchraͤnkteren Kreiſen
ſelbſt eine klare Einſicht, und von dem Zuſammenhang
derſelben mit einer hoͤhern Einheit des Wiſſens zum
wenigſten eine lebendige Ahnung erweckt, die immer
von unſchaͤtzbarem Werth fuͤr den Menſchen iſt, ſie
mag fruͤher oder ſpaͤter, oder auch in dieſem Leben nie,
in eine deutliche Erkenntniß uͤbergehen.


4.

Eines der allerwichtigſten Probleme in der Theo-
rie des Erziehungsunterrichts betrifft die Frage: wie
weit er der Natur eingreifen ſolle oder
duͤrfe
?


Der Grundſatz, den der Philanthropiniſmus dar-
uͤber angenommen und in Umlauf gebracht hat, iſt ei-
[275]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
ner der gefaͤhrlichſten dieſes Syſtems. „Der Natur
in der Entwickelung der Geiſteskraͤfte an
die Hand zu gehen
,“ — wie es in dem Grund-
ſatze ausgedruͤckt worden, — iſt allerdings eine des
vernuͤnftigen Erziehers wuͤrdige Aufgabe, und ſo wird
auch der Erziehungsunterricht auf denſelben Zweck mit
Recht berechnet. Aber, wenn dieſer Behauptung in
der Erklaͤrung der Sinn untergelegt wird: „vor-
zuͤglich die ſogenannten hoͤheren Seelen-
vermoͤgen moͤglichſt fruͤhe zu erwecken
;“ ſo
iſt die Anſicht eben ſo gewagt als unpſychologiſch, und
verleitet zu einer hoͤchſt fehlerhaften Behandlung der
Lehrlinge.


Der Natur in ihren Evolutionen vorgreifen, iſt
uͤberall gefaͤhrlich, und die Verwegenheit bleibt auch
hier nicht ungeſtraft. Man kann allerdings die Entwi-
ckelung des Geiſtes durch kuͤnſtliche Mittel beſchleuni-
gen; aber dem Erkuͤnſtelten gebricht immer ein Theil
der innern Kraft, die in der natuͤrlichen Entwickelung
reift; das Fruͤhreife kann nie dem regelmaͤßig Gezei-
tigten gleichgeſtellt werden, und man darf wohl die
philanthropiniſche Accelerationsmethode dem Stich des
Wurmes vergleichen, der die Zeitigung des Apfels
zwar beſchleuniget, aber auch die volle Entwickelung
hemmt, und das fruͤhe Abfallen herbeyfuͤhrt. Die lieb-
liche Außenſeite kann eine Weile taͤuſchen und ſelbſt
Bewunderung erregen; aber den Wurm im Kerne laͤßt
ſie nicht vergeſſen! Und, welch einen andern Anblick
ſelbſt im Aeußern giebt nicht das Kerngeſunde? —
18*
[276]Dritter Abſchnitt.
Man ſage nicht: das Gleichniß hinke, das uͤberlegte
Wirken auf den Geiſt des Kindes koͤnne dem Stich des
unvernuͤnftigen Inſectes in den Apfel nicht verglichen
werden. Sie ſind darinn wenigſtens vollkommen gleich,
daß beide die Natur in ihrer organiſchen Entwickelung
hindern; und ich koͤnnte leicht die Vergleichung noch viel
weiter ausdehnen, wenn ich indiſcret ſeyn wollte!


Unlaͤugbar iſt es ein Grundfehler unſrer modernen
Erziehung uͤberhaupt, daß man nicht genug eilen zu
koͤnnen glaubt, die Kinder zu Verſtand zu bringen und,
wie mans nennt, vernuͤnftig zu machen, daß man die
natuͤrliche Entwickelung ihrer Geiſteskraͤfte nicht abwar-
ten kann, und in der Bluͤthezeit ſchon die Fruͤchte
will. Und gerade darein ſetzt man den Vorzug der Me-
thode, daß ſie dieſe Acceleration der Entwickelung zu
bewirken im Stande iſt. Was das Kind aus ſich ſel-
ber macht, wenn man ihm nur Zeit laͤßt, achtet der
Lehrer gar nicht mehr, indem er vielmehr annimmt,
daß es gar nichts werde, als wozu er es bilde. Die-
ſes Beſtreben hat auf den Erziehungsunterricht insbe-
ſondere den Einfluß geaͤußert, daß man alles anwendet,
die Urtheilskraft moͤglichſt fruͤhe in dem Kinde zu
erwecken und auszubilden, ohne zu bedenken, wie ſehr
dies dem natuͤrlichen Gange der Geiſtesentwickelung wi-
derſtreite. — Das Kind urtheilt freilich auch; aber
ſeine Urtheile ſind nur einfache Verbindungen von Praͤ-
dicaten und Subject: die Urtheilskraft in jenem hoͤ-
hern Sinne des Wortes, das Eindringen in das In-
nere der Gegenſtaͤnde, das Auffaſſen ihres Weſens und
[277]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
ihrer tiefer liegenden Merkmale und Verbindungen, iſt
dem Kinde gar nicht eigen, und koͤmmt erſt mit dem
Erwachen des Geiſtes zum vollen Bewußtſeyn der Ver-
nunft. Bei dem Kinde zeigt ſich noch nicht mehr als
das erſte Erwachen der intellectuellen Thaͤtigkeit, in
dem Triebe der Wißbegierde, welche, auf die Ge-
genſtaͤnde in ihrer Einzelnheit gerichtet, nur dieſe ſelbſt
faßt ohne alle andre Ruͤckſicht und Beziehung, als auf
deren individuell beſtimmte Form. Das Einzelne zu
faſſen und zu behalten, iſt mit einem Worte die Na-
tur des Kindes: einzelne Kenntniſſe zu ſammeln, und
ſie dem Gemuͤthe einzupraͤgen, iſt ſonach ſeine natuͤrli-
che Aufgabe. — Viel weiter bringt auch ſelbſt die
kuͤnſtliche Behandlung doch das Kind nicht. Denn,
was geſchieht, indem der fruͤhſte Unterricht ſchon die
Kinder zum Urtheilen uͤber die Gegenſtaͤnde fuͤhren will?
Der Geiſt des Kindes geht nur auf die einzelnen Ge-
genſtaͤnde, und von einem auf den andern uͤber; fixirt
man auch mit ihm einen Gegenſtand fuͤr die Betrach-
tung, ſo heftet er ſich an die Oberflaͤche, die man ihn
auch mit einiger Beſtimmtheit faſſen lehren kann.
Fruchtlos aber iſt die Muͤhe, ihn zum Auffaſſen der
inneren Verhaͤltniſſe der Gegenſtaͤnde und der Gedanken
und ihres allgemeinen Zuſammenhangs zu fuͤhren; und
die Folge davon iſt, daß das Kind entweder ganz be-
taͤubt und in der That faſt dumm wird, oder daß es
die Urtheile (weil es ſie weder ſelbſt zu finden, noch
ſich anders als durch das Gedaͤchtniß anzueignen ver-
mag) nur lernt, und zum Nachbeter wird, und
daß es, wenns hoch koͤmmt, aͤhnliche Urtheile zwar
[278]Dritter Abſchnitt.
vielleicht verſucht und wagt, aber — eben weil es ein
Kind iſt — doch nur an der Oberflaͤche bleibt, und
ein Schwaͤtzer wird; wobei es meiſtens noch uͤber-
dies ein Kluͤgling iſt, der anmaßend beſſere Beleh-
rung verachtet.


Vor dieſem Fehler der modernen Paͤdagogik ernſt-
lichſt zu warnen, iſt um ſo noͤthiger, weil die Verſu-
chung dazu ſo groß iſt. Der Menſch gefaͤllt ſich uͤberall
in dem beſonders, was er durch Kunſt glaubt der Na-
tur abgedrungen zu haben, und betrachtet ſo gern als
reinen Gewinn, was er auf dieſem Wege erringen zu
koͤnnen hofft. Bei jenem paͤdagogiſchen Kunſtſtuͤck aber
findet ſich noch uͤberdies die Eitelkeit der Aeltern durch
den Anſchein fruͤh gebildeter Vernunft der Kinder ge-
ſchmeichelt und beſtochen. Verblendet von der Freude,
daß das Kind ſchon ſo vernuͤnftig ſpricht, ſehen viele
Aeltern die Seichtigkeit des Geſchwaͤtzes und die See-
lenloſigkeit der Nachbeterei nicht, vor der ſie erſchrecken
wuͤrden, koͤnnten ſie die Erſcheinung in ihrem ganzen
Zuſammenhang uͤberſehen. Ich habe mehrmal ſchon,
wenn ich meinen Unglauben gegen die bewunderte Me-
thode laut werden ließ, Aeltern in großem Erſtaunen
erblickt, und die Schwierigkeit erkannt, die aͤlterliche
Eitelkeit fuͤr eine richtigere Anſicht zu gewinnen. Ich
weiß alſo, daß ſo Manche, die dies leſen, glauben
werden, daß ſie mich leicht eines andern uͤberzeugen
wuͤrden, wenn ſie mir nur ihre Kinder zeigen koͤnnten.
Allein ich kann ſo wenig ihrer Meinung ſeyn, daß ich
vielmehr zum voraus weiß, bei ihnen denſelben Fehler
[279]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
der Methode auch noch von einer andern Seite zu fin-
den, den ich ihnen hier mit vorruͤcken muß, ob er
gleich nicht eigentlich den Unterricht ſondern die Er-
ziehung
unmittelbar betrifft.


Die Sucht, die Kinder recht bei Zeiten vernuͤnftig
zu machen, zeigt ſich naͤmlich auch in der Mode der
ſittlichen Bildung. Alles ſoll das Kind aus vernuͤnfti-
gen begriffenen Gruͤnden thun: das nennt ihr das Vor-
recht des vernuͤnftigen Weſens! Und nun martert ihr
euch und das Kind, ihm alle eure Gebote und Ver-
bote vernuͤnftig zu machen: ihr zeigt ihm alle eure
Gruͤnde, die ihr fuͤr das Kind geeignet haltet, und
wollt es uͤberzeugen, daß ihr ihm nur das Gute und
das Rechte geheißen, damit es nun aus Ueberzeugung
von dem Rechten eurem Befehl als ſeinem eigenen folge.
Das klingt gar ſehr vernuͤnftig, und faſt erhaben!
So werdet ihr die wahren Autonomen bilden, die,
wie es der Vernunft gebuͤhrt, keinem andern Gebot,
als ihrem eigenen, ſich unterwerfen! — Aber, ich
bitte euch, ſehet doch genauer zu, was ihr thut. Ihr
wollet das Kind vernuͤnftig machen, und behandelt es,
als ob es ſchon vernuͤnftig waͤre! Ihr werdet ſagen:
„dadurch eben, und dadurch allein, wird die Ver-
nunft gebildet, daß man ſie als Vernunft behandelt.“
Allein eben mit der halben Wahrheit dieſer Anſicht taͤu-
ſchet ihr euch. Als Vernunft ſollt ihr freilich das Kind
behandeln, denn nur ſo werdet ihr es zur Vernunft
bilden. Aber heißt denn das Vernunft, dem Kinde
unaufhoͤrlich von Vernunft vorreden? Was bildet
[280]Dritter Abſchnitt.
denn in andern Kindern, mit denen nicht ein ſolch Ge-
ſchwaͤtz verfuͤhrt wird, die Vernunft? Man meint
heut zu Tage alle Virtuoſitaͤt und alle Tugend mit Do-
ciren und Predigen zu begruͤnden, und es iſt deswegen
des Redens unter uns kein Ende: daruͤber wird das
Handeln ganz vergeſſen. Fanget doch nur mit dem
Handeln bei dem Kinde an, und laſſet im Uebrigen
ſeine Vernunft ihren Weg gehen. Ihr ſeyd euern Kin-
dern die Vernunft, und was ihr ihnen ſaget, gilt
ihnen wie ein Geſetz der reinen Vernunft. Was ihr
ihnen gebietet, gilt ihnen als Vernunftgebot, und
ſoll ihnen als ein ſolches gelten. Es bedarf alſo fuͤr
ſie keiner weitern Gruͤnde zum Gehorſam: hier iſt
Vernunft, nicht erſt uͤber Gruͤnde lang mit ihnen noch
zu unterhandeln, vielmehr unbedingten Gehorſam zu
verlangen. Glaubet nur nicht, daß ihr damit das
Kind zwinget, ohne Grund zu handeln. Dann eben
waͤre es keine Vernunft, wenn ein ſolcher Zwang deſ-
ſelben moͤglich waͤre. So gewiß es Vernunft iſt, han-
delt es mit Grund, entweder mit dem allgemeinen noch
unentwickelten Grunde, daß es dem Kinde zukomme zu
gehorchen, oder mit dem ſchon entwickelten Gedanken,
daß die Handlung gut ſeyn muͤſſe, weil die Aeltern ſie
befohlen haben, und mit dem damit zugleich eintreten-
den Beſtreben, den Grund ſelbſt aufzuſuchen. Dies
bildet das Kind zum vernuͤnftigen Handeln, waͤhrend
jenes unzeitige Gerede es nur zum Schwaͤtzer und —
ich darf es nicht verſchweigen — vielleicht wohl gar
zum Sophiſten und zum Heuchler bildet. Zum Schwaͤ-
tzer: — denn, wer uͤber alles, was er thun will,
[281]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
erſt eine Predigt von den Gruͤnden ſich zu halten hat,
wird ſicher mehr im Leben ſchwatzen als handeln. Zum
Sophiſten? — O ja! Glaubt mir nur; wenn das
Kind erſt eine Fertigkeit darinn erlangt hat, die Mo-
tive ſeiner Handlungen in Verſtandesgruͤnde (meiſtens
von den nuͤtzlichen oder ſchaͤdlichen Folgen der Hand-
lungen hergenommen) aufzuloͤſen, wird es bald fuͤr
alles, was es gern thun oder nicht thun moͤchte, reich
genug an Scheingruͤnden ſeyn, womit es euch ſelbſt oft
in Verlegenheit ſetzen wird. Und durch euer eignes
Beiſpiel, da ihr oͤfters in den Fall kommet, dem Kin-
de nicht den wahren, wenigſtens nicht den ganzen
Grund eurer Gebote ſagen zu koͤnnen, wird es in die-
ſem Fehler nur noch mehr beſtaͤrkt, ſobald es ſich nur
einmal von euch in den Gruͤnden getaͤuſcht gefunden
hat. Zum Heuchler? — Allerdings auch dahin kann,
beſonders bei einem verſteckten Charakter, das fruͤhzei-
tige Raͤſonniren uͤber die Beweggruͤnde des Handelns
verfuͤhren; das Kind lernt bald ſeines Herzens Triebe
in ein guͤnſtiges Licht ſtellen, und ſelbſt unlautere Zwe-
cke mit lauteren Gruͤnden bemaͤnteln, mit denen es
Andere und bisweilen auch ſich ſelbſt taͤuſcht.


Doch, fuͤr meinen Zweck iſt es hier hinreichend,
den Nachtheil wenigſtens angedeutet zu haben, den
die zu fruͤhe Erweckung des Urtheils bei dem Kinde
nicht bloß in intellectueller, ſondern auch ſogar in mo-
raliſcher Hinſicht hervorbringen kann. Nachdem da-
durch vorlaͤufig auf eine der nachtheiligſten Anwendun-
gen des obigen philanthropiniſchen Grundſatzes auf-
[282]Dritter Abſchnitt.
merkſam gemacht worden, komme ich zu der Unter-
ſuchung der Hauptfrage zuruͤck: welches das
wahre Verhaͤltniß des Erziehungsunter-
richts zu der natuͤrlichen Geiſtesentwicke-
lung des Lehrlings ſey
?


Der Erziehungsunterricht, als kuͤnſtliche Einwir-
kung auf den Geiſt der Lehrlinge, kann ſich zur Auf-
gabe machen, erſtens entweder alle einzelnen Geiſtes-
kraͤfte oder nur die vorzuͤglichſten derſelben zu uͤben,
die minder wichtigen dagegen ſich ſelbſt zu uͤberlaſſen,
zweitens in beiden Faͤllen entweder die natuͤrliche Ent-
wickelung bloß zu leiten und zu foͤrdern, oder den Gang
der natuͤrlichen Entwickelung zu beſchleunigen. — Gleich
bei der erſtern Ruͤckſicht zeigt ſich aber, daß man in
Gefahr iſt, ſich in willkuͤrliche Beſtimmungen der Pſy-
chologen zu verwickeln. Welches ſind denn die einzel-
nen Geiſteskraͤfte, die wir uͤben wollen? kennen wir
ſie alle ſo beſtimmt? laſſen ſie ſich fuͤr die Uebung
iſoliren? welches ſind die vorzuͤglichſten? welches
die minder wichtigen? Wer ſich mit den Enumeratio-
nen eines pſychologiſchen Compendiums begnuͤgt, wird
allerdings mit dieſen Fragen nicht in Verlegenheit kom-
men; er findet unter der Eintheilung in hoͤhere und
niedere Seelenvermoͤgen alles ſchon claſſificirt, wie ers
braucht. Aber, wer ſich je beſonnen hat, daß z. B.
Gedaͤchtnißkraft, die er unter den niedern Seelen-
kraͤften rubricirt findet, ſogar als die Wurzel des ge-
ſammten Bewußtſeyns unſrer Zeitexiſtenz betrachtet wer-
den muß; daß die Einbildungskraft, der in der
[283]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
naͤmlichen Claſſe ihre Stelle angewieſen worden, als
das Leben des Geiſtes gelten kann, u. ſ. f. dem muß
ſchon deshalb jene Claſſification als willkuͤrlich und ein-
ſeitig, und in jedem Fall als untauglich erſcheinen, dar-
auf eine Theorie der Behandlung des Geiſtes zu gruͤn-
den. — Eben ſo findet man ſich in Abſicht auf den
zweiten Punkt verlaſſen, wenn man fragt: welches
denn der natuͤrliche Gang der Entwickelung der Geiſtes-
kraͤfte ſey? ob ſie alle zugleich, oder einige fruͤher, an-
dre ſpaͤter ſich entwickeln? und welches die fruͤher, wel-
ches die ſpaͤter erſcheinenden ſeyen? Man hoͤrt in Ab-
ſicht auf dieſen zweiten Punkt ſogar die metaphyſiſche
Behauptung einmiſchen: daß, da das Kind Vernunft
ſey, in demſelben auch alle Seelenvermoͤgen zugleich
vorhanden ſeyn muͤſſen, und ſich eben ſo wenig ein
Punkt ſeines Daſeyns denken laſſe, in welchem ihm ein
Seelenvermoͤgen fehle oder ein Seelenvermoͤgen neu in
ihm entſtehe, als ſich denken laſſe, daß ſeinem Leib ein
neues Glied anwachſe. Und daraus folgert man: daß
alſo auch der Erziehungsunterricht auf gleichzeitige Ue-
bung aller Seelenkraͤfte Ruͤckſicht zu nehmen habe.


Wollten wir auf dergleichen ſpeculative Saͤtze und
Eintheilungen die Entſcheidung unſrer Frage ſtuͤtzen,
und es dabei uns bequem machen, die Unterlage, die
wir aus der Metaphyſik und Pſychologie borgen, ohne
weiters als zuverlaͤſſig vorauszuſetzen, ſo koͤnnten wir
ohne Zweifel leicht fertig werden, und waͤren auch durch
die paͤdagogiſche Obſervanz und Verjaͤhrung allenfalls
hinreichend gedeckt. Wollten wir aber ſo gruͤndlich
[284]Dritter Abſchnitt.
ſeyn, die Grundlage ſelbſt zu unterſuchen, ſo iſt klar,
daß wir nach den einmal ſchon oben erregten Bedenk-
lichkeiten nicht umhin koͤnnten, uns mit Metaphyſikern
und Pſychologen in einen weitausſehenden Streit einzu-
laſſen, der uns am Ende ſchwerlich zum Ziele fuͤhren
duͤrfte. Zum Gluͤcke aber zeigt ſich uns in dieſer Ver-
legenheit ein Ausweg, der uns einen ruhigeren Ausgang
verſpricht.


Die Behauptungen der Metaphyſiker und Pſycho-
logen laſſen wir auf ihrem Grund oder Ungrund beru-
hen. Sicherer wenigſtens, wenn auch nicht ganz un-
truͤglich, wird es immer ſeyn, wenn wir uns an die
einfachen Beobachtungen halten, welche eine laͤngere
Erfahrung an die Hand giebt. Dieſe aber ergeben in
Abſicht auf unſre Unterſuchung, daß die Seelenkraͤfte
des Kindes ſich nicht durchaus gleichfoͤrmig und gleich-
zeitig entwickeln, daß das beſtimmte Hervortreten der
einen fruͤher, der andern ſpaͤter geſchieht. Nun ent-
ſteht freilich, wenn man weiter fragt: in welcher Ord-
nung geſchieht das Hervortreten derſelben? die vorige
Verlegenheit. Denn, ſagen wir: zuerſt zeigt ſich die
Gedaͤchtnißkraft, dann die Urtheilskraft, u.
ſ. w. ſo denkt man gleich wieder an die willkuͤrlichen
Beſtimmungen, welche die Pſychologen von dieſen
Kraͤften gegeben haben, und die Folge davon iſt, daß
man ſich nicht nur durch die ſcharfe Abtrennung, welche
in der pſychologiſchen Abſtraction liegt, wieder von dem
Geiſte des Lehrlings eine unrichtige Vorſtellung macht,
ſondern auch ſich einbildet, es laſſe ſich wirklich eine
[285]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
ſolche einzeln gedachte Kraft einzeln gleichſam heraushe-
ben, und wie ein Schuh uͤber einen Leiſten ſchlagen.
Dagegen giebt es, da wir doch die bekannten Worte
zur Bezeichnung nicht entbehren koͤnnen, kein anderes
Verwahrungsmittel, als daß man ſich unausgeſetzt ver-
gegenwaͤrtige, daß die iſolirten Abſtractionen nicht iſo-
lirte Theile eines mechaniſchen, ſondern unterſchiedene
Functionen eines organiſchen Ganzen bezeichnen; wor-
aus ſich dann von ſelbſt die praktiſche Folgerung ergiebt,
daß man auch die kuͤnſtliche Richtung und Behandlung
einer ſolchen Function nicht iſolirt vornehmen koͤnne,
ſondern immer mittelbar auch auf das Ganze wirke.
Daran muͤſſen wir uns halten, daß keine Anlage des
Geiſtes iſolirt ausgebildet werde, daß alle Seelenkraͤfte
eine Veraͤnderung leiden, wenn eine derſelben veraͤndert
wird, daß der Geiſt, an welchem einzelnen Objecte,
nach welcher einzelnen Richtung man ihn auch uͤbe, im-
mer im Ganzen zugleich erweitert werde, da er ein Or-
ganismus iſt, in welchem jede einzelne Bewegung ſich
dem Ganzen nach den Geſetzen ſeines ſyſtematiſchen Zu-
ſammenhangs mittheilt. Damit ſoll jedoch nicht be-
hauptet werden, daß eine kuͤnſtliche Einwirkung auf den
Geiſt nicht das natuͤrliche Gleichgewicht ſeiner Kraͤfte
ſtoͤren koͤnne; — was allerdings durch unlaͤugbare Er-
fahrungen widerlegt wuͤrde: — ſondern es ſoll nur von
der einen Seite daran erinnern, daß der Lehrer gewoͤhn-
lich die Wirkung ſeines Unterrichts unrichtig berechne,
indem er auf den Geiſt des Lehrlings wie auf eine Ma-
ſchine einwirken zu koͤnnen glaubt, ohne die Reactionen
zu bedenken, durch welche der geiſtige Organiſmus das
[286]Dritter Abſchnitt.
geſtoͤrte Gleichgewicht herzuſtellen ſelbſtſtaͤndig ſtrebt; von
der andern Seite ſoll damit vorlaͤufig gewarnt werden,
nicht in der Bedeutung mechaniſcher Abtrennung zu neh-
men, was hier von abgeſonderten Uebungen des Ge-
daͤchtniſſes, des Urtheils u. ſ. w. zu ſagen iſt.


Betrachten wir nun die intellectuellen Anlagen und
Kraͤfte des Lehrlings, die das Object der kuͤnſtlichen
Einwirkung des Erziehungsunterrichts ausmachen, aus
dem Geſichtspunkt der hier vorangeſchickten kurzen Er-
oͤrterung, ſo finden wir ſie in dem natuͤrlichen Gang
ihrer ſtufenweiſen Entwickelung in folgender Ordnung
hervortreten: 1) Auffaſſen des Einzelnen,
2) Verbinden von Einzelnem, 3) Trennen
von Verbundnem und Einzelnem, 4) Wie-
derverbinden von beidem
, und Verknuͤpfen
zu einer hoͤheren Einheit
. Will man nun dieſe
unterſchiednen Functionen des freien Denkens mit meta-
phyſiſchen Kunſtausdruͤcken durch Theſis, Analy-
ſis
und Syntheſis bezeichnen, oder in der pſy-
chologiſchen Kunſtſprache durch Anſchauung, Ge-
daͤchtniß, Urtheil
u. ſ. w. ausdruͤcken, ſo iſt
dagegen nichts einzuwenden, wenn man ſich nur die
Anſicht klar erhaͤlt, daß die gemachte Unterſcheidung
der geiſtigen Functionen nicht eine Trennung des Geiſtes
in einzelne zu iſolirende Theile iſt.


Der bezeichneten Ordnung nun zufolge waͤre unſre
Frage ſo zu ſtellen: ſoll der Unterricht, als die kuͤnſt-
[287]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
liche Entwickelung der intellectuellen Kraͤfte des Lehr-
lings, ſich genau an jenen Stufengang der natuͤrlichen
Entwickelung derſelben halten, und ſich auf Uebung und
hoͤhere Ausbildung der von der Natur bereits entwickel-
ten Fertigkeiten beſchraͤnken, oder ſoll er eben darein
ſeine Kunſt ſetzen, der Natur in ihrer langſamen Ent-
wickelung zu Huͤlfe zu kommen, und diejenigen Fertig-
keiten, die ſie ſpaͤter entwickelt, durch vorlaͤufige Ue-
bung fruͤher zur Reife zu bringen? Oder, wenn wir
uns jener gewoͤhnlichen Terminologie bedienen wollen:
ſoll der Unterricht ſich auf Gedaͤchtnißuͤbung be-
ſchraͤnken, oder ſoll er mit Umgehung dieſer Uebung ſo-
gleich die Verſtandesuͤbung zu ſeiner Hauptaufgabe
machen?


Darinn ſind ſich die Grundſaͤtze der beiden Unter-
richtsſyſteme uͤber dieſen Punkt entgegengeſetzt, daß
nach der aͤlteren Methode die Gedaͤchtnißuͤbungen,
nach der neueren die Verſtandesuͤbungen die
Hauptbeſchaͤftigung des Erziehungsunterrichts ausmach-
ten. Fragt man nun: welche von beiden An-
ſichten die richtige ſey?
ſo laͤßt ſich gleich auf
den erſten Anblick erkennen, daß beide inſofern unrichtig
ſeyen, als jede nur die Eine Art von Uebung fuͤr den
ganzen Umfang des Erziehungsunterrichts beſtimmen
will. Wenn der Unterricht, anſtatt die Geiſteskraft,
die in dem natuͤrlichen Gange der Geiſtesentfaltung zu-
erſt hervortritt, zu uͤben, die ſpaͤter ſich entwickelnde
zu wecken und hervorzuheben ſucht, ſo iſt dies Verfah-
ren nicht weniger einſeitig, als wenn er, nachdem ſchon
[288]Dritter Abſchnitt.
die Periode einer ſpaͤter ſich entfaltenden Geiſteskraft
eingetreten iſt, noch bei der erſtern Uebung beharrt.
Selbſt wenn man auch den Grundſatz einraͤumen wollte,
daß die Kunſt des Unterrichts der Natur gleichſam vor-
greifen und die Geiſtesentwickelung beſchleunigen ſolle,
— was noch bedenklichen theoretiſchen und praktiſchen
Zweifeln unterliegt — wuͤrde man doch nicht laͤugnen
koͤnnen, daß es nachtheilig ſey, die Uebung der fruͤher
entwickelten intellectuellen Functionen, namentlich die
des Gedaͤchtniſſes, ganz zu vernachlaͤſſigen; ſo
wie im Gegentheile niemals ſtreitig geweſen iſt, daß der
Erziehungsunterricht, wenn er ſich ausſchließend auf
Gedaͤchtnißuͤbung beſchraͤnke, eine große Luͤcke in
ſeiner Kunſt ſich zu Schulden kommen laſſe: wie denn
auch nur die hoͤchſte Ausartung des Humaniſmus der
Vorwurf trifft, daß er auch den ſpaͤteren Unterricht bei
bloßer Gedaͤchtnißuͤbung habe bewenden laſſen.


Daß der Erziehungsunterricht die Uebung aller in-
tellectuellen Functionen des Geiſtes ſich zur Aufgabe zu
machen habe, waͤre demnach gar nicht weiter zu be-
zweifeln. Die Frage waͤre nur noch: ob er ſich genau
an den Gang der natuͤrlichen Entwickelung derſelben zu
halten, oder nach einer kuͤrzeren Uebung der fruͤher her-
vortretenden Fertigkeiten ſogleich zur Erweckung der ſpaͤ-
ter nachfolgenden Anſtalt zu treffen habe?


Es iſt bekannt, mit welchem entſchiedenen Bei-
fall die letztere Methode unter uns aufgenommen wor-
den, mit welchen Lobpreißungen der Philanthropiniſ-
[289]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
mus vorzuͤglich aus dem Grunde uͤberall gefeyert wird,
weil er, den Unterricht ſogleich faſt ausſchließend mit
Verſtandesuͤbungen beginnend, die Kinder ſo
ausgezeichnet fruͤhe zu Verſtande bringe. Aber es iſt
eben deshalb nur um ſo noͤthiger, ſich gegen jenen
Mißbrauch und das Vorurtheil, worauf er gegruͤn-
det iſt, laut zu erklaͤren; und, obgleich ſchon oben
vorlaͤufig ſowohl auf die Nachtheile jener Methode als
auf die beſondern Einfluͤſſe, denen ſie die weitverbrei-
tete Beguͤnſtigung hauptſaͤchlich zu verdanken hat, hin-
gedeutet worden, ſo muͤſſen doch hier die Gruͤnde ge-
gen dieſelbe noch ausfuͤhrlicher vorgelegt werden.


Fuͤrs erſte, was jene Methode verſaͤumt, in-
dem ſie die, dem naturgemaͤßen Gange der Geiſtes-
entwickelung zufolge hauptſaͤchlich der Gedaͤchtniß-
uͤbung
beſtimmte, Unterrichtszeit dieſer Beſtimmung
entzieht, und zu Verſtandesuͤbungen verwendet,
iſt keinesweges ſo gering zu achten. Indem ſie der
Natur gleichſam vorgreift, und dagegen das, was von
der Natur gegeben iſt, vernachlaͤſſiget, verurſacht ſie
einen unerſetzlichen Verluſt. Aber eben darinn liegt
das Vorurtheil, das jenen Mißbrauch beguͤnſtiget:
man haͤlt das Verſaͤumte weder fuͤr einen Verluſt,
noch fuͤr unerſetzlich. Beides aber iſt in der That
gegruͤndet.


Zunaͤchſt, die Unerſetzlichkeit des Verſaͤumten laͤßt
ſich aus mehr als Einem Grunde nicht bezweifeln.
Uebergeht der Unterricht die fruͤhere Zeit, in welcher
19
[290]Dritter Abſchnitt.
die erwachende intellectuelle Thaͤtigkeit vorherrſchend
zum Auffaſſen des Einzelnen geneigt iſt, und dieſer
Trieb ſich in der dem Kinde eigenthuͤmlichen Wißbe-
gierde
zeigt; verſaͤumt er dieſe Entwickelungsperiode,
in der das Gedaͤchtniß (das Verbinden des Einzel-
nen) die meiſte Bildſamkeit hat, ohne von dieſer ent-
wickelteren Geiſtesthaͤtigkeit den moͤglichſten Vortheil zu
ziehen: ſo iſt fuͤr den Lehrling dieſer Vortheil unwie-
derbringlich verloren. Mit aller Anſtrengung bis zur
Quaal bringt er es, wenn jene Periode der Bildſam-
keit der Kraft voruͤber iſt, nicht mehr dahin, zu ler-
nen, was er in der fruͤheren Periode mit geringer
Muͤhe gelernt haͤtte. Das Allerſchlimmſte aber iſt,
daß er nicht nur das nicht gelernt hat, was er haͤtte
lernen koͤnnen, ſondern daß er auch ſogar das Geſchick
zu ſolchem Lernen verloren hat: die Kraft, die er
zur rechten Zeit nicht geuͤbt, ſteht ihm ſpaͤterhin nicht
mehr zu Gebot, und laͤßt ſich ſelbſt mit aller An-
ſtrengung ſo nicht wieder herſtellen, wie ſie, in dem
naturgemaͤßen Gange der Entwickelung ergriffen und
geuͤbt, wuͤrde geworden ſeyn; ſie iſt durch die ver-
ſaͤumte Uebung entweder ſo gut wie verloren gegangen,
oder ſie iſt etwas ganz anderes geworden.


Es iſt aber noch eine andre, gewoͤhnlich nicht ge-
nug beachtete, Hauptruͤckſicht, aus welcher die Schwie-
rigkeit erhellt, die Verſaͤumniſſe der fruͤheren Unter-
richtsuͤbungen ſpaͤter wieder einzubringen. Der beim
erſten Erwachen des Geiſtes vorherrſchende intellectuelle
Trieb geht zwar auf das Faſſen des beſtimmten Ein-
[291]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
zelnen, aber weder auf das Fixiren deſſelben zur
beſtimmten Anſchauung, noch auf das Behalten
des Fixirten. Beide letztere Functionen liegen nicht
in jenem Triebe, ſondern muͤſſen durch den Ent-
ſchluß
zu Stande gebracht werden. Daraus erklaͤrt
ſich auch die Ueberwindung, die es koſtet, den Lehrling
dazu zu bringen. Jener Entſchluß und die Ausfuͤh-
rung deſſelben erfordern eine Kraftanſtrengung, die
der Lehrling als Muͤhe fuͤhlt, zu der er eben darum
ſich nicht leicht entſchließt. Schon das momentane
Fixiren einer Vorſtellung, um ſie naͤher zu betrachten,
das Hemmen der natuͤrlichen Fluͤchtigkeit, mit der die
jugendliche Phantaſie von Gegenſtand zu Gegenſtand
uͤberſpringt, wird dem Kinde ſchwer. Noch mehr
aber iſt das Memoriren ihm eine Laſt, der es ſich
gern entzieht, und zu der es nur mit Zwang gebracht
werden kann. Wenn nun der fruͤhere Unterricht ver-
ſaͤumt, den Lehrling in dieſer Anſtrengung ſeines Wil-
lens zu uͤben, ſo waͤchſt auch von dieſer Seite die
Schwierigkeit, die noͤthige Fertigkeit in jener Uebung
zu erlangen; und je laͤnger die Uebung verſchoben,
je ſpaͤter das Kind dazu angehalten wird, deſto ſchwe-
rer wird ſie ihm, deſto weniger iſt zu hoffen, daß
das Verſaͤumte nachgeholt werde, da nicht nur einer
bekannten Erfahrung zufolge die Gewoͤhnung des Wil-
lens mit den Jahren an Schwierigkeit zunimmt, ſon-
dern auch die abnehmende Bildſamkeit der intellectu-
ellen Kraft den Entſchluß zur Anſtrengung derſelben
von Tag zu Tag mehr erſchwert.


19*
[292]Dritter Abſchnitt.

Aus dieſem zweifachen Grunde iſt es alſo unguͤl-
tig, wenn die modernen Paͤdagogen meinen: „der
Lehrling verliere durch das Unterlaſſen jener fruͤheren
Uebungen nichts; indem er dafuͤr etwas anderes lerne,
was Andere, die mit jenen Uebungen den Anfangs-
unterricht hinbringen, erſt ſpaͤter lernen muͤſſen, koͤnne
er das fruͤher aufgeſchobne Geſchaͤft leicht nachholen,
und um ſo leichter, da er es mit um ſo mehr Ver-
ſtand treiben koͤnne, waͤhrend es eben dadurch in den
fruͤheren Jahren eine ſo unſaͤgliche Marter werde, weil
das Kind es noch gar nicht recht anzugreifen wiſſe.“
Die oben entwickelten Gruͤnde haben unſtreitig klar ge-
nug dargethan, daß ſich auch darinn die Ordnung
der Natur nicht nach Willkuͤr verkehren laſſe. Man
kann aber, zugleich in Ruͤckſicht auf die letztere Wen-
dung, die dem Gegenargument gegeben worden, auch
noch insbeſondre geltend machen, daß vielmehr eben
durch jene Verkehrung der natuͤrlichen Ordnung den
Lehrlingen eine Marter fuͤr das ganze Leben bereitet
werde, indem einestheils die auch ſpaͤter nicht nachge-
holte Gedaͤchtnißuͤbung ſie an jedem umfaſſenden Ge-
ſchaͤft hindert, anderntheils aber der Verſuch des ſpaͤ-
teren Nachholens des Verſaͤumten mit um ſo bitterer
Aufopferung verknuͤpft iſt, da der Lehrling, nachdem er
einmal zum Roͤſonnement uͤber die Gegenſtaͤnde ange-
leitet, und zu dieſer freieren Bewegung des Geiſtes
gewoͤhnt worden, nicht nur mit verdoppeltem Wider-
willen zu der mechaniſchen Beſchaͤftigung des Memori-
rens zuruͤckkehrt, ſondern auch ſogar mit aller Anſtren-
gung doch meiſtens ſeinen Zweck nicht mehr erreicht.


[293]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.

Sodann, was die Meinung betrifft, daß die
Verſaͤumniß jener von der Natur geforderten fruͤheren
Unterrichtsuͤbungen nicht als ein bedeutender Verluſt
zu betrachten ſey, ſo laͤßt ſich auch dieſe leicht als
grundlos zeigen.


In Abſicht auf das Fixiren der Gegen-
ſtaͤnde
kann man zwar allenfalls behaupten: „daß
dies eben ſo wohl durch die Verſtandesuͤbungen
zur Fertigkeit erhoben werden koͤnne, und ſogar noch
beſtimmter geuͤbt werde, indem man das Kind mehr
gewoͤhne, Gegenſtaͤnde der aͤußeren Anſchauung fuͤr
die Beobachtung zu fixiren.“ Allein die Anſicht iſt nur
halb wahr. Bei materiellen Naturgegenſtaͤnden zwar,
die ihrer ruhenden Natur zufolge fuͤr die Betrachtung
ſtill ſtehen, mit Beobachtung zu verweilen, lehren
jene Uebungen; geiſtige Gegenſtaͤnde aber, die ver-
moͤge ihrer beweglichen Natur fuͤr die Betrachtung erſt
fixirt werden muͤſſen, zur Verſtandesuͤbung feſtzu-
halten, ſetzt vielmehr ſchon Gedaͤchtnißuͤbung
voraus. Es ergiebt ſich daraus alſo ſogar ein neuer
Nachtheil der verſaͤumten fruͤheren Uebung des Ge-
daͤchtniſſes, daß naͤmlich ſelbſt der wichtigere Theil
der Verſtandesuͤbung darunter leidet.


Eben ſo kann man in Abſicht auf das Memori-
ren
zwar allenfalls behaupten: „daß es durch die Ver-
ſtandesuͤbungen entbehrlich werde, indem es ſogar weit
zweckmaͤßiger ſey, die Maſſe von Kenntniſſen in allge-
meinen Ueberſichten zu faſſen, als ſich mit mechaniſchem
[294]Dritter Abſchnitt.
Einlerern der einzelnen Gegenſtaͤnde abzugeben, welches
nicht einmal zu einer allgemeinen Ueberſicht verhelfe,
wenn nicht die Verſtandesuͤbung hinzukomme, welche
erſt Ordnung und Einheit in die Maſſe der mit dem
Gedaͤchtniß gefaßten einzelnen Kenntniſſe bringe. Au-
ßerdem ſey es eine ſelbſt ſprichwoͤrtlich gewordne Erfah-
rung (beati memoria exspectant iudicium), daß
vorherrſchende Gedaͤchtnißfertigkeit der Urtheils-
kraft
, die doch die edlere und wichtigere intellectuel-
le Kraft des Menſchen ſey, Abbruch thue.“ Allein
was das Erſtere betrifft, ſo iſt es eine ganz irrige
Meinung, daß allgemeine Ueberſichten die Kenntniß
des Einzelnen entbehrlich machen; vielmehr, wenn die
allgemeinen Begriffe, Grundſaͤtze, Claſſificationen, mit
welchen man das Einzelne zu beherrſchen ſich einbildet,
(die uͤbrigens doch ſelbſt auch im Gedachtniß feſtgehal-
ten ſeyn wollen, und inſofern Gedaͤchtnißfertigkeit vor-
ausſetzen!) nicht bloße hohle und todte Formeln ſeyn
ſollen, ſo muͤſſen ſie mit der lebendigen Anſchauung
des Einzelnen verbunden ſeyn, die nur durch ein ge-
uͤbtes Gedaͤchtniß moͤglich iſt. Was aber die zweite
Einwendung betrifft, ſo beruht ſie auf einem bloßen
Vorurtheil. Will man als eine pſychologiſche Beob-
achtung geltend machen, daß man Individuen findet,
bei denen ſich mit einem außerordentlichen Grade von
Gedaͤchtnißkraft ein faſt gaͤnzlicher Mangel an Urtheils-
kraft verbinde, ſo hat man um ſo mehr unrecht, dies
als ein pſychologiſches Geſetz auszuſprechen, da zum
mindeſten eben ſo viele Beiſpiele von Menſchen aufge-
ſtellt werden koͤnnen, bei denen mit dem eminenteſten
[295]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Gedaͤchtniß die tiefſte und ausgebreiteteſte Denkkraft ver-
bunden iſt: und man darf ſich auf die unlaͤugbare Er-
fahrung berufen, daß die groͤßten Koͤpfe aller Zeiten
durch ihr Gedaͤchtniß ausgezeichnet waren, und nur
durch dieſen Vorzug zu leiſten vermochten, was ſie
Großes geleiſtet haben. Dem ſprichwoͤrtlichen Aus-
druck von Geringſchaͤtzung der Gedaͤchtnißfertigkeit koͤn-
nen wir den Ausſpruch eines alten Philoſophen, dem
Niemand Urtheilskraft abſprechen wird, entgegenſetzen:
tantum scimus, quantum memoria tenemus! Die
Geringſchaͤtzung der Gedaͤchtnißkraft ſelbſt aber, als ei-
ner niederen, ſo wie dagegen die Ueberſchaͤtzung der
Urtheilskraft, als einer hoͤheren intellectuellen Kraft,
darf man unbedenklich fuͤr ein pſychologiſches Vorur-
theil erklaͤren. Uebrigens, wenn man uns auf die ab-
ſchreckenden Beiſpiele, die aus der alten Memorirme-
thode des Erziehungsunterrichts hervorgegangen ſind,
verweiſen will, ſo laͤßt ſich mit vollem Recht erwiedern,
daß dieſe nur gegen den Mißbrauch der Gedaͤchtniß-
uͤbung gelten, wo naͤmlich das Memoriren eigentlich
das einzige Geſchaͤft des Unterrichts war, und wo man
ſolches ganz maſchinenmaͤßig betrieb, ohne mit demſel-
ben weder gleichzeitig noch auch ſpaͤterhin Verſtandes-
uͤbungen zu verbinden. Und ſelbſt von jenem Miß-
brauch des Memorirens darf man ſagen, daß er weni-
ger Koͤpfe verdorben habe, als der moderne Mißbrauch
der Verſtandesuͤbungen; wie ſich auch daraus leicht er-
klaͤren laͤßt, daß der beſſere Kopf das Memoriren nicht
mechaniſch treibt, und an dem Erlernten aus eignem
Antrieb Verſtandesuͤbungen anſtellt, waͤhrend er, nach
[296]Dritter Abſchnitt.
der modernen Weiſe von dem Lehrer an dem Gaͤngel-
bande der ſogenannten Verſtandesuͤbungen gefuͤhrt, zu-
gleich bei dem magern Stoff dieſer Verſtandesuͤbungen
aufgehalten wird, und, indem er nicht leicht aus eig-
nem Antrieb Gedaͤchtnißuͤbungen anſtellt, des reichhal-
tigeren Stoffes zu ſelbſtthaͤtigen Verſtandesuͤbungen
entbehrt. — In der That iſt es ſchon in formeller
Hinſicht ſehr wichtig, daß der Lehrling fruͤh zu Ge-
daͤchtnißuͤbungen angehalten werde. Dieſe Uebung iſt
die einzige, die er ſelbſtſtaͤndig vornehmen muß, bei der
ihm kein Anderer helfen kann, und zu der er ſogar
genoͤthiget iſt, ſelbſt eine Methode zu finden, wie er
die Aufgabe am ſicherſten zu loͤſen vermoͤge. Schon
deshalb iſt es ein weſentlicher Verluſt fuͤr die Geiſtes-
bildung des Kindes, wenn dieſe Uebung ganz vernach-
laͤſſiget wird. Wie wenig vermag doch dieſen Verluſt
die ſogenannte Verſtandesuͤbung zu erſetzen, bei der
dem Lehrling alles vordocirt, vormonſtrirt, vordemon-
ſtrirt und voranalyſirt wird, und er nur zum Auffaſ-
ſen, Nachſehen und Nachſprechen des Vorgezeigten und
Vorgeſprochenen Anleitung erhaͤlt, fuͤr ſelbſtthaͤtige Gei-
ſtesbeſchaͤftigung aber wenig Nahrung findet. Noch
groͤßer aber wird man den Verluſt finden, den der
Lehrling durch verſaͤumte Gedaͤchtnißuͤbung leidet, wenn
man ernſtlicher erwaͤgen will, daß nur der fuͤr recht
unterrichtet gelten kann, der ein lebendiges Bild von
dem ganzen Umfang ſeiner Kenntniſſe ſich zu erhalten
vermag, daß insbeſondre in allen ideellen Beſchaͤftigun-
gen nur der etwas bedeutendes zu leiſten im Stande
iſt, der die ganze Reihe von Ideen, die zu dem Um-
[297]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
kreis ſeines Geſchaͤftes gehoͤren, mit Sicherheit und
Feſtigkeit ſich gegenwaͤrtig zu erhalten die Kraft hat,
daß fuͤr ſo Viele das Gedaͤchtniß der einzige Grund
und Boden iſt, auf welchem die Ideen Wurzel fuͤr ſie
zu faſſen vermoͤgen, daß ſie ſelbſt von Gott und Tu-
gend nur ſo viel mit klarem und lebendigem Bewußt-
ſeyn feſthalten, als ſie davon in heiligen Geſaͤngen und
Spruͤchen feſtzuhalten gelernt haben, daß uͤberhaupt in
dem eminenteſten Sinne des Worts der oben ange-
fuͤhrte Ausſpruch wahr iſt: tantum scimus, quan-
tum memoria tenemus!


Fuͤrs zweite aber, was jene Methode fuͤr einen
poſitiven Nachtheil bewirkt, indem ſie den ganzen Er-
ziehungsunterricht in eine faſt ausſchließende Verſtan-
desuͤbung
verwandelt, verdient noch tiefere Beher-
zigung.


Die ſogenannten Verſtandesuͤbungen, wie
ſie der Philanthropiniſmus mit den Lehrlingen vorzu-
nehmen pflegt, theilen ſich nach einer genaueren Unter-
ſcheidung in Uebungen des Anſchauens und
Uebungen des Urtheilens; und es iſt um ſo
nothwendiger, dieſe Unterſcheidung feſtzuhalten, da beide
Arten von Uebung meiſtens mit einander verbunden
werden, ob man gleich von jeder derſelben einen eignen
Zweck angiebt. Die Uebungen des Anſchauens
beſtehen naͤmlich in dem kuͤnſtlichen Betrachten materi-
eller Gegenſtaͤnde, und ſollen in dieſer Eigenſchaft den
Zweck haben, den Sinn zu uͤben; die Uebungen
[298]Dritter Abſchnitt.
des Urtheilens aber beſtehen in dem intellectuellen
Zergliedern materieller Gegenſtaͤnde, und ſollen in die-
ſer Eigenſchaft den Zweck haben, den Verſtand zu
uͤben
: in Abſicht auf beide Uebungen aber findet man
faſt immer daſſelbe Object und dieſelbe Form der Be-
trachtung angewendet.


Wenn wir nach der obigen Anſicht von der
natuͤrlichen Entwickelung der intellectuellen Anlagen
die Uebungen des Anſchauens mit dem Auf-
faſſen des Einzelnen
, die Uebungen des Ur-
theilens
mit dem Analyſiren des Einzelnen
vergleichen; ſo muͤßten wir allerdings dieſe Methode,
die den Unterricht gleich an die erſte Erſcheinungsart
der intellectuellen Thaͤtigkeit anſchließt, naturgemaͤßer
finden als die entgegengeſetzte, die von beſondern Ue-
bungen des Anſchauens
gar nichts wiſſen will,
und wir muͤßten eben ſo wohl dies der letzteren Me-
thode als einen weſentlichen Mangel anrechnen, als
daß ſie uͤberhaupt auf die Uebung der Sinne gar
keine Ruͤckſicht nahm. Allein, wie man auch den Vor-
wurf ſtelle und ausdruͤcke, ſo trifft er doch entweder
nicht zur Sache, oder er iſt in einem ganz andern
Sinn wahr, als er in jener erſten Methode genommen
wird.


Daß der Unterricht alle intellectuellen Anlagen
des Kindes uͤben ſolle, iſt eine ungegruͤndete Forderung;
vielmehr iſt es ein unweiſer Zeitverderb, ſich mit Ue-
bungen aufzuhalten, die der natuͤrliche nothwendige
[299]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Gebrauch der Kraͤfte von ſelbſt mit ſich bringt. Warum
ſollen wir denn Zeit damit verlieren, das Merken auf
die Gegenſtaͤnde der Außenwelt in beſondern Uebun-
gen des Anſchauens
dem Kinde zu dociren, da
ſeine erwachende Aufmerkſamkeit von Natur auf jene
Gegenſtaͤnde gerichtet iſt, die es allenthalben umgeben
und mit maͤchtigem Reiz anziehen? Oder warum ſol-
len wirs zu einer eigenen Aufgabe des Unterrichts ma-
chen, in beſondern Uebungen der Sinne das
Kind — ich will nicht ſagen: uͤberhaupt ſehen, hoͤren,
fuͤhlen ꝛc. zu lehren; welches ohnehin um wenig ver-
ſtaͤndiger waͤre, als wenn wir es lebendig ſeyn lehren
wollten; ſondern nur: — beſtimmter, ſchaͤrfer ſehen,
hoͤren, fuͤhlen ꝛc. zu lehren, da es nur Augen, Oh-
ren ꝛc. aufzuthun braucht, um darinn jede noͤthige
Fertigkeit zu erlangen, und ſolche beſondre kuͤnſtliche
Uebungen eines oder des andern Sinnes nur als Me-
dicin bei dem einen oder dem andern Kinde, wo ein
Sinn von Natur verwahrloſt iſt, eine Anwendung fin-
den? Jener vermeinte Vorzug der neueren Unterrichtsme-
thode, daß ſie ſich auch auf ſolche Uebungen ausbreitet, iſt
nur ein neuer Beweis, daß man ſich in nichtswuͤrdiger
Kuͤnſtelei gefaͤllt. Oder ſind wir wirklich ſchon ein ſo
entnervtes und entartetes Geſchlecht, daß man, was
ſonſt nur als Heilmittel fuͤr Schwaͤchlinge angewendet
wurde, uns als allgemein nothwendiges paͤdagogiſches
Mittel vorſchlagen darf? —


Von einer andern Seite hat wohl der Vorwurf
Wahrheit, inwiefern naͤmlich die aͤltere Unterrichtsme-
[300]Dritter Abſchnitt.
thode allerdings zu wenig Ruͤckſicht darauf genommen
hat, theils uͤberhaupt den contemplativen Sinn
fuͤr die Außenwelt, theils insbeſondre den Kunſtſinn
zu uͤben. Nimmt man aber den Vorwurf in dieſer
Bedeutung, dann paßt er wenigſtens nicht hierher, und
wird wahrhaftig durch jene modernen Uebungen des
Anſchauens
am allerwenigſten gehoben, die genauer
betrachtet nichts anderes als Zergliederungen
einzelner materieller Naturgegenſtaͤnde
,
und inſofern in der That mehr Uebungen des Ur-
theilens
als Uebungen des Anſchauens ſind,
ſonach dem angedeuteten wahren Beduͤrfniß gar nicht
abzuhelfen vermoͤgen.


Dagegen iſt es nicht nur uͤberfluͤſſig, ſondern ſo-
gar naturwidrig, mit ſolchen Uebungen des An-
ſchauens
den Erziehungsunterricht anzufangen, da
die erſte kuͤnſtliche Uebung des Geiſtes vielmehr auf
Verbinden einzelner Gegenſtaͤnde in ihrer Ganzheit, als
auf ein Zerlegen derſelben in ihre Theile gerichtet wer-
den muß. Es vereiniget ſich aber in jener Methode
des Philanthropiniſmus vorzuͤglich der zweifache Haupt-
fehler: daß der Lehrling erſtens, indem er gleich von
vorn herein auf die Außenwelt, auf die ſein Geiſt
die natuͤrliche uͤberwiegende Richtung hat, auch die
kuͤnſtliche Richtung erhaͤlt, die Innenwelt ganz aus
dem Geſichte verliert; und zweitens ihm, indem man
ihn auch an den Gegenſtaͤnden der Außenwelt nur zum
Zergliedern anleitet, der herrliche Sinn des ruhi-
gen ungetheilten Faſſens verbildet, und zu der
[301]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Kritiſirſucht der Grund gelegt wird, die Alles, ſey es
geiſtig oder leiblich, nur mit analyſirendem Blicke be-
trachtet, und unfaͤhig macht, irgend etwas in ſeiner
Ganzheit mit ungetheiltem Gemuͤthe aufzunehmen; wo-
durch der Lehrling ſelbſt auch die Außenwelt aus dem
Geſichte verliert, und es wenigſtens das Verdienſt die-
ſer Methode nicht iſt, wenn er noch etwas anderes uͤbrig
behaͤlt als die Fertigkeit, Fragmente der Außenwelt
in ihren raͤumlichen Verhaͤltniſſen zu faſſen.


Betrachtet man jene Uebungen des An-
ſchauens
auch bloß in der erſtern Ruͤckſicht, als
kuͤnſtliche Richtung der Aufmerkſamkeit auf Gegenſtaͤn-
de der Außenwelt, ſo iſt ſchon von dieſer Seite der
Nachtheil, den ſie fuͤr wahre Bildung des Geiſtes ha-
ben, unverkennbar. Zuvoͤrderſt, indem ſo fruͤh ſchon
der Anfang damit im Unterricht gemacht werden ſoll,
kann der natuͤrlichen Faͤhigkeit des Lehrlings zufolge
die Betrachtung nur auf der Oberflaͤche verweilen,
und es iſt ſchon an ſich ein Verluſt, daß die koſtbare
Zeit mit einer Beſchaͤftigung verbracht wird, die weder
ernſthaft noch gruͤndlich genug, und kaum etwas mehr
als eine Spielerei iſt, bei welcher der Geiſt des Lehr-
lings weder formell noch materiell an rechter Bildung
gewinnt. Sodann wird dadurch auch der Lehrling zu
einer ernſtlicheren Anſtrengung nicht nur nicht vorbe-
reitet und geſtaͤrkt, ſondern vielmehr verwoͤhnt, die ſpie-
lende Beſchaͤftigung mit Gegenſtaͤnden, (die er als Lieb-
haberei treiben wuͤrde, wenn ſie ihm nicht zum Ge-
ſchaͤft gemacht wuͤrde,) als Geſchaͤft zu betrachten, ſo
[302]Dritter Abſchnitt.
daß er ſich zur ſchwereren Beſchaͤftigung dann ſchwer
entſchließt. Wann aber im Leben, und wo ſoll die Ge-
woͤhnung zu dem — nicht ſowohl Schwereren, als
vielmehr nur — Beſchwerlicheren geſchehen, wenn ſie
nicht in der fruͤhen Jugend, wo der Zwang anwend-
bar iſt, geſchehen will? Der groͤßere Nachtheil aber
iſt, daß eben damit der Unterricht, als kuͤnſtliche Ein-
wirkung auf den Geiſt, gleich von Anfang an ſeine
Hauptaufgabe verſaͤumt, der natuͤrlichen Entwickelung
der intellectuellen Thaͤtigkeit die unentbehrliche Nach-
huͤlfe zu leiſten, ihr die Richtung auf die Innenwelt
zu geben.


Die einzigen Anſchauungsuͤbungen, die als
kuͤnſtliche Richtung des Geiſtes in jeder Art des erſten
Unterrichts unentbehrlich ſind, ſind die an Gegenſtaͤn-
den der Innenwelt, welche nicht wie die der Außen-
welt von ſelbſt der Betrachtung ſtehen, ſondern erſt
zum Stehen gebracht werden muͤſſen. Dieſe Uebungen
muͤſſen aber fruͤh anfangen, ehe der Geiſt ſeine Bild-
ſamkeit dazu durch uͤberwiegende Richtung auf die
Außenwelt verliert; und es iſt deshalb doppelter Ver-
luſt, die Bildungszeit mit Außendingen auszufuͤllen,
die dem Geiſte, ſo lang er zu einer tieferen Betrach-
tung noch nicht reif iſt, nichts zu geben vermoͤgen, und
ohnehin ſo unvermeidlich eine ſolche Breite unſers Le-
bens einnehmen.


Betrachtet man aber jene Uebungen des An-
ſchauens
in der andern Ruͤckſicht, als kuͤnſtliche Zer-
[303]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
gliederung der Gegenſtaͤnde in ihre Theile, Eigenſchaf-
ten, Verhaͤltniſſe ꝛc. wodurch man den Geiſt zweckmaͤ-
ßig anzuregen glaubt, ſo wird die Warnung doppelt
noͤthig, daß fuͤr die wahre Bildung des Geiſtes nichts
Nachtheiligeres vorgenommen werden kann, als das zu
fruͤhe Wecken eines zergliedernden Raͤſonnements uͤber
die Dinge der den Lehrling umgebenden Welt. Schon
dadurch wird das fruͤhe Einfuͤhren des Lehrlings in
eine Art von Anatomie der aͤußeren Gegenſtaͤnde ver-
werflich, daß es den ungetruͤbten klaren Sinn, der die
Gegenſtaͤnde ohne widernatuͤrliche Zerſplitterung ihrer
freien Geſtalt anſpruchslos aufnimmt und, offen jedem
Eindruck, den die ihm noch ungetheilte Natur giebt,
unbefangen ſich der Welt erfreut, ſo fruͤh ſchon unter-
bricht, und fruͤher als es recht und gut iſt die Ent-
zweiung in das kindliche Gemuͤth bringt. Soll uns
zu der Unnatur die paͤdagogiſche Kuͤnſtelei verfuͤhren,
daß wir ſelbſt dem Kinde nicht mehr ſeine Welt ein
ungetruͤbtes Ganze bleiben laſſen wollen? Der junge
Superklug, der den Baum, anſtatt ſich an ſeiner Ge-
ſtalt zu ergoͤtzen, in Wurzel, Stamm und ſo weiter
zergliedert und ſeine mathematiſchen Dimenſionen auf-
zaͤhlt, iſt ein Schiefkopf, der dem ungebildeten Natur-
kinde weit nachſteht, dem der Baum noch gar nichts
weiter iſt als ein Ort, wo er Obſt und Vogelneſter
ſucht.


Noch weit ſchlimmer iſt jedoch, daß jenes uͤbereil-
te Hervorrufen des Raͤſonnements der ganzen Bildung
des Lehrlings uͤberhaupt eine falſche Richtung giebt.
[304]Dritter Abſchnitt.
Wie er die Naturgegenſtaͤnde bloß als Object des Ana-
lyſirens betrachten lernt, wird ihm bald Alles ohne
Unterſchied zum bloßen Gegenſtand der Zergliederung
und der Kritik. Dieſe unnatuͤrliche Tendenz, alles zu
kritiſiren, alles und jedes, das Gedicht wie eine ge-
lehrte Abhandlung, die Rede wie den ſcientifiſchen Vor-
trag, das Schauſpiel wie ein gemeines Handwerkspro-
duct ꝛc. bloß zum Gegenſtand der Beurtheilung zu ma-
chen, dieſes Unvermoͤgen, irgend etwas rein und un-
getheilt mit unbefangnem Gemuͤth aufzunehmen, dieſe
heilloſe Verwoͤhnung, ſelbſt bei den hoͤchſten Werken
der Natur und Kunſt den Maßſtab der Kritik nie ver-
geſſen und ſich dem ungeſtoͤrten Anſchauen derſelben
hingeben zu koͤnnen, — iſt durch die ganze Richtung
unſrer Cultur ſo weit unter uns verbreitet, daß man
uͤberall laut genug daruͤber klagen hoͤrt. Und gleich-
wohl will man nicht ernſtlich daran denken, jene
Hauptquelle davon, die in den ſo geruͤhmten Verſtan-
desuͤbungen
unſerer modernen Unterrichtsmethode
liegt, endlich zu verſtopfen? So lange wir nicht dieſe
Methode wieder verlaſſen, kann jener Fehler nicht wie-
der ausgerottet werden. So lange wir unſre Kinder,
vom fruͤhſten Erwachen ihrer Geiſtesthaͤtigkeit an, aus-
ſchließend damit beſchaͤftigen, Gegenſtaͤnde und Begriffe
in ihre Theile aufzuloͤſen, ſie in ihre Elemente zu zer-
legen, ihre Beziehungen aufzufaſſen u. ſ. w. duͤrfen
wir uns wenigſtens nicht wundern, wenn wir auch je-
nen Fehler bei unſern Kindern finden, wenn ihnen
Nichts ganz bleibt, wenn Nichts von ihnen in ſeiner
Ganzheit und Einheit gefaßt, mit Allem vielmehr ohne
[305]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
Unterſchied, was ihnen vorkoͤmmt, dieſelbe zur unab-
weislichen Gewohnheit gewordne Operation des Zerle-
gens vorgenommen wird. Und dies erfolgt ſelbſt un-
ter den Haͤnden der Meiſter in dieſer Zerlegungskunſt,
(Verſtandesuͤbung genannt): welche Oberflaͤchlichkeit
und unertraͤglich ſeichtes Raͤſonnement uͤber Alles muß
nicht erſt unter den Haͤnden eines dieſer Kunſt nicht
maͤchtigen Juͤngers entſtehen?


Dahin alſo kommen wir mit unſerer Vermeſſen-
heit, den natuͤrlichen Evolutionen der intellectuellen
Anlagen mit unſern didaktiſchen Operationen kuͤnſtlich
vorgreifen zu wollen!


Doch kann dies keinesweges ſo verſtanden ſeyn,
daß der Erziehungsunterricht uͤberhaupt weder die Ur-
theilskraft des Lehrlings uͤben, noch ihn zur Betrach-
tung der Außenwelt anleiten ſolle. Die Forderung iſt
nur die: den naturgemaͤßen Gang der Entwickelung
des Geiſtes einzuhalten, und ſich auf das Unentbehr-
liche zu beſchraͤnken.


Der natuͤrlichen Entwickelung der Geiſtesthaͤtigkeit
aber gemaͤß iſt, daß nicht mit der Theilung der Gegen-
ſtaͤnde ſondern mit ihrer Verknuͤpfung angefangen wer-
de. Und das Unentbehrliche iſt, den Lehrling zu den
Uebungen an Gegenſtaͤnden der Innenwelt zu fuͤhren,
zu denen er weder durch einen aͤußeren Antrieb noch
durch eignen freien Entſchluß gelangt. In dieſer zwei-
fachen Beziehung nur iſt obige Behauptung der in
20
[306]Dritter Abſchnitt.
Anſpruch genommenen Methode entgegengeſetzt. Ue-
bung der Anſchauung
aber und Uebung des
Urtheils
wird auch hier gefordert: nur ſoll nicht die
letztere vor der erſtern geſchehen, und beide vorzugs-
weiſe an geiſtigen Gegenſtaͤnden.


Zuerſt die Uebung der Anſchauung,“
heißt uns: der Lehrling ſoll erſt etwas lernen, ehe er
raͤſonniren will. Er ſoll aber das Noͤthige zuerſt ler-
nen, d. h. die geiſtigen Gegenſtaͤnde. Uebung des
Anſchauens geiſtiger Gegenſtaͤnde
als fruͤhere
Unterrichtsuͤbung iſt keine andere als Gedaͤchtniß-
uͤbung
. Zum ſelbſtſtaͤndigen Anſchauen geiſtiger Ge-
genſtaͤnde, d. h. zum ſelbſtſtaͤndigen Auffaſſen der Ideen-
welt, iſt der jugendliche Geiſt noch nicht reif, er muß
vielmehr dazu erſt geuͤbt werden. Dieſe Uebung aber
fordert, daß er vor allen Dingen geiſtige Gegen-
ſtaͤnde fixiren
, zum Stehen bringen, lerne. Dazu
iſt noͤthig, daß ſie ihm objectiv werden; objectiv aber
werden ſie in den Darſtellungen derſelben durch die
Rede, in den Ausſpruͤchen, in denen ſie von geweihten
und begeiſterten Menſchen eine Form erhalten haben,
durch welche ſie objectiv geworden ſind. In dieſer
objectiven Form Ideen in ſich aufnehmen, heißt geiſtige
Gegenſtaͤnde ſich zur Anſchauung bringen, und in dem
Memoriren ſolcher Ausſpruͤche iſt ſonach die Auf-
gabe fuͤr den Anfangsunterricht geloͤſt. Je mehr die-
ſer Art der Lehrling zu lernen angehalten wird, deſto
reicheren Stoff ſammelt er fuͤr die zweite Hauptperiode
des Unterrichts, die Uebung des Urtheils; waͤh-
[307]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
rend ſein Geiſt durch jene Beſchaͤftigung des Memo-
rirens ſolcher Gegenſtaͤnde die mannichfaltigſte Uebung
und Ausbildung andrer Art zugleich gewinnt.


Damit loͤſt ſich auch die Bedenklichkeit derer, die
zwar gegen die Realien im Unterricht auch declamiren,
aber wenn ſie angeben ſollen, was ſie denn zweck-
maͤßiges zu ſubſtituiren wiſſen, verlegen ſind und ver-
ſtummen.


Die Uebung des Urtheils kann an geiſtigen
Gegenſtaͤnden
fruͤher angefangen werden, ohne die
Nachtheile zu bewirken, die oben von derſelben Uebung
der Kinder an Naturgegenſtaͤnden angegeben
worden ſind. Außerdem wird auch an geiſtigen Gegen-
ſtaͤnden das Urtheil tiefer und gruͤndlicher geuͤbt, als
an irgend einem Gegenſtand der aͤußeren Anſchauung
der Faſſungskraft des Kindes zufolge moͤglich iſt.
Wenn wir dem Kinde z. B. in irgend einer Fabel
oder in einer andern Erzaͤhlung ein Verhaͤltniß des
Rechts, der Pflicht, der Sitte ꝛc. vorhalten, und ſolche
mit demſelben zergliedern, ſo wird dies die intellectuelle
Thaͤtigkeit des Lehrlings unſtreitig lebendiger aufregen,
als durch irgend eine Zergliederuung einer aͤußeren An-
ſchauung moͤglich waͤre. Oder, um ein anderes Bei-
ſpiel zu waͤhlen, das den Sachfreunden zugleich die
Wortuͤbung in einem guͤnſtigeren Lichte zeigen kann:
wenn wir den Lehrling Woͤrter in ihrer etymologiſchen
Bedeutung auffaſſen und deren Sinn nach dieſer Ab-
leitung beſtimmen laſſen, ſo kann ſich daran eine
20*
[308]Dritter Abſchnitt.
Schaͤrfe und Puͤnktlichkeit des Urtheils bilden, die durch
keine noch ſo ſcharfe Zergliederung irgend eines Sachge-
genſtandes erreicht zu werden vermag. Oder laſſen wir
den Lehrling den Unterſchied ſinnverwandter Woͤrter
beſtimmen; ſo iſt dies abermals eine Uebung des Ur-
theils, die an keinem Realgegenſtande in gleichem
Maße zu erreichen ſteht.


Was die Uebung des Anſchauens und Ur-
theilens
an materiellen Gegenſtaͤnden betrifft,
ſo kann dieſe, nachdem das Auge des Geiſtes an Gei-
ſtigem geuͤbt und erſtarkt iſt, allerdings auch vorgenom-
men werden. In formeller Ruͤckſicht kann ſogar die hoͤ-
here Bildung des Geiſtes, wenn einmal durch die fruͤhere
geiſtige Beſchaͤftigung ein guter Grund gelegt iſt, eben-
ſowohl an Sachen als an Ideen fortgeſetzt werden,
indem von da an, wo die hoͤhere Erkenntniß anhebt,
auch die Sachen als Ideen zu betrachten ſind.
Der Unterricht kann ſogar von dieſer Periode an in
zwei verſchiedne Zweige getheilt werden, deren einer
an Naturideen, und der andre an Geiſtesideen
die hoͤhere Ausbildung des Geiſtes fortſetzt. In mate-
rieller Ruͤckſicht aber ſoll ohnehin der Erziehungsunter-
richt die Lehrlinge, nachdem ſie dazu faͤhig geworden,
auch zur Betrachtung der Außenwelt fuͤhren, weil es
des Menſchen uͤberhaupt unwuͤrdig iſt, dieſe Welt, in
der er lebt, gedankenlos zu durchwandern, die Wun-
der Gottes, die ſie darbietet, nicht zu kennen, und die
Erde nur wie einen Erdkloß zu betrachten. Der Er-
ziehungsunterricht muß alſo allerdings auch dazu anlei-
[309]Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. im Allgem.
ten, die Welt in ihrer Mannichfaltigkeit und Bedeut-
ſamkeit, Erhabenheit und Wunderhaftigkeit, verſtaͤndig
zu betrachten. Aber dazu fuͤhrt er nur den ſchon er-
ſtarkten und zur reifen Ueberlegung geuͤbten Geiſt. Und
dazu wird er nicht viel Zeit zu verwenden noͤthig haben;
denn, außerdem daß der am Geiſtigen gereifte Geiſt
das Aeußere mit Schnelligkeit faßt und uͤberblickt, iſt es
fuͤr die allgemeine Bildung zur Humanitaͤt auch ſchon
genug, den Sinn dafuͤr geweckt zu haben: es bedarf
meiſtens nichts weiter, als ihm eine Richtung zur ver-
ſtaͤndigen Betrachtung der Welt zu geben, wenn man
zuvor ſchon dafuͤr geſorgt hat, ihn ſo zu veredeln, daß
er nicht durch kleinliche Anſichten des großen Gegen-
ſtandes ſelbſt in das Geiſtloſe und Gemeine verſinke.


Anſchauung der Außenwelt, als Uebung
des aͤſthetiſchen Sinnes
, des Sinnes fuͤr große
und ſchoͤne Naturformen, zu einer iſolirten Beſchaͤfti-
gung zu erheben, hat der Erziehungsunterricht keine
Zeit; aber er verbindet ſie mit den Kunſtuͤbungen,
die von dem modernen Unterrichtsſyſtem mit vollem
Recht wieder als ein weſentlicher Theil der freien Bil-
dung zuruͤckgefordert worden ſind.


Endlich iſt nicht zu vergeſſen, daß die Aufgabe
mit den Uebungen des Anſchauens und Ur-
theilens
allein — wenn dieſe auch weder auf die
Außenwelt noch auf die Innenwelt ausſchließend be-
ſchraͤnkt werden — noch nicht erſchoͤpft ſey; daß die
hoͤchſte Function der intellectuellen Thaͤtigkeit, die Ver-
[310]Dritter Abſchnitt. Von d. Grundſ. d. Erziehungsunterr. ꝛc.
einigung des Einzelnen, Getrennten und Verbundenen
in Einem Syſteme zur hoͤchſten Einheit des Denkens,
den allerwichtigſten Theil der Aufgabe des Erziehungs-
unterrichts in ſeiner ganzen Vollendung ausmache. Es
iſt aber hier daruͤber nichts weiter hinzuzufuͤgen, weil
der Grundſatz, dem natuͤrlichen Gang der Geiſtesentwi-
ckelung darinn vorzugreifen oder nicht, kaum einer Con-
troverſe unterworfen ſeyn kann.


[[311]]

Vierter Abſchnitt.
Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze auf die verſchiednen
Arten des Erziehungsunterrichts.


Es ſind uͤber dieſen Gegenſtand vorzuͤglich zwei
Hauptcontroverſen der beiden Unterrichtsſyſteme in naͤ-
here Erwaͤgung zu ziehen, die, an ſich durch ihren bedeu-
tenden praktiſchen Einfluß auf die ganze Nationalbil-
dung wichtig, auch theoretiſch bemerkenswerth ſind
durch den Widerſpruch, in welchem ſie ſelbſt gegen
einander ſtehen.


1) Die eine betrifft den Grundſatz: daß der Er-
ziehungsunterricht uͤberhaupt nicht der Art ſondern nur
dem Grade nach verſchieden ſey.


2) Die zweite beſteht in der Behauptung: daß der
Erziehungsunterricht auf die kuͤnftige Berufsbe-
ſtimmung
vorzuͤgliche Ruͤckſicht zu nehmen habe.


[312]Vierter Abſchnitt.

1.


Gerade dann, wenn es als Zweck des Erziehungs-
unterrichts betrachtet werden muͤßte, die Lehrlinge zu ih-
rer kuͤnftigen Berufs- und Lebensbeſtimmung
direct vorzubereiten und zu bilden, koͤnnte die Artver-
ſchiedenheit
deſſelben, ſowohl in der Behandlung
als in der Wahl der Unterrichtsgegenſtaͤnde, gar keinem
Zweifel unterliegen. Wie ſollte denn eine und dieſelbe
Art des Unterrichts fuͤr den kuͤnftigen Gelehrten z. B.
wie fuͤr den zum Handwerker beſtimmten Lehrling durch
bloße Gradverſchiedenheit zweckmaͤßig gemacht
werden koͤnnen?


Daruͤber kann wenigſtens im Allgemeinen kein
Streit ſeyn, daß der Lehrling, deſſen kuͤnftige Beſtim-
mung vorzugsweiſe Kopfarbeit ſeyn wird, eine
von derjenigen verſchiedne Uebung beduͤrfe, die dem
Lehrling noͤthig iſt, deſſen kuͤnftige Beſtimmung Hand-
arbeit
ſeyn ſoll. Man koͤnnte zwar ſagen: „der Ein-
theilungsgrund ſelbſt ſey hoͤchſt mangelhaft, es gebe fuͤr
den Menſchen keine bloße Hand arbeit, und die Er-
ziehung eben ſoll dafuͤr ſorgen, daß es keine bloße
Handarbeit mehr gebe, daß alle Handarbeit zugleich
Kopfarbeit werde, daß jedes Geſchaͤft nicht nur mit
Nachdenken und Ueberlegung uͤberhaupt, ſondern aus-
druͤcklich auch nach den beſtimmten Geſetzen und Re-
geln geſchehe, welche wiſſenſchaftlich dafuͤr aufzuſtellen
ſeyen, daß mit einem Wort alle Praxis ſich auf deut-
liche Kenntniß der Theorie ſtuͤtze.“ Allein dieſer Ein-
wurf iſt in Abſicht auf unſre Behauptung von keinem
[313]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
Belang, da die Zweideutigkeit nur auf einer Verwech-
ſelung von Eintheilungsgruͤnden beruht, die ſich leicht
heben laͤßt.


Die ganz gemeine Eintheilung der Verufsarbeiten
in Kopf- und Handarbeiten, welche das In-
ſtrument
zum Eintheilungsgrunde nimmt, und hier
um ſo zweckmaͤßiger angewendet wird, da es eben auch
das Inſtrument iſt, auf deſſen Bildung die Erziehung
eine beſondre Ruͤckſicht zu nehmen hat, erſchoͤpft aller-
dings nicht den Begriff, auf den es hier ankoͤmmt; es
muß zugleich die Eintheilung der Berufsthaͤtigkeit in
Beziehung auf ihr Object ſowohl als auf ihre Form
in Betrachtung gezogen werden.


Nehmen wir die Eintheilung der Arbeit nach ih-
rem Object, ſo bezieht ſie ſich entweder auf die In-
nenwelt (das Geiſtige) oder auf die Außenwelt (das
Materielle), und iſt in der erſtern Beziehung vorzugs-
weiſe geiſtige Arbeit (in zweifacher Bedeutung,
ſowohl in Ruͤckſicht des Objectes als des Inſtrumen-
tes,) in der zweiten Beziehung aber in Ruͤckſicht des
Objectes materielle Thaͤtigkeit, die in Ruͤckſicht
des Inſtruments entweder als koͤrperliche Arbeit
(Handarbeit) betrachtet wird, obgleich auch der Geiſt
dabei geſchaͤftig iſt, oder als intellectuelle Thaͤ-
tigkeit
, inwiefern der Koͤrper dabei nicht geſchaͤftig
iſt, obgleich ſie ſich auf die Koͤrperwelt bezieht. Neh-
men wir aber die intellectuelle Thaͤtigkeit
uͤberhaupt
in Beziehung auf ihre Form, ſo iſt
[314]Vierter Abſchnitt.
ſie entweder betrachtend oder hervorbringend
(theoretiſch
oder praktiſch). Beide, bezogen auf
das Object uͤberhaupt, zerfallen in die beſondre Ein-
theilung: betrachtende Thaͤtigkeit, in Beziehung
auf die Innenwelt ſpeculativ, in Beziehung auf die
Außenwelt contemplativ; hervorbringende
Thaͤtigkeit
, in Beziehung auf die Innenwelt pro-
ductiv
, in Beziehung auf die Außenwelt opera-
tiv
. — Durch dieſe umſtaͤndlichere Eroͤrterung hebt
ſich jedoch nicht nur die Zweideutigkeit des Gegenſatzes
zwiſchen Kopf- und Handarbeit auf, ſondern es
laͤßt ſich nach derſelben auch leichter die Verſchiedenheit
der Arbeiten uͤberhaupt uͤberſehen, auf die es vornehm-
lich ankoͤmmt, wenn man von den Ruͤckſichten ſpricht,
die der Erziehungsunterricht auf kuͤnftige Berufsbeſtim-
mung der Lehrlinge zu nehmen habe.


Wenn nun dieſer Eintheilung zufolge die Lehrlinge
als zu der einen oder andern, der Art nach verſchied-
nen, Berufsarbeit beſtimmt betrachtet werden muͤſſen,
und der Erziehungsunterricht darauf Ruͤckſicht zu neh-
men hat, ſo ſcheint es gar nicht zweifelhaft, daß auch
der Erziehungsunterricht der Art nach verſchieden ſeyn
muͤſſe.


Wenn bei dem Individuum, deſſen Beruf auf
Erden die Innenwelt betrifft, und alſo entweder ſpe-
culative oder productive geiſtige Beſchaͤftigung
iſt, unſtreitig vorzugsweiſe die Geſchicklichkeit erfordert
wird, das Gebiet des Geiſtes zu deutlicher und be-
[315]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
ſtimmter Anſchauung zu bringen, die Geiſtesideen ent-
weder objectiv zu machen, ſie fuͤr Andre auszuſprechen
und darzuſtellen, oder ſie in ihrer Objectivitaͤt, in der
von Andern bewirkten Darſtellung derſelben, lebendig
und klar aufzufaſſen, und ihnen Anwendung und Ein-
fluß auf die Beſtimmung der geiſtigen Exiſtenz des
Menſchenſtaates zu geben: ſo iſt unſtreitig auch fuͤr
einen ſolchen die Uebung zu dieſer Geſchicklichkeit ein
Haupterforderniß. Wer die Wahrheit verkuͤnden, Ge-
ſetze geben, den Staat verwalten, das Recht hand-
haben ꝛc. ſoll, muß vor allen andern der Geiſtesideen
faͤhig und der Geiſtesideen Meiſter ſeyn; der muß im
Stande ſeyn, ſie objectiv zu machen, ſie in Begriffe
zu faſſen, die geiſtigen Verhaͤltniſſe in ihren feinſten
Unterſchieden zu erkennen, in ihren verwickeltſten Be-
ziehungen klar zu ſondern, ſie in ihrem Zuſammenhang
unter ſich und mit der Grundidee, als ihrem Princip,
ſicher zu ergreifen und feſt zu halten, den Fall unter
die Regel, die Regel unter das Princip zu ſubſumiren,
u. ſ. f.


Alles dies erfordert ſchon eine Geiſtesuͤbung von
ganz andrer Art als ſelbſt die damit am naͤchſten ver-
wandte (contemplative) Geiſtesbeſchaͤftigung mit der
Außenwelt
. Wer die Aufgabe hat, die Außen-
welt (betrachtend) in allen ihren Gegenſtaͤnden und
Verhaͤltniſſen zu durchdringen, die Naturgegenſtaͤnde
in ihrer Einzelnheit mit Klarheit, in ihrem Zuſam-
menhange mit Beſtimmtheit, in ihrer Vielheit mit
Ueberſicht, und in ihrer Einheit mit Umſicht zu faſſen
[316]Vierter Abſchnitt.
und zu ordnen: der muß vor allen andern der Natur-
ideen faͤhig, und der Naturideen Meiſter ſeyn; der
muß im Stande ſeyn, die Naturideen ſubjectiv zu ma-
chen, auch die Außenwelt als Idee zu ſehen, und
ihre Theile und Ordnung als Darſtellungen der Idee
zu erkennen. Zu dieſer contemplativen Fertig-
keit
in Abſicht auf die Gegenſtaͤnde der Außenwelt
wird eine ganz andre Uebung erfordert, als zu jener
ſpeculativen Fertigkeit in Abſicht auf die Ge-
genſtaͤnde der Innenwelt, wenn gleich in beiden die
Geiſtesthaͤtigkeit auch als bloß betrachtende ge-
dacht wird.


Die Verſchiedenheit erſcheint aber noch groͤßer,
wenn man in Erwaͤgung zieht, daß die Geiſtesthaͤtig-
keit auch in der Contemplation eben o wenig als
in der Speculation eine bloß betrachtende iſt.
Es ſcheint zwar, daß, waͤhrend die Speculation
ihre Gegenſtaͤnde (der Innenwelt) ſelbſt erſt fuͤr die
Betrachtung componiren und fixiren muͤſſe, die Con-
templation
ihre Gegenſtaͤnde (der Außenwelt) als
gegeben und ruhend nur aufnehmen und ordnen duͤrfe.
Allein das Geſchaͤft des wahren Contemplators erfor-
dert allerdings mehr. So wie ſie dem leiblichen Auge
gegeben ſind, ſind die Gegenſtaͤnde der Außenwelt nur
Gegenſtaͤnde der gemeinen Betrachtung, bei der ſich
die Geiſtesthaͤtigkeit nur auf der niedrigen Stufe des
bloßen Fachwerkmachens zeigt. Der wahre Contempla-
tor durchdringt die Gegenſtaͤnde, ſucht ihre innere
Verwandtſchaft auf; er hat eben ſo die inneren Geſetze
[317]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
der Naturwelt, wie jener die inneren Geſetze der Gei-
ſteswelt zu faſſen und zu entwickeln: und wie jener
die ideellen Gegenſtaͤnde fuͤr die Speculation componirt,
ſo hat dieſer die materiellen Gegenſtaͤnde fuͤr die Con-
templation zu decomponiren, ſie in Ideen aufzuloͤſen;
(worinn allein die rechte Kunſt der Naturforſchung ſich
bewaͤhrt.)


Wenn wir alſo die Geſchaͤfte der Menſchen
auf Erden
auch nur von dieſer einen Seite der
betrachtenden Geiſtesthaͤtigkeit in Anſchlag
bringen, ſo zeigt ſich doch ſchon, daß ſie eine der
Art
nach verſchiedne Uebung erfordern, und folglich
auch der Erziehungsunterricht, inwiefern er die Lehr-
linge zu ihrer Beſtimmung auf Erden vorbereiten ſoll,
nicht auf eine bloße Gradverſchiedenheit berech-
net werden duͤrfe.


Noch ſtaͤrker aber tritt die Forderung einer Art-
verſchiedenheit
in Abſicht auf den Erziehungsun-
terricht hervor, wenn wir die Geſchaͤfte der Men-
ſchen auf Erden
von der andern Seite der
hervorbringenden Geiſtesthaͤtigkeit be-
trachten
.


Wer operativ die Naturkraͤfte auf beſtimmte
techniſche oder andre willkuͤrliche Zwecke richten, ſie zu
groͤßeren oder kleineren Abſichten anwenden und ge-
branchen will, der bedarf nicht nur eine von der con-
templativen Anſicht ganz verſchiedne Kenntniß der Au-
[318]Vierter Abſchnitt.
ßenwelt, ihrer Gegenſtaͤnde, Wirkungsarten und Ver-
wandtſchaften, ſondern zugleich auch eine eigne Uebung
koͤrperlicher Geſchicklichkeit, um fuͤr die willkuͤrlichen
oder gegebnen Zwecke den materiellen Stoff zu verknuͤ-
pfen oder der Naturkraft die erforderliche Richtung zu
geben. Eben ſo, wer productiv Ideen darſtellen,
in der Kunſt der Rede ausſprechen, oder in materiel-
lem Stoff ausdruͤcken will, bedarf nicht nur eine von
der ſpeculativen Fertigkeit ganz verſchiedne Anſicht der
Innenwelt, ſondern zugleich auch eine eigne Kunſt,
die Mittel der Darſtellung gehoͤrig zu behandeln; wor-
inn ſelbſt wieder eine ſo große Verſchiedenheit eintritt,
je nachdem die Ideen in dem zauberiſchen Stoff der
Sprache oder des Tons, oder in der Maſſe todter
Materie ausgedruͤckt werden ſollen.


Demnach wuͤrde man den Widerſpruch kaum be-
greifen: dem Erziehungsunterricht von der einen Seite
directe Vorbereitung der Lehrlinge zu den verſchiedenen
Berufsarten zur Pflicht zu machen, und doch von
der andern Seite ihn auf eine bloße Gradverſchie-
denheit zu berechnen; wenn man nicht den Aufſchluß
davon in der uͤberſpannten Anſicht faͤnde, die als ein
herrſchender Irrthum unſrer ganzen modernen Cultur
ſchon oben zur Sprache gebracht worden, in der An-
ſicht naͤmlich: daß alle Menſchenindividuen zu
gleichfoͤrmigen Exemplaren des Menſchenideals ge-
bildet werden ſollen; woraus man die Forderung ab-
leitet: daß der Erziehungsunterricht das Gleichgewicht,
welches durch die Berufsbeſtimmung geſtoͤrt werde,
[319]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
durch Nachhuͤlfe der den Berufsfertigkeiten nachgeſetzten
Geiſtesuͤbungen, herſtelle, und deshalb den Lehrling,
deſſen Beruf in der Ideenwelt iſt, doch auch zugleich
in der materiellen Welt, und dagegen den, deſſen Be-
ruf in der materiellen Welt iſt, doch auch zugleich in
der Ideenwelt uͤben und ausbilden muͤſſe, damit die
verhaßte Einſeitigkeit von allen Seiten abgehalten und
dagegen die beliebte Allſeitigkeit von allen Seiten er-
zielt werde!


Das Wahre iſt, daß beide Behauptungen zugleich
falſch ſind; ſowohl: daß der Erziehungsunterricht die
Aufgabe habe, die Lehrlinge zu ihrem kuͤnftigen
Berufe vorzubereiten
; als auch: daß er auf
eine bloße Gradverſchiedenheit zuruͤckgefuͤhrt
werden koͤnne. Beides iſt in folgenden zwei allgemei-
nen Betrachtungen naͤher zu eroͤrtern.


2.


Abgeſehen von aller Ruͤckſicht auf die Verſchieden-
heit kuͤnftiger Berufsbeſtimmungen der Lehrlinge, erfor-
dert ſchon die Artverſchiedenheit der Indivi-
duen
an und fuͤr ſich auch eine Artverſchieden-
heit des Erziehungsunterrichts
, und es muß
vielmehr die umgekehrte Anſicht als die wahre geltend
gemacht werden: daß die Artverſchiedenheit
der Individuen
, als deren innerer Beruf,
die Art des Erziehungsunterrichts, als die
zweckmaͤßige Ausbildung ihrer Anlagen, und
dadurch mittelbar auch die Art ihres aͤußeren
[320]Vierter Abſchnitt.
Berufes, als die von ihnen in dieſer Welt
zu leiſtende Arbeit
, beſtimme.


Die Maxime, von der Beſtimmung des aͤußeren
Berufs auszugehen und darnach feſtzuſetzen, was mit
dem Lehrling zu thun ſey, muß ſogleich in ihrer Nich-
tigkeit erkannt werden, ſobald man ſich nur ernſtlich
fragt: wodurch denn der aͤußere Beruf eines Indivi-
duums beſtimmt werde? Daß nach dem gewoͤhnlichen
Gang der Dinge tauſend Zufaͤlligkeiten, aͤußere Gluͤcks-
verhaͤltniſſe, Standesunterſchied u. ſ. w. oft bloß Ei-
telkeit oder Laune der Aeltern, der Lebensbeſtimmung
des Menſchen die Entſcheidung geben, wird hier, wo
es auf wiſſenſchaftliche Unterſuchung ankoͤmmt, Nie-
mand geltend machen wollen. Muß man aber zuge-
ben, daß hierinn keine Zufaͤlligkeit, ſonach auch keine
Willkuͤr, ſtatt finden, und der Beruf eines Indivi-
duums nur durch ſeine Individualitaͤt beſtimmt
werden koͤnne: ſo muß man auch einraͤumen, daß man
den ganz verkehrten Weg einſchlage, indem man die
Beſtimmung des Erziehungsunterrichts von der Be-
ſtimmung des kuͤnftigen Berufes der Lehrlinge abhaͤn-
gig machen wolle.


Allein dieſe natuͤrliche Beſtimmungsart des Berufes
nach der Artverſchiedenheit der Individuen
fand in der unnatuͤrlichen Philanthropie unſrer Zeit ein
Hinderniß von ganz eigner Art, das ſich durch eine
uͤbelverſtandne Behauptung der Zeitphiloſophie zu decken
wußte. Man trieb die Anſicht von der Gleichheit
[321]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
der Individuen ſo weit, daß man, von einer Art-
verſchiedenheit
der Individuen zu ſprechen, fuͤr eine
Verletzung der Vernunft hielt.


„Die Bildung, ſagte man, ſoll nur Eine ſeyn, wie
die Vernunft ſelbſt nur Eine, der Geiſt nur Einer, und
das Object der Erkenntniß nur Eines iſt. Alles ſoll von
Allen erkannt werden, fordert das Ideal der allgemei-
nen Bildung. Dieſes Ideal wird freilich nicht von Al-
len in ſeiner Vollſtaͤndigkeit erreicht, weil nicht Allen
die Bedingungen zu dem Allen der Erkenntniß gegeben
ſind, weil innerliche und aͤußerliche Beſchraͤnkungen die
Einzelnen bald mehr bald weniger verhindern, ſich des
Ganzen zu bemaͤchtigen. Allein Alle ſind doch, als
Vernunft, dazu beſtimmt, zu dem Ganzen der Erkennt-
niß zu gelangen, und der Unterricht darf darinn nicht
eine willkuͤrliche Beſtimmung machen; ſeine Aufgabe
iſt, zu jenem Ziele Alle, ſo weit als moͤglich, hinan
zu fuͤhren, jedem Individuum gerade von der Seite
mehr nachzuhelfen, von der es am meiſten einer Nach-
huͤlfe bedarf, und ſo gleichfoͤrmig die Hinderniſſe, die
ſich bei den Einzelnen finden, moͤglichſt zu beſeitigen.
Darinn kann es keinen andern Unterſchied, als den des
Grades, geben. Der Unterricht fuͤhrt Jeden zu dem
Ganzen der Erkenntniß, ſo weit es nach den Kraͤften
eines Jeden moͤglich iſt. Wer will denn wagen, vor-
zuſchreiben, was dieſer oder Jener aus dem Ganzen
der Erkenntniß auffaſſen, was er unbeachtet laſſen ſoll?
Da jeder Menſch, als Menſch, die Beſtimmung und
die Faͤhigkeit zur ganzen Bildung in ſich traͤgt, darf
21
[322]Vierter Abſchnitt.
keiner ausgeſchloſſen, oder nach Gutduͤnken auf dieſen
oder jenen Theil des Unterrichts beſchraͤnkt werden, und
es waͤre Vermeſſenheit, darinn eine willkuͤrliche Abthei-
lung machen zu wollen. Es giebt keine andre Abthei-
lung als die Graͤnze in dem allgemeinen Fortruͤcken, die
ſich durch Anlagen und Fleiß eines Jeden bildet. Auf
welcher Stufe des allſeitigen Ausbildens Jeder ſtehen
bleibt, da beſtimmt er ſelbſt den Grad der Bildung,
der ihm zukoͤmmt, waͤhrend er in Abſicht auf die Art
derſelben mit allen vernuͤnftigen Individuen auf glei-
cher Linie
ſteht, auf welcher ihn in irgend einem
Punkte abſichtlich zuruͤckzuſetzen Niemand ein Recht ha-
ben kann.“


Allein, was von dieſer uͤberſpannten Anſicht und
uͤbertriebenen Bedenklichkeit zu halten ſey, iſt oben ſchon
beſtimmt genug auseinander geſetzt worden. Ohne uns
zu deren Widerlegung auf eine weitausſehende Unterſu-
chung einzulaſſen, begnuͤgen wir uns, zwei Hauptpunkte
geltend zu machen, die bei Beſtimmung der Artver-
ſchiedenheit des Erziehungsunterrichts
vor-
zugsweiſe in Anſchlag kommen.


Der eine Hauptpunkt, der einem Widerſpruch we-
niger unterworfen iſt, betrifft die Verſchiedenheit
des Geſchlechts
. Will man einerlei Bildung dem
Manne geben und dem Weibe? Will man auch hierinn
nur einen Gradunterſchied des Unterrichts vielleicht
ſtatuiren? Welches moͤchte wohl die Graͤnzlinie ſeyn,
die den Grad bezeichnet, wo die Bildung des maͤnnli-
[323]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
chen Geſchlechts die des weiblichen, oder umgekehrt die
Bildung des weiblichen Geſchlechts die des maͤnnlichen
uͤberſteigen muͤßte? — Wir wollen aber unſre Widerle-
gung nicht auf die Verlegenheit bauen, in welche unſre
Gegner durch dieſe Inſtanz verſetzt werden muͤßten; wir
wollen vielmehr geradezu darauf dringen, daß ſie uns
ein dicectes Ja oder Nein auf die Frage ertheilen: ob
die Bildung des Weibes in der That von Einer und der-
ſelben Art mit der Bildung des Mannes ſeyn muͤſſe?
Viele unſrer Unterrichtstheoretiker, wollten ſie ganz auf-
richtig ſeyn, wuͤrden geſtehen muͤſſen, daß ſie in ihrer
Theorie das ganze ſchoͤne Geſchlecht voͤllig vergeſſen, und
eben deswegen ihren Faden ſo ungehindert nacheinander
fortgeſponnen haben; wenigſtens erwaͤhnen ſie dieſer
hoͤchſt wichtigen Ruͤckſicht ſo wenig, daß man ſich jener
Vermuthung kaum enthalten kann. Wir wollen ſie aber
auch mit dieſer Beſchuldigung nicht weiter draͤngen, ſon-
dern annehmen, ſie ſeyen von der Ueberzeugung aus-
gegangen, und werden es mit einem entſchloßnen Ja
bekraͤftigen, daß auch zwiſchen Mann und Weib in Ab-
ſicht auf geiſtige Anlagen keine Artverſchiedenheit ſtatt
finde, und eben deshalb auch der Unterricht fuͤr beide
ſich uͤber Einen Leiſten ſchlagen laſſe.


Aber eben dieſe Vorausſetzung iſt entſchieden irrig.
In dem weiblichen Gemuͤthe iſt uͤberall nicht die Tren-
nung, die dem maͤnnlichen eigen iſt. Der Geiſt des
Mannes hat die Einheit nur durch Trennung und Ver-
bindung, ihm iſt es charakteriſtiſch, durch Analyſis zur
Syntheſis zu gelangen; in dem Geiſte des Weibes da-
21*
[324]Vierter Abſchnitt.
gegen iſt die Einheit Theſis, das reine ungetheilte
Ganze. So iſt das Weib im Gegenſatz vom Manne,
im Denken, wie im Fuͤhlen und im Thun, in Allem
gleich ungetheilt und unmittelbar; und man zerſtoͤrt
dieſen herrlichen Charakter des weiblichen Weſens, wenn
man in das weibliche Gemuͤth die Treunung bringt, die
bei dem Manne als Durchgang zur geiſtigen Vollendung
in ſeiner Art unentbehrlich und unerlaßlich iſt. Ob
dieſer Charakter des maͤnnlichen, oder jener des weib-
lichen Geiſtes der hoͤhere, und welcher von beiden der
vortrefflichere ſey? laͤßt ſich ſtreiten. Wenn der hoͤchſte
Vorzug der Vernunft die Syntheſis waͤre, die durch
eine vollendete Analyſis bedingt iſt; wenn die Behaup-
tung unbedingt wahr waͤre, daß die Wahrheit nur in
der mittelbaren Kenntniß durch Begriffe, die Moralitaͤt
nur in der Vollziehung mittelbar erkannter Forderungen,
die Kunſt nur in der Vollziehung mittelbar erdachter
Regeln beſtaͤnde: dann ſtaͤnde das Weib, deſſen Grund-
charakter die Unmittelbarkeit im Denken, Thun und
Fuͤhlen iſt, und das eben darum zu jenem Ideal, der
mittelbaren Virtuoſitaͤt durch Freiheit, ſich weder ſelbſt
erheben, noch durch irgend eine Kuͤnſtelei erhoben wer-
den kann, dem Manne weit nach. Aber, wer das
Weſen jener Unmittelbarkeit tiefer erforſcht, und eingeſe-
hen hat, welche hohe Vortrefflichkeit die unmittelbare
Erkenntniß des Wahren, Guten und Schoͤnen habe,
die dem Weibe eigenthuͤmlich iſt; wer es weiß, mit
welcher Sicherheit das Weib das Rechte trifft, daß ihr
Urtheil ſelbſt fuͤr des Mannes weit geſuchte und doch ſo
oft nicht richtige analytiſche Erkenntniß ein zuverlaͤſſiger
[325]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
Probirſtein iſt; wer zugleich erkennt, daß ſelbſt das
Hoͤchſte, was je ein maͤnnlicher Genius hervorgebracht
hat, aus einer gleichen Unmittelbarkeit kam: der wird
jene Eigenthuͤmlichkeit des weiblichen Geiſtes in Verglei-
chung mit der des maͤnnlichen nicht gering achten; er
wird einraͤumen muͤſſen, daß man grundlos um den
Vorzug ſtreite, da beide incommenſurabel ſind, beide
von unendlichem Werth und unendlichen Perfectibilitaͤt
in ihrer Art. Wer aber dies erkannt hat, wird auch
nicht weiter laͤugnen koͤnnen, daß es im hoͤchſten Grade
unverſtaͤndig ſey, das Weib auf dieſelbe Weiſe bilden
zu wollen, wie den Mann; in Allem nach Begriff und
Regel, mit fleißiger Zergliederung und ſelbſt Zerſplitte-
rung der Begriffe und der Regeln.


Zwar haͤtten ſchon laͤngſt abſchreckende Beiſpiele ge-
nug auf die Verkehrtheit der modernen weiblichen Bildung
aufmerkſam machen koͤnnen. Aber man ſuchte den Grund
der widernatuͤrlichen Erſcheinung nur in der Halbheit
der Bildung
, und meinte, daß bei vollſtaͤndig
durchgefuͤhrter Bildung
etwas ganz Vortreffli-
ches wuͤrde geworden ſeyn. So ſehr konnte man in
Theorie und Praxis des Erziehungsunterrichts vergeſſen,
was ſonſt in Theorie und Praxis als Eigenthuͤmlichkeit
des Weibes bekannt und anerkannt genug iſt. So ſehr
hat man vergeſſen, das Weib in ſeiner Art zu bilden
und zu der Vollendung zu erheben, zu der dieſes Ge-
ſchlecht beſtimmt iſt, daß man gar nicht mehr ſehen
wollte, zu welcher Unnatur man es verbildete, indem
man es nach Maͤnner Art zu bilden unternahm.


[326]Vierter Abſchnitt.

Der andre Hauptpunkt betrifft die Artverſchie-
denheit der Individuen
in beiden Geſchlechtern.
In der Idee kann man freilich ſagen: Alle haben zu
Allem die Anlage, denn die Vernunft iſt nur Eine, und
Alle ſeyen Vernunft. Die das behaupten, moͤgen dann
allerdings wohl auch nur einen Gradunterſchied
unter den Menſchen annehmen, inwiefern nach jener
Anſicht die Individuen ſich nicht anders als dadurch un-
terſcheiden koͤnnten, daß die Anlagen, die bei Jedem
alle vorhanden ſeyn muͤßten, nur bei dem Einen in
hoͤherem, bei dem Andern in geringerem Grade vor-
handen waͤren; einige bei Einigen nur bis auf ein Mi-
nimum vermindert. Allein es iſt nicht noͤthig, daß wir
uns uͤber dieſe ſpeculative Behauptung in ſpitzfindige
Unterſuchungen einlaſſen; wir wollen den tiefſinnigen
Satz mit ſeiner Folgerung zugeben, und bloß ganz ein-
fach fragen: ob es irgend Jemand der Muͤhe werth
halten koͤnne, ein ſolches Minimum von Anlage bei ei-
nem Lehrling bilden zu wollen? Wer z. B. wird ein
Kind, dem — wie es die gewoͤhnliche Redensart aus-
druͤckt — alle Anlage zur Muſik fehlt, mit muſikali-
ſchen Uebungen quaͤlen, bloß weil ſie nach dem obigen
Satze gleichwohl (wie eine qualitas occulta) als in der
Seele vorhanden ſupponirt werden muͤßte? So-
dann, wenn man auch der metaphyſiſchen Behauptung
praktiſche Folge geben wollte, ſo duͤrfte zugleich vor
allem andern auch die Folgerung geltend gemacht wer-
den, daß bei dem organiſchen Zuſammenhang aller gei-
ſtigen Anlagen des Menſchen doch auch die weniger
hervortretenden, ſelbſt wenn auf deren Uebung keine be-
[327]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
ſondre Ruͤckſicht genommen wird, mit der Uebung der
vorherrſchenden Anlagen verhaͤltnißmaͤßig fortruͤcken und
ſich entwickeln; fuͤr welche Behauptung ſich ſogar das
ſpaͤte Erwachen mancher Talente als Beweis anfuͤhren
ließe.


Gerade dadurch alſo beſteht in der That eine
Artverſchiedenheit unter den Individuen,
daß ſie — obgleich Alle, der Idee nach, zu Allem em-
pfaͤnglich und mit Allem ausgeruͤſtet, was die Ver-
nunft iſt und hat, — in Abſicht auf die Miſchung der
Anlagen ſo ganz verſchieden ſind, daß bei dem Einen
dieſe bei dem Andern andre Anlagen ſo entſchieden
vorherrſchen, daß er als dies beſtimmte Individuum
nur durch dieſe hervortretenden Anlagen ausgezeichnet
iſt, und die andern in ihm ſchlummernden (qualitates
occultae
) gar nicht mit gerechnet werden. Da es nun
nur der Muͤhe lohnt, die vorherrſchenden Anlagen mit
beſondrer Sorgfalt auszubilden, die andern aber
entweder gar nicht, oder doch ſehr wenig in
Betracht kommen koͤnnen, ſo ſind zwei Individuen, in
denen ſich verſchiedne Anlagen auszeichnen, durch dieſe
verſchiedne Miſchung der Anlagen (obgleich wir an-
nehmen wollen, daß alle Anlagen der Vernunft in bei-
den ſeyen und von dieſen Anlagen nur einige verſchie-
dene ſich dem Grade nach unterſcheiden) doch als
zwei verſchiedne Arten fuͤr die praktiſche Behandlung
des Erziehungslehrers zu betrachten.


Sonach muß auch von dieſer Seite eine Artver-
ſchiedenheit des Erziehungsunterrichts
als
[328]Vierter Abſchnitt.
nothwendig anerkannt werden; ohne daß es erſt noͤ-
thig waͤre, dieſe Forderung von der Verſchiedenheit
der Berufsarten abzuleiten. Die Lehrlinge ſind durch
ihre eigne Natur verſchieden, und erfordern alſo auch
in der kuͤnſtlichen Befoͤrderung ihrer Geiſtesentwickelung
eine verſchiedene Behandlung. Wenn auch die Ver-
nunft in Allen gleich iſt, ſo tritt ſie doch in den Ein-
zelnen in großer Mannichfaltigkeit hervor, und eben
durch dieſes Hervortreten der Mannichfaltigkeit indivi-
dualiſirt ſie. Dadurch ſpricht ſie auch den inneren
Beruf
der Individuen aus, und die Verſchiedenheit
innerer Berufsarten iſt eben ſo mannichfaltig als die
Verſchiedenheit der Individuen. Da nun der dadurch
ausgeſprochene innere Beruf eines Individuums auch
das Ziel ſeiner Bildung ausdruͤckt, — das, wozu es
ſich, abgeſehen von allen aͤußeren Verhaͤltniſſen deſſel-
ben zu der Welt, bilden ſoll, — ſo muß auch der Er-
ziehungsunterricht
, inwiefern er zu Herbeifuͤh-
rung jenes Zieles mitwirken ſoll, verſchieden ſeyn.
Man muß die Fertigkeit im Lehrling uͤben, durch die
er ſich auszeichnet, und in welcher ſeine Natur ſeine
Beſtimmung ausgeſprochen hat: ihn zu etwas anderm
bilden wollen, hieße die Natur verkehren, der Weltre-
gierung vorgreifen.


Da aber ein verſchiednes Ziel auch verſchiedne
Mittel fordert, ſo muß der Erziehungsunterricht, wie
der innere Beruf der Lehrlinge verſchieden iſt, auch ver-
ſchiedne Unterrichtsmittel anwenden. Den Lehrling, der
durch ſeine Natur zum Mathematiker beſtimmt iſt, wird
[329]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
der verſtaͤndige Erzieher nicht zum Dichter bilden wol-
len, ſo wie den zum Dichter beſtimmten nicht zum Ma-
thematiker. Jenem alſo muß er eine andre Bildung ge-
ben als dieſem. Wenn er nun fuͤr beide das Studium
der Philologie z. B. beſtimmt, weil er es um der ſtren-
gen, der Mathematik am naͤchſten kommenden, Metho-
de willen fuͤr jenen, um der, die Darſtellung durch
Rede als Kunſt einpraͤgenden, Muſterhaftigkeit willen
fuͤr dieſen zweckmaͤßig haͤlt: ſo iſt auch in dieſer An-
wendung des Mittels nicht ein Grad-, ſondern ein
Art-Unterſchied. Den Mathematiker bloß weni-
ger
als den Dichter mit Philologie beſchaͤftigen, waͤre
eine veraͤchtliche Stuͤmperei der Didaktik! Den Phil-
anthropiniſten aber bleibt kein anderer Ausweg. Da
ſie einmal dem Erziehungsunterricht den Zweck geben,
daß ſich die Lehrlinge des ganzen Gebietes der Erkennt-
niß ſo viel als moͤglich iſt bemaͤchtigen, ſo koͤn-
nen ſie, ohne inconſequent zu werden, bei keinem
einzelnen Lehrling einen einzelnen Lehrgegenſtand aus-
nehmen, ſondern muͤſſen jedem alle Lehrgegenſtaͤnde mit-
theilen, und ſonach — wo es an Zeit und Kraft fuͤr
alle gebricht — ſich in allen gleichmaͤßig mit einem
Minimum erlangter Kenntniß befriedigen: welches dann
ohne Zweifel nichts anders heißt als, die Stuͤmperei
organiſiren.


Wollte man dagegen nun noch einwenden, daß
nach der obigen Anſicht fuͤr jedes Individuum — da
es in dem Begriff des Individuums liege, daß keines
dem andern vollkommen gleich ſey — ein ganz eigner
[330]Vierter Abſchnitt.
Erziehungsunterricht noͤthig ſeyn wuͤrde, welches un-
ſtreitig als unausfuͤhrbar betrachtet werden muͤſſe: ſo
laͤßt ſich fuͤrs erſte mit Recht erwiedern, daß die Theo-
rie zufaͤllige Schranken der Ausfuͤhrbarkeit ihrer For-
derungen nicht als Regulativ reſpectiren koͤnne, ſie
muß vielmehr ihre Poſtulate, die in der Zergliederung
der ganzen Idee des Zweckes liegen, unangeſehen ihrer
Ausfuͤhrbarkeit oder Nichtausfuͤhrbarkeit unter gegebnen
zufaͤllig beſchraͤnkten Umſtaͤnden, um ſo mehr in ihrer
ganzen Strenge und Wichtigkeit auch fuͤr die Praxis
aufſtellen, um einestheils die Ausfuͤhrung vorzuberei-
ten, indem ſie durch die aufgeſtellte Forderung ein Su-
chen nach den Mitteln veranlaßt, anderntheils um auf
die Aushuͤlfsmittel, die vorhanden oder herbeizuſchaffen
ſind, aufmerkſam zu machen, damit jene gepruͤft und
benutzt, und dieſe in Ueberlegung genommen werden;
fuͤrs zweite aber waͤre die Forderung nicht bloß uͤber-
trieben, ſondern in der That falſch, indem ausdruͤcklich
die Rede nur von den ſich auszeichnenden Ver-
ſchiedenheiten
der individuellen Anlagen war, auf
welche beſondre Ruͤckſicht genommen, und alſo eine
wirkliche Verſchiedenheit des Erziehungsunterrichts ge-
gruͤndet werden ſollte.


Die Hauptverſchiedenheiten aber, die einen wirkli-
chen Gegenſatz bilden, und deshalb eine ſolche beſondre
Beruͤckſichtigung erfordern und verdienen, ſind nicht
unbeſtimmbar mannichfaltige, ſondern die in der obi-
gen Eintheilung der Berufsarbeiten beſtimmt und voll-
ſtaͤndig aufgezaͤhlten. Wird alſo nur fuͤr jene durch ei-
[331]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
ne zweckmaͤßige Einrichtung des Erziehungsunterrichts
geſorgt, ſo wird jedes Individuum in ſeiner Art zu
dem Grade von Ausbildung, deſſen ſeine Anlagen faͤ-
hig ſind, leicht gelangen, ohne daß im Allgemeinen ei-
ne mehr individualiſirte kuͤnſtliche Nachhuͤlfe als dieje-
nige erforderlich waͤre, die jeder Lehrer einer Claſſe
z. B. in Ruͤckſicht auf die Gradverſchiedenheit ſeiner
Schuͤler eintreten laſſen muß.


3.


Was endlich die Ruͤckſicht auf die kuͤnfti-
ge Berufs- und Lebensbeſtimmung
der Lehr-
linge betrifft, die man von dem Erziehungsunterricht
fordert, ſo iſt oben bereits erinnert worden, daß die
Forderung vielmehr umzukehren ſey: daß der Erzie-
hungsunterricht vielmehr den Beruf, als
der Beruf den Erziehungsunterricht be-
ſtimmen muͤſſe
. Inzwiſchen, da die Anſicht, wel-
cher zufolge der Erzieher mit ſeinem Unterricht vor-
nehmlich auf den kuͤnftigen Beruf ſeiner Lehrlinge zu
ſehen haͤtte, ſich von Seite der praktiſchen Brauchbar-
keit einleuchtend empfielt, und jene Behauptung alſo,
welche dieſe Ruͤckſicht ganz auszuſchließen ſcheint, be-
denklich gefunden werden koͤnnte: ſo kann eine genaue-
re Unterſuchung der Gruͤnde der gegenſeitigen Behaup-
tung hier um ſo weniger umgangen werden, da die
Forderung ſelbſt etwas ganz Wahres enthaͤlt, das nur
in einer verkehrten Anſicht genommen und angewendet
wird.


[332]Vierter Abſchnitt.

Sobald wir den Menſchen nicht bloß als Men-
ſchen uͤberhaupt, ſondern als Glied der menſchlichen
Geſellſchaft betrachten, (welches Letztere ſogar eine noth-
wendige Bedingung ſeines vernuͤnftigen Daſeyns ſelbſt
iſt;) muͤſſen wir von einer aͤußeren Beſtimmung
deſſelben eben ſo wohl als von ſeiner inneren Be-
ſtimmung
ſprechen, und koͤnnen ſonach als Erzieher
und Bildner auch nicht umgehen, die Bildung unſrer
Lehrlinge auf die Stelle zu berechnen, die ſie in der
Welt (der Geſellſchaft der Menſchen) einnehmen ſollen.
Da der Menſch ſeine Beſtimmung auf Erden nicht in
einer abſtracten Allgemeinheit, als Menſch uͤberhaupt,
ſondern an einer beſtimmten Stelle, in beſtimmten Ver-
haͤltniſſen, mit einem beſtimmten Geſchaͤft, zu erfuͤllen
hat: ſo kann er auch nicht in der abſtracten Allgemein-
heit als Menſch, ſondern muß in Beziehung auf be-
ſtimmte Verhaͤltniſſe gebildet werden, um ſeinen be-
ſtimmten Antheil an der allgemeinen Aufgabe, welche
das Menſchengeſchlecht auf Erden hat, erfuͤllen zu koͤn-
nen. Inſofern kann der Erziehungsunterricht doch auch
die Ruͤckſicht auf die weſentliche Verſchiedenheit der
Individuen in Anſehung ihrer aͤußeren Beſtim-
mung
nicht aus den Augen ſetzen. Je nachdem der
Lehrling zu dieſem oder jenem Geſchaͤft auf Erden vor-
zugsweiſe beſtimmt iſt, hat er dieſe oder jene Fertig-
keit, dieſe oder jene Kenntniß vorzugsweiſe noͤthig, und
muß alſo auch dieſe oder jene Bildung vorzugsweiſe
erhalten.


Dies iſt auch die Anſicht, aus welcher die in der
neueren Paͤdagogik controvers gewordne, vielfach beſtrit-
[333]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
tene, Frage: ob das Kind zum Menſchen oder
zum Buͤrger zu erziehen ſey
? unſtreitig am be-
ſtimmteſten gefaßt werden kann.


Nach der obigen Anſicht erhellt, daß man ſich ſelbſt
mißverſteht, wenn man glaubt, jene Erziehung trennen
zu koͤnnen. Es ſind nur Begriffsverſchiedenheiten, Ab-
ſtractionen, jene Abſonderung zwiſchen Menſch und
Buͤrger. Der Menſch iſt weder als Menſch allein, noch
als Buͤrger allein zu betrachten; er wird weder als
das Eine noch als das Andre allein geboren. Auf
dieſer Erde erſcheint er nicht als Menſch uͤberhaupt,
ſondern als integrirender Theil der Menſchheit, und
im Verhaͤltniß zu den Menſchen, als beſtimmtes Glied
ihrer Geſellſchaft. Wollen wir alſo nicht einer bloß
theoretiſchen Abſtraction, welche die beiden objectiv un-
zertrennlichen Verhaͤltniſſe ſubjectiv (im Begriffe) trennt,
Einfluß auf unſer praktiſches Verfahren im Erziehungs-
unterricht geben, und dieſes dadurch einſeitig machen;
ſo koͤnnen wir den Menſchen eben ſo wenig als Men-
ſchen uͤberhaupt
, — dies hieße: fuͤr eine Welt,
die gar nicht exiſtirt; — als bloß zum Buͤrger erziehen
wollen; welches Letztere in der That hieße: das zum
Mittel des Mittels machen, was vielmehr der Zweck
ſeyn ſoll; inwiefern wir naͤmlich die buͤrgerlichen
Verhaͤltniſſe, oder den Geſellſchaftsverein der Men-
ſchen, nur als Bedingung und Mittel betrachten
koͤnnen zu dem hoͤheren Zwecke der Bildung der
Menſchheit.


[334]Vierter Abſchnitt.

Eben ſo kann man auch noch nach einer andern
Anſicht ſagen: da der Menſch ſich nicht von die-
ſer Welt iſoliren und ſich eine Beſtimmung fuͤr ſich
ſelbſt geben koͤnne, ſondern zu dieſer Welt in Beziehung
ſtehe, und zum Handeln auf dieſe Welt beſtimmt ſey,
in Ruͤckſicht dieſes Handelns aber eine große Verſchie-
denheit ſtatt finde, und nicht jeder Einzelne alle Arten
deſſelben thun koͤnne, Verſchiedne alſo Verſchiednes
thun muͤſſen; ſo koͤnne auch der Erzieher nicht Umgang
nehmen, bei ſeinem Zoͤgling vor allen Dingen darauf
zu ſehen, zu welcher Art des Handelns (Geſchaͤſ-
tes, Berufes,) in dieſer Welt er beſtimmt ſey, um
darnach auch die ihm zu ertheilende Bildung zu be-
meſſen, und die Art des Unterrichts zu de-
ſtimmen.


Allein, ſo viel Gewicht man auch auf dieſe Argu-
mentationen legen mag, ſo geben ſie doch auch nur
eine einſeitige Aufloͤſung des Problems, und begruͤnden
die Forderung nicht, die man daraus in der Anwen-
dung auf den Erziehungsunterricht ableiten will.


Die eigentliche Differenz, um die ſich die obigen
Argumentationen drehen, betrifft das zweifache Verhaͤlt-
niß des Individuums, inwiefern es einerſeits als ſelbſt-
ſtaͤndig und unabhaͤngig, andrerſeits aber doch nur als
integrirender Theil nicht nur der Menſchheit uͤberhaupt,
ſondern des Univerſums im Ganzen, betrachtet werden
muß. Nun iſt aber bei der Frage: fuͤr welches jener
beiden Verhaͤltniſſe der Erziehungsunterricht den Men-
[335]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
ſchen bilden ſolle? die Aufloͤſung, die den ganzen Er-
ziehungsunterricht durch das letztere Verhaͤltniß allein
beſtimmen will, eben ſo einſeitig, als die entgegenge-
ſetzte, die ihn durch das erſtere Verhaͤltniß allein be-
ſtimmt. Was aber dabei noch eine ganz beſondre Auf-
merkſamkeit verdient, iſt die Endloſigkeit der Ruͤckſicht,
die nach jener Aufloͤſung als Regulativ zu Beſtimmung
des Erziehungsunterrichts aufgeſtellt wird. Wer ermißt
denn das Verhaͤltniß, welches das Individuum zu dem
unuͤberſehbaren Ganzen hat? Wer kann ſagen: dazu
oder dazu iſt das Individuum in dieſer Welt beſtimmt?
Koͤnnen wir aus dem Univerſum berechnen, welche Ar-
beit einem Menſchen aufzutragen ſey? Wenn wir aber
einen ſolchen beſtimmten Punkt nicht finden koͤnnen,
wie wollen wir doch dem Erziehungsunterricht irgend
eine feſte Richtung geben? — So verwickelt uns jene
vermeinte Aufloͤſung, die man eben ſo einleuchtend als
heilſam fuͤr die Praxis findet, mit unſrer Aufgabe in
der That in eine unaufloͤsliche Unbeſtimmtheit, aus
der wir uns nur retten koͤnnen durch die Ruͤckkehr zu
dem entgegengeſetzten Geſichtspunkt, welchem zufolge
wir den Erziehungsunterricht allein nach der Indivi-
dualitaͤt der Lehrlinge
ermeſſen, und ohne alle
Ruͤckſicht auf aͤußeren Beruf lediglich nach dem in-
neren Berufe
der Individuen beſtimmen.


Dies iſt der einzige Weg, auf dem wir zu einer
Beſtimmtheit in der Anwendung des Erziehungsunter-
richts auf die Lehrlinge gelangen koͤnnen. Da wir das
Verhaͤltniß der Individuen zu dem Univerſum nicht
[336]Vierter Abſchnitt.
aus dem Univerſum berechnen koͤnnen, ſo bleibt uns
zur Berechnung nur der entgegengeſetzte Punkt, das
Individuum, in deſſen Individualitaͤt auch ſein Ver-
haͤltniß zum Univerſum ausgedruͤckt iſt. Folgen wir
alſo nur in der Behandlung der Lehrlinge dem inne-
ren Berufe
derſelben, und bilden die Anlagen aus,
die wir als die ausgezeichnetſten an ihnen finden; ſo bil-
den wir ſie auch fuͤr ihren aͤußeren Beruf am zweck-
maͤßigſten und ſicherſten, waͤhrend wir damit auch am
unfehlbarſten jene Differenz aufloͤſen: das Individuum
fuͤr ſich ſelbſt und fuͤr das Univerſum zugleich zu bilden
und zu Vollendung ſeiner zweifachen Beſtimmung moͤg-
lichſt weit hinan zu fuͤhren.


In dieſer Umkehrung alſo nur bleibt die Forderung
wahr: daß der Erziehungsunterricht ſich nach der kuͤnf-
tigen Beſtimmung der Lehrlinge richten muͤſſe. Fuͤr die
Praxis wird dadurch ſicher nichts verloren, daß jene un-
mittelbare Beziehung des Unterrichts auf den kuͤnftigen
Beruf verlaſſen wird. Denn, wird der Lehrling nur
nach ſeinen individuellen Anlagen gruͤndlich ausgebildet,
ſo wird er in dem Beruf, zu dem er durch Anlagen
und Ausbildung beſtimmt und vorbereitet uͤbergeht, jede
Forderung zu erfuͤllen im Stande ſeyn; wobei das
Berufsgeſchaͤft ſelbſt nichts verlieren, ſondern nur ge-
winnen kann. Und wenn man die beiden Maximen
neben einander ſtellt: „dieſer Schuͤler ſoll ein
Gelehrter werden, und iſt dieſer Abſicht ge-
maͤß im Unterricht zu behandeln
;“ und dage-
gen: „dieſer Schuͤler zeichnet ſich durch vor-
[337]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
zuͤgliche Geiſtesanlagen aus und iſt darinn
hauptſaͤchlich durch den Unterricht zu uͤben
;“
ſo kann es nicht ſchwer ſeyn zu erkennen, welche von
beiden die vernuͤnftigere iſt.


4.


Nach dieſen vorausgeſchickten Eroͤrterungen haben
wir nur noch die verſchiednen Hauptarten des
Erziehungsunterrichts
nach unſrer Anſicht zu
beſtimmen.


Der Erziehungsunterricht uͤberhaupt theilt ſich,
gemaͤß der Artverſchiedenheit der Lehrlinge, nach zwei
Hauptruͤckſichten: nach der Verſchiedenheit des
Geſchlechts
, und nach der Verſchiedenheit der
individuellen Anlagen
der Lehrlinge.


Die erſtere Ruͤckſicht bildet die Abtheilung: in den
Unterricht fuͤr die maͤnnlichen, und in den Unter-
richt fuͤr die weiblichen Lehrlinge. In der zwei-
ten Ruͤckſicht aber begreift die erſte Claſſe außer
denjenigen Lehrlingen, deren innerer Beruf zu einem
geiſtigen Berufsgeſchaͤft durch ausgezeichnete Gei-
ſtesfaͤhigkeit
unzweideutig iſt, auch noch ſolche be-
ſonders, die zwar von der Natur nicht gerade durch
eminente Geiſtesgaben beguͤnſtiget, dafuͤr aber von dem
Schickſal mit Gluͤcksguͤtern bereichert, frei von der
Noth und dem Druck aͤußerer Verhaͤltniſſe, zu einer
ausgebreiteteren Geiſtesbildung Zeit und
Mittel zu verwenden haben. Sind gleich die Letz-
22
[338]Vierter Abſchnitt.
tern in dem Eintheilungsgrunde nicht unmittelbar mit
begriffen, ſo laͤßt ſich doch gegen dieſe Ausdehnung der
Eintheilung inſofern kein gegruͤndeter Einwurf machen,
als auch ſolche aͤußere Verhaͤltniſſe des Individuums,
wie ſeine inneren, nicht als bloßer Zufall, ſondern
vielmehr beide auf gleiche Weiſe als Beſtimmungen
einer hoͤhern Ordnung zu betrachten ſind, die zur Be-
ſtimmung der Individualitat unabaͤnderlich gehoͤren und
gerechnet werden muͤſſen. — Die andere Claſſe
dieſer Abtheilung wird im Gegenſatz von jener bloß
negativ beſtimmt als die Claſſe derjenigen Individuen,
die von dem Schickſal weder innerlich noch aͤu-
ßerlich
vorzuͤglich beguͤnſtiget ſind.


Fuͤr die letztere Claſſe muß ſich der Erzie-
hungsunterricht auf die oben ſogenannte nothwen-
dige Menſchenbildung
oder Vernunftbil-
dung
beſchraͤnken, und ſich damit begnuͤgen, die in-
tellectuelle Thaͤtigkeit der Lehrlinge nur zu wecken und
ſo weit auszubilden, daß ſie zum lebendigen Bewußt-
ſeyn der Vernunft und einer hoͤhern Welt gelangen.
In Abſicht auf die Geſchlechtsverſchieden-
heit
der Lehrlinge muß zwar auch in dieſer Claſſe ein
Unterſchied anerkannt werden; aber er iſt doch nicht ſo
bedeutend, daß der Unterricht fuͤr beide Geſchlechter
nothwendig getrennt werden muͤßte. Ueberhaupt iſt der
Erziehungsunterricht fuͤr dieſe Claſſe ſo einfach, daß es
hier keiner weitern beſondern Beſtimmungen daruͤber
bedarf.


[339]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.

Wichtiger iſt die naͤhere Beſtimmung des Erzie-
hungsunterrichts fuͤr die erſtere Hauptclaſſe der-
jenigen Lehrlinge, die der freien Menſchenbil-
dung
oder der Humanitaͤtsbildung angehoͤren.
Hier tritt auch in Abſicht auf die Geſchlechts-
verſchiedenheit
ein ſo bedeutender Unterſchied ein,
daß nothwendig zwei verſchiedne Hauptarten des
Unterrichts
A) fuͤr die weiblichen, und B) fuͤr die
maͤnnlichen Lehrlinge
angeordnet werden muͤſſen.
Eine naͤhere Beſtimmung dieſer beiden Hauptarten des
Erziehungsunterrichts ſoll den Schluß unſrer Unterſu-
chung machen.


A.
Beſtimmung des Erziehungsunterrichts fuͤr freie Bildung
des weiblichen Geſchlechts.

Nach dem, was oben uͤber die Eigenthuͤmlichkeit
des weiblichen Geiſtes und Gemuͤthes, im Gegenſatz
des maͤnnlichen, geſagt worden, waͤre hier nur an das
Ideal vollendeter freier Bildung des Wei-
bes
zu erinnern, und dann in Abſicht auf die Metho-
de, die ſich nach dem Ideale leicht erkennen laͤßt, mehr
vor verkehrter Behandlung zu warnen, als das Verfah-
ren der richtigeren Bildung weitlaͤuftig zu beſchreiben.
Allein, was auch uͤber dieſe Aufgabe geſagt werden moͤch-
te, bleibt unvermeidlichem Mißverſtande ausgeſetzt, ſo
22*
[340]Vierter Abſchnitt.
lange uͤber des Weibes eigentliche Beſtimmung
eine theils ſo unſichere, theils ſo unrichtige Meinung
herrſcht, als unſre moderne Cultur verbreitet hat. Ich
muß alſo auch dieſen Punkt hier mit in unſre Unterſu-
chung ziehen.


Der Berufskreis fuͤr das ganze weibliche Geſchlecht
iſt der haͤusliche Kreis. Vor allem andern gehoͤrt zum
Berufe der Frau, was ſie als Gattin und als Mutter
leiſten, was ſie fuͤr den Mann und fuͤr die Kinder ſeyn
ſoll. Dies aber nicht allein, ſondern auch das ganze
Hausweſen uͤberhaupt gehoͤrt zu dem Berufskreiſe des
Weibes. Von dem unterſten Grade an, auf dem die
Frau alle haͤuslichen Geſchaͤfte mit eigner Hand verrich-
ten muß, bis zu dem hoͤchſten, auf dem ſie keine Hand
mehr ſelbſt anlegt, von dem einfachſten Haushalt der
aͤrmlichſten Huͤtte bis zum reichſten und glaͤnzendſten in
unſern Palaͤſten, gebuͤhrt der Frau die innere Verwal-
tung des Hausweſens, Anordnung, Leitung und Re-
gierung des Ganzen, ſofern es eine Familie bilden ſoll.
Der Mann, deſſen Beſtimmung das oͤffentliche Leben
oder ſonſt das Wirken nach außen iſt, kann jene Ge-
ſchaͤfte nicht uͤbernehmen. Es iſt ſonſt ſchon als Grund-
ſatz ausgeſprochen worden: das Weib ſoll erhalten, was
der Mann erwirbt. Man kann hinzuſetzen: ſie ſoll
auch anwenden und umtreiben, was er durch ſein Ver-
dienſt gewinnt. Daß dies nicht uͤberall anwendbar und
ausfuͤhrbar iſt, beweiſt nichts gegen die Richtigkeit der
Anſicht, ſondern deutet nur auf einen Mangel der Bil-
dung oder auf ein Verderbniß des [Charakters] mancher
[341]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
Weiber. Die Frau, die ein ganz gemeinſchaftliches
gleiches Intereſſe mit dem Manne haben ſoll, iſt die
natuͤrliche Verwalterin des Vermoͤgens, (ſofern es nicht
ſelbſt Berufsobject des Mannes iſt); und ſelbſt die
Sitte hat darinn der Frau eine eigenthuͤmliche Sphaͤre
ſo entſchieden zugewieſen, daß der Mann, der in dieſe
Art von Geſchaͤfte eingreift und ſich damit befaßt, dies
nur ganz heimlich thun muß, wenn ihn nicht Spott
und ſelbſt Spottnamen, die darauf haften, treffen
ſollen. Die moderne Erziehung des weiblichen Ge-
ſchlechts hat dieſe Berufsbeſtimmung des Weibes ver-
daͤchtig, bei dieſen und jenen wohl auch veraͤchtlich ge-
macht; man hat die Beſchaͤftigung mit den Gegenſtaͤn-
den des Hausweſens ohne Ausnahme als unfrei und des
freien Weibes unwuͤrdig vorgeſtellt. Dies verdient un-
ſtreitig Tadel. Zwar das Kochen und Backen, und
Waſchen und Flicken, worein die ſtreng altmuͤtterliche
Erziehung den Hauptvorzug ihres Unterrichts ſetzte, wol-
len wir nicht als Bildungsmittel in unſre Gynaͤceen zu-
ruͤckrufen. Aber, daß die haͤuslichen Geſchaͤfte ohne
Unterſchied als unter der Wuͤrde des freien Weibes vor-
geſtellt werden, iſt eben ſo irrig, als wollte man be-
haupten, daß es unter der Wuͤrde des freien Mannes
ſey, um Brod zu arbeiten; und eine Frau, die dieſen
weſentlichen Theil ihres Berufes gar nicht anerkennt, iſt
wie der Mann, der aus lauter Freiheitsſinn kein Amt
annehmen zu koͤnnen glaubt. Daß die Frauen dieſen
Theil ihres Berufes mißkennen, daß ihnen veraͤchtlich
erſcheine, was ſie als active Mitglieder der Geſellſchaft
zu leiſten — wenn wirs vornehm ausſprechen wollen —
[342]Vierter Abſchnitt.
zum Opfer zu bringen haben, kann wenigſtens eine Er-
ziehungslehre aus Principien nicht zugeben.


Man kann dieſe Anſicht von dem Berufe des Wei-
bes kleinlich und gemein finden, man kann behaupten,
daß das Weib durch die glaͤnzenden Anlagen ſeines Gei-
ſtes zu viel Hoͤherem berufen ſey, man kann mir das
Muſter einer Aſpaſia zum Beweis vorhalten, mich an
alles Herrliche erinnern, was der Frauen Geiſt geſchaf-
fen hat, und dann fragen: ob ich gleichwohl noch des
Weibes Bildung auf jenen kleinlichen Kreis beſchraͤnken
wolle? — Ich habe darauf zweierlei zu erwiedern.


Fuͤrs erſte iſt ſchon oben wiederholt erklaͤrt, daß die
Bildung nicht durch den Beruf, ſondern der Beruf durch
die Bildung beſtimmt werde. Dieſer Grundſatz gilt fuͤr
die Bildung des weiblichen Geſchlechts auf gleiche Weiſe,
wie fuͤr die des maͤnnlichen. Der Erziehungsunterricht fuͤr
die freie Bildung hat keinen anderen Richtpunkt als die
Geiſtesanlagen der Lehrlinge, und keine andre Ruͤckſicht
als die der moͤglichſt vollendeten Ausbildung derſelben.
Wie der maͤnnliche Lehrling durch den Erziehungsunter-
richt keine andre Vorbereitung zu ſeinem kuͤnftigen Be-
rufe erhaͤlt, als die moͤglichſt vollendete freie Bildung
und die moͤglichſt vollkommne Entwickelung der ihm ei-
genthuͤmlichen Geiſtesanlagen, ſo auch der weibliche
Lehrling. Wie bei dem Knaben die vollendetſte Bildung
ſeiner Individualitaͤt auch die vollendetſte Bildung deſ-
ſelben fuͤr ſeine Beſtimmung auf Erden iſt, ſo auch bei
dem Maͤdchen. Jene Anſicht von dem Berufe des weib-
[343]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
lichen Geſchlechtes alſo kann der Forderung der hoͤchſten
Vollendung der weiblichen Bildung durchaus keinen Ab-
bruch thun; vielmehr, da der Beruf fuͤr jeden Men-
ſchen nur das iſt, wozu er ihn macht, ſo muß auch
jener weibliche Beruf aufhoͤren, kleinlich zu ſeyn, ſobald
unſre Erziehung die Geiſtesbildung des Weibes zu der
Veredlung erhebt, durch die ſie auch ihren Beruf zu
veredeln im Stande iſt.


Aber ſchon hierinn iſt ein weſentlicher Unterſchied
zwiſchen maͤnnlicher und weiblicher Bildung zu beobach-
ten, der haͤufig uͤberſehen wird. Bei dem Knaben iſt
die Beſtimmung zu irgend einem Berufe nie zweifelhaft,
und obgleich die freie Bildung darauf mit Recht keine
unmittelbare Ruͤckſicht nimmt, ſo bricht ſich doch an
der Ausſicht auf beſtimmte Verhaͤltniſſe, die ſeiner war-
ten, das Unbeſtimmte der Ausbildung ſeiner Anlagen
im Erziehungsunterricht. Bei dem Maͤdchen dagegen,
wenn jener Berufskreis nicht anerkannt wird, fehlt alle
Berufsbeſtimmung uͤberhaupt, und eben deshalb laͤuft
dann auch die Ausbildung der weiblichen Anlagen im
Erziehungsunterricht, ohne Richtung und ohne Graͤnze,
ins Unbeſtimmte aus. Daher dann auch die Unſicher-
heit im weiblichen Erziehungsunterricht, daß man nicht
recht weiß, was man will. Man unterrichtet und bil-
det, ohne zu wiſſen wozu noch wohin; und man haͤlt
ſich in dieſer Verlegenheit zuletzt — zum groͤßten Un-
gluͤck! — lediglich an das allgemeine unbeſtimmte
Ideal eines geiſtreichen Weibes
, das nicht
bloß durch Witz und durch Kunſt, ſondern ſogar durch
[344]Vierter Abſchnitt.
Wiſſenſchaft und Gelehrſamkeit! glaͤnzen ſoll. Gerade
dadurch aber geht dem weiblichen Erzieher die Tramon-
tane ganz verloren, und er kann keinen andern Punkt
finden, ſich wieder zu orientiren, als wenn er zu der
Frage zuruͤckkehrt: welches die eigentliche Beſtim-
mung des Weibes
ſey?


Es iſt noch aus einem andern Grunde, der aber
mehr die Erziehung ſelbſt, als den Erziehungsunterricht
betrifft, von großer Wichtigkeit, an dieſe Frage zu er-
innern. Nur dadurch, daß die Mutter ihre Toͤchter
den haͤuslichen Kreis ſchon von dem fruͤhſten Alter an
als ihre eigentliche Beſtimmung anſehen und achten
lehrt, kann ſie ihnen auch fuͤr ihre Bildung die rechte
Stimmung und Richtung geben. Lernt das Maͤdchen
jene Beſtimmung nicht ehren, wird es ſogar durch Lehre
und Beiſpiel der Mutter veranlaßt, ſie zu verachten
und als ein laͤngſt veraltetes Vorurtheil der Urgroßah-
nen von ſich zu weiſen: ſo weiß es entweder gar nicht
mehr, was es will; wie die Mutter es ebenfalls nicht
weiß und (nachdem die einzig guͤltige Anſicht verworfen
iſt) auch nicht wiſſen kann; oder, was noch nachthei-
liger iſt, es nimmt ſich eben jenes unbeſtimmte Ideal
weiblicher Bildung zu ſeiner Beſtimmung, und greift in
beiden Faͤllen unſicher in den Kreis der Bildungsmittel
ein, wechſelt damit nach Laune, und treibt nichts mit
der Staͤtigkeit und mit dem vollen Ernſt, die mit dem
Gedanken an eine unabaͤnderliche Berufsbeſtimmung ſich
von ſelbſt verbinden.


[345]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.

Am allernothwendigſten aber iſt es, das Maͤdchen
fruͤh mit der Anſicht, daß ſeine eigentliche Beſtimmung
in dem haͤuslichen Kreiſe ſey, dadurch vertraut zu ma-
chen, daß man es zur Haͤuslichkeit gewoͤhne. Das
fruͤhe Anhalten zu weiblichen Arbeiten kann zwar dieſe
Forderung zum Theil erfuͤllen; aber allein iſt es dazu
nicht hinreichend. Das Wichtigere iſt, daß man das
ſtille Wirken unerlaßlich fordere. Das Prunken, und
das Streben nach Oeffentlichkeit zerſtoͤrt das Weſen
der weiblichen Denkart, wie der eigentlichen Beſtim-
mung des Weibes. Wie ſoll unſern Toͤchtern doch die
Stille des haͤuslichen Kreiſes ertraͤglich bleiben, wenn
wir ſelbſt ſie von der fruͤhſten Jugend an in allen
oͤffentlichen Zerſtreuungen umtreiben? Aber nicht bloß
dadurch allein verbilden wir ſie fuͤr die Haͤuslichkeit;
wir ſchaden dieſer Tugend nicht viel weniger dadurch,
daß wir ſogar den Unterricht unſrer Tochter ſo oͤffent-
lich machen, daß ſie nichts lernen und nichts hervor-
bringen ſollen, was nicht zur Schau geſtellt werde!
Wie ſoll dem ſo verwoͤhnten Maͤdchen doch noch die
ſtille haͤusliche Thaͤtigkeit gefallen, die dem Publicum
unbekannt bleibt? — Es iſt in der That noͤthig, zu
erinnern, daß auch darinn der Erziehungsunterricht
der Maͤdchen anders zu behandeln ſey, als der der
Knaben. Bei dem Knaben, der mehr oder weniger
zum oͤffentlichen Geſchaͤft beſtimmt iſt, hat zwar auch
jene Oeffentlichkeit, die man ſeinen unvollkommnen
Anfangsverſuchen giebt, ihren entſchiednen Nachtheil;
der Nachtheil aber, den derſelbe Fehler bei den Maͤd-
chen hervorbringt, iſt noch ungleich groͤßer.


[346]Vierter Abſchnitt.

Uebrigens hat der Erziehungsunterricht, dem oben
ausgeſprochnen Grundſatze gemaͤß, auch bei dem Maͤd-
chen eben ſo wenig als bei dem Knaben den Berufs-
kreis zu ſeiner Aufgabe. Was das Maͤdchen fuͤr ſei-
nen eigentlichen Beruf zu lernen hat, die geſammte
Koch-Naͤh-Strick- und Stick-Kunſt, welche ehedem
als die Encyklopaͤdie des ganzen weiblichen Studiums
gegolten hat, ſammt allen andern Kuͤnſten und Fertig-
keiten, die man noch ſonſt fuͤr den haͤuslichen Berufskreis
unmittelbar als noͤthig fordern kann, ſchließt der eigent-
liche Erziehungsunterricht fuͤr das weibliche Geſchlecht
ausdruͤcklich aus, den Umfang ſeiner ganzen Aufgabe
rein und unvermiſcht nach den Bedingungen ermeſſend
und beſtimmend, die zu der freien Bildung des Wei-
bes als nothwendig erkannt werden.


Ehe ich zu der Darſtellung dieſer Bedingungen
des weiblichen Erziehungsunterrichts uͤbergehen kann,
muß ich zu der zweiten oben angekuͤndigten Eroͤrterung
zuruͤckkehren, welche die hoͤhere Anſicht von der ange-
gebenen Berufsbeſtimmung des Weibes betrifft.


Fuͤrs zweite alſo, der Vorwurf: „daß die auf-
geſtellte Anſicht von dem Berufe des Weibes kleinlich
und gemein ſey;“ laͤßt ſich mit Recht fuͤr Mißverſtand
und ſelbſt fuͤr Kleinlichkeit erklaͤren. Ich will nicht
einmal daran erinnern, wie eine Frau von wahrer
freier Bildung auch den Kreis der haͤuslichen Wirk-
ſamkeit erweitern und veredeln koͤnne. Ich will nur
auf die nothwendigen Forderungen hoͤherer Bildung
[347]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
aufmerkſam machen, die ſchon in den haͤuslichen Ver-
haͤltniſſen ſelbſt ausgeſprochen ſind. Sind nicht die
Frauen die erſten Erzieherinnen und Bildnerinnen der
Kinder? Iſt ihnen nicht das wichtige Geſchaͤft anver-
traut, die Keime des Edeln und Hohen in den jun-
gen Herzen der Soͤhne wie der Toͤchter zu pflanzen
und zu pflegen? Einen ſolchen Beruf will man gemein
nennen? das ſoll des freien Weibes unwuͤrdig ſeyn?
Worinn koͤnnte doch der Frauen Talent und Geiſt ſich
glaͤnzender zeigen, als in der Bildung ihrer Kinder?
Sodann, wie viel kann nicht das Weib dem Manne
ſeyn? Erholung nicht nur und Erheiterung von ſeiner
Arbeit, ſondern auch die Sammlung des Geiſtes, die
er als Correctiv gegen die durch alle Berufsarbeit ent-
ſtehende Trennung und Einſeitigkeit bedarf, und uͤber-
dies Erhebung des Gemuͤths zu allem Guten, Schoͤnen
und Vortrefflichen, Beruhigung in allem Mißgeſchick
des Lebens, und Begeiſterung zu jedem ſchweren Un-
ternehmen, ſoll er in ihrem Umgang finden. Und das
waͤre wenig, was eine Frau von Gemuͤth und Geiſt
zu leiſten haͤtte? Wie viel wird nicht ſchon erfordert,
ſoll nur dies von ihr geleiſtet werden?


Will man die Wichtichkeit dieſes Berufes der
Frauen noch auffallender erkennen, ſo darf man nur
die Unfaͤhigkeit, jene Forderungen zu erfuͤllen, in ihren
Folgen betrachten. Es giebt kein nachtheiligeres Ver-
haͤltniß, als wenn die Frau den Mann nicht an Bil-
dung erreicht, ihm darinn nicht wenigſtens nahe koͤmmt.
Es iſt ſchon ſchlimm, daß ſie dann dem Manne fuͤr
[348]Vierter Abſchnitt.
ſeine beſſere Exiſtenz nichts ſeyn kann, daß er durch
ſie die Bildung nicht gewinnt, die er bedarf und die
er bei dem Weibe finden ſoll: noch weit ſchlimmer
aber iſt, daß die Frau ſelbſt, wenn ſie dem Manne nichts
weiter ſeyn kann als eine Magd, von dem Manne
auch nicht ihm gleich geachtet und behandelt wird, den
beſſern, allein achtbaren, Theil der Zuneigung des
Mannes entbehrt, und, indem ſie von dem Manne
nicht erhoben wird, auch die Bildung verliert, die ſie
in ſeinem Umgange gewinnen wuͤrde, eben dadurch
aber auch fuͤr die Kinder das weder iſt noch wird,
was ſie ſeyn ſollte; waͤhrend auf der andern Seite
der Mann, den ſie nicht zu feſſeln vermag, außer dem
Hauſe ſucht, was er in demſelben nicht findet, der Fa-
milie ſeine Erholungszeit, die ihr gebuͤhrte, entzieht, in
zerſtreuenden Vergnuͤgungen, die er mit Ausſchluß ſei-
ner Familie ſucht, Geld, das ihr gemeinſchaftlich ge-
hoͤrt, verzehrt, und ſich Verfuͤhrungen ausſetzt, indeß je-
ne eigenſuͤchtige Parteilichkeit zu Hauſe aͤhnliche Ver-
ſchwendungen veranlaßt, und jene gleichguͤltige Ver-
nachlaͤſſigung zu Schadloshaltungen anreizt, die das
Familiengluͤck moraliſch und ſelbſt oft phyſiſch vergif-
ten.


Darauf erwiedert man vielleicht: „Gerade dar-
um wolle man ſich jene erniedrigende Forderung, daß
die Frau ſich um das Hausweſen bekuͤmmern ſolle,
nicht wieder aufdringen laſſen, damit die Frau nicht
an gemeine Arbeit ihre Zeit verlieren muͤſſe, die ſie weit
edler den Kuͤnſten und den Wiſſenſchaften und aller
[349]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
Art von Geiſtesuͤbung widme, um den Mann durch
Geiſt und Bildung feſſeln zu koͤnnen.“


Ich will dagegen nicht fragen: ob jene Geiſtesbil-
dung nicht oͤfter dazu dienen muͤſſe, die Maͤnner zu
locken, als den Mann zu feſſeln? Aber daran muß
ich erinnern, was dieſe geiſtreichen, in ihrem Berufe
verwahrloſten, Weiber in ihrem Hauſe ſind. Unfaͤhig
oder abgeneigt, die Pflege ihrer Kinder zu uͤbernehmen
oder auch nur zu leiten, uͤberlaſſen ſie dieſe dem Ge-
ſinde; und waͤhrend die kunſt- und geiſtreichen Muͤtter
muſiciren, ſingen, zeichnen, malen, ſtudiren, dichten,
Buͤcher leſen oder ſchreiben, ſind die ungluͤcklichen Kin-
der ohne Aufſicht und Anleitung, koͤrperlich und gei-
ſtig verwahrloſt. Dem Manne ergeht es nicht beſſer.
Die Kunſt- und Geiſteswerke, ſelbſt die witzigen Ein-
faͤlle der geiſtreichen Frau ſind nicht fuͤr ihn, als wenn
er die Probe zu uͤberhoͤren hat, und wenn er von der
Arbeit koͤmmt, um in der Unterhaltung mit ſeiner Frau
im Schooſe ſeiner Familie ſich zu erholen, findet er
die Frau entweder durch geiſtige Anſtrengung abge-
ſpannt, oder von einem Schwarm von Witzlingen um-
geben, von denen ſie ſich bewundern laͤßt. Daneben
muß er, wenn das Hausweſen nur einigermaßen im
Gange erhalten werden ſoll, ſich einer Menge zerſtreuen-
der haͤuslicher Beſorgungen unterziehen, die ſeine Ge-
ſchaͤfte unterbrechen, und die er nicht ohne innere Be-
ſchaͤmung uͤbernehmen kann. Gleichwohl kann er von
der einen Seite den Verfall des Hausweſens nicht hin-
dern, von der andern Seite keine Ordnung erhalten,
[350]Vierter Abſchnitt.
und wird am Ende durch unertraͤgliche Unordnung,
Unreinlichkeit und Liederlichkeit in der Haushaltung
eben ſo aus dem Hauſe vertrieben als jener durch
Mangel an ertraͤglicher Unterhaltung; ſo daß ſich in
Abſicht auf den Mann die Geiſtloſigkeit und der
Geiſtesuͤberfluß der Frau in einem und demſelben Re-
ſultate endigen.


So weſentlich iſt ſelbſt der letzte Punkt in der
oben aufgeſtellten Anſicht uͤber den eigentlichen Beruf
des Weibes, daß ſie das Haus beſorge. Wie wollte
man doch veraͤchtlich finden, daß die Frau auch dieſen
Theil ihres Berufes mit Treue erfuͤlle? Man darf
auch hierinn ſich auf ein allgemeines Gefuͤhl und Ur-
theil berufen. Eine weibliche Erſcheinung jener Art,
wie ſie die moderne Erziehung haͤufiger aufweiſt, kann
zwar glaͤnzen, eine Weile auch ergoͤtzen, aber keine rei-
ne Freude gewaͤhren, indeß eine Frau, die als Gattin,
Mutter und Familienhaupt ihre Stelle ausfuͤllt, in je-
dem Falle ehrwuͤrdig iſt.


Der Vorwurf alſo: „daß die aufgeſtellte Anſicht
von dem Berufe des Weibes kleinlich und gemein
ſey;“ wird nach der hier gegebnen Erklaͤrung wohl
nicht weiter ſtatt finden koͤnnen, und wir duͤrfen des-
halb auch auf dieſen weiblichen Beruf die Ermahnung:
wer ein Amt hat, der warte ſeines Amtes! um ſo ernſt-
licher und um ſo mehr anwenden, da die Erfuͤllung
dieſer Berufspflichten die Frau an vielſeitiger Geiſtes-
bildung eben ſo wenig hindert, als der Mann durch
[351]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
ſein Amt gehindert iſt, auch ein geiſtreicher Geſellſchaf-
ter zu ſeyn.


Der eigentliche Erziehungsunterricht fuͤr das weib-
liche wie der fuͤr das maͤnnliche Geſchlecht bleibt ohne-
hin, wie ſchon erklaͤrt worden, von jeder unmittelbaren
Beziehung auf den bezeichneten Beruf des Weibes gaͤnz-
lich frei, und lediglich auf allgemeine freie Bildung
zu beziehen. Dieſelbe Forderung an die weibliche Bil-
dung hat man auch in der neueren Zeit mehr unter uns
geltend gemacht. Aber man hat leider die Mittel oft
ſehr ungluͤcklich gewaͤhlt. Schon daß man als Zweck
behandelte, was nur als Mittel haͤtte angewendet
werden ſollen, war hoͤchſt fehlerhaft. Daß man Uebung
in den freien Kuͤnſten zu einem Hauptgegenſtand des
weiblichen Erziehungsunterrichts erhob, verdient an
ſich zwar keinen Tadel: daß man aber einen Haupt-
zweck dieſer Uebung darein ſetzte, daß die Weiber
Kuͤnſtlerinnen und Virtuoſinnen ſeyn ſollten, waͤhrend
man verſtaͤndigerweiſe nur Erweckung des Kunſtſinnes
und Belebung des Kunſtgeſchmackes dabei haͤtte bezwe-
cken ſollen, hat zu den Ausartungen weiblicher Bildung
gefuͤhrt, die allerdings Tadel verdienen. Noch fehler-
hafter aber hat man den weiblichen Erziehungsunterricht
theils durch die Einfuͤhrung der Schuͤlerinnen in das
wiſſenſchaftliche Gebiet, theils durch die, dem weibli-
chen Geiſte widerſprechende, Behandlung der wiſſenſchaft-
lichen Gegenſtaͤnde gemacht. Man hat die Maͤdchen,
nachdem man ſie des Studiums der Hauswirthſchaft,
nicht nur (mit Recht) im Erziehungsunterricht, ſondern
[352]Vierter Abſchnitt.
auch (mit Unrecht) uͤberhaupt, enthoben, in das Gebiet
der Gelehrſamkeit eingefuͤhrt, ſie in Wiſſenſchaft und
Kunſt analyſiren, theoretiſiren, raͤſonniren, kritiſiren,
demonſtriren, dociren gelehrt, — welches alles ſie un-
gemein ſchlecht kleidet, von ihnen ſchlecht geleiſtet wird,
und ſie verbildet. Man hat mit einem Worte die
weibliche Bildung voͤllig wie die maͤnnliche behandelt:
ein Mißgriff, der nur moͤglich war, indem man die Eigen-
thuͤmlichkeit des weiblichen Geiſtes ganz vergeſſen hatte.
In dieſer Ruͤckſicht iſt es noͤthig, die Forderungen in
Erinnerung zu bringen, die an den Erziehungsunter-
richt des weiblichen Geſchlechts zu machen ſind.


Der eigenthuͤmliche Charakter des weiblichen Gei-
ſtes iſt die Unmittelbarkeit des Denkens, Thuns und
Fuͤhlens. Wahrheit, Tugend, Schoͤnheit kennt das
Weib durch unmittelbares lebendiges Gefuͤhl. Dieſes
Gefuͤhl den Frauen in Begriffe, Geſetz und Regel auf-
loͤſen, heißt, ihnen ihre Welt zerſtoͤren. Der Mann
faßt das Gebiet des Wiſſens und der Kunſt, dem
Charakter ſeines Geiſtes gemaͤß, nur durch Aufloͤſung
in Begriff, Geſetz und Regel, und nur indem er dieſe
Aufloͤſung vollſtaͤndig durchfuͤhrt, gelangt er zu der
Einheit und Beſtimmtheit ſeiner Einſicht, die ihm Si-
cherheit in Beſtimmung des Einzelnen giebt. Zu dieſer
Vollendung der Analyſis gelangt der weibliche Geiſt
nicht; durch fragmentariſche Verſuche ſolcher Aufloͤſun-
gen aber wird er nur irre gemacht, und vermag dann
im einzelnen Falle das Rechte, das er ſonſt unmittel-
bar zu treffen verſteht, mit halbem Umblick nach der
[353]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
halbgefaßten Regel gar nicht mehr zu finden. Dieſe
Art von Geiſtesbildung alſo, die man dem weiblichen
Geſchlecht auf gleiche Weiſe wie dem maͤnnlichen geben
will, befoͤrdert nicht nur nicht, ſondern hindert viel-
mehr die wahre weibliche Bildung. Nicht Principien
ſollen die Weiber ſtudiren und in Anwendungen kunſt-
gerecht zergliedern. Ihr Gefuͤhl iſt unmittelbar das
Princip und die Anwendung; und wir duͤrfen die
Frauen nur lehren, ihr Gemuͤth auszuſprechen und
darzuſtellen, um zu hoͤren oder zu ſehen, was oft alle
kunſtgerechte Schlußfolge und alle regelrechte Abmeſſung
der Maͤnner nicht eben ſo vollendet zu Tag foͤrdert.
Dieſes Gefuͤhl zur hoͤchſten Lebendigkeit und Sicherheit
auszubilden, iſt das Ideal und die Aufgabe des weib-
lichen Erziehungsunterrichts.


Weg alſo aus dem Erziehungsunterricht des Wei-
bes alles Studium von Wiſſenſchaften, und alle Theo-
rie. Durch wiſſenſchaftliche Zergliederung von Be-
griffen zur Wahrheit, durch Analyſirung von Geſetzen
zur Tugend, durch Erlernung von theoretiſchen Regeln
zur Kunſt, kann und ſoll das Weib nicht gefuͤhrt
werden. Alles lernt ſie in der unmittelbaren Anwen-
dung am leichteſten und ſicherſten; die hoͤchſten Ideen
der Wiſſenſchaft und Kunſt faßt ſie in den concreten
Darſtellungen der redenden und bildenden Kuͤnſte mit
Tiefe des Gemuͤths, waͤhrend ſie in dem Anſchauen
und Nachahmen ſolcher Darſtellungen die Tiefe des
Gemuͤthes ſelbſt aufregt und belebt.


23
[354]Vierter Abſchnitt.

Auf dieſe allgemeine Anſicht kann hier die Be-
ſtimmung der Artverſchiedenheit des weiblichen Erzie-
hungsunterrichts beſchraͤnkt werden, da ſich, ſobald
nur die angedeutete Artverſchiedenheit des weiblichen
Geiſtes richtig aufgefaßt iſt, die richtigere Behandlung
dieſes Unterrichts kaum verfehlen laͤßt.


B.
Beſtimmung des Erziehungsunterrichts fuͤr freie Bildung
des maͤnnlichen Geſchlechts.

Da der Anwendung der Beſtimmungen, die im
Vorhergehenden uͤber den Erziehungsunterricht im All-
gemeinen gegeben worden, bei dem maͤnnlichen Ge-
ſchlechte nicht ſolche Eigenthuͤmlichkeiten, wie bei dem
weiblichen Geſchlechte ſich finden, entgegenſtehen, ſo
iſt uͤber dieſe beſondre Art des Erziehungsunterrichts
nur noch Weniges hinzuzuſetzen.


Die freie Bildung des Mannes umfaßt die ganze
Claſſe der Individuen, die auf eine hoͤhere Geiſtes-
bildung Anſpruch haben und Zeit verwenden koͤnnen.
Ob nun gleich dabei auf kuͤnftige Berufsbeſtimmung
keine Ruͤckſicht zu nehmen iſt, ſonach in dieſer Be-
ziehung keine Verſchiedenheit des Unterrichts eintreten
kann, ſo findet gleichwol ein Artunterſchied ſtatt, der
nicht uͤberſehen werden darf.


[355]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.

Dieſer Unterſchied, den allerdings der Philan-
thropiniſmus auffallender gemacht und dadurch die Be-
ruͤckſichtigung deſſelben zur Sprache gebracht hat, indem
er auf Buͤrgerbildung drang, und Buͤrger-
ſchulen
forderte, laͤßt ſich nach der oben entwickelten
Anſicht durch die Bemerkung der Hauptverſchiedenheit
der Geiſtesanlagen beſtimmen, daß ein Theil der In-
dividuen mehr fuͤr die Geiſtesideen, ein anderer
mehr fuͤr die Naturideen empfaͤnglich iſt. Dieſe
Eintheilung kann zugleich als die Hauptgrundlage be-
trachtet werden, nach der ſich die Lehrlinge in der
Folge auch in die beiden Hauptclaſſen des Berufes
theilen, inwiefern die erſtern mehr zum Gelehrten-
die letztern mehr zum Gewerbs-Beruf Verwandt-
ſchaft, Neigung und Geſchick haben.


Die letztern verdienen auch unſtreitig eine beſondre
Ruͤckſicht, nicht inwiefern die Verſchiedenheit des aͤu-
ßeren Berufes dies erfordert, ſondern inwiefern das
Gedeihen der Geiſtesbildung ſelbſt davon abhaͤngig iſt,
daß ſie an der Hauptart von Objecten geuͤbt werden,
die ihrer Individualitaͤt entſpricht. In dieſer Ruͤckſicht
wird mit Recht gefordert, daß fuͤr dieſe Individuen
eine eigne Art des Erziehungsunterrichts eingerichtet
werde, worinn die Naturgegenſtaͤnde das Haupt-
object der Uebung ausmachen.


Da aber dieſe Eigenthuͤmlichkeit der Geiſtesanlage
ſich ſelten ſchon in den erſten Jahren ſo ganz entſchie-
den auszeichnet, daß darauf ſchon im Anfangsunter-
23*
[356]Vierter Abſchnitt.
richt eine beſondre Ruͤckſicht eintreten koͤnnte; ſo blei-
ben beide Claſſen in dem Anfangsunterricht vereiniget
bis zu der Epoche, wo ſich die Anlage fuͤr die eine
oder die andre Art von Bildungsgegenſtaͤnden anfaͤngt
zu entſcheiden.


Die wichtigere Claſſe bleibt unſtreitig immer die
fuͤr Geiſtesideen zu bildende, die man unter der
Benennung des Gelehrten-Standes zuſammenfaßt.


Der Gelehrten-Stand, — wenn die Benen-
nung nicht in der engen Beſchraͤnkung bloß der eigent-
lich ſo genannten Gelehrten, die ſich ausſchließend
mit dem ſpeculativen und contemplativen Theil des
Wiſſens beſchaͤftigen, ſondern in der Ausdehnung ge-
nommen wird, die ihr politiſche Verfaſſung, Sitte,
Convenienz oder eine innere Nothwendigkeit gegeben
hat, in welcher ſie den ganzen Stand der Staats-
beamten
und Geſchaͤftsmaͤnner, mit einem
Wort Alle in ſich begreift, deren Lebensbeſtimmung
in der Welt der Geiſtesideen iſt, — macht allerdings
den Kern einer Nation aus, und iſt als der Schatz-
bewahrer aller Kenntniſſe und Bildungsmittel anzuſe-
hen. Ihm iſt die Bewahrung des ganzen Heiligthums
der geiſtigen Bildung anvertraut; er bildet die Tra-
dition, in welcher die Geiſteswerke aller Zeiten aufbe-
wahrt und lebendig erhalten werden. — Dieſer Stand
hat deshalb auch unſtreitig ruͤckſichtlich der allgemeinen
Bildung nach der Vollendung zu ſtreben, die den
ganzen Umfang aller Kenntniſſe in ihrer ſyſtematiſchen
[357]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.
Verknuͤpfung aufnimmt, und nach der Univerſa-
litaͤt
, die alles wahrhaft Muſterhafte aller Zeiten allen
Zeiten zu erhalten hat. Zu dieſer Beſtimmung reicht
es nicht hin, nur dieſe oder jene Kenntniß einzeln zu
faſſen, die geiſtige Cultur bloß dieſer oder jener Zeit
ſich bekannt zu machen: es wird dazu vielmehr eine
zuſammenhangende Ueberſicht von dem Syſteme des
Wiſſens, und eine univerſelle Kenntniß des Wiſſens-
wuͤrdigen aller Zeiten erfordert.


Dies iſt die Aufgabe, die der Gelehrten-
Stand
— ſtreng genommen freilich nur in der en-
geren Bedeutung des Wortes — zu erfuͤllen hat. Aber,
es iſt nicht hinreichend, daß nur einzelne wenige In-
dividuen, (vorzugsweiſe Gelehrte genannt,) ſich mit
dieſer Aufgabe beſchaͤftigen: vielmehr dieſer Stand in
allen ſeinen Gliedern hat dieſe Aufgabe gemeinſchaftlich
zu erfuͤllen, und von Rechtswegen ſollte zu den hoͤhe-
ren Berufsarten des Staatsdienſtes, der Regierung,
der Geſetzgebung, der Rechtsverwaltung, der Sitten-
bildung, der Religionsverkuͤndigung ꝛc. deren Object
in den Ideen iſt, der Zugang Keinem geſtattet wer-
den, der ſich nicht durch Bildung in dem Gebiete der
Geiſtesideen hinreichend dazu legitimirt haͤtte.


Die Forderung iſt von der hoͤchſten Wichtigkeit.
Denn, die von der Menſchheit errungne Cultur — die
unerſchuͤtterlichſte Grundlage der Humanitaͤt — ſoll
nicht bloß uͤberhaupt erhalten werden, d. h. in
todten Buchſtaben, in Buͤchern und Bibliotheken auf-
[358]Vierter Abſchnitt.
bewahrt, und nur von den wenigen Waͤrtern des
myſterioͤſen, fuͤr alle Uebrigen bloß in der Einbildung
exiſtirenden, Schatzes gekannt ſeyn; ſondern ſie ſoll
lebendig erhalten, d. h. als das Eigenthum
aller Nationen und Zeiten, in jeder Nation ſo weit
nur immer moͤglich verbreitet werden, und vor allem
andern allem oͤffentlichen Leben einer Nation Regſamkeit
und Richtung geben. Dazu aber iſt unerlaßlich, daß
alle die, die vorzugsweiſe das oͤffentliche Gemein-
leben einer Nation zu leiten den Beruf haben, in je-
nem Heiligthum des hoͤchſten geiſtigen Lebens einge-
weiht ſeyen. Durch ſie geht am unfehlbarſten das
hoͤhere geiſtige Leben auch in die Nation uͤber, und
wird eigentlich national. — Freilich dringen nicht Alle,
die das Schickſal in jene Claſſe fuͤhrt, zur hoͤchſten
Univerſalitaͤt des geiſtigen Lebens durch, um es ganz
in ſich aufzunehmen. Aber dieſe Verſchiedenheit laͤßt
ſich fuͤr die Haupttendenz, die jener Claſſe vorzuſchrei-
ben iſt, nicht zum Regulativ erheben: was in ſich als
wahr und gut erkannt iſt, muß angeſtrebt werden,
wenn auch nicht jede individuelle Kraft zum Hoͤchſten
hinan zu reichen vermag. Es iſt ſchon wichtig, daß
in Allen der Glaube lebendig erhalten werde, daß die
Richtung nach jenem hoͤchſten Ziele der Bildung Vielen
unerlaßlich ſey; und dieſer Glaube wird nur durch die
Richtung ſelbſt lebendig erhalten: denn, faͤllt nur erſt
das eigne Anſtreben eines geiſtigen Zieles bei der
Mehrzahl derer, die dazu berufen ſind, hinweg, ſo
folgt Zweifel, Gleichguͤltigkeit, und ſelbſt Verſpottung
des Strebens Anderer bald nach.


[359]Anwendung der allgemeinen Grundſaͤtze ꝛc.

Daraus dringt ſich mir zum Schluſſe von ſelbſt
die Bemerkung auf, die ich der allgemeinſten Aufmerk-
ſamkeit wuͤrdig erachte: daß der Staat, der in dem
Gelehrten-Stande eine Vernachlaͤſſigung dieſer
Univerſalitaͤt der Bildung zulaͤßt, oder wohl
gar ſelbſt der Bildung jenes Standes die Richtung
ausſchließend auf die Brod- d. i. Berufs-Wiſſenſchaften
giebt, nicht nur ſeiner Stelle in dem Range gebildeter
Nationen verluſtig werde, ſondern auch aufhoͤre, in
dem geiſtigen Weltreiche der Bildung der Menſchheit
ein actives Mitglied zu ſeyn.


[]

Appendix A

Jena,
gedruckt bei Frommann und Weſſelhöft
.


[]
Notes
*)
Was unter Erziehungs-Unterricht zu verſtehen ſey,
muß zwar durch den Zuſammenhang ſelbſt klar werden; doch iſt es
vielleicht nicht überflüſſig, ein paar Worte zur Rechtfertigung dieſes
*)
nicht ganz gewöhnlichen Ausdrucks zu ſagen. Erſtens, daß er mit Er-
ziehungslehre
verwechſelt und als Anweiſung zum Erzie-
hen
verſtanden werde, iſt zwar nicht geradezu unmöglich, wie die
analoge Zuſammenſetzung des Wortes Erziehungslehre ſelbſt be-
weiſt; aber doch ſchon deshalb kaum zu beſorgen, weil das Wort
Unterricht ſtäts nur von der Praxis des Unterrichtens ſelbſt, nie-
mals aber, wie das Wort Lehre in der obigen Zuſammenſetzung,
von einer Theorie gebraucht wird. Zweitens hat das Wort Erzie-
hungsunterricht
, in der ihm hier beigelegten Bedeutung, die
Analogie der Worter Schulunterricht, Kinderunterricht,
Jugendunterricht
für ſich, in welchen ebenfalls das erſte Wort
der Zuſammenſetzung nicht ſowohl dem allgemeinen Begriff des Unter-
richts einen beſtimmten Gegenſtand, als vielmehr einer beſtimmten Art
des Unterrichts die Periode ihrer Dauer bezeichnet. Da es nun für den
Zweck dieſer Abhandlung darauf ankam, ein Wort zu finden, welches
den Begriff des Unterrichts, ſoweit er die allgemeine Bildung
umfaßt, nicht nur in ſeinem ganzen Umfang, ſondern zugleich auch in
ſeinem beſtimmten Gegenſatze zu der ſpeciellen Bildung (der Be-
rufserlernung, des Fachſtudiums ꝛc.) deutlich bezeichnete: ſo ſchien die
Zuſammenſetzung des Ausdruckes Erziehungsunterricht verant-
wortlich und ſelbſt des Bürgerrechts in der Sprache um ſo eher würdig
zu ſeyn, da keiner der drei obengenannten Ausdrücke jenen Begriff
ganz erſchöpft, dagegen aber der Ausdruck Erziehungsunter-
richt
, ſofern die eigentliche Erziehung mit dem Uebergang des
Lehrlings zum Berufsunterricht geendigt iſt, die Periode der
allgemeinen Bildung vollkommen richtig bezeichnet.
*)
Unerachtet es dem Zwecke dieſer Schrift entgegen iſt, Namen
zu nennen, ſo mag doch hier eine Ausnahme ſtatt finden in Abſicht
einer kleinen Schrift, die unlaͤngſt uͤber das, was der Erziehung Noth
iſt, ein heftiges, aber treffliches Wort geſagt hat, und eine ehrenvolle
Erwaͤhnung beſonders verdient: Über die Schulbildung
zur Bestialitaͤt
. Ein Programm zur Eroͤffnung des neuen
*)
Lehrkurses in der Kantonsschule zu Aarau, von Ernst Au-
gust Evers
. Aarau, 1807. 41 S.
4.

License
CC-BY-4.0
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2025). Niethammer, Friedrich Immanuel. Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bptj.0