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Poetiſche
Schriften



Fuͤnfter Band.

Mit allergnaͤdigſten Freyheiten.

[][]

Die vier Stufen
des
Weiblichen Alters.
Ein Gedicht
in vier Geſaͤngen.


A 2
[][]

Vorbericht
zu den vier Stufen des weiblichen
Alters.



Dieſes Gedicht entſtand auf einer
Reiſe, wo ich von ohngefehr in
einem kleinen Buchladen die vier Stu-
fen des menſchlichen Alters unter dem
Titel: Quatuor humanae vitae aetates,
A 3Tu-
[]Vorbericht.
Turici MDCCLIIII. zu Geſichte bekam.
Jch las die fließenden lateiniſchen Ver-
ſe mit großer Begierde einigemal durch,
und hielt ſie, da ich auf den kurzen
Vorbericht nicht aufmerkſam geweſen,
fuͤr das Original ſelbſt. Nachdem aber
meine vier Stufen des weiblichen Al-
ters im Druck erſchienen, wurde mir
von dem wahren Erfinder mein Jr-
thum benommen. Jch kan die Leſer
nicht beſſer hievon unterrichten, als
wenn
[]Vorbericht.
wenn ich Jhnen den Brief dieſes wuͤr-
digen Mannes an mich abſchreibe, und
auch das Lob nicht unterdruͤcke, ſo mir
derſelbe darinn ertheilt; da Beyfall und
Lob von edlen Gemuͤthern, und Ken-
nern, unſtreitig die angenehmſte Beloh-
nung iſt, die ein Dichter ſich wuͤnſcht.
Er ſchrieb mir von Zuͤrich folgendes:


Mein Herr,

Jch habe mit entzuͤckenden Freuden die vier
Stufen des weiblichen Alters geleſen, oͤfters
A 4ge-
[]Vorbericht.
geleſen, und ſtets bewundert. Nicht ein ver-
welklicher Lorbeer, ſondern die Krone von
Germaniens wuͤrdigen Toͤchtern, eine Frau,
Jhrem Gemaͤlde gleich, muͤſſe die Belohnung
ſeyn fuͤr das edle Denkmal, welches ſie der
ſchoͤnen Haͤlfte unſers Geſchlechts geſtiftet ha-
ben! Sie verdienen es mit Recht, mein
Herr. Aber was hat ein redlicher Schwei-
tzer bey Jhnen verſchuldet, daß Sie ſeine
Arbeit einem Jtaliaͤner beylegen, und der
Welt wollen glauben machen, daß der Biblio-
thekar der Ambroſianiſchen Bibliothek zu Mey-
land,
[]Vorbericht.
land, ein Geiſtlicher, ſich bemuͤht habe, Cha-
raktere fuͤr freye Schweitzer zu ſchreiben, ihre
Knaben zur Tugend anzufeuern, und Jhren
Juͤnglingen patriotiſche Geſinnungen beyzu-
bringen? Denn das iſt und bleibt ausge-
macht, daß die Bilder in den vier Stufen
des menſchlichen Alters einzig und allein fuͤr
freye Staaten paſſen, die ſo eingerichtet ſind,
wie der unſrige; und daß die Moral, die
dem Herzen eines Deutſchen, eines Franzo-
ſen und Jtaliaͤners, eingepraͤgt werden ſoll,
mit den Landesgeſetzen, und mit dem Climat
A 5uͤber-
[]Vorbericht.
uͤbereinſtimmen muͤſſe, wenn jeder ſeinem Va-
terlande nuͤtzliche Dienſte leiſten ſoll. Und
wo finden ſie ſonſt, mein Herr, als bey
den Schweitzern, eine ſolche Staatsverfaſ-
ſung, wo der Buͤrger zugleich Geſetzgeber,
Soldat, Richter und Unterthan iſt? Allein
ihre eigne Einſicht uͤberzeugt ſie hievon; ich
muß Jhnen alſo, mein Herr, nur noch ſa-
gen, wie ich auf den Einfall gerathen, die
vier Stufen zu ſchreiben.


Vor einigen Jahren hat ein gewiſſer
Zufall mich genoͤthigt, mein Zimmer zu huͤ-
ten;
[]Vorbericht.
ten; und da die Morgenſtunden einſam vor-
uͤber giengen, ſo habe ich, um meinem Sohn,
einem Knaben damals von ſieben Jahren, ei-
nen kleinen Begriff von einem rechtſchaffenen
Republikaner zu geben, dieſe Charaktere zu Papier
gebracht. Alle Nachmittag beſuchten mich meine
Freunde. Herr Canonikus Breitinger kam eins-
mal unvermuthet und ſehr fruͤh; er fand meine Ar-
beit auf dem Tiſch, alle meine Vorſtellungen waren
fruchtlos; ich lag im Bett, er nahm ſie weg,
und ich ſahe ſie nicht wieder, bis ſie gedruckt,
und ehe ich ſie verbeſſern konnte, gedruckt
wa-
[]Vorbericht.
waren. Ein Jahr hernach uͤberſandte mir ein
Meylaͤnder, der ſehr wohl deutſch redet, und
mein Freund iſt, das Manuſcript von der
zierlichen poetiſchen Ueberſetzung des Herrn
Doktor Oltrotſchi, welche dann auch mit ei-
ner Vorrede vom Herrn Canonikus Breitin-
ger hier gedruckt wurde. Haͤtten Sie, mein
Herr, die vier Stufen des menſchlichen Al-
ters einem andern Schweitzer, aus welchem
Canton es auch immer geweſen ſeyn wuͤrde,
zugeſchrieben, mir waͤre es gleichguͤltig gewe-
ſen; denn um die Autorſchaft bekuͤmmere ich
mich
[]Vorbericht.
mich nicht viel; mein Pult verſchließt, was
ich zu meiner Beluſtigung ſchreibe. Aber ei-
nem Jtaliaͤner, obgleich ſeine fließende roͤmi-
ſche Poeſie, mein Werkgen ganz verſchoͤnert
hat, habe ich die vier Stufen des menſchli-
chen Alters nicht uͤberlaſſen wollen.


Verzeihen Sie mir alſo, mein Herr,
daß ich Sie mit dieſem Bericht bemuͤht ha-
be. Mein Dank, daß ſie auf meinen Ge-
danken ein ſo vortrefliches Gedicht gebauet, iſt
ſo groß, als meine Hochachtung. Koͤnnte
ich es Jhnen, mein Herr, in der That be-
wei-
[]Vorbericht.
weiſen, ſo waͤre mein Vergnuͤgen vollkom-
men. Jſt unſer Land gleich felſicht und hart;
ſo gießt doch der Himmel Freyheit, Ruhe
und Frieden, auf uns herab. Fuͤrchtet ſich
Jhre Muſe vor dem Schwarm der Franzo-
ſen; hier iſt eine Zuflucht fuͤr ſie. Hier
růhrt man die Trommel nur zur Freude, und
die Ufer der See, die Huͤgel und Thaͤler
wiederſchallen frohlockend dem Donner der
Kanonen. Liebreich und zaͤrtlich wuͤrden
Breitinger, und Bodmer, und Gesner,
und andre wuͤrdigen Freunde ſie umfangen,
und
[]Vorbericht.
und ich wuͤrde einen der groͤßten meiner Wuͤn-
ſche erfuͤllt ſehn ꝛc.


Johann Rodolf Wertmuͤller,
des großen Raths der Republik Zuͤrich,
und Stadtfendrich.

Jch habe in dieſer neuen Auflage mein
Verſehen verbeſſert; und uͤberdieſes auch
dieſem Gedichte, in Anſehung der Versart,
ſo viel Wohlklang zu geben geſucht, als mir
moͤglich geweſen, und dieſe Versart im
Deutſchen erlaubt. Es iſt alſo ſowohl in
dieſem Gedichte, als auch in der Schoͤpfung
der
[]Vorbericht.
der Hoͤlle, der Beſtimmung gefallner En-
gel, und den Vergnuͤgungen der Melan-
choley, faſt kein Vers unveraͤndert geblie-
ben; welches das Publikum uͤberzeugen
wird, wie ſorgfaͤltig der Dichter bemuͤht
iſt, ſeinen bisher erhaltnen Beyfall immer
noch mehr zu verdienen. Braunſchweig
den 8ten Jan. 1764.



[]

Das Maͤdchen.



[][3]

Das Maͤdchen.

Erſter Geſang.

Muſe, begeiſtert durch dich, ſang von dem menſch-
lichen Alter

Uns Wertmuͤllers gluͤckliche Leyer. Mit roͤmiſcher
Anmuth

Wiederhohlte ſein Lied Oltrotſchi. Vergaſſen die
Dichter

Ganz, die andre ſchoͤnere Haͤlfte des Menſchenge-
ſchlechtes?

Singe du ſie Germaniens Toͤchtern! Sie lieben
Geſange,

Welche mit lehrendem Reiz die einſamen Stunden
verkuͤrzen;

Und das fuͤhlende Herz zur himmliſchen Tugend er-
heben.

B 2Lieb-
[4]Das Maͤdchen.
Liebliches Maͤdchen! nahe dich mir! — Wie
gleicht ſie der Mutter

Mit dem feinſten Geſicht! Jhr braunes offenes
Auge

Laͤchelt ſchon Sieg. Schon gluͤhen die Lippen in
hoͤherem Purpur,

Und zerſtreuete Roſen bedecken die zaͤrtlichen Wan-
gen.

Aber noch warten des gelblichten Haars ſanftwallen-
de Locken

Auf die ſiegende Farbe der Nacht, die kuͤnftig die
Schoͤnheit

Jhres blendenden Halſes erhoͤht. Es flattert im
Winde,

Wenn ſie mit kleinen gefluͤgelten Fuͤſſen die Mutter
ereilet,

An das lange Gewand ſich haͤngt, und ſtammelt,
und ſchmeichelt,

Bis ihr die Mutter zuruͤckegefolgt. Jetzt ſetzt ſie
die Puppe

Vor den Theetiſch, und wartet ihr auf. Mit klei-
nen Geſpraͤchen

Unterhaͤlt ſie ſie lange, die Antwort erwartend,
und weinet

Ueber
[5]Erſter Geſang.
Ueber ihr eigenſinniges Schweigen’; ſie giebt ihr
die Lehren,

Welche die Mutter ihr gab, zuruͤck. Der Vater
bemerkt es,

Laͤchelt von ſeinen Buͤchern empor; erinnert ſie
wieder,

Daß die Puppe nicht ſpricht, und troͤſtet die kleine
Betruͤbte.

Dann koͤmmt auf dem muthigen Stecken, ihr juͤn-
gerer Bruder,

Ueber den Saal her geritten. Sie ſieht mit furcht-
ſamen Augen

Zaͤrtlich ihm nach, und warnt ihn; umſonſt! der
voͤllige Knabe

Zeigt ſich bereits in jeglichem Schritt der kindiſchen
Spiele.

Pferd’ und Wagen ergetzen ihn nur, und der blin-
kende Degen,

Und der maͤnnliche Hut. Er kennet die Furcht nicht,
und jauchzet,

Wenn die kriegriſche Trommel erſchallt. Doch weib-
liche Sanftmuth

Herrſcht ganz in dem fuͤhlenden Maͤdchen. Jetzt
nimmt ſie den Bruder

B 3Mit
[6]Das Maͤdchen.
Mit ſich allein, und flehet ihn an, ſein Leben zu
ſchonen,

Und nicht der wallenden Fahne zu folgen. Der mu-
thige Knabe

Wird von den Thraͤnen erweicht, legt ſeine laͤrmen-
de Trommel,

Und ſein blankes Huſarenſchwerdt ab, und ſpielt
mit der Schweſter

Stillere Spiele; wird Kutſcher und Koch, und laͤßt
ſich gefaͤllig

Zu des Maͤdchens Geſchmacke herab. Dann folgt
ſie der Mutter

Haͤußlichem Schritt, und ahmet ihr nach in kindi-
ſcher Wirthſchaft;

Oder ergreift mit zitternder Hand die Nadel der
Mutter

Und glaubt Blumen und Laub in ihren Verſuchen
zu ſehen.

Oftmals nimmt ſie der liebende Vater mit zartli-
chen Freuden

Auf den ſchmeichelnden Schoos, und lehrt ſie zeitig
Begriffe

Von dem guͤtigen Schoͤpfer der Welt. Steigt uͤber
die Wellen

Jm
[7]Erſter Geſang.
Jm Triumph die Sonne herauf; und haͤnget am
Abend

Ueber dem Walde der ſilberne Mond: ſo breitet die
Andacht

Schon den kindiſchen Arm voll Jnnbrunſt gegen die
Himmel.

Huͤllt ſich der Tag in duͤſtere Nacht, und rollet der
Donner

Ueber dem Haupt; ſo bewahrt er ihr Herz beym
dunkeln Gewitter

Vor der ſklaviſchen Furcht; gewoͤhnt ſie, eben ſo
zaͤrtlich

Jhren Schoͤpfer zu lieben, ihn eben ſo edel zu
fuͤrchten,

Wenn er im Zephyr erfriſcht, als wenn er in Stuͤr-
men einhergeht.

Jedes zarte Gefuͤhl, das in der empfindlichen
Seele

Sich entwickelt, das bildet er ſanft, und edel und
menſchlich.

So ſchlaͤgt ſanfter ihr Herz. Der Grauſamkeit
kleineſte Spuren

Werden darinne vertilgt. Oft blinken ihr Thraͤnen
im Auge,

B 4Wenn
[8]Das Maͤdchen.
Wenn vor dem toͤdtenden Meſſer des Kochs die
Taube dahin faͤllt,

Oder der Henne ſperbrichtes Kind. Sie lernet bey
Zeiten

Andrer Elend zu fuͤhlen; ſie wird die chriſtlichſte
Tugend

Zur Vollkommenheit bringen, und wenn ſie wider
Verſchulden

Feinde haſſen, die Feinde ſogar als Menſchen noch
lieben.

Wie erroͤthet ihr ofnes Geſicht, wofern ſie nur
muthmaßt,

Jhren Vater beleidigt zu haben! Mit welchem
Erſchrecken,

Und mit welcher befluͤgelten Angſt umfaßt ſie ihn
kniend,

Wenn ſie wirklich gefehlt! Jhr rollen die brennen-
den Thraͤnen

Lange vom Auge, ſie kan ſich nicht troͤſten ob ih-
rem Vergehen.

Kan Verſuchung wohl je ſolch eine Seele
verfuͤhren,

Welche, ſo fruͤh mit der Tugend bekannt, ihr immer
getreu bleibt,

Und
[9]Erſter Geſang.
Und den Namen ſogar des niedrigen Laſters verab-
ſcheut?

Nein, ihr redender Blick, die laͤchelnden purpur-
nen Lippen,

Sind nicht Betruͤger. Die innere Schoͤnheit der
weiblichen Seele

Waͤchſt mit der Anmuth der Jugend zugleich. Jhr
ſchuͤtzender Engel

Schwebet um ſie auf guͤldenen Fluͤgeln; er wacht
fuͤr die Unſchuld

Jhres unſterblichen Geiſtes, und hilft die Roſen
der Schoͤnheit

Auf den Wangen entfalten. Jhr leichter aͤtheriſcher
Schlummer

Fliegt mit der Morgenroͤthe dahin. Liebkoſend er-
weckt ſie

Jhren Vater, und faltet mit ihm die Haͤnde zum
Himmel.

Jhre ſtammelnden Seufzer erſchallen umfonſt nicht;
die Engel

Tragen ſie uͤber die Wolken. — Dann lernt ſie in
kleinen Geſchichten

Und anmuthigen Fabeln die Tugend. Mit ſeuriger
Neugier

B 5Fragt
[10]Das Maͤdchen.
Fragt ſie nach allem; verſchlingt die Worte des
guͤtigen Lehrers,

Lernt der Chriſten wohlthaͤtig Geſetz; bewundert der
Vorſicht

Maͤchtige Hand in frommen Geſchichten, und preißt
mit Entzuͤckung

Jede vortrefliche That. Oft auch verſucht ſie im
Tanze

Voller Anmuth zu ſchwimmen, und biegſame Glie-
der zu uͤben.

An ihr haͤnget das Herz der Eltern. Der Vater
vermiſſet

Jhrer Spiele Geraͤuſch, und wuͤnſchet ſie um ſich
zu ſehen,

Ob er gleich in Arbeit verſenkt, in Buͤchern ver-
tieft iſt.

Eingehohlt unter den zaͤrtlichen Kuͤſſen der lieben-
den Mutter,

Koͤmmt ſie zum Vater zuruͤck; er kuͤßt ſie. Stil-
les Entzuͤcken

Stroͤmt aus ſeinen Augen. Er ſieht die Reize der
Mutter

Hier im Kleinen, prophetiſche Blicke durchdringen
die Zukunft;

Und
[11]Erſter Geſang.
Und von ſchmeichelnder Hofnung geſtaͤrkt, wahrſagt
er ihr kuͤnftig

Jn der Liebe das Gluͤck, das ihn ietzt ſelber be-
ſeeligt.

Sinkt mit dem Abendroth nun die erſte ruhi-
ge Stille

Auf die thauigte Welt; ſo neiget ſie unter den
Seufzern

Kindiſcher Andacht ihr Haupt zu ſanftem Schlum-
mer. Geſpenſter,

Melancholiſche Schatten, und blaſſe ſchreckende
Larven,

Flattern nicht um ihr heiteres Lager. Wohlthaͤtige
Geiſter

Fuͤhren die guͤldnen Traͤume zu ihr. Sie laͤchelt
voll Unſchuld

Auch im Schlaf, und traͤgt im Geſicht den offenen
Himmel.

Alſo entſchlaͤft auf Roſengewoͤlk ein reiſender Engel,

Der auf des Ewgen Befehl die weite Schoͤpfung
durchwandert.

Weicht nicht, ihr Beſchuͤtzer der Unſchuld,
ihr treuen Gefaͤhrten,

Menſch-
[12]Das Maͤdchen. Erſter Geſang.
Menſchlicher Tugenden; himmliſche Schaaren, o wei-
chet nicht von ihr!

Tragt ſie auf euren olympiſchen Fluͤgeln, damit
nicht ein Unfall

Jhre bluͤhenden Jahre verkuͤrze! Sie waͤchſet an
Alter

Und an Schoͤnheit und Tugend empor. O gluͤckliche
Mutter,

Die dich, holdſeeliges Maͤdchen, gebahr! O gluͤck-
licher Vater,

Welcher dich einſt des edelſten Juͤnglings Umarmun-
gen zufuͤhrt.

Und von dir ein zahlreich Volk von Enkeln ent-
ſtehn ſieht!



[[13]]

Die Jungfrau.



[[14]][15]

Die Jungfrau.

Zweyter Geſang.

So wie am Morgen die ſchoͤnſte der Roſen mit
Perlen geſchmuͤcket,

Jhren verſchloßnen jungfraͤulichen Buſen am Strale
der Sonne

Schamhaft eroͤfnet; ſie ſteht, die herrlichſte Zier-
de des Gartens,

Unter ſchuͤtzenden Dornen; bey jedem Schmeicheln
des Zephyrs

Schauert ſie in ſich zuruͤck, und erroͤthet mit hoͤhe-
rem Feuer;

Sanfte Geruͤche duftet ſie aus; ſie iſt die Mon-
archin

Aller Blumen, der Flora Geliebte, das Bildniß
der Unſchuld:

So entfalten ſich auch die wachſenden Reize der
Jungfrau,

Die
[16]Die Jungfrau.
Die ietzt maͤchtger ſich fuͤhlt. Mit braunen ſchwim-
menden Locken

Spielt der gauckelnde Weſt, und von dem zierli-
chen Bogen,

Der mit der Farbe der Nacht ihr ſiegendes Auge
bezirket,

Schauen die Liebesgoͤtter herab. Die ſtralenden Pfeile

Treffen die Herzen gewiß. Auf ihren reifenden
Wangen

Laͤcheln die Gratien. Anmuth und Hoheit eroͤfnen
die Lippen,

Jn den hoͤheſten Purpur getaucht; wie Perlen da-
zwiſchen

Steht der Zaͤhne geordnete Reih. So rein, wie
der Aether,

Jſt ihr lieblicher Hauch; und weißer, als Lilienbluͤthe,

Hebt ſich die blendende ſchwellende Bruſt. Die Schoͤne
bemerkt es

Schamhaft; erroͤthet, und breitet die Blumen am
Buſen noch mehr aus,

Jhre verraͤthriſchen Reize zu decken. Mit zierlichem
Anſtand

Geht
[17]Zweyter Geſang.
Geht ſie wie eine Goͤttin dahin. Des Juͤnglin-
ges Augen

Schauen ihr nach, und kommen ſo frey nicht wie-
der zuruͤcke.

Sie iſt ihrer Geſpielinnen Krone, die Schoͤnſte der
Schweſtern,

Nicht ein einziger ſtolzer Gedanke, nicht Eine Begierde,

Niederer Wolluſt befleckt die immer heitere Seele.

Neben ihr geht, wie ein ſchuͤtzender Engel, in weiſ-
ſem Gewande,

Sicher die Unſchuld einher; die unbeleidigte Keuſchheit

Kroͤnt ſie, mit einem bluͤhenden Kranz. Jhr Antlitz
erheitert,

Wenn ſie laͤchelt, die Nacht, und wuͤrde Barbaren
entwafnen.

Mit aufwallender Bruſt bemerken die gluͤcklichen Eltern

Jhren einſamen Wandel, den ſie mit Thaten der
Tugend

Heimlich bekroͤnt, den Augen der Welt im Stillen
verborgen,

V.Th. CDoch
[18]Die Jungfrau.
Doch nicht dem Himmel, der Acht auf ſie giebt. Jhr
frommes Gebet ſteigt,

Wie am Morgen ein Opfer ihm dampft, hoch uͤber die
Wolken.

Bald ſchwingt ſich der Seraphim ſchoͤnſter, ihr lie-
bender Schutzgeiſt

Von dem Olymp, und ſchwebet um ſie; ſein maͤchtiger
Blick ſcheucht

Jede Verfuͤhrung von ihr, verſcheucht die eitle Begierde

Zu ausſchweifendem Putz, und Schmaͤhſucht, und
alle die Laſter,

Die oft hinter dem Reiz der blendenden Schoͤnheit
verſteckt ſind.

Niemals laͤßt ſie umſonſt die muͤßigen Stunden entfliehen,

Denn ſie beſchaͤftigt die Sorge der Wirthſchaft; ſie ſcheut
nicht der Kuͤche,

Von den Schoͤnen gefuͤrchteten, Rauch. Bald eilt ſie
zum Garten,

Und begießt mit dem ſilbernen Quell ihr Bildniß, die Roſe,

Oder die bunte Ranunkel, und nennet mit Namen die
Nelken.

Oft
[19]Zweyter Geſang.
Oft auch ſitzt ſie am Rahmen, und ſchaft auf dem
Leeren der Leinwand

Helle Gefilde, den ſchattichten Wald, und farbichte Blumen;

Oder ſie windet die glaͤnzende Seide zum einfachen
Hauptſchmuck

Jhres Kaſtanienhaars, und macht ſich allen den Putz ſelbſt,

Ungekuͤnſtelt, natuͤrlich und ſchoͤn, den ihre Geſpielen

Wundernd beneiden, gezwungen erheben, nie ſelber
erfinden.

Sinkt nun vom Abend die Ruh und die Stille zum
Erdkreis herunter,

Und der freundliche Mond haͤngt uͤber den einſamen
Thaͤlern:

So toͤnt oft, am hohen Klavier, und zur ſilbernen Laute,

Jhr bezauberndes Lied. Dann horchen die ſchweigen-
den Linden

Um ihr ſtilles Gemach; wetteifernd ſinget dazwiſchen

Philomele; der murmelnde Bach fließt ſanfter; der
Weſtwind

C 2Lauſcht
[20]Die Jungfrau.
Lauſcht auf Roſengewoͤlk; die angelockten Najaden

Recken ihr Haupt aus der Fluth, und tanzen in
froͤhlichen Reigen

Nach dem harmoniſchen Schall, und heller und freund-
licher blinket

An dem Himmel der Mond, der ihre Taͤnze beſchauet.

Oft ergreift ſie ein lehrendes Buch, und hoͤret
die Lieder

Eines unſterblichen Dichters, die großen harmoniſchen
Lieder

Tugendlehrender Barden. Jhr toͤnen nicht Lesbiſche
Leyern,

Oder das Tejiſche Lied. Der Sionitiſchen Muſen

Goͤttlichen Harfenklang hoͤrt ſie entzuͤckt, und liebt die
Geſaͤnge,

Dir, ehrwuͤrdige Tugend, zum Ruhm; nicht jene, voll
Wolluſt,

Oder taumelnd von Wein, die den wilden entheiligten
Saiten

Jn die bezauberten Herzen entſtroͤmen. Nicht ſchaale
Romane

Stecken
[21]Zweyter Geſang.
Stecken ſie an mit der Peſt der lachenden Wolluſt.
Pamela,

Nur die heldenmuͤthge Clariſſa, die wuͤrdige Byron,

Werden zu ihrem Umgang gerufen. Zwar haben die
Muſen

Mit dem kaſtaliſchen Quell ſie ſelber getraͤnket; ihr
ſelbſt fließt

Oft ein gluͤckliches Lied aus ihrer ſchoͤpfriſchen Feder;

Aber ſie laͤßt ſich zu leicht nicht blinde Schmeichler
verleiten,

Vor den Augen der Welt ſich auf dem Pindus zu zeigen,

Und den erzwungenen Kranz ſich um die Schlaͤfe zu
winden.

So fließt ſanft ihr Leben dahin, an ſchuldloſen
Freuden,

Und an ſtillen Ergetzungen reich. Die rauſchenden Feſte

Schwaͤrmender Thoren ſind nicht fuͤr ſie. Sie liebet
den Tanz zwar,

Doch nicht die Mummereyen der Nacht, wo wilde
Centauren,

Frech durch Bosheit, und Wolluſt, und Wein, die
Unſchuld entfuͤhren.

C 3Auch
[22]Die Jungfrau.
Auch laͤßt ſie, die blutige Jagd, dem haͤrtern Geſchlechte;

Stuͤrzt nicht mit wuͤthendem Bley die fliehende Hindin
im Walde,

Und uͤberhohlt nicht mit Donner den Flug der ſteigenden
Lerche.

Sie beſteigt nicht das muthige Roß; der drohende
Mannshut

Deckt nicht die offene Stirn. Warum ſoll weibliche
Sanſtmuth

Furchtbar den Augen erſcheinen, und glaͤnzend in Waf-
fen daherziehn?

Jſt ihr Reiz nicht maͤchtig genug? Was ſollen ihr
Waffen?

Jhr beſcheidnes Gewand erhebt die weibliche Schoͤnheit

Mehr, als der drohende Huth mit Straußengefieder
bedecket.

So mit Tugend geſchmuͤckt, im ſtillen ſittſamen
Anſtand

Sieht ſie ein edelmuͤthiger Juͤngling, die einzige
Hofnung

Eines glaͤnzenden Hauſes. Er fuͤhlt die ſuͤſſe Bezaubrung

Jhres ſiegenden Augs. Jn ſeinen anbetenden Blicken

Redet
[23]Zweyter Geſang.
Redet die treueſte Liebe fuͤr ihn. Die Schoͤne bemerket

Seine verborgenen Flammen; die junge gluͤhende Wange

Stralet mit hoͤherem Roth, und zaͤrtliche holde Ver-
wirrung

Hebet jeglichen Reiz, indem er mit feurigen Lippen

Ganz in Entzuͤckung die Hand ihr kuͤßt. Sie wendet
ihr Antlitz

Schamhaft zur Seite; dann bebt ihr Verehrer erſchro-
cken zuruͤcke,

Glaubt ſie beleidigt zu haben, und kennt nicht ſeine
Triumphe.

Aber ſein ſchmeichelndes Bild ſchwebt ſtets der Schoͤnen
vor Augen.

Wenn am Abend zum oͤden Gemach die Schwermuth
ſich nahet,

Die zu Liebenden gern ſich geſellt, und unter den Lauben

Sich ihr irrender Schritt voll fuͤſſer Gedanken verlieret,

Dann erblickt ſie, getaͤuſcht von wachenden Traͤumen,
den Juͤngling

Vor ſich ſtehn, und hoͤrt noch entzuͤckt die ſchmeichelnden
Reden

C 4Sei-
[24]Die Jungfrau. Zweyter Geſang.
Seiner Bewundrung; dann ſteigt in der Bruſt der
heimliche Wunſch auf,

Ganz die Seine zu werden. Der traurige Juͤngling
indeſſen

Bleibt lang ungewiß uͤber ſein Gluͤck, und hoffet vergeblich

Lange dunkele Tage mit feſter Treue voruͤber.

Endlich erklaͤrt ſich die Lieb im Triumph. Der froͤhli-
che Hymen

Schwinget die Fackel; in Thraͤnen der Freude zerflieſ-
ſen die Eltern,

Und, in Entzuͤckung verſenkt, ſehn die Verliebten am Altar

Nun auf ewig ihr Buͤndniß verknuͤpft. Es treufeln
die Himmel

Ueber ſie Seegen und Wonne. Die frohen jauchzen-
den Reigen

Schallen umher, und ſagens der Stadt; bis endlich
die Liebe

Von dem Abendſtern winkt, und von jungfraͤulichen Locken

Jhr, nicht ohne Thraͤnen und Weigern, der Brautkranz
geraubt wird.



[[25]]

Die Frau.



[[26]][27]

Die Frau.

Dritter Geſang.

Wohl dem Manne, dem Gott zum Geſchenk ein tu-
gendhaft Weib gab!

Freude beſeeligt ſein Herz; und Reichthum fuͤllet ſein
Haus an.

Sieh! wie reizend tritt ſie einher in heiterer Anmuth,

Gleich der Unſterblichen einer. Vor ihrem zaubern-
dem Blicke

Wei-
[28]Die Frau.
Weichen die Sorgen, wie Nebel entfliehn vorm Stra-
le der Sonne.

Um ſie haͤngen ſich liebliche Kinder, wie Liebesgoͤtter

An dem Guͤrtel Cytherens. Die ſuͤſſe harmoniſche Rede

Dringt mit Schmeicheln ins Herz des Mannes; er he-
bet ſein Aug auf,

Preiſt ſich begluͤckt, und danket der Vorſicht ſein irdi-
ſches Eden.

Schoͤn iſts, wer an maͤchtigen Fluͤſſen die eige-
nen Segel

Ueber den Ocean ſendet, und an den fetten Geſtaden

Mengen von Heerden ernaͤhrt; ſchoͤn iſts, die Schaaren
der Schnitter

Maͤhen zu ſehn, auf eigenem Land, von Seegen bedecket;

Oder die eignen ergiebigen Berge zu Schaͤtzen zu
ſchmelzen.

Schoͤn
[29]Dritter Geſang.
Schoͤn iſts, in dem Schooße des Ruhms, im Zirkel
von Freunden,

Aus Kryſtallen zu trinken; befreyt von der Sorge des
Koͤnigs,

Koͤnigsgnaden erzeigen zu koͤnnen, — und doch iſt es
ſchoͤner,

Jn den Armen der weiblichen Tugend dem Himmel zu
danken.

So wie Aurora die Wellen verlaͤßt, verlaͤßt ſie
das Lager

Jhres Gemahls, und geht, wie die Sonne, dem fro-
hen Geſind auf.

Keine gekuͤnſtelten Waſſer benetzen die bluͤhenden
Wangen,

Sondern ſie taucht ihr holdes Geſicht in den lauteren
Quell ein,

Und ſie iſt ſchoͤn, wie Venus im Bade. Nicht Stun-
den verflieſſen

Ueber dem Putze des fliegenden Haars. Sie ſtralet
nicht praͤchtig

Jm
[30]Die Frau.
Jm Japaniſchen Stoff; die reine weiſſeſte Leinwand

Fließt um die marmornen Glieder, und eine thauigte
Blume,

Nur halbaufgebluͤht, ſchmuͤcket die Stirn. So weckt
ſie den Gatten

Mit dem friſcheſten Morgenkuß auf. Am reinlichen
Theetiſch

Sitzt ſie mit ihm, und verſammelt um ſich die liebli-
chen Kinder.

Ruft die Sorge des Staats den Mann zu fruͤhen Ge-
ſchaͤften,

So entweicht ſie unter die Schatten des laͤndlichen
Gartens,

Naͤht in der ſchattichten Laube von Linden; indes daß
der Knabe

Blumen ſammelt, die Schweſter zu kraͤnzen, im thauig-
ten Graſe

Hinter dem Froſch her ſetzt, und nach dem Schmetter-
ling haſchet.

Oder ſie wandelt auch uͤber den Hof; betrachtet die
Schaaren

Jh-
[31]Dritter Geſang.
Jhrer weiſſen gekroͤnten Huͤner; indes daß die Tauben

Rauſchend vom Dache ſich ſtuͤrzen, und ihre Gebiethrin
umringen.

Dann ertheilt ſie der Kuͤche Befehl, und ſteigt auch
wohl ſelber

Zu den Gewoͤlben des Weingotts hinab, und ſorgt fuͤr
die Aufſicht

Jhrer Schaͤtze vom Rhein, und fuͤr die Tokayiſche Traube.

Sie lehrt ihre Knaben die Tugend; das zaͤrtliche Maͤdchen

Unſchuld und Sittſamkeit, ihres Geſchlechts erhaben-
ſten Vorzug.

Nicht dem dienenden Poͤbel, und aberglaubiſchen Ammen,

Laͤßt ſie die Sorge, das fuͤhlende Herz der Jugend zu bilden;

Sondern ſie ſchildert ihnen beredt erhabene Thaten,

Groſſe Geſchichte, welche die Seelen zur Tugend begei-
ſtern.

O wie
[32]Die Frau.
O wie lebt ſie ihr Leben begluͤckt! wie liebt ſie
den Mann nicht

Unausſprechlich! Jhm werden die Jahre zu fluͤchtigen
Tagen,

Und die Stunden zu ſchnellen Minuten. Der Eifer-
ſucht Fackel

Hat ſein Herz nie entflammt, nie hat ein quaͤlender
Zweifel

Jhrer Keuſchheit und Treu ſein ſanftes Lager umflattert.

Goldbedeckte Verfuͤhrer der Unſchuld, und witzige Narren,

Plaudrer ohne Gehirn, umgeben nie ihren Caffeetiſch.

Sie auch blaͤht ſich im Canapee nicht bey heiligen
Schweſtern,

Welche mit Beten den Vormittag ſchaͤnden, mit Laͤſtern
den Abend.

Sie weint gern mitleidige Zaͤhren beym Schickſal Zayrens,

Oder ſie lacht des phlegmatiſchen Orgons. Auch ſpielt
ſie am Fluͤgel

Jhrem
[33]Dritter Geſang.
Jhrem Mann Entzuͤckung ins Herz. Mit kleinen Ge-
ſchichten,

Die ſie mit Anmuth zu ſchmuͤcken, und mit Geſchmack
zu erhoͤhn weiß,

Lockt ſie oft uͤber die Stirne des Mannes zufriedenes
Laͤcheln.

Er verehrt ſie, er betet ſie an; mit jeglichem Tage

Scheinet ihr Aug ihm maͤchtger, und ihre Tugend
ihm ſchoͤner.

Seine Liebe vergroͤßert ihr Gluͤck; ſie lebet in ihm nur,

Und kein Wunſch herrſcht ſtaͤrker in ihr, als ihm zu ge-
fallen.

O welch eine Wolke von Thraͤnen bedecket ihr Antlitz,

Wenn ihr die Pflicht den werthen Gemahl aus den Au-
gen entreißet!

Weinend ſieht ſie ihm nach, und haͤngt mit duͤſteren
Blicken

Lang am rollenden Wagen, bis ein beneidetes Thal ihn

V.Th. DEin-
[34]Die Frau.
Einſchlingt, oder ein waldichter Berg ſich hinter ihm
aufthuͤrmt.

Traurig hofft ſie alsdann die langſamen Stunden
voruͤber,

Und kaum kan ihr den Schmerz die Schaar der Kinder
verſuͤſſen.

Aber endlich erſchallet das Horn, das Knallen der Peitſche;

Und das raſſelnde Rad ſteht ſtill. Sie fliegt ihm entgegen,

Druͤckt ihn feſt an ihr ſchlagendes Herz, und bringt
im Triumphe

Jhn den verſammelten Kindern zuruͤck. Gleich froͤh-
lichen Feſten

Gehn die Tage vorbey. Sie heftet die zaͤrtlichen Blicke

Feſt auf ihn, und kan ſich nicht ſaͤttgen am werthen
Geſichte.

Lange genießt ſie des himmliſchen Gluͤcks der treue-
ſten Liebe.

Friſche Geſundheit kraͤnzet ihr Leben; von guͤtigen Him-
meln

Stroͤmt
[35]Dritter Geſang.
Stroͤmt der reichſte Seegen auf ſie. Jhr Mann iſt die
Stuͤtze

Von dem dankbaren Staat; die ihn umringenden Ehren

Stralen auf ſie auch zuruͤck. Gleich jungen Engeln,
erwachſen

Schoͤne Kinder um ſie; gerechte Hofnungen fuͤllen

Jhre Seele, die oft mit Vergnuͤgen in ſchmeichelnder
Ausſicht

Kuͤnftiger Zeiten ſich ſieht, und ihrer Familie Gluͤck
denkt.

Auf ſie blickt der Seraphim Chor, denn ihre Gebete

Steigen oft uͤber die Wolken; ihr Herz ſchlaͤgt feurige
Seufzer,

Hohe Gedanken, zu Gott empor; ſie erhoͤret die All-
macht,

Und neigt ihren Seegen herab zu dem Flehen der Mutter.

Wie ehrwuͤrdig hebt ſie ſich auf vom geheimen Gebete,

D 2Und
[36]Die Frau. Dritter Geſang.
Und wie heiter laͤchelt ihr Blick, durch Thraͤnen der Andacht

Aufgeklaͤrter! Wie zaͤrtlich umarmt ſie den theuren
Geliebten,

Jetzt aufs neu von der Gottheit erfleht! So leben ſie
lange,

Sind den verdorbenen Zeiten ein Beyſpiel von zaͤrtli-
cher Eintracht,

Und beſtaͤndiger Treu. Sie iſt die Krone der Frauen,

Beyfall folget ihr nach. So koͤmmt ſie dem Abend des
Lebens

Jmmer naͤher und naͤher; ſie wird in traurigen Stuͤr-
men,

Welche ſich uͤber ſie ziehn, nicht Muth und Staͤrke ver-
lieren.



[[37]]

Die Matrone.



[[38]][39]

Die Matrone.

Vierter Geſang.

Schlage nun ſanfter die Leyer, o Muſe! Dein einſa-
mes Lied auch

Athme ſtille Melancholey, und Ruhe der Seele,

Und Entfernung vom Wirbel der Welt. Wie Tage des
Herbſtes,

Nicht mit dem Glanze des Sommers geſchmuͤckt, die
Erde beſuchen,

D 4Doch
[40]Die Matrone.
Doch fehlt Anmuth auch nicht dem grauen wolkigten
Himmel,

Welcher das Antlitz der Sonne verdeckt; die ganze
Natur ſcheint

Jn ſich gekehrt, und voll Ernſt, und majeſtaͤtiſchen
Tieſſinns:

So verflieſſen die Tage der frommen Matrone. Die
Thraͤnen

Friſcher Wehmuth ſtroͤmen nicht mehr um die Urne des
Mannes,

Aber mit ſtillerer Schwermuth, und melancholiſchen
Stunden

Woͤlkt ſich ihr Leben. Mit ſilbernen Locken bedecket
das Alter

Jhr ehrwuͤrdiges Haupt. Die alles zerſtoͤrende Zeit hat

Jn dem Geſicht noch blendende Truͤmmer von Schoͤn-
heit gelaſſen.

Ordnung und Reinlichkeit herrſchen um ſie, und der
Anblick des Alters

Wird dadurch milder und ſanft. Jhr ſtiller beſcheidener
Anzug

Trauert
[41]Vierter Geſang.
Trauert noch immer geheim um den Mann. Entfernt
vom Getuͤmmel,

Und dem wilden Geraͤuſche der Welt, verhuͤllt ſie ihr
Leben

Vor dem Schwarme der thoͤrichten Freuden, vor leerer
Geſellſchaft,

Und der Eitelkeit ſcheckigtem Zug. Nie hat ſie der Tadel

An dem Spieltiſch geſehn, und unter den naͤchtlichen
Reigen,

Wo ſo viel verbluͤhte Geſichter ihr Alter entehren.

Still und einſam lebt ſie dahin. Die wuͤrdigen Toͤchter

Hat ſie ſchon lang an Maͤnner gegeben, und lange ſchon
Enkel

Von den Soͤhnen geſehn. Jhr reiches geſegnetes Haus
liegt

Tief in gluͤcklicher Ruhe vergraben. Die heilige
Schmaͤhſucht

Betender Furien murmelt nie drinn; auch ſchallt nie
die Stimme

D 5Pra-
[42]Die Matrone.
Pralender Andacht in horchende Gaſſen, und froͤhnet
dem Himmel.

Majeſtaͤtiſch und ernſtlich ſitzt ſie am ruhigen Abend

Mitten unter dem Kreis der horchenden Enkel, und
lehret

Die noch ungebildeten Herzen mit Lehren der Tugend,

Die ihr eigenes Beyſpiel beſtaͤrkt. Sie weiß die Ge-
ſchichte

Lange verfloſſener Zeit. Der Kreis umringet ſie naͤher,

Und haͤngt am erzehlenden Munde, bis uͤber die Erde

Tiefe Mitternacht faͤllt, und ſuͤſſer Schlummer herab-
ſinkt.

Mit dem Tode bekannt, und mit der Zukunft beſchaͤf-
tigt,

Betet ſie oft, und beſuchet voll Andacht die Tempel der
Chriſten.

Ueber ihr graues Haupt ſind ihr in langer Erfahrung

Jahre,
[43]Vierter Geſang.
Jahre, nicht immer mit Freuden bemerkt, voruͤber ge-
floſſen.

Doch auch Ungluͤck machte ſie weiſer; ſie iſt das Orakel

Jhrer Gegenden. Bluͤhender ſtehn die Wieſen am
Waſſer,

Und voll reicherer Aehren die Aecker. Am lachenden
Huͤgel

Beugt ſich ihr Weinſtock mit voͤlleren Trauben; ſie
fuͤrchtet den Hoͤchſten,

Und der Himmel erhoͤret ihr Flehn. Oft hat ſie dem
Ehmann

Eine zaͤrtliche Gattin gerettet, in traurigen Naͤchten

Sie mit Troſt und Beyſtand geſtaͤrkt, wenn unter den
Schmerzen

Ganz ſie erlag, und die Freude nicht fuͤhlte, nun Mut-
ter zu heißen.

Kluͤglich weiß ſie zu rathen, wenn in den Sorgen der
Wirthſchaft

Unerfahren, die juͤngere Frau in Fehlern verſtrickt iſt.

Bald
[44]Die Matrone.
Bald gewinnt das verworrene Haus ein gluͤcklicher An
ſehn,

Durch die Ordnung der klugen Matrone. Die muthi-
gern Roſſe

Ziehn mit dem Tage zum Acker. Die Haͤnde der fleiſ-
ſigern Maͤgde

Fuͤllen nun wieder die ſtaubichte Spindel, und machen
die Anger

Ringsum mit blendender Leinwand bedeckt. Die fei-
ſteren Heerden

Kommen mit vollen Eutern zuruͤck; und der treuere
Schaͤfer

Laͤßt die Scheere mit Jauchzen erklingen, und fuͤllet
die Boͤden

Mit der laͤngeren koͤſtlichen Wolle. Es ſeufzen die
Speicher

Unter der Laſt des guͤldnen Getraides. So bringet ſie
Arbeit

Jn des Muͤßiggangs Wohnung, und hilft durch Ord-
nung dem Fleiß auf.

Jhre
[45]Vierter Geſang.
Jhre Schaͤtze verroſten nicht unter dem Riegel, ſie
braucht ſie,

Und ſie gehoͤren den Armen. Sie ſah ein beſcheidenes
Maͤdchen

Jung und ſchoͤn. Es ſtand in Gefahr, in bitterer
Armuth,

Einem Verfuͤhrer zur Beute zu werden, da nahm ſie
es liebreich

Jn ihr Haus auf zur Tochter, und gab ſie mit reichen
Geſchenken

Einem redlichen Mann, der ihr nun ewig ſein Gluͤck
dankt.

Sie forſcht nach dem beſcheidneren Elend, das tiefer in
Noͤthen

Unbekannt traurt, im Kummer verſchmachtet; ſie weiß
es zu finden,

Und entreißt es der Schande des Bettelns. Der feu-
rige Dank weiß

Seine Wohlthaͤterin nicht, ſie thats verborgen und
edel.

Alſo kroͤnt ſie ihr Leben mit edelmuͤthigen Thaten.

Jn
[46]Die Matrone.
Jn der einſamen Nacht, wenn ihre goͤttliche Seele

Ueber das Grab ſich ſchwingt, und nach der Ewigkeit
aufſchaut,

Hoͤrt ſie oft in frommer Begeiſtrung ſeraphiſche
Stimmen,

Die zum Himmel ſie fodern; auch duͤnkt ihr oͤfters, ſie
ſaͤhe

Mit olympiſchem Schimmer geſchmuͤckt, den Schatten
des Mannes,

Der vor ihr her in die Ewigkeit gieng, und ietzo die
Gattin

Unter die himmliſchen Lauben beruft. Jhr wallet das
Herz auf;

Und nicht lange, ſo ſinkt aufs letzte Lager ihr Haupt hin,

Und ſie beſtimmt ſich die Stunde des Todes prophetiſch.
Die Toͤchter

Weinen um ſie; auch ſitzen am Fuß des traurigen Lagers

Jhre wuͤrdigen Soͤhne, die Zierden des Staats, und
benetzen

Jhre
[47]Vierter Geſang.
Jhre Haͤnde mit Thraͤnen. Sie ſieht die Schaaren der
Enkel

Um ihr Bette verſammelt, und alte treue Bediente

Ganz in Wehmuth verſenkt. Dann ſtaͤrkt ſie noch ein-
mal mit Muth ſich,

Hebt die Hand auf, und ſegnet ſie alle. Mit heiterm
Geſichte

Sieht ſie den Todesengel ſich nahn. Er iſt ihr nicht
ſchrecklich,

Sondern fordert ſie auf, und ihre willige Seele

Scheidet ſich ſanft vom Koͤrper, und folgt ihm uͤber die
Sterne

Zu den Schaaren der jauchzenden Engel, die ietzt im
Triumphe

Zu dem Throne der Allmacht ſie fuͤhren. Die glaͤnzen-
de Krone

Wird ihr geſchenkt. — Jndeſſen erhebt ſich die Stimme
der Klage

Laut durch die Stadt. Die Thraͤnen der Armen, die
Thraͤnen der Waiſen

Mi-
[48]Die Matrone. Vierter Geſang.
Miſchen ſich zu den Thraͤnen der Kinder und Enkel.
Die Glocke

Seufzt durch naͤchtliche Schatten. Der rollende Lei-
chenwagen

Eilet langſam ans Grab; die langen verſchleyerten Reihen

Folgen ihm nach. Die kuͤhle Gruft empfaͤngt ietzt den
Koͤrper;

Jhr Gedaͤchtniß aber bluͤht ewig. Der praͤchtige Marmor

Sagt nicht ihr Lob, dies ſagen die Herzen, in denen
ſie lebet.



[[49]]

Die
Schoͤpfung der Hoͤlle.



V. Th. E
[[50]][[51]]

Schreiben
an den

Koͤniglich Preußiſchen Oberamtsrath
Freyherrn
von Zedlitz

in Breslau.


E 2
[[52]][[53]]
Mein theureſter Freyherr,

Kaum kan ich hoffen, daß Sie, mit-
ten in den Unruhen der Waffen, und
unter ſo vielerley Bekuͤmmerniſſen und
Gefahren, noch Zeit oder Neigung
haben ſollten, Gedichte zu leſen. Jch
E 3wage
[[54]]
wage es indeſſen, Jhnen ein Geſchenk,
aber ein ſehr geringes Geſchenk, von
einigen poetiſchen Verſuchen zu machen,
die mich dazumal, als ich ſie ſchrieb,
nicht ſo ſehr an das Ungluͤck des
Krieges denken lieſſen, ob es mir gleich
ſehr nahe war. Vielleicht vergeſſen
Sie gleichfalls, bey Leſung dieſer Ge-
dichte,
[[55]]
dichte, auf einige wenige Stunden die
Sorgen, die Sie in dieſen unruhigen
Zeiten beſtaͤndig umringen; und dies
allein ſchon wuͤrde ich fuͤr eine angeneh-
me Belohnung meiner Arbeit halten.


Die beyden erſten Stuͤcke dieſer
kleinen Sammlung ſind Fragmente, die
ich mit der Zeit in ein groͤſſeres Ge-
E 4dicht
[[56]]
dicht einzuſchalten dachte. Als ich
mich vor einigen Jahren mit der Ueber-
ſetzung der erſten Geſaͤnge des verlohr-
nen Paradieſes beſchaͤftigte, fuͤhlte ich
meine Einbildungskraft von dem groſ-
ſen Genie Miltons ſo erhitzt, und an-
gefeuert, daß ich der Verſuchung nicht
widerſtehen konnte, mich einmal in das
Feld
[[57]]
Feld der ernſthaften epiſchen Poeſie
zu wagen, und beſonders eine Mate-
rie auszuarbeiten, die bloß Erdichtung
waͤre. Wie wenig ich mit mir ſelbſt
zufrieden geweſen bin, werden Sie dar-
aus urtheilen, daß ich nach dieſen
Verſuchen ſogleich das Vorhaben, dieſes
ernſthafte epiſche Gedicht zu ſchreiben,
E 5aufgab,
[[58]]
aufgab, und Jhnen dieſe Fragmente
nur darum zu leſen gebe, um Sie zu-
gleich zu verſichern, daß Sie keine weitern
Fortſetzungen zu fuͤrchten haben ſollen.


Die Vergnuͤgungen der Melan-
choley ſind aus dem Engliſchen des
Herrn Thomas Warton uͤberſetzt, und
werden Sie das Original in der Col-
lection
[[59]]
lection of Poems im IV. Tom. Seite
214. finden.


Die Unterhaltungen mit der See-
le ſind gleichfals nur eine Probe von
der Engliſchen Versart mit Reimen.
Sie werden verſchiedne Stellen aus
den Pleaſures of Imagination darin
nachgeamt finden.


Bey
[[60]]

Bey dem allgemeinen Gebet ha-
be ich, Popens allgemeines Gebet, vor
Augen gehabt.


Kaum darf ich mich alſo unter-
ſtehn, theureſter Freyherr, Jhnen eine
Sammlung von lauter Fragmenten und
Verſuchen zuzueignen. Jch ſchmeich-
le mir indeſſen doch, daß Sie nach
der
[[61]]
der beſondern Gewogenheit und Freund-
ſchaft, mit der Sie mich beehren, die-
ſe kleine Sammlung von einem Dich-
ter geneigt aufnehmen werden, der ſich
die groͤßte Ehre daraus macht, daß er
auf dem beruͤhmten Carolino zur Bil-
dung Jhres ſo vortreflichen Herzens
und richtigen Geſchmacks etwas bey-
getragen
[[62]]
getragen hat; und der niemals die
Stunden vergeſſen wird, die Sie in ſeiner
Geſellſchaft zuzubringen wuͤrdigten.


Jch habe die Ehre mit der groͤßten
Hochachtung zu ſeyn

Ew. Hochwohlgebornen



unterthaͤniger Diener
Friedrich Wilhelm Zachariaͤ.


[[63]]

Die
Schoͤpfung der Hoͤlle.


— — in drey erſchrecklichen Naͤchten
Schuf er ſie, und verwandte von ihr ſein Antlitz
auf ewig.
Meßias Geſ.II. 260.



[[64]][65]

Die
Schoͤpfung der Hoͤlle.


Raphael ſchloß: Jch habe dir, Adam, nach deinem
Verlangen,

Dinge, die ſonſt dem Menſchengeſchlecht verborgen ge-
blieben,

Offenbart; den ſchrecklichen Zwiſt, die Schlachten im
Himmel

Zwiſchen den engliſchen Maͤchten; den Fall der Rebel-
len, die thoͤricht

Nach der Gottheit geſtrebt, und ſich mit Satan empoͤret,

Mit dem Verworfnen, der ietzt dein irdiſches Gluͤck
dir beneidet,

Und drauf ſinnet, wie er auch dich vom Gehorſam
verſuͤhre,

V.Th. FDaß
[66]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Daß du ſeine ſchreckliche Strafe, ſein ewiges Elend,

Theilen moͤchteſt mit ihm. Dies waͤr’ ihm die herr-
lichſte Rache,

Dich zum Gefaͤhrten dereinſt in ſeiner Verdamniß zu
haben,

Und dem Allmaͤchtgen ſo Hohn zu ſprechen; doch folge
du niemals

Seiner Verſuchung! Bewahre dein Herz; du haſt es
vernommen

Durch dies ſchreckende Beyſpiel, wie Ungehorſam be-
lohnt wird.

Unuͤberwindlich konnten auch ſie im Guten verharren.

Aber ſie fielen! Denke daran, und fuͤrchte zu ſuͤndgen!

So der Geſandte von Gott! Er ließ in der
ſtaunenden Seele

Des aufmerkſamen Adams Entſetzen, und tiefe Ver-
wundrung

Ueber ſo fremde Geſchichte zuruͤck. Ein kuͤhner Gedanke

Flog
[67]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Flog ietzt voruͤber; er folgt ihm nach; drauf wagt’ er,
voll Ehrfurcht

So zum Engel zu ſagen: Du haſt uns, himmliſcher
Fremder,

Unbegreifliche Dinge vertraut; du haſt uns gewarnet

Vor den Strafen der Suͤnden, und vor dem Ort der
Verdamniß,

Wo ietzt Satan, mit allen Rebellen hinuntergeſtuͤrzet,

Ewigkeiten in Quaalen vollbringt. Doch darf ich es
wagen,

Dich der ſchrecklichen Scenen aufs neu zu erinnern;
und darf ich

Auch die Schoͤpfung der Hoͤlle von deinen Lippen zu hoͤren,

Mich erkuͤhnen? — Sie ſchuf der Zorn des Allmaͤcht-
gen unfehlbar

Fuͤrchterlich praͤchtig, des Richters und der Gerichteten
wuͤrdig.

Straͤfliche Neubegier nicht, vielmehr die reine Begierde,

F 2Auch
[68]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Auch in den dunkeln Wettern des Zorns dem Richter
von ferne

Nachzuſchauen, erweckt den Gedanken, mit tiefer An-
betung

Gottes Gerichte zu hoͤren. Erfuͤlle den lauteren
Wunſch dann!

Noch hat die einſame Nacht, mit ihrem langſamen Wagen,

Nicht die Haͤlfte des Himmels erreicht; der ſilberne
Mond haͤngt

Ueber Eden; die ganze Natur ſchweigt feyrend, und
Stille,

Heilige Stille beherrſcht den um uns ſchlafenden Erdkreis.

Alſo erſuchte den himmliſchen Gaſt der Vater der
Menſchen,

Und mit traurigem Ton gab ihm der Engel zur Antwort:

Adam, was legſt du mir auf? Und was verlangſt
du zu hoͤren?

Du befiehlſt mir, den Schmerz zu erneuern, der, un-
ausſprechlich,

Meine
[69]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Meine Seele zernagt, wenn ich ihn denke! Mit Abſcheu

Fahren die ſchwarzen Gedanken zuruͤck, ſo oft ſie von
neuem

Jenen grimmigen Tagen der feurigen Rache ſich nahen,

Welche den flammenden Abgrund erſchuf; ihn erſchuf,
Myriaden

Ungluͤckſeeliger Geiſter (ach! ehmals auch unſre Ge-
faͤhrten!)

Jn ihn nieder zu donnern. Zwar bey der Schoͤpfung
der Hoͤlle

War ich ſelbſt, mit dem goͤttlichen Heer im Felde des
Krieges,

Wider Satan gelagert; doch, nach dem ſiegenden Einzug

Unſerer Schaaren im Himmel, hab ich vom Seraph
Eloah

Jn vertraulichen Stunden die ſchaudervolle Geſchichte

Von dem ſchrecklichſten Werke gehoͤrt, das jemals die
Allmacht

F 3Als
[70]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Als ein ewiges Denkmal des Zorns im Chaos gegruͤndet.

Seraph Eloah, er fuhr mit hinab, und ſah das Gefaͤngniß,

Fuͤr die rebelliſchen Engel erſchaffen; ein flammender
Kerker,

Unermeßlich. Doch kaum weiß ich noch Bilder zu finden,

Fuͤrchterlich, ſchrecklich, ſcheußlich genug, dir Dinge zu
zeichnen,

Nie von ſeeligen Geiſtern gedacht — dir die Hoͤlle zu
zeichnen.

Doch ich wag’ es; mit Grauſen, mit kaltem maͤchtigen
Grauſen

Hoͤre die Rache des Herrn, und neige dein Antlitz zur
Erde!

Satan, (du weißt es) er hatte die freche Stan-
darte des Aufruhrs

Wider Gott, und wider den Sohn des Ewgen erhoben;

Und ſchon ſandte der Himmel ſein Heer unzehlicher
Starken

Gegen
[71]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Gegen ihn aus. Jch ſelbſt in ſchimmernder kriegri-
ſcher Ruͤſtung

Fuͤhrte die Myriade zum Streit dem Empoͤrer entgegen.

Himmliſche Thronen, und Fuͤrſten, und Maͤchte, ſo
bald ſie den Kriegshall

Der Poſaunen vernahmen, verlieſſen die goldenen
Stuͤhle,

Machten, wie ich, ſich auf, und folgten mit muthigem
Herzen,

Jhres Sieges gewiß, den hierarchiſchen Fahnen,

Die hochwallend die Himmel durchſtroͤmten. Das
Heiligthum Gottes

Blieb indeſſen nicht leer, von treuen engliſchen Schaaren

Unverfuͤhrter Geiſter. Bey tauſend, und tauſendmal
tauſend,

Standen ſie um des Ewigen Thron; olympiſche Harfen

Sangen noch immer entzuͤckt, mit Hallelujageſaͤngen

F 4Gott
[72]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Gott und ſeinen Geſalbten; es dampfte heiliges Rauch-
werk

Vor den Altaͤren, wie ſonſt, als noch der Name des
Krieges

Nicht im Himmel erſcholl. Jndeſſen ſchaute der Ewge

Von dem Throne herab, und zehlte die zahlloſen
Schaaren,

Welche Satan verfuͤhrt; er ſah die eiſernen Stirnen

Trotzig empor ſich heben, und ihre verruchten Gemuͤther

Aller Reue verſchloſſen, und aller Beßrung; und ewig

Ungluͤckſeelig. Da gab er ſie hin dem geſuchten Verderben,

Und verhuͤllte ſein gnaͤdiges Antlitz. Die goldenen Lam-
pen,

Welche beſtaͤndig vor ihm in ſeinem Heiligthum brennen,

Wurden mit Wolken bedeckt, und Dunkel und ſchreck-
liche Nacht hieng

Um
[73]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Um den erſchuͤtterten Thron. Da fielen die Heiligen
nieder

Auf ihr Antlitz, und beteten an; die Cherubim deckten

Jhre Geſichter mit allen Fluͤgeln; die Harfen ver-
ſtummten,

Und das Chor der Seraphim ſchwieg. Aus dampfen-
den Wolken

Sprachen ietzt laute Donner und Stimmen, und
leuchtende Blitze

Schoſſen umher. Jn bangen Erwartungen lagen die
Engel

Bis das dicke Dunkel ſich trennte; die Wolken entwichen,

Und hoch ſtand in flammenden Wolken des Hoͤchſten
Gerichtsſtuhl

Sichtbar dem ganzen verſammelten Himmel. Doch
welches Erſtaunen

Faßte ſie, da ſie die Augen erhuben, und um den Ge-
richtsſtuhl

Furchtbare Reihen von Geiſtern, zuvor nie geſehen,
erblickten,

F 5Die
[74]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Die aus Wettern Jehovah geſchaffen, und welche den
Wolken

Jetzt ſich erhuben, und dankbar ihr erſtes Daſeyn er-
kannten.

Jhrer Fluͤgel Getoͤs war wie das Rauſchen von Waſ-
ſern,

Und ſie waren von Gott mit allen Schrecken geruͤſtet,

Flammen waren die Augen, und ihre toͤnenden Stim-
men

Laute Donner. So ſtanden ſie da, und umringten
anbetend

Gottes Gerichtsſtuhl. Jndem die tiefe ſtarre Verwun-
drung

Aller Augen emporhielt, durchſtralte die Herrlichkeit
Gottes

Alle Himmel; der hohe Gerichtsſtuhl erzitterte dreymal,

Dreymal bebte der Grund des ſchuͤtternden Empyreum,

Und der Allmaͤchtige ſprach: Jhr Himmel, vernehmet
die Worte

Eures
[75]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Eures Koͤnigs! Jch, Gott, der ich vom Anfang geweſen

Euer Schoͤpfer, und Vater, und Herr; ich, Richter,
ich laſſe

Heute zu euch mich herab; und will vor meinen Geſchoͤpfen

Mich vertheidigen. Kommt, ihr Heere des Himmels,
und zeuget

Zwiſchen dem frechen Empoͤrer, und mir! — Jch
hatt’ ihn an Anſehn,

Und an Hoheit und Macht, vor allen Geiſtern erhoben.

Uebertraf nicht ſein herrlicher Glanz die Morgenſterne,

Und fein Schimmer den himmliſchen Tag? Wie ſtolz
und erhaben

Zog er nicht aus und ein zu den Thoren des Himmels;
verehret

Von der Unſterblichen Schaar. Er ſaß am Throne
der naͤchſte

Auf dem goldenen Stuhl, und ſeine Krone war herrlich;

Herrlich
[76]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Herrlich vor allen Kronen der Engel, mein goͤttliches
Antlitz

Wandt’ ich vorzuͤglich auf ihn, und ruhte mit groͤſſeren
Gnaden

Auf dem Erſchafnen; dies ſah das Chor der jauchzen-
den Engel,

Und prieß ſeelig ſein Loos. — Und dennoch hat er,
der Verruchte,

Wider mich ſelbſt und meinen Geſalbten ſein Herz em-
poͤret,

Es auf ewig empoͤrt, und mit dem grimmigſten Haſſe

Scheußlich entſtellt. Die frechen Gedanken ſind nicht
mehr Gedanken

Eines Engels; er hebet voll Stolz die eiſerne Stirn auf,

Trotzt auf ſeine feurigen Wagen, auf Waffen und
Schilde

Seiner Myriaden, und will ſelbſt Gott ſeyn. Ver-
nehmt es,

O ihr Himmel, vernehmts! Er will ſelbſt Gott ſeyn!
Er, den ich

Wie
[77]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Wie ſeit geſtern erſchaffen, und mit den maͤchtigen Armen

Aus den Wolken gehoben, der will ſelbſt Gott ſeyn! —
Die Rache

Folget ihm ſchon, ihr Auserwaͤhlten; ſein herrlicher
Name

Werde nicht mehr im Himmel genannt! ſein Name
ſey Satan!

Wider ihn hab’ ich mein Kriegsheer geſchickt; mit
maͤchtigen Fluͤgeln

Schwebt vor ihnen der Sieg; doch meine Rache be-
wahr ich

Dir, o mein Geſalbter, allein, du ſollſt ſie vollenden.

Sey der Herr von Leben und Tod! — Gefuͤrchteter
Name

Tod! — Zuerſt ietzt im Himmel gehoͤrt, und du,
Myriade,

Todesengel! Jhr Soͤhne der Rache, geſchaffen aus
Wettern,

Euer flammendes Schwerdt ſoll kuͤnftig, getaucht ins
Verderben,

Satan
[78]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Satan verfolgen, und unter Geſchoͤpfen, die ſtolz mich
verkennen,

Toͤdten, vom Aufgang zum Niedergang toͤdten; und
Jammern und Winſeln

Wird weit in die Himmel ertoͤnen. Jm hohen Triumphe

Wird es Satan vernehmen; doch endlich werden die Tage

Seines Maſſes vollendet! Dann ſoll mein Sohn, und
Geſalbter

Jhn, und den Tod, in Ketten gefangen, zum Abgrun-
de fuͤhren,

Und den Abgrund auf ewig verſiegeln. — Beſteig
dann, Geliebter,

Mein allmaͤchtiges Wort, beſteig den Wagen der All-
macht

Unter der Cherubim Flug, der Todesengel Begleitung;

Eile hinab; erſchaffe die Hoͤlle nach meinen Entwuͤrfen,

Denn bald ſollſt du die ſtolzen Rebellen, ſo ſagt Jehova!

Nieder-
[79]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Niederdonnern in ewige Nacht, in den ewigen Abgrund.

Schauder faßte der himmliſchen Schaar, indem
der Allmaͤchtge

Dieſes geredt. Jndes ſie noch alle tief ſtaunten, und
ſchwiegen,

Waͤlzten ſich dichte goldne Gewoͤlke mit ſchimmernder
Klarheit

Um den Gerichtsſtuhl. Es lagen darauf geſchloſſene
Buͤcher

Voller unſterblichen Namen; von einem brauſenden
Sturmwind

Thaten die flatternden Buͤcher ſich auf, und wallten wie
Fahnen

Hoch in den Wolken. Der furchtbare Richter auf ſei-
nem Gerichtsſtuhl

Winkte dem erſten der Todesengel; er machte ſich fey-
rend

Zu dem Gerichtsſtuhl, von da an die Buͤcher des Le-
bens. Der Ewge

Sprach: was ſiehſt du? Er ſprach: ich ſehe Buͤcher
des Lebens,

Voller
[80]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Voller ſtralenden Namen. Da ſprachen ſchreckliche
Donner:

Es ſind Namen verruchter Verbrecher, verworfene
Namen,

Tilge ſie aus, ihr Gedaͤchtniß ſey im Himmel verfluchet!

Und der Engel des Todes trat zu, und ſtrich durch die
Namen

Mit dem flammenden Schwerdt; die ſtralenden Lettern
verloſchen,

Und die Wolken verfinſterten ſich; da ward das Entſetzen

Allgemeiner. — Der Sohn des Allmaͤchtgen erhub
ſich indeſſen

Von dem Thron; indem er herabſtieg, ſangen die Choͤre

So ihm nach: Wie furchtbar iſt deine ſchreckliche Rache,

O Jehovah! Richter der Geiſter! Wie toͤdtet dein
Antlitz

Jn den Tagen des Zorns! Vergieb uns, Richter, und
Raͤcher,

Dieſe
[71]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Dieſe wehmuͤthigen Klagen; ſie ſind gefallen, gefallen,

Die du geſchaffen mit uns, mit uns zum Leben ge-
ſchaffen,

Und ſie ſind auf ewig gefallen! Dein goͤttlich’s Er-
barmen

Jſt fern, fern von ihnen auf eilenden Fluͤgeln entflohen,

Und ſie ſtuͤrzen in ewige Pein. Jhr thoͤrichten Stolzen!

Wider wen lehnt ihr euch auf? Jhr ſeht nicht die feu-
rigen Wetter,

Welche ſich uͤber euch thuͤrmen; ihr geht mit klingen-
der Ruͤſtung

Trotzig im Panzer daher, und deckt euch mit himmli-
ſchen Schilden.

Aber der Herr wird die Panzer zerſplittern, die Schil-
de zerbrechen,

Und die Raͤder der Wagen zerſchmeiſſen. Mit tiefem
Geheule

Wird das Reich der Nacht euch empfangen; die jauch-
zenden Himmel

V. Th. GWer-
[72]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Werden ſagen: der Herr, der Herr iſt Gott! Halle-
luja!

Alſo klagte das Chor den Fall verworfener Bruͤder.

Und des Allmaͤchtigen Sohn berief, der Cherubim
Schaaren,

Und die Todesengel um ſich. Drauf ſtieg er, geruͤſtet

Mit der Allmacht des Vaters, auf ſeinen flammenden
Wagen,

Und zog hin in die Tiefen des Chaos, die Hoͤlle zu
ſchaffen.

Tauſend Cherubim flogen voraus, den Weg zu bereiten;

Tauſendmal tauſend umringten den Wagen; und zahl-
loſe Heere

Floſſen hinter ihm her. Die furchtbaren Engel des
Todes

Fuͤhrten auf ihren ſtuͤrmiſchen Fluͤgeln den ſchimmern-
den Wagen,

Schneller als Blitze. Die Ebnen des Himmels ver-
wandten ihr Antlitz

Vor
[73]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Vor dem ſchreckenden Zug, und wurden dunkel, und
traurten.

Und nun empfieng ihn der Abgrund weit offen.
Das ſtuͤrmiſche Chaos

Bruͤllte voll Wuth, es braußte die Tiefe mit heulenden
Wogen,

Und ſie ſanken in ſchreckliche Nacht. Doch die Herr-
lichkeit Gottes,

Und der aͤtheriſche Glanz ſo vieler himmliſchen Schaaren,

Drang durch die Nacht, und ließ weit hinter ſich leuch-
tende Spuren

Jhres maͤchtigen Wegs durch alle heulenden Tiefen.

Als des Allmaͤchtigen Sohn den aͤußerſten Grenzen des
Chaos

Jetzt ſich genaht, ſtand ploͤtzlich ſein Wagen. Die Che-
rubim alle,

Dicht verſammelt um ihn, ergriffen die hellen Poſaunen,

Und verkuͤndigten rings um ihn her des furchtbaren
Schoͤpfers

G 2Ge-
[74]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Gegenwart. Ploͤtzlich erſcholl ein tauſendſtimmiges Echo

Aus den hallenden Tiefen herauf; die ehernen Wellen

Dieſes ſtuͤrmiſchen Oceans wallten mit lautem Getoͤſe

Voͤllig in Aufruhr. Der Schoͤpfer gebot dem bruͤllen-
den Sturmwind,

Ueber die Waſſer zu fahren; er fuhr mit duͤſteren
Fluͤgeln

Ueber ſie hin, da braußten die Waſſer mit wilderen
Wogen,

Unter einander. Da ſprach der Allmaͤchtge: das Chaos
gebaͤhre

Welten voll Jammers und Nacht! Er ſprachs, das
ſchwangere Chaos

Borſt mit ſchmetterndem Krachen. Zehntauſend fin-
ſtere Kugeln

Giengen hervor aus dem Chaos; ſie waͤlzten ſich un-
ter einander

Jn verſchiedenen harmoniſchen Sphaͤren; doch waren
die Flaͤchen

Wuͤſt
[75]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Wuͤſt und leer. Auf einigen lagen wie hohe Gebirge

Naͤchtliche weinende Wolken, und dicke dampfende Nebel;

Andere waren umhuͤllt von dicken ſtuͤrmiſchen Seen,

Und noch andere lagen bedeckt mit drohenden Felſen,

Und weit uͤberhangenden Bergen. So eilten ſie, oͤde,

Finſter, und wild, die traurige Laufbahn. Die Choͤre
des Himmels

Sangen den erſten Morgen. Gott hatte beſchloſſen,
die Hoͤlle

Nur in Naͤchten zu ſchaffen; die erſte ſchreckliche Nacht
war

Jetzo vergangen, obgleich im Abgrund der himmliſche
Morgen

Schwach nur anbrach. Die Seraphim ſangen dem
ſchaffenden Richter:

Furchtbarſtrafender Gott! Herr, der du gerecht und
allmaͤchtig

G 3Dei-
[76]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Deine Feinde verfolgſt; der du im Schlund des Verderbens

Jhre Kerker bereiteſt, ſie dort mit ewigen Ketten

An die Felſen zu feſſeln, gerecht, Herr, ſind ſie die
Wege

Deines Zorns; wer darf ſie tadeln, und fragen, was
machſt du?

Vor dir ſchaudert die Tiefe zuruͤck; das brauſende Chaos

Stoͤßet Welten voll Elend hervor; nach deinen Befehlen

Drehn ſie ſich unter einander, und warten auf ihre
Bewohner.

Ach! daß doch die ſtolzen Empoͤrer die trotzigen Waffen

Von ſich wuͤrfen! O beugt euch vor ihm, ihr ſtolzen
Empoͤrer!

Aber du haſt ſie dahin gegeben, die Fluͤgel der Rache

Stuͤrmen ſchon hinter ihnen einher; und ewigs Ver-
derben

Schlin-
[77]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Schlinget ſie ein. Erbarmen wird nicht, nicht Hofnung,
den Abgrund

Jemals beſuchen, den ietzo fuͤr ſie die Rache bereitet!

So verfloſſen im Chaos tief unter dem ſeeligen
Himmel

Jhre Stunden in klagenden Liedern, und heiligen Hymnen.

Und nun, da die zweyte der Naͤchte mit graͤßli-
chen Schwingen

Bruͤtend uͤber dem Abgrund ſaß; ſtand unter den Welten,

Majeſtaͤtiſch und ernſt, der Sohn der Allmacht. Sein
Antlitz

Schaute gefuͤrchtet umher. Jetzt faßte die ſchreckliche
Rechte

Tauſend zuſammengekettete Donner; er warf ſie auf einmal

Jn die Welten hinab; die alles zerſchmetternde Blitze

Fuhren mit ſeelenbetaͤnbendem Knall in die zitternden
Erden,

G 4Daß
[78]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Daß die Engel, vom Krachen betaͤubt, mit wankenden
Knieen

Kaum ſich hielten vor Schrecken und Furcht. Die be-
benden Welten

Rauchten, von maͤchtigen Blitzen geſpalten, und wir-
belten Flammen,

Dicke Saͤulen vom Dampf und ſchwarze Wolken vom
Rauche,

Hinter ſich her. Sie hatten ſogleich die Laufbahn ver-
aͤndert,

Und bewegten ſich nun in langen elliptiſchen Kreiſen

Unter einander. Die feurigen Schweife durchkreutzten
ſich oͤfters,

Und es ſchien, als ob ſich die Laufbahn naͤher und naͤher

Gegen einander geneigt; und nun noch naͤher. So wallte

Ueber die flammenden Welten die Glut; ein furchtba-
rer Himmel

Ganz mit brennenden Sternen bedeckt. Der andere
Morgen

Brach
[79]Die Schoͤpfuug der Hoͤlle.
Brach ietzt an; die Choͤre des Himmels beſangen ihn alſo:

Feuer gieng aus vom Throne des Herrn! der zornige
Richter

Schoß die verzehrenden Flammen umher; die Lohe des
Grimmes

Schmelzte die Himmel, ergriff die Sterne! Wer kan
es ertragen,

Wenn Gott ſeiner Rache gebeut? Wer kan es ertragen,

Wenn er den Abgrund entzuͤndet? aus ihm die Strafe
heraufruft?

Fuͤrchtet den Herrn ihr, ſeine Gerechten! Jhr Heili-
gen, fallet

Jn den Staub hin, und betet ihn an, den Richter,
Jehovah!

Und nun kam die dritte der Naͤchte. Viel ſchwaͤr-
zer, und ſchwerer

Hieng ſie vom Himmel. Die wuͤtende Glut der ent-
flammten Geſtirne

War vermindert. Der Sohn des Allmaͤchtgen berief
ietzt die Engel

G 5Naͤ-
[80]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Naͤher herum um den leuchtenden Wagen. Mit blitzen-
den Raͤdern

Fuhr er empor, und ließ tief unter ſich alle die Erden,

Nur noch hier und da in halb verloͤſchenden Flammen

Glimmend. Mit Schrecken geruͤſtet, und ernſter, furcht-
barer, ſtand er

Auf dem Wagen, und ſchaute herab in die Tiefe. Dann
ſprach er:

Welten der Nacht! Geſtirne des Zorns, zur Strafe
geſchaffen,

Stuͤrzet zuſammen! Er ſprachs, und ploͤtzlich ſtuͤrzten
ſie alle

Krachend unter einander aus ihren donnernden Angeln.

Und ietzt, glaub’ ich, waͤren die Engel vor Schauder und
Schrecken,

Jhrer Schimmer beraubt, in ewge Vernichtung geſunken,

Haͤtte ſie nicht die Allmacht erhalten, und ihre Gemuͤther

Ueber
[81]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Ueber zuſammenſtuͤrzenden Himmeln und Welten ge-
ſtaͤrket.

Schaudert nicht, Adam, dein ganzes Gefuͤhl erſchro-
cken zuruͤcke!

Wer kan hoͤren die ſchmetternden Donner, das heulen-
de Krachen,

Und des betaͤubenden Wiederhalls Seufzen, als tauſend
Geſtirne,

Jhren Gleiſen entriſſen, ſich unter einander verſchlangen!

Ueber den niederrollenden Himmeln und fallenden
Welten

Stand, mit Allmacht umringt, der große Schoͤpfer, al-
lein nur

Unerſchrocken; und ſchaute herab auf die dampfenden
Truͤmmer

Dieſer zuſammengeſunknen Planeten. Sein ſchaffendes
Wort ſprach,

Und ein Weltball wurde ſogleich zehntauſendmal groͤßer,

Als die Erde, die ietzo mit uns im Dunkeln dahinſchwebt,

Aus
[82]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Aus den Truͤmmern. Mit lautem Getoͤs begab der
Planet ſich

Jn die angewieſene Bahn, und drehte ſich furchtbar,

Ohne Geſetze der Ordnung mit ſchweren ſchwankenden
Achſen

Unter dem Chaos herum. Jndem er den Schoͤpfer vor-
beyflog,

Hieß er ihn ſtehn; und er ſtand. Vor der Engel er-
ſchrockenen Augen

Lag die weit verbreitete Welt des ewigen Jammers

Jn entſetzlicher Ausſicht. O Adam, wo find ich die
Farben,

Dinge zu zeichnen, von ſeeligen Geiſtern zu denken kaum
moͤglich,

Wenn ſie die Welt des Jammers und Elends, und ſol-
cher Verwuͤſtung,

Selbſt nicht geſchaut; und ſelb nicht gefuͤhlt die Schreck-
niſſe Gottes,

Die auf ihr in Ewigkeit ruhn? Mit ſchaudernden
Blicken

Sah
[83]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Sah man in rauchende Meere hinab von ſiedendem
Feuer,

Voll lautbrauſender gluͤhender Wogen; die tobenden
Wellen

Spruͤhten Funken gen Himmel, wofern der naͤchtliche
Luftkreis

Himmel zu nennen, der voller Salpeter und ſchweflich-
ten Duͤnſte

Um die Welt des Schreckens ſich waͤlzte. Mit ſchlaͤngeln-
den Stroͤmen

Riß ſich der Blitz aus eiſernen Wolken, und ſchreckliche
Donner

Donnerten hinter ihm nach. Jn andern Gegenden
ſtuͤrmten

Von zertruͤmmerten Bergen Orkane mit heulendem
Bruͤllen

Ueber die traurigen Haiden. Da lagen Thaͤler des Todes,

Scheußlich und oͤde; verdorrtes Gebuͤſch hieng wild
und entwurzelt

Von den geſpaltnen Felſen herab, und ewige Nacht lag

Ueber
[84]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Ueber dem Thal; ein banges Klagen, und einſames
Jammern

Heulte der Sturm aus den Hoͤlen, und lange winſeln-
de Stimmen

Weinten aus Kluͤften herauf, und goſſen Schauder und
Mitleid

Ueber die Engel. An ihnen grenzten unwirthbare Berge,

Ueber einandergeſtuͤrzte Ruinen zertruͤmmerter Welten,

Ohne Schmuck von lebendgem Geſtraͤuch und lieblichen
Hainen;

Sondern verſengte verdorrte Waͤlder, halbumgeſtuͤrzt,
lagen

Jhre verwuͤſteten Ruͤcken herunter. Entflammte Vulkane

Brannten viel Meilen lang fort, und waͤlzten aus ſchreck-
lichen Schluͤnden

Wolken mit Feuer und Dampf und Felſen vermiſcht in
die Luͤfte.

Unter der Erde vernahm man von fern ein praſſelnd
Getoͤſe,

Wie
[85]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Wie das Getoͤs von eiſernen Wagen; es bebten Provinzen

Ueber den unterirdiſchen Wettern; die zagenden Meere

Stiegen empor, und weite Geſtade mit ganzen Gebirgen

Stuͤrzten hinunter in flammende Seen, und Laͤnder
verſchwanden.

Anderswo rauſchten von Felſen hinab in traurige Laͤnder

Baͤche des Todes, und maͤchtige Fluͤſſe, die Reiche der Hoͤlle

Kuͤnftig zu zeichnen. Hier war kein ſanſtes gemildertes
Clima,

Sondern die brennende Luft, und die Erde verſengten
entweder,

Oder ſie ſtarrten in ewigem Eis; wohin ſich der Blick
wandt,

Sah er Gefilde der Pein und Verzweiflung, erſtorbene
Fluren,

Traurige Regionen des Kummers, des Jammers, des
Elends,

Eine
[86]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Eine traurige Welt des Todes, in welcher das Leben

Stirbt, und der Tod nur lebt, von Ungeheuern bevoͤlkert,

Scheußlicher, ſchrecklicher, wuͤthender, wilder, als Loͤ-
wen und Drachen,

Haͤtte Blutdurſt und Gift ſie zum Verderben entflammet.

Und Gott ſah ſie die Hoͤlle, mit allen ihren Be-
zirken,

Seiner Abſicht gemaͤß, und zu dem ſtrafenden Endzweck

Groß und vollkommen. Es war bisher ein ſtralender
Lichtweg

Von dem himmliſchen Tag durchs Chaos gedrungen;
die Hoͤlle

Hatte bisher noch den Ausfluß des hellen Glanzes ge-
noſſen,

Der ietzt zum drittenmal ſchien; indem er leuchtete,
ſprach Gott:

Schei-
[97]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Scheine zum letztenmal, Licht! Es werde Nacht!
und es ward Nacht.

Siebenfaͤltig ſenkte ſie ſich wie Laſten herunter,

Duͤſter und fuͤhlbar; der flammende Blitz zerriß ſie oft
ſchrecklich!

Und ſein fluͤchtiger Stral, und blaſſe ſchweflichte Flam-
men,

Machten ſie ſichtbarer noch. — Der Sohn der All-
macht berief nun

Zu ſich die Engel des Todes, und ſprach mit gebieten-
dem Antlitz:

Seht! Dies iſt die traurige Welt des ewigen Todes,

Euer ſey ihre Bewachung! und uͤber ſie ſprechet den
Fluch aus,

Denn, ich hab’ im Zorn ſie verflucht, ihr Name ſey
Hoͤlle!

Alſo ſprach des Allmaͤchtigen Sohn. Die Engel
des Todes

Lagern ſich, in maͤchtgen Geſchwadern, am Eingang der
Hoͤlle

V. Th. HUm
[98]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Um die Pforten herum, die an dem aͤuſſerſten Pole

Jenſeits der fernſten Grenzen des Chaos die Allmacht
befeſtigt.

Und Obaddon, der furchtbare Fuͤhrer der Engel des Todes,

Schwang ſich hoch auf rauſchenden Fluͤgeln uͤber die
Hoͤlle;

Hielt in der Rechten das flammende Schwerdt, gleich
einem Kometen,

Und rief laut: Bey dem, der gerecht iſt, und allen
Empoͤrern

Wider ſeinen Geſalbten der Finſterniß Ketten bereitet,

Bey dem Allmaͤchtgen fluch ich dir, Hoͤlle! Verflucht
ſey dein Himmel!

Jmmer muͤſſe der Sturm in heulenden Luͤften ſich waͤl-
zen,

Und der lauteſte Schall der Donner die Wolken zerreiſſen!

Niemals ſtrale durch dein Gewoͤlbe der Schimmer des
Tages,

Grauſen-
[99]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Grauſende, ſchreckliche, ewige Nacht verhuͤll es auf
immer!

Beym Allmaͤchtgen fluch ich dir, Hoͤlle! Verflucht ſey
dein Boden;

Jhn beſuche kein Lenz; und keine Schoͤnheit und An-
muth

Schmuͤcke dein trauriges Land! Dein Meer ſey immer
in Aufruhr,

Und dein Erdreich brenne beſtaͤndig von ſiedendem
Schwefel;

Dein Gebirge rauche von Gluth; die Ebne zerſpalte

Von dem Feuer des Herrn; und Winſeln und Aechzen
und Heulen

Schall’ in deinen Thaͤlern des Todes, und an den Ge-
ſtaden

Deiner bellenden Seen, und deiner ſtuͤrmiſchen Fluͤſſe!

Beym Allmaͤchtgen fluch ich dir, Hoͤlle! Verflucht ſey
die Wohnung

Alles deſſen, was in dir lebt! Verflucht ſey der Fußtritt

H 2Jedes
[100]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Jedes Geſchoͤpfs, das wandelt in dir, in Feuer und Aſche

Geh es einher! ſein Athem ſey Peſt. Weh! weh
ihm! es ſtirbt hier,

Stirbt den ewigen Tod! Hier ſpreite die ſchwarze
Verzweiflung,

Ueber den Suͤnder, die graͤßlichen Schwingen; und ſchreck’
ihn, und quaͤl’ ihn,

Und zerreiß’ ihn, doch ohn’ ihn zu toͤdten; nie komme
die Hofnung,

Nicht die ſchwaͤcheſte komme, zu ihm, die wildeſte
Quaal nur,

Stechende Pein nur, und durſtende Angſt nur, und
knirſchende Rachſucht,

Peinige, foltre, ſchmettre den nieder, der, Gott, dich
gelaͤſtert!

Feyerlich hatte den Fluch der Todesengel geſprochen,

Und ſo ward die Hoͤlle vollbracht. Gott hielt ſie nicht
laͤnger,

Sondern ſtieß ſie hinab zur Finſterniß; krachend betrat ſie

Jhre
[101]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Jhre Laufbahn, ſchwankend und wild, und ohne Geſetze.

Von ihr wandte der Schoͤpfer ſich ab, und ſtieg auf den
Wagen,

Und, nachdem er die Choͤre der Geiſter dicht um ſich
verſammelt,

Sprach er: Jhr Soͤhne des Lichts! Jhr, die kein
Stolz, kein Empoͤrer

Wider Gott zu empoͤren vermocht! ihr, welche mein
Vater

So im Guten beſtaͤtigt, daß keine Macht, noch Ver-
fuͤhrung,

Euch von Wege der Tugend wird leiten; ihr heiligen
Schaaren,

Ehret die Rache des Herrn, und ſagt von Himmel zu
Himmeln

Seiner Gerechtigkeit Lob, und ſeines Zornes Verwuͤ-
ſtung.

Dieſes Gefaͤngniß ſtrecket bereits der Finſterniß Ketten

Jenen Verruchten entgegen, die in den Feldern des
Himmels

H 3Wider
[102]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Wider eure Gefaͤhrten gelagert, mit hoͤlliſchen Waffen

Unſre Legionen geſchreckt. Doch lange ſoll nicht mehr

Krieg den Himmel entſtellen, ſo ſehr ſie zu ſiegen ſich
ſchmeicheln.

Todesengel! wenn ietzo die Tiefe des unterſten Chaos

Von dem verfolgenden Donner erſchallt; wenn bald
durch die Nacht hin,

Mit entſetzlichem Fall, Myriaden Geiſter ſich ſtuͤrzen;

Wenn ihr nunmehr den Kriegsklang vernehmt der ho-
hen Poſaunen,

Und das Drommeten der Engel, das uͤber die Grenzen
des Himmels

Siegreich ertoͤnt: dann ruͤckt herzu, in geſchloſſenen
Schaaren,

Um die verriegelten Thore der Hoͤlle. So ſchrecklich
der Fall auch

Dieſer Verworfnen geweſen, ſo wird die Zeit ſich doch
nahen,

Daß
[103]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Daß ſie von ihrem Fall ſich erhohlen, noch groͤßre Ver-
brechen

Ueber ſich haͤufen, noch groͤſſere Strafen dadurch ſich
erringen.

Satan, ihr Fuͤhrer, wird liſtig ſich einſt der Staͤrke
der Pforten

Sich entreiſſen, ja ſelbſt die offenſte Wachſamkeit taͤu-
ſchen;

Alſo hat es mein Vater beſchloſſen, und fordert von
euch nicht,

Was er zulaͤßt, den groſſen Betruͤger zu Schanden zu
machen;

Aber ihr ſollt die Pforten allhier ſtets wachſam umrin-
gen,

Daß die Hoͤlle nicht einſt von neuem zuſammen ſich rotte,

Mit verſammelter Macht die kuͤnftige Schoͤpfung zu
ſtoͤren.

Zwar dem Empoͤrer gelingt es zu ſehr, Geſchoͤpfe von
Staube

Wider Gott zu verfuͤhren; doch dieſe ſchwaͤrzeſte That
bringt

H 4Auf
[104]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Auf ſein Haupt die ſchrecklichſte Strafe. Mit allen
Verdammten dafuͤr

Will ich ihn einſt im Abgrund mit Ketten von Demant

Binden, daß Zeit und Gewalt nie wieder die Feſſeln
ihm loͤſe.

Jetzo folget mir nach, ihr Helden und Krieger des
Himmels,

Thronen, Fuͤrſten und Maͤchte! ſeyd Zeugen der groſ-
ſen Vollendung

Gottes Gerichts uͤber Satan! So ſprach er. Jm
Augenblick rollte

Sein kryſtallner Wagen zuruͤck durch das wallende Chaos,

Und im hohen Triumph betrat er die Felder des Himmels.

Hier, du weißt es, fand er ſein Heer im muthgen Gefechte

Wider Satan; wir jauchzten dem Wagen des kom-
menden Siegers

Jubel entgegen, und ſtieſſen mit unſern geſchloſſenen
Schaaren

Zu
[105]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Zu der Standarte des groſſen Meßias. Die Feinde
des Ewgen

Trieb er bald, mit allmaͤchtigem Donner, zum Rande des
Himmels,

Und von da zum Abgrund hinab; mit ſchrecklichem
Falle

Stuͤrzten ſie nieder zur unterſten Hoͤlle; die Flamme
des Zornes

Brannte fuͤrchterlich nach bis in den Pfuhl des Ver-
derbens.

Alſo beſchloß, der Geſandte des Himmels, die dunk-
le Geſchichte

Von der Erſchaffung der Hoͤlle. Jhn hatte der Erſte
der Menſchen

Mit Entzuͤcken und Grauſen gehoͤrt, und groſſe Gedanken

Jn ſich verſammelt. Jetzt ſprach er zu ihm mit dankba-
ren Worten:

Liebling des Himmels, wie hat dein Bericht die kuͤh-
neſte Neugier

Uebertroffen! Mit kaltem Entſetzen erblick ich noch ietzo

H 5Vor
[106]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Vor mir den flammenden Schlund. Doch hab ich die
traurige Nachricht

Recht vernommen; ſo iſt dies Gefaͤngniß fuͤr Engel al-
lein nicht,

Sondern auch noch fuͤr andre Geſchoͤpfe von Staube
beſtimmet.

O wie vergaͤllt dies die Freude, die meine Seele da-
hinreißt,

Wenn ich ſo viel unzehlbare Sonnen, Planeten und
Erden,

Alle vielleicht mit Bewohnern mir denke, die alle ſich
dankbar

Vor dem Thron des Allmaͤchtigen beugen, und reine
Gebete

Zu dem Himmel ihm ſenden; wie? ſollten dann ſei-
ne Geſchoͤpfe,

Die er ſo guͤtig erſchuf, mit ſolcher Unſchuld gekleidet,

Jhren Schoͤpfer ſo ſehr, und ihre Pflichten verkennen,

Und zu ſolchen Strafen ihn reitzen? — Der Engel
verſetzte:

Des
[107]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Des Allmaͤchtigen Sohn hat zwar die verborgnen
Orakel

Seines Vaters nicht ganz uns enthuͤllt: Doch wurde
die Hoͤlle

Nicht umſonſt unermeßlich erſchaffen; die weiten Bezirke

Warten auf Myriaden verdammter Engel und Seelen.

Ach! und moͤchten doch nicht die kuͤnftgen Bewohner
der Erde

Satans liſtgen Verfuͤhrungen folgen! Wie fuͤrcht ich
zu ſehr nur,

Daß ſie es ſind, die Menſchen vom Staube, die ihre
Verbrechen

Jns Verderben geſtuͤrzt! — Die Welt des ewigen Todes,

Die ich vor deinen Augen enthuͤllt, hat deine Gedanken

Mit Entſetzen und Grauſen getroffen; doch ſchreckli-
cher, ſchwaͤrzer,

Muß ſie ſich zeigen vor ihm, der mit dem kuͤhneren Geiſte

Jetzt
[108]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Jetzt in ihre Grenzen ſich ſchwingt, ietzt, da ſie bewohnt iſt

Von Verdammten, wo jeder in ſich die Hoͤlle verbirget.

Als das Sataniſche Heer herunter zum Abgrund ſich
ſtuͤrzte,

Sah ich auf ihrer Flucht ſie verfolgt von der ſchwarzen
Verzweiflung,

Und von jedem wilden Affekt, der nie ſonſt geherrſchet

Jn unſterblichen Geiſtern. Der Stolz, der Neid,
und die Zwietracht

Mit dem Schlangenhaar, Rachſucht, und Wut, und der
Haß, und die Falſchheit,

Stuͤrzten ſich hinter ihnen einher, und haben auf ewig

Jhre Wohnung bey ihnen genommen. Auch flog
das Gewiſſen

Mit zur Hoͤlle hinab. Da hat es in donnernden Wolken

Seinen Thron ſich geſetzt; die laute maͤchtige Stimme

Toͤnt
[109]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Toͤnt durch den Abgrund; kein Muth kan ſich wafnen,
kein Ohr ſich verſtopfen,

Wenn es ſpricht, denn es ſpricht allmaͤchtig; bald ſtark,
wie Poſaunen,

Und bald lispelnd, wie heimliche Stimmen; kein ſchnel-
ler Gedanke

Und kein Fluͤgel des Cherubs entflieht ihm; der ſchwar-
ze Verdammte

Laͤſtert wider den Himmel, ſich ſelbſt, und ſeine Gefaͤhrten,

Leidet unendlich, verfluchet ſich ſelber, verdammet ſich
ſelber.

Dieſes, o Adam, iſt Hoͤlle! — Doch laß uns die
ſchaudernden Blicke

Wieder entziehn von Scenen des ewigen Jammers!
Bewahre

Deinen ietzigen Stand der Unſchuld! verharr’ im Ge-
horſam,

Und laß keine Verſuchung, ſo ſtark ſie auch ſey, dich
verfuͤhren,

Eine Nachwelt von dir in ewige Quaalen zu ſtuͤrzen.

Raphael
[110]Die Schoͤpfung der Hoͤlle.
Raphael ſchwieg. Durch Adams Herz lief kal-
tes Entſetzen;

Jhm, von ſchwarzer Ahndung bewegt, rann uͤber die
Wange

Ploͤtzlich ein Strom von Thraͤnen herab: doch faßt er
von neuem

Bey ſich den feſten Entſchluß, des Schoͤpfers Gebote zu
halten.


Die
[[111]]

Die
Unterwerfung gefallner Engel
und ihre Beſtimmung
zu
Schutzgeiſtern der Menſchen.


[[112]][113]

Die
Unterwerfung gefallner Engel
und ihre Beſtimmung
zu Schutzgeiſtern der Menſchen.


Fern von Satans rebelliſcher Schaar bezog ietzt Orions

Myriade, das einſame Lager. Er war der Standarte

Satans gefolgt; doch ſchoß in ihn ſchnell ein goͤttlicher
Lichtſtral,

Daß er das ſchwarze Verbrechen erkannte. Er riß in
der Nacht ſich

V.Th. JVom
[114]Die Unterwerfung gefallner Engel
Vom ſataniſchen Heer, und fuͤhrte die kriegriſchen Haufen,

Unter ſeinem Befehl, fern von des Empoͤrers Gezelten.

Sicher kam er hier an. Es wurden Cherubiſche Feuer

Rund um das Lager geſtellt, auf Satans Bewegung
zu wachen,

Sollt’ er ſie etwan verfolgen. Drauf rufte, mit feſtli-
chem Klange,

Die Poſaune zur hohen Verſammlung. Die Fuͤrſten
und Helden

Draͤngten ſich um Orions Gezelt; der maͤchtige Fuͤhrer

Trat ietzt unter ſie hin, und verſuchte zu reden; doch
Thraͤnen

Rannen ihm uͤber die Wangen; die tiefſte Bekuͤmmer-
niß herrſchte

Auf dem Antlitz aller umher; doch fanden zuletzt noch

Alſo die Worte, mit Seufzern vermiſcht, den trauri-
gen Ausgang:

Fuͤr-
[115]und ihre Beſtimmung zu Schutzgeiſtern ꝛc.
Fuͤrſten, und Helden, und Krieger! O daß wir den
Namen des Krieges

Nimmer gehoͤrt! O daß wir doch nie die Schwerdter
gezuͤcket!

Wir Betrognen! Wir Armen, in welche Tiefe von Elend

Haben wir ſelbſt uns hinuntergeſtuͤrzt, und haben den
Liſten

Eines Verfuͤhrers gehorcht? Jſt’s moͤglich, ſind es nicht
Traͤume

Unſers erſchrocknen Gemuͤths? Abtruͤnnige ſind wir?
Gefallen?

Haben uns wider Jehovah, und ſeinen Geſalbten, em-
poͤret;

Haben die Waffen ergriffen, und haben auf unſere Bruͤder,

Engel auf Engel, den Angriff gethan? Und warum?
Was vermocht’ uns

Zu der ſchaͤndlichen That? — O! laßt es beſchaͤmt uns
bekennen;

Einem Rebellen zu folgen, und einem Stolzen zu dienen.

J 2Sa-
[116]Die Unterwerfung gefallner Engel
Satan, (ſo nennet ihn ietzt, den frechen Empoͤrer) wie
hat er

Uns mit dem Schall der Freyheit getaͤuſcht! Er, welcher
von uns ſchon

Tiefern Gehorſam verlangt, als ſelbſt der Allmaͤchtge.
Was iſt er,

Daß wir ſo ihn verehren ſollten? Und welche Verdienſte

Hat er, daß wir ihm ſelbſt vielleicht den Kniefall bezeiget,

Den wir dem großen Geſalbten verſagt! Voll Schaam
und voll Reue

Muͤſſen wir unſer Antlitz bedecken! O daß wir geſuͤndigt,

So uns verſuͤndigt an Gott! und ſo vom Guten gefallen!

Traurig und einſam, verlaſſen von allem, verfolget
uns raͤchend

Unſer Gewiſſen; es muß es geſtehn, wir haben geſuͤndigt,

Schwer geſuͤndigt! wird Gott uns vergeben? und kan
er vergeben,

Kan
[117]und ihre Beſtimmung zu Schutzgeiſtern ꝛc.
Kan er ſolchen Verbrechern vergeben, die von ihm ge-
wichen?

Mit rebelliſchen Waffen um ſeine Heiligen ſtuͤrmten,

Und mit Krieg den Himmel entſtellt? — Erbarmer,
Jehovah!

Und du, den wir verſchmaͤht, du, ſein erhabner Geſalbter,

Jſt Erbarmung noch uͤbrig, fuͤr uns Gefallne noch uͤbrig:

O! ſo verſchmaͤh nicht die Thraͤne der Reu! — Jhr
Helden und Krieger,

Jeder ſey ſtill in ſeinem Gezelt die einſame Nacht durch;

Und ſo oft ihr den Schall der hohen Poſaune vernehmet,

So werft euch aufs Angeſicht hin; und ſuchet mit
Thraͤnen,

Und Gebeten der Reu, den Zorn des Allmaͤchtgen zu
lindern,

Ob er ſeiner gefallnen Knechte vielleicht ſich erbarme.

J 3Die-
[118]Die Unterwerfung gefallner Engel
Dieſes Orion — mit thraͤnendem Blick und
blutendem Herzen

Machte ſich jeder nach ſeinem Gezelt; ſo oft die Poſaune

Bey den Stunden der Nachtwacht ertoͤnte, da fielen
ſie alle

Jn den Staub hin vor Gott, und weinten um Gnad
und Erbarmung.

Und der Allmaͤchtige ſah von ſeinem heiligen Huͤgel,

Auf ſie hernieder, und ſprach: Sollt ich vor meiner
Geſchoͤpfe

Buͤſſenden Seufzern mein Ohr verſchlieſſen? und ſolte
die Gnade,

Noch bey Zeiten geſucht, zerſchlagene Herzen nicht
troͤſten?

Als er noch ſprach, erſchienen im Himmel die
frommen Gebete,

Kinder der Demuth und Reu; ſie giengen, mit Staub
auf den Haͤuptern

Zitternd einher, und huͤllten ſich tief ins weiſſe Ge-
wand ein;

Blin-
[119]und ihre Beſtimmung zu Schutzgeiſtern ꝛc.
Blinkende Perlen ſtanden im Aug’, und Schaam und
Verwirrung

Deckte die Stirn; fuͤr ſie iſt nie das Heiligthum Gottes

Unzunahlich. Sie traten herzu; die Choͤre der Engel

Theilten ſich, da ſie ſie ſahn, und lieſſen ſie ungeſtoͤrt wan-
deln

Durch die langen anbetenden Reihn zum Throne der
Allmacht.

Als ſie der Ewige ſah, befahl er dem erſten der Engel,

Gabriel, der naͤchſt unter ihm ſtand, ſie naͤher zu fuͤhren.

Und er fuͤhrte ſie naͤher; ſie fielen nieder, und weinten

Vor des Allmaͤchtigen Thron, und beteten an, und die
Schaalen

Jhres Raͤuchwerks dampften vor Gott mit Wolken von
Duft auf,

Jhm ein ſuͤſſer Geruch. Er neigte ſein guͤldenes Zepter

J 4Gegen
[120]Die Unterwerfung gefallner Engel
Gegen ſie nieder, und gnaͤdig erklang des Ewigen
Stimme:

Gabriel! eile hinab, zu dieſen Gefallnen; ver-
kuͤndge

Jhnen Vergebung und Gnade von mir. Sie ſollen in
Zukunft

Rein ſeyn; wem ich vergebe, dem hab ich vergeben.
Doch ſoll noch,

Eh ſie meinem Throne ſich nahn, zu neuem Gehorſam

Einige Zeit der Pruͤfung ſie laͤutern. Noch ſteht in
dem Chaos

Schaffend mein maͤchtiger Sohn; er hat der Erde gerufen,

Und ſie iſt da. Die Bewohner der Erd’, er hat ſie
beſtimmet,

Einſt nach ihren Tagen der Pruͤfung euch aͤhnlich zu
werden.

Dieſem erwaͤhlten Geſchlecht beſtimmet, mein ewiger
Rathſchluß,

Sie zu Fuͤhrern und Waͤchtern; ſie ſollen ſie vor der
Verſuchung

Sa-
[121]und ihre Beſtimmung zu Schutzgeiſtern ꝛc.
Satans bewahren, (denn Satan wird ſich, ſo hab ichs
beſchloſſen,

Bald dem Abgrund entreiſſen; das Menſchengeſchlechte
verfuͤhren,

Und noch groͤßre Verdammniß dadurch ſich erringen,)
ſie ſollen

Jhre Herzen zur Tugend erhoͤhn, und große Gedanken

Jn den Seelen erſchaffen, wenn unter den Feſſeln des
Koͤrpers

Unter der wilden Zerſtreuung und unter der Eitelkeit
Taumel,

Jhr vom Himmel ſtammender Geiſt, zum Laſter ver-
ſucht wird.

Wenn dann des Weltgerichts maͤchtge Poſaune die Him-
mel durchſchallet,

Und der neuen unſterblichen Schaar ſich um mich ver-
ſammelt,

Will ich ſie gleichfalls verſammeln, und ihnen die Treue
belohnen,

Die ſie dem Menſchengeſchlecht’ erwieſen; dann ſollen
ſie wieder,

J 5Thro-
[122]Die Unterwerfung gefallner Engel
Thronen, und Fuͤrſten, und Kraͤfte, die alten Wuͤrden
bekleiden,

Und in ewiger Wonne mit mir, und den Seligen leben.

Alſo der Ewige! Lautes Jauchzen durchſchallte
die Himmel;

Und ſchnell machte ſich Gabriel auf, die hohen Befehle

Zu vollbringen, und flog mit ſonnenſtralenden Fluͤgeln

Durch die aͤtherſchen Gefilde; er ließ in daͤmmernden
Schatten

Einen langen ſtralenden Weg, ſo wie er dahinflog.

Und ſo verfolgte der reiſende Seraph die einſame Nacht
durch,

Jn den Feldern des Himmels, die Reiſe. Der lachen-
de Morgen

Stieg auf den leuchtenden Wagen mit empyreiſchem
Golde

Praͤchtig geſchmuͤckt, und erhellte die Flur mit Schim-
mer und Freude.

Aber
[123]und ihre Beſtimmung zu Schutzgeiſtern ꝛc.
Aber die Freude beſuchte nicht mehr das Lager der Engel,

Das ietzt der Seraph von fern her entdeckte. Mit ei-
lenden Schritten

Naht er ſich ihren glaͤnzenden Zelten. Die aͤuſſerſten
Schaaren,

Die allein geruͤſtet noch ſtanden, das Kriegesheer Satans,

So ſie verfolgen moͤchte, zu ſpaͤhn, erhuben die Blicke,

Sahn den hohen Geſandten von Gott, und neigten voll
Ehrfurcht

Jhre ſchimmernden Waffen vor ihm. Jn allen Geſichtern

Fand er ſchwarze Melancholey, und tiefe Betruͤbniß.

Und wie konnten ſie anders, als ernſt, und niederge-
ſchlagen,

An ihr Schickſal gedenken, das noch in drohenden Wolken

Dunkel verhuͤllt hieng uͤber dem Haupt? Wie konnten
ſie anders

Als
[124]Die Unterwerfung gefallner Engel
Als mit traurigen Herzen den Blick ins Vergangene
wagen,

Oder in die noch ſchwaͤrzere Zukunft, von Strafen er-
fuͤllet,

Die ſie zu ſehr nur verdient, und mit Verderben geruͤſtet?

Durch das heitre Geſicht des glaͤnzenden Seraphs er-
muntert,

Nahte ſich einer der Engel zu ihm, und ſagte, ſich neigend:

Koͤmmſt du, großer Geſandter des Himmels, zu
unſeren Huͤtten,

Uns Vergebung, oder vielleicht das Urtheil des Todes

Zu verkuͤndigen? Aber ſo ſanft und heiter vermoͤchte

Der auf uns nicht zu blicken, der unſre Verdammniß
uns braͤchte.

Nein! du koͤmmſt, ein Bote der Gnade, das ſaget
dein Auge,

Und in deinen Haͤnden der Oelzweig. — Jch fuͤhr
im Triumphe

Dich
[125]und ihre Beſtimmung zu Schutzgeiſtern ꝛc.
Dich zu den unſrigen, truͤgt mich nicht anders der Hof-
nungen ſchoͤnſte.

Gabriel gab ihm zur Antwort: Jch bin ein Bote der
Gnade;

Bringet mich zu dem Gezelt Orions, des maͤchtigen
Fuͤhrers

Eurer Schaaren, und hoͤret von mir die Befehle des
Hoͤchſten.

Alſo ſprach er: Sie folgten ihm nach, und wand-
ten die Schritte

Nach dem einſamen Lager. Jn melancholiſcher Stille

Lag es, und alles umher war ſtumm, und veroͤdet, und
traurig,

Aufgethuͤrmt lagen im Feld die hellen ſchimmernden
Waffen,

Oder hiengen zerſtreut an den Aeſten. Jn haͤufigen
Schaaren

Jrrten die kriegriſchen Geiſter umher in Thaͤlern und
Auen,

Ohne Waffen, und hiengen beſtuͤrzt, voll Kummer im
Herzen,

Jn
[126]Die Unterwerfung gefallner Engel
Jhren finſtern Gedanken nach, die helle Poſaune

Weckte zu Klagen allein; und von den ſchimmernden
Staͤben

Wehten die hohen Paniere nicht mehr vom Winde
durchflattert.

Einer der maͤchtigſten Thronen, Orion, der Fuͤhrer des
Heeres,

Saß im ſtillen Gezelt. Jhn druͤckten Laſten von Qualen

Auf der Seele, mit Unruh und Reu, daß Satans
Panieren

Er gefolgt; ihn verzehrte der Gram; die brennenden
Thraͤnen

Rannen ihm uͤber die Wangen, ihm lag die Erwartung
des Schickſals

Ueber ſeine Gefaͤhrten, und ſich, auf aͤngſtlichem Herzen,

Wie ein Gebuͤrge. Er hatte voll Schmerz die himm-
liſche Leyer,

Sich zu betaͤuben, genommen. Die ſanften guͤldenen
Saiten

Schall-
[127]und ihre Beſtimmung zu Schutzgeiſtern ꝛc.
Schallten in melancholiſche Klagen, und floͤßten der Seele

Himmliſche Linderung ein; denn welches Gemuͤth wird
nicht leichter,

Wenn es ſich in Geſaͤngen ergießt? Und welche Betruͤbniß

Hat nicht die Tonkunſt, die Tochter des Himmels, be-
zaubernd gelindert,

Oder beſiegt? Die goͤttlichen Lieder erklangen von fern
ſchon

Jn des entzuͤckten Gabriels Herz. Der ſtralende Teppich

Rauſcht vor dem Seraph ietzt auf. So bald ihn Orion
erblickte,

Sank ihm die Leyer beſtuͤrzt aus der Hand, er erhub ſich;
betroffen

Sprach er: Erhabner Seraph, Geſandter des Hoͤch-
ſten! unfehlbar

Schickt der Allmaͤchtige dich zu ſeinen gefallenen Knechten.

O daß endlich die Bothſchaft des Himmels uns Arme
beſuchte,

Die
[128]Die Unterwerfung gefallner Engel
Die wir in Thraͤnen vergehn! Vielleicht daß unſere
Thraͤnen

Seinen verderbenden Zorn entwafnet! vielleicht! —
doch, Geliebter,

Laß uns nicht laͤnger in ſchwerer Erwartung, und laß
uns mit Demuth

Unſer Urtheil vernehmen! — So ſprach er. Der
Seraph verſetzte:

Laß die Poſaunen ertoͤnen, damit ſich alle verſammeln,

Welche zu deinem Panier gehoͤren. Des Hoͤchſten Befehle

Warten auf euren Gehorſam; er gab ſie mit tiefem
Erbarmen.

Gluͤcklich bin ich, ſie euch zu verkuͤndgen; — So ſag-
te der Seraph.

Alsbald gab Orion Befehl, die Poſaune zu blaſen;

Und ein maͤchtiger Cherubim ſtieß mit harmoniſchen
Lippen

Jn das aͤtherſche Metall, die ganze Gegend erſchallte

Von
[129]und ihre Beſtimmung zu Schutzgeiſtern ꝛc.
Von dem Getoͤn. Mit fliegenden Schritten begaben
ſich alle

Unter ihre Standarten und Fahnen. Die glaͤnzenden
Schilde

Draͤngten ſich dicht an einander, und mit gehoͤrneten
Spitzen

Schloß ſich das ſaͤmtliche Heer an ſeinen Fuͤhrer, Orion,

Neben welchem der hohe Geſandte zum Sprechen be-
reit ſtand.

Ehrerbietige Stille beherrſchte die wartenden Schaaren,

Und mit auf ihn geheftetem Blick, und banger Erwar-
tung,

Standen ſie, ſeine Worte zu hoͤren; — voll Anſtand
begann er:

Thronen, Fuͤrſten, und Maͤchte! der Reu und Be-
kehrung Gebete,

Die zu Gott um Vergebung gefleht, ſind vor ihn ge-
drungen,

Haben Vergebung erlangt, und den Zorn des Richters
verſoͤhnet.

V.Th. KHeil
[130]Die Unterwerfung gefallner Engel
Heil euch! daß ihr im Staube gekniet, und bittere
Thraͤnen

Zu dem Hoͤchſten geweint, die euch Vergebung erlanget!

Heil euch! Begnadigte! daß fuͤr euch noch in Zeiten der
Abzug

Vom Sataniſchen Heer am Throne des Richters gezeuget,

Daß ihr die Fahne des Aufruhrs verließt, und in Zeiten
die Gnade

Bey dem Allmaͤchtgen geſucht, die jenen Rebellen ver-
ſagt iſt.

Heitert euch auf, wie Begnadigten ziemt! Doch for-
dert der Ewge

Euren Gehorſam nunmehr, nicht ohne Pruͤfung. —
Jhr wiſſet,

Daß ſchon lang ein prophetiſch Geruͤcht im Himmel ge-
gangen

Von der Erſchaffung unzehliger Welten, mit herrlichen
Geiſtern

Und unſterblichen Seelen erfuͤllt; die hohe Beſtimmung

Von
[131]und ihre Beſtimmung zu Schutzgeiſtern ꝛc.
Von der geringern Erde, dem Schauplatz der goͤttlichen
Gnade,

Und der Erbarmung des Sohns, iſt euch nicht gaͤnzlich
verborgen,

Da wir ſo oft in heiligen Stunden, mit kuͤhnen Ver-
muthen,

Uns von ihr unterredt. Jetzt ſind die Tage gekommen.

Gott ſteht noch in den Tiefen des Chaos, und winket
den Welten

Aus dem Nichts und der Nacht; er hat auch der Erde
gerufen,

Sie bey ihrem Namen genannt, und mit maͤchtiget
Hand ſie

Um die ſtralende Sonne gefuͤhrt; er gab ihr den Mond
dann

Zum getreuen Gefaͤhrten der Nacht; der folgt ihr auf-
wartſam,

Und entzieht ihr ſein Angeſicht nie. Doch fehlt noch
der Erde

Was ſie am herrlichſten macht, ein Geſchoͤpf mit dank-
barer Seele

K 2Wuͤr
[132]Die Unterwerfung gefallner Engel
Wuͤrdig den Schoͤpfer zu preiſen, und zu den jauchzen-
den Hymnen

Von unzehligen Welten auch ſeine Geſaͤnge zu fuͤgen.

Doch Gott wird es erſchaffen, ſo ſprach er, er wird
es erſchaffen

Herrlich, unſterblich, nach ſeinem Bilde. Der Menſch,
(denn ſo nennet

Kuͤnftig ihn unſer frohlockendes Chor,) der Menſch wird
der Gnade

Seines Schoͤpfers vorzuͤglich genießen, und ſeiner Er-
barmung,

Unbegreiflich den Engeln und Himmeln, gewuͤrdiget
werden.

Dieſem erwaͤhlten Geſchlecht beſtimmt des Ewigen
Rathſchluß

Euch zu Fuͤhrern und Waͤchtern. Jhr ſollt auf verwor-
renen Wegen

Dieſe neuen Unſterblichen leiten; ſollt ihre Gemuͤther

Vor dem verfuͤhrenden Laſter verwahren, und hohe
Gedanken

Jn
[133]und ihre Beſtimmung zu Schutzgeiſtern ꝛc.
Jn den Seelen erſchaffen, wenn unter den Feſſeln des
Koͤrpers,

Unter der wilden Zerſtreuung und unter der Eitelkeit
Taumel,

Jhr vom Himmel ſtammender Geiſt zum Laſter ver-
ſucht wird.

Wenn dann des Weltgerichts letzte Poſaune die Him-
mel durchſchallet,

Und der neuen Unſterblichen Schaar Gott um ſich ver-
ſammelt,

Will er euch gleichfalls verſammeln, und euch die Treue
belohnen,

Die ihr dem Menſchengeſchlecht erwieſen. Dann ſollet
ihr wieder

Thronen, und Fuͤrſten, und Kraͤfte, die alten Wuͤr-
den bekleiden

Und in ewiger Wonne mit ihm und den Seeligen leben!

So der erhabne Geſandte von Gott. Ein leiſes
Gemurmel

Lief durch die ganze Verſammlung. Als wenn friſch-
wehende Luͤfte

K 3Durch
[134]Die Unterwerfung gefallner Engel
Durch ein Gehoͤlz von ſilbernen Eſchen ſich kraͤuſeln,
und lispelnd

Um die Locken des Wanderers ſpielen, der, ganz ſchon
ermattet

Von der flammenden Gluth, leichtathmender durch ſie
hindurch geht.

Aber bald ſank das frohe Geraͤuſch in vorige Stille,

Da mit freudeglaͤnzen der Stirn Orion ſo anhub:

Preiß, und Ehre dem großen Allmaͤchtgen, er-
habner Geſandter!

Preiß ihm, daß er ſich unſer erbarmt, und ſeinen gefallnen,

Seinen nunmehr begnadigten Knechten Verſoͤhnung ge-
ſendet!

Heil uns! daß er uns wuͤrdig erkannt, ihm wieder zu
dienen,

Und die Gebete der Reu, die wir in tiefer Betruͤbniß

Jhm geopfert, nicht ganz verſchmaͤht — Gott, Rich-
ter, Erbarmer,

Sey
[135]und ihre Beſtimmung zu Schutzgeiſtern ꝛc.
Sey gelobt, von Gefallnen gelobt! ſie wollen nicht wieder

Fallen; nicht wieder von dir und von dem Wege des
Guten

Weder zur Rechten, noch Linken entweichen! Mit wei-
chem Entzuͤcken

Wollen wir kuͤnftig zur Tugend die neuen Unſterblichen
leiten,

Fuͤhr uns, wir folgen dir nach, o großer Geſandter des
Himmels,

Fuͤhr uns zu unſrer Beſtimmung; doch eh wir den
Himmel verlaſſen,

Unſern Geburtsſitz, welchen wir einſt nach Jahren der
Pruͤfung

Herrlicher wieder beſuchen mit unſerm Brudergeſchlechte,

Mit den Menſchen; ſo falle vorher anbetend, und dankend,

Jeder von uns in den Staub, und preiſe den Richter,
Erbarmer!

Und ſchnell fielen ſie all’ aufs Antlitz, und netz-
ten mit Thraͤnen,

K 4Jetzt
[136]Die Unterwerfung gefallner Engel
Jetzt mit Thraͤnen der Freude, den Staub. Drauf ſchloß
ſich der Heerszug

Hinter Orion, und Gabriel, an; ſie zogen von dannen

Nach der neuerſchaffenen Welt; viel weite Bezirke

Eilten ſie durch; viel weiter, als dieſer Erde Bezirke,

Wenn ſie ſich auch in die Laͤng’ erſtreckte; bis endlich
des Himmels

Hohe kryſtallne Mauren erſchienen, mit Zinnen und
Thuͤrmen

Von hellleuchtenden Saphir geſchmuͤckt. Die glaͤnzen-
den Thore

Thaten von ſelber ſich auf, ſie ſahn erſtaunend hinunter

Jn die Reiche der Nacht und des Chaos. Ein ſtralen-
der Weg gieng

Durch die Tiefen des Chaos zur neuen Schoͤpfung her-
nieder,

Welcher von ſelbſt vor dem Schoͤpfer entſtand; ſo wie
er dahin zog

Jn
[137]und ihre Beſtimmung zu Schutzgeiſtern ꝛc.
Jn die Tiefen der Nacht, die Erd’ und den Himmel zu
gruͤnden.

Da ſie ſich ietzo den Thoren genaht, da wandte noch
einmal

Traurig Orion ſich um, und eine Zaͤhre der Wehmuth

Rann ihm vom Antlitz, indem er ſich nun vom Him-
mel entfernte.

Und ſie zogen hinab. Mit welchem entzuͤckten
Erſtaunen

Sah Orion der Schoͤpfung Geſicht, die ſtralenden
Sonnen

Und die hellen Planeten! mit welcher Begeiſtrung ver-
nahin er

Die Geſaͤnge der Sphaͤren! Sie flogen durch zahlloſe
Welten

Bis zu unſerm Sonnenſyſtem. Der ſilberne Mond
hieng

Leuchtend uͤber der Erde, Dies iſt ſie, die kuͤnftige
Wohnung,

Euch vom Schoͤpfer beſtimmt, (ſprach Gabriel;) bald
wird, Orion,

K 5Gott
[138]Die Unterwerfung gefallner Engel ꝛc.
Gott dich zur Erde herunter berufen, dem Erſten der
Menſchen

Dich zum Schutzgeiſt zu geben; ich eile hinab nach der
Erde

Von des Allmaͤchtgen Sohn die fernern Befehle zu hoͤren.

Alſo ſprach er, und eilte ſogleich zur Erde Be-
zirken.

Aber Orion, und ſeine Gefaͤhrten, voll tiefen Gehorſams,

Lieſſen ſich auf die hohen Gebuͤrge des Mondes hernieder.



[[139]]

Die Vergnuͤgungen
der Melancholey.



[[140]][141]

Die
Vergnuͤgungen der Melancholey.


Mutter der weiſen Betrachtung, du Schoͤpferin ern-
ſter Gedanken,

Deren Grotte ſich hoch auf Teneriffs Gipfel gewoͤlbet,

Wo oft mitten in ſchrecklicher Nacht der heulende Sturm-
wind,

Vom wildſtroͤmenden Regen und praſſelnden Hagel be-
gleitet,

Dein hinhorchendes Ohr ergetzt; indem du, erheitert,

Mitten im Aufruhr, verſenkt in tiefe Gedanken dich
einhuͤllſt:

Oder indem in der Nacht ein Schleyer trauriger Wolken

Alle Geſtirne verbirgt, bis bald vom ruhigen Himmel

Cyn-
[142]Die Vergnuͤgungen
Cynthia traurig und blaß von ihrem ſilbernen Wagen

Nieder zum Ocean ſchaut, da du voll Tiefſinn indeſſen

Unverwandt mit dem ſtarrenden Blick auf das Sternen-
gewoͤlbe

Angeheftet, dich ganz in frommer Entzuͤckung verliereſt;

Obgleich, mit verwirrtem Geraͤuſch, die brauſenden
Wogen

Unter dir wallen, und heiſres Gemurmel die Felſen
hinaufſchlaͤgt,

Wo du, begluͤckt, und in dich gekehrt, den tobenden
Auſruhr

Des empoͤrten Oceans hoͤrſt; fern von dem Getuͤmmel,

Fern von den Freuden der Menſchen, und mit den himm-
liſchen Sphaͤren

Unterhaltungen pflegſt: — O! leite mich, maͤchtige
Goͤttin,

Zu dem heiligen Dunkel, mit meiner Seele, harmo-
niſch,

Un-
[143]der Melancholey.
Unter den einſamen Gang von alten verfallnen Ge-
maͤuern

Zu den daͤmmernden Zellen und Lauben, und traurigen
Schatten,

Wo die Melancholey ihr werthe Gedanken hinausdenkt,

Und am liebſten verweilt. Die lachenden Scenen des
Fruͤhlings,

Wenn um ihn her die Gratien ſcherzen, und Liebesgoͤtter

Jhn umtanzen, und Blumen und Bluͤthen, Ambroſia
duftend,

Unter ihm mit verſchwendriſcher Hand auf Fluren
herabſtreun,

Ruͤhren laͤnger mich nicht; ich wuͤnſche mir nicht mehr,
o Tempe,

Deine balſamiſchen Luͤfte zu athmen. Jhr gruͤnenden
Thaͤler,

Und ihr Wieſen, du bluͤhender Hain, um welchen der
Feldbach,

Murmelnd ſich ſchließt, gehabt euch wohl! Jch folge
dir, Schwermuth.

Un-
[144]Die Vergnuͤgungen
Unter jener verfallnen Abtey bemooßten Gewoͤlben,

Will ich oft ſitzen, allein, in jenen daͤmmernden Stunden,

Wenn der traurige Mond in den ſuͤrchterlicheinſamen
Kreuzgang

Einen flimmernden Stral von ſtroͤmenden Lichte hinein-
wirft,

Und ein tiefes heiliges Schweigen auf allem umher
herrſcht,

Außer der Eule klagendem Lied, die, unter dem Schutte

Dumpfigter Hoͤlen verſcheucht, ihr oͤdes Wohnhaus er-
bauet;

Oder der ruhig ſaͤuſelnden Luft, die zwiſchen dem Laube

Des breitblaͤttrichten Epheu rauſcht, der an den Ge-
maͤuern

Eines hangenden Thurms ſich an den Waͤnden hinauf-
ſchlingt.

Oder laß mich auch oft den nahen Tannengang irren,

Wo
[145]der Melancholey.
Wo die Moͤnche vordem in frommen Tiefſinn gewandelt.

Wie ich, im unabſehlichen Leeren der hohen Gewoͤlbe,

Kuͤhn einhergeh; faſſet mich ſchnell im innerſten Dunkel

Heiliger Schauder, und huͤllet mein Herz in traurige
Ruhe.

Aber wenn ietzo die Welt in der Mitternacht Ra-
bengewand ſich

Eingekleidet, dann laß mich auch oft im hallenden
Beinhaus

Jene zitternden Flammen erblicken, die uͤber die Haufen

Duͤrrer Knochen und Schaͤdel mit blaſſem Schimmer
ſich breiten;

Da indes die Mauer hinab aͤtheriſche Stimmen

Jn den Kirchhof ertoͤnen, und Geiſtergeſtalten von ferne,

Durch die langen gekruͤmmten Gewoͤlbe, die einſamen
Schritte

V. Th. LZu
[146]Die Vergnuͤgungen
Zu ſich winken. — Voll Anmuth iſt auch der Mitter-
nacht Stille,

Wenn ich ploͤtzlich erwacht mich von dem Lager erhebe.

Siehe! wie todt iſt alles um mich! Die ruhigen Winde

Brauſen ietzt nicht; die Soͤhne der Menſchen, und alle
Geſchoͤpfe,

Liegen in tiefer Vergeſſenheit da; die ganze Natur iſt

Jn den tiefeſten Schlaf, in die tiefeſte Stille, gewickelt.

O wie grauſend iſt dann der Gedanke, daß außer mir,
nichts ſonſt

Auf der veroͤdeten Erde noch wacht! Bis mit dem Ge-
danken

Mein hinſinkendes Haupt der ſchleichende Schlummer
beſuchet.

Dann auch muͤſſe kein Traum, von froͤhlicher Thorheit
erzeuget,

Mich zur blumichten Au der gauckelnden Freude ver-
fuͤhren;

Son-
[147]der Melancholey.
Sondern mir ſende der Schutzgeiſt der Nacht ſo my-
ſtiſche Traͤume,

So erhabne Geſichter, wie ehmals Spenſer geſehen,

Wenn er voͤllig vertieft in Phantaſeyen der Dichtkunſt,

Zu des Buſirans ſchwarzen Palaſt den Britomart fuͤhrte:

Oder als Milton geſehn, wenn er in hoher Begeiſtrung,

Jm Tumulte des Kriegs, den ganzen Himmel ſich dachte,

Und in ſeinen entzuͤckten Gedanken der Seraphim
Schaaren

Vor ihm ſich thuͤrmten, mit Waffen bedeckt von De-
mant und Golde.

Andre moͤgen am laͤchelnden Abend des Sommers
ſich weiden,

Wenn ſie am dumpfen Geraͤuſch des murmelnden Ba-
ches ſich letzen,

Oder das ſanftere Roth des ſtreifichten Weſtens be-
trachten;

L 2Mich
[148]Die Vergnuͤgungen
Mich ergetzt nur Nebel und Dunkel des blaſſen De-
cembers.

Wenn die Schatten ſich dann des langen Abends ge-
ſchloſſen,

Und ein ſchimmernder Stral der matten ſterbenden
Aſche,

Durch den daͤmmernden Raum, ſich bricht: dann laß
mich, entfernet

Von dem Jauchzen des Unſinns, das ietzo mit feſtlichem
Echo

Durch die erleuchteten Zimmer ertoͤnt, dann laß mich
im Winkel

Sitzen, allein nur vergnuͤgt an der niedern klagenden
Grille

Schlummer erweckendem Lied; und laß mich mit mei-
nen Gedanken

Jn mich gekehrt, den Wechſel der Dinge, die leeren
Vergnuͤgen,

Und die vergebliche Muͤhe betrachten, die unſrer Er-
kenntniß

Forſchen vereitelt, ſo wie wir die Wuͤſte des Lebens
durchirren.

Dieſe
[149]der Melancholey.
Dieſe geſegnete Stunde der Stille wird alles das Laͤ-
cheln

Schimmernder Thorheit entdecken, das, gleich des li-
ſtigen Comus

Falſcher zaubriſcher Kunſt, die allzuſicheren Augen

Mit der verborgnen Verblendung getaͤuſcht; den bezau-
berten Becher

Uns zu trinken verfuͤhrt, wodurch die Seele berauſchet,

Ganz ſich vergißt, und der Menſch zum Ungeheuer
herabſinkt.

Gierig koſten wir ihn, doch in dem frohen Genuße

Merken wir nicht die giftigen Hefen, die mit ihm ge-
miſcht ſind.

O wie wenige kennen den Werth der feineren
Seele,

Deren erhoͤhtes Gefuͤhl, in Scenen finſterer Schwer-
muth,

Schnellere Freuden genießt, als die der Schimmer des
Hofes,

L 3Und
[150]Die Vergnuͤgungen
Und die blendende Pracht des eitlen Stolzes ertheilet.

Eloiſe, die lang in Schmerzen der Liebe geſchmachtet,

Fuͤhlte gewiß mehr hoͤhere Freuden, mehr wahres Ent-
zuͤcken,

Wenn, im flimmernden Kreis der Todtenkerzen, ſie
traurig

An ein Grab ſich gelehnt, vielleicht auch unter den Pfei-
lern

Gothiſcher Tempel und unter Altaͤren der heiligen Bilder

Sie, als eine verſchleyerte Nonne, voll Schwermuth
herumgieng;

Als im goldnen Palaſt, ſtolz auf die Reitze der Jugend,

Flavia fuͤhlt, wenn unter den Soͤhnen des weichlichen
Putzes

Sie im Zirkel des feſtlichen Balles bezaubernd einher-
ſchwimmt,

Und vor allen verſammelten Schoͤnen, die Schoͤnſte,
hervorſtralt.

Wenn
[151]der Melancholey.
Wenn die Erde der blendende Stral des Mittags
erheitert,

Und in der hellen ſuͤdlichen Laube des goldenen Tages

Guͤtger Regent ſich freut, und alles unter ihm lachet:

Wie hat dann mein Wunſch nicht der Nacht Zuruͤck-
kunft gefordert,

Die zum melancholiſchen Gemuͤth viel gleicher ge-
ſtimmt iſt.

Sey mir willkommen, o heilige Nacht! mein einſa-
mes Lied ſey

Dir auch geweyht! o Schweſter der herrſchenden He-
kate, Heil dir!

Heil dir! wenn du entweder, im dicken Dunkel ver-
borgen,

Deinen Wagen, verhuͤllt in ſchwangeren Wolken, da-
hinrollſt,

Oder dein leuchtendes Haupt mit der ſilbernen Krone
geſchmuͤckt haſt.

Obgleich in der Finſterniß Schutz der Zauberer Schaaren

L 4Oft
[152]Die Vergnuͤgungen
Oft in ſchrecklichen Hoͤlen von Lapplands beſchneyten
Gefilden

Mit verworrenen Reimen den blutigen Keſſel beſprechen;

Ob die Mordſucht gleich oft in deinen beſchirmenden
Schatten

Jhre Verehrer zuſammenberuft, ein heimliches Blutbad

Auszudenken, indem bey blauer ſterbender Lampe

Jn dem ſcheußlichen Rathe vereint, die horchende Bande

Sitzt; bey jedem ſaͤuſelnden Wind, bey jedem Geraͤuſche

Auffaͤhrt, und mit wilden und ſtarrenden Augen um-
herſieht;

Obgleich deinen entſetzlichen Pfad der Wandrer ver-
fluchet,

Wenn er, voͤllig verirrt in weiten Arabiſchen Wuͤſten,

Rings um ſich her das wilde Geheul blutduͤrſtiger Thiere

Durch
[153]der Melancholey.
Durch die Wildniß vernimmt, indem der ſchwaͤrzeſte
Sturm ihn

Unaufhoͤrlich verfolgt: ſo iſt doch deine Zuruͤckkunft

Angenehmer dem ſtillen Gemuͤth, als die Ankunft des
Morgens,

Wenn er auch jugendlich ſtolz im May friſchbluͤhende
Roſen,

Und ambroſiſchen Thau, von den Pforten des purpur-
nen Aufgangs

Auf die Gefilde verſtreut. — Doch iſt die Ankunft
des Morgens

Angenehm, wenn er, verhuͤllt in troͤpfelnde Wolken, er-
ſcheinet.

Wenn in finſterer Luft der truͤbe Suͤdwind einherbrauſt,

Und die traurige Landfchaft ſchwaͤrzt, daß Waͤlder und
Huͤgel

Sich, in einander vermengt, in dicken Nebeln verlieren.

Kuͤmmerlich ſitzen alsdann die Saͤnger des traurenden
Waldes,

L 5Und
[154]Die Vergnuͤgungen
Und begruͤſſen die Dunkelheit nicht; die rauſchenden
Ulmen,

Die mit majeſtaͤtiſchem Haupt in waldichten Reihen

Etwan ein Landhaus umringen, ſind ſtumm; und ſchal-
len nicht wieder

Von der Dohlen verwirrten Geſchrey, da, triefend,
zum Obdach

Sich das Federvieh macht; in Sicherheit haͤnget der
Landmann

Ueber dem praſſelnden Feuer, und wagt aus der ruhi-
gen Huͤtte

Nicht ſich hinaus in den Sturm. Jn unvollendeter
Furcht

Feyert der Pflug; vom Getoͤne des Horns, und dem
Rufe des Jaͤgers,

Schallet der Forſt nicht; in trauriger Stille liegt alles
vergraben,

Und die tiefſte Betruͤbniß umhuͤllt die Flaͤche der Dinge.

Obgleich Popens Geſang die ſanfteſten Gratien
athmet,

Und
[155]der Melancholey.
Und die gluͤcklichſte Kunſt die attiſchen Blaͤtter geſchmuͤcker:

Dennoch gluͤht mein ernſtes Gemuͤth in ſuͤßerm Ent-
zuͤcken,

Wenn ich manchmal, gelehnt an einen mooſigten Eich-
ſtamm,

Jn dem wildanmuthgen Geſang des zaubriſchen Spen-
ſers,

Zitternd der Una irrenden Fuß in ſchrecklichen Wuͤſten

Durch die Einſamkeit wandern geſehn; ganz matt und
verlohren,

Mehr, als wenn auf ſchimmerndem Buſen der ſilber-
nen Themſe

Die in ihr Ungluͤck eilende Schoͤne *) im Glanz des
Brokades

Jn dem blendenden Stral der lachenden Sonne daher-
ſchwimmt.

Zarter Empfindung wird bald das muntre Gemaͤlde zum
Eckel,

Und
[156]Die Vergnuͤgungen
Und trift nur das kalte Gemuͤth mit ſchwachem Ver-
gnuͤgen.

Juͤnglinge! die ihr den Kranz ungluͤcklicher Lie-
be getragen,

Welch Vergnuͤgen kan man der ſuͤſſen Schwermuth
vergleichen,

Deren zaubriſche Macht den ſanfteren Seelen geſchmei-
chelt?

Mahlt uns die ſtille bezaubernde Luſt, bey der redenden
Stimme

Suͤſſem Geſange zu ſchmelzen; in ſanften thauigten
Wieſen,

Durch die Mitternacht hin, mit irrenden Schritten zu
wandeln;

Und dem vertraulichen Mond die Schmerzen der Liebe
zu klagen,

Oft vom Vogel der Nacht mit aͤhnlichen Seufzern be-
gleitet,

Oder im ſchattichten Wald am dunkeln Bache zu irren,

Und allda die nichtigen Freuden der Welt zu vergeſſen.

Da
[157]der Melancholey.
Da indes ein gluͤcklicher Traum die erſcheinende Schoͤne

Vor euch mahlt, — nun hoͤrt ihr nicht mehr das Ge-
murmel des Baches,

Und das Auge dringet nicht mehr durch ſchauernde Gaͤnge

Waldichter Linden, bis etwan im Forſt vom faͤllendem
Beile,

Oder vom fernen Geklingel der Heerden, und von dem
Geraͤuſche

Eines die Straͤuche durcheilenden Stiers, die betroge-
nen Sinnen

Sich ermuntern, und ploͤtzlich der Traum in die Luͤfte
verflieget.

Dieß ſind Vergnuͤgen, zu denen mein Herz ſich eh-
mals gewoͤhnet,

Als den verblendeten Blick die junge Saphira bezaubert,

Und in ſchwarzer Entfernung von ihr, mein Leben mir
hinfloß,

Schoͤner als Flora lachte ſie mir, wenn Zephyr ſie auf-
weckt,

Und
[158]Die Vergnuͤgungen
Und ſie ſchamhaft erroͤthend aus duftenden Lauben heraus-
geht,

Mit den Kraͤnzen von Veilchen und Roſen die Felder
zu ſchmuͤcken.

Vor unheiligen Seelen ſind dieſe Vergnuͤgen verborgen,

Und ſie kan nur ein Herz, gewoͤhnt zur Schwermuth, em-
pfinden.

Laß mich auch oft das erleuchtete Chor in der hei-
ligen Stunde

Des Gebets beſuchen, wenn majeſtaͤtiſch die Orgel

Jn der Andacht Geſang von der Hoͤh vielſtimmig erſchallet,

Bis die Seele ſich auſſer ſich reißt, und zum Himmel
hinauffliegt.

Laß mich auch oft im inneren Dom, im einſamen Stuhle,

Heilige Toͤne vernehmen, die feyerlichlangſam und
prachtig

Durch die gothſchen Gewoͤlbe ſich winden, und in der
Entfernung

Mein
[159]der Melancholey.
Mein hinhorchendes Ohr mit hohem Gemurmel erreichen.

Laß mich auch dann nicht zu bleiben vergeſſen, wenn ietzo
die Lampe

Unter den Schatten verloͤſcht, und einſame Stille zu-
ruͤckkehrt;

Laß mich alsdann die ſchreckenden Schlaͤge der Glocke
bemerken,

Welche mit zitternder Zunge die fliehenden Stunden
verkuͤndigt.

Nie auch wolle die Seele ſich ſchoͤner zu bilden
verſaͤumen

Durch den ſanften und ruͤhrenden Schmerz der tragi-
ſchen Muſe;

Sie, Melpomene, die im Cothurn erhaben einhertritt,

Jn dem Leichengewand; ſie iſt des hoͤheren Mitleids

Pflegemutter, Jetzt mag mit thraͤnenſtroͤmenden Augen

Ueber
[160]Die Vergnuͤgungen
Ueber befleckte verwundete Liebe Monimia*) klagen;

Oder laß Juliet **) ietzt im ſchwarzen Todtengewoͤlbe

Jhres getreuen Romeo Lippen zum letztenmal kuͤſſen,

Seine Lippen, noch rauchend vom Brand des toͤdtli-
chen Giftes.

Laß um einen vergeblichen Blick den Jaffeir ***) im
Staube

Hinknien; oder laß auch auf Desdemonen ****) den
Mohren,

Seiner Eiferſucht Wuth die haͤrteſten Drohungen ſchuͤt-
ten.

Ploͤtzlich rieſelt der maͤnnliche Strom von ſchwellenden
Augen,

Auf
[161]der Melancholey.
Auf die Wange herab, und bey dem Ungluͤck des Bruders

Schmilzt mein zaͤrtliches Herz in ſympathetiſchen
Thraͤnen.

O was iſt der nichtige Pomp, der Hoͤfe Gepraͤnge?

Gluͤcklicher ſcheint mir ſogar der hohe Verbannte, der
einſam

Jn Siberiens Wuͤſten, in alten verfallnen Gemaͤchern

Eines hohen Kaſtells, die langſamen Stunden zuruͤcklegt.

Nichts entdecket ſein Blick, als unabſehliche Haiden,

Wo ein ewiger Winter den Wagen von Eiſe dahinrollt.

Jn der Naͤh auch zeiget ſich ihm ſtets einerley Ausſicht,

Feſte ſchreckliche Mauern, die dicken dunkeln Baſteyen,

Und die hohen Spitzen des Dachs; indeſſen die Glocke

V.Th. MFern
[162]Die Vergnuͤgungen
Fern vom hoͤheſten Thurm unwirthbare Wuͤſten durch-
ſchallet;

Und mit dem traurigen Schall auch neuen Kummer er-
wecket.

Und doch iſt er begluͤckter, als jener verwoͤhnte Satrape,

Den er hinter ſich ließ in Moskaus goldnen Pallaͤſten,

Da in ſchwelgriſcher Ruh und lachenden Freuden zu leben.

Herrliche Scenen treffen nur bloß mit ſchwachem
Vergnuͤgen

Das Gemuͤthe des Schauers; ſie locken allein das Ge-
ſicht nur,

Und erheben mit maͤchtigem Trieb das fuͤhlloſe Herz
nicht.

Alſo reizt die daͤdaliſche Landſchaft das Auge des Schaͤfers,

Der von der heiteren Stirn des hohen Hymettus herab-
ſieht.

Hier ſtehn Waͤlder von Palmen, wo ſonſt die Stimme
des Plato

Lehr-
[163]der Melancholey.
Lehrreich erſchallt; dort hebt aus dunkeln geheiligten
Gruͤnem

Sich der Oelbaum, der nimmer hier welkt, mit ſilber-
nem Haupt auf.

Dort verbreiten Huͤgel voll Reben die purpurnen Schaͤtze,

Und manch ſonnichtes Thal erſtreckt in langen Proſpekten

Fruchtbar ſich weit in das Land; dort thuͤrmt, in Fluren
voll Aumuth

Schimmernd, Athen ſich auf; allein obgleich durch die
Gegend

Seine zur Weisheit begeiſternde Fluth Jliſſus dahin
rollt,

Deſſen krummes Geſtade dickwallender Lorbeer be-
ſchattet;

Obgleich ſeinen herrlichſten Glanz der roſichte Morgen

Ueber die heitre Scene verſtreut: ſo fuͤhlet der Moͤnch
doch

Jn der ruhigen Bruſt mehr, und wahrhaftere Freuden,

M 2Wenn
[164]Die Vergnuͤgungen
Wenn er vom hangenden Fels, der ſeine Hoͤhle bedecket,

Das verfallne Perſepolis ſieht. Die ſinkenden Pfeiler

Sind auf die Ebnen umher in wilder Ordnung zer-
ſtreuet,

Eine weite Verwuͤſtung! Gleich einem verdorreten
Eichbaum,

Welchen der Donner zerſchellt, ſteigt hier die modern-
de Saͤule

Gegen die Wolken empor; hier zeigen pariſche Schloͤſſer

Halb ſich woͤlbende Hallen, mit dicken Dornen bewachſen,

Wo der Raͤuber ietzt laurt; der Fledermaus oͤde Be-
hauſung,

Welche des Abends von da in daͤmmernde Schatten hin-
abfliegt,

Und wo ihren fleckigten Schweif die Otter ſich nachſchleppt,

Ehmals die Wohnung des feinſten Geſchmacks, und der
bluͤhenden Kuͤnſte.

Tem-
[165]der Melancholey.
Tempel erheben ſich dort; in ihren geheiligten Grenzen

Waͤchſt der Fichtenbaum auf, da die nun nackenden
Straßen,

Sonſt vom fleißigen Kaufmann beſucht, mit Graſe be-
deckt ſind;

Saͤulen liegen auf Saͤulen geſtuͤrzt, heruntergeriſſen

Von dem feſten Geſtell, und vermehren die modernde
Maſſe.

Weit umher erſcheinen dem Blick die hangenden
Truͤmmer,

Von der verwuͤſteten Pracht, in einer verworrenen Scene

Von Pallaͤſten, und Haͤuſern, und Boͤgen, und Daͤm-
men, und Tempeln,

Wo der Ruin, und Schrecken, und Graus, im ſchwarzen
Gezelt thront.

Komm denn, du Koͤnigin ernſter Gedanken, Me-
lancholey, komm,

Komm mit heiligem Blick, und feſtem beſtaͤndigen
Schritte

M 3Aus
[166]Die Vergnuͤgungen
Aus der Hoͤle hervor, vom traurigen Epheu umſchatter,

Wo du dich bis zum Schall der Abendglocke verweileſt,

Komm, und bekraͤnze das Haar von deinem geweihten
Verehrer

Mit Cypreſſen; es muͤſſe mir nie die lachende Freude

Mein ſtandhaftes Gemuͤth mit gauckelndem Scherzen
verfuͤhren,

Noch mit Kraͤnzen von Blumen von deinem Wege mich
locken.

Denn obgleich in ihrem Gefolge die laͤchelnde Hebe

Jhre blendende Bruſt den liebenden Augen enthuͤllet,

Obgleich Venus, die Mutter der Liebe, der Freuden,
und Scherze,

Mit ihr Bacchus, mit Weinlaub gekraͤnzt, am ſtroͤmen-
den Nektar

Sich in duftenden Lauben ergetzen, und ſelber der Himmel,

Wenn
[167]der Melancholey.
Wenn ſie ſich nahn, ſich erheitert, indem durch blaue
Gefilde

Sich ein ſchoͤnerer Tag verbreitet: ſo ſind doch die
Freuden,

Die du, Melancholey, mir ertheilſt, viel reiner, viel
wahrer,

Als ihr fluͤchtiger Tand; die Freuden, tiefer gefuͤhlet,

Die in einſamen Stunden die hohe Betrachtung uns
einfloͤßt.

Heil dir, alſo, geweyhte Betrachtung! o Goͤttin,
mit dir hub

Dieſer Geſang ſich an, mit dir auch ſoll er ſich enden.

Du biſt ſchoͤner, als alle die Nymphen der Grotte von
Cirrha,

Und du kanſt den Gedanken zu hoͤhern Entzuͤckungen
wecken,

Als die geprieſene Schaar von allen Goͤttern der Fabel.

Heil dir, o Goͤttin! dich fand, ſo wie die Sage
berichtet,

M 4Einſt
[168]Die Vergnuͤgungen der Melancholey.
Einſt ein Druide, ſo wie er am Abend die Waͤlder von
Mona

Einſam durchirrt; er trug dich ſogleich mit guͤtigen
Haͤnden

Zum beſchirmenden Dach von ſeiner Laube von Eichen.

Hier bemerkte gar bald der bewundernde Weiſe den An-
bruch

Deiner Schwermuth, den maͤchtigen Hang zu ernſten
Gedanken.

Noch als ein laͤchelndes Kind haſt du am Ufer des
Meinai,

Dieſem verewigten Strom der alten Druiden, gelegen,

Und dich am wilden Geraͤuſch von ſeinen Fluthen er-
getzet.



[[169]]

Unterhaltungen
mit ſeiner Seele.

Unterhaltungen
mit ſeiner Seele.



[[170]][171]



Du Hauch von Gott, du wundervolles Weſen,

Das in mir denkt, vom Nichts zu Seyn erleſen;

Unſterbliche, durch die mein Auge wacht,

Komm, nahe dich bey ſtiller Mitternacht!

Dir
[172]Unterhaltungen
Dir toͤnt mein Lied, o Seele! Losgewunden

Vom Koͤrper, weih’ ich dir erhabne Stunden.

Vielleicht zieht mein Geſang dich von der Welt,

Die nur zu lang’ in ihrem Arm dich haͤlt.

Wir ſind allein, o Seele! Wirf die Huͤlle

Der Nacht um dich, und laß die heilge Stille

Dir theuer ſeyn, die mit Gedanken koͤmmt,

Gedanken, die kein Lerm, kein Unſinn hemmt.

Wir ſind allein? Wie falſch ſprach ich! Wir
waren

Nie weniger allein. Des Himmels Schaaren

Umgeben dich, ſind Zeugen uͤber dir,

Und,
[173]mit ſeiner Seele.
Und, (o fall in den Staub!) Gott ſelbſt iſt hier.

Du bebſt zuruͤck? Wie? wollteſt du verzagen?

Nein, ietzt ſey muthig! Du auch darfſt es wagen,

Mit Geiſtern und mit Gott vertraut zu ſeyn;

Doch ſey, wie Engel, wie dein Schoͤpfer, rein!

O Einſamkeit! Wie kan der Menſch dich flie-
hen?

Wie kan er ſich um Zeitverderb bemuͤhen!

Er iſt betruͤbt, daß nicht Tumult und Tand

Jhm ungenuͤtzt auch dieſen Tag entwandt.

Er fuͤrchtet ſich, mit ſich allein zu bleiben;

Treibt mit dem Strom von nichtgen Zeitvertreiben

Be-
[174]Unterhaltungen
Beſtaͤndig fort; und jede Kleinigkeit

Und jedes Kinderſpiel, das ihn zerſtreut,

Ruft er herzu, dem Ungluͤck zu entgehen,

Das er ſo aͤngſtlich ſcheut, — ſich ſelbſt zu ſehen.

Sey weiſe, du, mein Geiſt; ſey ietzo dein!

Mit ſich vertraut, heißt in Geſellſchaft ſeyn.

Wenn zuͤgellos die Freuden um uns ſchwaͤrmen.

Wenn Unſinn raßt, und wilde Saiten laͤrmen,

Wenn, fortgeſchwemmt von des Tumultes Fluth,

Allein beherrſcht von aufgebrachtem Blut,

Der Menſch ſich ſelbſt betaͤubt; zum Kreis ſich dringet,

Wo
[175]mit ſeiner Seele.
Wo Laͤſterſucht die ſcharfen Dolche ſchwinget,

Und wo geſalbt betrunkne Weiſe ſchreyn;

Dann iſt der Menſch, dann iſt der Geiſt allein.

Jm vollen Saal geht einſam dann die Seele,

Und melancholiſcher, als in der Hoͤle

Des Einſiedlers, irrt ſie auf leerer Bahn,

Und findet nichts, was ihr genugthun kan.

Wie ſelig iſt nicht der, der oft entfernet

Vom Laͤrm der Welt, ſich ſelber dulden lernet!

Erkenne dann, o Seele, deine Kraft!

Verſchmaͤh den Tand von leerer Wiſſenſchaft,

Laß
[176]Unterhaltungen
Laß nicht bloß Schall von Weisheit dich verfuͤhren,

Sey weiſer, wags, dich ſelber zu ſtudiren!

Du ſiehſt erſtaunt der Erde Wundern zu?

Rund um dich her iſt groͤſſer nichts, als du.

Wie ruͤhmlich iſts, das Buch der Welt zu leſen,

Geh weiter noch; ſchan tiefer — in dein Weſen.

Du ſtolzer Geiſt, der Ewigkeiten mißt,

Du Wurm, der lebt, und morgen nicht mehr iſt;

Geſchoͤpf, das bald aͤtherſche Freuden trinket,

Und bald, zu ſchwer, zum Thier herunter ſinket;

Das ietzt die Wahrheit ſucht, ietzt von ſich ſtoͤßt;

Du
[177]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Du Raͤthſel fuͤr dich ſelbſt, nie aufgeloͤſt;

Verſuch es, wirf die aufgeklaͤrtern Blicke

Von allen um dich her, in dich zuruͤcke!

Du Weiſer, biſt du ſelbſt dir unbekannt;

So iſt Witz Unſinn; alle Weisheit Tand.

Und wie, mein Geiſt? Jn Einſamkeit verſunken,

Vom ſuͤſſen Traum gehoften Nachruhms trunken,

Fliehſt du den Schlaf, und ſinneſt auf ein Lied,

Das nach der Muͤh dem Tadel nicht entflieht;

Mit nichts dich lohnt, als nach mislungnem Wachen

Auf lange Zeit die Muſe ſcheu zu machen;

Du folgſt erhitzt der Weisheit heller Spur

V. Th. NJm
[178]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Jm weiten Reich der herrlichen Natur;

Der Freude hold, und freundſchaftlichem Schmerze,

Vergraͤbſt du dich; horchſt bey einſamer Kerze,

Den Barden zu aus grauem Alterthum,

Und ſchmuͤckeſt dich mit einer Vorwelt Ruhm;

Du eilſt, vom Spiel und Wein dich zu entfernen,

Von Albion, von Gallien zu lernen;

Bewirbſt noch ſpaͤt, mit Fleiß und mit Geduld,

Am Saitenſpiel dich um der Tonkunſt Huld;

Und du, mein Geiſt, haſt unter allen Stunden

Die Stunde nicht, den Augenblick gefunden,

Wo du wahrhaftig weiſ’, in dich gekehrt,

Ganz
[179]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Ganz dein, ganz Geiſt, einmal dich ſelbſt gelehrt?

Du weißt nicht, welche Gluth in dir verglimmet,

Zu welchem Zweck die Gottheit dich beſtimmet?

Und glaubſt, daß du des Geiſtes Rang erwirbſt,

Wenn du gebohren wirſt, und lebſt, und ſtirbſt?

Befreye dich von dieſen Vorurtheilen!

Du biſt zu groß, im Staube zu verweilen;

Zu goͤttlich groß, als daß nur eine Welt

Jm engen Raum dich eingeſchraͤnket haͤlt.

Erkenne von dir ſelbſt mit welchen Gaben

Des Schoͤpfers Huld dich vor dem Thier erhaben.

N 2Der
[180]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Der hohe Geiſt, von ſeinem Werth entflammt,

Fuͤhlt es zu ſehr, daß er vom Himmel ſtammt.

Verwandt mit Staub, weiß er ihn zu verachten,

Da auf zu Gott die ſtarken Fluͤgel trachten.

Er ſteigt empor, ſein Weſen heiſchet dies;

Unwiſſenheit, der Seele Finſterniß,

Haßt er, und ſucht das Licht; der Weisheit Lehren,

Der Tugend Ruf, wird er nie ſatt zu hoͤren.

Selbſt die Natur in aller Abwechslung

Hat doch fuͤr ihn nicht Reitz, nicht Schoͤnheit gnung

Er wagts, ins weite Reich der Luft zu dringen,

Verfolgt
[181]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Verfolgt den wilden Sturm; ſchwebt auf den Schwin-
gen

Des Blitzes fort; ſteigt zu der Pole Hoͤh

Jns Vorrathshaus von ewgem Eis und Schnee;

Dann ſtuͤrzt er ſich in hellgeſtirnte Kreiſe;

Schwankt mit dem Mond durch ſeine ſchnellen Gleiſe;

Sieht, wie die Sonn’ im Feuer uͤberfließt,

Wie maͤchtig ſie den Strom des Lichts ergießt,

Mit eigner Kraft den Schwung um ſich vollbringet,

Und um ſich her die Wandelſterne zwinget.

Dann ſchießt er fort, ſpaͤht des Kometen Lauf,

Wie ſchnell er laͤuft, durch alle Himmel auf:

N 3Sieht
[182]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Sieht ſchauervoll der Schoͤpfung Rad ſich drehen;

Und ſchaut zuruͤck auf alle Sternen Hoͤhen,

Bis er erſtaunt, weit dieſer Welt entflieht,

Jns weite Reich des Empyreum ſieht,

Wo ewges Licht und ewge Freude wohnen,

Und ungeſtoͤrt begluͤckte Geiſter thronen.

Auch hier nicht iſt ſein heiſſer Trieb geſtillt,

Da unter ihm die ewge Tiefe bruͤllt;

Er ſtuͤrzt hinab, wo Dunkel ihn umringet,

Und Unermeßlichkeit ihn ganz verſchlinget.

Hier ruhet erſt ſein Flug. So wollt’ es Der,

Der,
[183]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Der, Seele, dich erſchuf. Nicht irdiſch, leer,

Beſtimmt er deine Luſt. Jm Purpurkleide

Der eitlen Macht nicht; noch der thierſchen Freude

Der Wolluſt, ſollteſt du dich gluͤcklich ſehn;

Nur durch Unſterblichkeit, durch Weisheit ſchoͤn,

Befahl er dir, von allen irdſchen Dingen

Zum hoͤchſten Gute dich empor zu ſchwingen,

Daß du zuletzt, von Schranken ganz befreyt,

Gluͤckſeelig ſeyſt in der Vollkommenheit.

So ſchuf dich Gott, o du, die in mir denket,

Unſterbliche, ſo frey, ſo unumſchraͤnket,

N 4Erſchuf
[184]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Erſchuf er dich; ſo herrlich ausgeziert,

Wardſt du von ihm auf dieſe Welt gefuͤhrt;

Ein Schauplatz, groß, beſtimmt zu groſſen Thaten;

Jm Angeſicht der Thronen, Potentaten,

Und Tugenden des Himmels, handelſt du;

O handle recht, Gott ſelber ſchauet zu.

Entweichet dann, ihr nichtgen Kleinigkeiten,

Um die ſich Koͤnige und Thoren ſtreiten!

Wie ſollt ich mich bey todten Schaͤtzen freun,

Und ſtolz auf leeren Schall, auf Nachruhm, ſeyn?

Wie? ſollt’ ich mir mit ſklaviſchen Paͤanen,

Durch
[185]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Durch feiles Lob den Weg zum Gluͤcke bahnen?

Wie? ſollt’ ich mich durch Spiel und Scherz zerſtreun?

Jm weichen Schooß der Wolluſt mich entweihn?

Bloß Koͤrper ſeyn, den hoͤhern Geiſt verhuͤllen,

Und meines Daſeyns Zweck nicht ganz erfuͤllen?

Nein, ſchwinge dich von allem Jrdſchen los;

Sey, was du biſt, ſey deiner werth, ſey groß.

Soll denn der Menſch die himmliſchen Gedanken

Nur ſtets verſchlieſſen in der Erde Schranken,

Und folgt er immer nur des Thiers Beruf,

Da ihn ſein Gott zum Sohn des Aethers ſchuf?

N 5Send
[186]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Send aus den Geiſt, der unterm Staube leidet,

Nicht, wie der Koͤrper, ſich durch Sinnen weidet,

Auf! ſend ihn aus von Kleinigkeit und Tand

Zur Welt der Geiſter, ſeinem Vaterland!

Er ſieht umſonſt nicht hoͤhre Sphaͤren blitzen

Und Sonnen gluͤhn; er ſoll ſie einſt beſitzen;

Soll einſt verneut, verklaͤrt, den Engeln gleich,

Nicht Staub mehr ſeyn in ſeines Schoͤpfers Reich;

Soll einſt, wie ſie, zu ſeines Thrones Fuͤſſen

Unſterblich ſeyn, und ewges Gluͤck genieſſen.

Das biſt du, Seele! dein Geſchick iſt dein,

Du
[187]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Du kanſt hoͤchſt elend, und hoͤchſt ſeelig, ſeyn.

Sey nicht umſonſt begabt mit Engels Kraͤften,

Dich ſchuf dein Gott zu himmliſchen Geſchaͤften.

Das herrlichſte Geſchaͤft’ iſt Gottes Lob.

Wenn er den Seraph aus den Wolken hob,

Und er noch kaum ſein ganzes Daſeyn kannte,

Fiel er ſchon hin vor ſeinen Gott, und brannte.

Und du waͤrſt ſtumm, indem der Seraph gluͤht,

Und Welt an Welt vor ihrem Schoͤpfer kniet?

Welch ein Geſicht! Jch ſehe Millionen

Aetherſcher Kraͤfte, Tugenden und Thronen,

Der
[188]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Der Geiſterwelt unendlich lange Reihn,

O Herr, von dir erfuͤllt, ſie alle dein.

Wie ſchimmern ſie in deiner Allmacht Stralen!

Wie wallt der Weyhrauchs Dampf aus goldnen Scha-
len,

Vor deinem Stuhl! die Himmel ſtehn erfreut,

Und Lobgeſang ſchallt durch die Ewigkeit.

Der Menſch ſiehts, und erſtaunt? O Sohn der
Erde,

Erſtaune nicht, was du nicht biſt, das werde!

Zwar Engel nicht, doch auch ein Geiſt, wie ſie,

Schließ dich an ihre Reih, und beug’ deine Knie,

Und bet ihn an; auch dir iſt es gegeben,

Zum
[189]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Zum Himmel auf den Seufzer zu erheben.

Du ſtehſt vor Gott mit in der Geiſter Reihn,

Nimm deinen Platz in ſeiner Schoͤpfung ein;

Dein Platz iſt nicht gering; er iſt voll Maͤngel,

Und graͤnzt ans Thier, doch grenzt er auch an Engel.

Jhm misfaͤllt hier des Staubes Stammeln nicht,

Wenn dort entzuͤckt der Cherub vor ihm ſpricht.

Wie ſeelig, (rufſt du), ſind der Engel Schaaren,

Sie ſehn Gott, wie er iſt. Wir Menſchen waren

Zu arm, zu klein, fuͤr den, der ewig iſt,

Der uns geſchaffen hat, und uns vergißt.

Nein,
[190]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Nein, Menſch, auch du biſt nicht von Gott verlaſſen,

Kein Cherub kan den Unerſchafnen faſſen,

Erzengel ſehn ihn zwar in hellerm Glanz,

Allein nur Gott, nur Gott ſelbſt, ſieht ſich ganz.

Und koͤnnſt du naͤher ſeinen Blick ertragen?

Der Erdkreis bebt, und ſeine Starken zagen,

Wenn er im Donner ſpricht, auf Stuͤrmen geht,

Und aus der Nacht des Blitzes Flamme weht.

Und klageſt du, er ſey zu weit entfernet?

O klage, daß der Menſch nicht ſehen lernet!

Jſt er nicht jedem Theil der Schoͤpfung nah,

Jſt
[191]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Jſt er nicht hier, iſt er nicht dort, und da?

Sehn wir ihn nicht, wenn Berge vor ihm ſchmelzen;

Wenn Meere ſich hoch uͤber Laͤnder welzen?

Sehn wir ihn nicht, wenn nach der truͤben Nacht

Das Morgenroth am heitern Himmel lacht?

Jhm iſt nichts klein, noch groß. Mit gleichen Gnaden

Sieht er auf uns und auf die Myriaden

Um ſeinen Thron; er fordert, ohne Zwang

Von allen Geiſtern gleichen Lobgeſang.

Durch Demuth ſteigt der Menſch, der Cherub ſinket!

Dem Satan gleich, wenn er ein Gott ſich duͤnket.

Mit
[192]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Mit welcher Wuͤrdigkeit und Majeſtaͤt,

Hat, Seele, dich, dein Gott zum Seyn erhoͤht!

Jndem vor ihm des Himmels Choͤre ſingen,

Jn hoher Harmonie die Sphaͤren klingen,

Da ihn der niedrigſte, der hoͤchſte Geiſt

Von allen Erden, allen Sonnen preiſt;

Da iſts auch dir erlaubt, fromm zu entbrennen,

Nach ihm zu ſchaun, und Vater ihn zu nennen.

Und, Seele, ſprich, iſt denn ein groͤßres Gluͤck,

Als frey von Schuld, mit aufgeklaͤrtem Blick,

Von dieſer Unterwelt Wuth und Getuͤmmel,

Hinauf
[193]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Hinauf zu ſchaun, zu einem gnaͤdgen Himmel?

Liegt ſtaͤrkrer Troſt den Menſchen noch bereit,

Als im Gebet, in ſtiller Einſamkeit,

Menn er die Hand nach ſeinem Schoͤpfer ſtrecket,

Und dem, der helfen kan, ſein Herz entdecket?

So ſollſt du dich zu deinem Dienſte weihn,

Sein Lob iſt deine Pflicht, doch nicht allein —

Gott ſetzte dich auch in die Welt zu lernen,

Um einſt geſchickt zu ſeyn fuͤr hoͤhre Sternen.

Fuͤr die wardſt du beſtimmt. Die kurze Zeit

Jſt nur der Eingang zu der Ewigkeit.

Vter Theil. OGebet
[194]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Gebet und Andacht muß die Seel entflammen,

Doch nichts, als Beten, wuͤrde ſie verdammen.

Und glaubeſt du, daß um der Allmacht Thron

Mit immergleichem Hallelujahton

Der hohe Seraph ſeine Pflicht vollbringet,

Bleibt, wie er iſt, die Ewigkeit verſinget;

Unthaͤtig ruht in einer Seeligkeit,

Und nicht, vom Trieb nach der Vollkommenheit

Bewegt, beſeelt, getrieben, hingeriſſen,

Mit jedem Augenblick ſtrebt mehr zu wiſſen?

Nein, jeder Geiſt, vom Cherub bis zu dir,

Verfolgt
[195]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Verfolgt die Weisheit, und lernt dort, wie hier,

So laß dich doch die wahre Weisheit leiten,

Und waͤhle, wenn du waͤhlſt, fuͤr Ewigkeiten,

Doch ſey voll Demuth; vieler Naͤchte Fleiß

Lehrt erſt den Weiſen, daß er wenig weiß,

Laß keinen Stolz auf Klugheit dich verwirren,

Vom wahren Pfad zum Himmel abzuirren.

O Menſch, du Widerſpruch, der Thorheit Raub,

Jetzt Geiſt, und groß, und jetzt ein Wurm im
Staub,

Wie lange wird dein Stand der Blindheit waͤhren,

Und welche Weisheit kan dich uns erklaͤren?

O 2Du
[196]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Du zoͤgerſt noch, bey ſeiner Gnade Ruf;

Dem Gott zu huldigen, der dich erſchuf?

Du biſt zu ſtolz, den Ewgen zu erkennen,

Den Einzigen, der’s werth iſt, Herr zu nennen?

Da du indes dich vor Tyrannen buͤckſt,

Des maͤchtgen Lieblings Bild mit Kraͤnzen ſchmuͤckſt;

Jm Staube kriechſt, die Ehre zu erlangen,

Als Sklav’ am Thron des Koͤniges zu prangen,

Der, ſo wie du, um Ruhm und Beyfall wirbt,

Der Menſch iſt, ſo wie du, und morgen ſtirbt.

Du Niedrer! ſteig empor! Den Durſt nach Ruhme

Still’
[197]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Still’ im aͤtherſchen Quell. Zum Eigenthume

Gieb dich dem Herrn der Welt! Wer Sklav will
ſeyn,

Sey es vom Groͤſſeſten; die Ehr iſt dein

Wenn du voll Stolz dich, groß zu ſeyn, erkuͤhneſt,

Und wenn du dienſt, nur dem Allmaͤchtgen dieneſt.

Du herrliches Geſchoͤpf, miskenne nicht

Den himmliſchen Beruf, des Geiſtes Pflicht.

Frey, ohne Zwang der Tugend nachzuwandeln

Nie anders, als Unſterbliche, zu handeln,

Jn allem zu des Schoͤpfers Lob’ bereit,

Macht Engel groß, und heiſſet Seeligkeit.

O 3Die
[198]Unterhaltungen mit ſeiner Seele.
Die laß dir nichts, o meine Seele, rauben!

Dein groͤßter Schmuck, ſey dein Gebet, dein Glau-
ben.

Wenn aus dem Meer der guͤldne Morgen ſteigt,

Wenn ſich der Tag im kuͤhlen Weſten neigt,

Bey heilger Nacht, ſey ſtolz vor Gott zu treten,

Dem Seraph gleich zu ſeyn, und anzubeten.

Ende des fuͤnften Bandes.



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Notes
*)
Die durch Popens Haarlockenraub beruͤhmte Belinde.
*)
Jn einem Trauerſpiel des Otway.
**)
Romeo und Juliet, ein Trauerſpiel von Schakeſpear.
***)
Jn einem Trauerſpiel von Otway.
****)
Jm Othello von Schakeſpear.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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Kolimo+

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TextGrid Repository (2025). Collection 3. Poetische Schriften. Poetische Schriften. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpt8.0