CELLULARPATHOLOGIE
in ihrer Begründung auf
physiologische und pathologische Gewebelehre.
CELLULARPATHOLOGIE
in ihrer Begründung auf
physiologische und pathologische Gewebelehre.
gehalten
während der Monate Februar, März und April 1858 im pathologischen
Institute zu Berlin
Verlag von August Hirschwald.
69 Unter den Linden (Ecke der Schadowstr.).
[[IV]]
Der Verfasser behält sich das Recht einer Uebersetzung in fremde Sprachen,
besonders in's Englische und Französische vor.
[[V]]
Vorrede.
Die Vorlesungen, welche ich hiermit dem weiteren
ärztlichen Publicum vorlege, wurden im Anfange
dieses Jahres vor einem grösseren Kreise von Col-
legen, zumeist praktischen Aerzten Berlin’s, in dem
neuen pathologischen Institute der Universität ge-
halten. Sie verfolgten hauptsächlich den Zweck, im
Anschlusse an eine möglichst ausgedehnte Reihe von
mikroskopischen Demonstrationen eine zusammenhän-
gende Erläuterung derjenigen Erfahrungen zu geben,
auf welchen gegenwärtig nach meiner Auffassung die
biologische Doctrin zu begründen und aus welchen
auch die pathologische Theorie zu gestalten ist. Sie
sollten insbesondere in einer mehr geordneten Weise,
als dies bisher geschehen war, eine Anschauung von
der cellularen Natur aller Lebenserscheinungen, der
physiologischen und pathologischen, der thierischen
und pflanzlichen zu liefern versuchen, um gegenüber
den einseitigen humoralen und neuristischen (solidaren)
Neigungen, welche sich aus den Mythen des Alter-
thums bis in unsere Zeit fortgeflanzt haben, die Ein-
heit des Lebens in allem Organischen wieder dem Be-
wusstsein näher zu bringen, und zugleich den ebenso
einseitigen Deutungen einer grob-mechanischen und
chemischen Richtung die feinere Mechanik und Chemie
der Zelle entgegen zu halten.
[VI]Vorrede.
Bei den grossen Fortschritten des Einzelwissens
ist es der Mehrzahl der praktischen Aerzte immer
schwieriger geworden, sich dasjenige Maass der eige-
nen Anschauung zu gewinnen, welches allein eine ge-
wisse Sicherheit des Urtheils verbürgt. Täglich ent-
schwindet die Möglichkeit nicht bloss einer Prüfung,
sondern selbst eines Verständnisses der neueren Schrif-
ten denjenigen mehr und mehr, welche in den oft so
mühseligen und erschöpfenden Wegen der Praxis ihre
beste Kraft verbrauchen müssen. Denn selbst die
Sprache der Medicin nimmt allmählig ein anderes
Aussehen an: bekannte Vorgänge, welche das herr-
schende System seinem Gedankenkreise an einem be-
stimmten Orte eingereiht hatte, wechseln mit der Auf-
lösung des Systems die Stellung und die Bezeichnung.
Indem eine gewisse Thätigkeit von dem Nerven, dem
Blute oder dem Gefässe auf das Gewebe verlegt,
ein passiver Vorgang als ein activer, ein Exsudat als
eine Wucherung erkannt wird, ist auch die Sprache
genöthigt, andere Ausdrücke für diese Thätigkeiten,
Vorgänge und Erzeugnisse zu wählen, und je voll-
kommener die Kenntniss des feineren Geschehens der
Lebensvorgänge wird, um so mehr müssen sich auch
die neueren Bezeichnungen an diese feineren Grund-
lagen der Erkenntniss anschliessen.
Nicht leicht kann Jemand mit mehr Schonung
des Ueberlieferten die nothwendige Reform der An-
schauungen durchzuführen versuchen, als ich es mir
zur Aufgabe gestellt habe. Allein die eigene Erfah-
rung hat mich gelehrt, dass es hier eine gewisse
Grenze gibt. Zu grosse Schonung ist ein wirk-
licher Fehler, denn sie begünstigt die Verwirrung: ein
zweckmässig gewählter Ausdruck macht dem allge-
[VII]Vorrede.
meinen Verständnisse etwas sofort zugänglich, was ohne
ihn jahrelange Bemühungen höchstens für Einzelne
aufzuklären vermochten. Ich erinnere an die paren-
chymatöse Entzündung, an Thrombose und Embolie,
an Leukämie und Ichorrhämie, an osteoides und
Schleimgewebe, an käsige und amyloide Metamorphose,
an die Substitution der Gewebe. Neue Namen sind
nicht zu vermeiden, wo es sich um thatsächliche Be-
reicherungen des erfahrungsmässigen Wissens handelt.
Auf der anderen Seite hat man es mir schon öfters
zum Vorwurfe gemacht, dass ich die moderne An-
schauung auf veraltete Standpunkte zurückzuschrauben
bemüht sei. Hier kann ich wohl mit gutem Gewissen
sagen, dass ich eben so wenig die Tendenz habe, den
Galen oder den Paracelsus zu rehabilitiren, als ich
mich davor scheue, das, was in ihren Anschauungen
und Erfahrungen wahr ist, offen anzuerkennen. In der
That finde ich nicht bloss, dass im Alterthum und im
Mittelalter die Sinne der Aerzte nicht überall durch
überlieferte Vorurtheile gefesselt wurden, sondern noch
mehr, dass der gesunde Menschenverstand im Volke
an gewissen Wahrheiten festgehalten hat, trotzdem dass
die gelehrte Kritik sie für überwunden erklärt. Was
sollte mich abhalten, zu gestehen, dass die gelehrte
Kritik nicht immer wahr, das System nicht immer
Natur gewesen ist, dass die falsche Deutung nicht die
Richtigkeit der Beobachtung beeinträchtigt? warum
sollte ich nicht gute Ausdrücke erhalten oder wieder-
herstellen, trotzdem dass man falsche Vorstellungen
daran geknüpft hat? Meine Erfahrungen nöthigen mich,
die Bezeichnung der Wallung (Fluxion) für besser zu
halten, als die der Congestion; ich kann nicht umhin,
die Entzündung als eine bestimmte Erscheinungsform
[VIII]Vorrede.
pathologischer Vorgänge zuzulassen, obwohl ich sie
als ontologischen Begriff auflöse; ich muss trotz des
entschiedenen Widerspruchs vieler Forscher den Tu-
berkel als miliares Korn, das Epitheliom als hetero-
plastische, maligne Neubildung (Cancroid) festhalten.
Vielleicht ist es in heutiger Zeit ein Verdienst,
das historische Recht anzuerkennen, denn es ist in
der That erstaunlich, mit welchem Leichtsinn gerade
diejenigen, welche jede Kleinigkeit, die sie gefunden
haben, als eine Entdeckung preisen, über die Vorfahren
aburtheilen. Ich halte auf mein Recht und darum er-
kenne ich auch das Recht der Anderen an. Das ist
mein Standpunkt im Leben, in der Politik, in der
Wissenschaft. Wir sind es uns schuldig, unser Recht
zu vertheidigen, denn es ist die einzige Bürgschaft
unserer individuellen Entwickelung und unseres Ein-
flusses auf das Allgemeine. Eine solche Vertheidi-
gung ist keine That eitlen Ehrgeizes, kein Aufgeben
des rein wissenschaftlichen Strebens. Denn wenn wir
der Wissenschaft dienen wollen, so müssen wir sie
auch ausbreiten, nicht bloss in unserem eigenen Wis-
sen, sondern auch in der Schätzung der Anderen.
Diese Schätzung aber beruht zum grossen Theile auf
der Anerkennung, die unser Recht, auf dem Vertrauen,
das unsere Forschung bei den Anderen findet, und das
ist der Grund, warum ich auf mein Recht halte.
In einer so unmittelbar praktischen Wissenschaft,
wie die Medicin, in einer Zeit so schnellen Wachsens
der Erfahrungen, wie die unsrige, haben wir doppelt die
Verpflichtung, unsere Kenntniss der Gesammtheit der
Fachgenossen zugänglich zu machen. Wir wollen die
Reform, und nicht die Revolution. Wir wollen das Alte
conserviren und das Neue hinzufügen. Aber den Zeitge-
[IX]Vorrede.
nossen trübt sich das Bild dieser Thätigkeit. Denn nur
zu leicht gewinnt es den Anschein, als würde eben nur
ein buntes Durcheinander von Altem und Neuem ge-
wonnen, und die Nothwendigkeit, die falschen oder
ausschliessenden Lehren der Neueren mehr, als die der
Alten zu bekämpfen, erzeugt den Eindruck einer mehr
revolutionären, als reformatorischen Einwirkung. Es
ist freilich bequemer, sich auf die Forschung und die
Wiedergabe des Gefundenen zu beschränken und An-
deren die „Verwerthung“ zu überlassen, aber die Er-
fahrung lehrt, dass dies überaus gefährlich ist und zu-
letzt nur denjenigen zum Vortheil ausschlägt, deren
Gewissen am wenigsten zartfühlend ist. Uebernehmen
wir daher jeder selbst die Vermittelung zwischen der
Erfahrung und der Lehre.
Die Vorlesungen, welche ich hier mit der Absicht
einer solchen Vermittelung veröffentliche, haben so
ausdauernde Zuhörer gefunden, dass sie vielleicht auch
nachsichtige Leser erwarten dürfen. Wie sehr sie der
Nachsicht bedürfen, fühle ich selbst sehr lebhaft. Jede
Art von freiem Vortrage kann nur dem wirklichen Zu-
hörer genügen. Zumal dann, wenn der Vortrag wesent-
lich darauf berechnet ist, als Erläuterung für Tafel-
Zeichnungen und Demonstrationen zu dienen, muss er
nothwendig dem Leser ungleichmässig und lückenhaft
erscheinen. Die Absicht, eine gedrängte Uebersicht
zu liefern, schliesst an sich eine speciellere, durch aus-
reichende Citate unterstützte Beweisführung mehr oder
weniger aus und die Person des Vortragenden wird
mehr in den Vordergrund treten, da er die Aufgabe
hat, gerade seinen Standpunkt deutlich zu machen.
Möge man daher das Gegebene für nicht mehr
nehmen, als es sein soll. Diejenigen, welche Musse
[X]Vorrede.
genug gefunden haben, sich in der laufenden Kenntniss
der neueren Arbeiten zu erhalten, werden wenig Neues
darin finden. Die Anderen werden durch das Lesen
nicht der Mühe überhoben sein, in den histologischen,
physiologischen und pathologischen Specialwerken die
hier nur ganz kurz behandelten Gegenstände genauer
studiren zu müssen. Aber sie werden wenigstens eine
Uebersicht der für die cellulare Theorie wichtigsten
Entdeckungen gewinnen und mit Leichtigkeit das ge-
nauere Studium des Einzelnen an die hier im Zusam-
menhange gegebene Darstellung anknüpfen können.
Vielleicht wird gerade diese Darstellung einen unmit-
telbaren Anreiz für ein solches genaueres Studium ab-
geben, und schon dann wird sie genug geleistet haben.
Meine Zeit reicht nicht aus, um mir die schrift-
liche Ausarbeitung eines solchen Werkes möglich zu
machen. Ich habe mich deshalb genöthigt gesehen,
die Vorlesungen, wie sie gehalten wurden, stenogra-
phiren zu lassen und mit leichten Aenderungen zu
redigiren. Herr Cand. med. Langenhaun hat mit
grosser Sorgfalt die stenographische Arbeit besorgt.
Soweit es sich in der Kürze der Zeit thun liess, und
soweit der Text ohne dieselben für Ungeübte nicht
verständlich sein würde, habe ich nach den Tafel-
Zeichnungen und besonders nach den vorgelegten Prä-
paraten Holzschnitte anfertigen lassen; Vollständigkeit
liess sich in dieser Beziehung nicht erreichen, da schon
so die Veröffentlichung durch die Anfertigung der Holz-
schnitte um Monate verzögert worden ist.
Misdroy, am 20. August 1858.
Rud. Virchow.
[[XI]]
Uebersicht der Holzschnitte.
- Fig. 1. Pflanzenzellen aus einem jungen Triebe von Solanum tube-
rosum. Seite 4 - Fig. 2. Knorpelzellen vom Ossificationsrande wachsender Knorpel. S. 6
- Fig. 3. Verschiedene Arten von Zellen und Zellgebilden. a. Leber-
zellen, b. Bindegewebskörperchen, c. Capillargefäss, d. Sternzelle aus
einer Lymphdrüse, e. Ganglienzellen aus dem Kleinhirn. S. 8 - Fig. 4. Pflanzen-Zellenbildung nach Schleiden. S. 9
- Fig. 5. Pigmentzelle (Auge), glatte Muskelzelle (Darm), Stück einer
doppeltcontourirten Nervenfaser. S. 11 - Fig. 6. Epiphysenknorpel vom Oberarm eines Kindes. S. 13
- Fig. 7. Rindenschicht eines Knollens von Solanum tuberosum. S. 17
- Fig. 8. Längsschnitt durch einen jungen Trieb von Syringa. (Aus Ver-
sehen steht im Texte Ligustrum). S. 18 - Fig. 9. Pathologische Knorpelwucherung aus Rippenknorpel. S. 19
- Fig. 10. Junge Eierstockseier vom Frosch. S. 20
- Fig. 11. Zellen aus katarrhalischem Sputum (Eiter- und Schleimkör-
perchen, Pigmentzelle). S. 21 - Fig. 12. Schema der Globulartheorie. S. 24
- Fig. 13. Schema der Umhüllungs- (Klümpchen-) Theorie. S. 24
- Fig. 14. Cylinderepithel der Gallenblase. S. 28
- Fig. 15. Uebergangsepithel der Harnblase. S. 28
- Fig. 16. Senkrechter Schnitt durch die Oberfläche der Haut der Zehe
(Epidermis, Rete Malpighii, Papillen). S. 30 - Fig. 17. Schematische Darstellung eines Längsdurchschnittes vom Na-
gel unter normalen und pathologischen Verhältnissen. S. 33 - Fig. 18. A. Entwickelung der Schweissdrüsen. B. Stück eines Schweiss-
drüsenkanals. S. 36 - Fig. 19. A. Bündel des gewöhnlichen Bindegewebes. B. Bindegewebs-
entwickelung nach dem Schema von Schwann. C. Bindegewebs-
entwickelung nach dem Schema von Henle. S. 38 - Fig. 20. Junges Bindegewebe vom Schweinsembryo. S. 40
- Fig. 21. Schema der Bindegewebsentwickelung. S. 40
- Fig. 22. Durchschnitt durch den wachsenden Knorpel der Patella. S. 41
- Fig. 23. Muskelprimitivbündel unter verschiedenen Verhältnissen. S. 46
- Fig. 24. Muskelemente aus dem Herzfleisch einer Puerpera. S. 47
- Fig. 25. Glatte Muskeln aus der Harnblase. S. 49
- Fig. 26. Kleinere Arterie aus der Basis des Grosshirns. S. 53
- Fig. 27. Schematische Darstellungen von Leberzellen. A. Physiolo-
gische Anordnung. B. Hypertrophie. C. Hyperplasie. S. 58 - Fig. 28. Stück von der Peripherie der Leber eines Kaninchens, die
Gefässe injicirt. S. 66 - Fig. 29. Natürliche Injection der Gefässe des Corpus striatum eines
Geisteskranken. S. 68 - Fig. 30. Injectionspräparat von der Muskelhaut des Magens. S. 69
- Fig. 31. Gefässe des Calcaneus-Knorpels vom Neugebornen. S. 70
- Fig. 32. Knochenschliff (Längsschnitt) aus der Rinde einer sklerotischen
Tibia. S. 72 - Fig. 33. Knochenschliff (Querschnitt). S. 72
- Fig. 34. Knochenkörperchen aus einem pathologischen Knochen der
Dura mater cerebralis. S. 73 - Fig. 35. Schliff aus einem neugebildeten Knochen der Arachnoides
cerebralis. S. 77 - Fig. 36. Längs- und Querschnitt aus der halbmondförmigen Bandscheibe
des Kniegelenkes vom Kinde. S. 79 - Fig. 37. Querschnitt aus der Achillessehne des Erwachsenen. S. 82
- Fig. 38. Querschnitt aus dem Innern der Achillessehne eines Neuge-
bornen. S. 83 - Fig. 39. Längsschnitt aus dem Innern der Achillessehne eines Neuge-
bornen. S. 84 - Fig. 40. Das abdominale Ende des Nabelstranges eines fast ausgetra-
genen Kindes, injicirt. S. 87 - Fig. 41. Querdurchschnitt vom Schleimgewebe des Nabelstranges. S. 89
- Fig. 42. Querdurchschnitt durch einen Theil des Nabelstranges. S. 90
- Fig. 43. Elastische Netze und Fasern aus dem Unterhautgewebe des
Bauches. S. 92 - Fig. 44. Injection der Hautgefässe, senkrechter Durchschnitt. S. 95
- Fig. 45. Schnitt aus der Tunica dartos. S. 96
- Fig. 46. Kleinere Arterie aus der Sehnenscheide der Extensoren. S. 101
- Fig. 47. A. Epithel von der Cruralarterie. B. Epithel von grösseren
Venen. S. 103 - Fig. 48. Epithel der Nierengefässe. A. Flache Spindelzellen vom Neu-
gebornen. B. Bandartige Epithelplatte vom Erwachsenen. S. 104 - Fig. 49. Ungleichmässige Zusammenziehung kleiner Gefässe aus der
Schwimmhaut des Frosches nach Reizung (Copie nach Wharton
Jones). S. 106 - Fig. 50. Geronnenes Fibrin aus menschlichem Blute. S. 122
- Fig. 51. Kernhaltige Blutkörperchen von einem sechs Wochen alten
menschlichen Fötus. S. 125 - Fig. 52. Blutkörperchen des Erwachsenen. S. 125
- Fig. 53. Hämatoidin-Krystalle. S. 129
- Fig. 54. Pigment aus einer apoplektischen Narbe des Gehirns. S. 130
- Fig. 55. Häminkrystalle aus menschlischem Blute. S. 131
- Fig. 56. Farblose Blutkörperchen. S. 134
- Fig. 57. Farblose Blutkörperchen bei variolöser Leukocytose. S. 135
- Fig. 58. Fibringerinsel aus der Lungenarterie und ein Korn, aus dicht-
gedrängten farblosen Blutkörperchen bestehend, bei Leukocytose. S. 137 - Fig. 59. Capillarstrom in der Froschschwimmhaut. S. 137
- Fig. 60. Schema eines Aderlassgefässes mit geronnenem hyperinotischem
Blut. S. 139 - Fig. 61. Durchschnitte durch die Rinde menschlicher Gekrösdrüsen. S. 157
- Fig. 62. Lymphkörperchen aus dem Innern der Lymphdrüsen-Follikel. S. 158
- Fig. 63. Eiterkörperchen und Kerne derselben bei Gonorrhoe. S. 161
- Fig. 64. Eingedickter, käsiger Eiter. S. 162
- Fig. 65. Eingedickter, zum Theil in Auflösung begriffener, hämorrha-
gischer Eiter aus Empyem. S. 163 - Fig. 66. In der Fettmetamorphose begriffener Eiter. S. 164
- Fig. 67. Durchschnitt durch die Rinde einer Axillardrüse bei Täto-
wirung der Haut des Arms. S. 166 - Fig. 68. Das mit Zinnober, nach Tätowirung des Arms, gefüllte Reti-
culum aus einer Axillardrüse. S. 167 - Fig. 69. Valvuläre Thrombose der Vena saphena. S. 178
- Fig. 70. Puriforme Detritusmassen aus erweichten Thromben. A. Kör-
ner des zerfallenden Fibrins. B. Die freiwerdenden, zum Theil in
der Rückbildung begriffenen Blutkörperchen. C. In der Entfärbung
begriffene und zerfallende Blutkörperchen. S. 179 - Fig. 71. Autochthone und fortgesetzte Thromben der Cruralvenen-
Aeste. S. 184 - Fig. 72. Embolie der Lungenarterie. S. 185
- Fig. 73. Ulceröse Endocarditis mitralis von einer Puerpera. S. 187
- Fig. 74—75. Capillarembolie in den Penicilli der Milzarterie nach
Endocarditis. S. 187 - Fig. 76. Melanämie. Blut aus dem rechten Herzen. S. 198
- Fig. 77. Querschnitt durch einen Nervenstamm des Plexus brachialis. S. 206
- Fig. 78. Graue und weisse Nervenfasern. S. 207
- Fig. 79. Markige Hypertrophie des Opticus innerhalb des Auges. S. 208
- Fig. 80. Tropfen von Markstoff. A. Aus der Markscheide von Hirn-
nerven nach Aufquellung durch Wasser. B. Tropfen aus zerfallendem
Epithel der Gallenblase. S. 210 - Fig. 81. Breite und schmale Nervenfasern mit unregelmässiger Auf-
quellung des Markstoffs. S. 211 - Fig. 82. Vater’sches oder Pacini’sches Körperchen aus dem Unterhaut-
fettgewebe der Fingerspitze. S. 214 - Fig. 83. Nerven- und Gefässpapillen der Haut der Fingerspitze. Tast-
körperchen. S. 216 - Fig. 84. Grundstock eines spitzen Condyloms vom Penis mit Papillar-
wucherung. S. 220 - Fig. 85. A. Verticaldurchschnitt durch die ganze Dicke der Retina.
B., C. Isolirte Radiärfasern. S. 223 - Fig. 86. Theilung einer Primitivnervenfaser. S. 226
- Fig. 87. Nervenplexus aus der Submucosa des Darms vom Kinde. S. 228
- Fig. 88. Elemente (Ganglienzellen und Nervenfasern) aus dem Ganglion
Gasseri. _ _ S. 231. - Fig. 89. Ganglienzellen aus den Centralorganen. A., B., C. Aus dem
Rückenmarke. D. Aus der Gehirnrinde. S. 234 - Fig. 90. Die Hälfte eines Querschnittes aus dem Halstheile des Rücken-
markes. S. 240 - Fig. 91. Schematische Darstellung des Nervenverhaltens in der Rinde
des Kleinhirns nach Gerlach. S. 243 - Fig. 92. Querdurchschnitt durch das Rückenmark von Petromyzon
fluviatalis. S. 244 - Fig. 93. Blasse Fasern aus dem Rückenmarke des Petromyzon flu-
viatilis. S. 245 - Fig. 94. Ependyma ventriculorum mit Neuroglia. ca. Corpora amy-
lacea. S. 248 - Fig. 95. Zellige Elemente der Neuroglia. S. 251
- Fig. 96. Schematischer Durchschnitt des Rückenmarkes bei partieller
grauer Atrophie. S. 253 - Fig. 97. Schema des Zustandes der Nerven-Molekeln, A. im ruhenden,
B. im elektrotonischen Zustande nach Ludwig. S. 261 - Fig. 98. Gewundenes Harnkanälchen aus der Rinde der Niere bei
Morbus Brightii. S. 267 - Fig. 99. Parenchymatöse Keratitis. S. 272
- Fig. 100. Senkrechter Durchschnitt der Hornhaut des Ochsen nach
His. S. 273 - Fig. 101. Flächenschnitt der Hornhaut, parallel der Oberfläche nach
His. S. 274 - Fig. 102. Parenchymatöse Keratitis. S. 275
- Fig. 103. Kerntheilung in den Elementen einer melanotischen Geschwulst
der Parotis. S. 276 - Fig. 104. Markzellen des Knochens nach Kölliker. S. 277
- Fig. 105. Kerntheilung in Muskelprimitivbündeln im Umfange einer
Krebsgeschwulst. S. 278 - Fig. 106. Intracapsuläre Zellenvermehrung in der mittleren Substanz
der Intervertebralknorpel. S. 280 - Fig. 107. Fettzellgewebe aus dem Panniculus. A. Das gewöhnliche
Unterhautgewebe mit Fettzellen. B. Atrophisches Fett. S. 291 - Fig. 108. Interstitielle Fettwucherung der Muskeln. S. 292
- Fig. 109. Darmzotten und Fettresorption. A. Normale Darmzotten.
B. Zotten im Zustande der Contraction. C. Menschliche Darmzotte
während der Chylusresorption, D. bei Chylusretention. S. 294 - Fig. 110. Die an einanderstossenden Hälften zweier Leberacini (Zonen
der Fett-, Amyloid- und Pigmentinfiltration). S. 298 - Fig. 111. Haarbalg mit Talgdrüsen von der äusseren Haut. S. 302
- Fig. 112. Milchdrüse in der Lactation, Milch, Colostrum. S. 302
- Fig. 113. Fettige Degeneration an Hirnarterien. A. Fettmetamorphose
der Muskelzellen in der Ringfaserhaut. B. Bildung von Fettkörnchen-
zellen in den Bindegewebskörperchen der Intima. S. 306 - Fig. 114. Fettmetamorphose des Herzfleisches in verschiedenen Sta-
dien. S. 309 - Fig. 115. Corpus luteum aus dem menschlichen Eierstock. S. 311
- Fig. 116. Verticalschnitt durch die Aortenwand an einer sklerotischen,
zur Bildung eines Atheroms fortschreitenden Stelle. S. 320 - Fig. 117. Der atheromatöse Brei aus einem Aortenheerde. aa' Flüssi-
ges Fett. b. Amorphe körnig-faltige Schollen. cc' Cholestearinkry-
stalle. S. 321 - Fig. 118. Verticaler Durchschnitt aus einer sklerotischen, sich fettig
metamorphosirenden Platte der Aorta (innere Haut). S. 323 - Fig. 119. Condylomatöse Excrescenzen der Valvula mitralis. S. 326
- Fig. 120. Geschichtete Prostata-Amyloide (Concretionen). S. 333
- Fig. 121. Amyloide Degeneration einer kleinen Arterie aus der Sub-
mucosa des Dünndarms. S. 336 - Fig. 122. Amyloide Degeneration einer Lymphdrüse. S. 343
- Fig. 123. Corpora amylacea aus einer erkrankten Lymphdrüse. S. 343
- Fig. 124. Wucherung (Proliferation) des wachsenden Diaphysenknor-
pels von der Tibia eines Kindes (Längsschnitt). S. 358 - Fig. 125. Endogene Neubildung, blasentragende Zellen (Physaliphoren).
A. Aus der Thymusdrüse eines Neugebornen. B. C. Krebszellen. S. 359 - Fig. 126. Verticalschnitt durch den Ossificationsrand eines wachsen-
den Astragalus (pathologische Reizung). S. 367 - Fig. 127—128. Horizontalschnitte durch den wachsenden Diaphysen-
knorpel der Tibia, menschlicher Fötus von 7 Monaten. S. 370 - Fig. 129. Demarcationsrand eines nekrotischen Knochenstückes bei Pae-
darthrocace, Knochenterritorien. S. 372 - Fig. 130. Periostwachsthum der Schädelkörnchen (Os parietale, Kind). S. 377
- Fig. 131—132. Weiches Osteom vom Kiefer einer Ziege. _ _ S. 381—382
- Fig. 133—134. Rachitische Diaphysenknorpel, markige und osteoide
Umbildung, Verkalkung und Verknöcherung. _ _ S. 386—387 - Fig. 135. In der Heilung begriffene Fractur des Oberarms, Callusbil-
dung. S. 390 - Fig. 136. Interstitielle Eiterbildung bei puerperaler Muskelentzündung. S. 395
- Fig. 137. Eiterige Granulation aus dem Unterhautgewebe des Kanin-
chens im Umfange eines Ligaturfadens. S. 400 - Fig. 138. Entwickelung von Krebs aus Bindegewebe bei Carcinoma
mammae. S. 403 - Fig. 139. Beginnendes Blumenkohlgewächs (Cancroid) des Collum uteri. S. 417
- Fig. 140. Entwickelung von Tuberkel aus Bindegewebe in der Pleura. S. 422
- Fig. 141. Cancroidzapfen aus einer Geschwulst der Unterlippe mit
Epidermis-Perlen. S. 428 - Fig. 142. Krebszellen. S. 429
- Fig. 143. Cancroid der Orbita. S. 429
- Fig. 144. Sarcoma mammae. S. 431
Erste Vorlesung.
10. Februar 1858.
Einleitung und Aufgabe. Bedeutung der [anatomischen] Entdeckungen in der Geschichte der
Medicin. Geringer Einfluss der Zellentheorie auf die Pathologie. Die Zelle als letztes
wirkendes Element des lebenden Körpers. Genauere Bestimmung der Zelle. Die Pflanzen-
zelle: Membran, Inhalt, Kern. Die thierische Zelle: die eingekapselte (Knorpel) und die
einfache. Der Zellenkern (Nucleus). Das Kernkörperchen (Nucleolus). Die Theorie der Zel-
lenbildung aus freiem Cytoblastem. Constanz des Kerns und Bedeutung desselben für die
Erhaltung der lebenden Elemente. Verschiedenartigkeit des Zelleninhalts und Bedeutung
desselben für die Function der Theile. Die Zellen als vitale Einheiten. Der Körper als
sociale Einrichtung. Die Cellularpathologie im Gegensatze zur Humoral- und Solidar-
pathologie.
Erläuterung einiger Präparate. Junge Pflanzentriebe. Pflanzenwachsthum. Knorpelwachs-
thum. Junge Eierstockseier. Junge Zellen im Auswurf.
Meine Herren, indem ich Sie herzlich willkommen heisse
auf Bänken, die Ihnen seit Langem ungewohnt sein werden,
so muss ich im Voraus bemerken, dass es nicht meine Unbe-
scheidenheit ist, welche Sie hierher berufen hat, sondern dass
ich nur dem wiederholt ausgesprochenen Wunsche vieler unter
Ihnen nachgegeben habe. Auch würde ich es nicht gewagt
haben, Ihnen Vorträge in der Weise anzubieten, wie ich sie
in meinen regelmässigen Cursen zu halten pflege, vielmehr
will ich den Versuch machen, in etwas mehr zusammenfassen-
der Art Ihnen die Entwicklung vorzuführen, welche ich selbst,
und, wie ich denke, welche auch die medicinische Wissenschaft im
Verlaufe der letzten Decennien gemacht hat. Schon in der
Ankündigung habe ich die Vorlesungen so bezeichnet, dass
ich neben die Pathologie die Histologie gestellt habe, aus
dem Grunde, weil ich voraussetzen zu müssen glaube, dass
1
[2]Erste Vorlesung.
vielen unter Ihnen, welchen vielleicht die neuesten histologi-
schen Wechsel nicht ganz geläufig sind, eigene Anschauungen
mikroskopischer Dinge nicht hinreichend zu Gebote stehen.
Da jedoch gerade auf solche Anschauungen die wichtigen
Schlüsse sich stützen, die wir gegenwärtig ziehen, so
werden Sie es verzeihen, wenn ich, ohne Rücksicht auf
diejenigen unter Ihnen, welche vollständig orientirt sind, mich
so anstelle, als ob Sie alle nicht ganz in den nöthigen Vor-
kenntnissen zu Hause wären.
Die gegenwärtige Reform der Medicin, die Sie alle mit erlebt
haben, ging wesentlich aus von neuen anatomischen Erfahrungen,
und auch das, was ich Ihnen vorzutragen habe, soll sich vorzüg-
lich auf anatomische Demonstrationen stützen. Aber es würde
für mich nicht ausreichen, wie es in dem letzten Jahrzehnt
gebräuchlich war, nur die pathologische Anatomie als Grund-
lage der Anschauung zu nehmen; wir müssen auch die allge-
mein-anatomischen Thatsachen hinzufügen, aus welchen die
augenblickliche Gestaltung der Wissenschaft gewonnen worden
ist. Die Geschichte der Medicin lehrt uns ja, wenn wir
nur einen einigermassen grösseren Ueberblick nehmen, dass zu
allen Zeiten die eigentlichen Fortschritte bezeichnet worden
sind durch anatomische Neuerungen, und dass jede grössere Phase
der Entwicklung zunächst eingeleitet worden ist durch eine Reihe
von bedeutenden Entdeckungen über den Bau des Körpers.
So ist es in der alten Zeit gewesen, als die Erfahrungen der
Alexandriner, zum ersten Male von der Anatomie des Menschen
ausgehend, das galenische System vorbereiteten, so im Mittel-
alter, als Vesal wiederum die Anatomie neu begründete und
damit die eigentliche Reform der Medicin begann, so endlich, als
Bichat die Grundsätze der allgemeinen Anatomie entwickelte.
Dasjenige, was Schwann gethan hat für die Gewebelehre,
das ist für die Pathologie bis jetzt sehr wenig ausgebaut
und entwickelt worden, und man kann sagen, dass nichts we-
niger in das allgemeine Bewusstsein eingedrungen ist, als die
Zellentheorie in ihrer nahen Beziehung zur Pathologie.
Wenn man den ausserordentlichen Einfluss erwägt, wel-
chen seiner Zeit Bichat auf die Gestaltung der ärztlichen
Anschauungen ausgeübt hat, so ist es in der That erstaunlich,
[3]Bedeutung der Zellentheorie.
dass eine so verhältnissmässig lange Zeit vergangen ist, seit-
dem Schwann seine grossen Entdeckungen machte, ohne dass
man die eigentliche Breite der neuen Thatsachen würdigte.
Es hat dies allerdings sehr wesentlich an der immer noch un-
vollständigen Kenntniss der feineren Einrichtung unserer Gewebe
gelegen, welche bis in die neueste Zeit bestanden hat, und
welche, wie wir leider zugestehen müssen, in manchen Theilen
der Histologie selbst jetzt noch in solchem Maasse herrscht,
dass man kaum weiss, für welche Ansicht man sich ent-
scheiden soll.
Besondere Schwierigkeiten hat die Beantwortung der
Frage gemacht, von welchen Theilen des Körpers eigentlich
die Action ausgeht, welcher Theil thätig, welcher leidend ist;
doch ist ein Abschluss darüber schon jetzt in der That voll-
ständig möglich, selbst bei solchen Theilen, über deren Struk-
tur noch gestritten wird. Es handelt sich bei dieser Anwen-
dung der Histologie auf Physiologie und Pathologie zunächst
um die Anerkennung, dass die Zelle wirklich das letzte eigent-
liche Form-Element aller lebendigen Erscheinung sei, und
dass wir die eigentliche Action nicht über die Zelle hinaus-
verlegen dürfen. Ihnen gegenüber werde ich mich nicht beson-
ders zu rechtfertigen haben, wenn ich in dieser Beziehung
etwas ganz Besonderes dem Leben vorbehalte. In der Folge
dieser Vorträge werden Sie sich überzeugen, dass man für
das Einzelne kaum mechanischer denken kann, als ich es zu
thun pflege, wo es sich darum handelt, Vorgänge, deren Er-
klärung wir suchen, zu deuten. Aber ich glaube, dass man
das festhalten muss, dass, wie viel auch von dem feineren Stoff-
Verkehr, der innerhalb der Zelle geschieht, jenseits des mate-
riellen Gebildes als Ganzen liegen mag, doch die eigentliche
Action von diesem Gebilde als solchem ausgehe, und dass das
lebende Element nur so lange wirksam ist, als es uns wirklich
als Ganzes, für sich bestehend, entgegentritt.
In dieser Frage kommt es zunächst darauf an, und Sie
werden mir verzeihen, wenn ich dabei etwas verweile, weil dies
ein Punkt ist, welcher noch jetzt streitig ist, dass wir feststel-
len, was man eigentlich unter einer Zelle zu verstehen habe.
Gleich im Anfang, als die neueste Phase der histologischen Ent-
1*
[4]Erste Vorlesung.
wicklung begonnen wurde, häuften sich grosse Schwierigkei-
ten, indem, wie Ihnen bekannt sein wird, Schwann, zunächst
auf den Schultern von Schleiden stehend, seine Beobachtun-
gen nach botanischen Mustern deutete, so dass alle Lehrsätze
der Pflanzen-Physiologie in einem nicht unerheblichen Maasse
entscheidend wurden für die Physiologie der thierischen Kör-
per. Die Pflanzenzelle in dem Sinne, wie man sie zu jener
Zeit ganz allgemein fasste, und wie sie auch gegenwärtig
häufig noch gefasst wird, ist aber ein Gebilde, dessen Identi-
tät mit dem, was wir thierische Zelle nennen, nicht ohne Wei-
teres zugestanden werden kann.
Wenn man von gewöhnlichem Pflanzenzellgewebe spricht,
so meint man im Allgemeinen damit ein Gewebe, das in sei-
ner einfachsten und regelmässigsten Form auf einem Querschnitt
(Fig. 1. a.) aus lauter vier- oder sechseckigen, wenn es etwas
loser ist, aus rundlichen oder polygonalen Körpern besteht, an
denen man stets eine ziemlich dicke,
derbe Wand (Membran) unter-
scheidet. Isolirt man einen einzel-
nen solchen Körper, so findet man
einen Hohlraum, umgeben von die-
ser derben, eckigen oder runden
Wand, in dessen Innerem je nach
Umständen sehr verschiedene Stoffe
abgelagert sein können, z. B. Fett,
Stärke, Pigment, Eiweiss (Zellen-
inhalt). Es hat sich frühzeitig herausgestellt, dass, ganz
abgesehen von diesen örtlichen Verschiedenheiten des Inhaltes,
[5]Die Pflanzenzelle.
die chemische Untersuchung an den zelligen Elementen meh-
rere verschiedene Stoffe nachzuweisen im Stande ist.
Die Substanz, welche die äussere Membran bildet, und welche
unter dem Namen der Cellulose bekannt ist, zeigt sich im All-
gemeinen als stickstofflos, und gibt die eigenthümliche, sehr
charakteristische, schön blaue Färbung bei Zusatz von Jod
und Schwefelsäure. (Jod allein gibt keine Färbung, die
Schwefelsäure für sich verkohlt.) Der Inhalt der Zellen dage-
gen wird nicht blau; wenn die Zelle recht einfach ist, so tritt
vielmehr durch die Einwirkung von Jod und Schwefelsäure
eine bräunliche oder gelbliche Masse hervor, die sich als be-
sonderer Körper im Inneren des Zellenraumes isolirt (Proto-
plasma) und an der sich eine zweite, faltige, häufig geschrumpfte
Haut (Primordialschlauch) erkennen lässt (Fig. 1. c.).
Auch die gröbere chemische Analyse zeigt an den einfachsten
Zellen gewöhnlich neben der stickstofflosen (äusseren) Sub-
stanz eine stickstoffhaltige (Inhalts-) Masse, und die Pflanzen-
Physiologie hatte somit ein Recht zu schliessen, dass das
eigentliche Wesen einer Zelle darin beruhe, dass innerhalb einer
stickstofflosen Membran ein von ihr differenter stickstoffhalti-
ger Inhalt vorhanden sei.
Man wusste freilich schon seit längerer Zeit, dass noch andere
Dinge sich im Innern der Zellen befinden, und es war eine
der folgenreichsten Entdeckungen, als Rob. Brown den Kern
(Nucleus) innerhalb der Zelle entdeckte. Aber man legte die-
sem Gebilde eine grössere Bedeutung für die Bildung als für
die Erhaltung der Zellen bei, weil in sehr vielen Pflanzen-
zellen der Kern äusserst undeutlich wird, in vielen ganz ver-
schwindet, während die Form der Zelle erhalten bleibt.
Mit solchen Erfahrungen kam man an die thierischen Ge-
webe, deren Uebereinstimmung mit den pflanzlichen Schwann
nachzuweisen suchte. Die eben besprochene Deutung der
gewöhnlichen pflanzlichen Zellenform diente als Ausgangspunkt.
Dies ist aber, wie die spätere Erfahrung gezeigt hat, in ge-
wissem Sinne irrig gewesen. Man kann die pflanzliche Zelle
in ihrer Totalität nicht mit jeder beliebigen thierischen zusam-
menstellen. Wir kennen an thierischen Zellen keine solche
Differenzen zwischen stickstoffhaltigen und stickstofflosen
[6]Erste Vorlesung.
Schichten; in allen wesentlich die Zelle constituirenden
Theilen kommen stickstoffhaltige Materien vor. Aber es
gibt allerdings gewisse Formen im thierischen Leibe, welche
an diese Formen der pflanzlichen Zellen unmittelbar erinnern,
und unter diesen ist keine so charakterisch als die Zellen-
formation im Knorpel, der seiner ganzen Erscheinung nach
von den übrigen Geweben des thierischen Leibes äusserst verschie-
den ist, und der namentlich durch seine Gefässlosigkeit eine
besondere Stellung einnimmt. Der Knorpel schliesst sich un-
mittelbar durch die Eigenthümlichkeit seiner Elemente an die
Pflanze an. An einer recht entwickelten Knorpelzelle erkennen
wir eine verhältnissmässig dicke
äussere Schicht, innerhalb welcher,
wenn wir recht genau zusehen, wie-
derum eine zarte Haut, ein Inhalt,
und ein Kern zu finden sind. Hier
haben wir allerdings ein Ge-
bilde, das der Pflanzenzelle durch-
aus entspricht.
Man hat aber gewöhnlich, wenn man den Knorpel schilderte,
das ganze eben beschriebene Ding (Fig. 2. a—d) ein Knorpelkörper-
chen genannt, und indem man dasselbe als analog den Zellen
anderer thierischer Theile auffasste, so ist man in Schwierig-
keiten gerathen, welche die Kenntniss des wahren Sachver-
hältnisses ungemein störten. Das Knorpelkörperchen ist nehm-
lich nicht als Ganzes eine Zelle, sondern die äussere Schicht,
die Capsel, ist das Produkt einer späteren Entwicklung (Ab-
sonderung, Ausscheidung). Im jungen Knorpel ist sie sehr
dünn, während auch die Zelle kleiner zu sein pflegt. Gehen
wir noch weiter in der Entwickelung zurück, so treffen wir
auch im Knorpel nichts als die einfache Zelle, dasselbe Ge-
bilde, welches auch sonst in thierischen Gebilden vorkommt,
und das jene äussere Absonderungsschicht nicht besitzt.
Sie sehen daraus, meine Herren, dass die Vergleichung
[7]Die Thierzelle.
zwischen thierischen und pflanzlichen Zellen, die wir allerdings
machen müssen, insofern unzulässig ist, als in den meisten
thierischen Geweben keine Formelemente gefunden werden, die
als Aequivalente der Pflanzenzelle in der alten Bedeutung die-
ses Wortes betrachtet werden können, dass insbesondere die
Cellulose-Membran der Pflanzenzelle nicht der thierischen Zell-
haut entspricht, und dass die letztere als stickstoffhaltig nicht
eine typische Verschiedenheit von der ersteren als stickstoff-
losen darbietet. Vielmehr treffen wir in beiden Fällen eine
Bildung, die wesentlich stickstoffhaltiger Natur und im Grossen
von übereinstimmender Zusammensetzung ist. Die sogenannte
Membran der Pflanzenzelle findet sich nur in einigen thieri-
schen Gebilden, z. B. im Knorpel wieder; die gewöhnliche
Membran der Thierzelle entspricht dem Primordialschlauch der
Pflanzenzelle. Erst wenn man diesen Standpunkt festhält,
wenn man von der Zelle Alles ablöst, was durch eine spätere
Entwicklung hinzugekommen ist, so gewinnt man ein einfaches,
gleichartiges, äusserst monotones Gebilde, welches sich mit
ausserordentlicher Constanz in den lebendigen Organismen wie-
derholt. Aber gerade diese Constanz ist das beste Kriterium
dafür, dass wir in ihm das eigentlich Elementare haben, wel-
ches alles Lebendige charakterisirt, ohne dessen Präexistenz
keine lebendigen Formen entstehen, und an welches der eigent-
liche Fortgang, die Erhaltung des Lebens gebunden ist. Erst
seitdem der Begriff der Zelle diese strenge Form angenommen
hat, und ich bilde mir etwas darauf ein, trotz des Vorwurfes
der Pedanterie stets daran festgehalten zu haben, erst seit die-
ser Zeit kann man sagen, dass eine einfache Form gewonnen
ist, die wir überall wieder aufsuchen können, und die, wenn
auch in Grösse und äusserer Gestaltung verschieden, doch in
ihren wesentlichen Bestandtheilen immer gleichartig ist.
An einer solchen einfachen Zelle unterscheiden wir ziem-
lich verschiedenartige Bestandtheile, und es ist wichtig, dass
wir auch diese genau auseinanderlegen.
Zuerst erwarten wir, dass innerhalb der Zelle ein Kern
sei. Von diesem Kerne, der in der Regel eine ovale oder
runde Form hat, wissen wir, dass er, zumal in jungen Ele-
menten eine grössere Resistenz gegen chemische [Einwirkun-]
[8]Erste Vorlesung.
gen besitze, als die äusseren Theile der Zelle, und dass er trotz
der grössten Variabilität der äusseren Gestalt der Zelle seine
Gestalt im Allgemeinen behaupte. Der Kern ist demnach der-
jenige Theil der Zelle, der mit grosser Constanz in allen For-
men unverändert wiederkehrt. Freilich gibt es einzelne Fälle,
welche durch die ganze Reihe der vergleichend-anatomischen
und pathologischen Thatsachen zerstreut liegen, in denen auch
der Kern zackig oder eckig erscheint, aber dies sind ganz sel-
tene Ausnahmen, gebunden an besondere Veränderungen, wel-
che das Element eingegangen ist. Im Allgemeinen kann
man sagen, dass so lange als es noch zu keinem Abschluss
des Zellenlebens gekommen ist, so lange als die Zellen sich
als lebenskräftige Elemente verhalten, die Kerne eine nahezu
constante Form besitzen.
Der Kern seinerseits enthält bei entwickelten Elementen
wiederum mit grosser Beständigkeit ein Gebilde in sich, das
sogenannte Kernkörperchen (Nucleolus). In Beziehung auf
die Frage von der vitalen Form kann man von dem Nucleo-
lus nicht sagen, dass er als ein nothwendiges Desiderat er-
scheine; in einer erheblichen Zahl von jungen Elementen ist
es noch nicht gelungen, ihn zu sehen. Dagegen treffen wir
ihn bei ganz entwickelten älteren Formen regelmässig, und
er scheint daher eine höhere Ausbildung des Elementes anzu-
zeigen. Nach der Aufstellung, welche ursprünglich von Schlei-
den gemacht, von Schwann acceptirt wurde, dachte man
sich lange Zeit das Verhältniss der drei coëxistenten Zellentheile
so, dass der Nucleolus bei der Entwickelung der Gewebe als
[9]Die Theorie der freien Zellenbildung.
das Erste aufträte, indem er sich aus einer Bildungsflüssig-
keit (Blastem, Cytoblastem) ausscheide, dass er schnell eine
gewisse Grösse erreiche, dass sich dann um ihn kleine Körn-
chen aus dem Blastem niederschlü-
gen, um die sich eine Membran
verdichte; damit wäre ein Nucleus
fertig, um den sich nun allmählich
neue Masse ansammle und seiner
Zeit eine kleine Membran erzeuge
(die berühmte Uhrglasform.) Diese
Darstellung der ersten Entwicklung von Zellen aus freiem Blas-
tem, wonach der Kern der Zellenbildung voraufgehen und als
eigentlicher Zellenbildner (Cytoblast) auftreten sollte, ist es,
welche man gewöhnlich unter dem Namen der Zellentheorie
(genauer Theorie der freien Zellenbildung) zusammenzufassen
pflegt, — eine Theorie der Entwicklung, welche fast vollständig
verlassen ist, und für deren Richtigkeit keine einzige Thatsache
mit Sicherheit beigebracht werden kann. In Beziehung auf
das Kernkörperchen ist vorläufig nur das festzuhalten, dass,
wenn wir entwickelte, grosse Zellen haben, wir fast constant
auch einen Nucleolus in ihnen sehen, dass dagegen bei vielen
jungen Elementen derselbe vermisst wird.
Sie werden späterhin eine Reihe von Thatsachen
der pathologischen und physiologischen Entwicklungsgeschichte
kennen lernen, welche es in hohem Grade wahrscheinlich
machen, dass der Kern eine ausserordentlich wichtige Rolle
innerhalb der Zelle spielt, eine Rolle, die, wie ich gleich her-
vorheben will, weniger auf die Function, die specifische Leis-
tung der Elemente sich bezieht, als vielmehr auf die Erhal-
tung und Vermehrung des Elementes als eines lebendigen
[10]Erste Vorlesung.
Theiles. Die specifische (im engern Sinne animalische) Function
zeigt sich am deutlichsten am Muskel, am Nerven, an der
Drüsenzelle; ihre besonderen Thätigkeiten der Contraction, der
Sensation, der Secretion, scheinen in keiner unmittelbaren
Weise mit den Kernen etwas zu thun zu haben. Aber dass
inmitten aller Function das Element ein Element bleibt, dass
es nicht vernichtet wird und zu Grunde geht unter der fort-
dauernden Thätigkeit, dies scheint wesentlich an die Thätig-
keit des Kerns gebunden zu sein. Alle diejenigen zelligen
Bildungen, welche ihren Kern verlieren, sehen wir mehr tran-
sitorisch zu Grunde gehen, sie verschwinden, sterben ab, lösen
sich auf. Ein menschliches Blutkörperchen z. B. ist eine Zelle
ohne Kern; es besitzt eine äussere Membran und einen rothen
Inhalt, aber damit ist seine Zusammensetzung, so weit man
sie erkennen kann, erschöpft, und was man vom Blutkörper-
chen-Kern beim Menschen erzählt hat, bezieht sich auf Täu-
schungen, welche allerdings sehr leicht und häufig hervorge-
bracht werden dadurch, dass kleine Unebenheiten der Ober-
fläche sich bilden. Man könnte daher nicht sagen, dass Blut-
körperchen Zellen seien, wenn wir nicht wüssten, dass eine
gewisse Zeit existirt, wo auch die menschlichen Blutkörper-
chen Kerne haben, nehmlich die Zeit innerhalb der ersten
Monate des intrauterinen Lebens. Hier cursiren auch beim
Menschen kernhaltige Blutkörperchen, wie man sie bei Frö-
schen, Vögeln, Fischen das ganze Leben hindurch sieht. Das
ist bei Säugethieren auf eine gewisse Zeit der Entwick-
lung beschränkt, so dass in der späteren Zeit die rothen
Blutkörperchen nicht mehr die volle Zellennatur an sich tra-
gen, sondern einen wichtigen Bestandtheil ihrer Zusammen-
setzung eingebüsst haben. Aber wir alle sind auch darüber
einig, dass gerade das Blut eines von den wechselnden Bestand-
theilen des Körpers ist, die keine Dauerhaftigkeit der Ele-
mente besitzen, von denen Jeder annimmt, dass ihre Theile
zu Grunde gehen und ersetzt werden durch neue, die wie-
derum der Vernichtung bestimmt sind, und die überall (wie
die obersten Epidermiszellen, in welchen wir auch keine Kerne
finden, so bald sie sich abschilfern) schon ein Stadium ihrer
Entwicklung erreicht haben, wo sie nicht mehr jener Dauer-
[11]Bedeutung des Zellenkerns und des Zelleninhalts.
haftigkeit der innereren Zusammensetzung bedürfen, als deren
Bürgen wir den Kern betrachten müssen.
Dagegen kennen wir, so vielfach auch gegenwärtig die
Gewebe untersucht sind, keinen Theil, der wächst, der sich
vermehrt, sei es physiologisch oder pathologisch, wo nicht mit
Nothwendigkeit kernhaltige Elemente als die Ausgangspunkte
der Veränderung nachweisbar wären, und wo nicht die ersten
entschiedenen Veränderungen, welche auftreten, den Kern selbst
betreffen, so dass wir aus seinem Verhalten oft bestimmen können,
was möglicher Weise aus den Elementen geworden sein würde.
Sie sehen nach dieser Darstellung, dass wenigstens zweier-
lei für die Zusammensetzung eines zelligen Elementes als
nothwendiges Desiderat verlangt werden muss, nämlich die
Membran, mag sie nun rund oder zackig oder sternförmig
sein, und der Kern, welcher von vorn herein eine andere
chemische Beschaffenheit besitzt als die Membran. Es ist in-
dess damit lange nicht alles Wesentliche erschöpft, denn die
Zelle ist ausser dem Kern gefüllt mit einer verhältnissmässig
grösseren oder kleineren Menge von Inhaltsmasse, und ebenso
in der Regel, wie es scheint, der Kern seinerseits, in der Art,
dass der Inhalt des Kerns wieder verschieden
zu sein pflegt von dem Inhalte der Zelle. In-
nerhalb der Zelle z. B. sehen wir Pigment,
ohne dass der Kern etwas davon enthielte.
Innerhalb einer glatten Muskelzelle wird die
contractile Substanz abgelagert, welche als
Trägerin der contractilen Kraft der Muskeln
erscheint; der Kern aber bleibt Kern. Das
zellige Element kann sich zu einer Nervenfa-
ser entwickeln, aber der Kern bleibt ausser-
halb des Markes als constantes Gebilde liegen.
Daraus geht hervor, dass die besonderen Eigen-
thümlichkeiten, welche die einzelnen Zellen an be-
sonderen Orten unter besonderen Bedingungen er-
reichen, im Allgemeinen gebunden sind an wech-
[12]Erste Vorlesung.
selnde Eigenschaften des Zelleninhalts, dass es nicht die bis jetzt be-
trachteten Bestandtheile (Membran und Kern), sondern der Inhalt
oder auch ausserhalb der Zelle abgelagerte Massen sind, wel-
che die functionelle (physiologische) Verschiedenheit der Ge-
webe bedingen. Für uns ist es wesentlich zu wissen, dass
innerhalb der verschiedensten Gewebe jene Bestandtheile, wel-
che die Zelle [gewissermassen] in ihrer abstracten Form dar-
stellen, Kern und Membran, mit grosser Beständigkeit wieder-
kehren, und dass durch ihre Zusammenfügung ein einfaches
Element gewonnen wird, welches durch die ganze Reihe der
lebendigen pflanzlichen und thierischen Gestaltungen, so äus-
serlich verschieden sie auch sein mögen, so sehr die innere
Zusammensetzung dem Wechsel unterworfen sein mag, eine
ganz besondere Formbildung als bestimmte Grundlage aller
Lebenserscheinungen erkennen lässt.
Meiner Auffassung nach ist dies der einzig mögliche Aus-
gangspunkt aller biologischen Doctrinen. Wenn eine bestimmte
Uebereinstimmung der elementaren Form durch die ganze
Reihe alles Lebendigen hindurchgeht, und wenn man vergeb-
lich in dieser Reihe nach irgend etwas Anderem sucht, was
an die Stelle der Zelle gesetzt werden könnte, so muss man
nothwendig auch jede höhere Ausbildung, sei es einer Pflanze
oder eines Thieres, zunächst betrachten als eine progressive
Summirung einer grösseren oder kleineren Zahl gleichartiger
oder ungleichartiger Zellen. Wie ein Baum eine in einer be-
stimmten Weise zusammengeordnete Masse darstellt, in wel-
cher als letzte Elemente an jedem einzelnen Theile, am Blatt
wie an der Wurzel, am Stamm wie an der Blüthe, zellige Ele-
mente erscheinen, so ist es auch mit den thierischen Gestalten.
Jedes Thier erscheint als eine Summe vitaler Einhei-
ten, von denen jede den vollen Charakter des Lebens an
sich trägt. Der Charakter und die Einheit des Lebens kann
nicht an einem bestimmten Punkte einer höheren Organisation
gefunden werden, z. B. im Gehirn des Menschen, sondern nur
in der bestimmten, constant wiederkehrenden Einrichtung, welche
jedes einzelne Element an sich trägt. Daraus geht hervor, dass
die Zusammensetzung eines grösseren Körpers immer auf eine
[13]Zellenterritorien und Intercellularsubstanz.
Art von gesellschaftlicher Einrichtung herauskommt, eine Ein-
richtung socialer Art, wo eine Masse von einzelnen Existen-
zen auf einander angewiesen ist, aber so, dass jedes Element für
sich eine besondere Thätigkeit hat, und dass jedes, wenn es
auch die Anregung zu seiner Thätigkeit von anderen Theilen
her empfängt, doch die eigentliche Leistung von sich ausge-
hen lässt.
Ich habe es deshalb für nothwendig erachtet, und ich glaube,
dass Sie Nutzen davon haben werden, den Körper zu zerlegen
in Zellenterritorien. Ich habe gesagt Territorien, weil wir
in der thierischen Organisation eine Eigenthümlichkeit finden,
welche in der Pflanze fast gar nicht zur Anschauung kommt,
nämlich die Entwicklung grosser Massen sogenannten inter-
cellularen Gewebes. Während die Pflanzenzellen in der
Regel mit ihren äusseren Absonderungsschichten unmittelbar
aneinander stossen, so jedoch, dass man immer noch die alten
Grenzen unterscheiden kann, so finden wir bei den thieri-
schen Geweben, dass diese Art der Anordnung die seltnere
ist. Hier treffen wir eine oft sehr reichliche Masse zwischen
den Zellen (Zwischensubstanz, Intercellularsubstanz),
aber wir können selten von vornherein übersehen, inwieweit
[14]Erste Vorlesung.
ein bestimmter Theil davon der einen, ein anderer der an-
deren Zelle angehöre.
Nach Schwann war die Intercellularsubstanz eine Art
von Cytoblastem, für die Entwicklung neuer Zellen bestimmt.
Dies halte ich nicht für richtig, vielmehr bin ich durch eine
Reihe von pathologischen Erfahrungen dahin gekommen, ein-
zusehen, dass die Intercellularsubstanz in einer bestimmten Ab-
hängigkeit von den Zellen sich befindet und dass es nothwen-
dig ist, auch in ihr Grenzen zu ziehen und zuzugestehen, dass
auch von der Intercellularsubstanz gewisse Bezirke der einen
und gewisse der andern Zelle angehören. Sie werden sehen,
wie pathologische Vorgänge diese Grenzen scharf markiren,
wie sich direkt zeigen lässt, dass ein bestimmtes Territorium
von Zwischensubstanz beherrscht wird von einem Zellen-Ele-
mente, welches in dessen Mitte gelegt ist und von welchem
Wirkungen auf die Nachbarschaft ausgehen
Es wird jetzt deutlich sein, wie ich mir die Zellen-Terri-
torien denke: Es gibt Gewebe, welche ganz aus Zellen be-
stehen, Zelle an Zelle gelagert. Hier kann über die Grenze
der einzelnen Zelle keine Schwierigkeit bestehen, aber es ist nö-
thig, hervorzuheben, dass auch in diesem Falle jede einzelne Zelle
ihre besonderen Wege gehen, ihre besonderen Veränderungen er-
fahren kann, ohne dass mit Nothwendigkeit das Geschick der zu-
nächstliegenden Zelle daran geknüpft ist. In andern Gewe-
ben dagegen, wo wir Zwischenmassen haben, versorgt die Zelle
ausser ihrem eignen Inhalt noch eine gewisse Menge von
äusserer Substanz, die mit an ihren Veränderungen Theil
nimmt, ja sogar häufig frühzeitiger afficirt wird, als das Innere der
Zelle, welches mehr gesichert ist durch seine Lagerung als die
äussere Zwischenmasse. Endlich gibt es eine dritte Reihe
von Geweben, deren Elemente untereinander in engeren Ver-
bindungen stehn. Es kann z. B. eine sternförmige Zelle mit
einer ähnlichen zusammenhängen, und dadurch eine netzför-
mige Anordnung entstehen, ähnlich der bei den Capillaren und ande-
ren analogen Gebilden. In diesem Falle könnte man glauben,
dass die ganze Reihe beherrscht werde von irgend Etwas, was
wer weiss wie weit entfernt liegt, indessen bei genauerem
Studium ergibt sich, dass selbst in diesen kettenartigen Ele-
[15]Die Cellularpathologie.
menten eine gewisse Unabhängigkeit der einzelnen Glieder
besteht, und dass diese Unabhängigkeit sich äussert, indem
unter gewissen äusseren oder inneren Einwirkungen das Ele-
ment nur innerhalb seiner Grenzen gewisse Veränderungen er-
fährt, ohne dass die nächsten Elemente dabei betheiligt zu sein
brauchen.
Das Angeführte wird zunächst genügen, um Ihnen zu zei-
gen, in welcher Weise ich es für nothwendig erachte, die pa-
thologischen Erfahrungen auf bekannte histologische Elemente
zurückzuführen, warum es mir nicht genügt z. B. von einer
Thätigkeit der Gefässe zu sprechen oder von einer Thätig-
keit der Nerven, sondern warum ich es für nothwendig er-
achte, neben Gefässen und Nerven die grosse Zahl von kleinen
Theilen ins Auge zu fassen, welche eigentlich die Hauptmasse
der Körpersubstanz ausmachen. Es genügt nicht, dass man,
wie es seit langer Zeit geschieht, die Muskeln als thätige
Elemente daraus ablöst; innerhalb des grossen Restes, der ge-
wöhnlich als eine träge Masse betrachtet wird, findet sich
noch eine ungeheure Zahl wirksamer Theile.
In der Entwicklung, welche die Medicin bis in die letzte
Zeit genommen hat, finden wir den Streit zwischen den humo-
ralen und solidaren Schulen der alten Zeit immer noch erhal-
ten. Die humoralen Schulen haben im Allgemeinen das
meiste Glück gehabt, weil sie die bequemste Erklärung und
in der That die plausibelste Deutung der Krankheitsvorgänge
gebracht haben. Man kann sagen, dass fast alle glücklichen
Praktiker und bedeutenden Kliniker mehr oder weniger humo-
ralpathologische Tendenzen gehabt haben; ja diese sind so
populär geworden, dass es jedem Einzelnen äusserst schwer
wird, sich aus ihnen zu befreien. Die solidarpathologischen
Ansichten sind mehr eine Liebhaberei speculativer Forscher
gewesen und nicht sowohl aus dem unmittelbaren pathologi-
schen Bedürfnisse, als vielmehr aus physiologischen und philo-
sophischen, selbst aus religiösen Speculationen hervorgegangen.
Sie haben den Thatsachen Gewalt anthun müssen, sowohl in
der Anatomie als in der Physiologie, und haben daher nie-
mals eine ausgedehnte Verbreitung gefunden. Meiner Auffas-
sung nach ist der Standpunkt beider Lehren ein unvollständi-
[16]Erste Vorlesung.
ger; ich sage nicht ein falscher, weil er eben nur falsch
ist in seiner Exclusion; er muss zurückgeführt werden auf
gewisse Grenzen, und man muss sich erinnern, dass neben
Gefässen und Blut, neben Nerven und Centralapparaten noch
andere Dinge existiren, die nicht ein blosses Substrat der
Einwirkung von Nerven und Blut sind, auf welchem diese
ihr Wesen treiben.
Wenn man nun fordert, dass die medicinischen An-
schauungen auch auf dieses Gebiet sich übertragen sollen,
wenn man andererseits verlangt, dass auch innerhalb der
humoral- und neuropathologischen Vorstellungen man sich
schliesslich erinnern soll, dass das Blut aus vielen
einzelnen für sich bestehenden Theilen besteht, dass das
Nervensystem aus vielen Sonderbestandtheilen zusammenge-
setzt ist, so ist dies eine Forderung, die freilich auf den
ersten Blick manche Schwierigkeiten bietet. Aber wenn Sie
sich erinnern, dass man Jahre lang nicht bloss in den Vor-
lesungen, sondern auch am Krankenbette von der Thätig-
keit der Capillaren gesprochen hat, einer Thätigkeit, die
Niemand gesehen hat, die eben nur auf bestimmte Doctri-
nen hin angenommen worden ist, so werden Sie es nicht
unbillig finden, dass Dinge, die wirklich zu sehen sind, ja
die, wenn man sich übt, selbst dem unbewaffneten Auge
nicht selten zugängig sind, gleichfalls in den Kreis des
ärztlichen Wissens und Denkens aufgenommen werden. Von
Nerven hat man nicht nur gesprochen, wo sie nicht dar-
gestellt waren; man hat sie einfach supponirt, selbst in
Theilen, wo bei den sorgfältigsten Untersuchungen sich
nichts von ihnen hat nachweisen lassen; man hat sie wirk-
sam sein lassen an Punkten, wohin sie überhaupt gar nicht
vordringen. So ist es denn gewiss eine billige Forderung,
dass dem grösseren Theile des Körpers eine gewisse An-
erkennung werde, und wenn diese Anerkennung zugestanden
wird, dass man sich nicht mehr mit der blossen Ansicht
der Nerven als ganzer Theile, als eines zusammenhängen-
den einfachen Apparates, oder des Blutes als eines blos flüs-
sigen Stoffes begnüge, sondern dass man auch innerhalb des Blu-
[17]Pflanzenwachsthum.
tes und des Nervenapparates eine Masse wirksamer kleiner
Centren zulasse.
Zum Schlusse habe ich noch einige Präparate zu er-
läutern: Ich fange mit einem sehr gewöhnlichen Objecte
an. Es ist von einem Kartoffelknollen hergenommen, an einer
Stelle, wo Sie die vollkommene Structur einer Pflanzenzelle
übersehen können: da, wo der Knollen anfängt, einen neuen
Schoss zu treiben, wo also die Wahrscheinlichkeit besteht,
dass man junge Zellen finden wird, vorausgesetzt, dass das
Wachsthum überhaupt in der Entwicklung neuer Zellen be-
steht. Im Innern des Knollens sind bekanntlich alle Zellen
mit Amylonkörnern vollgestopft; an dem jungen Schoss da-
gegen wird in dem Maasse, als er wächst, das Amylon
verbraucht, und die Zelle zeigt sich wieder in ihrer reine-
ren Gestalt. Auf einem Querschnitte durch einen jungen
Schössling nahe an seinem Austritte aus dem Knollen un-
terscheidet man etwa vier verschiedene Lagen: die Rinden-
schicht, dann eine Schicht grösserer Zellen, dann eine Schicht
kleinerer Zellen, und zuinnerst wieder eine Lage von grösseren.
Hier sieht man lauter regelmässige Gebilde; dicke Kapseln
von sechseckiger Gestalt, und im Innern derselben einen oder
ein Paar Kerne (Fig. 1) Gegen die Rinde (Korkschicht) hin
sind die Zellen viereckig und je weiter nach aussen, um so
platter, aber auch in ihnen erkennt
man bestimmt Kerne. Ueberall, wo die
sogenannten Zellen zusammenstos-
sen, ist zwischen ihnen eine Scheide-
grenze zu erkennen; dann kommt
die dicke Celluloseschicht, in welcher
feine Streifen zu erkennen sind, und
im Innern der Höhle sehen Sie eine
zusammengesetzte Masse, in welcher
2
[18]Erste Vorlesung.
leicht ein Kern mit Kernkörperchen zu unterscheiden ist,
und in der nach Anwendung von Reagentien auch der
Primordialschlauch (Utriculus) als eine gefaltete, runzlige
Haut zum Vorschein kommt. Es ist dies die vollendete
Form der Pflanzenzelle. In den benachbarten Zellen liegen
einzelne grössere, matt glänzende, geschichtete Körper: die
Reste von Stärkemehl. — Das folgende Object ist mir des-
halb von Bedeutung, weil ich später darauf Bezug zu neh-
men habe beim Vergleich mit thierischen Neubildungen. Es
ist ein Längsschnitt aus der jungen Knospe eines Ligustrum-
Strauches, wie ihn die warmen Tage des Februar entwickelt
haben. In der Knospe sind schon eine Menge von jungen
Trieben angelegt, jeder aus zahlreichen jungen Zellen zu-
sammengesetzt. In diesen jüng-
sten Theilen bestehen die äussern
Schichten aus ziemlich regelmässi-
gen Zellenlagen, die mehr platt
viereckig erscheinen, während in
den inneren Lagen die Zellen mehr
gestreckt sind, und in einzelnen
Abschnitten die Spiralfasern auf-
treten. Namentlich mache ich Sie
aufmerksam auf die kleinen Aus-
wüchse, welche überall am Rande
hervortreten, ganz ähnlich gewis-
sen thierischen Excrescenzen, z. B.
an den Zotten des Chorions, wo
sie die Orte bezeichnen, an wel-
chen die jungen Aeste hervortre-
ten werden. An einzelnen Stellen
unseres Ligustrum-Objectes finden
sich nämlich kleine, kolbige Zapfen,
die sich in gewissen Abständen
wiederholen, nach Innen mit den
[19]Knorpelwachsthum.
Zellenreihen des Parenchyms zusammenhängend. Dies sind
Bildungen, an denen man am besten die feineren Formen der
Zelle unterscheiden und zugleich die eigenthümliche Art des
Wachsthums entdecken kann. Das Wachsthum geht so vor
sich, dass an einzelnen zelligen Elementen eine Theilung ein-
tritt und sich eine quere Scheidewand bildet; die Theile wach-
sen als selbständige Elemente fort und vergrössern sich nach und
nach. Nicht selten treten auch Längstheilungen ein, so dass
die Theile dicker werden. Jeder Zapfen ist also ursprünglich
eine Zelle, die, indem sie sich quertheilt und immer wieder
quertheilt, ihre Glieder vorwärts schiebt und dann bei Gele-
genheit auch seitlich sich ausbreitet. In dieser Weise wach-
sen die Zapfen hervor, und dies ist im Allgemeinen der Mo-
dus des Wachsthums nicht nur in der Pflanze, sondern auch
in den physiologischen und pathologischen Bildungen des thie-
rischen Leibes.
Beim folgenden Präparate, einem Stück Rippenknorpel im
Stadium des pathologischen Wachsthums, erscheinen schon
Veränderungen für das blosse
Auge: kleine Buckel auf der
Fläche des Knorpels. Dem ent-
sprechend zeigt das Mikroskop
Wucherungen der Knorpelzellen.
Hier finden sich dieselben For-
men wie bei den Pflanzenzellen,
grössere Gruppen von zelligen
Elementen, welche in mehrfachen
Reihen angeordnet sind; mit dem
einzigen Unterschiede von den
wuchernden Pflanzenzellen, dass
immer länger werden (b) und durch Längstheilung sich verdicken (c).
B. die Gefässschicht mit Spiralfasern. C. einfache, viereckige, längliche
Zellen. — Pflanzenwachsthum.
Knorpelwucherung aus dem Rippenknorpel eines Erwach-
senen. Grössere Gruppen von Knorpelzellen innerhalb einer gemeinschaft-
lichen Umgrenzung (falschlich sogenannte Mutterzelle), durch successive
Theilungen aus einzelnen Zellen hervorgegangen. Am Rande davon ist
eine solche Gruppe durchschnitten, in der man eine Knorpelzelle mit
mehrfacher Umlagerung von Kapselschichten (äusserer Absonderungs-
masse) sieht. Vergröss. 300.
2*
[20]Erste Vorlesung.
zwischen den einzelnen Gruppen Intercellularsubstanz vorhan-
den ist. An den Zellen unterscheidet man wieder die äussere
Kapsel, die sogar an einzelnen Zellen mehrfach geschichtet
ist, in 2-, 3- und mehrfacher Lage, und darin erst kommt die
eigentliche Zelle mit Membran, Inhalt, Kern und Kernkörperchen.
In dem folgenden Objecte sehen Sie junge Eierstockseier
des Frosches, bevor die Abscheidung der Dotterkörner begon-
nen hat. Die sehr grosse Eizelle enthält einen gleichfalls sehr
grossen Kern, in dem eine Menge von kleinen Bläschen ver-
theilt sind, und einen ziemlich dicken, trüben Inhalt, der an
einer bestimmten Stelle körnig und braun zu werden anfängt.
Um sie herum bemerkt man das verhältnissmässig schwache
Bindegewebe des Graff’schen Follikels, mit einem schwer zu
erkennenden Epithelial-Stratum. Daneben liegen mehrere
kleinere Eier, welche das allmählige Wachsthum erkennen
lassen.
Junge Eierstockseier vom Frosch. A. eine ganz junge
Eizelle. B. eine grössere. C. eine noch grössere mit beginnender Ab-
scheidung brauner Körnchen an dem einen Pol (e) und mit äusserer Einfal-
tung der Zellmembran durch Eindringen von Wasser. a. Membran
des Follikels. b. Zellmembran. c. Kernmembran. d. Kernkörperchen.
S. Eierstock. Vergröss. 150.
[21]Grosse und kleine Thierzellen.
Im Gegensatze zu diesen colossalen Zellen lege ich Ihnen
noch ein klinisches Object vor: Zellen von einem frischen ka-
tarrhalischen Sputum. Sie sehen im Verhältniss sehr kleine
Elemente, die sich bei stärkerer Vergrösserung als vollkom-
men runde Formen darstellen, und an denen man,
nach Einwirkung von Wasser und Reagentien,
deutlich eine Membran, Kerne und einen im fri-
schen Zustande trüben Inhalt unterscheidet. Die
meisten von den kleinen Elementen gehören nach
der gewöhnlichen Terminologie in die Reihe der
Eiterkörperchen; die grösseren, als Schleimkörperchen oder
katarrhalische Zellen zu bezeichnen, enthalten zum Theil Fett
oder grauschwarzes Pigment in Form von Körnern.
Diese Formen haben, so klein sie sind, doch die ganze
typische Eigenthümlichkeit der grossen; alle Zellencharaktere
der grossen finden sich an ihnen wieder. Das ist aber mei-
nes Erachtens das Wesentliche, dass, wir mögen nun die gros-
sen oder die kleinen, die pathologischen oder physiologischen
Zellen zusammenhalten, wir dies Uebereinstimmende immer
wiederfinden.
Zellen aus frischem katarrhalischen Sputum. A. Eiter-
körperchen. a. ganz frisch. b. nach Behandlung mit Essigsäure: in der
Membran ist der Inhalt aufgeklärt und man sieht drei kleine Kerne.
B. Schleimkörperchen. a. einfaches. b. mit Pigmentkörnchen. Vergr. 300.
[[22]]
Zweite Vorlesung.
17. Februar 1858.
Falsche Ansicht von der Zusammensetzung der Gewebe und Fasern aus Kügelchen (Elementar-
körnchen). Die Umhüllungstheorie. Generatio aequivoca der Zellen. Das Gesetz von der
continuirlichen Entwicklung.
Allgemeine Classifikation der Gewebe. Die drei allgemein-histologischen Kategorien. Die
speziellen Gewebe. Die Organe und Systeme oder Apparate.
Die Epithelialgewebe. Platten-, Cylinder- und Uebergangsepithel. Epidermis und Rete Mal-
pighii. Nagel- und Nagelkrankheiten. Linse. Pigment. Drüsenzellen.
Die Gewebe der Bindesubstanz. Die Theorien von Schwann, Henle und Reichert
Meine Theorie. Das Bindegewebe als Intercellularsubstanz. Der Knorpel (hyaliner, Faser-
und Netzknorpel). Das Schleimgewebe. Das Fettgewebe. Anastomose der Elemente: saft-
führendes Röhren- oder Kanalsystem.
Ich hatte Ihnen, meine Herren, in der ersten Vorlesung die all-
gemeinen Gesichtspunkte über die Natur und Entstehung der
zelligen Elemente vorgeführt. Gestatten Sie mir jetzt, unsere
weiteren Betrachtungen mit einer Uebersicht der thierischen Ge-
webe überhaupt zu beginnen, und zwar sowohl in physiologischer,
als pathologischer Beziehung.
Die wesentlichen Hindernisse, welche bis in die letzte Zeit
in dieser Richtung bestanden, waren nicht so sehr patho-
logische. Ich bin überzeugt, man würde mit den pathologischen
Verhältnissen ungleich leichter fertig geworden sein, wenn es
nicht bis vor Kurzem unter die Unmöglichkeiten gehört hätte,
eine einfache Uebersicht der physiologischen Gewebe zu liefern.
Die alten Anschauungen, welche zum Theil noch aus dem vori-
gen Jahrhundert überkommen waren, haben gerade in dem-
jenigen Gebiete, welches pathologisch das wichtigste ist, so sehr
vorgewaltet, dass noch jetzt eine allgemeine Einigung nicht
[23]Die Elementarfaser und das Elementarkügelchen.
gewonnen ist, und dass Sie genöthigt sein werden, sich durch
die Anschauung der Objecte selbst ein Urtheil darüber zu bilden,
in wie weit das zuverlässig ist, was ich Ihnen mitzutheilen
habe.
Wenn Sie die Elementa physiologiae von Haller lesen, so
treffen Sie an die Spitze des ganzen Werkes, wo von den Ele-
menten des Körpers gehandelt wird, die Faser gestellt. Haller
gebraucht dabei den sehr charakteristischen Ausdruck, dass die
Faser, fibra, für den Physiologen sei, was die Linie für den
Geometer.
Diese Auffassung ist bald weiter ausgedehnt worden, und
die Lehre, dass für fast alle Theile des Körpers die Faser
als Grundlage diene, dass die Zusammensetzung der mannig-
fachsten Gewebe in letzter Instanz auf die Faser zurückführe,
ist namentlich bei dem Gewebe, wo, wie sich ergeben hat, die
pathologische Schwierigkeit am meisten concentrirt lag, bei dem
sogenannten Zellgewebe, am längsten festgehalten worden.
Im Laufe des letzten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts
begann indess schon eine gewisse Reaction gegen diese Faser-
lehre, und in der Schule der Naturphilosophen kam frühzeitig
ein anderes Element zu Ehren, das aber in einer vielmehr spe-
culativen Weise begründet wurde, nämlich das Kügelchen.
Während die Einen immer noch an der Faser fest hielten, so
glaubten Andere, z. B. Milne Edwards, so weit gehen zu dürfen,
auch die Faser wieder aus linear aufgereihten Kügelchen zusam-
mengesetzt zu denken. Diese Auffassung ist zum Theil hervor
gegangen aus unzweifelhaften optischen Täuschungen bei der
mikroskopischen Beobachtung. Die schlechte Methode, welche
während des ganzen vorigen Jahrhunderts und eines Theiles des
gegenwärtigen bestand, dass man im vollen Sonnen-Licht beob-
achtete, brachte fast in alle mikroskopischen Objecte eine gewisse
Dispersion des Lichtes, und der Beobachter bekam den Ein-
druck, als sähe er weiter nichts, als Kügelchen. Andererseits
entsprach aber auch diese Anschauung den naturphilosophischen
Vorstellungen von der ersten Entstehung alles Geformten.
Diese Kügelchen (Körnchen, Moleküle) haben sich son-
derbarer Weise auch in der modernen Histologie immer noch
erhalten, und es giebt wenige histologische Werke, welche
[24]Zweite Vorlesung.
nicht mit den Elementarkörnchen anfingen. Hier und da sind
noch vor nicht langer Zeit diese Ansichten von der Kugel-
natur der Elementartheile so überwiegend gewesen, dass auf sie
die Zusammensetzung, sowohl der ersten Gewebe im Embryo,
als auch der späteren begründet wurde. Man dachte sich, dass
eine Zelle in der Weise entstände, dass die Kü-
gelchen sich sphärisch zur Membran ordneten, in-
nerhalb deren sich andere Kügelchen als Inhalt er-
hielten. Noch von Baumgärtner und Arnold ist
in diesem Sinne gegen die Zellentheorie gekämpft
worden.
In einer gewissen Weise hat diese Auffassung
sogar in der Entwicklungsgeschichte eine Stütze gefunden:
in der sogenannten Umhüllungstheorie, — einer Auf-
assung, die eine Zeit lang stark in den Vordergrund
getreten war. Danach dachte man sich, dass während
ursprünglich eine Menge von Elementar-Kügelchen zer-
streut vorhanden wäre, diese sich unter bestimmten Ver-
hältnissen zusammenlagerten, nicht in Form blasiger Mem-
branen, sondern zu einem compacten
Haufen, einer Kugel, und dass diese
Kugel der Ausgangspunkt der weiteren
Bildung werde, indem sich durch Diffe-
renzirung der Masse, durch Apposition
oder Intussusception aussen eine Membran, innen ein Kern bilde.
Gegenwärtig kann man weder die Faser noch das Kü-
gelchen oder das Elementarkörnchen als einen histologischen
Ausgangspunkt betrachten. So lange als man sich die Ent-
stehung von lebendigen Elementen aus vorher nicht geform-
ten Theilen, also aus Bildungsflüssigkeiten oder Bildungstoffen
(plastischer Materie, Blastem, Cytoblastem) hervor-
gehend dachte, so lange konnte irgend eine dieser Auffassungen
allerdings Platz finden, aber gerade hier ist der Umschwung, den
Schema der Globulartheorie. a. Faser aus linear aufge-
gereihten Elementarkörnchen (Molecularkörnchen). b. Zelle mit Kern und
sphärisch geordneten Körnchen.
Schema der Umhüllungs (Klümpchen-) Theorie. a. getrennte
Elementarkörnchen. b. Körnchenhaufen (Klümpchen). c. Körnchenzelle
mit Membran und Kern.
[25]Das Gesetz der continuirlichen Entwicklung.
die allerletzten Jahre gebracht haben, am ausgesprochensten
gewesen. Auch in der Pathologie können wir gegenwärtig
so weit gehen, dass wir es als allgmeines Princip hinstellen,
dass überhaupt keine Entwicklung de novo beginnt,
dass wir also auch in der Entwicklungsgeschichte
der einzelnen Theile, gerade wie in der Entwicklung
ganzer Organismen, die Generatio aequivoca zurück-
weisen. So wenig wir noch annehmen, dass aus saburralem
Schleim ein Spulwurm entsteht, dass aus den Resten einer
thierischen oder pflanzlichen Zersetzung ein Infusorium oder
ein Pilz oder eine Alge sich bilde, so wenig lassen wir in
der physiologischen oder pathologischen Gewebelehre es zu, dass
sich aus irgend einer unzelligen Substanz eine neue Zelle auf-
bauen könne. Wo eine Zelle entsteht, da muss eine Zelle
vorausgegangen sein, ebenso wie das Thier nur aus dem
Thiere, die Pflanze nur aus der Pflanze entstehen kann. Auf
diese Weise ist, wenngleich es einzelne Punkte im Kör-
per gibt, wo der strenge Nachweis noch nicht geliefert ist,
doch das Princip gesichert, dass in der ganzen Reihe alles
Lebendigen, dies mögen [nun] ganze Pflanzen oder thierische Or-
ganismen oder integrirende Theile derselben sein, ein ewiges
Gesetz der continuirlichen Entwicklung besteht. Es
gibt keine Discontinuität der Entwicklung in der Art, dass
eine neue Generation von sich aus eine neue Reihe von
Entwicklungen begründete. Alle entwickelten Gewebe kön-
nen weder auf ein kleines, noch auf ein grosses einfaches
Element zurückgeführt werden, es sei denn auf die Zelle
selbst. In welcher Weise diese continuirliche Zellenwuche-
rung, denn so kann man den Vorgang bezeichnen, vor sich
gehe, das werden wir später betrachten; für heute lag mir
nur daran, zunächst das zurückzuweisen, dass man als Grund-
lage für irgend eine Auffassung über die Zusammensetzung der
Gewebe jene Theorien von einfachen Fasern oder einfachen Kü
gelchen (Elementarfibern oder Elementarkörnchen) annehmen
dürfe. —
Will man die normalen Gewebe classificiren, so ergibt
sich im Grossen ein sehr einfacher Gesichtspunkt, auf Grund
dessen man die Gewebe in drei Kategorien eintheilt.
[26]Zweite Vorlesung.
Entweder hat man Gewebe, welche einzig und allein aus
Zellen bestehen, wo Zelle an Zelle liegt, also in dem modernen
Sinne Zellgewebe. Oder wir finden Gewebe, wo regelmässig
eine Zelle von der andern getrennt ist durch eine gewisse
Zwischenmasse (Intercellularsubstanz), wo also eine Art von
Bindemittel existirt, welches die einzelnen Elemente in sicht-
barer Weise aneinander, aber auch auseinander hält. Hierher
gehören die Gewebe, welche man heut zu Tage gewöhnlich
unter dem Namen der Gewebe der Bindesubstanz zusammen-
fasst, und in welche als Hauptmasse dasjenige eintritt, was
man früherhin allgemein Zellgewebe nannte. Endlich gibt
es eine dritte Gruppe von Geweben, in welchen specifische
Ausbildungen der Zellen Statt gefunden haben, vermöge
deren sie eine ganz eigenthümliche Einrichtung erlangt haben,
zum Theil so eigenthümlich, wie sie eben der thierischen
Oekonomie einzig und allein zukommt. Diese Gewebe sind
es, welche eigentlich den Charakter des Thieres ausmachen, wenn-
gleich einzelne unter ihnen Uebergänge zu Pflanzenformen darbie-
ten. Hierher gehören die Nerven- und Muskelapparate, die Gefässe
und das Blut. Damit ist die Reihe der Gewebe abgeschlossen.
Sie müssen nun weiter ins Auge fassen, worin bei die-
ser Zusammenfassung der histologischen Erfahrungen der
Gegensatz gegen dasjenige liegt, was man früher, nament-
lich nach dem Vorgange von Bichat, als Gewebe betrach-
tet hat. Die Gewebe von Bichat würden zu einem grossen
Theile nicht so sehr dasjenige darstellen, was wir heute als die Ge-
genstände der allgemeinen Histologie betrachten, sondern vielmehr
das, was wir als den Inhalt der speziellen Histologie bezeichnen
müssen. Denn wenn man die Gewebe im älteren Sinne nimmt,
wenn man z. B. die Sehnen, die Knochen, die Fascien von
einander trennt, so gibt dies eine ausserordentliche Mannigfal-
tigkeit von Kategorien, (Bichat hatte deren 21,) aber es ent-
sprechen ihnen nicht eben so viele einfache Gewebsformen.
In dem modernen Sinne würde das ganze [anatomische] Ge-
biet sich zunächst zerlegen lassen nach allgemein-histologi-
schen Kategorien (eigentliche Gewebe). Die specielle Histologie
beschäftigt sich sodann mit dem Falle, wo eine Zusammenfügung
von zum Theil sehr verschiedenartigen Geweben zu einem ein-
[27]Histologische Classification.
zigen Ganzen (Organ) Statt findet. Wir sprechen also z. B.
von Knochengewebe, allein dieses Gewebe, die Tela ossea im
allgemein histologischen Sinne, bildet für sich keinen Knochen,
denn kein Knochen besteht durch und durch aus Tela ossea,
sondern es gehören dazu mit einer gewissen Nothwendigkeit
mindestens Periost und Gefässe. Ja, von dieser einfachen
Vorstellung eines Knochens differirt die jedes grösseren z. B.
eines Röhrenknochens; dies ist ein wirkliches Organ, in dem
wir wenigsten vier verschiedene Gewebe unterscheiden. Wir
haben da die eigentliche Tela ossea, die Knorpellage, die
Bindegewebschicht des Periosts, das eigenthümliche Markge-
webe. Innerhalb dieser einzelnen Theile findet sich wieder
eine innere Verschiedenartigkeit der Theile, indem z. B. Ge-
fässe und Nerven mit in die Zusammensetzung des Markes,
der Beinhaut u. s. f. eingehen. Alles dies zusammenge-
nommen, gibt erst den vollen Organismus eines Knochens.
Bevor man also zu den eigentlichen Systemen oder Appa-
raten, dem speziellen Vorwurf der descriptiven Anatomie kommt,
hat man eine ganze Reihe von Gradationen zu durchlaufen,
und man muss sich bei Diskussionen immer erst klar werden,
was in Frage ist. Wenn man Knochen und Knochengewebe
zusammenwirft, so gibt dies die allergrösste Verwirrung, ebenso,
wenn man Nerven- und Gehirn-Masse identificiren will. Das
Gehirn enthält viele Dinge, die nicht nervös sind, und seine
physiologischen und pathologischen Zustände lassen sich nicht
begreifen, wenn man sie auf eine Zusammenordnung rein
nervöser Theile bezieht, und wenn man nicht auf die Häute, die
Zwischenmasse, die Gefässe neben den Nerven Rücksicht nimmt.
Betrachten wir nun die erste Reihe von allgemein-histologi-
schen Theilen etwas genauer, die einfachen Zellen-Gewebe, so
ist unzweifelhaft das Uebersichtlichste die Epithelialfor-
mation, wie wir sie in der Epidermis und dem Rete Mal-
pighii an der äussern Oberfläche, im Cylinder- und Platten-
epithelium auf den Schleim- und serösen Häuten antreffen. Das
allgemeine Schema ist hier, dass Zelle an Zelle liegt, so dass
in dem günstigsten Falle auch hier, wie bei der Pflanze, vier-
oder sechseckige Zellen unmittelbar sich an einander schlies-
[28]Zweite Vorlesung.
sen und zwischen ihnen nichts Anderes weiter gefunden
wird. So ist es an manchen Orten mit dem Platten-
oder Pflasterepithel. Diese Formen sind offenbar grossentheils
Druckwirkungen. Wenn alle Elemente eines zelligen Ge-
webes eine vollkommene Regelmässigkeit haben sollen, so
setzt dies voraus, dass sich alle Elemente völlig gleich-
mässig und gleichzeitig vergrössern. Geschieht ihre Ent-
wicklung unter Verhältnissen, wo nach einer Seite hin
ein geringerer Widerstand besteht, so kann es sein,
dass die Elemente, wie bei den Säulen- oder Cylinder-
epithelien, in einer Richtung auswachsen und sehr lang
werden, während sie in den anderen Richtungen sehr schmal
bleiben. Aber auch ein solches
Element, auf einem Querschnitt
betrachtet, wird sich wieder als
ein sechseckiges darstellen: wenn
wir Cylinder-Epithel von der
freien Fläche her betrachten, so
sehen wir auch bei ihm wieder
regelmässig polygonale Formen.
Im Gegensatze dazu finden
sich ausserordentlich unregel-
mässige Formen an solchen Or-
ten, wo die Zellen in unregel-
mässiger Weise hervorwachsen,
so besonders constant an der
Oberfläche der Harnwege, in
der ganzen Ausdehnung von
den Nierenkelchen bis zur
Urethra. An allen diesen Stellen
Säulen- oder Cylinderepithel der Gallenblase, a. Vier
zusammenhängende Zellen, von der Seite gesehen, mit Kern und Kern-
körperchen, der Inhalt leicht längs gestreift, am freien Rande (oben) ein
dickerer, fein radiär gestreifter Saum. b. Aehnliche Zellen, halb von der
freien Fläche (oben, aussen) gesehen, um die sechseckige Gestalt des
Querschnittes und den dicken Randsaum zu zeigen. c. durch Imbibition
veränderte, etwas autgequollene und am oberen Saum aufgefaserte Zellen.
Uebergangsepithel der Harnblase. a. eine grössere, am
Rande ausgebuchtete Zelle mit ansitzenden keulen- und spindelförmigen,
feineren Zellen. b. dasselbe; die grössere Zelle mit zwei Kernen. c. eine
[29]Epithelialgewebe.
ist es sehr gewöhnlich, dass man Anordnungen findet, wo
z. B. die Zelle an dem einen Ende rund erscheint, wäh-
rend sie an dem anderen in eine Spitze ausläuft, oder wo das
Element als eine ziemlich grobe Spindel sich darstellt, oder
wo es an einer Seite platt abgerundet, an der anderen ausge-
buchtet ist, oder wo eine Zelle sich so zwischen andere
einschiebt, dass sie eine kolbige oder zackige Form annimmt.
Aber auch hier entspricht immer die eine Zelle in der Form
der anderen, und es ist nicht die Eigenthümlichkeit der Zelle,
welche die Form bedingt, sondern die Art ihrer Lagerung, das
Nachbarverhältniss, die Rücksicht auf die Anordnung der näch-
sten Theile. In der Richtung des geringeren Widerstandes
bekommen die Zellen Spitzen, Zacken und Hervorragungen
der mannigfaltigsten Art. Man nannte sie, da sie sich nicht
recht classificiren liessen, mit Henle Uebergangs-Epithel, weil
sie in deutliches Platten- und Cylinderepithel übergehen. Zu-
weilen ist dies aber nicht der Fall und man könnte ebenso
gut einen anderen Namen dafür einführen.
Um der Wichtigkeit des Gegenstandes willen, will ich
nur noch Einiges hinzufügen in Beziehung auf die Ober-Haut
(Epidermis). An dieser haben wir den günstigen Fall, dass
viele Zellenlagen über einander liegen, was an vielen Schleim-
häuten nicht der Fall ist, und dass die jungen Lagen (das
Rete Malpighii) von den älteren (der eigentlichen Epi-
dermis) sich leicht und bequem trennen lassen.
Wenn man einen senkrechten Durchschnitt der Hautober-
fläche betrachtet, so bekommt man zumeist nach aussen ein
sehr dichtes, verschieden dickes Stratum zu sehen, welches auf
den ersten Blick aus lauter platten Elementen besteht, die von der
Seite her wie Linien aussehen. Man könnte sie für Fasern halten,
welche übereinander geschichtet sind und mit leichten Niveau-
Verschiedenheiten das ganze äussere Stratum zusammensetzen.
Unterhalb dieser Lagen finden wir in einer verschiedenen
grössere, unregelmässig eckige Zelle mit vier Kernen. d. eine ähnliche
mit zwei Kernen und 9 von der Fläche aus gesehenen Gruben, den
Randausbuchtungen entsprechend (vgl. Archiv f. path. Anat. u. Phys.
Bd. III. Taf. I. Fig. 8.).
[30]Zweite Vorlesung.
Dicke und Mächtigkeit das sogenannte Rete Malpighii und auf
dies folgend nach unten die Papillen der Haut. Unter-
suchen wir nun die Grenze zwischen Epidermis und Rete, so
ergibt sich fast bei allen Arten der Betrachtung, dass mit einer
grossen Bestimmtheit und Plötzlichkeit an die innerste Lage
der Epidermis sich Elemente anschliessen, die zunächst auch
noch immer platt sind, aber doch schon eine grössere Dicke
haben, und innerhalb deren man sehr deutlich Kerne erkennt.
Diese ziemlich grossen Elemente stellen den Uebergang dar
Senkrechter Schnitt durch die Oberfläche der Haut von
der Zehe, mit Essigsäure behandelt. P, P Spitzen durchschnittener Pa-
pillen, in denen man je eine Gefässschlinge und daneben kleine spindel-
förmige und an der Basis netzförmige Bindegewebselemente bemerkt;
links eine Ausbiegung der Papille, entsprechend einem nicht mehr dar-
gestellten, tiefer gelegenen Tastkörperchen. R, R das Rete Malpighii,
zunächst an der Papille eine sehr dichte Lage kleiner cylinderförmiger
Zellen (r, r), nach aussen immer grösser werdende polygonale Zellen.
E Epidermis, aus platten, dichteren Zellenlagen bestehend. S, S ein
durchtretender Schweisskanal. — Vergrösserung 300.
[31]Epidermis und Nagel.
von den ältesten Schichten des Rete Malpighii zu den jüng-
sten der Epidermis. Hier ist der Punkt, von wo aus sich die
Epidermis regenerirt, welche ihrerseits eine träge Masse dar-
stellt, die an der Oberfläche allmählig entfernt wird. Und
hier ist im Allgemeinen auch die Grenze, wo die pathologi-
schen Prozesse gewöhnlich einsetzen. Je weiter wir nach In-
nen kommen, um so kleiner werden die Elemente; die
letzten stehen gewöhnlich als kleine Cylinder auf der Ober-
fläche der Papillen.
Im Allgemeinen ist das Verhältniss der einzelnen Theile
an der ganzen Hautoberfläche überall dasselbe, so mannigfaltig
auch im Detail die Besonderheiten sein können, welche die
einzelnen Schichten in Beziehung auf Dicke, Lagerung, Festig-
keit und Zusammenfügung darbieten. Ein Durchschnitt z. B.
des Nagels, der seiner äusseren Erscheinung nach gewiss weit
von der gewöhnlichen Oberhaut abweicht, zeigt doch im Gros-
sen dasselbe Bild, und unterscheidet sich nur in einem Punkte
wesentlich, nämlich dadurch, dass sich an ihm zwei verschie-
dene epidermoidale Gebilde übereinanderschieben und eine
Complication entsteht, die, wenn man sie nicht berücksichtigt,
gewisse specifische Verschiedenheiten von andern Theilen der
Epidermis darzustellen scheint, die aber doch auf ein eigen-
thümliches Dislocationsverhältniss gewisser Partien sich zurück-
führen lässt. Die äusserst dichten und festen Elemente, welche
den oberen Theil, das sogenannte Nagelblatt, zusammen-
setzen, lassen sich durch verschiedene Methoden ebenfalls wie-
der in Formen zurückführen, in denen sie die gewöhnlichen
Erscheinungen einer Zelle darbieten; am meisten sehen wir
bei Behandlung mit einem Alkali, dass ein jedes Blättchen
zu einer grossen, rundlich ovalen Zelle anschwillt.
In den obersten Schichten der Oberhaut werden die Zel-
len überall platter, und später findet man gar keine Kerne
mehr. Es besteht also kein ursprünglicher Unterschied zwi-
schen der Epidermis und dem Rete Malpighii, sondern das
letztere erscheint eben nur als die Bildungsstätte der Epidermis
oder als die jüngste Epidermislage selbst, insofern nämlich
von hier aus immer neue Theile sich ansetzen, sich abplatten,
und in die Höhe rücken, in dem Maasse als aussen durch
[32]Zweite Vorlesung.
Friction der Oberfläche, durch Waschen, Reiben einzelne Theile
verloren gehen. Zwischen der untersten Schicht des Rete und
der Oberfläche der Cutis aber gibt es keine Zwischenlage
mehr; es findet sich hier keine amorphe Flüssigkeit, kein
Blastem, das in sich die Zellen bilden könnte, sondern die
Zellen sitzen direct auf der Bindegewebspapille der Cutis auf.
Es ist also hier nirgends ein Raum, wie man noch vor Kur-
zem dachte, in welchem aus den Papillen und den in ihnen
enthaltenen Gefässen Flüssigkeit transsudirte, aus der neue
Elemente entständen und hervorwüchsen. Davon ist absolut
nichts wahrnehmbar, sondern durch die ganze Reihe der Zel-
lenlagen des Rete und der Epidermis besteht dasselbe Verhält-
niss, wie man es an der Rinde eines Baumes kennt. Die
Rindenschicht einer Kartoffel (Fig. 7) zeigt in gleicher Weise aussen
korkhaltige epidermoidale Elemente und darunter eine Lage
wie das Rete Malpighii, mit kernhaltigen Zellen, welche die
Matrix des Nachwuchses für die Rinde darstellen.
Sehr ähnlich verhält es sich am Nagel. Betrachtet man
den Durchschnitt von einem Nagel, quer auf die Längsrichtung
des Fingers, so sieht man an sich dieselbe Bildung, wie an
der gewöhnlichen Haut, nur entspricht die einzelne Ausbuchtung
der unteren Fläche nicht einer zapfenförmigen Verlängerung der
Cutis, einer Papille, sondern einer Leiste, welche über die ganze
Länge des Nagelbettes hinläuft. Auf dieser sitzt das mehr cylindrisch
gestaltete jüngste Lager des Rete Malpighii auf; dann schlies-
sen sich immer grössere Elemente an, und endlich folgt die
eigentlich feste Substanz, welche der Epidermis entspricht
Es ist nun, um dies gleich vorweg zu nehmen, da wir
auf den Nagel nicht wieder zu sprechen kommen werden, seine Zu-
sammensetzung in der Art schwierig zu ermitteln gewesen, als
man ihn sich als einfaches Gebilde gedacht hat. Daher ha-
ben sich die Discussionen hauptsächlich um die Frage gedreht,
wo die Matrix des Nagels sei, ob er von der ganzen Fläche
wachse oder von dem kleinen Falz, auf welchem er hinten
aufsitzt. Wenn man den Nagel in seiner eigentlichen festen
Masse betrachtet, das compacte Nagelblatt, so wächst dies
nur von hinten her und schiebt sich über die Fläche des so-
genannten Nagelbettes hinweg, aber das Nagelbett producirt
[33]Der Nagel.
auch seinerseits eine bestimmte Masse von Gewebs-Partikeln,
die als Aequivalente einer Epidermis-Lage zu betrachten ist,
Macht man einen Durchschnitt durch die Mitte eines Nagels,
so kommt man zu äusserst auf die von hinten gewachsene
Nagelschicht, dann auf die Substanz, welche von dem Nagel-
bett abgesondert ist, dann auf das Rete Malpighii, und end-
lich auf die Leisten, auf welchen der Nagel ruht.
Demnach liegt der Nagel bis zu einem gewissen Maasse
locker, und er kann sich daher leicht vorwärts bewegen, in-
dem er auf einer beweglichen Unterlage liegt; gehalten wird
er durch die Leisten, womit das Nagelbett besetzt ist. Wenn
man quer durch den Nagel einen Durchschnitt macht, so zeigt
sich, dass. wie schon erwähnt, im Grunde dasselbe Bild her-
auskommt, welches die Haut darbietet, nur dass jedesmal einer
einzelnen Papille eine lange Leiste entspricht; der untere Theil
des Nagels hat entsprechend diesen
Leisten leichte Ausbuchtungen, so dass
er, indem er über die Leisten fortglei-
tet, seitliche Bewegungen nur inner-
halb gewisser Grenzen machen kann.
Auf diese Weise bewegt sich das von
hinten wachsende Nagelblatt über ein
Polster von lockerer Epidermis-Masse,
(Fig. 17a.) in Rinnen, welche durch
Leisten und Falten des Nagelbettes
gegeben sind. Der obere Theil des
Nagels, frisch untersucht, besteht aus
einer so dichten Masse von Substanz,
dass man einzelne Zellen daran kaum
zu unterscheiden im Stande ist, und
dass man an gewissen Punkten ein
Schematische Darstellung des Längsdurchschnittes vom
Nagel. a das normale Verhältniss: leicht gekrümmtes, horizontales Na-
gelblatt, in seinem Falze steckend und durch ein schwaches Polster von
dem Nagelbette getrennt. b stärker gekrümmtes und etwas dickeres
Nagelblatt mit stark verdicktem Polster und stärker gewölbtem Nagel-
bette, der Falz kürzer und weiter. c Onychogryphosis: das kurze und
dicke Nagelblatt steil aufgerichtet, der Falz kurz und weit, das Nagel-
bett auf der Fläche eingebogen, das Polster sehr dick und aus über ein-
ander geschichteten Lagen von lockeren Zellen bestehend.
3
[34]Zweite Vorlesung.
Bild bekommt, wie an manchen Stellen im Knorpel. Aber
durch die Behandlung mit Kali kann man sich überzeugen,
dass die Masse aus lauter Epidermis-Zellen besteht. Aus dieser
Art der Entwicklung werden Sie sehen, wie sich die Krank-
heiten des Nagels in leicht fasslicher Weise scheiden lassen.
Wir haben Krankheiten des Nagelbettes, welche das
Wachsthum des Nagelblattes nicht alteriren, aber Dislocationen
desselben bedingen können. Wenn auf dem Nagelbette eine
sehr reichliche Entwicklung statt findet, so kann das Nagel-
blatt in die Höhe gehoben werden (Fig. 17 b.), ja es kommt
zuweilen vor, dass das Nagelblatt, statt horizontal, senkrecht
in die Höhe wächst, und der Raum unter ihm von dicken
Anhäufungen der lockeren Polstermasse erfüllt wird (Fig 17 c.).
So können Eiterungen auf dem Nagelbette statt finden,
ohne dass die Entwicklung des Nagelblattes dadurch gehindert
wird. Die sonderbarsten Veränderungen zeigen sich bei den
Pocken. Wenn eine Blatter auf dem Nagelblatt sich bildet,
so bekommt der Nagel nur eine gelbliche, etwas unebene
Stelle; entwickelt sich dagegen die Pocke auf dem Nagelfalze, so
sieht man auf dem Nagel das Bild der Pocke in einer kreis-
förmig vertieften, wie ausgeschnittenen Stelle, in einen Beweis
des Ausfalls von Elementen, grade wie auf der Epidermis. —
Ich will heute, meine Herren, in die besondere Ge-
schichte der Epidermis- und Epithel-Bildung, obwohl sie eine
grosse Wichtigkeit für die Auffassung vieler pathologischer
Prozesse hat, nicht weiter eingehen, und nur hervorheben,
dass unter besonderen Verhältnissen die epithelialen Ele-
mente eine Reihe von Umwandlungen erfahren können, wo-
durch sie ihrem ursprünglichen Habitus ausserordentlich un-
ähnlich werden und allmählig Erscheinungsformen annehmen,
die ohne die Kenntniss der Entwicklungsgeschichte es un-
möglich machen, ihre ursprüngliche Epidermis-Natur zu ver-
anschaulichen. Die am meisten abweichende Art findet
sich an der Krystalllinse des Auges, welche ursprünglich
eine reine Epidermis-Anhäufung ist. Sie entsteht bekanntlich
dadurch, dass sich ein Theil der Haut von aussen sackförmig
einstülpt. Anfangs bleibt durch eine leichte Membran die
Verbindung mit den äusseren Theilen erhalten, durch die Mem-
[35]Linse. Pigment. Drüsenzellen.
brana capsulo-pupillaris, später atrophirt diese und lässt die
abgeschlossene Linse im Innern des Auges liegen. Die Lin-
senfasern sind also weiter nichts, wie schon C. Vogt zeigte,
als epidermoidale Elemente mit eigenthümlicher Entwicklung,
und die Regeneration derselben z B. nach Extraction der
Cataract ist nur so lange möglich, als noch Epithel an der
Capsel vorhanden ist, welches den Neubau übernimmt und
gleichsam ein dünnes Lager von Rete Malpighii darstellt.
Dies reproducirt in derselben Weise die Linse, wie das ge-
wöhnliche Rete Malpighii der Oberfläche die Epidermis. —
Unter den sonstigen Veränderungen epithelialer Gebilde wer-
den wir noch gelegentlich auf die eigenthümlichen Pigment-
Zellen zurückkommen, die an den verschiedensten Punkten
aus der directen Umwandlung von Epidermis-Elementen her-
vorgehen, indem sich der Inhalt entweder durch Imbibition
färbt oder in sich durch eine (metabolische) Umsetzung des
Inhalts Pigment erzeugt. —
An die Geschichte der eigentlichen Epithelial-Elemente
schliesst sich unmittelbar an eine besondere Art von Bildun-
gen, die bei dem Zustandekommen der Functionen des Thiers
eine sehr bedeutende Rolle spielen, nämlich die Drüsen.
Die eigentlich aktiven Elemente der Drüsen sind wesent-
liche epitheliale. Es ist eins der grössesten Verdienste von
Remak, gezeigt zu haben, dass in der normalen Entwicklung
des Embryo von den bekannten drei Keimblättern das äussere
und innere wesentlich epitheliale Gebilde hervorbringen, von
denen durch allmählige Wucherung die Drüsen-Gestaltung aus-
geht. Schon andere Forscher hatten ähnliche Beobachtungen
gemacht, z. B. Kölliker, aber die allgemeine Doctrin wurde
erst von Remak begründet, dass, wo sich Drüsen bilden, dies
als ein directer Wucherungsprozess der Epithelial-Gebilde zu
betrachten ist. Früher dachte man sich Cytoblastem-Haufen,
in denen unabhängig Drüsenmasse entstände; allein mit Aus-
nahme der Lymph- und Sexualdrüsen entstehen sämmtliche
Drüsen in der Weise, dass an einem gewissen Punkt in ähn-
licher Art, wie ich es Ihnen in der vorigen Vorlesung für den
Auswuchs der Pflanzen gezeigt habe, eine epitheliale Zelle an-
fängt sich zu theilen, sich wieder und wieder theilt, bis all-
3*
[36]Zweite Vorlesung.
mählig ein kleiner Zapfen von zelligen Elementen nach innen
wächst und, sich seitlich ausbreitend, die Entwicklung der
Drüse hervorbringt, welche demnach sofort ein Continuum mit
ursprünglich äusseren Lagen darstellt. So entstehen die Drü-
sen der Oberfläche (die Schweiss- und Talgdrüsen der Haut,
die Milchdrüse), so entstehen aber auch die inneren Drüsen
des Digestionstractus (Magendrüsen, Leber). Die einfachsten
Formen, welche an sich die Drüse darbieten kann, kommen
überhaupt beim Menschen nicht vor. Man lernte in neuerer
Zeit einzellige Drüsen bei niederen Thieren kennen. Die
menschlichen Drüsen sind stets Summen von vielen Elementen,
die man aber zuletzt eben auch auf ein ziemlich Einfaches re-
duciren kann. Dazu kommt, dass in unsern Drüsen bei der
Grösse und Zusammensetzung derselben gewöhnlich noch an-
dere nothwendige Bestandtheile in die Zusammensetzung ein-
gehen, und dass die Drüse, als Organ betrachtet, allerdings
nicht blos aus Drüsenzellen besteht. Aber darüber ist man ge-
genwärtig ziemlich einig, dass das wesentliche Element die
Drüsenzellen sind, ebenso wie bei den Muskeln das Muskel-
primitivbündel, und dass die specifische Action der Drüse in
A. Entwicklung der Schweissdrüsen durch Wucherung der
Zellen des Rete Malpighii nach innen. e Epidermis, r Rete Malpighii,
g g solider Zapfen, der ersten Drüsenanlage entsprechend. Nach Köl-
liker.
B. Stück eines Schweissdrüsenkanals im entwickelten Zustande.
t t Tunica pro pria. e e Epithellagen.
[37]Drüsen. Bindegewebe.
der Natur und eigenthümlichen Einrichtung dieser Elemente
begründet ist.
Im Allgemeinen bestehen also Drüsen aus Anhäufun-
gen von Zellen, welche in der Regel offene Kanäle bilden.
Wenn man von den Drüsen mit zweifelhafter Function (Schild-
drüse, Nebennieren) absieht, so gibt es beim Menschen nur
die Eierstöcke, welche eine Ausnahme machen, indem ihre
Follikel nur zu Zeiten offen sind, aber auch sie müssen offen
sein, wenn die specifische Secretion der Eier stattfinden soll.
Bei den meisten Drüsen kommt freilich noch eine gewisse
Menge transsudirter Flüssigkeit hinzu, doch diese Flüssigkeit
stellt nur das Vehikel dar, welches die Elemente selbst oder
ihre specifischen Produkte wegschwemmt. Gesetzt also, es
löst sich z. B. in den Hodenkanälen eine Zelle ab, in welcher
Samenfäden entstehen, so transsudirt zugleich eine gewisse
Menge von Flüssigkeit, welche dieselben fortschiebt, aber das,
was den Samen zum Samen macht und was das Specifische
der Thätigkeit gibt, ist die Zellenfunction; die blosse Trans-
sudation von Gefässen aus ist wohl ein Mittel zur Fortbewe-
gung, gibt aber nicht die specifische Thätigkeit der Drüse,
die eigentliche Secretion. Analog geht im Wesentlichen an
allen Drüsen, an denen wir mit Bestimmtheit das Einzelne
ihrer Thätigkeit übersehen können, die wesentliche Eigenthüm-
lichkeit der Energie von der Entwicklung und Umgestaltung
der epithelialen Elemente aus. —
Die zweite histologische Gruppe bilden die Gewebe der
Bindesubstanz. Es ist dies der Punkt, der gerade für
mich das meiste Interesse hat, weil von hier aus meine eige-
nen Anschauungen zu dem Resultate gekommen sind, das ich
im Eingange hervorhob. Die Aenderungen, welche es mir ge-
lungen ist, in der histologischen Auffassung der ganzen Gruppe
herbeizuführen, haben mir zugleich die Möglichkeit gegeben,
die Cellulardoctrin zu einer gewissen Abrundung zu bringen.
Früher betrachtete man das Bindegewebe als wesentlich
aus Fasern zusammengesetzt. Wenn man lockeres Bindege-
webe an verschiedenen Regionen, z. B. der Unterhaut, der
Pia mater, dem subserösen und submucösen Zellgewebe unter-
[38]Zweite Vorlesung.
sucht, so findet man lockige Faserbündel, sogenanntes lockiges
Bindegewebe. Diese lockige Beschaffenheit, die sich in ge-
wissen Abständen wiederholt, so dass dadurch eine Art von
Fascikeln entsteht, glaubte man um so bestimmter auf einzelne
Fasern zurückführen zu können, als in der That an dem Ende
eines jeden Bündels isolirte Fäden herausstehen. Trotzdem
ist gerade auf diesen Punkt vor etwas länger als zehn Jahren
ein Angriff gemacht worden, der in einer anderen, als der
beabsichtigten Beziehung eine sehr grosse Bedeutung gehabt
hat. Reichert suchte zu zeigen, dass diese Fasern nur der
optische Ausdruck von Falten seien, und dass das Bindegewebe
an allen Orten eine homogene Masse bilde, mit grosser Nei-
gung zur Faltenbildung versehen.
Schwann hatte für die Bildung des Bindegewebes an-
genommen, dass ursprünglich zellige Elemente von spindelför-
miger Gestalt vorhanden wären, die nachher so berühmt ge-
wordenen geschwänzten Körperchen (fibroplastischen Kör-
per Lebert’s) und dass aus solchen Zellen unmittelbar Fascikel
von Bindegewebe in der Weise hervorgingen, dass der Körper
A. Bündel von gewöhnlichem lockigem Bindegewebe (In-
tercellularsubstanz), am Ende in feine Fibrillen zersplitternd.
B. Schema der Bindegewebs-Entwicklung nach Schwann. a Spin-
delzelle (geschwänztes Körperchen, fibroplastisches Körperchen Lebert)
mit Kern und Kernkörperchen. b Zerklüftung des Zellkörpers in Fibrillen.
C. Schema der Bindegewebs-Entwicklung nach Henle. a Hyaline
Grundsubstanz (Blastem) mit regelmässig eingestreuten, nucleolirten Ker-
nen. b Zerfaserung des Blastems (directe Fibrillenbildung) und Umwand-
tung der Kerne in Kernfasern.
[39]Theorie des Bindegewebes.
der Zelle in einzelne Fibrillen sich zerspalte, während der
Kern als solcher liegen bliebe (Fig. 19 B.). Henle dagegen
glaubte aus der Entwicklung schliessen zu müssen, dass ur-
sprünglich gar keine Zellen vorhanden seien, sondern in dem
Blastem nur Kerne in gewissen Abständen vertheilt seien; die
späteren Fasern sollten durch eine directe Zerklüftung des
Cytoblastems entstehen. Während so die Zwischenmasse sich
differenzire in Fasern, sollten die Kerne sich allmählig ver-
längern und endlich aneinanderstossen, so dass daraus eigen-
thümliche Längsfasern entständen, Kernfasern (Fig. 19 C.).
Reichert hat gegenüber diesen Ansichten einen ausserordent-
lich wichtigen Schritt gethan. Er bewies nämlich, dass aller-
dings ursprünglich Zellen in grosser Masse vorhanden sind,
zwischen welchen Intercellularmasse abgelagert werde. Zu
einer gewissen Zeit verschmölze aber die Membran der Zelle
mit dem Intercellular-Gewebe, und es komme nun ein Stadium,
dem von Henle beschriebenen analog, wo keine Grenze zwi-
schen der alten Zelle und der Zwischenmasse mehr existire.
Endlich sollten auch die Kerne in einigen Formen gänzlich
verschwinden, in andern sich erhalten. Dagegen läugnete
Reichert entschieden, dass die spindelförmigen Elemente von
Schwann vorkommen. Alle spindelförmigen, geschwänzten
oder gezackten Elemente wären eben so sehr Kunstprodukte,
wie die Fasern, welche man in der Zwischenmasse sähe, eine
falsche Deutung des optischen Bildes.
Meine Untersuchungen haben nun gelehrt, dass sowohl
die Schwannsche, als die Reichertsche Beobachtung bis
zu einem gewissen Grade auf richtigen Anschauungen beruht.
Erstlich gegen Reichert, dass in der That spindelförmige
und sternförmige Elemente mit vollkommener Sicherheit existi-
ren (Fig. 20), dann aber gegen Schwann und mit Reichert,
dass eine direkte Zerklüftung der Zellen zu Fasern nicht ge-
schieht, dass vielmehr dasjenige, was wir nachher als Binde-
gewebe vor uns sehen, in der That der alten, mehr oder weniger
gleichmässigen Intercellularsubstanz entspricht. Ich fand fer-
ner, dass Reichert sowohl als Henle und Schwann darin
Unrecht hatten, wenn sie zuletzt im besten Falle Kerne oder
Kernfasern übrig liessen; dass vielmehr in den meisten Fällen
[40]Zweite Vorlesung.
auch die Zellen selbst sich erhalten. Das Bindegewebe der
späteren Zeit unterscheidet sich also der allgemeinen Structur
und Anlage nach in gar nichts von dem Bindegewebe der
früheren Zeit. Es gibt nicht ein embryonales Bindegewebe
mit Spindeln und ein ausgebildetes ohne diese, sondern die
Elemente bleiben dieselben, wenngleich sie oft nicht leicht zu
sehen sind.
Bindegewebe vom Schweinsembryo nach längerem Kochen.
Grosse, zum Theil isolirte, zum Theil noch in der Grundsubstanz einge-
schlossene und anastomosirende Spindelzellen (Bindegewebskörperchen).
Grosse Kerne mit abgelöster Membran; zum Theil geschrumpfter Zellen-
inhalt. Vergr. 350.
Schema der Bindegewebs-Entwicklung nach meinen Unter-
[41]Hyalines Knorpel.
Im Wesentlichen reducirt sich diese ganze Reihe niederer
Gewebe daher auf ein einfaches Schema. In der Regel besteht
der grösste Theil des Gewebes aus Intercellularsubstanz, in
welche in gewissen Abständen Zellen eingebettet sind, welche
ihrerseits die mannigfachsten Formen haben. Aber die Ge-
webe lassen sich nicht darnach unterscheiden, dass das eine
nur runde, das andere dagegen geschwänzte oder sternförmige
Zellen enthält, sondern in allen Geweben der Bindesubstanz kön-
nen runde, lange, eckige Elemente vorkommen. Der einfachste
Fall ist der, dass runde Zellen in gewissen Abständen liegen
und dazwischen Intercellularsubstanz eintritt. Das ist dieje-
nige Form, welche wir am schönsten in den hyalinen Knor-
peln finden, z. B. in den Gelenküberzügen, wo die Zwischen-
masse vollkommen homogen ist und wir nichts sehen, als
eine hier und da vielleicht gekörnte, im Ganzen jedoch völlig
wasserklare Substanz, so dass, wenn man nicht die Grenze
des Objectes sieht, man in
Zweifel sein kann, ob über-
haupt etwas zwischen den Zel-
len vorhanden ist.
Diese Substanz charakteri-
sirt den hyalinen Knorpel.
Nun sehen wir, dass unter ge-
wissen Verhältnissen die run-
den Elemente sich auch schon
im Knorpel in längliche, spin-
delförmige umwandeln, z. B.
suchungen. A. Jüngstes Stadium. Hyaline Grundsubstanz (Intercellular-
substanz) mit grösseren Zellen (Bindegewebskörperchen); letztere in re-
gelmässigen Abständen, reihenweise gestellt, Anfangs getrennt, spindel-
förmig und einfach, späterhin anastomosirend und verästelt. B. Ael-
teres Stadium: bei a streifig gewordene (fibrilläre) Grundsubstanz, durch
die reihenweise Einlagerung von Zellen fasciculär erscheinend; die Zel-
len schmaler und feiner werdend; bei b nach Einwirkung von Essigsäure
ist die streifige Beschaffenheit der Grundsubstanz wieder verschwunden
und man sieht die noch kernhaltigen, feinen und langen anastomosirenden
Faserzellen (Bindegewebskörperchen).
Senkrechter Durchschnitt durch den wachsenden Knorpel
der Patella. a die Gelenkfläche mit parallel gelagerten Spindelzellen
(Knorpelkörperchen). b Beginnende Wucherung der Zellen. c Vorge-
schrittene Wucherung: grosse, rundliche Gruppen, innerhalb der ausge-
dehnten Capseln immer zahlreichere runde Zellen. — Vergrösserung 50.
[42]Zweite Vorlesung.
ganz regelmässig um die Gelenkflächen her. Je näher man bei
der Durchforschung des Gelenkknorpels der freien Oberfläche
kommt, (Fig. 22 a) um so kleiner werden die Zellen, und zuletzt
sieht man nichts weiter, als kleine, flach, linsenförmige Körper,
zwischen denen zuweilen ein leicht streifiges Aussehen der
Zwischensubstanz erscheint. Hier tritt also, ohne dass das
Gewebe aufhört, Knorpel zu sein, ein Typus auf, den wir viel
regelmässiger in Bindegewebsformationen antreffen, und es kann
leicht daraus die Vorstellung erwachsen, als sei der Gelenk-
knorpel noch mit einer besonderen Membran überzogen. Dies
ist jedoch nicht der Fall, es legt sich keine Synovialhaut über
den Knorpel; die Grenze gegen das Gelenk hin ist überall
vom Knorpel selbst gebildet. Die Synovialhaut fängt erst da
an, wo der Knorpel aufhört, am Knochenrande. Andererseits sehen
wir, dass an gewissen Stellen der Knorpel direct übergeht in
Formen, wo die Zellen sternförmig werden, und wo die end-
liche Anastomose der Elemente sich vorbereitet; endlich trifft
man Stellen, wo man nicht mehr sagen kann, wo das eine
Element aufhört und das andere anfängt: die Elemente hän-
gen direct mit einander zusammen, ohne dass eine Scheidungs-
linie der Membranen zu erkennen wäre. Wenn ein solcher
Fall eintritt, so wird der bis dahin gleichmässige hyaline Knor-
pel ungleichmässig, streifig, und man hat ihn schon seit lan-
ger Zeit Faserknorpel genannt.
Von diesen Formen unterscheidet man eine dritte Form,
den sogenannten Netzknorpel, so an Ohr und Nase, wo die
Elemente rund sind, aber eine eigenthümliche Art von dicken,
steifen Fasern um sie herum liegt, deren Entstehung noch nicht
ganz erforscht ist, die aber vielleicht durch Metamorphose der
Intercellularsubstanz entstehen.
Mit diesen verschiedenen Typen, welche der Knorpel in
seinen verschiedenen Localitäten darbietet, sind alle die Ver-
schiedenheiten gegeben, welche die übrigen Gewebe der Binde-
substanz darbieten. Es gibt auch wahres Bindegewebe mit
runden, mit langen und sternförmigen Zellen. Ebenso haben
wir z. B. innerhalb des eigenthümlichen Gewebes, welches ich
Schleimgewebe genannt habe, runde Zellen in einer hyali-
nen, oder spindelförmige in einer streifigen, oder netzförmige
[43]Schleim- und Fettgewebe. Saftkanäle.
in einer maschigen Grundsubstanz. Das einzige Kriterium für
die Scheidung beruht auf der Bestimmung der chemischen
Qualität der Intercellularsubstanz. Bindegewebe wird ein Ge-
webe genannt, dessen Grundsubstanz beim Kochen Leim gibt;
Knorpel gibt aus seiner Zwischenmasse Chondrin, Schleimge-
webe beim Ausdrücken einen durch Essigsäure fällbaren und
im Ueberschuss sich nicht lösenden, dagegen in Salzsäure lös-
lichen Stoff, das Mucin.
Ausserdem können sich einzelne Verschiedenheiten später-
hin einstellen in Beziehung auf besondere Gestaltung und In-
haltsmasse, welche die einzelnen Zellen annehmen. Was wir
kurz Fett nennen, ist ein Gewebe, welches sich hier unmittel-
bar anschliesst und welches sich von den übrigen dadurch
unterscheidet, dass einzelne Zellen sich vergrössern und mit
Fett vollstopfen, wobei der Kern zur Seite gedrängt wird. An
sich ist die Structur des Fettgewebes aber dieselbe wie die
des Bindegewebes, und unter Umständen kann das Fett so
vollständig schwinden, dass das Fettgewebe wieder auf ein-
faches gallertiges Bindegewebe reducirt wird.
Unter diesen Geweben der Bindesubstanz sind nun im
Allgemeinen diejenigen für unsere gegenwärtige pathologische
Anschauung die wichtigsten, in welchen eine netzförmige An-
ordnung der Elemente besteht, oder anders ausgedrückt, in
welchen die Elemente untereinander anastomosiren. Ueberall
nämlich, wo solche Anastomosen Statt finden, wo ein Ele-
ment mit dem andern zusammenhängt, da lässt sich mit einer
gewissen Sicherheit darthun, dass diese Anastomosen eine Art
von Röhrensystem darstellen, ein Kanalsystem, welches den
grossen Kanalsystemen des Körpers angereiht werden muss,
welches namentlich neben den Blut- und Lymphkanälen als
eine neue Erwerbung unserer Anschauungen betrachtet wer-
den muss, als eine Art von Ergänzung für die alten Vasa se-
rosa, die nicht existiren. Diese Form ist möglich im Knorpel,
Bindegewebe, Knochen, Schleimgewebe an den verschie-
densten Theilen, aber jedesmal unterscheiden sich die Gewebe,
welche solche Anastomosen besitzen, von denen mit isolirten
Elementen durch ihre grössere Fähigkeit, Prozesse zu leiten.
[[44]]
Dritte Vorlesung.
20. Februar 1858.
Die höheren Thiergewebe: Muskeln, Nerven, Gefässe, Blut.
Muskeln. Quergestreifte und glatte. Muskelatrophie. Die contractile Substanz und die
Contractilität überhaupt. Cutis auserina und Arrectores pili.
Gefässe. Capillaren. Contractile Gefässe. Nerven. —
Die pathologischen Gewebe (Neoplasmen) und ihre Classification. Bedeutung der Vasen-
larisation. Die Doctrin von den specifischen Elementen. Die physiogischen Vorbilder
(Reproduction). Heterologie (Heterotople, Heterochronie, Heterometrie) und Malignität.
Hypertrophie und Hyperplasie. Degeneration. Prognostische Gesichtspunkte.
Das Continuitätsgesetz. Die histologische Substitution und die histologischen Aequivalente.
Physiologische und pathologische Substitution.
Ich hatte Ihnen in der letzten Stunde die beiden ersten Grup-
pen von Geweben geschildert, die des Epithels oder der Epi-
dermis und die der Bindesubstanz. Das, was nun noch übrig
bleibt, bildet eine in sich ziemlich verschiedenartige Gruppe,
deren einzelne Glieder freilich nicht in der Weise, wie dies
beim Epithel und dem Bindegewebe der Fall ist, eine wirkliche
Verwandtschaft unter einander haben, jedoch im Grossen eine
gewisse Uebereinstimmung zeigen, indem sie die höheren ani-
malischen Gebilde darstellen und durch die specifische Art
ihrer Entwicklung von dem mehr indifferenten Epithelial- und
Bindegewebe sich unterscheiden. Ueberdiess erscheinen die meisten
von ihnen in der Form von zusammenhängenden, mehr oder
weniger röhrenartigen Gebilden. Wenn man die Muskeln, die
Nerven und die Gefässe mit einander vergleicht, so kann man
sehr leicht zu der Vorstellung kommen, als handele es sich
bei allen drei Gebilden um wirkliche Röhren, welche mit einem
[45]Die höheren thierischen Gewebe.
bald mehr, bald weniger beweglichen Inhalt gefüllt seien; allein
diese Vorstellung, so bequem sie für eine oberflächliche An-
schauung ist, genügt deshalb nicht, weil wir den Inhalt der
Röhren nicht einfach gleich setzen können.
Das Blut, welches in den Gefässen enthalten ist, lässt sich
vor der Hand wenigstens nicht als ein Analogon des Axen-
cylinders oder des Markes einer Nervenröhre oder der con-
tractilen Substanz eines Muskelprimitivbündels betrachten.
Freilich muss ich hier bemerken, dass gerade die Entwicklung
aller Gebilde, welche in dieser Gruppe zusammengefasst wer-
den können, immer noch ein Gegenstand grosser Differenzen
ist, und dass die Ansicht über den elementaren Ausgangspunkt
der meisten dieser Elemente keinesweges gesichert ist. So
viel scheint indess sicher zu sein, dass wenn wir die fötalen
Theile ins Auge fassen, die Blutkörperchen ebenso gut Zellen
sind, wie die einzelnen Theile der Gefässwand, innerhalb
deren das Blut strömt, und dass man das Gefäss nicht als eine
Röhre bezeichnen kann, welche die Blutkörperchen umfasst,
wie die Zellenmembran ihren Inhalt. Deshalb ist es nothwen-
dig, dass man bei den Gefässen den Inhalt von der eigent-
lichen Wand scheidet und die Aehnlichkeit der Gefässe mit
den Nerven und Muskelfasern zurückweist. Wollte man nun
die Ausgangspunkte der einzelnen Gewebe als Maassstab der
Classification annehmen, so würde man nach den gegenwär-
tigen Anschauungen zum Blute auch die Lymphdrüsen hinzu-
zunehmen haben, und man könnte eher an ein Verhältniss
erinnert werden, wie wir es bei den Epithelialformationen ange-
troffen haben. Allein ich muss hier nochmals hervorheben,
dass die Lymphdrüsen sich von den eigentlichen Drüsen nicht
allein dadurch unterscheiden, dass sie keinen Ausführungsgang
im gewöhnlichen Sinne des Wortes besitzen, sondern dass sie
auch ihrer Entwicklung nach keineswegs auf einer Höhe mit
den gewöhnlichen Drüsen stehen, vielmehr in ihrer ganzen Ge-
schichte sich anschliessen an die Gewebe der Bindesubstanz,
und dass man daher eher versucht sein kann, sie mit zu den
Geweben zu rechnen, welche als Producte der Umwandlung
der Bindesubstanz erscheinen. Doch würde dies im gegen-
[46]Dritte Vorlesung.
wärtigen Augenblicke noch ein etwas gewagtes Unternehmen
sein.
Unter allen Formen, um die es sich hier handelt, hat man
gewöhnlich die muskulösen Elemente als die einfachsten
betrachtet. Untersucht man einen gewöhnlichen rothen Muskel
(ich sage nicht, einen willkürlichen, da auch das Herz dieselbe
Structur hat), so findet man ihn wesentlich zusammengesetzt
aus einer Menge von meistentheils gleich dicken Cylindern
(den Primitivbündeln), die auf einem Querschnitt sich als runde
Bildungen darstellen und an denen man zunächst die bekann-
ten Querstreifen wahrnimmt, das heisst breite Linien, welche
sich gewöhnlich etwas zackig über die Oberfläche des Bün-
dels erstrecken, und welche nahezu so breit sind, wie die
Zwischenräume, welche sie trennen.
Neben dieser Querstreifung
sieht man, namentlich nach ge-
wissen Präparations-Methoden,
eine der Länge nach verlaufende
Streifung, die sogar in manchen
Präparaten überwiegend wird, so
dass das Muskel-Bündel fast nur
längsgestreift erscheint. Wendet
man nun Essigsäure an, so zei-
gen sich alsbald an der Wand,
hier und da auch mehr gegen die
Mitte hin Kerne, die ziemlich
gross sind, meistens grosse Kern-
körperchen enthalten, bald in grösserer bald in kleinerer Zahl.
Auf diese Weise gewinnen wir also, nachdem wir durch die
Einwirkung der Essigsäure die innere Substanz geklärt haben,
wieder ein Bild, welches an die alten Zellenformen erinnert;
Eine Gruppe von Muskelprimitivbündeln. a. Die natürliche
Erscheinung eines frischen Primitivbündels mit seinen Querstreifen (Bän-
dern oder Scheiben). b. Ein Bündel nach leichter Einwirkung von Essig-
säure; die Kerne treten deutlich hervor und man sieht in dem einen
zwei Kernkörperchen, den anderen völlig getheilt. c. Stärkere Einwir-
kung der Essigsäure; der Inhalt quillt am Ende aus der Scheide (Sar-
colem) hervor. d. Fettige Atrophie. Vergrösser. 300.
[47]Quergestreifte Muskeln.
und man ist um so mehr geneigt gewesen, das ganze Primi-
tivbündel als aus einer einzigen Zelle hervorgegangen anzu-
sehen, als nach der Ansicht, welche man früher hatte, innerhalb
eines jeden Muskels die einzelnen Primitivbündel von der einen
Insertionsstelle bis zur anderen reichen sollten, diese also
so lang gedacht wurden, als der Muskel selbst. Letztere An-
nahme ist aber durch Untersuchungen, welche unter Brücke’s
Leitung in Wien durch Rollet angestellt wurden, erschüttert
worden, indem dieser nachwies, dass im Verlaufe der Mus-
keln sich Enden der Primitivbündel mit zulaufenden Spitzen
finden, so dass das Muskelprimitivbündel sich verhalten würde,
wie eine grosse Faserzelle. Diese Enden würden sich in ein-
ander schieben, und es würde demnach keineswegs die Länge
eines Primitiv-Bündels der ganzen Ausdehnung des Muskels
entsprechen.
Auf der anderen Seite muss ich hervorheben, dass gerade
in der letzten Zeit von verschiedenen Seiten Beobachtungen ge-
macht worden sind, welche eher geeignet sind, die einzellige
Natur dieser Elemente in Zweifel zu ziehen. Leydig betrach-
tet sie als vielmehr zusammengesetzt aus einer Reihe von zel-
ligen Elementen kleinerer Art,
indem jeder Kern in einer be-
sonderen langgestreckten Lücke
eingeschlossen sei, zwischen
denen sich die contractile Sub-
stanz des Bündels befinden
würde. Es handelt sich, so
bald diese letzte Zusammen-
Muskelelemente aus dem Herzfleische einer Puerpera.
A. Eigenthümliche, den Faserzellen der Milzpulpe ganz ähnliche Spindel-
zellen, wahrscheinlich dem Sarcolemma angehörig, bei dem Zerzupfen des
Präparates frei geworden. a. halbmondförmig gekrümmte, an einem Ende
etwas platte Zelle, von der Fläche gesehen. b. eine ähnliche, von der
Seite gesehen, der Kern platt. c. d. Zellen, deren Kerne in einer herniö-
sen Ausbuchtung der Membran liegen; e. eine ähnliche Zelle, von der
Fläche gesehen, der Kern wie aufgelagert. B. Ein Primitivbündel ohne
Hülle (Sarcolemma) mit deutlichen Längsfibrillen und grossen rundlichen
Kernen, von denen einer zwei Kernkörperchen enthält (beginnende Theilung).
C. Ein Primitivbündel, zerzupft und leicht durch Essigsäure gelichtet;
ausser einem getheilten Kerne sieht man zwischen den Längsfibrillen feine
pfriemenförmige, kernartige Körper eingelagert. — Vergrösserung 300.
[48]Dritte Vorlesung.
setzung discutirt wird, um äusserst schwierige Verhält-
nisse, und ich für meine Person muss bekennen, dass, so
sehr ich geneigt bin, die eigentlich einzellige Natur dieser
Elemente zuzugeben, ich doch die sonderbaren Erscheinun-
gen im Innern der Primitivbündel zu gut kenne, als dass
ich nicht zugestehen müsste, dass eine andere Ansicht
statuirt werden könne. Vor der Hand wird man aber
das festhalten müssen, dass wir es mit einem Gebilde zu
thun haben, an welchem eine membranöse äussere Hülle
und ein Inhalt zu unterscheiden ist. An letzterem lässt
Essigsäure Kerne hervortreten, und an ihm kann man im
natürlichen Zustande die eigenthümliche Quer- und Längs-
streifung erkennen. In Beziehung auf letztere Erscheinun-
gen ist noch zu bemerken, dass die Querstreifung durch-
aus eine innere und nicht eine äussere ist. Die Mem-
bran ist an sich vollkommen glatt und eben; die Querstrei-
fung dem Inhalt angehört, welcher im Grossen als rothe
Masse hervortritt.
Diese innere Masse ist es nun, an der unzweifelhaft
die Eigenschaft der Contractilität haftet, und die je nach dem
Zustande der Contractilität selbst in ihren Erscheinungen
variirt, indem sie während der Contraction breiter wird, wäh-
rend die Zwischenräume zwischen den einzelnen Querbändern
etwas schmäler werden, so dass also eine Umordnung der
kleinsten Bestandtheile Statt findet, und zwar, wie es nach
den Untersuchungen von Brücke wahrscheinlich ist, nicht
der physikalischen Molecüle, sondern der noch sichtbaren anato-
mischen Bestandtheile. Brücke hat nämlich, indem er den Muskel
im polarisirten Lichte untersuchte, verschiedene optische Ei-
genschaften der einzelnen Substanzlagen gefunden, derer,
welche die Querstreifen und derer, welche die Zwischen-
masse darstellen. Bei gewissen Methoden der Präparation er-
scheint jedes Muskel-Primitivbündel aus Platten oder Scheiben
von verschiedener Natur (Bowman’s sarcous elements) zusam-
mengeschichtet, diese ihrerseits aber wieder aus lauter kleinen
Körnchen zusammengesetzt In Wirklichkeit besteht jedoch
der Inhalt des Primitivbündels aus einer gewissen Menge
feiner Längsfibrillen, von denen jede, entsprechend der Lage
[49]Glatte Muskelfasern.
der Querstreifen oder scheinbaren Scheiben des Primitivbün-
dels, kleine Körner enthält, welche durch eine blasse Zwi-
schenmasse zusammengehalten werden. Indem nun viele
Primitivfibrillen zusammenliegen, so entsteht durch die sym-
metrische Lage der kleinen Körnchen eben der Anschein
von Scheiben, die eigentlich nicht vorhanden sind. Je nach
der Thätigkeit des Muskels nehmen diese Theile eine ver-
änderte Stellung zu einander ein: bei der Contraction nä-
hern sich die Körner einander, während die Zwischensub-
stanz kürzer und zugleich breiter wird.
Verhältnissmässig sehr viel einfacher erscheint die Zu-
sammensetzung der glatten, organischen oder, obgleich
weniger bezeichnend, unwillkürlichen Muskelfasern.
Wenn man einen Theil derjenigen Organe, worin glatte Mus-
kelfasern enthalten sind, untersucht, so findet man in der
Mehrzahl der Fälle zunächst in ähnlicher Weise, wie bei den
quergestreiften Muskeln, kleine Fascikel z. B. in der Muskelhaut
der Harnblase. Innerhalb dieser Fascikel unterscheidet man bei
weiterer Untersuchung eine
Reihe von einzelnen Ele-
menten, von denen eine
gewisse Zahl, 6, 10, 20
und mehr durch eine gemein
schaftliche Binde-Masse zu-
sammengehalten wird. Nach
der Vorstellung, welche bis in
die letzten Tage allgemein
gültig war, würde jedes ein-
zelne dieser Elemente ein
Analogon des Primitivbün-
dels der quergestreiften
Glatte Muskeln aus der Wand der Harnblase. A. Zusam-
menhängendes Bündel, aus dem bei a, a einzelne, isolirte Faserzellen
hervortreten, während bei b die einfachen Durchschnitte derselben erschei-
nen. B. ein solches Bündel nach Behandlung mit Essigsäure, wo die
langen und schmalen Kerne deutlich werden; a und b, wie oben. —
Vergrösserung 300.
4
[50]Dritte Vorlesung.
Muskeln darstellen. Denn sobald es gelingt, diese Fascikel
in ihre feineren Bestandtheile zu zerlegen, so bekommt
man als letzte Elemente lange spindelförmige Zellen, die in
der Regel in der Mitte einen Kern besitzen (Fig. 5. b). Nach
derjenigen Anschauung dagegen, die in den letzten Tagen von
verschiedenen Seiten anfängt bewegt zu werden, namentlich
angeregt durch Leydig’s Untersuchungen, würde man vielmehr
ein Fascikel, worin eine ganze Reihe von Faserzellen ent-
halten ist, als Analogon eines quergestreiften Primitivbündels
betrachten müssen. Bevor in diesem Punkte eine Erledi-
gung gefunden ist, halte ich es jedoch für zweckmässig und
den bekannten Thatsachen am meisten entsprechend, die
einzelne Faser-Zelle als Aequivalent des Primitivbündels zu
betrachten. Sollten sich jedoch in kurzer Zeit die An-
schauungen ändern, so werden Sie darauf vorbereitet sein.
An einer solchen spindelförmigen oder Faser-Zelle ist
es schwer, etwas Besonderes zu unterscheiden. Bei recht
grossen Zellen dieser Art und bei starker Vergrösserung unter-
scheidet man allerdings häufig eine feine Längsstreifung
(Fig. 5. b.), so dass es aussieht, als ob auch hier im Innern
eine Art von Fibrillen der Länge nach angeordnet wäre, wäh-
rend von einer Querstreifung für gewöhnlich nichts wahrzuneh-
men ist. Es haben aber die blassen, glatten Muskeln chemisch
eine ziemlich grosse Uebereinstimmung mit den querge-
streiften, indem man eine ähnliche Substanz (das sogenannte
Syntonin Lehmann’s) aus beiden ausziehen kann durch
verdünnte Salzsäure, und indem gerade einer der am meisten
charakteristischen Bestandtheile, das Kreatin, welches in dem
Muskelfleisch der rothen Theile gefunden wird, nach der Un-
tersuchung von G. Siegmund auch in den glatten Muskeln
des Uterus vorkommt.
Eines der Ihnen vorgelegten Objecte vom rothen Muskel
zeigt eine auch pathologisch interessante Stelle; es findet sich
unter den Bündeln nämlich eines, welches den Zustand der
sogenannten progressiven (fettigen) Atrophie darbietet.
Das degenerirte Bündel ist kleiner und schmäler, und zu-
gleich zeigen sich zwischen den Längsfibrillen kleine Fett-
körnchen aufgereiht. (Fig. 23. d) Was an den Muskeln die
[51]Die Contractilität.
Atrophie überhaupt macht, ist die Verkleinerung des Durch-
messers der Primitivbündel; bei der fettigen Atrophie kommt
dazu die gröbere Veränderung, dass im Innern des Primitiv-
bündels kleine Reihen von Fettkörnchen auftreten, unter deren
Entwicklung die eigentliche contractile Substanz an Masse
abnimmt. Je mehr Fett, desto weniger contractile Substanz,
oder mit anderen Worten: der Muskel wird weniger leistungs-
fähig, je geringer der normale Inhalt seiner Primitivbündel
wird. Auch die pathologische Erfahrung bezeichnet daher als
die Trägerin der Contractilität eine bestimmte Substanz, deren
Vorkommen, wie namentlich die wichtigen Untersuchungen von
Kölliker gelehrt haben, an bestimmte Gewebselemente gebun-
den ist. Während man früher neben der Muskelsubstanz noch
manche andere Dinge, z. B. Bindegewebe als contractil annahm,
so hat sich neuerlich die ganze Lehre von der Contractilität eigent-
lich auf jene Substanz zurückgezogen, und es ist gelungen, fast
alle die sonderbaren Phänomene der Bewegung auf die Existenz
von minutiösen Theilen wirklich muskulöser Natur zurückzufüh-
ren. So liegen in der Haut des Menschen kleine Muskeln, unge-
fähr so gross wie die kleinsten Fascikel von der Harnblasen-
wand, aus ganz kleinen Faserzellen bestehende Bündel, welche
vom Grunde der Haarfollikel gegen die Haut verlaufen, und welche,
wenn sie sich zusammenziehen, die Oberfläche der Haut
gegen die Wurzel des Haarbalges nähern. Das Resultat
davon ist natürlich, dass die Haut uneben wird und man, wie
man sagt, eine Gänsehaut bekommt. Dies sonderbare Phä-
nomen, welches nach den früheren Anschauungen unerklär-
lich war, ist einfach erklärt durch den Nachweis dieser rein
mikroskopischen Muskeln, der Arrectores pili.
So wissen wir gegenwärtig, dass der grösste Theil der
Gefässmuskeln aus Elementen dieser Art besteht, und dass die
Contractionsphänomene der Gefässe einzig und allein auf die
Wirkung von Muskeln zurückbezogen werden müssen, welche
in ihnen in Form von Ring- oder Längsmuskeln enthal-
ten sind. Eine kleine Vene oder eine kleine Arterie kann
sich nur soweit zusammenziehen, als sie mit Muskeln
versehen ist, und sie unterscheiden sich nur durch den
4*
[52]Dritte Vorlesung.
Umstand, dass entweder mehr die Längs- oder mehr die Quer-
muskulatur entwickelt ist.
Ich habe Sie deshalb hierauf aufmerksam gemacht, weil
Sie daraus ersehen können, wie eine einfache anatomische Ent-
deckung die wichtigsten Aufschlüsse zum Theil ganz weit aus-
einanderliegender physiologischer Erfahrungen gibt, und wie
an den Nachweis bestimmter morphologischer Elemente sofort
die wichtigsten Verdeutlichungen von Functionen geknüpft
werden können, die ohne solche Voraussetzung ganz unbe-
greiflich sein würden. —
Ich übergehe es hier, über die feineren Einrichtungen des
Nervenapparates zu sprechen, weil ich später im Zusammen-
hange darauf zurückkommen werde; dies würde sonst der
Gegenstand sein, welcher hier zunächst anzuschliessen wäre,
weil zwischen Muskel- und Nervenfasern in der Einrichtung
vielfache Aehnlichkeiten bestehen. Allein bei den Nerven
treten die Ganglienzellen hinzu, welche die einzelnen Fasern
untereinander verbinden, und welche als die wichtigsten Sammel-
punkte des ganzen Nervenlebens betrachtet werden müssen.
Auch über die Einrichtung des Gefässapparates will ich
hier nicht im Zusammenhange handeln und nur so viel sagen,
als nöthig, um eine vorläufige Anschauung zu geben.
Das Capillar-Gefäss ist eine einfache Röhre (Fig. 3 c.)
an der wir mit unseren Hülfsmitteln bis jetzt nur eine ein-
fache Haut wahrnehmen, welche von Strecke zu Strecke mit
platten Kernen besetzt ist, welche, wenn sie auf der Fläche
des Gefässes gesehen werden, dieselbe Erscheinung darbieten,
wie bei den Muskelelementen, welche aber gewöhnlich mehr
am Rande liegen und daher häufig pfriemenförmig erscheinen,
indem man nur ihre scharfe Kante wahrnimmt. Diese ein-
fachste Form der Gefässe ist es, welche wir heut zu Tage
einzig und allein Capillaren nennen, und von denen wir nicht
sagen können, dass sie sich durch eigene Thätigkeit erweitern
oder verengern, höchstens dass ihre Elasticität eine gewisse
Verengung möglich macht. Nirgends handelt es sich bei ihnen
um eigentliche Vorgänge der Contraction oder des Nachlasses
derselben. Die früheren Discussionen über die Contractilität
der Capillaren sind wesentlich auf kleine Arterien und Venen
[53]Gefässe.
zu beziehen, deren Lumen
sich durch Contraction ihrer
Muskelwand verengt oder
sich bei Nachlass der Con-
traction unter dem Blutdrucke
erweitert. Es ist dies eine
erste und wichtige That-
sache, welche aus der ge-
naueren histologischen Kennt-
niss der feineren und grösse-
ren Gefässe hervorgeht, und
welche lehrt, dass man nicht
von allgemeinen Eigenschat-
ten der Gefässe sprechen
kann, insofern der capillare
Theil wesentlich anders ge-
baut ist, als die kleinen Ar-
terien und Venen. Diese sind
schon zusammengesetzte, organartige Gebilde, während das
Capillargefäss ein mehr einfaches histologisches Element dar-
stellt. —
Nachdem wir, meine Herren, die allgemeinste Uebersicht
der physiologischen Gewebe ins Auge gefasst haben, so würde
nun die Frage entstehen, wie sich die pathologischen dagegen
verhalten. Wenn man von pathologischen Geweben spricht, so
kann man natürlich damit zunächst nur die pathologisch neu
entstandenen meinen, nicht die durch irgend eine Abweichung der
Ernährungsprocesse einfach veränderten physiologischen Theile.
Kleine Arterie aus der Basis des Grosshirnes nach Behand-
lung mit Essigsäure. A kleiner Stamm, B u. C. gröbere Aeste, D u. E
feinste Aeste (capillare Arterie). a, a Adventitia mit Kernen, welche der
Längenausdehnung entsprechend, anfangs in doppelter, später in einfacher
Lage sich finden, mit streifiger Grundsubstanz, bei D u. E einfache Lage
mit Längskernen, hier und da durch Fettkörnchenhaufen ersetzt (fettige
Degeneration). b, b Media (Ringfaser- oder Muskelhaut) mit langen,
walzenförmigen Kernen, welche quer um das Gefäss verlaufen und am
Rande (auf dem scheinbaren Querschnitt) als runde Körper erscheinen;
bei D u. E immer seltener werdende Querkerne der Media. c, c Intima,
bei D u. E. mit Längskernen. — Vergrösserung 300.
[54]Dritte Vorlesung.
Es handelt sich dabei um eigentliche Neoplasmen, um das,
was im Laufe pathologischer Processe an neuen Geweben zu-
wächst, und es fragt sich: lässt sich das, was wir physiolo-
gisch als allgemeine Typen der Gewebe hingestellt haben, auch
pathologisch festhalten? Darauf antworte ich ohne Rückhalt:
ja, und so sehr ich auch darin abweiche von vielen der leben-
den Zeitgenossen, so bestimmt man auch in den letzten Jahren
die besondere (specifische) Natur vieler pathologischen Ge-
webe hervorgehoben hat, so will ich doch versuchen, im Laufe
dieser Vorlesungen den Beweis zu liefern, dass jedes patholo-
gische Gebilde ein physiologisches Vorbild hat, und dass
keine pathologische Form entsteht, die in ihren Elementen nicht
zurückgeführt werden könnte auf einen in der Oekonomie an
und für sich prästabilirten Vorgang.
Die Classification der pathologischen Neubildungen, der
eigentlichen Neoplasmen, ist früherhin meistentheils versucht
worden vom Standpunkte der Vascularisation aus. Wenn
Sie die verschiedenen Studien betrachten, welche in dieser
Richtung bis zur Zeit der Zellentheorie gemacht sind, so wer-
den Sie finden, dass man die Frage von der Organisation
immer entschieden hat durch die Frage von der Vascularisation.
Man nahm jeden Theil als organisirt, der Gefässe enthielt, jeden
als nicht organisirt, der keine Gefässe führte. Dies ist für den
heutigen Standpunkt an sich schon eine Unrichtigkeit, insofern wir
auch physiologische Gewebe ohne Gefässe, z. B. die Knorpel haben.
Aber zu der Zeit, wo man die feineren Elemente höch-
stens als Kügelchen kannte und diesen Kügelchen sehr ver-
schiedene Bedeutung beilegte, war es zu verzeihen, dass
man sich an die Gefässe hielt, insbesondere seit John
Hunter die Vergleichung der pathologischen Neubildung
mit der Entwicklung des Hühnchens im Ei gemacht und zu
zeigen versucht hatte, dass ähnlich, wie das Punctum saliens
im Hühnerei die erste Lebenserscheinung darstelle, so auch
in pathologischen Bildungen das Gefäss das Erste sei.
Sie werden sich noch erinnern, wie von Rust und Kluge
manche „parasitischen“ Neubildungen als versehen mit einem
unabhängigen Gefässsystem beschrieben wurden, welches,
ohne Wurzel in den alten Gefässen, sich wie im Hühn-
[55]Classification der Neoplasmen.
chen ganz selbständig bilden sollte. Freilich hatte man
schon vor dieser Zeit vielfach versucht, die scheinbar so ab-
weichenden Formen der Neubildungen auf physiologische Pa-
radigmen zurückzuführen, und es ist dies ein wesentliches
Verdienst der Naturphilosophen gewesen. In der Zeit, wo
die Theromorphie eine grosse Rolle spielte und man in
den pathologischen Processen vielfache Analogien mit den
Zuständen niederer Thiere fand, hat man auch angefangen,
Vergleichungen zwischen den Neubildungen und bekannten
Theilen des Körpers zu machen. So sprach der alte J.
F. Meckel von dem brustdrüsenartigen, dem pancreas-ar-
tigen Sarkom. Was in neuester Zeit in Paris als Heterade-
nie beschrieben ist, als eine heterologe Bildung von Drüsen-
substanz, das war in der naturphilosophischen Schule eine
ziemlich angenommene Thatsache.
Seitdem man die histologische Seite der Entwicklung
zu verfolgen begonnen hat, hat man sich mehr und mehr
überzeugt, dass die meisten Neubildungen Theile enthalten,
welche irgend einem physiologischen Gewebe entsprechen,
und in den mikrographischen Schulen des Westens ist
man theilweise dabei stehen geblieben, dass es in der gan-
zen Reihe von Neubildungen nur ein besonderes Gebilde
gäbe, welches specifisch abweichend sei von den natürlichen
Bildungen, nämlich den Krebs. Bei dem Krebs hat man
wesentlich urgirt, dass er ganz und gar von den übrigen
Geweben abweiche, Elemente sui generis enthalte, während
man eigenthümlicher Weise das zweite Gebilde, das die
Aelteren dem Krebsgewebe anzunähern pflegten, nämlich
den Tuberkel, obwohl man für ihn kein Analogon fand,
vielfach bei Seite liess, indem man ihn als ein unvollstän-
diges, mehr rohes Product, als ein nicht recht zur Orga-
nisation gekommenes Gebilde deutete. Wenn man jedoch
den Krebs oder den Tuberkel sorgfältiger betrachtet, so
kommt es auch hier nur darauf an, dass man dasjenige
Entwicklungsstadium aufsucht, welches das Gebilde auf der
Höhe seiner Gestaltung erblicken lässt. Man darf weder zu
früh untersuchen, wo die Entwicklung unvollendet, noch zu
spät, wo sie über ihr Höhen-Stadium hinausgerückt ist. Hält
[56]Dritte Vorlesung.
man sich an die Zeit der eigentlichen Entwicklungshöhe, so
lässt sich für alles Pathologische auch ein physiologisches Vor-
bild finden, und es ist eben so gut möglich für die Elemente
des Krebses solche Vorbilder zu entdecken, wie es möglich
ist, dieselben z. B. für den Eiter zu finden, der, wenn man
einmal specifische Gesichtspunkte festhalten will, ebenso im
Rechte ist, als etwas Besonderes betrachtet zu werden, wie
der Krebs. Beide stehen sich darin vollkommen parallel, und
wenn die Alten von Krebseiter gesprochen haben, so haben sie
in gewissem Sinne Recht gehabt, da der Eiter vom Krebssafte
sich nur durch die Entwicklungshöhe der einzelnen Elemente
unterscheidet.
Eine Classification auch der pathologischen Gebilde lässt
sich ganz in der Weise aufstellen, die wir vorher für die
physiologischen Gewebe versucht haben. Zunächst gibt es
auch hier Gebilde, welche wie die epithelialen wesentlich aus
zelligen Theilen zusammengesetzt sind, ohne dass zu diesen
etwas Erhebliches hinzukommt. In zweiter Linie treffen wir
Gewebe, welche sich denen der Bindesubstanz anschliessen, in-
dem regelmässig neben zelligen Theilen eine gewisse Menge
von Zwischensubstanz vorhanden ist. Endlich in dritter
Linie kommen diejenigen Bildungen, welche sich den höher
organisirten Producten, Blut, Muskeln, Nerven u. s. w. an-
schliessen.
Es ist nun von vorn herein hervorzuheben, dass in den pa-
thologischen Bildungen diejenigen Elemente um so häufiger vor-
handen sind, um so entschiedener praevaliren, welche den höheren
Charakter der eigentlich thierischen Entwicklung nicht reprä-
sentiren, dass also im Ganzen diejenigen Elemente am selten-
sten nachgebildet werden, welche den höher organisirten,
namentlich den Muskel- und Nervenapparaten angehören. Allein
ausgeschlossen sind auch diese Bildungen keineswegs; wir
kennen jede Art von pathologischer Neubildung, sie mag auf
ein Gewebe bezüglich sein, auf welches sie will, wenn es nur
überhaupt einen erkennbaren Habitus hat. Es besteht nur in
Beziehung auf die Häufigkeit und die Wichtigkeit eine Ver-
schiedenheit in der Art, dass die grösste Mehrzahl der patho-
logischen Producte überwiegend epitheliale oder Elemente der
[57]Heterologie und Malignität.
Bindesubstanz führen, und dass von denjenigen Gebilden.
welche wir in der letzten Klasse der normalen Gewebe zu-
sammenfassen, am häufigsten Gefässe und Theile, welche mit
der Lymphe und den Lymphdrüsen verglichen werden können,
neu entstehen, am seltensten aber wirkliches Blut, Muskeln
und Nerven.
Wenn man auf einen so einfachen Gesichtspunkt zurück-
kommt, so entsteht natürlich die Frage, was aus der Lehre
von der Heterologie der krankhaften Producte wird, an
deren Aufrechthaltung man sich seit alter Zeit gewöhnt hat, und
auf welche die einfachste Anschauung mit einer gewissen Noth-
wendigkeit hinführt. Hierauf kann ich nicht anders antwor-
ten, als dass es keine andere Art von Heterologie in den
krankhaften Gebilden gibt, als die ungehörige Art der Ent-
stehung, und dass diese Ungehörigkeit sich entweder darauf
bezieht, dass ein Gebilde erzeugt wird an einem Punkte, wo
es nicht hingehört, oder zu einer Zeit, wo es nicht erzeugt
werden soll, oder in einem Grade, welcher von der typischen
Bildung des Körpers abweicht. Also genauer bezeichnet, ent-
weder eine Heterotopie, eine Aberratio loci, oder eine Aber-
ratio temporis, eine Heterochronie, oder endlich eine bloss
quantitative Abweichung, Heterometrie. Man muss sich
aber wohl in Acht nehmen, diese Art von Heterologie nicht
im weiteren Sinne des Wortes zu verbinden mit dem Begriffe
der Malignität. Die Heterologie im histologischen Sinne
bezieht sich auf einen grossen Theil von pathologischen Neu-
bildungen, die von dem Standpunkte der Prognose durchaus
gutartig genannt werden können; nicht selten geschieht eine
Neubildung an einem Punkte, wo sie freilich durchaus nicht hin-
gehört, wo sie aber auch keinen erheblichen Schaden anrichtet.
Es kann ein Fettklumpen sich sehr wohl an einem Orte er-
zeugen, wo wir kein Fett erwarten, z. B. in der Submucosa des
Dünndarms, aber im besten Falle entsteht dadurch ein Polyp,
der auf der innern Fläche des Darms hervorhängt und der
ziemlich gross werden kann, ohne Krankheitserscheinungen mit
sich zu bringen.
Betrachtet man die im engeren Sinne heterolog genann-
ten Gebilde in Beziehung zu den Orten, wo sie entstehen, so
[58]Dritte Vorlesung.
kann man sie leicht von den homologen (Lobsteins homöo-
plastischen) dadurch trennen, dass sie von dem Typus des-
jenigen Theils, in welchem sie entstehen, abweichen. Wenn
im Fettgewebe eine Fettgeschwulst oder im Bindegewebe eine
Bindegewebs-Geschwulst sich bildet, so ist der Typus der Bildung
des Neuen homolog dem Typus der Bildung des Alten. Alle solche
Bildungen fallen der gewöhnlichen Bezeichnung nach in den Begriff
der Hypertrophien oder, wie ich zur genaueren Unterscheidung
vorgeschlagen habe, der Hyperplasien. Hypertrophie in mei-
nem Sinne wäre der Fall, wo einzelne Elemente eine beträcht-
liche Masse von Stoff in sich aufnehmen und dadurch grösser
werden, und wo durch die gleichzeitige Vergrösserung vieler
Elemente endlich ein ganzes Organ anschwellen kann. Bei
einem dicker werdenden Muskel werden alle Primitivbündel
dicker. Eine Leber kann einfach dadurch hypertrophisch wer-
den, dass die einzelnen Leberzellen sich bedeutend vergrös-
sern. In diesem Falle gibt es eine wirkliche Hypertrophie
ohne eigentliche Neubildung. Von diesem Vorgange ist we-
sentlich unterschieden der Fall, wo eine Vergrösserung erfolgt
Schematische Darstellungen von Leberzellen. A Einfache
physiologische Anordnung derselben. B Hypertrophie, a einfache, b mit
Fettaufnahme (fettige Degeneration, Fettleber) C Hyperplasie (numerische
oder adjunctive Hypertrophie) a Zelle mit Kern und getheiltem Kernkör-
perchen. b getheilte Kerne. c, c getheilte Zellen.
[59]Hypertrophie und Hyperplasie.
durch eine Vermehrung der Zahl der Elemente. Eine
Leber kann nämlich auch grösser werden dadurch, dass an
der Stelle der gewöhnlichen Zellen sich eine Reihe von klei-
nen sehr reichlich entwickelt. So sehen wir in der einfachen
Hypertrophie das Fett-Polster der Haut anschwellen, indem
jede einzelne Fettzelle eine grössere Masse von Fett auf-
nimmt; wenn dies an Tausenden und aber Tausenden, ja man
kann sagen, an Hunderttausenden und Millionen von Zellen
geschieht, so ist das Resultat ein sehr grobes und augenfäl-
liges (Polysarcie). Allein es kann eben so gut sein, dass
sich neben den alten Zellen neue hinzubilden und eine Ver-
grösserung erfolgt, ohne dass die Elemente für sich eine Ver-
grösserung erfahren. Dies sind wesentlich differente Processe:
die einfache und die numerische Hypertrophie.
Hyperplastische Prozesse (numerische Hypertrophie) brin-
gen in allen Fällen ein Gewebe hervor, welches dem Gewebe
des alten Theiles gleichartig ist; eine Hyperplasie der Leber
bringt wieder Leberzellen, die des Nerven wieder Nerven, die
der Haut wieder die Elemente der Haut hervor. Ein hetero-
plastischer Process dagegen erzeugt Gewebselemente, welche
freilich natürlichen Formen entsprechen, z. B. Elemente von
drüsenartigem Bau, von Nervenmasse, von Bindegewebs- oder
epithelialer Structur, aber diese Elemente entstehen nicht
durch einfache Zunahme der vorher vorhanden gewesenen,
sondern durch eine Umwandlung des ursprünglichen Typus.
Wenn sich Gehirnmasse im Eierstock bildet, so entsteht die-
selbe nicht aus präexistirender Gehirnmasse, nicht durch irgend
einen Akt einfacher Wucherung; wenn sich Epidermis z. B.
im Muskelfleische des Herzens bildet, so mag sie noch so
sehr übereinstimmen mit der auf der äusseren Haut, sie ist
doch ein heteroplastisches Gebilde. Wenn sich Haare von
ganz natürlichem Bau in der Hirnsubstanz finden, so mag man
die grösste Uebereinstimmung finden zwischen ihnen und ei-
nem äusseren Haar der Oberfläche; es wird dies immer ein
heteroplastisches Haar sein. So sehen wir Knorpelsubstanz
entstehen, ohne dass ein wesentlicher Unterschied zwischen
ihr und der gewöhnlichen, bekannten Knorpelsubstanz besteht,
z. B. in Enchondromen. Dennoch ist das Enchondrom eine
[60]Dritte Vorlesung.
heteroplastische Geschwulst, selbst am Knochen, denn der fer-
tige Knochen hat an den Theilen, wo das Enchondrom sich
bildet, keinen Knorpel mehr und die Phrase von dem
Knochenknorpel ist eben nur eine Phrase. Es ist entweder
Tela ossea oder Tela medullaris, von wo das Enchondrom
ausgeht, und gerade da, wo eigentlicher Knorpel liegt, z. B.
am Gelenkende, entstehen keine Knorpelgeschwülste in dem
gewöhnlichen Sinne des Wortes. Es handelt sich also hier
nicht um eine Hypertrophie, die ein präexistirender Knorpel
eingeht, sondern es ist eine vollständige Neubildung, welche
mit Veränderung des localen Gewebstypus beginnt. Diese Art
der Auffassung, welche wesentlich differirt von der früher gang-
baren, nimmt also in Beziehung auf die Frage von der Hetero-
logie und Homologie keine Rücksicht auf die Zusammensetzung
des Neugebildes als solchen, sondern nur auf das Verhältniss
desselben zu dem Mutterboden, aus dem es hervorgeht. He-
terologie in diesem Sinne bezeichnet die Verschiedenartigkeit
der Entwicklung des Neuen gegenüber dem Alten, oder, wie
man gewöhnlich zu sagen pflegt, die Degeneration, die Ab-
weichung in der typischen Gestaltung.
Das ist, wie Sie sehen werden, in der That auch der
wesentliche prognostische Anhaltspunkt. Wir kennen Ge-
schwülste, welche den allergrössten Einklang darbieten mit
den bekanntesten physiologischen Geweben. Eine Epidermis-
Geschwulst z. B. kann, wie ich schon hervorgehoben habe, in
ihren Elementen vollständig übereinstimmen mit gewöhnlicher
Oberhaut, aber sie ist trotzdem keine gutartige Geschwulst
von bloss localer Bedeutung, welche abgeleitet werden könnte
von einer einfach hyperplastischen Vermehrung präexistiren-
der Gewebe, denn sie entsteht zuweilen mitten in Theilen,
welche fern davon sind, Epidermis oder Epithel zu besitzen,
z. B. im Innern von Lymphdrüsen, von dicken Bindegewebs-
lagen, welche von aller Oberfläche entfernt liegen, ja sogar
im Knochen. In diesen Fällen ist gewiss die Bildung von
Epidermis so heterolog, als sich überhaupt etwas denken lässt.
Nun hat aber die praktische Erfahrung gelehrt, dass es durch-
aus unrichtig war, aus der blossen Uebereinstimmung des pa-
[61]Das Continuitätsgesetz.
thologischen Gewebes mit einem physiologischen auf den gut-
artigen Verlauf des Falles zu schliessen.
Es ist, wie ich mit besonderer Accentuirung bemerken
muss, einer der grössten und am meisten begründeten Vor-
würfe gewesen, welcher den mikrographischen Schilderungen
der jüngst verflossenen Zeit gemacht wurde, dass sie, von
dem allerdings verzeihlichen Gesichtspunkte der histologischen
Uebereinstimmung mancher normalen und abnormen Bildungen
ausgehend, jedes pathologische Neugebilde für unschädlich
ausgaben, das eine Reproduction von präexistirenden und be-
kannten Körpergeweben darstellte. Wenn es richtig ist, was
ich Ihnen als meine Ansicht mittheilte, dass überhaupt inner-
halb der pathologischen Entwicklungen keine absolut neuen
Formen gefunden werden, dass es überall nur Bildungen gibt,
die in der einen oder andern Weise als Reproduction phy-
siologischer Gewebe betrachtet werden können, so fällt
jener Gesichtspunkt in sich selbst zusammen. Für meine An-
sicht kann ich wenigstens die Thatsache beibringen, dass ich
bis jetzt in den Streitigkeiten über die Gut- oder Bösartigkeit
bestimmter Geschwulstformen immer noch Recht behalten habe. —
Bevor wir die allgemein-histologische Betrachtung verlas-
sen, muss ich noch ein Paar Augenblicke Ihre Aufmerksamkeit
in Anspruch nehmen für einige wichtige principielle Punkte,
welche uns fast bei jeder Gelegenheit wieder entgegentreten.
Indem man nämlich die thierischen Gewebe in ihrer Verwandt-
schaft untereinander studirte, so ist man zu verschiedenen Zei-
ten auf Fragen dieser Art gestossen, welche zu allgemeinen,
mehr physiologischen Formulirungen Veranlasung gaben.
Als Reichert es unternahm, die Gewebe der Bindesub-
stanz zu einer grösseren Gruppe zusammenzufassen, so ging
er hauptsächlich von dem Satze aus, dass der Nachweis der
Continuität der Gewebe über ihre innere Verwandtschaft
entscheiden müsse. Sobald man erkennen könne, dass irgend
ein Theil mit einem andern continuirlich (durch Zusammen-
hang, nicht durch blosses Zusammenstossen) verbunden sei,
so müsse man auch beide als Theile eines gemeinschaftlichen
Ganzen betrachten. Auf diese Weise suchte er zu beweisen,
dass Knorpel, Beinhaut, Knochen, Sehnen, Fascien u. s. f.
[62]Dritte Vorlesung.
wirklich ein Continuum, eine Art von Grundgewebe des Kör-
pers bildeten, die Bindesubstanz, welche nur an den verschie-
denen Orten gewisse Differenzirungen erfahren habe, die jedoch
den Charakter des Gewebes als solchen nicht aufhöben. Die-
ses sogenannte Continuitäts-Gesetz hat bald die grössten
Erschütterungen erfahren, und gerade in der letzten Zeit ist
ein so gefährlicher Einbruch in dasselbe geschehen, dass es kaum
noch möglich sein dürfte, daraus ein allgemeines Kriterium für
die Bestimmung der Art eines Gewebes herzunehmen. Man
hat nämlich einerseits immer neue Thatsachen für die Conti-
nuität solcher Gewebselemente beigebracht, welche nach Rei-
chert toto coelo auseinander liegen würden, z. B. von Epi-
thelial- und Bindegewebe, und immer mehr haben sich die
Angaben gehäuft, dass cylindrisches Epithel sich in Fasern
verlängern könne, welche fadenförmig in Zusammenhang tre-
ten mit Bindegewebselementen. Ja man hat sogar in der
neuesten Zeit eine Reihe von Angaben gemacht, nach denen
solche Zellen der Oberfläche nach Innen fortgehen und dort
mit Nervenfasern in unmittelbarem Zusammenhang stehen sollten.
Was das Letztere betrifft, so muss ich bekennen, dass ich noch
nicht von der Richtigkeit der Darstellung überzeugt bin, allein
was den ersteren Fall anbelangt, so ist das eine Angelegenheit,
die wahrscheinlich auf ein wirkliches Continuitäts-Verhältniss
der Elemente hinausläuft. Man würde also schon hier nicht
mehr im Stande sein, scharfe Grenzen zwischen jeder Art von
Epithel und jeder Art von Bindegewebe zu ziehen, sondern
nur da, wo Plattenepithel sich findet, während die Grenzen
zweifelhaft sein können überall, wo Cylinder-Epithel existirt.
Ebenso verwischen sich die Grenzen auch anderswo.
Während man sich früher die vollkommenste Abgrenzung
dachte zwischen Muskel- und Sehnen-Elementen, hat sich auch
hier zuerst durch Hyde Salter und Huxley mit der gröss-
ten Bestimmtheit ergeben, dass von Elementen des Bindegewe-
bes Fasern ausgehen, welche, indem sie sich nach Innen
fortsetzen, direct den Charakter quergestreifter Muskeln anneh-
men. So würden also in dem Bindegewebe zwischen den Ele-
menten der Oberfläche und den edleren Elementen der Tiefe
continuirliche Verbindungen existiren. Hat sich nun anderer-
[63]Histologische Aequivalente und Substitutionen.
seits mit grosser Wahrscheinlichkeit ergeben, dass die Ele-
mente des Bindegewebes bestimmte Beziehungen zu dem Ge-
fässapparat haben, so liegt es sehr nahe, wie Sie sehen, in
demselben eine Art von indifferentem Sammelpunkt, eine
eigenthümliche Einrichtung für die innere Verbindung der Theile
zu sehen, eine Einrichtung, die allerdings nicht für die höheren
Functionen des Thieres, aber wohl für die Ernährung von
grosser Bedeutung ist.
An die Stelle des Continuitätsgesetzes muss man daher noth-
wendig etwas Anderes setzen. Hier ist nun, wie ich glaube,
der wesentlichste Gesichtspunkt der der histologischen Sub-
stitution. Bei allen Geweben gleicher Art besteht die Mög-
lichkeit, dass schon im physiologischen Vorkommen, z. B. in
verschiedenen Thierklassen, das eine Gewebe an einem be-
stimmten Orte des Körpers ersetzt wird durch ein analoges
Gewebe derselben Gruppe, mit andern Worten, durch ein hi-
stologisches Aequivalent.
Eine Stelle, welche Cylinderepithel trägt, kann Plat-
tenepithel bekommen; eine Fläche, die anfänglich flimmerte,
kann später gewöhnliches Epithel haben. So treffen wir an
der Oberfläche der Hirnventrikel zuerst Flimmer-, späterhin ein-
faches Plattenepithel. So sehen wir, dass die Schleimhaut des
Uterus für gewöhnlich flimmert, dass aber in der Gravidität
sich die Schicht der Flimmercylinder ersetzt durch eine Lage
von Plattenepithel. So erzeugt sich an Stellen, wo weiches
Epithel vorkommt, unter Umständen Epidermis, z. B. an der
vorgefallenen Scheide. So findet sich in der Sclerotica gewis-
ser Thiere Knorpel, während sie beim Menschen aus dichtem
Bindegewebe besteht; bei manchen Thieren kommen an Stellen
der Haut Knochen vor, wo beim Menschen nur Bindegewebe
liegt, aber auch beim Menschen wird an vielen Stellen, wo frü-
her Knorpel lag, späterhin Knochengewebe gefunden. Am auf-
fälligsten sind diese Substitutionen im Gebiete der Muskeln.
Ein Thier hat quergestreifte Muskelfasern an derselben Stelle,
wo ein anderes glatte führt.
In krankhaften Zuständen gibt es pathologische Sub-
stitutionen, wo ein bestimmtes Gewebe ersetzt wird durch
ein anderes Gewebe, allein selbst dann, wenn der Ersatz der
[64]Dritte Vorlesung.
neuen Gewebsmasse von dem alten Gewebe ausgeht, kann die
Neubildung mehr oder weniger abweichen von dem ursprüng-
lichen Typus. Es ist daher eine grosse Kluft zwischen physio-
logischer und pathologischer Substitution, wenigstens zwischen
der physiologischen und gewissen Formen der pathologischen.
Physiologisch geschieht die Substitution stets durch Er-
setzung vermittelst eines Gewebes derselben Gruppe (Homo-
logie), pathologisch sehr häufig durch das Gewebe einer an-
deren (Heterologie). Dahin muss man die ganze Doctrin
von den specifischen Elementen der Pathologie zurückführen,
welche in den letzten Decennien eine so grosse Rolle gespielt
haben.
[[65]]
Vierte Vorlesung.
24. Februar 1858.
Die Ernährung und ihre Wege.
Thätigkeit der Gefässe. Verhältniss von Gefäss und Gewebe. Leber. Gehirn. Muskelhaut
des Magens. Knorpel. Knochen.
Abhängigkeit der Gewebe von den Gefässen. Metastasen. Gefässterritorien (vasculäre Ein-
heiten).
Die Ernährungsleitung in den Saftkanälen der Gewebe. Knochen. Zahn. Faserknorpel.
Hornhaut. Bandscheiben.
Nach der bekannten Vorstellung, unter der man sich die Er-
nährung gewöhnlich gedacht hat, waren die Gefässe diejeni-
gen Kanäle, welche wesentlich den Stoffverkehr vermitteln,
und auf die in einer bald activen, bald passiven Weise man
rechnete, wenn es sich darum handelte, den einzelnen Theil
in seinem Stoffverkehr zu controliren. In der Regel hat man
das Bestimmende bei dem Ernährungsvorgange mit einem Aus-
druck, der sich auch in die heutige Sprache hinübergeschlichen
hat, bezeichnet, indem man von einer Thätigkeit der Gefässe
sprach, wie wenn dieselben eine besondere Fähigkeit hätten,
auf die Zustände der nächsten Gewebs-Theile activ einzuwirken.
Wie ich schon das letzte Mal bei Gelegenheit der Mus-
kelfasern hervorhob (S. 51), so können wir heut zu Tage von
einer Action in den Gefässen nur in so weit sprechen, als
Muskelfasern an denselben vorhanden sind, und als sich
demnach die Gefässe durch Zusammenziehung ihrer Muskeln
verengern oder verkürzen können. Diese Verengerung könnte
das Resultat haben, dass der Durchtritt der Flüssigkeit da-
5
[66]Vierte Vorlesung.
durch gehemmt würde, während umgekehrt bei Erschlaffung
oder Lähmung der Muskeln das erweiterte Gefäss den Durch-
tritt der Flüssigkeiten begünstigen könnte. Gestehen wir dies
vorläufig zu, aber erlauben Sie mir, dass ich vorher die Ge-
websmasse, welche neben den Gefässen liegt und welche man
sich gewöhnlich als eine sehr einfache Masse vorstellt, etwas
auflöse.
Wenn man solche Theile wählt, wo die Gefässe recht
dicht liegen, und wo fast so viel Gefässe vorhanden sind,
als Gewebe, z. B. eine Leber, bei der in der That dieses
Verhältniss zutrifft, (denn eine Leber im gefüllten Zustande
der Gefässe hat nahezu so viel Volumen Gefässmasse als
eigentliche Lebersubstanz), so sehen wir, dass allerdings die
Spatien, welche zwischen den
Gefässen übrig bleiben, sich
auf eine ganz kleine Zahl von
Elementen reduciren.
Betrachten wir einen ein-
einzelnen Acinus der Leber
für sich, so finden wir in dem
glücklichsten Falle des Quer-
schnittes in seiner Mitte die
Vena centralis oder intralobu-
laris, die zur Lebervene geht, und im Umfange Aeste der Pfort-
aber, welche in das Innere capillare Zweige senden. Diese
Gefässauflösung erfolgt so, dass die Capillaren sehr schnell
ein Anfangs langmaschiges, später regelmässigeres Netz bil-
den, welches sich in der Richtung gegen die Vena centralis
hepatica fortsetzt und zuletzt in dieselbe einmündet. Das Blut
strömt also, indem es von der V. interlobularis portalis ein-
tritt, durch das Capillarnetz hindurch zur Vena intralobularis,
von wo es durch die Venae hepaticae wieder zum Herzen zu-
rückgeführt wird. Hat man nun eine injicirte Leber vor sich,
so sieht man dieses Netz so dicht, dass, was von Zwischen-
räumen übrig geblieben ist, fast geringer erscheint als das,
Stück von der Peripherie der Leber eines Kaninchens
Gefässe vollkommen injicirt. Vergr. 11.
[67]Capillargefässe der Leber.
was von Gefässen eingenommen wird. So kann man sich
leicht vorstellen, wie die älteren Anatomen, z. B. Ruysch,
durch ihre Injektionen auf die Vermuthung kommen konnten,
dass fast Alles im Körper aus Gefässen bestände und die
verschiedenen Organe nur durch Differenzen der Anordnung
der Gefässe sich unterschieden. Grade umgekehrt, wie an
einem Injectionspräparat, erscheint jedoch das Verhältniss an
einem gewöhnlichen Präparat aus einer Leber. Hier nimmt
man die Gefässe fast gar nicht wahr. Man sieht wohl ein
ähnliches Netz, aber dies ist das Netz der Leberzellen (Fig. 27),
welche dicht an einander gedrängt alle Zwischenräume der
Gefässe erfüllen. Es ergibt sich also, dass Gefäss- und Le-
bernetz sich auf das Innigste durchflechten, so dass überall
fast unmittelbar an der Gefässwand auch Zellen des Leber-
parenchyms liegen; höchstens dass zwischen der Zelle und
der Gefässwand noch eine feine Lage ist, von der es unter
den Histologen immer noch streitig ist, ob sie einer besonde-
ren Wand zuzuschreiben ist, welche die feinsten Gallengänge
zusammensetzt, oder ob nur eine minimale Quantität von Binde-
gewebe die Gefässe begleitet.
In diesem einfachsten Fall kann man allerdings ein ziem-
lich einfaches Verhalten sich denken zwischen den Gefässen
und den Zellen; man kann sich vorstellen, dass die
Menge des Blutes, welches in den Gefässen strömt,
je nach den Erweiterungszuständen der letzteren unmittelbar
einwirkt auf die anstossenden Elemente. Freilich könnte man
in Beziehung auf die Ernährungsverhältnisse entgegenhalten,
dass es sich hier um eine ganz eigenthümliche Einrichtung
handelt, die wesentlich venöser Natur ist, zusammengesetzt
aus Pfortader- und Lebervenenästen, allein in dasselbe Capillar-
Netz geht auch die Arteria hepatica hinein, und das Blut lässt
sich in demselben nicht mehr in seine einzelnen arteriellen
und venösen Theile zerlegen. Die Injectionen gelangen von
jedem der Gefässe zuletzt in dasselbe Capillar-Netz hinein.
So einfach, wie in der Leber, gestalten sich aber die Ver-
hältnisse in den meisten Theilen nicht; gewöhnlich liegen
ziemlich bedeutende Zwischenräume zwischen den einzelnen
Zellen, und nicht unbeträchtliche Quantitäten von Elementen
5*
[68]Vierte Vorlesung.
sind in der einzelnen Capillar-Masche enthalten. Ich zeige
Ihnen ein zweites Object, das von einem frischen menschlichen
Gehirne stammt, von einem Geisteskranken, der unter einer
hochgradigen Hyperämie des Gehirns gestorben war, und wo der
Schnitt durch das sehr rothe Corpus striatum geführt ist. Sie
können da die natürlich injicirten Gefässe übersehen, und die
Weite, welche die einzelnen Capillar-Maschen besitzen, lässt
sich klar vor Augen führen. Der Schnitt ist quer durch das
Corpus striatum gelegt, und man erkennt von Strecke zu
Strecke grössere, bei durchfallendem Lichte dunkel erscheinende
Stellen, rundliche Flecke (Fig. 29. a, a, a), die bei auffallen-
dem Lichte und für das blosse Auge weiss aussehen und Quer-
durchschnitte von Nervenfasern darstellen, welche in langen
Zügen gegen das Rückenmark hinziehen. Die Gefässe treten
in sie fast gar nicht ein. Die übrige Masse dagegen besteht
aus der eigentlichen grauen Substanz des Corpus striatum;
innerhalb derselben verbreitet sich ein sehr feinmaschiges Ge-
fässnetz, wie denn überhaupt die graue Substanz der Nerven-
centren sich sowohl im Innern, als an der Rinde durch ihren
grossen Gefässreichthum vor der weissen Substanz auszeich-
net. Einzelne grosse Gefässe sind in dem Object bemerkbar,
Natürliche Injection des Corpus striatum eines Geistes
kranken. a a Gefässlose Lücke, entsprechend den Zügen von Nerven-
fasern, welche das Ganglion durchsetzen. Vergr. 80.
[69]Gefässe des Gehirns, des Magens, der Knorpel.
von welchen Aeste ausgehen, die sich immer feiner verzwei-
gen und endlich in ganz feinmaschige Capillar-Netze über-
gehen. Allein so eng dieses Netz auch sein mag, so stösst
doch keineswegs jedes Element der Hirnsubstanz unmittelbar
an ein Capillargefäss.
Das dritte Object ist ein Injectionspräparat aus der Mus-
kelhaut des Magens, wo man bei stärkerer Vergrösserung
durch feine Längsstriche die
Richtung der Muskelfasern er-
kennen kann; hier bilden
die Gefässe ziemlich regel-
mässige, untereinander durch
Queranastomosen in Verbin-
dung stehende Netze, von de-
nen aus sich immer kleinere Ge-
fässe verästeln, die innerhalb
der Substanz seine Netze bilden, so dass dadurch das Ganze
in eine Reihe von unregelmässig viereckigen Abtheilungen zer-
legt wird. Auf einen letzten Zwischenraum fällt eine gewisse
Zahl von Muskelelementen, so dass die Gefässe an einigen
Stellen die Muskelfasern berühren, an andern Stellen entfern-
ter davon liegen.
Verfolgt man in dieser Weise die Einrichtung der ver-
schiedenen Organe und Gewebe, so kommt man von solchen,
welche nach der Injection fast nur aus Gefässen zu bestehen
scheinen, mit der Zeit zu denjenigen, welche fast gar keine
Gefässe enthalten und endlich zu solchen, welche wirklich
keine mehr führen. Dies trifft man am ausgesprochensten
innerhalb der Gewebe der Bindesubstanz, und die wichtigsten
darunter sind die Knochen und die Knorpel. Der ent-
wickelte Knorpel hat überhaupt gar keine Gefässe mehr; der
entwickelte Knochen enthält allerdings Gefässe, aber in einem
sehr wechselnden Maasse. Dass der entwickelte Knorpel
keine Gefässe enthält, davon dispensiren Sie mich wohl, Sie
noch speciell zu überzeugen, da Sie verschiedene Knorpelprä-
Injectionspräparat von der Muskelhaut des Magens eines
Kaninchens, 11mal vergrössert.
[70]Vierte Vorlesung.
parate gesehen haben, an denen nichts davon zu bemerken
war (Fig. 6, 9, 22). Ich lege Ihnen ein Stück von einem jungen
Knorpel vor, weil Sie daran sehen können, wie in der frühe-
ren Zeit sich die Gefässe im Knorpel verhalten. Es ist ein
Schnitt aus dem Calcaneus eines neugeborenen Kindes, wo von
der schon gebildeten centralen Knochenmasse aus, die Gefässe
in den noch existirenden Knorpel hineingehen. Das Präparat
zeigt an seiner äussersten Oberfläche die Uebergänge zu dem
Perichondrium, während der untere Theil des Schnittes von der
Grenze des schon gebildeten Knochens stammt. Von hier aus
sieht man grosse Gefässe aufsteigen, welche mitten im Knor-
pel endigen, indem sie Schlingen und Netze bilden, so dass
ihre Verbreitung aussieht, wie ein Zottenbaum, welcher in dem
Knorpel liegt, sehr ähnlich einer Chorion-Zotte vom Ei. In
der That wachsen von der Arteria nutritia her die Gefässe
Durchschnitt des Calcaneus-Knorpels beim Neugebornen.
C der Knorpel, dessen Zellen durch feine Punkte angedeutet sind.
P Perichondrium und anstossendes Fasergewebe. a die Ansatzstelle
am Knochen, mit den von der Art. nutritia aufsteigenden Gefässschlingen.
b b Gefässe, die durch das Perichondrium gegen den Knorpel andringen.
Vergrösserung 11.
[71]Gefässe der Knorpel und Knochen.
in den Knorpel hinein, aber nur bis zu einer gewissen
Höhe. Hier bilden sie wirkliche Schlingen, und das Ende
löst sich in ein feines Netzwerk von Capillaren auf, aus dem
sich am Ende wieder Venen zusammensetzen, um ziemlich
nahe an den Ort, wo sie herkamen, wieder zurückzugehen.
Die ganze übrige Masse aber besteht aus gefässlosem Knor-
pel, dessen Körperchen bei schwacher Vergrösserung als feine
Punkte erscheinen. Es liegt also ein ganzes Heer von Knor-
pelkörperchen zwischen den letzten Schlingen und der äusseren
Oberfläche. Diese ganze Lage ist daher in ihrer Ernährung
abhängig von dem Safte, der aus den Endschlingen weiter
dringt, zum Theil von den Stoffen, welche die spärlichen Ge-
fässe des Perichondriums zuführen. Die von der Art. nu-
tritia stammenden Gefässe bezeichnen schon ziemlich früh-
zeitig ungefähr die Grenze, bis zu welcher späterhin die
Ossification fortschreitet, während derjenige Theil, welcher
als Knorpelrest am Gelenk liegen bleibt, niemals Gefässe
enthält.
Was die Knochen anbetrifft, so ist bei ihnen das Gefäss-
Verhältniss an sich ein ziemlich einfaches, aber auch ein sehr
charakteristisches. Wenn wir die compacte Substanz be-
trachten, so sieht man gewöhnlich schon mit dem blossen
Auge bei oberflächlicher Betrachtung kleine Löcher, durch
welche Gefässe aus dem Perioste her eintreten. Bei einer
mässigen Vergrösserung erkennt man, dass diese Gefässe als-
bald unter der Oberfläche ein längliches Maschennetz bilden,
im Allgemeinen eine längslaufende Reihe untereinander anasto-
mosirender Röhren, die auch zuweilen mehr schräg nach Innen
gehen, aber doch im Wesentlichen eine Längsrichtung einhalten.
Zwischen diesen Maschen bleiben verhältnissmässig breite
Zwischenräume, innerhalb deren man, gerade so wie vorher
die Knorpelkörperchen, hier die Knochenkörperchen sieht, und
zwar auch in der Längsrichtung, parallel der Oberfläche. Un-
tersucht man denselben Theil auf einem Querschnitte, so be-
kommt man natürlich an der Stelle, wo vorher die Längska-
näle zu sehen waren, einfache Durchschnitte zu Gesicht, hier
und da durch eine schräge Verbindung, vereinigt. Zwischen
ihnen befindet sich die eigentliche Tela ossea, in lamellösen
[72]Vierte Vorlesung.
Schichten gelagert, und zwar zum Theil parallel der Oberfläche,
zum Theil concentrisch um die Gefässe. Im Innern sieht man
stets parallele, das Gefäss begleitende Linien.
Knochenschliff (Längsschnitt) aus der Rinde einer sklero-
tischen Tibia. a a Mark- (Gefäss-) Kanäle, zwischen ihnen die grossen-
theils parallel, bei b concentrisch (Querschnitt) geordneten Knochenkör-
perchen. Vergr. 80.
Knochenschliff. a querdurchschnittener Mark- (Gefäss-)
[73]Knochenkörperchen und Knochenkanälchen.
Zwischen den concentrisch abgelagerten Theilen bleibt
noch eine geringe Masse von Knochensubstanz übrig, welche
nicht dieser Bildung folgt, sondern sich mehr unabhängig ver-
hält, und welche bei genauer Analyse sich darstellt als aus
kleinen Säulen gebildet, die senkrecht auf der Längsaxe des
Knochens stehen und dann in eine Art von Bogen übergehen,
die der Längsaxe parallel sind. Da man meistentheils in
den Durchschnitten, die man durch Schliffe des Knochens ge-
winnt, das Gefäss selbst nicht mehr erkennt, so nannte man
die Höhlung, in der es steckt, Markkanal, uneigentlich, inso-
fern in diesen engen Kanälen meist kein Mark enthalten ist;
man sollte eigentlich sagen: Gefässkanäle, doch ist jener Aus-
druck in der Art recipirt, dass man ihn auch da gebraucht,
wo ein Gefäss sich unmittelbar an die Oberfläche der Höhlung
anschliesst. Im nächsten Umfange dieser Kanäle sehen wir
zunächst eine Reihe von eigenthümlichen Gebilden: längliche,
Kanal, um welchen die concentrischen Lamellen l mit Knochenkörperchen
und anastomosirenden Knochenkanälchen liegen. r längsdurchschnittene,
parallele Lamellen. i unregelmässige Lagerung in den ältesten Knochen-
schichten. v Gefässkanal. Vergrösserung 280.
Knochenkörperchen aus einem pathologischen Knochen
von der Dura mater cerebralis. Man sieht die verästelten und anastomo-
sirenden Fortsätze derselben (Knochenkanälchen) und innerhalb der Kno-
chenkörperchen kleine Punkte, welche den trichterförmigen Anfang der
Kanälchen bezeichnen. Vergr. 600.
[74]Vierte Vorlesung.
gewöhnlich bei auffallendem Lichte schwarz erscheinende Kör-
per, die mit Zacken versehen sind. Nach der ursprünglichen
Bezeichnung nannte man sie Knochenkörperchen, und ihre
Zacken oder Ausläufer Knochenkanälchen, Canaliculi ossei;
da man anfänglich die Ansicht hegte, dass die Kalksubstanz
eigentlich in diesen Elementen abgelagert sei und dass das
dunklere Aussehen, welches die Körper bei durchfallendem
Lichte darzubieten pflegen, eben von dem Kalkgehalte herrühre,
so hat man die Kanäle auch als Canaliculi chalicophori bezeich-
net, ein Name, der heut zu Tage ganz gestrichen ist, weil
man sich überzeugt hat, dass in ihnen der Kalk gerade nicht
enthalten ist, sondern derselbe überall sich findet in der homo-
genen Grundsubstanz, welche zwischen ihnen liegt.
Als man diese Entdeckung machte, dass gerade umgekehrt,
wie man geglaubt hatte, die Vertheilung des Kalkes in dem
Knochengewebe stattfindet, so ging man alsbald in das
andere Extrem über, indem man an die Stelle des Na-
mens der Knochenkörperchen den der Knochen-Lücken
(Lacunen) setzte und annahm, der Knochen enthalte
nur eine Reihe von leeren Höhlen und Kanälen, in welche
allenfalls eine Flüssigkeit eindringe, welche aber eigentlich
doch nur Spalten innerhalb des Knochens darstellten. Einzelne
nannten sie auch geradezu Knochenspältchen. Ich habe mich
nun bemüht, auf verschiedene Weise den Nachweis zu führen,
dass sie wirkliche Körperchen seien und nicht blosse Höhlen
darstellen in einem dichten Grundgewebe, dass sie mit
besonderen Wandungen und eigenen Grenzen versehene
Gebilde vorstellen, welche sich von der Zwischensubstanz tren-
nen lassen. Denn man kann durch chemische Einwirkung
es dahin bringen, dass man die Körperchen aus der Grund-
substanz frei macht, indem man diese auflöst. Dadurch ist
wohl am sichersten der Nachweis geliefert, dass es wirklich
für sich bestehende Gebilde seien. Ueberdiess findet man in-
nerhalb dieser Körper einen Kern und auch ohne auf die Ent-
wicklungsgeschichte überzugehen, ergibt sich, dass man es auch
hier wieder mit zelligen Elementen sternförmiger Art zu
thun hat. Die Zusammensetzung des Knochens zeigt uns dem-
nach ein Gewebe, welches sich zusammensetzt aus einer schein-
[75]Gefässterritorien und Zellenterritorien.
bar ganz homogenen Grundmasse, in welcher in sehr regel-
mässiger Weise sich die eigentlichen sternförmigen Knochen-
zellen finden.
Die Zwischenräume, welche zwischen je zwei Gefässen
liegen, sind oft sehr bedeutend; ganze Lamellensysteme schie-
ben sich zwischen sie ein, mit zahlreichen Knochenkörperchen
durchsetzt. Hier ist es gewiss schwierig, sich die Ernährung
eines so complicirten Apparates als abhängig von der Thätig-
keit der zum Theil so weit entfernten Gefässe zu denken, na-
mentlich wie jedes einzelne Theilchen in dieser grossen Zu-
sammensetzung immer noch in einem Specialverhältniss der
Ernährung zu den Gefässen stehen soll.
Ich habe Ihnen diese Einzelheiten vorgeführt, um die all-
mälige Gradation zu zeigen, die von den gefässhaltigen und
den gefässreichen zu den gefässarmen und den gefässlosen
Theilen Statt findet. Will man eine einfache Anschauung der
Ernährungsverhältnisse haben, so glaube ich, dass man es als
logisches Prinzip aufstellen muss, dass Alles, was man für die
Ernährung der gefässreichen Theile aufstellt, auch für die ge-
fässarmen und für die gefässlosen Gültigkeit haben muss,
und dass, wenn man die Ernährung der einzelnen Theile
in eine directe Abhängigkeit von den Gefässen oder dem Blute
stellt, man wenigstens darthun muss, dass alle Elemente, wel-
che in nächster Beziehung zu einem und demselben Gefässe
stehen, welche auf ein einziges Gefäss angewiesen sind, we-
sentlich gleichartige Lebensverhältnisse darbieten. In dem
Falle vom Knochen müsste ein ganzes System von Lamellen,
welches nur das eine Gefäss für seine Ernährung haben kann,
immer gleichartige Zustände darbieten. Denn wenn das Ge-
fäss das Thätige bei der Ernährung ist oder das Blut, wel-
ches in demselben circulirt, so könnte man höchstens zulassen,
dass ein Theil der Elemente ihrer Einwirkung mehr, ein an-
derer weniger ausgesetzt ist; im Wesentlichen müssten sie
aber doch immer eine gemeinschaftliche und gleichartige Ein-
wirkung erfahren. Dass dies keine unbillige Anforderung ist,
dass man eine gewisse Abhängigkeit bestimmter Gewebs-Ter-
ritorien von bestimmten Gefässen allerdings zugestehen muss,
davon haben wir die schönsten Beispiele in der Lehre von
[76]Vierte Vorlesung.
den Metastasen, in dem Studium der Veränderungen, welche
durch die Verschliessung einzelner Capillargefässe zu Stande
kommen, wie wir sie aus der Geschichte der metastatischen
Embolie kennen. In solchen Fällen sehen wir in der That, dass
ein ganzes Gewebsstück, so weit es in einer unmittelbaren
Beziehung zu einem Gefässe steht, auch in seinen pathologi-
schen Verhältnissen ein Ganzes vorstellt, eine Gefässeinheit.
Allein diese Gefässeinheit erscheint vor einer feineren Auffassung
immer noch als ein Vielfaches, und es genügt nicht, den Kör-
per etwa in lauter Gefäss-Territorien zu zerlegen, sondern man
muss noch innerhalb derselben weiter auf die Zellenterritorien
zurückgehen.
In dieser Auffassung ist es, wie ich glaube, ein wesent-
licher Fortschritt gewesen, dass wir innerhalb der Gewebe der
Bindesubstanz, wie ich Ihnen das neulich hervorgehoben habe
(S. 43.), ein besonderes System anastomosirender Elemente
kennen gelernt und auf diese Weise statt der Vasa se-
rosa, welche sich die Früheren für diese nächsten Zwecke der
Ernährung zu den Capillaren hinzudachten, eine bestimmte
Ergänzung bekommen haben, insofern dadurch die Möglichkeit
von Saftströmungen an Orten gegeben ist, die an sich verhält-
nissmässig arm an Gefässen sind. Wenn wir beim Knochen
stehen bleiben, so wären Vasa serosa eine kaum zu rechtfer-
tige de Annahme. Die harte Grundsubstanz ist durch und
durch mit einer ganz gleichmässigen Infiltration von Kalksal-
zen erfüllt, so gleichmässig, dass man gar keine Trennung
der einzelnen Kalktheilchen wahrnimmt. Wenn Einzelne an-
genommen haben, dass man kleine Körner daran unterscheiden
könne, so ist dies ein Irrthum. Die einzige Differenzirung,
welche man sieht, ist dadurch bedingt, dass in diese Substanz
hinein die Canaliculi reichen, welche zuletzt alle zurückführen
auf die Körper der Knochenzellen (Knochenkörperchen), und
welche ihrerseits wieder Verästelungen eingehen. Diese Aeste,
diese kleinen Fortsätze, reichen nun unmittelbar bis an die
Oberfläche des Gefässkanals (Markkanals). Sie setzen also
unmittelbar da ein, wo die Gefässmembran beginnt, denn man
kann sie deutlich auf der Wand des Kanals als kleine Löcherchen
wahrnehmen. Da nun die verschiedenen Knochenkörper-
[77]Knochen- und Zahnkanälchen.
chen wieder unter sich in offener Verbindung stehen, so ist
dadurch die Möglichkeit gegeben, dass eine gewisse Quantität
von Saft, welcher von der Oberfläche des Gefässkanals aufge-
nommen ist, nicht diffus durch die ganze Gewebsmasse
hindurch dringt, sondern auf diesen feinen prädestinirten und
continuirlichen Wegen bleibt, auf diesen, der Injection vom
Gefässe aus nicht mehr zugänglichen Kanälen sich fortbewe-
gen muss. Eine Zeitlang hat man geglaubt, dass die Kanäl-
Schliff aus einem neugebildeten Knochen der Arachnoides
cerebralis, der übrigens ganz normale Verhältnisse des Baues zeigt. Man
sieht einen verästelten Gefäss- (Mark-) Kanal mit den in ihn einmün-
denden und zu den Knochenkörperchen führenden Knochenkanälchen
Vergr. 350.
[78]Vierte Vorlesung.
chen vom Gefässe aus zu injiciren seien, allein dies ist nur
vom leeren (macerirten) Gefässkanal aus möglich.
Es ist dies ein ganz ähnliches Verhältniss, wie am Zahn,
wo man von der Zahnhöhle aus die Zahnkanälchen injiciren kann.
Spritzt man z. B. eine Carminlösung in die Zahnhöhle, so
sieht man die Zahnkanälchen als zahlreich neben einander
strahlig heraufgehende Röhren, welche zu der Oberfläche auf-
steigen. Die Zahnsubstanz bildet eben auch eine ziemlich
breite Schicht von gefässloser Substanz. Gefässe finden sich
nur in der Markhöhle des Zahns; von da nach aussen haben
wir weiter nichts, als die eigentliche Zahnsubstanz mit ihrem
Röhrensystem, welches bis nahe an die Oberfläche reicht und an
der Zahnwurzel unmittelbar übergeht in eine Lage von wirk-
licher Knochensubstanz (Cement), wo die Knochenkörperchen
am Ende dieser Röhren aufsitzen. Eine ähnliche Weise der
Einrichtung der Saftströmung, wie vom Marke der Knochen,
geht hier von der Pulpe aus; der Ernährungssaft kann durch
Röhren bis zur Oberfläche geleitet werden.
Diese Art von Röhrensystemen, die im Knochen und Zahn
in einer so ausgesprochenen Weise sich findet, ist in den wei-
chen Gebilden mit einer ungleich geringeren Klarheit zu über-
sehen, und das ist wohl hauptsächlich der Grund gewesen,
dass man die Analogie, welche zwischen den weichen Gewe-
ben der Bindesubstanz und den harten der Knochen besteht,
nicht recht zur Anschauung gebracht hat. Am deutlichsten
sieht man solche Systeme an Punkten, die eine mehr knorplige
Beschaffenheit haben, z. B. wo Faserknorpel liegt. Aber
es ist sehr bezeichnend, dass wir von dem Knorpel eine Reihe
von Uebergängen zu den anderen Geweben der Bindesubstanz
finden, welche stets dasselbe Verhältniss wiederholen. Zuerst
Theile, die chemisch noch zum Knorpel gehören, z. B. die
Hornhaut, welche beim Kochen Chondrin gibt, obgleich sie
Niemand als wirklichen Knorpel ansieht. Viel auffälliger ist
die Einrichtung bei solchen Theilen, bei denen die äussere Er-
scheinung für Knorpel spricht, aber die chemischen Eigenschaf-
ten nicht übereinstimmen, z. B. bei den Cartilagines semiluna-
res im Kniegelenk, den Bandscheiben zwischen Femur und Ti-
bia, welche die Gelenkknorpel vor zu starken Berührungen
[79]Kanäle der Bandscheiben.
schützen. Diese Theile, welche allgemein noch jetzt als Knor-
pel beschrieben werden, geben beim Kochen kein Chondrin,
sondern Leim; und hier, in diesem harten Bindegewebe, treffen
wir, wie in der Hornhaut und dem Faserknorpel, dasselbe
System von anastomosirenden Elementen mit einer ungewöhn-
lichen Schärfe und Klarheit. Gefässe fehlen darin fast gänz-
lich; dagegen enthalten diese Bandscheiben ein Röhrensystem von
seltener Schönheit. Auf dem Durchschnitte sieht man, dass das
Ganze sich zunächst zerlegt in grosse Abschnitte, ganz ähn-
lich wie eine Sehne; diese sind wieder zerlegt in kleinere, und
diese kleinen sind endlich durchsetzt von einem feinen,
sternförmigen System von Röh-
ren, oder wenn Sie wollen, von
Zellen, insofern der Begriff einer
Röhre und Zelle hier ganz zu-
sammenfallen. Die Zellennetze,
welche hier das Röhrensystem
bilden, gehen nach aussen hin
in die Grenzlager der einzelnen
Abschnitte über, und hier sehen
wir nebeneinander beträchtliche
Anhäufungen von zelligen Elemen-
ten. Auch in den Bandscheiben
hängt das Ganze äusserlich zu-
sammen mit dem Circulationsappa-
rat; Alles, was in das Innere
gelangt, muss auf grossen Um-
wegen ein Kanalsystem mit zahlreichen Anastomosen pas-
siren, und die Ernährung ist ganz und gar abhängig von die-
ser Art der Leitung. Die Bandscheiben sind Gebilde von
beträchtlichem Umfange und grosser Dichtigkeit; und da hier
alle Ernährung auf das letzte feine System von Zellen zurück-
zuführen ist, so haben wir es noch viel mehr, als beim Knorpel,
Durchschnitt aus der halbmondförmigen Bandscheibe (Car-
tilago semilunaris) des Kniegelenks vom Kinde. a Faserzüge mit spin-
delförmigen, parallel liegenden und anastomosirenden Zellen (Längsschnitt)
b Netzzellen mit breiten verzweigten und anastomosirenden Kanälchen
(Querschnitt). Mit Essigsäure behandelt. Vergr. 350.
[80]Vierte Vorlesung.
mit einer Art der Saftzufuhr zu thun, welche nicht mehr di-
rekt von den Gefässen bestimmt werden kann.
Für die Erklärung füge ich nur hinzu, dass die letzten
Elemente als sehr feine Zellenkörper erscheinen, die in lange,
feine Fäden ausgehen, welche sich wieder verästeln und auf
Durchschnitten sich als kleine Punkte darstellen, an welchen
man ein helles Centrum erkennt. Die Fäden lassen sich mit
grosser Bestimmtheit endlich an den gemeinschaftlichen Zellenkör-
per verfolgen, ganz wie im Knochen. Es sind feinste Röh-
ren, die in innigem Zusammenhang stehen, nur dass sie sich
hier an gewissen Punkten zu grösseren Haufen sammeln, durch
welche die Hauptleitung erfolgt, und dass die Zwischensubstanz
in keinem Falle Kalk aufnimmt, sondern stets ihre Bindege-
websnatur beibehält.
[[81]]
Fünfte Vorlesung.
27. Februar 1858.
Ernährung und Saftleitung.
Sehnen. Hornhaut. Nabelstrang.
Elastisches Gewebe. Lederhaut.
Lockeres Bindegewebe. Tunica dartos.
Bedeutung der Zellen für die [Specialvertheilung] der Ernährungssäfte.
Gestatten Sie mir, meine Herren, dass ich an dasjenige an-
knüpfe, was wir in der vorigen Stunde gesehen und besprochen
haben, und dass ich Ihnen noch einige Präparate vorführe für
jene eigenthümliche Art der Ernährungs-Einrichtung, die wir
schon bei verschiedenen Geweben kennen gelernt haben, und
die Ihnen, wie ich hoffe, auch für pathologische Vorgänge als
wesentlich erscheinen wird.
Sie erinnern sich, wir hatten zuletzt eine Bandscheibe be-
trachtet, wie sie in der ausgesprochensten Form im Kniege-
lenke an den sogenannten Semilunar-Knorpeln vorkommt, die
eben keine Knorpel sind. Vielmehr zeigen sie die Eigenschaf-
ten einer platten Sehne; die einzelnen Structurverhältnisse,
die wir in ihnen gefunden haben, wiederholen sich im ganzen
Querschnitt einer Sehne.
Wir haben heute eine Reihe von Objecten von der Achil-
les-Sehne sowohl des Erwachsenen, als des Kindes, welche die
verschiedenen Entwicklungs-Stadien zeigen; es ist dies über-
dem eine Sehne, die manche Bedeutung für operative Zwecke
hat, die also wohl einen kleinen Aufenthalt entschuldigt.
6
[82]Fünfte Vorlesung.
An der Oberfläche einer Sehne sieht man bekanntlich mit
blossem Auge eine Reihe von weisslichen Streifen ziemlich
dicht der Länge nach verlaufend, wodurch das atlasglänzende
Aussehen entsteht. Aufeinem microscopischen Längsschnitte liegen
die Streifen mehr getrennt, die Sehne sieht ein wenig fasciculirt und
nicht so gleichmässig aus, wie an der Oberfläche. Dies Aussehen tritt
nun viel deutlicher auf einem Querschnitte hervor, wo man eine
Reihe von kleineren und grösseren Abtheilungen (Fascikeln) zu
Gesicht bekommt. Vergrössert man das Objekt, so zeigt sich
eine innere Einrichtung, welche fast ganz dem entspricht, was
wir bei dem Semilunar-Knorpel beobachtet haben. Am äusse-
ren Umfange der Sehne liegt ringsumher eine faserige Masse,
in der Gefässe enthalten sind, welche die Sehne äusserlich
umspinnen. Von da aus gehen an einzelnen Stellen Gefässe
in das Innere, wo sie in den grösseren Zwischenräumen der
Fascikel sich finden; allein bis in die eigentlichen Fascikel
selbst geht nichts mehr von Gefässen hinein, ebensowenig als
in das Innere der Bandscheiben; hier finden wir vielmehr wie-
der das fragliche Zellennetz, oder anders ausgedrückt, das
eigenthümliche saftführende Kanalsystem, welches wir neulich
in seiner Bedeutung beim Knochen betrachtet haben.
Querschnitt aus der Achilles-Sehne eines Erwachsenen.
Von der Sehnenscheide aus sieht man bei a, b und c Scheidewände nach
[83]Sehnen.
Man kann demnach die Sehne zunächst in grössere (pri-
märe) Bündel zerlegen, diese aber wieder in eine gewisse
Summe kleinerer (secundärer) Fascikel theilen, welche durch
breitere Züge einer faserigen, Gefässe und Faserzellen enthal-
tenden Substanz getrennt sind, so dass der Querschnitt der
Sehne ein maschiges Aussehen darbietet. Von dieser Zwischen-
masse, die jedoch nicht als ein Gewebe besonderer Art zu be-
trachten ist, gehen in das Innere der Fascikel sternförmige
Elemente (Sehnenkörperchen) hinein, welche unter sich
anastomosiren und die Verbindung zwischen den äusseren ge-
fässhaltigen und den inneren gefässlosen Theilen der Fascikel her-
stellen. Dies Verhältniss ist in einer kindlichen Sehne natür-
lich sehr viel deutlicher als in einer erwachsenen. Je älter
Innen laufen, welche maschenförmig zusammenhängen und die primären
und secundären Fascikel abgrenzen. Die grösseren (a und b) pflegen Ge-
fässe zu führen, die kleineren (c) nicht mehr. Innerhalb der secundären
Fascikel sieht man das feine Maschennetz der Sehnenkörperchen (Netz-
zellen) oder das intermediäre Saftkanalsystem. — Vergr. 80.
Querschnitt aus dem Innern der Achilles-Sehne eines Neu-
gebornen. a die Zwischenmasse, welche die secundären Fascikel schei-
det (entsprechend Fig. 37 c), ganz und gar aus dichtgedrängten Spindel-
zellen bestehend. Mit diesen in direkter Anastomose sieht man seitlich
bei b, b netz- und spindelförmige Zellen in das Innere der Fascikel
verlaufen. Die Zellen sind deutlich kernhaltig. Vergr. 300.
6*
[84]Fünfte Vorlesung.
nämlich die Theile werden, um so länger und feiner werden
im Allgemeinen die Ausläufer der Zellen, so dass man an
vielen Schnitten die eigentlichen Zellenkörper gar nicht trifft,
sondern nur feine, in Fäden zu verfolgende Punkte oder Oeff-
gen erblickt. Die einzelnen Zellkörper rücken also weiter aus-
einander und es wird immer schwieriger, die ganzen Zellen
auf einmal zu übersehen. Auch muss man sich erst über das
Verhältniss von Längs- und Querschnitt ins Klare versetzen.
Wo nämlich auf einem Längsschnitte spindelförmige Elemente
liegen, da treffen wir auf einem Querschnitte sternförmige, und
dem Zellennetze des Querschnittes entspricht die regelmässige
Abwechselung von reihenweise gestellten spindelförmigen Ele-
menten des Längsschnittes ganz nach dem Schema wie wir es
beim Bindegewebe aufgestellt haben. Die Elemente sind also auch
hier nur scheinbar einfach spindelförmig, wenn man einen rei-
nen Längsschnitt betrachtet; ist dieser etwas schräg ge-
Längsschnitt aus dem Innern der Achilles-Sehne eines Neu-
gebornen. a, a, a Zwischenmassen, b, b Fascikel. In beiden sieht man
spindelförmige Kernzellen, zum Theil anastomosirend, mit leicht längs-
streifiger Zwischenmasse, die Zellen in der Zwischenmasse dichter, in den
Fascikeln spärlicher, bei c der Durchschnitt eines interstitiellen Blut Ge-
fässes. Vergr. 250.
[85]Die Ernährung des Sehnengewebes.
fallen, so sieht man die seitlichen Ausläufer, durch welche
die Zellen einer Reihe mit denen der anderen communiciren.
Bis zu diesem Augenblicke hat man das Wachsthum der
Sehnen nach der Geburt noch nicht zu dem Gegenstande
einer regelmässigen Untersuchung gemacht, und es lässt sich
nicht sagen, ob hier noch eine weitere Vermehrung der Zellen
stattfindet; so viel ist jedoch sicher, dass die Zellen später
sehr verlängert und die Abstände zwischen den einzel-
nen Kernstellen ausserordentlich gross werden. Das eigent-
liche Structurverhältniss erleidet dadurch aber keine Verände-
rung; die ursprünglichen Zellen erhalten sich auch in dem
grossen Röhrensystem, welches in der ausgewachsenen Sehne
das ganze Gewebe durchzieht. Daraus erklärt sich die Mög-
lichkeit, dass, obwohl die Sehne in ihren eigentlichen, inneren
Theilen keine Gefässe enthält und, wie man bei jeder Teno-
tomie sehen kann, nur wenig Blut in den äusseren Gefässen
der Sehnenscheide und den inneren Gefässen der Intersti-
tien der grösseren Bündel empfängt, doch eine gleichmässige
Ernährung der Theile stattfindet. Diese kann in der That
nur so gedacht werden, dass auf besonderen, von den Gefäs-
sen unterscheidbaren Wegen Säfte durch die ganze Substanz der
Sehne in einer regelmässigen Weise vertheilt werden. Die
natürlichen Abtheilungen der Sehne sind aber fast ganz regel-
mässig, so dass ungefähr auf jedes einzelne zellige Element
eine gleich grosse Menge von Zwischengewebe kommt,
und da die Zellenmaschen des Innern sich direkt in die
dichten Zellenkanäle der Interstitien und diese bis an die
Gefässe verfolgen lassen (Fig. 37. 38), so darf man wohl un-
zweifelhaft in ihnen die Wege jener intermediären Saftströmung
sehen, welche nicht mehr durch Ostien mit der allgemeinen
Blutströmung zusammenhängt.
Sie haben hier ein neues Beispiel für meine Ansicht von
den Zellenterritorien. Ich würde die ganze Sehne zerlegen,
nicht in primäre und secundäre Fascikel, sondern vielmehr in
eine gewisse Reihe von maschenförmig verbundenen Zellen;
jeder Reihe würde ich ferner ein gewisses Gewebsgebiet zu-
rechnen, so dass z. B. auf einem Längsschnitte etwa die Hälfte
der Zwischenmasse der einen, die Hälfte der anderen Zellen-
[86]Fünfte Vorlesung.
reihe zugehören würde. Das, was man als die eigentlichen
Bündel der Sehne betrachtet, würde in diesem Sinne eigentlich
zu zerspalten sein; man müsste sich die Sehne zerlegen
in eine grosse Zahl von Ernährungs-Territorien.
Dies ist das Verhältniss, welches wir überall bei diesen Ge-
weben wiederfinden. Aus ihm leitet sich, wie Sie sich hoffent-
lich durch die directe Anschauung überzeugen werden, die
Grösse der Krankheitsgebiete zugleich ab: jede Krankheit,
welche wesentlich auf einer Störung der inneren Gewebs-Ein-
richtung beruht, stellt immer eine Summe aus den Einzelver-
änderungen solcher Territorien dar. Aber zugleich gewähren die
Bilder, welche man hier gewinnt, durch die Zierlichkeit dieser
Einrichtung einen wirklich ästhetischen Genuss, und ich kann
nicht läugnen, dass ich, so oft ich einen Sehnenschnitt ansehe,
mit einem besonderen Wohlgefallen diese netzförmigen Ein-
richtungen betrachte, welche die Verbindung des Aeusseren
mit dem Inneren herstellen, und welche, ausser in dem Kno-
chen, in der That in keinem Gebilde mit grösserer Schärfe
und Klarheit sich darlegen lassen, wie in einer Sehne. —
Ich könnte hier, meine Herren, dem Bau und den Ein-
richtungen nach am leichtesten die Geschichte der Hornhaut
anschliessen, indessen werde ich später darauf zurückkommen,
da die Hornhaut das bequemste Object zugleich für die De-
monstration der pathologischen Veränderungen darbietet. Nur
das will ich hervorheben, dass in ähnlicher Weise, wie die
Sehne ihr peripherisches Gefässsystem hat und ihre inneren
Theile durch das feine saftführende Röhrensystem ernährt
werden, so auch an der Hornhaut nur die feinsten Gefässe
einige Linien über den Rand herüberreichen, so dass die cen-
tralen Theile vollkommen gefässlos sind, was schon wegen
der Durchsichtigkeit des Gewebes sich als nothwendig ergibt.
Ich möchte dagegen ein anderes Gewebe hier anschlies-
sen, das sonst gerade nicht in der Histologie besonders bevor-
zugt ist, das aber für Sie vielleicht eher ein Interesse haben
wird, nämlich den Nabelstrang. Seine Substanz (die so-
genannte Wharton’sche Sulze) ist auch eines von den Gewe-
ben, welche allerdings Gefässe führen, aber doch eigentlich
keine Gefässe besitzen. Die Gefässe, welche durch den Nabel-
[87]Der Nabelstrang.
strang hindurchgeleitet werden, sind nicht nächste Nutritoren
der Nabelstrangsubstanz, wenigstens nicht in dem Sinne, wie
wir von Ernährungsgefässen an anderen Theilen sprechen.
Wenn man nämlich von nutritiven Gefässen handelt, so
meint man stets Gefässe, welche in den Theilen, die ernährt
werden sollen, Capillaren haben. Die Aorta thoracica ist nicht
das nutritive Gefäss des Thorax, eben so wenig als die Aorta
abdominalis das für die Bauchorgane. Man sollte also, wenn
es sich um den Nabelstrang handelt, erwarten, dass ausser
den beiden Nabel-Arterien und der Nabelvene noch Nabel-
Capillaren existiren. Allein die Nabel-Arterien und die Nabel-
Vene verlaufen, ohne auch nur das Mindeste von kleinen Ge-
fässen abzugeben, bis zur Placenta hin; erst hier beginnen die
Verästelungen. Die einzigen capillaren Gefässe, die überhaupt
in dem Nabelstrange eines etwas entwickelten Kindes gefun-
den werden, reichen nur etwa 4—5 Linien, selten ein wenig
mehr von der Bauchhaut aus in denjenigen Theil des Nabel-
stranges hinein, welcher nach der Geburt persistirt. Je nach-
dem dieser gefässhaltige Theil höher heraufreicht, um so stär-
ker kann sich der Nabel entwickeln. Bei sehr niedriger Ge-
fässschicht wird der Nabel sehr tief, bei sehr grosser gibt es
die prominirenden Nabel. Die
Capillaren bezeichnen hier die
Grenze, bis zu welcher das per-
manente Gewebe reicht; die Por-
tio caduca des Nabelstranges hat
keine eigenen Gefässe mehr.
Dies Verhältniss, welches ich
für die Theorie der Ernährung
sehr wichtig halte, übersieht man
sehr leicht mit blossem Auge an
injicirten Früchten vom 5. Monate
und an Neugebornen. Die ge-
fässhaltige Schicht setzt sich meist
fast geradlinig ab.
Das abdominale Ende des Nabelstranges eines fast ausge-
tragenen Kindes, injicirt. A die Bauchwand. B der persistirende Theil
mit dichter Gefäss-Injection am Rande. C Portio caduca mit den Win-
dungen der Nabelgefässe. v die Capillargrenze.
[88]Fünfte Vorlesung.
Freilich ist ein solches Object nicht absolut beweisend,
denn es könnten immerhin einzelne feine Gefässe noch weiter
gehen, welche nicht vom blossen Auge gesehen werden. Aber
ich habe früher gerade diesen Punkt zum Gegenstande einer
speciellen Untersuchung gemacht, und obwohl ich eine Reihe
von Nabelsträngen bald von den Arterien, bald von den Ve-
nen aus injicirt habe, ist es mir nie gelungen, auch nur das
kleinste collaterale Gefäss zu sehen, welches über die Grenze
der persistenten Schicht hinausging. Der ganze hinfällige
Theil vom Nabelstrang, die lange Partie, welche zwischen
dem cutanen Ende und der Placentar-Auflösung liegt, ist voll-
ständig capillarlos, und es ist in der That nichts weiter von
Gefässen vorhanden, als die drei grossen Stämme. Diese letz-
teren zeichnen sich aber sämmtlich durch sehr dicke Wandun-
gen aus, welche zugleich, wie wir eigentlich erst seit Kölli-
ker’s Untersuchung wissen, enorm reich an Muskelfasern
sind.
Auf einem Querschnitte durch den Nabelstrang bemerkt
man, wie die dicke mittlere Haut ganz und gar aus glatten
Muskelfasern besteht, eine unmittelbar an der andern, so reich-
lich, wie es kaum an irgend einem entwickelten Gefässe ge-
funden wird. Aus dieser Eigenthümlichkeit resultirt die ausser-
ordentlich grosse Contractilität der Nabelgefässe, was man bei
Einwirkung mechanischer Reize, beim Abschneiden mit der
Scheere, beim Kneifen oder auf electrische Reize im Gros-
sen sehen kann. Zuweilen verengern sie sich schon auf
äussere Reize selbst bis zum Verschluss ihres Lumens, woraus
sich erklärt, dass bei der Geburt auch ohne Ligatur, z. B.
nach Abreissen des Nabelstranges, die Blutung von selbst stehen
kann. Die Dicke dieser Wandungen ist daher leicht begreif-
lich, denn zu der an sich so dicken Muscularis kommt noch
eine innere und eine, wenn auch nicht grade sehr stark ent-
wickelte äussere Haut; daran schliesst sich erst das sulzige
Gallert-Gewebe (Schleimgewebe) des Nabelstranges. Durch
diese Lagen hindurch würde also die Ernährung geschehen
müssen. Ich kann nun allerdings nicht mit Sicherheit sagen,
von wo aus das Gewebe des Nabelstranges sich ernährt; viel-
leicht nimmt es aus dem Liquor Amnios Ernährungsstoffe auf;
[89]Das Schleimgewebe des Nabelstranges.
auch will ich nicht in Abrede stellen, dass durch die Wand
der Gefässe einzelne Ernährungsstoffe hindurchtreten mögen,
oder dass sich von den kleinen Capillaren des persistirenden
Theiles aus nutritives Material fortbewegt. Aber in jedem
Falle liegt eine grosse Strecke von Gewebe fern von allen
Gefässen und von der Oberfläche; diese ernährt und erhält
sich, ohne dass eine feinere Circulation von Blut in ihr vor-
handen wäre. Man hat nun allerdings lange Zeit hindurch
sich mit diesem Gewebe nicht weiter beschäftigt, weil man es
unter dem Namen der Sulze bezeichnete und damit überhaupt
aus der Reihe der Gewebe in die vieldeutige Gruppe der
blossen Anhäufungen von organischer Masse warf. Ich habe
erst gezeigt, dass es wirklich ein gut gebildetes Gewebe von
typischer Form ist, und dass dasjenige, was im engeren
Sinne die Sulze darstellt, einen Theil der Intercellularsubstanz
ausmacht, der sich ausdrücken lässt, während ein Gewebe zu-
rückbleibt, welches in derselben Weise ein feines, anastomoti-
sches Netz von zelligen Elementen enthält, wie wir das eben
bei der Sehne und den übrigen Theilen kennen gelernt haben.
Ein Durchschnitt durch die äusseren Theile zeigt eine Bildung,
welche viel Aehnlichkeit mit dem Habitus der äusseren Schich-
ten der Hornhaut hat: ein Epidermoidal-Stratum, eine etwas
Querdurchschnitt vom Schleimgewebe des Nabelstranges,
das Maschennetz der sternförmigen Körper nach Behandlung mit Essig-
säure und Glycerin darstellend. Vergr. 300.
[90]Fünfte Vorlesung.
dichtere cutisartige Lage, und dann die Wharton’sche Sulze,
welche der Textur nach dem Unterhautgewebe entspricht und
eine Art von Tela subcutanea darstellt, mit welcher sie im Anfange
wesentlich übereinstimmt. Sie hat insofern für die spätere
Zeit ein besonderes Interesse, als durch diese Bedeutung als
eigentliches Unterhautgewebe sie auch ihre nächste Verwandt-
schaft documentirt mit dem Glaskörper, welcher der einzige
Gewebs-Rest ist, der, soweit ich bis jetzt ermitteln konnte,
auf diesem Zustande von Gallerte oder von Sulze, wenn Sie
wollen, verharrt. Es ist, wie ich schon neulich anführte, der
letzte Rest des embryonalen Unterhautgewebes, welches bei
der Entwickelung des Auges unter der Linse (der früheren
Epidermis, S. 34—35) eingestülpt wird.
Die eigentliche Masse des Nabelstranges besteht aus
einem maschigen Gewebe, dessen Maschenräume Schleim
(Mucin) und einzelne rundliche Zellen enthalten und dessen
Lücken aus einer streifig-faserigen Substanz bestehen. Inner-
halb dieser letzteren liegen sternförmige Elemente; wenn
Querdurchschnitt durch einen Theil des Nabelstranges.
Links sieht man den Durchschnitt einer Nabelarterie mit sehr starker
Muskelhaut, daran schliesst sich nach aussen das allmälig immer weiter
werdende Zellennetz des Schleimgewebes. Vergr. 80.
[91]Das Bindegewebe (Zellgewebe).
man durch Behandlung mit Essigsäure ein gutes Präparat her-
stellt, so bekommt man ein regelrechtes Netz ven Zellen zn
Gesicht, welches die Masse in regelmässige Abtheilungen zer-
legt, so dass durch die Anastomosen, welche diese Zellen
durch den ganzen Nabelstrang haben, eben auch eine gleich-
mässige Vertheilung der Säfte durch die ganze Substanz mög-
lich wird. —
Ich habe Ihnen bis jetzt, meine Herren, eine Reihe von
Geweben vorgeführt, die alle darin übereinkamen, dass sie
entweder sehr wenig Capillargefässe oder gar keine haben.
In allen diesen Fällen erscheint der Schluss sehr einfach, dass
die besondere zellige Kanal-Einrichtung, welche sie besitzen,
für die Saftströmung diene. Man könnte aber meinen, es sei
dies eine Ausnahms-Eigenschaft, die nur den gefässlosen oder
gefässarmen, im Allgemeinen harten Theilen zukäme, und ich
muss daher noch ein Paar Worte über die weichen Organe
hinzufügen, welche einen ähnlichen Bau haben. Alle Gewebe,
welche wir bisher betrachtet haben, gehören der Classification
nach, welche ich Ihnen früher gegeben habe, in die Reihe der
Bindesubstanzen; der Faser-Knorpel, das fibröse oder Sehnen-
gewebe, das Schleim-, Knochen- und Zahngewebe müssen
sämmtlich derselben Klasse zugerechnet werden. In dieselbe
Kategorie gehört aber auch die ganze Masse dessen, was man
gewöhnlich unter dem Namen des Zellgewebes begriffen hat
und worauf zumeist der von Joh. Müller vorgeschlagene Na-
men des Bindegewebes passt; diejenige Substanz, welche
die Zwischenräume der verschiedensten Organe in bald mehr,
bald weniger grosser Menge erfüllt, welche die Verschiebung
der Theile gegen einander möglich macht, und von der man
sich früher dachte, dass sie grössere, mit einem gasförmigen
Dunst oder Feuchtigkeit gefüllte Räume (Zellen im groben
Sinne) enthielte.
Dieser Art ist das eigenthümliche Zwischen- oder Binde-
gewebe, wie wir es im Inneren grosser Muskeln finden, zwischen
den einzelnen Primitivbündeln, noch mehr zwischen den ein-
zelnen Haufen oder Bündeln von Primitivbündeln. Dies ist
ein an sich ziemlich gefässreiches Gewebe; es liegen darin
[92]Fünfte Vorlesung.
zahlreiche Arterien, Venen und Capillaren, und es ist die Ein-
richtung für die Ernährung die allergünstigste von der Welt.
Trotzdem besteht auch hier neben den Blutgefässen eine fei-
nere Einrichtung der Ernährungswege genau in derselben Art,
wie wir sie eben kennen gelernt haben, nur dass, je nach dem
besonderen Bedürfnisse, an einzelnen Theilen eine eigenthüm-
liche Veränderung der Zellen stattfindet, indem nach und nach
an die Stelle der einfachen Zellennetze und Zellenfasern eine
compactere Bildung tritt, welche durch eine directe Umwand-
lung daraus hervorgeht, nämlich das sogenannte elastische
Gewebe.
Wenige Monate, nachdem ich meine ersten Beobachtun-
gen über die Röhrensysteme der Bindesubstanzen mitgetheilt
hatte, veröffentlichte Donders seine Beobachtungen über die
Umbildung der Bindegewebszellen in elastische Elemente, —
eine Erfahrung, welche für die Ergänzung der Geschichte des
Bindegewebes von grosser Bedeutung geworden ist. Wenn
man nämlich an solchen Punkten, wo das Bindegewebe gros-
sen Dehnungen ausgesetzt ist, wo es also eine grosse Wider-
standsfähigkeit besitzen muss, untersucht, so findet man in
derselben Anordnung und Verbreitung, welche sonst die Zel-
len und Zellenröhren des Bindegewebes darbieten, die elasti-
schen Fasern, und man kann nach und nach die Umbildung
der einen in die anderen so verfolgen, dass es nicht zweifel-
Elastische Netze und Fasern aus dem Unterhautgewebe
vom Bauche einer Frau. a, a grosse, elastische Körper (Zellkörper) mit
[93]Elastische Fasern.
haft bleiben kann, dass auch die gröberen elastischen Fasern
direct durch eine chemische Veränderung und Verdichtung der
Wand der Zellen selbst hervorgehen. Da, wo ursprünglich
eine feine, mit langen Fortsätzen versehene Spindelzelle lag,
da sehen wir nach und nach die Membran an Dicke zuneh-
men und das Licht stärker brechen, während der eigentliche
Zelleninhalt sich immer mehr reducirt und endlich verschwin-
det. Das ganze Gebilde wird demnach gleichmässiger, ge-
wissermaassen sklerotisch und erlangt gegen Reagentien eine
unglaubliche Widerstandsfähigkeit, so dass nur die stärksten
Caustica nach längerer Einwirkung dasselbe zu zerstören im
Stande sind, während es den kaustischen Alkalien und Pflan-
zensäuren in der bei mikroskopischen Untersuchungen gebräuch-
lichen Concentration vollkommen widersteht. Je mehr diese
Veränderung fortschreitet, um so mehr nimmt die Elasticität
der Theile zu, und wir finden in den Schnitten diese Fasern
gewöhnlich nicht gerade oder gestreckt, sondern gewunden,
aufgerollt, spiralig gedreht, oder kleine Zikzaks bildend
(Fig. 43, c, e.). Dies sind Elemente, welche vermöge ihrer
grossen Elasticität Retractionen derjenigen Theile bedingen, an
welchen sie in grösserer Masse vorkommen, z. B. der Arterien.
Man unterscheidet gewöhnlich die feinen, elastischen Fasern,
welche eben die grosse Verschiebbarkeit besitzen, von den
breiteren, welche allerdings in gewundenen Formen sich nicht
darstellen. Der Entstehung nach scheint indess zwischen bei-
den Arten kein Unterschied zu sein; beide gehen aus Binde-
gewebszellen hervor, und die spätere Anordnung wiederholt
die ursprüngliche Anlage. An die Stelle eines Gewebes, wel-
ches aus Grundsubstanz und einem maschigen anastomosiren-
den Zellengewebe besteht, tritt nachher ein Gewebe, dessen
Grundsubstanz durch grosse elastische Maschennetze mit
höchst compakten und derben Fasern abgetheilt wird.
Bis jetzt ist nicht mit Sicherheit ermittelt, ob die Verdich-
tung (Sklerose) der Zellen bei dieser Umwandlung so weit
zahlreichen, anastomosirenden Ausläufern. b, b dichte elastische Faser-
züge, an der Grenze grösserer Maschenräume. c, c mittelstarke Fasern,
am Ende spiralig retrahirt. d, d feinere elastische Fasern, bei e fein-
spiralig zurückgezogen. Vergr. 300.
[94]Fünfte Vorlesung.
fortgeht, dass ihre Leitungsfähigkeit völlig aufgehoben, ihr
Lumen ganz beseitigt wird, oder ob im Innern eine kleine
Höhlung übrig bleibt. Auf Querschnitten feiner elastischer Fa-
sern sieht es so aus, als ob das Letztere der Fall sei, und
man könnte sich daher vorstellen, dass bei der Umbildung der
Bindegewebskörperchen in elastische Fasern eben nur eine
Verdichtung und Verdickung und zugleich eine chemische Um-
wandlung der Membran stattfände, schliesslich jedoch ein
Minimum des Zellenraumes übrig bliebe. Was für eine Sub-
stanz es ist, welche die elastischen Theile bildet, ist nicht er-
mittelt, weil an ihnen keine Art der Lösung ausführbar ist;
man kennt von der chemischen Natur dieses Gewebes nichts,
als einen Theil seiner Zersetzungs-Producte. Daraus lässt sich
weder die Zusammensetzung, noch die chemische Stellung zu
den übrigen Geweben beurtheilen.
Diese Art der Umwandlung findet sich ausserordentlich
verbreitet in der Haut, namentlich in den tieferen Schichten
der eigentlichen Lederhaut; sie bedingt hauptsächlich die aus-
serordentliche Resistenz dieses Gewebes, die wir mit so gros-
ser Anerkennung an unseren Sohlen zu erproben pflegen.
Denn die Festigkeit der einzelnen Schichten der Haut beruht
wesentlich auf dem grösseren oder geringeren Gehalt an elasti-
schen Fasern. Den oberflächlichsten Theil der Cutis dicht
unter dem Rete Malpighii bildet der Papillarkörper, worunter
man nicht nur die Papillen selbst, sondern auch eine Lage
von continuirlich fortlaufender Cutissubstanz zu verstehen hat;
erst darunter beginnen die groben elastischen Netze, während
in die Papillen selbst nur feine elastische Fasern in Bündel-
form aufsteigen, welche in der Basis der Papillen feine und
enge Maschennetze zu bilden anfangen (Fig. 16, P, P.). Letztere
hängen nach unten mit dem elastischen, sehr dicken und gro-
ben Netz zusammen, welches den mittleren, am meisten festen
Theil der Haut, die eigentliche Lederhaut durchsetzt; darun-
ter folgt ein noch gröberes Maschennetz innerhalb der weni-
ger festen, aber immerhin noch sehr soliden, unteren Schicht
der Cutis, welche nach unten in das Fett- oder Unterhautge-
webe übergeht.
An den Stellen, wo eine solche Umwandlung in elastisches
[95]Die äussere Haut.
Gewebe stattgefunden hat, findet man manchmal fast gar keine
deutlichen Zellen mehr. So ist es nicht bloss an der äusseren
Haut, sondern auch namentlich an gewissen Stellen der mitt-
leren Arterienhaut, namentlich an der Aorta. Hier wird das
Netz von elastischen Fasern so überwiegend, dass nur bei
grosser Sorgfalt es möglich ist, hier und da feine, zellige Ele-
mente zu entdecken. In der äusseren Haut dagegen findet
man neben den elastischen Fasern eine etwas grössere Menge
von kleinen Elementen, die ihre zellige Natur noch erhalten ha-
ben, allerdings in äusserst minutiöser Grösse, so dass man da-
nach speciell suchen muss. Sie liegen gewöhnlich in den
Zwischenräumen der grossmaschigen Netze, und bilden hier
entweder ein vollkommen anastomotisches, kleinmaschiges Sy-
stem, oder sie erscheinen auch wohl in Form mehr gesonder-
ter, rundlicher Gebilde, indem die einzelnen Zellen nicht ganz
deutlich mit einander in Verbindung stehen. Dies ist nament-
lich in dem Papillarkörper der Haut der Fall, der sowohl in
seiner continuirlichen Schicht, als in den Papillen kernhaltige
Zellen führt, im geraden Gegensatze zu der zugleich mehr ge-
fässarmen eigentlichen Lederhaut. Allein es bedurfte dort
allerdings einer ungleich zahlreicheren Menge von Gefässen,
da diese zugleich das Ernährungsmaterial für das ganze, über
der Papille liegende Oberhautstratum liefern müssen; es bleibt
dann doch immer nur eine kleine Menge von Saft der Papille
als solcher zur Disposition. Jeder Papille entspricht daher ein
gewisser (vasculärer) Bezirk der darüber liegenden Oberhaut,
dagegen zerfällt die Papille als solche wieder in so viele Ele-
mentar- (histologische) Bezirke, als überhaupt Elemente (Zel-
len) darin vorhanden sind.
Injectionspräparat von der Haut, senkrechter Durchschnitt.
E Epidermis, R Rete Malpighii, P die Hautpapillen mit den auf- und ab-
steigenden Gefässen (Schlingen). C Cutis. Vergr. 11.
[96]Fünfte Vorlesung.
Am Scrotum hat das subcutane Gewebe (Tunica dar-
tos) ein besonderes Interesse dadurch, dass es ausnehmend
reich an Gefässen und Nerven ist, ganz entsprechend der ho-
hen Bedeutung dieses Theiles, und dass es ausserdem eine enorme
Masse von Muskeln und zwar von jenen kleinen Hautmuskeln be-
sitzt, die ich Ihnen neulich beschrieben habe (S. 51). Letztere sind
die eigentlich wirksamen Elemente der contractilen Tunica
dartos. Gerade hier, wo man früher auf eine contractile Binde-
substanz zurückgegangen war, ist die Menge der Hautmuskeln
überaus reichlich, und die würdevollen Runzelungen des Hoden-
sackes entstehen einzig und allein aus der Contraction dieser
kleinen Bündel, welche man, namentlich nach Carminfärbung
Schnitt aus der Tunica dartos des Scrotums. Man sieht
neben einander parallel eine Arterie (a), eine Vene (v) und einen Ner-
ven (n); erstere beide mit kleinen Aesten. Rechts und links davon Muskel-
bündel (m, m) und dazwischen weiches Bindegewebe (c, c) mit grossen,
anastomosirenden Zellen und feinen elastischen Fasern. Vergr. 300.
[97]Tunica dartos und weiches Bindegewebe.
sehr leicht von dem Bindegewebe unterscheiden kann. Es
sind Fascikel von ziemlich gleicher Breite, meist breiter als
die Bindegewebsbündel; die einzelnen Elemente sind in ihnen
in Form von langen glatten Faserzellen zusammengeordnet.
Jedes Muskel-Fascikel zeigt, wenn man es mit Essigsäure be-
handelt, in regelmässigen Abständen jene eigenthümlichen,
langen, häufig stäbchenartigen Kerne, und zwischen ihnen eine
feine Abtheilung der Substanz zu einzelnen Zellen, deren In-
halt ein leicht körniges Aussehen hat. Das sind die Runzler
des Hodensackes (Corrugatores scroti). Daneben finden
sich in der überaus weichen Haut auch noch eine gewisse
Zahl von feinen elastischen Elementen, und in grösserer Menge
das gewöhnliche, weiche, lockige Bindegewebe mit einer gros-
sen Zahl verhältnissmässig umfangreicher, spindel- und netz-
förmiger, granulirter Kernzellen.
Diese persistirenden Zellen des Bindegewebes hat man
früher völlig übersehen, indem man als die eigentlichen Ele-
mente des Bindegewebes die Fibrillen desselben betrachtete.
Trennt man nämlich die einzelnen Theile des Bindegewebes
von einander, so bekommt man kleine Bündel von welliger
Form und streifigem, fibrillärem Aussehen. Freilich wird nach
Reichert dieses Aussehen nur durch Faltenbildung bedingt —
eine Vorstellung, die vielleicht nicht in der Ausdehnung, wie
sie aufgestellt wurde, angenommen werden darf, die aber so
lange nicht widerlegt ist, als eine vollkommene Isolation der
Fibrillen immer nur eine künstliche ist, und auf alle Fälle
neben den Fibrillen eine gleichmässige Grundmasse angenom-
men werden muss, welche die Bündel zusammenhält. Indess
ist dies eine Frage von untergeordneter Bedeutung. Dagegen
ist es äusserst wichtig zu wissen, dass überall, wo dies lockere
Gewebe liegt, im Unterhautgewebe, im Zwischenmuskelgewebe,
in den serösen Häuten, dasselbe durchzogen ist von meist ana-
stomosirenden Zellen (auf Längsschnitten parallelen Zellen-
reihen, auf Querschnitten Zellennetzen), welche in ähnlicher
Weise die Bündel des Bindegewebes von einander scheiden,
wie die Knochenkörperchen die Lamellen der Knochen. Da-
neben finden sich überall die mannigfachsten Gefässverbindun-
gen, und zwar so viel Gefässe, dass eine besondere Leitungs-
7
[98]Fünfte Vorlesung.
einrichtung des Gewebes selbst geradezu unnöthig erscheinen
könnte. Allein auch dies Gewebe, so günstig seine Capillar-
bahnen liegen, bedarf einer Einrichtung, welche die Möglichkeit
darbietet, eine Special-Vertheilung der ernährenden
Säfte auf die einzelnen zelligen Bezirke möglich zu
machen. Erst, wenn man die Aufnahme des Ernährungs-
materials als eine Folge der Thätigkeit (Anziehung) der Ge-
webs-Elemente selbst auffasst, begreift man, dass die einzelnen
Bezirke nicht jeden Augenblick der Ueberschwemmung vom
Blute aus preisgegeben sind, dass vielmehr das dargebotene
Material nur dem jeweiligen Bedürfnisse entsprechend in die
Theile aufgenommen und den einzelnen Bezirken in einem
solchen Maasse zugeführt wird, dass im Allgemeinen wenig-
stens, so lange irgend eine Möglichkeit der Erhaltung besteht,
der eine Theil nicht durch die anderen wesentlich benachthei-
ligt werden kann.
[[99]]
Sechste Vorlesung.
3. März 1858.
Ernährung und Circulation.
Arterien. Capillaren. Continuität der Gefässwand. Porosität derselben. Haemorrhagia per
diapedesin. Venen. Gefässe in der Schwangerschaft.
Eigenschaften der Gefässwand:
1. Contractillität. Rhythmische Bewegung. Active oder Reizungs-Hyperämie. Ischämie.
Gegenreize.
2. Elasticität und Bedeutung derselben für die Schnelligkeit und Gleichmässigkeit des
Blutstromes. Erweiterung der Gefässe.
3. Permeabilität. Diffusion. Specifische Affinitäten. Verhältniss von Blutzufuhr und Er-
nährung. Die Drüsensecretion (Leber). Specifische Thätigkeit der Gewebselemente.
Dyskrasie. Transitorischer Charakter und localer Ursprung derselben. Säuferdyskrasie. Hä-
morrhagische Diathese. Syphilis.
Ich habe Ihnen, meine Herren, in den letzten Vorlesungen
ein etwas weitläuftiges Bild von den feineren Einrichtungen
für die Saftströmungen im Körper zu liefern gesucht, und zwar
grade für diejenigen Saftströmungen, wo die Säfte selbst sich
der Beobachtung mehr entziehen. Erlauben Sie, dass ich heute
übergehe auf die grösseren Wege und die edleren Säfte,
welche der gangbaren Anschauung nach mehr im Vorder-
grund stehen.
Die Vertheilung des Blutes geschieht bekanntlich inner-
halb der Gefässe so, dass die Arterien sich in immer feinere
Aeste auflösen, und indem sie sich auflösen, den Habitus ihrer
Wandungen allmälig ändern, so dass endlich feine Kanäle
mit einer so einfachen Wand, wie sie überhaupt im Körper an-
getroffen wird, sogenannte Haarröhrchen, erscheinen. Die histo-
logischen Erscheinungen verhalten sich dabei folgendermassen:
7*
[100]Sechste Vorlesung.
Wenn wir eine Arterie isoliren, so finden wir, dass ihre
Wände verhältnissmässig sehr dick sind, und an denjenigen
Arterien, die man noch mit blossem Auge verfolgen kann, un-
terscheidet man mit Hülfe des Mikroskopes nicht bloss die
bekannten drei Häute, sondern noch ausser diesen eine feine
Epithelial-Schicht, welche die innere Oberfläche bekleidet, und
welche nicht in die gewöhnliche Bezeichnung der Häute auf-
genommen zu werden pflegt. Die innere und äussere Haut
sind wesentlich Bindegewebsbildungen, welche in grösseren
Arterien einen zunehmenden Gehalt an elastischen Fasern er-
kennen lassen; zwischen ihnen liegt die verhältnissmässig
dicke, mittlere oder Ringfaserhaut, welche als Sitz der Musku-
latur fast den wichtigsten Bestandtheil der Arterienwand aus-
macht. Die Muskulatur findet sich am reichlichsten in den
mittleren und kleineren Arterien, während in den ganz grossen.
namentlich in der Aorta, elastische Lagen den überwiegenden
Bestandtheil der Ringfaserhaut darstellen. An kleinen Arterien
bemerkt man bei mikroskopischer Untersuchung leicht inner-
halb dieser Haut (vgl. Fig. 26 b, b. Fig. 45, a.) kleine Quer-
Abtheilungen, entsprechend den einzelnen Faserzellen, welche
so dicht um das Gefäss herumliegen, dass wir in den kleinen
Arterien Faserzelle neben Faserzelle finden ohne irgend eine
Unterbrechung. Die Dicke dieser Schicht kann man durch
die Begrenzung, welche sie nach innen und aussen durch
Längsfaserhäute erfährt, bequem erkennen; das einzige Täu-
schende sind runde Zeichnungen, welche man hie und da in
der Dicke der Ringfaserhaut, aber nur am Rande des Ge-
fässes (Fig 26, b, b. 46, m, m.) sieht, und welche wie eingestreute
runde Zellen oder Kerne aussehen. Dies sind die in schein-
baren Querschnitten gesehenen Faserzellen. Am deutlich-
sten aber erkennt man die Lage der Media nach Behandlung
mit Essigsäure, welche längliche Kerne in grosser Zahl her-
vortreten lässt.
Diese Schicht ist es, welche im Allgemeinen der Arterie
ihre Besonderheit gibt, und welche sie am Wesentlichsten
unterscheidet von den Venen. Freilich gibt es zahlreiche Ve-
nen am Körper, die bedeutende Muskelschichten besitzen, z. B.
die oberflächlichen Hautvenen, indess gerade bei den kleineren
[101]Kleine Arterien.
Gefässen bezieht sich dieses Vorkommen einer deutlich aus-
gesprochenen Ringfaserhaut wesentlich auf arterielle Gefässe,
so dass man sofort geneigt ist, wo man einen solchen Bau
findet, auch ein arterielles Gefäss anzunehmen.
Diese immer noch grösseren Gefässe, die im gefüllten
Zustande, vom blossen Auge betrachtet, allerdings nur als rothe
Fäden erscheinen, gehen nach und nach in kleinere über, und
wir sehen bei 300maliger Vergrösserung, dass sie sich in
Aeste auflösen, auf welche sich, selbst wenn sie sehr klein
sind, die drei Häute noch fortsetzen. Erst an den kleinsten
Aesten verschwindet endlich die Muskelhaut, indem die Ab-
stände zwischen den einzelnen Querfasern immer grösser wer-
den und zugleich immer deutlicher die innere Haut durch sie
hindurch scheint, deren längsliegende Kerne sich mit denen
der mittleren unter einem rechten Winkel kreuzen (Fig. 26,
D. E.). Auch die Adventitia lässt sich noch eine Strecke weit
verfolgen (an manchen Stellen, wie am Gehirn, durch Ein-
streuung von Pigment oder Fett deutlicher bezeichnet, Fig. 26,
D. E.), bis endlich auch sie sich verliert, und nur die ein-
fache Haar-Röhre übrig bleibt (Fig. 3, c.). Die Voraussetzung
ist also im Allgemeinen dafür, dass die eigentlichen Capillar-
Membranen am meisten übereinstimmen mit der Intima der
Kleinere Arterie aus der Sehnenscheide der Extensoren
einer frisch amputirten Hand. a, a Adventitia. m, m Media mit star-
ker Muskelhaut, i, i Intima, theils mit Längsfalten, theils mit Längsker-
nen, an dem Seitenaste aus den durchrissenen äusseren Häuten hervor-
stehend. Vergr. 300.
[102]Sechste Vorlesung.
grösseren Gefässe, und man denkt sich gewöhnlich, dass, je
vollständiger das Gefäss wird, um so mehr Häute sich an sei-
nem Umfange entwickeln. Das eigentliche Entwickelungsver-
hältniss dieser Theile zu einander ist jedoch keinesweges voll-
ständig sicher gestellt.
Innerhalb der eigentlich capillären Auflösung haben wir
weiter nichts Bemerkbares an den Gefässen, als die früher
schon erwähnten Kerne, welche der Längsaxe des Gefässes
entsprechen, und welche so in die Gefässwand selbst einge-
setzt sind, dass man eine zellige Abtheilung um sie herum wei-
ter nicht zu erkennen vermag. Die Gefässhaut erscheint hier
ganz gleichmässig, absolut homogen und absolut continuirlich
(Fig. 3, c.). Während man noch vor 20 Jahren darüber dis-
cutirte, ob es nicht Gefässe gäbe, welche keine eigentlichen
Wandungen hätten, und welche nur Aushöhlungen, Ausgrabungen
des Parenchyms der Organe seien, so wie darüber, ob Gefässe
dadurch entstehen könnten, dass von den alten Höhlungen aus
sich neue Bahnen durch Auseinanderdrängen des benachbarten
Parenchyms eröffneten, so kann es heut zu Tage kein Zwei-
fel mehr sein, dass das Gefässsystem überall continuirlich
durch Membranen geschlossen ist. An diesen ist es nicht
mehr möglich eine Porosität zu erkennen. Selbst die feinen
Poren, welche man in der letzten Zeit an verschiedenen Thei-
len wahrgenommen, haben bis jetzt an der Gefässhaut kein
Analogon gefunden, und wenn man von der Porosität der Ge-
fässwand spricht, so kann dies nur in physikalischem Sinne
von unsichtbaren, eigentlich molekulären Interstitien geschehen.
Eine Collodiumhaut ist nicht homogener, nicht continuirlicher,
als die Capillarhaut. Eine Reihe von Möglichkeiten, die man
früher zuliess, z. B. dass an gewissen Punkten die Continuität
der Capillarmembran nicht bestände, fallen einfach weg. Von
einer „Transsudation“ oder Diapedese des Blutes durch die
Gefässhaut, ohne Ruptur derselben, kann gar nicht die Rede
sein; und obwohl wir den Nachweis der Rupturstelle nicht in
jedem einzelnen Falle liefern können, so ist es doch ganz un-
denkbar, dass das Blut mit seinen Körperchen anders, als
durch ein Loch in der Gefässwand austreten könne. Dies
[103]Capillaren und kleine Venen.
versteht sich nach histologischen Erfahrungen so sehr von selbst,
dass darüber keine Discussion möglich ist.
Nachdem die Capillaren eine Zeit lang fortgegangen sind,
setzen sich nach und nach aus ihnen kleine Venen zusam-
men, welche gewöhnlich in der Nähe der Arterien zurücklau-
fen (Fig. 45, v.). An ihnen fehlt im Allgemeinen die charakte-
ristische Ringfaserhaut der Arterien, oder sie ist wenigstens
sehr viel weniger ausgebildet. Dafür trifft man in der Media
der stärkeren Venen derbere Lagen, die sich nicht so sehr
durch die Abwesenheit von Muskel-Elementen, als durch das
reichlichere Vorkommen longitudinell verlaufender elastischer
Elemente charakterisiren, und die je nach den verschiedenen
Localitäten eine verschiedene Mächtigkeit zeigen. Nach innen
folgen dann die weicheren und feineren Bindegewebs-Lagen
der Intima, und auf dieser findet sich wieder zuletzt ein
plattes, ausserordentlich durchscheinendes Epitheliallager, das
am Schnitt-Ende sehr leicht aus dem Gefässe hervortritt
A. Epithel von der Cruralarterie (Archiv f. path. Anat.
Bd. III. Fig. 9 und 12. S. 596.) a Kerntheilung.
B. Epithel von grösseren Venen. a, a Grössere, granulirte, runde,
einkernige Zellen (farblose Blutkörperchen?). b, b längliche und spindel-
förmige Zellen mit getheiltem Kern und Kernkörperchen. c Grosse, platte
Zellen mit zwei Kernen, von denen jeder drei Kernkörperchen besitzt
und in Theilung begriffen ist. d Zusammenhängendes Epithel, die Kerne
in progressiver Theilung, eine Zelle mit sechs Kernen. Vergr. 320.
[104]Sechste Vorlesung.
und den Eindruck von Spin-
delzellen macht, so dass es
leicht verwechselt werden kann
mit spindelförmigen Muskelzel-
len. Die kleinsten Venen besitzen
gleichfalls dieses Epithel, be-
stehen aber ausserdem eigent-
lich ganz aus einem mit Längs-
kernen versehenen Bindege-
webe (Fig. 45, v.).
Diese Verhältnisse erleiden keine wesentliche Aenderung,
wenn auch die einzelnen Theile des Gefässapparates die äus-
serste Vergrösserung erfahren. Am besten sieht man diess bei
der Schwangerschaft, wo nicht bloss am Uterus, sondern
auch an der Scheide, den Tuben und Eierstöcken, den Mutter-
bändern sowohl die grossen und kleinen Arterien und Venen,
als die Capillaren die beträchtlichste Erweiterung zeigen, so
dass das übrige Gewebe, trotzdem dass es sich gleichfalls nicht
unerheblich vergrössert, dadurch wesentlich in den Hintergrund
gedrängt wird. Indess eignen sich doch gerade Theile des
puerperalen Geschlechtsapparates auch vortrefflich dazu, das
Verhältniss der Gewebs-Elemente zu den Gefässbezirken zu
übersehen. An den Fimbrien der Tuben sieht man z. B. in-
nerhalb der Schlingennetze, welche die sehr weiten Capillaren
gegen den Rand hin bilden, doch immer noch eine gewisse
Zahl von grossen Bindegewebszellen zerstreut, von denen nur
einzelne den Gefässen unmittelbar anliegen. An den Alae
vespertilionum findet man ausserdem sehr schön ein Verhält-
niss, welches sich an den Anhängen des Generations-Apparates
öfter wiederholt, wie wir es neulich beim Scrotum betrachtet
haben; die Gefässe werden nämlich von ziemlich beträcht-
lichen glatten Muskellagen begleitet, welche nicht ihnen ange-
hören, sondern nur dem Gefässverlaufe folgen, und zum Theil
die Gefässe in sich aufnehmen. Es ist dies ein äusserst wich-
Epithel der Nierengefässe. A. Flache, längs gefaltete
Spindelzellen mit grossen Kernen vom Neugebornen. B. Bandartige,
fast homogene Epithelplatte mit Längskernen vom Erwachsenen. Vergr. 350.
[105]Gefässmusculatur.
tiges Element, insofern die Contractionsverhältnisse dieser Li-
gamente, welche man gewöhnlich nicht selbst als muskulös
betrachtet, keinesweges bloss den Blutgefässen zuzuschreiben
sind, wie erst neulich James Traer nachzuweisen gesucht
hat; vielmehr finden sich mächtige Schichten von Muskeln,
welche mitten durch die Ligamente fortgehen, und welche bei
der menstrualen Erregung in gleicher Weise die Möglichkeit
zu Zusammenziehungen darbieten, wie wir sie an äusseren Thei-
len mit so grosser Deutlichkeit verfolgen können. —
Wenn man nun die Frage aufwirft, in wie weit die ein-
zelnen Elemente der Gefässe in dem Körper von Bedeutung
sind, so versteht es sich von selbst, dass für die gröberen
Vorgänge der Circulation die contractilen Elemente die wesent-
lichste Bedeutung haben, nächstdem die elastischen Theile,
und endlich die einfach permeablen homogenen Häute. Be-
trachten wir zunächst die Bedeutung der muskulösen Ele-
mente und zwar an denjenigen Gefässen, welche hauptsäch-
lich damit versehen sind, an den Arterien.
Wenn eine Arterie irgend eine Einwirkung erfährt, wel-
che eine Zusammenziehung ihrer Muskeln bedingt, so wird
natürlich das Gefäss sich verengern müssen, da die contracti-
len Zellen ringförmig um das Gefäss herumliegen; es wird
die Verengerung unter Umständen bis fast zum Verschwinden
des Lumens gehen können, und die natürliche Folge wird
dann sein, dass in den Theil weniger Blut gelangt. Wenn
also eine Arterie auf irgend eine Weise einem pathologischen
Irritans zugänglich oder wenn sie auf physiologischem Wege
excitirt wird, so muss ihre eigentliche Thätigkeit darin be-
stehen, dass sie enger wird. Man könnte nun freilich,
nachdem man die Muskel-Elemente der Gefässwandungen
kennt, den alten Satz wieder aufnehmen, dass die Gefässe,
wie das Herz, eine Art von rhythmischer, pulsirender Bewe-
gung erzeugten, welche im Stande wäre, die Fortbewegung des
Blutes direct zu fördern, so dass eine arterielle Hyperämie
durch eine vermehrte Pulsation der Gefässe hervorgebracht
würde.
[106]Sechste Vorlesung.
Es ist allerdings eine einzige Thatsache bekannt, welche
eine wirkliche rhythmische Bewegung der Arterienwandungen
beweist; Schiff hat dieselbe zuerst an dem Ohre der Ka-
ninchen beobachtet. Allein sie entspricht keineswegs dem
Rhythmus der bekannten Arterien-Pulsation; ihr einziges Ana-
logon findet sich in den Bewegungen, welche früher von
Wharton Jones an den Venen der Flughäute von Fleder-
mäusen beobachtet worden sind, und welche in einer äusserst
langsamen und ruhigen Weise vor sich gehen.
Ungleichmässige Zusammenziehung kleiner Gefässe aus
der Schwimmhaut des Frosches nach Reizung. Copie nach Wharton
Jones.
[107]Reizungs-Hyperämie.
Ich habe an Fledermäusen diese Erscheinungen studirt
und mich überzeugt, dass der Rhythmus weder mit der Herz-
bewegung, noch mit der respiratorischen Bewegung zusam-
menfällt; es ist ein ganz eigenthümlicher, verhältnissmässig
nicht sehr ausgiebiger Bewegungsakt, welcher in ziemlich lan-
gen Pausen, in einer längern Pause als die Circulation, und
in einer kürzeren als die Respiration, erfolgt. Auch am Ka-
ninchenohr sind die Zusammenziehungen der Arterien ungleich
langsamer als die Herz- und Respirationsbewegungen.
Wenn man diese Erscheinungen abrechnet, welche offen-
bar nicht in der Weise verwerthet werden dürfen, dass die
frühere Ansicht dadurch gestützt werden könnte, so bleibt als
wesentliche Thatsache stehen, dass die Muskulatur eines Ge-
fässes auf jeden Reiz, der sie in Action setzt, sich zusammen-
zieht, dass aber diese Zusammenziehung sich nicht in einer
peristaltischen Weise fortpflanzt, sondern sich auf die gereizte
Stelle beschränkt, höchstens sich ein wenig darüber hinaus-
erstreckt, und an dieser Stelle eine gewisse Zeit lang anhält.
Je muskulöser das Gefäss ist, um so dauerhafter und ergie-
biger wird die Contraction, um so stärker die Hemmung,
welche die Strömung des Blutes dadurch erfährt. Je kleiner
die Gefässe sind, um so schneller sieht man dagegen auf die
Contraction eine Erweiterung folgen, welche aber nicht wie-
derum von einer Contraction gefolgt ist, wie es für das Zu-
standekommen einer Pulsation nothwendig wäre, sondern welche
mehr oder weniger lange fortbesteht. Diese Erweiterung ist
nicht eine active, sondern eine passive, hervorgebracht durch
den Druck des Blutes auf die ermüdete, weniger Widerstand
leistende Gefässwand.
Untersucht man nun die Erscheinungen, welche man ge-
wöhnlich in der Gruppe der activen Hyperämien zusammen-
fasst, so kann kein Zweifel darüber sein, dass in der Regel die
Muskulatur der Arterien wesentlich dabei betheiligt ist. Sehr
gewöhnlich handelt es sich um solche Vorgänge, wo die Ge-
fässmuskeln in der That gereizt werden, und wo der Con-
traction ein Zustand der Relaxation folgt, wie er in gleich aus-
gesprochener Weise sich an den übrigen Muskeln fast gar
nicht vorfindet, ein Zustand, der offenbar eine Art von Er-
[108]Sechste Vorlesung.
müdung und Erschöpfung ausdrückt, und der um so anhal-
tender ist, je energischer der Reiz war, welcher einwirkte. An
kleinen Gefässen mit wenig Muskelfasern sieht es daher öf-
ters so aus, als ob die Reize keine eigentliche Verengerung
hervorriefen, da man überaus schnell eine Erschlaffung eintreten
sieht, welche längere Zeit andauert und ein vermehrtes Ein-
strömen des Blutes möglich macht.
Diese selben Vorgänge der Relaxation können wir expe-
rimentell am leichtesten herstellen dadurch, dass wir die Ge-
fässnerven eines Theiles durchschneiden; während wir die
Verengerung experimentell in sehr grosser Ausdehnung erzeu-
gen können, indem wir die Gefässnerven einem sehr energi-
schen Reiz unterwerfen. Dass man diese Art von Verenge-
rung so spät kennen gelernt hat, erklärt sich daraus, dass
die Nervenreize sehr gross sein müssen, und dass, wie Claude
Bernard gezeigt hat, nur starke electrische Ströme dazu aus-
reichen. Andererseits sind die Verhältnisse nach Durchschnei-
dung der Nerven an den meisten Theilen so complicirt, dass
die Erweiterung der Beobachtung sich entzogen hat, bis gleich-
falls durch Bernard der glückliche Punkt entdeckt und in
der Durchschneidung der sympathischen Nerven am Halse
der Experimentation ein zuverlässiger Beobachtungsort er-
schlossen wurde.
Wir gewinnen also die wichtige Thatsache, dass, sei die
Erweiterung des Gefässes oder, mit anderen Worten, die Re-
laxation der Gefässmuskeln unmittelbar durch eine Lähmung
der Nerven oder eine Unterbrechung des Nerveneinflusses her-
vorgebracht, oder sei sie die mittelbare Folge einer voraus-
gegangenen Reizung, welche eine Ermüdung setzte, dass, sage
ich, in jedem Falle es sich um eine Art von Paralyse der
Gefässwand handelt, und dass active Hyperämie insofern eine
falsche Bezeichnung ist, als der Zustand der Gefässe dabei ein
vollständig passiver ist. Alles, was man auf diese behauptete
Activität der Gefässe gebaut hat, ist, wenn nicht grade auf
Sand gebaut, doch äusserst zweideutig; und alle weiteren
Schlüsse, die man gezogen hat in Beziehung auf die Bedeu-
tung, welche die Thätigkeit der Gefässe für die Ernährungs-
[109]Ischämie. Elasticität der Gefässhäute.
verhältnisse der Theile selbst haben sollte, fallen damit zu-
sammen.
Wenn eine Arterie wirklich in Action ist, so macht sie
keine Hyperämie; je kräftiger sie agirt, um so mehr bedingt sie
Anämie, oder, wie ich es bezeichnet habe, Ischämie, und
die geringere oder grössere Thätigkeit der Arterie bestimmt
das Mehr oder Weniger von Blut, welches in der Zeiteinheit
in einen gegebenen Theil einströmen kann. Je thätiger das
Gefäss, um so geringer die Zufuhr. Haben wir aber
eine Reizungshyperämie, so kommt es therapeutisch grade dar-
auf an, die Gefässe in denjenigen Zustand der Thätigkeit zu
versetzen, in welchem sie im Stande sind, dem andrängenden
Blutstrom Widerstand zu leisten. Das leistet uns der soge-
nannte Gegenreiz, ein höherer Reiz an einem schon gereizten
Theile, welcher die erschlaffte Gefässmuskulatur zu dauernder
Verengerung anregt, dadurch die Blutzufuhr verkleinert und
die Regulation der Störung vorbereitet. Grade da, wo am
meisten die Reaction d. h. die regulatorische Thätigkeit in
Anspruch genommen wird, da handelt es sich darum, jene Passi-
vität zu überwinden, welche die (sog. active) Hyperämie un-
terhält.
Gehen wir nun von den muskulösen Theilen über auf die
elastischen, so treffen wir da eine Eigenschaft, welche eine
sehr grosse Bedeutung hat, einerseits für die Venen, deren
Thätigkeit an vielen Stellen nur auf elastische Elemente be-
schränkt ist, andererseits für die Arterien, insbesondere die
Aorta und ihre grösseren Aeste. Hier hat die Elasticität der
Wandungen den Effect, die Verluste, welche der Blutdruck durch
die systolische Erweiterung der Gefässe erfährt, auszugleichen und
den ungleichmässigen Strom, welchen die stossweisen Bewe-
gungen des Herzens erzeugen, in einen gleichmässigen umzu-
wandeln. Wäre die Gefässhaut nicht elastisch, so würde un-
zweifelhaft der Blutstrom sehr verlangsamt werden und zugleich
durch die ganze Ausdehnung des Gefässapparates bis in die
Capillaren Pulsation bestehen; es würde dieselbe stossweise
Bewegung, welche im Anfange des Aortensystems dem Blute
mitgetheilt wird, sich bis in die kleinsten Verästelungen gel-
[110]Sechste Vorlesung.
tend machen. Allein jede Beobachtung, welche wir am leben-
den Thiere machen, lehrt uns, dass innerhalb der Capillaren
der Strom ein continuirlicher ist Diese gleichmässige Fortbe-
wegung wird dadurch hervorgebracht, dass die Arterien in
Folge der Elasticität ihrer Wandungen den Stoss, welchen sie
durch das eindringende Blut empfangen, mit derselben Gewalt
dem Blute zurückgeben, sonach während der Zeit der fol-
genden Herz-Diastole einen regelmässigen Fortschritt des Blutes
unterhalten.
Lässt die Elasticität des Gefässes erheblich nach, ohne
dass in demselben Maasse das Gefäss starr und unbeweglich
wird (Verkalkung), so wird die Erweiterung, welche das Ge-
fäss unter dem Drange des Blutes empfängt, nicht wieder
ausgeglichen; das Gefäss bleibt im Zustande der Erweite-
rung, und wir bekommen allmälig die bekannten Formen der
Ectasie, wie wir sie an den Arterien als Aneurysmen, an
den Venen als Varicen kennen. Es handelt sich bei diesen
Processen nicht so sehr, wie man in neuerer Zeit geschildert
hat, um primäre Erkrankungen der innern Haut, sondern um
Veränderungen, welche in der elastischen und muskulösen
mittleren Haut liegen.
Wenn demnach die muskulösen Elemente der Arterien
den gewichtigsten Einfluss auf das Maass und die Art der
Blutvertheilung in den einzelnen Organen, die elastischen Ele-
mente die grösste Bedeutung für die Herstellung eines schnel-
len und gleichmässigen Stromes haben, so üben sie doch nur
eine mittelbare Wirkung auf die Ernährung der ausserhalb
der Gefässe selbst liegenden Theile aus, und wir werden für
diese Frage in letzter Instanz hingewiesen auf die einfache
homogene Capillarmembran, ohne welche ja nicht einmal
die Wandbestandtheile der grösseren, mit Vasa vasorum ver-
sehenen Gefässe sich auf die Dauer zu erhalten vermöchten.
Hier hat man sich, wie Sie wissen, in dem letzten Decennium
am meisten damit geholfen, dass man zwischen dem Inhalt
des Gefässes und der Flüssigkeit der Gewebe Diffusions-
strömungen annahm, die Endosmose und Exosmose, und dass
man die Gefässhaut als eine mehr oder weniger indifferente
[111]Diffusion und Affinitäten der Stoffe.
Membran betrachtete, welche eben nur eine Scheidewand zwi-
schen zwei Flüssigkeiten bilde, die mit einander in ein Wech-
selverhältniss treten; in diesem Verhältniss würden sie we-
sentlich bestimmt durch den Concentrationszustand und die
chemische Mischung, so dass, je nachdem die innere oder
äussere Flüssigkeit concentrirter wäre, der Strom der Diffusion
bald nach aussen, bald nach innen ginge, und dass, je nach
den chemischen Eigenthümlichkeiten der einzelnen Säfte ge-
wisse Modifikationen in diesen Strömen entständen. Im Allge-
meinen ist jedoch grade die chemische Seite dieser Frage
wenig berücksichtigt worden.
Es lässt sich nicht in Abrede stellen, dass es gewisse
Thatsachen gibt, welche auf eine andere Weise nicht wohl
erklärt werden können, namentlich wo es sich um wesentliche
Abänderungen in den Concentrationszuständen der Säfte han-
delt, z. B. bei der Form von Cataract, welche Kunde bei
Fröschen künstlich durch Einbringung von Salz in den Darm-
kanal oder das Unterhautgewebe hervorgebracht hat. Allein
in dem Maasse, als man sich beim physikalischen Studium
der Diffusions-Phänomene überzeugt hat, dass die Membran,
welche die Flüssigkeiten trennt, kein gleichgültiges Ding ist,
sondern dass die Natur derselben unmittelbar bestimmend
wirkt auf die Fähigkeit des Durchtrittes der Flüssigkeiten, so
wird man auch bei der Gefässhaut einen solchen Einfluss
nicht läugnen können. Indess darf man auch nicht so weit
gehen, dass man etwa der Gefässhaut die ganze Eigenthüm-
lichkeit des Stoffwechsels zuschriebe, und dass man daraus
z. B. erklärte, warum gewisse Stoffe, welche in der Blut-
mischung vertheilt sind, nicht allen Theilen gleichmässig zu-
kommen, sondern an einzelnen Stellen in grösserer, an ande-
ren in kleinerer Masse, an anderen gar nicht austreten. Diese
Eigenthümlichkeiten hängen offenbar ab einerseits von den
Verschiedenheiten des Druckes, welcher auf der Blutsäule ein-
zelner Theile lastet, andererseits von den Besonderheiten der
Gewebe, und man wird sowohl durch das Studium der einfach
pathologischen, als namentlich durch das Studium der pharma-
kodynamischen Erscheinungen mit Nothwendigkeit dazu ge-
trieben, gewisse Affinitäten zuzulassen, welche zwischen be-
[112]Sechste Vorlesung.
stimmten Geweben und bestimmten Stoffen existiren, Bezie-
hungen, welche auf chemische Eigenthümlichkeiten zurückgeführt
werden müssen, in Folge deren gewisse Theile mehr befähigt
sind, aus dem benachbarten Blute gewisse Substanzen anzu-
ziehen, als andere.
Betrachten wir die Möglichkeit solcher Anziehungen etwas
sorgfältiger, so ist es von einem besonderen Interesse zu
sehen, wie sich Theile verhalten, die sich in einer gewissen
Entfernung vom Gefässe befinden. Gesetzt, wir wären im
Stande, auf einen Theil direct einen bestimmten Reiz einwirken
zu lassen, z. B. eine chemische Substanz, ich will annehmen,
eine kleine Quantität eines Alkali, so sehen wir, dass in ganz
kurzer Zeit der Theil mehr Material aufnimmt, dass er schon
in einigen Stunden um ein Beträchtliches grösser wird, und
dass, während wir vorher im Innern desselben kaum etwas
wahrnehmen konnten, wir nun eine reichliche, verhältniss-
mässig trübe Substanz in ihm finden, die nicht etwa aus ein-
gedrungenem Alkali besteht, sondern ihrem wesentlichen Theil
nach Substanzen enthält, welche den Eiweisskörpern analog
sind. Die Beobachtung ergibt, dass der Prozess in allen ge-
fässhaltigen Theilen mit einer Hyperämie beginnt, so dass die
Vorstellung nahe liegt, die Hyperämie sei das Wesentliche und
Bestimmende. Wenn wir aber die feineren Verhältnisse stu-
diren, so ist es schwer zu verstehen, wie das Blut, welches in
den hyperämischen Gefässen ist, es machen soll, um grade
auf den gereizten Theil einzuwirken, während andere Theile,
welche in der nächsten Nähe liegen, nicht in derselben Weise
getroffen werden. In allen Fällen, wo die Gefässe der nächste
Ausgangspunkt von Störungen sind, welche im Gewebe statt-
finden, finden sich auch die Störungen am ausgesprochensten
in der nächsten Umgebung der Gefässe und in dem Gebiete,
welches sie versorgen (Gefässterritorium). Wenn wir z. B.
einen reizenden Körper in ein Blutgefäss stecken, wie dies von
mir durch die Geschichte der Embolie in grösserer Ausdehnung
festgestellt ist, so sehen wir nicht etwa, dass die vom Ge-
fässe entfernten Theile der Hauptsitz der activen Veränderung
werden, sondern diese zeigt sich zunächst an der Wand
des Gefässes selbst und dann an den anstossenden Gewebs-
[113]Einfluss der Hyperämie auf die Ernährung.
Gewebs-Elemente. Wenden wir aber den Reiz direct auf das
Gewebe an, so bleibt der Mittelpunkt der Störung auch immer
da, wo der Angriffspunkt des Reizes liegt, gleichviel ob Ge-
fässe in der Nähe sind oder nicht.
Wir werden darauf später noch zurückkommen müssen;
hier war es mir nur darum zu thun, Ihnen diese Thatsache in
ihrer Allgemeinheit vorzuführen, um den eben so bequemen
als trügerischen Schluss zurückzuweisen, dass die (an sich
passive) Hyperämie direct bestimmend sei für die Ernährung
des Gewebes.
Bedürfte es noch einer besonderen Thatsache, um diese,
vom anatomischen Standpunkte vollständig unhaltbare Annahme
weiter zu widerlegen, so haben wir in dem vorher erwähnten
Experiment mit der Durchschneidung des Sympathicus die
allerbequemste Handhabe. Man kann bei einem Thiere den
Sympathicus am Halse durchschneiden; es bildet sich darauf
eine Hyperämie in der ganzen Kopfhälfte aus, die Ohren wer-
den dunkelroth, die Gefässe sind stark erweitert, die Con-
junctiva und Nasenschleimhaut strotzend injicirt. Dies kann
Tage, Wochen, Monate lang bestehen, und es folgt auch nicht
die mindeste erkennbare nutritive Störung mit Nothwendigkeit
daraus; die Theile sind, obwohl mit Blut überfüllt, soweit wir
dies wenigstens bis jetzt übersehen können, in demselben
Ernährungs-Zustande wie vorher. Wenn wir Entzündungsreize
auf diese Theile appliciren, so ist das Einzige, was wir sehen,
dass die Entzündung schneller verläuft, ohne dass sie an sich
oder in der Art ihrer Producte wesentlich anders wäre.
Die grössere oder geringere Masse von Blut also, welche
einen Theil durchströmt, ist nicht als die einfache Ursache der
Veränderung seiner Ernährung zu betrachten. Es ist wohl
kein Zweifel, dass, wenn ein Theil, der sich in Reizung be-
findet, gleichzeitig mehr Blut empfängt als sonst, er auch mit
grösserer Leichtigkeit mehr Material aus dem Blute anziehen
kann, als er sonst gekonnt haben würde, oder als er können
würde, wenn sich die Gefässe in einem Zustande von Veren-
gerung und verminderter Blutfülle befänden. Wollte man also
gegen meine Auffassung einwenden, dass wir bei solchen Zu-
ständen durch locale Blutentziehungen oft die günstigsten Ef-
8
[114]Sechste Vorlesung.
fecte hervorbringen, so ist das kein Gegenbeweis. Wenn wir
das Ernährungsmaterial abschneiden oder verringern, so wer-
den wir natürlich den Theil hindern, mehr aufzunehmen, aber
nicht umgekehrt können wir ihn dadurch, dass wir ihm mehr
Ernährungsmaterial darbieten, sofort veranlassen, mehr in sich
aufzunehmen; das sind zwei ganz auseinander liegende Reihen.
So nahe es auch liegt, und so gern ich auch zugestehe, dass
es auf den ersten Blick etwas sehr Ueberzeugendes hat, aus
der günstigen Wirkung, welche die Abschneidung der Blutzu-
fuhr auf die Hemmung eines Vorganges hat, der unter einer
Steigerung derselben entsteht, auf die Abhängigkeit jenes Vor-
ganges von dieser Steigerung der Zufuhr zu schliessen, so
meine ich doch, dass die praktische Beobachtung nicht in die-
ser Weise gedeutet werden darf. Es kommt nicht so sehr
darauf an, dass, sei es in dem Blute als Ganzem, sei es in dem
Blutgehalte des einzelnen Theiles, eine quantitative Zunahme er-
folgt, um ohne Weiteres in der Ernährung der Theile eine
gleiche Zunahme zu setzen, sondern es kommt meines Erach-
tens darauf an, dass entweder besondere Zustände der Ge-
webe (Reizung) bestehen, welche ihre Anziehungsverhältnisse
zu Blutbestandtheilen ändern, oder dass besondere Stoffe im
Blute vorhanden sind, ganz specifische Substanzen, auf welche
bestimmte Theile der Gewebe eine besondere Anziehung aus-
üben können.
Wenden Sie diesen Satz auf die humoralpathologische
Auffassung der Prozesse an, so werden Sie daraus abnehmen,
dass ich weit entfernt bin, die Richtigkeit der humoralen Deu-
tungen im Allgemeinen zu bestreiten, dass ich vielmehr die
Ueberzeugung hege, dass besondere Stoffe, welche in das Blut
gelangen, in einzelnen Theilen des Körpers besondere Verän-
derungen induciren können, indem sie in dieselben aufgenom-
men werden vermöge der specifischen Anziehung der einzel-
nen Theile zu einzelnen Stoffen. Wir wissen z. B., dass eine
Reihe von Substanzen in den Körper gebracht werden, welche
ganz besondere Anziehungen darbieten zum Nervenapparate,
und dass es innerhalb dieser Reihe wieder Substanzen gibt,
welche zu ganz bestimmten Theilen des Nervenapparates nähere
Beziehungen haben, so zum Gehirn, zum Rückenmark, zu den
sympathischen Ganglien, einzelne wieder zu besonderen Thei-
[115]Specifische Affinitäten.
len des Gehirns, Rückenmarks u. s. w. Andererseits sehen
wir, dass gewisse Stoffe nähere Beziehung haben zu bestimm-
ten Secretionsorganen, dass sie diese Secretionsorgane mit
einer gewissen Wahlverwandtschaft durchdringen, dass sie in
ihnen abgeschieden werden, und dass bei einer reichlicheren
Zufuhr solcher Stoffe ein Zustand der Reizung in diesen Or-
ganen stattfindet. Allein wesentlich setzt diese Annahme vor-
aus, dass die Theile, welche eine besondere Wahlverwandt-
schaft zu besonderen Stoffen haben sollen, überhaupt existiren,
denn eine Niere, die ihr Epithel verliert, büsst damit auch
ihre Secretionsfähigkeit ein; sie setzt ferner voraus, dass die
Theile sich in einem Affinitätsverhältniss befinden, denn weder
die kranke, noch die todte Niere hat mehr die Affinität zu be-
sonderen Stoffen, welche die lebende und gesunde Drüse be-
sass. Die Fähigkeit, bestimmte Stoffe anzuziehen und umzu-
setzen, kann höchstens für eine kurze Zeit in einem Organe
sich erhalten, welches nicht mehr in einer eigentlich lebendi-
gen Verfassung bleibt. Wir werden daher am Ende immer
genöthigt, die einzelnen Elemente als die wirksamen Factoren
bei diesen Anziehungen zu betrachten. Eine Leberzelle kann
aus dem Blute, welches durch das nächste Capillargefäss strömt,
bestimmte Substanzen anziehen, aber sie muss eben zunächst
vorhanden und sodann ihrer ganz besonderen Eigenthümlich-
keit mächtig sein, um diese Anziehung ausüben zu können.
Wird ein solches Element verändert, tritt eine Krankheit ein,
welche in der molekularen, physikalischen oder chemischen
Eigenthümlichkeit desselben Veränderungen setzt, so wird da-
mit auch seine Fähigkeit geändert werden, diese besonderen
Anziehungen auszuüben.
Lassen Sie uns dies Beispiel noch genauer betrachten.
Die Leberzellen stossen fast unmittelbar an die Wand der Ca-
pillaren, nur geschieden durch eine dünne Schicht einer feinen
Bindegewebslage. Wollten wir uns nun denken, dass die
Eigenthümlichkeit der Leber Galle abzusondern, bloss darin
beruhte, dass hier eine besondere Art der Gefäss-Einrichtung
wäre, so würde dies in der That nicht zu rechtfertigen sein.
Aehnliche Netze von Gefässen, welche zu einem grossen Theile
venöser Natur sind, finden sich an manchen anderen Orten,
8*
[116]Sechste Vorlesung.
z. B. den Lungen. Die Eigenthümlichkeit der Gallenabson-
derung hängt aber offenbar ab von den Leberzellen, und nur
so lange als das Blut in nächster Nähe an Leberzellen vorüber-
strömt, besteht die besondere Stoffanziehung, welche die Thä-
tigkeit der Leber charakterisirt.
Enthält das Blut freies Fett, so sehen wir, dass nach eini-
ger Zeit die Leberzellen Fett in kleinen Partikelchen aufneh-
men, und dass, wenn der Zufluss fortgeht, das Fett reichlicher
wird, und sich nach und nach in grösseren Tropfen innerhalb
der Leberzellen abscheidet (Fig. 27, B, b.). Das, was wir beim
Fett in gröberen Formen sehen, müssen wir bei vielen anderen
Substanzen in mehr gelöster Form uns denken. Danach wird
es immer für die Aufnahme wesentlich sein, dass Zellen in
einem ganz bestimmten Zustande vorhanden sind; werden sie
[k]rank, entwickelt sich in ihnen ein Zustand, welcher mit einer
wesentlichen chemischen Veränderung ihres Inhaltes verbunden
ist, z. B. eine Atrophie, welche endlich das Zugrundegehen
der Theile bedingt, dann wird damit auch die Fähigkeit des
Organs, Galle zu bilden, immer mehr beschränkt werden. Wir
können uns keine Leber denken ohne Leberzellen; diese sind,
soviel wir wissen, das eigentlich Wirksame, da selbst in Fäl-
len, wo der Blutzufluss durch Verstopfung der Pfortader inhi-
birt ist, die Leberzellen, wenn auch vielleicht nicht in derselben
Menge, Galle produciren können.
Diese Eigenthümlichkeit ist gerade an der Leber in einer
besonders ausgezeichneten Weise zu bemerken, weil die Stoffe,
welche die Galle constituiren, bekanntlich nicht im Blute prä-
formirt sind, und wir also nicht einen Vorgang der einfachen
Abscheidung, sondern einen Vorgang der wirklichen Bildung
für die Bestandtheile der Galle in der Leber voraussetzen
müssen.
Dies hat bekanntlich in der letzten Zeit an Interesse ge-
wonnen durch die Beobachtung von Bernard, dass an die-
selben Elemente auch die Eigenschaft der Zuckerproduction
gebunden ist, welche in so colossalem Maassstabe dem Blute
einen Stoff zuführt, welcher auf die inneren Umsetzungs-Pro-
zesse und auf die Wärmebildung den entschiedensten Einfluss
hat. Sprechen wir also von Leberthätigkeit, so kann man in
[117]Stoffanziehung als Action der Elemente.
Beziehung sowohl auf die Zucker-, als auf die Gallenbildung
darunter nichts anderes meinen, als die Thätigkeit der einzel-
nen Theile (Zellen); und zwar eine Thätigkeit, die darin be-
steht, dass sie aus dem vorüberströmenden Blute Stoffe an-
ziehen, diese Stoffe in sich umsetzen und in dieser umgesetzten
Form entweder an das Blut wieder zurückgeben, oder in Form
von Galle den Gallengängen überliefern.
Ich verlange nun für die Cellularpathologie nichts weiter,
als dass diese Auffassung, welche für die grossen Secretions-
Organe nicht vermieden werden kann, auch auf die kleineren
Organe und kleineren Elemente angewendet werde, dass z. B.
einer Epidermiszelle, einer Linsenfaser, einer Knorpelzelle auch
bis zu einem gewissen Maasse die Möglichkeit zugestanden
werde, aus den nächsten Gefässen, wenn auch nicht direct,
sondern oft durch eine weite Transmission, je nach ihrem be-
sonderen Bedürfnisse gewisse Quantitäten von Material zu be-
ziehen, und nachdem sie dasselbe in sich aufgenommen haben,
es in sich weiter umzusetzen, so zwar, dass entweder die
Zelle für ihre eigene Entwickelung daraus neues Material
schöpft, oder dass die Substanzen im Innern sich aufhäufen,
ohne dass die Zelle davon unmittelbar profitirt, oder endlich,
dass nach der Aufnahme selbst ein Zerfallen der Zelleneinrich-
tung geschehen und ein Untergang der Zelle eintreten kann.
Immerhin aber scheint es mir nothwendig zu sein, dieser
specifischen Action der Elemente, gegenüber der speci-
fischen Action der Gefässe, eine überwiegende Bedeutung bei-
zulegen, und das Studium der localen Prozesse ihrem wesent-
lichen Theile nach auf die Erforschung dieser Art von Vor-
gängen zu richten.
Es wird nun, wie ich glaube, am zweckmässigsten sein,
dass wir zunächst etwas genauer eingehen auf die eigentliche
Grundlage der humoralpathologischen Systeme, auf das Studium
der sogenannten edleren Säfte. Wenn Sie das Blut in sei-
ner normalen Wirkung ins Auge fassen, so handelt es sich
nicht so wesentlich um seine Bewegung, um das Mehr oder
Weniger von Zuströmen, sondern um seine innere Zusammen-
setzung. Bei einer grossen Masse von Blut kann die Ernäh-
[118]Sechste Vorlesung.
rung leiden, wenn die Zusammensetzung desselben nicht dem
natürlichen Bedürfnisse der Theile entspricht; bei einer kleinen
Masse von Blut kann die Ernährung verhältnissmässig sehr
günstig vor sich gehen, wenn jedes einzelne Partikelchen des
Blutes das günstigste Verhältniss der Mischung besitzt.
Betrachtet man das Blut als Ganzes gegenüber den übri-
gen Theilen, so ist es das Gefährlichste, was man thun kann,
dasjenige, was zu allen Zeiten die meiste Verwirrung geschaf-
fen hat, anzunehmen, dass man es hier mit einem in sich un-
abhängigen Gebilde zu thun habe, von dem die grosse Masse
der Gewebe mehr oder weniger abhängig sei. Die meisten
von den humoralpathologischen Sätzen, namentlich die Lehre
von den Dyscrasien stützte sich darauf, dass man gewisse Ver-
änderungen, welche im Blute eingetreten sind, als mehr oder
weniger dauerhaft betrachtete, denn gerade da, wo diese Leh-
ren practisch am Einflussreichsten gewesen sind, bei dem
Studium der chronischen Dyscrasien, hat man sich vorgestellt,
dass die Veränderung des Blutes eine continuirliche sei, dass
durch Erblichkeit von Generation zu Generation eigenthümliche
Veränderungen in dem Blute anhalten könnten.
Das ist, wie ich glaube, der Grundfehler, der eigentliche
Angelpunkt der Irrthümer. Nicht etwa, dass ich bezweifelte,
dass eine veränderte Mischung des Blutes anhaltend bestehen,
oder dass sie sich von Generation zu Generation fortpflanzen
könnte, aber ich glaube nicht, dass sie sich im Blute selbst
fortpflanzen und dort anhalten kann, dass das Blut der eigent-
liche Träger der Dyscrasie ist.
Meine cellularpathologischen Anschauungen unterscheiden
sich darin von den humoralpathologischen wesentlich, dass ich
das Blut nicht als ein in sich unabhängiges, aus sich selbst
sich regenerirendes und sich fortpflanzendes Gebilde betrachte,
sondern als in einer constanten Abhängigkeit von anderen
Theilen befindlich. Man braucht nur dieselben Schlüsse, die
man für die Abhängigkeit des Blutes von der Aufnahme neuer
Ernährungsstoffe vom Magen her allgemein zulässt, auch auf
die Gewebe des Körpers selbst anzuwenden. Wenn man von
einer Säuferdyscrasie spricht, so wird Niemand die Vorstellung
haben, dass Jeder, der einmal betrunken gewesen ist, eine per-
[119]Dyscrasien und localer Ursprung derselben.
manente Alkoholdyscrasie besitzt, sondern man denkt sich,
dass, wenn immer neue Mengen von Alkohol eingeführt wer-
den, auch immer neue Veränderungen des Blutes eintreten,
so dass die Veränderung am Blute so lange bestehen muss,
als die Zufuhr von neuen schädlichen Stoffen geschieht, oder
als in Folge früherer Zufuhr einzelne Organe in einem krank-
haften Zustande sich befinden. Wird kein Alkohol mehr zu-
geführt, werden die Organe, welche durch den früheren Alko-
holgenuss beschädigt waren, zu einem normalen Verhalten zu-
rückgeführt, so bezweifelt Niemand, dass damit die Säufer-
dyscrasie zu Ende sein wird. Dies einfache Beispiel, ange-
wendet auf die Geschichte der übrigen Dyscrasien, ergibt ganz
einfach den Schluss, dass jede Dyscrasie abhängig ist
von einer dauerhaften Zufuhr schädlicher Bestand-
theile von gewissen Punkten her. Wie eine fortwährende
Zufuhr von schädlichen Nahrungsstoffen eine dauerhafte Ent-
mischung des Blutes setzen kann, eben so vermag die dauer-
hafte Erkrankung eines bestimmten Organes dem Blute fort
und fort kranke Stoffe zuzuführen.
Es handelt sich dann also wesentlich darum, für die ein-
zelnen Dyscrasien Lokalisationen zu suchen, die be-
stimmten Gewebe zu finden, von denen aus das Blut diese
Störung erfährt. Ich will nun gern gestehen, dass es in vie-
len Fällen bis jetzt nicht möglich gewesen ist, diese Organe
aufzufinden. In vielen Fällen ist es aber gelungen, wenn man
auch nicht in jedem sagen kann, in welcher Weise das Blut
dabei verändert wird. So sehen wir jenen merkwürdigen Zu-
stand eintreten, welchen man sehr wohl auf eine Dyscrasie
beziehen kann, den scorbutischen Zustand, die Purpura, die
Petechial-Dyscrasie. Vergeblich werden Sie sich nach ent-
scheidenden Erfahrungen darüber umsehen, welcher Art diese
Dyscrasie, wie das Blut verändert sei, wenn Scorbut oder Pur-
pura sich zeigt. Das, was der Eine gefunden hat, hat der
Andere widerlegt, und es hat sich ergeben, dass zuweilen in
der Mischung der gröberen Bestandtheile des Blutes keine
Veränderung eingetreten ist; es bleibt hier ein Quid ignotum,
und Sie werden es verzeihlich finden, wenn wir nicht sagen
können, woher eine Dyscrasie kommt, deren Wesen wir über-
[120]Sechste Vorlesung.
haupt nicht kennen. Indess schliesst die Erkenntniss von der
Art der Blutveränderung nicht die Einsicht in die Bedingun-
gen der Dyskrasie in sich, und eben so wenig findet das Um-
gekehrte Statt. Auch in unserem Falle von der hämorrhagi-
schen Diathese werden Sie es immerhin als einen wesentlichen
Fortschritt betrachten müssen, dass wir in einer Reihe von
Fällen auf einen Ausgangspunkt in einem bestimmten Organe
hinweisen können, z. B. auf die Milz oder die Leber. Es han-
delt sich jetzt zunächst darum, zu ermitteln, welchen Einfluss
die Milz, die Leber auf die besondere Mischung des Blutes
ausüben. Wüssten wir, wie das Blut durch die Einwirkung dieser
Organe verändert wird, so wäre es vielleicht nicht schwer, aus
der Kenntniss des kranken Organs auch sofort abzuleiten, in welcher
Art das Blut verändert sein wird. Aber es ist doch schon wesent-
lich, dass wir über das Studium der Blutveränderungen hinaus-
gekommen und auf bestimmte Organe geführt worden sind, in
welchen die Dyscrasie wurzelt. So muss man consequent
schliessen, dass wenn es eine syphilitische Dyscrasie gibt, in
welcher das Blut eine virulente Substanz führt, diese nicht
dauerhaft in dem Blute enthalten sein kann, sondern dass ihre
Existenz im Blute gebunden sein muss an das Bestehen loka-
ler Heerde, von wo aus immer wieder neue Massen von schäd-
licher Substanz eingeführt werden in das Blut. Folgt man
dieser Bahn, so gelangt man zu dem schon erwähnten und
gerade für die praktische Medicin äusserst wichtigen Gesichts-
punkt, dass jede dauerhafte Veränderung, die in dem Zustande
der circulirenden Säfte besteht, von bestimmten Punkten des
Körpers, von einzelnen Organen oder Geweben abgeleitet wer-
den muss, und es ergibt sich weiter die Thatsache, dass ge-
wisse Gewebe und Organe eine grössere Bedeutung für die
Blutmischung haben, als andere; einzelne eine nothwendige
Beziehung zu dem Blute besitzen, andere nur eine zufällige.
[[121]]
Siebente Vorlesung.
6. März 1858.
Das Blut.
Faserstoff. Fibrillen desselben. Vergleich mit Schleim- und Bindegewebe. Homogener
Zustand.
Rothe Blutkörperchen. Kern und Inhalt derselben. Veränderungen der Gestalt. Blutkrystalle.
(Hämatoidin, Hämin, Hämatokrystallin.)
Farblose Blutkörperchen. Numerisches Verhältniss. Struktur. Vergleich mit Eiterkörperchen.
Klebrigkeit und Agglutination derselben. Specifisches Gewicht. Crusta granulosa. Dia-
gnose von Eiter und farblosen Blutkörperchen.
Ich gedenke Ihnen heute, meine Herren, ein Weiteres von
der Geschichte des Blutes vorzuführen.
Wir waren zuletzt dabei stehen geblieben, dass wir die
Dyscrasien lokalisirten; nicht in dem gewöhnlichen Sinne, wie
man sonst die Dyscrasien sich lokalisiren lässt, sondern mehr
in dem genetischen Sinne, wonach wir die Dyscrasien immer
auf eine präexistirende Lokalaffection zurückdatirten, und ir-
gend ein Gewebe als den Quell der dauerhaften Veränderun-
gen des Blutes betrachteten.
Wenn man nun die verschiedenen Dyscrasien in Beziehung
auf Werth und Quelle ansieht, so lassen sich von vornherein
zwei grosse Kategorien von dyscratischen Zuständen unter-
scheiden, je nachdem nämlich die morphologischen Elemente
des Blutes eine Abweichung darbieten, oder diese Abweichung
eine mehr chemische ist und an den flüssigen Bestandtheilen
sich findet.
Unter diesen letzteren treffen wir vor allen das Fibrin,
[122]Siebente Vorlesung.
welches vermöge seiner Gerinnbarkeit sehr bald, nachdem das
Blut aus dem lebenden Körper entfernt ist, eine sichtbare Form
annimmt, und welches insofern häufig als ein morphologischer
Bestandtheil des Blutes gegolten hat. Diese Art der Auffas-
sung ist gerade in der neueren Zeit vielfach fest gehalten worden,
und hat eigentlich auch traditionell in der Medicin immer bestan-
den, insofern man neben den rothen Theilen des Blutes das
Fibrin seit alten Zeiten als ein besonderes Element aufgeführt
hat, und man die Qualität des Blutes nicht bloss nach den
Blutkörperchen, sondern häufig noch viel bestimmter nach dem
Fibringehalt zu taxiren pflegte.
Diese Scheidung hat insofern einen wirklichen Werth, als
das Fibrin eben so wie die Blutkörperchen eine ganz eigen-
thümliche Erscheinung ist, so einzig und allein in dem Blute
und den ihm zunächst stehenden Säften sich findet, dass man
es in der That mehr mit den Blutkörperchen in Zusammen-
hang bringen kann, als mit den blossen Flüssigkeiten, welche
als Serum circuliren. Betrachtet man das Blut in seinen
eigentlich specifischen Theilen, durch welche es Blut wird, durch
welche es sich von anderen Flüssigkeiten unterscheidet, so kann
man es nicht läugnen, dass auf der einen Seite die Körperchen
durch ihren Hämatingehalt, auf der anderen Seite das Fibrin
der Flüssigkeit es sind, durch welche die specifischen Unter-
schiede bedingt werden. Wenn wir nun zunächst diese Be-
standtheile etwas näher betrachten, so ist die morphologische
Schilderung des Faserstoffes verhältnissmässig schnell gemacht.
Wenn wir ihn untersuchen, wie er im Blutgerinnsel vorkommt,
so finden wir ihn fast immer in der Form, wie ihn Malpighi
beschrieben hat, der fibrillären. Seine Fasern bilden in der
Regel äusserst feine Geflechte,
zarte Maschennetze, in denen
sich die Fasern gewöhnlich in
einer etwas zackigen Gestalt
durchsetzen und vereinigen.
Geronnenes Fibrin aus menschlichem Blute. a Feine,
b gröbere und breitere Fibrillen; c in das Gerinnsel eingeschlossene
rothe und farblose Blutkörperchen. Vergr. 280.
[123]Fibrin.
Die grösste Verschiedenheit, welche in der Erscheinung
dieser Bildung sich im Blute zeigt, ist die in Beziehung auf
die Grösse und Breite der Fasern; es sind dies Eigenthüm-
lichkeiten, über welche bis jetzt kein sicheres Urtheil gewon-
nen werden kann. Ich finde diese Verschiedenheiten ziemlich
häufig, aber ohne dass ich im Stande wäre, die Bedingungen
dafür anzugeben. Während nämlich die ausserordentlich fei-
nen, zarten Fasern gewöhnlich vorkommen, so kommt es zu-
weilen vor, dass ungleich breitere, fast bandartige Fasern sich
finden, welche viel glatter sind, sich ziemlich ähnlich durch-
setzen und verschlingen. Im Wesentlichen ist also immer ein
aus Fasern zusammengesetztes Netzwerk vorhanden, in dessen
Maschenräume die Blutkörperchen eingeschlossen sind. Lässt
man einen Blutstropfen gerinnen, so sieht man überall, wie
sich zwischen den Blutkörperchen feine Fäden hinziehen.
In Beziehung auf die Natur dieser Fasern können wir
histologisch hervorheben, dass wir nur zweierlei Arten von
Fasern haben, welche mit ihnen eine nähere Aehnlichkeit dar-
bieten. Die eine Art kommt in einer Substanz vor, welche
sonderbarer Weise die ältesten, vollkommen antiken, kraseolo-
gischen Vorstellungen mit den modernen etwas vereinigt, näm-
lich im Schleim. In der alten hippokratischen Medicin geht
bekanntlich die ganze Fibrin-Masse noch unter dem Begriff
des Phlegma, Mucus, und wenn wir den Schleim mit dem
Faserstoff vergleichen, so müssen wir zugestehen, dass in der
That eine grosse formelle Uebereinstimmung in der Ausschei-
dung besteht. In ähnlicher Weise, wie das Fibrin, bildet auch
der Schleim Fasern, welche manchmal sich isoliren und unter-
einander zu gewissen Figuren zusammentreten. — Die andere
Substanz, welche hierhergehört, ist das Bindegewebe mit sei-
ner Intercellularsubstanz, oder, wenn Sie wollen, die leim-
gebende Substanz, das Collagen (Glutén der Früheren). Die
Fibrillen des Bindegewebes verhalten sich nur insofern anders,
als sie in der Regel nicht netzförmig sind, sondern parallel
verlaufen, während sie sonst den Fibrin-Fasern in hohem
Maasse ähnlich sind. Die Intercellularsubstanz des Binde-
gewebes stimmt auch darin mit dem Faserstoff überein, dass
ihr Verhalten gegen Reagentien sehr analog ist. Wenn wir
[124]Siebente Vorlesung.
z. B. diluirte Säuren, die gewöhnlichen Pflanzensäuren oder
auch schwache Mineralsäuren einwirken lassen, so quellen sie
auf, und unter den Augen verschwinden die Fasern, so dass
wir nicht mehr sagen können, wo sie bleiben. Die Masse
schwillt auf, es verschwindet jeder Zwischenraum, und es sieht
aus, als ob die ganze Masse aus einer vollkommen homoge-
nen Substanz bestände. Waschen wir dieselbe langsam aus,
entfernen wir die Säure wieder, so lässt sich, wenn die Ein-
wirkung keine zu concentrirte war, wieder ein faseriges Ge-
bilde erlangen; es lässt sich der frühere Zustand von Neuem
erzeugen, und je nach Belieben wieder verändern. Es ist dies
Verhalten bis jetzt noch unerklärt geblieben, und gerade des-
halb hat die Ansicht Reichert’s, welche ich früher erwähnte,
etwas Bestechendes, dass die Substanz des Bindegewebes
eigentlich homogen und die Fasern nur eine künstliche Bil-
dung oder eine optische Täuschung seien. Indessen kann
man beim Faserstoff viel deutlicher als beim Bindegewebe die
einzelnen Fibrillen so vollständig isoliren, dass ich nicht um-
hin kann, zu sagen, dass ich die Trennung in einzelne Fibern
für wirklich bestehend und nicht bloss für künstlich und eben
so wenig für eine Täuschung des Beobachters halte.
Aber es ist sehr interessant, zu sehen, dass jedesmal vor
diesem Stadium des Fibrillären ein Stadium des Homogenen
liegt, eben so wie die Bindesubstanz ursprünglich als homo-
gene Intercellularsubstanz (Schleim) erscheint, aus der sich
erst nach und nach Fibrillen, wenn ich mich so ausdrücken
darf, ausscheiden, oder wie man gewöhnlich sagt, differenziren.
Auch der erst gelatinöse Faserstoff differenzirt sich zu einer
fibrillären Masse. Freilich gibt es auch unter den anorgani-
schen Stoffen gewisse Analogien. Aus Niederschlägen von
Kalksalzen oder Kieselsäure, welche ursprünglich vollkommen
gelatinös und amorph sind, scheiden sich nach und nach so-
lide Körner und Krystalle aus.
Man kann also immerhin den Namen der Fibrillen für
die gewöhnliche Erscheinungsform des Faserstoffs beibehalten,
aber man muss sich dabei erinnern, dass diese Substanz ur-
sprünglich in einem homogenen, amorphen, gallertartigen Zu-
stande existirte, und wieder in denselben übergeführt werden
[125]Rothe Blutkörperchen.
kann. Diese Ueberführung geschieht nicht nur künstlich,
sondern macht sich auf natürlichem Wege auch im Körper
selbst, so dass, wo wir vorher Fibrillen fanden, wir später
den Faserstoff auch homogen antreffen, z. B. in den Gefässen,
wo die Coagula eines Aneurysma’s und andere Thromben
allmählig in eine homogene, knorpelartig dichte Masse verwan-
delt werden.
Was nun den zweiten Antheil des Blutes betrifft, die
Blutkörperchen, so kann ich mich darüber kurz fassen, da
es bekannte Elemente sind. Ich habe schon hervorgehoben,
dass gegenwärtig ziemlich alle Histologen darüber einig sind,
dass die farbigen Blutkörperchen des Menschen und der höhe-
ren Säugethiere keine Kerne besitzen, sondern dass sie ein-
fache Blasen darstellen, die in Beziehung auf ihre zellige Natur
Zweifel zulassen könnten, wenn wir eben nicht wüssten, dass
sie zu gewissen Zeiten der em-
bryonalen Entwickelung einen
Kern besässen. Die Zusam-
mensetzung des gewöhnlichen
rothen Blutkörperchens ist
demnach so zu denken, dass innerhalb
einer geschlossenen Membran eine ziemlich
zähe Masse enthalten ist, an welcher die
rothe Farbe haftet. Nun sind bekanntlich
die Blutkörperchen des Menschen platte,
Kernhaltige Blutkörperchen von einem menschlichen, sechs
Wochen alten Fötus. a Verschieden grosse, homogene Zellen mit ein-
fachen, relativ grossen Kernen, von denen einzelne leicht granulirt, die
meisten mehr gleichmässig sind, bei * ein farbloses Körperchen. b Zellen mit
äusserst kleinen, aber scharfen Kernen und deutlich rothem Inhalte.
c Nach Behandlung mit Essigsäure sieht man die Kerne zum Theil ge-
schrumpft und zackig, bei mehreren doppelt; bei * ein granulirtes Kör-
perchen. Vergr. 280.
Menschliche Blutkörperchen vom Erwachsenen. a das ge-
wöhnliche, scheibenförmige rothe, b das farblose Blutkörperchen, c rothe
Körperchen, von der Seite und auf dem Rande stehend gesehen. d rothe
Körperchen in Geldrollenform zusammengeordnet. e zackige, durch Was-
serverlust (Exosmose) geschrumpfte rothe Körper. f geschrumpfte rothe
Körper mit hügeligem Rand und einer kernartigen Erhebung auf der
Fläche der Scheibe. g noch dichtere Schrumpfung. h höchster Grad der
Schrumpfung (melanöse Körperchen). Vergr. 280.
[126]Siebente Vorlesung.
scheiben- oder tellerförmige Bildungen mit zweiseitiger centra-
ler Depression, die in ihrer regelmässigen Form einen Ring
darstellen, welcher in der dünneren Mitte eine schwächere Fär-
bung zeigt. Gewöhnlich denkt man sich in der Kürze den In-
halt als Hämatin, Blutfarbestoff. Allein unzweifelhaft ist der In-
halt sehr zusammengesetzt, und das, was man Hämatin nennt,
bildet eben nur einen Theil davon; einen wie grossen Theil,
lässt sich bis jetzt noch gar nicht ermitteln. Was sonst noch
innerhalb des Blutkörperchens enthalten ist, das gehört ganz
der chemischen Frage an. Zu sehen sind davon höchstens
gewisse Veränderungen durch die Einwirkung äusserer Me-
dien. Wir bemerken, dass die Blutkörperchen, je nachdem
sie Sauerstoff aufnehmen oder Kohlensäure enthalten, bald
hell, bald dunkel erscheinen, während sie ihre Form ein we-
nig ändern. Wir wissen ferner, dass unter der Einwirkung
von chemischen Flüssigkeiten den Blutkörperchen gewisse
Mengen von Wasser entzogen werden, dass sie schrumpfen
und Gestaltsveränderungen erfahren, und dass sie eigenthüm-
liche Veränderungen erleiden, die sehr leicht Irrthümer herbei-
führen können. Dies sind Verhältnisse, auf die ich noch mit
ein paar Worten eingehen will.
Die erste Erscheinung, wenn das Blutkörperchen einem
Wasserverlust ausgesetzt ist, dadurch dass eine stärker con-
centrirte Flüssigkeit auf dasselbe einwirkt, besteht darin, dass
in dem Maasse, als Flüssigkeit austritt, an der Oberfläche des
Körperchens kleine Hervorragungen entstehen, welche anfangs
sehr zerstreut liegen, bald an dem Rande, bald auf der Fläche,
und welche im letztern Falle zuweilen täuschend einem Kerne
ähnlich sehen (Fig. 52, e, f.). Dies ist die Quelle für die An-
nahme von Kernen, welche man so viel beschrieben hat. Be-
obachtet man ein Blutkörperchen unter Einwirkung concen-
trirter Medien längere Zeit, so treten immer mehr Höcker
hervor und das Körperchen wird in seinem Durchmesser klei-
ner. Dabei bilden sich immer deutlicher kleine Falten und
Höcker an der Oberfläche, es wird zackig, sternförmig, eckig
(Fig. 52, g.). Solche zackigen Körper sieht man jeden
Augenblick, wenn man Blut untersucht, welches eine Zeit lang
an der Luft gewesen ist. Schon die blosse Verdunstung er-
[127]Diffusionserscheinungen der rothen Blutkörperchen.
zeugt diese Veränderung. Sehr schnell können wir sie machen,
wenn wir die Mischung des Serums ändern durch Zusatz von
Salz oder Zucker. Dauert die Wasser-Entziehung fort, so
verkleinert sich das Körperchen noch mehr, und endlich wird
es wieder rund und glatt (Fig. 52, h.), vollkommen sphärisch,
und zugleich erscheint die Farbe viel saturirter, die innere
Masse sieht ganz dunkel aus. Sie können daraus zugleich
eine nicht uninteressante Thatsache erschliessen, nämlich die,
dass die Exosmose wesentlich eine Wasser-Entziehung ist, wo-
bei vielleicht dieser oder jener andere Stoff z. B. Salz mit
austritt, wobei aber die wesentlichen Bestandtheile zurückblei-
ben. Das Hämatin folgt dem Wasser nicht; die Blutkörperchen-
membran hält dasselbe zurück, so dass in dem Maasse, als
viel Flüssigkeit verloren geht, natürlich das Hämatin im In-
nern dichter werden muss.
Umgekehrt verhält es sich, wenn wir diluirte Flüssigkei-
ten anwenden. Je mehr verdünnt die Flüssigkeit wird, um
so mehr vergrössert sich, quillt das Blutkörperchen auf und wird
blasser. Behandeln wir die unter der Einwirkung concentrirter
Flüssigkeiten reducirten Blutkörperchen mit Wasser, so sehen wir,
wie die kuglige Form wieder in die eckige und von da in
die der Scheibe übergeht, wie das Blutkörperchen sich immer
mehr wölbt, oft ganz sonderbar sich gestaltet, und wieder
blasser wird. Diese Einwirkung kann man, wenn man die
[Verdünnung] des Blutes recht vorsichtig eintreten lässt, so weit
treiben, dass die Blutkörperchen kaum noch gefärbt erschei-
nen, während sie doch noch sichtbar bleiben. In den ge-
wöhnlichen Fällen, wo man viel Flüssigkeit auf einmal zusetzt,
wird in der Einrichtung des Blutkörperchens eine so grosse
Revolution hervorgebracht, dass alsbald ein Entweichen des
Hämatins aus dem Körperchen stattfindet. Wir bekommen dann
eine rothe Lösung, bei der die Farbe frei an der Flüssigkeit
haftet. Ich hebe diese Eigenthümlichkeit deshalb hervor, weil
sie bei Untersuchungen immerfort vorkommt, und weil sie eine
der wesentlichen Erscheinungen bei der Bildung der patholo-
gischen Pigmentirungen erklärt, wo wir ein ganz ähnliches
Entweichen des Hämatins aus den Blutkörperchen antreffen
(Fig. 54, a.). Gewöhnlich drückt man sich so aus, das Blut-
[128]Siebente Vorlesung.
körperchen werde aufgelöst, allein es ist eine schon längst be-
kannte Thatsache, wie zuerst von Carl Heinrich Schultz
gezeigt wurde, dass wenn auch scheinbar gar keine Blutkör-
perchen mehr vorhanden sind, man durch Zufügen von Jod-
wasser die Membranen wieder deutlich machen kann, woraus
hervorgeht, dass nur der Grad der Aufblähung und der ausser-
ordentlich dünne Zustand der Häute das Sichtbarwerden der Blut-
körperchen gehindert hat. Es bedarf schon sehr stürmischer Ein-
wirkungen durch chemisch differente Stoffe, um ein wirkliches
Zugrundegehen der Blutkörperchen zu Stande zu bringen.
Setzt man unmittelbar, nachdem man die Blutkörperchen mit
ganz concentrirter Salzlösung behandelt hat, Wasser in gros-
ser Menge hinzu, so kann man es dahin bringen, dass man
den Blutkörperchen, ohne dass sie aufquellen, den Inhalt ent-
zieht, und dass die Membran sichtbar zurückbleibt. Dies ist
der Grund gewesen, weshalb Denis und Lecanu davon ge-
sprochen haben, dass die Blutkörper Fibrin enthielten. Sie
haben geglaubt, dadurch, dass man die Körper erst mit Salz
und dann mit Wasser behandele, das Fibrin aus ihnen dar-
stellen zu können. Dies sogenannte Fibrin ist aber, wie ich
gezeigt habe, nichts Anderes, als die Membran der Blutkörper-
chen; wirkliches Fibrin ist nicht in ihnen enthalten, aber aller-
dings ist die Membran eine Substanz, die den eiweissartigen
Stoffen mehr oder weniger verwandt ist, und die, wenn sie in
grossen Haufen gewonnen wird, Erscheinungen darbieten kann,
die an Fibrin erinnern.
Was nun die Inhaltssubstanzen der Blutkörperchen anbe-
trifft, so haben sie gerade in der neueren Zeit ein grosses
Interesse gewonnen durch die mehr morphologischen Erschei-
nungen, welche man an ihnen beobachtet hat, und welche in die
ganze Lehre von der Natur der organischen Stoffe eine Art von
Umwälzung gebracht haben. Es handelt sich hier um die eigen-
thümlichen Formen von gefärbten Krystallen, die unter ge-
wissen Verhältnissen aus dem Blutfarbstoffe gewonnen werden
können, und die nicht bloss an sich ein grosses chemisches,
sondern auch ein sehr erhebliches praktisches Interesse gewon-
nen haben. Wir kennen bis jetzt schon drei verschiedene Ar-
[129]Hämatoidin.
ten von Krystallen, welche das Hämatin als gemeinschaft-
liche Quelle zu besitzen scheinen.
Der ersten Form, mit welcher ich mich selbst früher sehr
viel beschäftigte, habe ich den Namen Hämatoidin ge-
geben. Es ist dies eines der häufigsten Umwand-
lungsprodukte, welches in dem Körper selbst aus
dem Hämatin entsteht, und zwar oft so massen-
haft, dass man seine Abscheidung mit blossem
Auge wahrnehmen kann. Diese Substanz er-
scheint in ihrer ausgebildeten Form als schiefe
rhombische Säule mit einem schön gelbrothen,
manchmal bei dickeren Stücken intensiv rubinrothen Aussehen,
und stellt eine der schönsten Krystallformen dar, die wir über-
haupt kennen. Auch in kleinen Tafeln findet sie sich nicht
selten, manchmal ziemlich ähnlich den Formen der Harnsäure. In
der Mehrzahl der Fälle sind die Krystalle sehr klein, nicht bloss
mikroskopisch, sondern selbst für die mikroskopische Betrach-
tung etwas difficil. Man muss entweder ein sehr scharfer
Beobachter oder speciell darauf vorbereitet sein, sonst findet
man häufig nichts weiter an den Stellen, wo das Hämatoidin
liegt, als kleine Striche oder ein scheinbar gestaltloses
Klümpchen. Allein, wenn man genauer zusieht, so lösen
sich die Striche in kleine rhombische Säulen, das
Klümpchen in ein Aggregat von Krystallen auf. Diese Form
kann als die regelmässige, typische Endform der Umbildungen
des Hämatins an Stellen des Körpers betrachtet werden, wo
grosse Massen von Blut liegen bleiben. Ein apoplectischer
Heerd des Gehirns z. B., wenn er heilt, kann nicht anders
heilen, als so, dass ein grosser Theil des Blutes in diese
Krystallisation übergeht, und wenn wir nachher eine gefärbte
Narbe an dieser Stelle finden, so können wir mit Gewissheit
darauf rechnen, dass die Farbe von Hämatoidin abhängt.
Wenn eine junge Dame menstruirt, und die Höhle des Graaf-
schen Follikels, wo das Ei ausgetreten ist, sich mit coagulir-
tem Blute füllt, so geht das Hämatin allmälig in Hämatoidin
Hämatoidin-Krystalle in verschiedenen Formen (vgl. Ar-
chiv f. path. Anat. Bd. I. S. 391. Taf. III. Fig. 11). Vergr. 300.
9
[130]Siebente Vorlesung.
über, und wir finden an der Stelle, wo das Ei gelegen war,
die schön hochrothe Farbe der Hämatoidin-Krystalle, welche
als die letzten Gedenksteine dieser Episode übrig geblieben
sind. Auf diese Weise können wir die Zahl der apoplectischen
Anfälle zählen, und berechnen, wie oft ein junges Mädchen
menstruirt hatte. Jede Extravasation lässt ihr kleines Con-
tingent von Hämatoidin-Krystallen zurück, und diese, wenn sie
einmal gebildet sind, bleiben als vollständig widerstandsfähige,
compacte Körper im Innern der Organe liegen.
Was nun die Eigenthümlichkeiten des Hämatoidins betrifft,
so hat es theoretisch noch ein besonderes Interesse dadurch,
dass es in seinen ausgebildeten Krystallisationszuständen eine
Reihe von Eigenschaften darbietet, welche es als den einzigen,
im Körper wenigstens bis jetzt bekannten, mit dem Gallenfarb-
stoffe (Cholepyrrhin) verwandten Stoff erscheinen lassen. Durch
directe Behandlung mit Mineralsäuren oder nach vorherigem
Behandeln und Aufschliessen vermittelst Alkalien bekommt man
dieselben oder ganz ähnliche Farben-Reactionen, wie man sie
durch Behandlung mit Mineralsäuren an dem Gallenfarbstoff
erlangt, und es scheint auch nach anderen Thatsachen, dass hier
ein Körper vorliegt, welcher mit dem Gallenfarbstoff sehr nahe
verwandt ist. Dies ist darum so interessant, weil man vermu-
Pigment aus einer apoplectischen Narbe des Gehirns (Ar-
chiv Bd. I. S. 401. 454. Taf. III. Fig. 7). a in der Entfärbung begrif-
fene, körnig gewordene Blutkörperchen. b Zellen der Neuroglia, zum
Theil mit körnigem und krystallinischem Pigment versehen. c Pigment-
körner. d Hämatoidin-Krystalle. f verödetes Gefäss, sein altes Lumen
mit körnigem und krystallinischem rothem Pigment erfüllt. Vergr. 300.
[131]Hämin.
thet, dass die gefärbten Theile der Galle Umsetzungsprodukte
des Blutrothes seien. Im Innern von Extravasaten entsteht
wirklich eine gelblich-rothe Substanz, welche man als eine
neugebildete Art von Gallenfarbstoff bezeichnen kann.
Die zweite Art von Krystallen, welche später entdeckt
wurden, sind diesen sehr ähnlich, unterscheiden sich aber da-
durch, dass sie nicht als ein spontanes Product im Körper
vorkommen, sondern aus Hämatin künstlich dargestellt werden
können. Sie haben mehr eine dunkel bräunliche Farbe, und
stellen gewöhnlich platte rhombische Tafeln mit spitzeren Win-
keln dar, welche gegen Reagentien ausserordentlich widerstands-
fähig sind und auch bei der Einwirkung der Mineralsäuren
die eigenthümlichen Farbenbilder nicht zeigen, welche das Hä-
matoidin darbietet. Diese zweite. Art von Krystallen hat von
ihrem Entdecker, Teichmann, den Namen des Hämin’s
bekommen. In der neusten Zeit ist Teichmann selbst darü-
ber zweifelhaft geworden, ob es nicht eine Art von Hämatin
selbst sei. Diese Formen haben bis jetzt pathologisch gar kein
Interesse, dagegen haben sie eine sehr grosse Bedeutung ge-
wonnen für die forensische Medicin dadurch, dass sie in der
letzten Zeit als eines der sichersten Reagentien für die Prü-
fung von Blutflecken gebraucht worden sind. Ich selbst bin
in forensischen Fällen in der Lage gewesen, solche Proben
zu machen. Zu diesem Zwecke muss man getrocknetes Blut in mög-
lichst dichtem Zustande mit trockenem, krystallisirtem Kochsalz-
pulver mengen, dann auf diese trockene Mischung Eisessig (Acetum
glaciale) bringen und bei Kochhitze abdampfen. Ist dies geschehen,
so hat man da, wo vorher die Blutkörperchen oder die zweifel-
Häminkrystalle, künstlich aus menschlichem Blute darge-
stellt. Vergr. 300.
9*
[132]Siebente Vorlesung.
hafte hämatinhaltige Substanz waren, die Häminkrystalle. Es
ist dies eine Reaction, die mit zu den sichersten und zuver-
lässigsten gehört, die wir überhaupt kennen. Es gibt keine
andere Substanz, von welcher wir eine solche Umbildung ken-
nen, als das Hämatin; weder die Einwirkung der Säure für
sich, noch die des Salzes für sich genügt, um irgend etwas Ana-
loges herzustellen. Sollte also irgend wo ein Zweifel über die
Natur der gewonnenen Krystalle rege werden, so hat man die
fragliche Substanz nur einmal mit Salz für sich, einmal mit
Acetum glaciale für sich zu erhitzen, um zu sehen, ob man
eine analoge Krystallisation bekommt — Diese Probe ist des-
halb ausserordentlich wichtig, als sie auch auf ganz minimale
Mengen anwendbar ist; nur darf die Menge nicht über eine
zu grosse Fläche verbreitet sein. Die Probe würde also nicht
leicht anwendbar sein, wenn es sich um ein Tuch handelte,
welches in eine dünne, wässerige, mit Blut gefärbte Flüssig-
keit getaucht war. Aber ich habe an dem Rocke eines Ermordeten,
an dessen Aermel Blut gespritzt war, und wo einzelne Bluts-
tropfen nur eine Linie im Durchmesser hatten, aus solchen Flecken
Häminkrystalle darstellen können, natürlich mikroskopische. In
Fällen, wo die gewöhnliche chemische Probe wegen der geringen
Menge absolut fehlschlagen müsste, sind wir doch noch im
Stande, das Hämin zu gewinnen. Bei so wenig Masse ist die
Grösse der Krystalle freilich auch nur sehr geringfügig; wir finden
dann, wie beim Hämatoidin, kleine, mit spitzen Winkeln ver-
sehene, intensiv braun gefärbte Körper.
Die dritte Substanz, die noch in diese Reihe hineingehört,
ist das sogenannte Hämatokrystallin, eine Substanz, über
deren Entdeckung die Gelehrten sich streiten, weil sie eben
stückweis gefunden worden ist. Die erste Beobachtung darü-
ber ist von Reichert am Uterus des Meerschweinchens ge-
macht, wo Extravasation erfolgt war, in einem Präparate, das,
wie ich denke, schon in Spiritus gelegen hatte. Seine Beob-
achtung wurde besonders dadurch bedeutungsvoll, dass er an
diesen Krystallen nachwies, dass sie sich in gewisser Bezie-
hung wie organische Substanzen verhielten, indem sie unter
der Wirkung gewisser Agentien grösser, unter der Wirkung ande-
rer kleiner würden, ohne Veränderung der Form, eine Erschei-
[133]Hämato Krystallin.
nung, welche man bis dahin an Krystallen noch nicht kannte.
Später sind diese Krystalle wieder entdeckt worden von Köl-
liker; Funke, Kunde und namentlich Lehmann haben sie
genauer untersucht. Es hat sich herausgestellt, dass bei ver-
schiedenen Thier-Klassen dieselben sehr verschieden sind, in-
dessen hat sich bis jetzt ein bestimmter Grund dafür und eine An-
sicht über die Natur der Substanz selbst in diesen verschie-
denen Fällen nicht gewinnen lassen. Beim Menschen sind es
ziemlich grosse Krystalle. Man hat anfangs geglaubt, sie kä-
men nur an dem Blute gewisser Organe vor, allein es hat
sich ergeben, dass sie überall vorkommen und nur in gewis-
sen Krankheitsprozessen leichter gewonnen werden können. In
einzelnen sehr seltenen Fällen kommt es vor, dass man sie
im Blut von Leichen schon gebildet findet. Diese Krystalle
sind sehr leicht zerstörbar; sowohl wenn sie eintrocknen, als
wenn sie feucht oder durch irgend ein flüssiges Medium be-
rührt werden, gehen sie zu Grunde, und man beobach-
tet sie daher nur in gewissen Uebergangsstadien, welche ge-
rade getroffen werden müssen, bei der Zerstörung der Blut-
körperchen. Die gut ausgebildeten Formen beim Menschen
bilden vollkommen rechtwinklige Körper; aber sehr oft sind
sie äusserst klein und man sieht nur einfache Spiesse, welche
in grossen Massen an gewissen Stellen in das Object hinein-
schiessen. Dabei haben sie die Eigenthümlichkeit, dass sie
sich immer noch verhalten, wie das Hämatin selbst, dass sie
durch Sauerstoff hellroth, durch Kohlensäure dunkelroth
werden. Darüber besteht noch mannigfache Discussion, in wie
weit die ganze Masse der Krystalle aus Farbstoff besteht
oder der Farbestoff auch hier nur eine Tränkung der an sich
farblosen Krystalle bildet, indess kann man soviel festhalten,
dass die Farbe als etwas sehr Charakteristisches gelten muss,
und dass die nahen Beziehungen derselben zu dem gewöhn-
lichen Blutfarbestoff sich nicht bezweifeln lassen. —
Die dritte Art der natürlichen morphologischen Elemente
des Blutes sind die farblosen Körperchen. Sie kommen
im Blute des gesunden Menschen in verhältnissmässig kleinen
Quantitäten vor. Man rechnet ungefähr auf dreihundert rothe
Körperchen ein farbloses. In der gewöhnlichen Erscheinung,
[134]Siebente Vorlesung.
wie sie sich im Blute finden, stellen sie sphärische Körperchen
dar, welche zuweilen etwas grösser, zuweilen etwas kleiner
oder gleich gross, wie die gewöhnlichen rothen Blutkörperchen
sind, von denen sie sich aber auffallend durch den Mangel einer Fär-
bung und durch ihre vollkommen
sphärische Gestalt unterscheiden.
In einem Blutstropfen, der zur
Ruhe gekommen ist, findet man
gewöhnlich die rothen Körperchen
in gewisse Reihen und in die
bekannten Formen von Geldrollen, mit ihren flachen Scheiben
an einander, zusammengelegt (Fig. 52, d.); dazwischen sieht
man in den gewöhnlichen Zwischenräumen hier und da ein
solches blasses sphärisches Gebilde, an dem man zunächst,
wenn das Blut ganz frisch ist, nichts weiter erkennen kann,
als eine zuweilen leicht höckerig aussehende Fläche. Lässt
man nun Wasser hinzutreten, so sieht man, dass das farblose
Körperchen aufquillt; in dem Maasse, als es Wasser auf-
nimmt, erscheint zuerst deutlich eine Membran, dann sieht
man einen allmälig klarer hervortretenden körnigen Inhalt
und zuletzt etwas von einem oder mehreren Kernen. Die
scheinbar homogene Kugel verwandelt sich nach und nach in
ein zartwandiges, oft so brüchiges Gebilde, dass bei unvorsich-
tiger Einwirkung des Wassers die äusseren Theile anfangen zu
zerfallen und im Innern ein etwas körniger Inhalt hervortritt,
welcher sich mehr und mehr lockert und innerhalb dessen ein
gewöhnlich in der Theilung begriffener oder mehrere Kerne
erscheinen. Das Hervortreten der letzteren ist viel schnel-
ler zu erlangen, wenn man das Object mit Essigsäure behan-
delt, welche die Membran durchscheinend macht, den trüben
Inhalt löst und den Kern gerinnen und schrumpfen lässt. Die
Kerne erscheinen dann als dunkle, scharf contourirte Körper,
Farblose Blutkörperchen aus der Vena arachnoidealis eines
Geisteskranken. A. frisch, a in ihrer natürlichen Flüssigkeit, b in Was-
ser untersucht. B. Nach Behandlung mit Essigsäure: a — c einkernige,
mit immer grösserem, granulirtem und schliesslich nucleolirtem Kern.
d einfache Kerntheilung. e weitere Kerntheilung. f — h Dreitheilung
des Kerns in allmäligem Fortschreiten. i — k vier und mehr Kerne.
Vergr. 280.
[135]Farblose Blutkörperchen.
einfach oder mehrfach, je nach den Umständen. Kurz, wir be-
kommen in der Mehrzahl der Fälle auf diese Weise ein Ob-
ject zu sehen, wie es einer unserer anwesenden Collegen, Herr
Dr. Güterbock zuerst als die besondere Eigenthümlichkeit der
Eiterkörper kennen gelehrt hat. Die Frage von der Aehnlich-
keit oder Unähnlichkeit der farblosen Blutkörperchen mit den
Eiterkörperchen beschäftigt noch immerfort die Beobachter, und
die Ansichten über die Beziehung der farblosen Blutkörper-
chen zu der Pyämie werden wahrscheinlich noch eine Reihe
von Jahren gebrauchen, ehe sie so weit geklärt sind, dass
nicht immer wieder einseitige Rückfälle eintreten. Es ist
nämlich allerdings das trügerisch, dass wenn man eine Reihe
von Personen untersucht, man in manchem Blut Körperchen
findet, welche nur einen einzigen Kern haben, und zwar einen
grossen, nicht selten mit einem Kernkörperchen versehenen
Kern, während man in anderem Blut nur mehrkernige Körper-
chen findet. Da nun diese eine grosse Aehnlichkeit mit Eiter-
körperchen haben, so ist es allerdings solchen Beobachtern,
welche durch Zufall gerade Blut mit einkernigen Körperchen
getroffen hatten, nicht zu verdenken, wenn sie in einem ande-
ren Falle, wo sie mehrkernige sehen, glauben, sie hätten etwas
wesentlich Anderes, nämlich Eiterkörperchen im Blute, und es
handle sich um Pyämie. Allein sonderbarer Weise bilden die
einkernigen die Ausnahme und Sie können lange suchen, ohne
ein Blut zu finden, wo die Körper nur einen Kern haben.
Gerade heute habe ich zufällig, wo ich mich beschäftigte, die
Objecte vorzubereiten, ein Blut unter die Hand bekommen, in
welchem fast lauter einkernige Elemente und zwar in überaus gros-
ser Menge existiren; es fand sich bei einem Manne,
welcher an den Blattern gestorben ist, und bei
welchem eine höchst auffällige acute Hyperplasie
der Bronchialdrüsen bestand.
Nun könnte man glauben, dass dies ver-
schiedene Qualitäten von Blut seien. Dagegen muss bemerkt
Farblose Blutkörperchen bei variolöser Leukocytose.
a freie oder nackte Kerne. b, b farblose Zellen mit kleinen, einfachen
Kernen. c Grössere, farblose Zellen mit grossen Kernen und Kernkör-
perchen. Vergr. 300.
[136]Siebente Vorlesung.
werden, dass allerdings in den Fällen, wo die eine oder
andere Form von Elementen massenhaft existirt, man eine
pathologische Erscheinung vor sich hat, während da, wo wir
nicht so grosse Mengen finden, nur ein früheres oder späteres
Entwickelungsstadium der Elemente vorliegt. Denn ein und
dasselbe Blutkörperchen kann im Verlaufe seiner Lebensge-
schichte einen oder mehrere Kerne haben, indem der einfache
in ein früheres, die mehrfachen in ein späteres Lebensstadium
fallen. Sie müssen immer festhalten, dass man an demselben
Individuum in kurzer Zeit, ja oft in Stunden schon den Wech-
sel eintreten sieht, so dass in einem Blute, welches vorher
nur die eine Sorte hatte, sich später eine ganz andere findet,
— ein Beweis von dem raschen Wechsel, welchen diese Kör-
per besitzen. —
Erlauben Sie, meine Herren, dass ich noch ein paar Worte
hinzufüge in Beziehung auf die gröberen Verhältnisse, welche
die einzelnen Bestandtheile des Blutes darbieten. Gewöhnlich
nimmt man bekanntlich an, dass von den morphotischen Be-
standtheilen nur zwei der groben Beobachtung mit blossem Auge
zugänglich werden, nämlich die rothen Blutkörperchen im
Cruor und die Fibrin-Massen, welche bei Gelegenheit eine
Speckhaut bilden können, dass dagegen die farblosen Elemente
nicht durch die einfache Betrachtung wahrzunehmen seien.
Dies ist ein Punkt, der wesentlich corrigirt werden muss.
Die farblosen Körper machen sich, wo sie in grösserer Menge
vorhanden sind, für das geübtere Auge bei der Trennung der
Blutbestandtheile, namentlich wenn Bewegung vorhanden ist,
sehr deutlich geltend; sie zeigen eine Eigenthümlichkeit, die man
sehr wohl kennen muss, wenn es sich um die Kritik des Leichen-
befundes handelt, und deren Nichtkenntniss zu grossen Irrthü-
mern geführt hat. Die farblosen Körperchen besitzen nämlich,
wie dies schon in den älteren Discussionen zu Tage getreten
ist, welche unser hier anwesender College Ascherson mit
E. H. Weber gehabt hat, die besondere Eigenschaft,
dass sie klebrig sind, dass sie also mit Leichtigkeit
an einander haften, dass sie unter Umständen sich auch an
anderen Theilen festsetzen, wo die rothen Körperchen diese
Erscheinung nicht darbieten. Die Neigung, an anderen Thei-
[137]Klebrigkeit der farblosen Blutkörperchen.
len anzukleben, ist besonders
dann sehr deutlich, wenn zugleich
ihrer mehrere untereinander in
die Lage kommen, gegenseitig
mit einander zu verkleben. So
geschieht es ausserordentlich
leicht, dass in einem Blute, in
welchem an sich eine Vermeh-
rung von farblosen Körpern be-
steht, Agglutinationen derselben
vor sich gehen, sobald der Druck, unter welchem das Blut
fliesst, nachlässt; in jedem Gefässe, wo sich die Strömung ver-
langsamt, wo eine Abschwächung des Druckes stattfindet, kann
eine solche Agglutination der Körperchen geschehen.
Die Klebrigkeit (Viscosität) der farblosen Blutkörper-
chen hat überdies den Effect, dass, wie Herr Ascherson darge-
than hat, bei der gewöhnlichen Strömung des Blutes durch
die Capillargefässe die farblosen Körperchen ge-
wöhnlich etwas langsamer schwimmen als die ro-
then, und dass, während die rothen mehr im Cen-
trum des Capillargefässes in einem continuirlichen
Strome sich bewegen, am Umfange eine verhältniss-
mässig grosse Lücke bleibt, innerhalb deren sich
die farblosen Körperchen bewegen, und zwar oft so
constant bewegen, das Weber zu dem Schlusse kam,
es stecke jedes Capillargefäss in einem Lymphge-
fässe, innerhalb dessen die farblosen Blut- oder
Lymphkörperchen schwömmen. Allein es kann
darüber gar kein Zweifel sein, dass es sich hier um einen
einfachen Kanal handelt, innerhalb dessen die farblosen Kör-
perchen den Wandungen näher liegen, als die rothen. Hier
A. Fibringerinnsel aus der Lungenarterie, den Endästen
derselben entsprechend, bei a, a mit grösseren Platten von leukocyto-
tischen Haufen besetzt, bei b, b, b mit analogen Körnern. Natürliche
Grösse.
B. Ein Stück eines solchen Korns oder Haufens, aus dichtgedräng-
ten farblosen Blutkörperchen bestehend. Vergr. 280.
Capillargefäss aus der Frosch-Schwimmhaut, r der centrale
Strom der rothen Körperchen, l, l, l die träge, peripherische Schicht des
Blutstromes mit den farblosen Blutkörperchen. Vergr. 280.
[138]Siebente Vorlesung.
ist es, wo man, während die Körperchen sich fortbewegen,
einzelne für einen Augenblick festsitzen, dann sich losreissen
und wieder langsam fortgehen sieht, so dass der Name der
trägen Schicht für diesen Theil des Blutstromes ein voll-
kommen recipirter geworden ist.
Diese beiden Eigenthümlichkeiten, dass bei einer Ab-
schwächung des Stromes die Körperchen an den Wandungen
des Gefässes stellenweise haften bleiben, gewissermaassen an
ihnen ankleben, und dass sie untereinander zu grösseren Klum-
pen sich zusammenballen, haben zusammen die Wirkung, dass,
wenn im Blute viele farblose Körper vorhanden sind und der
Tod, wie in den gewöhnlichen Fällen, unter einer allmäligen
Abschwächung der Triebkraft erfolgt, in den verschiedensten
Gefässen die farblosen Körper sich zu kleinen Haufen zusam-
menballen und in der Regel am Umfange des späteren Blut-
gerinnsels liegen bleiben.
Ziehen wir z. B. aus der Cava inferior den Blutpfropf
heraus, so kann es sein, dass an seiner Oberfläche kleine Kör-
ner (Fig. 58, A.) sitzen, Knöpfchen von weisser Farbe, welche
aussehen, wie kleine Eiterpunkte, oder welche gar zu mehre-
ren perlschnurartig zusammenhängen. Dies Vorkommen
ist am constantesten an denjenigen Punkten, wo die Zahl
der Körper jedesmal am häufigsten ist, in der Strecke zwischen
der Einmündung des Ductus thoracicus und der Lungenbahn.
Ziemlich leicht vermag das blosse Auge an dem Abscheiden
dieser Massen das mehr oder weniger reichliche Vorkommen
der farblosen Körperchen zu erkennen. Unter Umständen,
wo die Zahl derselben sehr gross wird, sieht man auch
wohl ganze Häufchen, die wie eine Scheide einzelne Abschnitte
des Gerinnsels umlagern. Bringt man ein solches Häufchen un-
ter das Mikroskop, so sieht man viele Tausende von farblo-
sen Körpern zusammen.
Erfolgt die Gerinnung des Blutes, wenn dasselbe mehr in
Ruhe ist, so tritt eine andere Erscheinung sehr deutlich her-
vor, wie man sie in Aderlass-Gefässen sehen kann. Gerinnt
der Faserstoff nicht sehr schnell, wie bei entzündlichem Blute,
so fangen innerhalb der Flüssigkeit die Blutkörperchen an,
sich vermöge ihrer Schwere zu senken. Diese Sedimentirung
[139]Granulöse Speckhaut.
geht bekanntlich so weit, dass nach dem Ausquirlen des Fa-
serstoffes das Serum vollkommen klar wird, indem die Kör-
perchen sich zu Boden senken. Wenn wir ein an farblosen
Blutkörperchen reiches Blut defibriniren und stehen lassen, so
bildet sich ein doppeltes Sediment, ein rothes und ein weisses.
Das rothe bildet das tiefste, das weisse das oberflächliche
Stratum, und letzteres sieht vollständig so aus, wie wenn eine
Lage von Eiter über dem Blute läge. Wird das Blut nicht
defibrinirt, gerinnt es aber langsam, dann kommt die Senkung
nicht vollständig zu Stande, sondern es wird nur der höchste
Theil der Blutflüssigkeit von Körperchen frei; wenn dann spä-
terhin der Faserstoff gerinnt, so bekommen wir die bekannte
Crusta phlogistica, die Speckhaut, und wenn wir nach den
farblosen Blutkörperchen suchen, so finden wir sie als eine be-
sondere Schicht an der unteren Grenze der Speckhaut. Diese
Sonderbarkeit erklärt sich einfach aus dem verschiedenen spe-
cifischen Gewichte, welches die beiden Arten von Blutkörper-
chen haben. Die farblosen sind immer leichte, an festen Sub-
stanzen arme, sehr zarte Gebilde, während die rothen ein re-
lativ bleiernes Gewicht haben durch ihren grossen Gehalt an
Hämatin. Sie erreichen daher verhältnissmässig sehr schnell
den Boden, während die farblosen noch im Fallen begriffen
sind. Wenn man zwei verschie-
den schwere Substanzen frei her-
unterfallen lässt bei genügender
Höhe, so kommen ja auch wegen
des Widerstandes der Luft die
leichteren Körper später am Bo-
den an.
In der Regel bildet bei der
Gerinnung im Aderlassblut die-
ser weisse Cruor nicht eine con-
tinuirliche, sondern eine unter-
Schema eines Aderlassgefässes mit geronnenem hyperino-
tischem Blute. a das Niveau der Blutflüssigkeit; c die becherförmige
Speckhaut, l die Lymphschicht (Cruor lymphaticus, Crusta granulosa) mit
den körnigen und maulbeerartigen Anhäufungen der farblosen Körperchen,
r der rothe Cruor.
[140]Siebente Vorlesung.
brochene Lage, in der Weise, dass an der unteren Seite
der Speckhaut kleine Häufchen oder Knötchen haften. Daher
hat Piorry, welcher zuerst diese Beobachtung machte, aber
sie ganz falsch deutete, indem er sie auf eine Entzündung des
Blutes selbst (Haemitis) bezog und darauf die Doctrin der
Pyämie begründete, diese Form von Speckhaut als Crusta
granulosa bezeichnet. Es ist dies nichts weiter, als eine
massenhafte Anhäufung der farblosen Blutkörperchen.
Unter allen Verhältnissen gleicht diese Schicht dem Aus-
sehen nach dem Eiter, und da nun, wie wir vorher gesehen
haben, auch die einzelnen farblosen Blutkörperchen dem Ei-
ter gleichen, so sehen Sie, dass man nicht bloss bei einem ge-
sunden Menschen in die Lage kommen kann, ein farbloses
Blutkörper-chen für ein Eiterkörperchen zu halten, sondern
noch mehr bei pathologischen Zuständen, wo das Blut
oder andere Theile voll von diesen Elementen sind. Sie
begreifen, dass man auf die Frage kommen kann, wie sie hier und
da ernsthaft aufgeworfen ist, ob die Eiterkörperchen nicht bloss
einfach extravasirte farblose Blutkörperchen seien, oder umge-
kehrt, ob die innerhalb der Gefässe gefundenen farblosen Blut-
körperchen nicht von aussen her in sie aufgenommene Eiter-
körperchen seien. Hier stossen wir zum ersten Male auf die
praktische Anwendung der Gesichtspunkte, welche ich in Be-
ziehung auf die Specificität und Heterologie der Elemente aufgestellt
habe (S. 57). Ein Eiterkörperchen kann sich durch nichts, als
durch die Art seiner Entstehung von einem farblosen Blutkör-
perchen unterscheiden. Wenn Sie nicht wissen, woher es ge-
kommen, so können Sie auch nicht sagen, was es ist; Sie
können in die grössten Zweifel gerathen, ob Sie ein Gebilde
der Art für ein Eiter- oder ein farbloses Blutkörperchen hal-
ten sollen. In jedem Falle ist die Frage zu discutiren, wohin
gehört das Ding? wo ist seine Heimath? Liegt diese ausser-
halb des Blutes, so können Sie mit Sicherheit daraus schlies-
sen, dass es Eiter sei; ist dies nicht der Fall, so handelt es
sich um Elemente des Blutes.
[[141]]
Achte Vorlesung.
10. März 1858.
Blut und Lymphe.
Wechsel und Ersatz der Blutbestandtheile. Das Fibrin. Die Lymphe und ihre Gerinnung.
Das lymphatische Exsudat. Fibrinogene Substanz. Speckhautbildung. Lymphatisches
Blut, Hyperinose, phlogistische Krase. Locale Fibrinbildung. Fibrintranssudation. Fi-
brinbildung im Blute.
Die farblosen Blutkörperchen (Lymphkörperchen). Ihre Vermehrung bei Hyperinose
und Hypinose (Erysipel, Pseudoerysipel, Typhus). Leukocythose und Lenkämie. Die li-
enale und lymphatische Leukämie.
Milz- und Lymphdrüsen als hämatopoëtische Organe. Struktur der Lymphdrüsen.
Ich habe Ihnen, meine Herren, das letzte Mal die einzelnen
morphologischen Elemente des Blutes vorgeführt und die be-
sonderen Eigenthümlichkeiten der einzelnen zu schildern ge-
sucht. Erlauben Sie, dass ich Ihnen heute zunächst ein Wort
über die Entstehung dieser Dinge sage.
Aus den Erfahrungen über die erste Entwicklung der Blut-
Elemente lassen sich wesentliche Rückschlüsse machen auf die
Natur der Veränderungen, welche unter krankhaften Verhält-
nissen in der Blutmasse stattfinden. Früher betrachtete man
das Blut mehr als einen in sich abgeschlossenen Saft, welcher
allerdings gewisse Beziehungen nach aussen hatte, aber doch
in sich selbst eine wirkliche Dauer besitze, und man nahm
an, dass sich auch besondere Eigenschaften dauerhaft daran
erhalten, ja viele Jahre hindurch fortbestehen könnten. Natür-
lich durfte man dabei den Gedanken nicht zulassen, dass die Be-
standtheile des Blutes vergänglicher Natur seien, und dass neue
Elemente hinzukämen, welche die alten ersetzten. Denn die
[142]Achte Vorlesung.
Dauerhaftigkeit eines Theiles als solchen setzt entweder vor-
aus, dass er in seinen einzelnen Theilchen dauerhaft ist, oder
dass die einzelnen Theilchen innerhalb des Theiles immerfort
neue erzeugen, welche alle Eigenthümlichkeiten der alten mit-
bringen. Für das Blut müsste man also annehmen, seine Bestand-
theile wären wirklich durch Jahre fortbestehend, und sie könn-
ten Jahre lang dieselben Veränderungen darbieten, oder man
müsste sich denken, dass das Blut von einem Theile auf den
andern etwas übertrüge, dass von einem mütterlichen Theile auf
einen töchterlichen etwas Hereditäres fortgepflanzt würde. Von
diesen Möglichkeiten ist die erstere gegenwärtig wohl ziemlich all-
gemein zurükgewiesen. Es denkt im Augenblick wohl Niemand
daran, dass die einzelnen Bestandtheile des Blutes eine Jahre lange
Dauer haben. Dagegen lässt sich allerdings die Möglichkeit nicht von
vorn herein zurückweisen, dass innerhalb des Blutes die Ele-
mente eine Fortpflanzung erfahren, und dass sich von Element
zu Element gewisse Eigenthümlichkeiten übertragen, welche zu
einer gewissen Zeit im Blute eingeleitet sind. Allein mit
einer gewissen Zuverlässigkeit kennen wir solche Erscheinun-
gen der Fortpflanzung des Blutes nur aus einer früheren Zeit
des embryonalen Lebens. Hier scheint es nach Beobachtungen,
die erst in der neuesten Zeit von Remak wiederum bestätigt
sind, dass die vorhandenen Blutkörperchen sich direct theilen,
in der Art nämlich, dass in einem Körperchen, welches in der
ersten Zeit der Entwicklung sich als kernhaltige Zelle darstellt,
zuerst eine Theilung des Kernes eintritt (Fig. 51, c.), dass dann die
ganze Zelle sich einkerbt und nach und nach wirkliche Ueber-
gänge zu einer vollständigen Theilung erkennen lässt. In dieser
frühen Zeit ist es also allerdings zulässig, das Blutkörperchen
als den Träger von Eigenschaften zu betrachten, welche sich
von der ersten Reihe von Zellen auf die zweite, von dieser auf
die dritte u. s. f. fortpflanzen.
In dem Blute des entwickelten Menschen, selbst schon im
Blute des Fötus der späteren Schwangerschaftsmonate sind
solche Theilungserscheinungen nicht mehr bekannt, und keine
einzige von den Thatsachen, welche man aus der Entwicklungs-
geschichte beizubringen vermag, spricht dafür, dass in dem
entwickelten Blute eine Vermehrung der zelligen Elemente durch
[143]Faserstoff der Lymphe.
directe Theilung oder irgend eine andere im Blute selbst ge-
legene Anbildung stattfinde. So lange man die Möglichkeit
als bewiesen betrachtete, dass aus einem einfachen Cytoblastem
durch eine directe Ausscheidung differenter Materien Zellen ent-
stünden, so lange konnte man auch in der Blutflüssigkeit sich
neue Niederschläge bilden lassen, aus denen Zellen hervor-
gingen. Allein auch davon ist man zurückgekommen. Alle
morphologischen Elemente des Blutes, wie sie auch beschaffen
sein mögen, leitet man gegenwärtig von Orten ab, welche
ausserhalb des Blutes liegen. Ueberall geht man zurück auf
Organe, welche mit dem Blute nicht direct, sondern vielmehr
durch Zwischenbahnen in Verbindung stehen. Die Hauptorgane,
welche in dieser Beziehung in Frage kommen, sind die Lymph-
drüsen. Die Lymphe ist die Flüssigkeit, welche, während sie
dem Blute gewisse Stoffe zuführt, die von den Geweben
kommen, zugleich die körperlichen Elemente mit sich bringt,
aus welchen die Zellen des Blutes sich fort und fort ergänzen.
In Beziehung auf zwei Bestandtheile des Blutes dürfte es
kaum zweifelhaft sein, dass diese Anschauung die vollkommen
berechtigte ist, nämlich in Beziehung auf den Faserstoff und
die farblosen Blutkörperchen. Was den Faserstoff anbetrifft,
dessen Eigenschaften ich Ihnen das letzte Mal vorführte, so
ist es eine sehr wesentliche und wichtige Thatsache, dass der
Faserstoff, welcher in der Lymphe circulirt, gewisse Verschie-
denheiten darbietet von dem Faserstoffe der Blutmasse, welche
wir zu Gesicht bekommen, wenn wir die verschiedenen Extra-
vasate oder das aus der Ader gelassene Blut betrachten. Der
Faserstoff der Lymphe hat die besondere Eigenthümlichkeit,
dass er unter den gewöhnlichen Verhältnissen innerhalb der
Lymphgefässe weder im Leben, noch nach dem Tode gerinnt,
während doch das Blut in manchen Fällen schon während des
Lebens, regelmässig aber nach dem Tode gerinnt, so dass die
Gerinnungsfähigkeit dem Blute als eine regelmässige Eigen-
schaft zugeschrieben wird. In den Lymphgefässen eines todten
Thieres oder einer menschlichen Leiche findet man keine ge-
ronnene Lymphe, dagegen tritt die Gerinnung alsbald ein, so-
bald die Lymphe mit der äusseren Luft in Contact gebracht
oder von einem erkrankten Organe her verändert wird.
[144]Achte Vorlesung.
Die Deutung dieser Eigenthümlichkeit ist in sehr verschie-
dener Weise versucht worden. Ich selbst muss noch immer
an der Anschauung festhalten, dass in der Lymphe eigentlich
kein fertiges Fibrin enthalten ist, sondern dass dies erst fertig
wird, sei es durch den Contact mit der atmosphärischen Luft,
sei es unter abnormen Verhältnissen durch die Zuführung ver-
änderter Stoffe. Die normale Lymphe führt eine Substanz,
welche sehr leicht in Fibrin übergeht und, wenn sie
einmal geronnen ist, sich vom Fibrin kaum unterscheidet, wel-
che aber, so lange sie im gewöhnlichen Laufe des Lymphstro-
mes sich befindet, nicht als eigentlich fertiges Fibrin betrachtet
werden kann. Es ist dies eine Substanz, welche ich lange,
bevor ich auf ihr Vorkommen in der Lymphe aufmerksam ge-
worden war, in verschiedenen Exsudaten constatirt hatte, na-
mentlich in pleuritischen Flüssigkeiten.
In manchen Formen der Pleuritis bleibt das Exsudat lange
flüssig, und da kam mir vor einer Reihe von Jahren der be-
sondere Fall vor, dass durch eine Punction des Thorax eine
Flüssigkeit entleert wurde, welche vollkommen klar und flüssig
war, aber kurze Zeit, nachdem sie entleert war, in ihrer gan-
zen Masse mit einem Coagulum sich durchsetzte, wie es oft
genug in Flüssigkeiten aus der Bauchhöhle vorkommt. Nach-
dem ich dies Gerinnsel durch Quirlen aus der Flüssigkeit ent-
fernt hatte, um mich von der Identität desselben mit dem ge-
wöhnlichen Faserstoff zu überzeugen, zeigte sich am nächsten
Tage ein neues Coagulum, und so auch in den folgenden Ta-
gen. Diese Gerinnungsfähigkeit dauerte 14 Tage lang, ob-
wohl die Entleerung mitten im heissen Sommer stattgefunden hatte.
Es war dies also eine von der gewöhnlichen Gerinnung des
Blutes wesentlich abweichende Erscheinung, welche sich nicht
wohl begreifen liess, wenn wirkliches Fibrin als fertige Substanz
darin enthalten war, und welche darauf hinzuweisen schien,
dass erst unter Einwirkung der atmosphärischen Luft Fibrin
entstünde aus einer Substanz, welche dem Fibrin allerdings
nahe verwandt sein musste, aber doch nicht wirkliches Fibrin
sein konnte. Ich schlug darum vor, dieselbe als fibrinogene
Substanz zu trennen, und nachdem ich später darauf gekom-
men war, dass es dieselbe Substanz wäre, welche wir in der
[145]Fibrinogene Substanz.
Lymphe finden, so konnte ich meine Ansicht dahin erweitern,
dass auch in der Lymphe der Faserstoff nicht fertig enthalten
sei.
Dieselbe Substanz, welche sich von dem gewöhnlichen
Fibrin dadurch unterscheidet, dass sie eines mehr oder weni-
ger langen Contactes mit der atmosphärischen Luft bedarf, um
erst coagulabel zu werden, findet sich unter gewissen Verhält-
nissen auch im Blute der peripherischen Venen vor, so dass
man auch durch eine gewöhnliche Venaesection am Arme Blut be-
kommen kann, welches sich vom gewöhnlichen Blute durch die
Langsamkeit seiner Gerinnung unterscheidet. Polli hat die
gerinnende Substanz Bradyfibrin genannt. Solche Fälle kom-
men besonders vor bei entzündlichen Erkrankungen der Respi-
rationsorgane, und geben am häufigsten Veranlassung zur Bil-
dung einer Speckhaut (Crusta pleuritica, Cr. phlogistica.).
Sie Alle wissen, dass die gewöhnliche Crusta phlogistica bei
pneumonischem oder pleuritischem Blut um so leichter eintritt,
je wässriger die Blutflüssigkeit ist. je mehr die Blutmasse an
festen Bestandtheilen verarmt ist, aber es ist wesentlich da-
für, dass das Fibrin langsam gerinnt. Wenn man mit der
Uhr in der Hand den Vorgang controlirt, so überzeugt man
sich, dass eine sehr viel längere Zeit vergeht, als bei der ge-
wöhnlichen Gerinnung. Von dieser häufigen Erscheinung, wie
sie sich bei der gewöhnlichen Crustenbildung der entzündlichen
Blutmasse findet, zeigen sich nun allmälige Uebergänge zu
einer immer längeren Dauer des Flüssigbleibens.
Das Aeusserste dieser Art, was bis jetzt bekannt ist, ge-
schah in einem Falle, den Polli beobachtete. Bei einem an
Pneumonie leidenden, rüstigen Manne, welcher im Sommer, zu
einer Zeit, welche gerade nicht die äusseren Bedingungen für die
Verlangsamung der Gerinnung darbietet, in die Behandlung kam,
gebrauchte das Blut, welches aus der geöffneten Ader floss, acht
Tage, ehe es anfing zu gerinnen, und erst nach 14 Tagen
war die Coagulation vollständig. Es fand sich dabei auch die
andere von mir am pleuritischen Exsudat beobachtete Er-
scheinung, dass im Verhältniss zu dieser späten Gerinnung eine
ungewöhnlich späte Zersetzung (Fäulniss) des Blutes stattfand.
Da nun Erscheinungen dieser Art überwiegend häufig bei
10
[146]Achte Vorlesung.
Brustaffectionen beobachtet werden, so überwiegend, dass man
seit alter Zeit die Speckhaut als Crusta pleuritica bezeichnet
hat, so scheint daraus mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
hervorzugehen, dass das Respirationsgeschäft einen bestimmten
Einfluss hat auf das Vorkommen der fibrinogenen Substanz
im Blute. Jedenfalls setzt sich die Eigenthümlichkeit, welche
die Lymphe besitzt, unter Umständen auf das Blut fort, so dass
entweder das ganze Blut daran Antheil nimmt und zwar um
so mehr, je grössere Störungen die Respiration erleidet, oder
dass neben dem gewöhnlichen, schnell gerinnenden Stoffe ein
langsamer gerinnender gefunden wird. Oft bestehen nämlich zwei
Arten von Gerinnung in demselben Blute neben einander, eine frühe
und eine späte, namentlich in den Fällen, wo die directe Analyse
eine Vermehrung des Faserstoffes, eine Hyperinose ergibt.
Diese hyperinotischen Zustände scheinen also darauf hinzuführen,
dass bei ihnen eine vermehrte Zufuhr von Lymphflüssigkeit zum
Blute stattffndet, und dass die Stoffe, welche sich nachher im
Blute finden, nicht ein Product innerer Umsetzung desselben sind,
dass also in letzter Instanz die Quelle des Fibrins nicht im
Blute selbst gesucht werden darf, sondern an jenen Punkten,
von welchen die Lymphgefässe die vermehrte Fibrinmasse zu-
führen.
Zur Erklärung dieser Erscheinungen habe ich eine etwas
kühne Hypothese gewagt, welche ich jedoch für vollkommen
discussionsfähig erachte, nämlich die, dass das Fibrin über-
haupt, wo es im Körper ausserhalb des Blutes vor-
kommt, nicht als eine Abscheidung aus dem Blute zu
betrachten ist, sondern als ein Local-Erzeugniss, und
ich habe versucht, eine wesentliche Veränderung in der Auf-
fassung der sogenannten phlogistischen Krase in Beziehung auf
die Localisation derselben einzuführen. Während man früher ge-
wöhnt war, die veränderte Mischung des Blutes bei der Entzündung
als ein von vorn herein bestehendes und namentlich durch eine pri-
märe Vermehrung des Faserstoffes constituirtes Moment zu be-
trachten, so habe ich vielmehr die Krase als ein von der localen
Entzündung abhängiges Ereigniss entwickelt. Gewisse Organe
und Gewebe besitzen an sich in grösserer Ausdehnung die
Eigenschaft, Fibrin zu erzeugen und das Vorkommen von
[147]Oertliche Bildung des Fibrins.
grossen Massen von Fibrin im Blut zu begünstigen, während
andere Organe ungleich weniger dazu geeignet sind.
Ich habe ferner darauf hingewiesen, dass diejenigen Or-
gane, welche diesen eigenthümlichen Zusammenhang eines so-
genannten phlogistischen Blutes mit einer localen Entzündung
besonders häufig darbieten, im Allgemeinen mit Lymphgefässen
reichlich versehen sind und mit grossen Massen von Lymphdrüsen
in Verbindung stehen, während alle diejenigen Organe, welche
entweder sehr wenig Lymphgefässe enthalten, oder in welchen
wir kaum Lymphgefässe kennen, auch einen nicht nennens-
werthen Einfluss auf die fibrinöse Mischung des Blutes ausüben.
Es haben schon frühere Beobachter bemerkt, dass es Entzün-
dungen sehr wichtiger Organe gibt, z. B. des Gehirns, bei
denen man eigentlich die phlogistische Krase nicht findet.
Aber gerade im Gehirn kennen wir kaum Lymphgefässe.
Wo dagegen die Mischung des Blutes am frühesten verän-
dert wird, bei den Erkrankungen der Respirationsorgane, da
findet sich auch ein ungewöhnlich reichliches Lymphnetz.
Nicht bloss die Lungen sind davon durchsetzt und überzogen,
sondern auch die Pleura hat ausserordentlich reiche Verbin-
dungen mit dem Lymphsystem, und die Bronchialdrüsen stel-
len fast die grössten Anhäufungen von Lymphdrüsen-Masse
dar, die irgend ein Organ des Körpers überhaupt besitzt.
Andererseits kennen wir keine Thatsache, welche die Mög-
lichkeit zeigte, dass unter einfacher Steigerung des Blutdruckes
oder unter einfacher Veränderung der Bedingungen, unter de-
nen das Blut strömt, in diesen Organen ein Durchtreten fibri-
nöser Flüssigkeiten vom Blute her in das Parenchym oder auf
die Oberfläche derselben erfolgen könnte. Man denkt sich
allerdings in der Regel, dass im Verhältniss zur Stromstärke
des Blutes auch eine Modification des Exsudates stattfinde,
aber dies ist nie durch ein Experiment bewiesen worden. Nie-
mals ist Jemand im Stande gewesen, durch blosse Veränderung
in der Strömung des Blutes das Fibrin zu einer directen Trans-
sudation in Form eines entzündlichen Prozesses zu vermögen;
dazu bedürfen wir immer eines Reizes. Sie können die be-
trächtlichsten Hemmungen im Circulationsgeschäft herbeiführen,
10*
[148]Achte Vorlesung.
die colossalsten Austretungen von serösen Flüssigkeiten expe-
rimentell erzeugen, aber nie erfolgt dabei jene eigenthüm-
liche fibrinöse Exsudation, welche die Reizung gewisser Ge-
webe mit so grosser Leichtigkeit hervorruft.
Dass das Fibrin im Blute selbst durch eine Umsetzung
des Eiweisses entstünde, ist eine chemische Theorie, die weiter
keine Stütze für sich hat, als die, dass Eiweis und Fibrin
grosse chemische Achnlichkeit haben, und dass man sich, wenn
man die zweifelhafte Formel des Fibrins mit der ebenso zweifel-
haften Formel des Eiweisses vergleicht, durch das Ausscheiden
von ein paar Atomen den Uebergang von Albumin in Fibrin
sehr leicht denken kann. Allein diese Möglichkeit der Formel-
überführung beweist nicht das Geringste dafür, dass eine
analoge Umsetzung in der Blutmasse geschehe. Sie kann
möglicherweise im Körper erfolgen, aber dann wäre es jeden-
falls wahrscheinlicher, dass sie in den Geweben erfolgt und dass
erst von da aus eine Fortführung durch die Lymphe geschehe.
Indess ist dies um so mehr zweifelhaft, als die rationelle For-
mel für die chemische Zusammensetzung des Eiweisses und
des Faserstoffes bis jetzt noch nicht ermittelt ist, und die un-
glaublich hohen Atomzahlen der empirischen Formel auf eine
sehr zusammengesetzte Gruppirung der Atome hindeuten.
Halten wir daher an der Erfahrung fest, dass das Fibrin
nur dadurch zum Austritt auf irgend eine Oberfläche gebracht
werden kann, dass wir ausser der Störung der Circulation auch
noch einen Reiz, d. h. eine locale Veränderung setzen. Diese
locale Veränderung genügt aber erfahrungsgemäss für sich, um
den Austritt von Fibrin zu bedingen, wenn auch keine Hem-
mung der Circulation eintritt. Es bedarf daher dieser Hem-
mung gar nicht, um die Erzeugung von Fibrin an einem be-
stimmten Punkte einzuleiten. Im Gegentheil sehen wir, dass
in der besonderen Beschaffenheit der gereizten Theile die Ursache
der grössten Verschiedenheiten gegeben ist. Wenn wir z. B. ein-
fach eine reizende Substanz auf die Hautoberfläche bringen, so
gibt es bei geringeren Graden der Reizung, mag sie nun che-
mischer oder mechanischer Natur sein, eine Blase, ein seröses
Exsudat. Ist die Reizung stärker, so tritt eine Flüssigkeit
aus, welche in der Blase vollkommen flüssig erscheint, aber
[149]Transsudation des Fibrins.
nach ihrer Entleerung coagulirt. Fängt man die Flüssigkeit
einer Vesicatorblase in einem Uhrschälchen auf und lässt sie
an der Luft stehen, so bildet sich ein Coagulum; es ist also
fibrinogene Substanz in der Flüssigkeit. Nun giebt es aber
zuweilen Zustände des Körpers, wo ein äusserlicher Reiz genügt,
um Blasen mit direct coagulirender Flüssigkeit hervorzurufen.
Ich habe z. B. im vorigen Winter einen Kranken auf meiner
Abtheilung gehabt, welcher von einer Erfrierung der Füsse eine
Anästhesie zurückbehielt, wogegen ich unter Anderem locale
Bäder mit Königswasser anwendete. Nach einer gewissen Zahl
solcher Bäder bildeten sich jedesmal an den anästhetischen Stellen
der Fusssohle Blasen bis zu einem Durchmesser von zwei Zoll,
welche bei ihrer Eröffnung sich mit grossen gallertigen Mas-
sen von Coagulum erfüllt zeigten. Bei anderen Menschen hät-
ten sich wahrscheinlich einfache Blasen gebildet, mit einer
Flüssigkeit, die erst nach dem Herauslassen erstarrt wäre.
Diese Verschiedenheit liegt offenbar in der Verschiedenheit nicht
der Blutmischung, sondern der örtlichen Disposition. Die Differenz
zwischen der Form von Pleuritis, welche von Anfang an coa-
gulable und coagulirende Substanzen liefert, und der, wo coa-
gulable, aber nicht coagulirende Flüssigkeiten austreten, weist
gewiss auf Besonderheiten der localen Reizung hin.
Ich glaube also nicht, dass man berechtigt ist zu schliessen,
dass Jemand, der mehr Fibrin im Blute hat, damit auch eine
grössere Neigung zu fibrinöser Transsudation besitze; vielmehr
erwarte ich, dass bei einem Kranken, der an einem bestimmten
Orte sehr viel fibrinbildende Substanz producirt, von diesem Orte
aus viel davon in die Lymphe und endlich in das Blut über-
gehen wird. Man kann also das Exsudat in solchen Fällen
betrachten als den Ueberschuss des in loco gebildeten Fibrins,
für dessen Entfernung die Lymphcirculation nicht genügte.
So lange der Lymphstrom ausreicht, wird Alles, was in dem
gereizten Theil an fremdartigen Stoffen gebildet wird, auch dem
Blute zugeführt; sobald die örtliche Production über dies Maass
hinausschreitet, häufen sich die Producte an, und neben der
Hyperinose wird auch eine örtliche Ansammlung von fibri-
nösem Exsudat stattfinden. Bei der Kürze der Zeit, die uns
zugeme[s]sen ist, können wir diese Frage nicht in ihrer ganzen
[150]Achte Vorlesung.
Ausdehnung verfolgen, indessen hoffe ich, dass Sie wenigstens
den Grundgedanken, der mich hier geleitet hat, vollständig
übersehen. Auch hier finden wir wieder jene Abhängigkeit
der Dyscrasie von der örtlichen Krankheit, welche ich schon
neulich als den wesentlichsten Gewinn aller unserer Unter-
suchungen über das Blut hingestellt habe.
Es ist nun eine sehr bemerkenswerthe Thatsache, welche
gerade für diese Auffassung von Bedeutung ist, dass sehr sel-
ten eine erhebliche Vermehrung des Fibrins Statt
findet ohne gleichzeitige Vermehrung der farblosen
Blutkörperchen, dass also die beiden wesentlichen Bestand-
theile, welche wir in der Lymphflüssigkeit finden, auch im
Blute wiederkehren. In jedem Falle einer Hyperinose kann
man auf eine Vermehrung der farblosen Körperchen rechnen,
oder, anders ausgedrückt, jede Reizung eines Theiles, welcher
mit Lymphgefässen reichlich versehen ist und mit Lymphdrü-
sen in einer ausgiebigen Verbindung steht, bedingt auch die
Einfuhr grosser Massen farbloser Zellen (Lymphkörperchen)
ins Blut.
Diese Thatsache ist besonders interessant insofern, als
Sie daraus begreifen werden, dass nicht bloss Organe, welche
reich versehen sind mit Lymphgefässen, diese Vermehrung be-
dingen können, sondern dass auch gewisse Prozesse eine grös-
sere Fähigkeit besitzen, beträchtliche Mengen von diesen Ele-
menten in das Blut zuführen, nämlich alle die, welche früh
mit bedeutender Erkrankung des Lymphgefäss-Systems ver-
bunden sind. Wenn Sie z. B. eine erysipelatöse oder eine dif-
fuse phlegmonöse (nach Rust pseudoerysipelatöse) Entzündung
in ihrer Wirkung auf das Blut vergleichen mit einer einfachen
oberflächlichen Hautentzündung, wie sie im Verlauf der ge-
wöhnlichen acuten Exantheme, nach traumatischen oder chemi-
schen Einwirkungen auftritt, so werden Sie gleich sehen, wie
gross die Differenz ist. Eine erysipelatöse und eine diffuse
phlegmonöse Entzündung haben immer die Eigenthümlichkeit,
frühzeitig die Lymphgefässe zu afficiren und Schwellungen
der lymphatischen Drüsen hervorzubringen. In einem solchen
Falle kann man darauf rechnen, dass eine Zunahme in der
Zahl der farblosen Blutkörperchen stattfindet. Weiterhin ergibt
[151]Leukocytose.
sich die characteristische Thatsache, dass es gewisse Prozesse
gibt, welche gleichzeitig Fibrin und farblose Blutkörperchen
vermehren, andere dagegen, welche nur die Zunahme der letz-
teren bewirken. In diese Kategorie gehört gerade die ganze
Reihe der einfachen diffusen Hautentzündungen, wo auch an den
Erkrankungsorten keine erhebliche Fibrinbildung erfolgt. Ande-
rerseits gehören dahin eine Menge von Zuständen, welche vom
Gesichtspunkt der Faserstoff-Menge als hypinotische bezeich-
net werden, alle die Prozesse, welche in die Reihe der typhö-
sen zählen und die darin übereinkommen, dass sie bald
diese, bald jene Art von bedeutender Anschwellung der Lymph-
drüsen hervorbringen. So setzt der Typhus diese Veränderun-
gen nicht nur an der Milz, sondern auch an den Mesenterial-
Drüsen.
Den Zustand von Vermehrung der farblosen Körperchen
im Blute, welcher abhängig erscheint von einer Affection der
Lymphdrüsen, habe ich mit dem Namen der Leukocytose
bezeichnet. Nun wissen Sie, dass eine andere Angelegenheit
lange der Gegenstand meiner Studien gewesen ist, die von mir
sogenannte Leukämie, und es handelt sich zunächst darum,
fest zu stellen, wie weit sich die eigentliche Leukämie von
diesen leukocytotischen Zuständen unterscheidet. Schon in
den ersten Fällen der Leukämie, welche mir vorkamen, stellte
sich eine sehr wesentliche Eigenschaft heraus, nämlich die, dass
in dem Gehalt des Faserstoffes im Blute keine wesentliche
Abweichung bestand. Späterhin hat man gefunden, dass der
Faserstoff-Gehalt je nach der Besonderheit des Falles vermehrt
oder vermindert oder gleich sein könne, dass aber constant eine
immerfort steigende Zunahme der farblosen Blutkörperchen
stattfinde, und dass diese Zunahme immer deutlicher zusam-
menfällt mit einer Verminderung der Zahl der gefärbten (rothen)
Blutkörperchen, so dass als endliches Resultat ein Zustand
herauskommt, in welchem die Zahl der farblosen Blutkörper-
chen der Zahl der rothen beinahe gleichkommt und selbst
für die gröbere Betrachtung auffallendere Phänomene hervor-
treten. Während wir im gewöhnlichen Blute immer nur auf
etwa 300 gefärbte ein farbloses Körperchen rechnen können,
so gibt es Fälle von Leukämie, wo die Vermehrung der farb-
[152]Achte Vorlesung.
losen in der Weise steigt, dass auf 3 rothe Körperchen schon
ein farbloses oder gar 3 rothe auf 2 farblose kommen, ja wo
die Zahlen für die farblosen Körperchen die grösseren werden.
In Leichen erscheint die Vermehrung der farblosen Kör-
perchen meist beträchtlicher, als sie wirklich ist, aus Gründen,
die ich schon neulich hervorhob (S. 138.); diese Körperchen
sind ausserordentlich klebrig und häufen sich bei Verlangsa-
mung des Blutstromes in grösseren Massen an, so dass in
Leichen die grösste Menge stets im rechten Herzen gefunden
wird. Es ist mir einmal, ehe ich Berlin verliess, der beson-
dere Fall passirt, dass ich das rechte Atrium anstach und der
Arzt, welcher den Fall behandelt hatte, überrascht ausrief: „Ach,
da ist ein Abscess!“ So eiterähnlich sah das Blut aus. Diese
eiterartige Beschaffenheit des Blutes ist allerdings nicht in dem
ganzen Circulationsstrom vorhanden; nie sieht man, dass das
Blut im Ganzen wie Eiter aussieht, weil immer noch eine ver-
hältnissmässig grosse Zahl von rothen Elementen existirt; aber
es kommt auch vor, dass das Blut schon bei Lebzeiten weiss-
liche Striemen zeigt, und dass, wenn man den Faserstoff durch
Quirlen entfernt und das defibrinirte Blut stehen lässt, sich
alsbald eine freiwillige Scheidung macht, in der Art, dass sich
sämmtliche Blutkörperchen, rothe und farblose, allmählich auf
den Boden des Gefässes senken und hier ein doppeltes Sedi-
ment entsteht: ein unteres rothes, das von einem oberen, weissen,
puriformen überlagert wird. Es erklärt sich dies aus dem un-
gleichen specifischen Gewicht beider Arten von Körperchen
(S. 139.); die schwereren rothen erreichen schon zu einer Zeit
den Boden des Gefässes, wo die leichteren, farblosen (weis-
sen) noch im Fallen begriffen sind. Zugleich gibt dies eine
sehr leichte Scheidung des leukämischen Blutes von dem chylö-
sen (lipämischen), wo ein milchiges Aussehen des Serums durch
Fettbeimischung entsteht; defibrinirt man dieses, so bildet sich
nach einiger Zeit nicht ein weisses Sediment, sondern eine
rahmartige Schicht an der Oberfläche.
Es existirt bis jetzt in der Geschichte aller bekannten
leukämischen Fälle eine einzige Angabe, wo der Kranke, nach-
dem er eine Zeit lang Gegenstand einer ärztlichen Behandlung
[153]Leukämie.
war, als wesentlich gebessert das Hospital verliess. In allen
anderen Fällen erfolgte der Tod. Ich will daraus keineswegs
den Schluss ziehen, dass es sich hier um eine absolut unheil-
bare Krankheit handle; ich hoffe im Gegentheil, dass man
endlich auch hier Mittel finden wird, aber es ist gewiss eine
sehr wichtige Thatsache, dass es sich dabei, ähnlich wie bei
der progressiven Muskelatrophie, um Zustände handelt, welche,
sich selbst überlassen, oder, wenn sie unter einer der bis jetzt
bekannten Behandlungen stehen, sich fortwährend verschlim-
mern und endlich zum Tode führen. Es haben diese Fälle
noch ausserdem die besondere Merkwürdigkeit, dass sich ge-
wöhnlich in der letzten Zeit des Lebens eine eigentliche hä-
morrhagische Diathese ausbildet und Blutungen entstehen,
die besonders häufig in der Nasenhöhle stattfinden (unter der
Form von erschöpfender Epistaxis), die aber unter Umständen
auch an anderen Punkten auftreten können, so in colossaler
Weise als apoplectische Formen im Gehirn oder als melänaar-
tige in der Darmhöhle.
Wenn man nun untersucht, von woher diese sonderbare
Veränderung des Blutes stammt, so zeigt sich, dass in der
grossen Mehrzahl der Fälle mit überzeugender Constanz ein
bestimmtes Organ immer wieder als das wesentlich erkrankte
erscheint, ein Organ, welches häufig schon im Anfange der
Krankheit als Hauptgegenstand der Klagen und Beschwerden
der Kranken erscheint, nämlich die Milz. Daneben leidet sehr
häufig auch eine Partie von Lymphdrüsen, aber das Milzleiden
steht im Vordergrund. Nur in einigen Fällen fand ich die
Milz weniger, die Lymphdrüsen überwiegend verändert, und
zwar in solchem Grade, dass Lymphdrüsen, die man sonst
kaum bemerkt, zu wallnussgrossen Knoten sich entwickelt
hatten, ja dass an einzelnen Stellen fast nichts weiter als
Drüsensubstanz zu bestehen schien. Von den Drüsen z. B.,
welche zwischen den Inguinal- und Lumbaldrüsen gelegen sind,
pflegt man nicht viel zu sprechen; sie haben nicht einmal
einen bequemen Namen. Einzelne von ihnen liegen längs der
Vasa iliaca, einzelne im kleinen Becken. Im Laufe solcher
Leukämien traf ich sie zweimal so vergrössert, dass der ganze
[154]Achte Vorlesung.
Raum des kleinen Beckens wie ausgestopft war mit Drüsen,
zwischen welche Rectum und Blase nur eben hineintauchten.
Ich habe desshalb zwei Formen der Leukämie unter-
schieden, nämlich die gewöhnliche lienale und die lym-
phatische Form, welche sich allerdings zuweilen combi-
niren. Das Unterscheidende stützt sich nicht allein darauf,
dass in dem einen Falle die Lymphdrüsen, im anderen die
Milz als Ausgangspunkte der Erkrankung erscheinen, sondern
auch darauf, dass die Elemente, welche im Blute vorkommen,
nicht vollkommen übereinstimmen. Während nämlich bei den
lienalen Formen in der Regel die Elemente im Blute verhält-
nissmässig grosse entwickelte Zellen mit einfachem oder mehr-
fachen Kernen sind, die in manchen Fällen überwiegend viel
Aehnlichkeit mit Milzzellen haben, so sieht man bei den ex-
quisit-lymphatischen Formen die Zellen klein, die Kerne im
Verhältniss zu den Zellen gross und einfach, in der Regel
scharf begrenzt, sehr dunkel contourirt und etwas körnig, die
Membran häufig so eng anliegend, dass man kaum den Zwi-
schenraum constatiren kann. In vielen Fällen sieht es aus,
als ob vollkommen freie Kerne im Blute enthalten wären. Hier
scheint es also, dass allein die Vergrösserung der Drüsen, die
mit einer wirklichen Vermehrung ihrer Elemente (Hyperplasie)
einhergeht, auch eine grössere Zahl zelliger Theile der Lymphe
und durch diese der Blutflüssigkeit zuführe, und dass in dem
Maasse, als diese Elemente überwiegen, die Bildung der rothen
Elemente Hemmungen erfährt. Das ist in Kürze die Geschichte
dieser Prozesse. Die Leukämie ist demnach eine Art von
dauerhafter, progressiver Leukocytose; diese dagegen in ihren
einfachen Formen stellt einen vorübergehenden, an schwankende
Zustände gewisser Organe geknüpften Vorgang dar.
Sie sehen also, dass sich hier mindestens drei verschiedene
Zustände berühren, die Hyperinose, die Leukocytose und die
Leukämie, welche in einer näheren Beziehung zu der Lymph-
flüssigkeit stehen. Die eine Reihe, nämlich die durch Vermeh-
rung des Fibrins ausgezeichnete, bezieht sich mehr auf die zu-
fällige Beschaffenheit der Organe, von wo die Lymphflüssig-
keit herkommt, während die durch Vermehrung der zelligen
Elemente bedingten Zustände mehr der Beschaffenheit der
[155]Hämatopoëtische Organe.
Drüsen entsprechen, durch welche die Lymphflüssigkeit strömte.
Diese Thatsachen lassen sich nun wohl nicht anders deuten,
als dass man in der That die Milz und die Lymphdrüsen in
eine nähere Beziehung zur Entwicklung des Blutes bringt.
Dies ist noch wahrscheinlicher geworden, seitdem es gelungen
ist, auch chemische Anhaltspunkte zu gewinnen. Hr. Sche-
rer hat zweimal leukämisches Blut untersucht, das ich ihm
übergeben hatte, um dasselbe mit den von ihm gefundenen
Milzstoffen zu vergleichen; es ergab sich, dass darin Hypoxan-
thin, Leucin, Harnsäure, Milch- und Ameisensäure vorkamen.
In einem Falle überzog sich eine Leber, die ich einige Tage
liegen liess, ganz mit Tyrosinkörnern; in einem anderen krystal-
lisirte aus dem Darminhalt Leucin und Tyrosin in grossen Mas-
sen aus. Kurz Alles deutet auf eine vermehrte Thätigkeit der
Milz, welche normal diese Stoffe in grösserer Menge enthält.
Es ist eine ziemlich lange Reihe von Jahren (seit 1845)
vergangen, während deren ich mich mit meinen Beobachtungen
ziemlich vereinsamt fand. Erst nach und nach ist man, und
zwar wie ich leider gestehen muss, mehr von physiologischer
als von pathologischer Seite auf diese Gedanken eingegangen,
und erst allmählig hat man sich der Vorstellung zugänglich
erwiesen, dass im gewöhnlichen Gange der Dinge die Lymph-
drüsen und die Milz in der That eine unmittelbare Bedeutung
für die Formelemente des Blutes haben, dass im Besonderen
die körperlichen Bestandtheile des letzteren wirkliche Abkömm-
linge sind von den zelligen Körpern der Lymphdrüsen und
der Milz, welche aus ihrem Innern losgelöst und dem Blut-
strom zugeführt werden. Kommen wir damit auf die Frage
von der Herkunft der Blutkörperchen selbst.
Sie werden sich, meine Herren, wahrscheinlich aus der Zeit
Ihrer Studien erinnern, dass man sich die Lymphdrüsen als Con-
volute von Lymphgefässen dachte. Bekanntlich sieht man schon
vom blossen Auge die zuführenden Lymphgefässe sich in kleinere
Aeste auflösen, innerhalb der Drüse verschwinden und am
Ende wieder aus derselben hervorkommen. Nach den Resul-
taten der Quecksilberinjectionen, welche man schon im vorigen
Jahrhundert mit so grosser Sorgfalt gemacht hat, glaubte man
nun schliessen zu müssen, dass das eingetretene Lymphgefäss
[156]Achte Vorlesung.
schlingenförmige Windungen mache, welche sich vielfach durch-
schlängen und endlich in das ausführende Gefäss fortgingen,
so dass die Drüse nichts weiter als eine Zusammendrängung
von Windungen der einführenden Gefässe darstelle. Die ganze
Sorgfalt der modernen Histologie hat sich darauf gerichtet,
dies Durchtreten von Lymphgefässen durch die Drüse zu con-
statiren; nachdem man sich Jahre lang vergebens darum be-
müht hatte, hat man es endlich aufgegeben.
Im Augenblick dürfte es kaum einen Histologen geben,
welcher an eine vollkommene Continuität der Lymphgefässe
innerhalb einer Lymphdrüse dächte; meist ist die Anschauung
von Kölliker acceptirt, dass die Lymphdrüsen den Strom der
Lymphe unterbrechen, indem das Lymphgefäss sich in das
Parenchym der Drüse auflöst und aus demselben sich wieder
zusammensetzt. Man kann dieses Verhältniss nicht wohl an-
ders vergleichen, als mit einer Art von Filtrirapparat, etwa
wie wir ihn im Kohlen- oder Sandfiltrum besitzen.
Wenn man eine Drüse durchschneidet, so bekommt man
häufig eine Bildung zu Gesichte, wie von einer Niere.
Man sieht, dass an denjenigen Punkten, wo die zuführenden
Gefässe sich auflösen, eine derbere Substanz liegt, von wel-
cher halb umschlossen eine Art von Hilus den Punkt bezeich-
net, an dem die Lymphgefässe die Drüse wieder verlassen.
Hier findet sich ein maschiges Gewebe von oft deutlich areo-
lärem oder cavernösem Bau, in welches ausser den Vasa lym-
phatica efferentia auch Blutgefässe eingehen, um von da weiter
in die eigentliche Substanz einzudringen. Kölliker hat dar-
nach eine Rinden- und Marksubstanz unterschieden; indess ist
die sogenannte Marksubstanz kaum noch drüsiger Natur. Letztere
findet sich hauptsächlich an der Rinde, welche bald mehr, bald
weniger dick ist, und man thut also am besten, wenn man
jenen Theil einfach den Hilus nennt, da aus- und einführende
Gefässe dicht zusammenliegen, gerade so, wie im Hilus der
Niere einerseits die Ureteren und Venen abführen, die Arterien
zuleiten. Wesentlich also für die Drüse ist immer der peri-
pherische Theil, die oft nierenartige Rindensubstanz.
An dieser unterscheidet man, falls die Drüse einigermaas-
sen gut entwickelt ist, (und in einzelnen Fällen pathologischer
[157]Lymphdrüsen.
Vergrösserung ist dies ausserordentlich deutlich) schon mit
blossem Auge kleine, nebeneinander gelegene, rundliche, weisse
oder graue Körner. Ist eine mässige Blutfülle vorhanden, so
erkennt man ziemlich regelmässig um jedes Korn einen rothen
Kranz von Gefässen. Diese Körner hat man seit langer Zeit
Follikel genannt, aber es war zweifelhaft, ob es besondere
Bildungen seien, oder blosse Windungen des Lymphgefässes,
welche an die Oberfläche treten. Bei einer feineren mikro-
skopischen Untersuchung unterscheidet man leicht die eigent-
liche (drüsige) Substanz der Fol-
likel von dem faserigen Maschen-
werk (Stroma), welches diesel-
ben umgrenzt und welches nach
aussen continuirlich mit dem Binde-
gewebe der Capsel zusammen-
hängt. Die innere Substanz be-
steht überwiegend aus kleinen
zelligen Elementen, die ziemlich
lose liegen, bloss eingeschlossen
in ein feines Netzwerk von stern-
förmigen, oft kernhaltigen Balken.
Unternimmt man es, die Lymph-
gefässe innerhalb der Rinde
aufzusuchen, so kommt davon innerhalb des Stroma’s nur wenig
zu Tage; injicirt man eine Drüse, so geht die Injectionsmasse
mitten in die Follikel hinein. Untersucht man eine Gekrös-
Drüse während der Chylification, also vielleicht 4—5 Stunden
nach einer fettreichen Mahlzeit, so erscheint ihre ganze Sub-
stanz weiss, vollständig milchig, und wenn man einzelne Theile
mikroskopisch studirt, so erkennt man, dass das feine Chylus-
fett überall zwischen den zelligen Elementen der Follikel liegt.
Durchschnitte durch die Rinde menschlicher Gekrös-
Drüsen. A. Schwache Vergrösserung der ganzen Rinde: P Umgebendes
Fettgewebe und Capsel, durch welche Blutgefässe v, v, v eintreten.
F, F, F Follikel der Drüse, in welche sich die Blutgefässe zum Theil ein-
senken, bei i, i das die Follikel trennende Zwischengewebe (Stroma).
B. Stärkere Vergrösserung (280 mal). C das parallel-fibrilläre Ge-
webe der Capsel. a, a das Reticulum, zum Theil leer, zum Theil mit
dem kernigen Inhalt erfüllt. Das Ganze stellt den äusseren Abschnitt
eines Follikels dar.
[158]Achte Vorlesung.
Der Strom der Lymphe scheint sich also zwischen diesen
Elementen durchzudrängen und eine eigentlich freie Bahn gar
nicht zu existiren, indem die Elemente vielmehr wie die Theil-
chen in einem Kohlenfiltrum zusammengedrängt liegen, so dass
die Lymphe in einer mehr oder weniger gereinigten Weise
auf der anderen Seite wieder hervorquillt. Die Follikel wären
demnach als Räume zu betrachten, die mit zelligen Elementen
erfüllt, aber durch ein balkiges Reticulum vielfach durchsetzt
sind und die daher nicht mehr als Windungen oder Erweite-
rungen der Lymphgefässe gelten können, sondern die sich
zwischen den Gefässlauf einschieben, nachdem eine immer fei-
nere Auflösung der Lymphgefässe erfolgt ist.
Von den feinen Elementen, welche in den Follikeln enthalten
sind, den Parenchymzellen, scheint eine Ablösung einzelner
Theile zu erfolgen, welche nachher als farblose Blut- oder
Lymphkörperchen dem Blute sich beimischen. Je mehr die
Drüsen vergrössert sind, um so zahlreicher sind die zelligen
Elemente, welche in das Blut übergehen, und um so grösser
und entwickelter pflegen auch die einzelnen farblosen Zellen
des Blutes selbst zu sein.
Dasselbe Verhältniss scheint bei der Milz obzuwalten.
Ursprünglich haben wir uns Alle gedacht, dass diejenigen Wege,
auf welchen die farblosen Körper die Milz verliessen, die Ve-
nen wären; aber ich bin auch hier zu dem Schlusse gekommen,
dass aller Wahrscheinlichkeit nach die Ausfuhr durch die
Lymphgefässe geschieht. —
Lymphkörperchen aus dem Innern der Lymphdrüsen-
Follikel. A. Die gewöhnlichen Elemente: a, nackte Kerne, mit und ohne
Kernkörperchen, einfach und getheilt. b, Zellen mit kleineren und grös-
seren Kernen, die Membran dem Kern sehr eng anliegend. B. Vergrös-
serte Elemente aus einer hyperplastischen Bronchialdrüse bei variolöser
Pneumonie (vgl. bei Fig. 57. die zugehörigen farblosen Blutkörperchen)
a, grössere Zellen mit Körnern und einfachen Kernen. b, keulenförmige Zel-
len. c, grössere Zellen mit grösserem Kern und Kernkörperchen. d, Kern-
theilung. e, keulenförmige Zellen in dichter Aneinanderlagerung (Zel-
lentheilung?). C. Zellen mit endogener Brut. Vergrösserung 300.
[[159]]
Neunte Vorlesung.
13. März 1858.
Pyämie und Leukocytose.
Vergleich der farblosen Blut- und Eiterkörperchen. Die physiologische Eiterresorption: die
unvollständige (Inspissation, käsige Umwandlung) und die vollständige (Fettmetamorphose,
milchige Umwandlung). Intravasation von Eiter.
Eiter in Lymphgefässen. Die Hemmung der Stoffe in den Lymphdrüsen. Mechanische Tren-
nung (Filtration): Tätowirungsfarben. Chemische Trennung (Attraction): Krebs, Syphilis.
Die Reizung der Lymphdrüsen und ihre Bedeutung für die Leukocytose.
Die (physiologische) digestive und puerperale Leukocytose. Die pathologische Leukocytose
(Skrophulose, Typhus, Krebs, Erysipel).
Die lymphoiden Apparate: Solitäre und Peyersche Follikel des Darms. Tonsillen und Zungen-
follikel. Thymus. Milz.
Völlige Zurückweisung der Pyämie als einer morphologisch nachweisbaren Dyscrasie.
Vom praktischen Gesichtspunkte aus schliesst sich an die
zuletzt betrachteten Veränderungen mit eindringlicher Nothwen-
digkeit die Frage von der Pyämie an, und da dies ein Ge-
genstand ist, welcher noch immer zu den am meisten streitigen
zu rechnen ist, so erlauben Sie wohl, dass ich specieller darauf
eingehe.
Was soll man unter Pyämie verstehen? In der Regel hat
man sich gedacht, dass dies ein Zustand sei, wo das Blut
Eiter enthalte, und da wir den Eiter wesentlich durch seine
morphologischen Bestandtheile charakterisiren, so handelt es sich
natürlich darum, dass im Blute die Eiterkörperchen gezeigt
würden. Nachdem wir aber erfahren haben, dass die farblo-
losen Blutkörperchen in ihrer gewöhnlichen Erscheinung, wie
sie sich bei Leuten im besten Gesundheitszustande wahrneh-
men lassen, den Eiterkörperchen ganz ähnlich sind (S. 135),
[160]Neunte Vorlesung.
so fällt damit schon von vornherein eine wesentliche Seite der
Frage weg. Um indess einigermassen Klarheit in den Gegen-
stand zu bringen, ist es nothwendig, dass man auf die ver-
schiedenen Gesichtspunkte, welche hierbei in Betracht kommen,
etwas genauer eingeht.
Die farblosen Blutkörperchen sind zum Verwechseln den
Eiterkörperchen ähnlich, so dass, wenn man in einem bestimm-
ten Objekte solche Elemente antrifft, man nie ohne Weiteres
mit Sicherheit angeben kann, ob man es mit farblosen Blut-
körperchen oder mit Eiterkörperchen zu thun hat. Früherhin,
und zum Theil noch bis in unsere Zeit hinein, hatte man viel-
fach die Ansicht, dass die Bestandtheile des Eiters im Blute
präexistirten, dass der Eiter nur eine Art von Secret aus dem
Blute sei, wie etwa der Harn, und dass er auch, wie eine ein-
fache Flüssigkeit, in das Blut zurückkehren könne. Diese An-
sicht erklärt ja die Auffassung, wie sie in der Lehre von der
sogenannten physiologischen Eiterresorption sich so lange
erhalten hat.
Man stellte sich vor, dass der Eiter von einzelnen Punk-
ten her, an welchen er abgelagert war, wieder in das Blut
aufgenommen werden könne, und dass dadurch eine günstige
Wendung in der Krankheit eintrete, indem der aufgenommene
Eiter endlich aus dem Körper entfernt werde. Man erzählte,
dass bei einem Kranken mit Eiter im Pleurasacke die Resorp-
tion des Eiters sich durch eitrigen Harn oder eitrigen Stuhl-
gang entscheiden könne, ohne dass ein Durchbruch des Eiters
von der Pleura her in den Darm oder die Harnblase verher-
gegangen sei. Man liess also die Möglichkeit zu, dass Eiter in
Substanz aufgenommen und weggeführt werden könnte. Spä-
terhin, als die Lehre von der Pyämie mehr und mehr aufkam,
hat man diese Fälle unter dem Namen der physiologischen
Eiterresorption von der pathologischen unterschieden, und es
blieb nur fraglich, wie man die erstere in ihrem günstigen
und die letztere in ihrem malignen Ausgange sich erklären
sollte. Diese Angelegenheit erledigt sich einfach dadurch,
dass Eiter als Eiter nie resorbirt wird. Es gibt keine
Form, in der Eiter in Substanz auf dem Wege der Resorption
verschwinden könnte; immer sind es flüssige Theile des Eiters,
[161]Eiterresorption.
welche aufgenommen werden, und daher lässt sich dasjenige,
was man Eiterresorption nennt, auf folgende zwei Möglichkei-
ten zurückführen.
Entweder ist der Eiter mit seinen Körperchen zur Zeit
der Resorption mehr oder weniger intact vorhanden. Dann
wird natürlich in dem Maasse, als die Flüssigkeit verschwin-
det, der Eiter dicker werden. Es gibt dies die altbekannte
Eindickung, Inspissation des Eiters, dasjenige, was die
Franzosen pus concret nennen.
Dies kann in der That nichts weiter sein, als eine dicke
Masse, welche die Eiterkörperchen in einem überwiegend ge-
schrumpften Zustande enthält, indem nicht bloss die Flüssig-
keit, welche zwischen den Eiterkörperchen vorhanden ist (das
Eiterserum) verschwindet, sondern auch ein Theil der Flüssig-
keit, die sich in den Eiterkörperchen befindet. Der Eiter be-
steht seinem Haupttheile nach aus Zellen, welche im gewöhn-
lichen Zustande eine dicht an der anderen liegen (Fig. 63, C.),
und zwischen welchen sich eine geringe Masse von Intercellu-
larflüssigkeit (Eiterserum) befindet. Innerhalb der Eiter-
körperchen selbst lagert eine gleichfalls mit einer grossen Menge
von Wasser versehene Substanz, denn fast jeder Eiter, mag
er auch im frischen Zustande sehr dick aussehen, hat doch
Eiter. A. Eiterkörperchen, a frisch, b mit etwas Wasser-
zusatz, c — e nach Essigsäure-Behandlung, der Inhalt klar geworden,
die in der Theilung begriffenen oder schon getheilten Kerne sichtbar,
bei e mit leichter Depression der Oberfläche. B. Kerne der Eiterkörper-
chen bei Gonorrhoe: a einfacher Kern mit Kernkörperchen, b beginnende
Theilung, Depression des Kerns, c fortschreitende Zweitheilung, d Drei-
theilung. C. Eiterkörperchen in dem natürlichen Lagerungsverhältniss zu
einander. Vergr. 500.
11
[162]Neunte Vorlesung.
einen so grossen Antheil von Wasser, dass er bei der Ein-
dampfung viel mehr verliert, als eine entsprechende Quan-
tität von Blut. Letzteres macht nur deshalb den Eindruck
der grösseren Wässrigkeit, weil es sehr viel freie, aber relativ
wenig intracellulare Flüssigkeit besitzt, während umgekehrt
beim Eiter mehr Wasser innerhalb der Zellen, weniger aus-
serhalb derselben befindlich ist. Wenn nun eine Resorption
stattfindet, so verschwindet zunächst der grösste Theil der in-
tercellularen Flüssigkeit und die Eiterkörperchen rücken näher
an einander; dann verschwindet aber auch ein Theil der Flüs-
sigkeit aus den Zellen selbst, und in demselben Maasse wer-
den diese kleiner, unregelmässiger, ecki-
ger, höckriger, bekommen die allersonder-
barsten Formen, liegen dicht an einander
gedrängt, brechen das Licht stärker, weil
sie mehr feste Substanz enthalten und
sehen gleichmässiger aus.
Diese Art der Eindickung ist keines-
wegs ein so seltener Vorgang, wie man
oft annimmt, sondern im Gegentheil ausserordentlich häufig,
und fast noch mehr wichtig als häufig. Es ist dies nämlich
einer von den Vorgängen, welche zu den viel discutirten kä-
sigen Produkten führen, die man in der neueren Zeit alle
unter den Begriff des Tuberkels subsumirt hat, und von denen
namentlich durch Reinhardt gezeigt ist, dass sie zu einem
sehr beträchtlichen Theile wirklich auf Eiter, also auf Entzün-
dungsproduct zurückzuführen sind. Späterhin werden wir
sehen, dass diese Erfahrungen zu falschen Schlüssen über den
Tuberkel selbst verwerthet sind; aber dass durch Inspissation
solche Entzündungsproducte in Dinge, die man Tuberkel
nennt, umgewandelt werden können, ist unzweifelhaft. Gerade
in der Geschichte der Lungentuberkulose spielt dieser Act eine
sehr grosse Rolle. Sie brauchen sich solche geschrumpfte
Zellen nur innerhalb der Lungenalveolen eingeschlossen zu
Eingedickter, käsiger Eiter. a die geschrumpften, ver-
kleinerten, etwas verzerrten und mehr homogen und solid aussehenden
Körperchen. b ähnliche mit Fettkörnchen. c natürliches Lagerungsver-
hältniss zu einander. Vergr. 300.
[163]Eindickung (Tuberculisation) des Eiters.
denken und Alveole für Alveole die Inspissation ihres Inhaltes
durchgehen zu lassen, so bekommen Sie die käsigen Hepatisa-
tionen, welche man gewöhnlich unter dem Namen der Tuber-
kel-Infiltration schildert.
Diese unvollständige Resorption, wo nur die flüssigen Be-
standtheile resorbirt werden, lässt die Masse der festen Be-
standtheile als Caput mortuum, als abgestorbene, nicht mehr
lebensfähige Masse in dem Theile liegen. Solche Arten von
Eindickungen sind es, welche wir in grossem Maassstabe bei
der unvollständigen Resorption pleuritischer Exsudate eintre-
ten sehen, wo sehr grosse Lager von bröckliger Substanz im
Pleurasacke zurückbleiben; ebenso im Umfange der Wirbel-
säule bei Spondylarthrocace, in kalten Abscessen u. s. w.
In allen diesen Fällen ist die Resorption, sobald die Flüssig-
keit verschwunden ist, zu Ende. Darin beruht die schlimme
Bedeutung dieser Vorgänge. Denn die festen Theile, welche
nicht resorbirt werden, bleiben entweder als solche liegen, oder
sie können später erweichen, werden aber dann gewöhnlich
nicht mehr Object der Resorption, sondern es geht meist aus
ihnen eine Ulceration hervor. Auf alle Fälle ist das, was re-
sorbirt wurde, kein Eiter, sondern eine einfache Flüssigkeit,
welche überwiegend viel Wasser, etwas Salze und sehr wenig
von eiweissartigen Bestandtheilen enthalten mag und es kann
kein Zweifel sein, dass hier eine der unvollständigsten For-
men der Resorption vorliegt.
Die zweite Form von Eiter-Resorption ist diejenige, welche
den günstigsten Fall constituirt, wo der Eiter wirklich ver-
schwindet und nichts Wesentliches von ihm übrig zu bleiben
Eingedickter, zum Theil in der Auflösung begriffener,
hämorrhagischer Eiter aus Empyem. a die natürliche Masse, körnigen
Detritus, geschrumpfte Eiter- und Blutkörperchen enthaltend. b die-
selbe Masse, mit Wasser behandelt; einzelne körnige, entfärbte Blutkör-
perchen sind deutlich geworden. c und d nach Zusatz von Essigsäure.
Vergr. 300, bei d 520.
11*
[164]Neunte Vorlesung.
braucht. Aber auch hier wird der Eiter nicht als Eiter resor-
birt, sondern er macht vorher eine fettige Metamorphose durch;
jede einzelne Zelle lässt fettige Theile in sich frei werden,
zerfällt, und zuletzt bleibt nichts weiter
übrig, als fettige Körner und Zwischen-
flüssigkeit. Es ist also überhaupt keine
Zelle und kein Eiter mehr vorhanden; an
ihre Stelle ist eine emulsive Masse, eine
Art von Milch getreten, welche aus Wasser, etwas eiweissar-
tigen Stoffen und Fett besteht, und in welcher man sogar
mehrfach Zucker nachgewiesen hat, so dass dadurch eine noch
grössere Analogie mit der wirklichen Milch entsteht. Diese
pathologische Milch ist es, welche nachher zur Resorption
gelangt, also wieder kein Eiter, sondern Fett, Wasser oder
Salze.
Das sind die Vorgänge, welche man „physiologische Eiter-
Resorption“ nennen kann, eine Resorption, wo Eiter als sol-
cher nicht resorbirt wird, sondern entweder nur seine flüssigen
Bestandtheile, oder die durch eine innere Umwandlung bedeu-
tend veränderte Substanz.
Es gibt nun allerdings einen Fall, wo Eiter in Substanz
das Object nicht gerade einer Resorption, aber wenigstens einer
Intravasation werden und wo dieser intravasirte Eiter in-
nerhalb der Gefässe fortbewegt werden kann, der nämlich, wo
ein Gefäss verletzt oder durchbrochen wird und durch die
Oeffnung Eiter in sein Inneres gelangt. Es kann ein Abscess
an einer Vene liegen, die Wand derselben durchbrechen, sei-
nen Inhalt in ihre Lichtung entleeren. Noch leichter geschieht
ein solcher Uebergang an Lymphgefässen, welche in offene
Abscesse münden. Es fragt sich also nur, in wieweit man
berechtigt ist, diesen Fall als einen häufigen zu setzen. Für
die Venen hat man seit Decennien diesen Gedanken ziemlich
beschränkt; von einer Resorption des Eiters in Substanz durch
die Venen ist man mehr und mehr zurückgekommen, aber von
In der fettigen Rückbildung (Fettmetamorphose) begriffener
Eiter. a beginnende Metamorphose. b Fettkörnchenzellen mit noch deut-
lichen Kernen. c Körnchenkugel (Entzündungskugel). d Zerfall der Ku-
gel. e Emulsion, milchiger Detritus. Vergr. 350.
[165]Eiter in Lymphgefässen.
der Resorption durch Lymphgefässe spricht man noch ziem-
lich häufig, und man hat in der That manche Veranlassung
dazu.
Es ist aber ziemlich gleichgültig, ob der Eiter in Lymph-
gefässe von aussen wirklich herein kommt, oder, was Andere
annehmen, ob er durch Entzündung in den Lymphgefässen
entsteht; schliessliche Frage ist vielmehr die, in wie weit ein
mit Eiter gefülltes Lymphgefäss im Stande ist, eine Entleerung
seines Inhaltes in den circulirenden Blutstrom zu Stande zu
bringen und die eigentliche Pyämie zu setzen. Eine solche
Möglichkeit muss in der Regel geläugnet werden, und zwar
aus einem sehr einfachen Grunde. Alle Lymphgefässe, welche
in der Lage sind, eine solche Aufnahme zu erfahren, sind pe-
ripherische, mögen sie von äusserlichen oder innerlichen Thei-
len entspringen, und gelangen erst nach einem längeren Lauf
allmälig zu den Blutgefässen. Bei allen finden sich Unter-
brechungen durch Lymphdrüsen; und seitdem man weiss, dass
die Lymphgefässe durch die Drüsen nicht als weite, gewun-
dene und verschlungene Kanäle hindurchgehen, sondern, nach-
dem sie sich in feine Aeste aufgelöst haben, in Räume eintre-
ten, welche mit zelligen Theilen gefüllt sind, so versteht es
sich von selbst, dass kein Eiterkörperchen eine Drüse passi-
ren kann.
Es ist dies ein sehr wesentlicher Gesichtspunkt, den man
sonderbarer Weise gewöhnlich übersieht, obwohl er in der
täglichen Erfahrung des praktischen Arztes die besten Bestä-
tigungen findet. Für die Nothwendigkeit der Hemmung kör-
perlicher Partikeln in den Lymphdrüsen haben wir ein sehr
hübsches Experiment, welches die Sitte unserer niederen Be-
völkerung mit sich bringt, die bekannte Tätowirung der Arme
oder auch wohl anderer Theile. Wenn ein Handwerker oder
ein Soldat auf seinen Arm eine Reihe von Einstichen machen
lässt, die zu Buchstaben, Zeichen oder Figuren geordnet wer-
den, so wird fast jedesmal bei der grossen Zahl der Stiche
ein Theil der oberflächlichen Lymphgefässe verletzt. Es ist
ja anders gar nicht möglich, als dass, wenn man durch Nadel-
stiche ganze Hautbezirke umgrenzt, wenigstens einzelne Lymph-
gefässe getroffen werden müssen. Darauf wird eine Substanz
[166]Neunte Vorlesung.
eingeschmiert, welche in der Körperflüssigkeit unlöslich ist,
Zinnober, Schiesspulver oder dergl., und welche, indem sie in
den Theilen liegen bleibt, eine dauerhafte Färbung derselben
bedingt. Allein bei dem Einstreichen gelangt ein gewisser
Theil der Partikelchen in Lymphgefässe, wird trotz seiner
Schwere vom Lymphstrome fortbewegt und gelangt bis zu den
nächsten Lymphdrüsen, wo er abfiltrirt wird. Man sieht nie,
dass sich Partikeln bis über die Lymphdrüsen hinausbewegen
und an entferntere Punkte gelangen, dass sie sich etwa im
Parenchym innerer Organe ablagern. Immer in der nächsten
Drüsenreihe bleibt die Masse stecken. Untersucht man die
infiltrirten Drüsen, so überzeugt man sich leicht, dass die
Grösse der abgelagerten Partikelchen geringer ist, als die
Grösse auch des kleinsten Eiterkörperchens.
Das Object, welches ich Ihnen vorlege (Fig. 67), hat zufälliger
Durchschnitt durch die Rinde einer Axillardrüse bei Tä-
towirung der Haut des Arms. Man sieht von der Rinde her ein grosses
eintretendes Gefäss, das sich leicht schlängelt und in feine Aeste auflöst.
Ringsumher Follikel, die grossentheils mit Bindegewebe gefüllt sind. Die
dunkle feinkörnige Masse stellt den abgelagerten Zinnober dar. Ver-
grösserung 80.
[167]Tätowirungsfarben in Lymphdrüsen.
Weise den Punkt getroffen, wo das Lymphgefäss in die Drüse
eintritt, und von wo es innerhalb der Bindegewebsbalken, welche
sich von der Capsel aus zwischen die Follikel erstrecken, schrauben-
förmig fortgeht, um sich in seine Aeste aufzulösen. Da, wo diese in
die benachbarten, hier freilich zum grossen Theile mit Binde-
gewebe erfüllten Follikel übergehen, haben sie die ganze
Masse des Zinnobers ausgeschüttet, so dass dieser noch zum
Theil innerhalb der Zwischenbalken liegt, zum Theil jedoch in
das feine Reticulum des Follikels eingedrungen ist. Das Prä-
parat stammt von dem Arme eines Sol-
daten, der sich in den Feldzügen von
1809 die Figuren hat einreiben lassen,
so dass die Masse fast 50 Jahre lang
liegen geblieben ist. Weiter als bis hier-
her ist nichts gekommen; schon die
nächste Follikelschicht enthält nichts mehr.
Die Partikelchen sind aber so klein, und
der Mehrzahl nach selbst im Verhältnisse
zu den Zellen der Drüse so gering, dass sie mit Eiterkörper-
chen gar nicht verglichen werden können. Wo aber diese
Körnchen nicht durchgehen, wo so minimale Partikelchen eine
Verstopfung machen, da würde es etwas kühn sein, zu denken,
dass die relativ grossen Eiterkörperchen durchkommen könnten.
Diese Einrichtung, meine Herren, wodurch in den
Lymphdrüsen der offene Strom der Flüssigkeit unterbrochen
und die gröberen Partikelchen in einer ganz mechanischen
Weise zurückgehalten werden, lässt begreiflicher Weise keine
andere Form der Lymphresorption von der Peripherie herzu, als
die von einfachen Flüssigkeiten. Freilich würde man falsch
gehen, wenn man die Thätigkeit der Lymphdrüsen darauf be-
schränken wollte, dass sie, wie Filtren, zwischen die Abschnitte
des Lymphsystems eingeschoben sind. Offenbar haben sie
noch eine andere Bedeutung, indem die Drüsensubstanz un-
Das mit Zinnober, nach Tätowirung des Armes, gefüllte
Reticulum aus einer Axillardrüse (Fig. 67.). a ein Theil eines interfolli-
culären Balkens mit einem Lymphgefässe; b ein in den Follikel treten-
der, stärkerer Ast; c, c die feinsten, anastomosirenden, noch kernhaltigen
Netze des Reticulums; die dunklen Körner sind Zinnoberpartikelchen.
Vergr. 300.
[168]Neunte Vorlesung.
zweifelhaft von der flüssigen Masse der Lymphe gewisse Be-
standtheile in sich aufnimmt, zurückhält und dadurch auch die
chemische Beschaffenheit der Flüssigkeit alterirt, so dass diese
um so mehr verändert aus der Drüse hervortritt, als zugleich
angenommen werden muss, dass die Drüse gewisse Bestand-
theile an die Lymphe abgibt, welche vorher in derselben nicht
vorhanden waren.
Ich will hier nicht auf minutiöse Verhältnisse eingehen,
da die Geschichte jeder bösartigen Geschwulst die besten
Beispiele für diesen Satz liefert. Wenn eine Achseldrüse kreb-
sig wird, nachdem die Brustdrüse vorher krebsig erkrankt
war, und wenn längere Zeit hindurch bloss die Achseldrüse
krank bleibt, ohne dass die folgende Drüsenreihe oder irgend
ein anderes Organ vom Krebs befallen wird, so können wir
uns dies nicht anders vorstellen, als dass die Drüse die schäd-
lichen, von der Brustdrüse her aufgenommenen Bestandtheile
sammelt, dadurch eine Zeit lang dem Körper einen Schutz ge-
währt, am Ende aber insufficient wird, ja vielleicht späterhin
selbst eine neue Quelle selbständiger Infection für den Körper
darstellt, indem von den kranken Theilen der Drüse aus die
weitere Verbreitung des giftigen Stoffes stattfinden kann.
Ebenso lehrreiche Beispiele liefert die Geschichte der Syphi-
lis, wo der Bubo eine Zeit lang eine Ablagerungsstätte des
Giftes werden kann, so dass die übrige Oekonomie in einer
verhältnissmässig geringen Weise afficirt wird. Wie Ricord
zeigte, findet sich die virulente Substanz gerade im Innern der
eigentlichen Drüsensubstanz, während der Eiter im Umfange
des Bubo frei davon ist; nur so weit die Theile in Contact
kommen mit der zugeführten Lymphe, nehmen sie den viru-
lenten Stoff in sich auf.
Wenden wir diese Erfahrungen auf die Eiterresorption
an, so kann man selbst in dem Falle, dass wirklich Eiter in
Lymphgefässe gelangt, durchaus nicht als nächste Folge da-
von eine Inficirung des Blutes durch eitrige Bestandtheile er-
schliessen; vielmehr wird wahrscheinlich innerhalb der Drüse
eine Retention der Eiterkörperchen stattfinden, und auch die
Flüssigkeiten, welche durch die Drüse hindurch gelangen,
werden während des Durchganges einen grossen Theil ihrer
[169]Einfluss der Drüsenreizung auf die Blutmischung.
schädlichen Eigenschaften verlieren. Secundäre Drüsen-An-
schwellungen treten in verschiedenen Formen nach peripheri-
schen Infectionen auf. Wie will man sie anders erklären, als
dass jede inficirende (miasmatische) Substanz, welche als eine
wesentlich fremdartige oder, wenn ich mich so ausdrücken
soll, feindselige für den Körper zu betrachten ist, indem sie in die
Substanz der Drüse eindringt, daran einen Zustand von mehr
oder weniger ausgesprochener Reizung hervorbringt, der sehr
häufig bis zur wirklichen Entzündung der Drüse sich steigert?
Wir werden noch später auf den Begriff der Reizung etwas
genauer zurückkommen, und ich will hier nur so viel hervor-
heben, dass nach meinen Untersuchungen die Reizung der
Drüse darin besteht, dass sie in eine vermehrte Zellenbildung
geräth, dass ihre Follikel sich vergrössern und nach einiger
Zeit viel mehr Zellen zeigen als vorher. Im Verhältniss zu
diesen Vorgängen sehen wir dann auch die farblosen Elemente
im Blute sich vermehren. Jede bedeutende Drüsenreizung hat
eine Zunahme der Lymphkörperchen im Blute zur Folge; je-
der Prozess, welcher mit Drüsenreizung besteht, wird daher
auch den Effect haben, das Blut mit grösseren Quantitäten
von farblosen Blutkörperchen zu versehen, mit anderen Wor-
ten, einen leukocytotischen Zustand zu setzen. Hat man nun
die Ansicht, es sei Eiter resorbirt worden und der Eiter sei
die Ursache der eingetretenen Störungen, so ist nichts leich-
ter, als Zellen im Blute nachzuweisen, welche wie Eiterkör-
perchen aussehen, und welche oft in so grosser Menge vor-
handen sind, dass man ihre Zusammenhäufungen (Fig. 58.) in
der Leiche wie kleine Eiterpunkte mit blossem Auge sehen
kann, oder dass sie grosse, zusammenhängende oder körnige
Lager an der unteren Seite der Speckhaut des Aderlassblutes
bilden (Fig. 60.). Scheinbar ist der Beweis so plausibel als
möglich. Man hat die Voraussetzung, dass Eiter in’s Blut ge-
langt sei; man untersucht das Blut und findet wirklich Ele-
mente, die vollkommen aussehen wie Eiterkörperchen, und zwar in
sehr grosser Zahl. Selbst wenn man zugesteht, dass farblose Blut-
körperchen wie Eiterkörperchen aussehen können, ist doch der
Schluss sehr verführerisch, wie man ihn zu wiederholten Ma-
len in der Geschichte der Pyämie gemacht hat, dass wegen
[170]Neunte Vorlesung.
der grossen Menge es doch keine farblosen Blutkörperchen
mehr sein könnten, sondern Eiterkörperchen sein müssten.
Diesen Schluss machte vor Jahren Bouchut bei Gelegenheit
einer Epidemie vom Puerperal-Fieber, welches er damals für
eine Pyämie hielt, neuerlichst aber auf Grund derselben Beob-
achtungen für eine acute Leukämie erklärte. Das ist ferner
derselbe Schluss, den Bennett in der viel discutirten Priori-
tätssache mit mir gemacht hat, da er einen Fall von unzwei-
felhafter Leukämie einige Monate früher beobachtete, als ich
meinen ersten Fall sah, und da er aus der unerhört grossen
Zahl der farblosen Körperchen den Schluss machte, es sei eine
„Suppuration des Blutes.“ Freilich war dieser Schluss nicht
originell, sondern basirte sich auf die neulich (S. 140) erwähnte
Hämitis von Piorry, der sich dachte, dass das Blut selbst
sich entzünde und in sich Eiter erzeuge, was man nachher in
der Wiener Schule spontane Pyämie genannt hat.
Alle diese Irrthümer waren nur hervorgegangen aus dem
Umstande, dass man eine so ungeheuer grosse Zahl von farb-
losen Blutkörperchen fand. Heutzutage ist dieser Befund eben
so einfach vom Standpunkte der Hämatopoese aus zu erklä-
ren, wie er früher allein erklärlich schien vom Standpunkte
der Pyämie. Die Reizung der Lymphdrüsen erklärt ohne alle
Schwierigkeit die Vermehrung der farblosen, eiterähnlichen
Zellen im Blute, und zwar in allen Fällen, nicht bloss in denen,
wo man eine Pyämie erwartete, sondern auch in denen, wo
man sie nicht erwartete, wo jedoch das Blut dieselbe Masse
von farblosen Körperchen zeigt, wie in der eigentlichen, dem
klinischen Begriffe entsprechenden Pyämie.
So ergibt sich, dass jede Mahlzeit einen gewissen Rei-
zungszustand in den Gekrösdrüsen setzt, indem die Chylus-
bestandtheile, die den Drüsen zugeführt werden, einen patho-
logischen Reiz für dieselben darstellen. Die Milch, welche wir
trinken, die Fette unserer Suppen, die verschiedenen feiner
vertheilten Fette in unseren festeren Speisen gelangen als
kleinste Kügelchen in die Chylusgefässe und verbreiten sich
eben so, wie der Zinnober, in den Drüsen; aber die kleinsten
Fettkörnchen dringen nach einiger Zeit durch die Drüse hin-
[171]Physiologische Leukocytose.
durch. Für solche Formen besteht also noch eine wirkliche
Permeabilität der Drüsengänge, aber auch sie werden eine
Zeit lang retinirt; immer dauert es lange, ehe nach einer Mahl-
zeit die Gekrösdrüsen das Fett wieder völlig los werden und
es geschieht das Hindurchschieben der Massen offenbar unter
einem verhältnissmässig grossen Drucke. Dabei beobachtet
man zugleich eine Vergrösserung der Drüse, und ebenso nach
jeder Mahlzeit eine Zunahme in der Zahl der farblosen Kör-
perchen im Blute, — eine physiologische Leukocytose,
aber keine Pyämie.
In dem Maasse, als eine Schwangerschaft vorrückt,
als die Lymphgefässe am Uterus sich erweitern, als der Stoff-
wechsel in der Gebärmutter mit der Entwickelung des Fötus
zunimmt, vergrössern sich die Lymphdrüsen der Inguinal- und
Lumbalgegend erheblich, zuweilen so beträchtlich, dass, wenn
wir sie zu einer andern Zeit fänden, wir sie als entzündet
betrachten würden. Diese Vergrösserung führt dem Blute auch
mehr neue Partikelchen formeller Art zu, und so steigt von
Monat zu Monat die Zahl der farblosen Körperchen. Zur Zeit
der Geburt kann man fast bei jeder Puerpera, mag sie pyämisch
sein oder nicht, in dem defibrinirten Blute die farblosen Kör-
perchen ein eiterartiges Sediment bilden sehen. Auch dies ist
eine physiologische Form, welche fern davon ist, eine pyämi-
sche zu sein. Wenn man sich aber gerade eine Puerpera
aussucht, welche Krankheits-Erscheinungen darbietet, die mit
dem Bilde der Pyämie übereinstimmen, dann ist nichts leich-
ter, als diese vielen farblosen, mehrkernigen Zellen zu finden,
welche nach der Voraussetzung gerade die Pyämie constatiren
sollen. Dies sind Trugschlüsse, welche aus unvollständiger
Kenntniss des normalen Lebens und der Entwickelung resul-
tiren. So lange man sich bloss an die pyämischen Erfahrun-
gen hält, so lange kann dies Alles erscheinen wie ein gros-
ses und neues Ereigniss, und man kann sich berechtigt halten,
wenn man das Blut einer Wöchnerin untersucht, zu schliessen,
sie hätte schon die Pyämie, bevor die pyämischen Symptome
auftreten. Aber man mag untersuchen, wann man will, so
wird man stets etwas von Leukocytose finden, gerade so, wie
[172]Neunte Vorlesung.
es schon seit langer Zeit bekannt ist, dass sich bei Schwan-
geren sehr gewöhnlich eine Speckhaut bildet, weil das Blut
gewöhnlich mehr von einem langsamer gerinnenden Fibrin zu-
geführt bekommt (Hyperinose). Es erklärt sich dies durch
den vermehrten Stoffwechsel und die, entzündlichen Vorgän-
gen so nahe stehenden Veränderungen im Uterinsystem, wel-
che mit einer gewissen Reizung der zunächst damit in Verbin-
dung stehenden Lymphdrüsen vergesellschaftet sind.
Gehen wir einen Schritt weiter in die pathologischen
Fälle hinein, so treffen wir diese leukocytotischen Zustände in
der ganzen Reihe aller der Erkrankungen, welche mit Drü-
senreizung complicirt sind, und bei welchen die Reizung nicht
zu einer Zerstörung der Drüsensubstanz führt. Im Verlaufe
einer Scrophulosis, bei deren einigermaassen ungünstigem Ver-
laufe die Drüsen zu Grunde gehen, sei es durch Ulceration,
sei es durch käsige Eindickung, Verkalkung u. s. f., kann
eine vermehrte Aufnahme von Elementen in das Blut nur so
lange stattfinden, als die gereizte Drüse überhaupt noch lei-
stungsfähig ist oder existirt. In allen Fällen dagegen, wo
eine mehr acute Form von Störung besteht, welche mit entzünd-
licher Schwellung der Drüsen verbunden ist, findet immer eine Ver-
mehrung der farblosen Körperchen im Blute Statt. So im
Typhus, wo wir so ausgedehnte markige Schwellungen der
Unterleibsdrüsen beobachten, so bei Krebskranken, wenn Rei-
zung der Lymphdrüsen eintritt, so im Verlaufe der Prozesse,
welche man als Eruptionen des malignen Erysipels bezeichnet
und welche so frühzeitig schon mit Drüsenanschwellung ver-
bunden zu sein pflegen. Das ist der Sinn dieser Vermehrung
der farblosen Elemente, die zuletzt immer zurückführt auf die
vermehrte Entwickelung lymphatischer Gebilde innerhalb der
gereizten Drüsen.
Es ist nun von Wichtigkeit, darauf hinzuweisen, dass man
gegenwärtig den Begriff der Lymphdrüsen ungleich weiter aus-
dehnt, als dies bis vor Kurzem geschehen ist. Erst die
neuesten histiologischen Untersuchungen haben gezeigt, dass
ausser den gewöhnlichen bekannten Lymphdrüsen, die eine ge-
wisse Grösse haben, eine grosse Menge von kleineren Einrich-
[173]Die lymphoiden Organe.
tungen im Körper vorhanden ist, welche ganz denselben Bau
haben, welche aber nicht so grosse Zusammenordnungen dar-
stellen, wie wir sie in einer Lymphdrüsse finden. Dahin ge-
hören im Besonderen die Follikel des Darms, die solitären
und Peyerschen. Ein Peyerscher Haufen ist nichts weiter als
die flächenartige Ausbreitung einer Lymphdrüse; die einzelnen
Follikel des Haufens entsprechen, ebenso wie die Solitärfollikel
des Digestionstractus, den einzelnen Follikeln einer Lymph-
drüse, nur dass jene, wenigstens beim Menschen, in einfacher,
diese in mehrfacher Lage sich befinden. Die solitären und
Peyerschen Drüsen haben also gar nichts gemein mit den ge-
wöhnlichen Drüsen, welche nach dem Darm hin secerniren;
sie haben vielmehr die Stellung und offenbar auch die Funk-
tion der Lymphdrüsen.
In dieselbe Kategorie gehören aller Wahrscheinlichkeit
nach auch die analogen Apparate, die wir im oberen Theil
des Digestionstractus in so grossen Haufen zusammengeordnet
finden, wo sie die Tonsillen und die Follikel der Zungen-
wurzel bilden. Während im Darm die Follikel in einer
ebenen Fläche liegen, findet sich hier die Fläche eingefaltet
und die einzelnen Follikel um die Einfaltung oder Einstülpung
herumliegend.
In dieselbe Kategorie gehört weiterhin die Thymus-
drüse, welche im Innern keine anderen Verschiedenheiten
ihres Baues zeigt, als dass die Anhäufung der Follikel einen
noch höheren Grad erreicht, als in den Lymphdrüsen. Wäh-
rend wir in den meisten Lymphdrüsen noch einen Hilus
haben, wo keine Follikel liegen, so hört dies in der Thy-
musdrüse auf; sie hat keinen Hilus mehr.
Dahin gehört endlich ein sehr wesentlicher Bestandtheil der
Milz, nämlich die Malpighischen oder weissen Körper, die
bei verschiedenen Leuten in ebenso verschiedener Menge durch
das Milzparenchym zerstreut sind, wie die solitären und Peyer-
schen Follikel im Darm. Auf einem Durchschnitte durch die
Milz sehen wir vom Hilus her die Trabekeln gegen die Cap-
sel ausstrahlen und gewisse Abschnitte von Drüsensubstanz
umschliessen, innerhalb deren die rothe Milzpulpe liegt, hier
[174]Sechste Vorlesung.
und da unterbrochen durch bald mehr bald weniger zahlreiche
weisse Körper, Follikel von grösserem oder kleinerem Um-
fange, einzeln oder zusammengesetzt, zuweilen fast trauben-
förmig. Der Bau dieser Follikel stimmt aufs Haar mit dem
der Lymphdrüsen-Follikel.
Wir können daher diese ganze Reihe von Apparaten als
verhältnissmässig gleichwerthig mit den eigentlichen Lymph-
drüsen denken, und eine Anschwellung der Milz wird unter
Umständen eine ebenso reichliche Zufuhr von farblosen Blut-
körperchen liefern, wie dies bei einer Lymphdrüse der Fall
ist. Diese Möglichkeit erklärt es, dass wir z. B. in der Cho-
lera, wo die Veränderung der solitären und Peyerschen Folli-
kel im Darm die Hauptsache ist, wo wir die Schwellung der
übrigen Lymphdrüsen viel weniger ausgebildet finden, ausser-
ordentlich frühzeitig eine bedeutende Vermehrung der farblo-
sen Blutkörperchen antreffen. Dies erklärt es ferner, warum
bei solchen Pneumonien, die mit grossen Schwellungen der
Bronchialdrüsen verbunden sind, gleichfalls eine Vermehrung
der farblosen Blutkörperchen stattfindet, welche in denjenigen
Formen der Pneumonie, die nicht mit einer solchen Schwel-
lung verbunden sind, gewöhnlich fehlt. Je mehr die Reizung
von der Lunge auf die Lymphdrüsen übergreift, je reichlicher
von der Lunge schädliche Flüssigkeiten auf die Drüse zuge-
führt werden, um so deutlicher erleidet das Blut diese Ver-
änderung.
Wenn man auf diese Weise die verschiedenen Prozesse
durchmustert, so lässt sich in der That vom morphologischen
Standpunkte aus gar nichts auffinden, was auch nur entfernt die
Annahme eines Zustandes, der Pyämie zu nennen wäre, recht-
fertigte. In den überaus seltenen Fällen, wo Eiter in Venen
durchbricht, können unzweifelhaft dem Blute eitrige Bestand-
standtheile zugeführt werden, allein hier ist die Einfuhr von
Eiter meist eine einmalige. Der Abscess entleert sich, und ist er
gross, so geschieht eher eine Extravasation von Blut, als dass
eine anhaltende Pyämie zu Stande käme. Vielleicht wird es
einmal gelingen, im Verlaufe eines solchen Vorganges Eiter-
körperchen mit bestimmten Charakteren im Blute aufzufinden;
[175]Widerlegung der morphologischen Pyämie.
bis jetzt steht aber die Sache so, dass man mit grösster Be-
stimmtheit behaupten kann, es sei Niemandem bis jetzt gelun-
gen, mit Gründen, die auch nur einer milden Beurtheilung ge-
nügen könnten, die Anwesenheit einer morphologischen Pyä-
mie darzuthun. Es muss daher auch dieser Name als Bezeich-
nung für eine bestimmte Blutveränderung gänzlich aufgegeben
werden.
[[176]]
Zehnte Vorlesung.
17. März 1858.
Die metastasirende Dyscrasie.
Pyämie und Phlebitis. Thrombosis. Puriforme Erweichung der Thromben. Die wahre und
falsche Phlebitis. Eitercysten des Herzens.
Embolie. Bedeutung der fortgesetzten Thromben. Lungenmetastasen. Zertrümmerung der
Emboli. Verschiedener Character der Metastasen. Endocarditis und capilläre Embolie.
Latente Pyämie
Inficirende Flüssigkeiten. Erkrankung der lymphatischen Apparate und der Secretionsorgane.
Chemische Substanzen im Blute: Silbersalze. Arthritis. Kalkmetastasen. Diffuse Meta-
stasen. Ichorrhämie. Pyämie als Sammelname.
Die chemischen Dyscrasien. Bösartige Geschwülste, besonders Krebs. Verbreitung durch con-
tagiöse Parenchymsäfte.
Meine Herren, ich war das letzte Mal durch den Schluss der
Vorlesung unterbrochen worden in der Geschichte der Pyämie
eben an dem Punkte, wo ich die Frage zur Erörterung brin-
gen wollte, wie es sich mit der Beziehung der Pyämie zu den
Gefässaffectionen verhält.
Als man sich genöthigt sah, die ursprüngliche Ansicht
aufzugeben, wonach die Eitermasse, welche man in der Vene
zu sehen glaubte, durch eine Oeffnung der Wand oder ein
Klaffen der Lichtung in dieselbe eingedrungen (absorbirt)
sein sollte, so knüpfte man wieder an die Lehre von
der Phlebitis an, welche auch jetzt noch die am meisten gang-
bare ist. Man dachte sich, dass der Eiter, welchen man als
das eigentlich Schädliche ansah, als ein Absonderungsproduct
von der Wand des Gefässes geliefert würde. Diese Doctrin
[177]Phlebitis.
war aber insofern etwas schwierig, als man sich bald ziemlich
allgemein dahin einigte, dass eine primär eitrige Venenentzün-
dung nicht vorkomme, sondern dass, wie zuerst von Cruveil-
hier mit Bestimmtheit nachgewiesen ist, im Anfang immer ein
Blutgerinnsel vorhanden sei. Cruveilhier selbst war durch
diese Erfahrung so sehr überrascht worden, dass er eine Theo-
rie daran knüpfte, welche über alles medicinische Fassungs-
vermögen hinauslag. Er schloss nämlich aus der Unmöglich-
keit, zu erklären, warum die Entzündungen der Venen mit Ge-
rinnung des Blutes anfangen, dass überhaupt jede Entzündung
in einer Gerinnung von Blut bestände. Die Unmöglichkeit,
die Phlebitis zu erklären, schien beseitigt dadurch, dass die
Gerinnung zu einem allgemeinen Gesetz erhoben und jede
Entzündung auf eine Phlebitis im Kleinen (Capillarphlebitis)
bezogen wurde. Cruveilhier wurde dazu um so mehr be-
stimmt, als er über andere Krankheitsprozesse ähnliche Vor-
stellungen hegte, und glaubte, dass Cysten, Tuberkeln, Krebs,
kurz alle wichtigen anatomischen Prozesse eigentlich innerhalb
besonderer, von ihm supponirter, kleiner Venen verliefen. Diese
Art zu denken blieb aber so vollständig fremd der grossen
Mehrzahl der gelehrten und ungelehrten Aerzte, dass die ein-
zelnen Schlussthesen von Cruveilhier, die man zum Theil
in seiner Formulirung in die Wissenschaft recipirte, ganz und
gar missverstanden wurden.
Cruveilhier hatte in dem Punkte Recht, der auch seit-
dem mehr und mehr anerkannt worden ist, dass der sogenannte
Eiter in den Venen nie zuerst an der Wand der Vene liegt,
sondern immer zuerst in der Mitte des schon vor ihm vorhan-
denen Blutgerinnsels auftritt, welches den Anfang des Prozesses
überhaupt bezeichnet. Er stellte sich vor, dass die Eiterse-
cretion von den Wandungen des Gefässes aus stattfinde, dass
aber der Eiter nicht an der Wand liegen bleibe, sondern vermöge
der „Capillarität“ bis in die Mitte des Coagulums wandere.
Es war das eine sehr sonderbare Theorie, die sich auch dann
nur annähernd begreift, wenn man, wie dies zu Cruveilhier’s
Zeit noch geschehen ist, den Eiter für eine einfache Flüssig-
keit hält. Sieht man aber von diesen höchst dunkeln Deu-
tungen ab, so bleibt die Thatsache stehen, gegen die sich
12
[178]Zehnte Vorlesung.
auch heute nichts vorbringen
lässt, dass, bevor etwas von
Entzündung zu sehen ist, wir
ein Blutgerinnsel haben, und dass
etwas später inmitten dieses Ge-
rinnsels sich eine Masse zeigt,
welche ihrem Aussehen nach vom
Gerinnsel verschieden ist, dage-
[gen] mehr oder weniger Aehn-
lichkeit mit Eiter zeigt.
Von dieser Erscheinung aus-
gehend, habe ich mich bemüht,
die Lehre von der Phlebitis ihrem
grössten Theile nach überhaupt
aufzulösen, indem ich für das
Mystische, welches in Cruveil-
hier’s Deutung lag, einfach den
Ausdruck der Thatsache einsetzte. Wir wissen nicht, dass die
Entzündung als solche an Gerinnungen gebunden ist; im Ge-
gentheil hat sich herausgestellt, dass die Lehre von den Sta-
sen auf vielfachen Missverständnissen beruht. Es kann die
Entzündung unzweifelhaft bestehen bei einem vollkommen of-
fenen Strome des Blutes innerhalb der Gefässe des afficirten
Theiles. Lassen wir also die Entzündung bei Seite und hal-
ten wir uns einfach an die Gerinnung des Blutes, an die Bil-
dung des Gerinnsels (Thrombus), so scheint es am bequemsten,
diesen ganzen Vorgang in dem Ausdrucke der Thrombose zu-
sammen zu fassen. Ich habe vorgeschlagen, diesen Ausdruck
zu substituiren für die verschiedenen Namen von Phlebitis,
Arteriitis u. s. w., insofern es sich nämlich um eine wirkliche
an Ort und Stelle geschehende Gerinnung des Blutes
handelt.
Untersucht man die Geschichte dieser Thromben, so ergibt
Thrombose der Vena saphena. S. Vena saphena, T. Throm-
bus: v, v' klappenständige (valvuläre) Thromben, in der Erweichung be-
griffen und durch frischere und dünnere Gerinnselstücke verbunden;
C, der fortgesetzte, über die Mündung des Gefässes in die V. cruralis
C' hineinragende Pfropf.
[179]Die puriforme Schmelzung der Thromben.
sich, dass die eiterartige Masse, welche sich innerhalb dersel-
ben vorfindet, nicht von der Wand herstammt, sondern direct
durch eine Umwandlung der centralen Gerinnselschichten selbst
entsteht, und zwar durch eine Umwandlung chemischer Art,
wobei in ähnlicher Weise, wie man dies durch langsame Di-
gestion von geronnenem Fibrin künstlich erzeugen kann, das
Fibrin in eine feinkörnige Substanz zerfällt und die ganze
Masse in Detritus übergeht. Es ist dies eine Art von Er-
weichung und Rückbildung der organischen Substanz, wobei
von Anfang an eine Menge von kleinsten Partikelchen sichtbar
wird; die grossen Fäden des Fibrins zertrümmern in Stücke,
diese wieder in kleinere und so
fort, bis man nach einer ge-
wissen Zeit die Hauptmasse zu-
sammengesetzt findet aus kleinen,
feinen, blassen Körnern (Fig. 70.
A.). In Fällen, wo das Fibrin
verhältnissmässig sehr rein ist,
sieht man manchmal fast gar nichts
weiter, als diese Körnchen.
Sie sehen, meine Herren, das Mikroskop löst die Schwie-
rigkeiten sehr einfach auf, indem es nachweist, dass diese
Masse, welche wie Eiter aussieht, kein Eiter ist. Denn wir
verstehen unter Eiter eine wesentlich mit zelligen Elementen
versehene Flüssigkeit. Ebenso wenig wie wir uns Blut ohne
Blutkörperchen denken können, ebenso wenig existirt ein Eiter
ohne Eiterkörperchen. Wenn wir hier aber eine Flüssigkeit
finden, welche nichts weiter als eine mit Körnern durchsetzte
Masse darstellt, so mag diese dem äusseren Habitus nach wie
Eiter aussehen; nie darf man sie aber als wirklichen Eiter
deuten. Es ist eine puriforme Substanz, aber keine
purulente.
Puriforme Detritus-Masse aus erweichten Thromben. A. Die
verschieden grossen, blassen Körner des zerfallenden Fibrins. B. Die
bei der Erweichung freiwerdenden, zum Theil in der Rückbildung be-
griffenen farblosen Blutkörperchen, a, mit mehrfachen Kernen, b, mit
einfachen, eckigen Kernen und einzelnen Fettkörnchen, c, kernlose (pyoide)
in der Fettmetamorphose. C. In der Entfärbung begriffene und zerfal-
lende Blutkörperchen. Vrgr. 350.
12*
[180]Zehnte Vorlesung.
Nun sieht man aber häufig, dass neben diesen Körnern
eine gewisse Quantität von anderen Bildungen erscheint, z. B.
wirklich zellige Elemente (Fig. 70. B.), die rund sphärisch
oder eckig sind, in denen man einen, zwei und mehr Kerne
wahrnimmt, die manchmal ziemlich dicht liegen und die in der
That eine grosse Uebereinstimmung mit Eiterkörperchen zeigen,
höchstens mit dem Unterschied, dass sehr oft in ihnen Fett-
körnchen vorkommen, welche darauf hindeuten, dass es sich
hier um ein Zerfallen handelt. Während also in einzelnen
Fällen wegen der oft ganz überwiegenden Masse des Detritus
kein Zweifel sein kann über das, was vorliegt, so können in
anderen erhebliche Bedenken bestehen, ob nicht doch wirklicher
Eiter vorhanden ist. Diese lassen sich auf keine andere Weise
lösen, als durch die Untersuchung der Entwicklungsgeschichte.
Nachdem wir früher schon gesehen hatten, dass farblose Blut-
körperchen und Eiterkörperchen formell völlig mit einander über-
einstimmen, so dass wirkliche Scheidungen zwischen ihnen un-
möglich sind, so kann natürlich an einem Punkte, wo wir in
einem Blutgerinsel runde farblose Zellen finden, die Frage, ob
diese Zellen farblose Blutkörperchen oder Eiterkörperchen sind,
nur dadurch gelöst werden, dass ermittelt wird, ob die Körper-
chen schon von Anfang an in dem Thrombus vorhanden waren,
oder erst ex post darin entstanden oder sonst wie hineinge-
langt sind. Es ergibt aber die directe Verfolgung der Vor-
gänge mit grosser Bestimmtheit, dass die Körperchen prae-
existiren, dass sie nicht entstehen, noch hineingedrängt werden.
Schon bei Untersuchung ganz frischer Thromben findet man
an manchen Stellen die Körperchen in grossen Massen ange-
häuft, so dass, wenn der Faserstoff zerfällt, dieselben in solcher
Zahl frei werden, dass der Detritus fast so zellenreich wie
Eiter ist. Es verhält sich mit diesem Vorgange, wie wenn ein
mit körperlichen Theilen ganz durchsetztes Wasser gefroren
ist und dann einer höheren Temperatur ausgesetzt wird; beim
Schmelzen des Eises müssen natürlich die eingeschlossenen
Partikelchen wieder zum Vorschein kommen.
Gegen diese Darstellung kann ein Umstand eingewendet
werden, nämlich der, dass man nicht in der gleichen Weise
die rothen Blutkörperchen frei werden sieht. Die rothen Kör-
[181]Thrombose und Phlebitis.
perchen gehen indess sehr frühzeitig zu Grunde; man sieht sie
bald blass werden; sie verlieren einen Theil ihres Farbstoffes,
verkleinern sich, indem zahlreiche dunkle Körnchen an ihrem
Umfange hervortreten (Fig. 54. a, 70. C.), und verschwinden
in der Mehrzahl der Fälle ganz, indem zuletzt nur diese Körn-
chen übrig bleiben. Allein es gibt auch Fälle, wo sich die
rothen Körperchen in der Erweichungsmasse erhalten. In der
Regel freilich gehen sie zu Grunde, und gerade darin beruht
die Eigenthümlichkeit der Umwandlung, durch welche eine
gelbweisse Flüssigkeit entsteht, die das äussere Ansehen
von Eiter hat. Auch dafür kann man ohne besondere Schwie-
rigkeiten eine Deutung finden, wenn man sich erinnert, wie
gering an sich die Widerstandsfähigkeit der rothen Blutkör-
perchen gegen die verschiedensten Agentien ist. Wenn Sie
zu einem Blutstropfen einen Tropfen Wasser setzen, so sehen
Sie die rothen Körperchen vor Ihren Augen verschwinden, die
farblosen zurückbleiben.
Das also, was man im gewöhnlichen Sinne eine suppura-
tive Phlebitis nennt, ist weder suppurativ, noch Phlebitis, son-
dern es ist ein Prozess, der mit einer Gerinnung, einer Throm-
busbildung aus dem Blute beginnt, und später die Thromben
erweichen macht; die ganze Geschichte des Prozesses beschränkt
sich zunächst auf die Geschichte des Thrombus. Ich muss
aber gerade hier hervorheben, dass ich nicht, wie man mir hier
und da nachgesagt hat, die Möglichkeit einer wirklichen Phle-
bitis in Abrede stelle, oder dass ich irgend wie gefunden hätte,
es gäbe keine Phlebitis. Allerdings gibt es eine Phle-
bitis. Aber diese ist eine Entzündung, die wirklich die Wand
und nicht das Innere des Gefässes trifft. An grösseren Ge-
fässen können sich die verschiedensten Wandschichten ent-
zünden und alle möglichen Formen der Entzündung eingehen,
wobei aber das Lumen ganz intakt bleiben kann. Nach der
gewöhnlichen Auffassung dachte man sich die innere Gefäss-
haut wie eine seröse Haut, und wie diese leicht fibrinöse Ex-
sudate oder eitrige Massen hervorbringt, so setzte man das-
selbe bei der inneren Gefässhaut voraus. Ueber diesen
Punkt ist seit Jahren eine Reihe von Untersuchungen an-
gestellt, und ich selbst habe mich vielfach damit beschäftigt,
[182]Zehnte Vorlesung.
aber es ist bis jetzt noch keinem Experimentator, welcher
vorsichtig das Blut von dem Einströmen in die Gefässe abhielt,
gelungen, ein Exsudat zu erzeugen, welches in das Lumen ab-
gesetzt wurde. Vielmehr geht, wenn die Wand sich entzün-
det, die Exsudatmasse, welche gebildet wird, in die Wand
selbst; diese verdickt sich, trübt sich, und fängt späterhin an
zu eitern. Ja, es können sich Abscesse bilden, welche die
Wand nach beiden Seiten hin wie eine Pockenpustel hervor-
drängen, ohne dass eine Gerinnung des Blutes im Lumen er-
folgt. Andere Male freilich wird die eigentliche Phlebitis (und
ebenso die Arteriitis und Endocarditis) die Bedingung für
Thrombose, indem sich auf der inneren Wand Unebenheiten,
Höcker, Vertiefungen und selbst Ulcerationen bilden, welche
für die Entstehung des Thrombus Anhaltspunkte bieten. Allein
da, wo eine Phlebitis in dem gebräuchlichen Sinne des Wortes
stattfindet, ist die Veränderung der Gefässwand fast immer
eine secundäre, welche sogar verhältnissmässig spät zu Stande
kommt.
Der Prozess verläuft in der Weise, dass die jüngsten
Theile des Thrombus immer aus blossem Gerinsel bestehen.
Die Erweichung, das partielle Schmelzen beginnt in der Regel
central, so dass also, wenn der Thrombus eine gewisse Grösse
erreicht hat, sich inmitten desselben eine Höhle findet, mehr
oder weniger gross, die mit jedem Augenblicke sich erweitert
und die allmählig der Gefässwand immer näher rückt. Aber
in der Regel ist dieselbe nach oben und unten durch einen
frischeren, derberen Theil des Gerinnsels abgeschlossen, wel-
cher wie eine Kappe dafür sorgt, dass, wie Cruveilhier
sagte, der Eiter sequestrirt und die Berührung des De-
tritus mit dem circulirenden Blute gehindert wird. Nur seit-
lich erreicht die Erweichung endlich die Wand des Gefässes
selbst, diese verändert sich, es beginnt eine Verdickung und
zugleich Trübung derselben, und darauf endlich selbst eine
Eiterung innerhalb der Wandungen.
Dasselbe, was wir bis jetzt an den Venen betrachtet ha-
ben, kommt auch am Herzen vor. Namentlich am rechten Ventri-
kel sieht man nicht selten sogenannte Eitercysten zwischen den
Trabekeln der Herzwand. Sie ragen gegen die Höhle wie rund-
[183]Embolie.
liche Knöpfchen hervor und stellen kleine Beutel dar, welche
beim Anschneiden einen weichen Brei enthalten, der ein voll-
kommen eiterartiges Ansehen hat. Mit diesen Eitercysten hat
man sich unendlich viel geplagt und alle nur möglichen Theo-
rien darüber gemacht, bis endlich die einfache Thatsache
herauskam, dass ihr Inhalt weiter nichts als ein feinkörniger
Brei von eiweissartiger Substanz ist, der auch nicht die min-
deste feinere Uebereinstimmung mit dem Eiter darbietet. Dies
war in sofern beruhigend, als noch keine Beobachtung vorliegt,
dass ein Kranker, der solche Säcke in grösserer Zahl hatte,
durch Pyämie zu Grunde gegangen wäre, aber es hätte den-
jenigen auffallen sollen, welche so leicht geneigt sind, die
Pyämie mit peripherischen Thrombosen, die doch ganz das-
selbe sind, in Verbindung zu setzen.
Denn natürlich entsteht die Frage, in wie weit durch die
Erweichung der Thromben besondere Störungen im Körper her-
vorgerufen werden können, welche man mit dem Namen Pyä-
mie bezeichnen könnte. Hierauf ist zunächst zu erwidern, dass
allerdings sehr häufig secundäre Störungen veranlasst werden,
aber nicht so sehr dadurch, dass die Erweichungsmassen un-
mittelbar in das Blut kommen, als vielmehr dadurch, dass
grössere oder kleinere Massen von dem Ende des erweichen-
den Thrombus abgelöst, mit dem Blutstrom fortgeführt und
in entfernte Gefässe eingetrieben werden. Dies gibt den sehr
häufigen Vorgang der von mir sogenannten Embolie.
Es ist dies ein Ereigniss, welches wir hier nur kurz be-
rühren können. An den peripherischen Venen geht die Ge-
fahr hauptsächlich von den kleinen Aesten aus. Gar nicht
selten werden diese mit Gerinnselmasse ganz erfüllt. So lange
indess der Thrombus sich nur in dem Aste selbst befindet,
so lange ist für den Körper keine besondere Gefahr vorhan-
den; das Schlimmste ist, dass sich ein Abcess bildet, in Folge
einer Peri- oder Mesophlebitis, der sich nach Aussen öffnet.
Allein die meisten Thromben der kleinen Aeste beschränken
sich nicht darauf, bis an den Stamm vorzudringen; ziemlich
constant lagert sich an das Ende des Thrombus neue Gerinsel-
masse Schicht um Schicht vom Blute ab, der Thrombus setzt
sich über das Ostium hinaus in den Stamm in der Richtung
[184]Zehnte Vorlesung.
des Blutstromes fort, wächst in Form eines dicken Cylinders
weiter und wird immer grösser und grösser. Bald steht dieser
fortgesetzte Thrombus in gar keinem Verhältniss mehr zu
dem ursprünglichen (autochthonen) Thrombus, von dem er aus-
gegangen ist. Der fortgesetzte Thrombus kann die Dicke eines
Daumens haben, der ursprüngliche die einer Stricknadel. Aus
einer Vena lumbalis kann z. B. ein Pfropf so dick, wie die
letzte Phalanx des Daumens sich in die Cava fortsetzen.
Diese fortgesetzten Pfröpfe bringen die eigentliche Gefahr
mit sich; an ihnen erfolgt die Abbröckelung, welche zu secun-
dären Verschliessungen entfernter Gefässe führt. Hier ist der
Ort, wo durch das vorüberströmende Blut grössere und kleinere
Partikeln abgerissen werden. Durch das ursprünglich ver-
stopfte Gefäss strömt überhaupt kein Blut, da ist die Circu-
lation gänzlich unterbrochen; aber in dem grösseren Stamme,
durch welchen das Blut immer noch fortgeht, und in welchen
nur von Strecke zu Strecke Thrombuszapfen hineinragen, kann
der Blutstrom kleinere Partikelchen lostrennen, mitschleppen
und in das nächste Arterien- oder Capillarsystem festkeilen.
So sehen wir, das in der Regel alle Thromben aus der
Peripherie des Körpers secundäre Verstopfungen und Metasta-
sen in der Lunge erzeugen. Ich habe lange Zweifel getragen,
die metastatischen Entzündungen der Lunge sämmtlich als
embolische zu betrachten, weil es sehr schwer ist, die Gefässe
Autochthone und fortgesetzte Thromben. c, c' kleinere,
varicöse Seitenäste (Venae circumflexae femoris), mit autochthonen Throm-
ben erfüllt, welche über die Ostien hinaus in den Stamm der Cruralvene
reichen. t, fortgesetzter Thrombus, durch concentrische Apposition aus
dem Blute entstanden. t' Aussehen eines fortgesetzten Thrombus, nach-
dem eine Ablösung von Stücken (Embolie) erfolgt ist.
[185]Die embolische Metastase.
in den kleinen metastatischen Heerden zu untersuchen, aber
ich überzeuge mich immer mehr von der Nothwendigkeit, diese
Art der Entstehung als die Regel zu betrachten. Wenn man
eine grössere Reihe von Fällen statistisch vergleicht, so zeigt
sich, dass jedesmal, wo Metastasen vorkommen, auch Throm-
bose gewisser Gefässe besteht. Wir haben z. B. eben jetzt
eine ziemlich grosse Puerperalfieber-Epidemie gehabt. Dabei
stellte sich heraus, dass, so mannigfaltig die Formen der Er-
krankung auch waren, doch alle diejenigen Fälle, welche mit
Metastasen in den Lungen verbunden waren, auch mit Throm-
bose im Bereiche des Beckens oder der unteren Extremitäten
verlaufen waren, während bei den Lymphgefäss-Entzündungen
die Lungenmetastasen fehlten. Solche statistische Resultate
haben eine gewisse zwingende Nothwendigkeit, selbst wo der
strenge anatomische Nachweis fehlt.
In die Lungen-Arterie dringen die eingeführten Thrombus-
stücke natürlich je nach ihrer Grösse verschieden weit ein.
Gewöhnlich setzt sich ein solches Stück da fest, wo eine Thei-
lung des Gefässes stattfindet, weil die abgehenden Gefässe zu
klein sind, um das Stück noch einzulassen. Bei sehr grossen
Stücken werden schon die Hauptstämme der Lungenarterie
verstopft, und es tritt augenblickliche Asphyxie ein; andere
Stücke wieder gehen bis in die feinsten
Arterien hinein und erzeugen von da aus
die kleinsten, zuweilen miliaren Entzündun-
gen des Parenchyms. Für die Deutung
dieser kleinen, oft sehr zahlreichen Heerde
muss ich eine Vermuthung erwähnen, welche
mir erst bei meinen neueren Untersuchun-
gen gekommen ist, von welcher ich aber
kein Bedenken trage, sie für eine noth-
wendige auszugeben. Ich glaube näm-
lich, dass, wenn ein grösseres Thrombusstück an einem be-
Embolie der Lungenarterie. P. Mittelstarker Ast der Lungen-
arterie. E. der Embolus, auf dem Sporn der sich theilenden Arterie
reitend. t, t' der einkapselnde (secundäre) Thrombus: t, das Stück vor
dem Embolus, bis zu dem nächst höheren Collateralgefäss c reichend;
t' das Stück hinter dem Embolus, die abgehenden Aeste r, r' grossen-
theils füllend und zuletzt konisch endigend.
[186]Zehnte Vorlesung.
stimmten Punkte einer Arterie eingekeilt ist, hier noch eine
weitere Zertrümmerung stattfinden kann, so dass in die klei-
nen Aeste, in welche sich das Gefäss auflöst, die Par-
tikelchen geführt werden, welche durch die Zertrümmerung
des grossen Pfropfes entstehen. So allein scheint sich die
Thatsache zu erklären, dass man oft im Bezirk einer grösseren
Arterie eine Menge von kleinen Heerden derselben Art findet.
Diese ganze Reihe von Fällen hat mit der Frage, ob im
Blute Eiter ist oder nicht, gar nicht das Mindeste zu thun.
Es handelt sich dabei um ganz andere Körper, um Theile von
Gerinnseln in einem mehr oder weniger veränderten Zustande;
je nachdem diese Veränderung den einen oder anderen Cha-
racter angenommen hat, kann auch die Natur der Prozesse,
welche sich in Folge der Verstopfung bilden, sehr verschieden
sein. Wäre z. B. an dem ursprünglichen Orte des Gerinnsels
eine faulige Erweichung eingetreten, so wird auch die Meta-
stase einen fauligen Character annehmen, gerade so, wie dies
bei einer Inoculation des fauligen Stoffes der Fall sein würde.
Umgekehrt kommt es vor, dass die secundären Störungen,
ähnlich denen am Orte der Lostrennung, sehr günstig verlaufen,
indem der Embolus, wie der Thrombus, sich zurückbildet.
Diese Gruppe von Prozessen muss um so mehr losgelöst
werden von der gewöhnlichen Geschichte der Pyämie, als die-
selben Vorgänge sich jenseits der Lunge, auf der linken Seite
des Stromgebietes wiederfinden; oft mit demselben Verlaufe,
[187]Endocarditis.
mit demselben Resultate, nur noch weniger abhängig von einer
ursprünglichen Phlebitis. So bildet z. B. die Endocarditis
nicht selten den Ausgangspunkt solcher Metastasen. Auf einer
Herzklappe geschieht eine Ulceration, nicht durch eine Eiter-
bildung, sondern durch acute oder chronische Erweichung;
zertrümmerte Partikeln der Klappenoberfläche werden vom Blut-
strome fortgerissen und gelangen mit ihm an entfernte Punkte.
Die Art der Verstopfung, welche diese Massen erzeugen, ist
ganz ähnlich der, welche die Venenthromben machen, aber beide
zeigen eine verschiedene chemische Beschaffenheit. Auch be-
Ulceröse Endocarditis mitralis. a die freie, glatte Ober-
fläche der Mitralklappe, unter welcher die Bindegewebs-Elemente ver-
grössert und getrübt, das Zwischengewebe dichter sind. b eine stär-
kere hügelige Schwellung, bedingt durch zunehmende Vergrösserung
und Trübung des Gewebes. c eine schon in Erweichung und Zertrüm-
merung übergegangene Schwellungsstelle. d, d das noch wenig verän-
derte Klappengewebe in der Tiefe, mit zahlreichen, gewucherten Kör-
perchen. e, e der Beginn der Vergrösserung, Trübung und Wucherung
der Elemente. Vergr. 80.
Fig. 74—75. Capillarembolie in den Penicilli der Milzarterie nach
Endocarditis (Vgl. Gesammelte Abhandlungen zur wiss. Medicin 1856.
S. 716.). 74. Gefässe eines Penicillus bei 10 maliger Vergrösserung, um
die Lage der verstopfenden Emboli in dem Arteriengebiete zu zeigen.
75. Eine, kurz vor ihrer Theilung und in den nächst abgehenden Aesten
mit Bruchstücken der feinkörnigen Embolusmasse (vgl. Fig. 73. c) ge-
füllte Arterie. Vergr. 300.
[188]Zehnte Vorlesung.
günstigt ihre Kleinheit und Mürbigkeit das Eindringen in die
k’einsten Gefässe in hohem Maasse. Daher findet man nicht
ganz selten in kleinen mikroskopischen Gefässen, welche
mit blossem Auge gar nicht mehr zu verfolgen sind, die
Verstopfungsmasse, gewöhnlich bis zu einer Theilungsstelle
und noch etwas darüber hinaus. Diese Masse zeigt regelmäs-
sig eine feinkörnige Beschaffenheit, nicht den groben Detritus,
wie von der Vene, sondern eine ganz feine, aber zugleich dichte
Masse; chemisch hat sie die für die Untersuchung so bequeme
Eigenschaft, dass sie gegen die gewöhnlichen Reagentien aus-
serordentlich widerstandsfähig ist und sich dadurch von ande-
ren Dingen äusserst leicht unterscheidet. Dies gibt die eigent-
liche Capillarembolie, eine der wichtigsten Formen der Me-
tastase, welche häufig kleine Heerde in der Niere, in der
Milz und im Herzfleische selbst mit sich bringt, unter Umstän-
den plötzliche Verschliessungen von Gefässen im Auge oder
Gehirn bedingt und je nach Umständen zu metastatischen Heer-
den oder zu schnellen Functionsstörungen (Amaurose, Apo-
plexie) Veranlassung gibt. Auch hier kann man sich deutlich
überzeugen, dass in frischen Fällen die Gefässwand an der
Stelle ganz intakt ist; ja es würde hier die Lehre von der
Phlebitis nicht mehr zureichen, indem dies keine Gefässe sind,
welche Vasa vasorum besitzen und von welchen man anneh-
men könnte, dass von der Wand her eine Secretion nach Innen
ginge. Hier bleibt nichts übrig, als die Verstopfungsmasse als
eine primär innen befindliche zu betrachten, die von den Zu-
ständen der Wand in keiner Weise abhängig ist.
Vielleicht hat diese Darstellung Sie überzeugt, meine
Herren, dass in der Doctrin von der Pyämie zwei wesentliche
Irrthümer bestanden haben; der eine, dass man Eiterkörper-
chen im Blute zu finden glaubte, wo man nur die farblosen
Elemente vor sich hatte; der andere, dass man Eiter in Ge-
fässen zu finden glaubte, wo nichts weiter als Erweichungs-
producte des Fibrins vorhanden waren. Wir haben aber ge-
funden, dass allerdings diese letztere Reihe die wichtigste Quelle
für eigentliche Metastasen abgibt. Nun beschränkt sich aber,
wie ich glaube, die Geschichte des Prozesses, den man Pyämie
genannt hat, nicht auf diese Zustände. Verläuft der Pro-
[189]Die Infections-Metastasen.
zess ganz rein, so dass sich von dem ersten Orte der Störung
(Venenthrombose, Endocarditis u. s. w.) Massen ablösen und
Verstopfung machen, so kommt in vielen Fällen der eigentliche
Prozess nur durch die Metastase zur Beobachtung. Es gibt
Fälle, welche so latent verlaufen, dass alle ursprünglichen Aus-
gänge vollkommen übersehen werden und dass der erste ein-
tretende Schüttelfrost schon die beginnende Entwickelung der
metastatischen Prozesse anzeigt. Für gewöhnlich muss man
aber noch ein anderes Moment in Betracht ziehen, welches
weder für die gröbere, noch für die feinere anatomische Unter-
suchung direct zugänglich ist; das sind gewisse Flüssig-
keiten, welche an sich auch keine unmittelbare und nothwen-
dige Beziehung zum Eiter als solchem, sondern offenbar sehr
verschiedene Beschaffenheit und Ableitung haben.
Schon bei der Betrachtung der Lymphveränderungen habe
ich hervorgehoben (S. 165.), dass Flüssigkeiten, welche
von Lymphgefässen aufgenommen wurden, innerhalb der
Lymphdrüsen-Filtren nicht nur von körperlichen Theilen be-
freit, sondern auch von der Substanz der Drüse zum Theil
angezogen und zurückgehalten werden, so dass sie in dersel-
ben eine Wirksamkeit entfalten können. Aehnliche Einwirkun-
gen scheinen auch über die Drüse hinaus stattzufinden, na-
mentlich aber, wo primär von Venen die Resorption erfolgte.
Es giebt nämlich eine Reihe von eigenthümlichen Erscheinun-
gen, welche als constantes Element sich durch alle infectiösen
Prozesse hinziehen. Das sind einerseits die Veränderungen,
welche die lymphatischen und lymphoiden Drüsen, nicht so-
wohl am Orte der primären Affection, sondern im Körper über-
haupt erleiden können, andererseits die Veränderungen, welche
die Secretionsorgane darbieten, durch welche die Stoffe aus-
geschieden werden sollten.
Man hat eine Zeit lang geglaubt, dass der Milztumor
für den Typhus charakteristisch sei, indem er den Drüsenan-
schwellungen im Mesenterium parallel einhergehe. Allein eine
genauere Beobachtung lehrt, dass eine grosse Reihe von fieber-
haften Zuständen, welche einen mehr oder weniger typhoiden
Verlauf machen und den Nervenapparat so afficiren, dass ein
Zustand der Depression an den wichtigsten Centralorganen zu
[190]Zehnte Vorlesung.
Stande kommt, mit Milzschwellungen auftreten. Die Milz ist
ein ausserordentlich empfindliches Organ, das nicht nur beim
Wechselfieber und Typhus, sondern auch bei den meisten an-
deren Prozessen schwillt, in denen eine reichliche Aufnahme von
schädlichen, inficirenden Stoffen in das Blut erfolgte. Allerdings
muss die Milz betrachtet werden in ihrer nahen Verwandschaft
zum Lymphapparate, aber ihre Erkrankungen stehen ausserdem
gewöhnlich in einem sehr directen Verhältnisse zu analogen
Erkrankungen der wichtigen Nachbardrüsen, insbesondere der
Leber und der Niere. Bei den meisten Infectionszuständen
zeigen diese drei Apparate correspondirende Vergrösserungen,
welche mit wirklichen Veränderungen im Innern verbunden
sind, die bei der mikroskopischen Untersuchung scheinbar nichts
Bemerkenswerthes darbieten, so dass das grobe Resultat für
das blosse Auge, die starke Schwellung, für den Beobachter viel
mehr Interesse hat. Bei umsichtiger Vergleichung findet sich
indess ziemlich viel, so dass wir mit Bestimmtheit sagen kön-
nen, dass die Drüsenzellen schnell verändert werden und früh-
zeitig an den Elementen, durch welche die Secretion gesche-
hen soll, eine Störung sich einstellt. Ich werde darauf zurück-
kommen.
Erlauben Sie mir für jetzt, dass ich zur Erläuterung die-
ser Verhältnisse auf ein Paar andere, gröbere Beispiele zurück-
gehe, welche die Möglichkeit einer unmittelbaren Anschauung
gewähren.
Wir wissen, dass, wenn Jemand Silbersalze gebraucht,
ein Eindringen derselben in die Theile erfolgt; wenden wir
sie nicht in eigentlich ätzender, zerstörender Weise an, so ge-
langt das Silber in einer Verbindung, die bis jetzt nicht hin-
reichend bekannt ist, in die Gewebstheile und erzeugt an der
Applicationsstelle, wenn es lange genug angewendet wird, eine
Farbenveränderung. Ein Kranker, welcher in der Klinik des
Hrn. v. Gräfe am 10. November eine Lösung von Argentum
nitricum zu Umschlägen bekommen hatte, gebrauchte als ge-
wissenhafter Patient das Mittel bis jetzt; das Resultat davon
war, dass seine Conjunctiva ein intensiv bräunliches, fast
schwarzes Aussehen angenommen hatte. Die Untersuchung eines
ausgeschnittenen Stückes derselben ergab, dass eine Aufnahme
[191]Silberablagerung in die Gewebe. Gicht.
des Silbers in die Elemente erfolgt war, so zwar, dass an der
Oberfläche das ganze Bindegewebe eine leicht gelbbraune Farbe
besass, in der Tiefe aber nur in den feinen elastischen Fasern
des Bindegewebes die Ablagerung stattgefunden hatte, während
die Zwischenpartien, die eigentliche Grundsubstanz, vollkom-
men frei waren. Allein ganz ähnliche Ablagerungen geschehen
auch in entfernteren Organen. Unsere Sammlung enthält das
sehr seltene Präparat von den Nieren eines Menschen, welcher
wegen Epilepsie lange Argentum nitricum innerlich genommen
hatte. Da zeigt sich an den Malpighischen Knäulen der Niere,
wo die eigentliche Secretion geschieht, eine schwarzblaue Fär-
bung der ganzen Gefässhaut, welche sich auf diesen Punkt
der Rinde beschränkt und in ähnlicher, obwohl schwäche-
rer Weise nur wieder auftritt in der Zwischensubstanz der Mark-
kanälchen. In der ganzen Niere sind also ausser denjenigen
Theilen, welche den eigentlichen Ort der Absonderung aus-
machen, nur die verändert, welche der letzten Capillarauf-
lösung in der Marksubstanz entsprechen. — Von der bekann-
ten Silberfärbung der äusseren Haut brauche ich hier nicht zu
sprechen.
Ein anderes Beispiel bietet uns die Gicht. Untersuchen
wir den Gelenktophus eines Arthritikers, so finden wir ihn zu-
sammengesetzt aus sehr feinen, nadelförmigen, krystallinischen
Abscheidungen von allen möglichen Grössen, aus harnsaurem
Natron bestehend, zwischen denen höchstens hier und da ein
Eiter- oder Blutkörperchen liegt. Hier handelt es sich also,
wie bei dem Silbergebrauch, um eine körperliche Substanz,
welche in der Regel durch die Nieren abgeschieden wird, und
zwar nicht selten so massenhaft, dass schon innerhalb der
Nieren selbst Niederschläge sich bilden und namentlich in den
Harnkanälchen der Marksubstanz grosse Krystalle von harn-
saurem Natron sich anhäufen, zuweilen bis zu einer Verstopfung
der Harnkanälchen. Wenn jedoch diese Secretion nicht regel-
mässig vor sich geht, so erfolgt zunächst eine Anhäufung der
harnsauren Salze im Blute, wie dies durch eine sehr bequeme
Methode von Garrod gezeigt worden ist. Dann endlich be-
ginnen Ablagerungen an anderen Punkten, nicht durch den
[192]Zehnte Vorlesung.
ganzen Körper, nicht an allen Theilen gleichmässig, sondern
an bestimmten Punkten und nach gewissen Regeln.
Hier handelt es sich um ganz andere Formen der Me-
tastasen als die, welche wir bei der Embolie kennen gelernt
haben. Dass die Veränderungen, welche in der Nierensubstanz
durch die Aufnahme von Silber vom Magen her erfolgen, mit
dem übereinstimmen, was man von Alters her in der Patho-
logie Metastase genannt hat, ist nicht zweifelhaft. Es ist dies
ein materieller Transport von einem Ort zum andern, wo an
diesem zweiten Orte die Substanz liegen bleibt, welche vorher
an dem anderen vorhanden war, und wo das Secretionsorgan in
sein eigentliches Gewebe Partikelchen des Stoffes aufnimmt. Das
ist es, was sich in der ganzen Geschichte dieser Art von Me-
tastasen wiederholt, bei denen im Blute selbst nur gelöste
Stoffe und nicht Partikelchen von sichtbarer, mechanischer Art
sich finden. Das harnsaure Natron im Blute des Arthritikers
kann man nicht direct sehen, man müsste es denn erst durch
chemische Agentien sammeln; ebenso wenig die Silbersalze.
Ich habe eine neue Form von Metastasen geschildert,
welche allerdings seltener ist, aber in dieselbe Kategorie ge-
hört. Bei massenhafter Resorption von Kalkerde aus den
Knochen wird in der Regel diese Knochenerde gleichfalls
massenhaft durch die Nieren ausgeschieden, so dass sich Sedi-
mente im Harne bilden, deren Kenntniss von der berühmten
Frau Supiot her aus dem vorigen Jahrhundert in der Ge-
schichte der Osteomalacie sich fortgeschleppt hat. Aber diese
regelrechte Abscheidung der Kalkerde wird nicht selten durch
Störungen der Nierenfunction in derselben Weise alterirt, wie
bei Arthritis die Abscheidung des harnsauren Natrons; dann
entstehen ebenso Metastasen von Knochenerde, aber an ande-
ren Punkten, den Lungen und dem Magen. Die Lungen ver-
kalken bisweilen in grossen Bezirken, ohne dass die Permeabi-
lität der Respirationswege leidet; die erkrankten Theile sehen
wie feiner Badeschwamm aus. Die Magenschleimhaut erfüllt
sich in ähnlicher Weise mit Kalksalzen, so dass sie sich wie
ein Reibeisen anfühlt und unter dem Messer knirscht, ohne
dass die Magendrüsen unmittelbar daran betheiligt werden;
[193]Ichorrhämie.
sie stecken nur in einer starren Masse, und möglicher Weise
könnte sogar noch eine Secretion aus ihnen erfolgen.
Diese Art von Metastasen, wo bestimmte Substanzen, aber
nicht in einer palpablen Form, sondern in Lösung in die Blut-
masse gelangen, muss jedenfalls für die Deutung des Complexes
von Zuständen, welche man in den Begriff der Pyämie zusam-
menfasst, wohl berücksichtigt werden. Ich sehe wenigstens keine
andere Möglichkeit der Erklärung für gewisse mehr diffuse Pro-
zesse, die nicht in der Form der gewöhnlichen umschriebenen Me-
tastasen auftreten. Dahin gehört die Art von metastatischer
Pleuritis, welche ohne metastatischen Abscess in der Lunge sich
entwickelt, die scheinbar rheumatische Gelenkaffection, bei der
man an den Gelenken keinen bestimmten Heerd findet, die
diffuse gangränöse Entzündung des Unterhautgewebes, welche
nicht wohl gedacht werden kann, ohne dass man auf eine mehr
chemische Art der Infection zurückgeht. Hier handelt es sich,
wie man bei der Pocken- und der Leicheninfection sieht,
um eine Uebertragung von verdorbenen, ichorösen Säf-
ten auf den Körper, und man muss eine Dyscrasie (icho-
röse Infection) zulassen, wo in acuter Weise diese in den
Körper gelangte ichoröse Substanz an den Organen, welche
eine besondere Prädilection für solche Stoffe haben, ihre Wir-
kung entfaltet.
Möglicherweise können nun im Laufe desselben Krank-
heitsfalles die drei verschiedenen, von uns betrachteten Ver-
änderungen neben einander bestehen. Es kann eine Vermeh-
rung der farblosen Körperchen (Leukocytose) der Art statt-
finden, dass man an die morphologische Pyämie glauben
möchte. Dies wird jedenfalls stattfinden, wenn der Prozess
mit ausgedehnter Reizung der Lymphdrüsen verbunden war.
Man kann ferner Thrombenbildung und Embolie mit metastati-
schen Heerden finden. Es kann endlich zugleich eine Auf-
nahme von ichorösen oder fauligen Säften statthaben (Ichor-
rhämie, Septhämie). Diese drei verschiedenen Zustände kön-
nen sich compliciren, fallen aber nicht nothwendig jedesmal
zusammen. Will man daher den Begriff der Pyämie festhalten,
so kann man es für solche Complicationen thun, nur muss
man nicht einen einheitlichen Mittelpunkt in einer
13
[194]Zehnte Vorlesung.
eitrigen Infection des Blutes suchen, sondern die Be-
zeichnung als einen Sammelnamen für mehrere an sich ver-
schiedenartige Vorgänge betrachten.
Ich hoffe, meine Herren, dass das Mitgetheilte genügen
wird, um Sie in der Sache zu orientieren. Natürlich lässt sich
ohne Anhalt an bestimmte Fälle keine eigentliche Beweisfüh-
rung gestalten. Sie werden indess selbst Gelegenheit genug
haben, die Probe auf die Richtigkeit dieser Darstellung zu
machen, und es wird mich freuen, wenn Sie finden, dass darin
wesentliche Anhaltspunkte auch für eine bessere Auffassung
der eigentlich praktischen und namentlich der therapeutischen
Fragen gegeben sind.
Nachdem wir nicht nur körperliche Theile, sondern auch ge-
wisse chemische Stoffe als Vermittler von Dyscrasien kennen ge-
lernt haben, welche eine bald längere, bald kürzere Dauer haben,
je nachdem die Zufuhr jener Theile und Stoffe kürzere oder
längere Zeit andauert, so können wir kurz zu der Frage zu-
rückkommen, ob neben diesen Formen eine Art von Dyscrasie
nachweisbar ist, bei der das Blut als der dauerhafte Träger
bestimmter Veränderungen erscheint. Wir werden diese Frage
verneinen müssen. Je mehr ausgesprochen eine wirklich nach-
weisbare Verunreinigung des Blutes mit gewissen Stoffen ist,
um so deutlicher ist der relativ acute Verlauf des Prozesses.
Gerade die Formen, bei denen man sich am liebsten, na-
mentlich über die Mangelhaftigkeit der therapeutischen Erfolge,
damit tröstet, dass es sich um eine tiefe und unheilbare, chro-
nische Dyscrasie handele, dürften wohl am wenigsten in einer
ursprünglichen Veränderung des Blutes beruhen; gerade hier
handelt es sich in der Mehrzahl der Fälle um ausgedehnte
Veränderungen gewisser Organe oder einzelner Theile. Ich
kann nicht behaupten, dass irgend ein Abschluss der Unter-
suchungen hier vorläge; ich kann nur sagen, dass jedes Mittel
der mikroskopischen oder chemischen Analyse bis jetzt frucht-
los angewendet worden ist auf die hämatologische Erforschung
dieser Prozesse, dass wir dagegen bei den meisten wesentliche
Veränderungen kleinerer oder grösserer Complexe von Organ-
theilen nachweisen können, und dass im Allgemeinen die
[195]Krebs-Dyscrasie.
Wahrscheinlichkeit, auch hier die Dyscrasie als eine secundäre,
abhängig von bestimmten organischen Punkten, zu erkennen,
mit jedem Tage zunimmt. Ich werde diese Frage noch etwas
genauer zu discutiren haben bei der Lehre von der Verbrei-
tung der bösartigen Geschwülste, bei denen man sich ja auch
so häufig damit hilft, die Bösartigkeit als im Blute wurzelnd
zu denken, welches die Localaffectionen macht. Und doch ist
es gerade im Verlauf dieser Prozesse verhältnissmässig am
Leichtesten, den Modus der Verbreitung zu zeigen, sei es in
der nächsten Nachbarschaft der Erkrankungsstelle, sei es an ent-
fernten Organen. Hier zeigt sich, dass ein Umstand die Möglich-
keit der Ausbreitung solcher Prozesse besonders begünstigt, näm-
lich der Reichthum an parenchymatösen Säften, welche
die pathologischen Gebilde führen. Je trockner eine Neubil-
dung ist, um so weniger besitzt sie im Allgemeinen die Fähig-
keit der Infection, sei es näherer oder entfernterer Orte. Der
Modus der Verbreitung selbst entspricht in der Regel ganz dem,
was wir früher betrachteten: zunächst findet eine Leitung in-
nerhalb der Lymphbahnen und ein Ergreifen der Lymphdrüsen
statt; erst nach und nach treten an entfernteren Stellen Pro-
zesse ähnlicher Art auf. Oder der Prozess greift auch hier
zunächst auf die Venenwandungen über, diese werden wirk-
lich krebsig, und nach einer gewissen Zeit wächst entweder
der Krebs direct durch die Wand hindurch in das Gefäss
hinein und schreitet hier fort, oder es bildet sich an diesem
Punkte ein Thrombus, welcher den Krebspfropf mehr oder
weniger umhüllt, und in welchen die krebsige Masse hineinwächst.
Wir haben also hier in zwei Richtungen die Möglichkeit für
eine Verbreitung, aber nur in einer Richtung für die Verbrei-
tung körperlicher Theile, nämlich nur in dem Falle, dass Ve-
nen durchbrochen werden; eine Resorption von Krebszellen
durch Lymphgefässe gehört an sich nicht unter die Unmög-
lichkeiten, aber jedenfalls ist so viel sicher, dass nicht eher
eine Verbreitung stattfinden kann, ehe die Lymphdrüsen nicht
ihrerseits durch und durch krebsig umgewandelt sind und dieselben
krebsigen Massen von ihnen aus in die abgehenden Gefässe
hineinwuchern. Nie kann ein peripherisches Lymphgefäss einfach,
wie die Flüssigkeit, so auch die Zellen des Krebses bis zum Blute
13*
[196]Zehnte Vorlesung.
fortschwemmen; das ist nur denkbar und möglich an den Ve-
nen. Allein auch hier verhält es sich so, dass eine Wahr-
scheinlichkeit dafür, dass häufige Verbreitungen auf diesem Wege
stattfinden, durchaus nicht vorliegt, aus dem einfachen Grunde,
weil die Metastasen des Krebses den Metastasen, die wir bei
der Embolie kennen gelernt haben, sehr häufig nicht ent-
sprechen. Die gewöhnliche Form der metastatischen Verbrei-
tung beim Krebs entspricht vielmehr der Richtung zu den Se-
cretionsorganen. Die Lunge erkrankt bekanntlich viel seltener
durch Krebs, als die Leber, nicht nur nach Magen- und Uterus-
krebs, sondern auch nach Brustkrebs, welcher vielmehr Lungen-
krebs erzeugen müsste, wenn es etwas Körperliches wäre, wel-
ches fortgeleitet würde, stagnirte und die neue Eruption bedingte.
Die Art der metastatischen Verbreitung scheint es vielmehr
wahrscheinlich zu machen, dass die Leitung durch gewisse
Flüssigkeiten erfolgt, und dass diese die Fähigkeit haben, eine
Ansteckung zu erzeugen, welche die einzelnen Theile zur Re-
production derselben Masse bestimmt, die ursprünglich vorhan-
den war. Man denke sich nur einen ähnlichen Prozess, wie
wir ihn bei den Pocken im Grossen haben. Der Pockeneiter,
direct übertragen, leitet allerdings den Prozess ein, aber das
Contagium ist auch flüchtig, und es kann Jemand eitrige
Pusteln auf der Haut bekommen, nachdem er nur eine gewisse
Luft geathmet hat. Aehnlich scheint es sich in Fällen zu ver-
halten, wo im Laufe heteroplastischer Prozesse Dyscrasien zu
Stande kommen, welche ihre neuen Eruptionen nicht an Punk-
ten machen, welche nach der Richtung des Lymph- oder Blut-
stromes ihnen zunächst ausgesetzt sein würden, sondern an
entfernten Punkten. Wie sich das Silbersalz nicht in den Lun-
gen ablagert, sondern hindurchgeht, um sich erst in den Nie-
ren oder der Haut nieder zu schlagen, so kann ein ichoröser
Saft von einer Krebsgeschwulst durch die Lungen gehen, ohne
diese zu verändern, während er doch an einem entfernteren
Punkte, z. B. in den Knochen eines weit abgelegenen Theiles
bösartige Veränderungen erweckt.
[[197]]
Eilfte Vorlesung.
27. März 1858.
Farbige Elemente im Blut. Nerven.
Melanämie. Beziehung zu melanotischen Geschwülsten und Milzfärbungen.
Die rothen Blutkörperchen. Abstammung. Die melanösen Formen. Chlorose. Lähmung
der respiratorischen Substanz. Toxicämie.
Der Nervenapparat. Seine prätendirte Einheit.
Die Nervenfasern. Peripherische Nerven: Fascikel, Primitivfaser, Perineurium. Axencylin-
der (elektrische Substanz). Markstoff (Myelin). Marklose und markhaltige Fasern.
Uebergang der einen in die andere: Hypertrophie des Opticus. Verschiedene Breite der
Fasern. Endigung: Pacini’sche und Tastkörperchen.
Meine Herren, ich habe Ihnen noch Einiges in Beziehung auf
die Veränderungen des Blutes vorzuführen, mehr der Voll-
ständigleit wegen, als weil ich Ihnen dahei entscheidende Ge-
sichtspunkte bieten könnte.
Zunächst wollte ich noch einen Zustand erwähnen, wel-
cher in der neueren Zeit mehrfach besprochen worden ist
und der Sie bei Gelegenheit mehr interessiren möchte, die so-
genannte Melanämie. Es ist dies ein Zustand, welcher sich
am nächsten an die Geschichte der Leukämie anschliesst, in-
sofern es sich dabei um Elemente handelt, welche, wie die
farblosen Körperchen bei der Leukämie, von bestimmten Or-
ganen aus in das Blut gelangen und mit dem Blute circuliren.
Die Zahl der bekannten Beobachtungen darüber ist schon
ziemlich gross, man möchte fast sagen, grösser als vielleicht
nothwendig wäre, denn es scheint in der That, dass hier und
da Verwechselungen mit untergelaufen sind, welche aus der
[198]Eilfte Vorlesung.
Geschichte der Affection wieder hinauszubringen sein dürften.
Unzweifelhaft giebt es aber einen Zustand, in welchem farbige
Elemente im Blute vorkommen, welche in dasselbe nicht hinein-
gehören. Einzelne Beobachtungen solcher Art finden sich
schon seit längerer Zeit und zwar zuerst in der Geschichte
der melanotischen Geschwülste, wo man öfter angegeben hat,
dass in der Nähe der Geschwülste schwarze Partikelchen in den
Gefässen vorkommen, und wo man sich dachte, dass hieraus
die melanotische Dyscrasie entstände. Dies ist aber gerade
der Fall nicht, den man meint, wenn man heut zu Tage von
Melanämie redet. In den letzten zehn Jahren ist keine ein-
zige Beobachtung gemacht worden, welche in Beziehung auf
den Uebergang melanotischer Geschwulsttheile in das Blut einen
Fortschritt darböte.
Die erste Beobachtung derjenigen Reihe, welche im enge-
ren Sinne als Melanämie bezeichnet wird, ist von Heinrich
Meckel bei einer Geisteskranken gemacht worden, kurze Zeit,
nachdem ich die Leukämie beschrieben hatte. Meckel fand,
dass auch hier die Milz in einem sehr erheblichen Maasse ver-
grössert und mit schwarzen, farbigen Elementen durchsetzt
war, und er leitete daher die Veränderung im Blute von einer
Aufnahme farbiger Partikelchen aus der Milz ab. Die nächste
Beobachtung habe ich selbst gemacht, und zwar in einer Rich-
tung, die nachher sehr fruchtbar geworden ist, bei einem In-
termittenskranken, welcher lange Zeit mit einem beträchtlichen
Milztumor behaftet war; ich fand in seinem Herzblute pigmen-
tirte Zellen. Meckel hatte nur freie Pigmentkörner und
Schollen gesehen. Die von mir gefundenen
Zellen hatten vielfache Aehnlichkeit mit farb-
losen Blutkörperchen; es waren sphärische,
manchmal auch mehr längliche, kernhaltige
Elemente, innerhalb deren sich mehr oder
weniger grosse schwarze Partikelchen fan-
den. Auch in diesem Falle bestätigte sich wieder das Vor-
Melanämie. Blut aus dem rechten Herzen (vgl. Archiv f.
pathol. Anatomie und Physiologie. Bd. II. Fig. 8. S. 594.). Farblose
Zellen von verschiedener Gestalt, mit schwarzen, zum Theil eckigen
Pigmentkörnern erfüllt. Vergr. 300.
[199]Melanämie.
kommen einer grossen schwarzen Milz. Seit jener Zeit ist
durch Meckel selbst und durch eine Reihe von anderen
Beobachtern in Deutschland, zuletzt durch Frerichs, in Italien
durch Tigri, die Aufmerksamkeit auf diese Zustände immer
mehr gelenkt worden. Tigri hat die Krankheit geradezu
nach der schwarzen Milz als Milza nera bezeichnet, während
nach der Ansicht von Meckel, welche durch Frerichs an
Ausdehnung gewonnen hat, es vielmehr eine Form der schwe-
reren Intermittenten wäre, welche auf diese Weise zu erklä-
ren sein sollte.
Die wesentliche Bedeutung dieser Zustände hat man darin
gesucht, dass die Elemente, welche ins Blut gelangen, sich an
gewissen Orten in den feineren Capillarbezirken anhäufen und
hier Stagnation und Obstructionen erzeugen. So namentlich
in den Capillaren des Gehirns, wo sie sich nach Art der Em-
boli an den Theilungsstellen festsetzen und bald Capillarapo-
plexien, bald die comatösen und apoplektischen Formen der
schweren Wechselfieber bedingen sollten. Frerichs hat noch
eine andere wesentliche Art der Verstopfung hinzugefügt, die
der feinen Lebergefässe, welche endlich zur Atrophie des Le-
berparenchyms Veranlassung geben soll.
Es würde demnach hier eine ausserordentlich wichtige
Reihe von Zuständen existiren, die direct von der Dyscrasie
abhängig wären. Leider kann ich selbst wenig darüber sagen,
da ich seit meinem ersten Falle nicht wieder in der Lage war,
etwas Aehnliches zu beobachten. Ich kann also auch nicht
mit Sicherheit über den Werth der Beziehungen urtheilen,
welche man aufgestellt hat über den Zusammenhang der se-
cundären Veränderungen mit der Blutverunreinigung. Nur das
möchte ich hervorheben, dass alle Thatsachen, welche man
über diese Zustände kennt, darauf hinweisen, dass die Verun-
reinigung des Blutes von einem bestimmten Organe ausgeht,
und dass dies Organ, wie bei den farblosen Blutkörperchen, ge-
wöhnlich die Milz ist.
Ich habe im Verlaufe meiner Darstellung bis jetzt kaum
etwas von den Veränderungen der rothen Körperchen des
Blutes erwähnt, nicht etwa, weil ich sie für unwesentliche Be-
[200]Eilfte Vorlesung.
standtheile hielte, sondern weil bis jetzt über ihre Veränderun-
gen ausserordentlich wenig bekannt ist. Die ganze Geschichte
der rothen Blutkörperchen ist immer noch von einem geheim-
nissvollen Dunkel umgeben, da eine Sicherheit über die Ab-
stammung dieser Elemente auch gegenwärtig noch nicht ge-
wonnen ist. Wir wissen nur so viel mit Bestimmtheit, wie
ich schon früher hervorhob, dass ein Theil der ursprünglichen
Elemente in dem Blute aus den embryonalen Bildungszellen
des Eies ebenso direct hervorgeht, wie alle übrigen Gewebe
sich aus denselben aufbauen. Wir wissen ferner, dass in den
ersten Monaten auch des menschlichen Embryo Theilungen der
Körperchen stattfinden, wodurch eine Vermehrung derselben im
Blute selbst hervorgebracht wird. Allein nach dieser Zeit ist
Alles dunkel, und zwar fällt dieses Dunkel ziemlich genau zu-
sammen mit der Periode, wo die Blutkörperchen im mensch-
lichen Blute aufhören, Kerne zu zeigen. Wir können nur sagen,
dass gar keine Thatsache bekannt ist, welche für eine fernere
selbständige Entwickelung oder für eine Theilung im Blute
spräche, sondern dass Alles mit Wahrscheinlichkeit auf eine
Zufuhr deutet. Die einzige Hypothese, welche in der neueren
Zeit über die selbständige Entwickelung im Blute gemacht
worden ist, war die von G. Zimmermann, welcher annahm,
dass zuerst kleine Körperchen im Blute entständen, die nach
und nach durch Intussusception wüchsen und endlich die eigent-
lichen Blutkörperchen darstellten. Freilich kommen solche
kleinen Körperchen im Blute vor (Fig. 52, h.), allein wenn man
sie genauer untersucht, zo ergibt sich eine Eigenthümlichkeit,
welche an den jungen embryonalen Formen nicht bekannt ist,
nämlich dass sie ausserordentlich resistent gegen die verschie-
densten Einwirkungen sind. An sich sehen sie schön dunkel-
roth aus, sie haben eine gesättigte, manchmal fast schwarze
Farbe; behandelt man sie mit Wasser oder Säuren, welche mit
Leichtigkeit die gewöhnlichen rothen Körper auflösen, so sieht
man, dass die kleinen Körperchen eine ungleich längere Zeit
gebrauchen, bevor sie in Lösung kommen. Setzt man zu einem
Tropfen Blut viel Wasser zu, so sieht man sie nach dem Ver-
schwinden der übrigen Blutkörperchen noch längere Zeit übrig-
bleiben. Diese Eigenthümlichkeit stimmt am besten überein
[201]Melanöse Blutkörperchen.
mit Veränderungen, welche im Blute eintreten, wenn es in
Extravasaten oder innerhalb der Gefässe lange Zeit in Stase
sich befindet. Hier führt diese Veränderung unzweifelhaft zu
einem Untergang der Körper, so dass mit grosser Wahrschein-
lichkeit auch für das circulirende Blut geschlossen werden
kann, dass es sich nicht um junge, in der Enwickelung be-
griffene, sondern im Gegentheil um alte, im Untergang begrif-
fene Formen handelt. Ich stimme daher im Wesentlichen mit
der Auffassung von Karl Heinrich Schultz überein, welcher
diese Körper unter dem Namen von melanösen Blutkörperchen
beschrieben hat und sie für die Vorläufer der Blutmauserung
ansieht, welche sich vorbereiteten zu den eigentlich excremen-
tiellen Umsetzungen.
Es gibt gewisse Zustände, wo die Zahl dieser Elemente
ungeheuer gross wird. Bei recht gesunden Individuen findet
man sehr wenig davon, nur im Pfortaderblut glaubt Schultz
immer viele dieser Körperchen gesehen zu haben. Sicher ist
es, dass es krankhafte Zustände gibt, wo die Zahl dieser
Elemente so gross wird, dass man fast in jedem Blutstropfen
eine kleinere oder grössere Partie davon antrifft. Diese Zu-
stände lassen sich jedoch bis jetzt nicht in bestimmte Katego-
rien bringen, weil die Aufmerksamkeit darauf wenig rege ge-
wesen ist. Man findet sie in leichten Formen von Intermittens,
bei Cyanose nach Herzkrankheiten, bei Typhösen, bei den In-
fectionsfiebern der Operirten und im Laufe epidemischer Er-
krankungen, immer jedoch in solchen Krankheiten, welche mit
einer schnellen Erschöpfung der Blutmasse einhergehen und
zu kachectischen und anämischen Zuständen Veranlassung ge-
ben. Es ist dies einer von den Vorgängen, wo auch vom kli-
nischen Gesichtspunkte aus die Wahrscheinlichkeit eines reich-
lichen zu Grunde Gehens von Blutbestandtheilen innerhalb der
Blutbahn erschlossen werden kann.
Ausser diesen Veränderungen kennen wir noch mit Be-
stimmtheit eine andere Reihe, wo es sich um quantitative Ver-
änderungen in der Zahl der Körper handelt. Die Zustände,
deren Hauptrepräsentant die Chlorose ist, zeigen eine ge-
wisse Aehnlichkeit mit jenen, welche mit Vermehrung farb-
loser Blutkörperchen einhergehen, der Leukämie im engeren
[202]Eilfte Vorlesung.
Sinne und den bloss leukocytotischen Zuständen. Die Chlo-
rose unterscheidet sich dadurch von der Leukämie, dass die
Zahl der Körperchen überhaupt geringer ist. Während in der
Leukämie gewissermaassen an die Stelle der rothen Körper-
chen farblose treten und eine eigentliche Verminderung der
zelligen Elemente im Blute nicht zu Stande kommt, so vermin-
dern sich bei der Chlorose die Elemente beider Gattungen,
ohne dass das gegenseitige Verhältniss der farbigen zu den
farblosen in einer bestimmten Weise gestört würde. Es setzt
dies eine verminderte Bildung überhaupt voraus, und wenn man
schliessen darf, wie ich allerdings glaube, dass man im Augen-
blick kaum anders kann, dass auch die rothen Körperchen von
den Lymphdrüsen aus dem Blute zugeführt werden, so
würde dies Alles darauf hindeuten, dass in der Chlorose eine
verminderte Bildung an diesen Theilen stattfinde. Die Leukä-
mie erklärt sich natürlich viel einfacher, insofern wir hier Re-
präsentanten der zelligen Elemente überhaupt finden und wir
uns denken können, dass ein Theil der Elemente, anstatt in
rothe umgewandelt zu werden, seine Entwickelung ganz als
farblose fortsetzt. In der Geschichte der Chlorose dagegen
waltet noch viel Dunkel, da wir ein primäres Leiden der Lymph-
drüsen mit Bestimmtheit nicht nachweisen können, die anato-
mischen Erfahrungen vielmehr darauf hindeuten, dass die
chlorotische Störung schon sehr frühzeitig angelegt wird.
Denn man findet häufig das Herz, die Arterien und die grösse-
ren Gefässe, den Sexualapparat mangelhaft entwickelt, was
auf eine congenitale Disposition schliessen lässt.
Eine dritte Reihe von Zuständen könnte hier noch er-
wähnt werden, welche aber nicht mehr in das morphologische
Gebiet fällt, diejenige nämlich, wo die innere Beschaffenheit
der Blutkörperchen Veränderungen erfahren hat, ohne dass da-
durch ein bestimmter morphologischer Effect hervorgebracht
würde. Hier handelt es sich wesentlich um Funktionsstörun-
gen, welche wahrscheinlich mit feineren Veränderungen der
Mischung zusammenhängen, Veränderungen der eigentlichen
respiratorischen Substanz. So gut nämlich, wie wir bei
den Muskeln die eigentliche Substanz des Primitivbündels, die
compacte Masse des Syntonins als contractile Substanz bezeich-
[203]Toxicaemie.
nen, so erkennen wir im Inhalte des rothen Körperchens die
eigentlich functionirende, respiratorische Substanz. Diese er-
fährt unter gewissen Verhältnissen Veränderungen, welche sie
ausser Stand setzen, ihre Function fortzuführen, eine Art von
Lähmung, wenn Sie wollen. Dass etwas der Art vorgegangen
ist, ersieht man daraus, dass das Körperchen nicht mehr im
Stande ist, Sauerstoff aufzunehmen, wie man dieses experimen-
tell unmittelbar erhärten kann. Dass es sich dabei wirklich
um molekuläre Veränderungen in der Mischung handelt, dafür
haben wir bequeme Anhaltspunkte in der Wirkung giftiger
Substanzen, welche schon in minimaler Menge das Hämatin so
verändern, dass es in eine Art von Paralyse versetzt wird.
Hierher gehört ein Theil der flüchtigen Wasserstoffverbindungen,
z. B. Arsenikwasserstoff, Cyanwasserstoff; ferner nach Hop-
pe’s Untersuchungen das Kohlenoxydgas, wo verhältnissmässig
schon kleine Mengen ausreichend sind, um die respiratorische
Fähigkeit der Körperchen zu hindern. Analoge Zustände sind
schon früherhin vielfach beobachtet worden im Verlaufe der
typhoïden Fieber, wo die Fähigkeit Sauerstoff aufzunehmen
in dem Maasse abnimmt, als die Krankheit einen schweren
acuten Verlauf gewinnt. Mikroskopisch aber sieht man gar
nichts; nur das chemische Experiment und die grobe Wahr-
nehmung vom blossen Auge zeigen hier verschiedene Eigen-
thümlichkeiten an. Man kann daher sagen, dass in diesem
Gebiete eigentlich das Wesentlichste noch zu machen ist. Wir
haben mehr Anhaltspunkte als Thatsachen.
Fassen wir nun das, was ich Ihnen über das Blut vorge-
führt habe, kurz zusammen, so ergibt sich, dass entweder ge-
wisse Substanzen auf die zelligen Elemente des Blutes schäd-
lich einwirken und eine Dyscrasie erzeugen, indem sie diesel-
ben ausser Stand setzen, ihre Function zu verrichten, oder dass
von einem bestimmten Punkte aus, sei es von aussen, sei es
von einem bestimmten Organe aus, fort und fort Massen dem
Blute zugeführt werden, welche eine veränderte Mischung des-
selben unterhalten. Nirgends in dieser ganzen Reihe finden
wir irgend einen Zustand, welcher darauf hindeutete, dass
eine dauerhafte Fortsetzung von bestimmten, einmal einge-
leiteten Veränderungen im Blute selbst bestehen könnte, dass
[204]Eilfte Vorlesung.
also eine permanente Dyscrasie möglich wäre, ohne dass neue
Einwirkungen von einem einzelnen Atrium aus auf das Blut
stattfinden. Das ist der Grund, weshalb ich Ihnen von vorn-
herein diesen, wie ich glaube, auch für die Praxis ausseror-
dentlich wichtigen Gesichtspunkt hervorhebe, dass es sich bei
allen Formen der Dyscrasie darum handele, ihren örtlichen
Grund aufzusuchen. —
Lassen Sie uns jetzt ein anderes Kapitel in Angriff neh-
men, das der historischen Bedeutung nach sich hier zu-
nächst anschliesst, nämlich die Zustände des Nerven-
Apparates.
Die überwiegende Masse des Nervenapparates besteht aus
faserigen Bestandtheilen. Diese sind es auch, auf welche
sich fast alle die feineren, physiologischen Entdeckungen be-
ziehen, welche die letzten Jahrzehnte gebracht haben, während
der andere, der Masse nach viel kleinere Theil des Nerven-
apparates, die graue oder gangliöse Substanz, bis jetzt selbst
der histologischen Untersuchung Schwierigkeiten entgegenge-
stellt hat, welche noch lange nicht überwunden sind, so dass
die experimentelle Erforschung dieser Substanz kaum in An-
griff genommen werden konnte. Es wird freilich oft behaup-
tet, man wisse heute viel von dem Nervensystem, aber unsere
Kenntniss beschränkt sich grossentheils auf die weisse Masse,
den faserigen Antheil, während wir leider zugestehen müssen,
dass wir über die, ihrer Bedeutung nach offenbar viel höher
stehende graue Substanz immer noch sowohl anatomisch, als
namentlich physiologisch in den grössten Unsicherheiten uns
bewegen.
Sobald man die Frage von der Bedeutung des Ner-
vensystems innerhalb der Lebensvorgänge anatomisch betrach-
tet, so ergibt ein einziger Blick, dass der Gesichtspunkt, von
welchem die Neuro-Pathologie auszugehen pflegte, ein sehr
verfehlter ist. Denn sie dachte sich im Nervensystem ein un-
gewöhnlich Einfaches, das durch seine Einheit zugleich die
Einheit des Körpers überhaupt, des ganzen Organismus bedin-
gen sollte. Aber selbst, wenn man auch nur ganz grobe ana-
tomische Vorstellungen über die Nerven hat, so sollte man
[205]Zusammensetzung des Nervenapparates.
es sich nicht verhehlen, dass es mit dieser Einheit sehr miss-
lich bestellt ist, und dass schon das Scalpell den Nervenappa-
rat als ein aus ausserordentlich vielen, relativ gleichwerthigen
Theilen zusammengeordnetes System ohne erkennbaren Mittel-
punkt darlegt. Je genauer wir histologisch untersuchen, um
so mehr vervielfältigen sich die Elemente, und die letzte Zu-
sammensetzung des Nervensystems zeigt sich nach einem ganz
analogen Plane angelegt, wie die aller übrigen Theile des Körpers.
Eine unendliche Menge zelliger Elemente von mehr oder we-
niger grosser Selbständigkeit treten neben und grossentheils
unabhängig von einander in die Erscheinung.
Wenn wir zunächst die gangliöse Substanz ausschliessen
und uns einfach an die faserige Masse halten, so haben wir
einerseits die eigentlichen (peripherischen) Nerven im engeren
Sinne des Wortes, andererseits die grossen Anhäufungen weis-
ser Markmasse, wie sie den grössten Theil des kleinen und
grossen Gehirns und der Stränge des Rückenmarks zusam-
mensetzt. Die Fasern dieser verschiedenen Abschnitte sind im
Grossen allerdings ähnlich gebaut, zeigen aber im Feineren
vielfache und zum Theil so erhebliche Verschiedenheiten, dass
es Punkte gibt, wo man noch in diesem Augenblick nicht mit
Sicherheit sagen kann, ob die Elemente, welche man vor sich
hat, wirklich Nerven sind oder einer ganz anderen Art von
Fasern angehören. Am sichersten ist man über die Zusam-
mensetzung der gewöhnlichen peripherischen Nerven; hier un-
terscheidet man im Allgemeinen mit ziemlicher Leichtigkeit
Folgendes:
Alle mit blossem Auge zu verfolgenden Nerven enthalten
eine gewisse Summe von Unterabtheilungen, Fascikeln, welche
sich nachher als Aeste oder Zweige auseinanderlösen. Ver-
folgen wir diese einzelnen, sich weiter und weiter vertheilen-
den Zweige, so behält der Nerv doch fast unter allen Verhältnis-
sen bis nahe zu seinen letzten Theilungen eine fascikuläre
Einrichtung, so dass jedes Bündel wieder eine kleinere oder grös-
sere Zahl von sogenannten Primitivfasern umschliesst. Der Aus-
druck Primitivfaser, welchen man hier gebraucht, ist ursprüng-
lich gewählt worden, weil man den Nervenfascikel für ein Ana-
logon der Primitivbündel des Muskels hielt. Späterhin ist diese
[206]Eilfte Vorlesung.
Vorstellung fast verloren gegangen, und erst durch Robin
ist in neuerer Zeit die Aufmerksamkeit wieder auf die
Substanz hingelenkt worden, welche das Bündel zusam-
menhält und welche er Perineurium nannte. Es ist dies
ein sehr dichtes Bindegewebe, in
welchem sich bei Zusatz von
Essigsäure kleine Kerne zeigen
und welches verschieden ist von
dem mehr lockeren Bindegewebe,
welches wieder die Fascikel zu-
sammenhält und das sogenannte
Neurilem darstellt.
Wenn wir kurzweg von Ner-
venfasern im histologischen Sinne
sprechen, so meinen wir immer die Primitivfaser, nicht das
Fascikel, welches vom blossen Auge als Faser erscheint. Jene
feinsten Fasern besitzen wiederum jede für sich eine äussere
Membran, die, wenn man sie vollkommen frei macht vom In-
halte, was allerdings sehr schwierig ist, was aber zuweilen in
pathologischen Verhältnissen spontan auftritt, z. B. bei gewis-
sen Zuständen der Atrophie, wandständige Kerne zeigt (Fig. 5,c).
Innerhalb dieser membranösen Röhren liegt der eigentliche
Nerveninhalt, welcher sich bei den gewöhnlichen Nerven
nochmals in zweierlei Bestandtheile scheidet. Diese sind bei
dem ganz frischen Nerven kaum zu trennen, treten aber kurze
Zeit nach dem Absterben oder Herausschneiden des Nerven oder
nach Einwirkung irgend eines Mediums auf den Nerven sofort
ganz deutlich auseinander, indem der eine dieser Bestandtheile
eine schnelle Veränderung erfährt, welche man gewöhnlich als
Gerinnung bezeichnet hat und durch welche er sich von dem
anderen Bestandtheil absetzt (Fig. 78.). Ist dies geschehen, so
sieht man im Innern der Nervenfaser deutlich ein feines Ge-
bilde, den sogenannten Axencylinder (das Primitivband von
Querschnitt durch einen Nervenstamm des Plexus bra-
chialis. l, l Neurilem, von dem eine grössere Scheide l' und feinere, durch
helle Linien bezeichnete Fortsätze durch den Nerven verlaufen und ihn
in kleine Fascikel scheiden. Letztere zeigen die dunklen, punktförmigen
Durchsclmitte der Primitivfasern und dazwischen das Perineurium. Ver-
gröss. 80.
[207]Markhaltige und marklose Nerven.
Remak), ein sehr feines, zartes,
blasses Gebilde, und um ihn herum
eine ziemlich derbe, dunkle, hier
und da zusammenfliessende Masse,
das Nervenmark oder die Mark-
scheide; letztere füllt den Raum
zwischen Axencylinder und der
äusseren Membran aus. Gewöhn-
lich ist aber die Nervenröhre so
stark gefüllt mit dem Inhalte, dass
man bei der gewöhnlichen Betrach-
tung von den einzelnen Bestand-
theilen fast gar nichts sieht, wie denn
überhaupt der Axencylinder inner-
halb der Markmasse schwer sichtbar ist. Daraus erklärt es sich,
dass man Jahre lang über seine Existenz gestritten und vielfach
die Ansicht ausgesprochen hat, es handle sich dabei um eine
Gerinnungserscheinung, wobei eine Trennung des ursprünglich
gleichmässigen Inhaltes in eine innere und äussere Masse statt-
finde. Dies ist aber unzweifelhaft unrichtig; alle Methoden der
Untersuchung geben zuletzt dies Primitivband zu erkennen;
selbst auf Querschnitten der Nerven sieht man ganz deutlich
im Innern den Axencylinder und um ihn herum das Mark.
Das sogenannte Nervenmark ist es, was den Nervenfasern
überhaupt das weisse Ansehen verleiht; überall, wo die Ner-
ven diesen Bestandtheil enthalten, erscheinen sie weiss, überall
wo er ihnen fehlt, haben sie ein durchscheinendes, graues
Aussehen. Daher gibt es Nerven, welche der Farbe nach der
gangliösen Substanz sich anschliessen, verhältnissmässig durch-
sichtig sind, ein mehr helles, gelatinöses Aussehen besitzen;
man hat sie deshalb graue oder gelatinöse Nerven ge-
nannt (Fig. 78 A.). Zwischen der grauen und weissen Nerven-
Graue und weisse Nervenfasern. A. Ein graues, gelati-
nöses Nervenfascikel aus der Wurzel des Mesenteriums, nach Be-
handlung mit Essigsäure. B. Eine breite, weisse Primitivfaser aus dem
N. cruralis: a, der freigelegte Axencylinder, v, v die variköse Faser mit
der Markscheide, am Ende bei m, m der Markstoff (Myelin) in geschlän-
gelten Figuren hervortretend. C. Feine, weisse Primitivfaser aus dem
Gehirn, mit frei hervortretendem Axencylinder. Vergr. 300.
[208]Eilfte Vorlesung.
masse besteht also nicht der Unterschied, dass die eine gangliös,
die andere faserig ist, sondern nur die, dass die eine Mark
enthält, die andere nicht. Im Allgemeinen kann man den Zu-
stand der Marklosigkeit als etwas Niedereres, Unvollständigeres
bezeichnen, während die Markhaltigkeit eine reichere Ernäh-
rung und Entwicklung des Theiles anzeigt.
Ich habe vor nicht langer Zeit eine Beobachtung gemacht,
wo eine unmittelbar praktische Bedeutung dieser beiden Zu-
stände in einer sehr unerwarteten Weise hervortrat, indem die
sonst durchscheinende graue Nervenmasse in undurchsichtige
weisse verwandelt war, nämlich an der Retina. Ich fand näm-
lich ganz zufällig eines Tages in den Augen eines Mannes,
bei dem ich ganz andere Veränderungen vermuthete, im Um-
fang der Papilla optici, wo man sonst die gleichmässig durch-
scheinende Retina sieht, eine weissliche, radiäre Streifung, wie
man sie im Kleinen zuweilen bei
Hunden und ziemlich constant bei
Kaninchen in einzelnen Richtun-
gen trifft. Die mikroskopische
Untersuchung ergab, dass in ähn-
licher Weise, wie bei diesen
Thieren, in der Retina markhal-
tige Fasern sich entwickelt hat-
ten, und dass die Faserlage der
Retina durch die Aufnahme von
Markmasse dicker und undurchsichtig geworden war. Die
einzelnen Fasern verhielten sich dabei so, dass, wenn man sie
von den vorderen und mittleren Theilen der Retina aus nach
hinten gegen die Papille verfolgte, sie allmählig an Breite zu-
nahmen, und zugleich in einer zuerst fast unmerklichen, später
sehr auffälligen Weise eine Abscheidung von Mark erkennen
liessen. Das ist also eine Art der Umbildung, welche die
Markige Hypertrophie des Opticus innerhalb des Auges
(vgl. Archiv f. pathologische Anatomie und Physiologie. Bd. X. S. 190.).
A. Die hintere Hälfte des Bulbus, von vorn gesehen; von der Papilia
optici gehen nach vier Seiten radiäre Ausstrahlungen von weissen Fasern
aus. B. Die Opticusfasern bei 300 maliger Vergrösserung: a eine blasse,
gewöhnliche, leicht variköse Faser, b eine mit allmählig zunehmender
Markscheide, c eine solche mit frei hervorstehendem Axencylinder.
[209]Markstoff.
Function der Retina wesentlich beschränkt, denn diese zarte
Haut wird dadurch mehr und mehr für Licht undurchgängig,
indem das Mark die Strahlen nicht hindurchlässt.
Dieselbe Veränderung geschieht am Nerven, während er
sich entwickelt. Der junge Nerv ist ein feines, röhrenförmiges
Gebilde, welches in gewissen Abständen mit Kernen besetzt
ist und eine blassgraue Masse enthält. Erst später erscheint
das Mark, der Nerv wird breiter und der Axencylinder setzt
sich deutlich ab. Man kann daher sagen, dass die Mark-
scheide ein nicht absolut nothwendiger Bestandtheil des Ner-
ven ist, sondern dem Nerven erst auf einer gewissen Höhe
seiner Entwicklung zukömmt.
Es folgt daraus, dass diese Substanz, welche man früher
als das Wesentliche im Nerven betrachtete, nach der jetzigen
Anschauung eine untergeordnete Rolle spielt. Nur diejenigen,
welche auch jetzt noch keinen Axencylinder zulassen, sehen
sie natürlich nicht bloss als den bei Weitem überwiegenden
Bestandtheil, sondern auch als den eigentlich functionirenden
Nerveninhalt an. Sehr merkwürdig ist es aber, dass dieselbe
Substanz eine der am meisten verbreiteten ist, welche über-
haupt im thierischen Körper vorkommen. Ich war sonderbarer
Weise zuerst bei der Untersuchung von Lungen auf Gebilde ge-
stossen, welche ganz ähnliche Eigenschaften darboten, wie man
sie am Nervenmark wahrnimmt. So auffallend dies auch war,
so dachte ich in der That nicht an eine Uebereinstimmung,
bis nach und nach durch eine Reihe weiterer Beobachtungen,
welche im Laufe mehrerer Jahre hinzukamen, ich darauf geführt
wurde, viele Gewebe chemisch zu untersuchen. Dabei stellte
es sich heraus, dass fast gar kein zellenreiches Gewebe vor-
kommt, in dem jene Substanz sich nicht in grosser Masse vorfände;
allein nur die Nervenfaser hat die Eigenthümlichkeit, dass die
Substanz als solche sich abscheidet, während sie in allen an-
deren zelligen Theilen in einer fein vertheilten Weise im In-
nern der Elemente enthalten ist und erst bei chemischer Ver-
änderung des Inhalts oder bei chemischen Einwirkungen auf
denselben frei wird. Wir können aus den Blutkörperchen, aus
den Eiterkörperchen, aus den epithelialen Elementen der ver-
schiedensten drüsigen Theile, aus dem Innern der Milz und
14
[210]Eilfte Vorlesung.
ähnlicher Drüsen ohne Ausfüh-
rungsgänge überall durch Extrac-
tion diesen Stoff gewinnen. Es
ist dieselbe Substanz, welche den
grössten Bestandtheil der gelben
Dottermasse im Hühnerei bildet, von wo ihr Geschmack und
ihre Eigenthümlichkeit, namentlich ihre eigenthümliche Zähig-
keit und Klebrigkeit, welche zu den höheren technischen
Zwecken der Küche verwendet wird, jedermann hinlänglich be-
kannt ist. Diese Substanz, für welche ich den Namen Mark-
stoff oder Myelin vorgeschlagen habe, ist es, welche in über-
aus grosser Masse die Zwischenräume zwischen Axencylinder
und Scheide an den Nervenprimitivfasern erfüllt.
Wird die Ernährung des Nerven gestört, so nimmt sie
an Masse ab, ja sie kann unter Umständen gänzlich verschwin-
den, so dass der weisse Nerv wieder auf einen grauen oder
gelatinösen Zustand zurückgeführt wird. Das gibt eine graue
Atrophie, gelatinöse Degeneration, wobei die Nerven-
faser an sich existirt und nur die besondere Anfüllung mit
Markmasse gelitten hat. Daraus können Sie es sich erklären,
dass man an vielen Punkten, wo man früher nach der anato-
mischen Erfahrung einen vollständig functionsunfähigen Theil
erwarten zu dürfen glaubte, durch die klinische Beobachtung
mit Hülfe der Electricität den Nachweis liefern konnte, dass
der Nerv noch functionsfähig sei, wenn auch in einem gerin-
geren Maasstabe, als normal. Daraus erhellt wiederum, dass
das Mark nicht derjenige Bestandtheil sein kann, an welchen
die Function des Nerven als solche gebunden ist. Zu dem-
selben Schluss haben auch die physikalischen Untersuchungen
im Allgemeinen geführt, und man betrachtet daher gegenwär-
tig ziemlich allgemein den Axencylinder als das eigentlich we-
sentliche Element des Nerven, welches also auch im blassen
Nerven vorhanden ist, und welches nur im weissen Nerven
Tropfen von Markstoff (Myelin, nach Gobley Lecithin).
A. Verschieden gestaltete Tropfen aus der Markscheide von Hirnnerven,
nach Aufquellung durch Wasser. B. Tropfen aus zerfallendem Epithel
der Gallenblase in der natürlichen Flüssigkeit. Vergr. 300.
[211]Electrische Substanz der Nerven.
durch die Ablösung von der umliegenden Markscheide sich
deutlich isoliren lässt. Der Axencylinder würde also die eigent-
liche electrische Substanz der Physiker sein, und man
kann allerdings die Hypothese zulassen, welche man aufge-
stellt hat, dass die Markscheide mehr als eine isolirende Masse
vorhanden sei, welche die Electricität in dem Nerven selbst
zusammenhält und deren Entladung eben nur an den marklo-
sen Enden der Nerven zu Stande kommen lässt.
Die Besonderheit des Markstoffes äussert sich am häu-
figsten darin, dass, wenn man einen Nerven zerreisst oder zer-
schneidet, gewöhnlich das Mark aus demselben hervortritt
(Fig. 78, m, m.), indem es namentlich bei Einwirkung von Wasser
eine eigenthümliche Streifung zeigt (Fig. 80 A.). Es nimmt
nämlich Wasser auf, was beweist, dass es keine neutrale fet-
tige Substanz im gewöhnlichen Sinne ist, sondern höchstens
durch sein grosses Quellungsvermögen mit gewissen seifenar-
tigen Verbindungen verglichen werden kann. Je länger die
Einwirkung dauert, um so längere Massen schieben sich aus
dem Nerven heraus. Diese haben ein eigenthümlich bandarti-
ges Aussehen, bekommen immer neue Streifen und Schichtun-
gen, und führen zu den sonderbarsten Figuren. Häufig lösen
sich auch einzelne Stücke los und schwimmen als besondere,
geschichtete Körper herum, welche in neuerer Zeit zu Ver-
wechselungen mit den Corpora amylacea Veranlassung gege-
ben haben, sich aber durch ihre chemischen Reactionen auf das
Bestimmteste von ihnen unterscheiden. —
In Beziehung auf die histologische Verschie-
denheit der Nerven unter sich, ergibt die Untersu-
chung, dass an verschiedenen Orten die eine oder
die andere Art der Ausbildung ausserordentlich vor-
waltet. Einerseits nämlich unterscheiden sich die
Nerven wesentlich durch die Breite der Primitivfa-
sern. Wir haben sehr breite, mittlere und kleine
weisse, und ebenso breite und feine graue Fasern.
Eine sehr beträchtliche Grösse erreichen die grauen
überhaupt selten, weil eben die Grösse abhängig
Breite und schmale Nervenfasern aus dem N. cruralis mit
unregelmässiger Aufquellung des Markstoffes. Vergr. 300.
14*
[212]Eilfte Vorlesung.
ist von der Zunahme des Inhaltes, allein überall zeigt sich
doch wieder eine Verschiedenheit, so dass gewisse Nerven fei-
ner, andere gröber sind.
Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass in den Endstücken
die Nervenfasern in der Regel feiner werden, und dass die
letzte Verästelung verhältnismässig die feinsten zu enthalten
pflegt; jedoch ist dies keine absolute Regel. Beim Opticus
finden wir schon vom Augenblicke seines Eintrittes in das Auge
an gewöhnlich nur ganz schmale, blasse Fasern (Fig. 79, a.),
während die Tastnerven der Haut bis ans Ende verhältniss-
mässig breite und dunkel contourirte Fasern zeigen (Fig. 83.).
Eine sichere Ansicht über die Bedeutung der verschiedenen
Faserarten je nach ihrer Breite und Markhaltigkeit hat sich
bis jetzt noch nicht gewinnen lassen. Eine Zeit lang hat man
geglaubt, Unterschiede in der Art aufstellen zu können, dass
die breiten Fasern als Abkömmlinge der eigentlichen Cerebro-
Spinaltheile, die feinen als Theile des Sympathicus betrachtet
werden müssten, allein dies ist nicht durchzuführen, und man
kann nur soviel sagen, dass die gewöhnlichen peripherischen
Nerven allerdings einen grossen Gehalt an breiten, die sym-
pathischen einen verhältnissmässig grösseren Theil von feineren
Fasern haben. An vielen Orten, wie z. B. im Unterleibe, über-
wiegen graue, breite Fasern (Fig. 78, A.), welche von Einigen
noch in ihrer Nervennatur bezweifelt werden. Es ist also vor-
läufig ein sicherer Schluss über die etwaige Verschiedenheit
der Functionen aus dem blossen Bau noch nicht zu ziehen,
obwohl kaum bezweifelt werden kann, dass solche Differenzen
vorhanden sein müssen, und dass eine breite Faser an sich
andere Fähigkeiten, sei es auch nur quantitativ verschiedene,
darbieten muss, als eine feine, eine markhaltige andere als
eine marklose. Allein über alles das weiss man bis jetzt mit
Sicherheit nichts; und seitdem durch die feinere physikalische
Untersuchung nachgewiesen ist, dass die Nerven, von denen
man früher annahm, dass sie nur nach der einen oder der
anderen Seite hin leiteten, die Leitungsfähigkeit nach beiden
Seiten hin besitzen, so scheint es nicht gerechtfertigt, Hypo-
thesen über die centripetale oder centrifugale Leitung hier an-
zuknüpfen.
[213]Pacinische Körper.
Die grosse Verschiedenheit, meine Herren, welche in Be-
ziehung auf die Function der einzelnen Nerven zu bemerken
ist, lässt sich bis jetzt nicht so sehr auf die Verschiedenartig-
keit des Baues derselben beziehen, als vielmehr auf die Besonder-
heit der Einrichtungen, mit welchen der Nerv verbunden ist. Es ist
einerseits die besondere Bedeutung des Centralorgans, von wel-
chem der Nerv ausgeht, andererseits die besondere Beschaf-
fenheit des Endes, in welches er gegen die Peripherie hin ver-
läuft, welche seine specifische Leistung erklären.
In Beziehung auf die Endigungen, welche die Nerven ge-
gen die Peripherie darbieten, hat die Histologie gerade in den
letzten Jahren wohl ihre glänzendsten Triumphe gefeiert.
Früherhin stritt man sich bekanntlich darum, ob die Nerven
in Schlingen ausgingen, oder in Plexus, oder ob sie frei endig-
ten, und man war gleich exclusiv nach der einen, wie nach
der anderen Richtung hin. Heutzutage haben wir Beispiele
für die meisten dieser Endigungen, am wenigsten aber für die
Form, welche eine Zeit lang als die regelrechte betrachtet
wurde, nämlich für die Schlingenbildung.
Die deutlichste Endigungsform, die aber sonderbarer Weise
functionell bis jetzt die am wenigsten bekannte ist, ist die
in den sogenannten Pacinischen oder Vaterschen
Körpern, — Organen, über deren Bedeutung man immer
noch nichts anzugeben weiss. Man findet sie beim Menschen
verhältnissmässig am Ausgesprochensten im Fettgewebe der
Fingerspitzen, aber auch in ziemlich grosser Anzahl an der
Wurzel des Gekröses, am deutlichsten und bequemsten aber
im Mesenterium der Katzen, in welches sie noch ziemlich
weit hinaufreichen, während sie beim Menschen bloss an
der Wurzel des Gekröses liegen, wo das Duodenum mit dem
Pancreas zusammenstösst, in der Nähe des Plexus solaris. Ueber-
dies zeigt sich eine sehr grosse Variabilität bei den verschie-
denen Individuen. Einige haben sehr wenig, andere sehr viel
davon, und es ist sehr leicht möglich, dass daraus gewisse
individuelle Eigenthümlichkeiten resultiren. So habe ich z. B.
mehrmals bei Geisteskranken sehr viele solche Körper gefunden,
worauf ich indessen vorläufig kein grosses Gewicht legen
will.
[214]Eilfte Vorlesung.
Ein Pacinisches Körperchen stellt, mit blossem Auge ge-
sehen, einen weisslichen, gewöhnlich ovalen und an dem einen
Ende etwas zugespitzten, 1—1½‴ langen Körper dar, der an
einem Nerven festhängt, und zwar so, dass eine einzelne Pri-
mitivfaser in einen jeden Körper übergeht. Letzterer zeigt
eine verhältnissmässig grosse
Reihe von elliptischen und con-
centrischen Lagen, welche am
oberen Ende ziemlich nahe an
einander stossen, am andern wei-
ter von einander abweichen und
im Innern einen länglichen, ge-
wöhnlich gegen das obere Ende
spitzeren Raum umschliessen. In-
nerhalb dieser Lagen erkennt
man deutlich durch Essigsäure
regelmässig Kerne eingelagert,
und wenn man sie gegen den
Nervenstiel hin verfolgt, so sieht
man sie zuletzt in das hier sehr
dicke Perineurium übergehen.
Man kann sie daher als colossale
Entfaltungen des Perineuriums
betrachten, welche aber nur eine
einzige Nervenfaser umschliessen.
Verfolgt man nun die Nervenfa-
ser selbst, so bemerkt man, dass
der markhaltige Theil gewöhnlich nur bis in den Anfang des
Körperchens reicht; dann verschwindet das Mark, und man
sieht den Axencylinder allein fortgehen. Dieser verläuft nun
in der centralen Höhle, um gewöhnlich in der Nähe des oberen
Endes einfach, oft mit einer kleinen kolbigen Anschwellung,
Vater’sches oder Pacini’sches Körperchen aus dem Unter-
hautfettgewebe der Fingerspitze. S. Der aus einer dunkelrandigen,
markhaltigen Primitiv-Nervenfaser n und dem dicken, mit Längskernen
versehenen Perineurium p, p bestehende Stiel. C. Der eigentliche Kör-
per mit concentrischen Lagen des kolbig angeschwollenen Perineurium
und der centralen Höhle, in welcher der blasse Axencylinder fortläuft
und frei endigt. Vergr. 150.
[215]Tastkörperchen.
im Gekröse sehr häufig in einer spiralförmigen Windung zu
enden. In seltenen Fällen kommt es vor, dass der Nerv sich
theilt und dass mehrere Aeste in das Körperchen übergehen.
Aber jedesmal scheint hier eine Art von Endigung vorzuliegen.
Was die Körper zu besagen haben, welche Verrichtung sie aus-
üben, ob sie irgend etwas mit sensitiven Functionen zu thun
haben, oder ob sie irgend eine Leistung des Centrums zu ent-
wickeln berufen sind, darüber wissen wir bis jetzt nichts.
Eine gewisse Aehnlichkeit mit diesem Bilde zeigen die in
der letzten Zeit so viel discutirten Tastkörperchen. Wenn
man die Haut und namentlich den empfindenden Theil mi-
kroskopisch untersucht, so unterscheidet man, wie dies von
Meissner und Rud. Wagner zuerst gefunden ist, zweierlei
Arten von Papillen, eine mehr schmale und eine mehr breite,
zwischen denen freilich Uebergänge vorkommen (Fig. 83.). In
den schmalen findet man constant eine einfache, bei breiteren
eine verästelte Gefässschlinge, aber keinen Nerven. Es ist dies
insofern wichtig, als wir durch diese Beobachtungen zur Kennt-
niss eines neuen nervenlosen Gebildes gekommen sind. In
der anderen Art von Papillen findet man sehr häufig gar keine
Gefässe, dagegen Nerven und jene eigenthümlichen Bildun-
gen, welche man als Tastkörperchen bezeichnet hat.
Das Tastkörperchen erscheint als ein von der übrigen
Substanz der Papille ziemlich deutlich abgesetztes, länglich
ovales Gebilde, das Wagner, freilich etwas kühn, mit einem
Tannenzapfen verglichen hat. Es sind meistens nach oben
und unten abgerundete Gebilde, an denen man nicht, wie im
Pacinischen Körperchen, eine längliche Streifung sieht, sondern
vielmehr querliegende Kerne. Zu jedem solchen Körper tritt
nun ein Nerv und von jedem kehrt ein Nerv zurück, oder
richtiger, man sieht gewöhnlich zwei Nervenfäden, meistentheils
ziemlich nahe an einander, die sich bequem bis an die Seite
oder die Basis des Körpers verfolgen lassen. Von da ab ist
der Verlauf sehr zweifelhaft, und in einzelnen Fällen variiren
die Zustände so sehr, dass es noch nicht gelungen ist, mit Be-
stimmtheit das Verhalten der Nerven zu diesen Körperchen
zu ermitteln. In manchen Fällen sieht man nämlich ganz
evident den Nerven hinaufgehen und auch wohl sich um das
[216]Eilfte Vorlesung.
Körperchen herumschlingen. Zuweilen scheint es, als ob hier
wirklich eine Schlinge existire, so dass gewissermaassen das
Körperchen in einer Nervenschlinge liegt und auf diese Weise
die Möglichkeit einer concentrirteren Einwirkung äusserer
Agentien auf den Umfang des Nerven stattfinden könnte. An-
dere Male sieht es wieder aus, als ob der Nerv viel früher
schon aufhörte und sich in das Körperchen selbst einsenkte.
Einige haben angenommen, wie Meissner, dass das Körper-
chen selbst dem Nerven angehöre, welcher sich in dasselbe
auflöse. Dies halte ich nicht für richtig; nur das scheint mir
zweifelhaft zu sein, ob der Nerv im Körperchen endigt oder
im Umfang desselben eine Schlinge bildet. Abgesehen von
der anatomischen und physiologischen Frage, hat dieses Bei-
spiel einen grossen Werth für die Deutung pathologischer Er-
scheinungen, weil wir hier in an sich ganz analogen Theilen
zwei vollkommene Gegensätze finden: einerseits nervenlose und
gefässreiche, andererseits gefässlose, nur mit Nerven versehene
Nerven- und Gefässpapillen von der Haut der Fingerspitze,
nach Ablösung der Oberhaut und des Rete Malpighii. A. Nervenpapille
mit dem Tastkörperchen, zu dem zwei Primitiv-Nervenfasern n treten;
im Grunde der Papille feine elastische Netze e, von denen feine Fasern
ausstrahlen, zwischen und an denen Bindegewebskörperchen zu sehen
sind. B, C, D Gefässpapillen, bei C einfache, bei B und D verästelte
Gefässschlingen, daneben feine elastische Fasern und Bindegewebskör-
perchen; p der horizontal fortlaufende Papillarkörper, bei c feine stern-
förmige Elemente der eigentlichen Cutis. Vergr. 300.
[217]Verschiedene Hautwärzchen.
Papillen. Die besonderen Beziehungen, welche die Lagen des
Rete und der Epidermis zu den beiden Arten von Papillen
haben, scheinen keine wesentlichen Verschiedenheiten darzu-
bieten. Sie ernähren sich über den einen, wie über den an-
deren, und sie scheinen über den einen so wenig innervirt zu
werden, wie über den anderen.
Dies sind Thatsachen, welche auf eine gewisse Unab-
hängigkeit der einzelnen Theile hindeuten und welche be-
stimmte Gesichtspunkte liefern, dass grosse, selbst nervenreiche
Theile ohne Gefässe bestehen, sich erhalten und functioniren
können, und dass andererseits Theile, die verhältnissmässig
viele Gefässe enthalten, absolut der Nerven entbehren können,
ohne in Unordnung ihrer Ernährungszustände zu gerathen.
[[218]]
Zwölfte Vorlesung.
31. März 1858.
Das Nervensystem.
Die peripherischen Nervenendigungen. Die Sinnesnerven: Haut und Unterscheidung von Ge-
fäss-, Nerven- und Zellenterritorien an derselben. Riechschleimhaut. Retina. — Die
Theilung der Nervenfasern. Das elektrische Organ. Die Muskeln. Weitere Betrachtung
der Nerventerritorien. — Nervenplexus mit ganglioformen Knoten. Darm. — Irrthümer
der Neuropathologen.
Die nervösen Centralorgane. Graue Substanz. Pigmentirte Ganglienzellen. Verschiedenhei-
ten der Ganglienzellen: sympathische Elemente im Rückenmark und Gehirn, motorische
und sensitive Elemente. Multipolare (polyklone) Ganglienzellen. Verschiedene Bedeutung
der Fortsätze der Ganglienzellen.
Ich komme heute, meine Herren, nochmals auf die Haut zurück.
Die Verschiedenheit der einzelnen Hautpapillen unter einander
scheint mir so wichtig zu sein, dass ich Ihre Aufmerksamkeit beson-
ders dafür in Anspruch nehmen zu müssen glaube. In der Mehr-
zahl der Papillen sieht man, wie ich schon das letzte Mal er-
wähnte, eine einzelne Gefässschlinge, hin und wieder, wenn
die Papille recht gross wird, auch verästelt. Die meisten dieser
Papillen haben keine Nerven, andere dagegen, welche Tast-
körperchen enthalten, keine Gefässe. Denkt man die Gefässe
und Tastkörperchen hinweg, so bleibt nur eine geringe Masse
an der Papille übrig, aber innerhalb derselben gibt es noch
wieder Elemente, und man überzeugt sich, dass unmittelbar
an die Zellen des Rete Malpighii Bindegewebe mit Bindege-
webskörperchen stösst, die sich nach der Injection sehr deut-
[219]Haut-Territorien.
lich von den Gefässen unterscheiden (Fig. 83.). Besonders
günstig ist der Fall, wenn durch irgend eine Erkrankung z. B.
den Pockenprozess eine leichte Schwellung der ganzen Haut
stattgefunden hat und die Elemente ein wenig grösser sind,
als normal. In gewöhnlichen Papillen ist es etwas schwieriger,
die Elemente wahrzunehmen, doch sieht man sie bei genauerer
Betrachtung überall, auch neben den Tastkörperchen.
Demnach findet sich auch in den feinsten Ausläufern des
Gewebes gegen die Oberfläche hin nicht eine amorphe Masse,
welche in einem constanten Verhältnisse zu den Gefässen und
Nerven steht, vielmehr erscheint als einheitliche Einrichtung,
als eigentlich constituirende Grundmasse der verschiedenen (Ge-
fäss- und Nerven-) Papillen immer nur die Bindegewebssub-
stanz, und die einzelnen Papillen gewinnen erst eine verschie-
dene Bedeutung dadurch, dass zu dieser Grundmasse in dem
einen Falle Gefässe, in dem anderen Nerven hinzukommen.
Wir wissen allerdings wenig über die besonderen Bezie-
hungen, welche die gefässhaltigen Papillen zu den Functionen
der Haut haben, indessen lässt sich kaum bezweifeln, dass
hier eine wichtige Beziehung existiren muss, und dass, wenn
man mehr im Stande sein wird, die verschiedenen Hautthätig-
keiten zu sondern, auch den Gefässpapillen eine grössere
Wichtigkeit zugesprochen werden wird. So viel können wir
aber jetzt schon sagen, dass es falsch ist, sich zu denken, dass
in einem jeden anatomischen Theile der Haut eine besondere
Nervenverbreitung existire; gleichwie physiologische Versuche
zeigen, dass grössere Empfindungskreise in der Haut existiren,
lehrt auch die feinere histologische Untersuchung, dass an der
Oberfläche eine relativ spärliche Endigung der Nerven besteht.
Will man also die Haut in bestimmte Territorien eintheilen,
so versteht es sich von selbst, dass die Nerven-Territorien
grösser sind, als die Gefäss-Territorien. Aber auch jedes
durch eine einzige Capillarschlinge bezeichnete Gefäss-Terri-
torium (Papille) zerfällt wieder in eine Reihe von kleineren
(Zellen-) Territorien, welche freilich alle an dem Ufer dessel-
ben Gefässes liegen, aber für sich bestehen, indem jedes mit
einem besonderen zelligen Elemente versehen ist.
Auf diese Weise kann man es sich sehr wohl erklären,
[220]Zwölfte Vorlesung.
wie innerhalb einer Papille ein einzelnes (Zellen-) Territorium
erkranken kann. Gesetzt z. B. ein solches Territorium schwillt
an, vergrössert sich und wächst immer mehr und mehr hervor,
so kann eine baumförmige Verästelung entstehen (spitzes Con-
dylom), ohne dass die ganze Papille in gleicher Weise afficirt
wäre. Das Gefäss wächst erst späterhin nach und schiebt
sich in die schon grösser gewordenen Aeste hinein. Nicht das
Gefäss ist es, welches durch seine Entwickelung die Theile
hinausschiebt, sondern die erste Entwickelung geht immer vom
Bindegewebe des Grundstockes aus. Es hat daher das Stu-
dium der Hautzustände ein besonderes Interesse für die Kri-
tik der allgemein-pathologischen Doctrinen. Was zunächst den
neuropathologischen Standpunkt betrifft, so ist es ganz unbe-
greiflich, wie ein Nerv, der inmitten einer ganzen Gruppe von
nervenlosen Theilen liegt, es machen soll, um innerhalb dieser
Gruppe eine einzelne Papille, zu welcher er gar nicht hin-
kommt, zu einer pathologischen Thätigkeit zu vermögen, an
welcher die übrigen Papillen desselben Nerven-Territoriums
keinen Theil nehmen. Eben so schwierig ist die Deutung die-
Der Grundstock eines spitzen Condyloms vom Penis mit
stark knospenden und verästelten Papillen, nach völliger Ablösung der
Epidermis und des Rete Malpighii. Vergr. 11.
[221]Nerventerritorien der Haut.
ses Verhältnisses da, wo es sich um Erkrankungen von ge-
fässlosen Papillen handelt, vom Standpunkte eines Humoral-
pathologen. Selbst wo innerhalb einer Gefäss-Papille die ver-
schiedenen Zellen-Territorien verschiedene Zustände erreichen,
würden diese nicht wohl begreiflich sein, wenn man den gan-
zen Ernährungsvorgang einer Papille als direct abhängig von
dem Generalzustande des Gefässes ansehen wollte, welches
sie versorgt.
Aehnliche Betrachtungen kann man freilich an allen Punk-
ten des Körpers anstellen, indess ist dies doch ein besonders
günstiges Paradigma, um daran zu erkennen, wie verkehrt es
ist, wenn man alle Gefässe unter einen particularen Nerven-
Einfluss stellt. Es gibt eine Menge von Gefässen, welche dem
Einflusse der Nerven ganz entrückt sind, und wenn wir bei der
Haut stehen bleiben, so beschränkt sich die Einwirkung, wel-
che ein Nerv auszuüben im Stande ist, darauf, dass die zu-
führende Arterie, welche eine ganze Reihe von Papillen zu-
sammen versorgt (Fig. 44), in einen Zustand der Veränderung gesetzt
wird, so dass an ihr eine Verengerung oder Erweiterung und
dem entsprechend eine verminderte oder vermehrte Zufuhr zu
einem grösseren Bezirke stattfindet. —
Kehren wir nun von dieser Zwischenbetrachtung zu unse-
rem eigentlichen Gegenstande zurück, so erinnern Sie sich,
dass ich Ihnen meine Unkenntniss schilderte von dem wirk-
lichen Endigungsmodus, welchen die Nerven an diesen Stellen
besitzen. Ob der Nerv zuletzt eine Schlinge bildet oder in
irgend einer Weise direct ausläuft in die innere Substanz der
Tastkörperchen, ist, wie ich glaube, noch nicht mit vollkomme-
ner Evidenz zu entscheiden.
Betrachten wir nun andere Beispiele der Nerven-Endigun-
gen, so zeigt sich nirgends eine Wahrscheinlichkeit für eigent-
liche Schlingenbildung. Ueberall, wo man sicherere Kenntnisse
gewonnen hat, ist vielmehr die Wahrscheinlichkeit immer grös-
ser geworden, dass die Nerven entweder übergehen in einen
grossen Plexus, in eine netzförmige Ausbreitung, oder dass
sie endigen in besonderen Apparaten, von welchen es grossen-
theils noch zweifelhaft ist, in wie weit die Nerven zuletzt in
eigenthümlichen, besonders gestalteten Ausläufern sich verlie-
[222]Zwölfte Vorlesung.
ren, oder in wie weit sie sich an eigenthümliche Theile an-
derer Art anlegen. Eine solche Art der Endigung ist, wie es
scheint, für die meisten höheren Sinnesorgane charakte-
ristisch, hat aber bei der ausserordentlichen Schwierigkeit,
welche die Untersuchung dieser Theile darbietet, noch an kei-
nem einzigen Punkte zu einer allgemein gültigen Auffassung
geführt. So viel Untersuchungen man über Retina und Coch-
lea, über Nasen- und Mundschleimhaut in den letzten Jahren
gemacht hat, so muss man doch gestehen, dass die letzten
Fragen über das histologische Detail noch nicht ganz erledigt
sind. Fast überall bleiben zwei Möglichkeiten für die Endi-
gung der Nerven. Nach einigen würden sie zuletzt auslaufen in be-
sondere Bildungen, die man nach dem bisherigen Sprachgebrauche
nicht mehr als nervös betrachten würde, eigenthümliche Umbildun-
gen, welche allerdings nach anderen Beobachtern unmittelbar
mit Nervenfasern zusammenhängen sollen, z. B. auf der Riech-
schleimhaut. Diese ist nämlich regelmässig bekleidet mit einem
Cylinderepithelium, welches stark flimmert und in mehrfacher
Lage übereinander gelagert ist, so dass mehrere Zellenreihen
einander decken. Hier kommen nach mehreren neueren Unter-
suchern Zellen vor, welche in einen längeren Faden auslau-
fen und nicht, wie die anderen Epithelialzellen, an der Ober-
fläche endigen, sondern ins Innere hineinlaufen, um hier direct
in die Enden der Nerven überzugehen. Nach anderen dage-
gen würden sich, was richtiger zu sein scheint, besondere fa-
denförmige Enden der Nerven zwischen dem Epithel hervor-
schieben. Die Geruchsobjecte würden also nach dieser Auf-
fassung wirklich direct die Endformationen der Nerven selbst
berühren. Aehnliche Epithelial-Bildungen sind in der letzten
Zeit auch von der Schleimhaut der Zunge beschrieben worden,
aufsitzend auf besonderen Papillen, welche überwiegend nervö-
ser Natur zu sein schienen.
Weiterhin würden diese Elemente eine gewisse Aehnlich-
keit beanspruchen mit den letzten Endigungen, welche wir am
Opticus in der Retina und am Acusticus namentlich in der
Schnecke finden, Bildungen, von welchen die letzteren sich der
äussern Form nach vergleichen lassen mit langgeschwänzten
Epithelial-Elementen, während die in der Retina ausserordent-
[223]Retina.
lich feine Gebilde darstellen. In der Retina nämlich breitet
sich der Opticus nach seinem Eintritte in das Innere des Bul-
bus so aus, dass seine faserigen Elemente an der vorderen, dem
Glaskörper zugewendeten Seite der Retina verlaufen (Fig. 85, f.);
nach hinten schliesst sich daran ein verschieden dickes Stra-
tum, welches zwar zur Retina gehört, aber in keiner Weise
aus einer directen Ausstrahlung des Opticus hervorgeht. Diese
Lage zeigt da, wo sie an die Pigmentzellenschicht der Aderhaut
anstösst, unmittelbar anliegend ein eigenthümliches Stratum,
über welchem ein sonderbares Geschick geschwebt hat, indem
man dasselbe längere Zeit an die vordere Seite der Retina ver-
legte, die berühmte Stäbchenschicht (Fig. 85, s.). Diese
Schicht, welche zu den verletzbarsten Theilen des Auges ge-
hört und deshalb den früheren Untersuchern vielfach entgangen
war, besteht, wenn man sie von der Seite her betrachtet, aus
A. Verticalschnitt durch die ganze Dicke der Retina, nach
Härtung in Chromsäure. l Membrana limitans mit den aufsteigenden
Stützfasern. f Faserschicht des Opticus. g Ganglienschicht. n graue,
feinkörnige Schicht mit durchtretenden Radiärfasern. k Innere (vordere)
Körnerschicht. i Intermediäre oder Zwischenkörnerschicht. k' Aeussere
(hintere) Körnerschicht. s Stäbchenschicht mit Zapfen. Vergr. 300.
B, C Isolirte Radiärfasern nach H. Müller.
[224]Zwölfte Vorlesung.
einer sehr grossen Menge dicht gedrängter, radiär gestellter
Stäbchen, zwischen denen in gewissen Abständen breitere
zapfenförmige Körper erscheinen. Betrachtet man die Retina
von der hinteren Oberfläche her, d. h. von der Chorioides, so
sieht man in regelmässiger Anordnung zwischen diesen Zapfen
feine Punkte, die den Enden der Stäbchen entsprechen.
Was nun zwischen dieser Stäbchenschicht und der eigent-
lichen Ausbreitung des Sehnerven liegt, das ist wieder ein
sehr zusammengesetztes Ding, an welchem man regelmässig
eine Reihe von auf einander folgenden Schichten unterscheiden
kann. Zunächst nach vorne von der Stäbchenschicht folgt eine
verhältnissmässig dicke Lage, welche fast ganz aus groben
Körnern zusammengesetzt erscheint, die sogenannte äussere
Körnerschicht (Fig. 85, k'.). Dann kommt eine dünnere Lage,
die gewöhnlich ein ziemlich amorphes Aussehen hat, die Zwi-
schenkörnerlage (Fig. 85, i.). Dann kommen wieder gröbere
Körner (die innere Körnerschicht), welche in beiden Schichten
den Habitus von Kernen haben (Fig. 85, k.). Darauf
folgt nochmals eine feinkörnige Lage von mehr grauer Be-
schaffenheit (Fig. 85, n.) und dann erst die ziemlich breite
Lage, welche dem Opticus angehört und ihrerseits von einer
Membran begrenzt wird, der Membrana limitans (Fig. 85, l.),
welche dem Glaskörper dicht anliegt. Innerhalb dieser letz-
ten Schicht sieht man, ausser dem Faserverlauf des Opticus,
am meisten nach hinten gelegen, eine Reihe von grösseren
Zellen, die als Ganglienzellen erscheinen (Fig. 85, g.).
Diese ausserordentlich zusammengesetzte Beschaffenheit
einer auf den ersten Blick so einfachen, so zarten Membran,
macht es leicht erklärlich, wie ausserordentlich schwierig es
ist, das Verhältniss aller ihrer einzelnen Theile mit Sicherheit
zu ermitteln. Es war einer der wichtigsten Schritte, der in
der Erkenntniss dieses Verhältnisses durch die Entdeckung
von Heinrich Müller gemacht wurde, dass man von hinten
her, von der Stäbchenschicht bis in die vordersten Lagen hinein
eine Reihe von feinen Faserzügen verfolgen könne, radiäre
Fasern, auch Müllersche Fasern genannt, welche in sich so-
wohl die Körner aufnehmen, als die Zapfen und Stäbchen tra-
gen (Fig. 85, B. C.). Dies gibt einen sehr zusammengesetz-
[225]Der lichtempfindende Apparat des Auges.
ten Apparat, welcher im Wesentlichen senkrecht auf den Ver-
lauf der Opticusfasern gestellt ist. Die grösste Schwierigkeit,
welche in Beziehung auf den anatomischen Zusammenhang
dieser Gebilde besteht, ist die, zu ermitteln, ob die radiäre Fa-
ser, sei es durch directe Umbiegung oder seitliche Anastomose
in die Opticusfasern übergeht, oder ob es sich nur um eine
innige Aneinanderlegung handle, die Nerven also nur in einem
Nachbarverhältnisse zu den Radiärfasern stehen. Auch das
Tastkörperchen kann man ja als eine körperliche Anschwel-
lung des Nerven selbst betrachten oder als ein besonderes
Gebilde, an welches der Nerv nur heran- oder hereintritt.
Diese Frage ist noch nicht definitiv erledigt worden. Bald ist
die Wahrscheinlichkeit etwas grösser geworden, dass es sich
um directe Verbindungen, bald dass es sich nur um Aneinan-
derlagerung handle. Das kann aber schon jetzt nicht mehr
bezweifelt werden, dass für die Licht-Empfindung dieser
Apparat das Wesentliche ist, und dass der Opticus mit
allen seinen Theilen existiren könnte, ohne irgendwie die Fä-
higkeit zu haben, Lichteindrücke zu empfangen, wenn er nicht
mit diesem Apparate zusammenhinge. Bekanntlich ist gerade
die Stelle des Augen-Hintergrundes, wo bloss Opticusfa-
sern liegen und nicht ein solcher Apparat, die einzige,
welche nicht sieht (blinder Fleck). Damit das Licht
also überhaupt in die Lage komme, auf den Sehnerven ein-
wirken zu können, bedarf es unzweifelhaft der Sammlung
durch diesen Faserapparat, und es ist daher eine vom feine-
ren, physikalischen Standpunkte ausserordentlich interessante
Frage, ob der Nerv in seinen letzten Enden selbst die Vibra-
tionen der Lichtwellen empfängt, oder ob ein anderer Theil
vorhanden ist, dessen Schwingungen auf den Sehnerven ein-
wirken und in demselben eine eigenthümliche Erregung er-
zeugen. Jedenfalls steigen aber von der Membrana limitans
aus leicht ausgeschweifte Fasern auf (Fig. 85, l.), wahrschein-
lich Bindegewebs-Elemente, die dem Ganzen eine Art von
Stütze oder Halt darbieten (Stützfasern), und die nicht mit
dem übrigen Apparate im Zusammenhang stehen dürften.
15
[226]Zwölfte Vorlesung.
Wir haben, meine Herren, durch Betrachtung dieser Ver-
hältnisse die Thatsache gewonnen, dass die specifische Ener-
gie der einzelnen Nerven nicht sowohl in der Besonderheit
des inneren Baues ihrer Fasern als solcher beruht, sondern
dass es wesentlich auf die besondere Art der Endeinrichtung
ankommt, mit welcher der Nerv, sei es direct, sei es durch
Contact in Verbindung steht, und welche die besondere Fä-
higkeit der einzelnen Sinnesnerven charakterisirt. Betrachtet
man z. B. einen Querschnitt des Opticus ausserhalb des Auges,
so bietet er gar keine Besonderheiten dar gegenüber anderen
Nerven, und es liesse sich in keiner Weise erklären, dass ge-
rade dieser Nerv für Licht leitungsfähiger ist, als die anderen
Nerven, während dagegen die besonderen Verhältnisse, unter
welchen sich seine letzten Enden verbreiten, die ungewöhnlich
grosse Empfindlichkeit der Retina genügend erklären. —
In Beziehung auf die Endigungen wäre noch ein Punkt
zu erwähnen: die plexusartige Ausbreitung. Es ist dies
ein Punkt, auf welchen die neueren Unter-
suchungen hauptsächlich durch Rudolf
Wagner geleitet worden sind, indem die-
ser Forscher Untersuchungen über die Ver-
breitung der Nerven im elektrischen Organ
anstellte, und bei dieser Gelegenheit den
wesentlichsten Anstoss gab zu der Lehre
von der Verästelung der Nervenfasern.
Bis dahin hatte man die Nerven als zusam-
menhängende, einfache Röhren betrachtet,
welche vom Centrum bis ans Ende einfach
fortliefen. Gegenwärtig weiss man, dass
sich die Nerven wie Gefässe verbreiten. In-
dem sich eine Nervenfaser direkt, gewöhn-
lich dichotomisch, theilt, ihre Aeste sich wie-
der theilen und so fort, so kann dadurch
mit der Zeit eine überaus reiche Veräste-
lung entstehen, deren Bedeutung höchst ver-
Theilung einer Primitiv-Nervenfaser bei t, wo sich eine
Einschnürung findet; b', b'' Aeste. a cine andere Faser, welche die vo-
rige kreuzt. Vergr. 300.
[227]Verästelung der Nervenfasern.
schieden ist, je nachdem der Nerv motorisch oder sensitiv ist und
entweder von einer grösseren Fläche her die Eindrücke sammelt,
oder auf eine grössere Fläche hin die motorische [Erregung] aus-
strahlt. Ein wahrhaft miraculöses Beispiel haben wir in der letzten
Zeit kennen gelernt in dem elektrischen Nerven des durch die
interessanten Experimente Dubois’s so berühmten elektrischen
Welses (Malapterurus). Hier hat Bilharz gezeigt, dass der
Nerv, welcher das elektrische Organ versorgt, ursprünglich nur
eine einzige mikroskopische Primitivfaser ist, welche sich im-
mer wieder theilt und sich schliesslich in eine enorm grosse
Masse von Verästelungen auflöst, welche sich an das elektri-
sche Organ verbreiten. Hier muss also die Wirkung mit einem
Male von einem Punkte aus sich über die ganze Ausbreitung
der elektrischen Platten ausdehnen.
Beim Menschen fehlen uns für diese Frage noch bestimmte
Anhaltspunkte, weil die kolossalen Entfernungen, über welche
die einzelnen Nerven sich verbreiten, es fast unmöglich machen,
einzelne bestimmte Primitivfasern vom Centrum bis in die letzte
Peripherie zu verfolgen. Aber es ist gar nicht unwahrschein-
lich, dass auch beim Menschen in einzelnen Organen analoge
Einrichtungen existiren, wenn auch vielleicht nicht so frappante.
Vergleicht man die Grösse der Nervenstämme an gewissen
Punkten mit der Summe von Wirkungen, die in einem Organe,
z. B. in einer Drüse stattfinden, so kann es kaum zweifelhaft
erscheinen, dass wenigstens analoge Zustände auch hier vor-
handen sind. Diese Art von Verbreitung hat insofern ein be-
sonderes Interesse, als viele räumlich getrennte Theile dadurch
mit einander verbunden werden. Das elektrische Organ be-
steht aus einer Menge von Platten, aber nicht jede Platte wird
auf einem besonderen Wege vom Centrum aus innervirt. Der
Wels setzt nicht diese oder jene Platte in Bewegung, sondern
er muss das Ganze in Bewegung setzen; ja er ist ausser
Stande, die Wirkung zu zerlegen. Er kann die Wirkung stär-
ker oder schwächer einrichten, aber er muss jedesmal das Ganze
in Anspruch nehmen. Denken wir uns dem entsprechend ge-
wisse Muskeleinrichtungen, so haben wir auch da keine An-
haltspunkte für die Annahme, dass jeder Theil des Muskels
besondere, unabhängige Nervenfasern empfange. Im Gegen-
15*
[228]Zwölfte Vorlesung.
theil findet in der Regel eine besondere Zerlegung der Nerven-
Wirkung in den Muskeln nur in sehr beschränktem Maasse
statt, wie wir ja aus eigener Erfahrung an uns selbst wissen.
Vom neuristischen Standpunkte aus schliesst man, dass der
Wille oder die Seele oder das Gehirn im Stande sei, durch
besondere Fasern auf jeden einzelnen Theil zu wirken; in der
That ist dies aber gar nicht der Fall, sondern es bleibt den
Centren meist nur ein einziger Weg zu einer gewissen Summe
gleichartiger Elementar-Apparate.
Was nun die Nervenplexus anbetrifft, so kennen wir
gegenwärtig beim Menschen die ausgedehntesten Einrichtungen
der Art in der Submucosa des Darmes, wo vor Kurzem durch
Meissner und dann durch Billroth die Verhältnisse genauer
Nervenplexus aus der Submucosa des Darmes vom Kinde,
nach einem Präparate von Hrn. Billroth. n, n, n Nerven, welche sich
zu einem Netze verbinden, an dessen Knotenpunkten kernreiche, ganglio-
forme Anschwellungen liegen. v, v Gefässe, dazwischen Kerne des Bin-
degewebes. Vergr. 180.
[229]Nervengeflechte.
erörtert worden sind. Die Submucosa des Darms ist darnach,
wie schon Willis sagte, eine Tunica nervea. Wenn man den
eintretenden Nerven nachgeht, so sieht man, dass sie, nachdem
sie sich getheilt haben, zuletzt in wirkliche Netze übergehen,
welche bei Neugebornen an gewissen Stellen sehr grosse Kno-
tenpunkte haben, von denen aus sie in Geflechte ausstrahlen,
so dass dadurch eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Capillar-
netz entsteht.
Wie weit sich solche Einrichtungen im Körper überhaupt
erstrecken, ist noch nicht ergründet, denn auch hier sind es
fast ganz neue Thatsachen, welche erst in letzter Zeit die Auf-
merksamkeit der Untersucher in Anspruch nahmen; wahrschein-
lich wird sich die Zahl solcher Nervenhäute noch vergrössern
lassen. Um jedoch etwaigen Missverständnissen vorzubeugen,
muss ich sogleich hinzusetzen, dass diese plexusartigen Aus-
breitungen keineswegs einfach sind, sondern dass die erwähn-
ten grösseren Knotenpunkte den Habitus von Ganglien an sich
tragen, so dass gewissermaassen neue Sammelpunkte des
Nervenapparates mit der Möglichkeit einer Verstärkung oder
Hemmung der Wirkungen eintreten. Für die Funktion ist
diese Einrichtung offenbar von grosser Bedeutung, denn wir
würden uns am Darm die peristaltische Bewegung nicht wohl er-
klären können, wenn nicht eine Einrichtung existirte, welche
von Netz zu Netz, von Theil zu Theil Reize übertrüge, die
nur an einem Punkte dem Darme zugekommen sind. Die bis
vor Kurzem bekannten Verhältnisse der Nervenverbreitung ge-
nügten nicht, um den Modus der peristaltischen Bewegung
einigermaassen zu erklären, während sich hier sofort die be-
quemsten Anhaltspunkte der Deutung bieten. — So viel im
Wesentlichen über die allgemeinen Formen, welche man bis
jetzt für die peripherischen Endigungen der Nerven kennt.
Im Ganzen entsprechen diese Erfahrungen wenig dem,
was man sich früher gedacht hat und was noch jetzt die
Neuropathologen annehmen. Die Vorstellung eines Neuropa-
thologen von reinem Wasser geht bekanntlich dahin, dass ein
Nervencentrum im Stande sei, vermittelst der Nervenfasern auf
jeden kleinsten Theil seines Territoriums eine besondere Wir-
[230]Zwölfte Vorlesung.
kung auszuüben. Soll an einem kleinen Punkte des Körpers
Krebsmasse oder Eiter entstehen oder eine einfache Ernäh-
rungsstörung erfolgen, so bedarf der Neuropatholog einer Ein-
richtung, vermöge welcher das Centralorgan im Stande ist, der
Peripherie innerhalb ihrer kleinsten Bezirke seine Einwirkun-
gen zukommen zu lassen, irgend eines Weges, auf welchem
die Boten gehen können, welche nun einmal die Ordre nach
den entferntesten Punkten des Organismus zu bringen bestimmt
sind. Die wirkliche Erfahrung lehrt nichts der Art. Gerade
an den Stellen, wo wir eine so ausserordentlich vervielfältigte
Einrichtung der Endapparate kennen, wie ich sie Ihnen bei
den Sinnesorganen schilderte, haben die Nerven keine Bezie-
hung auf die Ernährung der Theile und insbesondere keine
nachweisbare Einwirkung auf elementare Theile. Fast an al-
len anderen Orten werden entweder ganze Flächen oder Organ-
Abschnitte in einer gleichmässigen Weise innervirt, oder es
werden von diesen Flächen oder Organ-Abschnitten aus Sam-
mel-Erregungen zu den Centren geführt. An vielen Theilen,
von denen wir allerdings nachweisen können, dass ein Nerven-
Einfluss auf sie stattfindet, z. B. an den kleinen und mittle-
ren Gefässen, wissen wir bis jetzt noch nicht einmal, wie weit
einzelne Abschnitte besondere Nervenfasern erhalten. So
schlecht sind die anatomischen Grundlagen der neuropatholo-
gischen Doctrin.
Es bleibt uns nun, meine Herren, nachdem wir die peri-
pherischen Einrichtungen des Nervenapparates besprochen ha-
ben, die wichtige Reihe der centralen Theile, oder im en-
geren Sinne, der Ganglien-Apparate. Wie ich schon neu-
lich hervorhob, so finden wir diese überwiegend da in den
Centren, wo graue Substanz lagert. Allein das bloss graue
Aussehen ist nicht entscheidend für die gangliöse Beschaffen-
heit eines Theiles; insbesondere darf man nicht glauben, dass
etwa die Ganglienzellen es seien, welche die graue Farbe we-
sentlich bedingen, denn an manchen Stellen finden wir graue
Masse, ohne dass Ganglienzellen vorhanden sind. So enthal-
ten die äussersten Schichten der Grosshirnrinde keine deutlichen
Ganglienzellen mehr, obwohl sie grau aussehen; hier findet
[231]Pigmint der Ganglienzellen.
sich eine durchscheinende Grundsubstanz, welche mit vielen
feineren Gefässen durchsetzt ist und je nach der Füllung der-
selben bald mehr grauroth, bald mehr weissgrau erscheint.
Andererseits kommt es häufig vor, dass, wo Ganglienzellen
liegen, die Substanz gerade nicht grau aussieht, sondern eine
positive Farbe hat, die zwischen bräunlichgelb und schwarz-
braun schwankt. So haben wir an dem Gehirne Stellen, wel-
che schon seit alter Zeit unter dem Namen der Substantia
nigra, fusca u. s. w. bekannt sind, an welchen die schwarze
oder braune Farbe, die wir mit blossem Auge wahrnehmen,
den Ganglienzellen als eigentlich gefärbten Punkten anhaftet.
Diese Färbung findet sich erst im Laufe der Jahre ein.
Je älter ein Individuum wird, um so stärker treten die Farben
hervor; jedoch scheinen unter Umständen auch pathologische
Prozesse den Eintritt derselben zu beschleunigen. So ist es
an den Ganglien des Sympathicus eine auffallende Erschei-
nung, dass gewisse Krankheitsprozesse, z. B. die typhösen,
einen wirksamen Einfluss auf die frühe Pigmentirung zu üben
scheinen. Da aber das Pigment etwas relativ Fremdartiges
in der inneren Zusammensetzung der Zelle darstellt, welches,
soviel wir wissen, nicht für die eigentliche Function dienstbar
ist, sondern als ein träges Accidens auftritt, so dürfte es in
der That wohl möglich sein, dass man diese Zustände als eine
Art von vorzeitigem Altern der Ganglien zu betrachten hat.
In diesen Fällen unterscheidet man an der Ganglienzelle (Fig.
88, a) ausser dem sehr deutlichen,
grossen Kerne mit seinem grossen,
glänzenden Kernkörperchen den
eigentlichen Inhalt, welcher aus
einer feinkörnigen Grundsubstanz
besteht und welcher an einer ge-
wissen Stelle das gewöhnlich ex-
centrisch, zuweilen rings um den
Elemente aus dem Ganglion Gasseri. a Ganglienzelle mit
kernreicher Scheide, die sich um den abgehenden Nervenfortsatz er-
streckt; im Innern der grosse, klare Kern mit Kernkörperchen und um
ihn Pigmentanhäufung. b Isolirte Ganglienzelle mit dem an sie heran-
tretenden blassen Fortsatz. c Feinere Nervenfaser mit blassem Axency-
linder. Vergr. 300.
[232]Zwölfte Vorlesung.
Kern gelagerte Pigment umschliesst. Unter Umständen nimmt
das letztere an Masse so sehr zu. dass ein grosser Theil der
Zelle damit ausgefüllt wird. Je reicher diese Ablagerung wird,
um so dunkler erscheint die ganze Stelle.
Früher hat man sich gedacht, dass die Ganglienzellen zum
grossen Theil einfach runde Gebilde seien, allein man hat sich
mehr und mehr überzeugt, dass diese Form eine künstliche
ist und dass vielmehr von der Zelle nach einzelnen Richtun-
gen Fortsätze ausgehen, welche sich endlich mit Nerven oder
mit anderen Ganglien in Verbindung setzen. Diese Fortsätze
sind Anfangs blass, und auch da, wo sich ihr Uebergang in
gewöhnliche dunkelconturirte Nervenfasern verfolgen lässt, sieht
man gewöhnlich erst in einer gewissen Entfernung von der
Ganglienzelle den Fortsatz dicker werden und sich allmälig
mit einer Markscheide versehen. Dieser Umstand, welchen
man früher nicht gekannt hat, erklärt es, dass man so lange
Zeit über diese Verhältnisse im Unklaren geblieben ist. Die
unmittelbaren Fortsätze der Ganglienzellen, namentlich im Ge-
hirn und Rückenmark, sind daher nicht Nerven im gewöhn-
lichen Sinne des Wortes, sondern blasse Fasern, welche häufig
kaum eine Aehnlichkeit mit den früher geschilderten marklo-
sen Fasern haben und eher wie blasse Axencylinder erschei-
nen (Fig. 88, a, b.).
Lange hat man geglaubt, dass wesentliche Verschieden-
heiten zwischen den Ganglienzellen stattfänden je nach den
groben Lokalitäten, welche die einzelnen Abschnitte des Ner-
ven-Apparates bezeichnen, also namentlich zwischen den Zel-
len des Sympathicus und denen des Hirns und Rückenmarks.
Allein auch in diesem Punkte hat sich das Gegentheil erge-
ben, namentlich seitdem Jacubowitsch die neue Thatsache
kennen gelehrt hat, von deren Richtigkeit ich mich vollkom-
men überzeugt habe, dass Gebilde, welche den sympathischen
Ganglienzellen vollkommen analog sind, auch in der Mitte des
Rückenmarks und mancher Theile, welche wir schon dem Ge-
hirne zurechnen, vorkommen.
Man kann geradezu sagen, dass Elemente des Sympathi-
cus, von welchem man ja schon lange weiss, dass er mit
einem grossen Theil seiner Fasern im Rückenmarke wurzelt,
[233]Formen der Ganglienzellen.
wirklich auch im Rückenmarke vorkommen, und dass daher das
Rückenmark nicht einen einfachen und nothwendigen Gegen-
satz darstellt zu dem Grenzstrang.
Betrachten wir das Rückenmark etwas genauer, das für
die Zusammenordnung eines wirklichen Centralorgans im eng-
sten Sinne des Wortes den klarsten Ausdruck darstellt, so fin-
den wir überall in der grauen Substanz (den Hörnern) dessel-
ben und zwar fast auf jedem Querschnitte verschiedenartige
Ganglien. Jacubowitsch hat, und ich glaube, dass er darin
Recht hat, drei verschiedene Formen unterschieden, von denen
er die eine geradezu motorisch, die andere sensitiv, die dritte
sympathisch nennt. Diese liegen gewöhnlich in getrennten
Gruppen.
Ich werde darauf bei weiterer Besprechung des Rücken-
markes zurückkommen; hier wollte ich zunächst nur die For-
men der Ganglienzellen besprechen. Die sogenannten unipo-
laren Formen werden, je genauer man untersucht, immer sel-
tener. In den Centralapparaten besitzen die meisten Zellen
mindestens zwei Fortsätze, sehr viele sind multipolar oder ge-
nauer vielästig (polyklon). Eine multipolare Zelle stellt ein
Gebilde dar, welches einen grossen Kern, einen körnigen In-
halt, und, wenn es besonders gross ist, einen Pigmentfleck hat
und welches nach verschiedenen Richtungen hin mit Ausläu-
fern versehen ist. Diese Ausläufer theilen sich häufig reiser-
förmig, und so beginnt schon das Verhältniss, welches ich vor-
her besprach (S. 227), dass von einem Punkte aus ganze
Massen von Fäden oder Fasern ausgehen, ein Verhältniss,
welches darauf hindeutet, dass zwar von Anfang an je nach
Umständen diese oder jene Bahn benutzt werden kann, dass
aber innerhalb einer bestimmten Bahn gegen die Peripherie
hin die Wirkung auf die ganze Verästelung sich gleichmässig
fortsetzen muss. Diese multipolaren Formen (Fig. 89, A.) sind
meist verhältnissmässig gross und liegen an denjenigen Theilen
angehäuft, welche den motorischen Einrichtungen entsprechen;
man kann sie deshalb kurzweg mit Jacubowitsch als moto-
rische Zellen bezeichnen.
[234]Zwölfte Vorlesung.
[235]Verschiedenheit der Ganglienzellen.
Diejenigen Formen, welche den sensitiven Stellen ent-
sprechen (Fig. 89, B.) sind in der Regel kleiner und zeigen
nicht die ausserordentliche Vielfachheit der Verästelung, wie
die grossen. Ein grosser Theil von ihnen besitzt nur 3, viel-
leicht 4 Aeste. Die sympathischen dagegen sind wiederum
grösser, haben aber noch weniger Aeste und zeichnen sich
durch mehr rundliche Form aus. Es sind dies Verschieden-
heiten, welche allerdings nicht so durchgreifend sind, dass man
schon jetzt im Stande wäre, einer Ganglienzelle in jedem ein-
zelnen Falle sofort anzusehen, welcher Kategorie sie angehört,
welche aber doch, wenn man die einzelnen Gruppen ins Auge
fasst, so auffallend sind, dass man zu einer bestimmten Schluss-
folgerung über die verschiedene Qualität dieser Gruppen ver-
anlasst wird. Wahrscheinlich wird man im Laufe der Zeit
noch weitere Verschiedenheiten, auch vielleicht in der inneren
Einrichtung der Zellen, erkennen; bis jetzt lässt sich darüber
nichts weiter aussagen. Es ist dies eine sehr grosse und be-
klagenswerthe Lücke unserer Kenntnisse, weil gerade hier der
Punkt ist, an dem wir die specifische Action der einzelnen
Elemente zu besprechen haben würden. Aber man darf nicht
übersehen, dass diese Verhältnisse mit zu den schwierigsten
gehören, welche überhaupt der anatomischen Untersuchung un-
terworfen werden, und dass die Herstellung von Objecten, wel-
che auch nur das eigene Auge überzeugen, fast immer daran
scheitert, dass eine wirkliche Isolirung der Elemente mit allen
ihren Fortsätzen und Verbindungen kaum gelingt und dass
man wegen der ausserordentlichen Gebrechlichkeit dieser
Theile fast immer genöthigt ist, sie auf Durchschnitten zu ver-
folgen. Wenn man Schnitte macht in Gebilden, welche zu
einem grossen Theile aus Fasern bestehen und in welchen die
Fasern bald longitudinal, bald transversal, bald schräg verlau-
fen, wo man also überall ein Geflecht zu sehen bekommt, so
Ganglienzellen aus den Centralorganen: A, B, C aus dem
Rückenmarke, nach Präparaten des Hrn. Gerlach, D aus der Gehirn-
rinde. A Grosse, vielstrahlige (multipolare, polyklone) Zellen aus den
Vorderhörnern (Bewegungszellen). B. Kleinere Zellen mit 3 grösseren
Fortsätzen aus den Hinterhörnern (Empfindungszellen). C Zweistrahlige,
(bipolare, diklone), mehr rundliche Zelle aus der Nähe der hinteren Com-
missur (sympathische Zelle). Vergr. 300.
[236]Zwölfte Vorlesung.
hängt es ja ganz und gar von einem glücklichen Zufalle ab,
ob man in einem Schnitte mit einer gewissen Bestimmtheit
den Verlauf einer einzelnen Faser über grössere Strecken hin-
aus verfolgen kann. Diese Schwierigkeit lässt sich allerdings
dadurch ergänzen, dass man die Schnitte in allen möglichen
Richtungen führt und so die Wahrscheinlichkeit steigert, dass
man endlich einmal auf die Richtung stossen wird, in welcher
sich ein Ast auflöst, aber auch dann noch bleibt die Schwie-
rigkeit so gross, dass man kaum darauf rechnen kann, jemals
die ganze Verbreitung und Verbindung einer irgendwie viel-
ästigen Zelle aus den Centralorganen auf einmal übersehen
zu können.
Auch in dieser Beziehung ist das elektrische Organ
ein besonders interessanter Punkt der Untersuchung geworden,
insofern durch Bilharz die eine Faser, welche das Organ ver-
sieht, in eine einzige centrale Ganglienzelle zurückverfolgt ist,
welche so gross ist, dass man sie mit blossem Auge präpari-
ren kann. Diese Ganglienzelle hat auch nach anderen Rich-
tungen hin feinere Ausstrahlungen, allein die weiteren Bezie-
hungen derselben zu ermitteln, ist bis jetzt nicht gelungen, so
wenig, wie wir im Stande gewesen sind, von der feineren
Anatomie des menschlichen Gehirnes ein bestimmtes Bild zu
gewinnen, namentlich zu entdecken, bis zu welchem Maasse
darin Verbindungen von Zellen unter einander vorkommen.
Bei den Untersuchungen des Rückenmarkes hat es sich als
höchst wahrscheinlich herausgestellt, dass nicht alle Fortsätze
der einzelnen Ganglien in Nervenfasern übergehen, sondern
dass ein Theil derselben wieder zu Ganglienzellen geht und Ver-
bindungen zwischen Ganglienzellen herstellt. Ausserdem findet
man an gewissen Punkten, namentlich an manchen Stellen der
Oberfläche des Gehirns noch feinere Fortsätze, die von Ganglien
ausgehen und mit besonderen, ganz charakteristischen Ein-
richtungen in Verbindung stehen, welche die grösste Aehnlich-
keit darbieten mit denen der Retina, jenen ganz feinen, vibra-
torischen Einrichtungen der radiären Fasern (Stäbchenschicht
des kleinen und grossen Gehirns).
Man dürfte demnach die Fortsätze der Ganglien in drei
[237]Fortsätze der Ganglienzellen.
Kategorien theilen können: eigentliche Nervenfortsätze, Ganglien-
fortsätze, und solche, die in ihrer Bedeutung ganz und gar
unbekannt sind und die, wie es scheint, mit eigenthümlichen,
ganz specifischen Apparaten in Verbindung stehen, von denen
es vorläufig dahinsteht, ob sie als Endigungen der Nerven
oder als nur den Nerven apponirte Theile zu betrachten sind.
[[238]]
Dreizehnte Vorlesung.
3. April 1858.
Rückenmark und Gehirn.
Das Rückenmark. Weisse und graue Substanz. Centralkanal. Gangliöse Gruppen. Weisse
Stränge und Commissuren.
Die Medulla oblongata und das Gehirn. Körner- und Stäbchenschicht desselben.
Das Rückenmark des Petromyzon und die marklosen Fasern desselben.
Die Zwischensubstanz (interstitielles Gewebe). Ependyma ventriculorum. Neuroglia. Corpora
amylacea.
Ich hatte Ihnen schon das vorige Mal, meine Herren, das Re-
sultat der jüngsten Beobachtungen über die Verbreitung der
Ganglienzellen in den Centralapparaten in Beziehung auf die
Natur der Zellen selbst angeführt; erlauben Sie, dass ich einen
Augenblick stehen bleibe bei demjenigen Organe, welches als
Typus in der Wirbelthier-Entwickelung dient, nämlich beim
Rückenmark, zugleich demjenigen, dessen Struktur wir am
besten übersehen können.
Das Rückenmark ist bekanntlich, wie man auf jedem
Querschnitte vom blossen Auge mit Leichtigkeit sehen kann,
an verschiedenen Stellen seines Verlaufes verschieden reich an
weisser Substanz, so jedoch, dass fast überall die weisse Sub-
stanz über die graue das Uebergewicht hat. Letztere tritt
auf Querschnitten unter der Form der bekannten Hörner her-
vor, die sich durch ihre bald blassgraue, bald grauröthliche
Färbung von dem reinen Weiss der übrigen Masse deutlich
[239]Graue Hörner und Centralkanal des Rückenmarkes.
absetzen. So weit nun, als die Substanz vom blossen Auge
weiss erscheint, besteht sie wesentlich aus wirklichen markhal-
tigen Nervenfasern, in welche nur hier und da einzelne
Ganglienzellen eingeschoben sind, und zwar ist ein grosser Theil
dieser Fasern von beträchtlicher Breite, so dass die Masse des
Markstoffes an gewissen Punkten eine ausserordentlich reich-
liche ist.
Die graue Substanz der Hörner ist die eigentliche Träge-
rin der Ganglienzellen, aber auch hier ist das graue Aussehen
keineswegs bloss der Anhäufung von Ganglienzellen zuzu-
schreiben; vielmehr bilden, wie Sie nachher sehen werden, die
Ganglienzellen immer nur einen kleinen Theil dieser Substanz,
und das graue Aussehen ist hauptsächlich dadurch bedingt,
dass im Allgemeinen an diesen Stellen jene undurchsichtige, stark
lichtbrechende Substanz (das Myelin, der Markstoff) nicht ab-
geschieden ist, welche die weissen Nerven erfüllt.
Inmitten der grauen Substanz ist es, wo, wie besonders
Stilling gezeigt hat, in der That der centrale Kanal vor-
handen ist, den man früher so vielfach vermuthet, häufig auch
als regelmässigen Befund bezeichnet hat, der aber doch nie-
mals früher regelmässig demonstrirt werden konnte, der Ca-
nalis spinalis. Bei den älteren Beobachtern z. B. Portal
handelte es sich immer um einzelne pathologische Befunde,
von welchen sie ihre Kenntnisse über diese Einrichtung her-
nahmen und von welchen aus sie ziemlich willkürlich schlos-
sen, dass dies die Regel sei.
Der Centralkanal ist so fein, dass besonders glückliche
Durchschnitte dazu gehören, um ihn mit blossem Auge deut-
lich wahrnehmen zu können. Gewöhnlich erkennt man nichts
weiter als einen rundlichen grauen Fleck, der sich von der
Nachbarschaft durch eine etwas grössere Dichtigkeit unterschei-
det. Erst die mikroskopische Untersuchung zeigt innerhalb
des Fleckes den Querschnitt des Kanals als ein feines Loch
(Fig. 90, c, c.), welches, wie fast alle freien Oberflächen des Kör-
pers, mit einem Epitheliallager überkleidet ist. Es ist dies ein
wirklich regelmässiger, constanter und persistenter Kanal in
aller Form Rechtens. Derselbe setzt sich durch die ganze
Ausdehnung des Rückenmarkes fort vom Filum terminale, wo
[240]Dreizehnte Vorlesung.
er nicht zu allen Zeiten ganz deutlich herzustellen ist, bis zum
vierten Ventrikel hinauf, wo seine Einmündungsstelle in den
sogenannten Sinus rhomboidalis an der gelatinösen Substanz
des Calamus scriptorius liegt. Hier kann man ihn als eine di-
recte Fortsetzung vom Boden des vierten Ventrikels aus zu-
nächst in eine feine trichterförmige Spalte oder Linie ver-
folgen.
Was nun die Ganglien-Zellen anbetrifft, so finden sie
sich gewöhnlich in der grössten Masse in den vorderen und
seitlichen Theilen der vorderen Hörner. An dieser Stelle ist
es, wo wir hauptsächlich die grossen vielstrahligen Elemente
antreffen, welche wir das letzte Mal betrachtet haben, Ele-
Die Hälfte eines Querschnittes aus dem Halstheile des
Rückenmarkes. fa Fissura anterior, fp Fissura posterior. cc Centralka-
nal mit dem centralen Ependymfaden. ca Commissura anterior mit sich
kreuzenden Nervenfasern, cp Commissura posterior. ra Vordere Wurzeln,
rp hintere. gm Anhäufung der Bewegungszellen in den Vorderhörnern,
gs Empfindungszellen der Hinterhörner, gs' sympathische Zellen. Die
schwarzpunktirte Masse stellt die Querschnitte der weissen Substanz
(Nervenfasern der Vorder-, Seiten- und Hinterstränge) des Rückenmarkes
mit ihren lobulären Abtheilungen dar. Vergr. 12.
[241]Stränge des Rückenmarkes.
mente, die zum Theil verfolgt worden sind in austretende Ner-
ven der vorderen Wurzeln, die also motorischen Nerven ihren
Ursprung geben.
Eine analoge, aber weniger deutlich gruppirte Anhäufung
findet sich gegen die hinteren Hörner hin, aber es sind mehr
die kleinen mehrstrahligen Zellen, wie ich sie Ihnen neulich
beschrieben habe, die zusammenhängen mit den Fasern, welche
den hinteren Wurzeln zukommen, die also wahrscheinlich der
sensitiven Function dienen. Ausserdem zeigt sich gewöhnlich
noch eine dritte, bald mehr zusammengeordnete, bald mehr
zerstreute Gruppe von Zellen, welche ihrem ganzen Baue nach
an die bekannten Formen der Ganglienzellen in den sympa-
thischen Theilen erinnern (Fig. 89, C. 90, gs'.) Ihre beson-
dere Stellung innerhalb des Rückenmark-Verlaufes ist allerdings
nicht so klar bezeichnet, wie die der anderen Theile; viel-
leicht sind sie als die Quelle für die sympathischen Wur-
zeln zu betrachten, welche vom Rückenmarke sich zum
Grenzstrang begeben.
Innerhalb der weissen Substanz der Vorder-, Seiten- und
Hinterstränge finden sich die markhaltigen Nervenfasern, welche
im Allgemeinen einen auf- und absteigenden Verlauf nehmen,
so dass wir auf Querschnitten des Rückenmarkes auch fast
nur Querschnitte der Nervenfasern zu Gesicht bekommen. Daher
sieht man unter dem Mikroskope hier gewöhnlich dunkle Punkte, von
denen jeder einer Nervenfaser entspricht. Die ganze Fasermasse der
Rückenmarksstränge ist von innen nach aussen in eine Reihe
von Gruppen oder Segmenten von meist radiärer Anordnung,
gewissermaassen in keilförmige Lappen zerlegt, indem sich
zwischen die einzelnen, auch hier fasciculären Abtheilungen
eine bald kleinere, bald grössere Masse von Bindegewebe mit
Gefässen einschiebt. Letzteres hängt mit der reichlicheren
Bindegewebsmasse der grauen Substanz direct zusammen. Was
nun die Nervenfasern selbst betrifft, so dürfte ein gewisser
Theil von diesen der ganzen Länge des Rückenmarkes nach
fortgehen, aber sicher darf man nicht annehmen, dass sie alle
vom Gehirne herkommen; ein wahrscheinlich beträchtlicher
Theil stammt wohl von den Ganglienzellen des Rückenmarkes
selbst und biegt dann in die vorderen oder hinteren Stränge
16
[242]Dreizehnte Vorlesung.
um. Ausserdem hat man sich mehr und mehr überzeugt, dass
sowohl zwischen den beiden Hälften des Rückenmarkes, als
zwischen den einzelnen Ganglien-Gruppen directe Verbindun-
gen, Commissuren, bestehen, indem Fasern von einer Zelle
zur anderen und von einer Seite zur anderen hinübertreten,
theils in der Weise, dass sie mit denen der entgegengesetzten
Seite sich kreuzen (vordere Commissur), theils so, dass sie ge-
streckt und parallel verlaufen (hintere Commissur).
Mit diesen anatomischen Erfahrungen kann man sich ein
freilich noch sehr ungenügendes Bild machen von den Wegen,
auf welchen die Vorgänge innerhalb der Centraltheile passiren.
Jede besondere Thätigkeit hat ihre besonderen ele-
mentaren, zelligen Organe, jede Art der Leitung fin-
det ihre bestimmt vorgezeichneten Bahnen. Auch im
Grossen entsprechen den functionellen Verschiedenheiten ganz
bestimmte Eigenthümlichkeiten in der Struktur der einzelnen
Centraltheile, namentlich entwickeln sich nach oben hin die
hinteren Hörner allmählig immer kräftiger, und in dem Maasse
als diese Entwickelung vorschreitet, macht sich die Entfaltung
der Medulla oblongata, des kleinen und grossen Gehirns, wo-
bei mehr und mehr die motorischen Theile in den Hintergrund
treten, um zuletzt fast ganz zu verschwinden. Der Anlage
nach und im Grossen bestehen überall analoge Verhältnisse;
das Einzige, was bis jetzt wenigstens als eine besonders cha-
rakteristische Eigenthümlichkeit der centralen Apparate be-
trachtet werden kann, ist die schon in der letzten Vorlesung
hervorgehobene Erscheinung, dass am Gross- und Klein-
hirn Ganglien-Fortsätze mit besonders zusammengesetz-
ten Apparaten in Verbindung stehen, die am meisten Aehn-
lichkeit haben mit der Ihnen vorgeführten Körner- und
Stäbchenschicht der Retina. Auch hier finden sich verästelte,
fast baumförmige Fäden, welche kleine Körnchen in oft mehr-
facher Reihe in sich schliessen, und welche sich an die Ganglien-
zellen in einer wesentlich anderen, namentlich sehr viel feine-
ren Weise anfügen, als das bei den eigentlichen Nervenfort-
sätzen der Fall ist. Diese Art von Ganglienzellen dürfte
wohl mit der psychischen Thätigkeit in näherer Verbin-
dung stehen, indess wissen wir darüber vorläufig nichts
[243]Kleinhirn.
Genaueres, und es wird auch wohl noch lange Zeit dauern,
ehe man etwas Positives darüber ermitteln kann, da selbst der
Untersuchung viel mehr zugängliche Theile, wie die Retina,
die allergrössten Schwierigkeiten für die Deutung der einzel-
nen Abschnitte darbieten.
Die Form der Rückenmarks Bildung, wie wir sie beim Men-
schen kennen gelernt haben, ist im Wesentlichen dieselbe durch die
ganze Reihe der Wirbelthiere, nur dass sie beim Menschen im All-
gemeinen eine grössere Complication, einen grösseren Reichthum
sowohl an Nervenfasern, als an Gangliensubstanz darbietet. Ich
habe Ihnen zur Vergleichung den Durchschnitt vom Rückenmarke
Schematische Darstellung des Nervenverhaltens in der
Rinde des Kleinhirns nach Gerlach. (Mikroskopische Studien Taf. I.
Fig. 3.) A weisse Substanz, B, C graue Substanz, B Körnerschicht,
C Zellenschicht.
16*
[244]Dreizehnte Vorlesung.
eines der niedrigsten Wirbelthiere mitgebracht, nämlich von
einem Neunauge (Petromyzon). Bei diesem Thier stellt das
Rückenmark ein sehr kleines plattes Band dar, welches in der
Fläche etwas eingebogen ist und auf den ersten Anblick wie
ein wirkliches Ligament aussieht. Macht man einen Quer-
schnitt davon, so enthält dieser an sich dieselben Theile, die
wir beim Menschen sehen, aber Alles nur in der Anlage.
Was wir bei uns graue Substanz nennen, das findet sich auch
hier wieder zu beiden Seiten in der Gestalt je eines plattläng-
lichen Lappens, welcher einzelne Ganglienzellen, aber nur sehr
wenige enthält, so dass man auf jeder Seite des Querschnit-
tes vielleicht nur 4—5 davon findet. In der Mitte erkennt
man ebenfalls einen Centralkanal, und zwar mit derselben
Epithelialschicht, wie beim Menschen. Nach unten und vorn
davon liegt gewöhnlich eine Reihe von grösseren runden
Lücken, welche ganz ungewöhnlich grossen, zuerst von Joh.
Müller gesehenen, marklosen Nervenfasern entsprechen. Wei-
ter nach aussen liegen noch einzelne dickere, überwiegend
jedoch eine grosse Menge ganz feiner Fasern, welche dem
Durchschnitt durch das Rückenmark des Petromyzon
fluviatilis. F Fissura anterior, F' Fissura posterior. c Centralkanal
mit Epithel. gm grosse, vielstrahlige Ganglienzellen mit Fortsätzen in
der Richtung der vorderen Wurzeln, gp kleinere, mehrstrahlige Zellen
mit Fortsätzen zu den hinteren Wurzeln, gs grosse, rundliche Zellen in
der Nähe der hinteren Commissur (sympathische Zellen). n, n Querdurch-
schnitte der grossen, blassen Nervenfasern (Müller’schen Fasern), n' leere
Lücken, aus welchen die grossen Nerven ausgefallen sind, n'' Lücke für
kleinere Fasern. Ausserdem zahlreiche Querschnitte feinerer und gröbe-
rer Fasern.
[245]Rückenmark des Petromyzon.
Querschnitte ein sehr buntes, regelmässig getüpfeltes Aussehen
geben. Unter den Ganglienzellen kann man auch hier drei
verschiedene Arten unterscheiden. Nach aussen in der grauen
Substanz liegen vielstrahlige, nach vorn grössere, nach hinten
kleinere und einfachere Zellen. Mehr nach innen und hinten
dagegen finden sich grössere, mehr rundliche, wie es scheint,
diklone (bipolare) Zellen, den sympathischen Formen vergleich-
bar. Diese Zellen communiciren über die Mitte durch wirk-
liche Faser-Verbindungen, und ausserdem findet man Fortsätze,
welche nach vorne und rückwärts aus dem Rückenmarke her-
vortreten und die vordere und hintere Wurzel bilden. Das
ist das einfachste Schema, welches wir für diese Verhältnisse
besitzen, der allgemeine Typus für die anatomische Einrich-
tung dieser Theile.
Besonders zu bemerken ist hier, dass beim Petromyzon
in der ganzen Substanz des Rückenmarkes kein Markstoff in
isolirter Ausscheidung vorhanden ist, wie wir ihn beim Men-
schen haben; man findet nur einfache blasse Fasern, welche
Stannius geradezu als nackte
Axencylinder angesprochen hat.
Abgesehen davon, dass sie zum
Theil einen kolossalen Durchmes-
ser haben, so findet man bei ge-
nauerer Untersuchung, wie bei
den gelatinösen, grauen Fasern
des Menschen, eine auf Quer-
schnitten, besonders nach Fär-
bung mit Carmin sehr deut-
liche Membran und im Centrum
eine feinkörnige Substanz, so dass
sie vielmehr ganzen Nervenfasern
zu entsprechen scheinen.
Blasse Fasern aus dem Rückenmark des Petromyzon flu-
viatilis. A Breite, schmale und feinste Fasern. B Querschnitte von brei-
ten Fasern mit deutlicher Membran und körnigem Centrum. Vergr. 300.
[246]Dreizehnte Vorlesung.
Ich habe bis jetzt, meine Herren, bei der Betrachtung des
Nervenapparates immer nur der eigentlich nervösen Theile ge-
dacht. Wenn man aber das Nervensystem in seinem wirk-
lichen Verhalten im Körper studiren will, so ist es ausser-
ordentlich wichtig, auch diejenige Masse zu kennen, welche
zwischen den eigentlichen Nerventheilen vorhanden
ist, welche sie zusammenhält und dem Ganzen mehr oder
weniger seine Form gibt.
Es ist gar nicht so lange her, als man das Vorhanden-
sein solcher Massen eigentlich nur bei den peripherischen Ner-
ven zuliess und das Neurilem bis auf die Häute des Rücken-
markes und Gehirnes zurückverfolgte, höchstens dass man
innerhalb der Ganglien und in der ganzen Ausdehnung des
Sympathicus ein solches Umhüllungsgewebe anerkannte. In
den eigentlichen Centren und namentlich im Gehirne deutete
man die Zwischensubstanz gerade als eine wesentliche Nerven-
masse, und sie erschien sogar so lange als eine Art von na-
türlichem Desiderat, als man eine directe Uebertragung der Er-
regung von Faser zu Faser zuliess, als man also nicht die
Nothwendigkeit einer wirklichen Continuität der Leitung der
Nervenvorgänge innerhalb der Nerven selbst festhielt. So
sprach man im Gehirne von einer feinkörnigen Zwischenmasse,
welche sich zwischen die Fasern einschieben sollte und welche
freilich keine vollständige Verbindung zwischen ihnen herstellte,
indem sie eine gewisse Schwierigkeit in der Uebertragung der
Erregungen bedingte, welche aber doch eine Art von Leitung
ermöglichen sollte, so dass bei einer gewissen Höhe der Er-
regung eben auch eine directe Uebertragung von Faser zu Fa-
ser stattfinden könne. Diese Substanz ist jedoch unzweifelhaft
nicht nervöser Natur, und wenn man ihre Beziehung zu den
bekannten Gruppen der physiologischen Gewebe aufsucht, so
kann man darüber nicht im Unsicheren bleiben, dass es sich
um eine Art des Bindegewebes handelt, also um ein Aequiva-
lent desjenigen Gewebes, welches wir im Perineurium kennen
gelernt haben (S. 206). Allein der Habitus dieser Substanz
ist allerdings sehr weit verschieden von dem, was wir Peri-
neurium oder Neurilem nennen. Letztere sind verhältnissmäs-
sig derbe, oft sogar harte und zähe Gewebe, während jene
[247]Ependyma ventriculorum.
Substanz ausserordentlich weich und gebrechlich ist, so dass
man nur mit grosser Schwierigkeit überhaupt dahin kommt,
ihren Bau kennen zu lernen.
Ich wurde zuerst auf ihre Eigenthümlichkeit aufmerksam
bei Untersuchungen, die ich vor Jahren über die sogenannte
innere Haut der Hirnventrikel (Ependyma) anstellte.
Damals bestand die Ansicht, welche zuerst durch Purkinje
und Valentin, später namentlich durch Henle geltend ge-
worden war, dass eine eigentliche Haut in den Hirn-Ventrikeln
gar nicht existire, sondern nur ein Epithelial-Ueberzug, indem
die Epithelialzellen unmittelbar auf der Fläche der horizontal
gelagerten Nervenfasern aufsässen. Dies war das, was Pur-
kinje Ependyma ventriculorum nannte. Diese Annahme ist
freilich von den Pathologen nie getheilt worden. Die Patho-
logie ging ziemlich unbekümmert um die histologischen Anga-
ben einher. Indess erschien es doch wünschenswerth, hier
eine Verständigung zu gewinnen, da in einem solchen Epen-
dyma nicht wohl eine Entzündung vorkommen konnte, wie
man sie einer serösen Haut zuzuschreiben pflegt. Bei meinen
Untersuchungen ergab sich nun, dass allerdings unter dem Epi-
thel der Ventrikel eine Schicht vorhanden ist, welche an man-
chen Stellen ganz dem Habitus des Bindegewebes entspricht,
an anderen Stellen jedoch eine sehr weiche Beschaffenheit an-
nimmt, so dass es überaus schwierig ist, eine Beschreibung
von ihrem Aussehen zu liefern. Jede kleinste Zerrung an dem
Theile ändert seine Erscheinung, und man sieht bald körnige,
bald streifige, bald netzförmige oder wie sonst geartete Sub-
stanz. Anfangs glaubte ich mich beruhigen zu dürfen bei
dem Nachweise, dass hier überhaupt ein dem Bindegewebe
analoges Gewebe existire und eine Haut zu constatiren sei.
Allein, je mehr ich mich mit der Untersuchung dieser Theile
beschäftigte, um so mehr überzeugte ich mich, dass eine eigent-
liche Grenze zwischen dieser Haut und den tieferen Gewebs-
lagen nicht existire, und dass man nur in einem uneigentlichen
Sinne von einer Haut sprechen könne, da man doch bei einer
Haut voraussetzt, dass sie von der Unterlage mehr oder we-
niger different, als ein trennbares Ding vorhanden ist. Im
Groben lässt sich freilich nicht selten eine solche Trennung
[248]Dreizehnte Vorlesung.
vornehmen, aber im Feineren ist es durchaus nicht möglich.
Man sieht, wenn man die Oberfläche irgend eines Theiles der
Ventrikel bei stärkerer Vergrösserung einstellt, zunächst an
der Oberfläche ein bald mehr, bald weniger gut erhaltenes
Epithel (Fig. 94, E.). Im günstigsten Falle sieht man ein Cylin-
der-Epithel mit Cilien, welches sich durch die ganze Ausdeh-
dehnung der Höhle des Rückenmarkes (Centralkanal) und des
Hirnes (Ventrikel) erstreckt. Unter dieser Lage folgt eine
bald mehr, bald weniger reine Schicht von bindegewebsartiger
Struktur, welche auf den ersten Blick gegen die Tiefe hin al-
lerdings scharf abgesetzt erscheint, denn schon mit blossem
Auge, namentlich nach Behandlung mit Essigsäure, sieht man
sehr deutlich eine äussere, graue und durchscheinende Lage,
während die tiefere Schicht weiss aussieht. Dies weisse Aus-
Ependyma ventriculorum und Neuroglia vom Boden des
vierten Hirnventrikels. E Epithel, N Nervenfasern. Dazwischen der freie
Theil der Neuroglia mit zahlreichen Bindegewebszellen und Kernen, bei
v ein Gefass, im Uebrigen zahlreiche Corpora amylacea, welche bei ca
noch isolirt dargestellt sind. Vergr. 300.
[249]Histologische Stellung des Ependyms.
sehen rührt daher, dass hier markhaltige Nervenfasern liegen,
anfangs einzeln, dann immer mehr und dichter, in der Regel
der Oberfläche parallel. So kann es allerdings erscheinen, als
sei hier eine besondere Haut, die man von der Oberfläche der
letzten Nervenfasern trennen könnte. Vergleicht man nun aber
die Masse, welche die Oberfläche begrenzt, mit derjenigen,
welche zwischen den Nervenfasern liegt, so zeigt sich keine
wesentliche Verschiedenheit, und es ergibt sich vielmehr, dass
die oberflächliche Schicht weiter nichts ist, als der zu Tage
über die Nervenelemente hinausgehende Theil des Zwischen-
gewebes, welches überall zwischen den Elementen vorhanden
ist und welches nur hier in seiner Reinheit zur Erscheinung
kommt. Es ist also das Verhältniss ein continuirliches.
Sie sehen aus dieser Darstellung, dass es ein ganz müs-
siger Streit war, wenn man Jahre lang darüber discutirte, ob
die Haut, welche die Ventrikel auskleide, eine Fortsetzung von
der Arachnoides oder der Pia mater oder eine eigene Haut
sei. Es ist, streng genommen, gar keine Haut vorhanden, son-
dern es ist die Oberfläche des Organs, welche unmittelbar zu
Tage tritt. Auch an dem Gelenkknorpel müssen wir es als
einen müssigen Streit bezeichnen, welche Art von Haut den
Knorpel überzieht, da der Knorpel selbst bis an die letzte
Oberfläche des Gelenkes herantritt. Es geht nichts von der
Arachnoides, nichts von der Pia mater auf die Oberfläche des
Ventrikels, sondern die letzten Ausbreitungen, welche diese
Häute nach innen aussenden, sind die Plexus chorioides und
die Tela chorioides. Ueber diese hinaus findet sich kein serö-
ser Ueberzug mehr, welcher die innere Fläche der Hirnhöhlen
auskleidet. Aus diesem Grunde kann man die Zustände der
Hirnhöhlen nicht vollkommen vergleichen mit den Zuständen
der gewöhnlichen serösen Säcke. Es kann allerdings an der
Tela chorioides oder den Plexus eine Reihe von Erscheinungen
auftreten, welche parallel stehen den Störungen anderer serö-
ser Theile, aber nie kann dies in derselben Art an der Ven-
trikeloberfläche des Gehirns selbst stattfinden.
Diese Eigenthümlichkeit der Haut, dass sie continuirlich
in die Zwischenmasse, den eigentlichen Kitt, welcher die Ner-
venmasse zusammenhält, übergeht, dass sie in ihrer ganzen
[250]Dreizehnte Vorlesung.
Erscheinung eine von den übrigen Bindegewebsbildungen ver-
schiedene Masse repräsentirt, hat mich veranlasst, ihr einen
neuen Namen beizulegen, den der Neuroglia (Nervenkitt).
Die Ansicht, dass es sich um eine Bindegewebsmasse handele,
ist in der neueren Zeit von allen Seiten recipirt worden, allein
über die Ausdehnung, innerhalb deren man die einzelnen vor-
kommenden Gebilde dieser Substanz zuzurechnen hat, sind die
Meinungen noch getheilt. Schon als ich meine ersten weiter-
gehenden Untersuchungen über diese Theile anstellte, ergab es
sich, dass gewisse sternförmige Elemente, welche in der Mitte
des Rückenmarks, im Umfang des nachher genauer constatirten
Centralkanals, in dem von mir sogenannten centralen Epen-
dymfaden vorkommen und welche bis dahin als Nervenzellen be-
trachtet worden waren, unzweifelhaft der Neuroglia angehörten.
Es ist dann späterhin, namentlich durch die Dorpater Schule
unter Bidder, eine Reihe von Untersuchungen publicirt wor-
den, in denen man eine grosse Zahl von Zellen des Rücken-
marks diesem Bindegewebe zugerechnet hat. Bidder selbst
fasste zuletzt alle Zellen, welche in der hinteren Hälfte des
Rückenmarks vorkommen, also auch die von Ihnen eben ge-
sehenen sympathischen und sensitiven Zellen als Bindegewebs-
körper auf. Auf der anderen Seite dagegen hat noch Jacu-
bowitsch geläugnet, dass überhaupt im Hirn oder Rücken-
mark irgendwo zellige Theile des Bindegewebes vorkommen;
das freilich auch von ihm als Bindesubstanz aufgefasste Zwischen-
gewebe sei eine ganz amorphe, fein granulirte oder netzartige
Masse, welche durchaus nirgend körperliche Theile mit sich
führe. Innerhalb dieser Extreme, so glaube ich, ist es in der
That empirisch vollkommen gerechtfertigt, die Mitte zu halten.
Es kann, meiner Ueberzeugung nach, nicht bezweifelt werden,
dass die grossen Elemente, welche in dem Rückenmark die
hinteren Hörner durchsetzen, Nervenzellen sind, allein auf der
anderen Seite muss ebenso bestimmt behauptet werden, dass,
wo Neuroglia vorkommt, sie auch eine gewisse Zahl von zel-
ligen Elementen enthält. An der Oberfläche der Hirnventrikel
kommen gewöhnlich der Oberfläche parallel liegende Spindel-
zellen vor, ähnlich, wie man sie in anderen Bindegewebsarten
findet; diese werden unter Umständen grösser, und geben sich,
[251]Neuroglia.
wenn man schräge Schnitte macht, oft als sternförmige Ele-
mente zu erkennen (Fig. 94.)
Ein ganz ähnlicher Bau, wie wir ihn früher vom Binde-
gewebe kennen gelernt haben, insbesondere ähnliche Elemente
finden sich auch zwischen den Nervenfasern des Grosshirns vor, aber
sie sind so weich und gebrechlich, dass man meist nur Kerne wahr-
nimmt, die in gewissen Abständen in der Masse zerstreut sind. Wenn
man aber genau sucht, so kann man auch
an frischen Objecten einzelne weiche zellige
Körper erkennen, welche einen feinkörnigen
Inhalt und grosse, granulirte Kerne mit
Kernkörperchen besitzen und als rundliche, oder
linsenförmige Gebilde in einer allerdings nicht sehr beträcht-
lichen Menge zwischen den Nerven-Elementen liegen. An ge-
wissen Stellen ist es freilich bis jetzt unmöglich gewesen,
eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen den beiden Geweben, so na-
mentlich an der Oberfläche des kleinen und grossen Gehirnes
zwischen den Körnern, welche ich vorher schilderte, die mit
grossen Ganglien zusammenhängen, und den Kernen des
Bindegewebes. Sobald man die Theile aus dem Zusammen-
hange gerissen sieht, so kann man nicht leicht einen Unter-
schied machen eine bestimmte Deutung ist nur so lange mög-
lich, als man die Theile in ihrer natürlichen Lage übersieht.
Gewiss ist es von erheblicher Wichtigkeit zu wissen, dass
in allen nervösen Theilen ausser den eigentlichen Nerven-Ele-
menten noch ein zweites Gewebe vorhanden ist, welches sich
anschliesst an die grosse Gruppe von Bildungen, welche den
ganzen Körper durchziehen, und welche wir in den früheren
Vorlesungen als Gewebe der Bindesubstanz kennen gelernt ha-
ben. Spricht man von pathologischen oder physiologischen
Zuständen des Hirns oder Rückenmarks, so handelt es sich
zunächst immer darum, zu zeigen, in wie weit dasjenige Ge-
webe, welches getroffen oder erregt ist, welches leidet, nervö-
Elemente der Neuroglia aus der weissen Substanz der
Grosshirnhemisphäre des Menschen. a freie Kerne mit Kernkörperchen,
b Kerne mit körnigen Resten des bei der Präparation zertrümmerten
Zellenparenchyms, c vollständige Zellen. Vergr. 300.
[252]Dreizehnte Vorlesung.
ser Natur oder bloss interstitielle Masse ist. Für die Deutung
krankhafter Procezze gewinnen wir von vornherein die wich-
tige Scheidung, dass alle die verschiedenen Hirn- und Rücken-
marksaffectionen bald mehr interstitiell, bald mehr parenchymatös
sein können, und die Erfahrung lehrt, dass gerade das inter-
stitielle Gewebe des Hirns und Rückenmarkes einer der häu-
figsten Sitze krankhafter Veränderung z. B. der fettigen De-
generation ist.
Innerhalb der Neuroglia verlaufen die Gefässe, welche da-
her von der Nervenmasse fast überall noch durch ein leichtes
Zwischenlager getrennt sind und nicht im unmittelbaren Con-
takt mit derselben sich befinden. Die Neuroglia erstreckt sich
in der besonders weichen Form, welche sie an den Central-
Organen, besonders am Gehirne hat, nur noch auf diejenigen
Theile, welche als directe Verlängerungen der Hirnsubstanz
betrachtet werden müssen, nämlich auf die höheren Sinnes-
nerven. Der Olfactorius, Opticus und Acusticus tragen in sich
noch dieselbe Beschaffenheit der Zwischenmasse, während in
den übrigen Theilen, selbst schon im Opticus, eine zunehmende
Masse eines derberen Gewebes auftritt, welches den ganzen
Charakter des Perineuriums annimmt.
Perineurium und Neuroglia sind also äquivalente Theile,
nur dass die eine eine weiche, markige, gebrechliche Beschaf-
fenheit hat, während das andere sich den bekannten fibrösen
Theilen anschliesst. Das Neurilem aber verhält sich zum Pe-
rineurium, wie die Hirn- und Rückenmarkshäute zu der Neu-
roglia.
Ueberall, wo Neuroglia vorhanden ist, zeigt sich eine ganz
besondere Eigenthümlichkeit, welche sich weder chemisch noch
physikalisch bis jetzt deuten lässt; überall da besteht die Mög-
lichkeit, dass jene eigenthümlichen Körper vorkommen, welche
schon durch ihren Bau an die Pflanzenstärke-Körner erinnern,
durch ihre chemische Reaction sich aber denselben vollständig
an die Seite stellen, die viel discutirten Corpora amylacea
(Fig. 95, ca.). Am ausgedehntesten und mächtigsten liegen
sie im Ependyma der Ventrikel, desgleichen in dem
grossen Hirne und zwar um so reichlicher, je reichlicher
die Dicke der Ependymaschicht ist. Man findet sie gewöhn-
[253]Corpora amalycea.
lich an manchen Stellen nur vereinzelt, an anderen dagegen
nimmt ihre Zahl so sehr zu, dass die ganze Dicke der feinen
Schicht davon in einer solchen Weise eingenommen ist, dass
es aussieht, als wenn man ein Pflaster vor sich hätte. Die
Corpora amylacea treten aber merkwürdiger Weise auch unter
pathologischen Verhältnissen häufig in grosser Menge auf,
wenn durch eine Störung die Masse der Neuroglia im Verhält-
niss zur Nervensubstanz zunimmt, also nach Prozessen der
Atrophie. In der Tabes dorsualis, wie man früher sagte, der
Atrophie einzelner Rückenmarksstränge, wie wir es jetzt ge-
wöhnlich auflösen, findet man in dem Maasse, als die Atrophie
fortschreitet, als die Nerven untergehen in gewissen Richtungen,
z. B. in den hinteren Strängen, gewöhnlich zunächst an der
hinteren Spalte keilförmige Züge, in welchen die bis dahin
weisse Substanz von aussen her grau und durchscheinend wird;
es entsteht scheinbar graue Substanz. Das kann fortschreiten,
und geht gewöhnlich in der Weise fort, dass der Keil immer
höher und höher steigt und zugleich an Breite zunimmt. Hier
schwindet nun allmählig die ganze Substanz der markhaltigen
Fasern; man findet keine deutlichen Nerven an diesen Stellen
mehr; dagegen besteht die ganze Partie gewöhnlich aus einer
massenhaften Anhäufung von Neuroglia mit Corpora amylacea.
Nirgends im Körper hat man bis jetzt ein vollständiges
Analogon dieser Art von Bildungen gefunden, als, wie gesagt,
in denjenigen Theilen, welche als directe Ausstülpungen der
Hirnsubstanz erscheinen, in den höheren Sinnesorganen, wo
ursprünglich gewisse Quantitäten von Centralnervenmasse in
Durchschnitt des Rückenmarkes bei partieller (lobulärer)
grauer oder gelatinöser Atrophie (Degeneration). f Fissura longitudinalis
posterior, s, s hintere, m, m vordere Nervenwurzeln, in Verbindung mit
der grauen Substanz der Hörner. In A geringere, in B ausgedehnte
Atrophie, die sich in den Hintersträngen um die Mittelspalte f, und bei
l in den Seitensträngen zeigt. Natürliche Grösse.
[254]Dreizehnte Vorlesung.
die Sinneskapseln eintrat. Noch in der Cochlea, der Retina
kommen Bildungen vor, welche sich den Corpora amylacea an-
schliessen, obwohl bis jetzt die chemische Reaction nur in dem
Ohre gelungen ist.
Isolirt man solche Körper, so zeigen sie in jeder Beziehung
eine so vollständige Analogie mit Stärke, dass schon lange,
bevor es mir gelang, die Analogie der chemischen Reaction zu
finden, Purkinje wegen der morphologischen Aehnlichkeit die
Bezeichnung der Corpora amylacea eingeführt hatte. Sie wer-
den wissen, dass man von manchen Seiten die chemische
Uebereinstimmung bezweifelt hat, namentlich hatte der verstor-
bene Heinrich Meckel grosse Bedenken daran, indem er
vielmehr eine Beziehung zu Cholesterin annahm. In der
neueren Zeit ist selbst von Botanikern vom Fach die Sache
untersucht worden, z. B. von Nägeli, und jeder, der sich da-
mit genauer beschäftigte, hat bis jetzt dieselbe Ueberzeugung
gewonnen. Nägeli erklärte sogar diese Körper für ganz ve-
ritable Stärke. Morphologisch erscheinen sie entweder als
ganz runde, regelmässig geschichtete Körper, oder das Centrum
sitzt etwas seitlich, oder wir haben Zwillingskörper, oder aber
die Körper sind mehr homogen, blass, mattglänzend wie
fettartige Theile. Behandelt man sie mit Jod, so färben sie
sich blassbläulich, graublau, wobei freilich die richtige Concen-
tration des Reagens sehr viel ausmacht. Setzt man hinterher
Schwefelsäure zu, so bekommt man bei regelrechter Einwir-
kung ein schönes Blau, wie es am schönsten bei sehr lang-
samer Einwirkung des Reagens eintritt. Wirkt Schwefelsäure
stark ein, so erhält man eine violette und schnell eine braun-
rothe oder schwärzliche Färbung, welche von der Beschaffen-
heit der Nachbartheile sich auf das Entschiedenste unterschei-
det, denn diese werden gelb oder höchstens gelbbraun.
[[255]]
Vierzehnte Vorlesung.
7. April 1858.
Thätigkeit und Reizbarkeit der Elemente. Ver-
schiedene Formen der Reizung.
Das Leben der einzelnen Theile. Die Einheit der Neuristen. Das Bewusstsein. Die Thätig-
keit der einzelnen Theile. Die Erregbarkeit (Reizbarkeit) als allgemeines Kriterium des
Lebens. Begriff der Reizung. Partieller Tod, Nekrose.
Verrichtung, Ernährung und Bildung als allgemeine Formen der Lebensthätigkeit. Verschie-
denheit der Reizbarkeit je nach den Thätigkeiten.
Functionelle Reizbarkeit. Nerv, Muskel, Flimmerepithel, Drüsen. Ermüdung und functionelle
Restitution. Reizmittel. Specifische Beziehung derselben. Muskelirritabilität.
Nutritive Reizbarkeit. Erhaltung und Zerstörung der Elemente. Entzündung: die trübe
Schwellung. Niere (Morbus Brightii) und Knorpel. Die neuropathologische Doctrin. Haut,
Hornhaut. Die humoralpathologische Doctrin. Parenchymatöses Exsudat und parenchy-
matöse Entzündung.
Formative Reizung. Vermehrung der Kernkörperchen und Kerne durch Theilung. Vielkernige
Elemente: Markzellen und Myeloidgeschwulst. Vergleich der formativen Muskelreizung
mit dem Muskelwachsthum. Vermehrung (Neubildung) der Zellen durch Theilung. Die
humoral- und neuropathologischen Doctrinen.
Entzündliche R [...]zung als zusammengesetztes Phänomen. Die neuroparalytische Entzündung
(Vagus, Trigeminus).
Ich habe Ihnen, meine Herren, eine etwas lange Uebersicht
von der histologischen Einrichtung des Körpers gegeben, um
Ihnen den Schluss nahe zu führen, der, meiner Ansicht nach,
der Ausgangspunkt für alle weiteren Betrachtungen sein muss,
welche über Leben und Lebensthätigkeit angestellt werden
können, dass nämlich in allen Theilen des Körpers eine Zer-
spaltung in viele kleine Centren stattfindet, und dass nirgend,
soweit unsere anatomische Erfahrung reicht, ein einziger Mit-
telpunkt existirt, von dem aus die Thätigkeiten des Körpers in
[256]Vierzehnte Vorlesung.
einer erkennbaren Weise geleitet werden. Schon nach den all-
gemeinen Erfahrungen, die einem Jeden fast von selbst zu-
fliessen, ist dies die einzige Deutung, welche zugleich ein Le-
ben der einzelnen Theile und ein Leben der Pflanze zulässt
und welche uns in den Stand setzt, eine Vergleichung anzu-
stellen sowohl zwischen dem Gesammtleben des entwickelten
Thieres und dem Einzelleben seiner kleinsten Theile, als auch
zwischen dem Ganzen des Pflanzenlebens und dem Leben der
einzelnen Pflanzentheile.
Die entgegenstehende Auffassung, welche gerade in diesem
Augenblicke mit einer gewissen Energie hervortritt, diejenige,
welche im Nervensystem den eigentlichen Mittelpunkt des Le-
bens sieht, hat die überaus grosse Schwierigkeit vor sich, dass
sie in demselben Apparate, in welchen sie die Einheit verlegt,
dieselbe Zerspaltung in viele einzelne Centren wiederfindet,
welche der übrige Körper darbietet, und dass sie nirgends im
Nervensysteme einen wirklichen Mittelpunkt zeigen kann, von
welchem, wie von einem bestimmenden, alle Theile beherrscht
würden.
Man hat allerdings gut reden, dass das Nervensystem die
eigentliche Einheit des Körpers darstelle, insofern allerdings
kein anderes System vorhanden ist, welches einer so vollkom-
menen Verbreitung durch die verschiedensten peripherischen
und inneren Organe sich erfreute. Allein selbst diese weite Verbrei-
tung und die vielfachen Verbindungen, die zwischen den ein-
zelnen Theilen des Nervenapparates bestehen, sind keinesweges
geeignet, um dieses als Centrum aller organischen Thätigkeiten
erscheinen zu lassen. Wir haben im Nervenapparate bestimmte
kleine zellige Organe gefunden, welche als die Mittelpunkte der
Bewegung dienen, aber wir finden nicht ein Ganglion, von
welchem alle Bewegung in letzter Instanz ausginge, sondern
unzählige solcher Ganglien. Die verschiedensten einzelnen mo-
torischen Apparate stehen auch mit den verschiedensten einzel-
nen motorischen Ganglien in Beziehung. — Allerdings sammeln
sich die Empfindungen an bestimmten Ganglien, allein auch
hier finden wir kein Ganglion, welches etwa als Centrum aller
Empfindung bezeichnet werden könnte, sondern wieder sehr
viele kleinste Centren. Alle Thätigkeiten, welche vom Nerven-
[257]Die Einheit der Neuropathologie.
system ausgehen, und gewiss sind es sehr viele, lassen uns
nirgend anders eine Einheit erkennen, als in unserem eigenen
Bewusstsein; eine anatomische oder physiologische Einheit
ist wenigstens bis jetzt nirgends nachweisbar gewesen. Wollte
man wirklich das Nervensystem mit seinen einzelnen zahlrei-
chen Centren als Mittelpunkt aller organischen Thätigkeiten
bezeichnen, so würde man damit nicht gewonnen haben, was
man eigentlich sucht, die wirkliche Einheit. Macht man sich
die Schwierigkeiten klar, die einer solchen Einheit entgegen-
stehen, so kann es kaum zweifelhaft sein, dass wir durch die
Phänomene unseres Ichs immerfort irre geführt werden in der
Deutung der organischen Vorgänge. Wir, die wir uns als
etwas Einfaches und Einheitliches fühlen, wir gehen allerdings
immer davon aus, dass von diesem selben Einheitlichen Alles
bestimmt werden müsste. Wenn Sie aber die Entwicklung
einer bestimmten Pflanze von ihrem ersten Keime bis zur höch-
sten Entfaltung verfolgen, so treffen Sie eine ganz analoge
Reihe von Vorgängen, ohne dass wir auch nur vermuthen
könnten, es bestände eine solche Einheit, wie wir sie unserem
Bewusstsein nach in uns voraussetzen. Niemand ist im Stande
gewesen, ein Nervensystem bei den Pflanzen zu sehen; nir-
gend hat man gefunden, dass von einem einzigen Punkte aus
die ganze entwickelte Pflanze beherrscht werde. Alle heutige
Pflanzenphysiologie beruhtauf der Erforschung der Zellenthätigkeit,
und wenn man sich immer noch sträubt, dasselbe Prinzip auch
in die thierische Oekonomie einzuführen, so ist, wie ich glaube,
gar keine andere Schwierigkeit da, als die, dass man die
ästhetischen und moralischen Bedenken nicht zu überwinden
vermag.
Es kann natürlich hier unsere Sache nicht sein, diese Be-
denken zu widerlegen oder zu zeigen, wie sie sich vermitteln
liessen; ich habe nur zu zeigen, wie sehr das Pathologische,
was uns zunächst interessirt, überall auf dasselbe cellulare
Prinzip zurückführt, und wie es überall den einheitlichen Auf-
fassungen widerstreitet, welche man vom neuropathologischen
Standpunkte aus sucht. Es ist dies im Grunde kein neuer
und ungewöhnlicher Gedanke. Wenn man seit Jahrhunderten
von einem Leben der einzelnen Theile spricht, wenn man den
17
[258]Vierzehnte Vorlesung.
Satz zulässt, dass unter krankhaften Verhältnissen ein Abster-
ben einzelner Theile, eine Nekrose, ein Brand eintreten kann,
während das Ganze noch fortexistirt, so geht daraus hervor,
dass etwas von unserer Art zu denken in der allgemeinen
Auffassung längst gegeben war. Nur ist man sich darüber
nicht vollkommen klar geworden. Spricht man von einem Le-
ben der einzelnen Theile, so muss man auch wissen, worin
das Leben sich äussert, wodurch es wesentlich charakterisirt
ist. Dieses Charakteristicum finden wir in der Thätigkeit,
und zwar einer Thätigkeit, zu der jeder einzelne Theil etwas
Besonderes beiträgt, je nach seiner Eigenthümlichkeit, inner-
halb deren er aber auch immer etwas besitzen muss, wel-
ches mit dem Leben der übrigen Theile übereinstimmt: denn
sonst würden wir keine Berechtigung haben, das Leben als
etwas von einem gemeinschaftlichen Ausgangspunkte Herzulei-
tendes zu betrachten.
Diese Aktion, diese Thätigkeit des Lebens geht, so viel
wir wenigstens beurtheilen können, nirgends, an keinem ein-
zigen Theile durch eine ihm etwa von Anfang an zukommende
und ganz in ihm abgeschlossene Ursache vor sich, sondern
überall sehen wir, dass eine gewisse Erregung nothwendig
ist. Jede Lebensthätigkeit setzt eine Erregung, wenn Sie wol-
len, eine Reizung voraus. Daher erscheint uns die Erreg-
barkeit der einzelnen Theile als das Kriterium, wonach wir
beurtheilen, ob der Theil lebe oder nicht lebe. Ob z. B. ein
Nerv lebe oder todt sei, können wir unmittelbar durch seine
anatomische Betrachtung nicht erkennen, wir mögen den Ner-
ven nun mikroskopisch oder makroskopisch untersuchen. In
der äusseren Erscheinung, in den gröberen Einrichtungen, die
wir mit unseren Hülfsmitteln entziffern können, darin ist selten
die Möglichkeit gegeben, eine solche Unterscheidung zu machen.
Ob ein Muskel lebt oder abgestorben ist, können wir sehr we-
nig beurtheilen, da wir z. B. die Muskelstructur noch erhalten
finden an Theilen, welche schon seit Jahren abgestorben sind.
Ich habe in einem Kinde, welches bei einer Extrauterinschwan-
gerschaft 30 Jahre im Leibe seiner Mutter gelegen hatte, die
Structur der Muskeln so intakt gefunden, wie wenn das Kind
eben erst ausgetragen worden wäre. Czermak hat die Theile
[259]Erregbarkeit.
von Mumien untersucht und an ihnen eine Reihe von Ge-
weben gefunden, welche so vollständig erhalten waren,
dass man sehr wohl hätte auf den Schluss kommen können,
diese Theile wären aus einem lebenden Körper hergenommen.
Der Begriff des Todten, des Abgestorbenen, Nekrotischen be-
ruht ja eben darauf, dass wir bei und trotz Erhaltung der
Form nicht mehr die Erregbarkeit finden. Am deutlichsten
hat sich diese Erfahrung gerade in der neueren Zeit bei den
Untersuchungen über die feineren Eigenschaften der Nerven
gezeigt. Gegenwärtig, wo man auch am sogenannten ruhen-
den Nerven durch die Untersuchungen Dubois’s eine Thätig-
keit kennen gelernt, wo man eingesehen hat, dass auch in dem
ruhenden Nerven fortwährend elektrische Vorgänge stattfinden,
dass er fortwährend eine Wirkung auf die Magnetnadel aus-
übt, gegenwärtig können wir mit Sicherheit durch das physi-
kalische Experiment beurtheilen, wann der Nerv todt ist, denn
so wie der Tod eingetreten ist, hören jene Eigenschaften auf,
welche untrennbar mit dem Leben des Nerven verbunden sind.
Diese Eigenthümlichkeit, welche wir an einzelnen Thei-
len in einer so ausgesprochenen und so evident nachweisbaren
Weise finden, tritt immer mehr zurück, je niedriger organisirt
der Theil ist, und am Wenigsten sind wir im Stande, Kriterien
dieser Eigenschaft mit Sicherheit anzugeben an den Geweben,
welche die Bindegewebsformation umfasst. Hier sind wir in
der That häufig in grosser Verlegenheit, zu entscheiden, ob
ein Theil lebt oder schon abgestorben ist.
Wenn man nun weiter analysirt, was man unter dem Be-
griffe der Erregbarkeit verstehen soll, so ergibt sich alsbald,
dass die verschiedenen Thätigkeiten, welche auf irgend eine
äussere Einwirkung hervorgerufen werden können, wesentlich
dreierlei Art sind; und ich halte es für sehr wesentlich, dass
Sie diesen Punkt für die Deutung pathologischer Zustände be-
stimmt ins Auge fassen, um so mehr als er gewöhnlich nicht
mit besonderer Deutlichkeit hervorgehoben zu werden pflegt
Entweder nämlich handelt es sich beim Hervorrufen einer
bestimmten Thätigkeit um die Verrichtung, oder um die Erhal-
tung, oder um die Bildung eines Theiles: Function, Nu-
trition, Formation. Allerdings lässt sich nicht leugnen,
17*
[260]Vierzehnte Vorlesung.
dass an einem gewissen Punkte die Grenzen zwischen diesen
verschiedenen Vorgängen verschwinden, dass zwischen den nu-
tritiven Vorgängen und den formativen, und ebenso zwischen
den functionellen und den nutritiven Uebergänge bestehen, allein in
dem eigentlichen Akt unterscheiden sie sich doch ganz we-
sentlich, und die inneren Veränderungen, welche der einzelne
erregte Theil erleidet, je nachdem er nur fungirt, oder einer
besonderen Nutrition unterworfen ist, oder der Sitz besonderer
Bildungsvorgänge wird, zeigen erhebliche Verschiedenheiten.
Das Resultat einer Erregung oder, wenn Sie wollen, einer
Reizung kann je nach Umständen ein bloss functioneller Vor-
gang sein, oder es kann sich darum handeln, dass eine mehr
oder weniger starke Ernährung des Theiles eingeleitet wird,
ohne nothwendige Erregung der Function, oder es kann sein,
dass ein Bildungsvorgang einsetzt, welcher mehr oder weniger
neue Elemente schafft. Diese Verschiedenheiten werden in
dem Maasse deutlicher, als die einzelnen Gewebe des Kör-
pers geeignet sind, dem einen oder dem anderen Erregungs-
zustande zu entsprechen. Wenn wir nämlich von Functionen
der Theile sprechen, so fällt bei einer guten Zahl von Gewe-
ben die wahre Function in ein Minimum zusammen; wir wis-
sen im Ganzen sehr wenig zu sagen von der eigentlichen
Function im höheren Sinne des Wortes bei fast allen Geweben
der Bindesubstanz, bei der grössten Zahl der Epithelial-Ele-
mente. Wir können wohl sagen, was sie unter Umständen
für einen Nutzen haben, aber sie erscheinen uns doch immer
mehr als relativ träge Massen, welche der eigentlichen Function
weniger dienen, sondern vielmehr als Stützen für den Körper,
als Decken für die Oberflächen, unter Umständen verbindend
oder vermittelnd oder trennend wirken. Anders dagegen ver-
hält es sich mit denjenigen Theilen, welche durch die Eigen-
thümlichkeit ihrer inneren Einrichtung einer schnelleren Verän-
derung zugänglich sind, die Nerven, die Muskelapparate, die
drüsigen Theile und einzelne andere Gebilde, z. B. unter den
Epithelial-Elementen das Flimmer-Epithel. Bei allen diesen
Geweben, welche erheblichen Functionen dienstbar sind, finden
wir, dass die Function hauptsächlich begründet ist in der fei-
neren Umordnung, oder wenn Sie es präciser ausdrücken, in
[261]Functionelle Erregung.
feinen räumlichen Veränderungen der inneren Masse, des Zellen-
inhaltes. Es ist also hier weniger die eigentliche Zelle in
ihrer reinen Gestalt, sondern ihre specifische Ausstattung, wel-
che entscheidet; es handelt sich dabei weniger um die Mem-
bran oder den Kern der Zelle, als um den Inhalt. Dieser ist
es, der unter gewissen Einwirkungen sich verhältnissmässig
schnell verändert, ohne dass wir morphologisch von der Um-
ordnung der Inhaltspartikeln etwas wahrnehmen könnten.
Höchstens dass wir als grobes Resultat eine wirkliche Loko-
motion einzelner Theile sehen, die sich aber doch nicht
so weit auflösen lässt, dass man daraus beurtheilen könnte,
in welcher Weise diese Lokomotion durch die kleinsten Par-
tikelchen, welche den Zelleninhalt zusammensetzen, bedingt
wird. Wenn in einem Nerven eine Erregung stattfindet, so
wissen wir jetzt, dass damit eine Veränderung der elektrischen
Zustände verbunden ist, eine Veränderung, welche nach Allem,
was uns über die Erregung der Elektricität in anderen Kör-
pern bekannt ist, mit Nothwendigkeit bezogen werden muss
auf eine veränderte Stellung, welche die einzelnen Molekeln
zu einander annehmen. Denken wir uns den Axencylinder
aus elektrischen Molekeln zusammengesetzt, so können wir
uns vorstellen, dass je zwei dieser Molekeln in dem Momente
der Erregung eine veränderte Stellung zu einander annehmen.
Von diesen Vorgängen sehen wir nichts.
Der Axencylinder sieht nicht anders aus
als sonst. Wenn wir einen Muskel wäh-
rend der Action betrachten, so bemerken
wir allerdings, dass die Zwischenräume,
welche zwischen den einzelnen sogenannten Scheiben liegen
(S. 48) kürzer werden, und da wir nun wissen, dass in letz-
ter Instanz der Muskel in seinem Innern zerfällt in eine Reihe
von kleinen Fibrillen, welche ihrerseits von Strecke zu Strecke
entsprechend diesen Scheiben kleine Körner enthalten, so
schliessen wir daraus mit einer gewissen Sicherheit, dass wirk-
liche örtliche Veränderungen der feinsten Theile stattfinden,
Bildliches Schema des Zustandes der Nerven-Molekeln im
ruhenden (peripolaren, A) und im elektrotonischen (dipolaren, B) Zu-
stande des Nerven. Nach Ludwig Physiol. I. S. 103.
[262]Vierzehnte Vorlesung.
die aber nicht mehr zurückgeführt werden können auf einen
sichtbaren oder unmittelbar erkennbaren Grund. Wir können
keine bestimmte chemische Veränderung, keine Umwandlung
der Ernährungszustände der Theile wahrnehmen; wir sehen
nur eine Verrückung, eine Dislokation der Partikeln.
Bei dem Flimmer-Epithel sehen Sie die Bewegungen der
feinen Cilien, welche an der Oberfläche der Zellen sitzen
und welche, indem sie sich in einer gewissen Richtung bewe-
gen, in dieser Richtung auf kleine Theile, welche ihnen nahe
kommen, einen lokomotorischen Effect ausüben. Isoliren wir
die einzelnen Zellen, so zeigt sich, dass eine jede oben einen
Saum von einer gewissen Dicke hat von welchem kleine haar-
förmige Verlängerungen hervortreten. Diese bewegen sich
alle in der Art, dass eine Cilie, welche im ruhigen Zustande
ganz gerade steht, sich umbiegt und wieder zurückschlägt.
Aber wir sind ausser Stande innerhalb der einzelnen Cilien
weitere Veränderungen wahrzunehmen, durch welche die Be-
wegung vermittelt würde.
Gerade so verhält es sich mit den Drüsenzellen, von wel-
chen wir gar nicht zweifelhaft sein können, dass sie einen be-
stimmten lokomotorischen Effect haben. Denn nachdem Lud-
wig durch die Untersuchung der Speicheldrüsen gezeigt hat,
dass der Druck des ausströmenden Speichels grösser ist, als
der Druck des zuströmenden Blutes, so kann darüber kein
Zweifel sein, dass die Drüsenzellen einen bestimmten
motorischen Effect auf die Flüssigkeit ausüben, dass von
der Drüse die Secret-Masse mit einer bestimmten Gewalt her-
vorgetrieben wird, nicht durch den Blutdruck oder eine beson-
dere Muskel-Action, sondern durch die specifische Energie der
Zellen als solcher. Allein an einer Drüsenzelle, während sie
fungirt, können wir eben so wenig einen eigenthümlichen, ma-
teriellen Vorgang der constituirenden Theilchen wahrnehmen,
wie an den Nerven, den Muskeln oder dem Flimmer-Epithel.
Diese Thatsachen werden wesentlich verstärkt dadurch,
dass wir wahrnehmen, wie gerade die functionellen Verrich-
tungen der einzelnen Theile eine gewisse Störung erfahren
durch eine längere Dauer der Verrichtung. An allen Theilen
treten gewisse Zustände der Ermüdung auf. Zustände, wo
[263]Functionelle Reizung.
der Theil nicht mehr im Stande ist, dasjenige Maass von Be-
wegung von sich ausgehen zu lassen, welches bis dahin an
ihm zu bemerken war. Allein um wiederum in den leistungs-
fähigen Zustand zu kommen, bedürfen diese Theile keineswegs
immer einer Ernährung, sondern wir sehen, dass die blosse
Ruhe ausreicht, um innerhalb einer gewissen Zeit die Möglich-
keit einer neuen Thätigkeit herbeizuführen. Ein Nerv, der er-
müdet, nachdem wir ihn aus dem Körper herausgeschnitten
und zum Experiment verwendet haben, wird nach einer ge-
wissen Zeit leistungsunfähig; wenn man ihn unter günstigen
Verhältnissen, welche seine Austrocknung hindern, liegen lässt,
so wird er allmälig wieder leistungsfähig. Diese functio-
nelle Restitution, welche ohne eigentliche Ernährung statt-
findet und aller Wahrscheinlichkeit nach darauf beruht, dass
die Theile, welche aus ihrer gewöhnlichen Lagerung heraus-
getreten sind, allmälig wieder in dieselbe zurückkehren, kön-
nen wir an verschiedenen Theilen hervorrufen durch gewisse
Reizmittel. Nach der Auffassung der Neuropathologen würden
diese Mittel nur auf die Nerven einwirken, und vermittelst der
Nerven auf die anderen Theile; allein gerade hier haben wir
einige Thatsachen, welche sich nicht wohl anders deuten las-
sen, als dass in der That eine Wirkung auf die Theile selbst
stattfindet.
Wenn wir z. B. eine einzelne Flimmerzelle nehmen,
diese, ganz vom Körper isolirt, frei schwimmen lassen, und ab-
warten, bis vollkommene Ruhe eingetreten ist, so können wir
die eigenthümliche Bewegung wieder hervorrufen, wenn wir
eine kleine Quantität von Kali oder Natron der Flüssigkeit
zufügen, eine Quantität, welche nicht so gross ist, dass
ätzende Effecte auf die Zelle hervorgebracht würden, welche
also nur, indem sie eindringt, eine gewisse Veränderung des
Inhaltes erzeugt. Es ist aber besonders interessant, dass die
Zahl der bekannten Reizmittel, welche wir für Flimmer-Epithel be-
sitzen, sich auf diese beiden Substanzen beschränkt. Daraus erklärt
es sich, dass Purkinje und Valentin, welche bekanntlich
zuerst und gleich in einer sehr ausgiebigen Weise Experimente
über die Flimmerbewegung anstellten, obwohl sie mit einer
sehr grossen Zahl von Substanzen experimentirten, nachdem
[264]Vierzehnte Vorlesung.
sie wer weiss was Alles versucht hatten, mechanische, chemi-
sche und elektrische Reize, zuletzt zu dem Schlusse kamen, es
gebe überhaupt kein Reizmittel für die Flimmerbewegung.
Ich hatte das Glück, zufällig auf die eigenthümliche Thatsache
zu stossen, dass Kali und Natron solche Reizmittel seien.
Gewiss können wir hier keinen Nerveneinfluss mehr zu Hülfe
rufen; derselbe erscheint um so weniger zulässig, als nach
bekannten Erfahrungen die Flimmerbewegung im todten Kör-
per sich in einer Zeit erhält, wo andere Theile schon zu fau-
len angefangen haben. Die Flimmer-Epithelien der Stirnhöhlen
und der Trachea findet man in menschlichen Leichen noch
36—48 Stunden post mortem in vollständiger Erregbarkeit,
wo jede Spur von Erregbarkeit in den übrigen Theilen längst
verschwunden ist.
Aehnlich verhält es sich mit den übrigen erregbaren Thei-
len. Fast überall sehen wir, dass gewisse Erregungsmittel
leichter als andere wirken, während andere gar nicht im
Stande sind, einen erheblichen Effect hervorzubringen. Fast
überall ergeben sich specifische Beziehungen. Wenn wir
die Drüsen z. B. ins Auge fassen, so ist es eine bekannte
Thatsache, dass es specifische Substanzen gibt, wodurch
wir im Stande sind, auf die eine Drüse zu wirken, nicht
auf die anderen, die specifische Energie einer Drüse zu
treffen, während die übrigen unbetheiligt bleiben. Bei
den Drüsen lässt sich ungleich schwieriger die Wirkung
der Nerven ausschliessen, als beim Flimmer-Epithel, allein wir
haben gewisse Versuche, wo man nach Durchschneidung aller
Nerven, z. B. an der Leber, durch Injection im Stande gewe-
sen ist, eine vermehrte Absonderung des Organes hervorzuru-
fen, indem man Stoffe anwandte, welche erfahrungsmässig zu
dem Organe eine nähere Beziehung haben.
Am meisten hat sich, wie Sie wissen werden, diese Dis-
cussion in neuerer Zeit concentrirt auf die Frage von der
Muskel-Irritabilität, eine Frage, welche gerade deshalb so
schwierig gewesen ist, weil sie von Haller mit einer grossen
Exclusion eben auf dieses einzelne Gebiet reducirt wurde.
Haller kämpfte aufs Aeusserste dagegen, dass irgend ein an-
derer Theil irritabel wäre; sonderbarer Weise kämpfte er
[265]Muskel-Irritabilität.
sogar gegen die Irritabilität von solchen Theilen, welche, wie
die feinere Untersuchung der Späteren gezeigt hat, Muskel-
Elemente enthalten, z. B. die mittlere Haut der Gefässe.
Er gebrauchte ziemlich energische Ausdrücke, wo er die
von Anderen schon damals behauptete Erregbarkeit der Ge-
fässe zurückwies. Ich habe schon angeführt, dass wir gerade
in dem Gefäss-Apparate grosse Gebilde finden, z. B. am aller-
ausgesuchtesten an den Nabelgefässen des Neugeborenen, in
denen massenhafte Anhäufungen von Musculatur, aber keine
Spur von Nerven erkennbar sind. Hier besteht aber die Irri-
tabilität in einem hohen Maasse; wir können Zusammenziehun-
gen der Muskeln mechanisch, chemisch und elektrisch herbei-
führen. Ebenso verhält es sich mit vielen anderen kleinen
Gefässen, welche keinesweges in der Weise, wie dies die
Neuropathologen annehmen müssen, in allen Abschnitten Ner-
venfasern zeigen. Auch hier können wir an jedem einzelnen
Punkte, wo Muskeln existiren, unmittelbar die Contraktion her-
vorrufen. Diese Frage ist bekanntlich in der neueren Zeit
dadurch besonders gefördert worden, dass man durch die An-
wendung bestimmter Gifte, im Besonderen des Worara-Giftes
dahin gelangt ist, die Nerven bis in ihre letzten, dem Ver-
suche zugänglichen Endigungen zu lähmen, und zwar so, dass
nicht wohl noch der Einwand erhoben werden kann, dass die
letzten Endigungen der Nerven in dem Muskel erhalten seien.
Die Lähmung des Worara-Giftes beschränkt sich vollständig
auf die Nerven, während die Muskeln eben so vollständig reiz-
bar bleiben. Während man die stärksten elektrischen Ströme
auf den Nerven vergebens einwirken lässt, ohne irgend etwas
von Bewegung hervorzubringen, so genügen die kleinsten, me-
chanischen, chemischen oder elektrischen Reize, um den be-
treffenden Muskel in Erregung zu versetzen.
Ich habe dies hier mit angeführt, um die Theile wenig-
stens nicht zu ungleichmässig zu behandeln. Die functionelle
Frage interessirt uns natürlich hier weniger. Indess werden
Sie aus dem Mitgetheilten entnehmen können, dass man heut
zu Tage nicht mehr mit irgend einer Art von Grund davon
sprechen kann, dass die Nerven allein irritable Theile seien,
sondern dass man mit Nothwendigkeit dahin geführt wird,
[266]Vierzehnte Vorlesung.
die Reizbarkeit als eine Eigenschaft ganzer Reihen von Orga-
nen zu betrachten.
Ungleich weniger bekannt, meine Herren, ist die deutlich
nachweisbare Reihe derjenigen Vorgänge, durch welche sich
die nutritive Reizbarkeit äussert, jene Fähigkeit der ein-
zelnen Theile, auf bestimmte Erregungen mehr oder weniger
Material in sich aufzunehmen und umzusetzen. Es ist dies
zugleich der Anfang der wesentlichsten Prozesse, welche wir
in das Gebiet der pathologisch-anatomischen Thatsachen zu
verfolgen haben.
Ein Theil, der sich ernährt, kann entweder innerhalb sei-
ner Ernährung sich beschränken auf die einfache Erhaltung,
oder er kann, wie wir besonders in pathologischen Fällen se
hen, eine grössere Masse von Material in sich aufnehmen, als
im gewöhnlichen Laufe der Dinge geschehen wäre. Verfolgen
wir diese Vorgänge der Aufnahme, so zeigt sich immer, wie
ich es Ihnen früher hervorhob, dass die Zahl der Elemente
vor und nach der Erregung gleich bleibt, und wir unterschei-
den darnach die einfachen Hypertrophien von den hyperplasti-
schen Zuständen, mit welchen sie im äusseren Effect oft eine
so grosse Aehnlichkeit haben (S. 58. Fig. 27, B.). Es ist
aber für die pathologische Auffassung äusserst wichtig zu wis-
sen, dass ein Theil, der vermöge irgend einer Energie eine
grosse Quantität von Material in sich aufnimmt, nicht noth-
wendiger Weise deshalb in einen dauerhaften Zustand der
Vergrösserung zu gerathen braucht, sondern dass im Gegen-
theile gerade unter solchen Verhältnissen oft eine nachträg-
liche Störung in der inneren Einrichtung hervortritt, welche
den Bestand des Theiles in Frage stellt und welche der
nächste Grund wird für den Untergang dieses Theiles. Jedes
Gewebe besitzt erfahrungsmässig nur gewisse Möglichkeiten
der Vergrösserung, innerhalb deren es im Stande ist, sich re-
gelmässig zu conserviren; wird dieser Grad, und namentlich
schnell, überschritten, so sehen wir immer, dass für das wei-
tere Leben des Theiles Hindernisse erwachsen, und dass, wenn
der Prozess besonders schnell von Statten geht, eine Schwä-
chung des Theiles bis zu vollständigem Vergehen desselben
eintritt.
[267]Nutritive Reizbarkeit.
Vorgänge dieser Art bilden schon einen Theil jenes Ge-
bietes, das man im gewöhnlichen Leben der Entzündung zu-
rechnet. Eine Reihe von entzündlichen Vorgängen stellt in
ihrer ersten Erscheinung gar nichts weiter dar, als eine ver-
mehrte Aufnahme von Material in das Innere der Zellen, wel-
che ganz demjenigen ähnlich sieht, was wir bei einer einfachen
Hypertrophie finden. Wenn wir z. B. die Geschichte der
Bright’schen Krankheit in ihrem gewöhnlichen Verlaufe betrach-
ten, so ergibt sich constant, dass das Erste, was man über-
haupt in einer solchen Niere wahrnehmen kann, darin besteht,
dass im Innern der noch ganz intakten Harnkanälchen die
einzelnen Epithelialzellen, welche schon normal bekanntlich
ziemlich gross sind, sich weiter vergrössern. Die Nierenkanäl-
chen sind dabei erfüllt mit Epithelialzellen, die nicht bloss
sehr gross sind, sondern auch zugleich sehr trübe erscheinen,
indem in das Innere der Zellen überall eine reichlichere Masse
von Material aufgenommen worden ist.
Das ganze Harnkanälchen wird dadurch
breiter und erscheint schon für das
blosse Auge als ein gewundener, weiss-
licher, opaker Theil Isoliren wir die
einzelnen Zellen, was ziemlich schwie-
rig ist, indem die Cohäsion der einzel-
nen Zellen schon zu leiden pflegt, so
finden wir in ihnen eine körnige Masse,
welche scheinbar nichts anderes enthält,
als die Körnchen, welche auch sonst im Inneren der Drüsen-
zellen vorhanden sind, welche aber, je energischer der Prozess
vor sich geht, um so dichter werden, so dass allmälig selbst
der Kern dadurch undeutlich wird. Das ist der Zustand von
trüber Schwellung, wie wir ihn an vielen gereizten Thei-
len finden, als einen Ausdruck der Irritation, welcher viele
Formen der sogenannten Entzündung begleitet. Von diesen
Vorgängen rückwärts bis zu dem Erscheinungen der einfachen
Gewundenes Harnkanalchen aus der Rinde der Niere bei
Morbus Brightii. a die ziemlich normalen Epithelien, b Zustand trüber
Schwellung, c beginnende fettige Metamorphose und Zerfall. Bei b und
c grössere Breite des Kanals. Vergr. 300.
[268]Vierzehnte Vorlesung.
Hypertrophie finden sich gar keine erkennbaren Grenzen. Wir
können nicht von vorn herein sagen, wenn wir einen solchen
vergrösserten, mit reichlicherem Inhalt versehenen Theil an-
treffen, ob er sich noch erhalten oder ob er zu Grunde gehen
wird, und daher ist es in sehr vielen Fällen, wenn man gar
nichts über den Prozess weiss, durch den etwa eine solche
Veränderung eingetreten ist, ausserordentlich schwierig, die
einfache Hypertrophie von denjenigen Formen der entzündlichen
Prozesse zu scheiden, welche wesentlich eine Steigerung der
Ernährungs-Aufnahme mit sich bringen.
Auch bei diesen Vorgängen ist es nicht wohl möglich,
den einzelnen Elementen die Fähigkeit abzustreiten, von sich
aus auf eine Anregung, die ihnen direct zukommt, eine ver-
mehrte Stoff-Aufnahme stattfinden zu lassen; mindestens wider-
streitet es allen empirischen Erfahrungen, anzunehmen, dass
eine solche Aufnahme das Resultat einer besonderen Inner-
vation sein müsse. Wenn wir einen nach allen Beobachtungen
ganz nervenlosen Theil nehmen, z. B. die Oberfläche eines
Gelenkknorpels, so können wir, wie dies vor einer Reihe von
Jahren durch die schönen Experimente von Redfern gesche-
hen ist, an demselben durch directe Reize ganz ähnliche Ef-
fecte hervorbringen. In genau derselben Weise beobachtet
man im späteren Verlaufe pathologischer Zustände nicht selten
eine hügelartige Erhebung der Knorpeloberfläche; wenn wir
solche Stellen mikroskopisch untersuchen, so finden wir das-
selbe, was ich in einer früheren Vorlesung an einem Rippen-
knorpel zeigte (S. 19. Fig. 9.), dass die Zellen, welche
sonst ganz feine, kleine, linsenförmige Körper darstellen, sich
vergrössern, zu grossen, runden Elementen anschwellen, und
in dem Maasse, als sie mehr Material in sich aufnehmen, ihre
Durchmesser hinausschieben, so dass endlich die ganze Stelle
sich höckrig über die Oberfläche erhebt. Nun finden sich aber
in dem Gelenkknorpel gar keine Nerven; die letzten Ausstrah-
lungen derselben liegen höchstens in dem Marke des zunächst
anstossenden Knochens, welches von der gereizten Stelle der
Oberfläche durch eine 1—2 Linien dicke, intakte Zwischenlage
von Knochengewebe getrennt sein kann. Es wäre nun gewiss ausser-
halb aller Erfahrung, wenn man sich vorstellen sollte, dass ein Nerv
[269]Directe Reizung der Gewebe.
von dem Knochenmarke aus eine specielle Action auf die Zel-
len der Oberfläche ausüben sollte, welche der Punkt der Rei-
zung gewesen sind, ohne dass die zwischen dem Nerven und der
gereizten Stelle gelegenen Zellen gleichzeitig getroffen würden.
Wenn wir durch einen Knorpel einen Faden ziehen, so dass
weiter nichts, als ein traumatischer Reiz stattfindet, so sehen
wir, wie alle Zellen, welche dem Faden anliegen, sich ver-
grössern durch Aufnahme von mehr Material. Die Reizung,
welche der Faden hervorbringt, erstreckt sich nur bis auf eine
gewisse Entfernung in den Knorpel hinein, während die wei-
ter abliegenden Zellen durchaus unberührt bleiben. Solche
Erfahrungen können nicht anders gedeutet werden, als dass
der Reiz in der That auf die Theile einwirkt, welche er trifft;
es ist unmöglich, zu schliessen, dass er auf irgend einem der
Doctrin vielleicht mehr entsprechendem Wege zum Nerven ge-
leitet und dann erst wieder durch Reflex auf die Theile zu-
rückgeleitet werde.
Freilich haben wir wenige Theile im Körper, welche so
vollständig nervenlos wären, wie der Knorpel; allein auch dann,
wenn man die nervenreichsten Theile verfolgt, zeigt es sich
überall, dass die Ausdehnung der Reizung, oder genauer ge-
sagt, die Ausdehnung des Reizungsheerdes keinesweges der
Grösse eines bestimmten Nerventerritoriums entspricht, sondern
dass wesentlich in einem sonst normalen Gewebe die Grösse
des Heerdes correspondirt der Grösse der lokalen Reizung.
Wenn wir das Experiment mit dem Faden an der Haut
machen, so wird durch denselben eine ganze Reihe von Ner-
venterritorien durchschnitten. Es wird aber keinesweges das
ganze Territorium der Nerven, welche an dem Faden liegen,
in denselben krankhaften Zustand versetzt, sondern die nutritive
Reizung beschränkt sich auf die nächste Umgebung des Fadens.
Kein Chirurg erwartet bei solchen Operationen, dass etwa alle
Nerventerritorien, welche der Faden kreuzt, in ihrer ganzen Ausdeh-
nung erkranken. Man würde sich in hohem Grade über die
Natur beklagen müssen, wenn jede Ligatur, jedes Setaceum
über die Grenzen, welche es zunächst berührt, hinaus auf die
ganze Ausbreitung der Nervenbezirke, welche es durchsetzt,
einen reizenden Einfluss ausübte. So sehen wir an einem Ge-
[270]Vierzehnte Vorlesung.
webe, an welchem sich dies Verhältniss sehr klar verfolgen
lässt, an der Hornhaut, dass an Stellen, wo keine Gefässe
mehr hinreichen, allerdings noch Nerven liegen, welche eine
netzförmige Anordnung besitzen und kleinere und grössere
Gewebsbezirke zwischen sich lassen, welche vollkommen frei
von Nerven sind. Wenden wir nun irgend ein Reizmittel di-
rect auf die Hornhaut an, z. B. eine glühende Nadel oder
Lapis infernalis, so entspricht der Bezirk, welcher dadurch in
krankhafte Thätigkeit versetzt wird, keinesweges einer Nerven-
ausbreitung. Es ist uns einmal passirt, dass wir bei einem
Kaninchen durch das Cauterium gerade einen solchen Nerven-
faden trafen, allein die Erkrankung fand sich nur in der
nächsten Umgebung dieser Stelle, keinesweges im ganzen Ge-
biete des Nerven.
Man kann also, auch wenn man Erfahrungen, wie ich sie
vom Knorpel angeführt habe, nicht gelten lassen will, durch-
aus nicht umhin, zuzugeben, dass die Erscheinungen der Rei-
zung an nervenhaltigen Theilen keine anderen sind, als an
nervenlosen, und dass der nächste Effect wesentlich darauf be-
ruht, dass die umliegenden Elemente sich vergrössern, an-
schwellen, und wenn es ihrer viele sind, dadurch eine Ge-
schwulst des ganzen Theiles entsteht. Das ist es, was Sie
beobachten, wenn Sie irgendwo z. B. einen Ligaturfaden durch
die Haut hindurchstecken. Untersuchen Sie am folgenden
Tage die nächste Umgebung des Fadens, so haben Sie die
active Vergrösserung der zelligen Elemente, ganz unbeschadet
der Gefäss- oder Nervenverbreitungen, welche vorhanden sind.
Es liegt hier, wie Sie sehen, ein wesentlicher Unterschied
vor von denjenigen Ansichten, welche man gewöhnlich über
die nächsten Bedingungen dieser Schwellungen aufgestellt
hatte. Nach dem alten Satze: Ubi stimulus, ibi affluxus, dachte
man sich gewöhnlich, dass das Nächste, welches einträte, die
vermehrte Zuströmung des Blutes sei, welche von den Neuro-
pathologen wieder zurückgeführt wurde auf die Erregung sen-
sitiver Nerven, und dass dann die unmittelbare Folge der ver-
mehrten Zuströmung eine vermehrte Ausscheidung von Flüs-
sigkeit sei, welche das Exsudat constituire, das den Theil
erfüllt.
[271]Parenchymatöses Exsudat.
In den ersten schüchternen Versuchen, welche ich machte,
diese Auffassung zu ändern, habe ich deshalb auch noch den
Ausdruck des parenchymatösen Exsudates gebraucht.
Ich hatte mich nämlich überzeugt, dass an vielen Stellen, wo
eine Schwellung erfolgt war, absolut nichts weiter zu sehen
war, als Gewebe. An einem Gewebe, welches aus Zellen be-
steht, sah ich auch nach der Schwellung (Exsudation) nur
Zellen, an Geweben mit Zellen und Intercellularsubstanz nur
Zellen und Intercellularsubstanz, — die einzelnen Elemente
allerdings grösser, voller, mit einer Quantität von Stoffen er-
füllt, mit welcher sie nicht hätten erfüllt sein sollen, aber kein
Exsudat in der Weise, wie man sich dasselbe dachte, frei oder
in den Zwischenräumen des Gewebes. Alle Masse war inner-
halb der Elemente selbst enthalten. Das war es, was ich mit
dem Ausdrucke des parenchymatösen Exsudates sagen wollte,
und wovon der Name der parenchymatösen Entzündung abge-
leitet ist, der zwar schon in alter Zeit gebraucht wurde, aber
in einem ganz anderen Sinne, als der war, den ich meinte,
und der jetzt gangbarer geworden ist, als es vielleicht noth-
wendig ist. Indess ist es immerhin wichtig, dass Sie diese
Form von Reizung als allgemeines Schema bestimmt von an-
deren Formen unterscheiden, insofern hier in einem bestehen-
den Gewebe die constituirenden Elemente eine grössere Masse
von Material in sich aufnehmen, und ausserhalb dieser vergrös-
serten Elemente weiter nichts vorhanden ist.
Ich werde Ihnen sogleich ein Präparat herumgeben, an
welchem Sie ein sehr charakteristisches Beispiel solcher Ent-
zündung sehen werden. Es ist dies seit langer Zeit fast das
eklatanteste Beispiel gewesen, welches mir vorgekommen ist.
Das Präparat stammt von einer sogenannten Keratitis, von
einem Falle, welchen mir Herr von Gräfe mitgetheilt hat,
wo nach heftiger diffuser phlegmonöser Entzündung der Extre-
mitäten eine äusserst schnelle entzündliche Trübung der Horn-
haut stattfand. Als mir die Hornhaut übergeben wurde, schien
es mir, als ob sie in ihrer ganzen Dicke undurchsichtig und
geschwollen wäre. Die Gefässe des Randes waren stark mit
Blut gefüllt. Als ich aber einen Durchschnitt durch die Horn-
haut machte, so zeigte sich alsbald, schon bei schwacher Ver-
[272]Vierzehnte Vorlesung.
grösserung, dass die Trübung keinesweges gleichmässig durch
die ganze Hornhaut ging, sondern sich auf eine bestimmte
Strecke des Gewebes beschränkt. Diese Strecke ist so cha-
rakteristisch in Beziehung auf die verschiedenen möglichen
Deutungen, dass der Fall, wie ich glaube, ein ganz besonde-
res Interesse für die Theorie darbietet.
Es zeigte sich nämlich, dass die Trübung unmittelbar an
der hinteren Seite und am Rande der Hornhaut begann, da,
wo die Descemetsche Haut anliegt und wo sich die Iris an-
schliesst Von da stieg die Trübung fast treppenförmig in die
Hornhaut hinauf bis in einiger Entfernung von der Oberfläche.
Hier ging sie gleichmässig fort, um auf der anderen Seite in
ähnlicher Weise wieder herunterzugehen. So bildete sich ein
trüber Bogen durch die ganze Substanz der Hornhaut hindurch,
ohne die äussere (vordere) Oberfläche zu erreichen, und ohne
die mittleren Theile der hinteren Fläche zu berühren. Denkt
man sich die Ernährung der Hornhaut ausgehend vom Humor
aqueus, so passt diese Form der Trübung nicht, denn man
müsste vielmehr erwarten, dass dann zunächst die hinterste
Schicht verändert würde. Handelte es sich um eine Einwir-
kung von aussen, so müsste die Trübung in den vordersten
Parenchymatöse Keratitis. A, A vordere (äussere), B, B
hintere (innere) Seite der Hornhaut. C, C die getrübte Zone mit ver-
grösserten Hornhautkörperchen. Vergr. 18.
[273]Hornhautbau.
Schichten liegen; handelte es sich um eine Trübung, welche
wesentlich ausginge von den Gefässen, so würden wir, da die
Gefässe hauptsächlich am Rande und näher der vorderen
Fläche liegen, hier die Haupt-Erkrankung haben erwarten
können. Gingen endlich die Veränderungen von den Nerven
aus, so würden wir eine netzförmige Verbreitung in der
Fläche, aber nicht einen solchen Bogen finden.
Die Substanz der Hornhaut besteht nach der gewöhnlichen
Ansicht bekanntlich aus Lamellen (Platten), welche mehr oder
weniger parallel durch die Hornhaut gehen. Betrachten wir
nach dieser Ansicht den Fall, so würde es sich um einen Pro-
zess handeln, welcher, indem er von Lamelle zu Lamelle fort-
schreitet, jedesmal um ein Weniges weiter rückt. Allein die
Hornhaut besteht nicht aus vollkommenen Lamellen, sondern
aus Schichten, welche allerdings im Grossen lamellös anein-
ander gelagert sind, aber doch unter sich zusammenhängen;
sie liegen nicht irgend wie loser oder fester auf einander, son-
Senkrechter Durchschnitt der Hornhaut des Ochsen, um
die Gestalt und Anastomose der Hornhautzellen (Körperchen) zu zeigen.
Hie und da sieht man durchschnittene, als Fasern oder Punkte erschei-
nende Zellenfortsätze. Vergr. 500. Nach His Würzb. Verhandl. IV.
Taf. IV. Fig. I.
18
[274]Vierzehnte Vorlesung.
dern sie haben unter sich directe Verbindungen. Es ist also
vielmehr eine grosse zusammenhängende Masse, welche in ge-
wissen Richtungen unterbrochen wird durch zellige Elemente,
ganz in derselben Weise, wie bei den verschiedensten Gewe-
ben, welche wir schon im Speziellen betrachtet haben. Ein
Verticalschnitt zeigt uns spindelförmige Elemente, welche un-
tereinander anastomosiren, zugleich aber auch seitliche Ausläu-
fer haben; durch eine regelmässige Einlagerung in die Grund-
substanz entsteht jene lamellöse, blätterige oder platten-
artige Anordnung des ganzen Gewebes. Betrachtet man sie
von der Fläche, im Horizontalschnitte, so ergeben sie sich
als vielstrahlige, sternförmige, aber sehr platte Zellen, den
Knochenkörperchen vergleichbar.
Verfolgen wir nun in unserem Falle den Prozess unter
stärkerer Vergrösserung, so zeigt sich, was man bei jeder
Form von Keratitis mit Leichtigkeit constatiren kann, dass die
Veränderung wesentlich an den Körpern oder Zellen der Horn-
haut verläuft, und dass in dem Maasse, als man sich von
aussen oder innen her der getrübten Stelle nähert, die kleinen
schmalen Elemente immer grösser und trüber werden. Zuletzt
findet man starke, fast kanalartige Züge oder Schläuche.
Während diese Vergrösserung der Elemente, diese, wenn Sie
wollen, acute Hypertrophie erfolgt, wird zugleich der Inhalt
Flächenschnitt, parallel der Oberfläche; die sternförmigen,
platten Körperchen mit ihren anastomosirenden Fortsätzen. Nach His,
ebendas. Fig. II.
[275]Keratitis parenchymatosa.
der Zellen trüber, und diese Opacität des Inhaltes ist es,
welche wiederum die Trübung der ganzen Haut bedingt, wo-
bei die eigentliche Grundsubstanz vollkommen frei erscheint.
Diese Trübung ist zum Theil durch Partikeln bedingt, welche
fettiger Natur sind, so dass der Prozess schon den Charak-
ter einer degenerativen Krankheit anzunehmen scheint. Ich
würde gar kein Bedenken getragen haben, zu glauben, dass
hier wirklich eine Zerstörung der Hornhaut eingeleitet war.
allein Herr v. Gräfe versichert mich, dass nach dem, was er
gesehen habe, solche Zustände sich bei glücklichem Verlaufe
wieder zurückbilden könnten. In der Sache liegt auch durch-
aus nichts, was dieser Möglichkeit widerstreitet; da die Zellen
noch existiren und nur ihr veränderter Inhalt weggeschafft
werden muss, so kann ja eine vollständige Restitution ein-
treten.
Gerade dieser Gesichtspunkt der einfach nutritiven
Restitutionsfähigkeit ist es, der für die praktische Auf-
fassung eine sehr grosse Bedeutung hat. Hier wo weiter nichts
Parenchymatöse Keratitis (vgl. Fig. 99.) bei stärkerer
Vergrösserung, Bei A die Hornhautkörperchen in fast normaler Weise,
bei B vergrössert, bei C und D noch stärker vergrössert und zugleich
getrübt. Vergr. 350.
18*
[276]Vierzehnte Vorlesung.
passirt ist, als dass die Elemente, ohne aufzuhören, ihre Akti-
vität zu äussern, eine grössere Masse von Material in sich auf-
gehäuft haben, hier ist Alles für den Vorgang vorbereitet, den
wir Resorption nennen; die Elemente können einen Theil des
Materials umsetzen, in lösliche Stoffe verwandeln und das Ma-
terial kann in dieser Form auf demselben Wege, auf dem es
gekommen, wieder verschwinden. Die Struktur im Grossen
bleibt dabei dieselbe; es ist nichts Fremdartiges, welches sich
zwischen die Theile eingeschoben hat; das Gewebe stellt sich
uns ganz in seiner natürlichen Anlage dar. —
An die Erscheinungen dieser nutritiven Reizung schliessen
sich oft sehr unmittelbar die Anfänge der formativen Ver-
änderungen. Wenn man nämlich die höheren Grade der
Reizung verfolgt, welche an einem Theil stattfindet, so ergibt
sich, dass die Elemente, kurz nachdem sie die nutritive Ver-
grösserung erfahren haben, weitere Veränderungen zeigen, wel-
che im Inneren des Kernes beginnen, gewöhnlich in der Weise,
dass das Kernkörperchen ungewöhnlich gross, in vielen Fällen
etwas länglich, zuweilen stäbchenförmig wird. Dann sieht
man gewöhnlich als nächstes Stadium, dass das Kernkörper-
chen eine Einschnürung bekommt, bisquitförmig aussieht, und
etwas später findet man zwei Kernkörperchen. Diese Theilung
Elemente aus einer von Herrn Textor 1851 exstirpirten
melanotischen Geschwulst an der Parotis. A Freie Zellen mit Theilung
der Kernkörperchen und Kerne. B Netz der Bindegewebskörperchen mit
Kerntheilung. Vergr. 300.
[277]Kerntheilung.
der Kernkörperchen bezeichnet das bevorstehende Theilen des
Kernes selber, und das folgende Stadium ist dann, dass um
einen solchen getheilten Kernkörper die bisquitförmige Ein-
schnürung und später die wirkliche Theilung des Kernes
zu Stande kommt, wie wir sie schon früher bei den farb-
losen Blut- und Eiterkörperchen gesehen haben (Fig. 11,
A, b. 57. 73.). Hier handelt es sich offenbar um etwas we-
sentlich Anderes, als vorher. Bei der einfachen Hypertrophie
in Folge nutritiver Reizung kann der Kern ganz intakt blei-
ben; hier dagegen sehen wir häufig, dass der Inhalt eine re-
lativ geringe Abweichung zeigt, höchstens dass die Elemente
grösser werden, woraus wir schliessen, dass eine Masse von
neuem Inhalt in sie aufgenommen ist.
In manchen Fällen beschränken sich die Veränderungen
auf diese Reihe von Umbildungen, als deren Schluss die
Theilung des Kernes zu betrachten ist. Diese kann sich
wiederholen, so dass 3, 4 Kerne und so fort entstehen (Fig.
15, b, c, d.). So kommt es, dass wir zuweilen Zellen finden,
nicht bloss in pathologischen Verhältnissen, sondern auch nicht
selten bei ganz normaler Entwickelung, welche 20—30 Kerne
und noch mehr besitzen. In der neueren Zeit sind im Marke
der Knochen, namentlich bei jungen Kindern, Zellen beobach-
tet worden, wo das ganze Gebilde voller Kerne steckt, die
oft so gross werden, wie die ganze ursprüngliche Zelle. Solche
Bildungen kommen in manchen Geschwülsten so massenhaft
Markzellen des Knochens. a Kleine Zellen mit einfachen
und getheilten Kernen. b, b Grosse vielkernige Elemente. Vergrösserung
350. Nach Kölliker Mikr. Anat. I. S. 364. Fig. 113.
[278]Vierzehnte Vorlesung.
vor, dass man in England danach eine besondere Art unter-
scheidet und nach dem Vorschlage von Paget einen Myeloid-
Tumor (Markgeschwulst) in die Classification aufgenommen hat.
Indess ist diese Bildung nicht auf das Knochenmark beschränkt,
sondern kommt bei Gelegenheit fast überall vor. Der Muskel
zeigt nach Reizung ganz ähnliche Formen. Während für ge-
wöhnlich die quergestreiften Muskeln mit Kernen in gewissen
Abständen, jedoch nicht sehr reichlich, versehen sind, so finden
wir, dass, wenn wir einen Muskel in der Nähe einer gereizten
Stelle untersuchen, z. B. einer
Wunde, einer Aetzungs- oder
Geschwürfläche, in ihm eine
Vermehrung der Kerne vor
sich geht; wir sehen Kerne
mit zwei Körperchen; dann
kommen eingeschnürte, dann
getheilte Kerne (vgl. Fig. 23,
b. c. 24, B. C.), und so geht
es fort, bis wir an einzelnen
Stellen ganze Gruppen von
Kernen nebeneinander finden,
wo die Theilungen massenhaft
geschehen sind, oder ganze
Reihen hintereinander. In den
ausgesprochensten Fällen die-
ser Art nimmt die Zahl der
Kerne so sehr zu, dess man auf den ersten Blick kaum noch
Muskeln zu sehen glaubt, und dass Bruchstücke der Primitiv-
bündel die grösste Aehnlichkeit darbieten mit jenen Plaques
à plusieurs noyaux, welche Robin im Knochenmark beschrie-
ben hat. Das ist etwas ganz Eigenthümliches, welches schon
an den Anfang einer wirklichen Neubildung anstreift, nur dass
die Neubildung im gewöhnlichen Sinne sich nicht auf einzelne
Kerntheilung in Muskelprimitivbündeln des Oberschenkels
im Umfange einer Krebsgeschwulst. Bei A. ein Primitivbündel, dessen
Querstreifung nicht überall ausgeführt worden ist, mit seinem natürlichen,
spindelförmigen Ende f, und mit beginnender Kernvermehrung. B starke
Kernwucherung. Vergr. 300.
[279]Zellen-Neubildung.
Theile der Zellen beschränkt. Aber gerade für die Muskeln
ist es sehr wichtig, dass genau dieselbe Beschränkung bei der
ersten embryonalen Bildung, im Laufe des ersten Wachsthums
der Muskelprimitivbündel stattfindet. Denn dies ist der Mo-
dus, wie der Muskel ursprünglich wächst. Wenn man einen
wachsenden Muskel verfolgt, so sieht man dieselbe Theilung
der Kerne; nachdem Gruppen und Reihen von Kernen in ihm
entstanden sind, so schieben sich diese beim Wachsen durch
immer reichlichere Zwischenmasse allmählig auseinander. Ob-
wohl nun ein Längenwachsthum an dem pathologisch gereizten
Muskel bis jetzt nicht mit Sicherheit demonstrirt ist, ich sage
demonstrirt ist, weil in der That die Wahrscheinlichkeit vor-
liegt, dass etwas der Art noch constatirt werden kann, so
müssen wir doch die vollkommene Analogie der krankhaften
Reizungsvorgänge mit den natürlichen Wachsthumsvorgängen
als eine sichere Thatsache festhalten. Denn der bildende Akt
des wirklichen Wachsthums beginnt mit einer Vermehrung der
Centren, insofern, wie schon vor langer Zeit John Goodsir
gezeigt hat, die Kerne als die Centralorgane der Zellen be-
trachtet werden müssen.
Wenn Sie nun, meine Herren, einen Schritt weitergehen
in diesen Vorgängen, so kommen wir an die Neubildung
der Zellen selbst. Nachdem die Wucherung der Kerne
stattgefunden hat, so kann allerdings, wie wir gesehen haben,
die Zelle als zusammenhängendes Gebilde sich noch erhalten,
allein die Regel ist doch, dass schon nach der ersten Kern-
theilung die Zellen selbst der Theilung verfallen und dass
nach einiger Zeit zwei, dicht nebeneinander liegende, durch
eine mehr oder weniger gerade Scheidewand getrennte, je mit
einem besonderen Kern versehene Zellen gefunden werden
(Fig. 6, b, b.). Das ist der natürliche regelmässige Modus
der wirklichen Vermehrung der Elemente. Alsdann können
die beiden Zellen auseinander rücken, wenn es ein Gewebe
ist, welches Intercellularsubstanz besitzt (Fig. 6, c, d.), oder
dicht aneinander liegen bleiben, wenn es sich um ein einfach
aus Zellen bestehendes Gewebe handelt (Fig. 27, C.). Diese
Reihe von Vorgängen, welche bei weiterem Verlaufe zu einer
immer fortgehenden Theilung der Zellen und zu dem Entstehen
[280]Vierzehnte Vorlesung.
grosser Zellengruppen aus einfachen Elementen führt (Fig. 9, 22),
erscheint im erwachsenen Körper ebenso unzweifelhaft als das
Resultat einer directen Reizung der Gewebe, wie die vorher
besprochene. Wenn wir z. B. den Fall, welchen wir vorher
betrachtet hatten, dass man einen einfachen mechanischen Reiz
durch das Einziehen eines Fadens in die Theile hervorbringt,
etwas weiter verfolgen, so sehen wir in der Regel, dass die
Schwellung sich nicht einfach beschränkt auf die Vergrösserung
der bestehenden Elemente, sondern dass Theilungen und Ver-
mehrungen derselben stattfinden. Im Umfang eines Fadens,
welchen wir durch die Haut ziehen, zeigt sich gewöhnlich
schon am zweiten Tage eine Reihe von jungen Elementen.
Dieselbe Veränderung können Sie durch einen chemischen Reiz
hervorbringen. Wenn Sie z. B. ein Kauter an die Oberfläche
eines Theiles appliciren, so ist das Nächste, dass die Zellen
anschwellen, und dass dann bei regelmässigem Prozessse die
Elemente sich theilen und die Zellen in eine mehr oder weni-
ger reichliche Wucherung eintreten. Auch hier handelt es sich
immer um Akte, welche durchaus gar keine Verschiedenheit
in dem Modus des eigentlichen Geschehens erkennen lassen,
mag der Theil nervenhaltig oder nervenlos sein, Gefässe führen
oder nicht.
Demnach können wir also nicht sagen, dass irgend etwas
von diesen Vorgängen mit Nothwendigkeit gebunden erschiene
an den Nerven- und Gefässeinfluss, sondern im Gegentheil,
wir werden hier überall auf die Theile selbst gewiesen. Die
Beziehung der Gefässe ist durchaus nicht in dem Sinne zu
deuten, wie man dies gewöhnlich thut; die Aufnahme des Ma-
terials in das Innere der Elemente ist unzweifelhaft ein Akt
der Elemente selbst, denn wir haben bis jetzt gar keinen Mo-
Zellen aus der mittleren Substanz des Intervertebralknor-
pels eines Erwachsenen. Intracapsuläre Zellenvermehrung. Vergr. 300.
[281]Die formative Reizung in Beziehung auf Nerven und Gefässe.
dus, auf irgend einem Wege der Experimentation durch eine
primäre, die Nerven oder die Gefässe treffende Einwirkung,
diese Art von Wucherung im Körper hervorzurufen. Sie kön-
nen die Circulation steigern in den Theilen, so weit sie zu
steigern ist, ohne dass daraus für die Ernährung der Theile
eine Schwellung oder Vermehrung der Elemente selbst folgte.
Gerade die schon früher erwähnten Experimente über die
Durchschneidung des Sympathicus haben bekanntlich ergeben,
(ich selbst habe dies Experiment sehr häufig angestellt und in die-
sem Sinne verfolgt,) dass ein vermehrter Zustrom von Blut Wochen
lang bestehen kann, ein Zustrom von Blut, welcher mit starken ther-
mischen Steigerungen und entsprechender Röthung verbunden ist,
so gross wie wir sie irgend in Entzündungen antreffen, ohne dass
dadurch die Zellen des Theiles im Mindesten vergrössert oder
gar an ihnen Vorgänge der Wucherung herbeigeführt werden.
Man kann damit Reizungen der Nerven verbinden. Wenn man
aber nicht die Gewebe selbst reizt, die Irritation in die Theile
selbst einbringt, sei es, dass man die reizenden Stoffe von
Aussen wirken lässt, oder von dem Blut aus, so kann man
nicht auf den Eintritt dieser Veränderungen rechnen. Das ist
der wesentliche Grund, aus welchem ich folgere, dass diese
aktiven Vorgänge in der besonderen Thätigkeit der Elementar-
theile begründet sind, welche nicht an vermehrten Zustrom von
Blut oder an die Anregung der Nerven gebunden ist, welche
freilich dadurch begünstigt wird, aber auch vollständig unab-
hängig davon verlaufen kann, und welche sich ebenso deutlich
an einem gelähmten und nervenlosen Theile darstellt. †
Ich will zur Unterstützung dieser Sätze nur noch hinzu-
fügen, dass die neueren Erfahrungen allmählig das ganze Ge-
biet der sogenannten neuroparalytischen Entzündungen
aufgehoben haben. Die beiden Nerven, um die es sich bei der
Discussion der entzündlichen Phänomene fast ausschliesslich
handelt, sind der Vagus und Trigeminus, nach deren Durch-
schneidung man in dem einen Falle Pneumonie, in dem an-
deren die berühmten Veränderungen des Augapfels eintreten
sah. Diese Erfahrungen haben sich dahin aufgelöst, dass al-
lerdings nach dem Durchschneiden Entzündungen eintreten
können, dass diese aber so gedeutet werden müssen, dass sie
[282]Vierzehnte Vorlesung.
trotz der Durchschneidung auftreten können. Vom
Vagus ist es bekanntlich schon vor längerer Zeit durch Traube
gezeigt worden, dass die Lähmung der Stimmritze, welche das
Eintreten von Mundflüssigkeiten in die Luftwege erleichtert,
ein Hauptmittel für die Entstehung der Entzündung ist; die
genauere Deutung der pathologisch-anatomischen Befunde hat
überdies herausgestellt, dass sehr Vieles von dem, was man
als Pneumonie geschildert hatte, eben nichts weiter als Ate-
lectase mit Hyperämie der Theile war; die wirkliche Pneumo-
nie ist sicher zu vermeiden, wenn die Möglichkeit des Hinein-
gelangens fremder Körper in die Bronchien abgeschnitten
wird. Dasselbe ist für die Trigeminus-Entzündungen er-
reicht worden, und zwar durch ein sehr einfaches Experiment.
Nachdem man sich früher auf die mannigfachste Weise be-
müht hatte, die verschiedenen störenden Einwirkungen auf das
seiner Empfindung beraubte Auge zu beseitigen, so ist es end-
lich in Utrecht gelungen, ein sehr einfaches Mittel zu finden,
um dem Auge wieder einen empfindlichen Apparat zu substi-
tuiren; Snellen nähte bei Thieren, welchen er den Trigemi-
nus durchschnitten hatte, das empfindende Ohr vor das Auge.
Von der Zeit an bekamen die Thiere keine Entzündungen
mehr, indem einerseits ein directer Schutz gegeben, anderer-
seits die Thiere durch die Anwesenheit einer empfindenden
Decke vor traumatischen Einwirkungen auf das Auge bewahrt
wurden. So wie man die Empfindung, nicht am Auge selbst,
sondern nur vor dem Auge herstellte, so war damit auch die
an sich rein traumatische Entzündung beseitigt.
Wir können gegenwärtig also sagen: es ist gar keine
Form von Störungen dieser Art bekannt, welche aus der auf-
gehobenen Action eines Nerven hergeleitet werden könnte.
Ein Theil kann gelähmt sein, ohne dass er sich entzündet; er
kann anästhetisch sein, ohne dieser Gefahr ausgesetzt zu sein.
Es bedarf immer noch eines besonderen Reizes, sei es mecha-
nischer oder chemischer Art, sei es von Aussen oder vom
Blute her, um die eigenthümliche Anregung zu Stande zu brin-
gen. Auf diese Weise haben wir also, wie Sie sehen, eine
Reihe von Verbindungen zwischen eminent pathologischen
[283]Entzündliche Reizung.
Thatsachen und den nächsten Vorgängen des physiologischen
Lebens, Thatsachen, welche aber nur dann in ihrer besonderen
Bedeutung sich erkennen und definiren lassen, wenn man eben
die Scheidungen macht, welche ich Ihnen im Anfang der Vor-
lesung hervorhob, das heisst, wenn man die Erregungen je
nach ihrem functionellen, nutritiven oder formativen Werthe
trennt. Wirft man diese zusammen, wie es in der Lehre von
der Innervation geschehen ist, sondert man namentlich nicht
die formativen und nutritiven Vorgänge, dann kommt man
auch zu keiner einfachen Erklärung der Erscheinungen.
Diejenigen Zustände von Reizung, welche wir im Laufe
der schwereren Erkrankungen sehen, die eigentlich entzünd-
lichen Reizungen, lassen überhaupt nie eine einfache Deu-
tung zu. In der Entzündung finden wir neben einander alle
Formen der Reizung, welche ich Ihnen auseinandergelegt habe.
Ja wir sehen sehr häufig, dass, wenn das Organ selbst aus
verschiedenen Theilen zusammengesetzt ist, der eine Theil des
Gewebes sich functionell oder nutritiv, der andere formativ
verändert. Wenn Sie einen Muskel ins Auge fassen, so wird
ein chemischer oder traumatischer Reiz an den Primitivbündeln
desselben vielleicht in dem ersten Moment eine functionelle
Reizung setzen: der Muskel zieht sich zusammen; dann aber
stellen sich nutritive Störungen ein. Dagegen im Zwischen-
Bindegewebe, welches die einzelnen Muskelbündel zusammen-
hält, gibt es leicht wirkliche Neubildungen, in der Regel Eiter.
Hier handelt es sich um eine formative Reizung, während der ent-
zündete Muskel in sich keinen Eiter erzeugt, ebensowenig wie neue
Muskelsubstanz; vielmehr sehen wir bei einer gewissen Höhe
der Reizung am häufigsten degenerative Prozesse eintreten.
Auf diese Weise kann man die drei Formen der Reizung an
einem Theil trennen. Natürlich kann dabei auch noch eine
Reizung der Nerven bestehen, aber diese hat, wenigstens wenn
man von der Function absieht, mit den Prozessen im eigent-
lichen Gewebe keinen Zusammenhang von Ursache und Wir-
kung, sondern sie ist nichts weiter, als ein Collateraleffect der
ursprünglichen Störung. Das ist meines Erachtens als der
wichtigste Erwerb der speciellen histologischen Erfahrungen
[284]Vierzehnte Vorlesung.
anzusehen, und er ist um so sicherer, als man ihn sowohl
durch das Experiment, als durch physiologische und patholo-
gische Erfahrung controliren kann.
Nächstens werde ich Ihnen zeigen, wie das Studium
der entzündlichen Prozesse dadurch eine klarere Auffassung
gewinnt.
[[285]]
Fünfzehnte Vorlesung.
10. April 1858.
Passive Vorgänge. Fettige Degeneration.
Die passiven Vorgänge in ihren beiden Hauptrichtungen zur Degeneration: Nekrobiose (Er-
weichung und Zerfall) und Induration.
Die fettige Degeneration. Histologische Geschichte des Fettes im Thierkörper: das Fett als
Gewebsbestandtheil, als transitorische Infiltration und als nekrobiotischer Stoff.
Das Fettgewebe. Polysarcie. Fettgeschwülste. Die interstitielle Fettbildung. Fettige De-
generation der Muskeln.
Die Fettinfiltration. Darm: Structur und Function der Zotten. Resorption und Retention des
Chylus. Leber: intermediärer Stoffwechsel durch die Gallengänge. Fettleber.
Die Fettmetamorphose. Drüsen: Secretion des Hautschmeeres und der Milch (Colostrum)
Körnchenzellen und Körnchenkugeln. Entzündungskugeln. Arterie: fettige Usur und
Atherom. Fettiger Detritus.
Wir haben, meine Herren, bis jetzt fast immer von den Thä-
tigkeiten der Zellen gesprochen und von den Vorgängen, welche
an ihnen eintreten, wenn sie ihre Lebendigkeit auf irgend eine
äussere Einwirkung hin zu erkennen geben. Es gibt aber im
Körper auch eine ziemlich grosse Reihe von passiven Vor-
gängen, bei welchen wenigstens nachweisbar keine besondere
Thätigkeit der Elemente besteht. Bevor wir in der Darstellung
der activen Prozesse weiter gehen, erlauben Sie, dass ich diese pas-
siven Vorgänge etwas genauer bespreche. Denn die Leidensge-
schichte der Zellen, wie wir sie im Kranken vor uns haben, ist ge-
wöhnlich zusammengesetzt aus Vorgängen, welche mehr der acti-
ven, und solchen, welche mehr der passiven Reihe angehören, und
das grobe Resultat hat in vielen Fällen eine so grosse Ueber-
[286]Fünfzehnte Vorlesung.
einstimmung in beiden Reihen, dass die endlichen Veränderungen,
welche wir nach einer gewissen Zeitdauer des Prozesses antreffen,
nahezu dieselben sein können. Gerade hier ist es eine Zeitlang sehr
schwer gewesen, Grenzen zu ziehen, und ein grosser Theil
der Verwirrung, welcher im Anfange der mikroskopischen Be-
obachtungen zu Stande kam, ist bedingt gewesen durch die
ausserordentliche Schwierigkeit, die activen und passiven Stö-
rungen auseinander zu bringen.
Passive Störungen nenne ich diejenigen Veränderungen der
Elemente, wobei sie sofort entweder bloss an Wirkungsfähigkeit
einbüssen oder so vollständig zu Grunde gehen, dass zuletzt
irgend ein Substanzverlust, eine Verminderung der Summe der
Körperbestandtheile gegeben ist. Beide Reihen von passiven
Vorgängen zusammengenommen, diejenigen, welche sich zu-
nächst durch eine wesentliche Schwächung zu erkennen geben,
und diejenigen, welche mit einem vollständigen Untergang der
Theile endigen, bilden im Grossen das Gebiet der sogenann-
ten Degeneration, obwohl, wie wir späterhin noch genauer
betrachten müssen, auch in der Reihe der activen Prozesse ein
grosser Theil desjenigen untergebracht werden muss, was man
degenerativ nennt.
Es ist natürlich ein ausserordentlich grosser Unterschied,
ob das Element überhaupt als solches bestehen bleibt oder ob es
ganz und gar untergeht, ob es am Ende des Prozesses, wenn
auch in einem Zustande sehr verminderter Leistungsfähigkeit,
so doch vorhanden ist oder ob es überhaupt ganz zerstört ist.
Darin liegt für die praktische Auffassung die grosse Scheidung,
dass für die eine Reihe von Prozessen eine Möglichkeit der
Reparation der Zellen besteht, während in dem anderen Falle
eine directe Reparation unmöglich ist, und eine Regeneration
nur geschehen kann durch einen Ersatz vermittelst neuer Ele-
mente von der Nachbarschaft her. Denn wenn ein Element zu
Grunde gegangen ist, so ist natürlich von ihm aus keine wei-
tere Entwickelung möglich.
Diese letztere Categorie, wo die Elemente unter dem Ab-
laufe des Prozesses zu Grunde gehen, habe ich vor einigen
Jahren vorgeschlagen mit einem Ausdruck zu bezeichnen, wel-
cher von K. H. Schultz für die Krankheit überhaupt ge-
[287]Nekrobiose.
braucht ist, mit dem der Nekrobiose. Immer nämlich handelt
es sich hier um ein Absterben, um ein Zugrundegehen, man
möchte fast sagen, um eine Nekrose. Aber der Begriff der
Nekrose bietet doch gar keine Analogie mit diesen Vorgängen,
insofern wir uns bei der Nekrose den mortificirten Theil als
in seiner äusseren Form mehr oder weniger erhalten denken.
Hier dagegen verschwindet der Theil, so dass wir ihn in sei-
ner Form nicht mehr erkennen können. Wir haben kein ne-
krotisches Stück am Ende des Prozesses, keine Art von ge-
wöhnlichem Brand, sondern eine Masse, in welcher von den
früheren Geweben absolut gar nichts mehr wahrnehmbar ist.
Die nekrobiotischen Prozesse, welche von der Nekrose völlig
getrennt werden müssen, haben im Allgemeinen als Endresul-
tat eine Erweichung im Gefolge. Dieselbe beginnt mit
Brüchigwerden der Theile; diese verlieren ihre Cohäsion, zer-
fliessen endlich wirklich, und mehr oder weniger bewegliche,
flüssige Produkte treten an ihre Stelle. Man könnte daher
geradezu diese ganze Reihe von nekrotischen Prozessen Er-
weichungen nennen, wenn eine Reihe von ihnen nicht verliefe,
ohne dass für die grobe Anschauung die Malacie jemals zur
Erscheinung kommt. Sobald nämlich innerhalb eines zusam-
mengesetzten Organs, z. B. eines Muskels, ein solcher Vorgang
eintritt, so giebt es allerdings eine grobe Myomalacie, wenn
an einem bestimmten Punkte alle Muskelelemente auf einmal
getroffen werden, aber weit häufiger geschieht es, dass im Ver-
laufe eines Muskels nur eine kleinere Zahl von Primitivbündeln
getroffen wird, während die anderen fast intakt bleiben. Dann
tritt freilich eine Malacie ein, aber eine so feine, dass sie für
die grobe Betrachtung gar nicht zugänglich wird und nur
mikroskopisch nachzuweisen ist. In diesem Falle sprechen wir
gewöhnlich von einer Muskelatrophie, obgleich der Vorgang,
welcher die einzelnen Primitivbündel getroffen hat, sich gar
nicht von den Vorgängen unterscheidet, welche wir ein ande-
res Mal Muskelerweichung nennen.
Das ist der Grund, warum man nicht einfach den Aus-
druck der Erweichung, der für die grobe pathologische Ana-
tomie vorbehalten werden muss, auf die histologischen An-
schauungen anwenden kann. Bei der Nekrobiose handelt es
[288]Fünfzehnte Vorlesung.
sich darum, die feineren Vorgänge zu unterscheiden; das Ge-
meinschaftliche aller Formen von nekrobiotischen Prozessen be-
steht darin, dass der getroffene Theil am Ende des Prozesses
untergegangen, vernichtet ist.
Die zweite Reihe von passiven Prozessen bilden die ein-
fach degenerativen Formen, Prozesse, wo am Ende des
Vorganges der getroffene Theil in irgend einem weniger actions-
fähigen Zustande ist, wo er in der Regel starrer geworden ist.
Man könnte daher diese Gruppe als Verhärtungen (Indu-
rationen) bezeichnen, und so auch hier eine schon äusserlich
von den nekrobiotischen Prozessen trennbare Gruppe aufstellen.
Allein auch der Ausdruck der Induration würde leicht miss-
verständlich sein, insofern auch hier wieder viele Zustände vor-
kommen, wo wenigstens die Härte des Organes im Ganzen
nicht bedeutender wird, sondern wo nur einzelne kleinste Theile
sich verändern, so dass die Veränderung für das grobe Tast-
gefühl keine auffallenden Effecte hervorbringt.
Erlauben Sie nun, dass ich Ihnen aus der Reihe dieser
Prozesse einige als Typen hervorhebe, welche die grösste
Wichtigkeit für die unmittelbare praktische Anschauung haben.
In der Reihe der nekrobiotischen Prozesse ist der un-
zweifelhaft am weitesten verbreitete und der wichtigste im Ver-
laufe der cellularen Veränderungen die fettige Metamor-
phose, oder wie man auch wohl von Alters her gewohnt ist
zu sagen, die fettige Degeneration. Der Prozess bringt
hier eine zunehmende Anhäufung von Fett in den Organen mit
sich. Schon der alte Begriff der fettigen Degeneration hatte
den Sinn, dass man eine immer steigende Veränderung der
Art annahm, dass zuletzt an die Stelle ganzer Organtheile rei-
nes Fett träte. Es hat sich aber ergeben, dass dieser alte Be-
griff der fettigen Degeneration, wie er noch jetzt in der patho-
logischen Sprache sich vielfach erhalten hat, eine grosse Reihe
in sich vollkommen verschiedenartiger Vorgänge zusammen-
fasst, und dass man nothwendig irre gehen musste, wenn man
vom Standpunkte der Pathogenie aus die ganze Gruppe auf
einfache Weise deuten wollte.
Die Geschichte des Fettes in Beziehung zu den Geweben
lässt sich im Allgemeinen in einer dreifachen Richtung betrachten.
[289]Verhältniss des Fettes zu den Geweben.
Wir finden nämlich eine Reihe von Geweben im Körper vor,
welche als physiologische Behälter für Fett dienen, und in
denen das Fett als eine Art von nothwendigem Zubehör ent-
halten ist, ohne dass jedoch ihr eigener Bestand durch die An-
wesenheit des Fettes irgend wie gefährdet wäre. Im Gegen-
theil, wir sind sogar gewöhnt, nach dem Fettgehalt gewisser
Gewebe das Wohlsein eines Individuums zu schätzen und den
Grad der Füllung der einzelnen Fettzellen als Kriterium für
den glücklichen Fortgang des Stoffwechsels überhaupt anzu-
sehen. Dies ist also ein gerader Gegensatz zu den nekrobio-
tischen Verhältnissen, wo der Theil unter der Anhäufung des
Fettes wirklich ganz und gar aufhört zu existiren.
Eine zweite Reihe von Geweben stellt keine regelmässi-
gen Behälter für Fett dar, vielmehr treffen wir in ihnen zu ge-
wissen Zeiten vorübergehend Fett an, welches nach einiger
Zeit wieder aus ihnen verschwindet, ohne den Theil desshalb
in einem veränderten Zustande zurückzulassen. Das ist der
Fall bei der gewöhnlichen Resorption des Fettes aus dem
Darme. Wenn wir Milch trinken, so erwarten wir nach alter
Erfahrung, dass dieselbe vom Darme allmählig in die Milchge-
fässe übergehe und von da aus dem Blute zugeführt werde;
wir wissen, dass der Uebergang des Verdauten vom Darm in
die Milchgefässe durch das Epithel und die Zotten hindurch
erfolgt, und dass das Epithel und die Zotten einige Stunden nach
der Mahlzeit voll von Fett stecken. Von einer solchen fetthal-
tigen Zotte oder Epithelzelle setzen wir aber voraus, dass sie
unter natürlichen Verhältnissen endlich ihr Fett abgeben und
nach einiger Zeit wieder vollkommen frei sein werden. Das
ist eine Fett-Infiltration von rein transitorischem Charakter.
Endlich haben wir eine dritte Reihe von Prozessen, näm-
lich diejenigen, welche zur Nekrobiose führen und welche man
in neuerer Zeit häufig als eigenthümlich pathologische betrach-
tet hat. Allein, wie sich bei allen übrigen Zuständen ge-
zeigt hat, dass die pathologischen Prozesse keine specifischen
sind, dass vielmehr für sie Analogien in dem normalen Leben
bestehen, so hat man sich auch überzeugt, dass diese nekro-
biotische Entwicklung von Fett ein ganz regelmässiger typi-
scher Vorgang an gewissen Theilen des gesunden Körpers ist,
19
[290]Fünfzehnte Vorlesung.
ja, dass wir sie sogar in sehr grobem Style im physiologischen
Leben antreffen. Die wichtigsten Typen für dieses Verhält-
niss haben wir einerseits in der Secretion der Milch, des Haut-
schmeeres, des Ohrenschmalzes u. s. w., andererseits in der
Bildung des Corpus luteum im Eierstocke. An allen diesen
Theilen geht eine Fettentwickelung genau in der Weise vor
sich, wie wir sie bei der nekrobiotischen Fettmetamorphose
unter krankhaften Bedingungen antreffen, und das, was wir
Hautschmeer, Milch oder Colostrum nennen, das sind die Ana-
loga für die pathologischen Fettmassen, welche die fettige Er-
weichung constituiren. Wenn Jemand statt in der Milchdrüse
im Gehirne Milch fabricirt, so gibt dies eine Form der Hirn-
Erweichung; das Product kann morphologisch vollständig über-
einstimmen mit dem, was in der Milchdrüse ganz normal ge-
wesen wäre. Hier ist aber der grosse Unterschied, dass, wäh-
rend in der Milchdrüse die zu Grunde gehenden Zellen sich
ersetzen durch neue nachrückende Elemente, der Zerfall der
Elemente in einem Organe, welches nicht zum Nachrücken ein-
gerichtet ist, zu einem dauerhaften Verluste führt. Derselbe
Prozess, welcher an einem Ort die glücklichsten, ja die süsse-
sten Resultate liefert, bringt an einem anderen Organe einen
schmerzlichen Schaden mit sich.
Denken Sie sich also diese drei verschiedenen physiolo-
gischen Typen, so werden wir im ersten Falle die Anfüllung
der Zellen mit Fett haben in der Weise, dass am Ende des
Prozesses jede einzelne Zelle ganz und gar voll von Fett steckt.
Das gibt uns den Typus des sogenannten Fettzellgewebes oder
kurzweg Fettgewebes, wie es namentlich im Unterhautge-
webe in so grossem Maasse vorkommt, wo es einerseits
die Schönheit, namentlich der weiblichen Form, andererseits die
pathologischen Zustände der Obesität oder Polysarcie bedingt.
Immer liegt in der Fettzelle noch eine Membran um den fet-
tigen Inhalt. Das Fett aber erfüllt den inneren Raum so voll-
ständig, die Membran ist so ausserordentlich dünn, zart und
gespannt, dass man gewöhnlich gar nichts weiter sieht, als die
Fetttropfen und dass bis in die neueste Zeit noch immer dar-
über discutirt worden ist, ob dies wirklich Zellen seien. Es
ist in der That sehr schwer, sich davon deutlich zu überzeugen,
[291]Fettzellgewebe.
allein wir haben sehr schöne Hülfsmittel in dem Verlaufe der
natürlichen Prozesse. Wenn Jemand magerer wird, so schwin-
det das Fett allmählig und die Membran verliert von ihrer
Spannung, ist nicht mehr so dünn und zart und tritt um so
deutlicher hervor, zuweilen deutlich vom Fetttropfen abgesetzt,
sogar mit erkennbarem Kerne versehen (Fig. 107, A, a.). Es
ist hier also eine wirkliche, vollständige Zelle mit Kern und
Membran, wo aber der Inhalt fast ganz und gar durch das
aufgenommene Fett verdrängt worden ist. Dieses sogenannte
Fettzellgewebe ist eine Form des Bindegewebes (S. 43.), und
wenn es sich zurückbildet, so sieht man sehr deutlich, dass es
sich auf Bindegewebe reducirt, indem zwischen den Zellen im-
mer noch eine kleine Menge von Intercellularsubstanz übrig
bleibt (Fig. 107, A, b. B.).
Diese Species von Fett, meine Herren, ist es, welche nicht
bloss unter Umständen die Polysarcie und Obesität hervorbringt,
indem immer grössere Massen von Bindegewebe in diese Fett-
füllung hineingezogen werden, sondern welche auch gewöhn-
lich die Grundlage aller anomalen Fettbildungen, z. B. der Li-
pome ist. Die einzelnen Formen dieser Bildungen, namentlich
die wirklichen Fettgeschwülste, unterscheiden sich unter einander
nur durch die grössere oder geringere Masse von Zwischenbinde-
gewebe, welches die Geschwulst enthält, und von welchem die
grössere oder geringere Consistenz abhängt. Dieselbe Form
von Fettanhäufung ist es auch, welche wir unter krankhaften Ver-
Fettzellgewebe aus dem Panniculus. A. das gewöhnliche
Unterhautgewebe, mit Fettzellen, etwas Zwischengewebe und bei b Ge-
fässschlingen; a eine isolirte Fettzelle mit Membran, Kern und Kernkör-
perchen. B. Atrophisches Fett bei Phthisis. Vergr. 300.
19*
[292]Fünfzehnte Vorlesung.
hältnissen in einer Reihe von solchen Fällen eintreten sehen,
welche man nach alter Tradition schon fettige Degeneration
nannte, und zwar ist es namentlich die fettige Degenera-
tion der Muskeln, welche in vielen Fällen nichts weiter dar-
stellt, als die mehr oder weniger weit fortgeschrittene Ent-
wickelung von Fettzellgewebe zwischen den Muskelprimitivbün-
deln. Es ist dies ein ähnlicher Vorgang, wie wir ihn bei der
Mästung von Thieren finden, und wie manche einfach gemästete
Muskeln auch beim Menschen ihn darstellen. Zwischen die
einzelnen Muskelprimitivbündel schieben sich Fettzellen ein,
welche natürlich streifenweise nach dem Verlauf der Muskelfasern
liegen; letztere können sich da-
bei erhalten. Die Grundlage der
Entwickelung ist hier das Zwischen-
gewebe des Muskels. Im Anfang
der Entwickelung und bei einer
sehr grossen Regelmässigkeit der-
selben kann es sein, dass ganz
einfache Reihen hintereinander
liegender Fettzellen mit den Rei-
hen der Muskelelemente ab-
wechseln. In diesem Falle, wo die Primitivbündel auseinan-
der gedrängt werden und gewöhnlich in Folge der Entwick-
lung des vielen Fettes die Circulation im Muskel gestört, das
Fleisch blass wird, da sieht es für das blosse Auge so aus,
als sei gar kein Muskelfleisch mehr vorhanden. Untersucht
man z. B. an einer Unterextremität, welche in Folge einer
Ankylose des Knie’s unbewegt gewesen ist, die Gastrocnemii,
so findet man nur eine gelbliche, kaum streifig aussehende
Masse ohne jedes fleischige Ansehen, allein bei feinerer Unter-
suchung zeigt sich, dass die an sich erhaltenen Primitivbündel
noch immer durch das Fett hindurchgehen. In diesem Falle
bildet das Fett eine Erschwerung für den Muskelgebrauch,
aber die Muskelprimitivbündel sind doch noch vorhanden und
Interstitielle Fettwucherung (Mästung) der Muskeln.
f f, Reihen von interstitiellen Fettzellen; m, m, m Muskelprimitivbündel.
Vergr. 300.
[293]Fettresorption.
in gewisser Weise wirkungsfähig. Es unterscheidet sich daher
dieser Prozess wesentlich von der Nekrobiose, wo das Primi-
tivbündel als solches zu Grunde geht. Hier haben wir eine
rein interstitielle Fettgewebsbildung, wobei gewöhnliches Binde-
gewebe in Fettgewebe übergeht, und man sollte den Ausdruck
der fettigen Degeneration vermeiden, welcher so leicht missver-
standen werden kann.
Diese Form kommt besonders am Herzen ziemlich häufig
vor und kann, wenn sie eine grosse Ausdehnung erreicht, er-
hebliche Störungen der Bewegungsfähigkeit des Herzfleisches
hervorbringen, aber ihrem pathologischem Werthe nach steht
sie tief unter der eigentlichen fettigen Metamorphose, obwohl
diese hinwiederum im äusserlich sichtbaren Resultat nicht ent-
fernt ihr gleichkommt. Das, was die alten Anatomen als Fett-
herzen beschrieben haben, waren meistentheils nur fettig durch-
wachsene Herzen; was man dagegen heut zu Tage meint,
wenn man von einer eigentlichen fettigen Degeneration (Meta-
morphose) des Herzens spricht, das ist nicht dieses Fettwer-
den des Herzens, dieses Durchwachsen des Fleisches mit Fett-
zellen, sondern es ist vielmehr die wirkliche, im Innern des
Fleisches vor sich gehende Umsetzung der Substanz (Fig.23.).
In dem letzteren Falle liegt das Fett in, im ersteren zwischen
den Primitivbündeln. —
Die zweite Reihe von Vorgängen ist die transitorische An-
füllung gewisser Organe mit Fett, wie wir sie im Wesentlichen
bei der Digestion von Fett antreffen. Hat Jemand eine fettige
Substanz genossen, die in den Zustand der Emulgirung ge-
rathen ist, so finden wir, dass wenn sie in das obere Ende
des Jejunum gelangt, zum Theil schon im Duodenum, die Zot-
ten der Schleimhaut weisslich, trübe und dick werden, und die
feinere Untersuchung ergibt, dass sie mit sehr feinen, kleinsten
Körnchen erfüllt sind, welche viel feiner sind, als wir sie in
irgend einer künstlichen Emulsion herstellen können. Diese
Körnchen, welche sich schon im Chymus finden, berühren zu-
nächst das Cylinderepithel, mit welchem jede einzelne Darm-
zotte umgeben ist. An der Oberfläche jeder Epithelzelle fin-
det sich, wie von Kölliker zuerst entdeckt ist, ein eigen-
thümlicher Saum, welcher, wenn man die Zelle von der Seite
[294]Fünfzehnte Vorlesung.
betrachtet, feine Strichelchen erkennen lässt; von oben her,
von der Oberfläche aus gesehen, erscheint die Zelle sechseckig
und mit vielen kleinen Punkten wie getüpfelt. (Vgl. das Epi-
thel der Gallenblase Fig. 14. sowie Fig 109, A.) Kölliker
hat die Vermuthung aufgestellt, dass diese feinen Striche und
Punkte kleinen Porenkanälchen entsprechen und dass die Re-
sorption so vor sich ginge, dass die kleinen Partikelchen des
Fettes durch diese kleinen Poren an der Oberfläche der Epi-
thelzellen aufgenommen würden. Der Gegenstand liegt so sehr
an der Grenze unserer optischen Apparate, dass es bis jetzt
nicht möglich gewesen ist, eine vollkommene Klarheit darüber
zu gewinnen, ob die Striche wirklich feinen Kanälen ent-
sprechen, oder ob es sich vielmehr, wie Brücke annimmt, um
eine Zusammensetzung des ganzen oberen Saumes aus Stäb-
chen oder Säulchen handelt, ähnlich Flimmerhaaren. Ich muss
bekennen, dass ich durch meine Untersuchungen auch mehr zu
letzterer Ansicht disponirt bin, zumal da an denselben Orten
die vergleichende Histologie wirkliches Flimmerepithel als
Aequivalent nachweist. Jedenfalls ist soviel sicher, dass einige
Darmzotten und Fettresorption. A Normale Darmzotten
des Menschen aus dem Jejunum, bei a das zum Theil noch ansitzende
Cylinderepithel mit dem feinen Saum und Kernen; c das centrale Chy-
lusgefäss, v, v Blutgefässe; im übrigen Parenchym die Kerne des Binde-
gewebes und der Muskeln. — B Zotten im Zustande der Contraction vom
Hund. — C Menschliche Darmzotte während der Chylus-Resorption, D bei
Chylus-Retention: an der Spitze ein grosser, aus einer krystallinischen
Hülle austretender Fettropfen. Vergr. 280.
[295]Darmzotten.
Zeit nach der Digestion das Fett nicht mehr bloss aussen liegt,
sondern sich innen in den Zellen findet, und zwar zuerst am
äusseren Ende; dann rückt es nach und nach weiter und geht
in den Zellen nach innen, und zwar so deutlich reihenweis,
dass es den Eindruck machen könnte, als gingen feine Kanäle
durch die ganze Länge der Zellen selbst hindurch (Fig. 109,
C, a.). Allein auch das ist eine Frage, welche mit unseren
optischen Apparaten nicht so bald gelöst werden dürfte.
Genug, die grobe Thatsache bleibt stehen, dass das Fett durch
die Zellen geht und zwar in der Weise, dass anfänglich nur
der äussere Theil derselben damit erfüllt ist, dann eine Zeit
kommt, wo sie ganz voll von Fett sind, etwas später die äussere
Partie wieder ganz frei wird, während die innere noch etwas
enthält, bis endlich alles Fett aus den Zellen verschwindet.
Auf diese Weise kann man den allmähligen Progress von Stunde
zu Stunde verfolgen. Nachdem das Fett bis in die innere
Spitze der Zellen hingerückt ist, so beginnt es, in das soge-
nannte Parenchym der Zotte überzugehen (Fig. 109, C.). Ob
die Epithelzellen unten ein Loch haben und ob sie wiederum,
wie dies in der neuesten Zeit von dem jüngeren Heidenhain
behauptet worden ist, mit feinsten Kanälen der Bindegewebs-
körperchen zusammenhängen, ist eine nicht ganz entschiedene
Frage, jedoch sehr wahrscheinlich. Es ist höchst schwierig,
mit Sicherheit über diese feinsten Einrichtungen der Gewebs-
substanz zu urtheilen. In der Regel finden wir innerhalb der
Zotten das Netz der Blutgefässe etwas unter der Oberfläche
(Fig. 109, A, v, v), dagegen in der Axe eine ziemlich weite,
stumpfendigende Höhlung, den Anfang des Chylusgefässes, so-
weit es bis jetzt mit Sicherheit erkennbar ist (Fig. 109, A, c).
An der Peripherie der Zotten hat Brücke eine Lage von
Muskeln entdeckt, welche für die Digestion von grosser Be-
deutung ist, insofern dadurch ein Heranziehen der Zottenspitze
gegen ihre Basis, eine Verkürzung geschieht, wie man sehr
leicht sehen kann. Wenn man Zotten vom Darme eines eben
getödteten Thieres abschneidet, so sieht man unter dem Mi-
kroskop, dass die Zotten sich zusammenziehen, sich runzeln,
dicker und kürzer werder (Fig 109, B.); offenbar erfolgt da-
durch ein Druck von Aussen nach Innen, welcher die Fortbe-
[296]Fünfzehnte Vorlesung.
wegung der Säfte befördert. So weit wäre die Sache ziem-
lich klar, allein was das noch restirende Parenchym für einen
Bau hat, ist äusserst schwer zu sehen. Jenseits der Muskel-
lage sieht man noch kleinere Kerne, welche, wie ich schon
vor Jahren hervorhob, hin und wieder ziemlich deutlich in fei-
nen zelligen Elementen eingeschlossen sind. Ob aber diese
Parenchymzellen unter sich durch ein besonderes Netzwerk
anastomisiren, weiss ich nicht zu sagen. Bei der Resorption
sieht es aus, als ob das Fett, welches in den Zotten immer
weiter nach innen dringt, das ganze Parenchym erfüllt. End-
lich gelangt es bis zu dem centralen Chylusgefässe, und von
hier beginnt der regelmässige Strom des Chylus.
Der ganze Vorgang setzt also eine emulsive Beschaffen-
heit des Fettes voraus, welches überall in feinster Zertheilung
durch die Theile hindurchdringt; in dem regelmässigen Gange
sind es so ausserordentlich zarte Partikeln, dass, wenn man
frischen, noch warmen Chylus untersucht, man fast nichts von
körperlichen Theilen darin erkennen kann. Allein jede Störung
welche in dem Resorptionsgeschäfte stattfindet und das Fort-
rücken hindert, bedingt ein Zusammenfliessen der Fettpartikeln;
innerhalb der Theile scheiden sich grössere Körner ab, es er-
scheinen immer grössere und grössere und endlich ganz grosse
Fetttropfen. Diese finden wir schon in den Zellen oder inner-
halb des Zottengewebes, ja es kommt vor, dass das Ende der
Chylusgefässe sich erweitert, kolbige Anschwellungen bekommt,
mit grossen Anhäufungen von Fett, so dass man dieselben schon
mit blossem Auge erkennt. Nirgends hat man sie in einer so
häufig auffälligen Weise gesehen, wie in der Cholera, wo schon
1837 durch Böhm gute Schilderungen dieser Zustände gelie-
fert worden sind. Dieselben bedeuten nichts Anderes, als die
Hemmung des Lymphstromes durch die Respirations- und Cir-
culationsstörungen (Fig. 109, D.). Da bekanntlich die Cholera-
Anfälle überwiegend häufig in der Digestionsperiode eintreten
und mit grossen Hemmungen des Respirationsgeschäftes ver-
laufen, welche sich im ganzen Venenapparate geltend machen,
so müssen sie natürlich auch auf den Chylusstrom zurückwir-
ken. So erklärt sich die colossale Anstauung (Retention) von
Fett in den Zotten. Dies ist also, wenn Sie wollen, schon ein
[297]Fettretention.
pathologischer Zustand, aber derselbe beruht nur auf einer
vorübergehenden Hemmung und wir haben keinen Grund an-
zunehmen, dass, wenn wieder ein freier Strom eintritt, nicht
auch diese grösseren Fetttropfen allmählig wieder beseitigt
werden. Damit kommen wir aber auf andere Gebiete, wo die
Grenze der Pathologie sich mit grosser Schwierigkeit ziehen
lässt; dieser Fall findet sich namentlich an der Leber.
Seit alter Zeit weiss man, dass die Leber dasjenige Or-
gan ist, welches überwiegend leicht in einen Zustand der fet-
tigen Degeneration geräth, und schon lange hat man gerade
die Kenntniss dieser Zustände auf dem Wege populärer Ex-
perimentation begründet. Die Geschichte der Gänseleberpaste-
ten beweist dies in der angenehmsten Weise, obgleich Herr
Lereboullet aus Strassburg behauptet, dass die Fettlebern
der Gänse physiologische seien, die sich von den pathologischen,
welche man nicht esse, sondern nur beobachte, wesentlich unter-
schieden. Indess muss ich bekennen, dass ich bis jetzt ausser
Stande gewesen bin, den Unterschied zwischen physiologischen
und pathologischen Fettlebern zu entdecken; ich glaube viel-
mehr, dass gerade, indem man die Identität beider zulässt, der
einzig richtige Gesichtspunkt auch für die pathologische Fett-
leber gefunden werden kann. Wir kennen nämlich eine That-
sache, welche gleichfalls zuerst von Kölliker beobachtet wor-
den ist, dass bei saugenden Thieren regelmässig einige Stun-
den nach der Digestion eine Art von Fettleber physiologisch
vorkommt. Wenn man von demselben Wurfe von Thieren die
einen hungern, die anderen saugen lässt, so haben diejenigen,
welche gesogen haben, ein Paar Stunden nachher eine Fett-
leber, die anderen nicht. Die Fettleber erscheint ganz blass,
freilich nicht so weiss, wie eine Gänseleber. Diese Beobach-
tung hat mir Gelegenheit gegeben, die Frage von der patho-
logischen Fettleber etwas weiter zu verfolgen, und ich glaube
allerdings, dass man mit Bestimmtheit schliessen kann, dass
hier ein naher Zusammenhang besteht. Ich fand nämlich, dass
etwas später, als die Leberzellen diese Fettfüllung zeigen, man
einen ähnlichen Zustand von Anfüllung im Laufe der Gallen-
wege findet, und dass sowohl in den Gallengängen, als in der
Gallenblase das Epithel dieselben Erscheinungen der Fett-
[298]Fünfzehnte Vorlesung.
Resorption wahrnehmen lässt, die wir vom Darmepithel ken-
nen. Sie brauchen also nur das Schema von vorher umzu-
kehren.
Anstatt dass Sie eine Zotte haben, an welche das Epithel
angelagert ist, denken Sie sich einen Kanal, welcher innen mit Epi-
thel ausgekleidet ist. Das feine Cylinderepithel in der Gallen-
blase hat denselben streifigen Saum, wie das im Darm (Fig. 14.)
und hier sieht man in derselben Weise, dass das Fett von
aussen eindringt, weitergeht und nach einiger Zeit in die Wand
der Gallenblase übergeht. Ich habe denselben Prozess auch
bei jungen saugenden Thieren nach der Digestion verfolgt;
man kann sich da leicht überzeugen, dass offenbar das Fett,
welches eine Zeit lang in den Leberzellen enthalten ist, von
den Leberzellen in die Gallenwege secernirt, dass aber im Ver-
lauf dieser Wege das Fett wieder resorbirt wird und so zum
zweiten Male in die Circulation zurückkehrt.
Ein solcher intermediärer Stoffwechsel, wo das Fett
vom Darme in das Blut, vom Blute zur Leber, von der Leber
in die Galle und von da wieder in Capillaren kommt, welche
zu den Lebervenen und zum Herzen zurückführen, setzt na-
türlich auch wie die Resorption im Darme voraus, dass die
Rückfuhr unter günstigen Verhältnissen erfolgen müsse; tritt
irgend eine Störung ein, so wird es eben eine Retention geben
und es werden nach und nach an die Stelle der feinen Kör-
ner grosse Tropfen treten. Das ist aber der Modus, wie wir
ihn in der Fettleber wirklich verfolgen können.
In der Regel sieht man, wenn man
eine Fettleber studirt, dass sich das Fett
zuerstin derjenigen Zone der Aciniablagert,
welche zunächst an die capillare Auflö-
sung der Pfortaderäste anstösst (Fig. 110
c, c). Wenn man Durchschnitte des Or-
ganes sorgfältig betrachtet, so sieht es
Die aneinander stossenden Hälften zweier Leber-Acini.
p ein Ast der Pfortader, mit Aesten p' p', den Venae interlobulares ent-
sprechend. h, h Querschnitt der Vena intralobularis s. hepatica. a die
Zone des Pigmentes, b die des Amyloids, c die des Fettes. Vergr. 20.
[299]Fettleber.
an vielen Stellen aus, wie wenn man ein Eichenblatt mit sei-
nen Rippen und Buchten vor sich hätte; hier entspricht die
Verbreitung der Pfortaderäste den Rippen, die Fettzone der
Substanz des Blattes. Je stärker die Infiltration wird, um so
breiter wird die Fettzone, und es gibt Fälle, wo das Fett die
ganzen Acini bis zur centralen (intralobulären) Leber-Vene
(Fig. 110, h) hin erfüllt, und wo jede einzelne Zelle mit Fett
vollgestopft ist. In seltenen Fällen kommt es freilich vor, dass
wir gerade das Umgekehrte finden, dass das Fett gerade um
die Vena centralis liegt; es sind dies Fälle, welche wahrschein-
lich so zu deuten sind, dass das Fett schon in der Ausschei-
dung begriffen ist und nur die letzte Reihe der Zellen gegen
die Gallengänge hin noch etwas davon zurückhält.
Betrachten wir nun den Vorgang im Einzelnen, so zeigt
sich, dass die Art, wie die Leberzellen sich füllen, genau ent-
spricht dem, wie sich eine Epithelzelle im Darme mit Fett er-
füllt. Zuerst finden wir ganz zerstreute und zwar ganz kleine
Fettkörnchen. Diese werden reichlicher, dichter und nach
einiger Zeit grösser; zugleich werden die Zellen grösser, schwel-
len an und man findet grössere und kleinere Tropfen von Fett
in ihnen (Fig.27.B,b.), bis im höchsten Grade der Anfüllung die
Zellen denselben Habitus darbieten, wie die Zellen des Fett-
gewebes; man sieht fast gar keine Membran und fast nie einen
Kern, doch sind sie immer noch vorhanden. Das ist der Zu-
stand, welchen man Fettleber im eigentlichen Sinne der Wor-
tes nennt.
Auch hier haben wir, was wir bei den Fettzellen gesehen
haben, die Persistenz der Zellen. Es gibt keine Fettleber,
in welcher die Zellen zu existiren aufhörten; immer sind die
Elemente des Organes vorhanden, nur statt mit gewöhnlicher
Inhaltssubstanz, fast ganz mit Fetttropfen erfüllt. Es kann
kaum zweifelhaft sein, dass sie in diesem Zustande auch eine
gewisse functionsfähige Masse enthalten. Denn bei manchen
Thieren, z. B. den Fischen, von denen wir Leberthran gewinnen,
geht die Function des Organs vor sich, wenn auch noch so
viel Thran in den Zellen enthalten ist. Auch beim Menschen
finden wir, selbst in dem höchsten Grade der Fettleber, in der
Gallenblase noch Galle. Insofern kann man also diese Zu-
[300]Fünfzehnte Vorlesung.
stände in Nichts vergleichen mit den nekrobiotischen Zustän-
den, wie wir sie im Laufe der fettigen Degeneration an so
vielen anderen Theilen finden, wo die Elemente zu Grunde
gehen. Bei einer fettigen Degeneration im gewöhnlichen Sinne
des Wortes finden wir nachher irgendwo mürbe, erweichte
Stellen, wo das Fett in freien Tropfen enthalten ist, gewisser-
maassen fettige Abscesse. Es ist daher äusserst wichtig,
und ich halte es für die Auffassung dieser Zustände in hohem
Maasse entscheidend, dass dabei immer eine Persistenz der or-
ganischen Bestandtheile statthat, und dass, wenn diese Be-
standtheile auch noch so sehr mit fremdartigen Stoffen
erfüllt sind, sie doch immer noch als Elemente existiren.
Daraus resultirt, dass eine Fettleber beseitigt werden kann,
dass sie heilbar ist, ohne dass es dazu besonderer Regenera-
tionsprozesse bedarf. Es gehört nur dazu, dass die Bedingun-
gen der Retention beseitigt und die Leberzellen frei werden.
Freilich wissen wir weder das Eine, noch das Andere mit
Sicherheit. Wir kennen die Zustände nicht, welche das Fett
festhalten, noch die Bedingungen, unter welchen es wieder aus-
getrieben werden kann. Indess, wenn man einmal soweit ist,
so wird es auch wahrscheinlich möglich sein, die weiteren
Thatsachen zu finden. Denn es wäre z. B. denkbar, dass ein-
fach die Elasticität der Gewebe von Bedeutung wäre, dass,
wenn sie erschlaffen, sie mit Leichtigkeit einen grossen Inhalt
zulassen und in sich dulden, während bei einer grossen Elasti-
cität auch eher ein Entfernen, ein Auspressen des Inhaltes er-
folgen könnte. Auch ist gewiss der Zustand der Circulation
von Bedeutung und die Häufigkeit der Fettleber bei chroni-
schen Lungen- und Herzaffectionen ist gewiss nicht wenig dem
vergrösserten Drucke zuzuschreiben, unter dem das Venen-
blut steht.
Das, worauf es mir hauptsächlich ankam, Ihnen, meine
Herren, evident zu machen, das ist der grosse Unterschied,
den diese Art von fettiger Degeneration von derjenigen hat,
welche wir vorher betrachtet haben. Während wir dort zwi-
schen den eigentlichen specifischen Organbestandtheilen Fett-
zellen entstehen sehen, welche dem Bindegewebe angehören,
so sind es hier die specifischen Drüsenzellen selbst, welche
[301]Fettige Metamorphose.
der Ausgangspunkt sind. Auf der anderen Seite müssen Sie
den grossen Unterschied von den nekrobiotischen Prozessen
der fettigen Degeneration erwägen, wobei die Elemente als
solche verschwinden.
Wir haben nun, meine Herren, diese dritte Reihe von fet-
tigen Zuständen genauer zu betrachten, nämlich die mit Auf-
lösung der Elemente zusammenfallenden, diejenigen, für welche
wir in der Secretion der Milch und des Hauttalges die eigent-
lichen Paradigmen aufgestellt haben. Dass diese beiden Se-
crete sich analog verhalten, erklärt sich einfach daraus, dass
die Milchdrüse eigentlich nichts weiter ist, als eine colossal
entwickelte und eigenthümlich gestaltete Anhäufung von Haut-
drüsen (Schmeer- oder Talgdrüsen). Der Entwickelung nach
stehen sich beide Reihen vollständig gleich. Beide gehen durch
eine progressive Wucherung aus den äusseren Epidermisschich-
ten hervor (S. 36. Fig. 18, A.) Ebendahin gehören auch die
Ohrenschmalzdrüsen und die grossen Achseldrüsen. In allen
diesen Fällen entsteht das Fett, welches den Hauptbestandtheil
der Milch, wenigstens für die äussere Erscheinung darstellt,
und welches den Schmeer liefert, im Innern von Epithelzellen,
welche allmählig zu Grunde gehen und das Fett frei machen,
während von den Zellen kaum etwas erhalten bleibt. Die
Talgdrüsen liegen gewöhnlich seitlich an den Haarbälgen in
einiger Tiefe unter der Oberfläche; wir finden hier eine Reihe
von kleinen Läppchen, in welche die Fortsetzung des Rete
Malpighii continuirlich fortgeht. Die Zellen derselben werden
grösser und reichlicher, so dass sie eine fast solide Erfüllung
der Drüsensäcke bilden. Alsdann scheidet sich in ihrem In-
nern das Fett zuerst in kleinen Partikeln aus, diese werden
bald grösser und nach kurzer Zeit sieht man schon nicht mehr
deutlich die einzelnen Zellen, sondern nur Zusammenhäufungen
grosser Tropfen, welche aus der Drüse in den Haarbalg her-
vortreten. Lösen wir die Drüse in eine Fläche auf, so würde
sich ihr Zellenlager darstellen wie Epidermis, nur dass die
ältesten Zellen nicht verhornen, sondern durch fettige Meta-
morphose zu Grunde gehen. Die Secretion ist eine rein epi-
theliale, wie die Samensecretion.
[302]Fünfzehnte Vorlesung.
Dieser Hergang ist nun ge-
nau das Schema auch für die
Milchbildung. Sie brauchen
sich nur die Gänge sehr
verlängert zu denken, die End-
Acini sehr entwickelt; der Pro-
zess bleibt im Wesentlichen der-
selbe: die Zellen wuchern, die
gewucherten Zellen gehen die
fettige Degeneration ein, und end-
lich bleibt fast nichts von diesen
Elementen übrig als die Fett-
tropfen. Am meisten stimmt mit
der gewöhnlichen Art der Schmeer-
secretion die früheste Zeit der
Lactation überein, welche das so-
genannte Colostrum liefert. Das
Colostrumkörperchen (Fig. 112, C)
ist die noch zusammenhaltende
Masse, welche aus der fettigen Degeneration einer Epithelial-
zelle hervorgeht. Die Colostrum- und die Schmeerbildung un-
terscheiden sich nur dadurch, dass die Fettkörner bei der
Haarbalg mit Talgdrüsen von der äusseren Haut. c das
Haar, b die Haarzwiebel, e, e die von der Epidermis sich in den Haar-
balg einsenkenden Zellenschichten. g, g Talgdrüsen im Act der Schmeer-
absonderung; das Secret bei f neben dem Haar heraufsteigend und sich
ansammelnd. Vergr. 280.
Milchdrüse in der Lactation und Milch. A Drüsenläpp-
chen der Milchdrüse mit der hervorquellenden Milch. B Milchkügelchen.
C Colostrum, a deutliche Fettkörnchenzelle, b dieselbe mit verschwinden-
dem Kern. Vergr. 280.
[303]Milchabsonderung.
ersteren kleiner bleiben, und während beim Schmeer sehr bald
grosse Tropfen auftreten, beim Colostrum die letzten Zellen,
welche noch bemerkt werden, gewöhnlich nur feinkörniges
Fett, ganz dicht gedrängt enthalten, so dass dadurch, obwohl
das Fett keine sehr intensive Farbe hat, das ganze Element
ein etwas bräunliches Aussehen bekommt. Das ist das kör-
nige Körperchen (Corps granuleux) von Donné.
Die Entdeckung dieser allmähligen Transformation der
zelligen Körper zu Fettkörnchenhaufen haben wir Reinhardt
zu verdanken. Allein er scheute sich noch, diese wichtige
Erfahrung von der Colostrumbildung auf die Geschichte der
Milch überhaupt auszudehnen, aus dem Grunde, weil eben in
der späteren Zeit der eigentlichen Lactation granulirte Kör-
perchen nicht mehr vorkommen. Es ist aber unzweifelhaft,
dass zwischen der jüngeren Bildung der Colostrumkörper und
der späteren Milchbildung kein anderer Unterschied besteht,
als der, dass bei der Colostrumbildung der Prozess langsamer
erfolgt und die Zellen länger zusammenhalten, während bei
der Milchsecretion der Process acut ist und die Zellen eher zu
Grunde gehen. Recht vollkommenes Colostrum enthält eine
überaus grosse Masse von granulirten Körpern, die Milch nichts
weiter, als verhältnissmässig grosse und kleine durcheinander
gemengte Tröpfchen von Fett, die sogenannten Milchkörper-
chen (Fig. 112, B), welche nichts als Fetttropfen sind, die wie
die meisten Fetttropfen, welche in dem thierischen Körper vor-
kommen, von einer feinen Eiweisshaut, der von Ascherson
benannten Haptogenmembran, umschlossen sind. Allein die
einzelnen Tropfen (Milchkörperchen) entsprechen den Tropfen,
welche wir bei der Schmeerabsonderung haben; sie entstehen
aus der Confluenz der feinen Körnchen, welche bei der Co-
lostrumabsonderung erscheinen.
Nachdem wir diese physiologischen Typen der Umbildung
gesehen haben, meine Herren, hat die Darstellung der patho-
logischen Veränderungen keine Schwierigkeit mehr. Mit Aus-
nahme ganz weniger Gebilde, z. B. der rothen Blutkörperchen,
der Nervenfasern in den Centralorganen, können fast alle übri-
gen zelligen Theile unter gewissen Verhältnissen eine ähnliche
Umwandlung erfahren, welche sich genau in derselben Weise
[304]Fünfzehnte Vorlesung.
darstellt, dass in dem Zelleninhalt einzelne feinste Fettkörn-
chen erscheinen, reichlicher werden und, ohne zu so grossen
Tropfen zusammenzufliessen, wie dies bei der Fettinfiltration
und den Fettgewebsbildungen der Fall ist, allmählig den Zel-
lenraum erfüllen. Gewöhnlich tritt in einiger Entfernung vom
Kern die Entwickelung von Fettkörnchen zuerst auf; sehr sel-
ten beginnt sie vom Kern aus. Das ist die Zelle, welche man
seit langer Zeit Körnchenzelle genannt hat. Dann kommt
ein Stadium, wo allerdings noch Kern und Membran zu sehen
sind, wo aber die Körnchen so dicht aneinander liegen, wie
bei den Colostrumkörperchen; nur an der Stelle, wo der Kern
lag, findet sich noch eine kleine Lücke (Fig. 66, b.). Von die-
sem Stadium ist ein kleiner Schritt bis zum vollkommenen Un-
tergang der Zelle. Denn in dem Zustande der Körnchen-
zelle erhält sich niemals eine Zelle längere Zeit, sondern wenn
einmal dieses Stadium eingetreten ist, so verschwindet alsbald
gewöhnlich der Kern und endlich auch die Membran, wahr-
scheinlich durch eine Art von Auflösung. Dann haben wir
die einfache Körnchenkugel, oder wie man früher gesagt
hat, die Entzündungskugel, welche Gluge zuerst unter
diesem Namen beschrieben hat (Fig. 66, c.).
Gluge passirte dabei einer der Irrthümer, wie sie die
Anfangsperiode der Mikroskopie mehrfach charakterisiren, dass
er bei Untersuchung einer Niere im Innern eines Kanals, den
er für ein Blutgefäss hielt, solche Körper sah; damals, wo die
Stase in vollster Berechtigung war, stellte er sich vor, dass er
ein Gefäss mit stagnirendem Inhalt, der zerfalle und die Ent-
zündungskugeln erzeuge, vor sich habe. Leider war das Ge-
fäss ein kleines Harnkanälchen, das, was er für Theile der
Blutkörperchen ansah, Fett, das, was er als Entzündungskugeln
ausgab, fettig degenerirtes Nierenepithel. Man hätte sich die
Geschichte dieser Stase nach Gluge’s Schema leicht ersparen
können, allein es gab damals wenig Leute, welche wussten,
wie Harnkanälchen aussehen und wie sie sich von Ge-
fässen unterscheiden, und so hat es etwas lange gedauert, ehe
diese Entzündungstheorie überwunden worden ist.
Gegenwärtig nennen wir das Ding eine Körnchenkugel,
und betrachten es als das erste Stadium der Degeneration, wo
[305]Fettiger Detritus.
nicht mehr die Zelle als Zelle erhalten ist, sondern wo bloss
noch die rohe Form existirt, mit vollständigem Verlust der
eigentlich die Zelle constituirenden Theile, d. h. der Membran
und des Kernes. Von diesem Zeitpunkt an tritt je nach den
äusseren Verhältnissen entweder eine vollständige Zerstörung
ein, oder die Theile können sich noch im Zusammenhange er-
halten. Handelt es sich nämlich um sehr weiche Theile, wo
von Anfang an Flüssigkeiten existiren, oder wo wenigstens
sehr viel Saft vorhanden ist, so fallen die Körnchen auseinan-
der. Der Zusammenhang, in dem sie sich ursprünglich befan-
den und Kugeln bildeten, welche durch einen Rest des alten
Zelleninhaltes befestigt wurden, löst sich allmählig auf. Die
Kugel zerfällt in eine bröcklige Masse, welche oft noch an ein-
zelnen Stellen etwas zusammenhält, aus welcher sich aber ein
Fetttropfen nach dem andern ablöst, so dass die schönste Ueber-
einstimmung mit der Milch besteht.
Das ist der Modus, in welchem der Zerfall fast aller der
Theile stattfindet, welche wesentlich aus Zellen bestehen und
welche von Natur viel Flüssigkeit enthalten, z. B. unter den
bekannten pathologischen Producten der Eiter (S. 164. Fig. 66).
Sind dagegen die Theile an sich mehr starr, so dass eine Be-
wegung und ein Verschieben der Fettmasse weniger leicht vor
sich gehen kann, so bleibt das Fett in der Form des früheren
Zellenkörpers liegen, wie wir es z. B. in dem atheromatösen
Prozesse der Arterien antreffen.
An der Aorta, der Carotis, den Hirnarterien sieht man oft
mit blossem Auge Veränderungen der inneren Haut in der Art,
dass kleine weissliche Flecke von rundlicher oder eckiger Ge-
stalt, manchmal mehr zusammenhängend, über die Fläche et-
was hervortreten. Schneidet man an solchen Stellen ein, so
findet man, dass sie ganz oberflächlich sind, in der äus-
sersten Schicht der Intima liegen und mit dem eigentlich
atheromatösen Prozesse nicht verwechselt werden dürfen.
Nimmt man eine solche Stelle heraus, so ergibt sich, dass eine
fettige Degeneration der Bindegewebs-Elemente der Intima
stattgefunden hat, und da diese Bindegewebs-Elemente ästige
Zellen sind, so bekommen wir hier nicht die gewöhnliche Form
der rundlichen Körnchenzellen, sondern oft sehr lange, feine,
20
[306]Fünfzehnte Vorlesung.
an einzelnen Stellen spindel- oder sternförmig anschwellende
Gebilde, in welchen das Fett perlschnurartig aufgehäuft liegt,
während dazwischen noch intakte Zwischensubstanz sich befin-
det. Es sind die zelligen Elemente des Bindegewebes, welche
in ihrer Totalität die Veränderung eingehen. Später erweicht
auch die Zwischenmasse, die zelligen Theile fallen auseinan-
der, der Blutstrom reisst die Fettpartikelchen mit sich. So
entsteht an der Oberfläche des Gefässes eine Reihe unebener
Stellen, welche so lange, als der Prozess fortschreitet, anschwel-
len, später usurirt werden und leicht sammetartig aussehen, ohne
dass es ein Geschwür im eigentlichen Sinne des Wortes gibt.
Es ist dies eine besondere Form der fettigen Usur, welche
an vielen Theilen vorkommt, so an den Gelenkknorpeln, selbst an
der Oberfläche der Schleimhaut, z. B. des Magens (Fox).
Allein zu keiner Zeit erreicht die Masse eine solche Anhäufung,
wie wir dies bei einem fettig degenerirten Abscesse sehen.
Tritt dagegen ein ähnlicher Vorgang in der Tiefe ein, wie
beim atheromatösen Prozesse, so geht auch die Fettmeta-
morphose von unten aus, und erst zuletzt wird die Oberfläche
erreicht. Durch Erweichung entsteht der sogenannte atheroma-
töse Heerd, eine erweichte Masse, wie in dem Atherom der
äusseren Haut, wo die Vermischung von Schmeer mit Epider-
mis einen Brei gibt. Was wir an der Arterie finden, ist die Mischung
des fettigen Detritus mit erweichtem Zwischengewebe; und
Fettige Degeneration an Hirnarterien. A Fettmetamor-
phose der Muskelzellen in der Ringfaserhaut. B Bildung von Fettkörn-
chenzellen in den Bindegewebskörperchen der Intima. Vergr. 300.
[307]Fettige Usur und Ulceration.
da die fettige Masse abgeschlossen liegt, so gibt es eine Art
von Heerd, gleichsam einen Abscess. Erst bei vorgeschritte-
ner Erweichung reisst die Oberfläche ein, es treten Theile aus
der Höhle in das Gefäss und Theile aus dem Blute gehen
nach Innen hinein.
Auf diese Weise entstehen Destructionen, Zerstörun-
gen, Geschwüre, in letzter Instanz das atheromatöse Ge-
schwür; eine Form von Geschwür, welche den gewöhnlichen
Formen von Ulceration sehr nahe steht, aber nur der fettigen Me-
tamorphose ihre Entstehung verdankt. Es ist ein Produkt
des Heerdes, allein es enthält nichts mehr von geformten Ele-
mentartheilen. Cholestearin kann sich freilich noch abscheiden,
aber wir haben es eigentlich mit einem zerstörenden und schliess-
lich ulcerirenden Vorgange zu thun. Nur in solchen Theilen, wo,
wie in der Milchdrüse, in den Schmeerdrüsen, neue Elemente
nachwachsen, kann der Prozess längere Zeit bestehen, ohne zu
einem solchen vernichtenden Gesammtresultat zu führen. Die
einzelnen Zellen gehen aber auch da zuletzt unter und lösen
sich auf, wie bei der eigentlich fettigen Degeneration.
[[308]]
Sechszehnte Vorlesung.
14. April 1858.
Genauere Geschichte der Fettmetamorphose.
Fettige Degeneration der Muskeln. Fettmetamorphose des Herzfleisches. Fettbildung in den
Muskeln bei Verkrümmungen.
Corpus luteum des Eierstockes. Fettmetamorphose des Lungenepithels. Gelbe Hirnerweichung.
Arcus senilis.
Optische Eigenschaften der fettig degenerirten Gewebe. Das Nierenepithel im Morbus
Brightii. Verlauf der Stadien (trübe Schwellung, Fettmetamorphose, fettiger Detritus, Atro-
phie). Die Entzündungskugel. Gleichartigkeit des Resultates bei entzündlicher und nicht
entzündlicher Veränderung.
Der atheromatöse Prozess der Arterien. Verhältniss zur Ossification. Der entzündliche Cha-
rakter des Prozesses: Analogie mit der Endocarditis. Bildung des Atheromheerdes.
Cholestearin-Abscheidung. Arteriosklerose, Endoarteriitis. Verkalkung und Ossification
der Arterien.
Act[i]v-passive Prozesse.
Meine Herren, ich habe heute einige Präparate von fettigen
Degenerationen in Curs gesetzt, welche zum Theil als Ergän-
zung dienen sollen zu dem, was Sie in der vorigen Stunde
gesehen haben.
Ein Paar von diesen Präparaten beziehen sich auf die
fettige Degeneration des Herzfleisches. Sie werden bemerken,
dass man vom blossen Auge schon gewisse Veränderungen an
dem Herzen erkennt, nämlich eine Verfärbung der ganzen
Substanz, welche nicht mehr die rothe Muskelfarbe hat, son-
dern blassgelb aussieht und ausserdem eigenthümliche Flecke
an den Papillarmuskeln. Wenn Sie diese genauer betrachten,
so werden Sie in der Richtung der Primitivbündel kurze, gelb-
liche, fast geflechtartig aneinander stossende, die Masse des
Papillarmuskels durchsetzende Striche gewahren, die gegen die
röthliche Farbe des eigentlichen Muskelfleisches sehr abstechen.
Das ist die ausgemachte Form der eigentlichen Fettmetamor-
phose der wirklichen Substanz des Herzens, die sich ganz
[309]Fettige Degeneration der Muskeln.
wesentlich von der Obesität des
Herzens unterscheidet, wo das-
selbe ausserordentlich fett wird und
an einzelnen Stellen Fettgewebe
seine Wände so durchsetzt, dass
man kaum noch Muskeln wahr-
nimmt. Zwischen beiden Zustän-
den bleibt immer der erhebliche
Unterschied, dass im ersteren
Falle ganze Abschnitte von wirk-
samer Substanz durch Stellen
unterbrochen werden, welche offenbar für die Action nicht
mehr zugänglich sind.
Ich habe Ihnen noch ein anderes Muskelpräparat mitge-
bracht, welches wir gestern auf Anregung des Collegen Berend
gewonnen haben. Es war nämlich ein Kypho-Skoliotischer zur
Section gekommen, und als wir die Muskeln an der Krüm-
mungsstelle untersuchten, fanden wir den Longissimus dorsi
an der Stelle, wo er über die Biegung hinweglief, in eine
ganz platte, dünne, blassgelbliche Masse umgewandelt. An
einer Stelle ist der Muskel bis auf eine membranöse Lage ge-
schwunden, die rothe Masse hört ganz auf, während nach un-
ten hin allerdings noch immer eine Veränderung der Masse
besteht, aber der Muskel vielmehrabwechselnd aus rothen und gel-
ben Längsstreifen zusammengesetzt ist. Das ist die Form, wie
die meisten von den fettig degenerirten Muskeln sie zeigen,
welche wir bei Verkrümmungen der Glieder finden, z. B. bei
Klumpbildungen an den unteren Extremitäten. Hier ergibt sich
in der Regel, dass, entsprechend den gelben Streifen, nicht
bloss eine wirkliche Umänderung der Muskelsubstanz existirt,
sondern dass auch fast constant in diesen Stellen eine inter-
stitielle Entwickelung von Fett stattgefunden hat, welches in
Reihen zwischen den Primitivbündeln liegt und dadurch eine
für das blosse Auge gelbliche Streifung erzeugt, welche der
rothen Streifung des eigentlichen Muskelfleisches sehr ähnlich
Fettmetamorphose des Herzfleisches in ihren verschiede-
nen Stadien. Vergr. 300.
[310]Sechszehnte Vorlesung.
ist. Es verhält sich dabei genau so, wie in dem Fall neulich
(S. 292. Fig 107.), wo wir zwischen je zwei Primitivbündeln
eine Reihe von Fettzellen trafen; das Gelbe, was Sie da sahen,
war nicht veränderte Muskelsubstanz, sondern die Fettmasse,
welche zwischen die Muskelsubstanz hineingewachsen war.
Neben solchem interstitiellen Fettgewebe besteht aber in dem
vorliegenden Falle an demselben Muskel eine parenchymatöse
Degeneration; es ist wirklich das Muskelfleisch fettig entar-
tet. Dies ist jedoch nur an den unteren Theilen des Muskels
zu sehen, während der Abschnitt, welcher unmittelbar an der
stärksten Ausbiegung des Brustkorbes lag und die grösste
Spannung erduldete, vom blossen Auge gar kein Muskelfleisch
mehr erkennen lässt. Mikroskopisch findet man hier dicht
nebeneinander einzelne Muskeifasern, welche noch deutlich quer
gestreift sind, und andere, welche stark mit Fett gefüllt sind.
Sie sehen also, das sind zwei verschiedene Zustände: die eine
Form, wo der Muskel in dem Verlaufe seiner Primitivbündel
durch degenerirte Stellen unterbrochen wird, wo also dasselbe
Primitivbündel, indem es weitergeht, bald degenerirt ist, bald
sich in seiner Integrität erhalten hat; die andere Form, wo
die Krankheit dem Primitivbündel folgt und dasselbe in seiner
ganzen Ausdehnung auf einmal die Veränderung eingeht.
Hier ist ein anderes Präparat von einer jungen, frisch
menstruirten Person, die in Folge einer Verbrennung zu Grunde
gegangen ist, wo Sie im Eierstock ein sehr schönes Corpus
luteum finden. Ich führe es Ihnen deshalb vor, weil Sie daran
sehen können, wie grob sich diese Verhältnisse für die äussere
Anschauung darstellen. Der Schnitt in das Ovarium ist senk-
recht von der Oberfläche hineingeführt an der Stelle, wo eine
kleine Prominenz und eine kleine Zerreissung den Ort bezeichnet,
wo das Ovulum ausgetreten ist (Fig. 115, B.). Von der Stelle in
der Albuginea an, wo der Follikel geborsten ist, sieht man um
einen rothen Klumpen die sehr breite, gelbweisse Schicht,
(Fig. 115, A, a), von welcher der Körper seinen Namen hat. Es ist
die Schicht, welche bei einem puerperalen Corpus luteum eine
sehr grosse Breite hat und mehr gelbröthlich aussieht; bei dem
menstrualen Corpus luteum ist sie schmäler und nach innen
sehr scharf abgesetzt gegen den frisch extravasirten Inhalt,
[311]Corpus luteum.
welcher das durch den Austritt des Eichens entleerte Bläschen
wieder gefüllt hat. Diese innere rothe Masse ist ganz und
gar Thrombus, Blutgerinnsel. Die äussere Schicht besteht we-
sentlich aus fettig degenerirten Elementen und die gelbe Farbe,
welche sie besitzt, ist bedingt durch die Brechung des Lichtes,
welche die vielen kleinen Partikelchen des Fettes hervorbringen.
Es ist dies keine eigentliche Farbe, sondern ein Phänomen der
Interferenz.
Eine ähnliche Veränderung sehen Sie an einer Lunge,
welche wir heute aus der Leiche eines Mannes genommen ha-
ben, der nach Caries des inneren Ohres eine Thrombose des
Sinus transversus mit brandiger Metamorphose und in Folge
dessen Lungenbrand bekommen hatte. Die Theile, um welche
es sich hier handelt, sind jedoch nicht aus dem Brandheerde
selbst, sondern aus einer verdichteten Stelle der Nachbarschaft,
wo eine sehr reichliche Anhäufung von wuchernden Epithel-
massen stattgefunden hat. Bei dieser Gelegenheit können Sie
sehr hübsch den Unterschied der Fettkörnchenzellen (Fig. 66.)
von anderen Formen der Körnchenzellen sehen. Gerade inner-
halb der Epithellagen, welche die Alveolen der Lunge gefüllt
haben, finden Sie ausserordentlich zahlreiche Pigmentzellen,
Bildung des Corpus luteum im menschlichen Eierstock.
A Durchschnitt des Eierstockes: a frisch geplatzter und mit geronnenem
Blut (Extravasat, Thrombus) gefüllter Follikel, an dessen Umfange
die dünne gelbe Schicht liegt; b ein schon gefalteter, mit verkleinertem
Thrombus und verdickter Wand versehener, früher geborstener Follikel;
c, d noch weiter vorgerückte Rückbildung. B Aeussere Oberfläche des
Eierstockes mit der frischen Rupturstelle des Follikels, aus dessen Höhle
der Thrombus hervorsieht. Natürliche Grösse.
[312]Sechszehnte Vorlesung.
wie Sie bei solchen Leuten auch durch den Auswurf in grosser
Menge zu Tage gefördert werden, wodurch der Auswurf die
bekannten rauchgrauen Flecke bekommt (Fig. 11, b.). Auf
den ersten Blick ist es schwierig, einen Unterschied zwischen
Pigment- und Fettkörnchen-Zellen zu machen, insofern in
beiden Fällen dasselbe Bild vorliegt. Wir haben Zellen,
welche in einem Falle gelbbräunlich aussehende Körperchen
darstellen, in dem anderen dagegen unzweifelhaft graues, brau-
nes oder schwarzes Pigment enthalten. Die Unterscheidung
der gewöhnlich sogenannten Körnchenzellen, womit man im-
mer Fettkörnchenzellen meint, ist insofern sehr wesentlich, als
wir an anderen Punkten, z. B. am Gehirn, beide Arten von
Körnchenzellen, Fett und Pigment haltende, nebeneinander fin-
den, und wenn es sich um kleinere Verhältnisse handelt, es
für die Deutung des Fundes sehr wesentlich zu wissen ist, ob
das Ding in die eine oder die andere Reihe gehört. Denn
auch hier kann die Anhäufung vieler kleiner Fetttheilchen durch
die Vervielfältigung der lichtbrechenden Punkte eine intensiv
gelbe Farbe bedingen. Der verschiedene Gehalt an Fett und
der Grad der Zertheilung desselben erzeugt eine grosse Reihe
von Verschiedenheiten, welche sich endlich auch für die äussere
Anschauung sehr deutlich zu erkennen geben, so dass, je feiner
und dichter die fettigen Theile sind, um so mehr auch für
das blosse Auge ein rein gelbes oder bräunlich-gelbes Aussehen
erzeugt werden kann. Was wir gelbe Hirnerweichung nennen,
ist eben auch nichts weiter, als eine Form der fettigen Dege-
neration, wo das gelbe Aussehen der Heerde durch die An-
häufung eines feinkörnigen Fettes bedingt ist. Sobald dieses
entfernt wird, so verschwindet auch die Farbe, obgleich das
extrahirte Fett gar nicht so gefärbt ist, wie die Stelle, von wo
es herstammt. Die Lichtbrechung zwischen den kleinsten Par-
tikeln ist die Hauptbedingung für dieses Farbenphänomen.
Es versteht sich dabei von selbst, dass an einem Punkte,
wo die fettige Degeneration einen hohen Grad erreicht, immer
eine grosse Opacität sich einstellen wird. Ein Theil, welcher
durchsichtig ist, wird undurchsichtig, wenn er fettig wird; das
sehen Sie z. B. an der Hornhaut, deren Trübung so stark
wird, dass im Arcus senilis eine ganz undurchsichtige Zone
[313]Fettentartung des Nierenepithels.
entsteht. Selbst an Stellen, wo die Theile von vornherein nicht
durchsichtig, sondern nur durchscheinend waren, tritt in dem
Maasse, als der Prozess der fettigen Degeneration vorrückt,
eine vollkommene Trübung ein.
Betrachten Sie z. B. eine Niere im Stadium der fettigen
Degeneration. Wir haben hier ein Präparat, welches nicht die
gewöhnliche Brightsche Granular-Atrophie, sondern eine mehr
chronische Form darstellt. Die Harnkanälchen der peripheri-
schen Theile sind sehr vergrössert und ihr Epithel ins Gesammt
fettig degenerirt, so dass man innerhalb der Kanälchen eigent-
lich gar nichts weiter sieht, als eine dicht gedrängte Masse
von Fettkörnern. Wenn man sehr vorsichtig die Sache heraus-
nimmt, so sieht man im ersten Moment, dass sich die Fett-
körnchen noch in einzelne Gruppen zerlegen (Fig. 98.); unter
geringem Druck zerstreut sich die Masse so, dass das ganze
Harnkanälchen mit einem fein emulsiven Inhalte erfüllt ist.
Vom blossen Auge erkennen Sie schon ganz bestimmt die
Veränderung; wenn man einmal gewöhnt ist, diese Zustände
genauer zu sondern, so hat es gar keine Schwierigkeit, einem
solchen Theile es anzusehen, dass eine Veränderung des Nie-
renepithels und zwar in dieser bestimmten Art vorhanden ist, denn
es gibt gar keine Form der Veränderung, welche damit parallel ge-
setzt werden könnte. Wenn Sie die Oberfläche der Niere be-
trachten, so werden Sie wahrnehmen, dass in dem mehr grau
durchscheinenden Grundgewebe, aus welchem die Stellulae
Verheynii hervortreten, kleine trübe Flecke in der verschiedensten
Weise zerstreut sind, meist nicht als reine Punkte, sondern ge-
wöhnlich als kleine Abschnitte von Bogen. Das sind immer
Theile von Harnkanälchenwindungen, welche an die Oberfläche
treten. Diese gelblichen, opak erscheinenden Windungen ent-
sprechen immer mit Bestimmtheit fettig degenerirten Harnka-
nälchen, oder genauer gesagt, mit fettig degenerirtem Epithel
erfüllten Harnkanälchen; wenn man, entsprechend der Ober-
fläche, den Durchschnitt betrachtet, so sieht man sehr bestimmt,
wie durch die Rinde der Niere dieselbe Zeichnung in der Rich-
tung von der Peripherie zum Markkegel fortgeht und in ziem-
lich regelmässigen Abständen von einander die einzelnen Kegel
der Rindensubstanz umsäumt.
[314]Sechszehnte Vorlesung.
Macht man hier Schnitte in der Nähe der Oberfläche und
parallel mit derselben, so übersieht man leicht die fettig dege-
nerirten Theile neben nicht degenerirten Theilen und neben un-
versehrten Glomerulis. Betrachtet man einen solchen Schnitt bei
schwächerer Vergrösserung, so sieht man neben den Malpighi-
schen Knäulen, welche als grosse kuglige Gebilde erscheinen,
die Windungen der degenerirten Harnkanälchen sich mannig-
faltig durchsetzen und die gewundenen sich durch ihr trübes,
schwärzliches Aussehen vor den gestreckten, helleren und mehr
durchscheinenden auszeichnen.
Ich mache Sie dabei aufmerksam, dass an allen fettigen
Theilen, wo wir bei auffallendem Lichte und bei der gewöhn-
lichen Betrachtung mit blossem Auge weissliche, gelbliche oder
gelbbräunliche Theile sehen, bei durchfallendem Lichte, wie
wir es meistens bei den Mikroskopen und besonders bei stärke-
rer Vergrösserung anwenden, entweder schwarze oder schwarz-
bräunliche oder wenigstens sehr dunkle, von scharfen Schatten
umgebene Theile erscheinen. Eine Körnchenkugel, die, wenn
sie mit mehreren anderen zusammenliegt, für das blosse Auge
eine weisse Opacität bedingt, wird bei durchfallendem Lichte
ein fast schwarzes Aussehen darbieten. —
Wir haben nun eine Reihe von Beispielen der fettigen Dege-
neration betrachtet und können uns von jetzt ab in unserer
Betrachtung auf die eigentliche fettige Metamorphose be-
schränken, bei welcher die normale Struktur des Theiles end-
lich zu Grunde geht und an Stelle der histologischen Elemente
allmählig eine rein emulsive Masse oder kurz gesagt ein fet-
tiger Detritus tritt. Es macht dabei nichts aus, ob eine
Eiterzelle, ein Bindegewebskörperchen, eine Nerven- oder
Muskelfaser, ein Gefäss die Veränderung erfährt; das Resul-
tat ist immer dasselbe: ein milchiger Detritus, eine amorphe
Anhäufung von Fetttheilen in einer mehr oder weniger eiweiss-
reichen Flüssigkeit. Wenn wir für alle Fälle der Fettmeta-
morphose diese Uebereinstimmung festhalten, so folgt daraus doch
keinesweges, dass der Werth dieser Veränderung in Beziehung
auf die Krankheitsvorgänge jedesmal gleich sei. Sie können
das schon daraus abnehmen, dass, während ich Ihnen diesen
Prozess unter der Kategorie der rein passiven Störungen vorgeführt
[315]Fettentartung als Folge activer Prozesse.
habe, gerade eins der Gebilde, welches wir hier am häufigsten
finden, die Körnchenkugel, als ein specifisches Element der
Entzündung betrachtet worden ist. Jahre lang sah man die
Entzündungskugel für eine wesentliche Erscheinung des Ent-
zündungsprozesses an, und in der That, die Häufigkeit, mit
welcher man in entzündeten Theilen fettig degenerirte Zellen
findet, beweist genügend, dass im Laufe der Entzündungspro-
zesse, welche wir nimmermehr als einfach passive Vorgänge
betrachten können, solche Umwandlungen geschehen müssen.
Es handelt sich also wesentlich darum, eine Unterscheidung
beider Reihen zu finden. Freilich hat diese in einzelnen Fäl-
len ihre sehr grossen Schwierigkeiten, und meiner Ueberzeugung
nach besteht die einzige Möglichkeit einer Orientirung darin,
dass man untersucht, ob der Zustand der fettigen Degeneration
ein primärer oder ein secundärer ist, ob er eintritt, sobald über-
haupt die Störung bemerkbar wird, oder ob er erst erfolgt,
nachdem eine andere bemerkbare Störung vorangegangen ist.
Die secundäre Fettmetamorphose, bei welcher erst in zweiter
Linie diese eigenthümliche Umwandlung zu Stande kommt,
folgt in der Regel auf ein erstes actives Stadium; eine ganze
Reihe derjenigen Prozesse, welche wir ohne Umstände Entzündun-
gen nennen, verläuft in der Weise, dass als zweites oder drittes
anatomisches Stadium der Veränderung eine fettige Metamor-
phose auftritt. Hier entsteht also die fettige Degeneration nicht
als das unmittelbare Resultat der Reizung des Theiles, sondern
wo wir Gelegenheit haben, die Geschichte der Veränderungen
genauer zu verfolgen, da zeigt sich fast immer, dass dem
Stadium der fettigen Degeneration ein anderes Stadium vorauf-
geht, nämlich das der trüben Schwellung, wo die Theile
sich vergrössern, an Umfang und Dichte zunehmen, indem sie
eine grosse Menge von Material in sich aufsaugen. Absichtlich
sage ich aufsaugen, weil ich es für falsch halte, dass der Theil
etwa von Aussen genöthigt worden ist, dieses Material aufzu-
nehmen, dass er durch Exsudat von den Gefässen aus über-
schwemmt worden ist, denn dieselben Erscheinungen treten
auch an Theilen auf, die keine Gefässe haben. Erst dann,
wenn die Ansammlung ein solches Maass erreicht hat, dass die
natürliche Constitution dadurch in Frage gestellt wird, leitet
[316]Sechszehnte Vorlesung.
sich ein fettiger Zerfall im Innern der Theile ein. So können
wir die fettige Degeneration des Nierenepithels als ein Stadium
der Brightischen Krankheit, oder, wie ich sage, der parenchy-
matösen Nephritis bezeichnen, welchem ein Stadium von Hy-
perämie und Schwellung vorausgeht, wo jede Epithelzelle eine
grosse Quantität von opaker Masse in sich ansammelt, ohne
dass im Anfange eine Spur von Fetttröpfchen zu bemerken ist.
So sehen wir, dass der Muskel in der That unter Einwirkun-
gen, welche nach dem allgemeinen Zugeständniss eine Ent-
zündung machen, z. B. nach Verwundungen, chemischen Aetzun-
gen anschwillt, dass seine Primitivbündel breiter und trüber
werden, und dass in einem zweiten Stadium in ihnen dieselbe
fettige Degeneration beginnt, welche wir andere Male direct
auftreten sehen.
Man kann also, wenn man ganz allgemein spricht, aller-
dings davon reden, dass es eine entzündliche Form der fettigen
Degeneration gibt, allein, genau genommen, ist diese entzünd-
liche Form immer nur ein späteres Stadium, ein Ausgang,
welcher den eintretenden Zerfall der Gewebsstructur anzeigt,
wo der Theil nicht mehr im Stande ist, seine Sonderexistenz
fortzuführen, sondern wo er so weit dem Spiel der chemischen
Kräfte seiner constituirenden Theile verfällt, dass das nächste
Resultat seine wirklich vollständige Auflösung ist. Gerade
diese Art von Entzündungszuständen hat im Allgemeinen eine
sehr grosse Bedeutung, weil an allen Theilen, wo die wesent-
lichen Elemente in dieser Weise verändert werden, überhaupt
keine Restitution möglich ist. Wenn eine Muskelentzündung
besteht, bei welcher wirklich die Muskelprimitivbündel die fet-
tige Degeneration eingehen, so gehen sie auch regelmässig zu
Grunde und wir sehen nachher an der Stelle, wo die Degene-
ration stattgefunden hatte, eine Lücke im Muskelfleisch. Die
Niere, welche in fettige Degeneration ihres Epithels übergeht,
schrumpft fast immer zusammen; das Resultat ist eine bleibende
Atrophie. Ausnahmsweise kommt vielleicht etwas zu Stande,
was an die Regeneration des Epithels erinnert, aber gewöhn-
lich ist ein Zusammensinken der ganzen Structur der Erfolg.
Das sehen wir am Gehirn bei der gelben Erweichung, gleich-
viel, wie sie bedingt sein mag. Ob Entzündung oder nicht, es
[317]Entzündliche Fettentartung.
bildet sich ein Heerd, welcher sich nie wieder mit Nerven-
masse ausfüllt, sondern wo vielleicht eine einfache Flüssigkeit
die fehlenden Gewebe ersetzt; von irgend einer Herstel-
lung eines neuen, functionell wirksamen Theiles kann niemals
die Rede sein.
So müssen Sie es sich erklären, dass scheinbar sehr ähn-
liche Zustände, welche man vom pathologisch-anatomischen
Standpunkte aus als identisch erklärt, vom klinischen Stand-
punkte aus weit auseinander liegen; dass man an analogen
Theilen dieselben Formen von Veränderungen trifft, ohne dass
doch der Prozess, welchem sie angehören, derselbe war. Wenn
ein Muskel direct fettig degenerirt, so kann das Primitivbündel
ebenso aussehen, als wenn eine Entzündung oder eine dauernde
Spannung darauf eingewirkt hat. Die Myocarditis erzeugt ganz
analoge Formen der fettigen Degeneration innerhalb des Herz-
fleisches, wie die übermässige Dilatation der Herzhöhlen. Wenn
eine der letzteren z. B. durch Hemmung des Blutstromes oder
Insufficienz der Klappen dauernd sehr ausgespannt wird, so
tritt an dem am meisten gespannten Theile constant eine fettige
Degeneration des Muskelfleisches ein. Diese Form gleicht
morphologisch vollständig den Anfangsstadien der Myocarditis,
und in vielen Fällen ist überhaupt gar nicht mit Sicherheit zu
sagen, auf welche Weise der Prozess entstanden sein mag.
Ich habe, um Ihnen diese Schwierigkeiten in einem wich-
tigen und zugleich vielfach missverstandenen Prozesse etwas
klarer zu machen, eine Reihe von Präparaten von eigentlich
atheromatösen Zuständen der Arterien angefertigt.
Gerade bei diesen ist die Confusion über die Deutung der
Veränderung vielleicht am grössten gewesen.
Zu keiner Zeit im Laufe dieses Jahrhunderts hat man sich
vollständig über das geeinigt, was man unter dem Ausdrucke
der atheromatösen Veränderung an einem Gefässe verstehen
wollte. Der Eine hat den Begriff weiter, der Andere hat ihn
enger gefasst, und doch ist er vielleicht von Allen zu weit ge-
fasst worden. Als nämlich die Anatomen des vorigen Jahr-
hunderts den Namen des Atheroms auf eine bestimmte Verän-
derung der Arterienhäute anwandten, hatten sie natürlich im
Sinne einen ähnlichen Zustand, wie derjenige ist, welchen man
[318]Sechszehnte Vorlesung.
schon seit dem griechischen Alterthum an der Haut mit dem
Namen des Atheroms, des Grützbalges belegt hatte. Es ver-
steht sich also von selbst, dass der Begriff des Atheroms einen
geschlossenen Sack voraussetzt. Niemand hat etwas an der
Haut Atherom genannt, was offen zu Tage lag. Es war da-
her ein sonderbares Missverständniss, als man neuerlich anfing,
an den Gefässen auch solche Veränderungen Atherome zu
nennen, welche nicht abgeschlossen in der Tiefe liegen, son-
dern der Oberfläche angehören. So ist es gekommen, dass,
anstatt wie es ursprünglich gemeint war, einen geschlossenen
Heerd atheromatös zu nennen, man damit eine Veränderung
bezeichnete, welche an der innersten Arterienhaut ganz ober-
flächlich entstand. Als man anfing, die Sache feiner zu unter-
suchen und als man an sehr verschiedenen Punkten der Ge-
fässwand, sowohl bei Atherom, als ohne dasselbe, fettige Par-
tikeln fand (Fig. 113.), so schloss man, dass der Prozess der
fettigen Degeneration immer derselbe und mit der atheromatö-
sen Veränderung identisch sei. Nach und nach kam man da-
hin, sogar von einer atheromatösen Veränderung solcher Ge-
fässe zu sprechen, welche nur eine einfache Haut haben und
bei denen man allerdings auch auf fettige Prozesse stösst.
Man war um so mehr geneigt, diese Erweiterung des Begriffes
„Atherom“ zuzugestehen, als nachgewiesen wurde, dass in der
That eine fettige Veränderung der Grund der atheromatösen
Erkrankung der Arterie ist.
Zu allen Zeiten hat es Beobachter gegeben, welche die
Ossification der Gefässe als eine mit dem Atherom zusammen-
gehörige Veränderung betrachteten. Haller und Krell glaub-
ten, dass die Ossification aus der atheromatösen Masse hervor-
ginge und dass die atheromatöse Masse ein Saft sei, welcher
ähnlich, wie der unter dem Periost des Knochens ausschwitzende
Saft, fähig sei, aus sich Knochenplatten zu erzeugen. Später
erkannte man, dass Atheromasie und Ossification zwei paral-
lele Vorgänge seien, welche aber auf einen gemeinschaftlichen
Anfang hinwiesen. Es wäre nun wohl logisch gewesen, wenn
man sich zunächst darüber geeinigt hätte, welches dieser ge-
meinschaftliche Anfang wäre, von dem die atheromatöse Ver-
änderung und die Ossification ausgingen. Statt dessen gerieth
[319]Der atheromatöse Prozess.
man in die Bahn der fettigen Entartungen und dehnte den
atheromatösen Prozess über eine Reihe von Gefässen aus, an
denen die Bildung irgend eines wirklich dem atheromatösen
Heerde der äusseren Theile vergleichbaren Gebildes überhaupt
unmöglich ist.
Mehr oder weniger liegt die Sache auch hier sehr einfach
so, dass man an den Gefässen zwei, ihrem endlichen Resultate
nach sehr analoge Prozesse trennen muss: zuerst die einfache
Fettmetamorphose, welche ohne ein weiter erkennbares
Vorstadium eintritt, wo die vorhandenen Elemente unmittelbar
in fettige Degeneration übergehen und zerstört werden, und
wodurch mehr oder weniger ausgedehnter Verlust von Bestand-
theilen an der Wand des Gefässes zu Stande kommt; sodann
eine zweite Reihe von Vorgängen, wo wir vor der Fettmeta-
morphose ein Stadium der Reizung unterscheiden können,
welches vergleichbar ist dem Stadium der Schwellung, Trübung,
Vergrösserung, das wir an anderen entzündeten Theilen sehen.
Ich habe daher kein Bedenken getragen, in dieser Frage mich
ganz auf die Seite der alten Anschauung zu stellen, und als
den Ausgangspunkt der sogenannten atheromatösen Degenera-
tion wirklich eine Entzündung der Wand der Gefässe zuzu-
lassen; und ich habe mich weiterhin bemüht, zu zeigen, dass
diese Art von entzündlicher Erkrankung der Gefässwand in
der That genau dasselbe ist, was man allgemein an den Herz-
wandungen eine Endocarditis nennt. Hier besteht kein anderer
Unterschied, als dass die eine häufiger akut, die andere häufi-
ger chronisch verläuft.
Mit einer solchen Scheidung der verschiedenen Prozesse
an den Arterien erklärt sich sofort der verschiedene Verlauf.
Ich habe Ihnen das letzte Mal eine Arterie vorgelegt, an de-
ren innerer Oberfläche Sie kleine weissliche Stellen gesehen
haben, welche der fettigen Umwandlung angehörten. Heute
sehen Sie sehr ausgedehnte Stellen der Aorta, an denen sich
die atheromatösen Veränderungen finden. Allein wie es bei
Veränderungen dieser Art ist, neben den specifischen Umwand-
lungen der chronisch entzündlichen Processe in der Tiefe, fin-
den Sie auch an der Oberfläche noch eine einfach fettige Ver-
änderung, so dass wir beide Prozesse zusammen haben. Be-
[320]Sechszehnte Vorlesung.
trachten wir nun die Atheromasie etwas genauer, z. B. an der
Aorta, wo der Prozess am gewöhnlichsten ist, so sehen wir
im Anfange an der Stelle, wo die Reizung stattgefunden hat,
eine Anschwellung entstehen, kleiner oder grösser, nicht selten
so gross, dass sie als wirklicher Buckel über das Niveau der
inneren Oberfläche hervorragt. Diese Hervorragungen unter-
scheiden sich von der Nachbarschaft durch ihr durchscheinen-
des, hornhautartiges Aussehen. In der Tiefe sehen sie mehr trübe
aus. Hat eine solche Veränderung eine gewisse Höhe erreicht,
so zeigen sich die ersten weiteren Veränderungen nicht an der
Oberfläche, sondern unmittelbar da, wo die Intima die Media
berührt, wie das die Alten sehr gut beschrieben haben. Wie
oft haben sie mit Bestimmtheit urgirt, dass man die innere
Haut über die Veränderung hinweg abziehen könne! Daraus
Verticalschnitt durch die Aortenwand an einer skleroti-
schen, zur Bildung eines Atheroms fortschreitenden Stelle. m m' Tunica
media, i i' i'' Tunica intima. Bei s die Höhe der sklerotischen Stelle ge-
gen die Gefässlichtung, i die innerste, über den ganzen Heerd fortlau-
fende Lage der Intima, i' die wuchernde, sklerosirende und schon zur
Fettmetamorphose sich anschickende Schicht, i'' die schon fettig meta-
morphosirte, bei e, e direct erweichende, zunächst an die Media anstos-
sende Lage. Vergr. 20.
[321]Atherom der Arterien.
ging die Schilderung von Haller hervor, dass die breiartige,
atheromatöse Masse in einer geschlossenen Höhle wie eine
kleine Balggeschwulst zwischen Intima und Media läge. Nur
das war falsch, dass man die Geschwulst als einen besonderen,
von den Gefässhäuten trennbaren Körper betrachtete. Es ist viel-
mehr die Intima selbst, welche ohne Grenze innerhalb der her-
vorragenden Stelle in die Degeneration übergeht. Je weiter
diese Degeneration fortschreitet, um so mehr bildet sich ein
geschlossener Heerd; zuletzt kann es sein, dass die Haut
darüber fluctuirt und beim Einschnitt die breiige Materie sich
entleert, wie der Eiter beim Einschnitt in einen Abscess.
Untersucht man nun die Masse, welche am Ende dieser Pro-
zesse vorhanden ist, so sehen Sie eine grosse Zahl von Cho-
lestearinplatten, welche schon vom blossen Auge als glitzernde
Tafeln hervortreten, grosse rhombische Tafeln, die zu vielen
nebeneinander liegen, sich decken
und im Ganzen einen Glimmerreflex
erzeugen. Neben diesen Platten
finden sich die unter dem Mi-
kroskop schwarz erscheinenden
Fettkörnchenkugeln, innerhalb
derer die einzelnen Körnchen
zuerst ganz fein sind. Die Ku-
geln sind oft in sehr grosser
Masse vorhanden; einzelne sieht
man zerfallen, sich auseinander
lösen und in Partikelchen, wie in
der Milch, umherschwimmen. Daneben mehr oder weniger
grosse amorphe Gewebsfragmente, welche noch zusammenhal-
ten und mehr der Erweichung der übrigen, nicht fettig verän-
derten Gewebssubstanz angehören; in sie sind hier und da
Körnerhaufen eingesetzt. Diese drei Bestandtheile zu-
Der atheromatöse Brei aus einem Aortenheerde a a' Flüs-
siges Fett, entstanden durch Fettmetamorphose der Zellen der Intima (a),
welche sich in Körnchenkugeln (a' a') umbilden, dann zerfallen und kleine
und grosse Oeltropfen frei werden lassen (fettiger Detritus). b Amorphe
körnig-faltige Schollen erweichten und gequollenen Gewebes. c c' Cho-
lestearinkrystalle: c die grossen rhombischen Tafeln, c' c' feine, rhom-
bische Nadeln. Vergr. 300.
21
[322]Sechszehnte Vorlesung.
sammen, das Cholestearin, die Körnchenzellen und
Fettkörnchen, endlich die grossen Klumpen von halb-
erweichter Substanz, sind es, welche den breiigen
Habitus des atheromatösen Heerdes bedingen, und
welche in der That eine gewisse Aehnlichkeit mit dem Inhalte
eines Grützbeutels der äusseren Haut hervorbringen. Was das
Cholestearin anbetrifft, so ist es keinesweges ein specifisches
Produkt, welches dieser Art von fettiger Umwandlung für sich
zugehörte. Vielmehr sehen wir überall, wo fettige Produkte
innerhalb einer abgeschlossenen Höhle, welche dem Stoffwechsel
wenig zugänglich ist, längere Zeit stagniren, dass das Fett
Cholestearin abscheidet. Alle Fettmassen, die wir im Körper
antreffen, enthalten eine gewisse Quantität von Cholestearin
gebunden. Ob das freiwerdende Cholestearin vorher schon
vorhanden war, oder ob an den Stellen eine wirkliche Neubil-
dung desselben erfolgt, darüber kann man bis jetzt nichts sa-
gen, da bekanntlich noch gar keine chemische Thatsache er-
mittelt ist, welche über den Hergang bei der Bildung des Cho-
lestearins und über die Stoffe, aus welchen Cholestearin
sich bilden mag, irgend einen Aufschluss gäbe. Soviel muss
man festhalten, dass das Cholestearin ein spätes Abscheidungs-
produkt stagnirender, namentlich fetthaltiger Theile ist.
Es mag bei dieser Gelegenheit die in der neueren Zeit
wichtig gewordene Reaction des Cholestearins auf Jod und
Schwefelsäure erwähnt werden, welche derjenigen ähnlich ist,
welche wir früher (S. 5.) an der Cellulose der Pflanzen be-
trachtet haben. Wenn man nämlich nur Jod zu dem Chole-
stearin hinzusetzt, so sieht man keine Veränderung, ebenso-
wenig wie an der Cellulose; wenn man dagegen zu der jod-
haltigen Cholestearinmasse Schwefelsäure bringt, so färben sich
die Cholestearintafeln und nehmen im Anfang namentlich eine
brillant indigblaue Farbe an, welche allmählig in ein Gelblich-
braun übergeht, bis das Cholestearin zu einem bräunlichen
Tropfen umgewandelt ist. Die Schwefelsäure für sich erzeugt
einen fettartigen Körper, welcher weder Cholestearin ist, noch
eine besondere Verbindung von Cholestearin und Schwefelsäure,
sondern ein Zersetzungsprodukt des ersteren. Auch die Schwe-
[323]Bildung des Arterien-Atheroms.
felsäure für sich gibt sehr schöne Farbenerscheinungen an dem
Cholestearin.
Wenn man nun, meine Herren, die Entwickelung der
atheromatösen Zustände weiter verfolgt, so stösst man vor der
Zeit, wo die breiige Substanz in dem Heerde des Atheroms
liegt, auf ein Stadium, wo man nichts weiter findet, als nur
Fettmetamorphose in der gewöhnlichen Form der Körnchenzel-
len, und wo man sich deutlich überzeugt, dass der Vorgang in
diesem Stadium absolut nicht verschieden ist von dem, wel-
ches wir eben bei dem Herzen und bei der Niere als Stadium
der fettigen Metamorphose bezeichneten. In dieser Zeit, un-
mittelbar vor der Bildung des Heerdes, würde sich das Ver-
hältniss bei starker Vergrösserung so darstellen. Auf einem
Durchschnitt sehen wir die eingestreuten fettigen Elemente ge-
gen die Mitte hin grösser werden und dichter liegen, aber im
Allgemeinen die Form von Zellen an sich tragen; nach aussen
werden sie kleiner und spärlicher. Alle diese Zellen sind mit
kleinen, das Licht stark reflectirenden, fettigen Körnern gefüllt.
Dadurch entsteht für das Auge auf einem Durchschnitt ein
weisslicher Fleck. Zwischen diesen Fettkörpern verläuft eine
maschige Grundsubstanz, die eigentlich fasrige Grundlage der
Intima, welche wir deutlich nach aussen in die normale Intima
sich fortsetzen sehen. dies ist für die Deutung dieser Vor-
Vertikaler Durchschnitt aus einer sklerotischen, sich fettig
metamorphosirenden Platte der Aorta (Tunica intima, innere Oberfläche):
i der innerste Theil der Haut mit einzelnen und zu mehreren gruppirten
(getheilten), runden Kernen. h Die Schicht der sich vergrössernden Zel-
len: man sieht Maschennetze mit spindelförmigen Zellen, welche durch-
schnittene knorpelartige Zellen umschliessen. p Wucherungsschicht:
Theilung der Kerne und Zellen. a a' Die atheromatös werdende Schicht;
a der Beginn des Prozesses, b der vorgerückte Zustand der Fettmeta-
morphose. Vergr. 300.
21*
[324]Sechszehnte Vorlesung.
gänge ganz besonders wichtig, dass man sich unmittelbar da-
von überzeugen kann, dass die Faserlage, welche über dem
Heerde liegt, in die Faserlage der benachbarten normalen In-
tima übergeht. Auf diese Weise wird die von Rokitansky
längere Zeit vertheidigte Ansicht widerlegt, dass es sich um
eine Auflagerung auf die innere Haut handele. Man sieht auf
einem Durchschnitte ganz evident, wie die äussersten Schich-
ten in einem Bogen über die ganze Schwellung hinweglaufen
und in die Intima zurückkehren, und die Alten hatten ganz
Recht, wenn sie in dem Stadium, wo die Bildung des Atherom-
Heerdes schon vorgerückt ist, sagten, man könne die Intima
über den Heerd herüber im Zusammenhang abziehen. Anderer-
seits überzeugt man sich aber, dass die unteren Schichten jen-
seits der Grenze des Heerdes ebenfalls in die tieferen Schich-
ten der normalen Intima fortgehen, so dass also auch hier
nicht, wie die Alten annahmen, eine Zwischenlagerung statt-
findet, sondern das Ganze, was wir vor uns haben, degenerirte
Intima ist.
In einzelnen besonders heftigen Fällen erscheint auch an
den Arterien die Erweichung nicht als Folge eines eigentlich
fettigen Prozesses, sondern als directes Entzündungsprodukt.
Während im Umfange eine fettige Erweichung stattfindet, so
sieht man im Centrum der Veränderungsstelle ein gelbliches,
trübes Wesen auftreten, unter welchem die Substanz fast unmittel-
bar erweicht und zerfällt, wo sich im Besonderen ein Gemisch
grober, zerfallender Massen findet (Fig. 116, e, e), welches das
Centrum des atheromatösen Heerdes bildet.
Es frägt sich in letzter Instanz, welches Element eigent-
lich der Sitz der fettigen Degeneration ist. Man kann sich
auch hier wieder denken, dass es Zwischenräume zwischen
den Lamellen seien; und es gibt noch heute einen kleineren
Theil von Histologen, welche nicht anerkennen, dass es sich
nur um Bindegewebe mit Zellenelementen handelt. Verfolgt
man diese Theile nach Aussen hin, so sieht man, dass dasselbe
Gefüge, welches bei den fettigen Theilen hervortritt, sich auch
an den bloss hornigen oder halbknorpeligen Lagen erkennen
lässt. Faserzüge, zwischen welchen von Strecke zu Strecke
kleine linsenförmige Lücken bleiben, finden sich hier, wie auch
[325]Sclerose und Ossification der Arterien.
bei dem normalen Verhalten der Intima; in den Lücken und
in den Faserzügen liegen zellige Theile (Fig. 118.) Die Ver-
grösserung, welche der Theil durch den Prozess erfährt und
welche wir Sklerose nennen, beruht darauf, dass die zelligen
Elemente der Wand grösser werden und eine Vermehrung der
Kerne eintritt, so dass man nicht selten Räume findet, in denen
ganze Haufen von Kernen liegen. Damit leitet sich der Prozess
ein. In manchen Fällen kommen Theilungen der Zellen vor,
und man trifft eine grosse Menge von jungen Elementen.
Diese Theile sind es, welche nachher der Sitz der fettigen De-
generation werden (Fig. 118, a, a') und dann wirklich zu Grunde
gehen. Demnach haben wir auch hier wieder einen activen
Prozess, der wirklich neue Gewebe hervorbringt, dann aber
durch seine eigene Entwickelung dem Zerfall entgegeneilt.
Kennt man diese Entwickelung des Prozesses, so begreift es
sich, dass eine zweite Möglichkeit des Ausganges neben der
fettigen Degeneration besteht, nämlich die Ossification. Denn
es handelt sich hier wirklich um eine Ossification, und nicht
bloss, wie man in neuerer Zeit behauptet hat, um eine blosse
Verkalkung. Die Platten, welche die innere Wand des Ge-
fässes durchsetzen, sind wirkliche Knochenplatten. Da sie aus
derselben sklerotischen Substanz sich bilden, aus der in an-
deren Fällen die fettige Masse wird, und da ein wirkliches
Gewebe nur aus einem früheren Gewebe hervorgehen kann, so
folgt von selbst, dass wir auch bei dem Ausgange in Fettme-
tamorphose nicht eine einfache Ausstreuung von Fett anneh-
men können, welche in beliebigen Zwischenräumen erfolgte.
Die wesentliche Verschiedenheit, welche an einem grossen
Gefässe, z. B. der Aorta, zwischen diesem Prozesse und einer
einfachen fettigen Degeneration besteht, würde also die sein,
dass, wenn eine einfache fettige Degeneration die Intima trifft,
dieselbe sich an der Oberfläche so entwickelt, dass eine ganz
leichte Anschwellung entsteht, welche sofort mit weggenommen
wird, sobald man einen oberflächlichen Schnittmacht; darunter liegt
noch intacte Intima. Im anderen Falle dagegen haben wir im äus-
sersten Stadium einen tiefliegenden Heerd, welcher aufbricht, sei-
nen Inhalt entleert und das atheromatöse Geschwür bil-
det. Dieses entsteht zuerst als ein feines Loch der Intima,
[326]Sechszehnte Vorlesung.
durch welches der dicke, zähe Inhalt des Atheromheerdes
in Form eines Pfropfens an die Oberfläche drängt; nach und
nach entleert sich immer mehr von diesem Inhalte, wird vom
Blutstrome fortgerissen und zuletzt behalten wir ein mehr oder
weniger grosses Geschwür zurück, welches bis auf die Media
geht, ja nicht selten diese mit betheiligt. Immer handelt es
sich also um eine schwere Erkrankung des Gefässes, welche zu
einer eben solchen Destruction führt, wie wir das bei anderen
heftigen entzündlichen Prozessen sehen. Sie brauchen nur
dieselbe Erfahrung auf die Geschichte der Endocarditis an-
zuwenden, so haben Sie die ganze Angelegenheit auch da.
Auch an den Herzklappen gibt es einfache, fettige Dege-
nerationen an der Oberfläche und in der Tiefe. Diese verlau-
fen gewöhnlich so, dass bei Lebzeiten keine, irgend bemerk-
bare Störung erkennbar wird und ohne dass wir von unserem
gegenwärtigen Erfahrungsstandpunkt aus irgend eine gröbere
anatomische Veränderung angeben könnten, welche die weitere
Folge davon wäre. Dagegen das, was wir Endocarditis nen-
nen, was nachweisbar im Verlaufe des Rheumatismus entsteht,
und unzweifelhaft als eine Art von Aequivalent für den Rheu-
matismus der peripherischen Theile auftreten kann, beginnt
mit einer Schwellung der erkrankten Stelle selbst. Die zelli-
gen Elemente nehmen mehr Material auf, die Stelle wird un-
eben, höckrig. Dann sehen wir, wenn der Prozess mehr lang-
sam verläuft, dass entweder eine Excrescenz, ein Condylom
Condylomatöse Excrescenzen der Valvula mitralis: ein-
fache, körnige Anschwellungen (Granulationen), grössere Hervorragungen
(Vegetationen), einzelne zottig, einzelne ästig und wieder knospend; in
allen elastische Fasern aufsteigend. Vergr. 70.
[327]Ossification und Verkalkung.
entsteht, oder dass die Verdickung sich mehr hügelig ausbreitet
und später der Sitz einer Verkalkung wird, welche wirklichen
Knochen erzeugen kann. Hat der Prozess einen acuteren Ver-
lauf, so kommt es zu einer fettigen Degeneration oder zu einer
Erweichung. Letztere erzeugt die ulcerirenden Formen, wo
die Klappen zertrümmert werden, sich ablösen und embolische
Heerde an entfernteren Punkten entstehen.
Nur auf diese Weise, indem man die Anfänge der Ver-
änderungen beobachtet, ist es möglich, sichere und für die
Praxis brauchbare Urtheile über die pathologischen Prozesse zu
gewinnen. Niemals darf man sich bestimmen lassen, von der
Differenz der klinischen Prozesse ausgehend, die endlichen
Produkte derselben als nothwendig verschieden zu betrachten.
Die heftigsten Entzündungsprozesse, welche in ganz kurzer
Zeit verlaufen, können dieselben Ausgänge machen, welche in
anderen Fällen langsamer entstehen.
Ich habe nicht die Absicht, die Reihe der verschiedenen
passiven Störungen, welche möglicherweise im späteren Ver-
laufe von Reizungszuständen auftreten können, im Einzelnen
zu verfolgen. Wir würden sonst in der Geschichte fast aller
degenerativen Atrophien analoge Beispiele finden können.
Ueberall muss man die Zustände unterscheiden, in denen ein
Theil direct der Sitz einer solchen Rückbildung wird, von den-
jenigen, wo er vorher eine active Veränderung erfuhr.
Was ich Ihnen von den fettigen Prozessen geschildert habe,
findet z. B. seine directe Anwendung auf die Reihe der Ver-
kalkungen. Will man zwischen Ossification und Verkalkung
unterscheiden, so genügt es nicht, das endliche Resultat im
Auge zu behalten. Ein Theil wird nicht regelmässiger Kno-
chen dadurch, dass ein Gewebe vorhanden ist, welches in sei-
ner Grundmasse Kalk enthält und in welchem sternförmige
Zellen vorhanden sind; es kann trotzdem nichts weiter als
verkalktes Bindegewebe sein. Wenn wir von der pathologi-
schen Ossification reden, so setzen wir immer voraus, dass die
Masse, welche ossificirt, durch einen activen Vorgang, eine
Reizung hervorgerufen ist, nicht dass ein schon existirendes
Gewebe, indem es Kalksalze aufnimmt, die Knochenform an-
zieht. Es gibt daher an den Gefässen Verkalkungen und Os-
[328]Sechszehnte Vorlesung.
sificationen. In alter Zeit hat man Alles Ossification genannt.
Viele der Neueren haben geläugnet, dass sie überhaupt an den
Gefässen vorkomme. Ossification kommt faktisch vor, aber
auch Verkalkung. oder, wie ich in der Kürze sagen will, Pe-
trification. Letztere ist an den peripherischen Arterien
verhältnissmässig am häufigsten, so dass der Zustand, den man
gewöhnlich als ein besonderes Criterium des atheromatösen
Prozesses betrachtet und in dem man die Radialarterie hart
und kalkig fühlt, an der Cruralis oder Poplitaea harte, starre
Wandungen wahrnimmt, gar kein Beweis ist, dass es sich um
einen atheromatösen Vorgang handelt. Sehr häufig hat diese
Verhärtung ihren Sitz in der Media. In dieser kommt gar nicht
selten eine Verkalkung vor, welche wirklich die Muskelelemente
trifft, so dass die Faserzellen der Ringfaserhaut in Kalksäul-
chen verwandelt werden. Die Kalkmasse kann in diesen Fäl-
len auch noch die Nachbartheile überziehen; die innere Haut
aber kann dabei möglicherweise ganz intakt bleiben. Das ist
also ein Prozess, welcher mehr verschieden ist von dem,
was man atheromatösen Prozess nennt, wie eine Periostitis von
einer Ostitis. Diese Art von Verkalkung hat mit einer Ent-
zündung der Arterie gar keinen nothwendigen Zusammenhang;
sie kommt am gewöhnlichsten unter Verhältnissen vor, wo
überhaupt eine Neigung zu Verkalkungen eintritt, wo Kalk-
salze an anderen Punkten der Oekonomie frei und mit den
Säften beweglich werden. Das ist wenigstens mit Sicherheit
zu sagen, dass noch kein Stadium dieser Veränderungen be-
kannt ist, welches der Entzündung parallel stände.
Dagegen sehen wir an der inneren Haut der Gefässe die
Ossification gerade so auftreten, wie wenn sich unter Entzün-
dungserscheinungen an der Oberfläche des Knochens ein
Osteophyt bildete. Die Osteophyten der inneren Schädeldecke
und der Hirnhäute zeigen dieselbe Entwickelung, wie die os-
sificirten Platten der inneren Haut der Aorta und selbst der
Venen. Ihr erstes Stadium besteht immer in der vermehrten
Bildung von bindegewebsartigen Verdickungen, in welchen erst
spät die Ablagerung der Kalksalze erfolgt. Sobald diese wirk-
liche Ossification besteht, so können wir gar nicht umhin, den
Vorgang als einen aus einer Reizung der Theile zu neuen,
[329]Ossificirende Entzündung.
formativen Actionen hervorgegangen zu betrachten; so lange
fällt er also in den Begriff der Entzündung oder wenigstens
derjenigen Prozesse, welche einer Entzündung ausserordentlich
nahe stehen. Wo ein solcher Prozess unserer Einwirkung zu-
gänglich ist, da haben wir immer andere Gesichtspunkte des
Handelns, als in denjenigen Fällen, wo es sich darum handelt,
gewisse Störungen, welche den Theil hindern, seine natürliche
Function zu verrichten, durch Einwirkung gewisser Stoffe ab-
zuwehren.
Das Gesagte, glaube ich, wird genügen, um Ihnen diese
meines Erachtens ausserordentlich wichtigen Unterschiede klar
zu machen. In den nächsten Stunden werde ich Ihnen von
den degenerativen Vorgängen denjenigen vorführen, welcher
im Augenblick noch am wenigsten klar ist, nämlich die speckige
oder amyloide Degeneration.
[[330]]
Siebzehnte Vorlesung.
17. April 1858.
Amyloide Degeneration. Entzündung.
Die amyloide (speckige oder wächserne) Degeneration. Verschiedene Natur der Amyloidsub-
stanzen: Die geschichteten Amyloidkörper (Hirn, Prostata) und die eigentliche amyloide
Entartung. Verlauf der letzteren. Beginn der Erkrankung an den feinen Arterien.
Wachsleber. Knorpel. Dysciatischer (constitutioneller) Charakter der Krankheit. Darm.
Niere: die drei Formen der Bright’schen Krankheit (amyloide Degeneration, parenchyma-
töse und interstitielle Nephritis). Lymphdrüsen. Functionelle Störungen der leidenden
Organe.
Die Entzündung. Die vier Cardinalsymptome und deren Vorherrschen in den einzelnen
Schulen: Die thermische und vasculäre Theorie, die Neuropathologen, die Exsudate.
Entzündungsreiz. Functio laesa. Das Exsudat als Folge der Gewebsthätigkeit: Schleim
und Fibrin. Die Entzündung als zusammengesetzter Reizungsvorgang. Parenchymatöse
und exsudative (secretorische) Form.
Ich will Ihnen heute, meine Herren, von den Veränderungen,
die wir im Allgemeinen mehr in die Reihe der Degenerationen
mit Verminderung der Functionsfähigkeit rechnen müssen, eine
vorführen, die in der neueren Zeit ein besonderes Interesse
gewonnen hat, nämlich die von Einigen sogenannte speckige,
der ich den Namen der amyloiden beigelegt habe. Die Be-
zeichnung der speckigen Veränderung ist hauptsächlich durch
die Wiener Schule wieder mehr in Gebrauch gekommen. Sie
wissen, der Ausdruck selbst ist als Bezeichnung für ein festes,
compaktes, gleichmässiges Aussehen der Theile in der Medicin
ziemlich alt. Wir finden diese Bezeichnung seit Jahrhunderten,
und Speckgeschwülste haben noch in der Neuzeit ihre Rolle
[331]Amyloide Substanz.
gespielt. Allein der Ausdruck von speckigen Veränderungen,
wie er jetzt gebraucht wird, hat damit wenig zu thun und be-
zieht sich vielmehr auf Dinge, welche die Alten, die, wie ich
glaube, bessere Speckkenner waren, als die Wiener, schwerlich
mit einem solchen Namen belegt haben würden. Das Aussehen
solcher Organe nämlich, welche nach Wiener Anschauung
speckig aussehen sollen, gleicht nach nördlichen Begriffen viel-
mehr dem Wachs. Daher habe ich schon seit langer Zeit, wie
die Edinburger Schule, den Ausdruck der wächsernen Verän-
derung dafür gebraucht. Sieht man eine Leber oder eine
Lymphdrüse in recht ausgeprägten Zuständen dieser Art an,
so ist das, was am Meisten für das blosse Auge auffällt, das
durchscheinende, aber zugleich matte Aussehen, welches die
Schnittflächen darbieten; die natürliche Farbe der Theile geht
dabei mehr oder weniger verloren, so dass ein Anfangs mehr
graues, später vollkommen farbloses Material die Theile zu er-
füllen scheint. Die durchscheinende Beschaffenheit, welche das
Gewebe hat, lässt indess das Roth der Gefässe und die natürliche
Färbung der Nachbartheile durchschimmern, so dass die ver-
änderten Stellen in einzelnen Organen mehr gelblich, röthlich
oder bräunlich aussehen; es ist dies aber nicht eine der abge-
lagerten Substanz zukommende Farbe. Die ersten Anhalts-
punkte für die genauere Deutung der Substanz, welche man
früher bald für eine eigenthümliche Fettmasse, bald für Ei-
weiss oder Fibrin, bald endlich für eine kolloide Substanz nahm,
wurden durch die Anwendung des Jod’s auf die thierischen
Gewebe gewonnen. Es sind jetzt bald 5 Jahre her, seitdem
ich zuerst die eigenthümliche Jodreaction der Corpora amyla-
cea der Nervenapparate, welche ich Ihnen früher schilderte, ent-
deckte und auf die ausserordentliche Aehnlichkeit aufmerksam
wurde, welche diese Körper mit pflanzlichen Bildungen darbieten,
so dass man sie bald mehr für wirkliches Amylum, bald mehr
für Bildungen, welche der Cellulose analog sind, halten könnte.
Das nächste Organ, auf welches ich stiess, obwohl eine nähere
Aehnlichkeit in dem äusseren Aussehen mit dem Ependym
nicht besteht, war die Milz, und zwar ein Zustand derselben,
in welchem ihre Follikel in ihrer Totalität in eine solche durch-
scheinende wachsartige Masse umgewandelt waren. Bald
[332]Siebzehnte Vorlesung.
nachher hat Meckel seine bekannten Untersuchungen mitgetheilt,
welche das Vorkommen dieser Substanz namentlich in der Niere,
der Leber und dem Darme nachwiesen, und es ist uns später gelun-
gen, ihr Vorkommen in verschiedenen anderen Theilen, in den
Lymphdrüsen, in der ganzen Ausdehnung des Digestionstractus,
auf den Schleimhäuten der Harnorgane, endlich sogar in der
Substanz der Muskelapparate, im Herzen, im Uterus, im In-
nern von Knorpeln zu finden, so dass es im Augenblicke we-
nige Theile des Körpers gibt, von denen wir nicht schon
wüssten, dass sie in diese eigenthümliche Veränderung gerathen
könnten.
Betrachtet man die Substanzen, um welche es sich hier
handelt, genauer, so scheint es, dass zweierlei verwandte,
aber nicht identische Körper unterschieden werden müs-
sen. Zuerst solche, welche mehr der eigentlichen Stärke der
Pflanzen analog sind und welche auch in der Form mit den
pflanzlichen Stärkekörnern eine ausserordentliche Aehnlichkeit
darbieten, indem sie mehr oder weniger rundliche oder ovale,
concentrisch geschichtete Bildungen darstellen. In diese Reihe
gehören vor Allen die Corpora amylacea des Nervenapparates
(Fig. 94.). Manche geschichtete Amyloide sind sehr grosse
Bildungen; ihr Durchmesser kann so erheblich werden, dass
man sie vom blossen Auge ganz deutlich erkennen kann.
Dahin gehört namentlich ein Theil der geschichteten Körper,
wie sie bei jedem erwachsenen Manne in der Prostata sich
finden und unter Umständen eine grössere Anhäufung erleiden,
so dass sie die sogenannten Prostata-Concretionen bilden;
ebenso seltene Formen ähnlicher Art, wie sie Friedreich in
manchen Zuständen in der Lunge nachgewiesen hat.
Diese Körper wechseln von ganz kleinen, einfachen, gleich-
mässig aussehenden Gebilden bis zu colossalen Körpern, an
denen wir, wenn sie regelmässig gebildet sind, eine successive
Reihe sehr zahlreicher Schichtungen sehen. Gerade so, wie
die kleinen Amyloidkörperchen des Nervenapparates häufig zu
zweien zusammengesetzt sind, Zwillingsbildungen darstellen, so
kommt es auch hier sehr häufig vor, dass um getrennte Cen-
tren eine gemeinschaftliche Umhüllung stattfindet (Fig. 120, d, e).
Ja in einzelnen Fällen geht das so weit, dass ganze Haufen
[333]Amyloidkörper.
von kleineren Körpern von grossen gemeinschaftlichen Lagen
zusammengehalten werden. Diese ganz grossen, freilich selt-
neren Formen können einen Durchmesser von ein Paar Linien
erreichen, so dass man sie leicht aus dem Gewebe isoliren
und selbst grober Betrachtung unterwerfen kann. Es scheint
kaum zweifelhaft, dass in diesen Fällen eine Substanz abge-
schieden wird, welche nach und nach sich aussen um die Theile
ansetzt, dass es sich hier also nicht um die Degeneration eines
bestimmten Theiles handelt, sondern um eine Art von Aus-
scheidung, Sedimentbildung, wie wir sie bei anderen Concre-
tionen aus Flüssigkeiten erfolgen sahen. Es liesse sich mit
einiger Wahrscheinlichkeit schliessen, dass die Prostata, indem
ihre Elemente sich auflösen, eine Flüssigkeit liefert, welche,
indem sie nach und nach Niederschläge bildet, diese besonde-
ren Formen hervorbringt.
Diese Bildungen haben nun das Eigenthümliche, dass sie
unter der einfachen Einwirkung von Jod sehr häufig eine
eben solche blaue Farbe annehmen, wie die Pflanzenstärke.
Je nachdem die Substanz reiner oder unreiner ist, ändert
sich die Farbe, so dass sie z. B., wenn viel eiweiss-
Geschichtete Prostata-Amyloide (Concretionen): a längli-
ches, blasses, homogenes Körperchen mit einem kernartigen Körper.
b Grösseres, geschichtetes Körperchen mit blasssem Centrum. c Noch
grösseres, mehrfach geschichtetes Gebilde mit gefärbtem Centrum. d, e
Körper mit zwei und drei Centren, d stärker gefärbt. f Grosse Concre-
tion mit schwarzbraunem, grossem Centrum. Vergr. 300.
[334]Siebzehnte Vorlesung.
artige Masse beigemengt ist, statt blau grün erscheint, indem
die stickstoffhaltige Substanz durch Jod gelb, die amyloide
blau wird, was den Totaleffect des Grünen gibt. Je mehr
stickstoffhaltige Substanz, um so mehr wird die Farbe
braun, und nicht selten hat man in der Prostata nebeneinander
Concretionen, welche nach der Jodeinwirkung die verschieden-
sten Farben darbieten. Insofern unterscheiden sich diese Bil-
dungen von jenen kleinen Amylumkörperchen des Nervenap-
parates, welche sämmtlich eine blaue oder blaugraue Farbe
durch Jod annehmen. Auch ist zu bemerken, dass manche
im Bau ganz analoge Körper der Prostata durch Jod nur gelb
oder braun werden, sich also chemisch anders verhalten.
Wesentlich verschieden von dieser Ausscheidung stärke-
artiger Substanz verhalten sich die Degenerationen des Ge-
webes selbst, wobei Gewebselemente als solche sich direkt mit
dieser Substanz erfüllen und nach und nach so davon durch-
drungen werden, wie etwa die Durchdringung der Gewebe mit
Kalk bei der Verkalkung erfolgt. Man kann nicht füglich
zwei Dinge besser vergleichen, als die Verkalkung und die
amyloide Veränderung (Verholzung). Diese Substanz, welche
die eigentliche Degeneration der Gewebe macht, hat die Eigen-
thümlichkeit, dass sie unter der Einwirkung von Jod für sich
nie blau wird. Bis jetzt ist wenigstens kein Fall bekannt, wo
im Parenchym der Gewebe die Substanz diese Farbe darge-
boten hätte. Viel mehr sieht man eine eigenthümliche gelb-
rothe Farbe entstehen, welche allerdings in manchen Fällen
einen leichten Stich in’s Rothviolette hat, so dass gewisse An-
näherungen an das Blau der wahren Amyloid-Masse hervor-
treten. Dagegen zeigt sie ziemlich regelmässig eine wirkliche,
sei es vollkommen blaue, sei es violette Farbe, wenn man
recht vorsichtig Schwefelsäure zufügt. Es gehört dazu aller-
dings eine gewisse Uebung; man muss das Verhältniss gut
treffen, da die Schwefelsäure die Substanz gewöhnlich sehr
schnell zerstört, und man entweder sehr undeutliche Färbun-
gen bekommt, oder die Farbe nur momentan hervortritt und
alsbald wieder verschwindet. Somit steht diese Substanz der
eigentlichen Stärke weniger nahe, sondern nähert sich viel-
mehr der Cellulose, wie wir sie früher besprochen haben.
[335]Amyloide Degeneration der kleinen Arterien.
Allein sie unterscheidet sich auch wiederum von der Cellulose
dadurch, dass sie durch die Einwirkung von Jod für sich
schon eine Färbung erfährt, während die eigentliche Cellulose
durch blosses Jod überhaupt nicht gefärbt wird. Die Cellu-
lose verhält sich ganz wie Cholestearin, welches bei der Be-
handlung mit Jod farblos bleibt, dagegen durch Jod und Schwe-
felsäure eine blaue, unter Umständen rothe, orange Farbe
annimmt (S. 322.).
Bei dieser Mannigfaltigkeit der Reactionen ist es allerdings
immer noch sehr schwer mit Sicherheit zu sagen, wohin die
Substanz gehört. Meckel hat mit grosser Sorgfalt den Ge-
danken verfolgt, dass es sich um eine Art von Fett handle,
welche mit Cholestearin mehr oder weniger identisch sei, al-
lein wir kennen bis jetzt keinerlei Art von Fett, welches die
drei Eigenschaften, durch Jod für sich gefärbt zu werden,
durch Schwefelsäure für sich farblos zu bleiben, und durch
Jod und Schwefelsäure eine blaue Farbe anzunehmen, besässe.
Ausserdem verhält sich die Substanz selbst keinesweges wie
eine fettige Masse; sie besitzt nicht die Löslichkeit, welche
das Fett charakterisirt, insbesondere kann man bei der Ex-
traction mit Alcohol und Aether aus diesen Theilen keine Sub-
stanz gewinnen, welche die Eigenthümlichkeiten der früheren
besitzt. Nach Allem liegt also vielmehr eine Ueberein-
stimmung mit pflanzlichen Formen vor, und man kann im-
merhin die Ansicht festhalten, dass es sich hier um einen Pro-
zess handle, vergleichbar demjenigen, welchen wir bei der
Entwicklung einer Pflanze eintreten sehen, wenn die einfache
Zelle sich mit Capselschichten umhüllt und nach und nach
holzig wird.
Am schönsten kann man diese Veränderungen verfolgen
an denjenigen Gebilden, welche überhaupt als der häufigste
Sitz dieser Veränderung betrachtet werden müssen, nämlich an
den kleinsten Arterien. Diese erfahren zuerst die Um-
wandlung, und erst, nachdem die Umänderung ihrer Wandun-
gen bis zu einem hohen Grade vorgerückt ist, pflegt die Infil-
tration auf das umliegende Parenchym fortzuschreiten, bis end-
lich das ganze Gewebsgebiet, zu welchem die Arterie führt,
die Veränderung erlitten hat. Wenn wir in einer amyloiden
[336]Siebzehnte Vorlesung.
Milz eine solche kleine Arterie verfolgen, während sie sich in
einen sogenannten Penicillus auflöst, so sehen wir, wie ihre
an sich schon starke Wand in dem Maasse, als die Verände-
rung fortschreitet, dicker wird, und wie dabei die Lichtung
des Gefässes um ein Bedeutendes sich verkleinert. Hieraus
erklärt es sich, dass alle Organe, welche in einem bedeuten-
deren Grade die amyloide Veränderung eingehen, überaus
blass aussehen; es entsteht eine Ischämie der Theile durch
die Hemmung, welche die verengerten Gefässe dem Einströ-
men des Blutes entgegensetzen. Untersucht man nun, an welchen
Gewebselementen der Gefässe die Substanz sich zuerst findet,
so scheinen es ziemlich constant die kleinen Muskeln der
Ringfaserhaut zu sein. Zuerst tritt an die Stelle einer jeden
Faserzelle ein compactes, homogenes Gebilde, an welchem
man Anfangs die Mitte des Kerns noch wie eine Lücke er-
kennt, welches aber nach und nach jede Spur von zelliger
Structur einbüsst, so dass zuletzt eine Art von spindelförmiger
Scholle übrig bleibt, an welcher man weder Membran noch
Kern noch Inhalt unterscheiden kann. Bei der Verkalkung
kleiner Arterien findet genau derselbe Vorgang statt: die ein-
zelne Faserzelle der Wand nimmt Kalksalze auf, Anfangs in
körniger, später in homogener Weise, his sie endlich in eine
gleichmässig erscheinende Kalkspindel umgewandelt ist. So
durchdringt auch die amyloide Substanz ganze Partieen des
Gewebes, und die Wand der Arterie verwandelt sich in eine
Amyloide Degeneration einer kleinen Arterie aus der
Submucosa des Darmes, bei noch intactem Stamm. Vergr. 300.
[337]Amyloidentartung der Leber.
zuletzt fast vollkommen gleichmässige, compakte, bei auflal-
lendem Lichte glänzende, farblose Masse, welche nur nicht die
Härte der verkalkten Theile, sondern im Gegentheil einen ho-
hen Grad von Brüchigkeit besitzt.
Ist nun eine solche Veränderung bis zu einem gewissen
Grade vorgeschritten, so geschieht eine analoge Veränderung
auch in dem Parenchym der Organe. Dies kann man nirgend
so deutlich verfolgen, wie in der Leber. Hier geschieht es
zuweilen, dass man Stadien trifft, wo in dem ganzen Organ
nichts weiter verändert ist, als nur die kleinen Aeste der Ar-
teria hepatica. Macht man feine Durchschnitte durch die Le-
ber, wäscht sie sorgfältig aus und bringt Jod darauf, so sieht
man zuweilen schon vom blossen Auge die kleinen jodrothen
Züge und Punkte, welche den durchschnittenen Aesten der Ar-
teria hepatica entsprechen. Weiterhin sind es aber wesentlich
die Leberzellen, welche getroffen werden; und zwar, was
wiederum sehr charakteristisch ist, gerade derjenige Theil der
Leberzellen, der zunächst die Arteria hepatica aufnimmt. Wenn
man nämlich einen einzelnen Acinus der Leber sich denkt, so
kann man den pathologischen Veränderungen nach, die oft
schon vom blossen Auge zu erkennen sind, innerhalb jedes
Acinus drei verschiedene Zonen unterscheiden (Fig. 110.). Der
äusserste Theil, welcher zunächst den portalen Aesten liegt,
ist der Hauptsitz der fettigen Infiltration; der interme-
diäre Theil, welcher unmittelbar um die Arteria hepatica
liegt, gehört der amyloiden Degeneration an und der centrale
Theil des Acinus um die Vena hepatica ist der gewöhnlichste
Sitz für Pigmentinfiltration. Schon mit blossem Auge erkennt
man zuweilen zwischen der äussersten gelbweissen und der in-
nersten gelbbraunen oder graubraunen Schicht die blasse, farb-
lose, durchscheinende und resistente Zone der wächsernen oder
amyloiden Veränderung.
Verfolgt man die einzelne Leberzelle, so sieht man, dass
der früher körnige Inhalt derselben, der jeder Leberzelle ein
leicht trübes Aussehen gibt, allmählig homogen wird; Kern
und Membran verschwinden allmählig und endlich tritt ein
Stadium ein, wo man gar nichts weiter wahrnimmt, als einen
absolut gleichmässigen leicht glänzenden Körper, wenn Sie
22
[338]Siebzehnte Vorlesung.
wollen, eine einfache Scholle. Auf diese Weise gehen zu-
weilen in der beschriebenen Zone sämmtliche Leberzellen in
amyloide Schollen über; erreicht der Prozess einen sehr hohen
Grad, so überschreitet endlich sogar die Veränderung diese
Zone, und es kann sein, dass fast die ganze Substanz des
Acinus in Amyloidmasse verwandelt wird. Aus den Leberzellen
entsteht hier endlich auch eine Art von Corpora amylacea,
nur dass sie nicht geschichtet sind, wie die vorher besproche-
nen, sondern dass sie gleichmässige, homogene Körper bilden,
an welchen keine innere Abtheilung, keine Andeutung ihrer
eigenthümlichen Bildungsgeschichte zu erkennen ist.
Wenn man diese Thatsachen zusammennimmt, so erscheint
es ziemlich wahrscheinlich, dass es sich hier um eine allmäh-
lige Durchdringung der Theile mit einer Substanz handelt, die
ihnen von aussen her zugeführt ist. Es ist dies eine Auffas-
sung, welche wesentlich durch die Thatsache unterstützt wird,
dass fast immer, wo diese Veränderung auftritt, eine grössere
Reihe von Organen getroffen wird, dass der Prozess sich nicht
auf eine einzige Stelle beschränkt, sondern dass viele Orte
gleichzeitig im Körper afficirt werden. Dadurch gewinnt in
der That der ganze Vorgang ein wesentlich dyscratisches Aus-
sehen. Der einzige Ort, wo bis jetzt wenigstens eine ganz
unabhängige Entwickelung dieser Veränderung von mir bemerkt
worden ist, und wo mit einiger Wahrscheinlichkeit ein ursprüng-
licher Sitz der Bildung angenommen werden kann, ist der
permanente Knorpel. Namentlich bei älteren Leuten neh-
men die Knorpel an verschiedenen Stellen, z. B. an den
Sternoclavicular-Gelenken, an den Symphysen des Beckens, an
den Intervertebralknorpeln, eine eigenthümlich blassgelbliche
Beschaffenheit an; dann kann man ziemlich sicher sein, dass,
wenn man die Jodreaction mit ihnen versucht, man auch die
eigenthümliche Färbung erlangen wird. Diese Farben kommen
nicht so sehr an den Knorpelzellen, als an der Intercellular-
substanz vor und da solche Fälle nicht etwa mit Erkrankungen
grosser innerer Organe gleichzeitig vorkommen, sondern ganz
unabhängig bei Individuen, welche übrigens am Körper nichts
der Art zu erkennen geben, so scheint es, dass in der That
[339]Constitutionelle Natur der Amyloidentartung.
eine Transformation hier vorliegt, und dass es sich nicht um
eine Einfuhr von aussen her handelt.
Allein vergeblich habe ich mich bis jetzt bemüht, eine be-
stimmte Veränderung im Blute zu erkennen, aus welcher man
etwa schliessen könnte, dass dieses wirklich der Ausgangs-
punkt der Ablagerungen sei. Es existirt bis jetzt nur eine
einzige Beobachtung, welche auf die Anwesenheit analoger
Elemente im Blut hindeutet, und diese ist so sonderbar,
dass man von ihr aus nicht wohl eine Erklärung versuchen
kann. Ein Arzt zu Toronto in Canada hatte nämlich auf
den Wunsch eines Kranken, welcher an Epilepsie litt,
das Blut desselben untersucht und eigenthümliche blasse
Körper im Blute gesehen. Als er nun von meinen
Beobachtungen über die Jodfärbung der Corpora amylacea im
Gehirn las, kam ihm der Kranke wieder in den Sinn und, ich
glaube nach Verlauf von fünf Jahren, nahm er wieder Blut von
ihm und fand auch wieder die Körper, welche in der That
die Reaction gegeben haben sollen. Dieser Beobachtung ge-
genüber ist es sonderbar, dass Niemand sonst jemals etwas
der Art gesehen hat, und da es sich hier um eine überaus
dauerhafte Dyscrasie handeln musste, so würde am wenigsten
aus dieser Beobachtung ein Schluss auf unsere Fälle gezogen
werden können, wo die Erkrankung oft in viel kürzerer Zeit
sich ausbildet und wo wir wenigstens im Blute nichts der Art
haben entdecken können. Ueberdies ist es mit jener Beob-
achtung eine missliche Sache. Stärkekörner können sehr leicht
in verschiedene Objecte hineinkommen, so dass man (mit allem
Respect gegen den Beobachter), so lange es sich um eine ganz
solitäre Beobachtung handelt, noch die Möglichkeit zulassen
muss, dass vielleicht eine Täuschung obgewaltet habe. Ich bin
bis jetzt viel mehr geneigt, anzunehmen, dass das Blut in dieser
Krankheit eine chemische Veränderung in seinen gelösten Be-
standtheilen erfahren hat, als dass es die pathologischen Sub-
stanzen in körperlicher Form enthält.
Jedenfalls ist es unzweifelhaft, dass die amyloide Verän-
derung für die Pathologie schon jetzt einen ausserordentlich
hohen Werth beansprucht. Es kann gar nicht anders sein,
als dass diejenigen Theile, welche der Sitz derselben werden,
22*
[340]Siebzehnte Vorlesung.
ihre specielle Function einbüssen, dass z. B. Drüsenzellen,
welche auf diese Weise verändert werden, nicht mehr im
Stande sind, ihre besondere Drüsenfunction zu versehen, dass
Gefässe nicht mehr der Ernährung der Gewebe oder der Ab-
sonderung der Flüssigkeiten, für welche sie sonst bestimmt
sind, dienen können.
Aus diesen Erwägungen erklärt es sich leicht, dass kli-
nische Störungen so regelmässig mit diesen anatomischen zu-
sammentreffen. Wir finden einerseits ausgesprochene Zustände
der Cachexie, andererseits die überaus häufige Erscheinung
von Hydropsie mit der ganzen Complication von Veränderun-
gen, wie sie gewöhnlich unter dem Bilde der Brightschen
Krankheit zusammengefasst wird. Fast jedesmal, wo eine
solche Erkrankung einen höheren Grad erreicht, befinden sich
die Kranken in einem hohen Grade von Marasmus. Es gibt
Fälle, wo die ganze Ausdehnung des Digestionstractus von der
Mundhöhle bis zum After keine einzige Arterie besitzt, welche
nicht in dieser Erkrankung sich befände, wo jeder Theil des
Oesophagus, des Magens, des Dünn- und Dickdarmes die
kleinen Arterien der Oberfläche in dieser Weise verändert
zeigt.
Es ist dies gerade in sofern eine äusserst wichtige That-
sache, als diese Art von Umwandlung, die für die Function
so entscheidend ist (Mangel an Resorption, Neigung zu Diar-
rhoe), für das blosse Auge fast gar keinen erkennbaren Ef-
fect gibt. Die Theile sind blass und haben ein graues durch-
scheinendes, zuweilen leicht wachsartiges Aussehen; allein dies
ist doch so wenig charakteristisch, dass man nicht mit Sicher-
heit daraus einen Rückschluss auf die inneren Veränderungen
machen kann und dass die einzige Möglichkeit einer Erkennt-
niss, wenn man kein Mikroskop zur Hand hat, in der directen
Application des Reagens besteht. Man braucht nur etwas Jod
auf die Fläche aufzutupfen, so sieht man bald eine Reihe von
dicht stehenden, gelbrothen Flecken entstehen, während die
zwischenliegende Schleimhaut einfach gelb erscheint. Diese
rothen Punkte sind die Zotten des Darmes; nimmt man eine
davon unter das Mikroskop, so sieht man die Wand der klei-
[341]Amyloidentartung der Nieren.
nen Arterien und selbst der Capillaren, welche sich in ihr ver-
breiten, jodroth gefärbt.
Die wichtigsten Störungen dieser Art, welche wir bis jetzt
kennen, sind diejenigen, welche in der Niere entstehen. Ein
grosser Theil, namentlich der chronischen Fälle von Bright-
scher Krankheit, gehört dieser Veränderung an, muss also von
vielen anderen ähnlichen Formen als eine besondere, ganz und
gar eigenthümliche Erscheinung abgelöst werden. Eine solche
Niere hat man in Wien eine Speckniere genannt. Ich muss
aber wiederum bemerken, dass es mit blossem Auge unmög-
lich ist, unmittelbar zu erkennen, ob gerade diese Verände-
rung stattgefunden hat oder nicht, und dass ein Theil der so-
genannten Specknieren nichts anderes als eine Art von Indu-
ration darbietet. Erst nach Jodanwendung kann man mit
Leichtigkeit eine Diagnose machen. Bringt man Jodlösung
auf eine ganz anämische Rindensubstanz, so erscheinen ge-
wöhnlich zuerst rothe Punkte, welche den Glomerulis ent-
sprechen, auch wohl feine Striche, den Arteriae afferentes an-
gehörig, nächstdem, wenn die Erkrankung recht stark ist,
sieht man innerhalb der Markkegel rothe, parallele Linien,
welche sehr dicht liegen. Das sind alles Arterien. Die Er-
krankung der Arterien wird zuweilen so stark, dass man nach
Anwendung des Reagens eine deutliche Uebersicht des Ge-
fässverlaufes bekommt, wie wenn man eine sehr vollständige,
künstliche Injection vor sich hätte. Allein gerade bei diesen
Nieren ist eine Injection nicht ganz ausführbar. Auch die
feineren Mittel, welche wir für Injectionen anwenden, sind
viel zu grob, um durch die verengten Gefässe hindurch zu
gelangen. Untersucht man einen solchen Glomerulus mi-
kroskopisch, so sieht man, dass von da, wo sich die zufüh-
rende Arterie auflöst, die Schlinge nicht mehr die feine, zarte
Röhre ist, wie sonst; vielmehr erscheinen alle einzelnen Schlin-
gen innerhalb der Kapsel als compacte, fast solide Bildun-
gen. Da nun gerade diese Theile es sind, welche offenbar
die eigentlichen Secretionspunkte der Harnflüssigkeit darstel-
len, so begreift es sich, dass in solchen Fällen Störungen in
der Ausscheidung des Harns stattfinden müssen. Wir haben
leider bis jetzt keine vollständig ausreichenden Analysen, allein
[342]Siebzehnte Vorlesung.
es scheint, dass viele Fälle von Albuminurie, welche mit erhebli-
cher Verminderung der Harnstoff-Ausscheidung verbunden sind,
gerade mit diesen Zuständen zusammenhängen und dass
die Abscheidung um so mehr sinkt, je intensiver die Er-
krankung wird. Diese Fälle compliciren sich sehr häufig
mit Anasarka und Höhlenwassersucht und können im
vollsten Maasse die Symptome der Brightschen Erkrankung
liefern. Sie unterscheiden sich aber wesentlich von der
eigentlich entzündlichen Form der Brightschen Krankheit,
welche ich als parenchymatöse Nephritis bezeichne,
dadurch, dass bei letzterer die Erkrankung nicht so sehr an
den Glomeruli oder den Arterien, als an dem Epithel der
Niere haftet und dass die Veränderung oft lange Zeit an dem
Epithel verläuft, während die Glomeruli selbst in solchen Fäl-
len noch intact erscheinen können, wo kaum noch Epithel in
der Substanz vorhanden ist. Hiervon ist wieder eine dritte
Form zu unterscheiden, wo überwiegend das interstitielle Ge-
webe sich verändert, wo Verdickungen um die Capseln und
die Harnkanälchen entstehen, Abschnürungen, Verschrumpfun-
gen zu Stande kommen und dadurch mechanische Hemmun-
gen des Blutstroms hervorgebracht werden, welche natürlich
mit Secretionsveränderungen zusammenfallen müssen.
Es ist sehr wichtig, dass Sie diese Verschiedenheiten,
welche im Bilde einer scheinbar einzigen Krankheit existiren,
auseinanderlösen, weil sich daraus erklärt, dass die Erfahrun-
gen der einen Reihe sich nicht ohne Weiteres auf die ande-
ren Reihen anwenden lassen und dass weder die physiologi-
schen Consequenzen, noch die therapeutischen Maximen in
diesen Zuständen in gleicher Weise ihre Anwendung finden
können.
Unter den Präparaten, welche ich Ihnen vorlege, habe
ich namentlich ihrer Deutlichkeit wegen die amyloide Er-
krankung der Lymphdrüsen gewählt. An diesen verhält
es sich ähnlich wie an der Milz. Wir sehen einerseits die
kleinen Arterien sich verändern, andererseits die wesentliche
Drüsensubstanz, d. h. die feinen zelligen Massen, welche die
Follikel erfüllt. Sie erinnern sich von früher her (S. 157.
Fig. 61.), dass unter der eigentlichen Capsel der Drüse folli-
[343]Amyloidentartung der Lymphdrüsen.
culäre Bildungen liegen, und dass diese Follikel sich wieder aus
einem feinen Maschennetz zusammensetzen, in welchem die klei-
nen Zellen der Drüse aufgehäuft sind, Zellen, von denen wir ver-
muthen, dass sie zugleich die Ausgangspunkte für die Entwicke-
lung der Blutkörperchen darstellen. Die Arterien verlaufen zu-
nächst in den Interstitien der Follikel und lösen sich hier in Capil-
laren auf, welche die Follikel umspinnen und zuweilen in das
Innere der Follikel selbst eindringen. Die amyloide Erkran-
kung besteht nun einerseits darin, dass diese Arterien dicker
und enger werden und weniger Blut zuleiten, andererseits
darin, dass die kleinen Zellen innerhalb der einzelnen Maschen-
räume der Follikel in Corpora amylacea übergehen und dass
nachher anstatt vieler Zellen in jeder Masche des Follikels
ein grosses einziges Corpus amylaceum angetroffen wird.
Dadurch gewinnt die Drüse für das blosse Auge schon das
Amyloide Degeneration einer Lymphdrüse. a, b, b Ge-
fässe mit stark verdickter, glänzender, infiltrirter Wand. c Eine Lage
von Fettzellen im Umfange der Drüse. d, d Follikel mit dem feinen
Reticulum und Corpora amylacea. Vergr. 200. Vergl. Würzb. Verh.
Bd, VII. Taf. III.
Einzelne Corpora amylacea in verschiedenen Grössen
und zum Theil eingebrochen aus der Drüse in Fig. 122. Vergr. 350.
[344]Siebzehnte Vorlesung.
Aussehen, wie wenn sie mit kleinen Wachspunkten durch-
sprengt wäre, und bei der mikroskopischen Untersuchung er-
scheint es wie ein dichtes Strassenpflaster, welches die ganze
Inhaltsmasse zusammensetzt.
Ueber die Bedeutung dieser Veränderungen lässt sich
empirisch nicht viel aussagen, allein, wenn gerade der Follikel-
Inhalt das Wesentliche bei einer Lymphdrüse ist, wenn von
hier aus die Entwickelung der neuen Bestandtheile des Blutes
erfolgt, so muss man wohl schliessen, dass die Erkrankung
der Lymphdrüsen und der Milz, wo die Follikel gleichfalls in
der Regel getroffen werden, für die Blutbildung direct einen
nachtheiligen Einfluss habe, dass es sich also nicht um weit-
liegende Wirkungen handele, sondern dass direct die Blut-
bildung eine Abänderung erleidet und Zustände der Anämie
nachfolgen müssen. Auch kann für den Lymphstrom eine
Hemmung und dadurch wieder Mangel an Resorption, Neigung
zu Hydrops u. s. w. entstehen.
Wenden wir auf die Durchschnitte solcher Drüsen Jod an,
so färben sich alle erkrankten Theile roth, während alles
Uebrige, was der normalen Structur entspricht, einfach gelb
wird. Die Rinde, welche aus Bindegewebe besteht, die fibrö-
sen Balken zwischen den Follikeln, das feine Netz, welches
die einzelnen Corpora amylacea auseinanderhält, endlich die-
jenigen Follikel, welche normale Zellen enthalten, bleiben gelb.
Alle anderen Theile nehmen das jodrothe Aussehen an. Brin-
gen wir Schwefelsäure dazu, so werden diese Stellen dunkel
röthlichbraun, violettroth und, trifft man es glücklich, rein
blau; sind noch stickstoffhaltige Partikeln dazwischen, so ist
die Farbe grün oder braunroth. —
Nachdem wir, meine Herren, die Classification der krank-
haften Störungen im Grossen nach den einzelnen Gewebsthä-
tigkeiten vorgenommen haben, denke ich den Prozess genauer
zu besprechen, welcher dem praktischen Arzte nach der ge-
wöhnlichen Sprechweise am häufigsten vorkommt, nämlich die
Entzündung.
Der Begriff der Entzündung hat sich unter der Einwir-
kung der Erfahrungen, von welchen Sie gegenwärtig einen
[345]Entzündungslehre.
gewissen Theil gehört haben, wesentlich verändert. Während
man noch bis vor kurzer Zeit gewohnt war, die Entzündung
ontologisch, als einen seinem Wesen nach überall gleich-
artigen Vorgang zu betrachten, so ist nach meinen Unter-
suchungen nichts weiter übrig geblieben, als alles Ontolo-
gische von dem Entzündungs-Begriffe abzustreifen, und den
Prozess nicht mehr als einen seinem Wesen nach von den
übrigen verschiedenen zu bezeichnen, sondern nur als einen
der Form oder dem Verlauf nach verschiedenen anzusehen.
In der Aufstellung der Alten, wie sie uns in den dogma-
tischen Schriften Galen’s erhalten ist, steht bekanntlich unter
den vier Cardinal-Symptomen (calor, rubor, tumor, dolor) die
Hitze als das dominirende da, denn sie ist das Symptom, von
welchem der Process seinen Namen bekommen hat. Später-
hin ist in dem Maasse, als die Frage von der thierischen
Wärme überhaupt und der Wärme in pathologischen Zustän-
den insbesondere in den Hintergrund trat, immer mehr Ge-
wicht gelegt worden auf die Röthung, und so ist es geschehen,
dass schon im vorigen Jahrhundert in der Zeit der mechani-
schen Theorien, wo namentlich Boerhaave die Entzündung
ableitete von der Obstruction der Gefässe und der damit ver-
bundenen Stasis des Bluts, der Begriff der Entzündung sich
mehr oder weniger an die Gefässe band. Seitdem die patho-
logisch-anatomischen Erfahrungen sich ausdehnten, wurde ins-
besondere in Frankreich die Hyperämie als der nothwendige
und regelmässige Ausgangspunkt der Entzündung dargestellt.
Die Einseitigkeit, mit welcher diese Ansicht noch bis in unsere
Zeit festgehalten wurde, war zum grossen Theil eine Nach-
wirkung der Broussais’schen Anschauung, welche in der
pathologisch-anatomischen Richtung zur Geltung gekommen
ist. Die Hyperämie trat allmählig an die Stelle aller übrigen
wesentlichen Symptome.
Eine Aenderung der Doctrin im grossen Styl hat eigent-
lich nur die Wiener Schule versucht, indem sie, wiederum vom
anatomischen Standpunkte aus, an die Stelle der Entzündungs-
Symptome das Entzündungsproduct setzte. Das, was sie ihren
Erfahrungen gemäss zunächst im Auge hatte, und worin sie
das Wesen der Entzündung suchte, war das Product, welches
[346]Siebzehnte Vorlesung.
man, entsprechend den überlieferten Vorstellungen, als ein
nothwendig aus den Gefässen hervorgegangenes, als Exsudat
bezeichnete. In der alten Classification der Symptome ent-
sprach dem Exsudate der Wiener ungefähr das Symptom des
Tumors, und man könnte daher sagen, dass wie früher der
Calor und dann der Rubor, so hier der Tumor in der Vor-
dergrund getreten sei, während in der mehr speculativen An-
schauung der Neuropathologen bekanntlich der Dolor als die
wesentliche und ursprüngliche Veränderung in dem Entzün-
dungsact betrachtet wird.
Es kann kein Zweifel sein, dass von diesen verschiede-
nen Aufstellungen die anatomische Lehre der Wiener Schule
die richtigste sein würde, wenn sich nachweisen liesse, dass
bei jeder Entzündung, wie es gegenwärtig in die Sprache der
meisten Aerzte übergegangen ist, ein Exsudat stattfände, dass
der Tumor wesentlich durch dieses Exsudat bedingt sei, und
namentlich, dass dieses Exsudat als ein constantes, typisches
und der Fibrin-Gehalt desselben als ein Kriterium der entzünd-
lichen Natur desselben betrachtet werden dürfe.
Schon in den früheren Vorlesungen habe ich Ihnen zu
zeigen gesucht, wie wesentlich der Begriff des Exsudates ge-
schmälert werden muss, und wie wesentlich bei dem Auftreten
von Stoffen, welche wir allerdings als aus den Gefässen her-
vorgegangen und an die Theile angelagert betrachten müssen,
die activen Beziehungen der Gewebselemente selbst in Frage
kommen. Vieles ist, wie wir sahen, nicht so sehr Exsudat, als,
wenn ich mich so ausdrücken soll, Educt aus den Gefässen
in Folge der Thätigkeit der Gewebselemente selbst.
Dasjenige, von dem wie ich glaube wesentlich ausgegan-
gen werden muss bei der Betrachtung der Entzündung, der
Punkt, in dem ich auch die Aufstellung von Broussais und
Andral für am meisten berechtigt erachte, ist der Begriff des
Reizes. Wir können uns keine Entzündung denken ohne
den Entzündungsreiz, und es fragt sich zunächst, in welcher
Weise man sich diesen Reiz vorzustellen habe?
Wir haben schon gesehen, dass im Allgemeinen die Form
der Reizung in drei verschiedenen Richtungen zu verfolgen ist,
je nachdem eine functionelle, nutritive oder formative Reizung
[347]Entzündungsreiz.
stattgefunden hat. Hier kann nun gar kein Zweifel sein, dass es sich
bei der Entzündung nicht wesentlich um functionelle Reize han-
dele, einfach aus dem Grunde, weil alle neueren Schulen wenig-
stens darin übereingekommen sind, dass zu den vier characteristi-
schen Symptomen die Functio laesa hinzugefügt werden
muss.
Ist die Function gestört, so setzt dies eben voraus, dass
der Reiz ein solcher sein muss, dass er in der Zusammen-
setzung des Theils Veränderungen bedingt, welche Hemmungen
der Function hervorbringen. Niemand wird erwarten, dass ein
Muskel, der entzündet ist, normal fungirt; jeder setzt voraus,
dass die contractile Substanz des Muskels dabei gewisse Ver-
änderungen erfahren hat. Niemand wird erwarten, dass eine
entzündete Drüsenzelle normal secerniren könne, sondern wir
werden mit Nothwendigkeit eine Störung der Secretion als
eine Folge der Entzündung betrachten. Niemand wird erwar-
ten können, dass eine entzündete Ganglienzelle oder ein ent-
zündeter Nerv seine Verrichtungen ausüben, dass er auf Reize
normal reagiren könne. Es setzt dies also unseren allgemein-
sten Erfahrungen nach mit Nothwendigkeit voraus, dass Ver-
änderungen in der Zusammensetzung der zelligen Theile ein-
getreten sein müssen, welche die natürliche Functionsfähigkeit
derselben alteriren. Solche Veränderungen, wenn sie auf
Reize eintreten, die nicht gross genug sind, um die Theile so-
fort zu zerstören oder ihre Functionsfähigkeit zu erschöpfen,
sind nur dann möglich, wenn es entweder nutritive oder for-
mative Reize sind. Und in der That bestätigt sich dieser
Schluss bei der Entzündung. Man findet heut zu Tage die
Ansicht schon ziemlich verbreitet, dass es sich bei der Ent-
zündung im Grossen um eine Veränderung in dem Ernäh-
rungsact handle, wobei man die Ernährung freilich als das
gemeinschaftlich Umfassende der formativen und nutritiven
Vorgänge denkt.
Will man also von einem Entzündungsreiz sprechen, so
kann man sich darunter füglich nichts Anderes denken, als
dass durch irgend eine für den Theil, welcher in Reizung
geräth, äussere Veranlassung, entweder direct von aussen oder
vom Blute, die Mischung und Zusammensetzung des Theiles
[348]Siebzehnte Vorlesung.
Aenderungen erleidet, welche zugleich seine Beziehungen zur
Nachbarschaft ändern, und ihn in die Lage setzen, aus seiner
Nachbarschaft, sei dies ein Blutgefäss oder ein anderer Kör-
pertheil, eine grössere Quantität von Stoffen an sich zu ziehen,
aufzusaugen, und je nach Umständen umzusetzen. Jede Form
von Entzündung, welche wir kennen, findet darin ihre natür-
liche Erklärung. Jede kommt darauf hinaus, dass sie als
Entzündung beginnt von dem Augenblicke an, wo diese ver-
mehrte Aufnahme von Stoffen in das Gewebe erfolgt und die
weitere Umsetzung dieser Stoffe eingeleitet wird.
Diese Auffassung verträgt sich in einem gewissen Maasse,
wie Sie wohl sehen, mit derjenigen, welche man vom Stand-
punkt der vasculären Theorie aus behauptet hat, wonach man
als unmittelbare Folge der Hyperämie das Exsudat betrachtet,
und annimmt, dass die Entzündung, wenn sie declarirt sei,
durch die Anwesenheit eines der natürlichen Mischung des
Theiles mehr oder weniger fremdartigen Stoffes sich characte-
risire. Es fragt sich nur, ob wirklich die Hyperämie die Ein-
leitung zu diesen Vorgängen bilde.
Wäre die Entzündung nothwendig gebunden an die
Hyperämie, so begreifen Sie wohl, dass es unmöglich sein
würde, von Entzündungen in Theilen zu sprechen, welche
nicht in einer unmittelbaren Beziehung zu Gefässen stehen.
Wir könnten uns nicht vorstellen, dass eine Entzündung in
einer gewissen Entfernung von einem Gefässe geschähe. Es
würde vollständig unmöglich sein, von einer Hornhautentzün-
dung zu sprechen (abgesehen vom Rande der Hornhaut), von
einer Knorpelentzündung (abgesehen von den zunächst an den
Knochen stossenden Theilen), von einer Entzündung der inne-
ren Sehnensubstanz. Vergleichen wir aber die Vorgänge
solcher Theile mit den gewöhnlichen, so stellt sich unzweifel-
haft heraus, dass dieselben Vorgänge der Entzündung an allen
diesen Theilen vorkommen können, und dass die Veränderun-
gen der gefässhaltigen von denen der gefässlosen sich in
keiner Weise unterscheiden lassen.
Wie Sie wissen, hat man in der Auffassung der entzünd-
lichen Exsudate insofern Concessionen machen müssen, als
man manchen Prozess Entzündung nennt, welcher durch die
[349]Entzündliches Exsudat.
Art des sogenannten Exsudates sich wesentlich von den andern
unterscheidet. Wenn man z. B. von Schleimhaut-Entzündungen
spricht, so denkt man in der Regel doch nicht daran, dass
die Schleimhaut ein fibrinöses Exsudat liefern wird. Wir
kennen wohl Schleimhäute, wo fibrinöse Exsudate häufiger
sind, z. B. die Schleimhaut der Respirationsorgane. Aber wir
wissen auch, dass auf der Schleimhaut des Digestionstractus freie
fibrinöse Exsudate fast gar nicht vorkommen, wenigstens nicht
in den einfachen Schleimhautentzündungen, dass sie höchstens
die schlimmeren, namentlich die brandigen Formen begleiten.
Wenn man von einer Laryngitis spricht, so setzt man nicht
sogleich einen Croup voraus. Bei einer Cystitis erwartet man
nicht, die innere Fläche der Blase von einer fibrinösen Schicht
überzogen zu finden. In der ganzen Reihe der sogenannten
gastrischen Entzündungen finden wir namentlich im Anfang des
Prozesses fast nichts weiter, als eine reichliche Absonderung
von Schleim. Wenn wir also diese catarrhalischen Entzün-
dungen noch Entzündungen nennen, wenn wir sie nicht ganz
aus der Reihe der Entzündungen herauswerfen wollen, wozu
kein Grund vorliegt, so müssen wir zugestehen, dass ausser
dem fibrinösen Exsudat in Entzündungen ein schleimiges Exsu-
dat bestehen kann und dass die Entzündungen mit schleimigem
Exsudat eine eigene, gewissen Organen zukommende Kategorie
bilden. Denn bekanntlich finden wir sie nicht an allen Ge-
weben des Körpers, sondern fast nur an Schleimhäuten.
Sehen Sie sich nun die fibrinösen Exsudate etwas ge-
nauer an, so kann gar kein Zweifel sein, dass sie in diesem
Punkte mit den schleimigen vollkommen übereinstimmen.
Wir kennen nämlich keinesweges fibrinöse Exsudate an allen
Punkten des Körpers; wir kennen z. B. keine Form von exsu-
dativer Encephalitis, welche fibrinöses Exsudat liefert. Eben
so wenig ist eine Form von Hepatitis bekannt, wobei fibri-
nöse Exsudate vorkämen. Es gibt wohl eine Entzündung
des Leberüberzuges (Perihepatitis), so gut wie eine Entzündung
des Gehirnüberzuges, wobei Fibrin frei hervortreten kann,
aber nie hat Jemand bei einer eigentlichen Hepatitis Fibrin
angetroffen. Ebensowenig gibt es bei den gewöhnlichen Ent-
zündungen des Herzfleisches (Myocarditis) Fibrin.
[350]Siebzehnte Vorlesung.
Andererseits müssen Sie festhalten, dass man, von be-
stimmten Voraussetzungen ausgehend, Fibrinexsudate an vielen
Punkten vermuthet hat, wo sie in der That gar nicht zu sehen
sind. Wenn man den Eiter aus einem fibrinösen Exsudat hat
hervorgehen lassen, und wenn man demnach an allen Stellen,
wo Eiter auftritt, ein fibrinöses Exsudat als den Ausgangs-
punkt betrachtet, so gehört doch eben keine grosse Beobach-
tungsgabe dazu, um sich zu überzeugen, dass dies ein Irrthum
ist. Nehmen Sie eine beliebige Ulcerationsfläche, wischen
Sie den Eiter ab und fangen Sie das auf, was hervorkommt,
so werden Sie entweder seröse Flüssigkeit oder Eiter haben,
aber Sie werden nicht sehen, dass sich die abgewischte
Fläche mit einer fibrinösen Schicht überzieht. Beschränkt
man sich also auf diejenigen Theile, wo Entzündungen mit
wirklichem, unzweifelhaftem fibrinösem Exsudat vorkommen,
so ist dies eine nahezu ebenso beschränkte Kategorie, wie
die der schleimigen Entzündungen. Hier stehen in erster
Linie die eigentlichen serösen Häute, welche bei leichtem
Entzündungsreiz gewöhnlich schon Fibrin hervorbringen; in
zweiter Linie gewisse Schleimhäute, an welchen die fibrinösen
Entzündungen in einer grossen Zahl von Fällen unverkenn-
bar als eine Steigerung aus schleimigen hervorgehen. Ein
gewöhnlicher Croup tritt in der Regel nicht von vornherein
als fibrinöser Croup auf; anfangs, zu einer Zeit, wo die Ge-
fahr schon eine sehr beträchtliche sein kann, findet sich oft
nichts weiter, als eine schleimige oder schleimig-eitrige Mem-
bran. Erst nach einer gewissen Zeit setzt die fibrinöse
Exsudation in der Weise ein, dass wir an derselben Pseudo-
membran die Uebergänge verfolgen können, so dass eine ge-
wisse Strecke deutlich Schleim, eine andere deutlich Fibrin
ist, während an einer dritten Stelle nicht mehr mit Sicherheit
zu sagen ist, ob das eine oder das andere vorhanden ist.
Hier treten also beide Stoffe wiederum als Substitute für ein-
ander auf. Wo der entzündliche Reiz grösser ist, sehen wir
Fibrin, wo er geringer ist, Schleim vorkommen.
Vom Schleim wissen wir aber, dass er im Blute nicht
existirt, wie Fibrin. Wenn auch eine Schleimhaut unglaublich
grosse Massen von Schleim in kurzer Zeit hervorbringt, so
[351]Entzündliches Exsudat.
sind dieselben doch Producte der Membran selbst; die Mem-
bran wird nicht vom Blute aus mit Schleim durchdrungen,
sondern die eigenthümliche Mucinmasse, der Schleimstoff ist
ein Erzeugniss der Haut, welches durch die vom Blute aus
durchquellende (transsudirende) Flüssigkeit mit an die Ober-
fläche geführt wird. In derselben Weise habe ich, wie ich
früher andeutete (S. 146), auch versucht, die Ansicht umzu-
kehren, welche man über die Entstehung des Fibrins zu haben
pflegt. Während man bis jetzt das Fibrin als eine eigentliche
Transsudation aus der Blutflüssigkeit, als das hervortretende
Plasma betrachtet, so habe ich die Deutung versucht, dass
auch das Fibrin ein Localproduct derjenigen Gewebe sei, an
welchen und in welchen es sich findet, und dass es in der-
selben Weise an die Oberfläche gebracht würde, wie der
Schleim der Schleimhaut. Ich habe Ihnen damals schon ge-
zeigt, wie man auf diese Weise am Besten begreift, dass in
dem Maasse, als an einem bestimmten Gewebe die Fibrinpro-
duction steigt, auch das Blut mehr Fibrin bekommt, und dass
die fibrinöse Krase eben so gut ein Product der localen Er-
krankung ist, wie die fibrinöse Exsudation das Product der
localen Stoffmetamorphose. Nie ist man im Stande gewesen,
so wenig als man direct durch Druckveränderung aus dem
Blute Schleim an einem Orte hervorbringen kann, welcher
nicht selbst Schleim producirt, durch Veränderung im Blut-
druck Fibrin hervorzubringen; was durchdringt, sind immer
nur die serösen Flüssigkeiten.
Ich halte demnach dafür, dass in dem Sinne, wie man
gewöhnlich angenommen hat, es überhaupt kein entzünd-
liches Exsudat gibt, sondern dass das Exsudat, welches
wir treffen, sich wesentlich zusammensetzt aus dem Material,
welches durch die veränderte Haltung in dem entzündeten
Theile selbst erzeugt wird, und aus der transsudirten Flüssig-
keit, welche aus den Gefässen der Nachbarschaft stammt.
Besitzt daher ein Theil eine grosse Menge besonders ober-
flächlicher Gefässe, so wird er auch ein Exsudat geben kön-
nen, indem die vom Blute transsudirte Flüssigkeit die speciel-
len Producte des Gewebes mit an die Oberfläche führt. Ist
dies nicht der Fall, so wird es kein Exsudat geben, sondern
[352]Siebzehnte Vorlesung.
der ganze Vorgang beschränkt sich darauf, dass im eigent-
lichen Gewebe die besonderen Veränderungen vor sich gehen,
die durch den entzündlichen Reiz inducirt worden sind.
Auf diese Weise kann man allerdings zwei Formen von
Entzündungen von einander trennen: die rein parenchy-
matöse Entzündung, wo der Prozess im Innern des Ge-
webes verläuft, ohne dass eine austretende Blutflüssigkeit
wahrzunehmen ist; und die secretorische (exsudative)
Entzündung, welche mehr den oberflächlichen Organen an-
gehört, wo vom Blute aus ein vermehrtes Austreten von Flüs-
sigkeit erfolgt, welche die eigenthümlichen parenchymatösen
Stoffe mit an die Oberfläche der Organe führt. Diese beiden
Formen sind hauptsächlich durch die Organe unterschieden, an
welchen sie vorkommen. Es gibt gewisse Organe, welche
unter allen Verhältnissen nur parenchymatös erkranken, andere,
welche fast jedesmal eine oberflächliche exsudative Entzündung
erkennen lassen.
Die Scheidung, welche man gewöhnlich nach dem Vor-
gange von Hunter gemacht hat, in adhäsive und eitrige For-
men liegt ungleich weiter entfernt; zunächst handelt es sich
immer darum, in wie weit die Gewebe selbst sich verändern
und ihr Product einen degenerativen Character annimmt, oder
in wie weit durch das Durchströmen der Producte der Theil
wieder von dem befreit wird, was er in sich erzeugt hat und
in wie weit dadurch die Degeneration des Theiles inhibirt
wird. Jede parenchymatöse Entzündung hat von vornherein
eine Neigung, den histologischen und functionellen Habitus
eines Organes zu verändern. Jede Entzündung mit freiem Ex-
sudate hat im Allgemeinen für den Theil eine gewisse Be-
freiung: sie entführt ihm einen grossen Theil der Schädlich-
keiten und der Theil erscheint daher verhältnissmässig viel
weniger leidend, als derjenige, welcher der Sitz einer paren-
chymatösen Erkrankung ist.
[[353]]
Achtzehnte Vorlesung.
21. April 1858.
Die normale und pathologische Neubildung.
Die Theorie der continuirlichen Entwickelung im Gegensatze zu der Blastem- und Exsudat-
theorie. Das Bindegewebe und seine Aequivalente als allgemeinster Keimstock der Neu-
bildungen. Die Uebereinstimmung der embryonalen und pathologischen Neubildung.
Die Zellentheilung als allgemeinster Ausgang der Neubildungen.
Endogene Bildung. Physaliden. Bruträume.
Verschiedene Richtung der Neubildung. Hyperplasie, directe und indirecte. Heteroplasie.
Die pathologischen Bildungszellen. Verschiedene Grösse und Bildungsdauer derselben.
Darstellung der Knochenentwickelung als einer Musterbildung. Unterschied von Formation
und Transformation. Der frische und wachsende Knochen im Gegensatze des macerir-
ten. Natur des Markgewebes. — Längenwachsthum der Röhrenknochen: Knorpelwuche-
rung. Markbildung als Gewebstransformation: rothes und gelbes, normales und entzünd-
liches Mark. Tela ossea, verkalkter Knorpel, osteoides Gewebe. Knochenterritorien:
Caries, degenerative Ostitis. Knochengranulation. Knocheneiterung. Maturation des
Eiters. Ossification des Markes. — Dickenwachsthum der Röhrenknochen: Structur und
Wucherung des Periostes.
Die Granulation als Analogon des Knochenmarkes und als Ausgangspunkt aller heteroplasti-
schen Entwichelung.
Meine Herren, ich gedenke Ihnen heute die wesentlichsten Züge
aus der Geschichte der pathologischen Neubildungen zu schil-
dern, die ja eben als Grundlage für eine Reihe von Vorgän-
gen, sowohl der mehr complicirten Geschwulstbildung, als auch
der einfacheren entzündlichen Reizungsprozesse gelten können.
Dass ich die Doctrin vom Blastem in ihren ursprünglichen
Grundzügen gegenwärtig vollständig zurückweise, haben Sie
aus den früheren Vorlesungen schon entnommen. An ihre
Stelle tritt die sehr einfache Lehre von der continuirlichen
23
[354]Achtzehnte Vorlesung.
Entwickelung der Gewebe auseinander. Es handelt
sich also für die einzelnen Fälle darum, den besonderen Mo-
dus zu erkennen, wodurch die verschiedenartigen Gewebe ent-
stehen und an bestimmten Beispielen die verschiedenen Mög-
lichkeiten kennen zu lernen, welche in Beziehung auf die Rich-
tung dieser Entwickelung überhaupt bestehen.
Meine ersten Erfahrungen, auf Grund deren ich anfing,
die herrschende Blastem- und Exsudatdoctrin in Beziehung auf
daraus hervorgehende Neubildung zu bezweifeln, datiren von
Untersuchungen über die Tuberkeln. Ich fand nämlich, dass
eine Reihe von Tuberkeln in verschiedenen Organen, insbeson-
dere in Lymphdrüsen, in den Hirnhäuten und in den Lungen
zu keiner Zeit ein erkennbares Exsudat, sondern zu jeder Zeit
ihrer Entwickelung organisirte Elemente darboten, ohne dass
je an ihnen oder vor ihnen ein Stadium des Amorphen, Ge-
staltlosen zu beobachten war. Schon vor acht Jahren erkannte
ich, dass die Entwickelung in den Lymphdrüsen bei den be-
kannten scrophulösen Veränderungen so beginnt, dass die
ersten Zustände, welche man antrifft, mit denjenigen vollkom-
men übereinstimmen, welche man sonst mit dem Namen der
Hypertrophie bezeichnet; Kerne und Zellen finden sich in
reicher Masse, zerfallen späterhin und geben direct das Mate-
rial zu der endlichen Anhäufung käsiger Substanz. Eine sol-
che Auffassung, wonach ein hypertrophirendes Gewebe in sei-
ner späteren Zeit ein vollkommen abweichendes, krankhaftes
Product liefern kann, erschien um so bedeutungsvoller, als ich
eine ganz ähnliche Reihe von Entwicklungen gleichzeitig bei
der Untersuchung eines ganz differenten Gebildes erkannte,
nämlich bei der sogenannten Typhusmasse. Damals hatte
man ganz allgemein die Ansicht der Wiener Schule, dass bei
den Typhen ein Exsudat eiweissartiger Natur und von weicher
markiger Beschaffenheit die Theile erfüllte und dass dadurch
Schwellungen von medullärem Aussehen entständen. Mag man
aber die Typhusmasse in den Lymphdrüsen des Gekröses oder
in der Umgebung der Follikel der Peyerschen Haufen unter-
suchen, so findet man zu keiner Zeit irgend ein nachweisba-
res Exsudat, sondern von den präexistirenden zelligen Elemen-
[355]Continuität der Neubildung.
ten der Drüsen und Follikel eine unmittelbare Fortbildung zu
der Masse der typhösen Substanz.
Diese Erfahrungen berechtigten natürlich noch nicht, eine
allgemeine Umänderung der bestehenden Doctrin vorzunehmen,
weil wir an zahllosen Punkten organische Elemente entstehen
sehen, an denen damals wenigstens zellige Elemente als nor-
maler Bestandtheil überhaupt ganz unbekannt waren, und weil
daher kaum eine andere Möglichkeit übrig blieb, als die, dass
durch eine Art von Generatio aequivoca aus der Blastemmasse
neue Keime gebildet würden. Die einzigen Orte, wo mit eini-
ger Wahrscheinlichkeit ausser den Drüsen eine solche Ent-
wickelung von alten Elementen aus hätte angenommen werden
können, waren die Oberflächen des Körpers mit ihren Epithe-
lialelementen. So geschah es, dass die Untersuchung über die
Natur der Bindegewebssubstanzen, mit denen ich Sie früher so
lange behelligt habe, eine ganz entscheidende wurde. Von
dem Augenblicke an, wo ich behaupten konnte, dass es fast
keinen Theil des Körpers gibt, welcher nicht zellige Elemente
besitzt, wo ich zeigen konnte, dass die Knochenkörperchen
wirkliche Zellen sind, dass das Bindegewebe an verschiedenen
Orten eine bald grössere, bald geringere Zahl wirklich zelli-
ger Elemente führe, da waren auch Keime gegeben für eine
mögliche Entwickelung neuer Gewebe. In der That hat es
sich, je mehr die Zahl der Beobachter wuchs, immer allge-
meiner herausgestellt, dass die übergrosse Masse der Neubil-
dungen, welche im Körper entstehen, aus dem Bindegewebe
und seinen Aequivalenten hervorgeht. Ausgenommen davon
sind verhältnissmässig wenige pathologische Neubildungen, wel-
che einerseits den Epithelformationen angehören, andererseits
mit den höher organisirten Geweben thierischer Art, z. B. den
Gefässen, zusammenhängen. Man kann daher mit geringen
Einschränkungen in der That an die Stelle des früheren
Blastems und späteren Exsudats, der ursprünglich
plastischen Lymphe der Alten, das Bindegewebe mit
seinen Aequivalenten als den gemeinschaftlichen
Keimstock des Körpers setzen, und von ihm aus die
eigentliche Entwickelung der späteren Theile ableiten.
Wenn wir ein bestimmtes inneres Organ nehmen, z. B. das
23*
[356]Achtzehnte Vorlesung.
Gehirn oder die Leber, so konnte, so lange als man innerhalb
des Gehirns nichts weiter als Nervenmasse sah, in der Leber
nichts weiter als Gefässe und Leberzellen statuirte, eine Neu-
bildung ohne Dazwischenkommen eines besonderen Bildungs-
stoffes kaum gedacht werden. Denn davon war es ja leicht,
sich zu überzeugen, dass in der Regel in der Leber die Neu-
bildungen nicht von den Leberzellen oder den Gefässen aus-
gehen. Dass in der Hirnsubstanz die Nerven nicht als solche
die Neubildungen hervorbringen, das weiss man so lange, als
man das Mikroskop anwendet, denn seitdem ist es bekannt,
dass die Markschwämme nicht wuchernde Nervenmasse sind,
sondern aus zelligen Elementen anderer Art bestehen. In der
That erscheint uns, wie zuerst Reichert hervorgehoben hat,
der Körper gegenwärtig aus einer mehr oder weniger zusam-
menhängenden Masse von bindegewebsartigen Bestandtheilen zu-
sammengesetzt, in welche an gewissen Punkten andere Dinge,
wie z. B. Muskeln und Nerven, eingesetzt sind. Innerhalb
dieses mehr oder weniger zusammenhängenden Gerüstes ist es,
wo nach meinen Untersuchungen die eigentliche Neubildung
vor sich geht, und zwar genau nach demselben Gesetz, nach
welchem die embryonale Entwickelung geschieht.
Das Gesetz von der Uebereinstimmung der embryonalen
und pathologischen Entwickelung ist, wie Sie wissen, schon
von Johannes Müller, der auf den Untersuchungen von
Schwann fortbaute, formulirt worden. Allein damals setzte
man den Inhalt eines Ovulums dem Blasteme gleich; man
dachte nicht daran, dass alle Entwickelung im Ei innerhalb
der gegebenen Grenzen der Zelle geschehe, sondern man schloss
einfach, dass im Ovulum eine gewisse Menge von bildungsfä-
higem Material gegeben sei, welches vermöge einer ihm inne-
wohnenden Eigenthümlichkeit, vermöge einer organisatorischen
Kraft oder, vom Standpunkte der „höheren“ Anschauung aus
durch eine organisatorische Idee getrieben, sich in diese oder
jene besondere Form umgestaltete. Allein auch hier hat man
sich allmählig überzeugt, dass man es eben mit einer zelligen
Substanz zu thun hat, und, wenn es richtig ist, was am
schärfsten von Remak versucht worden ist, dass die Dotter-
furchung eben auch auf einer sichtbaren Theilung von Zellen,
[357]Neubildung durch Theilung.
auf dem Hineinwachsen und Verschmelzen von Membranscheide-
wänden in das Innere des Zellenraumes beruht, so handelt es
sich hier eben nicht um eine innerhalb der Dottermasse ge-
schehende freie organisatorische Bewegung, sondern um fort-
gehende Theilungsacte des ursprünglich einfachen Elementes.
Allein lange schon bevor diese einfache Anschauung von den
Vorgängen der Dotterfurchung gewonnen war, liess sich mit
Bestimmtheit übersehen, dass in den pathologischen Vorgängen
eine Vergleichung der plastischen Exsudate oder des Blastems
mit den Inhaltsmassen des Eies an sich unzulässig ist, und
dass, wo wir wirklich geformte Theile finden, diese auch wie-
der von einem präexistirenden Theile, einer Zelle ausgegangen
sind.
Der Modus dieser Neubildung ist, so viel es scheint, ein
doppelter. Entweder handelt es sich nämlich in der That
um einfache Theilung, wie wir sie bei Gelegenheit der
Reizung besprochen haben (S. 276). Wir sehen dann die ganze
Reihe von Veränderungen von der Theilung des Kernkör-
perchens bis zur endlichen Theilung der Zelle. Wenn ein
Epithelelement zwei Kerne bekommt und sich theilt und dieses
sich wiederholt, so kann daraus durch fortgehende Wiederholung
eine lange Reihe von Entwickelungen hervorgehn. Bekommt
Jemand durch fortgesetzte Reibung der Haut eine Reizung
und wird der Reiz bis zu einem gewissen Grade gesteigert,
so wird sich das Epithel verdicken, und wenn die Wucherung
sehr stark ist, so kann sie zu grossen geschwulstartigen Bil-
dungen sich erheben. Derselbe Modus der Entwickelung,
welchen Epithelialschichten darbieten, treffen wir auch im
Innern der Organe. An einem Knorpel z. B., wo das einfache
zellige Element in eine Zwischenmasse eingeschlossen ist, tritt
endlich an die Stelle desselben eine Anhäufung zahlreicher
Elemente, die ganze Gruppe wiederum abgeschlossen durch
ihre Zwischenlage. Das ist also an sich ein sehr einfacher
Modus, der jedoch, da er von verschiedenartigen Theilen aus-
geht, sehr verschiedene Resultate bringen kann.
Nun haben wir aber noch eine andere Reihe von Neubil-
dungen im Körper, welche freilich viel weniger gut gekannt
sind, und deren besondere Eigenthümlichkeit sich bis jetzt
[358]Achtzehnte Vorlesung.
nicht mit eben so grosser Sicherheit übersehen lässt. Es
sind das Vorgänge, wo wir im Innern von praeexistirenden
Zellen endogene Veränderungen eintreten sehen. In einer
einfachen Zelle bildet sich ein blasiger Raum, der gegenüber
dem etwas trüben, gewöhnlich leicht körnigen Raum der Zelle,
ein sehr klares, helles, homogenes Aussehen darbietet. Auf
welche Weise diese erste Art von Räumen, welche ich unter
dem Namen der Physaliden zusammenfasse, entsteht, ist
noch nicht ganz sicher. Die grösste Wahrscheinlichkeit ist
dafür, dass bei gewissen Formen gleichfalls Kerne der Aus-
gangspunkt dieser Bildungen sind. Man sieht nämlich neben
diesen Formen Zellen mit 2 Kernen, manche, wo der eine
Kern schon etwas grösser und heller erscheint, aber doch
Wucherung (Proliferation) des wachsenden Diaphysen-
knorpels von der Tibia eines Kindes. Längsschnitt. a Die zum Theil
einfachen, zum Theil in die Wucherung eintretenden Knorpelelemente
an der Epiphysengrenze. b Die durch wiederholte Theilung einfacher
Zellen entstandenen Zellengruppen. c Die durch Wachsthum und Ver-
grösserung der einzelnen Zellen bedeutend entwickelten Zellengruppen
gegen den Verkalkungsrand der Diaphyse hin; die Intercellularsubstanz
immer spärlicher. d Durchschnitt eines Blutgefässes. Vergr. 150.
[359]Endogene Neubildung.
immer noch mit kernartiger Beschaffenheit. Weiterhin werden
diese Blasen so gross, dass die Zelle allmählig fast ganz da-
von erfüllt wird, und ihr alter Inhalt mit dem Kern nur noch
wie ein kleiner Anhang an der Blase erscheint. So weit ist
der Vorgang ziemlich einfach. Allein neben diesen zuneh-
menden und die Zelle erfüllenden Blasen trifft man andere
Formen, welche im Innern der Blase wieder Elemente zelliger
Art eingeschlossen enthalten. So ist es ziemlich häufig in
Krebsgeschwülsten, aber auch in normalen Theilen, z. B. in
der Thymusdrüse. Diese Form scheint darauf hinzudeuten,
dass in der That durch einen nicht direct auf Theilung prae-
existirender Zellen zu beziehenden Vorgang und zwar in be-
sonderen blasigen Räumen, die ich Bruträume genannt habe,
im Innern von zelligen Elementen neue Elemente ähnlicher
Art sich entwickeln können. Indess ist dies jedenfalls ein
für die Gesammtfrage untergeordnetes Verhältniss, die regel-
rechte Form bleibt immer die zuerst geschilderte. Es gibt
nur wenige pathologische Neubildungen, welche durch endogene
Entwickelungen wesentlich in ihrer Geschichte bestimmt würden,
während sich fast bei allen Formen die Zellentheilung in
grosser Ausdehnung findet.
Der wesentlichste Unterschied in den einzelnen zelligen
Entwickelungen ist daher der, dass in einer gewissen Reihe
Endogene Neubildung; blasentragende Zellen (Physali-
phoren). A Aus der Thymusdrüse eines Neugeborenen neben epitheli-
oiden Körnern: im Innern einer Blase mit doppeltem Centrum, die ihrer-
seits noch von einem zellenartigen Saum umgeben ist, liegt eine voll-
ständige Kernzelle. B. C. Krebszellen (vgl. Archiv für pathol. Anatomie.
Bd. I. Taf. II. und Bd. III. Taf. II.) B eine mit doppeltem Kern; C eine
mit einer fast die ganze Zelle füllenden Psysalide und eine andere, wo
die Physalide (Brutraum) noch wieder eine vollständige Kernzelle um-
schliesst. Vergr. 300.
[360]Achtzehnte Vorlesung.
von Bildungen die Theilungen mit einer gewissen Regelmässig-
keit vor sich gehen, so dass die letzten Producte der Theilung
von Anfang an eine völlige Uebereinstimmung mit den Mutter-
gebilden zeigen, und die jungen Gebilde zu keiner Zeit erheb-
lich von den Mutterelementen abweichen. Solche Vorgänge
bezeichnet man im gewöhnlichen Leben meistentheils als Hyper-
trophien; ich hatte zur genaueren Bezeichnung den Namen
der Hyperplasien dafür vorgeschlagen, da es sich nicht um
eine Zunahme der Ernährung bestehender Theile, sondern um
eine wirkliche Zunahme neuer Elemente handelt (S. 58).
In einer anderen Reihe macht sich die Entwickelung so,
dass allerdings auch Theilungen entstehen, dass aber diese
sehr schnell fortschreiten und immer kleinere Elemente her-
vorbringen; diese werden zuweilen am Ende so klein, dass
sie an die Grenze der Zellen überhaupt herangehen. Die Ver-
mehrung der Zellen kann an diesem Punkte aufhören, die
einzelnen Elemente fangen dann an, wieder zu wachsen, sich
zu vergrössern, und unter Umständen kann auch hier wieder
ein analoges Gebilde erzeugt werden, wie das, von welchem
die Entwickelung ausgegangen war. Indess ist dies nicht
der gewöhnliche Fall, in der Regel schlagen die jungen, klei-
nen Elemente einen etwas anderen Gang der Entwickelung
ein und es beginnt eine heterologe plastische Entwickelung.
Diese Form, wie ich sie Ihnen hier schildere, kann sich
auch so machen, dass nicht sogleich Theilungen der Zellen
eintreten, sondern die Kerne sich erst sehr vermehren, immer
zahlreicher und zugleich immer kleiner werden. Etwas Aehn-
liches finden wir beim Eiter, wo sehr schnell eine Theilung
der Kerne stattfindet, gewöhnlich so, dass dieselben sofort
in eine grössere Zahl kleiner Theile zerlegt werden, welche
Anfangs noch zusammenhalten. Allein beim Eiter ist es
nicht sicher, ob der Kerntheilung eine wirkliche Zellentheilung
folgt, während in anderer Neubildung dieser Fall allerdings
eintritt. Nur lässt die vollständige Theilung, wenn Sie
wollen, die Furchung der Elemente lange auf sich warten,
und dies Zwischenstadium der blossen Kerntheilung tritt
überwiegend lange und mit einer gewissen Selbständigkeit
hervor.
[361]Verschiedenheit der Neubildung.
Diese beiden Schemata sind die regelmässigen für alle
diejenigen Arten von Neubildungen, welche nicht unmittelbar
zur Hyperplasie führen; der normale Zustand wird hier zunächst
unterbrochen durch einen Zwischenzustand, wo das Gewebe
wesentlich verändert erscheint, ohne dass man vor der Hand
erkennen kann, ob daraus eine gut- oder bösartige Entwicklung
hervorgehen wird. Es ist dies ein Stadium der scheinbar ab-
soluten Indifferenz; man kann es den einzelnen Elementen
durchaus nicht ansehen, welcher Bedeutung sie eigentlich sind;
sie verhalten sich genau, wie die sogenannten Bildungszellen
des Embryo, welche auch im Anfange ganz gleich aussehen,
gleichviel ob ein Muskel- oder ein Nervenelement oder was
sonst daraus hervorgehen wird. Nichtsdestoweniger halte ich
es für sehr wahrscheinlich, dass feinere innere Verschieden-
heiten wirklich bestehen, die die späteren Umbildungen bis
zu einem gewissen Maasse bedingen, nicht Verschiedenheiten,
welche bloss Potentia in der Bildungszelle vorhanden wären,
sondern wirklich materielle Verschiedenheiten, welche aber so
fein sind, dass wir sie bis jetzt nicht darthun können.
Bei der embryonalen Entwickelung kennt man seit Jahren
eine Erscheinung, welche darauf hindeutet, dass solche Ver-
schiedenheiten der Bildungszellen bestehen, indem die ver-
schiedenen Abtheilungen des Eies verschieden schnell ihre Bil-
dung durchmachen, und namentlich diejenigen Theile, welche
zu den höheren Organen bestimmt sind, mit viel grösserer
Schnelligkeit die einzelnen Stadien durchlaufen, als diejenigen,
welche für die niedrigeren Gewebe angelegt werden. Auch
in der Grösse der Elemente scheinen Verschiedenheiten zu
bestehen. In ähnlicher Weise sieht man häufig, dass auch
bei pathologischen Bildungen Verschiedenheiten in Beziehung
auf die Zeitdauer vorliegen. Jedesmal, wenn die Entwickelung
der Elemente sehr schnell erfolgt, gibt es eine mehr oder
weniger heterologe Entwicklung. Eine homologe, hyper-
plastische Bildung setzt immer eine gewisse Langsamkeit der
Vorgänge voraus, in der Regel bleiben die Elemente dabei
grösser, und die Theilungen schreiten gewöhnlich nicht so
weit vor, dass sehr kleine Formen entstehen.
So überaus einfach ist diese Entwickelungs Geschichte,
[362]Achtzehnte Vorlesung.
überaus einfach in der Doctrin, aber allerdings überaus
schwierig in der Demonstration an den einzelnen Orten.
Diejenigen Orte, welche scheinbar für die Untersuchung am
allerbequemsten liegen sollten, und bei denen in der That
schon vor 20 Jahren Henle ganz nahe an die Entdeckung
einer solchen Entwickelung herangestreift war, sind die Epi-
thelien. Hier, wo an der Oberfläche eine oft so reichliche
Entwickelung stattfindet, sollte man meinen, es müsste über-
aus leicht sein, dieselbe an den einzelnen Elementen genau
zu verfolgen. Henle hat, wie Sie wissen werden, zu zeigen
gesucht, dass die Schleimkörperchen, ja manche Formen,
welche schon dem Eiter angehören, an der Oberfläche der
Schleimhäute neben dem Epithel in der Art producirt werden,
dass zwischen den Anlagen beider keine eigentliche Differenz
zu erkennen ist, dass also gewissermassen die Schleimkör-
perchen als verirrte Epithelialzellen, als missrathene Söhne
erschienen, welche durch eine frühe Störung in ihrer weiteren
Entwickelung gehindert wurden, aber eigentlich angelegt
waren, Epithelialelemente zu werden. Unglücklicherweise
hatte man damals und noch lange nachher die Vorstellung,
dass die normale Entwicklung des Epithels eben auch aus
einem Blastem erfolgte. Man stellte sich ja vor, dass an der
Oberfläche jeder Schleimhaut aus den Gefässen, die an die
Oberfläche treten, zuerst eine plastische Substanz transsudire
und daraus sich die Elemente bildeten. Man blieb bei dem
Schema von Schwann stehen, dass sich zuerst Kerne in der
Flüssigkeit bilden, um welche sich später Membranen an-
legen. Gegenwärtig, so viel auch die verschiedenen Ober-
flächen der Haut, Schleimhaut und serösen Haut untersucht
sind, hat man sich überall unzweifelhaft überzeugt, dass die
zelligen Elemente bis unmittelbar an die Fläche des Binde-
gewebes reichen und nirgends eine Stelle ist, wo freie Kerne,
Blastem oder Flüssigkeit existirte, dass vielmehr gerade die
tiefsten Schichten diejenigen sind, welche die am dichtesten
gedrängten Zellen enthalten. Hätte man damals, als Henle
seine Untersuchungen machte, gewusst, dass hier kein Blastem
existirt, keine Entwickelung de novo geschieht, sondern dass
die vorhandenen Epithelzellen entweder von alten Zellen,
[363]Keimgewebe.
oder vom Bindegewebe darunter sich entwickeln müssen, so
würde er auch gewiss zu dem Schlusse gekommen sein, dass
die Schleim- und Eiterkörperchen, welche nicht von einer
ulcerirenden Oberfläche abgesondert werden, als unmittelbare
Abkömmlinge von praeexistirenden Elementen hergeleitet wer-
den müssen.
So nahe war man damals schon dem richtigen Gesichts-
punkte, allein die Blastemtheorie beherrschte die Geister,
und wir Alle standen damals unter ihrer Einwirkung. Auch
erschien es unmöglich, überall im Innern der Gewebe die er-
forderlichen Vorgebilde aufzuweisen. Erst durch den Nach-
weis zelliger Elemente im Bindegewebe wurde die Möglich-
keit gegeben, eine Art von Keimgewebe aufzuweisen, welches
überall vorhanden ist, und von dem an den verschiedensten
Organen gleichartige Entwickelungen ausgehen können Jetzt,
wo wir wissen, dass Bindegewebe im Gehirn, in der Leber,
in den Nieren, im Muskelfleisch, dem Knorpel, der Haut und
so fort existirt, jetzt hat es natürlich keine Schwierigkeit, zu
begreifen, dass in allen diesen scheinbar verschiedenartigen
Gebilden dasselbe pathologische Product entstehen kann.
Man braucht dazu keineswegs irgend ein specifisches Blastem,
welches in alle diese Theile abgelagert wird, sondern nur
einen gleichartigen Reiz für das Bindegewebe verschiede-
ner Orte.
Was nun das Specielle dieser Dinge anbetrifft, so er-
lauben Sie, dass ich Ihnen zunächst ein concretes Beispiel
der normalen Entwickelung vorführe, welches vielleicht am
besten geeignet sein wird, Ihnen ein Bild der Vorgänge zu
geben, um welche es sich hier handelt. Ich wähle dasjenige,
an welchem an sich der Gang der Entwickelung am besten
gekannt ist, und welches zugleich seiner besonderen Einrich-
tung wegen am wenigsten Missdeutungen zulässt, nämlich
die Knochen. Sie sind hart und dick genug, als dass man
in dem eigentlichen Parenchym noch von Blastem oder Exsu-
dat reden könnte. Das Wachsthum der Knochen gibt uns
zugleich unmittelbar Aufschlüsse über alle die verschiedenen
Neubildungen, welche innerhalb der Knochen in späteren
Zeiten vor sich gehen können, denn jede Art von Neubildung
[364]Achtzehnte Vorlesung.
findet in der normalen Entwickelung des Knochens gewisse
Paradigmen vor.
Bekanntlich wächst jeder grössere Knochen in zwei
Richtungen. Am einfachsten ist dies bei den Röhrenknochen,
welche allmählig länger und dicker werden. Das Längenwachs-
thum erfolgt aus Knorpel, das Dickenwachsthum aus Periost.
Allein auch ein platter Knochen ist einerseits durch knorpel-
artige Theile oder deren Aequivalente, andererseits durch
Häute, welche mit dem Periost übereinstimmen, bekleidet.
Man kann daher das Knorpel- und Periost-Wachsthum des
Knochens unterscheiden. Danach ergibt sich das Schema
der Entwickelung des Röhrenknochens, wie es schon
Havers gegeben hat, dass die neuen Knochenschichten
die alten incapsuliren, und dass jede jüngere Schicht nicht
bloss weiter, sondern auch länger ist, als die nächst ältere.
Das Periostwachsthum rückt natürlich immer höher hinauf,
insofern sich immer neue Lagen von Perichondrium in Periost
verwandeln und die aus Knorpel wachsenden Theile werden
immer dicker, insofern der mittlere Theil des Diaphysenknor-
pels schon sehr frühzeitig ganz in Knochen umgewandelt
wird. Während so Theile, welche vorher entweder Bindege-
webe oder Knorpel waren, in Knochen umgewandelt werden,
geht innerhalb des Knochens die Entwickelung des Markge-
webes vor sich. Der ursprüngliche Knochen ist ganz dicht,
eine sehr feste, relativ compacte Masse. Späterhin schwindet
die Knochenmasse immer mehr, ein Theil nach dem andern
von ihr löst sich auf, und es entsteht die Mark-Höhle, welche
sich nicht etwa darauf beschränkt, so gross zu werden, wie
die ursprüngliche Knochenanlage, sondern dieselbe oft bedeu-
tend überschreitet. Demnach besteht die Entwickelung des
Knochens, ganz im Groben aufgefasst, nicht bloss aus der
allmähligen Apposition von immer neuen Knochen-Lagen vom
Periost und Knorpel, sondern auch aus der fortwährenden
Ersetzung der innersten Lagen des Knochens durch Mark-
massen.
Bei der Deutung dieser Erfahrungen war schon seit län-
gerer Zeit die Blastemtheorie herrschend. Der alte Havers
und Duhamel, welche vortreffliche Untersuchungen über die
[365]Knochenbildung.
Knochengeschichte gemacht haben, gingen von der Voraus-
setzung aus, dass ein Succus nutritius abgesondert werde,
aus welchem die neuen Massen entständen. Die Mark-Ent-
wickelung dachte man sich als eine Bildung von Höhlen, in
welche erst ein klebriger Saft und dann eine fettige Masse
secernirt werde, Höhlen, welche von der Markhaut umkleidet
würden, und deren Inhalt dem Alter nach verschiedenartig
sei. Wie ich indess schon früher hervorgehoben habe so fin-
den sich in den Räumen des Knochens keine Säcke, son-
dern ein continuirliches Gewebe, das Markgewebe, welches
die Markräume und Höhlen ausfüllt und zum Bindegewebe
gehört, obwohl es vom gewöhnlichen Bindegewebe erheblich
verschieden ist. Es handelt sich also, wie Sie aus dieser ein-
fachen Thatsache sehen, um eine Substitution des Gewebes.
Wie das Knochengewebe aus Periost und Knorpel gebildet
wird, so wird Mark aus Knochengewebe, und die Entwicke-
lung eines Knochens besteht nicht bloss in der Bildung von
Knochengewebe, sondern sie setzt voraus, dass die Reihe der
Transformationen über das Stadium des Knöchernen hinaus-
gehe, und dass Markgewebe daraus entstehe. Das Markge-
webe erscheint also gewissermaassen als die physiologische
Höhe der Knochenbildung.
So einfach diese Vorgänge erscheinen, so geben sie doch
ein anderes Bild für das Wachsthum und die Geschichte des
Knochens. Früher ist man fast immer auf dem Standpunkt
des Osteologen stehen geblieben; man hat den macerirten
Knochen genommen, ihn frei von allen Weichtheilen betrachtet
und danach die Prozesse construirt. Es ist aber nothwendig,
dass man diese Verhältnisse in dem feuchten, lebendigen,
kranken oder gesunden Knochen verfolge, und dass man nicht
bloss aussen aus den wuchernden Schichten des Knorpels und
Periosts Knochen, sondern auch innerhalb die Marksubstanz
sich entfalten lässt, als das höchste Entwickelungsproduct in
dieser Reihe, wenn auch nicht als das edelste. Als den
eigentlich entscheidenden und wichtigen Gesichtspunkt, durch
den die ganze Knochenangelegenheit eine andere Gestaltung
annimmt, betrachte ich dabei eben den, dass der Knochen bei
der Markbildung nicht einfach aufgelöst wird und an seine
[366]Achtzehnte Vorlesung.
Stelle ein beliebiges Exsudat oder Blastem tritt, sondern dass
die Auflösung der Knochensubstanz eine Transformation von
Gewebe ist, dass die Auflösung eben erfolgt, indem das
knöcherne Grundgewebe sich in eine weiche Gewebsmasse
umbildet, die nicht mehr im Stande ist, die Kalksalze zurück-
zuhalten. Fragen Sie also, wo kommen die neuen Elemente
her, welche mitten in der Tela ossea entstehen, wie kann in
der Mitte der compacten Rinde eines Knochens z. B. ein Krebs
sich bilden oder ein Eiterheerd, so antworte ich ganz einfach
darauf, sie entstehen ebenso, wie in der natürlichen normalen
Entwickelung des Knochens das Markgewebe entsteht. Es
ist keine Stelle, wo das Knochengewebe sich auflöst, dann
ein Exsudat erfolgt, dann eine Neubildung, sondern es geht
das vorhandene Gewebe unmittelbar in das kommende über.
Das vorhandene Knochengewebe ist die Matrix für das nach-
folgende Krebsgewebe, die Zellen des Krebses sind die un-
mittelbaren Abkömmlinge der Zellen des Knochens.
Betrachten wir nun den Gang der Knochenbildung etwas
specieller, so zeigt sich, dass, wie wir dies zum Theil schon
früher gesehen haben, der Knorpel sich in der Weise zur
Ossification anschickt, dass die Knorpelelemente anfangs grösser
werden, dass sie sich dann theilen, und zwar zuerst die Kerne
und dann die Zellen selbst, dass diese Theilungen dann sehr
schnell weiter gehen. so dass wir immer grössere Gruppen
von Zellen bekommen, und dass in einer verhältnissmässig
kurzen Zeit an die Stelle einer einzelnen Zelle eine im Ver-
hältniss sehr grosse Zellengruppe (Fig. 124) tritt. Sie er-
innern sich aus der ersten Vorlesung (S. 6.), wie die
Knorpelzelle sich von den meisten anderen Zellen dadurch
unterscheidet, dass sie eine besondere Capselmembran bildet,
in welcher sie eingeschlossen ist. Diese Capselmembran bildet
bei der Theilung ihrer Inhaltszellen innere Scheidewände
zwischen denselben, neue Umhüllungen der jungen Elemente,
so jedoch, dass auch die kolossalen Gruppen von Zellen,
welche aus je einer ursprünglichen Zelle hervorgehen, noch
von der sehr vergrösserten Muttercapsel eingeschlossen sind.
Es versteht sich von selbst, dass je mehr Zellen diese
Umwandlung durchmachen, um so mehr der Knorpel sich ver-
[367]Knochenwachsthum.
grössern wird, und dass das Maass von Längenwachsthum,
welches das einzelne Individuum erreicht, wesentlich von dem
Maasse des Wachsthums abhängt, welches sich in den ein-
zelnen Knorpelmassen herausstellt. Ob wir gross oder klein
bleiben, ist ganz, wenn Sie wollen, in die Willkür dieser
Elemente gestellt. Hat die Knorpelwucherung dieses Stadium
erreicht, so stehen die zelligen Theile ganz dicht zusammen,
zwischen ihnen liegt nur eine verhältnissmässig geringe Quan-
tität von Zwischensubstanz (Fig. 124). Je weiter die Ent-
wickelung fortschreitet, um so mehr ändert sich der Habitus
des Knorpels, er sieht fast aus, wie dichtzelliges Pflanzenge-
webe. Die Zellen selbst sind aber äusserst empfindlich, sie
Verticaldurchschnitt durch den Ossificationsrand eines
wachsenden Astragalus. c Der Knorpel mit kleineren Zellengruppen, p
die Schicht der stärksten Wucherung und Vergrösserung an der Ver-
kalkungslinie. In den Knorpelhöhlen sieht man theils vollständige Kern-
zellen, theils geschrumpfte, eckige und körnig erscheinende Körper (künst-
lich veränderte Zellen). Die dunkle, in die Zwischensubstanz vorrückende
Masse stellt die Kalkablagerung dar, hinter welcher hier ungewöhnlich
schnell die Bildung von Markräumen (m, m, m) und Knochenbalken be-
ginnt. Das Mark ist entfernt; an den am meisten zurückliegenden Räu-
men sind die Balken von einem helleren Saum jungen Knochengewebes
(aus Mark entstanden) umgeben. Vergr. 300.
[368]Achtzehnte Vorlesung.
schrumpfen leicht zusammen und erscheinen dann wie eckige
und zackige Körperchen, fast den Knochenkörperchen analog,
mit denen sie jedoch zunächst nichts zu schaffen haben.
Die Zellen, welche aus diesen excessiven Wucherungen
der ursprünglich einfachen Knorpelzellen hervorgegangen sind,
bilden die Muttergebilde für Alles, was nachher in der Längs-
axe des Knochens entsteht, insbesondere für Knochen- und
Markgewebe. Es kann sein, dass direct durch eine unmittel-
bare Umwandlung die Knorpelzellen in Markzellen übergehen,
es kann sein, dass sie zunächst in Knochengewebe und dann
in Markgewebe übergehen, und es kann sein, dass sie zuerst
in Mark und dann in Knochen übergehen. So wechselvoll
sind die Permutationen dieser an sich so verwandten und
doch in ihrer äusseren Erscheinung so vollständig aus ein-
ander liegenden Gewebe. Geht eine Umänderung direct im
Mark voraus, so sehen wir, dass an der Grenze des Knorpels
gegen den Knochen zunächst die alte Zwischensubstanz des
Knorpels anfängt, weich zu werden; gewöhnlich geht dann
auch sehr bald ein Theil der anstossenden Kapsel diese Ver-
änderung ein, so dass gewissermassen die zelligen Elemente
frei in einer weicheren Grundsubstanz liegen. Mit dem Ein-
tritte einer solchen Erweichung ist auch schon die chemische
Reaction des Gewebes verändert, wir bekommen immer eine
deutliche Mucinreaction. Zugleich beginnen die zelligen
Elemente sich zu theilen, und zwar nicht, wie sie das bisher
gethan hatten, indem sie sich gleich in zwei neue analoge
Zellen zerlegen (Hyperplasie), sondern vielmehr so, dass in
ihnen eine Reihe von kleinen Kernen entsteht (Heteroplasie).
Weiterhin, in dem Maasse als dieser Umbildungsprozess immer
höher und höher schreitet, als immer neue Theile der Zwischen-
substanz in diese mehr homogene, weiche Masse verwandelt
werden, theilen sich in der Regel die Zellen, und wir bekom-
men eine Reihe von kleineren Zellen, die, im Verhältniss zu
den grossen Knorpelzellen, aus denen sie hervorgegangen sind,
sehr geringfügige Bildungen darstellen, und entweder einen
einzigen Kern mit Kernkörperchen oder auch wohl wie
Eiterkörperchen, mehrere Kerne besitzen. So entsteht nach
und nach ein äusserst zellenreiches Gewebe, das junge,
[369]Knochenmark.
rothe Markgewebe, wie wir es in der Regel im Marke
eines Neugebornen finden. Steht der Prozess hier still, so
bezeichnet die Grösse der transformirten Stelle zugleich die
Grösse des späteren Markraumes. Später können diese klei-
nen Zellen Fett in sich aufnehmen, anfangs in kleinen Kör-
nern, allmälig in grossen Tropfen, endlich so, dass sie ganz
und gar davon erfüllt werden. Dadurch verwandelt sich das
ursprüngliche Markgewebe in Fettgewebe; das Fett ist aber
immer im Innern der Zellen enthalten, wie in den Zellen des
Panniculus adiposus. Allein dies gelbe, fetthaltige Mark
kommt nicht in allen Knochen vor. In den Wirbelkörpern
finden wir immer die kleinen Elemente. In den Röhrenknochen
des Erwachsenen kommt normal immer das fetthaltige Mark
vor, allein dies kann unter pathologischen Verhältnissen sehr
schnell sein Fett abgeben. Die Elemente können sich theilen,
und dann bekommen wir wieder rothes, aber entzündliches
Mark.
In dieser ganzen Reihe von der ersten Entwickelung des
Markes aus Knorpel bis zu der letzten entzündlichen Stö-
rung, wie wir sie bei einer Amputation entstehen sehen,
existirt zu keiner Zeit eine amorphe Substanz, ein Blastem
oder Exsudat; immer können wir eine Zelle von der anderen
ableiten, jede hat eine unmittelbare Entwickelung aus einer
früheren und, so lange der Wucherungsgang fortschreitet, eine
unmittelbare Nachkommenschaft von Zellen.
Die zweite Reihe von Umbildungen in der Längsaxe des
Röhrenknochens ist die Tela ossea, welche hervorgehen kann
aus Mark und aus Knorpel. In dem einen Falle werden die
Mark-, in dem anderen die Knorpelzellen die späteren Knochen-
zellen. Dieser Act der eigentlichen Ossification, die Entste-
hung der Tela ossea ist überaus schwierig zu beobachten,
hauptsächlich aus dem Grunde, weil das Erste, was bei diesen
Vorgängen erfolgt, nicht die Erzeugung von wirklicher Tela
ossea ist, sondern nur die Ablagerung von Kalksalzen. In
der Regel nämlich geschieht zuerst in der nächsten Nähe des
Knochenrandes eine Verkalkung des Knorpels, welche allmälig
hinauf schreitet, zuerst an den Rändern der grösseren Zellengrup-
pen, sodann um die einzelnen Zellen, immer der Substanz der
24
[370]Achtzehnte Vorlesung.
Horizontalschnitt durch den wachsenden Diaphysenknor-
pel der Tibia von einem 7 monatlichen Fötus. C c der Knorpel mit den
Gruppen der gewucherten und vergrösserten Zellen, p p Perichondrium.
k Der verkalkte Knorpel, wo die einzelnen Zellgruppen und Zellen in
Kalkringe eingeschlossen sind; bei k' grössere Ringe, bei k'' Fortschreiten
der Verkalkung am Perichondrium. Vergr. 150.
Stärkere Vergrösserung der rechten Ecke von Fig. 127.
co verkalkter Knorpel, co' Beginn der Verkalkung, p Perichondrium.
Vergr. 350.
[371]Entstehung von Knochenkörperchen.
Capseln folgend, so dass jede einzelne Knorpelzelle von einem
Ringe von Kalksubstanz umgeben wird. Aber das ist noch
kein Knochen, sondern nichts weiter als verkalkter Knorpel,
denn wenn wir die Kalksalze auflösen, so ist wieder der alte
Knorpel da, der in keiner anderen Beziehung eine Analogie
mit dem Knochen darbietet, als durch die Anwesenheit der
Kalksalze.
Damit nun aus diesem verkalkten Knorpel wirklicher
Knochen werde, ist es nöthig, dass die Höhle, in welcher je
eine Knorpelzelle lag, sich in die bekannte strahlige, zackige
Höhle des Knochens verwandle. Dieser Vorgang ist deshalb
so überaus schwierig zu sehen, weil beim Schneiden die
Kalkmassen allerlei kleine Einbrüche bekommen und Trüm-
mer liefern, innerhalb deren man nicht mehr recht sehen kann,
was eigentlich vorhanden ist. Aus diesem Umstande müssen
Sie es sich erklären, dass bis jetzt immer noch über die Ent-
stehung der Knochenkörper gestritten ist und wahrscheinlich
auch noch einige Jahre gestritten werden wird. Ich halte
die Ansicht für richtig, dass das Knochenkörperchen an ge-
wissen Stellen direct aus dem Knorpelkörperchen entsteht,
und zwar auf die Weise, dass zunächst die Capsel, welche
die Knorpelzelle einschliesst, enger wird, offenbar indem
neue Capselmasse innen abgelagert wird. Allein in dem
Maasse, als dies geschieht, beginnt die innere Begrenzung der
Capselhöhlung ein deutlich gekerbtes Aussehen anzunehmen
(Fig. 133c'), der Raum für die ursprüngliche Zelle wird da-
durch bedeutend verkleinert. In seltenen Fällen gelingt es
noch, Gebilde anzutreffen, wo die spätere Form des Knochen-
körperchens als letzter Rest der Höhle erscheint, in welcher
das zellige Element mit dem Kerne steckt. Dann aber ver-
schwindet die Grenze, welche ursprünglich zwischen den Knor-
pelcapseln und der Grundsubstanz bestand, und wir treffen in
einer scheinbar ganz gleichmässigen Substanz zackige Ele-
mente, mit andern Worten, ein Gewebe mit knorpelartigem
Baue (osteoides Gewebe Fig. 133o.). Gewöhnlich wird dieser
Vorgang durch die frühzeitige Verkalkung des Knorpels ver-
deckt und nur gewisse Prozesse z. B. die Rachitis geben uns
24*
[372]Achtzehnte Vorlesung.
Gelegenheit, die osteoide Umbildung auch innerhalb der schon
verkalkenden Theile noch in derselben Weise zu übersehen.
Allein die alte Grenze ist doch immer der eigentliche
Bezirk, welcher vom Knochenkörperchen beherrscht wird, und,
wie ich Ihnen das schon im Eingange gerade für diesen Punct
hervorgehoben habe, unter pathologischen Verhältnissen tritt
dieser Bezirk nicht nur wieder in Kraft, sondern auch in’s
Gesicht. Wir sehen in diesem Kreise das Knochenkörperchen
seine besonderen Schicksale durchmachen. Wird z. B. auf
irgend eine Weise der Knochen zu neuen Transformationen
bestimmt, so geht eine Knochenkörperchen nach dem anderen
innerhalb dieser Grenzen in die Veränderung ein. Im Umfange
nekrotischer Stücke, wo die Demarcationslinie sich bildet, kann
man deutlich übersehen, wie die Oberfläche des Knochens, vom
Rande gesehen, Ausbuchtungen bekommt, deren Umfang den
ursprünglichen Zellen entspricht. Auf der Fläche bemerkt
Demarcationsrand eines nekrotischen Knochenstückes
bei Paedarthrocace. a, a, a der nekrotische Knochen mit sehr vergrösser-
ten Knochenkörperchen und Knochenkanälchen; hier und da Andeutun-
gen von Gruben auf der Fläche. b, b die Lacunen, welche an die Stelle
der Zellenterritorien des Knochens (vgl. Fig. 134) getreten sind, im seit-
lichen Abfall gesehen; hier und da noch vergrösserte Knochenkörperchen
durchscheinend. c, c die vollständig leeren Lücken. Vergr. 300.
[373]Caries.
man Lücken, welche hier und da zusammenfliessen und Gru-
ben darstellen. Das Knochenkörperchen, welches früher an
der Stelle der Grube lag, hat in dem Maasse, als es sich
selbst transformirte, auch die Umgebung bestimmt, in die Ver-
änderung einzugehen. Das sind die Vorgänge, ohne die man
die Geschichte der Caries gar nicht begreifen kann. Die
ganze Caries beruht eben darin, dass der Knochen sich in
seine Territorien auflöst, dass die einzelnen Elemente in neue
Entwickelung gerathen, und dass die Reste von alter Grund-
substanz als kleine, dünne Scherben in der weichen Substanz
liegen bleiben. Ich habe dies erst heute an einem Amputa-
tionsstumpfe verfolgt, an dem sich 14 Tage nach der Opera-
tion eine Periostitis mit leichter Eiterung und Anfang von
Caries peripherica fand. Wenn man in einem solchen Falle
das verdickte Periost abzieht, so sieht man in dem Moment,
wo das Periost sich von der Oberfläche entfernt und die Ge-
fässe sich aus der Knochenrinde hervorziehen, nicht, wie bei
einem normalen Knochen, einfache Fäden, sondern einen klei-
nen Zapfen, eine dickere Masse; hat man sie ganz herausge-
zogen, so bleibt ein unverhältnissmässig grosses Loch zurück,
viel umfangreicher als unter normalen Verhältnissen. Unter-
suchen Sie den Zapfen, so finden Sie, dass um das Gefäss
herum eine gewisse Quantität von weichem Gewebe liegt,
dessen zellige Elemente sich in der fettigen Degeneration be-
finden. An den Stellen, wo das Gefäss herausgezogen ist,
erscheint die Oberfläche nicht eben, wie beim normalen Knochen,
sondern rauh und porös, und wenn Sie dieselben unter das
Microscop bringen, so bemerken Sie jene Ausbuchtungen, jene
eigenthümlichen Löcher, welche den einschmelzenden Knochen-
territorien zugehören. Fragen Sie also, auf welche Weise der
Knochen im Anfange der Caries porös wird, so kann man
sagen, dass er cariös wird, nicht indem sich Exsudate bilden,
denn dazu ist kein Raum vorhanden, da die Gefässe inner-
halb der Markcanäle (Fig. 32. 33.) ja unmittelbar die Tela ossea
berühren. Vielmehr schmilzt die Knochensubstanz innerhalb
der zelligen Territorien ein, es bilden sich Lücken, welche
zunächst gefüllt sind mit einer weichen Substanz, die ein
leicht streifiges Bindegewebe mit fettig degenerirten Zellen
[374]Achtzehnte Vorlesung.
darstellt. Schmilzt im Umfange eines Markcanals ein Knochen-
körperchen nach dem anderen ein, so werden Sie nach einiger
Zeit den Markcanal von einer lacunären Bildung umgrenzt
finden. Mitten darin steckt immer noch das Gefäss, wel-
ches das Blut führt, aber die Substanz herum ist nicht
Knochen oder Exsudat, sondern degenerirtes Gewebe. Der
ganze Vorgang ist eine degenerative Ostitis, wobei die
Tela ossea ihre Structur verändert, ihre chemische und mor-
phologische Haltung einbüsst, aus ihr ein weiches, nicht mehr
kalkführendes Gewebe wird. Das Gewebe, welches die ent-
stehende Knochenlücke erfüllt, kann je nach Umständen sehr
verschieden sein, einmal eine fettig degenerirende, zerfallende
Masse, in einem anderen Falle eine zellenreiche Masse mit
zahlreichen jungen Elementen; diese bildet sich, indem die
Knochenkörperchen sich wieder theilen und wuchern, und die
neu entstehende Substanz verhält sich wieder, wie Mark. Unter
Umständen kann diese Substanz so wachsen, dass, wenn wir
das Beispiel wieder von der Oberfläche des Knochens nehmen,
wo sich ein Gefäss hineinsenkt, die junge Markmasse neben
dem Gefässe herauswuchert und als ein Knöpfchen erscheint,
welches eine Grube der Oberfläche erfüllt. Das nennen wir
eine Granulation.
Untersucht man Granulationen in ihrem Verhältnisse zum
Mark gewebe, so ergibt sich, dass keine zwei Arten von Gewebe
mehr mit einander übereinstimmen. Das Knochenmark eines
Neugebornen könnte man jeden Augenblick chemisch und mikro-
skopisch für eine Granulation ausgeben. Die Granulation ist
nichts weiter, als ein junges, weiches, schleimhaltiges Gewebe,
analog dem Mark. Es gibt eine entzündliche Osteoporose,
welche, wie richtig angegeben ist, nur darin beruht, dass eine
vermehrte Markraumbildung eintritt und der Prozess, welcher
im Innern der Markhöhle ganz normal ist, sich auch aussen
in der compacten Rinde findet. Sie unterscheidet sich von der
granulirenden Caries peripherica nur durch ihren Sitz. Gehen
Sie einen Schritt weiter und lassen Sie die Zellen, welche
bei der Osteoporose in mässiger Menge vorhanden sind, reich-
licher und reichlicher werden, während die Grundsubstanz da-
zwischen immer weicher und spärlicher wird, so haben wir
[375]Granulation und Eiterung.
Eiter. Der Eiter ist hier nicht eine besondere Production,
die von der übrigen Wucherungs- und Bildungs-Reihe trennbar
ist; er ist freilich nicht identisch mit den früheren Geweben,
aber seine Entstehung führt direct auf die Elemente
des früheren Gewebes zurück. Er entsteht nicht durch einen
besonderen Act, nicht durch eine Schöpfung de novo, sondern
er entwickelt sich regelrecht von Generation zu Generation
nach vollkommen legitimer Art.
Es liegt also eine ganze Reihe von Umbildungen vor:
der zuerst entstandene, aus Knorpel hervorgehende Knochen
kann Umbildungen erfahren zu Mark, dann zu Granulations-
Gewebe und endlich zu fast reinem Eiter. Die Uebergänge
sind hier so allmählig, dass bekanntlich derjenige Eiter, welcher
zunächst auf die Granulationen folgt, mehr eine schleimige,
fadenziehende, zähe Masse darstellt, welche auch wirklich
Schleimstoff enthält, analog dem Granulationsgewebe, und
welche erst, je weiter man nach aussen kommt, die Eigen-
schaften des vollendeten Eiters zeigt. Der fertige Eiter der
Oberfläche geht gegen die Tiefe hin nach und nach über
in das Pus crudum, den schleimigen, zähen, nicht maturirten
Eiter der tieferen Lagen, und was wir Maturation nennen,
beruht nur darauf, dass die schleimige Grundsubstanz des
ursprünglich zähen Eiters, welcher sich der Structur der Gra-
nulation anschliesst, allmählig in die albuminöse Zwischen-
substanz des reinen Eiters übergeht. Der Schleim löst sich
auf und die rahmige Flüssigkeit entsteht. Die Reifung ist
also im Wesentlichen eine Erweichung des intersti-
tiellen Gewebes. So unmittelbar hängen Entwickelung und
Rückbildung, physiologische und pathologische Zustände zu-
sammen.
Gerade so, wie aus dem Knorpelkörperchen ein Knochen-
körperchen werden kann, so kann auch aus der Mark-
zelle ein Knochenkörperchen werden. In den Markräu-
men des Knochens nehmen in der Regel diejenigen Markzellen,
welche am Umfange liegen, späterhin eine mehr längliche Be-
schaffenheit an, richten sich parallel der inneren Oberfläche
der Markräume, und das Markgewebe erscheint hier als eine
mehr faserige Substanz, welche man eben als Markhaut be-
[376]Achtzehnte Vorlesung.
trachtet hat, welche aber nicht von den centralen Marktheilen
zu trennen ist, sondern nur die festeste Schicht des Markge-
webes darstellt. Sobald nun Tela ossea entstehen soll, so
ändert sich die Beschaffenheit der Grundsubstanz. Dieselbe
wird fester, mehr knorpelartig, die einzelnen Zellen scheinen
in grösseren Lücken zu liegen. Allmählig werden sie zackig,
indem sie kleine Ausläufer treiben, und nun ist weiter nichts
mehr nöthig, als dass sich in die Grundsubstanz Kalksalze
ablagern, dann ist der Knochen schon fertig. So bildet sich
auch hier wieder durch eine ganz directe Transformation das
Knochengewebe, und indem sich eine solche osteoide Schicht
nach der anderen aus dem Marke ablagert, so entsteht da-
durch die compacte Rindensubstanz, welche jedesmal be-
zeichnet ist durch die lamellöse Ablagerung von Tela ossea
im früheren Markraum. Der ursprüngliche Knochen ist immer
bimsteinartig, porös; seine Höhlungen erfüllen sich, indem aus
Marklamellen Lagen von Knochensubstanz bis zu dem Punkte
nachwachsen, wo das Gefäss allein übrig bleibt, welches die
Ossification nicht zulässt.
Was nun die Entwickelung der Knochen in der Dicke
anbetrifft, so ist diese an sich viel einfacher, aber sie ist sehr
viel schwieriger zu sehen, weil die Ossification hier sehr schnell
vor sich geht und die wuchernde Periostschicht so dünn und
und zart ist, dass eine überaus grosse Sorgfalt dazu gehört,
sie überhaupt nur wahrzunehmen. Im Pathologischen haben
wir für ihr Studium ungleich bessere Gelegenheit, als im Phy-
siologischen. Denn es ist ganz gleich, ob der Knochen in
der Dicke physiologisch oder durch eine Periostitis patholo-
gisch wächst; dies ist nur eine quantitative und zeitliche Dif-
ferenz.
Im entwickelten Zustande besteht das Periost dem gröss-
ten Theile nach aus einem sehr dichten Bindegewebe mit einer
überaus grossen Masse von elastischen Fasern, innerhalb dessen
sich Gefässe ausbreiten und von da in die Rinde des Knochens
selbst hineingehen. Wenn nun das Wachsthum des Knochens
in der Dicke erfolgt, so sehen wir, dass die innerste, gefäss-
reiche Schicht an Dicke zunimmt und anschwillt; dann sagt
man, es sei ein Exsudat erfolgt, indem man als ausgemacht
[377]Periostwachsthum der Knochen.
annimmt, dass die Schwellung ein Exsudat voraussetze und das
Exsudat zwischen Periost und Knochen liege. Wenn Sie aber
die Masse vornehmen und analysiren, so zeigt sich keine Aehn-
lichkeit mit irgend einer bestimmten Art von Exsudat; die ge-
schwollene Stelle erscheint vielmehr in ihrer ganzen Dicke
von aussen nach innen organisirt und zwar am deutlichsten
gerade am Knochen, während man nach aussen gegen die Pe-
riost-Oberfläche hin die Structurverhältnisse weniger leicht ent-
wirren kann. Diese Verdickungen können unter Umständen
sehr bedeutend zunehmen. Bei einer Periostitis sehen wir ja,
dass förmliche Knoten gebildet werden. Man denke nur an
die mehr physiologische Geschichte des Callus nach Fractur.
Nach einem Exsudat sucht man hier vergeblich. Verfolgt man
die verdickten Lagen in der Richtung zu dem noch unverdick-
ten Periost hin, so kann man sehr deutlich sehen, was der
alte Duhamel schon sehr schön zeigte, aber was immer ver-
gessen wird. dass die Verdickungsschichten endlich alle in die
Schichten des Periost’s continuirlich sich fortsetzen. So wenig
als das Periost unorganisirt ist, so wenig sind die Verdickungs-
schichten ohne Organisation. Die mikroskopische Untersuchung
zeigt an der Oberfläche des Kno-
chens eine leicht streifige Grund-
substanz und darin kleine zellige
Elemente; je weiter man sich vom
Knochen entfernt, um so mehr
finden sich Theilungen der Ele-
mente und endlich die einfachen,
sehr kleinen Bindegewebskörper-
chen des Periostes. Der Gang
der Theilung ist derselbe, wie am
Knorpel, nur dass der Wuche-
rungsact an sehr feinen Elemen-
ten geschieht. Je grösser der
Reiz, um so grösser wird auch
Vorticaldurchschnitt durch die Periostfläche eines Os pa-
rietale vom Kinde. A Die Wucherungsschicht des Periostes mit anasto-
mosirenden Zellennetzen und Kerntheilung. B Bildung der osteoiden
Schicht durch Sclerose der Intercellularsubstanz. Vergr. 300.
[378]Achtzehnte Vorlesung.
die Wucherung, um so stärker die Anschwellung der wachsen-
den Stelle.
Diese aus der wuchernden Vermehrung der Periostkörper-
chen hervorgegangenen Elemente geben die Knochenkörperchen
genau in derselben Weise, wie ich es beim Marke beschrieben
habe. In der Nähe der Knochenoberfläche verdichtet sich die
Grundsubstanz und wird fast knorpelartig, die Elemente wachsen
aus, werden sternförmig und endlich erfolgt die Verkalkung
der Grundsubstanz. Ist der Reiz sehr gross, wachsen die
Elemente sehr bedeutend, dann entsteht hier wirklicher Knor-
pel; die Elemente vergrössern sich so, dass sie bis zu grossen,
ovalen oder runden Zellen anwachsen und die einzelnen Zel-
len um sich herum eine capsuläre Abscheidung bilden. Auf
diese Weise kann auch im Periost durch eine directe Um-
bildung des wuchernden Periostes Knorpel entstehen, aber es
ist keineswegs nothwendig, dass wirklicher, eigentlicher Knor-
pel entsteht; in der Regel erfolgt nur die osteoide Umbildung,
wobei die Grundsubstanz sclerotisch wird und sofort verkalkt.
So geschieht es, dass an der Oberfläche jedes wachsen-
den Knochens, wie insbesondere Flourens nachgewiesen hat,
der neue Knochen immer Schicht auf Schicht ansetzt, und dass
die neuen Schichten den alten Knochen so umwachsen, dass
ein Ring, den man um den Knochen legt, nach einiger Zeit
innerhalb desselben liegt, umschlossen von den jungen Schich-
ten, welche sich aussen herum gebildet haben. Sie stehen
mit dem alten Knochen durch kleine Säulchen in Verbindung,
welche dem Ganzen ein bimsteinartiges Aussehen geben, und
auch hier erfolgt die spätere Verdichtung zu Rindensubstanz
dadurch, dass sich in den einzelnen, durch die Säulchen um-
grenzten Räumen concentrische Lamellen von Knochensubstanz
aus dem periostealen Marke bilden.
Das sind die normalen und pathologischen Vorgänge,
welche wir bei der Bildung von Knochen erkennen. Sie kön-
nen daraus entnehmen, dass es sich hier um eine Reihe von
Permutationen oder Substitutionen handelt, welche ein Fort-
schreiten bald zu einer höheren, bald zu einer niederen Form
der Bildung darstellen, welche aber immerfort mit einander
zusammenhängen und welche, je nach den Bedingungen, wel-
[379]Das Mark als Typus der Granulation.
che auf die Theile wirken, sich bald so, bald anders gestal-
ten. Wir haben es in der Hand, ob wir einzelne Theile des
Knorpels zu ossificiren bestimmen wollen, ob wir einzelne
Theile des Knorpels bestimmen wollen, sich in ein weiches
Gewebe umzubilden. In dieser Reihe steht allein das Mark
als der Typus der heterologen Formen dar, indem es die kleinsten
und am wenigsten characteristischen Zellen enthält. Das junge
Markgewebe entspricht seiner Erscheinung nach am meisten
den jungen Entwickelungen, mit welchen alle heterologen Ge-
webe beginnen, und da es, wie ich vorhin schon berührte, zu-
gleich den eigentlichen Typus für alle Granulationen darstellt,
so kann man sagen, dass, wo immer Neubildungen in
massenhafter Weise entstehen sollen, auch eine dem
Typus des jungen Markgewebes analoge Substitution
erfolgt, und dass, gleichviel, welche Festigkeit das alte Ge-
webe haben mag, doch immer eine Art von Prolifera-
tion stattfindet, wodurch die Keime für die späteren
Elemente gelegt werden.
[[380]]
Neunzehnte Vorlesung.
24. April 1858.
Die pathologische, besonders die heterologe
Neubildung.
Betrachtung einiger Formen pathologischer Knochenbildung. Weiches Osteom der Kiefer.
Rachitis. Callusbildung nach Fractur.
Theorie der substitutiven Neubildung im Gegensatze zu der exsudativen. Zerstörende Natur
der Neubildungen. Homologie und Heterologie (Malignität). Ulceration. Osteomalacie.
Proliferation und Luxuriation. Knochenmark und Eiter.
Die Eiterung. Zwei Formen derselben: oberflächliche aus Epithel und tiefe aus Bindegewebe.
Erodirende Eiterung (Haut, Schleimhaut): Eiter- und Schleimkörperchen im Verhältniss
zum Epithel. Ulcerirende Eiterung. Lösende Eigenschaften des Eiters.
Zusammenhang der Destruction mit pathologischem Wachsthum und Wucherung. Ueberein-
stimmung des Anfanges bei Eiter, Krebs, Sarkom u. s. w. Mögliche Lebensdauer der
pathologisch neugebildeten Elemente und der pathologischen Neubildungen als ganzer
Theile (Geschwülste). Zusammengesetzte Natur der grösseren Geschwulstknoten und
miliarer Character der eigentlichen Heerde. Bedingungen des Wachsthums und der Re-
cidive: Contagiosität der Neubildungen und Bedeutung der Elementar-Anastomosen.
Die Cellularpathologie im Gegensatze zur Humoral- und Neuropathologie. Allgemeine
Infection des Körpers. Parasitismus und Autonomie der Neubildungen.
Meine Herren, ich werde Ihnen heute zunächst einige patho-
logische Präparate vorführen, welche ich Ihnen das letzte Mal
schuldig geblieben bin.
Ich beginne mit einem interessanten Object, welches mir
kürzlich zu Händen gekommen ist und welches in einer mir
selbst kaum vorgekommenen Deutlichkeit die Uebergänge des
periostealen Bindegewebes in die eigentlich osteoide Substanz
zeigt, und zwar noch mit einer besonderen Modification, in-
[381]Osteom der Kieferknochen.
dem die Verkalkung der schon Knochenstructur besitzenden
Theile in grossen Abschnitten nicht erfolgt ist. Das Präparat
stammt von der Kiefergeschwulst einer Ziege und leistet für
die Darstellung der Uebergänge des Bindegewebes in osteoide
[Substanz] etwa dasselbe, was uns für die Umbildung der Knor-
pel die Geschichte der Rachitis gelehrt hat. Die Geschwulst,
welche Ober- und Unterkiefer, aber jeden für sich getroffen
hat, ist so weich, dass man sie ganz bequem schneiden kann;
nur an einzelnen Stellen findet das Messer einen leichten
Widerstand. Macht man feinere Durchschnitte, so sieht man
schon vom blossen Auge, dass dichtere und weniger dichte
Stellen mit einander abwechseln, dass das Ganze ein maschiges
Aussehen hat. Bringt man es bei schwacher Vergrösserung
unter das Microscop, so bemerkt man sofort, dass die ganze
Anlage vollkommen die eines Knochens ist, dass man also
eine Art von Markhöhlen und ein Balkennetz hat, genau so,
wie wenn man die Markhöhlen und die Balken eines spon-
giösen Knochens vor sich hätte. Die Substanz, welche hier
das Balkennetz bildet, ist im Ganzen dicht, und erscheint da-
durch schon bei schwacher Vergrösserung leicht von der zar-
Schnitt aus einem weichen Osteom vom Kiefer einer Ziege:
Habitus der Periost-Ossification. Osteoide Balkennetze mit zackigen
Zellen umschliessen primäre Markräume, mit faserigem Bindegewebe ge-
füllt. Die dunkeln Stellen verkalkt und fertigen Knochen darstellend.
Vergr. 150.
[382]Neunzehnte Vorlesung.
ten Substanz, welche dazwischen liegt und die Maschenräume
füllt, verschieden. Diese Zwischensubstanz bietet, wenn man
sie stärker vergrössert, ein fein streifiges, faseriges Aussehen
dar. Die Faserzüge laufen zum Theil parallel den Rändern
der Balken. Innerhalb der letzteren sieht man bei starker
Vergrösserung dieselben Gebilde, welche sonst der Knochen
darbietet, zackige Körperchen, ganz regelmässig verbreitet.
Dieser Habitus entspricht vollständig dem, was wir bei
der Entwickelung des Knochens vom Periost aus sehen; es ist
das kurz das Schema des Dickenwachsthums des Knochens.
Ueberall, wo man die jungen Auflagerungen am Periost unter-
sucht, findet man innerhalb des maschigen Netzes, welches
die osteoide Substanz bildet, ein solches faseriges Mark, kein
zelliges, wie in der späteren Zeit. Es sind die Reste des ge-
wucherten Periostes selbst, welche noch nicht der Transfor-
mation unterlegen haben. Die osteoide Umbildung erfolgt in
die Periostwucherung hinein ursprünglich immer in der Weise,
dass sich von der Knochenoberfläche aus das Fasergewebe
in gewissen Richtungen verdichtet; dadurch entstehen härtere,
zuerst säulenartig auf dem Knochen aufsitzende Zapfen, welche
sich durch quere, der Knochenoberfläche parallele Züge ver-
Ein Stück aus Fig. 131, stärker vergrössert. o, o die
osteoiden Balken; m, m, m die primären Markräume mit Spindel- und
Netzzellen. Vergr. 300.
[383]Entstehung von Knochen aus Bindegewebe.
binden und so diese Maschenwerk constituiren. Lässt man
nun Essigsäure auf diese Theile einwirken, so sieht man als-
bald, dass die ganze fibröse Masse, welche die Alveolen er-
füllt, die wundervollsten Bindegewebselemente enthält, und
zwar in der Anordnung, dass am Umfange der Balken die
Bindegewebselemente in concentrischen Streifen liegen, wäh-
rend sie in den innersten Theilen sternförmige Gebilde dar-
stellen, welche untereinander anastomosiren, wie Sie das früher
vielfach gesehen haben. Dass hier aber wirklich schon
Knochenbalken sind, davon kann man sich an den Stellen
sehr schön überzeugen, wo wirklich Kalksalze abgelagert
sind. Während die Peripherie solcher verkalkten Balken
(Fig. 131) ein glänzendes, fast knorpelartiges Aussehen hat,
tritt in der Mitte derselben schon eine trübe, feinkörnige
Masse auf, welche das Ganze durchsetzt und nach Innen hin
in eine fast gleichmässige, kalkige Schicht übergeht, in der
man von Strecke zu Strecke die Knochenkörperchen erkennen
kann. Hier haben wir also schon ein vollständiges Knochen-
netz, zugleich das regelrechte Bild für das Dickenwachsthum
des Knochens.
Betrachtet man aber recht sorgfältig die Stellen, wo der
Rand dieser Balken und Knochenzüge mit der fibrösen Sub-
stanz der Maschenräume zusammenstösst, so sieht man, wie
hier nicht eine vollkommen scharfe Grenze existirt, sondern
wie die osteoide Substanz nach und nach in das Zwischenge-
webe verstreicht, so dass hier und da einzelne der Bindege-
webselemente des fibrösen Gewebes schon in die sclerotische
Substanz der Balken miteingeschlossen werden. Daraus kön-
nen Sie abnehmen, dass die Bildung der eigentlichen Knochen-
substanz wesentlich erfolgt durch die allmälige Veränderung
der Intercellularsubstanz, und dass diese von ihrer ursprüng-
lich fibrösen Bindegewebs-Beschaffenheit in eine dichte, glän-
zende, knorpelartige Masse übergeht, ohne dass die Form des
Knorpels erlangt wird. Hier ist nie ein Stadium vorhanden,
welches den bekannten Formen des Knorpels entspräche, son-
dern wir sehen direct aus Bindegewebe die osteoide Form
entstehen, welche auch im Knorpel und Mark erst entsteht, wenn
aus ihnen Knochen wird. Es ist dies insofern sehr wesent-
[384]Neunzehnte Vorlesung.
lich, als Sie in beiden Richtungen die Ueberzeugung gewinnen
können, dass es falsch ist, dass man von Knochenknorpel ge-
sprochen hat. Der Knorpel als solcher kann nur verkalken;
wenn er Knochen werden soll, so muss eine Umsetzung seines
Gewebes stattfinden, es muss sich die chondrinhaltige Grund-
substanz in eine Leim gebende intercelluläre Masse um-
wandeln. —
Ich habe Ihnen ferner, meine Herren, eine Reihe von
Präparaten rachitischer Knochen hergestellt, einestheils, weil
grade die Rachitis eine besonders günstige Gelegenheil dar-
bietet, manche Vorgänge des normalen Wachsthumes zu über-
sehen, die sonst durch die Anwesenheit von Kalksalzen ge-
hemmt waren, andererseits, weil Sie bei dieser Gelegenheit
einige Bilder über die Eigenthümlichkeit dieses Prozesses ge-
winnen können.
Die rachitische Störung hat sich, wie Sie wissen, durch
die genaueren Untersuchungen nicht als ein Erweichungspro-
zess des alten Knochens ergeben, wie man sie gewöhnlich be-
trachtete, sondern als ein Nichtfestwerden der neuwuchernden
Schichten; indem die alten Schichten durch die normal fort-
schreitende Markraumbildung verzehrt werden, die neuen aber
weich bleiben, so wird der Knochen brüchig. Neben diesem
wesentlichen Acte der nicht geschehenden Verkalkung der
Theile ergibt sich aber eine gewisse Unregelmässigkeit im
Wachsthum, so dass Stadien der Knochenentwickelung, welche
in der normalen Bildung spät eintreten sollten, schon sehr
frühzeitig eintreten. Bei dem normalen Wachsthum bilden an
der Verkalkungslinie die Zacken, mit welchen die Kalksalze
in den Knorpel hinaufgreifen, eine so vollständig gerade Linie,
dass sie fast als mathematisch regelmässig zu bezeichnen ist.
Dies Verhältniss hört bei der Rachitis auf, um so mehr, je
intensiver der Fall ist; es finden Unterbrechungen statt in der
Weise, dass an einzelnen Stellen der Knorpel noch tief her-
unterreicht, während die Verkalkung schon hoch hinauf-
schreitet. Jene einzelnen Stellen trennen sich bisweilen so
vollständig von den übrigen, dass sie als Knorpelpuncte mitten
in dem Knochen liegen, ringsum von demselben umgeben, dass
also Knorpel noch an einem Puncte sich findet, wo der
[385]Rachitis.
Knochen schon längst in Markgewebe umgewandelt sein sollte.
Je weiter der Prozess vor sich geht, um so mehr finden sich
aber auch isolirte, zersprengte Kalkmassen in dem Knorpel,
manchmal so, dass der ganze Knorpel auf dem Durchschnitte
weiss punktirt erscheint. Weiter zeigt sich die Unregelmässig-
keit darin, dass, während im normalen Gange der Dinge die
Markräume erst eine kleine Strecke hinter dem Verkalkungs-
rande (Fig. 126) beginnen sollten, dieselben hier hinauftreten
und manchmal bis weit über die Verkalkungsgrenze hinaus
eine Reihe von zusammenhängenden Höhlen sich zieht, welche
mit einem weicheren, leicht faserigen Gewebe erfüllt sind und
in welches auch Gefässe aufsteigen. Markräume und Gefässe
liegen also da, wo normal eigentlich keine einzige Markzelle,
kein einziges Gefäss sich befinden sollte.
Auf diese Weise kann an den Stellen, wo der Prozess
seine Höhe erreicht hat, jedesmal nebeneinander eine ganze
Reihe von verschiedenartigen Gewebszuständen gefunden wer-
den. Während wir sonst an einem bestimmten Punkte Knor-
pel, an einem bestimmten Punkte Verkalkung oder Knochen
oder Markgewebe finden, so liegt hier Alles durcheinander:
hier Markgewebe, darüber osteoides Gewebe oder Knochen,
daneben verkalkter Knorpel, darunter vielleicht noch erhalte-
ner Knorpel. Diese ganze Schicht, welche sich sehr beträcht-
lich weit erstrecken kann, gewinnt natürlich keine rechte
Festigkeit, und das ist einer der Hauptgründe für die Ver-
schiebbarkeit, welche die rachitischen Knochen zeigen, nicht
innerhalb der Continuität der Diaphysen, sondern an den Gelenk-
enden. Diese ist in manchen Fällen überaus bedeutend, und
bedingt manche Difformität, z. B. des Thorax einzig und allein.
Die Biegungen in der Continuität der Knochen sind immer
Infractionen, die der Epiphysen gehören der Knorpelwucherung
an und stellen einfache Inflexionen dar; hier ist es leicht zu
begreifen, dass ein so vollkommen seiner regelmässigen Ent-
wickelung beraubter Theil, welcher eigentlich dicht mit Kalk-
salzen erfüllt sein sollte, eine grosse Beweglichkeit bewah-
ren muss.
Die Vergrösserung und Vermehrung der einzelnen Zellen
geschieht in derselben Weise, wie wir sie früher betrachtet
25
[386]Neunzehnte Vorlesung.
haben; indem aber weiterhin in den Knorpeln einzelne Theile
nicht verkalken, die eigentlich schon Knochen sein sollten,
indem namentlich eine Markraumbildung oft weit bis über die
Verkalkungsgrenze herauf erfolgt, so liegt an manchen solcher
Stellen häufig die ganze Entwickelungsgeschichte des Knochens
klar zu Tage. Man sieht grosse, oft sehr gefässreiche Zapfen
von faserigem Mark sich vom Knochen her in den Knorpel
herauferstrecken und kann sehr deutlich erkennen, dass nicht
etwa diese Zapfen sich in den Knorpel hineinschieben, sondern
dass sie durch eine strichweise Umbildung der Knorpelsub-
Verticalschnitt aus dem Diaphysenknorpel einer rachi-
tischen, wachsenden Tibia vom 2jährigen Kinde. Ein grosser, nach links
einen Seitenast absendender Markzapfen erstreckt sich von m aus in den
Knorpel herauf; er besteht aus faseriger Grundsubstanz mit spindelför-
migen Zellen. Im Umfange bei c, c, c der gewucherte Knorpel mit
grossen Zellen und Zellengruppen; bei c', c' beginnende Verdickung und
innere Einkerbung der Knorpelcapseln, welche bei o, o verschmelzen und
osteoides Gewebe bilden. Vergr. 300.
[387]Knorpel-Ossification bei Rachitis.
stanz selbst entstehen. In ihrem Umfange ist es hauptsäch-
lich, wo sich auch die osteoide Umbildung der Knorpel am
besten sehen lässt, wo man insbesondere sehr deutlich
wahrnehmen kann, wie ein Knorpelkörperchen sich nach und
nach in ein Knochenkörperchen umwandelt. Aus dem Knor-
pelkörperchen, das eine mässig dicke Capselmembran hat,
geht ein mit immer dickerer Capsel versehenes Gebilde her-
vor, innerhalb dessen der Raum für die Zelle immer kleiner
wird und das auf einer gewissen Höhe der Ausbildung nach
innen hin Einkerbungen bekommt, ähnlich den sogenannten
Tüpfelkanälen der Pflanzenzellen. So ist schon die erste Er-
scheinung des Knochenkörperchens angelegt, worauf sehr ge-
wöhnlich eine Verschmelzung der Capsel mit der Grundsub-
stanz erfolgt und mit der Herstellung anastomosirender Zellen-
fortsätze die Bildung des Knochenkörperchens abgeschlossen
wird. Zuweilen verkalken einzelne osteoide Knorpelkörper für
sich, ohne dass die Verschmelzung erfolgt ist; während zwischen
ihnen noch die gewöhnliche Knorpel-Intercellularsubstanz liegt,
Inselförmige Ossification in rachitischem Diaphysenknor-
pel. c, c der gewöhnliche wachsende (wuchernde) Knorpel, c' zuneh-
mende Verdickung der Capseln mit Bildung einer zackigen Höhle (osteoide
Knorpelzellen), co' Verkalkung solcher, noch isolirter Knorpelzellen, co
beginnende Verschmelzung der Capseln verkalkter Knorpelzellen, o Kno-
chensubstanz. Vergr. 300 (vergl. Archiv f. path. Anat. Bd. XIV. Taf. I.).
25*
[388]Neunzehnte Vorlesung.
erfüllt sich die Capsel des osteoiden Körperchens schon voll-
ständig mit Kalksalzen. An anderen Stellen dagegen erfolgt
die Verschmelzung der Capseln mit der Grundsubstanz sehr
frühzeitig, und man sieht innerhalb einer grobfaserig erschei-
nenden Masse, welche sich an der Stelle mancher Zellgruppen
anhäuft, schon überall die zackigen Knochenkörper. Da ist
also keine scharfe Grenze im Gewebe, sondern die verdichtete
oder faserige Substanz, welche die zackigen Körper umgibt,
geht unmittelbar in die durchscheinende Substanz über, welche
den Knorpel zusammenhält. Im Wesentlichen ist es aber der-
selbe Bau. *)
Am wichtigsten für die cellulare Theorie überhaupt ist
offenbar die isolirte Umbildung einzelner Knorpelzellen zu
Knochenkörperchen. In dem Object (Fig. 134) übersieht man
die ganze Reihe dieser Vorgänge. Da, wo das vollständig
knöcherne Stück, in welchem die Knochenkörperchen ganz
regelmässig entwickelt sind, an den Knorpel stösst, sehen
Sie eine Zone, wo man den Uebergang der Knorpelkörperchen
in vollkommene Knochensubstanz in ganz kurzen Strecken
überblickt. An der Uebergangsstelle findet sich eine Reihe
von Körperchen dicht an einander gelagert, wie Haselnüsse,
die durch ihre dunklen Conturen, ihr hartes Aussehen, ihren
ungewöhnlich starken Glanz sich von den gewöhnlichen Knor-
pelkörperchen unterscheiden, und die in einer kleinen, zacki-
gen Höhle eine kleine Zelle umschliessen; das sind die
noch isolirten Knochenkörperchen mit verkalkten Capseln,
welche ihnen von ihrer früheren Zeit als Knorpelkörper-
chen noch anhaften. Es ist deshalb besonders wichtig, dass
Sie diese Körper in ihrer Isolirung in loco sehen, um jene
anderen Prozesse zu begreifen, wo innerhalb des Knochens
diese Stellen wieder ausfallen (S. 372 Fig. 129). Wenn man
ein Object dieser Art einmal genau verfolgt hat, so kann man
darüber nicht mehr in Zweifel kommen, dass Knorpelkörper-
chen Knochenkörperchen werden können, und ich begreife
[389]Knochen-Callus.
nicht, wie noch bis in die allerletzte Zeit sorgfältige Unter-
sucher die Frage aufwerfen konnten, ob nicht das Knochen-
körperchen jedesmal eine auf Umwegen gewonnene Bildung
sei, welche mit dem Knorpelkörperchen keinen directen
Zusammenhang habe. Allerdings ist es richtig, dass bei
dem normalen Längswachsthum die Knochenkörperchen nicht
direct aus Knorpelzellen, sondern zunächst aus Markzel-
len hervorgehen und nur mittelbar von Knorpelzellen ab-
stammen, aber ebenso richtig ist es, dass auch die Knorpel-
zelle geraden Weges in ein Knochenkörperchen sich umbilden
kann. Schon vor langer Zeit habe ich auf einen Punkt be-
sonders aufmerksam gemacht, wo man die Umbildung des
Knorpels zu osteoidem Gewebe sehr deutlich übersehen kann,
nämlich die Uebergangsstellen vom Knorpel zum Perichondrium
in der Nähe der Verkalkungsgrenze. Hier verwischen sich
die Grenzen der Gewebsformen vollständig und man sieht alle
Uebergänge zwischen runden (knorpeligen) und zackigen
(osteoiden) Zellen. —
Die letzten Präparate beziehen sich auf die patholo-
gische Neubildung von Knochen, oder, wenn Sie wollen,
die physiologische Callusbildung. Sie stammen von
einer sehr frischen Rippenfractur, um welche eine dicke Cal-
lusmasse aufgelagert war. In Beziehung auf diesen Prozess
will ich ein paar Worte hinzufügen, da es ein viel discutirter
und chirurgisch sehr wesentlicher ist.
Sie haben aus dem, was ich Ihnen bis jetzt geschildert
habe, ersehen, dass der Wege der Neubildung von Knochen
mehrere sind, und dass die alte Voraussetzung, als müsse
entweder der eine oder der andere Modus als der allein gül-
tige betrachtet werden, nicht richtig ist. Eine Präexistenz von
Knorpel vor der Knochenbildung ist durchaus nicht nothwen-
dig, vielmehr bildet sich sehr häufig durch ein directe Sclerose
im Bindegewebe eine osteoide Substanz und die Ossification
kommt so eigentlich leichter zu Stande, als aus eigentlichem
Knorpel. Es zeigt sich auch in der Geschichte der Callus-
theorien, dass das Bestreben, eine einfache Formel aufzufinden,
ein grosses Hinderniss für die Erkenntniss der Zustände ge-
wesen ist, und dass eigentlich Alle Recht gehabt haben, indem
[390]Neunzehnte Vorlesung.
in der That der neue Knochen sich aus dem verschiedensten
Material aufbaut. Unzweifelhaft werden, wenn der Fall günstig
ist, die bequemsten Wege für die Neubildung betreten, und
der allerbequemste Weg ist der, dass das Periost den über-
grossen Theil des Ganzen producirt. Es geschieht dies in
der Weise, dass das Periost stellenweise gegen den Rand des
Bruches hin sich verdichtet und hier nach und nach anschwillt,
so zwar, dass man nachher ziemlich deutlich einzelne Lagen
oder Schichten unterscheiden kann. Diese werden immer
dicker und zahlreicher, indem fortwährend die innersten Theile
des Periost’s wuchern und durch Vermehrung ihrer Elemente
neue Lagen bilden, welche sich zwischen dem Knochen und
den noch relativ normalen Theilen des Periostes aufhäufen.
Diese Lagen können zu Knorpel werden, aber es ist dies
nicht nothwendig und nicht die Regel.
Ja es findet sich sogar, dass bei den
meisten günstigen Fracturen, wo Knor-
pel entsteht, nicht die ganze Masse
des Periostcallus aus Knorpel entsteht,
sondern dass ein mehr oder weniger
grosser Theil sich immer aus Binde-
gewebe bildet. Die Knorpelschichten
liegen gewöhnlich dem Knochen zu-
nächst, während, je weiter man nach
Aussen kommt, um so weniger die
Knorpelbildung, sondern eine directe
Umbildung des Bindegewebes vor-
herrscht.
Die Bildung von Knochen be-
schränkt sich aber keinesweges auf
die Grenze des Periost’s, sehr ge-
Querbruch des Humerus mit Callusbildung, etwa 14 Tage
alt. Man sieht aussen die poröse Capsel des aus Periost und Weichthei-
len hervorgegangenen Callus, dessen innerste Lage rechts noch knorpelig
ist. Links liegt frei ein abgesplittertes Stück der Knochenrinde. Die
beiden Bruchenden sind durch eine (dunkelrothe) hämorrhagisch-fibröse
Schicht verbunden, das Mark beiderseits (durch Hyperämie und Extra-
vasat) sehr dunkel, im unteren Bruchstück mehrere poröse Callusinseln,
aus der Ossification des Markes hervorgegangen.
[391]Aeusserer und innerer Callus.
wöhnlich geht sie nach aussen über dieselbe hinaus und reicht
oft sehr bedeutend in Form von Stacheln, Knoten und Höckern
in die benachbarten Weichtheile hinein. Es versteht sich von
selbst, dass hier keineswegs eine nach Aussen gehende Wuche-
rung des Periostes stattfindet, sondern dass aus dem Zwischen-
bindegewebe der benachbarten Theile ossificationsfähiges Ge-
webe hervorgeht. Man kann sich davon um so deutlicher
überzeugen, als man in solche Massen die Ansätze von Mus-
keln verfolgen kann. So finden sich z. B. in dem Präparate
von der Rippe an den äusseren Theilen immer noch Stellen,
wo Fett mit in die Ossification eingeschlossen worden ist.
Man kann also nicht sagen, dass die Callusbildung im Um-
fange der Fracturstücke nur eine Periostbildung sei; jedesmal,
wenn sie eine gewisse Reichlichkeit gewinnt, überschreitet sie
die Grenzen des Periostes und geht in das Bindegewebe der
umliegenden Weichtheile hinein.
Eine zweite Form der Callusbildung ist von dieser voll-
ständig verschieden, diejenige nämlich, welche mitten im
Knochen aus dem Markgewebe erfolgt.
In dem Augenblicke, wo der Knochen bei dem Bruche
zertrümmert wird, werden natürlich viele kleine Markräume
eröffnet. In der Nachbarschaft derselben sieht man fast con-
stant bei einem regelmässigen Verlaufe die noch geschlossenen
Markräume mit Callus sich füllen, indem sich an ihre innere
Fläche neue Knochenlamellen ansetzen, wie bei der gewöhn-
lichen Entwickelung des Knochens die ursprünglich bimstein-
artigen Lagen durch die Ablagerung concentrischer Lamellen
compact werden. Auf diese Weise geschieht es, dass nach
einiger Zeit eine mehr oder weniger grosse neue Knochen-
Schichte sich findet, welche continuirlich durch die Markhöhle
hindurchzieht und eine Abschliessung derselben zu Stande
bringt. Es ist dies eine Form der Neubildung. welche mit
der ersten in Beziehung auf die Ausgangspunkte gar nichts
gemeinschaftlich hat, sondern von einem ganz anderen Gewebe
ausgeht, und im Groben auch ein anderes Resultat liefert, in-
sofern sie innerhalb der Grenzen des alten Knochens eine
Verdichtung desselben an der Markgrenze hervorbringt. Selbst
in dem Falle, dass die Knochenenden vollständig aufeinander
[392]Neunzehnte Vorlesung.
passen, gestaltet sich in beiden Markhöhlen eine solche in-
nere Knochenbildung, welche eine Unterbrechung der Mark-
höhle erzeugt.
Diese beiden Reihen sind die gewöhnlichen und normalen.
Im Umfange der beiden Bruchenden geschieht die Anschwel-
lung, im Innern die Verdichtung. Allmälig treten die neuge-
bildeten Massen sich näher, ringsherum bildet sich aus der
Ossification der Weichtheile eine brückenartige Verbindung.
Es ist also wenig Grund zu fragen, ob der Callus aus einer
freien Exsudat- oder Extravasatmasse hervorgehe. Allerdings
erfolgt anfänglich eine Extravasation in den Raum zwischen
die Bruchenden, allein das ausgetretene Blut wird in der Regel
ziemlich vollständig absorbirt, und es trägt für die wirkliche
Constituirung der späteren Verbindungs-Massen verhältniss-
mässig sehr wenig bei. —
Wir hatten, meine Herren, in der Geschichte der Neubil-
dungen das letzte Mal die Hauptpunkte erörtert. Sie erinnern
sich, dass nach unserer Auffassung jede Art von Neubildung,
insofern sie präexistirende zellige Elemente als ihren Aus-
gangspunkt voraussetzt und an die Stelle derselben tritt, auch
nothwendig mit einer Veränderung des gegebenen Körper-
Theiles verbunden sein muss. Es lässt sich nicht mehr eine
Hypothese der Art vertheidigen, wie man sie früher vom Ge-
sichtspunkte der plastischen Stoffe aus festhielt, dass sich
neben die vorhandenen Elemente des Körpers eine Substanz
lagere, welche aus sich ein neues Gewebe erzeugt und
so einen reinen Zuwachs für den Körper ausdrücken
würde. Wenn es richtig ist, dass jede Neubildung von einem
bestimmten Elemente ausgeht und dass in der Regel Theilun-
gen der Zellen das Mittel der Neubildung sind, so versteht
es sich natürlich von selbst, dass, wo eine Neubildung
stattfindet, in der Regel auch gewisse Gewebsele-
mente des Körpers aufhören müssen, zu existiren.
Selbst ein Theil, der sich einfach theilt und aus sich zwei
neue, ihm gleiche Theile erzeugt, hört damit auf zu sein, wenn-
gleich das Gesammtresultat nur die scheinbare Apposition eines
Theiles ist. Dies gilt für alle Formen von Neubildungen, so
[393]Destructiver Character der Neubildungen.
für die gutartigen wie für die bösartigen, und man kann da-
her in einem gewissen Sinne sagen, dass überhaupt jede
Art von Neubildung destructiv ist, dass sie etwas
vom Alten zerstört. Allein wir sind bekanntlich gewöhnt,
die Zerstörungen nach dem Effect zu beurtheilen, der für die
gröbere Anschauung hervortritt, und wenn man von destruiren-
den Bildungen spricht, so meint man zunächst nicht diejenigen,
wobei das Resultat der Neubildung ein Analoges der alten
Bildung darstellt, sondern irgend ein mehr oder weniger von
dem ursprüglichen Typus des Theils abweichendes Erzeugniss.
Dieser Gesichtspunkt ist es, den ich Ihnen früher schon
(S. 58) bei der Classification der pathologischen Neubildun-
gen hervorgehoben habe. Aus ihm ergibt sich ein vernünfti-
ger, den Thatsachen entsprechender Scheidungsgrund in homo-
loge und heterologe Neubildungen.
Heterolog dürfen wir nicht nur die malignen, degenera-
tiven Neoplasmen nennen, sondern wir müssen jedes Gewebe
so bezeichen, welches von dem anerkannten Typus des Ortes
abweicht, während wir homolog alles das nennen werden, was,
obwohl neugebildet, doch den Typus seines Mutterbodens
reproducirt. Wir finden z. B., dass die so überaus häufige
Art der Uterus-Geschwülste, welche man als fibröse oder
fibroide bezeichnet, ihrer ganzen Zusammensetzung nach den-
selben Bau hat, wie die Wand des „hypertrophischen“ Uterus,
indem sie nicht nur aus fibrösem Bindegewebe und Gefässen,
sondern auch aus Muskelfasern besteht. Die Geschwulst kann
bekanntlich so gross werden, dass sie nicht blos den Uterus
in allen seinen Functionen auf das Aeusserste beeinträchtigt,
sondern auch auf die Nachbartheile den allerübelsten Einfluss
ausübt. Trotzdem wird sie immer als ein homologes Gebilde
gelten müssen. Dagegen können wir nicht umhin, von einer
heterologen Bildung zu sprechen, sobald durch einen Vorgang,
der vielleicht in seinem Anfange eine einfache Vermehrung
der Theile auszudrücken scheint, ein Resultat gewonnen wird,
welches von dem ursprünglichen wesentlich verschieden ist.
Ein Katarrh z. B. in seiner einfachen Form kann eine Ver-
mehrung der zelligen Elemente an der Oberfläche mit sich
bringen, ohne dass die neuen Zellen wesentlich verschieden
[394]Neunzehnte Vorlesung.
sind von den präexistirenden. Ich hatte Ihnen das vorige Mal
eine Vagina mit sehr ausgesprochenem Fluor albus mitgebracht.
Sie werden da gesehen haben, dass die Zellen des Fluor albus
den Zellen des Epithels sehr nahe stehen, obgleich sie nicht
mehr die typische Gestalt des Epithels bewahren. Je weniger
sie sich aber zu den typischen Formen des Epithels entwickeln,
um so mehr werden sie functionsunfähig. Sie sind beweglich
auf einer Oberfläche, wo sie eigentlich festhaften sollten, sie
fliessen herunter und erzeugen Resultate, welche mit der In-
tegrität der Theile unverträglich sind.
Im engeren Sinne des Wortes destruirend sind allerdings
nur heterologe Neubildungen. Die homologen können per
accidens sehr nachtheilig werden, aber sie haben doch nicht
den eigentlichen, im groben und traditionellen Sinne destruiren-
den oder, wenn Sie wollen, malignen Character. Dagegen
haftet jeder Form von Heterologie, sobald sie sich nicht auf die
alleroberflächlichsten Theile bezieht, eine gewisse Malignität
an. Selbst die oberflächlichen Affectionen, auch wenn sie sich
nur auf die äusserste Epithelial-Lage beschränken, können
allmälig einen sehr nachtheiligen Einfluss ausüben. Man denke
nur an den Fall, dass eine grosse Schleimhautfläche immer-
fort secernirt, dass auf ihr fortwährend heterologe Produkte
erzeugt werden, die nicht zu bleibendem Epithel werden, son-
dern immerfort von der Schleimhaut herunter fliessen. Die
Erosion verbindet sich hier mit der Blennorrhoe, der Anämie,
der Neuralgie u. s. f.
Es scheint mir wesentlich, Ihnen ein bestimmtes Beispiel
vorzuführen über den Modus der gröberen Destruction, wie
sie das Motiv für Ulceration und Höhlenbildung im Innern der
Theile wird. Es sieht freilich wie ein Widerspruch aus, dass
ein Prozess, der neue Elemente hervorbringt, zerstöre, allein
dieser Widerspruch ist doch eben nur ein oberflächlicher.
Wenn Sie sich denken, dass in einem Theile, der vorher fest
war, ein Gewebe neu gebildet wird, welches beweglich, in
seinen einzelnen Theilen verschiebbar ist, so wird das natür-
lich immer eine wesentliche Aenderung in der Brauchbarkeit
des Theiles mit sich bringen. Die einfache Umwandlung des
Knochens in Markgewebe (S. 368) kann die Ursache werden
[395]Luxuriation.
für eine grosse Fragilität der Knochen, und die Osteoma-
lacie beruht ihrem Wesen nach auf gar nichts Anderem, als
darauf, dass compacte Knochensubstanz in Markgewebe um-
gewandelt wird. Eine excessive Markraumbildung rückt all-
mählig vom Innern des Knochens an die Oberfläche vor, be-
raubt den Knochen seiner Festigkeit, bringt ein an sich ganz
normales, aber für die nothwendige Festigkeit der Theile un-
brauchbares Gewebe hervor und bereitet so die Zerstörung
des Zusammenhanges mit einer gewissen Nothwendigkeit vor.
Das Mark ist ein ausserordentlich weiches Gewebe, das in
jenen Zuständen, wo es roth und zellenreich oder atrophisch
und gallertig ist, fast flüssig wird. Von dem Mark zu den
vollkommen flüssigen Geweben ist ein kleiner Schritt, und die
Grenzen zwischen Mark und Eiter lassen sich an manchen
Punkten mit Sicherheit überhaupt gar nicht feststellen. Eiter
ist für uns ein junges Gewebe, welches allmälig unter der
rapiden Entwickelung von Zellen alle feste Intercellularsub-
stanz auflöst. Eine einzige Bindegewebszelle mag in kurzer
Zeit einige Dutzend Eiterzellen produciren, denn der Eiter hat
einen reissend schnellen Entwickelungsgang. Aber das Resultat
ist für den Körper nutzlos, die Proliferation wird Luxu-
riation. Die Eiterung ist ein reiner Wucherungs-Prozess,
durch welchen überflüssige Theile erzeugt werden, die nicht
die Consolidation, die dauerhafte Beziehung zu einander und
zur Nachbarschaft gewinnen, welche für das Be-
stehen des Körpers nothwendig ist.
Untersuchen wir nun zunächst eben die Ge-
schichte der Eiterung, so ergibt sich sofort,
dass wir zwei verschiedene Wege der Eiterbil-
dung unterscheiden müssen, je nachdem nämlich
der Eiter ausgeht von der ersten von uns be-
trachteten Art von Geweben, von der Epithel-
formation, oder vom Bindegewebe. Ob es
auch Formen der Eiterung gibt, die aus einem
Interstitielle eiterige Muskelentzündung bei einer
Puerpera. m m Muskelprimitivfasern, i i Entwickelung von Eiterkör-
perchen aus der Wucherung der Körperchen des Zwischen-Bindegewebes.
Vergr. 280.
[396]Neunzehnte Vorlesung.
Gewebe der dritten Reihe hervorgehen, aus Muskeln, Nerven,
Gefässen u. s. f., das ist wenigstens insofern zweifelhaft, als
man natürlich die Bindegewebselemente, welche in die Zu-
sammensetzung der grossen Gefässe, der grossen Muskel- und
Nervenmassen eingehen, von den eigentlich muskulösen, ner-
vösen und vasculösen (capillären) Elementen ausscheiden muss.
Unter diesem Vorbehalt können wir vorläufig nur behaupten,
dass zwei Wege der Eiterbildung möglich sind.
So lange die Bildung des Eiters eine mehr epitheliale
ist, so erfolgt sie natürlich auch ohne erheblichen Substanz-
verlust, ohne Geschwürsbildung. Die Sache gestaltet sich
also gerade umgekehrt, wie früher gedacht wurde, wo man
dem Eiter eine schmelzende Eigenschaft zuschrieb. Der
Eiter ist nicht das Schmelzende, sondern das Ge-
schmolzene, d. h. das transformirte Gewebe. Ein Theil
wird weich, er schmilzt ein, indem er eitert, aber es ist nicht
der Eiter, welcher diese Erweichung bedingt, sondern umge-
kehrt, der Eiter ist es, welcher durch die Veränderung des
Gewebes als Resultat hervorgebracht wird.
Entwickelung des Eiters auf Oberflächen sehen wir alle
Tage sowohl an der äusseren Haut, als an Schleimhäuten
und serösen Häuten. Am sichersten kann man die Entwicke-
lung da beobachten, wo von Natur geschichtetes Epithel vor-
handen ist. Wenn Sie die Entwickelung des Eiters auf der
äusseren Haut ohne Geschwürsbildung verfolgen, so sehen
Sie regelmässig, dass die Eiterung ausgeht von dem Rete
Malpighii. Sie besteht in einer Wucherung und Entwickelung
neuer Elemente in demselben. In dem Maasse, als diese
Elemente wuchern, bildet sich eine Ablösung der härteren
Epidermislage, welche in Form einer Blase, einer Pustel er-
hoben wird. Der Ort, wo die Eiterung hauptsächlich erfolgt,
entspricht den oberflächlichen Schichten des Rete, welche
schon im Uebergange zur Epithelbildung begriffen sind; zieht
man die Haut der Blase ab, so bleiben diese auch gewöhn-
lich an der Oberhaut sitzen. Gegen die tieferen Lagen hin
kann man verfolgen, wie die zelligen Elemente, welche
ursprünglich einfache Kerne haben, sich allmälig theilen, die
Kerne reichlicher werden, an die Stelle einzelner Zellen mehr-
[397]Epitheliale Eiterung.
fache treten, die sich ihrerseits mit sich wieder theilenden
Kernen versehen. Gewöhnlich hat man sich auch hier damit
geholfen, dass man angenommen hat, es würde zuerst ein
Exsudat gesetzt, welches den Eiter in sich erzeuge, und be-
kanntlich sind viele von den Untersuchungen über die Ent-
wickelung des Eiters gerade an diesen Flüssigkeiten gemacht
worden. Es war sehr begreiflich, dass so lange, als man die
discontinuirliche Zellenbildung überhaupt nicht bezweifelte, man
ohne Weiteres die jungen Zellen als freie Neubildungen an-
sah und sich dachte, dass in der Flüssigkeit Keime entstän-
den, welche, allmälig zahlreicher werdend, den Eiter lieferten.
Aber die Sache ist die, dass je länger die Eiterung dauert,
um so zuverlässiger eine Reihe von Zellen nach der anderen
in den Prozess der Wucherung hineingezogen wird, und dass,
während die Blase sich abhebt, die Masse der in die Höhle
hineinwuchernden Zellen immer grösser wird. Wenn eine
Pockenpustel sich bildet, so ist zuerst ein Tröpfchen klarer
Flüssigkeit vorhanden, aber darin entsteht nichts, sie lockert
nur die Nachbartheile auf.
Ganz ebenso verhält es sich an den Schleimhäuten.
Wir haben keine einzige Schleimhaut, die nicht unter Umstän-
den puriforme Elemente liefern könnte. Allein auch hier zeigt
sich immer eine gewisse Verschiedenheit. Eine Schleimhaut
ist um so mehr im Stande, ohne Ulceration den Eiter zu pro-
duciren, ein je vollständiger geschichtetes Epithel sie hat.
Alle Schleimhäute mit Cylinderepithel sind viel weniger ge-
eignet, Eiter zu erzeugen; das, was an ihnen erzeugt wird,
ergibt sich, auch wenn es ein ganz eiteriges Aussehen hat, bei
genauer Untersuchung häufig nur als Epithel. Die Darm-
schleimhaut, namentlich die des Dünndarms erzeugt fast nie
Eiter ohne Geschwürsbildung. Die Schleimhaut des Uterus,
der Tuben, die manchmal mit einer dicken Masse von ganz
puriformem Aussehen überzogen ist, sondert fast immer nur
Epithelelemente ab, während wir an anderen Schleimhäuten,
wie an der Urethra, massenhafte Absonderungen von Eiter
sehen, z. B. in Gonnorrhöen (Fig. 63), ohne dass auch nur
die mindeste Geschwürsbildung an der Oberfläche vorhanden
wäre. Das hängt wesentlich von der Anwesenheit mehrfach
[398]Neunzehnte Vorlesung.
geschichteter Zellen-Lagen ab, wo die oberen eine Art von
Schutz für die tieferen bilden, deren Wucherung eine Zeit lang
gesichert wird. Der Eiter wird entweder durch nachwachsende
Eitermasse endlich weggedrängt, oder es erfolgt gleichzeitig
eine Transsudation von Flüssigkeit, welche die Eiterzellen von
der Oberfläche entfernt, gerade so wie bei der Samensecre-
tion die Epithelial-Elemente der Samenkanälchen die Sper-
matozoen liefern, und zugleich eine Flüssigkeit transsudirt,
welche dieselben fortschiebt. Aber die Spermatozoen entstehen
nicht in der Flüssigkeit, sondern diese ist nur das Vehikel
ihrer Fortbewegung. Auf diese Weise sehen wir häufig Flüs-
sigkeit an der Körperoberfläche exsudiren, ohne dass dieselbe
als Bildungsort für Zellen betrachtet werden könnte. Findet
gleichzeitig eine wuchernde Epithelbildung an der Oberfläche
statt, so werden auch die durch das Transsudat losgelösten
Bestandtheile nur wucherndes Epithel darstellen.
Wenn man nun Eiter-, Schleim- und Epithelialzel-
len mit einander vergleicht, so ergibt sich, dass allerdings
zwischen den Eiterkörperchen und den gewöhnlichen Bildungs-
formen eine Reihe von Uebergängen besteht. Neben ausge-
bildeten, mit mehrfachen Kernen versehenen Eiterkörperchen
finden sich sehr gewöhnlich etwas grössere, runde, granulirte
Zellen mit einfachen Kernen, die sogenannten Schleimkörper-
chen (Fig. 11 B.); etwas weiter sehen wir vielleicht noch grössere
Elemente von typischer Gestalt und mit einfach grossen Ker-
nen und diese nennen wir schon Epithelialzellen. Allein die
Epithelialzellen sind platt oder eckig oder cylindrisch, wäh-
rend Schleim- und Eiterkörperchen unter allen Verhältnissen
rund bleiben. Schon aus diesem Umstande erklärt es sich,
dass während die Epithelzellen, die sich gegenseitig decken
und aneinander schliessen, eine gewisse Festigkeit des Zu-
sammenhanges gewinnen, die lose aneinander gelagerten,
sphärisch gestalteten Schleim- und Eiterkörperchen eine sehr
grosse Verschiebbarkeit behalten und leicht vom Orte gerückt
werden.
Man hat früher schon gesagt, es seien die Schleimkör-
perchen weiter nichts, als junges Epithel; einen Schritt weiter
wären die Eiterkörperchen weiter nichts, als junge Schleimkör-
[399]Schleim- und Eiterkörperchen.
perchen. Das ist etwas irrthümlich. Man kann nicht behaupten,
dass eine Zelle, die bis zu dem Punkte eines sogenannten
Schleimkörperchens als ein sphärisches Gebilde sich erhalten
hat, noch im Stande wäre, die typische Form des Epithels
anzunehmen, welches an der Stelle existiren sollte; eben so
wenig kann man sagen, dass ein Eiterkörperchen, nachdem es
sich regelmässig entwickelt hat, sich wieder in einen Entwicke-
lungsgang hineinzubegeben vermöchte, der ein relativ bleibendes
Element des Körpers herzustellen im Stande wäre. Die
Elemente, aus denen die Entwickelung überhaupt erfolgt, sind
junge Formen, aber sie sind keine Eiterkörperchen. Im Eiter
beginnt jede neue Zelle sehr früh, ihren Kern zu theilen; nach
kurzer Zeit erreicht die Kerntheilung einen hohen Grad, ohne
dass die Zelle selbst weiter wächst. Im Schleim pflegen die
Zellen sich einfach zu entwickeln und zum Theil sehr gross
zu werden, aber sie überschreiten nicht gewisse Grenzen, und
namentlich nehmen sie keine typische Gestalt an. Im Epithel
dagegen fangen die Elemente schon sehr früh an, ihre be-
sondere Gestalt zu erreichen, denn „was ein Haken werden
soll, das krümmt sich bei Zeiten“. Die allerjüngsten Elemente,
welche unter pathologischen Verhältnissen gebildet werden,
kann man aber nicht Epithelzellen nennen, wenigstens sind
sie noch nicht typisch, sondern indifferente Bildungszellen,
welche auch zu Schleim- oder Eiterkörperchen werden könnten.
Eiter-, Schleim- und Epithelialzellen sind also pathologisch
äquivalente Theile, welche sich substituiren, aber nicht für
einander functioniren können.
Schon hieraus folgt, dass der gesuchte Unterschied zwischen
Schleim- und Eiterkörperchen, auf welchen man im vorigen
Jahrhundert Preise aussetzte, eigentlich nicht gefunden werden
konnte und dass die „Proben“ immer unzureichend sein mussten,
insofern die Entwickelungen auf der Schleimhaut nicht immer
den rein puriformen, den rein mucösen oder den rein epithe-
lialen Character haben, vielmehr in der grossen Mehrzahl der
Fälle ein gemischter Zustand existirt. Fast jedesmal, wenn
auf einer grossen Schleimhaut, wie z. B. auf den Harnwegen
ein katarrhalischer Prozess sich entwickelt, entstehen puriforme
Massen, aber die Bildungsstätte derselben findet endlich irgend-
[400]Neunzehnte Vorlesung.
wo ihre Grenze, von wo an nur Schleim abgesondert wird,
und auch die Schleimabsonderung geht irgendwo wieder in
Epithelbildung über. Diese Art von Eiterung wird natürlich
immer das Resultat haben, dass an Stellen, wo sie eine ge-
wisse Höhe erreicht, die natürlichen Decken der Oberfläche
nicht zu Stande kommen, oder wo diese eine gewisse Dicke
haben, dass sie abgehoben und zerstört werden. Eine Pustel
an der Haut zerstört die Oberfläche der Epidermis, und inso-
fern können wir auch diesen Formen von Eiterung einen dege-
nerativen Character beimessen.
Allein die Degeneration im gewöhnlichen Sinne tritt erst
dann ein, wenn tiefere Theile befallen werden. Diese tiefere
Eiterbildung geschieht regelmässig aus dem Bindegewebe.
An ihm erfolgt zuerst eine Vergrösserung der Zellen (Binde-
gewebskörperchen), die Kerne theilen sich und wuchern eine
Zeit lang excessiv. Auf dieses erste Stadium folgen dann sehr
bald Theilungen der Elemente selbst. Im Umfange der ge-
reizten Stellen, wo vorher einzelne Zellen lagen, findet man
späterhin doppelte und mehrfache, aus denen sich gewöhnlich
eine Neubildung homologer Art (Bindegewebe) gestaltet. Nach
Innen hin dagegen, wo schon
vorher die Elemente stark
mit Kernen gefüllt wurden,
treten bald Haufen von klei-
nen Zellen auf, welche an-
fangs noch in den Richtun-
gen und Formen liegen, wie
die früheren Bindegewebs-
körperchen. Etwas später
findet man dann hier rundliche Heerde oder diffuse „Infiltra-
tionen“, innerhalb deren das Zwischengewebe äusserst spärlich
ist und in dem Maasse, als die Zellenwucherung sich weiter
ausbreitet, immer mehr verzehrt wird.
Eiterige Granulation aus dem Unterhautgewebe des Kanin-
chens, im Umfange eines Ligaturfadens, a Bindegewebskörperchen, b Ver-
grösserung der Körperchen mit Theilung der Kerne, c Theilung der
Zellen (Granulation), d Entwickelung der Eiterkörperchen. Vergr. 300.
[401]Eiterung des Bindegewebes.
Findet dieser Prozess an einer unversehrten Oberfläche
statt, so sieht man zuweilen das Epithellager noch ganz zu-
sammenhängend über die gereizte und etwas geschwollene
Stelle hinweglaufen. Auch die äusserste Lage der Intercellu-
larsubstanz erhält sich oft noch lange Zeit, während alle tiefe-
ren Theile des Bindegewebes schon mit Eiterkörperchen er-
füllt, „infiltrirt“ oder „abscedirt“ sind. Endlich berstet die
Oberfläche oder sie wird auch ohne Berstung direct transfor-
mirt in eine weiche, zerfliessende Masse. Diese Formen geben
nach und nach die sogenannten Granulationen, welche
immer aus einem Gewebe bestehen, wo in eine schwache
Quantität von weicher Intercellular-Substanz mehr oder weniger
zahlreiche, wenigstens in dem eigentlich wuchernden Stadium
der Granulationen runde Elemente eingesetzt sind. Je weiter
wir gegen die Oberfläche kommen, um so mehr zeigen die
Zellen, welche in der Tiefe mehr einkernig sind, Theilungen
der Kerne und an der letzten Grenze kann man sie nicht
mehr von Eiterkörperchen unterscheiden. Es pflegt dann eine
Ablösung des Epithels ztattzufinden, und dann kann es sein,
dass die Grundsubstanz zerfliesst und die einzelnen Elemente
sich frei ablösen. Bleibt die Wucherung reichlich, so bricht
die Masse fortwährend auf, die Elemente schütten sich auf
der Oberfläche aus, und es findet eine Zerstörung statt, welche
immer tiefer in das Gewebe eingreift und immer mehr Ele-
mente desselben auf die Oberfläche wirft. Das ist das eigent-
liche Geschwür.
Nach der gewöhnlichen Vorstellung, wo man den Eiter
aus einem beliebigen Exsudat ableitete, war diese Art von
Ulceration gar nicht recht begreiflich; man sah sich immer
genöthigt, eine besondere Art der Umwandlung des Gewebes
neben der Eiterung anzunehmen, und man kam endlich dahin,
dem Eiter eine gewisse chemische Fähigkeit der Lösung zu-
zuschreiben. Aber auf chirurgischem Wege hat man sich
schon lange auf das Mannigfachste überzeugt, dass der Eiter
nicht schmelzend einwirkt. Man hat in Eiterhöhlen Knochen
hineingesteckt, sie wochenlang liegen lassen, und wenn man
sie nachher wog, so waren sie eher schwerer geworden durch
Aufnahme flüssiger Substanzen, es hatte sich aber kein Er-
26
[402]Neunzehnte Vorlesung.
weichungszustand erzeugt ausser dem durch Fäulniss bedingten.
In wie weit das Gewebe durch eine wirkliche Auflösung zer-
stört wird, das hängt hauptsächlich davon ab, ob die Grund-
substanz, welche die jungen Elemente umgibt, vollkommen
flüssig wird. Behält sie eine gewisse Consistenz, so beschränkt
sich der Prozess auf die Hervorbringung von Granulationen,
und diese können eben so gut hervorgehen aus der intacten,
wie aus einer vorher verletzten Oberfläche. In der Chirurgie
nimmt man gewöhnlich an, dass die Granulationen sich auf
der Wand eines Substanzverlustes bilden, allein sie gehen
jedesmal direct aus dem Gewebe hervor. Sie kommen un-
mittelbar auf dem Knochen vor, ohne dass an demselben ein
Substanzverlust vorherging. Ebenso direct auf der Cutis unter
der intacten Epidermis, ebenso auf der Schleimhaut. Erst in
dem Maasse, als sie sich entwickeln, verliert die Schleimhaut
ihren normalen Character.
Jede solche Entwickelung geschieht heerdweise, und zwar
ebenso, wie an der Grenze des Ossificationsrandes des Knochens,
wo jene mächtigen Gruppen von Knorpelzellen liegen (Fig. 124),
welche einer einzigen früheren Knorpelzelle entsprechen. Es
handelt sich in der That um einen Vorgang, welcher in ge-
wöhnlichen Erscheinungen des Wachsthums sein Analogon
findet. Wie ein Knorpel, wenn er nicht verkalkt, z. B. in der
Rachitis, endlich so beweglich wird, dass er seine Function
als Stützgebilde nicht mehr verrichten kann, so sehen wir
auch hier, wie die Festigkeit des Gewebes allmälig unter der
Entwickelung der Granulation und Eiterung schwindet. So
verschieden also scheinbar diese Vorgänge der Destruction
von den Vorgängen des Wachsthums sind, so fallen sie doch
an einem gewissen Punkte vollständig zusammen. Es gibt
ein Stadium, wo man nicht mit Sicherheit entschei-
den kann, ob es sich an einem Theile um einfache
Vorgänge des Wachsthums, oder um die Entwicke-
lung einer heteroplastischen, zerstörenden Form
handelt.
Diese Art der Entwickelung, wie ich sie Ihnen eben
schilderte, ist aber nicht etwa dem Eiter als solchem eigen-
[403]Uebereinstimmung der ersten Entwickelungszustände.
thümlich, sondern sie characterisirt jede heteroplastische Ent-
wickelung; die ersten Veränderungen, welche wir constatirten,
finden sich genau in derselben Weise bei jeder Art von
Heteroplasmen bis zu den äussersten malignen Formen hin.
Die erste Entwickelung des Krebses, des Cancroids, des Sar-
coms zeigt dieselben Stadien;
wo man weit genug in der
Entwickelungs-Geschichte zu-
rückgeht, da stösst man auch
zuletzt immer auf ein Stadium,
wo man in den tieferen und
jüngeren Schichten indifferente
Zellen antrifft, welche erst spä-
ter je nach den Besonderhei-
ten der Reizung den einen
oder den anderen Typus an-
nehmen. Man kann daher auch im Grossen die Geschichte
der meisten Neubildungen, die ihrem Haupttheile nach aus
Zellen bestehen, unter einen ganz gleichen Gesichtspunkt brin-
gen. Die Form, unter welcher zuletzt der Krebs ulcerirt, hat
mit der Ulceration des Eiters eine so grosse Aehnlichkeit,
dass man seit langer Zeit beide Dinge verglichen hat, und
dass man die fressende Form der Eiterung, die Schanker in
Parallele gestellt hat mit der krebsigen „Eiterung“ oder Ver-
jauchung.
Wesentlich verschieden gestalten sich die einzelnen Neu-
bildungen dadurch, dass die Elemente eine sehr verschiedene
Entwickelungshöhe erreichen, oder anders ausgedrückt, dass
die Zeitdauer, für welche das einzelne Element angelegt wird,
das Lebensalter des einzelnen Elementes, ausserordent-
lich verschieden ist. Wir wissen, dass wir an einem Punkte,
wo Eiterung stattgefunden hat, wenn wir einen Monat später
Entwickelung von Krebs aus Bindegewebe bei Carci-
noma mammae. a Bindegewebskörperchen, b Theilung der Kerne, c Thei-
lung der Zellen, d reihenweise Aufhäufung der Zellen, e Vergrösserung
der jungen Zellen und Bildung der Krebsheerde (Alveolen), f weitere
Vergrösserung der Zellen und der Heerde. g dieselbe Entwickelung auf
dem Querschnitt. Vergr. 300.
26*
[404]Neunzehnte Vorlesung.
untersuchen, obwohl der Eiter scheinbar immer noch vorhanden
ist, nicht mehr darauf rechnen können, in dem Heerde unver-
sehrten Eiter zu finden. Der Eiter, der Wochen und Monate lang
irgendwo gesteckt hat, ist genau genommen kein Eiter mehr,
es ist zerfallene Masse, Detritus, aufgelöste Bestandtheile,
welche durch fettige Metamorphose, faulige Prozesse, Kalkab-
lagerungen und dergleichen mehr verändert sind. Dagegen
finden wir, dass ein Krebsknoten Monate lang bestehen und
dann noch sämmtliche Elemente unversehrt enthalten kann.
Wir können also mit Bestimmtheit sagen, dass ein krebsiges
Element längere Zeit existiren könne, als ein eiteriges, grade
so, wie wir wissen, dass die Schilddrüse länger existirt als
die Thymusdrüse, dass gewisse Organe z. B. einzelne Theile
des Sexualapparates im Laufe des gewöhnlichen Lebens früh-
zeitig zu Grunde gehen, während andere sich das ganze Leben
hindurch erhalten. So ist es auch bei pathologischen Neubil-
dungen. Zu einer Zeit, wo gewisse Formen schon lange
ihren Rückbildungsgang angetreten haben, fangen andere erst
an, ihre volle Entwickelung zu machen. Bei manchen Neu-
bildungen beginnt die Rückbildung verhältnissmässig so früh-
zeitig, ja sie stellt so sehr den gewöhnlichen Befund dar, dass
die besten Untersucher die Rückbildungsstadien für die eigent-
lich characteristischen angesehen haben. Bei dem Tuberkel
haben wir den Fall, dass die Majorität der neueren Beobachter,
welche sich ex professo mit dem Studium des Tuberkels be-
fasst haben, das Rückbildungsstadium für das eigentlich typi-
sche genommen und dass man daraus Schlüsse auf die Natur
des ganzen Vorganges gemacht hat, welche man mit demsel-
ben Rechte auf die Rückbildungsstufen von Eiter und von Krebs
hätte machen können.
Wir vermögen bis jetzt mit vollkommener Sicherheit für
wenige Elemente in Zahlen anzugeben, wie sich ihre mittlere
Lebensdauer verhält. Offenbar existiren hier ähnliche Schwan-
kungen, wie bei den normalen Organen. Allein unter allen
pathologischen Neubildungen mit flüssiger Intercellularsubstanz
gibt es keine einzige, welche sich dauerhaft zu erhalten ver-
möchte, keine einzige, deren Elemente so lange existiren
könnten, wie das Individuum, oder zu bleibenden Bestand-
[405]Lebensdauer der pathologischen Neubildungen.
theilen des Körpers werden könnten. Es scheint dies aller-
dings insofern zweifelhaft als wir sehen, dass manche Formen
von malignen Geschwülsten viele Jahre hindurch bestehen, dass
das Individuum sie von dem Zeitpunkte an, wo sie sich ent-
wickeln, bis zu dem vielleicht sehr spät erfolgenden Tode be-
hält. Allein man muss die Geschwulst als Ganzes
von den einzelnen Theilen derselben unterscheiden.
Innerhalb einer Krebsgeschwulst, die viele Jahre lang besteht,
sind es nicht dieselben Elemente, welche so lange bestehen,
sondern innerhalb der Grenzen der Geschwulst erfolgt eine
oft sehr zahlreiche Succession immer neuer Bildungen. Wäh-
rend die erste Entwickelung einer Geschwulst an einem be-
stimmten Punkte erfolgt, so besteht ihr Wachsthum nicht darin,
dass aus diesem Punkte heraus immer neue Entwickelungen
geschehen und eine Intussusception stattfindet, welche zu einer
dauerhaften Entfaltung des Ganzen nach ausserhalb führte.
Immer bilden sich im Umfange des ersten Heerdes kleine neue
Heerde, welche, indem sie sich vergrössern, sich dem ersten
anschliessen und so nach und nach eine immer weiter gehende
Vergrösserung bilden. Liegt die Geschwulst an der Oberfläche,
so findet sich auf dem Durchschnitte eine halbkreisförmige Zone
jüngster Substanz an der Peripherie des Knotens; liegt die Ge-
schwulst inmitten eines Organs, so bilden die neuen Appositionen
eine sphärische Schale um das ältere Centrum. Untersuchen wir
eine solche Geschwulst, nachdem sie vielleicht ein Jahr lang be-
standen, so ergibt sich gewöhnlich, dass in der Mitte die zuerst
gebildeten Elemente gar nicht mehr vorhanden sind. Hier finden
wir die Elemente zerfallen, durch fettige Prozesse aufgelöst.
Liegt die Geschwulst an einer Oberfläche, so zeigt sie in der
Mitte ihrer Hervorragung eine nabelförmige Einziehung, und
das nächste Stück darunter stellt eine dichte Narbe dar, welche
nicht mehr den ursprünglichen Character der Neubildung an
sich trägt. Diese Formen habe ich beschrieben beim Krebs,
besonders an der Leber, der Lunge und dem Darm, wo sie
leicht zu constatiren sind.
Immer kann man sich überzeugen, dass, was man Ge-
schwulst nennt, eine oft ausserordentlich grosse
[406]Neunzehnte Vorlesung.
Summe von vielen kleinen miliaren Heerden ist, von
denen jeder einzelne zurückgeführt werden muss auf einzelne
Mutter-Elemente. Indem in dieser Weise die Bildungen fort-
schreiten, gleichviel ob Eiter oder Tuberkel oder Krebs, so
setzen sie immer neue junge Zonen an die alten an, und wir
werden, wenn wir überhaupt die Entwickelungen verfolgen
wollen, mit grosser Sicherheit darauf rechnen können, dass wir
in der äussersten Umgebung immer die jungen, im Centrum
immer die alten Theile finden. Nun erstreckt sich aber
die Zone der letzten Erkrankung um ein Bedeu-
tendes über die mit blossem Auge erkennbare Zone
der Veränderung hinaus. Wenn man irgend eine wuchernde
Geschwulst von zelligem Character untersucht, so findet man
oft 3—5 Linien über die scheinbare Grenze der Geschwulst
hinaus die Gewebe schon erkrankt und die Anlage einer neuen
Zone schon gegeben. Das ist die Hauptquelle für die örtlichen
Recidive nach der Exstirpation, welche dadurch zu Stande kom-
men, dass die für das blosse Auge nicht erkennbare Zone, sowie
die nächsten hinderlichen Momente weggefallen sind, zu wachsen
anfängt. Es geschieht hier keine neue Ablagerung vom Blut,
sondern es sind die schon in dem benachbarten Gewebe lie-
genden, neugebildeten Keime, welche in derselben Weise, wie
das sonst geschehen sein würde, oder auch wohl noch schneller
ihre weitere Entwickelung gestalten.
Diese Erfahrung halte ich deshalb für ausserordentlich
wichtig, weil sie uns zeigt, dass alle diese Bildungen einen
contagiösen Habitus an sich haben. So lange als man
sich dachte, dass die einmal gegebene Masse von sich aus
wuchere, so lange konnte es natürlich scheinen, als habe man
weiter keine andere Aufgabe, als dieser Geschwulst die weitere
Zufuhr abzuschneiden. Allein in allen diesen Fällen wird
offenbar in dem Heerde selbst ein contagiöser Stoff gebildet,
und wenn die zunächst an den Erkrankungsheerd austossen-
den Elemente, welche durch Anastomosen mit den erkrankten
Elementen in Verbindung stehen, auch die heterologe Wuche-
rung eingehen, so kann man sich die Sache wohl nicht anders
denken, als dass die Erkrankung genau ebenso erfolgt, wie
[407]Contagion in der Continuität der Theile.
die Erkrankung der nächsten Lymphdrüsen, welche in der
Richtung des von der erkrankten Stelle ausgehenden Lymph-
stromes liegen. Je mehr Anastomosen die Theile besitzen, um
so leichter erkranken sie, und umgekehrt. An dem Knorpel
sind die malignen Erkrankungen so selten, dass man in der
Regel annimmt, er sei ganz und gar unfähig dazu. So
findet man zuweilen an einem Gelenke noch den Knor-
pelüberzug, während alles andere zerstört ist. So sehen wir,
dass die fibrösen Theile, welche reich sind an elastischen
Elementen, sehr wenig Disposition zu contagiöser Erkrankung
haben. Dagegen, je weicher ein Grundgewebe ist, je besser
die Leitung stattfinden kann, um so sicherer können wir er-
warten, dass bei Gelegenheit in dem Theile neue Heerde der
Erkrankung auftreten werden. Ich habe deshalb geschlossen,
dass in einer nicht wohl anders zu begreifenden Weise die
Infection von dem bestehenden Heerde auf die anastomosiren-
den Nachbarelemente übertragen wird, ohne Dazwischenkunft
von Gefässen und Nerven. Freilich sind die Nerven oft die
besten Leiter für die Fortpflanzung von contagiösen Neubil-
dungen, aber nicht als Nerven, sondern als Theile mit weichem
Zwischengewebe.
Hier ergibt sich die Bedeutung der anastomosirenden
Elemente des Gewebes, der Werth der Cellular-Theorie auf
das Augenscheinlichste, und man kann hinwieder, wenn man
einmal diese Art der Leitung kennen gelernt hat, mit einer
gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersehen, wohin in gewissen
Theilen mit bekannter Art der Leitung die Richtung der Er-
krankung gehen werde, und wo endlich die grössere oder ge-
ringere Gefahr liege. Es ist bis jetzt unerweislich, ob in der-
selben Weise, wie die Infection der Nachbartheile durch eine
Saftleitung geschieht, auch die Infection entfernter Theile ge-
schehe, ob namentlich das Blut von dem Heerde aus etwas
Schädliches aufnimmt und einem entfernten Orte zuleitet. Ich
muss bekennen, dass ich in dieser Beziehung keine hinreichend
beweisenden Thatsachen kenne, und die Möglichkeit immer
noch zugeben muss, dass die Verbreitung durch Gefässe mög-
licher Weise auf einer Zerstreuung der Zellen aus den Ge-
[408]Neunzehnte Vorlesung.
schwülsten selbst beruhen mag. Indessen gibt es auch hier
viele Thatsachen, welche für die Infection durch wirklich los-
gelöste Zellen sehr wenig sprechen, z. B. den Umstand, dass
gewisse Prozesse gegen den Lauf der Lymphströmung fort-
schreiten, dass nach einem Brustkrebs eine Erkrankung der
Leber stattfindet, während die Lunge frei bleibt. Hier scheint
es ziemlich wahrscheinlich zu sein, dass Säfte aufgenommen
werden, welche die weitere Verbreitung bedingen.
Erlauben Sie, dass ich noch zwei Worte über ein
Thema hinzufüge, welches sich hier sofort erledigen lässt,
nämlich über den sogenannten Parasitismus der Neubil-
dungen.
Es versteht sich von selbst, dass der Gesichtspunkt des
Parasitismus, den die Alten für einen grossen Theil der Neu-
bildungen festhielten, vollkommen gerechtfertigt ist, und dass
in der That jede Neubildung, welche dem Körper keine brauch-
baren Gebilde zuführt, als ein parasitisches Element am Kör-
per betrachtet werden muss. Erinnern Sie sich nur, dass
der Begriff des Parasiten nur graduell etwas Anderes de-
deutet, als der Begriff der Autonomie jedes Theiles des Kör-
pers, dass jede einzelne Epithelial- und Muskelzelle im Ver-
hältniss zu dem übrigen Körper eine Art von Parasitenexistenz
führt, so gut wie jede einzelne Zelle eines Baumes im Ver-
hältniss zu den andern eine besondere, ihr allein zugehörende
Existenz hat und den übrigen Elementen gewisse Stoffe ent-
zieht. Der Parasitismus, im engeren Sinne des Wortes, ent-
wickelt sich aus diesem Begriffe von der Selbständigkeit
der einzelnen Theile. So lange das Bedürfniss der übrigen
Theile die Existenz eines Theiles voraussetzt, so lange dieser
Theil in irgend einer Weise den anderen Theilen nützlich
wird, so lange spricht man nicht von einem Parasiten; er
wird es aber von dem Augenblicke an, wo er dem Körper
fremd oder schädlich wird. Der Begriff des Parasiten ist aber
nicht zu beschränken auf eine einzelne Reihe von Geschwülsten,
sondern er gehört allen heteroplastischen Formen an, welche
nicht in ihrer weiteren Umbildung homologe Producte erzeu-
gen, sondern Neubildungen hervorbringen, welche in der Zu-
[409]Parasitismus.
sammensetzung des Körpers mehr oder weniger ungehörig
sind. Ein jedes ihrer Elemente wird dem Körper Stoffe entziehen,
welche zu anderen Zwecken gebraucht werden könnten, und
da es von vorn herein normale Theile zerstört hat und seine
Entwickelung die Veränderung seiner Muttergebilde voraus-
setzt, so wirkt es sowohl destructiv im Anfange, als auch
räuberisch im Verlaufe.
[[410]]
Zwanzigste Vorlesung.
27. April 1858.
Form und Wesen der pathologischen Neubildungen.
Terminologie und Classification der pathologischen Neubildungen. Die Consistenz als Ein-
theilungsprincip. Vergleich mit einzelnen Körpertheilen. Histologische Eintheilung. Die
scheinbare Heterologie des Tuberkels, Colloids u. s. f.
Verschiedenheit von Form und Wesen: Colloid, Epitheliom, Papillargeschwulst, Tuberkel.
Die Papillargeschwülste: einfache (Condylome, Papillome) und specifische (Zottenkrebs, Blu-
menkohlgeschwulst).
Der Tuberkel: Infiltration und Granulation. Der entzündliche Ursprung der Tuberkel. Ent-
stehung derselben aus Bindegewebe. Das miliare Korn und der solitäre Knoten. Die
käsige Metamorphose.
Das Colloid: Myxom. Collonema. Schleim- oder Gallertkrebs.
Die physiologischen Typen der heterologen Neubildungen: lymphoide Natur des Tuberkels,
hämatoide des Eiters, epithelioide des Krebses, des Cancroids, der Perlgeschwulst und
des Dermoids, bindegewebige des Sarkoms. Infectionsfähigkeit nach dem Saftgehalt.
Vergleich der pathologischen Neubildung bei Thieren und Pflanzen. Schluss.
Wenn wir, meine Herren, in den Gedanken fortschreiten,
welche wir in den letzten Stunden verfolgt haben, so scheint
es mir, dass die Frage, welche Sie vielleicht zunächst an mich
richten werden, die ist, an welchem Punkte eigentlich die
Differenzirung der Neubildungen beginnt. Sie erinnern sich,
dass nach unserer Auffassung die grosse Mehrzahl der Neu-
bildungen aus Bindegewebe oder dem Bindegewebe äquivalen-
ten Theilen hervorgeht, und dass die ersten Anlagen für alle
[411]Terminologie der Neubildungen.
Neubildungen nahezu gleichartig sind, dass im Besonderen
die Theilung der Kerne, ihre Vermehrung, die endliche Thei-
lung der Zellen in fast allen Neubildungen, in den gut- wie
bösartigen, in den hyperplastischen wie heteroplastischen sich
auf dieselbe Weise darstellt. Unzweifelhaft ist aber diese
Gleichartigkeit eine vorübergehende; es dauert nicht lange,
bis an jedem einzelnen Gebilde irgend eine characteristische
Erscheinung hervortritt, wodurch wir in die Lage gesetzt wer-
den, seine Natur deutlich zu erkennen.
In diesem Punkte, wo es sich um die Kriterien der Neu-
bildungen handelt, ist freilich auch gegenwärtig eine Einigkeit
der Ansichten keineswegs gewonnen, und auch hier ist es
daher meine Aufgabe, zu zeigen, wie ich zu meinen zum
Theil so abweichenden Ansichten gelangt bin, und aus welchen
Gründen ich mich von dem betretenen Wege entfernen zu
müssen geglaubt habe.
Die Namen, mit denen man die einzelnen Neubildungen
zu belegen pflegt, haben sich, wie Sie wissen, oft ziemlich
zufällig, zum Theil in sehr willkürlicher Weise gestaltet.
Der Versuch, eine regelmässige Terminologie herzustellen, ist
früher eigentlich nur in Beziehung auf die Consistenz der Ge-
schwülste gemacht worden, indem man Eintheilungsgründe
davon hernahm, dass man die Substanz der Neubildung bald
als hart, bald als weich, als flüssig, breiig, gallertartig u. s. f.
beschrieb, und danach die Meliceris, die Atherome, die Steatome,
die Scirrhen u. s. w. von einander trennte. Es versteht sich von
selbst, dass die Begriffe, welche man jetzt an manche dieser Dinge
knüpft, abgethan werden müssen, wenn man die ursprüngliche
Bedeutung jener Bezeichnungen verstehen will. Wenn man
heut zu Tage einen atheromatösen Prozess constituirt, so ist
das etwas, was den Alten ganz fern gelegen hat. Wenn die
heutigen Geschwulstanatomen sich bemühen, ein Steatom zu
entdecken, welches eine feste Fettgeschwulst sein soll, so
müssen Sie sich erinnern, dass die Stearinfabrikation zur Zeit,
als das Steatom aufkam, noch nicht bekannt war, und die
Alten nicht den Gedanken gehabt haben, dass das Steatom
eine Stearin- oder überhaupt eine Fettgeschwulst sei, was den
heutigen Geschwulstlehrern nicht aus dem Kopfe will.
[412]Zwanzigste Vorlesung.
Die besseren Bezeichnungen, welche man im Anfange die-
ses Jahrhunderts einführte, stützten sich mehr auf Vergleichun-
gen, welche man zwischen den Neubildungen und einzelnen
Theilen oder Geweben des Körpers machte. Der Ausdruck
„Markschwamm“ ging ja ursprünglich aus der Vorstellung
hervor, dass die Markschwämme von den Nerven entständen
und sich in ihrer Zusammensetzung wie Nervenmasse verhiel-
ten. Solche Aufstellungen sind aber bis in die Neuzeit immer
sehr willkürlich gewesen, weil man sich auf mehr oder
weniger grobe Aehnlichkeiten in der äusseren Erscheinung
stützte, ohne dass man die feineren Besonderheiten des Baues
und namentlich die wirklich histologische Zusammensetzung
würdigte.
Neuerlich hat man, hie und da sogar mit einer grossen
Affectation, angefangen, die normalen Gebilde als terminolo-
gische Anhaltspunkte zu benutzen. Manche legen einen ge-
wissen Werth darauf und halten es für mehr wissenschaftlich,
Epitheliom zu sagen, wo Andere Cancroid oder Epithelialkrebs
sagen. So hat man in Frankreich bekanntlich sehr viel Ge-
wicht darauf gelegt, die Sarkome fibroplastische Geschwülste
zu nennen, weil man mit Schwann das geschwänzte Kör-
perchen für den Ausgang der Faserbildung im Bindegewebe
hielt, was, wie wir gesehen haben (S. 39), ein Irrthum ist.
Allein trotz dieser Verirrungen ist es nothwendig, den histo-
logischen Gesichtspunkt als den entscheidenden zu betrachten,
nur, glaube ich, ist es von vorn herein nicht anzurathen, dass
man von diesem Gesichtspunkte aus sofort dahin schreitet,
für alle Dinge neue Namen zu machen, und Dinge, welche
man seit langer Zeit kennt, durch den neuen Namen dem
allgemeinen Bewusstsein zu entfremden. Selbst Neubildungen,
welche ganz evident dem Typus irgend eines bestimmten
normalen Gewebes folgen, haben doch meistentheils Eigen-
thümlichkeiten, wodurch man sie von diesem Gewebe mehr oder
weniger unterscheiden kann, so dass man keineswegs, wenig-
stens bei der Mehrzahl, die ganze Neubildung zu sehen braucht,
um zu wissen, dass dies nicht die normale, regelmässige Ent-
wickelung des Gewebes ist, dass vielmehr in derselben, trotz-
dem dass sie den Typus nicht verliert, doch etwas von dem
[413]Terminologie der Neubildungen.
gewöhnlichen Gange homologer Entwickelung Abweichendes
liegt. Auch ist eine gewisse Zahl von Neubildungen noch
gegenwärtig übrig geblieben, bei denen man, zum Theil aus
Mangel an bekannten physiologischen Typen, die äussere Er-
scheinung oder den klinischen Character als Grund der Ter-
minologie beibehalten hat.
Man spricht immer noch von einem Tuberkel, und der Name,
den Fuchs dafür erfunden hat, der einzige neue, so viel ich
weiss, der dafür einzuführen versucht worden ist, Phyma, ist
ein so unbestimmter, so leicht auf jedes „Gewächs“ anwend-
barer, dass er keine grosse Zustimmung gefunden hat. Manche
andere Namen hat man in der letzten Zeit in einer immer
grösseren Ausdehnung gebraucht, welche auch nichts weiter
als Lückenbüsser sind, z. B. den des Colloids. Dieser Name
ist im Anfange unseres Jahrhunderts von Laennec erfunden
worden für eine Form von Geschwulst, welche er der Con-
sistenz nach als analog dem halberstarrten Tischlerleim be-
zeichnete; in ihrer recht entwickelten Form stellt sie eine
halb zitternde Gelatine von farblosem oder leicht gelblichem
Aussehen dar, welche im Ganzen den Eindruck einer fast
strukturlosen Beschaffenheit macht. Während man sich früher-
hin vollkommen befriedigt erklärte, wenn man Zustände dieser
Art als gallertartige, gelatinöse bezeichnete, so ist es manchen
Neueren als ein Beweis höherer Einsicht erschienen, wenn sie
statt Gallertgeschwulst oder Gallertmasse Colloidgeschwulst
oder Colloidmasse sagten. Aber Sie müssen nicht glauben,
dass diejenigen, welche diese Bezeichnungen am meisten im
Munde führen, damit etwas anderes ausdrücken wollen, als
was die meisten Anderen einfach Gallertgeschwulst oder Gal-
lerte kurzweg nennen. Es ist damit gerade wie zu den Zei-
ten Homer’s mit dem Kraut Μῶλυ, welches in der Sprache
der Götter so genannt ward, anders aber von den Menschen*).
Es ist aber sehr rathsam, dass man diese eigentlich nichts-
sagenden und nur hochtönenden Ausdrücke nicht unnöthiger
Weise ausbreite, und dass man sich daran gewöhne, mit je-
dem Ausdruck etwas Präcises zu sagen, dass man also von
[414]Zwanzigste Vorlesung.
dem Augenblick an, wo man wirklich prätendirt, histologische
Eintheilungen zu machen, nicht mehr für jede Gallertgeschwulst
den Ausdruck Colloid in Anwendung bringt, der überhaupt
keinen histologischen Werth hat, sondern eben nur ein äusse-
res Aussehen ausdrückt, welches die allerverschiedenartigsten
Gewebe unter Umständen darbieten können. Laennec selbst
hat in einer etwas verderblichen Weise die Bahn gebrochen,
indem er von einer colloiden Umwandlung fibrinöser Exsudate
der Pleura gesprochen hat.
Die Hauptschwierigkeit, welche sich hier ergibt, beruht
darin, dass man keinen Unterschied zwischen der blossen
Form und dem Wesen zu finden weiss. Man darf die Form
nur von dem Augenblicke an als entscheidendes Kriterium
verschiedener Neubildungen zulassen, als diese Form eben auch
mit einer wirklichen Verschiedenartigkeit des Gewebes zusam-
menhängt und eben nicht aus zufälligen Eingenthümlichkeiten
des Ortes oder der Lagerung resultirt. Wenn Sie z. B. den
Namen des Colloids anwenden wollen, so können Sie zwei
Wege einschlagen. Sie können entweder damit nichts weiter
als eine Art des Aussehens bezeichnen und dann werden Sie
allerdings verschiedene Geschwülste bekommen können, welche
Sie durch den Zusatz „colloid“ von anderen Geschwülsten der-
selben Art unterscheiden. Man kann also sagen: Colloidkrebs,
Colloidsarkom, Colloidbindegewebsgeschwulst. Hier bezeichnet
colloid weiter nichts als gallertig.
Ebenso sehen wir, dass eine grosse Menge von Geschwülsten,
wenn sie an der Oberfläche sitzen, Wucherungen der Oberfläche
mit sich bringen, welche, je nach der Natur der Oberfläche,
in Form von Zotten, Papillen oder Warzen erscheinen. Man
kann alle diese Geschwülste unter einen Namen zusammen-
fassen und sie Papillome nennen, allein die Geschwülste, wel-
che diese Form haben, sind oft toto coelo von einander ver-
schieden. Während wir in dem einen Falle eine wahre hy-
perplastische Entwickelung haben, so finden wir in einem an-
deren im Grunde dieser Zotten, wo sie auf der Haut oder
Schleimhaut aufsitzen, irgend eine besondere Art von Ge-
schwulst. In manchen Fällen sind selbst die Zotten mit die-
ser Geschwulstmasse gefüllt. Dies ist ein sehr wesentlicher
[415]Form und Wesen der Neubildungen.
Unterschied. Wenn Sie z. B. ein breites Condylom, den
Schleimtuberkel oder die Plaque muqueuse von Ricord be-
trachten, so finden Sie unter der an sich noch glatten Ober-
haut die Papillen sich vergrössernd und endlich in ästige Fi-
guren auswachsend, so dass sie förmliche Bäume darstellen.
Diese Form des Condyloms kann aber verbunden sein mit
einer krebsigen Entwickelung. An der Haut sehen wir das
verhältnissmässig weniger häufig als an verschiedenen Schleim-
häuten. Hier kann es kommen, dass wirklicher Krebs in den
Zotten sitzt. Es ist dies ja an sich gar nichts Auffälliges.
Die Papille besteht aus Bindegewebe, wie die Haut, auf wel-
cher sie sitzt; es kann also innerhalb der Papillen vom
Bindegewebe aus eine Entwickelung von Krebsmasse stattfin-
den, wie von dem Bindegewebe der Haut. Nun lässt sich an-
dererseits nicht läugnen, dass diese Besonderheit der Ober-
flächen-Bildung sehr häufig gewisse Eigenthümlichkeiten des
Verlaufes erklärt, wodurch eine Papillärgeschwulst von der-
selben Art von Geschwulst, welche nicht papillär ist, sich auf-
fallend unterscheidet. Jemand kann einen Blasenkrebs, wenn
derselbe einfach in der Wand sitzt, sehr lange tragen, ohne
dass in der Art der Absonderung, welche mit dem Harn ent-
leert werden muss, andere Veränderungen zu bestehen brauchen,
als die eines einfachen Katarrhs. Sobald dagegen eine Zotten-
bildung an der Oberfläche stattfindet, so ist nichts gewöhn-
licher, als dass sich Hämaturie damit complicirt, aus dem
einfachen Grunde, weil jede Zotte auf der Harnblasenwand nicht
mit einem festen Epidermisstratum überzogen wird, sondern
unter einem losen Epithel fast frei zu Tage liegt. In das Innere
der Zotten treten grosse Gefässschlingen ein, welche bis an
die äusserste Oberfläche reichen; jede erhebliche mechanische
Einwirkung gibt daher ein Moment für Hyperämie und Berstung
der Zotten ab. Eine krampfhafte Zusammenziehung der Harn-
blase treibt, indem die Fläche, auf welcher die Zotten aufsitzen,
sich verkürzt, das Blut in die Zottenspitzen, und wenn nun noch
die mechanische Friction der Flächen hinzukommt, so ist nichts
leichter, als dass eine bald mehr bald weniger beträchtliche
Blutung erfolgt. Damit aber eine solche Blutaustretung zu
Stande komme, ist es durchaus unnöthig, dass die Papillarge-
[416]Zwanzigste Vorlesung.
schwulst krebsig ist. Ich habe Fälle gesehen, wo Jahre lang
von Zeit zu Zeit unstillbare Blutungen wiederkehrten, unter
denen die Kranken endlich anämisch zu Grunde gingen, und
wo nicht die Spur von einer krebsigen Infiltration des Grundes
oder der Zotten existirte, sondern wo es eine ganz einfache
Papillargeschwulst war, eine gutartige Bildung, welche an der
Oberfläche der Haut mit Leichtigkeit hätte abgeschnitten oder
abgebunden werden können, welche aber bei der Verborgen-
heit des Sitzes hier eine Reihe von Erscheinungen mit sich
brachte, die man bei Lebzeiten nicht anders, als auf eine wirk-
lich bösartige Neubildung zu beziehen wusste.
Ganz ähnlich verhält es sich mit den viel discutirten
Blumenkohl-Geschwülsten, wie wir sie sowohl an der
Oberfläche der Genitalien des Mannes, als auch der Frau sehen.
Bei dem Manne, wo diese Papillärgeschwülste die Corona
glandis umkränzen, ausgehend vom Praeputium, sind sie
meistentheils von einer sehr dicken Epithel-Lage überzogen,
so dass auch bei der Ulceration sie kaum eine erhebliche
Absonderung liefern. Bei der Frau dagegen, wo die Geschwulst
am Collum uteri, einem sehr gefässreichen, mit einem schwachen
Epithelstratum versehenen, von Natur mit einem grossen Pa-
pillarlager überzogenen Theile sich findet, bedingt sie meisten-
theils sehr frühzeitig starke Transsudationen und bei Gelegen-
heit hämorrhagische Austretungen von fleischwasserartiger oder
wirklich rother, cruenter Flüssigkeit. Hier ist man häufig im
Zweifel gewesen, um was es sich handelt. Ich habe es selbst
erlebt, dass ein sehr renommirter junger Chirurg in die Klinik
von Dieffenbach kam, welcher eben einen Penis wegen
„Carcinom“ amputirte, und dass der junge Chirurg nachher
erklärte, es sei ein einfaches Condylom gewesen. Hinwiederum
habe ich Fälle untersucht, wo man Jahre lang an diesen
Dingen herumkurirt hat, als ob es syphilitische Condylome
wären, weil die äussere Erscheinung so überaus analog und
es so überaus schwierig ist, das Kriterium zu ermitteln, wel-
ches genau die Entscheidung gibt, ob die Bildung nur der
Oberfläche angehört oder ob sie complicirt ist mit der Erkran-
kung des unterliegenden Gewebes. Es gibt allerdings heute
sehr viele Anatomen und Chirurgen, welche die Vorstellung
[417]Zottengeschwulst.
haben, dass auch an der Oberfläche ähnliche Bildungen
wachsen könnten, wie sie im Innern vorkommen, dass z. B.
eine Zottengeschwulst krebsig genannt werden müsse, wenn
sie von Krebszellen wie von einem Epithel überzogen sei,
ohne dass im Innern der Zotten irgend eine Entwickelung von
Krebsmasse sich zeigte. In der That findet man zuweilen
Zotten, welche ganz dünn sind und kaum so viel Bindege-
webe enthalten, dass die in ihnen aufsteigenden Gefässe noch
eingehüllt sind, in ein dickes Lager von Zellen eingeschlossen,
welche durch die Unregelmässigkeit ihrer Gestalt, die Grösse
ihrer Kerne, die Entwickelung der einzelnen Elemente mehr
den Habitus des Krebses, als den des Epithels darbieten. Aber
ich muss bekennen, dass ich mich bis jetzt nicht habe über-
Senkrechter Durchschnitt durch ein beginnendes Blu-
menkohlgewächs des Collum uteri (Cancroid). An der noch intacten
Oberfläche sieht man die ziemlich grossen Papillen des Os uteri von
einem gleichmässigen geschichteten Epitheliallager umhüllt. Die Er-
krankung beginnt erst jenseits der Schleimhaut in dem eigentlichen
Parenchym des Cervix, wo grosse rundliche oder unregelmässige Zellen-
einsprengungen (Alveolen) das Gewebe durchsetzen. Vergr. 150.
27
[418]Zwanzigste Vorlesung.
zeugen können, dass Krebszellen an der freien Oberfläche von
Häuten entstehen könnten, dass sie einfach aus Epithel her-
vorgingen; vielmehr glaube ich nach Allem, was ich gesehen
habe, dass man eine ganz strenge Scheidung machen muss
zwischen den Fällen, wo Zellenmassen, sie mögen noch so
reichlich und sonderbar gestaltet sein, auf einer an sich in-
tacten Grundsubstanz aufsitzen, und denjenigen, wo die Zellen
im Parenchym der Theile selbst sich bildeten.
Immer entscheidet sich, so viel ich wenigstens weiss, der
Werth einer Bildung nach dem Verhältniss des unterliegenden
Gewebes oder des Zottengewebes selbst; und nur dann kann
man eine Bildung als Cancroid oder Carcinom ansprechen,
wenn neben der Entwickelung an der Oberfläche auch in der
Tiefe oder in den Zotten selbst die besonderen Veränderungen
stattfinden, welche eben diese Art von Bildungen characterisiren.
Ich glaube daher, dass alle diese äusserlichen Formverschie-
denheiten eben nur dazu dienen können, die einzelnen Arten
derselben Geschwulst, aber keineswegs verschiedene Geschwülste
von einander zu sondern. Es gibt Bindegewebsgeschwülste
der Oberfläche, die in Form von einfachen Knoten auftreten,
andere, welche in Form von Warzen und Papillargeschwülsten
sich zeigen. Ebenso gibt es Krebsbildungen, Cancroidbildun-
gen, welche diese Form annehmen können.
In Beziehung auf das Verhältniss von Form und Wesen
ist es eine ganz cardinale Frage, die im Interesse der Mensch-
heit bald zu einer gewissen Einmüthigkeit geführt werden
sollte, was man eigentlich unter einem Tuberkel zu ver-
stehen habe. Dieselben Schwierigkeiten, welche ich Ihnen
eben schilderte, finden Sie beim Tuberkel in noch verstärktem
Maasse wieder. Die Alten haben den Namen Tuberkel einge-
führt einfach nach der äusseren Form. Man hat Tuberkel
jedes Ding genannt, welches in Form eines Knötchens her-
vortrat. Wie Sie wissen werden, ist es gar nicht so lange
her, dass man nicht im Mindesten sorgfältig in der Anwen-
dung dieses Ausdruckes war. Man sprach von Tubercula
carcinomatosa, scirrhosa, man unterschied die Tubercula scro-
phulosa und syphilitica, wie sie in Frankreich immer noch er-
halten sind. Auch den Krebs beschränkte man von Alters her
[419]Tuberkel.
ja nicht etwa auf die eigentliche Geschwulst, sondern man
rechnete Noma (Cancer aquaticus) eben so gut dahin wie den
Schanker (Cancer syphiliticus).
Von dieser etwas oberflächlichen Anschauung hat man
nun im Laufe unseres Jahrhunderts nach und nach sich zu
genaueren Vorstellungen zu erheben gesucht, und es ist auch
hier zunächst das Verdienst von Laennec gewesen, scharfe
Bezeichnungen gesucht zu haben. Allein er selbst ist auch
hier wiederum schuldig daran gewesen, dass auch diese An-
gelegenheit in eine fast unheilbare Verwirrung gerathen ist.
Laennec stellte nämlich, wie Sie sich erinnern werden,
zwei verschiedene Formen von Tuberkeln der Lunge auf,
die sogenannte Tuberkel-Infiltration und die Tuber-
kel-Granulation. Indem die Infiltration vollständig von dem
alten Begriffe des Tuberkels abweicht, hier eben gar nicht die
Rede war von einem Knötchen, sondern von einer gleichmässi-
gen Durchdringung des ganzen Parenchyms, so war damit
auch die Bahn gebrochen, auf der man immer weiter von dem
alten Begriffe des Tuberkels sich entfernte. Nachdem einmal
die Tuberkel-Infiltration geschaffen und die Form des Gebildes
damit aufgegeben war, so nahm man auch die weitere Schil-
derung gewöhnlich von der Infiltration als dem Umfangreiche-
ren her, und suchte darnach, worin eigentlich die Infiltration
mit den übrigen, früher bekannten Formen des Tuberkels über-
einstimme. So ist es gekommen, dass allmählig die käsige
Beschaffenheit des Tuberkels als der gemeinschaftliche Gat-
tungscharacter aller Tuberkelprodukte, nicht bloss als nächster
Anhaltspunkt für die Unterscheidung, sondern auch als Aus-
gangspunkt für die Deutung des Vorganges überhaupt ge-
braucht worden ist. So ist es im Besonderen geschehen, dass
man sich vorgestellt hat, der Tuberkel könne einfach in der
Weise entstehen, dass ein beliebiges Exsudat seine wässerigen
Bestandtheile verliere, sich eindicke, trübe, undurchsichtig,
käsig werde, und in diesem Zustande liegen bleibe.
Der Ausdruck der Tuberkelkörperchen, der ja noch recht
häufig in Anwendung kommt, bezieht sich gerade auf das
Stadium des Käsigen, und die genaue Schilderung; welche
Lebert davon geliefert hat, läuft darauf hinaus, dass es Bil-
27*
[420]Zwanzigste Vorlesung.
dungen seien, welche mit keiner der bekannten organischen
Formen übereinstimmen, welche weder Zellen, noch Kerne,
noch sonst etwas Analoges seien, sondern als kleine, rund-
liche, solide Körperchen erschienen und häufig von Fettparti-
kelchen durchsetzt seien (Fig. 64). Untersucht man aber die Ent-
wickelung dieser Körper, so kann man sich an allen Punkten,
wo sie vorkommen, überzeugen, dass sie aus früheren orga-
nischen Formelementen hervorgehen, dass sie nicht etwa die
ersten missrathenen Produkte, verunglückte Versuche der
Organisation sind, sondern dass es einmal ganz wohlgerathene
Elemente waren, die aber durch ein unglückliches Geschick
frühzeitig in ihrem weiteren Fortkommen gehindert sind und
einer frühzeitigen Verschrumpfung unterlagen. Sie können
mit Sicherheit voraussetzen, dass, wo ein grösserer Körper
dieser Art sich findet, vorher eine Zelle dagewesen ist, wo
ein kleiner, vorher ein Kern, vielleicht innerhalb einer Zelle
eingeschlossen, existirt hat.
Untersucht man denjenigen Punkt, der für die neuere
Lehre von der Tuberkulose der maassgebende gewesen ist,
nämlich die Tuberkel-Infiltration der Lunge, so kommt man
nothwendig zu dem Resultate, welches Reinhardt als das
letzte hingestellt hat, dass nämlich die Tuberkulose nichts
weiter sei, als eine Form der Umbildung von Entzündungs-
produkten, und dass eigentlich alle Tuberkelmasse eingedickter
Eiter sei. In der That ist das, was man Tuberkel-Infiltration
genannt hat, mit wenigen Ausnahmen auf eine ursprünglich
entzündliche, eiterige oder katarrhalische Masse zu beziehen,
welche nach und nach durch eine unvollständige Resorption
in den Verschrumpfungszustand gerathen ist, in welchem sie
nachher liegen bleibt. Allein Reinhardt hat sich darin ge-
täuscht, dass er geglaubt hat, Tuberkel zu untersuchen. Er
ist irre geführt worden durch die falsche Richtung, welche die
ganze Doctrin von der Tuberkulose von Laennec bis auf ihn
namentlich durch die Schuld der Wiener genommen hat. Hätte
er sich daran gehalten, den alten Begriff des Knötchens zu
verfolgen, hätte er die Knotensubstanz in ihren verschiedenen
Stadien untersucht, und hätte er die verschiedenen Organe, in
welchen der knotige Tuberkel vorkommt, darauf verglichen,
[421]Tuberkel.
so würde er unzweifelhaft zu einem anderen Resultate gekom-
men sein.
Man kann, wie ich es wenigstens für richtig halte, aller-
dings sagen, dass der grösste Theil desjenigen, was im Laufe
der Tuberkulose nicht in Knotenform erscheint, eingedicktes
Entzündungsprodukt sei, und dass dieses zunächst wenigstens
keine Beziehungen zum Tuberkel habe. Allein neben diesem
Produkte oder auch unabhängig von demselben gibt es ein
Gebilde, welches in die gewöhnliche Bezeichnung nicht mehr
hineinpassen würde, wenn man jene Entzündungs-Produkte
Tuberkel nennt; und es ist gewiss eine äusserst characte-
ristische Thatsache, dass man in Frankreich, wo die Termi-
nologie von Lebert die maassgebende geworden ist und
wo man die Corpuscules tuberculeux als die nothwendigen Be-
gleiter der Tuberkulose angesehen hat, in der neuesten Zeit
auf den Gedanken gekommen ist, der eigentliche Tuberkel
sei noch etwas ganz Neues und bis jetzt noch gar nicht Be-
zeichnetes. Einer der besten, ja vielleicht der beste Mikro-
graph, den Frankreich besitzt, Robin hat bei Untersuchung
der Meningitis tuberculosa die kleinen Knoten in der Pia mater,
die alle Welt für Tuberkeln hält, nicht dafür halten zu kön-
nen geglaubt, weil einmal das Dogma in Frankreich herrscht,
dass der Tuberkel aus soliden, unzelligen Körpern bestehe,
und weil in den Tuberkeln der Hirnhaut vollständig erhaltene
Zellen vorkommen. Zu so sonderbaren Verirrungen führt
dieser Weg, dass man am Ende den eigentlichen Tuber-
kel gar nicht mehr bezeichnen kann, weil man so viel
zufällige Dinge mit ihm zusammen geworfen hat, dass man
über lauter Zufälligem das Gesuchte oder selbst das Gefundene,
was man schon besessen, wieder aus der Hand verliert. Ich
halte dafür, dass der Tuberkel ein Korn, ein Knötchen sei,
und dass dieses Knötchen eine Neubildung darstellt, und zwar
eine Neubildung, welche von ihrer ersten Entwickelung an
nothwendig zelliger Natur ist, welche in der Regel grade so
wie die anderen Neubildungen aus Bindegewebe hervorgeht,
und welche, wenn sie zu einer gewissen Entwickelung ge-
kommen ist, innerhalb dieses Gewebes einen kleinen, wenn
er an der Oberfläche sich befindet, in Form eines Höckers
[422]Zwanzigste Vorlesung.
hervorragenden Knoten darstellt, der in seiner ganzen Masse
aus kleinen, ein- oder mehrkernigen Zellen besteht. Das, was
diese Bildung besonders charakterisirt, ist der Umstand, dass
sie überaus kernreich ist, so dass, wenn man sie in der Fläche
betrachtet, auf den ersten Blick fast nichts als Kerne vorhan-
den zu sein scheinen. Isolirt man diese Dinge, so bekommt
man entweder ganz kleine, mit einem Kerne versehene
Elemente, oft so klein, dass die Membran sich dicht um den
Kern herumlegt, oder grössere Zellen mit vielfacher Theilung
der Kerne, so dass 12 bis 24 und 30 Kerne in einer Zelle
enthalten sind, wo aber immer die Kerne klein, gleichmässig
und etwas glänzend aussehen.
Dieses Gebilde, welches in seiner Entwickelung dem Eiter
verhältnissmässig am nächsten steht, insofern es die kleinsten
Kerne und die verhältnissmässig kleinsten Zellen hat, unter-
scheidet sich dadurch von allen höher organisirten Formen
des Krebses, des Cancroids, des Sarkoms, dass diese letzteren
grosse, mächtige, oft kolossale Bildungen darstellen mit stark
entwickelten Kernen und Kernkörperchen. Es ist immer nur
eine ärmliche Produktion, eine von vornherein kümmerliche
Neubildung. Von Anfang an ist der Tuberkel, wie andere
Neubildungen, von Gefässen durchzogen, allein wenn er sich
vergrössert, so drängen sich seine vielen kleinen Zellen, diese,
Entwickelung von Tuberkel aus Bindegewebe in der
Pleura. Man übersicht die ganze Reihenfolge von den einfachen Binde-
gewebskörperchen, der Theilung der Kerne und Zellen bis zu der Ent-
stehung des Tuberkelkorns, dessen Zellen in der Mitte wieder zu einem
fettig-körnigen Detritus zerfallen. Vergr. 300.
[423]Tuberkel.
wie eine Kinderschaar, immer dichter an einander gehende
Masse, so zusammen, dass nach und nach die Gefässe voll-
ständig unzugänglich werden und sich nur die grösseren,
durch den Tuberkel bloss hindurchgehenden noch erhalten.
Gewöhnlich sehr bald tritt im Centrum des Knotens, wo die
alten Elemente liegen, eine fettige Metamorphose ein (Fig. 140),
welche aber in der Regel nicht vollständig wird. Dann ver-
schwindet jede Spur von Flüssigkeit, die Elemente fangen an
zu verschrumpfen, das Centrum wird gelb und undurchsichtig,
man sieht einen gelblichen Fleck inmitten des grau durch-
scheinenden Korns. Damit ist die käsige Metamorphose
angelegt, welche später den Tuberkel charakterisirt. Diese
Veränderung schreitet nach Aussen immer weiter vorwärts von
Zelle zu Zelle, und nicht selten geschieht es, dass der ganze
Knoten nach und nach in die Veränderung eingeht.
Warum ich nun glaube, dass man für dieses Gebilde
speciell den Namen des Tuberkels als einen äusserst charak-
teristischen festhalten muss, das ist der Umstand, dass das
Tuberkelkorn nie eine erhebliche Grösse erreicht, dass nie ein
Tuber daraus wird. Was man als grosse Tuberkeln zu be-
zeichnen pflegt, was die Grösse einer Wallnuss, eines Borsdorfer
Apfels erreicht, z. B. im Gehirn, das sind keine einfache Tuber-
keln. Sie werden gewöhnlich beschrieben finden, dass der Hirntu-
berkel solitär wäre, allein das ist kein einzelner Knoten; eine
solche apfel- oder nur wallnussgrosse Masse enthält viele
Tausende von Tuberkeln; das ist ein ganzes Nest, das sich
vergrössert, nicht dadurch, dass der ursprüngliche Heerd wächst,
sondern vielmehr dadurch, dass an seinem Umfange immer
neue Heerde angebildet werden. Betrachtet man den vollkom-
men gelbweissen, trockenen, käsigen Knoten, so erkennt man
in seiner nächsten Umgebung eine weiche, gefässreiche Schicht,
welche ihn gegen die benachbarte Hirnsubstanz abgrenzt, eine
dichte Areola von Bindegewebe und Gefässen. Innerhalb
dieser Schicht liegen die kleinen jungen Knötchen bald in
grösserer, bald in kleinerer Zahl. Sie lagern sich aussen ab,
und der grosse Knoten wächst durch Apposition von immer
neuen Heerden, von welchen jeder einzelne käsig wird; daher
kann der ganze Knoten in seinem Zusammenhange nicht als
[424]Zwanzigste Vorlesung.
einfacher Tuberkel betrachtet werden. Der Tuberkel bleibt
wirklich minimal oder, wie man zu sagen pflegt, miliar.
Selbst wenn sich an der Pleura neben ganz kleinen Kno-
ten grosse, wie aufgelagerte gelbe Platten finden, so sind
auch diese keine einfachen Tuberkel, sondern Zusammen-
setzungen aus einer ursprünglich grossen Summe gesonderter
Knötchen.
Hier, wie Sie sehen, hängt in der That Form und Wesen
mit einander untrennbar zusammen. Die Form ist bedingt da-
durch, dass der Tuberkel von einzelnen Elementen des Binde-
gewebes aus, durch die degenerative Entwickelung einzelner
Gruppen von Bindegewebskörperchen wächst. So kommt er
ohne alles Weitere als Korn hervor. Wenn er einmal
eine gewisse Grösse erreicht hat, wenn die Generationen von
neuen Elementen, die sich durch immer fortgehende Theilung
aus den alten Gewebselementen entwickeln, endlich so dicht
liegen, dass sie sich gegenseitig hemmen, die Gefässe des
Tuberkels allmählig zum Schwinden bringen, und sich dadurch
selbst die Zufuhr abschneiden, so zerfallen sie eben, sie ster-
ben ab, und es bleibt nichts weiter zurück, als Detritus, ver-
schrumpftes, zerfallenes, käsiges Material.
Die käsige Umbildung ist der regelrechte Ausgang der
Tuberkel, aber sie ist einerseits nicht der nothwendige Aus-
gang, denn es gibt seltene Fälle, wo die Tuberkel durch voll-
ständige fettige Metamorphose resorptionsfähig werden; anderer-
seits kommt dieselbe käsige Metamorphose anderen Formen
von zelligen Neubildungen zu: der Eiter kann käsig werden,
ebenso Krebs und Sarkom. Diese allgemeine Möglichkeit
kann man daher nicht wohl als das Kriterium für die Beur-
theilung eines bestimmten Gebildes, wie des Tuberkels, hin-
stellen; vielmehr gibt es gewisse Stadien der Rückbildung
desselben, wo man sich sagen muss, dass es nicht immer
möglich ist, ein Urtheil zu fällen. Legt Ihnen Jemand eine
Lunge, mit käsigen Massen durchsprengt, vor, und fragt: ist
das Tuberkel oder nicht? so werden Sie häufig nicht genau
sagen können, was die einzelnen Massen ursprünglich gewesen
sind. Es gibt Zeiten in der Entwickelung, wo man mit Be-
stimmtheit das Entzündliche und das Tuberkulöse von einander
[425]Colloid.
trennen kann; endlich aber kommt eine Zeit, wo sich beide
Produkte mit einander vermischen, und wo, wenn man nicht
weiss, wie das Ganze entstanden ist, man kein Urtheil mehr
abgeben kann über das, was es bedeutet. Auch mitten in
Krebsknoten können käsige Stellen vorkommen, welche gerade
so aussehen, wie Tuberkel. Ich habe dargethan, dass es die
Krebselemente sind, welche in diese käsige Masse übergehen.
Wenn wir aber nicht mit Bestimmtheit aus der Entwickelungs-
geschichte wüssten, dass die Zellen des Krebses sich Schritt
für Schritt verändern und dass in der Mitte des Krebses sich
keine Tuberkeln bilden, so würden wir aus dem blossen Be-
fund in vielen Fällen durchaus nicht ein Urtheil fällen
können.
Ueberwindet man diese Schwierigkeiten, welche in der
äusseren Erscheinung der Bildung liegen, und welche den
Beobachter nicht bloss irre führen gegenüber der groben Er-
scheinung, sondern auch gegenüber der feineren Zusammen-
setzung, so bleibt für die Orientirung kein anderer Anhalts-
punkt, als dass man nachsucht, welchen Typus der Entwicke-
lung die einzelnen Neubildungen während der Stadien ihrer
wirklichen Entwickelung, nicht während der Stadien ihrer
Rückbildung zeigen. Man kann das Wesen des Tuberkels
nicht studiren von dem Zeitpunkt an, wo er käsig geworden
ist, denn von da an gleicht seine Geschichte vollkommen der
Geschichte des käsig werdenden Eiters; man muss dies vor-
her thun, wo er wirklich wuchert. So müssen wir auch für
die anderen Bildungen die Zeit von ihrer ersten Entstehung
bis zu ihrer Akme studiren und zusehen, mit welchen nor-
malen physiologischen Typen sie übereinstimmte. Dann ist
es, wie ich glaube, allerdings möglich, mit den einfachen Prin-
cipien der histologischen Classification auszukommen, welche
ich Ihnen früher angeführt habe (S. 56). Auch die hete-
rologen Gewebe haben physiologische Typen.
Ein Colloid, wenn man wirklich darunter versteht, was
Laennec gemeint hat, eine gallertige organisirte Neubildung,
muss nothwendig irgend einen Typus der Bildung besitzen,
welcher im gewöhnlichen Körper möglich ist. So gibt es eine
Reihe von Geschwülsten, die man in die Reihe des Colloids
[426]Zwanzigste Vorlesung.
gerechnet hat, welche vollkommen die Structur des Nabel-
stranges haben, und welche, wie dieser Theil, in ihrer Inter-
cellularsubstanz wesentlich Schleim enthalten. Nachdem ich
das Gewebe des Nabelstranges und der analogen Theile
Schleimgewebe genannt habe, so ist es für mich ein sehr
einfacher Schritt, diese Geschwülste Schleimgeschwülste,
Myxome zu nennen. Indem wir Geschwülste mit dem Ge-
webstypus des Nabelstranges mitten im erwachsenen Körper
nachweisen, ist das Auffallende der Erscheinung nicht ver-
mindert, aber es ist für dieselben ein im Körper normaler
Typus gewonnen. Eine andere Form von Colloid, oder wie
unser Müller gesagt hat, Collonema, stellt sich dar als
ödematöses Bindegewebe. Wir finden nichts weiter, als ein
sehr weiches Gewebe, welches von einer eiweisshaltigen Flüs-
sigkeit durchtränkt ist. Eine solche Geschwulst würden wir
nicht von den Bindegewebsgeschwülsten im Ganzen trennen
können, wir mögen sie als gallertartige oder ödematöse oder
sclerematöse Bindegewebsgeschwülste bezeichnen, aber ich
glaube, es besteht kein Grund, sie unter dem Namen von
Collonema für das Denken ganz fremdartig zu gestalten. So
finden wir ferner gewisse Formen von Krebs, wo das Stroma,
statt einfach aus Bindegewebe zu bestehen, aus demselben
Schleimgewebe besteht, welches wir in einer einfachen Schleim-
geschwulst antreffen. Dies können wir einfach einen Schleim-
krebs (Gallert- oder Colloidkrebs) nennen. Damit wissen wir
genau, was wir vor uns haben. Wir wissen, es ist ein Krebs,
aber sein Grundgewebe ist verschieden durch seinen Schleim-
gehalt und seine gallertige Beschaffenheit von dem gewöhn-
lichen Grundgewebe des Stromas.
Fassen Sie nun nochmals den Tuberkel in’s Auge,
so würde derselbe allerdings etwas vollständig Abnormes
sein, wenn die Corpuscules tuberculeux ihn constituirten;
vergleichen Sie aber die Zellen, welche, wie ich wenig-
stens annehmen muss, die eigentlichen Constituentien des
Kornes sind, mit normalen Geweben des Körpers, so wer-
den Sie die vollständigste Uebereinstimmung zwischen ihnen
und den Elementen der Lymphdrüsen bemerken, Analogien,
welche nicht zufällig und gleichgültig sind, denn seit alter
[427]Epitheliom.
Zeit weiss man ja, dass die Lymphdrüsen besonders dazu
disponiren, eine käsige Veränderung einzugehen. Schon die
Alten haben davon gesprochen, dass eine lymphatische Con-
stitution zu Prozessen dieser Art disponire.
Wenn wir den Eiter betrachten, so brauche ich Sie nur
daran zu erinnern, dass wir uns mehrere Stunden damit be-
schäftigt haben, die Frage von der Trennbarkeit der Pyämie
von der Leukocytose zu discutiren, dass wir in den farblosen
Blutkörperchen den Eiterkörperchen so vollständig analoge
Bildungen erkannt haben, dass die Einen geglaubt haben, wenn
sie farblose Blutkörperchen hatten, Eiter zu sehen, während
Addison und Zimmermann vielmehr da, wo sie Eiter
sahen, farblose Blutkörperchen zu finden meinten. Beide haben
den gleichen Typus der Bildung. Man kann daher sagen,
dass der Eiter eine hämatoide Form habe, ja man kann
den alten Satz aufwärmen, dass der Eiter das Blut der Patho-
logie sei. Will man aber einen Unterschied suchen, will man
in den einzelnen Fällen sagen, was Eiter und was Blutkör-
perchen sei, so hat man kein anderes Kriterium, als zu ent-
scheiden, ob die Zelle an dem natürlichen Orte des farblosen
Blutkörperchens entstanden ist, oder an einem anderen Orte,
wo sie nicht zu entstehen hat.
So haben wir ferner innerhalb der pathologischen Neu-
bildungen eine grosse Kategorie, deren natürliches Paradigma
das Epithel ist, wenn Sie wollen, Epitheliome. Allein der
Ausdruck des Epitheliom’s, welcher von Hannover in der
neueren Zeit eingeführt worden ist, ist deshalb für die be-
sondere Art von Geschwulst, welche man damit bezeichnen
wollte, vollständig unzulässig, weil nicht etwa das Epitheliom
die einzige Geschwulst ist, deren Elemente den epithelialen
Habitus an sich tragen. Man kann das Epitheliom von an-
dern Geschwülsten nicht dadurch unterscheiden, dass seine
Elemente den Habitus von Epithel hätten und andere nicht.
Die Geschwulst, welche Müller Cholesteatom, Cruveilhier
Tumeur perlée genannt hat, was ich durch Perlgeschwulst über-
setzt habe, diese Geschwulst hat genau denselben epithet
lialen Bau, wie das, was Hannover ein Epitheliom genann-
hat, ja das gewöhnliche Epitheliom erzeugt in sich sehr ge-
[428]Zwanzigste Vorlesung.
wöhnlich kleine Perlknoten
in oft erstaunlich grosser
Menge. Allein beide unter-
scheiden sich sehr wesent-
lich. Nie hat man bis jetzt
Perl-Geschwülste gesehen,
welche, nachdem sie an
einem Orte bestanden hat-
ten, an entfernten Orten
Recidive gemacht und sich
wie bösartige Geschwülste
verhalten hätten; immer
fand nur im nächsten Um-
fange der Geschwulst eine
weitere, aber überaus lang-
same Entwickelung statt.
Bei den Epitheliomen da-
gegen, oder wie man sonst
sagt, bei dem Epithelial-
krebs oder Cancroid, sehen
wir eine sehr ausgespro-
chene Malignität, nicht nur
die Recidivfähigkeit in loco,
sondern auch die Verviel-
fältigung in distans. In
manchen Fällen werden fast
alle Organe des Körpers
metastatisch mit Cancroid-
massen erfüllt.
Allein, wenn Sie versuchen, das Cancroid durch den
epithelialen Bau seiner Elemente von dem eigentlichen Krebs
zu unterscheiden, so werden Sie sich vergeblich bemühen.
Cancroidzapfen aus einer Geschwulst der Unterlippe.
Dichtgedrängte Zellenlager mit dem Character des Rete Malpighii im
Umfange; in dem einen Fortsatze fettartig glänzende Kugeln, in der
Mitte des grossen Zapfens eine hornig-epidermoidale, haarartige Ab-
scheidung mit zwiebelartigen Kugeln (Perlen, globes épidermiques).
Vgr. 300.
[429]Krebs und Cancroid.
Der eigentliche Krebs hat auch Ele-
mente von epithelialem Habitus, und
Sie brauchen nur eben solche Punkte
im Körper zu suchen, wo sich die
Epithelzel[len] unregelmässig ent-
wickeln, z. B. an den Harnwegen
(Fig. 15), so werden Sie dieselben
sonderbaren, mit grossen Kernen
und Kernkörperchen versehenen Bil-
dungen antreffen, welche man als
die specifischen, polymorphen Krebs-
zellen schildert. Der Krebs, das
Cancroid oder Epitheliom, die Perl-
geschwulst oder das Cholesteatom,
ja vielleicht das Dermoid, welches Haare, Zähne, Talgdrüsen
producirt, wie sie im Eierstock so häufig vorkommen, alle
Verschiedene Krebszellen, zum Theil in fettiger Meta-
morphose, polymorph, mit Kernvermehrung. Vergr. 300.
Durchschnitt durch ein Cancroid der Orbita. Grosse
Epidermiskugeln (Perlen), zwiebelartig geschichtet, in einer dichtge-
drängten Zellenmasse, die theils den Charakter der Epidermis, theils den
des Rete Malpighii hat. Vergr. 150.
[430]Zwanzigste Vorlesung.
diese sind Bildungen, welche pathologisch Epithelformen er-
zeugen; aber sie stellen eine Gradation von verschiedenen
Arten vor, die von den ganz örtlichen, dem gewöhnlichen Sinne
nach vollkommen gutartigen bis zu der äussersten Malignität
reichen. Die blosse Form des Elementes, welches die Zusam-
mensetzung des Gebildes macht, ist ohne entscheidenden
Werth. Es ist nicht Heterologie in der Entwickelung als
solcher, welche den Krebs bösartig, und Homologie, welche
das Cancroid gutartig macht, sondern es besteht zwischen
ihnen eine Gradation.
Die Formen, welche trockene, saftarme Massen hervor-
bringen, sind relativ gutartig. Diejenigen, welche saftreiche
Gewebe setzen, haben immer mehr oder weniger einen
malignen Habitus (S. 195). Die Perlgeschwulst z. B. liefert
vollkommen trockene Epithelmassen, fast ohne eine Spur von
Feuchtigkeit, sie steckt nur örtlich an. Das Cancroid bleibt
sehr lange örtlich, so dass oft erst nach Jahren die nächsten
Lymphdrüsen erkranken, dass dann lange Zeit wiederum der
Prozess sich auf die Erkrankung der Lymphdrüsen beschränkt,
und erst spät und selten die allgemeine Eruption durch den
ganzen Körper erfolgt. Bei dem eigentlichen Krebs ist der
örtliche Verlauf oft sehr schnell und die Krankheit wird früh
allgemein; Heilungen, selbst für kurze Zeit, sind so selten,
dass man in Frankreich gradezu die vollkommene Unheilbar-
keit des eigentlichen Krebses aufgestellt und mit Glück ver-
theidigt hat.
Auch unter den Bildungen, welche den gewöhnlichen
Bindegewebssubstanzen analog, also scheinbar vollkommen
homolog und gutartig sind, erweisen sich die saftreichen als
viel mehr ansteckungsfähig, als die trockenen. Ein Myxom,
welches immer viel Flüssigkeit mit sich führt, ist jedesmal
eine verdächtige Geschwulst; in dem Maasse seines Saftreich-
thums recidivirt es oft. Die Knorpelgeschwulst, das Enchon-
drom, welche früher als unzweifelhaft gutartige Geschwulst
geschildert wurde, kommt zuweilen in weichen, mehr gallert-
artigen Formen vor, welche eben solche inneren Metastasen
bedingen können, wie der eigentliche Krebs. Selbst die Bin-
degewebsbildungen werden unter Umständen reicher an Zellen,
[431]Sarkom.
vergrössern sich, ihr Zwischenbindege-
webe wird saftreicher, ja in manchen
Fällen schwindet die Grundsubstanz so
vollständig, dass zuletzt fast nur zellige
Elemente übrig bleiben. Das sind dann
die Formen, welche meiner Ansicht nach
mit dem alten Namen des Sarkoms be-
zeichnet werden müssen. Diese Sarkome
sind in der Regel allerdings gutartig,
aber nicht selten recidiviren sie wie die
Epithelialkrebse in loco, unter gewissen
Verhältnissen recurriren sie in den Lymph-
drüsen, und in manchen Fällen kommen
sie in so ausgedehnten Metastasen durch
den ganzen Körper vor, dass fast kein
Organ davon verschont bleibt.
In der ganzen Reihe dieser Bildun-
gen, von denen jede einem normalen Ge-
webe mehr oder weniger vollständig ent-
spricht, darf die Untersuchung gar nicht
die Aufgabe verfolgen, zu ermitteln. ob
sie einen physiologischen Typus haben
oder ob sie ein specifisches Gepräge an
sich tragen; schliesslich entscheidet die Frage, ob sie an
einem Orte entstehen, wo sie hingehören, oder nicht,
und ob sie eine Flüssigkeit in sich erzeugen, welche,
auf Nachbartheile gebracht, dort einen ungünstigen,
contagiösen oder reizenden Einfluss ausüben kann.
Es verhält sich mit diesen Bildungen, wie mit pflanz-
lichen. Die Nerven und Gefässe haben gar keinen unmittel-
baren Einfluss. Nur insofern haben sie Werth, als sie das
Mehr oder Weniger von Zufuhr bestimmen können; sie sind
ganz ausser Stande, die Geschwulstentwickelung anzuregen,
hervorzubringen oder in einer directen Weise zu modifici-
ren. Eine pathologische Geschwulst des Menschen bildet sich
Schematische Darstellung der Sarkom-Entwickelung, wie
sie bei Sarcoma mammae sehr gut zu überschen ist. Vergr. 350.
[432]Zwanzigste Vorlesung.
genau in derselben Weise, wie eine Geschwulst an einem
Baume, an der Rinde, an der Oberfläche des Stammes oder
des Blattes, wo ein pathologischer Reiz stattgefunden hat.
Der Gallapfel, der in Folge des Stiches eines Insectes ent-
steht, die knolligen Anschwellungen, welche die Stellen eines
Baumes zeigen, wo ein Ast abgeschnitten ist, die Umwallung,
welche die Wunde eines abgehauenen Baumstammes erfährt,
beruhen auf einer ebenso reichlichen, oft ebenso raschen Zel-
lenwucherung, wie die, welche wir an der Geschwulst eines
wuchernden Theiles des menschlichen Leibes wahrnehmen.
Der pathologische Reiz wirkt in beiden Fällen genan auf die-
selbe Art; die Vegetationsverhältnisse gestalten sich vollstän-
dig nach demselben Typus, und so wenig als ein Baum an
seiner Rinde oder seinem Blatt eine Art von Zellen hervor-
bringt, welche er sonst nicht hervorbringen könnte, so wenig
thut dies der thierische Körper.
Aber wenn Sie die Geschichte einer pflanzlichen Ge-
schwulst betrachten, so werden Sie auch da sehen, dass grade
die kranken Stellen es sind, welche ungewöhnlich reich an speci-
fischen Bestandtheilen werden, welche die besonderen Stoffe,
die der Baum producirt, in grösserer Menge in sich auf-
nehmen und ablagern. Die Pflanzenzellen, welche sich an
einem Eichenblatt im Umfange des Insectenstiches bilden,
haben vielmehr Gerbsäure, als irgend ein anderer Theil des
Baumes. Die Geschwulstzellen, welche sich in wuchernder
Menge an einer Kiefer da bilden, wo ein Insect sich in den
jungen Stamm eingräbt, sind ganz vollgestopft mit Harz.
Die besondere Energie der Bildung, welche an diesen Stellen
entwickelt wird, bedingt auch eine ungewöhnlich reiche An-
häufung von Säften. Es bedarf keiner Nerven oder Gefässe,
um die Zellen zu einer vermehrten Stoff-Aufnahme zu insti-
giren. Es ist ihre eigene Action, die Anziehung, welche sie
auf die benachbarten Flüssigkeiten ausüben, vermöge deren
sie die brauchbarsten Stoffe an sich reissen. Darin liegt die
grosse Bedeutung, welche die Kenntniss der botanischen Vor-
gänge auch für den Pathologen darbietet, dass sie eine innere
Uebereinstimmung in allen diesen Vorgängen der ganzen Reihe
der lebendigen Erscheinungen erkennen und die niedrigsten
[433]Allgemeine Principien.
Formationen als die Erklärungsmittel für die vollkommensten
und zusammengesetztesten Theile erscheinen lässt.
Ich habe Ihnen, meine Herren, im Laufe dieser Vorträge
die Principien, welche meiner Erfahrung nach auf die Beurthei-
lung der pathologischen Vorgänge angewendet werden müssen,
so vollständig, als es hier möglich war, entwickelt. Ich danke
Ihnen herzlich für die lebhafte Theilnahme, welche Sie mir
bis zum letzten Augenblick geschenkt haben. Vollkommen
weiss ich es zu würdigen, wenn Männer, wie Sie, deren Zeit
auf so vielfache Weise in Anspruch genommen ist, noch für
Discussionen dieser Art Sinn behalten, und ich wünsche nur,
dass Ihnen manche Anschauung der neueren Zeit durch diese
Vorträge näher getreten sei und dass die Thatsachen, welche
ich Ihnen vorgeführt habe, Ihnen auch für die Praxis brauch-
bare Erinnerungen bieten möchten.
[[434]][[435]]
Appendix A Inhalt.
- Seite
- Vorrede V
- Uebersicht der Holzschnitte XI
- Erste Vorlesung. Die Zelle und die cellulare Theorie 1
Einleitung und Aufgabe. Bedeutung der anatomischen Entdeckungen in der Ge-
schichte der Medicin. Geringer Einfluss der Zellentheorie auf die Pathologie.
Die Zelle als letztes wirkendes Element des lebenden Körpers. Genauere Be-
stimmung der Zelle. Die Pflanzenzelle: Membran, Inhalt, Kern. Die thierische
Zelle: die eingecapselte (Knorpel) und die einfache. Der Zellenkern (Nucleus).
Das Kernkörperchen (Nucleolus). Die Theorie der Zellenbildung aus freiem Cyto-
blastem. Constanz des Kerns und Bedeutung desselben für die Erhaltung der
lebenden Elemente. Verschiedenartigkeit des Zelleninhalts und Bedeutung des-
selben für die Function der Theile. Die Zellen als vitale Einheiten. Der Körper
als sociale Einrichtung. Die Cellularpathologie im Gegensatze zur Humoral- und
Solidarpathologie. — Erläuterung einiger Präparate. Junge Pflanzentriebe. Pflan-
zenwachsthum. Knorpelwachsthum. Junge Eierstockseier. Junge Zellen im
Auswurf. - Zweite Vorlesung. Physiologische Gewebe 22
Falsche Ansicht von der Zusammensetzung der Gewebe und Fasern aus Kügel-
chen (Elementarkörnchen). Die Umhüllungstheorie. Generatio aequivoca der Zel-
len. Das Gesetz von der continuirlichen Entwicklung. — Allgemeine Classifica-
tion der Gewebe. Die drei allgemein-histologischen Kategorien. Die speziellen
Gewebe. Die Organe und Systeme oder Apparate. — Die Epithelialgewebe.
Platten-, Cylinder- und Uebergangsepithel. Epidermis und Rete Malpighii. Nagel
und Nagelkrankheiten. Linse. Pigment. Drüsenzellen. — Die Gewebe der
Bindesubstanz. Die Theorien von Schwann, Henle und Reichert. Eigene
Theorie. Das Bindegewebe als Intercellularsubstanz. Der Knorpel (hyaliner,
Faser- und Netzknorpel). Das Schleimgewebe. Das Fettgewebe. Anastomose der
Elemente: saftführendes Röhren- oder Kanalsystem. - Seite
- Dritte Vorlesung. Physiologische [u]nd pathologische Gewebe 44
Die höheren Thiergewebe: Muskeln, Nerven, Gefässe, Blut. — Muskeln. Querge-
streifte und glatte. Muskelatrophie. Die contractile Substanz und die Contracti-
lität überhaupt. Cutis anserina und Arrectores pili. — Gefässe. Capillaren. Con-
tractile Gefässe. Nerven. — Die pathologischen Gewebe (Neoplasmen) und ihre
Classification. Bedentung der Vascularisation. Die Doctrin von den specifischen
Elementen. Die physiologischen Vorbilder (Reproduction). Heterologie (Hetero-
topie, Heterochronie, Heterometrie) und Malignität. Hypertrophie und Hyperplasie.
Degeneration. Prognostische Gesichtspunkte. — Das Continuitätsgesetz. Die histo-
logische Substitution und die histologischen Aequivalente. Physiologische und
pathologische Substitution. - Vierte Vorlesung. Die Ernährung und ihre Wege 65
Thätigkeit der Gefässe. Verhältniss von Gefäss und Gewebe. Leber. Gehirn. Mus-
kelhaut des Magens. Knorpel. Knochen. — Abhängigkeit der Gewebe von den
Gefässen. Metastasen. Gefässterritorien (vasculäre Einheiten). — Die Ernäh-
rungsleitung in den Saftkanälen der Gewebe. Knochen. Zahn. Faserknorpel.
Hornhaut. Bandscheiben. - Fünfte Vorlesung Ernährung und Saftleitung 81
Sehnen. Hornhaut. Nabelstrang. — Elastisches Gewebe. Lederhaut. — Lockeres
Bindegewebe. Tunica dartos. — Bedeutung der Zellen für die Specialvertheilung
der Ernährungssäfte. - Sechste Vorlesung. Ernährung und Circulation 99
Arterien. Capillaren. Continuität der Gefässwand. Porosität derselben. Haemor-
rhagia per diapedesin. Venen. Gefässe in der Schwangerschaft. — Eigenschaften
der Gefässwand: 1. Contractilität. Rhythmische Bewegung. Active oder Reizungs-
Hyperämie. Ischämie. Gegenreize. 2. Elasticität und Bedeutung derselben für
die Schnelligkeit und Gleichmässigkeit des Blutstromes. Erweiterung der Gefässe.
3. Permeabilität. Diffusion. Specifische Affinitäten. Verhältniss von Blutzufuhr
und Ernährung. Die Drüsensecretion (Leber). Specifische Thätigkeit der Gewebs-
elemente. — Dyskrasie. Transitorischer Charakter und localer Ursprung derselben.
Säuferdyskrasie. Hämorrhagische Diathese. Syphilis. - Siebente Vorlesung. Das Blut 121
Faserstoff. Fibrillen desselben. Vergleich mit Schleim- und Bindegewebe. Homo-
gener Zustand. — Rothe Blutkörperchen. Kern und Inhalt derselben. Verände-
rungen der Gestalt. Blutkrystalle. (Hämatoidin, Hämin, Hämatokrystallin.) —
Farblose Blutkörperchen. Numerisches Verhältniss. Struktur. Vergleich mit
Eiterkörperchen. Klebrigkeit und Agglutination derselben. Specifisches Gewicht.
Crusta granulosa. Diagnose von Eiter- und farblosen Blutkörperchen. - Achte Vorlesung. Blut und Lymphe 143
Wechsel und Ersatz der Blutbestandtheile. Das Fibrin. Die Lymphe und ihre
Gerinnung. Das lymphatische Exsudat. Fibrinogene Substanz. Speckhautbildung.
Lymphatisches Blut, Hyperinose, phlogistische Krase. Locale Fibrinbildung. Fibrin-
transsudation. Fibrinbildung im Blute. — Die farblosen Blutkörperchen
(Lymphkörperchen). Ihre Vermehrung bei Hyperinose und Hypinose (Erysipel,
Pseudoerysipel, Typhus). Leukocytose und Leukämie. Die lienale und lympha-
tische Leukämie. — Milz- und Lymphdrüsen als hämotopoëtische Organe.
Structur der Lymphdrüsen. - Seite
- Neunte Vorlesung. Pyämie und Leukocytose 159
Vergleich der farblosen Blut- und Eiterkörperchen. Die physiologische Eiterre-
sorption: die unvollständige (Inspissation, käsige Umwandlung) und die vollstän-
dige (Fettmetamorphose, milchige Umwandlung). Intravasation vou Eiter. —
Eiter in Lymphgefässen. Die Hemmung der Stoffe in den Lymphdrüsen. Mecha-
nische Trennung (Filtration): Tätowirungsfarben. Chemische Trennung (Attraction):
Krebs, Syphilis. Die Reizung der Lymphdrüsen und ihre Bedeutung für die Leu-
kocytose. — Die (physiologische) digestive und puerperale Leukocytose. Die patho-
logische Leukocytose (Skrophulose, Typhus, Krebs, Erysipel). — Die lymphoiden
Apparate: Solitäre und Peyersche Follikel des Darms. Tonsillen und Zungenfolli-
kel. Thymus. Milz. — Völlige Zurückweisung der Pyämie als einer morpholo-
gisch nachweisbaren Dyscrasie. - Zehnte Vorlesung. Die metastasirende Dyscrasie 176
Pyämie und Phlebitis. Thrombosis. Puriforme Erweichung der Thromben. Die
wahre und falsche Phlebitis. Eitereysten des Herzens. — Embolie. Bedeutung
der fortgesetzten Thromben. Lungenmetastasen. Zertrümmerung der Emboli.
Verschiedener Character der Metastasen. Endocarditis und capilläre Embolie.
Latente Pyämie. — Inficirende Flüssigkeiten. Erkrankung der lymphatischen Appa-
rate und der Secretionsorgane. Chemische Substanzen im Blute: Silbersalze.
Arthritis. Kalkmetastasen. Diffuse Metastasen. Ichorrhämie. Pyämie als Sam-
melname. — Die chemischen Dyscrasien. Bösartige Geschwülste, besonders Krebs.
Verbreitung durch contagiöse Parenchymsäfte. - Eilfte Vorlesung. Farbige Elemente im Blut. Nerven 197
Melanämie. Beziehung zu melanotischen Geschwülsten und Milzfärbungen. — Die
rothen Blutkörperchen. Abstammung. Die melanösen Formen: Chlorose. Läh-
mung der respiratorischen Substanz. Toxicämie. — Der Nervenapparat. Seine
prätendirte Einheit. — Die Nervenfasern. Peripherische Nerven: Fascikel, Primi-
tivfaser, Perineurium. Axencylinder (elektrische Substanz). Markstoff (Myelin).
Marklose und markhaltige Fasern. Uebergang der einen in die anderen: Hyper-
trophie des Opticus. Verschiedene Breite der Nervenfasern. Endigung: Paccini’sche
und Tastkörperchen. - Zwölfte Vorlesung. Das Nervensystem 218
Die peripherischen Nervenendigungen. Die Sinnesnerven: Haut und Unterscheidung
von Gefäss-, Nerven- und Zellenterritorien an derselben. Riechschleimhaut.
Retina. — Die Theilung der Nervenfasern. Das elektrische Organ. Die Muskeln.
Weitere Betrachtung der Nerventerritorien. — Nervenplexus mit ganglioformen
Knoten. Darm. — Irrthümer der Neuropathologen. — Die nervösen Centralorgane.
Graue Substanz. Pigmentirte Ganglienzellen. Verschiedenheiten der Ganglienzel-
len: sympathische Elemente im Rückenmark und Gehirn, motorische und sensi-
tive Elemente. Multipolare (polyklone) Ganglienzellen. Verschiedene Bedeutung
der Fortsätze der Ganglienzellen. - Dreizehnte Vorlesung. Rückenmark und Gehirn 238
Das Rückenmark. Weisse und graue Substanz. Centralkanal. Gangliöse Gruppen.
Weisse Stränge und Commissuren. — Die Medulla oblongata und das Gehirn. Kör-
ner- und Stäbchenschicht desselben. — Das Rückenmark des Petromyzon und die
marklosen Fasern desselben. — Die Zwischensubstanz (interstitielles Gewebe).
Ependyma ventriculorum. Neuroglia. Corpora amylacea - Seite
- Vierzehnte Vorlesung. Thätigkeit und Reizbarkeit der Elemente.
Verschiedene Formen der Reizung 255
Das Leben der einzelnen Theile. Die Einheit der Neuristen. Das Bewusstsein. Die
Thätigkeit der einzelnen Theile. Die Erregbarkeit (Reizbarkeit) als allgemeines
Kriterium des Lebens. Begriff der Reizung. Partieller Tod, Nekrose. — Verrich-
tung, Ernährung und Bildung als allgemeine Formen der Lebensthätigkeit. Ver-
schiedenheit der Reizbarkeit je nach den Thätigkeiten. — Functionelle Reizbarkeit.
Nerv, Muskel, Flimmerepithel, Drüsen. Ermüdung und functionelle Restitution.
Reizmittel. Specifische Beziehung derselben. Muskelirritabilität. — Nutritive Reiz-
barkeit. Erhaltung und Zerstörung der Elemente. Entzündung: die trübe Schwel-
lung. Niere (Morbus Brightii) und Knorpel. Die neuropathologische Doctrin. Haut,
Hornhaut. Die humoralpathologische Doctrin. Parenchymatöses Exsudat und paren-
chymatöse Entzündung. — Formative Reizung. Vermehrung der Kernkörperchen
und Kerne durch Theilung. Vielkernige Elemente: Markzellen und Myeloidge-
schwulst. Vergleich der formativen Muskelreizung mit dem Muskelwachsthum.
Vermehrung (Neubildung) der Zellen durch Theilung. Die humoral- und neuropa-
thologischen Doctrinen. — Entzündliche Reizung als zusammengesetztes Phänomen.
Die neuroparalytische Entzündung (Vagus, Trigeminus). - Fünfzehnte Vorlesung. Passive Vorgänge. Fettige Degene-
ration 285
Die passiven Vorgänge in ihren beiden Hauptrichtungen zur Degeneration: Nekro-
biose (Erweichung und Zerfall) und Induration. — Die fettige Degeneration. Histo-
logische Geschichte des Fettes im Thierkörper: das Fett als Gewebsbestandtheil,
als transitorische Infiltration und als nekrobiotischer Stoff. — Das Fettgewebe.
Polysarcie. Fettgeschwülste. Die interstitielle Fettbildung. Fettige Degeneration
der Muskeln. — Die Fettinfiltration. Darm: Structur und Function der Zotten.
Resorption und Retention des Chylus. Leber: intermediärer Stoffwechsel durch
die Gallengänge. Fettleber. — Die Fettmetamorphose. Drüsen: Secretion des
Hautschmeeres und der Milch (Colostrum). Körnchenzellen und Körnchenkugeln.
Entzündungskugeln. Arterie: fettige Usnr und Atherom. Fettiger Detritus. - Sechszehnte Vorlesung. Genauere Geschichte der Fettmeta-
morphose 308
Fettige Degeneration der Muskeln. Fettmetamorphose des Herzfleisches. Fettbil-
dung in den Muskeln bei Verkrümmungen. — Corpus luteum des Eierstockes.
Fettmetamorphose des Lungenepithels. Gelbe Hirnerweichung. Arcus senilis. —
Optische Eigenschaften der fettig degenerirten Gewebe. Das Nierenepithel im
Morbus Brightii. Verlauf der Stadien (trübe Schwellung, Fettmetamorphose, fetti-
ger Detritus, Atrophie). Die Entzündungskugel. Gleichartigkeit des Resultates
bei entzündlicher und nicht entzündlicher Veränderung. — Der atheromatöse Pro-
zess der Arterien. Verhältniss zur Ossification. Der entzündliche Charakter des
Prozesses: Analogie mit der Endocarditis. Bildung des Atheromheerdes. Cho-
lestearin-Abscheidung. Arteriosklerose, Endoarteriitis. Verkalkung und Ossifica-
tion der Arterien. — Activ-passive Prozesse. - Siebzehnte Vorlesung. Amyloide Degeneration. Entzündung 330
Die amyloide (speckige oder wächserne) Degeneration. Verschiedene Natur der
Amyloidsubstanzen: Die geschichteten Amyloidkörper (Hirn, Prostata) und die
eigentliche amyloide Entartung. Verlauf der letzteren. Beginn der Erkrankung
an den feinen Arterien. Wachsleber. Knorpel. Dyscratischer (constitutioneller) - Seite
- Charakter der Krankheit. Darm. Niere: die drei Formen der Bright’schen
Krankheit (amyloide Degeneration, parenchymatöse und interstitielle Nephritis).
Lymphdrüsen. Functionelle Störungen der leidenden Organe. — Die Entzündung.
Die vier Cardinalsymptome und deren Vorherrschen in den einzelnen Schulen:
Die thermische und vasculäre Theorie, die Neuropathologen, die Exsudate. Ent-
zündungsreiz. Functio laesa. Das Exsudat als Folge der Gewebsthätigkeit:
Schleim und Fibrin. Die Entzündung als zusammengesetzter Reizungsvorgang.
Parenchymatöse und exsudative (secretorische) Form. - Achtzehnte Vorlesung. Die normale und pathologische Neubil-
dung 353
Die Theorie der continuirlichen Entwickelung im Gegensatze zu der Blastem- und
Exsudattheorie. Das Bindegewebe und seine Aequivalente als allgemeinster Keim-
stock der Neubildungen. Die Uebereinstimmung der embryonalen und patho-
logischen Neubildung. Die Zellentheilung als allgemeinster Ausgang der Neubil-
dungen. — Endogene Bildung. Physaliden. Bruträume. — Verschiedene Richtung
der Neubildung. Hyperplasie, directe und indirecte. Heteroplasie. Die patholo-
gischen Bildungszellen. Verschiedene Grösse und Bildungsdauer derselben. —
Darstellung der Knochenentwickelung als einer Musterbildung. Unterschied von
Formation und Transformation. Der frische und wachsende Knochen im Gegen-
satze des macerirten. Natur des Markgewebes. — Längenwachsthum der Röhren-
knochen: Knorpelwucherung. Markbildung als Gewebstransformation: rothes und
gelbes, normales und entzündliches Mark. Tela ossea, verkalkter Knorpel, osteoides
Gewebe. Knochenterritorien: Caries, degenerative Ostitis. Knochengranulation.
Knocheneiterung. Maturation des Eiters. Ossification des Markes. — Dicken-
wachsthum der Röhrenknochen: Structur und Wucherung des Periostes. — Die Gra-
nulation als Analogon des Knochenmarkes und als Ausgangspunkt aller hetero-
plastischen Entwickelung. - Neunzehnte Vorlesung. Die pathologische, besonders die hetero-
loge Neubildung 380
Betrachtung einiger Formen pathologischer Knochenbildung. Weiches Osteom der
Kiefer. Rachitis. Callusbildung nach Fractur. — Theorie der substitutiven Neu-
bildung im Gegensatze zu der exsudativen. Zerstörende Natur der Neubildungen.
Homologie und Heterologie (Malignität). Ulceration. Osteomalacie. Proliferation
und Luxuriation. Knochenmark und Eiter. — Die Eiterung. Zwei Formen der-
selben: oberflächliche aus Epithel und tiefe aus Bindegewebe. Erodirende Eiterung
(Haut, Schleimhaut): Eiter- und Schleimkörperchen im Verhältniss zum Epithel.
Uleerirende Eiterung. Lösende Eigenschaften des Eiters. — Zusammenhang der
Destruction mit pathologischem Wachsthum und Wucherung. Uebereinstimmung
des Anfanges bei Eiter, Krebs, Sarkom u. s. w. Mögliche Lebensdauer der patho-
logisch neugebildeten Elemente und der pathologischen Neubildungen als ganzer
Theile (Geschwülste). Zusammengesetzte Natur der grösseren Geschwulstknoten
und miliarer Character der eigentlichen Heerde. Bedingungen des Wachsthums
und der Recidive: Contagiosität der Neubildungen und Bedeutung der Elementar-
Anastomosen. Die Cellularpathologie im Gegensatze zur Humoral- und Neuropa-
thologie. Allgemeine Infection des Körpers. Parasitismus und Autonomie der
Neubildungen. - Zwanzigste Vorlesung. Form und Wesen der pathologischen
Neubildungen 410
Terminologie und Classification der pathologischen Neubildungen. Die Consistenz
als Eintheilungsprincip. Vergleich mit einzelnen Körpertheilen. Histologische Ein- - Seite
- theilung. Die scheinbare Heterologie des Tuberkels, Colloids u. s. f. — Verschie-
denheit von Form und Wesen: Colloid, Epitheliom, Papillargeschwulst, Tuberkel. —
Die Papillargeschwülste: einfache (Condylome, Papillome) und specifische (Zotten-
krebs, Blumenkohlgeschwulst). — Der Tuberkel: Infiltration und Granulation. Der
entzündliche Ursprung der Tuberkel. Entstehung derselben aus Bindegewebe. Das
miliare Korn und der solitäre Knoten. Die käsige Metamorphose. — Das Colloid:
Myxom. Collonema. Schleim- oder Gallertkrebs. — Die physiologischen Typen
der heterologen Neubildungen: lymphoide Natur des Tuberkels, hämatoide des
Eiters, epithelioide des Krebses, des Cancroids, der Perlgeschwulst und des Der-
moids, bindegewebige des Sarkoms. Infectionsfähigkeit nach dem Saftgehalt. —
Vergleich der pathologischen Neubildung bei Thieren und Pflanzen. Schluss.
Appendix B
Druck von Trowitzsch und Sohn in Berlin.
[][][]
Knollens von Solanum tuberosum. a. die gewöhnliche Erscheinung des
regelmässig polygonalen, dickwandigen Zellengewebes. b. eine isolirte
Zelle mit feinkörnigem Aussehen der Höhlung, in der ein Kern mit
Kernkörperchen zu sehen ist. c. dieselbe Zelle, nach Einwirkung von
Wasser; der Inhalt (Protoplasma) hat sich von der Wand (Membran,
Capsel) zurückgezogen. An seinem Umfange ist eine besondere feine
Haut (Primordialschlauch) zum Vorschein gekommen. d. dieselbe Zelle
bei längerer Einwirkung von Wasser; die innere Zelle (Protoplasma mit
Primordialschlauch und Kern) hat sich ganz zusammengezogen und ist
nur durch feine, zum Theil ästige Fäden mit der Zellhaut (Capsel) in
Verbindung geblieben.
Fig. 2. Knorpelzellen, wie sie am Ossificationsrande wachsender
Knorpel vorkommen, ganz den Pflanzenzellen analog (vgl. die Erklärung
zu Fig. 1.). a—c. entwickeltere, d. jüngere Form.
Fig. 3. a. Leberzelle. b. Spindelzelle des Bindegewebes. c. Capillar-
gefäss. d. Grössere Sternzelle aus einer Lymphdrüse. e. Ganglienzelle
aus dem Kleinhirn. Die Kerne überall gleichartig.
Fig. 4. Nach Schleiden, Grundzüge der wiss. Botanik I. Fig. 1.
„Inhalt des Embryosackes von Vicia faba bald nach der Befruchtung. In
der hellen, aus Gummi und Zucker bestehenden Flüssigkeit schwimmen
Körnchen von Proteinverbindungen (a), unter denen sich einzelne grös-
sere auffallend auszeichnen. Um diese letzteren sieht man dann die er-
steren zu einer kleinen Scheibe zusammengeballt (b. c.). Um andere Schei-
ben erkennt man einen hellen, scharf begrenzten Saum, der sich allmäh-
lich weiter von der Scheibe (dem Cytoblasten) entfernt und endlich
deutlich als junge Zelle (d. e.) erkannt wird.“
Fig. 5. a. Pigmentzelle aus der Choroides oculi. b. Glatte Mus-
kelzelle aus dem Darm. c. Stück einer doppeltcontouirten Nervenfaser
mit Axencylinder, Markscheide und wandständigem, nucleolirtem Kern.
Fig. 6. Epiphysenknorpel vom Oberarme eines Kindes, an der Ellen-
beuge. Das Object war zuerst mit chromsaurem Kali und dann mit Essig-
säure behandelt. In der homogenen Grundsubstanz (Intercellularge-
webe) sieht man bei a. Knorpelhöhlen mit noch dünner Wand (Capsel),
in welchen die Knorpelzellen, mit Kern und Kernkörperchen versehen,
sich deutlich abgrenzen. b. Capseln (Höhlen) mit zwei, durch Thei-
lung der früher einfachen, entstandenen Zellen. c. Theilung der Cap-
seln nach Theilung der Zellen. d. Auseinanderrücken der getheilten
Capseln durch Zwischenlagerung von Intercellularsubstanz. — Knorpel-
wachsthum.
Fig. 7. Aus der Rindenschicht eines Knollens von Solanum tubero-
sum nach Behandlung mit Jod und Schwefelsäure. a. Platte Rinden-
zellen, umgeben von der Kapsel (Zellhaut, Membran). b. Grössere, vier-
eckige Zellen derselben Art; die geschrumpfte und gerunzelte eigentliche
Zelle (Primordialschlauch) innerhalb der Kapsel. c. Zelle mit Amy-
lonkörnern, welche innerhalb des Primordialschlauches liegen.
Fig. 8. Längsschnitt durch einen jungen Februar-Trieb vom Aste
eines Ligustrum. A. die äussere Schicht: unter einer sehr platten Zel-
lenlage sieht man grössere, viereckige, kernhaltige Zellen, aus denen
durch fortgehende Quertheilung kleine Zapfen (a) hervorwachsen, die
eingeschlossen, ist aus der folgenden Vorlesung herübergenommen, da
das Verständniss so besser gesichert ist.
- Rechtsinhaber*in
- Kolimo+
- Zitationsvorschlag für dieses Objekt
- TextGrid Repository (2025). Collection 3. Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpt7.0