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die ſchönſten Sagen
des
klaſſiſchen Alterthums.


Erſter Theil.

Mit einem Titelbilde.


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[figure]
[][][[III]]
Die ſchönſten Sagen
des
klaſſiſchen Alterthums.

Nach ſeinen Dichtern und Erzählern



Erſter Theil.

Mit einem Titelbilde.


Stuttgart.:
Verlag von S. G. Lieſching.

1838.
[[IV]][[V]]

Vorwort.

Es iſt eine ſchöne Eigenthümlichkeit der Mythen und Heldenſagen
des klaſſiſchen Alterthums, daß ſie für die Blicke des Forſchers und
für das Auge der Einfalt einen zwar verſchiedenartigen, aber doch
gleich mächtigen Reiz haben. Während der Gelehrte in ihnen den
Anfängen alles menſchlichen Wiſſens, den Grundgedanken der Religion
und Philoſophie, der erſten Morgendämmerung der Geſchichte nachgeht,
entzückt den unbefangenen Betrachter die Entfaltung der reichſten Ge¬
ſtalten, das Schauſpiel einer gleichſam noch in der Schöpfung begrif¬
fenen Natur und Geiſterwelt; er ſieht mit Luſt und Bewunderung die
Erde mit Göttern und Götterſöhnen aus dem Chaos emporſteigen und
in raſchen Bilderreihen den Prometheusfunken im Menſchen den Kampf
mit der Barbarei beginnen, die Cultur der Wildniß, die Bildung
der Barbarei, die Vernunft oder die Nothwendigkeit der Leidenſchaft
[VI] den Sieg abringen. Die innere lebendige Kraft dieſer Bilder iſt auch
ſo groß, daß dieſelbe nicht von der vollendeten Kunſtgeſtalt abhängig
erſcheint, in welcher wir einen guten Theil jener Gebilde von den größten
Dichtern verarbeitet beſitzen, ſondern daß die ſchlichteſte Darſtellung
genügt, ihre Größe auch vor denjenigen zu entfalten, für welche
die Kunſtform eher ein Hemmniß als eine Förderung des Verſtänd¬
niſſes ſeyn muß. In dieſem Fall iſt die Jugend im Beginn ihrer
klaſſiſchen Bildung. Die Heroenſage, von der ihre Phantaſie mit
dem erſten Unterrichte in den Sprachen der Alten Bruchſtücke auf¬
nimmt, übt einen Zauber über ihren Geiſt, lang ehe ſie im Stande
iſt, dieſelbe in den Schöpfungen der Dichter zu faſſen. Nähere Be¬
kanntſchaft mit dieſen Mythen wird ſogar als Vorſchule für die höhere
Bildung ein frühzeitiges Bedürfniß, das auch unſre Literatur längſt
gefühlt hat und dem ſie durch Hülfsbücher aller Art bald in wiſſen¬
ſchaftlich belehrender, bald in unterhaltender Form abzuhelfen geſucht
hat und noch ſucht.


In vorliegendem Buche nun wird der Verſuch gemacht, die ſchön¬
ſten und bedeutungsvollſten Sagen des klaſſiſchen Alterthums den al¬
ten Schriftſtellern und vorzugsweiſe den Dichtern einfach und vom
Glanze künſtleriſcher Darſtellung entkleidet, doch, wo immer mög¬
[VII] lich
, mit ihren eigenen Worten nachzuerzählen. Man iſt längſt
von der Anſicht zurückgekommen, daß dieſe auf mythiſchem Boden ſpie¬
lende und von Mythen durchwobene Geſchichten zum Mittel dienen
könnten, der Jugend gelegentlich hiſtoriſche, geographiſche und natur¬
wiſſenſchaftliche Kenntniſſe beizubringen und daß man ſie gar zum
Vehikel eines moraliſchen Lehrkurſes gebrauchen dürfe. Die Moral,
die auch der antiken Weltanſchauung nicht fehlte, muß in der Dar¬
ſtellung ſelbſt empfunden werden, und auf das Einſeitige und in weſentli¬
chen Stücken Irrthümliche derſelben, auf ihre Unzulänglichkeit gegen¬
über der Offenbarung des Chriſtenthums, wird eine mündliche Unter¬
weiſung des Vaters oder Lehrers den jungen Leſer beſſer aufmerkſam
machen, als das Buch ſelbſt, das von demſelben zunächſt nur mit
der Abſicht, ſich eine angenehme und doch würdige Erholung zu ver¬
ſchaffen, in die Hand genommen werden ſoll. Nur dafür hat der
Verfaſſer geſorgt, daß alles Anſtößige entfernt bleibe, und deßwegen
unbedenklich alle diejenigen Sagen ausgeſchloſſen, in welchen unmenſch¬
liche Greuel erzählt werden, die nur eine ſymboliſche Erklärung gewiſ¬
ſermaßen entſchuldigt, die aber als Geſchichte dargeſtellt — als welche
der Jugend dieſe Sagen doch gelten müßen — nur einen empörenden
Eindruck auf ſie machen könnten. Wo aber unſern höheren Begriffen
[VIII] von Sittlichkeit widerſtrebende oder auch ſchon im Alterthum als
unſittlich und widernatürlich anerkannte Verhältniſſe (wie in der
Oedipusſage) in einer ihrer Totalrichtung nach hochſittlichen Mythe
nicht verſchwiegen werden konnten, glaubt ſolche der Bearbeiter dieſer
Sagen auf eine Weiſe angedeutet zu haben, welche die Jugend
weder zum Ausſpinnen unedler Bilder noch zum Grübeln der Neu¬
gier veranlaßt. Vorausgeſetzt wird bei dieſem Buche nur die allge¬
meinſte Kenntniß der griechiſch-römiſchen Mythologie und Vorzeit,
wie ſie die Schulbildung unſrer vaterländiſchen Jugend bei Zeiten
verſchafft. Das ganze Werk iſt auf drei Bände berechnet, wovon
der zweite die Geſchichten von Troja, der dritte und letzte die Sagen
von Ulyſſes und Aeneas enthalten wird.


Stuttgart, im Septbr. 1837.


G. Schwab.


[[IX]]

Inhalts-Ueberſicht.



Erſtes Buch.
  • Seite.
  • Prometheus 3.
  • Die Menſchenalter 11.
  • Deukalion und Pyrrha 15.
  • Io 20.
  • Phaethon 29.
  • Europa 35.
  • Kadmus 44.
  • Pentheus 49.
  • Perſeus 58.
  • Ion 67.
  • Dädalus und Ikarus 82.
[X]
Zweites Buch.
  • Seite.
  • Die Argonautenſage.
    • Jaſon und Pelias  91.
    • Anlaß und Beginn des Argonautenzuges  93.
    • Die Argonauten zu Lemnos  96.
    • Die Argonauten im Lande der Dolionen  101.
    • Herkules zurückgelaſſen  10.
    • Pollux und der Bebrykenkönig  106.
    • Phineus und die Harpyien  108.
    • Die Symplegaden  112.
    • Weitere Abentheuer  114.
    • Jaſon im Pallaſte des Aeetes  119.
    • Medea und Aeetes  122.
    • Der Rath des Argos  126.
    • Medea verſpricht den Argonauten Hülfe  130.
    • Jaſon und Medea  132.
    • Jaſon erfüllt des Aeetes Begehr  138.
    • Medea raubt das goldene Vließ  144.
    • Die Argonauten, verfolgt, entkommen mit Medea  148.
    • Weitere Heimfahrt der Argonauten  154.
    • Neue Verfolgung der Kolchier  160.
    • Letzte Abentheuer der Helden  162.
    • Jaſons Ende  170.

[XI]
Drittes Buch.
  • Seite.
  • Meleager und die Eberjagd 179.
  • Tantalus 185.
  • Pelops 187
  • Riobe 191.
  • Salmoneus 198.
Viertes Buch.
  • Aus der Herkulesſage.
    • Herkules der Neugeborne  201.
    • Die Erziehung des Herkules  203.
    • Herkules am Scheidewege  204.
    • Des Herkules erſte Thaten  208.
    • Herkules im Gigantenkampf  210.
    • Herkules und Euryſtheus  214.
    • Die drei erſten Arbeiten des Herkules  215.
    • Die vierte Arbeit des Herkules bis zur ſechsten  220.
    • Die siebente, achte und neunte Arbeit des Herkules  225.
    • Die drei letzten Arbeiten des Herkules  229.
    • Herkules und Eurytus  238.
    • Herkules bei Admetus  240.
    • Herkules im Dienſte der Omphale  248.
    • Die ſpäteren Heldenthaten des Herkules  252.
    • Herkules und Deanira  256.
    • Herkules und Reſſus  258.
    • Herkules, Jole und Deanira. Sein Ende  260.

[XII]
Fünftes Buch.
  • Seite.
  • Bellerophontes 271.
  • Theſeus.
    • Seine Geburt und Jugend  277.
    • Seine Wanderung zum Vater  280.
    • Theſeus in Athen  283.
    • Theſeus bei Minos  285.
    • Theſeus als König  290.
    • Der Amazonenkrieg  293.
    • Theſeus und Pirithous. Lapithen- und Centaurenkampf  294.
    • Theſeus und Phädra  299.
    • Theſeus auf Frauenraub  306.
    • Theſeus' Ende.  308.
  • Die Sage von Oedipus.
    • Des Oedipus Geburt, Jugend, Fluch, Vatermord  312.
    • Oedipus in Theben, heirathet ſeine Mutter  316.
    • Die Entdeckung  318.
    • Jokaſte und Oedipus ſtrafen ſich  324.
    • Oedipus und Antigone  326.
    • Oedipus auf Kolonos  328.
    • Oedipus und Theſeus  333.
    • Oedipus und Kreon  335.
    • Oedipus und Polynices  337.

[XIII]
Sechstes Buch.
  • Seite.
  • Die Sieben gegen Thebe.
    • Polynices und Tydeus bei Adraſt  345.
    • Auszug der Helden. Hypſipyle und Opheltes  348.
    • Die Helden vor Thebe angekommen  352.
    • Menökeus  355.
    • Der Sturm auf die Stadt  359.
    • Der Brüder Zweikampf  363.
    • Kreon's Beſchluß  368.
    • Antigone und Kreon  371.
    • Hämon und Antigone  372.
    • Kreon's Strafe  375.
    • Beſtattung der Thebaniſchen Helden  377.
  • Die Epigonen 379.
  • Alkmäon und das Halsband 382.
  • Die Sage von den Herakliden.
    • Die Herakliden kommen nach Athen  386.
    • Demophoon  388.
    • Makaria  393.
    • Die Rettungsſchlacht  395.
    • Euryſtheus vor Alkmene  399.
    • Hyllus, ſein Orakel und ſeine Nachkommen  401.
    • Die Herakliden theilen den Peloponnes  406.
    • Merope und Aepytus  408.
[][[1]]

Erſtes Buch.

Prometheus. — Die Menſchenalter. — Deuka¬
lion und Pyrrha. — Io. — Phaethon. —
Europa. — Kadmus. — Pentheus. —
Perſeus. — Ion. — Dädalus
und Ikarus.


Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 1[[2]][[3]]

Prometheus.

Himmel und Erde waren geſchaffen: das Meer wogte
in ſeinen Ufern, und die Fiſche ſpielten darin; in den
Lüften ſangen beflügelt die Vögel; der Erdboden wimmelte
von Thieren. Aber noch fehlte es an dem Geſchöpfe,
deſſen Leib ſo beſchaffen war, daß der Geiſt in ihm Woh¬
nung machen und von ihm aus die Erdenwelt beherrſchen
konnte. Da betrat Prometheus die Erde, ein Sprößling
des alten Göttergeſchlechtes, das Jupiter entthront hatte,
ein Sohn des erdgebornen Uranusſohnes Japetus, kluger
Erfindung voll. Dieſer wußte wohl, daß im Erdboden
der Same des Himmels ſchlummere; darum nahm er vom
Thone, befeuchtete denſelben mit dem Waſſer des Fluſſes,
knetete ihn und formte daraus ein Gebilde, nach dem
Ebenbilde der Götter, der Herren der Welt. Dieſen ſei¬
nen Erdenkloß zu beleben, entlehnte er allenthalben von
den Thierſeelen gute und böſe Eigenſchaften und ſchloß
ſie in die Bruſt des Menſchen ein. Unter den Himmli¬
ſchen hatte er eine Freundin, Minerva, die Göttin der
Weisheit. Dieſe bewunderte die Schöpfung des Titanen¬
ſohnes und blies dem halbbeſeelten Bilde den Geiſt, den
göttlichen Athem ein.


So entſtanden die erſten Menſchen und füllten bald
vervielfältigt die Erde. Lange aber wußten dieſe nicht,
wie ſie ſich ihrer edlen Glieder und des empfangenen
Götterfunkens bedienen ſollten. Sehend ſahen ſie umſonſt,
1 *[4] hörten hörend nicht; wie Traumgeſtalten liefen ſie umher,
und wußten ſich der Schöpfung nicht zu bedienen. Unbe¬
kannt war ihnen die Kunſt, Steine auszugraben und zu
behauen, aus Lehm Ziegel zu brennen, Balken aus dem ge¬
fällten Holze des Waldes zu zimmern, und mit allem die¬
ſem ſich Häuſer zu erbauen. Unter der Erde, in ſonnen¬
loſen Höhlen, wimmelte es von ihnen, wie von bewegli¬
chen Ameiſen: nicht den Winter, nicht den blüthenvollen
Frühling, nicht den früchtereichen Sommer kannten ſie
an ſicheren Zeichen; planlos war alles, was ſie verrich¬
teten. Da nahm ſich Prometheus ſeiner Geſchöpfe an;
er lehrte ſie den Auf- und Niedergang der Geſtirne be¬
obachten, erfand ihnen die Kunſt zu zählen, die Buchſta¬
benſchrift; lehrte ſie Thiere ans Joch ſpannen und zu
Genoſſen ihrer Arbeit brauchen, gewöhnte die Roſſe an
Zügel und Wagen; erfand Nachen und Segel für die
Schiffahrt. Auch fürs übrige Leben ſorgte er den Men¬
ſchen. Früher, wenn einer krank wurde, wußte er kein
Mittel, nicht was von Speiſe und Trank ihm zuträglich
ſey, kannte kein Salböl zur Linderung ſeiner Schäden;
ſondern aus Mangel an Arzneien ſtarben ſie elendiglich
dahin. Darum zeigte ihnen Prometheus die Miſchung mil¬
der Heilmittel, allerlei Krankheiten damit zu vertreiben.
Dann lehrte er ſie die Wahrſagerkunſt, deutete ihnen
Vorzeichen und Träume, Vogelflug und Opferſchau. Fer¬
ner führte er ihren Blick unter die Erde und ließ ſie
hier das Erz, das Eiſen, das Silber und das Gold
entdecken; kurz in alle Bequemlichkeiten und Künſte des
Lebens leitete er ſie ein.


Im Himmel herrſchte mit ſeinen Kindern ſeit Kur¬
zem Jupiter, der ſeinen Vater Kronos entthront, und
[5] das alte Göttergeſchlecht, von welchem auch Prometheus
abſtammte, geſtürzt hatte.


Jetzt wurden die neuen Götter aufmerkſam auf das
ebenentſtandene Menſchenvolk. Sie verlangten Verehrung
von ihm für den Schutz, welchen ſie demſelben angedei¬
hen zu laſſen bereitwillig waren. Zu Mekone in Grie¬
chenland ward ein Tag gehalten zwiſchen Sterblichen
und Unſterblichen, und Rechte und Pflichten der Men¬
ſchen beſtimmt. Bei dieſer Verſammlung erſchien Pro¬
metheus als Anwalt ſeiner Menſchen, dafür zu ſorgen,
daß die Götter für die übernommenen Schutzämter den
Sterblichen nicht allzuläſtige Gebühren auferlegen möch¬
ten. Da verführte den Prometheus ſeine Klugheit, die
Götter zu betrügen. Er ſchlachtete im Namen ſeiner
Geſchöpfe einen großen Stier, davon ſollten die Himmli¬
ſchen wählen, was ſie für ſich davon verlangten. Er
hatte aber nach Zerſtückelung des Opferthieres zwei Hau¬
fen gemacht; auf die eine Seite legte er das Fleiſch,
das Eingeweide und den Speck, in die Haut des Stieres
zuſammengefaßt, auf die andere die kahlen Knochen,
künſtlich in das Unſchlitt des Schlachtopfers eingehüllt.
Und dieſer Haufen war der größere. Jupiter der Göt¬
tervater, der allwiſſende, durchſchaute ſeinen Betrug und
ſprach: „Sohn des Japetus, erlauchter König, guter
Freund, wie ungleich haſt du die Theile getheilt!“ Pro¬
metheus glaubte jetzt erſt recht, daß er ihn betrogen, lä¬
chelte bei ſich ſelbſt und ſprach: „Erlauchter Jupiter,
größter der ewigen Götter, wähle den Theil, den dir
dein Herz im Buſen anräth zu wählen.“ Jupiter er¬
grimmte im Herzen, aber gefliſſentlich faßte er mit bei¬
den Händen das weiße Unſchlitt. Als er es nun aus¬
[6] einander gedrückt und die bloßen Knochen gewahrte,
ſtellte er ſich an, als entdeckte er jetzt eben erſt den Be¬
trug und zornig ſprach er: „Ich ſehe wohl, Freund Ja¬
petionide, daß du die Kunſt des Truges noch nicht ver¬
lernt haſt!“


Jupiter beſchloß ſich an Prometheus für ſeinen Betrug
zu rächen, und verſagte den Sterblichen die letzte Gabe, die
ſie zur vollendeteren Geſittung bedurften, das Feuer. Doch
auch dafür wußte der ſchlaue Sohn des Japetus Rath. Er
nahm den langen Stängel des markigen Rieſenfenchels,
näherte ſich mit ihm dem vorüberfahrenden Sonnenwa¬
gen, und ſetzte ſo den Stängel in gloſtenden Brand.
Mit dieſem Feuerzunder kam er hernieder auf die Erde,
und bald loderte der erſte Holzſtoß gen Himmel. In
innerſter Seele ſchmerzte es den Donnerer, als er den
fernhinleuchtenden Glanz des Feuers unter den Men¬
ſchen emporſteigen ſah. Sofort formte er, zum Erſatz
für des Feuers Gebrauch, das den Sterblichen nicht
mehr zu nehmen war, ein neues Uebel für ſie. Der ſei¬
ner Kunſt wegen berühmte Feuergott Vulkanus mußte
ihm das Scheinbild einer ſchönen Jungfrau fertigen;
Minerva ſelbſt, die, auf Prometheus eiferſüchtig, ihm ab¬
hold geworden war, warf dem Bild ein weißes, ſchim¬
merndes Gewand über, ließ ihr einen Schleier über das
Geſicht wallen, den das Mädchen mit den Händen ge¬
theilt hielt, bekränzte ihr Haupt mit friſchen Blumen
und umſchlang es mit einer goldenen Binde, die gleich¬
falls Vulkanus ſeinem Vater zu lieb kunſtreich verfertigt
und mit bunten Thiergeſtalten herrlich verziert hatte.
Merkurius der Götterbote mußte dem holden Gebilde
Sprache verleihen, und Venus allen Liebreiz. Alſo hatte
[7] Jupiter unter der Geſtalt eines Gutes ein blendendes
Uebel geſchaffen, und nannte ſie Pandora, das heißt
die Allbeſchenkte, denn jeder der Unſterblichen hatte
dem Mägdlein irgend ein unheilbringendes Geſchenk für
die Menſchen mitgegeben. Darauf führte er die Jung¬
frau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermiſcht mit
den Göttern luſtwandelten. Alle mit einander bewunder¬
ten die unvergleichliche Geſtalt. Sie aber ſchritt zu Epi¬
metheus, dem argloſeren Bruder des Prometheus, ihm
das Geſchenk Jupiters zu bringen. Vergebens hatte
dieſen der Bruder gewarnt, niemals ein Geſchenk vom
Olympiſchen Jupiter anzunehmen, damit dem Menſchen
kein Leid dadurch widerführe, ſondern es ſofort zurück¬
zuſenden. Epimetheus, dieſes Wortes uneingedenk, nahm
die ſchöne Jungfrau mit Freuden auf, und empfand das
Uebel erſt als er es hatte. Denn bisher lebten die Ge¬
ſchlechter der Menſchen, von ſeinem Bruder berathen, frei
vom Uebel, ohne beſchwerliche Arbeit, ohne quälende
Krankheit. Das Weib aber trug in den Händen ihr
Geſchenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel verſehen.
Kaum bei Epimetheus angekommen, ſchlug ſie den Deckel
zurück, und alsbald entflog dem Gefäſſe eine Schaar von
Uebeln und verbreitete ſich mit Blitzesſchnelle über die
Erde. Ein einziges Gut war zu unterſt in dem Faſſe
verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rath des Götter¬
vaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe ſie her¬
ausflattern konnte und verſchloß ſie für immer in dem
Gefäß. Das Elend füllte inzwiſchen in allen Geſtalten
Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tag
und bei Nacht unter den Menſchen umher, heimlich und
ſchweigend, denn Jupiter hatte ihnen keine Stimme gege¬
[8] ben; eine Schaar von Fiebern hielt die Erde belagert,
und der Tod, früher nur langſam die Sterblichen be¬
ſchleichend, beflügelte ſeinen Schritt.


Darauf wandte ſich Jupiter mit ſeiner Rache gegen
Prometheus. Er übergab den Verbrecher dem Vulkanus,
und ſeinen Dienern, dem Kratos und der Bia (dem Zwang
und der Gewalt). Dieſe mußten ihn in die ſcythiſchen
Einöden ſchleppen und hier, über einem ſchauderhaften
Abgrund, an eine Felswand des Berges Caucaſus mit
unauflöslichen Ketten ſchmieden. Ungerne vollzog Vul¬
kanus den Auftrag ſeines Vaters, er liebte in dem Tita¬
nenſohne den verwandten Abkömmling ſeines Urgroßva¬
ters Uranos, den ebenbürtigen Götterſprößling. Unter
mitleidsvollen Worten, und von den roheren Knechten
geſcholten, ließ er dieſe das grauſame Werk vollbringen.
So mußte nun Prometheus an der freudloſen Klippe
hängen, aufrecht, ſchlaflos, niemals im Stande, das müde
Knie zu beugen. „Viele vergebliche Klagen und Seufzer
wirſt du verſenden,“ ſagte Vulkanus zu ihm, „denn Jupiters
Sinn iſt unerbittlich und alle die erſt ſeit kurzem die
Herrſchergewalt an ſich geriſſen*), ſind hartherzig.“ Wirk¬
lich ſollte auch die Qual des Gefangenen ewig oder doch
dreißigtauſend Jahre dauern. Obwohl laut aufſeufzend,
und Winde, Ströme, Quellen und Meereswellen, die All¬
mutter Erde und den allſchauenden Sonnenkreis zu Zeu¬
gen ſeiner Pein aufrufend, blieb er doch ungebeugten
[9] Sinnes. Was das Schickſal beſchloſſen hat, ſprach er,
muß derjenige tragen, der die unbezwingliche Gewalt der
Nothwendigkeit einſehen gelernt hat.“ Auch ließ er ſich
durch keine Drohungen Jupiters bewegen, die dunkle
Weiſſagung, daß dem Götterherrſcher durch einen neuen
Ehebund *) Verderben und Untergang bevorſtehe, näher
auszudeuten. Jupiter hielt Wort; er ſandte dem Gefeſ¬
ſelten einen Adler, der als täglicher Gaſt an ſeiner Le¬
ber zehren durfte, die ſich, abgewaidet, immer wieder er¬
neuerte. Dieſe Qual ſollte nicht eher aufhören, bis ein
Erſatzmann erſcheinen würde, der durch freiwillige Ueber¬
nahme des Todes, gewiſſermaßen ſein Stellvertreter zu
werden ſich erböte.


Jener Zeitpunkt erſchien früher, als der Verurtheilte
nach Jupiters Spruch erwarten durfte. Als er dreißig
Jahre an dem Felſen gehangen, kam Herkules des Weges,
auf der Fahrt nach den Heſperiden und ihren Aepfeln
begriffen. Wie er den Götterenkel am Caucaſus hängen
ſah, und ſich ſeines guten Rathes zu erfreuen hoffte, er¬
barmte ihn ſein Geſchick, denn er ſah zu, wie der Adler,
auf den Knieen des Prometheus ſitzend, an der Leber
des Unglückſeligen fraß. Da legte er Keule und Löwen¬
haut hinter ſich, ſpannte den Bogen, entſandte den Pfeil
und ſchoß den grauſamen Vogel von der Leber des Ge¬
quälten hinweg. Hierauf löſte er ſeine Feſſeln und
führte den Befreiten mit ſich davon. Damit aber Jupiters
Bedingung erfüllt würde, ſtellte er ihm als Erſatzmann
den Centauren Chiron, der erbötig war an Jenes Statt
zu ſterben; denn vorher war er unſterblich. Auf daß
[10] jedoch Jupiters Urtheil, der den Prometheus auf weit
längere Zeit an den Felſen geſprochen hatte, auch ſo
nicht unvollzogen bliebe, ſo mußte Prometheus fortwäh¬
rend einen eiſernen Ring tragen, an welchem ſich ein
Steinchen von jenem Caucaſus-Felſen befand. So konnte
ſich Jupiter rühmen, daß ſein Feind noch immer an den
Caucaſus angeſchmiedet lebe.


[11]

Die Menſchenalter*).

Die erſten Menſchen, welche die Götter ſchufen, wa¬
ren ein goldenes Geſchlecht. Dieſe lebten, ſo lange Kro¬
nos (Saturnus) dem Himmel vorſtand, ſorgenlos und den
Göttern ſelbſt ähnlich, von Arbeit und Kummer entfernt.
Auch die Leiden des Alters waren ihnen unbekannt; an
Händen, Füßen und allen Gliedern immer rüſtig, freuten ſie
ſich, von jeglichem Uebel frey, heiterer Gelage. Die ſe¬
ligen Götter hatten ſie lieb und ſchenkten ihnen auf rei¬
chen Fluren ſtattliche Heerden. Wenn ſie verſcheiden
ſollten, ſanken ſie nur in ſanften Schlaf. So lange ſie
aber lebten, hatten ſie alle möglichen Güter, das Erdreich
gewährte ihnen alle Früchte von ſelbſt und im Ueberfluſſe,
und ruhig mit allen Gütern geſegnet, vollbrachten ſie ihr
Tagewerk. Nachdem jenes Geſchlecht nach dem Beſchluſſe
des Schickſals von der Erde verſchwunden war, wurden
ſie zu frommen Schutzgöttern, welche, dicht in Nebel ge¬
hüllt, die Erde rings durchwandelten, als Geber alles
Guten, Behüter des Rechts, und Rächer aller Vergehungen.


Hierauf ſchufen die Unſterblichen ein zweites Men¬
ſchengeſchlecht aus Silber; dieſes war ſchon weit von
jenem abgeartet, und glich ihm weder an Körpergeſtal¬
tung, noch an Geſinnung. Sondern ganze hundert Jahre
wuchs der verzärtelte Knabe noch unmündig an Geiſt
unter der mütterlichen Pflege im Aelternhauſe auf, und
wenn einer endlich zum Jünglingsalter herangereift war,
[12] ſo blieb ihm nur noch kurze Friſt zum Leben übrig. Un¬
vernünftige Handlungen ſtürzten dieſe neuen Menſchen
in Jammer, denn ſie konnten ſchon ihre Leidenſchaften
nicht mehr mäßigen und frevelten im Uebermuthe gegen
einander. Auch die Altäre der Götter wollten ſie nicht
mehr mit den gebührenden Opfern ehren. Deßwegen
nahm Jupiter dieſes Geſchlecht wieder von der Erde hin¬
weg, denn ihm gefiel nicht, daß ſie der Ehrfurcht gegen
die Unſterblichen ermangelten. Doch waren auch dieſe
noch nicht ſo entblößt von Vorzügen, daß ihnen nach
ihrer Entfernung aus dem Leben nicht einige Ehre zum
Antheil geworden wäre, und ſie durften als ſterbliche
Dämonen noch auf der Erde umherwandeln.


Nun erſchuf der Vater Zeus (Jupiter) ein drittes
Geſchlecht von Menſchen, dieſes nur aus Erz. Das war
auch dem ſilbernen völlig ungleich, grauſam, gewaltthä¬
tig, immer nur den Geſchäften des Krieges ergeben, im¬
mer Einer auf des Andern Beleidigung ſinnend. Sie
verſchmähten es von den Früchten des Feldes zu eſſen
und nährten ſich vom Thierfleiſche; ihr Starrſinn war
hart wie Diamant, ihr Leib von ungeheurem Gliederbau;
Hände wuchſen ihnen von den Schultern, denen niemand
nahekommen durfte. Ihr Gewehr war Erz, ihre Woh¬
nung Erz, mit Erz beſtellten ſie das Feld; denn Eiſen
war damals noch nicht vorhanden. Sie kehrten ihre
eigenen Hände gegen einander; aber ſo groß und entſetzlich
ſie waren, ſo vermochten ſie doch nichts gegen den ſchwar¬
zen Tod und ſtiegen, vom hellen Sonnenlichte ſcheidend,
in die ſchaurige Nacht der Unterwelt hernieder.


Als die Erde auch dieſes Geſchlecht eingehüllt hatte,
brachte Zeus, der Sohn des Kronos, ein viertes Geſchlecht
[13] hervor, das auf der nährenden Erde wohnen ſollte. Dieß
war wieder edler und gerechter, als das vorige. Es
war das Geſchlecht der göttlichen Heroen, welche die
Vorwelt auch Halbgötter genannt hat. Zuletzt vertilgte
aber auch ſie Zwietracht und Krieg, die Einen vor den
ſieben Thoren Thebe's wo ſie um das Reich des Königes
Oedipus kämpften, die Andern auf dem Gefilde Troja's,
wohin ſie um der ſchönen Helena willen zahllos auf
Schiffen gekommen waren. Als dieſe ihr Erdenleben in
Kampf und Noth beſchloſſen hatten, ordnete ihnen der
Vater Zeus ihren Sitz am Rande des Weltalls an, im
Ocean, auf den Inſeln der Seligen. Dort führen ſie
nach dem Tode ein glückliches und ſorgenfreies Leben,
wo ihnen der fruchtbare Boden dreimal im Jahre honig¬
ſüße Früchte zum Labſal emporſendet.


„Ach wäre ich,“ ſo ſeufzet der alte Dichter Heſio¬
dus, der dieſe Sage von den Menſchenaltern erzählt,
„wäre ich doch nicht ein Genoſſe des fünften Menſchen¬
geſchlechtes, das jetzt gekommen iſt; wäre ich früher ge¬
ſtorben, oder ſpäter geboren! denn dieſes Menſchenge¬
ſchlecht iſt ein eiſernes! Gänzlich verderbt, ruhen dieſe
Menſchen weder bei Tage noch bei Nacht von Kümmer¬
niß und Beſchwerden, immer neue nagende Sorgen ſchi¬
cken ihnen die Götter. Sie ſelbſt aber ſind ſich die größte
Plage. Der Vater iſt dem Sohne, der Sohn dem Vater
nicht hold, der Gaſt haßt den ihn bewirthenden Freund,
der Genoſſe den Genoſſen; auch unter Brüdern herrſcht
nicht mehr herzliche Liebe, wie vor Zeiten. Dem grauen
Haare der Aeltern ſelbſt wird die Ehrfurcht verſagt,
Schmachreden werden gegen ſie ausgeſtoßen, Mißhand¬
lungen müſſen ſie erdulden. Ihr grauſamen Menſchen,
[14] denket ihr denn gar nicht an das Göttergericht, daß ihr
euren abgelebten Aeltern den Dank für ihre Pflege nicht
erſtatten wollet? Ueberall gilt nur das Fauſtrecht; auf
Städteverwüſtung ſinnen ſie gegeneinander. Nicht der¬
jenige wird begünſtigt, der die Wahrheit ſchwört, der ge¬
recht und gut iſt; nein, nur den Uebelthäter, den ſchnö¬
den Frevler ehren ſie; Recht und Mäßigung gilt nichts
mehr, der Böſe darf den Edleren verletzen, trügeriſche,
krumme Worte ſprechen, falſches beſchwören. Deßwegen
ſind dieſe Menſchen auch ſo unglücklich. Schadenfrohe,
mißlautige Scheelſucht verfolgt ſie und grollt ihnen mit
dem neidiſchen Antlitz entgegen. Die Göttinnen der
Scham und der heiligen Scheu, welche ſich bisher doch
noch auf der Erde hatten blicken laſſen, verhüllen trau¬
rig ihren ſchönen Leib in das weiße Gewand, und ver¬
laſſen die Menſchen, um ſich wieder in die Verſammlung
der ewigen Götter zurückzuflüchten. Unter den ſterblichen
Menſchen blieb nichts als das traurige Elend zurück, und
keine Rettung von dieſem Unheil iſt zu erwarten.“


[15]

Deukalion und Pyrrha.

Als das eherne Menſchengeſchlecht auf Erden hauſte
und Jupiter, dem Weltbeherrſcher, ſchlimme Sage von
ſeinen Freveln zu Ohren gekommen, beſchloß er ſelbſt in
menſchlicher Bildung die Erde zu durchſtreifen. Aber
allenthalben fand er das Gerücht noch geringer als die
Wahrheit. Eines Abends in ſpäter Dämmerung trat er
unter das ungaſtliche Obdach des Arkadierkönigs Lykaon,
welcher durch Wildheit berüchtigt war. Er ließ durch
einige Wunderzeichen merken, daß ein Gott gekommen
ſey, und die Menge hatte ſich auf die Kniee geworfen.
Lykaon jedoch ſpottete über dieſe frommen Gebete. „Laßt
uns ſehen, ſprach er, ob es ein Sterblicher oder ein
Gott ſey!“ Damit beſchloß er im Herzen den Gaſt um
Mitternacht, wenn der Schlummer auf ihm laſtete, mit
ungeahntem Tode zu verderben. Noch vorher aber ſchlach¬
tete er einen armen Geißel, den ihm das Volk der Mo¬
loſſer geſandt hatte, kochte die halb lebendigen Glieder
in ſiedendem Waſſer, oder briet ſie am Feuer und ſetzte
ſie dem Fremdling zum Nachtmahle auf den Tiſch. Ju¬
piter, der alles durchſchaut hatte, fuhr vom Mahle em¬
por und ſandte die rächende Flamme über die Burg des
Gottloſen. Beſtürzt entfloh der König ins freie Feld.
Der erſte Wehlaut, den er ausſtieß, war ein Geheul,
ſein Gewand wurde zu Zotteln, ſeine Arme zu Beinen;
er war in einen blutdürſtigen Wolf verwandelt.


Jupiter kehrte in den Olymp zurück, hielt mit den
Göttern Rath, und gedachte das ruchloſe Menſchenge¬
ſchlecht zu vertilgen. Schon wollte er auf alle Länder
[16] die Blitze verſtreuen; aber die Furcht, der Aether möchte
in Flammen gerathen und die Achſe des Weltalls ver¬
lodern, hielt ihn ab. Er legte die Donnerkeile, welche
ihm die Cyklopen geſchmiedet, wieder bei Seite, und be¬
ſchloß, über die ganze Erde Platzregen vom Himmel zu
ſenden, und ſo unter Wolkengüſſen die Sterblichen auf¬
zureiben. Auf der Stelle ward der Nordwind ſammt
allen andern Wolken verſcheuchenden Winden in die Höh¬
len des Aeolus verſchloſſen, und nur der Südwind von
ihm ausgeſendet. Dieſer flog mit triefenden Schwingen
zur Erde hinab, ſein entſetzliches Antlitz bedeckte pech¬
ſchwarzes Dunkel, ſein Bart war ſchwer von Gewölk,
von ſeinem weißen Haupthaare rannte die Fluth, Nebel
lagerten auf der Stirne, aus dem Buſen troff ihm das
Waſſer. Der Südwind griff an den Himmel, faßte mit
der Hand die weit umherhangenden Wolken und fing an
ſie auszupreſſen. Der Donner rollte, gedrängte Regen¬
fluth ſtürzte vom Himmel; die Saat beugte ſich unter
dem wogenden Sturm, darnieder lag die Hoffnung des
Landmanns, verdorben war die langwierige Arbeit des
ganzen Jahres. Auch Neptunus, Jupiters Bruder, kam
ihm bei dem Zerſtörungswerke zu Hülfe, berief alle Flüſſe
zuſammen und ſprach: „Laßt euren Strömungen alle Zü¬
gel ſchießen, fallt in die Häuſer, durchbrechet die Dämme!“
Sie vollführten ſeinen Befehl, und Neptun ſelbſt durch¬
ſtach mit ſeinem Dreizack das Erdreich und ſchaffte durch
Erſchütterung den Fluthen Eingang. So ſtrömten die
Flüſſe über die offene Flur hin, bedeckten die Felder, riſ¬
ſen Baumpflanzungen, Tempel und Häuſer fort. Blieb
auch wo ein Pallaſt ſtehen, ſo deckte doch bald das Waſ¬
ſer ſeinen Giebel und die höchſten Thürme verbargen ſich
[17] im Strudel. Meer und Erde waren bald nicht mehr
unterſchieden; Alles war See, und geſtadeloſer See. Die
Menſchen ſuchten ſich zu retten, ſo gut ſie konnten; der
Eine erkletterte den höchſten Berg, der andere beſtieg einen
Kahn und ruderte nun über das Dach ſeines verſunkenen
Landhauſes oder über die Hügel ſeiner Weinpflanzungen
hin, daß der Kiel an ihnen ſtreifte. In den Aeſten der
Wälder arbeiteten ſich die Fiſche ab; den Eber, den ei¬
lenden Hirſch erjagte die Fluth; ganze Völker wurden
vom Waſſer hinweggerafft, und was die Welle verſchonte,
ſtarb den Hungertod auf den ungebauten Haidegipfeln.


Ein ſolcher hoher Berg ragte noch mit zwei Spitzen
im Lande Phocis über die Alles bedeckende Meerfluth
hervor. Es war der Parnaſſus. An ihn ſchwamm
Deukalion, des Prometheus Sohn, den dieſer gewarnt
und ihm ein Schiff erbaut hatte, mit ſeiner Gattin Pyrrha
im Rachen heran. Kein Mann, kein Weib war je er¬
funden worden, die an Rechtſchaffenheit und Götterſcheu
dieſe beiden übertroffen hätten. Als nun Jupiter vom Him¬
mel herab ſchauend die Welt von ſtehenden Sümpfen über¬
ſchwemmt und von den vielen tauſendmal Tauſenden nur
ein einziges Menſchenpaar übrig ſah, beide unſträflich, beide
andächtige Verehrer der Gottheit, da ſandte er den Nord¬
wind aus, ſprengte die ſchwarzen Wolken und hieß ihn
die Nebel entführen; er zeigte den Himmel der Erde,
und die Erde dem Himmel wieder. Auch Neptun der
Meeresfürſt legte den Dreizack nieder und beſänftigte die
Fluth. Das Meer erhielt wieder Ufer, die Flüſſe kehr¬
ten in ihr Bett zurück; Wälder ſtreckten ihre mit Schlamm
bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, Hügel folg¬
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 2[18] ten, endlich breitete ſich auch wieder ebenes Land aus,
und zuletzt war die Erde wieder da.


Deukalion blickte ſich um. Das Land war verwü¬
ſtet und in Grabesſtille verſenkt. Thränen rollten bei
dieſem Anblick über ſeine Wangen, und er ſprach zu ſei¬
nem Weibe Pyrrha: „Geliebte, einzige Lebensgenoſſin!
So weit ich in die Länder ſchaue, nach allen Weltgegen¬
den hin, kann ich keine lebende Seele entdecken. Wir
zwei bilden mit einander das Volk der Erde, alle andern
ſind in der Waſſerfluth untergegangen. Aber auch wir
ſind unſres Lebens noch nicht mit Gewißheit ſicher. Jede
Wolke, die ich ſehe, erſchreckt meine Seele noch. Und
wenn auch alle Gefahr vorüber iſt, was fangen wir
Einſamen auf der verlaſſenen Erde an? Ach, daß mich
mein Vater Prometheus die Kunſt gelernt hätte, Menſchen
zu erſchaffen und geformtem Thone Geiſt einzugießen!“ So
ſprach er, und das verlaſſene Paar fing an zu weinen;
dann warfen ſie vor einem halbzerſtörten Altar der Göttin
Themis ſich auf die Knie nieder und begannen zu der
Himmliſchen zu ſieben: „Sag' uns an, o Göttin, durch
welche Kunſt ſtellen wir unſer untergegangenes Geſchlecht
wieder her! O hilf der verſunkenen Welt wieder zum
Leben!“


„Verlaſſet meinen Altar, tönte die Stimme der Göt¬
tin, umſchleiert euer Haupt, löſet eure gegürteten Glieder,
und werfet die Gebeine eurer Mutter hinter den Rücken.“


Lange verwunderten ſich beide über dieſen räthſel¬
haften Götterſpruch. Pyrrha brach zuerſt das Schweigen.
„Verzeih mir, hohe Göttin, ſprach ſie, wenn ich zuſam¬
menſchaudre, wenn ich dir nicht gehorſame und meiner
Mutter Schatten nicht durch Zerſtreuung ihrer Gebeine
[19] kränken will!“ Aber dem Deukalion fuhr es durch den
Geiſt wie ein Lichtſtrahl. Er beruhigte ſeine Gattin mit
dem freundlichen Worte: „Entweder trügt mich mein
Scharfſinn oder die Worte der Götter ſind fromm und
verbergen keinen Frevel! Unſre große Mutter, das iſt
die Erde, ihre Knochen ſind die Steine; und dieſe,
Pyrrha, ſollen wir hinter uns werfen!“


Beide miſtrauten indeſſen dieſer Deutung noch lange.
Jedoch, was ſchadet die Probe, dachten ſie. So gingen
ſie dann ſeitwärts, verhüllten ihr Haupt, entgürteten ihre
Kleider, und warfen, wie ihnen befohlen war, die Steine
hinter ſich. Da ereignete ſich ein großes Wunder: das
Geſtein begann ſeine Härtigkeit und Spröde abzulegen,
wurde geſchmeidig, wuchs, gewann eine Geſtalt; menſch¬
liche Formen traten an ihm hervor, doch noch nicht deut¬
lich, ſondern rohen Gebilden, oder einer in Marmor
vom Künſtler erſt aus dem Groben herausgemeißelten
Figur ähnlich. Was jedoch an den Steinen Feuchtes
oder Erdigtes war, das wurde zu Fleiſch an dem Kör¬
per; das Unbeugſame, Feſte ward in Knochen verwandelt;
das Geäder in den Steinen blieb Geäder. So gewan¬
nen mit Hülfe der Götter in kurzer Friſt die vom Manne
geworfenen Steine männliche Bildung, die vom Weibe
geworfenen weibliche.


Dieſen ſeinen Ursprung verläugnet das menſchliche
Geſchlecht nicht, es iſt ein hartes Geſchlecht und tauglich
zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus
welchem Stamm es erwachſen iſt.


2*[20]

Io.

Inachus, der uralte Stammfürſt und König der Pe¬
lasger, hatte eine bildſchöne Tochter mit Namen Io. Auf
ſie war der Blick Jupiters, des Olympiſchen Herrſchers
gefallen, als ſie auf der Wieſe von Lerna der Herden ih¬
res Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr
entzündet, trat zu ihr in Menſchengeſtalt, und fing an,
ſie mit verführeriſchen Schmeichelworten zu verſuchen:
„O Jungfrau, glücklich iſt, der dich beſitzen wird; doch
iſt kein Sterblicher deiner werth, und du verdienteſt des
höchſten Jupiter Braut zu ſeyn! Wiſſe denn, ich bin Ju¬
piter. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags brennt
heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Hai¬
nes, der uns dort zur linken in ſeine Kühle einlädt; was
machſt du dir in der Gluth des Tages zu ſchaffen? Fürchte
dich doch nicht, den dunkeln Wald und die Schluchten,
in welchen das Wild hauſet, zu betreten. Bin doch Ich
da, dich zu ſchirmen, der Gott, der den Scepter des Him¬
mels führt, und die zackigen Blitze über den Erdboden
verſendet.“ Aber die Jungfrau floh vor dem Verſucher
mit eiligen Schritten, und ſie wäre ihm auf den Flügeln
der Angſt entkommen, wenn der verfolgende Gott ſeine
Macht nicht mißbraucht, und das ganze Land in dichte
Finſterniß gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende
der Nebel, und bald waren ihre Schritte gehemmt durch
die Furcht, an einen Felſen zu rennen, oder in einen
Fluß zu ſtürzen. So kam die unglückliche Jo in die
Gewalt des Gottes.


[21]

Juno, die Göttermutter, war längſt an die Treu¬
loſigkeit ihres Gatten gewöhnt, der ſich von ihrer Liebe
ab, und den Töchtern der Halbgötter und der Sterblichen
zuwandte; aber ſie vermochte ihren Zorn und ihre Eiferſucht
nicht zu bändigen, und mit immer wachem Mißtrauen be¬
obachtete ſie alle Schritte Jupiters auf der Erde. So
ſchaute ſie auch jetzt gerade auf die Gegenden hernieder,
wo ihr Gemahl ohne ihr Wiſſen wandelte. Zu ihrem
großen Erſtaunen bemerkte ſie plötzlich, wie der heitere
Tag auf Einer Stelle durch nächtlichen Nebel getrübt
wurde, und wie dieſer weder einem Strome, noch dem
dunſtigen Boden entſteige, noch ſonſt von einer natürlichen
Urſache herrühre. Da kam ihr ſchnell ein Gedanke an
die Untreue ihres Gatten; ſie ſpähte rings durch den
Olymp und fand ihn nicht. „Entweder ich täuſche mich,“
ſprach ſie ergrimmt zu ſich ſelbſt, „oder ich werde von
meinem Gatten ſchnöde gekränkt!“ Und nun fuhr ſie auf
einer Wolke vom hohen Aether zur Erde hernieder, und
gebot dem Nebel, der den Entführer mit ſeiner Beute
umſchloſſen hielt, zu weichen. Jupiter hatte die Ankunft
ſeiner Gemahlin geahnt und um ſeine Geliebte ihrer Rache
zu entziehen, verwandelte er die ſchöne Tochter des Ina¬
chus ſchnell in eine ſchmucke, ſchneeweiße Kuh. Aber auch
ſo war die holdſelige Jungfrau noch ſchön geblieben.
Juno, welche die Liſt ihres Gemahls alsbald durchſchaut
hatte, pries das ſtattliche Thier, und fragte, als wüßte
ſie nichts von der Wahrheit, wem die Kuh gehöre, von
wannen und welcherlei Zucht ſie ſey. Jupiter, in der
Noth und um ſie von weitrer Nachfrage abzuſchrecken, nahm
ſeine Zuflucht zu einer Lüge und gab vor, die Kuh ent¬
ſtamme der Erde. Juno gab ſich damit zufrieden, aber
[22] ſie bat ſich das ſchöne Thier von ihrem Gemahl zum
Geſchenke aus. Was ſollte der betrogene Betrüger ma¬
chen? Giebt er die Kuh her, ſo wird er ſeiner Geliebten
verluſtig; verweigert er ſie, ſo erregt er erſt recht den
Verdacht ſeiner Gemahlin, welche der Unglücklichen dann
raſches Verderben ſenden wird! So entſchloß er ſich denn,
für den Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten, und
ſchenkte die ſchimmernde Kuh, die er noch immer für un¬
entdeckt hielt, ſeiner Gemahlin. Juno knüpfte, ſcheinbar
beglückt durch die Gabe, dem ſchönen Thier ein Band um
den Hals, und führte die Unſelige, der ein verzweifelndes
Menſchenherz unter der Thiergeſtalt ſchlug, im Triumphe da¬
von. Doch machte der Gattin dieſer Diebſtahl ſelbſt Angſt und
ſie ruhte nicht, bis ſie ihre Nebenbuhlerin der ſicherſten
Hut überantwortet hatte. Daher ſuchte ſie den Argus,
den Sohn des Areſtor, auf, ein Ungethüm, das ihr zu
dieſem Dienſte beſonders geeignet ſchien. Denn Argus
hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar
abwechslungsweiſe ſich ſchloß und der Ruhe ergab, wäh¬
rend die übrigen alle, über Vorder- und Hinterhaupt wie
funkelnde Sterne zerſtreut, auf ihrem Poſten ausharrten.
Dieſen gab Juno der armen Io zum Wächter, damit ihr
Gemahl Jupiter die entriſſene Geliebte nicht entführen
könne. Unter ſeinen hundert Augen durfte Io, die Kuh,
des Tages über auf einer fetten Triſt weiden; Argus
aber ſtand in der Nähe und wo er ſich immer hinſtellen
mochte, erblickte er die ihm anvertraute; auch wenn er
ſich abwandte, und ihr das Hinterhaupt zukehrte, hatte
er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen
war, ſchloß er ſie ein, und belaſtete den Hals der un¬
glückſeligen mit Ketten; bittre Kräuter und Baumlaub
[23] waren ihre Speiſe, ihr Bett der harte, nicht einmal immer
mit Gras bedeckte Boden, ihr Trank ſchlammige Pfützen.
Io vergaß oft, daß ſie kein Menſch mehr war, ſie wollte
Mitleiden erflehend ihre Arme zu Argus erheben: da ward
ſie erſt daran erinnert, daß ſie keine Arme mehr hatte. Sie
wollte ihm in Worten rührende Bitten vortragen : dann ent¬
fuhr ihrem Munde ein Brüllen, daß ſie vor ihrer eigenen
Stimme erſchrack, welche ſie daran mahnte, wie ſie durch
ihres Räubers Selbſtſucht in ein Vieh verwandelt wor¬
den ſey. Doch blieb Argus mit ihr nicht an Einer Stelle,
denn ſo hatte es ihn Juno geheißen, die durch Verände¬
rung ihres Aufenthalts ſie dem Gemahl um ſo gewiſſer
zu entziehen hoffte. Daher zog ihr Wächter mit ihr im
Lande herum, und ſo kam ſie auch mit ihm in ihre alte
Heimath, an das Geſtade des Fluſſes, wo ſie ſo oft als
Kind zu ſpielen gepflegt hatte. Da ſah ſie zum erſten¬
mal ihr Bild in der Fluth; als das Thierhaupt mit
Hörnern ihr aus dem Waſſer entgegenblickte, ſchauderte
ſie zurück und floh beſtürzt vor ſich ſelbſt. Ein ſehnſüch¬
tiger Trieb führte ſie in die Nähe ihrer Schweſtern, in
die Nähe ihres Vaters Inachus; aber dieſe erkannten ſie
nicht; Inachus ſtreichelte wohl das ſchöne Thier, und
reichte ihm Blätter, die er von dem nächſten Strauche
pflückte; Io beleckte dankbar ſeine Hand, und benetzte ſie
mit Küſſen und heimlichen menſchlichen Thränen. Aber
wen er liebkoſte, und von wem er geliebkost wurde, das
ahnete der Greis nicht. Endlich kam der Armen, deren
Geiſt unter der Verwandlung nicht gelitten hatte, ein
glücklicher Gedanke. Sie fing an, Schriftzeichen mit dem
Fuße zu ziehen, und erregte durch dieſe Bewegung die Auf¬
merkſamkeit des Vaters, der bald im Staube die Kunde
[24] las, daß er ſein eigenes Kind vor ſich habe. „Ich Un¬
glückſeliger,“ rief der Greis bei dieſer Entdeckung aus,
indem er ſich an Horn und Nacken der ſtöhnenden Toch¬
ter hing, „ſo muß ich dich wiederfinden, die ich durch alle
Länder geſucht habe! Wehe mir, du haſt mir weniger
Kummer gemacht, ſo lange ich dich ſuchte, als jetzt, wo
ich dich gefunden habe! Du ſchweigſt? Du kannſt mir
kein tröſtendes Wort ſagen, mir nur mit einem Gebrüll
antworten! Ich Thor, einſt ſann ich darauf, wie ich dir
einen würdigen Eidam zuführen könnte, und dachte nur an
Brautfackel und Vermählung. Nun biſt du ein Kind der
Herde —“ Argus, der grauſame Wächter, ließ den jam¬
mernden Vater nicht vollenden, er riß ſie von dem Vater
hinweg und ſchleppte ſie fort, auf einſame Waiden. Dann
klomm er ſelbſt einen Berggipfel empor und verſah ſein
Amt, indem er mit ſeinen hundert Augen wachſam nach
allen vier Winden hinauslugte.


Jupiter konnte das Leid der Inachustochter nicht
länger ertragen. Er rief ſeinem geliebten Sohne Merkur,
und befahl ihm, ſeine Liſt zu brauchen, und dem verhaßten
Wächter das Augenlicht auszulöſchen. Dieſer beflügelte ſeine
Füſſe, ergriff mit der mächtigen Hand ſeine einſchläfernde
Ruthe und ſetzte ſeinen Reiſehut auf. So fuhr er von dem
Pallaſte ſeines Vaters zur Erde nieder. Dort legte er
Hut und Schwingen ab, und behielt nur den Stab; ſo
ſtellte er einen Hirten vor, lockte Ziegen an ſich und trieb
ſie auf die abgelegenen Fluren, wo Io waidete und Argus
die Wache hielt. Dort angekommen, zog er ein Hirten¬
rohr, das man Syringe nennt, hervor und fing an ſo
anmuthig und voll zu blaſen, wie man von irdiſchen Hir¬
ten zu vernehmen nicht gewohnt iſt. Der Diener Juno's
[25] freute ſich dieſes ungewohnten Schalles, erhob ſich von
ſeinem Felſenſitze und rief hernieder: „Wer du auch ſeyn
magſt, willkommener Rohrbläſer, du konnteſt wohl bei mir
auf dieſem Felſen hier ausruhen. Nirgends iſt der Gras¬
wuchs üppiger für das Vieh, als hier, und du ſiehſt,
wie behaglich der Schatten dieſer dicht gepflanzten Bäume
für den Hirten iſt!“ Merkur dankte dem Rufenden,
ſtieg hinauf und ſetzte ſich zu dem Wächter, mit
welchem er eifrig zu plaudern anfing, und ſich ſo
ernſtlich ins Geſpräch vertiefte, daß der Tag herumging,
ehe Argus ſich deſſen verſah. Dieſem begannen die Au¬
gen zu ſchläfern, und nun griff Merkur wieder zu ſeinem
Rohre, und verſuchte ſein Spiel, um ihn vollends in
Schlummer zu wiegen. Aber Argus, der an den Zorn
ſeiner Herrin dachte, wenn er ſeine Gefangene ohne Feſ¬
ſeln und Obhut ließe, kämpfte mit dem Schlaf, und wenn
ſich auch der Schlummer in einen Theil ſeiner Augen ein¬
ſchlich, ſo wachte er doch fortdauernd mit dem andern
Theile, nahm ſich zuſammen, und, da die Rohrpfeife erſt
kürzlich erfunden worden war, ſo fragte er ſeinen Geſel¬
len nach dem Urſprunge dieſer Erfindung. „Das will ich
dir gerne erzählen,“ ſagte Merkur, „wenn du in dieſer
ſpäten Abendſtunde Geduld und Aufmerkſamkeit genug
haſt, mich anzuhören. In den Schneegebirgen Arkadiens
wohnte eine berühmte Hamadryade (Baumnymphe), mit
Namen Syringe. Die Waldgötter und Satyrn, von ih¬
rer Schönheit bezaubert, verfolgten ſie ſchon lange mit
ihrer Werbung, aber immer wußte ſie ihnen zu entſchlü¬
pfen. Denn ſie ſcheute das Joch der Vermählung, und
wollte, umgürtet und jagdliebend wie Diana, gleich dieſer
in jungfräulichem Stande verharren. Endlich wurde auf
[26] ſeinen Streifereien durch jene Wälder auch der mächtige
Gott Pan die Nymphe anſichtig, näherte ſich ihr und
warb um ihre Hand dringend und im ſtolzen Bewußtſeyn
ſeiner Hoheit. Aber die Nymphe verſchmähte ſein Flehen
und flüchtete vor ihm durch unwegſame Steppen, bis ſie
zuletzt an das langſame Waſſer des verſandeten Fluſſes
Ladon kam, deſſen Wellen doch noch tief genug waren,
der Jungfrau den Uebergang zu wehren. Hier beſchwor
ſie ihre Schutzgöttin Diana, ehe ſie in die Hand des
Gottes fiele, ihrer Verehrerin ſich zu erbarmen und ſie
zu verwandeln. Indem kam der Gott herangeflogen und
umfaßte die am Ufer zögernde; aber wie ſtaunte er, als
er, ſtatt eine Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr
umfaßt hielt; ſeine lauten Seufzer zogen vervielfältigt
durch das Rohr, und wiederholten ſich mit tiefem, kla¬
gendem Geſäuſel. Der Zauber dieſes Wohllautes tröſtete
den getäuſchten Gott. Wohl denn, verwandelte Nymphe,
rief er mit ſchmerzlicher Freude, auch ſo ſoll unſre Ver¬
bindung unauflöslich ſeyn! Und nun ſchnitt er ſich von
dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verknüpfte
ſie mit Wachs unter einander und nannte die lieblichtö¬
nende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade,
und ſeitdem heißt dieſes Hirtenrohr Syringe . . . .“


So lautete die Erzählung Merkurs, bei welcher er
den hundertäugigen Wächter unausgeſetzt im Auge be¬
hielt. Die Mähre war noch, nicht zu Ende, als er ſah,
wie ein Auge um das andere ſich unter der Decke gebor¬
gen hatte, und endlich alle die hundert Leuchten in dich¬
tem Schlaf erloſchen waren. Nun hemmte der Götter¬
bote ſeine Stimme, berührte mit ſeinem Zauberſtabe alle
die hundert eingeſchläferten Augenlieder und verſtärkte ihre
[27] Betäubung. Während nun der hundertäugige Argus in
tiefem Schlafe nickte, griff Merkur ſchnell zu dem Sichel¬
ſchwerte, das er unter ſeinem Hirtenrocke verborgen trug,
und hieb ihm den geſenkten Nacken, da wo der Hals zu¬
nächſt an den Kopf grenzt, durch und durch. Kopf und
Rumpf ſtürzten nach einander von Felſen herab und färb¬
ten das Geſtein mit einem Strome von Blut.


Nun war Jo befreit und obwohl noch unverwandelt,
rannte ſie ohne Feſſeln davon. Aber den durchdringenden
Blicken Juno's entging nicht, was in der Tiefe geſchehen
war. Sie dachte auf eine ausgeſuchte Qual für ihre
Nebenbuhlerin und ſandte ihr eine Bremſe, die das un¬
glückliche Geſchöpf durch ihren Stich zum Wahnſinne
trieb. Dieſe Qual jagte die Geängſtigte mit ihrem Sta¬
chel landflüchtig über den ganzen Erdkreis, zu den Scy¬
then, an den Kaukaſus, zum Amazonenvolke, zum Cimme¬
riſchen Iſthmus und an die Maeotiſche See; dann hin¬
über nach Aſien und endlich nach langem verzweiflungs¬
vollem Irrlaufe nach Aegypten. Hier am Strande des
Nilufers angelangt, ſank Jo auf ihre Vorderfüße nieder
und hob, den Hals rücklings gebogen, ihre ſtummen Au¬
gen zum [Olymp] empor, mit einem Blicke voll Haders
gegen Jupiter. Den jammerte dieſes Anblickes; er eilte
zu ſeiner Gemahlin Juno, umfing ihren Hals mit den Ar¬
men, flehte um Barmherzigkeit für das arme Mädchen,
das ſchuldlos an ſeiner Verirrung war, und ſchwor ihr
beim Waſſer der Unterwelt, bei dem die Götter ſchwören,
von ſeiner Neigung zu ihr hinfort ganz abzulaſſen. Juno
hörte während dieſer Bitte das flehentliche Brüllen der
Kuh, das zum Olymp emporſtieg. Da ließ ſich die Göt¬
termutter erweichen, und gab dem Gemahle Vollmacht,
[28] der Mißſtalteten den menſchlichen Leib zurückzugeben.
Jupiter eilte zur Erde nieder und an den Nil. Hier
ſtrich er der Kuh mit der Hand über den Rücken: da
war es wunderbar anzuſchauen. Die Zotteln flohen vom
Leibe des Thieres, das Gehörn ſchrumpfte zuſammen, die
Scheibe der Augen verengte ſich, das Maul zog ſich zu
Lippen zuſammen, Schultern und Hände kehrten wieder,
die Klauen verſchwanden, nichts blieb von der Kuh übrig
als die ſchöne weiße Farbe. In ganz verwandelter Ge¬
ſtalt erhob ſich Io vom Boden und ſtand aufrecht in
menſchlicher Schönheit leuchtend. Am Nilſtrome gebar
ſie dem Jupiter den Epaphus, und weil das Volk die
wunderbar Verwandelte und Errettete göttergleich ehrte,
ſo herrſchte ſie lange mit Fürſtengewalt über jene Lande.
Doch blieb ſie auch ſo nicht ganz von Juno's Zorne ver¬
ſchont. Dieſe ſtiftete das wilde Volk der Kureten auf,
ihren jungen Sohn Epaphus zu entführen, und nun
trat ſie aufs neue eine lange vergebliche Wanderung an,
den Geraubten aufzuſuchen. Endlich, nachdem Jupiter
die Kureten mit dem Blitz erſchlagen, fand ſie den ent¬
führten Sohn an der Gränze Aethiopiens wieder, kehrte
mit ihm nach Aegypten zurück und ließ ihn an ihrer
Seite herrſchen. Er heirathete die Memphis, und dieſe
gebar ihm Libya, von der das Land Libyen den Namen
erhielt. Mutter und Sohn wurden von dem Nilvolke
nach beider Tode mit Tempeln geehrt, und erhielten, ſie
als Iſis, er als Apis, göttliche Verehrung.


[29]

Phaethon.

Auf herrlichen Säulen erbaut, ſtand die Königsburg
des Sonnengottes, von blitzendem Gold und glühendem
Karfunkel ſchimmernd; den oberſten Giebel umſchloß
blendendes Elfenbein, gedoppelte Thüren ſtrahlten in Sil¬
berglanz, darauf in erhabener Arbeit die ſchönſten Wun¬
dergeſchichten zu ſchauen waren. In dieſen Pallaſt trat
Phaethon, der Sohn des Sonnengottes Phöbus,
und verlangte den Vater zu ſprechen. Doch ſtellte er ſich
nur von ferne hin, denn in der Nähe war das ſtrahlende
Licht nicht zu ertragen. Der Vater Phöbus, von Pur¬
purgewand umhüllt, ſaß auf ſeinem fürſtlichen Stuhle,
der mit glänzenden Smaragden beſetzt war; zu ſeiner
Rechten und ſeiner Linken ſtand ſein Gefolge geordnet,
der Tag, der Monat, das Jahr, die Jahrhunderte und
die Horen; der jugendliche Lenz mit ſeinem Blüthenkranze,
der Sommer mit Aehrengewinden bekränzt, der Herbſt
mit einem Füllhorn voll Trauben, der eiſige Winter mit
ſchneeweißen Haaren. Phöbus, in ihrer Mitte ſitzend,
wurde mit ſeinem allſchauenden Auge bald den Jüngling
gewahr, der über ſo viele Wunder ſtaunte. „Was iſt
der Grund deiner Wallfahrt, ſprach er, was führt dich
in den Pallaſt deines göttlichen Vaters, mein Sohn?“
Phaethon antwortete: „Erlauchter Vater, man ſpottet
mein auf Erden, und beſchimpft meine Mutter Klymene.
Sie ſprechen, ich erheuchle nur himmliſche Abkunft, und
ſey von einem dunkeln Vater geboren. Darum komme
ich, von dir ein Unterpfand zu erbitten, das mich vor
aller Welt als deinen wirklichen Sprößling darſtelle.“
[30] So ſprach er; da legte Phöbus die Strahlen, die ihm
rings das Haupt umleuchten, ab, und hieß ihn näher
herantreten; dann umarmte er ihn und ſprach: „deine
Mutter Klymene hat die Wahrheit geſagt, mein Sohn, und
ich werde dich vor der Welt nimmermehr verläugnen.
Damit du aber ja nicht ferner zweifelſt, ſo erbitte dir
ein Geſchenk! Ich ſchwöre beim Styx, dem Fluſſe der
Unterwelt, bei welchem alle Götter ſchwören, deine Bitte,
welche ſie auch ſey, ſoll dir erfüllt werden!“ Phaethon ließ
den Vater kaum ausreden. „So erfülle mir denn, ſprach
er, meinen glühendſten Wunſch, und vertraue mir nur auf
einen Tag die Lenkung deines geflügelten Sonnenwagens.“


Schrecken und Reue ward ſichtbar auf dem Ange¬
ſichte des Gottes. Drei, viermal ſchüttelte er ſein um¬
leuchtetes Haupt und rief endlich: „O Sohn, du haſt
mich ein ſinnloſes Wort ſprechen laſſen! O dürfte ich
dir doch meine Verheißung nimmermehr gewähren! Du
verlangſt ein Geſchäft, dem deine Kräfte nicht gewachſen
ſind; du biſt zu jung; du biſt ſterblich, und was du
wünſcheſt, iſt ein Werk der Unſterblichen! Ja, du erſtre¬
beſt ſogar mehr, als den übrigen Göttern zu erlangen
vergönnt iſt. Denn auſſer mir vermag keiner von ihnen
auf der gluthenſprühenden Axe zu ſtehen. Der Weg, den
mein Wagen zu machen hat, iſt gar ſteil, mit Mühe er¬
klimmt ihn in der Frühe des Morgens mein noch friſches
Roſſegeſpann. Die Mitte der Laufbahn iſt zu oberſt am
Himmel. Glaube mir, wenn ich auf meinem Wagen in
ſolcher Höhe ſtehe, da kommt mich oft ſelbſt ein Grauſen
an und mein Haupt droht ein Schwindel zu faſſen, wenn
ich ſo herniederblicke in die Tiefe, und Meer und Land
weit unter mir liegt. Zuletzt iſt dann die Straße ganz
[31] abſchüſſig, da bedarf es gar ſicherer Lenkung. Die Mee¬
resgöttin Thetis ſelbſt, die mich dann in ihre Fluthen
aufzunehmen bereit iſt, pflegt alsdann zu befürchten, ich
möchte in die Tiefe geſchmettert werden. Dazu bedenke,
daß der Himmel ſich in beſtändigem Umſchwunge dreht,
und ich dieſem reißenden Kreislaufe entgegen fahren muß.
Wie vermöchteſt du das, wenn ich dir auch meinen Wa¬
gen gäbe? Darum geliebter Sohn, verlange nicht ein ſo
ſchlimmes Geſchenk, und beſſere deinen Wunſch, ſo lange
es noch Zeit iſt. Sieh mein erſchrecktes Geſicht an. O
könnteſt du durch meine Augen in mein ſorgenvolles Va¬
terherz eindringen! Verlange, was du ſonſt willſt von
allen Gütern des Himmels und der Erde! Ich ſchwöre
dir beim Styx, du ſollſt es haben! Was umarmſt du
mich mit ſolchem Ungeſtüm?“


Aber der Jüngling ließ mit Flehen nicht ab, und
der Vater hatte den heiligen Schwur geſchworen. So
nahm er denn ſeinen Sohn bei der Hand und führte ihn
zu dem Sonnenwagen, Vulkans herrlicher Arbeit. Achſe,
Deichſel und der Kranz der Räder waren von Gold, die
Speichen Silber; vom Joche ſchimmerten Chryſolithen
und Juwelen. Während Phaethon die herrliche Arbeit
beherzt anſtaunte, thut im gerötheten Oſten die erwachte
Morgenröthe ihr Purpurthor und ihren Vorſaal, der
voll Roſen iſt, auf. Die Sterne verſchwinden allmählig,
der Morgenſtern iſt der letzte, der ſeinen Poſten am Him¬
mel verläßt, und die äußerſten Hörner des Mondes ver¬
lieren ſich am Rande. Jetzt giebt Phöbus den geflügel¬
ten Horen den Befehl, die Roſſe zu ſchirren; und dieſe
führen die gluthſprühenden Thiere, von Ambroſia geſät¬
tigt, von den erhabenen Krippen und legen ihnen herr¬
[32] liche Zäume an. Während dieß geſchieht, beſtrich der
Vater das Antlitz ſeines Sohnes mit einer heiligen Salbe,
und machte es dadurch geſchickt, die glühende Flamme zu
ertragen. Um das Haupthaar legte er ihm ſeine Strah¬
lenſonne, aber er ſeufzte dazu, und ſprach warnend:
„Kind, ſchone mir die Stacheln, brauche wacker die Zügel;
denn die Roſſe rennen ſchon von ſelbſt, und es koſtet
Mühe, ſie im Fluge zu halten; die Straße geht ſchräg
in weit umbiegender Krümmung; den Südpol wie
den Nordpol mußt du meiden. Du erblickſt deutlich
die Gleiſe der Räder. Senke dich nicht zu tief, ſonſt
geräth die Erde in Brand; ſteige nicht zu hoch, ſonſt
verbrennſt du den Himmel. Auf, die Finſterniß flieht,
nimm die Zügel zur Hand; oder — noch iſt es Zeit;
beſinne dich, liebes Kind; überlaß den Wagen mir, laß
mich der Welt das Licht ſchenken, und bleibe du Zu¬
ſchauer!“


Der Jüngling ſchien die Worte des Vaters gar
nicht zu hören, er ſchwang ſich mit einem Sprung auf
den Wagen, ganz erfreut, die Zügel in den Händen zu
haben, und nickte dem unzufriedenen Vater einen kurzen,
freundlichen Dank. Mittlerweile füllten die vier Flügel¬
roſſe mit gluthathmendem Wiehern die Luft und ihr Huf
ſtampfte gegen die Barren. Thetis, Phaethons Großmut¬
ter, welcher nichts vom Looſe des Enkels ahnte, that
dieſe auf; die Welt lag in unendlichem Raume vor den
Blicken des Knaben, die Roſſe flogen die Bahn aufwärts,
und ſpalteten die Morgennebel, die vor ihnen lagen.


Inzwiſchen fühlten die Roſſe wohl, daß ſie nicht die
gewohnte Laſt tragen, und das Joch leichter ſey, als ge¬
wöhnlich; und wie Schiffe, wenn ſie das rechte Gewicht
[33] nicht haben, im Meere ſchwanken, ſo machte der Wagen
Sprünge in der Luft, ward hoch empor geſtoßen und
rollte dahin, als wäre er leer. Als das Roſſegeſpann
dieß merkte, rannte es, die gebahnten Räume verlaſſend,
und lief nicht mehr in der vorigen Ordnung. Phaethon
fing an zu erbeben, er wußte nicht, wohin die Zügel
lenken, wußte den Weg nicht, wußte nicht, wie er die
wilden Roſſe bändigen ſollte. Als nun der Unglückliche
hoch vom Himmel abwärts ſah, auf die tief, tief unter
ihm ſich hinſtreckenden Länder, wurde er blaß und ſeine
Kniee zitterten von plötzlichem Schrecken. Er ſah rück¬
wärts; ſchon lag viel Himmel hinter ihm, aber mehr noch
vor ſeinen Augen. Beides ermaß er in ſeinem Geiſte.
Unwiſſend, was beginnen, ſtarrte er in die Weite, ließ
die Zügel nicht nach, zog ſie auch nicht weiter an; er
wollte den Roſſen rufen, aber er kannte ihre Namen
nicht. Mit Grauen ſah er die mannigfaltigen Stern¬
bilder an, die in abentheuerlichen Geſtalten am Himmel
herumhingen. Da ließ er, von kaltem Entſetzen gefaßt,
die Zügel fahren, und wie dieſe herabſchlotternd den
Rücken der Pferde berührten, ſo verließen die Roſſe ihre
Spur, ſchweiften ſeitwärts in fremde Luftgebiete, gingen
bald hoch empor, bald tief hernieder, jetzt ſtießen ſie an den
Fixſternen an, jetzt wurden ſie auf abſchüſſigem Pfade in
die Nachbarſchaft der Erde herabgeriſſen. Schon berühr¬
ten ſie die erſte Wolkenſchichte, die bald entzündet auf¬
dampfte. Immer tiefer ſtürzte der Wagen, und unver¬
ſehens war er einem Hochgebirge nahe gekommen. Da
lechzte vor Hitze der Boden, ſpaltete ſich, und weil plötz¬
lich alle Säfte austrockneten, fing er an zu glimmen;
das Haidegras wurde weißgelb und welkte hinweg; wei¬
Schwab, das klaſſ. Altherthum. I. 3[34] ter unten loderte das Laub der Waldbäume auf; bald
war die Glut bei der Ebene angekommen: nun wurde
die Saat weggebrannt; ganze Städte loderten in Flam¬
men auf, Länder mit all ihrer Bevölkerung wurden ver¬
ſengt; rings brannten Hügel, Wälder und Berge. Da¬
mals ſollen auch die Mohren ſchwarz geworden ſeyn.
Die Ströme verſiegten, oder flohen erſchreckt nach ihrer
Quelle zurück, das Meer ſelbſt wurde zuſammengedrängt,
und was jüngſt noch See war, wurde trockenes Sand¬
feld.


An allen Seiten ſah Phaethon den Erdkreis entzün¬
det; ihm ſelbſt wurde die Gluth bald unerträglich; wie
tief aus dem Innern einer Feuereſſe athmete er ſiedende
Luft ein, und fühlte unter ſeinen Sohlen wie der Wagen
erglühe. Schon konnte er den Dampf und die vom Erd¬
brand emporgeſchleuderte Aſche nicht mehr ertragen;
Qualm und pechſchwarzes Dunkel umgab ihn; das Flü¬
gelgeſpann riß ihn nach Willkühr fort; endlich ergriff
die Gluth ſeine Haare, er ſtürzte aus dem Wagen, und
brennend wurde er durch die Luft gewirbelt, wie zuweilen
ein Stern bei heiterer Luft durch den Himmel zu ſchieſſen
ſcheint. Ferne von der Heimath nahm ihn der breite
Strom Eridanos auf und beſpülte ihm ſein ſchäumendes
Angeſicht.


Phöbus der Vater, der dieß Alles mit anſehen mußte,
verhüllte ſein Haupt in brütender Trauer. Damals, ſagt
man, ſey ein Tag der Erde ohne Sonnenlicht vorüberge¬
flohen. Der ungeheure Brand leuchtete allein.


[35]

Europa.

Im Lande Tyrus und Sidon erwuchs die Jungfrau
Europa, die Tochter des Königes Agenor, in der tiefen
Abgeſchiedenheit des väterlichen Pallaſtes. Zu dieſer
ward nachmitternächtlicher Weile, wo untrügliche Träu¬
me die Sterblichen beſuchen, ein ſeltſames Traum¬
bild vom Himmel geſendet. Es kam ihr vor, als er¬
ſchienen zwei Welttheile in Frauengeſtalt, Aſien und
der gegenüberliegende, und ſtritten um ihren Beſitz. Die
eine der Frauen hatte die Geſtalt einer Fremden; die
andere — und dieß war Aſien — glich an Ausſehen
und Geberde einer Einheimiſchen. Dieſe wehrte ſich mit
zärtlichem Eifer für ihr Kind Europa, ſpreche [...], daß ſie
es ſey, welche die geliebte Tochter geboren und geſäugt
hätte. Das fremde Weib aber umfaßte ſie, wie einen
Raub, mit gewaltigen Armen, und zog ſie mit ſich fort,
ohne daß Europa im Innern zu widerſtreben vermochte.
„Komm nur mit mir, Liebchen, ſprach die Fremde, ich
trage dich als Beute dem Aegiserſchütterer Jupiter ent¬
gegen; ſo iſt dirs vom Geſchicke beſchieden.“ Mit klopfen¬
dem Herzen erwachte Europa, und richtete ſich vom La¬
ger auf, denn das Nachtgeſicht war hell wie ein Anblick
des Tages geweſen. Lange Zeit ſaß ſie unbeweglich auf¬
recht im Bette, vor ſich hinſtarrend, und vor ihren weit
aufgethanen Augenſternen ſtanden noch die beiden Weiber.
Erſt ſpät öffneten ſich ihre Lippen zum bangen Selbſtge¬
ſpräche: „Welcher Himmliſche, ſprach ſie, hat mir dieſe
Bilder zugeſchickt? Was für wunderbare Träume haben
mich aufgeſchreckt, die im Vaterhauſe ſüß und ſicher
3 *[36] ſchlummerte? Wer war doch die Fremde, die ich im
Traume geſehen? Welch eine wunderbare Sehnſucht nach
ihr regt ſich in meinem Herzen! Und wie iſt ſie ſelbſt
mir ſo liebreich entgegen gekommen und, auch als ſie mich
gewaltſam entführte, mit welchem Mutterblicke hat ſie
mich angelächelt! Mögen die ſeligen Götter mir den
Traum zum Beſten kehren!“


Der Morgen war herangekommen; der helle Tages¬
ſchein verwiſchte den nächtlichen Schimmer des Traumes
aus der Seele der Jungfrau, und Europa erhub ſich zu
den Beſchäftigungen und Freuden ihres jungfräulichen
Lebens. Bald ſammelten ſich um ſie ihre Altersgenoſſin¬
nen und Geſpielinnen, Töchter der erſten Häuſer, welche
ſie zu Chortänzen, Opfern und Luſtgängen zu begleiten
pflegten. Auch jetzt kamen ſie, ihre Herrin zu einem
Gange nach den blumenreichen Wieſen des Meeres ein¬
zuladen, wo ſich die Mädchen der Gegend ſchaarenweiſe
zu verſammeln und am üppigen Wuchſe der Blumen und
am rauſchenden Halle des Meeres zu erfreuen pflegten.
Alle Mädchen waren in ſchmucke blumengeſtickte Gewande
gekleidet; Europa ſelbſt trug ein wunderwürdiges Gold¬
geſticktes Schleppkleid voll glänzender Bilder aus der
Götterſage; das herrliche Gewand war ein Werk des
Vulkanus, ein uraltes Göttergeſchenk des Erderſchütterers
Neptunus, das dieſer der Libya geſchenkt hatte, als er
um ſie warb. Aus ihrem Beſitze war es von Hand zu
Hand als Erbſtück in das Haus des Agenor gekommen.
Mit dieſem Brautſchmuck angethan eilte die holdſelige
Europa an der Spitze ihrer Geſpielinnen den Meereswieſen
zu, die voll der bunteſten Blumen ſtanden. Jubelnd zer¬
ſtreute ſich die Schaar der Mädchen da und dorthin, jede
[37] ſuchte ſich eine Blume auf, die nach ihrem Sinne war.
Die eine pflückte die glänzende Narciſſe, die andere wandte
ſich der Balſam ausſtrömenden Hyacinthe zu, eine dritte
erwählte ſich das ſanfter duftende Veilchen, andern gefiel
der gewürzige Quendel, wieder andere mähten den gel¬
ben lockenden Krokus. So flogen die Geſpielinnen hin
und her; Europa aber hatte bald ihr Ziel gefunden, ſie
ſtand, wie unter den Grazien die ſchaumgeborne Liebes¬
göttin, alle ihre Genoſſinnen überragend und hielt hoch
in der Hand einen vollen Strauß von glühenden Roſen.


Als ſie genug Blumen geſammelt, lagerten ſich die
Jungfrauen, ihre Fürſtin in der Mitte, harmlos auf dem
Raſen und fingen an Kränze zu flechten, die ſie, den
Nymphen der Wieſe zum Dank, an grünenden Bäumen
aufhängen wollten. Aber nicht lange ſollten ſie ihren
Sinn an den Blumen ergötzen, denn in das ſorgloſe Ju¬
gendleben Europa's griff unverſehens das Schickſal ein,
das ihr der Traum der verſchwundenen Nacht geweiſ¬
ſagt hatte. Jupiter, der Kronide, war von den Geſchoßen
der Liebesgöttin, die allein auch den unbezwungenen Götterva¬
ter zu beſiegen vermochten, getroffen und von der Schönheit
der jungen Europa ergriffen worden. Weil er aber den
Zorn der eiferſüchtigen Juno fürchtete, auch nicht hoffen
durfte, den unſchuldigen Sinn der Jungfrau zu bethören,
ſo ſann der verſchlagene Gott auf eine neue Liſt. Er
verwandelte ſeine Geſtalt, und wurde ein Stier. Aber
welch ein Stier! Nicht, wie er auf gemeiner Wieſe geht,
oder unters Joch gebeugt den ſchwer beladenen Wagen
zieht; nein, groß, herrlich von Geſtalt, mit ſchwellenden
Muskeln am Halſe und vollen Wampen am Bug, ſeine
Hörner waren zierlich und klein, wie von Händen gedrech¬
[38] ſelt und durchſichtiger, als reine Juwelen; goldgelb war
ſeine Leibfarbe, nur mitten auf der Stirne ſchimmerte ein
ſilberweißes Maal, dem gekrümmten Horne des wachſen¬
den Mondes ähnlich; bläulichte, von Verlangen funkelnde
Augen rollten ihm im Kopfe.


Ehe Jupiter dieſe Verwandlung mit ſich vornahm, rief er
zu ſich auf den Olymp den Merkurius und ſprach, ohne ihm et¬
was von ſeinen Abſichten zu enthüllen: „Spute dich, lieber
Sohn, getreuer Vollbringer meiner Befehle! Siehſt du dort un¬
ten das Land, das links zu uns emporblickt? Es iſt Phönicien:
dieſes betritt, und treibe mir das Vieh des Königes Age¬
nor, das du auf den Bergtriften weidend finden wirſt,
gegen das Meeresufer hinab.“ In wenigen Augenblicken
war der geflügelte Gott, dem Winke ſeines Vaters ge¬
horſam, auf der ſidoniſchen Bergwaide angekommen und
trieb die Heerde des Königes, unter die ſich auch, ohne
daß Merkur es geahnt hätte, der verwandelte Jupiter als
Stier gemiſcht hatte, vom Berge herab nach dem ange¬
wieſenen Strande, eben auf jene Wieſen, wo die Tochter
Agenors, von tyriſchen Jungfrauen umringt, ſorglos
mit Blumen tändelte. Die übrige Heerde nun zerſtreute
ſich über die Wieſen ferne von den Mädchen; nur der
ſchöne Stier, in welchem der Gott verborgen war, nä¬
herte ſich dem Raſenhügel, auf welchem Europa mit ihren
Geſpielinnen ſaß. Schmuck wandelte er im üppigen Graſe
einher, über ſeiner Stirne ſchwebte kein Drohen, ſein
funkelndes Auge flößte keine Furcht ein: ſein ganzes Aus¬
ſehen war voll Sanftmuth. Europa und ihre Jungfrauen
bewunderten die edle Geſtalt des Thieres und ſeine fried¬
lichen Gebärden, ja ſie bekamen Luſt, ihn recht in der
Nähe zn beſehen, und ihm den ſchimmernden Rücken zu
[39] ſtreicheln. Der Stier ſchien dies zu merken, denn er
kam immer näher und ſtellte ſich endlich dicht vor Europa
hin. Dieſe ſprang auf und wich anfangs einige Schritte
zurück; als aber das Thier ſo gar zahm ſtehen blieb,
faßte ſie ſich ein Herz, näherte ſich wieder und hielt ihm
ihren Blumenſtrauß vor das ſchäumende Maul, aus dem
ſie ein ambroſiſcher Athem anwehte. Der Stier leckte
ſchmeichelnd die dargebotenen Blumen und die zarte Jung¬
frauenhand, die ihm den Schaum abwiſchte, und ihn lieb¬
reich zu ſtreicheln begann. Immer reizender kam der
herrliche Stier der Jungfrau vor, ja ſie wagte es und
drückte einen Kuß auf ſeine glänzende Stirne. Da ließ
das Thier ein freudiges Brüllen hören, nicht wie andere
gemeine Stiere brüllen, ſondern es tönte wie der Klang
einer lydiſchen Flöte, die ein Bergthal durchhallt. Dann
kauerte er ſich zu den Füßen der ſchönen Fürſtin nieder,
blickte ſie ſehnſüchtig an, wandte ihr den Nacken zu und
zeigte ihr den breiten Rücken. Da ſprach Europa zu ih¬
ren Freundinnen, den Jungfrauen: „Kommt doch auch
näher, liebe Geſpielinnen, daß wir uns auf den Rücken
dieſes ſchönen Stieres ſetzen und unſere Luſt haben: ich
glaube, er könnte unſerer Viere aufnehmen und beherbergen,
wie ein geräumiges Schiff. Er iſt ſo ſanftmüthig anzu¬
ſchauen, ſo holdſelig; er gleicht gar nicht anderen Stie¬
ren: wahrhaftig, er hat Verſtand, wie ein Menſch und
es fehlt ihm gar nichts als die Rede!“ Mit dieſen Wor¬
ten nahm ſie ihren Geſpielinnen die Kränze, einen nach
dem andern, aus den Händen und behängte damit die
geſenkten Hörner des Stieres; da ſchwang ſie ſich lächelnd
auf ſeinen Rücken, während ihre Freundinnen zaudernd und
unſchlüßig zuſahen.


[40]

Der Stier aber, als er die geraubt, die er gewollt
hatte, ſprang vom Boden auf. Anfangs ging er ganz
ſachte mit der Jungfrau davon, doch ſo, daß ihre Genoſ¬
ſinnen nicht gleichen Schritt mit ſeinem Gange halten
konnten. Als er die Wieſen im Rücken und den kahlen
Strand vor ſich hatte, verdoppelte er ſeinen Lauf und
glich nun nicht mehr einem trabenden Stiere, ſondern
einem fliegendem Roß. Und ehe ſich Europa beſinnen
konnte, war er mit einem Satz ins Meer geſprungen,
und ſchwamm mit ſeiner Beute dahin. Die Jungfrau
hielt mit der Rechten eins ſeiner Hörner umklammert,
mit der Linken ſtützte ſie ſich auf den Rücken; in ihre
Gewänder blies der Wind, wie in ein Segel; ängſtlich
blickte ſie nach dem verlaſſenen Lande zurück, und rief
umſonſt den Geſpielinnen; das Waſſer umwallte den ſe¬
gelnden Stier, und, ſeine hüpfenden Wellen ſcheuend, zog
ſie furchtſam die Ferſen hinauf. Aber das Thier ſchwamm
dahin wie ein Schiff; bald war das Ufer verſchwunden,
die Sonne untergegangen, und im Helldunkel der Nacht
ſah die unglückliche Jungfrau nichts um ſich her, als
Wogen und Geſtirne. So ging es fort, auch als der
Morgen kam; den ganzen Tag ſchwamm ſie auf dem
Thiere durch die unendliche Fluth dahin; doch wußte die¬
ſes ſo geſchickt die Wellen zu durchſchneiden, daß kein
Tropfen ſeine geliebte Beute benetzte. Endlich gegen
Abend erreichten ſie ein fernes Ufer. Der Stier ſchwang
ſich ans Land, ließ die Jungfrau unter einem gewölbten
Baume ſanft vom Rücken gleiten und verſchwand vor ih¬
ren Blicken. An ſeine Stelle trat ein herrlicher, götter¬
gleicher Mann, der ihr erklärte, daß er der Beherrſcher
der Inſel Kreta ſey, und ſie ſchützen werde, wenn er
[41] durch ihren Beſitz beglückt würde. Europa in ihrer troſt¬
loſen Verlaſſenheit, reichte ihm ihre Hand als Zeichen
der Einwilligung, und Jupiter hatte das Ziel ſeiner Wünſche
erreicht. Auch er verſchwand, wie er gekommen war.
Aus langer Betäubung erwachte Europa, als ſchon die
Morgenſonne am Himmel ſtand. Mit verirrten Blicken
ſah ſie um ſich her, als wollte ſie die Heimat ſuchen.
„Vater, Vater!“ rief ſie mit durchdringendem Wehelaut,
beſann ſich eine Weile und rief wieder: „Ich verworfene
Tochter, wie darf ich den Vaternamen nur ausſprechen?
Welcher Wahnſinn hat mich die Kindesliebe vergeſſen
laſſen!“ Dann ſah ſie wieder, wie ſich beſinnend,
umher und fragte ſich ſelbſt: „Woher, wohin bin ich ge¬
kommen? — Zu leicht iſt Ein Tod für die Schuld der
Jungfrau! Aber wache ich denn auch und beweine
einen wirklichen Schimpf? Nein, ich bin gewiß unſchuldig
an allem, und es neckt meinen Geiſt nur ein nichtiges
Traumbild, das der Morgenſchlaf wieder entführen wird!
Wie wäre es auch möglich, daß ich mich hätte entſchlieſ¬
ſen können, lieber auf dem Rücken eines Unthieres durch
unendliche Fluten zu ſchwimmen, als in holder Sicher¬
heit friſche Blumen zu pflücken!“ — So ſprach ſie und
fuhr mit der flachen Hand über die Augenlieder, als
wollte ſie den verhaßten Traum verwiſchen. Als ſie aber
um ſich blickte, blieben die fremden Gegenſtände unverrückt
vor ihren Augen; unbekannte Bäume und Felſen umga¬
ben ſie, und eine unheimliche Meeresflut ſchäumte, an un¬
heimlichen Klippen ſich brechend, empor am niegeſchauten
Geſtade. „Ach, wer mir jetzt den verfluchten Stier aus¬
lieferte,“ rief ſie verzweifelnd: „wie wollte ich ihn zerflei¬
ſchen: nicht ruhen wollte ich, bis ich die Hörner des Un¬
[42] geheures zerbrochen, das mir jüngſt noch ſo liebenswürdig
erſchien! Eitler Wunſch! Nachdem ich ſchamlos die Hei¬
math verlaſſen, was bleibt mir übrig, als zu ſterben?
Wenn ich nicht von allen Göttern verlaſſen bin, ſo ſen¬
det mir, ihr Himmliſchen, einen Löwen, einen Tiger!
Vielleicht reizt ſie die Fülle meiner Schönheit, und ich muß
nicht warten, bis der entſetzliche Hunger an dieſen blühen¬
den Wangen zehrt!“ Aber kein wildes Thier erſchien;
lächelnd und friedlich lag die fremde Gegend vor ihr
und vom unumwölkten Himmel leuchtete die Sonne. Wie
von Furien beſtürmt, ſprang die verlaſſene Jungfrau auf.
„Elende Europa, rief ſie, hörſt du nicht die Stimme dei¬
nes abweſenden Vaters, der dich verflucht, wenn du dei¬
nem ſchimpflichen Leben nicht ein Ende machſt! Zeigt er
dir nicht jene Eſche, an welche du dich mit deinem Gür¬
tel aufhängen kannſt? Deutet er nicht hin auf jenes ſpitze
Felsgeſtein, von welchem herab dich ein Sprung in den Sturm
der Meeresflut begraben wird? Oder willſt du lieber einem
Barbarenfürſten als Nebenweib dienen, und, als Sclavin,
von Tag zu Tag die zugetheilte Wolle abſpinnen, du, ei¬
nes hohen Königes Tochter?“ So quälte ſich das un¬
glückliche verlaſſene Mädchen mit Todesgedanken, und
fühlte doch nicht den Muth in ſich, zu ſterben. Da ver¬
nahm ſie plötzlich ein heimliches ſpottendes Flüſtern hin¬
ter ſich, glaubte ſich belauſcht, und blickte erſchrocken rück¬
wärts. In überirdiſchem Glanze ſah ſie da die Göttin Ve¬
nus vor ſich ſtehen, ihren kleinen Sohn, den Liebesgott,
mit geſenktem Bogen zur Seite. Noch ſchwebte ein Lä¬
cheln auf den Lippen der Göttin, dann ſprach ſie: „Laß
deinen Zorn und Hader, ſchönes Mädchen! Der verhaßte
Stier wird kommen und dir die Hörner zum Zerreißen
[43] darreichen, ich bin es, die dir im väterlichen Hauſe jenen
Traum geſendet. Tröſte dich, Europa! Jupiter iſt es, der
dich geraubt hat; du biſt die irdiſche Gattin des unbeſieg¬
ten Gottes: unſterblich wird dein Name werden; denn
der fremde Welttheil, der dich aufgenommen hat, heißt
hinfort Europa!“


[44]

Kadmus.

Kadmus war ein Sohn des phöniziſchen Königes
Agenor, ein Bruder der Europa. Als Jupiter dieſe, in
einen Stier verwandelt, entführt hatte, ſandte den
Kadmus und deſſen Brüder ſein Vater aus, ſie zu ſuchen
und ohne ſie erlaubte er ihnen nicht wieder zurückzukom¬
men. Lange hatte Kadmus vergebens die Welt durchirrt,
ohne Jupiters Schliche entdecken zu können. Als er die
Hoffnung verloren hatte, ſeine Schweſter wieder aufzu¬
finden, ſcheute er ſeines Vaters Zorn, wandte ſich an
das Orakel Phöbus-Apollo's und forſchte, welches Land
er inskünftige bewohnen ſollte. Apollo gab ihm die
Weiſung: „Du wirſt ein Rind auf einſamen Auen tref¬
fen, das noch kein Joch geduldet hat. Von dieſem ſollſt
du dich leiten laſſen, und an dem Platze, wo es im
Graſe ruhen wird, erbaue Mauern und nenne die Stadt
Theben.“


Kaum hatte Kadmus die kaſtaliſche Höhle verlaſſen,
wo Apolls Orakel war, als er ſchon auf der grünen
Waide eine Kuh ſich bedächtig ergehen ſah, die noch kein
Zeichen der Dienſtbarkeit um den Nacken trug. Laut¬
los zu Phöbus betend folgte er mit langſamen Schritten
den Spuren des Thieres. Schon hatte er die Furth des
Ccphiſſus durchwatet und war über eine gute Strecke
Landes gekommen, als auf einmal das Rind ſtille ſtand,
ſein Gehörn gen Himmel ſtreckte und die Luft mit Brül¬
len erfüllte; dann ſchaute es rückwärts nach der Schaar
der Männer, die ihm folgte, und kauerte ſich endlich im
ſchwellenden Graſe nieder.


[45]

Voll Dankes warf ſich Kadmus auf der fremden
Erde nieder und küßte ſie. Hierauf wollte er dem Jupiter
opfern, und hieß die Diener ſich aufmachen um ihm
Waſſer aus lebendigem Quell zum Trankopfer zu holen.
Dort war ein altes Gehölz, das noch von keinem Beile
jemals ausgehauen worden war, mitten darin bildete
durch zuſammengefügtes Felsgeſtein, mit Geſtrüppe und
Strauchwerk verwachſen, eine Kluft, reich an Quellwaſſer,
ein niedriges Gewölbe. In dieſer Höhle verſteckt ruhte
ein grauſamer Drache. Weithin ſah man ſeinen rothen
Kamm ſchimmern, aus den Augen ſprühte Feuer, ſein
Leib ſchwoll von Gift, mit drei Zungen ziſchte er, und
mit drei Reihen Zähne war ſein Rachen bewaffnet. Wie
nun die Phönizier den Hain betreten hatten, und der
Krug, niedergelaſſen, in den Wellen plätſcherte, ſtreckte
der bläuliche Drache plötzlich ſein Haupt weit aus der
Höhle und erhub ein entſetzliches Ziſchen. Die Schöpf¬
urnen entgleiteten der Hand der Diener, und vor Schrecken
ſtockte ihnen das Blut im Leibe. Der Drache aber ver¬
wickelte ſeine ſchuppigen Ringe zum ſchlüpfrigen Knäuel,
dann krümmte er ſich im Bogenſprunge, und über die
Hälfte aufgerichtet ſchaute er auf den Wald herab. Dann
reckte er ſich gegen die Phönizier aus, tödtete die Einen
durch ſeinen Biß, die andern erdrückte er mit ſeiner Um¬
ſchlingung, noch andere erſtickte ſein bloßer Anhauch und
wieder andere brachte ſein giftiger Geifer um.


Kadmus wußte nicht, warum ſeine Diener ſo lange
zauderten. Zuletzt machte er ſich auf, ſelbſt nach ihnen zu
ſchauen. Er deckte ſich mit dem Felle, das er einem Lö¬
wen abgezogen hatte, nahm Lanze und Wurfſpieß mit ſich,
dazu ein Herz, das beſſer war, als jede Waffe. Das
[46] erſte was ihm beim Eintritt in den Hain aufſtieß, wa¬
ren die Leichen ſeiner getödteten Diener und über ihnen
ſah er den Feind mit geſchwollenem Leibe triumphiren
und mit der blutigen Zunge die Leichname belecken. „Ihr
armen Genoſſen,“ rief Kadmus voll Jammer aus, „entwe¬
der bin ich euer Rächer, oder der Gefährte eures Todes!“
Mit dieſen Worten ergriff er ein Felsſtück und ſandte
es gegen den Drachen. Mauern und Thürme hätte wohl
der Stein erſchüttert, ſo groß war er. Aber der Drache
blieb unverwundet, ſein harter ſchwarzer Balg und die
Schuppenhaut ſchirmten ihn wie ein eherner Panzer.
Nun verſuchte es der Held mit dem Wurfſpieß. Dieſem
hielt der Leib des Ungeheuers nicht Stand, die ſtählerne
Spitze ſtieg tief in ſein Eingeweide nieder. Wüthend
vor Schmerz drehte der Drache den Kopf gegen den
Rücken und zermalmte dadurch die Stange des Wurf¬
ſpießes, aber das Eiſen blieb im Leibe ſtecken. Ein
Streich vom Schwerte ſteigerte noch ſeine Wuth, der
Schlund ſchwoll ihm auf, und weißer Schaum floß aus
dem giftigen Rachen. Aufrechter als ein Baumſtamm
ſchoß der Drache hinaus, dann rannte er mit der Bruſt
wieder gegen die Waldbäume. Agenors Sohn wich dem
Anfalle aus, deckte ſich mit der Löwenhaut und ließ die
Drachenzähne an der Lanzenſpitze ſich abmüden. Endlich
fieng das Blut dem Unthier aus dem Halſe zu fließen
an, und röthete die grünen Kräuter umher; aber die
Wunde war nur leicht, denn es wich jedem Stoß und
Stiche aus, und verſtattete ihnen nicht feſt zu ſitzen. Zu¬
letzt jedoch ſtieß ihm Kadmus das Schwert in die Gurgel,
ſo tief, daß es rücklings in einen Eichbaum fuhr und
mit dem Nacken des Ungeheuers zugleich der Stamm
[47] durchbohrt wurde. Der Baum wurde von dem Gewichte
des Drachen krumm gebogen und ſeufzte, weil er ſich
den Stamm von der Spitze des Schweifes gepeitſcht
fühlte. Nun war der Feind überwältigt.


Kadmus betrachtete den erlegten Drachen lange; als
er ſich wieder umſah, ſtand Pallas-Athene (Minerva), die
vom Himmel herniedergefahren war, zu ſeiner Seite, und
befahl ihm ſofort die Zähne des Drachen als Nachwuchs
künftigen Volkes in aufgelockertes Erdreich zu ſäen. Er
gehorchte der Göttin, öffnete mit dem Pflug eine breite
Furche auf dem Boden, und fing an die Drachenzähne,
wie ihm befohlen war, die Oeffnung entlang auszuſtreuen.
Auf einmal begann die Scholle ſich zu rühren, und aus
den Furchen hervor blickte zuerſt nur die Spitze einer
Lanze, dann kam ein Helm hervor, auf welchem ein far¬
biger Buſch ſich ſchwenkte, bald ragten Schulter und
Bruſt, und bewaffnete Arme aus dem Boden, und endlich
ſtand ein gerüſteter Krieger, vom Kopf bis zum Fuße
der Erde entwachſen, da. Dieß geſchah an vielen Orten
zugleich, und eine ganze Saat bewaffneter Männer wuchs
vor den Augen des Phöniziers empor.


Agenors Sohn erſchrack und war gefaßt darauf,
einen neuen Feind bekämpfen zu müſſen. Aber einer von
dem erdentſproſſenen Volke rief ihm zu: „Nimm die
Waffen nicht, menge dich nicht in innere Kriege!“ So¬
fort holte dieſer auf einen der ihm zunächſt aus der
Furche hervorgekommenen Brüder mit einem Schwert¬
ſtreich aus; ihn ſelbſt ſtreckte zu gleicher Zeit ein Wurf¬
ſpieß nieder, der aus der Ferne geflogen kam. Auch der,
welcher ihm den Tod gegeben, verhauchte unter einer
Wunde den kaum empfangenen Lebensathem bald wieder.
[48] Der ganze Männerſchwarm tobte in fürchterlichem Wech¬
ſelkampfe; faſt alle lagen mit zuckender Bruſt auf dem
Boden und die Mutter Erde trank das Blut ihrer eben
erſt geborenen Söhne. Nur fünf waren übrig geblieben.
Einer davon — er ward ſpäter Echion genannt —
warf zuerſt auf Minervens Geheiß die Waffen zur Erde,
und erbot ſich zum Frieden; ihm folgten die Anderen.


Mit dieſer fünf erdentſproſſenen Krieger Hülfe baute
der phöniziſche Fremdling Kadmus die neue Stadt, dem
Orakel des Phöbus gehorſam, und nannte ſie, wie ihm
befohlen war, Theben.


[49]

Pentheus.

Zu Theben ward Bacchus oder Dionysos, der
Sohn Jupiters und Semele's, der Enkel des Kadmus,
wunderbar geboren, der Gott der Fruchtbarkeit, der Er¬
finder des Weinſtocks. In Indien erzogen, verließ er
bald die Nymphen, ſeine Pflegerinnen, und durchreiste
die Länder, um allenthalben die Menſchen zu bilden, den
Bau des herzerfreuenden Weines zu lehren, und die Ver¬
ehrung ſeiner Gottheit zu gründen. So gütig er gegen
ſeine Freunde war, ſo hart beſtrafte er diejenigen, die
ſeinen Gottesdienſt nicht anerkennen wollten. Schon war
ſein Ruhm durch die Städte Griechenlands und bis zur
Stadt ſeiner Geburt, nach Theben, gedrungen. Dort aber
herrſchte Pentheus, welchem Kadmus das Königreich über¬
geben hatte, der Sohn des erdentſproßenen Echion und
der Agave, einer Mutterſchweſter des Bacchus. Dieſer
war ein Verächter der Götter und zu meiſt ſeines Ver¬
wandten, des Dionyſos. Als nun der Gott mit ſeinem
jauchzenden Gefolge von Bacchanten herannahte, um ſich
dem Könige von Theben als Gott zu offenbaren, hörte
dieſer nicht auf die Warnung des blinden, greiſen Se¬
hers Tireſias, und als ihm die Nachricht zu Ohren kam,
daß auch aus Theben Männer, Frauen und Jungfrauen
zur Verehrung des neuen Gottes hinausſtrömten, fing er
an ergrimmt zu ſchelten: „Welch ein Wahnſinn hat euch
bethört, ihr drachenentſproſſenen Thebaner, daß ihr, die
kein Schlachtſchwert, keine Trompete jemals geſchreckt hat,
jetzt ein weichlicher Zug von berauſchten Thoren und
Weibern beſiegt? Und ihr Phönizier, die ihr weit über
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 4[50] Meere hierher gefahren ſeyd, und euren alten Göttern
eine Stadt gegründet, habt ihr ganz vergeſſen, aus wel¬
chem Heldengeſchlecht ihr gezeugt ſeyd? Wollt ihr es dul¬
den, daß ein wehrloſes Knäblein Theben erobere, ein
Weichling mit balſamtriefendem Haar, auf dem ein Kranz
aus Weinlaub ſitzt, in Purpur und Gold anſtatt in
Stahl gekleidet, der kein Roß tummeln kann, dem keine
Wehr, keine Fehde behagt? Wenn nur Ihr wieder zur
Beſinnung kommet, ſo will ich ihn bald nöthigen, einzuge¬
ſtehen, daß er ein Menſch iſt, wie ich, ſein Vetter, daß
nicht Jupiter ſein Vater und alle dieſe prächtige Gottes¬
verehrung erlogen iſt! Dann wandte er ſich zu ſeinen
Dienern, und befahl ihnen, den Anführer dieſer neuen
Raſerey, wo ſie ihn anträfen, zu faſſen und in Feſſeln
herzuſchleppen.


Seine Freunde und Verwandte, die um den König
waren, erſchracken über dieſen frechen Befehl, ſein Ahn¬
herr Kadmus, der in hohem Greiſenalter noch lebte, ſchüt¬
telte das Haupt und mißbilligte das Thun des Enkels;
aber durch Ermahnungen wurde ſeine Wuth nur geſtachelt,
ſie ſchäumte über alle Hinderniſſe hin, wie ein raſender
Fluß über das Wehr.


Unterdeſſen kamen die Diener mit blutigen Köpfen
zurück. „Wo habt ihr den Bacchus?“ rief ihnen Pentheus
zornig entgegen. „Den Bacchus,“ antworteten ſie, „haben
wir nirgends geſehen. Dafür bringen wir hier einen
Mann aus ſeinem Gefolge. Er ſcheint noch nicht lange
bei ihm zu ſeyn.“ Pentheus ſtarrte den Gefangenen mit
grimmigen Augen an, und ſchrie dann: „Mann des To¬
des! denn auf der Stelle mußt du, den andern zu einem
warnenden Beiſpiele, ſterben! Sag an, wie heißt dein
[51] und deiner Eltern Name, wie dein Land; und, ſag' auch,
warum verehrſt du die neuen Gebräuche?“


Frei und ohne Furcht erwiederte Jener: „Mein
Name iſt Akötes, meine Heimath Mäonien, meine Eltern
ſind aus dem gemeinen Volke. Keine Fluren, keine Heerden
ließ mir der Vater zum Erbtheil, er lehrte mich nur die
Kunſt mit der Angelruthe zu fiſchen, denn dieſe Kunſt
war all ſein Reichthum. Bald lernte ich auch ein Schiff
regieren, die leitenden Geſtirne, die Winde, die wohlgele¬
genen Häfen kennen, und fing an, Schiffahrt zu trei¬
ben. Einſt, auf einer Fahrt nach Delos, gerieth ich an
eine unbekannte Küſte, wo wir anlegten. Ein Sprung
brachte mich auf den feuchten Sand, und ich übernachtete
hier noch ohne die Gefährten am Ufer. Des andern
Tages machte ich mich mit der erſten Morgenröthe auf,
und beſtieg einen Hügel, um zu ſehen, was der Wind
uns verſpreche. Inzwiſchen hatten auch meine Gefähr¬
ten gelandet, und auf dem Rückwege nach dem Schiffe
begegnete ich ihnen, wie ſie gerade einen Jüngling mit
ſich ſchleppten, den ſie am verlaſſenen Geſtade geraubt
hatten. Der Knabe, von jungfräulicher Schönheit, ſchien
vom Weine betäubt, taumelnd wie von Schläfrigkeit, und
hatte Mühe, ihnen zu folgen. Als ich Angeſicht, Hal¬
tung, Bewegung des Jünglings näher ins Auge faßte,
ſchien ſich mir an demſelben etwas Ueberirdiſches zu of¬
fenbaren. „Was für ein Gott in dem Jüngling ſey,“ ſo
ſprach ich zu der Mannſchaft, „weiß ich noch nicht recht;
aber ſo viel iſt mir gewiß, daß ein Gott in ihm iſt.“
„Wer du auch ſeyeſt,“ ſprach ich weiter, „ſey uns hold
und fördere unſere Arbeit! Verzeih auch dieſen, die dich
geraubt!“ — „Was fällt dir ein,“ rief ein anderer, „laß
4 *[52] du das Beten!“ Auch die übrigen lachten über mich, von
Raubgier verblendet, und ſomit faſſten ſie den Knaben,
um ihn in das Schiff zu ſchleppen. Vergebens ſtellte
ich mich entgegen: der Jüngſte und Kräftigſte unter der
Rotte, aus einer Tyrrheniſchen Stadt wegen eines Mor¬
des flüchtig, packte mich an der Gurgel und ſechleuderte
mich hinaus. Ich wäre im Meere ertrunken, wenn mich
das Tackelwerk nicht aufgefangen hätte. Inzwiſchen war
der Knabe wie in tiefem Schlummer auf dem Schiffe,
wohin man ihn gebracht hatte, gelegen. Plötzlich, wie
vom Geſchrei erwacht und vom Rauſche zurückgekehrt,
raffte er ſich auf, trat unter die Schiffer und rief: „Wel¬
cher Lärm? Sprecht ihr Männer, durch welches Geſchick
kam ich hierher? Wohin wollt ihr mich bringen?“ —
„Fürchte dich nicht Knabe,“ ſprach einer der falſchen
Schiffer, „nenne uns nur den Hafen, nach welchem du
gebracht zu werden wünſcheſt, gewiß wir ſetzen dich ab,
wo du es verlangſt.“ „Nun wohl,“ ſprach der Knabe,
„ſo richtet den Lauf nach der Inſel Naxos, dort iſt
meine Heimath!“ Die Betrüger verſprachen es ihm bei
allen Göttern und hießen mich die Segel richten. Uns
zur rechten Seite lag Naxos. Wie ich nun die Segel
rechtshin ſpanne, winken und murmeln ſie mir alle zu:
„Unſinniger, was machſt du? Was für ein Wahnwitz
plagt dich? Fahr links!“ Ich erſtaunte darüber, und be¬
griff ſie nicht. „Nehme ſich ein anderer des Schiffes
an!“ ſprach ich, und trat auf die Seite. „Als ob das
Heil unſrer Fahrt allein auf dir beruhte!“ ſchrie mich ein
roher Geſelle an, und verrichtete das Geſchäft anſtatt
meiner. So ließen ſie Naxos liegen, und ſteuerten in
der entgegengeſetzten Richtung. Hohnlächelnd, als ob er
[53] den Trug jetzt erſt bemerke, ſchaute der Götterjüngling
vom Hinterverdeck in die See, und mit verſtellten Thrä¬
nen ſprach er: „Wehe, nicht dieſe Geſtade verhießet ihr
mir, Schiffer, dieß iſt nicht das erbetene Land! Iſt es
auch Recht, daß ihr alten Männer ein Kind auf dieſe
Weiſe täuſchet?“ Aber die gottesvergeſſene Rotte ſpottete
ſeiner und meiner Thränen, und ruderte eilig davon.
Plötzlich aber, als umſchlöße ſie ein trockenes Schiffs¬
werft, ſtand die Barke mitten im Meere ſtill. Vergebens
ſchlagen ihre Ruder die See, ziehen ſie die Segel herab,
ſtreben fort mit doppelter Kraft. Epheu fängt an die
Ruder zu umſchlingen, kriecht rückwärts in geſchlängelter
Windung herauf, ſtreift mit ſeinen ſchwellenden Träub¬
chen ſchon die Segel; Bacchus ſelbſt — denn er war
es — ſteht herrlich da, die Stirn mit beerenbelaſteten Trau¬
ben bekränzt, den mit Weinlaub umſchlungenen Thyrſus¬
ſtab ſchwingend. Tiger, Luchſe, Panther erſchienen um
ihn gelagert, ein duftiger Strom von Wein ergoß ſich
durch das Schiff. Jetzt ſprangen die Männer ſcheu em¬
por, in Furcht und Wahnſinn. Dem erſten, der auf¬
ſchreien wollte, krümmte ſich Mund und Naſe zum Fiſchmaul,
und ehe die andern ſich darüber entſetzen konnten, war
auch ihnen das gleiche geſchehen, ihr Leib ſenkte ſich von
blauen Schuppen umgeben, der Rückgrat wurde hochge¬
wölbt, die Arme ſchrumpften zu Floßfedern ein, die Füße
vereinigten ſich zu einem Schwanze. Sie waren alle mit¬
einander zu Fiſchen geworden, ſprangen in das Meer
und tauchten auf und nieder. Ich von zwanzigen war
allein übrig geblieben, aber ich zitterte an allen Gliedern
und erwartete jeden Augenblick dieſelbe Verwandlung.
Bacchus jedoch ſprach mir freundlich zu, weil ich ihm ja
[54] nur Gutes erwieſen habe. „Fürchte dich nicht,“ ſagte er,
„und ſteure mich gen Naxos.“ Als wir dort gelandet
hatten, weihte er mich an ſeinem Altar zum feierlichen
Dienſte ſeiner Gottheit ein.“


„Schon zu lange horchen wir deinem Geſchwätz,“
ſchrie jetzt der König Pentheus, „auf, ergreifet ihn, ihr
Diener, peinigt ihn mit tauſend Martern und ſchickt ihn
zur Unterwelt hinab!“ Die Knechte gehorchten und war¬
fen den Schiffer gefeſſelt in einen tiefen Kerker. Aber
eine unſichtbare Hand befreite ihn.


Nun begann erſt die ernſtliche Verfolgung der Bac¬
chusfeier. Des Pentheus eigene Mutter, Agave und ihre
Schweſtern, hatten Theil an dem rauſchenden Gottes¬
dienſte genommen. Der König ſandte nach ihnen aus,
und ließ alle Bacchantinnen in den Stadtkerker werfen.
Aber ohne Hülfe eines Sterblichen werden auch ſie ihrer
Bande ledig, die Pforten ihres Gefängniſſes thun ſich
auf, und ſie rennen in bacchiſcher Begeiſterung frei in
den Wäldern umher. Der Diener, der abgeſandt worden,
mit bewaffneter Macht den Gott ſelbſt einzufangen, kam
ganz beſtürzt zurück, denn Jener hatte ſich willig und lä¬
chelnd den Feſſeln dargeboten. So ſtand er jetzt gefangen
vor dem Könige, der ſelber nicht umhin konnte, ſeine ju¬
gendliche göttliche Schönheit zu bewundern. Und doch
beharrte er in ſeiner Verblendung, und behandelte ihn
als einen Betrüger, der den Namen Bacchus fälſchlich
führe. Er ließ den gefangenen Gott mit Feſſeln belaſten
und im hinterſten und tiefſten Theile ſeines Pallaſtes, in
der Nähe der Pferdekrippen, in einem dunkeln Loche ver¬
wahren. Auf des Gottes Geheiß ſpaltete jedoch ein Erd¬
beben das Gemäuer, ſeine Bande verſchwanden. Er trat
[55] unverſehrt und herrlicher als zuvor in die Mitte ſeiner
Verehrer.


Ein Bote über dem andern kam vor den König
Pentheus und meldete ihm, welche Wunderthaten die
Chöre begeiſterter Frauen, von ſeiner Mutter und ihren
Schweſtern angeführt, verrichteten. Ihr Stab durfte nur
an Felſen ſchlagen, ſo ſprang Waſſer oder ſprudelnder
Wein heraus, die Bäche floßen unter ſeinem Zauberſchlage
mit Milch, aus den hohlen Bäumen träufelte Honig.
„Ja,“ fügte einer der Boten hinzu, „wäreſt du zugegen
geweſen, o Herr, und hätteſt den Gott, den du jetzt ſchiltſt,
ſelbſt geſehen, du würdeſt dich in Gebeten vor ihm nie¬
dergeworfen haben!“


Pentheus, immer entrüſteter, bot auf dieſe Nachrichten
alle ſchwerbewaffneten Krieger, alle Reiter, alle Leichtbe¬
ſchildeten gegen das raſende Weiberheer auf. Da erſchien
Bacchus ſelbſt wieder, und trat als ſein eigener Abgeord¬
neter vor den König. Er verſprach, ihm die Bac¬
chantinnen entwaffnet vorzuführen, wenn nur der Kö¬
nig ſelbſt die Frauentracht anlegen wolle, damit er
nicht als Mann und Uneingeweihter von ihnen zerriſ¬
ſen werde. Ungerne und mit ſehr natürlichem Mi߬
trauen ging Pentheus auf den Vorſchlag ein; doch
folgte er endlich dem Gotte zur Schlachtbank. Aber als
er hinausſchritt zur Stadt, war er ſchon vom Wahn¬
ſinne, den ihm der mächtige Gott zugeſandt hatte, beſeſſen.
Ihm däuchte es, als ſchaue er zwei Sonnen, ein gedop¬
peltes Theben, und jedes ſeiner Thore zwiefach. Bacchus
ſelbſt kam ihm vor, wie ein Stier, der mit großen Hör¬
nern an dem Kopfe vor ihm herſchreite. Er ſelbſt wurde
wider Willen von bacchiſcher Begeiſterung ergriffen, ver¬
[56] langte und erhielt einen Thyrſusſtab, und ſtürmte in Ra¬
ſerei dahin. So gelangten ſie in ein tiefes, quellenrei¬
ches, von Fichten beſchattetes Thal, wo die Bacchus¬
prieſterinnen ihrem Gotte Hymnen ſangen, andere ihre
Thyrſusſtäbe mit friſchem Epheu bekleideten. Des Pen¬
theus Augen aber waren mit Blindheit geſchlagen, oder
ſein Führer Bacchus hatte ihn ſo zu leiten gewußt, daß
ſie die Verſammlung der begeiſterten Frauen nicht gewahr
wurden. Der Gott faßte nun mit ſeiner wunderbar in
die Höhe reichenden Hand den Gipfel eines Tannenbau¬
mes, beugte ihn hernieder, wie man einen Weidenzweig
biegt, ſetzte den wahnſinnigen Pentheus darauf, und ließ
den Baum ſachte und vorſichtig allmählig wieder in ſeine
vorige Lage zurückkehren. Wie durch ein Wunder blieb
der König feſt ſitzen und erſchien auf einmal, hoch auf
dem Tannenwipfel hingepflanzt, den Bacchantinnen im
Thale, ohne daß er ſie erblickte. Dann rief Dionyſos
mit lauter Stimme ins Thal hinab: „Ihr Mägde, ſchauet
hier den, der unſere heiligen Feſte verſpottet; beſtrafet
ihn!“ Der Aether ſchwieg, kein Blatt im Walde regte ſich,
kein Schrei eines Wildes ertönte. Auf richteten ſich
die Bacchantinnen, ſperrten ihre Augenſterne weit auf, und
horchten auf der Stimme Hall, die zum zweitenmal er¬
tönte. Als ſie in dem Wort ihren Meiſter erkannt,
ſchoſſen ſie dahin, ſchneller denn Tauben; wilder Wahnſinn,
vom Gotte geſandt, trieb ſie mitten durch die angeſchwol¬
lenen Waldbäche. Endlich waren ſie nahe genug gekom¬
men, um ihren Herrn und Verfolger auf dem Tannenwi¬
pfel ſitzen zu ſehen. Schnell flogen Kieſel, abgeriſſene
Tannenäſte, Thyrſusſtäbe gegen den Unglücklichen empor,
ohne die Höhe zu erreichen, in der er zitternd ſchwebte.


[57]

Endlich durchwühlten ſie mit harten Eichenäſten den Bo¬
den rings um den Tannenbaum, bis die Wurzel bloß war,
und Pentheus unter lautem Jammergeſchrei mit der ſtür¬
zenden Tanne aus der Höhe zu Boden fiel. Seine Mut¬
ter Agave, vom Gotte geblendet, daß ſie den Sohn nicht
wieder erkannte, gab das erſte Zeichen zum Morde. Dem
Könige ſelbſt hatte die Angſt ſeine volle Beſinnung wie¬
der gegeben. „Mutter,“ rief er, ſie umhalſend, „kennſt
du deinen Sohn nicht mehr, deinen Sohn Pentheus, den
du im Hauſe Echions geboren? Hab' Erbarmen mit mir,
ſey du es nicht, Mutter, die meine Sünden am eigenen
Kinde ſtraft!“ Aber die wahnſinnige Bacchusprieſterin, ſchäu¬
mend und mit weit aufgeſperrten Augen, ſah nicht ihren
Sohn in Pentheus, ſondern glaubte einen Berglöwen in
ihm zu erblicken, faßte ihn an der Schulter und riß ihm
den rechten Arm vom Leibe; die Schweſtern verſtümmel¬
ten den linken; die ganze, wüthende Rotte ſtürmte auf
ihn ein, jede ergriff ein Glied des Zerriſſenen; Agave
ſelbſt umklammerte das entriſſene Haupt mit blutigen
Fingern und trug es als ein Löwenhaupt auf einen Thyr¬
ſusſtab geſteckt durch die Wälder des Cithäron.


So rächte der mächtige Gott Bacchus ſich an dem
Verächter ſeines Gottesdienſtes.


[58]

Perſeus.

Perſeus, der Sohn Jupiters, wurde mit ſeiner Mutter
Danae von dem Großvater Akriſius, Könige von Argos, dem
ein Orakelſpruch geſagt hatte, daß ein Enkel ihm Leben
und Thron rauben würde, in einen Kaſten eingeſchloſſen
und ins Meer geworfen; Jupiter behütete ſie in den
Stürmen des Meeres, und ſie ſchwammen bei der Inſel
Seriphos ans Land. Dort herrſchten zwei Brüder, Dik¬
tys und Polydektes. Diktys fiſchte eben, als der Kaſten
angeſchwommen kam, und zog ihn ans Land. Beide
Brüder nahmen ſich der Verlaſſenen liebreich an; Poly¬
dektes erhob die Mutter zu ſeiner Gemahlin, und der
Sohn Jupiters, Perſeus, wurde von ihm ſorgfältig erzo¬
gen.


Als Perſeus herangewachſen war, überredete ihn
ſein Stiefvater, auf Thaten auszuziehen und etwas Großes
zu unternehmen. Der muthige Jüngling zeigte ſich willig,
und bald waren ſie einig darüber, daß Perſeus der Me¬
duſa ihr furchtbares Haupt abſchlagen und dem Könige
nach Seriphos bringen ſollte. Perſeus machte ſich auf
den Weg und kam unter Leitung der Götter in die ferne
Gegend, wo Phorkus, der Vater vieler entſetzlicher Unge¬
heuer, hauste. Zuerſt traf er auf drei ſeiner Tochter, die
Gräen oder Grauen; dieſe waren grauhaarig von Geburt
an; alle drei mit einander hatten ſie nur Ein Auge und
Einen Zahn, die ſie einander gegenſeitig abwechslungsweiſe
zum Gebrauche liehen. Perſeus nahm ihnen beides weg,
und als ſie ihn flehentlich baten, das unentbehrlichſte ih¬
nen doch wieder zu geben, zeigte er ſich zur Zurückerſtat¬
[59] tung mir unter der Bedingung bereit, daß ſie ihm den
Weg zu den Nymphen zeigen ſollten. Dieſes waren
andere Wundergeſchöpfe, die Flügelſchuhe, einen Schubſack
als Taſche und einen Helm von Hundefell beſaßen. Wer
ſich damit bekleidete, konnte fliegen, wohin er wollte; ſah,
wen er wollte, und wurde von Niemand geſehen. Die
Töchter des Phorkus zeigten dem Perſeus den Weg zu
den Nymphen und erhielten Zahn und Auge von ihm zu¬
rück. Bei den Nymphen fand und nahm er, was er
wollte, warf den Schubſack um, ſchnallte die Flügelſchuhe
an ſeine Knöchel und ſetzte den Helm aufs Haupt. Dazu
erhielt er von Merkurius eine eherne Sichel, und ſo aus¬
gerüſtet flog er zu dem Ocean, wo die andern drei Töch¬
ter des Phorkus, die Gorgonen, hausten. Die dritte,
die Meduſa hieß, war allein ſterblich; darum war auch
Perſeus ausgeſandt worden, ihr Haupt zu holen. Er
fand die Ungeheuer ſchlafend; ihre Häupter waren mit
Drachenſchuppen überſäet, mit Schlangen, ſtatt Haaren
bedeckt, große Hauzähne hatten ſie, wie Schweine, eherne
Hände, und goldene Flügel, mit welchen ſie flogen. Jeden,
der ſie anſah, verwandelte dieſer Anblick in Stein. Das
wußte Perſeus. Mit abgewandtem Geſichte ſtellte er ſich
deßwegen vor die Schlafenden, und fing nur in ſeinem
ehernen, glänzenden Schilde ihr dreifaches Bild auf. So
erkannte er die Gorgo Meduſa heraus, Minerva führte
ihm die Hand, und er ſchnitt dem ſchlafenden Ungeheuer
ohne Gefährde das Haupt ab. Kaum war dieß vollbracht,
ſo entſprang dem Rumpfe ein geflügeltes Roß, der Pe¬
gaſus, und ein Rieſe, Chryſaor. Beides waren Geſchöpfe
des Poſeidon oder Neptunus. Perſeus ſchob nun das
Haupt der Meduſa in den Schubſack, und entfernte ſich
[60] rücklings, wie er gekommen war. Indeſſen hatten ſich
die Schweſtern Meduſa's vom Lager erhoben. Sie er¬
blickten den Rumpf der getödteten Schweſter und erho¬
ben ſich auf ihren Fittichen, den Räuber zu verfolgen.
Dieſen aber verbarg der Nymphenhelm vor ihren Augen
und ſie konnten ihn nirgends inne werden. In der Luft
faßten inzwiſchen den Perſeus die Winde und ſchleuderten
ihn, wie Regengewölk, bald da bald dorthin; als er über
den Sandwüſten Libyens ſchwebte, rieſelten blutige Tro¬
pfen vom Meduſenhaupte auf die Erde nieder, welche
ſie auffing und zu bunten Schlangen belebte. Seitdem
iſt jenes Erdreich an feindſeligen Nattern ſo ergiebig.
Perſeus flog nun weiter weſtwärts und ſenkte ſich endlich
im Reiche des Königes Atlas nieder, um ein wenig zu
raſten. Dieſer hütete einen Hain voll goldener Früchte
mit einem gewaltigen Drachen. Umſonſt bat der Beſieger
der Gorgone ihn um ein Obdach. Für ſein goldenes
Beſitzthum bange, ſtieß ihn Atlas unbarmherzig von ſei¬
nem Pallaſte fort. Da ergrimmte Perſeus und ſprach:
„Du willſt mir nichts gönnen: empfange du wenigſtens
ein Geſchenk von mir.“ Er holte die Gorgo aus ſeinem
Schubſacke hervor, wandte ſich ab und ſtreckte ſie dem
König Atlas entgegen. Groß wie der König war,
wurde er augenblicklich zu Stein und in einen Berg ver¬
wandelt, Bart und Haupthaar dehnten ſich zu Wäldern
aus; Schultern, Hände und Gebein wurden Felsrücken;
ſein Haupt wuchs als hoher Gipfel in die Wolken. Per¬
ſeus nahm ſeine Fittiche wieder, und ſchnallte ſie ſich an
die Sohlen, hängte ſich den Schubſack um, ſetzte den Helm
auf und ſchwang ſich in die Lüfte. Auf ſeinem Fluge
kam er an eine Küſte Aethiopiens, wo der König Cepheus
[61] regierte. Hier ſah er an eine hervorragende Meeres¬
klippe eine Jungfrau angebunden. Wenn nicht ihr Haupt¬
haar ein Lüftchen bewegt hätte und in ihren Augen Thränen
gezittert, ſo würde er ſie für ein Marmorbild gehalten
haben. Faſt hätte er in der Luft die Flügel zu bewegen
vergeſſen, ſo bezaubert war er von dem Reize ihrer
Schönheit. „Sprich, ſchöne Jungfrau,“ redete er ſie an,
„du, die du ganz anderes Geſchmeide verdienteſt, warum
biſt du hier in Banden? nenne mir doch den Namen dei¬
nes Landes, nenne mir deinen eigenen Namen!“ Das ge¬
feſſelte Mädchen ſchwieg verſchämt; ſie ſcheute ſich den
fremden Mann anzureden, und hätte gern ihr Angeſicht
mit den Händen bedeckt, wenn ſie ſie hätte regen können.
So aber konnte ſie nur ihre Augen mit quellenden Thrä¬
nen füllen. Endlich, damit der Fremdling nicht glauben
möchte, ſie habe eine eigene Schuld vor ihm zu verber¬
gen, erwiederte ſie: „Ich bin Cepheus des Königs der
Aethiopier Tochter, und heiße Andromeda. Meine Mut¬
ter hatte gegen die Töchter des Nereus, die Meeres¬
nymphen, geprahlt, ſchöner zu ſeyn als ſie Alle. Darüber
zürnten die Nereiden, und ihr Freund, der Meeresgott, ließ
eine Ueberſchwemmung und einen alles verſchlingenden
Haifiſch über das Land kommen. Ein Orakelſpruch ver¬
ſprach uns Befreiung von der Plage, wenn ich, die Toch¬
ter der Königin, dem Fiſche zum Fraße hingeworfen würde.
Das Volk drang in meinen Vater, dieſes Rettungsmittel
zu ergreifen, und die Verzweiflung zwang ihn, mich an
dieſen Felſen zu binden.“


Sie hatte die letzten Worte noch nicht ausgeſprochen,
als die Wogen aufrauſchten und aus der Tiefe des Mee¬
res ein Scheuſal auftauchte, das mit ſeiner breiten Bruſt
[62] die ganze Waſſerfläche umher einnahm. Das Mädchen
jammerte laut auf; zugleich ſah man Vater und Mutter
herbeieilen, beide troſtlos, doch in der Mutter Zügen
drückte ſich noch dazu das Bewußtſeyn der Schuld aus.
Sie umarmten die gefeſſelte Tochter, aber ſie brachte ihr
nichts mit als Thränen und Wehklagen. Jetzt begann
der Fremdling: „Zum Jammern wird euch noch Zeit
genug übrig bleiben; die Stunde der Rettung iſt
kurz. Ich bin Perſeus, der Sprößling Jupiters und
der Danae, ich habe die Gorgone beſiegt, und wunder¬
bare Flügel tragen mich durch die Luft. Selbſt wenn
die Jungfrau frei wäre und zu wählen hätte, wäre ich
kein verächtlicher Eidam! Jetzt werbe ich um ſie, mit dem
Erbieten, ſie zu retten. Nehmet ihr meine Bedingung an?“
Wer hätte in ſolcher Lage gezaudert? Die erfreuten El¬
tern verſprachen ihm nicht nur die Tochter, ſondern auch
ihr eigenes Königreich zur Mitgift.


Während ſie dieſes verhandelten, war das Unthier
wie ein ſchnellruderndes Schiff herangeſchwommen und
nur noch einen Schleuderwurf von dem Felſen entfernt.
Da plötzlich, das Land mit dem Fuße abſtoßend, ſchwang
ſich der Jüngling hoch empor in die Wolken. Das Thier
ſah den Schatten des Mannes auf dem Meere. Während
es auf dieſen tobend losging, als auf einen Feind,
der ihm die Beute zu entreißen drohte, fuhr Perſeus
aus der Luft wie ein Adler herunter, trat ſchwebend
auf den Rücken des Thieres, und ſenkte das Schwerdt,
mit dem er die Meduſe getödtet hatte, dem Hayfiſch unter
dem Kopf in den Leib, bis an den Knauf. Kaum hatte
er es wieder herausgezogen, ſo ſprang der Fiſch bald
hoch in die Lüfte, bald tauchte er wieder unter in die
[63] Fluth, bald tobte er nach beiden Seiten, wie ein von
Hunden verfolgter Eber. Perſeus brachte ihm Wunde
um Wunde bei, bis ein dunkler Blutſtrom ſich aus ſeinem
Rachen ergoß. Indeſſen troffen die Flügel des Halbgotts,
und Perſeus wagte nicht länger, ſich dem waſſerſchweren
Gefieder anzuvertrauen. Glücklicherweiſe erblickte er ein
Felsriff, deſſen oberſte Spitze aus dem Meere hervorragte.
Auf dieſe Felswand ſtützte er ſich mit der Linken, und
ſtieß das Eiſen drei bis viermal in das Gekröſe des Un¬
gethüms. Das Meer trieb die ungeheure Leiche fort, und
bald war ſie in den Fluthen verſchwunden. Perſeus
hatte ſich indeſſen ans Land geſchwungen, hatte den Fel¬
ſen erklommen und die Jungfrau, die ihn mit Blicken des
Dankes und der Liebe begrüßte, der Feſſeln entledigt.
Er brachte ſie den glücklichen Eltern, und der goldene
Pallaſt empfing ihn als Bräutigam. Noch dampfte das
Hochzeitmahl und die Stunden ſtrichen dem Vater und
der Mutter, dem Bräutigam und der geretteten Braut
in ſorgenfreier Eile dahin, als plötzlich die Vorhöfe der
Königsburg mit einem dumpfen brauſenden Getümmel
ſich füllten. Phineus, der Bruder des Königes Cepheus,
der früher um ſeine Nichte Andromeda geworben, aber
in der letzten Noth ſie verlaſſen hatte, nahte mit einer
Schaar von Kriegern und erneuerte ſeine Anſprüche.
Den Speer ſchwingend, trat er in den Hochzeitſaal und
rief dem erſtaunten Perſeus zu: „Sieh mich hier, der ich
komme, die mir entriſſene Gattin zu rächen, weder deine
Flügel, noch dein Vater Jupiter ſollen dich mir entreiſ¬
ſen!“ So rief er, ſchon zum Speerwurfe ſich anſchickend;
da hub ſich Cepheus, der König vom Mahle. „Raſender
Bruder,“ rief er, „welcher Gedanke treibt dich zur Un¬
[64] that? Nicht Perſeus raubt dir die Geliebte; ſie wurde dir
ſchon damals entriſſen, als wir ſie dem Tode preisgaben,
als du zuſaheſt, wie ſie gefeſſelt wurde, und weder als
Oheim noch als Geliebter ihr deinen Beiſtand lieheſt.
Warum haſt du nicht ſelbſt dir den Preis von dem Fel¬
ſen geholt, an den er geſchmiedet war? So laß wenig¬
ſtens den, der ihn ſich errungen hat, der mein Alter durch
die Rettung meiner Tochter getröſtet, in Ruhe!“


Phineus antwortete ihm nichts, er betrachtete nur
abwechſelnd mit grimmigen Blicken bald ſeinen Bruder,
bald ſeinen Nebenbuhler, als beſänne er ſich, auf wen
er zuerſt zielen ſollte. Endlich nach kurzem Verzuge
ſchwang er mit aller Kraft, die der Zorn ihm gab, den
Speer gegen Perſeus; aber er that einen Fehlwurf und
die Waffe blieb im Polſter hängen. Jetzt fuhr Perſeus
vom Lager empor und ſchleuderte ſeinen Spieß nach der
Thüre, durch welche Phineus eingedrungen war, und er
würde die Bruſt ſeines Todfeinds durchbohrt haben, wenn
dieſer ſich nicht mit einem Sprunge hinter den Hausaltar
geflüchtet hätte. Das Geſchoß hatte die Stirne eines ſei¬
ner Begleiter getroffen und jetzt kam das Gefolge des
Eingedrungenen mit den längſt von der Tafel aufgeſtör¬
ten Gäſten ins Handgemenge. Lang und mörderiſch war
der Kampf; aber der Eingebrochenen war die Mehrzahl.
Zuletzt wurde Perſeus, an deſſen Seite ſich umſonſt die
Schwiegereltern und die Braut ſchutzflehend ſtellten, von
Phineus und ſeinen Tauſenden umringt. Die Pfeile flo¬
gen an ihnen von allen Seiten vorbei, wie Hagelkörner
im Sturme. Perſeus hatte die Schultern an einen Pfei¬
ler gelehnt und ſich ſo den Rücken gedeckt. Von da
zur Heerſchaar der Feinde gewendet, hielt er den Anlauf
[65] der Feinde ab und ſtreckte einen um den andern nieder.
Erſt als er ſah, daß die Tapferkeit der Menge erliegen
müſſe, entſchloß er ſich, das letzte aber untrügliche Mit¬
tel, das ihm zu Gebote ſtand, zu gebrauchen. „Weil ihr
mich genöthiget, ſprach er, will ich mir die Hülfe bei
meinem alten Feinde holen! Wende ſein Antlitz ab, wer
noch mein Freund iſt!“ Mit dieſen Worten zog er, aus
der Taſche, die ihm immer an der Seite hing, das Gor¬
gonenhaupt, und ſtreckte es dem erſten Gegner zu, der
jetzt eben auf ihn eindrang. „Suche Andere,“ rief dieſer
verächtlich beim erſten flüchtigen Blicke, „die du mit dei¬
nen Mirakeln erſchüttern kannſt.“ Aber als ſeine Hand
ſich heben wollte, den Wurfſpieß abzuſenden, blieb er
mitten in dieſer Geberde verſteinert, wie eine Bildſäule.
Und ſo widerfuhr es einem nach dem andern. Zuletzt
waren nur noch zweihundert übrig. Da hub Perſeus
das Gorgonenhaupt hoch in die Luft empor, daß alle es
erblicken konnten und verwandelte die zweihundert auf
einmal in ſtarres Geſtein. Jetzt erſt bereute Phineus den
unrechtmäßigen und unvernünftigen Krieg. Rechts und
links erblickt er nichts als Steinbilder in der mannig¬
faltigſten Stellung. Er ruft ſeine Freunde mit Namen,
er berührt ungläubig die Körper der Zunächſtſtehenden:
Alles iſt Marmor. Entſetzen faßte ihn und ſein Trotz
verwandelte ſich in demüthiges Flehen. „Laß mir nur
das Leben, dein ſey das Reich und die Braut!“ rief er
und kehrte ſein verzagendes Angeſicht ſeitwärts. Aber
Perſeus, über den Tod ſeiner neuen Freunde erbittert,
kannte kein Erbarmen. „Verräther, ſchrie er zornig, ich
will dir für alle Ewigkeit ein bleibendes Denkmal in
meines Schwähers Hauſe ſtiften!“ und ſo ſehr Phineus
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 5[66] bemüht war, dem Anblicke zu entgehen, ſo traf doch bald
das ausgeſtreckte Schreckensbild ſein Auge: ſein Hals
erſtarrte, ſein feuchter Blick erharſchte zu Stein. So
blieb er ſtehen mit furchtſamer Miene, die Hände geſenkt,
in knechtiſcher, demüthiger Stellung. Ohne Hinderniß
führte jetzt Perſeus ſeine Geliebte, Andromeda, heim.
Lange glückliche Tage erwarteten ihn und er fand auch
ſeine Mutter Danae wieder. Doch ſollte er an ſeinem
Großvater Akriſius das Verhängniß erfüllen. Dieſer war
aus Furcht vor dem Orakelſpruche zu einem fremden
Könige ins Pelasgerland geflohen. Hier half er Kampf¬
ſpiele feiern, als eben Perſeus ankam, der auf der Fahrt
nach Argos begriffen war, wo er ſeinen Großvater be¬
grüßen wollte. Ein unglücklicher Wurf mit der Scheibe
traf den Großvater von des Enkels Hand, ohne daß
Dieſer Jenen kannte oder treffen wollte. Nicht lange
blieb ihm verborgen, was er gethan. In tiefer Trauer
begrub er den Akriſius außerhalb der Stadt und ver¬
tauſchte das Königreich, das ihm durch des Großvaters
Tod zugefallen war. Doch verfolgte ihn der Neid des
Geſchickes nicht länger. Andromeda gebar ihm viele
herrliche Söhne und der Ruhm des Vaters lebte in ihnen
fort.


[67]

Ion.

Der König Erechtheus von Athen, erfreute ſich einer ſchö¬
nen Tochter, die Kruſa hieß. Mit dieſer hatte ſich, ohne
Wiſſen ihres Vaters, Apollo vermählt, und ſie hatte ihm
einen Sohn geboren, welchen ſie aus Furcht vor dem
Zorn ihres Vaters in eine Kiſte verſchloß und in der
Höhle ausſetzte, wo ſie ihre heimlichen Zuſammenkünfte
mit dem Gotte gehalten hatte, in der Hoffnung, daß ſich
die Götter des Verlaſſenen erbarmen würden. Um aber
den neugebornen Knaben nicht ohne Erkennungszeichen
zu laſſen, hing ſie ihm den Schmuck um, den ſie als
Jungfrau zu tragen pflegte. Apollo, dem als einem
Gotte die Geburt ſeines Sohnes nicht verborgen geblie¬
ben war, und der weder ſeine Geliebte verrathen, noch
den Knaben ohne Hülfe laſſen wollte, wandte ſich an ſei¬
nen Bruder Merkurius, welcher als Götterbote, ohne
Aufſehen zu erregen, zwiſchen Himmel und Erde zu ver¬
kehren hatte. „Lieber Bruder,“ ſprach er, „eine Sterb¬
liche hat mir ein Kind geboren, es iſt die Tochter des
Königes Erechtheus zu Athen. Aus Furcht vor ihrem
Vater hat ſie es in einem hohlen Felſen verborgen; hilf
mir es retten, bring es, in der Kiſte, in der es liegt
und mit den Windeln, in die es gewickelt iſt, nach mei¬
nem Orakel zu Delphi, und lege es dort auf die Schwelle
des Tempels. Das übrige laß meine Sorge ſeyn, denn
es iſt mein Kind.“ Merkur, der geflügelte Gott, eilte
nach Athen, fand den Knaben an der bezeichneten Stelle
und trug ihn in dem geflochtenen Weidenkorbe, in wel¬
chem er verſchloſſen lag, nach Delphi, wo er ihn vor
5 *[68] den Pforten des Tempels niederſetzte und den Deckel des
Korbes öffnete, damit das Kind bemerklich würde. Dieß
geſchah bei Nacht. Am andern Morgen, als ſchon die
Sonne emporſtieg, kam die Delphiſche Prieſterin nach
dem Tempel geſchritten, und als ſie ihn betreten wollte,
fiel ihr Auge auf das neugeborne Kind, das in der Kiſte
ſchlummerte. Sie hielt daſſelbe für die Frucht irgend
eines Verbrechens und war ſchon geneigt, es von der
heiligen Schwelle fortzuſtoßen, als das Mitleid doch in
ihrer Seele die Oberhand gewann, denn der Gott wandte
ihr Herz und ſprach in demſelben für ſeinen Sohn. Die
Prophetin nahm alſo das Kind aus dem Korbe und zog
es auf, ohne ſeinen Vater und ſeine Mutter zu kennen.
Der Knabe erwuchs um den Altar ſeines Vaters ſpielend
und wußte nichts von ſeinen Eltern. Er wurde ein ſtatt¬
licher Jüngling. Die Bewohner von Delphi, die ihn ſchon
als kleinen Tempelhüter gewohnt worden waren, ſetzten
ihn zum Schatzmeiſter über alle Geſchenke, die der Gott
erhielt, und ſo brachte er fortwährend ein ehrbares und
heiliges Leben im Tempel ſeines Vaters zu.


Inzwiſchen hatte Kruſa von dem Gotte nichts mehr
erfahren und mußte wohl glauben, daß er ihrer und
ihres Sohnes vergeſſen habe. Um dieſe Zeit geriethen
die Athener in einen Krieg mit den Bewohnern der Nach¬
barinſel Euböa, der bis zur Vertilgung geführt wurde
und in welchem die letztern unterlagen. In dieſem Kam¬
pfe war den Athenern beſonders wirkſam ein Fremdling
aus Achaja beigeſtanden. Es war dieß Xuthus, ein
Sohn des Aeolus, der ſelbſt ein Sohn Jupiters war.
Zum Lohne ſeiner Hülfe begehrte und erhielt er die Hand
der Königstochter Kruſa; aber es war, als ob der ihr
[69] heimlich angetraute Gott die Geliebte ſeinen Zorn empfin¬
den ließe, daß ſie ſich einem Andern vermählt hatte, denn
ihre Ehe war nicht mit Kindern geſegnet. Nach langer
Zeit verfiel Kruſa auf den Gedanken, ſich an das Orakel
zu Delphi zu wenden und von ihm Kinderſegen zu er¬
flehen. Dieß war es, was Apollo gewollt, denn er hatte
ſeines Sohnes keineswegs vergeſſen. So brach die Für¬
ſtin mit ihrem Gemahl und einem kleinen Gefolge von
Dienerinnen auf, und wallfahrtete zu dem Tempel nach
Delphi. Als ſie vor dem Gotteshauſe ankamen, trat ge¬
rade der junge Sohn Apollo's über die Schwelle, um
gewohnter Weiſe die Pfoſten der Thore mit Lorbeerzwei¬
gen zu ſchmücken. Da fiel ſein Auge auf die edle Ma¬
trone, welche auf die Thore des Tempels zugewandelt
kam, und der beim Anblicke des Heiligthums Thränen
über die Wangen rollten. Er wagte es, die Frau, deren
würdige Geſtalt ihm auffiel, beſcheiden um die Urſache
ihres Kummers zu befragen. „Es wundert mich nicht,
o Jüngling,“ erwiederte ſie ſeufzend, „daß meine Traurig¬
keit deinen Blick auf ſich zieht; habe ich doch Geſchicke
zu beweinen, dir man mir wohl anſehen mag. Die Göt¬
ter verfahren oft hart mit uns Sterblichen!“ — „Ich
will deinen Kummer nicht weiter ſtören,“ ſprach der Jüng¬
ling, „aber ſage mir, wenn es zu wiſſen erlaubt iſt, wer
du biſt und von wannen du kömmſt.“ — „Ich bin Kruſa,
antwortete die Fürſtin, mein Vater heißt Erechtheus, mein
Vaterland iſt Athen.“ Mit unſchuldiger Freude rief der
Jüngling: „Ei, aus welchem berühmten Lande, aus welch
berühmtem Geſchlechte ſtammſt du! Aber ſage mir, iſt es
wahr, wie man es auf Bildern bei uns ſieht, daß deines
Vaters Großvater Erichthonius aus der Erde, wie ein
[70] anderes Gewächs empor geſproſſen iſt, daß die Göttin
Minerva den erdgeborenen Knaben in eine Kiſte einge¬
ſchloſſen, ihm zwei Drachen als Wächter beigegeben und
das Kiſtchen den Töchtern des Cekrops zur Bewahrung
überlaſſen habe; daß dieſe aus Neugierde daſſelbe eröffnet
und beim Anblicke des Knaben in Wahnſinn gerathen
und ſich von dem Felſen der Cekropiſchen Burg herabge¬
ſtürzt?“ Kruſa bejahte die Frage ſchweigend, denn das
Schickſal ihres Urahns erinnerte ſie an das Geſchick ih¬
res verlorenen Sohnes. Dieſer aber, der vor ihr ſtand,
fuhr fort unbefangen weiter zu fragen: „Sage mir auch,
hohe Fürſtin, iſt es wahr, daß dein Vater Erechtheus
ſeine Töchter, deine Schweſtern, auf den Ausſpruch eines
Orakels und mit ihrem freien Willen dem Tode geopfert,
um über die Feinde zu ſiegen? Und wie kam es, daß
du allein gerettet worden biſt?“ — „Ich war, ſprach
Kruſa, ein neugeborenes Kind und lag in den Armen
der Mutter.“ — „Und iſt es auch wahr, ſo fragte der
Jüngling weiter, daß dein Vater Erechtheus von einem
Erdſpalt verſchlungen worden iſt, daß der Dreizack Nep¬
tuns ihn verderbt hat, und daß in der Nähe ſeines Erd¬
grabes eine Grotte iſt, die mein Herr der pythiſche Apol¬
lo ſo lieb hat?“ — „O ſchweige mir von jener Grotte,
Fremdling, unterbrach ihn ſeufzend Kruſa, in ihr iſt
eine Treuloſigkeit und ein großer Frevel begangen wor¬
den.“ Die Fürſtin ſchwieg eine Weile, ſammelte ſich wie¬
der und erzählte dem Jüngling, in welchem ſie den Tem¬
pelhüter des Gottes erkannte, daß ſie die Gemahlin des
Fürſten Xuthus, und mit dieſem nach Delphi gewall¬
fahrtet ſey, um für ihre unfruchtbare Ehe den Segen des
Gottes zu erflehen. „Phöbus Apollo, ſprach ſie mit ei¬
[71] nem Seufzer, kennt die Urſache meiner Kinderloſigkeit;
er allein kann mir helfen.“ — „So biſt du kinderlos,
Unglückliche?“ ſagte betrübt der Jüngling. „Ich bin es
längſt, erwiederte Kruſa, und ich muß deine Mutter be¬
neiden, guter Jüngling, die ſich eines ſo holdſeligen Soh¬
nes erfreut.“ — „Ich weiß nichts von einer Mutter und
von einem Vater, gab der junge Mann betrübt zur Ant¬
wort, ich lag nie an eines Weibes Bruſt; ich weiß auch
nicht, wie ich hierher gekommen bin, nur ſo viel weiß ich
aus dem Munde meiner Pflegemutter, der Prieſterin die¬
ſes Tempels, daß ſie ſich meiner erbarmt und mich groß
gezogen hat; das Haus des Gottes iſt ſeitdem meine
Wohnung und ich bin ſein Knecht.“ Bei dieſen Mitthei¬
lungen wurde die Fürſtin ſehr nachdenklich, doch drängte
ſie ihre Gedanken in die Bruſt zurück und ſprach die trau¬
rigen Worte: „Mein Sohn, ich kenne eine Frau, der
es gegangen iſt, wie deiner Mutter, um ihretwillen bin
ich hierher gekommen und ſoll das Orakel befragen. So
will ich denn dir, als dem Diener des Gottes, ihr Geheim¬
niß anvertrauen, bevor ihr jetziger Gatte, der dieſe Wall¬
fahrt auch gemacht, aber unterwegs abgelenkt hat, um
das Orakel des Trophonius zu hören, den Tempel be¬
tritt. Jene Frau behauptet, vor ihrer jetzigen Ehe mit
dem großen Gotte Phöbus Apollo vermählt geweſen zu
ſeyn und ihm ohne Wiſſen ihres Vaters einen Sohn ge¬
boren zu haben. Dieſen ſetzte ſie aus, und weiß ſeitdem
nichts mehr von ihm, nicht, ob er das Sonnenlicht ſchaut
oder nicht. Ueber ſein Leben oder ſeinen Tod den Gott
auszuforſchen, bin ich im Namen meiner Freundin hier¬
her gekommen.“ — „Wie lang iſt es her, daß der Kna¬
be todt iſt?“ fragte der Jüngling. — „Wenn er noch
[72] lebte, ſo hätte er dein Alter, o Knabe,“ ſprach Kruſa.
„O wie ähnlich iſt das Schickſal deiner Freundin und
das meine,“ rief mit dem Ausdrucke des Schmerzens der
junge Mann; „ſie ſucht ihren Sohn und ich ſuche meine
Mutter. Doch iſt, was ihr geſchehen iſt, fern von dieſem
Lande geſchehen, und leider ſind wir beide einander ganz
fremd. Hoffe auch nicht, daß der Gott von ſeinem Drei¬
fuße dir die gewünſchte Antwort ertheilen wird. Biſt du
doch gekommen, ihn im Namen deiner Freundin einer
Treuloſigkeit anzuklagen; er wird nicht über ſich ſelbſt
Richter ſeyn wollen!“ „Halt ein, Jüngling,“ rief jetzt
Kruſa, „dort ſehe ich den Gatten jener Frau herannahen;
laß dir nichts von dem merken, was ich dir, vielleicht
allzu vertraulich, vorgeplaudert habe.“


Xuthus kam fröhlich in den Tempel und auf ſeine
Gemahlin zugeſchritten. „Frau,“ rief er ihr entgegen,
„Trophonius hat einen glücklichen Ausſpruch gethan:
ich ſoll nicht ohne Kinder von hinnen ziehen! Aber ſage
mir, wer iſt dieſer junge Prophet des Gottes?“ Der
Jüngling trat dem Fürſten beſcheiden entgegen und er¬
zählte ihm, wie er nur der Tempeldiener Apollo's ſey, und
im innerſten Heiligthume die vornehmſten Delphier ſelbſt,
durchs Loos ausgewählt, den Dreifuß umlagern, von dem
jetzt eben die Prieſterin Orakel zu geben bereit ſey. Als
der Fürſt dieſes hörte, befahl er Kruſen, ſich mit den
Zweigen zu ſchmücken, welche Bittflehende zu tragen pfle¬
gen, und an dem Altare des Gottes, der mit Lorbeer
umwunden unter freiem Himmel ſtand, zu Apollo zu be¬
ten, daß er ihnen ein günſtiges Orakel ſenden möge. Er
ſelbſt eilte nach dem Heiligthume des Tempels, indeß der
junge Schatzmeiſter des Gottes im Vorhofe ſeine Wache
[73] fortſetzte. Es hatte nicht ſehr lange gedauert, ſo hörte
dieſer die Thüren des innerſten Heiligthums gehen und
ſich dröhnend wieder ſchließen, dann ſah er den Xuthus
in freudiger Beſtürzung herauseilen, dieſer warf ſich mit
Ungeſtüm dem Jüngling um den Hals, nannte ihn zu
wiederholtenmalen ſeinen Sohn und verlangte ſeinen
Handſchlag und ſeinen Kindeskuß. Der junge Mann
aber, der von allem dem nichts begriff, hielt den Alten
für wahnſinnig, und ſtieß ihn mit jugendlicher Kraft
von ſich. Doch Xuthus ließ ſich nicht abweiſen. „Der
Gott ſelbſt hat es mir geoffenbart,“ ſprach er; „ſein
Spruch lautete: Der erſte, der mir drauſſen begegnen
würde, der ſey mein Sohn und ein Göttergeſchenk. Wie
das möglich iſt, weiß ich zwar nicht, denn meine Gattin
hat mir nie zuvor Kinder geboren. Doch trau' ich dem
Gotte; mag er ſelbſt ſein Geheimniß enthüllen.“ Jetzt
gab ſich auch der Jüngling der Freude hin; doch nur
halb und mitten unter den Küſſen und Umarmungen ſei¬
nes Vaters mußte er ſeufzen: „o geliebte Mutter, wer
biſt du, wo biſt du? wann wird es mir vergönnt ſeyn,
auch dein theures Antlitz zu ſchauen?“ Dazu kamen ihm
große Zweifel, wie die kinderloſe Gemahlin des Xuthus,
die er nicht zu kennen glaubte, ihn als unerwarteten
Stiefſohn aufnehmen, wie die Stadt Athen den nicht
geſetzlichen Erben ihres Fürſten empfangen würde. Sein
Vater hieß ihn aber guten Muthes ſeyn: er verſprach
ihm, ihn den Athenern und ſeiner Gattin als einen Fremd¬
ling und nicht als ſeinen Sohn vorzuſtellen und gab ihm
den Namen Ion, d. h. Gänger, weil er im Tempel den
ihm Entgegengehenden als ſeinen Sohn erkannt hatte.


Kruſa war indeſſen von dem Altare Apollo's, vor
[74] dem ſie ſich betend niedergeworfen, nicht gewichen. Sie
wurde endlich in ihrem brünſtigen Flehen von ihren Die¬
nerinnen unterbrochen, welche ſich ihr unter Weheklagen
nahten.“ Unglückliche Herrin,“ riefen ſie ihr entgegen,
„dein Gatte zwar iſt in große Freude verſetzt, du aber
wirſt nie ein eigenes Kind in deine Arme nehmen und
an deine Bruſt legen. Ihm freilich hat Apollo einen
Sohn gegeben, einen erwachſenen Sohn, den ihm vor
Zeiten, wer weiß, welch ein Nebenweib geboren hat; als
er aus dem Tempel trat, kam ihm dieſer entgegen, er
wird ſich ſeines wiedergefundenen Kindes freuen, du aber
wirſt wie zuvor einer Wittwe gleich im öden Hauſe woh¬
nen.“ Die arme Fürſtin, deren Geiſt der Gott ſelbſt
mit Blindheit geſchlagen zu haben ſchien, daß ſich ein ſo
nahe liegendes Geheimniß ihm nicht enthüllte, brütete über
ihrem traurigen Schickſal eine Weile fort. Endlich fragte
ſie nach der Perſon und dem Namen des Stiefſohnes,
den ſie ſo unvermuthet erhalten hatte. „Es iſt der junge
Tempelhüter, den du ſchon kennſt,“ erwiederten die Die¬
nerinnen; „ſein Vater hat ihm den Namen Ion gegeben,
wer ſeine Mutter iſt, wiſſen wir nicht, jetzt iſt dein Gatte
zu dem Altare des Bacchus gegangen, um heimlich für
ſeinen Sohn zu opfern und dann mit ihm den Erken¬
nungsſchmaus zu feiern, uns hat er unter Androhung des
Todes verboten, dir, o Herrin, die Geſchichte zu entdecken,
nur unſre große Liebe zu dir hat uns vermocht, dieſes
Verbot zu übertreten. Du wirſt uns ja nicht bei ihm
verrathen!“ Jetzt trat aus dem Gefolge ein alter Diener
hervor, der dem Stamme der Erechthiden mit blin¬
der Treue anhing und ſeiner Gebieterin mit großer
Liebe zugethan war. Dieſer ſchalt den Fürſten Xuthus
[75] einen treuloſen Ehebrecher und ließ ſich von ſeinem Eifer
ſo weit verleiten, daß er ihr das Anerbieten machte, den
Baſtard, der das Erbe der Erechthiden unrechtmäßiger¬
weiſe an ſich bringen würde, aus dem Wege zu räumen.
Kruſa glaubte ſich von ihrem Gatten und von ihrem
früheren Geliebten, dem Gott Apollo, verlaſſen, und
betäubt von ihrem Kummer, lieh ſie den frevelhaften
Anſchlägen des Greiſen allmählig ihr Ohr und machte
ihn auch zum Vertrauten ihres Verhältnißes zu dem
Gott.


Als Xuthus mit Ion, in welchem er unbegreiflicher¬
weiſe einen Sohn gefunden zu haben meinte, den Tempel
des Gottes verlaſſen hatte, begab er ſich mit ihm nach
dem doppelten Gipfel des Berges Parnaſſus, wo der Gott
Bacchus nicht weniger heilig, als Apollo ſelbſt, von
den Delphiern verehrt und mit ſeinem wilden Orgien¬
dienſte von den Frauen gefeiert wird. Nachdem er hier
ein Trankopfer ausgegoſſen zum Danke für den gefunde¬
nen Sohn, errichtete Ion im Freien mit Hülfe der Die¬
ner, die ihn begleitet hatten, ein herrliches und geräumi¬
ges Zelt, das er mit ſchön gewirkten Teppichen bedeckte,
die er aus Apollo's Tempel hatte herbeiſchaffen laſſen.
In dem Zelte wurden lange Tafeln ausgeſtellt und mit
ſilbernen Schüſſeln voll köſtlicher Speiſen und goldenen
Bechern voll des edelſten Weines, belaſtet, dann ſandte
der Athener Xuthus ſeinen Herold in die Stadt Delphi
und lud ſämmtliche Einwohner ein, an ſeiner Freude Theil
zu nehmen. Bald füllte ſich das große Zelt mit bekränz¬
ten Gäſten und ſie tafelten in Herrlichkeit und Freude.
Beim Nachtiſche trat ein alter Mann, deſſen ſonderbare
Gebärden den Gäſten zur Beluſtigung dienten, mitten in
[76] den Saal des Zeltes und maßte ſich das Amt des Mund¬
ſchenken an. Xuthus erkannte in ihm jenen greiſen Die¬
ner ſeiner Gemahlin Kruſa, lobte den Gäſten ſeinen
Eifer und ſeine Treue, und ließ ihn arglos ſchalten.
Der Alte ſtellte ſich an den Schenktiſch und fing an ſich
der Becher anzunehmen, und die Gäſte zu bedienen. Als
nun gegen den Schluß des Mahles die Flöten ertönten,
befahl er den Knechten, die kleinen Becher von der Ta¬
fel wegzunehmen und den Gäſten große ſilberne und gol¬
dene Trinkgefäſſe vorzuſetzen. Er ſelbſt ergriff das herr¬
lichſte Gefäß, und trat, als wollte er damit ſeinen neuen
jungen Herren ehren, an den Schenktiſch, füllte es bis
zu oberſt mit köſtlichem Weine, ſchüttete aber zugleich un¬
vermerkt ein tödtliches Gift in den Becher. Indem er
ſich nun damit dem Ion näherte und einige Tropfen des
Weines als Trankopfer auf den Boden goß, entfuhr zu¬
fälliger Weiſe einem der naheſtehenden Knechte ein Fluch.
Ion, der unter den heiligen Gebräuchen des Tempels
aufgewachſen war, erkannte darin eine böſe Vorbedeutung
und befahl, indem er den vollen Becher auf den Boden
ſchüttete, daß ihm ein neuer Becher gereicht würde, aus
welchem er ſelbſt feierlich das Trankopfer ausgoß, wäh¬
rend alle Gäſte aus ihren Bechern daſſelbe thaten. Wäh¬
rend dieß geſchah, flatterte eine Schaar heiliger Tauben,
die im Tempel des Apollo unter dem Schirme des Got¬
tes aufgefüttert werden, luſtig in das Zelt herein. Als
ſie die Ströme Weines ſahen, die von allen Seiten aus¬
gegoſſen wurden, ließen ſie ſich, lüſtern gemacht, auf den
Boden nieder und fingen an von dem herumſchwimmen¬
den Weine mit ausgereckten Schnäbeln zu nippen: und
allen übrigen ſchadete das Trankopfer nicht, nur die eine
[77] Taube, die ſich an die Stelle geſetzt hatte, wo Ion ſeinen
erſten Becher ausgegoſſen, ſchüttelte, ſo wie ſie den Trank
gekoſtet hatte, krampfhaft ihre Flügel, fing, zum Staunen
aller Gäſte, zu ächzen und zu toben an, und ſtarb unter
Flügelſchlag und Zuckungen. Da erhub ſich Ion von
ſeinem Sitze, ſtreifte ſein Gewand zürnend von den Ar¬
men, ballte die Fäuſte und rief: „wo iſt der Menſch
der mich tödten wollte? rede, Alter! denn du haſt deine
Hand dazu geliehen, du haſt mir den Trank gemiſcht!“
damit faßte er den Greis bei der Schulter, um ihn nicht
wieder los zu laſſen. Dieſer, überraſcht und erſchrocken,
geſtand die ganze Frevelthat, als von Kruſen herrührend.
Da verließ der durch Apollos Orakel für des Xuthus
Sohn erklärte Ion das Zelt und alle Gäſte folgten ihm
in wilder Aufregung nach. Als er draußen im Freien
ſtand, erhub er die Hände, umringt von den vornehmſten
Delphiern und ſprach: „Heilige Erde, du biſt mein Zeu¬
ge, daß dieſes fremde Erechthidenweib mich mit Gift aus
dem Wege räumen will!“ — „Steiniget, ſteiniget ſie!“
erſcholl es von der Verſammlung der Delphier wie aus
Einem Munde; und die ganze Stadt brach mit Ion auf,
die Verbrecherin zu ſuchen. Xuthus ſelbſt, dem die ſchreck¬
liche Entdeckung ſeine Beſinnung geraubt hatte, wurde
von dem Strome mit fortgeriſſen, ohne zu wiſſen, was
er that.


Kruſa hatte am Altar Apollo's die Früchte ihrer
verzweifelten That erwartet. Dieſe aber keimten ganz
anders auf, als ſie vermuthet hatte. Ein Toſen aus der
Ferne ſchreckte ſie aus ihrer Verſunkenheit auf, und noch
ehe es ganz nahe kam, war dem heranſtürmenden Haufen
einer der Knechte ihres Gemahls, der ihr ſelbſt vor An¬
[78] dern getreu war, vorangeeilt, und hatte kaum Zeit gehabt,
die Entdeckung ihres Frevels und den Beſchluß, den das
Volk von Delphi gefaſſt hätte, ihr zu melden. Ihre
Dienerinnen ſchaarten ſich um ſie. „Halte dich feſt am
Altare, Gebieterin,“ riefen ſie, „denn ſollte dich auch der
heilige Ort nicht vor deinen Mördern ſchützen, ſo wer¬
den ſie doch durch deine Ermordung eine unſühnbare
Blutſchuld auf ſich laden!“ Indeſſen kam die tobende
Schaar der Delphier, von Ion angeführt, dem Altare
immer näher. Noch ehe ſie bei demſelben angelangt wa¬
ren, hörte man des Jünglings zürnende Worte, die der
Wind durch die Luft führte: „Die Götter haben es gut
mit mir gemeint,“ rief er in lautem Grimme, „daß dieſer
Frevel mich von der Stiefmutter befreien ſollte, die mich
zu Athen erwartete. Wo iſt die Verruchte, die Viper
mit der Giftzunge, der Drache mit dem todſpeienden
Flammenauge? Auf, daß die Mörderin vom höchſten
Felſen in den Abgrund geſtürzt werde!” Das ihn be¬
gleitende Volk brüllte Beifall.


Jetzt waren ſie am Altare angekommen und Ion
zerrte an der Frau, die ſeine Mutter war, und in der
er nur ſeine Todfeindin erkannte, um ſie von dem Aſyl,
auf deſſen Heiligkeit und Unverletzlichkeit ſie ſich berief,
hinwegzureißen. Aber Apollo wollte nicht, daß ſein eige¬
ner Sohn der Mörder ſeiner Mutter würde. Auf ſeinen
göttlichen Wink war das Gerücht von dem gedrohten
Verbrechen Kruſens und der Strafe, welche ſie dafür er¬
warte, ſchnell bis in den Tempel und zu den Ohren der
Prieſterin gedrungen, und der Gott hatte ihren Sinn er¬
leuchtet, ſo daß ſie einen raſchen Blick in den Zuſammen¬
hang aller Ereigniſſe warf, und ihr plötzlich klar wurde,
[79] daß ihr Pflegling Jon nicht des Xuthus, wie ſie ſelbſt
nebelhaft prophezeit hatte, ſondern Apollo’s und Kruſa’s
Sohn ſey. Sie verließ den Dreifuß und ſuchte das
Kiſtchen hervor, in welchem der neugeborene Knabe ſamt
einigen Erkennungszeichen, die ſie gleichfalls ſorgſam auf¬
bewahrt hatte, einſt zu Delphi vor dem Tempelthor aus¬
geſetzt worden war. Mit dieſem im Arme eilte ſie ins
Freie und nach dem Altare, wo Kruſa gegen den ein¬
dringenden Jon um ihr Leben kämpfte. Als Jon die
Prieſterin herannahen ſah, ließ er ſogleich von ſeiner
Beute ab, ging ihr ehrerbietig entgegen und rief: „Sey
mir willkommen, liebe Mutter, denn ſo muß ich dich nen¬
nen, obgleich du mich nicht geboren haſt! hörſt du, wel¬
chen Nachſtellungen ich entgangen bin? Kaum habe ich
einen Vater gefunden, ſo ſinnt auch ſchon die böſe Stief¬
mutter auf meinen Tod! Nun ſage mir, Mutter, was
ſoll ich thun; denn deiner Mahnung will ich folgen!“
Die Prieſterin erhob warnend ihren Finger und ſprach:
„Jon, geh mit unbefleckter Hand und unter günſtigen
Vogelzeichen nach Athen!“ Jon beſann ſich eine Weile,
eh er antwortete. „Iſt denn der nicht fleckenlos, ſprach
er endlich, der ſeine Feinde tödtet?“ — „Thue du nicht
alſo, bis du mich gehört haſt,“ ſagte die ehrwürdige
Frau. „Siehſt du dieß alte Körbchen, das ich, mit fri¬
ſchen Kränzen umwunden, in meinen Armen trage? In
dieſem biſt du einſt ausgeſetzt worden, aus ihm habe ich
dich hervorgezogen.“ Jon ſtaunte. „Davon, Mutter,
ſprach er, haſt du mir nie etwas geſagt. Warum haſt
du es ſo lange vor mir verborgen?“ „Weil der Gott,
antwortete die Prieſterin, dich bis hierher zu ſeinem Prie¬
ſter haben wollte. Jetzt, wo er dir einen Vater gegeben
[80] hat, entläßt er dich nach Athen.“ — „Was ſoll mir aber
dieſes Kiſtchen helfen?“ fragte Ion weiter. „Es enthält
die Windeln, in welchen du ausgeſetzt worden biſt, lieber
Sohn!“ antwortete die Prieſterin. „Meine Windeln?“
ſprach Ion heftig. „Nun, das iſt ja eine Spur, die mich
auf meine rechte Mutter führen kann. O erwünſchte Ent¬
deckung!“ Die Prieſterin hielt ihm nun das offene Kiſt¬
chen hin und Ion griff gierig hinein, und zog die rein¬
lich zuſammengewickelte Leinwand heraus. Während er
ſeine bethränten Augen auf die koſtbaren Ueberbleibſel
heftete, hatte ſich Kruſa's Angſt allmählig verloren und
ein Blick auf das Kiſtchen ihr die ganze Wahrheit ent¬
deckt. Mit einem Sprunge verließ ſie den Altar und
mit dem Freudenrufe: „Sohn!“ hielt ſie den ſtaunenden
Ion umſchlungen. Dieſem ſchlich ſich aufs neue Mi߬
trauen ins Herz, er fürchtete die Umarmungen der Frem¬
den als eine Hinterliſt und wollte ſich unwillig losma¬
chen. Aber Kruſa ſelbſt raffte ſich zuſammen, trat ei¬
nige Schritte zurück und ſprach: „Dieſe Leinwand ſoll
für mich zeugen, Kind! Wickle ſie getroſt auseinander,
du wirſt die Zeichen finden, die ich dir angebe. Die
Stickerei, die ſie ſchmückt, iſt das Werk meiner mädchen¬
haften Nadel. In der Mitte des Gewebes muß ſich das
Gorgonenhaupt finden, umringt von Schlangen, wie auf
dem Aegisſchilde!“ Ungläubig entfaltete Ion die Windeln,
aber mit einem plötzlichen Freudenſchrei rief er aus: „O
großer Jupiter, hier iſt die Gorgone, hier ſind die Schlangen!“
— Noch nicht genug, ſprach Kruſa, es müſſen in dem Kiſtchen
auch kleine goldne Drachen ſeyn, zur Erinnerung an die
Drachen in der Kiſte des Erichthonius; ein Halsſchmuck
für das neugeborne Knäbchen.“ Ion durchforſchte den
[81] Korb weiter und mit wonnigem Lächeln zog er bald auch
die Drachenbilder hervor. „Das letzte Zeichen, rief Kruſa,
muß ein Kranz aus den unverwelklichen Oliven ſeyn, die
vom erſtgepflanzten Oelbaume Minervens ſtammen, und
den ich meinem neugebornen Knaben aufgeſetzt.“ Jon
durchſuchte den Grund des Kiſtchens, und ſeine Hand brachte
einen ſchönen grünen Olivenkranz hervor. „Mutter,
Mutter!“ rief er mit einer von ſchluchzenden Thränen
unterbrochenen Stimme, fiel Kruſen um den Hals und
bedeckte ihre Wangen mit Küſſen. Endlich riß er ſich
von ihrem Halſe los, und verlangte nach ſeinem Vater
Xuthus. Da entdeckte ihm Kruſa das Geheimniß ſeiner
Geburt und wie er des Gottes Sohn ſey, dem er ſo
lang und getreu im Tempel gedient habe. Auch die
früheren Verwicklungen und die letzte Verirrung Krëuſens
wurden ihm jetzt klar, und er fand ſelbſt den verzweifel¬
ten Anſchlag ſeiner Mutter auf des unerkannten Sohnes
Leben verzeihlich. Xuthus nahm den Jon, obgleich nur
als Stiefſohn, doch auch ſo als ein theures Götterge¬
ſchenk in ſeine Arme und alle drei erſchienen wieder im
Tempel, dem Gotte zu danken. Die Prieſterin aber weiſ¬
ſagte von ihrem Dreifuß herab, daß Jon der Vater ei¬
nes großen Stammes werden ſollte, Jonier nach ſeinem
Namen genannt; auch dem Xuthus weiſſagte ſie Nach¬
kommenſchaft von Kruſen, einen Sohn, der Dorus
heißen ſollte, und der weltberühmten Dorier Vater
werden. Mit ſo freudigen Erfüllungen und Hoffnungen
brach das Fürſtenpaar von Athen mit dem glücklich ge¬
fundenen Sohn nach der Heimath auf, und alle Einwoh¬
ner Delphi's gaben ihm das Geleite.


Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 6[82]

Dädalus und Ikarus.

Auch Dädalus aus Athen war ein Erechthide, ein
Sohn des Metion, ein Urenkel des Erechtheus. Er war
der kunſtreichſte Mann ſeiner Zeit, Baumeiſter, Bild¬
hauer und Arbeiter in Stein. In den verſchiedenſten
Gegenden der Welt wurden Werke ſeiner Kunſt bewun¬
dert und von ſeinen Bildſäulen ſagte man, ſie leben,
gehen und ſehen, und ſeyen für kein Bild ſondern für
ein beſeeltes Geſchöpf zu halten. Denn während an
den Bildſäulen der früheren Meiſter die Augen geſchloſſen
waren, und die Hände, von den Seiten des Körpers nicht
getrennt, ſchlaff herunter hingen, war er der erſte, der
ſeinen Bildern offene Augen gab, ſie die Hände aus¬
ſtrecken und auf ſchreitenden Füßen ſtehen ließ. Aber ſo
kunſtreich Dädalus war, ſo eitel und eiferſüchtig war er
auch auf ſeine Kunſt, und dieſe Untugend verführte ihn
zum Verbrechen und trieb ihn ins Elend. Er hatte ei¬
nen Schweſterſohn, Namens Talos, den er in ſeinen eige¬
nen Künſten unterrichtete, und der noch herrlichere An¬
lagen zeigte als ſein Oheim und Meiſter. Noch als
Knabe hatte Talos die Töpferſcheibe erfunden; den Kinn¬
backen einer Schlange, auf den er irgendwo geſtoßen,
gebrauchte er als Säge und durchſchnitt mit den gezackten
Zähnen ein kleines Brettchen, dann ahmte er dieſes
Werkzeug in Eiſen nach, in deſſen Schärfe er eine Reihe
fortlaufender Zähne einſchnitt, und wurde ſo der geprie¬
ſene Erfinder der Säge. Ebenſo erfand er das Drechſel¬
eiſen, indem er zuerſt zwei eiſerne Arme verband, von
welchen der eine ſtille ſtand, während der andere ſich
[83] drehte. Auch andere künſtliche Werkzeuge erſann er, alles
ohne die Hülfe ſeines Lehrers, und erwarb ſich damit hohen
Ruhm. Dädalus fing an zu befürchten, der Name des
Schülers möchte größer werden, als der des Meiſters, der
Neid übermannte ihn, und er brachte den Knaben hinter¬
liſtig um, indem er ihn von Minerva's Burg herabſtürzte.
Während Dädalus mit ſeinem Begräbniſſe beſchäftigt
war, wurde er überraſcht; er gab vor eine Schlange zu
verſcharren. Dennoch wurde er vor dem Gerichte des
Areopagus wegen eines Mordes angeklagt und ſchuldig
befunden. Er entwich nun und irrte anfangs flüchtig in
Attika umher, bis er weiter nach der Inſel Kreta floh.
Hier fand er bei dem Könige Minos eine Freiſtätte, ward
deſſen Freund und als berühmter Künſtler hoch angeſehen.
Er wurde von ihm ausgewählt, um dem Minotaurus,
einem Ungeheuer von abſcheulicher Abkunſt, der ein Dop¬
pelweſen war, das vom Kopfe bis an die Schultern die
Geſtalt eines Stieres hatte, im übrigen aber einem Men¬
ſchen glich, einen Aufenthalt zu ſchaffen, wo das Unge¬
thüm den Augen der Menſchen ganz entrückt würde.
Der erfindſame Geiſt des Dädalus erbaute zu dem Ende
das Labyrinth, ein Gebäude voll gewundener Krümmun¬
gen, welche Augen und Füſſe des Betretenden verwirrten.
Die unzähligen Gänge ſchlangen ſich in einander, wie
der verworrene Lauf des geſchlängelten, phrygiſchen Fluſ¬
ſes Mäander, der in zweifelndem Gange bald vorwärts,
bald zurück fließt und oft ſeinen eigenen Wellen entgegen
kommt. Als der Bau vollendet war und Dädalus ihn
durchmuſterte, fand ſich der Erfinder ſelbſt mit Mühe
zur Schwelle zurück, ein ſo trügeriſches Irrſal hatte er
gegründet. Im Innerſten dieſes Labyrinthes wurde der
6 *[84] Minotaurus gehegt, und ſeine Speiſe waren ſieben
Jünglinge und ſieben Jungfrauen, die, vermöge alter
Zinsbarkeit, alle neun Jahre von Athen dem Könige
Kreta's zugeſandt werden mußten.


Indeſſen wurde dem Dädalus die lange Verbannung
aus der geliebten Heimath doch allmählig zur Laſt und
es quälte ihn, bei einem tyranniſchen und ſelbſt gegen
ſeinen Freund mißtrauiſchen Könige ſein ganzes Leben
auf einem vom Meere rings umſchloſſenen Eilande zu¬
bringen zu ſollen. Sein erfindender Geiſt ſann auf Ret¬
tung. Nachdem er lange gebrütet, rief er endlich ganz
freudig aus: „die Rettung iſt gefunden; mag mich Minos
immerhin von Land und Waſſer ausſperren, die Luft
bleibt mir doch offen; ſo viel Minos beſitzt, über ſie hat
er keine Herrſchergewalt. Durch die Luft will ich davon
gehen!“ Geſagt, gethan. Dädalus überwältigte mit ſei¬
nem Erfindungsgeiſte die Natur. Er fing an Vogelfedern
von verſchiedener Größe ſo in Ordnung zu legen, daß er
mit der kleinſten begann, und zu der kürzeren Feder ſtets
eine längere fügte, ſo daß man glauben konnte, ſie ſeyen
von ſelbſt anſteigend gewachſen. Dieſe Federn verknüpfte
er in der Mitte mit Leinfäden, unten mit Wachs. Die ſo
vereinigten beugte er mit kaum merklicher Krümmung, ſo
daß ſie ganz das Anſehen von Flügeln bekamen. Däda¬
lus hatte einen Knaben Namens Ikarus. Dieſer ſtand
neben ihm, und miſchte ſeine kindiſchen Hände neugierig
unter die künſtliche Arbeit des Vaters: bald griff er nach
dem Gefieder, deſſen Flaum von dem Luftzuge bewegt
wurde, bald knetete er das gelbe Wachs, deſſen der Künſt¬
ler ſich bediente, mit Daumen und Zeigefinger. Der Vater
ließ es ſorglos geſchehen, und lächelte zu den unbeholfenen
[85] Bemühungen ſeines Kindes. Nachdem er die letzte Hand
an ſeine Arbeit gelegt hatte, paßte ſich Dädalus ſelbſt die
Flügel an den Leib, ſetzte ſich mit ihnen ins Gleichgewicht
und ſchwebte leicht wie ein Vogel empor in die Lüfte.
Dann, nachdem er ſich wieder zu Boden geſenkt, belehrte
er auch ſeinen jungen Sohn Ikarus, für den ein kleineres
Flügelpaar gefertigt und bereit lag. „Flieg immer, lie¬
ber Sohn, ſprach er, auf der Mittelſtraße; damit nicht,
wenn du den Flug zuſehr nach unten ſenkteſt, die Fittige
ans Meerwaſſer ſtreifen und von Feuchtigkeit beſchwert
dich in die Tiefe der Wogen hinabziehen, oder, wenn du
dich zu hoch in die Luftregion verſtiegeſt, dein Gefieder
den Sonnenſtrahlen zu nahe komme und plötzlich Feuer
fange. Zwiſchen Waſſer und Sonne fliege dahin, im¬
mer nur meinem Pfade durch die Luft folgend.“ Un¬
ter ſolchen Ermahnungen knüpfte Dädalus auch dem
Sohne das Flügelpaar an die Schultern, doch zitterte
die Hand des Greiſen, während er es that, und eine
bange Thräne tropfte ihm auf die Hand. Dann um¬
armte er den Knaben und gab ihm einen Kuß, der auch
ſein letzter ſeyn ſollte.


Jetzt erhoben ſich Beide mit ihren Flügeln. Der
Vater flog voraus, ſorgenvoll wie ein Vogel, der ſeine
zarte Brut zum erſtenmal aus dem Neſte in die Luft
führt. Doch ſchwang er beſonnen und kunſtvoll das Gefie¬
der, damit der Sohn es ihm nachthun lernte, und blickte von
Zeit zu Zeit rückwärts, um zu ſehen, wie es dieſem gelänge.
Anfangs ging es ganz gut. Bald war ihnen die Inſel
Samos zur linken, bald Delos und Paros, die Eilande, vor¬
übergeflogen. Noch mehrere Küſten ſahen ſie ſchwinden, als
der Knabe Ikarus, durch den glücklichen Flug zuverſichtlich
[86] gemacht, ſeinen väterlichen Führer verließ, und in verwege¬
nem Uebermuthe mit ſeinem Flügelpaar einer höheren Zone
zuſteuerte. Aber die gedrohte Strafe blieb nicht aus.
Die Nachbarſchaft der Sonne erweichte mit allzukräfti¬
gen Strahlen das Wachs, das die Fittiche zuſammen¬
hielt, und ehe es Ikarus nur bemerkte, waren die Flügel
aufgelöſt und zu beiden Seiten den Schultern entſunken.
Noch ruderte der unglückliche Jüngling und ſchwang ſei¬
ne nackten Arme; aber er bekam keine Luft zu faſſen,
und plötzlich ſtürzte er in die Tiefe. Er hatte den Na¬
men ſeines Vaters als Hülferuf auf den Lippen; doch
ehe er ihn ausſprechen konnte, hatte ihn die blaue Mee¬
resfluth verſchlungen. Das alles war ſo ſchnell geſchehen,
daß Dädalus, hinter ſich nach ſeinem Sohne, wie er von
Zeit zu Zeit zu thun gewohnt war, blickend, nichts mehr
von ihm gewahr wurde. „Ikarus, Ikarus!“ rief er
troſtlos durch den leeren Luftraum. „Wo, in welchem
Bezirke der Luft ſoll ich dich ſuchen?“ Endlich ſandte
er die ängſtlich forſchenden Blicke nach der Tiefe. Da
ſah er im Waſſer die Federn ſchwimmen. Nun ſenkte
er ſeinen Flug und ging, die Flügel abgelegt, ohne Troſt
am Ufer hin und her, wo bald die Meereswellen den
Leichnam ſeines unglückſeligen Kindes ans Geſtade ſpiel¬
ten. Jetzt war der ermordete Talos gerächt. Der ver¬
zweifelnde Vater ſorgte für das Begräbniß des Sohnes.
Es war eine Inſel, wo er ſich niedergelaſſen, und wo
der Leichnam ans Ufer geſchwemmt worden war. Zum
ewigen Gedächtniß an das jammervolle Ereigniß erhielt
das Eiland den Namen Ikaria.


Als Dädalus ſeinen Sohn begraben hatte, fuhr er
von dieſer Inſel weiter nach der großen Inſel Sicilien.
[87] Hier herrſchte der König Kokalus. Wie einſt bei Minos
auf Kreta fand er bei ihm gaſtliche Aufnahme, und ſeine
Kunſt ſetzte die Einwohner in Erſtaunen. Noch lange
zeigte man da einen künſtlichen See, den er gegraben,
und aus dem ein breiter Fluß ſich in das benachbarte
Meer ergoß; auf den ſteilſten Felſen, der nicht zu erſtür¬
men war, und wo kaum ein paar Bäume Platz zu ha¬
ben ſchienen, ſetzte er eine feſte Stadt, und führte zu ihr
einen ſo engen und künſtlich gewundenen Weg empor,
daß drei oder vier Männer hinreichten, die Veſte zu ver¬
theidigen. Dieſe unbezwingliche Burg wählte dann der
König Kokalus zur Aufbewahrung ſeiner Schätze. Das
dritte Werk des Dädalus auf der Inſel Sicilien war
eine tiefe Höhle. Hier fing er den Dampf unterirdiſchen
Feuers ſo geſchickt auf, daß der Aufenthalt in einer
Grotte, die ſonſt feucht zu ſeyn pflegte, ſo angenehm
war, wie in einem gelinde geheizten Zimmer, und der
Körper allmählig in einen wohlthätigen Schweiß kam,
ohne dabei von der Hitze beläſtigt zu werden. Auch den
Venustempel auf dem Vorgebirge Eryr erweiterte er,
und weihte der Göttin eine goldene Honigzelle, die mit
der größten Kunſt ausgearbeitet war und einer wirklichen
Honigwabe täuſchend ähnlich ſah.


Nun erfuhr aber König Minos, deſſen Inſel der
Baumeiſter heimlich verlaſſen hatte, daß Dädalus ſich
nach Sicilien geflüchtet habe, und faßte den Entſchluß,
ihn mit einem gewaltigen Kriegsheere zu verfolgen. Er
rüſtete eine anſehnliche Flotte aus und fuhr damit von
Kreta nach Agrigent. Hier ſchiffte er ſeine Landtruppen
aus, und ſchickte Botſchafter an den König Kokalus, wel¬
che die Auslieferung des Flüchtlings verlangen ſollten.
[88] Aber Kokalus war über den Einfall des fremden Tyran¬
nen entrüſtet, und ſann auf Mittel und Wege, ihn zu
verderben. Er ſtellte ſich an, als ginge er in die Abſich¬
ten des Kreters ganz ein, verſprach ihm in Allem zu
willfahren und lud ihn zu dem Ende zu einer Zuſammen¬
kunft ein. Minos kam und wurde mit großer Gaſtfreund¬
ſchaft von Kokalus aufgenommen. Ein warmes Bad
ſollte ihn von der Ermüdung des Weges heilen. Als er
aber in der Wanne ſaß, ließ Kokalus dieſe ſo lange
heitzen, bis Minos in dem ſiedenden Waſſer erſtickte.
Die Leiche überließ der König von Sicilien den Kretern,
die mit ihm gekommen waren, unter dem Vorgeben, der
König ſey im Bade ausgegleitet und in das heiße Waſſer
gefallen. Hierauf wurde Minos von ſeinen Kriegern
mit großer Pracht bei Agrigent beſtattet und über ſeinem
Grabmal ein offener Aphroditentempel erbaut. Dädalus
blieb bei dem Könige Kokalus in ununterbrochener Gunſt;
er zog viele und berühmte Künſtler und wurde der Grün¬
der ſeiner Kunſt auf Sicilien. Glücklich aber war er
ſeit dem Sturze ſeines Sohnes Ikarus nicht mehr, und,
während er dem Lande, das ihm eine Zuflucht gewährt
hatte, ein heiteres und lachendes Anſehen durch die Werke
ſeiner Hand verlieh, durchlebte er ſelbſt ein kummervolles
und trübſinniges Alter. Er ſtarb auf der Inſel Sicilien
und wurde dort begraben.

[[89]]

Zweites Buch.

Die Argonautenſage.

Jaſon und Pelias. — Anlaß und Beginn des Argonau¬
tenzuges. — Die Argonauten zu Lemnos. — Dieſelben
im Lande der Dolionen. — Herkules zurückgelaſſen. —
Pollux und der Bebrykenkönig. — Phineus und die
Harpyien. — Die Symplegaden. — Weitere Abentheuer. —
Jaſon im Pallaſte des Aeetes. — Medea und Aeetes. —
Der Rath des Argos. — Medea verſpricht den Argonau¬
ten Hülfe. — Jaſon und Medea. — Jaſon erfüllt des
Aeetes Begehr. — Medea raubt das goldne Vließ. — Die
Argonauten, verfolgt, entkommen mit Medea. — Weitere
Heimfahrt der Argonauten. — Neue Verfolgung
der Kolchier. — Letzte Abentheuer der Helden. —
Jaſons Ende.


[[90]][[91]]

Jaſon und Pelias.

Von Aeſon, dem Sohne des Kretheus, ſtammte Ja¬
ſon ab. Sein Großvater hatte in einer Bucht des Lan¬
des Theſſalien die Stadt und das Königreich Jolkos ge¬
gründet und daſſelbe ſeinem Sohne Aeſon hinterlaſſen.
Aber der jüngere Sohn, Pelias, bemächtigte ſich des
Thrones; Aeſon ſtarb, und Jaſon, ſein Kind, war zu
Chiron dem Centauren, dem Erzieher vieler großen Hel¬
den, geflüchtet worden, wo er in guter Heldenzucht auf¬
wuchs. Als Pelias ſchon alt war, wurde er durch einen
dunkeln Orakelſpruch geängſtigt, welcher ihn warnte, er
ſollte ſich vor dem Einſchuhigten hüten. Pelias grübelte
vergeblich über dem Sinne dieſes Worts, als Jaſon,
der jetzt zwanzig Jahre den Unterricht und die Erziehung
des Chiron genoſſen hatte, ſich heimlich aufmachte, nach
Jolkos in ſeine Heimath zu wandern und das Thronrecht
ſeines Geſchlechtes gegen Pelias zu behaupten. Nach
Art der alten Helden war er mit zwei Speeren, dem
einen zum Werfen den andern zum Stoßen, ausgerüſtet;
er trug ein Reiſekleid und darüber die Haut von einem
Panther, den er erwürgt hatte; ſein unbeſchorenes Haar
hing lang über die Schultern herab. Unterwegs kam er
an einen breiten Fluß, an dem er eine alte Frau ſtehen
ſah, die ihn flehentlich bat, ihr über den Strom zu hel¬
fen. Es war die Göttermutter Juno, die Feindin des
Königes Pelias. Jaſon erkannte ſie in ihrer Verwand¬
[92] lung nicht, er nahm ſie mitleidig auf die Arme und watete
mit ihr durch den Fluß. Auf dieſem Wege blieb ihm
der eine Schuh im Schlamme ſtecken. Dennoch wanderte
er weiter und kam zu Jolkos an, als ſein Oheim Pelias
gerade mitten unter allem Volke auf dem Marktplatze der
Stadt dem Meeresgotte Neptunus ein feierliches Opfer
brachte. Alles Volk verwunderte ſich über ſeine Schön¬
heit und ſeinen majeſtätiſchen Wuchs, Sie meinten, Apollo
oder Mars ſey plötzlich in ihre Mitte getreten. Jetzt
fielen auch die Blicke des opfernden Königes auf den
Fremdling und mit Entſetzen bemerkte er, daß nur der
eine Fuß deſſelben beſchuhet ſey. Als die heilige Hand¬
lung vorüber war, trat er dem Ankömmling entgegen
und fragte ihn mit verheimlichter Beſtürzung nach ſeinem
Namen und ſeiner Heimath. Jaſon antwortete muthig,
doch ſanft: er ſey Aeſons Sohn, ſey in Chirons Höhle
erzogen worden und komme jetzt, das Haus ſeines Vaters
zu ſchauen. Der kluge Pelias empfing ihn auf dieſe Mit¬
theilung freundlich und ohne ſeinen Schrecken merken zu
laſſen. Er ließ ihn überall im Pallaſte herumführen und
Jaſon weidete ſeine Augen mit Sehnſucht an dieſer erſten
Wohnſtätte ſeiner Jugend. Fünf Tage lang feierte er
hierauf das Wiederſehen mit ſeinen Vettern und Ver¬
wandten in fröhlichen Feſten. Am ſechſten Tage ver¬
ließen ſie die Zelte, die für die Gäſte aufgeſchlagen wa¬
ren, und traten miteinander vor den König Pelias.
Sanft und beſcheiden ſprach Jaſon zu ſeinem Oheim:
„Du weißt, o König, daß ich der Sohn des rechtmäßigen
Königes bin, und alles, was du beſitzeſt, mein Eigenthum
iſt. Dennoch laſſe ich dir die Schaaf- und Rinderheer¬
den und alles Feld, das du meinen Eltern entriſſen haſt;
[93] ich verlange nichts von dir zurück, als den Königſcepter
und den Thron, auf welchem einſt mein Vater ſaß.“
Pelias war in ſeinem Geiſte ſchnell beſonnen. Er er¬
wiederte freundlich: „Ich bin willig deine Forderung zu
erfüllen, dafür ſollſt aber auch du mir eine Bitte gewäh¬
ren und eine That für mich ausrichten, die deiner Ju¬
gend wohl anſteht und deren mein Greiſenalter nicht
mehr fähig iſt. Denn mir erſcheint ſeit lange in nächt¬
lichen Träumen der Schatten des Phrixus und verlangt
von mir, ich ſolle ſeine Seele zufrieden ſtellen, nach Kol¬
chis zum Könige Aeetes reiſen und von da ſeine Gebeine
und das Vließ des goldenen Widders zurückholen. Den
Ruhm dieſer Unternehmung habe ich dir zugedacht: Wenn
du mit der herrlichen Beute zurückkehrſt, ſollſt du Reich
und Scepter in Beſitz nehmen.“

Anlaß und Beginn des Argonautenzuges.

Mit dem goldenen Vließe aber verhielt es ſich alſo:
Phrixus, ein Sohn des Böotiſchen Königs Athamas, hatte
viel von der Nebengattin ſeines Vaters, ſeiner böſen
Stiefmutter Ino, zu dulden. Um ihn vor ihren Nach¬
ſtellungen zu bewahren, raubte ihn, mit Hülfe ſeiner
Schweſter Helle, die eigene Mutter Nephele. Sie ſetzte
die Kinder auf einen geflügelten Widder, deſſen Vließ
oder Fell von gediegenem Golde war und welchen ſie
von dem Gotte Merkurius zum Geſchenk erhalten hatte.
Auf dieſem Wunderthiere ritten Bruder und Schweſter
durch die Luft über Land und Meere hin. Unterwegs
wurde das Mägdlein von Schwindel überwältigt. Sie
[94] fiel in die Tiefe und fand ihren Tod in dem Meere,
das von ihr den Namen Helle's Meer, oder Helleſpontos
erhielt. Phrirus kam glücklich in das Land der Kolchier,
an der Küſte des ſchwarzen Meeres. Hier wurde er
von dem Könige Aeetes gaſtfreundlich aufgenommen, der
ihm eine ſeiner Töchter zur Gattin gab. Den Widder
opferte Phrirus dem Jupiter, dem Beförderer der Flucht;
ſein Vließ gab er dem Könige Aeetes zum Geſchenk.
Dieſer weihte daſſelbe dem Mars, und befeſtigte es mit
Nägeln in einem Haine, der dieſem Gott geheiligt war.
Zur Bewachung des goldenen Vließes beſtellte Aeetes ei¬
nen ungeheuren Drachen, denn ein Schickſalsſpruch hatte
ſein Leben vom Beſitze dieſes Widderfelles abhängig ge¬
macht. Das Vließ wurde in der ganzen Welt als ein
großer Schatz betrachtet; und lange trug man ſich auch
in Griechenland mit der Nachricht von demſelben. Man¬
chen Helden und Fürſten gelüſtete es darnach; ſo hatte
Pelias nicht falſch gerechnet, wenn er hoffte, ſeinen Neffen
Jaſon durch die Ausſicht auf eine ſo herrliche Beute zu
reizen. Jaſon ließ ſich auch bereitwillig finden; er durch¬
ſchaute die Abſicht ſeines Oheims, ihn in den Gefahren
dieſes Zuges untergehen zu laſſen, nicht, und verpflichtete
ſich feierlich das Abentheuer zu beſtehen. Die berühmte¬
ſten Helden Griechenlands wurden zu dem kühnen Unter¬
nehmen aufgefordert. Am Fuße des Berges Pelion, aus
einer Holzart, die im Meere nicht fault, wurde unter
Minerva's Leitung, von dem geſchickteſten Baumeiſter
Griechenlands, ein herrliches Schiff mit fünfzig Rudern
erbaut, und nach ſeinem Erbauer Argos, dem Sohne des
Areſtor, Argo genannt. Es war das erſte lange Schiff,
auf welchem ſich Griechen in die offene See wagten.
[95] Die Göttin Minerva hatte dazu das weiſſagende Brett
von einer redenden Eiche des Orakels zu Dodona geſtif¬
tet, das eine Stelle in dem Tafelwerke fand. Das Schiff
war auswendig mit vielen geſchnizten Arbeiten geziert
und gleichwohl ſo leicht, daß es die Helden zwölf Tage¬
reiſen weit auf der Achſel tragen konnten. Als das
Fahrzeug fertig und die Helden verſammelt waren, wur¬
den die Plätze der Argoſchiffer (Argonauten) verloost.
Jaſon war Befehlshaber des ganzen Zuges, Tiphys war
der Steuermann; Lynceus, der ſcharfblickende, machte den
Lootſen des Schiffs. Im Vordertheile des Schiffs ſaß der
herrliche Held Herkules, im Hintertheile Peleus, der
Vater des Achilles und Telamon der Vater des Ajax.
Im innern Raume befanden ſich unter andern Caſtor
und Pollux, die Jupitersſöhne, Neleus, der Vater Neſtors,
Admetus, der Gemahl der frommen Alceſte, Meleager,
der Beſieger des kalidoniſchen Ebers, Orpheus, der wun¬
dervolle Sänger, Menötius, der Vater des Patroklus,
Theſeus, nachher König von Athen und ſein Freund Pi¬
rithous, Hylas, der junge Gefährte des Herkules, Nep¬
tuns Sohn Euphemus, und Oleus, der Vater des klei¬
neren Ajax. Jaſon hatte ſein Schiff dem Neptunus ge¬
widmet und vor der Abfahrt wurde ihm und allen Mee¬
resgöttern ein feierliches Opfer mit Gebeten dargebracht.
Als Alle im Schiffe Platz genommen, wurden die
Anker gelichtet, die fünfzig Ruderer begannen ihren regel¬
mäßigen Taktſchlag, ein günſtiger Wind ſchwellte die Se¬
gel und bald hatte das Schiff den Hafen von Jolkus
hinter ſich. Orpheus mit lieblichen Harfentönen und be¬
geiſterndem Geſang belebte den Muth der Argoſchiffer,
luſtig fuhren ſie an Vorgebirgen und Inſeln vorbei, erſt
[96] am zweiten Tage erhob ſich ein Sturm und trieb ſie in
den Hafen der Inſel Lemnos.

Die Argonauten zu Lemnos.

Auf dieſer Inſel hatten das Jahr zuvor die Weiber
alle ihre Männer, ja das ganze männliche Geſchlecht,
vom Zorn der Venus verfolgt und von Eiferſucht getrie¬
ben, weil jene ſich Nebenweiber aus Thracien geholt
hatten, ausgerottet. Nur Hypſipyle hatte ihren Vater,
den König Thoas verſchont und in einer Kiſte dem Meere
zur Rettung übergeben. Seitdem fürchteten ſie unaufhör¬
lich einen Angriff von Seiten der Thracier, der Verwand¬
ten ihrer Nebenbuhlerinnen und blickten oft mit ängſtli¬
chen Augen nach der hohen See hinaus. Auch jetzt, wo
ſie das Schiff Argo heranrudern ſahen, ſtürzten ſie alle
miteinander aufgeſchreckt aus den Thoren, und ſtrömten,
mit Waffen angethan, wie Amazonen, ans Ufer. Die
Helden verwunderten ſich höchlich, als ſie das ganze
Geſtade voll von bewaffneten Weibern und keinen Mann
erblickten. Sie fertigten in einem Nachen einen Herold
mit dem Friedensſtabe an die ſeltſame Verſammlung ab,
der von den Frauen vor die Königin Hypſipyle gebracht
wurde und in beſcheidenen Worten die Bitte der Argo¬
ſchiffer, um gaſtliche Raſt, vorbrachte. Die Königin ver¬
ſammelte ihr Frauenvolk auf dem Marktplätze der Stadt;
ſie ſelbſt ſetzte ſich auf den ſteinernen Thron ihres Vaters;
Ihr zunächſt lagerte ſich, auf einen Stab geſtützt, die greiſe
Amme, dieſer zur Rechten und zur Linken ſaßen je
zwei blondhaarige, zarte Jungfrauen. Nachdem ſie der
[97] Verſammlung das friedliche Anſinnen der Argonauten
vorgelegt, ſprach ſie aufgerichtet: „Liebe Schweſtern, wir
haben eine große Frevelthat begangen und in der Thor¬
heit uns männerlos gemacht, wir sollen gute Freunde,
wenn ſie ſich, uns darbieten, nicht zurückſtoßen. Aber wir
müſſen auch dafür ſorgen, daß ſie nichts von unſerer
Unthat erfahren. Darum iſt mein Rath, den Fremden
Speiſe, Wein und alle Nothdurft in ihr Schiff tragen zu
laſſen, und durch ſolche Bereitwilligkeit ſie ferne von un¬
ſern Mauern zu halten.“


Die Königin hatte ſich wieder niedergeſetzt und da¬
gegen die alte Amme erhoben. Mit Mühe richtete ſie
ihren Kopf aus den Schultern auf und ſprach: „Sendet
immerhin den Fremdlingen Geſchenke: dieß iſt wohlge¬
than. Denket aber auch daran, was euch bevorſteht,
wenn die Thracier kommen. Und wenn ein gnädiger
Gott dieſe ferne hält, ſeyd ihr darum vor allem Uebel
ſicher? Zwar die alten Weiber, wie ich, können ruhig
ſeyn, wir werden ſterben, ehe die Noth dringend wird,
ehe alle unſere Vorräthe zu Ende ſind. Ihr Jüngeren
aber, wir wollet Ihr alsdann leben? werden ſich die
Ochſen für euch von ſelbſt ins Joch ſpannen und den
Pflug durchs Ackerfeld ziehen? werden ſie an eurer
Statt, wenn das Jahr herum iſt, die reifen Aehren ab¬
ſchneiden? denn ihr ſelbſt werdet dieſe und andere harte
Arbeiten nicht allein verrichten wollen. Ich rathe euch,
weiſet den erwünſchten Schutz nicht ab, der ſich euch dar¬
bietet; vertrauet Gut und Habe den edelgeborenen Fremd¬
lingen an, und laßt ſie eure ſchöne Stadt verwalten!“
Dieser Rath gefiel allen Weibern von Lemnos wohl.
Die Königin ſchickte eine der beiſitzenden Jungfrauen mit
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 7[98] dem Herold auf das Schiff, um den Argonauten den
günſtigen Beſchluß der Frauenverſammlung kund zu thun.
Die Helden waren über die Nachricht hoch erfreut, ſie
glaubten nicht anders, als Hypſipyle ſey ihrem Vater,
nach deſſen Tode, in friedlicher Uebernahme der Herr¬
ſchaft gefolgt. Jaſon warf den purpurnen Mantel, ein
Geſchenk der Minerva, über ſeine Schultern und wan¬
delte der Stadt zu, einem ſchimmernden Sterne ähnlich.
Als er in die Thore einzog, ſtrömten ihm die Frauen
mit lautem Gruße nach und erfreuten ſich des Gaſtes.
Er aber heftete mit ſittſamer Scheu die Augen auf den
Boden und eilte dem Pallaſte der Königin zu. Dienende
Mägde thaten die hohen Pforten weit vor ihm auf; die
Jungfrau führte ihn in das Gemach ihrer Herrin. Hier
nahm er, dieſer gegenüber, auf einem prachtvollen Stuhl
Platz. Hypſipyle ſchlug die Augen nieder und ihre jung¬
fräulichen Wangen rötheten ſich. Verſchämt wandte ſie
ſich an ihn mit den ſchmeichleriſchen Worten: „Fremdling,
warum weilet ihr ſo ſcheu außerhalb unſerer Thore? dieſe
Stadt wird ja nicht von Männern bewohnt, daß ihr euch
zu fürchten hättet. Unſre Gatten ſind uns treulos ge¬
worden; ſie ſind mit Thraciſchen Weibern, die ſie im
Kriege erbeutet, in das Land ihrer Nebenweiber gezogen
und haben ihre Söhne und männlichen Diener mit ſich
genommen; wir aber ſind hülflos zurückgeblieben. Da¬
rum, wenn es euch gefällt, kehret hier, bei unſrem Volke,
ein, und magſt du, ſo ſollſt du an meines Vaters Thoas
Statt, die deinigen und uns beherrſchen. Du wirſt das
Land nicht tadeln, es iſt bei weitem die fruchtbarſte Inſel
in dieſem Meere. Geh daher, guter Führer, melde dei¬
nen Genoſſen unſern Vorſchlag und bleibet nicht länger
[99] außerhalb der Stadt.“ So ſprach ſie, und verhehlte nur
die Ermordung der Männer. Ihr erwiederte Jaſon:
„Königin, die Hülfe, die du uns Hülfsbedürftigen anbie¬
teſt, nehmen wir mit dankbarem Herzen an; wenn ich
meinen Genoſſen die Nachricht zurückgebracht habe, will
ich in eure Stadt zurückkehren, aber den Scepter und die
Inſel behalte du ſelbſt! Nicht als ob ich ſie verachtete:
aber mich erwarten ſchwere Kämpfe im fernen Lande.“
Jaſon reichte der königlichen Jungfrau die Hand zum
Abſchiedsgruße, dann eilte er zurück ans Ufer. Bald
kamen auch die Frauen auf ſchnellen Wagen nach, mit
vielen Gaſtgeſchenken. Ohne Mühe überredeten ſie die
Helden, die ihres Führers Botſchaft ſchon vernommen
hatten, die Stadt zu betreten und in ihren Häuſern ein¬
zukehren. Jaſon nahm ſeine Wohnung in der Königs¬
burg ſelbſt, die Andern da und dort; nur Herkules, der
Feind weibiſchen Lebens, blieb mit wenigen auserleſenen
Genoſſen zurück auf dem Schiffe. Jetzt füllten fröhliche
Mahlzeiten und Tänze die Stadt; duftiger Opferdampf
ſtieg zum Himmel; Einwohnerinnen und Gäſte ehrten
den Schutzgott der Inſel, Vulkanus, und Venus, ſeine Ge¬
mahlin. Von Tag zu Tag wurde die Abfahrt verſcho¬
ben und noch lange hätten die Helden bei den freund¬
lichen Wirthinnen verweilt, wenn nicht Herkules vom
Schiffe herbeigekommen wäre und die Genoſſen, ohne der
Weiber Wiſſen, um ſich verſammelt hätte. „Ihr Elen¬
den“ ſchalt er, „hattet ihr nicht genug Frauen im eigenen
Lande? ſeyd ihr der Hochzeit bedürftig hierhergekommen?
wollt ihr als Bauern zu Lemnos das Feld pflügen?
Freilich! ein Gott wird für uns das Vließ holen und
es uns zu Füßen, legen! Lieber laſſet uns jeden in ſeine
7*[100] Heimath zurückkehren; jener mag ſich mit Hypſipyle ver¬
mählen, die Inſel Lemnos mit ſeinen Söhnen bevölkern
und von fremden Heldenthaten hören!“


Keiner wagte gegen den Helden, der ſo ſprach, die
Augen aufzuheben, oder ihm zu widerſprechen. Von der
Verſammlung weg rüſteten ſie ſich zur Abfahrt. Aber
die Lemnierinnen, ihre Abſicht errathend, umſchwärmten
ſie wie ſummende Bienen mit Klagen und Bitten. Doch
ergaben ſie ſich zuletzt in den Entſchluß der Helden, Hyp¬
ſipyle trat mit thränenden Augen aus der Schaar her¬
vor, nahm Jaſon bei der Hand und ſprach: „Geh, und
mögen dir die Götter, ſammt deinen Genoſſen, wie du
es wünſcheſt, das goldene Vließ verleihen! Wenn du
je zu uns zurückkehren willſt, ſo erwartet dich dieſe Inſel
und das Scepter meines Vaters. Aber ich weiß es
wohl, du haſt dieſe Abſicht nicht. So gedenke denn we¬
nigſtens meiner in der Ferne!“ Jaſon ſchied mit Be¬
wunderung von der edlen Königin, und beſtieg zuerſt
das Schiff, nach ihm die andern Helden alle. Sie lös¬
ten die Taue, mit welchen das Schiff ans Land gebun¬
den war, die Ruderer ſetzten ſich in Bewegung und in
kurzer Zeit hatten ſie den Helleſpont hinter ſich.

[101]

Die Argonauten im Lande der Dolionen.

Thraciſche Winde trieben hier das Schiff in die
Nähe der Phrygiſchen Küſte, wo auf dem Eilande Cy¬
zikus die erdgeborenen Giganten in ungezähmter Wild¬
heit, und die friedlichen Dolionen neben einander wohn¬
ten. Jenen hingen ſechs Arme, zwei von den mächtigen
Schultern und vier an den beiden Seiten, vom Leibe
herunter; dieſe ſtammten vom Meeresgotte ab, der ſie
auch gegen jene Ungeheuer ſchirmte. Ihr König war
der fromme Cyzikus. Dieſer und ſein ganzes Volk, als
ſie von der Ankunft des Schiffes und dem Geſchlechte
der Männer gehört, gingen den Argonauten liebreich ent¬
gegen, empfingen ſie gaſtfreundlich und überredeten ſie
noch weiter zu rudern und das Schiff im Hafen der
Stadt vor Anker zu legen. Der König hatte längſt ei¬
nen Orakelſpruch erhalten, wenn die göttliche Schaar
der Heroen käme, ſo ſollte er ſie liebreich aufnehmen und
ja nicht bekriegen. Er verſah ſie deßwegen reichlich mit
Wein und Schlachtvieh. Er ſelbſt war noch ganz jung
und kaum erſt war ihm der Bart gewachſen. Im Kö¬
nigshauſe lag ihm ſeine Frau in den erſten Wehen;
dennoch verließ er ſie, um, dem Götterſpruche folgſam,
das Mahl mit den Fremden zu theilen. Hier erzählten
ſie ihm von dem Ziel und Zweck ihrer Fahrt, und er
unterrichtete ſie über den Weg, den ſie zu nehmen hätten.
Am andern Morgen beſtiegen ſie einen hohen Berg, um
ſelbſt die Lage der Inſel und das Meer zu überſchauen.
Inzwiſchen waren von der andern Seite des Eilands
die Giganten hervorgebrochen und hatten den Hafen mit
[102] Felsblöcken geſperrt. In dieſem lag das Schiff Argo,
von Herkules, der auch diesmal nicht an das Land ge¬
ſtiegen war, bewacht. Als dieſer die Ungeheuer das bos¬
hafte Werk unternehmen ſah, ſchoß er ihrer viele mit
ſeinen Pfeilen zu Tode. Zu gleicher Zeit kamen auch
die übrigen Helden zurück und richteten mit Pfeilen und
Speeren unter den Giganten eine furchtbare Niederlage
an, ſo daß ſie in dem engen Hafen wie ein umgehauener
Wald da lagen, die einen mit Kopf und Bruſt im Waſ¬
ſer, mit den Füßen auf dem Uferſande, die andern mit
den Füßen im Meere, mit Kopf und Bruſt am Ufer;
beide Fiſchen und Vögeln zur Beute beſtimmt. Nach¬
dem die Helden dieſen glücklichen Kampf beſtanden, lös¬
ten ſie unter günſtigem Winde die Ankertaue und ſegelten
hinaus in die offene See. Aber in der Nacht legte ſich
der Wind; bald erhob ſich ein Sturm von der entgegen¬
geſetzten Seite und ſo wurden ſie genöthigt, noch einmal
am gaſtlichen Lande der Dolionen vor Anker zu gehen,
ohne daß ſie es wußten: denn ſie glaubten ſich an der
Phrygiſchen Küſte. Ebenſo wenig erkannten die Do¬
lionen, die bei dem Geräuſche der Landung ſich aus ihrer
nächtlichen Ruhe erhoben hatten, die Freunde wieder,
mit denen ſie geſtern ſo fröhlich gezecht hatten. Sie
griffen zu den Waffen und eine unglückſelige Schlacht
entſpann ſich zwiſchen Gaſtfreunden. Jaſon ſelbſt ſtieß
dem gütigen Könige Cyzikus den Speer mitten in die
Bruſt, ohne ihn zu kennen und von ihm gekannt zu
ſeyn. Die Dolionen wurden endlich in die Flucht ge¬
ſchlagen und ſchloſſen ſich in die Mauern ihrer Stadt
ein. Am andern Morgen wurde beiden der Irrthum
offenbar.


[103]

Bitterer Schmerz ergriff den Argonautenführer Ja¬
ſon mit allen ſeinen Helden, als ſie den guten Dolionen¬
könig in ſeinem Blute liegen ſahen. Drei Tage lang
trauerten in friedlicher Vermiſchung die Helden und die
Dolionen, rauften ſich die Haare und ſtellten den Ge¬
bliebenen zu Ehren gemeinſchaftlich Trauerkampfſpiele
an; dann ſchifften die fremden Helden weiter. Elite, die
Gemahlin des gefallenen Dolionenköniges, erdroſſelte ſich
mit dem Stricke, noch ehe ſie geboren hatte.

Herkules zurückgelaſſen.

Nach einer ſtürmevollen Fahrt landeten die Helden
in einem Meerbuſen Bithyniens, bei der Stadt Cios.
Die Myſier, die hier wohnten, empfingen ſie gar freund¬
lich, thürmten dürres Holz zum wärmenden Feuer auf,
machten den Ankömmlingen aus grünem Laub eine weiche
Streu, und ſetzten ihnen noch in der Abenddämmerung
Wein und Speiſe zur Gnüge vor. Herkules, der alle
Bequemlichkeiten der Reiſe verſchmähte, ließ ſeine Ge¬
noſſen beim Mahle ſitzen und machte einen Streifzug in
den Wald, um ſich aus einem Tannenbaum ein beſſeres
Ruder für den kommenden Morgen zu ſchnitzen. Bald
fand er eine Tanne, die ihm gerecht war, nicht zu ſehr
mit Aeſten beladen, in der Größe und im Umfang wie
der Aſt einer ſchlanken Pappel. Sogleich legte er Kö¬
cher und Bogen auf die Erde, zog ſein Löwenfell aus,
warf ſeine eherne Keule auf den Boden und zog den
Stamm, den er mit beiden Händen gefaßt, mit ſammt
den Wurzeln und der daran hängenden Erde heraus, ſo
[104] daß die Tanne dalag, nicht anders, denn als hätte ſie
ein Sturm entwurzelt. Inzwiſchen hatte ſich ſein junger
Gefährte Hylas auch vom Tiſche der Genoſſen verloren.
Er war mit dem ehernen Kruge aufgeſtanden, um Waſ¬
ſer für ſeinen Herrn und Freund zum Mahle zu ſchöpfen
und auch alles andere ihm für ſeine Rückkehr vorzube¬
reiten. Herkules hatte auf ſeinem Zuge gegen die Dryo¬
pen ſeinen Vater im Wortwechſel erſchlagen, den Kna¬
ben aber aus dem Hauſe des Vaters mit ſich genommen
und ſich zum Diener und Freunde nachgezogen. Als
dieſer ſchöne Jüngling an dem Quelle Waſſer ſchöpfte,
leuchtete der Vollmond. Wie er ſich nun eben mit dem
Kruge nach dem Waſſerſpiegel neigte, erblickte ihn die
Nymphe des Quelles. Von ſeiner Schönheit bethört,
ſchlang ſie den linken Arm um ihn, mit der rechten er¬
griff ſie ſeinen Ellenbogen und zog ihn ſo hinunter in
die Tiefe. Einer der Helden, Polyphemus mit Namen,
der die Rückkehr des Herkules nicht ferne von jenem
Quell erwartete, hörte den Hülfeſchrei des Knaben. Aber
er fand ihn nicht mehr, dagegen begegnete er dem Her¬
kules, der aus dem Walde zurückkam. „Unglücklicher,“
rief er ihm entgegen, „muß ich der Erſte ſeyn, der Dir
die Trauerbotſchaft melde! Dein Hylas iſt zum Quelle
gegangen und nicht wieder zurückgekehrt; Räuber führen
ihn gefangen davon, oder wilde Thiere zerreißen ihn;
ich ſelbſt habe ſeinen Angſtruf gehört.“ Dem Herkules
floß der Schweiß vom Haupte, als er es hörte, und das
Blut wallte ihm gegen die Bruſt. Zornig warf er die
Tanne auf den Boden und rannte, wie ein von der
Bremſe geſtochener Stier Hirten und Herde verläßt, mit
durchdringendem Rufe durch das Dickicht der Quelle zu.


[105]

Jetzt ſtand der Morgenſtern über dem Bergesgipfel;
günſtiger Wind erhub ſich. Der Steuermann ermahnte
die Helden ihn zu benützen und das Schiff zu beſteigen.
Schon fuhren ſie im Morgenlichte fröhlich dahin, als
ihnen zu ſpät einfiel, daß zwei ihrer Genoſſen, Polyphe¬
mus und Herkules, von ihnen am Ufer zurückgelaſſen
worden. Ein ſtürmiſcher Streit erhob ſich unter den
Helden, ob ſie ohne die tapferſten Begleiter weiter ſegeln
ſollten. Jaſon ſprach kein Wort; ſtille ſaß er und der
Kummer fraß ihm am Herzen, den Telamon aber über¬
mannte der Zorn: „Wie kannſt du ſo ruhig ſitzen?“ rief
er dem Führer zu; „gewiß fürchteteſt du, Herkules möchte
deinen Ruhm verdunkeln! Doch was helfen da Worte?
und wenn alle Genoſſen mit dir einverſtanden wären, ſo
will ich allein zu dem verlaſſenen Helden umkehren.“
Mit dieſen Worten faßte er den Steuermann Tiphys
an der Bruſt, ſeine Augen funkelten wie Feuerflammen,
und gewiß hätte er ſie gezwungen, nach dem Geſtade der
Myſier zurückzukehren, wenn nicht die beiden Söhne des
Boreas, Kalais und Zethes, ihm in den Arm gefallen
wären und ihn mit ſcheltenden Worten zurückgehalten
hätten. Zugleich ſtieg aus der ſchäumenden Fluth Glau¬
kus, der Meergott, hervor, faßte mit ſtarker Hand das
Ende des Schiffes und rief den Eilenden zu: „Ihr Hel¬
den, was ſtreitet ihr euch? Was begehret ihr wider den
Willen Jupiters, den muthigen Herkules mit euch in das
Land des Aeetes zu führen? Ihm ſind ganz andere Arbeiten
zu verrichten vom Schickſale beſtimmt. Den Hylas hat eine
liebende Nymphe geraubt, und ihm zu lieb iſt er zurück¬
geblieben.“ Nachdem er ihnen Solches geoffenbart, tauchte
Glaukus wieder in die Tiefe nieder, und das dunkle
[106] Waſſer ſchäumte in Wirbeln um ihn. Telamon war be¬
ſchämt, er ging auf Jaſon zu, legte ſeine Hand in des
Helden Hand und ſprach: „Zürne mir nicht, Jaſon! der
Schmerz hat mich verführt, unvernünftige Worte zu reden!
Uebergieb meinen Fehler den Winden, und laß uns Wohl¬
wollen üben wie früher!“ Jaſon gab der Verſöhnung
gerne Gehör und ſo fuhren ſie bei ſtarkem und günſtigem
Winde dahin. Polyphemus fand ſich bei den Myſiern
zurecht und baute ihnen eine Stadt. Herkules aber ging
weiter, wohin ihn die Beſtimmung Jupiters rief.

Pollux und der Bebrykenkönig.

Am andern Morgen legten ſie mit Sonnenaufgang
an einer weit ins Meer hinaus geſtreckten Landzunge ſich
vor Anker. Dort befanden ſich die Ställe und das länd¬
liche Wohnhaus des wilden Bebrykenköniges Amykus.
Dieſer hatte allen Fremdlingen das läſtige Geſetz aufge¬
legt, daß Keiner ſein Gebiet verlaſſen ſollte, ehe er ſich
mit ihm im Fauſtkampfe gemeſſen. Auf dieſe Weiſe
hatte er ſchon viele Nachbarn umgebracht. Auch jetzt
näherte er ſich mit verächtlichen Worten dem gelandeten
Schiffe: „Höret, ihr Meervagabunden,“ rief er, „was euch
zu wiſſen noth iſt! Kein Fremdling darf mein Land
verlaſſen, ohne mit mir gerungen zu haben. So ſuchet
denn euren tapferſten Helden aus und ſtellet ihn mir;
ſonſt ſoll es euch übel ergehen!“ Nun war unter den
Argoſchiffern der beſte Fauſtkämpfer Griechenlands, Pollux,
der Leda Sohn. Dieſen reizte die Ausforderung und er
rief dem Könige zu: „poltere nicht, wir wollen deinen
[107] Geſetzen gehorchen und in mir haſt du deinen Mann ge¬
funden!“ Der Bebryke blickte den kühnen Helden mit
rollenden Augen an, wie ein verwundeter Berglöwe den,
der ihn zuerſt getroffen hat. Pollux aber, der jugendliche
Held, ſah heiter aus, wie ein Stern am Himmel; er
ſchwang ſeine Hände in der Luft, um ſie zu verſuchen,
ob ſie von der langen Ruderarbeit nicht erſtarrt ſeyen.
Als die Helden das Schiff verlaſſen, ſtellten die beiden
Kämpfer ſich einander gegenüber. Ein Sclave des Kö¬
niges warf ein gedoppeltes Paar von Fechterhandſchuhen
zwiſchen ſie auf den Boden. „Wähle, welches Paar du
willſt, ſagte Amykus, ich will dich nicht lange looſen
laſſen! Du wirſt aus Erfahrung ſagen können, daß ich
ein guter Gerber bin und blutige Backenſtreiche zu er¬
theilen verſtehe!” Pollux lächelte ſchweigend, nahm das
Handſchuhepaar, das ihm zunächſt lag, und ließ es ſich
von ſeinen Freunden an die Hände feſtbinden. Daſſelbe
that der Bebrykenkönig. Jetzt begann der Fauſtkampf.
Wie eine Meerwelle, die ſich dem Schiff entgegen wälzt
und welche die Kunſt des Steuermanns mit Mühe abweist,
ſtürmte der fremde Ringer auf den Griechen ein und
ließ ihm keine Ruhe. Dieſer aber wich ſeinem Angriffe
immer kunſtvoll und unverletzt aus. Er hatte die ſchwa¬
che Seite ſeines Gegners bald ausgekundſchaftet und ver¬
ſetzte ihm manchen unabgewehrten Streich. Doch nahm
auch der König ſeines Vortheils wahr und nun krachten
die Kinnbacken und knirſchten die Zähne von gegenſeiti¬
gen Schlägen und ſie ruhten nicht eher aus, als bis
beide athemlos waren. Dann traten ſie bei Seite, fri¬
ſchen Athem zu ſchöpfen und ſich den ſtrömenden Schweiß
abzutrocknen. Im erneuten Kampfe verfehlte Amykus
[108] ſeines Widerpartes Haupt und ſein Arm traf nur die
Schulter, Pollux aber traf den Gegner über das Ohr,
daß ihm die Knochen im Kopfe zerbrachen und er vor
Schmerz in die Kniee ſank.


Da jauchzten die Argonauten laut auf; aber auch
die Bebryken ſprangen ihrem Könige bei, kehrten ihre
Keulen und Jagdſpieße gegen Pollux und ſtürmten gegen
ihn heran. Vor ihm ſtellten ſich ſchirmend die Genoſſen
mit blanken Schwerdtern auf. Ein blutiges Treffen ent¬
ſpann ſich; die Bebryken wurden in die Flucht geſchla¬
gen und mußten in das Innere des Landes weichen.
Die Helden warfen ſich auf ihre Ställe und Viehheerden
und machten reichliche Beute. Die Nacht über blieben
ſie am Lande, verbanden die Wunden, opferten den Göt¬
tern und blieben beim Becher wach. Sie bekränzten ihre
Stirnen mit dem Uferlorbeer, an den auch das Schiff
mit ſeinen Tauen angebunden war, und ſangen zur Ci¬
ther des Orpheus eine tönende Hymne. Das ſchweigende
Ufer ſchien ihnen mit Luſt zuzuhorchen, ihr Lied aber be¬
ſang Pollux, den ſiegreichen Sohn Jupiters.

Phineus und die Harpyien.

Der Morgen ſetzte dem Mahl ein Ziel und ſie fuh¬
ren weiter. Nach einigen Abentheuern warfen ſie die
Anker, gegenüber am Bithyniſchen Lande, an einem Ufer¬
gebiete aus, wo der König Phineus, der Sohn des Hel¬
den Agenor hauste. Dieſer war von einem großen Uebel
heimgeſucht. Weil er die Wahrſagergabe, die ihm von
Apollo verliehen worden, mißbraucht hatte, war er im
[109] hohen Alter mit Blindheit geſchlagen worden; und die
Harpyien, die gräßlichen Wundervögel, ließen ihn keine
Speiſe ruhig genießen. Was ſie konnten, raubten ſie;
das Zurückgebliebene beſudelten ſie ſo, daß man es nicht
genießen, ja ſelbſt die Nähe ſolcher Speiſen nicht aus¬
halten konnte. Doch war dem Phineus ein Troſtſpruch
vom Orakel Jupiters gegeben: „Wenn die Boreasſöhne
mit den griechiſchen Schiffern kommen würden, ſollte er
wieder Speiſe genießen können.“ So verließ denn der
Greis, auf die erſte Nachricht von des Schiffes Ankunft,
ſein Gemach. Bis auf die Knochen abgemagert war er
anzuſchauen wie ein Schatten, ſeine Glieder zitterten vor
Altersſchwäche, vor den Augen ſchwindelte ihm, ein Stab
unterſtützte ſeine ſchwankenden Tritte und als er bei den
Argonauten angekommen war, ſank er erſchöpft zu Bo¬
den. Dieſe umringten den unglücklichen Greis und ent¬
ſetzten ſich über ſein Ausſehen. Als der Fürſt ihre Nähe
vernommen, und ſeine Beſinnung wieder zurückgekehrt
war, brach er in flehende Bitten aus: „O, ihr theuren
Helden, wenn ihr wirklich Diejenigen ſeyd, welche die
Weiſſagung mir bezeichnet hat, ſo helfet mir: denn nicht
nur meines Augenlichtes haben die Rachegöttinnen ſich
bemächtigt, auch die Speiſen entziehen ſie meinem Alter
durch die gräßlichen Vögel, die ſie mir ſenden! Ihr lei¬
ſtet eure Hülfe keinem Fremdling; ich bin Phineus, Age¬
nors Sohn, ein Grieche. Einſt habe ich unter den Thra¬
ciern geherrſcht, und die Söhne des Boreas, welche
Theilnehmer eures Zuges ſeyn müſſen und mich retten
ſollen, ſind die jungen Brüder Cleopatra's, die dort meine
Gattin war.“ Auf dieſe Entdeckung warf ſich ihm Ze¬
thes, des Boreas Sohn, in die Arme und verſprach ihm,
[110] ihn mit Hülfe ſeines Bruders von der Qual der Har¬
pyien zu befreien; und auf der Stelle bereiteten ſie ihm
ein Mahl, das der räuberiſchen Vögel letztes ſeyn ſollte.
Kaum hatte der König die Speiſe berührt, als die Vögel,
wie ein plötzlicher Sturm, mit Flügelſchlag aus den
Wolken herabgeſtürzt kamen und ſich gierig auf die Spei¬
ſen ſetzten. Die Helden ſchrieen laut auf; aber die Har¬
pyien ließen ſich nicht ſtören, ſie blieben, bis ſie alles
aufgezehrt hatten, dann ſchwangen ſie ſich wieder in
die Lüfte und ließen einen unerträglichen Geruch zurück.
Aber Zethes und Kalais, die Boreasſöhne, verfolgten ſie
mit gezücktem Schwert. Jupiter verlieh ihnen Fittiche
und unermüdliche Kraft, die ſie wohl brauchen konnten,
denn die Harpyien kamen in ihrem Fluge dem ſchnellſten
Weſtwinde zuvor. Aber die Boreasſöhne waren rüſtig
hinter ihnen drein, und oft meinten ſie die Ungeheuer
ſchon mit Händen greifen zu können. Endlich waren ſie
ihnen ſo nahe, daß ſie dieſelben ohne Zweifel erlegt hät¬
ten, als plötzlich Jupiters Botin, Iris, ſich aus dem
Aether herabſenkte und das Heldenpaar ſo anredete:
„Nicht iſt's erlaubt, ihr Söhne des Boreas, die Jagd¬
hunde des großen Jupiter, die Harpyien, mit dem Schwerdte
zu fällen. Doch ſchwöre ich euch den großen Göttereid
beim Styx, daß die Raubvögel den Sohn des Agenor
nicht mehr beunruhigen ſollen.“ Die Söhne des Boreas
wichen dem Eide und kehrten nach dem Schiffe um.


Unterdeſſen pflegten die griechiſchen Helden den Leib
des Greiſen Phineus, hielten eine Opfermahlzeit und lu¬
den den Ausgehungerten dazu ein. Dieſer verzehrte gie¬
rig die reinen und reichlichen Speiſen, es war ihm, als
weidete ſich ſein Hunger im Traume. Während ſie die
[111] Nacht über auf die Rückkehr der Boreasſöhne warteten,
theilte ihnen der alte König Phineus zum Danke von
den Früchten ſeiner Wahrſagergabe mit. Vor allen Din¬
gen, lautete ſeine Rede, werdet ihr in einem Engpaſſe
des Meeres die Symplegaden begegnen; dies ſind zwei
ſteile Felſeninſeln, deren unterſte Wurzeln nicht bis zum
Meeresboden reichen, ſondern die in der See ſchwim¬
men; oft treiben ſie einander entgegen, und dann ſchwillt
die Meeresflut in der Mitte mit fürchterlichem Toben
an. Wollet ihr nicht mit Mann und Maus zerquetſcht
werden, ſo rudert zwiſchen ihnen durch, ſo ſchnell wie
eine Taube fliegt. Dann werdet ihr ans Geſtade der
Mariandyner kommen, wo der Eingang zur Unterwelt
iſt. An vielen andern Vorgebirgen, Flüſſen und Küſten
fahret ihr dann vorüber, an Frauenſtädten der Amazo¬
nen, am Lande der Chalyber, die in ihres Angeſichtes
Schweiß das Eiſen aus der Erde graben. Endlich wer¬
det ihr zur Kolchiſchen Küſte gelangen, wo der Phaſis
ſeinen breiten Strudel ins Meer ſendet. Hier werdet
ihr die gethürmte Burg des Königes Aeetes erblicken;
hier hütet der ſchlafloſe Drache das Goldvließ, das über
dem Wipfel des Eichbaums ausgebreitet hängt.


Die Helden hörten dem Greiſe nicht ohne Grauen
zu und wollten eben weiter fragen, als ſich die Söhne
des Boreas aus den Lüften in ihre Mitte herniederſenk¬
ten und den König mit der tröſtlichen Botſchaft der Iris
erfreuten.


[112]

Die Symplegaden.

Phineus nahm dankbar und gerührt Abſchied von ſei¬
nen Rettern, die weiter, und mancherlei neuen Schickſa¬
len entgegen fuhren. Zuerſt wurden ſie durch vierzig¬
tägige Nordweſtwinde aufgehalten, bis Opfer und Gebet
zu allen zwölf Göttern ihnen zu friſcher Fahrt verhalf.
Sie waren im beſten Seegeln begriffen, als ein lautes
Toſen ihnen von ferne ſchon ans Ohr ſchlug. Es war
das Krachen der immer zuſammenſtoßenden und immer
wieder zurückprallenden Symplegaden, der Wiederhall der
Ufer und das Ziſchen des zuſammengepreßten Meeres.
Tiphys der Steuermann ſtellte ſich wachſam ans Steuer¬
ruder. Euphemus der Held erhub ſich im Schiffe und
hielt auf der flachen Rechten eine Taube. Wenn dieſe,
hatte Phineus ihnen geweiſſagt, furchtlos zwiſchen den
Felſen durchflöge, ſo dürften auch ſie kecklich die Durch¬
fahrt wagen. Eben öffneten ſich die Felſen: Euphemus
ließ die Taube fliegen; Alle richteten ihre Häupter in
Erwartung empor. Die Taube flog mitten hindurch,
aber ſchon näherten ſich die Felſen wieder, das ſchäu¬
mende Meer wallte ziſchend einer Wolke gleich auf; ein
Brauſen erfüllte Waſſer und Luft; jetzt ſtießen die Fel¬
ſen zuſammen und klemmten der Taube die letzten
Schwanzfedern ab, doch war ſie glücklich hindurch ge¬
kommen. Mit lauter Stimme ermunterte Tiphys die
Ruderer, dann aber öffneten ſich die Felſen wieder und
die in den Zwiſchenraum ſtrömende Flut zog das Schiff
mit ſich hinein. Jetzt hing das Verderben über ihrem
Haupte: eine Thurmhohe Woge wälzte ſich ihnen entge¬
[113] gen, bei deren Anblick Alle die Köpfe bückten. Aber
Tiphys hieß mit dem Rudern inne halten und die ſchäu¬
mende Welle wälzte ſich unſchädlich unter dem Kiele hin
und hob das Schiff hoch über die zuſammenſchwimmenden
Felſen empor. Die Helden arbeiteten, daß die Ruder
ſich krümmten; jetzt riß der Strudel das Schiff wieder
mitten in die Felſen hinab. Schon ſtießen die Felſen zu
beiden Seiten an den Bauch des Schiffes; da gab ihm
die Schutzgöttin Minerva einen unſichtbaren Stoß, daß
es glücklich durchkam und die zuſammenſchlagenden Fel¬
ſen nur eben noch die äußerſten Bretter des Hintertheiles
zermalmten. Als erſt die Helden den Aether und die
offene See wieder vor ſich ſahen, da athmeten ſie von
der Todesangſt wieder auf und es war ihnen, als wä¬
ren ſie aus der Unterwelt emporgetaucht. „Das iſt nicht
durch unſre Kraft geſchehen,“ rief Tiphys, „wohl fühlte
ich hinter mir die göttliche Hand Minervens, deren
Schnellkraft das Schiff durch die Felſen ſtieß! Nichts
haben wir fortan zu fürchten; alle andern Arbeiten nach
dieſer Gefahr hat uns Phineus als leicht geſchildert.“
Aber Jaſon ſchüttelte traurig ſein Haupt und ſprach:
„Guter Tiphys, ich habe die Götter verſucht, daß ich
dieſes Unternehmen mir von Pelias auflegen ließ; lieber
hätte ich mich von ihm in Stücke ſollen hauen laſſen!
Jetzt bringe ich in Seufzen die Nächte nach den Tagen
zu, nicht für mich beſorgt, nein, nur auf Euer Leben und
Heil bedacht, und wie ich aus ſo gräßlichen Gefahren
euch der Heimat unverloren zurückgeben ſoll.“ So ſprach
der Held, ſeine Genoſſen zu verſuchen. Dieſe aber ju¬
belten ihm freudig zu und verlangten vorwärts.


Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 8[114]

Weitere Abentheuer.

Unter mancherlei Schickſalen fuhren die Helden nun
weiter. Auf der Fahrt erkrankte ihnen ihr treuer Steuer¬
mann Tiphys, ſtarb und mußte am fremden Ufer begra¬
ben werden. An ſeine Stelle wählten ſie denjenigen
unter den Helden, der des Steuers am kundigſten war.
Er hieß Amäus und weigerte ſich lange, das ſchwierige
Geſchäft zu übernehmen, bis ihm Juno, die Göttin,
Muth und Zuverſicht ins Herz gab. Dann aber ſtellte
er ſich ans Ruder und lenkte das Schiff ſo gut, als
wenn Tiphys ſelbſt noch am Steuer ſäße. Nach zwölf
Tagen kamen ſie mit vollen Segeln an die Mündung
des Fluſſes Kallichorus; hier ſahen ſie auf einem Hügel
das Grabmal des Helden Sthenelus, der mit Herkules
in den Amazonenkrieg gezogen und hier von einem Pfeile
getroffen am Meeresufer verſchieden war. Sie wollten
eben weiter ſchiffen, als der klägliche Schatten dieſes
Helden, von Proſerpina aus der Unterwelt entlaſſen,
ſichtbar ward und ſehnſüchtig nach den ſtammesverwand¬
ten Männern blickte. Er ſtand zu oberſt auf ſeinem
Grabhügel in der Geſtalt, in welcher er in die Schlacht
gegangen war: ein purpurner Buſch mit vier ſchönen
Federn wehte ihm vom Helme. Doch war er nur we¬
nige Augenblicke zu ſchauen und tauchte bald wieder in
die ſchwarze Tiefe hinunter. Erſchrocken ließen die Hel¬
den die Ruder ſinken. Nur Mopſus, der Wahrſager,
verſtand das Verlangen der abgeſchiedenen Seele: er
rieth ſeinen Genoſſen, den Geiſt des Erſchlagenen mit
einem Trankopfer zu ſühnen. Schnell zogen ſie die Se¬
[115] gel ein, banden das Schiff am Strande an, und indem
ſie ſich um den Grabhügel ſtellten, benetzten ſie ihn mit
Trankopfern und verbrannten geſchlachtete Schafe. Dann
fuhren ſie weiter und weiter und gelangten endlich zur
Mündung des Fluſſes Termodon. Dieſem glich kein an¬
derer Strom auf der Erde: aus einer einzigen Quelle
tief in den Bergen entſprungen, theilte er ſich bald in
eine Menge kleinerer Arme, und ſtürmte in ſo viel Aus¬
flüſſen ins Meer, daß nur viere zu einem Hundert fehl¬
ten. Sie wimmelten wie eine Menge Schlangen in die
offene See. An dem breiteſten Ausfluſſe wohnten die
Amazonen. Dieſes Weibervolk ſtammte vom Gotte Mars
ab und liebte die Werke des Krieges. Hätten die Argo¬
nauten hier gelandet, ſo wären ſie ohne Zweifel in einen
blutigen Krieg mit den Frauen gerathen, denn dieſe wa¬
ren den tapferſten Helden im Kampfe gewachſen. Sie
wohnten nicht in einer Stadt vereinigt, ſondern auf dem
Lande zerſtreut und in einzelne Stämme getrennt. Ein
günſtiger Weſtwind hielt die Argonauten von dieſem krie¬
geriſchen Weibervolke fern. Nach der Fahrt eines Tags
und einer Nacht kamen ſie, wie ihnen Phineus geweiſſagt
hatte, an das Land der Chalyber. Dieſe pflügten nicht
das Erdreich, pflanzten keine fruchttragenden Bäume,
weideten keine Herden auf der thauigen Wieſe, ſie gru¬
ben nur Erz und Eiſen aus dem rauhen Boden und
tauſchten gegen dieſes ihre Lebensmittel ein. Keine Sonne
ging ihnen ohne ſchwere Arbeit auf, in ſchwarzer Nacht
und dichtem Rauche verbrachten ſie arbeitend ihren Tag.


Noch an mancherlei Völkern kamen ſie vorüber. Als
ſie einer Inſel, mit Namen Aretia, oder Marsinſel,
gegenüber waren, flog ihnen ein Bewohner dieſes Ei¬
8 *[116] lands, ein Vogel mit kräftigem Flügelſchlage, entgegen.
Als er über dem Schiffe ſchwebte, ſchüttelte er ſeine
Schwingen und ließ eine ſpitze Feder fallen, die in der
Schulter des Helden Oleus ſtecken blieb. Verwundet ließ
der Held das Ruder fahren: die Genoſſen ſtaunten, als
ſie das geflügelte Geſchoß erblickten, das ihm in der
Schulter ſteckte. Der, der ihm zunächſt ſaß, zog die Fe¬
der heraus und verband die Wunde. Bald erſchien ein
zweiter Vogel: den ſchoß Klytius, der den Bogen ſchon
geſpannt hielt, im Fluge, ſo daß der getroffene mitten
in das Schiff herabfiel. „Wohl iſt die Inſel in der Nähe,“
ſagte da Amphilanus, ein erfahrener Held, „aber trauet
jenen Vögeln nicht. Gewiß ſind ihrer ſo viele, daß, wenn
wir landeten, wir nicht Pfeile genug hätten, ſie zu erle¬
gen. Laſſet uns auf ein Mittel ſinnen, die kriegsluſtigen
Thiere zu vertreiben. Setzet Alle eure Helme mit hohen
nickenden Büſchen auf; alsdann rudert abwechslungsweiſe
zur Hälfte, zur andern ſchmücket das Schiff mit blinken¬
den Lanzen und Schilden aus. Dann erheben wir alle
ein entſetzliches Geſchrei: wenn das die Vögel hören, dazu
die wallenden Helmbüſche, die ſtarrenden Lanzen, die
ſchimmernden Schilde ſehen, ſo werden ſie ſich fürchten
und davon flattern.“ Der Vorſchlag gefiel den Helden
und alles geſchah, wie er ihnen gerathen hatte. Kein
Vogel ließ ſich blicken, ſo lange ſie heranruderten und als
ſie der Inſel näher gekommen, mit den Schilden klirrten,
flogen ihrer unzählige aufgeſchreckt an der Küſte auf und
in ſtürmender Flucht über das Schiff hin. Aber wie
man die Fenſterladen eines Hauſes vor dem Hagel ſchließt,
wenn man ihn kommen ſieht, ſo hatten ſich die Helden
mit den Schilden gedeckt, daß die Stachelfedern herabfie¬
[117] len, ohne ihnen zu ſchaden; die Vögel ſelbſt flogen weit
übers Meer den jenſeitigen Ufern zu. Die Argonauten
landeten auf dieſer Inſel nach dem Rathe des wahrſa¬
genden Königes Phineus.


Sie ſollten hier Freunde und Begleiter finden, die
ſie nicht erwartet. Kaum nämlich hatten ſie die erſten
Schritte am Ufer gethan, als ihnen vier Jünglinge im
armſeligſten Auszuge, von Allem entblößt, begegneten.
Einer von dieſen eilte den nahenden Helden entgegen und
redete ſie an. „Wer ihr auch ſeyd, gute Männer,“
ſprach er, „kommt armen Schiffbrüchigen zu Hülfe! Thei¬
let uns Kleider mit, unſre Blöſſe zu bedecken und Spei¬
ſen, unſern Hunger zu ſtillen!“ Jaſon verſprach ihnen
freundlich alle Hülfe und erkundigte ſich nach ihrem Na¬
men und Geſchlecht. „Ihr habt wohl von Phrirus ge¬
hört, dem Sohne des Athamas,“ erwiederte der Jüng¬
ling, „der das goldne Vließ nach Kolchis gebracht hat?
Der König Aeetes hat ihm ſeine ältere Tochter zur Ehe
gegeben, wir ſind ſeine Söhne und ich heiße Argos.
Unſer Vater Phrirus iſt vor kurzem geſtorben, und nach
ſeinem letzten Willen hatten wir uns zu Schiffe geſetzt,
die Schätze, die er in der Stadt Orchomenos gelaſſen,
abzuholen!“ Die Helden waren hocherfreut und Jaſon
begrüßte ſie als Vettern, denn die Großväter Athamas
und Kretheus waren Brüder geweſen. Die Jünglinge
erzählten weiter, wie ihr Schiff im wüthenden Sturme
zerbrochen ſey, und ein Brett ſie an dieſe unwirthliche
Inſel getragen habe. Als ihnen aber die Helden ihr
Vorhaben mittheilten und ſie zur Theilnahme an dem
Abentheuer aufforderten, da verbargen ſie ihr Entſetzen
nicht. „Unſer Großvater Aeetes iſt ein grauſamer Mann,
[118] er ſoll der Sohn des Sonnengottes und deswegen mit
übermenſchlicher Macht begabt ſeyn; unzählige Kolcher¬
ſtämme beherrſcht er, und das Vließ hütet ein entſetzli¬
cher Drache.“ Manche der Helden wurden bei dieſem
Berichte bleich. Peleus jedoch, einer von ihnen, erhub
ſich und ſprach: „Glaube nicht, daß wir dem Kolcher¬
könige unterliegen müſſen; auch wir ſind Götterſöhne!
Giebt er uns das Vließ nicht in Güte, ſo werden wir
es ihm ſeinen Kolchiern zum Trotz entreiſſen!“ So
ſprachen ſie mit einander noch länger beim reichlichen
Mahle. Am andern Morgen ſchifften ſich die Söhne des
Phrixus, gekleidet und geſtärkt, mit ihnen ein, und die
Fahrt ging vorüber. Nachdem ſie einen Tag und eine
Nacht gerudert, ſahen ſie die Spitzen des Kaukaſusgebir¬
ges über die Meeresfläche hervorragen. Als es ſchon
dunkelte, hörten ſie ein Geräuſch über ihren Häuptern:
es war der Adler des Prometheus, der ſeinem Fraß ent¬
gegen hoch über das Schiff dahin flog; und doch war ſein
Flügelſchlag ſo mächtig, daß alle Segel von ihm wie im
Winde ſich bewegten. Denn es war ein Rieſenvogel und
er ſchlug die Luft mit ſeinen Flügeln wie mit großen
Segeln. Bald darauf hörten ſie aus der Ferne das tiefe
Stöhnen des Prometheus, in deſſen Leber der Vogel ſchon
wühlte. Nach einiger Zeit verhallten die Seufzer und
ſie ſahen den Adler wieder hoch über ſich durch die Lüfte
zurückrudern.


Noch in derſelben Nacht gelangten ſie ans Ziel und
in die Mündung des Fluſſes Phaſis. Freudig kletterten
ſie an den Segelſtangen empor und tackelten das Schiff
ab; dann trieben ſie es mit den Rudern in das breite
Bett des Stromes, deſſen Wellen vor der gewaltigen
[119] Maſſe des Fahrzeugs ſich ſcheu zurückzuziehen ſchienen. Zur
Linken hatten ſie den hohen Kaukaſus und Cyta, die
Hauptſtadt des Kolcherlandes; zur Rechten breitete ſich
das Feld und der heilige Hain des Mars aus, wo der
Drache das goldne Vließ, das an den blätterreichen Ae¬
ſten einer hohen Eiche hing, mit ſeinen ſcharfen Augen
bewachte. Jetzt erhub ſich Jaſon am Borde des Schif¬
fes, er ſchwenkte hoch in der Hand einen goldenen Becher
voll Weins und brachte dem Fluſſe, der Mutter Erde,
den Göttern des Landes und den auf den Fahrt verſtor¬
benen Heroen ein Trankopfer dar. Er bat ſie alle, mit
liebreicher Hülfe ihnen nahe zu ſeyn und über den Tauen
des Schiffes, das ſie eben anbinden wollten, zu wachen.
„So wären wir denn glücklich zum Kolchiſchen Lande
gelangt,“ ſprach der Steuermann Amäus; „nun iſt's
Zeit, daß wir uns ernſtlich berathen, ob wir den König
Aeetes in Güte angehen oder auf irgend eine andere
Weiſe unſer Vorhaben ins Werk ſetzen wollen“ „Mor¬
gen,“ riefen die müden Helden. Und ſo befahl denn
Jaſon, das Schiff in einer ſchattigen Bucht des Fluſſes
vor Anker gehen zu laſſen. Alle legten ſich zu ſüßem
Schlummer nieder, der ſie jedoch nur mit kurzer Raſt
erquickte, denn bald öffnete ihnen das Morgenroth die
Augenlieder.

Jaſon im Pallaſte des Aeetes.

Der frühe Morgen vereinigte die Helden zur Raths¬
verſammlung. Jaſon erhub ſich und ſprach: „Wenn euch
meine Meinung gefällt, ihr Helden und Genoſſen, ſo ſollt
[120] ihr Uebrigen alle ruhig, doch die Waffen in der Hand,
im Schiffe bleiben; nur ich, die Söhne des Phrixus und
zwei aus eurer Mitte wollen uns nach dem Pallaſte des
Königes Acetes aufmachen. Hier will ich es verſuchen
und ihn zuerſt mit höflichen Worten fragen, ob er das
goldene Vließ in Güte uns überlaſſen wolle. Nun zweifle
ich nicht: er wird die Bittenden, auf ſeine Stärke trotz¬
end, abweiſen. Wir aber werden auf dieſe Weiſe aus
ſeinem eigenen Munde die Gewißheit erhalten, was uns
zu thun iſt. Und wer kann es verbürgen, daß unſere
Worte nicht doch vielleicht ihn günſtig ſtimmen werden? Hat
doch auch früher die Rede über ihn vermocht, daß er den
unſchuldigen Phrixus, der vor ſeiner Stiefmutter floh,
in den Schutz ſeiner Gaſtfreundſchaft aufnahm.“ Die
jungen Helden billigten alle die Rede Jaſons. So griff
er ſelbſt zum Friedensſtabe des Merkurius und verließ mit
des Phrixus Söhnen und mit ſeinen Genoſſen Telamon
und Augeas das Schiff. Sie betraten ein mit Weiden
bewachſenes Feld, das circäiſche genannt; hier ſahen ſie
mit Schaudern eine Menge Leichen an Ketten aufgehängt.
Doch waren es keine Verbrecher oder gemordete Fremd¬
linge; vielmehr galt es in Kolchis für einen Frevel,
die Männer zu verbrennen oder in die Erde zu begra¬
ben, ſondern ſie hängten ſie, in rohe Stierfelle gewickelt,
an den Bäumen auf, ferne von der Stadt, und überlie¬
ßen ſie der Luft zum Austrocknen. Nur die Weiber wur¬
den, damit die Erde nicht zu kurz käme, in dieſe begraben.


Die Kolchier waren ein gar zahlreiches Volk; da¬
mit nun Jaſon und ſeine Begleiter von ihnen und dem
Mißtrauen des Königes Aeetes keine Gefahr liefen, hängte
Juno, die Beſchirmerin der Argonauten, ſo lang ſie un¬
[121] terwegs waren, eine dichte Nebelwolke über die Stadt,
und zerſtreute ſie erſt wieder, als ſie glücklich in dem
Pallaſte des Königes angekommen. Da ſtanden ſie denn
in dem Vorhofe und bewunderten die dicken Mauern des
Königshauſes, die hochgeſchweiften Thore, die mächtigen
Säulen, die hier und dort an den Mauern vorſprangen.
Das ganze Gebäude umgürtete ein hervorſtehendes ſtei¬
nernes Geſimſe, das mit ehernen Dreiſchlitzen abgekantet
war. Schweigend traten ſie über die Schwelle des Vor¬
hofes. Dieſe umgrünten hohe Rebenlauben, darunter
perlten vier immerfließende Springquelle; der eine ſandte
Milch empor, der zweite Wein, der dritte duftendes Oel,
der vierte Waſſer, das im Winter warm, im Sommer
eiskalt war. Der kunſtreiche Vulkanus hatte dieſe köſtli¬
chen Werke geſchaffen. Derſelbe hatte dem Beſitzer auch
Stierbilder aus Erz gefertiget, aus deren Munde ein
furchtbarer Feuerathem ging, und einen Pflug aus lauterm
Eiſen geſchaffen, Alles dem Vater des Aeetes, dem Son¬
nengotte zu Dank, der den Vulkan in der Giganten¬
ſchlacht einſt auf ſeinen Wagen genommen und gerettet
hatte. Aus dieſem Vorhofe kam man zu dem Säulen¬
gange des Mittelhofes, der ſich zur Rechten und zur Lin¬
ken hinzog und hinter welchem viele Eingänge und Ge¬
mächer zu ſchauen waren. Querüber ſtanden die zwei
Hauptpalläſte, in deren einem der König Aeetes ſelbſt,
im andern ſein Sohn Abſyrtus wohnte. Die übrigen
Gemächer hielten die Dienerinnen und die Töchter des
Königes, Chalciope und Medea, beſetzt. Medea, die jün¬
gere Tochter, war ſonſt wenig zu ſchauen, faſt alle Zeit
brachte ſie im Tempel der Hekate (Proſerpina) zu, deren
Prieſterin ſie war. Dießmal aber hatte Juno, die Schutz¬
[122] göttin der Griechen, ihr in das Herz gegeben, im Pal¬
laſte zu bleiben. Sie hatte eben ihr Gemach verlaſſen
und wollte das Zimmer ihrer Schweſter aufſuchen, als
ſie den unerwartet daher ſchreitenden Helden begegnete.
Beim Anblicke der Herrlichen that ſie einen lauten Schrei.
Auf ihren Ruf ſtürzte Chalciope mit allen ihren Diene¬
rinnen aus ihrem Gemache hervor. Auch dieſe Schwe¬
ſter brach in einen lauten Jubelruf aus und ſtreckte dank¬
ſagend ihre Hände gen Himmel, denn ſie erkannte in
vieren der jungen Helden ihre eigenen Kinder, die Söhne
des Phrixus. Dieſe ſanken in die Arme ihrer Mutter
und lange nahm das Grüßen und Weinen kein Ende.

Medea und Aeetes.

Zuletzt kam auch Aeetes heraus mit ſeiner Gemahlin
Idya, denn der Jubel und die Thränen ihrer Tochter
hatten ſie herausgelockt. Sogleich füllte ſich der ganze
Vorhof mit Getümmel: hier waren Sklaven damit be¬
ſchäftigt, einen ſtattlichen Stier für die neuen Gäſte zu
ſchlachten; dort ſpalteten andere dürres Holz für den
Herd; wieder andere wärmten Waſſer in Becken am
Feuer: da war keiner, der nicht im Dienſte des Königes
etwas zu thun gefunden hätte. Aber ihnen Allen unge¬
ſehen ſchwebte hoch in der Luft der Liebesgott, zog einen
ſchmerzbringenden Pfeil, ſenkte ſich mit dieſem unſichtbar
zur Erde nieder, und hinter Jaſon zuſammengekauert,
ſchnellte er vom geſpannten Bogen das Geſchoß auf die
Königstochter Medea, der bald der Pfeil, deſſen Flug
Niemand und ſie ſelbſt nicht bemerkt hatte, unter der
[123] Bruſt wie eine Flamme brannte. Wie ein ſchwer Er¬
kranktes mußte ſie einmal über das andere hoch aufath¬
men; von Zeit zu Zeit warf ſie heimliche Blicke auf den
herrlichen Helden Jaſon; Alles andere war aus ihrem
Gedächtniſſe geſchwunden; ein einziger ſüßer Kummer be¬
mächtigte ſich ihrer Seele; Bläſſe wechſelte auf ihrem
Antlitz mit Purpurröthe.


In der frohen Verwirrung war Niemand auf die
Verwandlung aufmerkſam, die mit der Jungfrau vorge¬
gangen war. Die Knechte trugen die zubereiteten Spei¬
ſen herbei; und die Argoſchiffer, die ſich vom Schweiße
der Ruderarbeit im warmen Bade gereinigt hatten, lab¬
ten ſich, fröhlich zu Tiſche ſitzend, an Speiſe und Trank.
Ueber dem Mahle erzählten dem Aeetes ſeine Enkel das
Schickſal, das ſie unterwegs betroſſen hatte, und nun
fragte er ſie auch leiſe nach den Fremdlingen. „Ich will
es dir nicht bergen, Großvater,“ flüſterte ihm Argos zu,
„dieſe Männer kommen, das goldene Vließ unſers Vaters
Phrirus von dir zu erbitten. Ein König, der ſie gern
aus ihrem Vaterland und ihrem Eigenthum vertreiben
möchte, hat ihnen dieſen gefährlichen Auftrag ertheilt.
Er hofft, ſie werden dem Zorne Jupiters und der Rache
des Phrirus nicht entgehen, bevor ſie mit dem Vließ in
ihre Heimat zurückkommen. Ihr Schiff hat ihnen Pallas
(Minerva) bauen helfen, kein ſolches, wie wir Kolchier
ſie gebrauchen, von denen wir, deine Enkel, freilich das
ſchlechteſte bekommen haben, denn im erſten Windſtöße
ging es zu Scheitern. Nein, dieſe Fremdlinge haben ein
Schiff, ſo feſt gezimmert, daß alle Stürme vergebens da¬
gegen ankämpfen, und ſie ſelbſt ſitzen unaufhörlich an dem
Ruder. Die tapferſten Helden Griechenlands haben ſich
[124] in dieſem Schiffe verſammelt.“ Und nun nannte er ihm
die Vornehmſten mit Namen, meldete ihm auch Jaſons,
ihres Vetters, Geſchlecht.


Als der König dieſes hörte, erſchrack er in ſeinem
Herzen und wurde zornig auf ſeine Enkel, denn durch
ſie veranlaßt, glaubte er, ſeyen die Fremdlinge an ſeinen
Hof gekommen. Seine Augen brannten unter den bu¬
ſchigen Brauen und er ſprach laut: „Geht mir aus den
Augen, ihr Frevler, mit euren Ränken! Nicht das Vließ
zu holen, ſondern mir Scepter und Krone zu entreißen,
ſeyd ihr hierhergekommen! Säßet ihr nicht als Gäſte an
meinem Tiſch, ſo hätte ich euch längſt die Zungen aus¬
reißen und die Hände abhauen laſſen und euch nur die
Füße geſchenkt, um davon zu gehen!“ Als Telamon, des
Aeakus Sohn, der zunächſt ſaß, dieſes hörte, ergrimmte
er im Geiſt, wollte ſich erheben und dem Könige mit
gleichen Worten vergelten. Aber Jaſon hielt ihn zurück
und antwortete ſelbſt mit ſanften Worten: „Faſſe dich,
Aeetes, wir ſind nicht in deine Stadt und deinen Pallaſt
gekommen, dich zu berauben. Wer möchte ein ſo weites
und gefährliches Meer befahren, um fremdes Gut zu ho¬
len? Nur das Schickſal und der grauſame Befehl eines
böſen Königes brachte mich zu dieſem Entſchluſſe. Ver¬
leih uns das goldene Vließ auf unſere Bitte als eine
Wohlthat: du ſollſt in ganz Griechenland dafür verherr¬
licht werden. Auch ſind wir bereit, dir ſchnellen Dank
abzuſtatten: gibt es einen Krieg in der Nähe, willſt du
ein Nachbarvolk unterjochen, ſo nimm uns zu Bundes¬
genoſſen an, wir wollen mit dir ziehen.“ So ſprach Ja¬
ſon beſänftigend; der König aber ward unſchlüſſig in
ſeinem Herzen, ob er ſie auf der Stelle ſollte umbringen
[125] laſſen, oder ihre Kräfte vorher auf die Probe ſetzen.
Nach einigem Beſinnen däuchte ihm das Letztere beſſer
und er erwiederte ruhiger, als zuvor: „Was braucht es
der ängſtlichen Worte, Fremdling? Seyd ihr wirklich Göt¬
terſöhne, oder ſonſt nicht ſchlechter als ich, und habt Luſt
nach fremdem Gute, ſo mögt ihr das goldne Vließ mit
euch fortnehmen, denn tapfern Männern gönne ich Alles.
Aber vorher müßt ihr mir eine Probe geben und eine
Arbeit verrichten, die ich ſelbſt ſonſt zu thun pflege, ſo
gefährlich ſie iſt. Es weiden mir auf dem Felde des
Mars zwei Stiere mit ehernen Füßen, die Flammen
ſpeien. Mit dieſen durchpflüge ich das rauhe Feld, und
wenn ich alles umgeackert, ſo ſäe ich in die Furchen,
nicht der Ceres gelbes Korn, ſondern die gräßlichen Zähne
eines Drachen; daraus wachſen mir Männer hervor, die
mich von allen Seiten umringen und die ich mit meiner
Lanze Alle erlege. Mit dem frühen Morgen ſchirre ich
die Stiere an, am ſpäten Abend ruhe ich von der Ernte.
Wenn du das Gleiche vollbracht haſt, o Führer, ſo magſt du
noch am ſelben Tage das Vließ mit dir fortnehmen nach
deines Königes Haus; eher aber nicht, denn es iſt nicht
billig, daß der tapfere Mann dem ſchlechteren weiche.“
Jaſon ſaß bei dieſen Reden ſtumm und unſchlüſſig da,
er wagte es nicht, ein ſo furchtbares Werk kecklich zu
verſprechen. Indeſſen faßte er ſich und antwortete: „So
groß dieſe Arbeit iſt, ſo will ich ſie doch beſtehen, o Kö¬
nig, und wenn ich darüber umkommen ſollte. Schlim¬
meres als der Tod kann auf einen Sterblichen doch nicht
warten, ich gehorche der Nothwendigkeit, die mich hierher
geſendet hat.“ „Gut,“ ſprach der König, „geh jetzt zu
[126] deiner Schaar, aber beſinne dich! Gedenkſt du nicht Al¬
les auszuführen, ſo überlaß es mir und mach dich aus
dem Staube.“

Der Rath des Argos.

Jaſon und ſeine zwei Helden erhoben ſich von ihren
Sitzen; von den Söhnen des Phrixus folgte ihnen allein
Argos, denn er hatte den Brüdern gewinkt, drinnen zu
bleiben. Jene aber verließen den Pallaſt. Aeſons Sohn
leuchtete von Schönheit und Anmuth. Die Jungfrau
Medea ließ ihre Augen durch den Schleier nach ihm
ſchweifen und ihr Sinn folgte ſeinen Fußſtapfen wie ein
Traum. Als ſie wieder allein in ihrem Frauengemache
war, fing ſie an zu weinen, dann ſprach ſie zu ſich ſelbſt:
„Was verzehre ich mich in Schmerz? was geht mich je¬
ner Held an? mag er der Herrlichſte von allen Halb¬
göttern ſeyn, oder der ſchlechteſte, wenn er zu Grunde
gehen ſoll, ſo mag er's! Und doch — o möchte er dem
Verderben entrinnen! Laß ihn, ehrwürdige Göttin Hekate,
nach Hauſe zurückkehren! Soll er aber von den Stieren
überwältigt werden, ſo wiſſe er vorher, daß ich wenig¬
ſtens über ſein trauriges Loos mich nicht freue!“


Während Medea ſich ſo härmte, waren die Helden
unterwegs nach dem Schiffe und Argos ſagte zu Jaſon:
„Du wirſt meinen Rath vielleicht ſchelten: dennoch will
ich ihn dir mittheilen. Ich kenne eine Jungfrau, die mit
Zaubertränken umzugehen verſteht, welche Hekate, die Göt¬
tin der Unterwelt, ſie brauen lehrt. Können wir dieſe
auf unſere Seite bringen, ſo bezweifle ich nicht, daß du
[127] ſiegreich aus dem Kampfe hervorgehen wirſt. Willſt du
es, ſo gehe ich hin, ſie für uns zu gewinnen.“ „Wenn
es dir ſo gefällt, mein Lieber,“ erwiederte Jaſon, „ſo
widerſtrebe ich nicht. Doch ſteht es ſchlecht um uns,
wenn unſere Heimfahrt von den Weibern abhängt!“ Un¬
ter ſolchen Reden langten ſie beim Schiffe und den Ge¬
noſſen an. Jaſon berichtete, was von ihm begehrt wor¬
den ſey und was er dem Könige verſprochen habe. Eine
Zeitlang ſaſſen die Genoſſen ſtumm einander anblickend,
endlich erhob ſich Peleus und ſprach: „Held Jaſon, wenn
du dein Verſprechen erfüllen zu können glaubſt, ſo rüſte
dich. Haſt du aber nicht volle Zuverſicht, ſo bleibe fern
und ſieh dich auch nach keinem von dieſen Männern hier
um, denn was hätten ſie anders zu erwarten, als den
Tod?“


Bei dieſem Worte ſprang Telamon auf und vier
andere Helden, Alle voll kampfluſtigen Muthes. Aber
Argos beruhigte ſie und ſprach: „Ich kenne eine Jung¬
frau, die weiß mit Zaubertränken umzugehen: ſie iſt eine
Schweſter unſrer Mutter, nun laßt mich zu meiner Mut¬
ter gehen und ſie überreden, daß ſie die Jungfrau uns
geneigt mache. Alsdann kann erſt wieder von jenem
Abentheuer, zu welchem ſich Jaſon erboten hat, die Rede
ſeyn.“ Kaum hatte er ausgeſprochen, ſo geſchah ein Zei¬
chen aus der Luft. Eine Taube, der ein Habicht nach¬
jagte, flüchtete in Jaſons Schooß, der nachſtürzende
Raubvogel aber fiel auf dem Boden des Hinterſchiffes
nieder. Jetzt erinnerte ſie einer der Helden daran,
daß auch der alte Phineus ihnen geweiſſagt, Venus die
Göttin, würde ihnen zur Rückkehr verhelfen. Alle Hel¬
den ſtimmten darum dem Argos bei; nur Idas, der
[128] Sohn des Aphareus, erhob ſich unwillig von ſeinem Sitze
und ſprach: „Bei den Göttern, ſind wir als Weiber¬
knechte hierher gekommen, und, anſtatt uns an den Mars
zu wenden, rufen wir die Venus an? Soll der Anblick
von Habichten und Tauben uns vom Kampfe abhalten?
Wohl, ſo vergeſſet den Krieg und gehet hin, ſchwache
Jungfrauen zu betrügen.“ So ſprach er zornig, viele
Helden murrten leiſe. Aber Jaſon entſchied für Argos,
das Schiff ward am Ufer angebunden und die Helden
harreten der Rückkehr ihres Boten.


Aeetes hatte unterdeſſen außerhalb ſeines Pallaſtes
eine Verſammlung der Kolchier gehalten. Er erzählte
ihnen von der Ankunft der Fremdlinge, ihrem Begehren
und dem Untergang, den er ihnen bereitet hätte. Sobald
die Stiere den Führer umgebracht hätten, wollte er einen
ganzen Wald ausreißen und das Schiff mit ſammt den
Männern verbrennen. Auch ſeinen Enkeln, die dieſe
Abentheurer herbeigeführt hätten, dachte er eine ſchreck¬
liche Strafe zu.


Mittlerweile ging Argos ſeine Mutter mit bittenden
Worten an, daß ſie ihre Schweſter Medea zur Beihülfe
bereden möchte. Chalciope ſelbſt hatte Mitleid mit den
Fremdlingen gefühlt, aber nicht gewagt, dem grimmigen
Zorn ihres Vaters entgegenzutreten. So kam ihr die
Bitte des Sohns erwünſcht und ſie verſprach ihren Bei¬
ſtand.


Medea ſelbſt lag in unruhigem Schlummer auf ih¬
rem Lager und ſah einen ängſtigenden Traum. Ihr
war, als hätte der Held ſich ſchon zu dem Kampfe mit
den Stieren angeſchickt. Er hatte aber dieſen Kampf nicht
um des goldenen Vließes willen unternommen, ſondern
[129] Um ſie als Gattin in die Heimat zu führen. Nun war
es ihr im Traume, als ob ſie ſelbſt den Kampf mit
den Stieren beſtände, die Eltern aber wollten ihr Ver¬
ſprechen nicht halten und dem Jaſon den Kampfpreis
nicht geben, weil nicht ſie, ſondern er, geheißen war, die
Stiere anzuſchirren. Darüber war ein heftiger Streit
zwiſchen ihrem Vater und den Fremdlingen entbrannt
und beide Theile machten ſie zur Schiedsrichterin. Da
wählte ſie im Traume den Fremdling; bitterer Schmerz
bemächtigte ſich der Eltern, ſie ſchrieen laut auf — und
mit dieſem Schrei erwachte Medea.


Der Traum trieb ſie nach dem Gemach ihrer
Schweſter, aber lange hielt die Schaam ſie unſchlüſſig
im Vorhofe, viermal verließ ſie ihn und viermal kehrte
ſie wieder zurück, und endlich warf ſie ſich wieder wei¬
nend in ihrem eigenen Gemache nieder. So fand ſie
eine ihrer vertrauten jungen Dienerinnen. Dieſe hatte
Mitleid mit der Herrin und meldete der Schweſter Me¬
dea's, was ſie geſehen hatte. Chalciope empfing dieſe
Botſchaft im Kreis ihrer Söhne, als ſie eben ſich mit
ihnen berieth, wie die Jungfrau zu gewinnen wäre. Sie
eilte in das Gemach der Schweſter und fand ſie, die
Wangen zerfleiſchend und in Thränen gebadet. „Was
iſt dir geſchehen, arme Schweſter,“ ſprach ſie mit inni¬
gem Mitleid, „welcher Schmerz peinigt deine Seele? hat
der Himmel dir eine plötzliche Krankheit geſendet? hat
der Vater über mich und meine Sohne Grauſames zu
dir geſprochen? O daß ich ferne wäre vom Elternhaus,
und da, wo man den Namen der Kolchier nicht hört!“


Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 9[130]

Medea verſpricht den Argonauten Hülfe.

Die Jungfrau erröthete bei dieſen Fragen ihrer
Schweſter, und Schaam verhinderte ſie, zu antworten:
bald ſchwebte ihr die Rede zu äußerſt auf der Zunge,
bald floh ſie in die tiefſte Bruſt zurück. Endlich machte
ſie die Liebe kühn, und ſie ſprach mit verſchlagenen Wor¬
ten: „Chalciope, mein Herz iſt betrübt um deine Söhne,
es möchte ſie der Vater mit den fremden Männern auf
der Stelle tödten. Solches verkündet mir ein ſchwerer
Traum, möge ein Gott ihm die Erfüllung verweigern.“
Unerträgliche Angſt bemächtigte ſich der Schweſter: „Eben
deswegen komme ich zu dir,“ ſprach ſie, „und beſchwöre
dich, mir gegen unſern Vater beizuſtehen. Weigerſt du
dich, ſo werde ich mit meinen ermordeten Söhnen dich
noch vom Orkus aus als Furie umſchweben!“ Sie um¬
faßte mit beiden Händen Medeens Knie und warf das
Haupt in ihren Schooß; beide Schweſtern weinten bit¬
terlich. Dann ſprach Medea: „Was redeſt du von Fu¬
rien, Schweſter? Beim Himmel und der Erde ſchwöre
ich dir, was ich thun kann, deine Söhne zu retten, will
ich gerne thun.“ „Nun,“ fuhr die Schweſter fort, „ſo
wirſt du auch dem Fremdling um meiner Kinder willen
irgend einen Trug an die Hand geben, jenen furchtbaren
Kampf glücklich zu beſtehen, denn von ihm geſendet, fleht
mein Sohn Argos mich an, dem Gaſtfreunde deine Hülfe
zu erbitten.“


Das Herz hüpfte der Jungfrau vor Freuden im
Leibe, als ſie dieſes hörte, ihr ſchönes Angeſicht erröthete,
ihr funkelndes Auge umhüllte einen Augenblick der Schwin¬
[131] del, und ſie brach in die Worte aus: „Chalciope, das
Morgenroth ſoll meinen Blicken nicht mehr leuchten, wenn
dein und deiner Söhne Leben nicht mein erſtes iſt. Haſt
du doch mich, wie mir oft die Mutter erzählte, zugleich
mit ihnen geſäugt, als ich ein kleines Kind war; ſo
liebe ich dich nicht nur wie eine Schweſter, ſondern auch
wie eine Tochter. Morgen in aller Frühe will ich zum
Tempel der Hekate gehen und dort dem Fremdlinge die
Zaubermittel holen, welche die Stiere beſänftigen ſollen.“
Chalciope verließ das Gemach der Schweſter und mel¬
dete den Söhnen die erwünſchte Botſchaft.


Die ganze Nacht lag Medea in ſchwerem Streite
mit ſich ſelbſt. „Habe ich nicht zu viel verſprochen,“ ſagte
ſie in ihrem Innern, „darf ich ſo viel für den Fremdling
thun? Ihn ohne Zeugen ſchauen, ihn anrühren, was doch
geſchehen muß, wenn der Trug gelingen ſoll? Ja, ich
will ihn retten; er gehe frei hin, wohin er will: aber
an dem Tage, wo er den Streit glücklich vollbracht ha¬
ben wird, will ich ſterben. Ein Strick oder Gift ſoll
mich vom verhaßten Leben befreien. — Aber wird mich
dieſes retten, wird mich nicht üble Nachrede durchs ganze
Kolchierland verfolgen und ſagen, daß ich mein Haus
beſchimpft habe, daß ich einem fremden Manne zu lieb
geſtorben ſey?“ Unter ſolchen Gedanken ging ſie, ein
Käſtchen zu holen, in welchem heil- und todbringende
Arzeneien ſich befanden. Sie ſtellte es auf ihre Kniee
und hatte es ſchon geöffnet, um von den tödtlichen Gif¬
ten zu koſten; da ſchwebten ihr alle holden Lebensſorgen
vor, alle Lebensfreuden, alle Geſpielinnen; die Sonne
kam ihr ſchöner vor, als vorher, eine unwiderſtehliche
Furcht vor dem Tode ergriff ſie; ſie ſtellte das Käſtchen
9 *[132] auf den Boden. Juno, die Beſchützerin Jaſons, hatte
ihr Herz verwandelt. Kaum konnte ſie die Morgenröthe
erwarten, um die verſprochenen Zaubermittel zu holen
und mit ihnen vor den geliebten Helden zu treten.

Jaſon und Medea.

Während Argos mit der glücklichen Nachricht nach
dem Schiffe der Helden eilte, als kaum das Morgenroth
den Himmel erhellte, war die Jungfrau ſchon vom Lager
aufgeſprungen, band ihr blondes Haar auf, das bisher
in Trauerflechten heruntergehangen, wiſchte Thränen und
Harm von den Wangen und ſalbte ſich mit köſtlichem
Nektaröl. Sie zog ein herrliches Gewand an, das ſchön
gekrümmte, goldne Nadeln feſthielten, und warf einen
weißen Schleier über ihr ſtralendes Haupt. Alle Schmer¬
zen waren vergeſſen; mit leichten Füßen durcheilte ſie
das Haus und befahl ihren jungen Dienerinnen, deren
zwölfe in ihren Frauengemächern waren, ſchnell die Maul¬
thiere an den Wagen zu ſpannen, der ſie nach dem Tem¬
pel der Hekate bringen ſollte. Inzwiſchen holte Medea
aus dem Käſtchen die Salbe hervor, die man Prome¬
theusöl nannte; wer, nachdem er die Göttin der Unter¬
welt angefleht, ſeinen Leib damit ſalbte, konnte an jenem
Tage von keinem Schwertſtreiche verwundet, von keinem
Feuer verſehrt werden, ja, er war den ganzen Tag an
Kräften jedem Gegner überlegen. Die Salbe war aus
dem ſchwarzen Saft einer Wurzel bereitet, die aus dem
Blute emporgekeimt war, das aus der zerfreſſenen Leber
des Titanenſohnes auf die Heiden des Kaukaſus geträufelt
[133] war. Medea ſelbſt hatte in einer Muſchel den Saft die¬
ſer Pflanze als koſtbares Heilmittel aufgefangen.


Der Wagen war gerüſtet; zwei Mägde beſtiegen ihn
mit der Herrin, ſie ſelbſt ergriff Zügel und Peitſche und
fuhr, von den übrigen Dienerinnen zu Fuße begleitet, durch
die Stadt. Ueberall wich der Königstochter das Volk
ehrerbietig aus dem Wege. Als ſie durchs freie Feld
am Tempel angekommen war, flog ſie mit gewandtem
Sprunge vom Wagen und ſprach zu ihren Mägden mit
liſtigen, verſtellten Worten: „Freundinnen, ich habe wohl
ſchwer geſündigt, daß ich nicht ferne von den Fremdlin¬
gen geblieben bin, die in unſerm Lande angekommen ſind!
Nun verlangt gar meine Schweſter und ihr Sohn Ar¬
gos, ich ſoll Geſchenke von ihrem Führer annehmen, der
die Stiere zu bändigen verſprochen hat, und ihn mit
Zaubermitteln unverwundlich machen! Ich aber habe zum
Scheine zugeſagt, und ihn hierher in den Tempel beſtellt,
wo ich ihn allein ſprechen ſoll. Da will ich die Ge¬
ſchenke nehmen, und wir wollen ſie nachher unter ein¬
ander vertheilen. Ihm ſelbſt aber werde ich eine ver¬
derbliche Arzenei reichen, damit er um ſo gewiſſer zu
Grunde geht! Entfernet euch indeſſen, ſobald er kommt,
damit er keinen Verdacht ſchöpfe und ich ihn allein em¬
pfangen kann, wie ich verheißen habe.“


Den Mägden gefiel der ſchlaue Plan. Während
dieſe im Tempel verweilten, machte ſich Argos mit ſei¬
nem Freunde Jaſon und dem Vogelſchauer Mopſos auf.
So ſchön war kein Sterblicher, ja keiner der Götterſöhne
zuvor je geweſen, wie heute Jupiters Gemahlin ihren
Schützling Jaſon mit allen Gaben der Huldgöttinnen
ausgerüſtet hatte. Seine beiden Genoſſen ſelbſt, ſo oft
[134] ſie ihn unterwegs betrachteten, mußten über ſeine Herr¬
lichkeit ſtaunen. Medea war unterdeſſen mit ihren Mäg¬
den im Tempel, und obwohl ſie ſich die Zeit mit Sin¬
gen verkürzten, ſo war doch ihr Geiſt in ganz andern
Gedanken, und kein Lied wollte ihr lange gefallen; ihre
Augen weilten nicht im Kreiſe ihrer Dienerinnen, ſon¬
dern ſchweiften durch die Tempelpforte verlangend über
die Straße hinaus. Bei jedem Fußtritt oder Windhauch
richtete ſich ihr Haupt begierig in die Höhe. Nicht lan¬
ge, ſo trat Jaſon mit ſeinen Begleitern in den Tempel,
hoch einherſchreitend und ſchön wie Sirius dem Ocean
entſteigt. Da war's der Jungfrau, als fiele ihr das
Herz aus der Bruſt, Nacht war vor ihren Augen und
mit heißem Roth bedeckte ſich ihre Wange. Inzwiſchen
hatten ſie die Dienerinnen alle verlaſſen. Lange ſtanden
der Held und die Königstochter einander ſtillſchweigend
gegenüber, ſchlanken Eichen oder Tannen ähnlich, die
auf den Bergen tiefgewurzelt in Windſtille regungslos
bei einander ſtehen. Plötzlich aber kommt ein Sturm
und alle Blätter zittern in rauſchender Bewegung; ſo
ſollten, vom Hauch der Liebe angeweht, ſie bald vielbe¬
wegte Worte tauſchen. „Warum ſcheueſt du mich,“ ſo brach
Jaſon zuerſt das Schweigen, „nun, da ich allein bei dir
bin? Ich bin nicht, wie andere prahleriſche Männer, und
war auch zu Hauſe nie ſo. Fürchte dich nicht zu fragen
und zu ſagen, was dir beliebt; aber vergiß nicht, daß
wir an einem heiligen Orte ſind, wo betrügen ein Fre¬
vel wäre: darum täuſche mich nicht mit ſüßen Worten;
ich komme als ein Schutzflehender und bitte dich um die
Heilmittel, die du deiner Schweſter für mich verſprochen.
Die harte Nothwendigkeit zwingt mich, deine Hülfe zu
[135] ſuchen; verlange welchen Dank du willſt, und wiſſe, daß
du den Müttern und Frauen unſerer Helden, die uns
vielleicht ſchon, am Ufer ſitzend, beweinen, durch deinen
Beiſtand die ſchwarzen Sorgen zerſtreuen, und in ganz
Griechenland Unſterblichkeit erlangen wirſt.“


Die Jungfrau hatte ihn ausreden laſſen; ſie ſenkte
ihre Augen mit einem ſüßen Lächeln; ihr Herz erfreute
ſich ſeines Lobes, ihr Blick erhub ſich wieder, die Worte
drängten ſich auf ihre Lippen und gern hätte ſie Alles zu¬
mal geſagt. So aber blieb ſie ganz ſprachlos, wickelte
nur die duftende Binde von dem Käſtchen ab, das Ja¬
ſon ihr eilig und froh aus den Händen nahm. Sie aber
hätte ihm auch freudig die Seele aus der Bruſt gegeben,
wenn er ſie verlangt hätte, ſo ſüße Flammen wehte ihr
der Liebesgott von Jaſons blondem Haupte zu; ihre Seele
war durchwärmt wie der Thau auf den Roſen von den
Strahlen der Morgenſonne durchglüht wird. Beide blick¬
ten verſchämt zu Boden, dann richteten ſie ihre Augen
wieder aufeinander und ſchickten ſehnende Blicke unter
den Wimpern hervor. Erſt ſpät und mit Mühe hub die
Jungfrau an: „Höre nun, wie ich dir Hülfe ſchaffen
will. Wenn dir mein Vater die verderblichen Drachen¬
zähne zum Säen überliefert haben wird, dann bade dich
einſam im Waſſer des Fluſſes, bekleide dich mit ſchwar¬
zen Gewändern, und grabe eine kreisförmige Grube; in
dieſer errichte einen Scheiterhaufen, ſchlachte ein weibli¬
ches Lamm und verbrenne es ganz darauf; dann träufle
der Hekate ein Trankopfer ſüßen Honigs aus der Schaale
und entferne dich wieder vom Scheiterhaufen: auf keinen
Fußtritt, auf kein Hundegebell kehre dich um, ſonſt wird
das Opfer vereitelt. Am andern Morgen ſalbe dich mit
[136] dieſem Zaubermittel, das ich hier dir gereicht habe; in
ihm wohnt unermeßliche Stärke und hohe Kraft: du
wirſt dich nicht den Männern, ſondern den unſterblichen
Göttern gewachſen fühlen. Auch deine Lanze, dein
Schwerdt und deinen Schild mußt du ſalben, dann wird
kein Eiſen in Menſchenhand, keine Flamme der Wunder¬
ſtiere dir ſchaden oder widerſtehen können. Doch wirſt
du ſo nicht lange ſeyn, ſondern nur an jenem einen Tage:
dennoch entziehe dich auf keine Weiſe dem Streit. Ich
will dir auch noch ein anderes Hülfsmittel an die Hand
geben. Wann du nämlich die gewaltigen Stiere einge¬
ſpannt und das Blachfeld durchpflügt haſt, und ſchon
die von dir ausgeſäete Drachenſaat aufgegangen iſt, ſo
wirf unter ſie einen mächtigen Stein: um dieſen werden
jene raſenden Geſellen kämpfen, wie Hunde um ein Stück
Brod; indeſſen kannſt du auf ſie einſtürzen und ſie nie¬
dermachen. Dann magſt du das goldene Vließ unange¬
fochten aus Kolchis mit dir nehmen: dann magſt du ge¬
hen; ja gehe nur, wohin dir zu gehen beliebt!“ So
ſprach ſie und heimliche Thränen rollten ihr über die
Wange hinab; denn ſie dachte daran, daß der edle Held
weit fort über die Meere ziehen werde. Traurig redete
ſie ihn an, indem ſie ihn bei der Rechten faßte, denn der
Schmerz ließ ſie vergeſſen, was ſie that: „Wenn du nach
Hauſe kommſt, ſo vergiß nicht den Namen Medea's;
auch ich will deiner, des Fernen gedenken. Sage mir
auch, wo dein Vaterland iſt, nach welchem du auf deinem
ſchönen Schiffe zurückkehren wirſt.“ Mit dieſen Reden
der Jungfrau bemächtigte ſich auch des Helden eine un¬
widerſtehliche Neigung und er brach in die Worte aus:
„Glaube mir, hohe Fürſtin, daß ich, wenn ich dem Tode
[137] entrinne, keine Stunde bei Tag und bei Nacht dein ver¬
geſſen werde. Meine Heimath iſt Jolkos in Hämonien,
da wo der gute Deukalion, der Sohn des Prometheus,
viele Städte gegründet und Tempel gebaut hat. Dort
kennt man euer Land auch nicht mit Namen.“ „So woh¬
neſt du in Griechenland, Fremdling,“ erwiederte die Jung¬
frau; „dort ſind die Menſchen wohl gaſtlicher, als hier
bei uns; darum erzähle nicht, welche Aufnahme dir
hier geworden, ſondern gedenke nur in der Stille mein.
Ich werde dein gedenken, wenn Alles dich hier vergäße.
Wäreſt du aber im Stande, mein zu vergeſſen, o, daß
dann der Wind einen Vogel aus Jolkos herbeiführte,
durch welchen ich dich daran errinnern konnte, daß du
durch meine Hülfe von hier entronnen biſt! Ja, wäre ich
dann vielmehr ſelbſt in deinem Hauſe und könnte dich
mahnen!“ So ſprach ſie und weinte. „O du Gute,“
antwortete Jaſon, „laß die Winde flattern und den Vo¬
gel dazu, denn du ſprichſt Ueberflüſſiges! Aber wenn du
ſelbſt nach Griechenland und in meine Heimath kämeſt,
o wie würdeſt du von Frauen und Männern verehrt,
ja wie eine Gottheit angebetet werden, weil ihre Söhne,
ihre Brüder, ihre Gatten durch deinen Rath dem Tod
entronnen und fröhlich der Heimath zurückgegeben ſind;
und mir, mir würdeſt du dann ganz gehören, und nichts
ſollte unſere Liebe trennen, als der Tod.“ So ſprach
er, ihr aber zerfloß die Seele, als ſie Solches hörte.
Zugleich ſtand vor ihrem Geiſt alles Schreckliche, womit
die Trennung vom Vaterlande drohte, und dennoch zog
es ſie mit wunderbarer Gewalt nach Griechenland, denn
Juno hatte es ihr in's Herz gegeben. Dieſe wollte,
[138] daß die Kolchierin Medea ihr Vaterland verlaſſen und
zu des Pelias Verderben nach Jolkos kommen ſollte.


Inzwiſchen harrten in der Ferne die Dienerinnen
ſtill und traurig; denn die Zeit war längſt da, wo die
Fürſtin nach Hauſe zurückkehren ſollte. Sie ſelbſt hätte
die Heimkehr ganz vergeſſen; denn ihre Seele erfreute
ſich der trauten Rede, wenn nicht der vorſichtigere Ja¬
ſon, wiewohl auch dieſer ſpät, ſo geſprochen hätte: „Es
iſt Zeit zu ſcheiden, daß nicht das Sonnenlicht früher
ſcheide, als wir, und die Andern Alles inne werden.
Laß uns an dieſem Orte wieder zuſammenkommen.“

Jaſon erfüllt des Aeetes Begehr.

So ſchieden ſie. Jaſon kehrte fröhlich zu ſeinen
Genoſſen und dem Schiffe zurück. Die Jungfrau begab ſich
zu ihren Dienerinnen. Dieſe eilten ihr alle entgegen, —
ſie aber ſah es nicht; denn ihre Seele ſchwebte hoch in
den Wolken. Mit leichten Füßen beſtieg ſie den Wagen,
trieb die Maulthiere an, die von ſelbſt nach Hauſe rann¬
ten, und kam zum Pallaſte zurück. Hier hatte Chalciope
voll banger Sorge um ihre Söhne längſt auf ſie ge¬
wartet. Sie ſaß auf einem Schemel, das gebeugte Haupt
mit der linken Hand geſtützt; ihre Augen waren feucht
unter den Augenliedern, denn ſie dachte daran, in wel¬
ches Uebels Genoſſenſchaft ſie verſtrickt wäre.


Jaſon erzählte unterdeſſen ſeinen Genoſſen, wie ihm
die Jungfrau das herrliche Zaubermittel gereicht habe,
zugleich hielt er ihnen die Salbe entgegen. Alle freuten
ſich; nur Idas, der Held, ſaß ſeitwärts und knirſchte mit
[139] den Zähnen vor Zorn. Am andern Morgen ſandten ſie
zwei Männer ab, den Drachenſaamen von Aeetes zu er¬
bitten, der ſich nicht lange weigerte. Er gab ihnen von
deſſelben Drachen Zähnen, den Kadmus bei Theben um¬
gebracht hatte. Er that es ganz getroſt, denn er hielt
es gar nicht für möglich, daß Jaſon es nur bis zum
Säen der Zähne bringen könnte. In der Nacht, die auf
dieſen Tag folgte, badete ſich Jaſon und opferte der He¬
kate ganz, wie Medea ihn geheißen. Die Göttin ſelbſt
vernahm ſein Gebet und kam aus ihren tiefen Höhlen
hervor, die entſetzliche, umringt von gräßlichen Drachen,
die flammende Eichenäſte im Rachen trugen. Hunde der
Unterwelt ſchwärmten bellend um ſie her. Der Anger zit¬
terte unter ihrem Tritt und die Nymphen des Fluſſes Phaſis
heulten. Selbſt den Jaſon ergriff Entſetzen, als er heim¬
kehrte, aber dem Gebote der Geliebten getreu, ſchaute er
ſich nicht um, bis er wieder bei ſeinen Genoſſen war:
und ſchon ſchimmerte die Morgenröthe über dem Schnee¬
gipfel des Kaukaſus.


Jetzt warf Aeetes ſeinen ſtarken Panzer über, den
er im Kampfe mit den Giganten getragen; auf ſein
Haupt ſetzte er den goldnen Helm mit vier Büſchen und
griff zu dem vierhäutigen Schilde, den, außer Herkules,
kein anderer Held hätte aufheben können. Sein Sohn
hielt ihm die ſchnellen Roſſe am Wagen: dieſen beſtieg
er und flog, die Zügel in der Hand, aus der Stadt, ihm
nach unzähliges Volk. Wie ſelbſt zum Kampfe gerüſtet,
wollte er dem Schauſpiele beiwohnen. Jaſon aber hatte
ſich nach Medea's Anleitung mit dem Zauberöle Lanze,
Schwert und Schild geſalbt. Rings um ihn her verſuch¬
ten die Genoſſen ihre Waffen an der Lanze, aber ſie
[140] hielt Stand, und jene vermochten es nicht, ſie auch nur
ein wenig zu krümmen; ſie war an ſeiner feſten Hand
wie zu Stein geworden. Darüber ärgerte ſich Idas, des
Aphareus Sohn, und führte ſeinen Streich auf den
Schaft unter der Spitze; aber der Stahl fuhr zurück,
wie der Hammer vom Ambos, und fröhlich ſchrieen die
Helden auf in der frohen Ausſicht auf den Sieg. Jetzt
erſt ſalbte ſich Jaſon auch den Leib; da fühlte er entſetz¬
liche Kraft in allen Gliedern, ſeine beiden Hände ſchwol¬
len auf von Stärke und verlangten nach dem Kampf.
Wie ein Kriegsroß vor der Schlacht wiehernd den Bo¬
den ſtampft, ſich aufrichtet und mit geſpitzten Ohren den
Kopf erhebt, ſo ſtreckte ſich der Aeſonide im Gefühle ſei¬
ner Streitbarkeit, hob die Füße, ſchwang den Erzſchild
und die Lanze mit der Hand. Dann ruderten die Hel¬
den mit ihrem Führer bis zum Marsfelde, wo ſie den
König Aeetes und die Menge der Kolchier ſchon antra¬
fen, jenen am Ufer, dieſe auf den Klippenvorſprüngen
des Kaukaſus gelagert. Als das Schiff angebunden war,
ſprang Jaſon mit Lanze und Schild gerüſtet aus dem¬
ſelben und empfing ſofort einen funkelnden Erzhelm voll
ſpitzer Drachenzähne. Dann hing er das Schwert mit
einem Riemen um die Schultern und ſchritt vor, herrlich
wie Mars oder Apollo. Auf dem Blachfeld umherblick¬
end, ſah er bald die ehernen Joche der Stiere auf dem
Boden liegen, dabei Pflug und Pflugſchaar, Alles ganz
aus Eiſen gehämmert. Als er ſich das Geräthe näher
betrachtet, ſchraubte er die Eiſenſpitze an den ſtarken
Schaft ſeiner Lanze und legte den Helm nieder. Hier¬
auf ſchritt er von ſeinem Schilde gedeckt weiter, nach
den Fußſtapfen der Thiere forſchend. Dieſe aber brachen
[141] von einer andern Seite unvermuthet aus einem unter¬
irdiſchen Gewölbe hervor, wo ihre feſten Ställe waren,
beide Flammen ſchnaubend und in dicken Rauch gehüllt.
Jaſons Freunde ſchracken zuſammen, als ihr Blick auf
die Ungeheuer fiel, er aber ſtand mit ausgeſpreizten Bei¬
nen, den Schild vorgehalten, und erwartete ihren An¬
lauf, wie ein Meerfels die Fluten. Sie kamen auch
wirklich, mit den Hörnern ſtoßend, auf ihn angeſtürzt,
und doch vermochte ihr Anlauf ihm nicht ein Glied zu
verrücken. Wie in den Schmiedewerkſtätten die Blas¬
bälge murren und bald mächtige Feuer ſprühen machen,
bald mit ihrem Athem inne halten, ſo wiederholten ſie
brüllend und Flammen ſpeiend ihre Stöße, daß den Helden
die Glut wie lauter Blitzſtralen umzückte. Ihn aber ſchirmte
das Zaubermittel der Jungfrau. Endlich ergriff er den
Stier zur Rechten am äußerſten Horn und zog ihn mit
allen ſeinen Kräften, bis er ihn an die Stelle geſchleppt,
wo das eherne Joch lag. Hier gab er ſeinen ehernen
Füßen einen Fußtritt und warf ihn mit gekrümmten Knieen
zu Boden. Auf dieſelbe Weiſe zwang er auch den zwei¬
ten, der auf ihn losrannte, mit einem einzigen Streich
auf die Erde nieder. Dann warf er ſeinen breiten Schild
weg und hielt, von ihren Flammen bedeckt, die beiden
niedergeworfenen Stiere mit beiden Händen feſt. Aeetes
mußte die ungeheure Stärke des Mannes bewundern.
Inzwiſchen reichten ihm Kaſtor und Pollux, wie es unter
ihnen verabredet war, die Joche, die auf dem Boden la¬
gen, und er befeſtigte ſie mit Sicherheit an das Genick
der Thiere. Dann erhub er die eherne Deichſel und fügte
ſie in den Ring des Joches. Die Zwillingsbrüder ver¬
ließen nun ſchnell das Feuer, denn ſie waren nicht gefeyt
[142] wie Jaſon. Dieſer aber nahm ſeinen Schild wieder auf
und warf ihn am Riemen hinter den Rücken; dann griff
er auch wieder zu dem Helme voll Drachenzähne, faßte
ſeine Lanze und zwang mit ihren Stichen die zornigen
und Flammen ſprühenden Stiere, den Pflug zu ziehen.
Durch ihre Kraft und den mächtigen Pflüger wurde der
Boden tief aufgeriſſen und die gewaltigen Erdſchollen
krachten in den Furchen. Jaſon ſelbſt folgte mit feſtem
Tritt und ſäte die Zähne in den aufgepflügten Boden,
vorſichtig rückwärts blickend, ob die aufkeimende Giganten¬
ſaat ſich nicht gegen ihn erhebe; die Thiere aber arbeiteten
ſich mit ihren ehernen Hufen vorwärts. Als noch der dritte
Theil des Tages übrig war, am hellen Nachmittage, war
das ganze Blachfeld, obgleich es vier Jaucherte faßte, von
dem unermüdlichen Pflüger umgeackert, und nun wurden
die Stiere vom Pflug erlöst; dieſe ſchreckte der Held mit ſei¬
nen Waffen, daß ſie über das offene Feld hin flohen; er ſelbſt
kehrte zum Schiffe zurück, ſo lange er die Furchen noch
leer von Erdgebornen ſah. Mit lautem Zuruf umringten
ihn von allen Seiten die Genoſſen: er jedoch ſprach nichts,
ſondern füllte ſeinen Helm mit Flußwaſſer und löſchte
ſeinen brennenden Durſt. Dann prüfte er die Gelenke
ſeiner Knie und erfüllte ſein Herz mit neuer Streitluſt,
wie ein ſchäumender Eber ſeine Zähne gegen die Jäger
wetzt. Denn ſchon waren das ganze Feld entlang die
Giganten hervorgekeimt: der ganze Marshain ſtarrte
von Schilden und ſpitzen Lanzen und erglänzte von Hel¬
men, ſo daß der Schimmer durch die Luft bis zum Him¬
mel emporblitzte. Da gedachte Jaſon an das Wort der
ſchlauen Medea: er faßte einen großen runden Stein
auf dem Felde, vier kräftige Männer hätten ihn nicht
[143] vom Boden heben können; er aber ergriff ihn leicht mit
der Hand und warf ihn ſpringend weit hin mitten unter
die bodenentſproſſenen Krieger. Er ſelbſt barg ſich, ins
Knie geworfen, kühn und vorſichtig unter ſeinem Schilde.
Die Kolchier ſchrieen laut auf, wie das Meer braust,
wenn es ſich an ſpitzen Klippen bricht: Aeetes ſelbſt
ſtarrte voll Verwunderung dem Wurfe des ungeheuren
Steines nach. Die Erdgebornen, wie ſchnelle Hunde,
fingen auf einmal an herumzuhüpfen, gingen auf einan¬
der los, brachten ſich gegenſeitig mit dumpfem Knirſchen
um, ſie fielen auf ihre Mutter Erde unter ihren Lanzen
nieder, wie Tannenbäume oder Eichen, welche Windwirbel
umgeriſſen haben. Als ſie mitten im Gefechte begriffen
waren, ſtürzte Jaſon unter ſie, wie ein fallender Stern,
der als Wunderzeichen mitten durch die dunkle Nachtluft
ſchießt. Jetzt zog er ſein Schwert aus der Scheide,
theilte hier und dort Wunden aus, hieb Manche, die ſchon
ſtanden, nieder, mähte Andere, die erſt bis zu den Schul¬
tern hervorgewachſen waren, wie Gras ab; Andern ſpal¬
tete er das Haupt, als ſie ſchon zum Kampfe rannten.
Die Furchen ſtrömten von Blute, wie ein Abzugsbach,
die Verwundeten und Todten ſtürzten nach allen Seiten
hin und Viele ſanken mit blutigen Köpfen wieder ſo tief
in den Boden, als ſie hervorgetaucht waren.


An der Seele des Königes Aeetes nagte zehrender
Aerger; ohne ein Wort zu ſprechen drehte er ſich um und
kehrte zur Stadt zurück, nur darauf ſinnend, auf welche
Weiſe er wirkſamer gegen Jaſon verfahren könnte. Un¬
ter dieſen Begebenheiten war der Tag zu Ende gegangen
und der Held ruhte unter den Glückwünſchen ſeiner Freunde
von der Arbeit.


[144]

Medea raubt das goldne Vließ.

Die ganze Nacht hindurch hielt der König Aeetes
die Häupter ſeines Volkes um ſich im Pallaſte verſam¬
melt und rathſchlagte, wie die Argonauten zu überliſten
wären, denn er war es wohl inne geworden, daß Alles,
was ſich den Tag zuvor ereignet hatte, nicht ohne Mit¬
wirkung ſeiner Töchter geſchehen war. Juno, die Göt¬
tin, ſah die Gefahr, in welcher Jaſon ſchwebte; deßwegen
erfüllte ſie das Herz Medea's mit zagender Furcht, daß
ſie zitterte wie ein Reh im tiefen Walde, das der Jagd¬
hunde Gebell aufgeſchreckt hat. Sogleich ahnte ſie, daß
ihre Hülfe dem Vater nicht verborgen ſey; ſie fürchtete
auch die Mitwiſſenſchaft der Mägde; darum brannten
ihre Augen von Thränen und die Ohren ſauſten ihr.
Ihr Haar ließ ſie wie in Trauer hängen, und, wäre das
Schickſal nicht zuwider geweſen, ſo hätte die Jungfrau
durch Gift ihrem Jammer zur Stunde ein Ende gemacht.
Schon hatte ſie die gefüllte Schale in der Hand, als
Juno ihr den Muth aufs Neue beflügelte und ſie mit
verwandelten Gedanken das Gift wieder in ſeinen Be¬
hälter goß. Jetzt raffte ſie ſich zuſammen; ſie war ent¬
ſchloſſen zu fliehen, bedeckte ihr Lager und die Thürpfo¬
ſten mit Abſchiedsküſſen, berührte mit den Händen noch
einmal die Wände ihres Zimmers, ſchnitt ſich eine Haar¬
locke ab und legte ſie zum Andenken für ihre Mutter
auf's Bett. „Lebewohl, geliebte Mutter,“ ſprach ſie wei¬
nend, „lebe wohl, Schweſter Chalciope und das ganze Haus!
O Fremdling! hätte dich das Meer verſchlungen, ehe du
nach Kolchis gekommen wäreſt!“ Und ſo verließ ſie ihre
[145] ſüße Heimat, wie eine Gefangene fliehend den bittern
Kerker der Sklaverei verläßt. Die Pforten des Pallaſtes
thaten ſich vor ihren Zauberſprüchen auf; durch enge
Seitenwege rannte ſie mit bloßen Füßen, mit der Linken
den Schleier bis über die Wangen herunterziehend, mit
der Rechten ihr Nachtgewand vor der Befleckung des
Weges ſchützend. Bald war ſie, unerkannt von den
Wächtern, draußen vor der Stadt und ſchlug einen Fu߬
pfad nach dem Tempel ein, denn als Zauberweib und
Gifttrankmiſcherin war ſie vom Wurzelſuchen her aller
Wege des Feldes wohlkundig. Luna, welche ſie ſo wan¬
deln ſah, ſprach zu ſich ſelbſt, lächelnd herniederſcheinend:
„So quält denn doch nicht mich allein die Liebe zum
ſchönen Endymion! Oft haſt du mich mit deinen Hexen¬
ſprüchen vom Himmel hinweggezaubert: jetzt leideſt du
ſelbſt um einen Jaſon bittere Qualen. Nun, ſo geh nur,
aber, ſo ſchlau du biſt, hoffe nicht, dem herbſten Schmerz
zu entfliehen!“ So ſprach Luna mit ſich ſelber, jene
aber trugen ihre Füße eilig davon; endlich beugten ihre
Schritte gegen das Meeresufer ein, wo das Freuden¬
feuer, das die Helden wegen Jaſons Siege die ganze
Nacht hindurch auflodern ließen, ihr zum Leitſterne dien¬
te. Dem Schiffe gegenüber angekommen, rief ſie mit
lauter Stimme ihren jüngſten Schweſterſohn Phrontis;
dieſer, der mit Jaſon ihre Stimme erkannte, erwiederte
dreimal den dreifachen Ruf. Die Helden, die dieß mit
hörten, ſtaunten Anfangs, dann ruderten ſie ihr entgegen.
Ehe das Schiff ans jenſeitige Ufer gebunden war, ſprang
Jaſon vom Verdeck ans Land, Phrontis und Argos ihm
nach. „Rettet mich,“ rief das Mädchen, indem ſie die
Knie ihrer Neffen umfaßte, „entreißt mich und euch mei¬
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 10[146] nem Vater! Alles iſt verrathen und keine Hülfe mehr;
laßt uns zu Schiffe fliehen, eh er die ſchnellen Roſſe be¬
ſteigt; das goldne Vließ will ich euch verſchaffen, indem
ich den Drachen einſchläfere. Du aber, o Fremdling,
ſchwöre mir zu den Göttern vor deinen Genoſſen, daß
du mich Verwaiſte in der Fremde nicht beſchimpfen
willſt!“ So ſprach ſie traurig und erfreute Jaſons Herz.
Er hub die ins Knie Geſunkene ſanft vom Boden auf,
umfaßte ſie und ſprach: „Geliebte, Jupiter und Juno,
die Beſchirmerin der Ehe, ſeyen meine Zeugen, daß ich
nach Griechenland zurückgekehrt, dich als rechtmäßige
Gattin in mein Haus einführen will!“ So ſchwor er
und legte ſeine Hand in die ihrige. Dann hieß Medea
die Helden noch in der Nacht das Schiff nach dem hei¬
ligen Haine rudern, um dort das goldne Vließ zu ent¬
führen. Die Helden fuhren mit dem Schiffe davon, Ja¬
ſon und die Jungfrau gingen über den Pfad einer Wieſe
dem Haine zu. Dort ſuchten ſie den hohen Eichbaum, —
an welchem das goldene Vließ hing, ſtralend durch die
Nacht, einer Morgenwolke ähnlich, die von der aufgehen¬
den Sonne beſchienen wird. Gegenüber aber reckte der
ſchlafloſe Drache, aus ſcharfen Augen in die Ferne blickend,
ſeinen langen Hals den Herannahenden entgegen und
ziſchte fürchterlich, daß die Ufer des Fluſſes und der
ganze große Hain widerhallte. Wie über einen ange¬
zündeten Wald die Flammen ſich hinwälzen, ſo rollte
das Unthier mit leuchtenden Schuppen in unzähligen
Krümmungen daher. Die Jungfrau aber ging ihm keck
entgegen, ſie rief mit ſüßer Stimme den Schlaf, den
mächtigſten der Götter, an, das Ungeheuer einzulullen;
ſie rief zur mächtigen Königin der Unterwelt, ihr Vorha¬
[147] ben zu ſegnen; nicht ohne Furcht folgte ihr Jaſon. Aber
ſchon durch den Zaubergeſang der Jungfrau eingeſchläfert,
ſenkte der Drache die Wölbung des Rückens, und ſein ge¬
ringelter Leib dehnte ſich der Länge nach aus, nur mit
dem gräßlichen Kopfe ſtand er noch aufrecht und drohte
die Beiden mit ſeinem aufgeſperrten Rachen zu faſſen.
Da ſprengte Medea ihm mit einem Wacholderſtengel
unter Beſchwörungsformeln einen Zaubertrank in die Au¬
gen, deſſen Duft ihn mit Schlummer übergoß; jetzt ſchloß
ſich ſein Rachen und ſchlafend dehnte ſich der Drache
mit ſeinem ganzen Leibe durch den langen Wald hin.


Auf ihre Ermahnung zog nun Jaſon das Vließ von
der Eiche, während das Mädchen fortwährend den Kopf
des Drachen mit dem Zauberöl beſprengte. Dann ver¬
ließen beide eilig den beſchatteten Marshain und Jaſon
hielt von ferne ſchon freudig das große Widdervließ ent¬
gegen, von deſſen Wiederſchein ſeine Stirn und ſein blon¬
des Haar in goldenem Schimmer glänzten; auch beleuch¬
tete ſein Schein ihm weithin den nächtlichen Pfad. So
ging er, es auf der linken Schulter tragend; die goldne
Laſt hing ihm vom Hals bis auf die Füße herunter; dann
rollte er es wieder auf, denn immer fürchtete er, ein
Menſch oder Gott möchte ihm begegnen und ihn des
Schatzes berauben. Mit der Morgenröthe traten ſie ins
Schiff, die Genoſſen umringten den Führer und ſtaunten
das Vließ an, das funkelte wie Jupiters Blitz; Jeder
wollte es mit den Händen betaſten: aber Jaſon litt es
nicht, ſondern warf einen neugefertigten Mantel darüber.
Die Jungfrau ſetzte er auf das Hinterverdeck des Schiffes
und ſprach dann ſo zu ſeinen Freunden: „Jetzt, ihr Lie¬
ben, laßt uns eilig ins Vaterland zurückkehren. Durch
10 *[148] dieſer Jungfrau Rath iſt vollbracht, weswegen wir unſere
Fahrt unternommen haben; zum Lohne führe ich ſie als
meine rechtmäßige Gemahlin nach Hauſe; ihr aber helft
mir ſie als die Gehülfin ganz Griechenlands beſchirmen.
Denn ich zweifle nicht: bald wird Aeetes da ſeyn und
mit allem ſeinem Volke unſere Ausfahrt aus dem Fluſſe
hindern wollen! Deßwegen ſoll von euch abwechslungs¬
weiſe die eine Hälfte rudern, die andere, unſere mächtigen
Schilde aus Rindshaut den Feinden entgegenhaltend, die
Rückfahrt ſchirmen. Denn in unſerer Hand ſteht jetzt
die Heimkehr zu den Unſrigen und die Ehre oder Schande
Griechenlands!“ Mit dieſen Worten hieb er die Taue
ab, mit denen das Schiff angebunden war, warf ſich in
volle Rüſtung und ſtellte ſich ſo neben das Mägdlein,
dem Steuermann Ancäus zur Seite. Das Schiff eilte
unter den Rudern der Mündung des Fluſſes entgegen.

Die Argonauten, verfolgt, entkommen mit Medea.

Inzwiſchen hatten Aeetes und alle Kolchier Medea's
Liebe, Thaten und Flucht erfahren. Sie traten bewaff¬
net auf dem Markte zuſammen und bald ſah man ſie mit
lautem Schalle das Ufer des Fluſſes hinabziehen: Aeetes
fuhr auf einem feſtgezimmerten Wagen, mit den Pferden,
die ihm der Sonnengott verliehen; in der Linken trug er
einen runden Schild, in der Rechten eine lange Pechfackel;
an ſeiner Seite lehnte die gewaltige Lanze. Die Zügel
der Roſſe handhabte ſein Sohn Abſyrtus. Als ſie aber
an der Mündung des Fluſſes angekommen waren, da
fuhr das Schiff, von den unermüdlichen Ruderern getrie¬
[149] ben, ſchon weit auf der hohen See. Fackel und Schild
entſank dem König; er hub die Hände gen Himmel, rief
Jupiter und den Sonnengott zu Zeugen der Uebelthaten
und erklärte grimmig ſeinen Unterthanen: wenn ſie ihm
die Tochter nicht, zu Waſſer oder zu Lande ergriffen,
herbeiführen würden, daß er, ſeines Herzens Gelüſte fol¬
gend, Rache üben könnte, ſo ſollten ſie es Alle mit ihren
Häuptern büßen. Die erſchrockenen Kolchier zogen noch
an demſelben Tage ihre Schiffe in die See, ſpannten die
Segel aus und fuhren hinaus ins Meer; ihre Flotte,
welche des Königes Sohn Abſyrtus befehligte, glich einer
unabſehbaren Vogelſchaar, welche die Luft verdunkelnd
über die See dahin ſchwirrt.


In die Segel der Argonauten blies der günſtigſte
Wind, denn Juno's Wille war es, daß die Kolchierin
Medea ſo bald als möglich das Verderben in des Pelias
Haus bringen ſollte. Schon mit der dritten Morgenröthe
banden ſie das Schiff beim Fluſſe Halys am Ufer der
Paphlagonen an. Hier brachten ſie auf Medea's Geheiß
der Göttin Hekate, die ſie gerettet hatte, ein Opfer. Da
fiel ihrem Führer und auch andern Helden bei, daß der
alte Wahrſager Phineus ihnen zur Rückfahrt auf einem
neuen Wege gerathen hatte, der Gegenden aber war Kei¬
ner kundig. Nun belehrte ſie Argos, der Sohn des Phri¬
rus, der es aus Prieſterſchriften wußte, daß ſie nach dem
Iſterfluſſe ſteuern ſollten, deſſen Quellen fern in den
rhipäiſchen Bergen murmeln und der das Füllhorn ſei¬
ner Waſſer zur Hälfte ins joniſche, zur andern Hälfte
ins ſiciliſche Meer ergießt. Als Argos dieß gerathen,
erſchien die breite Himmelsfurche eines Regenbogens in
der Richtung, in welcher ſie fahren ſollten, und der gün¬
[150] ſtige Wind ließ nicht ab zu wehen und das Himmelszei¬
chen hörte nicht auf zu leuchten, bis ſie glücklich an die
joniſche Mündung des Fluſſes Iſter gelangt waren.


Die Kolchier ließen aber mit ihrer Verfolgung nicht
nach und kamen, ſchneller ſegelnd, mit ihren leichten
Schiffen noch vor den Helden an der Mündung des
Iſters an. Hier legten ſie ſich in Hinterhalt an den
Buchten und Inſeln des Ausflußes und verſtellten den
Helden, als dieſe ſich in der Mündung des Stromes
vor Anker gelegt, den Ausweg. Die Argonauten, die
Menge der Kolchier fürchtend, landeten und warfen ſich
auf eine Inſel des Fluſſes; die Kolchier folgten und ein
Treffen bereitete ſich vor. Da traten die bedrängten
Griechen in Unterhandlung, und von beiden Theilen wurde
verabredet, daß jedenfalls die Griechen das goldene Vließ,
das der König dem Helden Jaſon für ſeine Arbeit ver¬
ſprochen hatte, davon tragen ſollten; die Königstochter
Medea aber ſollten ſie auf einer zweiten Inſel, im Tem¬
pel der Diana, ausſetzen, bis ein gerechter Nachbarkönig
als Schiedsrichter entſchieden hätte, ob ſie zu ihrem Vater
zurückkehren, oder ob ſie den Helden nach Griechenland
folgen ſollte. Bittere Sorgen bemächtigten ſich der Jung¬
frau, als ſie ſolches hörte, ſogleich führte ſie ihren Ge¬
liebten ſeitwärts an einen Ort, wo keiner ſeiner Genoſſen
ſie hören konnte; dann ſprach ſie unter Thränen: „Ja¬
ſon, was habt ihr über mich beſchloſſen? hat das Glück
Alles bei dir in Vergeſſenheit geſenkt, was du mir mit
heiligem Eide in der Noth verſprochen? In dieſer Hoff¬
nung habe ich Leichtſinnige, Ehrvergeſſene, Vaterland,
Haus und Eltern verlaſſen, was mein Höchſtes war.
Für deine Rettung treibe ich auf dem Meere mit dir
[151] um; meine Vermeſſenheit hat dir das goldne Vließ ver¬
ſchafft; für dich habe ich Schmach auf den Frauenna¬
men geladen, deßwegen folge ich dir als dein Mädchen,
als dein Weib, als deine Schweſter ins griechiſche Land.
Und darum beſchirme mich auch, laß mich nicht allein
hier, überlaß mich nicht den Königen zum Urtheil. Wenn
mich jener Richter meinem Vater zuſpricht, ſo bin ich
verloren, wie wäre dir dann deine Rückkehr angenehm?
wie könnte Jupiters Gemahlin, Juno, dieſes billigen, ſie,
deren du dich rühmeſt? Ja wenn du mich verläſſeſt, ſo
wirſt du einſt, in Elend verſunken, mein gedenken. Wie
ein Traum ſoll dir das goldne Vließ in den Hades ent¬
ſchwinden! Aus dem Vaterlande ſollen dich meine Rache¬
geiſter treiben, wie ich durch deine Verkehrtheit aus mei¬
nem Vaterlande getrieben worden bin!“ So ſprach ſie
in wilder Leidenſchaft und gedachte Feuer in das Schiff
zu legen, Alles zu verbrennen und ſelbſt hinein zu ſtür¬
zen. Bei ihrem Anblicke ward Jaſon ſcheu, das Gewiſ¬
ſen ſchlug ihm und er ſprach mit begütigenden Worten:
„Faſſe dich, Gute! mir ſelbſt iſt jener Vertrag nicht Ernſt!
Suchen wir ja nur einen Aufſchub der Schlacht, weil
eine ganze Wolke von Feinden uns umringt, um deinet¬
willen. Denn Alles was hier wohnt, iſt den Kolchiern
befreundet und will deinem Bruder Abſyrtus helfen, daß
er dich als Gefangene dem Vater zurückbringe. Wir
alle aber, wenn wir jetzt den Kampf beginnen, werden
elendiglich umkommen, und deine Lage wild noch hoff¬
nungsloſer, wenn wir geſtorben ſind und dich den Fein¬
den als Beute zurücklaſſen. Vielmehr ſoll jener Vertrag
nur ein Hinterhalt ſeyn, der den Abſyrtus ins Verderben
ſtürzt; denn wenn ihr Führer todt iſt, ſo werden den
[152] Kolchiern die Nachbarn keine Hülfe mehr leiſten wollen.“
So ſprach er ſchmeichelnd und Medea gab ihm den grä߬
lichen Rath: „Höre mich. Ich habe einmal geſündigt
und, vom Verhängniß verblendet, Uebles gethan. Rück¬
wärts kann ich nicht mehr, ſo muß ich vorwärts ſchrei¬
ten im Frevel. Wehre du im Treffen die Lanzen der
Kolchier ab; ich will den Bruder bethören, daß er ſich
in deine Hände gibt. Du empfange ihn mit einem glän¬
zenden Mahle; kann ich dann die Herolde überreden,
daß ſie ihn zum Zwiegeſpräch allein mit mir laſſen: als¬
dann — ich kann nicht widerſtreben — magſt du ihn
tödten und die Schlacht den Kolchiern liefern.“ Auf
dieſe Weiſe legten die Beiden dem Abſyrtus einen ſchwe¬
ren Hinterhalt. Sie ſandten ihm viele Gaſtgeſchenke,
darunter ein herrliches Purpurkleid, das die Königin von
Lemnos dem Jaſon gegeben hatte, das einſt die Huldgöt¬
tinnen ſelbſt dem Gotte Dionyſus (Bacchus) gefertiget
und das mit himmliſchem Dufte getränkt war, ſeit der
nektartrunkene Gott darauf geſchlummert hatte. Den
Herolden redete die ſchlaue Jungfrau zu, Abſyrtus ſollte
im Dunkel der Nacht auf die andere Inſel zum Dianen¬
tempel kommen; dort wollten ſie eine Liſt ausdenken,
wie er das goldene Vließ wieder bekäme und es dem
Könige, ihrem Vater, zurückbringen könnte; denn ſie ſelbſt,
ſo heuchelte ſie, ſey von den Söhnen des Phrixus mit
Gewalt den Fremdlingen überliefert worden. Nachdem
ſie ſo die Friedensboten bethört hatte, ſpritzte ſie von
ihren Zauberölen in den Wind, ſo viel, daß ihr Duft
auch das wildeſte Thier vom höchſten Berge herabzulocken
kräftig geweſen wäre. Es geſchah, wie ſie gewünſcht
hatte. Abſyrtus, durch die heiligſten Verſprechungen be¬
[153] trogen, ſchiffte in dunkler Nacht nach der heiligen Inſel
hinüber. Dort allein mit der Schweſter zuſammengekom¬
men, verſuchte er das Gemüth der Verſchlagenen, ob ſie
wirklich eine Liſt gegen die Fremdlinge hegte; aber es
war, als wenn ein ſchwacher Knabe durch einen ange¬
ſchwollenen Bergſtrom waten wollte, über den kein kräfti¬
ger Mann ungeſtraft ſetzen kann. Denn als ſie mitten
im Geſpräche waren, und die Schweſter ihm Alles zu¬
ſagte, da ſtürzte plötzlich Jaſon aus dem verborgenen
Hinterhalte hervor, das bloße Schwert in der Hand.
Die Jungfrau aber wandte ihre Augen ab und bedeckte
ſich mit dem Schleier, um den Mord ihres Bruders nicht
mit anſehen zu müſſen. Wie ein Opferthier ſtürzte der
Königsſohn unter den Streichen Jaſons und beſpritzte Ge¬
wand und Schleier der abgekehrten Medea mit ſeinem
Bruderblut. Aber die Rachegöttin, die nichts überſieht,
ſah aus ihrem Verſtecke mit finſterem Auge die gräßliche
That, die hier begangen ward.


Nachdem Jaſon ſich von dem Morde gereinigt und
den Leichnam begraben hatte, gab Medea den Argonauten
mit einer Fackel das verabredete Zeichen. Dieſe, die ſich
während der Unterhandlungen wieder auf ihr Schiff zu¬
rückbegeben hatten, landeten jetzt auf der Dianeninſel und
fielen, wie Habichte über Taubenſchaaren oder Löwen
über Schafheerden, über die ihres Führers beraubten Be¬
gleiter des Abſyrtus her. Keiner entging dem Tode. Ja¬
ſon, der den Seinigen zu Hülfe kommen wollte, erſchien
zu ſpät, denn ſchon war der Sieg entſchieden.


[154]

Weitere Heimathfahrt der Argonauten.

Auf des Peleus Rath ſchifften die Helden aus der
Mündung hervor und ſchleunig davon, ehe die zurückge¬
laſſenen Kolchier zur Beſinnung kommen konnten. Dieſe,
als ſie inne wurden, was geſchehen war, gedachten An¬
fangs die Feinde zu verfolgen, aber Juno ſchreckte ſie
mit warnenden Blitzen vom Himmel, und da ſie zu Hauſe
den Zorn des Königes fürchteten, wenn ſie ihm Sohn
und Tochter nicht zurück brächten, ſo blieben ſie auf den
Dianeninſeln in der Mündung des Iſter zurück und ſie¬
delten ſich hier an.


Die Argonauten aber ſchifften an mancherlei Ge¬
ſtaden und Inſeln vorüber, auch an dem Eilande, wo
die Königin Kalypſo, die Tochter des Atlas, wohnte.
Schon glaubten ſie in der Ferne die höchſten Bergſpitzen
des heimiſchen Feſtlandes aufſteigen zu ſehen, als Juno,
welche die Plane des erzürnten Jupiters fürchtete, einen
Sturm gegen ſie erhob, der ihr Schiff mit Ungeſtüm an
die unwirthliche Inſel Elektris trieb. Jetzt begann auch
das weiſſagende Holz, das Minerva mitten in den Kiel
eingefügt hatte, zu ſprechen und entſetzliche Furcht ergriff
die Horchenden. „Ihr werdet Jupiters Zorn und den
Irrfahrten des Meeres nicht entgehen,“ tönte das hohle
Brett, „bevor nicht die Zaubergöttin Circe euch den grau¬
ſamen Mord des Abſyrtus abgewaſchen hat. Kaſtor und
Pollux ſollen zu den Göttern beten, daß ſie euch die
Pfade des Meeres öffnen, und ihr Circe finden könnet,
die Tochter des Sonnengottes und der Perſe.“ So
ſprach der hölzerne Mund des Schiffes Argo um die
[155] Abenddämmerung. Schauder und Furcht ergriff die Hel¬
den, als ſie den ſeltſamen Propheten ſo Schreckliches ver¬
künden hörten. Die Zwillinge Kaſtor und Pollux allein
ſprangen auf und hatten den Muth, zu den unſterblichen
Göttern um Schutz zu beten; das Schiff aber ſchoß wei¬
ter bis in die innerſte Bucht des Eridanus, da wo einſt
Phaethon verbrannt vom Sonnenwagen in die Fluth ge¬
fallen war. Noch jetzt ſchickt er aus der Tiefe Rauch und
Gluth aus ſeiner brennenden Wunde hervor, und kein
Schiff kann mit leichten Segeln über dieſes Gewäſſer
hinfliegen, ſondern es ſpringt mitten in die Flamme hin¬
ein. Ringsumher am Ufer ſeufzen, in Pappeln verwan¬
delt, Phaethon's Schweſtern, die Heliaden, im Winde, und
träufeln lichte Thränen aus Bernſtein auf den Boden,
welche die Sonne trocknet und die Fluth in den Eridanus
hineinzieht. Den Argonauten half zwar ihr ſtarkes Schiff
aus dieſer Gefahr, aber alle Luſt nach Speiſe und Trank
verging ihnen; denn bei Tage peinigte ſie der unerträg¬
liche Geruch, der aus den Fluthen des Eridanus vom
dampfenden Phaethon aufſtieg, und bei Nacht hörten ſie
ganz deutlich das Wehklagen der Heliaden, und wie die
Bernſteinthränen gleich Oeltropfen ins Meer rollten. An
den Ufern des Eridanus hin kamen ſie zu einer Mündung
des Rhodanus und wären hineingeſchifft, von wannen
ſie nicht lebendig herauskommen ſollten, wenn nicht Juno
plötzlich auf einer Klippe erſchienen wäre, und mit furcht¬
barer Götterſtimme ſie abgemahnt hätte. Dieſe hüllte das
Schiff ſchirmend in ſchwarzen Nebel und ſo fuhren ſie an
unzähligen Celtenvölkern viele Tage und Nächte vorbei,
bis ſie endlich das Tyrrheniſche Ufer erblickten und bald
darauf glücklich in den Hafen der Inſel Circe's einliefen.


[156]

Hier fanden ſie die Zaubergöttin, wie ſie, am Meer¬
geſtade ſtehend, ihr Haupt in den Wellen badete. Ihr
hatte geträumt, das Gemach und ganze Haus über¬
ſtröme von Blut, und die Flamme freſſe alle Zaubermit¬
tel, mit welchen ſie ſonſt die Fremdlinge behext hatte, ſie
aber ſchöpfe mit hohler Hand das Blut und löſche das
Feuer damit. Dieſer entſetzliche Traum hatte ſie mit der
Morgenröthe vom Lager aufgeſchreckt und ans Meeres¬
ufer getrieben, hier wuſch ſie Kleider und Haare, als ob
ſie blutbefleckt wären. Ungeheure Beſtien, nicht andern
Thieren ähnlich, ſondern aus den verſchiedenſten Gliedern
zuſammengeſetzt, folgten ihr heerdenweiſe, wie das Vieh
dem Hirten aus dem Stalle. Die Helden ergriff entſetz¬
liches Grauſen, zumal da ſie der Circe nur ins Angeſicht
zu ſehen brauchten, um ſich zu überzeugen, daß ſie die
Schweſter des grauſamen Aeetes ſey. Die Göttin, als
ſie die nächtlichen Schrecken von ſich entfernt hatte, kehrte
ſchnell wieder um, lockte den Thieren und ſtreichelte ſie,
wie man Hunde ſtreichelt.


Jaſon hieß die ganze Mannſchaft im Schiffe bleiben,
er ſelbſt ſprang mit Medea ans Land, und zog das wi¬
derſtrebende Mädchen mit ſich fort, Circe's Pallaſte zu.
Circe wußte nicht, was die Fremden bei ihr ſuchten.
Sie hieß ſie auf ſchönen Seſſeln Platz nehmen. Jene
aber flüchteten ſtill und traurig an den Heerd und ließen
ſich dort nieder. Medea legte ihr Haupt in beide Hände,
und Jaſon ſtieß das Schwert, mit welchem er den Abſyr¬
tus umgebracht hatte, in den Boden, legte die Hand auf
daſſelbe und ſtützte ſein Kinn darauf, ohne die Augen
aufzuſchlagen. Da merkte Circe, daß es Schutzflehende
ſeyen und verſtand ſogleich, daß es ſich um den Jammer
[157] der Verbannung und die Sühnung eines Mordes handle.
Sie trug Scheu vor Jupiter, dem Beſchirmer der Flehen¬
den und brachte das verlangte Opfer dar, indem ſie eine
Hündin, die friſch geworfen hatte, ſchlachtete und den
reinigenden Jupiter dazu anrief. Ihre Dienerinnen, die
Najaden, mußten die Sühnungsmittel aus dem Hauſe
und in's Meer tragen; ſie ſelbſt ſtellte ſich an den Heerd
und verbrannte heilige Opferkuchen unter feierlichen Ge¬
beten, um den Zorn der Furien zu beſänftigen und die
Verzeihung des Göttervaters für die Mordbefleckten anzu¬
rufen. Als Alles vorüber war, ließ ſie die Fremden erſt
auf die glänzenden Stühle ſetzen und ſetzte ſich ihnen gegen¬
über. Dann fragte ſie die Fremdlinge über ihr Geſchäft
und ihre Schiffahrt, woher ſie kämen, warum ſie hier ge¬
landet und wofür ſie ihren Schutz begehrt hätten: denn
ihr blutiger Traum war ihr wieder in den Sinn gekom¬
men. Als die Jungfrau nun ihr Haupt aufrichtete und
ihr ins Angeſicht ſah, fielen ihr die Augen des Mädchens
auf: denn Medea ſtammte ja, wie Circe ſelbſt, vom Son¬
nengotte; und alle Abkömmlinge dieſes Gottes haben
ſtrahlende Augen voll Goldglanz. Nun verlangte ſie die
Mutterſprache der Landesflüchtigen zu hören, und die
Jungfrau fing an, in kolchiſcher Mundart, Alles, was
mit Aeetes, den Helden und ihr geſchehen war, der Wahr¬
heit nach zu erzählen; nur die Ermordung ihres Bruders
Abſyrtus wollte ſie nicht geſtehen. Aber der Zaubergöt¬
tin Circe blieb nichts verborgen; doch jammerte ſie ihrer
Nichte und ſie ſprach: „Arme, du biſt unehrlich geflohen
und haſt einen großen Frevel begangen. Gewiß wird
dein Vater nach Griechenland kommen, den Mord ſeines
Sohnes an dir zu rächen. Von mir jedoch ſollst du kein
[158] weiteres Uebel leiden, weil du eine Schutzflehende und
dazu meine Verwandte biſt. Nur verlang' auch keine
Hülfe von mir. Entferne dich mit dem fremden Manne,
wer es auch ſeyn mag. Ich kann weder deine Plane,
noch deine ſchimpfliche Flucht billigen!“ Ein unendlicher
Schmerz ergriff die Jungfrau bei dieſen Worten. Sie
warf den Schleier über ihr Haupt und weinte bitterlich,
bis der Held ſie an der Hand ergriff und die Wankende
mit ſich aus Circe's Pallaſt hinausführte.


Doch Juno erbarmte ſich ihrer Schützlinge. Sie
ſandte ihre Botin Iris auf dem bunten Regenbogenpfade
zur Meeresgöttin Thetis hinab, ließ dieſe zu ſich rufen
und empfahl das Heldenſchiff ihrem Schirm. Sogleich
mit Jaſon's und Medea's Ankunft an Bord fingen nun
ſanfte Zephyre zu wehen an; leichteren Muthes lichteten
die Helden die Anker und ſpannten die hohen Segel aus.
Mit ſanftem Winde wogte das Schiff weiter und bald
ſtellte ſich ihnen eine ſchöne blühende Inſel dar, die der
Sitz der trügeriſchen Sirenen war, welche die Vorüber¬
ſchiffenden durch ihre Geſänge anzulocken und zu verder¬
ben pflegten. Halb Vögel halb Jungfrauen ſaßen ſie im¬
mer auf ihrer Warte und kein Fremder, der vorüberfuhr,
entging ihnen. Auch jetzt ſangen ſie den Argonauten die
ſchönſten Lieder zu, und ſchon waren dieſe im Begriffe,
die Taue nach dem Ufer zu werfen und anzulegen, als
der thraciſche Sänger Orpheus ſich von ſeinem Sitze er¬
hob und ſeine göttliche Leier ſo mächtig zu ſchlagen be¬
gann, daß ſie die Stimmen der Jungfrauen übertönte;
zugleich blies ein tönender gottgeſandter Zephyr in den
Rücken des Schiffes, ſo daß der Sirenengeſang ganz
in den Lüften verhallte. Nur Einer der Genoſſen, Butes,
[159] der Sohn des Teleon, hatte der hellen Stimme der Si¬
renen nicht zu widerſtehen vermocht, ſprang von der
Ruderbank ins Meer und ſchwamm dem verführeriſchen
Hall entgegen. Er wäre verloren geweſen, wenn ihn nicht
die Beherrſcherinn des Berges Eryr in Sicilien, Venus,
erblickt hätte. Sie riß ihn mitten aus den Wirbeln her¬
aus und warf ihn auf ein Vorgebirge dieſer Inſel, wo
er hinfort wohnen blieb. Die Argonauten betrauerten ihn
für todt und ſchifften neuen Gefahren entgegen, denn ſie
kamen an eine Meerenge, wo auf der einen Seite der
ſteile Fels der Scylla in die Fluten hinausragte und das
Schiff zu zerbrechen, auf der andern Seite der Strudel der
Charybdis die Waſſer in die Tiefe riß und das Schiff zu
verſchlingen drohte. Dazwiſchen irrten unter der Fluth vom
Grunde losgeriſſene Felſen, wo ſonſt die glühende Werkſtätte
des Vulkanus iſt; jetzt aber rauchte ſie nur und erfüllte
den Aether mit Finſterniß. Hier begegneten ihnen von al¬
len Seiten die Meernymphen, des Nereus Töchter; im
Rücken des Schiffes faßte die Fürſtin derſelben, Thetis ſelbſt,
das Steuerruder. Alle miteinander umgaukelten das Schiff
und wenn es ſich den ſchwimmenden Felſen nähern wollte,
ſo ſtieß es eine Nymphe der andern zu, wie Jungfrauen,
die Ball ſpielen. Bald ſtieg es mit den Wellen hoch
zu den Wolken, bald ſtieg es wieder in den Abgrund
hinab. Auf dem Gipfel einer Klippe ſah, den Hammer
auf die Schulter gelehnt, Vulkanus dem Schauſpiele zu,
und vom geſtirnten Himmel herab Jupiters Gemahlin
Juno; dieſe aber ergriff Minervens Hand, denn ſie konnte
es ohne Schwindel nicht mit anſehen. Endlich waren
ſie den Gefahren glücklich entgangen und fuhren weiter
auf der offenen See, bis ſie zu einer Inſel kamen, wo
[160] die guten Phäaken und ihr frommer König Alcinous
wohnte.

Neue Verfolgung der Kolchier.

Hier waren ſie aufs gaſtlichſte aufgenommen worden
und wollten ſich eben recht gütlich thun als plötzlich an
der Küſte ein furchtbares Heer der Kolchier erſchien, de¬
ren Flotte auf einem anderen Wege bis hierher vorge¬
drungen war. Sie verlangten die Königstochter Medea,
um ſie in das väterliche Haus zurückzuführen, oder be¬
drohten die Griechen mit einer mörderiſchen Schlacht ſchon
jetzt, und noch mehr, wenn Aeetes ſelbſt mit einem noch
gewaltigeren Heere nachkommen würde. Der gute König
Alcinous aber hielt ſie, da ſie ſchon in die Schlacht eil¬
ten, zurück, und Medea umfaßte die Kniee ſeiner Gemah¬
lin Arete: „Herrin, ich flehe dich an,“ ſprach ſie, „laß mich
nicht zu meinem Vater bringen; wenn du anders dem
menſchlichen Geſchlechte angehörſt, das allzumal durch leich¬
ten Irrthum in ſchnelles Unglück ſtürzt. So iſt auch mir
die Beſonnenheit entſchwunden. Doch nicht Leichtſinn, ſon¬
dern nur entſetzliche Furcht hat mich zur Flucht mit die¬
ſem Manne bewogen. Als Jungfrau führt er mich in ſeine
Heimath. Darum erbarme dich meiner, und die Götter
mögen dir langes Leben und Kinder, und deiner Stadt
unſterbliche Zier gewähren.“ Auch den einzelnen Helden
warf ſie ſich flehend zu Füßen: ein Jeder aber, den ſie
anrief, hieß ſie gutes Muthes ſeyn, ſchüttelte die Lanze,
zog ſein Schwerdt und verſprach ihr beizuſtehen, wenn
Alcinous ſie ausliefern wollte.


[161]

In der Nacht rathſchlagte der König mit ſeiner Ge¬
mahlin über das kolchiſche Mädchen. Arete bat für ſie
und erzählte ihm, daß der große Held Jaſon ſie zu ſei¬
ner rechtmäßigen Gemahlin machen wolle. Alcinous war
ein ſanfter Mann und ſein Gemüth wurde noch weicher,
als er dieſes hörte, „Gerne würde ich,“ erwiederte er ſei¬
ner Gemahlin, „die Kolchier den Helden und der Jungfrau
zulieb auch mit den Waffen vertreiben, aber ich fürchte
das Gaſtrecht Jupiters zu verletzen; auch iſt es nicht klug
den mächtigen König Aeetes zu reizen, denn, ſo ferne er
wohnt, er wäre doch im Stande Griechenland mit einem
Kriege zu überziehen. Höre daher den Rathſchluß, den
ich gefaßt habe. Iſt das Mädchen noch eine freie Jung¬
frau, ſo ſoll ſie ihrem Vater zurückgegeben werden; iſt
ſie aber des Helden Gemahlin, ſo werde ich ſie dem Gat¬
ten nicht rauben, denn dieſem gehört ſie vor dem Vater.“
Arete erſchrack, als ſie dieſen Entſchluß des Königes hörte.
Noch in der Nacht ſandte ſie einen Herold zu Jaſon, der
ihm alles hinterbrachte und ihm rieth ſich noch vor An¬
bruch des Morgens mit Medea zu vermählen. Die Helden,
welchen Jaſon den unerwarteten Vorſchlag mittheilte, wa¬
ren es alle zufrieden und ſo wurde unter den Liedern des
Orpheus, in einer heiligen Grotte, die Jungfrau feierlich
zur Gattin Jaſons eingeweiht.


Am andern Morgen, als die Ufer der Inſel und das
thauige Feld von den erſten Sonnenſtrahlen ſchimmerten,
rührte ſich alles Phäakenvolk auf den Straßen der Stadt,
und am andern Ende der Inſel ſtanden die Kolchier auch
ſchon unter den Waffen. Alcinous trat verſprochenerma¬
ßen hervor aus ſeinem Pallaſte, das goldne Scepter in
der Hand, zu richten über das Mädchen; hinter ihm gin¬
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 11[162] gen ſchaarenweiſe die edelſten Phäaken einher; auch die
Frauen waren zuſammengekommen, um die herrlichen Helden
der Griechen zu ſchauen, und viele Landleute hatten ſich
verſammelt, denn Juno hatte das Gerücht weit und breit
ausgeſtreut. So war Alles vor den Mauern der Stadt
bereit, und die Opfer dampften zum Himmel empor.
Schon lange harrten hier die Helden der Entſcheidung.
Als nun der König auf ſeinem Throne Platz genommen
hatte, trat Jaſon hervor und erklärte mit eidlicher Be¬
kräftigung die Königstochter Medea für ſeine recht¬
mäßige Gemahlin. Sobald Alcinous dieſes hörte und
Zeugen der Vermählung aufgetreten waren, that er mit
einem feierlichen Schwure den Ausſpruch, daß Medea
nicht ausgeliefert werden ſollte, und ſchirmte ſeine Gäſte.
Vergebens widerſetzten ſich die Kolchier; der König hieß
ſie entweder als friedliche Gäſte in ſeinem Lande wohnen
oder mit ihren Schiffen ſich aus ſeinem Hafen entfernen.
Sie aber, die den Zorn ihres Landesherrn fürchteten,
wenn ſie ohne ſeine Tochter zurückkehreten, wählten das
Letztere. Am ſiebenten Tage brachen auch die Argonau¬
ten, ungern von Alcinous entlaſſen und herrlich beſchenkt,
zur Weiterfahrt auf.

Letzte Abentheuer der Helden.

Wieder waren ſie an mancherlei Ufern und Inſeln
vorübergeſegelt und ſchon erblickten ſie in der Ferne die
heimiſche Küſte des Pelopslandes (Peloponneſos), als ein
grauſamer Nordſturm das Schiff erfaßte und mitten durchs
Libyſche Meer neun volle Tage und Nächte auf ungewi¬
[163] ſſem Pfade dahinjagte. Endlich wurden ſie an das Sand¬
wüſtenufer der afrikaniſchen Syrten verſchlagen, in eine
Bucht, deren Gewäſſer mit dichtem Seegras und trägem
Schaume bedeckt, wie ein Sumpf in ſtarrer Ruhe brü¬
tete. Rings um breiteten ſich Sandflächen aus, auf de¬
nen kein Thier, kein Vogel ſichtbar ward. Hier wurde
das Schiff von der Fluth ſo dicht aufs Geſtade geſchwemmt,
daß der Kiel ganz auf dem Sande aufſaß. Mit Schrecken
ſprangen die Helden aus dem Schiff und mit Entſetzen
erblickten ſie den breiten Erdrücken, der ſich, der Luft
ähnlich, ohne Abwechslung ins Unendliche ausdehnte.
Kein Waſſerquell, kein Pfad, kein Hirtenhof zeigte ſich;
alles ruhte in todtem Schweigen. „Weh uns, wie heißt
dieſes Land? wohin haben uns die Stürme verſchlagen?“
So fragten einander die Genoſſen. „Wären wir doch
lieber mitten in die ſchwimmenden Felſen hineingefahren!
Hätten wir lieber gegen Jupiters Willen etwas unter¬
nommen und wären in einem großen Verſuch unterge¬
gangen!“ „Ja, ſagte der Steuermann Ancäus, die Fluth
hat uns ſitzen laſſen und wird uns nicht wieder abholen.
Alle Hoffnung der Fahrt und Heimkehr iſt abgeſchnitten,
ſteure wer da kann und will!“ Damit ließ er das
Steuerruder aus der Hand gleiten und ſetzte ſich weinend
im Schiffe nieder. Wie Männer in einer verpeſteten
Stadt unthätig, Geſpenſtern gleich, dem Verderben ent¬
gegen ſehen, ſo trauerten die Helden, dem öden Ufer ent¬
lang ſchleichend. Als der Abend gekommen war, gaben
ſie einander traurig die Hände zum Abſchiede, warfen ſich,
ohne Nahrung genommen zu haben, der eine da, der an¬
dere dort im Sande nieder und erwarteten, in ihre Män¬
tel gehüllt, eine ſchlafloſe Nacht hindurch, den Tag und
11 *[164] den Tod. Auf einer andern Seite ſeufzten die phäaki¬
ſchen Jungfrauen, welche Medea vom König Alcinous
zum Geſchenke bekommen hatte, um ihre Herrin gedrängt;
ſie ſtöhnten wie ſterbende Schwäne, ihren letzten Geſang
in die Lüfte verhauchend; und gewiß wären ſie Alle,
Männer und Frauen, untergegangen, ohne daß Jemand
ſie betrauert hätte, wenn ſich nicht die Beherrſcherinnen
Libyens, welche drei Halbgöttinnen waren, ihrer erbarmt
hätten. Dieſe erſchienen, mit Ziegenfellen vom Hals bis
an die Knöchel bedeckt, um die heiße Mittagsſtunde dem
Jaſon und zogen ihm den Mantel, mit dem er ſein Haupt
bedeckt hatte, leiſe von den Schläfen. Erſchrocken ſprang
er auf und wandte den Blick voll Ehrfurcht von den
Göttinnen ab. „Unglücklicher,“ ſprachen ſie, „wir kennen
alle deine Mühſale, aber traure nicht länger! Wenn die
Meeresgöttin den Wagen des Neptunus losgeſchirret hat,
ſo zollet eurer Mutter Dank, die euch lang im Leibe ge¬
tragen hat: dann möget ihr ins glückſelige Griechenland
zurückkehren.“ Die Göttinnen verſchwanden und Jaſon
erzählte ſeinen Genoſſen das tröſtliche, doch räthſelhafte
Orakel. Während Alle ſich noch darüber ſtaunend be¬
ſannen, ereignete ſich ein eben ſo ſeltſames Wunderzei¬
chen. Ein ungeheures Meerpferd, dem von beiden Sei¬
ten goldne Mähnen über den Nacken wallten, ſprang vom
Meer ans Land und ſchüttelte den Waſſerſchaum ab, der
von ihm ſtäubte, wie mit Windesflügeln. Freudig erhub
jetzt der Held Peleus ſeine Stimme und rief: „Die eine
Hälfte des Räthſelwortes iſt erfüllt: die Meeresgöttin
hat ihren Wagen abgeſchirrt, den dieſes Roß gezogen hat,
die Mutter aber, die uns lang im Leibe getragen, das
iſt unſer Schiff Argo; dem ſollen wir jetzt den ſchuldigen
[165] Dank bezahlen. Laßt es uns auf unſere Schultern neh¬
men und über den Sand hintragen, den Spuren des
Meerpferdes nach. Dieſes wird ja nicht in den Boden
ſchlüpfen, ſondern uns den Weg zu irgend einem Stapel¬
platze zeigen.“ Geſagt, gethan. Die Götterſöhne nahmen
das Schiff auf ihre Schultern und ſeufzten zwölf Tage
und zwölf Nächte wandernd unter der Laſt. Immer ging
es über öde waſſerloſe Sandflächen hin; hätte ſie ein
Gott nicht geſtärkt, ſie wären am erſten Tage erlegen.
So aber kamen ſie endlich glücklich an die tritoniſche
Meerbucht; hier legten ſie es von den Schultern nieder,
und ſuchten, vom Durſte gepeinigt, wie wüthende Hunde,
nach einem Quell. Unterwegs begegnete der Sänger
Orpheus den Hesperiden, den lieblich ſingenden Nymphen,
welche auf dem heiligen Felde ſaßen, wo der Drache La¬
don die goldenen Aepfel gehütet hatte. Dieſe flehte der
Sänger an, den Schmachtenden eine Waſſerquelle zu zei¬
gen. Die Nymphen erbarmten ſich und die Vornehmſte
unter ihnen, Aegle, fing an zu erzählen: „Gewiß iſt der
kühne Räuber, der geſtern hier erſchienen iſt, dem Dra¬
chen das Leben und uns die goldenen Aepfel genommen
hat, euch zum Heile erſchienen, ihr Fremdlinge. Es war
ein wilder Mann, ſeine Augen funkelten unter der zorni¬
gen Stirne; eine rohe Löwenhaut hing ihm über die
Schultern, in der Hand trug er einen Oelzweig und die
Pfeile, mit welchen er das Ungeheuer erlegt hat. Auch
er kam durſtig von der Sandwüſte her; da er nirgends
Waſſer fand, ſtieß er mit ſeiner Ferſe an einen Felſen.
Wie von einem Zauberſchlag entfloß dieſem reichliches
Waſſer und der ſchreckliche Mann legte ſich bis an die
Bruſt auf den Boden, ſtemmte ſich mit beiden Händen
[166] an den Felſen und trank nach Herzensluſt, bis er wie
ein geſättigter Stier ſich auf die Erde legte.“ So ſprach
Aegle und zeigte ihnen den Felsquell, um den bald alle
Helden ſich drängten. Der erfriſchende Trunk machte ſie
wieder fröhlich, und: „wahrlich,“ ſprach einer, nachdem er
die brennenden Lippen noch einmal genetzt, „auch getrennt
von uns hat Herkules ſeine Genoſſen noch gerettet!
Möchten wir ihn doch auf unſerer ferneren Wanderung
noch begegnen!“ So machten ſie ſich auf, der eine da,
der andere dorthin, den Helden zu ſuchen. Als ſie wie¬
der zurückgekommen waren, glaubte ihn nur der ſcharf¬
blickende Lynceus von ferne geſehen zu haben, aber nur
etwa ſo wie ein Bauer den Neumond hinter Wolken er¬
blickt zu haben meint, und er verſicherte, daß Niemand
den Schweifenden erreichen werde. Endlich, nachdem ſie
durch unglückliche Zufälle zwei Genoſſen verloren und be¬
trauert hatten, beſtiegen ſie das Schiff wieder. Lange
ſuchten ſie vergebens aus der Tritoniſchen Bucht in die
offene See zu gelangen; der Wind bließ ihnen entgegen
und das Schiff kreuzte unruhig in dem Hafen hin und
her wie eine Schlange, die vergebens aus ihrem Verſteck
hervorzudringen ſtrebt und ziſchend mit funkelnden Augen
ihr Haupt da und dorthin kehrt. Auf den Rath des
Sehers Orpheus ſtiegen ſie daher noch einmal ans Land
und weihten den einheimiſchen Göttern den größten Opfer¬
dreifuß, den ſie im Schiffe beſaßen und den ſie am Ge¬
ſtade zurückließen. Auf dem Rückwege begegnete ihnen
der Meeresgott Triton in Jünglingsgeſtalt. Er hub eine
Erdſcholle vom Boden auf und reichte ſie als Zeichen der
Gaſtfreundſchaft dem Helden Euphemus, der ſie in ſeinem
Buſen barg. „Mich hat der Vater,“ ſprach der Meergott,
[167] „zum Beſchirmer dieſer Meeresgegend geſetzt. Sehet, dort
wo das Waſſer ſchwarz aus der Tiefe ſprudelt, dort iſt
der ſchmale Ausweg aus der Bucht ins offene Meer:
dorthin rudert; guten Wind will ich euch ſchicken. Dann
ſeyd ihr nicht mehr ferne von der Pelopsinſel!“ Luſtig
ſtiegen ſie ins Schiff; Triton nahm den Dreifuß auf die
Schulter und verſchwand damit in den Fluthen. Nun
kamen ſie, nach einer Fahrt von wenigen Tagen, unan¬
gefochten nach der Felſeninſel Karpathos und wollten von
da nach dem herrlichen Eilande Kreta überſchiffen. Der
Wächter dieſer Inſel war aber der ſchreckliche Rieſe Ta¬
los. Er war allein noch übrig aus dem ehernen Geſchlechte
der Menſchen, welche einſt Buchen entſproſſen waren,
und Jupiter hatte ihn Europa als Schwellenhüter ge¬
ſchenkt, daß er dreimal des Tages, mit ſeinen ehernen
Füßen, die Runde auf der Inſel machen ſollte. Dieſer
war am ganzen Leibe von Erz und deßwegen unverwund¬
lich, nur am einen Knöchel hatte er eine fleiſcherne Sehne
und eine Ader, darinn Blut floß. Wer dieſe Stelle wußte
und ſie treffen konnte, durfte gewiß ſeyn ihn zu tödten,
denn er war nicht unſterblich. Als die Helden auf die
Inſel zuruderten, ſtand er auf einer der äußerſten Klip¬
pen mit ſeiner Wacht beſchäftigt; ſobald er ihrer anſichtig
ward, bröckelte er Felsblöcke los und fing an ſie gegen
das herannahende Schiff zu ſchleudern. Erſchrocken ruder¬
ten die Argonauten rückwärts; ſie hätten, obwohl auf's
neue von Durſt geplagt, das ſchöne Kreta auf der Seite
gelaſſen, hätte ſich nicht Medea erhoben und den Er¬
ſchrockenen zugeredet: „Höret mich, Männer! Ich weiß
wie dieſes Ungeheuer zu bändigen iſt. Haltet das Schiff
nur außerhalb der Steinwurfweite!“ Dann hob ſie die
[168] Falten ihres purpurnen Gewandes empor und beſtieg die
Schiffsgänge, über welche Jaſons Hand ſie hinleitete.
Mit ſchauerlicher Zauberformel rief ſie dreimal die le¬
benraubenden Parzen an, die ſchnellen Hunde der Un¬
terwelt, die in der Luft hauſend allenthalben nach den
Lebendigen jagen. Hierauf verzauberte ſie die Augenlie¬
der des ehernen Talos, daß ſie ſich ſchloßen und ſchwarze
Traumbilder vor ſeine Seele traten. Er ſank im Schlafe
zuſammen, und ſtieß den fleiſchernen Knöchel an eine
ſpitze Felſenkante, daß das Blut, wie flüſſiges Blei,
aus der Wunde quoll. Von dem Schmerz aufgeweckt,
verſuchte er es wieder einen Augenblick ſich aufzurichten;
aber, wie eine halb angehauene Fichte der erſte Wind¬
ſtoß erſchüttert und ſie endlich krachend in die Tiefe ſtürzt,
ſo taumelte er noch eine kurze Zeit auf ſeinen Füßen und
ſtürzte dann entſeelt, mit ungeheurem Schall, in die Mee¬
restiefe.


Jetzt konnten die Genoſſen ungefährdet landen, und
erholten ſich auf dem geſegneten Eilande bis zum Mor¬
gen. Kaum über Kreta hinausgeſchifft, erſchreckte ſie ein
neues Abentheuer. Eine entſetzliche Nacht brach ein, die
kein Strahl des Mondes, kein Stern erleuchtete; als
wäre alle Finſterniß aus dem Abgrunde losgelaſſen, ſo
ſchwarz war die Luft, ſie wußten nicht, ob ſie auf dem
Meere, oder in den Fluthen des Tartarus ſchifften. Mit
aufgehobenen Händen flehte Jaſon zu Phöbus Apollo,
ſie aus dieſem gräßlichen Dunkel zu befreien; Angſtthrä¬
nen ſtürzten ihm von den Wangen, und er verſprach dem
Gotte die herrlichſten Weihgeſchenke. Dieſer vernahm
ſein Flehen, er kam vom Olymp hernieder, ſprang auf
einen Meerfels, und den goldenen Bogen hoch in den
[169] Händen haltend, ſchoß er ſilberne Lichtpfeile über die Ge¬
gend hin. In dem plötzlichen Lichtglanze zeigte ſich ihnen
eine kleine Inſel, auf welche ſie zuſteuerten und wo, vor
Anker gelegt, ſie die tröſtliche Morgenröthe erwarteten. Als
ſie wieder im heiterſten Sonnenlichte auf der hohen See da¬
hin fuhren, da gedachte der Held Euphemus eines nächtlichen
Traumes. Ihm hatte gedäucht, die Erdſcholle des Triton,
die er an der Bruſt liegen hatte, beginne ſich zu beleben,
und aus ſeinem Buſen zu rollen, dann geſtalte ſie ſich zu
einem Jungfrauenbilde, das ſprach: „Ich bin die Toch¬
ter des Triton und der Libya, vertraue mich den Töch¬
tern des Nereus an, daß ich im Meere wohne bei
Anaphe; dann werde ich wieder ans Sonnenlicht hervor¬
kommen und deinen Enkeln beſtimmt ſeyn.“ An dieſen
Traum erinnerte ſich jetzt Euphemus, denn Anaphe hatte
die Inſel geheißen, bei der ſie den Morgen erwartet
hatten. Jaſon, dem der Held den Traum erzählte, ver¬
ſtand ſeinen Sinn alsbald: er rieth dem Freunde, die
Erdſcholle, die er auf dem Herzen trug, in die See zu
werfen. Dieſer that es und ſiehe da, vor den Augen
der Schiffenden erwuchs aus dem Meeresgrund eine blü¬
hende Inſel mit fruchtbarem Rücken. Man nannte ſie
Kalliſte, d. h. die Schönſte, und Euphemus bevölkerte
ſie in der Folge mit ſeinen Kindern.


Dies war das letzte Wunder das die Helden erleb¬
ten. Bald darauf nahm ſie die Inſel Aegina auf. Von
dort der Heimat zuſteuernd, lief ohne weiteren Unfall
das Schiff Argo, mit ſeinen Helden, glücklich in den
Hafen von Jolkos ein. Jaſon weihte das Schiff auf
der corinthiſchen Meerenge dem Neptunus, und als es
längſt in Staub zerfallen war, glänzte es, in den Him¬
[170] mel erhoben, am ſüdlichen Firmament als ein leuchten¬
des Geſtirn.

Jaſons Ende.

Jaſon gelangte nicht zu dem Throne von Jolkos,
um deſſentwillen er die gefahrvolle Fahrt beſtanden, Me¬
dea ihrem Vater geraubt, und an ihrem Bruder Abſyrtus
einen ſchändlichen Mord begangen hatte. Er mußte das
Königreich dem Sohne des Pelias, Akaſtus, überlaſſen,
und ſich mit ſeiner jungen Gemahlin nach Corinth flüch¬
ten. Hier wohnte er zehn Jahre mit ihr, und ſie gebar
ihm drei Söhne. Die beiden Aelteſten waren Zwillinge
und hießen Theſalus und Alkimenes; der dritte, Tiſan¬
der, war viel jünger. Während jener Zeit war Medea
nicht nur um ihrer Schönheit willen, ſondern auch wegen
ihres edlen Sinnes und ihrer übrigen Vorzüge, von
ihrem Gatten geliebt und geehrt. Als aber ſpäter die
Zeit die Reize ihrer Geſtalt allmählig vertilgte, wurde
Jaſon von der Schönheit eines jungen Mädchens, der
Tochter des Corintherköniges Kreon, mit Namen Glauce,
entzündet und bethört. Ohne daß ſeine Gattin darum
wußte, warb er um die Jungfrau und nachdem der Va¬
ter eingewilligt und den Tag der Hochzeit beſtimmt hatte,
ſuchte er erſt ſeine Gemahlin zu bewegen, daß ſie frei¬
willig auf die Ehe verzichten ſollte. Er verſicherte ſie
auch, daß er die neue Heirath nicht ſchließen wolle,
weil er ihrer Liebe überdrüſſig ſey, ſondern aus Fürſorge
für ſeine Kinder ſuche er in Verwandtſchaft mit dem ho¬
hen Königshauſe zu treten. Aber Medea ward entrüſtet
[171] über dieſen Antrag, und rief zürnend die Götter an, als
Zeugen ſeiner Schwüre. Jaſon achtetete dieß nicht und
vermählte ſich mit der Königstochter. Verzweifelnd irrte
Medea in dem Pallaſte ihres Gatten umher. „Wehe
mir,“ rief ſie „möchte die Flamme des Himmels auf mein
Haupt hernieder zücken! Was ſoll ich länger leben?
Möchte der Tod ſich meiner erbarmen. O Vater, o Va¬
terſtadt, die ich ſchimpflich verlaſſen habe! O Bruder,
den ich gemordet und deſſen Blut jetzt über mich kommt!
Aber nicht an meinem Gatten Jaſon war es, mich zu
ſtrafen, für ihn habe ich geſündigt! Göttin der Ge¬
rechtigkeit, mögeſt du ihn und ſein junges Kebsweib ver¬
derben!“


Noch jammerte ſie ſo, als Kreon, Jaſons neuer
Schwiegervater, im Pallaſte ihr begegnete. „Du finſter
Blickende, auf deinen Gemahl Ergrimmte,“ redete er ſie
an, „nimm deine Söhne an der Hand und verlaß mir
mein Land auf der Stelle; ich werde nicht nach Hauſe
kehren, ehe ich dich über meine Grenzen gejagt.“ Medea,
ihren Zorn unterdrückend, ſprach mit gefaßter Stimme:
„Warum fürchteſt du ein Uebel von mir, Kreon? Was
haſt du mir Böſes gethan, was wareſt du mir ſchuldig?
Du haſt deine Tochter dem Manne gegeben, der dir ge¬
fallen hat. Was gieng ich dich an? Nur meinen Gat¬
ten haſſe ich, der mir Alles ſchuldig iſt. Doch, es iſt ge¬
ſchehen: mögen ſie als Gatten leben. Mich aber laßt
in dieſem Lande wohnen; denn obgleich ich tief gekränkt
bin, ſo will ich doch ſchweigen und den Mächtigeren mich
unterwerfen. Aber Kreon ſah ihr die Wuth in den Au¬
gen an, er traute ihr nicht, obgleich ſie ſeine Kniee um¬
ſchlang und ihn bei dem Namen der eigenen, ihr ſo ver¬
[172] haßten Tochter Glauce beſchwor. „Geh,“ erwiederte er,
„und befreie mich von Sorgen!“ Da bat ſie nur um ei¬
nen einzigen Tag Aufſchub, um einen Weg zur Flucht
und ein Aſyl für ihre Kinder wählen zu können. „Meine
Seele iſt nicht tyranniſch,“ ſprach da der König, „ſchon
viel thörichte Nachgiebigkeit habe ich aus falſcher Scheu
geübt. Auch jetzt fühle ich, daß ich nicht weiſe handle,
dennoch ſey es dir geſtattet, Weib.“


Als Medea die gewünſchte Friſt erhalten hatte, be¬
mächtigte ſich ihrer der Wahnſinn und ſie ſchritt zur Voll¬
führung einer That, die ihr wohl bisher dunkel im Geiſte
vorgeſchwebt, an deren Möglichkeit ſie jedoch ſelbſt nicht ge¬
glaubt hatte. Dennoch machte ſie vorher einen letzten Verſuch,
ihren Gatten von ſeinem Unrecht und ſeinem Frevel zu über¬
zeugen. Sie trat vor ihn und ſprach zu ihm: „O du ſchlimmſter
aller Männer, du haſt mich verrathen, haſt einen neuen
Ehebund eingegangen, während du doch Kinder haſt. Wä¬
reſt du kinderlos, ſo wollte ich dir verzeihen; du hätteſt
eine Ausrede. So biſt du unentſchuldbar; ich weiß nicht,
meinſt du, die Götter, die damals herrſchten, als du mir
Treue verſpracheſt, regieren nicht mehr, oder es ſeyen
den Menſchen neue Geſetze für ihre Handlungen gegeben
worden, daß du glaubſt meineidig werden zu dürfen?
Sage mir, ich will dich fragen, als wenn du mein Freund
wäreſt: wohin räthſt du mir zu gehen? Schickſt du mich
zurück in meines Vaters Haus, den ich verrathen,
dem ich den Sohn getödtet habe, dir zu lieb? Oder
welche andere Zuflucht weißeſt du für mich? Für¬
wahr, es wird ein herrlicher Ruhm für dich, den Neu¬
vermählten, ſeyn, wenn deine erſte Gattin mit deinen ei¬
genen Söhnen in der Welt betteln geht!“ Doch Jaſon
[173] war verhärtet. Er verſprach ihr, ſie und die Kinder
mit reichlichem Gelde und Briefen an ſeine Gaſtfreunde
verſehen, zu entlaſſen. Sie aber verſchmähte Alles: „Geh,
vermähle dich,“ ſprach ſie, „du wirſt eine Hochzeit feiern,
die dich gereuen wird!“ Als ſie ihren Gemahl verlaſſen
hatte, reuten ſie die letzten Worte wieder, nicht weil ſie
andern Sinnes geworden war, ſondern weil ſie fürchtete,
er möchte ihre Schritte beobachten und ſie an der Aus¬
führung ihres Frevels verhindern. Sie ließ daher um
eine zweite Unterredung mit ihm bitten und ſprach zu ihm
mit veränderter Miene: „Jaſon, verzeih mir, was ich
geſprochen; der blinde Zorn hat mich verführt, ich ſehe
jetzt ein, daß Alles, was du gethan haſt, zu unſerm ei¬
genen Beſten gereichen ſoll. Arm und verbannt ſind wir
hierher gekommen, du willſt durch deine neue Heirath für
dich, für deine Kinder, zuletzt auch für mich ſelbſt ſorgen.
Wenn ſie eine Weile ferne geweſen ſind, wirſt du deine
Söhne zurückberufen, wirſt ſie theilnehmen laſſen an dem
Glücke der Geſchwiſter, die ſie erhalten ſollen. Kommt
herbei, kommt herbei, Kinder, umarmet euren Vater,
verſöhnet euch mit ihm, wie ich mich mit ihm verſöhnet
habe!“ Jaſon glaubte an dieſe Sinnesänderung, und
war hoch erfreut darüber, er verſprach ihr und den
Kindern das Beſte; und Medea fing an, ihn noch
ſicherer zu machen. Sie bat ihn, die Kinder bei ſich
zu behalten, und ſie allein ziehen zu laſſen. Damit die
neue Gattin und ihr Vater dieſes dulde, ließ ſie aus
ihrer Vorrathskammer köſtliche goldene Gewänder holen
und reichte ſie dem Jaſon als Brautgeſchenk für die Kö¬
nigstochter. Nach einigem Bedenken ließ dieſer ſich
überreden und ein Diener ward abgeſandt, die Gaben
[174] der Braut zu bringen. Aber dieſe köſtlichen Kleider wa¬
ren mit Zauberkraft getränkte giftige Gewande, und als
Medea heuchleriſchen Abſchied von ihrem Gatten genom¬
men hatte, harrte ſie von Stunde zu Stunde der Nach¬
richt vom Empfang ihrer Geſchenke, die ein vertrauter
Bote ihr bringen ſollte. Dieſer kam endlich und rief ihr
entgegen: „Steig in dein Schiff, Medea, fliehe! fliehe!
deine Feindin und ihr Vater ſind todt. Als deine Söhne
mit ihrem Vater das Haus der Braut betraten, freuten
wir Diener uns alle, daß die Zwietracht verſchwunden
und die Verſöhnung vollkommen ſey. Die junge Königin
empfing deinen Gatten mit heiterem Blick; als ſie aber
die Kinder ſah, bedeckte ſie ihre Augen, wandte das
Antlitz ab und verabſcheute ihre Gegenwart. Doch Jaſon
beſänftigte ihren Zorn, ſprach ein gutes Wort für dich
und breitete die Geſchenke vor ihr aus. Als ſie die herr¬
lichen Gewande ſah, wurde ihr Herz von der Pracht ge¬
reizt, es wandte ſich und ſie verſprach ihrem Bräutigam
in Alles zu willigen. Als dein Gemahl mit den Söhnen
ſie verlaſſen hatte, griff ſie mit Begierde nach dem
Schmuck, legte den Goldmantel um, ſetzte den goldenen
Kranz ſich ins Haar, und betrachtete ſich vergnügt in einem
hellen Spiegel. Dann durchwandelte ſie die Gemächer
und freute ſich wie ein kindiſches Mädchen ihrer Herr¬
lichkeit. Bald aber wechſelte das Schauſpiel. Mit ver¬
wandelter Farbe, an allen Gliedern zitternd, wankte ſie
rückwärts, und bevor ſie ihren Sitz erreicht hatte, ſtürz¬
te ſie auf den Boden nieder, erbleichte, begann die Au¬
genſterne zu verdrehen und Schaum trat ihr über den
Mund. Wehklagen ertönte in dem Pallaſte, die einen
Diener eilten zu ihrem Vater, die andern zu ihrem künf¬
[175] tigen Gatten. Inzwiſchen flammte der verzauberte Kranz
auf ihrem Haupte in Feuer auf; Gift und Flamme zehr¬
ten an ihr in die Wette und als ihr Vater jammernd
herbeigeſtürzt kam, fand er nur noch den entſtellten Leich¬
nam der Tochter. Er warf ſich in Verzweiflung auf ſie;
von dem Gifte des mörderiſchen Gewandes ergriffen hat
auch er ſein Leben geendet. Von Jaſon weiß ich nichts.“


Die Erzählung dieſer Gräuel, ſtatt die Wuth Me¬
deas zu dämpfen, entflammte ſie vielmehr; und ganz zur
Furie der Rachſucht geworden, rannte ſie fort, ihrem
Gatten und ſich ſelbſt den tödtlichſten Schlag zu verſe¬
tzen. Sie eilte nach der Kammer, wo ihre Söhne ſchlie¬
fen, denn die Nacht war herbeigekommen. „Waffne dich
mein Herz,“ ſprach ſie unterwegs zu ſich ſelber, „was zö¬
gerſt du, das Gräßliche und Nothwendige zu vollbringen?
Vergiß, Unglückliche, daß es deine Kinder ſind, daß du
ſie geboren haſt. Nur dieſe eine Stunde vergiß es!
Nachher beweine ſie dein ganzes Leben lang. Du thuſt
ihnen ſelbſt einen Dienſt. Tödteſt du ſie nicht, ſo ſterben
ſie von einer feindſeligen Hand.“


Als Jaſon in ſein Haus geflogen kam, die Mörde¬
rin ſeiner jungen Braut aufzuſuchen und ſie ſeiner Rache
zu opfern, ſcholl ihm das Jammergeſchrei ſeiner Kinder
entgegen, die unter dem Mordſtahl bluteten; er trat in
die aufgeſtoßene Kammer und fand ſeine Söhne wie
Schuldopfer hingewürgt, Medea aber war nicht zu erbli¬
cken. Als er in Verzweiflung ſein Haus verließ, hörte
er in der Luft ein Geräuſch über ſeinem Haupte. Em¬
porſchauend ward er hier die fürchterliche Mörderin ge¬
wahr, wie ſie auf einem mit Drachen beſpannten Wagen,
den ihre Kunſt herbeigezaubert hatte, durch die Lüfte da¬
[176] vonfuhr, und den Schauplatz ihrer Rache verließ. Ja¬
ſon hatte die Hoffnung verloren, ſie je für ihren Frevel
zu ſtrafen; die Verzweiflung kam über ihn, der Mord
des Abſyrtus wachte wieder auf in ſeiner Seele; er
ſtürzte ſich in ſein Schwerdt und fiel auf der Schwelle
ſeines Hauſes.

[[177]]

Drittes Buch.

Meleager und die Eberjagd. — Tantalus. —
Pelops. — Niobe. — Salmoneus. —


Schwab, das klaſſ. Althertum. I. 12[[178]][[179]]

Meleager und die Eberjagd.

Oeneus, der König von Kalydon, brachte die Erſt¬
linge eines mit beſonderer Fülle geſegneten Jahres den
Göttern dar, der Ceres Feldfrüchte, dem Bacchus Wein,
Oel der Minerva und ſo jeder Gottheit die ihr willkommene
Frucht, nur Diana wurde von ihm vergeſſen und ihr
Altar blieb ohne Weihrauch. Dieß erzürnte die Göttin,
und ſie beſchloß Rache an ihrem Verächter zu nehmen.
Ein verheerender Eber wurde von ihr auf die Fluren
des Königes losgelaſſen. Gluth ſprühten ſeine rothen
Augen, ſein Nacken ſtarrte; gleich Schanzpfählen richte¬
ten ſich ſeine ſtruppigen Borſten auf, aus dem ſchäumen¬
den Rachen ſchoß es ihm wie ein Blitzſtrahl, und ſeine
Hauer waren gleich rieſigen Elephantenzähnen. So ſtampfte
er durch Saaten und Kornfelder hin; Tenne und Scheuer
warteten vergeblich auf die verſprochene Erndte; die
Trauben fraß er mit ſammt den Ranken, die Oliven¬
beeren mit ſammt den Zweigen ab; Schäfer und Schäfer¬
hunde vermochten ihre Heerden, die trotzigſten Stiere ihre
Rinder nicht gegen das Ungeheuer zu vertheidigen. End¬
lich erhub ſich der Sohn des Königes, der herrliche Held
Meleager, und verſammelte Jäger und Hunde, den grau¬
ſamen Eber zu erlegen. Die berühmteſten Helden aus
ganz Griechenland kamen, zu der großen Jagd eingeladen,
unter ihnen auch die heldenmüthige Jungfrau Atalante
12 *[180] aus Arkadien, die Tochter des Jaſion. In einem Walde
ausgeſetzt, von einer Bärin geſäugt, von Jägern gefun¬
den und erzogen, brachte die ſchöne Männerfeindin ihr
Leben im Walde zu und lebte von der Jagd. Alle Män¬
ner wehrte ſie von ſich ab, und zwei Centauren, die ihr
in dieſer Einſamkeit nachſtellten, hatte ſie mit ihren
Pfeilen erlegt. Jetzt lockte ſie die Liebe zur Jagd hervor
in die Gemeinſchaft der Helden. Sie kam, ihr einfaches
Haar in einen einzelnen Knoten gebunden, über den
Schultern hing ihr der elfenbeinerne Köcher, die Linke
hielt den Bogen; ihr Antlitz wäre an Knaben ein Jung¬
ferngeſicht, an Jungfrauen ein Knabengeſicht geweſen.
Als Meleager ſie in ihrer Schönheit erblickte, ſprach er
bei ſich ſelbſt: „Glücklich der Mann, den dieſe würdiget,
ihr Gatte zu ſeyn!“ Mehr zu denken erlaubte ihm die
Zeit nicht, denn die gefährliche Jagd durfte nicht länger
aufgeſchoben werden.


Die Schaar der Jäger ging einem Gehölze mit ur¬
alten Stämmen zu, das, in der Ebene anfangend, ſich
einen Bergesabhang hinanzog. Als die Männer hier an¬
gekommen waren, ſtellten die Einen Netze, die Andern
ließen die Hunde von der Feſſel los, wieder Andere folg¬
ten ſchon der Fährte. Bald gelangte man in ein ab¬
ſchüſſiges Thal, das die geſchwollenen Waldbäche ausge¬
hölt; Binſen, Sumpfgras, Weidengebüſch und Schilfrohr
wucherten unten im Abgrunde. Hier hatte das Schwein
im Verſtecke gelegen und, von den Hunden aufgejagt,
durchbrach es das Gehölz, wie ein Blitzſtrahl die Wetter¬
wolke, und ſtürzte ſich wüthend mitten unter die Feinde.
Die Jünglinge ſchrieen laut auf und hielten ihm die
eiſernen Spitzen ihrer Speere vor; aber der Eber wich
[181] aus und durchbrach eine Koppel von Hunden. Geſchoß
um Geſchoß flog ihm nach, aber die Wunden ſtreiften ihn
nur und vermehrten ſeinen Grimm. Mit funkelndem
Auge und dampfender Bruſt kehrte er um, flog wie ein
vom Wurfgeſchoße geſchleuderter Felsblock auf die rechte
Flanke der Jäger und riß ihrer drei, tödtlich verwundet,
zu Boden. Ein Vierter, es war Neſtor, der nachmals
ſo berühmte Held, rettete ſich auf die Aeſte eines Eich¬
baumes, an deſſen Stamm der Eber grimmig ſeine Hauer
wetzte. Hier hätten ihn die Zwillingsbrüder Caſtor und
Pollux, die hoch auf ſchneeweißen Roſſen ſaßen, mit ihren
Speeren erreicht, wenn das borſtige Thier ſich nicht ins
unzugänglichere Dickicht geflüchtet hätte. Jetzt legte Ata¬
lante einen Pfeil auf ihren Bogen und ſandte ihn dem
Thier in das Gebüſch nach. Das Rohr traf den Eber
unter dem Ohr und zum erſtenmal röthete Blut ſeine
Borſten. Meleager ſah die Wunde zuerſt und zeigte ſie
jubelnd ſeinen Gefährten: „Fürwahr, o Jungfrau,“ rief
er „der Preis der Tapferkeit gebühret dir!“ Da ſchäm¬
ten ſich die Männer, daß ein Weib ihnen den Sieg ſtrei¬
tig machen ſollte, und alle zumal warfen ihre Speere;
aber gerade dieſer Schwarm von Geſchoßen verhinderte die
Würfe, das Thier zu treffen. Mit ſtolzen Worten erhob
jetzt der Arkadier Ancäus die doppelte Streitaxt mit ſeinen
beiden Händen und ſtellte ſich zum Hieb ausholend auf
die Zehen. Aber der Eber ſtieß ihm die beiden Hauer in die
Weichen, ehe er den Streich vollführen konnte, und er ſtürzte
von Blut gebadet, mit entblößten Gedärmen, auf den Boden.
Dann warf Jaſon ſeinen Speer; allein dieſen lenkte der
Zufall in den Nacken einer unſchuldigen Dogge. Endlich
ſchoß Meleager zwei Speere hintereinander ab. Der erſte fuhr
[182] in den Boden, der zweite dem Eber mitten in den Rücken.
Das Thier fing an zu toben und ſich im Kreiſe zu drehen.
Schaum und Blut quoll aus ſeinem Munde, Meleager
verſetzte ihm mit dem Jagdſpieß eine neue Wunde in den
Hals und nun fuhren ihm von allen Seiten die Spieße
in den Leib. Der Eber, weit auf der Erde ausgeſtreckt,
wälzte ſich ſterbend in ſeinem Blute. Meleager ſtemmte
ſeinen Fuß auf den Kopf des Getödteten, ſtreifte mit
Hülfe ſeines Schwertes die borſtige Hülle ſeines Rückens
vom Leibe des Thieres nieder, und reichte ſie mit ſammt
dem abgehauenen Haupte, aus dem die mächtigen Hauer
hervorſchimmerten, der tapfern Arkadierin Atalante. „Nimm
die Beute hin,“ ſprach er, „die von Rechtswegen mir ge¬
hörte; ein Theil des Ruhmes ſoll auch auf dich kommen!“
Dieſe Ehre mißgönnten die Jäger dem Weibe, und rings
in der Schaar erhob ſich ein Gemurmel. Mit geballten
Fäuſten und lauter Stimme traten vor Atalante die
Söhne des Theſtius hin, Meleagers Muttersbrüder. „Auf
der Stelle,“ riefen ſie, „lege die Beute nieder, Weib, und
erſchleiche nicht, was uns zugehört; deine Schönheit
dürfte dir ſonſt wenig helfen, und dein verliebter Gaben¬
ſpender auch nicht!“ Mit dieſen Worten nahmen ſie ihr
das Geſchenk weg und ſprachen dem Helden das Recht
ab, darüber zu verfügen. Dieß ertrug Meleager nicht.
Vor Jähzorn knirſchend ſchrie er: „Ihr Räuber frem¬
den Verdienſtes! lernet von mir, wie weit Drohungen
von Thaten verſchieden ſind!“ Und damit ſtieß er dem
einen, und eh der ſich beſinnen konnte, auch dem andern
Oheim den Stahl in die Bruſt.


Althäa, die Mutter Meleagers, war auf dem Wege
nach dem Göttertempel, um Dankopfer für den Sieg
[183] ihres Sohnes darzubringen, als ſie die Leichen ihrer
Brüder herbeibringen ſah. Sie zerſchlug ſich wehklagend
die Bruſt, eilte in ihren Pallaſt zurück, legte ſtatt der
goldenen Freudengewänder ſchwarze Kleidung an und er¬
füllte die Stadt mit Jammergeſchrei. Aber als ſie er¬
fuhr, daß der Urheber des Mordes ihr eigener Sohn
Meleager ſey, da verſiegten ihre Thränen, ihre Trauer
ward in Mordluſt verwandelt, und ſie ſchien ſich plötzlich
auf etwas zu beſinnen, das ihrem Gedächtniß längſt ent¬
ſchwunden war. Denn als Meleager nur erſt wenige
Tage zählte, da waren die Parzen bei dem Wochenbette
ſeiner Mutter Althäa erſchienen. „Aus deinem Sohne
wird ein tapferer Held,“ verkündigte ihr die erſte; „dein
Sohn wird ein großmüthiger Mann ſeyn,“ ſprach die zweite;
„dein Sohn wird ſo lange leben,“ ſchloß die dritte, „als
der eben jetzt auf dem Herde glühende Brand vom Feuer
nicht verzehrt wird.“ Kaum hatten ſich die Parzen ent¬
fernt, ſo nahm die Mutter das hell auflodernde Brand¬
ſcheit aus dem Feuer, löſchte es in Waſſerfluth, und,
liebevoll für das Leben ihres Sohnes beſorgt, verwahrte
ſie es im geheimſten ihrer Gemächer. Entflammt von
Rache dachte ſie jetzt wieder an dieſes Holz, und eilte in
die Kammer, wo es in einem heimlichen Verſchloſſe ſorg¬
ſam aufbewahrt lag. Sie hieß Kienholz auf Reiſig le¬
gen und fachte einen lodernden Brand an. Dann ergriff
ſie das hervorgeſuchte Holzſcheit. Aber in ihrem Herzen
bekämpfte ſich Mutter und Schweſter, blaſſe Angſt und
glühender Zorn wechſelten auf ihrem Angeſichte, viermal
wollte ſie den Aſt auf die Flammen legen, viermal zog
ſie die Hand zurück. Endlich ſiegte die Schweſterliebe
über das Muttergefühl. „Wendet eure Blicke hierher,“
[184] ſprach ſie, „ihr Strafgöttinnen, zu dieſem Furienopfer!
und ihr, kürzlich geſchiedene Geiſter meiner Brüder, fühlet
was ich für euch thue, ſieget und nehmet als theuer er¬
kauftes Todtengeſchenk die unſelige Frucht meines eigenen
Leibes an! Mir ſelbſt bricht das Herz von Mutterliebe
und bald werde ich dem Troſte, den ich euch ſende, ſelbſt
nachfolgen.“ So ſprach ſie, und mit abgewendetem Blick
und zitternder Hand legte ſie das Holz mitten in die
Flammen hinein.


Meleager, der inzwiſchen auch in die Stadt zurück¬
gekehrt war, und über ſeinem Siege, ſeiner Liebe und
ſeiner Mordthat in wechſelnden Empfindungen brütete,
fühlte plötzlich, ohne zu wiſſen woher, ſeinen innerſten
Leib von einer heimlichen Fiebergluth ergriffen, und ver¬
zehrende Schmerzen warfen ihn auf das Lager. Er be¬
ſiegte ſie mit Heldenkraft; aber es jammerte ihn tief,
eines unrühmlichen und unblutigen Todes ſterben zu
müſſen. Er beneidete die Genoſſen, die unter den Strei¬
chen des Ebers gefallen waren, er rief den Bruder, die
Schweſtern, den greiſen Vater und mit ſtöhnendem
Munde auch die Mutter herbei, die noch immer am
Feuer ſtand und mit ſtarren Augen dem ſich verzehren¬
den Brande zuſah. Der Schmerz ihres Sohnes wuchs
mit dem Feuer, aber als allmählig die Kohle ſich in der
bleichenden Aſche verbarg, erloſch auch ſeine Qual und
er verhauchte ſeinen Geiſt mit dem letzten Funken in
die Luft. Ueber ſeiner Leiche wehklagten Vater und
Schweſtern und ganz Kalydon trauerte, nur die Mutter
war ferne. Den Strick um den Hals gewunden, fand
man ihre Leiche vor dem Herde niedergeſtreckt, auf
welchem die verglommene Aſche des Feuerbrandes ruhte.


[185]

Tantalus.

Tantalus, ein Sohn des Zeus, herrſchte zu Sipy¬
lus in Phrygien, und war außerordentlich reich und be¬
rühmt. Wenn je einen ſterblichen Mann die olympiſchen
Götter geehrt haben, ſo war es dieſer. Seiner hohen
Abſtammung wegen wurde er zu ihrer vertrauten Freund¬
ſchaft erhoben, zuletzt durfte er an der Tafel Jupiters
ſpeiſen, und Alles mit anhören, was die Unſterblichen
unter ſich beſprachen. Aber ſein eitler Menſchengeiſt ver¬
mochte das überirdiſche Glück nicht zu tragen, und er
fing an, mannigfaltig gegen die Götter zu freveln. Er
verrieth den Sterblichen die Geheimniſſe der Götter; er
entwandte von ihrer Tafel Nektar und Ambroſia, und
vertheilte den Raub unter ſeine irdiſchen Genoſſen; er
barg den köſtlichen goldenen Hund, den ein anderer aus
dem Tempel Jupiters zu Kreta geſtohlen hatte, und als
dieſer ihn zurückforderte, läugnete er mit einem Eide ab,
ihn erhalten zu haben. Endlich lud er im Uebermuthe die
Götter wieder zu Gaſte, und um ihre Allwiſſenheit auf
die Probe zu ſetzen, ließ er ihnen ſeinen eigenen Sohn
Pelops ſchlachten und zurichten. Nur Ceres verzehrte von
dem gräßlichen Gericht ein Schulterblatt, die übrigen
Götter aber merkten den Greuel, warfen die zerſtückelten
Glieder des Knaben in einen Keſſel, und die Parce
Klotho zog ihn mit erneuter Schönheit hervor. Anſtatt
der verzehrten Schulter wurde eine elfenbeinerne ein¬
geſetzt.


Jetzt hatte Tantalus das Maaß ſeiner Frevel er¬
füllt und wurde von den Göttern in die Hölle geſtoßen.
[186] Hier wurde er von quälenden Leiden gepeinigt. Er ſtand
mitten in einem Teiche und die Waſſer ſpielten ihm um
das Kinn, dennoch litt er den brennendſten Durſt und
konnte den Trank, der ihm ſo nahe war, niemals er¬
reichen. So oft er ſich bückte, und den Mund gierig
ans Waſſer bringen wollte, entſchwand vor ihm die
Fluth verſiegend, der dunkle Boden erſchien zu ſeinen
Füßen; ein Dämon ſchien den See ausgetrocknet zu ha¬
ben. So litt er zugleich den peinigendſten Hunger. Hin¬
ter ihm ſtrebten am Ufer des Teiches herrliche Frucht¬
bäume empor, und wölbten ihre Aeſte über ſeinem Haupte.
Wenn er ſich emporrichtete, ſo lachten ihm ſaftige Bir¬
nen, rothwangige Aepfel, glühende Granaten, liebliche
Feigen und grüne Olivenbeeren ins Auge; aber ſobald
er hinauf langte, ſie mit ſeiner Hand zu faſſen, ſo riß
ein Sturmwind, der plötzlich angeflogen kam, die Zweige
hoch hinauf zu den Wolken. Zu dieſer Höllenpein ge¬
ſellte ſich beſtändige Todesangſt, denn ein großes Fel¬
ſenſtück hing über ſeinem Haupte in der Luft und drohte
unaufhörlich auf ihn herabzuſtürzen. So ward dem Ver¬
ächter der Götter, dem ruchloſen Tantalus, dreifache
Qual, niemals endend, in der Unterwelt beſchieden.


[187]

Pelops.

So ſchwer der Vater an den Göttern ſich verſün¬
digt hatte, ſo fromm ehrte ſie ſein Sohn Pelops. Er
war nach der Verbannung ſeines Vaters in die Unter¬
welt in einem Kriege mit dem benachbarten Könige
Troja's aus ſeinem phrygiſchen Reiche vertrieben worden,
und wandelte nach Griechenland aus. Eben erſt beklei¬
dete ſich das Kinn des Jünglings mit ſchwärzlicher
Wolle, aber ſchon hatte er ſich im Herzen eine Gattin
auserſehen. Es war dieß die ſchöne Tochter des Königes
von Elis, Oenomaus, mit Namen Hippodamia. Sie war
ein Kampfpreis, der nicht leicht zu erringen war. Das
Orakel hatte nämlich ihrem Vater vorhergeſagt, er werde
ſterben, wenn ſeine Tochter einen Gatten erhielte. De߬
wegen wandte der erſchrockene König alles an, um jeden
Freier von ihr zu entfernen. Er ließ eine Verkündigung
in alle Lande hinausgehen, daß derjenige ſeine Tochter
zur Gemahlin erhalten ſollte, der ihn ſelbſt im Wagen¬
rennen überwinden würde. Wen aber er, der König,
beſiegte, der ſollte ſein Leben laſſen. Der Wettlauf ge¬
ſchah von Piſa aus, nach dem Altare des Neptunus auf der
Meerenge bei Corinth, und die Zeit zur Abfahrt der Wagen
beſtimmte er alſo: Er ſelbſt wollte erſt gemächlich dem
Jupiter einen Widder opfern, während der Freier mit
dem vierſpännigen Wagen ausführe; erſt wenn er das
Opfer beendigt hätte, ſollte Oenomaus den Lauf beginnen
und auf ſeinem von dem Wagenlenker Myrtilus ge¬
leiteten Wagen, mit einem Spieß in der Hand, den
Freier verfolgen. Gelänge es ihm, den vorauseilenden
[188] Wagen einzuholen, ſo ſollte er das Recht haben, den
Freier mit ſeinem Spieße zu durchbohren. Als die vielen
Freier, welche Hippodamia wegen ihrer Schönheit zählte,
dieſes vernahmen, waren ſie alle getroſten Muthes. Sie
hielten den König Oenomaus für einen altersſchwachen
Greis, der, im Bewußtſeyn, mit Jünglingen doch nicht
in die Wette rennen zu können, ihnen abſichtlich einen ſo
großen Vorſprung bewilligte, um ſeine wahrſcheinliche
Niederlage aus dieſer Großmuth erklären zu können. Da¬
her kam einer um den andern nach Elis gezogen, ſtellte
ſich vor dem Könige, und begehrte ſeine Tochter zum
Weibe. Dieſer empfing ſie jedesmal freundlich, überließ
ihnen ein ſchönes Viergeſpann zur Fahrt und ging hin,
dem Jupiter ſeinen Widder zu opfern, wobei er ſich
gar nicht beeilte. Dann erſt beſtieg er einen leichten
Wagen, vor welchen ſeine beiden Roſſe Phylla und Har¬
pinna geſpannt waren, die geſchwinder liefen, als der
Nordwind. Mit ihnen holte ſein Wagenlenker die Freier
jedesmal noch lange vor Ende der Bahn ein, und un¬
verſehens durchbohrte ſie der Speer des grauſamen Kö¬
nigs von hinten. Auf dieſe Art hatte er ſchon mehr
denn zwölf Freier erlegt, denn immer holte er ſie mit ſei¬
nen ſchnellen Pferden ein.


Nun war Pelops vor ſeiner Fahrt nach der Gelieb¬
ten an der Halbinſel, die ſpäter ſeinen Namen führen
ſollte, gelandet. Bald hörte er, was ſich zu Elis mit
den Freiern zutrage. Da trat er nächtlicher Weile
ans Meeresufer, und rief ſeinen Schutzgott, den mäch¬
tigen Dreizackſchwinger Neptunus an, der ihm zu Füßen
aus der Meeresfluth emporrauſchte. „Mächtiger Gott,“
rief Pelops ihn an, „wenn dir ſelbſt die Geſchenke der
[189] Liebesgöttin willkommen ſind, ſo lenke den ehernen Speer
des Oenomaus von mir ab, entſende mich auf dem ſchnell¬
ſten Wagen gen Elis, und führe mich zum Siege. Denn
ſchon hat er dreizehn liebende Männer ins Verderben ge¬
ſtürzt, und noch ſchiebt er die Hochzeit der Tochter auf.
Eine große Gefahr duldet keinen unkriegeriſchen Mann.
Ich bin entſchloſſen, ſie zu beſtehen. Wer doch einmal
ſterben muß, was ſoll der ein namenloſes Alter in Fin¬
ſterniß daſitzend erwarten, alles Edlen untheilhaftig?
Darum will ich den Kampf beſtehen: du gib mir er¬
wünſchten Erfolg!“


So betete Pelops und ſein Flehen war nicht verge¬
bens. Denn abermals rauſchte es in den Waſſern, und
ein ſchimmernder goldner Wagen mit vier pfeilſchnellen
Flügelroſſen ſtieg aus den Wellen empor. Auf ihn ſchwang
ſich Pelops und flog, die Götterpferde nach Gefallen lenkend,
mit dem Wind in die Wette nach Elis. Als Oenomaus
ihn kommen ſah, erſchrack er, denn auf den erſten Blick
erkannte er das göttliche Geſpann des Meergottes. Doch
verweigerte er dem Fremdlinge den Wettkampf nach den
gewohnten Bedingungen nicht; auch verließ er ſich auf
die Wunderkraft ſeiner eigenen Roſſe, die es dem Winde
zuvorthaten. Nachdem die Roſſe des Pelops von der
Reiſe durch die Halbinſel geraſtet, betrat er mit ihnen
die Laufbahn. Schon war er dem Ziele ganz nahe, als
der König, der das Widderopfer wie gewöhnlich verrich¬
tet hatte, mit ſeinen luftigen Roſſen plötzlich ihm auf
den Nacken kam, und ſchon den Speer ſchwang, dem
kühnen Freier den tödtlichen Stoß zu verſetzen. Da fügte
es Neptunus, der den Pelops beſchirmte, daß mitten im
Laufe die Räder des königlichen Wagens aus den Fu¬
[190] gen gingen und dieſer zuſammenbrach. Oenomaus ſtürzte
zu Boden, und gab vom Falle den Geiſt auf. In dem¬
ſelben Augenblicke hielt Pelops mit ſeinem Viergeſpann
am Ziele. Als er hinter ſich blickte, ſah er den Pallaſt
des Königes in Flammen ſtehen; ein Blitzſtrahl hatte
ihn angezündet und zerſtörte ihn von Grund aus, daß
nichts als eine Säule davon ſtehen blieb. Pelops aber
eilte mit ſeinem Flügelgeſpann dem Brennenden zu, und
holte ſich die Braut aus den Flammen.


[191]

Niobe.

Niobe, die Königin von Theben, war auf Vieles
ſtolz. Amphion, ihr Gemahl, hatte von den Muſen die
herrliche Leyer erhalten, auf deren Spiel ſich die Steine
der Thebiſchen Königsburg von ſelbſt zuſammenſetzten; ihr
Ahnherr war Tantalus, der Gaſt der Götter; ſie war
die Gebieterin eines gewaltigen Reiches und ſelbſt voll
Hoheit des Geiſtes und von majeſtätiſcher Schönheit;
nichts aber von allem dieſem ſchmeichelte ihr ſo ſehr, als
die ſtattliche Zahl ihrer vierzehn blühenden Kinder, die zur
einen Hälfte Söhne und zur andern Töchter waren. Auch
hieß Niobe unter allen Müttern die glücklichſte, und ſie
wäre es geweſen, wenn ſie nur ſich ſelbſt nicht dafür ge¬
halten hätte; ſo aber wurde das Bewußtſeyn ihres Glückes
ihr Verderben.


Einſt rief die Seherin Manto, die Tochter des Wahr¬
ſagers Tireſias, von göttlicher Regung angetrieben, mit¬
ten in den Straßen die Frauen Thebens zur Verehrung
Latona's und ihrer Zwillingskinder, Apollo's und Dianens
auf, hieß ſie die Haare mit Lorbeern bekränzen und from¬
mes Gebet unter Weihrauchopfer darbringen. Als nun
die Thebanerinnen zuſammenſtrömten, kam auf einmal
Niobe im Schwarm eines königlichen Gefolges, mit einem
golddurchwirkten Gewande angethan, prunkend einherge¬
rauſcht. Sie ſtrahlte von Schönheit, ſoweit es der Zorn
zuließ, ihr ſchmuckes Haupt bewegte ſich zugleich mit dem
über beide Schultern herabwallenden Haar. So ſtand ſie
in der Mitte der, unter freiem Himmel, mit dem Opfer
beſchäftigten Frauen, ließ die Augen voll Hoheit auf dem
[192] Kreiſe der Verſammelten ruhen und rief: „Seyd ihr nicht
wahnſinnig, Götter zu ehren von denen man euch fabelt,
während vom Himmel begünſtigtere Weſen mitten unter
euch weilen? Wenn ihr der Latona Altäre errichtet, war¬
um bleibt mein göttlicher Name ohne Weihrauch? Iſt
doch mein Vater Tantalus der einzige Sterbliche, der
am Tiſche der Himmliſchen geſeſſen hat, meine Mutter
Dio, die Schweſter der Plejaden, die als leuchtendes
Geſtirn am Himmel glänzen; mein einer Ahn iſt Atlas
der Gewaltige, der das Gewölbe des Himmels auf dem
Nacken trägt; mein anderer Ahn Jupiter, der Vater der
Götter; ſelbſt Phrygiens Völker gehorchen mir, mir und
meinem Gatten iſt die Stadt des Kadmus, ſind die Mauern
unterthan, die ſich dem Saitenſpiel Amphions gefügt ha¬
ben; jeder Theil meines Pallaſtes zeigt mir unermeßliche
Schätze, dazu kommt ein Antliz, wie es einer Göttin
werth iſt, dazu eine Kinderſchaar, wie keine Mutter ſie
aufweiſen kann. Sieben blühende Töchter, ſieben ſtarke
Söhne, bald eben ſo viele Eidame und Schwiegertöch¬
ter. Fraget nun, ob ich auch Grund habe ſtolz zu ſeyn!
waget es noch ferner, mir Latona, die unbekannte Tita¬
nentochter, vorzuziehen, welcher einſt die breite Erde kei¬
nen Raum gegönnt hat, wo ſie dem Jupiter gebären könnte,
bis die ſchwimmende Inſel Delos der Umherſchweifenden
aus Mitleid ihren unbefeſtigten Sitz darbot. Dort wur¬
de ſie Mutter zweier Kinder, die Armſeelige. Das iſt der
ſiebente Theil meiner Mutterfreude! Wer läugnet, daß ich
glücklich bin, wer zweifelt daß ich glücklich bleibe? For¬
tuna hätte viel zu thun, wenn ſie gründlich meinem Beſitze
ſchaden wollte! Nehme ſie mir dies oder jenes, ſelbſt von
der Schaar meiner Gebornen, wann wird je ihr Haufe
[193] zu der armen Zwillingszahl Latoneus herunterſinken.
Darum fort mit den Opfern, heraus aus den Haaren
mit dem Lorbeer! Zerſtreuet euch in eure Häuſer und laßt
euch nicht wieder über ſo thörichtem Beginnen treffen!“


Erſchrocken nahmen die Frauen die Kränze vom
Haupte, ließen die Opfer unvollendet und ſchlichen nach
Hauſe, mit ſtillen Gebeten die gekränkte Gottheit verehrend.


Auf dem Gipfel des deliſchen Berges Cynthus ſtand
mit ihren Zwillingen Latona und ſchaute mit ihrem Göt¬
terauge, was in dem fernen Theben vorging. „Seht,
Kinder; ich, eure Mutter, die auf eure Geburt ſo ſtolz
iſt, die keiner Göttin außer Juno weicht, werde von einer
frechen Sterblichen geſchmäht, ich werde von den alten heiligen
Altären hinweggeſtoßen, wenn ihr mir nicht beiſteht, meine
Kinder! Ja, auch ihr werdet von Niobe beſchimpft, werdet
ihrem Kinderhaufen von ihr nachgeſetzt!“ Latona wollte zu
ihrer Erzählung noch Bitten hinzufügen, aber Phöbus unter¬
brach ſie und ſprach: „Laß die Klage, Mutter, ſie hält die Strafe
nur auf!“ Ihm ſtimmte ſeine Schweſter bei: beide hüllten
ſich in eine Wolkendecke und mit einem raſchen Schwung
durch die Lüfte hatten ſie die Stadt und Burg des Kad¬
mus erreicht. Hier breitete ſich vor den Mauern ein ge¬
räumiges Brachfeld aus, das nicht für die Saat beſtimmt,
ſondern den Wettläufen und Übungen zu Roß und Wa¬
gen gewidmet war. Da beluſtigten ſich eben die ſieben
Söhne Amphions: die einen beſtiegen muthige Roſſe,
die andern erfreuten ſich des Ringſpieles. Der Älteſte,
Ismenos, trieb eben ſein Thier im Viertelstrabe ſicher
im Kreiſe um, den ſchäumenden Rachen ihm bändigend,
als er plötzlich: wehe mir! ausrief, den Zaum aus den
erſchlaffenden Händen fahren ließ, und einen Pfeil mitten
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 13[194] ins Herz geheftet, langſam rechts am Buge des Roſſes
herunterſank. Sein Bruder Sipylus, der ihm zunächſt
ſich tummelte, hatte das Geraſſel des Köchers in den Lüf¬
ten gehört, und floh mit verhängtem Zügel, wie ein
Steuermann vor dem Wetter jedes Lüftchen in den Se¬
geln auffängt, um in den Hafen einzulaufen. Dennoch
holte ihn ein durch die Lüfte ſchwirrender Wurfſpieß ein,
zitternd haftete ihm der Schaft hoch im Genick und das
nackte Eiſen ragte zum Halſe heraus. Ueber die Mähne
des Pferdes am geſtreckten Halſe herab gleitete der tödtlich
Getroffene zu Boden und beſprengte die Erde mit ſeinem
rauchenden Blut. Zwei andere, der eine hieß wie ſein
Großvater, Tantalus, der andere Phädimus, lagen mit¬
einander ringend, in feſter Umſchlingung Bruſt an Bruſt
verſchränkt. Da tönte der Bogen aufs Neue und, wie
ſie vereiniget waren, durchbohrte ſie beide ein Pfeil.
Beide ſeufzten zugleich auf, krümmten die ſchmerzdurch¬
zückten Glieder auf dem Boden, verdrehten die erlö¬
ſchenden Augen und hauchten mit Einem Athem die
Seele im Staub aus. Ein fünfter Sohn, Alphenor,
ſah dieſe fallen: die Bruſt ſich ſchlagend flog er herbei
und wollte die erkalteten Glieder der Brüder durch ſeine
Umarmungen wieder beleben, aber unter dieſem frommen
Geſchäfte ſank auch er dahin, denn Phöbus Apollo ſandte
ihm das tödtliche Eiſen tief in die Herzkammer hinein,
und als er es wieder herauszog, drängte ſich mit dem
Athem das Blut und das Eingeweide des Sterbenden
hervor. Damaſichthon, den ſechsten, einen zarten Jüng¬
ling mit langen Locken, traf ein Pfeil in das Kniege¬
lenke; und während er ſich rückwärts bog, das unerwar¬
tete Geſchoß mit der Hand herauszuziehen, drang ihm ein
[195] anderer Pfeil bis ans Gefieder durch den offenen Mund
hinab in den Hals, und ein Blutſtrahl ſchoß wie ein
Springbrunnen hoch aus dem Schlunde empor. Der
letzte und jüngſte Sohn, der Knabe Ilioneus, der dieß
Alles mit angeſehen hatte, warf ſich auf die Kniee nie¬
der, breitete die Arme aus und fing an zu flehen: „O
all ihr Götter mit einander, verſchonet mich!“ Der
furchtbare Bogenſchütze ſelbſt wurde gerührt, aber der
Pfeil war nicht mehr zurückzurufen. Der Knabe ſank
zuſammen. Doch fiel er an der leichteſten Wunde, die
kaum bis zum Herzen hindurchgedrungen war.


Der Ruf des Unglückes verbreitete ſich bald in die
Stadt. Amphion der Vater, als er die Schreckenskunde
hörte, durchbohrte ſich die Bruſt mit dem Stahl. Der
laute Jammer ſeiner Diener und alles Volkes drang bald
auch in die Frauengemächer. Niobe vermochte lange das
Schreckliche nicht zu faſſen; ſie wollte nicht glauben, daß
die Himmliſchen ſo viel Vorrechte hatten, daß ſie es wag¬
ten, daß ſie es vermöchten. Aber bald konnte ſie nicht
mehr zweifeln. Ach, wie unähnlich war die jetzige Niobe
der vorigen, die eben erſt das Volk von den Altären der
mächtigen Göttin zurückſcheuchte und mit hohem Nacken
durch die Stadt einherſchritt! Jene erſchien auch ihren
liebſten Freunden beneidenswerth, dieſe des Mitleids wür¬
dig ſelbſt dem Feinde! Sie kam herausgeſtürzt auf das
Feld, ſie warf ſich auf die erkalteten Leichname, ſie ver¬
theilte ihre letzten Küſſe an die Söhne, bald an dieſen,
bald an jenen. Dann hub ſie die zerſchlagenen Arme
gen Himmel und rief: „Weide dich nun an meinem
Jammer, ſättige dein grimmiges Herz, du grauſame La¬
13 *[196] tona, der Tod dieſer Sieben wirft mich in die Grube;
triumphire, ſiegende Feindin!“


Jetzt waren auch ihre ſieben Töchter, ſchon in Trauer¬
gewande gekleidet, herbeigekommen und ſtanden mit flie¬
genden Haaren um die gefallenen Brüder her. Ein
Strahl der Schadenfreude zückte bei ihrem Anblick über
Niobe's blaſſes Geſicht. Sie vergaß ſich, warf einen
ſpottenden Blick gen Himmel und ſagte: „Siegerin!
nein, auch in meinem Unglücke bleibt mir mehr, als dir
in deinem Glück. Auch nach ſo vielen Leichen bin ich
noch die Siegerin!“ Kaum hatte ſie's geſprochen, als
man eine Sehne ertönen hörte, wie von einem ſtraff an¬
gezogenen Bogen. Alles erſchrack, nur Niobe bebte nicht,
das Unglück hatte ſie beherzt gemacht. Da fuhr plötzlich
eine der Schweſtern mit der Hand ans Herz; ſie zog
einen Pfeil heraus, der ihr im Innerſten haftete. Ohn¬
mächtig zu Boden geſunken, neigte ſie ihr ſterbendes Ant¬
litz über den nächſtgelegenen Bruder. Eine andere Schwe¬
ſter eilt auf die unglückſelige Mutter zu, ſie zu tröſten;
aber von einer verborgenen Wunde gebeugt, verſtummt
ſie plötzlich. Eine dritte ſinkt im Fliehen zu Boden, an¬
dere fallen, über die ſterbenden Schweſtern hingeneigt.
Nur die letzte war noch übrig, die ſich in den Schooß
der Mutter geflüchtet und an dieſe, von ihrem faltigen
Gewande zugedeckt, ſich kindiſch anſchmiegte. „Nur die
Einzige laßt mir,“ ſchrie Niobe wehklagend zum Himmel,
„nur die Jüngſte von ſo Vielen!“ Aber während ſie
noch flehte, ſtürzte ſchon das Kind aus ihrem Schooße
nieder und einſam ſaß Niobe zwiſchen ihres Gatten, ihrer
Söhne und ihrer Töchter Leichen. Da erſtarrte ſie vor
Gram; kein Lüftchen bewegte das Haar ihres Hauptes;
[197] aus dem Geſichte wich das Blut; die Augen ſtanden un¬
bewegt in den traurigen Wangen; im ganzen Bilde war
kein Leben mehr; die Adern ſtockten mitten im Pulsſchlag,
der Nacken drehte, der Arm regte, der Fuß bewegte ſich
nicht mehr; auch das Innere des Leibes war zum kalten
Felsſtein geworden. Nichts lebte mehr an ihr, als die
Thränen; dieſe rannen unaufhörlich aus den ſteinernen
Augen hervor. Jetzt faßte den Stein eine gewaltige
Windsbraut, führte ihn fort durch die Lüfte und über
das Meer und ſetzte ihn erſt in der alten Heimath Niobe's,
in Lydien, im öden Gebirge, unter den Steinklippen des
Sipylus nieder. Hier haftete Niobe als ein Marmor¬
felſen am Gipfel des Berges, und noch jetzt zerfließt der
Marmor in Thränen.


[198]

Salmoneus.

Salmoneus, der Herrſcher in Elis, war ein reicher,
ungerechter und in ſeinem Herzen übermüthiger Fürſt.
Er hatte eine herrliche Stadt, Salmonea genannt, ge¬
gründet, und ging in ſeinem Stolze ſo weit, daß er von
ſeinen Unterthanen göttliche Ehren und Opfer forderte
und für Jupiter gehalten ſeyn wollte. Als Jupiter durch¬
zog er auch ſein Land und die griechiſchen Völkerſchaften
auf einem Wagen, der dem Wagen des Donnerers gleichen
ſollte. Er ahmte dabei Jupiters Blitz durch emporge¬
worfene Fackeln, ſeinen Donner durch den Hufſchlag wil¬
der Roſſe nach, die er über eherne Brücken trieb. Men¬
ſchen ließ er niedermachen und gab vor, der Blitz habe
ſie getödtet. Jupiter ſah vom Olymp herab das thörichte
Beginnen. Aus dichten Wolken griff er einen ächten
Blitz heraus und ſchleuderte ihn wirbelnd auf den im
wahnſinnigen Uebermuthe dahinfahrenden Sterblichen her¬
unter. Der Donnerſtrahl zerſchmetterte den König und
vertilgte die von ihm erbaute Stadt ſammt allen ihren
Bewohnern.

[[199]]

Viertes Buch.

Aus der Herkulesſage.

Herkules der Neugeborne. — Die Erziehung des Her¬
kules
. — Herkules am Scheidewege. — Des Herkules
erſte Thaten
. — Herkules im Gigantenkampfe. — Her¬
kules und Euryſtheus
. — Die drei erſten Arbeiten des
Herkules
. — Die vierte Arbeit bis zur ſechsten. — Die
ſiebente
, achte, und neunte. — Die drei letzten Arbei¬
ten
. — Herkules und Eurytus. — Herkules bei Adme¬
tus
. — Herkules im Dienſte der Omphale. — Die ſpä¬
tern Heldenthaten des Herkules
. — Herkules und Dea¬
nira
. — Herkules und Neſſus. — Herkules, Jole
und Deanira
. — Sein Ende.


[[200]][[201]]

Herkules der Neugeborne.

Herkules war ein Sohn Jupiters und der Alkmene;
Alkmene eine Enkelin des Perſeus; der Stiefvater des
Herkules hieß Amphitruo, auch er war ein Enkel des
Perſeus und König von Tirynth, hatte jedoch dieſe Stadt
verlaſſen, um in Theben zu wohnen. Juno, die Gemah¬
lin Jupiters, haßte ihre Nebenbuhlerin Alkmene und gönnte
ihr den Sohn nicht, von deſſen Zukunft Jupiter den
Göttern ſelbſt Großes verkündet hatte. Als daher Alk¬
mene den Herkules geboren, trug ſie ihn, aus Furcht vor
der Göttermutter, aus dem Pallaſte und ſetzte ihn an ei¬
nem Platze aus, der noch in ſpäten Zeiten das Herkules¬
feld hieß. Hier wäre das Kind ohne Zweifel verſchmach¬
tet, wenn nicht ein wunderbarer Zufall ſeine Feindin
Juno ſelbſt, von Minerva begleitet, des Weges geführt
hätte. Minerva betrachtete die ſchöne Geſtalt des Kindes
mit Verwunderung, erbarmte ſich ſein und bewog die Be¬
gleiterin, dem Kleinen ihre göttliche Bruſt zu reichen.
Aber der Knabe ſog viel kräftiger an der Bruſt, als
ſein Alter erwarten ließ; Juno empfand Schmerzen und
warf das Kind unwillig wieder zu Boden. Jetzt hob
Minerva daſſelbe voll Mitleid wieder auf, trug es in
die nahe Stadt und brachte es der Königin Alkmene als
ein armes Findelkind, das ſie aus Barmherzigkeit aufzu¬
ziehen bat. So war die leibliche Mutter, aus Angſt vor
[202] der Stiefmutter, bereit geweſen, die Pflicht der natürli¬
chen Liebe verläugnend, ihr Kind umkommen zu laſſen;
und die Stiefmutter, die von natürlichem Haſſe gegen
daſſelbe erfüllt iſt, muß, ohne es zu wiſſen, ihren Feind
vom Tode erretten. Ja noch mehr. Herkules hatte nur
ein paar Züge an Juno's Bruſt gethan: aber die weni¬
gen Tropfen Göttermilch hatten genügt, ihm Unſterblich¬
keit einzuflößen.


Alkmene hatte indeſſen ihr Kind auf den erſten
Blick erkannt und es freudig in die Wiege gelegt. Aber
auch Juno hatte erfahren, wer an ihrer Bruſt gelegen
und wie leichtſinnig ſie den Augenblick der Rache vor¬
übergelaſſen habe. Sogleich ſchickte ſie zwei entſetzliche
Schlangen aus, die, das Kind zu tödten beſtimmt, durch
die offenen Pforten in Alkmene's Schlafgemach geſchli¬
chen kamen und, ehe die Dienerinnen des Gemaches und
die ſchlummernde Mutter ſelbſt es inne wurden, ſich an
der Wiege empor ringelten und den Hals des Knaben
zu umſtricken anfingen. Der Knabe erwachte mit einem
Schrei und richtete ſeinen Kopf auf. Das ungewohnte
Halsband war ihm unbequem. Da gab er die erſte Probe
ſeiner Götterkraft: er ergriff mit jeder Hand eine Schlange
am Genick und erſtickte die beiden mit einem einzigen
Druck. Die Wärterinnen hatten die Schlangen jetzt
wohl bemerkt; aber unbezwingliche Furcht hielt ſie ferne.
Alkmene war auf den Schrei ihres Kindes erwacht; mit
bloßen Füßen ſprang ſie aus dem Bett und ſtürzte Hülfe
rufend auf die Schlangen zu, die ſie ſchon von den Hän¬
den ihres Kindes erwürgt fand. Jetzt traten auch die
Fürſten der Thebaner, durch den Hülferuf aufgeſchreckt,
bewaffnet in das Schlafgemach; der König Amphitruo,
[203] der den Stiefſohn als ein Geſchenk Jupiters betrachtete
und lieb hatte, eilte erſchrocken herbei, das bloße Schwerdt
in der Hand. Da ſtand er vor der Wiege, ſah und hörte
was geſchehen war; Luſt, mit Entſetzen gemiſcht, durch¬
bebte ihn über der unerhörten Kraft des kaum gebornen
Sohnes. Er betrachtete die That als ein großes Wun¬
derzeichen und rief den Propheten des großen Jupiter,
den Wahrſager Tireſias, herbei. Dieſer weiſſagte dem
Könige, der Königin und allen Anweſenden den Lebens¬
lauf des Knaben: wie viele Ungeheuer auf Erden, wie
viele Ungethüme des Meeres er hinwegräumen, wie er
mit den Giganten ſelbſt im Kampfe zuſammenſtoßen und
ſie beſiegen werde und wie ihn am Ende ſeines mühe¬
vollen Erdenlebens das ewige Leben bei den Göttern
und Hebe, die ewige Jugend, als himmliſche Gemahlin
erwarte.

Die Erziehung des Herkules.

Als Amphitruo das hohe Geſchick des Knaben aus
dem Munde des Sehers vernahm, beſchloß er, ihm eine
würdige Heldenerziehung zu geben, und Heroen aller Ge¬
genden verſammelten ſich, den jungen Herkules in allen
Wiſſenſchaften zu unterrichten. Sein Vater ſelbſt unter¬
wies ihn in der Kunſt einen Wagen zu regieren; den
Bogen ſpannen und mit Pfeilen zielen, lehrte ihn Eury¬
tus; die Künſte der Ringer und Fauſtkämpfer Harpaly¬
kus. Eumolpus lehrte ihn den Geſang und den zierlichen
Schlag der Leyer; Kaſtor, der Jupiterszwilling, die
Kunſt ſchwerbewaffnet und geordnet im Felde zu fechten.
[204] Linus aber, der greiſe Sohn Apollo's, lehrte ihn die Buch¬
ſtabenſchrift. Herkules zeigte ſich als gelehrigen Knaben;
aber Härte konnte er nicht ertragen; der alte Linus war
ein grämlicher Lehrer. Als er ihn einſt mit ungerechten
Schlägen zurecht wies, griff der Knabe nach ſeinem
Zitherſpiel und warf es dem Hofmeiſter an den Kopf,
daß dieſer todt zu Boden fiel. Herkules, obgleich voll
Reue, wurde dieſer Mordthat halber vor Gericht gefor¬
dert; aber der berühmte, gerechte Richter Rhadamanthys
ſprach ihn frei und ſtellte das Geſetz auf, daß wenn ein
Todtſchlag Folge der Selbſtvertheidigung geweſen, Blut¬
rache nicht ſtattfinde. Doch fürchtete Amphitruo, ſein
überkräftiger Sohn möchte ſich wieder Aehnliches zu Schul¬
den kommen laſſen, und ſchickte ihn deswegen auf das
Land zu ſeinen Ochſenheerden. Hier wuchs er auf und
that ſich durch Größe und Stärke vor Allen hervor. Als
ein Sohn des Zeus war er furchtbar anzuſehen. Er war
vier Ellen lang, und Feuerglanz entſtrömte ſeinen Augen.
Nie fehlte er im Schießen des Pfeils und im Werfen
des Spießes. Als er achtzehn Jahre alt geworden, war
er der ſchönſte und ſtärkſte Mann Griechenlands und es
ſollte ſich jetzt entſcheiden, ob er dieſe Kraft zum Guten
oder zum Schlimmen anwenden werde.

Herkules am Scheidewege.

Herkules ſelbſt begab ſich um dieſe Zeit von Hirten
und Herden weg in eine einſame Gegend, und überlegte
bei ſich, welche Lebensbahn er einſchlagen ſollte. Als er
ſo ſinnend da ſaß, ſah er auf einmal zwei Frauen von
[205] hoher Geſtalt auf ſich zu kommen. Die eine zeigte in
ihrem ganzen Weſen Anſtand und Adel, ihren Leib ſchmückte
Reinlichkeit, ihr Blick war beſcheiden, ihre Haltung ſitt¬
ſam, fleckenlos weiß ihr Gewand. Die Andere war wohl¬
genährt und von ſchwellender Fülle, das Weiß und Roth
ihrer Haut durch Schminke über die natürliche Farbe ge¬
hoben, ihre Haltung ſo, daß ſie aufrechter ſchien als von
Natur, ihr Auge war weit geöffnet und ihr Anzug ſo ge¬
wählt, daß ihre Reize ſoviel möglich durchſchimmerten.
Sie warf feurige Blicke auf ſich ſelbſt, ſah dann wieder
um ſich: ob nicht auch andere ſie erblickten; und oft
ſchaute ſie nach ihrem eigenen Schatten. Als Beide nä¬
her kamen, ging die Erſtere ruhig ihren Gang fort, die
Andere aber, um ihr zuvorzukommen, lief auf den Jüng¬
ling zu und redete ihn an: »Herkules! ich ſehe, daß du
unſchlüſſig biſt, welchen Weg durch das Leben du einſchla¬
gen ſollſt. Willſt du nun mich zur Freundin wählen,
ſo werde ich dich die angenehmſte und gemächlichſte Straße
führen: keine Luſt ſollſt du ungekoſtet laſſen, jede Unan¬
nehmlichkeit ſollſt du vermeiden. Um Kriege und Ge¬
ſchäfte haſt du dich nicht zu bekümmern, darfſt nur dar¬
auf bedacht ſeyn, mit den köſtlichſten Speiſen und Ge¬
tränken dich zu laben, deine Augen, Ohren und übri¬
gen Sinne durch die angenehmſten Empfindungen zu er¬
götzen, auf einem weichen Lager zu ſchlafen und den Ge¬
nuß aller dieſer Dinge dir ohne Mühe und Arbeit zu ver¬
ſchaffen. Sollteſt du jemals um die Mittel dazu verle¬
gen ſeyn, ſo fürchte nicht, daß ich dir körperliche oder
geiſtige Anſtrengungen aufbürden werde, im Gegentheil,
du wirſt nur die Früchte fremden Fleißes zu genießen
und nichts auszuſchlagen haben, was dir Gewinn bringen
[206] kann. Denn meinen Freunden gebe ich das Recht Alles
zu benützen.“


Als Herkules dieſe lockenden Anerbietungen hörte,
ſprach er verwundert: „O Weib, wie iſt denn aber dein
Name?“ „Meine Freunde,“ antwortete ſie, „nennen mich
die Glückſeligkeit; meine Feinde hingegen, die mich he¬
rabſetzen wollen, geben mir den Namen der Liederlichkeit.“


Mittlerweile war auch die andre Frau herzugetre¬
ten. „Auch ich,“ ſagte ſie, „komme zu dir, lieber Herkules,
denn ich kenne deine Eltern, deine Anlagen und deine
Erziehung. Dieß Alles gibt mir die Hoffnung, du wür¬
deſt, wenn du meine Bahn einſchlagen wollteſt, ein Mei¬
ſter in allem Guten und Großen werden. Doch will ich
dir keine Genüſſe vorſpiegeln, will dir die Sache dar¬
ſtellen, wie die Götter ſie gewollt haben. Wiſſe alſo, daß
von allem was gut und wünſchenswerth iſt, die Götter
den Menſchen nichts ohne Arbeit und Mühe gewähren.
Wünſcheſt du, daß die Götter dir gnädig ſeyen, ſo mußt
du die Götter verehren; willſt du, daß deine Freunde dich
lieben, ſo mußt du deinen Freunden nützlich werden;
ſtrebſt du von einem Staate geehrt zu werden, ſo mußt
du ihm Dienſte leiſten; willſt du, daß ganz Griechenland
dich um deiner Tugend willen bewundere, ſo mußt du
Griechenlands Wohlthäter werden; willſt du erndten, ſo
mußt du ſäen; willſt du kriegen und ſiegen, ſo mußt du
die Kriegskunſt erlernen; willſt du deinen Körper in der
Gewalt haben, ſo mußt du ihn durch Arbeit und Schweiß
abhärten.“ Hier fiel ihr die Liederlichkeit in die Rede.
„Siehſt du wohl, lieber Herkules“, ſprach ſie, „was für ei¬
nen langen mühſeligen Weg dich dieſes Weib zur Zu¬
friedenheit führt? Ich hingegen werde dich auf dem kür¬
[207] zeſten und bequemſten Pfade zur Seligkeit leiten.“ —
„Elende,“ erwiederte die Tugend, „wie kannſt du etwas
Gutes beſitzen? oder welches Vergnügen kennſt du, die du
jeder Luſt durch Sättigung zuvorkommſt? Du ißeſt, ehe
dich hungert, und trinkeſt, ehe dich dürſtet. Um die Eßluſt
zu reizen, ſuchſt du Köche auf, um mit Luſt zu trinken,
ſchaffſt du dir koſtbare Weine an und des Sommers
gehſt du umher und ſucheſt nach Schnee; kein Bett kann
dir weichlich genug ſeyn, deine Freunde läßeſt du die
Nächte durchpraſſen und den beſten Theil des Tages ver¬
ſchlafen: darum hüpfen ſie auch ſorgenlos und geputzt
durch die Jugend dahin, und ſchleppen ſich mühſelig und
im Schmutze durch das Alter, beſchämt über das was
ſie gethan, und faſt erliegend unter der Laſt deſſen, was ſie
thun müſſen. Und du ſelbſt, obwohl unſterblich, biſt gleich¬
wohl von den Göttern verſtoßen und von guten Menſchen
verachtet. Was dem Ohre am lieblichſten klingt, dein
eigenes Lob, haſt du nie gehört; was das Auge mehr
als Alles erfreut, ein eigenes gutes Werk, haſt du nie
geſehen. — Ich hingegen habe mit den Göttern, habe mit
allen guten Menſchen Verkehr. An mir haben die Künſt¬
ler eine willkommene Gehülfin, an mir die Hausväter
eine treue Wächterin, an mir hat das Geſinde einen
liebreichen Beiſtand. Ich bin eine redliche Theilnehmerin
an den Geſchäften des Friedens, eine zuverläßige Mit¬
kämpferin im Kriege, die treueſte Genoſſin der Freund¬
ſchaft. Speiſe, Trank und Schlaf ſchmeckt meinen Freun¬
den beſſer als den Trägen. Die Jüngeren freuen ſich
des Beifalls der Alten, die Aelteren der Ehre bei den
Jungen; mit Vergnügen erinnern ſie ſich an ihre frühe¬
ren Handlungen und fühlen ſich bei ihrem jetzigen Thun

[208] glücklich, durch mich ſind ſie geliebt von den Göttern,
geliebt von den Freunden, geachtet vom Vaterland. Und
kommt das Ende, ſo liegen ſie nicht ruhmlos in Vergeſſen¬
heit begraben, ſondern, gefeiert von der Nachwelt, blühen
ſie fort im Angedenken aller Zeiten. Zu ſolchem Leben,
Herkules, entſchließe dich, und vor dir liegt das ſeligſte
Loos.“

Des Herkules erſte Thaten.

Die Geſtalten waren verſchwunden und Herkules
wieder allein. Er war entſchloßen, den Weg der Tugend
zu gehen. Auch fand er bald Gelegenheit, etwas Gutes
zu thun. Griechenland war damals noch voll von Wäl¬
dern und Sümpfen, von grimmigen Löwen, wüthenden
Ebern und andern Ungeheuern durchſtreift. Das Land
von dieſen Unthieren zu ſäubern und von den Räubern
zu befreien, die dem Wanderer in den Einöden auflauer¬
ten, war der alten Helden größtes Verdienſt. Auch dem
Herkules war dieſer Beruf angewieſen. Zu den Seinigen
zurückgekehrt, hörte er, daß auf dem Berge Eithäron, an
deſſen Fuße die Heerden des Königs Amphitruo weide¬
ten, ein entſetzlicher Löwe hauſe. Der junge Held war,
nach den Worten, die er ſo eben gehört, bald entſchloß
ſen. Er ſtieg bewaffnet hinauf ins wilde Waldgebirge,
bezwang den Löwen, warf ſeine Haut um ſich und ſetzte
den Rachen als Helm auf.


Während er von dieſer Jagd heimkehrte, begegneten
ihm Herolde des Minyerköniges Erginus, welche einen
ſchimpflichen und ungerechten Jahrestribut von den The¬
[209] banern in Empfang nehmen ſollten. Herkules, der ſich
von der Tugend zum Anwalt aller Unterdrückten geweiht
fühlte, ward mit den Boten, die ſich allerhand Mishand¬
lungen des Landes erlaubt hatten, bald fertig und ſchickte
ſie, mit Stricken um den Nacken, verſtümmelt ihrem Kö¬
nige zurück. Erginus verlangte die Auslieferung des Thä¬
ters, und Kreon, der König der Thebaner, aus Furcht
vor der drohenden Gewalt, war geneigt, ſeinen Willen
zu thun. Da beredete Herkules eine Menge muthiger Jüng¬
linge, mit ihm dem Feinde entgegen zu gehen. Nun war
aber in keinem Bürgerhauſe eine Waffe zu finden, denn
die Minyer hatten die ganze Stadt entwaffnet, damit
den Thebanern kein Gedanke an einen Aufſtand kommen
ſollte. Da rief Minerva den Herkules in ihren Tempel
und rüſtete ihn mit ihren eigenen Waffen aus, die Jüng¬
linge aber griffen zu den in den Tempeln aufgehängten
Waffenrüſtungen, welche die Vorfahren erbeutet und den
Göttern geweiht hatten. So ausgerüſtet zog er mit ſei¬
ner kleinen Mannſchaft den herannahenden Minyern bis
zu einem Engpaſſe entgegen. Hier konnte den Feind die
Größe ſeiner Kriegsmacht nichts nützen: Erginus ſelbſt
fiel in der Schlacht und faſt ſein ganzes Heer wurde
aufgerieben. Aber in dem Gefechte war auch Amphitruo,
des Herkules Stiefvater, der wacker mit gekämpft hatte,
umgekommen. Herkules rückte nach der Schlacht ſchnell
gegen Orchomenos, die Hauptſtadt der Minyer, vor, drang
zu den Thoren ein, verbrannte ihre Königsburg und zer¬
ſtörte die Stadt.


Ganz Griechenland bewunderte die außerordentliche
That, und der Thebanerkönig Kreon, das Verdienſt des
Jünglings zu ehren, gab ihm ſeine Tochter Megara zur
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 14[210] Ehe, die dem Helden drei Söhne gebar. Seine Mutter
Alkmene aber vermählte ſich zum zweitenmale mit dem
gerechten Richter Rhadamanthys. Die Götter ſelbſt be¬
ſchenkten den ſiegreichen Halbgott: Merkurius gab ihm
ein Schwerdt, Apoll Pfeile, Vulkanus einen goldenen
Köcher, Minerva einen Waffenrock.

Herkules im Gigantenkampfe.

Der Held fand bald eine Gelegenheit, den Göttern
für ſo große Auszeichnungen einen glänzenden Dank ab¬
zuſtatten. Die Giganten, Rieſen mit ſchrecklichen Geſich¬
tern, langen Haaren und Bärten, geſchuppten Dra¬
chenſchwänzen ſtatt der Füße, Ungeheuer, welche die
Gäa, oder Erde, dem Uranus, dem Himmel, geboren,
wurden von ihrer Mutter gegen Jupiter, den neuen
Weltbeherrſcher, aufgewiegelt, weil dieſer ihre ältern
Söhne, die Titanen, in den Tartarus verſtoßen hatte.
Sie brachen aus dem Erebus, (der Unterwelt) auf dem
weiten Gefilde von Phlegra in Theſſalien hervor. Aus
Furcht vor ihrem Anblick erblaßten die Geſtirne und
Phöbus drehte den Sonnenwagen um. „Gehet hin, und
rächet mich und die alten Götterkinder“, ſprach die
Mutter Erde. „An Prometheus frißt der Adler, an Ti¬
tyos zehrt der Geier, Atlas muß den Himmel tragen, die
Titanen liegen in Banden. Geht, rächt, rettet ſie.
Braucht meine eigenen Glieder, die Berge, zu Stufen,
zu Waffen! Erſteiget die geſtirnten Burgen! Du, Ty¬
phous, reiß dem Gewaltherrſcher Scepter und Blitz aus
der Hand; Enceladus, du bemächtige dich des Meeres
[211] und verjage den Neptunus! Rhökus ſoll dem Sonnen¬
gotte die Zügel entreiſſen, Porphyrion das Orakel zu
Delphi erobern!“ Die Rieſen jubelten bei dieſen Worten
auf, als hätten ſie den Sieg ſchon errungen, als ſchlepp¬
ten ſie ſchon den Neptunus oder den Mars im Triumphe
daher, und zögen den Apollo am herrlichen Lockenhaar;
der eine nannte ſchon Venus ſein Weib, ein andrer
wollte Diana, ein dritter Minerva freien. So zogen ſie
den theſſaliſchen Bergen zu, um von dort aus den Him¬
mel zu ſtürmen.


Indeſſen rief Iris, die Götterbotin, alle Himmliſchen
zuſammen, alle Götter, die in Waſſer und Flüſſen woh¬
nen; ſelbſt die Manen aus der Unterwelt rief ſie herauf;
Proſerpina verließ ihr ſchattiges Reich, und ihr Gemahl,
der König der Schweigenden, fuhr mit ſeinen lichtſcheuen
Roſſen zum ſtrahlenden Olympus empor. Wie in einer
belagerten Stadt die Bewohner von allen Seiten zuſammen¬
laufen, ihre Burg zu ſchirmen, ſo kamen die vielgeſtalteten
Gottheiten am Vaterheerde zuſammen. „Verſammelte Göt¬
ter,“ redete ſie Jupiter an, „ihr ſehet, wie die Mutter Erde
mit einer neuen Brut ſich gegen uns verſchworen hat. Auf,
und ſendet ihr ſo viele Leichen hinunter, als ſie uns Söhne
herauf ſchickt!“ Als der Göttervater ausgeſprochen, ertönte
die Wetterpoſaune vom Himmel, und Gäa drunten antwor¬
tete mit einem donnernden Erdbeben. Die Natur gerieth
ln Verwirrung, wie bei der erſten Schöpfung, denn die
Giganten rißen einen Berg nach dem andern aus ſeinen
Wurzeln, ſchleppten den Oſſa, den Pelion, den Oeta,
den Athos herbei, brachen den Rhodope mit der Hälfte
des Hebrusquelles ab, und auf dieſer Leiter von Gebir¬
gen zum Götterſitz emporgeklommen, fingen ſie an, mit
14 *[212] Feuerbränden von Eichen und ungeheuren Felſenſtücken,
den Olymp zu ſtürmen.


Nun war den Göttern ein Orakelſpruch ertheilt wor¬
den, daß von den Himmliſchen Keiner der Giganten ver¬
nichtet werden könnte, und dieſe nur dann ſterben würden,
wenn ein Sterblicher mitkämpfte. Gäa hatte dieß in
Erfahrung gebracht, und ſuchte deßwegen nach einem
Arzneimittel, das ihre Söhne, auch gegenüber von
Sterblichen, unverletzlich machte. Auch war wirklich ein
ſolches Kraut gewachſen: aber Jupiter kam ihr zuvor;
er verbot der Morgenröthe, dem Mond und der Sonne,
zu ſcheinen, und während Gäa in der Finſterniß herum¬
ſuchte, ſchnitt er die Arzneikräuter eilig ſelbſt ab, und
ließ ſeinen Sohn Herkules durch Minerva zur Theilnahme
am Kampfe auffordern.


Auf dem Olympus war inzwiſchen der Streit ſchon
entbrannt. Mars hatte ſeinen Kriegswagen mit den wiehern¬
den Roſſen mitten in die dichteſte Schaar der heranſtürzenden
Feinde gelenkt. Sein goldner Schild brannte heller, als Feuer,
ſchimmernd flatterte die Mähne ſeines Helmes. Im Kampf¬
getümmel durchbohrte er den Giganten Pelorus, deſſen
Füße zwei lebendige Schlangen waren. Dann fuhr er über
die ſich krümmenden Glieder des Gefallenen zermalmend
mit ſeinem Wagen hin; aber erſt bei des ſterblichen Her¬
kules Anblick, der eben die letzte Stufe des Olymps er¬
ſtiegen hatte, hauchte das Ungeheuer ſeine drei Seelen
aus. Herkules ſah ſich auf dem Schlachtfeld um, und
erkohr ſich ein Ziel ſeines Bogens: ſein Pfeilſchuß ſtreckte den
Alcioneus nieder, der alsbald in die Tiefe ſtürzte, aber ſobald
er ſeinen Heimathboden berührt hatte, mit erneuter Lebens¬
kraft ſich wieder erhob. Auf den Rath der Minerva ſtieg
[213] auch Herkules hinab, und ſchleppte ihn über die Gränze
ſeines Geburtslandes hinaus; und ſo wie der Rieſe auf
fremder Erde angekommen war, entfuhr ihm der Athem.


Jetzt ging der Gigant Porphyrion in drohender
Stellung auf Herkules und Juno zugleich los, um ein¬
zeln mit ihnen zu kämpfen. Aber Zeus flößte ihm ſchnell
ein Verlangen ein, das himmliſche Antlitz der Göttin zu
ſchauen, und während er an Juno's umhüllendem Schleier
zerrte, traf ihn Jupiter mit dem Donner, und Herkules
tödtete ihn vollends mit ſeinem Pfeile. Bald rannte aus
der Schlachtreihe der Giganten Ephialtes mit funkelnden
Rieſenaugen hervor. „Das ſind helle Zielſcheiben für unſre
Pfeile!“ ſprach lachend Herkules zu dem neben ihm kämpfen¬
den Phöbus Apollo, und nun ſchoß ihm der Gott das
linke, und der Halbgott das rechte Auge aus dem Kopf.
Den Eurytus ſchlug Dionyſos (Bacchus) mit ſeinem Thyr¬
ſusſtabe nieder; ein Hagel glühender Eiſenſchlacken aus
Vulkans Hand warf den Klytius zu Boden; auf den flie¬
henden Enceladus ſchleuderte Pallas Athene die Inſel
Sicilien; der Rieſe Polybotes, von Neptunus über das
Meer verfolgt, flüchtete ſich nach Kos, aber der Meer¬
gott riß ein Stück dieſer Inſel ab, und bedeckte ihn da¬
mit. Merkur, den Helm des Pluto auf dem Kopfe,
erſchlug den Hippolytus, zwei Andere trafen der Parcen
eherne Keulen. Die Uebrigen ſchmetterte Zeus mit ſeinem
Donner nieder, und Herkules erſchoß ſie mit ſeinen Pfeilen.


Für dieſe That wurde dem Halbgott hohe Gunſt von
den Himmliſchen zu Theil. Zeus nannte diejenigen unter
den Göttern, welche den Kampf mit ausfechten geholfen,
Olympier, um durch dieſen Ehrennamen die Tapfern von
den Feigen zu unterſcheiden. Dieſer Benennung würdigte
[214] er nun auch zwei Söhne ſterblicher Weiber, den Dionyſos
und den Herkules.

Herkules und Euryſtheus.

Jupiter, vor Herkules Geburt, hatte im Rathe der
Götter erklärt, der erſte Perſeusenkel, welcher geboren
werden würde, ſollte der Beherrſcher aller übrigen Nach¬
kommen des Perſeus werden. Dieſe Ehre war ſeinem
und Alkmenens Sohne zugedacht. Aber Juno's Hinter¬
liſt, welche dieſes Glück dem Sohne der Nebenbuhlerin
nicht gönnte, kam ihm zuvor und ließ den Euryſtheus,
der auch ein Enkel des Perſeus war, obwohl er ſpäter
als Herkules zur Welt kommen ſollte, früher geboren
werden. Dadurch war Euryſtheus König zu Mycene im
Argiverlande, und der ſpäter geborene Herkules ihm un¬
terworfen. Jener ſah mit Beſorgniß den ſteigenden Ruhm
ſeines jungen Verwandten und berief ihn, als ſeinen Un¬
terthan, zu ſich, um ihm verſchiedene Arbeiten aufzutra¬
gen. Da Herkules nicht gehorchte, ſo ließ Jupiter ſelbſt,
der ſeinem Rathſchluſſe nicht zuwider handeln wollte,
ſeinem Sohne befehlen, dem Argiverkönige ſeine Dienſte
zu widmen. Aber der Halbgott entſchloß ſich ungerne,
der Diener eines Sterblichen zu ſeyn; er ging nach
Delphi und befragte das Orakel darüber. Dieſes gab
ihm zur Antwort: die von Euryſtheus erſchlichene Ober¬
herrſchaft ſey von den Göttern dahin gemildert, daß Her¬
kules zehn Arbeiten, welche Jener ihm auflegen würde,
zu vollbringen habe. Wenn Solches geſchehen ſey, ſollte
er der Unſterblichkeit theilhaftig werden.


[215]

Herkules fiel hierüber in tiefe Schwermuth: einem
Geringeren zu dienen, widerſtrebte ſeinem Selbſtgefühl
und däuchte ihm unter ſeiner Würde; aber Zeus dem
Vater nicht zu gehorchen, erſchien ihm unheilbringend und
unmöglich zugleich. Dieſen Augenblick erſah ſich Juno,
aus deren Seele die Verdienſte des Herkules um die Göt¬
ter den Haß nicht zu tilgen vermocht hatten, und ver¬
wandelte ſeinen düſtern Unmuth in wilde Raſerei. Er
kam ſo ganz von Sinnen, daß er ſeinen geliebten Vetter
Jolaus ermorden wollte, und als dieſer entfloh, erſchoß
er ſeine eigenen Kinder, die ihm Megara geboren hatte,
im Wahne, ſein Bogen ziele nach Giganten. Es währte
lange, bis er von dieſem Wahnſinne wieder frei wurde;
als er zur Erkenntniß ſeines Irrthums kam, bekümmerte
er ſich tief über ſein ſchweres Unglück, verſchloß ſich in
ſein Haus, und vermied allen Verkehr mit den Menſchen.
Als endlich die Zeit ſeinen Kummer linderte, entſchloß er
ſich, die Aufträge des Euryſtheus zu übernehmen und kam
zu dieſem nach Tirynth, das auch zu deſſen Königreiche
gehörte.

Die drei erſten Arbeiten des Herkules.

Die erſte Arbeit, welche dieſer König ihm auferlegte,
beſtand darin, daß Herkules ihm das Fell des nemäiſchen
Löwen herbeibringen ſollte. Dieſes Ungeheuer hauſte auf
dem Peloponnes, in den Wäldern zwiſchen Kleonä und
Nemea in der Landſchaft Argolis. Der Löwe konnte mit
keinen menſchlichen Waffen verwundet werden. Die Ei¬
nen ſagten, er ſey ein Sohn des Rieſen Typhon und der
[216] Schlange Echidna, die Andern, er ſey vom Mond auf
die Erde herabgefallen. Alſo zog Herkules gegen den
Löwen aus und kam auf ſeiner Fahrt nach Kleonä, wo
er von einem armen Tagelöhner, Namens Molorchus, gaſt¬
freundlich aufgenommen wurde. Er traf dieſen an, wie
er eben dem Jupiter ein Opferthier ſchlachten wollte. „Gu¬
ter Mann,“ ſprach Herkules, „bewahre dein Thier noch drei¬
ßig Tage am Leben: komme ich bis dahin glücklich von der
Jagd zurück, ſo magſt du es Zeus dem Retter ſchlachten;
erliege ich aber, ſo ſollst du es mir ſelbſt zum Todten¬
opfer bringen, als einem zur Unſterblichkeit eingegange¬
nen Helden.“ So zog Herkules weiter, den Köcher auf
dem Rücken, den Bogen in der einen Hand, in der an¬
dern eine Keule aus dem Stamme eines wilden Oel¬
baumes, den er ſelbſt auf dem Helikon angetroffen und
mit ſammt den Wurzeln ausgeriſſen hatte. Als er in
den Wald von Nemea kam, ließ Herkules ſeine Augen
nach allen Seiten ſchweifen, um das reißende Thier zu
entdecken, ehe er von ihm erblickt würde. Es war Mit¬
tag und nirgends konnte er die Spur des Löwen bemer¬
ken, nirgends den Pfad zu ſeinem Lager erkunden, denn
keinen Menſchen traf er auf dem Felde bei den Stieren
oder im Walde bei den Bäumen an: Alle hielt die Furcht
in ihre fernen Gehöfte verſchloſſen. Den ganzen Nachmit¬
tag durchſtreifte er den dichtbelaubten Hain, entſchloſſen,
ſeine Kraft zu erproben, ſobald er des Ungeheuers anſich¬
tig würde. Endlich gegen Abend kam der Löwe auf ei¬
nem Waldwege gelaufen, um vom Fang in ſeinen Erd¬
ſpalt zurückzukehren: er war von Fleiſch und Blut ge¬
ſättigt, Kopf, Mähne und Bruſt troffen von Mord, mit
der Zunge leckte er ſich das Kinn. Der Held, der ihn
[217] von ferne kommen ſah, rettete ſich in einen dichten Wald¬
buſch, wartete bis der Löwe näher kam und ſchoß ihm
dann einen Pfeil in die Flanken zwiſchen Rippen und
Hüfte. Aber das Geſchoß drang nicht ins Fleiſch, es
prallte wie von einem Steine ab und flog zurück auf
den mooſigen Waldboden. Das Thier hob ſeinen zur
Erde gekehrten blutigen Kopf empor, ließ die Augen
forſchend nach allen Seiten rollen und im aufgeſperrten
Rachen die entſetzlichen Zähne ſehen. So ſtreckte es dem
Halbgotte die Bruſt entgegen und dieſer ſandte ſchnell ei¬
nen zweiten Pfeil ab, um ihn mitten in den Sitz des
Athems zu treffen; aber auch dießmal drang das Geſchoß
nicht bis unter die Haut, ſondern prallte von der Bruſt
ab und fiel zu den Füßen des Ungethüms nieder. Her¬
kules griff eben zum dritten Pfeile, als der Löwe, die
Augen ſeitwärts drehend, ihn erblickte; er zog ſeinen lan¬
gen Schweif an ſich bis zu den hintern Kniekehlen, ſein
ganzer Nacken ſchwoll von Zorn auf, unter Murren
ſträubte ſich ſeine Mähne, ſein Rücken wurde krumm, wie
ein Bogen. Er ſann auf Kampf und ging mit einem
Sprung auf ſeinen Feind los: Herkules aber warf ſeine
Pfeile aus der Hand und ſeine eigene Löwenhaut vom
Rücken, mit der Rechten ſchwang er über dem Haupte
des Thieres die Keule und verſetzte ihm einen Schlag auf
den Nacken, daß er mitten im Sprunge wieder zu Bo¬
den ſtürzte und auf zitternden Füßen zu ſtehen kam, mit
dem Kopfe wackelnd. Eh er wieder aufathmen konnte,
kam ihm Herkules zuvor; er warf auch noch Bogen und
Köcher zu Boden, um ganz ungehindert zu ſeyn, nahte
dem Unthier von hinten, ſchlang die Arme um ſeinen
Nacken und ſchnürte ihm die Kehle zu, bis es erſtickte,
[218] und ſeine grauenvolle Seele zum Hades zurückſandte.
Lange verſuchte er vergebens, die Haut des Gefallenen
abzuweiden, ſie wich keinem Eiſen, keinem Steine. End¬
lich kam ihm in den Sinn, ſie mit den Klauen des Thiers
ſelbſt abzuziehen, was auch ſogleich gelang. Später ver¬
fertigte er ſich aus dieſem herrlichen Löwenfell einen Pan¬
zer und aus dem Rachen einen neuen Helm; für jetzt
aber nahm er Kleid und Waffen, in denen er gekommen
war, wieder zu ſich und machte ſich, das Fell des ne¬
meiſchen Löwen über den Arm gehängt, auf den Rückweg
nach Tirynth. Als der König Euryſtheus ihn mit der
Hülle des gräßlichen Thieres daherkommen ſah, gerieth
er über die göttliche Kraft des Helden in ſolche Angſt,
daß er in einen ehernen Topf kroch. Auch ließ er fort¬
hin den Herkules nicht mehr unter ſeine Augen kommen,
ſondern ihm ſeine Befehle nur außerhalb der Mauern
durch Kopreus, einen Sohn des Pelops, zufertigen.


Die zweite Arbeit des Helden war, die Hydra zu
erlegen, die ebenfalls eine Tochter des Typhon und
der Echidna war. Dieſe, zu Argolis, im Sumpfe von
Lerna aufgewachſen, kam aufs Land heraus, zerriß die
Herden und verwüſtete das Feld. Die Hyder war un¬
mäßig groß, eine Schlange mit neun Häuptern, von de¬
nen acht ſterblich, das in der Mitte ſtehende aber unſterb¬
lich war. Herkules ging auch dieſem Kampfe muthig
entgegen: er beſtieg ſofort einen Wagen; ſein geliebter
Neffe Iolaus, der Sohn ſeines Stiefbruders Iphikles,
der lange Zeit ſein unzertrennlicher Gefährte blieb, ſetzte
ſich als Roſſelenker an ſeine Seite, und ſo ging es im
Fluge Lerna zu. Endlich wurde die Hyder auf einem
Hügel bei den Quellen der Amymone ſichtbar, wo ſich
[219] ihre Höhle befand. Hier ließ Jolaus die Pferde halten;
Herkules ſprang vom Wagen und zwang durch Schüſſe
mit brennenden Pfeilen die vielköpfige Schlange, ihren
Schlupfwinkel zu verlaſſen. Sie kam ziſchend hervor und
ihre neun Hälſe ſchwankten aufgerichtet auf dem Leibe,
wie die Aeſte eines Baumes im Sturm. Herkules ging
unerſchrocken auf ſie zu, packte ſie kräftig und hielt ſie
feſt. Sie aber umſchlang einen ſeiner Füße, ohne ſich
auf weitere Gegenwehr einzulaſſen. Nun fing er an mit
einem Sichelſchwerte ihr die Köpfe abzuſchlagen. Aber
er konnte nicht zum Ziele kommen. War ein Haupt ab¬
geſchlagen, ſo wuchſen deren zwei hervor. Zugleich kam
der Hyder ein Rieſenkrebs zu Hülfe, der den Helden
empfindlich in den Fuß kneipte. Den tödtete er jedoch
mit ſeiner Keule und rief dann den Jolaus zu Hülfe.
Dieſer hatte ſchon eine Fackel gerüſtet, er zündete damit
einen Theil des nahen Waldes an, und mit den Bränden
überfuhr er die neu wachſenden Häupter der Schlange
bei ihrem erſten Emporkeimen und hinderte ſie ſo, hervor¬
zutreiben. Auf dieſe Weiſe wurde der Held der empor¬
wachſenden Köpfe Meiſter und ſchlug nun der Hyder auch
das unſterbliche Haupt ab; dieſes begrub er am Wege
und wälzte einen ſchweren Stein darüber. Den Rumpf
der Hyder ſpaltete er in zwei Theile, ſeine Pfeile aber
tauchte er in ihr Blut, das giftig war. Seitdem ver¬
ſetzte des Helden Geſchoß unheilbare Wunden.


Der dritte Auftrag des Euryſtheus war, die Hirſch¬
kuh Cerynitis lebendig zu fangen; dieß war ein herrli¬
ches Thier, hatte goldene Geweihe und eherne Füße und
weidete auf einem Hügel Arkadiens. Sie war eine der
fünf Hindinnen geweſen, an welchen die Göttin Diana
[220] ihre erſte Jagdprobe abgelegt hatte. Dieſe allein von
den fünfen hatte ſie wieder in die Wälder laufen laſſen,
weil es vom Schickſal beſchloſſen war, daß Herkules ſich
einmal daran müde jagen ſollte. Ein ganzes Jahr ver¬
folgte er ſie, kam auf dieſer Jagd zu den Hyperboreern
und an die Quellen des Iſterfluſſes, und holte die Hin¬
din endlich am Fluſſe Ladon, unweit der Stadt Oenon,
am artemiſiſchen Vorgebirge ein. Doch wußte er des
Thieres nicht auf andere Weiſe Meiſter zu werden, als
daß er es durch einen Pfeilſchuß lähmte und dann auf
ſeinen Schultern durch Arkadien trug. Hier begegnete
ihm die Göttin Artemis (Diana) mit Apoll, ſchalt ihn, daß
er das Thier, das ihr geheiligt war, habe tödten wollen,
und machte Miene ihm die Beute zu entreißen. „Nicht
Muthwille hat mich bewogen, große Göttin,“ ſprach Her¬
kules zu ſeiner Rechtfertigung, „die Nothwendigkeit hat
mich gezwungen ſo zu thun, wie könnte ich ſonſt vor
Euryſtheus beſtehen?“ So beſänftigte er den Zorn der
Göttin und brachte das Thier lebendig nach Mycene.

Die vierte Arbeit des Herkules bis zur ſechſten.

Sofort ging es an die vierte Unternehmung. Sie
beſtand darin, den erymanthiſchen Eber, der, gleichfalls
der Diana geheiligt, die Gegend des Berges Erymanthus
verwüſtete, lebendig nach Mycene zu liefern. Auf ſeiner
Wanderung nach dieſem Abentheuer kehrte Herkules un¬
terwegs bei Pholus, dem Sohne des Silenus, ein. Die¬
ſer, der wie alle Centauren halb Menſch halb Roß war,
empfing ſeinen Gaſt ſehr freundlich und ſetzte ihm das
[221] Fleiſch gebraten vor, während er ſelbſt es roh verzehrte.
Aber Herkules begehrte zu der feinen Mahlzeit auch ei¬
nen guten Trunk. „Lieber Gaſt,“ ſprach Pholus, „es
liegt wohl ein Faß in meinem Keller, dieſes aber ge¬
hört allen Centauren gemeinſchaftlich zu, und ich trage
Bedenken, es öffnen zu laſſen, weil ich weiß, wie wenig
die Centauren nach Gäſten fragen.“ „Oeffne es nur gu¬
ten Muths,“ erwiederte Herkules, „ich verſpreche dir,
dich gegen alle ihre Anfälle zu vertheidigen; mich dür¬
ſtet!“ Es hatte aber dieſes Faß Bacchus, der Gott des
Weines, ſelbſt einem Centauren mit dem Befehle überge¬
ben, daſſelbe nicht eher zu eröffnen, als bis nach vier
Menſchenaltern Herkules in dieſer Gegend einkehren würde.
So ging denn Pholus in den Keller; kaum aber hatte
er das Faß eröffnet, ſo rochen die Centauren den Duft
des ſtarken alten Weines und umringten, haufenweiſe her¬
beiſtrömend, mit Felsſtücken und Fichtenſtämmen bewaffnet,
die Höhle des Pholus. Die erſten, die es wagten einzu¬
dringen, jagte Herkules mit geſchleuderten Feuerbränden zu¬
rück; die übrigen verfolgte er mit Pfeilſchüſſen bis nach
Malea, wo der gute Centaur Chiron, des Herkules alter
Freund, wohnte. Zu dieſem flüchteten ſeine Stammesbrü¬
der. Aber Herkules hatte, als ſie eben mit ihm zuſam¬
mentrafen, auf ſie mit dem Bogen gezielt und ſchoß ei¬
nen Pfeil ab, der durch den Arm eines andern Centau¬
ren dringend, unglücklicherweiſe in das Knie Chirons
fuhr, und dort ſtecken blieb. Jetzt erſt erkannte Herkules
den Freund ſeiner früheren Tage, lief bekümmert hinzu,
zog den Pfeil heraus, und legte ein Heilmittel auf, das
der arzneikundige Chiron ſelbſt hergegeben hatte. Aber die
Wunde, vom Gifte der Hyder durchdrungen, war unheilbar;
[222] Chiron ließ ſich in ſeine Höhle bringen und wünſchte hier in
den Armen ſeines Freundes zu ſterben. Vergeblicher Wunſch!
Der Arme hatte nicht daran gedacht, daß er zu ſeiner Qual
unſterblich ſey. Herkules nahm von dem Gequälten unter
vielen Thränen Abſchied und verſprach ihm, es koſte was
es wolle, den Tod, den Erlöſer, zu ſenden. Wir wiſſen,
daß er Wort gehalten hat. Als Herkules von der Ver¬
folgung der übrigen Centauren in ſeines Freundes Höhle
zurückkehrte, fand er Pholus, ſeinen liebreichen Wirth,
auch todt. Dieſer hatte aus einem Centaurenleichnam
den Todespfeil gezogen; während er ſich nun wunderte,
wie ein ſo kleines Ding ſo große Geſchöpfe hatte nieder¬
werfen können, entglitt das vergiftete Geſchoß ſeiner
Hand, fuhr ihm in den Fuß und tödtete ihn auf der
Stelle. Herkules war ſehr betrübt, er beſtattete ihn ehren¬
voll, indem er ihn unter den Berg legte, der ſeitdem
Pholoë genannt ward. Dann ging er weiter, den Eber
zu jagen, er trieb denſelben mit Geſchrei aus dem Dickicht
des Waldes heraus, verfolgte ihn ins tiefe Schneefeld,
fing hier das erſchöpfte Thier mit einem Stricke und brach¬
te es, wie ihm befohlen war, lebendig nach Mycene.


Darauf ſchickte ihn der König Euryſtheus zur fünf¬
ten Arbeit fort, die eines Helden wenig würdig war. Er
ſollte den Viehhof des Augias in einem einzigen Tage aus¬
miſten. Augias war König in Elis und hatte eine Menge
Viehherden. Sein Vieh ſtand nach Art der Alten in ei¬
ner großen Verzäunung vor dem Pallaſte. Dreitauſend
Rinder waren da geraume Zeit geſtanden und ſo hatte
ſich ſeit vielen Jahren eine unendliche Menge Miſt an¬
gehäuft, den nun Herkules zur Schmach, und, was un¬
möglich ſchien, in einem einzigen Tage hinaus ſchaffen ſollte.


[223]

Als der Held vor den König Augias trat, und ohne
etwas von dem Auftrage des Euryſtheus zu erwähnen, ſich
zu dem genannten Dienſte erbot, maß dieſer die herrliche
Geſtalt in der Löwenhaut und konnte kaum das Lachen
unterdrücken, wenn er dachte, daß einen ſo edlen Krieger
nach ſo gemeinem Knechtsdienſte gelüſten könne. Indeſ¬
ſen dachte er bei ſich: der Eigennutz hat ſchon manchen
wackern Mann verführt; es mag ſein, daß er ſich an mir
bereichern will. Das wird ihm wenig helfen. Ich darf
ihm immerhin einen großen Lohn verſprechen, wenn er
mir den ganzen Stall ausmiſtet, denn er wird in dem
einen Tage wenig genug hinaustragen. Darum ſprach
er getroſt: „Höre, Fremdling, wenn du das kannſt, und
mir an einem Tage all den Miſt herausſchaffeſt, ſo will
ich dir den zehnten Theil meines ganzen Viehſtandes zur
Belohnung überlaſſen.“ Herkules ging die Bedingung ein,
und der König dachte nun nicht anders, als daß er zu
ſchaufeln anfangen würde. Herkules aber, nachdem er
zuvor den Sohn des Augias, Phyleus, zum Zeugen je¬
nes Vertrages genommen hatte, riß den Grund des Vieh¬
hofs auf der einen Seite auf, leitete die nicht weit da¬
von fließenden Ströme Alphus und Penus durch einen
Kanal herzu, und ließ ſie den Miſt wegſpülen und durch
eine andere Oeffnung wieder ausſtrömen. So vollzog er
einen ſchmachvollen Auftrag, ohne zu einer Handlung ſich zu
erniedrigen, die eines Unſterblichen unwürdig geweſen
wäre. Als aber Augias erfuhr, daß dieß von Herkules
aus Auftrag des Euryſtheus geſchehen ſey, verweigerte er
den Lohn und läugnete geradezu, ihn verſprochen zu haben;
doch erklärte er ſich bereit, die Streitſache einem richter¬
lichen Spruche anheim zu ſtellen. Als die Richter bei¬
[224] ſammen ſaßen, das Urtheil zu fällen, trat Phyleus, von
Herkules aufgefordert, auf, zeugte gegen ſeinen eigenen
Vater und erklärte, daß dieſer allerdings über einen Lohn
mit Herkules übereingekommen ſey. Augias wartete den
Spruch nicht ab, er ergrimmte und befahl dem Sohne wie
dem Fremdling, ſein Reich auf der Stelle zu verlaſſen.


Herkules kehrte nun unter neuen Abentheuern zu
Euryſtheus zurück. Dieſer aber wollte die eben vollbrachte
Arbeit nicht gültig ſein laſſen, weil Herkules Lohn dafür
gefordert habe. Dennoch ſchickte er ihn ſogleich wieder
auf ein ſechstes Abentheuer aus: und gab ihm auf, die
Stymphaliden zu verjagen. Dieß waren ungeheure Raub¬
vögel, ſo groß wie Kraniche, mit eiſernen Flügeln, Schnä¬
beln und Klauen verſehen. Sie hausten um den See
Stymphalis in Arkadien und beſaßen die Macht, ihre
Federn wie Pfeile abzudrücken und mit ihren Schnäbeln
ſelbſt eherne Panzer zu durchbrechen; dadurch richteten
ſie in der Umgegend unter Menſchen und Vieh große
Verwüſtungen an, und wir kennen ſie ſchon vom Ar¬
gonautenzuge her. Herkules, des Wanderns gewohnt,
langte nach kurzer Reiſe bey dem See an, der, von ei¬
nem großen Gehölze dicht umſchattet, ruhte. In die¬
ſen Wald hatte ſich eben eine unermeßliche Schaar je¬
ner Vögel geflüchtet, aus Furcht, von den Wölfen ge¬
raubt zu werden. Herkules ſtand rathlos da, als er die
ungeheure Menge erblickte, und nicht wußte, wie er über
ſo viele Feinde Meiſter werden ſollte. Auf einmal fühlte
er einen leichten Schlag auf der Schulter; hinter ſich
blickend ward er Minerven's Rieſenerſcheinung gewahr,
die ihm zwei mächtige eherne Klappern in die Hände gab,
welche Vulkanus ihr verfertigt hatte; ſie bedeutete ihm,
[225] dieſe gegen die Stymphaliden anzuwenden, und verſchwand
wieder. Herkules beſtieg nun eine Anhöhe in der Nähe
des Sees und ſchreckte die Vögel, indem er die Klappern
zuſammenſchlug. Dieſe hielten das gellende Getöſe nicht
aus, ſondern flogen furchtſam aus dem Walde hervor.
Darauf griff Herkules zum Bogen, legte Pfeil um Pfeil
an und ſchoß ihrer viele im Fluge weg. Die andern
verließen die Gegend und kamen nicht wieder.

Die ſiebente, achte und neunte Arbeit des Herkules.

Der König Minos in Kreta hatte dem Gotte Po¬
ſeidon (Neptun) verſprochen, ihm zu opfern, was zuerſt
aus dem Meere auftauchen würde, denn Minos hatte be¬
hauptet, daß er kein Thier beſitze, das würdig ſey, zu
einem ſo hohen Opfer zu dienen. Darum ließ der Gott
einen ausnehmend ſchönen Ochſen aus dem Meere auf¬
ſteigen; den König aber verleitete die herrliche Geſtalt
des Stieres, der ſich ſeinen Blicken darbot, denſelben
heimlich unter ſeine Herden zu ſtecken und dem Poſeidon
einen andern als Opfer unterzuſchieben. Hierüber er¬
zürnt, hatte der Merrgott zur Strafe den Stier raſend
werden laſſen und dieſer richtete nun auf der Inſel
Kreta große Verwüſtungen an. Dieſen Stier zu bändi¬
gen und vor Euryſtheus zu bringen, wurde dem Herkules
als ſiebente Arbeit aufgetragen. Als er mit ſeinem An¬
ſinnen nach Kreta und vor Minos kam, war dieſer nicht
wenig erfreut über die Ausſicht, den Verderber der In¬
ſel los zu werden, ja er half ihm ſelbſt das wüthende
Thier einfangen und die Heldenkraft des Herkules bän¬
Schwab, das klaſſ. Alterthum I. 15[226] digte den raſenden Ochſen ſo gründlich, daß, um den
Stier nach dem Peloponneſe zu ſchaffen, er ſich von dem¬
ſelben auf dem ganzen Wege nach der See wie von einem
Schiffe tragen ließ. Mit dieſer Arbeit war Euryſtheus
zufrieden, ließ jedoch das Thier, nachdem er es eine kurze
Weile mit Wohlgefallen betrachtet, ſofort wieder frei.
Als der Stier nicht mehr im Banne des Herkules war,
kehrte ſeine alte Raſerei zurück, er durchirrte ganz La¬
konien und Arkadien, ſtreifte über den Iſthmus nach
Marathon in Attica und verheerte hier das Land wie
vordem auf der Inſel Kreta. Erſt dem Theſeus gelang
es ſpäter, Meiſter über ihn zu werden.


Als achte Arbeit trug nun ſein Vetter dem Herkules
auf, die Stuten des Thraciers Diomedes nach Mycene
zu bringen. Dieſer war ein Sohn des Mars, und Kö¬
nig der Bistonen, eines ſehr kriegeriſchen Volkes. Er be¬
ſaß Stuten, die ſo wild und ſtark waren, daß man ſie
an eherne Krippen und mit eiſernen Ketten band. Ihr
Futter beſtand nicht aus Haber, ſondern die Fremdlinge,
welche das Unglück hatten, in die Stadt des Königes zu
kommen, wurden ihnen vorgeworfen, und das Fleiſch der¬
ſelben diente den Roſſen zur Nahrung. Als Herkules ankam,
war ſein Erſtes, den unmenſchlichen König ſelbſt zu faſ¬
ſen, und ihn ſeinen eigenen Stuten vorzuwerfen, nachdem
er die bei den Krippen aufgeſtellten Wächter übermannt
hatte. Durch dieſe Speiſe wurden die Thiere zahm, und
er trieb ſie nun ans Geſtade des Meeres. Aber die Bis¬
tonen kamen unter Waffen hinter ihm her, daß Herkules
ſich umwenden und gegen ſie kämpfen mußte. Er gab
die Stuten ſeinem Liebling und Begleiter Abderus, dem
Sohne Merkurs, zu bewachen. Als Herkules fort war,
[227] kam die Stuten wieder ein Gelüſte nach Menſchenfleiſch
an, und Herkules fand, als er die Biſtonen in die
Flucht geſchlagen hatte und zurückgekehrt war, ſeinen
Freund von den Stuten zerriſſen. Er betrauerte den Ge¬
tödteten und gründete ihm zu Ehren eine Stadt ſeines
Namens. Dann bändigte er die Stuten wieder, und ge¬
langte glücklich mit ihnen zu Euryſtheus. Dieſer weihte
die Pferde der Juno. Ihre Nachkommenſchaft dauerte
noch lange fort, ja der König Alexander von Macedo¬
nien ritt noch auf einem Abkömmling derſelben. Nachdem
Herkules dieſe Arbeit ausgeführt, ſchiffte er ſich mit dem
Heere des Jaſon, der das goldne Vließ holen ſollte, nach
Kolchis ein, wovon wir ſchon erzählt haben.


Von langer Irrfahrt zurückgekehrt, unternahm der
Held den Zug gegen die Amazonen, um das neunte
Abentheuer zu beſtehen, und das Wehrgehenk der Ama¬
zone Hippolyta dem Euryſtheus zu bringen. Die Ama¬
zonen bewohnten die Gegend um den Fluß Thermodon
in Pontus, und waren ein großes Frauenvolk, das
einzig Männerwerk trieb. Von ihren Kindern erzogen
ſie nur diejenigen, die weiblichen Geſchlechts waren. In
Schaaren vereinigt, zogen ſie zu Kriegen aus. Hippolyta,
ihre Königin, trug als Zeichen ihrer Herrſcherwürde den
genannten Gürtel, den ſie vom Kriegsgotte ſelbſt zum
Geſchenk erhalten hatte. Herkules ſammelte zu ſeinem Zuge
freiwillige Kampfgenoſſen auf einem Schiffe, fuhr nach
mancherlei Ereigniſſen ins ſchwarze Meer, und lief end¬
lich in die Mündung des Fluſſes Thermodon und in den
Hafen der Amazonenſtadt Themiscyra ein. Hier kam ihm
die Königin der Amazonen entgegen. Das herrliche An¬
ſehen des Helden flößte ihr Hochachtung ein, und als ſie
15 *[228] die Abſicht ſeines Kommens erkundet, verſprach ſie ihm
das Wehrgehenk. Aber Juno, die unverſöhnliche Feindin
des Herkules, nahm die Geſtalt einer Amazone an,
miſchte ſich unter die Menge der übrigen, und breitete
das Gerücht aus, daß ein Fremder ihre Königin entführe.
Augenblicklich ſchwangen ſich alle Männinnen zu Pferde und
griffen den Halbgott in dem Lager an, das er vor der Stadt
aufgeſchlagen hatte. Die gemeinen Amazonen fochten mit
den Kriegern des Helden, die vornehmſten aber ſtellten
ſich ihm ſelbſt gegenüber und bereiteten ihm einen ſchweren
Kampf. Die erſte, die den Streit mit ihm begann, hieß,
von ihrer Schnelligkeit, Aella oder Windsbraut, aber ſie
fand an Herkules einen noch ſchnelleren Gegner, mußte
weichen und ward auf windſchneller Flucht von ihm eingeholt
und niedergemacht. Eine zweite fiel auf den erſten An¬
griff, dann Prothoe, die Dritte, die ſiebenmal im Zwei¬
kampfe geſiegt hatte. Nach ihr erlagen acht andere,
darunter drei Jagdgefährtinnen der Diana, die ſonſt im¬
mer ſo ſicher mit dem Wurfſpieße getroffen hatten, nur
dießmal ihr Ziel verfehlten, und vergebens unter ihren
Schilden ſich deckend, den Pfeilen des Heros erlagen.
Auch Alcippe fiel, die geſchworen, hatte, ihr Leben lang
unvermählt zu bleiben; den Schwur hielt ſie, aber am
Leben blieb ſie nicht. Nachdem auch Melanippe, die tapfere
Führerin der Amazonen, gefangen war, griffen alle zur
wilden Flucht, und Hippolyta, die Königin, gab das Wehr¬
gehenk heraus, wie ſie auch vor der Schlacht verſprochen
hatte. Herkules nahm es als Löſegeld an, und gab Me¬
lanippe dafür frei. Auf der Rückfahrt beſtand der Held
ein neues Abentheuer. Hier war Heſione, Laomedon's
Tochter, an einen Felſen gebunden und einem Unge¬
[229] heuer zum Fraß ausgeſetzt. Ihrem Vater hatte Neptun
die Mauern von Troja erbaut und den Lohn nicht erhal¬
ten; dafür verwüſtete ein Seeunthier Trojas Gebiet ſo
lange, bis der verzweifelnde Laomedon ihm ſeine eigene
Tochter preisgab. Als Herkules vorüberfuhr, rief ihn
der jammernde Vater zu Hülfe, und verſprach ihm, für
die Rettung der Tochter die herrlichen Roſſe zu geben,
die ſein Vater von Jupiter zum Geſchenke bekommen
hatte. Herkules legte an, und erwartete das Ungethüm.
Als es kam und den Rachen aufſperrte, die Jungfrau zu
verſchlingen, ſprang er in den Rachen des Thieres, zer¬
ſchnitt ihm alle Eingeweide, und ſtieg aus dem Getödteten,
wie aus einer Mördergrube, wieder hervor. Aber Lao¬
medon hielt auch dießmal ſein Wort nicht, und Herkules
fuhr unter Drohungen davon.

Die drei letzten Arbeiten des Herkules.

Als der Held das Wehrgehenk der Königin Hippo¬
lyta zu Euryſtheus Füßen niedergelegt hatte, gönnte dieſer
ihm keine Raſt, ſondern ſchickte ihn ſogleich wieder aus,
die Rinder des Rieſen Geryones herbeizuſchaffen. Dieſer
beſaß auf der Inſel Erythia, im Meerbuſen von Gadira
(Cadix), eine Herde ſchöner braunrother Rinder, die ein
andrer Rieſe und ein zweiköpfiger Hund ihm hüteten.
Geryones ſelbſt war ungeheuer groß, hatte drei Leiber,
drei Köpfe, ſechs Arme und ſechs Füße. Kein Erden¬
ſohn hatte ſich je an ihn gewagt; Herkules ſah wohl,
wie viele Vorbereitungen dieſes beſchwerliche Unternehmen
erforderte. Es war weltbekannt, daß des Geryones Va¬
[230] ter, Chryſaor, der den Namen Goldſchwert von ſeinem
Reichthum hatte, König von ganz Iberien (Spanien) war,
daß außer Geryones noch drei tapfere und rieſige Söhne
für ihn ſtritten, und jeder Sohn ein zahlreiches Heer
von ſtreitbaren Männern unter ſeinem Befehle hatte.
Eben darum hatte Euryſtheus dem Herkules jene Arbeit
aufgetragen, denn er hoffte, auf einem Kriegszug in ein
ſolches Land werde er ſein verhaßtes Leben doch endlich
laſſen müſſen. Doch Herkules ging den Gefahren nicht
erſchrockener entgegen, als allen ſeinen frühern Thaten. Er
ſammelte ſeine Heere auf der Inſel Kreta, die er von
wilden Thieren befreit hatte, und landete zuerſt in Libyen.
Hier rang er mit dem Rieſen Antäus, der neue Kräfte
erhielt, ſo oft er die Erde berührte; aber Herkules hielt
ihn in die freie Luft empor und drückte ihn da zu Tode.
Auch reinigte er Libyen von den Raubthieren; denn er
haßte wilde Thiere und ruchloſe Menſchen, weil er in
ihnen allen das Bild des übermüthigen und ungerechten
Herrſchers erblickte, dem er ſo lange dienſtbar geweſen
war.


Nach einer langen Wandrung durch waſſerloſe Gegenden
kam er endlich in ein fruchtbares, von Flüſſen durchſtröm¬
tes Gebiet. Hier gründete er eine Stadt von ungeheurer
Größe, und nannte ſie Hekatompylos (Hundertthor).
Zuletzt gelangte er an den atlantiſchen Ocean, gegenüber
von Gadira; hier pflanzte er die beiden berühmten Her¬
kulesſäulen auf. Die Sonne brannte entſetzlich, Herku¬
les ertrug es nicht länger, er richtete ſeine Augen nach
dem Himmel, und drohte mit aufgehobenem Bogen, den
Sonnengott niederzuſchießen. Dieſer bewunderte ſeinen
[231] Muth, und lieh ihm, um weiter zu kommen, die goldne
Schale, in welcher der Sonnengott ſelbſt ſeinen nächtli¬
chen Weg vom Niedergange bis zum Aufgange zurück¬
legt. Auf dieſer fuhr Herkules mit ſeiner nebenher ſe¬
gelnden Flotte nach Iberien hinüber. Hier fand er die
drei Söhne des Chryſaor mit drei großen Heeren, einen
nicht weit vom andern gelagert, er aber erlegte die An¬
führer alle im Zweikampfe und eroberte das Land. Dann
kam er nach der Inſel Erythia, wo Geryones mit ſeinen
Herden hauste. Sobald der doppelköpfige Hund ſeine
Ankunft inne wurde, fuhr er auf ihn los: allein Herkules
empfing ihn mit dem Knüttel, erſchlug ihn und tödtete
auch den rieſigen Rinderhirten, der dem Hunde zu Hülfe
gekommen war. Dann eilte er mit den Rindern davon,
aber Geryones holte ihn ein und es kam zu einem ſchwe¬
ren Kampfe. Juno ſelbſt erſchien, dem Rieſen beizuſte¬
hen; doch Herkules ſchoß ihr einen Pfeil in die Bruſt,
daß die Göttin verwundet entfliehen mußte. Auch der
dreifache Leib des Rieſen, der in der Gegend des Ma¬
gens zuſammenlief, fing hier den tödtlichen Pfeil auf
und mußte erliegen. Unter glorreichen Thaten vollbrachte
Herkules ſeinen Rückweg, indem er zu Lande die Rinder
durch Iberien und Italien trieb. Bei Rhegium in Un¬
teritalien entlief ihm einer ſeiner Ochſen, ſetzte über die
Meerenge und entkam ſo nach Sicilien. Sogleich trieb
er auch die andern Ochſen ins Waſſer und ſchwamm,
indem er einen Stier am Horne faßte, glücklich nach Si¬
cilien hinüber. Unter mancherlei Thaten kam der Held
nun glücklich über Italien, Illyrien und Thracien nach
Griechenland zurück und in dem Iſthmus an.


Jetzt hatte Herkules zehn Arbeiten vollbracht, weil
[232] aber Euryſtheus zwei nicht gelten ließ, ſo mußte er ſich
bequemen, noch zwei weitere zu verrichten.


Einſt, bei der feierlichen Vermählung Jupiters
mit Juno, als alle Götter dem erhabenen Paar ihre
Hochzeitgeſchenke darbrachten, wollte auch Gäa, die Erde,
nicht zurückbleiben; ſie ließ am Weſtgeſtade des großen
Weltmeeres einen äſtereichen Baum voll goldener Aepfel
hervorwachſen. Vier Jungfrauen, Heſperiden genannt,
Töchter der Nacht, waren die Wächterinnen dieſes heili¬
gen Gartens, den außerdem noch ein hundertköpfiger
Drache bewachte, Ladon, ein Sprößling des Phorkys,
des berühmten Vaters ſo vieler Ungeheuer, und der erd¬
geborenen Ceto. Kein Schlaf kam je über die Augen
dieſes Drachen, und ein fürchterliches Geziſch verkündete
ſeine Nähe, denn jede ſeiner hundert Kehlen ließ eine
andere Stimme hören. Dieſem Ungeheuer, ſo lautete der
Befehl des Euryſtheus, ſollte Herkules die goldenen Aepfel
der Heſperiden entreißen. Der Halbgott machte ſich auf
den langen und abentheuervollen Weg, auf welchem er
ſich dem blinden Zufall überließ, denn er wußte nicht,
wo die Heſperiden wohnen. Zuerſt gelangte er nach
Theſſalien, wo der Rieſe Termerus hauste, der alle
Reiſenden, denen er begegnete, mit ſeinem harten Hirn¬
kaſten zu Tode rannte. Aber an des göttlichen Herkules
Schädel zerſplitterte das Haupt des Rieſen. Weiter vor¬
wärts, am Fluſſe Echedorus, kam dem Helden ein an¬
deres Ungethüm in den Weg, Cycnus, der Sohn des
Mars und der Pyrene. Dieſer, von dem Halbgotte nach
den Gärten der Heſperiden befragt, forderte ſtatt aller
Antwort den Wanderer zum Zweikampf heraus, und wurde
von Herkules erſchlagen. Da erſchien Mars, der Gott
[233] ſelbſt, den getödteten Sohn zu rächen, und Herkules ſah
ſich gezwungen, mit ihm zu kämpfen. Aber Jupiter wollte
nicht, daß ſeine Söhne Bruderblut vergößen, und ein
plötzlich mitten zwiſchen beide geſchleuderter Blitz trennte
die Kämpfer. Herkules ſchritt nun weiter durchs illyri¬
ſche Land, eilte über den Fluß Eridanus und kam zu den
Nymphen des Zeus und der Themis, die an den Ufern
dieſes Stromes wohnten. Auch an ſie richtete der Held
ſeine Frage. „Geh zu dem alten Stromgotte Nereus,“
war ihre Antwort, „der iſt ein Wahrſager und weiß alle
Dinge. Ueberfall' ihn im Schlafe und binde ihn, ſo wird
er gezwungen den rechten Weg dir angeben.“ Herkules
befolgte dieſen Rath, und bemeiſterte ſich des Flußgottes,
obgleich dieſer nach ſeiner Gewohnheit ſich in allerlei Ge¬
ſtalten verwandelte. Er ließ ihn nicht eher los, bis er
erkundet hatte, in welcher Weltgegend er die goldenen
Aepfel der Heſperiden antreffen werde. Hierüber belehrt
durchzog er weiter Libyen und Aegypten. Ueber das
letztere Land herrſchte Buſiris, der Sohn des Neptunus
und der Lyſianaſſa. Ihm war bei einer neunjährigen
Theurung durch einen Wahrſager aus Cypern das grau¬
ſame Orakel geworden, daß die Unfruchtbarkeit aufhören
ſollte, wenn dem Zeus jährlich ein fremder Mann ge¬
ſchlachtet würde. Zum Danke machte Buſiris den An¬
fang mit dem Wahrſager ſelbſt; allmählig fand der Bar¬
bar ein Gefallen an dieſer Gewohnheit und ſchlachtete
alle Fremdlinge, welche nach Aegypten kamen. So wurde
denn auch Herkules ergriffen und zu den Altären Jupi¬
ters geſchleppt. Er aber riß die Bande, die ihn feſſel¬
ten, entzwei, und erſchlug den Buſiris mit ſamt ſeinem
Sohn und dem prieſterlichen Herold. Unter mancherlei
[234] Abentheuern zog der Held weiter, befreite, wie ſchon er¬
zählt worden iſt, den an den Caucaſus geſchmiedeten Ti¬
tanen Prometheus, und gelangte endlich, nach der An¬
weiſung des Befreiten, in das Land, wo Atlas die Laſt
des Himmels trug, und in deſſen Nähe der Baum mit
den goldenen Aepfeln von den Heſperiden gehütet wurde.
Prometheus hatte dem Halbgotte gerathen, ſich nicht ſelbſt
dem Raube der goldenen Früchte zu unterziehen, ſondern
den Atlas auf dieſen Fang auszuſenden. Er ſelbſt erbot
ſich dafür dieſem, ſo lange das Tragen des Himmels
über ſich zu nehmen. Atlas bezeigte ſich willig und Her¬
kules ſtemmte die mächtigen Schultern dem Himmelsge¬
wölbe unter. Jener dagegen machte ſich auf, ſchläferte
den um den Baum ſich ringelnden Drachen ein, oder
tödtete ihn, überliſtete die Hüterinnen und kam mit drei
Aepfeln, die er gepflückt, glücklich zu Herkules. „Aber,“
ſprach er, „meine Schultern haben nun einmal empfunden,
wie es ſchmeckt, wenn der eherne Himmel nicht auf ih¬
nen laſtet. Ich mag ihn fürder nicht wieder tragen.“
So warf er die Aepfel vor dem Halbgott auf den Ra¬
ſen und ließ dieſen mit der ungewohnten, unerträglichen
Laſt ſtehen. Herkules mußte auf eine Liſt ſinnen, um los
zu kommen. „Laß mich,“ ſprach er zu dem Himmels¬
träger, „nur einen Bauſch von Stricken um den Kopf
winden, damit mir die entſetzliche Laſt nicht das Gehirn
zerſprengt.“ Atlas fand die Forderung billig und ſtellte
ſich, nach ſeiner Meinung auf wenige Augenblicke, dem
Himmel wieder unter. Aber er konnte lange warten, bis
Herkules ihn wieder ablöſte, und der Betrüger wurde
zum Betrogenen. Denn jener hatte nicht ſo bald die
Aepfel vom Raſen aufgeleſen, als er mit den goldenen
[235] Früchten ſich aus dem Staube machte. Er brachte dieſe
dem Euryſtheus, der ſie, da ſein Zweck, den Herkules
aus dem Wege zu räumen, doch nicht erreicht war, dem
Helden wieder als Geſchenk zurück gab. Der legte ſie
auf dem Altare Minervens nieder; die Göttin aber wu߬
te, daß es der heiligen Beſtimmung dieſer göttlichen
Früchte zuwider war, irgendwo anders niedergelegt zu
werden, und ſo trug ſie die Aepfel wieder in den Gar¬
ten der Heſperiden zurück.


Statt den verhaßten Nebenbuhler zu vernichten, hat¬
ten die bisher ihm von Euryſtheus aufgetragenen Arbei¬
ten den Herkules nur in dem Berufe verherrlicht, der
ihm vom Schickſal angewieſen war: ſie hatten ihn als
Vertilger jeder Unmenſchlichkeit auf Erden, als den ächt
Menſchlichen Wohlthäter der Sterblichen dargeſtellt. Das
letzte Abentheuer aber ſollte er in einer Region beſtehen,
wohin ihn — ſo hoffte der argliſtige König — ſeine
Heldenkraft nicht begleiten würde; ein Kampf mit den
finſtern Mächten der Unterwelt ſtand ihm bevor: er ſollte
Cerberus, den Höllenhund, aus dem Hades heraufbrin¬
gen. Dieß Unthier hatte drei Hundsköpfe mit gräßlichen
Rachen, aus denen unaufhörlich giftiger Geifer träufte,
ein Drachenſchwanz hing ihm vom Leibe herunter und
das Haar der Köpfe und des Rückens bildeten ziſchende
geringelte Schlangen. Sich für dieſe Grauſen erregende
Fahrt zu befähigen, ging Herkules in die Stadt Eleuſis
im attiſchen Gebiete, wo eine Geheimlehre über göttliche
Dinge der Ober- und Unterwelt von kundigen Prie¬
ſtern gehegt wurde, und ließ ſich von dem Prieſter Eu¬
molpus in die dortigen Geheimniſſe einweihen, nachdem
er an heiliger Stätte vom Morde der Centauren entſündigt
[236] worden war. So mit geheimer Kraft, den Schrecken der
Unterwelt zu begegnen, ausgerüſtet, wanderte er in den
Peloponnes und nach der Lakoniſchen Stadt Tänarus,
wo ſich die Mündung der Unterwelt befand. Hier ſtieg
er, von Merkur, dem Begleiter der Seelen, geleitet, die
tiefe Erdkluft hinab, und kam zur Unterwelt vor die
Stadt des Königes Pluto. Die Schatten, die vor den
Thoren der Hadesſtadt traurig luſtwandelten — denn in
der Unterwelt iſt kein heiteres Leben wie im Sonnenlichte,
— ergriffen die Flucht, als ſie Fleiſch und Blut in le¬
bendiger Menſchengeſtalt erblickten; nur die Gorgone
Meduſa und der Geiſt Meleagers hielten Stand. Nach
jener wollte Herkules einen Schwertſtreich führen, aber
Merkur fiel ihm in den Arm und belehrte ihn, daß die
Seelen der Abgeſchiedenen leere Schattenbilder und vom
Schwerte nicht verwundbar ſeyen. Mit der Seele Me¬
leagers dagegen unterhielt ſich der Halbgott freundlich,
und empfing von ihm ſehnſüchtige Grüſſe für die Ober¬
welt an ſeine geliebte Schweſter Deanira. Ganz nahe
zu den Pforten des Hades gekommen, erblickte er ſeine
Freunde Theſeus und Pirithous; der letzte hatte ſich in
der Unterwelt, vom andern begleitet, als Freier der Per¬
ſephone eingefunden und beide waren wegen dieſes fre¬
chen Unterfangens von Pluto an den Stein, auf den die
Ermüdeten ſich niedergelaſſen hatten, gefeſſelt worden.
Als beide den befreundeten Halbgott erblickten, ſtreckten
ſie flehend die Hände nach ihm aus, und zitterten vor
Hoffnung, durch ſeine Kraft die Oberwelt wieder erklim¬
men zu können. Den Theſeus ergriff auch Herkules
wirklich bei der Hand, befreite ihn von ſeinen Banden,
und richtete ihn vom Boden, an den er gefeſſelt gelegen
[237] hatte, wieder auf. Ein zweiter Verſuch, auch den Piri¬
thous zu befreien, mißlang, denn die Erde fing an, ihm
unter den Füßen zu beben. Vorſchreitend erkannte Her¬
kules auch den Aſkalephus, der einſt verrathen hatte,
daß Proſerpina von den Rückkehr verwehrenden Granat¬
äpfeln des Hades gegeſſen; er wälzte den Stein ab, den
Ceres in Verzweiflung über den Verluſt ihrer Tochter
auf ihn gewälzt hatte. Dann fiel er unter die Herden
des Pluto und ſchlachtete eines der Rinder, um die See¬
len mit Blute zu tränken; dieß wollte der Hirte dieſer
Rinder, Menötius, nicht geſtatten und forderte deßwegen
den Helden zum Ringkampfe auf. Herkules aber faßte
ihn mitten um den Leib, zerbrach ihm die Rippen und
gab ihn nur auf Bitten der Unterweltsfürſtin Proſerpina
(Perſephone) ſelbſt wieder frei. Am Thore der Todten¬
ſtadt ſtand der König Pluto und verwehrte ihm den Ein¬
tritt. Aber das Pfeilgeſchoß des Heroen durchbohrte den
Gott an der Schulter, daß er Qualen der Sterblichen
empfand, und, als der Halbgott nun beſcheidentlich um
Entführung des Höllenhundes bat, ſich nicht länger wi¬
derſetzte. Doch forderte er als Bedingung, daß Herkules
deſſelben mächtig werden ſollte, ohne die Waffen zu ge¬
brauchen, die er bei ſich führe. So ging der Held, ein¬
zig mit ſeinem Bruſtharniſche bedeckt und mit der Löwen¬
haut umhangen, aus, das Unthier zu fahen. Er fand ihn
an der Mündung des Acheron hingekauert, und ohne auf
das Bellen des Dreikopfs zu achten, das wie ein ſich
in Widerhallen vervielfältigender, dumpfer Donner tönte,
nahm er die Köpfe zwiſchen die Beine, umſchlang den
Hals mit den Armen und ließ ihn nicht los, obgleich
der Schwanz des Thieres, der ein lebendiger Drache war,
[238] ſich vorwärts bäumte, und der Drache ihn in die Weiche
biß. Er hielt den Nacken des Ungethümes feſt und ſchnürte
ihn ſo lange zu, bis er über das ungebärdige Thier
Meiſter ward, da er es dann aufhob und durch eine an¬
dere Mündung des Hades bei Trözen im Argoliſchen
Lande glücklich wieder zur Oberwelt auftauchte. Als der
Höllenhund das Tageslicht erblickte, entſetzte er ſich und
fing an den Geifer von ſich zu ſpeien; davon wuchs der
giftige Eiſenhut aus dem Boden hervor. Herkules
brachte das Ungeheuer in Feſſeln ſofort nach Tiryns und
hielt es dem ſtaunenden Euryſtheus, der ſeinen eigenen
Augen nicht traute, entgegen. Jetzt verzweifelte der Kö¬
nig daran, jemals des verhaßten Jupiterſohnes los zu
werden, ergab ſich in ſein Schickſal und entließ den Hel¬
den, der den Höllenhund ſeinem Eigenthümer zurück in
die Unterwelt brachte.

Herkules und Eurytus.

Herkules, nach allen dieſen Mühſalen endlich vom
Dienſte des Euryſtheus befreit, kehrte nach Theben zu¬
rück. Mit ſeiner Gemahlin Megara, der er im Wahn¬
ſinne die Kinder umgebracht hatte, konnte er nicht mehr
leben, er trat ſie daher mit ihrem Willen ſeinem geliebten
Vetter Jolaus zur Gattin ab, und dachte ſelbſt auf eine neue
Vermählung. Seine Neigung wandte ſich der ſchönen Jole zu,
der Tochter des Königes Eurytus zu Oechalia, auf der
Inſel Euböa, der den Herkules einſt als Knaben in der
Kunſt des Bogenſchießens unterrichtet hatte. Dieſer König
hatte ſeine Tochter dem Wettkämpfer verſprochen, der
[239] ihn und ſeine Söhne im Bogenſchießen übertreffen wür¬
de. Auf dieſe Bekanntmachung eilte Herkules nach Oe¬
chalia, und trat unter der Schaar der Bewerber auf.
Er bewies in dieſem Wettkampfe, daß er kein un¬
würdiger Schüler des alten Eurytus geweſen: denn er
beſiegte ihn und ſeine Söhne. Der König hielt ſeinen
Gaſt in allen Ehren; im Herzen aber erſchrak er ge¬
waltig über deſſen Sieg, denn er mußte an das Schickſal
der Megara denken, und fürchtete für ſeine Tochter ein
gleiches Loos. Er erklärte daher auf die Anfrage des
Helden, ſich wegen der Heirath noch längere Zeit bedenken
zu wollen. Inzwiſchen war der älteſte Sohn des Eury¬
tus, Iphitus, ein Altersgenoſſe des Herkules, der eine
neidloſe Freude über die Stärke und Heldenherrlichkeit
ſeines Gaſtes empfand, ſein inniger Freund geworden,
und wandte alle Künſte der Ueberredung an, um ſeinen
Vater dem edlen Fremdling geneigter zu machen. Eury¬
tus aber beharrte auf ſeiner Weigerung. Gekränkt ver¬
ließ Herkules das Königshaus, und irrte lang in der
Fremde umher. Was ihm hier bei dem Könige Admetus be¬
gegnet, ſoll der nächſte Abſchnitt erzählen. Mittlerweile
kam ein Bote vor den König Eurytus, und meldete, daß
ein Räuber unter die Rinderherde des Königes gefallen
ſey. Es hatte dieß der liſtige und betrügeriſche Autoly¬
kus verübt, deſſen Diebereien weit und breit bekannt wa¬
ren. Der erbitterte König aber ſprach: „dieß hat kein
Anderer gethan, als Herkules; ſolche unedle Rache nimmt
er, weil ich ihm, dem Mörder ſeiner Kinder, die Tochter
verſagt habe!“ Iphitus vertheidigte ſeinen Freund mit
warmen Worten und erbot ſich, ſelbſt zu Herkules zu
gehen und mit ihm die geſtohlenen Rinder aufzuſuchen.


[240]

Dieſer nahm den Königsſohn gaſtfreundlich auf und zeigte
ſich bereitwillig, den Zug mit ihm zu übernehmen. In¬
deſſen kehrten ſie unverrichteter Dinge zurück, und als ſie
die Mauern von Tiryns beſtiegen hatten, um mit den
Blicken die Gegend durchſchweifen und die geſtohlenen
Rinder irgendwo entdecken zu können, ſiehe, da bemäch¬
tigte ſich der unſelige Wahnſinn auf einmal wieder des
Heldengeiſtes; Herkules, von Juno's Zorn getrieben,
hielt ſeinen treuen Freund Iphitus für einen Mitver¬
ſchworenen des Vaters, und ſtürzte ihn über die hohen
Stadtmauern von Tiryns herab.

Herkules bei Admetus.

Zu der Zeit, als der Held, aus dem Hauſe des Kö¬
nigs von Dechalia mit Unwillen entwichen, in der Irre
umherſtreifte, hat ſich folgendes begeben. Zu Pherä in
Theſſalien lebte der edle König Admetus mit ſeiner jun¬
gen und ſchönen Gemahlin Alceſtis, die ihren Gatten
über Alles liebte, von blühenden Kindern umringt, von
glücklichen Unterthanen geliebt. In früherer Zeit, als
Apollo, der die Cyklopen getödtet hatte, aus dem Olymp
entflohen war und ſich gezwungen ſah, einem Sterblichen
dienſtbar zu werden, hatte ihn Admetus, der Sohn des
Feres, liebreich aufgenommen, und er weidete ihm als
Sklave ſeine Rinder. Seitdem ſtand er unter dem wirk¬
ſamen Schutze des ſpäter von ſeinem Vater Jupiter wie¬
der zu Gnaden angenommenen Gottes. Als nun die
Lebenszeit des Königs Admetus verſtrichen und vom
Schickſal ihm der Tod zuerkannt war, da wirkte ſein
[241] Freund Apollo, dem dieß als einem Gotte bewußt, bei
den Schickſalsgöttinnen aus, daß ſie ihm gelobten, Ad¬
metus ſolle dem Hades, der ihn bedrohte, entfliehen,
wenn ein anderer Menſch für ihn ſterben und in das
Todtenreich hinabſteigen wollte. Apollo verließ daher
den Olymp und kam nach Pherä zu ſeinem alten Gaſt¬
freunde, ihm und den Seinigen die Botſchaft von dem
Tode, den das Geſchick über ihn beſchloſſen, zu überbrin¬
gen, zugleich aber ihm das Mittel anzugeben, wodurch
er ſeinem Schickſal zu entrinnen vermöge. Admetus war
ein redlicher Mann, aber er liebte das Leben und auch alle
die Seinigen ſammt ſeinen Unterthanen erſchracken, daß dem
Hauſe die Stütze, der Gattin und den Kindern Gatte und Va¬
ter, dem Volke ein milder Herrſcher geraubt werden ſollte.
Deßwegen ging Admetus umher, und forſchte, wo er einen
Freund fände, der für ihn ſterben wollte. Aber da war nicht
Einer, der dazu Luſt gehabt hätte, und ſo ſehr ſie vorher
den Verluſt, der ihnen bevorſtände, bejammert hatten, ſo
kalt wurde ihr Sinn, als ſie von ihm hörten, unter wel¬
cher Bedingung ihm das Leben erhalten werden könnte.
Selbſt der greiſe Vater des Königes, Pheres, und die
gleichfalls hochbetagte Mutter, die den Tod jede Stunde
vor ſich ſahen, wollten das wenige Leben, das ſie noch zu
hoffen hatten, nicht für den Sohn dahingeben. Nur Alceſtis,
ſeine blühende, lebensvolle Gattin, die glückliche Mutter
hoffnungsvoll heranblühender Kinder, war von ſo rei¬
ner und aufopfernder Liebe zu dem Gemahl beſeelt, daß
ſie ſich bereit erklärte, dem Sonnenlichte für ihn zu ent¬
ſagen. Kaum war dieſe Erklärung aus ihrem Munde
gegangen, als auch ſchon der ſchwarze Prieſter der Tod¬
ten, Thanatos (der Tod), den Thoren des Pallaſtes nahte,
Schwab, das klass. Alterthum. I. 16[242] ſein Opfer ins Schattenreich hinabzuführen. Denn er
wußte Tag und Stunde genau, an welchem dem Adme¬
tus vom Schickſale beſtimmt geweſen war, zu ſterben.
Als Apollo den Tod herankommen ſah, verließ er ſchnell den
Königspallaſt, um, der Gott des Lebens, von ſeiner Nähe
nicht entheiligt zu werden. Die fromme Alceſtis aber, als
ſie den entſcheidenden Tag ſich nahen ſah, reinigte ſich,
als Opfer des Todes, in flieſſendem Waſſer, nahm feſt¬
liches Gewand und Geſchmeide aus dem Schranke von
Zedernholz und nachdem ſie ſo ſich ganz würdevoll ge¬
ſchmückt, betete ſie vor ihrem Hausaltare zur Göttin der
Unterwelt. Dann umſchlang ſie Kinder und Gemahl,
und trat endlich, von Tag zu Tage mehr abgezehrt, zur
beſtimmten Stunde von ihren Dienerinnen umringt an
der Seite ihres Gatten und ihrer Kinder in das Gemach,
wo ſie den Boten der Unterwelt empfangen wollte. Hier
ſchickte ſie ſich zum feierlichen Abſchiede von den Ihrigen an.
„Laß mich zu dir reden, was mein Herz begehrt,“ ſprach
ſie zu ihrem Gemahle. „Weil dein Leben mir theurer iſt,
als das meinige, ſterbe ich für dich jetzt, wo mir das
Sterben noch nicht drohte, wo ich, einen edlen Theſſalier
zum zweiten Gemahle wählend, im beglückten Fürſten¬
hauſe hätte wohnen können. Aber ich wollte nicht leben,
deiner beraubt, die verwaiſten Kinder anſchauend. Dein
Vater und deine Mutter haben dich verrathen, da doch
ihnen Sterben rühmlicher geweſen wäre; denn dann wä¬
reſt du nicht einſam geworden, und hätteſt keine Waiſen
aufzuziehen gehabt. Doch, da es die Götter einmal ſo
gefügt haben, ſo bitte ich dich nur, meiner Wohlthat ein¬
gedenk zu ſeyn, und den Kleinen, die du nicht weniger
liebeſt als ich, die ich ſie verlaſſen muß, kein anderes
[243] Weib als Mutter zuzuführen, das, von Neid gequält, ſie
ſelber plagen könnte. Denn oft ſind Drachen ſanftmüthi¬
ger als Stiefmütter.“ Unter Thränen ſchwur ihr der
Gemahl, daß wie ſie im Leben die ſeine geweſen, ſo auch
im Tode nur ſie ihm Gattin heißen ſolle. Dann über¬
gab ihm Alceſtis die wehklagenden Kinder, und ſank ohn¬
mächtig nieder.


Unter den Vorbereitungen zur Beſtattung geſchah
es nun, daß der umherirrende Herkules nach Pherä und
vor die Thore des Königspallaſtes kam. Eingelaſſen ge¬
rieth er in eine Unterredung mit den Dienern des Hau¬
ſes, und zufällig kam Admetus ſelbſt dazu. Dieſer nahm
ſeinen Gaſt, den eigenen Kummer unterdrückend, mit
großer Herzlichkeit auf, und als Herkules, durch den An¬
blick ſeiner Trauerkleider betroffen, ihn um ſeinen Verluſt
befragte, erwiederte er, um den Gaſt nicht zu betrüben oder
gar zu verſcheuchen, auf eine ſo verdeckte Weiſe, daß
Herkules der Meinung war, es ſey eine ferne Anver¬
wandte des Admetus, die zu Beſuche bei dem Könige war,
geſtorben. Er blieb daher fröhlichen Sinnes, ließ ſich
von einem Sklaven in das Gaſtgemach geleiten, und
hier Wein vorſetzen. Als ihm die Traurigkeit des Die¬
ners auffiel, ſchalt er dieſen um ſein übermäßiges Leid.
„Was ſiehſt du mich ſo ernſt und feierlich an?“ ſprach er.
„Ein Diener muß gefällig gegen Fremdlinge ſeyn! Was
iſts auch, wenn eine Fremde in eurem Hauſe geſtorben
iſt; weißt du denn nicht, daß dieß das allgemeine Loos der
Menſchen iſt? Den Trübſeligen iſt das Leben eine Qual; geh,
bekränze dich, wie du mich ſiehſt und trinke mit mir! Ich weiß,
gewiß, ein überwallender Becher wird bald alle Runzeln
deiner Stirne vertreiben.“ Aber der Diener wandte ſich
16 *[244] mit Grauen ab. „Uns traf ein Geſchick,“ ſprach er, „dem
nicht Lachen und Schmauſen ziemt. Fürwahr, der Sohn
des Pheres iſt nur allzu gaſtfreundlich, daß er in ſo tie¬
fer Trauer einen ſo leichtſinnigen Gaſt aufgenommen
hat!“ — „Soll ich nicht fröhlich ſeyn,“ erwiederte Herku¬
les verdrießlich, weil eine fremde Frau geſtorben iſt?“ —
„Eine fremde Frau!“ rief der Diener verwundert. „Dir
mochte ſie fremd ſeyn; uns war ſie es nicht!“ — „So
hat mir Admetus ſeinen Unfall nicht recht berichtet,“ ſagte
Herkules ſtutzend. Aber der Sklave ſprach: „Nun ſey
du immerhin fröhlich; der Gebieter Weh geht ja nur ihre
Freunde und Diener an!“ Aber Herkules hatte keine
Ruhe mehr, bis er die Wahrheit erfahren hatte. „Iſt's
möglich?“ rief er. „Eines ſo herrlichen Weibes ward er
beraubt, und dennoch hat er den Fremdling ſo gaſtlich
aufgenommen? Trat ich doch mit geheimem Widerwillen
zum Thore hinein, und nun hab' ich hier im Trauerhauſe
das Haupt mit Kränzen geſchmückt, gejubelt und getrun¬
ken! Aber ſage mir, wo liegt das fromme Weib beſtat¬
tet?“ — „Wenn du den geraden Weg gehſt, der nach
Lariſſa führt,“ antwortete der Sklave, „ſo ſiehst du das
ſchmucke Todtenmaal, das ihr ſchon aufgerichtet iſt.“ Mit
dieſen Worten verließ der Diener weinend den Fremdling.


Alleingelaſſen brach Herkules in keine Klagen aus,
ſondern der Held hatte ſchnell einen Entſchluß gefaßt. „Ret¬
ten muß ich,“ ſprach er zu ſich ſelbſt, „dieſe Geſtorbene,
ſie wieder einführen in das Haus des Gatten; anders
kann ich ſeine Gunſt nicht würdig vergelten. Ich gehe
an das Grabmal; dort harre ich des Thanatos, des
Todtenbeherrſchers. Ich finde ihn wohl, wie er kommt,
das Opferblut zu trinken, das ihm über dem Denkmal
[245] der Verſtorbenen geſpendet wird. Dann ſpringe ich aus
meinem Hinterhalte hervor, ergreife ihn ſchnell, umſchlinge
ihn mit den Händen, und keine Macht auf Erden ſoll ihn mir
entreißen, ehe er mir ſeine Beute überläßt.“ Mit dieſem Vor¬
ſatze verließ er in aller Stille den Pallaſt des Königs.


Admetus war in ſein verödetes Haus zurückgekehrt
und trauerte mit ſeinen verlaſſenen Kindern in ſchmerz¬
licher Sehnſucht nach der geopferten Gattin, und kein
Troſt getreuer Diener vermochte ſeinen Kummer zu lin¬
dern. Da betrat ſein Gaſtfreund Herkules die Schwelle
wieder, ein verſchleiertes Weib an der Hand führend. „Du
haſt nicht wohl daran gethan, o König,“ ſagte er, „mir
den Tod deiner Gattin zu verhehlen; du nahmſt mich in
dein Haus auf, als ob nur fremdes Leiden dich bekümmer¬
te; ſo habe ich unwiſſend groß Unrecht gethan, und im
Unglückshauſe fröhliches Trankopfer ausgegoſſen. Doch
will ich dich in deinem Ungemache nicht noch weiter be¬
trüben. Höre jedoch, warum ich noch einmal gekommen
bin. Dieſe Jungfrau hier habe ich als Siegeslohn bei
einem Kampfſpiele empfangen. Nun gehe ich hin, den
König der Biſtonier in Thracien zu bekriegen. Bis ich
dieſen Zug vollbracht habe, übergebe ich dir die Jungfrau
als Dienerin, ſorge du für ſie als das Eigenthum ei¬
nes Freundes.“


Admetus erſchrak, als er den Herkules ſo ſprechen
hörte. „Nicht, weil ich den Freund verachtet oder verkannt
hätte,“ erwiederte er, „habe ich dir meiner Gattin Tod
verborgen, ſondern um mir nicht noch mehr Leiden da¬
durch zu bereiten, daß ich dich in eines anderen Freundes
Haus davon ziehen ließe. Dieſes Weib aber, Herr, bitte
ich dich, einem andern Bewohner von Pherä zuzuführen,
[246] nicht mir, der ich ſo viel gelitten habe. Haſt du ja doch
genug Gaſtfreunde in dieſer Stadt. Wie könnte ich
ohne Thränen dieſe Jungfrau in meinem Hauſe er¬
blicken? Den Männeraufenhalt könnte ich ihr nicht
zur Wohnung geben, und ſollte ich ihr die Gemä¬
cher der verſtorbenen Gattin einräumen? Das ſey ferne!
Ich fürchte die üble Nachrede der Pheräer, ich fürchte
auch den Tadel der Entſchlafenen!“ So ſprach abweh¬
rend der König, aber ein wunderbares Sehnen zog ſeine
Blicke doch wieder auf die tief verſchleierte Geſtalt. „Wer
du auch ſeyeſt, o Weib,“ ſagte er ſeufzend, „wiſſe, daß
du an Größe und Geſtalt wunderſam meiner Alceſtis
gleicheſt. Bei den Göttern beſchwöre ich dich, Herkules,
führe mir dieſe Frau aus den Augen, und quäle den Ge¬
quälten nicht noch mehr; denn wenn ich ſie erblicke, wähne
ich mein verſtorbenes Gemahl zu ſehen, ein Strom von Thrä¬
nen bricht aus meinen Augen, und aufs Neue verſinke ich
in Kümmerniß.“ Herkules unterdrückte ſein wahres Gefühl
und antwortete betrübt: „O wäre mir von Jupiter die Macht
verliehen, dir dein heldenmüthiges Weib aus dem Schat¬
tenreich ans Licht zurückzuführen, und dir für deine Güte
ſolche Gunſt zu erweiſen!“ „Ich weiß, du thäteſt es,“
erwiederte Admet, „wann aber kehrte je ein Todter aus
dem Schattenreiche zurück?“ „Nun,“ fuhr Herkules lebhafter
fort, „weil dieß nicht geſchehen kann, ſo geſtatte der Zeit,
deinen Kummer zu lindern, den Todten geſchieht doch
kein Gefallen mit deiner Trauer. Verbanne auch den
Gedanken nicht ganz, daß eine zweite Gattin dir einſt
noch das Leben erheitern kann. Endlich, mir zu Liebe
nimm das edle Mädchen, das ich dir hier bringe, in dein
Haus auf. Verſuch es wenigſtens; ſobald es dir nicht
[247] frommen ſollte, ſoll ſie dein Haus wieder verlaſſen!“
Admet ſah ſich von dem Gaſte, den er nicht beleidigen
wollte, bedrängt; er befahl, jedoch nur ungerne, daß die
Diener das Weib in die innern Gemächer geleiten ſollten.
Aber Herkules gab dieſes nicht zu. „Vertraue, ſprach er,
mein Kleinod keinen Sklavenhänden, o Fürſt! Du ſelbſt,
wenn es dir gefällt, ſollſt ſie hinein führen!“ „Nein,“
ſprach Admet, „ich berühre ſie nicht, ich würde ſchon ſo
das Wort, das ich der geliebten Todten gegeben habe, zu
verletzen glauben. Eingehen möge ſie, aber ohne mich!“
Doch Herkules ruhte nicht, bis er die Hand der Ver¬
ſchleierten ergriffen hatte. „Nun dann,“ ſagte Herkules
freudig, „ſo bewahre ſie; blicke die Jungfrau auch recht
an, ob ſie wirklich deinem Ehegemahl gleicht, und ende
deinen Gram!“


Damit enthüllte er die Verſchleierte und gab dem in
Staunen zweifelnden König ſeine wiederbelebte Gemahlin
zu ſchauen. Während er ſelbſt, wie leblos, die Lebende
an der Hand hielt und ſich mit Furcht und Zittern an
ihrem Anblicke weidete, erzählte ihm der Halbgott, wie
er den Thanatos am Grabeshügel ergriffen und ſeine
Beute ihm abgerungen habe. Da ſank Admetus in die
Arme ſeines Weibes. Aber dieſe blieb ſprachlos und
durfte ſeinen zärtlichen Ausruf nicht erwiedern. „Du
wirſt,“ belehrte ihn Herkules, „ihre Stimme nicht wieder
vernehmen, als bis die Todtenweihe von ihr genommen
und der dritte Tag erſchienen iſt. Doch führe ſie getroſt
hinein in dein Gemach und freue dich ihres Beſitzes.
Er iſt dir zu Theil geworden, weil du an Fremdlingen
ſo edle Gaſtfreundſchaft geübt haſt! Mich aber laß mei¬
nem Geſchicke nachziehen!“ „So zeuch in Frieden, Held!“
[248] rief Admetus dem Scheidenden nach. „Du haſt mich in
ein beſſeres Leben zurückgeführt; glaube mir, daß ich
meine Seligkeit dankbar erkenne! Alle Bürger meines
Königreichs ſollen mir Chortänze aufführen helfen,
und Opferduft entſteige den Altären! Dabei wollen wir
dein, o du mächtiger Jovisſohn, in Dank und Liebe ge¬
denken!“

Herkules im Dienſte der Omphale.

Der Mord des Iphitus, obgleich im Wahnſinne ver¬
übt, lag ſchwer auf Herkules. Er wanderte von einem
Prieſterkönige zum andern, um ſich reinigen zu laſſen;
erſt zum Könige Peleus von Pylos, dann zu Hippokoon,
König von Sparta: aber beide weigerten ſich deſſen; der
dritte endlich, Deiphobus, ein König zu Amyklä, über¬
nahm es, ihn zu entſühnen. Nichtsdeſtoweniger ſchlugen
ihn die Götter zur Strafe der Unthat mit einer ſchweren
Krankheit. Der Held, ſonſt von Kraft und Geſundheit
ſtrotzend, konnte das plötzliche Siechthum nicht ertragen.
Er wandte ſich nach Delphi und hoffte bei dem pythiſchen
Orakel Geneſung zu finden. Aber die Prieſterin verwei¬
gerte ihm, als einem Mörder, ihren Spruch. Da raubte
er im Heldenzorn den Dreifuß, trug ihn hinaus aufs
Feld und errichtete ein eigenes Orakel. Erboſt über
dieſen kühnen Eingriff in ſeine Rechte, erſchien Apollo
und forderte den Halbgott zum Kampfe heraus. Aber
Jupiter wollte auch dießmal kein Bruderblut fließen ſehen;
er ſchlichtete den Kampf, indem er einen Donnerkeil
zwiſchen die Streitenden warf. Jetzt erhielt endlich Her¬
[249] kules einen Orakelſpruch, welchem zufolge er von ſeinem
Uebel frei werden ſollte, wenn er zu dreijährigem Knechts¬
dienſte verkauft würde, das Handgeld aber, als Sühne,
dem Vater gäbe, dem er den Sohn erſchlagen. Herku¬
les, von Krankheit überwältigt, fügte ſich in dieſen harten
Spruch. Er ſchiffte ſich mit einigen Freunden nach Aſien
ein und wurde dort von einem derſelben mit ſeiner Ein¬
willigung als Sklave verkauft an Omphale, die Toch¬
ter des Jardanes, die Königin des damaligen Maeoniens,
was ſpäter Lydien hieß. Den Kaufpreis brachte der
Verkäufer, dem Orakel gemäß, dem Eurytus, und als
dieſer das Geld zurückwies, übergab er es den Kindern
des erſchlagenen Iphitus. Jetzt wurde Herkules wieder
geſund. Im Vollgefühle der wieder gewonnenen Körper¬
kraft zeigte er ſich anfangs auch als Sklave der Om¬
phale noch als Held, und fuhr fort, in ſeinem Berufe
als ein Wohlthäter der Menſchheit zu wirken. Er züch¬
tigte alle Räuber, welche das Gebiet ſeiner Herrin und
der Nachbarn beunruhigten. Die Cerkopen, die in der
Gegend von Epheſus hauſten und durch Plünderung viel
Schaden anrichteten, wurden von ihm theils erſchlagen,
theils gebunden der Omphale überliefert. Den König
Eyleus in Aulis, einen Sohn des Neptunus, der die rei¬
ſenden Fremden auffing und ſie zwang, ihm die Weinberge
zu hacken, erſchlug er mit dem Spaten, und grub ſeine
Weinſtöcke mit den Wurzeln aus. Den Itonen, die wie¬
derholt ins Land der Omphale einfielen, zerſtörte er ihre
Stadt von Grund aus, und machte ſämmtliche Einwohner
zu Sklaven. In Lydien trieb damals Lytierſes, ein
unächter Sohn des Midas, ſein Weſen. Er war ein
reichbegüterter Mann und lud alle Fremde, die bei ſeinem
[250] Sitze vorüber reisten, höflich zu Gaſte. Nach dem Mahle
zwang er ſie mit ihm in ſeine Aernte zu gehen und des
Abends ſchlug er ihnen die Köpfe ab. Auch dieſen Ty¬
rannen brachte Herkules um und warf ihn in den Fluß
Mäander. Einmal fuhr er auf einem dieſer Züge an
der Inſel Doliche an, und ſah hier einen Leichnam, von
den Wellen herangeſpült, am Geſtade liegen. Es war
die Leiche des unglücklichen Icarus, der mit den wachs¬
gefügten Flügeln ſeines Vaters auf der Flucht aus dem
Labyrinthe zu Kreta der Sonne zu nahe gekommen und
in das Meer gefallen war. Mitleidig begrub Herkules
den Verunglückten und gab der Inſel, ihm zu Ehren, den
Namen Icaria. Für dieſen Dienſt errichtete der Vater
des Icarus, der kunſtreiche Dädalus, das wohlgetroffene
Bildniß des Herkules zu Piſa. Der Held ſelbſt aber,
als er einſt dorthin kam, hielt das Bild, von der Dunkel¬
heit der Nacht getäuſcht, für belebt. Seine eigene Hel¬
dengebärde erſchien ihm als das Drohen eines Feindes,
er griff zu einem Steine und zerſchmetterte ſo das ſchöne
Denkmal, das ſeiner Barmherzigkeit vom Freunde geſetzt
worden war. In die Zeit ſeiner Knechtſchaft bei Om¬
phale fiel auch die Theilnahme des Helden an der Jagd
des calydoniſchen Ebers.


Omphale bewunderte die Tapferkeit ihres Knechts,
und mochte wohl ahnen, daß ein herrlicher, weltberühm¬
ter Held ihr Sclave ſey. Nachdem ſie erfahren, daß er
Herkules, der große Sohn Jupiters, ſey, gab ſie ihm
nicht nur in Anerkenntniß ſeiner Verdienſte die Freiheit
wieder, ſondern ſie vermählte ſich auch mit ihm. Aber Her¬
kules vergaß hier im üppigen Leben des Morgenlandes der
Lehren, die ihm die Tugend am Scheidewege ſeines Ju¬
[251] gendlebens gegeben, er verſank in weibiſche Wolluſt. Da¬
durch gerieth er bei ſeiner Gemahlin Omphale ſelbſt in
Verachtung: ſie kleidete ſich in die Löwenhaut des Helden,
ihm ſelbſt aber ließ ſie weichliche lydiſche Weiberkleider an¬
legen, und brachte ihn in ſeiner blinden Liebe ſo weit,
daß er, zu ihren Füßen ſitzend, Wolle ſpann. Der Nacken,
dem einſt bei Atlas der Himmel eine leichte Laſt geweſen
war, trug jetzt ein goldenes Weiberhalsband, die nervigen
Heldenarme umſpannten Armbänder, mit Juwelen beſetzt,
ſein Haar quoll ungeſchoren unter einer Mitra hervor;
langes Frauengewand wallte über die Heldenglieder her¬
ab. So ſaß er, den Wocken vor ſich, unter andern jo¬
niſchen Mägden, ſpann mit ſeinen knochigen Fingern den
dicken Faden ab, und fürchtete das Schelten ſeiner Her¬
rin, wenn er ſein Tagewerk nicht vollſtändig geliefert.
War ſie aber guter Laune, ſo mußte der Mann in Wei¬
bertracht ihr und ihren Frauen die Thaten ſeiner Helden¬
jugend erzählen, wie er die Schlangen mit der Knabenhand
erdrückt, wie den Rieſen Geryones als Jüngling erlegt, wie
der Hyder den unſterblichen Kopf abgeſchlagen, wie den
Höllenhund aus dem Rachen des Hades heraufgezogen.
An dieſen Thaten ergötzten ſich dann die Weiber, wie man
an Ammenmährchen ſeine Freude hat.


Endlich, als ſeine Dienſtjahre bei Omphale vorüber
waren, erwachte Herkules aus ſeiner Verblendung. Mit
Abſcheu ſchüttelte er die Weiberkleider ab, und es koſtete
ihn nur das Wollen eines Augenblicks, ſo war er wieder
der krafterfüllte Jovisſohn voll von Heldenentſchlüſſen.
Das Erſte, was er, der Freiheit zurückgegeben, beſchloß,
war, an ſeinen Feinden Rache zu nehmen.


[252]

Die ſpäteren Heldenthaten des Herkules.

Vor allen Dingen machte er ſich auf den Weg, den
gewaltthätigen und eigenmächtigen König Laomedon, den
Erbauer und Beherrſcher Troja's, zu züchtigen. Denn
als Herkules, von dem Amazonenkampfe zurückkehrend, die
von dem Drachen bedrohte Tochter dieſes Fürſten, Heſione,
befreit hatte, hielt ihm der wortbrüchige Laomedon
den verſprochenen Lohn, die ſchnellen Marspferde, zurück,
und ließ ihn ſcheltend weiter ziehen. Jetzt nahm Herkules
nicht mehr als ſechs Schiffe und nur eine geringe Menge
Kriegsvolkes mit ſich. Aber unter dieſen waren die erſten
Helden Griechenlands, Peleus, Okleus, Telamon. Zu
dem Letztern war Herkules in ſeine Löwenhaut gekleidet
gekommen, und hatte ihn eben beim Schmauſe getroffen.
Telamon erhob ſich vom Tiſche, und reichte dem will¬
kommenen Gaſt eine goldne Schale voll Weines, hieß
ihn ſitzen und trinken. Freudig bewegt von ſolcher Gaſt¬
freundſchaft, hub Herkules die Hände gen Himmel und
betete: „Vater Jupiter, wenn du je meine Bitten gnädig
erhöret haſt, ſo flehe ich jetzt zu dir, daß du dem kinder¬
loſen Telamon hier einen kühnen Sohn zum Erben ver¬
leihen mögeſt, ſo unverwundbar, wie ich es in dieſer Haut
des nemeiſchen Löwen bin. Hoher Muth ſoll ihm immer
zur Seite ſeyn!“ Kaum hatte Herkules das Wort geredet,
ſo ſandte ihm der Gott den König der Vögel, einen mäch¬
tigen Adler. Dem Herkules lachte darüber das Herz im Leibe;
wie ein Wahrſager rief er begeiſtert aus: „Ja, Tela¬
mon, du wirſt den Sohn haben, den du begehrſt, herrlich
wird er ſeyn, wie dieſer gebieteriſche Adler, und Ajax
[253] ſoll ſein Name ſeyn, weithin gewaltig im Werke des
Kriegsgotts.“ So ſprach er, und ſetzte ſich wieder nie¬
der zum Schmauſe; dann zogen ſie, Telamon und Her¬
kules, vereint mit den andern Helden, in den Krieg gegen
Troja. Als ſie dort ans Land geſtiegen, übertrug Her¬
kules die Wache bei den Schiffen dem Okleus; er ſelbſt
mit den übrigen Helden rückte gegen die Stadt vor.
Inzwiſchen hatte Laomedon mit eilig zuſammengerafftem
Volke die Schiffe der Heroen überfallen und den Okleus
im Kampfe getödtet; aber als er ſich wieder entfernen
wollte, wurde er von den Gefährten des Herkules um¬
ringt. Die Belagerung wurde unterdeſſen ſcharf betrie¬
ben; Telamon durchbrach die Mauer, und war der erſte,
der in die Stadt eindrang. Erſt hinter ihm kam Her¬
kules. Es war das erſtemal in ſeinem Leben, daß der
Held ſich in Tapferkeit von einem Andern übertroffen
ſah; die ſchwarze Eiferſucht bemächtigte ſich ſeines Geiſtes
und ein böſer Gedanke ſtieg in ſeinem Herzen auf:
er zückte das Schwert, und war im Begriffe, den vor
ihm herſchreitenden Telamon niederzuhauen. Dieſer blick¬
te um ſich, und errieth das Vorhaben des Herkules an
ſeiner Gebärde. Schnell beſonnen las er die nächſt ge¬
legenen Steine zuſammen, und auf des Nebenbuhlers
Frage, was er hier mache, erwiederte er: „Ich baue
Herkules, dem Sieger, einen Altar!“ Dieſe Antwort
entwaffnete den eiferſüchtigen Zorn des Helden. Sie kämpf¬
ten wieder gemeinſam, und Herkules erlegte den Laome¬
don ſammt allen ſeinen Söhnen, mit Ausnahme eines
einzigen, mit ſeinen Pfeilen. Als die Stadt erobert war,
ſchenkte er Laomedon's Tochter Heſione ſeinem Freunde
Telamon als Siegesbeute. Zugleich gab er ihr die Er¬
[254] laubniß, nach eigener Wahl Einen der Gefangenen in
Freiheit zu ſetzen. Sie wählte ihren Bruder Podarkes.
„Es iſt recht, er ſey dein,“ ſagte Herkules, „aber er
muß vorher die Schmach erlitten haben, und Sclave ge¬
weſen ſeyn: dann magſt du ihn um den Preis, den du
für ihn geben willſt, hinnehmen!“ Als der Knabe nun
wirklich zum Sclaven verkauft war, riß Heſione ihren
königlichen Schmuck vom Haupte, und gab ihn als Löſe¬
geld für den Bruder hin, daher trug dieſer den Namen
Priamus (der Losgekaufte) davon. Von ihm wird die
Sage Vieles zu erzählen haben.


Juno gönnte dem Halbgotte dieſen Triumph nicht.
Auf der Heimfahrt von Troja begriffen, wurde er durch
ihre Schickung von ſchweren Ungewittern überfallen, bis
der ergrimmte Zeus ihrem Schalten Einhalt that. Nach
mancherlei Abentheuern beſchloß der Held eine zweite
Rache am König Augias zu nehmen, der ihm auch einſt den
verſprochenen Lohn vorenthalten hatte, nahm ſeine Stadt
Elis ein, und tödtete ihn mit ſammt ſeinen Söhnen.
Dem Phyleus aber, der einſt wegen ſeiner Freundſchaft
für Herkules vertrieben worden war, übergab er das
Königreich Elis. Nach dieſem Siege ſetzte Herkules die
olympiſchen Spiele ein, und weihte ihrem erſten Stifter,
Pelops, einen Altar, auch den zwölf Göttern Altäre, je
zweien Einen. Damals ſoll ſelbſt Jupiter in Menſchen¬
geſtalt mit Herkules gerungen, und, überwunden, ſei¬
nem Sohn zur Götterſtärke Glück gewünſcht haben.
Dann zog Herkules gegen Pylus und den König Pe¬
teus, der ihm einſt die Entſündigung verweigert hatte;
er überfiel ſeine Stadt, und machte ihn mit zehn ſeiner
Söhne nieder. Nur der junge Neſtor, der in der Ferne
[255] bei den Gereniern erzogen wurde, blieb verſchont. In
dieſer Schlacht verwundete Herkules ſelbſt den Gott der
Unterwelt, den Hades, der den Pyliern zu Hülfe gekom¬
men war.


Noch war Hippokoon von Sparta übrig zu beſtra¬
fen, der zweite König, der ſich nach Ermordung des
Iphitus der Reinigung des Mörders entzogen hatte.
Auch die Söhne dieſes Königs hatten den Haß des Helden
auf's Neue ſich zugezogen. Als er nämlich mit Oeonus,
ſeinem Vetter und Freunde, nach Sparta gekommen war,
fiel Jenen, der den Pallaſt des Hippokoon betrachtete,
ein großer moloſſiſcher Schäferhund an. Oeonus be¬
grüßte ihn mit einem Steinwurfe. Da rannten die Söhne
des Königs hervor und ſchlugen den Fremdling mit Knüp¬
peln todt. Um nun auch ſeines Freundes Tod zu rächen,
verſammelte Herkules ein Heer gegen Sparta; auf dem
Marſche durch Arkadien lud er auch den König Cepheus
mit ſeinen zwanzig Söhnen zum Kampfe ein. Dieſer
fürchtete jedoch einen Einfall von ſeinen Nachbarn, den
Argivern, und lehnte es anfangs ab, mitzuziehen. Aber
Herkules hatte von Minerva in einer ehernen Urne eine
Locke des Meduſenhaupts erhalten. Dieſe übergab er der
Tochter des Cepheus, Sterope, und ſprach: „Wenn das
Heer der Argiver anrückt, ſo darfſt du nur dieſe Locke,
ohne auf ſie hinzublicken, dreimal über die Stadtmauern
emporhalten: dann werden eure Feinde die Flucht ergrei¬
fen!“ Als Cepheus Solches hörte, ließ er ſich bewegen, mit
allen ſeinen Söhnen auszuziehen. Die Argiver wurden
auch glücklich von ſeiner Tochter abgetrieben; ihm ſelbſt
aber ſchlug der Feldzug zum Unheil aus: er wurde mit
allen ſeinen Söhnen erſchlagen, und außer dieſen auch
[256] der Bruder des Herkules, Iphiklus. Herkules ſelbſt aber
eroberte Sparta und nachdem er den Hippokoon und ſeine
Söhne getödtet, führte er den Tyndareus, den Vater der
Dioskuren Caſtor und Pollux, zurück, und ſetzte ihn wieder
auf den Thron, behielt ſich aber das eroberte Reich, das
er ihm übergab, für ſeine Nachkommen vor.

Herkules und Deïanira.

Nachdem der Heros noch mancherlei Thaten im Pe¬
loponnes verrichtet, kam er nach Aetolien und Kalydon
zum Könige Oeneus, der eine wunderſchöne Tochter,
Deïanira mit Namen, hatte. Dieſe erlitt mehr als ir¬
gend ein andres Aetolerweib bittere Noth durch eine ſehr
läſtige Brautbewerbung. Sie lebte anfangs zu Pleuron,
einer andern Hauptſtadt ihres väterlichen Reichs. Dort
hatte ſich ein Fluß, Achelous genannt, als Freier einge¬
funden, und, in drei Geſtalten verwandelt, erbat er ſie
von ihrem Vater. Das einemal kam er in einen leib¬
haftigen Stier verzaubert, das andremal als ſchillernder
gewundener Drache, endlich zwar in Menſchengeſtalt, aber
mit einem Stierhaupte, dem vom zottigen Kinne her¬
nieder friſche Quellbäche ſtrömten. Deïanira konnte einem
ſo entſetzlichen Freier nicht ohne tiefe Bekümmerniß entge¬
genſehen; ſie flehte zu den Göttern inbrünſtig um ihren
Tod. Lange hatte ſie dem Bewerber widerſtrebt, aber
dieſer wurde immer dringender, und ihr Vater zeigte ſich
nicht abgeneigt, ſie dem Stromgotte von uraltem Götter¬
adel zu überlaſſen. Da erſchien, wenn auch ſpät, doch
immer noch zu rechter Zeit, als zweiter Freier Herkules,
[257] dem ſein Freund Meleager von der hohen Schönheit dieſer Kö¬
nigstochter erzählt hatte. Er kam mit der Vorahnung, daß er
die liebliche Jungfrau nicht ohne heißen Kampf gewinnen
würde, daher war er ſtreitbar ausgerüſtet, wie wenn er
ſonſt in Fehden zog. Wie er auf den Pallaſt zu wandelte,
flatterte ihm die Löwenhaut im Winde vom Rücken, ſein
Köcher hallte von Wurfpfeilen, und er ſchwang in der
Luft prüfend die Keule. Als der gehörnte Stromgott ihn
kommen ſah, quollen die Adern ſeines Stierhauptes auf
und er verſuchte ſein Horn im Stoße. Der König Oe¬
neus, wie er beide ſo kampfluſtig und furchtbar mit ihrer
Werbung vor ſich ſtehen ſah, wollte keinen der mächtigen
Liebhaber durch eine abſchlägige Antwort beleidigen, und
verſprach ſeine Tochter demjenigen zum Weibe zu geben,
der den andern im Kampf überwinden würde.


Bald begann auch vor den Augen des Königs, der
Königin und ihrer Tochter Deïanira der wüthende Zwei¬
kampf. Von der Fauſt des Herkules, von ſeinem Bogen
klang es, aber mitten durch Streich und Schuß fuhr,
lange unverwundet, das gewaltige Stierhaupt des Strom¬
gottes und ſuchte den Gegner mit den tödtlichen Stößen
ſeiner Hörner auf. Endlich wurde das Gefecht zum Ring¬
kampfe, Arm verſchlang ſich mit Arm, Fuß in Fuß, der
Schweiß ſtrömte den Ringern von Haupt und Gliedern,
beide ſtöhnten laut unter übermenſchlicher Anſtrengung.
Zuletzt bekam der Sohn Jupiters die Oberhand und
warf den ſtarken Flußgott zu Boden. Dieſer verwan¬
delte ſich ſofort in eine Schlange; aber Herkules, der mit
Schlangen längſt zu handthieren verſtand, faßte ſie und
hätte ſie erdrückt, wenn nicht Achelous plötzlich zu einer
andern Verwandlung ſchreitend die Geſtalt eines Stieres
Schwab, das klass. Alterthum. I. 17[258] angenommen hätte. Doch Herkules ließ ſich nicht irre
machen, er ergriff das Unthier an einem Horne und ſtürzte
es mit ſolcher Macht zur Erde, daß das ergriffene Horn
abbrach. Nun erkannte ſich der Stromgott für überwunden,
und überließ dem Sieger die Braut. Achelous, der vor
Zeiten von der Nymphe Amalthea das Horn des Ueber¬
fluſſes, mit Obſt aller Art, Granatäpfeln und Trauben
angefüllt, erhalten hatte, tauſchte gegen dieſes Horn das
eigene, das ihm Herkules abgebrochen hatte, wieder ein.


Die Vermählung des Helden brachte in ſeiner Lebens¬
weiſe keine Veränderung hervor, er eilte, wie zuvor, von
Abentheuer zu Abentheuer, und als er wieder bei ſeiner
Gattin und ihrem Vater zu Hauſe war, nöthigte ihn der
unvorſätzliche Todtſchlag eines Knaben, der ihm bei der
Mahlzeit das Waſſer zum Händewaſchen reichen ſollte, aber¬
mals zur Flucht, auf welcher ihn ſeine junge Gemahlin und ſein
kleiner Sohn Hyllus, den ſie ihm geboren hatte, begleitete.

Herkules und Ueſſus.

Die Reiſe ging nach Kalydon, zu dem Freunde des
Helden, Ceyr. Es war die verhängnißvollſte, die Her¬
kules je unternommen hatte. Als er nämlich am Fluſſe
Evenus angelangt war, fand er dort den Centauren
Neſſus, der für Lohn die Reiſenden auf ſeinen Händen
über den Fluß zu ſetzen pflegte und dieſes Vorrecht von
den Göttern ſeiner Ehrlichkeit wegen erhalten zu haben
behauptete. Herkules ſelbſt bedurfte nun freilich ſeiner
nicht; er durchſchritt den Fluß mit mächtigen Schritten,
ohne fremde Beihülfe. Deaniren aber überließ er zum
[259] Hinüberſchaffen dem Neſſus, der ihn um den gewohnten
Lohn anſprach; der Centaur nahm die Gemahlin des Her¬
kules auf die Schulter und trug ſie rüſtig durch das
Waſſer. Mitten in der Fuhrt aber, durch die Schönheit
des Weibes bethört, wagte er es, ſie mit ſchnöder Hand
anzurühren. Herkules, der am Ufer war, hörte den Hül¬
feruf ſeiner Frau und wendete ſich ſchnell um. Als er
ſie in der Gewalt des rauhbehaarten Halbmenſchen ſah,
beſann er ſich nicht lange, holte aus ſeinem Köcher ei¬
nen beflügelten Pfeil hervor, und ſchoß den Neſſus, der
mit ſeiner Beute eben ans Ufer emporſtieg, durch den
Rücken, ſo daß das Geſchoß zur Bruſt wieder heraus¬
ging. Deïanira hatte ſich den Armen des zu Boden
Sinkenden entwunden, und wollte ihrem Gatten zueilen,
als der Sterbende, der noch im Tod auf Rache ſann,
ſie zurückrief und die trügeriſchen Worte ſprach: „Höre
mich, Tochter des Oeneus! Weil du die letzte biſt, die
ich getragen habe, ſo ſollſt du auch noch einen Vortheil
von meinem Dienſte haben, wenn du mir folgen willſt!
Faſſe das friſche Blut auf, das mir aus der Todes¬
wunde quoll, und jetzt da, wo der Pfeil, vom Geifer
der lernäiſchen Schlange vergiftet, mir im Leibe ſteckt,
ganz verdickt und leicht zu ſammeln ringsum ſteht, ſo
wird es dir zu einem Zauber für das Gemüth deines
Gatten dienen; färbſt du damit ſein Unterkleid, ſo wird
er niemals ein anderes Weib, das ihm je vorkommt, mehr
lieben, denn dich allein!“ Nachdem er Deïaniren dieſes
tückiſche Vermächtniß hinterlaſſen, verſchied er augenblick¬
lich an der vergifteten Wunde Deïanira, obgleich ſie
an der Liebe ihres Gatten nicht zweifelte, that doch nach
ſeiner Vorſchrift, ſammelte das verdickte Blut in ein Ge¬
17 *[260] fäß, das ſie bei der Hand hatte, und bewahrte es ohne
Wiſſen des Herkules auf, der zu ferne ſtand, um zu ſehen
was ſie that. Sie kamen darauf nach einigen andern
Abentheuern miteinander glücklich zu Ceyr, dem Könige
von Trachin, und ließen ſich mit ihren Begleitern aus
Arkadien, die dem Herkules überall hin folgten, dort häus¬
lich nieder.

Herkules, Jole und Deïanira.
Sein Ende.

Die letzte Fehde, die Herkules beſtand, war ſein


Feldzug gegen Eurytus, den König von Oechalia, gegen
welchen er einen alten Groll hegte, weil derſelbe ihm
ſeine Tochter Jole verweigert hatte. Er verſammelte ein
großes Heer von Griechen, und zog nach Euböa, den
Eurytus und ſeine Söhne in ihrer Stadt Oechalia zu be¬
lagern. Der Sieg folgte ihm: die hohe Burg wurde in den
Staub geworfen, der König mit ſeinen drei Söhnen er¬
ſchlagen, die Stadt vertilgt. Jole, noch immer jung und
ſchön, wurde die Gefangene des Herkules.


Derweil hatte Deïanira in Sorgen zu Hauſe auf
Nachricht von ihrem Gatten geharrt. Endlich jauchzte
im Pallaſte Freudengeſchrei empor. Ein Bote kam heran¬
geſprengt; „dein Gemahl, o Fürſtin, lebt“ — ſo meldete
er der ängſtlich auf ſeine Botſchaft horchenden — „naht
in Siegesruhm und führt jetzt eben die Erſtlinge des
Kampfes den heimathlichen Göttern zu. Sein Diener
Lichas, den er hinter mir her geſendet hat, verkündet
auf offener Wieſe dem Volke den Sieg. Seine eigene An¬
[261] kunft verzögert ſich nur dadurch, daß er auf Euböa's
Vorgebirge Cenäum dem Jupiter das ſchuldige Dankopfer
darzubringen ſich anſchickt.“ Bald erſchien der Abgeord¬
nete des Helden, Lichas, und in ſeinem Geleite die Ge¬
fangenen. „Heil dir, Gemahlin meines Herrn,“ ſprach er
zu Deïanira, „die Himmliſchen lieben den Frevel nicht;
Herkules gerechte Sache iſt geſegnet worden; die üppigen
Prahler mit ihrem verruchten Munde ſind alle in den
Hades hinabgeeilt, die Stadt iſt in Knechtſchaft. Doch
der Gefangenen, die wir hier bringen, ſollſt du ſchonen,
läßt dein Gemahl dir ſagen, vor allem der unglücklichen
Jungfrau, die ſich hier vor deine Füße wirft.“ Deïa¬
nira heftete einen Blick voll tiefen Mitleids auf das
ſchöne, jugendliche Mädchen, das von Geſtalt und Auge
lieblich glänzte, erhob ſie vom Boden, und ſprach: „Ja
ihr Lieben, herbes Mitgefühl hat mich gefaßt, ſo oft
ich Unglückſelige heimatlos durch fremde Landſchaft herum¬
geſchleppt, und Freigeborne Sclavenloos dulden ſah.
Zeus Ueberwinder, mögeſt du nie deinen Arm ſo gegen
mein Haus erheben! Aber wer biſt du, jammervolles
Mägdlein? du ſcheinſt unvermählt, und von hohem Stamme!
Sage mir, Lichas, wer ſind die Eltern dieſer Jungfrau?“
— „Wie weiß ich das? Weswegen fragſt du dieß?“
antwortete der Abgeſandte mit verſtelltem Sinne und ſeine
Miene verrieth ein Geheimniß. „Sie iſt,“ fuhr er nach
einigem Zögern fort, „gewiß aus keinem der niedrigſten
Häuſer Oechalia's.“ Da das arme Mädchen ſelbſt nur
ſeufzte und ſchwieg, ſo forſchte Deïanira auch nicht weiter,
ſondern befahl ſie in das Haus zu führen, und dort auf das
Schonendſte zu behandeln. Während Lichas dieſem Befehl
Folge leiſtete, trat der zuerſt angekommene Bote ſeiner Ge¬
[262] bieterin näher, und ſobald er ſich unbelauſcht wußte, flüſterte
er ihr die Worte zu: „Traue dem Abgeſandten deines Ge¬
mahls nicht, Deïanira. Er verbirgt dir die Wahrheit.
Aus ſeinem eigenen Munde habe ich mitten auf dem
Marktplatze von Trachin, in vieler Zeugen Gegenwart,
gehört, daß dein Gatte Herkules ganz allein um dieſer
Jungfrau willen die hohe Burg Oechalia's niedergeworfen
hat. Es iſt Iole, die Tochter des Eurytus, die du auf¬
genommen haſt, von deren Liebe Herkules entbrannt war,
ehe er dich kennen gelernt hat. Nicht als deine Sclavin,
ſondern als deine Nebenbuhlerin, als Nebenweib iſt ſie
in dein Haus gekommen!“ Ueber dieſer Mittheilung brach
Deïanira in laute Wehklagen aus. Doch faßte ſie ſich
bald wieder, und rief den Diener ihres Gatten, Lichas
ſelbſt, herbei. Dieſer ſchwur anfangs beim höchſten Zeus,
daß er ihr die Wahrheit geſagt habe, und ihm unbe¬
wußt ſey, wer die Eltern der Jungfrau wären. Lange
beharrte er bei dieſer Lüge. Deïanira aber beſchwor
ihn, des höchſten Jupiter nicht länger zu ſpotten. „Wäre
es auch möglich, daß ich meinem Gatten ſeiner Untreue
wegen abhold würde,“ ſagte ſie zu ihm weinend, „ſo bin
ich nicht ſo unedler Geſinnung, daß ich dieſer Jung¬
frau zürne, die mir nie einen Schimpf angethan hat.
Nur mit Mitleiden ſchaue ich ſie an, denn ihr hat die
Schönheit all ihr Lebensglück zertrümmert, ja ihr ganzes
Geburtsland in Knechtſchaft geſtürzt!“ Als Lichas ſie ſo
menſchlich reden hörte, geſtand er Alles. Hierauf entließ
ihn Deïanira ohne Vorwurf und befahl ihm nur ſo lange
zu warten, bis ſie für die reiche Schaar von Gefangenen,
die der Gemahl ihr zugeſendet, und zur Verfügung ge¬
ſtellt hatte, dieſem eine Gegengabe gerüſtet hatte.


[263]

Fern vom Feuer, unberührt vom Strahle des Lich¬
tes hatte Deïanira, der Vorſchrift des tückiſchen Centauren
gemäß, die Salbe, die ſie vom giftigen Blute ſeiner Pfeil¬
wunde geſammelt, am verborgenen Orte bewahrt. An
dieſes Zaubermittel, das ſie, unerfahren in den Ränken,
welche Rache ſpinnt, für ganz unſchädlich hielt, und das
ihr nur das Herz und die Treue des Gatten wieder ge¬
winnen ſollte, dachte nun die gedrängte Fürſtin zum er¬
ſtenmale wieder, ſeit ſie es ſorgſam verhüllt im Schranke
geborgen. Jetzt galt es zu handeln. Sie ſchlich ſich da¬
her in das Gemach, und färbte mit einer Flocke von
weißem Lämmerfließe, welche ſie mit der Sälbe getränkt
hatte, im Verborgenen ein köſtliches Unterkleid, das für
Herkules beſtimmt war. Sorgfältig hütete ſie während
dieſer Arbeit Flocke und Gewand vor dem Sonnenſtrahl,
und ſchloß das blutroth gefärbte Kleid, ſchön zuſammen¬
gefaltet, in ein Käſtchen ein. Als dieß geſchehen war,
warf ſie die Wolle, die zu nichts mehr dienlich, auf die
Erde, ging und überreichte dem herbeigerufenen Lichas
das für ihren Gemahl beſtimmte Geſchenk. „Bring' mei¬
nem Gemahl,“ ſprach ſie, „dieſes ſchöngewobene Leibgewand,
meiner eigenen Hände Werk. Kein andrer ſoll es tra¬
gen, als er ſelbſt, auch ſoll er das Kleid nicht dem
Feuerherde oder dem Sonnenglanz ausſetzen, bevor er
es, am feierlichen Opfertage damit geſchmückt, den Göt¬
tern gezeigt hat. Denn dieſes Gelübde habe ich gethan,
wenn ich ihn je ſiegreich zurückkehren ſehen würde. Daß du
ihm wirklich meine Botſchaft bringeſt, ſoll er an dieſem
Siegelringe erkennen, den ich dir für ihn anvertraue.“
Lichas verſprach alles auszurichten, wie die Herrin be¬
fohlen; er verweilte keinen Augenblick länger im Pallaſt,
[264] ſondern eilte mit der Gabe nach Euböa, um den opfern¬
den Herrn nicht länger ohne Kunde von der Heimath
zu laſſen. Einige Tage vergingen, und der älteſte Sohn
des Herkules und der Deïanira, Hyllus, war ſeinem
Vater entgegengeeilt, um ihm die Ungeduld der harren¬
den Mutter zu ſchildern und ihn zu beſchleunigter Heimkehr
zu bewegen. Inzwiſchen hatte Deïanira zufällig das Ge¬
mach wieder betreten, wo das Zaubergewand von ihr ge¬
färbt worden war. Sie fand die Wollenflocke auf dem Boden
liegen, wie ſie dieſelbe unachtſam hingeworfen, dem Son¬
nenſtrahl ausgeſetzt und von ihm durchwärmt. Ihr An¬
blick aber entſetzte ſie, denn die Wolle war wie zu Staub
oder Sägſpänen zuſammen geſchwunden und aus den
Ueberbleibſeln ziſchte ein blaſenvoller, giftiger Schaum
auf. Eine dunkle Ahnung ergriff die jammervolle Frau,
daß ſie Unglückſeliges begangen habe, und in entſetzlicher
Unruhe durchirrte ſie ſeit dieſem Augenblicke den Pallaſt.


Endlich kam Hyllus zurück, aber ohne den Vater. „O
Mutter,“ rief er ihr mit Abſcheu zu, „ich wollte du hätteſt
nie gelebt, oder du wäreſt nie meine Mutter geweſen,
oder die Götter hätten dir eine andere Sinnesart gege¬
ben!“ So unruhig die Fürſtin ſchon vorher war, ſo er¬
ſchrack ſie doch noch mehr bei dieſen Worten ihres Sohnes.
„Kind,“ erwiederte ſie ihm, „was iſt denn ſo Gehäſſiges
an mir?“ „Ich komme vom Vorgebirge Cenäum, Mut¬
ter,“ entgegnete ihr der Sohn mit lautem Schluchzen,
„Du biſt es, die mir den Vater dahingewürgt!“ Deïanira
wurde todtesbleich, doch raffte ſie ſich zuſammen und ſprach:
„Von wem weißeſt du Solches, mein Sohn, wer darf
mich ſo entſetzlicher Unthat zeihen?“ — „Kein fremder
Mund hat mich belehrt,“ fuhr der Jüngling fort, „mit ei¬
[265] genen Augen habe ich mich von dem Jammerlooſe des Va¬
ters überzeugt. Ich traf ihn auf dem Vorgebirge Cenäum,
wo er eben dem Ueberwinder Zeus auf vielen Dank¬
altären zugleich Brandopfer ſchlachten wollte. Da erſchien
der Herold Lichas, ſein Diener, mit deiner Gabe, deinem
verfluchten, mörderiſchen Gewande. Deinem Auftrage
folgend, legte er das Unterkleid ſogleich an, und damit
geſchmückt begann die Opferung zwölf ſtattlicher Stiere.
Anfangs betete der Unglückſelige deines ſchönen Schmuckes
froh, voll Heiterkeit. Plötzlich aber, als die Opferglut
ſchon gen Himmel flammte, durchbrach ein heftiger Schweiß
ſeine Haut, das Gewand ſchien, wie vom Schmied ange¬
löthet, an ſeinen Seiten zu kleben, und eine Zuckung
fuhr durch ſein ganzes Gebein. Als fräße eine Natter
an ſeinem Leibe, ſchrie der Gequälte brüllend nach Lichas,
dem unſchuldigen Ueberbringer deines giftigen Gewandes;
dieſer kam und wiederholte unbefangen deinen Auftrag;
der Vater aber ergriff ihn am Fuße und warf ihn an
die Felſen des Meeres, daß er zerſchmettert in der auf¬
ſpritzenden Fluth unterſank. Das ganze Volk jammerte
bei dieſer That des Wahnſinnes auf, und niemand wagte
ſich dem raſenden Helden zu nähern. Dieſer wälzte ſich
bald auf dem Boden, bald ſprang er heulend wieder auf,
daß rings Fels und Waldgebirge wiederhallten. Er ver¬
fluchte dich und euren Ehebund, der ihm zur Todesqual
geworden. Endlich kehrte er ſich zu mir und rief: „Söhn¬
lein, wenn du Mitleid mit deinem Vater empfindeſt, ſo
ſchiffe mit mir ohne Zögerung fort, daß ich nicht im frem¬
den Lande ſterbe!“ Auf dieſes Verlangen legten wir
den Armen in das Schiff, und unter Zuckungen brüllend
iſt er hier angelangt, und bald wirſt du ihn lebendig oder
[266] todt vor dir ſehen. Das Alles iſt dein Werk, Mutter.
Den allerbeſten Helden haſt du jämmerlich dahingemordet!“
Deïanira, ohne ſich auf dieſe ſchreckliche Rede zu
rechtfertigen, verließ ihren Sohn Hyllus in ſchweigender
Verzweiflung. Das Hausgeſinde, dem ſie ihr Geheimniß,
den Gatten ſich durch des Neſſus Zauberſalbe treu zu er¬
halten, früher anvertraut hatte, belehrte den Knaben, daß
ſein Jähzorn der Mutter Unrecht gethan. Er eilte der
Unglücklichen nach, aber er kam zu ſpät. Sie lag im
Schlafgemach todt auf dem Lager ihres Gatten ausge¬
ſtreckt, die Bruſt mit einem zweiſchneidigen Schwerte
durchbohrt. Der Sohn umarmte jammernd die Leiche,
und ſtreckte ſich dann zu ihrer Seite hin, ſeine Unbe¬
dachtſamkeit beſeufzend. Die Ankunft des Vaters im Pallaſte
ſtörte ihn aus dieſer kläglichen Ruhe auf. „Sohn,“ rief
dieſer, „Sohn, wo biſt du? Zieh doch das Schwert ge¬
gen deinen Vater, durchhaue mir den Nacken, und heile
ſo die Wuth, in welche deine gottloſe Mutter mich ver¬
ſetzt hat! Zage nicht, ſey mitleidig mit mir, mit einem
Helden, der, wie ein Mägdlein, in Thränen ſchluch¬
zen muß!“ Dann wandte er ſich verzweiflungsvoll
an die Umſtehenden, ſtreckte ſeine Arme aus, und rief:
„Kennet ihr dieſe Glieder, denen das Mark entſaugt iſt,
noch? Es ſind dieſelben, die den Schrecken der Hirten,
den nemeiſchen Löwen gebändigt, die den Drachen von
Lerna erwürgt, die den erymantiſchen Eber erlegen hal¬
fen, die den Cerberus aus der Hölle heraufgetragen!
Kein Speer, kein wildes Thier des Waldes, kein Gigan¬
tenheer hat mich überwältigt; die Hand eines Weibes
hat mich vertilgt! Darum, Sohn, tödte mich und ſtrafe
deine Mutter!“


[267]

Aber als Herkules aus dem Munde ſeines Sohnes
Hyllus unter heiligen Betheurungen erfuhr, daß ſeine Mutter
die unfreiwillige Urſache ſeines Unglücks geweſen, und
ihre Unbedachtſamkeit mit dem Selbſtmorde gebüßt habe,
wandte ſich auch ſein Sinn vom Zorn zur Wehmuth. Er
verlobte ſeinen Sohn Hyllus mit der gefangenen Jung¬
frau Jole, die ihm ſelbſt ſo lieb geweſen war, und da
ein Orakel von Delphi gekommen, daß er auf dem Berge
Oeta, der zum Gebiete von Trachin gehörte, ſein Leben
beſchließen müſſe, ſo ließ er ſich, ſeinen Qualen zum
Trotz, auf den Gipfel dieſes Berges tragen. Hier ward
auf ſeinen Befehl ein Scheiterhaufen errichtet, auf wel¬
chem der kranke Held ſeinen Platz nahm. Und nun be¬
fahl er den Seinigen, den Holzſtoß von unten anzuzünden.
Aber Niemand wollte ihm den traurigen Liebesdienſt
erweiſen. Endlich entſchloß ſich, auf die eindringliche
Bitte des vor Schmerzen bis zur Verzweiflung gequälten
Helden, ſein Freund Philoktetes, ſeinen Willen zu thun.
Zum Danke für dieſe Bereitwilligkeit reichte Herkules
ihm ſeine unüberwindlichen Pfeile, nebſt dem ſiegreichen
Bogen. Sobald der Scheiterhaufen angezündet war,
ſchlugen Blitze vom Himmel darein, und beſchleunigten die
Flammen. Da ſenkte ſich eine Wolke herab auf den Holz¬
ſtoß, und trug den Unſterblichen unter Donnerſchlägen
zum Olymp empor. Als nun, da der Scheiterhaufen
ſchnell zu Aſche verbrannt war, Jolaus und die andern
Freunde der Brandſtätte ſich näherten, die Ueberbleibſel des
Helden zuſammen zu leſen, fanden ſie kein einziges Gebein
mehr. Sie konnten auch nicht länger zweifeln, daß Her¬
kules, dem alten Götterſpruche zu Folge, aus dem Kreiſe
der Menſchen in den der Himmliſchen verſetzt worden ſey,
[268] brachten ihm ein Todtenopfer als einem Heros, und weih¬
ten ihn ſo zu einer allmählig von ganz Griechenland
verehrten Gottheit ein. Im Himmel empfing den ver¬
götterten Herkules ſeine Freundin Minerva, und führte
ihn in den Kreis der Unſterblichen. Juno ſelbſt verſöhnte
ſich mit ihm, nachdem er ſein ſterbliches Geſchick vollen¬
det. Sie gab ihm ihre Tochter Hebe, die Göttin der
ewigen Jugend, zur Gemahlin, und dieſe gebar ihm dro¬
ben im Olymp unſterbliche Kinder.

[[269]]

Fünftes Buch.

Bellerophontes.


Theſeus.


Seine Geburt und Jugend. — Theſeus in Athen. — Theſeus bei
Minos. — Theſeus als König. — Der Amazonenkrieg. — Theſeus
und Pirithous. — Lapithen- und Centaurenkampf. — Theſeus
und Phädra. — Theſeus auf Frauenraub. — Sein Ende. —


Die Sage von Oedipus.


Geburt, Jugend, Flucht, Vatermord. — Oedipus in Theben, heirathet
ſeine Mutter. — Die Entdeckung. — Oedipus und Antigone. — Oedi¬
pus auf Kolonos. — Oedipus und Kreon. — Oedipus und
Polynices.


[[270]][[271]]

Bellerophontes.

Siſyphus, der Sohn des Aeolus, der liſtigſte aller
Sterblichen, baute und beherrſchte die herrliche Stadt
Korinth auf der ſchmalen Erdzunge zwiſchen zwei Mee¬
ren und zwei Bändern. Für allerlei Betrug traf ihn in
der Unterwelt die Strafe, daß er einen ſchweren Mar¬
morſtein, mit Händen und Füßen angeſtemmt, von der
Ebene eine Anhöhe hinaufwälzen mußte. Wenn er aber
ſchon glaubte, ihn auf den Gipfel gedreht zu haben, ſo
wandte ſich die Laſt um und der tückiſche Stein
rollte wieder in die Tiefe hinunter. So mußte der
gepeinigte Verbrecher von neuem und immer von neuem
wieder das Felsſtück emporwälzen, daß der Angſtſchweiß
von ſeinen Gliedern floß.


Sein Enkel war Bellerophontes, der Sohn des Ko¬
rintherköniges Glaukus. Wegen eines unvorſätzlichen
Mordes flüchtig wandte ſich der Jüngling nach Tiryns,
wo der Konig Prötus regierte. Von dieſem wurde er
gütig aufgenommen und von ſeinem Morde gereinigt.
Aber Bellerophontes hatte von den Unſterblichen ſchöne
Geſtalt und männliche Tugenden empfangen. Deßwegen
entbrannte die Gemahlin des Königes Prötus, Antéa, in
unreiner Liebe zu ihm, und wollte ihn zum Böſen ver¬
führen. Aber der edelgeſinnte Bellerophontes gehorchte
[272] ihr nicht. Da verwandelte ſich ihre Liebe in Haß: ſie
ſann auf Lüge, ihn zu verderben, erſchien vor ihrem Ge¬
mahl und ſprach zu ihm: „Erſchlage den Bellerophontes,
o Gemahl, wenn dich nicht ſelbſt unrühmlicher Tod treffen
ſoll, denn der Treuloſe hat mir ſeine ſtrafbare Neigung
bekannt, und mich zur Untreue gegen dich verleiten wol¬
len.“ Als der König ſolches vernommen, bemächtigte
ſich ſeiner ein blinder Eifer. Weil er jedoch den ver¬
ſtändigen Jüngling ſo lieb gehabt hatte, vermied er den
Gedanken, ihn zu ermorden, denn er machte ihm Grauen.
Aber dennoch ſann er auf ſein Verderben. Er ſchickte
daher den Unſchuldigen zu ſeinem Schwiegervater
Jobates, dem Könige von Lycien, und gab ihm ein
zuſammengefaltetes Täfelchen mit, das er dem Letzteren
bei ſeiner Ankunft in Lycien, gleichſam als einen Em¬
pfehlungsbrief, vorweiſen ſollte; auf dieſes waren gewiſſe
Zeichen eingeritzt, die den Wink enthielten, den Ueber¬
bringer hinrichten zu laſſen. Arglos wandelte Bellero¬
phontes dahin, aber die allwaltenden Götter nahmen ihn
in ihren Schutz. Als er, über's Meer nach Aſien ge¬
fahren, am ſchönen Strome Xanthus angekommen war
und alſo Lycien erreicht hatte, trat er vor den König
Jobates. Dieſer aber, ein gütiger, gaſtfreundlicher Fürſt
nach der alten Sitte, nahm den edeln Fremdling auf,
ohne zu fragen, wer er ſey, noch woher er komme. Seine
würdige Geſtalt und ſein fürſtliches Benehmen genügten
ihm zur Ueberzeugung, daß er keinen gemeinen Gaſt beher¬
berge. Er ehrte den Jüngling auf alle Weiſe, gab ihm
alle Tage ein neues Feſt und brachte den Göttern von
Tag zu Tage ein neues Stieropfer. Neun Tage waren
ſo vorübergegangen, und erſt als die zehnte Morgen¬
[273] röthe am Himmel aufſtieg, fragte er den Gaſt nach ſei¬
ner Herkunft und ſeinen Abſichten. Da ſagte ihm Belle¬
rophontes, daß er von ſeinem Eidam Prötus komme und
wies ihm als Beglaubigungsſchreiben das Täfelchen vor.
Als der König Jobates den Sinn der mörderiſchen Zeichen
erkannte, erſchrack er in tiefſter Seele, denn er hatte den
edeln Jüngling ſehr lieb gewonnen. Doch mochte er nicht
denken, daß ſein Schwiegerſohn ohne gewichtige Urſache
die Todesſtrafe über den Unglücklichen verhänge; glaubte
alſo, dieſer müſſe durchaus ein todeswürdiges Verbrechen
verübt haben. Aber auch er konnte ſich nicht entſchlie¬
ßen, den Menſchen, der ſo lange ſein Gaſt geweſen war,
und durch ſein ganzes Benehmen ſich ſeine Zuneigung zu
erwerben gewußt hatte, geradezu umzubringen. Er ge¬
dachte ihm deßwegen nur Kämpfe aufzutragen, in denen
er nothwendig zu Grunde gehen müßte. Zuerſt ließ er
ihn das Ungeheuer Chimära erlegen, das Lycien verwü¬
ſtete, und das göttlicher, nicht menſchlicher Art empor¬
gewachſen war. Der gräßliche Typhon hatte es mit der
rieſigen Schlange Echidna gezeugt. Vorn war es ein
Löwe, hinten ein Drache, in der Mitte eine Ziege, aus
ſeinem Rachen ging Feuer und entſetzlicher Gluthauch.
Die Götter ſelbſt trugen Mitleiden mit dem ſchuldloſen
Jüngling, als ſie ſahen, welcher Gefahr er ausgeſetzt
wurde. Sie ſchickten ihm auf ſeinem Wege zu dem Un¬
geheuer das unſterbliche Flügelroß Pegaſus, das Nep¬
tunus mit der Meduſa gezeugt hatte. Wie konnte ihm
aber dieſes helfen? Das göttliche Pferd hatte nie einen
ſterblichen Reiter getragen. Es ließ ſich nicht einfangen
und nicht zähmen. Müde von ſeinen vergeblichen An¬
ſtrengungen war der Jüngling Quell Pirene, wo er
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 18[274] das Roß gefunden hatte, eingeſchlafen. Da erſchien ihm
im Traume ſeine Beſchirmerin Minerva; ſie ſtand vor
ihm, einen köſtlichen Zaum mit goldenen Buckeln in der
Hand und ſprach: „Was ſchläfſt du, Abkömmling des
Aeolus? Nimm dieſes roſſebändigende Werkzeug; opfre
dem Neptunus einen ſchönen Stier, und brauche des
Zaums.“ So ſchien ſie dem Helden im Traume zuzu¬
ſprechen, ſchüttelte ihren dunkeln Aegisſchild und ver¬
ſchwand. Er aber erwachte aus dem Schlafe, ſprang
auf und faßte mit der Hand nach dem Zaume. Und, o
Wunder, der Zaum, nach dem er im Traume gegriffen,
der Wachende hielt ihn wirklich und leibhaft in der
Hand. Bellerophontes ſuchte nun den Seher Polyidus
auf und erzählte ihm ſeinen Traum, ſo wie das Wunder,
das ſich in demſelben zugetragen. Der Seher rieth ihm,
das Begehren der Göttin ungeſäumt zu erfüllen, dem
Neptunus den Stier zu ſchlachten, und ſeiner Schutz¬
göttin Minerva einen Altar zu bauen. Als dieß Alles
geſchehen war, fing und bändigte Bellerophontes das Flü¬
gelroß ohne alle Mühe, legte ihm den goldenen Zaum
an, und beſtieg es in eherner Rüſtung. Nun ſchoß er
aus den Lüften herab, und tödtete die Chimära mit ſei¬
nen Pfeilen. Hierauf ſchickte ihn Jobates gegen das
Volk der Solymer aus, ein ſtreitbares Männergeſchlecht,
das an den Gränzen von Lycien wohnte, und nachdem
er wider Erwarten den härteſten Kampf mit dieſen
glücklich beſtanden, ſo wurde er von dem Könige gegen
die männergleiche Schaar der Amazonen geſandt. Auch aus
dieſem Streite kam er unverletzt und ſiegreich zurück. Nun
legte ihm der König, um dem Verlangen ſeines Eidams
doch endlich nachzukommen, eben auf dieſem Rückwege einen
[275] Hinterhalt, wozu er die tapferſten Männer des Lyciſchen
Landes auserſehen hatte. Aber keiner von ihnen kehrte
zurück, denn Bellerophontes vertilgte Alle, die ihn über¬
fallen hatten, bis auf den letzten. Nunmehr erkannte
der König, daß der Gaſt, den er beherbergt, kein Ver¬
brecher, ſondern ein Liebling der Götter ſey. Statt ihn
länger zu verfolgen, hielt er ihn in ſeinem Königreiche
zurück, theilte den Thron mit ihm, und gab ihm ſeine
blühende Tochter Philonoe zur Gemahlin. Die Lycier
überließen ihm die ſchönſten Aecker und Pflanzungen zum
Bebauen. Seine Gemahlin gebar ihm drei Kinder, zwei
Söhne und eine Tochter.


Aber jetzt hatte das Glück des Bellerophontes ein
Ende. Sein älteſter Sohn Iſander wuchs zwar auch
zu einem gewaltigen Helden auf, aber er fiel in einer
Schlacht gegen die Solymer. Seine Tochter Laodamia
wurde, nachdem ſie dem Jupiter den Helden Sarpedon
geboren, durch einen Pfeil Dianens erſchoſſen. Nur ſein
jüngerer Sohn Hippolochus gelangte zu ruhmvollem Al¬
ter und ſchickte im Kampfe der Trojaner ſeinen helden¬
müthigen Sohn Glaukus, den auch ſein Vetter Sarpedon
begleitete, mit einer ſtattlichen Schaar von Lyciern den
Troern zu Hülfe.


Bellerophontes ſelbſt, durch den Beſitz des unſterb¬
lichen Flügelroſſes übermüthig gemacht, wollte ſich auf
demſelben zum Olymp emporſchwingen, und, der Sterb¬
liche, ſich in die Verſammlung der Unſterblichen eindrän¬
gen. Aber das göttliche Roß ſelbſt widerſetzte ſich dem
kühnen Unterfangen, bäumte ſich in der Luft und ſchleu¬
derte den irdiſchen Reiter hinunter auf den Boden. Bel¬
lerophontes erholte ſich zwar von dieſem Fall, aber, den
18 *[276] Himmliſchen ſeitdem verhaßt und vor den Menſchen ſich
ſchämend, irrte er einſam umher, vermied die Pfade der
Sterblichen und verzehrte ſich in einem ruhmloſen und
kummervollen Alter.


[277]

Theſeus.

Seine Geburt und Jugend.

Theſeus, der große Held und König von Athen, war
ein Sohn des Aegeus und der Aethra, der Tochter des
Königes Pittheus von Trözen. Seine väterliche Abkunft
ſteigt zu dem Könige Erechtheus und zu jenen Athenern
auf, die nach der Sage des Landes aus dem Boden
deſſelben unmittelbar entſproſſen waren. Von der Mut¬
ter Seite war Pelops, durch die Zahl ſeiner Kinder der
mächtigſte unter den Königen des Peloponneſes, ſein
Ahnherr. Bei einem ſeiner Söhne, Pittheus, dem Grün¬
der der kleinen Stadt Trözen im Peloponneſe, kehrte der
kinderloſe König Aegeus von Athen, der dort etwa zwan¬
zig Jahre vor Jaſons Argonautenzug herrſchte, ein, weil
er ſein Gaſtfreund war. Dieſen Aegeus, den älteſten
der vier Söhne des Königes Pandion, bekümmerte es
ſchwer, daß ſeine Ehe mit keiner Nachkommenſchaft ge¬
ſegnet war. Er fürchtete nämlich gar ſehr die fünfzig
Söhne ſeines Bruders Pallas, welche feindſelige Abſich¬
ten gegen ihn hegten und den Kinderloſen verachteten.
So kam er auf den Gedanken, ſich heimlich und ohne
Wiſſen ſeiner Gemahlin, nocheinmal zu vermählen, der
Hoffnung, er werde ſo einen Sohn erhalten, welcher die
Stütze ſeines Alters und ſeines Reiches werden könnte.
Er vertraute ſich ſeinem Gaſtfreunde Pittheus und das
gute Glück wollte, daß gerade dieſem ein ſeltſames
Orakel zu Theil geworden war, das ihm verkündigte,
daß ſeine Tochter kein rühmliches Ehebündniß eingehen,
aber einen berühmten Sohn gebären werde. Dieß machte
[278] den König von Trözen geneigt, dem Manne, der ſchon
zu Hauſe eine Gattin hatte, ſeine Tochter Aethra heim¬
lich zu vermählen. Als dieſes geſchehen war, blieb Aegeus
nur noch wenige Tage zu Trözen und reiſte dann wie¬
der nach Athen zurück. Als er am Meeresufer Abſchied
von ſeiner neuvermählten Gattin nahm, legte er Schwerdt
und Fußſohlen unter ein Felsſtück und ſprach: Wenn die
Götter unſerem Bunde, den ich nicht aus Leichtſinn ge¬
ſchloſſen habe, ſondern um meinem Haus und Land eine
Stütze zu verſchaffen, hold ſind und dir einen Sohn ge¬
währen, ſo ziehe ihn heimlich auf und ſage keinem Men¬
ſchen, wer ſein Vater iſt. Iſt er ſo weit herangewach¬
ſen, daß er im Stande iſt, das Felsſtück abzuwälzen, ſo
führe ihn an dieſe Stelle, laß ihn Schwerdt und Schuhe
hervorholen und ſende ihn damit zu mir nach Athen.
Aethra gebar auch wirklich einen Sohn, nannte ihn
Theſeus und ließ ihn unter der Fürſorge ſeines Gro߬
vaters Pittheus aufwachſen; den wahren Vater des The¬
ſeus verheimlichte ſie dem Befehl ihres Gatten gemäß, und
der Großvater verbreitete die Sage, daß er ein Sohn
des Neptunus ſey. Dieſem Gott erwieſen nämlich die
Trözenier beſondere Ehre als dem Schutzgott ihrer Stadt,
brachten ihm die Erſtlinge ihrer Früchte zum Opfer und
ſein Dreizack war das Abzeichen von Trözen. So gab
es dem Lande keinen Anſtoß, wenn die Königstochter
einer Leibesfrucht von dem hochgeehrten Gotte gewür¬
digt worden war. Als aber der Jüngling nicht blos zu
herrlicher Körperſtärke heranwuchs, ſondern auch Kühn¬
heit, Einſicht und feſten Sinn zeigte, da führte ihn ſeine
Mutter Aethra zu dem Steine, unterrichtete ihn über ſeine
wahre Herkunft, und forderte ihn auf, die Erkennungs¬
[279] zeichen ſeines Vaters Aegeus hervorzuholen und nach
Athen zu ſchiffen. Theſeus ſtemmte ſich an den Stein
und ſchob ihn mit Leichtigkeit zurück; er band ſich die
Sohlen unter die Füße und das Schwerdt an die Seite.
Zur See zu reiſen aber weigerte er ſich, obgleich Gro߬
vater und Mutter ihn inſtändig darum baten. Der
Landweg nach Athen war nemlich damals ſehr gefährlich,
weil allenthalben Räuber und Böſewichter lauerten.
Denn jenes Zeitalter brachte Menſchen hervor, die ſich
zwar in Leibesſtärke und Thaten der Fauſt unüberwind¬
lich zeigten, aber dieſe Vorzüge nicht zu menſchenfreund¬
lichen Handlungen anwandten, ſondern ihre Freude an
Uebermuth und Gewaltthaten hatten und alles mißhan¬
delten oder vertilgten, was ihnen in die Hände fiel.
Einige derſelben hatte Herkules auf ſeinen Zügen
erſchlagen. Um jene Zeit aber diente dieſer gerade als
Sclave bei der Königin Omphale in Lydien und ſäu¬
berte zwar jenes Land, in Griechenland aber brachen
die Gewaltthätigkeiten von Neuem hervor, weil niemand
ihnen Einhalt that. Deßwegen war die Landreiſe aus
dem Peloponnes nach Athen mit der größten Gefahr
verbunden, und ſein Großvater beſchrieb dem jungen
Theſeus genau jeden dieſer Räuber und Böſewichter, und
welche Grauſamkeiten ſie an den Fremden zu verüben
pflegten. Aber Theſeus hatte ſich längſt den Herkules
und ſeine Tapferkeit zum Vorbilde genommen. Als er
ſieben Jahre alt war, hatte dieſer Held ſeinen Gro߬
vater Pittheus beſucht, und wie derſelbe mit dem Könige
zu Tiſche ſaß und ſchmauſte, durfte unter andern Kna¬
ben der Trözenier auch der kleine Theſeus zuſchauen.
Herkules hatte bei'm Mahle ſeine Löwenhaut abgelegt.


[280]

Die übrigen Knaben nun machten ſich, als ſie die Haut
erblickten, auf die Flucht. Theſeus aber ging ohne Furcht
hinaus, nahm einem der Diener eine Axt aus der Hand
und rannte damit auf die Haut los, die er für einen
wirklichen Löwen hielt. Seit dieſem Beſuche des Herku¬
les träumte Theſeus voll Bewunderung des Nachts von
ſeinen Thaten und am Tage ſann er auf nichts anderes,
als wie er dereinſt Aehnliches unternehmen wollte. Auch
waren ſie blutsverwandt, denn ihre Mütter waren Kin¬
der von Geſchwiſtern. So konnte jetzt der ſechszehn¬
jährige Theſeus den Gedanken nicht ertragen, daß wäh¬
rend ſein Vetter überall die Frevler aufſuche und Land
und Meer von ihnen reinige, er die ſich ihm darbieten¬
den Kämpfe fliehen ſollte. „Was würde,“ ſprach er un¬
willig, „der Gott, den man meinen Vater nennt, von die¬
ſer feigen Reiſe im ſichern Schooße ſeiner Gewäſſer den¬
ken, was würde mein wahrer Vater ſagen, wenn ich ihm
als Kennzeichen Schuhe ohne Staub und ein Schwerdt
ohne Blut brächte?“ Dieſe Worte gefielen ſeinem Gro߬
vater, der auch ein tapferer Held geweſen war. Die
Mutter gab ihm ihren Segen und Theſeus ging davon.

Seine Wanderung zum Vater.

Der Erſte, der ihm in den Weg kam, war der Stra¬
ßenräuber Periphetes, deſſen Waffe eine mit Eiſen be¬
ſchlagene Keule war, von welcher er den Beinamen
Keulenſchwinger führte und mit der er die Wanderer zu
Boden ſchmetterte.


[281]

Als Theſeus in die Gegend von Epidaurus kam,
ſtürzte dieſer Böſewicht aus einem finſtern Walde hervor
und verſperrte ihm den Weg. Der junge Theſeus aber
rief ihm wohlgemuth zu: „Elender! du kommſt mir eben
gelegen, deine Keule wird dem wohl anſtehen, der als
ein zweiter Herkules in der Welt aufzutreten geſonnen
iſt!“ Mit dieſem Ausrufe warf er ſich auf den Räuber
und erſchlug ihn nach einem kurzen Kampfe. Dem Ge¬
tödteten nahm er die Keule aus der Hand und trug ſie
als Siegeszeichen und Waffe von dannen.


Einem andern Frevler begegnete er auf der Land¬
enge von Corinth; dieſes war Sinnis der Fichtenbeuger,
ſo genannt, weil er, wenn er einen Wanderer in ſeine
Gewalt bekommen hatte, mit ſeinen rieſenſtarken Händen
zwei Fichtenwipfel herunter zu beugen pflegte; an die
band er ſeinen Gefangenen und ließ ihn von den zu¬
rückſchnellenden Bäumen zerreiſſen. Mit der Erlegung
dieſes Ungeheuers weihte Theſeus ſeine Keule ein. Sin¬
nis hatte eine ſehr ſchöne ſchlanke Tochter, Perigune mit
Namen, die Theſeus bei der Ermordung ihres Vaters
erſchrocken hatte fliehen ſehen und nun überall ſuchte.
Das Mädchen hatte ſich an einen dicht mit Gartenge¬
wächſen bepflanzten Ort verſteckt und flehte, als verſtän¬
den ſie es, mit kindlicher Unſchuld dieſe Sträuche an,
indem ſie ihnen unter Schwüren gelobte, ſie niemals zu
verletzen oder zu verbrennen, wenn dieſelben ſie verdecken
und retten wollten. Da ſie aber Theſeus zurückrief, mit
der Verſicherung, ihr nichts zu Leide zu thun, vielmehr
auf's Beſte für ſie zu ſorgen, kam ſie hervor und blieb
ſeitdem in ſeinem Geleite. Er gab ſie ſpäter dem Deio¬
neus, dem Sohne des Königes Eurytus von Oechalia
[282] zur Gattin. Ihre ganze Nachkommenſchaft hielt den
Schwur und verbrannte nie eines von den Gewächſen,
welche ihre Ahnfrau geſchirmt hatten.


Aber nicht nur von verderblichen Menſchen ſäuberte
er den Weg, auf welchem er einherzog, auch gegen ſchäd¬
liche Thiere glaubte er, auch hierin dem Herkules ähnlich, den
Kampf wagen zu müſſen. So erlegte er denn unter anderm
die Phäa, ſo hieß das kromyoniſche Schwein, welches
kein gemeines Thier, ſondern ſtreitbar und ſchwer zu be¬
ſiegen war. Ueber ſolchen Thaten kam er an die Gränze
von Megara, und ſtieß hier auf den Sciron, einen dritten
berüchtigten Straßenräuber, der ſeinen Aufenthalt auf
den hohen Felſen zwiſchen dem Megarerlande und Attika
genommen hatte. Dieſer pflegte aus frechem Muthwil¬
len den Fremden ſeine Füße vorzuhalten, mit dem Be¬
fehle ſie zu waſchen, und während dieß geſchah, ſtürzte
er ſie mit einem Tritt in's Meer. Dieſelbe Todesſtrafe
vollzog nun Theſeus an ihm ſelber. Schon auf attiſchem
Gebiete, bei der Stadt Eleuſis begegnete er dem Wege¬
lagerer Cercyon; dieſer forderte die Vorbeireiſenden zum
Ringkampfe auf und, wenn er ſiegte, brachte er ſie um.
Theſeus nahm ſeine Ausforderung an, überwand ihn und
befreite die Welt von dem Ungeheuer. Nachdem er nun
eine kleine Strecke weiter gereist war, kam er zu dem
lezten und grauſamſten jener Straßenräuber, dem Dama¬
ſtes, den aber jedermann nur unter ſeinem Beinamen
Prokruſtes, d. h. der Gliedausrecker, kannte. Dieſer
hatte zwei Bettſtellen, eine ſehr kurze und eine ſehr lange.
Kam nun ein Fremder in ſein Gehege, der klein war, ſo
führte ihn der finſtere Räuber beim Schlafengehen zur
langen Bettſtelle. „Wie du ſiehſt,“ ſprach er dann, „iſt
[283] meine Lagerſtatt für dich viel zu groß; laß dir das Bette
anpaſſen, Freund!“ und damit reckte er ihm die Glieder
ſo lange auseinander, bis er den Geiſt aufgab; kam
aber ein langer Gaſt, ſo brachte er ihn zur kurzen Bett¬
ſtelle; und zu dieſem ſagte er: „es iſt mir leid, Guter,
daß mein Lager nicht für dich gemacht und viel zu klein
iſt, doch dem ſoll bald geholfen ſeyn!“ und ſo hieb er
ihm die Füße ab, ſo weit ſie das Bett überragten. Die¬
ſen, der ein Rieſe von Natur war, legte er in das kleine
Bett des Räubers ſelbſt und ſchnitt ihm den Leib zuſam¬
men, daß er jämmerlich umkam. So widerfuhr den mei¬
ſten dieſer Verbrecher von der Hand des Theſeus nach
der Weiſe ihres eigenen Unrechtes ihr Recht.


Auf ſeiner ganzen bisherigen Reiſe war dem The¬
ſeus nichts Freundliches begegnet. Endlich aber, als er
zum Fluſſe Cephiſſus kam, traf er auf einige Männer aus
dem Geſchlechte der Phytaliden, bei denen er gaſtfreie
Aufnahme fand. Vor allen Dingen reinigten ſie ihn auf
ſeine Bitte mit den gewohnten Gebräuchen vom vergoſ¬
ſenen Blute und bewirtheten ihn in ihrem Hauſe. Nach¬
dem er ſich gütlich gethan und den wackern Leuten ſeinen
Dank mit herzlichen Worten bezeugt, lenkte er ſeine
Schritte der nahen väterlichen Heimath zu.

Theſeus in Athen.

Zu Athen fand der junge Held nicht den Frieden
und die Freude, die er erwartet hatte. Bei der Bürger¬
ſchaft herrſchte Verwirrung und Zwietracht, und das
Haus ſeines Vaters Aegeus ſelbſt fand er in trauriger
[284] Lage. Medea, die auf ihrem Drachenwagen Corinth und
den verzweifelnden Jaſon verlaſſen hatte, war zu Athen
angekommen, hatte ſich in die Gunſt des alten Aegeus
eingeſchlichen und verſprochen, durch ihre Zaubermittel
ihm die Kraft ſeiner Jugend zurückzugeben. Deswegen
lebte der König mit ihr in vertrautem Verhältniſſe. Durch
ihren Zauber hatte das furchtbare Weib vorher Kunde
von der Ankunft des Theſeus erhalten und nun überre¬
dete ſie den Aegeus, den der Parteizwiſt ſeiner Bürger
mit Argwohn erfüllte, den Fremdling, in welchem der
Greis den Sohn nicht ahnte, und den ſie ihm als einen
gefährlichen Späher darzuſtellen wußte, als Gaſt zu be¬
wirthen und mit Gift aus dem Wege zu räumen. So
erſchien denn Theſeus unerkannt beim Frühmahle und freute
ſich den Vater ſelbſt entdecken zu laſſen, wen er vor ſich
habe. Schon war ihm der Giftbecher vorgeſetzt, und
Medea harrte mit Ungeduld auf den Augenblick, wo der
neue Ankömmling, von dem ſie aus dem Hauſe vertrieben
zu werden fürchtete, die erſten Züge daraus thun würde,
die wirkſam genug ſeyn ſollten, ihm die jungen wachſamen
Augen für immer zu ſchließen. Theſeus aber, den mehr
nach der Umarmung ſeines Vaters als nach dem Becher
verlangte, zog, ſcheinbar um das vorgelegte Fleiſch zu
zerſchneiden, das Schwert, das ſein Vater für ihn un¬
ter den Felsblock hinterlegt hatte, damit Aegeus es
gewahr werden und den Sohn in ihm erkennen ſollte.
Dieſer ſah nicht ſobald das ihm wohlbekannte Schwerdt
blinken, als er den Giftbecher umwarf, und nachdem er
ſich durch einige Fragen vollends überzeugt hatte, daß er
den vom Schickſal erſehnten Sohn in junger Heldenblüthe
vor ſich habe, ſo ſchloß er ihn in ſeine Arme. Sofort
[285] ſtellte der Vater ihn der Verſammlung des Volkes vor,
dem er die Abentheuer ſeiner Reiſe erzählen mußte, und
das den früh erprobten Helden mit freudigem Jauchzen
begrüßte. Gegen die falſche Medea hatte der König Ae¬
geus jetzt einen Abſcheu gefaßt, und die mordluſtige Zau¬
berin wurde aus dem Lande vertrieben.

Theſeus bei Minos.

Die erſte That, die Theſeus verrichtete, ſeitdem er
als Königsſohn und Erbe des attiſchen Throns an ſeines
Vaters Seite lebte, war die Aufreibung der fünfzig Söhne
ſeines Oheims Pallas, welche früher gehofft hatten, den
Thron zu erlangen, wenn Aegeus ohne Kinder ſtürbe,
und welche ergrimmt waren, daß jetzt nicht bloß ein ange¬
nommener Sohn des Pandion, wie Aegeus war, König
der Athener ſey, ſondern daß auch in Zukunft ein herge¬
laufener Fremdling die Herrſchaft über ſie und das Land
führen ſollte. Sie griffen daher zu den Waffen und leg¬
ten dem Ankömmling einen Hinterhalt. Aber der Herold,
den ſie mit ſich führten und der ein fremder Mann war, ver¬
rieth dieſen Plan dem Theſeus, der nun plötzlich ihren
Hinterhalt überfiel und alle fünfzig niedermachte. Um
durch dieſe blutige Nothwehr die Gemüther des Volkes
nicht von ſich abzukehren, zog hierauf Theſeus auf ein
gemeinnützliches Wageſtück aus, bezwang den Maratho¬
niſchen Stier, der den Bewohnern der attiſchen Stadt
Tetrapolis nicht wenig Noth verurſacht hatte, führte ihn
zur Schau durch die Stadt, und opferte ihn endlich dem
Apollo.


[286]

Um dieſe Zeit kamen von der Inſel Creta zum Drit¬
tenmal Abgeordnete des Königs Minos, um den ge¬
bräuchlichen Tribut abzuholen. Mit demſelben verhielt
es ſich alſo: der Sohn des Minos, Androgeus, war, wie
die Sage ging, im Attiſchen Gebiete durch Hinterliſt ge¬
tödtet worden. Dafür hatte ſein Vater die Einwohner
mit einem verderblichen Kriege heimgeſucht; und die Göt¬
ter ſelbſt hatten das Land durch Dürre und Seuchen ver¬
wüſtet. Da that das Orakel Apollo's den Spruch, der
Zorn der Götter und die Leiden der Athener würden
aufhören, wenn ſie den Minos beſänftigten und ſeine
Verzeihung erlangen könnten. Hierauf hatten ſich die
Athener mit Bitten an ihn gewendet und Frieden erhal¬
ten unter der Bedingung, daß ſie alle neun Jahre ſieben
Jünglinge und ſieben Jungfrauen als Tribut nach Creta
ſchicken ſollten. Dieſe ſollen nun von Minos in ſein be¬
rühmtes Labyrinth eingeſchloſſen worden ſeyn, und dort
ſoll ſie der gräßliche Minotaurus, ein zwitterhaftes Ge¬
ſchöpf, das halb Menſch und halb Stier war, getödtet
haben, oder ſie ſollen auf andere Weiſe verſchmachtet ſeyn.
Als nun die Zeit des dritten Tributes herbeigekommen
war, und die Väter, welche unverheirathete Söhne und
Töchter hatten, dieſe dem entſetzlichen Looſe unterwerfen
mußten, da erneuerte ſich der Unwille der Bürger gegen
Aegeus, und ſie fingen an darüber zu murren, daß er,
der Urheber des ganzen Unheils, allein ſeinen Theil an
der Strafe nicht zu leiden habe, und nachdem er einen
hergelaufenen Baſtard zum Nachfolger ernannt, gleichgül¬
tig zuſehe, wie ihnen ihre rechtmäßigen Kinder entriſſen
würden. Den Theſeus, der ſich ſchon gewöhnt hatte,
das Geſchick ſeiner neuen Mitbürger nicht als ein frem¬
[287] des zu betrachten, ſchmerzten dieſe Klagen. Er ſtand
in der Volksverſammlung auf und erklärte ſich bereit, an
dem Tribut Theil zu nehmen und ſich ſelbſt ohne Loos hin¬
zugeben. Alles Volk bewunderte ſeinen Edelmuth und
aufopfernden Bürgerſinn, auch blieb ſein Entſchluß, ob¬
gleich ſein Vater ihn mit den dringendſten Bitten be¬
ſtürmte, daß er ihn des unerwarteten Glückes, einen Sohn
und Erben zu beſitzen, doch nicht ſobald wieder berauben
ſolle, unerſchütterlich feſt. Seinen Vater aber beruhigte
er durch die zuverſichtliche Verſicherung, daß er mit den
herausgelosten Jünglingen und Jungfrauen nicht in das
Verderben gehe, ſondern den Minotaurus bezwingen werde.
Bisher nun war das Schiff, das die unglücklichen Opfer
nach Creta hinüberführte, zum Zeichen ihrer Rettungslo¬
ſigkeit mit ſchwarzem Segel abgeſendet worden. Jetzt aber,
als Aegeus ſeinen Sohn mit ſo kühnem Stolze ſprechen
hörte, rüſtete er zwar das Schiff noch auf dieſelbe Weiſe
aus: doch gab er dem Steuermann ein anderes Segel
von weißer Farbe mit, und befahl ihm, wenn Theſeus
gerettet zurückkehre, dieſes auszuſpannen: wo nicht, mit
dem ſchwarzen zurückzukehren, und ſo das Unglück zum
Voraus anzukündigen.


Als nun das Loos gezogen war, führte der junge
Theſeus die Knaben und Mädchen, die es getroffen
hatte, zuerſt in den Tempel des Apollo, und brachte dem
Gott in ihrem Namen den mit weißer Wolle umwunde¬
nen Oelzweig, das Weihgeſchenk der Schutzſtehenden,
dar. Nachdem er das feierliche Gebet geſprochen, ging
er von allem Volke begleitet mit den auserleſenen Jüng¬
lingen und Jungfrauen ans Meeresufer hinab und beſtieg
das Trauerſchiff.


[288]

Das Orakel zu Delphi hatte ihm gerathen, er ſolle
die Göttin der Liebe zur Führerin wählen und ihr Ge¬
leite ſich erbitten. Theſeus verſtand dieſen Spruch nicht,
brachte jedoch der Venus ein Opfer dar. Der Erfolg
aber gab der Weiſſagung ihren guten Sinn. Denn als
Theſeus auf Creta gelandet hatte und vor dem Könige
Minos erſchienen war, zog ſeine Schönheit und Helden¬
jugend die Augen der reizenden Königstochter Ariadne
auf ſich. Sie geſtand ihm ihre Zuneigung in einer ge¬
heimen Unterredung und händigte ihm einen Knäul Fa¬
den ein, deſſen Ende er am Eingange des Labyrinthes
feſtknüpfen und den er während des Hinſchreitens durch
die verwirrenden Irrgänge in der Hand ablaufen laſſen
ſollte, bis er an die Stelle gelangt wäre, wo der Mino¬
taurus ſeine gräßliche Wache hielt. Zugleich übergab
ſie ihm ein gefeytes Schwerdt, womit er dieſes Un¬
geheuer tödten könnte. Theſeus ward mit allen ſeinen
Gefährten von Minos in das Labyrinth geſchickt, machte
den Führer ſeiner Genoſſen, erlegte mit ſeiner Zauber¬
waffe den Minotaurus und wand ſich mit allen, die bei
ihm waren, durch Hülfe des abgeſpulten Zwirns aus den
Höhlengängen des Labyrinthes glücklich heraus. Jetzt
entfloh Theſeus ſammt allen ſeinen Gefährten mit Hülfe
und in Begleitung Ariadne's, die der junge Held, be¬
glückt durch den lieblichen Kampfpreis, den er unerwar¬
tet errungen, mit ſich führte. Auf ihren Rath hatte er
auch den Boden der kretiſchen Schiffe zerhauen und ſo
ihrem Vater das Nachſetzen unmöglich gemacht. Schon
glaubte er ſeine holde Beute ganz in Sicherheit und
kehrte mit Ariadne ſorglos auf der Inſel Dia ein, die
ſpäter Naros genannt wurde. Da erſchien ihm der
[289] Gott Bacchus im Traum, erklärte, daß Ariadne die ihm
vom Schickſal beſtimmte Braut ſey, und drohte ihm alles
Unheil, wenn Theſeus die Geliebte nicht ihm überlaſſen
würde. Theſeus war von ſeinem Großvater in Götter¬
furcht erzogen worden: er ſcheute den Zorn des Gottes,
ließ die wehklagende, verzagende Königstochter auf
der einſamen Inſel zurück und ſchiffte weiter. In
der Nacht erſchien Ariadne's rechter Bräutigam, Bac¬
chus, und entführte ſie auf den Berg Drios; dort ver¬
ſchwand zuerſt der Gott, bald darauf ward auch Ariadne
unſichtbar. Theſeus und ſeine Gefährten waren über den
Raub der Jungfrau tief betrübt. In ihrer Traurigkeit
vergaßen ſie, daß ihr Schiff noch die ſchwarzen Segel
aufgezogen hatte, mit welchen es die attiſche Küſte ver¬
laſſen; ſie unterließen es, dem Befehle des Aegeus zu
folge die weißen Tücher aufzuſpannen und das Schiff
flog in ſeiner ſchwarzen Trauertracht der Heimathküſte
entgegen. Aegeus befand ſich eben an der Küſte als das
ſchwarze Schiff herangeſegelt kam, und genoß von einem
Felſenvorſprunge die Ausſicht auf die offene See. Aus
der Farbe der Segel ſchloß er, daß ſein Sohn todt ſey. —
Da erhub er ſich von dem Felſen, auf dem er ſaß, und
im unbegränzten Schmerze des Lebens überdrüſſig, ſtürzte
er ſich in die jähe Tiefe. Indeſſen war Theſeus gelan¬
det und, nachdem er im Hafen die Opfer dargebracht
hatte, die er bei der Abfahrt den Göttern gelobt, ſchickte
er einen Herold in die Stadt, die Rettung der ſieben
Jünglinge und ſieben Jungfrauen und ſeine eigene zu
verkündigen. Der Bote wußte nicht, was er von dem
Empfange denken ſollte, der ihm in der Stadt zu Theil
ward. Während die Einen ihn voll Freude bewillkommten
Schwab, das klaſſ. Alterthum I. 19[290] und als den Ueberbringer froher Botſchaft bekränzten,
fand er andere in tiefe Trauer verſenkt, die ſeinen fröh¬
lichen Worten gar kein Gehör ſchenkten. Endlich löste
ſich ihm das Räthſel durch die erſt allmählich ſich ver¬
breitende Nachricht vom Tode des Königes Aegeus. Der
Herold nahm nun zwar die Kränze in Empfang, ſchmückte
aber damit nicht ſeine Stirne, ſondern nur den Herolds¬
ſtab und kehrte ſo zum Geſtade zurück. Hier fand er den
Theſeus noch im Tempel mit der Darbringung des Dank¬
opfers beſchäftigt, er blieb daher vor der Thüre des
Tempels ſtehen, damit die heilige Handlung nicht durch
die Trauernachricht geſtört würde. Sobald das Brand¬
opfer ausgegoſſen war, meldete er des Aegeus Ende.
Theſeus warf ſich, vom Schmerz wie vom Blitze getrof¬
fen zur Erde, und als er ſich wieder aufgerafft hatte,
eilten alle, nicht unter Freudenjubel, wie ſie es ſich ge¬
dacht hatten, ſondern unter Wehgeſchrei und Klageruf in
die Stadt.

Theſeus als König.

Nachdem Theſeus unter vielen Klagen ſeinen Vater
beſtattet hatte, weihte er dem Apollo, was er ihm gelobt
hatte. Das Schiff, in welchem er mit den attiſchen Jüng¬
lingen und Jungfrauen abgefahren und gerettet zurückge¬
kehrt war, ein Fahrzeug von dreißig Rudern, wurde zum
ewigen Andenken von den Athenern aufbewahrt, indem
das abgängige Holz immer wieder durch neues erſetzt
ward. Und ſo wurde dieſer heilige Ueberreſt alter Hel¬
[291] denzeit noch geraume Zeit nach Alexander dem Großen
den Freunden des Alterthums gezeigt.


Theſeus, der jetzt König geworden war, zeigte bald,
daß er nicht nur ein Held in Kampf und Fehde ſey,
ſondern auch fähig einen Staat einzurichten und ein Volk
im Frieden zu beglücken. Hierin that er es ſelbſt ſeinem
Vorbilde Herkules zuvor. Er unternahm nämlich ein
großes und bewundernswürdiges Werk. Vor ſeiner Re¬
gierung wohnten die meiſten Einwohner Attika's zerſtreut
um die Burg und kleine Stadt Athen herum, auf einzel¬
nen Bauerhöfen und weilerartigen Dörfern. Sie konnten
daher nur ſchwer zuſammengebracht werden, um über öf¬
fentliche Angelegenheiten zu rathſchlagen; ja bisweilen
geriethen ſie auch über kleinliche Gegenſtände des Nach¬
barbeſitzes miteinander in Streit. Theſeus nun war es,
der alle Bürger des attiſchen Gebietes in Eine Stadt
vereinigte, und ſo aus den zerſtreuten Gemeinden einen
gemeinſchaftlichen Staat bildete; und dieſes große Werk
brachte er nicht wie ein Tyrann durch Gewalt zu Stande,
ſondern er reiſte bei den einzelnen Gemeinden und Ge¬
ſchlechtern herum, und ſuchte ihre freiwillige Einſtimmung
zu erlangen. Die Armen und Niedrigen bedurften keiner lan¬
gen Ermahnung, ſie konnten bei dem Zuſammenleben mit den
Vermöglicheren nur gewinnen; den Mächtigen und Reichen
aber verſprach er Beſchränkung der Königsgewalt, die
bisher zu Athen unbeſchränkt geweſen war, und eine
vollkommen freie Verfaſſung. „Ich ſelbſt,“ ſprach er,
„will nur euer Anführer im Kriege und Beſchützer der
Geſetze ſeyn, im Uebrigen ſoll allen meinen Mitbürgern
Gleichheit der Rechte geſtattet werden.“ Dieſes leuchtete
vielen der Vornehmen ein; andere, denen die Umwand¬
19 *[292] lung der Staatsverhältniſſe weniger willkommen war,
fürchteten ſich vor ſeiner Beliebtheit beim Volke, der
großen Macht, die er bereits beſaß und ſeinem wohlbekann¬
ten kühnen Muthe. Sie wollten daher lieber der Ueber¬
redung desjenigen nachgeben, der ſie zwingen konnte.


So hob er denn alle einzelnen Rathhäuſer und unab¬
hängigen Obrigkeiten in den Gemeinden auf, und grün¬
dete ein allen gemeinſames Rathhaus mitten in der Stadt,
ſtiftete auch ein Feſt für alle Staatsbürger, welches
er das Allathenerfeſt nannte. Erſt jetzt wurde Athen zu
einer förmlichen Stadt, und auch ſein Name Athen wurde
jetzt erſt recht gangbar. Vorher war es nichts anders
als eine Königsburg geweſen, Cekropsburg von ihrem
Gründer benannt, und nur wenige Bürgershäuſer waren
darum hergeſtanden. Um dieſe neue Stadt noch mehr
zu vergrößern, rief er unter Zuſicherung gleicher Bürger¬
rechte aus allen Gegenden neue Anſiedler herbei, denn
er wollte in Athen einen allgemeinen Völkerverein grün¬
den. Damit aber die zuſammengeſtrömte Menſchenmenge
nicht Unordnung in den neu begründeten Staat brächte,
theilte er das Volk zuerſt in Edle, Landbauern und Hand¬
werker, und wies jedem Stande ſeine eigenthümlichen Rech¬
te und Pflichten zu, ſo daß die Edeln durch Anſehen und
Amtsthätigkeit, die Landbauern durch ihre Nützlichkeit, die
Handwerker durch ihre Menge den Vorzug zu haben
ſchienen. Seine eigene Gewalt als König beſchränkte
er, wie er verſprochen hatte, und machte ſie von dem
Rathe der Edeln und der Verſammlung des Volkes ab¬
hängig.


[293]

Der Amazonenkrieg.

Während Theſeus damit beſchäftigt war, den Staat
durch Götterfurcht zu befeſtigen, und daher den Dienſt
der Athene (Minerva) als Schutzgöttin des Landes be¬
gründete, auch dem Neptunus zu Ehren, deſſen beſon¬
derer Schützling er war und für deſſen Sohn er lange
gegolten hatte, die heiligen Kampfſpiele auf dem Iſth¬
mus von Corinth einführte, oder doch erneuerte, wie
einſt Herkules die olympiſchen Spiele dem Jupiter an¬
geordnet hatte, wurde Athen von einem ſeltſamen und
auſſerordentlichen Kriege heimgeſucht. Theſeus hatte
nämlich in jüngeren Jahren auf einem Fehdenzuge an der
Küſte der Amazonen gelandet, und dieſe, die nicht män¬
nerſcheu waren, flohen ſo wenig vor dem ſtattlichen Hel¬
den, daß ſie ihm vielmehr Gaſtgeſchenke zuſandten. Dem
Theſeus aber gefielen nicht nur die Geſchenke, ſondern
auch die ſchöne Amazone, die deren Ueberbringerin war.
Dieſe hieß Hippolyte, und der Held lud ſie ein, ſein
Schiff zu beſuchen; als ſie dieſes beſtiegen hatte, fuhr er
mit ſeinem ſchönen Raube davon. Zu Athen angekom¬
men, vermählte er ſich mit ihr. Hippolyte war nicht
ungerne die Gemahlin eines Helden und eines herrlichen
Königs. Aber das ſtreitbare Weibervolk der Amazonen
war über jenen frechen Raub entrüſtet, und noch als
derſelbe längſt vergeſſen ſchien, ſannen ſie auf Rache,
nahmen eine Gelegenheit wahr, wo der Staat der Athe¬
ner unbewacht ſchien, und plötzlich eines Tages landeten
ſie mit einer Schiffeſchaar, bemächtigten ſich des Landes
und umzingelten die Stadt, in welche ſie im Sturm ein¬
brachen. Ja ſie ſchlugen mitten in derſelben ein ordent¬
[294] liches Lager und die erſchrockenen Einwohner hatten ſich
auf die Burg zurückgezogen. Beide Theile verzögerten
darauf aus Scheu den Angriff; endlich begann Theſeus
den Kampf von der Burg herab, nachdem er dem Orakel
gemäß dem Gotte des Schreckens ein Opfer gebracht
hatte. Anfangs wichen die atheniſchen Männer dem
Andrange der fremden Mannweiber und wurden bis zu
dem Tempel der Furien zurückgedrängt. Dann aber er¬
neuerte ſich der Kampf von einer andern Seite her; der
rechte Flügel der Amazonen wurde bis zu ihrem Lager
zurückgetrieben und viele wurden getödtet. Die Königin
Hippolyte ſoll in dieſer Schlacht, ihres Urſprungs un¬
eingedenk, mit ihrem Gemahl gegen die Amazonen ge¬
kämpft haben. Ein Wurfſpieß traf ſie an Theſeus Seite
und ſtreckte ſie todt darnieder. Ihrem Gedächtniß wurde
ſpäter eine Säule zu Athen errichtet. Den ganzen Krieg
beſchloß ein Friedensſchluß, dem zu Folge die Amazonen
Athen verließen und in ihr Vaterland zurückkehrten.

Theſeus und Pirithous. Lapithen- und Centaurenkampf.

Theſeus ſtand im Rufe außerordentlicher Stärke und
Tapferkeit. Pirithous, einer der berühmteſten Helden des
Alterthums, ein Sohn Ixions, empfand Luſt, ihn auf die
Probe zu ſetzen, und trieb Rinder, die jenem gehörten,
von Marathon weg; und als ihm zu Ohren kam, daß
Theſeus die Waffen in der Hand ihm nachſetze, da hatte
er, was er wollte, und floh nicht, ſondern wandte ſich
um, ihm entgegen zu gehen. Als die beiden Helden ein¬
ander nahe genug waren, um einer den andern zu meſ¬
[295] ſen, da wurde jeder von Bewunderung der ſchönen Ge¬
ſtalt und der Kühnheit des Andern ſo ſehr ergriffen, daß
ſie wie auf ein gegebenes Zeichen die Streitwaffen zu
Boden warfen und auf einander zueilten. Pirithous
ſtreckte dem Theſeus die Rechte entgegen und forderte
ihn auf, ſelbſt als Schiedsrichter über den Raub der
Rinder zu entſcheiden: welche Genugthuung Theſeus be¬
ſtimmen werde, der wolle er ſich freiwillig unterwerfen.
„Die einzige Genugthuung, die ich verlange,“ erwiederte
Theſeus mit leuchtendem Blicke, „iſt die, daß du aus einem
Feinde und Beſchädiger mein Freund und Kampfgenoſſe
werdeſt!“ Nun umarmten ſich die beiden Helden und
ſchwuren einander treue Freundſchaft zu.


Als hierauf Pirithous die theſſaliſche Fürſtentochter
Hippudamia, aus dem Geſchlechte der Lapithen, freite,
lud er auch ſeinen Waffenbruder Theſeus zu der Hochzeit.
Die Lapithen, unter denen die Feſtlichkeit gefeiert wurde, wa¬
ren ein berühmter Stamm Theſſaliens, rohe, zur Thiergeſtalt
ſich neigende Bergmenſchen, die erſten Sterblichen, welche
Pferde bändigen lernten. Die Braut aber, welche dieſem Ge¬
ſchlechte entſproßt war, hatte nichts den Männern dieſes
Stammes Aehnliche. Sie war holdſelig von Geſtalt, zar¬
ten jungfräulichen Antlitzes und ſo ſchön, daß den Piri¬
thous alle Gäſte um ihretwillen glückſelig prieſen. Alle
Fürſten Theſſaliens waren bei dem Feſte erſchienen; aber
auch die Verwandten des Pirithous, die Centauren fan¬
den ſich ein, die Halbmenſchen, die von dem Ungeheuer
abſtammten, das die Wolke, welche Irion, der Vater des
Pirithous, anſtatt der Juno umarmt hatte, dieſem dereinſt
geboren: daher ſie auch alle zuſammen die Wolkenſöhne
hießen. Dieſe waren die beſtändigen Feinde der Lapithen.


[296]

Dießmal aber hatte die Verwandtſchaft mit dem Bräuti¬
gam ſie den alten Groll vergeſſen laſſen und zu dem
Freudenfeſte herbeigelockt. Die feſtliche Hofburg des Pi¬
rithous erſcholl von wirrem Getümmel; Brautlieder
wurden geſungen, von Gluth, Wein und Speiſen dampf¬
ten die Gemächer. Der Pallaſt faßte nicht alle die
Gäſte. Lapithen und Centauren, in bunten Reihen ge¬
mengt, ſaßen an geordneten Tiſchen in baumumſchatteten
Grotten zu Gaſte.


Lange rauſchte das Feſt in ungeſtörter Fröhlichkeit.
Da begann vom vielen Genuſſe des Weines das Herz
des wildeſten unter den Centauren, Eurytion, zu ra¬
ſen, und der Anblick der ſchönen Jungfrau Hippodamia
verführte ihn zu dem tollen Gedanken, dem Bräutigam
ſeine Braut zu rauben. Niemand wußte wie es gekom¬
men war, niemand hatte den Beginn der unſinnigen
That bemerkt, aber auf einmal ſahen die Gäſte den wü¬
thenden Eurytion, wie er die ſich ſträubende und hülfe¬
rufende Hippodamia an den Haaren gewaltſam auf dem
Boden ſchleifte. Seine Unthat war für die weinerhitzte
Schaar der Centauren ein Zeichen, Gleiches zu wagen;
und ehe die fremden Helden und die Lapithen ſich von
ihren Sitzen erhoben hatten, hielt ſchon jeder der Cen¬
tauren eins der theſſaliſchen Mädchen, die am Hofe des
Königes dienten, oder als Gäſte bei der Hochzeit zuge¬
gen waren, mit rohen Händen als eine Beute gefaßt.
Die Hofburg und die Gärten glichen einer eroberten Stadt.
Das Geſchrei der Weiber hallte durch das weite Haus.
Schnell ſprangen Freunde und Geſchlechtsverwandte der
Braut von ihren Sitzen empor. „Welche Verblendung
treibt dich, Eurytion,“ rief Theſeus, „den Pirithous zu
[297] reizen, während Ich noch lebe, und ſo zwei Helden in Ei¬
nem zu kränken?“ Mit dieſem Worte drängte er auf
die Stürmenden ein und entriß dem wüthenden Räuber
die Geraubte. Eurytion ſprach nichts darauf, denn er
konnte ſeine That nicht vertheidigen, ſondern er hub ſeine
Hand gegen Theſeus auf und verſetzte dieſem einen Schlag
auf die Bruſt. Aber Theſeus griff — da ihm keine
Waffe zur Hand war — einen ehernen Krug mit erha¬
bener Arbeit, der zufällig neben ihm ſtand; dieſen ſchmet¬
terte er dem Gegner in's Antlitz, daß er rücklings in
den Sand fiel und Gehirn und Blut zugleich aus der
Kopfwunde drang. „Zu den Waffen!“ ſcholl es jetzt
von allen Seiten an den Centaurentiſchen; zuerſt flogen
Becher, Flaſchen und Näpfe; dann entriß ein tempel¬
räuberiſches Unthier die Weihgeſchenke den benachbarten
heiligen Stätten; ein anderer riß die Lampe herab, die
über dem Mahle voll Kerzen brannte, wieder ein anderer
focht mit einem Hirſchgeweih, das an den Wänden der
Grotte als Schmuck und Weihgeſchenk hing. Ein ent¬
ſetzliches Gemetzel wurde unter den Lapithen angerichtet.
Rhötus, der Schlimmſte nach Eurytion, ergriff die größte
Brandfackel vom Altare und bohrte ſie einem ſchon ver¬
wundeten Lapithen wie ein Schwerdt in die klaffende
Wunde, daß das Blut wie Eiſen in der Eſſe ziſchte.
Gegen dieſen jedoch hub der tapferſte Lapithe, Dryas,
einen im Feuer geglühten Pfahl und durchbohrte ihn
zwiſchen Nacken und Schulter. Der Fall dieſes Cen¬
tauren that dem Morden ſeiner raſenden Geſellen Ein¬
halt und Dryas vergalt nun den Wüthenden, indem er
fünf hinter einander niederſtreckte. Jetzt flog auch der
Speer des Helden Pirithous und durchbohrte einen rie¬
[298] ſigen Centauren, den Peträus, wie er gerade einen Eichen¬
ſtamm aus der Erde zu rütteln bemüht war, um damit
zu kämpfen; ſo wie er den Stamm eben umklammert
hielt, heftete der Speer ſeine ſchwer athmende Bruſt ans
knorrige Eichenholz. Ein zweiter, Diktys, fiel vor den
Streichen des griechiſchen Helden und zerknickte im Fal¬
len eine mächtige Eſche. Ein dritter wollte dieſen rä¬
chen, wurde aber von Theſeus mit einem Eichpfahl zer¬
malmt. Der ſchönſte und jugendlichſte unter den Cen¬
tauren war Cyllarus; goldfarben ſein langes Lockenhaar
und ſein Bart, ſein Antlitz freundlich, Nacken, Schultern,
Hände und Bruſt wie vom Künſtler geformt, auch der
untere Theil ſeines Körpers, der Roßleib, war ohne
Fehle, der Rücken bequem zum Sitzen, die Bruſt hoch¬
gewölbt, die Farbe pechſchwarz, nur Beine und Ro߬
ſchweif lichtfarbig. Er war mit ſeiner Geliebten, der
ſchönen Centaurin Hylonome, bei'm Feſt erſchienen, die ſich
bei'm Mahle liebkoſend an ihn lehnte, und auch jetzt mit
ihm vereint im wüthenden Kampf an ſeiner Seite focht.
Dieſen traf, von unbekannter Hand, eine leichte Wunde
in's Herz, daß er ſterbend ſeiner Geliebten in die Arme
ſank. Hylonome pflegte ſeine ſterbenden Glieder, küßte
ihn und verſuchte vergebens den entfliehenden Athem
aufzuhalten. Als ſie ihn verſcheiden ſah, zog ſie ihm
den Wurfpfeil aus dem Herzen und ſtürzte ſich darein.


Noch lange wüthete der Kampf zwiſchen den Lapi¬
then und den Centauren fort, bis die letzteren ganz un¬
terlegen waren und nur Flucht und Nacht dem weitern
Gemetzel ſie entrückte. Jetzt blieb Pirithous im unbe¬
ſtrittenen Beſitze ſeiner Braut, und Theſeus verabſchie¬
dete ſich am andern Morgen von ſeinem Freunde. Der
[299] gemeinſchaftliche Kampf hatte das friſchgeknüpfte Band
dieſer Verbrüderung ſchnell in einen unauflöslichen Kno¬
ten zuſammengezogen.

Theſeus und Phädra.

Theſeus ſtand jetzt auf dem Wendepunkte ſeines
Glücks. Gerade ein Verſuch, daſſelbe nicht nur auf
Abentheuern zu ſuchen, ſondern es ſich an ſeinem eigenen
Herde zu gründen, ſtürzte ihn in ſchwere Drangſal.
Als der Held in der Blüthe ſeiner Thaten und in den erſten
Jünglingsjahren die Geliebte ſeiner Jugend Ariadne ih¬
rem Vater Minos aus Creta entführte, wurde dieſe von
ihrer kleinen Schweſter Phädra begleitet, welche nicht
von ihr weichen wollte, und, nachdem Ariadne von Bac¬
chus geraubt worden war, den Theſeus nach Athen be¬
gleitete, weil ſie nicht wagen durfte, zu ihrem tyranni¬
ſchen Vater zurückzukehren. Erſt als ihr Vater geſtor¬
ben war, ging das aufblühende Mädchen in ihre Hei¬
math Creta zurück und erwuchs dort in dem Königs¬
hauſe ihres Bruders Deukalion, der als der älteſte Sohn
des Königes Minos die Inſel jetzt beherrſchte, zu einer
ſchönen und klugen Jungfrau heran. Theſeus, der nach
dem Tode ſeiner Gemahlin Hippolyta lange Zeit unver¬
mählt geblieben war, hörte viel von ihren Reizen und
hoffte, ſie an Schönheit und Anmuth ſeiner erſten Ge¬
liebten, ihrer Schweſter Ariadne ähnlich zu finden; Deu¬
kalion, der neue König von Creta, war auch dem Helden
nicht abhold und ſchloß, als Theſeus von der blutigen
Hochzeit ſeines theſſaliſchen Freundes zurückgekehrt war,
[300] ein Schutz- und Trutzbündniß mit den Athenern. An
ihn wandte ſich nun Theſeus mit ſeiner Bitte, ihm die
Schweſter Phädra zur Gemahlin zu geben. Sie wurde
ihm nicht verſagt, und bald führte der Sohn des Aegeus
die Jungfrau aus Creta heim, die wirklich von Geſtalt
und äußerer Sitte der Geliebten ſeiner Jugend ſo ähnlich
war, daß Theſeus die Hoffnung ſeiner jungen Jahre
im ſpäteren Mannesalter erfüllt glauben konnte. Da¬
mit zu ſeinem Glücke nichts fehlen konnte, gebar ſie in
den erſten Jahren ihrer Ehe dem Könige zwei Söhne,
den Akamas und den Demophon. Aber Phädra war
nicht ſo gut und getreu, als ſie ſchön war. Ihr gefiel
der junge Sohn des Königes, Hippolytus, der ihres Al¬
ters war, beſſer als der greiſe Vater. Dieſer Hippolytus
war der einzige Sohn, den die von Theſeus entführte
Amazone ihrem Gemahl geboren hatte. In früher Ju¬
gend hatte dieſen Sohn der Vater nach Trözen geſchickt,
um ihn bei den Brüdern ſeiner Mutter Aethra erziehen zu
laſſen. Wie er erwachſen war, kam der ſchöne und züch¬
tige Jüngling, der ſein ganzes Leben der reinen Göttin
Diana zu weihen beſchloſſen und noch keiner Frau ins
Auge geſchaut hatte, nach Athen und Eleuſis, um hier
die Myſterien mitfeiern zu helfen. Da ſah ihn Phädra
zum erſtenmale; ſie glaubte ihren Gatten verjüngt wie¬
der zu ſehen, und ſeine ſchöne Geſtalt und Unſchuld ent¬
flammte ihr Herz zu unreinen Wünſchen; doch verſchloß
ſie ihre verkehrte Leidenſchaft noch in ihre Bruſt. Als
der Jüngling abgereist war, erbaute ſie auf der Burg
von Athen der Liebesgöttin einen Tempel, von wo aus
man nach Trözen blicken konnte, und der ſpäter den
Namen Tempel der Venus Fernſchauerin erhielt. Hier
[301] ſaß ſie Tage lang, den Blick auf das Meer gerichtet.
Als endlich Theſeus eine Reiſe nach Trözen machte, ſeine
dortigen Verwandten und den Sohn zu beſuchen, beglei¬
tete ihn ſeine Gemahlin dorthin und verweilte geraume
Zeit daſelbſt. Auch hier kämpfte ſie noch lange mit dem
unlautern Feuer in ihrer Bruſt, ſuchte die Einſamkeit und
verweinte ihr Elend unter einem Myrthenbaume. End¬
lich aber vertraute ſie ſich ihrer alten Amme, einem ver¬
ſchmitzten und ihrer Gebieterin in blinder und thörichter
Liebe ergebenen Weibe, an, die es bald über ſich nahm,
den Jüngling von der ſtrafbaren Leidenſchaft ſeiner
Stiefmutter zu unterrichten. Aber der unſchuldige Hippo¬
lytus hörte ihren Bericht mit Abſcheu an, und ſein Ent¬
ſetzen ſtieg, als ihm die pflichtvergeſſene Stiefmutter ſo¬
gar den Antrag machen ließ, den eigenen Vater vom
Throne zu ſtoßen und mit der Ehebrecherin Zepter und
Herrſchaft zu theilen. In ſeinem Abſcheu fluchte er allen
Weibern und meinte ſchon durch das bloße Anhören
eines ſo ſchändlichen Vorſchlags entweiht zu ſeyn. Und
weil Theſeus gerade abweſend von Trözen war — denn
dieſen Zeitpunkt hatte das treuloſe Weib erſpäht — ſo
erklärte Hippolytus auch keinen Augenblick mit Phädra
unter Einem Dache verweilen zu wollen, ſondern machte
ſich, nachdem er die Amme nach Gebühr abgefertigt, ins
Freie, um im Dienſte ſeiner geliebten Herrin, der Göt¬
tin Diana, in den Wäldern zu jagen und ſo lange dem
Königshauſe nicht wieder zu nahen, bis ſein Vater zu¬
rückgekehrt ſeyn würde und er ſein gepeinigtes Herz vor
ihm ausſchütten könnte.


Phädra vermochte die Abweiſung ihrer verbrecheri¬
ſchen Anträge nicht zu überleben. Das Bewußtſeyn ihres
[302] Frevels und die unerhörte Leidenſchaft ſtritten ſich in ih¬
rer Bruſt; aber die Bosheit gewann die Oberhand. Als
Theſeus zurückkehrte, fand er ſeine Gattin erhängt und
in ihrer krampfhaft zuſammengeballten Rechten einen von
ihr vor dem Tode abgefaßten Brief, in welchem ge¬
ſchrieben ſtand: „Hippolytus hat nach meiner Ehre ge¬
trachtet; ſeinen Nachſtellungen zu entfliehen iſt mir nur
Ein Ausweg geblieben. Ich bin geſtorben, ehe ich die
Treue meinem Gatten verletzt habe.“


Lange ſtand Theſeus vor Entſetzen und Abſcheu wie
eingewurzelt in der Erde. Endlich hub er ſeine Hände
gen Himmel und betete: „Vater Neptunus, der du mich
ſtets geliebt haſt, wie dein leibliches Kind, du haſt mir
einſt drei Bitten freigegeben, die du mir erfüllen wolleſt
und deine Gnade mir erzeigen unweigerlich. Jetzt gemahne
ich dich an dein Verſprechen. Nur Eine Bitte will ich
erfüllt haben; laß meinem verfluchten Sohn an dieſem
Tage die Sonne nicht mehr untergehen!“ Kaum hatte er
dieſen Fluch ausgeſprochen, als auch Hippolytus von der
Jagd heimgekehrt und von der Rückkehr ſeines Vaters
unterrichtet, in den Pallaſt einging und der Spur des
Weheklagens nachgehend vor das Antlitz des Vaters und
die Leiche der Stiefmutter trat. Auf die Schmähungen
des Vaters erwiederte der Sohn mit ſanfter Ruhe:
„Vater, mein Gewiſſen iſt jungfräulich. Ich weiß mich
dieſer Unthat nicht ſchuldig.“ Aber Theſeus hielt ihm
den Brief der Stiefmutter entgegen und verbannte ihn
ungerichtet aus dem Lande. Hippolytus rief ſeine
Schutzgöttin, die jungfräuliche Diana, zur Zeugin ſeiner
Unſchuld auf und ſagte ſeinem zweiten Heimathlande
Trözen unter Seufzern und Thränen Lebewohl.


[303]

Noch am Abende deſſelben Tages ſuchte den König
Theſeus ein Eilbote auf und ſprach, als er vor ihn ge¬
ſtellt war: „Herr und König, dein Sohn Hippolytus
ſieht das Tageslicht nicht mehr!“ Theſeus empfing dieſe
Botſchaft ganz kalt und ſagte mit bitterem Lächeln:
„hat ihn ein Feind erſchlagen, deſſen Weib er entehrt
hat, wie er das Weib des Vaters entehren wollte?“ —
„Nein, Herr!“ erwiederte der Bote. „Sein eigener Wa¬
gen und der Fluch deines Mundes haben ihn umge¬
bracht!“ — „O Neptunus,“ ſprach Theſeus, die Hände
dankend gen Himmel erhoben, „ſo haſt du dich mir heute
als ein rechter Vater bezeigt und meine Bitte erhört!
Aber ſprich, Bote, wie hat mein Sohn geendet, wie hat
meinen Ehrenſchänder die Keule der Vergeltung getrof¬
fen?“ Der Bote fing an zu erzählen: Wir Diener
ſtriegelten am Meeresufer die Roſſe unſeres Herrn Hip¬
polytus, als die Botſchaft von ſeiner Verbannung und
bald er ſelbſt kam, von einer Schaar wehklagender Ju¬
gendfreunde begleitet und uns Roſſe und Wagen zur
Abfahrt zu rüſten befahl. Als Alles bereit war, hub er
die Hände gen Himmel und betete: „Jupiter, mögeſt du
mich vertilgen, wenn ich ein ſchlechter Mann war! Und
möge, ſey ich nun todt oder lebendig, mein Vater erfah¬
ren, daß er mich ohne Fug entehrt!“ Dann nahm, er den
Roſſeſtachel zur Hand, ſchwang ſich auf den Wagen, er¬
griff die Zügel und fuhr von uns Dienern begleitet auf
dem Wege nach Argos und Epidaurien davon. Wir
waren ſo an's öde Meergeſtade gekommen, zu unſerer
Rechten die Fluth, zur Linken von den Hügeln vorſprin¬
gende Felsblöcke, als wir plötzlich ein tiefes Geräuſch
vernahmen, unterirdiſchem Donner ähnlich. Die Roſſe
[304] wurden aufmerkſam und ſpitzten ihr Ohr; und wir alle
ſahen uns ängſtlich um, woher der Schall käme. Als
unſer Blick auf das Meer fiel, zeigte ſich uns hier eine
Welle, die thurmhoch gen Himmel ragte und alle Aus¬
ſicht auf das weitere Ufer und den Iſthmus uns benahm;
der Waſſerſchwall ergoß ſich bald mit Schaum und To¬
ſen über das Ufer, gerade auf den Pfad zu, den die
Roſſe gingen. Mit der tobenden Welle zugleich aber
ſpie die See ein Ungeheuer aus, einen rieſenhaften Stier,
von deſſen Brüllen das Ufer und die Felſen wiederhall¬
ten. Dieſer Anblick jagte den Pferden eine plötzliche
Angſt ein. Unſer Herr jedoch, an's Lenken der Roſſe
gewöhnt, zog den Zügel mit beiden Händen ſtraff an,
und gebrauchte deſſelben, wie ein geſchickter Steuermann
ſein Ruder regiert. Aber die Roſſe waren läufig ge¬
worden, biſſen den Zaum und rannten dem Lenker un¬
gehorſam davon. Aber wie ſie nun auf ebener Straße fort¬
jagen wollten, vertrat ihnen das Seeungeheuer den Weg;
bogen ſie ſeitwärts zu den Felſen um, ſo drängte es ſie
ganz hinüber, indem es den Rädern dicht zur Seite
trabte. So geſchah es endlich, daß auf der andern
Seite die Radfelgen auf die Felſen aufzuſitzen kamen,
und dein unglücklicher Sohn kopfüber vom Wagen ge¬
ſtürzt und mit ſammt dem umgeworfenen von den Roſ¬
ſen, die ohne Führer dahin ſtürmten, über Sand und
Felsgeſtein dahin geſchleift wurde. Alles ging viel zu
ſchnell, als daß wir begleitenden Diener dem Herrn hät¬
ten zu Hülfe kommen können. Halbzerſchmettert hauchte
er den Zuruf an ſeine ſonſt ſo gehorſamen Roſſe und
die Wehklage über den Fluch ſeines Vaters in die Lüfte.
Eine Felsecke entzog uns den Anblick. Das Meerungeheuer
[305] war verſchwunden, wie vom Boden eingeſchlungen. Wäh¬
rend nun die übrigen Diener athemlos die Spur des Wa¬
gens verfolgten, bin ich hierher geeilt, o König, das
jammervolle Schickſal deines Sohnes dir zu verkünden!“


Theſeus ſtarrte auf dieſen Bericht lange ſprachlos
zu Boden. „Ich freue mich nicht über ſein Unglück; ich
beklage es nicht,“ ſprach er endlich nachſinnend und in
Zweifel vertieft. „Könnte ich ihn doch lebend noch ſehen,
ihn befragen, mit ihm handeln über ſeine Schuld.“ Dieſe
Rede wurde durch das Wehgeſchrei einer alten Frau un¬
terbrochen, die mit grauem, fliegendem Haar und zerriſſe¬
nem Gewande herbeieilend die Reihen der Dienerſchaft
trennte und dem Könige Theſeus ſich zu Füßen warf.
Es war die greiſe Amme der Königin Phädra, die auf
das Gerücht von Hippolytus jämmerlichem Untergange
von ihrem Gewiſſen gefoltert, nicht länger ſchweigen
konnte, und unter Thränen und Geſchrei die Unſchuld
des Jünglings und die Schuld ihrer Gebieterin dem Kö¬
nig offenbarte. Ehe der unglückliche Vater recht zur Be¬
ſinnung kommen konnte, wurde auf einer Tragbahre von
wehklagenden Dienern ſein Sohn Hippolytus, zerſchmettert,
aber noch athmend, in den Pallaſt und vor ſeine Augen
getragen. Theſeus warf ſich reumüthig und verzweifelnd
über den Sterbenden, der ſeine letzten Lebensgeiſter zu¬
ſammenraffte und an die Umſtehenden die Frage richtete:
„Iſt meine Unſchuld erkannt?“ Ein Wink der Nächſtſte¬
henden gab ihm dieſen Troſt: „Unglückſeliger, getäuſch¬
ter Vater“, ſprach der ſterbende Jüngling, „ich vergebe
dir!“ und verſchied.


Er wurde von Theſeus unter denſelben Myrthen¬
baum begraben, unter welchem einſt Phädra mit ihrer
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 20[306] Liebe gekämpft und deſſen Blätter ſie oft, in der Ver¬
zweiflung an den Aeſten zerrend, zerriſſen hatte, und wo
nun, als an ihrem Lieblingsplatz, ihre Leiche beigeſetzt
worden war, denn der König wollte ſeine Gemahlin im
Tode nicht entehren.

Theſeus auf Frauenraub.

Durch die Verbindung mit dem jungen Helden Pirithous
erwachte in dem verlaſſenen und alternden Theſeus die
Luſt zu kühnen und ſelbſt muthwilligen Abentheuern wieder.
Dem Pirithous war ſeine Gattin Hippodamia nach kur¬
zem Beſitze geſtorben, und da auch Theſeus jetzt ehelos
war, ſo gingen Beide auf Frauenraub aus. Damals
war die nachher ſo berühmt gewordene Helena, die Toch¬
ter Jupiters und der Leda, die in dem Pallaſte ihres
Stiefvaters Tyndareus zu Sparta aufwuchs, noch ſehr
jung. Aber ſie war ſchon die ſchönſte Jungfrau ihrer
Zeit und ihre Anmuth fing an, in ganz Griechenland be¬
kannt zu werden. Dieſe ſahen Theſeus und Pirithous,
als ſie auf dem genannten Raubzuge nach Sparta kamen,
in einem Tempel der Diana tanzen. Beide wurden von
Liebe zu ihr entzündet. Sie raubten ſie in ihrem Ueber¬
muth aus dem Heiligthum und brachten ſie zuerſt nach
Tegea in Arkadien. Hier warfen ſie das Loos über die¬
ſelbe und einer verſprach dem andern brüderlich, ihm, wenn
das Loos ihn verfehle, zum Raub einer andern Schön¬
heit behülflich zu ſeyn. Das Loos theilte die Beute dem
Theſeus zu, und nun brachte ſie dieſer nach Aphidnä im
attiſchen Gebiete, übergab die Jungfrau dort ſeiner Mut¬
[307] ter Aethra und ſtellte ſie unter den Schutz ſeines Freun¬
des. Darauf zog Theſeus weiter mit ſeinem Waffenbru¬
der und beide ſannen auf eine Herkuliſche That. Piri¬
thous entſchloß ſich nemlich, die Gemahlin Pluto's, Proſer¬
pina, der Unterwelt zu entführen und ſich durch ihren Beſitz
für den Verluſt Helena's zu entſchädigen. Daß ihnen
dieſer Verſuch mißglückte und ſie von Pluto zu ewigem
Sitzen in der Unterwelt verdammt wurden, daß Her¬
kules, der Beide befreien wollte, nur den Theſeus aus
dem Hades erretten konnte, iſt ſchon erzählt worden. Wäh¬
rend nun Theſeus auf dieſem unglücklichen Zuge abweſend
war und in der Unterwelt gefangen ſaß, machten ſich die
Brüder Helena's, Caſtor und Pollux auf und rückten ge¬
gen Attika heran, um ihre Schweſter Helena zu befreien.
Indeſſen verübten ſie anfangs keine Feindſeligkeiten im
Lande, ſondern kamen friedlich nach Athen und forderten
hier die Zurückgabe Helena's. Als aber die Leute in der
Stadt antworteten, daß ſie weder die junge Fürſtin bei
ſich hätten, noch wüßten, wo Theſeus ſie zurückgelaſſen,
wurden ſie zornig und ſchickten ſich, mit den ſie be¬
gleitenden Schaaren, zum wirklichen Kriege an. Jetzt
erſchracken die Athener, und einer aus ihrer Mitte, mit
Namen Akademus, der das Geheimniß des Theſeus auf
irgend eine Art erfahren hatte, entdeckte den Brüdern,
daß der Ort, wo ſie verborgen gehalten werde, Aphidnä
ſey. Vor dieſe Stadt rückten nun Caſtor und Pollux,
ſiegten in einer Schlacht und eroberten den Platz mit
Sturm.


Zu Athen hatte ſich inzwiſchen auch Anderes begeben,
was für Theſeus ungünſtig war. Meneſtheus, der Sohn
des Peteos, ein Urenkel des Erechtheus, hatte ſich als
20 *[308] Volksführer und Schmeichler der Menge gegen den leer¬
ſtehenden Thron aufgelehnt, und auch die Vornehmen auf¬
gewiegelt, indem er ihnen vorſtellte, wie der König ſie
dadurch, daß er ſie von ihren Landſitzen in die Stadt
hereingezogen, zu Unterthanen und Sklaven gemacht habe.
Dem Volk aber hielt er vor, wie es, dem Traume der
Freiheit zu lieb, ſeine ländlichen Heiligthümer und Götter
habe verlaſſen müßen, und ſtatt von vielen guten einhei¬
miſchen Herren abhängig zu ſeyn, einem Fremdling und
Deſpoten diene. Wie nun Aphidnä's Eroberung durch
die Tyndariden Athen mit Schrecken erfüllte, da benützte
Meneſtheus auch dieſe Stimmung des Volkes. Er bewog
die Bürger, den Söhnen des Tyndareus, welche die Jung¬
frau Helena, ihren Wächtern entriſſen, mit ſich führten,
die Stadt zu öffnen und ſie freundlich zu empfangen,
da dieſelben nur gegen Theſeus, als den Räuber des
Mädchens, Krieg führten. Ihr Betragen bewies, daß
Meneſtheus dießmal wahr geſprochen hatte: denn obgleich
ſie durch offene Thore in Athen einzogen und alles dort
in ihrer Gewalt war, ſo thaten ſie doch Niemand etwas
zu Leide, verlangten vielmehr nur, wie andere vornehme
Athener und Verwandte des Herkules, in den Geheimdienſt
der eleuſiniſchen Myſterien aufgenommen zu werden, und
zogen dann mit ihrer geretteten Helena, von den Bürgern,
die ſie liebten und ehrten, zur Stadt hinausgeleitet, wie¬
der in ihre Heimath.

Theſeus' Ende.

In ſeiner langen Gefangenſchaft im Hades hatte
Theſeus Zeit gehabt, das Unbeſonnene und Unedle ſeiner
[309] letzten Handlungsweiſe, die mit ſeinem übrigen Helden¬
thum gar nicht zuſammenſtimmte, zu erkennen und zu be¬
reuen. Er kam als ernſter Greis zurück, und vernahm
die Rettung Helena's durch ihre Brüder nicht mit Un¬
willen, denn er ſchämte ſich ſeiner That. Mehr beküm¬
merte ihn die Zwietracht, die er im Staate antraf, und
obgleich er die Zügel der Regierung wieder ergriff und
die Partei des Meneſtheus zurückdrängte, genoß er doch
keine rechte Ruhe mehr ſein Leben lang. Und als er
das Ruder des Staates mit Ernſt führen wollte, brachen
aufs Neue Empörungen gegen ihn aus, an deren Spitze
immer Meneſtheus ſtand, welcher hinter ſich die Partei
der Edeln hatte, die immer noch von Pallas, ſeinem Oheime,
und deſſen beſiegten und erſchlagenen Söhnen ſich die
Pallantiden nannten. Diejenigen, welche ihn vorher ge¬
haßt hatten, verlernten allmählig auch die Furcht vor ihm,
und das gemeine Volk hatte Meneſtheus ſo verwöhnt, daß
es, anſtatt zu gehorchen, immer nur geſchmeichelt wer¬
den wollte. Anfänglich verſuchte nun Theſeus gewalt¬
ſame Mittel; als aber aufwiegleriſche Umtriebe und of¬
fene Widerſetzlichkeit alle ſeine Bemühungen vereitelte, da
beſchloß der unglückliche König ſeine unbotmäßige Stadt
freiwillig zu verlaſſen, nachdem er ſchon vorher ſeine
Söhne Akamas und Demophon heimlich nach Euböa zu
dem Fürſten Elephenor geflüchtet hatte. In einem Flecken
von Attika, Gargettus genannt, ſprach er feierliche Ver¬
wünſchungen gegen die Athener aus, da wo man noch
lange nachher das Verwünſchungsfeld zeigte; dann ſchüt¬
telte er den Staub von ſeinen Füßen, und ſchiffte ſich
nach Scyrus ein. Die Einwohner dieſer Inſel hielt
er für ſeine beſondern Freunde, und er beſaß darauf
[310] anſehnliche Güter, die er von ſeinem Vater ererbt
hatte.


Damals war Lykomedes König von Scyrus. Zu
dieſem ging Theſeus und bat ſich von ihm ſeine Güter
aus, um auf denſelben ſeinen Sitz zu nehmen. Aber das
Geſchick hatte ihn einen ſchlimmen Weg geführt. Lykome¬
des, ſey es, daß er den großen Ruf des Mannes fürch¬
tete, ſey's, daß er mit Meneſtheus in geheimem Einver¬
ſtändniſſe war, dachte darauf, wie er den in ſeine Hände
gegebenen Gaſt, ohne Aufſehen zu erregen, aus dem Wege
räumen könnte. Er führte ihn deßwegen auf den höch¬
ſten Felſengipfel der Inſel, der ſchroff in das Land hin¬
ausſprang. Er wollte ihn, war ſein Vorgeben, die ſchö¬
nen Güter, die ſein Vater auf dem Eilande beſeſſen hatte,
mit Einem Blick überſchauen laſſen. Theſeus, oben ange¬
kommen, ließ ſeine Augen gierig über die ſchönen Gefilde
ſtreifen: da gab ihm der treuloſe König einen Stoß von
hinten, daß er über die Felſen hinabſtürzte und nur ſein
zerſchmetterter Leichnam in der Tiefe ankam.


Zu Athen war Theſeus von dem undankbaren Volke
bald vergeſſen und Meneſtheus regierte, als wenn er den
Thron von vielen Ahnen ererbt hätte. Die Söhne des
Theſeus zogen mit dem Helden Elephenor als gemeine
Krieger vor Troja. Viele Jahrhunderte ſpäter, nach
dem glorreichen Kriege gegen die Perſer, befahl das Ora¬
kel von Delphi den Athenern, des Theſeus Gebeine zu
holen und ehrenvoll zu beſtatten. Aber wo ſollten ſie die¬
ſelben ſuchen? Und wenn ſie auch auf der Inſel Scyrus
das Grab gefunden hätten, wie ſollten ſie ſeine Ueberreſte
aus den Händen roher und den Fremden unzugänglicher
Barbaren erlöſen? Da geſchah es, daß der berühmte
[311] Athener Cimon, der Sohn des Miltiades, auf einem neu¬
en Feldzuge die Inſel Scyrus eroberte. Während er
nun mit großem Eifer das Grab des Nationalheros auf¬
ſuchte, bemerkte er über einem Hügel einen Adler ſchwe¬
bend. Er machte halt an dieſer Stelle, und ſah bald,
wie der Vogel herabſchoß und die Erde des Grabhügels
mit ſeinen Krallen aufſcharrte. Cimon erblickte in die¬
ſem Zeichen eine göttliche Fügung, ließ nachgraben und
fand tief in der Erde den Sarg eines großen Leichnams,
daneben eine eherne Lanze und ein Schwert. Er und
ſeine Begleiter zweifelten nicht daran, des Theſeus Ge¬
beine gefunden zu haben. Die heiligen Ueberreſte wurden
von Cimon auf ein ſchönes Kriegsſchiff mit drei Ruder¬
bänken gebracht und in Athen mit Jubel, unter glänzen¬
den Aufzügen und Opfern empfangen. Es war, als ob
Theſeus ſelbſt in die Stadt zurückkehrte. So bezahlten
nach Jahrhunderten die Nachkommen dem Begründer der
Freiheit und Bürgerverfaſſung Athens den Dank, den ihm
eine ſchnöde Mitwelt ſchuldig geblieben war.


[312]

Die Sage von Oedipus.

Des Oedipus Geburt, Jugend, Flucht, Vatermord.

Laus, Sohn des Labdakus, aus dem Stamme des
Kadmus, war König von Thebe, und lebte mit Iokaſte,
der Tochter eines vornehmen Thebaners, Menökeus,
lange in kinderloſer Ehe. Da ihn nun ſehnlich nach ei¬
nem Erben verlangte und er darüber den delphiſchen Apoll
um Aufſchluß befragte, wurde ihm ein Orakelſpruch des
folgenden Inhalts zu Theil: „Laus, Sohn des Labda¬
kus! Du begehreſt Kinderſegen. Wohl; dir ſoll ein Sohn
gewährt werden. Aber wiſſe, daß dir vom Geſchicke ver¬
hängt iſt, durch die Hand deines eigenen Kindes das
Leben zu verlieren. Dieß iſt das Gebot Jupiters des
Kroniden, der den Fluch des Pelops erhört hat, dem du
den Sohn geraubt haſt.“ Laus war nämlich in ſeiner
Jugend landesflüchtig, und im Peloponneſe am Hofe des
Königs Pelops als Gaſt aufgenommen worden. Er
hatte aber ſeinem Wohlthäter mit Undank gelohnt, und
Chryſippus, den ſchönen Sohn des Pelops, auf den nemäi¬
ſchen Spielen entführt. Dieſer Schuld ſich bewußt, glaubte
Laus dem Orakel, und lebte lange von ſeiner Gattin
getrennt. Doch führte die herzliche Liebe, mit welcher
ſie einander zugethan waren, trotz der Warnung des
Schickſals, beide wieder zuſammen, und Iokaſte gebar end¬
lich ihrem Gemahl einen Sohn. Als das Kind zur
Welt gekommen war, fiel den Eltern der Orakelſpruch
wieder ein, und um dem Spruche des Gottes auszuwei¬
chen, ließen ſie den neugebornen Sohn nach drei Tagen
[313] mit durchſtochenen und zuſammengebundenen Füßen in
das wilde Gebirge Cithäron werfen. Aber der Hirte, wel¬
cher den grauſamen Auftrag erhalten hatte, empfand Mit¬
leid mit dem unſchuldigen Kinde, und übergab es einem
andern Hirten, der in demſelben Gebirge die Herden des
Königes Polybus von Korinth weidete. Dann kehrte er
wieder heim, und ſtellte ſich vor dem Könige und ſeiner
Gemahlin Jokaſte, als hätte er den Auftrag erfüllt. Dieſe
glaubten das Kind verſchmachtet oder von wilden Thie¬
ren zerriſſen und die Erfüllung des Orakelſpruches dadurch
unmöglich gemacht. Sie beruhigten ihr Gewiſſen mit dem
Gedanken, daß ſie durch die Aufopferung des Kindes daſ¬
ſelbe vor Vatermord behütet hätten und lebten jetzt erſt
mit erleichtertem Herzen.


Der Hirte des Polybus löste indeſſen dem Kinde,
das ihm, ohne daß er es wußte, woher es kam, übergeben
worden war, die ganz durchbohrten Ferſen der Füße und
nannte ihn von ſeinen Wunden Oedipus, das heißt
Schwellfuß. So brachte er ihn nach Korinth zu ſeinem
Herrn, dem Könige Polybus. Dieſer erbarmte ſich des
Findlings, übergab ihn ſeiner Gemahlin Merope, und
zog ihn als ſeinen eigenen Sohn auf, für den er auch am
Hofe und im ganzen Lande galt. Zum Jünglinge heran¬
gereift, wurde er dort ſtets für den höchſten Bürger ge¬
halten und lebte ſelbſt in der glücklichen Ueberzeugung,
Sohn und Erbe des Königes Polybus zu ſeyn, der keine
andere Kinder hatte. Da ereignete ſich ein Zufall, der
ihn aus dieſer Zuverſicht plötzlich in den Abgrund der
Zweifel ſtürzte. Ein Korinther, der ihm ſchon längere
Zeit aus Neid abhold war, rief an einem Feſtmahle,
von Wein überfüllt, dem ihm gegenübergelagerten Oedipus
[314] zu, er ſey ſeines Vaters ächter Sohn nicht. Von dieſem
Vorwurfe ſchwer betroffen, konnte der Jüngling das Ende
des Mahles kaum erwarten; doch verſchloß er ſeinen
Zweifel ſelbigen Tag noch kämpfend in der Bruſt. Am
andern Morgen aber trat er vor ſeine beiden Eltern, die
freilich nur ſeine Pflegeältern waren, und verlangte von
ihnen Auskunft. Polybus und ſeine Gattin waren über
den Schmäher, dem dieſe Rede entfallen war, ſehr auf¬
gebracht, und ſuchten ihrem Sohn ſeine Zweifel auszure¬
den, ohne ihm jedoch dieſelben durch eine runde Antwort
zu heben. Die Liebe, die er in ihrer Aeuſſerung erkannte,
war dieſem zwar ſehr erquicklich; aber jenes Mißtrauen
nagte doch ſeitdem an ſeinem Herzen, denn die Worte
ſeines Feindes waren zu tief eingedrungen. Endlich griff
er heimlich zum Wanderſtabe, und ohne ſeinen Eltern
ein Wort zu ſagen, ſuchte er das Orakel zu Delphi auf,
und hoffte von ihm eine Widerlegung der ehrenrührigen
Beſchuldigung zu vernehmen. Aber Phöbus Apollo wür¬
digte ihn dort keiner Antwort auf ſeine Frage, ſondern
deckte ihm nur ein neues, weit grauenvolleres Unglück, das
ihm drohte, auf. „Du wirſt,“ ſprach das Orakel, „deines
eigenen Vaters Leib ermorden, deine Mutter heirathen,
und den Menſchen eine Nachkommenſchaft von verab¬
ſcheuungswürdiger Art zeigen.“ Als Oedipus dieſes ver¬
nommen hatte, ergriff ihn unausſprechliche Angſt, und
da ihm ſein Herz doch immer noch ſagte, daß ſo liebe¬
volle Eltern, wie Polybus und Merope, ſeine rechten
Eltern ſeyn müßten, ſo wagte er es nicht in ſeine Hei¬
math zurückzukehren, aus Furcht, er mochte, vom Verhäng¬
niſſe getrieben, Hand an ſeinen geliebten Vater Polybus
legen und, von den Göttern mit unwiderſtehlichem Wahn¬
[315] ſinne geſchlagen, ein verruchtes Ehebündniß mit ſeiner
Mutter Merope eingehen. Von Delphi aufbrechend, ſchlug
er den Weg nach Böotien ein. Er befand ſich noch auf
der Straße zwiſchen Delphi und der Stadt Daulia, als
er, an einen Kreuzweg gelangt, einen Wagen ſich entge¬
genkommen ſah, auf dem ein ihm unbekannter alter Mann
mit einem Herolde, einem Wagenlenker und zwei Die¬
nern ſaß. Der Roſſelenker, zuſammt dem Alten, trieb
den Fußgänger, der ihnen in den ſchmalen Pfad gekom¬
men war, ungeſtüm aus dem Wege. Oedipus, von Natur
jähzornig, verſetzte dem trotzigen Wagenführer einen Schlag.
Der Greis aber, wie er den Jüngling ſo keck auf den
Wagen anſchreiten ſah, zielte ſcharf mit ſeinem doppelten
Stachelſtabe, den er zur Hand hatte, und verſetzte ihm
einen ſchweren Streich auf den Scheitel. Jetzt war
Oedipus außer ſich gebracht: zum erſtenmal bediente er
ſich der Heldenſtärke, die ihm die Götter verliehen hatten,
erhub ſeinen Reiſeſtock und ſtieß den Alten, daß er ſich ſchnell
rücklings vom Wagenſitze herabwälzte. Ein Handgemenge
entſtand; Oedipus mußte ſich gegen ihrer Drei ſeines Le¬
bens erwehren; aber ſeine Jugendſtärke ſiegte, er er¬
ſchlug ſie alle, bis auf Einen, der entrann, und zog
davon.


Ihm kam keine Ahnung in ſeine Seele, daß er
etwas Anderes gethan, als aus Nothwehr ſich an einem
gemeinen Phocier oder Böotier mit ſeinen Knechten,
die ihm ſammt demſelben ans Leben wollten, gerächt habe.
Denn der Greis, der ihm begegnet, trug kein Zeichen hö¬
herer Würde an ſich. Aber der Gemordete war Laus,
König von Theben, der Vater des Mörders geweſen,
der auf einer Reiſe nach dem pythiſchen Orakel begriffen
[316] war; und alſo war die gedoppelte Weiſſagung, die Vater
und Sohn erhalten, und der ſie beide entgehen woll¬
ten, an beiden vom Geſchick erfüllt worden. Ein
Mann aus Platäa, mit Namen Damaſippus, fand die
Leichen der Erſchlagenen am Kreuzwege liegen, er¬
barmte ſich ihrer, und begrub ſie. Ihr Denkmal aus
angehäuften Steinen mitten im Kreuzwege ſah nach vie¬
len hundert Jahren noch der Wanderer.

Oedipus in Theben, heirathet ſeine Mutter.

Nicht lange Zeit, nachdem dieſes geſchehen, war vor
den Thoren der Stadt Thebe in Böotien die Sphinx erſchie¬
nen, ein geflügeltes Ungeheuer, vorn wie eine Jungfrau, hin¬
ten wie ein Löwe geſtaltet. Sie war eine Tochter des Typhon
und der Echidna, der ſchlangengeſtalteten Nymphe, der
fruchtbaren Mutter vieler Ungeheuer, und eine Schweſter
des Höllenhundes Cerberus, der Hyder von Lerna, und
der feuerſpeienden Chimära. Dieſes Ungeheuer hatte ſich
auf einen Felſen gelagert, und legte dort den Bewohnern von
Thebe allerlei Räthſel vor, die ſie von den Muſen erlernt
hatte. Erfolgte die Auflöſung nicht, ſo ergriff ſie denje¬
nigen, der es übernommen hatte, das Räthſel zu löſen,
zerriß ihn und fraß ihn auf. Dieſer Jammer kam über
die Stadt, als ſie eben um ihren König trauerte, der,
— Niemand wußte von wem — auf einer Reiſe erſchla¬
gen worden war, und an deſſen Stelle Kreon, Bruder
der Königin Jokaſte, die Zügel der Herrſchaft ergriffen
hatte. Zuletzt kam es, daß dieſes Kreon eigener Sohn,
dem die Sphinx auch ein Räthſel aufgegeben, und der es
[317] nicht gelöst hatte, ergriffen und gefreſſen worden war.
Dieſe Noth bewog den Fürſten Kreon, öffentlich bekannt
zu machen, daß demjenigen, der die Stadt von der Wür¬
gerin befreien würde, das Reich, und ſeine Schweſter
Jokaſte als Gemahlin zu Theil werden ſollte. Eben als
jene Bekanntmachung öffentlich verkündigt wurde, betrat
Oedipus an ſeinem Wanderſtabe die Stadt Thebe. Die
Gefahr, wie ihr Preis reizten ihn, zumal da er das Le¬
ben, wegen der drohenden Weiſſagung, die über ihm
ſchwebte, nicht hoch anſchlug. Er begab ſich daher nach
dem Felſen, auf dem die Sphinx ihren Sitz genommen
hatte, und ließ ſich von ihr ein Räthſel vorlegen. Das
Ungeheuer gedachte dem kühnen Fremdling ein recht un¬
auflösliches aufzugeben, und ihr Spruch lautetete alſo:
„Es iſt am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am
Abend dreifüßig. Von allen Geſchöpfen wechſelt es allem
mit der Zahl ſeiner Füße; aber eben wenn es die meiſten
Füße bewegt, ſind Kraft und Schnelligkeit ſeiner Glieder
ihm am geringſten.“ Oedipus lächelte, als er das Räthſel
vernahm, das ihm ſelbſt gar nicht ſchwierig erſchien.
„Dein Räthſel iſt der Menſch,“ ſagte er, „der am Morgen
ſeines Lebens, ſo lang er ein ſchwaches und kraftloſes Kind
iſt, auf ſeinen zween Füßen und ſeinen zwo Händen geht;
iſt er erſtarkt, ſo geht er am Mittage ſeines Lebens nur auf
den zween Füßen; iſt er endlich am Lebensabend als ein
Greis angekommen, und der Stütze bedürftig geworden, ſo
nimmt er den Stab als dritten Fuß zu Hülfe.“ Das
Räthſel war glücklich gelöſt, und aus Schaam und Ver¬
zweiflung ſtürzte ſich die Sphinx ſelbſt vom Felſen und
zu Tode. Oedipus trug zum Lohne das Königreich von
Theben und die Hand der Wittwe, welche ſeine eigene
[318] Mutter war, davon. Jokaſte gebar ihm nach und nach
vier Kinder, zuerſt die männlichen Zwillinge Eteokles
und Polynices, dann zwei Töchter, die ältere Antigone, die
jüngere Iſmene. Aber dieſe vier waren zugleich ſeine
Kinder und ſeine Geſchwiſter.

Die Entdeckung.

Lange Zeit ſchlief das grauenhafte Geheimniß und
Oedipus, bei manchen Gemüthsfehlern ein guter und ge¬
rechter König, herrſchte glücklich und geliebt an Jokaſte's
Seite über Thebe. Endlich aber ſandten die Götter eine
Peſt in das Land, die unter dem Volke grauſam zu wü¬
then begann, und gegen welche kein Heilmittel fruchten
wollte. Die Thebaner ſuchten gegen das fürchterliche
Uebel, in welchem ſie eine von den Göttern geſandte
Geiſſel erblickten, Schutz bei ihrem Herrſcher, den ſie
für einen Günſtling der Götter hielten. Männer und
Frauen, Greiſe und Kinder, die Prieſter mit Oelzweigen
an ihrer Spitze, erſchienen vor dem königlichen Pallaſte,
ſetzten ſich um und auf die Stufen des Altars, der vor
demſelben ſtand, und harrten auf die Erſcheinung ihres
Gebieters. Als Oedipus durch den Zuſammenlauf heraus¬
gerufen aus ſeiner Königsburg trat, und nach der Urſache
fragte, warum die ganze Stadt von Opferrauch und
Klagelaut erfüllt ſey, antwortete ihm im Namen aller
der älteſte Prieſter: „Du ſieheſt ſelbſt, o Herr, welches
Elend auf uns laſtet: Triften und Felder verſengt uner¬
trägliche Hitze; in unſern Häuſern wüthet die verzehrende
Seuche, umſonſt ſtrebt die Stadt aus den blutigen Wo¬
[319] gen des Verderbens ihr Haupt emporzutauchen. In dieſer
Noth nehmen wir unſere Zuflucht zu dir, geliebter Herr¬
ſcher. Du haſt uns ſchon einmal von dem tödtlichen
Zins erlöſt, mit welchem uns die grimmige Räthſelſän¬
gerin zehntete. Gewiß iſt dieß nicht ohne Götterhülfe
geſchehen. Und darum vertrauen wir auf dich, daß du,
ſey es bei Göttern oder Menſchen, uns auch dießmal
Hülfe finden werdeſt.“ — „Arme Kinder,“ erwiederte
Oedipus, „wohl iſt mir die Urſache eures Flehens bekannt.
Ich weiß, daß ihr kranket, aber niemand krankt im Her¬
zen ſo, wie ich. Denn mein Gemüth beſeufzt nicht nur
Einzelne, ſondern die ganze Stadt! Darum erwecket ihr
mich nicht wie einen Entſchlummerten aus dem Schlafe;
ſondern hin und her habe ich im Geiſte nach Rettungs¬
mitteln geforſcht, und endlich glaube ich Eines gefunden
zu haben. Denn mein eigener Schwager Kreon iſt von
mir zum pythiſchen Apollo nach Delphi abgeſandt wor¬
den, daß er frage, welch' Werk, oder welche That die
Stadt befreien kann.“


Noch ſprach der König, als auch Kreon ſchon unter
die Menge trat und den Beſcheid des Orakels dem Kö¬
nige vor den Ohren des Volkes mittheilte. Dieſer lautete
freilich nicht tröſtlich: „der Gott befahl, einen Frevel, den
das Land beherberge, hinauszujagen, und nicht das zu
pflegen, was keine Säuberung zu ſühnen vermöge. Denn
der Mord des Königes Laus laſte als eine ſchwere
Blutſchuld auf dem Lande.“ Oedipus, ganz ohne Ahnung,
daß jener von ihm erſchlagene Greis derſelbe ſey, um
deſſenwillen der Zorn der Götter ſein Volk heimſuche,
ließ ſich die Ermordung des Königs erzählen, und noch
immer blieb ſein Geiſt mit Blindheit geſchlagen. Er er¬
[320] klärte ſich berufen, für jenen Todten Sorge zu tragen,
und entließ das verſammelte Volk. Sodann ließ er in’s
ganze Land die Verkündigung ausgehen, wem irgend eine
Kunde von dem Mörder des Laus worden wäre, der
ſollte Alles anzeigen, auch wer in fremdem Lande darum
wüßte, dem ſollte für ſeine Angabe der Lohn und Dank
der Stadt zu Theil werden. Der dagegen, der für einen
Freund beſorgt, ſchweigen und die Schuld der Mitwiſſer¬
ſchaft von ſich abwälzen wollte, der ſollte von allem
Götterdienſt, von Opfermahlen, ja von Umgang und
Unterredung mit ſeinen Mitbürgern ausgeſchloſſen wer¬
den. Den Thäter ſelbſt endlich verfluchte er unter
ſchauerlichen Betheurungen, wünſchte ihm Noth und
Plage durch das ganze Leben an, und zuletzt das Verder¬
ben. Und das ſollte ihm widerfahren, ſelbſt wenn er am
Herde des Königes verborgen lebte. Zu allem dem ſandte
er zwei Boten an den blinden Seher Tireſias, der an
Einſicht und Blick ins Verborgene faſt dem wahrſagenden
Apollo ſelber gleich kam. Dieſer erſchien auch bald von der
Hand eines leitenden Knaben geführt vor dem Könige und
in der Volksverſammlung. Oedipus trug ihm die Sorge
vor, die ihn und das ganze Land quäle. Er bat ihn,
ſeine Seherkunſt anzuwenden, um ihnen auf die Spur des
Mordes zu verhelfen.


Aber Tireſias brach in einen Wehruf aus, und
ſprach, indem er ſeine Hände abwehrend gegen den König
ausſtreckte: „Entſetzlich iſt das Wiſſen, das dem Wiſ¬
ſenden nur Unheil bringt! Laß mich heimkehren, König;
trag du das deine, und laß mich das meine tragen!“
Oedipus drang jetzt um ſo mehr in den Seher, und das
Volk, das ihn umringte, warf ſich flehend vor ihm auf
[321] die Kniee! Als er aber auch ſo keine weitern Aufſchlüſſe
geben zu wollen bereit war, da entbrannte der Jähzorn
des Königs Oedipus, und er ſchalt den Tireſias als
Mitwiſſer oder gar Fauſthelfer bei der Ermordung des
Laus. Ja, wenn er nur ſehend wäre, ſo traute er ihm
allein die Unthat zu. Dieſe Beſchuldigung löste dem blin¬
den Propheten die Zunge. „Oedipus,“ ſprach er, „ge¬
horche deiner eigenen Verkündigung. Rede mich nicht,
rede Keinen aus dem Volke fürder an. Denn du ſelbſt
biſt der Greuel, der dieſe Stadt beſudelt! Ja, du biſt
der Königsmörder, du biſt derjenige, der mit den Theuer¬
ſten in fluchwürdigem Verhältniſſe lebt.“


Oedipus war nun einmal verblendet: er ſchalt den
Seher einen Zauberer, einen ränkevollen Gaukler; er
warf Verdacht auch auf ſeinen Schwager Kreon, und
beſchuldigte beide der Verſchwörung gegen den Thron,
von welchem ſie durch ihre Lügengeſpinnſte ihn, den Er¬
retter der Stadt, ſtürzen wollten. Aber nur noch näher
bezeichnete ihn jetzt Tireſias als Vatermörder und Gatten
der Mutter, weiſſagte ihm ſein nahe bevorſtehendes Elend
und entfernte ſich zürnend an der Hand ſeines kleinen
Führers. Auf die Beſchuldigung des Königes war indeſ¬
ſen auch der Fürſt Kreon herbeigeeilt und es hatte ſich
ein heftiger Wortwechſel zwiſchen Beiden entſponnen, den
Iokaſte, die ſich zwiſchen die Streitenden warf, vergeblich
zu beſchwichtigen ſuchte. Kreon ſchied unverſöhnt und im
Zorn von ſeinem Schwager.


Noch blinder als der König ſelbſt war ſeine Ge¬
mahlin Iokaſte. Sie hatte kaum aus dem Munde des
Gatten erfahren, daß Tireſias ihn den Mörder des Laus
genannt, als ſie in laute Verwünſchungen gegen Seher
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 21[322] und Seherweisheit ausbrach. „Sieh nur, Gemahl,“ rief
ſie, „wie wenig die Seher wiſſen; ſieh es an einem Bei¬
ſpiel! Mein erſter Gatte Laus hatte auch einſt ein Orakel
erhalten, daß er durch Sohneshand ſterben werde. Nun
erſchlug aber jenen eine Räuberſchaar am Kreuzweg, und
unſer einziger Sohn wurde, an den Füßen gebunden,
in's öde Gebirge geworfen und nicht über drei Tage alt.
So erfüllen ſich die Sprüche der Seher!“ Dieſe Worte,
die die Königin mit Hohnlachen ſprach, machten auf
Oedipus einen ganz andern Eindruck, als ſie erwartet
hatte. „Am Kreuzweg,“ fragte er in höchſter Gemüths¬
angſt, „iſt Laus gefallen? O ſprich, wie war ſeine Ge¬
ſtalt, ſein Alter?“ — „Er war groß,“ antwortete Jokaſte,
ohne die Aufregung ihres Gatten zu begreifen, „die erſten
Greiſenlocken ſchmückten ſein Haupt; er war dir ſelbſt,
mein Gemahl, von Geſtalt und Anſehen gar nicht unähn¬
lich.“ — „Tireſias iſt nicht blind, Tireſias iſt ſehend!“
rief entſetzenvoll Oedipus, dem die Nacht ſeines Geiſtes
auf einmal, wie durch einen Blitzſtrahl, erleuchtet ward.
Doch trieb ihn das Gräßliche ſelber, weiter danach zu
forſchen, als müßten auf ſeine Fragen Antworten kom¬
men, welche die ſchreckliche Entdeckung auf einmal als
Irrthum darſtellten. Aber alle Umſtände trafen zuſam¬
men, und zuletzt erfuhr er, daß ein entronnener Diener
den ganzen Mord gemeldet habe. Dieſer Knecht aber
habe, ſowie er den Oedipus auf dem Throne ſah, flehent¬
lich gebeten, ihn ſoweit als möglich von der Stadt weg
auf die Waiden des Königes zu ſchicken. Oedipus be¬
gehrte ihn zu ſehen und der Sklave wurde vom Lande
hereinbeſchieden. Ehe er jedoch noch ankam, erſchien
ein Bote aus Korinth, meldete dem Oedipus den Tod
[323] ſeines Vaters Polybus und rief ihn auf den erledigten
Thron des Landes.


Bei dieſer Botſchaft ſprach die Königin abermals tri¬
umphirend: „hohe Götterſprüche, wo ſeyd ihr? Der Va¬
ter, den Oedipus umbringen ſollte, iſt ſanft an Alters¬
ſchwäche verſchieden!“ Anders wirkte die Nachricht auf
den frömmeren König Oedipus, der, obgleich er noch im¬
mer gerne geneigt war, den Polybus für ſeinen Vater
zu halten, es doch nicht begreifen konnte, wie ein Götter¬
ſpruch unerfüllt bleiben ſollte. Auch wollte er nicht nach
Corinth gehen, weil ſeine Mutter Merope dort noch lebte
und der andere Theil des Orakels, ſeine Heirath mit der
Mutter, immer noch erfüllt werden konnte. Dieſen Zwei¬
fel benahm ihm freilich der Bote bald. Er war derſelbe
Mann, der vor vielen Jahren das neugeborne Kind von
einem Diener des Laus auf dem Berge Cithäron em¬
pfangen und ihm die durchbohrten und gebundenen Fer¬
ſen gelöſt hatte. Er bewies dem Könige leicht, daß er
nur ein Pflegeſohn, wiewohl Erbe des Königes Polybus von
Corinth ſey. Ein dunkler Trieb nach Wahrheit ließ den
Oedipus nach jenem Diener des Laus verlangen, der ihn als
Kind dem Corinther übergeben hatte. Von ſeinem Ge¬
ſinde erfuhr er, daß dieß derſelbe Hirt ſey, der, von dem
Morde des Laus entronnen, jetzt an der Gränze das
Vieh des Königes waide.


Als Jokaſte ſolches hörte, verließ ſie ihren Gemahl
und das verſammelte Volk mit einem lauten Wehruf.
Oedipus, der ſein Auge abſichtlich mit Nacht zu bedecken
ſuchte, mißdeutete ihre Entfernung. „Gewiß befürchtet
ſie,“ ſprach er zu dem Volke, „als ein Weib voll Hoch¬
muth, die Entdeckung, daß ich unedlen Stammes ſey. Ich
21*[324] aber halte mich für einen Sohn des Glückes, und ſchäme
mich dieſer Abkunft nicht!“ Jetzt nahte ſich der greiſe
Hirte, der aus der Ferne herbeigeholt worden war und
von dem Corinther ſogleich als derjenige erkannt wurde,
der ihm einſt den Knaben auf dem Cithäron übergeben
hatte. Der alte Hirt aber war ganz blaß vor Schre¬
cken und wollte alles läugnen; nur auf die zornigen Dro¬
hungen des Oedipus, der ihn mit Stricken zu binden be¬
fahl, ſagte er endlich die Wahrheit: wie Oedipus der
Sohn des Laus und der Jokaſte ſey, wie der furchtbare
Götterſpruch, daß er den Vater ermorden werde, ihn in
ſeine Hände geliefert, er aber ihn aus Mitleid erhalten
habe.

Jokaſte und Oedipus ſtrafen ſich.

Aller Zweifel war nun gehoben und das Entſetzliche
enthüllt. Mit einem wahnſinnigen Schrei ſtürzte Oedipus
davon, irrte in dem Pallaſt umher und verlangte nach
einem Schwerdt, um das Ungeheuer, das ſeine Mutter
und Gattin ſey, von der Erde zu vertilgen. Da ihm,
wie einem Raſenden, alles aus dem Wege ging, ſuchte
er gräßlich heulend ſein Schlafgemach auf, ſprengte das
verſchloſſene Doppelthor und brach hinein. Ein grauen¬
hafter Anblick hemmte ſeinen Lauf. Mit fliegendem und
zerrauftem Haupthaar ſah er hier, hoch über dem Lager
ſchwebend, Jokaſte, die ſich mit einem Strang die Kehle
zugeſchnürt und erhängt hatte. Nach langem Hinſtarren
nahte ſich Oedipus der Leiche mit brüllendem Stöhnen,
ließ das hochaufgezogene Seil zur Erde herab, daß ſich
[325] die Leiche auf den Boden ſenkte, und, wie ſie nun vor
ihm ausgeſtreckt lag, riß er die goldgetriebenen Bruſt¬
ſpangen aus dem Gewande der Frau. Dieſe hob er hoch
in der Rechten auf, fluchte ſeinen Augen, daß ſie nimmer
ſchauen ſollten, was er that und duldete, und wühlte mit
dem ſpitzen Gold in denſelben, bis die Augäpfel durchbohrt
waren und ein Blutſtrom aus den Höhlen drang. Dann
verlangte er, ihm, dem Geblendeten, das Thor zu öffnen,
ihn herauszuführen, ihn dem ganzen Thebanervolk, als
den Vatermörder, als den Muttergatten, als einen Fluch
des Himmels und ein Scheuſal der Erde vorzuſtellen.
Die Diener erfüllten ſein Verlangen, aber das Volk em¬
pfing den einſt ſo geliebten und verehrten Herrſcher nicht
mit Abſcheu, ſondern mit innigem Mitleid. Kreon ſelbſt,
ſein Schwager, den ſein ungerechter Verdacht gekränkt
hatte, eilte herbei, nicht um ihn zu verſpotten, wohl aber
um den fluchbelaſteten Mann dem Sonnenlicht und dem
Auge des Volkes zu entziehen und ihm dem Kreiſe ſeiner
Kinder anzuempfehlen. Den gebeugten Oedipus rührte
ſo viel Güte. Er übergab ſeinem Schwager den Thron,
den er ſeinen jungen Söhnen aufbewahren ſollte, und er¬
bat ſich für ſeine unſelige Mutter ein Grab, für ſeine
verwaiſten Töchter den Schutz des neuen Herrſchers:
für ſich ſelbſt aber begehrte er Ausſtoſſung aus dem
Lande, das er mit doppeltem Frevel beſudelt, und Ver¬
bannung auf den Berg Cithäron, den ſchon die Aeltern
ihm zum Grabe beſtimmt hatten, und wo er jetzt leben
oder ſterben wollte, je nach der Götter Willen. Dann
verlangte er noch nach ſeinen Töchtern, deren Stimme
er noch einmal hören wollte, und legte ſeine Hand auf
ihre unſchuldigen Häupter. Den Kreon ſegnete er für
[326] alle Liebe, die dieſer ihm, der es nicht um ihn verdient hätte,
erwieſen, und wünſchte ihm und allem Volke beſſern Schutz
der Götter, denn er ſelbſt erfahren hatte.


Dann führte ihn Kreon in das Haus zurück, und
der jüngſt noch verherrlichte Retter Thebe's, der mächtige
Herrſcher, dem viele Tauſende gehorchten, der Oedipus,
der ſo tiefe Räthſel erforſcht und ſo ſpät erſt das eigene
furchtbare Räthſel ſeines Lebens gelöſt hatte, ſollte, einem
blinden Bettler gleich, durch die Thore ſeiner Vaterſtadt
und an die Gränzen ſeines Königreichs wandern.

Oedipus und Antigone.

In der erſten Stunde der Entdeckung wäre der
ſchnellſte Tod dem Oedipus der liebſte geweſen, ja er
hätte es als eine Wohlthat aufgenommen, wenn das Volk
ſich gegen ihn erhoben und ihn geſteinigt hätte. Und ſo
erſchien ihm auch die Verbannung, um welche er flehte,
und welche ſein Schwager Kreon ihm bewilligte, als ein
Geſchenk. Als er aber in ſeiner Finſterniß zu Hauſe ſaß,
und der Zorn allmählig auskochte, da fing er auch an,
das Gräßliche zu empfinden, was das Herumirren eines
blinden Verbannten in der Fremde für ihn haben mußte.
Die Liebe zur Heimath begann mit dem Gefühle wieder
zu erwachen, daß er für nicht beabſichtigte und nicht
mit Bewußtſeyn begangene Verbrechen, theils durch den
Tod Jokaſte's, theils durch die Blendung, die er an ſich
ſelbſt vollzogen habe, doch eigentlich genug beſtraft ſey,
und er ſcheute ſich auch nicht, den Wunſch zu Hauſe zu
bleiben, gegen Kreon und ſeine eigenen Söhne Eteokles
[327] und Polynices laut werden zu laſſen. Aber da zeigte
ſich, daß die Rührung des Fürſten Kreon nur eine vor¬
übergehende geweſen und auch ſeine Söhne eine harte
und ſelbſtſüchtige Gemüthsart hatten. Kreon nöthigte ſei¬
nen unglücklichen Verwandten, auf ſeinem erſten Beſchluſſe
zu verharren, und die Söhne, deren erſte Pflicht doch
war, dem Vater zu helfen, verweigerten ihm ihren Bei¬
ſtand. Ja faſt ohne daß ein Wort gewechſelt wurde,
gab man ihm den Bettelſtab in die Hand und ſtieß ihn
zum Königspallaſte von Thebe hinaus. Nur ſeine Töch¬
ter fühlten kindliches Erbarmen mit dem Verſtoßenen.
Die jüngere Tochter Iſmene blieb im Hauſe ihrer Brü¬
der zurück, um hier ſo viel als möglich der Sache des
Vaters zu dienen und gleichſam der Anwalt des Ent¬
fernten zu ſeyn. Die ältere, Antigone, theilte mit dem
Vater die Verbannung und lenkte die Schritte des Blin¬
den. So zog ſie mit ihm auf ſchwerer Irrfahrt herum,
ſchweifte unbeſchuht und ohne Speiſe mit ihm durch die
wilden Wälder; Sonnenhitze und Regenguß hielt die zarte
Jungfrau mit dem Vater aus, und während ſie zu Hauſe
bei den Brüdern die beſte Pflege genießen konnte, war
ſie im Elende zufrieden, wenn nur der Vater ſatt wurde.
Sein Wille war anfangs geweſen, in einer Wüſtenei des
Berges Cithäron das elende Leben zu friſten oder zu en¬
digen. Doch, weil er ein frommer Mann war, wollte
er auch dieſen Schritt nicht ohne den Willen der Göt¬
ter thun, und ſo pilgerte er vorher zum Orakel des
pythiſchen Apollo. Hier ward ihm ein tröſtlicher Spruch
zu Theil. Die Götter erkannten, daß Oedipus wider
ſeinen Willen ſich gegen die Natur und die heiligſten Ge¬
ſetze der Menſchengeſellſchaft verſündigt hatte. Gebüßt
[328] mußte ein ſo ſchweres Vergehen freilich werden, wenn es
auch unfreiwillig war; aber ewig ſollte die Strafe nicht
währen. Darum eröffnete ihm der Gott: „nach langer
Friſt zwar, aber endlich doch harre ſeiner die Erlöſung,
wenn er zu dem ihm vom Schickſale beſtimmten Lande
gelangt wäre, wo die ehrwürdigen Göttinnen, die ſtren¬
gen Eumeniden, ihm eine Zufluchtsſtätte gönnten.“ Nun
war aber der Name Eumeniden, die Wohlwollenden, ein
Beiname der Erinnyen oder Furien, der Göttinnen der
Rache, welche die Sterblichen mit einem ſo begütigenden
Namen ehren und beſänftigen wollten. Der Orakelſpruch
lautete räthſelhaft und ſchauerlich. Bei den Furien ſollte
Oedipus für ſeine Sünden gegen die Natur Ruhe
und Erlöſung von ſeiner Strafe finden! Dennoch ver¬
traute er auf die Verheißung des Gottes, und zog nun,
dem Schickſal überlaſſend, wann die Erfüllung eintreten
ſollte, in Griechenland herum, von ſeiner frommen Toch¬
ter geleitet und gepflegt, und vom Almoſen mitleidiger
Menſchen erhalten. Immer bat er nur um Weniges,
und erhielt auch nur Weniges. Aber er begnügte ſich
damit immer, denn die lange Dauer ſeiner Verbannung,
die Noth, und ſeine eigene edle Sinnesart lehrten ihn
Begnügſamkeit.

Oedipus auf Kolonos.

Nach langer Wanderung, bald durch bewohntes,
bald durch wüſtes Land waren die beiden eines Abends
in einer ſehr milden Gegend bei einem anmuthigen Dorfe
mitten im lieblichſten Haine angekommen. Nachtigallen
[329] flatterten durch das Gebüſch, und ſangen mit ſüßem
Schall, Rebenblüthe duftete, mit Oliven- und Lorbeer¬
bäumen waren die rauhen Felsſtücke, welche die Gegend
vielmehr ſchmückten, als entſtellten, überkleidet. Der
blinde Oedipus ſelbſt hatte durch ſeine übrigen Sinne
eine Empfindung von der Anmuth des Ortes, und ſchloß
aus der Schilderung ſeiner Tochter, daß derſelbe ein geheilig¬
ter ſeyn müſſe. Aus der Ferne ſtiegen die Thürme einer
Stadt auf, und ihre Erkundigungen hatten Antigone be¬
lehrt, daß ſie ſich in der Nähe von Athen befinden. Oedi¬
pus hatte ſich, von dem Wege des Tages müde, auf ein
Felsſtück geſetzt. Ein Bewohner des Dorfes, der vorüber¬
ging, hieß ihn jedoch bald dieſen Sitz verlaſſen, weil
der Boden geheiligt ſey, und keinen Fußtritt dulde. Da
erfuhren denn die Wanderer bald, daß ſie ſich im Flecken
Kolonos und auf dem Gebiet und in dem Haine der al¬
leserſpähenden Eumeniden befänden, unter welchem Namen
die Athener hier die Erinnyen verehrten.


Nun erkannte Oedipus, daß er am Ziele ſeiner
Wanderung angekommen und der friedlichen Löſung ſeines
feindſeligen Geſchickes nahe ſey. Seine Worte machten
den Koloneer nachdenklich, und er wagte es jetzt ſchon
nicht mehr, den Fremdling von ſeinem Sitz zu ver¬
treiben, ehe er den König von dem Vorfall unterrichtet
hätte. „Wer gebietet denn in eurem Lande?“ fragte Oedi¬
pus, dem in ſeinem langen Elende die Geſchichten und
Verhältniſſe der Welt fremd geworden waren. „Kennſt
du den gewaltigen und edlen Helden Theſeus nicht,“
fragte der Dorfbewohner, „iſt doch die ganze Welt voll
von ſeinem Ruhme!“ — „Nun, iſt euer Herrſcher ſo hoch¬
geſinnt,“ erwiederte Oedipus, „ſo werde du mein Bote zu
[330] ihm, und bitte ihn, nach dieſer Stelle zu kommen;
für ſo kleine Gunſt verſpreche ich ihm großen Lohn.“ —
„Welche Wohlthat könnte unſrem König ein blinder Mann
reichen?“ ſagte der Bauer und warf einen lächelnden, mit¬
leidigen Blick auf den Fremdling. „Doch,“ ſetzte er hinzu,
„wäre nicht deine Blindheit, Mann, du hätteſt ein edles,
hohes Ausſehen, das mich zwingt, dich zu ehren. Darum
will ich dein Verlangen erfüllen, und meinen Mitbürgern
und dem Könige deine Bitte melden. Bleibe ſo lange
hier ſitzen, bis ich deinen Auftrag ausgerichtet habe.
Jene mögen dann entſcheiden, ob du hier bleiben kannſt,
oder gleich wieder weiter wandern ſollſt.“


Als ſich Oedipus mit ſeiner Tochter wieder allein
ſah, erhub er ſich von ſeinem Sitze, warf ſich zu Bo¬
den und ergoß ſein Herz in einem brünſtigen Gebete zu
den Eumeniden, den furchtbaren Töchtern des Dunkels
und der Mutter Erde, die eine ſo liebliche Wohnung in
dieſem Haine aufgeſchlagen. „Ihr Grauenvollen und doch
Gnädigen,“ ſprach er, „zeiget mir jetzt nach dem Aus¬
ſpruche Apollo's die Entwicklung meines Lebens, wenn
anders ich in meinem mühſeligen Leben nicht immer noch
zu wenig erduldet habe! Erbarmet euch, ihr Töchter des
Dunkels, erbarme dich, ehrenwerthe Stadt Athene's, über
das Schattenbild des Königs Oedipus, der vor euch ſteht,
denn er ſelbſt iſt es nicht mehr!“


Sie blieben nicht lange allein. Die Kunde, daß ein
blinder Mann von Ehrfurcht gebietendem Ausſehen ſich
in dem Furienhayne gelagert, den zu betreten Sterblichen
ſonſt nicht vergönnt iſt, hatte bald die Aelteſten des Dor¬
fes, welche die Entweihung zu hindern gekommen waren,
um ihn verſammelt. Noch größerer Schrecken ergriff ſie,
[331] als der Blinde ſich ihnen als einen vom Schickſale ver¬
folgten Mann zu erkennen gab. Sie fürchteten, den
Zorn der Gottheit auf ſich zu laden, wenn ſie einen vom
Himmel Gezeichneten länger an dieſem heiligen Orte dul¬
deten, und befahlen ihm, auf der Stelle ihre Landſchaft
zu verlaſſen. Oedipus bat ſie inſtändig, ihn von dem
Ziele ſeiner Wanderſchaft, das ihm die Stimme der Gott¬
heit ſelbſt angewieſen habe, nicht zu verſtoßen; Antigone
vereinigte ihr Flehen mit dem ſeinen. „Wenn ihr euch
der grauen Haare meines Vaters nicht erbarmen wollet,“
ſprach die Jungfrau, „ſo nehmet ihn doch um meiner, der
Verlaſſenen willen auf: denn auf mir laſtet ja keine
Schuld. Eilet, bewilliget uns eure Gunſt unverhofft!“
Während ſie ſolche Zwieſprache pflegten und die Einwoh¬
ner zwiſchen Mitleid und Furcht vor den Erinnyen in
ihrem Entſchluſſe zweifelhaft hin und her ſchwankten, ſah
Antigone ein Mädchen, auf einem kleinen Roſſe ſitzend,
das Angeſicht mit einem Reiſehut vor der Sonne geſchützt,
heraneilen. Ein Diener, gleichfalls zu Roſſe, folgte ihr.
„Es iſt meine Iſmene,“ ſagte ſie in freudigem Schrecken,
„ſchon glänzt mir ihr liebes, helles Auge! Gewiß bringt
ſie uns neue Kunde aus der Heimath!“ Bald war die
Jungfrau, das jüngſte Kind des verſtoßenen Königs, bei
ihnen angelangt und vom Saumroſſe geſprungen. Mit
einem einzigen Knechte, den ſie allein treu befunden,
hatte ſie ſich von Theben aufgemacht, um dem Vater
Nachricht von dem Stande der dortigen Angelegenheiten
zu bringen. Dort waren ſeine Söhne von großer, ſelbſt¬
verſchuldeter Noth bedrängt. Anfangs hatten ſie die Ab¬
ſicht, ihrem Oheime Kreon den Thron ganz zu überlaſſen,
denn der Fluch ihres Stammes ſchwebte ihnen drohend
[332] vor Augen. Allmählig aber, je mehr ihres Vaters Bild
in die Ferne trat, verlor ſich dieſe Regung; das Verlan¬
gen nach Herrſchaft und Königswürde, und mit ihm die
Zwietracht erwachte bei ihnen. Polynices, der das Recht
der Erſtgeburt auf ſeiner Seite hatte, ſetzte ſich zuerſt auf
den Thron. Aber Eteokles, der jüngere, nicht zufrieden,
abwechslungsweiſe mit ihm zu herrſchen, wie der Bruder
vorſchlug, verführte das Volk und ſtieß den älteren Bru¬
der aus dem Lande fort. Dieſer, ſo ging in Thebe das
Gerücht, war nach Argos im Peloponnes entflohen, wurde
dort der Schwiegerſohn des Königes Adraſtus, verſchaffte
ſich Freunde und Bundesgenoſſen, und bedrohte ſeine Va¬
terſtadt mit Eroberung und Rache. Zugleich aber war
ein neuer Götterſpruch ruchbar geworden, welcher dahin
lautete, daß die Söhne des Oedipus ohne ihn ſelbſt nichts
vermögen; daß ſie ihn ſuchen müßten, todt oder lebendig,
wenn ihr eigenes Heil ihnen lieb wäre.


Dieß waren die Nachrichten, welche Iſmene ihrem
Vater brachte. Der Chor horchte ſtaunend, und Oedipus
hub ſich hoch empor von ſeinem Sitze: „Alſo ſteht es mit
mir,“ ſprach er, und königliche Hoheit ſtrahlte von dem
blinden Angeſichte, „bei dem Verbannten, bei dem Bett¬
ler, ſucht man Hülfe? Nun, da ich Nichts bin, werde
ich erſt ein rechter Mann?“ „So iſt es,“ fuhr Iſmene
in ihren Nachrichten fort. „Auch wiſſe, Vater, daß
eben deßwegen unſer Oheim Kreon in ganz kurzer Zeit
hierher kommen wird, und daß ich mich ſehr beeilt habe,
ihm zuvor zu kommen. Denn er will dich überreden
oder fangen, wegführen und an die Grenzen des thebani¬
ſchen Gebietes ſtellen, damit der Orakelſpruch ſich zu
ſeinen und unſers Bruders Eteokles Gunſten erfülle, und
[333] deine Gegenwart die Stadt doch nicht entweihe.“ — „Von
wem weißt du alles dieſes?“ fragte der Vater. „Von
Opferpilgern, die nach Delphi ziehen.“ „Und wenn ich
dort ſterbe,“ fragte Oedipus weiter, „werden ſie mich in
thebiſcher Erde begraben?“ „Nein,“ erwiederte die Jung¬
frau, „das duldet deine Blutſchuld nicht.“ — „Nun,“ rief
der alte König entrüſtet, „ſo ſollen ſie auch meiner nie¬
mals mächtig werden! Wenn bei meinen beiden Söh¬
nen die Herrſchſucht ſtärker iſt, als die kindliche Liebe,
ſo ſoll ihnen auch der Himmel nie ihre verhängnißvolle
Zwietracht löſchen, und, wenn auf mir die Entſcheidung
ihres Streites beruht, ſo ſoll weder der, der jetzt den
Scepter in Händen hat, auf dem Throne ſitzen bleiben,
noch der Verjagte je ſein Vaterland wieder ſehen! Nur
dieſe Töchter ſind meine wahren Kinder! In ihnen er¬
ſterbe meine Schuld, für ſie erflehe ich den Segen des
Himmels, für ſie bitte ich auch um euren Schutz, mit¬
leidige Freunde! Gewähret ihnen und mir euren thäti¬
gen Beiſtand, und ihr erwerbet dadurch eurer Stadt eine
mächtige Bruſtwehr!“

Oedipus und Theſeus.

Die Koloneer hatte große Ehrfurcht vor dem blin¬
den Oedipus erfüllt, der in ſeiner Verbannung noch ſo
gewaltig erſchien: ſie riethen ihm durch ein Trankopfer
die Entweihung des Furienhaines zu ſühnen. Erſt jetzt
erfuhren auch die Greiſe den Namen und die unverſchuldete
Schuld des Königs Oedipus, und wer weiß, ob das
Grauen vor ſeiner That ſie nicht auf's neue gegen ihn
[334] verhärtet hätte, wenn nicht ihr König Theſeus, den die Bot¬
ſchaft herbeigerufen hatte, jetzt eben in ihren Kreis ge¬
treten wäre. Dieſer ging freundlich und ehrerbietig auf
den blinden Fremdling zu und redete ihn mit liebreichen
Worten an: „Armer Oedipus, mir iſt dein Geſchick
nicht unbekannt, und ſchon deine gewaltſam geblendeten
Augen ſagen mir, wen ich vor mir habe. Dein Unglück
rührt mich tief in der Seele. Sage mir, was du bei
der Stadt und mir ſucheſt. Die That, zu der du meine
Beihülfe verlangſt, müßte eine ſchreckliche ſeyn, wenn ich
mich von dir abwenden könnte. Ich hab' es nicht ver¬
geſſen, daß auch ich gleich dir in fremden Landen heran¬
gewachſen bin, und viele Fährlichkeiten ausgeſtanden
habe.“ — „Ich erkenne deinen Seelenadel in dieſer kur¬
zen Rede,“ antwortete Oedipus, „ich komme dir eine Bitte
vorzutragen, die eigentlich eine Gabe iſt. Ich ſchenke
dir dieſen meinen leidensmüden Leib, freilich ein ſehr
unſcheinbares Gut, aber doch ein großes Gut. Du ſollſt
mich begraben und reichen Segen von deiner Mildigkeit
ärnten!“ — „Fürwahr,“ ſagte Theſeus erſtaunt, „die
Gunſt, um welche du fleheſt, iſt klein. Verlange etwas
Beſſeres, etwas Höheres, und es ſoll dir Alles von mir
gewährt ſeyn.“ — „Die Gunſt iſt nicht ſo leicht, als
du glaubſt, o König,“ fuhr Oedipus fort, „du wirſt einen
Streit um dieſen meinen elenden Leib zu beſtehen haben.“
Nun erzählte er ihm ſeine Verjagung und das ſpäte und
eigennützige Verlangen ſeiner Verwandten, ihn wieder zu
beſitzen; dann bat er ihn flehentlich um ſeinen Heldenbei¬
ſtand. Theſeus hörte aufmerkſam zu und ſprach endlich
feierlich: „Schon weil jedem Gaſtfreunde mein Haus
offen ſteht, darf ich meine Hand nicht von dir abziehen;
[335] wie ſollte ich es thun, da du noch dazu mir und mei¬
nem Lande ſo viel Heil verſprichſt, und von der Hand
der Götter an meinen Herd geleitet worden biſt!“ Er
ließ dem Oedipus hierauf die Wahl, mit ihm nach Athen
zu gehen, oder hier in Kolonos als Gaſt zu bleiben. Dieſer
wählte das zweite, weil ihm vom Schickſale beſtimmt ſey,
an der Stelle, wo er jetzt eben ſich befinde, den Sieg
über ſeine Feinde davon zu tragen und ſein Leben rühm¬
lich zu beſchließen. Der Athenerkönig verſprach ihm
den kräftigſten Schutz und kehrte in die Stadt zurück.

Oedipus und Kreon.

Bald darauf drang der König Kreon von Thebe
mit Bewaffneten in Kolonos ein, und eilte auf Oedipus
zu. „Ihr ſeyd von meinem Eintritt ins attiſche Gebiet
überraſcht,“ ſprach er zu den noch immer verſammelten
Dorfbewohnern gewendet; „doch ſorget und zürnet nicht:
ich bin nicht ſo jung, im Uebermuthe gegen die ſtärkſte
Stadt Griechenlands einen Kampf zu unternehmen. Ich
bin ein Greis, den ſeine Mitbürger nur abgeſandt haben,
dieſen Mann hier durch gütliche Ueberredung zu bewe¬
gen, mit mir nach Thebe zurückzukehren.“ Dann kehrte
er ſich zu Oedipus und drückte in den ausgeſuchteſten
Worten eine erheuchelte Theilnahme an ſeinem und ſei¬
ner Töchter Elend aus. Aber Oedipus erhob ſeinen Stab
und ſtreckte ihn aus, zum Zeichen, daß Kreon ihm nicht
näher kommen ſolle. „Schamloſeſter Betrüger,“ rief er,
„das fehlte noch zu meiner Pein, daß Du kämeſt und mich
gefangen mit dir fortführteſt! Hoffe nicht durch mich
[336] deine Stadt von der Züchtigung zu befreien, die ihr be¬
vorſteht. Nicht ich werde zu euch kommen, ſondern nur
den Dämon der Rache werde ich euch ſenden, und
meine beiden liebloſen Söhne ſollen nur ſoviel von the¬
baniſchem Boden beſitzen, als ſie brauchen, um ſterbend
darauf zu liegen!“ Kreon wollte nun verſuchen, den blin¬
den König mit Gewalt hinwegzuführen, aber die Bür¬
ger von Kolonos erhoben ſich dagegen, ſtützten ſich auf
Theſeus Wort und duldeten es nicht. Inzwiſchen hatten
in dem Getümmel auf einen Wink ihres Herrn die The¬
baner Iſmene und Antigone ergriffen und von der Seite
ihres Vaters weggeriſſen. Dieſe ſchleppten ſie fort, und
trieben den Widerſtand der Koloneer ab. Kreon aber
ſprach höhnend: „Deine Stäbe wenigſtens habe ich dir
entriſſen. Verſuch es jetzt, Blinder, und wandre weiter!“
Und durch dieſen Erfolg kühner gemacht, ging er auf's
Neue auf Oedipus los, und legte ſchon Hand an ihn,
als Theſeus, den die Nachricht vom bewaffneten Einfalle
in Kolonos zurückgerufen hatte, auftrat. Sobald dieſer
hörte und ſah, was geſchehen und noch im Werke ſey,
entſandte er Diener zu Fuß und zu Roſſe auf der Straße
hin, auf der die Töchter von den Thebanern als Raub
fortgeführt wurden, dem Kreon aber erklärte er, ihn nicht
eher freilaſſen zu wollen, als bis er dem Oedipus die
Töchter zurückgegeben. „Sohn des Aegeus,“ hub dieſer
beſchämt an, „ich bin wahrlich nicht gekommen, dich und
deine Stadt zu bekriegen. Wußte ich doch nicht, daß
deine Mitbürger ein ſolcher Eifer für dieſen meinen blin¬
den Verwandten, dem ich Gutes thun wollte, befallen
habe, daß ſie den Vatermörder, den Gatten ſeiner Mut¬
ter, lieber bei ſich hegen würden, als ihn in ſein Vater¬
[337] land entlaſſen!“ Theſeus befahl ihm zu ſchweigen, ohne
Verzug mit ihm zu gehen und den Aufenthalt der Jung¬
frauen anzuzeigen; und in Kurzem führte er die gerette¬
ten Töchter dem tief gerührten Oedipus in die Arme.
Kreon und die Diener waren abgezogen.

Oedipus und Polynices.

Aber noch ſollte der arme Oedipus keine Ruhe ha¬
ben. Theſeus brachte die Nachricht von ſeinem kurzen
Zuge mit, daß ein naher Blutsverwandter deſſelben, je¬
doch nicht aus Thebe kommend, Kolonos betreten und ſich
an dem Altar des benachbarten Neptunustempels, wo
Theſeus eben geopfert hatte, als Schutzflehender nieder¬
gelaſſen habe. „Das iſt mein haſſenswerther Sohn Po¬
lynices,“ rief Oedipus zürnend aus! „Es wäre mir un¬
erträglich, ihn anhören zu müſſen.“ Doch Antigone, die
dieſen Bruder als den ſanfteren und beſſeren liebte, wußte
die Zornaufwallung des Vaters zu dämpfen und dem
Unglücklichen wenigſtens Gehör zu verſchaffen. Nachdem
ſich Oedipus auch gegen dieſen den Arm ſeines Beſchü¬
tzers ausgebeten hatte, falls er ihn mit Gewalt hinweg¬
führen wollte, ließ er den Sohn vor ſich.


Polynices zeigte ſchon durch ſein Auftreten eine ganz
andere Gemüthsart, als ſein Oheim Kreon, und Anti¬
gone verſäumte nicht, ihren blinden Vater darauf auf¬
merkſam zu machen. „Ich ſehe jenen Fremdling,“ rief
ſie, „ohne Begleiter herzureiten! Ihm ſtrömen die Thrä¬
nen aus den Augen.“ — „Iſt er es,“ fragte Oedipus
und wendete ſein Haupt ab. „Ja, Vater,“ erwiederte
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 22[338] die gute Schweſter, „dein Sohn Polynices ſteht vor dir.“
Polynices warf ſich vor dem Vater nieder und umſchlang
ſeine Knie. An ihm hinaufblickend betrachtete er jam¬
mernd ſeine Bettlerkleidung, ſeine hohlen Augen, ſein
ungekämmt in der Luft flatterndes Greiſenhaar. „Ach,
zu ſpät erfahre ich alles dieſes,“ rief er, „ja ich ſelbſt
muß es bezeugen, ich habe meines Vaters vergeſſen!
Was wäre er ohne die Fürſorge meiner Schweſter! Ich
habe mich ſchwer an dir verſündigt, Vater! Kannſt du
mir nicht vergeben? Du ſchweigſt? Sprich doch etwas,
Vater! Zürne nicht ſo unerbittlich hinweggewandt! O
ihr lieben Schweſtern, verſucht ihr es, den abge¬
kehrten Mund meines Erzeugers zu rühren!“ — „Sage
du ſelbſt zuvor, Bruder, was dich hergeführt hat,“ ſprach
die milde Antigone, „vielleicht öffnet deine Rede auch ſeine
Lippen!“ Polynices erzählte nun ſeine Verjagung durch
den Bruder, ſeine Aufnahme beim König Adraſtus in
Argos, der ihm die Tochter zur Gemahlin gab, und wie
er dort ſieben Fürſten mit ſiebenfacher Schaar für ſeine
gerechte Sache geworben habe, und dieſe Bundesgenoſſen
das thebaniſche Gebiet bereits umringt hätten. Dann
bat er den Vater unter Thränen, ſich mit ihm aufzuma¬
chen, und nachdem durch ſeine Hülfe der übermüthige
Bruder geſtürzt ſey, die Krone von Theben aus Sohnes
Händen zum zweitenmal zu empfahen. Doch die Reue
des Sohnes vermochte den harten Sinn des gekränkten
Vaters nicht zu erweichen. „Du Verruchter!“ ſprach er
und hob den Niedergeworfenen nicht vom Boden auf,
„als Thron und Scepter noch in deinem Beſitze war,
haſt du den Vater ſelbſt aus der Heimath verſtoßen, und
in dieſes Bettlerkleid eingehüllt, das du jetzt an ihm be¬
[339] mitleideſt, wo gleiche Noth über dich gekommen iſt! Du
und dein Bruder, ihr ſeyd nicht meine wahren Kinder; hinge
es von euch ab, ſo wäre ich längſt todt. Nur durch
meine Töchter lebe ich. Auch harrt euer ſchon der
Götter Rache. Du wirſt deine Vaterſtadt nicht vertil¬
gen; in deinem Blute wirſt du liegen, und dein Bruder
in dem ſeinen. Dieß iſt die Antwort, die du deinen
Bundesfürſten bringen magſt!“ Antigone nahte ſich jetzt
ihrem Bruder, der bei dem Fluche des Vaters entſetzt
vom Boden aufgeſprungen und rückwärts gewichen war.
„Höre mein inbrünſtiges Flehen, Polynices,“ ſprach ſie
ihn umfaſſend, kehre mit deinem Heere nach Argos zurück,
bekriege deine Vaterſtadt nicht!“ „Es iſt unmöglich,“ er¬
wiederte zögernd der Bruder; „die Flucht brächte mir
Schmach, ja Verderben! Und wenn wir Brüder beide zu
Grunde gehen müſſen, dennoch können wir nicht Freunde
ſeyn!“ So ſprach er, wand ſich aus der Schweſter Ar¬
men und ſtürzte verzweifelnd davon.


So hatte Oedipus den Verſuchungen ſeiner Ver¬
wandten nach beiden Seiten hin widerſtanden und ſie
dem Rachegott preisgegeben. Jetzt war ſein eigenes Ge¬
ſchick vollendet. Donnerſchlag auf Donnerſchlag erſcholl
vom Himmel. Der Greis verſtand ſeine Stimme und ver¬
langte ſehnlich nach Theſeus. Die ganze Gegend hüllte
ſich in Gewitterfinſterniß. Eine große Angſt bemächtigte
ſich des blinden Königes: er fürchtete von ſeinem Gaſt¬
freunde nicht mehr lebend, oder nicht mehr unverſtörten
Sinnes getroffen zu werden, und ihm den vollen Dank
für ſo viele Wohlthaten nicht mehr bezahlen zu können.
Endlich erſchien Theſeus, und nun ſprach Oedipus ſeinen
feierlichen Segen über die Stadt Athen. Dann forderte
22 *[340] er den König auf, dem Heroldrufe der Götter zu folgen
und ihn allein an die Stelle zu begleiten, wo er, von
keiner ſterblichen Hand berührt und nur vom Auge des
Theſeus geſchaut, enden ſollte. Keinem Menſchen ſollte
er ſagen, wo Oedipus die Erde verlaſſen. Bleibe das
heilige Grab, das ihn verſchlingen würde, verborgen, ſo
werde es mehr als Speer und Schild und alle Bundes¬
genoſſen eine Schutzwehr gegen alle Feinde Athens ſeyn.
Seinen Töchtern und den Bewohnern von Kolonos er¬
laubte er dann, ihn eine Strecke weit zu begleiten, und
ſo vertiefte ſich der ganze Zug in die ſchauerlichen Schat¬
ten des Furienhaines. Keines durfte an Oedipus rühren;
er, der Blinde, bisher von der Tochter Hand geleitet, ſchien
auf einmal ein Sehender geworden, ging wunderbar ge¬
ſtärkt und aufgerichtet allen andern voran und zeigte
ihnen den Weg zu dem vom Schickſal ihm beſtimmten
Ziele.


Mitten in dem Haine der Erinnyen ſah man einen
geborſtenen Erdſchlund, deſſen Oeffnung mit einer eher¬
nen Schwelle verſehen war, und zu welchem mehrere
Kreuzwege führten. Von dieſer Höhle ging von uralter
Zeit her die Sage, daß ſie einer der Eingänge in die
Unterwelt ſey. In einen jener Kreuzwege nun trat Oe¬
dipus ein, doch ließ er ſich von dem Gefolge nicht bis
zu der Grotte ſelbſt begleiten, ſondern unter einem hohlen
Baume machte er Halt, ſetzte ſich auf einen Stein nieder
und löſte den Gürtel ſeines ſchmutzigen Bettlerkleides.
Dann rief er nach einer Spende fließenden Waſſers,
wuſch ſich von aller Unreinigkeit der langen Wanderung
und zog ein ſchmuckes Gewand an, das ihm durch ſeine
Töchter aus einer nahen Wohnung herbeigebracht wurde.


[341]

Als er nun völlig umgekleidet und wie erneuert daſtand,
tönte unterirdiſcher Donner vom Boden herauf. Bebend
warfen ſich die Jungfrauen, die bisher um ihren Vater
bemüht geweſen waren, in ſeinen Schooß; Oedipus aber
ſchlang ſeinen Arm um ſie, küßte ſie und ſprach: „Kin¬
der, lebet wohl, von dieſem Tag an habt ihr keinen Va¬
ter mehr!“ Aus dieſer Umarmung weckte ſie eine don¬
nergleiche Stimme, von der man nicht wußte, ob ſie vom
Himmel herab- oder aus der Unterwelt herauftönte.
„Was ſäumeſt du, Oedipus? Was zögern wir zu gehen?“
rief es. Als der blinde König die Stimme vernahm und
wußte, daß der Gott ihn abfordere, machte er ſich aus
den Armen ſeiner Kinder los, rief den König Theſeus
zu ſich, und legte ſeiner Töchter Hände in die Hand deſ¬
ſelben, zum Zeichen ſeiner Verpflichtung, ſie nimmermehr
zu laſſen. Dann befahl er allen andern, umgewendet
ſich zu entfernen. Nur Theſeus an ſeiner Seite durfte
auf die eherne Schwelle mit ihm zuſchreiten. Seine
Töchter und das Gefolge waren ſeinem Winke gefolgt,
und ſchauten ſich erſt um, als ſie eine gute Strecke rück¬
wärts gegangen waren. Da hatte ſich ein großes Wun¬
der ereignet. Von dem Könige Oedipus war keine Spur
mehr zu erblicken. Kein Blitz war zu ſehen, kein Donner
zu hören, kein Wirbelwind zu ſpüren; die tiefſte Stille
herrſchte in der Luft. Die dunkle Schwelle der Unter¬
welt ſchien ſich ſanft und lautlos für ihn aufgethan zu
haben, und durch den Erdſpalt war der entſündigte Greis
ohne Stöhnen und Pein ſachte wie auf Geiſterflügeln
zur Unterwelt hinabgetragen worden. Den Theſeus aber
erblickten ſie allein, mit der Hand die Augen ſich über¬
ſchattend, als hätte er ein göttliches, überwältigendes
[342] Geſicht gehabt. Dann ſahen ſie, wie er, die Hände hoch
gen Himmel gehoben, zu den Olympiern, und dann, demü¬
thig auf den Boden niedergeworfen, zu den Göttern der
Unterwelt flehete. Nach kurzem Gebete kehrte der König zu
den Jungfrauen zurück, verſicherte ſie ſeines väterlichen
Schutzes und wandelte mit ihnen in tiefſinnige Betrach¬
tungen verſunken nach Athen zurück.

[[343]]

Sechstes Buch.

Die Sieben gegen Thebe.


Polynices und Tydeus bei Adraſt. — Auszug der Helden. Hypſipyle
und Opheltes. — Die Helden vor Thebe angekommen. — Menökeus.
— Der Sturm auf die Stadt. — Der Brüder Zweikampf. — Kreons
Beſchluß. — Antigone und Kreon. — Hämon und Antigone. —
Kreons Strafe.


Die Epigonen. Alkmäon und das Halsband.


Die Sage von den Herakliden.


Die Herakliden kommen nach Athen. — Makaria. — Die Rettungs¬
ſchlacht. — Euryſtheus vor Alkmene. — Hyllus, ſein Orakel und
ſeine Nachkommen. — Die Herakliden theilen den Peloponnes. —
Merope und Aepytus.


[[344]][[345]]

Die Sieben gegen Thebe.

Polynices und Tydeus bei Adraſt.

Adraſtus, der Sohn des Talaus, König von Argos,
hatte fünf Kinder, darunter zwei ſchöne Töchter, Argia
und Deipyle. Ueber dieſe war ihm ein ſeltſamer Orakel¬
ſpruch geworden: er werde dieſelben dereinſt einem Löwen
und einem Eber zu Gemahlinnen geben. Vergebens beſann
ſich der König, welchen Sinn dieſes dunkle Wort haben könne,
und als die Mägdlein herangewachſen waren, gedachte
er ſie ſo zu vermählen, daß die ängſtliche Wahrſagung auf
keine Weiſe erfüllt werden könnte. Aber das Götterwort
ſollte nicht zu Schanden werden. Von zweierlei Seiten
kamen zwei Flüchtlinge durch Argos Thore. Aus Thebe
war Polynices von ſeinem Bruder Eteokles verjagt wor¬
den ; Tydeus, des Oeneus Sohn, war aus Kalydon geflohen,
wo er auf der Jagd einen Verwandtenmord, nicht ab¬
ſichtlich, verübt hatte. Beide Flüchtlinge trafen ſich vor
dem Königspallaſte von Argos. In der Dunkelheit der
Nacht hielten ſie ſich für Feinde und geriethen mit ein¬
ander ins Handgemenge. Adraſtus hörte das Waffenge¬
tümmel unter ſeiner Burg, ſtieg bei Fackelſchein von ihr
herab und trennte die Streitenden. Als nun zu ſeinen
beiden Seiten einer der Heldenſöhne ſtand, die noch eben
mit einander gekämpft hatten, ſo erſtaunte der König wie
vor einem plötzlichen Geſichte, denn von dem Schilde des
[346] Polynices blickte ihm ein Löwenhaupt, von des Tydeus
Schild ſtarrte ihm ein Eberkopf entgegen. Der erſtere
trug ſolches Abzeichen auf dem Schilde zu Ehren des Her¬
kules, der andere hatte ſich das Wappen zum Andenken an
die Jagd des Kalydoniſchen Ebers und Meleagers gewählt.
Adraſtus ſah jetzt die Deutung jenes dunkeln Orakelwor¬
tes vor ſich, und aus den Flüchtlingen wurden ihm
Schwiegerſöhne. Polynices erhielt die Hand der ältern
Tochter, Argia; die jüngere Tochter, Deipyle, wurde
dem Tydeus zu Theil. Beiden gab er zugleich das Ver¬
ſprechen, ſie in ihre väterliche Reiche, aus denen ſie ver¬
trieben waren, wieder einzuführen.


Zuerſt wurde der Feldzug gegen Thebe beſchloſſen,
und Adraſtus ſammelte ſeine Helden, ſieben Fürſten, ihn
ſelbſt einbegriffen, mit ſieben Schaaren, um ſich. Ihre
Namen waren Adraſtus, Polynices, Tydeus; Amphia¬
raus und Kapaneus, der erſte der Schweſtergemahl Adraſts,
der andere ein Schweſterſohn; endlich ſeine zwei Brüder,
Hippomedon und Panthenopäus. Aber Amphiaraus, der
Schwager des Königs, der früher lange ſein Feind ge¬
weſen, war ein Prophet, und als ſolcher ſah er den
unglückſeligen Ausgang des ganzen Feldzuges voraus.
Nachdem er nun ſich vergebens bemüht hatte, den Adra¬
ſtus und die übrigen Helden von ihrem Vorhaben abwen¬
dig zu machen, ſuchte er einen Schlupfwinkel auf, den
nur ſeine Gemahlin, Eriphyle, die Schweſter des Königes,
kannte, und verbarg ſich dort aufs ſorgfältigſte. Lange
ſuchten ihn die Helden vergebens, und ohne ihn, den er
das Auge ſeines Heeres zu nennen pflegte, wagte Adraſt
den Feldzug nicht zu unternehmen. Nun hatte Polynices,
als er aus Thebe flüchtig werden mußte, das Halsband
[347] und den Schleier mitgenommen, die unglückbringenden Ge¬
ſchenke, die einſt Venus der Harmonia an ihrem Beila¬
ger mit Kadmus, dem Gründer Thebe's, verehrt hatte,
und die jedem, der ſie trug, das Verderben brachten.
Dieſe Gaben hatten auch wirklich ſchon der Harmonia
ſelbſt, der Semele, der Mutter des Bacchus, und der
Jokaſte den Untergang gebracht. Zuletzt hatte ſie Argia,
die Gemahlin des Polynices, die auch unglücklich werden
ſollte, beſeſſen, und jetzt beſchloß ihr Gemahl, mit einem
derſelben, dem Halsbande, die Eriphyle zu beſtechen,
daß ſie ihm und ſeinen Kampfgenoſſen den Aufenthalt
ihres Gatten verriethe. Als das Weib, das längſt ſeine
Schweſter um den herrlichen Schmuck, den ihr der
Fremdling zugebracht, beneidet hatte, die funkelnden Edel¬
ſteine und Goldſpangen an dem Halsbande ſah, konnte
ſie der Lockung nicht widerſtehen, hieß den Polynices fol¬
gen und zog den Amphiaraus aus ſeiner Zufluchtsſtätte
hervor. Jetzt konnte dieſer ſich der Anſchließung an
den Feldzug um ſo weniger entziehen, als er ſchon frü¬
her, da er ſich mit dem Adraſtus ausgeſöhnt und von
ihm die Schweſter zur Ehe erhalten hatte, anheiſchig ge¬
macht, bei jeder künftigen Streitigkeit mit dem Schwager
die Entſcheidung ſeiner Gattin zu überlaſſen. Er that
ſeine Rüſtung an und ſammelte ſeine Krieger. Bevor er
jedoch auszog, rief er ſeinen Sohn Alkmäon zu ſich und
verpflichtete ihn mit einem heiligen Schwure, ſich nach ſei¬
nem Tode, ſobald ihm derſelbe kundbar würde, an der
treuloſen Mutter zu rächen.


[348]

Auszug der Helden. Hypſipyle und Opheltes.

Auch die übrigen Helden rüſteten ſich, und bald hatte
Adraſtus ein gewaltiges Heer um ſich verſammelt, das
in ſieben Heerhaufen abgetheilt und von ſieben Helden
befehligt, unter dem Schalle der Zinken und Trompeten,
jauchzend und voll Hoffnung die Stadt Argos verließ.
Aber ſchon auf dem Wege ſtellte ſich das Unglück ein.
Sie waren in den Wald von Nemea gelangt, wo alle
Quellen, Flüſſe und Seen ausgetrocknet waren, und des
Tages Hitze mit brennendem Durſte ſie quälte. Panzer
und Schilde wurden ihnen zu ſchwer, der Staub, der
ſich von dem Zug auf der Straße erhob, ſetzte ſich ihnen
auf den dürren Gaumen, ſelbſt ihren Roſſen trocknete der
Schaum von dem Maule hinweg und ſie biſſen knirſchend mit
trockenen Nüſtern in den Zaum. Während nun Adraſtus
nebſt einigen Kriegern vom Heere vergebens nach Quellen
die Waldungen durchirrte, ſtießen ſie auf einmal auf ein
trauriges Weib von ſeltener Schöne, das einen Knaben
an der Bruſt, mit wallenden Haaren und in ärmlicher
Kleidung, doch mit königlicher Miene, unter dem Schat¬
ten eines Baumes ſaß. Der überraſchte König glaubte
nicht anders, als eine Nymphe des Waldes vor ſich zu
ſehen, warf ſich vor ihr auf ein Knie und flehte ſie für
ſich und die Seinigen um Rettung aus der Noth an,
mit welcher der Durſt ſie bedrohe. Aber die Frau ant¬
wortete mit geſenktem Auge und demüthiger Stimme:
„Fremdling, ich bin keine Göttin; Du magſt, wie dein
herrliches Ausſehen mich vermuthen läßt, von Göttern
ſtammen: wenn an mir etwas übermenſchliches, ſo muß es
[349] nur mein Leiden ſeyn, denn ich habe mehr geduldet, als
ſonſt Sterblichen zu leiden auferlegt wird. Ich bin Hyp¬
ſipyle, einſt die gefeierte Königin der Amazonen auf
Lemnos, die Tochter des herrlichen Thoas, jetzt nach
unnennbarem Jammer von Seeräubern entführt und
verkauft, die gefangene Sclavin des Königs Lykurgus
von Nemea. Der Knabe, den ich ſäuge, iſt nicht mein
eigenes Kind; er iſt Opheltes, der Sohn meines Herrn,
und ich bin ihm zur Wärterin beſtellt. Aber was ihr
von mir begehret, will ich euch gerne verſchaffen. Noch
eine einzige Quelle ſprudelt in dieſer troſtloſen Ein¬
öde, und ihren geheimen Zugang kennt niemand, als
ich. Sie iſt ergiebig genug, euer ganzes Heer zu erqui¬
cken. Folget mir!“ Die Frau ſtand auf, legte den Säug¬
ling ſorglich in's Gras und lullte ihn mit einem Wie¬
genliede in den Schlaf. Die Helden riefen ihren Ge¬
noſſen, und nun drängte ſich das ganze Heer Hypſipyle's
Tritten nach auf geheimen Pfaden, die durch's dichteſte
Waldgebüſch führten. Bald gelangten ſie zu einer fel¬
ſigen Thalſchlucht, aus der kühler Waſſerſtaub empor¬
drang und die erhitzten Angeſichter der vorderſten Krie¬
ger, die der Führerin und ihrem König vorangeeilt waren,
mit leichtem Schaum erfriſchte. Zugleich rauſchte das
Murmeln eines ſtarken Waſſerfalles an ihr Ohr. „Waſ¬
ſer!“ ſo tönte der Freudenruf aus dem Munde der Vor¬
angedrungenen, die mit einigen Sprüngen ſchon unten in
der Schlucht und mitten auf dem beſpülten Felsgeſteine
ſtanden und die Strahlen des herabfließenden Quelles
mit den Helmen auffaßten. „Waſſer, Waſſer!“ wieder¬
holte das ganze Heer und der Jubelruf übertönte den
Waſſerfall und hallte von den Bergen wieder, welche die
[350] Schlucht umgaben. Nun warfen ſich alle am grünenden
Ufer des weithin ſich ſchlängelnden Baches nieder, und
genoßen mit tiefen Zügen die langentbehrte Luſt. Bald
fand man auch für Wagen und Roſſe Pfade, die durch
den Wald bequem in die Tiefe hinabführten und die
Wagenlenker fuhren, ohne die Roſſe auszuſpannen, mitten
in die wallende Fluth hinein, da wo der Bach ſich zu
ebenem Laufe ausbreitete, und ließen die Roſſe, die ihren
Leib in den Wellen kühlten, unausgeſchirrt den langen
Durſt ſtillen.


Alles war erquickt und die gute Führerin Hypſi¬
pyle, die Thaten und Leiden der Weiber von Lemnos
erzählend, führte den Adraſtus und ſeine Helden, denen
jetzt das Heer in ehrerbietiger Entfernung folgte, auf die
breitere Straße zurück, dahin, wo ſie dieſelbe mit ihrem
Pflegekind unter dem gewölbten Baume hatten ſitzen
ſehen. Aber ehe ſie jener Stelle noch anſichtig wurden,
erſchreckte die feinhörende Pflegerin aus der Ferne ein
klägliches Kindeswimmern, das ihre Begleiter kaum ver¬
nahmen, ſie ſelbſt aber ſogleich als die Stimme ihres
kleinen Opheltes erkannte. Hypſipyle war ſelbſt die Mut¬
ter großer und kleiner Kinder, die ſie, von den Räubern
entführt, in Lemnos hatte zurücklaſſen müſſen. Nun hatte
ſie ihre ganze Mutterliebe auf dieſen Säugling überge¬
tragen, dem ſie als Sclavin beigegeben war. Eine bange
Ahnung durchzuckte ihr zärtliches Herz. Sie flog den
Helden voraus und dem wohlbekannten Platze zu, wo ſie
mit dem Kind an der Bruſt zu ruhen pflegte. Aber ach,
der Kleine war verſchwunden und ihre irrenden Augen
fanden keine Spur von ihm und vernahmen auch die
Stimme nicht mehr. Als ſie ihre Blicke in weiterem
[351] Kreiſe umherſandte, ward ihr bald das entſetzliche Schick¬
ſal klar, das ihr Pflegekind getroffen hatte, während ſie
dem Heere der Argiver den frommen Liebesdienſt leiſtete.
Denn nicht weit von dem Baume lag eine gräßliche
Schlange geringelt, ihren Kopf auf den ſchwellenden
Bauch zurückgelegt in träger Ruhe das eben abgehaltene
Mahl verdauend. Der unſeligen Pflegemutter ſträubte ſich
das Haar und ihr Jammerſchrei erfüllte die Lüfte. Auf
dieſes waren auch die Helden herbeigeeilt; der erſte, der
den Drachen erblickte, war Hippomedon; ohne zu ſäumen,
riß er ein Felsſtück aus dem Boden und ſchleuderte es auf
das Ungethüm; aber ſein gepanzerter Rücken ſchüttelte
den Wurf ab, als wäre es eine Handvoll Erde; da
ſandte Hippomedon ſeinem erſten Wurfe den Speer nach
und dieſer verfehlte ſein Ziel nicht; er fuhr der Schlange
in den Rachen, durchs hervorſpritzende Gehirn, und die
Spitze drang heraus zum Kamme. Das Unthier drehte
ſich wie ein Kreiſel mit dem langvorragenden Speer in
der Wunde, und hauchte endlich ziſchend ſeinen Athem aus.


Als die Schlange erlegt war, getraute ſich erſt die
arme Pflegemutter der Spur ihres Kindes nachzugehen,
ſie fand weithin die Gräſer vom Blute geröthet und
endlich fernab von dem Ort ihrer Ruhe das nackte Ge¬
bein des Kindleins. Die Verzweifelnde ſammelte es in
ihren Schooß und übergab es den Helden, die mit ihrem
ganzen Heere dem unglücklichen Knaben, der ihnen zum
Opfer gefallen war, nachdem ſie ſeine Ueberreſte feier¬
lich beſtattet, herrliche Leichenſpiele bereiteten, ihm zu
Ehren die Nemeiſchen heiligen Kampfſpiele ſtifteten, und
ihn unter dem Namen Archemoros, d. h. der Früh¬
vollendete, zuerſt als Halbgott verehrten.


[352]

Hypſipyle entging der Wuth nicht, in welche die
Mutter des Kindes, die Gemahlin des Lykurgus, Eury¬
dice, der Verluſt ihres Sohnes verſetzte. Sie wurde von
ihr in ein grauſames Gefängniß geworfen, und der fürch¬
terlichſte Tod war ihr geſchworen. Das Glück wollte,
daß die verlaſſenen älteſten Söhne Hypſipyle's ihrer
Mutter ſchon auf der Spur waren, und nicht lange
nach dieſer Begebenheit in Nemea eintrafen, wo ſie die
gefangene Mutter befreiten.

Die Helden vor Thebe angekommen.

„Da habt ihr ein Vorzeichen, wie der Feldzug ſich
enden wird!“ ſprach der Seher Amphiaraus finſter, als
das Gebein des Knaben Opheltes entdeckt war. Aber die
anderen alle dachten mehr an die Erlegung der Schlange,
und prieſen dieſe als eine glückliche Vorbedeutung. Und
weil ſich das Heer eben von einer großen Bedrängniß
erholt hatte, ſo war Alles guter Dinge; der ſchwere
Seufzer des Unglückspropheten wurde überhört, und der
Zug ging luſtig weiter. Es währte nicht viele Tage
mehr, ſo war das Heer der Argiver unter den Mauern
von Thebe angekommen.


In dieſer Stadt hatte Eteokles mit ſeinem Oheim
Kreon Alles zu einer hartnäckigen Vertheidigung vorbe¬
reitet, und ſprach zu den verſammelten Bürgern: „Be¬
denket jetzt, ihr Mitbürger, was ihr eurer Vaterſtadt
ſchuldig ſeyd, die euch in ihrem milden Schooße aufge¬
zogen und zu wackeren Kriegern gebildet hat. Ihr Alle,
vom Jünglinge, der noch nicht Mann iſt, bis zum Manne
[353] deſſen Locke ſchon grau wird, wehret euch für ſie,
für die Altäre der heimiſchen Götter, für Väter, Weiber
und Kinder und für euren freien Boden! Mir meldet
der Vogelſchauer, daß in der nächſten Nacht das Argi¬
verheer ſich zuſammenziehen und einen Angriff auf die
Stadt machen wird. Darum ihr alle auf die Mauer¬
zinnen, an die Thore geeilt! Brecht vor mit allen Waf¬
fen! Beſetzt die Schanzen, ſtellt euch in die Thürme mit
euren Geſchoßen, bewahret jeden Ausgang ſorgfältig und
fürchtet euch nicht vor der Menge der Feinde! Draußen
ſchleichen meine Kundſchafter umher, und ich bin gewiß,
daß ſie mir genaue Kunde bringen. Nach ihren Mel¬
dungen werde ich handeln.“


Während Eteokles ſo zu ſeinen Reitern ſprach, ſtand
auf der höchſten Zinne des Pallaſtes mit einem greiſen
Waffenträger ihres Großvaters Laus die Jungfrau An¬
tigone. Sie war nach ihres Vaters Tode nicht lang
unter dem liebevollen Schutze des Königes Theſeus zu
Athen geblieben, ſondern hatte mit ihrer Schweſter Iſ¬
mene in ihre Heimath zurückverlangt, wohin eine unbe¬
ſtimmte Hoffnung, ihrem Bruder Polynices nützlich wer¬
den zu können, und auch die Liebe zu ihrer Vaterſtadt
ſie trieb, deren Belagerung durch den Bruder ſie nicht
billigen konnte und deren Schickſal ſie theilen wollte.
Dort war ſie von dem Fürſten Kreon und ihrem Bru¬
der Eteokles mit offenen Armen aufgenommen worden,
denn ſie betrachteten die Jungfrau als einen freiwilligen
Geiſſel und eine willkommene Vermittlerin. Dieſe war
jetzt die alte Cedertreppe des Pallaſtes emporgeſtiegen,
und ſtand auf der Platform deſſelben, wo ihr der
Greis die Stellung der Feinde erklärte. Ringsum auf
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 23[354] den Fluren um die Stadt, die Ufer des Iſmenus entlang
und um die von Alters berühmte Quelle Dirce her, war
das mächtige Feindesheer gelagert. Es hatte ſich eben in
Bewegung geſetzt und Truppenſchaar ſonderte ſich von
Truppenſchaar. Das ganze Gefilde ſchimmerte von Erz¬
glanz wie ein wogendes Meer. Maſſen von Fußvolk
und Reiterei ſchwärmten brauſend um die Thore der be¬
lagerten Stadt. Die Jungfrau erſchrack bei dieſem An¬
blicke; der Greis jedoch ſprach ihr Troſt ein: „Unſere
Mauern ſind hoch und feſt, unſere Eichenthore liegen in
ſchweren eiſernen Riegeln. Von innen bietet die Stadt
alle Sicherheit, und iſt voll muthiger, den Kampf nicht
ſcheuender Krieger.“ Darauf fing er an, die Fragen
des Mädchens nach einzelnen hervorragenden Führern zu
beantworten: „Der dort im leuchtenden Helme, der, ſeinen
blanken Erzſchild mit Leichtigkeit ſchwingend, einer Heer¬
ſchaar voranzieht, das iſt der Fürſt Hippomedon, der um
das Gewäſſer Lerna's in Mycene wohnt, hoch ragt ſein
Wuchs empor, wie eines erdentſproſſenen Giganten! —
Weiter rechts dort, der am Dircequell wandelt, in frem¬
der Waffentracht, wie ein Halbbarbar, das iſt deines
Bruders Schwager, Tydeus, des Oeneus Sohn; er und
ſeine Aetolier ſind Schildträger und die beſten Lan¬
zenwerfer: ich kenne ihn an ſeinem Wappenſchilde; denn
ich bin ſchon als Unterhändler in das feindliche Lager
abgeſchickt worden.“ — „Wer iſt denn,“ fragte jetzt das
Mägdlein, „der jugendliche Held dort, im unjugendli¬
chen Haare, der mit wildem Blicke an jenem Helden-
Grabmal vorüberſchreitet, und dem völlig gerüſtetes Volk
langſam nachfolgt?“ — „Das Parthenopäus,“ be¬
lehrte ſie der Alte, „der Sohn Atalante's, der Freundin
[355] Diana's. Aber ſiehſt du dort die zwei Helden, am Grabe
der Niobe'stöchter? Der ältere iſt Adraſtus, der Führer
des ganzen Zuges: den jüngeren, kennſt du den?“ —
„Ich ſehe,“ rief Antigone ſchmerzlich bewegt, „nur die
Bruſt und den Umriß ſeines Leibes, und doch erkenne
ich ihn: es iſt mein Bruder Polynices! O könnte ich mit
den Wolken fliegen und bei ihm ſeyn und meinen Arm
um den Hals des lieben Flüchtlings ſchlagen! Wie fun¬
kelt ſeine goldne Rüſtung gleich der Sonne Morgenſtrahl!
doch wer iſt der dort, der mit feſter Hand die Roſſe zü¬
gelnd, einen weißen Wagen lenkt, und die Geißel ſo ru¬
hig und beſonnen ſchwingt?“ — „Das iſt,“ ſprach der
Greis, „der Seher Amphiaraus, meine Herrin!“ — „Aber
ſieheſt du dort den, der an den Mauern auf und ab geht und
ſie mißt, und ſorglich die Stellen erkundet, an welchen
die Baſteien dem Sturme zugänglich wären?“ — „Das iſt der
übermüthige Kapaneus, der unſerer Stadt ſo ſchrecklich
Hohn ſpricht, der euch zarte Jungfrauen an Lerna's Ge¬
wäſſer in die Knechtſchaft führen will!“ — Antigone er¬
blaßte, und verlangte umzukehren: der Greis reichte ihr
die Hand und geleitete ſie hinunter in die Mädchenzelle.

Menökeus.

Inzwiſchen hielten Kreon und Eteokles Kriegsrath,
und beſetzten in Folge der gefaßten Beſchlüſſe jedes der
ſieben Thore Thebens mit einem Führer, in dem ſie der
Feinde Zahl die gleiche Zahl gegenüber ſtellten. Doch
wollten ſie, bevor der Kampf um die Stadt ausbrach,
auch vorher die Zeichen erforſchen, welche die Vogelſchau
ihnen über den Ausgang des Kampfes gewähren könnte.
23 *[356] Nun lebte unter den Thebanern, wie die Sage von Oe¬
dipus ſchon erzählt hat, der Seher Tireſias, der Sohn
des Everes und der Nymphe Chariklo; dieſer hatte als
Jüngling die Göttin Minerva bei ſeiner Mutter über¬
raſcht und geſchaut, was er nicht ſchauen ſollte. Dafür
war er von der Göttin mit Blindheit geſchlagen worden.
Seine Mutter Chariklo hatte ihre Freundin zwar flehent¬
lich gebeten, ihm das Geſicht wieder zu geben, aber
Minerva vermochte dieſes nicht mehr; doch erbarmte ſie
ſich ſeiner und reinigte ihm dafür ſein Gehör, daß er
alle Stimmen der Vögel verſtand. Und ſo war er von
Stund' an der Vogelſchauer der Stadt.


Zu dieſem jetzt greiſen Seher ſchickte Kreon ſeinen
jungen Sohn Menökeus, daß er ihn in den Königspal¬
laſt geleite. Mit wankendem Knie, von ſeiner Tochter
Manto und dem Knaben geführt, erſchien auch bald dar¬
auf der Alte vor Kreon. Dieſer drang in ihn, zu mel¬
den, was der Vögel Flug ihm vom Schickſale der Stadt
verkündige. Tireſias ſchwieg lange; endlich ſprach er
die traurigen Worte: „Die Söhne des Oedipus haben
ſich an ihrem Vater ſchwer verſündigt; ſie bringen ins
Thebanerland bittere Trübſal. Argiver und Kadmeer
werden ſich morden, die Söhne, einer von des andern
Hand, fallen. Nur Eine Rettung weiß ich für die Stadt;
aber ſie iſt für die Geretteten ſelbſt zu bitter, als daß
mein Mund ſie offenbaren ſollte. Lebet wohl!“ Er wandte
ſich und wollte gehen, aber Kreon flehte ſo lange bis er
blieb. „Du willſt es dennoch hören?“ ſprach der Seher
in ſtrengem Tone; „ſo vernimm es! Aber ſage mir zu¬
vor, wo weilt dein Sohn, Menökeus, der mich hergelei¬
tete?“ — „Er ſteht neben dir!“ erwiederte Kreon. „Nun
[357] ſo fliehe er, ſo weit er kann, hinweg von meinem Göt¬
terſpruch!“ ſagte der Greis. „Warum das?“ fragte Kreon.
„Menökeus iſt ſeines Vaters Kind, er kann ſchweigen,
wenn er ſoll, und wird ſich freuen, wenn er das Mittel
erfährt, das uns retten ſoll!“ — „So vernehmet denn,
was ich aus dem Fluge der Vögel geleſen habe,“ ſprach
Tireſias. „Es kommt das Heil, aber über harte Schwelle.
Der Jüngſte von der Drachenzähneſaat muß fallen; nur
unter dieſer Bedingung wird Euch der Sieg!“ — „Weh
mir,“ rief Kreon, „was bedeutet dieſes Wort, o Greis?“
— „Daß der jüngſte Enkel des Kadmus ſterben ſoll,
wenn die Stadt gerettet ſeyn will!“ — „Du verlangſt den
Tod meines geliebteſten Kindes, meines Sohnes Menö¬
keus?“ ſo fuhr der Fürſt entrüſtet auf. „Packe dich fort
in die Stadt! Ich bedarf deines Seherſpruches nicht!“
— „Iſt die Wahrheit ungültig, weil ſie dir Leid bringt?“
fragte Tireſias ernſt. Jetzt warf ſich Kreon ihm zu Fü¬
ßen, umfaßte ſeine Knie, flehte den blinden Propheten
bei ſeinem grauen Haare an, den Spruch zurückzuneh¬
men. Aber der Seher blieb unerbittlich: „Die Forderung
iſt unabwendbar,“ ſprach er. „Am Dirce-Quell, wo einſt
der Lindwurm gelagert war, muß er ſein Blut im Op¬
fertode vergießen; dann werdet ihr die Erde zur Freund¬
in haben, wenn ſie für das Menſchenblut, das ſie einſt
dem Kadmus aus den Drachenzähnen emporſandte, wie¬
der Menſchenblut, und zwar verwandtes, empfangen hat.
Wenn dieſer Jüngling hier ſich für ſeine Stadt aufop¬
fert, ſo wird er im Tode ihr Erretter ſeyn und für
Adraſtus und ſein Heer wird die Heimkehr grauen¬
voll werden! Wähle dir nun, Kreon, welches Loos von
zweien du willſt.“


[358]

Alſo ſprach der Wahrſager und entfernte ſich an
der Hand ſeiner Tochter. Kreon ſtand in Schweigen
verſunken. Endlich rief er angſtvoll: „Wie gerne wollte
ich ſelbſt für mein Vaterland ſterben! Aber dich, Kind,
ſoll ich opfern? Flieh, mein Sohn, fliehe, ſo weit dich
deine Füße tragen, aus dieſem verfluchten Lande, das zu
ſchlimm iſt für deine Unſchuld. Geh über Delphi, Ae¬
tolien, Thesprotia zum Heiligthume Dodona's: dort birg
dich in des Orakels Schutz!“ — „Gerne;“ ſprach Menö¬
keus mit leuchtendem Blicke, „verſieh mich mit den nöthi¬
gen Reiſebedürfniſſen, Vater, und glaube mir, ich werde
den rechten Weg nicht verfehlen.“ Als ſich Kreon bei
der Willigkeit des Knaben beruhigte und auf ſeinen Po¬
ſten geeilt war, warf ſich dieſer, ſobald er allein war,
auf die Erde nieder und betete mit Inbrunſt zu den
Göttern: „Verzeihet mir, ihr himmliſchen Reinen, wenn ich
gelogen habe, wenn ich meinem alten Vater durch falſche
Worte die unwürdige Furcht benommen! Zwar, daß er,
der Greis, ſich fürchtet, iſt verzeihlich; aber welch ein
Feiger wäre ich, wenn ich das Vaterland verriethe, dem
ich das Leben verdanke. Höret darum meinen Schwur,
ihr Götter, und nehmet ihn gnädig auf. Ich gehe, mein
Vaterland durch meinen Tod zu erretten. Flucht würde
mich ſchänden. Auf den Mauernkranz will ich treten,
mich ſelbſt in die tiefe, dunkle Kluft des Drachen
ſtürzen, und ſo, wie der Seher angezeigt hat, das Land
erlöſen.“


Freudig ſprang der Knabe auf, eilte nach der Mauer
und that, wie er geſagt hatte. Er ſtellte ſich auf die
höchſte Höhe der Burgmauer, überſchaute mit Einem
Blicke die Schlachtordnung der Feinde, und verwünſchte
[359] ſie in kurzem feierlichen Fluche: dann zog er einen Dolch
hervor, den er unter dem Gewande verborgen gehalten,
durchbohrte ſich den Hals mit einer einzigen Wunde und
ſtürzte von der Höhe herab zerſchmettert am Ufer des
Dircequells zuſammen.

Der Sturm auf die Stadt.

Der Orakelſpruch war erfüllt; Kreon bezähmte ſei¬
nen Jammer; Eteokles theilte den ſieben Thorbeſchirmern
ſieben Schaaren zu, und wo er dieſe hinweggenommen,
ſtellte er Reiter hinter Reitern zum Erſatz auf, dazu leichtes
Fußvolk hinter die Schildträger, um überall, wo die
Mauern durch den Angriff leiden ſollten, ſie mit Heeres¬
macht ſchirmen zu können. Auch das Heer der Argiver
brach jetzt auf, und der Sturm auf den Wall nahm ſei¬
nen Anfang. Der Kriegsgeſang erſcholl, und vom feind¬
lichen Heere wie von den Mauern der Thebaner herab
ſchmetterten zu gleicher Zeit die Trompeten. Zuerſt führte
Parthenopäus, der Sohn der Jägerin Atalanta, den
Trupp der Seinigen, Schild an Schild gedrängt, wider
eines der Thore. Auf dem Felde ſeines Schildes war
ſeine Mutter abgebildet, wie ſie einen ätoliſchen Eber
mit fliegendem Pfeil erlegte. Auf ein zweites Thor zog,
Opferthiere auf ſeinem Wagen, der prieſterliche Seher
Amphiaraus los, er trug ſchmuckloſe Waffen, ohne
Wappenſchild oder ſonſtigen Prunk. Aufs dritte Thor
rückte Hippomedon heran, auf ſeinem Schilde war der
hundertäugige Argos zu ſchauen, wie er die von Juno in
eine Kuh verwandelte Jo bewacht. Zum vierten Thore lenkte
[360] Tydeus ſeine Schaaren, der eine ſtruppige Löwenhaut im
Schilde führte und mit wilder Gebärde in der Rechten
eine Brandfackel ſchwang. Der vertriebene König Poly¬
nices befehligte den Sturm auf das fünfte Thor; ſein
Schild ſtellte ein in Wuth ſich bäumendes Roſſegeſpann
vor. Zum ſechſten Thore führte ſeine Kriegerſchaar Ka¬
paneus, der ſich vermaß, mit dem Gotte Mars in die
Wette ſtreiten zu können: auf dem Eiſenrücken ſeines
Schildes war ein Gigant ausgeprägt, der eine ganze
Stadt, ihrem Grunde enthoben, auf den Schultern
trug, welches Schickſal dieſer Schildträger der Stadt
Thebe zugedacht hatte. Zum ſiebenten und letzten
Thore endlich kam Adraſtus, der Argiverkönig, heran¬
gerückt. Auf dem Felde ſeines Schildes waren hundert
Schlangen abgebildet, welche in ihren Kiefern thebaniſche
Kinder davontrugen. Als alle nahe genug vor die Thore
gerückt waren, wurde der Kampf zuerſt mit Schleudern,
dann mit Bogen und Speeren eröffnet. Aber den erſten
Angriff wehrten die Thebaner ſiegreich ab, ſo daß die
Schaaren der Argiver rückwärts gingen. Da riefen Ty¬
deus und Polynices ſchnell beſonnen: „Ihr Brüder, was
brechet ihr nicht, ehe die Geſchoße euch niederwerfen, mit
vereinigter Macht auf die Thore ein, Fußvölker, Reiter,
Wagenlenker, alle miteinander?“ Dieſer Ruf, der ſich
ſchnell durch das Heer verbreitete, belebte den Muth der
Argiver aufs Neue. Alles lebte wieder auf, und der
Sturm begann mit verſtärkter Macht, aber nicht glück¬
licher, denn zuvor. Mit blutbeſpritzten Köpfen ſanken
ſie zu den Füßen der Vertheidiger nieder, und ganze Li¬
nien röchelten unter den Mauern ihr Leben aus, ſo daß
der dürre Boden vor der Stadt von Blutbächen floß. —
[361] Da ſtürzte der Arkadier Parthenopäus wie ein Sturm¬
wind auf ſein Thor, und rief nach Feuer und Aexten, um
es in den Grund zu hauen. Ein thebaniſcher Held, der
auf der Mauer nicht ferne ſeinen Poſten hatte, Perikly¬
menus, beobachtete ſeine Anſtrengungen, und riß, als es
höchſte Zeit war, ein Stück der ſteinernen Bruſtwehr von
der Mauer, ſo groß, daß es eine ganze Wagenlaſt aus¬
gemacht hätte; dieſer Wurf zermalmte dem Stürmer ſein
blondgelocktes Haupt und zerriß ihm die Knochen, daß
er zerſchmettert zu Boden ſtürzte. Sobald nun Eteokles
dieſes Thor geſichert ſah, flog er den andern zu. Am vier¬
ten traf er den Tydeus, der wüthete wie ein Drache,
den die Sonne ſticht; er ſchüttelte ſein Haupt unter
dem fliegenden Helmbuſch, und ſein Schild, den er über
daſſelbe hielt, tönte von gellenden Glocken, die den
Rand umgaben; er ſelbſt ſchwang mit der Rechten die
Lanze hoch nach der Mauer, und eine ganze Schaar
Schildträger umgab ihn, die einen Hagel von Speeren
auf den höchſten Burgſaum aufwärts ſchleuderten, ſo daß
die Thebaner ſich von dem Rande der Bruſtwehr flüchten
mußten. In dieſem Augenblicke erſchien Eteokles, ſammelte
ſie, wie ein Jäger zerſtreute Hunde, und führte ſie auf
die Mauerzinne zurück. Dann eilte er weiter von Thor
zu Thor. Da ſtieß er auch auf den tobenden Kapaneus,
der eine vielſproſſige Sturmleiter wider die Stadt heran¬
trug, und prahlend ausrief, ſelbſt Jupiters Blitz ſolle
ihn nicht aufhalten, die Grundveſte der eroberten Stadt
zu brechen. Mit ſolchen Trotzworten legte er die Leiter
an, und klomm unter ſeinem Schilde, umſaust von Stei¬
nen, die glatten Sproſſen empor. Aber ihn für ſeinen
Frevelmuth zu züchtigen, blieb nicht den Thebanern über¬
[362] laſſen; Jupiter ſelbſt übernahm es, und traf ihn, als
er ſchon über den Mauerkranz drang, mit ſeinem Don¬
nerkeule. Es war ein Schlag, daß die Erde dröhnte;
ſeine zerriſſenen Gliedmaſſen flogen weit umher von der
Leiter, das entflammte Haar flatterte gen Himmel, das
Blut floß auf die Erde; Hände und Füße rollten im
Kreiſe wie ein Rad; der Rumpf ſtürzte endlich feurig
auf den Boden nieder.


Der König Adraſt erkannte aus dieſem Zeichen, daß der
Göttervater ſeinem Vorhaben feindſelig ſey; er führte ſeine
Schaaren aus dem Stadtgraben heraus und wich mit
ihnen rückwärts. Die Thebaner dagegen, als ſie das
Glück bringende Zeichen, das ihnen Jupiter geſandt hat¬
te, erkannten, brachen zu Fuß und zu Wagen aus der
Stadt hervor; ihr Fußvolk ſtürzte mitten unter die argi¬
viſche Heerſchaar, Wagen rannten an gegen Wagen,
Leichname lagen zu Haufen; der Sieg blieb den Theba¬
nern und erſt nachdem ſie die Feinde auf eine gute Strecke
von der Stadt zurückgeworfen, kehrten ſie in dieſelbe zu¬
rück. Auf dieſer Flucht der Argiver geſchah es auch, daß
der Thebaniſche Held Periklymenus den Seher Amphia¬
raus nach dem Strande des Fluſſes Ismenus verfolgte.
Hier hemmte den mit Roß und Wagen Fliehenden das
Waſſer. Der Thebaner war ihm auf den Ferſen. In
der Verzweiflung hieß der Seher ſeinen Wagenlenker die
Pferde ihren Weg durch die tiefe Fuhrt ſuchen, aber ehe
er im Waſſer war, hatte der Feind das Ufer erreicht
und ſein Speer drohte ſeinem Nacken. Da ſpaltete Ju¬
piter, der ſeinen Seher nicht auf unrühmlicher Flucht
umkommen laſſen wollte, mit einem Blitze den Boden,
daß er ſich aufthat, wie eine ſchwarze Höhle, und die
[363] Roſſe, die eben den Uebergang ſuchten, zuſammt dem
Wagen, dem Seher und ſeinem Genoſſen verſchlang.

Der Brüder Zweikampf.

Auf ſolche Weiſe endete der Sturm auf die Stadt
Thebe. Als Kreon und Eteokles mit den Ihrigen in die
Mauern zurückgekehrt waren, ordnete ſich das geſchlagene
Heer der Argiver wieder, und bald war es von Neuem im
Stande, der belagerten Stadt näher zu rücken. Als dieß
die Thebaner inne wurden, und die Hoffnung, das zwei¬
temal zu widerſtehen, nachdem auch ihre Kräfte durch
den erſten Angriff nicht wenig geſchwächt worden, ziem¬
lich geſunken war, faßte der König Eteokles einen
großen Entſchluß. Er ſandte ſeinen Herold zur Stadt
hinaus nach dem Argiverheere, das, wieder dicht um die
Mauern Thebe's gelagert, am Rande des Stadtgrabens
lag, und ließ ſich Stille erbitten. Dann rief er, auf der
oberſten Höhe der Burg ſtehend, ſeinen eigenen, inner¬
halb der Stadt aufgeſtellten Schaaren, und den die Stadt
umringenden Argivern mit lauter Stimme zu: „Ihr Da¬
naer und Argiver alle, die ihr hierher gezogen ſeyd, und
ihr Völker Thebe's, gebet doch ſo vielfaches Leben nicht,
ihr Einen, dem Polynices — noch mir, ſeinem Bruder, ihr
Anderen, Preis! Laßt vielmehr mich ſelbſt die Gefahr
dieſes Kampfes übernehmen, und ſo allein im Gefechte
mit meinem Bruder Polynices mich meſſen. Tödte ich ihn,
ſo laßt mich allein den Herrn im Hauſe bleiben: fall' ich
von ſeiner Hand, ſo ſey ihm das Scepter überlaſſen, und
ihr Argiver ſenket dann die Waffen und kehret in euer
[364] Heimathland zurück, ohne vor dieſen Mauern euer Leben
nutzlos zu verbluten.“ Aus den Reihen der Argiver ſprang
jetzt Polynices hervor, und rief zur Burg empor, daß er
den Vorſchlag ſeines Bruders anzunehmen bereit ſey.
Von beiden Seiten war man des blutigen Krieges, der
nur Einem von zwei Männern zu Gute kommen ſollte,
ſchon lange müde. Daher klatſchten beide Heere dem
gerechten Gedanken Beifall. Es wurde ein Vertrag dar¬
über abgeſchloſſen und der Eid der Führer bekräftigte
ihn von beiden Seiten auf dem Felde, das zwiſchen bei¬
den Heeren lag. Jetzt hüllten ſich die Söhne des Oedi¬
pus in ihre vollen Waffenrüſtungen; den Beherrſcher
Thebens ſchmückten die edelſten Thebaner, den vertriebe¬
nen Polynices die Häupter der Argiver. So ſtanden
beide im Stahle prangend da, ſtark und feſten Blickes.
„Bedenke,“ riefen die Freunde dem Polynices zu, „daß
Jupiter von dir ein Siegesdenkmal zu Argos erwartet!“
Die Thebaner aber ermunterten ihren Fürſten Eteokles:
„du kämpfeſt für die Vaterſtadt und für den Scepter;
dieſer doppelte Gedanke verleihe dir den Sieg!“ Ehe der
verhängnißvolle Kampf begann, opferten auch noch die
Seher aus beiden Heeren zuſammentretend, um aus den
Geſtaltungen der Opferflamme den Ausgang des Strei¬
tes zu muthmaßen. Das Zeichen war zweideutig, es
ſchien Sieg oder Untergang Beiden zugleich zu ver¬
künden. Als das Opfer vorbei war und die beiden
Brüder noch immer zwiſchen beiden Heeren einander
gegenüber in kampfbereiter Stellung ſich befanden,
erhob Polynices flehend ſeine Hände, drehte ſein
Haupt rückwärts dem Argiverlande zu und betete: „Juno,
Beherrſcherin von Argos, aus Deinem Lande habe ich ein
[365] Weib genommen, in Deinem Lande wohne ich; laß deinen
Bürger im Gefechte ſiegen, laß ihn ſeine Rechte färben
mit des Gegners Blute!“ Auf der andern Seite kehrte ſich
Eteokles zum Tempel der Minerva in Thebe: „Gib, o
Tochter Jupiters,“ flehte er, „daß ich die Lanze ſieg¬
reich zum Ziele ſchleudere, in die Bruſt deſſen, der mein
Vaterland zu verwüſten kam!“ Mit ſeinem letzten Worte
ſchmetterte der Trompetenklang, das Zeichen des blutigen
Kampfes, und die Brüder ſtürzten wilden Laufes auf
einander ein und packten ſich wie zwei Eber, die die
Hauer grimmig auf einander gewetzt haben. Die Lanzen
ſausten an einander vorüber, und prallten beide von den
Schilden ab; nun zielten ſie mit den Speeren ſich ge¬
genſeitig nach dem Geſichte, nach den Augen, aber die
ſchnell vorgehaltenen Schildränder vereitelten auch dieſen
Stoß. Den Zuſchauern ſelbſt floß der Schweiß in dich¬
ten Tropfen vom Leibe, bei'm Anblicke des erbitterten
Kampfes. Endlich vergaß ſich Eteokles, und während er
beim Ausfallen mit dem rechten Fuße einen Stein, der
ihm am Wege lag, bei Seite ſtoßen wollte, ſtreckte er
das Bein unvorſichtig unter dem Schilde hervor: da
ſtürzte Polynices mit dem Speere heran, und durchbohrte
ihm das Schienbein. Das ganze Argiverheer jubelte bei
ſeinem Stoße, ſah darin ſchon den entſcheidenden Sieg.
Aber während des Stoßes hatte der Verwundete, der ſeine
Beſinnung keinen Augenblick verlor, die eine Schulter an
ſeinem Gegner entblöſt geſehen, und warf ſeinen Wurf¬
ſpieß nach derſelben, der auch in der Schulter haftete,
doch ſo, daß die Spitze ihm abbrach. Die Thebaner lie¬
ßen nur einen halben Laut der Freude von ſich hören.
Eteokles wich zurück, ergriff einen Marmelſtein und zer¬
[366] ſchlug die Lanze ſeines Gegners in zwei Hälften. Der
Kampf war jetzt gleich, da beide ſich ihres Wurfgeſchoſ¬
ſes beraubt ſahen. Nun faßten ſie raſch die Griffe ihrer
Schwerter und rückten einander ganz nahe auf den Leib;
Schild ſchlug gegen Schild, lautes Kampfgetöſe hallte.
Da beſann ſich Eteokles auf einen Kunſtgriff, den er im
theſſaliſchen Lande gelernt. Er wechſelte plötzlich ſeine
Stellung, zog ſich nach hinten auf ſeinen linken Fuß zu¬
rück, deckte ſich den eigenen Unterleib mit Sorgfalt, ſetzte
dann den vordern Fuß voran, und ſtach den Bruder, der
auf eine ſo veränderte Haltung des Gegners nicht gefaßt
war und den untern Theil des Leibes nicht mehr mit
dem Schilde gedeckt hatte, mitten durch den Leib über
den Hüften. Schmerzlich neigte ſich nun Polynices auf
die Seite und ſank bald unter Strömen Blutes zuſam¬
men. Eteokles, nicht mehr an ſeinem Siege zweifelnd,
warf ſein Schwert von ſich und legte ſich über den Ster¬
benden, ihn zu berauben. Dieß aber war ſein Verderben:
denn jener hatte im Sturze ſein Schwert doch noch feſt
mit der Hand umklammert, und jetzt, ſo ſchwach er ath¬
mete, war ihm doch noch Kraft genug geblieben, daſſelbe
dem über ihn gebeugten Eteokles tief in die Leber zu
ſtoßen. Dieſer ſank um, und hart neben dem ſterbenden
Bruder nieder.


Nun öffneten ſich die Thore Thebe's, die Frauen,
die Diener ſtürzten heraus, die Leiche ihres Herrſchers
zu bejammern; Antigone aber warf ſich über ihren gelieb¬
ten Bruder Polynices, um ſeine letzten Worte von den
Lippen zu nehmen. Mit Eteokles war es ſchneller zu
Ende gegangen, als mit dieſem; nur noch ein tiefer Seuf¬
zer aus röchelnder Bruſt, und er war verſchieden. Po¬
[367] lynices aber athmete noch, wandte ſein brechendes Auge
nach der Schweſter und ſprach: „Wie beklage ich dein
Loos, Schweſter, wie auch das Loos des todten Bruders,
der aus einem Freunde mein Feind geworden iſt. Jetzt
erſt, im Tode, empfinde ich, daß ich ihn geliebt habe!
Du aber, liebe Schweſter, begrabe mich in meiner Hei¬
math, und verſöhne die zürnende Vaterſtadt, daß ſie mir,
obſchon ich der Herrſchaft beraubt worden bin, wenig¬
ſtens ſo viel gewähre! Drücke mir auch die Augen mit
deiner Hand zu: denn ſchon breitet die Nacht des Todes
ihre Schatten über mich aus.“


So ſtarb auch er in der Schweſter Armen. Nun
erhob ſich lauter Zwiſt von beiden Seiten unter der
Menge. Die Thebaner ſchrieben ihrem Herrn Eteokles
den Sieg zu, die Feinde Jenem. Derſelbe Hader war
unter den Anführern und den Freunden der Gefallenen;
„Polynices führte den erſten Lanzenſtoß!“ hieß es da.
„Aber er war auch der Erſte, der unterlegen iſt!“ ſcholl's
von der andern Seite entgegen. Unter dieſem Streite
wurde zu den Waffen gegriffen; glücklicherweiſe für die
Thebaner hatten ſich dieſe geordnet und in voller Waf¬
fenrüſtung theils vor dem Zweikampfe, theils während
deſſelben und bei ſeinem Schluſſe eingefunden, während
die Argiver die Waffen abgelegt und, wie des Sieges
gewiß, ſorglos zugeſchaut hatten. Die Thebaner warfen
ſich alſo plötzlich auf's Argiverheer, ehe dieſes ſich mit
Rüſtungen bedecken konnte. Sie fanden keinen Wider¬
ſtand; die waffenloſen Feinde füllten in ungeregelter
Flucht die Ebene, das Blut floß in Strömen, denn der
Wurf der Lanzen ſtreckte zu Hunderten die Fliehenden
nieder. Bald war die Umgebung Thebe's von ſämmtlichen
[368] Feinden gereinigt. Von allen Seiten her brachten die
Thebaner die Schilde der erlegten Feinde und andere
Beute herbei und trugen ſie triumphirend in die Stadt.

Kreons Beſchluß.

Hierauf wurde an die Beſtattung der Todten gedacht.
Die Königswürde von Thebe war nach dem Tode der
beiden gefallenen Brüder an ihren Oheim Kreon gekom¬
men, und dieſer hatte nun über das Begräbniß ſeiner
beiden Neffen zu verfügen. Sofort ließ er den Eteokles,
als für die Vertheidigung der Stadt gefallen, mit könig¬
lichen Ehren und aller ſonſtigen Gebühr, feierlich zur
Erde beſtatten; alle Bewohner der Stadt folgten
dem Leichenzuge, während Polynices unbegraben und
in Unehren dalag. Dann ließ Kreon unter Herolds¬
ruf durch die ganze Stadt verkündigen, den Feind des
Vaterlandes, der gekommen ſey, die Stadt mit Feuer¬
gluth zu zerſtören, ſich am Blute der Seinigen zu ſätti¬
gen, die Landesgötter ſelbſt zu vertreiben, und was übrig
bliebe, in Knechtſchaft zu ſtürzen — den weder zu beklagen,
noch ihm ein Grab angedeihen zu laſſen, vielmehr den
Leichnam des Verfluchten unbegraben den Vögeln und
Hunden zum Fraße zu übergeben. Zugleich gebot er den
Bürgern ſelbſt Aufſicht darüber zu führen, daß dieſe kö¬
nigliche Willensmeinung vollzogen würde, und ſtellte noch
beſondere Späher zu dem Leichname, welche dafür zu
ſorgen hatten, daß niemand käme, denſelben zu ſteh¬
len oder zu begraben. Der Lohn deſſen, der dieß doch
[369] thäte, ſollte unerbittlich der Tod ſeyn; in offener Stadt
ſollte er geſteinigt werden.


Dieſe grauſame Verkündigung hatte auch Antigone,
die fromme Schweſter, mit angehört und war ihres Ver¬
ſprechens, das ſie dem Sterbenden gegeben, wohl eingedenk.
Sie wandte ſich mit beſchwertem Herzen an ihre jüngere
Schweſter Iſmene, und wollte dieſe bereden, mit ihr gemein¬
ſchaftlich das Wageſtück zu unternehmen, mit Hand an¬
zulegen und den Leib des Bruders ſeinen Feinden zu ent¬
reißen. Aber Iſmene war ein ſchwaches Mädchen und
ſolchem Heldenmuthe nicht gewachſen. „Haſt du denn,
Schweſter,“ ſagte ſie weinend, „den grauenhaften Un¬
tergang unſeres Vaters und unſrer Mutter ſchon ſo ganz
vergeſſen, ja iſt dir das friſche Verderben unſrer Brüder
ſchon aus dem Gedächtniſſe verſchwunden, daß du auch
uns Zurückgebliebene noch ins gleiche Todesloos hinein¬
ziehen willſt?“ Antigone wandte ſich mit Kälte von
ihrer furchtſamen Schweſter ab. „Ich will dich gar nicht
zur Helferin“, ſagte ſie. „Ich gehe hin, den Bruder al¬
lein zu begraben. Wenn ich dieß gethan habe, ſterbe ich
mit Freuden und lege mich nieder neben dem, den ich
im Leben geliebt habe!“


Bald darauf kam einer der Wächter muthlos und
zögernden Schrittes vor den König Kreon: „der Leich¬
nam, den du uns zu bewahren gegeben, iſt begraben,“
rief er dem Herrſcher entgegen, „und der unbekannte
Thäter iſt uns entkommen. Wir wiſſen auch nicht, wie
es geſchehen iſt. Als der erſte Tageswächter uns die
That anzeigte, war es uns Allen ein Bekümmerniß.
Nur ein dünner Staub lag auf dem Todten: ſo viel
als nothwendig iſt, wenn ein Begräbniß vor den Göttern
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 24[370] der Unterwelt für ein ſolches gelten ſoll. Kein Hieb,
kein Schaufelwurf zeigte ſich, keine Wagenſpuren gingen
durch den Boden. Unter uns Wächtern entſtand Streit
darüber, jeder beſchuldigte den Andern, und am Ende
kam es zu Schlägen. Zuletzt jedoch vereinigte man ſich,
dir, o König, den Vorgang auf der Stelle zu melden,
und mich traf dieſes unſelige Loos!“ Kreon gerieth auf
dieſe Nachricht in großen Zorn, er bedrohte alle Wäch¬
ter, ſie lebendig aufhängen zu laſſen, wenn ſie ihm den
Thäter nicht unverzüglich in die Hände lieferten. Dieſe
mußten auch auf ſeinen Befehl den Leichnam wieder von
aller Erde entblößen und hielten nach wie vor die Wache
bei demſelben. So ſaßen ſie vom Morgen bis zum Mit¬
tage im heißeſten Sonnenſchein. Da erhub ſich plötzlich
ein Sturm und der Luftkreis füllte ſich mit Staub. Die
Wächter beſannen ſich noch über das unerwartete Zeichen,
als ſie eine Jungfrau herankommen ſahen, die ſo weh¬
müthig wehklagte, wie ein Vogel, der ſein Neſt ausge¬
leert findet. Sie hatte in der Hand eine eherne Gie߬
kanne, die ſie ſchnell mit Staub füllte, dann näherte ſie
ſich — denn die Wächter, um von der Nähe des nun
ſchon ſo lang unbegraben daliegenden Leichnams nicht zu
leiden, ſaßen ziemlich ferne auf einem Hügel — mit
Vorſicht der Leiche, und ſpendete dem Todten, anſtatt
des Begräbniſſes, einen dreifachen Aufguß von Erde. Da
zögerten die Wächter nicht länger, ſie eilten herbei, griffen
ſie und ſchleppten die auf der That ſelbſt Ertappte vor
den zürnenden Herrſcher.


[371]

Antigone und Kreon.

Kreon erkannte in der Thäterin ſeine Nichte Anti¬
gone. „Thörin,“ rief er ihr entgegen, „die du die Stirne
zur Erde ſenkſt, geſtehſt oder läugneſt du dieſes Werk?“
— „Ich geſtehe es,“ erwiederte die Jungfrau und rich¬
tete ihr Haupt in die Höhe. „Und kannteſt du,“ fragte
der König weiter, „das Geſetz, das du ſo ohne Scheu
übertrateſt?“ — „Wohl kannte ich es,“ ſprach Antigone
feſt und ruhig, „aber von keinem der unſterblichen Göt¬
ter ſtammt dieſe Satzung. Auch kenne ich andere Geſetze,
die nicht von geſtern und von heute ſind, die in Ewigkeit
gelten und von denen niemand weiß, von wannen ſie
kommen. Kein Sterblicher darf dieſe übertreten, ohne
dem Zorn der Götter anheimzufallen; ein ſolches Geſetz hat
mir befohlen, den todten Sohn meiner Mutter nicht un¬
begraben zu laſſen. Erſcheint dir dieſe Handlungsweiſe
thöricht, ſo iſt es ein Thor, der mich der Thorheit be¬
ſchuldigt.“ — „Meinſt du,“ ſprach Kreon, noch mehr
erbittert durch den Widerſpruch der Jungfrau, „deine
ſtarre Sinnesart ſey nicht zu beugen? Zerſpringt doch
auch der ſprödeſte Stahl am erſten. Wer in eines An¬
dern Gewalt iſt, der ſoll nicht trotzen!“ Darauf ant¬
wortete Antigone: „Du kannſt mir doch nicht mehr an¬
thun, als den Tod: wozu darum Aufſchub? Mein Name
wird nicht ruhmlos dadurch werden, daß ich ſterbe, auch
weiß ich, daß deinen Bürgern hier nur die Furcht den
Mund verſchließt und daß alle meine That im Herzen
billigen; denn den Bruder lieben, iſt die erſte Schwe¬
ſterpflicht.“ — „Nun ſo liebe denn, im Hades,“ rief der
24 *[372] König immer erbitterter, „wenn du lieben mußt!“ Und
ſchon hieß er die Diener ſie ergreifen, als Iſmene, die
vom Loos ihrer Schweſter vernommen hatte, herbeige¬
ſtürmt kam. Sie ſchien ihre weibliche Schwäche und
ihre Menſchenfurcht ganz abgeſchüttelt zu haben. Mu¬
thig trat ſie vor den grauſamen Oheim, bekannte ſich als
Mitwiſſerin und verlangte mit der Schweſter in den Tod
zu gehen. Zugleich erinnerte ſie den König daran, daß
Antigone nicht nur ſeiner Schweſter Tochter, daß ſie
auch die verlobte Braut ſeines eigenen Sohnes Hämon
ſey, und er durch ihren Tod ſeinem eigenen Sprößling
die Ehe wegmorde. Statt aller Antwort ließ Kreon auch
die Schweſter ergreifen und beide durch ſeine Schergen
in das Innere des Pallaſtes führen.

Hämon und Antigone.

Als Kreon ſeinen Sohn herbeieilen ſah, glaubte er
nicht anders, als das über ſeine Braut gefällte Urtheil
müße dieſen gegen den Vater empört haben. Hämon
ſetzte jedoch ſeinen verdächtigenden Fragen Worte voll
kindlichen Gehorſams entgegen, und erſt, nachdem er
den Vater von ſeiner frommen Anhänglichkeit überzeugt
hatte, wagte er es, für ſeine geliebte Braut Fürbitte zu
thun. „Du weißeſt nicht, Vater,“ ſprach er, „was das
Volk ſpricht, was es zu tadeln findet. Dein Auge ſchreckt
jeden Bürgersmann zurück, irgend etwas zu ſprechen,
das deinem Ohre nicht willkommen iſt; mir hingegen
wird es möglich, auch derlei Dinge im Dunkel zu hören.
Und ſo laß mich dir denn ſagen, daß dieſe Jungfrau von
[373] der ganzen Stadt bejammert, daß ihre Handlung von
der ganzen Bürgerſchaft als werth des Nachruhms ge¬
prieſen wird, daß niemand glaubt, ſie, die fromme Schwe¬
ſter, die ihren Bruder nicht von Hunden und Vögeln
zerfleiſchen ließ, habe den Tod als Lohn verdient! Darum,
geliebter Vater, gib der Stimme des Volkes nach; thu
es den Bäumen gleich, die längs dem angeſchwollenen
Waldſtrome gepflanzt, ſich ihm nicht entgegenſtemmen,
ſondern der Gewalt des Waſſers nachgeben und unver¬
letzt bleiben, während diejenigen Bäume, die es wagen,
Widerſtand zu leiſten, durch die Wellen von Grund aus
entwurzelt werden.“ — „Will der Knabe mich Verſtand
lehren?“ rief Kreon verächtlich aus; „es ſcheint, er kämpft
im Bunde mit dem Weib!“ — „Ja, wenn du ein Weib
biſt!“ — antwortete der Jüngling ſchnell und lebhaft —
„denn nur zu Deinem Beſten iſt dieß Alles geſagt!“ —
„Ich merke wohl,“ endete der Vater entrüſtet, „blinde
Liebe zu der Verbrecherin hält deinen Sinn in Banden:
aber lebendig wirſt du dieſe nicht freien! Denn wiſſe:
ferne, wo keine Menſchentritte ſchallen, ſoll ſie bei leben¬
dem Leibe in einem verſchloſſenen Felſengrabe geborgen
werden. Nur wenig Speiſe wird ihr mitgegeben, ſo
viel, als nöthig iſt, die Stadt vor der Befleckung zu
bewahren, die der Greuel eines unmittelbaren Mordes
ihr zuziehen würde. Mag ſie dann von dem Gotte der
Unterwelt, den ſie doch allein ehrt, ſich Befreiung erfle¬
hen; zu ſpät wird ſie erkennen, daß es klüger iſt, den
Lebenden zu gehorchen, als den Todten.“


Zornig wandte ſich Kreon mit dieſen Worten von
ſeinem Sohne ab, und bald waren alle Anſtalten ge¬
troffen, den gräßlichen Beſchluß des Tyrannen zu voll¬
[374] ziehen. Oeffentlich vor allen Bürgern Thebe's wurde
Antigone nach dem gewölbten Grabe abgeführt, das ihrer
wartete; ſie ſtieg unter Anrufung der Götter und der
Geliebten, mit welchen ſie vereinigt zu werden hoffte,
unerſchrocken hinab.


Noch immer lag der verweſende Leichnam des er¬
ſchlagenen Polynices unbegraben da. Die Hunde und
Vögel nährten ſich von ihm, und befleckten die Stadt,
indem ſie die Ueberreſte des Todten hin und her trugen.
Da erſchien der greiſe Seher Tireſias vor dem Könige
Kreon, wie er einſt vor Oedipus erſchienen war, und
verkündete jenem aus dem Vogelfluge und der Opferſchau
ein Unheil. Schlimmer, übelgeſättigter Vögel Gekrächz hatte
er vernommen, das Opferthier auf dem Altare, ſtatt hell
in Flammen zu verlodern, war unter trübem Rauche
verſchmort. „Offenbar zürnen uns die Götter,“ endete
er ſeinen Bericht, „wegen der Mißhandlung des erſchla¬
genen Königsſohnes. Sey darum nicht halsſtarrig,
Herrſcher, weiche dem Todten, ſieh nicht nach Ermorde¬
ten! Welcher Ruhm iſt es, Todte noch einmal zu töd¬
ten? Laß ab davon; in guter Meinung rathe ich dir!“
Aber Kreon wies, wie damals Oedipus, den Wahrſa¬
ger mit kränkenden Worten zurück, ſchalt ihn geldgierig
und bezüchtigte ihn der Lüge. Da entbrannte das Ge¬
müth des Sehers, und ohne Schonung zog er von den
Augen des Königes den Schleier weg, der die Zukunft
bedeckte! „Wiſſe,“ ſprach er, „daß die Sonne nicht
untergehen wird, ehe du aus deinem eigenen Blute einen
Leichnam für zwei Leichen zum Erſatze bringſt. Doppel¬
ten Frevel begehſt du, indem du den Todten der Unter¬
welt vorenthältſt, der ihr gebührt, und die Lebende, die
[375] der Oberwelt angehört, nicht heraufläßeſt zu ihr! Schnell
entführe mich, Knabe! Laſſen wir dieſen Mann mit ſei¬
nem Unglück allein!“ So ging er an der Hand ſeines
Führers, auf ſeinen Seherſtab geſtützt, davon.

Kreons Strafe.

Der König blickte dem zürnenden Wahrſager bebend
nach. Er berief die Aelteſten der Stadt zu ſich, und
befragte ſie, was zu thun ſey. „Entlaß die Jungfrau
aus der Höhle, beſtatte den preisgegebenen Leib des
Jünglings!“ lautete ihr einſtimmiger Rath. Schwer kam
es den unbeugſamen Herrſcher an, nachzugeben. Aber
das Herz war ihm entſunken. So willigte er geängſtigt
darein, den einzigen Ausweg zu ergreifen, der das Ver¬
derben, das der Seher verkündigt hatte, von ſeinem Hauſe
abwälzen könnte. Er ſelbſt machte ſich mit Dienern und
Gefolge zuerſt nach dem Felde, wo Polynices lag, und dann
nach dem Grabgewölbe, in welches Antigone verſchloſſen
worden war, auf, und im Pallaſte blieb ſeine Gemahlin
Eurydice allein zurück. Dieſe vernahm bald auf den
Straßen ein Klagegeſchrei, und als ſie auf den immer
lauter werdenden Ruf ihre Gemächer endlich verließ und
in den Vorhof ihres Pallaſtes heraustrat, kam ihr ein
Bote entgegen, der ihrem Gemahl als Führer nach dem
hohen Blachfelde gedient hatte, wo der Leib ſeines Neffen
erbarmungslos zerriſſen, bis hieher nicht begraben lag.
„Wir beteten zu den Göttern der Unterwelt,“ erzählte
der Bote, „badeten den Todten im heiligen Bade, und
verbrannten dann den Ueberreſt ſeines bejammernswür¬
[376] digen Leichnams. Nachdem wir ihm aus vaterländiſcher
Erde einen Grabhügel aufgethürmt, gingen wir nach dem
ſteinernen Gewölbe, in das die Jungfrau hinabgeſtiegen
war, ihr Leben dort im elenden Hungertode zu enden.
Hier vernahm ein vorangeeilter Diener ſchon aus der
Ferne helltönende Jammerlaute vom Thore des grauen¬
vollen Gemaches her. Er eilte zu unſerem Herrn zurück,
ihm Solches kund zu thun. Aber auch zu ſeinem Ohre
war jener betrübte Klagelaut ſchon gedrungen, und er
hatte darin die Stimme des Sohnes erkannt. Wir Die¬
ner eilten auf ſein Geheiß heran, und blickten durch den
Felſenſpalt. Wehe uns, was mußten wir hier ſchauen?
Tief im Hintergrunde der Höhle ſahen wir die Jungfrau
Antigone in den Schlingen ihres Schleiers aufgeknüpft
und ſchon entſeelt. Vor ihr lag, ihren Leib umſchlingend,
dein Sohn Hämon, in heulender Wehklage die entriſſene
Braut bejammernd und des Vaters Unthat verfluchend.
Inzwiſchen war dieſer vor der Kluft angekommen und
wandelte tiefaufſeufzend durch die offene Thüre hinein.
„Unſeliger Knabe,“ rief er, „auf was ſinneſt du? Was
droht uns dein verirrter Blick? Komm heraus zu deinem
Vater! Flehend, auf den Knieen liegend, beſchwöre ich
dich!“ Doch der Sohn ſtarrte ihn in Verzweiflung an,
und riß ohne Antwort ſein zweiſchneidiges Schwert aus
der Scheide, der Vater ſtürzte zu dem Gewölbe hinaus,
und entwich dem Stoße. Hierauf bückte der unglückſelige
Hämon ſich ſelbſt über ſein Schwert und trieb den Stahl
tief durch ſeine Seite. Er ſank, aber noch ſinkend ſchlang
er ſeinen Arm feſt um die Leiche der Braut, und liegt
jetzt todt, wie er die Todte gefaßt hatte, in der Grabes¬
höhle.“ Eurydice hörte dieſe Botſchaft ſchweigend an
[377] und enteilte dann, ohne ein gutes oder böſes Wort zu
ſprechen. Dem verzweifelnden Könige, der von Dienern
begleitet, welche die Leiche ſeines einzigen Sohnes tru¬
gen, jammernd in den Pallaſt zurückkehrte, kam die Nach¬
richt entgegen, daß im Innern des Hauſes ſeine Gemah¬
lin entſeelt in ihrem Blute liege, mit einer tiefen Schwert¬
wunde im Herzen.

Beſtattung der thebaniſchen Helden.

Vom ganzen Stamme des Oedipus war jetzt, außer zwei
Söhnen der gefallenen Brüder, nur noch Iſmene übrig.
Von ihr erzählt die Sage nichts; ſie ſtarb unvermählt
oder kinderlos, und mit ihrem Tode erloſch das unſelige
Geſchlecht. Von den ſieben Helden, die gegen Thebe aus¬
gezogen waren, entkam dem unglücklichen Sturme und
der letzten Schlacht der König Adraſtus allein, den ſein
unſterbliches Roß, Arion, von Neptunus und Ceres er¬
zeugt, auf geflügelter Flucht rettete. Er erreichte glücklich
Athen, nahm dort ſeine Zuflucht als Schutzflehender an
den Altar der Barmherzigkeit, und flehte, einen Oelzweig
in der Hand, die Athener an, ihn zu unterſtützen, daß
er die vor Thebe gefallenen Helden und Mitbürger zu
ehrlicher Beſtattung ſich erſtreiten könnte. Die Athener
erhörten ſeinen Wunſch und zogen unter Theſeus mit
ihm zu Felde. Die Thebaner wurden gezwungen, die Be¬
erdigung zu geſtatten. Nun errichtete Adraſtus den Leich¬
namen der gefallenen Helden ſieben gethürmte Scheiter¬
haufen und hielt am Aſopus, dem Apollo zu Ehren, ein
Wettrennen. Als der Scheiterhaufen des Kapaneus brannte,
[378] ſtürzte ſich ſeine Gattin, Evadne, des Iphis Tochter, hin¬
ein, und verbrannte zugleich mit ihm. Der Leichnam des Am¬
phiaraus, den die Erde verſchlungen hatte, war nicht zum
Begräbniſſe aufgefunden worden. Es ſchmerzte den Kö¬
nig, ſeinem Freunde dieſe letzte Ehre nicht bezeigen zu
können. „Ich vermiſſe,“ ſprach er, das Auge meines
Heeres, den Mann, der beides war, der trefflichſte Se¬
her und der tapferſte Kämpfer im Streit!“ Als die feier¬
liche Beſtattung vorüber war, errichtete Adraſtus der Ne¬
meſis oder Vergeltung einen ſchönen Tempel vor Thebe,
und zog mit ſeinen Bundesgenoſſen, den Athenern, wie¬
der aus dem Lande.


[379]

Die Epigonen.

Zehn Jahre nachher entſchloſſen ſich die Söhne der
vor Theben umgekommenen Helden, Epigonen oder Nach¬
kömmlinge genannt, zu einem neuen Feldzuge gegen dieſe
Stadt, den Tod ihrer Väter zu rächen. Es waren ihrer
acht: Alkmäon und Amphilochus, die Söhne des Amphia¬
raus, Aegialeus, der Sohn Adraſt's, Diomedes, der Sohn
des Tydeus, Promachus, des Parthenopäus Sohn, Sthe¬
nelus, der Sohn des Kapaneus, Therſander, des Poly¬
nices, und Euryalus, des Mekiſteus Sohn. Auch der
alte König Adraſtus, aus dem Kampfe der Väter allein
noch übrig, geſellte ſich zu ihnen, übernahm jedoch den
Oberbefehl nicht, ſondern wollte ihn einem jüngeren und
rüſtigeren Helden laſſen. Da befragten die Verbündeten
das Orakel des Apollo darüber, wen ſie zum Anführer
wählen ſollten. Dieſes bezeichnete ihnen den Alkmäon,
des Amphiaraus Sohn. Alſo ward Alkmäon von ihnen
zum Feldherrn gewählt. Er aber war ungewiß, ob er
dieſe Würde annehmen dürfte, bevor er den Vater ge¬
rächt: deßwegen ging auch er hin zum Gotte und befragte
das Orakel. Apoll antwortete ihm, er ſollte beides aus¬
führen. Seine Mutter Eriphyle war bisher nicht nur
im Beſitze des verderblichen Halsbandes geweſen, ſie hatte
ſich auch das zweite Unheil bringende Geſchenk Aphrodi¬
tens, den Schleier, zu verſchaffen gewußt. Therſander,
der Sohn des Polynices, der den Schleier als Erbe
beſaß, hatte ihn ihr, wie einſt ſein Vater das Halsband,
geſchenkt, und ſie damit beſtochen, daß ſie ihren Sohn
Alkmäon überreden ſollte, an dem Feldzuge gegen Thebe
[380] Theil zu nehmen. Dem Orakelſpruche gehorſam, über¬
nahm Alkmäon den Oberbefehl, und verſchob ſeine Rache
auf die Heimkehr. Er brachte nicht nur aus Argos ſelbſt
ein anſehnliches Heer zuſammen, ſondern viel kampfluſtige
Krieger aus den Nachbarſtädten vereinigten ſich mit ihm,
und nun führte er eine anſehnliche Streitmacht unter
Thebe's Thore. Hier erneuerte ſich durch die Söhne der
hartnäckige Kampf, wie er zehn Jahre früher von den
Vätern gekämpft worden war. Aber die Söhne waren
glücklicher als die Väter, und der Sieg entſchied ſich für
Alkmäon. In der Hitze des Streites fiel nur Einer der
Epigonen, Aegialeus, der Sohn des Königes Adraſtus,
welchen der Anführer der Thebaner, Laodamas, des Eteo¬
kles Sohn, mit eigener Hand tödtete, dafür aber von
Alkmäon, dem Feldherrn der Epigonen, erſchlagen wurde.
Nach dem Verluſte ihres Führers und vieler Mitbürger
verließen die Thebaner das Schlachtfeld und flohen hin¬
ter ihre Mauern zurück. Hier ſuchten ſie Rath bei dem
blinden Tireſias, dem Seher, der, jetzt wohl hundert Jahre
alt, noch immer in Thebe lebte. Er rieth ihnen den
einzigen Rettungsweg einzuſchlagen, und, während ſie ei¬
nen Herold mit Friedenſaufträgen an die Argiver abſen¬
deten, die Stadt zu verlaſſen. Sie gingen den Vorſchlag
ein, fertigten einen Abgeſandten an die Feinde ab, und
während dieſer unterhandelte, luden ſie ihre Kinder und
Frauen auf Wagen und flohen aus der Stadt. Im
Dunkel der Nacht kamen ſie in eine Stadt Böotiens, die
Tilphuſſa hieß. Aus dem Quelle, der bei der Stadt floß,
that der blinde Tireſias, der ſelbſt geflüchtet war, einen
kalten Trunk und ſtarb. Noch in der Unterwelt wurde
der weiſe Seher ausgezeichnet. Er lief nicht gedankenlos
[381] umher wie andere Schatten, ſondern ſein hoher Sinn und
Seherverſtand war ihm geblieben. Seine Tochter Manto
hatte die Flucht nicht getheilt; ſie war in Thebe zurück¬
gelaſſen worden, und fiel hier den Eroberern, welche die
verödete Stadt beſetzten, in die Hände. Dieſe hatten ein
Gelübde gethan, das Beſte, was ſie von Beute zu Thebe
finden würden, dem Apollo zu weihen. Nun urtheilten
ſie, daß dem Gotte kein Theil der Beute beſſer gefallen könne,
als die Seherin Manto, welche die göttliche Gabe von
ihrem Vater ererbt hatte, und nicht in geringerem Maße
beſaß. Deßwegen brachten die Epigonen dieſelbe nach
Delphi, und weihten ſie hier dem Gott als Prieſterin.
Hier wurde ſie immer vollkommener in der Wahrſager¬
kunſt und anderer Weisheit und bald die berühmteſte Seherin
ihrer Zeit. Oft ſah man bei ihr einen greiſen Mann
aus und ein gehen, den ſie herrliche Geſänge lehrte, die
bald in ganz Griechenland wiedertönten. Es war der
Maeonier Homerus.


[382]

Alkmäon und das Halsband.

Als Alkmäon von Thebe zurückgekehrt war, dachte
er darauf, auch den zweiten Theil des Orakelſpruches zu
erfüllen und an ſeiner Mutter, der Mörderin ſeines Va¬
ters, Rache zu nehmen. Seine Erbitterung gegen ſie war
noch gewachſen, als er nach ſeiner Zurückkunft erfahren
hatte, daß Eriphyle, auch ihn zu verrathen, Geſchenke ge¬
nommen habe. Er glaubte ſie nicht länger ſchonen zu
müßen, überfiel ſie mit dem Schwerdte und ermordete ſie.
Dann nahm er das Halsband und den Schleier zur Hand
und verließ das älterliche Haus, das ihm ein Greuel ge¬
worden war. Aber obgleich die Rache des Vaters ihm vom
Orakel befohlen worden war, ſo war doch auch wieder der
Muttermord für ſich ein Frevel wider die Natur und
die Götter konnten ihn nicht ungeſtraft laſſen. So wurde
denn zur Verfolgung des Alkmäon eine Furie geſandt,
und er mit Wahnſinn geſchlagen. In dieſem Zuſtande
kam er zuerſt nach Arkadien zum Könige Okleus. Aber
hier gönnte ihm die Furie keine Ruhe und er mußte wei¬
ter wandern. Endlich fand er eine Zufluchtsſtätte zu
Phocis bei dem Könige Phegeus. Von dieſem entſündigt,
erhielt er die Hand ſeiner Tochter Arſinoe, und die ver¬
hängnißvollen Geſchenke, Halsband und Schleier, wan¬
derten nun in ihren Beſitz. Alkmäon war jetzt zwar vom
Wahnſinne frei, der Fluch jedoch noch nicht ganz von
ſeinem Haupte genommen, denn das Land ſeines Schwä¬
hers wurde um ſeiner Anweſenheit willen mit Unfrucht¬
barkeit heimgeſucht. Alkmäon befragte das Orakel; dieſes
aber fertigte ihn mit dem troſtloſen Ausſpruche ab: er
[383] ſollte Ruhe finden, wenn er in ein Land gekommen, das
bei ſeiner Mutter Ermordung noch nicht vorhanden ge¬
weſen ſey. Es hatte nemlich Eriphyle ſterbend jedes
Land verflucht, das den Muttermörder aufnehmen würde.
Troſtlos verließ Alkmäon ſeine Gattin und ſeinen kleinen
Sohn Klytus und ging hinaus in die weite Welt. Nach
langem Umherirren fand er endlich doch, was ihm die
Wahrſagung verheißen hatte. Er kam an den Strom
Achelous und fand hier eine Inſel, die dieſer erſt ſeit
Kurzem angeſetzt hatte. Hier ließ er ſich nieder und
ward von ſeiner Plage ganz frei. Aber die Befreiung
von dem Fluche und das neue Glück machten ſein Herz
übermüthig: er vergaß ſeiner frühern Gemahlin Arſinoe
und ſeines kleinen Sohnes und vermählte ſich abermals
mit der ſchönen Kallirrhoe, der Tochter des Stromgottes
Achelous, die ihm auch bald nach einander zwei Söhne,
Akarnan und Amphoterus, gebar. Wie aber dem Alkmäon
überall der Ruf von den unſchätzbaren Kleinodien voran¬
ging, in deren Beſitze man ihn glaubte, ſo fragte auch
ſeine junge Gemahlin gar bald nach dem herrlichen Hals¬
band und Schleier. Dieſe Schätze jedoch hatte Alkmäon
in den Händen ſeiner erſten Gattin gelaſſen, als er dieſe
heimlich verließ. Nun ſollte ſeine neue Gemahlin nichts
von jenem früheren Ehebund erfahren: ſo erdichtete er
einen Ort in der Ferne, wo er die Koſtbarkeiten aufge¬
hoben hätte, und machte ſich anheiſchig, ihr dieſelben zu
holen. Nun wanderte er nach Phocis zurück, trat wie¬
der vor ſeinen erſten Schwiegervater und ſeine verſtoßene
Gattin und entſchuldigte ſich wegen ſeiner Entfernung mit
einem Reſte von Wahnſinn, der ihn ausgetrieben habe
und noch immer verfolge. „Frei vom Fluche zu werden und
[384] wieder zurückzukehren,“ ſprach der Falſche, „gibt es, wie mir
geweiſſagt iſt, nur ein Mittel: wenn ich das Halsband
und den Schleier, die ich dir geſchenkt habe, dem Gott
nach Delphi als Weihgeſchenk bringe.“ Durch dieſe Trug¬
worte ließen Phegeus und ſeine Tochter ſich bereden und
gaben beides her. Alkmäon machte ſich mit ſeinem Raube
fröhlich davon; er ahnte nicht, daß die unheilvollen Ga¬
ben endlich auch ihm den Untergang bringen müßten. Es
hatte nämlich einer ſeiner Diener, der um das Geheim¬
niß wußte, dem Könige Phegeus anvertraut, daß Alk¬
mäon eine zweite Gattin habe und den Schmuck zu ſich
genommen, um ihn dieſer zu bringen. Nun machten ſich
die Brüder der verſtoßenen Gemahlin auf ſeine Spur,
eilten ihm zuvor, erlauerten ihn in einem Hinterhalte
und ſtießen den ſorglos einherziehenden nieder. Halsband
und Schleier brachten ſie ihrer Schweſter zurück und rühm¬
ten ſich der Rache, die ſie für ſie genommen. Aber Ar¬
ſinoe liebte auch den ungetreuen Alkmäon noch und ver¬
wünſchte ihre Brüder, als ſie ſeinen Tod vernahm. Jetzt
ſollten die verderblichen Geſchenke ihre Kraft auch an Ar¬
ſinoe bewähren. Die erbitterten Brüder glaubten den Un¬
dank der Schweſter nicht hart genug beſtrafen zu können:
ſie ergriffen ſie, ſperrten ſie in eine Kiſte und führten ſie
in derſelben zu ihrem Gaſtfreunde, dem König Agapenor,
nach Tegea, mit der falſchen Botſchaft, daß Arſinoe die
Mörderin des Alkmäon ſey. So ſtarb ſie eines elenden
Todes.


Inzwiſchen hatte Kallirrhoe den kläglichen Untergang
ihres Gatten Alkmäon erfahren und mit dem tiefſten
Schmerz durchzückte ſie das Verlangen nach ſchneller
Rache. Sie warf ſich auf ihr Angeſicht nieder und flehte
[385] zu Jupiter, daß er ein Wunder thun und ihre kleinen
Söhne, Akarnan und Amphoterus, plötzlich mannbar wer¬
den laſſen ſollte, damit ſie die Mörder ihres Vaters be¬
ſtrafen könnten. Da Kallirrhoe ſchuldlos war, erhörte
Jupiter ihre Bitte, und die Söhne, die als unmündige
Knaben zu Bette gegangen waren, erwachten als bärtige
Männer voll Thatkraft und Racheluſt. Sie zogen aus und
wandten ſich zuerſt nach Tegea. Hier kamen ſie gerade
um dieſelbe Zeit an, als die Söhne des Phegeus, Pro¬
nous und Agenor, mit ihrer unglücklichen Schweſter, Ar¬
ſinoe, dort angelangt und im Begriffe waren, nach Del¬
phi zu reiſen, um dort den heilloſen Schmuck Aphrodi¬
tens im Tempel Apollo's als Weihgeſchenk niederzulegen.
Dieſe wußten nicht, wen ſie vor ſich hatten, als die bär¬
tigen Jünglinge auf ſie eindrangen, den Mord ihres Va¬
ters zu rächen, und ehe ſie den Grund des Angriffes er¬
fahren hatten, waren ſie erſchlagen. Die Söhne Alkmäons
rechtfertigten ſich bei Agapenor und erzählten ihm den
wahren Hergang der Sachen; ſie wandten ſich dann
nach Pſophis, traten hier in den Pallaſt und tödteten den
König Phegeus mitſammt ſeiner Gemahlin. Verfolgt und
gerettet verkündeten ſie ihrer Mutter die vollbrachte Rache;
dann zogen ſie nach Delphi und legten, nach dem Rath
ihres Großvaters Achelous, Halsband und Schleier als
Weihgeſchenk im Tempel Apollos nieder. Als dieß geſche¬
hen war, erloſch der Fluch, der auf dem Hauſe des Am¬
phiaraus gelegen, und ſeine Enkel, die Söhne Alkmäons und
Kalirrhoe's ſammelten Anſiedler in Epirus und gründeten
Akarnanien. Klytius, der Sohn Alkmäons und Arſinoe's hatte
nach des Vaters Ermordung ſeine mütterlichen Verwandten
mit Abſcheu verlaſſen und in Elis eine Zuflucht gefunden.


Schwab, das klaſſiſche Alterthum. I. 25[386]

Die Sage von den Herakliden.

Die Herakliden kommen nach Athen.

Als Herkules in den Himmel verſetzt war und ſein
Vetter Euryſtheus, König von Argos, ihn nicht mehr zu
fürchten hatte, verfolgte ſeine Rache die Kinder des Halb¬
gottes, deren größerer Theil mit Alkmene, der Mutter
des Helden, zu Mycene, der Hauptſtadt von Argos, lebte.
Sie entflohen ſeinen Nachſtellungen und begaben ſich in
den Schutz des Königes Ceyr zu Trachin. Als aber Eu¬
ryſtheus von dieſem kleinen Fürſten ihre Auslieferung ver¬
langte, und denſelben mit einem Kriege bedrohte, hielten
ſie ſich unter ſeinem Schutze nicht mehr für ſicher, ver¬
ließen Trachin und flüchteten ſich durch Griechenland.
Vaterſtelle bei ihnen vertrat der berühmte Neffe und
Freund des Herkules, der Sohn des Iphikles, Jolaus.
Wie dieſer in jungen Jahren mit Herkules alle Mühſale
und Abenteuer getheilt hatte, ſo nahm er jetzt auch, ſchon
ergraut, die verlaſſene Kinderſchaar des Freundes unter
ſeine Flügel, und ſchlug ſich mit ihnen durch die Welt.
Ihre Abſicht war, ſich den Beſitz des Peloponneſes, den
ihr Vater erobert hatte, zu ſichern; ſo kamen ſie, unab¬
läſſig von Euryſtheus verfolgt, nach Athen, wo der Sohn
des Theſeus, Demophoon, regierte, der den unrechtmäßi¬
gen Beſitzer des Thrones, Meneſtheus, eben verdrängt
hatte. Zu Athen lagerte ſich die Schaar auf der Agora
oder dem Markt, am Altare Jupiters, und flehte den
Schutz des Atheniſchen Volkes an. Noch nicht lange
[387] ſaßen ſie ſo, als auch ſchon wieder ein Herold des Köni¬
ges Euryſtheus einhergeſchritten kam. Er ſtellte ſich tro¬
tzig vor Jolaus hin und ſprach in höhnendem Tone:
„Du meinſt wohl gar hier einen ſicheren Sitz gefunden
zu haben und in eine verbündete Stadt gekommen zu
ſeyn, thörichter Jolaus! Freilich, es wird auch jemand
einfallen, deine unnütze Bundesgenoſſenſchaft mit der des
mächtigen Euryſtheus zu vertauſchen! Darum fort von
hier mit allen deinen Sippen gen Argos, wo euer nach
Urtheil und Recht die Steinigung wartet!“ Jolaus ant¬
wortete ihm getroſt: „Das ſey ferne! Weiß ich doch,
daß dieſer Altar eine Stätte iſt, die mich nicht nur vor
dir, dem Unmächtigen, ſondern ſelbſt vor den Heerſchaa¬
ren deines Herrn ſchützen wird, und daß es das Land
der Freiheit iſt, in welches wir uns gerettet haben.“ —
„So wiſſe,“ entgegnete ihm Kopreus — ſo hieß der He¬
rold — „daß ich nicht allein komme, ſondern hinter mir
eine genügende Macht, welche deine Schützlinge bald von
dieſer vermeintlichen Freiſtätte hinwegreißen wird!“


Bei dieſen Worten erhuben die Herakliden einen
Klageruf, und Jolaus wandte ſich mit lauter Stimme
an die Bewohner Athens: „Ihr frommen Bürger!“ rief
er, „duldet es nicht, daß die Schützlinge eures Jupiter
mit Gewalt fortgeführt werden, daß der Kranz, den wir
als Flehende auf dem Haupte tragen, beſudelt wird, daß die
Götter Entehrung und eure ganze Stadt Schmach treffe.“
Auf dieſen durchdringenden Hülferuf ſtrömten die Athe¬
ner von allen Seiten auf den Markt herbei und ſahen nun
erſt die Schaar der Flüchtlinge um den Altar ſitzen. „Wer iſt
der ehrwürdige Greis? Wer ſind die ſchönen lockigten Jüng¬
linge?“ ſo tönte es von hundert Lippen zugleich. Als ſie
25 *[388] vernahmen, daß es Herkules Söhne ſeyen, die den Schutz
der Athener anflehen, ergriff die Bürger nicht nur Mit¬
leid, ſondern auch Ehrfurcht, und ſie riefen dem Herolde,
der bereit ſchien, Hand an einen der Flüchtlinge zu legen,
zu, von dem Altare zurückzutreten, und ſein Begehren
beſcheidentlich dem Könige des Landes vorzutragen. „Wer
iſt der König dieſes Landes?“ fragte Kopreus, durch die
entſchiedene Willensäuſſerung der Bürger eingeſchüchtert.
„Es iſt ein Mann,“ war die Antwort, „deſſen Schiedsrich¬
terſpruche du dich gar wohl unterwerfen darfſt. Demo¬
phoon, der Sohn des unſterblichen Theſeus, iſt unſer
König.“

Demophoon.

Es dauerte nicht lange, ſo hatte den König in ſei¬
ner Burg die Kunde erreicht, daß der Markt von Flücht¬
lingen beſetzt und fremde Heeresmacht mit einem Herolde
erſchienen ſey, ſie zurückzufordern. Er ſelbſt begab ſich
auf den Markt und vernahm aus dem Munde des Herol¬
des das Begehren des Euryſtheus. „Ich bin ein Argi¬
ver,“ ſprach zu ihm Kopreus, „und Argiver ſind es, über
die mein Herr Gewalt hat, die ich wegführen will. Du
wirſt nicht ſo ſinnverlaſſen ſeyn, o Sohn des Theſeus,
daß du, allein von ganz Griechenland, dich des rathloſen
Unglückes dieſer Flüchtlinge erbarmeſt, und einen Kampf
um dieſelben mit der Kriegsmacht des Euryſtheus und der
mächtigen Bundesgenoſſenſchaft dieſes Fürſten vorzieheſt!“


Demophoon war ein weiſer und beſonnener Mann.
„Wie ſollte ich,“ ſprach er auf die heftige Rede des
[389] Herolds, „die Sache richtig anſehen und den Streit ent¬
ſcheiden können, ehe ich beide Parteien angehört habe.
Darum ſprich du, Führer dieſer Jünglinge, was haſt du
für dein Recht zu ſagen?“ Jolaus, an den dieſe Worte
gerichtet waren, erhob ſich von den Stufen des Altares,
neigte ſich ehrerbietig vor dem Könige und hub an: „Kö¬
nig, nun erfahre ich zum erſtenmale, daß ich in einer
freien Stadt bin: denn hier gilt reden laſſen und anhö¬
ren ; anderswo aber bin ich mit meinen Schützlingen ver¬
ſtoßen worden, ohne daß mir Gehör geſchenkt worden
wäre. Nun höre mich. Euryſtheus hat uns aus Argos
vertrieben; keine Stunde hätten wir länger in ſeinem Lande
verweilen dürfen. Wie kann er nun uns noch Unterthanen
heißen, noch, als auf Argiver, auf mich und dieſe An¬
ſpruch machen, die er aller Unterthanenrechte und dieſes
Namens ſelbſt beraubt hat? Es müßte denn derjenige,
der aus Argos geflohen iſt, auch ganz Griechenland mei¬
den müſſen! Nein, wenigſtens Athen nicht! Die Einwoh¬
ner dieſer heldenmüthigen Stadt werden die Söhne des
Herkules nicht aus ihrem Lande jagen. Ihr König wird
die Schutzflehenden nicht vom Altare der Götter reiſſen laſſen.
Seyd getroſt, meine Kinder, wir ſind im Lande der Freiheit,
ja noch mehr, wir ſind bei Verwandten angekommen.
Denn wiſſe, König dieſes Landes, daß du keine Fremd¬
linge beherbergſt. Dein Vater Theſeus, und Herkules,
der Vater dieſer verfolgten Söhne, waren beide Urenkel
des Pelops. Noch mehr, ſie beide waren Waffenbrüder;
ja, der Vater dieſer Kinder hat deinen Vater aus der
Unterwelt erlöst." Als Jolaus ſo geſprochen, umfaßte
er die Kniee des Königes, ergriff ſeine Hand und ſein
Kinn, und gebärdete ſich in Allem, wie im Alterthum ein
[390] Schutzflehender ſich zu gebärden pflegte. Der König aber
hub ihn von dem Boden auf und ſprach: „Dreifache
Nöthigung drängt mich, deine Bitte nicht abzuweiſen, o
Held. Zuerſt Jupiter und dieſer heilige Altar; dann die
Verwandtſchaft, und endlich die Wohlthaten, die ich vom
Vater her dem Herkules ſchulde. Laſſe ich euch vom
Altare hinwegreiſſen, ſo wäre dieß Land nicht mehr das
Land der Freiheit, der Götterfurcht und der Tugend!
Darum du Herold, kehre nach Mycene zurück und melde
ſolches deinem Herrſcher. Nimmermehr wirſt du Dieſe
mit dir führen!“ „Ich gehe,“ ſprach Kopreus, und erhob
drohend ſeinen Heroldsſtab, „aber ich komme wieder mit
argiviſcher Heeresmacht. Zehntauſend Schildträger har¬
ren auf den Wink meines Königes: er ſelbſt wird ihr
Führer ſeyn. Wiſſe! ſein Heer iſt ſchon an deiner Grenze
gelagert.“ — „Geh zum Hades,“ ſprach Demophoon ver¬
ächtlich, „ich fürchte dich und dein Argos nicht!“


Der Herold entfernte ſich, und jetzt ſprangen die
Söhne des Herkules, eine ganze Schaar blühender Jüng¬
linge und Knaben, freudig vom Altare auf und bewill¬
kommten mit Gruß und Handſchlag ihren Blutsverwand¬
ten, den König der Athener, in welchem ſie ihren gro߬
müthigen Retter ſahen. Jolaus führte abermals das Wort
für ſie, und dankte dem trefflichen Manne und den Bür¬
gern der Stadt mit Worten voll Rührung: „Wenn uns
je wieder Heimkehr beſcheert iſt,“ ſprach er, „und wenn
ihr Kinder Haus und Würden eures Vaters Herkules
wieder in Beſitz nehmt, ſo vergeſſet dieſe eure Retter und
Freunde nie, und nimmer laßt euch einfallen, dieſe gaſt¬
liche Stadt mit Krieg zu überziehen, ſondern erblicket
[391] vielmehr immer in ihr die liebſte Freundin und treueſte
Bundesgenoſſin!“


Der König Demophoon traf nun alle Anſtalten, das
Heer ſeines neuen Feindes gerüſtet zu empfangen; er
verſammelte die Seher und veranſtaltete feierliche Opfer.
Dem Jolaus und ſeinen Schützlingen wollte er Wohnun¬
gen im Pallaſte anweiſen. Aber Jolaus erklärte den
Altar Jupiters nicht verlaſſen und mit allen den Seini¬
gen unter Gebeten für das Heil der Stadt hier verhar¬
ren zu wollen. „Erſt wenn der Sieg mit der Götter Hülfe
errungen iſt,“ ſprach er, „wollen wir unſre müden Leiber
unter dem Dache der Gaſtfreunde bergen.“ — Inzwiſchen
beſtieg der König den höchſten Thurm ſeiner Burg und
beobachtete das heranziehende Heer der Feinde, dann
ſammelte er die Streitmacht der Athener, traf alle krie¬
geriſchen Anordnungen, berathſchlagte mit den Sehern und
war bereit, die feierlichen Opfer darzubringen. Am Al¬
tare des Zeus war indeß Jolaus und ſeine Schaar in
flehenden Gebeten begriffen, als Demophoon mit ſchnellen
Schritten und verſtörtem Geſichte auf ſie zugegangen kam.
„Was iſt zu thun, ihr Freunde,“ rief er ihnen ſorgenvoll
entgegen; „wohl iſt mein Heer gerüſtet, die nahenden
Argiver zu empfangen, aber der Ausſpruch aller meiner
Seher knüpft den Sieg an eine Bedingung, die nicht zu
erfüllen iſt. Das Lied der Orakel, ſagen ſie, lautet ſo:
„„Ihr ſollt kein Kalb, oder keinen Stier ſchlachten, ſondern
eine Jungfrau, die vom edelſten Geſchlechte iſt; nur dann
dürft ihr, nur dann darf dieſe Stadt auf Sieg und Ret¬
tung hoffen!““ Wie ſoll nun aber Solches geſchehen?
Ich ſelbſt habe blühende Töchter in meinem Königshauſe;
aber wer darf dem Vater zumuthen, ein ſolches Opfer zu
[392] bringen? Und welcher andere der edelſten Bürger, der
eine Tochter hat, wird ſie, wenn ich es auch wagen woll¬
te, ſie ihm abzuverlangen, mir ausliefern? So würde
mir, während ich den auswärtigen Krieg zu beendigen
bedacht bin, in der Stadt ſelbſt der Bürgerkrieg erwa¬
chen!“ Mit Schrecken hörten die Söhne des Herkules
die angſtvollen Zweifel ihres Beſchützers. „Weh uns,
rief Jolaus, „die wir Schiffbrüchigen gleichen, die ſchon
den Strand erreicht haben, und vom Sturme wieder in
die hohe See herausgeſchleudert werden! Eitle Hoff¬
nung, warum haſt du uns in deine Träume eingewiegt?
Wir ſind verloren, Kinder, nun wird er uns ausliefern,
und können wirs ihm verdenken?“ Doch auf einmal
blitzte ein Strahl der Hoffnung in dem Auge des Greiſen.
„Weißeſt du, was mir der Geiſt eingiebt, König, was
uns alle retten wird? Hilf mir dazu, daß es geſchieht!
Liefere mich dem Euryſtheus aus, anſtatt dieſer Söhne
des Herkules! Gewiß würde Jener am liebſten mir, dem
ſteten Begleiter des großen Helden, einen ſchmählichen
Tod anthun. Ich aber bin ein alter Mann: gern opfere
ich meine Seele für dieſe Jünglinge!“ — „Dein Aner¬
bieten iſt edel,“ erwiederte Demophoon traurig, „aber es
kann uns nicht helfen. Meinſt du, Euryſtheus werde ſich
mit dem Tode eines Greiſen zufrieden ſtellen? Nein,
das Geſchlecht des Herkules ſelbſt, das junge, blühende
will er ausrotten. Weißeſt du einen andern Rath, ſo
ſage mir ihn, dieſer aber iſt vergeblich.“


[393]

Makaria.

Jetzt entſtand ein ſolches Wehklagen nicht nur unter
den Herakliden, ſondern auch unter den Bürgern Athens,
daß das laute Jammergeſchrei empordrang bis zur Kö¬
nigsburg. Dort waren bald nach dem Einzuge der
Flüchtlinge die greiſe Mutter des Herkules, Alkmene, von
Alter und Leid gebeugt, und ſeine blühende Tochter Ma¬
karia, die ihm Deanira geboren hatte, vor den Blicken
der Neugierigen von Demophoon geborgen worden, und
lebten in ſtiller Erwartung deſſen, das da kommen ſollte.
Alkmene, hochbejahrt und in ſich gekehrt, vernahm von
dem, was draußen vorging, nichts. Ihre Enkelin aber
horchte auf die Jammerlaute, die aus der Tiefe empor¬
ſtiegen. Es ergriff ſie eine Angſt um das Schickſal ihrer
Brüder, und ſie eilte, nicht bedenkend, daß ſie allein und
eine in tiefer Zurückgezogenheit aufgewachſene Jungfrau
ſey, in das Gewühl des Marktes hinunter. Die ver¬
ſammelten Bürger mit ihrem Könige und nicht weni¬
ger Iolaus mit ſeinem Schützlingen erſtaunten, als ſie
die Jungfrau in ihre Mitte treten ſahen. Dieſe hatte
ſich eine Weile unter dem Haufen verborgen gehalten
und auf dieſe Weiſe erlauſcht, in welcher Noth ſich Athen
und die Herakliden befänden, und welch ein verhängni߬
voller Orakelſpruch einem glücklichen Erfolge jeden Aus¬
weg zu verſperren ſchien. Mit feſten Schritten trat ſie
daher vor den König Demophoon und ſprach: „Ihr
ſuchet ein Opfer, das euch den glücklichen Ausgang des
Krieges verbürge, und durch deſſen Tod meine armen
Brüder vor der Wuth des Tyrannen geſchützt werden
[394] mögen: eine reine Jungfrau aus edlem Stamme ſollet
ihr ſchlachten. Habt ihr denn gar nicht daran gedacht,
daß die jungfräuliche Tochter des adligſten Sterblichen,
des Herkules, in ihrer Mitte weilt? Ja, ich ſelbſt
biete mich als Opfer an, das den Göttern um ſo will¬
kommener ſeyn muß, da es freiwillig iſt. Wenn dieſe Stadt
edelmüthig genug für Herkules' Nachkommen einen ge¬
fahrvollen Krieg unternimmt und ihre Söhne zu Hun¬
derten opfern wird: wie ſollte ſich unter ſeiner Nachkom¬
menſchaft nicht auch ein Leben finden, das bereit iſt, ſo
trefflichen Männern durch ſeine Opferung den Sieg zu
ſichern? Wir wären nicht werth beſchirmt und gerettet
zu werden, wenn keines unter uns ſo dächte! Darum
führt mich immerhin an den Ort, wo mein Leib geopfert
werden ſoll, bekränzet mich, wie man ein Opferthier
bekränzt, zücket den Stahl, meine Seele wird willig ent¬
fliehen!“ — Jolaus und alle Umſtehende ſchwiegen
lange, nachdem das heldenmüthige Mädchen ihre feu¬
rige Anrede längſt geendet hatte. Endlich ſprach der
Führer der Herakliden: „Jungfrau, du haſt deines Vaters
würdig geſprochen: ich ſchäme mich deiner Worte nicht,
obwohl ich dein Geſchick beweine. Mir aber däuchte
billig, daß alle Töchter deines Stammes zuſammenkämen,
und das Loos entſchiede, welche für ihre Brüder ſterben
ſoll!“ — „Ich möchte nicht durch das Loos ſterben,“
antwortete Makaria freudig, „aber zögert nicht lange,
daß nicht der Feind euch überfalle und der Orakelſpruch
vergebens euch verliehen ſey. Heißet die Frauen des Landes
mit mir gehen, daß ich nicht vor Männeraugen ſterbe.“
So ging die hochgeſinnte Jungfrau, von den edelſten
Frauen Athens begleitet, freiwilligem Tode entgegen.


[395]

Die Rettungſchlacht.

Bewunderungsvoll blickten der ſcheidenden Jungfrau
König und Bürger Athens, voll Wehmuth und Schmerz
die Herakliden und Jolaus nach. Aber das Schickſal
erlaubte beiden Theilen nicht, ihren Gedanken und Em¬
pfindungen nachzuhängen. Denn kaum war Makaria ver¬
ſchwunden, als ein Bote mit freudiger Miene und lautem
Rufe dem Altare zugeraunt kam. „Seyd gegrüßt, ihr
lieben Söhne!“ rief er, „ſagt mir, wo iſt der Greis
Jolaus; ich habe ihm Freudenbotſchaft zu bringen!“ Jo¬
laus erhub ſich vom Altare, aber er konnte den tiefen
Schmerz nicht mit einemmal aus den Zügen verbannen,
ſo daß der Bote ſelbſt ihn vor allen Dingen nach der
Urſache ſeiner Traurigkeit fragen mußte. „Ein häusli¬
cher Kummer bedrückt mich,“ erwiederte der alte Held,
„forſche nicht weiter, ſage mir lieber, was dein fröhlicher
Blick Gutes bringt!“ — „Kennſt du mich denn nicht mehr,“
ſprach jener, „den alten Diener des Hyllus, der ein Sohn
iſt des Herkules und der Deanira? Du weißſt, daß mein
Herr ſich auf der Flucht von euch getrennt hat, um Bun¬
desgenoſſen zu werben. Nun iſt er zur guten Stunde
mit einem mächtigen Heere gekommen, und ſteht dem Kö¬
nige Euryſtheus gerade gegenüber gelagert.“ Eine freu¬
dige Bewegung durchlief die Schaar der Flüchtlinge, die
den Altar umringt hielten und theilte ſich auch den Bür¬
gern mit. Die greiſe Alkmene ſelbſt lockte dieſe frohe
Botſchaft aus den Frauengemächern des Pallaſtes hervor,
und der alte Jolaus, auf keine Widerrede achtend, ließ
ſich Streitwaffen bringen, und ſchnallte ſich den Harniſch
[396] an den Leib. Er empfahl die Obhut über die Kinder
ſeines Freundes und ihre Großmutter den Aelteſten Athen's,
die in der Stadt zurückblieben. Mit der jungen Mann¬
ſchaft Athens und ihrem Könige Demophoon zog er ſelbſt
aus, ſich mit dem Heere des jungen Hyllus zu ver¬
einigen. Als nun die verbündete Schaar in ſchöner
Schlachtordnung ſtand, und das Feld weithin von blan¬
ken Waffenrüſtungen glänzte, gegenüber aber auf einen
Steinwurf das gewaltige Heer des Königes Euryſtheus,
er ſelbſt an der Spitze, ſeine unabſehbaren Reihen dehnte;
da ſtieg Hyllus, der Sohn des Herkules, von ſeinem
Streitwagen, ſtellte ſich mitten in die Gaſſe, welche die
feindlichen Heere noch frei gelaſſen hatten, und rief dem
gegenüber ſtehenden Argiverkönige zu: „Fürſt Euryſtheus!
ehe überflüſſiges Blutvergießen ſeinen Anfang nimmt, und
zwei große Städte ſich um weniger Menſchen willen be¬
kämpfen und mit Vernichtung bedrohen, höre meinen
Vorſchlag! Laß uns beide durch redlichen Zweikampf den
Streit entſcheiden: falle ich von deiner Hand, ſo magſt
du die Kinder des Herkules, meine Geſchwiſter mit dir
führen, und handeln mit ihnen, wie dir gefällt; wird
mir aber gegeben, dich zu fällen, ſo ſoll die väterliche
Würde und ſeine Wohnung und Herrſchaft im Pelopon¬
nes mir und den Seinigen allen geſichert ſeyn!“ Das
Heer der Verbündeten gab durch lauten Zuruf ſeinen Bei¬
fall zu erkennen, und auch die Schaaren der Argiver
murrten zuſtimmend herüber. Nur der arge Euryſtheus, wie
er ſchon vor Herkules ſeine Feigheit bewieſen hatte, ſchonte
auch jetzt ſeines Lebens, wollte von dem Vorſchlage nichts hö¬
ren, und verließ die Schlachtreihe, an deren Spitze er ſtand,
nicht. Auch Hyllus trat jetzt wieder zu ſeinem Heere zu¬
[397] rück, die Seher opferten, und bald ertönte der Schlacht¬
ruf. „Mitbürger,“ rief Demophoon den Seinigen zu, „be¬
denkt, daß ihr für Haus und Heerd, für die Stadt, die
euch geboren und ernähret hat, kämpft!“ Auf der
andern Seite beſchwor Euryſtheus die Seinigen, Argos
und Mycene keinen Schimpf anzuthun, und dem Rufe
dieſes mächtigen Staates Ehre zu machen. Jetzt ertön¬
ten die Tyrrheniſchen Trompeten, Schild klang an Schild,
Geräuſch der Wagen, Stoß der Speere, Klirren der Schwer¬
ter erſcholl, und dazwiſchen der Wehruf der Gefallenen.
Einen Augenblick wichen die Verbündeten der Herakliden
vor dem Stoße der Argiviſchen Lanzen, die ihre Reihen
zu durchbrechen drohten, doch bald wehrten ſie die Feinde
ab, und rückten ſelbſt vor; nun entſtand erſt das rechte
Handgemenge, das den Kampf lange unentſchieden ließ.
Endlich wankte die Schlachtordnung der Argiver, ihre
Schwerbewaffneten und ihre Streitwagen wandten ſich
zur Flucht. Da kam auch den alten Jolaus die Luft an,
ſeine Greiſenjahre noch durch eine That zu verherrlichen,
und als eben Hyllus auf ſeinem Streitwagen an ihm
vorbeirollte, um dem fliehenden Feindesheer in den Na¬
cken zu kommen, ſtreckte er ſeine Rechte zu ihm empor,
und bat ihn, daß Hyllus ihn an ſeiner Statt ſeinen Wa¬
gen möge beſteigen laſſen. Hyllus wich ehrerbietig dem
Freunde ſeines Vaters und dem Beſchützer ſeiner Brüder,
er ſtieg vom Wagen und an ſeiner Statt ſchwang ſich der alte
Jolaus in den Sitz. Es wurde ihm nicht leicht, mit ſei¬
nen greiſen Händen das Viergeſpann zu bewältigen, doch
trieb er es vorwärts, und war an das Heiligthum der
Palleniſchen Minerva gekommen, als er den fliehenden
Wagen des Euryſtheus in der Ferne dahin ſtäuben ſah.
[398] Da erhob ſich Jolaus in ſeinem Wagen und flehte zu
Jupiter und Hebe, der Göttin der Jugend, der unſterbli¬
chen Gemahlin ſeines in den Olymp verſetzten Freundes
Herkules, ihm nur für dieſen Tag der Schlacht wieder
Jünglingskraft zu verleihen, damit er ſich an dem Feinde
des Herkules rächen könne. Da war ein großes Wun¬
der zu ſchauen: zwei Sterne ſenkten ſich vom Himmel
hernieder und ſetzten ſich auf das Joch der Roſſe, zu¬
gleich hüllte ſich der ganze Wagen in eine dichte Nebel¬
wolke; dieß dauerte nur wenige Augenblicke, ſo waren
Sterne und Nebel wieder verſchwunden, in dem Wagen
aber ſtand Jolaus verjüngt, mit braunen Locken, aufrech¬
tem Nacken, nervigen Jünglingsarmen; in jugendfeſter
Hand die Zügel des Viergeſpanns haltend. So ſtürmte
er dahin und erreichte den Euryſtheus, als ſchon er die Scy¬
roniſchen Felſen im Rücken hatte, beim Eingang in ein
Thal, durch welches der Argiver flüchten wollte. Euryſt¬
heus erkannte ſeinen Verfolger nicht und wehrte ſich von
ſeinem Wagen herab; aber die dem Jolaus von den
Göttern verliehene Jünglingsſtärke ſiegte, er zwang ſeinen
alten Gegner vom Wagen herunter, band ihn auf ſeinen
eigenen feſt und führte ihn ſo als den Erſtling des Sie¬
ges dem verbündeten Heere zu. Jetzt war die Schlacht
ganz gewonnen, das führerloſe Heer der Argiver ſtürzte
in wilder Flucht davon; alle Söhne des Euryſtheus und
unzählige Streiter wurden erſchlagen und bald war kein
Feind auf attiſchem Boden mehr zu ſehen.


[399]

Euryſtheus vor Alkmene.

Das Heer der Sieger war in Athen eingezogen,
und Jolaus, der jetzt wieder in ſeiner vorigen Greiſen¬
geſtalt erſchien, ſtand mit dem gedemüthigten Verfolger
des herkuliſchen Geſchlechtes vor der Mutter des Herku¬
les, Hände und Füße mit Feſſeln gebunden. „Kommſt
du endlich, Verhaßter!“ rief ihm die Greiſin zu, als ſie
ihn vor ihren Augen ſtehen ſah. „Hat dich nach ſo langer
Zeit die Strafgerechtigkeit der Götter ergriffen? Senke
dein Angeſicht nicht ſo zur Erde, ſondern blicke deinen
Gegnern Aug' in's Auge. Du biſt alſo der, der du mei¬
nen Sohn ſo viele Jahre hindurch mit Arbeit und Schmach
überhäuft haſt, ihn ausgeſandt haſt, giftige Schlangen
und grimmige Löwen zu erwürgen, damit er im verderb¬
lichen Kampf erliege, ihn hinuntergejagt haſt in das fin¬
ſtere Reich des Hades, damit er dort der Unterwelt
verfiele? Und nun treibeſt du mich, ſeine Mutter, und
dieſe Schaar ſeiner Kinder, ſo viel an dir iſt, aus ganz
Griechenland fort, und wollteſt ſie von den beſchirmen¬
den Altären der Götter hinwegreißen? Aber du biſt auf
Männer und eine freie Stadt geſtoßen, die dich nicht ge¬
fürchtet haben. Jetzt iſts an dir, zu ſterben, und du darfſt
dich glücklich preiſen, wenn du nur ſterben mußt. Denn
da du mannigfachen Frevel verübt haſt, ſo hätteſt du
auch verdient durch mancherlei Qual einen vielfachen Tod
zu leiden!“ Euryſtheus wollte dem Weibe gegenüber keine
Furcht zeigen: er raffte ſich zuſammen und ſprach mit
erzwungener Kaltblütigkeit: „Du ſollſt kein Wort aus
meinem Munde hören, das einem Flehen gliche; ich
[400] weigere mich nicht zu ſterben. Nur ſoviel ſey mir ver¬
gönnt zu meiner Rechtfertigung zu ſagen, daß nicht ich
es geweſen bin, der freiwillig dem Herkules als Wider¬
ſacher entgegengetreten. Juno, die Göttin war es, die
mir auftrug, dieſen Kampf zu beſtehen. Alles, was ich
gethan habe, iſt in ihrem Auftrage geſchehen. Da ich
mir nun aber einmal wider Willen den mächtigen
Mann und Halbgott zum Feinde gemacht, wie hätte ich
nicht darauf bedacht ſeyn ſollen, allem aufzubieten, was
mich vor ſeinem Zorne ſicher ſtellen konnte? Wie hätte
ich nicht nach ſeinem Tode ſein Geſchlecht verfolgen ſol¬
len, aus welchem lauter Feinde und Rächer ihres Vaters
mir entgegen wuchſen? Thue nun mit mir, was du willſt;
ich verlange nicht nach dem Tode; aber es ſchmerzt mich
auch nicht, wenn ich das Leben verlaſſen ſoll.“ So ſprach
Euryſtheus und ſchien mit Ruhe ſein Schickſal zu erwar¬
ten. Hyllus ſelbſt ſprach für ſeinen Gefangenen und die
Bürger Athens riefen auch die milde Sitte ihrer Stadt
an, die den überwundenen Verbrecher zu begnadigen pflegte.
Aber Alkmene blieb unerbittlich, ſie gedachte aller Leiden,
die ihr unſterblicher Sohn auf Erden zu dulden hatte,
ſo lange er ein Knecht des grauſamen Königs war; ihr
ſchwebte der Tod der geliebten Enkelin vor Augen, die
ſie hierher begleitet hatte und freiwillig in den Tod ge¬
gangen war, um dem mit übergewaltiger Heeresmacht
drohenden Euryſtheus den Sieg zu entreißen; ſie malte
ſich mit grauſen Farben aus, welch Schickſal ihr
ſelbſt und allen ihren Enkeln zu Theil geworden wäre,
wenn Euryſtheus als Sieger und nicht als Gefangener
jetzt vor ihr ſtände: „Nein, er ſoll ſterben,“ rief ſie, „kein
Sterblicher ſoll dieſen Verbrecher mir entreißen!“ Da
[401] kehrte ſich Euryſtheus zu den Athenern und ſprach: „Euch,
ihr Männer, die ihr gütig für mich gebeten habt, ſoll
auch mein Tod keinen Unſegen bringen. Wenn ihr mich
eines ehrlichen Begräbniſſes würdiget und mich beſtattet,
wo das Verhängniß mich ereilt hat, am Tempel der Pal¬
leniſchen Minerva: ſo werde ich als ein heilbringender
Gaſt die Gränze eures Landes bewachen, daß kein Heer
ſie jemals überſchreiten ſoll. Denn, wiſſet, daß die Nach¬
kommen dieſer Jünglinge und Kinder, die ihr hier be¬
ſchützet, euch einſt mit Heeresmacht überfallen und euch
die Wohlthat ſchlecht lohnen werden, die ihr ihren Vä¬
tern erzeigt habt. Alsdann werde ich, der geſchworne
Feind des Herkuliſchen Geſchlechtes, euer Retter ſeyn.“
Mit dieſen Worten ging er unerſchrocken zum Tode, und
ſtarb beſſer, als er gelebt hatte.

Hyllus, ſein Orakel und ſeine Nachkommen.

Die Herakliden gelobten ihrem Beſchirmer Demo¬
phoon ewige Dankbarkeit und verließen Athen unter der
Anführung ihres Bruders Hyllus und ihres väterlichen
Freundes Jolaus. Sie fanden jetzt allenthalben Mit¬
ſtreiter und zogen in ihr väterliches Erbe, den Pelopon¬
nes, ein. Ein ganzes Jahr lang kämpften ſie hier von
Stadt zu Stadt, bis ſie außer Argos Alles unterworfen
hatten. Während dieſer Zeit wüthete durch jene ganze
Halbinſel eine grauſame Peſt, welche kein Ende nehmen
wollte. Endlich erfuhren die Herakliden durch einen
Götterſpruch, daß ſie ſelbſt Schuld an dieſem Unglück
ſeyen, weil ſie zurückgekehrt, bevor ſie es rechtmäßiger
Schwab, das klaſſ. Alterthum. I. 26[402] Weiſe konnten. Deßwegen verließen ſie den ſchon einge¬
nommenen Peloponnes wieder, kehrten ins attiſche Ge¬
biet zurück und wohnten dort auf den Feldern von Ma¬
rathon. Hyllus hatte inzwiſchen, nach dem Willen ſeines
ſterbenden Vaters die ſchöne Jungfrau Jole, um welche einſt
Herkules ſelbſt ſich beworben hatte, geheirathet, und dachte
unaufhörlich auf Mittel, in den Beſitz des angeſtammten
Vatererbes zu kommen. Er wandte ſich daher abermals
an das Orakel zu Delphi, und dieſes gab ihm zur Ant¬
wort: „Erwartet ihr die dritte Frucht, ſo wird euch die
Rückkehr gelingen.“ Hyllus deutete dieſes, wie es am
natürlichſten ſchien, von den Feldfrüchten des dritten
Jahres, wartete geduldig den dritten Sommer ab, und fiel
dann auf's Neue mit Heeresmacht in den Peloponnes ein.


Zu Mycene war nach dem Tode des Euryſtheus der
Enkel des Tantalus und Sohn des Pelops, Atreus, Kö¬
nig geworden; dieſer ſchloß bei der feindlichen Annäherung
der Herakliden einen Bund mit den Einwohnern der Stadt
Tegea und andrer Nachbarſtädte, und ging den Heranrü¬
ckenden entgegen. An der Landenge von Corinth ſtanden
beide Heere einander gegenüber. Aber Hyllus, der immer
gerne Griechenblut ſchonte, war hier wieder der Erſte,
der den Streit durch einen Zweikampf zu ſchlichten be¬
müht war. Er forderte Einen der Feinde, wer da wollte,
zum Streite heraus, und ſtellte, auf ſeine vom Orakel ge¬
billigte Unternehmung vertrauend, die Bedingung, wenn
Hyllus ſeinen Gegner beſiegte, ſo ſollten die Herakliden
das alte Reich des Euryſtheus ohne Schwertſtreich ein¬
nehmen; würde dagegen Hyllus überwunden, ſo ſollten
die Nachkommen des Herkules fünfzig Jahre lang den
Peloponnes nicht mehr betreten dürfen. Als dieſe Aus¬
[403] forderung im feindlichen Heere ruchtbar wurde, erhob
ſich Echemus, der König von Tegea; ein kecker Kämp¬
fer in den beſten Mannesjahren, und nahm die Ausfor¬
derung an. Beide kämpften mit ſeltener Tapferkeit;
zuletzt aber unterlag Hyllus, und ein finſteres Sinnen
über die Zweideutigkeit des Orakelſpruchs, den er erhal¬
ten hatte, umſchwebte die Stirnfalten des Sterbenden.
Dem Vertrage gemäß ſtanden jetzt die Herakliden von
ihrem Unternehmen ab, kehrten wieder nach dem Iſth¬
mus um, und wohnten jetzt wieder in der Gegend
von Marathon. Die fünfzig Jahre gingen vorüber,
ohne daß die Kinder des Herkules daran dachten, dem
Vertrage zuwider, ihr Erbland aufs neue zu erobern. In¬
zwiſchen war Kleodäus, der Sohn des Hyllus und der
Iole, ein Mann von mehr als fünfzig Jahren geworden.
Da nun der Vergleich abgelaufen und ihm die Hände
nicht mehr gebunden waren, machte er ſich mit andern Enkeln
des Herkules gegen den Peloponnes auf, als der troja¬
niſche Krieg ſchon dreißig Jahre vorüber war. Aber auch
er war nicht glücklicher als ſein Vater, und kam mit ſei¬
nem ganzen Heer auf dieſem Feldzuge um. Zwanzig Jahre
ſpäter machte ſein Sohn Ariſtomachus, der Enkel des
Hyllus und Urenkel des Herkules, einen zweiten Verſuch.
Dieß geſchah, als Tiſamenus, ein Sohn des Oreſtes, über
die Peloponneſier herrſchte. Auch ihn führte das Orakel
durch einen zweideutigen Rath irre; „die Götter,“ ſprach es,
„verleihen dir den Sieg durch den Pfad des Engpaſſes.“
Er brach über den Iſthmus ein, wurde zurückgeſchlagen
und ließ wie Vater und Großvater ſein Leben.


Neue dreißig Jahre gingen vorüber, und Troja lag
ſchon achtzig Jahre in Aſche. Da unternahmen die Söhne
26 *[404] des Ariſtomachus, des Kleodäus Enkel, mit Namen Teme¬
nus, Kresphontes und Ariſtodemus den letzten Zug. Trotz
aller Zweideutigkeit der Orakelſprüche hatten ſie den Glau¬
ben an die Götter nicht verloren, gingen nach Delphi
und befragten die Prieſterin. Die Sprüche aber lauteten
von Wort zu Wort, wie ſie ihren Vätern ertheilt wor¬
den waren. „Wenn die dritte Frucht abgewartet worden,
ſo wird die Rückkehr gelingen.“ Und wiederum: „die
Götter verleihen den Sieg durch den Pfad des Engpaſ¬
ſes.“ Klagend ſprach da der älteſte der Brüder, Teme¬
nus: „Dieſen Ausſprüchen iſt mein Vater, Großvater,
und Urgroßvater gefolgt, und es iſt zu ihrer aller Ver¬
derben geweſen!“ Da erbarmte ſich ihrer der Gott und
ſchloß durch ſeine Prieſterin ihnen den wahren Sinn des
Orakels auf: „An allen ihren Unglücksfällen,“ ſprach ſie,
„ſind eure Väter ſelbſt ſchuldig geweſen, weil ſie der
Götter weiſe Sprüche nicht zu deuten wußten! Dieſe
nemlich meinten nicht die dritte Frucht der Erde, die er¬
wartet werden müſſe, ſondern die dritte Frucht des Ge¬
ſchlechtes: die erſte war Kleodäus, die zweite Ariſtoma¬
chus, die dritte Frucht, der der Sieg prophezeiht iſt, das
ſeyd ihr. Wiederum, unter dem Engpaſſe, der zum Wege
führen ſoll, iſt nicht, wie euer Vater fälſchlich deutete, der Iſth¬
mus verſtanden, ſondern jener weitere Schlund, nämlich
das dem Iſthmus zur Rechten liegende Meer. Jetzt
wiſſet ihr den Sinn der Orakelſprüche. Was ihr thun
wollet, das thuet mit der Götter Glück!“


Als Temenus ſolche Auslegung vernahm, fiel es ihm
wie Schuppen von den Augen, er rüſtete mit ſeinen
Brüdern eilig ein Heer aus, und baute Schiffe zu Lokri,
an dem Orte, der von dieſer Ausrüſtung den Namen
[405] Naupaktus, das heißt, Schiffswerft, bekam. Aber auch
dieſer Zug ſollte den Nachkommen des Herkules nicht
leicht werden, und ihnen viel Kummer und Thränen ko¬
ſten. Als das Heer verſammelt war, traf den jüngſten
der Brüder, Ariſtodemus, der Blitzſtrahl, und machte
ſeine Gattin Argia, die Ururenkelin des Polynices, zur
Wittwe, und ſeine Zwillingsſöhne, Euryſthenes und Pro¬
kleus, zu Waiſen. Als ſie den Bruder beſtattet und be¬
weint hatten, und nun das Schiffsheer von Naupaktus
aufbrechen wollte, fand ſich ein Seher bei demſelben ein,
der von den Götter begeiſtert war und Orakelſprüche er¬
theilte. Sie aber hielten denſelben für einen Zauberer
und Kundſchafter, der von den Peloponneſiern zum Ver¬
derben ihres Heeres abgeſandt ſey. Schon lange waren
ſie ihm daher aufſäßig, bis Hippotes, der Sohn des Phy¬
las, ein Urenkel des Herkules, nach dem Seher einen
Wurfſpieß warf, der ihn traf und auf der Stelle tödtete.
Darüber zürnten die Götter den Herakliden: die See¬
macht wurde vom Sturm überfallen und ging zu Grunde;
die Landtruppen wurden von einer Hungersnoth gepeinigt,
und ſo löſte ſich allmählig das ganze Heer auf. Teme¬
nus befragte auch über dieſes Unglück das Orakel. „Um
des Sehers willen, den ihr getödtet habt,“ eröffnete ihm
der Gott, „hat euch Unheil getroffen. Den Mörder ſollt
ihr auf zehen Jahre des Landes verweiſen, und dem Drei¬
äugigen den Heerbefehl übertragen.“ Der erſte Theil des
Orakels war bald erfüllt: Hippotes wurde aus dem Heere
geſtoßen, und mußte in die Verbannung gehen. Aber der
zweite Theil brachte die armen Herakliden zur Verzweif¬
lung. Denn wie und wo ſollten ſie einem Menſchen mit
drei Augen begegnen? Indeſſen forſchten ſie unermüdlich
[406] und im Vertrauen auf die Götter nach einem ſolchen.
Da ſtießen ſie auf Oxylus, Sohn des Hämon, und Nach¬
kommen des Oeneus, aus ätoliſchem Königsgeſchlechte.
Dieſer hatte zu der Zeit, da die Herakliden in den Pelo¬
ponnes eingedrungen waren, einen Todſchlag begangen,
der ihn aus ſeinem Vaterland Aetolien nach dem Länd¬
chen Elis im Peloponneſe zu flüchtigen nöthigte. Jetzt
war er nach Jahresfriſt im Begriffe, von da in ſeine
Heimath zurückzukehren, und begegnete auf ſeinem Maul¬
thiere den Herakliden. Er war aber einäugig, denn das
andere Auge hatte er ſich in der Jugend mit einem Pfeile
ausgeſtoßen. So mußte das Maulthier ihm ſehen helfen,
und hatten ſie zuſammen der Augen drei. Die Herakli¬
den fanden auch dieſes ſeltſame Orakel erfüllt, wählten
den Oxylus zum Heerführer, und als auf dieſe Weiſe
die Bedingung des Geſchickes erfüllt war, griffen ſie mit
friſchgeworbenen Truppen und neugezimmerten Schiffen
die Feinde an, und tödteten deren Anführer Tiſamenus.

Die Herakliden theilen den Peloponnes.

Nachdem die Herakliden auf ſolche Weiſe den gan¬
zen Peloponnes erobert hatten, errichteten ſie dem Zeus,
ihrem väterlichen Ahnherrn, drei Altäre, worauf ſie opfer¬
ten, dann begannen ſie die Städte durchs Loos zu ver¬
theilen. Das erſte Loos war Argos, das zweite Lacedä¬
mon, das dritte Meſſene. Sie wurden einig darüber,
daß in einer Urne voll Waſſers geloſt werden ſollte. Nun
ward beſchloſſen, daß jeder ein Loos hineinwerfen ſollte,
das mit ſeinem Namen bezeichnet war. Da warfen Te¬
[407] menus und die Söhne des Ariſtodemus, die Zwillinge
Euryſthenes und Procleus, bezeichnete Steine hinein, der
ſchlaue Kreſphontes aber, der am liebſten Meſſene gewon¬
nen hätte, warf eine Erdſcholle in das Waſſer. Dieſe
löſte ſich auf. Nun wurde zuerſt über Argos geloſt,
und der Stein des Temenus kam zum Vorſchein; dann
über Lacedämon: da kam der Stein der Ariſtodemusſöhne.
Nach dem dritten fand man überflüſſig zu ſuchen, und ſo
bekam Kreſphontes Meſſene. Als ſie hierauf mit ihren
Begleitern den Göttern auf ihren Altären opferten, da
wurden ihnen ſeltſame Zeichen zu Theil, denn jeder fand
auf ſeinem Altare ein anderes Thier. Diejenigen, welche
Argos durchs Loos erhalten hatten, fanden darauf eine
Kröte; die, denen Lacedämon zu Theil geworden war, ei¬
nen Drachen; die endlich, die Meſſene bekommen hatten,
einen Fuchs. Nachdenklich über dieſe Zeichen geworden,
befragten ſie die einheimiſchen Wahrſager. Dieſe deute¬
ten die Sache alſo: „Welche die Kröte erhalten haben,
werden am beſten thun in ihrer Stadt daheim zu bleiben,
denn das Thier hat keinen Schutz auf der Wanderung;
die, denen ſich der Drache auf den Altar gelagert, wer¬
den gewaltige Angreifer werden, und mögen ſich immer¬
hin über die Gränzen ihres Landes hinauswagen; die
endlich, denen der Fuchs auf ihren Altar gelegt worden,
ſollen es weder mit der Einfalt halten, noch mit der Ge¬
walt: ihre Schutzwehr ſoll die Liſt ſeyn.“


Dieſe Thiere wurden in der Folge die Schildwap¬
pen der Argiver, Spartaner und Meſſenier. Nun be¬
dachten ſie auch ihren einäugigen Führer, Oxylus, und
gaben ihm das Königreich Elis zum Lohne ſeiner Feld¬
herrnſchaft. Vom ganzem Peloponneſe aber blieb nur das
[408] bergigte Hirtenland Arkadien unbeſiegt durch die Hera¬
kliden. Von den drei Reichen, die ſie auf dieſer Halb¬
inſel begründeten, hatte nur Sparta eine längere Dauer.
Zu Argos hatte Temenus dem Dephontes, auch einem
Ururenkel des Herkules, ſeine Tochter Hyrnetho, die er
unter allen ſeinen Kindern am meiſten liebte, zur Ehe
gegeben, und zog ihn in Allem zu Rathe, ſo daß man
vermuthete, daß er ihm und ſeiner Tochter auch die
Regierung zuwenden wolle. Darüber ergrimmten ſeine
eigenen Söhne, verſchworen ſich gegen ihn und erſchlugen
ihren Vater. Die Argiver aber erkannten zwar den
älteſten Sohn als König; weil ſie aber Freiheit und
Gleichheit vor Allem liebten, ſo beſchränkten ſie die Kö¬
nigsgewalt ſo ſehr, daß ihm und ſeinen Nachkommen
nichts übrig blieb, als der Königstitel.

Merope und Aepytus.

Kein beſſeres Loos, als ſeinen Bruder Temenus, traf
den König von Meſſene, Kreſphontes. Dieſer hatte die
Tochter des Königes Cypſelus von Arkadien, Merope,
geheirathet, die ihrem Gemahl viele Kinder gebar, unter
welchen Aepytus das jüngſte war. Für ſeine vielen
Söhne und ſich ſelbſt erbaute er im Lande eine ſtattliche Kö¬
nigsburg. Er ſelbſt war ein Freund des gemeinen Vol¬
kes, und begünſtigte dieſes, wo er konnte, in ſeiner Ver¬
waltung. Darüber empörten ſich die Reichen und er¬
ſchlugen ihn ſammt allen ſeinen Söhnen, bis auf den
jüngſten, Aepytus. Dieſen entzog die Mutter den Hän¬
den der Mörder und rettete ihn glücklich zu ihrem Vater
[409] Cypſelus nach Arkadien, wo der Knabe heimlich erzogen
wurde. In Meſſenien hatte ſich indeſſen Polyphontes,
ebenfalls ein Heraklide, des Thrones bemächtigt, und die
Wittwe des ermordeten Königes gezwungen, ihm ihre
Hand zu reichen. Da wurde es ruchtbar, daß noch ein
Thronerbe des Kreſphontes am Leben ſey, und Polyphon¬
tes, der neue Herrſcher ſetzte einen großen Preis auf
ſeinen Kopf. Aber Niemand war, der ihn verdienen
wollte, oder auch nur konnte. Denn die Sage ging nur
dunkel, und man wußte nicht, wo der Geächtete zu ſu¬
chen wäre. Mittlerweile wuchs Aepytus zum Jünglinge
heran, verließ heimlich den Pallaſt ſeines Großvaters,
und, ohne daß Jemand es ahnte, traf er zu Meſſene ein.
Der Jüngling hatte von dem Preiſe gehört, der auf den
Kopf des unglücklichen Aepytus geſetzt ſey. Da faßte er
ſich ein Herz, kam als ein Fremdling, von Niemand gekannt,
ſelbſt von der eigenen Mutter nicht, an den Hof des
Königes Polyphontes, trat vor ihn und ſprach in Ge¬
genwart der Königin Merope: „Ich bin erbötig, o Herr¬
ſcher, den Preis zu verdienen, den du auf das Haupt
des Fürſten geſetzt haſt, der, als Sohn des Kreſphontes,
deinem Throne ſo furchtbar iſt. Ich kenne ihn ſo genau
wie mich ſelber, und will ihn dir in die Hände liefern.“


Die Mutter erblaßte, als ſie dieſes hörte; ſchnell
ſandte ſie nach einem alten vertrauten Diener, der ſchon
bei der Rettung des kleinen Aepytus thätig geweſen war
und jetzt, aus Furcht vor dem neuen Könige, fern vom
Hof und der Königsburg lebte. Dieſen ſchickte ſie heim¬
lich nach Arkadien, um ihren Sohn vor Nachſtellung zu
ſichern, vielleicht auch, ihn herbeizurufen, damit er ſich
an die Spitze der Bürger ſtelle, denen ſich Polyphontes
[410] durch ſeine Tyranney verhaßt gemacht hatte, und den vä¬
terlichen Thron wieder erringe. Als der alte Diener
nach Arkadien kam, fand er den König Cypſelus und
das ganze Königshaus in großer Beſtürzung, denn ſein
Enkel Aepytus war verſchwunden, und Niemand wußte,
was aus ihm geworden war. Troſtlos eilte der alte
Diener nach Meſſene zurück und erzählte der Königin,
was geſchehen. Beide hatten nun keinen andern Gedan¬
ken, als daß der Fremdling, der vor dem Könige erſchie¬
nen ſey, den Preis zu verdienen, gewiß den armen Aepy¬
tus in Arkadien ermordet und ſeinen Leichnam nach Meſ¬
ſene gebracht habe. Sie beſannen ſich nicht lange, und
da der Fremde, von Polyphontes in ſeine Königsburg
aufgenommen, ſeine Wohnung in derſelben hatte, betrat
die Königin, von Rachedurſt erfüllt, mit einer Art be¬
waffnet, und von ihrem Vertrauten, dem alten Diener,
begleitet, nächtlicher Weile die Kammer des Fremden, in
der Abſicht, den Schlummernden zu erſchlagen. Der
Jüngling aber ſchlief ruhig und ſanft, und der Strahl
des Mondes beleuchtete ſein Antlitz. Schon hatten ſich
beide über ſein Lager gebeugt und Merope die Mordart
erhoben, als der Diener, der, dem Schlafenden näher ſte¬
hend, ſein Angeſicht genauer betrachtete, plötzlich mit ei¬
nem angſtvollen Schrei der Ueberraſchung den Arm der Kö¬
nigin erfaßte. „Halt ein,“ rief er, „es iſt dein Sohn
Aepytus, den du erſchlagen willſt!“ Merope ließ den Arm
mit der Axt ſinken, und warf ſich über das Bett ihres
Sohnes, den ſie mit ihrem lauten Schluchzen erweckte.
Nachdem ſie ſich lange in den Armen gelegen, eröffnete
ihr der Sohn, daß er gekommen ſey, nicht ſich den Mör¬
dern in die Hände zu liefern, ſondern dieſe zu beſtrafen,
[411] ſie ſelbſt von dem verhaßten Ehebund zu erlöſen und mit
Hülfe der Bürger, die er für ſein gutes Recht zu ge¬
winnen hoffte, den Thron des Vaters zu beſteigen. Er
verabredete hierauf gemeinſchaftlich mit der Mutter und
dem alten Diener des Hauſes die Maßregeln, die zu er¬
greifen wären, um ſich an dem verhaßten und verruch¬
ten Polyphontes zu rächen. Merope legte Trauerkleider
an, trat vor ihren Gatten und erzählte ihm, wie ſie ſo
eben die Trauerbotſchaft von dem Tode ihres einzigen,
noch übrigen Sohnes erhalten habe. Fortan ſey ſie be¬
reit, im Frieden mit ihrem Gatten zu leben, und des vo¬
rigen Leides nicht zu gedenken. Der Tyrann ging in
die Schlinge, die ihm gelegt war. Er wurde vergnügt,
weil ihm die ſchwerſte Sorge vom Herzen genommen
war, und erklärte den Göttern ein Dankopfer bringen zu
wollen, dafür daß alle ſeine Feinde jetzt aus der Welt
verſchwunden ſeyen. Als nun die ganze Bürgerſchaft auf
öffentlichem Markte, aber mit widerwilligem Herzen, erſchie¬
nen war — denn das gemeine Volk hatte es immer mit dem
liebreichen Könige Kreſphontes gehalten, und betrauerte
auch jetzt ſeinen Sohn Aepytus, in welchem es die letzte
Hoffnung verloren glaubte —; da überfiel Aepytus den
opfernden König und ſtieß ihm den Stahl ins Herz.
Jetzt eilte Merope mit dem Diener herbei, und beide
zeigten dem Volke in dem Fremdling Aepytus den todt¬
geglaubten rechtmäßigen Erben des Thrones. Dieſes be¬
grüßte ihn jubelnd, und noch an demſelben Tage nahm
der Jüngling den erledigten Thron ſeines Vaters Kre¬
ſphontes ein, und bezog an der Seite ſeiner Mutter die
Königsburg. Er beſtrafte jetzt die Mörder ſeines Vaters
und ſeiner Brüder, wie die Mitanſtifter des Mordes. Im
[412] übrigen gewann er durch ſein zuvorkommendes Weſen
ſelbſt die vornehmen Meſſenier, und durch ſeine Freige¬
bigkeit alle, die zum Volke gehörten, und erwarb ſich ein
ſolches Anſehen unter den Meſſeniern, daß ſeine Nach¬
kommen ſich Aepytiden ſtatt Herakliden nennen durften.

[][]
[][][]
Notes
*)

Jupiter hatte den Kronos (Saturn) ſeinen Vater, und mit ihm
die alte Goͤtterdynaſtie, geſtuͤrzt und ſich des Olymps mit Ge¬
walt bemaͤchtigt. Japetos und Kronos waren Bruͤder, Pro¬
metheus und Jupiter Geſchwiſterkinder.
*)

Mit der Thetis.
*)
Dieſe Sage iſt unabhaͤngig von der vorigen, und ſtimmt nicht
mit ihr uͤberein.

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CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Schwab, Gustav. Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpsm.0