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ZUR KRITIK
DER
NEUESTEN SPRACHFORSCHUNG.

LEIPZIG:
VERLAG VON S. HIRZEL
1885.
[]
ἐγώ ποτ' αὐτὸς νυκτὸς ἐν μακρῷ χρόνῳ
ἐφρόντισ', οἷός ἐστιν ὀνομάτων βίος

frei nach Euripides.
[[1]]

Sechzig Jahre hat die indogermanische Sprachwissen-
schaft sich ebenmässig und ohne erhebliche innere Wider-
sprüche entwickelt. Zwar konnte es an Meinungsverschieden-
heiten nicht fehlen, die bei der Schwierigkeit der Probleme
und der Weitschichtigkeit des Materials wenig verwunderlich
sind, auch konnte der schärfer beobachtende wohl bei den
einzelnen Forschern verschiedene Auffassungen und Methoden
wahrnehmen, und es fehlte nicht an einem gesunden Fort-
schritt, durch welchen manche anfangs zu einer gewissen Gel-
tung gebrachte Ansicht später aufgegeben und manche Wahr-
heit erst mit der Zeit erkannt wurde. Aber niemals trat ein
förmlicher Bruch mit der Vergangenheit ein, mit verschwin-
dend kleinen Ausnahmen fehlte es an Gelehrten, die völlig
neue Bahnen im Gegensatz zu den betretenen empfahlen und
in Bezug auf wichtige Gebiete der Forschung Auffassungen
zur Geltung zu bringen suchten, welche den bis dahin herr-
schenden geradezu entgegengesetzt waren. Was derartiges
vorgebracht ward, verklang meistens bald gegenüber der laut
ausgesprochenen und festgehaltenen Uebereinstimmung der
weit überwiegenden Mehrzahl.


Im Jahre 1866 feierte unsre Wissenschaft in ungetheilter,
warmer Anerkennung ihres damals noch lebenden Begründers
Franz Bopp ihr fünfzigjähriges Bestehen, ohne dass dabei ein
principieller Gegensatz hervortrat. Zehn Jahre später lasen
wir zuerst von einer neuen oder jungen oder angeblich strenge-
ren Richtung, von der Notwendigkeit einer wesentlichen Ab-
Curtius, Zur Kritik. 1

[2] weichung von den bisher in weiten Kreisen angenommenen
Ansichten. Und seitdem haben diese neuen Ansichten sich
weiter verbreitet, vielfach lebhafte Zustimmung gefunden und
werden trotz der anfangs von manchen Seiten erhobenen Ein-
sprüche und trotz der keineswegs unerheblichen Gegensätze
zwischen denen, welche mitten in diesen Anschauungen stehen,
jetzt von manchen sogar — ohne dass ein ernstlicher Kampf
der Meinungen stattgefunden hätte — als die herrschenden
betrachtet, denen gegenüber die früher unbestritten geltenden
als veraltet bezeichnet werden. Bei dieser Frage nach dem,
was herrscht, vergisst man freilich leicht, dass die Zahl der
selbständigen Kenner dieser Gebiete überhaupt keine grosse
ist und dass es an mancherlei Widerspruch sehr competenter
Forscher keineswegs fehlt*). Auch hat nicht jeder Gelehrte
Neigung, an solchem Principienstreit sich zu betheiligen, zu-
mal auf der Seite der älteren Annahmen, und nicht wenige
frühere eifrige Mitarbeiter, namentlich fast alle die, deren
Hauptstärke im Sanskrit liegt, haben sich seit dem Aufkom-
men der neuen Meinungen von der Sprachforschung zurück-
gezogen. Im einzelnen werden wir wiederholt Gelegenheit
haben, der Zweifel und Gegensätze zu gedenken, denen wich-
tige Aufstellungen unter denen begegnen, welche im grossen
und ganzen zu den neuen Lehren sich halten.


Doch auf das, was herrscht, kommt es ja überhaupt wenig
an. Was heute viel gilt, kann bei dem Hin- und Herfluthen
der Meinungen auf den verschiedensten Gebieten morgen ver-
sunken und vergessen sein. Dem Wahne, dass das neueste
auch immer das beste, wahrscheinlichste, ja das absolut wahre
sei, wird sich ein ernster Mann der Wissenschaft doch nicht
hingeben wollen. Die Hauptfrage ist die, wo die Wahrheit

[3] liegt. Zu dieser Frage einiges beizutragen, ist der Zweck
dieser Blätter.


Ich kann nicht finden, dass man darauf sehr viel Eifer
verwendet hätte. Am wenigsten hat man sich mit dem zu
thun gemacht, was doch eigentlich das erste sein müsste, mit
der Prüfung der Gründe, welche für die eine oder die andre
Auffassung sprechen. Man hat sich meist damit begnügt, von
einigen wenigen nach Art von Grundsätzen hingestellten Be-
hauptungen aus, über welche eine kleine Anzahl von For-
schern unter sich einig zu sein glaubte, die neuen Wege zu
versuchen. Zwar fehlt es nicht ganz an zusammenfassenden
Betrachtungen, unter denen namentlich die ausführliche Er-
örterung von Franz Misteli in der Zeitschr. f. Völkerpsycho-
logie XI S. 366 ff. XII, 1 ff. und die fast gleichzeitig erschie-
nenen Schriften von Delbrück 1)und Paul 2) hervorzuheben
sind. Diesen Schriften werde ich manches entnehmen, dem
auch ich mit Ueberzeugung beistimme. Aber die Kritik der
bisherigen Auffassungen kommt auch in jenen Schriften meines
Erachtens nicht ganz zu ihrem Rechte. Beide sind wesent-
lich eine Empfehlung und Auseinandersetzung der neuen Prin-
cipien. Punkte von grosser Bedeutung sind dabei übergangen.
Ausserdem haben beide merkwürdigerweise bei einem Theil
der jüngeren Forscher mehr Widerspruch als Zustimmung, ja
sogar eifrige Zurückweisung erfahren. Es scheint fast, dass
diese Tadler „für den Fachmann“ überhaupt jede Unter-
suchung über diese allgemeinen Fragen für überflüssig halten
und alles Heil von den nur auf Einzelheiten gerichteten Ver-
suchen erwarten. Und dennoch handelt es sich in den mei-
sten Fällen gerade vor allem andern um die Richtigkeit der
angewendeten allgemeinen Principien. Der Gegensatz zwi-
schen den älteren und den jüngeren Anschauungen tritt am
1*

[4] schärfsten bei Johannes Schmidt hervor, welcher bei seiner
feierlichen Aufnahme in die Berliner Akademie der Wissen-
schaften (3. Juli 1884, Sitzungsbericht S. 6) sogar von einer
„Katastrophe“ redet, die in der Geschichte der Wissenschaft
eingetreten sei.


Vier Punkte sind es, die hier vor allem in Betracht kom-
men. Der erste betrifft die Lautgesetze, genauer ausgedrückt
die Frage, in welchem Umfange der Lautwandel der Sprachen
ein völlig consequenter ist. Die zweite Hauptfrage ist die
nach der Analogie, mit andern Worten das Problem, in wel-
chem Maasse man dem Nachahmungstriebe in der Geschichte
der Sprachen Wirkung und Einfluss zuschreiben darf. Diese
beiden Fragen hängen unter einander auf das engste zusam-
men, indem es sich sehr oft um die Alternative handelt, ob
eine sprachliche Erscheinung auf dem ersteren, oder auf dem
letzteren Wege entstanden ist. Wesentlich verschieden ist ein
dritter Punkt, die Frage nach der Grundlage des indogerma-
nischen Vocalismus, worüber man mit lauter Stimme neue
Lehren verkündet und die frühere Auffassung für veraltet aus-
gibt, ohne dabei alle in Betracht kommenden Fragen be-
rücksichtigt zu haben. Endlich bleibt eine veränderte Stel-
lung der jüngeren Forscher gegenüber den Untersuchungen
über die Entstehung der indogermanischen Sprachformen,
denen Bopp, wie viele seiner Nachfolger, kühn ins Angesicht
schaute, während in neuerer Zeit das Misstrauen gegen diese
Art von Forschungen vorherrscht, freilich, wie wir sehen wer-
den, ohne dass man ihrer ganz zu entrathen weiss. Ueber
diese vier Punkte will ich Betrachtungen anstellen, die sich
mir aus langjährigen Studien ergeben haben, und um deren
unbefangene Prüfung ich bitte.


Es lag längst in meiner Absicht, mit diesen hervorzu-
treten. Aber wiederholte, ernste Störungen meiner Gesundheit
hinderten mich daran, und selbst jetzt muss ich aus ähn-
lichem Anlass rascher abschliessen als mir lieb ist, soll es

[5] nicht damit überhaupt zu spät werden. Das nonumque pre-
matur in annum ist ohnehin schon erreicht.


Niemand wird erwarten, dass diese Betrachtungen auf
einen Widerruf der Anschauungen hinauslaufen, die ich mir
in jüngeren Jahren im Anschluss an die Begründer unsrer
Wissenschaft gebildet hatte. Aber ich habe mich ernstlich
bemüht, in die neueren Auffassungen einzugehn und mir aus
ihnen zu entnehmen, was ich für richtig zu halten vermochte.
Auch glaube ich, dass die Gegensätze zum Theil mehr auf
Schein und auf Missverständniss, als auf Wirklichkeit be-
ruhen. Besonders liess ich es mir angelegen sein, bei der
Ausführung den Ton persönlicher Polemik zu vermeiden, durch
den so leicht die Ruhe der Ueberlegung getrübt und eine gar
nicht so erhebliche Meinungsverschiedenheit zu einem unver-
söhnlichen Gegensatz aufgebauscht wird.


[[6]]

I.


νόμοι ὑψίποδες, οὐρανίαν δι' αἰθέρα τεκνωθέντες
Soph.


Die Lehre, welche zuerst von Leskien aufgestellt, dann
namentlich von Brugmann und Osthoff geltend gemacht ist,
lautet in ihrer frühesten Fassung *): die Lautgesetze er-
leiden keine Ausnahmen
. In dieser Form umfasste aber
dieser Satz noch nicht alles das, was man den bisherigen An-
nahmen gegenüber als neue Grundlage für die Sprachforschung
glaubte bezeichnen zu können. Unter „den Lautgesetzen"
konnte man doch nur die für jedes einzelne Sprachgebiet bis-
her nachgewiesenen und anerkannten Gesetze des Lautwan-
dels verstehen. Unter das Axiom in jener Fassung gehörte
es z. B., von dem bekannten gemeingriechischen Lautgesetz,
dass ursprüngliches σ zwischen Vocalen verklang, keinen Aus-
nahmefall zuzulassen, oder dem lateinischen Sprachforscher zu
verbieten, dass er das intervocalische s, das im Lateinischen
bekanntlich zu r wird, irgendwo als ein altüberliefertes be-
trachte, folglich auch z. B. das lateinische nāsu-s mit skr.
nāsa-s für identisch erkläre. Nur da, wo für einen Kreis
von Wörtern gleicher Art bestimmte Ausnahmen nachweisbar
wären, so schrieb man vor, also z. B. für die deutschen Con-
sonantengruppen sk, st, sp mit ihrer, wie Jacob Grimm sagte,
„stockenden Lautverschiebung“, wo also das weitere Gesetz

[7] durch ein engeres gekreuzt und begrenzt wurde, musste natür-
lich eine Ausnahme, aber eben eine die Regel zugleich be-
stätigende, zugelassen werden. Aber bald ging man weiter.
Sämmtliche früheren Forscher hatten ohne jedes Bedenken
in den verschiedensten Sprachen einen Theil der Lautbewe-
gungen überhaupt gar nicht unter bestimmte Gesetze ge-
bracht. Dass ein auslautender Consonant z. B. im altlat.
duonoro verklingen könne, während andrerseits an gleicher
Stelle und zu gleicher Zeit das ursprüngliche m sich unver-
ändert erhielt, dass eine Form mit zwei anlautenden Conso-
nanten, z. B. skr. stṛ Stern, neben dem gleichbedeutenden
tārā, sich in demselben Sprachgebiet halten, dass ein aus-
lautender Vocal, ohne dass von einem Gesetz die Rede sein
kann, sich im lateinischen jace halten, in fac aber abfallen
könne, dass ἐθέλω und θέλω neben einander bestehen dür-
fen, ohne etymologisch verschieden zu sein, auch wenn man
den Abfall oder andrerseits den Zuwachs des anlautenden
Vocals nicht in die Schranken eines Gesetzes zu bringen ver-
mag, das alles galt bis dahin für zulässig. In diesem Sinne
habe ich in meinen Grundzügen der Etymologie für den grie-
chischen Lautwandel zwei Arten unterschieden, den con-
stanten
und den sporadischen, und gerade für diese
Zweitheilung hat es mir längere Zeit hindurch nicht an man-
nichfaltiger Zustimmung gefehlt. Ich gestehe sogar, dass ich,
selbst wenn — was ich bestreite — das neue Axiom sich in
seiner Allgemeinheit wirklich erweisen liesse, heut zu Tage
ebenso verfahren würde. Jedenfalls lag darin gegenüber der
früheren Vermischung verschiedenartiger Lautveränderung das,
was wir ja alle erstreben, eine Begränzung der Willkür. Ich
halte mich an den Spruch: Est quodam prodire tenus, si non
datur ultra. Das seltne vom durchgreifenden zu unterscheiden,
ist doch immer etwas. Damit das letzte Wort gesprochen zu
haben in Bezug auf viele schwierige Fragen, habe ich mir
nie eingebildet und schon durch den Titel ‘Grundzüge der

[8] griechischen Etymologie’ solchem Schein vorgebeugt. In der
That hat die fortschreitende Forschung manches seitdem in
ein andres Licht gestellt, wie denn z. B. die Abschnitte über
Labialismus und Dentalismus nach den von Ascoli und Fick
erkannten Thatsachen, wonach nur einer der beiden ursprach-
lichen K-Laute labialisirt und andrerseits dentalisirt, der andre
unverändert fest gehalten wurde, jetzt nicht mehr als blosse
Abweichungen von der constanten Regel, sondern als besondre,
gesetzmässige Unregelmässigkeiten erscheinen. Aber das Stre-
ben, jedes Schwanken unbedingt zu beseitigen und der Sprache
den Vorwurf zu ersparen, dass sie, wie man sich ausdrückte,
„einer wissenschaftlichen Erkenntniss nicht zugänglich sei“,
richtete sich sehr bald mit Entschiedenheit gegen die ganze
von mir aufgestellte zweite Weise der Lautbewegungen und
überhaupt gegen die Zulassung irgend einer rein lautlichen
Bewegung, die nicht innerhalb desselben Sprachgebiets und
zu derselben Zeit völlig constant geworden wäre. Der Gegen-
satz spricht sich am schärfsten aus in dem, was im ersten Heft
der „Morphologischen Untersuchungen von Osthoff und Brug-
mann (L. 1878) S. XIII“ als erster „methodologischer Grund-
satz“ der „junggrammatischen Richtung“ hingestellt wird.
„Aller Lautwandel, soweit er mechanisch vor sich
geht
, vollzieht sich nach ausnahmslosen Gesetzen“.
Der relative Zwischensatz ‘soweit er mechanisch vor sich
geht’ erklärt sich aus den an andern Stellen von den Ver-
fassern ausgeführten Untersuchungen und Aufstellungen über
die Analogiebildungen, Anlehnungen, Aus- und Angleichungen,
über deren Wesen wir in dem zweiten Abschnitte dieser Schrift
zu handeln haben. Der Zwischensatz bedeutet also nichts
andres, als ‘so weit nicht Analogie in Betracht kommt’, man
kann daher in andrer Weise die Lehre auch so fassen: „Es
gibt in den Sprachen überhaupt keine Lautbewegung,
welche nicht entweder auf einem Gesetze beruht, das
während eines begrenzten Zeitraums für ein bestimmtes Sprach-

[9] gebiet ausnahmslos gilt, oder aus Analogie hervorging“. Die
Tragweite dieser Behauptung ist augenscheinlich eine sehr
grosse. Die Behauptung erstreckt sich auf alle Sprachen und
gibt sich als eine Wahrheit, welche etwa nach der Art mathe-
matischer Grundsätze weder bewiesen wird, noch auch des Be-
weises bedarf, so dass wir ein Recht hatten sie als ein Axiom
zu bezeichnen, und dass die Annahme jenes Grundsatzes von
den italienischen Forschern, denen wohl niemand Laxheit vor-
werfen kann, nicht unpassend ‘nuova fede’ benannt ward.


Wo es sich um sehr weit reichende allgemeine Behaup-
tungen handelt, die plötzlich in einer überraschenden Weise
unter mannichfaltiger Zustimmung aufgestellt werden, wird
man, denke ich, nicht bloss auf diese Zustimmungen, sondern
auch gern auf die Stimmen solcher hören, welche unbefangene
Kritik daran üben. Es lohnt sich das, glaube ich, auch hier.
Wir wollen uns daher zunächst die Urtheile derer vorführen,
welche, dieser Richtung von Haus aus fernstehend, Bedenken
dagegen geäussert haben, und dann zusehen, wie sich das Ur-
theil derer im weitern Verlaufe der wissenschaftlichen Unter-
suchung gestellt hat, die im wesentlichen jenem Axiom zuge-
neigt sind. Eine scharfe Entgegnung fand die neue Richtung
in den Gött. Gel. Anz. vom Jahre 1879 (S. 641 ff.). Diese sehr
ausführliche Kritik von Bezzenberger stösst allerdings theil-
weise durch einen sehr verletzenden, aus persönlicher Gereizt-
heit hervorgegangenen Ton ab. Aber die allgemeineren Er-
wägungen, in welchen, z. B. S. 650 ff., der Kritiker zum Theil
die gemeinsamen Erwägungen mehrerer Göttinger Sprach-
forscher wiederzugeben scheint, sind, glaube ich, beachtens-
werth. Es wird dort betont, dass in der Geschichte der Spra-
chen „ein Lautwandel sich zunächst immer nur bei einem [?]
oder mehreren Individuen aus Gründen, die sehr verschieden
sein können, entwickelt" *) Nach diesen richteten sich meh-

[10] rere, und „indem diese nun auch ihrerseits Gefallen an der
neuen Sprechweise hervorrufen, verbreitet sich dieselbe weit-
hin und kann zunächst innerhalb des Dialekts, dann aber
auch innerhalb der Sprache, welcher dieser Dialekt angehört,
die allein und überall ausschliesslich herrschende werden. Sie
kann es werden, sie muss es nicht, denn es besteht die
Möglichkeit, dass sie nicht allgemein, sondern nur partiell Ge-
fallen und Nachahmung findet, indem ihrer Verbreitung an
einem oder mehreren Punkten des Sprachgebietes, in dem sie
nachgeahmt wird, ein nachhaltiger Widerstand entgegen tritt,
weil dort die ältere Sprechweise mehr gefällt u. s. w. Ent-
stehen hierdurch sehr einschneidende Gegensätze, so tritt eine
Spaltung jenes Sprachgebietes in Dialekte ein, die sich an
ihren Gränzen später häufig ausgleichen; ist das nicht der
Fall, so tritt im Laufe der Zeit eine Ausgleichung der ver-
schiedenen Spreehweisen in der Art ein, dass in bestimmten
Wörtern oder Formen die eine, in andern eine andre Sprech-
weise zur Anwendung kommt“. Es wird dies durch Beispiele
aus verschiedenen Sprachen erläutert. Wenn wir in dem
obigen Urtheil die Stimme empirischer Sprachforscher ver-
nehmen, so tritt uns in dem jetzt anzuführenden Ausspruch
die eines Philosophen entgegen. Die kleine Schrift von
L. Tobler „über die Anwendung des Begriffes von Gesetzen
auf die Sprache“ in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftl.
Philosophie Bd. III Hft. 1 griff recht tief in diese Fragen ein.
Tobler zeigt unwiderleglich, dass das, was man mit Laut-
gesetzen bezeichnet hat, etwas von den Naturgesetzen, wie sie
in der Physik oder Chemie beobachtet sind, wesentlich ver-
schiedenes ist. „Die sogenannten Lautgesetze, heisst es S. 46
der erwähnten Schrift, bilden eine heilsame Schranke gegen

*)[11] subjective Willkür, wie sich solche besonders früher in zügel-
losem Etymologisiren äusserte, aber es ist ebenso wohlthätig,
dass auch sie selbst in der Natur der Sache Schranken finden,
und dass dadurch dem übermächtigen Trieb nach geistloser
Mechanisirung auf diesem Gebiet eine Schranke gesetzt sei."
Und weiter lesen wir: „Unter den sogenannten Lautgesetzen
sprechen gerade diejenigen, denen am ehesten ausnahmslose
Richtigkeit zuerkannt werden mag, einfache Thatsachen als
solche aus, deren Kenntniss für den Sprachforscher höchst
wichtig, ja absolut nothwendig, aber mit keiner Einsicht in
den Grund oder auch nur in die genauere Art und Weise des
betreffenden Vorgangs verbunden ist“. Die Folge dieser Aus-
einandersetzung war, dass einer der eifrigsten Vertreter der
neuen Ansichten, Hermann Paul, in seinen „Principien der
Sprachgeschichte“ (Halle 1880) S. 55 sich folgendermassen aus-
spricht: „In dem Sinne, wie wir in der Physik oder Chemie
von Gesetzen reden, ist der Begriff Lautgesetz nicht zu ver-
stehen. Das Lautgesetz sagt nicht aus, was unter gewissen
allgemeinen Bedingungen immer wieder eintreten muss, son-
dern es constatirt nur die Gleichmässigkeit innerhalb einer
Gruppe bestimmter historischer Erscheinungen" *) Das klingt
ganz anders als das, was derselbe Gelehrte früher über die-
sen Punkt bemerkte, wo „von absoluter Notwendigkeit“ die
Rede war und die Aehnlicheit mit chemischen und physika-
lischen Gesetzen streng festgehalten wurde. Tobler ist dann
in seiner Recension von Paul's Schrift im Litteraturblatt für
Germ. und Roman. Philologie 1881 S. 121 ff. wieder auf diese

[12] Fragen zurückgekommen und hat dort weiter ausgeführt, dass
eine so strenge und apodiktische Weise in der Behandlung
der Lautgesetze in der Sprachwissenschaft, insofern diese es
mit etwas historisch gewordenem zu thun habe, nicht am
Platze sei.


Auch von andern Seiten hat es nicht an Einwendungen
und Entgegnungen gegen jene Aufstellungen gefehlt. Ich be-
gnüge mich hier, auf folgende Schriften hinzuweisen. Collitz
in seiner Recension von Osthoff-Brugmann's Morphol. Unters.
Heft 1 in der Zeitschrift für deutsches Alterth. XXIII (1879)
S. 320. Whitney unter andern in den Proceedings of the
American Philolog. assoc. July 1882 p. XVIII *) Die italieni-
schen Gelehrten Fumi, in der Schrift La Glottologia e i Neo-
grammatici (Napoli 1881) und d'Ovidio, d'un recente libro di
Delbrück etc., Rivista di Filologia Anno X fasc. 5, 6, kommen
zu ähnlichen Ergebnissen. Diese Entgegnungen, vielleicht
auch eigne weitere Erwägungen der Sache, blieben selbst auf
die ersten Begründer der neuen Lehre nicht ohne Wirkung.
Die anfangs schroff und bedingungslos aufgestellte Behauptung
wurde vorsichtiger gefasst und zum Theil eingeschränkt. Ich
verweise namentlich auf Delbrück's Einleitung in das Sprach-
studium. Hier wird trotz aller Bedeutung, welche der Ver-
fasser dem neuen Satze beimisst, doch ¹S. 115 = ²S. 116
offen eingeräumt, „auf induktivem Wege kann die Ausnahms-
losigkeit der Lautgesetze nicht bewiesen werden“. Wir fragen
unwillkürlich, ob denn dies auf deductivem Wege möglich ist.
Wir sahen soeben, wie die deductive Behandlung der Frage
bei Tobler jene Behauptung durchaus nicht bekräftigte, und
wenn Delbrück doch wieder in dieser Beziehung von Natur-
nothwendigkeit redet, so vermag ich darin den ebenangeführ-

[13] ten Einräumungen Paul's gegenüber einen Fortschritt nicht
zu erkennen.


Bei Delbrück wird ausserdem mehr als bei seinen Vor-
gängern betont, dass die unbedingte Regelmässigkeit der Laut-
bewegung sich hauptsächlich in solchen Sprachen nachweisen
liesse, die (2 S. 113) „noch dem Naturzustande möglichst nahe
stehen. Die Schriftsprachen zeigen stets eine Menge von Wor-
ten, welche von anderswoher entlehnt sind, sei es aus frem-
den Sprachen, sei es aus verwandten Dialekten, sei es endlich
aus früheren, nur noch in Litteraturdenkmälern vorhandenen
Perioden derselben Sprache, Entlehnungen, welche zum Theil
so mit dem einheimischen Sprachmaterial verwachsen sind,
dass sie von dem Sprechenden nicht mehr als fremd gefühlt
werden“. Ich möchte hier die Frage anfügen, wo uns denn
solche dem Naturzustand näherliegende Sprachen wirklich vor-
liegen. Es würde sich vielleicht lohnen, in solchen Sprachen
oder Mundarten, welche von der Cultur möglichst unberührt
sind, Untersuchungen in Bezug auf den Lautwandel vorzuneh-
men. Jedenfalls sind die meisten indogermanischen Sprachen,
auf welche die neuen Principien vorzugsweise angewandt sind
und beständig angewandt werden, nicht von jener Art. Das
Sanskrit, das Griechische, das Lateinische sind in eminentem
Sinne Cultursprachen und es fragt sich doch wohl, ob wir
aus der Fülle der hier vorliegenden Thatsachen jenen Natur-
zustand überhaupt ungetrübt herauszuschälen vermögen. Hier
liegt also ein Widerspruch vor. Man stellt ein Axiom an die
Spitze, das wenigstens „vorzugsweise“ in jenen mehr voraus-
gesetzten als factisch nachgewiesenen Naturmundarten gelten
soll und wendet es ohne alles Bedenken auf Sprachen an,
die von ganz andrer Art sind.


Wenn wir also schon in Delbrück's Bemerkung eine Ein-
schränkung des ursprünglich viel schroffer gefassten Axioms
rinden, so kann man eine weitere Einschränkung darin er-
kennen, dass örtliche und zeitliche Mischungen in Bezug auf

[14] die Laute der Sprache anerkannt werden. Dass Entlehnungen
aus andern Sprachen oder Dialekten bei jener Grundforde-
rung eingeräumt werden müssten, war schon von Anfang an
wenigstens „im Princip“ anerkannt, wenn auch bei der Einzel-
forschung ausserordentlich wenig in Betracht gezogen *) Aber
neu tritt bei Delbrück der Gedanke hervor, dass die Pro-
dukte einer früheren Zeit sich bis in eine spätere erhalten
und auf diese Weise Ausnahmen von den Lautgesetzen er-
klären könnten. Ich halte diesen Gedanken für einen ebenso
glücklichen, als unabweisbaren und tiefgreifenden. Auf die-
selbe Fährte wird auch Paul in dem erwähnten Buche (S. 129)
geführt, indem er residua aus einer älteren Zeit in allem ge-
schichtlich gewordenen annimmt. Diese zweite Einräumung
hat offenbar eine ungemein grosse Tragweite. Derselben Be-
trachtung begegnen wir bei Tobler in der erwähnten Recen-
sion. Er sagt: „Warum sträubt man sich so sehr, Reste von
Uebergangszuständen
anzunehmen, welche auch aus ver-
gangener Zeit da und dort noch vereinzelt sich erhalten haben
können neben der in derselben oder in andrer Richtung vor-
gerückten Bildung?“ In der That gibt es wohl kein Gebiet
geschichtlichen Werdens, in welchem alles aus einem Gusse
wäre. Ich denke an Gebiete, die wir mit gutem Rechte der
Sprache vergleichen dürfen, wie das des Rechts, der Sitte,
des Staatslebens. Warum sollen wir zwischen diesen und dem

[15] Sprachleben, gerade ausschliesslich nach der lautlichen Seite
hin, eine unübersteigliche Schranke ziehen? Die nothwendige
Unterscheidung der in Bezug auf die Laute dem Naturleben
viel näher stehenden Sprache braucht desshalb nicht über-
sehen zu werden.


Ich selbst habe diese Fragen in der 5. Aufl. meiner Grund-
züge S. 425 ff. erörtert. Neben allgemeineren Bemerkungen,
die hier nicht wiederholt werden sollen, habe ich namentlich
eine grössere Reihe von anerkannten Thatsachen, vorzugs-
weise aus dem Griechischen, aber auch aus andern Sprachen,
vorgeführt, bei denen jenes Axiom von der unbedingten Con-
stanz der Lautbewegung schwer durchführbar ist. Delbrück
antwortet darauf S. 115 Anm. *), indem er auf dreierlei Weise
wenigstens einen kleinen Theil der von mir hervorgehobenen
Fälle erklären zu können glaubt, ohne dass jenes Axiom da-
durch beeinträchtigt wird. Man müsse nämlich, sagt er,
erstens untersuchen, ob Entlehnung vorliege. „Das wird z.B.
der Fall sein bei κίδναται neben σκίδναται und τέγος neben
στέγος.“ In der That dürfte es aber sehr schwer sein, die
Verschiedenheit der Laute hier aus ursprünglicher Dialekt-
verschiedenheit zu erklären. Bei Homer stehen Formen wie
διασκιδνᾶσι Ε 526, σκίδναται Λ 308 neben κίδναται θ 1. Man
könnte hier also nur an Vermischung äolischer und ionischer
Formen denken. Aber bei Sappho 27 Be.4 lesen wir σκιδνα-
μένας
, folglich kann die kürzere Form, falls man nicht
Schreibfehler annehmen will, nicht auf Aeolismus beruhen;
ebensowenig aber die vollere. Denn bei Thuk. VI, 98 lesen

[16] wir ἀποσκίδνασθαι. Was στέγος und τέγος betrifft, so er-
scheint die kürzere Form in der Odyssee, bei Aristophanes
und Thukydides, die vollere bei den Tragikern. In attischer
Prosa, wie schon bei Herodot ist daneben das Femininum
ἡ στέγη geläufig, das sich an das Verbum στέγειν, an στεγνὸς,
στεγανός u. s. w. anschliesst. Τέγος dagegen hat bei Homer
nur das Adj. τέγεος 248 und ausserdem etwa den Namen
der Stadt Τεγέα zur Seite. Hier ist augenscheinlich kein
Boden für mundartliche Unterscheidung. Zweitens, meint Del-
brück, sei jedesmal zu fragen, ob eine Wirkung der Analogie
vorliege. Auf dies Gebiet kommen wir im zweiten Abschnitt
dieser Schrift zu sprechen, wesswegen ich es hier übergehe.
Drittens frage es sich, ob unter einem Zeichen vielleicht zwei
Laute verborgen seien, ein Fall, auf den ich selbst in jenen
Untersuchungen hingewiesen hatte., So verhalte es sich wahr-
scheinlich mit dem Digamma, so werden σ mit consonantischem
ϝ zu σσ (σ), während σ vor halbvocalischem ϝ abfalle. Ich
bestreite diese Erklärung als Möglichkeit durchaus nicht. Aber
offenbar ist es bei allen nicht mehr lebendigen Sprachen in
den meisten Fällen kaum ausführbar, die verschiedene pho-
netische Geltung desselben Zeichens wirklich nachzuweisen.
Wir laufen dabei Gefahr, in einen circulus vitiosus zu ge-
rathen, indem wir einerseits die auffallende Thatsache durch
jene Hypothese, zu erklären suchen, andrerseits aber diese
nur hypothetisch angenommene Form sofort benutzen, um das
angenommene Axiom gegen Zweifler zu vertheidigen.


Um einmal eine Einzelheit mitten in diese allgemeinen
Fragen zu werfen, scheint sich mir auf diese Weise die auf
den ersten Blick recht befremdliche Verwandlung von δ vor
μ zu σ, z. B. im att. ὀσμή statt des epischen, ionischen, viel-
leicht sogar (Eutherford, Phryn. p.164) xenophonteischen ὀδμή,
ἴσμεν statt ἴδμεν zu erklären. Woher das scharfe σ aus dem
weichen δ vor dem Nasal, der doch eher dem weichen Laute
nahe steht als dem harten? Vielleicht hatte das σ hier zur

[17] Zeit des Uebergangs den weichen Klang, und es hiess, wenig-
stens ursprünglich, ozmē, izmen. Später erst mochte der der
Sprache entschwindende weiche Sibilant in den auch in der
Verbindung mit μ häufigen scharfen übergehen. Man ver-
gleiche πέπυσμαι u. s. w. Die unter andern von Joh. Schmidt
Ztschr. XXVII S. 314 ausgesprochene Ansicht, ὀσμήsei aus
ὀδ-σμί entstanden, dasσ also nach der Analogie andrer Bil-
dungen hier eingedrungen, scheint mir nicht den Vorzug der
Wahrscheinlichkeit zu haben.


Delbrück schliesst seine Betrachtungen mit den Worten:
„Es ist zu hoffen, dass bei einer solchen Behandlung die von
Curtius aufgestellte Liste sich erheblich kürzen wird“. Man
sieht, dass Delbrück selbst wenig Vertrauen dazu hegt, die
Lehre von der unbedingten Constanz der Lautbewegung den
gegebenen Thatsachen gegenüber durchführen zu können. Der
von andern so zuversichtlich hingestellte Grundsatz wird hier
zu einer Annahme, die man in Zukunft vielleicht erweisen
zu können hofft.


Es mag hier noch auf die Haltung andrer bewährter For-
scher in Bezug auf diese Frage kurz hingewiesen werden.
Joh. Schmidt, ein Gelehrter, der bekanntlich in ganz wesent-
lichen Stücken der neuen Lehre sich anschliesst, ja den Gegen-
satz zwischen den älteren Wegen und den neueren mit be-
sonderer Entschiedenheit hervorhebt, sagt in der Zeitschr. für
vergl. Sprachforschung Bd. XXV (1881) S. 134: „Ganz aus-
nahmslose Lautgesetze, d.h. deren Ausnahmen wir
alle erklären können, gehören ja noch zu den
grössten Seltenheiten"
und weist Bd. XXVI S. 331 der-
selben Zeitschrift darauf hin, dass es neben den anerkann-
ten Lautgesetzen auch bisher unbekannte Lautgesetze geben
könne, auf deren Eingreifen man überall gefasst sein müsse.
Ascoli, dem jedenfalls unter den lebenden Sprachforschern
eine der allerersten Stellen gebührt, spricht sich wiederholt
in ähnlichem, vor Uebertreibung warnenden Sinne aus. So
Curtius, Zur Kritik. 2

[18] in seinen „kritischen Studien zur Sprachwissenschaft“, S. 9 der
deutschen Uebersetzung: „Unvorsichtige Lobredner sprechen
häufig von unerbittlichen, unveränderlichen, unumgänglichen
Gesetzen in den lautlichen Entsprechungen zwischen Sprache
und Sprache, als ob es sich stets um die einzige und aus-
schliessliche Formel A = B handelte und das sich leicht er-
gebende Resultat der vergleichenden Lautlehre ganz und gar
in eine Art Pythagoreischer Tabelle oder in eine Art Sprach-
compass umgesetzt werden könnte. Das aber liegt weit ab
von der Wahrheit. Für den Linguisten ist die Gleichung: lat.
medius = sanskr. madhjas ebenso evident und ebenso gut be-
wiesen als die andere: lat. ūber = sanskr. ūdhar (ūdhas), ob-
gleich man im ersten Fall lat. d = sanskr. dh, im zweiten,
verschieden davon, lat. b = sanskr. dh ansetzt“. Und weiter:
„Im Leben der Sprache ist wie in dem jedes andern Natur-
organismus solche starre und beständige Einfach-
heit in jeder Beziehung eine Utopie
“. Um nicht etwa
den Glauben zu erwecken, als ob der italienische Gelehrte
Abweichungen von fest erkannten und weit reichenden Laut-
gesetzen ohne weiteren Nachweis und ohne Frage nach dem
Grunde zulasse, verweise ich auf seine Lettera glottologica
(1881), wo es S. 6 nach freier deutscher Uebersetzung etwa
so heisst: „Ich habe gezeigt, dass man für jede Ausnahme
oder Unsicherheit, unter welcher die phonologischen Normen
leiden, nach einem warum? suchen muss, das sie thatsächlich
löst und nach einem anderen Fall, der ähnlich sei“.


Wiederholt ist von neueren Forschern darauf hingewiesen,
dass für die Richtigkeit principieller Aufstellungen die leben-
den Sprachen, ganz vorzugsweise die romanischen mit ihrer
festen Grundlage im Lateinischen und ihrer durch Jahrhun-
derte verfolgbaren, reichen Geschichte belehrend seien. Das
ist ja der Gedanke unsers grossen Leibniz, durch den dieser
klärend und belebend auf das Sprachstudium einwirkte. Dies
bestimmte mich, in Bezug auf die Frage nach der Beständig-

[19] keit und Gleichmässigkeit des Lautwandels bei den Roma-
nisten unsrer Tage mich umzusehen. Schon bei Diez Gramm.2
134 fand ich in Bezug auf die Vocale die Notiz: „Die betonten
Vocale bilden den Mittelpunkt, die Seele des Wortes; der
Genius der Sprache band sich hier an eine bestimmte Regel,
während er sich mit tonlosen Vocalen ein weit freieres Spiel
gestattete“. Ein befreundeter, gerade um den Lautwandel
höchst verdienter Gelehrter, den ich deswegen befragte, ver-
wies mich besonders auf die Schriften von Caroline Michaelis
„Studien zur romanischen Wortschöpfung“ (L. 1876), und von
N. Caix „Studi di Etimologia Italiana e Romanza“ (Firenze
1878). Aber hier stiess ich auf Aeusserungen, die ganz von
den jetzt beliebtesten abweichen, an mehr als einer Stelle,
z. B. S. 149 der zuerst genannten Schrift: „In allem Sprach-
lichen windet sich die Wahrheit der Regel nur wie ein dünner
Faden durch das Labyrinth der Ausnahmen“, S. 149 „Nir-
gends lässt die Sprache sich von einem kategorischen Im-
perativ meistern“, S. 210 „Wenige Wörter bleiben auf ihrer
räumlichen Wanderung von Nation zu Nation oder auf ihrer
zeitlichen von Jahrhundert zu Jahrhundert unangetastet“. Die
Annahme, welche bei den Anhängern der neuen Richtung von
allen die verpönteste ist, dass eine und dieselbe Grundform
sich ohne erkennbaren Anlass in zwei und mehrere jüngere
Formen gespalten habe, wird im romanischen Gebiet massen-
weise zugelassen. Schon längst war dafür der französische
Ausdruck doublets bekannt, die Italiener nennen sie dop-
pioni
, Caroline Michaelis mit Diez ‘Scheideformen’*) Ge-
meint sind solche Fälle wie die spanische Verwandlung des
Ausgangs-atico (lat. -aticu-s) einerseits in-azgo, andrerseits
2*

[20] in -aire. Das lateinische purpura hat sogar (S. 15) sechs spa-
nische Vertreter: purpura, porpura, porpula, porpora, porpra,
porpla
. Ein grosser Theil der erwähnten Schrift beschäftigt
sich mit diesem Gegenstand. Es kann ja sein, dass die Ver-
schiedenheit der lautlichen Form auch hier theilweise aus
Dialektmischung, anderntheils aus immer neuer, so zu sagen,
Einpfropfung des nie ganz unbekannt bleibenden Latein (z. B.
franz. chose und cause aus dem einen causa), zum Theil viel-
leicht auch aus Analogiebildung, erklärt werden kann. Da-
rüber gestatte ich mir kein Urtheil. Aber wir sahen ja, dass
ähnliche Einflüsse auch anderswo nicht ausgeschlossen sind,
und wer getraute sich wohl auf Sprachgebieten, für die uns
Daten über mundartliche Spaltungen aus älteren Zeiten ent-
weder, wie z. B. für das Lateinische so gut wie gar nicht,
oder wie für das Griechische trotz aller epigraphischen Funde
doch nur sehr lückenhaft vorliegen, in jedem Falle abson-
derlicher Lautgestalt bestimmt zu sagen, wo der Anlass zu
suchen sei? Auch Ascoli, auf den wir immer wieder zu-
rückgeführt werden, scheut vor der Zulassung von Doppel-
formen aus einer Grundform (diversi continuatori) nicht zu-
rück. Aus puteus ist ital. pozzo, aus radius ital. razzo, aber
auch raggio entstanden, aus cavea wird ital. gabbia, aus pluvia
aber pioggia (Lettera glottolog. p. 8). Es kommt mir so vor,
als ob die romanischen Sprachen noch weniger als Griechisch
und Latein einer rigorosen Regel sich fügen. Dies bestätigt
sich mir unter anderm auch durch das, was Groeber in sei-
nem Artikel „Vulgärlateinische Substrate romanischer Wörter"
(Archiv f. lat. Lexikographie I 204 ff.) in reicher Fülle zu-
sammenstellt. Von diesem Ausflug in romanische Gebiete
kehrte ich also unverbessert zurück.


Auch Gustav Meyer, der in seiner griechischen Gram-
matik (1880) den verdienstlichen Versuch gemacht hat, die
Erscheinungen dieser Sprache im Sinne der neueren Aufstel-
lungen aufzuklären, schrickt keineswegs davor zurück, That-

[21] sachen zuzulassen, deren lautliche Regelmässigkeit nicht nach-
weisbar ist. So heisst es S. 29: „Die Ursache der Unregel-
mässigkeit ist vorläufig unklar“, S. 108 „in einigen Fällen
hat sich aus dem Stimmton des Spiranten s nach einem vor-
hergehenden Vocal ein i entwickelt“, S. 153 „bei wurzelhaftem
ρ tritt (in dem Suffix -ρο) meistens, aber nicht ausnahms-
los, λ ein“. S. 170 wird für die Gestaltung des K-Lautes ein
entweder - oder der Entwickelung zugelassen. Diesen Einräu-
mungen gegenüber verstehe ich nicht, warum derselbe For-
scher anderswo, z. B. S. 106 in Bezug auf den Zusammenhang
von δασύς und δαυλός, S. 194 in Bezug auf die ursprüngliche
Identität des Verbalausgangs -αω und -αζω aus -ajāmi sich
des Lieblingsausdrucks der neuen Schule, „unmöglich“, be-
dient *) In der That könnte man einwenden, dass diese ganz
allgemeinen Fragen, die mit den in der Politik verrufenen
Doktorfragen eine gewisse Aehnlichkeit haben, eine umständ-
liche Erörterung kaum verdienen. Aber eben jenes „unmög-
lich“ zeigt, dass diese Fragen von praktischer Bedeutung sind,
denn in unzähligen Fällen werden frühere Aufstellungen nur
desshalb von jüngeren Forschern mit diesem kurzen Worte ab-
gewiesen, weil sie zu jenem an die Spitze gestellten Axiom
nicht passen oder nicht zu passen scheinen. Eben desshalb
schien es nöthig zu zeigen, dass es mit jenem Axiom doch
seine Schwierigkeiten habe, und dass unter den berufensten
Mitforschern darüber keineswegs allgemeine Uebereinstimmung
herrsche. Soll übrigens jener Grundsatz mehr die Bedeutung

[22] eines selbsterziehenden Princips haben in dem Sinne, dass
wir uns wechselseitig ermahnen, von anerkannten Lautgesetzen
nicht leichtsinnig Ausnahmen zuzulassen und für alle seltne-
ren Lautbewegungen in Uebereinstimmung mit Ascoli sorgfältig
nach einem warum? zu fragen, so wird darüber eine Meinungs-
verschiedenheit unter vernünftigen Gelehrten kaum stattfinden
können. Freilich ist das Streben der Wissenschaft auf dies
Ziel schon längst gerichtet gewesen. Denn zwischen „spora-
dischen Lautveränderungen“ und „vereinzelten, vorläufig nicht
zu erklärenden" ist der Unterschied minimal. Ich sehe aber
nicht ein, warum man dann jener Vorschrift eine so apodik-
tische Form gibt, und von dem, was man höchstens in der
Zukunft durchführen zu können hofft, wie von einem Ge-
setze spricht, das von vornherein über jeden Zweifel erhaben
sei und für jede Combination eine unbedingt bindende Schranke
abgeben müsse.


Ehe wir von der Frage nach der unbedingten Regel-
mässigkeit alles Lautwandels scheiden, müssen wir noch etwas
genauer auf einzelnes eingehen. Es scheint mir ebenso noth-
wendig als fruchtbar, verschiedene Arten des Lautwandels zu
unterscheiden. Wir finden in allen indogermanischen Sprachen
gewisse durchgehende Consonantenveränderungen, an denen
man überhaupt den Begriff des Lautgesetzes erst erkannt hat.
Das bekannteste Beispiel dieser Lautbewegung ist die deutsche
Lautverschiebung. Aber mit der Zeit stellten sich für sämmt-
liche Sprachfamilien, wenn auch nicht in gleicher Mannich-
faltigkeit, für einen Theil der Explosivlaute ähnliche weit-
greifende Veränderungen heraus. Man kann auch solche all-
bekannte Gesetze, wie für das Griechische die Verwandlung
des vorvocalischen σ in den spiritus asper und ähnliches
hierher stellen. Ascoli bedient sich für diese Art der Laut-
bewegung des Ausdrucks tralignamento. Wir könnten eigent-
lich das zunächst für das Deutsche gefundene, treffende Wort
„Lautverschiebung“ auf alle Sprachen anwenden, oder dafür

[23] den Ausdruck „constituirende Lautgesetze“ gebrauchen. Diese
Art von Lautveränderung könnte man am ehesten mit Natur-
veränderungen vergleichen. Es unterliegt keinem Zweifel,
dass in gewissen Perioden gewisse Laute bestimmten Völkern
oder Volksstämmen völlig ausgingen, so dass für die Einzel-
nen die Notwendigkeit entstand, solche altüberlieferte
Laute in einer bestimmten Weise umzuwandeln, oder unter
Umständen auch ganz fallen zu lassen. Sehr verschieden aber
sind von den eben geschilderten Lautverwandelungen die klei-
nen Auslassungen von Vocalen und Consonanten im Auslaut
wie im Anlaut, die inneren Anbequemungen der Laute an
einander, Quantitätsveränderungen und andres der Art, was
bis vor kurzem unter den Begriff des Lautgesetzes überhaupt
nie gebracht worden war, weil man diesen Namen — und
gewiss mit Recht — für Vorgänge aufsparte, die als in wei-
tem Umfange constant erwiesen waren. Ich finde diesen Ge-
danken sehr treffend ausgesprochen von L. Tobler in der
schon erwähnten Recension von Pauls „Principien der Sprach-
geschichte“ im Litteraturbl. für german. u. roman. Philologie
(1881 Nr. 4). Es heisst dort: „Sind die zahlreichen kleineren
Erscheinungen des Abfalls und des Zusatzes von Lauten am
Anfang und am Ende von Wörtern, auch ihre Ausstossung,
Einschiebung und Umstellung in der Mitte, ferner das ganze
Gebiet der sogenannten Lautschwächung in den Endsilben,
das verschiedene Mass, in welchem der Trieb zu Assimilatio-
nen, wie der Umlaut, durchgedrungen ist, räumlich und zeit-
lich genug abgegrenzt, alle entweder aus strengen Gesetzen
der einzelnen Localdialekte bereits erklärt, oder ist Aussicht
vorhanden, dass die Wissenschaft jemals mit den zwei oder
drei Principien alle vorliegenden Thatsachen erklären werde?
Sollte es eine Sprache geben, für die man es wirklich als ein
Naturgesetz nachweisen könnte, ein auslautendes oder nie-
mals abzuwerfen, von zwei anlautenden Consonanten sich nie-
mals den ersten zu erlassen?“ In warmer Uebereinstimmung

[24] mit diesen, wie ich glaube, wenig beachteten Betrachtungen
wollen wir uns einige solcher Fälle, besonders aus dem Grie-
chischen und Lateinischen, vorführen.


1) Im Auslaut bietet sich für die Griechen infolge ihres
consonantischen Auslautsgesetzes bekanntlich nur nach ς, ν
und ρ die unmittelbare Gelegenheit nach einem Consonanten
einen Endvocal zu unterdrücken. Allgemein nahm man bis
vor wenigen Jahren an, dass die Ausgänge des Dativ Pluralis
auf -oις, -αις und -ῃς aus -οισι, -αισι und -ῃσι entstanden
seien. Jetzt hat Osthoff in den „Morpholog. Untersuchungen"
II, 1 ff. die kürzeren Formen von den längeren vollständig zu
scheiden gesucht, worin G. Meyer S. 309 seiner Grammatik
ihm gefolgt ist. Beide bezeichnen die kürzeren Formen als
Instrumentale, die längeren als Locative. Dergleichen An-
nahmen von wesentlicher Bedeutungsveränderung und Ver-
mischung ursprünglich durchaus verschiedener Sprachformen
sind jetzt sehr beliebt. Den Sprachen wird in Bezug auf
Lautveränderung sehr wenig, in Bezug auf Bedeutungsver-
schiebung sehr viel zugestanden. Ein gewichtiger Einwand
gegen die Scheidung der erwähnten kürzeren Formen von
den längeren kann, glaube ich, ihrer Statistik bei Homer ent-
nommen werden. Man wusste längst, dass hier die kürzeren
unendlich viel seltner seien als die längeren, aber Nauck hat
in den Mél. gréco - rom. IV, 244 ff. im Anschluss an frühere
Homeriker und unter bedingter Zustimmung Christ's (Homeri
Iliadis carmina I p. 141) es wahrscheinlich gemacht, dass bei
Homer die kürzeren Formen vor Vocalen ursprünglich allein
ihren Sitz hatten, also durch Elision des ι entstanden sind *),
von wo sie sich erst allmählich weiter verbreiteten. Die
längeren Formen haben sich im Ionischen durchweg, im Alt-

[25] attischen in einer Anzahl höchst merkwürdiger Spuren erhal-
ten. Im Lesbisch-äolischen sind die volleren nicht selten; wenn
wir in andern Mundarten, z. B. im Böotischen und im Dori-
schen nur den kürzeren begegnen, so liegt das vielleicht nur
in den Mängeln unsrer Ueberlieferung. — Dass die Präpo-
sition ἐν aus ἐνι verkürzt ist, hat meines Wissens zuerst Brug-
mann Ber. d. k. sächs. Ges. d. Wissensch. 1883 S. 188 geleug-
net. Die gleiche Verkürzung ist mir für die Infinitivendung
-μεν und -εν wahrscheinlich geworden (Verb. II2 124, 131).
Einen analogen Fall bietet der Vedadialekt in seinen ver-
kürzten Locativen Sing., z. B. mūrdhan (Kopf) für mūrdhani.
Dass in den romanischen Sprachen die vollere Form des In-
finitivs, z.B. ital. dare, vedere mit der kürzeren dar, veder,
dass signor und signore sich in der mannichfaltigsten Weise
austauscht, dürfte feststehen. Vorbereitet ist diese Kürzung
schon bei Cato biber dari (Charis. [Gramm. Lat. I p. 124].
Vgl. Titinius, Ribbeck Com.2 p. 144). Für die Präpositionen
hat man die Apokope, z. B. in κατ, ἀπ, ὑπ, anerkannt und
aus der proklitischen Natur der Präpositionen zu erklären ge-
sucht. Bekanntlich ist diese Kürzung, im Griechischen auf
einzelne Mundarten beschränkt, im Lateinischen, z. B. ab, sub,
viel weiter durchgeführt. — Ob man den lateinischen Neutris
auf -al und -ar, z. B. lacunar, tribunal, auch noch in neuester
Zeit eingeräumt hat, ein e am Ende verloren zu haben, das
ihnen als Neutris ursprünglicher Adiectiva von i-Stämmen ge-
bührte und noch hier und da erhalten ist (Neue lat. Formenl.
I2 185), oder es ihnen verweigert hat, etwa weil mare sein
e zu allen Zeiten bewahrte, ist mir unbekannt. Ich verstehe
nicht, warum man in Bezug auf auslautende Verkürzung so
rigoros verfährt, während man doch die innere Ausstossung
von Vocalen durch Synkope im weitesten Umfange zulässt.
Man erklärt den letzteren Vorgang allerdings vielfach aus der
Wirkung des Wortaccents, aber es gibt ja auch einen Satz-
accent, der bei der Endkürzung mitwirken konnte.



[26]

Auch der Verkürzung auslautender Vocale ist die neuere
Richtung abgeneigt. Aber wie erledigen wir denn die That-
sachen, dass dorischem ἅμᾱ gemeingriechisch ἅμᾰ, dor. κρυφᾶ
gemeingr. κρύφᾰ, dor. δίχᾱ gemeingr. δίχᾰ gegenübersteht.
Die Kürzung des α im nom. ist im Griechischen allerdings
auf einen bestimmten Kreis von Formen, meistens, aber nicht
ausschliesslich (vgl. τόλμᾰ), solchen, die ursprünglich auf -ια
oder -ja ausgingen, beschränkt, aber im classischen Latein
ist bekanntlich jedes auslautende α des Nominativs im Gegen-
satz zum ältesten Latein gekürzt. Die massenhafte Verkür-
zung eines auslautenden o im Lateinischen, z. B. in der 1. Sing.
Praes., in egŏ, modŏ, braucht kaum weiter hervorgehoben zu
werden. Kann man diesen Thatsachen gegenüber an jener
Abneigung festhalten?


Das Griechische duldet bekanntlich kein τ im Auslaut;
es wirft dies vielfach ab. Anderswo zeigt sich dafür ein ς.
Die neuere Richtung betrachtet nur den ersten Vorgang als
gesetzmässig. Ich glaube, dass auch der zweite, z. B. in ἧος
(ἕος) — skt. jāvat und in οὕτος neben οὕτω, unter Annahme
einer Ausbreitung der σ-Bildung über das ursprüngliche Ge-
biet *), so erklärt werden kann, was ich in meinem Aufsatz
„über die Auslautsgesetze des Griechischen“ Studien Bd. X
gezeigt zu haben glaube. G. Meyer geht so weit, dem Vocativ
ἄνα (vom St. ἀνακτ) und dem Ν. Α. γάλα (St. γαλακτ) die
Entstehung durch Apokope des κτ zu verweigern, vermuth-
lich weil dies die beiden einzigen Fälle sind, in denen diese
Apokope wahrscheinlich gemacht werden kann. Eine andre
Erklärung der Thatsachen gibt er freilich nicht. Mit einem
Worte mag hier noch der elische Rhotakismus, der bekannt-
lich sich nur im Auslaut zeigt, erwähnt werden. Durchaus

[27] unbeständig
ist dieser Lautwandel, wie ihn jetzt die olym-
pischen Inschriften uns vor Augen stellen in der älteren Zeit.
Erst die jüngste der rhotakisirenden Tafeln, die aus der Zeit
nach Alexander d. Gr. stammt, hat es zur Consequenz gebracht
(Cauer Del.2 No. 264).


2) Wir stellen zweitens einiges über den Anlaut zusam-
men. Die Unregelmässigkeiten des Anlauts beruhen, wenigstens
zum Theil, auf demselben Princip, aus welchem sich die des
Auslauts erklären, auf dem Conflict der zu einem Satze verbun-
denen Wörter unter einander. Einige Fälle von Consonanten-
gruppen sind schon oben S. 15 angeführt. Was in einzelnen
Sprachen sporadisch geschieht, ist in andern zu festem Gesetz
geworden. Beispiele von der Erleichterung eines anlautenden
st zut sind Grundz.⁵ S. 429 verzeichnet. Im Irischen ist diese
Reduction zur Regel geworden. Ein Beispiel uralten Abfalls
eines anlautenden Dentals vor folgendem v ist skt. vi̜c̹ati neben
böot. ϝίκατι und lat. viginti. Da die Herkunft der Silbe vi
aus dvi (zwei) nicht bezweifelt werden kann, haben wir hier
einen Fall eines ganz vereinzelten proethnischen vi für dvi. —
Der Verlust des anlautenden ϝ im Griechischen vor Vocalen
erweist sich auf Grund unsrer Inschriften als ein ganz all-
mählich eingetretener. Der herakleische Dialekt z. B., der
uns doch manches wichtige Beispiel des erhaltenen ϝ bewahrt
hat, verschmäht diesen Laut in οἶκος und was damit zusam-
menhängt. Das Lautgesetz also, wonach ϝ verloren geht, hat
sich erst mit der Zeit aus schwankenden Gewohnheiten heraus-
gebildet. Die Uebergangszeit wird uns hier nicht selten ur-
kundlich bestätigt.


Der Abfall ganzer Silben im Anlaut ist selten, aber doch
vielfach sicher constatirt. Dass die Reduplicationssilbe ge-
legentlich abfallen kann, bezweifelt selbst Brugmann nicht
(Morphol. Unters. III, 53). Dieselbe Silbe te, durch deren Ver-
lust altlat. tetuli zu tuli ward, ist in τράπεζα abgefallen, wie
Misteli in der Zeitschr. für Völkerpsychol. XI, 392 glaubhaft

[28] vermuthet, deshalb, weil der Zusammenhang des Wortes mit
dem Numeralstamm τετρα verdunkelt war. Ich beharre bei
dieser einfachen Annahme gegenüber von neueren, wie mir
scheint, weit künstlicheren Deutungen, wonach man von einem
Stamme *πτρα ausgegangen ist, dessen Sprechbarkeit durch-
aus unerwiesen ist. Das Participium Präsentis zu εἰμί lautet
in allen griechischen Dialekten ursprünglich ἐών oder ἰών
(böot.), nur die Attiker, so viel wir wissen, erzeugten durch
Hyphaeresis die kürzere Form ὤν.


Die prothetischen Vocale des Griechischen, die G. Meyer
§§ 96—100 übersichtlich behandelt, sind zwar bei ρ eine „regel-
mässige Erscheinung“, dagegen bei λ und μ „äusserst schwan-
kend“. Auf welchem Lautgesetz sollte es wohl beruhen, dass
die Wurzel λεπ in ἀλείφω vor sich ein α erzeugt, die gleich-
lautende aus λικ (linquo) entstandene Wurzel λιπ (lassen) ohne
Prothese bleibt?


3) Was endlich den Inlaut betrifft, so heben wir aus
der unendlichen Fülle der Thatsachen nur einzelnes hervor.
Die Erscheinungen der Contraction und Nichtcontraction sind
in Bezug auf ihre Regelmässigkeit und Gleichmässigkeit, be-
sonders was die Mundarten betrifft, noch wenig untersucht.
Warum bleiben die Vocale in νέος, δοτέος, θεός auch bei
den Attikern uncontrahirt, während χρυσέος durchaus zu χρυ-
σοῦς
zusammengezogen wird? Hier kann man — im Einver-
ständniss mit Wackernagel (Ztschr. XXV, 268 ff.) — nur dies
im allgemeinen behaupten, dass der durch Ausfall des ϝ ver-
ursachte Vocalconflict *) in der Regel am längsten erhalten
bleibt, offenbar weil hier der ursprünglich vorhandene Conso-
nant sich verhältnissmässig am längsten zwischen den beiden

[29] Vocalen erhalten hat. Ausnahmslos ist aber auch diese Regel
nicht, wie denn das Compositum νεομενία (Neumond) bei den
Attikern beständig zu νουμενία ward (vgl. Rutherford in sei-
nem New Phrynichus p. 225), und der St. θεο in verschiedenen
zusammengesetzten Eigennamen, z. B. in Θουκυδίδης, die Zu-
sammenziehung erlitt, die er als Simplex verschmähte. —
Man hat bezweifelt, dass ein Diphthong einen ihm unmittel-
bar nachfolgenden Vocal verschlingen könne. Dennoch wird
man οἶμαι und ᾤμην neben οἴομαι und ᾠόμην*) kaum anders
deuten können. Ebensowenig weiss ich, wie man οἰσπάτη
(Schafmist) anders erklären will, denn als ein casuales Com-
positum aus οἰὸς πάτη (vgl. πάτημα). Das hom. δείελος Θ 232
(vgl. ο 29, ρ 606. 599) hat neben sich die contrahirte Form
δείλη, die bei Homer allerdings nur einmal (Θ 111) vorkommt
und an dieser Stelle von Nauck bezweifelt wird, aber später
in allgemeinen Gebrauch überging. Das Neutrum des Com-
parativs von πολύς ist im Attischen durch drei Formen ver-
treten: πλεῖον, πλεῖν und πλέον. Gibt es für die mittlere
Form eine einfachere Erklärung als die Zusammenziehung
aus der ersten? Ganz auf einer Linie mit πλεῖν steht das
von Usener in Fleckeis. Jahrb. 1872 S. 741 in diesem Zusam-
menhang erkannte δεῖν in der Redensart ὀλίγου δεῖν. Es ist
aus *δεῖον entstanden, der älteren Form des Particips δέον.
δεῖν verhält sich zu *δεῖον wie ζείδωρος zu dem vorauszu-
setzenden *ζειόδωρος. Dadurch rechtfertigt es sich vollstän-
dig, den thessalischen Genitiv auf -οι als zusammengezogen
aus dem homerischen auf -οιο zu betrachten. Die alten Gram-
matiker waren durchaus im Recht, wenn sie diese unter ein-
ander verbanden, wie denn niemand bezweifelt, dass in der-
selben Mundart der Genitiv der masculinischen Α-Stämme
auf ᾱ aus α̅ο̅ zusammengezogen ist. Wir brauchen bei dieser

[30] Erklärung nicht den Locativ, einen ohnehin bei den Griechen
von der ältesten Zeit an im Absterben begriffenen Casus, zu
bemühen, sich an die Stelle des Genitivs zu setzen, wie dies
mehrfach, neuerdings auch von Meister, Die griech. Dialekte
I, 305, versucht ist. Bei der Festigkeit, mit welcher die Grie-
chen ihr Casus- und Verbalsystem begreiflich fest gehalten
und zu feinstem Gebrauch entwickelt haben, scheint mir aller
Grund vorhanden zu sein, Behauptungen von Formvertau-
schungen und semasiologischen Verschiebungen mit äusserstem
Misstrauen aufzunehmen.


Die Erscheinungen der Krasis bieten im Griechischen
mancherlei Unebenmässigkeiten, z. B. μοὔστι für μοί ἐστι,
offenbar zunächst aus μό' ἐστι entstanden [vgl. ποέω aus
ποιέω1)] neben ἅνδρες für οἱ ἄνδρες, ἁνήρ für ὁ ἀνήρ.

Ueber die weitverzweigte Reduction von inlautenden Dop-
pelconsonanten zu einfachen, z. B. hom. μέσσος und μέσος
neben einander, att. ξένος aus ursprünglichem, im Korkyräi-
schen erhaltenen ξένϝος, wohl durch die Mittelstufe des den
Aeoliern verbliebenen ξέννος, während auch die Attiker in
einzelnen Fällen das νν erhielten, z. B. in ἐννέα, ἀμφιέννυμι,
γέννα, γεννᾶν, γενναῖος, für welche man ohne Beweis aeoli-
schen Ursprung vermuthet hat. Ueber diese Erscheinungen
verweise ich auf die sorgfältige, aber leider wenig beachtete
Doctordissertation von Oehler, de simplicibus consonis con-
tinuis in graeca lingua sine vocalis productione geminatarum
loco positis, Lips. 1880 2) Eine ähnliche Bewandtniss hat

[31] es mit der in neuerer Zeit mehrfach besprochenen Epenthese,
worüber ich auf die Schrift von Meinck, de epenthesi Graeca
L. 1881, verweise. Die Epenthese kann für Wörter wie hom.
εἰνί neben ἐνί (lat. in, osk. en), τείνω, τέκταινα, ἐχθαίρω, im
kyprischen αἶλος = ἄλλος, in δέσποινα u. a. unmöglich ge-
leugnet, ebenso unmöglich aber, wie ξένιος, ἐλευθέριος, βαλιός,
u. s.w. beweisen, als eine nothwendige Lautbewegung nach-
gewiesen werden. Freilich werden dabei die Zeiten wohl zu
unterscheiden sein. Es war mir merkwürdig, aus der Ab-
handlung von W. Förster „Umlaut im Romanischen“ (Gröber's
Ztschr. für roman. Philol. III Halle 1879) zu lernen, dass die
entsprechenden Erscheinungen im Romanischen ebenfalls nicht
„so allgemein und unbedingt eintreten, wie ein sonstiges Laut-
gesetz“. Es soll damit natürlich nicht weiterer Untersuchung
vorgegriffen, sondern nur das factische festgestellt werden.
Ich halte die Epenthese oder den Vorklang, für einen in einer
frühen Sprachperiode versuchten, später aufgegebenen sprach-
lichen Vorgang 1).


Auch für die Vocalentfaltung zwischen Consonanten weiss
G.Meyer § 92 nur nachzuweisen, dass sie „nicht selten"
eintrete 2) Geradezu selten ist die Ausstossung einer ganzen
Silbe im Inlaut unter dem Einfluss einer gleich oder ähnlich
lautenden nachfolgenden Silbe, z. B. in ἑμέδιμνον für ἡμιμέ-
διμνον
, ἀμφορεύς für ἀμφιφορεύς, τέτραχμον für τετράδραχ-

[32]μον
. Man hat die einfache Erklärung der auf den Stamm πολλο zurückgehenden Formen aus πολϝ-ο (Grundz.⁵ 281) be-
stritten, weil die Assimilation von λϝ zu λλ unerhört sei. Aber
sichere Fälle dieses Wandels sind κυλλό-ς (schon homer. Κυλλο-
ποδίων
) neben lat. curvu-s, πελλίς (Schüssel) neben lat. pelvi-s,
altlat. pelui-s (Grundz.⁵ 271).


Endlich sei die weitverbreitete Reduction der Silben ιο
und ια zu ι, hauptsächlich im späteren Griechisch, z. B. [Λῦσις]
für Λυσίας, στάδιν für σταδίον, und der gleiche Vorgang im
älteren Latein, z. B. alis, alid für alius, aliud, erwähnt, worüber
ich auf Benseler's Abhandlung im dritten Bande der Studien
(S. 147) verweisen kann. Zu keiner Zeit war es bei Griechen
oder Römern ein Lautgesetz, diese Silben zu verengen. Wir
haben es vielmehr mit einer bequemeren Aussprache zu thun,
die neben der volleren Form üblich, aber nie nothwendig
wurde. Dass diese Erscheinung gerade in den Eigennamen
des täglichen Lebens am weitesten sich verbreitete, ist für
jeden begreiflich, der die Erscheinungen der Sprache mit der
Sitte in Beziehung setzt und überhaupt aus der Seele des
sprechenden Menschen, nicht aus einer blinden Naturgewalt
zu begreifen sucht.

[[33]]

II.


Incidit in Scyllam qui vult vitare Charybdin.

Die Veränderungen und Verschiebungen, welche ein Wort
oder eine Wortform dadurch erleidet, dass dem sprechenden
ein andres Wort oder eine andre irgendwie ähnliche Form
vorschwebt und das zu sprechende jenem nachgebildet wird,
entgingen keineswegs der Aufmerksamkeit der griechischen
Grammatiker. Je seltner wir in der Lage sind, diesen alten
Technikern in den Dingen, die über das thatsächliche hinaus
gehen, zu folgen, desto mehr wird es gestattet sein, bei den
Auffassungen und Benennungen eines jetzt häufig erwähnten
und dem Zeitgeschmack besonders zusagenden Vorganges von
Seiten jener griechischen Lehrmeister einige Augenblicke zu
verweilen.


Unsre grammatischen Lehrbücher enthalten darüber nichts,
mit einer einzigen Ausnahme. Mehlhorn in seiner jetzt fast
verschollenen „griechischen Grammatik für Schulen und Stu-
dirende“ erste (leider einzige) Lieferung, Halle 1845 S. 120
sagt darüber folgendes: „Die Sprache hält nicht immer die
inneren, eigentlichen Merkmale der Analogie fest, weil die
Entstehung und Ausbildung einer Form dem Bewusstsein oft
entschwunden war, sondern folgt bisweilen mehr einer äusse-
ren, aber deutlichen Aehnlichkeit. Nach dem Vorgang der
Alten nennen wir dies συνεκδρομή, welches gleichsam ein
Heraustreten und Mitlaufen mit einer andern Herde bezeich-
net, also einen Uebergang in eine andre Analogie, der auch
Curtius, Zur Kritik.3

[34] in der Syntax bemerkbar ist.“ Als Beispiele mögen theils
aus Mehlhorn, theils aus den alten Grammatikern folgende er-
wähnt werden: οὑτοσίν statt οὑτοσί nach dem Dativ Plur. der
dritten Declination, z. B. δαίμοσιν; Etym. Gud. p. 156, 36 s. v.
ἑβδομήκοντα, „κατὰ σνεκδρομήν, ὤφειλεν γὰρ εἶναι ἑβδομό-
κοντα
“, also nach πεντήκοντα; ἑκατοντουτεις nach τριακον-
τούτεις
; Apoll. Dysc. de synt. ρ. 169, 23: σφέ „συνεκδραμοῦ-
σαν τῇ ἑνικῇͅ αἰτιατικῇ
“, also nach ἐμέ, σέ; denn das Verbum συντρέχειν oder συνεκτρέχειν ist ebenso geläufig wie das Sub-
stantiv συνεκδρομή. Bezeichnend sind ferner folgende Stellen:
Apoll, de adv. p. 553, 2: φαίνεται δέ, ὅτι καὶ τὸ δεῦρο, ὁμοίως ὄν ἐπίρρημα, ἐχόμενον δὲ προστακτικῆς ἐννοίας κατὰ σθνεκδρομὴν πάλιν ὡς ἀιριθμὸν ἂνεδέξατο ἐν τῷͅ „δεῦτε φίλοι“ (θ 133), ᾧͅ λόγῳ καὶ τὸ ἄγε, ἄγετε. Hier haben wir es also mit
einer auf der Bedeutung beruhenden Analogie zu thun. Die
imperativartige Anwendung von δεῦρο erzeugte nach Apollo-
nios die Imperativische Pluralendung -τε in δεῦτε. Das Ver-
schwinden der Silbe -ρο machte dem scharfsinnigen Lehr-
meister keine Schmerzen. Einfacher ist die Erklärung des-
selben Grammatikers, dass das hom. ἀκέων, von Haus aus ein
Adverbium, nur nach Analogie von Formen wie λέγουσα, μο-
γέουσα
das Femininum ἀκέουσα gebildet habe. Aristarch er-
klärte den Accent der präsentischen Participien κιών und ἰών
durch συνεκδρομή mit dem aoristischen πιών (Lehrs, Ar.2 255).
Als ein Beispiel vom Gebrauch dieses Wortes bei Herodian
mag dienen περὶ Ἰλ. προς. Β 269 (II, 33 ed. Lentz). Der Aus-
druck συνεκδρομή ist keineswegs schlecht erfunden. Er be-
zeichnet zwei für diesen Vorgang wesentliche Momente, näm-
lich erstens in dem σύν- die Verbindung, in die ein Wort
mit dem andern tritt, mit andern Worten das, was die Neueren
Association nennen, und zweitens in dem Verbum τρέχειν und
seinem Substantiv -δρομή das rein zufällige des Vorgangs.
Denn schwerlich hat Mehlhorn Recht, wenn er das Wort auf
die Grundvorstellung „Mitlaufen mit einer andern Herde“ zu-

[35] rückführt. Vielmehr bedeutet ἐκτρέχειν nichts andres als „her-
ausfahren, entfahren“ im Sinne des homerischen ποῖόν σε
ἔπος φύγεν ἕρκος ὀδόντων
; oder des deutschen „es ist mir so
entfahren“. συνεκτρέχειν heisst also „so mit herauslaufen,
mit herausfahren“. Neben diesem Ausdruck kommt noch ein
andrer vor, der vielleicht noch bezeichnender ist, nämlich
παρακολουθεῖν, παρακολουθία. So sagt Apollonios, de adv.
p. 587, 4: ὅτι καὶ ἄλλα μόρια ὀφείλοντα κατὰ ἀκολουθίαν
τινὰ ἤ ὀξύνεσθαι ἤ περισπᾶσθαι συνεκδρομῇ γραφῆς παρα-
κολουθήσαντα ἀπέφευγε τὸν δέοντα τόνον
. Hier entspricht
offenbar die ἀκολουθία der ἀναλογία im Sinne der „festen
Regel“ und die παρακολουθία bezeichnet die Abweichung da-
von und ist mit dem in der Syntax üblichen ἀνακολουθία zu
vergleichen. Auch ein dritter Ausdruck findet sich, nämlich
συναποφέρεσθαι, z. B. Theognost. Can. p. 50, 6: συναπηνέχθη
αὐτοῖς καὶ τὸ μέλεος
. Gemeint sind Wörter auf /-εος, z.B. ἔλεος,
nach denen sich μέλεος gerichtet hätte. Die Anwendung dieser
Wörter trifft fast ganz zusammen mit dem, was in neuerer
Zeit Analogiebildung genannt wird. Wie denn Lobeck in
Nachbildung der alten Grammatiker (Buttm. A. G. Gr. II2, 28)
die vereinzelte komische Form δεδειπνάναι aus ἠριστάναι
durch συνεκδρομή erklärt. In Bezug auf diese seltsamen For-
men verweise ich auf mein Verbum II2191.


Eine, wie es scheint, neue Art der συνεκδρομή ist die von
Lobeck mehrfach, z. B. Paralipomena p. 79, erwähnte synec-
drome ex antithesi. So fasst Lobeck das Fragment des Alcäus
οὐδὲν ἐκ δενὸς γένοιτο“. Er hält also δέν für eine willkür-
liche Nachbildung nach οὐδὲν, etwa wie wenn ein Deutscher
das veraltete „ichts“ als Gegenstück zu „nichts“ hervorholte.
Ebenso fasst er ad Phryn. p. 563 den Vers des Theognis 621:
πᾶς τις πλούσιον ἄνδρα τίει, ἀτίει δὲ πενιχρόν. Bekanntlich
ist ἀτίει eine allen Gesetzen griechischer Zusammensetzung
widersprechende Form. Lobeck begreift sie aber als ein „oppo-
sitionis causa ex tempore fictum“. Nicht anders bezeichnet er
3*

[36] ad Aiacem v. 24 das singuläre Wort ἀθέλεος bei Aesch. Suppl.
864, wo θέλεος ἀθέλεος neben einander stehen. Schade nur,
dass das positive Wort ebenso singulär ist wie das negative.
Lobeck macht überhaupt von der συνεκδρομή einen recht aus-
giebigen Gebrauch. Er hält es Elem. I, 408 für möglich, dass
bei Callimachus in dem Verse „κούρη δὲ παρείατο δακρυ-
χέουσα
" die Verbalform auf einer „parectasis a synecdrome
profecta“ beruhe, und 0. Schneider, Callim. frag. 521, stimmt
ihm darin bei, dass hier die Pluralform „einfach“ — wie man
auch heute zu sagen pflegt — an die Stelle der Singularform
gesetzt sei. Nebenbei bemerkt, ist Lobeck auch ein Vorläufer
der neueren Freunde des n sonans, indem er an der erwähn-
ten Stelle mit Bezug auf die 3. Plur. ἴασιν von einem „α pro
consona ν introductum“ redet, wie denn die Behauptung, Alpha
könne sich ausν entwickeln, längst vor Ahrens, den man
fälschlich für den Urheber solcher Auffassung erklärt hat, eine
weit verbreitete, aber gerade von den Anhängern der verglei-
chenden Grammatik deshalb bestrittene war, weil der Ueber-
gang eines Consonanten in einen Vocal nach damaliger Auf-
fassung unzulässig schien. Es blieb erst den jüngeren über-
lassen, dieselbe Lehre durch eine feinere Phonetik wieder
zur Geltung zu bringen.


In der neuesten Grammatik finde ich für den Begriff der
συνεκδρομή folgende Ausdrücke:


1) Analogiebildung, auch bloss „Analogie“ oder „fal-
sche Analogie“, „mistaken analogy“ bei Whitney, mit verschie-
denen Unterabtheilungen, z. B. „proportionale Analogiebildung"
(Osthoff, Morphol. Unters. II, 132).


2) Formübertragung, ein meines Wissens von
Scherer erfundener und jedenfalls mit Vorliebe gebrauchter
Ausdruck. Dazu stellen wir das vornehmere Wort „Unifor-
mirung “.


3) Parallelbildung und davon wenig verschieden die
vox hybrida Pendantbildung.



[37]

4) Association1) mit der Unterabtheilung „Formen-
association“.


5) Angleichung und Ausgleichung.


6) Verschleppung. So findet sich oft die Wendung:
Der Laut a ist „irgendwie verschleppt“.


7) Contamination für eine besonders verwickelte Art
der Erscheinung, ähnlich Vicariatsbildung.


8) Stumpfsinnige Uebertragung. Brugmann, Stu-
dien IX, 322. Dagegen Misteli in Steinthal's Zeitschr. f. Völker-
psychol. u. Sprachwissenschaft XI, 436. Endlich


9) die Form a hat ihr x von bbezogen.2)


Man sieht, hier gilt der Spruch des Aeschylus: πολλῶν
ὀνομάτων μορφὴ μία
. Also an Namen für diesen Begriff fehlt
es nicht, zumal da noch manche andre Ausdrücke, z. B. Ver-
flechtung, Verschmelzung, Kreuzung, Rückbildung

für verschiedene Unterarten dieses Vorganges gelegentlich zur
Anwendung kommen, andre aber, wenn man in diesem Sinne
fortfahren wollte, noch erforderlich sein würden, so nament-
lich im Gegensatz zur Formübertragung eine Bedeutungs-
übertragung, die für Casus- und Modusvertauschung häufig
behauptet ist. Die weiteste Verbreitung hat die erste Bezeich-
nung „Analogiebildung“ gefunden, weshalb auch ich mich
dieser Benennung anschliesse. Indem man sich der Kürze
wegen auch öfter des Ausdrucks „Analogie" in demselben
Sinne bedient, hat dieses Wort durch eine eigenthümliche
Laune des Zufalls eine seinem antiken Gebrauche geradezu
entgegengesetzte Geltung erhalten. Man sieht, nicht bloss
libelli, sondern auch nomina habent sua fata. Denn ἀναλογία

[38] im Sinne der Alten ist das Gegentheil von συνεκδρομή. Ἀναλογία bezeichnet durchweg die Regel, weshalb es bei den
Alten auch der Name für die dem Gleichmass in der Flexion
nachspürende Formenlehre wurde und bekanntlich in dem
langen Streite der Analogisten und Anomalisten das gerade
Gegentheil der ἀνομαλία war. Im heutigen Sprachgebrauch
wird das Wort gerade für die zufälligen Abweichungen von
der Regel, das ist die ἀνομαλία, angewendet, insofern es
sich um ein Anklingen an irgend etwas der Form ursprüng-
lich fremdes handelt. Eben deshalb war auch der Ausdruck
falsche Analogie“, den die neuesten Forscher als einen
für ihre Lieblingserseheinung gleichsam ehrenrührigen ver-
schmähen, durchaus logisch gedacht. Noch weniger ehrerbietig
gegenüber dieser Spracherscheinung ist freilich Whitney, in-
dem er die Analogiebildung gelegentlich zu den „blunders"
rechnet und Pott, wenn er Wurzelwörterbuch III (1871) S. 50
bei einer Besprechung des Rhotacismus im lat. honor, arbor
sagt, sie seien „allmählich in den Strudel hineingezogen“.
Das klingt freilich ganz anders, als wenn ein begeisterter Ver-
ehrer dieser Erscheinung sie Stud. IX 318 als „eine segens-
reiche Himmelstochter“ bezeichnet.


Die vielbenannte Erscheinung ist von keinem namhaften
Forscher auch der früheren Zeit ganz übergangen worden.
Ich verweise in dieser Beziehung auf die mehrfach erwähnten
Schriften von Misteli und Delbrück, zu denen noch eine neuere
von F. Masing „Lautgesetz und Analogie in der vergleichen-
den Sprachwissenschaft (Jahresbericht der St. Annenschule,
Petersburg 1883)“ hinzugekommen ist. In diesen Schriften
wird auf die Vorgänger der neuesten Grammatiker in dieser
Beziehung hingewiesen. Wenn man dabei auch Stellen aus
meinen Schriften angeführt hat, in denen ich diesen sprach-
lichen Vorgang besprochen habe, so sei noch hervorgehoben,
dass ich mich dieses Erklärungsmittels namentlich auch gegen
Corssen in meiner Abhandlung „das Dreisilbengesetz der grie-

[39] chischen und lateinischen Betonung“ (Kuhn's Ztschr. Bd. IX
S. 328 ff.) bedient habe. Dort wird unter anderm gezeigt, dass
eine Reihe von Fällen, aus denen Corssen auf eine lateinische
Betonung der viertletzten Silbe glaubte schliessen zu können,
sich leichter dadurch erklärt, dass man eine Accentübertragung
annimmt, z. B. von dḗbes (aus dḗhibes), dḗbet (aus dḗhibet), de-
bémus
(aus dehibémus), debétis (aus dehibétis) auf débeo, das
längere Zeit noch durch dēhíbeo vertreten gewesen sein wird,
und ähnlich in andern Fällen, über welche die neuesten For-
scher nicht anders urtheilen werden. In Bezug auf Syntax ist
ein Beispiel fortwuchernder Analogie der weitere Gebrauch
des Acc. c. Inf., wie ich ihn Erläuter.³ 199 ff. darstelle.


Dessen ungeachtet hat es zu keiner Zeit an Warnungen
und Bedenken gegen eine übertriebene und unüberlegte An-
wendung dieses Princips gefehlt. Und mit vollem Recht. Die
Annahme der Analogiewirkung in dem angegebenen Sinne
hat etwas uncontrolirbares. Sie kann leicht aufgestellt, aber
schwer wahrscheinlich gemacht und noch schwerer als die
einzig zulässige erwiesen werden *) Die Analogiebildung ist
nämlich an und für sich überall möglich, aber nirgends
nothwendig. Sie unterscheidet sich dadurch wesentlich von
allen Annahmen lautlichen Ueberganges, lautlichen Wegfalls
oder Zusatzes. Denn von ganz phantastischen und willkür-
lichen Lautbewegungen abgesehen, wie man sie in neuerer
Zeit selten aufgestellt hat, kann man sich bei der Annahme
von Lautbewegungen doch immer auf die Verwandtschaft der
Laute stützen, von denen man behauptet, dass der eine an
die Stelle des andern getreten sei, und was den Wegfall und
Zusatz betrifft, so hat man auch diese Erscheinung stets durch
entsprechende Erscheinungen im einzelnen zu begründen ge-

[40] sucht. Sehr misslich aber steht es in dieser Beziehung mit
der Annahme von Analogiebildungen. Man hat zwar auch
nach dieser Richtung hin hier und da entsprechende Fälle
zusammenzustellen gesucht, allein die Aehnlichkeit der Fälle
ist hier bei der grossen Mannichfaltigkeit der Erscheinungen
sehr viel schwerer nachzuweisen, als auf lautlichem Gebiete.
Auch ist das auf diese Weise zusammengebrachte Material
kein sehr erhebliches. Im besten Falle bleibt dem, welcher
diese Versuche überdenkt, ein unbestimmter Eindruck davon,
wie manches auf sprachlichem Gebiete möglich ist. Es be-
darf aber, will man ganz willkürliche Behauptungen von an-
nehmbaren unterscheiden, offenbar des Nachweises der Wahr-
scheinlichkeit, der nur durch genaueres Eingehen auf den
besonderen Fall geführt werden kann. Allzu oft aber begnügt
man sich mit der negativen Behauptung, dass eine lautliche
Gemeinschaft der einen Form mit der andern nicht nachweis-
bar sei. Wie wenig bei dem Eintreten der Analogiebildung
von Notwendigkeit die Rede sein kann, lehrt ein Blick auf
offenkundige, zweifellose Thatsachen der Art. Weil wir wis-
sen, dass im Lateinischen wie im Deutschen der Rhotacismus
im Inlaut früher eintrat als im Auslaut, bekennen wir uns
rückhaltlos dazu, dass die Nominative arbor und robur ihr r
erst durch Uebertragung aus den übrigen Casus erhielten, und
ebenso lehrt die deutsche Sprachgeschichte, dass das deutsche
„ich war“ erst später nach der Analogie von „wir waren
u. s. w. sein r erhielt. Warum aber in genus generis, vetus
veteris
die Differenz zwischen dem Nominativ und den übrigen
Casus beständig unausgeglichen blieb, das hat selbst in einem
solchen kaum abzuleugnenden Falle noch niemand gezeigt.
Henry in seinem schon erwähnten Buche „L'Analogie“ p. 4
spricht sich zustimmend aus über ein Wort, das ich in meinem
„Verbum“ II2 S. 44 gesagt habe: „Ueberall, wo das Reich der
Laune oder des Zufalls in der Sprache beschränkt wird, haben
wir dies als einen Gewinn zu betrachten“. Bei der Analogie-

[41] bildung kommen wir selten über den Zufall hinaus. Wir wer-
den allerdings vielfach uns damit begnügen müssen. Wir
sehen die Grenzen unsers sichern Wissens leider nur allzu
häufig und haben wahrlich wenig Grund, so lange es so steht,
uns unsrer Erkenntniss zu rühmen. Sehr oft hat man daher
gegen Aufstellungen dieser Art das Bedenken erhoben, in
einem durchaus entsprechenden Falle habe die Sprache keinen
Trieb zur Association gefühlt, es sei daher auch in diesem
bestimmten die Behauptung wenig glaublich. Aber wenn man
alle solche Fälle der Analogieerklärung ausschliessen wollte,
bliebe nicht viel übrig. Die Neigung zur Analogiebildung ist
und bleibt eine sporadische und launenhafte und unterscheidet
sich darum von der sporadischen Lautbewegung in Bezug auf
Sicherheit um kein Haar.


Es mag hier genügen, einige wenige Aussprüche nam-
hafter Gelehrter hervorzuheben. Ritschi (op. II, 542) äussert
sich folgendermassen: „Durch nur scheinbare Aehnlichkeit ist
mehr als eine unorganische Missbildung in der Sprache her-
vorgerufen worden. Man wird sich zur Annahme solcher Miss-
verständnisse nicht eher zu entschliessen haben, als die Mittel
einer rationellen Auffassung erschöpft sind“. Dem steht frei-
lich scharf gegenüber, was Leskien „Die Declination im Sla-
visch-Litauischen“ S. 39 geltend macht: „Ich halte es, wenn
man sich vor falschen Constructionen bewahren will, für noth-
wendig, die letztere Seite (die Frage nach Uebertragung und
Analogiebildung) immer zuerst hervorzuheben und dann erst
nach den Grundformen zu suchen“. Damit stimmt Brug-
mann, Studien IX, 317, überein, während er Morph. Unters. I
S. XVII vorsichtiger sich so ausspricht: „Unser nach bestem
Willen streng eingehaltnes Princip ist es, erst dann zur Ana-
logie zu greifen, wenn uns die Lautgesetze dazu zwingen.
Auch für uns ist die Formenassociation noch ein ultimum re-
fugium“. Scherer, welcher, wie wir sahen, mit Vorliebe von
dem Princip der „Formübertragung“ Gebrauch macht, äussert

[42] sich in seiner Gesch. der deutschen Sprache2 S. 177 dahin:
„es würde sehr verdienstlich sein, wenn jemand die Form-
übertragung oder Wirkung der falschen Analogie einmal im
allgemeinsten Zusammenhang erörterte und namentlich die Ein-
schränkungen festzustellen suchte, innerhalb derer dieser Vor-
gang sich halten muss“. Eben deshalb tadelt Scherer die
übertriebene Anwendung dieses Princips mit harten Worten.
Selbst Joh. Schmidt, der seinerseits die Analogiebildung sehr
reichlich verwendet, sieht sich Kuhn's Zeitschr. XXVII (1882)
S. 329 zu folgendem Bekenntniss veranlasst: „Ich halte noch
heute an der Ansicht fest, dass die Annahme von falschen
Analogien oder Formübertragungen für den Sprachforscher ein
ultimum refugium ist, dem man erst zueilt, wenn alles andere
versagt, und welches man mit Freuden verlässt, sobald sich
die Möglichkeit einer lautgesetzlichen Erklärung eröffnet“.
Auch Delbrück beklagt den Mangel an Untersuchungen über
die Kriterien zwischen berechtigten und unberechtigten An-
nahmen der Art.


So wird es nicht ungerechtfertigt genannt werden können,
wenn wir bei dieser Frage noch einige Zeit verweilen.


Misteli in Steinthal's Zeitschr. IX S. 444 sagt mit Recht,
die Analogiebildung sei in jedem Falle „das Product eines
Kampfes“. Augenscheinlich nämlich steht dem Triebe, sprach-
liche Erscheinungen einander ähnlicher zu machen, ein andrer
Trieb gegenüber, an den in der neuesten Sprachforschung
wenig gedacht wird, nämlich der conservative Trieb, der auf
stille, treue, feste Vererbung der in einer früheren Zeit ge-
schaffenen Formen und Begriffe hinausläuft. Ohne diesen
zweiten Trieb wäre die vergleichende Grammatik völlig un-
möglich; auf ihm beruht die Erhaltung tausender von bedeu-
tungsvollen Formen, des ganzen Systems der einzelnen Spra-
chen gemeinsamer Herkunft durch unzählbare Jahrhunderte
hindurch. Liest man die Lobpreisungen, welche im Laufe
der letzten Jahre der vielnamigen Spracherscheinung zu Theil

[43] geworden sind, so möchte man meinen, die Blüthe, ja das
eigentliche Leben der Sprache, bestehe gar nicht im Ausdruck
menschlicher Vorstellungen und Gedanken, nicht in der Fest-
haltung frühzeitig für gewisse Vorstellungen und Denkformen
fixirter Lautgebilde, sondern vielmehr in deren Zerstörung
unter dem Einfluss und der Einwirkung andrer Lautgebilde,
die nach der ursprünglichen Intention der sprechenden mit
jenen gar nichts zu thun hatten. Es könnte scheinen, als ob
die Erhaltung des alt überlieferten dem Sprechvermögen kaum
möglich, die gaukelnde Einmischung rechts und links liegen-
der Gebilde vielmehr das eigentlich wirkliche und durchaus
vorherrschende sei.


Und doch scheut die Sprache es keineswegs, sogar ganz
isolirte Formen bestehen zu lassen. Für Formen der Art, die
innerhalb ihrer Kategorie vereinzelt dastehen, hat schon der
grosse Sammler Herodian den Ausdruck μονήρης λέξις ge-
funden. Solche μονήρης λέξις, wie er sie zusammenstellte,
gibt es in jeder Sprache. Sie sind von dem Trieb nach An-
gleichung völlig unberührt geblieben. Eine solche Form ist
z. B. ἐστί, das einzige Beispiel einer 3. Sing, auf -τι im atti-
schen Dialekt. Diese Form ist nicht irgendwie von dem Triebe
nach Anlehnung ergriffen worden. Es hätte ja z. B. mehr
nach dem Geschmack der jüngsten Analogetiker ἐστί im An-
schluss an τίθησι, δείκνυσι zu *ἐσσιoder im Anschluss an
die thematische Conjugation zu *εἶ, oder gar durch „einfache"
Uebertragung des häufigsten Ausgangs der 3. Sing, auf die
seltnere Bildung zu *ἔστει werden können, aber nach solchen
Formen sucht man im Reiche der Wirklichkeit vergebens.
Für den Genitiv Singularis haben wir im Griechischen wie
im Sanskrit zwei Endungen: -ος = skr. -as und σιο für die
ο-Deklination. Von einem Versuch, diese Endungen unter
einander auszugleichen oder zu contaminiren, etwa zu *-σιος
oder zu *-οος, ist nichts bekannt. Mit andern Worten, diese
beiden Triebe bestehen, ohne dass wir im einzelnen Falle den

[44] Grund für das Obsiegen des einen oder andern erkennen,
neben einander. Welcher aber von beiden Trieben als der im
grossen und ganzen wesentliche und vorherrschende betrachtet
werden muss, das kann kaum zweifelhaft sein. Unstreitig ist
der conservative Trieb der durchgängige und herrschende.
Der ausgleichende Trieb ist der secundäre, die Ausnahme
gegenüber der Regel, die Missbildung und Verirrung gegen-
über der gesunden Bildung. Von dem zweiten Triebe auszu-
gehen, hätte kaum mehr Sinn, als für den Erforscher des
menschlichen Körpers, mit dem kranken Körper oder den Miss-
bildungen den Anfang zu machen. Auch aus einem andern
Grunde ist es für eine gesunde Methode unzulässig, erst nach
Analogiebildungen zu suchen und dann erst, wenn dies miss-
lingt, normale als erwiesen zu betrachten. Denn wenn es
irgend einen unverbrüchlichen Grundsatz für sprachliche For-
schung gibt, so ist es der, von dem evidenten auszugehn und
von da aus vorsichtig weniger evidentes zu erschliessen. Ana-
logiebildungen sind selten evident, denn das launenhafte *),
unter denselben Umständen bald eintretende, bald nicht ein-
tretende kann am allerwenigsten als evident betrachtet wer-
den. Folglich ist es am allerwenigsten geeignet, den Aus-
gangspunkt einer Untersuchung zu bilden. Der umgekehrte
Weg ist der allein berechtigte.


Mit Vorliebe hat man für die Erscheinungen, um die es
sich hier handelt, den Ausdruck psychologisch in Anspruch
genommen. Dass die Anklänge und Angleichungen von Wör-
tern und Wortformen an andre einem Vorgang in der Seele des
Menschen entspringen, ist unleugbar und konnte nie verkannt
werden. So führt z. B. Misteli an der oft erwähnten Stelle
(IX, 394) meine Bemerkungen (Stud. III, 393) über die Quelle

[45] der Metathesis an, welche Erscheinung ich aus einem unvoll-
kommenen, gleichsam schillernden und schwankenden Bilde
der zu sprechenden Silbe, das in der Seele entstand, zu er-
klären suche. Auf ähnliche Weise habe ich mir und andern
in meinen Vorlesungen die Erscheinungen der Assimilation von
jeher zurecht gelegt. Es ist also nicht ganz richtig, wenn
Brugmann, Morphol. Unters. I S. V, sich folgendermassen aus-
drückt : „Die ältere Sprachforschung bekümmerte sich um die
seelische Seite des Sprachprocesses so gut wie gar nicht“.
Nur möchte man fragen: Sind denn diese Abirrungen, Ver-
wechselungen, Angleichungen die einzigen Vorgänge in der
Seele der sprechenden? Gehört denn die regelmässige Fort-
pflanzung des überlieferten Sprachgutes nicht ebenfalls der
Seele an? Oder sollen wir das Gedächtniss, sollen wir das
Festhalten der überlieferten Sitte, des Glaubens, des Rechts
vom Seelenleben ausschliessen ? Selbst die bewusste Thätig-
keit des denkenden Menschen kann unmöglich aus dem Leben
der Seele ausgeschieden werden. Mir ist nicht bekannt, dass
ein Psycholog etwa nur den Traum, den Rausch oder die
Fieberphantasien als Objekt seiner Wissenschaft betrachtet
hätte. Sollten wir etwa das Versprechen in höherem Grade
für einen psychologischen Vorgang erklären als das Sprechen?
Auch andere Forscher haben an dieser Beschränkung des Be-
griffes „psychologisch“ Anstoss genommen. Misteli, sonst den
neueren Anschauungen sehr zugeneigt, äussert gelegentlich:
„Das Uebersetzen in psychologische termini hilft nicht“. Ascoli
in seiner lettera glottologica (1881) S. 9 u. 12 erklärt sich mit
seinen Schülern gegen diese Bezeichnung, die allerdings für
ferner stehende einen gewissen Goldschimmer über die neueren
Ansichten zu verbreiten geeignet ist. Brugmann selbst macht
die Bemerkung, dass selbst solche Vorgänge, welche man in
der Regel als rein lautliche betrachte, z. B. die Erscheinungen
der Assimilation im innern eines Wortes, auf einem seelischen
Vorgange beruhen. Dem sprechenden schwebt in solchen

[46] Fällen vielfach schon beim Hervorbringen des ersten Lautes
der folgende vor, so dass er einen dem folgenden ähnlichen
oder gleichen Laut hervorbringt, z. B. in συμπλέκω, λέλειμμαι,
σύγχρονος. Beruht also auch diese und manche andere Laut-
bewegung auf psychologischem Anlass, so fehlt jedes Recht,
die Bezeichnung „seelisch“, „psychologisch“ ausschliesslich für
jenes uns hier vorzugsweise beschäftigende Gebiet der Ana-
logiebildungen in Anspruch zu nehmen. Damit fällt aber zu-
gleich jener Dualismus zwischen lautgesetzlich und psycho-
logisch zu Boden, der für die neuere Methode so bezeichnend
ist. Die Freunde dieser Methode, deren eifrigster mir Osthoff
zu sein scheint (vgl. unter anderm „Das Verbum in der Nomi-
nalcomposition S. 326"), führen überall so zu sagen ein dop-
peltes Conto oder Budget, ein ordinarium, das möglichst, ja
wie wir sahen, in unberechtigtem Masse, knapp gehalten wird,
das Conto für die regelmässige Lautüberlieferung, mit dem
man im wesentlichen fertig zu sein glaubt, und das extraordi-
narium von unabsehbarer Ausdehnung und uncontrolirbarem
Inhalt. In Betreff der Lautveränderung sagt Leskien „Decli-
nation“ S. XXVII: „Lässt man beliebige Abweichungen zu,
so erklärt man im Grunde damit, dass das Object der Unter-
suchung, die Sprache, der wissenschaftlichen Erkenntniss nicht
zugänglich ist“. Kann man nicht an die Stelle von Abwei-
chungen mit demselben Recht das Wort „Analogiewirkungen"
setzen? Ich würde indess lieber sagen, wir seien sowohl in
Betreff der Lautbewegung, als in Betreff der Analogiewirkun-
gen noch weit von einem definitiven Abschluss entfernt, und
es bleibe eben noch recht vieles dunkel, so dass wir uns mit
grösserer und geringerer Wahrscheinlichkeit begnügen müssten.
Man sieht daraus, dass es eine unabweisliche Aufgabe der
Wissenschaft sein muss, soll sie nicht in subjective Meinungen
und Willkür verfallen, nicht bloss das Gebiet der Laute, son-
dern auch das zweite Gebiet genauer zu umgrenzen. Es kommt
darauf an, für die Wahrscheinlichkeit der Analogiebildungen

[47] Kriterien zu gewinnen, damit wir die falschen Behauptungen
der Art, die doch auch von den begeistertsten Verehrern der
„Himmelstochter“ nicht als ausgeschlossen betrachtet werden
dürften, von den unstreitig vorhandenen richtigen einigermassen
zu unterscheiden vermögen. Es mag verdienstlich sein, dass
man dieses früher mehr gelegentlich benutzte Erklärungsmittel
in weiterem Umfange heranzog, aber man hat — ein psycho-
logisch leicht erklärbarer Vorgang — in der Begeisterung für
das neue Heilmittel die auf diesem Wege gewonnenen Erklä-
rungsversuche stark übertrieben und vielfach ohne eingehende
Prüfung des einzelnen Falles zwischen dem principiell mög-
lichen und dem im einzelnen Falle wahrscheinlichen gar zu
wenig unterschieden.


Die erste Forderung, welche wir an den stellen, welcher
behauptet, eine Wortform, die wir a nennen wollen, habe auf
eine zweite, die wir b nennen, assimilirend eingewirkt, ist
die, dass die Forma neben b an einem und demselben Ort
und zu einer und derselben Zeit bestanden habe. Gegen diese
Forderung fehlt Bezzenberger in seinen Beitr. II, 192, indem
er behauptet, die 3. Pers. Sing, ἐντί statt ἐνσί hätte sich nach
der 1. Pers. ἔμμι gebildet. Die Form ἐντί ist, wie wir jetzt
wissen, rhodisch (Cauer Del.2 Nr. 177,11), früher galt sie auch
für elisch; ἔμμι aber war nur lesbisch und nach Massgabe der
neuerdings gewonnenen Denkmäler von Larissa auch nordthes-
salisch (Cauer Nr. 403), folglich könnte auch ἐντί höchstens
in diesen Mundarten, durchaus nicht in der Gruppe des Insel-
dorismus, nach ἔμμι gebildet sein. Für das Elische also und
Rhodische ist jene Behauptung unbedingt unzulässig. Ich
verweise dabei auf meine Bemerkungen in den Leipz. Stud.
IV, 316 ff.


Nicht eben häufig mag es möglich sein, bestimmt nach-
zuweisen, dass eine Form, welche in den Verdacht gebracht
ist, das Vorbild einer zweiten zu sein, vor dieser überhaupt
gar nicht existirt hat. Ein Fall der Art ist folgender. Die

[48] 3. S. ην steht auf den ersten Blick vereinzelt da. Denn ab-
gesehen von jenem ν, das das ephelkystische genannt zu wer-
den, aber nur nach kurzen Vocalen einzutreten pflegt, ist der
Nasal der dritten Person Sing. fremd. Aus diesem Grunde
fasse ich das jüngere ἦν als Contraction aus dem daneben bei
Homer erhaltenen ἦεν auf (Verb. I2176 f.). ἦν verhält sich zu
ἦεν wie die Conjunction zu ἦε und zu ἠέ. Auch diese
Partikeln sind bei Homer sowohl in der offenen, wie in der
zusammengezogenen Form erhalten. Brugmann Morph. Unters.
I, 36 verwirft diese Erklärung mit dem Einwand, „er glaube
nicht an fest gewachsenes ν ἐφελκυστικόν“. Sollte sich diese
Differenz nicht aus dem Gebiet des Glaubens in das des Wis-
sens hinüber führen lassen? Ich glaube, ja. Der Ausweg,
den Brugmann gefunden zu haben glaubt, ist mit dem ein-
fachen und durchschlagenden Grunde widerlegbar, dass die
Form, der eine assimilirende Wirkung zugesprochen wird, zur
Zeit, da dies hätte geschehen müssen, gar nicht vorhanden
war. B. meint, die Form ἦν als 3. S. sei der 1. S. gleich-
gemacht. Aber ἦν kommt als 1. S. viel später vor, denn als
3. S. Die 1. S. lautet bekanntlich bei Homer ἔα (z. B. Δ 321,
E 887), ἦα (Ε 808) oder ἔον (Λ762), nie anders, im alten
Atticismus nur . ἦν als 1. S. ist überhaupt nur als jüngere
Nebenform von dem aus ἦα contrahirten nachweisbar. Und
diese nachweislich späte Form soll die Quelle sein, aus der
die viel ältere 3. S. ihr ν „bezogen hat"? Diesem chrono-
logischen Irrthum gegenüber ist es nicht nöthig, auf die übri-
gen Momente der Unwahrscheinlichkeit in jener Behauptung
einzugehn, obgleich diese stark genug sind. Denn dass eine
erste Person mit einer dritten verwechselt worden sei, kommt
in einer Sprache, die sonst ihre Formen im Gebrauche so fein
scheidet, auch wohl nicht alle Tage vor. Was aber jenen
Einspruch gegen „festgewachsenes ν ephelkystikon“ betrifft,
so kommt dabei wesentlich in Betracht, was jetzt durch Hedde
Maassen's (Leipz. Stud. IV, 1 ff.) genauester epigraphischer For-

[49] schung fest steht, dass dieser Nasal nach ε und ῐ ebenso oft
vor Consonanten, wie vor Vocalen sich anfügte. Gab es also
in früher Gräcität zwei Formen ἦε und ἦεν, so lag es unge-
mein nahe, den Nasal in die contrahirte Form mit übergehen
zu lassen. ἦν konnte auf diese Weise bei den Attikern von
der 1. S. deutlich unterschieden werden. Wir haben den
ganz entsprechenden Vorgang im Plsqpf., wo die 3. S., z. B.
ἐπεποίθειν, ᾔδειν, durch attische Texte nach den besten Hand-
schriften und ausserdem für Homer (z. B. Ξ 412) durch die
besten Grammatiker völlig gesichert und allgemein anerkannt
sind. Ich verweise nur auf Verb. II2 261 ff., Rutherford New
Phrynichus p. 232. ἐπεποίθειν aber kann nur aus ἐπεποί-
θειν
entstanden sein, ist also auf jeden Fall das, was Brug-
mann „festgewachsenes ν ephelkystikon“ nennt. Ich halte es
darnach nicht für nöthig, auf die anderweitige Vermuthung
einzugehn, die Gust. Meyer Gr. Gr. S. 374 über ἦν als 3. S.
vorbringt. Meyer stellt es als möglich hin, ἦν sei die alte,
später durch ἦσαν verdrängte Form der 3. Pl.


Eine weitere Forderung ist die, dass die Form, welche
das Muster für eine zweite Form abgegeben haben soll, dieser
nahe, oder wie Misteli IX, 369 sich ausdrückt, psycho-
logisch nahe
liege. Es läuft auf dasselbe hinaus, wenn
man die Forderung der Einfachheit gestellt hat, wie selbst
Brugmann (Morphol. Unters. III, 8) die einfachen Behauptungen
der Art den verwickeiteren vorzieht. Gegen diese Forderung
ist aber meines Erachtens oft gefehlt worden, z. B. von Baudat
in den Mémoires de la société de linguistique IV, 361. Die-
ser Gelehrte glaubt das befremdliche ϝ der alten korkyräi-
schen Inschrift (Cauer2 Nr. 83) in der Genitivform Τλασίαϝo
aus dem Anklang an Formen wie βασιλῆϝος erklären zu kön-
nen. Aber abgesehen davon, dass das in letzterer Form vor ϝ
von mehreren jüngeren Gelehrten angenommene η gar nicht
nachweisbar ist, kann man gewiss nicht behaupten, dass die
Curtius, Zur Kritik. 4

[50] A-Declination den Stämmen auf -ευ und dass ein Genitiv
auf αο denen auf ηος irgendwie nahe liegt.


Brugmann, Morphol. Unters. III, 9 behauptet, die latei-
nischen Imperative dic, duc, fac seien Analogiebildungen nach
fer. Für letzteres nämlich glaubt er — worauf wir hier nicht
eingehn — die Entstehung aus *fers wahrscheinlich machen
und diese der von ihm sobenannten Injunctivbildung beizählen
zu können. Wir fragen, worin denn die nähere Beziehung
besteht, welche dic, duc, fac in höherem Grade zu fer haben,
als etwa gere, age, iace. Nämlich, wie wir schon S. 7 be-
merkten, will Brugmann die bis dahin allgemein geltende und
auch von mir festgehaltene *) Ansicht, dass in allen diesen
Formen eine gelegentliche Apokope anzunehmen sei, nicht
gelten lassen. Ich vermag nicht einzusehn, warum die ge-
legentliche Fortlassung eines Vocals der Sprache weniger an-
stehen soll, als das gelegentliche, durch nichts besonders moti-
virte Eintreten einer Analogiebildung.


Indem derselbe Gelehrte gelegentliche Dehnungen von
Vocalen, wie es scheint, überhaupt gar nicht zulassen will,
stellt er Morphol. Unters. III, 79 die Behauptung auf, das ω
in Comparativen wie σοφώτερος beruhe auf einer Ablativform,
wie *σοφω. In Adverbien wie ἀνωτέρω, κατωτέρω lägen solche
Formen gesetzmässig vor, später aber seien diese die Quelle
und der Ausgangspunkt für Adjectivbildungen mit innerem ω
geworden. Wer aber möchte es für glaublich halten, dass die
überaus zahlreichen adjectivischen Comparative durch jene
keineswegs häufigen und nur wenigen unter ihnen begrifflich
näher stehenden Ortsadverbien in solcher Weise beeinflusst
seien? Auch für φιλαίτερος, ἡσυχαίτερος und ähnliche Bil-
dungen, in denen Brugmann Locativformen vermuthet, bedarf

[51] solche Vermuthung noch gar sehr der Begründung. Die be-
kannte Thatsache, dass das ω, von einzelnen poetischen Frei-
heiten abgesehen, gerade nur bei Stämmen mit kurzem Vocal
in der vorhergehenden Silbe sich festgesetzt hat, scheint Brug-
mann nicht einmal der Erwähnung werth zu sein. Offenbar
ist bei der allgemein herrschenden Ansicht zu verharren, dass
wir es hier mit einer auf dem rhythmischen Gefühl beruhenden
Dehnung zu thun haben. Die Zusammensetzung der Wörter
und die Ableitung mehrsilbiger Stämme bietet zu solchem
Vorgang vielfache Parallelen, z. B. ποδήνεμος, ἀνήκουστος,
εὐώνυμος, ἠνεμόεις, ὠφελής, Formen, für welche irgend-
welche Muster aufzuspüren, denen sie nachgebildet wären,
schwierig sein dürfte. Es zeigt sich hier, denke ich, wie an-
derswo, dass es ausser den Lautgesetzen und Analogiewir-
kungen doch noch allerlei andere Kräfte und Triebe in der
Sprache gibt, die man nicht übersehen darf, und dass es nicht
möglich ist, feste Schritte in unsrer Wissenschaft zu thun,
wenn man nicht die in Frage kommenden Erscheinungen im
ganzen überblickt *)


Das Wort κλόνις, die Hüfte, steht mit seinem ο in auf-
fallender Weise dem Diphthong oder langen Vocal der ver-
wandten Sprachen gegenüber. Die Hüfte heisst auf Sanskrit
c̹rōṇis, lat. clūnis. Brugmann Morphol. Unters. III, 20 glaubt
die Schwierigkeit dadurch lösen zu können, dass er annimmt,
κλόνις sei eine volksetymologische Anlehnung an κλόνος (κλονέω). Aber wir dürfen uns doch die Frage erlauben, was die
„Hüfte“ mit dem „Schlachtgetümmel“ zu thun hat. Ueberdies
war κλόνις und das davon abgeleitete üblichere κλονιστήρ,
Hüftmesser, offenbar zu seiner Zeit ein Wort des täglichen
4*

[52] Gebrauchs, κλόνος dagegen ist ein rein poetisches, also dem
Volke, das hier etymologisirt haben soll, gänzlich fremdes
Wort, das nur bei Homer häufiger, später aber gänzlich ver-
schollen ist. Das eine Wort liegt also dem andern so fern
wie möglich. Wollte man an Analogiebildung denken, so läge
z. B. κόνις und φρόνις viel näher. Ich möchte das indess
durchaus nicht vertreten, halte vielmehr den Ausfall des ϝ
so gut wie in ἔκομεν für ἔκοϝμεν (W. κοϝ) für einen rein laut-
lichen, was Grundz.⁵ 150 weiter erörtert ist. Die vereinzelte
Schreibung Ναϝπακτίον auf der altlokr. Inschrift (Cauer2 229
Z. 40) neben dem regelmässigen Ναύπακτος zeigt, dass selbst
vor Consonanten zwischen υ und ϝ nach vorhergehendem Vocal
kein allzugrosser Unterschied war. Es scheint mir daher keine
allzukühne Annahme, dass aus dem vorauszusetzenden *κλοῦνις
durch *κλόϝνις hindurch in derselben Weise κλόνις wurde,
wie im hellenistischen Griechisch ἀτοῦ aus αὐτοῦ. Für ἄλοξ
neben αὖλαξ bleibt dieselbe Deutung (Grundz.⁵ 566) mir noch
immer die wahrscheinlichste. Auch für absterbende und all-
mählich sich umgestaltende Laute unverbrüchliche Gesetze
heischen, heisst, glaube ich, das Wesen und die Biegsamkeit
der Sprache verkennen. Die Geschichte des ϝ liefert dazu
auch sonst reichliche Beispiele.


Der kretische Dialekt bietet uns die merkwürdigen Accu
sative Plur. auf -νς. G. Meyer § 362 erkennt von diesen zwar
Formen wie πρειγευτάνς aus der A-Declination als alterthüm-
liche Bildungen an, behauptet aber nach dem Vorgange von
Osthoff und andern mit einer den eignen Zweifel verrathenden
Emphase, dass die Formen der sogenannten 3. Declination,
z. B. φοινίκανς, ἐμβαλλόντανς, στατήρανς, „nichts irgendwie
ursprüngliches“, sondern Analogiebildungen nach den eben er-
wähnten Accusativen der A-Declination wären. Man kann aber
schwerlich behaupten, dass die Feminina der A-Declination
den Masculinen der consonantischen irgendwie nahe stehen.
Es möchte sich überhaupt kaum ein entsprechender Fall nach-

[53] weisen lassen von einer ähnlichen Einwirkung der A-Decli-
nation auf die consonantische. Der einzige Grund für die an-
geführte Behauptung liegt darin, dass solche Accusative zu der
Theorie der erwähnten Gelehrten über das sogenannte n sonans
nicht passen wollen. Aber was für ein wunderliches Gebilde
wäre namentlich bei solcher Auffassung das kretische ἐπιβαλ-
λόντανς
! In dieser Form weist ντ entschieden auf das Mascu-
linum, α ist nach der erwähnten Annahme dem Femininum ent-
nommen, das doch durch eine ganz verschiedene Stammbildung
sich unterscheidet, und die ganze Form ist dennoch masculinisch.


Für höchst unwahrscheinlich halte ich die analogistische
Erklärung der Dative Pluralis auf -εσσι von andern als s-Stäm-
men, z. B. φυλάκεσσι, αἴγεσσι, ἐλθόντεσσι. Nachdem Bopp in
der Vergl. Gramm. neben einer andern Auffassung auch die
vorgetragen hatte, die Silbe -ες- könne nach der Analogie
der Stämme auf -ες, ähnlich wie es etwa beim Comparativ
σωφρονέστερος der Fall ist, in diese Formen gedrungen sein,
hat Brugmann Stud. IX, 297 und nach ihm G. Meyer § 374
mit Bestimmtheit behauptet, dass diese Auffassung die allein
richtige sei. Kann man denn aber wohl mit irgend einem
Rechte vermuthen, dass Formen wie κύνεσσι, ὀνύχεσσι, χεί-
ρεσσι
, φερόντεσσι den grösstentheils neutralen oder adjectivi-
schen Stämmen auf -ες, wie ὀρες-, βελες-, γενες-, irgendwie
nahe liegen ? Das Suffix -ες wird regelmässig nicht an No-
minalstämme, sondern an Wurzeln angehängt, so dass es für
einen Stamm χειρες-, φεροντες- an jedem Vorbild fehlen würde.
Noch künstlicher sind die Erklärungen der herakleischen En-
dung -ασσι, die man ebenfalls (vgl. Joh. Schmidt, Zeitschr.
XXV) auf dem Wege der Analogie zu deuten versucht hat.
P. Warncke hat in seiner Dissertation „de dativo pluralis
Graeco“ (Leipzig 1881) diese Formen, bei denen es allerdings
an Schwierigkeiten nicht fehlt, ausführlich behandelt.


Die allgemeine Annahme in Bezug auf Analogiebildungen
geht dahin, dass sie unbewusst entstanden wären. Man be-

[54] trachtet sie recht eigentlich als Wirkungen eines dunkeln Trie-
bes, der in volksthümlichen, „dem Naturleben“ näher stehen-
den Sprachen bewundert wird. Passt dazu unter anderm die
Erklärung, welche Gr. Meyer § 498 von der Präsensform ἀνύτω
gibt? Er sagt: „ἀνύτω und ἀρύτω = ἀνύω und ἀρύω sind
erst nach σ-Bildungen wie ἤνυσμαι, ἠνύσθεν entstanden“. Es
lohnt sich auch hier ein kurzes Verweilen bei der urkund-
lich überlieferten Geschichte der Sprache. Faktisch ist ἀνύτω
bei Attikern älter bezeugt als ἤνυσμαι. Jenes lesen wir bei
Sophokles Antig. 805, ἠνυτόμεν bei Aeschylus Agam. 815.
Erst bei Thukydides kommt διήνυσται, erst bei Xenophon
ἤνυσμαι vor. Aber ganz abgesehen von diesem chronologisch
bedenklichen Umstand, hat es für mich keine Wahrschein-
lichkeit, dass der „unbewusst waltende Sprachgeist“ sich nach
Art eines Grammatikers bei der Präsensbildung des Perfects
erinnert habe und in weiterer Verfolgung dieser Erinnerung
jenem σ im Perfect für das Präsens nicht etwa — was ich
noch einigermassen begreiflich finden würde — das unzählige
Male einem perfectischen σ gegenüberstehende präsentische ζ
entnommen, also *ἀνύζω gesprochen habe, sondern ἀνύτω,
das mit seinem τ nur noch in dem einzigen ἀρύτω ein Seiten-
stück findet. Macht man hier nicht die vielbewunderte Volks-
seele zu einem grübelnden Grammatiker? Ich befinde mich
bei diesem Urtheil auf demselben Wege mit Delbrück, welcher
Einl.2 127 eine Vermuthung Bezzenberger's mit dem Grunde
zurückweist, „weil sie bei dem Sprechenden eine zu starke
Betheiligung der Ueberlegung voraussetzt“.


Aus demselben Grunde vermag ich nicht den Combina-
tionen Brugmann's beizustimmen, die von diesem Gelehrten
in Kuhn's Zeitschr. XXIV S. 77 und sonst über eine Reihe von
Fällen des auslautenden Sigma gemacht und zum Theil von
G. Meyer gebilligt sind. Die Adverbia auf -ως, welche aus
Ablativen (skr. -āt) entsprungen sind, will man nicht mehr,
wovon schon S. 26 die Rede war, in alter Weise so erklären,

[55] dass das Sigma, z. B. von καλῶς = skr. kaljāt, Vertreter des t
oder wohl richtiger eines d*) sei. Denn, behauptet man, aus-
lautendes t oder d ist immer im Griechischen verloren ge-
gangen, nicht in ς verwandelt. In einer Form wie οὕτω liege
diese regelrechte Entwickelung vor, das ς von οὕτως, καλῶς
u. s. w. sei nach der Analogie von ἐξ neben ἐκ, ἀμφίς neben
ἀμφί erst später angetreten. Der Sprachsinn wird hier wie-
der zu einem grammatisch grübelnden Wesen gemacht, das
selbst weit auseinander liegende Thatsachen zu combiniren
versteht. Was haben die Adverbien auf -ως lautlich und be-
grifflich mit den angeführten Präpositionen gemein? Beide
Kategorien von Wörtern vereinigen sich erst in dem blossen
Begriff der Indeclinabilia. Kann man es dem unbefangen spre-
chenden irgendwie zutrauen einen solchen Begriff im Sinne
zu haben und die erwähnten Adverbia von Adjectiven mit
jenen Präpositionen zu associiren? Wo bleibt bei solchem
Verfahren die viel gerühmte und überall gesuchte Volksthüm-
lichkeit?


Auch sonst reden die Freunde der Analogiebildung nicht
selten in ähnlicher Weise, indem sie den unbefangen redenden
Menschen Begriffe und Verknüpfungen von Begriffen zutrauen,
zu denen es des grammatischen Bewusstseins, ja des gelehrten
Studiums bedarf. Man spricht von „empfundenen“ Stämmen
oder Endungen. Z. B. Misteli S. 420 sagt referirend: „Inzwi-
schen wurde -σα als Tempussilbe empfunden“. Brugmann
drückt sich Morphol. Unters. III, 49 so aus: „Für die Sprach-
empfindung zerlegte sich ital. stetti gewissermassen in st-etti“.
An einer andern Stelle ist davon die Rede, in εἰδέναι sei εἰδε-
„als Stamm empfunden“. Ich kann nicht glauben, dass der
Begriff Stamm überhaupt empfunden werden könne. Dieser

[56] Begriff ist selbst den griechischen Grammatikern bekanntlich
fremd geblieben. Erst die neuere Sprachwissenschaft hat ihn
durch Nachdenken gefunden und nach dem Vorgang der indi-
schen Grammatiker zu grösserer Klarheit gebracht. Es scheint
mir ein psychologischer Irrthum, der Empfindung zuzutrauen,
was selbst der „Verstand der Verständigsten“ nur schwer er-
mittelt.


Eine weitere Frage ist die nach der Zahl der Fälle,
welche eine Analogiebildung hervorgerufen haben kann oder
soll. Dass es glaublicher und wahrscheinlicher ist, wenn man
behauptet, eine grössere Anzahl von Fällen habe einen ein-
zelnen oder einige wenige nach sich gezogen, als umgekehrt,
wenn man annimmt, eine einzige oder eine ganz kleine An-
zahl von Formen hätten die Kraft gehabt, auf eine grosse
Masse anderer einzuwirken, bedarf kaum der Begründung.
Diese unverkennbare Wahrheit wird von Misteli S. 414 ff. aus-
führlich auseinander gesetzt. Die Analogetiker sind daher
auch stets bemüht, wenn es irgend möglich ist, eine grössere
Anzahl von Formen als Musterbilder herbeizuziehen, aber sie
schrecken nicht davor zurück, gelegentlich auch etwas ganz
vereinzeltes als Vorbild einer grossen Masse aufzustellen. Von
derartigen Behauptungen ist mir keine einzige glaublich. Ich
vermag mich also nicht davon zu überzeugen, dass das σθ
von ἔφησθα, τίτθηστα u. s. w. auf einer blossen Nachbildung
von οἶσθα und ἦσθα beruhe, wie dies von Osthoff und an-
dern mehrfach behauptet ist; noch weniger, dass δέδωκα, von
welchem man behauptet, aber nicht bewiesen hat, das κ sei
wurzelhaft, die Quelle oder, um Pott in der Anwendung eines
andern Bildes zu folgen, der Leithammel sämmtlicher grie-
chischen Perfecta auf -κα geworden. Denn hier ist nicht ein-
mal für dies angebliche Muster, wie ich Verb. II2 226 gezeigt
habe, im sanskr. dāc̹ eine irgendwie verlässliche Erklärung
gefunden worden. Die W. δωκ als Parallele zu dāc̹ wäre nie
aufgestellt, wenn sie nicht so schön zu passen geschienen

[57] hätte, um jenem schwierigen κ einen indogermanischen Ahn-
herrn zu verschaffen. Behauptet freilich hat man, es gäbe
auch auf deutlicher erforschbaren Gebieten sichere Fälle so
eigenthümlicher Zeugung einer Masse von Formen nach dem
Vorbilde eines einzigen. Brugmann, Morphol. Unters. III, 49,
nimmt an, die italienischen Perfecten auf -etti, z. B. vendetti,
fremetti, seien sämmtlich Nachbildungen von ital. stetti = lat.
steti. Allein das beruht auf einem Irrthum. In Wirklichkeit
gibt es, was ich Schuchardt (Vocalismus des Vulgärlateins
I, 35) entnehme, im Italienischen 29 Perfecta auf -etti, welche
jedoch nicht alle unmittelbar von stetti ausgehen. Die auf -detti,
13 an der Zahl, wie vendetti = vendidi, credetti = credidi,
stammen vielmehr vom lat. -didi. Höchstens der harte Explosiv-
laut könnte seine Quelle in dem ganz vereinzelten stetti haben
(vgl. Osthoff M. U. IV, 3). Von da verbreitete sich allerdings
die Bildung weiter. Aber schon im Spätlateinischen finden
sich Missbildungen wie das jenem credidi, vendidi nachgebil-
dete pandidi. Diese Formen sind offenbar die Vorläufer der
weiter wuchernden italienischen Perfecta auf -detti. Um küh-
nere Annahmen dieser Art glaubhaft zu machen, hat Brugmann
Morphol. Unters. I, 82 unter Zustimmung Delbrück's Einleitung
S. 107 auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, dass durch
allmähliche Fortsetzung der Analogiebildung aus einigen we-
nigen, ja sogar aus einer einzigen Form nach und nach eine
grosse Menge sich hätte bilden können. Aber hier gilt das
Wort Misteli's, „möglich ist vieles“. Es fragt sich aber, was
wahrscheinlich ist, und das wird man von solchen Annahmen
gewiss nicht sagen, auch wenn wirklich, wie an den ange-
führten Stellen behauptet wird, in einzelnen neueren slawi-
schen Sprachen die Endung -mĭ, -m der 1. Sing, sich von vier
älteren Formen der Art auf alle Conjugationsclassen verbreitet
haben sollte. Es scheint mir überdies sehr gewagt, aus Vor-
gängen eines einzelnen Sprachkreises Schlüsse auf ein andres
Gebiet zu ziehn, wie das, welches uns hier zunächst beschäf-

[58] tigt. Hier folge ich der alten, goldnen Regel: qui bene distin-
guit bene docet
. Die Verschiedenheiten der einzelnen sprach-
lichen und mundartlichen Gebiete zu erkennen, bleibt eine
ebenso wesentliche Aufgabe der Sprachwissenschaft, wie die
allgemeinen Neigungen und Aehnlichkeiten des Sprachlebens
überhaupt zu beobachten. Nachdem übrigens jenes δέδωκα
einige Jahre hindurch gleichsam ein Hauptschiboleth der neuen
Richtung im Gegensatz zur alten geblieben ist, hat Osthoff in
seiner neuesten Schrift „Zur Geschichte des Perfects“ S. 324 ff.
diese Vermuthung auch seinerseits vollständig verworfen, ein
recht deutliches Zeichen davon, dass die jüngern Gelehrten
auch ihrerseits trotz gewisser gemeinsamer Bekenntnissformeln
recht weit auseinander gehn.


Joh. Schmidt hat in Bd. XXVII, 309 ff. seiner Zeitschrift
über „die Entstehung der griechischen aspirirten Perfecta"
eine neue Ansicht aufgestellt, bei welcher die uns hier be-
schäftigenden Fragen über die Wahrscheinlichkeit angeblicher
Analogiebildungen mehrfach in Betracht kommen. Die That-
sachen, auf die es ankommt, sind von mir Verb. II2 217 ff.
zusammengestellt und von Joh. Schmidt nicht vermehrt. Wir
finden zu zwei verschiedenen Zeiten und in zwei verschie-
denen Dialekten in zwei verschiedenen Formen des Perfects

eine durch keine feste Gewohnheit, oder mit andern Worten,
durch kein Lautgesetz erklärbare Aspiration der gutturalen
und labialen Explosivlaute:

1) in der 3. PL Perf. und Plsqpf. Medii bei Homer, Hero-
dot und den ältesten Attikern: homer. τετράφαται (zu τρέπω),
herod. εἱλίχατο,


2) im activen Perfect in einer einzigen Spur bei Herodot
(πέπομφα), dann im Atticismus mit der Zeit immer häufiger,
in einzelnen Spuren auch ausserhalb des Atticismus.


Zwei Fragen werfen sich hierbei auf, erstens die nach
der Erklärung beider Erscheinungen und zweitens die, ob die
zweite, bedeutend später auftretende mit der ersten in einem

[59] historischen Zusammenhange steht. Die erste Frage habe ich
dahin beantwortet, dass die Aspiration als eine sporadische,
allmählich sich weiter verbreitende Lautveränderung aufzu-
fassen sei, die zweite dahin, dass man zwar die ältere Aspi-
ration im Medium als den „Vorläufer“ der zweiten betrachten,
nicht aber einen directen Zusammenhang zwischen beiden
nachweisen könne.


Gegen die Annahme einer sporadischen Lautaffection, die
sonst Schmidt's Principien nicht durchaus entgegen steht, macht
dieser hauptsächlich drei Einwendungen:


1) auf diesem rein lautlichen Wege erkläre sich zwar die
Aspiration der ursprünglichen ‘tenues’, nicht die der ‘mediae’.
Dieser Einwand hat insofern seine Berechtigung, als aller-
dings die Erscheinung der Aspiration bei harten Explosiv-
lauten, freilich fast nur denen des gutturalen und labialen
Organs, sich ziemlich häufig beobachten lässt, wie ich Grundz.⁵
501 ff. nachgewiesen habe, die eines weichen Explosivlautes
aber (Grundz.⁵ 521 ff.) für die Gutturalen nur in geringem Um-
fange — entschieden aber bei πρό-χνυ = *πρό-γονυ (vergl.
γνύ-ξ) — und für die Labialen gar nicht. Ich habe daher in
meinem „Verbum“ das ziemlich häufige Vorkommen eines φ
im Perfect gegenüber einem wurzelhaften β, z. B. in τετρί-
φαται
und τέτριφα, besonders hervorgehoben, ohne dass ich
mir zutraute, für den Anlass dieser Erscheinung eine nach
allen Seiten befriedigende Erklärung zu geben. Ich begnügte
mich mit der Annahme, dass wir hier ein Fortwuchern der
Aspiration anzunehmen hätten, wozu sich namentlich bei den
Attikern anderweitige Belege finden. Mein Gegner aber greift
sogar S. 310 zu der schneidigen Wendung: „Dass im Per-
fect andere Lautgesetze gelten als in allen übrigen Sprach-
formen, wird niemand annehmen wollen“. Aber wer spricht
von Lautgesetzen ? Auch die Aspiration einer Tenuis ist kein
Lautgesetz und wird doch von Joh. Schmidt anerkannt. Aus
derselben W. τεκ geht zwar τέκ-νο-ν, aber auch τέχ-νη hervor

[60] neben lokr. τέκ-να, aus W. λυκ λύχ-νος, aber aus πυκ (πυκάζω)
πυκ-νό-ς, aus βλεπ zwar βλέπω, aber βλέφαρον. Neben τύκος,
τετύκοντο steht τετεύχαται, τέτευχα, τεύχα, τυγχάνω, ἔτυχον.
Es ist niemand gelungen und wird schwerlich jemand ge-
lingen, die Bewegung der Laute durchweg auf feste Normen
zurückzuführen, wie ich im ersten Abschnitt dieser Unter-
suchung gezeigt zu haben glaube. Diese Wahrnehmung kommt
hier zur Anwendung.


2) Zweitens fragt Joh. Schmidt, warum denn gerade das
Perfect in so erheblichem Umfange die Aspiration, sogar im
Unterschied von andern Zeitformen desselben Stammes er-
fahre, warum es zwar βέβλεφα, aber nicht etwa βλέφω heisse.
Diese Frage kann ich nicht in einer abschliessenden Weise
beantworten, aber ich glaube, dass die Gegner meiner Auf-
fassung ebenso wenig zu sagen wissen, warum zwar in γλυκύς
das κ erhalten, in ταχύ-ς aber (Grundz.⁵ 507) in die Aspirata

verwandelt ist, warum in λιπ' ἐλαίῳ das π geblieben, in
ἐλείφω aspirirt ist, warum τέτοκα sein κ nie mit χ vertauscht,
κέκοφα aber gegenüber dem homer. κεκοφώς sein π in φ ver-
wandelt hat. Dass eine Lautaffection in gewissen Sprach-
formen sich weiter verbreitet und fester haftet als in andern,
ist nicht befremdlich und lässt sich auch sonst nachweisen.
Denn das Bestreben, gleichbedeutende Formen gleichmässiger
zu gestalten, ist ein sehr natürliches. Ich verweise z. B. auf
die Vorliebe des sog. starken Passivaorists für die Mediae
(Verb. II2 356). Man wird auch in der Erklärung des σθ der
Medialformen schwerlich ohne die Annahme eines solchen
Fortwucherns auskommen können. In diesem Sinne ist also
das Princip der Analogiebildung auch hier anzuerkennen, worin
ich mit Gust. Meyer (Gr. S. 422) übereinstimme. Nur glaube

ich nicht, dass man damit allein auskommt, noch weniger,
dass die Schmidt'sche Erklärung auf Wahrscheinlichkeit An-
spruch machen kann.


3) Von gar keinem Gewicht scheint mir der dritte Ein-

[61] wand, nämlich die bekannte Thatsache, dass im Perfect ein
τ oder δ niemals zu θ werde. Denn erstens gibt es ausser
den W. πετ und λιτ, die gar kein Perfect bilden, schwerlich
eine Wurzel auf τ und daher auch keine Perfectform, die
ionisch in der 3. Pl. auf -ταται oder attisch in der 1. S. Act.
auf -τα ausgeht. Es fehlt hier also an jeder Gelegenheit zu
aspiriren. Die Stämme auf δ aber sind nur zum sehr geringen
Theil Primitiva. Von diesen werden κέκηδα, ὄδωδα, κέκοδα,
πέπορδα ebenso wie κέκραγα, hom. κεκοπώς, πέπηγα ohne Aspi-
ration gebildet. Fast durchweg sind diese Stämme abgeleitete
(Pr. αζω, ιζω), wozu sich, etwa mit Ausnahme der homerischen
Formen ἀκηχέδ-αται, ἐρηρέδ-αται, Perfecta erst in sehr später
Zeit hinzufanden. Bei diesen stellte sich dann nach der Ana-
logie der vocalischen Stämme das Perfect auf -κα ein, worüber
ich auf Verb. II2 232 verweise. Sodann ist bei dieser Frage
nicht ausser Auge zu lassen, dass die dentale Aspirata, rein
lautlich betrachtet, nicht ganz auf einer Linie mit den an-
dern Aspiraten steht. Schon der Umstand, dass für θ im
ältesten Alphabet die Schreibung TH gar nicht, statt dessen
aber vereinzelt ΘΗ nachweisbar ist *), zeigt, dass die den-
tale Aspirata der Tenuis ferner stand als χ einem κ und φ
einem π. Ich bezweifle nicht, dass das explosive Element
des θ von Anfang an an einer andern Articulationsstelle, das
heisst mehr interdental, hervorgebracht wurde als τ. Damit
hängt die Thatsache zusammen, dass die hysterogene Aspi-
ration von τ ungleich seltner ist als die von κ und π. Man
wird mir, glaube ich, zugeben, dass, so betrachtet, das Fehlen
von θ als Vertreter eines τ oder δ im Perfect gar nichts auf-
fallendes hat.


Wie aber lautet denn die neue Erklärung?



[62]

„Die Entwicklung der Formen“, sagt Joh. Schmidt a. a. O.
S. 311, „lässt sich nun Schritt für Schritt verfolgen. Zuerst
wurde die in τέταχθε, ἐτέταχθε lautgesetzlich entstandene
Aspiration nur auf τετάχαται, ἐτετάχατο, die einzigen Formen
des Ind. Med., welche vocalisch anlautende Endung hatten,
übertragen“. Diese Uebertragung ist aber, wenn man sie ge-
nauer erwägt, keineswegs eine so einfache Sache, wie es
scheinen möchte. Wenn Uebertragung oder Analogiebildung
auf einem unwillkürlichen Abirren des sprechenden zu einem
Sprachgebilde andrer Art beruht, so ist dieser seelische Vor-
gang ohne Zweifel dann mit grösserer Wahrscheinlichkeit
vorauszusetzen, wenn das Nachbild dem Vorbilde mögliehst
nahe kommt, weniger wahrscheinlich, wenn das Nachbild von
dem Vorbilde sich nicht unerheblich unterscheidet. Die frag-
liche Perfectform nun, z. B. τέταχθε, unterscheidet sich von
ihrem angeblichen Nachbild, z. B. τετάχαται, nicht unwesent-
lich. Statt der Consonantengruppe in der ersten Form be-
gegnet uns in der zweiten ein einfacher Consonant. Statt der
für einen grossen Theil der medialen Perfectformen gesetz-
lichen kurzvocalischen Stammformen, z. B. τέτυχθε, haben wir
hier die langvocalische, z. B. τετεύχαται.


Es fragt sich ferner, ob ihrem Gebrauche nach die 2. Pl.
geeignet ist, das Vorbild abzugeben für die 3. Pl. Im System
unsrer Schulgrammatik steht freilich die 2. Pl. unmittelbar vor
der 3. Pl. Aber jene homerischen oder gar vorhomerischen
Griechen, denen man zutraut, dass ihnen τέταχθε so sehr im
Ohre klang, dass sie das χ dieser Form, von dem θ geson-
dert, gedankenlos in die 3. Pl. übertrugen, waren doch sicher-
lich keine A-B-C-Schützen, denen die Schulleier sich bis ins
reifere Alter erhielt. An sich hat die 3. Pl. gewiss mit kei-
ner andern Personalform weniger gemein als mit der 2. Pl.
Ferner: Die zweite Person Pluralis ist, das kann man wohl
ohne Bedenken sagen, von allen Personalformen die seltenste.
Denn dem Menschen ist viel öfter die Gelegenheit gegeben

[63] von dritten Personen in einem der Numeri oder von sich selbst,
auch mit Einschluss anderer, zu reden, oder einen einzelnen
anzureden, als das gleiche in Bezug auf eine Mehrzahl von
Personen zu thun. In andern Fällen hat jedenfalls die 2. PL
keinen Einfluss auf die 3. Pl. geübt. Die beiden vereinzelten
homerischen Formen ἐρηρέδαται, ἐρράδαται zeigen nicht die
leiseste Beziehung zur 2. Pl., welche auf -σθε ausgehn müsste.
Thatsächlich ist uns ferner zu keiner der 4 hier in Betracht
kommenden homerischen dritten Personen des Perfects und
Plusquamperfects auf αται, ατο, nämlich δειδέκαται, ἔρχαται,
ὀρωρέχαται, τετράφατο, eine entsprechende zweite Person über-
liefert. Ob zu den 5 übrigen Beispielen dieser Bildung, näm-
lich den herodoteischen εἱλίχατο, ἐσεσάχατο, ἂναμεμίχαται,
τετάχαται (das auch bei Thukydides vorkommt), τετρίφαται,
zweite Personen vorhanden sind, lässt sich aus Mangel ent-
sprechender Sammlungen nicht entscheiden. Mehr als diese
9 von mir Verb. II2 239 f. nachgewiesenen Formen *) sind nicht
bekannt, und dass das herodoteische ἀπίκατο der einzige Fall
ist, in welchem innerhalb dieser Tempora ein harter Explosiv-
laut unverändert bleibt, habe ich selbst ebendort S. 240 aus-
gesprochen. Diesem Thatbestand gegenüber sage ich S. 219,
„diese Bildungen beruhten auf einer vereinzelten Affection und
seien später ganz verschwunden“. Mein Gegner tadelt dies.
Es sei vielmehr die Aspiration fast zum Gesetz geworden.
Nun, ob man eine Erscheinung, die bei 10 vorliegenden gleich-
artigen Fällen sich 9 mal realisirt, einmal aber nicht reali-
sirt, mit dem feierlichen Namen Gesetz belegen will, ist Ge-
schmackssache. Bei meiner Bemerkung über das spätere Ver-
schwinden der Form dachte ich natürlich an die im jüngeren
Atticismus allein übliche Bildungsweise durch Umschreibung

[64] (τεταγμένοι εἰσί), die mit der Zeit die allein herrschende
wurde.


Wir kommen jetzt zur Aspiration im activen Perfect. Die
Behauptung, jene Medialformen, die uns bisher beschäftigten,
seien das Muster für die entsprechenden activen gewesen, wird
durch den Thatbestand der wirklich überlieferten Formen kei-
neswegs begünstigt. Den 5 homerischen Medialformen steht
bekanntlich gar kein Beispiel der activen zur Seite. Den 4 hero-
doteischen und altattischen nur τέταχα, dies aber ist nicht aus
derselben Zeit mit τετάχαται überliefert. Ersteres kommt erst
bei Xenophon und Plato, τετάχαται schon bei Herodot vor.
Unter den 37 Beispielen (Verb. II2 222) der activen Perfecta
mit Aspiration sind τέταχα, τέτροφα (τέτραφα) und τέτριφα
(Aristoph.) die einzigen, denen überhaupt eine entsprechende
Medialform zur Seite steht. Das erst bei Polybius auftretende
μέμιχα hat gewiss nicht im herodoteischen ἀναμεμίχατο seine
Quelle. Das Perfectum des Activs unterscheidet sich ja über-
haupt, wie ich an jenem Orte gezeigt habe, weit mehr als
andre Activformen von der entsprechenden Bildung des Me-
diums. Hier in alterthümlicher Weise unmittelbare Anfügung
der Personalendung, dort, von wenigen Resten älterer Prägung
abgesehen, der feste Vocal α (ε), hier — im Medium — die
schwache Stufe der Stammsilbe, wenigstens vorherrschend,
dort — im Activ — umgekehrt. Der älteste Fall eines aspi-
rirten activen Perfects πέπομφα hat mit einem etwa vorauszu-
setzenden *πεπέμφαται nicht denselben Vocalismus. τέτροφα
von τρέπω ist aus früherer Zeit überliefert als τέτροφα (Verb.
II2 210), und doch steht jenes dem homerischen τετράφατο
ferner als dies. Es ist möglich, ja nicht unwahrscheinlich,
dass unsre Ueberlieferung durch Zufälligkeiten lückenhaft ge-
worden ist. Immerhin aber haben wir keinen andern sicheren
Boden zur Begründung sprachhistorischer Behauptungen als
diese. Und diese Thatsachen lassen sich nicht eben leicht
mit jenen Behauptungen vereinigen.



[65]

Aus solchen Gründen halte ich die Schmidt'schen An-
sichten nicht für wahrscheinlich und bleibe bei der Auffassung,
die ich in meinem Verbum zu begründen versucht habe. Ich
fasse diese folgendermassen zusammen:


1) Die aspirirten Medialformen beruhen ursprünglich auf
der rein lautlichen Affection der tenues (δειδέχαται, τετρά-
φαται
).


2) Der Analogie der so entstandenen Formen folgten die
mit stammhafter Media (ἔρχαται, τετρίφαται). Begünstigt wurde
diese Uebertragung dadurch, dass es, wie Verbum II2 240
nachgewiesen ist, eine Reihe zum Theil sehr geläufiger For-
men der Art mit stammhafter oder doch weiter verbreiteter
Aspirata gab (τετεύχαται, ἐπώχατο, κεκρύφαται. später γε-
γράφαται
).


3) Ob die Aspiration im Activ in Beziehung zu der im
Medium steht, ist nicht auszumachen. Factisch ist ihre wei-
tere Verbreitung erst Jahrhunderte später nachweisbar, das
heisst aus einer Zeit, da die Formen auf -αται schon beinahe
verschollen waren. Die activen Perfecta werden erst zur Zeit
der attischen Redner häufiger.


4) Auch diese Aspiration ist ihrem Keime nach lautlichen
Ursprungs. Das älteste Beispiel πέπομφα steht auf einer Linie
mit dem von Hesychius angeführten πομφ-αγωγεῖ. Dieselben
Umstände wie im Medium begünstigten die Uebertragung der
Aspiration auf Verba mit wurzelhafter Media. Man vergleiche
ἦχα mit ἔπτηχα und andrerseits mit εἴληχα, ebenso βέβλαφα
mit βέβλεφα, κέκοφα und andrerseits mit γέγραφα.


Ich habe diese Controverse absichtlich ausführlicher er-
örtert, weil ich daran zeigen wollte, wie ich mich keineswegs
principiell gegen das Walten einer blind fortwuchernden Ana-
logie verschliesse, andrerseits aber mit dem verhängnissvollen
aut — aut zwischen einer oft sehr mit Unrecht so benannten
lautgesetzlichen Erklärung und einer analogischen mich nicht
einverstanden erklären kann. Vielmehr bin ich der festen
Curtius, Zur Kritik.5

[66] Ueberzeugung, dass die Wahrheit nur gefunden werden kann,
wenn man das ganze Gebiet der Formen, um deren Erklä-
rung es sich handelt, mit sorgfältiger Rücksicht auf Ort,
Zeit, Häufigkeit des Vorkommens und andre Umstände in Be-
tracht zieht und sich, soweit dies möglich ist, in die den
sprechenden Menschen für jeden Fall sich darbietenden Pro-
bleme hinein versetzt. Diese Untersuchung bot uns zugleich
einen Beleg für die ebenfalls nicht zu übersehende Wahrheit,
dass sich recht oft für dieselbe Erscheinung verschiedene Aus-
gangspunkte analogischer Umgestaltung aufstellen lassen, unter
denen die Wahl zu treffen ist, etwa wie zur Heilung der ver-
dorbenen Stelle eines Schriftstellers zwischen verschiedenen
Conjecturen *).


Eine weitere Frage ist die, für wie alte Zeiten der
Sprachgeschichte wir Analogiebildungen annehmen dürfen.
Dass jüngere Sprachperioden dergleichen mehr aufweisen als
ältere, bezweifelt wohl niemand. Dennoch hat man in dem
Eifer, eine möglichst grosse Zahl von Analogiebildungen auf-
zustellen, sie sogar für die allerfrühesten Zeiten als wahr-
scheinlich zu bezeichnen gewagt. Gewiss ist es aber kein
Zufall, dass man vorzugsweise in neueren Sprachen, nament-
lich den romanischen, zuerst auf diese Bildungen aufmerksam
geworden ist, und dass auch anderswo, z. B. im Lateinischen,
unverkennbare Analogiebildungen grossentheils der späten Zeit
angehören. Für wahrscheinlicher können sie daher jedenfalls
nur in jüngeren Perioden der Sprache gelten. Ich schliesse
mich hier einer feinen Bemerkung Paul's in seinen „Principien
der Sprachgeschichte“ S. 65 an. Er spricht dort von der „In-

[67] tensität“, von dem Grade der Bewusstheit und des Interesses,
mit dem eine Vorstellung aufgenommen wird, und fährt fort:
„Da jede Vorstellung mit der Zeit an Stärke einbüsst, so
kommt sehr viel darauf an, wie lange Zeit seit der ersten
Aufnahme verstrichen ist“. Mit Weiterführung dieses, mich
dünkt schlagenden Gedankens, dürfen wir für frühe Zeiten
ein grösseres Festhalten des ursprünglich geschaffenen ver-
muthen, und es scheint mir gänzlich unglaublich, dass die
Sprachen schon in den frühesten Zeiten ihrer Feststellung, das
ist in jener Periode, die W. v. Humboldt die der Organisation
nennt, von den kaum geschaffenen und, wie wir vermuthen
dürfen, frisch und lebhaft im Gedächtniss festgehaltenen For-
men aus gleich wieder abgeirrt und ins Schwanken gerathen
seien, dass die Menschen, durch den Dämmerschein beliebiger
Aehnlichkeiten verführt, das eben hervorgebrachte Sprachgut
gleich massenhaft durch Angleichungen und Nachbildungen
verdunkelt und gleichsam verdorben hätten. Liegen nun auch
solche Zeiten in unendlicher Ferne, so dürfen wir doch wohl
nach dem Schlüsse der Analogie für ältere und regere Zeiten,
die uns durch eine Fülle wohl unterschiedener alter Formen
imponiren, voraussetzen, dass Abirrungen der erwähnten Art
bei ihnen überhaupt, wenn auch vielleicht nicht unerhört,
doch in keiner Weise zu erwarten sind.


Man hat in verschiedener Weise die Analogiebildungen
einzutheilen versucht. Der wichtigste Unterschied scheint mir
der von Brugmann Stud. IX, 309 f. gefundene, in innerliche
und äusserliche. Innerlich sind diejenigen, bei denen inner-
halb eines Systems von Formen eine Anähnlichung einer Form
an eine andere oder mehrere andere desselben Systems statt-
findet, z. B. ein Fall, den wir schon oben betrachteten: noch
zu Cicero's Zeit honōs honoris, später honor honoris: Brug-
mann nennt diese Art der Angleichung Systemzwang. Von
Zwang aber kann hier nicht die Rede sein. Denn, wie wir
sahen, sehr oft bleibt unter denselben Bedingungen eine Form
5 *

[68] unverändert, die anderswo verändert wird. Es heisst robur
roboris
, aber corpus corporis. Ein Beispiel äusserer Analogie-
bildung ist der ebenfalls schon erwähnte Uebertritt von ἀγώνεσσι
in ἀγώνοις, das Wort tritt in ein aussen liegendes System
über. Dass im allgemeinen die innere Analogie die meiste
Wahrscheinlichkeit für sich hat, ist klar. Denn eine Behaup-
tung der Art ist um so glaublicher, je greifbarer das Band
ist, das die eine Form mit der andern verbindet. Jede Form
liegt aber den übrigen desselben Systems ganz besonders nahe.
Die Zusammengehörigkeit von honos und honoris, honorem war
auch dem ohne Reflexion sprechenden nicht verborgen, von ihr
dürfen wir ein Gefühl bei jedem voraussetzen, dem die Sprache
angeboren war. Es wird hier also die Bedingung erfüllt, die
wir S. 49 für jede Analogiebildung als eine wesentliche auf-
stellten. Als Beispiele der inneren Analogie, für welche der
Name Ausgleichung der angemessenste sein dürfte, mögen
hier noch folgende aufgeführt werden. Da das lateinische ver
dem griech. ϝέαρ entspricht, müssen wir als Stamm des ersteren
*veser erwarten = griech. ϝέσαρ. Im Griechischen fiel nach
dem bekannten Lautgesetz das inlautende σ aus, dem Latei-
nischen aber ist dies Lautgesetz unbekannt. Hier aber gerieth
das s in den Casus obliqui mit dem r des schwächsten Stammes
*vesr (vgl. patr) in Conflict und musste schliesslich vor dem r
ausfallen. So wurde, wie ich glaube, zuerst aus vesr-is vēr-is,
aus vesri vēri u. s. w. und erst später erklang die zusammen-
gedrängte Form vēr auch im Nominativ. Von ähnlicher Art
ist die allbekannte Vereinfachung des Vocalismus im deutschen
Praeteritum, in der älteren Sprache band, bunden, in der spä-
teren band, banden. Für das Griechische ist ein Normalbei-
spiel dieser Art von Veränderung das Plusquamperfectum des
Activs (Verb. II2 157 ff.), auf dessen Lautgestalt wir schon
oben S. 49 geführt wurden. Hier sind uns nämlich die ver-
schiedenen Stadien der Ausgleichung überliefert. Es sind ihrer
zunächst drei. Bei Homer finden wir ᾔδεα neben der 3. Sing.

[69]ᾔδεε oder ᾔδεεν, woneben auch schon das contrahirte ᾔδειν
und damit der Diphthong ει eintritt, der dazu bestimmt war,
sich in dieser Form mehr und mehr geltend zu machen. Die
zweite Stufe zeigt uns im Altattischen die 1. Sing, ᾔδεη, 3. Sing.
ᾔδειν und ᾔδει. Auf der dritten Stufe stehen die späteren
attischen Formen. Hier ist der verhängnissvolle Diphthong
schon in die 1. Sing. eingedrungen: ᾔδειν. Ebenso in den
Pluralen: ᾔδειμεν, ᾔδειτε. In der 3. Pluralis aber wird das
altberechtigte ε in ᾔδεσαν noch festgehalten. Erst im Ueber-
gang zur κοινή taucht ᾔδεισαν auf, das also gewissermassen
ein viertes Stadium bezeichnet. Von demselben Fortwuchem
eines vocalischen Elements haben wir ein sicheres Beispiel im
Dativ Pl. der Adjectiva auf υ. Von ἡδύς sollte der Dativ Pl.
regelrecht *ἡδύσι lauten. Diese Form ist aber schon aus
unseren frühesten Texten verschwunden und statt dessen das
ε von ἡδέσι aus den übrigen Casusformen ἡδέος, ἡδέες u. s. w.
eingedrungen. Ueber diesen Fall, sowie über ähnliche Fälle
herrscht jetzt wohl allgemeine Uebereinstimmung.


Uebertragungen von einem System zum andern entspre-
chen im grossen und ganzen dem, was die alten Grammatiker
Metaplasmus nennen. Metaplasmen aber werden überhaupt
nur dann glaublich sein, wenn ein Band der Bedeutung zwi-
schen den Formen stattfindet, wie es z. B. in ἀγώνοις als
Dat. Pl. von ἀγών geschieht. Es muss doch immer ein tertium
sein, in welchem a und b zusammen treffen, oder, anders auf-
gefasst, eine causa movens, durch welche eine Form a zu der
Gruppe b hinüber gezogen wird. Das gemeinsame liegt hier
auf den ersten Blick ausschliesslich in der Gleichheit des Casus.
Es kommt aber in solchen Fällen immer darauf an, auch die
Lautverhältnisse genau zu untersuchen und der Frage näher
zu treten, warum in dem bestimmten Falle die Sprache einem
solchen Metaplasmus sich hingab. Es wäre hart, anzunehmen,
dass die attische Form des Dat. Pl. ἄγωσι, die jenem ἀγώνοις
mit seiner zweiten Hälfte so unähnlich ist, dennoch in diese

[70] übergegangen wäre. Das ist aber nur selten der Fall. Nicht
ἄγωσι sondern ἀγώνεσσι ist die herrschende Form in solchen
Mundarten, denen jener Metaplasmus eigen ist. Der Ueber-
gang von ἀγώνεσσι zu ἀγώνοις war jedenfalls leichter als der
von ἄγωσι. Eine äussere Analogiebildung wird um so wahr-
scheinlicher, je mehr sie sich einer Reihe ähnlicher Fälle an-
schliesst. Auch dies ist wiederum in dem angegebenen Bei-
spiel der Fall. Die O-Declination tritt in einer grossen Reihe
von Fällen als die bequemere an die Stelle der consonan-
tischen, ebenso wie im Verbum die einfachere und darum be-
quemere thematische Conjugation massenhaft die buntere nicht-
thematische überwuchert. Im Gebiet der Nominaldeclination
könnte man diesen Uebertritt in die gleichsilbige Declination
Isosyllabismus nennen *) Die weitere Untersuchung wird uns
noch einmal zu jenen merkwürdigen Dativen zurückführen
und, denke ich, von einer neuen Seite Licht auf ihre Ent-
stehung verbreiten. Sichere Schritte thun wir auf diesem
schlüpfrigen Boden nur, wenn wir die einzelnen Fälle im Zu-
sammenhang und von den verschiedensten Seiten betrachten.
Mit der kurzen Einweisung in die Kategorie „Analogiebildung“
ist es nicht gethan. Mit Ascoli müssen wir nach dem warum
fragen.


Eine mehrfach erörterte Frage ist die, inwiefern bei den
sprechenden ein Gefühl für die Bedeutsamkeit der Laute und
Silben als mitwirkend bei der Entscheidung zwischen Erhal-
tung und Veränderung vorauszusetzen ist. Delbrück in seiner
Einleitung2 S. 106 spricht sich über diesen Punkt folgender-
massen aus: „Man ist, wie mir scheint, nicht berechtigt an-

[71] zunehmen, dass die Griechen und Inder noch ein Gefühl für
die Bedeutsamkeit des einzelnen Lautes in einer Sprachform
gehabt hätten, welches uns abhanden gekommen wäre“. Ohne
dass ich zwischen den alten und neueren Sprachen in dieser
Beziehung einen wesentlichen Unterschied machen möchte,
scheint mir die Voraussetzung, dass ein Gefühl, wenn nicht
ein Bewusstsein, von der Bedeutung der Formen in den spre-
chenden vorhanden war, ganz unabweisbar. Wie wäre es
denkbar, dass die wesentlichen Kategorien der Sprache, also
z. B. die Formen der Casus, der Personen, der Modi sich trotz
einzelner Verschiebungen im grossen und ganzen unversehrt
durch so ungeheure Zeiträume erhalten hätten, ohne die Wir-
kung des Sprachgefühls, das alle diese Formen beherrschte
und sicher zu unterscheiden wusste ? Während ich also oben
S. 55 denen widersprechen musste, welche bei den sprechen-
den ein Gefühl für die Entstehung und die morphologische
Gliederung der Sprachformen, namentlich also für den Unter-
schied von Stamm und Endung voraussetzen, so muss ich
umgekehrt für die Bedeutung, das heisst für die syntak-
tische Verwendbarkeit der Formen, mit Entschiedenheit sol-
ches Gefühl annehmen. Auch ein nicht schulmässig gebildeter
Grieche des Alterthums wird gewusst haben, wann er ποδῶν,
wann er ποσί zu setzen hatte, wird λύκου als denselben Casus
wie ποδός, wird δοίη als denselben Modus wie λέγοι empfun-
den haben u. s. w. Dass dieses Sprachgefühl aber nicht so
weit ging, den Ursprung der Formen zu erkennen, versteht
sich von selbst. Dieser Ursprung bietet ja auch für unsre
Wissenschaft die schwierigsten Probleme. Die Worte also,
die Delbrück hinzufügt, „denn auch ihnen [den alten Indern
und Griechen] waren wie uns von Generation zu Generation
nur fertige Sprachformen überliefert, und jene Urzeiten, in
denen die indogermanischen Formen nach der Bopp'schen An-
nahme aus bedeutsamen Elementen zusammengesetzt wurden,
lagen für sie nicht weniger wie für uns in dämmernder Vor-

[72] zeit“ beweisen, so unbestreitbar sie sind, nicht das, was sie
beweisen sollen. Auch hat wohl niemand jemals etwas der
Art behauptet. Es sind hier zwei ganz verschiedene Dinge,
Bewusstsein des Ursprungs und Gefühl für die Bedeutung der
einzelnen Sprachform als eines ganzen, mit einander verwech-
selt. Ich finde mich in voller Uebereinstimmung mit dem
feinsinnigen italienischen Sprachforscher d'Ovidio, der sich in
seinem Aufsatz d'un recente libro di Delbrück S. 39 über diese
Frage ausspricht. Er behauptet z. B., dass noch der heutige
Italiener in Bezug auf die Form avrei zwar ohne gelehrte
Studien keine Ahnung davon habe, dass die Endung ei mit
avere zusammenhinge, wohl aber empfinde, dass in dieser
Endung die Bezeichnung des bedingten (la condizio-
nalità
) liege, ebenso, dass er in der Form cresca das a als den
Träger des Conjunctivs wahrnehme. Auch der ungebildetste
Römer wird ebenso einen seiner Sprache unkundigen mit
Sicherheit corrigirt haben, der etwa crescat sagen wollte und
statt dessen etwa crescet sagte. Worauf anders als auf sol-
chem Sprachgefühl beruht es, dass jeder Volksgenosse den
stümpernden Ausländer verlacht oder verbessert? Für die
Annahme, dass die bedeutungsvolle Silbe sich nicht so leicht
verschiebt oder verändert wie die minder bedeutungsvolle,
spricht die Thatsache, dass die entschieden bedeutungsvoll-
sten Silben der Wörter, die Stammsilben, in weit geringerem
Masse der Analogiebildung unterworfen sind, als Präfixe und
Suffixe. Die romanische Form greve statt des lat. grave(m)
erklärt man aus einer Anlehnung an das Adjectiv entgegen-
gesetzter Bedeutung leve (Caroline Michaelis in der oben an-
geführten Schrift S. 35). Aber solche Wirkung der Analogie
ist jedenfalls eine sehr seltene, es ist ein Beispiel jener συν-
εκδρομὴ κατ' ἐναντιότητα
, von der wir S. 35 handelten. Ob
innerhalb des Griechischen und Lateinischen sich etwas ähn-
liches für eine Stammsilbe nachweisen lässt, ist mir zweifel-
haft, indess kleinere Umwandelungen zeigen sich wirklich

[73] in wenigen Fällen. Den Spiritus asper von ἧμαι gegenüber
von sanskr. ās (sitzen) hat man, wie ich glaube, richtig aus
einem Anklang an das bedeutungsverwandte ἕζετω erklärt
(Grdz.⁵ 690). Auch ἡμεῖς verdankt seinen Spiritus wohl seinem
jedermann vorschwebenden natürlichen Gegensatz ὑμεῖς, wo
der Spiritus regelrechter Vertreter eines ϳ ist. Für dieselbe
Anschauung, wonach wir die Bedeutungskraft eines sprach-
lichen Elements keineswegs für etwas gleichgültiges halten,
spricht es, dass die bedeutungsvollsten Silben der Flexion,
z. B. die eigentlichen Casusendungen, die Moduszeichen wenig
Stoff für die Voraussetzung von Analogiebildungen bieten.
Wann würde z. B. jemals etwa der Genitiv durch den Dativ
oder Accusativ influenzirt? Häufiger findet dergleichen zwi-
schen Nominativ und Accusativ statt, wie z. B. bei der Be-
tonung des Accusativs πειθώ, während wir *πειθῶ erwarten.
Diese Betonung ist eigentlich nur für den Nominativ berech-
tigt, geht aber auch auf den Accusativ über, entsprechend
einer ziemlich weit reichenden Neigung, nur minimal verschie-
dene Formen zu völlig gleichen zu machen. Zwischen Nomi-
nativ und Accusativ, Casus, welche, obwohl einander ent-
gegengesetzt, doch, wie ἡμεῖς und ὑμεῖς, ein gegensätzliches
Paar bilden oder nach der Bezeichnung der griechischen Gram-
matiker ἀντίστοιχοι, sind, kommen ähnliche Anklänge vor, wie
denn beide Casus im Plural der sogenannten 3. Declination in
vereinzelten griechischen Mundarten die gemeinsame Endung
-ες haben (vgl. G. Meyer § 363). Einen ähnlichen Uebergang
der Nominativform in die des Accusativs nehmen wir bei zahl-
reichen Stämmen auf -ι, -υ und -ες wahr, und zwar, was be-
sonders werthvoll ist, lässt sich dieser Uebergang aus den
Thatsachen der Sprachgeschichte deutlich als ein allmäh-
lich
entstandener nachweisen. Homer kennt von den ι-Stäm-
men für die Pluralaccusative nur regelmässige Formen, z. B.
πόλῑς (B 648, cod. A, ebenso Bekker und Nauck) und πόλιας,
vgl. πόσιας Ζ 240. Von Stämmen auf seien πελέκεας,

[74]πολέας erwähnt, von sigmatischen Stämmen ἀολλέας. Diesen
Accusativen stehen entweder die uncontrahirten Formen des
Nominativs, z. B. πόλιες, ἀολλέες, oder, seltener, die contra-
hirten, z. B. πρωτοπαγεῖς, gegenüber. Erst die Attiker über-
tragen das ursprünglich bloss nominativische -εις auf den Ac-
cusativ, so dass πόλεις, ἡδεῖς, σαφεῖς für beide Casus gelten,
offenbar deshalb, weil bei der Abneigung der Attiker gegen
offene Formen die auf -εας unbeliebt wurden. Möglicherweise
gab es im ältesten Atticismus wirklich einmal Accusative wie
*ἡδῦς, *πόλης, *σαφῆς, von denen wir aber auch in den älte-
sten Inschriften keine sicheren Zeugnisse haben können, weil
im alten Alphabet der lange Ε-Laut von dem unechten ει
nicht unterschieden wird. Man wende nicht ein, dass bei den
Stämmen auf ευ sich im Nominativ, äusserst selten im Accu-
sativ Pluralis, das η erhalten hat, denn hier vollzog sich die
Contraction nachweislich viel später. Seitdem uns aus In-
schriften Nominative wie ἱππέης bekannt geworden sind, dür-
fen wir trotz Wackernagel (Ztschr. XXVII S. 268) vermuthen,
dass die gut attische Form βασιλῆς nicht etwa aus dem ho-
merischen βασιλῆες, sondern aus jenem altattischen βασιλέης
mit umspringender Quantität hervorgegangen ist. Für den
Accusativ wurde bekanntlich im guten Atticismus βασιλέᾱ̆ς
festgehalten, erst nachdem der gut attische Nominativ βασι-
λῆς
, Formen wie ἡδεῖς, πόλεις, σαφεῖς folgend, ebenfalls
den beliebten Diphthong ει angenommen hatte, verdrängte
diese Nominativform die alte Form des Accusativs. Dieser
letzte Schritt ist nach Herwerden (Lapidum testimonia p. 49)
erst gegen das Jahr 300 v. Chr. anzusetzen. Wir haben hier
also wiederum ein ansehnliches Stück urkundlich bezeugter
Sprachgeschichte vor uns, aus dem wir lernen können, dass
dergleichen Vorgänge sich nicht plötzlich vollziehen, und dass
spätere Sprachperioden daran reicher sind als die älteren.

Man hat behauptet, dass die Vocativform sich gelegent-
lich an die Stelle der Nominativform dränge. Auch diese

[75] beiden Casus sind offenbar ἀντίστοιχοι, wie denn nicht bloss
beim Neutrum, sondern auch bei den andern Geschlechtern
im Plural und Dual für beide Casus nur eine Form vorhanden
ist und auch im Singular die Nominativform massenhaft die
Vocativform mit vertritt. Allein es ist doch etwas ganz an-
deres, wenn man umgekehrt annimmt, dass die überhaupt viel
seltnere Vocativform die allgemein übliche und jedermann in
besonderem Masse vertraute Nominativbildung aus ihrer Stelle
verdrängt hätte. Mir scheint dies ungefähr so glaublich zu
sein, wie die Annahme, dass der Zwerg den Riesen über-
winde. Dennoch hat man in alten und neuen Zeiten so gelehrt.
Die homerischen, angeblich aeolischen Nominative Sing. auf
, z. B. ἱππότα, fasste Aristarch als verschobene Vocative
auf, z. B. Aristonicus zu Il. Β 101 in Bezug auf den Nominativ
Θυέστα: ἡ κλγτικὴ ἀντὶ τῆς ὀρθῆς. Für Aristarch war diese
Annahme nur ein Fall jenes σχῆμα, das am kürzesten mit dem
Namen ἀντίπτωσις bezeichnet wird. Man vergleiche darüber
Friedländer, Aristonicus S. 18 ff. Diese Auffassung war bei den
Alexandrinern schwerlich eine tief durchdachte, wie ja denn
das Fragen nach den Gründen und dem innern Zusammen-
hange der sprachlichen Erscheinungen auch den besten Gram-
matikern des Alterthums — vielleicht mit einziger Ausnahme
des grübelnden Apollonius Dyskolos — fern lag. In dem Be-
streben, die Thatsachen des homerischen Sprachgebrauchs im
Unterschied vom attischen zu fixiren, begnügten sich diese
mit einer kurzen, jedermann verständlichen Bezeichnung der
Thatsachen. Für den Attiker musste Θυέστα ein Vocativ zu
sein scheinen, dass eben diese Form bei Homer nominativische
Geltung habe, wurde in jener Formel am kürzesten ausge-
drückt. Diese Formeln haben keinen andern Werth als die
bis in die neueste Zeit beliebte: homer. a für oder statt b,
ionisches η für dorisches ᾱ u. s. w. Solche Bezeichnungen
galten in der neueren Grammatik bis vor kurzem als beson-
ders deutliche Zeichen von der mechanischen und oberfläch-

[76] lichen Auffassung der alten Grammatiker. Jetzt sind sie, in
den modischen Mantel der Analogiebildung gehüllt, wieder zu
Ehren gekommen (G. Meyer Gr. Gr. § 325). Wenn es sich
hier überhaupt um Analogiebildung handelte, so läge doch
nichts näher als die Annahme, dass der Nom. Sing, der Mas-
culina in diesen Fällen dem der Feminina sich angeschlossen
habe, mit welchem ja diese Masculina mit Ausnahme der ver-
breiteten Nominativform und des Genitivs Sing. alle Casus-
formen theilen. Das hohe Alter dieser Bildung wird aber da-
durch verbürgt, dass das Lateinische in scriba, agricola u. s. w.
genau dieselbe Form zeigt, und dass auch in andern Sprach-
gebieten ähnliche Erscheinungen zu Tage treten (Angermann
Stud. V, besonders S. 399 ff.). Diese im Grunde ganz gleich-
artigen Erscheinungen von einander zu trennen, indem man
für das Lateinische und einen Theil der griechischen Formen
den Uebergang von Femininis in Masculina zu erweisen sucht,
in andern aber auf vocativischen Ursprung räth (Delbrück,
syntakt. Forschungen IV, 8) hat für mich keine Wahrschein-
lichkeit. Vgl. Jac. Grimm Kl. Schriften III, 349.


Wenn wir, was oben weiter erörtert ward, festhalten, dass
das bedeutungsvollste von den sprechenden relativ am feste-
sten gehalten wurde, so wird es begreiflich, dass die Ana-
logiebildung auf solchen Gebieten und in solchen Wörterclassen
sich am leichtesten verbreitet, die wir nicht eben als in be-
sonderem Grade bedeutungsvoll betrachten können. So bei den
Zahlwörtern. Diese Wörter sind mehr als andere conventio-
nelle notae rerum. Sie stehen mit Wörtern anderer Art ausser
aller, den sprechenden bewusster oder empfundener Verbin-
dung, entbehren also des Schutzes, welchen Wörter anderer
Art in dem Gefühl der Zusammengehörigkeit mit andern an-
gehörigen derselben Wortsippe finden. Sie sind, so zu sagen,
schutzlose Fremdlinge mitten unter eng verbundenen Familien-
sippen. Eben deshalb habe ich in meiner Abhandlung „über
die Tragweite der Lautgesetze“ (Berichte der kgl. sächs. Ge-

[77] sellschaft der Wissenschaften 1870 1. Juli) es wahrscheinlich
zu machen gesucht, dass bei diesen Wörtern mehr als bei
andern sporadische Lautbewegungen mancherlei Art einge-
treten seien. Aus demselben Grunde ist es unleugbar, dass
bei den Zahlwörtern Analogiebildungen mehr als anderswo
sich geltend gemacht haben, vgl. Brugmann, Kuhn's Zeitschr.
XXIV, 66; Osthoff, Morphol. Unters. II, 92; Gustav Meyer
§ 395 ff.; Baunack, Zeitschr. XXV S. 225 ff. Dahin gehören
Formen wie δυοῖσι bei Herodot neben δύεσσι und δυσίν in an-
dern Dialekten, τριοῖσι — vielleicht im Anschluss an δυοῖσι
statt τρισί bei Hipponax, beide nach der geläufigen Ο-Decli-
nation. Ebenso die Verschiebung des Spiritus, z. B. im hera-
kleischen ὁκτώ, ὁκτακατίοι, ἑννέα, beide vielleicht im An-
schluss an das in der Reihe der Zahlen nahe liegende ἑπτά.
Ein besonderer Anlass zu Anlehnungen im Anlaut liegt bei
den Zahlwörtern darin, dass sich beim Zählen besonders
häufig eine Reihe bildet, in welcher zwei oder mehr Zahl-
wörter sich unmittelbar berühren. Die Verführung zur Asso-
ciation ist also überall in besonderem Grade zur Hand. Und
die Forderung, welche wir oben für die Glaubwürdigkeit der
Analogiebehauptungen aufstellten, dass die so zu erklären-
den Formen einander nahe ständen, wird hier im höchsten
Grade erfüllt.


Wenn wir im Griechischen und Lateinischen andere Ge-
biete überblicken, in welchen die Analogiebildung den höch-
sten Grad der Wahrscheinlichkeit erreicht, so stellt sich heraus,
dass diese besonders in wenig bedeutenden mittleren
und Endsilben
eintritt. Eine grosse Reihe von Fällen, die
wir bis jetzt besprochen haben, gehört in diese Kategorie.
Vocale und Diphthonge, welche an der Grenze zwischen dem
Stamme und den eigentlichen Flexionsendungen stehen, ver-
schieben sich z. B. in den oben erwähnten Plusquamperfect-
bildungen, in den ebenfalls erwähnten Dativen Plur. wie ἡδέσι,
πόλεσι. Von ähnlicher Art ist das Eindringen des σ in zahl-

[78] reiche Formen des Perfects und Passivaorists, sowie in die
Verbaladjectiva, worüber ich auf mein Verbum II2 389 ver-
weise.


Eine der bekanntesten Analogiebildungen im Gebiete der
Nominaldeclination ist die nach der Terminologie der alten
Grammatiker heteroklitische Behandlung der Stämme, welche
im Nom. Sing. auf -ης ausgehen. Am bekanntesten ist die
Bildung des Accusativs, z. B. Σοκράτην im Anschluss an Πέρ-
σην
, Θουκυδίδην. Bei G. Meyer § 328 überblickt man am
schnellsten, wie diese Anomalie zu den verschiedensten Zeiten
(z. B. ζάην bei Homer) und in den verschiedensten Dialekten,
namentlich in den aeolischen (vgl. Meister Gr. Dial. I, 154),
sich verzweigt hat. Beim Accusativ wurde, wie ich glaube,
diese Bildungsweise dadurch begünstigt, dass durch sie die
Form dieses Casus deutlicher hervortrat. Wie die Attiker in
Eigennamen die Form der vocalischen Declination allmählich
auch auf den Genitiv übertrugen, z. B. Ἀντιγένου, Ἀριστο-
κράτου
, Ἀλκιμένου, Θεοφάνου, ist aus den Zusammenstellungen
von Herwerden (Lapidum testimonia S. 15 ff.) auf Grund der
Inschriften deutlich zu erkennen. Alle diese Bildungen sind
dem zweiten Bande der Inscriptiones Atticae entnommen, mit-
hin viel jünger als die erwähnten Accusative. Die spätere
Sprache zeigt sich also auch hier wieder reicher an solchen
Umbildungen als die ältere. Wir können daraus lernen, nicht
überall ohne weiteres dergleichen vorauszusetzen, sondern die
Zeiten wohl zu unterscheiden.


Das Gebiet der Sprachformen, in welchem die reichste
Fülle solcher Bildungen sich darbietet, ist das der abgeleite-
ten Stammbildung und innerhalb dessen werden wiederum die
mittleren Silben der Wörter vorzugsweise davon betroffen.
Wenn wir aber erwägen, dass die Endsilbe dem Worte sein
für die Bedeutungskategorie charakteristisches Gepräge gibt,
während andrerseits die Stammsilbe selbstverständlich eine ge-
wisse Festigkeit verlangt, so bestätigt sich uns hier die oben

[79] gemachte Wahrnehmung, dass associative Umwandlung nicht
überall gleich häufig auftritt und darum, je nach ihrem Sitze,
bald wahrscheinlicher ist, bald unwahrscheinlicher. Nach
patronymischen Formen wie Αἰνειάδης werden solche wie
Τελαμωνιάδης, Πηληιάδης nicht ohne Einfluss des homerischen
Verses gebildet sein (Angermann, Stud. I, 1). Im Anschluss an
Wörter wie δουλοσύνη, δικαιοσύνη erscheint schon bei Homer
κερδοσύνη, später μαντοσύνη, ἐλεημοσύνη und andre Wörter,
deren Stämme von den Stämmen jener schon weiter abliegen.
Der Ausgang -υρος kam ursprünglich wohl nur solchen Ad-
jectiven zu, die aus kürzeren Nominalstämmen auf hervor-
gingen, z. B. ἐλεημοσύνη, ἐλεημοσύνη, wurde aber von da aus schon
in früher Zeit auf andere übertragen, z. B. λιγυρός, γλαφυρός. Bil-
dungen der ersten Art, deren Stammvocal schon dem stamm-
haften Substantiv zukommt, sind ἐχυρός, ὀϊζῡρός. In ähn-
lichem Verhältniss stehen zu einander die aus Α-Stämmen
hervorgegangenen Adjectiva, wie σιγᾱλος (Pindar), σιωπηλός
(Tragiker), zu solchen wie ὑπνηλός (Hippokr.) und ganz ent-
sprechend ἀτηρός zu πονηρός, μοχθηρός. Auch in den Com-
positis liegt die gleiche Erscheinung vor. Wir dürfen die Glei-
chung aufstellen, πονηρός:ἀτηρός = θανατηφόρος:νικηφόρος.
Dass das Lateinische eine Menge ähnlicher Vorgänge darbietet,
z. B. nasūtus nach cornūtus, von wo aus der Ausgang -uto be-
kanntlich in den romanischen Sprachen, aber erst in diesen,
zu einer beliebten Form der passivischen Participien wurde,
z. B. ital. veduto, dass natalis, novalis, annalis nach Wörtern wie
animalis, vitalis geformt sind, bedarf kaum der Hervorhebung.
Dennoch bleibt hier manches unentschieden, weil für beide
Sprachen Sammlungen, aus denen man den Umfang der ein-
zelnen Bildungen, nach Zeit, Ort und Anwendung geordnet,
genau überblicken könnte, noch durchaus nicht vorhanden
sind. Dies ist ein Gebiet, innerhalb dessen ich die Methode
Brugmann's für viel berechtigter und fruchtbarer halte als an-
derswo. Beispielsweise hebe ich die griechischen Neutra auf

[80]-μα hervor. Noch G. Meyer hatte § 333 „das Verhältniss des
Nominativs zu der Stammbildung in den obliquen Casus als
noch nicht aufgeklärt“ bezeichnet. Die Aufklärung ist, wie
ich glaube, inzwischen von Brugmann Morphol. Unters. II, 220 ff.
gegeben. Im Anschluss an die dort gebotene Darstellung, je-
doch mit kleinen Modificationen und Zusätzen und in andrer
Reihenfolge, mag darüber das nachstehende hier seinen Platz
finden. Ich glaube so am besten klar machen zu können, in
welcher Weise ich auf diesem Felde der Richtung der neueren
Forschung zu folgen vermag. Wir haben von diesen Stämmen
zweierlei wohl zu unterscheidende Formen. Die erste Art der
Formen ist in der Declination nur durch den Nom. Acc. Sing.
(z. B. ὄνομα) und den Dativ Plur. (z. B. ὀνόμασι) vertreten.
Dass hier nach dem α ein Nasal verklang, zeigen die ver-
wandten Sprachen, z. B. sanskr. nāma(n), got. namo, lat. u. umbr.
nōmen. Aus diesem Stamme ging das abgeleitete Verbum mit
erhaltenem ν, ὀνομαίνω, ferner νώνυμνος (aus νη-ονυμνος) und
mit Verklingen des Nasals ὀνομάζω hervor. Der zweite Stamm
ist der consonantisch erweiterte, auf welchen zunächst die
drei Pluralformen ὀνόματα, ὀνομάτων, ὀνομάτοις zurückgehen.
Diese Formen können wir nicht umhin mit den erweiterten
lateinischen Formen, z. B. cognomenta, Gen. Pl. cognomentum
(nach alter Weise, wie deum), Dat. Abl. cognomentis, zusammen
zu stellen. Wir können sagen, cognomenta verhält sich zu
ὀνόματα wie ἑκατόν zu centum und wie τατός zum lat. tentus,
mit andern Worten, -ματαist die schwache Form zum
lateinischen
-menta. Bekanntlich sind bei den Römern
in erheblicher Anzahl Formen auf -mentum neben denen auf
-men vorhanden, z. B. tormen und tormentum, regimen und
regimentum, fomen und fomentum, agmen und coagmentum (vgl.
Leo Meyer Vergl. Grammatik II, 267). Auf den ersten Blick
kann man zweifeln, ob die lateinische Erweiterung des Suffixes
durch to oder die griechische durch blosses τ die ältere sei.
Indessen lässt sich bei näherer Ueberlegung vieles zu Gunsten

[81] der ersten Ansicht sagen. In derselben Weise wie ὀνομα-το
aus ὄνομα entstand im Sanskrit das von Brugmann angeführte
ved. c̹rōma-ta (Ruf, Neutr.); ebenso verhält sich ahd. hliumunt
zu got. hliuma. Für das Griechische kommt dabei namentlich
der Dativ Pluralis in Betracht. Man stellte Dative wie χρη-
μάτοις
, ὀνομάτοις früher allerdings zu jenen metaplastischen
Formen, die wir S. 69 f. besprachen, aber aus den neuesten
olympischen Funden kennen wir jetzt das Brugmann damals
noch nicht zugängliche altelische χρημάτοις. Diese Dativform
steht bei Roehl, Inscr. antiquissimae 113b (Cauer2 253) zwei-
mal und dürfte — da diese Inschrift von Kirchhoff wegen des
einen Hellenodiken vor 580 gesetzt wird — das älteste Bei-
spiel eines sogenannten metaplastischen Dativs auf οις, wo
wir σι erwarten, sein. Nehmen wir nun mit Brugmann an,
die drei erwähnten Pluralformen gehörten von Haus aus zum
-το-Stamme, hätten also ursprünglichὀνόματα, ὀνομάτων,
ονομάτοις gelautet, so hätten wir hier — von der innern Ge-
staltung des Stammes abgesehn — genau die zum Lateinischen
stimmenden Formen. -οις wäre hier nicht aus der andern
Form entstanden, sondern wäre eine ältere Bildung, wie wir
sie für die alte Zeit erwarten mussten. Neben dem erwähnten
Dat. Plur. konnte immerhin auch schon früh eine Nebenform
aus dem unerweiterten Stamm -μα(ν) gebildet werden, so dass
die Wahl zwischen der einen und der andern Form ebenso gut
frei stand, wie im Lateinischen die zwischen cognomentis und
cognominibus. Diese Möglichkeit wird zur Wahrscheinlichkeit,
wenn wir an der von Bopp an weitverbreiteten und bisher nicht
widerlegten Ansicht festhalten, dass die stammbildenden Suf-
fixe aus Pronominalstämmen hervorgegangen sind. Denn das
Suffix -to entspricht dem Pronominalstamme to, ob aber ein
aus einem blossen Consonanten bestehendes Suffix t als ur-
sprünglich betrachtet werden darf, ist zweifelhaft. Vielleicht
ist es kein Zufall, dass wir von der Flexion des Suffixes
-ματο nur Plural-, höchstens eine Dualform -ματοιν besitzen.
Curtius, Zur Kritik. 6

[82] Vielleicht war die früheste Anwendung des erweiterten Suffixes
auf den Plural beschränkt. Es würde sich das auch begriff-
lich gut fügen, denn in der That ist die Anwendung des Suf-
fixes man (-mato, -mat) im Singular und Plural nicht ganz
dieselbe. εἵμα bedeutet Kleidung, εἵματα Kleidungsstücke,
κτῆμα den Besitz, κτήματα die einzelnen Besitzthümer oder
Gegenstände des Besitzes, und ähnliches lässt sich ander-
weitig wahrnehmen. Man kann dies auch so fassen, dass die
Wörter auf -man von Haus aus im Singular infinitivartig (vgl.
-μεναι) die Handlung bezeichneten, während die wahrschein-
lich nachgeborenen Plurale eine weniger abstracte Bedeutung
annahmen. Auch der durch Erweiterung eines R-Suffixes
mittelst desselben τ entstandene Plural ὀνείατα entfernt sich
dem Sinne nach nicht unbeträchtlich vom Singular ὄνειαρ.
Dies hat den abstracten Sinn Hülfe, Schutz, z. B. II. X 485,
der Plural ὀνείατα bezeichnet Hülfsmittel, vorzugsweise Nah-
rungsmittel.

Ist unsere Annahme die richtige, so müssen wir ver-
muthen, dass das τ vom Plural aus erst allmählich auf den
Singular übertragen wurde, und dass die beiden Singularformen
ὀνόματα und ὀνόματι erst auf diese Weise entstanden. Das
vocalische Suffix -ματο ward auf solchem Wege zum conso-
nantischen -ματ*) Eine ähnliche Entstehung von consonan-

[83] tischen Suffixen aus solchen, die ursprünglich aus Consonant
und Vocal bestanden, ist aber auch anderswo wahrscheinlich,
so namentlich bei dem Suffix κ, z. B. φύλαξ neben φυλακούς
(Aristarch Ω 566) und dem homerischen E. N. Φύλακος. Was
Brugmann a. a. O. über die Entstehung dieser und ähnlicher
Stämme vermuthet, scheint mir viel Wahrscheinlichkeit zu
enthalten. Am allergenauesten stimmen zu unsern Bildungen
auf -men und -mentum (gr. -μα und -ματο) die weniger häu-
figen auf -en und -entum (gr. -ατ und -ατο), z. B. lat. unguen
und unguentum, gr. ἁλ- und ἁλατ-, letzteres erschliessbar aus
dem Sprichwort ἅλασιν ὕειν (Grundz.⁵ 549), γόνυ und γουνατ-,
(für γονϝ-ατ), δόρυ und δουρατ- (δορϝ-ατ). Das ableitende
Suffix gibt sich am deutlichsten im homerischen ὀνείρατα
(ε 87) zu erkennen. Auch hier bleibt die Erweiterung nicht
ohne alle Wirkung auf die Bedeutung: ὄνειρος heisst Traum,
ὀνείρατα Traumbilder, Traumgesichte. Zu den Wörtern ver-
wandter Bildung gehört auch οὖς. Die homerische Form οὔατα
verhält sich zum got. St. ausan ähnlich wie unguentum zu un-
guen
, und bezeichnender Weise überliefert uns der Atticist
Phrynichus CLXXXVI S. 291 bei Rutherford die an χρημά-
τοiς
erinnernde Form ὤτοις, freilich als eine schlecht attische
und darum zu vermeidende. Aber offenbar bestand sie in der
κοινή. Es scheint mir nach diesen Spuren nicht unwahrschein-
lich, dass jener oft erwähnte Metaplasmus im Dat. Pl., der
6*

*)[84] in einzelnen Dialekten (vgl. Baunack Stud. X, 91) sich sogar
in Bildungen wie ἀρχόντοις, τεθνακότοις, ἐτέοις (ἔτος, Jahr)
zeigt, von Formen der eben behandelten Art, in denen das ο
alte Begründung hatte, seinen Ausgang nahm. Gab es in einer
Mundart Doppelformen wie χρημάτοις und χρημάτεσσι, οὐά-
τοις
und οὐάσιν neben einander, wie leicht konnten ähnliche
Binionen von Stämmen gebildet werden, in denen die O-Bil-
dung keine historische Berechtigung hatte, bis sie schliesslich
als die bequemere sich im Kampfe der Bildungstriebe in
einigen Dialekten allein behauptete?


Schon oben S. 8 wiesen wir darauf hin, dass die neueren
Sprachforscher die Lautbewegung durchaus auf zwei Princi-
pien zurückzuführen suchen, auf lautgesetzliche Veränderungen,
die sie im Widerspruch mit vielen Thatsachen für unbedingt
ausnahmslos ausgeben, und auf Analogiebildungen. Wir such-
ten zu erweisen, dass die Annahme von schwankenden oder
sporadischen Lautübergängen unerlässlich und dass somit je-
denfalls ein drittes Princip zuzulassen sei. Wir werden aber
selbst damit nicht auskommen. Es mag hier darauf hinge-
wiesen werden, dass es noch eine ganze Reihe von Lautver-
änderungen gibt, welche weder auf Lautgesetzen, noch auf
rein lautlichen Neigungen, noch auf Analogiebildungen, son-
dern auf wiederum andern, bisher noch wenig oder gar nicht
berührten Trieben des Sprachlebens beruhen.


Wir können zunächst 1) Kürzungen erweisen, die von der
bezeichneten Art sind, und zwar:


a) Erscheinungen der Namenbildung. Es braucht hier
nur auf das epochemachende Buch von Fick, „die griechi-
schen Personennamen“, hingewiesen zu werden. Es ist ur-
kundlich erwiesen, dass Ζεῦξις die kurze Form oder der Kurz-
name (Kosename) von Ζεύξιππος ist. Meister (Bezzenb. Beitr.
VI, 65) zeigt aus einer böotischen Inschrift, dass derselbe
Sclave in derselben Urkunde bald mit dem Vollnamen Ἀν-
δρώνικος
, bald mit dem Kurznamen Ἀνδρικός bezeichnet wird.

[85] Weiterer Beispiele, wie Πάτροκλος neben Πατροκλῆς, Ἄμφι-
κλος
u. s. w., bedarf es nicht. Wie sollen wir nun diese Kurz-
namen auffassen? Wohl niemand wird sich getrauen, durch
lautlichen Uebergang die Kürze erklären zu wollen, aber auch
wer auf Analogiebildung riethe, hätte einen schweren Stand.
Ich leugne zwar nicht, dass auch bei diesen verkürzten Zu-
sammensetzungen einfache Bildungen als Muster mitgewirkt
haben, wie z. B. für Ἀνδρικός die zahlreichen Adjectiva auf
-ικός, für Ἄνδρων die Nomina auf -ων (vgl. Stud. IX S. 177 ff.),
allein das treibende Motiv der Sprache lag offenbar nicht in
jener Nachbildung, sondern in dem Bestreben nach einer ver-
traulichen Kürzung, und ähnlich wird es in andern Sprachen,
z. B. im Deutschen, sein, wo gewiss niemand Hinz, Kunz,
Götz und ähnliches etwa als Analogiebildung nach Schütz,
oder was sonst einem einfallen mag, erklären wird. Auch
möchten derartige Muster häufig gar nicht zu finden sein.
Nun hat aber Fick Stud. IX, 167 ff. gezeigt, dass es auch
unter Appellativen namenartige Bildungen gibt, und wenn da-
runter auch manche für mich allzu kühnen Vermuthungen sich
finden *), so scheinen mir doch einzelne Annahmen durchaus
berechtigt, z. B. πᾶς, Gen. πᾶ, das von Grammatikern als
Kurzname zu πατήρ, μᾶ, das als Kürzung zu μάτηρ von
Grammatikern angeführt wird, βᾶ bei Aesch. Suppl. 892, das
gewiss am richtigsten mit βασιλεύς gedeutet wird, κάσις, wohl
mit Recht als Kurzform für κασίγνετος betrachtet, wie das
homerische ἕκατος als Kurzform für ἑκατηβόλος. Dass noch
manches der Art, namentlich aus der volkstümlichen Sprache,
wird nachgewiesen werden können, ist mir durchaus wahr-
scheinlich.


b) Zur Vermeidung eines dem ästhetischen Sinne der
sprechenden missfälligen Gleichklanges werden in unmittel-

[86] bar zusammenstossenden Silben mancherlei Kürzungen vorge-
nommen, die durchaus nicht rein aus Lautgesetzen, aber
auch nicht aus Analogie erklärt werden können. Ich verweise
auf meine Grundz.⁵ 706 ff. und meine Abhandlung über „die
Tragweite der Lautgesetze“. Aus welchem Lautgesetz oder
welcher Analogiebildung könnte man das in gut attischen In-
schriften überlieferte ἡμέδιμνον statt ἡμμιέδιμνον, ἀμφορεύς
statt ἀμφιφορεύς erklären? Ich verweise namentlich auf die
mannigfaltigen Kürzungen der Reduplicationssilbe, z. B. sanskr.
pa-sparc̹a (Perfect von der W. spṛc̹ berühren), gr. κασκαλίζειν,
lat. qui-squiliae auch auf Formen wie τίθημι und ähnliches,
bei denen von einer lautgesetzlichen Verwandlung der
Aspirata in die Tenuis (vgl. G. Meyer § 300) nicht die Rede
sein kann, ferner auf ἕσταμεν neben lat. sistimus. Die Erschei-
nung der Dissimilation ist in keinem grammatischen System
entbehrlich. Aber da sie nirgends mit völliger Consequenz
auftritt, widerspricht sie im Princip dem jetzt beliebten laut-
lichen Rigorismus. Die Vereinfachung des λ im dor. ἀλλάλων
ist von gleicher Art. Auf das Eintreten des ε statt einer vollen
Reduplicationssilbe, z. B. in ἔστικται, ἔσπαρται, bin ich Verb.
II2 141 ff. näher eingegangen. Wer diesen Vorgang etwa nach
alter Manier aus einer Verwechslung des Augments mit der
Reduplication erklären wollte, der bedenke doch, wie scharf
die Griechen den Exponenten der vergangenen von dem der
vollendeten Handlung syntaktisch unterschieden. Gust. Meyer
(§ 542) weist diese Deutung mit den Worten ab: „Dass dies ε
durch die Modi festgehalten wurde, beweist, dass man es immer
als vom Augment verschieden empfand“. Hier ist der Aus-
druck „empfinden“ (vgl. S. 55) am Platze, denn es handelt sich
um die Festhaltung eines bedeutungsvollen Unterschiedes. Ich
verstehe aber nicht, wie G. Meyer kurz vorher sagen kann:
„Das Eintreten von ε statt der vollen Reduplicationssilbe ist
auf lautlichem Wege nicht zu begreifen“. Denn es handelt
sich hier um eine Lautbewegung, freilich um keine, die man

[87] Gesetz nennen darf. Aber es gibt eben auch solche lautliche
Bewegungen, die jener vorschnell aufgestellten Forderung sich
nicht fügen.


c) Die Erscheinungen der Synizese und der von Fritsch,
Stud. VI, gründlich erörterten Hyphaeresis darf man ebenfalls
hierher stellen. Auch diese Erscheinungen sind in Namen-
bildungen und namenartigen Wörtern besonders häufig. Man
denke an Eigennamen wie Θέδωρος statt Θεόδωρος, an das
homerische θέσπις, das vielleicht nur ein Kurzwort für θεσπέ-
σιος
ist. Dazu gehört wahrscheinlich auch der kretische Name
Θίβος, welcher von Baunack Stud. X, 84 scharfsinnig aus
Θιόβουλος, d. i. Θεόβουλος, gedeutet wird. Ich mache darauf
aufmerksam, dass der Wortaccent dergleichen Kürzungen in
keiner Weise hindert.


d) Hierher gehören wahrscheinlich auch die Stammkür-
zungen in den Comparativen und Superlativen, die zu den
merkwürdigsten Ausnahmen von der allgemeinen Regel zu rech-
nen sind, dass die abgeleitete Stammbildung aus dem vollen
Stamme des primitiveren Wortes hervorgeht. Man erinnere
sich solcher Formen wie ῥίγιον, ἄλγιστος, αἰσχίων, ἡδίων.
Man sagt wohl, der Comparativ werde hier „aus der Wurzel“
gebildet, allein mit welchem Rechte kann man z. B. das aus
Wurzel (?) αἰδ (αἴδομαι, αἰδώς) hervorgegangene αἰσχ von
αἰσχίων eine Wurzel nennen, und was hat begrifflich die Wur-
zel mit der Comparation der Adjectiva zu thun ? Die Steige-
rung setzt unbedingt den Begriff einer Eigenschaft, also eines
Nomens voraus, ἡδίων, ῥίγιον haben schwerlich von Haus
aus ohne einen Positiv bestanden, vielleicht nur nicht von An-
fang an neben dem später üblichen. Bei weiterem Suchen wird
man gewiss noch manches dem ähnliche finden können und
Kürzung als einen nicht zu übersehenden Factor der Sprach-
bildung betrachten dürfen. Es kommt mir so vor, als ob
neuerdings bei denen, welche früher die lautesten Bekenner
jenes Dualismus von lautgesetzlicher Bewegung einerseits und

[88] Association andrerseits waren, weniger exclusive und streng
dogmatische Ansichten auftauchen.


2) Der Kürzung lässt sich aber auch die Erweiterung
zur Seite stellen. Diese Erscheinung ist selten, aber dennoch
unleugbar. Sie zeigt sich am deutlichsten wiederum im Gebiete
der Namen und ihres gleichen. Mit jener vertraulichen Kür-
zung, die wir erwähnt haben, verbindet sich gelegentlich Ver-
doppelung
(Fick, Personennamen S. LIX, G.Meyer § 289
Anm.), so von πᾶ = πατήρ das schon homerische πάππα,
ζ 57. Daneben ἄππας· ὁ τροφεύς Hesych. (Lobeck, Paralip.
S. 78). In weiterem Masse ist die Consonantenverdoppelung
für hypokoristische Namen aus verschiedenen Gegenden Grie-
chenlands nachgewiesen. Die Verdoppelung ist auch hier wie-
der in eigentümlicher Art mit Kürzungen verbunden, z. B.
Κεφαλλίς CIA, I, 292, Κλεομμίς = Κλεομήδης, Θεοκκώ,
Ἀγαθθώ, Ἀφθοννώ, welche von Blass, Rhein. Mus. XXXVI,
604, besprochen werden. Das allerseltsamste der Art sind die
an jenem Orte und auch von Meister (Bezzenb. Beitr. V, 188
und „die griech. Dialekte“ I, 266) aufgeführten böotischen
masculinischen Kurznamen auf -ει, z. B. Μέννει = Μενεκλῆς,
Κεφάλλει, Gen. Κεφάλλιος, Ἀθανίκκει = Ἀθανικέτας. Hier
zeigt sich also die tändelnde Bildungskraft der Sprache in
dreifacher Weise, in der gewöhnlichen Kürzung des Voll-
namens, in der sonst unerhörten Abwerfung des nominativi-
schen und in der Gemination der Consonanten. Man möchte
sagen, wenn der Sprachsinn in seinen alten Tagen noch ein-
mal wieder in tändelndes Spielen geräth, so macht er es be-
sonders arg.


Zur Consonantenverdoppelung lassen sich aus fast allen
Dialekten noch zahlreiche Beispiele hinzufügen, z. B. Βάθυλλος,
Τελέσιλλα, Θράσυλλος, Κόριννα. Eine reiche Sammlung sol-
cher Bildungen bespricht Baunack in seiner den „Studia Nico-
laitana“ L. 1884 einverleibten Abhandlung „Ἀχέρων, Ἀχελώνιος
und Ἀχιλλεύς neben einer Reihe wurzelverwandter Wörter“

[89] S. 47. Wir wollen indess nicht in den Fehler verfallen, das,
was sprachlich möglich und in zahlreichen Fällen wirklich ist,
sofort als allgemeines Erklärungsmittel zu verwerthen, aber
an die Möglichkeit ähnlicher Vorgänge für viel frühere Sprach-
perioden, namentlich die der Kürzung, z. B. bei der ersten
Festsetzung der Flexionsendungen, wie man dies auch zum
Theil schon angenommen hat, dürfen wir mit Recht denken.
Aber davon freilich will die jetzt beliebteste Doctrin kaum
reden hören, indem sie sich, speciell hierfür, worauf wir noch
zurückkommen, stolz in den Mantel des Nichtwissens hüllt.
Indess sind diese Dinge da und dürfen nicht ungestraft igno-
rirt werden.


[[90]]

III.

Audiatur et altera pars.

Seitdem Brugmann Stud. IX (1876) S. 361 ff. zuerst mit
Entschiedenheit die Behauptung aufgestellt hatte, auch in den
arischen Sprachen sei von Anfang an der mit einem ein-
zigen Zeichen geschriebene kurze A-Laut von mannichfaltigem
Klange gewesen, ist die Ansicht, schon die indogermanische
Grundsprache habe den bunten Vocalismus gekannt und ins-
besondere der griechische Vocalismus sei alterthümlicher als
der indisch-persische, vielfach aufgestellt und mehr und mehr
verbreitet worden *). Jetzt gehört diese Auffassung zu den
Hauptdogmen der jüngeren Grammatiker gegenüber den älte-
ren. Und wie man sich auch in dieser Beziehung entscheiden
mag, jeder unbefangene wird zugeben müssen, dass schon das
blosse Aufwerfen der Frage gegenüber der widerspruchslosen
Fortpflanzung der nicht genauer geprüften alten Meinung der
Wissenschaft erhebliche Anregung gebracht und dass die dar-
aus hervorgehenden, mit grossem Scharfsinn geführten Unter-
suchungen über den Vocalismus der indogermanischen Sprachen
nicht ohne mannichfaltigen Gewinn geblieben sind. Ich denke
dabei namentlich an die weit verzweigte Erscheinung, für

[91] welche, irre ich nicht, Brugmann zuerst den Namen „Stamm-
abstufung“ glücklich gefunden hat. Dass aus diesen Unter-
suchungen namentlich auch auf das griechische ᾰ, z. B. in
ἔδρακον, ἔλαβον, neues Licht gefallen ist, habe ich schon in
meinem „Verbum“ II2 S. 35 ff. rückhaltlos anerkannt. Da-
gegen muss ich mir freilich in Bezug auf die Systematik und
den eigentlichen Kernpunkt der neuen Lehren meine Zweifel
und zum Theil mein bestimmt abweichendes Urtheil vorbe-
halten. Es liegt mir indess hier fern, auf das sehr weitschich-
tige und viel erörterte Material ausführlicher einzugehn. Hier
betrachte ich vielmehr die Kritik der Methode und der für die
Wahrscheinlichkeit der neueren Aufstellungen vorgebrachten
Momente als meine Aufgabe. Ich begnüge mich übrigens,
einige Hauptpunkte und namentlich solche zur Sprache zu
bringen, welche mir mehr für die ältere, als für die jüngere
Ansicht zu sprechen scheinen.


Nach einem vielleicht manchem pedantisch scheinenden
Vorgehen, das schon aus dem Alterthum stammt *), frommt
es bei wissenschaftlichen Controversen stets zu fragen, „quid
pro re“, „quid contra rem“ dici possit
. Dies ist in dieser
Frage nicht hinreichend geschehen. Der Charakter der ge-
sammten neueren Sprachwissenschaft ist, so scheint es mir,
zu vorherrschend ein constructiver, zu wenig ein dialektischer.
In dieser Frage namentlich war das Urtheil der meisten allzu
schnell fertig, so dass man nach kaum eröffnetem und wenig
ernsthaftem Kampf gegen die frühere Ansicht schon das Ge-
sammturtheil in einer Frage von grosser Tragweite für abge-
schlossen hielt und sich mehr um Einzelheiten, ja um die
Priorität des neuen Gedankens und um die Verdeutlichung
desselben durch Schriftzeichen stritt, als um die Sache selbst,
für welche ein veni, vidi, vici die Losung des Tages war.



[92]

Bopp lehrte nach Ueberwindung einer andern nur sehr
unvollkommen von ihm angedeuteten Auffassung, das eine im
Sanskrit erhaltene a habe sich bei andern Völkern in den
Dreiklang a e o gespalten. Und bei dieser Lehre verblieb —
von vereinzelten rasch hingeworfenen Zweifeln abgesehn —
die Sprachwissenschaft bis 1876. Allerdings war die ältere
Lehre, worin ich mit Joh. Schmidt, Froehde und andern ganz
übereinstimme, nicht bewiesen. Aber das ist kein Vorwurf,
vieles in unsrer Wissenschaft musste, zumal in ihren Anfängen,
längere Zeit eben nur vorläufig aufgestellt werden! Bewiesen
waren nur die Thatsachen, dass sanskr. a bald einem a, bald
einem e, bald einem o der europäischen Sprachen gegenüber
stehe, und dies thatsächliche Verhältniss leugnet niemand. Dass
man den Vocalismus der Inder und Iranier für den älteren
hielt, war bei dem ersten Auftauchen der vergleichenden Gram-
matik sehr natürlich, da man zumeist durch das Mittel des
Sanskrit alle diese Dinge gelernt hatte und daher stets, frei-
lich oft mit Unrecht, geneigt war, das Sanskrit in jedem Falle
bis zum Beweis des Gegentheils für besonders alterthümlich
zu halten. Dass auch das Gotische mit seinem, wie wir jetzt
wissen, nicht durchweg primitiven a i u zur Bekräftigung die-
ser Lehrmeinung beitrug, kann nicht geleugnet werden. Die
Behauptung von der Priorität des eintönigen Vocalismus vor
dem bunten ist also eine Hypothese. Die Richtigkeit einer
Hypothese bemisst sich darnach, ob sich aus ihr die in Be-
tracht kommenden Thatsachen gut erklären lassen. Zu ver-
werfen ist sie, wenn das nicht gelingt, oder wenn sich die
Thatsachen durch eine andre Hypothese besser erklären lassen.
Dennoch hat eine Widerlegung der älteren Auffassung in die-
sem Sinne nicht stattgefunden. Einer der scharfsinnigsten und
eindringlichsten Vertreter der neuen Richtung, Ferd. de Saus-
sure, sagt in den Memoires de la societe de linguistique III
p. 358[]: „Le scindement d'un seul a est et restera un fait
possible en lui même
“. Brugmann dagegen scheint Mor-

[93] phol. Unters. III, 92 selbst diese Möglichkeit nicht einräumen
zu wollen. Er geht dabei von einem jener Axiome aus, deren
Werth wir im ersten Abschnitt dieser Schrift erwogen. „Die
Annahme, dass unter ganz denselben Verhältnissen ein Laut
in einem Theil der Formen auf diesem, in einem andern Theil
auf jenem Wege umgestaltet worden sei — etwa in Folge der
Laune der sprechenden —, widerstreitet den heutzutage mehr
und mehr zur Geltung kommenden methodologischen Prin-
cipien durchaus“. Meiner Ansicht nach kommt es auf der-
artige a priori construirte Principien viel weniger an als auf
die Thatsachen der Sprachen und deren wahrscheinlichste Deu-
tung. Bei der Verschiedenheit der Mundarten begegnen wir
ja häufig einem fürs erste wenigstens unerklärten mannichfal-
tigen Wechsel der Laute und gerade vorzugsweise der voca-
lischen. Wer hat einen Grund dafür gefunden, dass im Arka-
dischen dem ἄλλο aller andern Mundarten ἄλλυ gegenüber
steht, wer einen Grund dafür, dass das lat. inter im Oskischen
anter lautet? Was von Mundarten gilt, kann doch auch von
Sprachen eines Stammes behauptet werden. In einer grossen
Reihe von Fällen steht arischem r, wie man längst erkannt
hat, ein europäisches l gegenüber. Aelteres r hat sich also
bei einigen Völkern gespalten und sich theils als r, theils
als l festgesetzt, ohne dass es bisher gelungen ist, in jedem
Falle einen Grund für die Wahl des einen oder des andern
zu finden. Ja im Griechischen selbst stehen die offenbar zu-
sammen gehörigen Verben ἀμέργω und ἀμέλγω dem einen
sanskr. mṛg' gegenüber, einer der einleuchtendsten Beweise
dafür, dass wir den Begriff Spaltung im Sprachleben nicht
entbehren können. Eine „Laune der Sprache“ braucht des-
halb nicht behauptet zu werden. Das negative Präfix heisst
sanskr. iran. griech. umbr. osk. an, aber lat. in, deutsch un.
Man bringt den mundartlichen Lautwechsel nicht aus der Welt.
Gewiss hat die Wissenschaft überall jeden einzelnen Fall der
Art womöglich auf die Anlässe zu prüfen, aber auch wenn es

[94] nicht gelingt, solche Anlässe zu finden, ist deshalb nicht jede
Erklärung richtig, die von irgend einem neuen Gesichtspunkte
aus die feststehenden Thatsachen anders zu deuten sucht ? Auch
diese neue Erklärung kann ihre Schwierigkeiten haben, und
auf diese hin ist die neue A-Theorie wenig geprüft worden.
Freilich stellte man sich diese Spaltung lange Zeit in der
Weise vor, als ob das eine a bis in das Sonderleben aller
einzelnen Sprachen hinein unversehrt geblieben, ja gewisser-
massen überall und in jeder Art von Formen als ein altererbter
Laut zu erwarten sei. Man begegnet dieser Auffassung un-
gemein häufig noch bei Corssen, bei Westphal und andern.
Ersterer bestreitet z. B. die jetzt wohl allgemein geltende An-
nahme, dass die lateinischen Verba der A-Conjugation zwi-
schen dem Conjugations - und dem thematischen Vocal ein j
eingebüsst hätten, dass also domāt einem indischen Verbum
wie damaja-ti entspricht, mit dem Einwände, es lasse sich
nicht nachweisen, dass im Lateinischen je ein j zwischen zwei
Α-Lauten ausfalle. Corssen setzte also noch für das Sonder-
leben des Lateinischen ein damajat(i) voraus, was ohne Zweifel
falsch war. Die älteren Gelehrten wunderten sich über kein
einziges a, das irgendwo im Lateinischen oder im Griechischen
vorliegt, man hielt jedes a für eine Antiquität, die gegenüber
dem, wie Bopp dies nannte, „entarteten“ e oder o von dem
Sprachforscher als ein urindogermanischer Laut mit Freuden
zu begrüssen sei. Die Ueberwindung dieses offenbar verfehl-
ten Standpunktes, die Einsicht, dass der bunte Vocalismus
etwas viel älteres sei, als man bisher glaubte, dass er ent-
schieden über das Sonderleben der Einzelsprachen hinausgehe,
dass überall auch für ihn ein geregeltes Vorkommen zu er-
warten sei, brach sich von verschiedenen Seiten Bahn. Zu
dieser Einsicht suchte ich durch meine Abhandlung „über die
Spaltung des Α-Lautes“ (Berichte der k. sächs. G. d. Wissensch.
Philolog.-histor. Cl. 1864) beizutragen, indem ich den bunten
Vocalismus zwar nicht als indogermanisch, wohl aber als

[95] europäisch zu erweisen suchte. Es war dies keine Bestrei-
tung der bis dahin geltenden älteren Hypothese, wohl aber
eine festere chronologische Bestimmung und eine Begrenzung
des Gebietes, welchem der monotone Vocalismus allein zu-
komme, sowie eine Zurückweisung falscher Anwendungen
jener Hypothese. Kein Einwand kann gegen diese Auffassung
dem Armenischen entnommen werden, wie dies wohl ge-
schehen ist. Denn diese Sprache gehört offenbar zur euro-
päischen Gruppe. Andrerseits wird die ganze Erscheinung,
die ich „Spaltung“ nenne, dann viel weniger befremdlich, wenn
sie bei einem damals einheitlichen Volke gemeinsam eintrat
und in weitem Umfange regelmässig sich geltend machte, so in
der Stammsilbe des Präsens zahlreicher Verba der E-Laut, in
derselben Silbe bei Substantiven der O-Laut. Es war dar-
nach ja nicht im mindesten von einer „Laune“ der Sprache
die Rede, sondern es gelang wenigstens vielfach, die einzelnen
Phasen des alten kurzen a für bestimmte Stellen der Wörter
nachzuweisen.


Sehr natürlich war es nun, dass man auf diesem Wege
weiter fortschritt, und jede Untersuchung, die von irgend einer
Seite wirkliche Aufschlüsse brachte, konnte nur willkommen
sein. Aber es fragt sich eben, ob dies der Fall war, und zu-
nächst wäre es doch wohl am Platze gewesen zu sagen, warum
denn die alte Lehre zu verwerfen, oder wenigstens warum die
neue ihr vorzuziehen sei. Dies ist so gut wie gar nicht ge-
schehen, und wo man es versucht hat, ist nach meiner Ueber-
zeugung die Antwort nicht gelungen.


Einen Versuch der Widerlegung der bis 1876 allgemein
angenommenen Lehre finde ich bei Misteli in Steinthal's Zeit-
schrift XI, 318 angedeutet. Er sagt, es habe sich auf dem
alten Wege nicht viel weiter kommen lassen, „weil kein Mensch
zu sagen wusste, nach welchem Gesetz das indogermanische a
in den Dreiklang a e o aus einander gegangen sei“. Mit die-
sem Vermiss bat es seine Richtigkeit. Denn in der That waren

[96] die Wahrnehmungen, die man über den Einfluss von Nachbar-
consonanten innerhalb derselben Silben auf ihnen nahe stehende
Vocale oder über Einwirkungen des Vocalismus von Nachbar-
silben oder über den des Accents der Einzelsprachen auf die
Vocalfärbung versucht hatte, nur zum geringsten Theile be-
friedigend. Man kann das recht deutlich erkennen an den ent-
sprechenden Lehren Corssen's „Aussprache,Vocalismus u.s.w.“
21 ff. über den lateinischen Vocalismus und Gust. Meyer's ein-
stigem Versuch, das griechische ε aus der griechischen Be-
tonung zu erklären (Zeitschr. XXIV, 226 ff.). Das höhere Alter,
welches sich mir unter mehrfacher Zustimmung für das e neben
dem a(o) ergab, warf wenigstens insofern für die Vertheilung
der Vocale in den Einzelsprachen ein Resultat ab, als man
erkannte, dass das e und vielfach auch das o der Stammsilben
nicht aus den Gewohnheiten und Neigungen der Einzelsprachen,
sondern aus Zeiten zu erklären sei, die weit jenseit dieser
Perioden liegen.


Es kann also zugegeben werden, dass eine Hypothese er-
wünscht sein würde, die uns zu einer befriedigenderen Ein-
sicht in den Grund der vocalischen Buntheit führen würde.
Aber ist denn diese auf dem neuen Wege wirklich erreicht?
Ich kann dies nur in Bezug auf einzelne Punkte zugeben. Im
grossen und ganzen ist vielmehr nichts andres geschehen, als
dass man an die Stelle der alten eine neue Hypothese gestellt
hat. Man hat in diesem Falle wie in vielen andern das schwer
begreifliche als von Anfang an gegeben hingestellt und damit
das weitere Fragen vielfach abgeschnitten. Dabei aber hat
man, da das Fragen ja bei dem nach Wissen strebenden nie
aufhört, ganz übersehen, dass auch bei der neuen Hypothese
gar vieles zu fragen übrig bleibt. Brugmann hat ganz Recht,
wenn er Morph. Unters. III 93 sagt: fiat experimentum! Und
wie oft bekennt Saussure in seinem feinsinnigen Buche, dass
die Entscheidung im einzelnen Falle ungemein schwierig sei!
Freilich sticht diese bescheidene Sprache gar sehr gegen die

[97] Sicherheit ab, mit der anderswo die ältere Hypothese als
völlig überwunden und die neue Lehre als über jeden Zweifel
erhaben dargestellt wird. Solche Fragen und Zweifel wollen
wir nun hier vorführen.


Zunächst fragen wir: Woher kommt, wenn man den bun-
ten Vocalismus als den ältesten betrachtet, bei den Indern und
Iraniern der ihre Sprachen charakterisirende eintönige Voca-
lismus? Kann man nicht hier ebenso wie vorhin sagen: „Kein
Mensch weiss zu sagen, nach welchem Gesetz sich e und o
durchweg in das eine a wandelte“? Auf diese Frage ist die
Antwort der neueren Sprachforscher altum silentium, wie es
denn überhaupt den orientalischen Sprachen in der Geschichte
der Wissenschaft eigenthümlich ergangen ist. Einst das Orakel
der aufkeimenden Forschung, dem man blindlings folgte, stehen
sie jetzt bei Seite. Man kann fast sagen, statt des geflügel-
ten Worts „ex oriente lux“ muss es jetzt heissen „in oriente
tenebrae
“. Wo kommt es denn sonst vor, dass eine Sprache,
die doch ihrem Charakter nach eine reich und fein unterschei-
dende ist, einen wichtigen Theil des Lautbestandes nicht etwa
nur hier und da verändert, sondern förmlich verwüstet ? Fin-
den sich irgendwo für diesen seltsamen Vorgang Analoga, so
bringe man sie vor. Man denkt unwillkürlich an den neu-
griechischen Itacismus. Sollen wir diesem einen arischen
Alphacismus entgegen stellen? Aber jener ist ein in seiner
stufenweisen Entstehung durch Zeugnisse von Jahrhunderten
wohl bezeugter Process, der Alphacismus reine Hypothese.
Oder sollen wir für die östliche Monotonie etwa nur die Schrift
in Anspruch nehmen, vielleicht auch statt des vollen A - Lautes
einen unbestimmten trüben Vocal voraussetzen, etwa wie unser
sogenanntes stummes e, das Residuum volltönender Vocale? *)
Diesen und ähnlichen Auffassungen steht doch die Thatsache
gegenüber, dass dergleichen Laute von geringer Kraft und
Curtius, Zur Kritik.7

[98] Klarheit späten Sprachperioden weit mehr als frühen, und
tonlosen Silben mehr als hochbetonten eigen zu sein pflegen,
während das arische a bekanntlich im weitesten Masse auch
hoch betonten Silben zukommt. Ich weiss nach solchen Er-
wägungen keine andre Wahrscheinlichkeit zu finden, als die,
dass wir in diesem a ein wirkliches kurzes a zu erblicken
haben, das freilich unleugbar wiederum einer mannichfaltigen
Intonation fähig war. Und es bleibt der befremdliche Um-
stand, dass nach der neuen Lehre ein völlig unverständliches
Zusammenfallen dreier ursprünglich geschiedener Vocale bei
den Ostindogermanen eintrat, ungeschwächt stehen.


Aber vielleicht antwortet man mir auf diese Bedenken,
ich hätte eine wichtige Seite der neuen Lehre übersehen, es
sei ja der sehr ernstliche Versuch gemacht, im Sanskrit und
Iranischen selbst factische Spuren eines einst vorhandenen
mannichfaltigeren Vocalismus nachzuweisen. Ungefähr gleich-
zeitig ist eine Reihe von Gelehrten, die Joh. Schmidt Ztschr.
XXV, 63 verzeichnet, auf den Gedanken verfallen, aus den
Palatalen der Inder und Perser lasse sich für einen Theil der
in diesen Sprachen mit a bezeichneten Vocale ein mehr nach
i hinneigender Klang, also ein e-artiger Laut, erschliessen.
„Zwei arische A-Laute und die Palatalen“ ist die Abhandlung
Joh. Schmidt's betitelt. Der Gedanke ist sehr ansprechend
und empfiehlt sich vor vielen andern Erklärungsversuchen
durch seine Einfachheit. Ich glaube sogar, dass die neue
Lehre vom Vocalismus durch nichts anderes sich so viele
Freunde erworben hat, als durch die sorgfältigen Abhand-
lungen von Collitz „Die Entstehung der indoiranischen Palatal-
reihe“ Bezzenb. Beitr. III, 177 ff. und die oben erwähnte von
Joh. Schmidt. Das Material ist in diesen und andern Erörte-
rungen dieser Frage in grösster Fülle zusammengetragen. Von
mir wird niemand erwarten, dass ich in die meinen Studien
ferner liegenden Einzelheiten eingehe. Ein sehr beträchtlicher
Theil von Palatalen lässt sich auf diese Weise allerdings ver-

[99] stehen. Freilich ist auch die Zahl der Ausnahmen, also der
Fälle, in denen entweder k und g vor i oder vorausgesetz-
tem e unangefochten bleiben, oder umgekehrt und vor a, u
und vor Consonanten in befremdlichster Weise sich einstellen,
eine recht erhebliche. Man hat sich eifrig bemüht, diese Aus-
nahmen zu erklären und zwar theils aus der Geschichte der ein-
zelnen Formen, so wenn dem sanskr. giri (Berg) zd. gairi (aus
gari) gegenüber steht. Offenbar ist giri eine jüngere Form.
Das g blieb wahrscheinlich von der Zeit an, da auf das g ein
A-Laut folgte, etwa wie das attische η der Regel entgegen
in χόρη, δέρη von der Zeit her blieb, da nach ρ ein zweiter
Consonant ertönte. Diese Erklärungsart, die man Atavismus
nennen könnte, überzeugt mich am meisten. Aber sie ist nur
auf einen kleinen Kreis von Wörtern anwendbar. Am häufig-
sten wird zur beliebteren Association gegriffen. Und wir sahen
ja im zweiten Abschnitt dieser Schrift, wie sehr dies Erklä-
rungsmittel, um im einzelnen Falle annehmbar zu sein, der
Prüfung bedarf. Es kann also da, wo es sich um Entfernung
unbequemer Ausnahmen und um den ersten Nachweis eines
Gesetzes handelt, am wenigsten überzeugen. Manche Auf-
stellungen dieser Art sucht zwar Joh. Schmidt sorgfältig zu
motiviren, so wenn er annimmt, Comparative und Superlative
hielten dann die regelrechte Palatisirung inne, wenn sie einem
Positiv mit Guttural formell ferner ständen, z. B. sanskr. ugrá-s
(schrecklich), Comp. ōǵījans, folgten aber dem Laut des Posi-
tivs, wenn sie diesem ihrer Bildung nach näher ständen, z. B.
sanskr. laghú-s (leicht), Superl. lághisṭha-s. Aber es bleibt eine
grosse Anzahl von Fällen, in denen sich nichts der Art nach-
weisen lässt, wo also die Frage, warum in dem einen Fall die
angebliche Regel befolgt, in dem andern nicht befolgt wird,
völlig unbeantwortet bleibt. Das uralte k bleibt — unter der
Wirkung des oben so benannten Atavismus — selbst vor i
bisweilen unverändert, z.B. sanskr. kim (was?), Neutr. zu kas
(wer?). Anderswo wuchern und , die man für rein laut-
7*

[100] lieh entstandene Varietäten von k und g erklärt, weiter fort
und stellen sich auch vor einem dem i fern liegenden a oder u
und vor Consonanten ein, z. B. in bhrāǵas (Glanz) vor dem-
selben Suffix, das in dem gleichbedeutenden bharg-as den Gut-
tural festhält. Haben wir hier Producte verschiedener Zeiten
vor uns? Lässt sich das erweisen? Ich gebe gern zu, dass
Joh. Schmidt mit grösstem Scharfsinn sich bemüht, für jeden
einzelnen Fall besondere Motive herauszufinden, aber es bleibt
doch sehr vieles völlig unmotivirt, und dieser eifrigste For-
scher auf diesem Gebiete gesteht selbst S. 63 des erwähnten
Aufsatzes, es sei schwierig, „die dem Gesetze widersprechen-
den Fälle zu erklären“. Ich treffe daher mit dem Urtheil zu-
sammen, das Fröhde Bezzenb. Beitr. V, 275 abgibt: „Da die
Palatalen mehrfach an Stellen auftreten, wo man sie nicht
erwartet, so wird die Annahme (von dem Zusammenhang der
Palatalen mit dem Vocalismus) noch nicht streng bewiesen“.


Die für die arischen Sprachen vorausgesetzte Entstehung
der palatalen Laute aus gutturalen unter dem Einfluss eines
e- oder i-Lautes findet sich thatsächlich, was natürlich den
genannten Forschern nicht entgangen ist, in den slawischen
Sprachen, am consequentesten im Kirchenslawischen. Hier
lauten die drei Singularpersonen und die 3. Pl. des Präsens
der W. pek = sanskr. paḱ (coquere):

peka̜,dagegenimSanskritpaḱāmi
pec̍es̍iwiepaḱasi
pec̍etiwiepak̍ati
peka̜tĭ,dagegenpak̍anti

Im Slawischen steht also durchaus regelmässig das k vor
einem dunklen, das vor einem hellen Vocal, während das
Sanskrit den Laut im Verbum durchführt, im Nomen aber
den K-Laut bewahrt. Das Kirchenslawische ist ebenso conse-
quent im Nomen wie im Verbum. So


ksl. Nčlouěkŭ (Mensch),vgl.sanskr. N.vṛka-s=λύκος
Voc.člouěče,„ Voc.vṛka=λύκε,
[101]

ebenso

ksl. Nbogŭ (Gott),abersanskr. N.ag̍ás=ἀγός
Voc.bože,„ Voc.ag̍a=ἀγέ,


Diese Erscheinung wird von Collitz und Joh. Schmidt so er-
klärt, dass — gleichsam nach der Analogie unsrer politischen
Abstimmungen — die Majorität der Formen auf jedem der
beiden Gebiete die Minorität nach sich gezogen hätte. Aber,
wenn wir auch zugeben wollen, dass im Sanskrit das e aller
übrigen Verbalformen auf die 1. Sing, und 3. Pl. eingewirkt
hätte und dass in derselben Sprache der seltner gebrauchte
Vocativ sich allen übrigen weit häufigeren Casusformen assi-
milirt hätte, so bleibt es doch höchst auffallend, dass der
palatale Laut, welcher nach dieser Theorie beim Nomen eigent-
lich nur im Vocativ etwas zu thun hat, dennoch von da aus,
in Wörtern wie ag̍ás, alle übrigen Casus ergriffen haben soll.
Man kann eine Lautbewegung von solcher Inconsequenz doch
eigentlich kaum ein Lautgesetz nennen, höchstens eine be-
ginnende, vielleicht auch eine schon halb erstorbene Laut-
bewegung. Collitz weist darauf hin, dass in einem Zweige
der slawischen Sprachen, im Kleinrussischen, ähnliche Uni-
formirungen wirklich vorkommen. Dergleichen Fälle Hessen
sich auch aus andern Sprachen derselben Familie, z. B. aus
dem Čechischen, anführen. Und auch bei den Deutschen Böh-
mens hört man solche Formen wie ich gib, ich sieh und andres
der Art. Es handelt sich aber dabei um neuere Sprachen,
und immer würden die Veränderungen innerhalb der alten
Sanskritsprache stärker und willkürlicher sein als jene.


Wie sehr sticht diese für das Sanskrit behauptete Un-
regelmässigkeit gegen andere, längst feststehende Lautgesetze
dieser Sprache ab, z. B. gegen das Gesetz, wonach im Sanskrit
s unter bestimmen Bedingungen in sh oder n in verwandelt
wird. Wie man aus Whitney's Grammatik § 180—185 und
§ 189 ff. ersehen kann, sind die Ausnahmen von den für diese
Fälle geltenden Regeln gering an Zahl und meist leicht er-
klärbar.



[102]

Aber wir gehen weiter. Selbst wenn wir einräumen wollen,
dass die Entstehung der Palatalen ursprünglich auf der Ein-
wirkung eines nachfolgenden i-artigen Lautes beruhte, so fragt
es sich, in welche Zeit diese Entstehung zu setzen ist. Die
Palatalen gehören nur den indisch - iranischen Sprachen an.
Also selbst für den als möglich zugegebenen Fall, dass sie
auf die angegebene Weise entstanden seien, würde das i oder e,
das ihre Entstehung bewirkte, nur für das arische, nicht für
das gesammte indogermanische Sprachgebiet erwiesen sein.
Und was läge auffallendes darin, wenn wir annähmen, im Ur-
indogermanischen sei nur ein einziger kurzer A-Laut vorhan-
den gewesen, aus diesem habe sich in grösserer Fülle bei den
Westindogermanen der Dreiklang entfaltet, aber auch bei den
Ariern oder Ostindogermanen sei nach ihrer Trennung von den
übrigen Völkern in bescheidenen Ansätzen aus einem Theil der
A-Laute das hellere e entwickelt, freilich ohne historischen
Zusammenhang mit dem gleichlautenden der Westler. Es wird
das ja z. B. für das Zend nicht selten zugegeben, wo sich
bisweilen ein zeigt, das dem sanskr. a gegenübersteht, ohne
mit dem westlichen irgend etwas zu thun zu haben. Es
würde dann mit diesem jene Art des im Sanskrit zu ver-
gleichen sein, das nicht als ursprünglicher Diphthong gefasst
werden kann. Joh. Schmidt S. 61 u. 62 der erwähnten Ab-
handlung führt sieben Fälle der Art an, z. B. ēdhi aus *asdhi
(sei) = griech. ἴσθι, dēhi aus *dadhi (gib). Diese Formen
mit jenen vorhin behandelten Spuren eines nur aus seinen
Wirkungen erkennbaren im Sanskrit bleiben vielleicht ein
interessantes Zeichen davon, dass auch den Ostindogermanen
eine Zeit lang der kurze e-Laut nicht gänzlich fremd war,
aber für ein indogermanisches e beweisen sie nichts *) Joh.

[103] Schmidt S. 179 findet freilich für das höhere Alter der Pala-
talen als Zeugen eines E-Lauts einen Beweis in den griechi-
schen Spuren des Palatismus. Allein er selbst gesteht zu, dass
diese Erscheinung im Griechischen eine sehr beschränkte ist.
Ein grosser Theil der S. 136 ff. von ihm behandelten, an sich
wenig zahlreichen Formen, gehört nur einzelnen Dialekten an.
Es sind die von mir unter dem Namen Dentalismus in meinen
Grundz.⁵ S. 487. 490 behandelten Wörter, z. B. τίς, τί, τέσ-
σαρες
, τίω, denen Joh. Schmidt einiges, freilich nicht durchaus
überzeugende, hinzugefügt hat. Schon bei einer früheren Ge-
legenheit (Stud. VII, 240) ward es mir wahrscheinlich, dass
diese Erscheinungen einer verhältnissmässig späten Zeit an-
gehören, für die Erschliessung urindogermanischer Lautver-
hältnisse also nichts beweisen können. Diese Ansicht bestä-
tigt sich durch die merkwürdige, erst kürzlich von Lolling
aufgefundene Inschrift von Larissa (Cauer2 Nr. 409). Dort
steht gegenüber dem gemeingriechischen τίς κίς. Es liegen
folgende Fälle vor: Ζ. 11 διὲ κί (d. i. διὰ τί), Ζ. 12 πὸκ κί
(πρὸς τί), Ζ. 22 κίς κε (ὅστις ἄν), Ζ. 41 κινές (τινές). Aus
diesen Formen ergibt sich, dass das ursprüngliche κ sich im
Griechischen noch zu einer Zeit erhielt, da die Mundarten
schon längst gespalten waren. Die Verwandlung von κ in τ
gehört also in diese verhältnissmässig späte Periode, und wir
haben keinen Grund, das gemeingriechische τίς mit dem ira-
nischen cis in irgend einen historischen Zusammenhang zu
bringen. Auch in einer andern Beziehung widerlegt die neu-

*)[104] gefundene Form die Aufstellungen desselben Gelehrten. Meine
Vermuthung, dass der Dentalismus ungefähr in derselben Zeit
entstanden sei, in welcher die Lautgruppen σσ (ττ) und ζ sich
bildeten (Stud. VII, 271), sucht Joh. Schmidt mit den Worten
zu widerlegen: „Dann würden in allen den Dialekten, welche
σσ und ζ bewahrt haben, die Lautfolgen κε, κι u. s. w. ebenso
wenig vorkommen, wie τϳ, δϳ, θϳ“. Im Dialekt von Larissa
liegt nun jenes κίς, κινές neben Formen wie ὅσσα, τόσσα in-
schriftlich vor. Man sieht also, dass anlautendes κ vor i
oder ϳ sich noch zu einer Zeit im Anlaut erhielt, in welcher
dentale und gutturale Explosivlaute im Inlaut schon die ge-
meingriechischen Lautgruppen σσ und ζ ergeben hatten.


Wir kommen auf einen andern Punkt. Alles bisher er-
örterte könnte, selbst wenn wir alle einzelnen, von Joh. Schmidt
und andern geltend gemachten Behauptungen einräumen woll-
ten, doch nichts andres erweisen, als dass wir für eine alte
Sprachperiode, vielleicht schon für die urindogermanische, zwei
kurze A-Laute, einen helleren () und einen dunkleren (, )
anzunehmen hätten. Und in der That spricht Joh. Schmidt in
der oft erwähnten Abhandlung immer nur von zwei A-Lauten.
Selbst Brugmann redet von dieser Zweiheit *) mit viel grös-
serer Entschiedenheit als von der erst allmählich in Gang ge-
brachten ursprünglichen Dreiheit. In der That wäre es an
sich zweifellos ebenso möglich, dass die Urindogermanen sich
mit dieser Zweiheit begnügt und dass erst ihre Nachkommen
den O-Laut entwickelt hätten, wie der andre Fall, dass auch
sie schon die Dreiheit kannten.


Dass es mit dem Verhältniss von a zu ganz anders be-
stellt ist als mit dem von a zu , wird kaum geleugnet wer-
den können. Das steht in den europäischen Sprachen viel

[105] gleichmässiger dem arischen a gegenüber als . Dass das
Lateinische mit seinem o dem Griechischen viel näher kommt
als die übrigen europäischen Sprachen, habe ich in der öfter
erwähnten Abhandlung gezeigt. Es sind dort 56 Fälle aufge-
führt, in welchen lateinisches o (u) griechischem o entspricht,
während die übrigen europäischen Sprachen abweichen. Und
wenn auch ein Theil dieser Fälle möglicherweise eine andere
Deutung zulässt, so halte ich doch das Ergebniss im ganzen
als vollkommen erwiesen und zähle die Uebereinstimmung im
O-Laut zu den Punkten, welche auf ein näheres Verhältniss
der beiden südeuropäischen Sprachfamilien unter einander hin-
weisen *) Auch diejenigen Gelehrten, welche die ursprüng-
liche Buntheit des Vocalismus behaupten, verkennen zum Theil
diese engere Verbindung zwischen Griechisch und Italisch nicht,
z. B. Saussure S. 51. 114, wobei ich namentlich auf die Er-
scheinung hinweise, die er mit dem Ausdruck „le phonème A"
bezeichnet. Für die nördlichen Sprachen setzt er hier zwei
Vocale, nur für den Süden drei voraus. Ich erinnere z. B.
daran, dass dem lat. nox (griechisch νύξ) zwar im altir. in-
nocht
(heute Nacht) und im kslaw. noštĭ ein o, aber im got.
nahts, im lit. naktίs ein a gegenübersteht, dass das griechische
πόσις dem lat. potis, aber got. faths und lit. pats entspricht.
Durch solche Erwägungen wird auch Fröhde in Bezzenberger's
Beiträgen V, 296 zu dem Urtheil gebracht sein: „Dass der
O-Laut schon indogermanisch sei, ist bis jetzt noch nicht er-
wiesen“, während derselbe Gelehrte geneigt ist, dem kurzen
E-Laut ein so hohes Alter zuzuerkennen. Ich gebe gern zu,
dass die O-Hypothese in manchen der oben erwähnten Fälle
sich möglicherweise durch die Annahme erhärten lässt, das
nordeuropäische a sei aus kurzem o hervorgegangen. Denn

[106] dass es auch einen solchen Uebergang gibt, was man früher
nicht zulassen wollte, bestreite ich jetzt nicht, hauptsächlich
wegen der ziemlich zahlreichen Fälle, die aus dem Neugrie-
chischen von diesem Lautwandel vorliegen, z. B. ἀρφανός gleich
altgriechisch ὀρφανός, ἀντυχί kretisch für ὄνυξ (Foy: Laut-
system der griech. Vulgärsprache. Leipzig 1879 S. 98 ff.). Aber
bis vor kurzem ist nirgends auch nur der ernstliche Versuch
gemacht, für das o die Entstehung in ursprachlicher Zeit nach-
zuweisen 1), und es scheint mir natürlicher, das a z.B. im
got. nahts mit dem sanskr. naktis auf eine Linie zu stellen, als
für beide Α-Laute mit manchen jüngeren Gelehrten einen für
jeden Fall wiederum besonderen Uebergang eines hypotheti-
schen o in a anzunehmen.


Einen ernstlichen Versuch, jenes o auch für das arische
Sprachgebiet nachzuweisen, hat erst neuerdings Bloomfield
gemacht in seinem interessanten Aufsatz „Final as before so-
nants“ (American Journal of philology Vol. III 1882). Dieser
Versuch, dessen genauere Beurtheilung ich Specialforschern
für diese Sprachen tiberlassen muss 2), hat insoweit etwas an-
sprechendes, als Bloomfield für das merkwürdige statt as
im sanskritischen Auslaut eine Erklärung versucht. Dieses ,
meint er, sei an dieser Stelle aus os hervorgegangen. Es sei
z. B. sanskr. ac̹vō dravati für *c̹vas dravati ein Zeugniss für
ein auf indischem Boden sonst verschollenes *ac̹vŏs = lat.

[107]equŏs, in derselben Weise, wie wir oben sahen, dass das
lange von ēdhi „sei“ auf die ältere Form *ĕsdhi weise,
welche von dem ionischen ἔσθι (sonst ἴσθι) sich im Vocalis-
mus nicht unterscheide. So weit also wird man sehr geneigt
sein, Bloomfield zu folgen. Aber leider stellt sich bald der
Zweifel ein. Nämlich nicht bloss das einem gräcoitalischen ο̆s
entsprechende as wird unter gewissen lautlichen Bedingungen
in ο̄ verwandelt, sondern auch dasjenige as, dem ein griechi-
sches ες gegenübersteht, z. B. im Nom. Plur. narο̄ dravanti
gleich ἄνδρες [τρέχουσι] und das der 2. Sing. Impf., z. B. abharο̄
gleiche griech. ἔφερες. In beiden Fällen setzt der Magadhi-
dialekt des Prākrit statt des sanskr. ein . Bloomfield sucht
nun zu erweisen, im Sanskrit habe das ursprünglich mit ŏs
zu identificirende die Fälle, in denen vielmehr ĕs, später ,
zu erwarten wäre, nach sich gezogen, in jenem Dialekt des
Prākrit umgekehrt sei im Kampf ums Dasein ĕs, später ,
das herrschende geworden. Auf Grund der sorgfältigen sta-
tistischen Zusammenstellungen von Lanman stellt Bloomfield
die Zahlenverhältnisse zusammen und zeigt für das Sanskrit,-
dass allerdings in dieser Sprache das fragliche sehr viel
öfter einem europäischen ŏs als einem europäischen ĕs gegen-
übersteht. Freilich aber wird dadurch nur für das Sanskrit
seine Aufstellung etwas plausibler, für den Prākritdialekt aber
um so unbegreiflicher. Kann man sich überhaupt einen sol-
chen Vorgang in lebendigen Sprachen als möglich vorstellen ?
Es handelt sich ja um eine nur aus der Reflexion hervor-
gegangene Verwechslung zweier von Haus aus sehr verschie-
denen Silben. Die redenden müssten, um zu ihr zu gelangen,
sich der grammatischen Thatsache bewusst gewesen sein, dass
im Sanskrit , im Magadhi auf älterem as beruhe. Es muss,
wie gesagt, den Kennern dieser Sprachgebiete überlassen blei-
ben, ob sich vielleicht zur Unterstützung dieser Ansicht aus
jenen Sprachen etwas beibringen lässt. Aber soviel scheint
mir von meinem vergleichenden Standpunkte aus unzweifel-

[108] haft. Wenn das fragliche wirklich aus ŏs (as) und aus ĕs
hervorging, so hat dieser Uebergang mit dem Ursprung dieses
Ausganges und mit der Frage nach der ursprünglichen Bunt-
heit des Vocalismus gar nichts zu thun, da ja jenes und
eben nur zu einem Theil auf europäisches os und es zurück-
führt. Vielmehr zeugen diese Thatsachen, wenn sie wirklich
so aufzufassen sind, gegen die indogermanische Dreiheit, in-
dem ja jedes beliebige as im Sanskrit zu , in jenem Prākrit-
dialekt aber zu wurde.


Vielleicht liesse sich aus den sanskritischen Vocalverhält-
nissen noch manches andre Moment beibringen, das sich viel
leichter aus der älteren Auffassung von der primitiven Ein-
tönigkeit des arischen Vocalismus erklären lässt. Amelung
hatte die Behauptung aufgestellt, die Schwächung eines indi-
schen a zu i, z. B. sanskr. pitā́ = πατήρ, könne für die ur-
sprüngliche Buntheit des Vocalismus ins Gewicht fallen. Aber
mit Recht weist Joh. Schmidt diesen Versuch im Eingang der
oft erwähnten Schrift zurück. Denn es ist nicht richtig, dass
dieses i nur an der Stelle eines europäischen e stehe. Dies
ist zwar der Fall in hitás — gr. θέτος, aber nicht in dem
schon erwähnten pitā́ = πατήρ oder in sthitás — gr. στατός, und
in dem sanskr. pītás — lat. pōtus steht dem langen das
lange gegenüber. Man sieht also, es handelt sich bei dieser
Verwandlung um rein indische Vorgänge. Von ähnlicher Art
ist offenbar die für das Sanskrit so charakteristische Verwand-
lung eines in , z. B. junā́mi, Plur. junīmás, vgl. δάμ-νη-μι,
Plur. δάμ-νᾰ-μεν. Wenn in diesen Fällen einem , das in
Europa in den verschiedensten Formen erscheint, in Indien
ein und derselbe I-Laut entspricht, wird es da nicht wahr-
scheinlich, dass dem offenbar schwächeren I-Laut bei den
Indern nur ein einziger stärkerer Laut entsprach, eben jenes
einfache und monotone a, das man früher allgemein als etwas
aus der Urzeit ererbtes betrachtete?


Auch bei der Verzweigung der Wurzeln treten der neuen

[109] Lehre hier und da nicht unerhebliche Schwierigkeiten ent-
gegen. Von der W. oder ar ausgehend, könnten wir für die
Grundsprache eben nur diesen Vocalismus und die weit rei-
chende allgemeine Bedeutung des Gehens oder der Bewegung
annehmen, die sich in Europa in die drei Phasen ar (zusam-
mengehn, fügen, passen, Grundz.⁵ S. 339), er (treiben, rudern,
ebenda S. 342), or (aufgehn, erheben, S. 346) spaltet. Bei
dieser Auffassung hat es nichts befremdliches, wenn im Ari-
schen die dritte dieser Phasen neben sanskr. ārta = ὦρτο
als īr (sich erheben, erregen) und im Zend als ir (vom Auf-
gehn der Gestirne) erscheint. Denn īr wie ir sind eben jene
Verdünnungen des A-Lauts, die wir als für dies Gebiet cha-
rakteristisch kennen lernten. Aber wenn man der neuen Lehre
gemäss die Dreiheit ar, er, or schon als ursprachlich ansetzt,
wie will man da das i im Arischen erklären? Oder sollten
die Arier, nachdem sie die drei Wurzeln früher deutlich unter-
schieden hatten, später wieder alles durch einander gewirrt
haben ? Ist es nicht wahrscheinlicher, dass die Silben ar, er, or
im Osten lautlich wie begrifflich ungeschieden waren und
blieben und erst bei den Westindogermanen sich bestimmt
sonderten? Dass die Sprache etwas, was sie früher besessen
hat, nicht so leicht spurlos aufgibt, das ist doch ein wohl be-
gründeter Satz der Wissenschaft. Die dritte dieser Phasen,
or, ist sogar auf den ersten Blick nur gräcoitalisch. Vielleicht
aber darf man, wie in ὄρ-νι-ς, so im ksl. [orĭlŭ] und im ahd.
arn (Adler), eine Spur dieser Phase finden.


Wir haben bisher die neue Hypothese daraufhin geprüft,
wie weit die für sie beigebrachten Argumente überzeugend
sind, und es haben sich uns namentlich drei Hauptpunkte
herausgestellt, welche gegen dieselbe sprechen:


1) die Unerklärbarkeit der Entstehung des arischen a aus
ursprachlicher Dreiheit,


2) die Unzulänglichkeit der Versuche, auch für das Arische
Spuren eines uralten e nachzuweisen,



[110]

3) der gänzliche Mangel eines Beweises für die Existenz
eines arischen .


Wir wenden uns nun nach einer andern Seite und stellen
Thatsachen des indogermanischen Formenbaues zusammen,
welche sich weit leichter aus der älteren als aus der neueren
Auffassung begreifen lassen. Wir können hier von der Er-
wägung ausgehen, dass die Periode der indogermanischen
Grundsprache nothwendigerweise grosse Zeiträume umfasst
und verschiedene Epochen gehabt haben muss. Man kann
einwenden, dass vieles, ja alles, was in diese frühen Zeiten
fällt, dunkel sei, aber dessenungeachtet dürfen solche Erwä-
gungen nicht übergangen werden, wir müssen uns vielmehr
stets der Existenz solcher Zeiten bewusst bleiben und dürfen
derartige Rücksichten auf unbestimmte Grössen in der Sprach-
wissenschaft ebenso wenig unbeachtet lassen, wie der Astro-
nom es unterlässt, die Einwirkung unsichtbarer Himmelskör-
per gelegentlich in seine Rechnung aufzunehmen. Bis jetzt
beschäftigten wir uns bei der Frage nach dem Alter des bun-
ten Vocalismus mehr mit den späteren Epochen jener langen
Periode, d. h. mit der Epoche, welche der der Spaltung und
allmählichen Zerklüftung der verwandten Sprachen unmittel-
bar
vorausgeht. Jetzt wenden wir uns den Anfängen des
gemeinsamen Sprachbaues zu. Wir fragen, was uns die ge-
gebenen und erschliessbaren Formen der Grundsprache in Be-
zug auf den Vocalismus sagen. Einiges wenigstens ist auch
ohne tieferes Eingehen in die Entstehung der Formen und
deren Zerlegung in ihre Elemente zu erreichen. Wir heben
folgende Punkte heraus:


1) In der O-Declination, wie sie sich in den südeuro-
päischen Sprachen zeigt, finden wir am Ende des Stammes
drei verschiedene Vocale:


a) Das o, das deutlich nachweisbar ist im Nom. Acc. Dat.
Loc. Gen. Abl. Sing., ferner im Dual und im Plural der Mas-

[111] culina und Neutra. Eben deshalb sind wir berechtigt, diese
Declinationsgruppe die O-Declination zu nennen.


b) im Voc. Sing, der Masculina. Durch die Ueberein-
stimmung von ksl. vlŭče und lit. vilke mit dem gr. λύκε, dem
lat. lupe und durch die Nachwirkung des e im altir. Vocativ
eich (eque) neben Nom. ech (equos) wird dies als alt, das
heisst über die Existenz der europäischen Einzelsprachen
hinausgehend, erwiesen.


c) a im Nom. Acc. des Neutrum Plur. Die ursprüngliche
Länge dieses a ergibt sich zweifellos aus dem Sanskrit wie
aus den Spuren des ältesten Griechisch und Lateinisch *):

Sanskr. jugā, gr. ζυγά, lat. juga, ksl. iga, got. juka.


Dass diese Mannichfaltigkeit des Vocalismus hier von
allem Anfang an vorhanden war, scheint mir im höchsten
Grade unwahrscheinlich. Im Sanskrit haben wir statt dessen
eine viel grössere Consequenz, indem nur ein quantitativer
Wechsel des A-Vocals hervortritt. Von der europäisch-arme-
nischen Mannichfaltigkeit auszugehen, hiesse eigentlich soviel,
als auf den für die Sprachwissenschaft so wichtigen Begriff
des Stammes zu verzichten. Der Stamm ist aber nicht etwa
nur „ein sprachwissenschaftliches Präparat“, wie Joh. Schmidt
mit einem gewissen Rechte die Wurzel benennt, sondern der
Stamm lebt fort in voller Lebendigkeit, sowohl in der Zu-
sammensetzung der Wörter, wie in der Ableitung, wenn es
auch, wie überall, an einzelnen Störungen und Trübungen nicht
fehlt. Stämme wie sanskr. juga und ihresgleichen zeigen sich
ja in der Zusammensetzung mit voller Deutlichkeit. Ebenso
Stämme wie ὁμο im Griechischen, z. B. in ὁμό-φυλος, ὅμο-ιο-ς.

[112] Ein gewisses Gefühl für solche Stämme oder den Typus, den
sie vertreten, kann weder den Indern, noch den Griechen in
ihrer Blüthezeit ganz abgesprochen werden (vgl. oben S. 70 ff.).
Es ergibt sich daraus die höchste Wahrscheinlichkeit dafür,
dass diejenigen Sprachen, in denen jener Stamm am wenig-
sten verändert wird, die alterthümlichsten sind, dass also
Stammformen wie juga höher hinaufreichen als Stammformen
wie jugo. Man hat das im Vocativ aus der Accentregel zu
erklären gesucht, wonach der Rufcasus am wenigsten zur End-
betonung neigt. Das würde darnach ein schwächerer Laut
sein müssen als das , was sich ja auch sonst bestätigt, ohne
dass von einem festen Verhältniss der beiden Laute in allen
Fällen die Rede sein kann. Ist dies richtig erklärt, so be-
wahrt das Sanskrit den älteren Laut trotz des Accents und
erst allmählich vollzog sich unter dem Einfluss desselben jene
Wandlung. Das im Dual und Plural ist nach einer verbrei-
teten Ansicht durch Anfügung eines kurzen als Casussuffix
an das stammauslautende entstanden. Die Contraction von
+ zu ist jedenfalls eine sehr einfache Annahme. Wenn
wir dagegen mit den Buntvocalisten das lange aus +
entstehen lassen wollten, geriethen wir da es für ursprach-
liche Contractionen an jedem Anhalt fehlt in ein ganz
hypothetisches Gebiet, und es würde schwer halten, für eine
solche ursprachliche Zusammenziehung irgendwo eine Stütze
zu finden.


2) Auch für die Entstehung des Femininums werden wir
auf ähnliche Ergebnisse geführt. Das des Femininums im
Gegensatz zu dem kurzen des Masculinums reiht sich im
Sanskrit in die allgemeine Regel ein, wonach auch die weichen
Vocale i und u diese Doppelheit in derselben Vertheilung unter
die Geschlechter zeigen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass
der Stamm des Femininums durchweg aus dem Stamme des
Masculinums entstanden ist, vielleicht wiederum durch An-
fügung eines stammbildenden a an den Stamm des Masculinums.

[113] Jedenfalls steht ein Femininum wie sanskr. rudhirā́ dem Mas-
culinum rudhirás näher als das gleichbedeutende ἐρυθρᾱ́ dem
Masculinum ἐϱυϑϱός. So zeigt sich also auch hier wieder die
Priorität der östlichen Bildungsweise vor der westindoger-
manischen, nach dem Princip, dass die Bildungen, welche
in der einfachsten Weise als zusammengehörig erklärt wer-
den können, das Präjudiz höherer Alterthümlichkeit für sich
haben.


3) Aus der consonantischen Declination mag die Endung
des Gen. Sing, hervorgehoben werden. Hier zeigt sich zwar
gleichmässig im Griechischen und Lateinischen die Form mit
dem dumpferen Vocal (griech. ος, altlat. os, us). Es mag sein,
dass die lateinische Form is durchweg auf einer Einmischung
der I-Formen in die Flexion der consonantischen Stämme zu-
rückgeführt werden muss, die ja ohne Zweifel eine Haupt-
eigenthümlichkeit der lateinischen Declination bildet. Aber
es bleibt doch wohl zu beachten, dass auch im Slawischen
der hellere E-Laut als Zeichen des Genitivs hervortritt, z. B.
ksl. nebo (Himmel = νέφος), Gen. nebes-e (= νέφε(σ)-ος). Es
ist also schwer zu sagen, welcher Vocal im europäischen
Sprachgebiet dieser Casusendung zuzuschreiben ist, während
im Sanskrit as unverändert bleibt. Und dieses as steckt doch
auch wahrscheinlich in dem Ausgang der A-Declination,
z. B. griech. χώρᾱς, lat. familiās, umbr. tutās. Wiederum also
trägt der sanskritische Vocalismus das Gepräge des ursprüng-
lichsten an sich.


4) Von den Personalendungen bringe ich hier nur zwei
zur Sprache. Die primäre Endung der 1. Pers. Plur. lautet
im Sanskrit masi oder mas, im Zend mahi, dor. μες, lat. mus.
Wie verbinden wir diese Formen? Lat. mus kann natürlich
auf *mos zurückgehen, von dessen Existenz freilich keine Spur
erhalten ist. Dieses erschlossene *mos mit dem dor. μες zu-
sammenzubringen, ist nur dann leicht, wenn wir mas als
Curtius, Zur Kritik. 8

[114] Grundform betrachten *) Im Norden Europas stehen sich über-
dies das ksl. mŭ, z. B. vezemŭ = vehimus und das lit. vežame
ebenso gegenüber, wie im Süden mus und μες. Die natürliche
Einheit liefert eben nur das sanskritische mas. Die überaus
schwierige althochdeutsche Endung mês mag hier ausser Be-
tracht bleiben.


In der 2. und 3. Pers. Sing, und der 3. Plur. Med. zeigt
sich bei den Griechen die merkwürdige Discrepanz zwischen
dem primären griechischen σαι, ται, νται einerseits und den
Secundärformen σο, το, ντο andrerseits. Es ist wahr, dass
hiervon der arkadische Dialekt eine Ausnahme macht, inso-
fern der O-Laut hier auch in den Primärformen erscheint:
σοι, τοι statt σαι, ται. G. Meyer Griech. Gramm. § 465 er-
klärt diese arkadische Form aus einer Angleichung an die
Secundärform. Aber die dumpfere Vocalisirung ist auch sonst
mehrfach eine Besonderheit der aeolischen Dialekte. Dem
arkad. σοι, τοι, ντοι steht kyprisches secundäres τυ = το zur
Seite, das ebensowenig wie arkad. κατύ = κατά aus dem An-
lehnungstriebe erklärt werden kann.


5) Einer der wichtigsten Momente in dieser Betrachtung
bildet der thematische Vocal des Verbums. Die Wissenschaft
ist darin einig, dass dieser Vocal ein stammbildendes Element
ist. Als solches muss derselbe von Haus aus ein bestimmter
gewesen sein. Denn ein sprachliches Wesen, das von Anfang
an chamaeleonartig schillert, werden wir nicht anerkennen.
Fest aber erscheint er nur im Sanskrit, wo ausschliesslich
quantitative Verschiedenheiten des a in der 1. Pers. Plur. und
Dual, gegeben sind. Wiederum hat die gleichmässiger durch-
geführte Bildung ein Anrecht darauf, als die altertümlichere
betrachtet zu werden. Die neueren Forscher sind meistens
geneigt, im europäischen Gebiet den E-Laut als die älteste

[115] Phase des thematischen Vocals zu betrachten, ohne jedoch
die Formen wie φέρομεν, φέροντι mit Sicherheit erklären zu
können. Mag aber immerhin der Nasal auf den Uebergang
von in eingewirkt haben, trotz des homerischen εἰπέμεναι,
εἰπέμεν und andern Formen, so bleibt bei dieser Auffassung
völlig räthselhaft das feste ο im Optativ, z. B. φέροι, φέροιμεν.
Wiederum also liegt die Unregelmässigkeit auf Seiten des
bunten, die Regelmässigkeit, also das Präjudiz der Alterthüm-
lichkeit, auf Seiten des arischen Vocalismus. Es darf bei
dieser Frage übrigens nicht unbeachtet bleiben, dass in den
nordeuropäischen Sprachen der thematische Vocal gelegent-
lich ebenfalls in der Form hervortritt: lit. 1. Pl. vežame,
got. viganm, lit. 1. Pers. Dual. vežama, altirisch beram = feri-
mus
und auch die 1. Pers. Dual. im got. vigōs wird aus *vigavas
erklärt. Es scheint also, als ob selbst im Westindogermani-
schen die Buntheit des Vocalismus im thematischen Vocal noch
nicht von Anfang an vollständig durchgeführt ist.


6) Dass das temporale Augment aus dem syllabischen
entstanden sei, wird wohl allgemein angenommen. Diese Ent-
stehung tritt aber nur im Arischen, also nur beim eintönigen
Vocalismus mit vollkommener Durchsichtigkeit hervor.


Sanskr.*a-agamā-gam
*a-asamāsam
*a-artaārta

Wie aus diesen Formen dor. ἆγον, ἦα, ὦρτο werden konnte,
begreift sich leicht. Im Anschluss an die nicht augmentirten
Verbalformen bildete sich im ersten Falle das ᾱ von ἄγω, im
zweiten der lange E-Laut gegenüber von *ἐσ-μι im dritten
der lange O-Laut gegenüber von ὄρνυμι, und entstand eben
auf diese Weise der Schein, als ob nur die Quantität des an-
lautenden Vocals Zeichen des Präteritums sei, während doch
ohne Zweifel von Haus aus die Silbe sanskr. a, griech. ε das
eigentliche Mittel zu diesem Zwecke war. de Saussure hat
allerdings Formen wie *e-agom, *e-asam, *e-arta als Urformen
8*

[116] vorausgesetzt, aus welchen sowohl die griechischen wie die
indischen Bildungen entstanden wären. Allein diese Construc-
tion hat, wie ich glaube, wenig Anklang gefunden, und in
der That wird man sich zu ihr als einer für die Grundsprache
anzusetzenden ebenso schwer entschliessen wie zu ähnlichen
Annahmen für das Gebiet des Nomens, die wir oben berühr-
ten. Und vom griechischen Standpunkte aus und nach den
bekannten griechischen Lautgesetzen ist von ihnen gar nicht
zu den gegebenen Formen ἆγον, ἦα, ὦρτο zu gelangen. Es
müsste dor. ἆγον, ion. εἶα, οὖρτο lauten.


7) Participia. Aus dem Gebiet der Stammbildung wird
sicherlich manches in derselben Weise aufzufassen sein. Wir
beschränken uns hier auf Participialbildungen. Niemand wird
leugnen, dass der A-Laut der Participialendung -ant derselbe
Vocal ist, den wir vorhin als den thematischen im Verbum
finitum besprochen haben. Verhält sich doch eine Form wie
λεγοντ zu σταντ, τιθεντ ganz ebenso wie λέγομεν zu ἵσταμεν,
τίυεμεν. Dadurch wird natürlich auch hier der reine A-Laut
ebenso wahrscheinlich wie oben. Es ist übrigens bemerkens-
werth, dass es sehr schwer fallen würde, falls man eine bunt-
gefärbte indogermanische Grundform für dies Suffix aufzu-
stellen versuchte, die Entscheidung zwischen und zu treffen.
Zwar im Griechischen haftet o fest im Participium, aber im
Lateinischen haben wir zahlreiche Spuren des aus o entstan-
denen U-Lauts, von denen ich einige in der Symbola Philo-
logorum Bonnensium S. 275 f. behandelt habe, z.B. voluntas,
das auf *voluns schliessen lässt. Von solchen Bildungen ist der
classischen Latinität nur iens, euntis verblieben. Diesen Parti-
cipien schliessen sich auch die auf -endus und -undus an,
welche bekanntlich von frühester Zeit an sich austauschen.
Der dunklere Laut tritt auch in Vertumnus, alumnus hervor,
gegenüber von vertimini, alimini. Im Griechischen ist das ε
in den Infinitiven auf μεναι und μεν beachtenswerth, εἰπέ-
εναι
, εἰπέμεν, verglichen mit der Medialform auf -ομενος.

[117] Da das Keltische das Suffix -a(n)t, z. B. altir. cara(n)t (Freund),
und das Gotische die weitergebildete Stammform auf -anda
bietet, z. B. bairands, so herrschte hier auch in Europa die
grösste Mannichfaltigkeit. Aber wie zum Hohn finden wir hier
wiederum in Asien den E-Laut. Zend: bareñtem = sanskrit:
bharantam. Bei der Seltenheit von Stimmen, die sich jetzt
für die ältere Hypothese aussprechen, führe ich hier ein Wort
von Harlez an, Revue de linguistique Tom. XVII p. 82 (1884):
Zend. bareñtem est une altération d'un iranien ou aryaque
primitif bharantam
“. „Je reste convaincu, qu'apres avoir trop
accordé au sanscrit, on tombe dans l'excès contraire, et qu'on
ne trouvera point la vérité, tant qu'on n'aura point rétabli
l'équilibre
“. In der That bedarf es in den meisten Fällen nur
der Anführung der Sanskritform, um jeden unbefangenen zu
überzeugen, dass von ihr auszugehn ist. Es ist doch kein
Zufall, dass erst diese Sprache in so reichem Masse uns den
Blick in den Organismus auch des Griechischen erschloss.


Aus dem hervorgehobenen schliessen wir, dass für die
älteste oder Entstehungszeit der Ursprache der eintönige Voca-
lismus anzunehmen ist. Folgt nun daraus, dass die Grund-
sprache überhaupt kein und kannte? Allerdings nicht.
Denn das kurze und konnte sich ja in der unzweifelhaft
langen Zeit zwischen den ersten Anfängen und der Periode
der Spaltung entwickeln, so dass der bunte Vocalismus im
Sinne der neueren Forscher noch immer mit dem zusammen-
gehen könnte, was wir eben zu erweisen suchten. Freilich
erhielten wir unter dieser Voraussetzung eine ganz eigenthüm-
liche Reihenfolge für die arischen Sprachen, bei denen ja der
eintönige Vocalismus für die Zeit ihres besonderen Zusammen-
lebens vollkommen feststeht. Wir erhielten nämlich für diese
folgende Perioden des Vocalismus:


1) Aelteste indogermanische Zeit. Das einheitliche a kann
nur quantitativ, nicht qualitativ unterschieden werden. Es-
hiess also vṛkas, Voc. vṛka, agati, aganti, bharantam u. s. w.



[118]

2) Mittlere indogermanische Zeit mit buntem Vocalismus
wie im Westen. Es hiess also vṛkos, Voc. vṛke, ageti, agonti,
bherontam oder ähnlich.


3) Zeit der arischen Rückkehr zur ersten Periode. Hier
stellte sich tiberall das a wieder her, mithin die Formen der
ältesten Zeit.


4) Theilweise Rückkehr einzelner arischer Sprachen zur
zweiten Periode, z.B. zend bareñtem, in welchem wegen der
engen Zusammengehörigkeit der arischen Sprachen unter ein-
ander das e der mittleren Silbe unmöglich dieselbe Entstehungs-
zeit haben kann, wie das des lateinischen ferentem.


Wie seltsam wäre nun ein solcher Gang der Entwicke-
lung! Aber vergessen wir nicht, dass er rein hypothetisch
war und dass namentlich für den kurzen ŏ-Laut im arischen
Gebiete, wie wir sahen, auch nicht die leiseste Spur eines
Nachweises gegeben ist. Ich kann also weder die ältere An-
nahme widerlegt, noch die jüngere für erwiesen halten und
bin der Ansicht, dass von den zwei Hypothesen die ältere den
Vorzug vor der jüngeren verdient.


Die neueren Anschauungen sind auch keineswegs durch-
geführt, und manche Wörter, ganz besonders des Lateinischen,
leisten diesen Anschauungen kräftigen Widerstand. Trotz des
grossen Anklangs, den die neue Hypothese gefunden hat, und
trotz der lauten Verkündigung dieses neuen Dogma's als des
allein berechtigten, werden gelegentlich Zweifel geäussert.
Als Beleg dafür, wie auch jüngere Gelehrte neuerdings zu
Ansichten gelangen, welche den hier entwickelten ganz nahe
kommen, erwähne ich die Worte, deren sich Brthl. (Bartholo-
mae) im Literar. Centralblatt 1884 S. 956 Brugmann gegenüber
bedient. Bartholomae nimmt zwei „indogermanische Urdialekte"
an, „aus deren einem das Indische und Iranische, aus deren
anderem alle übrigen Sprachen, das Armenische eingeschlossen,
stammen“. Damit ist, denke ich, der Versuch aufgegeben, die
vocalische Monotonie aus der Buntheit herzuleiten. Ein für

[119] die neue Richtung sehr begeisterter jüngerer Sprachforscher
sagt: „Die Grundsprache war der von Schleicher geschrie-
benen immer noch ähnlicher als der, die Brugmann und Collitz
schreiben“. Joh. Schmidt entschuldigt sich gelegentlich, so
Bd. XXVI S. 342 Anm., dass er eine Form vorläufig in arischer
Gestalt vorführe, und Brugmann Morphol. Unters. III S. 93
Anm. gesteht mir zu, dass manches a ein x als Exponenten
erhalten müsste, weil man nicht wissen könne, welcher der
drei Vocale a, e und o in dem bestimmten Falle als ursprüng-
lich anzunehmen sei. Bei Osthoff Morphol. Unters. IV figurirt
denn auch das von mir eigentlich nur zum Scherz empfoh-
lene ax in ziemlich vielen Fällen, z. B. in so angenehmen For-
men wie gh2axu̯gh1 (S. 91), wie denn überhaupt die Schriften
der nuova fede an den Leser die Forderung stellen, dass er
ausser den wirklichen Sprachen, deren Formen ihm vorge-
führt werden, sich auch die bloss erschlossenen Wörter und
nicht wenige Hieroglyphen der Forscher einzuprägen hat, in
denen diese nicht einmal unter einander völlig übereinstimmen.


Ganz besondere Schwierigkeiten macht in Beziehung auf
den A-Laut das Italische. So hat noch niemand gezeigt, wie
das oskische ankensto (lat. in-censa) und das umbrische an-
hostatu
(= in-hastatus) zu seinem anlautenden a gekommen
ist. Höchst auffallend ist derselbe Vocal im oskischen anter
(= inter), umbrisch ander, und das lateinische quattuor bleibt
trotz aller darauf verwendeten Mühe in seiner ersten Silbe
räthselhaft. Das überhaupt, vor dem man früher, wie wir
sahen, als einem würdigen Veteranen allzu schnell seine Reve-
renz machte, ist jetzt das eigentliche Kreuz oder, anders aus-
gedrückt, das Sorgenkind für diese ganze Theorie. Man kann
sagen: „Expellas furca, tamen usque recurret“. Verbalformen
wie ago, cado, maneo, facio, jacio, pateo, pando, latet sind,
so viel scharfsinniges auch über einzelne Bildungen der Art
von de Saussure und andern vorgebracht ist, doch immer noch
Steine des Anstosses, so gut wie griech. ἄγω, γράφω, diese,

[120] wie man angenommen hat, verirrten Schafe aus der Hürde der
Aoriste, die — niemand sagt uns, warum? — sich unter die
Präsensstämme geschlichen haben. Dies mag hier genügen,
nur um anzudeuten, dass es an dunkeln Punkten bei Fest-
haltung der neuen Hypothese wahrlich nicht fehlt. Ich kann
daher nicht glauben, dass es ein richtiges Verfahren war, die
Untersuchung über diese Frage, nachdem sie kaum begonnen
hatte, gleich für abgeschlossen zu halten und sofort das neue
Dogma als ausgemacht an die Spitze aller derartigen Unter-
suchungen zu stellen. Es ist das in dem Masse geschehen,
dass jetzt Kräfte zweiten und dritten Ranges, die an der
schweren Arbeit wirklicher Forschung keinen eignen Antheil
nehmen, alle die, welche diesem Zuge nicht folgen, als auf
einem veralteten Standpunkte befindlich bezeichnen. Ich glaube
gezeigt zu haben, dass meine Zweifel wenigstens nicht blosse
Grillen des Alters sind, sondern auf Gründen beruhen, welche
man vielleicht bekämpfen, aber nicht ignoriren kann. Das
Fragen und Forschen konnte natürlich die Wissenschaft nur an-
regen. Gegen Brugmann's Ausruf: Fiat experimentum! konnte
gewiss niemand etwas einwenden, aber es fragt sich nur, ob
das Experiment gelungen ist, und ob es nicht klüger war, mit
der Kanonisirung dieses Dogmas zu warten, bis man sich die
Zeit genommen hatte, die Gründe und Gegengründe etwas
ruhiger und umsichtiger aufs Korn zu nehmen. Das Beharren
bei einer Meinung, bis sie widerlegt ist, hat doch auch seine
Berechtigung in der Wissenschaft.


Ein zweiter Fall, in welchem die neueren Sprachforscher
sich in directen Gegensatz gegen die ältere Auffassung ge-
setzt haben, betrifft die Reihenfolge und den Ausgangspunkt
für den Vocalwechsel bei der sogenannten Stammabstufung.
Früher ging man von der kurzvocalischen Form, z. B. λιπ,
φυγ, σαπ, aus und betrachtete im Anschluss an die indische
Grammatik λειπ, φευγ, σηπ als gesteigerte Formen (vgl.
sanskr. guṇa). Die neuere Ansicht gipfelt in dem Ausruf eines

[121] französischen Gelehrten: „Le gouna est mort!“ Man be-
trachtet vielmehr die vollere Form als die ältere, stellt Wur-
zeln wie λειπ φευγ σᾱπ auf und glaubt die Kürzung in den
andern Formen aus der Tonlosigkeit der betreffenden Silben
erklären zu können.


Da ich auf diese Fragen schon in meinem Verbum II2 35 ff.
eingegangen bin, beschränke ich mich hier auf eine kurze Zu-
sammenfassung des dort erörterten, woran sich dann noch
einige wenige Betrachtungen knüpfen werden.


1) Die „absteigende“ Theorie, das heisst die Erklärung
der kurzen Formen aus den volleren durch Einfluss des Ac-
centes *), hat von vorn herein nur in einem beschränkten Kreise
einige Wahrscheinlichkeit, namentlich bei unthematischen For-
men, z. B. sanskr. vḗda (ich weiss), 1. Pl. vid-má, ḗmi (= εἶμι),
i-más. Thematische Formen, in denen die gleiche Betonung
herrscht, können nur in einzelnen Fällen, z. B. λιπεῖν, φυγών,
beigebracht werden, während uns schon bei ἔφυγον neben
ἔφευγον jenes Princip im Stiche lässt.


2) Selbst zugegeben, dass der Hochton der Endsilbe die
Reduction eines au (ευ) zu (ῠ), des ai (ει) zu bewirkt hätte,
würde das Ausspringen eines (ε) Schwierigkeiten machen.
Zu diesen beiden Gründen füge ich hinzu:


3) Die Consequenz in der Einhaltung der „absteigenden"
Richtung wäre die, alle kurzen Vocale einer späteren Sprach-
periode zuzuweisen.


Wir hätten also eine Ursprache vorauszusetzen, welche
durchweg aus langsilbigen Wurzeln, z. B. aus Wurzeln wie
baudh (πεύθομαι), kād (κήδομαι), ōd (ὄδωδα), bestände. Ist
eine solche Annahme wohl wahrscheinlich? Ritschl redete
gern von der Schwerwuchtigkeit der altlateinischen Sprache,

[122] aber die Schwerfälligkeit dieser angeblichen indogermanischen
Ursprache wäre, wenigstens in den Stammsilben, eine unend-
lich viel grössere. Und wie steht es denn mit den formalen
Silben? Gestattet man diesen die Kürze von Anfang an, oder
sollen wir auch hier von der Länge ausgehen, also z. B. ein
Genitivsuffix ās ansetzen, das erst später zu ăs wurde?


Die zweite dieser Einwendungen, bei welcher ich mich
an Misteli anschloss, ist von Fröhde Bezzenb. Beitr. VI S. 186
und ausführlicher von Osthoff Morph. Unters. IV S. 348 ff. auf-
genommen. Osthoff erkennt das befremdliche des Ausspringens
eines oder nach seiner Theorie aus dem Diphthong an
und sucht in einer sehr ausführlichen Darstellung nachzuwei-
sen, dass zwischen den diphthongischen und den kurzvoca-
lischen Formen eine langvocalische in der Mitte gelegen habe.
Die Reihenfolge wäre also nach ihm leik, *līk, lĭk, beudh,
*būdh, bŭdh. Nach Osthoff's Auffassung wären die langen
Vocale ganz in derselben Weise aus den entsprechenden Diph-
thongen entstanden, wie lateinisch dīco aus älterem deico,
oskisch deicum, lux, lūcis aus leuc, das in dem alten Leucesie
des carmen Saliare vorzuliegen scheint. Es stände also die
vorausgesetzte langvocalische Mittelform schon auf der Stufe,
die wir auf italischem Sprachboden mit Sicherheit als eine
jüngere erkennen, und doch bestände daneben von Alters
her eine dritte Stufe, die in reichster Fülle neben der ersten
überliefert ist. Ueberdies sind diese Mittelformen nur äusserst
selten wirklich vorhanden, meistens werden sie nur voraus-
gesetzt und construirt. Dazu kommt noch, dass Osthoff an
der erwähnten Stelle im Anschluss an Paul auch das Accent-
system der Ursprache um ein neues Element bereichert hat.
Er rechnet nicht nur mit Hoch- und Tiefton, wie früher, son-
dern jetzt auch mit Haupt- und Mittelton, und, da über die
Stellung des letzteren überhaupt gar keine Ueberlieferung be-
steht, so bewegen wir uns bei diesen Rechnungen grossen-
theils im Bereich rein imaginärer Grössen. Vielleicht wird

[123] doch manchem mit mir bei solchen Versuchen etwas beklom-
men, so dass er jenem Ausrufe: „Le gouna est mort!“ gleich
den andern hinzufügen möchte: „Vive le gouna!"


Die beste Probe für die Wahrheit einer Hypothese ist
die, ob aus ihr alle in Betracht kommenden Erscheinungen
leicht und einfach zu erklären sind. Der Spruch des Euri-
pides: ἁπλοῦς ὁ μῦθος τῆς ἀληθείας ἔφυ, den einst Gottfried
Hermann unter sein Bildniss setzte, wird, denke ich, auch
für die Sprachwissenschaft immer seine Bedeutung behaupten.
Die Geschichte dieser Wissenschaft, selbst in ihren neuesten
Phasen, bezeugt es. Warum fand Verner mit seiner schönen
Erklärung des sogenannten grammatischen Wechsels im Deut-
schen so schnell allgemeine Zustimmung? Weil aus einer
einzigen ansprechenden Annahme eine Reihe längst befremd-
licher Thatsachen sofort ihre Erklärung fand. Aber davon
ist hier nicht im entferntesten die Rede. Nicht nur bedarf es
ausser jenen Annahmen von nirgends überlieferten Betonungs-
verschiebungen auf Schritt und Tritt der Annahme von Ana-
logiebildungen, sondern es weichen auch die Gelehrten, welche
in der Hauptsache dieselben Wege wandeln, doch wieder viel-
fach von einander und von ihren eignen früheren Meinungen
ab, wie dies aus den erwähnten Stellen von Osthoff's Unter-
suchungen auf das klarste hervorgeht.


Ich möchte ausserdem noch folgende drei Punkte zu er-
wägen geben.


1) Es gibt in der indogermanischen Formenbildung trotz
der erwähnten Versuche eine „aufsteigende“ Richtung. Man
gibt zu, dass der Diphthong οι, z. B. in ϝοῖδα, neben dem ει,
z. B. in ϝείδομαι, auf einer höheren Stufe steht. Freilich
könnte man auch hier, um consequent zu sein, die Sache um-
drehen und die Reihenfolge οι, ει, ι aufstellen. Ausdenken
lässt sich ja mancherlei. Man würde dann dazu geführt wer-
den, nicht von einer Wurzel γεν, sondern von γον, nicht von
τεκ, sondern von τοκ auszugehen. Jedenfalls ist die jetzt,

[124] z. B. von G. Meyer, befolgte Darstellung eine Art von Com-
promiss zwischen absteigend und aufsteigend. Das ει von
ϝείδομαι steigt zwar zu ϝιδεῖν herab, aber zu ϝοῖδα wieder
empor. Das indische , das ebensowohl in vēd-mi dem ει von
ϝείδομαι, wie in vēda dem οι von ϝοῖδα entspricht, wäre in
einem Theil der Formen Grundlaut, in einem andern Ablaut.
Denn nur für die zweite Bewegung allein hat G. Meyer, man
sieht nicht warum, den alten grimmschen Ausdruck „Ablaut"
beibehalten. Wie einfach ist dagegen die alte Lehre vom
schon todt gesagten Guna! Hier erklärt sich das οι ganz
natürlich als etwas jüngeres aus der späteren Spaltung des
ursprünglich einlautigen a.


2) Man hat versucht sowohl für die absteigende wie für
die aufsteigende Lautbewegung Parallelen aus neueren Spra-
chen beizubringen. Für die absteigende bringt Osthoff meinen
Zweifeln gegenüber das Englische bei. Hier habe sich der
Diphthong i, y (ei) in dem Possessivpronomen my (d. i. mei)
zu kurzem verwandelt, sobald dies Pronomen, z. B. in my-
lord
, tonlos werde (Morphol. Unters. IV S. 348). Welche Mittel-
stufen freilich bei dem nach englischer Weise trüben Voca-
lismus zwischen ei und gelegen haben, wissen wir schwer-
lich. Für die umgekehrte, die aufsteigende Richtung, bleibt
mir immer das nhd. ei in Wörtern wie weib und das eng-
lische i (ei) in time und ähnlichen Wörtern der beste Stütz-
punkt *) Die Möglichkeit einer aufsteigenden Bewegung wird
übrigens auf das schlagendste auch durch die dem Indischen
eigenthümliche Erscheinung des Vrddhi bezeugt, das freilich
unter ganz andern Umständen zur Geltung kommt. Dass also
eine aufsteigende Bewegung möglich ist, steht fest.


3) Bei der Annahme der vorherrschend und namentlich
für den thematischen Aorist absteigenden Bewegung würden

[125] wir für die griechische Verbalbildung in eine eigenthümliche
Verlegenheit gerathen. Bekanntlich bildet eine Reihe von
Verben ihr Präsens in doppelter Weise. Sobald wir von der
kurzvocalischen Wurzel ausgehen, macht dies keine Schwie-
rigkeit. Aus einer Wurzel λιπ bildet sich einerseits λείπω,
andrerseits λιμπάνω (vgl. linquo), aus τυχ τεύχω und andrer-
seits τυγχάνω, aber aus Wurzeln wie λειπ, τευχ sind die For-
men mit Nasalen durchaus nicht zu erklären. Oder sollen wir
etwa aus λίπειν erst λιπεῖν und aus dieser Form wiederum
λιμπάνειν, τυγχάνειν gewinnen? Aber eine nähere Beziehung
dieser Präsensformen zu den Aoristen liegt nicht vor. Oder
sollen wir beide Bildungen gänzlich von einander trennen und
neben λειπ, τευχ selbständige Wurzeln λιμπ, τυγχ ansetzen?
Aber die Präsenserweiterung mit nasaler Silbe ist allem An-
schein nach ebenso primitiv wie die diphthongische, und es
ist so gut wie unmöglich, die Formen mit Nasalen und die
mit Diphthongen völlig von einander und von den kurzvoca-
lischen zu trennen.


Wir berühren noch einen andern Punkt. Seit Brugmann
im neunten Bande meiner Studien seine Abhandlung über
Nasalis sonans veröffentlichte, ist über diesen Laut und sein
Vorhandensein in der indogermanischen Grundsprache in ver-
schiedenem Sinne geurtheilt worden. Am wenigsten Anklang
hat dieser Laut in Italien gefunden. Die Italiener sind durch
ihre vocalreiche Sprache zu sehr verwöhnt, um an Formen
wie padm̥s, dn̥sús (δάσυς), m̥smjam (ἡμῖν) Gefallen zu finden.
Die Aufstellung solcher Laute als Grundlaute des Urindoger-
manischen war in der That das gerade Gegentheil der früheren
Meinungen über den Klang dieser Sprache. Man stellte sich
allgemein diese ältesten Sprachperioden als besonders voll-
tönend und reich an Vocalen vor, nach Art des Gotischen und
des Althochdeutschen, und hielt jenes vocalische n und m für
ein Product später Zeiten nach Art des Neuhochdeutschen.
Dennoch ist einzuräumen, dass jene Abhandlung Brugmann's

[126] der Wissenschaft eine höchst wichtige Anregung gegeben hat,
und dass der Kern jener Behauptung kaum anfechtbar ist.
Brugmann's Auffassung geht von der Thatsache aus, dass eine
gewisse Anzahl von Formen, für welche man in der Grund-
sprache ans voraussetzen zu müssen glaubte, sich von einer
andern Gruppe solcher Formen, in denen man ebenfalls ans
annahm, unterscheidet, und zwar am deutlichsten im Sanskrit.
Der Acc. Pl. des Stammes vṛka (Wolf) lautete nach der unbe-
strittenen Annahme aller Sprachforscher ursprünglich *vṛkans,
im Sanskrit aber vṛkān, während die vorausgesetzte Grund-
form padans (πόδος) im Sanskrit zu padas wird. Brugmann
schliesst daraus, dass die Laute beider Formen von Haus aus
verschieden gelautet haben müssen, dass es also falsch sei,
für beide Ausgänge in der Ursprache den gleichen Laut an-
zunehmen. In dieser Negation stimme ich ihm durchaus bei.
Aber eine andre Frage ist die nach der Position. Was für
einen Laut sollen wir in dem zweiten Falle als ursprachlich
voraussetzen? Schon eine Reihe von Jahren vorher hatten
die Sprachforscher ihr Augenmerk auf die silbenbildenden
Liquida und Nasale gerichtet. Miklosich in seiner Einleitung
zu der vergl. Grammatik der slaw. Sprachen II S. VII f. (1875)
hatte mit durchschlagenden Gründen, wenn auch nicht das
silbenbildende n und m, so doch silbenbildendes r und l nach
Art einiger slawischer Sprachen als etwas uraltes erwiesen.
Sievers hatte darauf den Ausdruck n sonans erfunden, und es
mochte wohl etwas verlockendes haben, diesem kaum in die
Reihe der Lautwesen aufgenommenen Neuling sogleich den
hohen Adel eines indogermanischen Urlautes zu ertheilen, wie
dies von Brugmann unter vielfacher Zustimmung geschehen
ist. Brugmann selbst sagt uns S. 304 der erwähnten Abhand-
lung, er habe früher den entsprechenden Laut als einen „ir-
rationalen Vocal + n“ aufgefasst. In demselben Sinne bezeich-
nete Joh. Schmidt eine Zeit lang die ebenerwähnte Accusativ-
endung consonantischer Stämme mit ans und die Endung der

[127] dritten Person Plur. mit ͣnti und ͣnt, bis auch er sich dem
n sonans anbequemte. Es scheint mir erwägenswerth, ob nicht
jene ältere Bezeichnung den Vorzug vor der späteren ver-
dient. Erwiesen ist doch nur dies, dass an dieser Stelle ur-
sprünglich ein minimal vocalischer Laut, welchem ns und nt
folgte, vorhanden war. Womit man beweisen will, dass dieser
Vocal dem n inhärirte, wie dies bei dem n sonans der Fall
ist, sehe ich nicht ein. Für das Griechische können wir die
Thatsache nicht leugnen, dass ein ν vor σ verklingt, auch
ohne dass jedesmal Ersatzdehnung sich geltend macht. Wie
will man anders die Form der Präposition ἐς neben εἰς er-
klären, wie anders ἔσω neben ionischem εἴσω? Nur durch
künstliche Voraussetzungen hat man Dative wie δαίμοσι, μνή-
μοσι
, ποιμέσι anders zu erklären versucht. Brugmann, indem
er solche Versuche macht, übersieht Formen von der Art der
dorischen Accusative Pluralis ἵππος, χῶρᾰς, mit kurzem Vocal,
bei denen der Ausfall eines ν unabweisbar ist. Dieselbe Ver-
drängung eines ν haben wir in Formen wie φᾰ́σις, βᾰ́σις,
τᾰ́σις. Einzelne griechische Dialekte gehen in dieser Ver-
drängung des Nasals noch weiter, besonders das Kyprische
in Formen wie atirijatan = ἀνδριάντα, ati = ἀντί, pepameron
= πεμπαμέρων. Auch im Sanskrit steht nicht blos dem an-
genommenen n sonans ein a ohne Nasal gegenüber, z. B. im
Locativ Pluralis rāg̍asu, sondern ebenso auch der Silbe in ein
blosses i vor demselben Consonanten, z. B. balishu, Dat. Pl.
vom St. balin (stark). Die Ausstossung eines n nach jenem
von uns angenommenen irrationalen a ohne Ersatzdehnung ist
nicht immer gemeingriechisch, wie die Freunde des n sonans
behaupten, sondern in zahlreichen Fällen Eigenthum der ein-
zelnen Dialekte. Die Argiver und ein Theil der Kreter be-
wahrten νς am längsten, z.B. in ἐνς, μέλος, im kretischen
ἐπιβαλλόντανς, welches letztere für eine Analogiebildung aus-
zugeben , wie wir oben S. 52 f. sahen, kein Grund vorliegt,
gortynisch: καταθένς = καταθείς. Die unmittelbaren Nach-

[128] folger dieser Gebilde, deren Nasal wohl schwerlich noch einen
ganz vollen Klang hatte, waren die zuerst von Ahrens (de dial.
dor. p. 173) richtig gedeuteten kurzvocalischen Ausgänge im
dorischen πρᾶξᾰς, Αἶᾰς, μέλᾰς, Μᾱλόες. Das Verschwinden
des Nasals erklärt sich am leichtesten bei jenem α, das, wenn
wir es als ein irrationales auffassen, wohl nicht im Stande
war, dem Nasal als Stütze zu dienen, und das eben deshalb
auch nicht durch Ersatzdehnung zu einer Länge zu werden
vermochte. Fasst man diese Erscheinung so auf, wie wir es
eben versuchten, so ist auf keinen Fall der mindeste Grund
vorhanden, jenen nicht eben angenehmen Brummton dem Grie-
chischen selbst aufzudrängen, also z. B. Formen wie ποδm̥
(πόδα) oder βm̥ϳω (βαίνω) oder δn̥σύς (δασύς) als griechische
Wörter vorzuführen. Selbst wenn man das n sonans für die
Ursprache zugeben wollte, wäre es ein Fehler, seine Existenz
auch für die griechische Sprache zu behaupten. Man könnte
ebenso gut ϝl̥qος als ältere Form für λύκος annehmen. Das
n sonans hat meines Erachtens für das Griechische höchstens
als sprachhistorische Hieroglyphe oder, was davon nicht sehr
verschieden ist, als algebraisches Zeichen, eine Art von Be-
rechtigung. Aber verkennen wir nicht, dass mit der Auf-
stellung dieses Lautes zugleich ein wirkliches Factum der
Sprachgeschichte zu Tage trat, das wir dankbar annehmen
wollen.


Auch andre Lautgruppen sind zu Tage gefördert, mit
deren Sprechbarkeit es misslich bestellt ist. Dieser Vorgang
ist nicht neu. Schon längst versuchte man Grundformen für
schwierige und mannichfaltige Gebilde der Einzelsprachen da-
durch zu gewinnen, dass man unklar intonirte, schwer sprech-
bare Lautgruppen ersann. So stellte Benfey eine Wurzel θϝρῐ
auf. Weiter geht Joh. Schmidt, z. B. wenn er Ztschr. XXV
S. 47 für das Zahlwort „vier“ die Grundform *πτϝαρ oder
*πτϝρα heischte, um auf diese Weise der Einräumung auszu-
weichen, dass τράπεζα und τρυφάλεια im Anlaut die Silbe τε

[129] verloren hätten. Wir glaubten oben S. 27 f. für den vereinzelten
Abfall dieser Wörter einen, wie mich dünkt, sehr einfachen
Erklärungsgrund zu finden. Allerdings beruht dieser Verlust
nicht auf einem Lautgesetz, ebenso wenig wie das volkstüm-
liche englische bus für omnibus, scheint mir aber doch, und ich
hoffe nicht mir allein, viel glaublicher, als die Existenz jener
angenommenen Grundformen, die für das Griechische unerhörte
Lautgruppen enthalten. Es ist wahr, in verschiedenen Spra-
chen findet man bisweilen Lautgruppen, die uns im höchsten
Grade befremden. Man muss daher mit dem Prädicat un-
möglich
vorsichtig sein; aber, wer kühne Gebilde der Art
behauptet, thäte doch gut, das Volk oder den Stamm beizu-
fügen, bei denen dergleichen vorkommt, auch wenn es etwa
eine afrikanische Sprache wäre. Wie denn z. B. der in den
letzten Jahren oft genannte König Mtesa ein trefflicher Beleg
für die Möglichkeit eines m sonans vor einem Consonanten
sein würde. Vielleicht erblüht aus den in Afrika vorberei-
teten Ansiedlungen Deutscher auch der Sprachwissenschaft
noch einmal unerwarteter Gewinn, ob auch der indogerma-
nischen, ist freilich zweifelhaft.


Curtius, Zur Kritik. 9
[[130]]

IV.

Est quodam prodire tenus, si non datur ultra.

Unleugbar bringt man in neuerer Zeit den Untersuchungen
über die Entstehung der ursprachlichen Formen ein viel grös-
seres Misstrauen entgegen als früher. Von manchen Seiten
wird sogar mit einem gewissen Selbstbewusstsein die ars ne-
sciendi gerühmt, mit welcher man jetzt Fragen behandle, die
früher mit grosser Zuversicht in Angriff genommen wurden.
Es genügt in dieser Beziehung auf Delbrück's Einleitung
2. Aufl. S. 57 und auf Joh. Schmidt Ztschr. XXIV S. 321 zu
verweisen. Selbst der italienische Gelehrte d'Ovidio „d'un re-
cente libro di Delbrück
“ S. 33, obwohl sonst mehrfach von den
neueren Ansichten abweichend, äussert sich über diesen Punkt
folgendermassen: ‘„Codesto genere di speculazioni e di con-
gettare sopra, quasi direi, le prime cellule della grammatica
ariana lasciano sempre il lettore molto perplesso
“’
. Am wei-
testen geht Joh. Schmidt am erwähnten Orte, indem er es
geradezu ablehnt, den „begrifflichen Werth“ der an die so-
genannten Wurzeln gefügten formativen Elemente zu erklären.
Wie weit es möglich ist, ohne solche Untersuchungen, die
man oft glottogonische genannt hat, besser aber als morpho-
gonische bezeichnen wird, auszukommen, und welche Mittel
wir besitzen, um auch auf diesem Gebiete wenigstens etwas
zu erreichen, das wird uns nachher beschäftigen. Gleich hier
aber mag bemerkt werden, dass jene Abneigung gegen die

[131] letzten Analysen schon früher begonnen hat. Der Gegensatz
zwischen Lassen und Bopp beruhte zum Theil hierauf. Ebenso
das, was ich Grundz.⁵ S. 35 ff. gegen Pott's Zerlegung der
Wurzeln, speciell gegen die Annahme verstümmelter Präpo-
sitionen in ihrem Anlaut bemerkt habe. Auch verweise ich
auf das, was ich in meiner Schrift „Zur Chronologie“ 2. Aufl.
S. 11 hervorgehoben habe, und erkenne überhaupt in diesem
Zweifel einen gesunden Kern. Man ist aber, glaube ich, darin
zu weit gegangen und hat unberechtigterweise Fragen die
Thür gewiesen, die wenigstens theilweise zu Antworten füh-
ren, welchen wir, ohne ihre Schwierigkeiten zu verkennen,
einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit nicht absprechen
dürfen. Dass es jedem Forscher überlassen bleiben muss, sich
für seine Thätigkeit das Feld auszusuchen, das ihm am mei-
sten sympathisch ist, und Fragen abzulehnen, welche seiner
Individualität weniger zusagen, ist selbstverständlich.


Wir beginnen mit einem Vorwurf, den man von verschie-
denen Seiten dem bis vor kurzem allgemein geltenden Ver-
fahren gemacht hat. Brugmann spricht Lit. Centralblatt 1884
S. 1027 von

„dem alten Vorurtheil, als hätten die Wurzeln
noch in nachursprachlicher Zeit ein selbstständiges Leben ge-
habt“

. Aehnlich drückt sich Delbrück a. a. O. aus:

„Je ein-
dringender die Vergleichung der indogermanischen Sprachen
zu Werke gegangen ist, um so deutlicher ist der Satz ge-
worden : Die Flexion war schon in der Ursprache abgeschlos-
sen ; in die Einzelsprachen sind nur fertige Wörter überliefert
worden“

. Beide Urtheile beruhen, wie ich glaube, auf einem
blossen Missverständniss. Ich wüsste nicht, wo jemand jenes
Vorurtheil geltend gemacht hätte, das Brugmann mit Recht
tadelt, und das, was Delbrück gegensätzlich ausspricht, ist,
glaube ich, stets die Meinung aller urtheilsfähigen Forscher
gewesen. Ich verweise in dieser Beziehung auf meine Schrift
„Zur Chronologie der indog. Sprachforschung“, welche sich
gerade mit dem Versuche beschäftigt, nachzuweisen, wie in
9*

[132] langen Zeiträumen, die ich zu periodisiren bemüht bin, aus
den Wurzeln nach und nach vielgegliederte Wörter wurden.
Delbrück führt als Beispiel der von ihm getadelten falschen
Analyse die griechische Futurform δο-θη-σό-μεθα an. Aber
niemand hat meines Wissens je behauptet, dass an einen für
sich bestehenden Stamm δο-θη eine für sich bestehende En-
dung σο-μεθα oder etwa vorerst die Silbe -σο und dann die
Personalendung angetreten sei. Es ist wohl nie etwas andres
behauptet worden, als dass für uns die Wurzeln so gut wie
abgeleitete Stämme in den Wörtern stecken. Allerdings,
dass die Wurzeln in den frühesten Zeiten der Sprachbildung
selbstständige Wörter waren, ist meine Meinung, dies wider-
spricht aber durchaus nicht der Behauptung, dass die Sonder-
existenz der Wurzeln in den der „Wurzelperiode“ nachfolgen-
den Perioden nicht mehr bestand.


Es handelt sich vielmehr, wenn wir von Wurzeln und
Stämmen als von etwas bestehendem reden, um ein abkür-
zendes didaktisches Mittel, dessen sich alle Sprachforscher
ohne Bedenken bedienen. Kaum jemand scheut sich, den
Stamm bhara von bhara-ti aus bhar oder bhṛ entstehen zu
lassen. Jeder bezeichnet von einer Form wie der Genitiv
pad-ás pad als Stamm, αs aber als Endung. Allerdings ist
dies in gewissem Sinne eine sprachhistorische Behauptung in
abgekürztem Verfahren. Wer sagt, im griechischen ποδ-ός
sei die erste Silbe Stamm, die zweite Genitivendung, in γέν-ος
sei γεν Stamm oder Wurzel, ος stammbildende Endung, der
behauptet damit durchaus nicht, dass erst innerhalb des Grie-
chischen der Lautcomplex γεν und die Silbe ος zu solcher
Function sich verbunden hätten, selbst nicht wenn er der Kürze
wegen sich so ausdrückt, die Silbe ος sei an die Stammsilben
ποδ und γεν angetreten. Gemeint ist nur, dass die erste Silbe
die Fortsetzung *) jener Stammsilbe war, die einst der ganzen

[133] Wortsippe gemeinsam angehörte, ος Fortsetzung oder Nach-
folger des Suffixes, an das sich in dem einen Falle die Func-
tion des Genitivs, in dem andern Falle die der nominalen
Stammbildung knüpft. Es würde zu einer unerträglichen Weit-
läufigkeit führen, wollte man etwa denkbaren Missverständ-
nissen gegenüber dies jedesmal so umständlich, wie es hier
geschehen ist, auseinandersetzen. Das kürzere Verfahren wird
schon dadurch fast zur Notwendigkeit, dass man ohne das-
selbe eigentlich gar nicht von Stämmen, Suffixen, Präfixen
reden könnte. Denn genau anzugeben, in welcher Lautgestalt
ursprünglich ein Stamm mit einer Endung verbunden wurde,
ist oft unmöglich. Beides, sowohl der Stamm wie die Endung,
können möglicherweise in jener unendlich frühen Periode sich
von den in irgend einer Sprache wirklich überlieferten Lauten
ein wenig unterschieden haben. Es ist sehr denkbar, dass in
jener frühesten Zeit das plus eines Lautes, möglicherweise
auch ein minus vorhanden war. In mehreren Sprachen finden
wir zum Beispiel für die zweite Person Sing, die Endung si,
so im Sanskrit, im Griechischen und mit kleiner Lautverän-
derung im Kirchenslawischen. Daraus folgt durchaus nicht,
dass diese Endung schon damals gerade so lautete, als sie
sich zuerst mit dem Verbalstamme verband. So rechtfertigt
es sich durchaus, dass wir auch für die indogermanische Ur-
sprache von einer Endung si reden, obgleich diese Endung
damals vielleicht svi oder tvi oder gar tva lautete, als sie zuerst
ihre Verbindung mit einem Verbalstamme einging, ebenso aber
auch für das Sanskrit und das Griechische, ohne dass man
sich des mehrfach gerügten Denkfehlers dabei schuldig macht.
Möglichkeiten solcher kleinen Irrthümer sind in der Sprach-
wissenschaft so oft möglich, dass man eigentlich immer im
Gedanken sich vorbehalten könnte: „Insofern hier nicht ein

*)[134] kleiner Irrthum sich eingeschlichen hat“. Auch Astronomen
pflegen ja die Möglichkeit kleiner Irrthümer mit in Rechnung
zu bringen.


Der Behauptung Delbrück's, Einleitung 2. Aufl. S. 57:

„Die Flexion war schon in der Ursprache abgeschlossen; in
die Einzelsprachen sind nur fertige Wörter überliefert“

, wird,
glaube ich, niemand in dieser Allgemeinheit widersprechen
wollen und hat auch, so viel ich weiss, niemand je wider-
sprochen. Ein Gegensatz der Richtungen ist hier gar nicht
vorhanden. Freilich leugnet ja Delbrück selbst nicht, dass
es vereinzelte jüngere Formen gibt, die nicht jener Urzeit an-
gehören ; wie er selbst die Passivformen des Griechischen als
solche anführt und schwerlich bestreiten wird, dass die ita-
lisch-keltische Passivbildung ebenfalls als ein jüngerer Nach-
wuchs zu betrachten ist, der sich aber bis jetzt noch in tiefes
Dunkel hüllt.


Der Ausspruch übrigens: „In die Einzelsprachen sind nur
fertige Wörter überliefert worden“, wird, so wahr er im
grossen und ganzen ist, doch noch anderweitiger Einschrän-
kung bedürfen. So dürfen wir nie vergessen, dass die sprach-
liche Fortpflanzung und Veränderung keine Unterbrechung er-
litt, und dass es nie einen Zeitpunkt gab, in welchem irgend
eine Sprache absolut fertig war. Es ragen vielmehr immer
die Producte früherer Perioden in die späteren hinein. Der
mit so grosser Vorliebe betonten Behauptung, dass die Pro-
ducte gleicher Zeiten auf einander einwirken und sich asso-
ciiren, lässt sich mit gleichem Rechte der weniger beachtete
Satz gegenüberstellen, dass zwischen den ältesten und jüng-
sten Zeiten ein continuirliches Band besteht. So habe ich in
meiner Schrift „Zur Chronologie“ im Anschluss an die da-
mals allein herrschende Meinung zu zeigen gesucht, dass die
Vocativform eigentlich keine mit den übrigen Casus auf glei-
cher, sondern vielmehr eine auf früherer Stufe stehende, also
gleichsam eine vorweltliche oder doch nur paläontologisch

[135] begreifliche Form ist. Denn sie enthält den nackten Stamm
des Nomens. Ebenso steht es mit dem Accusativ Nomin. Sing,
eines grossen Theiles der Neutra, und ähnlich mit der vor-
herrschenden 2. Pers. Sing, des Imperativs thematischer Verba.
Man wird also zugeben müssen, dass das alte in späteren
Sprachperioden ebenso fortleben kann wie Sitten und Ge-
bräuche eines Volkes oder Reste derselben, die nur als Pro-
ducte früherer Culturperioden verständlich sind, bis in späte
Zeiten sich erhalten.


Wenn wir nun fragen, in welcher Weise in späteren Zeiten
zusammengesetzte, abgeleitete und flectirte Wörter und Wort-
formen wirklich entstehen, so trage ich kein Bedenken, dem
Ausspruche Delbrück's im allgemeinen beizustimmen, ohne
dass ich mir bewusst bin, mich jemals damit in Widerspruch
befunden zu haben. Delbrück sagt a. a. O.: „Da Neubildungen
in einer fertigen Sprache nicht mehr durch Zusammensetzung
der constituirenden Elemente gebildet werden können, falls
diese Elemente nicht selbst fertige Wörter sind, so können
alle übrigen Neubildungen nur auf dem Wege der Analogiebil-
dung zu Stande kommen. Neubildungen sind Nachbildungen“.
Das durchgehende Gesetz, dass das erste Glied eines nomi-
nalen Compositums und dass der Stamm zahlloser abgeleiteter
Nominalformen den flexionslosen Stamm *) enthält oder jeden-
falls von diesem ausgegangen ist, erklärt sich einfach auf
diese Weise. Um uns die Sache durch einige Beispiele klar

[136] zu machen, so bildete sich jene Regel schon in der Periode
vor entwickelter Nominalflexion. In dieser Zeit rückten ein-
fache, damals noch unflectirte Themen, also z. B. sanskr. dvi
und pad, zu dem Compositum dvipad (zweifüssig) zusammen.
Ebenso pāda und pā (trinken) zu pādapa (pedibus bibens, Be-
zeichnung des Baumes). Den damals gebildeten Wörtern folg-
ten im Laufe der Jahrhunderte zahllose andere nach dem-
selben Typus. So erhielt sich dies Bildungsgesetz durch alle
Zeiten und Völker, auch als längst diese nackten Stammformen
ihre Sonderexistenz eingebüsst hatten. Griechische Stämme
wie δι-ποδ (vgl. ἐγχεσ-πάλος, κλυτό-πωλος), lateinische wie
bi-ped sind jenen Typen nachgebildete Formen. Dennoch kön-
nen wir die ersten Glieder jener Composita mit vollem Rechte
Stammformen nennen und demgemäss lehren, der Stamm δι
sei mit dem Stamme ποδ zusammengesetzt u. s. w. Natürlich
sind aber die einzelnen Composita dieser Art nach demselben
Typus zu sehr verschiedenen Zeiten aus ganz verschiedenen
Elementen gebildet. Die meisten Composita gehören also zwar
ihrem Wortgehalte nach den Einzelsprachen, aber ihrem Typus
nach einer proethnischen Zeit an. Der Fall ist selten, dass
wir ganz dieselben Elemente zu gleicher Bedeutung in ver-
schiedenen Sprachen verbunden finden, wie dies z. B. in dem
erwähnten Sanskritwort dvi-pad, griechisch δι-ποδ, lat. bi-ped,
umbr. du-purs der Fall ist. Bei solchen Wörtern besteht zwar
die Möglichkeit, dass sie schon in der Ursprache als Com-
posita vorhanden waren, und Fick hat sie in seinem indo-
germanischen Wörterbuch wirklich als solche oder doch als
mehreren Sprachgebieten von allem Anfang an gemeinsame
aufgeführt. Mit Sicherheit aber lässt sich aus dem Vorkommen
solcher Composita, der so benannten bahu-vrīhi's, in den ver-
schiedensten Sprachen unseres Stammes nur dies schliessen,
dass diese Form der Zusammensetzung schon in der Grund-
sprache vorhanden war. Ob dieser Typus auch schon für
Composita mit dem zweiten Zahlwort damals bestand, was

[137] wahrscheinlich ist, und ob gerade in der Verbindung mit dem
Stamme pad, ist nicht zu entscheiden. Es kann blosser Zu-
fall sein, dass gerade in mehreren Sprachen dieselben Ele-
mente zu einem ganzen verbunden wurden.


Wir werden durch diese Erwägungen wieder auf eine
Frage zurückgeführt, die uns schon einmal S. 55 beschäftigte,
nämlich die, wie weit bei den sprechenden ein Bewusstsein
von den Stämmen und Endungen vorauszusetzen sei. Wir
konnten uns nicht davon überzeugen, dass ein solches bis in
späte Zeiten fortgedauert habe und dass der Unterschied zwi-
schen den stammhaften und den angebildeten Elementen je-
mals ein völlig deutlicher, ja auch nur „gefühlter“ oder „em-
pfundener“ gewesen sei. Freilich mag in dieser Beziehung,
also in Bezug auf den Grad, in welchem ein Volk sich seines
Sprachbaues bewusst ist, zwischen den verschiedenen Sprachen
und Sprachperioden zu unterscheiden sein. Es ist kaum Zu-
fall, dass die Inder zuerst von allen Völkern unseres Stammes
zu einem deutlichen Bewusstsein des Wurzel- und Stamm-
begriffs gelangten. Die grosse Durchsichtigkeit ihres Sprach-
baues, die auf der getreuen Erhaltung und der gleichmäs-
sigen Umbildung des alten Sprachgutes beruht, erleichterte
ihnen dies wesentlich. Für Sprachen wie das Griechische und
Lateinische, vielleicht auch für andere, wird in der Regel
wenigstens das Gefühl bewahrt sein, dass die Bestandtheile
der zusammengesetzten Wörter in mehr oder weniger gleicher
Gestalt auch einzeln im Gebrauche waren, dass also z. B. die
Stammsilbe in δίς, δύο dieselbe ist wie in δίπους, während
das Verhältniss von bis zu duo schon nicht so klar zu Tage
liegt. Da Composita vorzugsweise der Dichtersprache ange-
hören, so erhielt sich hier der uralte Typus sicherlich dadurch,
dass dem Dichter Bildungen früherer Zeiten im Gedächtniss
schwebten, denen er mehr oder weniger unwillkürlich neue
Wörter schöpferisch nachbildete. So hatte gewiss der Dichter
ein besonders lebendiges Gefühl für das, was das uralte Sprach-

[138] gesetz und die allmählich und leise sich umwandelnde Sprach-
sitte gestattete oder forderte. Aber über ein dunkles Gefühl
für das, was die Sitte forderte, kam man schwerlich hinaus.


Schwieriger als bei den Compositis war die Festhaltung
des Zusammenhanges der jüngeren Bildung mit der älteren
schon bei den abgeleiteten Wörtern. Dass δίκαιος zu δίκη
gehörte, empfand wohl jeder Grieche. Aber davon, dass das
α des Adjectivs den Schluss des primitiven Stammes bildete,
hatte er kaum eine Empfindung, zumal der ionische Grieche,
der im Nominativ des Stammwortes η, in dem abgeleiteten
Adjectiv α sprach. Dass λογικός von λόγος stamme oder, wie
die Grammatiker zu sagen pflegen, ihm zur Seite stehe (τὸ λογικὸς παρὰ τὸ λόγος), wusste jeder, aber wie es sich mit
dem ι in dem Adjectiv, ebenso mit dem von ψσυχικός u. a.
verhielt, darüber grübelte kaum ein einziger.


Von einer Endung ος oder ες in Stämmen wie ἕδος oder
besser ἑδες hatten die Griechen sicherlich keine Ahnung, wäh-
rend wir den Indern das Bewusstsein von dem entsprechenden
Stamme sadas, der durch alle Casusformen geht, vielleicht
nicht absprechen dürfen. Dennoch erhielt sich in homerischen
Formen wie σακεςφόρος, ἐπεςβόλος, ὄχεσφι, ja sogar im ge-
meingriechischen σαφέστερος in blinder Fortpflanzung des ur-
sprünglichen das uralte Sigma, während die späteren Grie-
chen, durch den Nominativ auf ος verführt und durch die
Analogie der überaus geläufigen O-Flexion zu Bildungen wie
ξιφοκοόνος abirrten und auf diese Weise ein höchst mannich-
faltiges Bild in den mit ες-Stämmen zusammenhängenden
Wörtern liefern. Robert Schröter in seiner Leipziger Doctor-
dissertation (1883) „quas formas themata sigmatica in vocibus
compositis induant“ hat dies gut behandelt. Es ist keine
Frage, dass an den zusammengesetzten Wörtern das Verhält-
niss zwischen einem uralten, über die Enstehung der Flexion
hinausgehenden Typus und einem reichen, mannichfaltigen
Nachwuchs besonders leicht deutlich zu machen ist.



[139]

Die nominalen Composita werfen aber auch Licht auf
Verbalformen, in denen ebenfalls bis vor kurzem ohne Wider-
spruch Composita erkannt wurden. Jetzt behauptet man das
Gegentheil. Aber wer mit Bopp und Schleicher in einem
Aorist wie sanskr. adiksham = ἔδειξα eine Vereinigung der
Verbalwurzel dik̜ (δικ) mit einer Form des Verbum substan-
tivum erblickt, verstösst nicht im allermindesten gegen die
von uns zugestandene Thatsache, dass Wurzeln und Stämme
in nachursprachlicher Zeit kein gesondertes Dasein führen.
Freilich geht dieser Typus auf eine Zeit zurück, da es einen
Stamm dik̜ gab, welcher auch nominale Bedeutung haben
konnte und ein Casuszeichen ebenso wenig annahm, wie etwa
der Stamm sanskr. kara im ersten Gliede eines Compositums.
In beiden Fällen war der Typus ein ursprachlicher. Wurzeln
ohne weitere Anfügungen in der Bedeutung eines activen Parti-
cips kommen ja im Sanskrit noch so häufig vor (z. B. dharma-
vid
, recht-wissend), dass bei den Indern von solcher Anwen-
dung der Wurzeln sich sogar vielleicht ein Bewusstsein er-
halten haben wird. Die Annahme also, dass eine solche Wurzel
in nominaler Bedeutung sich mit einer Form des Verbum sub-
stantivum verbunden haben sollte, ist nichts weniger als wider-
sinnig.


Ein Compositum wie a-dik-sha-m erkläre ich mit Bopp
so, dass ich die Wurzel im Sinne des activen Participiums
dicens (genauer monstrans), das ganze also als tum dicens eram
fasse. Die Form hat dann ihren Nachfolger in der Futurbil-
dung dātā-smi (dator sum), die wegen der mit einer stamm-
bildenden Endung versehenen Form einer jüngeren Periode
angehört. Scherer Zur Gesch. der d. Spr.2 S. 475 fasst die
Wurzel als abstractes Substantiv, das als inneres Object vom
Verbum substantivum in ähnlicher Weise, aber ohne Casus-
endung abhängt, wie im Sanskrit k̍hōrajām ōsa, gleichsam
*furtum fui, ein abstractes Substantiv mit Accusativendung
von diesem Verbum regiert wird. Beide Erklärungen sind

[140] offenbar möglich. Dass, wenn man Scherer's Ansicht zustimmt,
allerdings einige Folgerungen, welche ich auf die Existenz
der ursprachlichen Form stützte, in Wegfall kommen, habe
ich schon in der zweiten Auflage der Chronologie S. 55 ein-
geräumt. Ich bemerke dies hier noch einmal mit Bezug auf
die freundlichen Worte, die Scherer an mich richtet. Da-
gegen beharre ich bei der Behauptung, dass solche Zusam-
mensetzungen mit dem Verbum sein jünger sind, als alle ein-
fachen Bildungen. Denn sie setzen für ihre Entstehung die
Abschwächung eines Verbums von sinnlicher Bedeutung zu
dem Verbum substantivum voraus („Chronologie“ 2 68 ff.).


Nach diesem Typus konnten dann später gerade so gut
zahlreiche andere gebildet werden, wie wir dies bei den No-
minalcompositis annahmen. Hier mag allerdings sehr früh
schon jedes Gefühl für den Ursprung der Form verloren ge-
gangen sein. Trotz aller Versuche ist jedenfalls eine andere
Erklärung dieser Formen nicht gefunden worden und ich sehe
durchaus keinen Grund, von ihr abzuweichen.


Etwas anderes ist es mit solchen, lange Zeit nach dem-
selben Princip gedeuteten Formen, wie die lateinischen Per-
fecta auf ui und vi, z. B. al-ui, ama-vi, aber auch mit den
Imperfecten auf bam. Da durchaus nicht nachgewiesen wer-
den kann, dass dieser Typus mit der W. bhū, lat. fu ein ur-
sprachlicher ist, da er vielmehr den italischen Sprachen eigen-
thümlich bleibt, so ist mir für diese Formen jetzt eine andere
Deutung wahrscheinlicher, deren Erörterung ich mir für eine
andere Gelegenheit vorbehalte.


Schliesslich mag noch darauf hingewiesen werden, dass
gerade der Satz: „Die Flexion war im wesentlichen schon
in der Urzeit abgeschlossen“, worin ich mit Delbrück überein-
stimme, gegen manche Versuche spricht, die in neuerer Zeit
häufiger geworden sind, nämlich gegen die, nachzuweisen, dass
an fertige Formen auf dem Boden der Einzelsprachen später
Partikeln, ja sogar vereinzelte Laute, zum Theil aus blosser

[141] Analogiebildung, angefügt worden seien, wie dies z. B. für
das S. 26 besprochene οὕτος und für Formen wie φέρεις be-
hauptet ist.




Wir kehren nun wieder zu dem zurück, was S. 130 be-
rührt ward, zu der Abneigung gegen die morphogonischen
Untersuchungen. Trotz dieser Abneigung bringt gleich das
erste Heft von Osthoff-Brugmann's morphologischen Unter-
suchungen eine ganze Reihe von Artikeln morphogonischen
Inhalts. Auf die Fragen selbst einzugehen, ist hier nicht
unsere Aufgabe. Ich habe dem, was Verbum I2 erörtert ist,
nichts wesentliches hinzuzufügen. Hier mache ich nur darauf
aufmerksam, wie selbst denen, welche solche Forschungen im
Princip ablehnen, ein völliges Vermeiden derselben in der
Praxis unmöglich ist. Ich hebe aus dem Inhalte jenes Heftes
nur eine Frage hervor.


Eine Untersuchung morphogonischer Art ist die über die
Imperativformen auf sanskr. tāt, griech. [τω], lat. to. In Bezug
auf die Thatsachen verweise ich auf Whitney Sanskritgr. § 570
und mein Verbum II2 57. Wir müssen hierbei etwas länger ver-
weilen. Scherer hatte zuerst (Z. Gesch. d. d. Spr. 2. Aufl. 340)
ausgesprochen:

„Ich sehe darin (in der Endung tāt) ein abla-
tivisches Adverbium vom Part. perf. pass. auf ta

.

„Unser
aufgemerkt! achtgegeben! fällt jedem ein“

. Mit dieser Er-
klärung stimmt Brugmann Morphol. Unters. I, 166 ff. überein.
Wesentliche Gründe dagegen scheinen mir folgende. In Be-
treff des Ablativs scheint Brugmann selbst Zweifel gehabt zu
haben, indem er sagt: „Diese Frage lassen wir auf sich be-
ruhen“. Ablativische Form tragen unstreitig viele Adverbien
an sich, wie bekanntlich die griechischen auf oder -ως
und die lateinischen auf (d). Nach Analogie von καλῶς,
rarο̄ liesse sich also auch wohl ein datō, vivitō als Casusform
denken. Dennoch nahm Delbrück Einl.1 S. 97 Anstoss an sol-
chen Ablativformen, die schon in ursprachlicher Zeit in ad-

[142] verbieller Bedeutung sich festgesetzt haben müssten. In der
2. Auflage S. 98 neigt er sich der neueren Deutung Thurn-
eysen's zu, auf die wir zurückkommen.


Viel bedenklicher aber als die Casusform ist die Bil-
dung
dieser angeblichen Verbaladjectiva. Zwar, in Verben
der unthematischen Conjugation stimmt das Verbaladjectiv zum
Theil zu den Imperativformen. ἰτός steht — von der Be-
tonung abgesehen — dem ἴτω, θετός dem θέτω, φατός dem
φάτω nahe. Ueberall dagegen, wo der Präsensstamm sich
vom Verbalstamm unterscheidet, gehen die beiden Formen
ganz auseinander: λεκτός und λεγέτω, δεικτός und δεικνύτω.
Ebenso erweist sich sanskr. g̍īvatāt = lat. vivito durch den
Vocal der zweiten Silbe als der Präsensgruppe angehörig, mit
welcher das Verbaladjectiv gar nichts zu thun hat. Wer den-
noch diese beiden zusammenbringen wollte, müsste die Im-
perative schon als Analogiebildungen nach einigen wenigen
kürzeren Formen auffassen, was schwer zu erhärten sein
würde. Bisher hat man auf diesen Unterschied gar nicht ge-
achtet.


Noch mehr hinkt die Vergleichung mit dem deutschen
aufgepasst!“ Dergleichen Imperativische Ausrufe sind, denke
ich, Passivparticipien in der Form des Ausrufes. Sie kommen
übrigens, wie Kenner der deutschen Sprachgeschichte ver-
sichern, erst im Zeitalter der Reformation vor, setzen also die
Verwendung dieser Participien in ausschliesslich passivischer
Bedeutung als etwas unbedingt feststehendes voraus. Kein
aufgepasst!“ ohne ein „es wird aufgepasst“, „es werde auf-
gepasst
“, „es ist aufgepasst worden“, „er hat aufgepasst“, etwa
wie lateinisch rectē, tacitē ein rectus, tacitus in bestimmt aus-
geprägter Bedeutung voraussetzt. Aber welches Recht haben
wir, für sanskr. g̍īvatāt und lat. vivitā ein Verbaladjectiv *giva-
tas
, *vivitus in der Bedeutung „gelebt“ vorauszusetzen, wie
wir es nach jener Erklärung thun müssten? venito hiesse
nach eben dieser Erklärung „gekommen!“ im Sinne von „es

[143] werde gekommen!
“, „man komme!“, also in jener neutralen
Anwendung des Passivs, die wohl nur im Lateinischen, z. B.
vivitur recte, häufiger ist. Im Sanskrit und Griechischen haben
die fraglichen Verbaladjectiva durchaus nicht ausschliesslich
passivische Bedeutung, z. B. sanskr. gatás = griech. βατός,
patitás (gefallen), μενετός, ῥυτός, θνητός. Wir haben also,
denke ich, kein Recht, jene für die erwähnte Erklärung noth-
wendige passivische Bedeutung als ursprachlich vorauszusetzen.


Dazu kommt noch ein andrer Bedeutungsunterschied.
Solche Zurufe wie „aufgemerkt!“ sind Commandoworte nach
Art des militärischen „Achtung!“, „Augen rechts!“, die wie
jedes Commando augenblickliche Ausführung heischen. Die
entsprechenden lateinischen Imperative auf to dagegen, von
den Alten imperativi futuri genannt, in Gesetzesformeln vor-
zugsweise gebraucht, sind auf alles eher als auf unmittel-
bare Ausführung berechnet. Zu dieser Beziehung auf die Zu-
kunft hat Delbrück syntakt. Forsch. III, 5 Anklänge in den
Veden gefunden, wonach wir vermuthen dürfen, dass schon
vor der Sprachtrennung ein solcher Gebrauch vorhanden war.
Ist dies richtig, so tritt eine neue bedeutende Verschieden-
heit zwischen den fraglichen Formen und den deutschen Aus-
rufungen hervor.


So wird es begreiflich, dass jene Herleitung der Impera-
tive aus Verbaladjectiven, nachdem sie 15 Jahre (1868—1883)
sich behauptet hat, vielfach wiederholt ist und sogar von einer
Seite zur Aufnahme in die Schulgrammatik empfohlen war,
jetzt zurücktritt und einer andern weicht, der von Thurneysen
(Ztschr. XXVII, 179), dem freilich schon Gaedicke „über den
Accusativ im Veda“ S. 225 vorausgegangen war. Beide Ge-
lehrte führen die Endung tāt auf den Ablativ des Pronominal-
stammes ta zurück, in der Bedeutung „von da an“. Dieser ad-
verbiale Ablativ, meinen sie, sei schon in der Ursprache an die
Form der 2. Sing. kürzerer Bildung angefügt, also z. B. bharatāt
in dieser Weise aus bhara = fer(e) entstanden. Wollten wir

[144] auch semasiologische Zweifel an dieser Erklärung unterdrücken,
so bleibt doch ein auch von Thurneysen nicht ganz über-
sehenes, für mich aber unüberwindliches Bedenken, dies, dass
bharatāt, φερέτω, ferto nicht blos die 2. Pers. Sing. bezeich-
net, sondern auch, nach Whitney § 570 etwa ein Dutzend Mal,
die 3. Pers. Sing. und ausserdem ein einziges Mal die 1. Sing.
und mehrmals die 2. Plur. Unmöglich können doch diese For-
men in dieser Anwendung aus der 2. Sing. gebildet sein, und
bhara- hier für etwas anderes als in der 2. Sing., nämlich für
den mit dem thematischen Vocal behafteten Stamm zu halten,
ist wenig glaublich.


Da sich den neuen Erklärungen so viele Schwierigkeiten
entgegenstellen, so lohnt es sich wohl, zu fragen, ob denn die
ältere Ansicht, wonach das Suffix -tāt mit den übrigen Per-
sonalsuffixen zusammengehört, so ganz und gar verwerflich sei.
Die Gegner dieser älteren Ansicht bringen es gar nicht in
Rechnung, dass die Silbe ta, welche doch ohne Zweifel in tāt
stecken kann, auch anderswo sowohl die zweite, wie die dritte
Person bezeichnet. Wir finden sie einerseits in der 2. Person
Plur. -ta, griech. -τε, lat. -tis, in der 2. Pers. Dual. -tam,
griech. -τον, andrerseits in der 3. Dual. -tam, griech.-τον,
-tām, griech. -την und in dem -ται der 3. Sing. Med., dem
entsprechenden -ta der Secundärformen und den dazu gehö-
rigen Pluralen auf -ntai und -nta. Die Imperativendung -tāt
theilt also die personale Indifferenz jenes -ta in den verschie-
denen erwähnten Anwendungen. Wer, wie ich, daran festhält,
dass die Silbe ta für die 2. Person dem Pronominalstamme
tva entstammt, in der 3. Person aber den ungeschwächten Pro-
nominalstamm ta der 3. Sing. darstellt, der kann sich über
die gleiche Doppelverwendung im Imperativ nicht wundern,
wobei freilich die weitere Erklärung der Form -tāt eine Frage
für sich bleibt, auf welche eine definitive und durchaus be-
friedigende Antwort gegeben zu haben ich mir nicht anmasse.
Ein unbedingtes Hinderniss wäre nur die Anwendung des Suf-

[145] fixes -tᾱt auf die erste Person Sing.: Atharva Veda g̍āgṛ-tād
aham
(wachen soll ich), die indess nach Whitney nur ein-
mal vorkommt, aber nach Scherer und Thurneysen weiss
ich sie ebenso wenig zu verstehen. Ob in dieser ganz ver-
einzelten Form an eine Uebertragung aus der dritten Person
oder an eine kühne Construction zu denken ist, mögen andere
entscheiden.


Die wiederholte Rückkehr zu denselben Problemen mit
verschiedener Entscheidung zeigt zweierlei; einmal, dass Joh.
Schmidt's Ansicht über das verfehlte jedes Versuches, dem
begrifflichen Werthe von Suffixen nachzuspüren, nicht von
allen jetzigen Forschern getheilt wird. Trotz der Schwierig-
keiten, die für manche einzelne Bildungen nicht gering sind,
kehren Fragen der Art immer wieder. Ohne Eingehen in
solche Fragen ist eine Klarheit über den Entwickelungsgang
der Sprache und über die richtigen Ausgangspunkte für zahl-
reiche Specialfragen nicht zu erreichen, und es ist besser,
bei solchen Versuchen zu irren als gar nicht darüber nachzu-
denken. Zweitens aber erkennen wir, dass bei Streifzügen
in so dunkle Regionen mit grosser Behutsamkeit und Zurück-
haltung vorzugehen ist. Apodiktische Behauptungen sind hier
nicht am Platze.


Freilich hat man wohl gesagt, es fehle bei diesen mor-
phogonischen Untersuchungen an Mitteln für sichere Erkennt-
niss. Mich dünkt, man sollte überhaupt auf diesem Ge-
biete öfter nach dem wahrscheinlichen fragen und sich der
Worte „unmöglich“ und „muss“ seltner bedienen. Wie oft
befinden wir uns in unserer Wissenschaft in derselben Lage!
Das sehr reichhaltige und anregende Buch von Otto Schrader
„Sprachvergleichung und Urgeschichte“ Jena 1883 wird nie-
mand, der es gelesen hat, ohne das bittere Gefühl grosser
Unsicherheit aus der Hand legen. Und dennoch ist es höchst
verdienstlich, einerseits durch eine gesunde Skepsis gegen
Curtius, Zur Kritik. 10

[146] viele allzu kühne und vorschnelle Behauptungen, andrerseits
durch die Befestigung eines kleineren Kreises von Aufstel-
lungen, die sich jenen Zweifeln gegenüber bewähren.


Noch dunkler sind die Fragen nach der Art, wie die ver-
wandten Sprachen sich von einem Centrum aus verbreiteten.
Gewiss überschreitet Joh. Schmidt's Theorie über diesen Punkt
ebenso gut die Grenze des streng erschliessbaren, wie so
manche morphogonische Untersuchungen, die dieser Gelehrte
gänzlich zurückweist. Glücklicherweise hat Leskien in Bezug
auf die Spaltung der Sprachen und Völker die Forschung wie-
der in eine festere Bahn gelenkt, wobei das Band zwischen
den sprechenden Völkern und den Sprachen selbst richtig ge-
wahrt wird. Ich verweise in dieser Beziehung auf meine
Grundzüge 5. Aufl. S. 85 ff. In allen solchen Fragen ist zuzu-
geben, dass sie bis an die äusserste Grenze des erkennbaren
führen, und dennoch sind sie alle unabweisbar. Ich gebe
übrigens gern zu, dass man früher vielfach zu positive Be-
hauptungen und mit zu grosser Selbstzufriedenheit aufgestellt
hat. Ich glaube namentlich, dass Schleicher, dessen hohe
Verdienste niemand freudiger anerkennen kann als ich, der
ich das Glück hatte, einige Jahre lang mit ihm in regstem
wissenschaftlichen Austausch zu stehen, durch eine allzu weit
gehende Entschiedenheit in seinen Behauptungen und durch
den allzu dogmatischen Ton seiner Lehren manches für weite
Kreise als fest und abgeschlossen hingestellt hat, wofür eine
weniger apodiktische Behandlung am Platze gewesen wäre.
Freilich hatte dies den Vortheil, dass alles, was er lehrte,
mit sonnenheller Klarheit grösseren Kreisen vorgeführt ward
und einige Jahrzehnte lang die leicht fassbare Meinung aller
derer blieb, welche überhaupt für solche Forschungen Sinn
hatten. Die allzu entschiedene Behauptung forderte aber mit
der Zeit den Zweifel und entgegengesetzte Versuche heraus.
In dieser Periode des Gegensatzes gegen das, was längere
Zeit gegolten hatte, befinden wir uns jetzt. Aber es ist mir

[147] sehr zweifelhaft, ob wir auf dem Wege einer übertriebenen
Skepsis einerseits und eines mir noch viel weniger begreif-
lichen Vertrauens zu verschiedenen neu aufgestellten Satzungen
andrerseits festere Grundlagen gewinnen werden.


Man hat behauptet, jeder Versuch einer Analyse der ur-
sprachlichen Formen scheitere schon daran, dass uns von den
Lautgesetzen der Ursprache nichts bekannt sei. Ich erinnere
mich, besonders bei französischen Gelehrten diesem Einwand
begegnet zu sein. Den Mangel an Lautgesetzen für die Periode,
in der die Formen der Ursprache sich erst bildeten, muss man
natürlich zugeben, und es wäre besser gewesen, wenn man
von Anfang an sich dieses Unterschiedes zwischen jener frühe-
sten Zeit und den späteren bewusst gewesen wäre und ihn
geltend gemacht hätte. Der Grad der Wahrscheinlichkeit für
die Behauptung, dass sanskr. bháranti, dor. φέροντι, ion. φέ-
ρουσι
, lat. ferunt in der einen vorangestellten Form ihre Grund-
form finden, dass griech. τείνω und got. thanja von Haus aus
gleich sind, ist allerdings ein viel grösserer als der, dass die
Personalendung si oder s von sanskr. bhárasi, griech. φέρεις
aus dem Pronominalstamme tva hervorgegangen ist. Aber steht
es besser mit zahlreichen Analogiebildungen, die man ange-
nommen hat ? Wir sahen oben, dass vielen Behauptungen der
Art manches entgegensteht. Lautgesetze aber gelten nach all-
gemeiner Annahme für örtlich und zeitlich begrenzt. Die That-
sache also, dass wir einen bestimmten Lautübergang für eine
historisch bezeugte Periode der Sprache nicht nachzuweisen
vermögen, schliesst keineswegs die Möglichkeit aus, dass ein
solcher Uebergang in einer noch früheren Zeit dennoch statt-
fand. Der Mangel an Kenntniss ursprachlicher Lautgesetze
macht natürlich dies ganze Forschungsgebiet zu einem viel
schlüpfrigeren, als dasjenige der späteren Sprachperioden. Um
zur Wahrscheinlichkeit durchzudringen, müssen hier andre Er-
kenntnissmittel besonders schlagender Art vorliegen. Wenn
dabei die behaupteten Lautveränderungen auf so kleine und
10*

[148] leichte Modificationen hinauslaufen, wie die, dass t vor v sich
assibilirte, oder dass ein ursprachliches, aller Wahrschein-
lichkeit nach unbetontes a sich zu i schwächte, so kann man
darin eine besondere Kühnheit nicht erkennen. Brugmann
erklärt mit andern Forschern die früher allgemein verbreitete
Annahme, φέρω habe, verglichen mit dem sanskr. bhárā-mi,
die Endsilbe eingebüsst, für „unmöglich“. Aber wenn wir
von den lautlichen Gewohnheiten der Ursprache überhaupt
wenig wissen, so folgt daraus doch nicht, dass eine solche
Kürzung nicht möglich war. Das Nichtwissen von solchen
Vorgängen gestattet ebenso wenig ein entschiedenes nein, wie
ein ja.


Allen Zweifeln über den Ursprung der Personalendungen
gegenüber bleibt das Hauptargument das auch von Delbrück
2. Aufl. S. 71 anerkannte. Es kann unmöglich Zufall sein,
dass die Laute m und t für die erste und dritte Person des
Verbums mit denselben Lauten der Pronominalformen in der
Bedeutung übereinstimmen. Zwar hat neuerdings Sayce in
seiner Abhandlung „Person-endings of the European verb“
(Internat. Ztschr. I, 222 ff.) den feierlichen Ausspruch gethan:
„The old agglutination theory of Bopp must be considered as
dead“. Wir haben hier neben dem Guna (oben S. 121) das
zweite Todesurtheil, das gegen grundlegende Gedanken Bopp's
ausgesprochen ist. Aber glücklicher Weise ist diesem Urtheil
schon mehrfach widersprochen worden, so von Merlo in sei-
ner Schrift „in difesa della teoria della agglutinazione appunti
critici“ Torino 1884, von Scherer Anzeiger X (1884) S. 379
und von Delbrück, der freilich zu meinem Bedauern 2. Aufl.
S. 141 weniger entschieden als in der ersten Auflage und an
der früher erwähnten Stelle der zweiten sich ausspricht. Der
Umstand, dass augenblicklich Untersuchungen dieser Art die
aura popularis nicht für sich haben, kann nach meiner An-
sicht keinen Grund abgeben, die auf wohl überlegten Argu-
menten gegründete ältere Lehre mit jener Adaptationstheorie

[149] auf eine Stufe zu stellen, bei welcher das Moment der Be-
deutung gänzlich bei Seite geschoben wird *)


Als ein unverächtliches Mittel zur Erklärung ursprachlicher
Vorgänge hat man von jeher die Analogie andrer Sprachen,
zunächst jüngerer Glieder des indogermanischen Stammes, be-
trachtet. Ohne die deutschen und romanischen Erscheinungen
wie „ich liebe“, „il donne“ wäre selbst Bopp kaum auf die
Grundlagen seiner Deutung gekommen. Dass enklitische Wört-
chen bei der Anschmelzung an andere sich verkürzen, kann
uns lateinisches nec, neu neben neque, neve und deutsches
ist's“, „s'ist“ und ähnliches lehren. Auf welchem Wege im
Neugriechischen θέλω ἵνα zu θα mit dem Conjunctiv gewor-
den ist, verspricht Krumbacher „Beiträge zu einer Geschichte
der griechischen Sprache“ S. 17 uns noch deutlicher zu zeigen.
Ohne das Princip der Kürzung kommen wir für solche flexi-
visch gewordene Silben nicht aus. Demgemäss ist die An-
nahme wenig auffallend, dass selbst in den ältesten Perioden
der Sprachen die Anfügung solcher Elemente mancherlei Ver-
kürzungen mit sich brachte, durch die sich die aller Wahr-
scheinlichkeit nach enklitisch angefügten Wörtchen mehr und
mehr von ihrem ursprünglichen Lautbestande entfernten. Auf
das Princip der Kürzung als einen gar nicht abzuweisenden
Factor im Sprachleben verwies ich S. 89. Es scheint mir
mehr als wahrscheinlich, dass dies Princip in jener frühen
Epoche wirksam war, in welcher der Uebergang von der An-
fügung zur eigentlichen Flexion stattfand.


Ebenfalls belehrend sind analoge Vorgänge in völlig un-
verwandten Sprachen, wofür schon Buttmann und Bopp das
Hebräische herangezogen haben (Verb. I2 S. 35). An dem-

[150] selben Orte S. 25 verweise ich auf das Ungarische. Sehr in-
structiv sind die Erwägungen, welche Delbrück aus Boeht-
lingk's Buch über die jakutische Sprache (Einleitung 2. Aufl.
S. 70 ff.) beibringt. So das Factum, dass die Volkssprache
der Kalmüken dergleichen Formen der Schriftsprache gegen-
über verkürzt, z. B. in der 2. Sing. tsch für das schriftmässige
tschi. Aehnlich schrumpft im Irischen der Pronominalstamm
me (ich) in der Zusammensetzung mit der Präposition do zu m
zusammen: do-m (mir). Wir haben hier also Thatsachen be-
zeugt, welche der von Bopp behaupteten Annahme, dass die
secundäre Endung s aus si hervorgegangen sei, durchaus ana-
log sind. Leider ist das Buch von Boethlingk, in dessen Ein-
leitung diese Fragen lichtvoll behandelt werden, dadurch dem
allgemeinen Gebrauche weniger zugänglich, dass zu seinem
Verständniss die Bekanntschaft mit verschiedenen seltneren
Alphabeten erfordert wird. Vielleicht entschliessen sich jün-
gere Forscher, solche Gebiete für die Durchforschung des
indogermanischen Sprachstammes in grösserem Umfange heran-
zuziehen. Einiges der Art ist von Hübschmann für das Gebiet
der Casuslehre, freilich mehr in syntaktischer Beziehung, ge-
schehen.


Die Analysen ursprachlicher Formen können in zwei Arten
getheilt werden, Zerlegungen in factisch vorhandene und solche
in bloss erschlossene Elemente. Dass die erstere Art mehr
Gewähr bietet als die zweite, bedarf keiner Begründung. Die
Erklärung der Personalendungen gehört natürlich zu der erste-
ren Art, ebenso die oft wiederholten Versuche, die stammbil-
denden und die Casussuffixe aus Pronominalstämmen zu deuten,
z. B. eine der ältesten Erklärungen Bopp's, das s als Nomi-
nativzeichen gehe auf den im Sanskrit erhaltenen Pronominal-
stamm sa zurück. Die kleinen Abschwächungen, welche man
in solchen Fällen annehmen muss, machen geringe Schwie-
rigkeiten, denn ohne sie war die leichte Beweglichkeit der
Flexionsendungen unerreichbar. Aber diese liegen bei den

[151] Casusendungen auf begrifflicher Seite. Nur selten ist das Band
der Bedeutung hier klar nachzuweisen. Aber immerhin rech-
net man dabei mit gegebenen, nicht mit rein imaginären
Grossen, und es verdient unter allen Umständen Beachtung,
dass dieselben Laute, unter den Vocalen a und i, unter den
Consonanten t, s, m, n, am häufigsten an diesen verschiedenen
Stellen vorkommen. Von ähnlicher Art ist auch die Vermu-
thung, a als Zeichen der Vergangenheit sei ein partikelartig
vorgeschlagenes Pronomen, das in die Ferne weise. Wenig-
stens im Sanskrit ist dieser Gebrauch des Pronominalstammes
einigermassen nachweisbar, vergl. Verb. I2 133 ff., wo ich mit
der Erklärung Scherer's so ziemlich zusammentreffe. Der Ge-
danke, Suffixe verschiedenster Art auf Partikeln zurückzu-
führen, ist allmählich beliebter geworden *) Aber der wirk-
liche Nachweis von dem Dasein der vermutheten Partikeln
ist oft wenig gelungen. Es mag sein, dass das k litauischer
Imperativformen, z. B. bu-k (sei), auf einer Partikel beruhe.
Aber schwerer ist diese Partikel als einst wirklich für sich
existirend zu erweisen. Und noch weniger ist dies wahrschein-
lich gemacht von Thurneysen, Ztschr. XXVII, 172, in seiner
Abhandlung über den indogermanischen Imperativ, z. B. für
eine Form wie sanskr. as-tu (er sei), für den griechischen Im-
perativ des sigmatischen Aorists, z. B. δεῖξον, wo Thurneysen
eine Partikel am vermuthet, dieselbe, die auch in sanskr.
ah-am (ich) stecke. Wer irgendwie gewohnt ist, die Bedeu-
tung im Sprachleben für einen nicht ganz ausser Acht zu
lassenden Factor anzusehen, der fragt doch, was hat die Im-
perativendung mit der in ah-am wahrscheinlich anzunehmenden
Casusendung zu schaffen? Und wenn nun vollends die nur

[152] für einzelne griechische Localmundarten nachweisbaren For-
men θίγον, λάβον ebenso gedeutet, also für aus jenem nur für
die Ursprache vorausgesetzten am entstanden ausgegeben wer-
den, so sieht man, wie dünn diese Gespinnste sind, für deren
Aufstellung ich übrigens den Scharfsinn und das anregende der
Darstellung nicht verkennen will. Osthoff in seiner Geschichte
des Perfects S. 324—390 glaubt, eine neue Erklärung für das
griechische Perfectum mit κ geben zu können und zwar wie-
derum mit Hülfe einer Partikel. Die Endung κα soll nichts
andres sein als die längst bekannte, jedermann geläufige Par-
tikel κέ, κέν, wofür bekanntlich auch die mundartliche Form
κᾰ́ oder κᾱ́ erwiesen ist. δέδωκα wäre also nichts andres als
δέδω + κα (= κέν). Aus der Geschichte des Perfects auf κα
ist längst festgestellt, dass diese Bildungsweise bei Homer erst
im Entstehen begriffen ist. Sie muss folglich auch aus dem
Griechischen selbst erklärt werden. Und wer hier mit einer
Partikel κα operirt, der hat zu zeigen, dass diese Anwendung
der bekannten Partikel sich vereinigen lässt mit dem, was wir
über den griechischen Gebrauch derselben wissen. Auch ver-
sucht Osthoff diese Forderung zu erfüllen. Trotz allem aber,
was er über einzelne seltnere Gebrauchsweisen von κέν bei
Homer vorbringt, hat er nicht erwiesen, dass die herrschende
Meinung, κέν sei so gut wie ἄν eine Partikel zum Ausdruck
des eventuellen oder des bedingten, irgendwie zu berichtigen
sei. Keine Verbalform hat mit dieser Bedeutung weniger ge-
mein, als der Indicativ des Perfects nach seiner festen, im
Griechischen von Anfang an ausgeprägten Anwendung auf eine
in der Gegenwart abgeschlossene Thatsache, und es ist eine
kühne Behauptung, wenn Osthoff S. 346 sagt: „Dass uns kein
Beispiel des Indicativs des Perfects mit der (unverschmolzenen)
Partikel κέν bei Homer begegnen will, ist zum Theil gewiss
wohl
als eine Sache des Zufalls zu betrachten“. Auch mit
der Annahme, die Partikel κέν, κά entspreche dem sanskriti-
schen Substantiv c̹am „Heil“, „Wohl“ — von wo dann zu

[153] unsrer deutschen Partikel „wohl“ ein kühner Weg gebahnt
wird —, steht es sehr misslich; noch misslicher mit der An-
nahme, jenes κα im Perfect sei der deutschen Partikel „wohl
im volksthümlichen Erzählungston zu vergleichen, z. B.: „Es
zogen drei Bursche wohl über den Rhein“. Diesem „wohl“
entspricht eher die Partikel τοί oder ἤτοί (z. B. ἤτοί ὅ γ' ὥς εἰπὼν κατ' ἄρ' ἕζετο) nach epischem Gebrauche als Ausdruck
treuherziger Versicherung. Auch hat ja bekanntlich der Indi-
cativ Perfecti nach älterem griechischen Gebrauch mit der
Erzählung nichts zu thun. So gern ich zugebe, dass sämmt-
liche bisherigen Erklärungsversuche der fraglichen Perfect-
form ihre Schwierigkeiten haben, so wenig glaube ich, dass
dieser neueste Anklang finden wird.

[[154]]

NACHWORT.


 

Indem ich hier diese Betrachtungen abbreche, drängt es
mich, am Schlüsse derselben ein allgemeines Wort zu sagen.


Mich leitete theils ein persönliches, theils ein rein sach-
liches Motiv. Das persönliche bestand darin, zu zeigen, dass
ich eine Reihe von Behauptungen weitgreifender Art nicht
etwa aus Laune oder aus trägem Beharren beim alten, son-
dern aus Gründen ablehne, die hier nun zu jedermanns Prü-
fung vorliegen. Ich habe dabei mit Freuden die Gelegenheit
benutzt, wo es mir möglich war, meine Zustimmung auszu-
sprechen oder Missverständnisse zu beseitigen.


Weit überwiegend aber war für mich der sachliche Ge-
sichtspunkt. Eine so schwierige Wissenschaft, wie die unsrige,
bedarf einer gewissen Uebereinstimmung in den Kernfragen.
Zur Gewinnung dieser beizutragen, war ich vor allem bestrebt.
Die mannichfachen Anregungen und Förderungen, welche der
Wissenschaft aus den neuesten Arbeiten erwachsen sind, er-
kenne ich gern an. Aber dass in ihr jemals eine „Katastrophe“
eingetreten sei, dass man sich jetzt auf einem neuen verläss-
licheren Boden befinde, von welchem aus alles neu anzugreifen
sei, kann ich nicht zugeben. Dies zu behaupten, war meines
Erachtens ein Fehler. In einer verfehlten Nachahmung der
Naturwissenschaften hat man für die Sprachforschung aus-
schliesslich in den Lautverhältnissen eine feste Regel zu ge-
winnen und deren Ausnahmslosigkeit zu erhärten versucht.
So fest es steht, dass die Lautverhältnisse stets der natürliche
Ausgangspunkt für jede Einzelfrage sein müssen, so wenig

[155] kommt man auf diesem Gebiet mit unverbrüchlichen Formeln
aus. Mass und Ordnung durchdringt das ganze Wesen der
Sprache. Die Erforschung der Sprache gehört zu den ge-
schichtlichen Geisteswissenschaften und bei diesen ist vielfach
nicht ohne ein vorsichtig tastendes Verfahren auszukommen.
Darum ist auf die Bedeutung der fraglichen Wörter und Wort-
formen ebenso sorgfältig wie auf die Laute zu achten und
vor allem in jedem einzelnen Falle von den unbefangen er-
mittelten Thatsachen der Sprachgeschichte auszugehen. Dass
wir dabei häufig, namentlich wo es sich um die Gründe der
einzelnen Erscheinungen handelt, über eine gewisse Wahr-
scheinlichkeit nicht hinauskommen, wird zuzugeben sein. Aber
was nützen zuversichtliche Behauptungen, bei denen man doch
zu rein willkürlichen Annahmen greifen muss ? Im Anschluss
und unter kritischer Benutzung der Arbeiten, welche vom Be-
ginn der vergleichenden Sprachwissenschaft an bis auf die
Gegenwart unternommen sind, wird man, das ist zu hoffen,
weiter und weiter kommen.


Um mich möglichst vor rein subjectiven Meinungen zu
hüten, habe ich überall mich bemüht, die Aussprüche andrer
Gelehrter heranzuziehen und so ein Bild der Meinungen zu
geben, die keineswegs in dem Masse übereinstimmen, wie
dies häufig behauptet wird. Auch hat, irre ich nicht, die Zu-
versicht, mit der man vor neun Jahren eine neue Aera erwar-
tete, schon vielfach sehr nachgelassen. Sollten diese Blätter
etwas zur Klärung der Meinungen und zur Ausgleichung der
Gegensätze beitragen, würde ich das nach mehr als vierzig-
jähriger Bemühung auf diesem Gebiete als den schönsten Lohn
betrachten.


Ich kann nicht schliessen, ohne meinem lieben Freunde
und Collegen Ernst Windisch für die treue, anregende und
vielfach belehrende Theilnahme, die er diesem Buche von
Anfang bis zu Ende widmete, herzlich zu danken.


Leipzig, Januar 1885.

[[156]]

Appendix A REGISTER.

 
I. Sachen und Personen.
  • Accent 121 f.
  • Accusativ Sing. heteroklitisch 78;
    Plur. kret. auf -νς 52 f. 128.
  • Adaptionstheorie 148.
  • Adverbia, griech. auf -ως 55.
  • Agglutinationstheorie 148 ff.
  • Analogie, Analogiebildung 8 f. 33 ff.
    67 ff.
  • Analyse 132 ff. 147.
  • Anaptyxis, Unregelmässigkeit dersel-
    ben 31.
  • Angermann 79.
  • Angleichung 37.
  • Anlaut, unregelmässige Erleichte-
    rungen 15. 27; Silbenabfall 27 f.
    128 f.
  • ἀντίπτωσις 75.
  • ἀντίστοιχοι 75.
  • Apokope 7. 24 f. 50. 149.
  • Apollonios Dyskolos 35.
  • Aristarch 34. 75.
  • Armenisch 95.
  • Ascoli 2. 17 f. 20. 45.
  • Aspirata, dentale, im Griech. nicht auf
    einer Linie mit den übr. Asp. 61.
  • Aspiration, griech. im Anl. durch
    Wirkung von Analogie 73. 77; im
    griech. Perf. 58 ff.; sporadisch im
    Lat. 9 Anm., im Griech. 21 Anm.,
    59 f.
  • Assimilation 45 f.
  • Association 37.
  • Atavismus 99.
  • Augment, temporales 115 f. 151.
  • Ausgleichung 37. 68.
  • Ausstossung von Silben im Inl. 31. 86.
  • Axiom 9.
  • Bartholomae 102. 106. 118.
  • Baudat 49.
  • Baunack 84. 87. 88.
  • Bezzenberger 9. 47. 54.
  • Blass 88.
  • Bloomfield 106 ff.
  • Boethlingk 149 f.
  • Bopp 71. 131. 139. 148. 149 f.
  • Brugmann 8. 25. 27. 30. 31. 41. 45.
    48. 49 f. 54. 57. 67. 80 ff. 90. 96.
    103 f. 106. 120. 125. 131. 141. 148.
  • Buttmann 35. 149.
  • Christ 24.
  • Collitz 12. 101.
  • Comparative, auf -ωτερος 50 f.; mit
    verkürzten Stämmen 87 ff.
  • Composita mit η im Ausl. des 1. Glie-
    des 79; proethnischer Typus 136;
    Verbalformen als Composita 139.
  • Conservativer Trieb der Sprache 42 ff.
  • Continuatore 20. 132 Anm.
  • Contraction, Ungleichmässigkeiten
    28 f.
  • Corssen 96.
  • Cultursprachen 13.
  • Dative Plur. auf ασσι, εσσι 53 f.,
    auf -οις von cons. Stämmen 68. 69 f.
    81. 83.
  • Delbrück 3. 6. 11. 12 ff. 42. 54. 71.
    130 ff. 141. 143. 148 f.
  • Dentalismus, griech. 103.
  • Diez 19.
  • Digamma, anl. 27. 52.
  • Dissimilation 86.
  • Doppioni, doublets 19 f. 30 Anm.
  • Dreisilbengesetz 105.
  • Entlehnungen 14.
  • Epenthese im Griech. 31.
  • Erweiterungen 88 ff.
  • Femininum auf ā 112 f.
  • Fick 24 f. 88. 105. 136.
  • Formübertragung 41.
  • Fortsetzung 132; vergl. continuatore.
  • Foy 106.
  • Fremdwörter 14.
  • Fritsch, Ad. 87.
  • Fröhde 100. 122.
  • Gaedicke 143.
  • Gefühl, grammatisches, für die Be-
    deutung 70 ff. 86. 112; nicht für
    die morphologische Gliederung der
    Sprache 54 ff. 107. 137 ff.
  • Gemination, Reduction derselben im
    Griech. 30.
  • Genitiv Sing. der cons. Decl. 113;
    heteroklitische von EN auf -ης 78;
    thess. auf οι=οιο 29 f.
  • Graeco-italische Einheit 105.
  • Grimm, Jacob 6.
  • Groeber 20.
  • Guna 121.
  • Haberlandt 31.
  • Harlez 117.
  • Hatzidakis 82.
  • Henry 40. 44. 97.
  • Heteroklisie 78.
  • Hiatus 28 Anm.
  • Hübschmann 150.
  • Humboldt, W. v. 67.
  • Hyphaeresis 87.
  • Imperative, apokopirte, im Lat. 7.
    24 f. 50; auf -tāt, -τω, -tο̄ 141 ff.
  • Irisch 115. 117. 150.
  • Isosyllabismus 70.
  • Katastrophe? 4.
  • Krasis 29 f.
  • Krumbacher 149.
  • κτ im Stammausl. 27.
  • Kürzungen inComparativstämmen 87;
    am Wortende 26; zur Vermeidung
    des Gleichklangs 85f.; in Namen
    etc. 84f.; in den ältesten Perioden
    149 f.
  • Larissa, Inschriften von 103.
  • Lautgesetze 6 ff.
  • Lautverschiebung 22; stockend 6.
  • Lebende Sprachen 18 ff. 124. 149.
  • Leibniz 18.
  • Leskien 6. 41. 46. 82 Anm. 146. 151.
  • Lobeck 35 f.
  • Maassen 48.
  • Mehlhorn 34 f.
  • Meinck 31.
  • Meister 30. 84.
  • Merlo 26. 148.
  • Metaplasmus 68. 69 f. 81. 83 f.
  • Metathesis 45.
  • Meyer, Gustav 20 f. 24. 26. 52. 54.
    60. 73. 86. 96. 114.
  • Michaelis, Caroline 19. 72.
  • Miklosich 82. 126.
  • Misteli 3.19.27.42.44. 49. 57. 95.122.
  • μονήρεις λέξεις 43.
  • Morphogonische Fragen 130 ff.
  • Müller, Fr. 11.
  • Müller, Heinr. Dietr. 90.
  • Nachahmungstrieb 4.
  • Nachbildungen 135.
  • Namen und verwandteBildungen 88 ff.
  • Nasale. Ausfall von ν ohne Ersatz-
    dehnung 127 f.; ν ἐφελκ. „festge- [158] wachsen“ 48 f.; ν schwach klingend
    im arg. kret. νς 128.
  • Nasalis sonans 125 ff.
  • Naturstand 13.
  • Nauck 24.
  • Neubildungen 135.
  • Nominativ als Accus. 73 f.
  • „nuova fede“ 9.
  • Ny ephelkystikon 48 f.
  • o zu a 106.
  • Oehler 30.
  • Osthoff 8. 19. 24. 47. 56. 58. 66. 106.
    119. 122.
  • d'Ovidio 12. 72. 130.
  • palaeontologisch 134.
  • Palatismus 98 ff.
  • Pali 70.
  • παρακολουθεῖν 35.
  • Partikeln als Suffixe 151.
  • Patronymica unter Einwirkung der
    Analogie 79.
  • Paul 3. 11. 14. 66. 122.
  • Pauli 21.
  • Perfectum, ital. auf -etti 57, griech.
    auf -κα 56 f. 58.152 f., griech. aspi-
    rirtes 58 ff.
  • Personalendungen 147. 148. 150.
  • Plusquamperfectum, griech., unter
    Einwirkung „innerer“ Analogie 49.
    68 f. 77.
  • Pott 50. 85.
  • Prākrit 70. 107.
  • Principien 3.
  • Prothetische Yocale im Griech. 28.
  • „psychologisch“ 44 ff.
  • Reduplicationssilbe 27. 86.
  • Residua, sprachliche 14. 134.
  • Rhotacismus, el. 27, lat. 6. 38. 40. 67,
    deutsch 40.
  • Rhythmische Dehnungen im Griech.
    51.
  • Ritschl 41.
  • Romanische Sprachen 18 ff. 149.
  • Rutherford 29.
  • σ, Abfall des nominativ -ς im Boeot.
    88; σ durch Analogie im griech.
    Perf. Pass. etc. 18.
  • Satzaccent 25.
  • de Saussure 51. 105. 115. 121.
  • Sayce 148.
  • Scheideformen 19.
  • Scherer 11. 41. 42. 124. 135. 139 f.
    144. 148. 151.
  • Schleicher 146.
  • Schmidt, Johannes 4.17. 24. 53. 58 ff.
    98 ff. 103 f. 114. 130. 145. 146.
  • Schrader 145.
  • Schröter 138.
  • Semasiologische Bedenken gegen
    neuere Aufstellungen 24. 30. 48.
    143 f.
  • Spaltung des Α-Lautes 92 ff., des
    R-Lautes 93, der Sprachen und
    Völker 146.
  • Stammabstufung 120 ff.
  • Stammbildung, abgeleitete 78 ff. 138.
    150; Einwirkung der Analogie 78 f.
  • Steigerung oder Kürzung? 120ff.
  • Suffixe. Analogiewirkungen in Suf-
    fixen 79; Neutra auf -μα(ν), -men
    etc. 80 ff.; vocalische Suff, werden
    consonantisch 82 ff.
  • συναποφέρεσθαι 35.
  • συνεκδρομή 33ff.; ex antithesi 35 f. 72.
  • συν(εκ)τρέχειν 34.
  • Synizese 87.
  • „Systemzwang“ ? 67 f.
  • τ, griech., im Auslaut 26. 54. 141.
  • „Tératologie linguistique“ 44.
  • Thematischer Vocal 114 ff.
  • Thurneysen 142. 145.
  • Tobler, L. 10 f. 23.
  • Torp 70 Anm.
  • „Tralignamento“ 22.
  • Uebergangszustände 14.
  • „unbewusst“ 53.
  • „unmöglich“ 148.
  • Unverwandte Sprachen 149.
  • Usener 29.
  • Verbaladjectiva 142.
  • Verbreitung der Sprachen von einem
    Centrum aus 146.
  • Verengung von gr.-lat. io zu i 32.
  • Verner's Gesetz 123.
  • Versprechen 45.
  • Vocalconflict, nicht Hiatus 28 Anm.
  • Vocalismus, indogerm. 90 ff.
  • Vocativ im Griech. 74 ff.
  • Vṛddhi 124.
  • Wackernagel 28. 74.
  • Wahrscheinlichkeit 40. 47. 145.
  • Warncke 55.
  • Whitney 12. 148.
  • Windisch 55.
  • Wortbildende Elemente in der Flexion
    83 Anm.
  • Wurzeln 132, in nominaler Bedeu-
    tung 139.
  • Zahlwörter unter Einwirkung der
    Analogie 76 f.


II. Einzelne Wörter
  • Skt. adiksham 139 f.
  • W. ar 109.
  • balishu 127.
  • bhrāǵas (bhargas) 100.
  • dātāsmi 139.
  • dvipad 136 f.
  • giri 99.
  • ǵāgṛtād 145.
  • kim 99.
  • laghisṭhas 99.
  • mūrdhan Loc. Sing. 25.
  • ōǵījans 99.
  • pasparc̹a 86.
  • pādapa 136.
  • pibāmi 21 Anm.
  • pṛd 21 Anm.
  • rāǵasu 127.
  • v̄da, v̄dmi 124.
  • Zd. bareñtem 117.
  • cis 103.
  • gairi 99.
  • ἀγώνοις 68 ff.
  • αἶλος kypr. 31.
  • ἅλασιν 83.
  • ἄλγιστος 87.
  • ἀλλάγων 86.
  • ἄλλυ ark. 93.
  • ἄλοξ 52.
  • ἀμέλγω (ἀμέργω) 93.
  • ἀνα 26.
  • ἀνύτω 54.
  • ἀνυχί neukret. 106.
  • ἄππας 88.
  • ἀρύτω 54.
  • ἀρφανός ngr. 106.
  • ati kypr. 127.
  • ἀτίει 35.
  • atirijatan kypr. 127.
  • βᾶ 85.
  • βά̆σις 127.
  • γάλα 26.
  • δ vor μ zu σ 16.
  • δέδωκα 58.
  • δείελος, δείλη 29.
  • δεῖν aus *δεῖον 29.
  • δεῖξον 151.
  • διποδ 136.
  • δύεσσι, δυοῖσι, δυσίν 77.
  • εἰνί (ἐνί) 31.
  • εἰς (ἐς) 127.
  • ἔκομεν 52.
  • ἔμ(μ)εναι 30 Anm.

[160]
  • ἐνί (ἐν) 25.
  • ἑννέα herakl. 77.
  • ἔντι rhod. 47.
  • ἐπιβαλλόντανς kret. 53.
  • ἐχυρός 79.
  • ϝοῖδα 123.
  • ζείδωρος 29.
  • ἡδέσι 69. 77.
  • ἡμέδιμνον 31. 86.
  • ἦν 48.
  • ἧος 26.
  • θανατηφόρος 79.
  • Θέδωρος 87.
  • θέσπις 87.
  • ΘΗΡΑΣΥΜΑΚ(Η)ΟΣ 61.
  • ἴδμεν 16 f.
  • ἱππέης altatt. 74.
  • ἵππος dor. Acc. Plur. 127.
  • ἱππότα 75.
  • ἴσμεν 16 f.
  • κάσις 85.
  • κασκαλίζειν 86.
  • κατύ ark. 114.
  • κέ(ν) 152.
  • Κεφαλλίς u. ähnl. 88.
  • κίδναται 15 f.
  • κίς thess. 103.
  • κλόνις 51 f.
  • κόρη 99.
  • κυλλός 32.
  • λϝ zu λλ 32.
  • λιμπάνω 125.
  • Λῦσις 32.
  • λύκνος 2l Anm. 60.
  • μᾶ 85.
  • Μέννει boeot. 88.
  • Ναϝπακτίον lokr. 52.
  • νουμενία 29.
  • ξιφοκτόνος 138.
  • ὀδμή 16 f.
  • οἶμαι 29.
  • οἰσπάτη 29.
  • ὁκτώ herakl. 77.
  • ὀνομάτοις 81.
  • ὀνείρατα83.
  • ὄρνις 109.
  • ὀσμή 16 f.
  • οὕτω(ς) 26. 55. 141.
  • πάππα 88.
  • πᾶς, πᾶ 85.
  • πάσκω el. 21 Anm.
  • πειθώ Acc. 73.
  • πελλίς 32.
  • pepamero͘n kypr. 127.
  • πέρδομαι 21 Anm.
  • πολλο- 32.
  • πομφάγωγεῖ 65.
  • πρόχνυ 59.
  • ῥίγιον 87.
  • σκίδναται und κίδναται 15 f.
  • σταδίν 32.
  • στέγος 15 f.
  • τέγος 15 f.
  • τέκνα (τέχνη) lokr. 60.
  • Τελαμωνιάδης 79.
  • τίς 103.
  • Τλασίαϝο korkyr. 49 f.
  • Τράπεζα 27 f. 128.
  • Τρυφάλεια 128.
  • τυ kypr. 114.
  • ὑπνηλός 79.
  • Φύλακος 83.
  • χρημάτοις el. 81. 84.
  • χῶρᾰς dor. Acc. Plur. 127.
  • ᾦμην 29.
  • ὤν att. 28.
  • ὤτοις 83.
  • agricola 76.
  • alis 32.
  • anhostatu umbr. 119.
  • ankensto osk. 119.
  • anter osk. (ander umbr.) 119.
  • arbor 40.
  • biber 25.
  • biped- 136.
  • credetti it. 57.
  • curvus 32.

[161]
  • dēbeo 39.
  • dīco 122.
  • fac 7. 50.
  • gabbia it. 20.
  • greve it. 72.
  • iens (euntis) 116.
  • nasutus 79.
  • natalis 79.
  • nec, neu 149.
  • pandidi 57.
  • pēdo 21 Anm.
  • pelvis 32.
  • pozzo it. 20.
  • purpura im Span. 20.
  • quattuor 119.
  • razzo it. 20.
  • robur 68.
  • senec-s (sen-is) 83 Anm.
  • signor(e) it. u. ähnl. 25.
  • sistimus 86.
  • stetti it. 57.
  • tetuli 27.
  • unguen, unguentum 83.
  • veduto it. 79.
  • ver 68.
  • voluntas 116.
  • beram altir. 115.
  • carat altir. 117.
  • dom altir. 150.
  • arno ahd. 109.
  • (wir) banden 68.
  • aufgepasst! etc. 142 ff.
  • (ich) gib 101.
  • ist's, s'ist 149.
  • vigam, vigôs got. 115.
  • wohl 152.
  • buk lit. 151.
  • knížata čechisch 82 Anm.
  • mladenĭcĭ (mlade̜te) ksl. 83 Anm.
  • nebese ksl. 113.
  • orĭlŭ ksl. 109.
  • smunen-isku (smunen-t-ins) preuss.
    83 Anm.
  • telen-ok (telja-ta) russ. 83 Anm.
  • vežame lit. 115.
Druckfehler
  • S. 32 Z. 9 v. o. lies Λῦσις statt Λύσις.
  • S. 92 Z. 2 v. u. ist nach „p.358“ „zu“ zu streichen.
  • S. 109 Z. 10 v. u. lies orĭlŭ statt orĕlŭ.
[]

Appendix B

Druck von J. B. Hirschfeld in Leipzig.


[][]
Notes
*)
Ich verweise hier beispielsweise auf die feine Erörterung man-
cher hierher gehöriger Punkte von Ascoli in seiner Lettera glottologica
Torino 1881 gegenüber dem von jüngeren italienischen Gelehrten eifrig
bekämpften ‘Decalogo dei Neogrammatici’.
1).
Einleitung in das Sprachstudium Leipzig 1880 (2. Aufl. 1884).
2).
Principien der Sprachgeschichte Halle 1880.
*)
Delbrück (Einleitung1 S. 60) nennt diesen Satz ein Aperçu, Wundt
Logik II S. 553 ein „logisches Postulat“.
*)
Ein belehrendes Beispiel von einer allmählich fortschreitenden
Lautveränderung, bei der von Consequenz keine Rede sein kann, ist die
*)
zu Cicero's Zeit durchdringende Aspiration des c zu ch in einem kleinen
Kreise lateinischer Wörter: pulcros, sepulcrum, die Cicero Orator 48,160
bezeugt und Roscher Stud. II144 bespricht.
*)
Aehnlich drückt sich Delbrück Einl.2 130 aus: „Mit chemischen
oder physikalischen Gesetzen haben offenbar diese geschichtlichen Gleich-
mässigkeiten keine Aehnlichkeit“ und Scherer Zur Geschichte der deut-
schen Sprache2 17 Anm.: „Die Lautgesetze sind nur empirische, keine
echten Gesetze“. Vergl. Anzeiger für das deutsche Alterthum X (1884)
S. 378 f., Friedr. Müller, Techmer's Zeitschr. 1,1 „Sind die Lautgesetze
Naturgesetze?"
*)
Dort heisst es in Bezug auf die Lehre „that the laws of phonetic
change work absolutely and without real exceptions“, „a dogma which is
at least premature and may perhaps be finally found undemonstrable“.
*)
Delbrück sagt 2 S.114, das Eindringen von Fremdwörtern in eine
Sprache beeinträchtige die ursprüngliche Constanz des Lautwandels ebenso-
wenig wie das Eindringen einzelner Neger die Reinheit eines Volkstypus.
Das ist principiell ganz richtig. Könnten wir nur diese sprachlichen Ein-
dringlinge in jedem Falle ebenso leicht an ihrem Klange erkennen, wie die
Neger an ihrer Hautfarbe! Aber wie schwer ist es häufig, bestimmt nach-
zuweisen, dass überhaupt Mischung stattfand, besonders bei einander nahe
stehenden Mundarten, bei unsrer mangelhaften Kenntniss derselben u. s. w.
Noch schwerer ist es, bei der Einmischung volksthümlicher Elemente in
die Schriftsprache, die hier doch auch in Betracht kommt, jedesmal eine
scharfe Grenze zu ziehen, z. B. im Lateinischen.
*)
In der zweiten Auflage der Einleitung ist diese Anm. fortgelassen.
Beibehalten aber ist S. 130 das offene Geständniss: „Es ist zuzugeben,
dass völlige Gleichmässigkeit des Lautwandels sich nirgend in der
Welt der gegebenen Thatsachen findet
“. Dennoch habe ich die
Bemerkungen gegen die Worte der 1. Aufl., da sie einmal geschrieben
waren, nicht fortgelassen, weil sie vielleicht der Sache zu gute kommen
können.
*)
Dagegen lesen wir bei Misteli Ztschr. f. Völkerpsychol. XI S. 400
folgendes: „Strenge Lautgesetze schliessen mit den Ausnahmen auch die
Doppelformen aus“. Toleranter gegen diese Doppelwesen spricht sich
auch Osthoff Morph. Unters. IV 359 aus.
*)
Will man etwa auch sanskr. pibāmi (trinke), das doch gewiss auf
pipâ-mi zurückgeht, will man der Aspiration in λύχνο-ς, πάσχω (wofür
jetzt die ältere Form πάσκω [elisch, I. A. 112, 8] vorliegt) und andern sehr
vereinzelten Abweichungen von weit verbreiteter Regelmässigkeit die Exi-
stenz absprechen? Will man leugnen, dass lat. pēdo mit gr. πέρδομαι
und sanskr. pṛd identisch ist, nur aus dem Grunde, weil eine entspre-
chende Ausstossung des r nicht nachweisbar ist? C. Pauli in seinen
Etrusk. Forsch. u. Stud. III (Zahlwörter) S. 44 glaubt mit mir daran.
*)
Ich freue mich, dass Joh. Schmidt Ztschr. XXY 39 an dem Abfall
eines ι keinen Anstoss nimmt, indem er ἀγκάς als eine Verkürzung von
*ἀγκάσι betrachtet.
*)
Mit meinen Einwendungen gegen die Angriffe auf auslautendesς
als Vertreter von t stehe ich nicht allein. Pietro Merlo in der Rivista di
filologia 1880 p. 249 stimmt mir Gust. Meyer gegenüber bei.
*)
Ich sage nicht Hiatus. Denn es hat viel für sich, diesen Aus-
druck mit den alten Grammatikern auf den Vocalconflict an der Wort-
grenze
zu beschränken, wie ja denn bekanntlich namentlich bei den
Griechen der innere Vocalconflict in weitestem Umfange geduldet, der
äussere, die ausschliesslich so benannte χασμῳδία. ängstlich gemieden wird
*)
Vgl. Rutherford New Phryn. p. 432, wo auch andre Sprachvarianten
aus bester attischer Zeit gesammelt sind, z. B. ἑαυτόν und αὑτόν, εἰς und ἐς.
1).
ποέω, neben ποιέω aus sehr verschiedenen Dialekten massenhaft
überliefert, ist eins der greifbarsten Beispiele von Doppelformen, die an
denselben Orten zu derselben Zeit unangefochten bestanden, bis erst die
Blüthezeit der attischen Schriftsprache allmählich eine Art von Festig-
keit herstellte.
2).
Durch die dort verzeichneten Thatsachen findet z. B. das „muss"
seine Widerlegung, welches Brugmann Morph. Unters. I 37 für eine andre
als die lautliche Erklärung von hom. ἔμεν, ἔμεναι, neben ἔμμεν, ἔμμεναι,
geltend macht.
1).
Ein jüngerer Gelehrter, Mich. Haberlandt (Zur Geschichte einiger
Personalausgänge. Wien 1882 S. 5), nennt die Epenthese „einen für das
Griechische noch ganz und gar problematischen Vorgang“. Aber kein
Mensch hat diese problematische Natur zu beseitigen vermocht. Sie passt
nicht recht zu den jetzt beliebten allgemeinen Sätzen. Aber wie, wenn
die Schuld nicht an der geschmähten Epenthese, sondern an jenen
Sätzen läge?
2).
Trotzdem bedient sich Brugmann Stud. IX 313 dieser rein laut-
lichen und durch kein Lautgesetz geforderten Annahme, um für die so-
genannten aeolischen Optativformen wie λύσειανzu einem hypothetischen
*λυσϳαν zu gelangen.
1).
Diesen Ausdruck bezeichnet Wundt Logik II, 553 als den vom
psychologischen und logischen Standpunkte aus angemessensten.
2).
Ob der Ausdruck „Entgleisung“, den ich zuerst bei Osthoff
(Perfect) gefunden habe, mit den genannten gleich, oder davon verschie-
den sein soll, ist mir nicht ganz klar geworden. Jedenfalls ist er sehr
brauchbar.
*)
Victor Henry, ein eifriger Freund der neuesten deutschen Sprach-
studien , sagt dennoch in seiner Étude sur l'analogie S. 105 treffend:
L'explication par l'analogie est toujours aisée; mais c'est précisément
parce qu'elle est trop aisée, qu'il s'en faut défier
[“].
*)
Henry, Étude sur l'analogie p. 13 nennt die Lehre von den Ana-
logiewirkungen geistreich „un chapitre intéressant de tératologie lin-
guistique“.
*)
Mit mir hält Pott, Internationale Zeitschrift I, 4 daran fest. Er
sagt: „Ich sehe keine Nothwendigkeit, dass dic, duc, fac, inger dem fer
als Leithammel nachgelaufen sein müsste“.
*)
Ein grosser Theil der oben berührten Erscheinungen ist, seitdem
jene Zeilen niedergeschrieben waren, von Ferd. de Saussure unter dem
Titel „Une loi rythmique de la langue Grecque“ in den „Mélanges Graux"
(1884) p. 737 sqq. mit grossem Scharfsinn unter Gesichtspunkte gebracht,
denen ich im grossen und ganzen zustimme.
*)
In einem Gespräch mit Windisch habe ich mich überzeugt, dass
jedenfalls für das Sanskrit, höchst wahrscheinlich auch für die indoger-
manische Ursprache, nicht t, sondern d als ursprünglicher Consonant des
Ablativ Sing. zu betrachten ist.
*)
ΘΗΑΡΥΜΑΚΗΟΣ auf einer sehr alten linksläufigen Inschrift aus
Thera (Mitth. des archäol. Instit. II S. 73 = Roehl Inscr. Ant. Nr. 444), von
mir besprochen Stud. X, 223. Dazu ein zweites Beispiel Roehl 449.
*)
Auch v. d. Pfordten „Zur Geschichte des griech. Perfects“ (Mün-
chen 1882) hat nichts hinzugefügt. Er schliesst sich in Bezug der Aspi-
ration vor αται, ατο der meines Erachtens von Joh. Schmidt widerlegten
Erklärung Gust. Meyer's (§ 546) an.
*)
Zu dieser ganzen Auseinandersetzung vergleiche man jetzt die
neue Behandlung dieses Gegenstandes durch Osthoff „Zur Geschichte des
Perfects“ (Strassburg 1884) S. 284 ff., namentlich die Polemik gegen Joh.
Schmidt S. 614 ff. Ich finde eher Anknüpfungen bei Osthoff als bei Joh.
Schmidt, vermag aber in der Hauptsache auch dem ersteren nicht zu
folgen.
*)
Belehrend sind die zahlreichen Fälle derselben Anomalie im Pali.
Torp in seiner Leipziger Doctordissertation „Die Flexion des Pali“ (Chri-
stiania 1881) erläutert z.B. den Satz: „Die meisten einsilbigen consonan-
tischen Stämme treten im Pali durch Stammerweiterung in die vocalische
Flexion über“ (S. 29) und ähnliche Uebergänge dieser Art durch viele
Beispiele.
*)

Merkwürdig sind die, so zu sagen, rückläufigen Bewegungen, welche
diese Stämme im Neugriechischen erfuhren. Hadzidakis nach Gust. Meyer's
Mittheilungen in der philologischen Wochenschrift vom 18. August 1883
führt Singularformen wie kret. τὸ γόνατο an.

Da mir aus meinen Prager Studien des Cechischen vorschwebte, dass
es dort Wörter gäbe, die einer vocalisch, ursprünglich aber nasal schlies-
senden Singularform, z. B. kníz̍e (Fürst), Plurale -ata, z. B. kníz̍ata,
gegenüberstellen, holte ich mir Rath über diese Bildungen bei meinem
Collegen Leskien und erfuhr darüber folgendes. „Diese Wörter sind mit
dem Suffix -e̜t gebildet, das Miklosich Vergl. Gr. II, 190 erörtert. Das t
ist also zwar als Theil des Suffixes aufzufassen, aber es ist dennoch wohl
möglich, dass dieser Theil erst mit der Zeit an N-Stämme anwuchs. Da-

*)
für spricht, dass im Russischen der Singular bisweilen durch ein andres
Suffix k charakterisirt wird, so ksl. tele̜ Kalb, russ. Sing. telen-ok (gleich-
sam ksl. telen-ŭkŭ), Pl. telja-ta = ksl. tele̜t-a. Dieselbe Erweiterung wird
anderswo durch das geläufige Deminutivsuffix -ĭcĭ bewirkt, z. B. mladŭ jung,
mlade̜ Gen., mlade̜t-einfans, mladen-ĭcĭinfantulus. Auch im Preussischen
tritt t erweiternd an N-Stämme, z. B. smunen-t-ins Acc. Pl. (Menschen),
während das abgeleitete Adjectiv im Preussischen smunen-isku lautet.“ Dass
das stammerweiternde t mit diesem slawisch-baltischen zusammenhängt,
ist wohl sehr wahrscheinlich, während jener K-Laut mit dem lat. sen-ec-s
neben der kürzeren Bildung sen-is, sen-em zu vergleichen ist. Die Flexion
ist in allen diesen Fällen mit wortbildenden Elementen durchsetzt.
*)
Auf wünschenswerthe Einschränkungen des ganzen Princips ver-
weist Pott Bezzenb. Beitr. VIII, 83 ff.
*)
Entschieden im Gegensatz zu der hier bestrittenen Annahme steht
Heinr. Dietr. Müller „Sprachgeschichtliche Studien“ Gött. 1884. Man wird
dort mehrere von mir in den folgenden Blättern entwickelte Argumente
wiederfinden. Das Buch kam in meine Hände, nachdem ich gerade diesen
Abschnitt abgeschlossen hatte. Eine Prüfung der positiven Aufstellungen
Müller's mag andern überlassen bleiben.
*)
Vgl. Varro de lingua latina V, 1. Die dritte Aufgabe, das „de
aliqua re“ dicere, ist in Bezug auf den hier vorliegenden Gegenstand viel-
leicht am ehesten erfüllt.
*)
Aehnlich Henry „étude sur l'analogie“ p. 57.
*)
Bartholomae in seiner Abhandlung „die altvedischen -Formen
im Perfect" Kuhn's Zeitschr. XXVII, 338 ff. erörtert sorgfältig vieles hier-
her gehörige. Da er gewichtige Gründe gegen die ursprüngliche Zusammen-
gehörigkeit von Pluralformen wie sanskr. sēdima mit lat. sēdimus und got.
*)
sētem vorbringt, die man mehrfach für die Existenz eines grundsprach-
lichen verwerthet hatte, habe ich diese Formen hier gar nicht erwähnt.
Wenn Brugmann Litter. Centralblatt 1884 S.1565 sagt, „ob man annimmt,
die palatale Affection der Gutturale sei in urindogermanischer Zeit er-
folgt, oder im Einzelleben der Sprachen (nach des Ref. Ansicht ist letz-
teres der Fall) ist für die Hauptfrage völlig gleichgiltig“, so verstehe ich
das nicht. Bisher galt die angebliche Existenz von Palatalen in der Ur-
sprache als das Hauptargument für die Existenz eines e in derselben.
*)
Morpholog. Unters. III, 91 f.: „—war man schon eo ipso vollkommen
berechtigt, die europäisch-armenische Dreiheit a, e, o, oder wenigstens
a, e, für urindogermanisch zu erklären“.
*)
Bei der neuesten Untersuchung Brugmann's in Techmer's inter-
nationaler Zeitschrift H. 1 sind einige wesentliche Punkte übergangen, so
das gräcoitalische Dreisilbengesetz. Auf die Imperativformen komme ich
später zu sprechen.
1).
Ein nicht unerhebliches Moment liegt in der Stellung, welche man
gegenüber dem sanskr. dem europ. o anweist. Wer mit Brugmann und
Osthoff sanskr. als den Repräsentanten des betrachtet, für den gibt
es auch auf arischem Gebiete innerhalb der Stammabstufung drei feste
Stufen. Wer aber mit Joh. Schmidt annimmt, dass die quantitative Ver-
änderung mit dem O-Laut nichts gemein hat, für den versinken die Spuren
dieses Lautes bei den Indern in nächtliches Dunkel. Eine wesentliche
Reihe der Vocale fehlt, zugleich mit dem o, den Ostindogermanen.
2).
Eine ablehnende Kritik dieser Abhandlung von Seiten eines vor-
zugsweise im arischen Sprachgebiet heimischen Forschers, Chr. Bartholo-
mae, bringt das 4. Heft von Bd. XXVII der Kuhn'schen Zeitschrift.
*)
Mir ist natürlich nicht unbekannt, dass die Kürzung eines aus-
lautenden zu von manchen Gelehrten für unzulässig erklärt wird.
Mahlow „Die langen Vocale“ S. 77 sagt: „An eine Kürzung des inner-
halb des Griechischen ist nicht zu denken“. Ich halte mich aber einfach
an Fälle wie homer. ἀληθείν neben att. ἀλήθεια, dor. ἅμᾱ, gemeingr. ἅμᾰ,
altlat. Nom. terrā, später terră, regō, später regŏ u. s. w.
*)
Der Versuch Joh. Schmidt's Ztschr. XXV, 591, μεν als betontes
mͣm zu erklären, überzeugt mich nicht und wird auch von Osthoff Morph.
Unters. IV, 290 verworfen.
*)
Es darf freilich nicht übersehen werden, dass in diesem Punkte
keine Einstimmigkeit herrscht. F. de Saussure hat darüber seine beson-
dern Reserven.
*)
Vgl. Scherer „Z. d. Sprachgeschichte"2 39ff., wo auch mehrere
andre Vorgänge aus den germanischen Sprachen beigebracht werden.
*)
Mit „Fortsetzung“ bezeichne ich das, was die italienischen Ge-
*)
lehrten, wie mich dünkt sehr passend, continuatore nennen. Ein allgemein
übliches Wort dafür ist in der deutschen Wissenschaft nicht vorhanden.
*)
Scherer sagt bei der Besprechung meiner „Chronologie“ in voller
Uebereinstimmung hiermit Z. Gesch. d. d. Sprache2 677: „Die Composita
sind die älteste sprachliche Urkunde die wir besitzen“. Auch dem stimme
ich völlig bei, was S. 476 desselben Buches bemerkt wird: „Die Zusammen-
setzung als sprachliches Mittel beruht darauf, dass in der Epoche der
blossen Juxtaposition materieller Wörter feste, stammhafte Verbindungen
von solcher Macht und Bedeutung entstanden, dass sie beibehalten wur-
den, als jene Periode ihr Ende nahm, und dergestalt innerhalb einer Sprach-
entwicklung, die von ganz andern Mächten bewegt wird, das Vorbild und
Muster für neue Formationen abgaben“.
*)
Ebenso spricht sich Whitney aus in seiner an Ernst Kuhn „Ueber
Herkunft und Sprache der transgangetischen Völker“ anknüpfenden Ab-
handlung (american Journal of Philology Vol. V No. 1) aus, die sehr viel
beachtenswerthes enthält, desgleichen Pott im zweiten Heft von Tech-
mer's internationaler Zeitschr. Bd. I.
*)
Der neueste Beleg für die Verfolgung dieses Weges ist der von
Leskien „Die Partikel -am in der Declination“, Berichte üb. d. Verhand-
lungen der k. sächs. Ges. d. Wissenschaften. Philolog.-hist. Cl. 1884 I. II.
L. 1884.

Dieses Werk ist gemeinfrei.


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TextGrid Repository (2025). Collection 3. Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpr9.0