von ihm ſelbſt beſchrieben.
welche
die Fortſetzung
von
deſſen Begebenheiten, Erfahrungen und Bemerkungen
waͤhrend des Feldzugs gegen Frankreich
enthaͤlt.
in Commiſſion bey Gerhard Fleiſcher dem Juͤngern.
1797.
[][]
Erfahrungen und Bemerkungen
waͤhrend
des Feldzugs gegen Frankreich.
in Commiſſion bey Gerhard Fleiſcher dem Juͤngern.
1797.
Sieben und dreyßigſtes Kapitel.
Conciergerie zu Dijon. Teufeleyen eines Pfaffen.
In ſolchem Waſſer faͤngt man ſolche Fiſche —
dieß Sprichwort ſezte ich mir ſo auseinander,
daß ich bald wieder Muth faßte, mich in meine Lage
fuͤgte, und gleich darauf Luft bekam, die Beſchaf-
fenheit meines Aufenthalts und meiner Mitgefan-
genen naͤher zu unterſuchen.
Die Conciergerie — von Alters her ein Par-
laments-Gefaͤngniß — war geraͤumig genug, eine
große Menge Delinquenten aufzunehmen. Sie ent-
hielt vier große Hoͤfe, rundum mit hohen feſten
Gebaͤuden umgeben; und in dieſen waren die Ca-
chots, oder die Behaͤltniſſe der Gefangenen. Die
Hoͤfe ſelbſt hatten viel Raum, auch Baumgaͤnge,
und unter dieſen — Baͤnke zum Hinſetzen.
Viert. Th. 2te Abth. A
[2]
Die Behaͤltniſſe der Gefangenen waren am Ta-
ge nicht verſchloſſen, und die Gefangenen hatten
alle Freyheit, herum zu gehen und zu machen, was
ſie wollten. Ich habe ſogar bemerkt, daß man
ihnen den Gebrauch der Meſſer erlaubte. So z.
B. ſchufterten hier zwey Schuſter fuͤr einen Mei-
ſter in der Stadt, und fuͤhrten alle Geraͤthſchaften,
wie jeder andere Schuſter.
Wenn es Abends dunkel ward, mußten die
Gefangenen in ihre Behaͤltniſſe, aber Simon,
der Aufwaͤrter, vergaß oft das Einſchließen, oder
er ließ ſich leicht erbitten, die Thuͤre nur einzuhaͤn-
gen: und dann konnte man heraus in den Hof, ſo
oft und ſo lange, als man wollte. Dieſes war
uns allen willkommen: denn die damalige gewal-
tige Hitze machte, daß man die Kuͤhle der Nacht
gern im Freyen genoß. — Das Lager der Gefan-
genen waren Strohſaͤcke und Friesdecken, welche
man aber damals wegen der Hitze nicht leiden
konnte.
In dem Hofe, worin ich ſaß, ſaßen noch ohn-
gefaͤhr 40 Mann, von welchen einige verurtheilt
waren, nach Toulon gebracht und da auf eine
beſtimmte Zeit verwahrt zu werden. Unter dieſen
Leuten befanden ſich viele grobe Verbrecher, und
keiner ſchien mir, wie ſie dieß ſogar ſelbſt einraͤum-
ten, ſeine Strafe nicht verdient zu haben. Drey
[3] von ihnen waren auf zehn Jahre zum Arreſt ver-
dammt, weil ſie die Republik bey der Pferdeliefe-
rung aͤußerſt betrogen hatten. Sie hatten naͤmlich
Pferde im Lande ſelbſt aufgekauft, und eben dieſe
Pferde hernach bey der Armee als auslaͤndiſche ſehr
theuer wieder angebracht. Einen deutſchen Muͤller
von Bitſch fand ich da auch, welcher eine Menge
Getraide, welches ihm von der Nation zum Mah-
len anvertraut war, an die Preußen verhandelt
hatte. Ein Volontaͤr hatte ſeine Kameraden be-
ſtohlen: ein andrer Volontaͤr hatte ſich durch einen
falſchen Taufſchein aͤlter gemacht, als er war u.
ſ. f. Alle dieſe Leute ſollten nach Toulon ge-
bracht werden.
Unter den Gefangnen zog beſondres einer meine
Aufmerkſamkeit auf ſich, ſowohl wegen ſeiner fei-
nen Bildung, als insbeſondere wegen ſeiner guten
Sprache. Ich ward bald mit ihm bekannt, und
brachte ihn dazu, daß er mir ſeine Begebenheiten
erzaͤhlte. Sie haben mir intereſſant geſchienen,
und vielleicht wird es dem Leſer nicht misfallen,
wenn ich ihn hier ſelbſt erzaͤhlen laſſe.
„Ich bin, ſagte er, aus Troyes gebuͤrtig.
Mein Vater lebt noch, und iſt Chirurgus in die-
ſer Stadt. Weil er viel Vermoͤgen hatte, ſo ließ
er mir eine anſtaͤndige Erziehung geben, und ſparte
keine Koſten. Er lehrte mich auch ſeine Kunſt,
[4] aber den uͤbrigen Unterricht vertraute er einem jun-
gen Geiſtlichen, welcher bey uns viel galt, und
ſelbſt bey dem Biſchof gut gelitten war. Dieſer
Menſch gab ſich alle Muͤhe, lehrte mich ein we-
nig Latein, ſo viel ich naͤmlich zu meinem Gewerbe
brauchte, und gab mir im Franzoͤſiſchen, welches
er in hohem Grade ſchoͤn ſprach und ſchrieb, vor-
treflichen Unterricht. Vater und Mutter trugen
den Geiſtlichen, der ſo fuͤr ihren Sohn ſorgte, auf
den Haͤnden, mußten ihm aber das wenige Lehr-
geld, das er foderte, beynahe aufdringen. End-
lich zog er gar in unſer Haus, und ich mußte bey
ihm auf einer Stube wohnen. Hier aber offen-
barte ſich der Schaͤndliche: er muthete mir Dinge
zu, von denen ich gar keinen Begriff hatte, und
es gelang ihm, mich unerfahrnen Knaben bald in
ſeine Schlinge zu ziehen, und mich zum widerna-
tuͤrlichen Werkzeuge ſeiner Begierden zu gebrauchen.
Ich und der Schwaͤchling waren endlich Ein Herz
und Eine Seele, und es vergingen mehrere Jahre
in dieſem ſchmuzigen Umgang. Ich wuchs indeſ-
ſen heran, und mein Vater ſchickte mich, ſo ſehr
ſich auch mein Lehrer dawider ſezte, nach Paris,
um mich daſelbſt in meiner Kunſt feſtzuſezen. Mein
Lehrmeiſter begleitete mich bis Rheims, und in die-
ſer Stadt genoß er zum leztenmal meiner Perſon.
Mit Thraͤnen ſchieden wir auseinander.
[5]
Zu Paris kam ich in große Bekanntſchaften und
bekam bald Licht uͤber den Umgang mit meinem
Lehrmeiſter: denn ſolche Abſcheulichkeiten ſind auch
in Paris nichts neues und ſeltenes; und beſonders
ſtanden die Geiſtlichen in Verdacht, rechte Meiſter
in der Kunſt zu ſeyn, die man branler l'épine nennt.
In Deutſchland mag man vielleicht davon nichts
wiſſen.
O ja, fiel ich ihm ins Wort: in Berlin ſoll
es ſogar eine Geſellſchaft gegeben haben, die die-
ſes Handwerk gleichſam oͤffentlich trieb: man
nannte ſie die warmen Bruͤder*).
Er fuhr fort: Mein Verfuͤhrer ſchrieb mir von
Zeit zu Zeit die zaͤrtlichſten Briefe, wie ſie nur
immer ein ſchwaͤrmeriſcher Liebhaber an ſein Maͤd-
chen ſchreiben kann, aber ich beantwortete dieſel-
ben anfangs ganz kalt, und endlich gar nicht
mehr: denn er war mir verhaßt geworden, nach-
dem mir ein verſtaͤndiger und tugendhafter Mann
zu Paris die ganze Schaͤndlichkeit einer ſolchen in-
famen Verbindung erklaͤrt hatte. Ich vollendete
meinen chirurgiſchen Kurſus zu Paris, und kehrte
nach Troyes zuruͤck. Mein Vater war mit mir
außerordentlich zufrieden, und foderte, daß ich
meinem alten Lehrer, welcher inzwiſchen durch
[6] Vorſpruch des Biſchofs eine ſehr eintraͤgliche Pfarre
erhalten hatte, meine Zuruͤckkunft melden ſollte.
Ich that dieſes, aber in lauter zuruͤckhaltenden,
kalten Ausdruͤcken. Einige Tage hernach — die
Pfarre war nur acht Meilen von Troyes — er-
hielt ich den artigſten Brief von dem Pfarrer.
Er meldete mir darin, daß er ſich freue, eine Ge-
legenheit zu haben, mir zu dienen: der Chirurgus
ſeines Pfarrdorfs kaͤme weg, er wollte mich vor-
ſchlagen, und hoffe, durch das Anſehen, worin
er bey ſeinem Grafen ſtuͤnde, dieſen Poſten fuͤr
mich zu erhalten: er koͤnnte ohne mich nicht le-
ben u. ſ. w.
Mein Vater, der von unſerer naͤhern Verbin-
dung nichts wußte, war außer ſich vor Freude,
daß ich ſchon verſorgt werden ſollte, und ergoß ſich
in Lobeserhebungen meines Verfuͤhrers, den er als
den beſten Freund ſeiner Familie, und als den
groͤßten Wohlthaͤter ſeines Sohnes anſah. Ich
mußte alſo nach dem Orte meiner kuͤnftigen Be-
ſtimmung, und wurde von dem Pfarrer aufs
freundſchaftlichſte und zaͤrtlichſte empfangen. Er
ſtellte mich dem Grafen vor, und da ich dieſem
nicht misfiel, ſo ward ich Chirurgus des Ortes.
Der Pfarrer nahm mich in ſein Haus, welches
ich ungern zugab, ich zog aber nach einigen Wo-
chen ſchon wieder aus, weil ich oft des Nachts zu
[7] Patienten gerufen wurde, und den Pfarrer nicht
ſtoͤren mochte. Ich kann dem Pfarrer nicht nach-
ſagen, daß er um dieſe Zeit mir die Fortſetzung
ſeines infamen Kommerzes angetragen haͤtte, wo-
mit ich auch ſehr zufrieden war: denn ich hatte
mir feſt vorgenommen, das ſchmutzige Geſchaͤft
durchaus nicht mehr zu treiben.
Inzwiſchen, eine Stunde von meinem Wohn-
orte, war ich mit einem huͤbſchen Maͤdchen be-
kannt geworden, und fieng an, dieſer die Kour
zu machen. Ich fand eben keinen großen Wider-
ſtand, als ich mich zu einer Heirath erklaͤrte.
Ich gab meinem Vater davon Nachricht, und
dieſer geſtattete mir ſeine Einwilligung um ſo lie-
ber, da er den Vater des Maͤdchens kannte.
Aber mein Herr Pfarrer erfuhr meine Liebſchaft,
und gerieth daruͤber in den heftigſten Zorn. Er
machte mir Vorwuͤrfe, ſprach von Untreue und
vergaß ſich ſo ſehr, daß er vor mir endlich auf die
Kniee fiel, und mich um alles in der Welt bath,
meine Verbindung aufzugeben. Ich wußte nicht,
was ich zu ſo einem raſenden Vorfall denken und
ſagen ſollte, war aber feſt entſchloſſen, ihn und
ſeine Bitte nicht weiter zu beachten.
Von dieſer Zeit an gab ſich der Pfarrer alle
Muͤhe, meine Heirath zu hintertreiben. Er ſchrieb
meinem Vater, und machte ihm ſchlimme Beſchrei-
[8] bungen von meiner Braut; dieſer aber erkannte
bald, daß Neid oder des Etwas die Feder gefuͤhrt
hatte. Bald auch ſuchte er mich bey meinem
Schwiegervater anzuſchwaͤrzen, aber auch hier
ſchlugen ſeine Kabalen fehl. Kurz, ich heirathete
das Maͤdchen, und lebte gluͤklich und ruhig.
Indeſſen brach die Revolution aus: der Pfar-
rer ſchwur den Nationaleid, und blieb im Beſitz
ſeines Amtes. Ich erhielt eine Stelle auf der
neuen Municipalitaͤt, und der Pfarrer, welcher
ſeit meiner Verheirathung mich keines Blicks ge-
wuͤrdiget hatte, kam nun wieder zu mir, und wir
waren wieder Freunde.
Bald hernach wurde der oͤffentliche Gottesdienſt
verboten, und die Ausleerung der Kirchen anbefoh-
len. Unſre Kirche hatte alſo auch das Schickſal,
daß ſie voͤllig ausgeleert, und endlich niedergeriſſen
wurde. Nichts blieb ſtehen, als der Thurm we-
gen der Schlaguhr. Der Pfarrer gab kurz darauf
vor, daß er ein Geſchaͤft in Metz haͤtte, und bath
mich, ihn zu begleiten. Ich that dieſes, und in
Metz gebrauchte er mich, einiges Gold und Sil-
ber, welches er der Kirche entwendet hatte, an
Juden zu verkaufen. Man muß naͤmlich wiſſen,
daß unſre Kirche hatte ſollen beſtohlen worden
ſeyn zu der Zeit, da der Gottesdienſt verboten
wurde. Ich machte ihm aber dennoch Vorſtellun-
[9] gen uͤber den Verkauf, und bath ihn, ſo was nicht
zu thun, da das Geſez uͤber dieſen Punkt ſo aus-
druͤcklich und ſo ſcharf ſey. Aber er machte mich
bald ſicher, und ich verkaufte weiter.
Auf unſrer Zuruͤckreiſe giengen mir wegen des
ſchoͤnen Wetters zu Fuße, machten kleine Tagrei-
ſen, und waren ſehr vergnuͤgt. Der Pfarrer ver-
ſprach mir auch einen guten Theil des aus den
Kirchengefaͤßen geloͤsten Geldes. Es mogten
ohngefaͤhr 600 Livres ſeyn.
Eines Tages mußten wir durch einen Wald,
und der Pfarrer ermahnte mich, eine Flaſche Wein
einzuſtecken, wie er auch gethan haͤtte, weil wir
wenigſtens in 6 Stunden kein Dorf erreichen wuͤr-
den. Der Pfarrer liebte den Wein ſehr, und ich
auch. Wir hatten alſo meine Flaſche bald leer,
und nun gieng es uͤber die, welche der Pfarrer
hatte. Wir tranken auch von dieſer, vorzuͤglich
ich. Aber es waͤhrte nicht lange, ſo klagte der
Pfarrer uͤber gewaltiges Leibgrimmen. Ich fuͤhlte
noch nichts, aber bald ergriff es mich noch fuͤrch-
terlicher. Wir konnten nicht weiter, wenigſtens
ich nicht, und ich fuͤhlte nur zu gut, daß ich et-
was Giftiges im Leibe haben muͤßte. Der Pfarrer
that indeß auch ſehr klaͤglich. Bald darauf kam ein
Wagen die Straße her, und der Inhaber deſſelben
nahm ſich unſrer an: er ließ uns in eine nahe
[10] Muͤhle bringen, wo ich alles anwendete, was
man da haben konnte, um den Gift zu vertreiben
und unwirkſam zu machen. Ich hatte fuͤrchterli-
ches Erbrechen, und verlor auf einige Wochen
den Gebrauch der Sprache: aber der Pfarrer
konnte ſchon den folgenden Tag wieder abreiſen.
Sobald ich hergeſtellt war, eilte ich nach mei-
ner Heimat. Der Pfarrer beſuchte mich gleich
und that ſehr freundlich. Aber mich wurmte der
Umſtand mit dem Vergiften gewaltig. Ich mußte
glauben, daß der Wein in des Pfarrers Flaſche
vergiftet geweſen war. Ich hatte ihn zwar nur
wenig daraus trinken ſehen: aber doch hatte er ei-
niges Erbrechen gehabt: das konnte aber von ei-
nem andern Umſtande herruͤhren, oder nur ſo eine
Maske ſeyn. Kurz: lange gieng mir das alles
im Kopfe herum, und ich war von neuem gegen
den Pfarrer kalt, und erwiederte ſeine Freundſchaft
mit merklicher Verachtung. Meine Geſundheit
hatte aber ſehr gelitten, und ein Arzt von meiner
Bekanntſchaft rieth mir, eine Reiſe vorzunehmen,
um mich zu zerſtreuen. Ein Umſtand war hin-
laͤnglich, dieſem Rath mehr Eingang bey mir zu
verſchaffen.
Der Diebſtahl des Pfarrers an den Gefaͤßen
der Kirche war durch einen Zufall bekannt gewor-
den, und der Pfarrer ſelbſt in Inquiſition gezogen.
[11] Da ich um die Sache wußte, ſo gab ich jezt vor:
ich muͤßte verreiſen, wegen meiner Geſundheit,
nahm einen Paß, und zog ab. Ich reiſete nach
Metz, um den Juden zu ſtempeln, dem wir das
Gold und Silber verkauft hatten. Aber dieſer war
ausgewandert, nachdem er vielleicht ſehr viel Kir-
chenſachen an ſich gekauft hatte. Alſo war ich auf
dieſer Seite gedeckt. Meine Frau ſchrieb: der
Pfarrer ſey wieder los, und ſo wanderte ich ohne
alle Furcht zuruͤck nach Hauſe. Auf dem Ruͤck-
wege kehrte ich in eben dem Weinhauſe ein, wo
wir den Wein genommen hatten. Ich erzaͤhlte
dem Wirthe meinen Unfall, und daß ich den Wein
fuͤr vergiftet halten muͤßte. Der Wirth ſtuzte und
fing an: das hat wahrlich dein Begleiter gethan!
Er hat mit der Flaſche etwas im Verborgenen
vorgenommen: ich weiß es noch recht gut, wie er
mit der Flaſche allein ging.
Mehr konnte er mir zwar nicht ſagen, aber
dieſes ſchien mir hinlaͤnglich, um einzuſehen, daß
der Pfarrer mich habe vergiften wollen, theils,
um mir ſein Verſprechen nicht zu halten, theils
aber auch, um ſich an mir wegen meiner vermein-
ten Untreue zu raͤchen. Aber ich ſchwieg doch,
denn ich befuͤrchtete, der Pfarrer, der bey der Ent-
deckung einer Vergiftung dem Schafott nicht ent-
[12] gehen konnte, moͤgte alsdann auch meinen Antheil
an ſeinem Kirchenraub bekannt machen.
Nicht lange nach meiner Zuhauſekunft verrieth
ſich der Pfarrer dennoch, indem er abermals Sil-
ber aus der Kirche verkaufen wollte. Man fand
noch obendrein eine Patene von Gold in ſeiner
Wohnung. Jezt war es offenbar, daß er die Kir-
che beſtohlen hatte, welches er denn auch geſtand,
dabey aber, ohne daß es noͤthig geweſen waͤre,
auf mich als Mitſchuldigen bekannte. Ich wurde
hierauf eingezogen, man konnte aber weiter nichts
auf mich bringen, als daß ich in Metz das mir
vom Pfarrer eingehaͤndigte Metall an Juden ver-
kauft hatte. Ich gab aber auch den Pfarrer jezt
als Giftmiſcher an, und foderte, daß man die
Sache unterſuchen ſollte. Es geſchah zwar, aber
wenn das eigne Geſtaͤndniß des Geiſtlichen die
Sache nicht klar gemacht haͤtte, ſo haͤtte man doch
keine voͤllige Gewißheit haben koͤnnen: aber ſo ge-
ſtand er, daß er aus Rachſucht mich habe vergif-
ten wollen.
Ihm wurde der Kopf abgeſchlagen, und ich
ſitze nun auf zwey Jahre im Arreſt, weil ich an ei-
nem Betruge an der Nation Theil genommen
habe.“ —
[13]
Acht und dreyßigſtes Kapitel.
Inquiſition, erſt zu Dijon, dann zu Mâcon.
Ich hatte ſchon einige Tage im Arreſt zu Dijon
zugebracht, als der oͤffentliche Anklaͤger zu mir
kam, und mich in einer abgeſonderten Stube
fragte: ob ich an einer Verraͤtherey Theil gehabt
haͤtte, welche in Landau gegen das Intereſſe der
Nation ſey angezettelt worden? Daß ich dieſes,
und alles, was ich noch ſonſt daruͤber gefragt
wurde, verneinte, verſteht ſich von ſelbſt. Auch
drang er nicht ſehr in mich, und ſprach mir alle-
mal Troſt zu, z. B. daß es nicht viel zu ſagen
haben wuͤrde, indem ja keine ganz beſtimmten
Klagpunkte gegen mich da waͤren: wenigſtens habe
man ihm nichts weiter aufgetragen, als mich uͤber
die und die Punkte zu befragen.
Ich verlebte alſo einige Tage wieder ziemlich
ruhig und ſchlief des Nachts meinen guten
Schlaf. Dreymal noch examinirte mich der Accu-
ſateur public, und ſagte mir zulezt, daß er mit
der Unterſuchung fertig ſey, und ſie dem Krimi-
nalgerichte vorlegen wolle; daß er auch ganz und
gar nicht zweifle, ich werde ſofort loskommen.
Das war wieder Troſt fuͤr mich!
[14]
Aber endlich erſchien der Anklaͤger mit der
uͤblen Zeitung: daß meine Sache in Mâcon muͤſſe
entſchieden werden, und daß ich ſchon Morgen
dahin ſollte. Ich erſchrak heftig, aber der hu-
mane Mann erklaͤrte mir, daß ich ohne Sorgen
ſeyn koͤnnte, wenn ich unſchuldig waͤre: die
Franzoſen richteten nur die Verbrecher u. ſ. w. —
Der Anklaͤger hielt mich wirklich fuͤr unſchuldig,
und ich wuͤrde, wenn ich das geweſen waͤre, mich
jeder Inquiſition gern unterzogen haben. Aber
ich war nichts weniger, als unſchuldig. Ich war
in der That in einer Lage, deren richtige Kenntniß
mir ohne Umſtaͤnde das Leben geraubt haͤtte. Selbſt
auf der Guillotine haͤtt' ich nicht einmal denken
koͤnnen, daß mir Unrecht geſchaͤhe. — Ich kann
meine Leſer verſichern, daß ein boͤſes Gewiſſen ein
ſehr dummes Ding iſt, dem man hundert Schritt
aus dem Weg gehen ſollte.
Meine Leſer muͤſſen ſich erinnern, daß das
terroriſtiſche Syſtem gleich nach der Eroberung von
Lyon und den daſelbſt veruͤbten Graͤueln, alſo ge-
gen das Ende des Jaͤnners 1794, immer mehr
nachließ, wenigſtens in den Départementern.
Revolutionnaͤre Verbrechen wurden nur noch in
Bordeaux und Nantes beſtraft. Alle andre Ange-
klagte wurden erſt genauer unterſucht, und ſodann
nach Paris geſchickt, um da ihr Urtheil faͤllen zu
[15] hoͤren. Die Unterſuchung geſchahe auf den hier
und da errichteten Inquiſitions révolutionnaires, de-
ren eine in Mâcon war; und darum ſollte ich
jezt dahin.
Es war im Gefaͤngniß zu Dijon noch ein ge-
wiſſer Conſcience, gebuͤrtig von Beſançon,
welcher der Emigration wegen feſt ſaß. Auch die-
ſer ſollte, nebſt einem Kapitaͤn von der Kavallerie,
ebenfalls in Mâcon verhoͤrt werden. Wir wurden
durch zwey Gensdarmes dahin gebracht. Ehe wir
abfuhren — Gefangne werden beſtaͤndig gefahren,
aber nur uͤberzeugte Verbrecher werden geſchloſſen
— machte uns der Accuſateur bekannt, daß wenn
wir unterwegs entfliehen wuͤrden, unſre Anklage
als gegruͤndet angeſehen werden koͤnnte: daß wir,
wenn wir unſchuldig waͤren, uns auf unſre gute
Sache verlaſſen ſollten: waͤren wir aber nicht un-
ſchuldig, ſo muͤßten wir unſer Schickſal nach den
Geſetzen erwarten, und was des leidigen Troſtes
mehr war.
Von Dijon nach Mâcon begegnete mir nichts
Beſonderes. Wir fuhren wegen der gewaltigen
Hitze nur fruͤh und gegen Abend, und kamen
nach drey Tagen in Mâcon an.
Hier wurden wir aufs Schloß geſezt, erhiel-
ten die naͤmliche Subſiſtenz wie in Dijon, naͤm-
lich 2 Pf. Brod taͤglich, zweymal taͤglich Suppe
[16] und Gemuͤs, Bohnen, Erbſen u. d. gl. Auch
im Gefaͤngniß zu Mâcon ſaßen Mehrere, aber
doch nicht ſo viele als in Dijon, weil nach Mâcon
nur ſolche gebracht wurden, welche wegen revolu-
tionnaͤren Verbrechen angeklagt waren.
Schon den andern Tag erſchien der oͤffentliche
Anklaͤger bey mir mit einem großen Papier, wor-
auf die Fragen ſtanden, welche er an mich thun
ſollte. Dieſer Anklaͤger war ein recht braver Mann,
welcher mir die Fragen ganz einfach vorlegte, und
alle Fallſtricke ſorgfaͤltig vermied: ich konnte es
ihm abmerken, daß er nichts nachtheiliges erfah-
ren wollte.
Das Examen betraf den Umſtand mit Lan-
dau und dem Repraͤſentant Dentzel, den ich
oben hinlaͤnglich beſchrieben habe. Ich fand, daß
man nicht viel mehr Gravirendes gegen mich wuß-
te, als man ſchon in Landau gewußt hatte, und
daß alles nur auf Muthmaßungen hinauslief.
Doch fielen mir einige Punkte wirklich auf, und
einige Fragen konnte ich nur ſchwankend beant-
worten. Am beſten half ich mir mit der Ausflucht:
daß ich mich an vieles nicht mehr erinnern koͤnnte,
u. d. gl.
Einige Tage hernach wurde ich auf das Gericht
ſelbſt gebracht und da etwas weitlaͤufiger verhoͤrt.
Ehe ich dahin gieng, kam ein Mann zu mir,
[17] welchen das Gericht zu meinem Anwald beſtimmt
hatte. Als dieſer die Lage meiner Affaͤre vernom-
men hatte, ſagte er mir, daß ich keines Advokaten
beduͤrfte, und daß meine Sache gut ſtaͤnde: ich
ſollte nur getroſt auftreten.
Ich mußte drey Verhoͤre vor der Inquiſition
ſelbſt aushalten. Das Haus, worin die revolu-
tionnaͤre Inquiſition ihren Sitz hatte, war ehemals
die Wohnung des Biſchofs von Mâcon geweſen:
ein elendes gothiſches Gebaͤude. Ich zitterte frei-
lich etwas, als ich zum erſtenmal in die Verſamm-
lung der Richter trat; allein um durch ein zerſtoͤr-
tes Geſicht meine Schuld nicht ſchon halb zu be-
kennen, nahm ich alle meine Dreiſtigkeit zuſam-
men, und ſchritt, indem ich von einem meiner
Begleiter eine Prieſe Taback nahm, ganz unbe-
fangen an die Schranken. Ich hatte Zeit, mich
noch beſſer zu ſammeln: denn es wurde noch einer
vor mir verhoͤrt, welcher die baldige Ankunft des
Exprinzen von Condé mit allen Herren, Pfaffen,
Moͤnchen und uͤbrigem ausgewanderten Geſindel
als gewiß prophezeiht hatte. Der Menſch war
ganz außer Faſſung, und konnte kaum antworten.
Er wurde, als verdaͤchtig, zu einem Arreſt bis
auf den Frieden verurtheilt.
Viert. Th. 2te Abth. B
[18]
Nach dieſem kam die Reihe an mich. Ich
wurde hier ſehr umſtaͤndlich verhoͤrt, ich wuͤrde
aber meinen guten Leſern laͤſtig fallen, wenn ich
die Fragen und Antworten alle wiederholen wollte.
Einigemal verwirrte ich meine Antworten, und
gab dadurch gefaͤhrliche Bloͤßen. Der Praͤſident
merkte alſobald an, daß ich allerdings Schuld ha-
ben muͤßte, weil ich in meinen Ausſagen wankte.
Aber ich half mir, indem ich ſagte, daß ich mich
nicht mehr an alles erinnern koͤnnte, daß durch
ein heftiges Fieber mein ohnehin ſehr ſchwaches
Gedaͤchtniß — es war nie beſſer, als damals —
noch mehr abgeſtumpft ſ[e]y u. ſ. w. Ich weiß
nicht, ob man bey einem deutſchen Kriminalge-
richte mit Gruͤnden dieſer Art zufrieden ſeyn wuͤr-
de, aber zu Mâcon war man es, oder man ſchien
es zu ſeyn. Der Praͤſident ſagte: du haſt Zeit
dich zu beſinnen, Citoyen: uͤberlege alles, verge-
genwaͤrtige dir alle Umſtaͤnde der ſchaͤndlichen Be-
gebenheit: uͤbermorgen ſollſt du wieder gehoͤrt
werden.
Die beyden naͤchſten Tage brachte ich im Ge-
faͤngniß ſehr unruhig zu: ich hoffte kaum noch,
durchzukommen, und ſtellte mir das ſchlimmſte
vor. Der Gedanke an die Guillotine durchſchauerte
meinen ganzen Koͤrper: alles, was ich von den
Grundſaͤtzen der Stoiſchen Schule wußte, war
[19] damals nicht vermoͤgend, mich zu uͤberzeugen,
daß der Tod kein Uebel ſey. Nur die Vorſtellung,
daß es vielleicht noch gut gehen koͤnnte, richtete
mich auf, und ließ mich wieder Muth faſſen.
Wie wahr iſt es doch, was Tibullus ſo ſchoͤn
ſagt:
credula vitam
Spes fovet, et melius cras fore, ſemper ait.
Ich wurde das anderemal verhoͤrt, aber auch
da verwickelte ich mich, und haͤtte beynahe den
ganzen Handel verrathen. Ich behauptete naͤm-
lich: Dentzel haͤtte allen Anerbietungen der
Feinde kein Gehoͤr gegeben. Welchen Anerbietun-
gen? fragte der Praͤſident. Je nun, erwiederte
ich, welche die Preußen ihm gemacht haben.
Alſo weiſt du doch, daß die Preußen dem Dentzel
Anerbietungen gemacht haben? — Ich merkte
gleich, daß ich vor aller Angſt recht dummes Zeug
geplaudert hatte, und wollte Ausfluͤchte ſuchen:
aber der Praͤſident verfolgte ſeine Idee, und ich
kam arg in die Klemme. Ich habe ſagen hoͤren,
ich weis nicht wo; man hat geſagt, ich weis
nicht, wer; ich habe gedacht, ich weis nicht,
weswegen — das war ſo ohngefaͤhr, was ich dem
dringenden Zuſetzen des Inquiſitors entgegen
ſezte.
[20]
Auch fuͤr dieſesmal wurde ich entlaſſen, jedoch
bedenklich ermahnt, mich genau zu beſinnen, denn
mit ſolchem Galimathias wuͤrde man ſich nicht
mehr begnuͤgen laſſen. Ich merkte wohl, daß
man nicht im Sinne hatte, mich zu verderben:
denn ſonſt haͤtte man ganz anders zu Werke gehen
koͤnnen. Indeſſen konnte ich mich vor der voͤlligen
Abſolution doch nicht beruhigen, und das geringſte,
was ich mir zur Strafe vorſtellte, war Einſper-
rung bis auf den Frieden.
Endlich kam ich zum drittenmale vor. Man
wiederholte viele Fragen, und ſchrieb meine Ant-
worten genau auf. Nachdem dieſes geſchehen
war, wurde mir alles vorgeleſen, und ich gefragt:
ob ich noch Einiges zu meiner Vertheidigung zu
ſagen haͤtte? Ich verneinte dieſes, und der Anklaͤ-
ger, welcher mir die Akten vorgeleſen hatte, ſagte
zum Praͤſidenten: ich ſehe keine Urſache, dieſen
Mann anzuklagen. Der Praͤſident erwiederte,
daß man die Sache noch genauer unterſuchen
muͤßte u. d. gl.
Wenn ich noch jezt ſo bey mir ſelbſt uͤberlege,
warum man nicht genauer unterſucht hat, und
warum man mich ſobald frey ſprach, ſo denke ich,
daß dieſes vorzuͤglich darum geſchah, weil man
Maͤnner nicht gern in Verdrieslichkeiten verwickeln
wollte, welche ſehr reelle Dienſte der Republik
[21] geleiſtet hatten. Vielleicht dachten meine Richter,
daß bey ſehr genauem Verhoͤre ſogar dem General
Laubadere Manches zur Laſt fallen koͤnnte;
und vielleicht waren gar Freunde von Dentzel
unter den Richtern! Es konnte auch ſeyn, daß die
Metzeleyen in Lyon einen Ueberdruß am Vergießen
des Menſchenblutes erweckt hatten. Wer weis
das jezt!
Genug, durch Robespierren's Sturz,
welcher die terroriſtiſchen Herren maͤchtig erſchreckte,
ſiegte das moderate Syſtem in Frankreich, und
obgleich damals alle Gerichtsplaͤtze noch mit erklaͤr-
ten Anhaͤngern der Jakobiner beſezt waren, ſo hat-
ten dieſe doch das Herz nicht, da noch eine Haͤrte
zu beweiſen, wo ſie ihnen gefaͤhrlich werden konnte.
Das Dekret des Konvents, alle die in Freyheit zu
ſetzen, welche nicht den augenſcheinlichſten Ver-
dacht, Verbrechen begangen zu haben, wider ſich
haͤtten, mußte nun in der ganzen Republik aus-
gefuͤhrt werden. Und ſo ſind viele tauſend Men-
ſchen wieder auf freyen Fuß gekommen, welche
unter Robespierre's Domination in den Ge-
faͤngniſſen geſchmachtet hatten. Aber dieſe Um-
ſtaͤnde ſind ſchon aus vielen gedruckten Nachrich-
ten bekannt.
An einem Morgen, fruͤh um 8 Uhr, ließ der
oͤffentliche Anklaͤger alle Gefangne zuſammen kom-
[22] men, verlas dann von einem Zettel fuͤnf bis ſechs
Namen von ihnen, und dieſen ſagte er, daß ſie
frey waͤren. Dann haͤndigte er einem jeden ein
Papier ein, mir alſo auch eins, worin enthalten
war, daß keine Urſache zur Anklage gegen ſie vor-
handen waͤre, folglich daß ſie in Freyheit geſezt
werden m[uͤß]ten, und das auf der Stelle.
Ich kann die Freude nicht beſchreiben, die ich
empfand, als ich mein Papier in Haͤnden hatte.
Ich dankte dem Anklaͤger, den ich als die Mit-
u[r]ſache meiner gluͤcklichen Entlaſſung anſah.
N [...]cht doch — ſagte er ganz kurz: Es iſt das Ge-
ſetz, welches dich frey macht! Dann rieth er mir,
nicht eher Mâcon zu verlaſſen, bis ich fuͤr jeden
Tag, auch fuͤr jene, die ich im Gefaͤngniß zu Di-
jon geſeſſen waͤre, 1[5] Sous ausgezahlt bekommen
haͤtte: denn ſo viel erhaͤlt jeder, der unſchuldig
im Gefaͤngniß ſizt. Ich ſollte mich deshalb nur
auf dem T[ri]bunal melden. Ich bemerkte ihm,
daß ich mich da nicht zu finden muͤßte, und er
verſprach mir, fuͤr mich das Wort zu fuͤhren.
Ich gieng aus dem Gefaͤngniß, und um 11 Uhr
auf [die] Inquiſition, wo der Anklaͤger ſchon einen
Zettel fuͤr mich fertig hatte. Ich trug dieſen zum
Kriegskommiſſaͤr, und erhielt mein Geld. Ich
war im ganzen 32 Tage geſeſſen, und hatte alſo
durch meine Angſt 24 Livres verdient! —
[23]
Ich foderte mir zugleich einen Paß nach Dijon,
welcher mir auch ohne Anſtand gegeben wurde.
Auch der gute Conſcience kam los, aber der
Kapitaͤn mußte ſitzen bleiben, weil ſein Proceß
noch verwickelt war.
Mâcon war mir ein verhaßter Ort. Es iſt
uͤberhaupt eine traurige Stadt, welche aber doch
jezt — da man eben, als ich daſelbſt war, die
dummen Feſtungswerker zuſammenriß und abtrug
— etwas ſchoͤner, wenigſtens heller ſeyn wird.
Dieſe Stadt war naͤmlich noch nach der alten Art,
beynahe wie Gießen, mit einem Wall befeſtiget.
Das mogte wohl vor Alters ganz gut ſeyn, und
unter dem Herzog Johann, ohne Furcht Mâcon
unuͤberwindlich machen. Aber heut zu Tage ſind
Feſtungen von der Art mehr ſchaͤdlich als nuͤtzlich:
denn gegen einen angreifenden Feind ſind ſie wie
nichts, und zur Friedenszeit machen ſie die Stadt
truͤbe und ungeſund.
Dieſes denn war die lezte Anfechtung, welche
ich in Frankreich wegen der fatalen Landauer
Affaͤre zu leiden hatte. Ich habe ſie gluͤcklich
uͤberſtanden, aber ich bin doch nicht vermoͤgend,
mit Behagen daran zu denken, wie man ſonſt ge-
woͤhnt iſt, ſich an uͤberſtandne Gefahren zu er-
innern. Auch haben die Begebenheiten dieſer Art
die uͤble Stimmung meiner Seele, woran ich oh-
[24] nehin ſchon laborirte, nur noch vermehrt, und
mein Urtheil uͤber meine Lage und uͤber die mich
umgebenden Umſtaͤnde nur noch mehr verſchro-
ben. —
Ich kehrte nach Dijon zuruͤck, und wurde da
von meinen Freunden und Bekannten freudig auf-
genommen. Beſonders war der Kommendant
Belin ſehr froh, daß ich ſo gluͤcklich durchgekom-
men war. Er verſicherte mich, daß er eben nicht
viel fuͤr meinen Kopf wuͤrde gegeben haben: es
ſey ihm bange geweſen, ich moͤgte uͤberwieſen,
und nach Paris gebracht werden; und dort waͤre
ich gewiß weg geweſen.
Wie aber der Pariſer Wohlfahrtsausſchuß zur
Kenntniß der Landauer Sache, in ſo fern ich naͤm-
lich, als darin verſtrickt, angeſehen werden konnte,
gekommen ſey, iſt mir noch ein Raͤthſel, aber ge-
wiß nicht lange mehr.
Meine Lebensgeſchichte hat auch in Frankreich
Maͤnner gefunden, die mich in ſehr freundſchaftli-
chen Briefen ihrer Theilnahme verſichern, mit dem
Erbiethen, mir uͤber Alles Auskunft geben zu
wollen, woruͤber ich ſie, in Beziehung auf Frank-
reich, nur wuͤnſchte. Dieſes Anerbieten habe ich
chon benuzt, und in 6 Wochen ſoll Antwort zuruͤck
ſeyn. Doch was kuͤmmert dieß meine Leſer!
[25]
Ich wurde in Dijon uͤber meine Verhaftung
von jedem befragt, aber da ich nicht fuͤr gut fand,
uͤber eine mir ſo verhaßte Sache jedem zu dienen:
ſo gab ich lauter Antworten — nach Gutduͤnken.
Auch fing ich meine Lehrſtunden wieder an, und
gab ſie fleißig und zur Befriedigung meiner Herren
Scholaren, welche alle recht brave Maͤnner waren.
Ich war auch bey den deutſchen Gefangnen
der allgemeine Briefſteller im Franzoͤſiſchen, be-
ſonders in dem Departement der Liebeley. Die
Herren hatten eben nichts zu thun, ſahen viel
huͤbſche Maͤdel, die ihnen nicht grauſam zu ſeyn
ſchienen, und da hatten ſie ihnen gar manches zu
entdecken. Aber die meiſten hatten das Ungluͤck,
daß ſie ſich ihren Schoͤnen nicht naͤhern konnten,
und da mußte man ſeine Zuflucht zur Feder neh-
men, und Liebeszettelchen abſchicken. Gewoͤhn-
lich wurden dieſe Briefchen ſogleich und groͤßten-
theils guͤnſtig beantwortet — in aller Zucht und
Ehrbarkeit, verſteht ſich, und in der gewoͤhnlichen
Orthographie der Frauenzimmer, d. i. mit Schni-
zern uͤber Schnitzer in jeder Zeile. Doch, da ſel-
ten ein Mann, ſey er auch ein Mann von Erzie-
hung und Kenntniſſen, die Rechtſchreibung ſeiner
Sprache ganz inne hat: ſo kann man es dem
Frauenzimmer nicht verdenken, wenn ſie die Worte
bis zur Unkenntlichkeit verhunzen. Dieſes Kribes
[26] Krabes hatte ich hernach auch zu analyſiren, und
nicht ſelten Muͤhe genug, herauszubringen, daß
die Schoͤne es fuͤr eine Ehre halte, ihre geringen
Reize der Aufmerkſamkeit eines ſo aimable garçon
werth zu ſehen u. ſ. w. Gewoͤhnlicherweiſe wurde
der aimable garçon auf eine Promenade eingeladen,
und dann ging die Erklaͤrung durch Zeichen, abge-
brochne Redensarten u. ſ. w. ſchon ohne Dollmet-
ſcher von ſelbſt.
Aber unſre fremden Offiziere hatten doch nur
Gelegenheit, mit einer gewiſſen Klaſſe von Schoͤ-
nen umzugehen, naͤmlich mit den Toͤchtern und
Baſen der Wirthe, bey denen ſie ſpeißten, mit
Naͤtherinnen, Waͤſcherinnen, Toͤchtern der Schnei-
der, Schuſter und aͤhnlicher Aushelfer. Frei-
lich macht die einmal feſtgeſezte Gleichheit, daß
das gemeinſte franzoͤſiſche Maͤdchen ſich fuͤr ſo gut
haͤlt, als irgend ein viel reicheres, ſchoͤneres oder
beſſer erzogenes: allein die kritiſchen Liebeler finden
gar viel Ungleichheit unter denſelben, und be-
haupten, daß der Begriff der Gleichheit nur im
Sinn der Republik Werth und Wahrheit habe;
weiter aber ausgedehnt — Unſinn werde.
In Frankreich gab es niemals privilegiirte Bor-
delle, auſſer in den Seeſtaͤdten: doch war wohl
keine Stadt ohne verkappte Bordelle: und ſo iſt es
noch. Der Konvent hat zwar einige Geſetze gegen
[27] die Huren, oder, wie es heißt, filles perdues ge-
geben, auch alle Buͤrger aufgefodert, dem Unwe-
ſen mit abzuhelfen. Aber es laͤßt ſich denken, daß
ſolche Dekrete wenig oder nichts fruchten. Ein
Uebel von der Art kann nur nach und nach durch
beſſere E[r]ziehung kuͤnftiger Generationen vert[i]lgt
werden: jezt, da die Sitten des groͤßern Haufens
noch immer einen Anſtrich von den Sitten des
Hofes, des Adels und der Prieſter haben, kann
kein Geſetz hier ſteuern. Horatius hat Recht,
wenn er ſagt:
— — Quid leges ſine moribus
banae proficiunt?
Die Folgen des Umgangs unſrer Kriegsgefan-
genen und Deſerteurs mit den Buhldirnen wurden
auch bald ſichtbar: Viele kamen daruͤber ins Hoſpi-
tal, Andre ließen ſich zu Hauſe kuriren, und es
iſt wahrſcheinlich, daß Mancher die haͤßlichſte
Krankheit mit in ſein Vaterland genommen hat.
Bey den Deſerteurs ging es in dieſer Ruͤckſicht am
aͤ[r]gſten zu: denn dieſe trieben ihr Weſen ganz oͤf-
fentlich, ſogar in ihrer Caſerne.
Die Revolution, welche den Franzoſen ſo ent-
ſezlich viel junge Maͤnner gekoſtet hat, macht frei-
lich, daß von den jetzigen ledigen Franzoͤſinnen viele
alte Jungfern werden muͤſſen: denn nimmermehr
wird man erlauben, daß Ein Mann mehr als eine
[28] Frau nehme. Dieſes iſt nun kein guter Proſpekt
fuͤr queckſilbernes Frauenzimmer, und kann nun
und dann zur Entſchuldigung dienen, wenn dieſe
und jene gegen ihre Anbeter weniger ſtrenge thut.
Aus eben dieſer Urſache wuͤnſcht das Ende des
Kriegs niemand ſehnlicher, als die franzoͤſiſchen
Maͤdchen: denn ſo lange der Krieg fortwaͤhrt,
bleiben die jungen Leute bey der Armee; auch muͤſ-
ſen die, welche noch ohne Waffen ſind, hinziehen,
und ſich der Gefahr ausſetzen, niemals zuruͤck zu
kommen.
Ob aber gleich jezt noch ein ziemlich großes
Sittenverderben, in Abſicht der Keuſchheit, in
Frankreich herrſcht: ſo iſt doch, wie die Franzoſen
ſelbſt bekennen, kein Vergleich des Gegenwaͤrtigen
mit dem Vergangenen, indem vorher die großen
Herren und die Geiſtlichen nichts huͤbſches, beſon-
ders in den niedern Staͤnden, ungeknickt aufbluͤ-
hen ließen. Dieſe Menſchen haben ihre Galante-
rien ſeitdem nach Deutſchland gebracht und alle
Oerter verpeſtet, wohin ſie gekommen ſind. Ich
ſprach einſt in einer Geſellſchaft uͤber dieſen Punkt.
„Freilich jezt giebt es wohl noch Jungfern bey
uns, fiel einer ein, aber vor fuͤnf Jahren waren
dieſe verdammt rar. Die Herren und die Pfaffen
machten gar zu viele Jagd darauf. Jezt ſind dieſe
Peſtilenzen bey unſern Nachbarn, und wenn ihnen
[29] die nicht bald die Haͤlſe brechen, ſo weis ich ge-
wiß, daß ſie alle ſchwachen Weiber und Maͤdchen
in Deutſchland verfuͤhren werden.“ Dieſe Be-
merkung mag aber jezt wohl nicht mehr Statt ha-
ben, da die Emigr[a]nten in Deutſchland eine gar
traurige Figur machen, und meiſt allgemein ver-
haßt und verachtet ſind.
Neun und dreyßigſtes Kapitel.
Zuſtand der Kriegsgefangnen in Frankreich.
Die Behandlung der franzoͤſiſchen Kriesgefangnen
in Deutſchland, welche in manchem deutſchen
Buche beſchrieben ſteht, macht mir es zur Pflicht,
auch von der Art zu ſprechen, wie man die ge-
fangnen Deutſchen in Frankreich behandelt hat,
ſo gern ich auch dieſes Kapitel ſonſt wegließe,
weil hierin die Deutſchen mit den Franzoſen ab-
ſcheulich kontraſtiren. Aber es waren ja nur ein-
zelne Deutſche, welche hart und unmenſchlich mit
den franzoͤſiſchen Kriegsgefangnen umgingen.
Die gefangnen Deutſchen, ſo ſpricht man hier
und da in Deutſchland, ſind auf den franzoͤſiſchen
Graͤnzen uͤbel empfangen worden. — Das iſt
zum Theil wahr, beſonders, wenn von den Ge-
[30] fangnen in den Niederlanden und an den Graͤnzen
von Elſaß die Rede iſt. Denn in dieſen Gegenden,
vorzuͤglich in den Niederlanden, hatten die frem-
den Voͤlker alle nur erſinnlichen Exzeſſe begangen:
und daher war es nicht zu erwarten, daß die
Bauern ſich freundlich gegen Leute betragen wuͤrden,
welche deren Doͤrfer verbrannt, ihre Verwandte
mishandelt, ja, gar todtgeſchlagen, und all ihr
Haab und Gut weggepluͤndert hatten. In ſolch
inhumanen Faͤllen gilt gewoͤhnlich nur Zahn um
Zahn: aber doch auch nur in der erſten Hitze, denn
bald darauf koͤmmt Mitleid, und wir koͤnnen dem
Gutes thun, der uns aufs aͤrgſte beleidigt hat,
ſobald wir nur ſehen, daß er recht ungluͤcklich iſt.
Bey alle dem weis ich dennoch nicht, daß auch auf
den franzoͤſiſchen Graͤnzen die deutſchen Kriegsge-
fangnen waͤren ſchlecht behandelt, geſchlagen oder
gar getoͤdtet worden, wie man dieß von franzoͤſi-
ſchen Gefangnen auf deutſchem Boden gewiß
weis.
Aber es ſcheint auch, — wie dieß die Unart
aller Dummſtolzen iſt — als wenn die Deutſchen
und andre Voͤlker ſich beſſer zu ſeyn, oder mehr
Recht zu haben duͤnkten, als die Franzoſen: denn
in Deutſchland konnte man doch wohl wiſſen, wie
human die Gefangnen in Frankreich gehalten wur-
den, und doch hielten ſie aͤußerſt inhuman die der
[31] Franzoſen. [I]n des Exleutnant Goechhauſens
Wanderungen finde ich S. 39. ſogar folgen-
de, ſo ganz des raſenden Ariſtokraten, und ſeines
poͤbelhaften Anhangs wuͤrdige Frage: „ob es nicht
menſchlicher waͤre, der Quaal dieſer lebendig
verfaulenden Opfer der Philoſophie (er meynt
die bleſſirten gefangnen Franzoſen) durch einen
tuͤchtigen Saͤbelhieb ein Ende zu machen?“ —
So eine Frage wirft er von Leuten auf, von de-
nen er S. 38. der angefuͤhrten Scharteke ſelbſt be-
kennt, daß ſie ſtumm, ohne laute Klage, verach-
tend das Schroͤckliche ihrer Lage, trotzend jedem
Ereigniß u. ſ. w. ſich haben fortſchleppen laſſen.
Solche Leute ſind ja mehr zu bewundern! denn es
iſt eine ſehr große Sache, das Ungluͤck zu beſiegen,
und der hoͤchſte Grad der menſchlichen Kraft —
ſein Schickſal zu verachten. Aber ein Exleutnant
zu Eiſenach hat dafuͤr keinen Sinn, und es iſt nur
gut, daß die Franzoſen ſeine Wiſche nicht leſen,
ſonſt haͤtten Einige die Aeußerungen des naͤrri-
ſchen Menſchen fuͤr Meynung unſers Volks halten
koͤnnen, und die Kriegsgefangenen in Frankreich
danach auf ſich Goͤchhauſiſch-deutſch behandelt.
Ich berufe mich aber auf das Zeugniß aller
derer, welche in Frankreich geweſen ſind, und
insbeſondere der Offiziere, welche gewiß keine
Urſache haben, den Franzoſen zu ſchmeicheln: dieſe
[32] alle muͤſſen geſtehen, daß die Franzoſen unſre
Leute, als Gefangne, recht gut behandelt
haben.
Als Unteroffizier unter den Schwaben, ſaß ich
zu Offenburg in der Krone, und unterredete mich
mit einem Kaiſerlichen Feldwebel, welcher aus
Frankreich gekommen war. Er gab den Franzoſen
ein ſehr gutes Zeugniß, und geſtand, daß er ſich
uͤber ihre Behandlung nicht beſchweren koͤnnte.
Ein Offizier von den Kaiſerlichen hoͤrte dieß, wi-
derſprach ſtark, und waͤhrend er die Franzoſen
Racker, Spitzbuben und Schurken nannte, faßte
er den Feldwebel ſcharf in die Augen. Dieſer ver-
ſtand ihn, und hielt ein, die Franzoſen zu loben.
Ich aber fuhr darin fort. Nun ſtand der Offizier
auf mit den Worten: Pfuy Korporal, ſchaͤmen
Sie ſich, ſolchen Hundekerlen Gutes nachzuſagen!
Wer die Franzoſen lobt, iſt mein Freund nicht:
die Spitzbuben ſind gar nicht werth, daß man ſie
einmal ins Maul nimmt.
Da nun aber, troz der entſetzlichſten Verbitte-
rung gegen die franzoͤſiſche Nation, deren Betra-
gen gegen Gefangene dennoch als gut allgemein
bekannt worden iſt, ſo muß auch jeder Unbe-
fangne zuverſichtlich ſchließen, daß es wirklich
gut geweſen ſey. Man geſtatte mir indeß doch,
daß ich hier etwas ins Detail gehe.
[33]
Erſtlich hatten die Kriegsgefangnen, wenn ſie
einmal an dem Orte ihrer Beſtimmung, z. B. in
Dijon, Langres, Orleans, Autun u. ſ. w. waren,
alle Freyheit, die nur ein Gefangner haben und
fodern kann. Sie waren g[ar] nicht eingeſperrt,
und hatten weit mehr Willen als die Kaiſerlichen,
Preußiſchen oder Heſſiſchen Soldaten jemals ge-
habt haben, oder jemals haben werden. In der
Stadt war ihnen erlaubt, zu ſeyn, wo ſie wollten:
ja, ſie konnten ſogar außerhalb ihres Quartiers bey
den Buͤrgern, in den Wirthshaͤuſern u. ſ. w. her-
umlogiren, ohne daß jemand nach ihnen gefragt
haͤtte.
Man munterte ſie auf zur Arbeit; und wer
eine Profeſſion konnte, oder ſonſt etwas Nuͤtzliches
ſchaffen wollte, fand dazu uͤberall Gelegenheit,
und wurde immer gut bezahlt. Man erlaubte ih-
nen, auf die Doͤrfer zu gehen, und bey dem Bauer
oder ſonſtwo zu arbeiten; ja, ich kenne einige,
die 10, 12 und mehr Stunden vom Orte ihrer
Kaſerne ihr Handwerk oder den Ackerbau trieben.
Sie hatten außerdem das Recht, ſich in Frank-
reich niederzulaſſen, und dort zu heirathen.
In dieſem Falle mußten ſie auf ihr Vaterland fuͤr
immer verzichten, und den Nationaleid der Fran-
zoſen ſchwoͤren. Dieſes ſcheint auch ſehr billig zu
Viert. Th. 2te Abth. C
[34] ſeyn: denn was haͤtten die ungluͤcklichen Weiber
machen ſollen, wenn ihre Maͤnner nach Deutſch-
land, oder ſonſt wohin haͤtten zuruͤckkehren wollen!
Es ſtand auch jedem Gefangnen frey, ſich zu erklaͤ-
ren, daß er im Auswechslungsfalle nicht wieder
zu ſeinem Fuͤrſten geſchickt ſeyn wollte. Auch dann
durfte er bleiben, und die Nation berechnete den
Verluſt, welchen ſie doch wirklich dadurch erlitte,
gar nicht. So kenne ich Mehrere, welche Frank-
reich nimmermehr verlaſſen werden, und Andre,
welche zwar bey den Preußen u. ſ. w. gedient hat-
ten, in Zukunft aber eine andre Lebensart ergrei-
fen wollten, ob ſie gleich keine Luſt hatten, in
Frankreich ſich anzuſiedeln.
Der Unterhalt der Kriegsgefangnen war taͤglich
10 Sous und 1½ Pfund Brod: von dem Gelde
zog man monatlich 7½ Livres ab fuͤr die Kleidung.
Außerdem erhielten ſie Holz und Toͤpfe zum ko-
chen, lagen auf Strohſaͤcken mit Friesdecken,
und konnten ſo, wenn ſie auch gar nichts arbeite-
ten, doch immer wenigſtens leben.
Die fremden Offiziere waren recht gut gehalten:
denn bey dieſen beobachtete man keine Gleichheit,
wie uͤberhaupt gegen keine Fremde: ſogar die ge-
fangnen Unteroffiziere erhielten mehr Sold, als
die Gemeinen. Ein Kapitaͤn hatte taͤglich 6 Li-
vres, ein Leutnant und alle Subaltern-Offiziere,
[35] nebſt den Feldſcheerern, 3 Livres; und dafuͤr ließ
ſich ganz gut leben und auch noch fuͤr Kleidung und
andre Beduͤrfniſſe ſorgen. Ich habe Offiziere ge-
ſehen, welche zerlumpt und zerriſſen ankamen,
und bald hernach recht artig gekleidet erſchienen
ſind. Ueberdieß hatten die gefangnen Offiziere
recht artige Zimmer, wenigſtens immer ſo artige,
als ſie ſelbige in ihrer Garniſon haben moͤgen:
auch recht gute Betten, die ihnen jeden Monat
friſch gedeckt wurden: mit einem Worte, ſie be-
fanden ſich ſo behaglich, daß ſie hoͤchſt undankbar
gegen die franzoͤſiſche Nation ſeyn muͤßten, wenn
ſie ſich uͤber uͤble Behandlung und Haͤrte beſchwe-
ren wollten.
Man hat freilich auch Gefangne beſtraft, allein
die hatten ihre Strafe gar wohl verdient, und man
haͤtte ſie weit aͤrger beſtraft, wenn ſie Franzoſen
geweſen waͤren.
Anfaͤnglich war den Offizieren und Unteroffi-
zieren die Aufſicht uͤber die Kriegsgefangnen an-
vertraut, die denn auch gerade ſo mit ihnen um-
gingen, als ſonſt in der Garniſon. Doch iſt das
blos von den Kaiſerlichen und Preußen zu verſte-
hen: denn den Hannoveranern, Heſſen und Pie-
monteſern muß ich nachſagen, daß ſie ſich um ihre
Leute gar nicht bekuͤmmert haben. Die Kaiſerli-
chen Herren, beſonders die lieblichen Unteroffiziere
[36] dachten, ſie muͤßten den Korporalsſtock auch in
Frankreich fuͤhren, denn ohne Stock ſey halter kei-
ne Zucht bey den Leuten herauszubringen. Von
da an trugen ſie alſo Stoͤcke à la Kaiſerli[k], wie die
Franzoſen ſagten, und ſchlugen brav auf die Leute
ein. Die Offiziere billigten dieſes, und ſo haben
viele Kaiſerliche wegen Exzeſſe Hiebe bekommen.
Die Exzeſſe waren meiſtens Widerſezlichkeit der
Bu[r]ſche gegen die deſpotiſchen Befehle der Offiziere
und der elenden Halters, d. i. der Unteroffiziere.
Der Friedensrichter zu Dijon erfuhr en[d]lich
das Unweſen, und gab die ſtrengſten Befehle da-
wider, mit Huͤlfe der Municipalitaͤt. Es ſey in
den Geſetzen verboten, Menſchen wie Hunde zu
behandeln, ſagte er: wenigſtens ſollte dieſes auf
franzoͤſiſchem Boden nicht geſchehen. Wollten ſich
die Leute einmal pruͤgeln laſſen, ſo moͤgten ſie war-
ten, bis ſie wieder in das Land kaͤmen, wo Pruͤ-
gel und andre Infamien Mode waͤren u. ſ. w.
Dieſer Befehl wurde angeſchlagen, und nun hatte
die Deſpotie der Stockherren ein Ende. Doch war
einer da, welcher verſicherte: daß, wenn er nur
erſt wieder zum Regiment kaͤme, mancher noch
derbe Hiebe bekommen ſollte. Er ſchrieb ſich die
Pruͤgel-Candidaten ſogar beſonders auf.
Ohngefaͤhr 4 Stunden von Dijon arbeiteten
einige Gefangne in einem Dorfe. Hier wurden
[37] zwey von ihnen in einem Hauſe bekannt, welches
ein altes Ehepaar ohne Kinder bewohnte. Die
Gefangnen merkten, daß die alten Leute eine Brief-
taſche voll Aſſignaten hatten, und beſchloſſen, ſich
derſelben zu bemeiſtern. Sie traten daher Abends
in das abgelegne Haus, lockten die Alten in den
Keller, um ihnen Wein zu geben, und ermordeten
ſie, und nahmen die Brieftaſche zu ſich. Dieſe
Mordthat entdeckte man bald, und brachte die
Thaͤter nach Dijon ins Gefaͤngniß. Man ſprach
ihnen nach den Geſetzen das Todesurtheil, vollzog
es aber nicht, ſondern entſchied: ſie ſollten bis
zum Frieden ſitzen bleiben, und dann dem Kaiſer,
deſſen Soldaten ſie waren, zur Beſtrafung uͤber-
laſſen werden.
Im Gefaͤngniß bekannten ſie gegen andere
Deutſche, daß ſie ſich kein Gewiſſen draus mach-
ten, Franzoſen umgebracht zu haben, denn dieſe
verdienten nichts anders. Man muß aber wiſſen,
daß b[e]yde Moͤrder gutkatholiſche Chriſten und
Oeſtreicher waren. Als ich im Winter im Spital
Rouſſeau war, diſputirte ein Kaiſerlicher Unter-
offizier ganz im Ernſte, daß man, ohne ſich zu
verſuͤndigen, einen Franzoſen toͤdten koͤnnte: ſie
laͤgen einmal im Kirchenbann, und es ſtaͤnde da-
her jedem frey, ſie zu beſtrafen bis aufs todtſchla-
gen. — Ich kann nicht ſagen, ob dieſe blutduͤr-
[38] ſtige Geſinnung allen Katholiken gemein geweſen
ſey, aber da ſie ſich beſonders unter den Mitglie-
dern der roͤmiſchen Konfeſſion aͤußerte, ſo muß ſie
wohl im Weſen der roͤmiſchen Religion ſelbſt lie-
gen, und ſich durch eine ungezwungene Folge dar-
aus leiten laſſen. Man kennt ja ihre Grundſaͤtze
gegen die, welche die Kirche nicht hoͤren.
Bey der Eroberung von Lyon ſind viele Kriegs-
gefangne mit umgekommen, welche ſich dahin ge-
fluͤchtet, und den Ariſtokraten gedient hatten: hier
konnte man doch wohl nicht ſchonen.
Die Deſerteurs und Gefangne waren niemals
gute Freunde und bekamen oft Haͤndel miteinan-
der: doch dieſes gruͤndete ſich blos auf die Natio-
nalkokarde, welche die Deſerteurs trugen. Nach-
dem aber dieſen verboten war, ſolche Kokarden
weiter zu fuͤhren, ſo fiel der Stein des Anſtoßes
weg, und die beyden Partheien lebten ferner in
Einigkeit.
Ich weis nicht, was den Konvent mogte be-
wogen haben, im Oktober 1794 die gefangnen
Offiziere und Gemeine, in Ruͤckſicht der Subſi-
ſtenz, gleich zu machen: ich habe auch niemals
die eigentliche Urſache davon erfahren koͤnnen.
Aber ſie bekamen damals nicht mehr als 10 Sous
taͤglich und 1½ Pfund Brod, wovon ſie leben
mußten. Zum Gluͤck waͤhrte dieſe Einrichtung
[39] nicht lange: denn als der Volksrepraͤſentant Ca-
lès nach Dijon kam, gab er den Offizieren ihre
Subſiſtenz ſo wieder, wie ich ſie oben beſchrieben
habe. Fuͤr die gefangnen Unteroffiziere habe ich
ſelbſt die Bittſchrift an Calès verfertigt, und
mich zum Sprecher ihrer Legation an ihn gebrau-
chen laſſen. Er hat auch ſofort ihre Bitte bewil-
liget, und ihnen ihren vorigen Gehalt wieder rei-
chen laſſen.
Außerdem war es jedem Gefangnen erlaubt,
an ſeine Verwandten, ja, ſogar an die Regimen-
ter zu ſchreiben, bey denen er vorher geſtanden
war. So lange der Jakobinismus in Frankreich
dauerte, mußten alle Briefe dieſer Art erſt geleſen
und von dem Komemndanten oder dem Kriegskom-
miſſaͤr uͤberſchrieben werden: aber nach dem Sturz
des terroriſtiſchen Syſtems hatte jeder die Freiheit,
Briefe wegzuſchicken, ohne daß ſie waͤren erbrochen
worden: eine Erlaubniß, die man ſonſt einem Ge-
fangenen nirgends geſtattet: denn ich erinnere
mich nicht, daß von Franzoſen aus der Preußiſchen
oder Oeſtreichiſchen Gefangenſchaft Briefe nach
Frankreich gekommen waͤren.
So human betrug ſich die franzoͤſiſche Nation
gegen die Gefangenen ihrer Rache- und Verach-
tung ſprudelnden Feinde! Sie betrachteten und be-
handelten die aus ihnen wehrlos gemachten Sol-
[40] daten blos als Menſchen, und ließen ihnen alles
angedeihen, was Menſchen- und Voͤlkerrecht fuͤr
Leute von der Art erfod[er]t.
Wie aber machten es die Deutſchen mit den
gefangnen Franzoſen? Vandaliſch und Huroniſch!
Die Belege davon findet man in Goͤchhauſens
Wanderungen und in Girtanners politiſchen
Annalen. Ich berufe mich hier auf Maͤnner, de-
nen man es gewiß nicht zur Laſt legen kann, daß
ſie die Franzoſen beguͤnſtigen, und deren Zeugniß
eben darum um ſo unpartheiiſcher ſeyn muß.
Goͤchhauſens raſende Tiraden daruͤber kennen
wir aus dem Obigen: wir wollen alſo blos noch
den Girtanner hoͤren.
Seit dem Ausmarſch aus Mainz, wie es in
den Girtannerſchen Annalen heißt, waren
ſchon gegen 200 — ſchreibe zweyhundert —
von den gefangnen Franzoſen bis Eiſenach geſtor-
ben, von Eiſenach bis Gotha ſieben, von da bis
Erfurt 8, und ſo weiter, ſo daß ſchwerlich die
Haͤlfte von denen, die aus Mainz ausmarſchiert
waren (es waren ihrer 1000) den Ort ihrer Be-
ſtimmung erreicht hat. Sie waren (im harten
Winter 1794-1795) ohne warme Kleidung, zum
Theil ohne Hemde, Schuhe und Struͤmpfe, der
Kaͤlte und Wind und Wetter preis gegeben. Sie
wurden von ihren Fuͤhrern erbittert ſtrenge behan-
[41] delt. Sogar die Kranken und Sterbenden, wenn
ſie, ſtarr gefroren, nicht ſogleich von den Wagen
konnten, erhielten Schlaͤge. Todte und Lebendige
lagen auf den Wagen durcheinander. Ein fieber-
hafter Offizier lag in der Kriſe, mußte ſich den-
noch auf den Strohwagen laden laſſen, und ſtarb in
wenig Stunden. Alle klagten uͤber die Haͤrte ihres
Schickſals, und meynten, es muͤßte der Zweck
ihrer Fuͤhrer und deren Befehlshaber ſeyn, ſie mit
Gewalt umkommen zu laſſen, um ſie nicht laͤnger
zu ernaͤhren. Mit der menſchlichen Behandlung
der meiſten Landeseinwohner auf ihrem Wege,
uͤber Frankfurt hinaus, waren ſie uͤbrigens zu-
frieden: in Frankfurt aber, klagten ſie, haͤtte man
ſich unmenſchlich gegen ſie bewieſen.
Die Geſunden gingen dennoch, troz der barba-
riſchen Behandlung ihrer unmenſchlichen Treiber,
mit Heiterkeit und ſichtbarem Stolze auf die in ih-
ren Augen gute Sache, deren Maͤrtyrer ſie waren,
und die ſie ganz richtig von den Graͤueln der Anar-
chie zu unterſcheiden wußten, einher. —
Haͤlt man dieſes Benehmen der Deutſchen ge-
gen die kriegsgefangnen Franzoſen mit jenem der
Franzoſen gegen die kriegsgefangnen Deutſchen zu-
ſammen, ſo iſt der Abſtand gar ſehr ſichtbar und
auffallend. Auf dem Transport von Mainz nach
Magdeburg ſtarben 500 kriegsgefangne Franzoſen;
[42] alſo auf einem Wege von 54 kleinen Meilen, eine
Meile in die andere gerechnet, 9 Mann. Aber
von allen kriegsgefangnen Deutſchen, welche aus
Weißenburg und zwar auch im Winter, gebracht
wurden, ſtarb unterwegs kein einziger,
und doch ſind von da bis Beſançon auch 50
Meilen. Die verſchrieenen Franzoſen ließen in-
deß die, welche krank wurden, unterwegs in den
Lazarethen zuruͤck, und die Geſunden behandelten
ſie ganz menſchlich.
Doch die aus Frankreich zuruͤckgekommenen
Deutſchen machen die beſte Apologie fuͤr die Fran-
zoſen in dieſem Stuͤck; keiner von ihnen ſchimpft
auf die Nation; und ich glaube, wenn man es
ihnen auch verbieten wuͤrde, wie man es im Kai-
ſerlichen thun ſoll, ſo wuͤrden ſie wenigſtens im
Stillen gutes von einer Nation reden, die ihnen
gutes reichlich erzeigte. Und eben dieß iſt die
wahre Propaganda, von welcher ein Goͤchhau-
ſen, Schirach und andre ſo viel zu ſagen wiſ-
ſen, den Ort ihrer Exiſtenz aber eben ſo wenig
kennen, als die einzige Art, Humanitaͤt human
zu handhaben und zu verbreiten.
[43]
Vierzigſtes Kapitel.
Allerhand.
Der Jakobinismus hatte durch Robes-
pierre's Sturz ſeine Hauptſtuͤtze verloren, und
ging nun allmaͤlig ſelbſt zu Grunde. Er exiſtirte
vorzuͤglich in den Volksſocietaͤten, von welchen
ich oben hinlaͤnglich gehandelt habe. Die Volks-
ſocietaͤten fuhren zwar auch noch nach Robes-
pierre's Fall immer fort, aktiv zu ſeyn, aber
man wurde bald gewahr, daß, obgleich ſowohl
die Pariſer Jakobiner, als beſonders die zu Bour-
deaux und zu Nantes die Hinrichtung der Tyran-
nen Robespierre, Couthon, St. Juſt und
andrer zu billigen ſchienen, indem ſie der neuen
Befreyung des Vaterlandes in ihren Sitzungen
die hoͤchſten Lobſpruͤche ertheilten, ſie doch im
Grunde dahin zielten, daß das von dieſen einge-
richtete Syſtem in ſeiner Kraft bleiben moͤgte.
Aber eben dieſes Zielen warf endlich auch die
Volksſocietaͤten uͤbern Haufen. Man haͤtte, we-
nigſtens in Paris, bey der gewaltſamen Verſchlieſ-
ſung des Jakobiner-Saals mehr Exzeſſe vermu-
then ſollen, als wirklich vorgefallen ſind. Aber
[44] die oͤffentliche Meynung entſchied uͤber die Entbehr-
lichkeit der Jakobiner und der Volksſocietaͤten: und
ſo ging es ohne großes Blutvergießen zu; und in
den Provinzen ſchloſſen die Jakobiner ihre Saͤle
nach und nach von ſelbſt.
Von dieſer Zeit an wurde der Name Jako-
biner ein Schimpfname, und wenn man einen
ſchlechten Streich nennen wollte, ſo ſagte man:
es ſey un tour de Jacobin. Marat hatte bisher
die Ehre genoſſen, daß man Straßen, Thore und
Hoſpitaͤler nach ſeinem Namen genannt hatte:
aber nun ward Marats Name veraͤchtlich: man
ſtrich ihn aller Orten aus, warf ſeine zahlreich er-
richteten Buͤſten um, und in Paris wurde ſogar
ſein Koͤrper, ſo wie der des von ihm vertriebenen
Mirabeau's aus dem Pantheon geworfen,
und zugleich das kluge Dekret gemacht: daß in
Zukunft niemand mehr im Pantheon aufgeſtellt
werden ſollte, als erſt 10 Jahre nach ſeinem Tode,
weil alsdann der fuͤr oder wider ihn ſtreitende
Partheygeiſt ſich wuͤrde gelegt, und unpartheyi-
ſchen Urtheilen Platz gemacht haben.
Der Terrorismus war mit dem Jakobinis-
mus aufs engſte verbunden, oder beyde waren
vielmehr ein und daſſelbe Ding. Ich bin voͤllig
uͤberzeugt, daß 1792, 93 und 94 das Schreckens-
ſyſtem zur Gruͤndung und Erhaltung der Republik
[45] noͤthig geweſen iſt, und glaube feſt, daß die Be-
muͤhungen des Ropespierre und ſeiner Anhaͤn-
ger den Gegenbemuͤhungen der Emigranten und
der Uebelgeſinnten am beſten begegnet ſind. Aber
dem ohngeachtet mußte das Schreckensſyſtem
doch einmal aufhoͤren; und gerade gegen das Ende
des Jahres 1794 ſchien der Zeitpunkt gekommen
zu ſeyn, wo man wieder mit mehrerer Freyheit in
Frankreich leben koͤnnte. Die Jakobiner waren
wirklich zu zahlreich und dadurch der buͤrgerlichen
Freyheit gefaͤhrlich geworden: denn obgleich an-
fangs nach dem eignen Syſtem dieſer Klubs, je-
der Buͤrger voͤllige Freyheit haben ſollte, ſich in
den Klub zu begeben oder nicht, ſo wurde doch bald
hernach jeder, der ſich mit den Jakobinern nicht
vereinigte, fuͤr einen ſchlechten und verdaͤchtigen
Buͤrger gehalten.
Dieſes hatte ſehr viele und boͤſe Folgen. Ein-
mal wurden alle obrigkeitlichen Aemter mit Jakobi-
nern beſezt. Ich habe 1794 die ganze Regie-
rungs-Adminiſtratoren in Coted'or zuſammen ge-
halten mit den Liſten der Klubbiſten, oder der Mit-
glieder der in dieſem Departement exiſtirenden
Volksſocietaͤten, und gefunden, daß beynahe kein
einziger etwas zu ſagen hatte, der nicht ein Ja-
kobiner geweſen waͤre. Freilich konnten die Leute
nicht anders ſprechen, als nach dem Geſetze, und
[46] ſprachen auch nicht anders, als jeder Andre wuͤrd[e]
geſprochen haben: aber es war ſchon Unrecht, und
dem Grundgeſetz der Gleichheit zuwider, daß blos
Jakobinern der Weg zu oͤffentlichen Aemtern offen
ſtand. Darunter litt die National-Freyheit.
Das jacobiniſche Unweſen wurde bey den De-
lationen noch viel ſichtbarer. Man durfte nur ei-
nem von der Volksſocietaͤt misfallen, oder ſonſt
deſſen Feindſchaft auf ſich laden, ſo lief man
ſchon Gefahr, ſeine Freyheit auf lange Zeit zu
verlieren. Man kennt die franzoͤſiſchen Gefaͤng-
niſſe, und weis, wie ſehr viel brave Buͤrger in
den Jahren 1792, 93 und 94 in denſelben ge-
ſchmachtet haben, und mit welchen Winkelzuͤgen
und Fineſſen der Anhang des Berges die Los-
laſſung dieſer Ungluͤcklichen gehindert hat. So
hatte zu Mâcon ein durchreiſender Volontaͤr ei-
nen Jakobiner beleidiget, doch nur ſo, daß die-
ſer deswegen nicht klagen konnte. Als aber der
Volontaͤr nachher nur ſagte: ſechs Livres in Pa-
pier waͤren ihm nicht ſo lieb, als ein Kronen-
thaler an Geld, ſo klagte ihn der Jakobiner an,
und er wurde flugs eingeſteckt, und mußte uͤber
vier Monate ſitzen. Solcher Streiche ſind gar
viele vorgefallen.
Als nun vollends die Jakobiner gar erklaͤr-
ten, daß ſie, ſo zu ſagen, die Republik aus-
[47] machten, und daß nur bey ihnen der aͤchte wahre
Patriotismus anzutreffen ſey, ſo vermehrten ſie
unter den Nichtjakobinern das Mistrauen, und
wurden der innern Ruhe gar zu gefaͤhrlich:
denn nicht Republikaner, nicht Jakobiner ſeyn,
hieß Ariſtokrat ſeyn, und das zeigte den Weg
zur Guillotine. Es ging uͤbrigens den Jakobi-
ner-Societaͤten, wie den Moͤnchsorden in der
roͤmiſchen Kirche. Unter dieſen giebt es viele
Moͤnche, welche das Unweſen der Moͤncherey
gewiß recht gut einſehen, und von Herzen ver-
abſcheuen, und doch dafuͤr wie fuͤr Haus und
Hof ſtreiten. Das thut der Partheygeiſt! Nach
dem Sturz der Volksſocietaͤten hat ſichs auch
ausgewieſen. Der Kommendant Belin, mit
dem ich noch an dem Tage meines Abmarſches
aus Dijon nach der Schweiz ſprach, und der
ehemals Jakobiner, ja, ſelbſt Praͤſident in dem
anſehnlichen, aus 4500 Gliedern beſtehenden
Klub geweſen war, geſtand mir offenherzig, daß
er und die meiſten Mitglieder uͤber die Zerſtoͤ-
rung der heilloſen Verbindung (de cette cohuë
infernale) froh geweſen ſeyen, und daß er nur mit
Widerwillen hingegangen ſey. Es war, fuhr er
fort, gleichſam die Contrebalance des hundert-
koͤpfigen Konvents, und drohte mit der Zeit aber-
mals viel Blutvergießen.
[48]
Ganz Frankreich war entzuͤckt uͤber den Sturz
des Syſtems des Jakobinismus, und die geweſenen
Glieder dieſer Geſellſchaften wurden nachher die
beſten Stuͤtzen des Konvents, und mußten es ſchon
ſeyn, um ſich nicht verdaͤchtig zu machen. Statt
der Jakobiner, kamen nun die Sektionen, wie-
der wie ehemals, zuſammen, und berathſchlag-
ten uͤber die gemeinſchaftlichen Angelegenheiten.
Es wurde auch in jedes Departement ein Re-
praͤſentant geſchickt, der ſich nach der Lage und
dem Gang der Geſchaͤfte erkundigen, und dem
Konvent Nachrichten daruͤber geben ſollte. Zu
dieſen Miſſionen waͤhlte man blos ſolche, welche
bisher im Konvent noch keinen Antheil an den
jakobiniſchen Diskuſſionen gehabt hatten.
Mit dem Jakobinismus hoͤrte auch das Ding
auf, welches man Surveillance nannte, und das
blos in den Haͤnden der Jakobiner war, ja,
blos von ihnen organiſirt und adminiſtrirt wurde.
Jeder Buͤrger muß, ſo lautet das Geſetz, wenn
er ſieht, daß ſein Mitbuͤrger etwas zum Scha-
den des Staats unternimmt, es allemal an-
zeigen. Das war ſchon recht: aber die Jakobi-
ner machten es ſtaͤrker, und ſagten: aller Orten
muß ein Ausſchuß exiſtiren, der die Handlungen
aller Buͤrger beobachtet, um jede Bewegung zum
Schaden der Republik zu verhuͤten. Das war
[49] zu viel, und gegen die Freyheit der Individuen.
Dieſe Surveillances haben ſich hier und da manches
erlaubt, was man in keinem Staate dulden kann.
Zu Dijon z. B. foderte ein deutſcher Schneider,
der aber ſchon ſehr lange daſelbſt anſaͤßig geweſen
war, einen Paß auf Neufchatel, um da Tuch und
andere Sachen einzukaufen. Er erhielt den Paß,
aber an dem Tage, als er abreiſen wollte, verbot
ihm die Surveillance, aus der Stadt zu gehen,
weil er ein Deutſcher ſey, der vielleicht mit ſeinem
Gelde entwiſchen wuͤrde. Wenn er das Geld zu-
ruͤcklaſſen wollte, ſo koͤnnte er hinziehen. Er kam
alſo damals nicht fort. — Ein Jude mit Geld,
ohngefaͤhr 200 Stuͤck Louisd'or, wurde auf der
Landſtraße angehalten, und nach Dijon zuruͤckge-
bracht. Er war vorher in Dijon geweſen, und
man haͤtte ihn da arretiren koͤnnen: aber man wollte
ihn lieber auf der Landſtraße feſthalten laſſen.
Die Gensdarmen, welche ihn anhielten, brachten
ihn nach ihrer Anweiſung auf die Surveillance und
dieſe ſchickte ihn gerade in Arreſt, und rapportirte
bey dem Diſtrikte: der Jude ſey verdaͤchtig, und
habe auswandern, und das viele Geld mitnehmen
wollen. Er ſaß uͤber drey Monate. Aehnliche
Eingriffe haben ſich die Beamten der Surveillance
ſehr oft erlaubt.
Viert. Th. [2]te Abth. D
[50]
Mit ihren eignen Mitgliedern verfuhren indeß
die Jakobiner eben ſo ſtrenge. Sie warfen ihre
verdaͤchtigen Anhaͤnger ſogleich aus ihrer Verſamm-
lung, und dann waren ſie auch verleſen: ein ein-
ziger geringer Fehltritt brachte ſie ins Gefaͤngniß
oder auf die Guillotine.
So ſehr man vorher, als die Republik noch
nicht dauerhaft gegruͤndet war, den Moderantis-
mus gehaßt und verfolgt hatte, ſo ſehr wurde er
nachher, als man von Royaliſten und Ariſtokraten
nichts mehr befuͤrchtete, geliebt und geſchaͤzt.
Man ſagte zwar nicht, daß man ein Moderantiſt
ſey, aber man befolgte doch alle Grundſaͤtze dieſes
gelindern Syſtems, und predigte am Ende oͤffent-
lich, daß nun, nachdem man durch das Schwerd
des Geſetzes und der Revolution den Royalismus
geſtuͤrzt habe, die noch irrenden Buͤrger durch
das Beiſpiel ihrer Mitbuͤrger eines Beſſern belehrt
und zur Liebe der Republik angefeuert werden
muͤßten. Robespierre und Marat und Pe-
thion und Couthon und St. Juſt waren,
als Republikaner, anfaͤnglich allerdings auf dem
rechten Weg, aber ihr Ehrgeiz machte ſie endlich
irren: ſie ſuchten zulezt ihre eigne Groͤße, und
wuͤrden dieſe vielleicht auf den Truͤmmern der Re-
publik gegruͤndet haben, wenn ſie nicht zur rech-
ten Zeit gefallen waͤren.
[51]
Indeſſen, ſo ſchuldig auch Robespierre,
und ſein Anhang ſeyn mag, ſo ſcheint mir doch
nichts weniger wahr, oder auch nur wahrſchein-
lich, als daß er ein Anhaͤnger der auswaͤrtigen
Feinde der Republik je geweſen ſey. Seine Unter-
nehmungen waren mit den Bemuͤhungen der Jako-
biner zu genau verwebt; und der Royalismus iſt
doch wohl dem Jakobinismus ganz entgegen! Kein
Jakobiner kann einen Koͤnig wollen — aber wohl
einen Diktator!
Wenn aber Robespierre wirklich eine Dik-
tatur hat ſtiften wollen, welches man doch aus
allen vorliegenden Gruͤnden, und aus allen Ver-
muthungen ſeiner Feinde, inſofern ſie ſich auf
Thatſachen beziehen, nicht hinlaͤnglich folgern
kann, ſo wuͤrde er der groͤßte Thor geweſen ſeyn,
wenn er ſich dazu die Huͤlfe fremder Maͤchte haͤtte
ſuchen wollen. Er war ja allen koaliſirten Fuͤr-
ſten verhaßt, und ſein Sturz waͤre unvermeidlich
geweſen, wenn nur Ein Wort davon herausgekom-
men waͤre: und wie haͤtte ſo ein großes Projekt
verborgen bleiben koͤnnen! Und dann muͤßten ja
die fremden Maͤchte noch kurzſichtiger geweſen ſeyn,
als ſie damals waren, da ſie in Champagne ein-
drangen, wenn ſie dem Robespierre zur fran-
zoͤſiſchen Diktatur haͤtten helfen wollen. Haͤtten
ſie vielleicht glauben ſollen, der Diktator wuͤrde
[52] dem Koͤnige LudwigXVII Plaz machen? Oder
ſollten ſie einen vortheilhaften Frieden mit einem
Manne haben ſchließen wollen, der blos durch
gluͤckliche Bemuͤhungen gegen die Feinde, die Gunſt
und das Zutrauen der Nation erwerben und erhal-
ten mußte? Gewiß, wenn man dieſes bedenkt,
ſo findet man gar keine Wahrſcheinlichkeit, daß
Robespierre ſich mit den fremden Maͤchten je
eingelaſſen habe. Die Zeit muß indeß die wahren
Umſtaͤnde der Geſchichte dieſes ſo merkwuͤrdigen
Mannes, fuͤr und wider welchen ſich ſo vieles mit
Grund ſagen laͤßt, in ein helleres Licht ſetzen: bis-
her iſt ſie noch ſehr im dunkeln.
Das Maximum oder die Taxe, uͤber welche
hinaus nichts verkauft werden durfte, war vor-
zuͤglich eine Anſtalt des Robespierre, und
ſehr druͤckend fuͤr das Landvolk. Anfaͤnglich
mogte das Maximum nothwendig ſeyn, aber nach-
dem das Papiergeld ſich auf eine ungeheure Art in
Frankreich gehaͤuft hatte, ſo war gar kein Verhaͤlt-
niß mehr zwiſchen den Waaren und dem imaginaͤ-
ren Aequivalent derſelben, oder dem Papiergelde.
Ich muß hier eine kleine Anmerkung anbrin-
gen, welche vielleicht einiges Licht uͤber dieſes
Maximum und uͤber andere verwandte Fragen ver-
breiten kann.
[53]
Man ſetze: es ſeyen ehemals in Frankreich
4000 Millionen Livres im Kurs geweſen, ob ich
gleich uͤberzeugt bin, daß nicht 3000 Millionen
in Spezies daſelbſt exiſtirt haben. Man nehme
ferner an, daß damals 50,000 Millionen Papier-
geld darin exiſtirten, welche Annahme in der That
noch zu gering iſt. Nun berechne man das Ver-
haͤltniß, und man wird finden, daß ſchon wegen
der großen Menge des Papiers, die Waaren weit
theurer ſeyn mußten, als vorher, da noch Geld
allein kurſirte. Wenn daher ehemals eine Bouteille
Wein 2 Sous koſtete, ſo mußte man damals 25
geben, nach dem Verhaͤltniß von 4 zu 50: und
nach dieſer Annahme, welche aber weder auf je-
ner noch auf dieſer Seite richtig iſt, da dort zu
viel Geld im Cours und hier zu wenig Aſſignaten
im Umlauf angegeben ſind, mußte der Louis-
d'or ſchon 300 Livres in Papier gelten.
Hieraus iſt erſichtlich, daß das Maximum auf-
geh[o]ben, oder wenigſtens gar ſehr erhoͤhet werden
mußte, wenn man nicht die groͤßte Ungerechtigkeit
begehen wollte. Die Einfuͤhrung des Papiergel-
des war eine Unternehmung aus Noth, und die
Fortſetzung deſſelben hat der zerſtoͤrende Krieg aller
Maͤchte gegen Frankreich erzwungen. Das Maxi-
mum wurde abgeſchafft, und jedem wieder erlaubt,
zu verkaufen, wie er wollte. Freilich ſtiegen nun
[54] alle Waaren betraͤchtlich, aber nun war auch alles
zu haben, wenn man nur Papier hatte: viele ver-
kauften jezt, welche vorher fuͤr den geringen Preis
nicht verkaufen mogten. Haͤtte man das Maxi-
mum erhoͤhen wollen, ſo wuͤrde dieſes, weil doch
bald wieder eine neue Erhoͤhung nothwendig ge-
worden waͤre, nur neue verdrießliche Umſtaͤnde,
und Verwirrungen bewirkt haben.
Waaren taxiren, heißt es im Geſetz, gehoͤrt
dann nur fuͤr den Staat, wenn Gefahr da iſt, daß
der Staat ohne eine ſolche Taxe Schaden leiden
wuͤrde: ſonſt hat jeder Einwohner das Recht,
das Seinige ſo hoch und ſo niedrig zu verkaufen,
als er will. Der Konvent hat alſo bey der Kaſſation
des Maximums ſich nur eines Rechts begeben,
welches er bisher wegen der mißlichen Lage des
Staats hatte uſurpiren muͤſſen.
Niemand verlohr eigentlich bey der Aufhebung
des Maximums: denn mußte man me[h]r geben,
ſo erhielt man auch mehr fuͤr das, was man zu
verkaufen hatte, und der Tagelohn der Arbeiter
mußte natuͤrlich auch erhoͤhet werden. Man hat
zwar in allen auslaͤndiſchen Zeitungen geweißagt,
daß die franzoͤſiſche Republik den lezten Herzſtoß
bekommen haͤtte durch die Abſchaffung der allge-
meinen Waaren-Taxe, aber auch dieſe Weiſſa-
gung iſt wie ſo viele andere, ohne Erfuͤllung ge-
[55] blieben. Es ſind ſeit der Zeit ſchon drey Jahre
verfloſſen, und die Republik ſteht noch in ihrer
fuͤrchterlichen Groͤße.
Indeſſen iſt nicht zu leugnen, und darf keines-
weges verſchwiegen werden, daß der Wohlſtand
in Frankreich jenen Grad noch lange nicht erreicht
hat, deſſen dieſes Reich faͤhig iſt, ob es gleich
auch wahr iſt, daß die, welche damals von Hun-
gers-ſterben radotirt haben, entweder die Sache
nicht kannten, oder nur gern von dem verhaßten
Volke nichts gutes ſagen mogten.
Der Weg zur Freyheit durch Revolutionen geht
uͤber große Stroͤme Blut und durch Thaͤler voll
Elend, ſagt Voltaire, und blos das hohe
Gluͤck, frey als Menſch zu leben, kann den Men-
ſchen gegen das Elend ſtaͤhlen, das Revolutionen
nothwendig mit ſich fuͤhren. Aber hier iſt der
Ort nicht, dieſen fruchtbaren Gedanken weiter
auszufuͤhren.
[56]
Ein und vierzigſtes Kapitel.
Verfolg meiner eigenen Geſchichte.
Die Wunde auf meiner Bruſt ging im Herbſt
1794 wieder von ſelbſt auf, nachdem ſie einige Zeit
zugenarbt geweſen war. Ich befragte daruͤber mei-
nen Bekannten, den Feldſcheer Gibaſier, und
dieſer legte mir ein Pflaſter auf, und verſicherte
mich, daß ſich etwas von dem Bruſtknochen ab-
ſondern wuͤrde. Er nannte dieſes Exfoliation:
denn die franzoͤſiſchen Aerzte haben ihre eigenthuͤm-
liche Sprache, ſo gut, wie die Deutſchen. Ich
bekam wegen dieſes mir fremden Wortes noch
Streit mit dem braven Mann: denn als er in ſei-
ner mediziniſchen Demonſtration ſich des Ausdrucks
s'exfolier bediente, merkte ich ihm an, das ſey ja
ein neues, unverſtaͤndliches Zeitwort: ſe détacher
bedeute eben das, und ſey jedem verſtaͤndlich.
Wie du es verſteht, erwi[e]derte er heftig: ſe déta-
cher — das ſagt jeder unwiſſende Junge, s'exfo-
lie[r] ſagt der Mediziner: das iſt ein Kunſtwort,
und ein Kunſtwort gilt mehr als hundert gemeine
Woͤrter, geſezt auch, es ſage nichts mehr. —
Bey dieſem Ausbruch dachte ich an einige Philoſo-
[57] phen in Deutſchland, deren ganze Kunſt meiſt nur
in Erfindung neuer Woͤrter, oder im Verdrehen der
Bedeutung der aͤltern beſteht, und fand, daß
Citoyen Gibaſier nach ſeiner Art eben ſo gut
raͤſonnirte, als mancher große Philoſoph in
Deutſchland.
Die Kur des Gibaſier hatte nicht den Er-
folg, welchen ich davon hoffte. Er wohnte ein-
mal zu weit von meiner Wohnung, als daß ich
ihn oft haͤtte beſuchen koͤnnen, und war mei-
ſtentheils, wenn ich zu ihm kam, ausgegangen:
meine Wunde blieb alſo oft 6-8 Tage ohne
Verband. Dieſer Umſtand vermehrte die Eite-
rung, und den dadurch erregten beſchwerlichen
Geruch fuͤr mich und Andere, und dieß um ſo
mehr, da es mir obendrein an allem mangelte,
um die Wunde ſelbſt zu reinigen.
In unſrer Kaſerne fand ſich indeß ein Menſch,
der von der Chirurgie etwas wiſſen wollte, und
dieſer verſprach mir, mich innerhalb einigen
Wochen voͤllig wieder herzuſtellen. Seine Kur
aber beſtand auch nur im Auflegen eines gewiſ-
ſen Pflaſters, das ebenfalls wenig oder viel-
mehr nichts wirkte. Ich ließ alſo auch dieſen
gehen, und legte weiter nichts auf, als Schir-
lingspflaſter, deſſen gute und heilſame Wirkung
mir ſchon lange bekannt war.
[58]
Der Direktor im Hoſpital Rouſſeau, wel-
cher erfahren hatte, daß ich rechnen konnte, bath
mich, ich moͤgte ſeinen Sohn darin unterrichten;
und dieſer lernte ſo gut, daß er innerhalb ſechs
Wochen alle Species der Arithmetik und die Regel
de Tri fertig inne hatte.
Sonſt waren auch Schulen in Dijon, aber
die Revolution hatte damals ſie alle zerſtoͤ[h]rt.
Dieſe Stadt hatte ein in ganz Frankreich beruͤhm-
tes Collegium, welches ein gewiſſer Godrau in
der Mitte des 16ten Jahrhunderts auf ſeine Koſten
geſtiftet, und herrlich dotirt hatte. Es war an-
faͤnglich nicht fuͤr die Jeſuiten beſtimmt worden,
aber dieſe feinen Plusmacher riſſen es hernach an
ſich, wie das beruͤhmte Collegium Claremontanum
zu Paris. Nach der Aufhebung des Jeſu[i]tenordens
bekam das Collegium ordentliche Profeſſoren,
worunter der bekannte Dulard geweſen iſt. Auſ-
ſer dieſem Collegium war auch eine anſehnliche
Akademie zu Dijon, welche ſich beſonders dadurch
ausgezeichnet hat, daß ſie das beruͤhmte Parado-
xum des J. J. Rouſſeau uͤber die Schaͤdlichkeit
aller Kuͤnſte und Wiſſenſchaften kroͤnte. Sie hat
ſich dadurch von allen gelehrten Innungen in ganz
Europa Vorwuͤrfe zugezogen, ſich aber nicht uͤbel
dagegen vertheidiget.
[59]
Als ich mich in Frankreich aufhielt, war der
Zuſtand der zuͤnftigen oͤffentlichen Gelehrſamkeit
nicht in den beſten Umſtaͤnden. Ich verſtehe hier
unter dem Zuſtand der genannten Gelehrſamkeit die
Schulen und Univerſitaͤten, welche ehemals in
dieſem Lande ziemlich zahlreich geweſen waren.
Dieſe wurden mit dem Fall der oͤffentlichen Reli-
gion vor der Hand auch abgeſchafft, und das lag
in der damaligen Ordnung der Dinge unabaͤnder-
lich. Die Univerſitaͤten und alle Schulen waren
groͤßtentheils mit Geiſtlichen als Lehrern beſezt:
dieſe hingen dem Papſt und dem Katholicismus an.
Die uͤbrigen Lehrer waren meiſt alle Anhaͤnger der
Royaliſten, lebten vorher von der Beſoldung des
Hofes, ſangen alſo deſſen Lied nach der herge-
brachten gelaͤufigen Melodie, und wurden eben
darum entweder abgeſezt, oder emigrirten von
ſelbſt. Die Schulen gingen alſo entweder von
ſelbſt ein, oder man war genoͤthiget, ſie wegen
der Widerſ[e]zlichkeit der Lehrer auf eine Zeitlang
ganz aufzuheben.
Robespierre verfuhr, in dieſer Ruͤckſicht,
nach ſeiner Art ganz konſequent. Einmal ſtanden
ihm und ſeinem Syſteme alle alten monarchiſchen
und theologiſchen Schulfuͤchſe ſchon als Schul-
fuͤchſe theoretiſch und praktiſch im Wege. Auch
er benahm ſich, nach dem nemo me major, nero-
[60] niſch, und dann dachte er ſich die Gelehrten gerade
ſo, wie ſehr wenige von ihnen nicht ſind. „Wer
ſind unſere Feinde?“ fraͤgt er in dem Katechis-
mus, welchen man nach ſeiner Hinrichtung unter
ſeinen Papieren gefunden hat, und antwortet:
„Die Reichen und die Schriftſteller.“ — Er fraͤgt
weiter: „Wie kann man die Schriftſteller zum
Schweigen bringen; wie ſie fuͤr die Sache des
Volkes ſtimmen?“ Antwort: „Sie ſind denen
ergeben, von welchen ſie bezahlt werden. Nun
iſt aber niemand im Stande, ſie zu bezahlen, als
die Reichen, dieſe natuͤrlichen Feinde der Gerech-
tigkeit und Menſchlichkeit; folglich muͤſſen die
Schriftſteller, wie die Reichen, als die gefaͤhr-
lichſten Feinde des Vaterlands durch Proſcription
aus dem Wege geraͤumt werden.“
Das war freilich Robespierriſch gedacht, aber
die Grundlage ſeines Raͤſonnements kann man in
mancher andern nachtheiligen Ruͤckſicht eben nicht
laͤugnen. Die Akademien in Frankreich hatten,
wie ſo viele anderwaͤrts, bis zur Zeit der Revolu-
tion theils blos ſpekulative, theils kriechende und
den Deſpoten und dem Deſpotismus ſchmeichelnde
Preisfragen aufgegeben. Lehrer des Fuͤrſten und
der Nation waren ſie, fuͤr die Hauptſache, nie.
Der Deſpotismus ließ es nicht zu, den Gemein-
geiſt auf Gegenſtaͤnde zu lenken, die fuͤr das Volks-
[61] und Fuͤrſten-Wohl von der groͤßten Wichtigkeit
ſind. Rettung der Menſchen- und Buͤrger-Rechte,
Enthuͤllung des Deſpotismus, Volksbildung,
Volksnahrung, Induſtrie, Erweckung des Pa-
triotismus, Erziehung der Jugend u. d. gl. wa-
ren nie ihre Aufgaben. Was Montesquieu,
D'Alembert, Voltaire, Mably, Rouſ-
ſeau und ihres Gleichen Gutes aufkeimen mach-
ten, das mußten ſie und die Biſchoͤffe wieder
zu erſticken ſuchen. Sie waren alſo nie ſelbſt-
ſtaͤndig, ſondern nur penſionirte Sklaven des
Hofes und der Kirche. Erſt nachdem dieſe in
Frankreich wankten, veredelten ſich jene, und da
erſt fragte die Akademie zu Metz: Welche ſind
die Mittel, die Vaterlandsliebe bey dem Volke
zu erwecken? — Welche die, dem Volke die
Nahrung zu verſichern, und zwar dergeſtalt, daß
man die Beſchwerden des Mangels abwende,
ohne dem Ackerbau zu ſchaden? — Dann die zu
Lyon: Welche Grundſaͤtze und welche Geſinnun-
gen muß man den Menſchen zu ihrem Wohl
einzufloͤßen ſuchen? — Nachher die zu Dijon:
Welchen Einfluß haben die Sitten der Regie-
rung auf die Sitten des Volks? u. d. gl. *)
[62]
Was die philoſophiſche und Staatswirth-
ſchaftliche Klaſſe der Akademien that, das that
nicht die theologiſche und deren Anhang in Schu-
len und Kirchen. Dieſe hingen, wie geſagt iſt,
dem politiſchen und religioͤſen Deſpotismus nach
einem ſchlendrianiſchen Mechanismus feſt und
halsſtarrig an, und waren meiſt recht ſchlechte
Menſchen, nach dem Sprichwort: je naͤher bey
der Kirche, deſto ferner von Gott. Die Oekono-
men, Phyſiokraten, Chemiker, Mediciner und
Philoſophen wurden faſt alle Jakobiner, aber Ja-
kobiner in dem Sinne, nach welchem ſie als Ret-
ter der Menſchenrechte und des Volks zuerſt auf-
traten. Die uͤbrigen waren und blieben meiſt ra-
ſende Dummkoͤpfe, Egoiſten, Vicepaͤpſte und
dergleichen, und wanderten entweder aus, oder
wurden proſcribirt, guillotinirt oder transportirt.
Ueberhaupt habe ich die Bemerkung ſchon oft
und haͤufig gemacht, daß die Gelehrſamkeit im
allgemeinen die Menſchen zwar beſſert, ihren Ver-
ſtand erhellt, und ſogar auf ihre Moralitaͤt einen
wohlthaͤtigen Einfluß hat; daß folglich wahr iſt,
was Ovidius ſagt: *)
[63]
— ingenuas did[ic]iſſe fideliter artes
Emollit mores, nec ſinit eſſe feros.
Aber ſo bald der Gelehrte die Gelehrſamkeit
handwerksmaͤßig treibt, d. i. ſobald er in eine ge-
lehrte Innung tritt, und darin ein Amt erhaͤlt,
wobey es aufs Dociren ankoͤmmt, dann verliert
er groͤßtentheils die Humanitaͤt, welche ſonſt die
Wiſſenſchaften verleihen, wird egoiſtiſch, ſtolz,
herrſuͤchtig und aufgeblaſen, und ſchadet dem Fort-
gang ſeiner Wiſſenſchaft mehr, als er ihr mit ſei-
nem Dociren nuͤzt.
Den Beweis davon findet man, leider gar zu
oft in ihren Buͤchern und noch oͤfterer in ihren Re-
cenſionen, ſo, daß man heutzutage einen Grobian
weit treffender mit einem Recenſenten, als mit
einem Bauer vergleichen kann. Den Egoismus
der Gelehrten merkt man alsdann erſt recht, wenn
irgend jemand einen Brodweg einſchlaͤgt, den ſchon
ein Anderer im Alleinbeſitz zu haben glaubt. Wie
kaufmaͤnniſch benahm ſich das Inſtitut der allge-
meinen Literatur-Zeitung in Jena, als ein aͤhnli-
ches zu Salzburg ſich nur ankuͤndigte! Eben ſo er-
niedrigend benahm ſich Hr. Becker in Gotha,
als von Leipzig aus ein litteraͤriſcher Anzeiger auf
ſeinen Reichsanzeiger folgen ſollte. Was die Her-
ren theoretiſch tadeln, das fodern ſie fuͤr ſich prak-
tiſch — Monopolien. Kurz, Gott, Religion,
[64] Moral und Gemeinwohl gelten bey manchem Ge-
lehrten nur ſo weit, als ſie ihnen zu ihren merkan-
tiliſchen Spekulationen zunaͤchſt dienen koͤnnen.
Man kann auch von ihnen ſagen:
Deme ipſis lucrum: — Superos et templa
negabunt.
Hr. Salzmann ſcheint mir daher ganz recht
zu haben, wenn er die Univerſitaͤten, oder die Ge-
lehrten-Fabriken als eigentliche Anomalien der
menſchlichen Geſellſchaft darſtellt *). Es mag
alſo eben kein großer Schaden fuͤr Frankreich ſeyn,
daß man die altfraͤnkiſchen Univerſitaͤten dort auf-
hob, um an deren Stelle angemeßnere Lehranſtal-
ten dereinſt zu errichten.
Indeſſen fehlte es ſchon zu meiner Zeit nicht durch-
aus an Leuten, welche gemeinnuͤtzige Wiſſenſchaften
oͤffentlich lehrten. So z. B. wurden zu Anfange
[65] des Jahres 1794 in Marſeille drey Lehrer der Hy-
drographie angeſtellt; zu Beſançon war eine Schu-
le der Matheſis und beſonders der Artillerie, und
der damit verbundenen Wiſſenſchaften. Die Me-
dicin und beſonders die Chirurgie werden jezt in
allen großen Staͤdten vorzuͤglich gelehrt. Bey
dem allen iſt aber doch die eigentliche Gelehrſam-
keit, das heißt, die Geſchichte, Geographie, Phi-
lologie und kuͤnſtliche Philoſophie ſehr in Verfall
gekommen: denn von der Theologie und dem ſoge-
nannten Recht kann der Neufranke ohnehin nichts
mehr brauchen.
Die Schulen waren demnach nicht nur in den
Staͤdten, ſondern auch auf den Doͤrfern eingeſtellt.
Man unterrichtete vorher in den gemeinen Schulen
ohnehin blos im Katechismus, ſelten lehrte man
die Kinder rechnen und ſchreiben: an allen andern
Unterricht war gar nicht zu denken. Man kann
mir glauben, daß der gemeine Mann in Frankreich
zehnmal unwiſſender iſt, als der in Deutſchland:
denn ſehr ſelten kann einer leſen; und orthogra-
phiſch ſchreiben — vermag kaum der kultivirte.
Ich habe Kriegskommiſſaͤre gekannt, welche im
Schreiben Schnitzer uͤber Schnitzer machten. Da-
her haͤlt man jezt die Diſtrikte dazu an, daß we-
Viert. Th. [2]te Abth. E
[66] nigſtens einige ihrer Mitglieder die Orthographie
verſtehen muͤſſen.
Um dieſem Uebel abzuhelfen, that man ſchon
zu meiner Zeit haͤufige Vorſchlaͤge zur Verbeſſerung
des Schulweſens, und zur Einrichtung eines beſ-
ſern Unterrichts. Ich kann nicht ſagen, in wie-
fern dieſe Vorſchlaͤge gefruchtet haben, und was
durch ſie Gutes bewirkt iſt: Man erfaͤhrt in
Deutſchland zu wenig davon, oder einſeitig oder
verſtellt.
Da ich in der Kaſerne bey den Deſerteurs lag,
dieſes Geſindel aber durchaus nicht verdauen konn-
te, ſo ging ich ſchon fruͤh Morgens fort, und kam
Abends ſpaͤt wieder. Oft blieb ich auch uͤber Nacht
weg, und verweilte dann theils bey den Kriegsge-
fangenen, theils bey dem Gaſtwirth Vienot,
wo immer eine muntere Geſellſchaft ſich einfand.
Mir war es uͤberhaupt leicht, Bekanntſchaften an-
zuzetteln, indem ich die Landes-Sprache ziemlich
fertig redete, und immer ſo ſprach, wie man es
gern hoͤrte. Denn da die Franzoſen jezt ſamt und
ſonders politiſche Kanngießer ſind, ſo kann man
ſich bey ihnen leicht inſinuiren, wenn man von ihren
Geſetzen, ihren Einrichtungen, von den Regenten
und Fuͤrſten und andern aͤhnlichen Gegenſtaͤnden ſo
ſpricht, wie ſie jezt denken, und dabey allerhand
Anmerkungen aus der Geſchichte einflicht. Vi[e][-]
[67]not rief mich oft in ſein Haus, wenn er Geſell-
ſchaft hatte, und das, wie er ſagte, pour égayer
la converſation. Bey dieſer Gelegenheit ſtand mir
jedesmal eine halbe Bouteille Wein zu Dienſten.
Sehr oft zogen mich die Franzoſen mit in ihre
Zeche, und dann ging ich allemal frey durch. Ich
geſtehe das gern, weil ich mich nicht ſchaͤme,
Wohlthaten von denen anzunehmen, die mich ihres
Umgangs und ihrer Freundſchaft wuͤrdigen. Mei-
ne belehrende Unterredung war indeß wohl auch
was werth.
Ich gab gleich nach meiner Zuruͤckkunft von
Mâcon taͤglich wieder 6 Stunden, und verdiente
alſo alle 5 Tage wieder 15 Livres: daneben erhielt
ich noch 2 Livres 10 Sous Traktament, hatte alſo
17 Livres 10 Sous alle fuͤnf Tage, nebſt meinem
Brode. Daß ich alſo nicht darben durfte, verſteht
ſich von ſelbſt.
Ich muß geſtehen, daß meine Herren Schola-
ren mich auf eine ſehr freundſchaftliche Art immer
behandelt haben. Ihnen verdanke ich manchen
frohen Tag, und wuͤrde noch beſſer zurecht gekom-
men ſeyn, wenn meine Augen gegen den Herbſt
1794 nicht fuͤrchterlich gelitten, und mich zu allen
litteraͤriſchen Arbeiten unfaͤhig gemacht haͤtten.
Einige Zeit naͤmlich nach meiner Befreyung
aus dem Gefaͤngniß entzuͤndeten ſich meine Augen.
[68] Warum? Das weiß ich nicht, aber Doktor An-
toine meynte, daß der Burgunder keinen gerin-
gen Antheil an dieſem Uebel haben moͤgte. Ich
ſuchte nun mir zu helfen, und machte Aufſchlaͤge
von friſchem Brod und Waſſer, welches mir ein
Weib gerathen hatte; aber das half nichts. Da
ich doch nicht unterließ, taͤglich Wein zu trinken,
und einſtmals bey einer frohen Gelegenheit des
Guten merklich zu viel that: ſo konnte ich den fol-
genden Tag beynahe gar nicht mehr ſehen. Ich
tappte alſo zu dem ehrlichen Doktor Antoine,
deſſen Geſchicklichkeit und guter Wille mir bekannt
war, und bath ihn um Rath und Huͤlfe. An-
toine erſchrack ſehr, ſchuͤttelte den Kopf, und
ſagte mir gerade heraus, daß ich um mein Geſicht
kommen koͤnnte, wenn ich mich im Trinken nicht
maͤßigte und mich nicht gehoͤrig kuriren ließe. Ich
ſollte nur gleich anfs Spital gehen. Belin gab
mir alſo einen Zettel, und ich quartierte mich zu
Marat ein, welches Hoſpital damals auch ſeinen
Namen aͤnderte und hôpital Mably genannt wurde.
Marat naͤmlich, wie man weiß, war damals
aus dem Pantheon geworfen worden, und gleich
darauf wurden alle Spitaͤler, Straßen und Plaͤtze,
welche ſonſt ſeinen Namen fuͤhrten, umgenannt. Mit
mehrern Namen z. B. Robespierre, Pelletier und
Mirabeau hatte es bald nachher dieſelbe Bewandniß.
[69]
Man legte mir Blaſenpflaſter in den Nacken,
ließ mir am Arm zur Ader, und ſezte Blutegel
hinter meine Ohren: und durch dieſe Kur kam ich in-
nerhalb acht Tagen wieder zu dem voͤlligen Gebrauch
meiner Augen. Ich haͤtte nun ſo fort, das Spi-
tal verlaſſen koͤnnen, aber ich zeigte dem Chirurgus
Vallée meine Bruſtwunde, und dieſer fand ſie
bedenklich genug, um deßhalb mit dem Oberchi-
rurgus zu ſprechen. Man ward einig, daß ſie er-
weitert werden muͤßte, ehe man ſie heilen koͤnnte,
daß man aber doch noch einiges Andere verſuchen
wollte, bevor man zum Schneiden ſchritte. In-
deſſen lebte ich im Hoſpital ganz ordentlich, wel-
ches ehemals ein von den Jeſuiten erbautes, her-
nach aber dem Prinzen Condé zugefallenes Palais
war, mit einem ungemein ſchoͤnen, weitlaͤufigen
Garten.
Zwey und vierzigſtes Kapitel.
Fortſetzung.
Die Offiziere, welche ich ſonſt unterrichtete, hat-
ten, ich weiß nicht recht, weßwegen, ihre Offizier-
Loͤhnung verlohren, und mußten, wie die Gemei-
[70] nen, mit 10 Sous taͤglich vorlieb nehmen *).
Sie erklaͤrten mir alſo, daß ſie meinen Unterricht
nicht ferner mehr alle belohnen koͤnnten, bis ſie
ihren vollen Gehalt wieder haben wuͤrden, wie ſie
zuverſichtlich hofften, und wie auch nachher wirk-
lich geſchehen iſt. Alſo war ich genoͤthiget, wenn
ich nicht von 10 Sous leben wollte, meine Subſi-
ſtenz einſtweilen auf eine andre Art zu ſuchen. Ich
zog daruͤber den Infirmier-Major Julien zu
Rathe — nicht Fraipont, denn dieſer war nach
Paſſy als Oberkrankenwaͤrter abgegangen — und
Citoyen Julien rieth mir, wieder Krankenwaͤr-
ter zu werden, welches durch den Direktor Aubert
leicht auszuwirken ſey. Ich war uͤber dieſen Vor-
ſchlag ſehr froh, und da ich ſchon vorher Kranken-
waͤrter geweſen war, und die Vortheile dieſes Po-
ſtens aus Erfahrung kannte, ſo erſuchte ich den
Major, ſofort mit Aubert reden zu wollen.
Aubert, dem ich laͤngſt bekannt war, verſprach,
mich anzubringen, nur ginge es nicht gleich, weil
[71] keine Stelle offen waͤre; doch — ſezte er hinzu —
wuͤrden bald mehrere Kranke ankommen, und als-
dann koͤnnte ich den Augenblick eintreten: ich moͤg-
te indeſſen immer im Hoſpital mich aufhalten.
Dadurch war ich alſo geborgen, zumal, da ich die
Erlaubniß hatte, in die Stadt — das Spital lag
eine gute Strecke vor dem Thore — zu gehen, ſo
oft ich wollte. Bisher beſorgte ich Manches in der
Apotheke, und erhielt dafuͤr manch huͤbſchen Trunk
Wein von der vortrefflichſten Sorte.
Einer von meinen Scholaren, Herr von Bran-
denſtein, ſaͤchſiſcher Lieutnant, wurde um dieſe
Zeit krank, und bezog das Hoſpital. Seine Krank-
heit war aber unbetraͤchtlich, und ſo konnten wir
immer miteinander gehen, und uns die Zeit ver-
kuͤrzen, welche wir uͤbrig hatten. Dieſes leiſtete
mir auch die Lektuͤre, und ich verſichere, daß ich
waͤhrend meines ganzen Aufenthalts in den fran-
zoͤſiſchen Spitaͤlern wenigſtens 40 Baͤnde durchge-
leſen habe, und nicht obenhin.
Die Kranken, welche von den Armeen kommen
ſollten, und auf deren Ankunft mich Julien ver-
troͤſtet hatte, kamen nicht, und man beſchloß im
Oktober, das ganze Hoſpital Marat oder Mably
aufzuheben, und es mit dem Spital Jean Jaques
zu vereinigen. Dieß geſchah, und wir begaben
[72] uns ins ehemalige Kapuzinerkloſter. Wer nicht
gehen konnte, den fuhr man.
Hier lag ich noch ohngefaͤhr 4 Wochen, bis in
den halben November. Da aber kein Platz fuͤr mich,
als Krankenwaͤrter, aufging, ſo entſchloß ich
mich, Mittel zu ſuchen, wie ich ohne Gefahr aus
Frankreich kommen koͤnnte: denn einmal war ich
i[mm]er in einer gefaͤhrlichen Lage, und es konnte
leicht ſich noch etwas entdecken, das mir hoͤchſt
ſchaͤdlich haͤtte werden koͤnnen. Man weiß ja das
Sprichwort, daß der Verraͤther nicht ſchlaͤft. Ich
ſchrieb alſo nach Halle an den rechtſchaffnen Herrn
Bispink, und was ſeine Antwort enthalten und
bewirkt hat, ſoll weiter unten erzaͤhlt werden.
Ich verließ endlich mit Herrn Leutnant von
Brandenſtein das Hoſpital, und legte mich
wieder in die Kaſerne, aber, lieber Gott, wie ſah
es da aus, als ich jezt hinkam! Das Stuͤbchen,
worauf ich ehedem Quartier gehabt hatte, war
ganz zerſtoͤhrt: die Thuͤren des ganzen weitlaͤu-
figen Kloſters waren faſt alle verbrannt, ſo, wie
die Fenſter und Dielen, die man nur hatte auf-
reißen koͤnnen. Blos jene Zimmer waren ver-
ſch[o]nt geblieben, worin die Deſerteurs lagen,
deren noch ohngefaͤhr 60 von mehr als 800 in
Dijon haußten: die uͤbrigen hatte man, wie ich
[73] ſchon erzaͤhlt habe, an andre Oerter hingebracht,
und manche waren heimlich entwichen.
Fuͤr Republiken — ich merke das fuͤr Leſer,
welche eben keine Kenner der Geſchichte ſind —
iſt es uͤberhaupt nie rathſam, viele Auslaͤnder im
Dienſte zu haben. Den Grund davon enthaͤlt die
Geſchichte der Roͤmer, welche gerade durch die
Menge der Barbaren, die ihnen dienten, der Go-
then, Heruler, Alanen, Alemannier und anderen
zu Grunde gingen. Haͤtten blos Roͤmer den roͤmi-
ſchen Staat vertheidiget, ſo waͤre er wahrſchein-
lich weit laͤnger beſtanden. Selbſt unſer Her-
man oder Arminius diente den Roͤmern, ward
Buͤrger, Ritter und endlich Offizier: und Her-
man ward doch an ihnen — zum Verraͤther.
Was die Auslaͤnder bey den Roͤmern thaten,
thaten ihrer viele auch bey den Franzoſen in der
Vendee und anderwaͤrts. Sie trieben ſogar Raub
und Mord. So z. B. ging ein Deſerteur von den
Kaiſerlichen, Namens Maar, ein Schweizer,
mit einem franzoͤſiſchen Volontaͤr nach Auxonne
von Dijon aus. Da Maar franzoͤſiſch konnte,
ſo machte er mit dem gutmuͤthigen Volontaͤr bald
Bekanntſchaft, und dieſer ſagte ihm, daß er nach
Strasburg gehen wuͤrde, daß er noch einige hun-*)
[74] dert Livres an baarem Gelde haͤtte u. dgl. Maar
ſchlug dem Unbefangnen vor, in einem Dorfe ein-
zuſprechen, und hielt ihn bey Wein auf bis gegen
die Nacht. Es war finſter, als ſie gingen, und
eine Stunde von Auxonne im Walde, ermordete
Maar ſeinen Gefaͤhrten, nahm deſſen Geld, Paß
und Uniform, und ging nun, als Volontaͤr, bis
Befort, wo man ihn aber in Verdacht zog und an-
hielt. Er iſt bald hernach, im Sommer 1794, zu
Auxonne erſchoſſen worden. — Verbrechen dieſer
Art waren bey den fremden Ausreißern in Frank-
reich ſehr gemein, und ich koͤnnte deren mehrere an-
fuͤhren, wenn ich nicht befuͤrchten muͤßte, meine
Leſer zu ermuͤden. *)
Selbſt in den Spitaͤlern fuͤhrten ſich dieſe Bur-
ſche auf, wie die Beſtien. Sie ſchlugen ſich,
beſoffen ſich, machten Laͤrmen, wie trunkene
Bauern, ſo daß man immer einige nach der Wache
ſchleppen mußte. Ce ſont des mâtins incorrigibles,
[75] ſagten die Chirurgen; ce ſont des ſcélérats, des pen-
darts, ſagte der Direktor und der Kriegskommiſſaͤr.
Das aͤußere Anſehen der meiſten dieſer [Bu]ben
war eben ſo abſcheulich: ſie glichen in allen Stuͤ-
cken den verworfenſten Bettlern. Beyher regierte
Kraͤtze und veneriſche Krankheit bey den Meiſten.
Kurz: man kann ſich nichts abſcheulicheres denken,
als dieſen Auswurf der Menſchheit.
Die Franzoſen wurden gegen dieſe Unholde end-
lich ſo aufgebracht, daß Deſerteur und Taugenichts
beynahe Synonyme wurden. Anfaͤnglich genoſſen
die Deſerteurs ihre voͤllige Freyheit, und brauchten
in den Diſtrikten keinen Paß; aber als ſie anfingen,
in den Doͤrfern und auf dem Felde zu pluͤndern
und zu ſtehlen: da erſt erhielten die Kommendan-
ten Befehl, nur ſolchen einen Paß zu geben, die
ehrlich zu ſeyn ſchienen. Ich, ohne Ruhm zu mel-
den, habe immer einen Paß gehabt.
Man bemuͤhte ſich, den Ausreißern Arbeit und
Gelegenheit zu Verdienſt zu verſchaffen, aber die
meiſten mogten nicht arbeiten, und ließen ſich lie-
ber von den laͤſtigen Hemd-Inſekten anfreſſen. In
Mâcon arbeiteten zu meiner Zeit mehr als 300 an
dem Abtragen des Walls, womit dieſe Stadt, wie
ehemals Leipzig, umgeben war. Der Mann er-
hielt taͤglich 20 Sous, zweymal Suppe, ein Pf.
Fleiſch und eine Bouteille Wein, außer ſeiner Loͤh-
[76] nung, und ſeinem Brode. Mit einem Worte: die
Leute wuͤrden es recht gut gehabt haben, wenn ſie
nur gut ſich haͤtten nehmen wollen: aber ein Schuft
bleibt gewoͤhnlich ein Schuft, und beſſert ſich ſel-
ten.
Der Dijoner Kommendant Belin war daher
immer froh, wenn er hoͤrte, daß Deſerteurs fort
waͤren. So bin ich denn abermals, pflegte er als-
dann zu ſagen, einige dieſer ſacrés mâtins los! Zu
Baſel hat man mir nachher geklagt, daß ſehr viele
in die Schweiz geſchlichen waͤren, und da die Wege
unſicher machten. Einige von ihnen ſind auch in
der Schweiz gehenkt worden.
Die Franzoſen hielten die Deſerteurs vorzuͤglich
deswegen zuruͤck, damit ſie den Verbuͤndeten nicht
wieder dienen moͤgten. Sie zeigten alſo, daß ſie
ſchlechte Geographen ſind, oder die Sache nicht
genug uͤberlegt hatten, als ſie 1794 den Polen,
Schweizern, Daͤnen, Schweden, und andern aus
neutralen Laͤndern erlaubten, nach beygebrachtem
Taufſchein, in ihr Vaterland zuruͤck zu kehren.
Denn wie ſollte es einem Polen, Daͤnen, Schwe-
den, Ruſſen und andern moͤglich ſeyn, in ſein
Land zuruͤck zu kommtn, ohne unterwegs ange-
halten und zu Dienſten gezwungen zu werden? Ich
weiß, daß die oͤſtreichiſchen und preußiſchen Wer-
ber jeden brauchbaren Deſerteur ſich nicht entwiſchen
[77] laſſen, was auch einige dagegen ſagen moͤgen.
Ueberdieß, wie ſollten die Deſerteurs beweiſen, daß
ſie Polaken, Daͤnen u. ſ. w. ſeyen? Nach Hauſe
ſchreiben und Taufſcheine kommen laſſen, konnten
nur die Schweizer, Venetianer und Flo[r]entiner:
die ſehr weit entfernten mußten das laſſen. Einige
wenige erhielten Taufſcheine, aber die andern?
Nun, die fanden ſchon Rath, wenigſtens die kluͤ-
gern. Unter den Deſerteurs fand ſich ein gewiſſer
Prips, welcher ehedem Latein gelernt hatte, und
einen Taufſchein zu fabriciren wußte. Dieſer fing
an, ganz in der Stille fuͤr einige vertraute Freunde
Taufſcheine aufzuſetzen. Anfaͤnglich ging das
Ding: die Leute auf dem Departement waren eben
nicht ſehr ſkrupuloͤs, und wenn einer ein Papier
von der Art brachte, ſo gab man ihm einen Lauf-
paß nach Baſel: denn dahin mußten ſie alle. End-
lich machte Prips ſich ſelbſt einen Paß, und
entkam.
Nach ihm trat ein Andrer auf, Namens Mann,
gebuͤrtig aus Luͤbeck, und ehedem Dragoner bey
den Preußen, ein erzſchlechter Kerl und großer
Spizbube. Er verſtand auch etwas, aber blut-
wenig Latein, konnte ſchreiben, und ſchrieb denn
auch Taufſcheine. Aber kaum kamen ſie den Her-
ren auf dem Departement zu Geſichte, als ſie dem
Kommendanten Belin befahlen, die Ueberbrin-
[78] ger zu arretiren, und nach der Conciergerie zu brin-
gen. Die Formel der Taufſcheine von Mann
war folgende:
Cum Deo!
Anno Domini 1756 die quintus Majus baptiſa-
tus eſt in eccleſia Sancti Ulrici Johannes filius An-
dreas Maus et Dorothea ſua femina. Compater fue-
runt Johannes Vogt et Magdalena Cramp, ſua mu-
lier. Atteſtor, Warſchau, d. 25. October 1789.
Auguſtinus,
Canonicus et Paſtor.
Solches Geſchmier mußte den Beamten auf der
Municipalitaͤt die Augen bald oͤffnen. Sie unter-
ſuchten mehrere Taufſcheine, und ſiehe da, dieſe
trugen die Zeichen der Falſchheit ſichtbar an ſich.
Sie waren oft auf Papier geſchrieben, in welches
die Worte; liberté égalité eingepraͤgt oder einge-
ſtempelt waren. Mann mußte auf zwey Monate
ins Gefaͤngniß.
Eines Tages ließ mich der Kommendant Be-
lin zu ſich kommen. Hoͤre, ſagte er, Gibaſier
hat mir geſagt, daß du latein verſtehſt: du biſt
alſo im Stande, auch Taufſcheine zu machen. Ich
bitte dich aber, das nicht zu thun: das Departe-
ment hat beſchloſſen, jeden Verfaͤlſcher von der
Art auf ein ganzes Jahr einzuſtecken. Ich dankte
dem guten Belin fuͤr ſeinen Wink, und verſicherte
[79] ihn, daß es mir noch nicht eingefallen ſey, auf
ſolche Weiſe die Republik zu betruͤgen.
Doch hinderte das alles nicht, daß nicht aͤchte
Taufſcheine ſogleich einen Paß verſchafft haͤtten;
und ein Deſerteur, der ſo einen bringen konnte,
wurde auf Koſten der Republik bis auf die Schwei-
zeriſche Graͤnze verſorgt, das heißt, er bekam taͤg-
lich 2 Pfund Brod, 10 Sous und Nachtquartier.
Auf den Etapes war naͤmlich, ſeit dem Sommer
1794, einiges geaͤndert worden. Man gab kein
Fleiſch mehr, wegen des Mangels deſſelben, und
wegen der großen Menge Fleiſch, welche die Etapes
wegnahmen. Auch mußte der Wein von da an auf
dem Etape die Bouteille mit 6 Sous bezahlt wer-
den. Auch die reiſenden Volontaͤrs bekamen nichts
weiter. Ich ſprach einmal mit einem Volontaͤr
daruͤber, der mir ganz kalt erwiederte: da die Re-
publik das Fleiſch fuͤr unſere ſtreitende Bruͤder in
den Armeen braucht, ſo waͤre es Unrecht, wenn man
es auf den Etapen verſchleudern wollte. — Ein
deutſcher Soldat murrt gleich, wenn ihm etwas
entzogen wird, und nur der Stock kann ihm das
Maul ſtopfen: der Franzoſe hingegen weiß, war-
um man ihm dieſes und jenes entzieht, und billi-
gend ſchweigt er. Ich muß uͤber dieſen Gegenſtand
noch drey Worte fallen laſſen.
[80]
Ein Offizier hatte von Orleans zwey und
zwanzig Kanoniers mitgebracht, worunter ſich ei-
nige Korporaͤle befanden. Dieſe Leute ſollten bey
der Moſel-Armee als Kanoniers angeſtellt werden.
Unterwegs wurde dem Offizier gemeldet, daß man
Kanoniere genug habe: wenn alſo ſeine Mann-
ſchaft nicht als gemeine Volontaͤrs dienen wollten,
ſo moͤgten ſie nach Orleans zuruͤckgehen. Aber die
braven Leute, Korporaͤle und Kanoniere, verſicher-
ten einhellig, daß ſie der Republik dienen wuͤrden,
in welchem Karakter es auch ſeyn moͤgte: und wur-
den ſaͤmtlich gemeine Kanoniere. Mehrere Offi-
ziere, welche man reduciren wollte, nahmen lie-
ber die Flinte, als daß ſie dem Dienſte des Staates
entſagt haͤtten.
Aber welcher preußiſche Faͤhndrich wuͤrde in aͤhn-
lichem Falle die Muskete nehmen, geſezt auch, er
koͤnnte das Wohl des ganzen Landes dadurch ret-
ten! — Beyſpiele von dem großen Patriotismus
der franzoͤſiſchen Militaͤrperſonen finden ſich aller
Orten, und eins der vornehmſten iſt, daß beynahe
keiner weglaͤuft, und zum Feinde uͤbergeht, ob ſie
gleich nicht bewacht werden, wie die Preußen, Oeſt-
reicher, Heſſen und andere.
Es iſt wahr: die Strafe der Deſerteurs in
Frankreich iſt ſtrenge, denn ſie verwirken ihr Leben;
aber dieſe Strenge iſt keineswegs Urſache von der
[81] Seltenheit des Ausreißens. Die Leute wiſſen,
warum ſie ſtreiten; ſie lieben den Zweck, weswe-
gen ſie Soldaten ſind, und koͤnnen daher unmoͤg-
lich eine Parthey verlaſſen, wovon ſie wirklich ei-
nen Theil ausmachen. Wiſſen hingegen di[e] uͤbri-
gen Achtgroſchen- und Sechskreuzer-Helden, wes-
wegen ſie im Felde ſtehen? Sie wiſſen hoͤchſtens,
daß es der Herr ſo will. Da ſie aber dabey fuͤh-
len, daß auch ſie wollen koͤnnen, und ſie in dieſer
Ruͤckſicht Herr von ihrem Herrn ſind: ſo ſagen ſie
ihrem Herrn gute Nacht, ſobald ſich Gelegenheit
dazu anbiethet.
Aber nicht nur bey den franzoͤſiſchen Volontaͤrs
herrſcht der uneigennuͤtzige Patriotismus: man fin-
det ihn auch bey den nicht militaͤriſchen Buͤrgern.
Bey uns, glaube ich, wuͤrde der Herr Auſkulta-
tor X und der Herr Referendar Y oder der Herr
Schreiber Z, troz ihrer großen Unwiſſenheit, Feld-
kriegskommiſſar, Regierungsrath, Kriminalrath
und gar Praͤſident werden wollen, wenn der Koͤnig
nur ſo wollte, wie ſie wollen: ja, man ſieht alle
Tage bey uns, wie die aͤrgſten Dummkoͤpfe nach den
hoͤchſten Aemtern im Staate ringen, und oft
Schandwege dazu einſchlagen. — In Frankreich
ſieht das anders aus! Viele zu Aemtern gewaͤhlte
Perſonen haben andere vorgeſchlagen, weil ſie die-
Viert. Th. 2te Abth. F
[82] ſelben fuͤr ihr Amt faͤhiger hielten, als ſich. Je-
derman hat den Buͤrger Bernard im Sommer
1794 zu Dijon geſehen: er war Repraͤſentant und
nach Côted'or in Miſſion geſchickt. Ohngefaͤyr 6
Wochen nach ſeiner Ankunft ſchrieb er an den Kon-
vent: man moͤgte den Buͤrger Calés an ſeine
Stelle ſchicken: dieſer ſey ein gebohrner Burgun-
der, und verſtehe die Lage der Dinge beſſer als er,
wie er aus den Briefen ſaͤhe, welche Calés an
ihn geſchrieben habe. Das geſchah, und der
Bulletin erwaͤhnte davon mit aller Ehre fuͤr Ber-
nard. — Der Herr Profeſſor der Philoſophie
N. N. iſt der Univerſitaͤt gerade ſo viel nuͤtze, als
das fuͤnfte Rad dem Wagen: aber laßt ſelbſt Kant
kommen, er wird ihm nicht Platz machen, ob er
gleich vollauf zu leben hat, und lachende Erben
macht durch ſeinen Geitz. Der Egoismus iſt die
Peſt der Geſellſchaft, der Tugend und der Wiſſen-
ſchaften! —
[83]
Drey und vierzigſtes Kapitel.
Von der Freyheit und Gleichheit der Franzoſen.
Da ich abermals auf den Patriotismus in Frank-
reich gefallen bin, ſo denke ich, daß man es zu
gute halten wird, wenn ich meine Gedanken, oder
vielmehr die Vorſtellungen aller vernuͤnftigen
Franzoſen von Freyheit und Gleichheit hier
koncentrirt mittheile. Ich habe mich uͤber dieſen
uͤberaus wichtigen Gegenſtand mit einſichtigen
Franzoſen ſehr oft unterhalten, und glaube, ihr
Syſtem daruͤber ſo ziemlich gefaßt zu haben. Eben
darum iſt es mir ſehr ſonderbar vorgekommen, als
ich hernach, bey meiner Zuruͤckkunft nach Deutſch-
land, das elende Geſudel ſo manches politiſchen
Kanngießers uͤber Freyheit und beſonders uͤber
Gleichheit der Franzoſen zu Geſichte bekam.
Es giebt durchaus keine natuͤrliche Freyheit:
denn der Menſch iſt im Stande der Natur ein Bar-
bar, ein Ding, das mehr dem Viehe, als einem
vernuͤnftigen Weſen aͤhnlich ſieht; und ſeine Spon-
taneitaͤt verdient den Namen Freyheit gar nicht.
[84] Eine ſolche eingebildete natuͤrliche Freyheit waͤre
auch nicht einmal ein Gut: denn ſie waͤre ohne
Sicherheit, und koͤnnte jeden Augenblick geraubt
werden. Der natuͤrliche Menſch beſitzt naͤmlich
niemals Kraft genug, ſeine Freyheit zu behaupten.
Und geſezt, er beſaͤße ſie, wie z. B. Robinſon
Cruſoe auf der wuͤſten Inſel, ſo waͤre dieſe Frey-
heit doch kein Gut, weil ihr das Vermoͤgen fehlt,
ihre moraliſchen Kraͤfte anzuwenden.
Freyheit exiſtirt alſo blos in der Geſellſchaft.
Wenn die Geſellſchaft ſo eingerichtet iſt, daß ſie,
qua talis, als Geſellſchaft beſtehen kann, ſo ſagt
man: ſie ſey kultivirt. Dieſer Begriff iſt der
einzig moͤgliche, aͤcht philoſophiſche Begriff von
Kultur: denn wer dieſe in etwas anderm, z. B. in
der Ausbildung der Wiſſenſchaften, in der Verbeſ-
ſerung und Veredlung der Sitten u. d. gl. ſezt,
hat zwar recht: aber er fehlt darin, daß er nur
Theile der ganzen Kultur anſieht: denn dieſe Sa-
chen ſind ja zur Behauptung der geſellſchaftlichen
Exiſtenz nothwendig. Daher iſt es ſchlechterdings
unmoͤglich, daß ein Menſch als kultivirt außer der
Geſellſchaft angeſehen werden koͤnne.
Die Geſellſchaft exiſtirt durch Contract, das
heißt, die Glieder verbinden ſich untereinander,
gewiſſe Handlungen zu unterlaſſen und gewiſſe an-
dere zu thun: daher die Geſetze der Geſellſchaft.
[85] Folglich hat nicht nur die ganze Geſellſchaft, ſon-
dern auch jedes einzelne Mitglied derſelben die
Macht, zu fodern, daß die Geſetze aufs aller-
ſtrengſte befolgt werden.
Aber kein Mitglied, auch kein Theil der Ge-
ſellſchaft kann Geſetze machen, oder abſchaffen:
und kein Geſetz gilt laͤnger, als die ganze Geſell-
ſchaft damit zufrieden iſt. Dieſes Recht der Ge-
ſellſchaft, Geſetze zu machen, iſt unveraͤußerlich,
und kann nimmermehr verjaͤhren *): es giebt keine
Gewalt, die es rauben koͤnnte, und jedes Volk
behaͤlt immer das Recht, es ſich wieder zuzueignen,
oder zu revindiciren, wenn es ja verlohren und in
die Haͤnde einzelner Perſonen gefallen iſt. Kriege,
Ueberwindungen, Ceſſionen und andre Titel koͤn-
nen niemals einem Volke das Recht rauben, ſich
nach eignen Geſetzen einzurichten und zu regieren.
Eine willkuͤrliche Gewalt iſt alſo in einem
kultivirten Staate ein Unding; und eine Nation,
die eine ſolche Gewalt leidet, iſt entweder kein fuͤr
ſich beſtehender Staat, oder ſie kennt ihre Rechte
nicht, und hat noch lange den Grad von Kultur
nicht erreicht, welchen jede menſchliche Geſell-
ſchaft erreichen kann und erreichen ſoll.
[86]
Der Regent oder die Regenten haben ihre Ge-
walt und ihr Anſehen weder von Gott, noch durch
die Geburt noch durch das Naturgeſetz, ſondern
einzig und allein von der Nation, welche ſie ab-
ſetzen kann, ſobald es ihr gefaͤllt. Kein abgeſez-
ter und in die Reihe ſimpler Buͤrger zuruͤckgeſchobe-
ner Regent kann uͤber Unrecht klagen: denn das
Volk hat, wie ſchon geſagt iſt, das Recht, Aen-
derungen in der Regierung zu machen, ſobald es
will. Es war daher ein widerſprechendes Geſetz
der Aſſemblée nationale, daß der Koͤnig inviolable,
unverletzbar ſeyn ſollte.
Hieraus ergiebt ſich von ſelbſt, daß der Regent
oder die Regenten jedesmal muͤſſen gewaͤhlt wer-
den, wenn ja welche ſeyn ſollen. Erbliche Re-
gierungen ſind, nach dem Syſtem der Franzoſen,
an und fuͤr ſich Undinge und ein hoher Grad des
Deſpotismus. Der Vater, der Onkel kann ein
großer Mann, ein Vater ſeines Volkes ſeyn: und
der Sohn, der Neffe iſt vielleicht ein Dummkopf,
ein Taugenichts, ein Wolluͤſtling, Geiſterſeher
und ſchwaͤchlicher Tyrann. Die Erbfolge der Re-
genten gehoͤrt zum orientaliſchen Deſpotismus und
zum Lehnsſyſtem, welches mit der geſunden Ver-
nunft und mit den gemeinen Menſchenrechten ganz
und gar nicht beſtehen kann.
[87]
Der Regent oder die Regenten z. B. ein Koͤ-
nig — dem Titel nach, nicht nach der Idee, die
man gewoͤhnlich davon macht — ein Convent u.
ſ. w. ſind folglich gar nichts anders, als Admi-
niſtratoren der Geſetze zum Beſten der Na-
tion, nicht aber zu ihrem eignen Vortheil allein.
Die Geſetze beſchraͤnken die Willkuͤhr aller Mit-
glieder, und das oft auf eine ſehr unangenehme Art.
So z. B. zwingt das Geſetz manchen, der lieber
zu Hauſe geblieben waͤre, mit in den Krieg zu zie-
hen. So einer wuͤrde gewiß nicht gehen, wenn
er nicht gezwungen wuͤrde, und ein wohlgebildeter
Staat muß daher jedes Geſetz, auch gegen Wider-
ſpenſtige, mit Gewalt in Uebung bringen koͤnnen.
Es iſt daher unmoͤglich, daß Freyheit ſo viel
heiße, als das Vermoͤgen, willkuͤhrlich zu handeln,
oder zu thun, was einem einfaͤllt. Eine ſolche
Freyheit wuͤrde das Band der Geſellſchaft aufloͤſen,
und ein bellum omnium contra omnes nach ſich
ziehen. Ja, Freyheit kann nicht einmal ſo erklaͤrt
oder beſchrieben werden, daß ſie das Vermoͤgen
ſey, jedesmal zu wollen und zu wirken, was man
nach ſeiner eignen Vernunft fuͤr gut und ſchick-
lich haͤlt. Denn hier iſt nicht die Frage, was ein-
zelne Mitglieder der Geſellſchaft, ſondern was
dieſe in ſenſu collectivo, oder zuſammengenommen
fuͤr gut erkennt.
[88]
Die Geſetze, welche freye Menſchen verbin-
den ſollen, muͤſſen vernuͤnftig d. i. der Wuͤr-
de des Menſchen, und dem Wohl des Staats ſo
angemeſſen ſeyn, daß alle einzelne Mitglieder ver-
edelt und ſo viel nur immer moͤglich iſt,
verſorgt und begluͤckt werden. Es iſt hier der Ort
nicht, anzugeben, wie man ſolche Geſetze finden
muͤſſe: das gehoͤrt in eine Abhandlung uͤber die
Legislation, den ſchwerſten und intereſſanteſten
Punkt der ganzen Philoſophie. Ich begnuͤge mich,
nur zu ſagen, daß die Grundlage jedes Geſetzes,
die Wuͤrde des Menſchen und das allgemeine Wohl
des Staats ſeyn muß.
Freyheit heißt, nach ſolchen Geſetzen handeln
zu koͤnnen, und NB.handeln zu muͤſſen,
welche jeder vernuͤnftige Buͤrger eines wohleinge-
richteten Staates als vernuͤnftig, d. i. mit der
Wuͤrde ſeiner Natur und dem allgemeinen Beſten
ſeines Staates im Zuſammenhang erkennen
kann. Ich ſage, erkennen kann: denn es
giebt Dummkoͤpfe, Egoiſten, Pfaffen, Edelleute und
andere, welche niemals erkennen wollen, was gut iſt:
mit dieſen kann man nicht anders zurechte kommen,
als daß man ſie zur Befolgung der Geſetze zwinge.
Wenn ich die Geſchichte der Philoſophie recht
inne haͤtte, ſo daͤchte ich, dieſen Begriff der Frey-
heit mit dem Stoiſchen Grundſatz: „daß jeder
[89] Weiſe ein freyer Mann ſey“ gar ſchoͤn reimen zu
koͤnnen *). Aber ſtoiſch oder nicht ſtoiſch: der Be-
griff iſt richtig, und der einzige, welcher von
Freyheit, in ſofern ſie in der Geſellſchaft ſich zei-
gen kann, ſtatt findet.
Aus dieſem Begriff folgern nun die Franzoſen:
- 1) Daß in einem monarchiſchen Staate keine
Freyheit ſtatt finde. Denn hier iſt der Geſetz-
geber uͤber die Geſetze erhaben, welche er nach
ſeinem Vortheil, und nicht nach dem Beduͤrfniß
des Staates ſelbſt giebt, modificirt und aufhebt. - 2) Daß die Religion, und uͤberhaupt alle Beſchaͤf-
tigungen des menſchlichen Geiſtes ganz und
gar kein Gegenſtand der Geſetze ſind: denn der
Verſtand kann nach aͤußern Geſetzen nicht mo-
dificirt werden, wie die Verfaſſer der ſoge-
nannten Religions-Edikte doch wollen. - 3) Daß alle Verwalter der Geſetze wirkliche Be-
dienten des Staats ſind; daß ſie folglich nur
uneigentlich Regenten koͤnnen genannt werden:
denn die eigentlichen Regenten ſind die Geſetze. - 4) Daß es ganz und gar keine Diſpenſation vom
Geſetze, keine Einſchraͤnkung oder Ausdehnung
deſſelben, keine Schaͤrfung der Strafe, keine
Begnadigung, keine Gunſt, keine Nebenab-
ſichten u. d. gl. geben kann.
[90]
Aus dieſem lezten Stuͤck folgern ſie ganz na-
tuͤrlich den Begriff von der Gleichheit (égalité),
welche mit der Freyheit nothwendig verbunden iſt.
Ich erſtaune, was und wie man uͤber dieſe Gleich-
heit, in Deutſchland und anderwaͤrts gefaſelt hat!
Ich mag es nicht wiederholen: man findet den
deutſchen Unſinn davon in gar vielen Schriften *)!
Mir iſt es genug, den aͤchten Begriff der Franzo-
ſen von der Gleichheit hier aufzuſtellen.
[91]
Sie beſteht darin, daß die Geſetze in Abſicht
auf jeden Buͤrger, auf gleiche Weiſe, ohne
alle Ausnahme angewendet werden muͤſſen. Jeder
Buͤrger hat ſeine Rechte, aber kein anderer hat
mehr oder weniger; er hat eben dieſelben auch:
folglich kann jeder
- 1) Alles thun, was irgend ein anderer thun
darf. Jeder kann - 2) Zu allen Wuͤrden, Aemtern und Belohnun-
gen des Staats gelangen, wozu ſeine Ver-
dienſte ihn faͤhig machen.
Weiter darf die Gleichheit nicht ausgedehnt
werden. Der Narr in Frankreich bleibt ein Narr,
und der Schurke ein Schurke; das ſchoͤne Maͤdchen
iſt liebenswuͤrdig, und die zuſammengeſchrumpfte
alte Jungfer macht Eckel in Frankreich, wie in
Deutſchland. Es giebt keine perſoͤnliche, keine
habituelle Gleichheit, aber wohl eine legale.
Aus dieſen Grundſaͤtzen folgen nun nothwendig fol-
gende Punkte:
- 1) Es kann kein Adel exiſtiren: denn der Adel
iſt ein angeerbtes Recht zu gewiſſen Vorzuͤgen,
welches mit dem Begriff der Gleichheit nicht be-
ſtehen kann. - 2) Es kann keine Privilegien geben zum Nach-
theil Anderer: es giebt daher keine Monopolien,
keine Innungen, Zuͤnfte u. dgl. wodurch die Aus-
[92] uͤbung nuͤtzlicher Gewerbe u. ſ. w. auf einzelne
Perſonen eingeſchraͤnkt wird. - 3) Alle partikulaͤre Geſellſchaften, Orden, reli-
gioͤſe Sekten, welche oͤffentliche Geſellſchaften oder
ſogenannte Kirchen (eccleſias) ausmachen, koͤnnen
nicht geſtattet werden, ob man gleich gern zugiebt,
daß einer ein Freymaurer, Illuminat, Jude, Ka-
tholik, Proteſtant, Socinianer, Freygeiſt, Ana-
baptiſt, Deiſt, Atheiſt u. ſ. w. ſey. - 4) Jedes Mitglied des Staats muß ſeine
Kraͤfte zum Beſten des Staates anwenden, d. i.
er muß im Stande ſeyn, von der Arbeit ſeiner
Haͤnde zu leben. Es iſt daher in Frankreich nicht
erlaubt, die Haͤnde in den Schoos zu legen, und
ſeine Intereſſen zu verzehren. Jedes Kind, auch
das reichſte, muß ei[n] Handwerk oder Gewerbe
lernen, damit, wenn ſein Reichthum auf dieſe oder
jene Art verloren geht, es ſich ſelbſt naͤhren koͤnne,
und dem Staate nicht zur Laſt falle. Auf ein gu-
tes Beyſpiel hat man bey dieſem Geſetze ebenfalls
Ruͤckſicht genommen, und der Geſchicklichkeit den
Vorzug vor dem Reichthume angewieſen. - 5) Indeſſen findet dieſe Gleichheit Ausnahmen
in Ruͤckſicht auf ſolche Maͤnner, welche ſich um
den Staat ganz beſonders verdient gemacht haben.
Dieſe koͤnnen, obgleich mit vorſichtiger Einſchraͤn-
kung, allerdings auszeichnende Merkmale des
[93] oͤffentlichen Wohlwollens und der oͤffentlichen
Dankbarkeit genießen. Aber das leidige Beyſpiel
des Robespierre hat gemacht, daß man hier-
in gewiß ſehr behutſam zu Werke gehen wird.
Das nun iſt die Subſtanz von dem, was man
[in] Frankreich Freyheit und Gleichheit nennt.
Ich koͤnnte noch ſehr vieles uͤber dieſen Gegenſtand
anbringen, aber das Weitere verſpare ich auf die
verſprochene Ausbeute; und da ſoll man die
Entwickelung des ganzen franzoͤſiſchen Syſtems,
mit den eignen Worten der groͤßten Maͤnner dieſer
Republik vorgetragen, antreffen. Das hier Ge-
ſagte mag indeſſen hinreichen, jenen von meinen
Leſern, die etwan noch keine oder doch unvollſtaͤn-
dige Begriffe von den Hauptgrundſaͤtzen der fran-
zoͤſiſchen Conſtitution gefaßt haben, beſſere beyzu-
bringen.
Vier und vierzigſtes Kapitel.
Schreckens-Syſtem oder Terrorismus.
Aus dem vorigen Kapitel ſieht man, daß die Be-
griffe von Freyheit und Gleichheit die Grundpfeiler
des franzoͤſiſchen Regierungsſyſtems ausmachen;
und ſchon oben habe ich hinlaͤnglich gewieſen, daß
[94] die Volksſocietaͤten, und vorzuͤglich die Jakobiner,
die groͤßten und ſtaͤrkſten Stuͤtzen dieſes Syſtems
geweſen ſind. Man hatte nun einen Probierſtein,
nach welchem man den wahren Buͤrger von dem
Royaliſten, von dem Ariſtokraten und von dem
Freund der Pfaffen richtig unterſcheiden konnte —
die Freyheit und die Gleichheit.
Gleich nach dem Verfall der koͤniglichen Gewalt
(im Sept. 1792) fing man an, genau auf alle Bewe-
gungen Acht zu geben, welche die Wiederherſtel-
lung der Ungleichheit zum Endzweck haben koͤnnte.
Daher die Surveillance. Konnte nun ein Buͤrger
oder eine Buͤrgerin beſchuldiget werden, daß ſie
freyheitswidrige Grundſaͤtze hegten, ſo wurden ſie
fuͤr verdaͤchtig gehalten, angeklagt und beſtraft.
Anfaͤnglich wurde man nur dann verdaͤchtig,
wenn man geradezu royaliſtiſche oder ariſtokratiſche
Geſinnungen aͤußerte, oder ſolche Handlungen be-
ging, woraus man ſie ohne Muͤhe folgern konnte:
aber bald dehnte man dieſen Verdacht auf alle
Uebertretungen der neuen Geſetze aus, und ſiehe
da, der zehnte Theil der Nation ward verdaͤchtig.
Daß ſehr viel unſchuldige Menſchen zur Ungebuͤhr
aus Privathaß, aus Neid und aus andern unrei-
nen Urſachen fuͤr verdaͤchtig gehalten wurden, iſt
außer allem Zweifel. Aber leider, die Nothwen-
digkeit machte den ſchrecklichen Grundſatz zur Richt-
[95] ſchnur der Adminiſtration: „daß es beſſer ſey, zehn
Unſchuldige zu verdammen, als einen Schuldigen
ungeſtraft zu laſſen.“ Ein abſcheulicher Grund-
ſatz, den nichts rechtfertigen kann, und den blos
die Nothwendigkeit entſchuldiget. Moͤgten aber
die Emigranten bedenken, vorzuͤglich die Haͤupter
unter ihnen, nebſt ihrem aktiven Anhang unter
ihren Adlichen und Prieſtern — doch dieſe Men-
ſchen koͤnnen nichts bedenken: alſo moͤgten doch
meine Landsleute, die Deutſchen, uͤberlegen und
ſich uͤberzeugen, daß die Emigranten und ihr da-
mals noch ſtarker Anhang in Frankreich allein
Schuld geweſen ſind, daß ſo viele Menſchen viel-
leicht unſchuldiger Weiſe auf der Guillotine ſtar-
ben, oder in den Gefaͤngniſſen verſchmachtet ſind,
um endlich einmal dieſes unwuͤrdige Geſindel nach
Verdienſt zu wuͤrdigen! In meinen Augen iſt ein
Straßenraͤuber noch mehr zu achten, als ein Emi-
grant von der genannten Klaſſe.
Ich komme wieder auf den fuͤrchterlichen Grund-
ſatz zuruͤck, welcher nur ſo lange gelten ſollte, als
das Vaterland in Gefahr waͤre. Das Wort: la
patrie eſt en danger, fuhr wie ein elektriſcher Schlag
durchs ganze Land, und erfuͤllte alles mit Schre-
cken und Furcht. So aber hieß es ſeit dem 10ten
Auguſt 1792, und vorzuͤglich nach der Rebellion
von Toulon und Lyon, und den Fortſchritten
[96] der Vendeer gegen die Patrioten. Alle Kraͤfte
wurden angeſtrengt, nicht nur den Deutſchen, den
Spaniern, Englaͤndern u. ſ. w. zu widerſtehen,
ſondern vorzuͤglich den ſo fuͤrchterlich ausgebroche-
nen buͤrgerlichen Krieg in der Vendee zu endigen,
welcher der Konſtitution den Untergang drohte. Es
gelang, und ſo hatten die Jakobiner geſiegt.
Im Herbſte 1793 erging auf Betrieb des Ro-
bespierre, und ſeiner Parthey, das fuͤrchter-
liche Decret, daß alle revolutionnaͤre Verbrechen
mit dem Tode ſollten beſtraft, und alle verdaͤchtige
Perſonen mit Arreſt bey Brod und Waſſer ſollten
belegt werden. Ein einziges Wort, ein: „ich
wuͤnſchte, es waͤre Friede! oder: „wenn doch das
Elend nicht gekommen waͤre! und dergleichen war
ſchon ein revolutionnaͤres Verbrechen. Ich habe
mehrere Urtheile geleſen, worin kein anderes Ver-
brechen genannt wurde, als daß der oder jener ge-
ſagt hatte: „waͤr' ich doch tauſend Meilen von
hier! lebte doch LudwigXVI. noch!“ — Die
beynahe in allen Staͤdten Frankreichs errichteten
Revolutions-Tribunale ließen Blut fließen wie
Waſſer, und man erſchrickt uͤber die Graͤuel, welche
im Herbſte und im Winter 1793-94 vorgefallen
ſind.
Das Abſcheulichſte bey der Sache war, daß
auf der Ausſage zweyer Buͤrger allemal ſchon ein
[97] Todesurtheil beruhen konnte. Wenn mich ihrer
zwey vom Brode helfen wollten, ſo durften ſie
mich nur angeben, und ſiehe, Morgen floß mein
Blut auf der Guillotine. Eine Brannteweinbren-
nerin zu Dijon am Thor Marat — vor Alters
Petersthor — hat durch ihre Denunciationen mehr
als zehn Perſonen zum Tode und ins Gefaͤngniß
gebracht. Man hat Beyſpiele, daß ſogar Bruͤder
einander angegeben, und daß Eheleute einander
revolutionnaͤrer Verbrechen beſchuldiget haben. Das
iſt freylich abſcheulich: allein man ſehe Kochs
inſtitutiones juris criminalis, und man wird im Ka-
pitel de crimine laeſae majeſtatis finden, daß der-
gleichen widerrechtliche Anwendungen der Geſetze
auch in Deutſchland in gewiſſen Faͤllen legal ſeyn
ſollen. Was man bey uns beleidigte Maje-
ſtaͤt nennt, nannte man in Frankreich belei-
digte Nation.
Um dieſe Zeit hoͤrte aller freundſchaftliche Um-
gang im ganzen Reiche auf, und der ſonſt ſo ge-
ſchwaͤtzige Franzoſe mußte damals ſeine Worte ab-
waͤgen, und auf ſeiner Hut ſeyn. Es war ſicherer
zu ſtehlen, oder zu morden, als gegen die Konſti-
tution, oder vielmehr wider den Jakobinismus zu
reden. Kein Menſch beſuchte mehr den andern in
ſeinem Hauſe, keiner wagte einen freundlichen
Viert. Th. 2te Abth. G
[98] Spaziergang mit jemanden, aus Furcht, in Ver-
dacht zu gerathen: denn wie leicht war es, daß
der, mit welchem ich umging, verdaͤchtig ward,
und dann zog ſein Sturz mein Verderben nach
ſich. Um alſo allen Verdacht von ſich abzuwen-
den, kam man nur in den Wirthshaͤuſern zuſam-
men, und ließ ſeine Stimme ſo laut, als es nur
moͤglich war, zum Lobe des Konvents, der neuen
Geſetze, und beſonders der Jakobiner erſchallen.
Es gab hier wirklich viele Heuchler, oder Leute,
welche im Grunde nicht jakobiniſch dachten, und
doch das Verfahren der Tribunale aufs ſchaͤrfſte
vertheidigten. Einige derſelben waren Royaliſten,
andre hingegen liebten zwar die Konſtitution, aber
die Mittel, ſie aufrecht zu erhalten, gefielen ihnen
nicht. Sie fanden und ſahen ein, daß wenn ſie
ihre wahre Meynung offenbaren wuͤrden, ſie ver-
lohren waͤren; alſo ſprachen oder ſchrieen ſie viel-
mehr ganz gegen ihre Geſinnung. — Hierin mach-
ten ſie es, wie die meiſten unſrer Theologen!
Die Nationalkokarde war anfaͤnglich ein hin-
laͤngliches aͤußeres Kennzeichen eines guten Repu-
blikaners: aber nachher war man damit nicht mehr
zufrieden. Jeder, wer's nur zahlen konnte, trug
eine Muͤtze à la république, d. h. eine von blauem
Tuch, mit rothem Rand und weißer Kante, woran
auch noch die Kokarde befeſtiget war. Vorne an
[99] den meiſten Muͤtzen las man die Worte: mort aux
rois, oder mort aux tyrans! So eine Muͤtze war
ein Hauptkennzeichen des Civismus. Sogar an
den verſchnittenen und ungepuderten Haaren wollte
man den beſſern Patrioten kennen koͤnnen; und
kurze Hoſen ſah man faſt gar nicht mehr: ſie ſchie-
nen ariſtokratiſch zu ſeyn. Wer nicht gerade eine
Nationaluniform hatte, zog eine kurze Jacke (ma-
telote) an, und damit holla!
Unter den unſinnigen Jakobinern gab es einige,
die des Abends unter den Fenſtern herumſchlichen
und horchten, ob irgend jemand laut betete, wie
es ſonſt bey einigen Katholiken Mode iſt. Hoͤrten
ſie laut beten, ſo gaben ſie die Leute an, daß ſie
heimlich Gottesdienſt hielten, und durch Gebete
den Koͤnig und die alte Verfaſſung wollten herſtellen.
Man hat dieſe Anklagen oft gehoͤrt; und die Beter
wurden verdaͤchtig, und kamen ins Gefaͤngniß.
Der Roſenkranz war vollends ein deutliches Zei-
chen des Ariſtokratismus. Wer noch ſo dumm
ſeyn konnte, den zu beten, ſo einen hielt man
auch fuͤr dumm genug, das Koͤnigthum der Repu-
blik vorzuziehen, und behandelte ihn als ver-
daͤchtig.
Selbſt die franzoͤſiſche Sprache hat waͤhrend
des Schreckenſyſtems gewaltige Veraͤnderungen er-
litten. Viele Woͤrter, welche ſonſt etwas ehr-
[100] wuͤrdiges bedeuteten, bekamen damals eine ſchimpf-
liche entehrende Bedeutung. Z. B. Prince, der
Bettler, Duc, Ducheſſe, Gaudieb, Monſieur,
Laus, Madame, Hure u. ſ. w. Außerdem wur-
den die unanſtaͤndigſten Redensarten, — Blas-
phemieen nach der Kirchenſprache — und eine
unzaͤhlige Menge neuer Woͤrter in alle Geſpraͤche,
ſogar in die oͤffentlichen Reden eingemiſcht. Man
leſe nur das Journal de Perlet von 1793 und 94,
in den Artikeln: Seſſions des Jacobins. Wer nur
den Mund aufthat, ließ Floskeln dieſer Art hoͤren:
ſacré con de garce, ſacré con de la vierge, ſacré vit
de Saint Chriſtophle, ſacré mâtin, ſacré chien de
Prince de Condé, foutue merde de royauté, merde
de la vierge, ſacré brigand de la vendée, ſacri-
ſtie, \&c. \&c. — Zur Ehre der Nation muß ich
aber ſagen, daß dieſe niedrige und poͤbelhafte
Verbraͤmung der Sprache nach dem Verfall des
Jokobinismus ziemlich nachgelaſſen hat.
Sonſt hat man von den Franzoſen geſagt, daß
ſie im gemeinen Umgang hoͤflich und artig ſeyen.
Aber unter dem Terrorismus war die aͤußerſte
Grobheit, und Haͤrte der Sitten das Zeichen eines
Patrioten. Niemand zog mehr den Hut ab, nie-
mand buͤckte ſich mehr, und jederman wurde ge-
duzt, er mogte ſeyn, wer er wollte. So ſchief
wendete man den Grundſatz der Gleichheit an.
[101]
Mir war uͤbrigens das Ding nicht zuwider:
denn wer mich kennt, der weiß, daß ich die ſoge-
nannte feine Lebensart nimmer gelernt habe, und
daß ich jeden Augenblick gegen die Regeln der Eti-
kette verſtoße. Eben deswegen bin ich auch alle-
mal wie auf der Folter, wenn ich in einer Geſell-
ſchaft ſeyn muß, wo Herren und Damen von Eti-
kette ſind. Doch, ich darf mich nicht zur Regel
machen, und wuͤnſchte ſelbſt, daß ich in dieſem
Stuͤcke anders waͤre; aber was iſt zu thun! natu-
ram expellas furca! — Genug, zur Ehre unſrer
Komplimentmacher, Damen, Herren, Mosjehs,
Mamſellen etc. muß und will ich gern bekennen,
daß die Franzoſen, blos aus uͤbel verſtandenem
und in den Terrorismus verſchobnen Freyheitsſy-
ſtem ihre Komplimente, und Artigkeiten geaͤndert
haben. Der Oberkrankenwaͤrter Fraipon ſprach
einmal mit mir uͤber dieſen Punkt, und geſtand:
daß die Franzoſen weit mehr Muͤhe gehabt haͤtten,
ihre ungenirte Artigkeiten und ihr verbindliches
Geſchwaͤtz abzulegen, als ihre Religion. Es hat,
ſagte er, gewaltig Muͤhe gekoſtet, unſre Leute zu
gewoͤhnen, ſo mit einander umzugehen, wie die
Bauren und die Hirten in der Schweiz: lieber haͤt-
ten unſre Muskadins den lieben Gott gelaͤſtert,
als ein Frauenzimmer ohne Schmeicheley vorbey-
gelaſſen. Aber es mußte einmal ſeyn! Wer
[102] will wohl eines Kompliments wegen verdaͤchtig
werden!
Bey der Abſchaffung des Adels und aller erb-
lichen perſoͤnlichen Rechte, ſtand es jedem
frey, ſich als einen gemeinen Buͤrger aufzufuͤh-
ren. Man fand aber bald, daß die, welche vor-
her adelich geweſen waren, doch nicht gut republi-
kaniſch geſinnet waͤren, und ſo erklaͤrte man in den
Jakobinerklubs die ehemaligen Edelleute (les cy-
devant nobles, les cy-devant ſeigneurs) fuͤr ver-
daͤchtig, und ermahnte alle Buͤrger, genau auf das
Betragen derſelben Acht zu haben. Wenn man
aber dem Volkshaufen zu viel Willen laͤßt, ſo
kann man deſſen Ausſchweifungen hernach nicht
mehr baͤndigen. Das gemeine Volk, und beſon-
ders das auf den Doͤrfern, haßte ohnehin alles,
was adelich geweſen war, wegen der Bedruͤckun-
gen, die es ehedem von den Herren hatte leiden
muͤſſen, und ſuchte ſich nun um ſo mehr zu raͤchen.
Die Ex-Adlichen wurden daher meiſt alle ange-
klagt, und, wenigſtens als verdaͤchtig, in den
Gefaͤngniſſen aufbewahrt.
Einer von ihnen, nicht weit von Autun *),
hatte den Adel abgelegt, und lebte als gemeiner
[103] Buͤrger, oder Landmann. Ein Dorfjunge foderte
deſſen Tochter zur Ehe. Vater und Tochter woll-
ten nicht, und der Buͤffel bekam den Korb. Darob
fuhr das ganze Dorf in Harniſch, verklagte den
Edelmann als einen Ariſtokraten, und er mußte
mit ſeiner Tochter nach Autun wandern, wo er
laͤnger als ſechs Monate im Gefaͤngniß geſeſſen
iſt. Ein andrer Edelmann bey Beſançon, deſſen
Urtheil ich ſelbſt geleſen habe, weigerte ſich, das
Papiergeld nach dem Maximum anzunehmen.
Das hatten freylich mehrere gethan, aber es ging
ihnen ſo hin; nur der Edelmann wurde als Ariſto-
krat und Royaliſt angeklagt, und mir nichts dir
nichts, hingerichtet.
Wie man die Ex-Edelleute behandelte, ſo behan-
delte man auch die Ex-Prieſter. Um nicht geneckt
zu werden, mußten dieſe ein Gewerbe treiben,
welches mit ihrer ehemaligen Beſchaͤftigung in gar
keiner Verbindung ſtand, und durften gar nichts
an ſich blicken oder merken laſſen, woraus man
noch irgend einige Neigung zu ihrer alten Profeſ-
ſion haͤtte ſchließen koͤnnen. Wie mancher Prieſter
hat im Gefaͤngniß geſchmachtet, welcher der Na-
tion Treue geſchworen hatte!
Die Gefaͤngniſſe, in welche zur Zeit des Ter-
rorismus die Ungluͤcklichen, als verdaͤchtig geſteckt
wurden, waren wirklich mehr Todtengruften, als
[104] Behaͤltniſſe, worin man Menſchen verwahren
koͤnnte. Gemeiniglich waren dieſe Loͤcher die
ſcheuslichſten Hoͤlen und Cachot's, die man in den
ſonſtigen Gefaͤngniſſen der alten Regierung finden
konnte, und waren mit Gefangnen ganz voll ge-
pfropft. Es entſtanden daher die abſcheulichſten
Krankheiten darin, und immer fand man Leichen.
Ich glaube, nicht zu viel zu ſagen, wenn ich be-
haupte, daß 200,000 Menſchen in den Gefaͤng-
niſſen aus Mangel an friſcher Luft und Wartung
geſtorben ſind. Von dem Ungeziefer und der elen-
den Nahrung will ich nichts erwaͤhnen. Erſt im
Fruͤhling 1794 fing man an, fuͤr beßre Verpfle-
gung, und geſundere Nahrung der Gefangenen
zu ſorgen. Fuͤr Dijon hat der Repraͤſentant
Bernard in dieſem Stuͤck ſich viel Verdienſt ge-
ſammelt.
Es iſt hier der Ort nicht, Unterſuchungen an-
zuſtellen, ob das Schreckensſyſtem damals noth-
wendig geweſen ſey? Wenn man aber alles das,
was ich bisher uͤber die franzoͤſiſche Revolution und
beſonders uͤber die Verraͤtherey und die Gegenan-
ſtalten der ariſtokratiſchen Parthey in und außer
Frankreich geſagt habe, ohne Nebenurtheile und
kaltbluͤtig uͤberlegt: ſo glaube ich, daß man von
ſelbſt auf den Schluß kommen muͤſſe, daß ohne
die Anwendung ſehr violenter Mittel, damals im
[105] Jahr 1793 und 94, das neue Syſtem zu Grunde
haͤtte gehen muͤſſen. Die abſcheulichen Exceſſe,
welche dabey vorgefallen ſind, muͤſſen als noth-
wendige Folgen der angewandten Mittel, den
Royalismus und deſſen Anhang zu ſtuͤrzen, be-
trachtet werden; und wenn man ſie auch keines-
weges entſchuldigen kann, ſo wuͤrde man doch
auch ungerecht ſeyn, wenn man alle Graͤuel auf
die Rechnung der neuen Einrichtung ſchreiben woll-
te. In jedem Kriege fallen unmenſchliche Auf-
tritte vor; aber die muͤſſen nicht geradehin dem
kriegfuͤhrenden Koͤnige oder deſſen Generalen Schuld
gegeben werden. Es iſt einmal — wie wir oben
gehoͤrt haben — in der Natur aller Revolutionen:
— der Weg zur Freyheit geht uͤber Haufen von
Leichen und durch Stroͤme von Blut.
Fuͤnf und vierzigſtes Kapitel.
Veränderung und Sturz des Terrorismus.
Man ſagt gar recht im Sprichwort: zu ſpitz
ſticht nicht, und zu ſcharf ſchneidet nicht. Die
Wahrheit dieſes Spruches hat ſich auch am neu-
fraͤnkiſchen Schreckensſyſtem offenbaret. Anfangs
[106] erſchrack jederman, und in der Angſt oder vielmehr
in der Ueberzeugung, daß der Terrorismus noth-
wendig war, ließ man ſich alles gefallen, ja,
man lobte noch obendrein die Ausbruͤche des Jako-
binismus, und die Departementer ſchickten ſogar
Adreſſen an den Konvent, worin ſie fuͤr die oft
unſinnige Strenge der Tribunale danken ließen.
Man muß indeſſen nicht denken, daß alle Glieder
des Konvents damals wirklich Jakobiner und folg-
lich Freunde und Vertheidiger der veruͤbten Graͤuel
geweſen ſeyen: aber im Jahr 1793 bis in die Erndte
von 1794 ſah man ein, daß Gelindigkeit nichts
fruchte, und ſo dominirte Robespierre und ſein
Anhang den Konvent, und durch dieſen ganz
Frankreich.
Dabey aber waren die meiſten Franzoſen an
ſich ganz und gar nicht Jakobiner oder Terroriſten:
denn als Robespierre fiel, und man fuͤr die
Republik nichts mehr beſorgte, ſtuͤrzte das Schre-
ckensſyſtem ohne alle weitere Unruhen zuſammen,
ſo wie ehemals das Koͤnigthum geſtuͤrzt war: die
Partheyen ſtritten ſich freilich noch, aber die
Nation blieb ruhig.
Robespierre hat ſchon um Weyhnachten 1793
eingeſehen, daß der Terrorismus zu weit ginge. Er
ließ daher die Revolutionstribunale vermindern,
und da ſonſt beynahe in jedem Departement eine
[107] ſolche Moͤrdergrube exiſtirte, wurden ſie jezt bis
auf einige wenige eingeſchraͤnkt. Die vornehmſten
derſelben waren, wie man weiß, zu Paris, Bor-
deaux, Nantes, Lyon und Toulon. Jedes De-
partement behielt zwar ſein Criminalgericht,
aber dieſes miſchte ſich nicht in revolutionnaͤre
Haͤndel. Wer wegen dieſer verklagt wurde, muß-
te an einen Ort gebracht werden, wo ein Revolu-
tions-Gericht ſich noch befand. Damit aber in
den Departementern Unterſuchungen uͤber Dinge
dieſer Art angeſtellt werden koͤnnten, wurden hier
und da z. B. zu Mâcon, gewiſſe — wie man auch
weiß — Inquiſitions révolutionnaires eingefuͤhrt,
doch habe ich blos bemerkt, daß dergleichen Inqui-
ſitions nur in den noch verdaͤchtigen Gegenden er-
richtet wurden. Man traute dem ganzen mittaͤg-
lichen Frankreich wenig, und dieß nicht ohne
Grund. Hier wirkte der Kaufmanns- und Prie-
ſtergeiſt am ſtaͤrkſten, und Pitt war hier am
regſten.
Die Criminalgerichte in Frankreich ge-
hen in ihren Proceduren weit ſanfter zu Werke,
als die in Deutſchland, und wer von einem in
Frankreich jezt verdammt wird, hat ſein Urtheil
ganz gewiß verdient. Wenn das Revolutionstri-
bunal das Leben eines Menſchen gerade ſo hoch zu
achten ſchien, als mancher Fuͤrſt das Leben ſeiner
[108] Soldaten, ſo wußte das Criminalgericht die Frey-
heit, das Eigenthum und das Leben der Buͤrger
weit beſſer zu ſchaͤtzen. Die Gefaͤngniſſe dieſer
Gerichte waren, ſelbſt in der Zeit des Terroris-
mus, gut eingerichtet, die Verpflegung der Ge-
fangenen angemeſſen, und die Unterſuchung behut-
ſam und regelmaͤßig. Hier ließ man die Zeugen
nicht ohne Unterſchied zu; und ohne den deutlich-
ſten Beweis des Verbrechens konnte niemand be-
ſtraft werden. Die Verhoͤre dieſes Gerichts ſind
wie die aller andern in Frankreich, jezt oͤffentlich,
und es ſteht einem jeden frey, ſich zum Anwalde
und Vertheidiger des Beklagten aufzuwerfen. Es
iſt ſelbſt durch ein Geſetz befohlen, daß bey der Er-
oͤrterung einer Criminalfrage auf das ehemalige
Betragen des Beklagten Ruͤckſicht genommen wer-
de; daß ein gutes Vorurtheil ihm zu Statten kom-
me; daß aber ein unguͤnſtiges in der Sache nichts
zu ſeinem Schaden aͤndere. Mir hat dieſe Anſtalt
ſehr gefallen. Das Revolutionsgericht befolgte
eine ganz entgegengeſezte Art zu verfahren, ſo —
via facti.
Die Folter, oder die peinliche Frage, war
ſchon vor der Revolution abgeſchafft, und durch
neuere Geſetze iſt es ſchlechterdings verboten, je-
manden durch irgend ein hartes, gewaltſames
Mittel, z. B. durch ſchweres Gefaͤngniß, durch
[109] Drohungen, u. d. gl. zum Geſtaͤndniß eines Ver-
brechens zu bewegen. Allein auf dieſe Weiſe wuͤr-
de ein boshafter Verbrecher in Frankreich nie koͤn-
nen geſtraft werden, wenn man, wie noch in den
meiſten Provinzen Deutſchlands, das eigne Ge-
ſtaͤndniß des Verbrechers fuͤr ein nothwendiges Er-
forderniß zur Guͤltigkeit eines rechtlichen Aus-
ſpruchs halten wollte. Daher iſt jezt in Frankreich
feſtgeſezt, daß wenn das Verbrechen hinlaͤnglich
bewieſen iſt, man ſofort zum Spruche ſchreiten
koͤnne, ohne das eigne Geſtaͤndniß durch gewalt-
ſame Mittel herauszubringen.
Im Preußiſchen hat man den Gebrauch der
Folter ſchon lange unterlaſſen, aber um das Ge-
ſtaͤndniß einer Uebelthat herauszuholen, hat man
ſich oft ſolcher Mittel bedient, welche von der Fol-
ter wenig verſchieden ſind. Ich will hier zwey
Faͤlle von der Art anfuͤhren, welche zwar nicht an
ihrem rechten Orte ſind, aber doch beweiſen, wie
behutſam man bey Unterſuchung der kriminalen
Wahrheit verfahren muͤſſe. Ich habe beyde Faͤlle
in Halle ſelbſt erlebt.
Einige Bauern hatten an ihrem Wagen einen
Kober gebunden, welcher von zwey Soldaten ab-
geſchnitten und geſtohlen wurde. In dieſem Kober
befanden ſich 20 Thaler an Gelde. Die Soldaten
waren zwar geſehen, aber nicht erkannt worden.
[110] Als man die Sache naͤher unterſuchte, ſagte ein
gewiſſer Soldat aus, und beſtaͤtigte ſeine Ausſage
durch einen Eid, daß ein anderer Soldat, Ruſt,
der Thaͤter ſey, und daß er ſelbſt es geſehen habe.
Ruſt wurde vorgefodert, und als er nichts geſtehen
wollte, durch einige Unteroffiziere mit Weiden-
Stoͤcken ſo lange geſchlagen, bis er hinſtuͤrzte.
Der Offizier, welcher dem Verhoͤre vorſtund, mel-
dete dem damaligen General, dem Prinzen
Adolph von Bernburg, den Vorgang, al-
lein dieſer befahl, mit dem Pruͤgeln fortzufahren,
geſezt auch, man ſchluͤge die Kanaille todt. Nun
gings von neuem ans Schlagen, ſo daß Ruſt
uͤber 300 Stockſchlaͤge bekommen hat. Endlich
geſtand er alles, was man geſtanden haben wollte,
war aber immer nicht im Stande, das corpus de-
licti herbeyzuſchaffen. Indeſſen kam durch einen
Zufall heraus, daß zwey andere Soldaten den
Diebſtahl begangen hatten, und daß Ruſt unſchul-
dig war. Dieſe wurden beſtraft, und der Auditeur
ſchaͤmte ſich: aber Ruſt erhielt keinen Erſatz fuͤr
die Schlaͤge, welche ihn bald nachher zu allen
Dienſten unfaͤhig machten. Der Angeber, wel-
cher von jederman angeſpieen wurde, ward Unter-
offizier, um ihn gegen die Rachſucht ſeiner Kame-
raden zu ſichern. Er war wegen ſeines Meineides
der ſchwerſten Strafe wuͤrdig, und doch hat man
[111] ihn hernach noch gar als Offizier bey einem Depot
angeſtellt, und dadurch die Gerechtigkeit, bis zum
allgemeinen Murren, ſelbſt geprangert.
Das andere Beyſpiel iſt dieſes. Ein gewiſſer
Leutnant vermißte ſeine Uhr, und eine gewiſſe
Kohlbachern gab ein unſchuldiges Dienſtmaͤd-
chen, als die Diebin an. Dieſes Maͤdchen wurde
entſetzlich zerpruͤgelt, und endlich gar aufs Zucht-
haus gebracht. Nach einiger Zeit fand der Leut-
nant ſeine Uhr in der Taſche von alten Hoſen,
worein er ſie ſelbſt geſteckt hatte. Das Maͤdchen
bekam keinen Erſatz. — Und das geſchah im
Preußiſchen.
Aber ich muß wieder einlenken! Das Schre-
ckensſyſtem hat freilich damals, als es in ſeiner
vollen Kraft herrſchte, bewirkt, daß Mancher den
Republikaner und Patrioten heuchelte, und daß
man durch deſſen Anwendung den ehrlichen, recht-
ſchaffnen Buͤrger von dem Ariſtokraten nicht recht
unterſcheiden konnte: allein nachdem es durch den
Tod des Robespierre, und den Einſturz des
Jakobinismus mit eingefallen war, da ſah man
recht deutlich ein, daß diejenigen, welche waͤhrend
des Terrorismus der Republik treu geblieben wa-
ren, es auch nachher noch blieben, und daß ſich
diejenigen wider Erwarten ſehr betrogen hatten,
welche den Sturz des Freyſtaats und den Sturz
[112] des Robespierre fuͤr eins hielten. Den aus-
laͤndiſchen großen Herren war es nicht zu ver-
denken, wenn ſie ſo raͤſonnirten, wenn auch nur
zum Scheine: aber die politiſchen Schriftſteller
bey uns und in England, haͤtten aus der Ge-
ſchichte wiſſen koͤnnen und ſollen, daß Verfolgung
eines Syſtems die Anhaͤnger deſſelben allemal
kenntlich macht, und daß, wenn ſchon einer und
anderer ſich aus Furcht, aus Intereſſe oder aus
Politik waͤhrend der Verfolgung verſteckt, doch
die meiſten Freunde eines verfolgten Syſtems
aufbrauſen, und ſich verrathen. War nun ſogar
waͤhrend des Terrorismus, nach Lyons und
Toulon's Eroberung — die Veudee ausgenom-
men — alles ruhig geblieben, ſo konnte man
ohne Furcht, dem Staat ſeine Hauptſtuͤtze zu rau-
ben, das fuͤrchterliche Syſtem der Jakobiner auf-
heben und der wuͤthenden Guillotine Ruhe ge-
bieten.
Ich bin weit entfernt, den Robespierre
fuͤr einen ſolchen Buben zu halten, als er ge-
woͤhnlich beſchrieben wird; allein ich kann auch
jenen Demokraten nicht beyſtimmen, welche ge-
radehin behaupten, daß alle Graͤuel, welche in
Frankreich bey den Revolutionstribunalen vorge-
fallen ſind, zur Erhaltung der Republik durch-
aus nothwendig geweſen ſeyen. — Eſt modus in
[113] rebus! Freylich war Schaͤrfe, große, durchgrei-
fende Schaͤrfe, nothwendig, aber wahrlich, ſo
viel Blut mußte doch nicht fließen, als gefloſſen
iſt, um das Land von meuteriſchen Ariſtokraten zu
ſaͤubern.
Die Nachwelt wird ſich mit Schaudern an den
Antoine Quintin Fouquier Tinville er-
innern, welcher unter Robespierre in den Jahren
1793 und 94 oͤffentlicher Anklaͤger zu Paris am
Revolutionstribunal geweſen iſt. Wenn dieſer
Boͤſewicht, ſagte einſt der Kommendant Belin
im Weinhauſe ganz oͤffentlich, nicht geweſen waͤre,
ſo lebten wenigſtens noch tauſend brave Franzoſen
mehr. Belin hatte recht: denn dieſer Blutmenſch
beſorgte nicht nur alle Revolutionsproceſſe in Paris,
ſondern hatte auch noch den ſtaͤrkſten Einfluß auf
die Tribunale in den Departementern: und oͤfters
hat er die Tribunale der Departementer verklagt,
und ihnen Hinterliſt, Ariſtokratismus u. ſ. w. ſchuld
gegeben, wenn ſie ihm minder ſtreng — ſo nach
ſeiner Art — zu ſeyn ſchienen. Selten wurde je-
mand zu Paris losgeſprochen: wer einmal wegen
eines Revolutionsverbrechens angeklagt war, ging
gewoͤhnlich zu Grunde: das war ſo die Regel.
Eine ſcheusliche Anſtalt war noch obendrein,
daß der oͤffentliche Anklaͤger die Aufſicht uͤber die
Viert. Th. 2te Abth. H
[114] Gefaͤngniſſe hatte, worin die Schlachtopfer der de-
mokratiſchen Wuth gehalten wurden. Das war
nun ſo das rechte Element fuͤr den geizigen, blut-
durſtigen Fouquier Tinville. Ich habe im Anfange
des Jahres 1795 die gedruckte Anklage wider die-
ſen Unmenſchen geleſen, und die Haare ſind mir
zu Berge geſtanden bey den Graͤueln, die er an
den Gefangnen veruͤbt hat. — Er ſtarb endlich auf
der Guillotine, wohin er ſo viele Menſchen, und
unter dieſen ſo viele Unſchuldige gebracht hatte.
Schande ſey mit ſeinem Andenken von nun an bis
in alle Ewigkeit!
Sechs und vierzigſtes Kapitel.
Verfolg meiner Geſchichte.
Ich hielt es bey den Deſerteurs in der Kaſerne
nicht lange aus: denn Viennot, der Juͤngere,
Schenkwirth, bey welchem ich oft einſprach, ließ
mich nebſt noch einem Schumacher, der auch ein
preußiſche Ueberlaͤufer war, in einer Kammer un-
ter dem Dache liegen, und Belin, der Commen-
dant rieth mir, fuͤr den Kriegskommiſſaͤr zu ſchrei-
ben, weil ich meine Stunden bey den gefangenen
[115] deutſchen Offizieren noch nicht fortſetzen konnte.
Der Kriegskommiſſaͤr war zwar mit meiner Ortho-
graphie zufrieden, aber meine Handſchrift gefiel
ihm nicht; er konnte mich alſo nur zum Abſchrei-
ben, und dann und wann zum Koncipiren brau-
chen: was aber leſerlich rein geſchrieben ſeyn mußte,
war immer das Werk des G[r]effier's.
Zu eben der Zeit lernte ich einen Mann kennen,
welcher das Karmeliterkloſter nebſt deren Kirche an
ſich gekauft hatte, und gleich niederreißen ließ.
Ich unterzog mich der Arbeit, die heiligen Mauern
und Pfeiler mit niederzuwerfen, erhielt dafuͤr taͤg-
lich einmal zu eſſen, und 50 Sous in Papier, und
ſtand mich dadurch ſo gut, als man ſich in meinen
damaligen Umſtaͤnden ſtehen konnte. Wenn ich ſo
auf einem Pfeiler ſtand, und die großen Quader-
ſteine losbrach, fiel mir oft der heilige Simon
Stylites ein, welcher ehedem — wie man be-
richtet — ſo viele Jahre hinter einander auf einer
Saͤule geſtanden iſt. Da machte ich dann einen
Vergleich zwiſchen jenem geduldigen Heiligen und
mir Unheiligen, und fand ſo viel Verſchiedenheit,
daß ich oft ſelbſt uͤberlaut lachen mußte. —
Am Ende jeder Dekade wurden wir ausgezahlt:
jeder erhielt alsdann 22 Livres 10 Sous, und ſo
war ich immer im Stande, nicht nur zu bezahlen,
was ich indeſſen geborgt hatte, ſondern es blieb
[116] noch ſo viel uͤbrig, daß ich die Dekade bey Vien-
not, oder ſonſtwo ordentlich hinbringen, und Bur-
gunderwein zur Genuͤge trinken konnte, wovon ich
zwar jeden Tag etwas trank.
Indeſſen war der Repraͤſentant Calés nach
Dijon auf Miſſion gekommen, wahrſcheinlich um zu
verhuͤten, daß bey der damaligen Wahl der neuen
Magiſtratsperſonen keine Irrungen in dieſem gewiß
ſehr betraͤchtlichen Departement vorfallen moͤgten.
Denn die Jakobiner in Dijon hatten nach dem Tode
des Robespierre eine Adreſſe bey dem Konvente
eingereicht, die von mehr als 400 Buͤrgern unter-
ſchrieben war, worin der alte Geiſt des Terroris-
mus noch ſehr ſichtbar gluͤhte. Der Konvent ver-
warf dieſe Adreſſe, und ſchickte Calés, um allen
Unordnungen vorzubeugen.
An dieſen Calés wendeten ſich die gefange-
nen Offiziere, wegen ihres verminderten Soldes,
und Calés machte deswegen eine ſo kraͤftige Vor-
ſtellung nach Paris, daß die Herren ihr Geld oder
vielmehr ihr Papier erhielten, wie gleich anfangs.
Aber die Unteroffiziere, Sergeanten, Wachtmei-
ſter u. dgl. erhielten keine Vermehrung ihres Sol-
des, weil ſie darum nicht angeſucht hatten. Dar-
ob erboßten dieſe Leute hoͤchlich, und raͤſonnirten
auf die Offiziere nicht ohne Grund. Ich ſtellte ih-
nen indeß vor, daß ſie ſich ja auch melden koͤnnten:
[117] vielleicht wuͤrden ſie ihren vorigen Sold wieder er-
halten. Das leuchtete ihnen ein, und ich erhielt
den Auftrag, eine Bittſchrift *) fuͤr ſie aufzuſetzen.
Ich that dieſes. Cale's nahm ſie mit vieler
Freundlichkeit an, verſprach das Beſte, und die
Unteroffiziere erhielten ihre alte Loͤhnung.
Ein kaiſerlicher Sergeant, Namens Fiſcher,
hatte ſonſt in Abeville geſeſſen, und da als Geſelle
bey einem Wagner gearbeitet. Weil er ein ordent-
licher Mann, und guter Arbeiter war, ſo wollte
es der Wagner geſchehen laſſen, daß Fiſcher ſeine
Tochter heurathe; aber als ſie eben zum Werke
ſchreiten wollten, ſo erhielten die Gefangnen in
Abeville Befehl, nach Dijon zu gehen. Fiſcher
klagte mir hier nach ſeiner Ankunft ſeine Noth, und
ich mußte recht lachen, als er mir auf meine Frage,
wie er habe Liebſchaft mit einem franzoͤſiſchen Maͤd-
chen machen koͤnnen, da er doch kaum zwanzig
franzoͤſiſche Woͤrter wuͤßte, zur Antwort gab: der-
gleichen Dinge koͤnne man gar wohl durch Deuten
und Fuͤhlen ausmachen. Meine Leſer moͤgen ſichs
nun ſo im Geiſt vorſtellen, wie ſich zwey Leute
[118] durch Deuten und Fuͤhlen zu verſtehen geben koͤn-
nen, daß ſie einander heurathen wollen! — Ich
wollte dem guten Menſchen gern helfen, und ging
mit ihm zu Repraͤſentanten Cale's, den ich in
Fiſchers Namen um Erlaubniß bat, nach Abe-
ville zuruͤck zu gehen, um da ſeine Heurath zu voll-
ziehen. Calés ſtand anfangs an, aber bald be-
ſann er ſich und ſagte: Fiſcher ſollte nach Abe-
ville ſchreiben — doch nein, unterbrach er ſich, ich
will dahin ſchreiben laſſen; verhaͤlt ſich die Sache,
wie du ſagſt, ſo ſoll er dahin gehen duͤrfen. —
Nach einem Monat erhielt Fiſcher die Erlaubniß,
nach Abeville zu gehen. Ich fuͤhre dieſe Zuͤge blos
an, um zu beweiſen, daß Cale's ein braver
Mann war, und daß jedem auslaͤndiſchen Deſer-
teur, troz dem verdammten Betragen der meiſten,
gleich geholfen wurde, ſobald er nur wollte und ein
ehrlicher Mann war.
Cale's fragte mich, wer ich ſey, und ich be-
friedigte ſeine Frage. Nardot, der Kommiſſaͤr,
ſtand dabey, und gab mir das Zeugniß, daß ich
ein ſtarker Anhaͤnger der Republik, und zwar aus
Gruͤnden ſey. Dann iſt es Schade, ſagte Cale's,
daß du kein Franzoſe biſt: aber du muſt ſuchen,
einer zu werden. —
Um dieſe Zeit ereignete ſich ein kleiner Aufſtand.
Einige Leute, welche im Wirthshauſe ſcharf ge-
[119] trunken hatten, foderten Brod vom Wirthe. Die-
ſer erklaͤrte: daß er keins zu verkaufen uͤbrig habe,
und daß bey den Beckern jezt — es war ſpaͤt des
Abends — keins mehr zu haben ſey. Die Leute,
ſchon ſtark angerauſcht, erboßten und gingen nach
einer andern Schenke, ſprachen aber unterwegs
bey einem Becker an. Als dieſer ihnen ſagte, daß
er kein Brod mehr habe, wurden ſie anzuͤglich, und
der Becker ließ ſie ſtehen. Nun fingen ſie an, zu
ſchimpfen, und riſſen die Kokarde von den Huͤten,
und traten drauf. „Wenn wir nicht eſſen ſollen,
ſchrieen ſie, ſo hole der Teufel die Kokarde und die
Republik!“ Viel Volks verſammelte ſich, und die
Haſellanten wurden eingeſteckt. Die Sache ſelbſt
hat gar keine Folgen gehabt, ſo ſtark auch einige
Kanngießer unter den deutſchen Gefangnen behaup-
teten, daß dieſer Auftritt das Signal zu einem
voͤlligen Aufſtande ſeyn wuͤrde. Zu den Zeiten des
Terrorismus waͤren die unruhigen Kokardentreter
ſchlecht weggekommen; aber die Zeiten hatten ſich
geaͤndert, und die Leute kamen bald in Freyheit.
Waͤhrend der Zeit, als ich in der Carmeliter-
kirche tagloͤhnerte, habe ich einmal, in Geſellſchaft
eines Dijoners, Staͤrke (amidon) nach Auxonne
auf einem Schubkarren gekarret, und andre Waa-
ren von da mit zuruͤckgenommen. Freilich war
das eben keine angenehme Beſchaͤftigung, allein
[120] ich unternahm ſie gern, weil ich da den neuen
Wein auf den Doͤrfern ſo recht probiren konnte.
Es iſt, in der That, etwas koͤſtliches um guten
neuen Burgunder! Ein Land uͤberhaupt, wo Wein,
und guter Wein waͤchſt, hat vor einem Bierlande
tauſend Vorzuͤge. Im Bierlande ſind die Men-
ſchen dickblutig und ſchwerfaͤllig, und um ſich zu
erheitern, trinken ſie gewoͤhnlich viel Branntwein.
Dieſer verderbt die Kraͤfte der Seele und des Koͤr-
pers, und iſt uͤberhaupt ein abſcheuliches Getraͤnke.
Ein Rauſch in Branntwein macht obendrein nicht
luſtig, nicht munter, ſondern verworren, mis-
muͤthig und raſend, und verleitet zu den fuͤrchter-
lichſten Exceſſen. Hingegen im Weinlande belebt
der Wein die Leute zur Luſtigkeit, ſtaͤrkt ihre Ner-
ven und Kraͤfte, und macht ihr Blut friſch herum-
laufen, Trinkt jemand ſich einen Rauſch darin:
ſelten wird er ganz von Sinnen kommen, und am
andern Tage, wenn der Wein gut war, empfin-
det er kein Kopfweh, und keine Laͤhmung, wie
der Branntweintrinker. Doch dieß im Vorbey-
gehen!
Durch Calés wurde auch die Surveillance, von
welcher ich oben geſprochen habe, im Departement
von Côted'or voͤllig abgeſchafft. Die Rede, wel-
che [e]r deswegen hielt und drucken ließ, war vor-
trefflich, und ganz im republikaniſchen Geiſte.
[121] Die Liebe zu der Republik, oder zum allgemeinen
Wohl, das in der Freyheit von allen und jeden ge-
noſſen wird, ſagte er, muͤſſe allein das Funda-
ment des wahren Civismus ausmachen; dieſer
koͤnne daher nicht beſtehen, ohne die Anhaͤnglich-
keit an die National-Geſetze, und ohne die Aus-
uͤbung derſelben. Dieſe Ausuͤbung ſey der einzige
Maaßſtab des Civismus oder des Buͤrgerſinns.
Sie ſelbſt alle, fuhr er fort, muͤßten jezt laͤngſt
uͤberzeugt ſeyn, daß Deſpotie und Koͤnigthum mit
dem allgemeinen Wohl ſtreite: daß aber die ſtreng-
ſte Ausuͤbung der National-Geſetze Sicherheit,
Freyheit, Ehre, Wohlſtand, Sieg uͤber die Fein-
de, und alle Vortheile gewaͤhre, welche den Staat
ſicher, und alle Buͤrger brav und wohlhabend ma-
chen. Und dieſe Ueberzeugung ſey es, welche fer-
nerhin eine Surveillance unnoͤthig mache. Jeder
rechtſchaffene Buͤrger wuͤrde nach den Geſetzen han-
deln, und die Verbrecher wuͤrden wenige ſeyn, und
gewiß ihrer Strafe nicht entgehen.
Das war die Meynung des Calés, und wenn
ich noch jezt alles genau uͤberlege, was nach der
fuͤrchterlichen Kriſis des Schreckensſyſtems mir von
den Geſinnungen der Franzoſen aus ihren Hand-
lungen und Reden bekannt geworden iſt, ſo glaube
ich, eben nicht Unrecht zu haben, wenn ich be-
haupte, daß das neue Syſtem in den Herzen der
[122] meiſten Franzoſen ſich auf moraliſche Principien,
und auf den Zweck, den die Freyheit erzielen muß,
naͤmlich auf die Befoͤrderung des allgemeinen Be-
ſten gruͤnde. Ich habe mehrmals Gelegenheit ge-
habt, mit Leuten von Einſicht, beſonders mit dem
Kommendant Belin und dem Chirurgus Giba-
ſier und Vallée uͤber die wahre Geſtalt eines
Republikaners zu reden, und das Reſultat ihrer
Erklaͤrungen war allemal: daß blos ein fleißiger,
ruhiger, maͤßiger und gerechter Mann ein wahrer
Buͤrger ſey, und daß blos ein ſolcher eine Stuͤtze
ſeiner Republik werden koͤnne: alle andre Vorzuͤge
ſeyen blos Ornamente, und ohne Buͤrgertugend
mehr ſchaͤdlich als nuͤtzlich. Ich widerſprach einſt
dem Belin, und ſagte, daß ein reicher und tapfe-
rer Mann doch auch eine Stuͤtze des Staates ſey;
daß ein Gelehrter es gleichfalls ſeyn koͤnne, auch
ein Kuͤnſtler, u. dgl. Er erwiederte:
Das iſt wahr, aber blos dann, wenn ſie die
Tugenden beſitzen, von welchen ich geſprochen habe.
Sonſt Schade was auf ihren Reichthum, ihren
Muth und ihre Wiſſenſchaften! Dir ſollt' ich das
kaum beweiſen, aber ich will es thun. Wenn der
Reichthum an ſich, dem Staate nuͤzte, ſo muͤßte
Craſſus, der Roͤmer, ein ſehr nuͤtzlicher Buͤrger
geweſen ſeyn, und doch war eben der Reichthum
dieſes Mannes Schuld, daß Roms Freyheit fruͤ-
[123] her zu Grunde ging, und daß der Staat eine große
Menge ſeiner beſten Krieger gegen die Parther ver-
lohr. Sulla und Caͤſar haben Muth genug
gehabt: aber was hat das Rom genuͤzt! Cice-
ro's feigherzige Redlichkeit und Tugend war der
Republik nuͤtzlicher, als der Heldenmuth des Caͤ-
ſars, des Oktavius und des Antonius.
Wiſſenſchaft beſaß Caͤſar und Curio und Ca-
tilina: aber blos zum Verderben des Staats.
Sobald ein republikaniſches Fundament in dem
Herzen des Buͤrgers liegt, ſo ſind dieſe Eigenſchaf-
ten vortrefflich: dann bilden ſie Fabier, Cu-
rier, Fabricier, Scipionen, und Catonen:
aber ohne Buͤrgertugend ſind ſie wie ein Schwerdt
in der Fauſt eines Raſenden oder Beſoffenen. —
So Belin!
Wie aber Belin dachte, ſo denken alle ein-
ſichtige Franzoſen. Daher wird auch, vorzuͤglich
bey der Beſetzung der Aemter, darauf geſehen,
daß nur ſolche Leute gewaͤhlt und beamtet werden,
welche den Ruf eines unbeſcholtenen Buͤrgers fuͤr
ſich haben. Wer den Namen eines Wolluͤſtlings,
Verſchwenders, Trunkenbolds, Raͤnkemachers
und desgleichen hat, geſezt auch, er habe ſich kei-
ner groben Verbrechen ſchuldig gemacht, der wird
niemals zu einer Staatswuͤrde erhoben: ein ſolcher
Menſch iſt eben ſo verdaͤchtig, wie einer, wel-
[124] cher ſcheint antirepublikaniſche Geſinnungen zu
hegen.
Verdaͤchtig ſeyn, heißt aber in Frankreich
ſo viel, als fuͤr keinen rechtſchaffenen Buͤrger an-
erkannt zu ſeyn. Dieſer Verdacht ſchadet der oben
erklaͤrten Gleichheit nur in ſofern, daß ein verdaͤch-
tiger Menſch zu keinem Amte gelangen kann. Da
es aber in ſeiner Gewalt ſteht, den Verdacht von
ſich abzulehnen, durch veraͤnderte, beßre Lebens-
art, ſo iſt es ſeine Schuld, daß er die Rechte ei-
nes Buͤrgers wirklich nicht alle genießt, die ein
Buͤrger ſonſt genießen ſoll: virtualiter, wie man in
der Schule ſpricht, genießt er ſie immer.
Ich habe den Verdacht der Franzoſen und das
Anathema der chriſtlichen Kirche oft mit einander
verglichen, und viel Aehnlichkeit zwiſchen beyden
angetroffen. Wen ehemals ſo ein Bannfluch traf,
der lebte in der Geſellſchaft, wie wenn er gar nicht
darin lebte: jeder floh ihn, jeder vermied ihn, wie
man einen Menſchen vermeidet, der von einem tol-
len Hunde gebiſſen iſt. So iſts beynahe jezt auch
in Frankreich. Ein Toͤpfer zu Dijon, der verarmt
war, bediente ſich ſeiner ſchoͤnen Tochter, um von
jungen Wolluͤſtlingen Geld zu erſchnappen. Aber
dieſer Toͤpfer wurde auch ſo allgemein verachtet,
daß kein Menſch mit ihm reden wollte. Kam er
ins Weinhaus, ſo ſtand jederman da auf, wohin
[125] er ſich ſezte; und ging er auf der Straße, ſo wen-
deten die Voruͤbergehenden ihr Geſicht von ihm
weg. — Wer ſich von ſeinem Weibe ſcheidet,
kann ſicher ſeyn, daß er verachtet wird: Spieler,
Bordelbruͤder und Trunkenbolde ſind ebenfalls Ge-
genſtaͤnde der oͤffentlichen Verachtung. Dieſe zeigt
ſich nicht ſowohl durch Verhoͤnung und Neckereyen,
als durch gaͤnzliche Vermeidung ſolcher Perſonen,
mit welchen ſich niemand etwas zu thun macht,
als bis er muß.
Die Ehre iſt ein ſehr relativer Begriff: der iſt
geehrt, weil ſein Vater oder ſeine Verwandte große
Leute ſind; ein Anderer, weil er reich iſt, weil er
in Kleidern ſich praͤchtig aufmuzt u. ſ. w. Aber
gar ſelten wird jemand blos darum geehrt, weil er
ein ehrlicher Mann, ein rechtſchaffener Hausvater,
ein treuer Freund u. ſ. f. iſt. Es ſcheint auch,
daß wir Deutſchen es ſelbſt fuͤhlen, daß die, wel-
che wir ehren, unſre Achtung nicht verdienen: denn
ſobald eben ſie uns aus den Augen ſind, ſo geht
die Kritik an, und die ſkandaloͤſe Chronik wird nicht
muͤde, alles moͤgliche Schlimme von denen aufzu-
tiſchen, welche wir vor einer Minute herzten, kuͤß-
ten, und unſre beſten Freunde nannten.
Wo es aber ſo zugeht, da mag der Thor ſich
um Civismus bekuͤmmern! Warum ſollte ich ſo
thoͤrig ſeyn, fuͤr die Erhaltung einer Geſellſchaft
[126] zu ſorgen, deren Mitglieder und Vorſteher ich
zum Theil gering ſchaͤtze, und zum Theil von
Herzen verachte und verabſcheue? — Eine Geſell-
ſchaft, welche durch ein feſtes Band verknuͤpft
ſeyn ſoll, muß durchaus gleiche Geſinnungen,
gleiches Intereſſe haben; und die Weiſen haben
es laͤngſt bewieſen, daß dieſe gleiche Geſinnun-
gen, dieſes gleiche Intereſſe nur tugendhaft d. i.
den allgemeinen Geſetzen gemaͤß ſeyn koͤnnen.
Ich mag meine Leſer mit weitlaͤufigern Be-
trachtungen uͤber dieſen ſo wichtigen Punkt nicht
aufhalten; aber ſo viel, glaube ich, wird aus
dem Geſagten klar: daß die neuere Einrichtung
in Frankreich, die Eintracht der Buͤrger und das
gemeinſchaftliche Band unter denſelben weit mehr
beguͤnſtige, als alle unſre Sittenlehren, Geſetz-
buͤcher, Predigten, Beichtſtuͤhle, und wie die
moraliſchen Eſelsbruͤcken ſonſt heißen moͤgen.
Um den Buͤrgerſinn in Frankreich immer mehr
zu befeſtigen, ließen die Jakobiner es ſich ange-
legen ſeyn, ihre Grundſaͤtze auch durch theatra-
liſche Vorſtellungen auszubreiten. Daher wur-
den alle jene Schauſpiele, worin Koͤnige, Prin-
zen und ſonſt Große mit ſchoͤnen Karakteren vor-
kamen, ſofort verboten, und blos ſolche zugelaſ-
ſen, in welchen Haß und Abſcheu gegen die
Deſpotie hervorſtach, z. B. der Tod des Caͤſars,
[127] und andere. Auch fingen Schriftſteller von aller-
ley Art an, Theaterſtuͤcke aufzuſetzen, worin die
neuſten Begebenheiten ſichtbar waren. Ich habe
die Geſchichte des Barra, Beaurepaire,
Viala, Chailler, Marat, und mehrerer
andern damals hochgeprieſener Republikaner theils
in Dramen geleſen, theils ſelbſt auffuͤhren ſehen.
Weil es aber verboten war, Schauſpieler zu
halten und zu beſolden, ſo traten in den großen
Staͤdten junge Leute aus den wohlhabendſten
Familien zuſammen, und vertraten deren Stelle.
Dieſe nahmen nun zwar kein Geld, aber die Zu-
ſchauer mußten doch jedesmal etwas — in Dijon
10 Sous — geben, welches allemal fuͤr Arme
verwendet wurde. Nach dem Sturz des Jako-
binismus ſchuf man die beſſern alten franzoͤſi-
ſchen Stuͤcke ſo um, daß ſie ohne Aergerniß
konnten geſehen werden. Das vom Konvent des-
halb gegebne Geſetz befiehlt, alles wegzulaſſen,
was den Sitten ſchaden koͤnnte, und nur dahin
zu ſehen, daß tugendhafte, republikaniſche Ka-
rektere zur Nachahmung vorkommen. Freilich,
wenn man einmal Schauſpiele haben will, ſo iſt
es allerdings beſſer, man ſtellt unſchaͤdliche Stuͤcke
vor, ob es gleich noch beſſer waͤre, uͤberhaupt
gar kein Theater zu haben. Doch Anmerkungen
dieſer Art gehoͤren nicht hieher.
[128]
Sieben und vierzigſtes Kapitel.
Abermals im Lazareth. Beſſel oder Loͤw. Bis-
pinks Bemuͤhungen zu meiner Befreyung
aus Frankreich.
Ohngefaͤhr in der Mitte des Dezembers 1794
traf ich den Chirurgus Vallée bey Viennot.
Er war freundlich, und fragte mich, wie es mir
ginge. Ich antwortete ihm: eben nicht zum be-
ſten: denn einmal muͤßte ich in der Kaͤlte arbei-
ten, und dann ſchmerze mich meine Wunde auf
der Bruſt oft nicht wenig. Er ließ ſich dieſelbe
zeigen, und ſagte fluchs: hohle mich Prinz Con-
dé: du biſt nicht recht klug, daß du nicht ins
Hoſpital gehſt! Dort haſt du doch Verpflegung,
kannſt machen, was du willſt, wirſt vielleicht
auch bald kurirt, und findeſt da lauter alte Be-
kannte. Was willſt du hier in der Kaͤlte her-
umkriechen! Geh ins Spital! — „Hoͤre, lieber
Vallée, erwiederte ich, du wirſt doch ſorgen,
daß ich im Spital wie ſonſt, gehalten werde?
Ich fuͤrchte, ich komme zu oft: der Direktor
wird am Ende wohl tuͤckiſch.“ Ey, warum
[129] nicht gar! Ich will dem Direktor ſchon ſagen, was
wir dir noch ſchuldig ſind. Du biſt unſer Kranken-
waͤrter geweſen, haſt deine Sachen ehrlich verrich-
tet, und ſchleppſt dich mit einer gefaͤhrlichen
Wunde. Man muß dich ordentlich verpflegen,
und thut es auch gern: komm nur Morgen, und
bleib bey uns, bis die Baͤume gruͤn werden.
Ich folgte. Fruͤh holte ich mir einen Zettel
beym Kommendanten Belin, und fuhr ab nach
Jean Jaques ins Hoſpital.
Unter den Krankenwaͤrtern befand ſich der oben
genannte Beſſel, welcher ſeine muͤſſigen Stun-
den mit Buͤcherleſen, mit politiſchen Geſpraͤchen,
oder bey der Mutter Guigner, einer Weinſchen-
kin, zubrachte. Ich wuͤrde ſehr unrecht thun,
wenn ich die Freundſchaft nicht oͤffentlich ruͤhmen
wollte, die mir der brave Beſſel im Spital zu
Dijon erzeigt hat. Dieſer Mann war ſchon ſtark
in die vierzig, und war eines Pfarrers Sohn ohn-
weit Jena. In ſeiner Jugend hatte er zu Jena
die Theologie ſtudiert, war nachher nach Schleſien
als Informator gekommen, und war da mit dem
beruͤhmten Abt Felbiger zu Sagan bekannt ge-
worden. Als Felbiger hernach von der Kaiſe-
rin Maria Thereſia nach Wien berufen wur-
de, um bey der Schulverbeſſerung zu arbeiten, ſo
Viert. Th. 2te Abth. I
[130] ging Beſſel dahin mit, aͤnderte aber aus Urſa-
chen, welche er mir nie entdecken wollte, ſeinen
Namen Loͤw in Beſſel. Er ward Korrektor bey
dem beruͤchtigten Nachdrucker, Edlen von Tratt-
ner, welcher die Buͤcher fuͤr die Normalſchulen
damals zu drucken gehabt hat. Endlich kam er in
die Gunſt eines großen Herrn, und wurde als Ac-
ceſſiſt nach Peſt in Ungarn geſchickt, wo er auch
fuͤnf Jahre geblieben war. Nachdem aber die
Einrichtung der ungariſchen Regierung veraͤndert
wurde, begab ſich Beſſel wieder nach Wien, und
von da nach Muͤnchen. Ich war, ſagte er oft,
ein rechter Narr, daß ich nach Muͤnchen ging,
wo Dummheit und Intoleranz gleichſam zu Hauſe
ſind, und wo man die Fremden aͤrger haſſet, als
der Jude ein Schwein. Beſſel ging endlich
nach Mannheim, und da er ein großer Freund
vom Trunke war, ſo geſchah es, daß er unter das
damals vom Kardinal Rohan errichtete Regiment
kam, wobey er, da er der deutſchen und franzoͤſi-
ſchen Sprache kundig war, ſehr bald als Sergeant
angeſtellt wurde. Im Herbſte 1793, nahm er
ohnweit Weißenburg den Laufpaß, und kam nach
Frankreich.
Beſſel war in einigen Kenntniſſen nicht uͤbel
zu Hauſe, beſonders wußte er viel von der Geo-
graphie und der Geſchichte. Aber einen groͤßern
[131] Anekdotenkraͤmer habe ich noch nicht geſehen, als
dieſen Beſſel: hier war er ganz unerſchoͤpflich;
und da ich ſelbſt an der Anekdotenjagd von jeher viel
Geſchmack gefunden habe, ſo hatte ich in ſeinem
Umgang ſehr viel Vergnuͤgen. Es verging auch
kein Tag, daß wir nicht mehrere Stunden mitein-
ander verplaudert haͤtten. Er holte aus der Dijo-
ner Leſebibliothek immer Buͤcher, welche ich dann
auch las: und ſo verſtrichen mir die Tage im Ho-
ſpital wie Stunden, indeß die Zeit den andern
Kranken unendlich lange vorkam.
Bey dem Hoſpitaldirektor Duboy, deſſen Kin-
der ich unterrichtete, und deſſen Frau, nebſt ihm,
gar gute, brave Leute waren, hatte ich auch man-
che frohe Stunde. Mit Vergnuͤgen denke ich ſtaͤts
an jene Tage zuruͤck, die ich noch zu guter Lezt zu
Dijon im Hoſpital verlebt habe. Taͤglich ging
ich Abends mit Beſſel und einem andern Kran-
kenwaͤrter, Deschamps, zur Mutter Gui-
gner zu Weine, wo wir oft bis 10 Uhr und noch
laͤnger ſitzen blieben. Dann ſchlief ich bis 7 oder
8 Uhr, ſtand ſofort auf, ließ mich verbinden, und
aß hernach zu Mittage. Nach dem Eſſen ging ich
zum Direktor, las weiter in Buͤchern, oder ſchrieb
Briefe fuͤr Andere, oder wechſelte Anekdoten mit
Beſſel, aß zu Nacht, rauchte eine Pfeife Taback
draußen — im Innern war das Tabackrauchen
[132] deswegen verboten worden, weil Mehrere die Bet-
ten angeſteckt hatten — und ging hernach mit Beſ-
ſeln zu Weine: dieß iſt mein ganzer Lebenslauf
im Hoſpital zu Dijon, genannt Jean Jaques.
So luſtig dieſer Lebenslauf auch war, ſo war
er doch nicht ohne die Dornen der Beſorgniß. Ich
wußte mehr als zu gut, in welcher Gefahr ich, we-
gen Dentzels unentſchiedener Lage, noch immer
ſtand. Auch konnte ich die Furcht nicht entfernen,
auf dieſe oder jene Art am Ende doch noch verra-
then zu werden. Um mich alſo von dieſer gehei-
men Folter zu befreyen, ſann ich auf eine ungehin-
derte Entlaſſung aus Frankreich. Ich hatte dem-
nach, wie ich oben erzaͤhlt habe, dem Herrn Leut-
nant von Brandenſtein einen Brief an Herrn
Bispink in Halle zum Einſchluß uͤbergeben.
Weil ich aber beſorgte, dieſer Brief moͤgte nicht
richtig ankommen, wie dieß auch der Fall geweſen
iſt, ſo ſchrieb ich gleich nach meiner neuen Ankunft
ins Hoſpital an Herrn Bispink geradezu. In
dieſem Briefe gab ich ihm, ſoweit es ohne Gefahr
anging, etwas Nachricht uͤber meine Lage in
Frankreich, ſeit meiner Deſertion von den Preußen
bey Landau. Zugleich bath ich ihn, er moͤgte mir
in einem lateiniſchen Briefe, der an den Kommen-
danten Belin adreſſirt werden muͤßte, es bezeu-
gen, daß ich aus Altona gebuͤrtig ſey. Dieß
[133] Zeugniß, fuͤgte ich hinzu, waͤre das einzige Mit-
tel, mir ungehinderten Ausgang aus Frankreich
zu verſchaffen.
Herr Bispink hatte, ſeit meinem Uebergang
nach Landau, von mir keinen Brief erhalten, und
erſt kurz vor der Ankunft meines Briefes aus Di-
jon, hatte er durch einen Brief von Herrn Paſtor
Braun aus Oppenheim erfahren, daß ich zwar
noch lebte, allein zu Dijon an der Waſſerſucht im
Lazarethe krank laͤge. Dieß hatte den guten Bis-
pink um mich eben ſo beſorgt gemacht, als vor-
her die Ungewißheit uͤber meine Lage, und die Zei-
tungs-Nachricht, daß ich in Frankreich guilloti-
nirt ſey.
Es laͤßt ſich denken, daß ihm nichts willkomm-
ner ſeyn konnte, als mein eigenhaͤndiger Brief,
der von Krankheit u. dgl. nichts erwaͤhnte, und
mit einem Male den Stachel aller unangenehmen
Nachrichten und Geruͤchte ſtumpf machte. Voller
Freude hatte er ſich gleich angeſchickt, alles aufzu-
bieten, um zu meiner Befreyung aus Frankreich
nach Moͤglichkeit mitzuwirken.
Zuerſt hatte er den Herrn von Mandelsloh,
meinen ehemaligen Hauptmann, von dem Inhalte
meines Briefes unterrichtet, und ihm die Mittel
angegeben, welche er waͤhlen wuͤrde, mich aus
Frankreich zuruͤck zu ſchaffen. Dieſe Vorſorge hat
[134] ihn decken ſollen, im Falle ſeine Briefe an Belin
und mich, in Deutſchland moͤgten erbrochen, ver-
deutet und hoͤhern Orts angegeben werden. Dann
hatte er ſich anheiſchig gemacht, dieſe Mittel gleich
anzuwenden, ſobald der Herr Hauptmann ihn nur
verſicherte, daß ich nach meiner Zuruͤckkunft mei-
nen Abſchied erhalten ſollte. Herr von Man-
delsloh hatte jene Mittel gutgeheißen, und mei-
nen Abſchied damals bey dem Herrn von Moͤl-
lendorf gleich ausgewirkt.
Zu gleicher Zeit hatte Herr Bispink ſich um
eine ſchriftliche Fuͤrbitte fuͤr mich von dem franzoͤ-
ſiſchen General D' Oyré an den Kommendanten
Belin bemuͤht, und um noch eine an den Sekre-
taͤr bey dem franzoͤſiſchen Geſandten Barthe-
lemi zu Baſel. Dieſe und ſeine Briefe hatte er
nachher ſelbſt nach Leipzig getragen, und ſie da,
unter Vermittelung ſeines Freundes Schieg, Hrn.
Flick, dem Juͤngern, bey deſſen Vater der fran-
zoͤſiſche Geſandte zu Baſel logierte, zur ſichern
Beſorgung fuͤrs Weitere uͤbergeben.
Alles dieſes war in Zeit von zehn Tagen zu
Stande kommen. Die Zeit ward mir indeß gar
lang, ehe Bispink Antwort kommen wollte.
Im Zweifel, ob er meinen Brief erhalten haͤtte,
ſchrieb ich noch einen an Hrn. Profeſſor Gren,
den ich ſchon laͤngſt als einen ſehr edlen Mann und
[135] Freund verehrte. In dieſem Briefe erkundigte ich
mich, ob Herr Bispink noch lebe? Ob er keinen
Brief von mir erhalten habe? u. dgl.
Endlich gegen das Ende des Jaͤnners ließ mir
der Kommendant Belin ſagen: ich moͤgte gleich
zu ihm kommen: er habe einen Brief an mich; der
kaͤme weit her, aus Deutſchland. O, wie klopfte
mir da das Herz! Ich flog zu ihm, und ſiehe da,
ein Brief von meinem Bispink. Es waren ei-
gentlich drey Briefe: einer in franzoͤſiſcher Sprache
von dem franzoͤſiſchen General D' Oryré, wel-
cher damals als Geißel in Erfurt ſich aufhielt,
und hier in den humanſten Ausdruͤcken den Kom-
mendanten Belin um meine Entlaſſung anſprach:
dann zwey lateiniſche Briefe, deren einer, unter
mehrern andern Nachrichten uͤber dieß und jenes,
mir wie von ohngefaͤhr das Zeugniß gab, daß ich
in Altona gebohren und getauft ſey. Dieſer Brief
war von Hrn. Bispinks Hand, aber unter er-
borgtem Namen und unter dem Schreib-Orte Ham-
burg. Halle, als eine preußiſche Stadt, haͤtte,
wie er gedacht hatte, das Zeugniß fuͤr mich, als
einen preußiſchen Deſerteur, verdaͤchtig machen
koͤnnen. Der andere lateiniſche Brief von jeman-
den, Namens Adler, aus Altona — Hr. Bis-
pink hatte ihn durch einen Freund kopiren laſſen —
erzaͤhlte mir, wahrlich, zu meiner hoͤchſten Be-
[136] truͤbniß, daß dieſer brave Mann ein Entzuͤndungs-
fieber gehabt habe und dem Tode nahe geweſen ſey.
Ich freute mich, daß ich die Gefahr nicht gewußt
hatte, in welcher dieſer edle Freund [g]elegen war:
denn ſonſt wuͤrde ich tauſend Kum[m]er gefuͤhlt ha-
ben. Ich war gewiß niemals von Stein oder
Holz, wenn ſchon Einige meynen, ich habe alles
Gefuͤhl verlohren. Heulen und viel Jammerns ma-
chen mag und kann ich freilich nicht;
Sed vere ille dolet, qui ſine teſte dolet.
Eben dieſer Freund Adler rieth mir, daß ich,
um als preußiſcher Deſerteur vor jeder Nachſtellung
ſicherer zu bleiben, mich nach der Schweiz bege-
ben moͤgte. Vorzuͤglich empfahl er mir Zuͤrich zu
meinem Aufenthalt. Hier ſollte ich mich an Hrn.
Geßner und Hrn. Profeſſor Ulrich wenden:
beyde waͤren kreuzbrave Maͤnner, die mir in jeder
Hinſicht gern behuͤlflich ſeyn wuͤrden: beyde haͤtten
von ihm auch ſchon den Auftrag, mich in allem
Noͤthigen auf ſeine Rechnung zu unterſtuͤtzen,
u. dgl. —
Hr. Bispink hatte naͤmlich, als er zur Be-
ſorgung dieſer Briefe in Leipzig geweſen war, zu-
gleich einen an Hrn. Geßner nach Zuͤrich ge-
ſchickt, mit dem Auftrage, mich bey meiner An-
kunft angemeſſen kleiden zu laſſen, und mir zu
meiner weitern Reiſe 3 Carolinen in ſeinem Namen
[137] vorzuſtrecken. In dem Briefe an Hn. Geßner
war zugleich ein Brief an Hn. Profeſſor Ulrich
und an mich geweſen. Der an mich, enthielt ei-
nen Paß fuͤr mich auf Halle, und die Nachricht:
daß ich vom Soldatenſtande voͤllig entlaſſen ſey. —
Dieß konnte mir in den Briefen nach Dijon nicht
geſagt werden; und Hr. Bispink hatte es fuͤr
gefaͤhrlich gehalten, die erwaͤhnte Anweiſung fuͤr
mich jemanden in Baſel aufzutragen: er hatte ein
Gerede daruͤber befuͤrchtet, und dadurch — in
Barthelemi's Naͤhe — Scheiterung ſeines
Projectes. Die Herren Baſeler ließen mich aber
nicht nach Zuͤrich, wie man bald leſen wird: und
ſo warf mich dieſe meine Unwiſſenheit nachher wei-
ter in einen Strudel, der meine Zuruͤckkunft nach
Halle uͤber ein halbes Jahr verzoͤgerte.
Nachdem ich dem ehrlichen Belin die latei-
niſchen Briefe erklaͤrt hatte, ſo ſagte er, indem er
mir die Hand druͤckte: nun haſt du gewonnen, Lauk-
hard: nun kannſt du in dein Deutſchland zuruͤck-
gehen, wann du willſt. Ich bin wirklich recht
froh daruͤber: denn ich dachte immer, der Henker
moͤgte mit dir noch einmal ſo ſein Spiel auf der
Guillotine haben. Du verſtehſt mich. Jezt geh
nach dem Departement, und fodre auf dieſe Brief-
ſchaften einen Paß nach der Schweiz.
[138]
Auf dem Departement wurden meine Briefe vor-
geleſen; und als einer von den Beyſitzern die Be-
denklichkeit aͤußerte, daß das kein ordentlicher Tauf-
ſchein ſey, indem er von keinem Geiſtlichen unter-
zeichnet waͤre, ſo ſagte der Praͤſident: „Iſt etwan
das Zeugniß aus dem Briefe eines ehrlichen Layen
nicht eben ſo gut, als das Atteſtat von einem Prie-
ſter? Wir Franzoſen haben wohl noch Urſache, auf
Prieſter zu bauen! Genug, das Zeugniß iſt gut,
und Citoyen mag nach Hauſe gehen. Man fertige
ihm ſeinen Paß!“ Ich erhielt alſo von dem De-
partement eine Ausfertigung, nach welcher Nar-
dot, der Kriegskommiſſaͤr, mir einen Paß nach
Baſel geben ſollte. Dieſer lachte, als er ſchreiben
mußte, ich ſey aus Altona. Denn ich hatte ihm
von meinen Begebenheiten einiges vorerzaͤhlt, und
ſo wußte er recht gut, woher ich war. Aber auch
er war mir gut und froh, daß ich auf dieſe Weiſe
aller Gefahr entgehen konnte, und ſchrieb mir den
Paß.
Hier mag vielleicht mancher ariſtokratiſche Le-
ſer die Naſe ruͤmpfen, und ſagen: der Verfaſſer
lobt den Civismus oder die Anhaͤnglichkeit der
Franzoſen ans Geſetz: nach ſeinem eignen Geſtaͤnd-
niß wußten Belin und Nardot, daß es mit
ſeinem Geburtsorte, Altona, nicht richtig war,
und doch waren Belin und Nardot, wie er zu
[139] verſtehen giebt, recht brave Buͤrger. Wo bleibt
aber hier ihre Bravheit, da ſie ihre Mitbuͤrger hin-
tergehen halfen, und wenigſtens den Betrug nicht
entdeckten?
Meine Herren, die Buͤrger Belin und Nar-
dot wußten, daß es der Republik ganz gleichguͤl-
tig ſeyn konnte, ob ich aus Altona, oder aus Con-
ſtantinopel, oder gar aus Otaheiti gebuͤrtig war.
Dann waren ſie meine Freunde: verriethen ſie mich,
ſo war der Schaden fuͤr mich groß, ſehr groß, und
der Nutzen fuͤr den Staat — eine Null; ſchwiegen
ſie, ſo thaten ſie ihrem Lande keinen Schaden, und
erfuͤllten gegen mich alles, was die Freundſchaft
fodern kann. Was ſollten ſie nun thun, meine
Herren? Oder was wuͤrden Sie an deren Stelle
gethan haben, wenn Sie anders keine Egoiſten und
Schadenfrohe ſind? Man muß nicht zu arg mora-
liſiren! — Das Schreckensſyſtem hatte alle fein-
fuͤhligen Franzoſen nur noch mehr humaniſirt: und
ſo goͤnnte man mir Leben und Blut. —
Der Commiſſaͤr rieth mir, in Dijon zu bleiben,
bis es beſſere Witterung und warm waͤre: denn,
ſagte er, in der Franche Comté wirſt du ſchlechte
Wege treffen und nicht fortkommen. — Aber ich
hatte noch einen triftigen Grund, mich bald von
dannen zu machen.
[140]
Ich hatte, da ich von Herrn Bispink immer
keine Antwort erhielt, an meine Mutter geſchrie-
ben, und dieſe um meinen Taufſchein gebeten. Es
war naͤmlich ſeit meinem Schreiben an Hn. Bis-
pink auch den jenſeits heiniſchen Pfaͤlzern erlaubt
worden, nach Hauſe zu gehen, weil man jene Pro-
vinzen damals auch als der Republik eigen anſah.
Es war mir ſehr wahrſcheinlich, daß meine Mut-
ter bald antworten wuͤrde; und dann kam der Brief,
wie alle Briefe an die Gefangnen und die Deſerteurs
in Dijon, an den Kommendanten Belin, und
dann, was wuͤrde der ehrliche Mann gedacht ha-
ben, oder vielmehr, was haͤtte er zu ſeinen Mit-
beamten ſagen ſollen? Ich haͤtte ihn und mich kom-
promittirt, und mich in keine geringe Verlegenheit
verſezt gefunden. Um alſo dem einen wie dem an-
dern vorzubeugen, entſchloß ich mich kurzweg,
gleich den andern Tag abzufahren.
Wenn ich Geld uͤbrig gehabt haͤtte, ſo haͤtte
ich mir noch einige Kupferſtiche und ein Buch ge-
kauft, welches man in einem deutſchen Buchladen
ſchwerlich finden wird. Es iſt das Vie privée de
Marie Antoinette, femme du dernier tyran des
François. Man hat zwar ſchon ein vie privée, wel-
ches auch ins Deutſche uͤberſezt und ſogar in Wien
gedruckt iſt. Auch findet man in den Memoires der
bekannten Madam Lamotte viel ſkandaloͤſe Nach-
[141] richten von dieſer ungluͤcklichen Dame: aber ſo viel
Scheusliches, als in dem dreybaͤndigen Werkchen,
von welchem ich jezt rede, erzaͤhlt wird, iſt noch
nie von dem allerverworfenſten Menſchen, geſchweige
von einer Koͤnigin, erzaͤhlt worden. Gegen dieſes
vie privée iſt die geheime Geſchichte Juſtinians*)
von Procopius nur Kinderſpiel.
Ich bin uͤberzeugt, daß nicht alles wahr iſt,
was man der ungluͤcklichen Antoinette in
Frankreich, wo man ſie als das erſte Scheuſal der
Menſchheit anſieht, ausgeſprengt hat. Der Haß
gegen ſie war gar zu groß, und ob man gleich mit
ungluͤcklichen Leuten, waͤren ſie auch noch ſo laſter-
haft, Mitleid hat, ſobald ſie beſtraft ſind, ſo war
das doch bey der Antoinette nicht der Fall. Ihr
Name wurde von jederman mit Abſcheu und einem
entehrenden Beyworte ausgeſprochen. Die alte
Regierung unter LudwigXVI. nennt man ge-
woͤhnlich la domination de la ſacrée garce d'Au-
triche.
An ſkandaloͤſen Kupferſtichen fehlte es in Frank-
reich auch nicht, beſonders war einer merkwuͤrdig:
arrivée de Louis Capet aux enfers oder die Ankunft
Ludwig Capets in der Hoͤlle. Er trat mit dem
Kopf unterm Arme, ſehr kenntlich gezeichnet, in
[142] die Geſellſchaft des Nero, Caligula, Ludwigs XI,
Ludwigs XV, Kaiſers Joſeph I, Leopolds II, Car-
touche's, Mandrin's *) und anderer dieſes Gelich-
ters. Auch Koͤnig Carl I von England findet man
da ohne Kopf. Gegenuͤber ſtuͤrzt Antoinette, wie
eine Furie hinzu, und traͤgt ihren mit Schlangen
ſtatt der Haare verſehnen Kopf in der Hand. Teu-
fel und Furien tanzen und haben ein Feſt, und
freuen ſich gar maͤchtig uͤber die Geſellſchaft. Unten
iſt alles weitlaͤufig erklaͤrt. — Doch genug davon!
Acht und vierzigſtes Kapitel.
Meine Abfahrt aus Frankreich.
Nachdem ich meinen Paß vom Commiſſaͤr erhal-
ten, und von Belin Abſchied genommen hatte,
welcher mir noch allerhand uͤber die Lage von Frank-
reich zu guter Lezt vorſagte, und mich bat, ihm
doch ja, (wie ohnlaͤngſt auch geſchehen iſt) von
meiner kuͤnftigen Beſtimmung Nachricht zu geben:
ſo beſuchte ich von meinen Freunden und Bekann-
[143] ten noch ſo viel, als ich in der kurzen Zeit noch
konnte: denn ich hatte nur noch einen halben Tag
in Dijon zu hauſen.
Niemand war mit meiner Abreiſe uͤbeler zufrie-
den, als der gute Beſſel oder Loͤw: denn mit
mir war er beſſer zurechte gekommen, als mit allen
andern Gehuͤlfen, und er hoffte noch immer, daß ich
wieder Krankenwaͤrter werden wuͤrde. Da wir ei-
nerley Neigungen hatten, und uͤber Religion und
Politik ziemlich gleich dachten, ſo konnte es nicht
anders ſeyn, als daß wir immer gut mit einander
auskamen.
Ich weiß nicht, wo der gute Beſſel ſich jezt
aufhalten mag, ob er noch in Dijon iſt, oder ob
ihn das Schickſal ſonſt wohin geworfen hat; er ſey
aber, wo er will, wenn ihm dieſes Buch in die
Haͤnde kommt: ſo kann er ſich gewiß uͤberzeugen,
daß ſein Andenken ſo wie die dankbare Erinnerung
an ſeine Wohlthaten noch immer in meinem Her-
zen lebt, und daß ich mich ſehr freuen wuͤrde, wenn
er mir von ſeinem Aufenthalt und Schickſalen Nach-
richt geben wollte.
Die deutſchen Offiziere waren froh, daß ich
fort konnte, und einige derſelben verſorgten mich
noch mit Aſſignaten auf die Reiſe: eben dieſes that
auch der Spitaldirektor Duboy. Den groͤßten
Theil der Nacht brachte ich mit Beſſel und eini-
[144] gen andern Spitalbekannten bey der Mutter Gui-
gnier zu, und ging erſt nach zwoͤlf Uhr, zwar
nicht betrunken, doch auch nicht ganz nuͤchtern, zu
Hauſe.
Nicht weit von meinem Bette lag ein preußi-
ſcher Kriegsgefangener, auf deſſen Namen ich nicht
mehr kommen kann, ſo ſehr ich auch nachdenke.
Er war von den Bellingſchen Huſaren, klein
von Statur und hatte, ich weiß nicht wo, die Me-
daille erhalten: er war ein geſchickter Schneider
und hat immer auch im Spital gearbeitet. Dieſe
Kennzeichen werden ihn bey ſeinem Regimente
kenntlich machen. Als ich im Bette lag, kam er
zu mir, und ſagte: hoͤre Bruder, ich bin deinet-
wegen aufgeblieben, und habe auf dich gewartet:
du kannſt mein Gluͤck machen.
Ich: Dein Gluͤck machen? Ich? Wie waͤre
das moͤglich? bin ja ſelbſt ein trauriger Menſch.
Er: Du gehſt Morgen fruͤh weg: nicht wahr?
Ich: Ja: aber wozu das?
Er: Hoͤre, wenn du mich mitnaͤhmeſt? Dir
kann es nichts ſchaden: du haſt Paͤſſe; und wer-
den wir ja angehalten, ſo zeigſt du dein Papier.
Die großen Staͤdte will ich vermeiden und umgehen,
indeß du durchpaſſirſt: auf den Landſtraßen komme
ich wieder zu dir. Vielleicht komme ich mit durch:
und werde ich ja angehalten, ſo kannſt du keine Un-
[145] gelegenheit haben, und ich muß etwan 15 oder 20
Tage ins Priſon, und das iſt alles.
Der Vorſchlag des Huſaren misfiel mir nicht:
ich ſagte ihm, er ſolle den andern Tag an dem ehe-
maligen Hoſpital le Pelletier — war ſonſt ein Luſt-
ſchloß und hieß Mirande — meiner warten, und
ſo war unſer Handel geſchloſſen. Ich hielt es fuͤr
Pflicht, einem Kameraden den Ausgang aus Frank-
reich zu erleichtern; und vor der Furcht, verrathen
zu werden, war ich ſicher: denn der Huſar ver-
ſtand kein Wort franzoͤſiſch, und wenn er waͤre an-
gehalten, und ich ſeinetwegen befragt worden, ſo
haͤtte ich geſagt, daß ich von ſeiner Geſchichte nichts
wiſſe, und daß es meine Schuldigkeit auch nicht
ſey, danach zu fragen u. ſ. w. Dieſe Moral iſt
freilich etwas lax, aber wo iſt der Menſch, der
nicht laxe Moral hat!
Fruͤh konnte ich mich beynahe nicht losmachen
aus dem Hoſpital. Die Chirurgen, der Direktor,
die Krankenwaͤrter, beſonders Beſſel und viele
Kranken redete alle auf mich ein, und faſt jeder
wollte mir etwas mitgeben. Beſſel drang mir
ein ganzes Brod auf; der Direktor ein Flaͤſchchen
feinen Franz, der Apotheker ein Glaͤschen Liquor
anodynus nnd mehrere Krankenwaͤrter ihre Fleiſch-
portionen vom vorigen Abend, die ſie fuͤr mich auf-
Viert. Th. 2te Abth. K
[146] geſpart hatten. Endlich kam der Portier und
brachte mir einen großen Pack Rauchtaback. — Sie
weinten alle, und ich war ſo tief geruͤhrt, daß ich
ihnen nur die Haͤnde druͤcken, aber kein Wort ſpre-
chen konnte.
Betaͤubt ging ich durch die Straßen von Dijon
und erſt vor dem ehemaligen Petersthor konnte ich
mich wieder faſſen und zuruͤck blicken. Hier ſtieg
nun folgender Gedanke bey mir auf, der mein oh-
nehin ſchon verwirrtes Gemuͤth nur noch mehr zer-
ruͤttete. „Du gehſt jezt aus einem Lande, in wel-
ches du auf die unwuͤrdigſte Weiſe von der Welt
getreten biſt. Du haſt wollen das Deinige bey-
tragen, die Freyheit einer edlen Nation ſtuͤrzen zu
helfen — eine Freyheit, deren wohlthaͤtigen Ein-
fluß du ſelbſt gefuͤhlt und genoſſen haſt. Geh,
Laukhard, ſchaͤme dich! du biſt ein Niedertraͤchti-
ger, ein Verworfner. Sprich ferner nicht mehr
von Schurken: denn du gehoͤrſt in ihre Klaſſe,
ſtehſt mit unter den Veraͤchtlichſten. Die Franzo-
ſen haͤtten recht gehabt, wenn ſie dich deiner Un-
ternehmungen wegen mit dem Tode beſtraft haͤtten;
und noch auf der Guillotine haͤtteſt du dir ſelbſt be-
kennen muͤſſen, daß ſie dir nicht Unrecht thaͤten.
Aber wie ſind ſie mit dir verfahren? — Welchen
Erſatz kannſt du ihnen geben? — Hier faßte ich
den feſten Vorſatz, von den Franzoſen niemals an-
[147] ders zu reden oder zu ſchreiben, als wie es die
Wahrheit nach meiner Ueberzeugung fodere: und
durch dieſen Vorſatz wurde ich um etwas beruhi-
get. — Es iſt eine erzfatale Sache um ein boͤſes
Gewiſſen, welches um ſo beißender anſpricht, je
ſchonender die natuͤrliche Strafe unſrer ſchlechten
Handlungen eintritt.
Conſcia mens, ut cuſque ſua eſt, ita con-
cipit intra
Pectora pro meritis ſpemque metumque ſuis.
Mein Huſar kam bald zu mir, und wir gin-
gen ſtracks fort auf Auxonne zu. Aber ſchon den
Nachmittag fieng es ſo an zu regnen, daß wir ei-
nigemal einſprechen, und endlich gar eine Stunde
jenſeits dieſer Stadt auf einem Dorfe uͤbernachten
mußten. Ein reicher Bauer gab uns Quartier. Es
war ſchon ein alter Mann, deſſen Sohn todt, deſſen
Sohnes Soͤhne aber im Felde waren. Drey Toͤch-
ter ſeines Sohnes, deren Mutter und er verſahen
die Wirthſchaft, wobey ihnen auch ein Kriegsge-
fangener aushalf, den ſie als Arbeiter (travail-
leur, denn die Woͤrter: Knecht, Magd etc. ſind
abgeſchafft) angenommen hatten. Die Leute wa-
ren ſehr munter, und als ich ihnen ſagte, daß
mein Reiſegefaͤhrte ein Schneider ſey, ſo bat ihn
der Alte, er moͤgte ihm einen Rock ausbeſſern.
[148] Der Huſar war dazu willig, und alle gaben ihm
das Zeugniß, daß er ſeine Sache huͤbſch mache,
daß es Schade ſey, daß er fort wollte, und daß
er ſogar auf ihrem Dorfe recht gut wuͤrde leben,
und ſich durchbringen koͤnnen. Die Maͤdchen ſchaͤ-
kerten endlich mit uns, und ich merkte, daß der
Huſar nichts mehr bedaurte, als daß er mit ih-
nen nicht ſprechen konnte.
Die Leute gaben uns zu eſſen, und als der Alte
ſowohl, als die Maͤdchen fortfuhren, zu bedauren,
daß ein huͤbſcher Menſch, der ein Handwerk ver-
ſtaͤnde, ihr Land verlaſſen wollte, worin er doch
weit beſſer als in Deutſchland leben und ſein Aus-
kommen finden wuͤrde: ſo wollte ich meinen Spaß
haben, und ſagte zum Alten, wenn er meinem
Reiſegefaͤhrten eine von den Maͤdchen zur Frau
geben wollte, ſo wollte ich ihm den Vorſchlag
thun, da zu bleiben. Dazu koͤnnte wohl Rath
werden, antwortete der Alte mit Laͤcheln. Ich
erklaͤrte dieß meinem Huſaren, aber auch mehr
ſchnurrig als ernſthaft, und dabey blieb es fuͤr
den Abend. Fruͤh aßen wir noch Suppe mit
den guten Leuten, und gingen nach Auxonne,
wodurch auch der Huſar mußte, weil er ſonſt
[ni]cht uͤber die Saone konnte, uͤber welche hier
eine Bruͤcke geht. In Auxonne lagen auch Preu-
ßen, unter welchen der Huſar Bekannte hatte,
[149] die er beſuchen wollte, waͤhrend ich meinen Paß
unterſchreiben, und mir Brod und Geld geben
ließ. Ich beſtellte ihn in ein Weinhaus, wo
wir unſre Buͤndel abgelegt hatten, und ging.
Als ich zuruͤck kam, war mein Huſar noch nicht
da; ich ließ mir alſo etwas geben, und war-
tete: Aber vergebens. Daran aber war ich wohl
Schuld, und zwar ſo per accidens: denn unter-
wegs von dem Dorfe an bis nach Auxonne,
ſprach ich von den Vortheilen, die einer haben
koͤnnte, der in Frankreich bleiben, und ſich da
durch ſeine Arbeit naͤhren wollte; und da ich
merkte, daß das eine Maͤdchen, welches ſehr
bey Fleiſche war, Eindruck auf den Huſaren
gemacht hatte, ſo ſtrich ich das Gluͤck heraus, wel-
ches er da auf dem Dorfe haben koͤnnte u. ſ. w.
Dieſe Vorſtellung hat dem guten Menſchen
vielleicht eingeleuchtet: denn nach langem Warten,
ging ich endlich ins Kloſter zu den Preußen, und
fragte nach dem Huſaren. „Ja, hieß es, der iſt
zuruͤck gegangen; er hat geſagt, er getraue ſich
nicht durchzukommen.“ Wahrſcheinlich war er
wieder auf das Dorf zuruͤckgeeilt. Nun, es be-
komme ihm wohl!
In Pagny mußte ich mich mit dem Maͤre
herumdiſputiren, weil er mir mein Brod und Geld
ſchlechterdings nicht eher reichen wollte, als den
[150] Nachmittag. Die Etapes, meynte er, ſtaͤnde[n]
nur des Nachmittags offen, und jezt habe er zu
thun: — er war ein Wagner, und arbeitete in
ſeiner Werkſtaͤtte. Aber ſein Geſelle ſagte ihm: er
ſollte ſich ſchaͤmen, einen Reiſenden um der Ver-
ſaͤumniß von einer Viertelſtunde willen aufzuhal-
ten: und ich wurde befriedigt.
Da ich keinen Feuerſtahl hatte, ſo mußte ich
in den Doͤrfern fleißig einſprechen, wegen mei-
ner Pfeife, deren wohlthaͤtige Wirkung ich beſon-
ders auf dieſer beſchwerlichen Reiſe empfunden
habe. Faſt allerwegen, wo ich einſprach, gab
man mir ein Glas Wein, oder doch ein Glas
boite – ſo nennen die Leute einen Aufguß auf
die nicht ausgekelterten Weintreſter, der hernach
gaͤhrt, und von den Aermern getrunken wird.
Nicht ſelten both man mir Brod und Kuchen
aus tuͤrkiſchem Waizen oder Mais an: dieſe
Kuchen, ſo wie auch das Muß aus demſelben
nennen die Leute Gotes, wenn ich anders dieſes
Wort recht ſchreibe. Ich wuͤrde — ſo menſch-
lich und gaſtfrey iſt auch der gemeinſte Franzoſe
im Durchſchnitt — gewiß durchkommen ſeyn,
wenn ich auch keinen Etape von der Nation ge-
noſſen haͤtte.
In Beſançon kam ich ziemlich zeitig an,
und erhielt mein Quartier, zum Ausruhen, bey
[151] einem Ziegeldecker, dichte am Fluß Doux, wel-
cher mitten durch Beſançon fließt. Ich war in
dieſer Stadt ſchon etwas bekannt, und ſuchte das
Wirthshaus wieder auf, wo das Jahr zuvor der
brave Landrin logirt hatte. Die Leute, welche
mich noch kannten, ſtuzten uͤber meine Erſcheinung,
und baten mich, ihnen zu erzaͤhlen, wie mir's bis-
her in Frankreich ergangen waͤre. Das that ich,
und alle Gaͤſte horchten; und als ich fortwollte,
ſtellten ſie eine Aſſignaten-Kollekte fuͤr mich zur
Fortſetzung meiner Reiſe an. Ich verſah mich hier
ſo gut mit Rauchtaback, daß ich noch einigen Stu-
denten in Freyburg eine Probe davon geben konnte.
Auf der Citadelle erſtaunte ich uͤber die unge-
henre Menge ganz neuer Kanonen, welche da ohne
Lavetten aufeinander lagen, und uͤber die entſetz-
liche Menge Kugeln. Obgleich Beſançon eine
der vornehmſten Feſtungen in Frankreich iſt, ſo
lag doch damals keine Garniſon darin: nur einige
alte Buͤrger beſezten die Thore, eben ſo, wie in
Befort und in andern feſten Plaͤtzen, welche von
den auswaͤrtigen Feinden weit entfernt waren.
Dieſes beweißt ſehr viel, wenigſtens ſoviel, daß
man ſich vor einem Aufſtande des Volks, und vor
neuen Unruhen gegen die Einrichtung der Republik
nicht gefuͤrchtet hat. Denn im Fall eines Anfſtan-
des waͤre es den Rebellen ja ſehr leicht geweſen,
[152] ſo unbeſezte Feſtungen zu beſetzen, und von da aus
ihre Foderungen an den Konvent zu machen, wie
die zu Lyon es gemacht haben.
Als ich aus Beſançon kam, um nach Beaune
zu gehen, traf ich einen gewiſſen Lehmann an,
welcher ehedem den Preußen, als Kalkreuthiſcher
Dragoner, gedient hatte, und den ich in Dijon
hatte kennen l[e]rnen. Er war hernach von da aus
ſonſt wohin verlegt worden. Ich freute mich, ei-
nen Reiſegefaͤhrten anzutreffen; aber er bath mich,
ſeinen Namen ja nirgends zu nennen, denn mit
ſeinem Paß ſtuͤnde es eben nicht ſo recht. Ich ließ
mir den Paß zeigen, und ſiehe da, er war in Or-
léans, wo Lehmann niemals geweſen war, fuͤr
einen Schweizer gemacht worden. Da er mir nicht
ſagen wollte, wie er zu dem Paß gekommen war:
ſo ſchloß ich, daß er ihn entweder gekauft, oder
geſtohlen hatte. Wir blieben indeſſen beyſammen
bis nahe bey Freyburg, wo er ſich trennte, weil
er fuͤrchtete, die Oeſtreicher moͤgten ihn anhalten
und an die Preußen ausliefern.
Von Beſançon bis Befort begegnete mir nichts
erhebliches, nur daß mein Schuhwerk auf den
elenden Wegen immer ſchlechter ward. Ob gleich
durch die ganze Franche Comté Chauſſee iſt, ſo war
doch dieſes wegen der beſtaͤndigen Fuhren ſo zer-
nichtet, daß oft leicht beladene Wagen und Ka[r]
[153] ren in den Loͤchern ſtecken blieben, und nicht mehr
vorwaͤrts konnten.
Als ich durch die Grafſchaft Muͤmpelgard
ging, ſprach ich in einem Weinhauſe ein, wo ich
ſchon vor einem Jahre geweſen war. Da hoͤrte ich,
daß man nun auch bey ihnen anfangen wolle, Re-
kruten fuͤr die Armeen auszuheben: denn ſonſt wa-
ren dieſe Leute, als ehemalige Unterthanen des
Herzogs von Wuͤrtemberg, von der Rekrutirung
frey gelaſſen. Ich fragte auch nach den lutheri-
ſchen Geiſtlichen dieſes Laͤndchens, und hoͤrte, daß
ſie huͤbſch geblieben waͤren, und ſich nun ganz or-
dentlich betruͤgen.
In Befort machte ich abermals Raſttag; und
in Altkirchen war es, wo ich wieder durchaus
deutſch ſprechen hoͤrte, freilich ein abſcheuliches
deutſch, wie es im Ober-Elſaß Mode iſt, aber
doch war mirs, als waͤre ich ſchon voͤllig in Deutſch-
land. Ich lag bey einem Huthmacher, deſſen
einziger Sohn in dieſem Kriege umkommen war.
Mann und Frau weinten noch die heißeſten Thraͤ-
nen, und verwuͤnſchten Krieg und Revolution,
weil dieſe ſie ihr Kind gekoſtet hatte.
Das iſt ſo der Gang der menſchlichen Geſin-
nungen! Wenn man bey einem Vorfall etwas ein-
gebuͤßet hat, ſo ſchimpft man auf die ganze Sa-
[154] che, womit dieſer Vorfall in irgend einer Verbin-
dung ſtand.
Mein Wirth erzaͤhlte mir auch manches von
den Elſaſſer Emigranten, deren viele um jene Zeit
wieder in Frankreich eingelaſſen wurden, doch ſo,
daß ſie ihren Weg damals noch alle uͤber Baſel
nehmen mußten.
Im Elſaß iſt eine doppelte Emigration vor-
gefallen, welche man wohl von einander unter-
ſcheiden muß, um es nicht widerſprechend zu fin-
den, daß man einigen Emigrirten ſchon damals
erlaubt hat, und noch jezt erlaubt, zuruͤck zu kom-
men, und doch das Geſetz gegen die Emigranten
in ſeiner Kraft ſtehen laͤßt.
Die erſte Emigration geſchah vor dem Kriege
aus Haß gegen die Anſtalten der Nation, und
aus Anhaͤnglichkeit an dem Koͤnigthum und der
Pfafferey. Zu dieſer gehoͤrten die Herren Biſchoͤfe,
Praͤlaten, Pfaffen, Grafen, Edelleute und an-
dre, welche nur emigrirten, um auf dieſe oder jene
Art eine Deſpotie mit herſtellen zu helfen, unter
der einzig ſie nur leben konnten und wollten. Dieſe
Emigrirten zaͤhlt man zu den aͤchten, d. i. zu je-
nen, welche das Geſetz gegen die Emigrierten trifft,
und welchen, wenn Frankreich konſequent handeln
will, niemals erlaubt werden kann, in ihr Land
zuruͤck zu kehren.
[155]
Aber es emigrirten auch Viele im Jahre 1793,
als die deutſchen Truppen ſich ſo bald aus dem El-
ſaß zuruͤcktrollen mußten. Vorzuͤglich trug ſich
das in jenen Herrſchaften zu, welche zwar unter
franzoͤſiſcher Hoheit ſtanden, aber doch andern
deutſchen Fuͤrſten, Herren, Grafen u. ſ. w. zuge-
hoͤrten. Dieß war der Fall bey den Elſaſſer-Un-
terthanen des Landgrafen von Heſſen-Darmſtadt,
des Biſchofs von Strasburg, Baſel u. ſ. w.
Auch aus jenen Oertern, welche unmittelbar
franzoͤſiſch waren, ging eine ſtarke Emigration vor
ſich, als eben die Deutſchen ſich zuruͤckzogen.
Die Deutſchen hatten naͤmlich den Leuten weis ge-
macht, daß, ob ſie gleich auf eine kurze Zeit weg
muͤßten, doch naͤchſtens wiederkommen, und alles,
was den Rebellen anhinge, mit Feuer und Schwerdt
zerſtoͤren wuͤrden. Das hatten die kurzſichtigen
und erſchrockenen Leute geglaubt, und waren, um
den Deutſchen zu hofiren, abgezogen — in Hoff-
nung beſſerer Zeiten durch die prahlhaften Deut-
ſchen.
Auch trug das Betragen vieler Franzoſen ſelbſt
nicht wenig bey, die Leute in Furcht zu jagen.
Wenn ſie irgend wohin kamen, wo ſonſt Deutſche
geſtanden waren, ſo verfuhren ſie mit den Leuten
ſehr hart, ſchalten ſie Ariſtokraten, und machten
ihnen ſelbſt kleine Dienſte, die ſie dem Feinde er-
[156] wieſen hatten, zu Verbrechen. Daher liefen auch
Viele blos aus Furcht weg. Endlich hat auch die
Aufhebung des Gottesdienſtes Viele aus dem Elſaß
fortgetrieben. Denn kein Land war wohl ortho-
doxer, als das Elſaß: die Proteſtanten und Katho-
liken machten ſich hier den Rang der Rechtglaͤubig-
keit ſchon lange ſtreitig.
Nachdem aber 1794 das Schreckensſyſtem ge-
fallen war, ſo belehrten einige gutgeſinnte Volks-
repraͤſentanten im Elſaß den Konvent von der
wahren Lage der Dinge, und ſchlugen ein Geſetz
vor, kraft deſſen diejenigen Elſaſſer, welche aus
Furcht vor dem Schreckensſyſtem ausgewandert
waͤren, wieder zuruͤckkommen duͤrften. Der Vor-
ſchlag wurde angenommen, und Viele, beſonders
Bauern, Handwerker u. dgl. gingen zuruͤck. Da
aber die Demokraten deren Haͤuſer waͤhrend ihrer
Emigration gepluͤndert, und nicht ſelten zerſtoͤhrt
hatten, ſo befanden ſie ſich in einer eben nicht gar
angenehmen Lage.
Von Altkirchen nach Baſel ſind nur ſechs
ſtarke Stunden, und doch brachte Lehmann
und ich faſt den ganzen Tag damit zu: es hatte die
Nacht ſtark geſchneiet: Morgens thaute der Schnee
auf, und der Weg ward abſcheulich.
In dem ehemaligen Saint Louis, einem Dorfe
bey Huͤningen, hoͤrte ich, daß der General
[157]Eikenmayer in dieſer Feſtung kommandire
ich kannte ihn von Mainz aus ſchon lange, bekam
alſo Luſt, ihn zu ſprechen. Man kann ſich naͤm-
lich aus dem erſten Bande meiner Lebensgeſchichte
erinnern, daß ich ehemals in Mainz, beſonders
wegen des braven Barons von F... mich oft und
ſtark herumtrieb. Zu der Zeit ward ich mit einem
Kaufmann bekannt, welcher Zucchi hieß, und
eine ſehr ſchoͤne Frau hatte. Hr. Eikenmayer,
damals Oberleutnant der Artillerie, machte der
Madam Zucchi die Cour, und fand Gehoͤr. Die
Madam Zucchi, eine Italiaͤnerin, und gebohrne
Appiano, mit deren Bruder ich ſonſt vielen Um-
gang gehabt hatte, kannte ich auch, und ſo lernte
ich den Hrn. Eikenmayer bey ihr kennen, und
wir wurden, ſtudentiſch geſprochen, recht fidel zu-
ſammen.
Eikenmayer iſt gewiß ein Mann von Kopf
und ſchoͤnen Kenntniſſen, die er vorzuͤglich in Eng-
land geſammelt hat, wo er ſich eine Zeitlang auf
Kurfuͤrſtliche Koſten aufgehalten hatte: und dieſes
war die Urſache, warum ich ihn jezt gern geſpro-
chen haͤtte. Als ich nach Huͤningen kam, hoͤr-
te ich, daß er ſo eben nach Bonrg Libre, ſo heißt
jezt das Dorf Saint Louis, geritten ſey. Ich beſah
alſo die Feſtung fluͤchtig, und ging, weil es bald
Abend war, zuruͤck nach Bourg Libre. Aber un-
[158] terwegs bedachte ich, daß ich Gefahr laufe[n] koͤnn-
te, wenn ich einen General beſuchte, de ganz
Republikaner war. Wie leicht konnte er von mei-
ner Sendung gehoͤrt haben, und dann war ich
verlohren. Mich ſchauderte vor dem Gedanken,
noch einmal eine Priſon in Frankreich auszuhalten,
und befragte mich alſo kurz und gut in Bourglibre:
was ich zu thun haͤtte, um ohne Hinderniß nach
Baſel zu kommen? Man wies mich zu einem
Greffiier, welcher meinen Paß aus Dijon an ſich
hielt, und mir ein Zettelchen von ſeiner Hand gab,
nach welchem die Wache an der Chauſſee angewie-
ſen wurde, mich durchzulaſſen.
Zur Zeit des Robespierre, als die ſtarken
Emigrationen vorfielen, waren, wie man weiß,
alle paſſirbare Plaͤtze auf den Graͤnzen des ganzen
Landes mit ſtarken Wachen beſezt, und dieſe loͤßte
man von Zeit zu Zeit, alle zwey, drey Monate
ab. Man kann denken, welche fuͤrchterliche Men-
ge Menſchen, eben durch dieſe Anſtalt, beynahe
unthaͤtig auf den Graͤnzen ſtanden, und eben ſo
viel auszuſtehen hatten vom Wetter und von der
Theurung, als die Soldaten im Felde. Außerdem
waren in jedem Dorfe und in jeder Stadt Poſten
aufgeſtellt, welche Tag und Nacht auf die Paſſi-
renden Acht hatten, und die Wege waren immer,
voll Gensdarmes. Nachdem aber der Terrori[s]-
[159] mus aufhoͤrte, ſo wurde auch hierauf nicht mehr
ſo ſtark geſehen, und die Wachen in den Doͤrfern
hoͤrten voͤllig auf, und die Gensdarmen patrouillir-
ten bey weitem nicht mehr ſo fleißig, als ſonſt.
Indeſſen blieb noch immer die Wache auf den
Graͤnzen. Allein da auch dieſe es nicht mehr ſo
genau nahm, ſo war es manchem deutſchen Deſer-
teur und Gefangenen leicht, herauszukommen.
Ich habe nachher, beſonders als ich bey den Schwa-
ben ſtand, viele geſprochen, welche mir dieſes ge-
ſagt haben. Und es war ja auch ſelbſt in Frank-
reich nun nicht mehr ſehr nothwendig, ſo genau
auf die Paſſagen Acht zu geben: denn was die
Auswanderung betraf, ſo waren die, welche ſich
hiezu etwan genoͤthigt finden konnten, entweder
guillotinirt, oder ſchon fort, oder ſie ſaßen im Ge-
faͤngniß: und wegen einiger Gefangenen oder De-
ſerteurs, welche die Luſt anwandeln mogte, ab-
zufahren, war es eben nicht noͤthig, jene koſtſpie-
lige und laͤſtige Anſtalt fortzuſetzen.
Als ich uͤber die Graͤnze kam, hatte ich eine
ganz eigne Empfindung. Ich war freilich recht
herzlich froh, endlich einmal wieder in einem Lande
zu athmen, wo ich weiterhin keine Gefahr mehr zu
beſorgen hatte wegen eines Auftrags, dem ich mich
ſo unbeſonnen unterzogen hatte. Allein auf der
[160] andern Seite verließ ich doch ungern ein Land, in
welchem ich mehr geſehen und mehr erfahren hatte,
als ich nie wieder ſehen und erfahren kann, ich
mag hinkommen, wohin ich will, und ſollte ich
Methuſalems Alter erreichen. Ich dachte dankbar
zuruͤck, an ſo manchen guten Tag, den mir die
Franzoſen gemacht hatten, und den ich durchaus
nicht verdient hatte, nach dem, was ich gegen ſie
auszufuͤhren uͤbernommen hatte.
Sollte dieſes Buch, wie ich jezt gewiß weiß,
daß es geſchehen iſt, und ferner auch geſchehen
wird, nach Frankreich gebracht, und da geleſen
werden, ſo bitte ich alle ehrliche Republikaner mir
zu glauben, wenn ich ſie verſichere, daß ich ihren
Staat verlaſſen habe mit Gedanken, die ihrer wuͤr-
dig waren. Ein Republikaner muß billig urthei-
len, und nicht, wie etwan ein raſender Jakobiner
oder Sanskulotte: und dann habe ich vor dem
Richterſtuhl der Republikaner wenig oder nichts
mehr zu fuͤrchten. Sie werden die Lage, worin
ich mich noch im September 1793 befand, uͤberle-
gen, und dann vielleicht finden, daß ich, wenn
ich mich an ihnen ja verſuͤndiget habe, es aus Un-
kunde, Leichtſinn und Unuͤberlegtheit, dieſen mei-
nen hauptſaͤchlichſten Fehlern, mehr geſchehen iſt,
als aus Bosheit oder Deſpotenſinn.
[161]
Ich hielt mit meinem Gefaͤhrten Lehmann
noch ein weitlaͤufiges Geſpraͤch uͤber die verſchiede-
nen Verhaͤltniſſe in Frankreich und in Deutſchland;
und ſo roh der Menſch auch war, ſo unbefangen ge-
ſtand er, daß es in Frankreich recht gut ſey, wenn
man die Leute nur verſtehen koͤnnte.
Zur Steuer der Wahrheit, und um den Fran-
zoſen Gerechtigkeit wiederfahren zu laſſen, muß
ich meinen Leſern nochmals ſagen, daß es freilich
ſeyn kann, daß manche, die in Frankreich gewe-
ſen ſind, in ihren Urtheilen und Auſſagen uͤber das
Betragen der Franzoſen gegen ſie, weder unterein-
ander, noch mit mir uͤbereinſtimmen. Einige,
ſowohl Deſerteurs als Gefangene, werden freilich
ſchimpfen und laͤſtern, und wer weiß wie viel Ar-
ges von der Haͤrte und der Ungerechtigkeit dieſes
Volks zu erzaͤhlen wiſſen. Aber wenn dieſe Leute
es ehrlich meynen, ſo hat ihnen ganz gewiß ihre
Katechismus-Religion oder ihr ſtumpfer Skla-
venſinn das Geſicht geblendet; oder ſie wollen ſich
durch erdichtete oder vergroͤßerte Leiden wichtig
machen; oder ſie haben ſich in Frankreich ſo ſchlecht
betragen, daß man ſie durchaus knapp halten
mußte. Und ſolche Menſchen gab es viele, ſelbſt
deutſche Kriegsbeamten, oder Offiziere. — Allein
auch dieſe ſollten billig ſeyn, und ein Volk nicht
Viert. Th. 2te Abth. L
[162] ſchimpfen, das ſie nicht einmal nach der Strenge
ſeiner Geſetze *) richtete, ſondern ſie weit gelinder
behandelte, als ſeine eignen Leute im aͤhnlichen
Uebertretungsfall.
Wenn alſo meine Leſer feindſelige Urtheile
uͤber die franzoͤſiſche Nation leſen oder hoͤren,
von Leuten naͤmlich, die wirklich in Frankreich
geweſen ſind, ſo moͤgen ſie ihr Urtheil anfaͤng-
lich zuruͤckhalten, und erſt genau unterſuchen,
was das fuͤr ein Zeuge ſey, der ſolche Sachen
vorbringt. Ich fuͤr mein Theil kann nach mei-
ner Einſicht von den Franzoſen nicht anders
ſchreiben, als ich ſchreibe. Amicus Plato, ami-
cus Socrates: magis amica veritas!
[163]
Neun und vierzigſtes Kapitel.
Baſel, und die Baſeler Rathsherrn.
Es war eben daͤmmerig, als ich mit Lehmann
ans Thor zu Baſel kam. Die Wache fragte
nach Paͤſſen; da wir aber, wie man weiß, keine
mehr hatten, ſo bekamen wir einen Soldaten *)
zur Begleitung, welcher uns zu einem Kommiſſaͤr
fuͤhrte, der unſre Namen u. ſ. w. in ein großes
Buch einſchrieb, und uns ſofort nach der Bettel-
herberge ſchickte. Es iſt naͤmlich zu Baſel Mode,
daß alle Fremden, welche uͤber Nacht da bleiben
wollen, ſich entweder als wirklich Reiſende, d. i.
[164] fuͤr ihr Geld zehrende Perſonen dadurch qualificiren,
daß ſie ſich in ein namhaftes Gaſthaus einquar-
tiren, oder aber, daß ſie ſich auf die Bettelherberge
bringen, und da einſperren laſſen.
Ich war ſehr muͤde, und es kuͤmmerte mich al-
ſo wenig, ob ich auf der Bettelherberge oder ſonſt-
wo ſchlief: ich war ja der elenden Nachtlager ſchon
ſeit ſehr langer Zeit gewohnt worden: und ob ich
ſchon keine Urſache habe, mit dem Betragen der
Baſeler Herren gegen mich zufrieden zu ſeyn, ſo
danke ich Ihnen doch hier oͤffentlich fuͤr ihr Brod,
fuͤr ihre Erbſenſuppe, und fuͤr ihre zwey Schweizer-
Batzen, womit ſie mich regalirt haben.
Auf der Herberge war es ein Leben, wie man
es an einem ſolchen Orte erwarten kann. Ohnge-
faͤhr acht Deſerteurs, die aus Frankreich zuruͤck-
kamen, waren unſere Geſellſchaft, nebſt einigen
Elſaſſer-Fluͤchtlingen, welche in ihr Land zuruͤck
wollten. Wir mußten auf der bloßen hoͤlzernen
Pritſche liegen, weil man wegen des Ungeziefers,
kein Stroh auf die Herberge bringen durfte. Ich
lagerte mich auf den Tiſch. Der Laͤrmen in dieſer
Geſellſchaft wa[r] unaufhoͤrlich, doch aber freute ich
mich, die deutſchen Deſerteurs immer beſſer kennen
zu lernen. Sie ſprachen von nichts, als von den
Bubenſtuͤcken, die ſie waͤhrend ihres Aufenthalts
in Frankreich veruͤbt hatten, und ruͤhmten ſich ihrer
[165] nach dem Grundſatz, daß man ſich an ſo einer Na-
tion nicht verſuͤndigen koͤnnte. — Ein Emigrant
aus Toul in Lotharingen, der auch da war, ſchaͤ-
kerte mit einem Bettelmaͤdchen, das uns gleich-
falls Geſellſchaft leiſtete, unanſtaͤndig genug.
Als ich ihm ſagte, daß er wenig Geſchmack haben
muͤßte, mit ſo einem Weſen ſchoͤn zu thun, ant-
wortete er: que voulez vous? il faut prendre ce
qu'on trouve ſur ſes pas: und griff wieder nach
dem zerlumpten und ſchmutzigen Bettelmaͤdchen.
Fruͤh kam der Herr Vater oder der Oberaufſeher
uͤber die Herberge, und gab uns unſer Geld, je-
dem zwey Batzen, und hieß uns abmarſchiren.
Ich trennte mich ſofort von meiner Nachtgeſell-
ſchaft, lief durch einige Straßen, und begaffte
die Haͤuſer und die Menſchen, wie einer thut, der
zum erſtenmal in eine ſo beruͤhmte Stadt kommt,
als Baſel iſt. Ich trat endlich in eine Schenke,
wo ich fuͤr einen Batzen Brod und Branntwein zu
mir nahm. Hier fand ich Deutſche und Franzoſen
durcheinander, welche alle von politiſchen Angele-
genheiten ſprachen. Nicht weit von mir ſaß ein
huͤbſcher Mann, den ich fragte, wo ich einen Paß
nach Zuͤrich haben koͤnnte? Er wieß mich aufs
Rathhaus. Hier traf ich in einer nach recht go-
thiſchem Geſchmack eingerichteten Stube einige
Herren, welche mich derb anfuhren, und im im-
[166] pertinenteſten Ton alle zugleich fragten: was ich
ſchaffte d. i. haben wollte?
Ich: Meine Herren, ich habe Sie gehorſamſt
erſuchen wollen, mir einen Paß nach Zuͤrich zu
geben, wohin ich gewiſſer Abſichten wegen, gern
gehen wollte.
Die Herren: (alle zugleich, und im aͤch-
ten unertraͤglichen Schweizerton) Nein, nein,
daraus wird nichts! Der Herr ſieht aus, wie
ein Vagabunde: Nein aus dem Paß wird nichts!
Ich: Meine Herren, ich bin kein Vagabun-
de: ich habe ehemals dem Koͤnig in Preußen
gedient, und moͤgte den Hrn. Prof. Ulrich und
den Hrn. Geßner in Zuͤrich beſuchen.
Die Herren: (wie zuvor, aber immer lau-
ter) Nein, nein, daraus wird nichts! Der Herr
kommt aus Frankreich, und wer aus Frankreich
kommt, als Deſerteur oder als Gefangener, darf
in der Schweiz nicht reiſen. Jezt geh der Herr!
Ich aͤrgerte mich uͤber die impertinente Grob-
heit der Baſeler Herren und ſchob ab, ohne ein
Wort weiter zu verlieren.
Hier will ich im Vorbeygehen bemerken, daß
die meiſten Schweizer in Ihrem Lande eben ſo
impertinent, grob und ſtolz ſind, als ſie ſich in
fremden Laͤndern biegſam, artig und fein zu be-
tragen ſuchen. In ihrem Lande duͤnken ſie ſich
[167] Koͤnige, und ſehen ſtolz herab auf Fremde, zu-
mal arme. — Dieſe Anmerkung haben ſchon
mehrere Reiſende gemacht. Haͤtte ich [...]ber doch
Geld geben koͤnnen, ich wuͤrde gewiß einen Paß
erhalten haben: Denn kein Sprichwort iſt richti-
ger, als das alte: kein Geld, kein Schweizer.
Auf der Straße, nicht weit vom Rathhauſe,
fragte mich ein Franzoſe nach etwas, woruͤber ich ihm
keine Auskunft geben konnte, und ich wollte eben
weiter gehen, als eine Dame, mit der franzoͤ-
ſiſchen Kokarde auf ihrem Kopfzeuge, mir zurief:
ob ich jezt eben aus Frankreich kaͤme? Ich ant-
wortete mit ja, und ſie fuhr fort zu fragen, wo
in dieſem Lande ich mich denn aufgehalten haͤtte?
Als ich nun unter mehrern Staͤdten auch Mâcon
nannte, ſo bath ſie mich, zu ihr herein zu kom-
men. Du ſiehſt fatal um die Beine herum aus,
Citoyen, ſagte ſie: du haſt, wie es ſcheint, wohl
auch kein Geld, dir Schuhe anzuſchaffen? Ich
bejahte dieſe Frage. Nun, du ſollſt Schuhe ha-
ben, fuhr die brave Frau fort: ich bin auch aus
Mâcon, und treibe hier einige Geſchaͤfte: Setze
dich. Ich gehorchte, und erzaͤhlte ihr dieſes und
jenes aus Frankreich, auch Manches von meinen
eignen Geſchichten, und ſie hoͤrte mir mit Auf-
merkſamkeit zu, und bewirthete mich indeſſen mit
Wein und Brod und Knoblauch. Es wurde ein
[168] Schuſter herbeygerufen, der mir ein Paar Schuhe
anprobiren mußte: ſie paßten, und die Dame be-
zahlte ſie. Dann gab ſie mir ein Paar Struͤmpfe
und ein noch recht gutes Hemdde von ihrem Manne.
Ihr Bedienter mußte mich nachher in den Gaſthof,
die wilden Maͤnner, bringen, wo ich auf ihre Ko-
ſten geſpeißt und beherbergt wurde. Hier erfuhr
ich, daß dieſe Dame und ihr Mann ſich ſchon eini-
ge Zeit in Baſel aufhielten, und da mit Pferden
handelten, welche ſie in Deutſchland, ja ſogar
von den oͤſtreichiſchen Offizieren und Kommiſſarien
[ſelb]ſt aufkauften, und ihren Franzoſen mit ſchwe-
rem Profit wieder ablieſſen. Man verſicherte, daß
dieſe Leute mehr als eine halbe Million Livres
durch den Pferdehandel gewonnen haͤtten. Ich
goͤnnte der edlen Frau ihren Gewinn, ob ich gl[ei]ch
die Untreue jener Oeſtreicher verabſcheuen mußte,
welche ihren Kaiſer ſo ſchaͤndlich betrogen *).
Nachmittags ging ich in Baſel herum, und
haͤtte gern einiges beſehen, vorzuͤglich das Grab
des großen Erasmus von Rotterdam, der
hier im Jahre 1537 geſtorben iſt: auch haͤtte ich
gern den Saal ſehen moͤgen, worin das beruͤhmte
Concilium Baſileenſe gehalten iſt. Aber da ich kein
[169] Geld hatte, um den Herumfuͤhrer zu honoriren:
ſo mußte ich mir den Luſten vergehen laſſen, bey
der Gruft eines Mannes eine Thraͤne zu vergießen,
der allein mehr Gutes bewirkt hat fuͤrs Denken und
Handeln, als alle allgemeine und beſondere Conci-
lien der ganzen Chriſtenheit, von dem Concilium
der Apoſtel an bis auf den Congreß zu Ems.
Der preußiſche Geſandte, Graf von Golz,
war kurz vorher in Baſel geſtorben *), und deſſen
Nachfolger, Baron von Hardenberg, war
noch nicht angekommen: ich konnte alſo von dieſer
Seite auf eine Unterſtuͤtzung und einen Paß nicht
rechnen, und war daher genoͤthiget, meine Wan-
derung nach Zuͤrich aufzugeben, und mich wei-
ter nach Deutſchland hinein zu ſchleppen.
Nach Halle wollte ich nicht eher, bis ich
gewiß wiſſen wuͤrde, daß ich die preußiſche Uni-
form, nach meiner Zuruͤckkunft, nicht weiter tra-
gen ſollte.
Hiezu entſchloſſen, ging ich den andern Tag
fruͤh Morgens zu meiner Dame, dankte ihr fuͤr
ihre Guͤte, und erhielt noch einen Kronenthaler
auf die Reiſe. Dieſe Dame vermehrte meinen
Commentar zu dem Spruͤchelchen: nil deſpe-
randum.
[170]
Hierauf begab ich mich zu dem kaiſerlichen Ka-
pitaͤn, welcher ſich in Baſel aufhielt, und den
Auftrag hatte, die aus Frankreich zuruͤckkommen-
den Soldaten mit Paͤſſen nach Loͤrrach zu ver-
ſehen. Der edle Mann fertigte mir ſogleich einen
Paß aus, inſtruirte mich, wie ich mich bey den
Vorpoſten u. dgl. zu verhalten haͤtte, und beſchenk-
te mich noch mit einem Zwanziger. Und ſo ver-
ließ ich Baſel, und bedaurte weiter nichts, als
daß ich die Herren auf dem dortigen Rathhauſe
wegen eines Paſſes begruͤßt hatte. Moͤgten dieſe
Herren nur noch lernen, forthin nichts zu uͤberei-
len, und einzuſehen: daß hinterm Berge auch
Leute wohnen. —
Funfzigſtes Kapitel.
Reiſe von Baſel nach Freyburg im Breisgau.
Das Staͤdtchen Loͤrrach liegt anderthalb Stun-
de von Baſel, und gehoͤrt dem Markgrafen von
Baden. In dieſer Gegend waͤchſt viel Wein, der
auch damals nicht ſehr theuer war. In Loͤrrach
ſtand ein ſtarkes kaiſerliches Kommando, bey deſſen
Oberſten ich mich meldete, und ganz gut aufge-
[171] nommen wurde: denn damals dachte man noch
nicht daran, daß Preußen und Frankreich ſo bald
Frieden machen wuͤrden. Der Oberſte ſagte mir,
daß ich nur immer ausruhen moͤgte: er wollte mir
einen Quartierzettel geben laſſen; und wirklich kam
ich in eine Muͤhle zu liegen, deren Eigenthuͤmer
ein großer Verehrer des vorigen Koͤnigs in Preußen
war, und mich alſo gut behandelte. Ich erhielt
hier auch kaiſerliches Traktament, welches, wie
der Oberſte ſagte, ſein Herr meinem Koͤnige be-
rechnen wuͤrde.
Die Emigranten lagen hier auf Werbung, das
heißt, es war ihnen erlaubt, die aus Frankreich
zuruͤckkehrenden Soldaten, die ausgenommen,
welche vorher dem Kaiſer gedient hatten, anzuneh-
men. Sie machten ſich auch an mich, ich hatte
aber keine Luſt, unter dem Geſindel zu dienen,
und brach alſo kurz ab. Ich ließ mich aber —
wie unſtaͤt ich, leider, einmal bin — nicht lange
hernach doch vom Satan blenden, wie man bald
hoͤren wird, und trat in ihre Dienſte.
In der Muͤhle wurde mir ein Stuͤbchen hin-
ten im Hofe angewieſen, wo mich ein Unterof-
fizier von den kaiſerlichen Kanoniren beſuchte,
der, wie ich bald merkte, mit der Magd des
Muͤllers liebelte, und mit ihr in meiner Stube
zuſammen kam. Ich konnte dieſes um ſo mehr
[172] leiden, da der Kanonier ein artiger Mann war,
und mich mit gutem Taback verſorgte.
Am 28ten Februar 1795 zog ich mit einem
kaiſerlichen Kommando von zwey Mann, welche
29 fremde Soldaten begleiten ſollten, von Loͤr-
rach, und kam den zweyten Maͤrz in Freyburg
an. Unterwegs fiel nichts vor, das ich zu er-
zaͤhlen haͤtte. In den Ortſchaften, welche dem
Kaiſer gehoͤren, ſind die Einwohner ziemlich helle,
und artig: hingegen in den Doͤr[f]ern des Herrn Bi-
ſchofs von Baſel*), ſind die Leute ein abſcheuli-
ches Grob, beynahe ſo wie das Grob im Trierland.
Der Platzmajor in Freyburg hatte die Guͤte,
mir ein Quartier in dem ehemaligen Dominika-
nerkloſter anzuweiſen, und ſchickte mich nachher
zu dem General von Alwinzi, welchen ich um
einen Paß nach Frankfurt am Mayn anſprach.
Dieſer ehrwuͤrdige Mann, der ſo viele Proben
ſeiner Tapferkeit in dieſem Kriege gegeben hat,
war ſehr artig, und beſchenkte mich uͤber mein Er-
warten: aber den Paß nach Frankfurt ſchlug er
mir ab aus Gruͤnden, die ich ſelbſt billigen mußte.
Er erlaubte mir indeß noch zu bleiben, bis ein
Kommando nach Heidelberg gehen wuͤrde, mit
welchem ich alsdann fortkommen ſollte.
[173]
Ich wußte, daß in Freyburg eine beruͤhmte
katholiſche Univerſitaͤt iſt, und ich hatte Luſt, ſie
naͤher kennen zu lernen. Zu dieſem Ende erkun-
digte ich mich bey einem Weinſchenken nach dem
Orte, wo die Studenten zuſammen zu kommen
pflegten, und erfuhr, daß auf einem Weinhauſe
in der Naͤhe ihrer viele immer anzutreffen waͤren.
Ich ging hin, und fand ohngefaͤhr 20 wohlgeklei-
dete, ſchoͤne, junge Leute, welche theils Billard
ſpielten, theils Wein tranken, und Taback dazu
[rauchten]. Ich ließ mir einen Schoppen Wein ge-
ben, und ſchaute mich in aller Beſcheidenheit nach
allem um. Endlich redete mich ein Student —
Herr Sommer aus Villingen — an, und frag-
te, wo ich herkaͤme?
Ich: Das ſehen Sie an meiner Kleidung: ich
komme aus Frankreich, und bitte nur, mich Ihrer
Geſellſchaft zu wuͤrdigen. Ich moͤgte gern die hie-
ſige Univerſitaͤt etwas kennen lernen.
Student: Sind Sie vielleicht ein Litteratus?
Ich: So, ſo! Hab' auch einmal das Hand-
werk begruͤßt.
Student: (lacht) Bravo! Wo haben Sie
denn ſtudiert?
Ich: In Gießen, Goͤttingen und Halle.
Student: Ah, da ſind Sie an rechten Orten
geweſen. (Zu einigen andern) Ihr Herren Bruͤ-
[174] der, hier iſt ein reiſender Litteratus, ſub forma
militis. (Es ſammeln ſich mehrere um mich her-
um) Wie iſt denn ihr Name, daß man Sie nen-
nen kann?
Ich: Laukhard.
Ein andrer Student: Laukhard — Lauk-
hard — doch nicht der Laukhard, der ſein Leben
beſchrieben hat?
Ich: Eben der.
Student: (giebt mir die Hand) Willkom-
men Freund! Ihr Buch hat uns viel Vergnuͤgen
gemacht. Tauſend, da haben die Pfaffen was
rechts abgekriegt! Nun ſetzen Sie ſich zu uns.
Die gutmuͤthigen Studenten bemuͤhten ſich um
die Wette, mir Hoͤflichkeiten zu erweiſen, und
wollten durchaus, daß ich bey einem von ihnen
wohnen ſollte. Allein da ich mein angewieſenes
Quartier ſchon hatte, ſo dankte ich fuͤr ihre Freund-
ſchaft und ging, nachdem ich hinlaͤnglich geſaͤttiget
war, nach Hauſe.
Fruͤh des anders Tages kam Hr. Sommer
und holte mich zum Fruͤhſtuͤck; und waͤhrend mei-
nes ganzen Aufenthalts in Freyburg, der uͤber 14
Tage waͤhrte, bin ich in allen Stuͤcken von den
Studenten frey gehalten worden. Ich wuͤrde hier
alle diejenigen von den Freyburger Studenten na-
mentlich angeben, wenn ich anders noch ihre Na-
[175] men alle wuͤßte: aber einem Menſchen, der ſo vie-
le Bekanntſchaften macht, als ich ſie gemacht ha-
be, iſt es immer zu verzeihen, wenn er einige
Namen vergißt, oder ſich auch ſonſt bekannter
Perſonen nur ſchwerlich erinnert. Von den Her-
ren Freyburgern fallen mir nur noch die Namen
Lenz, Muller, Dehrend und Sommer ein.
Meine Geſellſchafter r[i]ethen mir, die Univer-
ſi[t]aͤts-Bibl[i]othek zu beſuchen, und da hatte ich
Gelegenheit, den gelehrten und aͤußerſt humanen
Hr. Profeſſor Rueff kennen zu lernen, als Vor-
ſteher dieſer Bibliothek. Wie ſehr ſticht doch ein
[R]ueff gegen ſo manchen andern groben und unge-
ſchliffenen Bibliothekar ab, und wie zuvorkom-
mend bemuͤht ſich dieſer vortreffliche Mann, die
litteraͤriſchen Kenntniſſe derer, welche die Biblio-
thek beſuchen, durch Anweiſung und Nachrichten
zu vermehren! —
Herr Rueff zeigte mir den ganzen Buͤcher-
ſchatz, welcher nach der Sulzerſchen Anweiſung
geordnet iſt, und machte recht treffende Bemerkun-
gen uͤber dieſen und jenen Gegenſtand. Ich be-
wunderte unter andern die ungeheure Menge von
Schriften uͤber das geiſtliche oder kanoniſche Recht:
Hr. Rueff laͤchelte, und ſagte, daß dieſe Buͤcher,
ſo wie die uͤber die theologiſche Polemik, nur noch
ſo lange da bleiben wuͤrden, bis ſie beſſern neuen
[176] Platz machen muͤßten: alsdann, fuhr er fort, mag
man ſie immer zum Kraͤmer ſchicken: denn ſchon
jezt lieſt ſie niemand mehr, und in Zukunft wird
man ſie noch weniger leſen. Dieſes Geſtaͤndniß
eines kotholiſchen Profeſſors gefiel mir uͤber alle
Maßen, und ſo fing ich denn auch einen Sermon
an, ſo nach meiner Art, wobey Herr Rueff theils
ſeinen Beyfall gab, theils nur laͤchelte. Ich habe
dieſen wuͤrdigen Mann hernach noch einigemal in
ſeinem Hauſe beſucht, und ihn allemal gefunden,
wie auf der Bibliothek — exemplariſch-human.
Einer von den Vorzuͤgen dieſer Bibliothek iſt,
daß man, in einem eignen Zimmer daran, alle
beſſern gelehrten Zeitungen, Flugblaͤtter und Jour-
nale antrifft: ein Vorzug, den man auf mancher
proteſtantiſchen Univerſitaͤtsbibliothek vergebens ſu-
chen kann.
Außer Hrn. Rueff lernte ich in Freyburg noch
einen gewiſſen Herrn kennen, deſſen Gewogenheit
mir haͤtte nuͤtzlich werden koͤnnen, wenn ich mich
nach ſeinen Vorſchlaͤgen haͤtte richten wollen. Er
rieth mir, in Freyburg zu bleiben, und katholiſch
zu werden: es ſey ja doch alles eins, ob man die
Faſeleien des lutheriſchen oder des katholiſchen Ka-
techismus oͤffentlich bekenne und mitmache: man
muͤſſe ſich hiebey in Ort und Zeit ſchicken u. ſ. w.
So wahr dieſer Mann auch redete, ſo wenig konnte
[177] ich mich dennoch entſchließen, ſeinen Rath zu
befolgen.
Brodproſelyten ſind in meinen Augen erbaͤrmli-
che Geſchoͤpfe; und ich denke von der Aenderung
der Kirchenreligion, was der Dichter von der Aen-
derung des Himmelsſtrichs fuͤr Patienten ſagt,
die, um geſund zu werden, ſich in die Fremde
werfen:
Caelum, non animum mutant, qui trans
mare currunt.
Aber, wenn Sencka mit Recht fodert, man
ſolle alsdann nicht den Wohnort, ſondern ſein Ge-
muͤth oder ſich ſelbſt aͤndern: ſo haͤtte ich durch den
Uebergang zum Katholicismus wohl meinen Kir-
chen-Namen, aber nicht mich geaͤndert: und ohne
dieſes zu thun, haͤtten mich die Vortheile meiner
Religionsaͤnderung nie dauerhaft ruhig und gluͤck-
lich machen koͤnnen.
Chryſoſtomus hat eine Rede unter der Auf-
ſchrift: nemo laeditur, niſi a ſe ipſo; und ich koͤnn-
te eine ſchreiben uͤber das Thema: nemo bea[t]ur,
niſi a ſe ipſo: aber ſo gut ich das alles einſehe, ſo
aͤußerſt ſchwer, wenn auch theoretiſch nicht unmoͤg-
lich, finde ich es praktiſch, mich danach immer
und uͤberall zu richten. Es geht mir, wie einem,
der bis in ſeinem mannbaren Alter, ſich Schielen,
Viert. Th. 2te Abth. M
[178] Schiefgehen oder Stottern angewoͤhnt hat: er fin-
det das alles endlich ſelbſt fehlerhaft; moͤgte dieſe
Fehler auch gern ablegen: aber gelingt es ihm?
Es heißt auch hier: video meliora, proboque;
deteriora ſequor. Genug, was Haͤnschen nicht
lernt, lernt Hans nimmermehr: und ſo habe ich
leider das Ungluͤck, vielleicht noch lange, wenn
auch nicht immer, Sklave meiner jugendlichen
Verwoͤhnung zu ſeyn, und ſtehe dabey ſo ſchwach
auf meinen Fuͤßen, daß jeder leiſe Wind mich hin
und her biegen, auch ſtuͤrzen kann. — Das alles
ſehe ich laͤngſt ein; und demnach haͤtte mir meine
Religionsaͤnderung am Ende mehr geſchadet, als
genuͤtzet: Laukhard waͤre Laukhard geblieben, troz
dem Praͤdikate eines Katholiken. Aber als Katho-
lik haͤtte er tauſendfach Gefahr gelaufen, wo er als
Proteſtant jezt ſo halb und halb durchſchluͤpft. —
Freyburg hat eine uͤberaus ſchoͤne Lage, dicht
an einem hohen Berge, welchen vorzeiten die Her-
zoge von Zaͤhringen bewohnt haben. Von die-
ſem Berge hat man eine Ausſicht, viele Meilen
weit hinaus. Die Gegend da herum iſt vorzuͤglich
fruchtbar, und in ruhigen Zeiten iſt alles ſehr
wohlfeil. Die Leute in der Stadt ſind fuͤr Katho-
liken ſehr helle, weit heller als in Schwaben, in
der Pfalz, und ſelbſt als die gemeinen Lutheraner
in Sachſen. Eine ſehr gut eingerichtete Leſebiblio-
[179] thek habe ich hier auch angetroffen, und meine Le-
bensgeſchichte darin doppelt.
Das Frauenzimmer in Freyburg iſt durch
die Bank liebenswuͤrdig, und groͤſtentheils ſchoͤn.
Ich erinnere mich in keiner Stadt niedlichere Ge-
ſichtchen geſehen zu haben, als hier. Abe[r] die
Emigranten haben ihr Unweſen auch hier getrie-
ben, und man kann dieſes bey mancher jungen
Freyburgerin ſehr merken.
Die Univerſitaͤt zaͤhlt kaum noch 200 Studen-
ten, die theologiſche Seminariſten nicht mitgerech-
net. Das koͤmmt daher, weil aus dem Elſaß
niemand mehr heruͤber koͤmmt, woher ſonſt viele
kamen. Eben aus dieſer Urſache hat die Univer-
ſitaͤt auch viele Einkuͤnfte verlohren: denn alle ihre
Guͤter im Elſaß ſind von den Franzoſen in Beſchlag
genommen worden. Zwar hoffte Hr. Prof. Rueff,
daß die Franzoſen zur Zeit des Friedens dieſe Guͤter
zuruͤckgeben wuͤrden: [A]ber die Franzoſen werden ſehr
wahrſcheinlich es widerſinnig finden, an einen
fremden Ort Geld zur Unterhaltung einer Univer-
ſitaͤt zu ſchicken, die ſie eben ſo gut in ihrem eig-
nen Lande unterhalten koͤnnen.
Die Poſſe mit dem Diſputiren in lateiniſchem
Gekaue und ſchnitzerhaftem Galimathias pro gra-
du doctoris u. ſ. w. iſt in Freyburg voͤllig abge-
ſchafft; und der Candidat, welcher ein D oder ein M
[180] vor ſeinen Namen ſetzen will, iſt gehalten, ein
Examen in deutſcher Sprache auszuhalten, und
hernach ein Specimen ſeiner Kenntniſſe, gleichfalls
deutſch, einzureichen, worauf ihm gegen Erlegung
ganz billiger Gebuͤhren der Gebrauch des M oder
das D bey ſeinem Namen geſtattet wird.
In Freyburg war ein gewiſſer Marki von An-
noy, der fuͤr den Prinzen von Rohan oder viel-
mehr fuͤr der Englaͤnder Geld Rekruten anwarb.
Ich traf dieſen Marki, der ſonſt ein artiger, aͤu-
ßerſt feiner Mann war, in dem Gaſthauſe zur
Stadt Freyburg vor der Stadt an. Er war nicht
als Offizier gekleidet, und ich hielt ihn fuͤr einen
ſimpeln Emigranten; aber er entdeckte ſich mir
[b]ald kenntlicher. Er verſprach mir 10 Louisd'or
oder 60 Thaler in Gold, und ſogleich die Stelle
eines Unteroffiziers, wobey ich jeden Tag 24 Kai-
ſerkreuzer Traktament und 2 Pf. Brod haben ſollte;
auch koͤnnte ich auf Avancement rechnen, u. ſ. w.
Das Ding gefiel mir: und da man mit mir, wie
mit einem Kinde, leicht machen kann, was man
will, ich auch es muͤde war, auf das Kommando
nach Heidelberg in Freyburg laͤnger zu lauern,
oder mich auf Koſten Anderer weiter durchzuſchla-
gen, und dabey Gefahr zu laufen, gewaltſamen
oͤſtreichiſchen Werbern in die Klauen zu fallen,
oder von den Preußen wieder in preußiſche Uniform
[181] geſteckt zu werden: ſo ſchlug ich ein, und ward —
Soldat bey den Emigranten. Haͤtten die Gro-
biane zu Baſel mich nach Zuͤrich wandern laſſen,
dann waͤre dieſer Schritt unterblieben, und noch
mehrere, die man bald erfahren wird. Doch tra-
hunt ſua quemque fata!
Ein und funfzigſtes Kapitel.
Wie's mir bey den Emigranten ging.
Der Marki d'Aunoy beſchied mich auf den an-
dern Tag in das erwaͤhnte Gaſthaus, deſſen Beſitzer
ein vertrauter Freund und Unterhaͤndler von ihm zu
ſeyn ſchien, und verbot mir, in der Stadt etwas
von unſrer Abrede zu erwaͤhnen. Es war ihm naͤm-
lich nicht erlaubt, zuruͤckgekommene Leute anzu-
werben, welche vom Kaiſerlichen General in Frey-
burg Quartier und Loͤhnung erhalten hatten: die-
ſe mußten jedesmal zu ihren Armeen gebracht
werden.
Es war an einem Sonntage, als ich mit ei-
nem Sergeanten von den Emigrirten aus Frey-
burg abging, nachdem ich vorher noch bey einigen
[182] Studenten, beſonders bey Hrn. Sommer Abſchied
genommen hatte. Ich ſagte dieſen, daß ich, we-
gen der Gefahr, durchzukommen, noch immer kei-
nen Paß nach Frankfurt bekommen koͤnnte, aber
des laͤngern Wartens herzlich muͤde waͤre, und
alſo, um auch keinem weiter laͤſtig zu fallen, ſu-
chen wollte, durchzukommen, ſo gut es gehen
wuͤrde: und ſie billigten meinen Vo[r]ſatz.
Gegen Abend kam ich nach Ettenheim, ſieben
gute Stunden von Freyburg, ſchlief im Wirths-
hauſe, und den andern Tag fuͤhrte man mich zum
Prinzen von Rohan, und zu ſeinem Onkel, dem
Kardinal Rohan, ehemaligen Biſchof zu Stras-
burg. Der Prinz iſt ein wahrer Laffe, gerade,
wie man ſich nur einen pinſelhaften Geck von Emi-
grirten denken kann: er ſpringt, ſingt, traͤllert
und faſelirt herum, wie ein Geſchoͤpf ſeiner Art
es nur vermag. Er ſcheint auch nicht ein Quent-
chen Soldatentalent zu beſitzen. Der Kardinal
hat mir etwas beſſer gefallen. Ich dachte da einen
alten, abgemaͤrkelten Wolluͤſtling zu ſehen, der
die Spuren ſeiner Ausſchweifungen auf dem Ge-
ſichte tragen wuͤrde *): denn ich hatte von dem
Hrn. Kardinal gar viel Skandaloͤſes ſchon gehoͤrt
[183] und geleſen; allein ich fand ein wirklich ehrwuͤrdi-
ges Geſicht eines ſchon in den Jahren ſtehenden
hohen Praͤlaten der roͤmiſchen Kirche. Sein an-
ſtaͤndiges Weſen, und ſeine ſchoͤu modulirte Stim-
me wuͤrden mir Ehrfurcht eingefloͤßt haben, wenn
ich nicht gewußt haͤtte, daß er ſchon durch die fa-
tale Begebenheit mit dem Halsbande, und durch
grobe Verletzung des Voͤlkerrechts an der traurigen
Revolution auch ſtark Schuld geweſen iſt.
Er unterhielt ſich lange mit mir, und auf
mein Geſtaͤndniß, daß ich lutheriſch ſey, ſagte
er: „Das iſt einerley! die Liebe zum Guten
macht die wahre Religion: der Name thut dazu
nichts.“ Ich wunderte mich, einen katholiſchen
Biſchof, deſſen Hirtenbriefe zu Anfange der Re-
volution ganz anders lauteten, ſo reden zu hoͤ-
ren. Aber einige Tage darauf, als ich einem
Benediktiner zu Ettenheimmuͤnſter dieſe freye Aeu-
ßerung des Kardinals erzaͤhlte, belehrte mich dieſer
eines Beſſern, dadurch, daß er ſagte: der Kar-
dinal habe als Prinz wenig Theologie ſtudiert;
er wiſſe alſo nicht recht, wie wichtig der wahre
Glaube ſey u. ſ. w. — Wenn aber die Prin-
zen die Theologie und den wahren Glauben ſo
ſchlecht verſtehen, ſo iſt es immer ſehr wunder-
bar, daß man ſie in der roͤmiſchen Kirche zu
[184] geiſtlichen Kurfuͤrſten, Erzbiſchoͤfen, Biſchoͤfen
und Kardinalen macht. —
Ettenheim iſt ein ganz huͤbſches Staͤdtchen,
welches nebſt etwan 20 diesſeits des Rheins geleg-
nen Ortſchaften dem Biſchof von Strasburg zuge-
hoͤrt. Dieſe Laͤndereyen ſind auch das Einzige,
was dem Kardinal von allen ſeinen Herrlichkeiten
uͤbrig geblieben iſt: denn ſeine großen Guͤter in
dem ehemaligen B[r]etagne, ſeine Beſitzungen im
Elſaß, ja, ſogar ſeine Mobilieu hat die Nation
fuͤr eine gute Prieſe erklaͤrt.
Der Staat, den der Kardinal damals machte,
war gering: ein Mainzer Domherr hat ſonſt groͤßern
gemacht; doch ſtanden noch Soldaten vor dem
Schloſſe Schildwache. Eine von den Maͤtreſſen
des Prinzen habe ich auch geſehen: es war ein
dickes Saumenſch aus dem Emigranten-Geſindel,
und, wie ich gehoͤrt habe, die Frau eines geweſe-
nen Paͤchters, welche der Prinz von Rohan Gue-
mené ihres Reichthums wegen unterhielt, und ſich
von ihr Geld vorſchießen ließ.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Ettenheim
ging ich nach Ettenheimmuͤnſter, wo der Sammel-
platz des Regiments ſeyn ſollte, das der Hr. Prinz
von Rohan fuͤr engliſches Geld errichten wollte.
Ettenheimmuͤnſter iſt eine uͤberaus reiche Be-
nediktiner Abtey, geſtiftet zu Ehren des h. Wen-
[185]delinus und Landelinus, die ehedem —
Gott weiß, wann! — in dieſer Gegend das paͤpſt-
liche Chriſtenthum, wie man ſagt, predigten,
und fuͤr ihre Bemuͤhungen erſchlagen wurden.
Außer dem Kloſter ſind noch mehrere Gebaͤude da,
und beſonders ein vortreffliches Badehaus, Hr.
Huhn, Doktor zu Biſchofsheim am Steeg, ſagte
mir hernach, daß das Waſſer zwar einige Kraft
habe, gewiſſe Krankheiten zu lindern, daß aber
der Aberglaube, durch die praͤſumirte Einwirkung
des h. Wendelinus, dieſes Bad ehedem vor-
zuͤglich beruͤhmt gemacht haͤtte. Heut zu Tage
wird es wenig mehr beſucht.
Wir hatten unſer Logis im Badehauſe, und
unſer ganzes Corps beſtand damals aus ohngefaͤhr
[3]0 Mann, meiſt verlaufenem Geſindel, wobey
ich denn, nach der Zuſage des Marki von Aunoy,
ſogleich als wirklicher Korporal angeſtellt wurde.
Wir erhielten leinwandene Hoſen, und eine Ka-
potte, weiter aber nichts: deun man wußte ſelbſt
noch nicht, was fuͤr Uniform man uns geben
ſollte. Unſer Kommandeur war der Prinz von
Rohan. Außer dieſem waren noch zwey Colo-
nels, fuͤnf Capitaͤne, und mehr andere Offiziere
ernannt, welche aber nicht bey uns, ſondern in
Ettenheim logirten. Auf dieſe Art hatten wir
beynahe mehr Offiziere als Soldaten.
[186]
Da die Emigranten nehmen mußten, was ſie
erſchleichen oder erwiſchen konnten, ſo denkt man
leicht, daß ſo ein zu errichtendes Emigrantenkorps
groͤßtentheils aus Lumpenzeug beſtehen mußte; und
da die Herren aus Frankreich ſelbſt, wenigſtens
nach dem groͤßten Theil, elende Menſchen waren,
ſo waren ſie bey der Wahl ihrer Rekruten noch weit
weniger delikat, als man ſonſt bey den Preußen
oder Kaiſerlichen, zumal in Kriegeszeiten, zu ſeyn
pflegt.
Bey uns war ſo der rechte Auswurf der Menſch-
heit. So klein der Trupp auch war, ſo hatten
wir doch Deutſche, Italiaͤner, Spanier, Hollaͤn-
der, Polen und Franzoſen. Einer davon hatte
nur ein Auge, und einer war hinten und vorne
bucklich: einige waren uralte Ehekruͤppel, die ſich
kaum mehr ruͤhren konnten; und andre waren jun-
ge Buben, die kaum wußten, was links oder
rechts war. Verſchiedne davon hatten Weiber
oder Buhldirnen bey ſich, die ſie fuͤr ihre Weiber
ausgaben, die aber beyher auch nicht ſproͤde gegen
Andre waren. Dabey war denn ein Leben, wie
ehemals zu Sodom.
Als ich zu den Emigranten ſtieß, trug ich noch
meinen Rock, nach franzoͤſiſcher Art mit republi-
kaniſchen Knoͤpfen. Der Adjutant foderte, ich
ſollte die hunzfoͤttiſchen Knoͤpfe (les foutus boutons)
[187] abſchneiden. Als ich ihm aber ſagte, daß ich kein
Geld anwenden wuͤrde, neue zu kaufen, ſo gab er
mir einen neuen Thaler, und ich ſchnitt die Knoͤ-
pfe ab.
Wir erhielten taͤglich zur Loͤhnung, der gemeine
16, der Korporal 24 Kreuzer, und jeder 6 Kreu-
zer Brodgeld, welches indeß wegen der großen
Theurung nicht zureichte. Damit aber die Leute
ihr Geld nicht auf einmal verſaufen ſollten, ſo gab
man ihnen die Loͤhnung jeden Tag fruͤh. Dieſes
Geſchaͤft hatte ich und drey Kameraden, die auch
den hohen Korporalspoſten bekleideten, uͤber uns.
Da die Mannſchaft nichts zu thun hatte, ſo ver-
ſoffen die Kerls ihre Loͤhnung in Wein, aßen et-
was Brod dazu und legten ſich hernach auf die Baͤ-
renhaut ſchlafen, oder gingen auf die naͤchſten
Doͤrfer ſtehlen und rauben. Es iſt ganz unbe-
ſchreiblich, wie verhaßt das Geſindel der Emigran-
ten, und ihre Truppen in den Gegenden des Ober-
rheins, wegen ihres Stehlens und Raubens, ge-
worden ſind. Wer nur ihren Namen nennt, ſetzt
das Epithetum: Spitzbube, Galgenſtrick, Hol-
lunke oder ſonſt einen Ehrentitel dieſer Art hinzu!
Ich koͤnnte mehrere Stuͤckchen davon anfuͤhren,
aber wozu? Die Wichte ſind in ganz Deutſchland
bekannt genug, und jeder, der ſie etwas kennt,
weiß auch, daß nichts ſo niedertraͤchtig, ſo ſchlecht
[188] und ſo abſcheulich iſt, wozu ein Emigrant, vor-
zuͤglich von der rebelliſchen Art, oder auch nur
einer ſeines Anhangs faͤhig waͤre *).
[189]
Die Einwohner der dortigen Gegend ſind fuͤrch-
terlich ſtreng katholiſch: alle Kirchen haͤngen voll
Ex-Voto's, oder gemahlter Bilder und anderer
Zierrathen, die jemand in einer Noth, Krankheit,
Schwangerſchaft oder wohl auch bey Gelegenheit
eines zu begehenden Schuftſtreichs dem lieben
Gott, deſſen Mutter oder einem Heiligen zu opfern
verſprochen hat. Die heilige Agatha ſteht im
Breisgau in ſehr hohem Anſehn: alle Thuͤren, ſo-
gar die Thuͤren an den Schweinſtaͤllen, Abtritten,
u. ſ. w. ſind mit Agatha's-Zetteln beklebt *)
[190]
Ich fuͤr mein Theil lebte ziemlich ruhig, und
befand mich meiſtens in Ettenheim, wo ich mit
dem Canonicus Sebaſtiani, der von Strasburg
fluͤchtig geworden war, Bekanntſchaft gemacht
hatte. Dieſer Herr liebte ein gut Glas Wein und
die Zotologie: und ſo war ich eben kein unrechter
Geſellſchafter fuͤr ihn. Ich hoffe, man wird mir
meine aufrichtigen Geſtaͤndniſſe verzeihen: ich mag
nicht fuͤr beſſer angeſehen werden, als ich bin.
Es vergingen wenig Tage, daß nicht einige
von unſern Leuten wegliefen: ſie hatten nur ohnge-
faͤhr eine Stunde bis ins Badiſche; und im Badi-
ſchen hatten die Emigranten nichts mehr zu befeh-
len: ihre Requiſition wurde dort durchaus nicht
reſpektirt. Ich hatte vom Marki von Aunoy
die Verſicherung erhalten, daß man mir fuͤnf Louis-
d'or gleich und fuͤnfe nach Verlauf von ſechs Mo-
naten zahlen wuͤrde. Allein ich erhielt nur vier
Laubthaler, indem der Adjutant ſagte, er habe
nicht mehr in der Kaſſe. Damit ließ ich mich an-
faͤnglich auch abſpeiſen, und lebte von meinem
Traktament, oder von 30 Kreuzer taͤglich. Als
*)
[191] ich aber nachher noch einen Laubthaler foderte, und
der Adjutant mir geradezu ſagte: ich ſey nun Kor-
poral, und als Korporal muͤßte ich ohne Handgeld
par honneur dienen: da dacht' ich, ſo hole der Geier
eure honneur, und faßte ſofort den Entſchluß, bey
der erſten Gelegenheit abzufahren, ſobald nur beſ-
ſere Witterung eintraͤte. Ich ſagte Niemanden
von meinem Vorhaben, ja, ich bemuͤhte mich
vielmehr, einigen Eifer fuͤr die Einrichtung unſers
lieblichen Korps zu zeigen, lehrte die Rekruten
das Gewehr-Putzen u. dgl., ſo, daß der Adju-
tant mich verſicherte, er wolle mich dem Prinzen
empfehlen, und dieſer wuͤrde mich ſtehendes Fußes
zum Sergeanten machen.
Eines Tages aber ſchickte mich der Adjutant
in Geſchaͤften nach Ettenheim, wo ich uͤber
Nacht bleiben mußte; und ich benuzte dieſe Gele-
genheit und ging, mir nichts dir nichts, gegen
Abend aus Ettenheim die gerade Landſtraße nach
Offenburg, ohne daß mir ein Haar waͤre ge-
kruͤmmt worden.
Es iſt uͤberhaupt eine große Verkehrtheit, uͤber
Handlungen und deren Moralitaͤt im allgemeinen
urtheilen zu wollen. Dieſe muß jedesmal nach
der individuellen Lage des Handelnden beſtimmt
werden. War es recht, daß ich die Emigranten
[192] anfuͤhrte? Nein! im allgemeinen gewiß nicht;
aber in meinem Falle war es allerdings recht:
man hielt mir das, was man mir verſprochen hat-
te, nicht; folglich war ich auch nicht verbunden,
meine Zuſage ihnen zu halten.
Zwey und funfzigſtes Kapitel.
Meine Soldatenſchaft bey den Schwaben.
Vor dem Thore zu Offenburg kehrte ich ein
in der Krone, nahm etwas zu mir, und fand da
mehrere Soldaten von dem Regiment des Prinzen,
Ludwig von Baden. Ich erkundigte mich
nach dem Dienſte der Schwaͤbiſchen Kraistruppen,
und fand ſie nicht uͤbel. Ich ließ mich indeß nichts
merken, und die Soldaten ſchienen auch gar nicht,
an Rekrutiren zu denken. Endlich ging ich in die
Stadt, und wurde bey dem Baron von Sand-
berg, der damals das Badiſche Regiment, als
Oberſter kommandirte, gemeldet. Dieſer edle
Mann, deſſen Andenken mir ewig unvergeßlich ſeyn
wird, aͤußerte einige Bedenklichkeiten, daß ich durch
die große kaiſerliche Armee am Rhein nicht unge-
[193] hindert kommen wuͤrde, doch ſprach er kein Wort,
um mich zu behalten: einen Paß moͤgte ich mir
vom Adjutanten Lorenz geben laſſen. Ich ging
und ſah mich nach einem Quartier um. Hier uͤber-
legte ich, daß der Prinz von Baden ein Freund
unſers Kronprinzen iſt, daß folglich, wenn ich
nur erſt von dem Thaddenſchen Regiment meinen
Abſchied haͤtte, und ich, um ungehindert nach
Halle wandern zu koͤnnen, von den Badiſchen
Dienſten frey ſeyn wollte, ſeine Hoheit es bey dem
Prinzen Ludwig leicht und mit einer einzigen
Zeile bewirken koͤnnte. Dieſe Gedanken, nebſt
der Ueberlegung der großen Schwierigkeiten, die
mir bevorſtanden, wenn ich damals haͤtte weiter
wandern wollen, beſtimmten mich, Schwaͤbiſche
Dienſte anzunehmen. Ich wollte mich indeß nicht
ſelbſt anbieten: ich machte es, wie die Maͤdchen,
die gern einen Mann haͤtten: ich ließ mich ſuchen
— und ging zu dieſem Behufe herum auf den
Straßen. Herr von Triebelhorn, Leutnant
bey der Compagnie des Hauptmanns von Storr,
begegnete mir, ſah mich an, und fragte: woher
ich kaͤme? Ob ich Dienſte ſuchte? — Warum
nicht? war meine Antwort.
Er: Wie viel Handgeld will Er?
Viert. Th. 2te Abth. N
[194]
Ich: Herr Leutnant, ich diene nicht um Hand-
geld: ich muß aus Noth dienen: es fehlt mir
an Allem; alſo ſehen Sie wohl, daß ich dieſen
Punkt ganz Ihnen uͤberlaſſen muß.
Er: Gut, mein Freund: ich geb' Ihm vier
Karolins: ſo viel giebt der Stand, und keinen
Heller mehr: Zwey ſogleich, und zwey nach einem
Jahre. Iſt er damit zufrieden?
Ich: Es bleibt dabey.
Er: Und aus meinem Sack gebe ich Ihm noch
zwey Kronenthaler. Komm Er jezt mit in die
Schenke.
In der Schenke befahl der Leutnant dem Wir-
the, mich zu pflegen, und mir auf ſeine Koſten
alles zu reichen, was ich begehren wuͤrde. Dar-
auf zaͤhlte er mir zehn Kronenthaler auf den Tiſch.
Ich hoffe, ſezte er hinzu, Er wird kein Schurke
ſeyn, und gab mir die Hand, und ging.
Ich habe bey den Schwaben viel Vertrauen
auf die Ehrlichkeit ihrer Soldaten gefunden: von
keinem wurde voraus geſezt, daß er zum Henker
laufen wuͤrde: daher wurde auch keiner eingeſperrt,
keiner in beſondere Obacht genommen, und wenn
auch noch ſo viele abfuhren, ſo wurden die andern
deswegen doch nicht im geringſten mehr einge-
ſchraͤnkt. Ganz anders war es ſonſt bey den
Preußen, und noch jezt iſt die perſoͤnliche Freyheit
[195] der preußiſchen Soldaten ſehr geſchmaͤlert. Aber
den Herren aus Schwaben liegt auch nicht viel daran,
ob einer weglaͤuft oder da bleibt: die Staͤnde muͤſ-
ſen die fehlende Mannſchaft im Nothfall erſe-
tzen; und nicht der Hauptmann. Ueberdieß ſtrei-
ten ja die Schwaben nicht fuͤr ſich, ſondern fuͤr
Andere!
Herr von Sandberg, dem ich den folgen-
den Tag vorgeſtellt wurde, bedaurte, daß er es
nicht bemerkt haͤtte, daß ich Soldat haͤtte werden
wollen, ſonſt, ſagte er, wuͤrde er mich unter ſei-
ne Grenadiers genommen haben: er war naͤmlich
Inhaber von einer Grenadiercompagnie. Der
Hauptmann von Storr, ein gerader, braver Of-
fizier, druͤckte mir die Hand und ſeine Gemalin
fragte mich mit loſem Laͤcheln: ob ich bald auf die
Wanderſchaft gehen wuͤrde? Kurz, mit innigem
Vergnuͤgen, und mit unſterblichem Dankgefuͤhl
denke ich an meine Vorgeſezten bey den Schwaͤbi-
ſchen Kraistruppen. Aber es waren auch Maͤn-
ner, wie man ſie ſelten antrifft.
Der Oberſte, Baron von Sandberg, von
Geburt ein Schwede, iſt ein Mann von vielen
Jahren, deſſen Schaͤdel mit ehrwuͤrdigen grauen
Haaren bedeckt iſt, der aber an Munterkeit des
Geiſtes und an Behendigkeit der Glieder es mit
jedem jungen robuſten Manne aufnimmt. Nie-
[196] mals habe ich gehoͤrt, daß Hr. von Sandberg
uͤber Muͤdigkeit oder Erſchlaffung geklagt haͤtte.
Da er ehedem in preußiſchen Dienſten geſtanden
und ſich von Jugend auf das Soldatenweſen zum
Handwerk gemacht hat, ſo verſteht er dieſes ſo
gut, daß er jedem Heere Ehre machen wuͤrde.
Er iſt ſtreng im Dienſte, aber leutſelig und artig
gegen jederman. Ohne die geringſte Einbildung
auf ſeinen Adel oder ſeine Wuͤrde, betrachtet er je-
den als ſeines Gleichen, und bemuͤhet ſich, die
Geſetze der Menſchenliebe und der Wohlthaͤtigkeit
mit den ſtrengen Pflichten ſeines Standes ſo zu
vereinigen, daß ich wohl behaupten kann, niemand
habe den rechtſchaffnen Oberſten gekannt, ohne ihn
zugleich verehrt und geliebt zu haben.
Herr Hauptmann von Storr, aus Gmuͤnd
in Schwaben, iſt ein recht ehrlicher Mann, der
auch ſeinen Dienſt ſo gut verſteht, als man es bey
den Schwaben fodert. Ob er gleich katholiſch iſt,
ſo lieſt er doch proteſtantiſche Schriften, und konnte
es recht wohl leiden, wenn ich im Ochſen oder in
der Roſe zu Freyſtaͤtt uͤber die Pfafferey und deren
ungezogene Diener etwas loszog. Seine Gemalin
iſt eine Dame, die ſich ſo recht zu einem Offizier
ſchickt. Sie hat ehedem als Maͤdchen einige Feld-
zuͤge im ſiebenjaͤhrigen Kriege mitgemacht, und
kann reiten, troz einem Bereiter auf der Reitbahn.
[197]
Leutnant Storr, ihr Sohn, iſt ein ſchoͤner
junger Mann, der ſich in Abſicht des Dienſtes
ganz nach dem Oberſten von Sandberg gebildet
hat, welcher ihn auch vorzuͤglich liebt. Uebrigens
hat der junge Storr viele Kenntniſſe und viel
Herzensguͤte. Die Tochter des Hauptmanns, wel-
che auch mit im Felde war, Fraͤulein Auguſte,
war eine huͤbſche, allerliebſte Blume von 15 Jahren.
Herr von Triebelhorn, Sohn des Ober-
amtmanns zu Rottenmuͤnſter — nicht Rothmuͤn-
ſter, wie die Geographen gewoͤhnlich ſchreiben *)
— iſt ein offener, ehrlicher Mann, der freilich
aus dem Soldatenſtande kein Handwerk macht,
ihm aber auch keine Schande bringt. Ich habe
wenig Menſchen gefunden, mit welchen es beſſer waͤ-
re umzugehen geweſen, als mit Leutnant von
Triebelhorn. — Dieſe Herren waren meine
Vorgeſezte; und unter ſolchen Vorgeſezten geht es
einem nicht uͤbel.
Es war gerade am Palmſonntag 1795, als ich bey
den Schwaben ankam. Ich dachte an nichts we-
niger, als daß die Herren Emigrirte noch Anſpruch
auf mich machen wuͤrden, aber ich betrog mich.
[198] Ich ſaß naͤmlich eines Tages in einem Weinhauſe
mit einem Korporal, Namens Seher, als ein
Sergeant von Rohan, den ich ſehr gut gekannt
hatte, herein trat, mich betrachtete, und dann in
ſeiner Sprache ausrief: aber wo bey allen Teufeln,
wo kommt ihr her? Ich ſchwieg, und that als
verſtaͤnde ich ſein Franzoͤſiſch nicht. Drauf ſagte
er zu ſeinem Begleiter, einem Offizier: der Menſch
da will mich nicht verſtehen, aber nur Geduld,
laßt ihn ja nicht fort: ich gehe zum Oberſten. —
Korporal Seher, der den Sergeanten nicht ver-
ſtanden hatte, ließ ſich von mir berichten, und wir
machten Anſtalt, abzugehen. Der Robanſche Of-
fizier wollte uns zuruͤckhalten; aber Seher hob
den Stock: und wir — gingen.
Der Offizier und der Sergeant liefen hernach
zum Oberſten, um mich zuruͤckzufodern. Aber
dieſer feurige Mann erklaͤrte ihnen kurzweg: daß
daraus nichts werden koͤnnte, daß ſie von den
Schwaͤbiſchen Truppen ſchon zu viele verfuͤhrt haͤt-
ten, daß man ihr Korps durchaus nicht fuͤr voll
anſaͤhe und daß ſie ſich nur gleich zum Thor hin-
aus packen ſollten, oder er wuͤrde ſie mit Mann-
ſchaft hinaus bringen laſſen. — Mit dieſem Tro-
ſte mußten ſie ſich abfuͤhren. Als ich hernach mit
dem Oberſten uͤber dieſen Vorfall zu ſprechen kam,
ſagte er kurz: Es iſt Lumpenzeug um alle Emi-
[199] granten: man ſollte das Geſindel zuſammen in den
Rhein ſchmeißen! Bey mir darf keiner Huͤlfe ſu-
chen. — Vor den Emigranten bangte mir alſo
nicht weiter.
Ich ſtand bey dem erſten Bataillon, und unſere
Kompagnie kam in der Oſterwoche nach Frey-
ſtaͤtt, wo ich nur einmal exerzierte und gleich
darauf zum Unteroffizier gemacht wurde. Der
Oberſte von Sandberg hatte mich naͤher kennen
lernen, und, um mir das Leben zu erleichtern,
hatte er bey meinem Hauptmann um mich ange-
halten: und ſo war ich nach einem Dienſte von
ohngefaͤhr 14 Tagen Korporal bey den loͤblichen
Kraistruppen.
Die Truppen des Schwaͤbiſchen Kraiſes beſte-
hen aus zwey Regimentern Reuterey, und vier Re-
gimentern Fußvolk: Wuͤrtemberg, Baden,
Fuͤrſtenberg und Wolfegg nebſt einem Ar-
tilleriekorps. Damals hatte man ſie beſtimmt,
die Gegenden um Kehl zu beſetzen und ſelbige ge-
gen den Ueberfall der Franzoſen zu ſchuͤtzen. Wie
gut ſie dieß gethan haben, hat ſich ausgewieſen
bey dem Einfall der Franzoſen in Schwaben *).
[200]
Ich wuͤrde hier meinen Leſern eine Idee von
den Reichstruppen zu liefern ſuchen, wenn ich
es nicht ſchon anderwaͤrts gethan haͤtte, naͤmlich
in der Schilderung der jetzigen Reichs-
armee, nach ihrer wahren Geſtalt, nebſt Winken
uͤber Deutſchlands kuͤnftiges Schickſal *). In die-
ſer Schrift, fuͤr deren guͤnſtige Aufnahme ich dem
Hrn. von Archenholz und Haͤberlin meinen
Dank abſtatte, wie allen Recenſeuten, die ihrer
vielleicht zu ruͤhmlich erwaͤhnt haben, findet man
alles, was die Reichstruppen in ihrem grellen
Schwarzdunkel freskiert: denn ſie handelt von der
Reichsarmee, von den Kraisausſchreibenden Fuͤr-
ſten, von dem Reichskontingent, von der Art,
dazu anzuwerben, von der Beſetzung der Offizier-
ſtellen, von dem Mangel an militaͤriſcher Einſicht
und Beeiferung unter den Offizieren; von den
Maͤngeln der Reichsarmee ſelbſt, ſowohl von Sei-
ten ihrer ungleichartigen Zuſammenſetzung, Mon-
tur, Armatur, Kriegsuͤbungen u. dgl., als von
Seiten der verſchiedenen Proviſion der verſchiede-
nen Staͤnde, und des dadurch unvermeidlichen
Haſſes und Kabalirens der Staͤnde und deren
Mannſchaft unter und gegen einander, und vor-
zuͤglich von der unbeſchreiblichen Eiferſucht der
[201] Offiziere und von den fatalen Folgen derſelben;
von den Betruͤgereyen bey der Reichsarmee, ein-
mal in Ruͤckſicht auf die Staͤnde, dann in Ruͤck-
ſicht der Proviſoren; von dem Mangel des Pa-
triotismus in Deutſchland, eben weil die armen
Deutſchen, als Deutſche, leider, kein Vaterland
mehr haben *), von dem Ungluͤcke der Deutſchen,
[202] groͤßtentheils durchs Haus Oeſtreich, von dem
Mangel eines Oberhaupts, oder einer legalen
Kraft zur Aufrechthaltung der Staatsordnung im
deutſchen Reiche; von der Schwaͤche und den
Maͤngeln der Reichsgerichte und der Reichsgrund-
geſetze, von den aͤußerſt nachtheiligen Folgen der
*)
[203] Pfafferey in und fuͤr Deutſchland; von dem Gene-
raliſſimus und den andern Generalen der Reichs-
armee, und von den Kabalen derſelben und deren
Hauptfolge; von den Exceſſen der Reichstruppen,
von der ſchlechten, ja, oft entgegengeſezten Be-
folgung der Operationsplane; von dem Haſſe und
*)
[204] der Verachtung, womit die Truppen groͤßerer
Fuͤrſten die der kleinern verfolgen, von der Scha-
denfreude der Schwaͤchern uͤber den Verluſt der
Staͤrkern; von der elenden Artillerie und dem
Mangel und der ſchlechten Beſchaffenheit der Fe-
ſtungen, vorzuͤglich an den Graͤnzen des deutſchen
Reichs; von der Verachtung und der Veraͤchtlich-
keit des Soldatenſtandes in den meiſten Kraiſen
Deutſchlands, von dem Poſſenſpiel: Kartell und
Allianz, von dem Mangel der Reichsarmée an
Packknechten und Packpferden, von der jaͤmmerli-
chen Beſchaffenheit der Regiments- und Krais-
Spitaͤler; von dem Intereſſe und der Politik der
maͤchtigern Reichsſtaͤnde, die mindermaͤchtigen
durch das Aufgeboth einer ſonſt hoͤchſt unbrauchba-
ren Reichsarmee nur immer mehr zu ſchwaͤchen,
und ſie durch Unterhaltung ihres Kontingents zu
erſchoͤpfen, und in Schulden und Uneinigkeit zu
ſtuͤrzen; von den zwey großen, alles beherrſchen-
den Partheyen in Deutſchland, und von den Ma-
chinationen derſelben; von der Unmoͤglichkeit, Mit-
tel wider alle dieſe Uebel aufzufinden und anzu-
wenden, oder Deutſchland aus ſeinen lezten Zuͤgen
zu retten, von dem einzigen Nothmittel: Vogel
friß oder ſtirb! u. ſ. w.
Genug, um einzuſehen, daß man in dieſem
Werkchen alles antrifft, was die paralytiſche
[205] Reichsarmee, und unter dieſer auch das Schwaͤ-
biſche Kontingent, von jeder Seite kenntlich hin-
ſtellt. Grell iſt die Kopie freilich, aber, leider,
iſt das Original nicht anders. Uebrigens verſichere
ich aufrichtig, daß ich, ob ich gleich fuͤr die
Reichsarmee im Allgemeinen, welche ſich in dem
jetzigen Kriege abermals zur Behauptung ihres al-
ten Ekelnamens einer Reißaus-Armee hin-
laͤnglich legitimirt hat, gar wenig Reſpekt habe,
doch ſehr viele einzelne Mitglieder derſelben unter
den Offizieren ſowohl als den Soldaten fuͤr brave
Maͤnner und rechtſchaffene Krieger halte, deren
Schuld es wahrlich nicht iſt, daß Manches ſo
elend und ſo ſchlecht betrieben, und noch ſchlechter
ausgefuͤhrt ward. Man gebe einem Sandberg
z. B. ein preußiſches Regiment, und ich ſtehe mit
dem Leben dafuͤr, dieſes Regiment giebt keinem in
der ganzen preußiſchen Armee das geringſte nach.
Aber ein aus ſo vielen Stands-Kontingenten kom-
ponirtes, mit allerhand Geſindel ausmoͤblirtes,
halb defektes Regiment, — was kann da ein bra-
ver Kommandeur machen?
Meine Dienſte that ich recht gern, weil ſie
mir gar nicht ſchwer fielen; wenn ich aber einem
Burſchen z. B. einem Deſerteur oder einem Diebe,
bey der Parade, mit meinem haͤſelnen Korporalsſtock
etwan 15, 20 oder 25 Hiebe auf den Hintern wer-
[206] fen ſollte, wie ich mehrmalen thun mußte, dann
aͤrgerte ich mich allemal derb, und ging endlich
gar einmal in vollen acht Tagen nicht auf die Pa-
rade. Der Oberſte begegnete mir eines Tages:
Aber Korporal, ſagte er, man ſieht Sie ja gar
nicht mehr auf der Parade: wo ſtecken Sie? Wiſ-
ſen Sie nicht, daß der Unteroffizier, ſo oft er ſonſt
nur kann, auf die P[a]rade kommen muß?
Ich: Das weiß ich recht gut, Herr Obriſt:
aber ich bin immer vom Rekruten-Exerzieren muͤ-
de, und zudem iſt eben fuͤr mich kein Vergnuͤgen
auf der Parade.
Obriſt: Oho: es iſt doch auch da kein Ver-
druß! Man hoͤrt immer etwas Neues, und dann
hat man Gelegenheit, ſich oft eine Motion zu ma-
chen, und den oder jenen, der's verdient, aus-
zugerben.
Ich: Eben das, Herr Obriſt, ſchreckt mich
ab. Bin ich auf der Parade, und ruft der Major:
he da, Korporal, dem oder jenem fuͤnf und zwan-
zig richtig abgezaͤhlt: ſo muß ich gehorchen, und
den Stockmeiſter ſpielen: und das kraͤnkt mich.
Obriſt: Wenn's weiter nichts iſt, davon
kann ich Sie befreyen! Es giebt Korporale genug,
die gern zudreſchen: die moͤgens alſo fuͤr Sie
forthin thun.
[207]
Von dieſer Zeit an habe ich niemanden mehr
ſchlagen muͤſſen, als einmal in Hornberg, auf
Befehl des Majors von Beſſerer, einen Ka-
nonier, der eine hochſ[ch]wangere Ehefrau mit Ge-
walt hatte nothzuͤchtigen [w]ollen. Dieſem Kerl ha-
be ich aber ſeine Portion auch tuͤchtig zugemeſſen.
Erſt in Freyſtaͤtt ſchrieb ich an Hrn. Bispink
nach Halle, und dankte ihm fuͤr die Muͤhe um
meine Befreyung aus Frankreich. Zugleich er-
zaͤhlte ich ihm meine Widerwaͤrtigkeiten auf der
Ruͤckreiſe, und zeigte ihm an, daß die Schwierig-
keit, ohne Gefahr vor den Oeſtreichern durchzu-
kommen, und der Mangel an Allem mich genoͤthi-
get haͤtten, von neuem Dienſt zu nehmen, aber
unter Truppen, bey welchen es nicht ſchwer hielte,
loszukommen. Den Namen dieſer Truppen ver-
ſchwieg ich indeß, wie auch den Ort meines dama-
ligen Aufenthalts. Ich beſorgte naͤmlich, mein
Brief moͤgte durch irgend einen Zufall in unge-
waſchne Haͤnde fallen: dadurch moͤgte mein Auf-
enthalt dem Thaddenſchen Regiment bekannt wer-
den: dieſes moͤgte mich ausgeliefert wiſſen wollen;
und ſo koͤnnte es dann geſchehen, daß ich wieder
preußiſche Uniform tragen muͤßte. Da ich aber
einmal beſchloſſen hatte, dieſe Uniform nicht mehr
zu tragen, indem meine noch immer offne Bruſt-
wunde, nebſt meinen geſchwollnen Fuͤßen vom
[208] Barfußmarſchieren in Champagne, mich zu den
ſchweren Kriegsdienſten der Preußen im Felde un-
tuͤchtig machten, und dann weil ich fuͤr die Preu-
ßen genug gelitten hatte, um auf Befreyung von
ihren Dienſten gerechten Anſpruch machen zu koͤn-
nen: ſo wollte ich auch mich nicht ſelbſt der Gefahr
ausſetzen, das durch meine Schuld thun zu muͤſ-
ſen, was ich nach guten Gruͤnden nicht mehr
wollte. Der Kronprinz von Preußen hatte mir
zwar auch Freyheit zugeſagt, aber ich traute doch
nicht ſo recht.
Auf dieſen Brief konnte ich alſo, unter den er-
waͤhnten Umſtaͤnden, von Hrn. Bispink keine
Antwort haben. Um aber eine zu haben, und um
dieſen Braven von der Beſorgniß um mich zu be-
freyen, ſchrieb ich ihm abermals hernach aus dem
Lager, und zeigte ihm dann auch an, wo und wie
ich war. Denn damals hatten die Preußen ſchon
Frieden, bedurften darum der Leute weniger, und
ſo durfte ich mich vor ihnen auch nicht mehr ſehr
fuͤrchten.
[209]
Drey und funfzigſtes Kapitel.
Meine Lage im Schwaͤbiſchen Dienſte.
Ich werde, ſo lange ich lebe, den Fruͤhling und
den Sommer von 1795 nicht vergeſſen: denn ich
habe keine Zeit meines Lebens mit mehr Vergnuͤgen
zugebracht, als jene im Hoſpital zu Dijon, und
dann das halbe Jahr im Dienſte des Regiments
von Baden.
Zu Freyſtaͤtt fand ich in der Perſon des Pfar-
rers meinen alten redlichen Freund, Hrn. Schul-
meiſter, welchen ich ehedem in Gießen 1776 und
77 wohl gekannt, und ſeiner Freundſchaft innigſt
genoſſen hatte. Dieſer rechtſchaffene Mann ſagte
mir geradezu: ſo lange du hier im Quartier biſt,
lieber Laukhard, biſt du mein Gaſt, des Mittags
und des Abends, und dabey bleibts: kein Wort zur
Entſchuldigung! — Daß es ihm, und ſeiner gu-
ten Frau — daß Mann und Frau in dieſem Punk-
te ſehr ſelten gleich geſinnt ſind, habe ich ſelbſt oft
genug erfahren — recht Ernſt geweſen ſey, ſah ich
daraus, daß ich einen derben Wiſcher von beyden
Viert. Th. 2te Abth. O
[210] bekam, wenn ich irgend einmal aus dieſer oder je-
ner Urſache vom Tiſche wegblieb: in dieſem Falle
mußte das Hausmaͤdchen immer zuſehen, ob ich
krank waͤre. Meine Loͤhnung konnte ich nun an-
wenden, wozu ich wollte, und mein Brod verkaufte
ich. Die Kinder des Pfarrers, lauter ſchoͤne,
wohlgezogene Maͤdchen, hatten mich recht gern,
aber ſeinen einzigen hoffnungsvollen Sohn begruben
wir ohngefaͤhr 8 Tage vor Pfingſten, und ich weinte
uͤber den Tod dieſes Kindes beynahe eben ſo viel,
als der Vater.
In der Nachbarſchaft da herum fand ich noch
mehr alte Bekannte und Univerſitaͤtsfreunde von
Gießen her, ich meyne die Herren Wagner,
Advokat in Freyſtaͤtt, Kuͤß, Pfarrer zu Biſchofs-
heim, Hoͤnig, Pfarrer zu Diersheim, Vena-
tor, Paſtor in Auenheim und Schoch, Paſtor zu
Scherzenheim. Dieſe Herren verbreiteten meine
Exiſtenz in der ganzen Gegend, und da ich ſchon
par renommée, beſonders durch die erſten Baͤnde
meiner Lebensgeſchichte, als ein Ebentheurer be-
kannt war, ſo wollte jederman meine Larve kennen
lernen: und ich hatte Zutritt in allen Haͤuſern bey
den Honoratioren des ganzen Laͤndchens. Sobald
alſo mein Dienſt es erlaubte, und der mußte es oft
genug erlauben, lief ich uͤber Land, beſuchte den
oder jenen und war uͤberall willkommen.
[211]
Wenn mich keine Sorgen niederdruͤcken und
kein Kummer verſtimmt, dann iſt meine Seele hei-
ter, und alle meine Handlungen und Worte ſind
alsdann mit einer gewiſſen Munterkeit begleitet,
welche ich im gedraͤngten Zuſtande auf keine Art
erzwingen kann. Da ich nun um dieſe Zeit nicht
die geringſte Sorge hatte, ſo war ich immer helle
und jovialiſch, und konnte Spaß machen, und
Schnurren erzaͤhlen, ſoviel man verlangte. Ich
wurde, ob ich ſchon nichts als Korporal war, doch
oft zu Gaſtereyen eingeladen, wobey hohe Perſo-
nen, Staabsoffiziere, und ſelbſt einmal der hoch-
wuͤrdige Herr Praͤlat von Gengenbach zugegen
war. Man behandelte mich, als waͤre ich, wer
weiß, was geweſen, und ich freute mich meiner
Exiſtenz. Ich danke hier oͤffentlich dem Hrn. D.
Huhn, Hrn. Kirchſchaffner Hauke, dem Hrn.
Oberjaͤger und Hrn. Amtsſchaffner zu Biſchofs-
heim, dem Hrn. Landſchreiber in Freyſtaͤtt und
mehrern andern Herren wegen ihrer mir ſo vielfaͤl-
tig erwieſenen Gefaͤlligkeit. Das iſt das Einzige,
was ich ihnen fuͤr ihre Guͤte wiedergeben kann.
Sage mir einer von den Maͤdchen am Rhein,
was er will: ich wenigſtens hab' in Biſchofs-
heim ein Frauenzimmer kennen lernen, mit wel-
chem ich keine von allen, die ich kenne — und ich
kenne eine anſehnliche Menge — in Vergleichung
[212] ſtellen moͤgte: und dieß Maͤdchen iſt Mamſell
Friderike Hauke, die Schweſter des Hrn.
Kirchenſchaffners zu Biſchofsheim. Die vorzuͤg-
liche Schoͤnheit dieſes jungen Frauenzimmers macht
gerade ihre geringſte Vollkommenheit aus. Aber
ich wuͤrde mich verſuͤndigen, wenn ich eine naͤhere
Schilderung von ihr wagen wollte, welche auf je-
den Fall das Original himmelweit hinter ſich laſſen
wuͤrde.
Ich lobe recht gern, und da es — fuͤr aͤſthe-
tiſche Kaͤtzer von meiner Art — am weiblichen
Geſchlecht uͤberhaupt wenig zu loben giebt, ſo iſt
man recht froh, wenn man unter demſelben ein-
mal etwas Vorzuͤgliches antrift. Folglich muͤßte
ich kein Gedaͤchtniß mehr haben, wenn ich die Ge-
malin des Hrn. Venators, Pfarrers von Alten-
heim, vergeſſen haͤtte. Schwerlich wird man vie-
le Weiber finden, die ihren Geiſt ſo ausgebildet,
und ſich ſo viele Fertigkeit in der Muſik, im Tan-
zen, im Franzoͤſiſchen, u. ſ. w. erworben haben,
als Madam Venator.
Emigrirte Elſaſſer, Unterthanen des Landgra-
fen von Heſſen-Darmſtadt, beſonders ehemalige
Bediente, gab es auch in dieſer Gegend. Das
waren aber ganz andre Menſchen, als die eigent-
lichen Emigrirten der Franzoſen. Sie waren weg-
gegangen, weil ſie ihrem Herrn, dem Landgrafen,
[213] ergeben waren, und weil ſie wirklich in ſeinen
Dienſten und in ſeinem Brode ſtanden. Das
Auswandern war ihnen daher nicht ſo ſehr zu ver-
argen, als jenen, welche auszogen, damit ſie mit
Huͤlfe auswaͤrtiger Maͤchte die Freyheit ihres Va-
terlandes unterdruͤcken, und hernach ihre Mitbuͤrger
auf Rothwaͤlſch wieder tyranniſiren helfen moͤgten.
Unter den emigrirten Elſaſſern lernte ich einen
Medikus kennen, Hrn. D.Roſenſtiel von Buchs-
wei[weil]er, und Leibarzt des Landgrafen. Das war
ſo ein Mann nach meinem Fuße, ein Arzt, der
ſeiner eignen ganzen Wiſſenſchaft, oder wie er im-
mer ſagte, der mediciniſchen Quackſalberey, Hohn
ſprach, und behauptete, daß beynahe alles von
der bloßen Natur, blutwenig aber von der Kunſt
in Heilung der Krankheit zu erwarten ſey.
Meinen Goͤnner, den Hrn. Oberſten von Sand-
berg, beſuchte ich oͤfters, und gab ſeinem Be-
dienten, der das Faktotum bey ihm war, Unter-
richt im Rechnen. Ich ſuchte beym Oberſten her-
auszubringen, was er von den franzoͤſiſchen Ange-
legenheiten hielte. Allein ſeine Antworten fielen
immer ſo aus, daß ich einſah, Hr. von Sand-
berg ſprach, wie ein redlicher deutſcher Offizier
ſprechen muß. Ich merkte wohl, daß der einſich-
tige Mann recht gut wußte, Illiacos intra muros
peccari et extra; daß die Franzoſen in der Haupt-
[214] ſache Recht haͤtten, und daß das heil. Roͤm. Reich
zur Ungebuͤhr in die Bruͤhe gezogen waͤre. Allein
da er einmal bey den Reichstruppen als Offizier
von hohem Range diente, ſo durfte er freilich nicht
zugeben, daß ſeine Armee eine ſchlechte, der Feind
aber eine durchaus gute Sache vertheidigte. Wenn
ich manchesmal ſo etwas fallen ließ, ſo widerſprach
er nicht, laͤchelte nur, und ſchloß mit der allge-
meinen Bemerkung, welche ich herzlich gern un-
terſchrieb und noch unterſchreibe: „daß eine Revo-
lution fuͤr die, welche ſie betrift, allemal eine ſehr
blutige Sache ſey.“
Allein Hr. Kuhn, der Auditeur, welcher mich
ſeiner vorzuͤglichen Freundſchaft wuͤrdigte, und
welcher ein ſehr gelehrter Mann iſt, war uͤber die
Franzoſen ſo ſehr erboßt, daß wir allemal bis zu
Grobheiten an einander kamen, wenn von ihrer
Sache die Rede war, zumal wenn wir im Lamm
zu Freyſtaͤtt, oder im Schwerd zu Kehl unſre
Koͤpfe etwas heroiſch getrunken hatten. Endlich
machten wir aus, daß von den franzoͤſiſchen Ange-
legenheiten gar nichts mehr unter uns vorkommen
ſollte: und ſo blieben wir gute Freunde. Aber die
Franzoſen hatten dem guten Kuhn ſeinen Goͤnner
und Freund, den vormaligen Maire Dietrichs
in Strasburg gekoͤpft, und ſo hatte er ja Urſache,
dem ganzen Volke feind zu ſeyn.
[215]
Herr Maier, Feldprediger unſeres Regiments,
hatte ſeinen Tiſch auch bey Hrn. Pfarrer Schul-
meiſter. Jedes Schwaͤbiſche Regiment hat zwey
Feldprediger, einen katholiſchen und einen lutheri-
ſchen. Der katholiſche war ſonſt Kapuziner, da-
bey aber ziemlich helle. Er hielt auf Niemeyers
Karakteriſtik alles, nur daß dieſes Werk einige all-
zufreye Aeußerungen fuͤr ihn enthielte. Wie er-
ſtaunte er aber, als ich ihm ſagte, daß dieſes ſonſt
ſchaͤzbare Buch immer noch zu viel theologiſchen
Sauerteig habe, welchen der gelehrte und einſichts-
volle Verfaſſer jezt ſelbſt nicht mehr billigte: der
Herr Feldpater moͤgte nur die Schriften eines
Semlers, Bahrdts, Steinbarts, Schulz
von Gielsdorf und anderer Theologen und Philoſo-
phen leſen: und er wuͤrde ſchon etwas anders
ſehen.
Herr Maier war ein Mann, den ich immer
ehren werde. Da er auf Schulen ſehr fleißig ge-
weſen war, und da die Schulen im Wuͤrtember-
giſchen ungleich beſſer ſind, als alle Schulen in
ganz Deutſchland: ſo hatte er ſehr feine Kenntniſſe
eingeſammelt, las den Homer und den Theo-
kritus, und wußte das Meiſte aus dem Virgi-
lius, Horatius, Ovidius und Juvena-
lis auswendig, und fuͤhrte ihrer einen immer in
der Taſche. Wenn wir nun ſo des Abends in den
[216] idylliſch-reizenden Rhein-Auen herumwanderten,
dann war unſer Zeitvertreib, daß wir einige ſchoͤne
Stellen aus jenen illuſtern Alten wiederholten,
wovon mir mein nicht ganz untreues Gedaͤchtniß
manche wieder angab. Da ergoͤzten wir uns denn
das, und kehrten oft ſpaͤt zu Herrn Schulmei-
ſter zuruͤck, um bey einem Glaſe Wein den Kom-
mentar uͤber dieſen und jenen Vers zu beendigen.
Ich weiß noch, daß wir uns drey Tage lang ge-
zankt haben, uͤber folgende Verſe des Virgilius:
Populus Alcidae gratiſſima, vitis laccho,Formoſae Myrtus Veneri, ſua laurea Phoebo;Phyllis amat corylos, illas dum Phyllis amabit,Nec myrtus vincet corylos, nec laurea Phoebi.
Der Zwiſt betraf die Frage: ob im zweyten
Verſe das gratiſſima zu wiederholen ſey? Ich ver-
neinte es, und konſtruirte Veneri ſua (i. e. propria)
myrtus eſt \&c. Hr. Maier wollte das Ge-
gentheil.
Ich muß hier etwas erzaͤhlen, das freilich zu
Darmſtadt nicht gefallen wird: allein die
Wahrheit muß heraus! Vielleicht ſchaͤmen ſich die
Herren, die ſie betrift, und nehmen die Publicitaͤt
ihres Verfahrens zum Beweggrund, ſich vor aͤhn-
lichen Streichen in der Zukunft fein huͤbſch zu huͤ-
ten. —
[217]
Im Jahr 1795, im Jaͤnner, befahl das
hochwuͤrdige Konſiſtorium zu Darmſtadt, deſſen
geiſtliches Oberhaupt Herr Olf, der Superinten-
dent iſt, — das weltliche kenne ich nicht, es
muß aber Hrn. Olf beygeſtimmt haben — daß
in Zukunft alle Scheine, welche die Geiſtlichen aus-
ſtellen wuͤrden, auf Stempelpapier geſchrieben
ſeyn ſollten; und wer dagegen handelte, ſollte um
10 Thaler geſtraft werden. [E]in Pfarrer im Lich-
tenbergiſchen machte nachher die Anfrage: ob denn
auch die Nachtmalsſcheine, (bey den Katholiken
heißen ſie Beichtzettel) welche meiſt an arme
Dienſtboten geſtellt wuͤrden, auf Stempelpapier ge-
ſchrieben werden ſollten? Dieſes, fuͤgte er hinzu,
wuͤrde wohl hoͤchſt unbillig ſeyn, weil auf dieſe Art das
Nachtmal ſelbſt mit einer Art von Taxe belegt und
dadurch verhaßt gemacht werden wuͤrde. — Herr
Venator, Superintendent zu Kork, ſchickte, wie
natuͤrlich, die Frage des biedern Pfarrers nach
Darmſtadt ans Konſiſtorium. Die Herren darinn,
ſtatt einer vernuͤnftigen Vorſtellung Gehoͤr zu ge-
ben, ergrimmten heftig daruͤber, und ſchickten eine
aͤußerſt grobe Reſolution nomine Sereniſſimi —
daß ſich doch die nomina Sereniſſimorum zum
Deckel aller Graͤuel ſo oft muͤſſen misbrauchen laſ-
ſen, beſonders der ehrwuͤrdige Name des recht-
ſchaffnen Landgrafen von Darmſtadt! —
[218] daß es bey der erſten Verordnung bleiben ſollte,
und daß der Pfarrer in eine Strafe von 100 Gul-
den verfallen ſey, welche er ſofort zu entrichten ha-
be; daß aber kuͤnftighin die Caſſation allemal er-
folgen ſollte, ſobald irgend ein Geiſtlicher es wa-
gen wuͤrde, mit aͤhnlichen Remonſtrationen einzu-
kommen: des Herrn Landgrafen Durchlaucht, oder
vielmehr Seine Excellenz Herr von Gatzert und
Seine Hochwuͤrden Herr Olf waͤren nicht ge-
wohnt, ſich Vorſchriften machen zu laſſen. —
Alle Klugen zuckten die Achſel uͤber dieſe Deſpotie,
und der Pfarrer mußte ſeine hundert Gulden be-
zahlen.
Einen Kommentar hieruͤber moͤgen meine Le-
ſer ſelbſt machen; aber zur Belehrung des Hrn.
Gatzert und des Hrn. Olf will ich hier ein
Paar Gedichte einruͤcken, welche die geſtrengen
Herren ſonſt wohl nicht leſen moͤgten. Sie ſind
von einem preußiſchen Offizier, und ſtehen in der
Sammlung erbaulicher Gedichte — fuͤr die
politiſchen Vampirs S. 314 u. f.
kelmanns Rath, den geiſtlichen Con-
ſiſtorialraͤthen weltliche zuord-
nete.“
[219]
[220]
Vier und funfzigſtes Kapitel.
Fortſetzung.
Unſre Compagnie blieb bis den 9ten Jun in Frey-
ſtaͤtt, worauf wir ein Lager oberhalb Kehl, nicht
weit vom Rhein, bey den Doͤrfern Marlen und
Goldſcheier bezogen, und daſelbſt bis den 9ten
Jul ſtehen blieben. Vom Lager aus, worin ich
wenig zu thun hatte, beſuchte ich meine Freunde
oft, und hatte oft ſelbſt Beſuche, weil ich anfieng,
[221] auch hier eine gewiße Celebritaͤt zu genießen,
die ich der Leſebibliothek des Herrn Geiger zu
Lahr zu danken hatte. Dieſer Herr Geiger beſaß
naͤmlich meine Lebensbeſchreibung, und als er er-
fuhr, daß ich bey dem Badiſchen Regimente mich
aufhielte, ſo ſchickte er ſie aller Orten herum, mit
der Bemerkung: daß der ſeltſame Held und Ver-
faſſer der mitgeſchickten Lebensgeſchichte jezt unter
dem Regiment von Baden in der Naͤhe ſey. Da
laſen denn die dortigen Herren und Damen, und
kamen, um den ſeltſamen Mann ſelbſt zu beantli-
tzen, der nach ſo vielen Ebentheuern noch immer
nicht ganz gewitzigt war. Mich freute das nicht
wenig, und ich ließ mein Antlitz gern betrachten,
um ſo lieber, da die Herren allemal recht guten
Wein und andere ſehr genießbare Sachen mitbrach-
ten. Man nehme mir dieſes Geſtaͤndniß nicht uͤbel:
denn ich gehoͤre zu denen,
Qui vultu morbum inceſſuque fatentur,
und brenne mich nirgends weiß. Eben darum ge-
ſtehe ich den Herren und Damen auch ohne Hehl:
daß nicht ſo ſehr die Begierde, ihnen zu Gefallen
zu leben, als vielmehr der Luſten, an ihren Fla-
ſchen und Speiſekoͤrben Theil zu nehmen, mich ge-
gen ſie gefaͤllig und beredt gemacht hat. So aber
geht es in der ganzen Welt! Manche denken, ſie
werden wegen ihrer Schoͤnheit, Artigkeit, Gelehr-
[222] ſamkeit, feiner Sitten, Unterhaltungsgabe u. ſ. w.
beſucht: und ſiehe da, man kommt zu ihnen, um
mit ihnen zu ſchmarotzen. Mit mir war es da-
mals umgekehrt.
Den 9ten Jul. verließen wir das Lager; und
unſre Compagnie kam nach Kehl zu liegen, wo
wir das Fort, deſſen Werker die Franzoſen ſchon
lange vorher gaͤnzlich zuſammengeſchoſſen hatten,
beſetzen mußten. Wir wurden die ganze Zeit uͤber
von den Franzoſen gar nicht beunruhigt. Da faſt
alle Tage Kaiſerliche Gefangene ausgeliefert wur-
den von Strasburg aus, ſo hatte ich Gelegenheit,
einige franzoͤſiſche Offiziers zu ſprechen, und fand
bey ihnen immer die regſte Geſinnung fuͤr Tapfer-
keit und Freyheit. Unſer Oberſte, Sandberg,
bewirthete ſie jedesmal, und ließ ſich ſelbſt einmal
von ihnen nach Strasburg einladen, wo man ihm
alle Ehre erwieſen hat.
Endlich erhielt ich Antwort von Herrn Bis-
pink: Gott, welche Wonne goß dieſer Brief des
redlichen Mannes in meine Seele! Ich ſah, daß
er meinen Abſchied laͤngſt bewirkt hatte, und
daß ich lange voͤllig frey war. Er gab mir Nach-
richt uͤber alles, was er fuͤr mich nach Zuͤrich an
Hrn. Geßner geſchickt, und bey dieſem fuͤr mich
weiter beſtimmt hatte. O, da ergrimmte ich erſt
recht uͤber die Voreiligkeit der Herren zu Baſel,
[223] und empfand einen beynahe unwiderſtehlichen
Drang, nach Halle zuruͤck zu eilen; ja, wenn
mich die Ehrfurcht fuͤr den Oberſten und meinen
Hauptmann nicht abgehalten haͤtte, ſo waͤre ich da-
mals gleich deſertirt, und haͤtte mich nach Halle
aufgemacht. Aber ich wollte einmal nicht deſerti-
ren, auch mißrieth mir dieß Hr. Bispink; alſo
beſchloß ich zu warten, bis ich vielleicht ohne ein
Bubenſtuͤck zu begehen, die Schwaben verlaſſen
koͤnnte. Herr Bispink hatte mir zugleich eine
anſehnliche Summe Geld geſchickt, wovon ich mei-
ne Beduͤrfniſſe beſtreiten, und mir bey der allge-
meinen Theurung der Lebensmittel, viel Erleichte-
rung ſchaffen konnte.
Als wir in Kehl ſtanden, that der Rhein in der
dortigen Gegend unerſetzlichen Schaden. Der
Fluß hatte ſeinen Damm an vielen Orten durchbro-
chen, und die ganze Gegend, auf vier Stunden
lang, weit und breit uͤberſchwemmt. Das Dorf
Kehl ſtand ſo tief unter Waſſer, daß man mit Na-
chen und anderm Fahrzeug von einem Hauſe zum
andern fahren mußte: die Wachen und Pikete muß-
ten zu Schiffe aufgefuͤhrt und abgeloͤßt werden.
Bey dieſer Gelegenheit erſoffen fuͤnf Soldaten,
zwey Korporale und ein Leutnant von den Schwa-
ben. Wahrſcheinlich war das aus der Schweiz in
den Rhein ſtuͤrzende Schneewaſſer Schuld an der
[224] fuͤrchterlichen Ueberſchwemmung, welche uͤber acht
Tage ſtehen blieb.
In Kehl ſah ich ein Spektakel, bey deſſen
Andenken mir die Haut noch ſchaudert. Man hatte
unter den Kehler Einwohnern vier Spionen ent-
deckt, welche den Franzoſen von der Lage der Din-
ge dießſeits des Rheins Nachricht gebracht, und
dafuͤr viel Geld bekommen hatten. Der vornehm-
ſte dieſer Verraͤther war der badiſche Fiskal oder
Geldeinnehmer zu Kehl. Die Leute wurden in Kork
verhoͤrt, und hernach von einer Kriegskommiſſion,
aus Kaiſerlichen und Schwaͤbiſchen Offizieren, ſo
kondemnirt, daß der Fiskal mit dem Schwerdte,
ein Andrer aber mit dem Strange hingerichtet wer-
den ſollte: die beyden uͤbrigen ſollten drey Tage
nacheinander durch 300 Mann Gaſſen laufen.
Die Exekution ging vor ſich, und ich konnte
dem Koͤpfen und Haͤngen ziemlich ruhig zuſehen,
nur daß ich da auch in meinen Buſen griff und mir
ſelbſt eingeſtand, daß ich ſo was aͤhnliches um die
Franzoſen verdient gehabt haͤtte. Aber das Gaſſen-
laufen war bis zum Entſetzen abſcheulich. Man
hatte abſichtlich große ſtarke Ruthen gegeben, und
fuͤr zehn Gulden Wachs unter die Soldaten ver-
theilt, die Ruthen damit einzuſtreichen, und die
Soldaten vom Regiment Wuͤrtemberg verrich-
teten ihr Henkerknechtsamt auch ſo gut, daß man
[225] die armen Leute ſchon bey dem ſechſten Gange weg-
bringen mußte. Sie ſahen nicht mehr aus, wie
Menſchen, indem ihnen die Barbaren ſogar die
Geſichter zerfleiſcht, und die Beine und Huͤften gar
jaͤmmerlich zerfezt hatten. Beyde ſind wenig Ta-
ge darauf geſtorben am Brand. Der brave Sand-
berg ſpukte bey dieſer Barbarey aus, und ein hef-
tig ausgeſprochenes: „Pfuy Teufel, pfuy der
Schande!“ war ſein Urtheil daruͤber.
Vielleicht verargt man es mir, daß ich eine
Begebenheit erzaͤhle, welche den Herren Schwa-
ben keine Ehre bringen kann, und von welcher die
lieben Zeitungen damals nichts gemeldet haben;
Aber obgleich ich fuͤr meine Perſon uͤber die Schwa-
ben nicht zu klagen habe, ſo haben ſie doch an der
Menſchheit ſich groͤblich verſuͤndiget, und dieſes
verdient, daß man es bekannt mache. — Die
Haͤuſer der Hingerichteten wurden obendrein den
Soldaten zur Diſpoſition uͤberlaſſen, welche denn
alles herausholten, was ſie brauchen konnten, und
ſogar die Thuͤren und Dielen verbrannten.
Ueberhaupt haben ſich die Schwaͤbiſchen und
andere Reichstruppen gegen die Einwohner der dor-
tigen Ortſchaften beynahe eben ſo ſchlecht betragen,
als die Kaiſerlichen, von welchen man bald mehr
leſen wird. Keine Gans und kein Huhn war ſicher
Viert. Th. 2te Abth. P
[226] vor ihnen, und alle Feld- und Gartengemuͤſe wur-
den geholt und verzehrt: nichts verſchonten ſie.
Freilich war das Unweſen verboten: allein da die
Unteroffiziere an den Ganfereyen mit Theil nah-
men, da ſelbſt einige Offiziere die geſtohlnen Gaͤnſe
und Ruͤben und Kraut u. ſ. w. ſich wohl ſchmecken
ließen, ſo konnten die Befehle, welche in dieſer Ruͤck-
ſicht gegeben waren, nicht reſpektirt werden, ſo ſehr
auch die hohen Vorgeſezten darauf drangen.
Den 9ten Auguſt bezogen wir abermals das
Lager bey Altenheim am Rhein, und ich erhielt
vom Oberſten die Erlaubniß, meinen Stand zu
Rottenmuͤnſter zu beſuchen, welches ohngefaͤhr 24
Stunden vom Lager entfernt war. Herr von
Triebelhorn, der Leutnant, gab mir ein Em-
pfehlungsſchreiben an ſeinen Vater, den Oberamt-
mann, mit, und dieſer redliche Mann erwies mir
alle nur erſinnliche Freundſchaft. Der Weg von
Offenburg nach Rottenmuͤnſter geht uͤber Gengen-
bach, Haslach, Hornberg, Stramberg und Rott-
weil, und iſt von Hornberg aus, wegen der Ge-
buͤrge, ſehr beſchwerlich: denn hier geht ſchon der
Schwarzwald an, von welchem unſre neuen Gei-
ſtermaͤhrchendichter ſo viel zu erzaͤhlen wiſſen.
In Rottenmuͤnſter war man geſonnen, mir in
Zukunft nach Endigung des Krieges eine ruhige
Lage auszumitteln. Ich konnte dieſe von weitem
[227] vorherſehen, und auch ſicher darauf ſchon rechnen:
denn die meiſten Schwaben ſind viel zu ehrlich, als daß
ſie ihr Verſprechen vergeſſen ſollten. Ich war auch
nicht uͤbel willens, mein Schickſal den Haͤnden der
hochwuͤrdigen Frau Aebtiſſin von Rottenmuͤnſter zu
uͤberlaſſen: allein auch hier hieß es am Ende als
Bedingung: ich muͤßte erſt katholiſch werden.
Da nun dieß, wie man bey Freyburg geſehen hat,
wohl meine kirchliche Benennung, nicht mich ge-
aͤndert haͤtte, und da ohne dieſe Aenderung ich im-
mer in Gefahr geſchwebt haͤtte, meinen angewieſe-
nen Poſten endlich doch zu verſcherzen: ſo fand ich
fuͤr gut, den Vorſchlag auch hier auszuſchlagen.
In Rottenmuͤnſter ſahe ich den erſten preußi-
ſchen Werber wieder: er ſtand in Rottweil, hatte
aber die Erlaubniß, auch im Wirthshauſe des
Kloſters anzuwerben. Ich entdeckte mich ihm,
und er wollte mich als ſeinen Rekruten nach Halle
bringen laſſen, aber ich hatte fuͤr dieſen Antrag
keine Ohren.
Auf dieſer Reiſe lernte ich ein Frauenzimmer
kennen, welches an Schoͤnheit und Herzensguͤte
unvergleichlich iſt, aber wegen ſeines Ungluͤcks das
Mitleid der ganzen Welt verdient. Dieſes Maͤd-
chen hatte vor einigen Jahren mit einen Regiſtra-
tor von R.... Liebeley getrieben, allein gewiſſe
Umſtaͤnde machten damals ihre Verbindung mit
[228] ihm noch unmoͤglich. Waͤhrend der Wartezeit er-
hielt ihr Anbeter einen hoͤhern Poſten, und heura-
thete ein anderes reicheres Frauenzimmer. Im
Vorbeygehen muß ich anmerken, daß man beym
Heurathen nirgends mehr aufs Geld ſieht, als im
Schwabenlande: denn da heißt es recht: auro conci-
liatur amor. Nach der Hand fand ſich ein ange-
ſehener huͤbſcher Mann, der droben in der Schweiz
der Liebling eines hohen Praͤlaten war, bey der
verlaßnen Mamſell Joſephe ein, (Seppele
ſprechen die Schwaben) verliebte ſich in ſie und er-
hielt das Jawort von ihrem Vater und ihr. Die
Verlobung wurde bekannt gemacht, und der Hoch-
zeittag ſchon beſtimmt. Indeſſen erfuhr auch der
ehemalige Liebhaber, daß Joſephe die Braut
eines Andern ſey, und ſchickte, Gott weiß, ob
aus verkehrter neidiſcher Rachſucht, oder aus wel-
cher Urſache, die Briefe, welche er ehedem von
ihr bekommen hatte, an den Neuverlobten. Unter
dieſen Briefen befanden ſich mehrere, welche den
ehrlichen Mann belehrten, wie weit ſeine Gelieb-
te mit ihrem erſten Liebhaber gekommen war: denn
in einigen vermuthete ſie, es ſey nicht recht
richtig mit ihr und dergleichen. — Daß dieſes
dem unbefangnen Manne ſehr muͤſſe aufgefallen
ſeyn, verſteht man von ſelbſt: daß er aber Liebe
genug fuͤr ſeine Braut gehabt habe, erhellet daraus,
[229] daß er ſeine Heurath dennoch hat vollziehen wollen.
Allein er wurde, ſehr wahrſcheinlich auf Anſtiften
des elenden, niedrigen Buben, in einem oͤffentli-
chen Wirthshauſe von der ehemaligen Auffuͤhrung
ſeines Maͤdchens luͤgenhaft unterrichtet, und oben-
drein durch allerley ſpoͤttiſche Anmerkungen ge-
kraͤnkt. Nun konnte er freilich, wenn er anders
ſeine Ehre ſchonen wollte, an dieſe Verbindung
weiter nicht denken: er brach alſo davon ab und
kuͤndigte der Verlaͤumdeten die Heurath auf.
Wie tief der Vater gebeugt, und wie arg das
gute Maͤdchen beſchimpft und im ganzen Schwa-
benlande verſchrieen worden ſey, kann man ſich
vorſtellen. Ich beſitze noch einen Feuerſtahl, den
mir das ſonſt edle Maͤdchen geſchenkt hat, und ſo
oft ich Feuer anſchlage, denke ich mit Ruͤhrung die-
ſer Geſchichte.
Sollte mein Buch von jungen Maͤchen geleſen
werden, ſo kann ihnen dieſe Geſchichte zur War-
nung dienen, daß ſie ſich nicht, wie's gewoͤhnlich
zu gehen pflegt, mit jedem ſchoͤnthuenden Laffen
einlaſſen, Briefe an ſie ſchreiben, und ſo ihr kuͤnfti-
ges Gluͤck nicht untergraben. So ein Schlapps gau-
dirt ſich hernach noch obendrein, wenn er ein gutes,
unſchuldiges Maͤdchen in Schimpf und Schande
gebracht hat. Man erfaͤhrt dieß ja in Staͤdten,
wo das junge Studenten- und Soldatenvolk die Mo-
[230] ralitaͤt und die Delikateſſe der Maͤdchen untergraͤbt,
ſie zur Koketterie und zum Luxus verleitet, den
Sinn fuͤr Haͤuslichkeit in einen Unſinn fuͤr Pro-
menaden, Baͤlle, Landfahrten und dergleichen um-
ſchafft, und dadurch in dem luͤſternen unerfahrnen
Maͤdchen die kuͤnftige Hausfrau und Mutter ver-
derbet — zur Schande der Eltern, und zum Ruin
deſſen, der dereinſt das Ungluͤck hat, Mann von
ſo einem verkuͤmmerten und verhudelten Puppen-
ding zu werden.
Sechs und funfzigſtes Kapitel.
Mein Abſchied von den Schwaben. Meine Wanderung.
Ich ſchrieb, nach dem Rathe des Hrn. Bispink,
an unſern Kronprinz, und bath dieſen mir ehedem
gewogenen Fuͤrſten, mir durch ſein hohes Vorwort
bey dem Prinzen Ludwig von Baden, meinen
Abſchied von den Schwaͤbiſchen Kraistruppen be-
wirken zu wollen. Meine Bitte, zu der, auf Ver-
mittelung des Hrn. Bispink, dem ich meine
Bittſchrift geſchickt hatte, um ſie ferner zu beſor-
gen, noch eine Fuͤrbitte meines ehemaligen Haupt-
manns, des Hrn. von Mandelsloh, hinzukam,
[231] war nicht vergeblich: denn ohngefaͤhr 14 Tage her-
nach ließ mich Hr. von Sandberg von Auen-
heim, wo zu der Zeit unſre Compagnie ſtand, kom-
men, und redete mich mit einer finſtern, mir ganz
ungewohnten Miene folgender Geſtalt an: Alſo,
Korporal, wollen Sie fort?
Ich: Mein Herr Oberſter, ich verſtehe Sie
nicht.
Er: Ich erhalte hier ein Schreiben vom Chef
des Regiments: ich ſoll Ihnen den Abſchied geben;
und das geſchieht auf Ihr Begehren: Sie haben
darum an den Kronprinz von Preußen geſchrieben.
Ich: Ich kann das nicht leugnen, mein Herr
Oberſter: Aber wenn es Ihnen zuwider iſt —
Er: So ſoll ich den Abſchied nicht geben? —
Nein, Korporal, das geht nicht: der Chef will es
haben, und drum muß ich. Es thut mir aber leid
(wendet ſich von mir weg.)
Ich: Herr Oberſter, dieſer Schritt kann der
Schritt zu meinem Gluͤcke werden.
Er: Kann ſeyn, will's auch wuͤnſchen; aber
— aber — ich zweifle ſehr! Laukhard, waͤr' ich
an Ihrer Stelle, ich blieb hier — hier kann es
noch gut fuͤr Sie werden.
Wir redeten noch viel miteinander, und doch
konnte ich den Oberſten, der die Welt und deren
Lohn beſſer kannte, als ich, nicht uͤberzeugen, daß
[232] es mir im Preußiſchen wohlgehen wuͤrde; und
jezt, da ich dieſes ſchreibe, nachdem beynahe 20
Monate verfloſſen ſind, finde ich, daß Sand-
berg, in Ruͤckſicht auf meinen Hauptbeweggrund,
recht hatte, und daß ich ſehr unrecht that, eben
darum ſeinen Rath in den Wind zu ſchlagen, und
ein Korps zu verlaſſen, wobey ich auch nicht die
geringſte Urſache zu klagen gefunden habe.
Ich kann mich wirklich ruͤhmen, nur einmal
einen Wiſcher von Hauptmann Storr bekommen
zu haben, aber dieſen hatte ich auch verdient. Ich
ließ naͤmlich, als ich einſt die Wache in Freyſtaͤtt
hatte, zwey Korporale, welche mir aus dem ſoge-
nannten Lumpenhaͤuschen als Arreſtanten gebracht
wurden, auf eigne Autoritaͤt wieder los. Außer
dieſem Stuͤckchen iſt mir nichts Unangenehmes zu-
geſtoßen.
Der Oberſte, als er ſah, daß ich — im feſten
Vertrauen auf das Wort eines Großen — gern
von dannen moͤgte, auch aus Begierde, den Hrn.
Bispink wieder zu umarmen, ließ mich nach
Kork gehen, um da unſerm Generalmedikus —
ja, nun iſt mir der Name dieſes liebenswuͤrdigen
Mannes, der ſo brav fuͤr die Geſundheit ſeiner an-
vertrauten Kranken geſorgt hat, entfallen! — mei-
ne noch immer offne Bruſtwunde zu zeigen, und
mir dann von ihm das Zeugniß ſtellen zu laſſen:
[233] daß ich zu ferneru Soldatendienſten unfaͤhig ſey.
Dieß geſchah und ſo erhielt ich meinen Abſchied,
ging geruͤhrt vom Oberſten von Sandberg, der
mich noch reichlich beſchenkte, welches auch mein
Hauptmann und der Hr. Leutnant von Triebel-
horn thaten. Alle meine Freunde unterſtuͤzten
mich ebenfalls mit Reiſegeld, und fuͤr dieſe ihre
Guͤte ſtatte ich ihnen allen hier den waͤrmſten
Dank noch einmal ab. Den Hrn. Pfarrer Schul-
meiſter in Freyſtaͤtt konnte ich nicht ſprechen: er
war verreiſet, aber von ſeiner Familie habe ich mit
Thraͤnen Abſchied genommen. Mag es doch im-
mer jenen braven Leuten dort oben am Rhein recht
wohl gehen! — Meine Kameraden, die Unterof-
fiziere, beſonders der Feldwebel Nothhelfer,
und die Korporale Seher, Schroͤder und
Roͤhm begleiteten mich noch eine ganze Strecke,
Roͤhm uͤber zwey gute Stunden, und alle wein-
ten beym Scheiden.
Hr. Bispink hatte auf die Nachricht des
Hrn. Hauptmanns von Mandelsloh, daß der
Kronprinz meine Entlaſſung von den Schwaben
bewirken wollte, den Oberſten von Sandberg
gleich erſucht, mir, im Falle ich wirklich entlaſſen
wuͤrde, das noͤthige Reiſegeld auf ſeine Rechnung
vorzuſchießen, ſobald naͤmlich der Kronprinz es
fuͤr mich nicht anwieſe. — Hr. Bispink ſtand
[234] ſchon vorher meinetwegen mit dem Oberſten in
Briefwechſel. — Auch hatte er einen Brief fuͤr
mich beygeſchloſſen, worin er mich nach ſehr guten
Gruͤnden auf die goldne Wahrheit merken machte:
Alterius non ſit, qui ſuus eſſe poteſt.
Auch rieth er mir, Davids Ausſage „auf
Fuͤrſten nicht zu bauen“ wohl zu beherzigen, um
mich hintendrein nicht getaͤuſcht zu finden. Dann
gab er mir Mittel und Weg an, wie ich — auf
jeden Fall — durch mich ſelbſt beſtehen koͤnnte,
auch ohne ein Brod, welches dem Mann von Kraft
— nicht immer zum beſten ſchmecke. Seine vor-
zuͤglichſten Winke gingen auf die moraliſche Be-
freyung, nach der Sentenz des Horatius:
— — O toties ſervus, quae bellua ruptis,
Cum ſemel aufugit, reddit ſe prava catenis! —
Dieſer Brief des Hrn. Bispink, war erſt
8 Tage nach meiner Abreiſe angekommen, wie der
Hr. Oberſte in ſeiner Antwort an Hrn. Bispink,
mit der ich deſſen Brief an mich nach Halle erhielt,
mit Bedauren bemerkte. Die vorhin erwaͤhnte Un-
terſtuͤtzung meiner Vorgeſezten und Freunde war
mir alſo beym Antritt meiner Reiſe recht ſehr will-
kommen.
Ich darf, weil meine Hiſtorie nun doch bald
zu Ende gehen muß, nicht noch weitlaͤufig wer-
[235] den, ſonſt haͤtte ich manche Anekdoten von den
Schwaben, welche vielleicht dieſem oder jenem
behagen, manchem aber auch, vorzuͤglich im Schwa-
benland, misfallen wuͤrden. Alſo nur dieſes!
Als am 22ten September das Feſt der Re-
publik in ganz Frankreich, folglich auch in Stras-
burg gefeiert wurde, war der dortige Muͤnſter-
thurm am Abende praͤchtig illuminirt. Das ſahen
die Schwaben in Kehl, liefen herum, und ſchrien:
Strasburg brennt, Strasburg brennt: die Kaiſer-
lichen haben's gewiß in Brand geſchoſſen! — Die
Pinſel hatten das den ganzen Tag uͤber waͤhrende
Kanoniren in Strasburg fuͤr einen Angriff der Oeſt-
reicher auf dieſe Stadt gehalten.
Hier auch eine kleine Probe der aͤcht Schwaͤbi-
ſchen Sprache.
- A. Wau beſt'n geſinn? (Wo biſt du geweſen?)
- B Dau, beym Nandler. (Da, beym Nadler.)
dau hau'ch (hab ich) vor zwa Kreuzer Brantewai
ſtau lau (ſtehn laſſen.)
Ein Geiſtlicher war nach Rennichen eingela-
den, zu einem geiſtlichen Gelage: er kam nicht.
Einer ſeiner Herren Amtsbruͤder ſchickte ihm den
folgenden Tag dieſes Billet: „Du Laushund, war-
um kamſt du nicht? Infamer Hunzfott, thu das
nicht wieder, ſonſt biſt du ein Scheißhund“ u. ſ. w.
Vollkommen genug! —
[236]
Sonſt habe ich die Geiſtlichen im Hanau-Lich-
tenbergiſchen viel heller gefunden, als ſie in den
Gegenden am Niederrhein zu ſeyn pflegen. Das
macht aber: dort oben ſind ſie weit von ihrem Con-
ſiſtorium entfernt, welches ihnen alſo nicht ſo auf
der Haube ſitzen, und uͤber ihren Glauben wachen
kann. Außerdem hat Herr Prof. Heiler, jezt
Pfarrer zu Membrechtshofen, eine Leſegeſell-
ſchaft errichtet, worin recht gute Buͤcher geleſen
werden.
Einen katholiſchen Geiſtlichen darf ich nicht
vergeſſen, den ich auf meiner Reiſe nach Rotten-
muͤnſter kennen lernte, naͤmlich den Hrn. Pfarrer
Schumacher von Haslach. Dieſer wuͤrdige Mann
war vorher Hofmeiſter des Fuͤrſten von Fuͤrſten-
berg geweſen. Als er nach Haslach kam, be-
ſuchten ihn alle Pfaffen in der Runde, beſonders
die Herren Benediktiner von Gengenbach, und
glaubten, es wuͤrde bey ihm auch ſolche Schmau-
ſereyen ſetzen, wie bey ſeinem Vorfahr. Aber ſie
betrogen ſich: Hr. Schumacher traktirte ſchlecht,
und die Herren kamen nicht wieder. Nun hatte der
Hr. Pfarrer ungeſtoͤrte Muße, ſeine Zeit und
Kraͤfte zur Verbeſſerung ſeiner Gemeinde und [be]
ſonders der Schulen anzuwenden, und dieß thut
er redlich. Er iſt freilich als ein halber Ketz[er]
Schwabenland verſchrieen: aber eben deswegen iſt
[237] er ſchon ſchaͤtzbar, wenn ihn auch ſeine Schriften
zur Verbeſſerung des Schulunterrichtes nicht ſchon
ehrwuͤrdig gemacht haͤtten.
Im katholiſchen Theile der Markgrafſchaft
Baden, welcher ehmals der jezt ausgeſtorbenen
fuͤrſtlichen Linie zu Raſtatt gehoͤrt hat, fand ich al-
les uͤber die Ma[ß]en bigot und aberglaͤubig. Die
Leute haſſen ihren guten Fuͤrſten, den Markgra-
fen, weil er lutheriſch iſt; und ſein Leben iſt eben
deshalb ſchon einigemal in Gefahr geweſen. In
Raſtatt ſteht eine Ehrenſaͤule, dem Hrn. Bern-
hard — nicht dem von Clairvaux, ſondern dem
Hrn. Margrafen Bernhard errichtet, mit der In-
ſchrift: Divo Bernardo, cognato ſuo, Georgius
Marchio Badenſis d d d. Die katholiſchen Mark-
grafen hatten an dieſem Heiligen freilich eine gute
Stuͤtze im Himmel, aber der reiſende Helle —
ein Thermometer ihrer Einſicht auf Erden. Das
ganze Chauſſée iſt mit ſteinernen Cruzifixen und Hei-
ligen-Haͤuschen beſezt, und an dieſen Raritaͤten
ließt man, welcher Bethbruder, oder welche Beate
dieſe Poſſen habe errichten laſſen. Da der Lan-
desherr lutheriſch iſt, ſo kann er, ſo hell er
ſonſt denkt, zur Aufklaͤrung ſeiner katholiſchen Un-
terthanen wenig beytragen: denn in allen Laͤndern,
wo der Fuͤrſt fremden Glauben hat, ſucht der
Pfaffen-Duͤnkel gewoͤhnlich zu herrſchen: man
[238] ſiehts an dem kleinen Lichtchen — Baumgarten
Cruſius in Merſeburg.
Im ganzen Badiſchen Lande herrſcht ſonſt viel
Wohlſtand, vielleicht mehr, als in irgend einem
deutſchen Lande: ein deutlicher Beweis, daß die
dortige Regierung gut iſt, und daß der Markgraf
den Ruhm verdient, welchen ihm jederman ſchon
ſo lange her zugeſteht.
In Karlsruhe haͤtte ich dem Prinzen Lud-
wig aufgewartet, aber der ganze Hof war aus Furcht
vor den Franzoſen ausgewandert, und hatte ſich nach
Pforzheim begeben. Ich fand nicht einmal den Hrn.
Hofrath und Leibmedikus Schrickel, den ich ehedem
in Gießen genau gekannt hatte. Seine liebenswuͤr-
dige Tochter unterhielt mich auf die artigſte Weiſe
von der Welt. Ueberhaupt iſt der Ton in Karls-
ruhe fein und gefaͤllig, und nicht im geringſten
ſteif oder ungeſchliffen.
Zu Bruchſal war der Hr. Fuͤrſtbiſchof auch
gefluͤchtet. — Vor Bruchſal traf ich einen Hau-
fen Oeſtreicher, welche aus der franzoͤſiſchen Ge-
fangenſchaft zuruͤck kamen. Dieſe hatten das
Marodiren ſo wenig verlernt, daß ſie in die
dortigen Weinberge einfielen, und nicht die Trau-
ben — das haͤtte man noch ſo uͤberſehen koͤnnen —
ſondern ſelbſt die Reben mit den Trauben abriſſen
oder wegſchnitten. Der Huͤter beſchwerte ſich bey
[239] ihrem Offizier; aber dieſer wuͤrdigte ihn nicht ein-
mal einer Antwort.
Ich kam endlich nach Heidelberg, wo ich
ſofort einen Schoppen Wein trank und dann den
Hrn. Buchhaͤndler Pfaͤhler beſuchte. Dieſer
ehrliche Mann war froh, mich zu ſehen, und gab
mir von mehrern mich intereſſirenden Gegenſtaͤnden
Nachricht. Ich beſuchte hierauf noch einige Her-
ren von Gymnaſium, welche mir behagten, da
ich an ihnen und an der Art, nach welcher ſie lehren,
einſah, daß die ſonſt aͤußerſt ſchlechte Schule zu Hei-
delberg ſich ſehr gebeſſert hat. Vorzuͤglich gefiel
mir Hr. Kaiſer, einer der brauchbarſten Schul-
maͤnner in der Pfalz. Es iſt nur Schade, daß
man in dieſem Lande die geſchickten Schulmaͤnner
ſo zeitig zu geiſtlichen Aemtern befoͤrdert. So haͤt-
te Hr. Abbeg noch immer an der Heidelberger
Schule bleiben koͤnnen; aber man hat ihn nach
Boxberg befoͤrdert zum Predigtamte: und wie-
viel weniger kann ein Prediger nuͤtzen, als ein
Schulmann!
Die Univerſitaͤt war wegen des Krieges in er-
baͤrmlichen Umſtaͤnden: die meiſten Studenten
waren weggezogen. — Ueber meine Schilderung
des ehemaligen Heidelberger Schulweſens im I. B.
dieſer Biographie war alles ſtill. —
[240]
Von Heidelberg ging ich uͤber Weinheim und
Zwingenberg auf Darmſtadt zu. In Weinheim
bewirthete mich der kaiſerliche General Zentner
ſehr großmuͤthig, und in Zwingenberg Hr.
Paſtor Heß, mein ehrlicher alter Buſenfreund.
In Seeheim ſprach ich den Oberamtmann Pi-
ſtor, und ging hernach mit einem Muͤnſteriſchen
Hauptmann, Namens Muͤller, nach Darm-
ſtadt. Hier beſuchte ich einige meiner Freunde,
die Herren Kammerraͤthe Panzerbieter und
Schmid, die mir viel Ehre erwieſen. Gegen
Abend verließ ich Darmſtadt, blieb in Langen
uͤber Nacht, und war fruͤh, den 4ten October, zu
Frankfurt am Mayn.
Sieben und funfzigſtes Kapitel.
Betragen der kaiſerlichen Armee am Rhein im Jahre 1795.
Ich darf in meiner Geſchichte nicht weiter gehen,
bevor ich nicht die Auffuͤhrung der kaiſerlichen
Truppen in den Laͤndern am Rhein naͤher beſchrie-
ben habe. Ich rede hier nur von dem, was ich
ſelbſt ſah, oder an den Orten, wo es geſchehen iſt,
hoͤrte. Daher lieferte ich freilich nur Bruchſtuͤcke [:]
[241] aber dieſe Bruchſtuͤcke werden gewiß hinreichen, die
bittern Klagen zu rechtfertigen, welche die Be-
wohner jener Gegenden uͤber dieſes Volk gefuͤhrt
haben, und noch fuͤhren. Ein gewiſſer Herr aus
der Gegend von Koͤnigſtaͤtten am Mayn ſchrieb
mir zu Anfange dieſes Jahres: „daß die ſoge-
nannten Beſchuͤtzer des Deutſchen Rei-
ches die aͤrgſten Raͤuber waͤren, und weit ſchaͤrfer
requirirten, als der ſogenannte Feind, die Fran-
zoſen:“ und dieſes habe ich beſtaͤtigt gefunden.
Wenn man dergleichen nicht ſchreiben ſoll, ſo
muß man dergleichen auch nicht thun. Und was
hilft da vertuſchen wollen, wo hunderttauſend Zeu-
gen da ſind, die laut daruͤber jammern! Eben vor
dem ewigen Vertuſchen oder Vertuſchen-ſollen
dringt die Klagſtimme nie bis dahin durch, von
woher Huͤlfe kommen muß. Der Kaiſer kann und
wird dergleichen nie wollen: aber wie kann er hel-
fen, wie fuͤr die Zukunft es verhindern, wenn
alles vertuſcht wird? vertuſche denn, wenn es
frommt: ich bin ein Deutſcher, und damit die
Wahrheit rein heraus!
Als die kaiſerliche Armee ſich im Auguſt und
September 1795 nach Freyburg und Baſel zu zog,
ſo wurden alle Oerter, ſelbſt die Staͤdte nicht aus-
genommen, wodurch ſie zogen, beynahe zu einer
Viert. Th. 2te Abth. Q
[242] Wuͤſteney gemacht. Schon vorher hatten die hin
und wieder ſtehenden Truppen die Felder und Gaͤr-
ten ausgeleert, auch manchen Diebſtahl in den
Haͤuſern ſelbſt begangen: aber da nun die ganze
Armee ankam, da nahm das Unweſen dermaßen
uͤberhand, daß niemand ſeines Eigenthums, ja
nicht einmal ſeines Lebens ſicher war.
Bey Lichtenau, ohnweit Raſtatt, fand man
zwey Menſchen auf der Straße erſchlagen und be-
raubt; und ein Strumpfhaͤndler wurde bey Offen-
burg getoͤdtet, und ſein Geld ihm genommen. Eben
ein ſolches trauriges Schickſal hatte ein Fuhrmann,
der ſich mit ſeinem Karren und Pferde naͤherte,
vor den Thoren von Durlach. Freilich machten die
Ortsobrigkeiten Vorſtellungen bey den kaiſerlichen
Oberoffizieren, freylich ſchrie man laut uͤber Be-
druͤckung und Ungerechtigkeit, aber vergebens: es
hieß auch hier, es waͤre Krieg: man kenne ja den
Thaͤter nicht: wenn man dieſen brin[ge]n wuͤrde, ſo
ſollte er beſtraft werden. Weiter wurde keine In-
quiſition angeſtellt. Es mag aber eine ſchoͤne
Kriegszucht ſeyn, wo man ſelbſt nicht inquirirt,
um ſelbſt nichts zu finden! —
Ueber einfache Diebſtaͤhle durfte vollends nie-
mand klagen: die Leute wollen leben, die Pferde
wollen freſſen — das war das Thema zur Ant-
wort.
[243]
Ueber allen Glauben ſchlecht aber fuͤhrten ſich
die kaiſerlichen Freykore auf, beſonders die Roth-
maͤntel und die Braunmuͤtzler, nebſt der
ſchoͤnen Bande, die man Mahoni Jaͤger
nannte. Dieſe Freykore waren wirkliche Bandi-
ten-Geſellſchaften, und ich zweifle noch, ob bey
der Bande des Baieriſchen Huͤſels oder des Man-
drin nicht mehr Ordnung und mehr Ehrlichkeit
geherrſcht habe, als bey dieſem Freygeſindel. In
Freyſtaͤtt ſtahlen einige Braunmuͤtzler dem Pfarrer
allen Vorrath von Speck: er kannte die Thaͤter,
und gab ſie an, aber der Herr Offizier, ein Ma-
jor, wies ihn ſchnoͤde ab, mit den Worten: die
Soldaten vom gnaͤdigſten Kaiſer muͤſſen halt[e]r auch
geſchmaͤlzt eſſen! Damit war es alle.
Ein Braunmuͤtzler, vom Freykorps Micha-
lowitz, ſchoß ſogar nach dem Pfarrer Schul-
meiſter, als er eben aus der Kirche kam. Aber
auch da wurde kein Exempel ſtatuirt, weil man
vorgab, der Kerl ſey beſoffen geweſen. Im Grunde
war die Bigotterie des Kroatiſchen Freyraͤubers
Schuld an dieſer Schandthat: er wollte einen ke-
tzeriſchen Pfaffen aus dem Wege raͤumen.
Es iſt beynahe kein Bauer, kein Einwohner am
ganzen Rheinſtrome, der nicht irgend eine Belei-
digung von den oͤſtreichſchen Freykoriſten erlitten
haͤtte: jederman fuͤhrt die bitterſten Klagen, und
[244] ſchließt damit, daß es Hallunken und Spitzbuben
waͤren.
Aber nicht nur die Freykoriſten ſondern uͤber-
haupt die ganze kaiſerliche Armee hat ſich in jenen
Laͤndern in ſehr ſchlechten Kredit geſezt. Die Ver-
nuͤnftigen unter ihnen wiſſen das ſelbſt, und ich
habe ſelbſt aus dem Munde eines Wachtmeiſters
gehoͤrt, daß er durch dieſe Laͤnder nie allein gehen
moͤgte, aus Furcht, todtgeſchlagen zu werden.
„Wir haben auch, ſezte er hinzu, es danach ge-
macht: der Teufel kann uns gewogen ſeyn!“
Die Offiziere geben ihren Untergebenen in die-
ſem Stuͤcke das haͤßlichſte Beyſpiel, indem das
Wegnehmen fremdes Gutes, und das Mishandeln
der Einwohner bey ihnen fuͤr Kleinigkeit angeſehen
wird. Man frage nur den Ochſenwirth in Frey-
ſtaͤtt, wie ihn der kaiſerliche Major wegen einer
Bagatelle, weil er dem Hn. Kutſcher des Hn. Ma-
jors nicht alſobald ein Bette geben wollte, zerpruͤ-
gelt hat. In Offenburg ſchlug ein Offizier mit
ſeinem Stock einem Drechsler den Arm entzwey,
weil er die beſtellte Arbeit noch nicht fertig hatte.
Stand einem Offizier irgendwo etwas an, ſo eig-
nete er es ſich zu, ohne zu fragen, wem es gehoͤrte.
So kam einſt ein Offizier vom Regiment Neu-
gebauer in das Haus des Pfarrers Venator
zu Auenheim, fand da eine ſchoͤne Reitpeitſche,
[245] welche der Pfarrer mit einem Laubthaler bezah[l]t
hatte, eignete ſich dieſelbe laͤchelnd mit dieſen Wor-
ten zu: die Geißel (Peitſche) ſoll mir halter wohl
ſchmecken. Dahin ging er!
Da dieſe Menſchen mogten gehoͤrt haben, daß
mehrere deutſche Einwohner den Franzoſen nicht
abgeneigt waͤren, ſo ſtellten ſie aller Orten ſolchen
nach, die man als Patrioten verſchrie, und gin-
gen, wenn dieſe nur ein Wort fallen ließen, das
einen jakobiniſchen Sinn haben konnte, panduren-
maͤßig mit ihnen um. Einen ganz unſchuldigen
Reiſenden, der im Wirthshauſe zu Biſchofs-
heim einiges zum Vortheil des Friedens, welchen
Preußen mit Frankreich geſchloſſen hatte, ſprechen
mogte, ließ man auf die Wache bringen und mit
20 Hieben wund ſchlagen. Einem Muͤller, der
auch ſollte geſagt haben, er wuͤnſchte, daß die
Franzoſen kommen und die ſpitzbuͤbiſchen Deutſchen
zum Teufel jagen moͤgten, wurde Exekution ins
Haus gelegt, dieſes rein ausgepluͤndert, und alles,
was man nicht fortbringen konnte, zerſchmiſſen.
Er ſelbſt wurde nach Stollhofen gefuͤhrt, zer-
ſchlagen, und bey Waſſer und Brod ſo lange
inne gehalten, bis er ſich mit funfzig Gulden
ranzionirte.
Das Schimpfen und Schelten dieſer Menſchen-
kinder uͤber den Koͤnig in Preußen und den Land-
[246] grafen von Heſſen war mir eben ſo unertraͤglich,
als ihre unbegraͤnzte Ruhmſucht und recht kindiſch-
oͤſtreichiſche Großprahlerey. Freilich thaten das
nicht alle, und ich muß geſtehen, daß z. B. Hr.
General-Leutnant von Zentner recht gut wußte,
warum der Koͤnig in Preußen Frieden gemacht ha-
ben konnte: aber die meiſten raͤſonnirten unausſteh-
lich, und drohten, ſobald der Krieg mit den Fran-
zoſen zu Ende ſeyn wuͤrde, auch den Preußen und
den Heſſen zu weiſen, was der Maͤhre ſey.
Die guten Leute dachten damals noch nicht,
daß ſelbſt ihr großmaͤchtigſter Kaiſer dereinſt es noͤ-
thig finden koͤnnte, troz der theuer bezahlten und
feierlichen Verſicherung vom Gegentheil, das Buͤnd-
niß der Englaͤnder zu verlaſſen und einen Separat-
frieden mit ihrem gemeinſchaftlichen Feinde abzu-
ſchließen.
Ich mußte immer bey mir ſelbſt uͤber die laͤp-
piſchen Praͤtenſionen dieſer Halbmenſchen lachen,
die ich immer hoͤren mußte, da ich durch alle ihre
Pikete paſſirte, und hier und da auf ihren Wa-
chen die Nacht zubrachte. So was hab' ich doch
bey den Preußen niemals gehoͤrt, und es iſt uͤber-
haupt gegen alle Klugheit, daß die Vorgeſezten
ihre unerfahrnen Leute ſo ſchlecht von fremden Fuͤr-
ſten raͤſonniren laſſen, beſonders in Gegenwart ſol-
cher, die wieder in die Laͤnder dieſer Fuͤrſten zu-
[247] ruͤckkehren. Wie wuͤrde es den Herren Oeſtreichern
gefallen, wenn man ihren Kaiſer, nach der An-
weiſung eines deutſchen Kupferſtichs, einen Eyer-
kuchenkaiſer, oder ihren Erzherzog Karl,
nach Zeitungsnachrichten, einen Paſteten-Held
nennen wollte, der um winziger Vortheile willen
6000 Menſchen achten ſollte, wie ein Oberkoch die
jungen Huͤner, die er zu einer Schaupaſtete frikaſ-
ſiren laͤßt? Das wuͤrden ſie, wie ich, niedrig fin-
den; und doch war dergleichen der Inhalt ihrer
Schimpferey uͤber den Koͤnig von Preußen und den
Landgrafen von Heſſen! Selbſt die kaiſerlichen
Offiziere raͤſonnirten nicht feiner. *)
Sonſt ſind die Oeſtreicher, beſonders die Deut-
ſchen, ziemlich reinlich und proper: als ich aber
damals durch ihre Armee paſſirte, ſah alles ſo recht
hottentottenartig aus, zerriſſen und zerlumpt und
[248] ſchmutzig, noch weit aͤrger, als bey den Sanscuͤ-
lotten von der armée révolutionnaire. Ich daͤchte,
die Herren Oeſtreicher haͤtten den Franzoſen in Ab-
ſicht ihrer Kleidung und ihrer Auffuͤhrung gar nichts
mehr vorzuwerfen. Sogar moͤgte ſelbſt ihre Sub-
ordination noch weit ſchlechter ſeyn, als die der
Franzoſen: die Befehle der Vorgeſezten wurden
elend befolgt; und der Reſpekt, den ſonſt ein Offi-
zier von Rechtswegen fodert, mangelte nicht ſel-
ten. — Daß Offiziere ihre Pferde veraͤußert haben,
hat man oben geleſen: eben dieß iſt geſchehen mit
Pulver, Kugeln, Brodkorn und andern Beduͤrf-
niſſen. — Nun die entſetzliche Deſertion, ſogar
einmal von 800 Maͤhriſchen Rekruten, ſamt ihren
Offizieren! *) —
Ich bitte meine Leſer wegen dieſer Digreſſion
um Verzeihung! Wer mehr von der Art leſen will,
findet es in der ſchon angefuͤhrten Schrift uͤber die
Reichsarmee, und bald noch mehr in den Brie-
[249]fen eines Reiſenden von Baſel nach Frank-
furt am Mayn, welche ganz beſondere Nachrichten
uͤber das Betragen der Schwaben und der Kaiſer-
lichen enthalten. Hier — wuͤrde das alles zu
weit fuͤhren.
Acht und funfzigſtes Kapitel.
Reiſe uͤber Frankfurt, Friedberg, Gießen.
Als ich zu Frankfurt ans Thor kam, waren
eben Soldaten von der Compagnie des Hn. Majors
von Loͤben, vom Bataillon Schenk, auf der
Wache. Bey dieſer Compagnie war ich ehedem
von 1783 bis 87 geſtanden; ſie kannten mich alſo
meiſt alle, und nun hieß es: Potz tauſend, da iſt
Laukhard! Laukhard! Ei, du mein Gott, wo
koͤmmſt du her? Wir haben alle geglaubt, du
*)
[250] waͤrſt lange in Frankreich todtgeſchoſſen: und Herr
Je[,] da biſt du ja wieder! — Nun draͤngte ſich
alles um mich herum, that tauſend Fragen, both
mir Kaffee, Schnapps oder Wein an, und ich
freute mich, wie ein Kind, daß ich wieder bey mei-
nen alten Kameraden war, die es ſo herzlich gut
mit mir meynten. Ich mußte lange herhalten,
und endlich mit Gewalt fodern, daß man mich
zum Major Loͤben fuͤhren ſollte. Dieſer empfing
mich freundlich, und als ich ihm beweiſen wollte,
daß ich kein Deſerteur ſey, ſagte er: ich weiß alles,
gehn Sie nur in Gottes Namen zum Kommendan-
ten. Ich ging dahin, und fand an dem Major
von Luͤcadon einen artigen, braven Mann. Auch
dieſer war von meiner Sendung unterrichtet, und
ſchickte mich zu dem Prinzen von Hohenlohe,
welcher damals in Frankfurt das Gouvernement
hatte. Dieſer vortreffliche Fuͤrſt ſprach mir ſehr
traulich zu, und beſchenkte mich reichlich. Er be-
fahl auch, daß man mir, ſo lange ich in Frankfurt
bleiben wuͤrde, in ſeinem Logis Eſſen und Trinken
geben ſollte: Aber da mehrere meiner Bekannten,
vorzuͤglich mein guter Vetter Dietſch, mir mei-
nen Aufenthalt in Frankfurt angenehm genug mach-
ten, ſo ging ich weiter nicht hin.
Fruͤh des andern Tages bekam ich vom Hn.
Major von Luͤcadou meinen Paß und noch fuͤnf
[251] Thaler Reiſegeld. Ich brannte vor Begierde,
meine gute Mutter zu beſuchen, und erkundigte
mich deswegen bey einem preußiſchen Offizier, und
erfuhr, daß die Franzoſen die preußiſchen Paͤſſe
reſpektirten. Ich ging alſo wirklich nach Nied,
wo ich einige Jahre zuvor, wie man ſich erinnern
wird, Winterquartier gehabt hatte, und hier traf
ich franzoͤſiſche Volontaͤrs an. Der Offizier der-
ſelben verſicherte mich, daß ich ohne Bedenken uͤber
den Rhein kommen koͤnnte, zumal, da ich einen
Paß von den Preußen haͤtte: aber er beſorge den-
noch, ob man mir geſtatten wuͤrde, zuruͤck zu keh-
ren: denn er wiſſe nicht, ob ſeine Landsleute dort
druͤben nicht Anſtalt machen koͤnnten, uͤber den
Rhein zu gehen; und wenn ſie ſo was im Sinne
haͤtten, dann geſtatteten ſie niemanden den Vortritt.
Aha, dacht ich, da muß man wegbleiben. Ich
ließ alſo den Vorſatz, meine Mutter zu beſuchen,
fahren, und ging nach Frankfurt zuruͤck. — Nied
fand ich ſehr verdorben durch ein entſtandenes Feuer
bey einer Balgerey zwiſchen den Franzoſen und
den Oeſtreichern.
Frankfurt war damals neutral, das heißt,
es war ſowohl den Kaiſerlichen, als den Franzoſen
erlaubt, hinein zu kommen. Aber auch hier fuͤhr-
ten ſich die Kaiſerlichen oft ſchlecht genug auf, und
die Franzoſen waren den Einwohnern allemal will-
[252] kommner, als ſie. Wenn damals die Frankfurter
haͤtten wiſſen ſollen, in welche Noth der Krieg ſie
noch bringen koͤnnte! Wenigſtens wird dieſe Stadt
gewiß noch lange alles aufbiethen muͤſſen, um in
Anſehung des Handels das wieder zu werden, was
ſie vorher geweſen iſt. — Dem bekannten Sudler,
Goͤchhauſen zu Eiſenach, koͤnnte ich hier verſchiedne
Anmerkungen uͤber das mittheilen, was er in ſei-
nen Wanderungen — von Frankfurt geſchrie-
ben hat; aber der pedantiſche Grillenfaͤnger iſt wei-
ter keiner Anmerkung werth.
Von Frankfurt ging ich nach Homburg an
der Hoͤhe, beſuchte da meinen Freund, den Ba-
taillonsſchreiber Koggel, und von Homburg uͤber
Friedberg nach Soͤdel, wo mein alter Kumpan
Vitriarius Paſtor iſt. Da habe ich einige ſe-
lige Tage zugebracht, und in Mehlbach einen
Pfarrer kennen lernen, der mir ein wahrer Philo-
ſoph zu ſeyn ſchien. Es iſt Hr. Leopard, wel-
cher bey einer recht guten Beſoldung, einer huͤb-
ſchen Bibliothek und einem vortrefflichen Glaſe
Wein ſchon ſeit zwanzig Jahren ohne Weib gelebt
hat. Er behauptet, daß ein Mann, der ſorgen-
los und im Ueberfluß leben koͤnne, kein Weib neh-
men muͤſſe: einen armen, bedraͤngten Menſchen
koͤnne ein Weib troͤſten, aber einen gluͤcklichen muͤſſe
ein Weib allemal ungluͤcklich machen. — Der
[253] Mann ſcheint mir nicht ganz unrecht zu haben: aber
vielleicht hat jener alte Philoſoph auch recht, wel-
cher einem Freunde auf die Frage: ob er heurathen
ſollte, zur Antwort gab: Du magſt es thun oder
nicht thun, es wird dich in beyden Faͤllen ge-
reuen. *)
In Gießen logirte ich bey meiner alten Wir-
thin, der Frau Buſchin. Alles war neugierig,
[254] mich wieder zu ſehen: denn mein Name exiſtirte
dort noch in ganz friſchem Andenken. Auch wird
meine Biographie, ſo ſehr auch der Kanzler Koch
auf ihre Unterdruͤckung gedrungen hat, von den
Gießern noch fleißig geleſen. Ich bin vier Tage
da geblieben, habe aber meine meiſte Zeit bey der
Schweſter meiner Wirthin, der Frau Wille, zu-
gebracht, deren vortreffliche Tochter, ein Frauen-
zimmer von ſeltner Schoͤnheit und großem Ver-
ſtande, mir die bezauberndſte Unterhaltung gewaͤhrt
hat. Gluͤcklich wird der Mann ſeyn, den Mam-
ſell Wille lieben wird, aber ein Mann, wie die-
ſes Maͤdchen ihn will, iſt ſchwer zu finden, wenn
er dem Ideale gleichen ſoll, das ſie ſich von ihm
gebildet hat.
Von Profeſſoren habe ich niemanden beſucht,
als Hn. Koͤſter, der noch immer ſo gut gegen
mich war, als vorzeiten, und dann den Lektor
Chaſtel: die andern Herren ſind mir groͤßten-
theils gram, beſonders Herr Schmid, der Mu-
ſenalmanachsfabrikant. Den Hn. Prof. Muͤl-
ler fand ich in Gießen bey dem dort logirenden
Hn. Grafen von der Lippe, und disputirte mit
ihm uͤber ſein hochtoͤnendes Zeugniß von der guten
und vortrefflichen Einrichtung der preußiſchen La-
zarethe. Das Mehrere davon ſteht ſchon im drit-
ten Bande.
[255]
Die Univerſitaͤt zu Gießen war damals in ſehr
klaͤglichen Umſtaͤnden: kaum zaͤhlte ſie noch vierzig
Studenten; und doch fand man unter dieſen, wie
man weiß, noch Ueberbleibſel der ehemaligen Or-
dens-Verbruͤderung. Der Eulerkapper lebte
auch noch, war aber ſehr ſchwach und krank, und
wird jezt wahrſcheinlich abgefahren ſeyn. Auch
traf ich in Gießen den Hn. Chirurgus Schaͤffer,
welcher zu meiner Zeit in Frankreich gefangen ſaß,
und den ich, wie ich oben erzaͤhlte, in ſeiner Krank-
heit als Krankenwaͤrter zu Dijon, in der Pflege
gehabt hatte. Der Mann lohnte mir meine ange-
wandte Muͤhe, die mir die franzoͤſiſche Nation
laͤngſt vergolten hatte, durch ſeine Freundſchaft, und
gute Bewirthung.
Von Gießen ging ich nach Grimberg, wo
ich bey einigen Freunden einſprach, und einen Tag
raſtete, weil es gerade Jahrmarkt war, und alles
fein luſtig herumſprang. Ich bin immer gern, wo
es luſtig hergeht, und denke in dieſem Stuͤcke ge-
rade wie Salomon im dritten Kapitel ſeines
Predigers.
Bey Hersfeld wurde ich mit einer garſtigen
Kolik befallen, und brachte fuͤnf Stunden an Einer
Meile zu. Da hatte ich freilich Zeit zu einem
Commentar uͤber den hinkenden Bothen aller Salo-
moniſchen Bruͤder, die des Guten zuviel thun! —
[256] Zu Hersfeld logirte ich im Loͤwen, blieb zwey
Naͤchte da, und fand ſehr gute und wohlfeile Pflege.
Sollte ich noch mehrmals nach Hersfeld kommen,
ſo werde ich gewiß nirgends als im Loͤwen logiren.
Ohnweit Eiſenach kam ich von ohngefaͤhr zu
einer Hochzeit; und die guten Leute — der Braut
Bruder war, als heſſiſcher Soldat, in Frankreich
geſtorben — zwangen mich gleichſam, uͤber Nacht
zu bleiben und an ihrer Freude Theil zu nehmen.
In Eiſenach beſuchte ich den Hn. Rath
Wolff: Superintendent Schneider war nicht
zu Hauſe. — In Gotha hielt ich mich nicht
laͤnger auf, als ich bey dem Hn. Hauptmann von
Henning zubrachte, und ſezte dann meinen Weg
weiter fort. Zwey Stunden von der Stadt traf ich
in einem Wirthshauſe ein junges huͤbſches Maͤd-
chen von Eiſenberg an, das zu einer Baſe bey
Eiſenach wollte. Das arme Maͤdchen hatte ſich
die Fuͤße wund gegangen, und war ohne alles Geld.
Ein dicker Pelzmichel bath ſie, die Nacht da zu
bleiben, und mit ihm, auf ſeine Rechnung, fuͤr
lieb zu nehmen. Ich merkte, wo er mit ſeinem
Einladen hin wollte: denn ein Menſch, der ſo oft
in allerhand Kneipen auf dem Stroh herum gele-
gen iſt, wie ich, weiß recht gut, wie es herzu-
gehen pflegt, wenn Manns- und Weibsleute des
Nachts auf einer Streue beyſammen liegen. Das
[257] Ding verdroß mich alſo, um ſo mehr, weil es mir
ſchien, als ſey das Maͤdchen noch unverfuͤhrt:
denn an einer ſonſt ſchon ausgelernten Dirne iſt
weiter nichts mehr zu verderben. Ich ſprach dem-
nach mit dem Maͤdchen, beſchenkte ſie nach meinem
Vermoͤgen, und wollte ihr einige Zeilen mit nach
Gotha an den Kaufmann Madelung geben, um
ihr bey dieſem ein Nachtquartier auszumitteln. In-
dem wir aber dieß beſprachen, und ich ſchon Pa-
pier und Schreibzeug gefodert hatte, hielt eine
Kutſche vor der Thuͤr an, und die Frau eines Un-
teroffiziers von Schenks Bataillon trat mit einer
andern Soldatenfrau ein. Beyde kamen von Halle
und wollten ihre Maͤnner zu Frankfurt beſuchen.
Da ihr Weg gerade durch das Dorf ging, wohin
das Maͤdchen wollte, ſo bath ich die Frau See-
huferin, die Arme mitzunehmen: das Trinkgeld
wollte ich dem Kutſcher ſchon geben. Der Kutſcher
war brav, nahm nichts, und Frau Seehuferin
ließ das Maͤdchen mit einſitzen. Als ſie fort wa-
ren, ergrimmte der Pelzmichel, und fing an, mich
zu necken: aber eine Miene, die auf eine hand-
greifliche Belehrung hinwies, ſchweigte ihn, und
machte ihn aufpacken. Der Wirth lobte mich, und
ich ging meiner Straße weiter auf Erfurt zu.
Viert. Th. 2te Abth. R
[258]
In Weimar ſprach ich bey dem Hn. Hof-
buchdrucker Gluͤſing ein, Schwiegervater des
Hn. Bispink, genoß vieler Ehre, und ſchlich
fruͤh Sonntags nach Jena.
Neun und funfzigſtes Kapitel.
Jena. Ankunft in Halle.
Ich weiß nicht, ob mir — ich wiederhole: mir,
um meinen verwoͤhnten Geſchmack, oder einen ha-
bituellen Burſchen-Geſchmack nicht zum allgemein-
giltigen Schiedsrichter aufzuſtellen — je ein Ort
mehr in der Welt gefallen hat, als das edle Je-
na: und wenn mein Schickſal es je noch erlaubte,
daß ich dort exiſtiren koͤnnte, ſo glaube ich, daß
ich — nach meiner Art — ruhig und gluͤcklich
ſeyn wuͤrde. Das zutrauliche Weſen der Jenenſer,
der jovialiſche, eben ſo weit von Renommiſterey
als von Leipzigiſirender Petitmaͤterey entfernte,
Ton der Studenten, und uͤberhaupt die unſchenirte
Lebensart, die nun einmal meine Sache iſt, em-
pfehlen Jena vor allen deutſchen Univerſitaͤten,
wenn ich auch von der Gelehrſamkeit und der Nutz-
barkeit der Lehrer ganz wegſehe.
[259]
In Ketſchau traf ich ſchon Studenten an,
welche ſich nach Jenenſer Art, mit mir abgaben,
und ſogleich Schmollis machten *). Mein
Name war ihnen bekannt. Als ich nach Jena kam,
ging ich ſofort aufs Ballhaus zu meinem alten
Kumpan Hoffmann, der ehedem ſtudiert hatte,
jezt aber den Schenkwirth macht. Hier fand ich
einen Haufen fideler Studenten, und nicht lange,
ſo war ich ſo fidel als ſie. Ich wollte endlich be-
zahlen, was ich verzehrt hatte, aber da hieß es:
„vergißt du denn, Bruder, daß du in Jena biſt?“
[260] Ich verſtand die Praͤmiſſen dieſes Schluſſes, und
ließ fuͤr mich bezahlen. Vom Ballhauſe gings auf
den Fuͤrſtenkeller zu Bruder Nicander, ehedem
Student der Theologie, und jezt auch Schenkwirth.
Hier dankte mir ein gewiſſer Jemand fuͤr die Rela-
tionen uͤber Hrn. Hofrath Schnaubert im an-
dern Bande dieſes Werkes. Nachher fuͤhrten mich
meine Bierkumpane auf die Oehlmuͤhle, wo Muſik
war, und getanzt wurde. Hier fand ich zwey mei-
ner uralten Bekannten, naͤmlich den Jenaer Fecht-
meiſter, ehemals Sternwirth, Hochhauſen,
und den Hrn. Aſal von Karlsruhe, der vor 13
Jahren ſchon einmal zu Jena ſtudirt hatte. Hoch-
hauſen iſt bald nachher geſtorben, und hat ſo ſei-
ner abentheuerlichen Rolle ein Ende gemacht. Er
ruhe in Frieden! —
Bey Gelegenheit der Oehlmuͤhle zu Jena muß
ich anmerken, daß der ſogenannte Comment
der Jenenſer von dem der uͤbrigen Univerſitaͤten in
Deutſchland ſehr verſchieden iſt, ich meyne in Ruͤck-
ſicht auf den Umgang mit Buͤrgern, Handwerks-
burſchen und Bedienten. Erſtere heißen durchaus
auf allen Univerſitaͤten Philiſter; und ſelten
geht ein rechtlicher Student, ſonſt honoriger
Burſch genannt, mit einem Philiſter um, außer
wenn von ihm er borgen will, oder wenn der Phi-
liſter eine gefaͤllige Frau, eine huͤbſche Tochter u.
[261] dgl. hat. — Handwerksburſche ſind auf andern
Univerſitaͤten durchaus von allem Umgang mit
Studenten ausgeſchloſſen, heißen Gnoten von
Genoten oder Genoſſen, und werden bey allen Ge-
legenheiten geneckt und bekriegt.
Die Bedienten duͤrfen ſich anderwaͤrts vol-
lends nicht ruͤhren, wo der Student ſich ruͤhrt.
Aber in Jena iſt das anders: da ſizt Student,
Philiſter, Gnote und Schuhputzer beyſammen
in der Kneipe, machen à bonne oder Bruͤder-
ſchaft zuſammen, tanzen zuſammen, trinken zu-
ſammen u. ſ. w. Doch gilt die Freundſchaft die-
ſer heterogenen Geſchoͤpfe, auch in Jena, blos in
den Kneipen: denn auf der Straße und an an-
dern oͤffentlichen Oertern weiß auch der Herr Jenen-
ſer recht gut, daß er weder Philiſter noch Gnote
iſt. In Leipzig ſollen die Studenten heimlich
auch Gnoten-Freundſchaft ſuchen; aber in Halle
durchaus nicht.
Wenn ich auch hier ein Wort nach der Wahr-
heit ſprechen ſoll, ſo muß ich geſtehen, daß die ſo-
genannte Burſchen-Sprache, und das mit
ihr verwebte Burſchenweſen auf der einen Sei-
te einen kindiſchen Ariſtokratismus, und auf der
andern eine Art von niedriger Sanskuͤlotterie zum
Grunde hat, und eben darum von jeder Univer-
ſitaͤt laͤngſt verbannt ſeyn ſollte. Auf der Univer-
[262] ſitaͤt, als dem Hauptſitze der Muſen, ſoll die Bil-
dung des kuͤnftigen Staatsdieners, wie man ſagt,
vollendet werden. *) Hier alſo muͤßte Lehrer und
Zuhoͤrer allen Fleiß anwenden, daß der Akademiker
eben ſo richtig als edel empfinden, denken, ſpre-
chen und handeln lernte. Aber, lieber Gott, wenn
man dem Univerſitaͤtsweſen in der Naͤhe zuſieht,
man ſollte glauben, ein großer Theil der Studen-
ten kaͤme nur hin, gerade das Gegentheil zu trei-
ben. Zuͤgelloſeres Handeln, und poͤbelhafteres
Sprechen, als man da oft ſieht und hoͤrt, ſieht
und hoͤrt man ſchwerlich unter Tollhaͤuslern, Pack-
knechten und Matroſen. Wer ſollte nicht glauben,
einen wirklichen Ochſen vor ſich zu haben, wenn
man einen Muſenſohn ſagen hoͤrt: dieß oder jenes
mache ihm ein ochſiges Vergnuͤgen! Iſt es et-
was anders, als die niedrigſte Sanskuͤlotterie,
wenn der Großherr, dem die Straße nicht breit ge-
nug gelaſſen werden kann, der um jedes Woͤrt-
chen, das ſeiner kindiſchen Hoheit etwas queer
koͤmmt, ſich gleich zum Moͤrder qualificiren will,
durch ein Duell; wenn dieſer, ſage ich, auch dem
beſcheidenſten Frauenzimmer mit einem plumpen
Faunen-Auge ſtier ins Geſicht hinklozt, oder aus
[263] oͤffentlichen Anſtalten Buͤcher borgt und ſie ver-
kauft, oder Geld aufnimmt, oder fuͤr ſich zahlen
laͤßt u. dgl., um ſein Geſchick im Prellen, d. i.
in Spitzbuͤberey zu zeigen: — wahrlich, das mag
akademiſche Aufklaͤrung, das mag Vollendung ei-
ner edlen Bildung ſeyn! Und von dieſer Art Leute
ſollen dereinſt Miniſter, Raͤthe, Richter, Aerzte,
Prediger oder Schulmaͤnner werden! Doch ich will
abbrechen, und dieß Thema in der Schilderung
der Univerſitaͤt zu Schilda zu ſeiner Zeit
weiter fuͤhren. Ich kenne es, denn es hat mich
jaͤmmerlich verwoͤhnt und zu einer lebendigen War-
nung werden laſſen. —
Nach zwey Tagen ging ich aus Jena, und
war ungemein uͤberraſcht, als ich den Hrn. Leut-
nant von Brandenſtein bey Zwaͤtzen auf der
Landſtraße in Geſellſchaft zweyer Fraͤulein autraf.
Dieſer liebe Mann, ehemals mein Schuͤler in Di-
jon, riß ſich von ſeiner Geſellſchaft los, und ging
mit mir ins Wirthshaus, wo wir noch einmal
traulich zuſammen tranken, ſprachen und dann
ſchieden.
Zu Markkroͤdlitz bey Naumburg mußte ich uͤber
Nacht bleiben, weil es gar zu ſtark regnete, und
ohnehin der Abend heran kam. Ein ſaͤchſiſcher Un-
teroffizier, der einige liederliche Weibsleute, wel-
che zum Militaͤr gehoͤrten, und zu Merſeburg
[264] geſtohlen hatten, von da nach Naumburg brachte,
logirte in demſelben Wirthshauſe, und betrug ſich
gegen einen Handwerkspurſchen, der ebenfalls da
logirte, wie ein grober impertinenter Korporal nur
immer kann. Der arme, muͤde Handwerkspurſche
gab jedesmal nach, aber der ungeſchliffene Korpo-
ral, der ohnehin beynahe voͤllig benebelt war, fuhr
mit ſeinem impertinenten Necken ſo lange fort, bis
endlich der Wirth ſich drein legte, und den raſen-
den Neundreyer-Held zur Ruhe brachte. Es iſt wirk-
lich ſchaͤndlich, daß Militaͤrperſonen, die doch ih-
res eignen Standes und ihrer eignen Lage wegen,
ſich groͤßtentheils in ſehr gedraͤngten Umſtaͤnden be-
finden, Andre, die ihnen nichts thun, necken und
hudeln, und beſonders in Wirthshaͤuſern den Mei-
ſter ſpielen wollen, wo man ſie nicht einmal gerne
ſieht, theils wegen des Laͤrmens, den ſie zu ma-
chen pflegen, theils wegen der faſt ewigen Schwind-
ſucht ihres Beutels.
Wenn doch jeder Soldat, er ſey gemeiner oder
nichtgemeiner, ſobald ihm der Kitzel ankoͤmmt,
ſich uͤber alles, was nicht Soldat iſt, hinauszuſe-
tzen, bedaͤchte, daß es eben ſo ſehr wider ſeinen
Beruf, als wider die Pflicht der Dankbarkeit iſt,
diejenigen necken oder verachten zu wollen, durch
deren Schweiß und Abgaben die Fuͤrſten in Stand
geſezt werden, ihn zur Aufrechthaltung der allge-
[265] meinen Ordnung und Sicherheit zu kleiden, zu be-
waffnen und zu loͤhnen. Jeder Soldat ſteht am
Ende im Solde, folglich auch im Dienſte des
Buͤrgers und Landmanns, ohngefaͤhr wie der Be-
diente eines Offiziers in deſſen Sold und Dienſte
ſteht. Wie verkehrt und undankbar es alſo ein Of-
fizier finden wuͤrde, ſich von ſeinem Bedienten ne-
cken, verachten und inſultiren zu laſſen, eben ſo
muß dieß auch der Buͤrger und der Landmann an
ihnen finden, wenn ſie ſich gegen dieſe benehmen,
wie im angenommenen Fall ihr Bedienter gegen ſie.
Ueberhaupt muß das Militaͤrſyſtem, ſobald es als
Schreckensſyſtem ohne Unterſchied herrſchen ſoll,
uͤber kurz oder lang uͤberall eben die Folgen haben,
die das Robespierriſche Syſtem in Frankreich ge-
habt hat.
Endlich kam ich am 27. Oktober in Halle an.
Ich hatte ganz ſeltſame Empfindungen, als ich
mich dieſer Stadt, wo ich ſo viel angenehme und
unangenehme, ſo viel geſcheide und naͤrriſche Tage
verlebt hatte, wieder naͤherte. Ich gerieth wirk-
lich in eine Art von Betaͤubung, ſo, daß ich in
Schlettau, wo mir mein alter Freund, Herr
Haaſe, Merſeburger Bier einſchenkte, nicht recht
wußte, was ich trank. Ich eilte fort, und bey-
nahe haͤtte mich in Paſſendorf, wegen der brennen-
den Tabackspfeife, der Tagwaͤchter angehalten.
[266] In Halle mußte ich mich noch einmal zu guter
Lezt militaͤriſch behandeln, und zum Pinzen Wil-
helm von Braunſchweig, der damals das
Regiment, als Oberſter, kommandirte, fuͤhren
und von ihm examiniren laſſen. Der Prinz erklaͤr-
te mir, daß ich von allen militaͤriſchen Verhaͤlt-
niſſen und Verbindlichkeiten frey waͤre: und nun
draͤngte ich mich durch den dicken Haufen, der mich
umgab, und von dem jeder etwas von mir wiſſen
wollte, um zu dem einzigen Mann zu kommen,
der ſich meiner ſo lange Zeit her, und ſo thaͤtig
angenommen hatte.
Wenn meine Leſer nur dasjenige, was ich in
meiner Lebensbeſchreibung von den Verdienſten des
Hrn. Bispink um mich angefuͤhrt habe, zuſam-
men nehmen, und dabey meiner Verſicherung glau-
ben, daß ich, um der beſcheidenen Großmuth des
edeln Mannes zu ſchonen, bey weitem nicht alles
erzaͤhlt habe, was Er mir bey ſo verſchiednen Ge-
legenheiten entweder Gutes rieth, oder Gutes
that: ſo koͤnnen ſie ſich ohngefaͤhr einen Begriff von
den Ruͤhrungen machen, welche ich hatte, als ich
ihn wieder ſah, und umarmen konnte. Ich erin-
nere mich nur noch, daß ich ihm, in Beyſeyn des
Hrn. Hauptmanns von Patzensky, blos den
ſchoͤnen Vers des Ovidius wiederholen konnte:
Unica fortunis ara reperta meis!
[267] Das Uebrige der ganzen herzigen Empfangsſcene
kann ich nicht weiter ſchildern.
Hr. Bispink raͤumte mir eine Stube, ſeiner
Wohnſtube gegenuͤber, ein, und reichte mir ein
Hemde u. dgl., um mich zu erfriſchen. Ich war
in meiner ſchwaͤbiſchen Montur angekommen, und
gleich war ein Schneider da, der mir das Maaß
zu anſtaͤndigen Ober- und Unterkleidern nehmen
mußte. Kurz, in einigen Tagen war ich von un-
ten bis oben vollſtaͤndig neu gekleidet. Wie behag-
lich mir dieſe Umaͤnderung geweſen ſey, ſieht man
leicht ein, wenn man bedenkt, daß ich waͤhrend mei-
ner langen Reiſe, beynahe einen Monat hindurch,
meine Kleider nicht hatte wechſeln koͤnnen, und da-
her jene Folgen ſehr lebendig fuͤhlte, die allen de-
nen, ſelbſt Offizieren, bekannt ſind, welche ſich
genoͤthigt ſehen, in einer und derſelben Kleidung,
in den Gaſthoͤfen auf dem Stroh, oder in Gemein-
betten herumzuliegen.
[268]
Sechſigſtes Kapitel.
Es iſt alles eitel! Eberhard. Bispink.
Durch die Fuͤrſorge des Hrn. Bispink war ich
alſo bald im Stande, oͤffentlich zu erſcheinen.
Mein erſter Beſuch ging zu meinem ehemaligen
Hauptmann, dem Herrn von Mandelsloh.
Dieſer brave Mann, und Hr. Bispink, der mich
zu ihm begleitet hatte, riethen mir, mich nach
Berlin an den Kronprinz zu wenden, um ihn
an ſein Verſprechen nur zu erinnern. Ich that es,
und erhielt zur Antwort: ich moͤgte ſelbſt angeben,
auf welche Art man am beſten fuͤr mich ſorgen
koͤnnte.
Ich folgte, und bat — um ja mit Niemanden
in Colliſion zu kommen — blos um die Anwart-
ſchaft auf die Lehrſtelle der franzoͤſiſchen Sprache
auf der Univerſitaͤt zu Halle, und um einen maͤßi-
gen Gehalt, aus dem Schulfond, bis zum vollen
Antritt der erbeteuen Stelle. Der Prinz antwor-
tete mir bald wieder, daß er mein Geſuch dem Mi-
niſter von Woͤllner angewieſen habe, der das
weitere beſorgen wuͤrde. Ich ſchrieb nun auch an
[269] den Miniſter, und dieſer, wie ich bald erfuhr,
verlangte uͤber meine Bitte eine naͤhere Auskunft
von der Univerſitaͤt.
Unter andern ſoll er haben wiſſen wollen: ob
der jetzige Inhaber der Stelle außer Stande ſey,
ſie ohne einen Gehuͤlfen weiter zu verſehen. Dieß
ſchon machte mir Bedenken, und zeigte, daß der
Miniſter oder deſſen Sekretaͤr es uͤberſehen hatte,
daß meine Bitte vor der Hand blos die Anwart-
ſchaft auf dieſe Stelle bezielte, und ſie ſelbſt nicht
eher, als nach des jetzigen Beſitzers Tode. Dann
hoͤrte ich, daß Forſter und Niemeyer den
Auftrag erhalten ſollten, mich uͤber meine Kennt-
niß der franzoͤſiſchen Sprache zu pruͤfen. Dawi-
der wuͤrde ich auf keinen Fall das mindeſte gehabt
haben. — Aber daß gerade Eberhard Pro-
rector war, und dieſer alſo die Hauptperſon bey
dem Berichte zu ſpielen hatte, das war etwas,
woruͤber ich mich nicht beruhigen konnte.
Ich kann freilich nicht ſagen, wodurch ich den
Hrn. Profeſſor Eberhard beleidigt habe, oder
was es ſeyn mag, warum er mir feind iſt: doch
verſichert man mich hoch und theuer, daß er mich
nicht leiden koͤnne. Etwas von dieſer Geſinnung
ſchien Hr. Eberhard gegen mich ſchon zu hegen
im Jahr 1783, als mein Baldrian Weit-
maul ſollte gedruckt werden: hernach aber ſoll er
[270] bey mehrern Gelegenheiten deutlich gezeigt haben,
daß er mich weit von Halle wegwuͤnſche.
Ich kann Hrn. Eberhard dieſe Geſinnung
ſchon laſſen, moͤgte aber in der That wiſſen, wo-
her er ſie hat! In Kolliſion bin ich niemals mit
ihm gekommen, und kann darein nicht kommen,
da ich von der Philoſophie uͤberhaupt wenig, und
von der Eberhardiſchen insbeſondere noch weniger
verſtehe. Sind indeß alle Nachrichten wahr, die
man mir uͤber ſeine Geſinnung gegen mich anver-
traut hat: ſo muß der Mann mich fuͤr ſehr kurzſich-
tig gehalten haben, oder vielmehr fuͤr dumm: denn
da eine ſchriftſtelleriſche Angelegenheit es noͤthig
machte, daß ich bey ihm einſprach, machte er mir
wirklich eine ſolche Aufnahme, wie man ſie einem
Manne macht, fuͤr den man einige Achtung zu he-
gen pflegt. Ich ließ mich freilich durch Hoͤflich-
keit nicht blenden, und dachte bey mir, daß die
Natur es weiſe eingerichtet hat, daß man nicht
jedem ins Innere ſehen kann: denn ſonſt haͤtte un-
ſer Geſpraͤch eine jaͤmmerliche Wendung nehmen
muͤſſen.
Wie geſagt, ich erfuhr bald, aber nicht von
Hrn. Eberhard — denn dieſer ließ mich eine
Sache nicht wiſſen, die mich doch ſo nahe anging
— daß Hr. von Woͤllner auch meinetwegen ei-
nen Bericht verlangte. — Vom Kronprinzen
[271] empfohlen, haͤtte ich dieſes nicht erwartet, und da
ich Eberhards Geſinnung gegen mich kannte:
ſo wollte ich weit lieber, daß er in meiner Sache
gar nicht berichtete, als daß er mich dem Mini-
ſter, als wer weiß, was fuͤr einen Menſchen ſchil-
derte. Ich ging alſo zu ihm, und bat ihn ſehr,
dem Hrn. von Woͤllner nichts weiter zu melden,
als daß ich auf die nachgeſuchte Anwartſchaft
Verzicht thaͤte, daß folglich meinetwegen kein Be-
richt weiter noͤthig ſey, u. dgl.
Hr. Eberhard verſprach mir, nicht zu be-
richten, und ich beruhigte mich. Aber bald dar-
auf hoͤrte ich dennoch, daß er allerdings, und oben-
drein mit Beyziehung einiger Profeſſoren, die er
als meine Nichtpatronen kennen mogte, wirklich
einen fuͤr mich aͤußerſt nachtheiligen Bericht an
den Hrn. von Woͤllner geſchickt habe. Die mir
nicht abgeneigten Profeſſoren, die Herren Noͤſ-
ſelt, Gren, Niemeyer, Woltaͤr, Wolf,
und andere waren gar nicht gefragt, und ihnen die
Anfoderung des Miniſters gar nicht zugeſchickt
worden.
Einige Studenten, welche zu den Zuſammen-
kuͤnften der Vornehmern Zutritt hatten, und mit
Perſonen umgingen, gegen die Herr Eberhard
meinetwegen unverholen geſprochen hatte, erzaͤhl-
ten mir alles wohlmeynend wieder. Ich theilte,
[272] was ich hoͤrte, Hrn. Bispink mit: dieſer aber,
der ſich nicht vorſtellen konnte, warum Hr. Eber-
hard mich zu druͤcken ſuchen ſollte, da ihn gewiß
kein Intereſſe dazu reizen koͤnnte, der ſelbſt Eber-
harden zweymal meinetwegen beſucht und die
vortheilhafteſten Aeußerungen uͤber und fuͤr mich
von ihm gehoͤrt haben wollte, widerſprach mir
immer, und nannte meine Relationen eine verhaßte
und niedrige Stude[nt]en-Klatſcherey. Ja, er hielt
meine Beſorgniß fuͤr ein taͤuſchendes Gauckelſpiel
einer uͤbertriebenen Selbſt- und Eigenliebe; oder
Eberhard muͤßte, wie er einſt hinzufuͤgte, in
einer gewiſſen Art von hoͤfiſcher Verſtellungskunſt
ein abſcheulich großer Meiſter ſeyn. Genug, ich
mußte immer unrecht haben.
Aber ſo ſehr ich Hn. Bispink liebe und achte,
ſo wenig kann er mir es verargen, wenn ich ihn
einer zu gutmuͤthigen und nachſichtigen Denkungs-
art zeihe, und ſeine Meynung durchaus verwerfe:
daß man, zu ſeiner eignen Ruhe, ſich die Men-
ſchen ſo lange als gut denken muͤſſe, bis ſie das
Entgegengeſezte unwiderſprechlich zeigen. Ich
daͤchte, ſeine vielfache, traurige Erfahrung haͤtte
ihn vom Gegentheil laͤngſt uͤberfuͤhren ſollen. Doch
ich habe ihm hierin nichts vorzuſchreiben, und bin
fuͤr mich noch immer der hoͤchſtwahrſcheinlichen
[273] Meynung, daß die Studenten und ich nicht ganz
unrecht hatten.
Und irre ich hierin nicht: ſo haͤtte Hr. Eber-
hard, da ich zu der Zeit mehrmals bey ihm war,
mir doch ſagen koͤnnen, was er dachte, oder er
haͤtte ſich wenigſtens nicht ſo verſtellen ſollen.
Denn was konnte ihn wohl vermoͤgen, oͤffentlich
gegen mich artig zu ſeyn, mir ſogar ſehr artige,
und, wenn ich ſo ſagen darf, freundſchaftliche
Briefe zu ſchreiben, und mich darin aufzufodern,
daß ich mein Talent zum Beßten der Univerſitaͤt
verwenden moͤgte, und doch hernach mich heimlich
zu necken! Das mag loben, und gut heißen, wer
da will: ich will lieber einen oͤffentlichen Feind ha-
ben, als einen heimlichen. Glaubt aber Hr. Eber-
hard, ich trete ihm zu nahe: wohlan, nur eine
beglaubigte Abſchrift von ſeinem Bericht an Woͤll-
ner; und ich widerrufe und werde ſein Lobredner.
Endlich kam der hinkende Bote von Berlin,
wie ich ihn ſelbſt vorausgeſehen hatte; und mein
Geſuch war von Woͤllnern voͤllig abgeſchlagen!
Ich hatte Hn. Eberhard, nach ſeiner eignen
Auffoderung, einen Zettel zu Lektionen zugeſchickt,
und wollte den Sommer hindurch, den Juvena-
lis, und den Lucanus erklaͤren, und vortra-
gen die Hiſtorie von Frankreich und Polen. Aber
Viert. Th. 2te Abth. S
[274] jezt ließ ich meinen Namen aus dem Lektionskata-
logus wegſtreichen. Was die Philologie anbetrifft,
ſo hatte ich da zwar von Hn. Profeſſor Wolff
nichts zu fuͤrchten: denn dieſer Mann uͤberſieht ein
ſo kleines Lichtgen, als ich bin, und kann es gar
wohl leiden, daß ein Anderer auch ein paar Worte
Latein oder Griechiſch wiſſe; aber in den uͤbrigen
Faͤchern der philoſophiſchen Facultaͤt glauben ge-
wiſſe Herren das Monopol zu haben. Die erbau-
lichen Debatten daruͤber, welche auf dem goldnen
Loͤwen, in Ruͤckſicht auf mich, gefuͤhrt ſind, weiß
ich lange und verachte ſie. Es war auch obendrein
die Frage, ob ich Zuhoͤrer und Beyfall wuͤrde ge-
habt haben, oder nicht; und da hat es mich auch
weiter nicht gereut, vom Katheder weggeblieben zu
ſeyn.
Menſch indeß bin und bleibe ich, und zwar ein
ſehr verwoͤhnter Menſch, mit ſehr regem Blut und
ſehr raſchen Nerven. Ich empfand es demnach in-
nigſt tief, daß alle meine Hoffnung auf einen Lohn
in der Zukunft fuͤr alle uͤberſtandne Gefahren und
Leiden ſo mit einem Male ſchaͤndlich zernichtet war.
Die erſten neun Wochen, die ich bey Hn. Bis-
pink zubrachte, ehe mein Schickſal fuͤr die Zu-
kunft entſchieden war, lebte ich ſo ordentlich, nuͤch-
tern und vergnuͤgt, daß ſelbſt ein Eberhard es
ſchwerlich beſſer gekonnt haͤtte. Des Morgens las
[275] oder ſchrieb ich, und des Nachmittags hielt ich
Unterrichtsſtunden mit Studenten, und ging mit
Hn. Bispink, zu unſerer Erholung, nun und
dann nach Reideburg, oder zu Hn. Bouvier in
Lettin, oder ſonſt herum im Felde. An rauſchende
Vergnuͤgung oder Geſellſchaft dachte ich faſt gar
nicht mehr. Ich waͤre bey dieſer Lebensart ſehr
wahrſcheinlich geblieben, wenn mir ein Poſten zu
Theil geworden waͤre, der mich an mehr Conve-
nienz gefeſſelt haͤtte.
Aber das alles war nach der Abweiſung von
Hn. Woͤllner dahin! Ich wurde vor innerm
Sturm und Drang unausſtehlich-unruhig, wollte
wieder in die weite Welt, vernachlaͤ[ſſi]gte meine
Stunden, ſchmiß meine Arbeiten hin, indem ich
einſah, ich arbeitete in den Wind, und verloͤre
nur Muͤhe und Zeit. Hr. Bispink ſuchte mich
auf alle moͤgliche Art zu beruhigen und zu troͤſten:
er wollte einen edlen Stolz in mir anfachen, ſelbſt
durch mich, auch ohne Miniſter- und Profeſſoren-
Gunſt zu beſtehen, und dabey mehr Gutes zu wir-
ken, als Mancher von ihnen, auch unbeſoldet:
kurz, ſeine Geduld und Muͤhe mit mir ging ins
weite. Aber ſie ward mir laͤſtig: ich ſuchte aller-
hand Vorwand, mich ihm zu entziehen, und mir
ganz nach meiner Art Luft zu ſchaffen. Ich that
hieran ſehr uͤbel: ich habe Thraͤnen daruͤber in Bis-
[276]pinks Augen geſehen, und ich haͤtte ihm fluchen
moͤgen. Er ſtand mir uͤberall im Wege: ich wich
ihm aus, ich mied ihn, und kam zuweilen des
Nachts nicht nach Hauſe, auch wohl den Tag uͤber
nicht, und einmal in vier Tagen und Naͤchten
nicht.
Hr. Bispink, um mich ohne Stoͤhrung der
Uebrigen ins Haus zu laſſen, war zweymal bis
Nachts Zwey aufgeblieben, aber vergebens: ich
kam nicht. Als ich kam, nahm er mich auf die
Seite, ſagte: „Aber, lieber Laukhard, wohin
wird das fuͤhren? Iſt das maͤnnlich? Iſt das
Menſchwuͤrdig? Iſt es klug, eine erlittene Unbilde
von Andern dadurch zu raͤchen, daß man eine noch
groͤßere an ſich ſelbſt begeht? Muß dieß und die
Folge davon Ihren Gegnern nicht zur Beſchoͤni-
gung ihres Benehmens gegen Sie dienen? Ueber-
legen Sie dieß, und Sie werden finden, daß Sie
das Schwerd Ihrer Gegner immer mehr ſchaͤrfen.“
— „Und was, fuhr er fort, that ich Ihnen zu
Leide? Um von unſerm Dienſtmaͤchen nicht zuviel
zu fodern, laſſe ich es um zehn Uhr zu Bette gehen,
und bleibe ſelbſt auf, um Sie, wenn Sie kommen,
herein zu laſſen: und Sie — Sie laſſen mich
halbe Naͤchte vergebens warten! Sollten Sie mich
einer ſchonenden Ruͤckſicht weniger werth halten,
als ich mein Dienſtmaͤdchen?“
[277]
„Außerdem muß mich jeder, wer mich nicht
naͤher kennt, fuͤr einen moraliſchen Indifferentiſten
halten. Wie Sie wiſſen, urtheilen die Menſchen
ſo gern nach allgemeinen Maaßſtaͤben, ich meyne,
nach Spruͤchwoͤrtern; und wie Sie es jezt treiben, da
Sie bey mir logieren, wird man mich da nicht nach
dem Spruͤchworte: Gleich ſucht ſich, Gleich findt
ſich, fuͤr eben das halten, wofuͤr Sie Sich zeigen?
Werden aber Andere, die mich naͤher kennen, Sie
nicht eines Undanks beſchuldigen, und Sie eben
darum jeder Niedertraͤchtigkeit faͤhig halten? Scho-
nung fuͤr Sie alſo iſt auch Schonung fuͤr mich,
und umgekehrt.“
„Wir ſind nicht die Einzigen in der Welt: innere
und aͤußere Verhaͤltniſſe binden uns an Andere;
und wer ſich ſelbſt nicht achtet, nicht gut iſt, ach-
tet Andere auch nicht, iſt Andern auch nicht gut:
und dann ſind Verachtung und Mistrauen die Dor-
nen, die uns auf unſerm Lebenspfad uͤberall ritzen.
Als wahrer Freund von Ihnen, muß ich Sie dem-
nach bitten, Sich in meine Haus- und Lebens-Ord-
nung zu fuͤgen, oder Sich eine Wohnung bey Leu-
ten aufzuſuchen, die an Ihnen weiter kein Inter-
eſſe finden, als — von Ihnen bezahlt zu wer-
den.“ —
Hr. Bispink hatte recht: ich fuͤhlte das, ich
haͤtte vor ſeinen Augen verſinken moͤgen, ich fuͤhlte
[278] mich Seiner und Meiner unwuͤrdig, ich fuͤhlte ei-
nen Drang zum Selbſtmorde, ich verſtummte, ich
ergriff ſeine Hand, druͤckte ſie und ihn mit weg-
gewandtem Geſicht an meine Bruſt, entließ ihn
ploͤtzlich und wollte fort. Er mogte das Toben in
mir merken, er ergriff mich, fragte: „Nun wo-
hin denn ſo eilig? — In die Sale, oder eine Ku-
gel durch den Kopf! — In die Sale? — Eine
Kugel? — Und ſo feige koͤnnte Laukhard ſeyn?
Denken Sie denn nicht an den Spruch des Owe-
nus:
Rebus in adverſis facile eſt, contemnere vitam:
Fortius ille facit, qui miſer eſſe poteſt?
Hem! iſta virtus eſt, ſagt Plautus in ſeiner
Aſinaria, quando uſui eſt, qui malum fert fortiter.
Nein, Laukhard, das war eine Aufwallung, die
Sie nur naͤh[er]r zergliedern muͤſſen, um einzuſehen,
daß der Entſchluß das Mittel nicht iſt, Sie von
Ihren Leiden, Feſſeln, und Feinden zu befreyen.
Das Geſpenſt, wie Sie einmal von Sich ſelbſt
ſagen, war ſonſt in Ihrer Seele, und iſt es jezt
wieder ſehr arg: aber der Exorcismus, wodurch
Sie, als vernuͤnftiger Menſch, als Mann, Sich
davon befreyen koͤnnen, iſt weder die Sale, noch
eine Kugel: es iſt die goldne Sentenz des Cicero,
worin er ſagt: Solus Sapiens liber eſt, und dann
fragt und antwortet: Quit eſt libertas? Poteſtas
[279] vivendi, ut velis. Quis igitur vivit, ut vult, niſi,
qui recta ſequitur, qui gaudet officio, cui vivendi
via conſiderata atque proviſa eſt.*) Sehen Sie,
das iſt der beßte Exorcismus fuͤr Sie!“
„Sie wiſſen, ich liebe die Sentenzen, denn
ich habe ihre Kraft in meiner dreyjaͤhrigen Gefan-
genſchaft gefuͤhlt; und darum muͤſſen Sie es uͤber-
ſehen, wenn ich den Spruch-reichen Mirabell
nachmache. Ich meyne es gut damit, und hoffe
Sie durch eben das aufzurichten, wodurch ich noch
exiſtire... Und was ich konnte, warum ſollten
Sie das nicht auch koͤnnen, zumal, da Sie mehr
Einſicht haben, als ich, und nicht, wie ſonſt ich,
gefangen ſitzen, es ſey denn in der Folterkammer
eines fracti animi et abjecti et arbitrio carentis ſuo,
wie Cicero die moraliſche Sklaverey beſchreibt. **)
Iſt aber dieſes, dann denken Sie an das O toties
ſervus, woruͤber ich Ihnen vor Ihrer Zuruͤckkunft
ſchrieb. Ich denke, wir beſuchen unſern Bou-
vier, und ſprechen unterwegs davon weiter.“
Geſagt, gethan! Wir ſprachen davon auf
dem Hin- und Herwege weiter. Bispinks Fe-
ſtigkeit, Bispinks angemeßne Sentenzen, und noch
mehr Bispinks vaͤterliche Geſinnung gegen mich,
[280] ſtimmten mich um, minderten die Verworrenheit
und die Gewalt meines tobenden Innern, zerſtreu-
ten mich, machten mich leichter, und ich erroͤthete
vor mir, und faßte den Entſchluß, mich ihm ganz
zu fuͤgen. Wahrlich, haͤtte Hr. Bispink mich
dießmal laufen laſſen: ich waͤre hin, oder aus ei-
nem Schwaͤchling waͤre ein Welt-durchirrender
Boͤſewicht geworden. Aber — eſt res ſacra miſer,
ſagt er mit Seneka, und weiß, daß nur der
Kranke des Arztes bedarf.
Was von Bispinks Seite fuͤr mich nuͤtzlich
war, koͤnnte es fuͤr manchen Andern von meiner
Art gewiß auch ſeyn: aber es haͤtte mich zu weit
gefuͤhrt, wenn ich ſeine vielſeitigen Briefe, Unter-
redungen und Warnungen an Ort und Stelle eben
ſo haͤtte beruͤhren wollen, wie die Unterredung vor-
her. Ich will ihm nicht vorgreifen, und uͤberlaſſe
ihm dieß fuͤr ſeine eigene Geſchichte. Alsdann wird
er wohl auch die Belege von und zu dem anfuͤhren,
was ich nur ſummariſch erzaͤhlt habe. Die Briefe
vom Kronprinzen, von Woͤllner, Eber-
hard und andern liegen, nebſt ſeiner und meiner
Correſpondenz, bey den Materialien zu ſeiner Bio-
graphie.
Man ſieht, ich ſchone mich nirgend, zumal
da nicht, wo es auf Schonung Anderer ankoͤmmt.
Ich weiß, was ich Hn. Bispink ſchuldig bin:
[281] ich weiß, was er mir geweſen iſt, und noch iſt.
Das wiſſen nicht Viele, und darum koͤnnten ihn
die, welche ihn nicht naͤher kennen, gerade meinet-
wegen verkennen. Um dieſem vorzubeugen, hielt
ich es fuͤr Pflicht, ihn und ſeine Art, mich zu be-
handeln, in einer Scene aufzuſtellen, die ich nie
vergeſſen werde. Ich wiederhole es:
Unica fortunis ara reperta meis!
Was Hr. Bispink fuͤr mein Inneres that,
that Madame Bispink fuͤr mein Aeußeres.
Dieſe brave Frau hat ganz das Geſchicke, jeman-
den auf eine feine, meiſt recht witzige Art, auf
das aufmerkſam zu machen, was einem ſonſt ent-
geht, wenn's gleich nahe vor den Fuͤßen liegt.
Sie hat Hn. Bispink und mich durch ihre uner-
warteten Bemerkungen, und durch ihre eigne naive
Art dabey, oft uͤber Tiſch lachen gemacht. Hatten
wir ausgelacht, ſo fuͤgte ſie hinzu: „Nun, Kin-
der, nun habt ihr ausgelacht: aber nun ſeyd auch
huͤbſch artig, und macht nicht, daß ich euch noch
einmal lachen machen muß: ſonſt verſalzt ſich un-
ſere Mahlzeit.“ — Ich merkte, was das geſagt
war, und war auf meiner Hut forthin mehr, ſo-
wohl in Ruͤckſicht auf meine Kleidung, als in Ruͤck-
ſicht auf meinen alten ſtudentiſchen Schnurren-
Ton.
[282]
Die guten Leute meynten es in jeder Ruͤckſicht
recht brav mit mir: aber ich ſah ein, daß ihre
Wohnung durch mich beſchraͤnkt war. Dieß und
die Furcht, daß mein Vorſatz, mich Hn. Bis-
pink ganz zu fuͤgen, dennoch ſchwanken, und ich
uͤber kurz oder lang wieder dahin kommen koͤnnte,
ihn vergebens auf mich warten zu laſſen, beſtimm-
ten mich, ihn zu bitten, daß er mir erlauben
moͤgte, bey meinem ehemaligen Wirthe, dem jezt
ſehr maͤßig penſionirten Feldwebel Gruneberg,
wieder einzuziehen. Hr. Bispink gab meiner
Bitte endlich nach, und ich zog wieder ein zu mei-
nen alten Grunebergs. Dieſe Leute bedienten
mich, ſo gut ſie konnten; und da ich ſie und ihre
Art laͤngſt kannte, wie ſie die meine: ſo kam ich
mit ihnen ziemlich gut zurechte.
Den Mittags- und Abends-Tiſch behielt ich in-
deß bey Hn. Bispink noch bis in den Sommer
1796, und ich ſah mich ebenfalls genoͤthigt, ihn
damals auch aufzugeben. Oft uͤberhoͤrte ich die
Glocke, oder ich war bey meinen Scholaren in ei-
ner Arbeit, die ſich nicht abbrechen oder verſchieben
ließ; und dieß machte, daß die guten Bispinks
mit dem Eßen auf mich oft vergeblich warteten.
Ich konnte das unmoͤglich laͤnger zugeben, und
nahm meinen Tiſch, mit Hn. Bispinks Gut-
heißen, bey dem Speiſewirthe, Hn. Moͤrtſch,
[283] beſuche aber Hn. Bispink noch immer nach wie
vor, je nachdem ſeine und meine Muße und unſer
gegenſeitiges Unterhaltungs-Beduͤrfniß es zulaͤßt
oder heiſchet, zumal jezt, im Sommer 1797, wo
er aus Vorſorge fuͤr ſeine Geſundheit und ungeſtoͤhr-
teres Arbeiten ſich in Giebichenſtein aufhaͤlt.
Ein und ſechſigſtes Kapitel.
Noch von meinem Taumel, und von deſſen Folgen:
So gut ich mit Grunebergs zurechte kam, ſo
wenig kam ich zu der Zeit mit mir zurechte, auch
troz meinen beßten Vorſaͤtzen. Es kochte und tobte
in mir noch immer nach, und ſprudelte mich oft
zu Boden. Eine wichtigere Beleidigung konnte
mir auch nie zugefuͤgt werden, als die iſt, deren
ich vorhin erwaͤhnt habe. Ich wußte, was und
wieviel in Frankreich ich gewagt und gelitten hatte:
der Kronprinz war nach meiner Zuruͤckkunft
noch brav gegen mich geſinnt: hierauf hatte ich
laͤngſt gebauet, und meine Lebens-Rechnung fuͤr
die Zukunft darauf angelegt; und nun kommen An-
dere und ſtreichen mir dieſe meine Rechnung durch!
— Das brannte meine Seele an; und dieſes wun-
de Fleckchen wurde aufgekrazt, ſo oft ich von Stu-
[284] denten und Ande[r]n hoͤren mußte, wer Schuld dar-
an ſeyn ſollte. Dieß aufgeregte Schmerzgefuͤhl
trieb mich jedesmal von neuem unſtaͤt umher.
Schon der Anblick irgend eines Soldaten, eines
Studenten oder Profeſſors verſenkte mich in tiefen
Kummer, und machte mich gleichguͤltig gegen
Alles.
Hr. Bispink verſchaffte mir Gelegenheit,
dann und wann in Geſellſchaft von Honoratioren
mitzukommen, um, wie er ſagte, mich allmaͤlig
an einen liberalen Umgang mit Menſchen zu ge-
woͤhnen, deren Unterhaltung eben ſo ſehr belehre,
als ergoͤtze. Ich habe aber, wie man weiß, die
Aſſambleen der Honoratioren nie geſucht, weil ich
fuͤr ſie nicht paſſe und mich uͤberhaupt allemal ſche-
nirt finde, wenn ich bey Leuten bin, die vorneh-
mer ſind, als ich, das heißt, welche beſſer geklei-
det ſind, mehr Geld, mehr Einſicht oder mehr
Werth haben, als ich. Alsdaun fuͤhlt man ſeinen
Abſtand ſchmerzhaft, zumal, wenn man ihn ſelbſt
verſchuldet hat, und ſich zu ſehr verwoͤhnt findet,
als daß man ſich zu ihnen wieder heranheben, oder
wenigſtens wieder naͤhern koͤnne. Das Bewußt-
ſeyn davon macht im Innern verlegen, und im
Aeußern linkiſch. Mein damaliger Zuſtand ſpannte
mich auch zu ſehr, als daß ich fuͤr die ſanftern
Verguuͤgungen haͤtte empfaͤnglich ſeyn koͤnnen.
[285]
Ich ging alſo lieber, ſo fuͤr mich, auf den
Mail, auf den Gruͤnen-Hof, auf die Lo-
ge*), auf den Keller, oder ſonſt wohin, wo ich
mehr mein eigner Herr war, auch weniger abſtach,
und wo ich mich unſchenirt zerſtreuen konnte, ſo nach
meiner Art. Eine Kompagnie von Schuſtern,
Schneidern, Baͤckern, Soldaten und Solchen un-
terhaͤlt meinen Geiſt, nach ſeiner einmal genom-
menen Richtung, wirklich oft mehr, als manche
andere, wo es vornehm hergeht. Ueberhaupt iſt
es — in meinen Augen — ein ſchnurriges Ding um
Reputation und Extraktion. Doch — ein Schnur-
riger findet freilich alles ſchnurrig! —
Dieſe Erholungsoͤrter hatten aber damals
fuͤr mich auch ihr Schlimmes. Alte Kameraden
und Scheinfreunde, welche meine Schwaͤche und
meine Geringſchaͤtzung des Geldes kannten, ſchmieg-
ten ſich hier wieder an mich an — vorher hatte es
Hr. Bispink gehindert — und fuͤhrten mich,
ſobald ſie Geld bey mir vermutheten, unvermerkt
bald hiehin, bald dahin, bald auch in allerhand
gemeine Schenken, und zehrten auf meine Rech-
nung. Ich muͤßte mich zerſtreuen, riethen ſie, und
wir tranken, und ich ſank immer tiefer. Es galt
[286] mir endlich gleichviel, ob ich die Nacht auf einem Eck-
ſteine an der Straße, oder auf der Pritſche der
Hauptwache, oder in einer gemeinen Schenke,
oder in der Stube eines intereſſirten Theilnehmers,
oder in meiner, oder ſonſt anderswo vertaumelte.
Ich wollte oft austoben, und gerieth in Haͤndel,
und ward das Geſpraͤch der Muͤßigen und Scha-
denfrohen, oder das Geſpoͤtte der Kinder. Klei-
dungsſtuͤcke, Waͤſche und Buͤcher achtete ich damals
eben ſo wenig, als Geld und mich. Man konnte
mir alles abſchwatzen oder nehmen, ja, man haͤtte
Anſtalt machen koͤnnen, mich zu toͤdten, und ich
blieb unbekuͤmmert. Wer kann das Seine achten,
wenn er aufhoͤrt, Sich zu achten! — Wenn ich
von Hn. Bispink eine Zeitlang wegblieb aus
Ruͤge meines Bewußtſeyns, ſo entſchuldigte ich
mich wahr und unwahr. Kurz, mein Vorſatz,
mich ihm zu fuͤgen, war vor Schmerz und Be-
taͤubung laͤngſt und arg dahin.
Hr. Bispink aufmerkſam gemacht durch al-
lerhand Geruͤchte und durch mein ſtaͤtes Hin- und
Herwanken, ob ich in Halle weiter bleiben, oder
es verlaſſen ſollte, merkte meine Krankheit naͤher,
und ließ es an Warnung, Troſt oder Lauge nicht
fehlen, je nachdem ich es verdiente, oder er mich
empfaͤnglich fand. Aber was halfs! Nur die
Zeit konnte meinen Schmerz lindern und mich uͤber
[287] das zum Herrn machen, wozu das anhaltende
Zucken des Schmerzes und mein zaͤhes Gedaͤcht-
niß mich verwoͤhnten Schwaͤchling trieb oder lei-
ten ließ.
Hr. Bispink, der alles verſuchte, wovon er
Linderung fuͤr mich hoffte, rieth mir, von meiner
Seite nicht etwas zu verſaͤumen, woruͤber ich mir
dereinſt einen Vorwurf machen koͤnnte, und mich
von neuem an den Kronprinz zu weuden. Der
Kronprinz, ſagte er, ſey ein Mann von Ehre, der
alſo das halten werde, was er verſprochen haͤtte.
Seine Bereitwilligkeit dazu habe er gezeigt. Die
ganze Armee wiſſe von der Bedingung meiner
Sendung. Wollte man dieſe unerfuͤllt laſſen: wer
in der Zukunft wuͤrde es uͤbernehmen, ſich, wie ich
gethan haͤtte, fuͤr Preußens Intereſſe hinzugeben,
ſogar mit Lebensgefahr. Schon um des guten
Beyſpiels willen, fodere es das Intereſſe des
Kronprinzen, ſich mir nicht zu entziehen.
Ich fand dieß wahrſcheinlich, und wendete mich
von neuem an den Kronprinz; aber auch ohne Er-
folg. Der vortreffliche Prinz ließ mir zur Antwort
ſchreiben, daß er fuͤr die Invaliden ſeines Regi-
ments jezt noch zu ſehr zu ſorgen habe, als daß er
fuͤr mich vor der Hand etwas weiter thun koͤnnte. —
Ich fand dieß begreiflich, und beruhigte mich, ſo
[288] gut ich konnte, durch einen Schimmer von Hoff-
nung auf die Zukunft.
Da ich es den Winter 1796 ſo trieb, wie ich es
beſchrieben habe, ſo laſſen ſich die Folgen davon be-
rechnen. Es geht, wie mans treibt — iſt eine
Wahrheit der Natur, und ich fuͤhlte ſie endlich
derbe. Ich fiel immer tiefer, nicht nur in den Au-
gen Anderer, ſondern auch in Ruͤckſicht auf meine
Geſundheit. Ueber Verachtung war ich merklich
hinaus, aber ein Fieber ward mein Meiſter. Was
meine Seele nicht konnte, bewirkte mein Koͤrper:
er ſchuͤttelte mich bis zum Beſinnen, und ich be-
ſann mich. Anfaͤnglich ließ ich die Anfaͤlle des
Fiebers aus der Acht, und rechnete auf den Tod.
Ich hatte mich verloren: was konnte ich weiter
zu verlieren fuͤrchten! Endlich half der Balſam der
Freundſchaft: ich gab den Vorſtellungen meiner
Freunde nach, und ſelbſt ein Freund heilte mich,
der geſchickte und brave Chirurgus Lehn.
Die Wunde auf meiner Bruſt achtete ich vorher
aus Mismuth eben ſo wenig, als mein Leben.
Sie ward immer aͤrger, und ich lief Gefahr, daß
ſie ſiſtuloͤs werden moͤgte. Jeder, den ich zu Ra-
the zog, ſprach von Aufſchneiden u. dgl. Dieß
ſchreckte mich ab, und ich ließ Wunde Wunde ſeyn.
Endlich fand ſich ein altes Weib, welches mich
durch eine Salbe und eine Injektion in Zeit von
[289] einem Monate ſo gluͤcklich heilte, daß ich ſeit jener
Zeit auch nicht die geringſte Unbequemlichkeit ver-
ſpuͤhre. Eben dieſe Frau hat mit eben der Salbe
Bruſtſchaͤden an Saͤugenden geheilt, wo der Arzt
auch zum Schneiden hatte ſchreiten wollen. Bey-
ſpiele von der Art fallen auf, und es gereicht der
ſyſtematiſch-methodiſchen Medicin und Chirurgie
eben nicht ſo ſehr zur Empfehlung, wenn ein altes
Weib mit einer Kleinigkeit Schaͤden zuheilt, wel-
che geſchickte Aerzte ungeheilt laſſen muͤſſen, ſobald
man ſich ihr Meſſer verbittet.
Ehe meine Ausſicht in die Zukunft, von Ber-
lin aus, ganz abgeſchnitten war, kam mir der Ge-
danke an, mich zu verehlichen. Ich miethete mir
ſchon eine Stube, die dann geraͤumiger geweſen
waͤre, als die bey Grunebergs. Die Stube
behielt ich nachher, aber aus dem Verehlichen ward
nichts, und dieß aus gutem Grunde. Vorgear-
beitet und geſammelt hatte ich gar nicht, und
Fleiſch ohne Brod, ſagt Hr. Bispink, erregt
Ueberdruß. Woher dann auch noch Haus- und
Kuͤchengeraͤthe, und was zur Oekonomie weiter
gehoͤrt! Damals reichte mein Verdientes nicht ein-
mal fuͤr mich zu: es war alſo das Kluͤgſte, die
Ehegedanken aufzugeben oder zu verſchieben.
[2te Abth.]
[290]
Zwey und ſechſigſtes Kapitel.
Meine Beſchaͤftigung zu Halle.
Noch in der Wohnung des Hrn. Bispink, ver-
fertigte ich die vorher erwaͤhnte kleine Schrift uͤber
die Reichsarmee. Nach dieſer fing ich die
Fortſetzung meiner Biographie an, welche nun —
dem Himmel ſey Dank! — zu Ende geht, und
nach aller Wahrſcheinlichkeit eine ziemliche Zeit
ruhen wird, vielleicht auf immer.
Ich gab auch gleich nach meiner Ankunft zu
Halle mehrere Stunden, und ich kann es den
halliſchen Herren Studenten nachruͤhmen, daß ſie
ſich meines Unterrichts ganz lieberal bedient haben,
und noch bedienen. Ich bin zwar nicht gelehrt,
und haſſe nichts mehr, als das gelehrte Air ge-
wiſſer Unterrichter, deren Armſeligkeit an Kennt-
niſſen doch aller Orten herausgukt: aber ich beſitze
manche Fragmente von Litteratur und von Spra-
chen, welche manchem jungen Manne nuͤtzlich
werden koͤnnen; und ſo glaube ich immer, auf
einer litteraͤriſchen Fabrike, nicht ganz umſonſt
exiſtiren zu koͤnnen. Die Herren ſcheinen dieſes
[291] ſelbſt zu fuͤhlen, da ſie mich ſchon recht angelegent-
lich erſucht haben, ihnen uͤber dieſes und jenes
Stuͤck der Litteratur Vorleſungen zu halten, wel-
ches ich aber bisher noch nicht wagen wollte,
aus Furcht — vor den Juden.
Bey meinem Unterrichte bediene ich mich durch-
aus einer andern Methode, als die iſt, welche die
ſonſtigen Sprachmeiſter befolgen: ich gebe bey je-
der Conſtruction den grammatiſchen Conſtruc-
tions-Grund an und halte dieß fuͤr das Haupt-
werk jedes Sprachunterrichts. Ich unterlaſſe das
ſogar nicht, wenn ich lateiniſche Autoren mit
Studenten leſe. Ich weiß, wie ſehr viel darauf
ankoͤmmt, die Grammatik recht zu wiſſen, ja, ich
fuͤhle, wie viel mir ſelbſt in dieſem Stuͤcke fuͤr al-
le Sprachen noch fehlt, welche ich je gelernt ha-
be, Uebrigens laſſe ich allen andern Herren, die
ſich mit der Sprachmeiſterey abgeben, ihren
Werth, und habe auch noch mit keinem von ihnen
eine Fehde gehabt, als mit dem Franzoͤſiſchen
Ex-Benediktiner Le Fevre, der zu Halle auch
franzoͤſiſch lehrt.
Dieſer Menſch mogte gehoͤrt haben, daß ich
eben nicht gut von den Emigranten uͤberhaupt und
von den emigrirten franzoͤſiſchen Pfaffen im beſondern
noch aͤrger daͤchte. Auch hatte ich ihn einigemal
bey einem Studenten geſprochen, und ihm, ſo nach
[292] meiner Art, meine Gedanken uͤber die franzoͤſiſche
Republik und uͤber Sa Majeſté Poſtiche, Louis XVIII
ſoi-diſant roi de France et de Navarre, réſidant
à Blankenbourg et vivant d'aumones geſagt, wor-
uͤber natuͤrlich ein Pfaffe, der alle Tage Meſſe
ließt, ergrimmen mußte. Da er ſich nun an mei-
nen deutſchen Buͤchern nicht raͤchen konnte, auch
vor Mangel an jeder litteraͤriſchen Kenntniß außer
Stande war ſich in einen gelehrten Streit mit mir ein-
zulaſſen: ſo warf er ſich uͤber meine Anleitung zur
Uebung in der franzoͤſiſchen Sprache, und
beſchmierte das Exemplar eines ſeiner Schuͤler mit
Anmerkungen gewaltig. In einer derſelben nann-
te er mich einen Affen des Rouſſeau, und in
einer andern ſagte er: ich habe mein Evangelium
von Voltaire gelernt u. d gl. Aber keine einzi-
ge ſeiner Bemerkungen betraf die Sachen, die
ich vorgetragen, oder die Ausdruͤcke, womit ich ſie
vorgetragen hatte, — wahrſcheinlich, weil der
aͤußerſt unwiſſende Menſch beydes nicht verſteht.
Dieſe Noten ſah ich von ohngefaͤhr, und ſtellte
den Le Fevre daruͤber zur Rede, der ſich dann ent-
ſchuldigte, wie ein Menſch ſich entſchuldigt, der
von ſeinen Suͤnden uͤberzeugt iſt. Nachher hat er
das Buch, worein er die Noten geſchrieben hatte,
aller Noten mit der Scheere beraubt, damit ſie
[293] ferner nicht mehr gegen ihn und ſeinen katholiſch-
dummen Pfaffen-Duͤnkel zeugen moͤgten.
Obgleich aber Le Fevre ein Moͤnch iſt, der alle
Tage ſein Brevier betet und alle Tage Meſſe ließt,
ja, der gar ein Atheiſt werden will, wenn der lie-
be Gott die Frevler in Frankreich nicht bald beſtraft:
ſo verſteht er doch das Zotenreißen aus dem Grun-
de, und alle die, welche mit ihm umgehen, koͤnnen
ſeine tiefen Kenntniſſe in dieſem Stuͤcke nicht ge-
nug bewundern. Er wuͤrde wirklich der Zotolo-
giſchen Fakultaͤt zu Gießen, im Jahre 1777, Eh-
re gemacht haben. Es iſt nur Schade, daß ſelbſt
die Studenten dieſe ſchoͤne Kunſt, eine Sprache zu
fuͤhren, die die Schweine fuͤhren wuͤrden, wenn ſie
reden koͤnnten, nicht mehr haben wollen, und die-
jenigen verachten, die durch ein ewiges Geſchwaͤtz
von unanſtaͤndigen Dingen zu erkennen geben, daß
ſie keine andere, als ſchmutzige Bilder, in ihrer
Einbildungskraft herum fuͤhren.
Billig ſollte Hr. Pater Le Fevre aus einem
Tournely, Collet, Antoine und andern
beſſern Moraliſten ſeiner Kirche wiſſen, was das
Geluͤbde der Keuſchheit von ihm, als einem Bene-
dictiner-Profeſſen, fodre, und daß die Pflicht
jedes braven Mannes ohnehin es mit ſich bringe,
das ſogenannte Scandalum activum uͤberall und im-
mer zu verhuͤten, vorzuͤglich in Dingen, die das
[294] rege Blut unerfahrner junger Leute ſo leicht auf-
wallen und durch erregte Vorſtellungen ſie nolens
volens oft zum Verderben reizen. Richtet er ſich
hienach, und bemuͤhet er ſich um mehr Sachkennt-
niß und Methode, als man ſie in den Kloͤſtern im
Durchſchnitt antrifft: ſo kann er gewiß auf weit mehr
Sprach-Schuͤler rechnen, als jezt, da er in der
irrigen Meynung aller katholiſchen Prieſter ſteht:
die beßte Lockſpeiſe zu recht vielen Scholaren auf
einer proteſtantiſchen Univerſitaͤt ſey, die prote-
ſtantiſche Jugend ſo zu behandeln, wie die meiſten
katholiſchen Polemiker ſie nach Luthern ſchildern,
der bloß darum die Reformation angefangen haben
ſoll, um ohne Kutte und Moͤnchsgeluͤbde ſich in
den Suͤmpfen der niedern Sinnenluſt ungehindert
waͤlzen zu koͤnnen. Pfaffen, die das glauben und
behaupten koͤnnen, zeigen eben dadurch, wohin
ihre Phantaſie und ihr Herz im Stillen ſich neige:
denn nach dem gewoͤhnlichen Spruͤchworte ſucht
man keinen hinter'm Ofen, wenn man nicht ſelbſt
dahinter geſeſſen iſt.
Hr. Pater Le Fevre nimmt es ſich ebenfalls
heraus, in Halle den Inquiſitor im Kleinen zu
ſpielen, und die von ſeinen mitemigrirten Glau-
bensgenoſſen, die lieber ihren Mitmenſchen die-
nen, als bey der hochheiligen Meſſe ihre Zeit un-
heilig verſchwenden, daruͤber in die Lehre zu neh-
[295] men. Wie weit der Mann in der Erkenntniß der
wahren, aͤchten Religion noch zuruͤck iſt! Doch,
wenn ſein paͤpſtelnder Kirchen-Eifer ihn ſo hilde-
brandiſch anregt fuͤr Andere: ſo muß es jeden Un-
befangnen billig befremden, daß er ihn nicht auch
fuͤr ihn ſelbſt anregt. In Preußen giebt es be-
kanntlich mehrere Benediktinerkloͤſter, ſelbſt nicht
weit von Halle, oder bey Halberſtadt. Dieſe
Kloͤſter muͤſſen ihre Zoͤglinge aus andern katholi-
chen Laͤndern gleichſam erſchleichen; und Hr. Pa-
ter Le Fevre wuͤrde, als ein ſchon zugeſtuzter,
formeller Moͤnch, auch ohne Heller und Pfennig,
gleich jedem andern erſchlichnen oder erheuchel-
ten Kandidaten, ſehr willkommen ſeyn: und doch
bleibt Hr. Pater Le Fevre zu Halle — in der
lieben Freyheit! — Es iſt doch immer wahr,
daß eben diejenigen, welche Andern unertraͤgliche
Laſten aufbuͤrden, ſie gewoͤhnlich nicht einmal
gern mit einem Finger beruͤhren! —
Der vollſtaͤndige Titel der vorhin erwaͤhnten
Schrift heißt: „Anleitung zur Uebung in der
„franzoͤſiſchen Sprache, nach einem abgekuͤrzten
„allgemeinen Umfange alles Wiſſenswuͤrdigen be-
„arbeitet, und mit einem Wortregiſter herausge-
„geben von F. C. Laukhard.“ Sie erſchien dieß
Jahr zu Leipzig bey Hn. G. Fleiſcher, und
koſtet I Rthlr. Ich bearbeitete ſie als einen
[266[296]] Leitfaden fuͤr meine Schuͤler in Zwiſchenſtun-
den, und kann diejenigen von meinen Leſern,
welche Freunde alles Wiſſenswuͤrdigen und der
Franzoͤſiſchen Sprache ſind, nicht beſſer in den
Stand ſetzen, den Innhalt, die Form und den
Zweck dieſer Anleitung gehoͤrig zu ſchaͤtzen, als
durch die Winke dazu in der Vorrede zu dieſem
Werkchen.
„Ich habe, heißt es hier, ſeitdem ich mich
mit dem Unterrichte in der franzoͤſiſchen
Sprache abgebe, — und das iſt ſchon uͤber
vierzehn Jahre her — immer bemerkt, daß die
Fortſchritte der Lehrlinge allemal von der Me-
thode des Lehrers abhaͤngen, und daß das Buch,
welches bey den Anfaͤngern zum Grunde gleegt
wird, auf dieſe Fortſchritte großen Einfluß hat.
Ich laſſe jedem Buche dieſer Art ſein Verdienſt,
und weiß, daß einige, z. B. das Leſebuch des
Hn. Gedicke, die Anthologie des Hn. Em-
mert, und andere ihres Gleichen brauchbare
Aufſaͤtze enthalten, muß aber dennoch geſtehen,
daß ich kein Buch kenne, welches mir zu einem
vollſtaͤndigen Currikel des Franzoͤſiſchen
Sprach-Unterrichts hinlaͤnglich geſchienen haͤtte.
Um dieſem Mangel abzuhelfen — habe ich
von allen Dingen, welche die gemeinnuͤtzi-
gen, reellen Kenntniſſe der Menſchen ausmachen,
[297] das Noͤthigſte und Gemeinſte aus den beſten Buͤchern
planmaͤßig geſammelt und mit richtigen und eigent-
lichen Woͤrtern und Redensarten vorgetragen. —
Folglich findet man hier das Vornehmſte und
Bekannteſte aus der Aſtronomie, aus der phyſi-
kaliſchen und politiſchen Geographie, aus der
Naturgeſchichte der Pflanzen und der Thiere,
aus der ganzen Anthropologie, wie auch aus
allen Theilen der Wiſſenſchaften. Ich denke, je
gemeinnuͤtziger, zuſammenhaͤngender und inte-
reſſanter der Gegenſtand iſt, an dem man ſeine
Kraͤfte uͤbet, deſto ergiebiger iſt der Gewinn dar-
aus. Gilt dieß uͤberall, ſo gilt es bey dem
Sprachſtudium fuͤr junge Leute vorzuͤglich: und
darum bemuͤhte ich mich ihnen ein Werkchen zu lie-
fern, worinn das Intereſſe des Bezeichneten
oder der Sache das Intereſſe des Zeichens oder
der Sprache belebe.
Daß bey dieſer Anlage eine uͤberaus große
Menge Sachen, Woͤrter und Redensarten vor-
kommen muͤſſe, ſowohl fuͤr die Schule als fuͤr
das gemeine Leben, und daß eben dadurch
mein Buch geſchickt wird, den Verſtand und
das Gedaͤchtniß des Lehrlings mit Sach-
und Sprachkenntniß unvermerkt zu berei-
chern, iſt außer allem Zweifel. Ich glaube, auf
dieſe Weiſe den hauptſaͤchlichſten Vorrath des
[298] menſchlichen Wiſſens und der franzoͤſiſchen Spra-
che in dieſer Kuͤrze vorgelegt, und eben darum
keine unnuͤtze Arbeit unternommen zu haben. —
Daß der Lehrer, welcher mein Buch zum
Grunde ſeines Unterrichts legen will, die abgehan-
delten Materien, wenigſtens hiſtoriſch, ſelbſt
verſtehen muͤſſe, daruͤber iſt gar keine Frage. Er
braucht freilich kein ausgemachter Aſtronom, Phy-
ſiker, Hiſtoriker u. ſ. w. zu ſeyn: — das bin ich
ſelbſt nicht — aber er muß doch das Hauptſaͤchlich-
ſte aus der Aſtronomie, Geographie, Naturge-
ſchichte u. ſ. w. wiſſen; und wer das nicht weiß,
iſt ein Ignorant, der auch nicht einmal ein fran-
zoͤſiſcher Lehrmeiſter ſeyn kann. Denn es iſt nicht
genug, daß man etwan das Vornehmſte, oder
vielmehr das Groͤbſte aus der Grammatik mecha-
niſch wiſſe, und dann ein wenig von Wind und
Wetter plaudern koͤnne, um ſofort Sprachmei-
ſter mit Recht zu ſeyn. Es darf nichts vorkom-
men in einem Leſebuche, was der Lehrer ſeinen
Zoͤglingen n[icht] vollkommen deutlich machen koͤnne:
denn die Deutlichkeit machet erſt, daß man das
Vorgetragene — durch Huͤlfe der eingeſehenen uͤber-
einſtimmenden oder nicht uͤbereinſtimmenden Merk-
male, Begriffe und Urtheile — ſyſtematiſch
behalte; und was man auf dieſe Art nicht deutlich
einſieht oder nicht verſteht, das faßt das Gedaͤcht-
[299] niß nur muͤhſam, nur vereinzelt, und vergißt
es um ſo eher.
Wir ſprechen, wie wir denken und empfinden:
wer alſo Sprachmeiſter ſeyn will, muß, außer
den beſondern Sprachformeln, auch die
allgemeinen Denk- und Empfindungsfor-
meln kennen, folglich in der Logik und Pſycho-
logie zu Hauſe ſeyn. Dieß iſt nothwendig, um
ſich logiſch- und grammatikaliſch-richtig auszu-
druͤcken. Um ſich aber ohne dieß auch nuͤtzlich
und mit Intereſſe auszudruͤcken, und dadurch
ſeinen Zoͤglingen das Erlernen und das Angewoͤh-
nen eben jenes Ausdrucks in dieſer oder jener Spra-
che zu erleichtern, muß es ihm nie an Stoff feh-
len, ihre Aufmerkſamkeit angenehm und ohne
Ermuͤden zu feſſeln und zu unterhalten. Was
hieraus weiter folge, weiß jeder Leſer von Conſe-
quenz. *)
Ich weiß zwar recht gut, daß viele Sprach-
meiſter in dieſen Erforderniſſen, wie in allen
Kenntniſſen, erbaͤrmlich weit zuruͤck ſind: allein
da doch noch mancher Sprachmeiſter und Hausleh-
rer — von oͤffentlichen Schullehrern ſetze ich das
mit Recht ohne Unterſchied voraus — gute allge-
[300] meine Kenntniſſe des menſchlichen Wiſſens beſitzen
wird, ſo glaube ich, daß mein Werkchen ſich ge-
rade dadurch bey ihnen empfehlen muß, daß es ei-
ne Art von kleiner Encyklopaͤdie iſt, und daß
man es folglich zugleich als ein Mittel benutzen
kann, entweder ſeine Zoͤglinge auf die darin vor-
kommenden Kenntniſſe vorzubereiten, oder ſie
mit ihnen in einem ſummariſchen Zuſammenhange
zu wiederholen. Dadurch gewinnt man an
Sach- und Sprachkenntniß zugleich.
Von dem Schuͤler, welcher nach dieſer Anlei-
tung in der franzoͤſiſchen Sprache geuͤbt werden
ſoll, fodere ich blos, daß er die Grundſaͤtze der
Grammatik genau inne habe, d. i. daß er wiſſe zu
dekliniren und zu konjugiren, in und außer der
Reihe, nach allen Veraͤnderungen, und ohne ſich
zu beſinnen. Daß es hieran ſehr Vielen oft man-
gele, und dieß gerade aus Mangel an Uebung dar-
in, lehrt die leidige Erfahrung. Hat aber ein
Lehrer das Seine redlich geleiſtet, und durch fleißi-
ges Ueben in allen moͤglichen Veraͤnderungen
der Hauptwoͤrter, Beywoͤrter, Fuͤrwoͤrter und Zeit-
woͤrter die Zunge ſeines Schuͤlers an eine rich-
tige Ausſprache, und deſſen Verſtand an
eine ſchnelle und richtige Veraͤnderung
der vorgelegten Redensarten gewoͤhnt, —
wozu die Vorrede die Anweiſung enthaͤlt, in einer
[301] Stufenfolge vom Einzelnen zum Zuſammengeſez-
ten, vom Leichtern zum Schwerern — alsdann
wird er meine Schrift gewiß mit ſehr vielem Nu-
tzen brauchen koͤnnen. —
Freilich wird meine vorgeſchriebene Methode
manchem bequemen Herrn Sprachmeiſter ſchwer
und muͤ[h]ſam vorkommen: denn es iſt allemal leich-
ter, aus der Grammatik oder aus einem Leſebuche
ein Geſpraͤch oder ein Anekdoͤtchen zu uͤberſetzen,
und es bey dem Ueberſetzen bewenden zu laſſen,
als auf die von mir angegebne Art das Studium
der franzoͤſiſchen Sprache und der nuͤtzlichen Kennt-
niſſe zugleich zu erleichtern und zu foͤrdern. Aber
es koͤmmt hier nicht auf die Bequemlichkeit der Her-
ren Sprachmeiſter an, ſondern auf den Nutzen der
lernenden Jugend. Rechtſchaffne, getreue Lehrer
und Sprachmeiſter beſcheiden ſich deſſen ſelbſt ſehr
gern, und werden mir es Dank wiſſen, daß ich
ihnen Gelegenheit gebe, einer ganz unfehlbar nuͤtz-
lichen und dem Beduͤrfniß unſers Denkvermoͤgens
und deſſen Entwickelung natuͤrlich entſprechenden
Methode zu folgen. —
Das Werkchen iſt nicht ſehr groß, und kann
— auch mit langſamen Koͤpfen – binnen Jahres-
friſt ganz bequem durchgangen werden; und ſo
waͤre man im Stande, nach meiner Anleitung
in einem Jahre die ganze franzoͤſiſche Sprache zu
[302] erlernen, ſo daß man ſich uͤber alles in der Welt
Vorkommende hinlaͤnglich auszudruͤcken vermoͤgend
werde: und nach welchem aͤhnlichen Buche hat dieß
bis jezt geſchehen koͤnnen? Ueberdieß lernt der
Eleve hier nicht blos Sprache: er lernt in jedem
Penſum auch etwas nuͤtzliches und allgemein brauch-
bares. Es werden hier keine zweydeutigen Anek-
doten ausgekramt, keine abgerißnen Bruchſtuͤcke
aufgeſtellt, die den Flattergeiſt der Jugend noch
mehr zum Flattern verwoͤhnen; es wird keine fade
Moral oder Aſcetik geprediget — nein, es wer-
den lauter Sachen vorgetragen, welche in der Na-
tur, in dem Menſchen und in ſeinen Verhaͤltniſſen
wirklich, folglich wahr und gut enthalten ſind,
und dieß in einem planmaͤßigen Zuſammenhange,
ſo daß jeder Lehrer, welcher in der Sokratiſchen
Hebammenkunſt kein Fremdling iſt, hier den Weg
geebnet findet, die guten Eigenſchaften des Ob-
jektiven zum ſubjektiven Eigenthume ſeiner Zoͤg-
linge bald und mit Intereſſe umzuſchaffen.
— Wenigſtens ſieht hier jeder, was in der Welt
zu wiſſen nothwendig, nuͤtzlich und gut iſt:
die Elemente fuͤr das Studium ſeiner Lebenszeit
ſind vorgezeichnet; und wer hierin bewandert iſt,
er ſey Mann oder Weib, Juͤngling oder Maͤdchen,
wird gewiß ſelten in die Verlegenheit gerathen, ein-
zeln oder in Geſellſchaft, auf dem Felde oder zu
[303] Hauſe Langeweile zu fuͤhlen, oder von Dingen
ſprechen zu hoͤren, von denen er nichts wiſſe, und
dann auch nicht verleitet werden, ſich durch das
elende Behelf aller Kurzſichtigen oder Veraͤchtlichen
ſchadlos zu halten — durch Wetter-Diſkurſe oder
durch haͤmiſches Bekritteln Anderer. —
Was den Styl betrifft, ſo glaube ich, daß er
ſo iſt, wie er fuͤr Anfaͤnger ſeyn muß, plan
und deutlich, ohne Schmuck und ohne Blumen,
doch aber nicht poͤbelhaft oder unanſtaͤndig. Alle
Woͤrter, deren ich mich bedient habe, ſind aͤcht
franzoͤſiſch; aber unanſtaͤndige Redensarten, deren
man in den Grammatiken und anderwaͤrts ſo viele
findet, ſind durchaus verbannt worden. Meine
Eleven ſollen franzoͤſiſch ſprechen und ſchrei-
ben lernen, aber nicht franzoͤſiſch fluchen, oder
auf franzoͤſiſch Zoten reißen. Was in jeder Sprache
unanſtaͤndig iſt, meidet der Geſittete in jeder be-
ſondern.
Um dem Lehrer Gelegenheit zu ſchaffen, ſeinen
Schuͤler auf alle Regeln und deren Ausnahmen,
nach Grammatik und Syntax, merken zu machen,
ſo habe ich immer darauf geſehen, ſie nach der
moͤglichſten Anwendung durch alle Conſtruk-
tionsformen anzubringen, und bitte den Lehrer,
die beſſern von den gemeinen — jedesmal ſorgfaͤl-
tig unterſcheiden zu wollen. Wer nachher zur ed-
[304]lern Bildung des Styls ſchreiten will, dem ſtehen
die beſſern franzoͤſiſchen Klaſſiker zu Muſter —
Florian, Mably, Voltaire, Rouſſeau,
Diderot, Marmontel, Mercier und an-
dere.“ —
Der naͤhere Entwurf dieſer Anleitung iſt
folgender: I.Kap. Einleitung. 1 §. Von der
Welt uͤberhaupt. 2 §. Von dem Urheber der Welt,
oder von Gott. II.Kap. Vom geſtirnten Him-
mel. 1 §. Von den Himmelskoͤrpern uͤberhaupt.
2 §. Benennung der Himmelskoͤrper. 3 §. Er-
klaͤrung der aſtronomiſchen Kunſtwoͤrter. 4 §. Von
der Sonne. 5 §. Von dem Monde. 6 §. Von
den Planetenſyſtemen. 7 §. Von der Zeit und de-
ren Maaße. IIIKap. Von unſerer Erde. Erſter
Abſchnitt: Von der natuͤrlichen Erdbeſchreibung.
1 §. Von dem D[u]nſtkreiſe der Erde. 2 §. Von
den Lufterſcheinungen. 3 §. Von der Oberflaͤche
der Erde. 4 §. Von den Mineralien. 5 §. Von
dem Waſſer. 6 §. Von den irdiſchen Elementen.
Zweyter Abſchnitt: Von der politiſchen Erd-
beſchreibung. 1 §. Vom Paniglobium. 2 §. Von
Europa. 3 §. Von Aſien. 4 §. Von Afrika. 5 §.
Von Amerika. 6 §. Von den Inſeln und Auſtral-
Laͤndern. 7 §. Politiſche Beſchreibung von Europa.
8 §. Fortſetzung. 9 §. Von den europaͤiſchen Re-
ligionen. 10 §. Von Deutſchland u. ſ. w.
[305]
Auf eben dieſe Art handelt die Anleitung
im IV.Kap. von den Pflanzen uͤberhaupt, und
von den Baͤumen insbeſondere; von der Gaͤrtuerey,
von den Blumen, von den Kuͤchengewaͤchſen, von
dem Feldbau, von dem Obſte, von den Waͤldern;
dann im V.Kap. von den Thieren, von dem
Gewuͤrme, von den Inſekten, von den Amphibien,
von den Fiſchen, von den Voͤgeln, von den Saug-
thieren; ferner im VI.Kap. von dem Menſchen,
nach dem Aeußern und Innern, von dem ver-
ſchiednen Alter des Menſchen, und deſſen Stufen
und Beſchaffenheit; von der Seele des Menſchen,
deren Vermoͤgen und Unſterblichkeit; von der Nah-
rung, Kleidung und Wohnung des Menſchen; von
dem Hausgeraͤthe, von den Vergnuͤgungen, von der
haͤuslichen Geſellſchaft, vom Eheſtaude, von dem
Geſinde; von der buͤrgerlichen Geſellſchaft, vom
Handel und Gewerbe, vom Kriegsweſen, von den
vornehmſten Kuͤnſten und Handwerken; von den
Wiſſenſchaften, von der Religion, vom Aberglau-
ben u. ſ. w.
Dieſe abgekuͤrzte Ueberſicht eroͤffne ich hier dar-
um, damit man ſehe, daß mein Werkchen alles
Wiſſenswuͤrdige wirklich umfaßt, und daß es
folglich keine Prahlerey ſey, wenn der Titel deſſel-
ben das angiebt. Dann moͤgte ich auch jeden
Viert. Th. 2te Abth. U
[306] Sprach-Lehrer und Lehrling in den Stand ſetzen, zum
voraus ſelbſt zu entſcheiden: ob er dieſe meine An-
leitung fuͤr ſich gut finde oder nicht, und im lez-
tern Falle ihn vor einer unnoͤthigen Ausgabe ſichern.
Ich meyne dieß in Ruͤckſicht auf die von meinen
Leſern, welche die gelehrten Zeitungen nicht leſen,
und denen alſo die Empfehlung dieſer Anleitung
von daher unbekannt geblieben iſt; oder wenn ſie
dieſelben leſen, doch aus vielfacher Erfahrung ge-
lernt haben, lieber mit eignen Augen zuzuſehen,
was an einem Buche, deſſen man bedarf, iſt, als
es geradezu auf die Empfehlung eines Recenſenten
anznſchaffen, und nachher ſein Geld zu bedauren.
Ich habe oben geſagt, eine ſchriftſtelleriſche
Angelegenheit habe mir es noͤthig gemacht, bey
Hn. Eberhard einzuſprechen. Die Bearbeitung
eben dieſer Anleitung war dieſe Angelegenheit.
Hr. Eberhard fand meinen Plan, wie er ſich
ausdruͤckte, ganz excellent, und ermunterte mich,
ihn ja auszufuͤhren. Seine weitere Lobeserhebung
will ich uͤbergehen, und ihm, wie dem Hn. Ober-
konſiſtorialrath Niemeyer und dem Hn. Bis-
pink fuͤr ihre Winke und Buͤcher noch danken, die
ſie die Guͤte gehabt haben, mir zur Bearbeitung
dieſer Schrift mitzutheilen.
[307]
Drey und ſechſigſtes Kapitel.
Noch von meiner Beſchaͤftigung. Naſeweiſerey.
Im Sommer 1796 baten mich einige Studenten,
ihnen den Kern der orthodoxen Lutheriſchen Dog-
matik vorzutragen. Ich bin immer der Meynung
geweſen, daß ein jedes Syſtem eines doppelten
Vortrags faͤhig ſey. Der eine iſt der kritiſche,
wobey man zeigt, wiefern ein Syſtem mit den
Grundwahrheiten der Vernunft uͤbereinkomme, oder
nicht, wiefern es daher wahr oder falſch ſey. Daß
eine Kritik aller Syſteme nicht allein moͤglich, ſon-
dern auch zur Befoͤrderung der richtigen Einſicht
und zur Verbeſſerung der Syſteme hoͤchſt nothwen-
dig ſey, iſt gewiß; aber aus mehrern Gruͤnden
konnte ich mich damit nicht befangen. Einmal
verſtehe ich von der kritiſchen Philoſophie ſelbſt noch
zu wenig, und fuͤrs andre wollten meine Herren
nicht Kritik der Religionstheorie, ſondern Kennt-
niß deſſen, was die ſymboliſchen Buͤcher der Lu-
theriſchen Kirche lehren, und wie dieſe Lehrſaͤtze
von den Theologen dieſer Kirche bewieſen und ver-
theidiget werden. Ich ſchlug alſo den hiſtori-
[308]ſchen Weg ein, und trug das Syſtem ſo vor,
wie es Baumgarten, Schubert, Benner
und andere nach Anweiſung der Symbole vorgetra-
gen haben. Dabey ſuchte ich mir ſelbſt einen hiſto-
riſch-deutlichen Begriff von den Dogmen zu bil-
den, damit ich nicht quid pro quo machen moͤgte,
wie noch vor kurzem ein gewiſſer Herr, welcher
den Glauben der kleinen Kinder darum verwarf,
weil die Kinder, die erſt gebohren waͤren, unmoͤg-
lich die Wahrheit erkennen, und ihr Beyfall geben
koͤnnten: was aber die orthodoxen Theologen auch
noch nirgends gelehrt haben. — Auf dieſe Weiſe
lernten meine Herren viel hiſtoriſche Theologie,
und lernten noch obendrein, ſie nach dem Zuſchnitt
der Theologen, theologiſch beweiſen.
Es kann ſeyn, daß der, welcher die Schriften
der Theologen durchgeht, um Wahrheit von Irr-
thum zu trennen, und das Syſtem aufs Reine zu
bringen, oder die verſchiedenen Vorſtellungsarten
der Menſchen uͤber uͤberſinnliche Dinge und deren
abſolute und relative Beſchaffenheit aufzufinden —
nicht ſelten Eckel empfinde: aber bey alle dem
muß man ſich gewiß uͤber den Fleiß, die Akkura-
teſſe und die Gelehrſamkeit der Theologen oft wun-
dern, womit ſie den alten Braſt der kirchlichen Be-
ſtimmungen ausgeſchmuͤckt, und ihn der Vernunft
allmaͤlig genaͤhert und dadurch annehmbar zu ma-
[309] chen geſucht haben. Der verſtorbene D.Schubert
ſcheint mir in dieſer Ruͤckſicht alle ſeine orthodoxen
Vorgaͤnger und Nachfolger uͤbertroffen zu haben.
Ein ſolcher Mann, der ſonſt gruͤndlich denken
konnte, haͤtte zur Berichtigung des Syſtems viel
leiſten koͤnnen, wenn er nur gewollt haͤtte. Das
Bahrdtiſche Buch, naͤmlich die 1769 bey Hein-
[ſ]ius herausgekommene, ſogenannte bibliſche
Dogmatik konnte ich am wenigſten benutzen.
Bahrdt dachte damals ſelbſt noch finſter, und,
was das ſchlimmſte war, er verſtand den Lutheri-
ſchen Lehrbegriff gar nicht. Semler pflegte die
hiſtoriſche Kenntniß der kirchlichen Dogmen recht
angelegentlich zu empfehlen, theils, um den Un-
grund und die Neuheit mancher Lehren einzuſehen,
theils, um dem Syſteme keine Schuld aufzubuͤrden,
die es nicht hat. Es iſt uͤberhaupt luſtig, anzu-
ſehen, wenn Mancher ſo in den Tag hineinſchwazt
ohne alle Kenntniß der Sache, wovon die Rede iſt,
und der Andere, eben ſo unwiſſend in der Sache,
den Apologeten machen will.
Eben dieſer Vortrag nach der Geſchichte der
kirchlichen Dogmen brachte mich auch auf den Ge-
danken, daß es wohl nicht unbillig ſey, daß man
eine allgemeine Beſtimmungsformel habe, nach
welcher ſich jeder oͤffentliche Lehrer der Kirche,
wie jeder Schriftſteller fuͤr den Volksunterricht,
[310] allerdings richten muͤſſe. Denn der Vortrag des
Religionsunterrichts darf nicht der Willkuͤhr oder,
wie Einige ſagen, der Einſicht eines Jeden uͤber-
laſſen werden. Die meiſten Herren haben gar we-
nig liberale Einſicht, und richten ſich blos nach
dem, was ſie gelernt, oder vielmehr, was ſie
obenhin im Collegium gehoͤrt, oder in einem leicht-
geſchriebnen Buche geleſen haben; und haͤngen da-
her eben ſo von Autoritaͤt ab, wie die dickſten Or-
thodoxen von den ſymboliſchen Buͤchern. Soll man
ſolchen unwiſſenden Menſchen, worunter ſehr viele
gewaltige Dummkoͤpfe, Heuchler oder Schurken
ſind *), es uͤberlaſſen, uͤber die Geſtalt der kirch-
lichen Dogmen und ihres Vortrags ſelbſt zu entſchei-
den? Dieſes wuͤrde ein ſehr buntſchaͤckiges Gewand
der Religionstheorie anzetteln, und am Ende Ver-
wirrungen und gaͤnzlichen Verfall der doch wirklich
nicht ganz ſchlechten Lehre der proteſtantiſchen
Kirche hervorbringen, und ſo dem alten Papſt-
thume, dem Aberglauben, und dem Sektengeiſte
die Thuͤre wieder oͤffnen.
Man beruft ſich, oder koͤnnte ſich wenigſtens
auf das Beyſpiel des Hn. Schulz, ehemals Pfar-
rers in Gielsdorf, berufen, welcher von allem
[311] kirchlichen Plunder abwich, alle ſogenannte Ortho-
doxien abwies, und doch in ſeinen drey Gemeinden
ſehr viel Nutzen ſtiftete. Aber, lieber Gott, wie
wenig Pfarrer ſind dieſem Manne aͤhnlich? Wie
wenig Theologen haben ſeine Klugheit, ſeine
Rechtſchaffenheit, um von ſeiner ausgebreiteten
Gelehrſamkeit nicht zu ſprechen? Wenn jeder Pre-
diger ein Schulz waͤre, ſo moͤgte immerhin jeder
Prediger fuͤr ſich ein Syſtem entwerfen, und ſei-
nen Untergebenen vortragen. Allein da das Ge-
gentheil ſo ſehr am Tage liegt, da das Studium
der wahren Litteratur, ich meyne der Sprachen,
der Geſchichte, und der Exegeſe, ſo ſehr vernach-
laͤſſiget wird, wozu der aufdunſende Duͤnkel ſchon
aus den Vorhallen der kritiſchen Philoſophie *)
das ſeine in vollem Maaße beytraͤgt, und da die
unwiſſende Frechheit im oberflaͤchlichen Urtheilen
[312] taͤglich zunimmt: ſo iſt es wohl nicht unrecht, daß
man den unreifen und voreiligen Leuten ein Formu-
lar an die Hand giebt, nach welchem ſie, bey ih-
ren oͤffentlichen Vortraͤgen, ſich richten muͤſſen.
Der Kluge und Einſichtige wird ſich dabey ohnehin
ſchadlos zu halten wiſſen. —
Da ich fand, daß die Art, die Dogmatik hi-
ſtoriſch vorzutragen, nicht uͤbel und beſonders fuͤr
Kandidaten, welche bald vor dem Conſiſtorim zum
Examen erſcheinen ſollen, ſehr vortheilhaft waͤre,
ſo a[r]be[i]te[te] ich das ganze aͤcht-orthodoxe Syſtem
der Lutheriſchen Lehre nach einer leichten natuͤrli-
chen Eintheilung, die den ſymboliſchen Buͤchern
genau entſpricht, in Fragen und Antworten aus, und
unterrichtete danach eine kleine Anzahl Studenten
— zur Probe. Den Winter vorher hatte ich, zu
eben dem Behufe, die Tabellen, welche Luͤdecke
nach BaumgartensTheſes entworfen hat,
zum Grunde gelegt. Ich theilte Einiges von mei-
nem Geſchriebnen einem beruͤhmten Theologen in
Halle mit, naͤhmlich dem Hn. D.Noͤſſelt, und
dieſer einſichtige Biedermann rieth mir, meine Ar-
beit ja zu vollenden, und ſie zum Beſten der ſtu-
dierenden Theologen und der Examinanden heraus-
zugeben.
Daß dieſe Arbeit wirklich gut ſey, und dem
Beduͤrfniſſe der meiſten jungen proteſtantiſchen
[313] Theologen entſpreche, vorzuͤglich als ein getreuer
Leitfaden fuͤr jene, welche erſt eine gedraͤngte, aber
vollſtaͤndige hiſtoriſche Ueberſicht von ihrem Kir-
chen-Syſteme erwerben wollen, ehe ſie es dog-
matiſch treiben, oder kritiſch pruͤfen, das habe ich
dieſen Sommer abermals erfahren, und habe nach
dieſer Erfahrung neuerdings die Probe gemacht,
daß vier Monate ſchon hinreichen, einem Stu-
dierenden die ganze Dogmatik ſo beyzubringen,
daß er ſie nach ihren Haupt- und Nebenſtuͤcken
vollkommen kennen lerne, und durch die lateini-
ſche Frag- und Antworts-Uebung obendrein die
Fertigkeit erwerbe, ſich dereinſt im Examen auch
lateiteiniſch daruͤber auszudruͤcken. *)
Es haben ſich zu dieſem Vortrage auf den Win-
ter ſchon mehrere Herren bey mir angegeben, und
ich werde forthin nicht ermangeln, ihnen nach
meinen Kraͤften ſo zu dienen, daß ſie keine Urſa-
che finden ſollen, ſich unzufrieden von mir zu ent-
fernen. Freilich denke ich ſelbſt, in kritiſcher
Ruͤckſicht der Lehren, was ich nach Gruͤnden, als
ehrlicher Mann, nur kann: aber ich weiß doch auch,
[314] daß der Vortrag ſolcher Dinge, die man ſelbſt
nicht fuͤr wahr haͤlt, ſich ſo einrichten laͤßt, daß
man Nutzen und Vergnuͤgen davon haben kann.
Livius, Bayle und Fleury — ſo tief unter
ihnen ich auch ſtehe — referirten Manches recht
huͤbſch und lehrreich, wenn ſie gleich fuͤr ſich es
nicht glaubten. —
Zu dieſem Behufe werde ich auch mein Lehr-
buch, ſobald die Herbſtmeſſe vorbey iſt, anfangen
herauszugeben. Der Titel wird ſeyn: Inſtitu-
tiones Theologiae dogmaticae, ad normam libro-
rum eccleſiae Lutheranae Symbolicorum, forma
examinis univerſum religionis chriſtianae theoriae
ambitum complexae. Accedunt ſingulis articulis
dicta probantia potiora, hebraea et graeca, gram-
matice et exegetice illuſtrata, ut et notationes
diſſenſionum eccleſiae Evangelico-reformatae.
Dieß lezte Stuͤck koͤmmt darum hinzu, da-
mit auch reformirte Kandidaten und Theolo-
gen mein Buch benutzen koͤnnen, um ihre refor-
mirt-orthodoxe Theologie daraus zu erlernen.
Die reformirte Kirche hat, wie bekannt iſt, kei-
ne eigentlichen ſymboliſchen Buͤcher; und ſo bin
ich, bey der Aufſuchung der Unterſcheidungsleh-
ren beyder Kirchen, einigen beruͤhmten reformir-
ten Theologen, namentlich dem Vitringa, Sta-
pfer, Wyttenbach und vorzuͤglich dem Mur-
[315]ſinna gefolgt, jedoch mit beſtaͤndiger Ruͤckſicht
auf den Heidelberger Katechismus.
Es kann ſeyn, daß entweder Hr. Bispink,
oder ich uͤber kurz oder lang einen Leitfaden fol-
gen laſſe, wonach man das kritiſch pruͤfen
koͤnne, was der angegebne Leitfaden hiſtoriſch
liefern wird. Dieſer ſoll erſt den ſogenannten Statum
quaeſtionis hiſtoriſch feſtſetzen, und jener deſſen Inn-
halt kritiſch pruͤfen und entſcheiden. Dadurch erhaͤlt
Autoritaͤt und Vernunft, Glauben und Wiſſen,
Blind-folgen und Selbſt-waͤhlen — ſeine be-
ſtimmte Graͤnzen, und dabey muß aͤchte Religioͤ-
ſitaͤt gewinnen, wie aͤchte Moralitaͤt. Daß es an
den beſſern Wegweiſern aus der neuern kritiſch-
philoſophiſchen und theologiſchen Litteratur hiebey
nicht fehlen werde, giebt die Natur der Sache.
Da der dritte Band meiner Biographie erſchien,
machte die Freymuͤthigkeit, mit welcher alles er-
zaͤhlt iſt, hie und da einige Senſation; und da
die Leute gern das weisſagen, was ihnen gefallen
wuͤrde, wenn es geſchaͤhe: ſo weisſagte man auch
zu Halle in einer gewiſſen Geſellſchaft, welche ſich
der Thalia widmet — nicht jener Vertrauten des
Menanders, Ariſtophanes' und Teren-
tius — ſondern Pluͤmekes Thalia, indem man
die guten Theaterſtuͤcke erſt jaͤmmerlich verhunzen
muß, ehe man ſie ob der großen Armſeligkeit des
[316] Theaters und der Schauſpieler auffuͤhren kann —
alſo in der theatraliſchen Geſellſchaft zu Halle,
gemeiniglich Mummerey genannt, nach Ma-
dam Mumme, weisſagte man, daß ich zur Ver-
antwortung gezogen, und wahrſcheinlich auf den
Bau wuͤrde gebracht werden. Man wollte dieſes
von Berlin aus erfahren haben, und dachte
vielleicht, ich wuͤrde mich ſofort aus dem Staube
machen.
Ich weiß zwar, wie leicht es iſt, einen unbe-
waͤhrten Menſchen hinzuwerfen, der ſo wenig An-
hang hat, als ich; aber da alle meine Nachrichten
oͤffentliche Begebenheiten, oder oͤffentliche
Verhandlungen betreffen, die man in Frank-
reich, England, und ſelbſt in Deutſchland
weit freymuͤthiger, als ich, referirt und ventilirt
hat: ſo lachte ich uͤber die laͤppiſche Nachricht, wie
uͤber die unreine Quelle, woraus ſie gefloſſen war.
Auf dem goldnen Loͤwen paſſirte mein Buch
auch die Kritik, und ein gewiſſer Wucherjude aͤuſ-
ſerte dabey: Nau, Gott behuͤt: dafuͤr haͤtt' der
Menſch den Bau auf Lebtag verdient! Dieſem Ju-
den muß ich aber nur ſagen, daß er fuͤr ſeine Wu-
cherey u. dgl. laͤngſt den Bau auf Lebtag, wo nicht
gar noch etwas Aergeres verdient haͤtte: und daß
dieſes wahr ſey, bezeugen nicht nur Hallenſer, ſon-
dern auch Fremde.
[317]
Ein hieſiger Profeſſor, der eben deswegen,
weil er nur um die Welt gefahren iſt, mit
der Welt ſelbſt wenig bekannt werden konnte,
kam vor kurzem in einen Buchladen, ſah da meine
Geſchichte, und fragte, was der Quark da koſte?
Man ſagte ihm den Preis, und er ſchrie, nach ei-
nigen ha, ha! mit bruͤllender Stimme auf: „Ey,
Schwerenoth, ſo viel iſt ja der ganze Kerl nicht
werth!“ — Der Ehrenmann kennt den Werth des
Menſchen ſchlecht. Der Menſch iſt gerade ſo viel
werth, als er Nutzen ſtiftet: nicht mehr und nicht
weniger. Denn die bloße Faͤhigkeit, nuͤtzlich zu
ſeyn, oder Anſehn, Gewalt, Reichthum, Wiſſen-
ſchaften, Kuͤnſte, Talente, Anlagen u. ſ. w. ge-
ben noch keinen Werth. Wenn nun der Herr Na-
ſeweis den wenigen Nutzen, welchen er ſelbſt ſtif-
tet, mit der Belohnung, die ihm dafuͤr wird, zu-
ſammenhaͤlt: ſo muß er gewiß einſehen, daß auch
Er, oder nach ſeinem Ausdruck, der ganze Kerl,
der in ihm ſteckt, lange nicht achthundert Thaler
jaͤhrlich werth iſt. Ich ſchreibe mir gerne keinen
Werth zu, aber das thut auch keiner: denn Nie-
mand belohnt mich uͤber mein Verdienſt. Was
Freunde an mir thun und gethan haben, gehoͤrt
hieher nicht. Werth giebt ein Recht zu fodern;
und in der Freundſchaft kennt man das Wort,
Recht, wenig oder gar nicht.
[318]
Ein Offizier des Halliſchen Regiments ſtellte
mich zur Rede wegen einer Nachricht im III. B.
die er auf ſich gezogen hatte. Er geſtand ganz
treuherzig, daß jederman ſie auf ihn deute, und
daß er ſelbſt ſie nicht anders deuten koͤnne. Dabey
war er aber ſo unklug, daß er ausſprengte, er
wuͤrde mich deshalb verklagen, und wenn er fuͤr
ſeine hohe Ehre nicht hinlaͤngliche Genug-
thuung erhielte, ſo wuͤrde er mich derbe durchhauen,
und dieß auf oͤffentlicher Straße.
Die Klage ſollte durch den General Ruͤchel
betrieben werden, wie mir ein anderer Offizier wei-
ter ſagte: denn dieſer General hatte unſern Held
zu dem Orden fuͤr das Verdienſt verholfen. Aber
Hr. von Ruͤchel hat entweder nichts erfahren,
oder er hat die Sache weislich ignorirt, da er ſelbſt
nur zu gut wiſſen muß, daß bey Mainz und
ſonſtwo manches ſehr anomaliſch zuging. Aus
dem Durchhauen iſt gleichfalls nichts geworden;
und ob ich gleich wußte, daß man Drohungen die-
ſer Art eben nicht ſehr zu fuͤrchten habe, ſo verſah
ich mich doch des Abends, wenn ich ausging, eine
Zeitlang mit einem derben Ziegenhainer, das heißt,
mit einem Dornknuͤttel, um im Fall der Noth auf
Repreſſalien gefaßt zu ſeyn.
[319]
Vier und ſechſigſtes Kapitel.
Sturm und Drang; dann heitere Ausſicht.
Die fehlgeſchlagene Hoffnung, durch den Bey-
ſtand des Kronprinzen in eine leidliche und ru-
hige Lage verſezt zu werden, konnte — ich muß
das um der Hallenſer und meiner pſychologiſchen
Leſer willen wiederholen — nicht anders, als ſehr
boͤſe, feindſelige Empfindungen in mir hervorbrin-
gen; und die Folge dieſer Empfindungen konnte
auch nur Unregelmaͤßigkeit in der Lebensart, und
haͤufige Vernachlaͤßigung deſſen ſeyn, was ich haͤt-
te thun ſollen, und was ich wirklich wuͤrde gethan
haben, wenn ich mit mir ſelbſt einiger geweſen
waͤre. Ich glaube, meine Leſer vermuthen dieſes
von ſelbſt, beſonders, wenn ſie ſich erinnern, mit
welchen Unordnungen, Verzerrungen, Strapatzen,
und andern Ebentheuern ich von meiner fruͤhern Ju-
gend an zu kaͤmpfen gehabt habe. Der Rath mei-
ner Freunde, beſonders des rechtſchaffnen Bis-
pinks, war, wie man geſehn hat, freilich im-
mer gut, wuͤrde mir auch, bey allem Auſſen-
bleiben der verheißenen hoͤhern Unterſtuͤtzung, und
[320] bey allen Neckereyen haͤmiſcher Menſchen — ſehr
heilſam geweſen ſeyn, wenn ich ihn nur haͤtte befol-
gen koͤnnen. Aber es ſteht nicht immer in unſe-
rer Gewalt, das jedesmal zu thun, was wir als
gut erkennen, ja, wir ſind oft in dem Fall, wo
wir das anerkannte Gute nicht einmal wollen
koͤnnen. Auch zum Gutes Wollen gehoͤrt eine ge-
wiſſe Fertigkeit; und daß der Zuſtand des Empfin-
dens den Zuſtand des Denkens, ohne welches man
das Gute nicht wollen kann, hindere oder hebe,
hat Hr. Eberhard in ſeiner Theorie des Empfin-
dens und Denkens ſehr gut bewieſen. —
Meine Plane ſind von jeher alle geſcheitert, die
ich von jeher gemacht habe. Theils hatte ich ſelbſt
ſie zertruͤmmert, theils Andere; und nicht ſelten
war das Ding, das ich ausfuͤhren wollte, an ſich
unmoͤglich. Es zeigte ſich zwar dann und wann
von weitem ein Mittel, meine Lage zu verbeſſern,
aber jedesmal fanden ſich ſo viele Schwierigkeiten
dabey ein, daß ich es gern fahren ließ, und nicht
weiter daran dachte. Indeſſen verbitterten ſolche
Faͤlle allemal meine Tage und verkuͤmmerten mein
Daſeyn, und machten aus mir einen Sonderling
von meiſt eigner Art.
Seitdem ich wieder nach Halle gekommen
war, hatte ich, wie ich erzaͤhlt habe, ſchon mehr
als zehnmal den Vorſatz gefaßt, wieder wegzu-
[321] gehen, und bald da, bald dort mein Fortkommen
zu ſuchen: aber allemal war es mir unmoͤglich,
einen Ort zu verlaſſen, wo ich noch viele Pflich-
ten zu erfuͤllen hatte.
Ich verſtehe hier gewiſſe Pflichten gegen mei-
ne redlichen Freunde, welche ich aber durch mei-
nen verzoͤgerten Abgang von Halle doch nicht
nur nicht erfuͤllte, ſondern ſogar noch mehrte.
Indeſſen muß ich den guten Willen und die red-
liche Geſinnung meiner Freunde dankbar ruͤh-
men, wenn ſie gleich ihren Rath mir nur nach
ihren Gedanken gaben, da ſie das, was in
mir vorging, weder fuͤhlen noch verſtehen
konnten, und da ich ſelbſt, aus Mangel an dem
tertium comparationis, ihnen keinen Begriff da-
von machen konnte.
Meine Empfindung mahlte mir meine
damalige Lage ganz anders vor, als ſie nach
ihren Gedanken ſie fanden; und darum ver-
zeihen ſie mir mein laͤſtiges Widerkaͤuen gewiß
gern, vorzuͤglich Hr. Bispink. Sie hatten,
wie ich jezt einſehe, vollkommen recht; aber der
Sturm in mir ließ mich damals das nicht er-
kennen. Wohl mir, wohl jedem, der bey Unge-
wittern von der Art Freunde zur Stuͤtze hat,
deren unbefangene, kalte Vernunft den Able[iter]
Viert. Th. 2te Abth. X
[322] fuͤr eine elektriſche Empfindungs-Wolke abgiebt.
Meine Freunde konnten damals mit Martialis
ganz treffend von mir ſagen:
Difficilis facilis, jucundus acerbus es idem:
Non poſſum tecum vivere, nec ſine te.
Den Winter von 96-97 habe ich auf eine hoͤchſt
ſeltſame Art zugebracht, und haͤtte die Stuben-
miethe erſparen koͤnnen, da ich auch nicht einen
einzigen Tag mich zu Hauſe aufgehalten habe.
Durch die Sorge meiner Hausleute kam es bald
unter die Leute, daß ich kein Holz haͤtte, folglich
— wie ſie folgerten — nicht zu Hauſe bleiben
koͤnnte. Das erſte iſt zwar an dem, aber dem
Holz-Mangel haͤtte koͤnnen abgeholfen werden,
ſobald ich nur gewollt haͤtte; ich hatte aber keine
Luſt, in den traurigen Wintertagen, mit einem
wuͤhlenden Truͤbſinn, in einer Stube allein zu
ſeyn, wo es ſpaͤte Tag, und fruͤh Nacht wird. Ich
hielt alſo meine Stunden, wie es gehen wollte, und
brachte alle uͤbrige Zeit, gleich einem privilegiirten
Tagedieb, und wohl nicht ohne uͤberlaͤſtig zu wer-
den, bey Bekannten, Studenten, oder in einem
Bierhauſe zu. Da ich aber einmal ein geſelliges
Thier bin, vornehmere Cirkel mir aber verſperrt
und laͤſtig ſind, meine Stube mir auch zu einſam
und zu truͤbe war: ſo fand ich mich genoͤthiget,
[323] Geſellſchaft da zu ſuchen, wo man ſie ohne Muͤhe
haben kann.
Auf dem Rathskeller zu Halle iſt unten im
Keller ein Zimmer, worinn ſich lauter bejahrte
Maͤnner verſammeln, und dort ihre Converſation
bey einem Glaſe Breyhan halten. In dieſer Ge-
ſellſchaft, ſo fade ſie auch iſt, habe ich alle Win-
terabende dieſes Jahres zugebracht, ſo recht nach
dem nil profutura tempora perdimus und da ich
einmal an dieſelbe gewoͤhnt war, ſo war mir jedes-
mal die Zeit lang, bis es Abend wurde, und ich
hin konnte.
Meinen Leſern liegt gewiß nichts daran, die
Perſonen kennen zu lernen, welche dieſen Klub
ausmachten; ich will ſie daher mit einer Karakter-
zeichnung verſchonen. Mir waren aber Einige
ſehr zum Zeitvertreib, und der unverdaute, allezeit
uͤbel angebrachte Witz des Wirthes Muͤller, die
Poſſen des Aufwaͤrters Petri, der ſchale Duͤnkel
des Schuſters Michaelis, der, weil er auf ei-
ner Stube unter dem Rathhauſe ſizen darf, Herr
Aſſeſſor heißen will, die Pralereyen eines Spielers
von Profeſſion, Namens Oberndorf, dem zur
regelmaͤßigen Uebung dieſer Kunſt weiter nichts
fehlt, als Geld, das hernhutiſche Geſchwaͤtz eines
gewiſſen Strumpfwirkers und andre dergleichen
[324] Dinge haben mich immer nach ihrer Art intereſſirt.
Doch was kuͤmmert dieß Andere!
Dieſes Fruͤhjahr erhielt ich einen Brief vom
Hrn. Hofprediger Heſſe zu Bentheim, worin er
mich zu ſich einlud, und mir ſein Haus zum
Aufenthalte anbot. Ich theilte dieſen Vorſchlag,
den ich beym erſten Anblick mit beyden Haͤnden
ergreifen wollte, meinen Freunden mit; aber die
fanden ſo viel Bedenklichkeit, daß es mir Angſt
und bange wurde, wenn ich an die Ausfuͤhrung
nur denken wollte. Ich gab ihn alſo auf, und
habe dem Hrn. Heſſe nicht einmal antworten
koͤnnen, weil ich wirklich nicht wußte, was ich
ihm, ohne mich ſelbſt zu beſchimpfen, ſchreiben
ſollte. Sollte er aber dieſes leſen, ſo mag er
ſich uͤberzeugen, daß ich ihn noch immer ſchaͤtze,
und ihm fuͤr ſeinen guten Willen aufrichtig danke.
Meine Freunde, beſonders der brave Bis-
pink, ſagten mir beſtaͤndig: non locus, ſed
animus mutandus eſt, oder Coelum, non animum
mutant qui trans mare currunt, und ich haͤtte
in mir ſelbſt Kraft genug, mich auch ohne alle
fremde Huͤlfe fortzubringen, vorzuͤglich in Hal-
le, wenn ich es nur recht anfangen wollte. Da
ich dieſes ſo oft hoͤren mußte und dem Hn.
Bispink in ſeiner Darſtellung der Moͤglichkeit
nicht widerſprechen konnte: ſo entſchloß ich mich
[325] in vollem Ernſte, in Zukunft ſo zu leben und
ſo zu arbeiten, wie es meine allmaͤlig wieder
beruhigte Lage und meine Kraͤfte erlauben wuͤrden.
Ich muß auch geſtehen, daß meine Lebensart, we-
nigſtens ſeit Oſtern, wieder weit regelmaͤßiger und
mein Fleiß im Lektionen-Geben wieder weit groͤßer
und ordentlicher geweſen iſt, als ſonſt, und daß ich
folglich auch wieder ruhiger lebe, als ſonſt.
Da ich einſehe, daß bey einer unbeſtimmten,
ſchwankenden Lebensart auch der Charakter deſſen,
der dieſe Lebensart fuͤhrt, unbeſtimmt und ſchwan-
kend bleibt; ich aber des Einen wie des Andern
laͤngſt uͤberdruͤſſig bin: ſo machte ich endlich ei-
nen Plan, mich zu fixiren, und dadurch fuͤr
meine kuͤnftige beſſere Subſiſtenz zugleich mit
zu ſorgen. Ich ließ mir naͤmlich beygehen, ein
Weib zu nehmen, und kalkulirte im voraus aus,
daß ich dabey beſſer fahren wuͤrde, als bey
meiner jetzigen iſolirten Lebensart. Ich fand,
daß ich von dem, was ich verdiene, allerdings
ſo gut mit einem Weibe leben koͤnnte als man-
cher Paruͤckenmacher, Schneider, Schuſter, der
nicht einmal ſo viel verdient, als ich, zumal
da ich auf die richtige, obgleich nicht allezeit prom-
te Zahlung meiner Scholaren rechnen kann. Denn
zur Ehre der halliſchen Studenten muß ich hier be-
kennen, daß ich von ihnen ſehr ſelten bin geprellt
[326] worden. Es ſcheint auch, daß einen Solchen zu
prellen, von dem man Unterricht annimmt, ge-
gen die Natur der Prellerey ſtreite. Einen Pferde-
verleiher, einen Schenkwirth und ihres Gleichen
prellt der Student gern, weil er ſich hintendrein
aͤrgert, die Dienſte ſolcher Leute zu ſeinem Nach-
theil, gebraucht zu haben, ob ich gleich auch nicht
leugnen kann, daß aus manchem falſchen Urtheil
die Prellerey oft Solche betrifft, welche dieſe un-
wuͤrdige Behandlung am wenigſten verdienen z. B.
die Profeſſoren und die Unterhalter nuͤtzlicher Leſe-
Inſtitute, die Speiſewirthe u. d. gl. Man ſoll
zwar nichts Boͤſes wuͤnſchen, damit Gutes daraus
entſtehe; aber es waͤre wirklich nicht uͤbel, wenn
Pferdeverleiher, Billardeurs, Deſtillateurs *), Obſt-
gevatterinnen, Kuchen-Profeſſors u. d. gl. ſo ge-
prellt wuͤrden, daß ihnen aller Luſten verginge,
mit ihren Anſtalten der Univerſitaͤt weiter zu ſcha-
den, und die Beutel der Studenten durch unnuͤtze
Ausgaben ſo zu erſchoͤpfen, daß ſie hernach außer
Stand ſind, ihre Schulden fuͤr nothwendige Be-
duͤrfniſſe andern redlichen Buͤrgern abzutragen.
Dieſen Misbrauch koͤnnte eine beſſere akademiſche
Polizey freilich ſehr einſchraͤnken, da aber die aka-
[327] demiſche Polizey auf keiner einzigen deutſchen pro-
teſtantiſchen Univerſitaͤt viel taugt, indem vielen
Herren ſelbſt daran gelegen iſt, daß ſie bleibe,
wie ſie iſt, elend: ſo wird das Unweſen ſich eher
mehren als mindern. Die[ß] im Vorbeygehen.
Ich glaubte alſo, ich wuͤrde wohl thun, wenn
ich ein Weib naͤhme. Daß dieſe von niederm Stan-
de ſeyn ſollte, verſteht ſich von ſelbſt: denn eine
Mamſell oder Madam, ich meine ein Frauen-
zimmer mit einem Feder-Huth und Schleppe-
Kleid, wuͤrde allerdings drey † † † vor mir ge-
macht haben, und ich wuͤrde gleichfalls vor jeder
Madam oder Mamſell drey Kreuze machen: denn
ſo ein Weſen nur im baulichen Zuſtand zu erhalten,
koſtet mehr, als ich mir ſchmeicheln kann, jemals
zu verdienen. Zwey neue Beyſpiele in Halle ha-
ben mich auch belehrt, daß es nichts traurigers
geben koͤnne, als ein Leben ohne Geld mit einem
Weibe von Putz und hohem Ton.
Da ich dachte, daß ich mein Projekt wuͤrde
realiſiren koͤnnen, ſo fing ich im Ernſte an, mit
einem Maͤdchen ſo hin und her zu ſprechen, das
mir gefallen hatte. Wenn ich dieß ſage, ſo moͤ-
gen meine Leſer nicht denken, daß ich verliebt ge-
worden ſey, wie ehemals in meine mir noch immer
theure Thereſe. Das war mein Fall nicht, und
wer ſo viele Kreuz- und Queerzuͤge erlitten hat, als
[328] ich, kann in dieſen Fall auch nicht mehr kommen.
Ich will nur ſo viel ſagen, daß ich an dem Maͤd-
chen mein Behagen fand, daß mir ihr ganzes We-
ſen gefiel, und daß ich ſie beſonders wegen ihres
Fleißes, ihrer Eingezogenheit und ihrer witzigen
Einfaͤlle gut leiden konnte. Ihre Erziehung ging
uͤber ihren Stand; und da ſie nicht in Halle er-
wachſen iſt, ſo hat ſie auch jene Fehler nicht, wo-
mit die Maͤdchen von Halle meiſt alle belaſtet ſind.
Hannchen — ſo heißt das Maͤdchen — er-
zaͤhlte bald ihrer Mutter, was ich ihr ſo dann und
wann zu ſagen pflegte, und dieſe ſtellte mich ſofort
zu Rede. Ich ſollte, ſagte ſie, meine Abſicht auf
ihre Tochter entweder entdecken, oder deren weitern
Umgang aufgeben. Ich entdeckte alſo meine Ab-
ſicht; wir ſchrieben alle an den Vater bey der De-
markationslinie der Preußen, und dieſer hatte wi-
der die Heurath nichts, alſo Mutter und Tochter
auch nicht.
Nun war ich zufrieden, betrug mich immer
mehr, wie ſichs gebuͤhrt, ſammelte mein Verdien-
tes, um mich nach und nach gehoͤrig einzurichten,
und nahm taͤglich, in Erwartung einer ruhigen
Zukunft, an Harmonie im Innern und Aeußern zu.
Ich beſprach dieſe Angelegenheit auch mit Hn.
Bispink, aber erſt, nachdem ich mit Hannchen
und deren Eltern aufs reine war. Er fand aller-
[329] dings manche Schwierigkeit, vorzuͤglich von mei-
ner Seite, war aber uͤbrigens in der Hauptſache
mit mir einig. Meine Leſer koͤnnen dieß aus dem
abnehmen, was er an meine Mutter daruͤber ge-
ſchrieben hat. „Sie, als Mutter, ſchrieb er,
haben natuͤrlich das groͤßte Intereſſe an dem Wohl-
ergehen Ihrer Kinder: Sie freuen Sich alſo gewiß,
wenn ich Sie verſichere, daß Ihr Sohn, der Ma-
giſter, ſeine haͤßliche Leidenſchaft des Trunkes jezt
ſo bezaͤhmt hat, daß er ſchon uͤber ein Vierteljahr,
ſoviel ich weiß, ſich ganz nuͤchtern und ordentlich
betraͤgt. Dabey hat er ſeine angemeßne Beſchaͤf-
tigung, und durch dieſe ſein Brod und ſonſtiges
Auskommen. Ich wuͤnſche nichts ſehnlicher, als
daß er bey dieſer ruhigen Lebensart forthin immer
bleiben moͤge. Ich fuͤr mein Theil laſſe es an
freundſchaftlichen Winken und Erinnerungen hiezu
nicht fehlen, und ich kann Sie zu Ihrer und mei-
ner Beruhigung verſichern, daß er jezt ſelbſt ein-
ſieht: daß ein unſtaͤtes, renommiſtiſches Leben am
Ende ein elendes Leben iſt, und daß er eben darum
nichts ernſtlicher wuͤnſchet, als ſich jezt ſo zu ſetzen,
daß er ſeine noch uͤbrigen Tage in Ruhe und Ge-
ſundheit verleben koͤnne. Um aber dieſes in gehoͤ-
riger Ordnung zu koͤnnen, wiſſen Sie, iſt eine ge-
wiſſe, feſte haͤusliche Einrichtung noͤthig, wozu
ich vorzuͤglich das rechne, was einen zu Hauſe ſo
[330] unterhaͤlt und feſſelt, daß man ſeine Unterhaltung
nicht mehr leidenſchaftlich draußen ſucht: und dieß
iſt eine vernuͤnftige Frau. Ihr Sohn glaubt hier
in Halle ein Maͤdchen gefunden zu haben, von der
er ſich alles das verſpricht, was ein Mann von ei-
ner Frau erwarten kann, um deren willen er ſichs
ſauer werden laͤßt, um ſie neben ſich gehoͤrig zu er-
naͤhren. Bey d[i]eſer Wahl hat er freilich einzig
das Recht, entſcheidend zu waͤhlen; und Sie und
ich haben nur die Pflicht, mit Rath und That ihm
hierin zur Hand zu gehen, um ihn endlich zu einer
Lage zu verhelfen, die ich fuͤr ein heilſames Mittel
halte, ihn in ſeinen guten Vorſaͤtzen und bey einer
Lebensart, die dieſen entſpricht, durch den Genuß
des ſuͤßen haͤuslichen Lebens feſt zu beſtaͤrken. Ich
fuͤr mein Theil will und werde hiebey gewiß alles
thun, was und wie meine eigene Lage es zulaͤßt,
und ich ſchmeichle mir mit der Hoffnung, daß Sie,
als Mutter, das Ihrige auch leiſten werden, um
endlich einmal Ihren Sohn ordentlich eingerichtet
zu wiſſen.... Ich rechne es mir zur ſuͤßen
Pflicht, einer guten Mutter in ihrem Alter noch
den Troſt verſchaffen zu helfen, den die verbeſſerte
Lebensart eines ſonſt verirrten Kindes gewaͤhrt.“ —
[331]
Fuͤnf und ſechſigſtes Kapitel.
Schlittenfahrt. Duellgeſchichten. Unſterblichkeit der Seele u. ſ. w.
Da mein Buch außer meinen Begebenheiten eine
Menge von Hiſtoͤrchen enthaͤlt, welche Andre an-
gehen, die ich aber als Augenzeuge wahrnahm:
ſo moͤgen hier noch einige Erzaͤhlungen Platz finden,
die vielleicht dem Leſer die Zeit theils unterhaltend,
theils nuͤtzlich verkuͤrzen werden.
Die erſte Anekdote betrifft eine laͤcherliche Be-
gebenheit. Die Studenten zu Halle hielten den
vergangenen Winter eine Schlittenfahrt, wobey
ſie in Masken erſchienen. Dieſe waren bey wei-
tem nicht ſo grell und auffallend, als jene zu mei-
ner Zeit in Gießen. Unter den mehrern Figuren
fand ſich eine mit einer Art von Stern auf der Bruſt.
Obgleich der Herr, welcher dieſen Stern getragen
hatte, hernach heilig verſicherte, daß er durch ſei-
nen Stern nichts weniger bezweckt haͤtte, als einen
Prinzen vorzuſtellen, am wenigſten den Prinzen
Wilhelm von Braunſchweig, welcher damals das
Halliſche Regiment, als Oberſter, kommandirte,
ſo ließ ſich dieſer doch einfallen, daß er eigentlich
[332] das Gegenbild der Mummerey ſeyn ſollte. Er ſezte
ſich demnach zu Pferde, nahm ein Piſtol zu ſich,
und ſuchte ſo ſein vermeyntes Gegenbild auf. Da
er aber alle Studenten fuͤr ſeine Beleidiger hielt,
ſo druͤckte er das Piſtol auf dem Markte gegen
einige an, die ihm gar nicht zu nahe gekommen
waren. Das Piſtol ſchoß nicht, weil es, wie man
geſagt hat, nicht geladen geweſen war. Einige
Soldaten von der Wache ſtuͤrmten, auf des Prin-
zen Wink, in die Studenten, welche auf dem
Markte ſchaarweiſe zuſammen gekommen waren,
und verwundeten einen derſelben, aber nur leicht.
Die Schlittenfahrt ging aus einander, und der
Prinz — nach ſeiner vergeblichen Expedition —
ritt in vollem Gallop nach Hauſe. Da aber die
Obrigkeit von einer Sache Notitz nehmen mußte,
welche großes Aufſehen gemacht hatte, ſo wurden
die Studenten, welche der Maskerade beyge-
wohnt hatten, geſtraft um Geld und mit Carcer;
die Soldaten aber, welche ſich an den Studenten
vergriffen hatten, liefen Gaſſen, und der Prinz
wechſelte ſein Standquartier, indem er nach Prenz-
lau als Oberſter verſezt wurde.
Seit dieſer Zeit iſt die Ruhe zwiſchen den Stu-
denten und dem Militaͤr wieder voͤllig hergeſtellt,
welche zu des Prinzen Zeit ganz dahin war: denn
Offizier und Soldat wußten, daß der Prinz die
[333] Studenten nicht leiden konnte, wegen gewiſſer Col-
liſionen: ſie verſaͤumten alſo keine Gelegenheit,
dieſe zu necken. Nachdem aber Hr. von Muͤff-
ling als Oberſter bey dem Regiment zu Halle
ſteht, deſſen unbiegſame Anhaͤnglichkeit an Ord-
nung und Liebe zur Diſciplin ſchon laͤngſt bekannt
ſind, hat niemand mehr das Herz gehabt, etwas
zu unternehmen, was die Univerſitaͤt beleidigen
koͤnnte. So iſt es auch recht! Leute, die zur
Diſciplin da ſind, wie Soldaten, muͤſſen niemals
mehr Freyheit haben, als die ſtrengſte Obſervanz
der Befehle ſie geſtattet: ſonſt misbrauchen ſie
gleich ihre Freyheit, werden wild, und ſchweifen
aus. Dieſes gilt ſowohl vom Offizier, als vom
Gemeinen, und oft mehr von jenem, als von
dieſem.
Eine andere Nachricht betrifft einen traurigen
Gegenſtand.
Schon im vorigen Jahre hatte ſich ein gewiſſer
Student, mit einem Schleſier, Namens Kiſten-
macher, geſchlagen, und dieſen ſo verwundet,
daß er nach einigen Tagen ſtarb. Weil aber Hr.
S — gewiſſe Herren zu Freunden und Verwandten
hatte, ſo machte man, um ſich ſeiner Perſon zu
verſichern, und ihn zu der geſezlichen Duell-Strafe
zu ziehen, nicht die Anſtalten, die man haͤtte ma-
chen koͤnnen und ſollen, ja, man gab ſogar zu,
[334] daß er zu Erlangen, wenns gleich auch zu den
preußiſchen Laͤndern gehoͤrt, ruhig fortſtudirte.
Bald wußte man das in Halle, und dieſer Um-
ſtand machte, wegen des aͤußerſt ſchlimmen Bey-
ſpiels, einen ſehr boͤſen Eindruck. Man fing ſo-
gar wirklich an zu glauben, die ſonſt ziemlich
ſcharfen Befehle gegen die Duelle waͤren nicht ernſt-
lich gemeynt, und es wuͤrde bald allgemein erlaubt
werden, ſich zu duelliren. Einige argumentirten
gar ſo, daß man vielleicht gern ſaͤhe, wenn die
deutſche, beſonders die preußiſche Nation ſich durch
Zweykaͤmpfe wieder kriegeriſcher machen wuͤrde.
Einige Herren hatten naͤmlich in einem hiſtoriſchen
Kollegium gehoͤrt, daß die Zweykaͤmpfe ehemals
zur deutſchen Tapferkeit ſehr viel beygetragen haͤt-
ten. Andere aber ſahen das Ding beſſer ein, und
fanden, daß ungerechte Partheilichkeit oder Un-
gleichheit vor dem Geſetze und Bemuͤhung, eine
angeſehene Familie nicht zu beleidigen, hier vor-
zuͤglich im Spiele war. Indeſſen war Kiſten-
macher einmal todt, und ſein Gegner befand ſich
ruhig zu Erlangen.
Im verwichenen Winter entſtand auf dem Tanz-
boden ein Zank zwiſchen zwey Studenten, worauf
denn auch ein Duell erfolgte, und in dieſem wurde
einer meiner guten Freunde, Hr. Kruͤger, ein
hoffnungsvoller, ſchoͤner junger Mann, ſo ver-
[335] wundet, daß auch er ſeinen Geiſt daruͤber aufgab.
Hr. Kruͤger wurde von jedem bedauret, der ihn
gekannt hatte, und man war vollkommen uͤber-
zeugt, daß er der Urheber des Handels, oder, wie
man im akademiſchen Gerichte ſagt, der auctor
rixae nicht geweſen ſey: denn er war nichts weni-
ger, als ein Zaͤnker.
Die Wundaͤrzte und andre Mediciner waren
anfangs alle der Meynung, daß die Wunde ge-
faͤhrlich ſey, ob ſie aber auch toͤdtlich waͤre, woll-
ten viele nicht geradehin entſcheiden. Indeſſen iſt
er einige Monate hernach geſtorben.
Da er gern Geſellſchaft um ſich hatte, ſo ließ
er mich auch einigemal bitten, zu ihm zu kommen,
und bey ihm zu wachen. Ich that das mit Freu-
den, ſo nahe es mir ſonſt auch ging, einen Menſchen
als Kandidaten des Todes da vor mir zu ſehen, den
ich geliebt und geſchaͤzt hatte.
Kruͤger wußte recht wohl, daß er bald ſter-
ben muͤßte, und ob er gleich noch gern laͤnger ge-
lebt haͤtte, wie jederman, ſo hat er ſich doch mit
Gruͤnden bekannt gemacht, welche ihm ſeinen Tod
erleichtern halfen. Ich will eines unſrer Geſpraͤche
hieher ſetzen: vielleicht koͤnnen die darin aufgeſtellten
Gruͤnde, ſo bekannt ſie ſonſt ſeyn moͤgen, einen guten
Nutzen haben: denn ſie koͤnnen vielleicht bey ir-
gend einem meiner Leſer die Furcht vor jenem
[336] ſchrecklichen Augenblick, den wir Tod nennen,
einigermaßen vermindern: Und das iſt viel: denn
Felix, qui — — — — — —
— — — inexorabile fatum
Subjecit pedibus, ſtrepitumque Acherontis avari.
Ich ſaß neben ſeinem Bette: da fragte er
mich:
Kruͤger: Glauben Sie nicht, lieber Lauk-
hard, daß, wer ſich ſo recht innig von der Unſterb-
lichkeit der Seele uͤberzeugt hat, ganz ruhig ſterben
koͤnne?
Ich: Weiß nicht recht! denn es ſcheint mir,
daß die Ueberzeugung von der Unſterblichkeit der
Seele, ſo wie die Theologen ſie behaupten, nur
auf Gruͤnden beruhe, die von einer Offenbarung,
einem goͤttlichen Gericht, Himmel, Hoͤlle und an-
dern ſolchen Dingen hergenommen ſind; daß alſo
der Menſch, der — theologiſch zu ſprechen —
unmoͤglich wiſſen kann, ob er in der andern Welt
im Himmel oder in der Hoͤlle fortdauern werde,
immer mit einer gewiſſen Furcht dieß Leben ver-
laſſen muͤſſe.
Kruͤger: Eben das iſt auch meine Meynung!
Aber was kuͤmmern uns die Theologen und ihre
Grillen! Ich habe, ſeitdem ich dem Tode ſo nahe
gekommen bin, uͤber Unſterblichkeit fleißig nach-
gedacht, aber fuͤr mich nichts gefunden, das ich
[337] zu meiner voͤlligen Troͤſtung brauchen koͤnnte. Ich
habe auch nicht Zeit, jezt Unterſuchungen uͤber
Sachen anzuſtellen, welche die groͤßten Philoſo-
phen nicht haben aufs reine bringen koͤnnen. Aber
ich habe das Gluͤck gehabt, mir gewiſſe Saͤtze tief
in die Seele einzupraͤgen, und dieſe machen mich
gegen den Tod ziemlich gleichguͤltig.
Ich: Laſſen Sie doch hoͤren!
Kruͤger: Einmal iſt der Tod kein Uebel. Es
iſt ein allgemeines Geſetz der Natur, daß Alles,
was das lebt, nur eine Zeitlang lebe, und dann
ſeine Exiſtenz, als lebendiges Weſen, verliere.
Der Zeitpunkt, worin dieß geſchieht, heißt der Tod.
Da aber in der ganzen Natur keine boͤſe Einrich-
tung moͤglich iſt, ſo iſt auch der Tod an ſich be-
trachtet, kein Uebel *). Mein Tod ruͤckte freilich
noch nicht heran, wenn die fatale Schlaͤgerey nicht
vorgefallen waͤre: das ſehe ich ein. Aber ich
troͤſte mich damit, daß wohl kein lebendiges Ding,
keine Pflanze, kein Thier, und noch weniger ein
Menſch ſeine Exiſtenz ſo lange fortſezt, als es
Viert. Th. 2te Abth. Y
[338] durch ſeine Kraͤfte moͤglich waͤre. Die Concurrenz
der aͤußern Dinge ſcheint dem Leben aller Sachen
Eintrag zu thun.
Zweytens iſt es doch gewiß, daß entweder meine
Seele noch nach dem Tode fortdauert oder nicht
fortdauert. Im lezten Fall werde ich nach dem
Tode nicht ungluͤcklich ſeyn: denn was iſt wohl ein
Ungluͤck fuͤr den, der nicht mehr iſt, das heißt,
der nicht mehr denkt, oder empfindet? Vor dreißig
Jahren war ich noch nicht geboren, folglich auch
nicht ungluͤcklich, und werde alſo, wenn alles im
Tode mit mir ein Ende hat, nach dieſem auch nicht
ungluͤcklich ſeyn. In dieſem Fall iſt alſo mein Tod
das Ende aller meiner Leiden, und folglich nicht
allein nichts Boͤſes, ſondern ſogar noch ein Gut.
Denn ſo zu leben, wie ich jezt lebe, iſt doch wahr-
lich kein Gluͤck.
Iſt aber das andere, oder dauert meine Seele
mit ihrer Kraft zu denken auch nach dem Tode noch
fort: ſo hat meine Seele auch das Vermoͤgen, ihre
Vorſtellungen zu verbeſſern und folglich muß ſie
gluͤcklicher werden. Das elende Gewaͤſche von po-
ſitiven St [...]afen nach dem Tode, die gar noch ewig
waͤhren ſollen, verdient keine Widerlegung. Wir
wiſſen, daß die ſchle[ch]teſte Klaſſe von Menſchen
ſie von jeher als einen Kappzaum fuͤrs Volk be-
nuzt hat; und daß der ein Sklave bleibt ſein Lebe-
[339] lang, den Eberhards Apologie des Sokrates
hieruͤber nicht zurechteweißt. Genug, ich habe,
wie Sie ſelbſt wiſſen, immer ſo gelebt, daß ich
ein gutes Gewiſſen auch jezt noch habe, und fuͤrchte
daher nicht, in der andern Welt mich mit Schreck
und Verabſcheuung meiner ſelbſt an dieſe gegen-
waͤrtige erinnern zu muͤſſen. Ich darf alſo keine
Strafen fuͤrchten. Iſt nun meine Seele unſterb-
lich, ſo iſt mein Tod der Anfang einer groͤßeren
Vollkommenheit, die Thuͤr zu einem hoͤhern Gluͤck,
und folglich nicht allein kein Uebel, ſondern das
hoͤchſte Gut, deſſen ich in dieſer Welt theilhaftig
werden kann.
Ich hatte gegen dieſe Gruͤnde nichts einzuwen-
den; und da ich von der Richtigkeit dieſer Schluͤſſe
ſelbſt vollkommen uͤberzeugt bin, ſo bemuͤhte ich
mich, meinen Freund durch Betrachtungen uͤber die
Nichtigkeit aller menſchlichen Dinge, in ſeinen Ge-
danken noch mehr zu beſtaͤrken, und zu ſeiner Be-
ruhigung alles, was ich konnte, beyzutragen.
Er ſtarb nach einem langen ſchmerzhaften Lager
mit aller Standhaftigkeit, womit ein Mann ſter-
ben muß, der da weiß, warum er in der Welt ge-
lebt hat, und wurde von jedem, der ihn gekannt
hatte, bedaurt, ſo wie ſeine Großmuth, daß er
niemals den Urheber ſeines Ungluͤcks hat angeben
[340] oder verrathen wollen, allgemein gelobt und be-
wundert wird.
Das traurige Beyſpiel des ſeligen Kruͤgers
hat zwar Eindruck auf unſere Studenten gemacht;
ich zweifle aber dennoch, daß dieſer Eindruck ſtark
genug ſeyn werde, alle Duelle, auch nur auf eine
Zeitlang, verhaßt zu machen. Mir ſcheint der
akademiſche Duell noch immer ein nothwendiges
Uebel zu ſeyn, welches ſo lange fortdauern wird,
als die jetzige Einrichtung der Akademien ſelbſt fort-
dauert. Dieſe Einrichtung iſt aber ſo außerordent-
lich fehlerhaft, und zu ihrem Zweck, geſittete und
gelehrte Maͤnner zu bilden, ſo wenig ſchicklich und
hinreichend, daß es zu hoffen ſteht, unſre Fuͤrſten
werden einmal dem Unweſen eine andere Wendung
geben, und fuͤr die oͤffentliche Verbreitung der Wiſ-
ſenſchaften durch Unterricht andere Einrichtungen
treffen: und alsdann werden nebſt hundert und tau-
ſend andern Misbraͤuchen, auch endlich einmal die
Duelle unter denen aufhoͤren, welche den ſanftern
Muſen ſich widmen ſollen. Meine Gedanken uͤber
das alles wird man in meinem Buche uͤber die
Univerſitaͤt zu Schilda — antreffen.
Im Sommer dieſes Jahres 1797 erhielt ich
einen Brief von einem alten Univerſitaͤts-Bekann-
ten, welcher vorzeiten die Rechte in Gießen ſtudiert
hatte, hernach aber, als Cuͤſtine in Deutſch-
[341] land eindrang, ſich ins franzoͤſiſche Militaͤr begab,
und unter dieſem General bey der Rheinarmee als
General-Adjutant diente. Er heißt Meyer, und
lebt gegenwaͤrtig in Strasburg. Dieſer Mann
meldete mir, daß man auch in Frankreich meine
Geſchichte laͤſe, daß er aber bey verſchiednen Stel-
len noch einiges zu erinnern faͤnde, und daß er
mir, wenn ich wollte, ſeine Anmerkungen ſchicken
wuͤrde, damit ich Gebrauch davon machen koͤnnte.
Ich bath ihn gleich darum; aber eine Krankheit hat
ihn, wie er mir vor kurzem ſchrieb, verhindert,
mir zu willfahren. Statt der Anmerkungen ſchickte
er mir aber einen Aufſatz des jetzigen franzoͤſiſchen
Generals Eickemeyer uͤber die Einnahme der
Feſtung Mainz im Jahre 1792 durch den Gene-
ral Cuͤſtine. Dieſer Aufſatz giebt viel Aufſchluß
uͤber die anfaͤnglichen Begebenheiten dieſes Krieges,
und beweiſet hinlaͤnglich, daß unſer deutſche Staats-
koͤrper durchaus nicht im Stande iſt, ſich zu ver-
theidigen. Der Aufſatz iſt gegenwaͤrtig unter der
Preſſe, und erſcheint naͤchſtens mit einer Vorrede
und einigen Anmerkungen von mir. Ich darf meine
Leſer mit Zuverſicht verſichern, daß ſie bey Leſung
der Eickemeyerſchen Schrift gewiß keine
Langeweile fuͤhlen, und nicht ohne ſtattliche Er-
bauung ſelbige aus der Hand legen werden. Sie
werden hier alle Klagen von neuem durch That-
[342]ſachen beſtaͤtigt finden, welche der Hr. von Mo-
ſer, Hr. Hofrath Schnaubert, Hr. von Sar-
tori und andere uͤber die Regierung der geiſtlichen
Staaten, im deutſchen Reiche, ſo oft und ſo laut
erhoben haben. Sie werden ſehen, daß der Ver-
faſſer der „freymuͤthigen Betrachtungen
eines philoſophiſchen Weltbuͤrgers uͤber wichtige
Gegenſtaͤnde nach den Beduͤrfniſſen unſers Zeit-
alters und des Menſchengeſchlechts“ *) recht hat,
wenn er ſchreibt: „In geiſtlichen Laͤndern
ſind nur Pfaffen und Adel bedeutend: alle
uͤbrigen Menſchenklaſſen werden wenig oder gar
nicht in Anſchlag gebracht. Daher ſind auch juſt
die geiſtlichen Laͤnder an Ackerbau, Handel, Kuͤn-
ſten und Wiſſenſchaften die duͤrftigſten **). —
In den Prieſterlaͤndern vernichtet immer der Nach-
folger, was der Vorfahrer darin aufgerichtet hat:
Alles iſt darin iſolirt, Nichts haͤngt mit dem Gan-
zen zu deſſen Vortheil zuſammen; Nichts wird
[343] zweckmaͤßig ausgefuͤhrt: faſt Alles wird durch Ne-
potismus, Egoismus, Indolenz, Unwiſſenheit
in der Regierungskunſt, und durch Schwelgerey
verdorben.“ — Man wird, ſage ich, dieß alles
hier beſtaͤtigt finden, und ſehen, daß Mainz,
durch das volle Maaß aller hier angefuͤhrten Fehler,
der noͤthigen Vertheidigungs-Anſtalten und Mittel
beraubt war; daß Eickemeyers Plane und
dringende Vorſtellungen wenig oder gar nicht ge-
achtet wurden; daß eben dieſer Mann, als dama-
liger Ingenieur-Obriſt-Leutnant in Mainz, alles
aufgebothen hat, dieſe wichtige Feſtung gegen den
Anfall der Franzoſen zu vertheidigen; aber umſonſt,
und daß es folglich dem General Cuͤſtine nur ein
Spielwerk war, Mainz ohne Belagerung oder
Sturm, wie auch ohne alle Verraͤtherey, blos durch
die Indolenz der Regierung, einzunehmen, und ſich
nun hier ſo feſtzuſetzen, daß Deutſchland noch lange
Ach und Wehe daruͤber ſchreien wird. —
Doktor Bahrdt berichtet in ſeiner Lebensbe-
ſchreibung, daß einige Hallenſer geglaubt haben,
er beſitze große Macht uͤber die Geiſterwelt, und
koͤnne Geiſter citiren, da er den Hoͤllenzwang
des D. Fauſt beſitze. Eben dieſes iſt mir dieſen
Sommer begegnet. Ein Bauer kam zu mir, und
ſagte, daß er von jemanden geſchickt ſey, mich zu
fragen, ob ich lateiniſch verſtuͤnde und hebraͤiſch le-
[344] ſen koͤnnte, und ob ich wohl ſo gut ſeyn wollte, ihnen
aus einem Buche Erklaͤrungen zu machen, welches in
dieſen Sprachen geſchrieben waͤre. Ich bejahte das
erſte, und ſagte dem Manne, daß er mir das
Buch nur ſchicken oder bringen moͤgte; dann woll-
te ich ſchon ſehen, ob ich es verſtaͤnde oder nicht,
und verſtaͤnde ichs, ſo wuͤrde ich es gern erklaͤren.
Der Bauer war froh uͤber meine Aeußerung, und
ſchied mit der Verſicherung, daß bald ein andrer
Mann zu mir kommen wuͤrde.
Es kam auch wirklich ein ſolcher, aber ich war
nicht zu Hauſe, als er nach mir gefragt hatte.
Von ohngefaͤhr erfuhr ich auf der Straße, daß
ein Mann nach mir gefragt haͤtte, der ein rechter
Hexenmeiſter ſeyn ſollte. Ich ward neugierig,
und ließ mir den Mann naͤher beſchreiben. Da
war es denn ein Kerl, der ehedem ein ſchoͤnes Gut
beſeſſen hatte, in den beſten Umſtaͤnden, der aber
durch Geiſterſehen, Schatzgraben und andre abge-
ſchmackte Teufeleyen ſich an den Bettelſtab gebracht
hatte. Nun hatte ich genug.
Zu Mittage kam der Mosjoͤh zu mir, und that
ſehr geheim, legte mir aber dieſelben Fragen vor,
die mir der Bauer ſchon vorgelegt hatte. Endlich
holte er ein altes lateiniſch-geſchriebenes Buch aus
der Taſche. Es handelte vom Geiſterbeſchwoͤren,
und war vielleicht die Clavicula Salomonis oder Pa-
[345] racelſi arcanum arcanorum ſeu magiſterium philoſo-
phorum: der Titel fehlte. Er ſagte mir, nachdem
ich ihm einige Zeilen verdeutſcht hatte, daß das
rechte Buch uͤber die Geiſtercitirung zu Eiſenach
liege, und daß ich mitgehen ſollte: mein Weg wuͤr-
de mir gut bezahlt werden. Der Mann dauerte
mich, und ich erklaͤrte ihm in einem angemeßnen
Sermon meinen Glauben uͤber die Dinge aus der
andern Welt; aber ich war nicht im Stande, ihn
zu uͤberzeugen. Er berief ſich immer theils auf eig-
ne, theils auf fremde Erfahrung, worauf ich frei-
lich nichts erwidern konnte. Kurz, ich erklaͤrte
ihm, daß ich nicht mitgehen wuͤrde; und mein
Mosjoͤh ſchied mit den Worten: „Wem nicht zu
rathen iſt, dem iſt auch nicht zu helfen!“ — Ja
wohl, ja wohl! dacht' ich, ließ ihn gehen, und
reflektirte — auf mich.
Leztes Kapitel.
Plan fuͤr die Zukunft.
Aber es iſt einmal Zeit, daß ich meine Lebens-
beſchreibung ſchließe. Ob ich ſie auf immer ſchlie-
ße, weiß ich nicht: denn die Schickſale der Men-
[346] ſchen, zumal von meiner Art, ſind mit einer Nacht
bedeckt, die keiner durchſchaut; und da koͤnnte es
geſchehen, daß ich in der Zukunft noch in Verhaͤlt-
niſſe geriethe, deren Wiederwiſſen dem Publikum
vielleicht wenigſtens eben ſo intereſſant ſeyn moͤgte,
als das, was ich bisher von mir erzaͤhlt habe.
Aber wuͤnſchen will ich es nicht; und wohl ſchwer-
lich wird einer meiner gutmuͤthigen Leſer mir es
goͤnnen, daß ich abermals in eine Lage verſezt wer-
de, worin ein verwirbelnder Schlund der Dinge
mich von neuem verſchlinge.
Zu Halle lebe ich freilich an einem Orte, wo
mir Manche nicht gut ſind, und wo mich wohl die-
ſer oder jener lieber in Nova Zembla oder auf dem
Bau in einem finſtern Kerker wiſſen moͤgte, als in
einer ertraͤglichen Wohnung: aber eben in Halle
habe ich doch noch Freunde, die mir das Leben ver-
ſuͤßen helfen. Die Verdienſte meines rechtſchaff-
nen Bispinks gegen mich habe ich dem Leſer
zum Theil erklaͤrt, und was ich davon verſchwie-
gen habe, wollte die Beſcheidenheit des rechtſchaff-
nen Mannes ſelbſt verſchwiegen wiſſen. Gern
haͤtte er geſehen, wenn ich ganz und gar von ihm
geſchwiegen haͤtte: aber das konnte, ſey es auch
blos, um die Erzaͤhlung einiger meiner wichtigern
Begebenheiten nicht ganz unvollſtaͤndig zu laſſen,
auf keine Weiſe geſchehen. Er iſt noch gegen mich,
[347] wie er immer war: nachſichtig gegen meine Feh-
ler, und zurechtweiſend, wenn er mich irren ſieht.
Er unterſtuͤzt mich noch immer mit Rath und That,
und ich kann in jedem Fall auf ſeinen thaͤtigen
Beyſtand [r]echnen. Ein ſolcher Freund allein iſt
ſchon hinlaͤnglich, einen Ort uns angenehm zu ma-
chen, wo auch ſonſt noch ſo viel haͤmiſche Geſichter
uns zublinzen.
Aber hoͤchſt undankbar wuͤrde ich gegen meine
uͤbrigen Freunde ſeyn, wenn ich ihrer hier nicht
auch gedenken wollte. Schon ſeit 1782 kenne ich
den gelehrten und braven Hrn. Buͤchling, von
deſſen aufrichtiger Freundſchaft ich wiederholte Pro-
ben habe, die ich aber verſchweige, weil ich be-
fuͤrchten muß, einen Mann zu beleidigen, der um
ſo ſchaͤzbarer iſt, mit je wenigerm Anſpruch er ſich
vorfuͤhrt. Es giebt Gelehrte, mit welchen man
nur einmal ſprechen darf, um gleich mit dem gan-
zen Umfang ihrer Kenntniſſe und Verdienſte bekannt
zu werden; aber mit Hrn. Buͤchling darf man
Monate umgehen, und man erfaͤhrt von ihm ſelbſt
gewiß nicht, daß er um die Philologie und Litte-
ratur Verdienſte habe, wie dieß doch ſeine Schrif-
ten ausweiſen.
Meine uͤbrigen Freunde in und um Halle [nenne]
ich nicht; ſie moͤgen aber, wenn ſie dieſes leſen,
[348] verſichert ſeyn, daß ich ihrer mit Achtung und
Dankbarkeit ohne Aufhoͤren gedenke.
Die Herren Akademiker der Halliſchen Univer-
ſitaͤt haben mir immer wohl gewollt, haben mir
immer freundſchaftlich begegnet, und keiner von
ihnen hat mich jemals beleidiget. Dank dafuͤr den
gutmuͤthigen Juͤnglingen, der Hoffnung ihres Va-
terlands und einſt deſſen Zierde! Moͤgten ſie doch alle
das Gluͤck genießen, das ich ihnen von Herzen
wuͤnſche! Viele von denen, die ich hier gekannt
habe, ſtehen in anſehnlichen Aemtern, und ſind
gluͤcklich. Ich freue mich daruͤber, und es ruͤhrt
mich immer, wenn ich hoͤre, daß ſie ſich meiner
noch im Beſten erinnern. Nur wenige von meinen
ehemaligen Halliſchen Bekannten ſind durch den
Zuſammenſtoß disharmoniſcher Umſtaͤnde ungluͤck-
lich geworden: ſie werden aber ihr boͤſes Schickſal
wenigſtens ſo tragen, wie ich das Meine trage,
und dann ſind ſie nicht ganz ungluͤcklich.
Das gute Zutrauen, welches unſre Herren
Akademiker zu meinen wenigen Kenntniſſen haben,
macht, daß ſie meinen freilich wenig bedeutenden
Unterricht ſich gefallen laſſen; und dieſes macht
wirklich, daß ich gern in Halle bin, wo ich eben
darum wenigſtens nicht ganz unbrauchbar bleiben
kann. Bisher habe ich freilich noch immer nicht
recht gewußt, ob ich in Halle bleiben wuͤrde; und
[349] eben daher war mein Unterricht auch niemals ſo
beſchaffen, wie er haͤtte ſeyn koͤnnen, und wie er
nach meiner eignen Einſicht haͤtte ſeyn ſollen. Es
wird auch wirklich eine ſehr lange Uebung erfodert,
um unterſcheiden zu lernen, was bey einem Unter-
richte weſentlich iſt, und nicht iſt, und was man
eigentlich ſelbſt wiſſen muͤſſe, um Andere in dieſen
oder jener Disciplin fortzuhelfen. Laͤßt man dieß
aus der Acht, ſo laͤuft man Gefahr, wirklich noth-
wendige Dinge fuͤr Kleinigkeiten oder gar fuͤr Ne-
bendinge zu halten, und umgekehrt.
Ich glaube dieſen Unterſchied aus langer
Erfahrung gelernt zu haben, und werde mich in
Zukunft bemuͤhen, meinen Unterricht ganz danach
einzurichten. Ich bin auch ſicher genug, daß es
mir, ſo lange ich in Halle und bey Kraͤften ſeyn
werde, nicht an Gelegenheit fehlen wird, den
Herren Studenten — denn ſonſt lehre ich keinen —
durch meine geringen Kenntniße nuͤtzlich zu werden.
Ich kann nicht laͤugnen, daß mir der Ton der
Studenten immer anhaͤngt, und daß es mir beynahe
unmoͤglich geworden iſt, ihn jemals ganz abzule-
gen. Ich lebe und webe ſchon laͤnger als zwan-
zig Jahre unter Studenten, denn auch als Soldat
ging ich faſt nur mit Studenten um. Auf dieſe
Art iſt mir der Studenten-Ton, ſo zu ſagen, zur
andern Natur geworden. Um indeß, als Lehrer
[350] der Sprachen, nicht ſelbſt gegen das Edle oder
Schickliche in irgend einer Sprache aufzuſtoßen,
werde ich mich bemuͤhen, den Studenten-Ton da
zu vermeiden, wo er barbariſch, ſteif, abgeſchmackt
oder kindiſch iſt. Affektiren aber werde ich
nimmermehr den feinern Ton, der eben, weil
er affektirt waͤre, mich ſchlecht kleiden wuͤrde.
Unter den Halliſchen Buͤrgern giebt es manchen
braven Mann, der mein Freund iſt. Die halliſche
Buͤrgerſchaft beſteht gewiß aus Leuten, mit de-
nen es ſich gut umgehen laͤßt, im allgemeinen
naͤmlich: denn daß mancher Wicht und mancher
Taugenichts unter ihnen ſtecke, iſt hier, wie in je-
der großen Stadt, unvermeidlich. Der Umgang
mit Buͤrgern auf den Kellern beſonders auf dem
Univerſitaͤtskeller, auf dem Mail, dem Gruͤnen-Hof
und an andern Orten hat mir manches Vergnuͤgen und
manche frohe Stunde gemacht. Die Leute ſind groͤ-
ſtentheils jovialiſch und haben ganz geſunde Einfaͤlle.
In ihrer Geſellſchaft iſt — wenigſtens fuͤr mich —
mehr ungezwungene, mannigfaltige, innige Un-
terhaltung, als in den Zuſammenkuͤnften der ſo-
genannten Honoratioren, wo man, um nicht vor
Langerweile zu ſterben, oft gezwungen iſt, Ge-
ſellſchaftsſpiele anzuſtellen, oder einen Zeitvertreib
zu waͤhlen, der nicht elender kann erdacht werden.
Man leſe nur Dreyſigs Buch uͤber die Geſell-
[351] ſchaftsſpiele, und verſuche, ob man es ohne Eckel
nur leſen koͤnne.
Ein hieſiger Herr, dem es weder an Gelehr-
ſamkeit noch an Titel, noch an Vermoͤgen fehlt,
um ſich in vornehmern Cirkeln zu zeigen, geht
fleißig in die Geſellſchaften der Buͤrger, und trinkt
ſein Glas Breyhan mit ihnen, mir nichts dir
nichts. Die von ſeinem Stande formaliſiren ſich
freilich daruͤber; aber wenn dieſer Herr ſonſt nicht
laͤcherliche Fehler an ſich haͤtte, ſo waͤre dieſer
zu verzeihen: es waͤre vielmehr kein Fehler. Pe-
ter der Große trank ſeinen Schnapps nirgends
lieber als in Geſellſchaft von Schmieden, Zimmer-
leuten, Maurern und andern Handwerkern, mit
welchen er ſich vom Handwerk unterhielt. Freilich
iſt weder der genannte Herr, noch ich, ein Peter
der Große: aber er, wie ich, haben unſere guten
Gruͤnde, auch den Buͤrger-Ariſtokratismus fahren
zu laſſen; und ich befinde mich dabey beſſer, wenig-
ſtens behaglicher.
Aus dem Angefuͤhrten ſchließen meine Leſer
gewiß, daß Halle viel angenehmes fuͤr mich ha-
be, und daß ich wuͤnſchen koͤnne, hier meine kuͤnftige
Lebenszeit zuzubringen. Ich finde zwar mit allem
Anſtrengen meines Kopfes keinen Plan, nach wel-
chem ich mir eine ſolide Ausſicht in die Zukunft
verſchaffen koͤnnte: aber da ſo viele Menſchen ohne
[352] ganz ſichere Plane doch ruhig leben, ja, da ſelbſt
die aufs beſte angelegten Plane oft unverſehens
ſcheitern, ſo iſt das eben kein großes Uebel. In-
deſſen muß ich doch endlich einmal einen Plan an-
legen, der vernuͤnftig und in der Ausfuͤhrung leicht
ſey, und dieſer iſt kuͤrzlich folgender.
Ich werde alle Ideen, von irgend jemanden
aus hohem Stande unterſtuͤzt oder befoͤrdert zu wer-
den, geradezu aufgeben: denn der einzige Große,
welcher ſich meiner — auch ſchon jezt — haͤtte
annehmen koͤnnen, der preußiſche Kronprinz, hat,
wie es ſcheint, meine Dienſte nicht nach ihrem in-
nern Werthe, ſondern nach ihrem Erfolg gemeſſen,
und nimmt ſich meiner nicht an. Sollten andere
Große, die ich nicht ſo kenne, die mir nichts ver-
ſprachen, und fuͤr die ich mein Leben nicht in die
Schanze ſchlug, wohl mehr fuͤr mich thun? Und
geſezt, es wollte irgend ein Großer auf mich Ruͤck-
ſicht nehmen, ſo wuͤrden wohl auch wieder Einige
ein Intereſſe daran finden, den guten Willen des
Großen zu vereiteln. Alſo von dieſer Seite habe
ich nichts zu hoffen, mag auch von daher weiterhin
nichts hoffen. Ich ſehe jezt ein, daß Hr. Bis-
pink recht hat:
Alterius non ſit, qui ſuus eſſe poteſt.
Meine Arbeit im Unterrichten kann mich naͤh-
ren, und in Zukunft ſoll ſie mich naͤhren. Ich
[353] geſtehe es, daß ich mich ſchaͤme, manche gan-
ze Woche lang nichts gethan zu haben, da
ich doch haͤtte arbeiten ſollen, und mit Vergnuͤ-
gen und Ruhe der Seele haͤtte arbeiten koͤnnen.
Ich verdiente alſo nichts, und da ich mein verdien-
tes Geld immer zerſplitterte, und alſo immer wieder
Geld noͤthig hatte, ſo war ich nicht ſelten gezwun-
gen, den oder jenen ohne Noth zu beſchweren.
Dieſer Misbrauch der Zeit, der Freundſchaft und
des Zutrauens ſoll nicht mehr ſtatt finden, und in
Zukunft ſollen alle angefangne Stunden ununter-
brochen fortgeſezt, ſo wie andere Arbeiten richtig
geliefert werden.
Der bevorſtehende Winter wird mir hiezu die
beſten Dienſte leiſten: denn einmal iſt man im
Winter zum Studieren aufgelegter, als in den
heißen Sommertagen, und dann iſt die im Som-
mer ſo haͤufige und taͤgliche Zerſtreuung lange nicht
ſo ſtark im Winter. Im Sommer buͤßet der Hal-
liſche Student gar zu viel Zeit ein durch das fuͤr
die Halliſche Univerſitaͤt ſo fatale und ſchaͤdliche
Lauchſtaͤdt: er laͤuft oft auf die Doͤrfer und ſizt
als ein immarginirtes Schaugericht zu halben Ta-
gen in den Gevatterbuden. Im Winter faͤllt das
meiſt alle weg; alſo habe ich dieſen Winter Gele-
Viert. Th. 2te Abth. Z
[354] genheit, den Plan, fleißig und arbeitſam zu ſeyn,
wie ſich's gebuͤhrt, auszufuͤhren.
Um in Abſicht der Oekonomie aufs reine zu
kommen, habe ich das oben genannte Maͤdchen
zur Frau genommen. Ich war ihr einmal herz-
lich gut, ob ich gleich nichts von jenem Feuer em-
pfunden habe, das mich ehedem gegen meine
Thereſe durchgluͤhte. Und dann hat ſie, wie es
mir vorkoͤmmt, alle Eigenſchaften, die einen von
meiner Art gluͤcklich machen koͤnnen.
Meinen gelehrten Leſern faͤllt vielleicht hier der
Spruch des Juvenalis ein:
Stulta maritai jam porrigit ora capiſtro: aber
ich habe mich zu allen Zeiten mit einem capiſtrum
beſſer befunden, als ohne capiſtrum. Es wird
mich freilich gere[u]en, dieſen Schritt gethan zu
haben; aber wo iſt der Mann, den es nie gereuet
hat, eine Frau genommen zu haben! Wenn nur
die Freude, es gethan zu haben, groͤßer iſt, als
die Reue! — Meine Hanne wird wenigſtens
das thun, was ich bisher nicht konnte, — mein
Verdientes zu Rathe halten, und dadurch es mir
moͤglich machen, meine noch uͤbrigen Tage ruhig
und bequem auszuleben.
Außer den Lectionen und Repetitionen uͤber
meine Inſtitutiones Theologiae dogmaticae — wer-
de ich zum Behufe unſrer jungen Theologen meinen
[355] Unterricht in der hebraͤiſchen Sprache fortſetzen.
Man glaubt faͤlſchlich, daß dieſe alte ehrwuͤrdige
und einem Theologen durchaus nothwendige Spra-
che ſchwer und eckelhaft ſey. Dieſes Vorurtheil
macht auch, daß nur wenige ſie treiben, und daß
die, welche ſie muͤſſen treiben, ſo wenig darinn
fortſchreiten. Ich bin uͤberzeugt durch Erfahrung,
daß vier oder fuͤnf Monate guten Unterrichts hin-
reichen, einen jungen Menſchen in den Stand zu
ſetzen, das alte Teſtament, ſofern es hebraͤiſch iſt,
mit Zuziehung der noͤthigen Huͤlfsmittel, in der
Grundſprache zu leſen.
Was die grammatikaliſchen Dinge betrifft, wel-
che ſonſt jeden abſchrecken, ſo habe ich, nachdem
ich ſie ſo oft und nach ſo verſchiednen Grammatiken,
nach Danz, Steinersdorf, Hetzel, Guͤte,
Alting, der Marchica u. a. m. habe lehren
muͤſſen, endlich eine ganz neue und leichte Art ge-
funden, alle noͤthige Regeln von der Veraͤnderung
der Punkte in einer Stunde, und die ganze
Lehre de verbis anomalis oder imperfectis in vier
Stunden vollkommen begreiflich zu machen. Ich
bin im Stande, in einem Monate jemanden, der
nur leſen kann, die Grammatik ſo beyzubringen, daß
er ſich bey der Analyſe und beym kurſoriſchen Leſen
ſelbſt helfen kann.
[356] Ich glaube nicht, daß irgend ein Leſer dieſe Ver-
ſicherung fuͤr Großſprecherey halten werde. Sie
muͤſſen ja in meiner Geſchichte hinlaͤnglich geſehn
haben, daß ich von aller Praͤtenſion weit enfernt
bin, und daß ich daher mich nicht ſelbſt ruͤhme,
wenn ich verſichere, daß ich dieſe oder jene Sache
dem Lernenden zu erleichtern wiſſe. Diejenigen,
welche ich im Hebraͤiſchen bis jezt unterrichtet habe,
ſind meine Zeugen, und ſie verſichern alle, daß ich
es ihnen viel leichter mache als andere Docenten:
und in Zukunft ſoll es in dieſer Hinſicht gewiß
noch beſſer werden.
Die lateiniſche, griechiſche, franzoͤſiſche und
italiaͤniſche Sprache lehre ich auch, und zwar ſo,
daß ich meinen Scholaren Genuͤge leiſte, und bin
recht froh, wenn ich ſehe, daß ſie merklich darin
vorankommen.
Zu meiner Stubenarbeit auf den Winter, ha-
be ich das ſchon hie und da in dieſem Werke ge-
nannte Leben des Marki von Vilencon,
eines franzoͤſiſchen Emigranten, und die Anna-
len der Univerſitaͤt zu Schilda beſtimmt.
Der Name Vilencon iſt zwar erdichtet; aber
was ich meinen Marki veruͤben laſſe, haben die
franzoͤſiſchen Emigranten gewiß auch veruͤbt. Da
ich dieſe Leutchen nahe genug kenne, ſo bin ich
auch im Stande, einen Emigranten nach dem Le-
[357] ben zu ſchildern. Man wird alſo eine tragiſch-komi-
ſche und komiſch-tragiſche Geſchichte eines fran-
zoͤſiſchen Markis leſen, und ſchauen: wie der Herr
ſich in ſeinem Vaterlande benahm gegen die Buͤrger-
Kanalje, den Landmann, das ſchoͤne Geſchlecht,
und gegen Prieſter und Religion; ferner: wie er
nach ſeinem Abzuge aus Frankreich es trieb als
Offizier, Landſtreicher, Guͤnſtling eines deutſchen
Duodez-Monarchen, als Ehebrecher, Schul-
lehrer, Wechſelſchmid, Matroſe, und Pittianer
etc. etc. Ich hoffe, das Ding ſoll dem Leſer ſchon
gefallen.
Die Annalen der Univerſitaͤt zu Schil-
da haben zum Zweck die laͤcherlichen und laͤppi-
ſchen Alfanzereyen und Thorheiten, welche allen
Univerſitaͤten in reichem Maaße noch anhaͤngen,
ins gehoͤrige Licht zu ſtellen. Ich kenne wahrlich
die Akademien ſo gut, als ſie einer kennt, und
weiß den Schnickſchack von jeder Seite aus Erfah-
rung zu wuͤrdigen. Den Gnoten und ihren Innun-
gen mag man immerhin die Lappalien laſſen:
Gnoten ſind ja dafuͤr Gnoten, daß ſie mit Gunſt
alles thun muͤſſen! Aber da man auf den Univer-
ſitaͤten — blos um des leidigen Geldes wegen —
troz der gelehrten Schreiberey uͤber die Schaͤdlich-
keit der Monopolien, und die Schande und den
Nachtheil des Egoismus, dennoch ſo viele durch-
[358] aus ſchaͤdliche Narrheiten fortdauern laͤßt, ſo iſt es
ſchon recht, daß man wenigſtens dem jovialiſchen
Publikum ein Buch in die Haͤnde giebt, bey dem
es uͤber die elenden Poſſen, ich meyne uͤber die
Doktor- und Magiſter-Promotionen und Disputa-
tionen, uͤber die akademiſche Examina, uͤber aka-
demiſche Juſtiz, Polizey und dergleichen lachen
und den Plunder verachten koͤnne.
Gewiſſe Herren auf gewiſſen Univerſitaͤten wer-
den zwar uͤber mein Conterfey ſchimpfen, um ſo
aͤrger, da Einige von ihnen ſich vielleicht getroffen
finden werden; aber die uͤbrigen Leſer, hoffe ich,
werden mir es Dank wiſſen, wenn ich ſie mit den
Auswuͤchſen und der Barbarey der gelehrten Hand-
werks-Innungen und Muſen-Herbergen bekannt
mache. — Daß in dieſem Werkchen viel laͤppiſches
Zeug, laͤppiſche Dialogen, Handlungen, Verord-
nungen, Widerſpruͤche, Profeſſoren ohne Profeſ-
ſur, Studenten ohne Studien und dergleichen vor-
kommen werden, verſteht ſich von ſelbſt: es iſt ja
ein Jahrbuch einer Univerſitaͤt!
Eben jezt arbeite ich an der Lebensgeſchichte des
vor drey Jahren verſtorbenen Rheingrafen Carl
Magnus von Grehweiler. Dieſe Geſchichte
iſt ein derber Beytrag zur Geſchichte des Despotis-
mus unſrer deutſchen Duodez-Monarchen, welche
es weit aͤrger treiben, als unſre Monarchen in Fo-
[359] lio oder in Quart. Ein Monarch in Folio begeht
zwar auch oft Thorheiten in Folio, wie unter an-
dern die Beſchwerden und die Reichs-Concluſa uͤber
die Begebenheiten des gegenwaͤrtigen Kriegs bewei-
ſen; aber er rekolligirt ſich: denn er hat Mittel,
das Schlechtgemachte zu verbeſſern. Aber ein
Duodezmonarch faͤhrt in ſeiner Thorheit immer fort,
und faͤllt immer tiefer, weil es ihm unmoͤglich
wird, die einmal gemachten dummen Streiche wie-
der gut zu machen, und weil er uͤbrigens zu ſtolz
iſt, ſeinen Fehler durch Beſſerung zu bekennen,
und uͤberhaupt endlich vernuͤnftig zu werden. So
ein Monarch war der Rheingraf, Carl Mag-
nus, deſſen Geſchichte meinen Leſern gewiß be-
hagen wird. Ich bearbeite ſie nach dem, was ich
ſelbſt daruͤber weiß, und was Moſer und andere
Publiciſten aktenmaͤßig davon haben. Sie wird
handgreiflich zeigen, warum ſo viele Unterthanen
in der Rheingegend mit ihrer Regierung aͤußerſt
unzufrieden waren, und den Franzoſen ſo ſchnell,
feſt und haͤufig anhingen. Dieß kann aͤhnliche Re-
gierungen witzigen, und aͤhnliche Vorfaͤlle fuͤr die
Zukunft verhuͤten helfen.
Ich bin bey der Erklaͤrung meiner Beſchaͤftigun-
gen abſichtlich weitlaͤufiger geweſen, als man viel-
leicht erwartet hat. Ich muß vorausſetzen, daß
ich meine Leſer intereſſire; ſonſt haͤtten ſie nicht
[360] fuͤnf Baͤnde meiner Begebenheiten durchgeleſen.
Alſo muß es ihnen auch angenehm ſeyn, zu erfah-
ren, wie Meiſter Laukhard, von dem ſie nun, und
vielleicht auf immer, Abſchied nehmen, in der Zu-
kunft zu leben gedenke. Ich hoffe, die meiſten
meiner Leſer werden mir es goͤnnen, wenn's mir
endlich einmal wohl geht, und eben daher glaube
ich auch, daß ſie den mit Vernunft und Ueberlegung
angelegten Plan gewiß nicht misbilligen werden.
Wuͤßte ich es beſſer zu machen, ſo wuͤrde ich es
thun; aber ich weiß jezt kein beſſeres Mittel, mir
eine ruhige Subſiſtenz zu verſchaffen. Ob ich aber
meine Ruhe je ganz wieder erhalten werde, iſt eine
Frage, die ich mir nicht getraue, zu bejahen. Auf
mich laſten zu viel Vergehungen, zu viel dumme
Streiche, deren Ruͤckerinnerung mit Bitterkeit ver-
[bun]den iſt, und die mir, wegen meines zaͤhen und
treuen Gedaͤchtniſſes, oft lebhaft vorkommen, und
mir mein Daſeyn verkuͤmmern, wenigſtens ſo lange
der lebhafte Eindruck davon anhaͤlt. Das iſt frei-
lich, ich fuͤhle es tief, die natuͤrlichſte Folge der
Suͤnde, welche nicht ausbleiben kann, und die
auch kein Gott wegſchaffen kann. Solche Strafen
waͤhren auch ewig, d. i. ſo lange die Seele ihr Er-
innerungsvermoͤgen behaͤlt. Ich werde zu ſeiner Zeit
uͤber dieſe Materie, wovon ich ſo traurige Erfah-
rungen ſelbſt laͤngſt gemacht habe und taͤglich noch
[361] mache, eine Abhandlung ſchreiben, welche auf ei-
nen noch nicht voͤllig verdorbenen Menſchen gewiß
weit ſtaͤrker wirken muß, als alle Predigten uͤber
die Ewigkeit der Hoͤllenſtrafen.
Nun aber will ich mit der Erzaͤhlung meiner
Begebenheiten aufhoͤren. Finde ich dereinſt, daß
ich etwas Wichtiges uͤbergangen bin, oder ſchickt
mir der Adjutant Meier Bemerkungen und Be-
richtigungen, die der oͤffentlichen Bekanntmachung
werth ſind: ſo iſt ein Nachtrag bald geliefert.
Mit meinen Recenſenten mag ich hier nicht
hadern: ich weiß, daß Mancher durch ſeine Lage
gehindert wird, meine Schreiberey ſo zu wuͤrdi-
gen, wie ſeine Einſicht es ſonſt wohl fodern moͤg-
te. Ich denke an die rara temporum felicitas des
Tacitus, und wuͤrde mich freuen, wenn ich
nur nicht zur Unzeit oder zur Ungebuͤhr frey
heraus ſchrieb, was ich — nach der Indikation
der Zeit und der Begebenheiten — empfand und
dachte.
Sie aber, meine jungen Leſer, Sie bitte ich
recht angelegentlich, leſen Sie ja den Beſchluß
im zweyten Bande dieſer Lebensgeſchichte. Ue-
berdenken Sie meine Verirrungen recht aufmerk-
ſam, gehen Sie auf deren Urſprung und Folge
zuruͤck; und ich bin verſichert, meine Begebenhei-
[362] ten werden Ihnen zur Warnung dienen, mehr,
denn hundert Romane.
Sie uͤbrigens, meine Leſer alle, die Sie mir
wohlwollen, fahren Sie fort, billig und nachſich-
tig uͤber mich zu urtheilen; und dann moͤge alles
Gute Ihnen zu Theil werden, welches das rechte
Gluͤck der Menſchen ausmacht. Ueber meine
Feinde werde ich lachen, wenn es Menſchenkinder
ſind, wie ein Magiſter Weitmaul, ein Cur-
tius Rufus, ein Latus, ein Varena; ſind es
aber Maͤnner von Verdienſt und Gelehrſamkeit,
— je nun, ſo kann ich nichts anders thun, als
den Widerſpruch der Moral und der menſchlichen
Natur bedauern. Wehe mir, daß es außer dieſen,
noch Menſchen in der Welt giebt, wie Dentzel,
und Laubadere, bey deren Andenken mich
ewig ſchaudern muß! — Leben Sie wohl, mei-
ne lieben Leſer!
Ende.
Appendix A Verbeſſerung der Druckfehler:
Seite 4 Zeile 7: ſchoͤn fuͤr ſchon.
– 7 – lezte: eine ſchlimme.
– 16 – 5: revolutionnaͤrer.
– 27 – 13: Vanae.
– 145 – 21: redeten.
– 15[7] – 1: Eickemeyer.
das Wohl d[e]s Volkes ſo nahe angeben, hat Villaume ſo
richtig und ſo edel beantwortet, daß einſichtige Freunde von
koͤnnen, als die Abhandlungen, das Intereſſe der
Menſchheit und der Staaten betreffend, von
Villaume. Altona, bey Hammerich, 1794.
Hoͤlle auf Erden geſchildert hat, und jezt einen Himmel auf
Erden herausgiebt: ſo muß ſich die Welt in Salzman[n]s
Augen ſehr vortheilhaft geändert haben, jedoch ſo, daß die
andern De[ukalioner] dieß eben nicht ſehr ſpühren, oder Hr.
Salzmann iſt ſelbſt eine Anomalie von eigner Art, wie
ſein Bothe aus Thüringen: und dann wäre beyden
das heilſame Kräutlein, Wahrheit und Unpartheylichkeit, ſehr
zu empfehlen, um nicht in das lucri bonus odor ſchändlich
zu verfallen. — Indeß nichts für ungut, meine Herren:
ich ſtehe wieder zu Dienſten in puris naturalibus —
mit allen meinen Bloͤßen! Nun aber ſage man nicht weiter:
[Co]rvas corvum non [r]odit. —
viele Boͤſe ſeyn, das ihre Gefangnen in Deutſchland leiden
mußten. Ganz unbekannt: war dieß dem Convente nicht ge-
blieben, auch nicht die Loͤhnung für dieſelben in falſchen
[A]ſſignaten, u. d. gl. Der Convent hat ſich der Sache ihrer
Gefangenen endlich ernſtlich angenommen, und dadurch deren
beſſere Verpflegung in Deutſchland bewirkt. Dieſe war denn
wohl auch die Urſache von der Wiederherſtellung der vollen
[L]oͤhnung für die gefangnen deutſchen Offiziere.
einiges habe, weiß ich, aber ich weiß auch, daß eben dieſe
Leute, nebſt den Emigrirten, die Hauptſchuld auf ſich haben,
daß die Anſicht von Frankreich den Ausländern getrübt bleibt,
und daß eben dadurch der Nationalhaß noch immer Nahrung
zieht, und eine friedfertige Annäherung hindert. Ich halte
es daher für Pflicht, dieſe Landglocken von jeder Seite kennt-
lich zu machen, damit man ſelbſt beſtimmen koͤnne, wieviel
Glauben ſie verdienen.
blico ſpricht.
ters erwähnten Sammlung erbaulicher Gedich-
te, S. 446, unten in der Anmerkung. Er zeigt hier zu-
gleich, daß die ſo verſchrieene Gleichheitslehre ein
Hauptgrundſatz der erſten Chriſten geweſen iſt. — Wirk-
lich, man muß die Achſeln zucken, wenn Einige in vollem
Ernſte behaupten: die franzoͤſiſche Nation habe ihr Gleich-
heitsſyſtem ſogar bis auf die Gleichheit des Vermoͤgens deh-
nen wollen, wie wenn die franzoͤſiſche Nation nicht einſähe,
daß die natürliche Ungleichheit der menſchlichen Vermoͤgenheit
auch eine Ungleichheit in deren Produkten nach ſich ziehe.
D[en]n geſezt, man mache das äußere Vermoͤgen aller [B]urger
eines Staates gleich: ſo wird der Fleißige, der Einſichtige,
der Sparſame, der Glückliche — ſein Vermoͤgen bal[d] ver-
mehren, und es dadurch dem Vermoͤgen des Faulen, des
Kurzſichtigen, des Verſchwenders, des Unglucklichen — un-
gleich machen. — Geſezt aber ferner, die Franzoſen woll-
ten auch dieſes hindern: ſo hieße das gegen das Weſen und
den Zweck der menſchlichen Natur oder Kräfte vergeblich han-
deln, und allen Antrieb zum Fleiß, zum Raffiniren, zum
Wetteifern und zum Vervollkommnen hemmen oder beben
wollen. Ein Unſinn von dieſer Art kann wohl einem Schi-
rach und deſſen Gleichen in den Kopf kommen, aber nicht
einer Nation, wie die Franzoͤſiſche iſt. Dieſe iſt ganz der
Meynung, welche Chryſoſtomus in ſeiner Rede über die
Armuth und die ungleiche Vertheilung der Weltguter ſo ſchoͤn
und eindringend aufſtellt. Man ſehe Chryſoſtomus Re-
den, nach der Ueberſetzung von Eulogius Schneider.
recht gut.
verbannt: eine ſolche Schrift heißt requête,Foderung:
man fodert nur Recht, Billigkeit oder Gefälligkeit; Gnade
durchaus nicht.
hernach zu Valence gerädert wurde.
ſignate macht, ſeinen Kopf. Ein Gefangner zu Autun
machte Aſſignate, ſaß eine Zeitlang zu Dijon in der Con-
ciergerie, und kam nur auf 2 Jahre nach Toulon.
und ich kann mich nicht genug wundern, daß ich in gewiſſen
Briefen über die Schweiz die ſchoͤnen rothen Solda-
ten der Stadt Baſel loben hoͤre. Der Verfaſſer hat, wie vie-
le Reiſeſchreiber, aus ſeiner Kutſche, oder aus dem Fenſter
des Gaſthofes, worin er logirt hat, ſeine Bemerkungen ange-
ſtellt, und da hat er einige von den rothen Schweizern, wel-
che ehedem in Frankreich gedient hatten, geſehen, und ſie für
Baſeler Stadtmilitz gehalten. Die ächten Baſeler Stadtſolda-
ten ſind ſchmutzige Kerls, mit blauen Roͤcken, blauen Hoſen
und blauer Weſte, oder wie ſonſt die Preußen ſagten, als noch
die Garniſonregimenter exiſtirten: dreymal blau und neunmal
des Teufels.
Egoismus vieler Kleinen!
keit nicht mehr, als noch funf Doͤrfer.
Juv. Sat. II.
hätte meine Nachrichten uber die Emigranten wohl nur in
den Weinhäuſern zu Koblenz geſammelt, und ſo – nur von
den Bedienten der eigentlichen Emigrirten, als welche
damals wohl noch zu vornehm geweſen wären, ein Weinhaus
in hoͤchſt eigner Perſon zu beſuchen. — Nicht doch, mein
Herr! Ich machte ja täglich den Dollmetſcher, half die Na-
men der emigrirten Herren aufſchreiben und hatte eben
nach der unerſattlichen Neug[ie]rde, die Sie mir zuſchreiben, auch,
als preußiſcher Musketier, – Kleider machen doch nicht überall
Leute! – Gelegenheit genug, dem Weſen der herriſchen
Emigrirten ganz nahe zu zuſehen. Als Herren der Welt, wie
ſie ſich dünkten, hatten die Prinzen, Marki's u. ſ. w. ihres
Weſens gar kein Hehl. Man frage jeden wißbegierigen Beob-
achter! Doch, ich will nicht hadern und Wort halten, und
alſo von den Recenſionen — zum Gegenrecenſiren — keine
Notiz nehmen Genug, man warte den verſprochnen Roman
ab, oder die Begebenheiten; des Marki von Vilencon: und
dann entſcheide man: ob ich die Emigranten blos von der Be-
dienten-Seite kennen gelernt habe. — Soviel will ich hier
nur noch bemerken: daß es mir ſchwer wird, zu begreifen,
wie man franzoͤſiſchen Prieſtern, die eben wegen ihres fe-
ſten Kirchenglaubens ausgewandert ſind, erlauben
kann, auf proteſtantiſchen Schulanſtalten die Zoglinge, wenn
auch nur in der franzoͤſiſchen Sprache, zu unterrichten und
mit ihnen täglich umzugehen. Einmal ſind die Herren in ih-
rer eignen Sprache ſelten ſyſtematiſch zu Hauſe: ſie lernten
ſie Baſedowiſch zu ſprechen, nach der Ammen-Methode,
von Reden-Hoͤren: alſo a poſteriori mit allen Fehlern des
Dialects — der Mutter oder der Amme. Nach Regeln ha-
ben die wenigſten ihre Ammen-Sprach-Methode rectificirt;
und von einer allgemeinen Theorie irgend einer Sprache,
nach der Theorie des menſchlichen Empfindens und Denkens,
wiſſen die Herren noch weniger: dazu waren die Schulen und
Akademien in Frankreich eben nicht geeignet. Korruptes La-
tein wiſſen die Herren allenfalls ſyſtematiſch, und etwas Theo-
ſpontaneam † honorem Deo † et patriae liberatio-
nem: ſancto Agatha ora pro nobis. † † †. Die
Kreuze darin dienen wider den Boͤſen und deſſen Anhang.
ihnen an, und man wird finden, was ich ſage; aber blutwe-
nig von Philoſophie, Geſchichte und andern liberalen Fächern.
Nun ihren regen Katholicismus, für deſſen Mä[r]tyrer ſie ſich
halten, dem ſie, als Kinder der theologiſchen Finſterniß, alles
aufopfern: — ſollten ſie den, als den einzigſeligma-
chenden Glauben unter proteſtantiſchen Jünglingen, nach
jeſuitiſcher Einſchmeichelungs-Manier, nicht glimpflich einzu-
floͤßen ſuchen? Wer orthodoxe Menſchen kennt, zumal erzka-
tholiſche Prieſter, der wird dies bedenklich fi[n]den; und im Fall
der Noth diene ich mit zwey Fällen, als Belegen, von Halle
aus, die ganz das beſtätigen, wovon ich jezt ſchreibe. Ich
goͤnne zwar jedem ſeinen Glauben, Gott weiß, auch jedem
ſein Brod; aber man gebe es, daß es gedeihe, auch zum Be-
ſten und ohne Gefahr Anderer; nicht zum Scheinbeweis von
Toleranz und Menſchenliebe, der am Ende zur Verbreitung
der Intoleranz und des Deſpotismus der Gewiſſen verleitet,
ja, verleiten muß. Zu einer andern Zeit mehr davon.
Zu Ettenheimmünſter will man den Spuker Schwump oft
am hellen Tage geſehn haben. Was die Agatha's-Zettel im
Breisgau ſind, das ſind in andern katholiſchen Gegenden die
[...] Drey Koͤnigs-Zettel.
wie es in manchen Büchern angegeben wird, ſondern vallis
B. Mariae ad Nierum.
Aus[zü]ge daraus, als Belege zu der Wahrh[ei]t der Schil-
derung der Reichsarmee, führen zu weit.
Was ich in der Schilderung — im Beſondern beweiſe,
beweiſet Hr. Villaume in ſeinen Abhandlungen, das
Intereſſe der Menſchheit und der Staaten betreffend, mehr
im Allgemeinen.
„Einem unterthänigen Volke, ſagt er S. 154, iſt
es nicht erlaubt, das Vaterland zu lieben; denn dieſe
Liebe würde dem, was man Staat nennt, zuwider ſeyn.
Wenn nämlich dieß Volk das Vaterland, das heißt, die Na-
tion liebte, ſo würde es ſich vereinigen, um die Gerechtig-
keit einzuführen und von dem Fürſten zu verlangen, daß er
auf das Gemeinwohl ſähe, daß er die Ruhe und die
Wohlfahrt der Nation hoͤher ſchäzte, als ſeinen Ruhm,
ſeine Eroberungen; daß er ſeine Pracht und ſeinen Auf-
wand einſchränkte, um die Bürger zu ſchonen und die Schätze
des Staats zu wahren, allgemeinen Bedürfniſſen aufzuſparen.
Dieſes iſts, was die Vaterlandsliebe thun würde; aber ſo
etwas heißt unter dem Deſpotismus Rebellion, Meuterey,
und wird als Hochverrath beſtraft.“ —
[S]. 43 ſagt er: „Ihr Alleinherrſcher und Fürſten, die
ihr die Voͤlker beherrſchet, und euch die Führer derſelben
nennt, wunſchet ihr nicht, daß eure Unterthanen von patrio-
tiſchem Eifer glühen? Allein vergebet: unter eurer Regierung
iſt die Vaterlandsliebe eine Unmoͤglichkeit. Ihr entfernt
jeden Bürger mit großer Sorgfalt von allem dem, was
Gemeinangelegenheit heißt, und werfet ihn immer
in den Kreis ſeiner eignen Geſchäfte zurück, und machet ihn
dadurch zu einem gefühlloſen, niedrigen Eigenſüchtigen. Ueberall
findet er lauter gehäufte Hinderniſſe, von den Angelegenhei-
ten des Staates, von den Bedürfniſſen und Hülfsquellen der
Nation, von der Verwaltung einige Begriffe zu erhalten:
kaum kennt er etwas von den Landesgeſetzen, und noch we-
niger die Gründe derſelben. Wie kann er alſo ein Vaterland
lieben, wovon er nichts weiß? —
Er ſi[e]hts obendrein, er fühlts, daß man in allen Stücken
ſein Intereſſe von dem Intereſſe des Staates treunt; daß er
hoͤchſtens das Werkzeug, und nicht ſelten das Schlachtopfer
des Phantoms iſt, das man Gemeinwohl nennt. Die Feh-
den des Staats ſind die ſeinen nicht; man frägt ihn nicht,
ob er Krieg führen will oder nicht, ja, man ſagt ihm ſogar,
daß der Krieg ihn nicht anginge. Allein man nimmt ihm zu
dieſem Kriege, der ihn nicht angeht, ſeinen Sohn, den man
auf die Schlachtbank führt; man fodert von ihm für den Krieg,
der ihn nichts angeht, Kriegsſteuern; man quartiert bey
ihm Soldaten ein, die ſein Haus beſetzen, ſein Brod auf-
eſſen und ihren Muthwillen an ihm auslaſſen. Der Feind
rückt an: man unterſagt ihm, die Waffen zu ergreifen und
den Feind zuruckzuſchlagen — weil ihn der Krieg nichts
angeht. Der Feind greift an, legt die Stadt in Aſche, er
dringt weiter; lebt auf Koſten der Bürger, mishandelt ihn,
braucht gegen Weib und Tochter Gewalt, raubt, zerſtoͤhrt,
nimmt alles mit, und verwüſtet, was er nicht wegſchlep-
pen kann.“
„Was iſt alſo der Einwohner im Staate, wenn Ver-
wüſtung ſeiner Haabe, Hunger und Mangel, Mishandlung und
Schändung ihn nichts angehn und er ſich dieß alles geduldig
gefallen laſſen muß? Er iſt nichts, als das bedaurenswurdige
Werkzeug der Regierung die todte Maſſe, an welcher alle
Bedrückungen verübt werden. Und doch ſoll er den Staat
lieben? ihn Vaterland nennen?“ —
„Aber ihr moͤgtet es nicht, ihr Fürſten, daß wahrer
Patriotismus unter den Voͤlkern entſtünde: dazu kennt ihr
eure Vortheile viel zu gut. Ihr fühlet wohl, daß die Vater-
landsliebe mit eurem Deſpotismus unerträglich iſt. Ihr be-
greifet deutlich, daß Bürger, die vermoͤ[g]e der V[a]terlands-
liebe an einander hingen, nicht leicht zu beherrſchen [ſ]eyn
moͤgten, und ſich keine Anſchlage weiter, als Gemeinwohl,
gefallen laſſen wurden.“
„Wollt ihr indeſſen – fährt Villaume S. 138 fort
— daß ſie ein Vaterland lieben: o, ſo mußt ihr ihnen eins
geb[e]n. Die Heloten zu Sparta waren eben ſo wenig
Helden und Patrioten, als unſere Städter und unſere
Bauern. Der Unterthan iſt allenthalben ein blos paſ-
ſives Geſchoͤpf, ohne Seele, ohne Gefühl als zum Leiden,
und ohne Thätigkeit als für ſeinen Eigennutz. Der Bur-
ger aber iſt ein thatiges Weſen, deſſen Kräfte entwickelt
und in Bewegung ſind, und der ſich deswegen des Staates
annimmt, weil er deſſen Wohl als ſein Wohl, und deſſen
Werk als ſein Werk betrachtet.“
Das alles lehrte uns wirklich die Erfahrung vor unſern
Augen. Was halfen alle oͤffentliche und Privat-Auffode-
rungen zu patriotiſchen Beyträgen zu Führung des Krieges
gegen Frankreich? Der Deutſche blieb k[a]lt, und ließ ſeine
Furſten und deren Diener vergebens jammern und — ſchla-
gen. Wo Hülfe erfolgte, war es nur Folge von kleinlichen
Hofmitteln, angewandt nach der winzigen Einſicht der Pro-
vocierten; Patriotismus nirgends. Das Beywort für die
Stadt Wien, die Getreueſte, und die goldne Krone
vom Wi[en]er-Hofe nach Maria-Zell geſandt, ſind Stoff
zum Kommentieren; kein Beweis vom Gegentheil. Das
wa[h]re, ächte Gegentheil fand man an dem Bürger und
Bauer in Frankreich: der Patriotismus des einen und des
andern kannte keine Gränzen, und darum auch nicht ſein —
Siegen.
heiten der Zeit wird die Ver[min]nderung des Monarchen-
Sinns nicht verkennen, nach der allgemeinen gegenſeitigen
Bemerkung: daß [i]lliacos intra muros peccatur et extra.
Der bildende Genius der Zeit hat auch ſeine Logik, und muß
erſt von allen Seiten Data ſammeln, ehe er einen rec[tifc]i-
renden allgemeinen Schluß anſchaulich bilden kann. Und nie
hatte man eine reichhaltigere Experimental-Logik für die Fil-
trirung der Hauptſätze in der hergebrachten Politik der
Großen, als in dieſem Jahrſiebend. Wer etwas Troſtreiches
in dieſer Rückſicht leſen will, der leſe die Schrift: Ueber
den Geiſt des Zeitalters und die Gewalt der oͤffent-
lichen Meynung. 1797.
Mann verloren. Dieſe mußten erſezt werden: dadurch ent-
gingen dem Lande eben ſo viele. Nimmt man die Bekleidung
und die Bewaffnung der einen und der andern hinzu, und be-
rechnet man den Nachtheil, der durch die gewaltſame Aushe-
bung der Erſatztruppen entſtehen mußte für Ackerbau und an-
dere Gewerbe: ſo iſt Oeſtreichs Verluſt von dieſer Seite ſchon
überaus beträchtlich. Nun der übrige Verluſt an Erſchlage-
nen, Verkrüppelten, Entmutheten, an Ländern, an Anhäng-
lichkeit und Achtung in und außer Landes, u. ſ. w. und dann
wofür? — Schon die Geſchichte lehrte es unwiderleglich:
daß Monarchen-Stolz und Macht da ſcheitert, wo ein ganzes
Volk drauf ausgeht, frey zu ſeyn. Und mehr, als dieſes noch ein-
mal handgreiflich einzuſehen, haben alle Monarchen durch ihren
Krieg gegen die franzoͤſiſche Nation nicht bewirket. —
Preußen hat von den oͤſtreichiſchen Deſertoͤren eine be-
trächtliche Anzahl. Dieſe ſind eines Theils eine Pflanzſchule
fürs dereinſti[g]e Deſertiren im freyen Felde, andern Theils ein
Zuwachs an Menſchen, die wenig oder gar kein Intereſſe eben
ſo wenig am Lande als an deſſen Fürſten haben; folglich wie-
der ein Zuwachs zum politiſchen Indifferentis-
mus. —
Einer von den Kirchenvätern, ich beſinne mich nicht gleich,
welcher, dachte eben ſo ketzeriſch. „Eine ſchoͤne Frau,
ſchrieb er, muß ich hüten, eine häßliche kann ich nicht lie-
ben; eine reiche tyranniſirt mich durch Borrupfen, eine
arme zwingt mich, unaufhoͤrlich zu arbeiten; eine wollü-
ſtige erſchoͤpft mich, eine kalte verleitet mich zum Aus-
ſchweifen; eine vernünftige iſt äußerſt ſelten, und eine
unvernünftige iſt ärger als alle Furien: kurz, varium
et mutabile ſemper femina oder
alſo weg mit den Weibern!“ So ketzeriſch dachte ein
Kirchenvater, ein Kaſtrat für den Himmel, die aber für die
Erde oft auch kaſtrirt waren an Kopf und Herz. Wieland
trat der Wahrheit näher, als er ſang:
Indeß — wählſt du gut, ſo haſt du's gut, gilt auch hier;
und ein vernünftiger Mann zieht eine vernünftige Frau, außer
meiſt da, wo an ſeiner Wahl äußere Vorzüge mehr Antheil
hatten, als innere. Und dann — wie ſind wir Männer! —
zuweiligen Tumulte der Studenten in Jena, das und die auf
andern Univerſitaten nicht mehr ſo oft und nicht in der Aus-
dehnung und Beſchaffenheit vorfallen, wie dort, beweiſen, —
um auch ein Wort zu ſprechen, wie es wirklich iſt — daß
der alte ſtudentiſche Dünkel und Gemeingeiſt, in Rückſicht auf
akademiſche Freyheit, ſich in Jena noch ziemlich lange halte
und bald Feuer fange eben durch die oͤftern Zuſammenkünfte
in den Schenken des nicht großen Jenas. Auch die Tradition
von Wirthen, die ehedem ſelbſt Studenten waren, und auf
ihre ſtudentiſche Heldenſchaft nicht [k]leinlautig pochen moͤgen,
nebſt dein aufgeweckten und mitaufweckenden Weſen der Rhein-
länder, die gewoͤhnlich in Jena ſtudieren, tragen in der ſchon
objektiviſch-exaltirenden Gegend um Jena, vielleicht nicht
wenig bey zur Fortſetzung von einem Weſen, das der Herzog
von Weimar ſogern ganz gehoben wiſſen moͤgte. — Daß
auch das verha[ß]te Ordensweſen, wovon man in Halle ſchon
ſeit ſieben Jahren nichts mehr hoͤrt; noch in Jena fort-
daure, beweiſen die neuerlichen Relegationen, wenn nämlich
die Sache ſo iſt, wie Briefe und [G]er[ü]chte ſie in Halle dar-
ſtellen. Daß übrigens Jena dennoch in mancher andern Rück-
ſicht vor mancher andern Univerſität Vorzüge habe, kann man
nicht läugnen.
eine Univerſität — eine Schule der edelſten, wahreſten Men-
ſchenbildung ſeyn.
[q]uente Zerſtreuungsoͤrter für die Halliſchen Bürger, in der
[N]ähe von Halle.
nach ſie die Brauchbarkeit und Unbrauchbarkeit ihrer Herren
Sprachmeiſter meſſen koͤnnen.
viel dazu.
auch unter einigen Herren, welche die kritiſche Philoſophie,
wie ich merkte, bis an den Hoſenknopf ſtudiert hatten, ein
Geſpräch über die Philoſophie und über die Unzulänglichkeit
aller theoretiſchen Beweiſe für Gottes Daſeyn, Unſterblichkeit,
u. dgl. vorfiel. Weil man glauben mogte, daß ich von der
neuen Philoſophie auch was wüßte, ſo wurde ich aufgefodert,
an ihrem Geſpräche Theil zu nehmen. Ich that es, fand aber
Gelegenheit genug, an das aſinus ad lyram zu denken. Sehr
viele der jetzigen Studenten ſind verwoͤhnte, litteräriſche Weich-
linge, die die Dornen der eigentlichen Litteratur ſcheuen, dazu
auch nicht gezogen ſind, und vor lauter langer Weile ſich in
den Sümpfen der Romanwelt erſäufen.
nützen, wenigſtens, um ohne vielen Zeitverluſt den Innhalt
des proteſtantiſchen Lehrbegriffs kennen zu lernen oder
zu überſehen. Denn das audiatur et altera pars fodert
auch die Vernunft vor den Tribunalen der Kirchen.
Doſt in ſeiner Pharao- und onze et demi-Bude ſelbſt ſeyn.
Man denke!
fall, und von dem durch Adams Apfelbiß in die Welt gebrach-
ten Tod nicht geglaubt haben; ſonſt würde er ſo nicht haben
argumentiren koͤnnen. Daß ich ihn keines andern belehrte,
verſteht ſich von ſelbſt.
Sammlung erbaulicher Gedichte für die politiſchen
Vampyrs S. LXXXIV, wie vortheilhaft liegen ſie; aber
was ſind beyde gegen Frankfurt! — Man leſe da wei-
ter, und man wird erſtaunen über das Misverhältniß der
geiſtlichen Staaten zu den übrigen des deutſchen Staatskoͤr-
koͤrpers, und dann ſie wegwünſchen, um durch die Schuld
ihrer Vorſteher dereinſt nicht wieder in einen Krieg geneckt zu
werden, wie der ungeheure gegen Frankreich war.
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CC-BY-4.0
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Laukhard, Friedrich Christian. F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpqb.0