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[]

Briefe aus Sibirien
an ſeine Lehrer

den Koͤnigl. Grosbritanniſchen Hofapotheker
Herrn Brande,
den Koͤnigl. Grosbritanniſchen Botaniker
Herrn Ehrhart,
und den Bergcommiſſarius und Rathsapotheker
Herrn Weſtrumb.



St. Petersburg: ,
bey Zacharias Logan, 1796.
[][[1]]

Vorbericht.



Nicht ſowohl weil ein jedes Buch eine Vor-
rede haben muß, als weil ich als ein ganz
neuer Schriftſteller auftrete, glaube ich meinen
Leſern einige Rechenſchaft von der Veranlaſſung
dieſer Briefe und dem was ſie von mir zu erwar-
ten haben, ſchuldig zu ſeyn.


Seit vier Jahren durchreiſe ich Laͤnder, die
ungeachtet der in dieſem Jahrhundert herausge-
gebnen Schriften und Reiſenachrichten der St.
Petersburgiſchen Akademiker, noch nicht ſo ganz
genau beſchrieben ſind, wie manche Provinz in
Europa. Waͤhrend dieſer Reiſen habe ich man-
ches aufgezeichnet, was mir wiſſenswerth und
nuͤtzlich ſchien, um ſo fleißiger, da bey meinem
AAbſchie-
[2]Vorbericht.
Abſchiede, von meinen wuͤrdigen Lehrern, ſelbige
den Wunſch aͤußerten, alles, was mir Merkwuͤr-
diges aufſtoßen moͤchte, ihnen in Briefen mitzu-
theilen. Dieſen Wunſch haͤtte ich auch leicht er-
fuͤllen koͤnnen; allein bald, und ſonderlich da ich
meine Reiſe nach Sibirien antrat, erhielt ich von
vielen Andern aͤhnliche Auftraͤge, denen ich, in
Ruͤckſicht meiner Lage, Geſchaͤfte, und Entfer-
nung, nicht im Stande war Genuͤge zu leiſten.
Aus dieſer Verlegenheit nun glaube ich mich nicht
beſſer helfen zu koͤnnen, als durch die oͤffentliche
Bekanntmachung meiner Bemerkungen, wovon
ich in dieſer erſten Sammlung von Briefen eine
Probe geben will. Finden dieſe einigen Beyfall,
und werde ich nicht durch Critiken abgeſchreckt,
ſo ſollen dergleichen mehrere kuͤnſtig folgen, wozu
ich itzt, auf meiner zweyten Reiſe nach Sibirien,
hinlaͤnglichen Stoff zu ſammlen hoffen kann.


Offenherzigkeit und die ſtrengſte Wahrheits-
liebe hat ſtets meine Feder geleitet. Vielleicht
habe ich hin und wieder etwas als neu ausgege-
ben, welches ſchon von Andern bekannt gemacht
iſt. Man wird mir aber dieſes gewiß verzeihen,
wenn ich bezeuge, daß die neuſten Buͤcher, welche
ich auf meiner. Reiſe bey mir fuͤhrte, wenigſtens
vor acht Jahren gedruckt ſind; daß ich deren aͤuſ-
ſerſt wenig beſitze, und bey meinem kurzen Aufent-
halt in St. Petersburg Bibliotheken zu Rathe zu
ziehen und die neuern Schriften durchzublaͤttern
keine Zeit uͤbrig hatte. Giebt es denn nicht ge-
nug
[3]Vorbericht.
nug Buͤcher in der Welt, die, neben dem Neuen
und Nuͤtzlichen, Vieles enthalten, was unter die
laͤngſt bekannten Sachen gehoͤrt? Beſonders bitte
ich fuͤr die erſten dieſer Briefe um einige Nach-
ſicht.


Noch einen andern Zweck hatte ich bey Be-
kanntmachung dieſer Briefe; — dieſer iſt, das
boͤſe Vorurtheil auszurotten, was noch Viele, be-
ſonders im Auslande, von Sibirien haben Si-
birien iſt ein ſo vortrefliches Land, als irgend ei-
nes in der Welt unter gleicher Breite ſeyn kann.
Durch die unermuͤdete Sorgfalt, und durch die
beyſpielloſe, weißheitsvolleſte Regierung unſrer
maͤchtigſten Monarchin Catharina der
Zweyten,
ſind hier, auf eine faſt unglaubliche
Art, große undurchdringliche Waͤlder und Wild-
niſſe zu bewohnten Heerſtraßen und wuͤſte Ebnen
in die fruchtbarſten Felder umgeſchaffen worden *).
Man reiſet in dieſem ungeheuer großen Lande nun-
mehr mit einer Sicherheit, Schnelligkeit und Be-
quemlichkeit, wovon kein andres Reich in der
Welt, auf ſo großen Abſtand Beyſpiele geben
kann. Die Landſtraßen ſind gut und ſicher, die
Bruͤcken, wo es noͤthig iſt, unterhalten, der Poſt-
vorſpann ſchnell und wohlfeil und Nahrungsmit-
tel uͤberall zu haben. Zerbrochne Haͤfen giebt es
A 2uͤberall;
[4]Vorbericht.
uͤberall; es wuͤrde alſo unbillig ſeyn zu verlangen,
daß alles in Sibirien vollkommen ſeyn ſollte. So
gehoͤren z B. Gaſtwirthe und Wirthshaͤuſer in
Sibirien unter die ſeltenſten Dinge: Dahingegen
iſt man gewiß in keinem Lande der Welt gaſtfrey-
er. Jeder Reiſende von guter Auffuͤhrung iſt
uͤberall, beſonders bey dem guten Landvolk der
herzlichſten Aufnahme gewiß. Mit einem Worte,
Sibirien naͤhert ſich, mit Rieſenſchritten, den auf-
geklaͤrteſten Laͤndern Europens.


St. Petersburg im Maͤrz 1795.



Sie-
[[5]]

Sievers Briefe
aus Sibirien.


Erſter Brief.



Mein Herr,

Was ſeit dem Jahr 1785 bis 89 mit mir vorgegan-
gen iſt, werden Sie aus einigen wenig bedeu-
tenden Briefen, die ich nach Deutſchland ſchrieb, ſchon
hinlaͤnglich wiſſen. Jch will alſo von dem Zeitpunkt
anfangen, da ich Petersburg verließ und nach Sibirien
abreißte. Meine eigne Wahl und eine große Begierde,
dieſes merkwuͤrdige Land zu ſehn, brachten mich zu dem
Entſchluß, Mitglied einer Expedition zu werden, welche,
auf allerhoͤchſten namentlichen Befehl Jhro Kaiſerl. Ma-
jeſtaͤt, veranſtaltet wurde, um mit Anpflanzung und
Verbeſſerung des groͤßern Sibiriſchen Rhapontik (Rhe-
um ſibiricum)
und andrer Geſchlechtsverwandten Gat-
tungen, Verſuche zu machen. Man wollte nehmlich
A 3verſu-
[6]Sievers Briefe.
verſuchen ob nicht durch Veraͤnderung des Bodens, Ver-
ſetzen, Behacken, Beſchneiden, und andre Huͤlfsmittel,
aus den uns bekannten Gattungen dieſes Pflanzenge-
ſchlechts, guter, dem Chineſiſchen oder Buchariſchen an
Schoͤnheit und Kraͤſten gleicher Rhabarber erzielet wer-
den koͤnnte. Ohngeachtet des damals noch fortdauern-
den, ſo koſtſpieligen Krieges, wurden wir alle aufs Beſte
mit allem Noͤthigen ausgeruͤſtet; zu einem neuen Be-
weiß, wie aͤußerſt aufmerkſam unſre Große Monar-
chin
auf jeden Gegenſtand iſt, der nur einigermaßen et-
was zum Beſten des Reichs oder der Wiſſenſchaften bey-
tragen kann. — Nachdem wir alle uns zu unſrer groſ-
ſen Reiſe voͤllig ausgeruͤſtet hatten, fuhren wir den 13ten
Februar aus dem großen und ehrwuͤrdigen Moskau ab
und erreichten Jrkuzk den 26ſten April. Die wegen des
aufthauenden Schnees hin und wieder verſchlimmerten
Wege hinderten uns ſchneller zu reiſen. Es iſt ſonſt
nichts Unerhoͤrtes, daß Kuriere dieſen Weg der 5823
Werſte oder mehr als 830 deutſche Meilen betraͤgt, in
weniger als einem Monat zuruͤcklegen. Gewiß, theuer-
ſter Freund, Jhre Kuriere ſind nicht ſo geſchwind. —


Jrkuzk iſt, naͤchſt Tobolsk, die groͤßte und wich-
tigſte Stadt in Sibirien. Sie hat itzt viele ſchoͤne Ge-
baͤude, worunter ſich beſonders das große, aus zwey Ab-
theilungen beſtehende, ſteinerne Kaufhaus auszeichnet.
Man zaͤhlt in der Stadt 2800 Haͤuſer und bis 20,000
Einwohner Die Straßen ſind groͤßtentheils regulaͤr
und einige von nicht gemeiner Laͤnge. Beſonders iſt der
Anblick
[7]aus Sibirien.
Anblick praͤchtig, wenn man, aus Rußland kommend,
ſich gegen die ſchnell und maͤchtig ſtroͤmende Angara,
dicht unter der Stadt herablaͤßt, den alsdenn die zwoͤlf
ſchoͤn gebauten ſteinernen Kirchen beym Sonnenſchein
geben. Ein Seminarium fuͤr junge Leute, die ſich dem
geiſtlichen Stande widmen wollen, eine Volksſchule, ei-
ne kleine Bibliothek und Naturalienſammlung, und ein
Theater, ſind hier zur Bildung der Jugend angelegt
und alles hat ſich, ſeit dem Jahr 1772 da Georgi ſeine
Nachricht von dieſer Stadt aufſchrieb, hier ſehr verbeſ-
ſert. Beſonders traͤgt die Schaubuͤhne zu einem anſtaͤn-
digen und dreiſten Betragen der Jugend viel bey. „Ei-
ne Schaubuͤhne?“ hoͤre ich Sie fragen, „in einem ſo
entfernten Lande?“ — Ja, ganz gewiß! — und noch
mehr werden Sie ſich wundern; wenn ich Jhnen ſage,
daß die Schauſpieler hieſige Eingebohrne ſind, die nie
zuvor in ihrem Leben ein Theater geſehen hatten; und
doch ſind ihre Vorſtellungen ganz artig und die Muſik
nicht unangenehm. Denn alle Regimentsbefehlshaber
in Sibirien laſſen ihre Regimentsmuſik keinen Tag ohne
Uebung und verſchaffen ihnen aus Rußland von Zeit zu
Zeit die neueſten Muſikalien.


Das vormals hier eingerichtete Blatternhaus iſt
gegenwaͤrtig eingegangen, weil in allen Staͤdten Sibi-
riens mediciniſche Bediente angeſtellt ſind, die, ein jeder
in ſeinem Kreiſe, die Einimpfung mit dem beſten Er-
folg verrichten.


A 4Was
[8]Sievers Briefe

Was mir meinen Aufenthalt hier in Jrkuzk am
angenehmſten machte, ſind die gluͤcklichen Stunden ge-
weſen, die ich bey dem gelehrten Herrn Hofrath Lax-
mann
zugebracht habe. Jch habe nicht noͤthig etwas
zum Nuhm dieſes wuͤrdigen Mannes zu ſagen: die Er-
waͤhnung ſeines Namens muß der gelehrten Welt ſchon
genug ſeyn. Verſchiedne botaniſche Excurſionen, die
ich bis zum Tage meiner Abreiſe von hier nach Kiachta,
welche auf heute feſtgeſezt iſt, laͤngſt den Fluͤſſen Anga-
ra,
und dem in dieſen einfallenden Jrkut, wie auch
laͤngſt den Fluͤßchen Kaja und Uſchakowka, auf de-
nen gegen die Stadt auslaufenden Wercholeniſchen und
Angariſchen, groͤßtentheils mit Fichten bewachſenen Koh-
lenfloͤzgebirgen unternommen habe, waren noch ein andres
Mittel zu gaͤnzlicher Verſcheuchung der langen Weile.
Die vorzuͤglichſten ſchoͤnen Fruͤhlingspflanzen, welche die
erſte Anlage meiner Sibiriſchen Kraͤuterſammlung hier
ausmachten, ſind:


  • Pulmonaria anguſtiſolia.
  • Androſace lactiflora und villoſa.
  • Gortuſa Gmelini.
  • Theſium linophyllum.
  • Swertia dichotoma.
  • Gentiana aquatica.
  • Rhododendron dauricum.
  • Pyrus baccata.
  • Potentilla fragarioides und bifurca.
  • Atragene alpina.

Anemone
[9]aus Sibirien.
  • Anemone patens, vernalis, ſibirica, pratenſis, nar-
    ciſſiflora,
    und minuta Laxman.
  • Adonis apennina.
  • Iſopyrum fumarioides.
  • Aquilegia grandiflora.
  • Trollius aſiaticus.
  • Dracocephalum nutans.
  • Polygala amara.
  • Tuſſilago anandria.
  • Scorzonera humilis.
  • Viola pinnata, palmata, biflora und primuli-
    folia.
  • Cypripedium guttatum.
  • Betula Alnus viſcoſa.

Unter allen Gartenfruͤchten wachſen hier die Kar-
toffeln ſo ſchoͤn und wohlſchmeckend, wie ſie nur immer
in Holland und England gefunden werden. Sie ſind
ſeit etwan 25 Jahren bekannt. Aber der viele hier ge-
baute Hopfen hat wenig Gewuͤrzhaftes.


Man brennt auch hier, wie in ganz Sibirien und
dem ſuͤdlichen Rußland, waͤhrend der erſten Fruͤhlings-
monate, das vom vorigen Herbſt uͤbrig gebliebene Gras
ab, um den Boden zu reinigen, zu erwaͤrmen, und
fruchtbar zu machen. Dergleichen Steppenbraͤnde ſol-
len beſonders im Jahr 1783 ſehr ſtark und allgemein in
Sibirien geweſen ſeyn. Waͤre es wohl ſo ganz unwahr-
ſcheinlich, daß durch dieſe Steppenbraͤnde, der in gedach-
tem Jahr uͤber ganz Europa ſo allgemeine, und die Luſt
verdunkelnde Heerrauch, den einige aus Jßland, andre
K 5aus
[10]Sievers Briefe
aus Rußland herleiteten, verurſacht worden ſey? —
Wenigſtens wird in Gegenden, wo maͤchtige Wald. und
Steppenbraͤnde herrſchen, die Luft weit umher mit einem
ganz aͤhnlichen trocknen Dampf ſo angefuͤllt, daß man
oft bis in den Junius die Luft kaum wie durch einen
Nebel ſieht.


Zum Beſchluß dieſes Briefes fuͤhre ich noch an,
daß nach den vieljaͤhrigen Bemerkungen des Herrn Hof-
rath Laxmann, die hoͤchſte Barometerhoͤhe in Jrkuzk
28.″ 10.‴ die groͤßte beobachtete Kaͤlte 34° bis 36° ge-
weſen iſt.


Zweyter Brief.



Nun bin ich in der Gegend uͤber dem Baikalſee
oder in der Rußiſchen Mongoley. Der hieſige guͤtige
Herr Commendant und Ritter Appelgreen hat mir
ſein, etwan 5 Werſte von der Stadt entlegnes Landhaus,
waͤhrend meines kurzen Aufenthalts zur Wohnung ein-
geraͤumt, aus welchem ich Jhnen, theuerſter Goͤnner,
nun von meiner Reiſe uͤber den Baikal Rechenſchaſt ge-
ben will.


Jch verließ Jrkuzk den 5ten Juny Abends. Der
Weg geht laͤngſt der untern Angara groͤßtentheils durch
angenehme Waͤlder; hin und wieder iſt der Fluß auf
beyden Seiten durch hohe, bewaldete Gebirge beglei-
tet. Man kommt bey verſchiedenen volkreichen Doͤrfern
und Winterwohnungen, oder Simowjen vorbey. Um
Mit-
[11]aus Sibirien.
Mitternacht wechſelte ich in der Station Paſchkowa,
die von dem ehemaligen Woewoden Paſchkof ihren Na-
men behalten hat, Pferde, und erreichte Morgens fruͤh
die am Baikalſee gelegne Station Liſtweniſchnoe.
— Hier wo die Angara, als der einzige Ausfluß aus
dem See, hervorkoͤmmt, oͤfnet ſich das ihn umgebende
Gebirge wie mit einer ungeheuren großen Pforte, und
man erblickt auf einmal den vier bis fuͤnf Meilen breiten
See, mit denen ihn an der Suͤdlichen und Suͤdweſtli-
chen Seite umgebenden, theils mit ewigem Schnee be-
deckten Granitgebirgen, welche bey hellem Wetter einen
majeſtaͤtiſchen Anblick gewaͤhren. Die Angara ſoll auf
jede Werſte einen Faden Fall haben, ſo daß alſo die
Stadt Jrkuzk an die ſechzig Faden niedriger, als der
Baikal, liegen wuͤrde.


Der Baikalſee, den die Ruſſen auch Swaͤto
More
(das heilige Meer) nennen, heiſt auf Mongoliſch
Baiguͤll, welches die Chineſer in Pe-chai verderbt
haben. Seine Laͤnge, welche nach einigen Sagen jaͤhr-
lich zunehmen ſoll, wird auf 800, und die groͤßte Breite
zwiſchen 80 und 90 Werſte geſchaͤzt. Es ſollen in
denſelben 177 große und kleine Gewaͤſſer ihren Ausfluß
haben. Es iſt aͤußerſt wahrſcheinlich, daß das tiefe
Bette deſſelben, durch ein Erdbeben und Einſturz des
Gebirges entſtanden iſt; aber zu welcher Zeit dieſes ge-
ſchehen ſey, daruͤber ſind auch nicht einmal Traditionen
uͤbrig. Vielleicht ſtammen von einer gleichzeitigen Ueber-
ſchwemmung auch wohl die großen Baumſtaͤmme, Kno-
chen und ungeheuren Buͤffelkoͤpfe her, die man um den
Baikal,
[12]Sievers Briefe
Baikal, in einer Entfernung von 100 bis 500 Werſten
findet, und noch neuerdings in einer Tiefe von 18 Fa-
den gefunden hat. Die benachbarten Steinkohlenfloͤtze,
das Bergtheer welches aus dem Grunde des Sees quil-
let, die an verſchiednen Stellen befindliche heiſſe, hepa-
tiſche Badequellen, die groſſe Tiefe des Sees, deſſen
Grund man mit 400 Faden Leine in der Mitte, zwiſchen
Liſtweniſchnoe und Poſſolskoi Monaſtyr, nicht hat
finden koͤnnen, und die Schluͤnde, welche man bey ſtil-
lem Wetter aus der unruhigen Bewegung der Ober-
flaͤche, an verſchiednen Stellen des Sees bemerkt, paſ-
ſen auf den obgedachten Urſprung des Sees ſehr wohl.
Es iſt auch immer zu befuͤrchten, daß noch einmal aͤhn-
liche Zerruͤttungen in dieſer Gegend vorgehen koͤnnten,
da hieherum, in Jrkuzk, Kjachta, an der Lena, am Fluß
Amga und bis nach Kamtſchatka hin, faſt jedes Jahr
Erdbeben verſpuͤrt worden; die jedoch ſeit 15 Jahren nur
ſehr gelinde ſind. Gleichwohl ſind hier keine feuerſpey-
ende Berge naͤher, als in Kamtſchatka und auf den Ku-
riliſchen und Aleutiſchen Jnſeln. Denn der brennende
Berg an der Lena, fuͤnf und vierzig Werſte unterhalb Ja-
kuzk, im ſogenannten Angalaska- oder Kongalaska-
Gebirge, den die Ruſſen Surgujef Kamen nennen,
und der an zwey Stellen beſtaͤndig raucht, iſt nicht als
ein Vulkan zu rechnen. Dieſer aus Thon und Sand-
lagen beſtehende Berg, unter welchem vermuthlich bitu-
minoͤſe Schichten brennen und gebrannt haben, enthaͤlt
in Eiſenſtein verwandelte Holzbrocken, die bis 70 Pro-
cent geben, nebſt andern figurirten Eiſenſteinen, Jaſpo-
nyxen,
[13]aus Sibirien.
nyxen, Gagat und Chalcedon, und ſoll auf 80 Faden
ſenkrechte Hoͤhe haben. Ein aͤhnlicher rauchender Berg
ſoll ſich gegen Niſchnei-Udinsk befinden.


Es war mir aͤußerſt lieb, daß die beyden, zur Ueber-
fuͤhrung der Reiſenden beſtimmte Galliotten, eben jezt
auf der andern Seite des Sees waren, und mir acht
Tage Zeit lieſſen, die ich, wie Sie leicht denken koͤnnen,
zu botaniſchen Wanderungen beſtimmte. — Hinter der
Station Liſtweniſchnoe erhebt ſich ein kraͤuterreicher ho-
her Berg, der mit dem ſich auf dieſer Seite des Baikals
oſtlich hinziehenden Gebirge zuſammenhaͤngt. Auf die-
ſem Berge brachte ich manche vergnuͤgte Stunde hin.
Außer einigen Donnerwettern, waren die Tage meines
ſieſigen Aufenthalts ſehr heiter; der Anblick, den man
von dieſem Berg uͤber den See und zu den jenſeitigen
Schneegebirgen hat, iſt entzuͤckend. Hier ſaß ich oͤf-
ters mit Zimmermanns Werke uͤber die Einſamkeit in
der Hand, las dieſes groſſen Mannes unuͤbertreflich
ſchoͤne Beſchreibungen im 4ten Theil S. 50. 53. 54.
55. 62. 63. 68-79. 80. und 108. Wie heiter und ver-
gnuͤgt ich dann meinen Platz verließ, laͤßt ſich beſſer den-
ken als beſchreiben.


Das Waſſer des Baikals iſt eins der reinſten in
der Welt, und ſo klar, daß man in vier Faden Tiefe die
kleinſten Steine am Boden ſehen kann. Es enthaͤlt,
außer aͤußerſt wenig Kalkerde, nichts fremdartiges, und
kocht alle Gemuͤſe und das Fleiſch ſehr geſchwind gar
und weich. Die Temperatur des Waſſers iſt, zu ver-
ſchiedenen Zeiten gemeſſen, drey bis fuͤnf Grad nach dem
Reau-
[14]Sievers Briefe
Reaumurſchen Waͤrmemaß. Jch badete alle Tage dar-
inn, konnte aber niemals lange aushalten. Die groͤßte
Waͤrme der Atmosphaͤre war im Schatten 17°, die nie-
drigſte 6°, im Sonnenſchein aber ſtieg das Thermometer
bis 26°. Jn der Angara muß das Waſſer, wegen der
vielen Quellen, noch kaͤlter ſeyn.


Der Baikal ſowohl, als die aus demſelben flieſ-
ſende Angara, haben, wie andre ſibiriſche Fluͤſſe, deren
Boden felſigt und ſteinigt iſt, das Beſondre, daß ſie zu-
erſt im Grunde Eiß erzeugen, welches ſich in großen
Feldern durch ſeine Leichtigkeit loßreißt und zu Treibeiß
wird. Alle Fluͤſſe in Sibirien frieren ſchon in den lez-
ten Tagen des Oktobers, oder in den erſten des Novem-
bers zu; aber der Baikal und die Angara, gemeiniglich
und ſeit vielen Jahren, erſt im Januar. Man urtheilt
gemeiniglich, daß die heftigen Herbſtſtuͤrme auf dem
Baikal, und die ſehr ſchnelle Stroͤmung der Angara,
hieran Schuld ſind.


Endlich kamen beyde Galliotten von der andern
Seite des Sees heruͤber. Die eine, ſchon vor laͤngſt
erbaute, war ſehr beſchaͤdigt, mußte alſo ausgebeſſert
werden, welches aber, aus Mangel an erfahrnen Schiffs-
zimmerleuten, ſehr langſam von ſtatten gieng. Jndeſ-
ſen durften wir darauf nicht warten: die neue ſehr gut
gebaute Galliotte erhielt ihre Ladung den 14. Jun. und
wir giengen denſelben Abend noch am Bord, und ſegel-
ten mit einem friſchen NW Winde davon. Es war
ein aͤußerſt angenehmer Anblick, den die in SW liegen-
de Schneegebirge, und alle uͤbrige, groͤßtentheils mit
Nadel-
[15]aus Sibirien.
Nadelholz bewaldete Berge, die den Baikal begraͤnzen,
bey hellem Mondſchein darboten. Da bey unſrer Ueber-
fahrt nach Poſſolskoi der Abſtand von einem Ufer zum
andern nur ohngefaͤhr 80 Werſte betraͤgt, ſo wurde, in-
dem wir fortruͤckten, die Scene oft veraͤndert. Bald
tiefe Thaͤler, bald beinahe in ſenkrechter Linie abgeſchnit-
ne ungeheure hohe Felſenwaͤnde, die ſich auch ſo ſteil,
wie der Fuß des Gebirges uͤber dem Waſſer, in die Tiefe
des Sees hinabſenken; bald maͤchtige Geruͤlle (Roſſypi)
von Granit oder auch Schiefer, bald ſehr angenehm ge-
ſtaltete, gruͤnbelaubte und abgetheilte Gebirgkoppen;
uͤber uns den hell geſtirnten Himmel, und um uns her
eine ſanftwallende See. Jch ſtand am vordern Ende
des Galliots in tiefe Betrachtungen verſenkt, und dachte
an meine Freunde in Europa, zu denen ich meine beſt-
gemeinten Wuͤnſche hinuͤber ſandte. Ein naher Waſſer-
fall des Ufers ſtoͤrte meine Gedanken endlich, und ich
legte mich nieder. ‒‒ Als ich des Morgens erwachte,
war unſer einmaſtiges Schiff in den kleinen, ſandigen
Hafen (Prorwa) vor Anker gegangen. Von dieſem
Ankerplatz geht eine, aus Sand und Rollſteinen beſte-
hende, und auf 3 Werſte ſich erſtreckende Landzunge bis
an das Geſandſchaftskloſter (Poſſolskoi Monaſtyr)
wo aus dem dabey gelegnen Dorfe die Poſtpferde, zur
weitern Fortbringung der Reiſenden, herbeygeſchaft wer-
den. Der Name des Kloſters ruͤhrt von einem, von
den Buraͤten vormals hier erſchlagnen, rußiſchen Ge-
ſandten, der nach China beſtimmt war, her. Die ſonſt
nach China gehenden Kaufmanns-Caravanen pflegten
hier
[16]Sievers Briefe
hier ihre Andachtsuͤbungen zu verrichten, und ſodann
ihre weitere Reiſe anzutreten. Jezt ſind alle dergleichen
Geſandſchafts- und Handlungs-Caravanen aufgehoben;
zwar nicht durch einen foͤrmlichen Vertrag, ſondern weil
die Krone keinen Vortheil dabey fand. Dahingegen
wird, fuͤr die in Peking beſtehende rußiſche Kirche, alle
ſieben Jahr zur Abwechslung ein Geiſtlicher, der den
Rang als Archimandrit hat, mit zwey Kuͤſtern, vier aus
den Seminarien genommenen Zoͤglingen, und zwey klei-
nen Knaben, nach Peking abgefertigt, welche leztere
nachmals, als Translateurs angeſtellt und gebraucht wer-
den. Zur Fortſetzung des Handels aber iſt, ſeit dem
Jahre 1727 durch die Unterhandlungen des Jllyriſchen
Grafen Sawa Wladislawitſch Raguſinskoi, der
Ort Kjachta feſtgeſezt worden, wo von Chineſiſcher
Seite, nur 60 Faden von der rußiſchen Feſtung, der
ſogenannte Flecken Mai-matſchin erbaut iſt.


Auf obgedachter ſandigen Landzunge, und weiter-
hin gegen Nordoſten, an den verſchiednen Muͤndungen
des aus der chineſiſchen Mongoley herſtroͤmenden Se-
lenga, findet man Rollſteine von Porphyr, andre von
bloſſem Quarz, andre von Varioliten, deren Kuͤtt thon-
artig, zuweilen auch quarzig iſt, noch andre von rothem
ſchlechten Jaspis mit weiſſen Quarzadern, und endlich
von Granit. Ferner iſt der beinahe ganz reine ſchwarze
Eiſenſand merkwuͤrdig, der begierig vom Magnet ange-
zogen wird, und ſich hin und wieder ſtrichweiſe im Sand-
ufer findet.


Unter
[17]aus Sibirien.

Unter den Gewaͤchſen fiel mir fuͤr dasmal nur,
jenſeits des Dorfs Poſſolskoi, eine aͤußerſt ſchoͤne, auf
den ſumpfigen Wieſengruͤnden Fuß hoch und druͤber wach-
ſende, dunkelblaue große Jris auf, die zur Saftfarbe
vortreflich ſeyn muͤßte. Die Beſchreibung in Gmelins
Flora Sibirica[er]ſter Theil, S. 30. n. 28. paßt ziem-
lich vollkommen dazu. Zum Gruͤnfaͤrben der Bratski-
ſchen Corduane wuͤrde ſie beſſere Dienſte leiſten, als die
dazu gewoͤhnlich angewendete Scutellaria, wovon Jaͤh-
rig
in den Schriften der oͤkonomiſchen Geſellſchaft Nach-
richt ertheilt hat.


Je weiter ich in den Gegenden uͤber den Baikal
hinaus fortruͤckte, deſto verſchiedner kamen mir alle na-
tuͤrliche Gegenſtaͤnde vor. Eine aͤußerſt heitre Luft;
gar kein ſtechendes Ungeziefer, das in andern Laͤndern
den Reiſenden ſo beſchwerlich faͤllt; die Einwohner ein
Gemiſch aus Ruſſen und Mongolen oder Karym, und
wahre Mongolen; daher auch Verſchiedenheit in Spra-
che und Sitten. Das mir zur Wohnung dienende Land-
haus liegt auf einer großen, mit Bergen umgebnen,
kraͤuterreichen, laͤnglichtrunden Steppe, welche nach dem
darinn fließenden Bach Jwolga ihren Namen hat.
Hier ſahe ich mich mit Mongoliſchen Wohnungen um-
geben, theils beweglichen Filzjurten, theils feſten, aus
Holz gebauten, die gemeiniglich von Mongolen, welche
ſich bey rußiſchen Beſitzern als Viehhirten vermiethen,
bewohnt werden. Jch widmete hier einen ganzen Tag
dazu. um die Lebensart meiner nomadiſchen Nachbarn
beobachten zu koͤnnen. Jch begab mich in eine der be-
Bſten
[18]Sievers Briefe
ſten Jurten, ließ ein Schaaf ſchlachten, ließ Milchbran-
tewein deſtilliren und nach ihrer Art Thee kochen. Dieſe
Voͤlker ſchlachten das Vieh nicht wie wir, ſondern indem
einer das Thier auf einen Filz zur Erde wirft, und dar-
auf kniet, ſo macht er ihm mit einem langen Meſſer in
der Herzgrube, durch Haut und Zwerchfell einen Ein-
ſchnitt, faͤhrt mit der Hand hinein, und reißt mit dem
Finger die große Hohlader durch, worauf die aͤußere
Wunde, um das Blut nicht auszulaſſen, mit dem Stiel
des Meſſers zugehalten wird. Alles Blut ſammlet ſich nun
in der Bruſthoͤhle, und das Fleiſch ſoll, nach dem Vor-
geben der Mongolen, dadurch weit ſchmackhafter werden,
welches ich auch ſelbſt erfahren habe. Nachdem das Thier
todt iſt, welches ſehr bald erfolgt, wird das Fell abgezo-
gen, und darauf das Eingeweide ausgenommen, und
dann das Gebluͤt mit den Haͤnden ausgeſchoͤpft, in ei-
nem beſondern Geſchirr geſammelt, mit etwas kalten
Waſſers zum rinnen gebracht, und als eine Ehrenſpeiſe
fuͤr Gaͤſte, in dem Zwoͤlffingerdarm zur Wurſt gemacht.
Wenn nun das Fell abgezogen iſt, ſo werden ſogleich das
Herz, die Nieren, Stuͤcken von Leber und Lungen, der
Bruſtknochen mit der aufſitzenden fetten Haut, die Milch-
druͤſe, und dergleichen Kleinigkeiten mehr, an reinen,
zugeſpitzten, duͤnnen und Ellenlangen Stoͤckerchen, ſo
warm, wie ſie vom geſchlachteten Thier kommen, am
Feuer gebraten, welches kaum zehn Minuten erfordert.
Dieſes macht die beſten Leckerbiſſen aus, und wird nur
unter die Vornehmern ausgetheilt. Auch mir ſchmeckten
dieſe, aus dem Stegreif gebratnen Sachen außerordent-
lich
[19]aus Sibirien.
lich wohl. Alles uͤbrige Fleiſch wird zerſchnitten, und
das ganze Schaaf in mehreren großen eiſernen Grapen
mit Waſſer, ohne Salz abgekocht, und ſo, ohne Brod,
mit groͤßtem Appetit verzehrt. Die Zerlegung des
Schaafes wiſſen ſie in der groͤßten Geſchwindigkeit, und
mit recht anatomiſcher Kunſt zu bewerkſtelligen. — Die
Schaafe dieſer Mongolen haben nicht die beſte Wolle,
haͤngende Ohren, rundlichglatte Fettſchwaͤnze, von zwey
bis zehn Pfund ſchwer, und ein voͤllig ausgewachſenes
moͤchte wohl 80 Pfund wiegen.


Umſtaͤndliche Erwaͤhnung verdient der mongoliſche
Thee, wovon auch die hier wohnende Ruſſen außeror-
dentliche Liebhaber ſind. — Man verfertigt in China
fabrikmaͤßig, aus den ganz zulezt abgenommenen Blaͤt-
tern des Theebaums, die man welk werden laͤßt, durch
Beſprengen mit Blutwaſſer, und durchs Preſſen, Ta-
feln, die ohngefaͤhr die Laͤnge und Breite eines halben
Bogens Schreibpapier haben, einen Zoll dick ſind, und
drey bis vier Pfund wiegen. Die Ruſſen nennen es
Ziegelthee. Von dieſen ſehr dichten und harten Tafeln
werden ohngefaͤhr 10 bis 14 Quentchen abgekrazt, in
einem hoͤlzernen Moͤrſel zerſtampft, und nun etwan eine
halbe Stunde, unter beſtaͤndigem Schoͤpfen und Gieſſen
(Samarchò) mit einer großen eiſernen Kelle, in einem
eiſernen Grapen, mit etwan einem Eimer Waſſer ge-
kocht; waͤhrend des Siedens werden ohngefaͤhr zwey
Quentchen, ſogenanntes Gudſchir, oder mineraliſches
Alkali von den Salzpfuͤtzen, welches zuweilen mit etwas
Vitriolſaͤure geſchwaͤngert iſt, und oft auf großen Plaͤtzen
B 2finger-
[20]Sievers Briefe
ſingerdick auswittert, darin aufgeloͤßt. Wenn dieſe Auf-
loͤſung geſchehen iſt, ſo gießt die Wirthin, deren Ge-
ſchaͤft das Theekochen jederzeit iſt, das Koͤchſel durch ein
Tuch in ein andres Gefaͤß, reinigt den Grapen, thut ohn-
gefaͤhr ein Viertelpfund Butter, und Milch mit dem
Rohm, nach Belieben hinein, und wenn die Butter zer-
gangen iſt, gießt ſie das Theeextract wieder hinzu, und
laͤßt es noch einige Minuten, unter beſtaͤndigem Umruͤh-
ren kochen, da es denn zum Trinken fertig iſt, und das
Anſehen einer mit Milch gekochten duͤnnen Chokolade
hat. Alsdenn theilt die Wirthin dieſes nahrhafte Ge-
traͤnk, an welches ſich auch die Ruſſen durchgaͤngig ge-
woͤhnt haben, in hoͤlzernen, lakirten, chineſiſchen Scha-
len an die Anweſenden aus. Vornehme Kalmuͤcken und
Mongolen haben einen eigentlichen Zai-tſchi, oder
Theekoch, und geben demſelben noch wohl Gehuͤlfen zu,
um dieſe langwierige Zubereitung fuͤr ihr Haus beſtrei-
ten zu koͤnnen. Denn je laͤnger dieſer Thee gekocht und
geruͤhrt wird, deſto beſſer und wohlſchmeckender ſoll er
werden.


Seitdem die Kinderblattern in dieſen Gegenden
mehr einheimiſch geworden ſind, gehoͤrt das hier be-
ſchriebne Theegetraͤnke unter die ſchaͤdlichen Nahrungs-
mittel; hauptſaͤchlich wegen des alkaliſchen Zuſatzes. —
Aus dieſer Arſache hat der gelehrte Herr D. Friedrich
Roͤslein,
der die ſchaͤdlichen Folgen davon bey den Bu-
raͤten hinlaͤnglich beobachtet hat, einen Befehl von der
Regierung ausgewirkt, Kraft deſſen der Gebrauch des
mineraliſchen Alkali im Thee, ſo viel moͤglich abgerathen,
und
[21]aus Sibirien.
und deſſen Schaͤdlichkeit eingeſchaͤrft wird. Gedachter
Herr D. Roͤslein iſt bey dieſer Vorſicht im Jnoculiren
der Blattern ſo gluͤcklich geweſen, daß er von 400 Kin-
dern nur zwey verlohr; da hingegen bey den Wund-
aͤrzten Muͤlenburg und Schilling die Mortalitaͤt et-
was groͤßer geweſen iſt.


Der Ueberfluß des mineraliſchen Laugenſalzes iſt
auf allen Salzplaͤtzen der uͤber den Baikal gelegnen Ge-
genden ſo groß, daß man die reinſte Soda in groͤßter
Menge und auf das wohlfeilſte bereiten koͤnnte, wenn
man, um das beygemiſchte Bitterſalz vollkommen zu
alcaliſiren, und das fluͤchtige Alkali davon zu jagen, die-
ſes Erdſalz mit Kohlenſtaub ausgluͤhte, und darnach
das reine mineraliſche Laugenſalz durch Kryſtalliſation
abſonderte, wenn es vorher erſt einigermaßen wieder mit
fixer Luft geſaͤttigt wuͤrde; oder auch, da die Menge ſo
groß iſt, wenn man gleich, ohne vorhergohende Calcina-
tion den eigentlichen alkaliſchen Theil anſchießen lieſſe-
So wie es izt iſt, wird dieſes Erdſalz, in der von Herrn
Hofrath Laxmann an der Angara oberhalb Jrkuzk an-
gelegten Talzinskiſchen Glashuͤtte mit gutem Erfolg
zum Glasmachen gebraucht. *) Nur hat man bemerken
wollen, daß die daraus verfertigten Glasgeſchirre, wenn
ſie einige Zeit an der Luft geſtanden haben, gern zer-
ſpringen.


B 3Der
[22]Sievers Briefe

Der bey den Mongolen und Buraͤten uͤbliche Milch-
brantwein gehoͤrt, nach meiner und Andrer Meynung,
vielmehr unter die geſunden Getraͤnke, obgleich er wohl
nicht unter die wohlſchmeckenden gerechnet werden kann.
Dank ſey es indeſſen meinem Freunde Lowitz, der die
Dephlogiſtikation der angebrannten ſpirituoͤſen, uͤbel-
ſchmeckenden Getraͤnke durch Kohlen erfand; denn durch
dieſes Mittel, wenn man auf eine Quantitaͤt Kohlen et-
wan einen Eimer Milchbrantwein gieſſet, dieſes Ge-
miſch, mit Zuſatz von Kuͤmmelſaamen, Zitronen, Zim-
met oder Pomeranzen einige Wochen unter oͤfterm Um-
ruͤhren ſtehen laͤßt und hernach rectificirt, ſo erhaͤlt man
ein Getraͤnk, deſſen Urſprung auch der beſte Brantwein-
trinker nicht errathen wuͤrde. Wird aber der gemeine
einmal abgezogne Milchbrantwein an einen warmen Ort
zum Fortſaͤuern hingeſtellt, ſo wird ein ſtarker Eſſig dar-
aus; ſo wie deſſen Erzeugung aus Molken in Pallas
Reiſe III. Theil S.
618 erwaͤhnet worden iſt. Die
Mongolen, Kalmuͤcken, Buraͤten, Jakuten, Tunguſen
und Kirgiſen, machen dieſen Milchbrantwein theils aus
Kuh- und Stutenmilch zugleich, da die Kuhmilch fuͤr
ſich allein zur geiſtigen Gaͤhrung ungeſchickt iſt, oder aber
aus bloæer Stutenmilch. Der Geſchmack iſt in beiden
Faͤllen faſt gleich. Wenn ſie eine Quantitaͤt dieſer Milch
in ledernen oder hoͤlzernen hohen Geſaͤßen geſammlet ha-
ben, ſo laſſen ſie ſelbige, unter beſtaͤndigem Schlagen
mit einer an einem langen Stiel befeſtigten Scheibe, wie
die in teutſchen Butterfaͤſſern, oder mit einem keulenſoͤr-
migen Stock, entweder fuͤr ſich ſelbſt in die ſaure Gaͤh-
rung
[23]aus Sibirien.
rung uͤbergehn, oder weil dieſes zu lange waͤhrt, mit ei-
nem Zuſatz von ſchon vorraͤthigem ſauern Laab oder ſau-
rer Milch geſchwinder ſaͤuern. Jndeſſen iſt auch dieſes
uͤberfluͤſſig, da die zur Gaͤhrung beſtimmte Geſaͤſſe, nie-
mals gereinigt werden und man die taͤglich 2 bis 5 mal
gemolkene Milch immer wieder auf den alten ſauren Satz
aufgießt und alſo die Gaͤhrung ununterbrochen ihren
Fortgang hat, ſo daß alle Morgen die Milch zur Brant-
weinsdeſtillation fertig iſt. Die Vorbereitung dazu hat
der Ritter Pallas im erſten Theil ſeiner Reiſe auf
der neunten Tafel, ingleichen ſeine mongoliſchen
Nachrichten Pl.
— — vollkommen richtig vorgeſtellt
und beſchrieben. Da mir alle dergleichen Sachen ganz
neu waren, ſo koͤnnen Sie ſich leicht vorſtellen, daß mir
der heutige Tag ungemein vergnuͤgt verſtrich.


Waͤhrend man mit Zubereitung der Mahlzeit be-
ſchaͤftigt war, lief ich denn auch etwas in der Gegend
herum, um mich nach den Schaͤtzen der Flora umzuſehn.
Hypecoum erectum, Glaux maritima und ein beſondrer
Leonurus, nebſt der haͤufigen Agroſtis arundinacea,
machten ſich beſonders merkwuͤrdig. Die erſte dieſer
Pflanzen wird itzt von den Landleuten haͤufig, auch zum
Verkauf, geſammlet, ſeitdem man es in hieſigen Gegen-
den als ein trefliches Bitter- und Arzneymittel wider
Fieber und andre Krankheiten hat kennen gelernt. Letz-
tere, welche die Mongolen Dereſſu, und die hieſigen
Ruſſen, mit dem ſonſt eigentlich fuͤr das Federgraß (Sti-
pa peunata)
gehoͤrigen Namen Kowuͤll, belegen, waͤchſt
in allen hieſigen Steppen in ungeheurer Menge und
B 4Groͤße.
[24]Sievers Briefe
Groͤße. Wenn es bluͤht, ſo werden deſſen ſchoͤne Aeh-
ren zuweilen von Kameelen, Pferden, Ziegen, Kuͤhen
und Schaafen gefreſſen, die auch deſſen Wurzeln an ab-
geſtuͤrzten Ufern ſuchen. Das Graß ſelbſt taugt zum
Futter nicht, aber deſtomehr zum Feſtmachen des Trieb-
ſandes. Die Chineſer machen ihre feingeflochtnen Som-
merhuͤte daraus, die ſie mit rothgefaͤrbten Quaſten, aus
Haaren der Tangutiſchen Buͤffel zieren.


Jch bin u. ſ. w.


Dritter Brief.



Von der Chineſiſchen Graͤnze bekommen Sie nun
die Fortſetzung meiner Reiſeberichte, die nun wohl kuͤnf-
tig etwas reicher an Bemerkungen ſeyn werden. Jch
nahm Abſchied von meinen Udinskiſchen Freunden und
da ich nun einmal den Kopf mit Mongoliſchen Bemer-
kungen angefuͤllt hatte, ſo wollte ich, um noch mehrere
Bekanntſchaft zu machen, nicht ganz den gewoͤhnlichen
Poſtweg fahren, ſondern gieng von Jwolginskoi Staniz
nach dem nur 50 Werſte entfernten Gaͤnſeſee (Guſſino
oſero,
mongoliſch Kuͤlleng-Norr) rechter Hand ab
und nahm meine Wohnung ſo nahe, als moͤglich, bey
mongoliſchen Tempeln. Robinia ferox, pygmaea et
Charagana, Cymbaria daurica, Peganum daurica, Rubia
cordifolia,
ſehr hoch wachſendes Linum perenne, Onoſ-
ma ſimpliciſſimum
und dergleichen ſchoͤne Arten mehr,
waren die Zierde dieſes Weges. Der Kuͤllengnorr hat
ſein
[25]aus Sibirien.
ſein Daſeyn, weder einem Erdbeben, noch feuerſpeien-
den Bergen zu danken. Er iſt erſt vor etwan 40 Jah-
ren, aus einer kleinen, unbedeutenden Pfuͤtze, durch ei-
nen Einbruch des Kemnikfluſſes zu der itzigen Groͤße an-
gewachſen, wodurch denn die hier herumwohnenden, ruſ-
ſiſchen Mongolen viel Weyde verlohren haben. Seine
Geſtalt iſt laͤnglicht rund und ſein itziger Umkreiß betraͤgt
uͤber vierzig Werſte. Zu dieſer Groͤße aber iſt er nur ſeit
etwan drey Jahren angewachſen. An ſchoͤnen Fiſchen,
beſonders Hechten, Rappen (Salmo thymallus,Chari-
us
) Sigi (Lavaretus), Saͤlblingen (Salvelinus), Barſ-
ſen, Rothfedern (Cypr. Idus) und aͤhnlichen kleinen Ar-
ten hat er einen Ueberfluß.


Volkane oder von ſelbigen nachgebliebne Cratere,
Laven, und dergl. findet man ſo wenig hier, wie in der
ganzen bisher von mir durchreißten Gegend. Die den
See umgebenden zum Theil mit Nadelholz bedeckte Ber-
ge ſind zu niedrig, dabey uralt. Granite mit und ohne
Glimmer, Porphyre, Breccien, Quarz, ſandartiger fe-
ſter Hornfels, Thonſchieferſchichten, Ocher und andre
Anzeigen von Eiſenerzt, ſo wie auch, wie man mir ver-
ſicherte von ſilberhaltigen Erzten, die ſich aber bisher
noch viel zu arm gezeigt haben, ſind die vornehmſten
Mineralien dieſer Gegend. Beſonders aber iſt der ſtark
phoſphoreſcirende Flußſpat merkwuͤrdig, der ſich in einer
Entfernung von etwan 15 bis 30 Werſten, am kleinen
Fluß Ubukun, im Granit haͤufig findet, und wovon
man oft die herrlichſten Kryſtallen von Ametyſtgruͤner
und weiſſer Farbe antrifft; die zuweilen noch mit ihrer
B 5Mutter,
[26]Sievers Briefe
Mutter, der Flußſpaterde, bedeckt ſind. Chalcedonar-
tige Kieſel und eine Art Schmirgel werden naͤher am
Selenga gefunden.


Jch machte bald Bekanntſchaft mit dem hieſigen
vornehmſten Bandida-Lama, einem Greiſe von 88
Jahren, der mir ſeine Tempel zu beſehen erlaubte. Es
ſind deren itzt neun, worunter der mittelſte der groͤßte und
ſchoͤnſte, von zwey Stockwerk war. Sie ſind in tybeti-
ſchem Geſchmack gebaut und der Goͤtzendienſt den die La-
men darin verrichten, iſt eben ſo wenig der europaͤiſchen
Andacht angemeſſen. Stellen Sie ſich gegen hundert
Prieſter vor, die in verſchiednen Reihen gegen einander
uͤber, alle roth gekleidet, mit untergeſchlagnen Beinen
ſitzen, und theils mit monotoniſchen, tangutiſchen Lita-
neygeſaͤngen, theils mit dem Schlagen platter haͤngen-
der Pauken oder Trommeln, theils mit ſchreienden Schal-
meyen, theils mit donnernden, wenigſtens acht Fuß lan-
gen Poſaunen, theils mit Janitſcharen - Tellern und
Gloͤckchen, theils endlich mit quaͤkenden Seetrompeten
(Buccinum) ein fuͤrchterliches Concert machen. Zuwei-
len ſingt nur ein Prieſter; dann loͤßt ihn ein andrer mit
einem hergebrummten Gebet ab, und auf einmal faͤngt
das vorige laͤrmende Concert wieder an. Fuͤr den Ober-
prieſter iſt oben an, wo der Altar ſteht, ein ſchoͤner ho-
her Thron gemacht, worauf er ſich nur bey beſondern Fe-
ſten niederlaͤßt. Hinter dieſem Thron iſt der Altar, oder
wenn ich ſo reden darf, das Allerheiligſte, wo das Bild-
niß des vornehmſten Goͤtzen, und neben demſelben ge-
mahlte Bilder und Vorſtellungen andrer Goͤtzen ſtehen,
die
[27]aus Sibirien.
die auch rund herum, an allen Waͤnden des Tempels die
Verzierung ausmachen; ſo wie zwey Reihen Saͤulen
zwiſchen den Sitzen der Prieſterreihen, deſſen Mitte
ſchmuͤcken. Auf dem Altar ſind, vor dem Hauptgoͤtzen,
als Opfer, meſſingene Schalen mit Roggen, Waizen,
Reiß, Milchbrantwein und dergleichen, nebſt Raͤucher-
werk, aufgeſtellt. Zuweilen ſetzt man auch, in groͤßern
Schalen, ein abgebruͤhtes Huhn, ein abgezognes Schaaf,
oder ein gebratnes Stuͤck Fleiſch vor den Goͤtzen. Die
obere Etage dieſes Tempels iſt kleiner und einfacher, und
enthaͤlt, außer gemahlten Bildern weiter keine Verzie-
rung. Weibsleute duͤrfen in dieſe Tempel nicht kom-
men. Sie verrichten ihre Andachten drauſſen auf einer
umgebenden Gallerie; und dieſe Andacht beſteht vorzuͤg-
lich nur darin, daß ſie beide Haͤnde vor der Stirn zu-
ſammenlegen, ſich dann auf die Haͤnde zur Erde werfen,
und mit der Stirn den Boden beruͤhren. Sie gehen
dann auf dieſer Gallerie rings um den Tempel, wieder-
holen die Anbetung jedesmal bey der Thuͤr, und fahren
damit ſo lange fort, als die Andacht nur aushalten will,
oft bis auf den Abend; ſo lange nehmlich als die ſechs
großen Litaneyen waͤhren, deren Jnhalt uͤberhaupt eine
Fuͤrbitte fuͤr das Wohl des ganzen Menſchengeſchlechts
und fuͤr alle Ungluͤckliche, ohne Unterſchied der Religion,
ſeyn ſoll. Oben beſchriebner Gottesdienſt geſchahe in
dem mittelſten und vornehmſten Tempel. Als ich von
ſelbigem zu der Wohnung des Lama zuruͤckkehren wollte,
gieng er mir und meinen Begleitern, in einem langen,
rothſeidnen Talar, mit einem leichten runden, in Gold-
firniß
[28]Sievers Briefe
ſirniß lakirten Hut auf dem Kopf, entgegen. Manche
von den gemeinen Mongolen naͤherten ſich ihm in einer
gebuͤckten Stellung, die zuſammengelegten Haͤnde vor
der Stirn haltend, und empfiengen ſo ſeinen Segen,
indem er ſie mit einem zuſammengebundnen, aus loſen
Blaͤttern beſtehenden Buch auf den Kopf ſchlug.


Alle Prieſter ſind auf dem Kopfe rein abgeſchoren:
dieſes und die rothe oder gelbe Kleidung unterſcheidet ſie
von den weltlichen Mongolen welche zwar auch den
Kopf ſcheeren, aber auf dem Wirbel einen Haarſchopf ſte-
hen laſſen, der, als eine lange Haarflechte auf dem Ruͤ-
cken herunterhaͤngt. Auch Weibsleute widmen ſich dem
geiſtlichen Stand, die ſich aber nur dadurch, in ihrer
Kleidung, von andern unterſcheiden, daß ſie ein rothes
Band ſchraͤg uͤber die linke Schulter tragen. — Wol-
len Sie uͤbrigens einen genauen Begriff von der Lamai-
ſchen Geiſtlichkeit, ihrer Goͤtzenlehre und Goͤtzendienſt
haben, ſo muͤſſen Sie daruͤber die ausfuͤhrlichen Nach-
richten des Hrn. Staatsrath Pallas, im zweyten
Theil
ſeiner Mongoliſchen Sammlungen leſen.


Bey unſerm alten Lama wurde ich, nach mongoli-
ſcher Art, mit einem ſchoͤnen Mittagsmahl bewirthet.
Zuerſt wurde uns ein wohlbereiteter Trank von Ziegel-
thee vorgeſetzt; dann folgten einige Schalen doppelt ab-
gezognen Milchbrantwein; und endlich wurde ein friſch
geſchlachtetes und an einem hoͤlzernen Spieß gebratnes
Lamm aufgetragen. Nach der Mahlzeit wurde, ſtatt
des Coffees, ſaure Kuhmilch und darauf nochmals Zie-
gelthee ausgetheilt. Dieſer Lama, ſo wie noch mehrere
der
[29]aus Sibirien.
der Reicheren, wohnen in ordentlichen, nach ruſſiſcher
Art gebauten hoͤlzernen Haͤuſern. Dennoch hat er dar-
neben mehrere ſchoͤne Filzjurten, die er von einem Ort
zum andern bringen laͤßt, wenn er ſeine zahlreiche Heer-
den beſuchen, ein Wettrennen anſehn, oder ſich auf an-
dre Art ergoͤtzen will. Beym Abſchiede begleitete er mich
in einer Europaͤiſchen Cariole, die vielleicht ſchon vor 60
Jahren verfertigt ſeyn mochte, doch aber auf den Leiſten
vergoldet war. Fuͤr alle mir erwieſene Hoͤflichkeiten
machte ich ihm einige wenig bedeutenden Geſchenke, um
mich der aſiatiſchen Gewohnheit zu fuͤgen.


Am 23ſten Junius erreichte ich die 25 Werſte vom
Gaͤnſeſee entfernte Stadt Selenginsk, welche kleiner
und ſchlechter bebaut iſt, wie Udinsk, und oͤftere Feuer-
ſchaͤden erlitten hat. Dennoch hat ſie eine ſchoͤne ſtei-
nerne und zwey hoͤlzerne Kirchen, und ein ſteinernes, ge-
raͤumiges Kaufhaus. — Ehemals war hier die Graͤnz-
kanzley, wo alle zwiſchen Rußland und China vorfallende
Graͤnzgeſchaͤfte betrieben wurden. Jtzt geſchieht dieſes
in dem 88 Werſte weiter Suͤdoſtwaͤrts gelegnen Ki-
achta.
So iſt auch itzt der neun Werſte von Selen-
ginsk, beym Einfall des Tſchikoi in den Selenga gelegne
Handelsflecken, von wo ſonſt die Carawanen nach Pe-
king abgefertigt wurden, und große Waarenlager, nebſt
Zollhaus und andern Kronsgebaͤuden ſich befanden, voͤl-
lig in Verfall gerathen. Die Carawanen ſind, wie ge-
ſagt, aufgehoben, und alles Uebrige, den Chineſiſchen
Handel und die Graͤnzangelegenheiten betreffend, befin-
det
[30]Sievers Briefe
det ſich nun in Kiachta, wo ein Generalmajor das Ober-
kommando hat.


Die Gegend um Selenginsk und bis nach Kiachta
iſt reich an ſeltnen Pflanzen. Unter die gemeinſten ge-
hoͤren: Polygonum fruteſcens, Glycyrrhiza hirſuta,
Ephedra polygonoides, Statice ſpecioſa
und flexuoſa,
Lycopodium ſanguinolentum, Rhamnus Erythroxy-
lon, Ulmus pumila; Aſtragalus melilotoides, verticil-
laris; Phaca ſibirica, lanata, oxyphylla; Hedyſarum
ſruticoſum, Potentilla nivea, Valeriana ſibirica
und ru-
peſtris; Veronica incana, Arabis pendula, Amygdalus
pedunculata, Peganum daurica
u. dergl. Die Ein-
wohner beſchaͤftigen ſich mit dem Anbau der Nicotiana
ruſtica,
welcher hier eintraͤglich iſt.


Endlich langte ich, den 26. Junius, in Troizka-
ja
oder Troizko-Sawskaja Krepoſt, als dem Ort
meiner Beſtimmung, geſund an, und endigte hier fuͤrs
erſte meine Reiſe. Da ich vor der Hand noch eigentlich
keine Geſchaͤfte hatte, weil einige Perſonen unſrer Expe-
dition Krankheits halber noch unterwegs waren, ſo wen-
dete ich meine Muſſe zu botaniſchen Excurſionen an, die
ſich freylich nicht viel uͤber 50 Werſte vom Ort erſtreck-
ten, aber doch alle ſehr reichlich belohnt wurden. Be-
ſonders war der drey Werſte lange Weg, von unſrer Fe-
ſtung bis nach Kiachta und laͤngſt dem Fluͤßchen des Na-
mens, ſehr ergiebig. Der laimigt ſandige Boden da-
ſelbſt bringt Rheum undulatum, Ballote lanata, Ribes
diacantha, Thalictrum ſtamineum, Cannabis erratica,

Oroban-
[31]aus Sibirien.
Orobanche major, Sibbaldia erecta, Myoſotis rupeſtris,
eine ſchoͤne wilde Roſe, und verſchiedne merkwuͤrdige
Aſtragalos, Crataegus ſanguinea, Sophora lupinoides,
Nepeta lavandulacea,
und die meiſten der vorhin ge-
nannten Pflanzen hervor. — Der Bach Kjachta, ei-
gentlich auf mongoliſch Kjaͤktu, hat ſeinen Namen von
den vielen daherum wachſenden Quecken (Triticum re-
penſ)
deſſen Mongoliſcher Name Kjaͤk iſt. Das Bette
dieſes Bachs wird im Winter allmaͤhlig mit dickem Eiß
belegt, weil oͤfters in dieſem Bette ploͤtzlich Quellen
durchbrechen, Ueberſchwemmungen im Mittag veranlaſ-
ſen, und durch das uͤbernachts wieder gefrierende Waſ-
ſer die Eißmaſſe ſehr vermehren. Dadurch entſteht im
Winter auf dieſem Bach eine treffliche Schlittenbahn,
von Troizkaja Krepoſt bis Kjachta. Der Bach entſpringt
uͤbrigens drey Werſte nordweſtlich von erſterer Feſtung,
aus einem engen, angenehmen Thal, das durch gelbli-
che Granitſandhuͤgel, die von Suͤden gegen NW. zu N.
laufen, begraͤnzt wird und ſolcher Huͤgel giebt es zwi-
ſchen gedachter Feſtung und Kjachta mehrere. Das
Thal erweitert ſich gegen Suͤden mehr und mehr, und
wird etwan 50 Werſte von der Graͤnze, durch das aus
SW. nach Oſten ſtreichende Gebuͤrge Dullan-Charà
abgeſchnitten.


Die Merkwuͤrdigkeiten aus dem Mineralreiche,
welche man aus dem bis hieher durchreißten und beſon-
ders aus dem hohen Gebirge am Baikal kennt, ſind ohn-
gefaͤhr folgende:


Schoͤne
[32]Sievers Briefe
  • Schoͤne Bergkriſtallen in glimmrigtem Granit.
  • Ungeheuer große Rauchtopaſen oder ſchwaͤrzliche
    Bergkriſtallen, wovon ich vier Stuͤck geſehen habe,
    deren eines 20 Pud, die andern 16, 14 und 8 Pud
    wogen.
  • Rothe unreine Granaten in Granit, mit Quarz,
    Feldſpat, und gefiederten Feldſpat.
  • Granatſand am Baikal.
  • Weiſſe Granit-Bloͤcke mit Eiſenblende, die zu Tage
    ausſtreichen.
  • Granit aus Feldſpat und Hornblende, oder mit lan-
    gen Schoͤrlflecken ſtatt des Glimmers.
  • Blaͤttrige Molybdena in Quarz.
  • Flußſpat von grauer, gruͤnlicher, violetter und roͤth-
    licher Farbe untereinander gefloſſen; am Ubukun.
  • Schlechte Porphyre.
  • Strahliger Zeolit.
  • Kubiſch, wie Schweinszaͤhne kryſtalliſirter Kalkſpat,
    von Botai.
  • Allerley Jaſpisarten.
  • Roſenrother Quarz.
  • Roſenrother Spat mit Schoͤrltruͤmmern.
  • Blendend weiſſer Spat.
  • Eine Art Schmirgel unterhalb Selenginsk.
  • Glimmer oder Frauenglaß in großen Tafeln.
  • Lapis Lazuli, beide vom Kultuk des Baikals; von
    letzterm aber ſind bisher nur Geſchiebe, und ſelten
    recht blaue, gefunden worden.
  • Glimmer in einer Talkmutter.

Reiner
[33]aus Sibirien.
  • Reiner weiſſer Talk.
  • Blauer Kalkſpat.
  • Prismatiſcher Schoͤrlſpat.
  • Eine Art Jade die gruͤnlich, halb durchſichtig iſt, in
    Rollſteinen.
  • Hin und wieder Thongruben, die oͤfters talkoͤs ſind.
  • Blendend weiſſer Marmor und verſchiedne Brec-
    cien.

An ſchrecklichen Donnerwettern und heftigen Re-
genguͤſſen fehlt es hier auch nicht. Der 28ſte Junius
gab Morgens zwiſchen vier und fuͤnf Uhr einen Beweiß
davon, dergleichen ich ſelten gehoͤrt habe. Der Blitz
ſchlug in den hoͤlzernen Kirchthurm und warf einige
Bretter herunter, wobey es diesmal blieb. Da Kiach-
ta und Troizkaja Krepoſt in einem langen Thale liegen,
welches nur vier Winde, N. NO. NW. und SO. be-
ſtreichen, ſo macht der ſonſt ganz unbedeutende Kjachta-
bach, durch das von vielen Seiten, bey ſtarken Regen-
guͤſſen von den Bergen herabſtuͤrzende Waſſer ange-
ſchwellt, oͤfters viel Laͤrm und unterwuͤhlt ganze Huͤgel,
um deſto leichter, da der Boden groͤßtentheils aus Sand
mit eiſenhaltigem Thon beſteht.


Jm ganzen Sibirien, vorzuͤglich aber hier, will
es mit der Obſtzucht nicht fort, und alle Verſuche ſind
bisher noch mißgelungen, ich muͤßte denn einige kleine
bluͤhende Kirſchen-, Pfirſichen- und Aepfelbaͤumchen
ausnehmen, die ich zu Jrkuzk in dem Treibhauſe des
Herrn Hofrath Laxmann ſah und welche hoffentlich
mit der Zeit auch Fruͤchte bringen werden. Man koͤnnte
Cſich
[34]Sievers Briefe
ſich um deſto mehr uͤber die mißlungene Verſuche der
Baumzucht wundern, da eines Theils die Natur ſchon
durch die hier haͤufig am Gebirge wild wachſende Pyrus
baccata, Prunus ſibirica
und Padus, Amygdalus nana
und pedunculata, den Weg zu bahnen ſcheint. Auch in
Abſicht der Polhoͤhe waͤre wohl ſo wenig, wie von Kaͤlte
die doch oft bis 320 ſteigt, oder Schnee Hinderniß zu be-
fuͤrchten. Aber die außerordentlich hohe Lage des hieſi-
gen Landes, der mit haͤufigem Alcali minerali vitriolato
geſchwaͤngerte Boden und die unvermutheten ſtarken
Nachtfroͤſte im Maymonat, die ſich eben beym Aufgang
der Sonne um zwey bis drey Grad gemeiniglich verſtaͤr-
ken, wenn die Tageshitze ſchon ziemlich groß iſt, werden
wohl auf immer den Sibiriſchen Gaͤrten jene goͤttliche
Fruͤchte verſagen, womit ſo viele europaͤiſche geſchmuͤckt
ſind. Selbſt die Luft ſcheint der Goͤttin Pomona hier
nicht zu behagen: Sie iſt vielleicht zu duͤnn und zu
rein *); und ſollte man hier Eudiometriſche Verſuche an-
ſtellen, ſo moͤchte ſich in der hieſigen Atmoſphaͤre viel-
leicht ein großer Antheil dephlogiſtiſirter Luft entdecken
laſſen; um ſo mehr, da die ungeheure Menge Nadelhoͤl-
zer, wie man weiß, eben dieſe Luftart haͤufig aushau-
chen.


Die hohe Lage des Landes wird wohl nicht voͤllig ſo
zu ſchaͤtzen ſeyn, wie ſie in der Vorrede zu Gmelins
Flora ſibirica angenommen iſt, wo bey Kiachta ſtatt
2400
[35]aus Sibirien.
2400 Faden, wohl nur Fuß verſtanden werden muͤſſen;
dennoch erhellet aus dem hoͤchſten (26′ 3″ 9‴) und nie-
drigſten (25′ 7″ 2‴) Barometerſtande, daß ſie nicht
unbetraͤchtlich ſey. Hiezu kommt noch, daß der Schnee
nur in den Thaͤlern und Flußbetten zuſammengewehet
wird, die Hoͤhen und ſchreffen Berge aber uͤber Winters
ſo kahl und ungeſchuͤtzt laͤßt, daß das Vieh die trocknen
Kraͤuter ungehindert abweiden kann.


Gartengewaͤchſe von mancherley Gattung, beſon-
ders weiſſer Kopfkohl, hin und wieder Kartoffeln, weiſſe
runde Ruͤben, Senf, Meerrettig, verſchiedne Zwiebel-
arten, auch wohl Buchwaizen, gedeihen hier gut genug,
erreichen aber nicht denjenigen Grad der Schoͤnheit, den
dieſe Gemuͤſe in England und Teutſchland haben. Viel
Melonen und Arbuſen werden im Dorf Uſt-Kjachta,
18 Werſte von Kjachta gebaut, werden zwar ſelten uͤber
fuͤnf Pfund ſchwer, ſind aber von ziemlich gutem Ge-
ſchmack. Eben ſo gedeihen auch gelbe Wurzeln, kleine
tuͤrkiſche Bohnen, Gurken und Kuͤrbiß. Linſen und
Flachs haben die Polniſchen Coloniſten verſucht; aber
erſtere ſind gar nicht, letzterer aber nur kurz gewachſen.
Dahingegen kommt dieſer am Chilok bey dem Dorf
Akinskaja, recht gut fort. Mit dem Mays habe ich
hier einen Verſuch gemacht, wobey ich die keimenden
Samen nur im Anfang begoß, nachher aber ganz der
Natur uͤberließ, und dennoch, der Duͤrre ohngeachtet,
im Auguſtmonat eine zweyhundertfaͤltige Erndte hatte.


C 2Jn
[36]Sievers Briefe

Jn Kjachta iſt beym Gartenbau noch dieſe Unbe-
quemlichkeit, daß der, durch die heftigen Fruͤhlingswin-
de, beſtaͤndig in der Luft herumgefuͤhrte Sand die jungen.
Pflanzen faſt erſtickt.


Der Kornbau und Heuſchlag ſind um deſto ergie-
biger Nur ſelten trift es ſich, daß einmal zur Zeit der
Bluͤthe des Korns ein unzeitiger Nachtfroſt einigen merk-
lichen Mißwachs verurſacht. Die Bauern ſind hier auch
groͤßtentheils wohlhabend, um ſo mehr, da ſie alle zu-
gleich Wildſchuͤtzen ſind und ſich durch die Jagd viel ver-
dienen koͤnnen. Auch ihre Viehzucht iſt eintraͤglich, und
die Weide giebt in der ganzen Gegend jenſeit des Bai-
kals ſehr wohlſchmeckendes Fleiſch und Milch; nur ge-
ben die Kuͤhe hier kaum den dritten Theil ſo viel, als in
europaͤiſchen Laͤndern. Die Wolle der hieſigen Schaafe,
ingleichen Kameel- und Ziegenwolle, wird in der bey
Jrkuzk befindlichen Tuchfabrik zu Soldatentuch verar-
beitet.


Ein ſehr gluͤckliches Leben fuͤhren hier in der Ein-
ſamkeit, hin und wieder, abgedankte Officiere, einzelne
Kaufleute oder auch beguͤterte Bauern, welche ſogenannte
Saimky bewohnen. Ein ſolcher waͤhlt ſich einen be-
quemen Ort aus, wo ſich angenehme Gefilde, ſchoͤne
Ausſichten, reizende Gebirge, die beſten Weyden und
Heuſchlaͤge, auch wohl Bequemlichkeit zur Fiſcherer, oder
ein Fluͤßchen zum Muͤhlenbau beyſammen befinden. Hier
baut er ſich einige Haͤuſer, Magazine, Staͤlle, u. ſ. w.
lebt fuͤr ſich, wird reich, oder wenigſtens wohlhabend
und der Ort wird nach ſeinem Namen genannt und oft
die
[37]aus Sibirien.
die Grundlage zu nachmaligen großen Doͤrfern. Den
umherwohnenden aͤrmern Bauern und Jaͤgern ſchießen
ſolche Leute auch wohl auf ihre Erndte oder das kuͤnftig
zu erjagende Rauchwerk Geld vor, und gewinnen dabey
oft 30 pro Cent. Ein Hausvater der hier ſo eingerich-
tet iſt und dabey von 500 bis 3000 Rubel baar Geld
hat, heißt hier ſchon ſehr reich.


Da itzt oͤftere Couriere zwiſchen Peking und Jrkuzk
gehen, ſo iſt Hoffnung, daß der Handel mit den Chine-
ſern, der itzt (1791) ſchon ſeit ſechs Jahren geſchloſſen
war, bald wieder in Gang kommen wird. Die Mon-
goliſchen Staatsboten ſind gemeiniglich aus der 805
Werſte von Jrkuzk, in der Mongoley gelegnen Oergoͤ,
oder dem Hoflager des Kutuchta (Mongoliſchen Pab-
ſtes) wo die Mongoliſchen Fuͤrſten, bey dem Chineſiſchen
Oberbefehlshaber ſich aufhalten, abgefertigt und gehn
dahin auch zuruͤck. Die aus Petersburg einzuholende
Antworten werden dagegen durch Ruſſiſche Boten nach
der Oergoͤ abgefertigt. —


Vierter Brief.



Warme Quellen im hohen Scheidegebirge
Jablonnoi Chrebet.


Sehr oft mache ich große Spruͤnge: hier haben
Sie einen Beweiß davon. Von Kiachta erhielten Sie
den 3ten Brief und dieſen 450 Werſt weiter aus einer
C 3unge-
[38]Sievers Briefe
ungeheuren Wildniß. Sie werden ſich vielleicht wun-
dern daß ich zur Verfertigung des vorigen Briefes gan-
zer zehn Monathe noͤthig hatte; ein ſchoͤner Schreiber!
hoͤre ich Sie rufen; in dieſem verfloſſenen Zeitraum tra-
fen indeſſen Umſtaͤnde zuſammen die wohl nicht verhin-
dern konnten an meine Freunde zu denken, aber nicht er-
laubten an ſie zu ſchreiben. Jndeſſen hat jene große
Ruhe von 10 Monaten mich in den Stand geſetzt, je-
nen großen Sprung zu wagen. Da nun gegenwaͤrtiger
Brief und vielleicht noch 2 folgende eine muͤhſame Reiſe
zum Grunde hat, ſo ſehe ich keinen andern Ausweg als
Jhnen fuͤr diesmal mit meinem Tageregiſter aufzuwar-
ten; und damit es Jhnen nicht zu trocken zu leſen ſey,
ſo werde ich, um daſſelbe abzukuͤrzen, oft die Begebenhei-
ten verſchiedener Tage zuſammenziehn. Jn jenen hohen
Gebirgen waͤchſt eine große Menge vom Rheum ſibiri-
cum Pall
deſſen Wurzeln wir unterſuchen, hernach da-
von Saamen ſammlen und ſelbe in Plantagen an beque-
mern Oertern zu veredeln ſuchen ſollten, wie ich von die-
ſem Vorſatz ſchon etwas im erſten Briefe erwaͤhnt habe.
Zu dieſem Endzweck nun wurden von denen zu unſrer
Expedition gehoͤrigen Kaſaken und Soldaten mir 20
Mann nebſt den noͤthigen Pferden zugetheilt, die ich un-
ter gehoͤriger Aufſicht vorausſchickte, um mit mehrerer
Freyheit Materialien zu gegenwaͤrtigen Auſſaͤtzen ſamm-
len zu koͤnnen. Jch verließ demnach die Troitzkiſche
Feſtung den 26ſten April 1791 und ſetzte meinen Weg
laͤngſt der chineſiſchen Graͤnze bald naͤher bald entfernter
davon gegen NO. zu O. fort. Acht Werſte von Kiachta
jenſeit
[39]aus Sibirien.
jenſeit des ziemlich hohen Adlergebirges (Burgultei)
fand ich den ſeltenen Amygdalus pedunculata Pall. ſein
Holz nimmt die Politur vortreflich an, der Stamm iſt
aber zu duͤnn und gewunden. Bey der erſten Graͤnz-
wacht Kirau (20 Werſt) waren mir zwey Salzſeen
merkwuͤrdig, die zwar einen großen Ueberſchuß vom mi-
neraliſchem Laugenſalz haben, aber doch zur Anlegung
einer Kuͤchenſalzſiederey nicht untauglich waͤren, wenn
nemlich das Schoͤpfen und Sieden im Winter unternom-
men wuͤrde *), und vielleicht waͤre es auch nicht ſchwer
bey derſelben Arbeit, durch die bey der Kaͤlte leichtere
Scheidung, ſogleich anſehnliche Vorraͤthe vom reinen
Alcali minerale zu ſchaffen. Denn nach dem Geſchmack
zu urtheilen ſo war die Quantitaͤt vom Glauberſalz aͤuſ-
ſerſt wenig, nirgends bemerkte ich Kriſtallen; deſto haͤu-
figer aber war der weißgraue oͤfters zolldicke Salzaus-
ſchlag um den See herum und der See iſt in trocknen
Sommern davon ganz weiß. Von dieſem ſammelte ich
zwoͤlf Unzen, nahm es mit mir nach der 25 Werſt wei-
ter entfernten Feſtung Kudara, wo ich den 27. April an-
langte, und loͤßte ſelbes in meinem Quartier in 3 Pfund
Waſſer auf, filtrirte es, rauchte es ab und erhielt drey
Unzen ganz reine weiſſe Kriſtallen. Bey der zweyten
Kriſtalliſation vier Unzen unreinere und zuletzt noch an-
C 4dert-
[40]Sievers Briefe
derthalb Unzen kleine ſchmutzige Kriſtallen; der Reſt
(vierthalb Unzen) war mit feinem Flußſand vermiſchte
Thonerde. Die Geſtalt der Kriſtallen, Geſchmack, ſtar-
kes Aufbrauſen mit Eßig und baldiges Zerfallen an der
Luft zu einem weiſſen Staub verriethen hier, daß der groͤß-
te Theil meines Salzes Alcali minerale ſey. Das
darin ſeyende wenige Mittelſalz war Glauberſalz und et-
was Kuͤchenſalz, beydes zuſammengenommen etwa
zwey Drachmen in der ganzen Menge. Bey der Saͤt-
tigung mit Eßig im Aufbrauſen ſtieg ganz merklich ein
fluͤchtiges Alcali auf. Siehe uͤbrigens Pall. Reiſe III.
S. 267. Die Anlagen zu einer Kuͤchenſalzſiederey ſind
hier ſchon lange aus Mangel an Salz verlaſſen. Jch
vermuthe aber beynahe daß dieſer Reichthum von mine-
raliſchem Alcali hier nicht immer derſelbe iſt; denn Herr
Staatsrath Pallas ſah im J. 73 hier viele Glauberſalz-
kriſtallen, die ich hingegen gar nirgends bemerkte. Hier-
an kann vielleicht die jetzt durch Regen- und Schneewaſ-
ſer verduͤnntere Lauge Schuld ſeyn.


Von der Feſtung Kudara, die mit 2 hoͤlzernen
Kirchen und einer Vorſtadt verſehen iſt und in einer aͤuſ-
ſerſt angenehmen Gegend, eine Werſt vom Tſchikoi ent-
fernt, am Fuß des Mogoi, eines hohen grauen gemei-
nen Granitfelſen, liegt, ſetzte ich meinen Weg uͤber das
aus 4 Bauerwohnungen beſtehende Dorf Grudinina
(45 Werſt), dann durch das groͤßere Dorf Klein-Ku-
dara
(5 Werſt), ſodann uͤber ein anſehnliches Gebirge
Urluz-
[41]aus Sibirien.
(Urluzkoi Chrebet*) nach dem in einer fruchtbaren
großen Ebene großen und ſehr angenehm ſituirten Kirch-
dorf Urluck (25 Werſt) fort, welches von polniſchen
und kleinrußiſchen Bauern ſeit 30 Jahren bewohnt wird,
von denen man ſagen kann, daß durch ſie Ackerbau und
Gartenfruͤchte hieher gekommen ſind. Denn vor jhrer
Ankunft lebten ſogar die hier gebohrnen Ruſſen faſt no-
madiſch, nur mit dem Unterſchied, daß ſie in Doͤrfern
und feſtſtehenden Haͤuſern wohnten. Da ihnen aber
durch der Pohlen Fleiß der große Nutzen des Kornbaues
in die Augen leuchtete, ſo fiengen nicht allein ſie an den-
ſelben zu treiben, ſondern ſogar auch die wirklichen No-
maden, ich meyne die Mongolen, unter denen ſie wohnen,
wurden zum Theil dazu ermuntert. Bey alle dem aber
ſind die hier gebohrnen Ruſſen und die getauften Mon-
golen dennoch ein aͤußerſt traͤges, nachlaͤßiges, hinterli-
ſtiges Volk. Die Pohlen aber grade das Gegentheil,
vielleicht arten aber auch dieſe mit der Zeit aus. Da ſie
keine Schulen in ihren Doͤrfern haben, ſo waͤhlen ſie ei-
nen alten Mann aus ihrem Mittel der zu harter Arbeit
nicht mehr Kraͤfte hat. Dieſer unterrichtet die Dorfju-
gend im Leſen, Schreiben und Religion. —


Ein Beweiß der Faulheit der alten Einwohner ſind
die elenden Pferde und die waͤhrend dem Winter ohne
C 5Milch
[42]Sievers Briefe
Milch ſeyende Kuͤhe. Denn gewoͤhnlich muͤſſen dieſe
Thiere ihr Futter auf der Steppe unter dem Schnee her-
vorkratzen; und obſchon der Schnee in den hieſigen
Steppen niemals hoch liegt und vom vorigen Jahr tro-
ckenes unabgemaͤhetes Graß genug uͤbrig bleibt, ſo kann
doch hierin wenig oder gar keine Nahrung ſeyn. Ueber-
dem haben die hieſigen Kuͤhe gewoͤhnlich mit den Hun-
den ihr Nachtlager auf der Straße, welches aber jetzt
ſchon faſt allenthalben hier zur Gewohnheit geworden iſt.


Das Kirchdorf hat ſeinen Namen von dem 2 Muͤh-
len treibenden Fluͤßchen Urluck. Eine botaniſche Excur-
ſion brachte, der noch fruͤhen Jahrszeit wegen, nur we-
nig ein. Androſace villoſa und ein Aſtragalus — wa-
ren meine ganze Beute. Freylich ſcheint der \nicefrac {8}{19}te May
nicht fruͤh mehr, aber, wie ſchon vorhin erwaͤhnt wor-
den iſt, die Lage des Landes und der alcaliſch ſalzige Bo-
den, verbieten den Pflanzen das fruͤhere Hervorkom-
men, es ſeyen denn etwa fruͤhzeitige Landeskinder. Ue-
berdem ſo ſind die engen Thaͤler noch in dieſer Zeit voll
Schnee, der, wenn der Wind uͤber ſie hinſtreicht, die Luft
ſehr kalt macht.


Jch verließ Urluck den 9ten May und gelangte uͤber
die Doͤrfer Kljutſchefskaja (19 Werſt) im hohen Ge-
birge Sawitſchi (7 Werſt) am Tſchikoi beyde mit klein-
rußiſchen Einwohnern beſetzt Karuͤm (12 Werſt) uͤber
einen andern Gebirgruͤcken, Oſſinoi genannt, nach dem
kleinen Dorfe Jtitei 15 Werſt in dem Kirchdorf Slo-
boda) Baichar
(7 Werſt), am Tſchikoi, den 12. May
an. Hier wohnen Sibiriaken oder ſibiriſche Nuſſen. —
Stellen
[43]aus Sibirien.
Stellen Sie ſich vor, noch trieb der Tſchikoi mit Eiß,
(Schuga) viele Bergſpitzen ſind noch mit Schnee bedeckt
und ſumpfige Wieſen ſind noch nicht tiefer, als etwa 6
Zoll, aufgethauet, dies ruͤhrt aber von der je hoͤher je
mehr zunehmenden Enge des Thales, in dem der Tſchikoi
fließt, und der zunehmenden Hoͤhe der zu beyden Seiten
hinlaufenden Bergkette her.


Von Urluck bis hieher zeigte ſich ſchon viele Rha-
barber und Stellera Chama ejaſme. Am 14. May gieng
ich weiter uͤber das Gebirge Baichara, nach dem pol-
niſchen Dorfe Kotſchona oder Archangelskoi Selo (17
Werſt). Jch botaniſirte auf den am Tſchikoi liegenden
Schiefer- und Porphyrgebirgen, und machte eine reiche
Beute von Cryptogamiſten. Jn einer Felſenritze traf
ich noch im Winterſchlaf eine Fledermauß ſo feſt an den
Felſen angeklammert, daß ich ſie mit einiger Muͤhe her-
abnehmen konnte, nur hieng ſie nicht ſondern ſaß mit
dem Kopf aufwaͤrts, und lebte in der warmen Hand
bald auf. Vor meiner Abreiſe nach dem mit Sibiriaͤken
beſetzten Dorfe Korotkowskoi ( [...] Werſt) fiel etwas
Schnee. Jch paßirte unterweges noch die Doͤrfer
Kraſnojarskoi und Podſosninskoi


Jn Korotkofskoi erwartete ich mein Comman-
do; denn nun naͤherte ich mich den eigentlichen Alpen,
wo kein Fuhrwerk mehr gebraucht werden kann und da
dieſes das letzte große Dorf war, ſo ließ ich auf einige
Monate die noͤthigen Zwiebacke aus Rockenmehl backen,
welches einige Zeit wegnahm, die ich dann zum Kraͤu-
terſuchen anwandte. Jch beſuchte die hieſigen Wieſen
und
[44]Sievers Briefe
und die hohen Gebirge die alle dick mit Nadelhoͤlzern
beſetzt ſind und zuͤrnte wieder mit dem Schnee in den
Thaͤlern Hier fand ich nun freylich außer Cryptogami-
ſten, worunter beſonders das ſchoͤne Polypodium fra-
grans,
das mir oͤfters meinen Thee, der nicht der beßte
war, verbeſſern mußte, nichts Merkwuͤrdigers, wie
Gentiana aquatica, Lycopodium rupeſtre, einige vorig-
jaͤhrige Stengel von der Monotropa Hypopitys, wel-
ches ſeinen ſchoͤnen Geruch noch bis jetzt erhalten hatte,
Berberis ſibirica, und eine ungeheure Menge von dem in
voller Bluͤthe ſtehenden Rhododendro daurico; ver-
weilte jedoch hiebey uͤber eine halbe Stunde, und ergoͤtzte
mich an dem unbeſchreiblich ſchoͤnen Anblick, den hier
Quadrillionenweiſe auf ein bis drey Ellen hohen Baͤum-
chens, unter hohen Fichten (Pinus Sylveſtris) geoͤffnete
Purpurrothe Blumen gewaͤhrten. Auch fuͤr die Naſe
war geſorgt, denn die Atmoſphaͤre duftete wie von Tube-
roſen oder Narciſſen. Auf den ſchoͤnen Wieſen bluͤhten
Viola pinnata und primulaefolia, Ornithogalum mini-
mum, Androſace ſeptemtrionalis, Primula farinoſa,
Anemone patens, Pulſatilla
und pratenſis, Iris verna*).
Gegen Abend kam ich nach meinem Standquartier, wor-
auf es dann auch ganz luſtig zu ſchneyen anfieng und die
halbe Nacht anhielt. Ehe ich dieſes Dorf verlaſſe, in
welchem ich an den Beinen von drey Bauren recht ſchlimm
ausſehende inflammirte eiternde Wunden ſah, die der
Gordius filiformis oder aquaticus gemacht hatte, wider
welchen
[45]aus Sibirien.
welchen die Einwohuer kein Mittel kenuen, muß ich noch
einer beſonderen Brannteweins Deſtillirerey erwaͤhnen,
die bey den hieſigen Bauern gaͤnge und gebe iſt und wo-
durch ſie Gelegenheit erhalten ſich an hohen Feſttagen
eben ſo luſtig zu machen, wie die Rheinbewohner an ih-
rem ſchoͤnen Wein. Ein Weib gießet auf ein Pud Ro-
ckenmehl die gehoͤrige Menge heiß Waſſer, ſetzet dieſem
zum Gaͤhren das dicke Nachbleibſel vom Bierkochen und
etwas Hopfen zu und laͤßt das Ganze nun gaͤhren, wel-
ches binnen 24 Stunden beendiget iſt. Nun wird hie-
von ein großer eiſerner Grapen angefuͤllt, ein hoͤlzerner,
weiter 2 Fuß hoher oben engerer Cylinder mit Teig dar-
auf gekleiſtert, auf dieſen ein mit kaltem Waſſer angefuͤlle-
ter Keſſel, anſtatt Refrigeratorium, gleichfalls verſchmiert
und angefeuert. Ueber den Rand des eiſernen Grapens
iſt in dem hoͤlzernen Cylinder eine offne Roͤhre angebracht,
wodurch nun der Geiſt in eine untergeſetzte Schale ab-
laͤuft. Das Waſſer im Refrigeratorio wird oft mit kal-
tem verwechſelt. Hieraus erhaͤlt der Bauer nun einige
Quartiere Getraͤnk, welches friſch verzehrt wird, wobey
es dann an weiſen Geſpraͤchen nicht fehlt.


Den 30. May konnte ich dann meinen Weg wei-
ter fortſetzen. Vier Werſte weiter von Korotkofskoi
uͤbernachtete ich in einem Doͤrfchen, Bolſchakowa, und
kehrte bey dem Erbauer deſſelben gleiches Namens, ei-
nem Mann von 100 Jahren ein. Dieſer war einer von
vorhin erwaͤhnten reichen Einſiedlern. Ohnerachtet ſei-
nes hohen Alters war er doch noch voller Kraͤfte, raſch
und munter. Einen Ritt von 30 bis 40 Werſt verrichtete
er
[46]Sievers Briefe
er ohne alle Beſchwerden. Der ſo eben erwaͤhnte ſelbſt
gemachte Bauernbranntewein gab mir hier auch einen
Beweiß ſeiner Wunderkraͤfte. Meines Wirths Frau,
nicht viel juͤnger wie der Mann, hatte anhaltendes
Bauchgrimmen ſeit einigen Stunden; der Alte, um ihr
zu helfen, reichte ihr einen großen zinnernen Pokal mit
ſeinem Hausbranntewein, deſſen ſie ſich lange weigerte.
Jndeſſen durch das zuckerſuͤße Zureden des Mannes am
Ende uͤberfuͤhrt, nahm und leerete ſie ihn aus, bekam
noch heftigeres Grimmen, und wurde in einer halben
Stunde geſund. Der edle Branntewein, entweder fuͤr
ſich ſelbſt, oder mit irgend einer Artemiſia, Pyrola uni-
flora,
oder Gentiana campeſtris angeſezt, iſt in dieſen
Gegenden eine Univerſalarzney. Mit Schnee, Schloſ-
ſen, Schlackwetter und Sturm waren nach dem Ab-
ſchiede von meinem guten Wirth Bolſchakof, meine
Begleiter bis nach dem 26 Werſte weiter hin gelegenen
nicht großen Dorfe Sacharewsky gekommen. Hier
ließ ich alle Bagage und den Proviant auf Packpferde bin-
den, und ſo paßirten wir in einem ſchoͤnen Wege von
8 Werſten noch 2 Einſiedlerdoͤrfchen Tſchuwaſchewa
und Borochoi, floͤßten bey Obidaewa Simowie uͤber
den Tſchikoifluß unſre Sachen, und nahmen beym Ein-
zuge in die Bergwuͤſte bey einigen mongoliſchen Jurten
auf einige Monate Abſchied von allen menſchlichen Woh-
nungen. Allenthalben hat der Schoͤpfer fuͤr die Men-
ſchen geſorgt, durch die hier haͤufig wachſenden Laͤrichen
(Pin. Larix.) wurden wir in den Stand geſezt in einer
halben Stunde 4 Huͤtten (Ballagani) zu bauen. Jn-
dem
[47]aus Sibirien.
dem einige von meinen Leuten den Baͤumen die Rinde
abzogen, ſchlugen andre duͤnne Pfaͤhle in die Erde, wel-
che ſie mit den Laͤrichen-Rinden bedeckten, und ſo hat-
ten wir Schutz vor Wind und Regen. Ein ſolcher Bal-
lagan, dem man eine beliebige Figur giebt, kann 3—4
Jahre ausdauern. Groͤßtentheils ſind auch die Haͤuſer hie-
ſiger Gegenden mit der Rinde von Pin. Larix bedeckt, die
dazu im Fruͤhjahr, bey aufſteigendem Safte, mit groͤß-
ter Leichtigkeit von den Baͤumen abgezogen werden. ‒‒
Jch muß noch nachholen, daß von vorgenannter Slobode
Urluk bis hieher, ſich die Bauern ſchon mehr mit Wild-
fang abgeben. Die hohen Gebirge ſind nahe, und ſind
immer noch an Rauchwerk reich genug, um den Jaͤgern
ihre Muͤhe zu bezahlen. Eben dieſer nahen hohen Ge-
birge wegen trift es, obwohl nicht ſehr oft, daß Mis-
wachs im Korn einfaͤllt. Feine Gartenfruͤchte gedeihen
hier gar nicht; zur Viehzucht aber iſt allenthalben die
beſte Weide genug.


Aber dieſe Ballagans ſind eine große Verwuͤſtung
des Holzes! hoͤre ich Sie ſagen. Ach theuerſter Freund,
Sie werden ſchweigen, wenn ich Jhnen betheure, daß
das einzige Jablonnoi Chrebet, in deſſen Vorhofe ſo zu
ſagen ich nun bin, reicher an Baͤumen iſt wie ganz
Deutſchland. Denn dieſes maͤchtige Alpenriff nimmt
ſeinen Anfang vom Baical, und endigt ſich mit dem
Swaͤtoi Nos in das noͤrdliche Eismeer. Kein Fluß
durchſchneidet die Hauptkette, ſondern die in dieſen Al-
pen entſpringenden Fluͤße fallen entweder in die Eißſee
oder in den oſtlichen ſtillen Ocean. Sie macht den hoͤch-
ſten
[48]Sievers Briefe
ſten Ruͤcken in dem noͤrdlichen Aſien, ſo wie im mittlern
die Gebirge unterm 130 — 135° der Laͤnge, und 40°
der noͤrdlichen Breite; ſobald man die chineſiſche Mauer
nach Pe-king (Chineſ. Pe-dſching) paßirt iſt, ſo ſoll die
Abfahrt nach Oſten auf einmal ſo merklich werden, wie
wenn man von einem Berge hinabſtiege.


Ein nicht großer dem Tſchikoi zuſtroͤmender Fluß
Oſſa, (Mongol. Aze gobil), an deſſen Ufer wir unſer
erſtes Nachtlager hatten, lieferte uns in einer Stunde
uͤber 30 Pfund Fiſche, die auf folgende leichte Art ge-
fangen wurden. Drey Leute entkleiden ſich, und bege-
ben ſich in ſolche Oerter des Fluſſes, wo gegen das Ufer
zu tiefe Loͤcher oder Buchten keine merkliche Stroͤmung
haben. Hier ſtehen die Fiſche waͤhrend der Nacht bey-
nahe ſtille, und indem einer mit angezuͤndeten Birken-
rinden, die ein helles Feuer geben, ſeinen Cameraden zur
Seite gehet, ſo ſticht dieſer die Fiſche mit einem an ei-
nen Stock befeſtigten Dreyzack (Oſtroga), und uͤberreicht
ſie dem dritten Mann. Dieſes nennt man Lutſchit Ryby.
Die gewoͤhnlichen Fiſche in den hieſigen Gebirgfluͤſſen ſind:


  • Lenki (Salmo Salvellinus vel Lenock. Pall.),
  • Chairuſſi (Salmo Thymallus),
  • Taimeni (Salmo Hucho Pall.),
  • Nalüm (Gadus Lota, Quappe.),
  • Perca fluviatilis (Okun, Bars),
  • Cyprinus Caraſſus. (Karauſche)
  • — — Idbarus (Tſchebak)

Salmo autumnalis (Omul, der ſelten aus dem
Baikal bis hierauf kommt, eben ſo wenig wie der Acci-
penſer
[49]aus Sibirien.
penſer Sturio. Die 2 leztern werden von den Bauern
ſchon weiter unten weggefangen.


Morgens darauf, den 4. Juny, ſattelten und be-
pakten wir die Pferde, und ſetzten unſern Weg weiter fort,
der aber nun von einer ganz andern Beſchaffenheit war,
wie alle andre die ich je geſehen habe. Vom Sturme und
Alter unzaͤhlbare Menge umgeſtuͤrzte Baͤume, Ellenho-
hes Mooß, beſonders das Polytrichum commune auf
moraſtigem Grunde, Steine, Betula fruticans und nana
u. ſ. w. ſchienen ſich zum Wettſtreit vereinigt zu haben,
um uns den Weg beſchwerlich zu machen. Aus ſolchen
Hoͤllenloͤchern, worin wir oͤfters die armen Pferde aus
dem Koth graben mußten, ſtiegen wir dann jaͤhe Gebirge
hinan, deren oberſte Gipfel, wenn eben keine Waldung
im Wege war, mir eine majeſtaͤtiſch-fuͤrchterliche Aus-
ſicht gewaͤhrten. Mit Sehnen befand ich mich heute auf
einem ſolchen Standpunkte, als wir die Oſſa verließen,
und nun an dem in dieſe hineinfallenden ſchnellfließen-
den Kunalei hinzogen. Fuͤrchterlich hohe Granit-Bloͤ-
cke, die theils an den Seiten der Berge uͤber die Baͤu-
me hervorragten, theils die Zierde der kahlen Berggi-
pfel waren, mit Schnee bedeckte Gletſcher, die weit uͤber
alle andre Gebirge hinaus ragten, unter meinen Fuͤßen
eine jaͤhe tiefe Kluft, in der der Kunalei ſtroͤmte, waren
Gegenſtaͤnde genug, um mich in Verwunderung und Er-
ſtaunen zu ſetzen. An dieſer jaͤhen Abfahrt, wo der Weg
nur aͤußerſt ſchmal war, ſtuͤrzte ein Packpferd: ein Gluͤck
fuͤr das arme Thier war’s, daß einige umgefallene Baͤu-
me im Wege lagen, und den Herabſturz verhinderten,
Ddurch
[50]Sievers Briefe
durch welchen das Pferd haͤtte muͤſſen zu Stuͤcken zet-
ſchmettert werden. Nichts iſt fuͤrchterlicher in der Na-
tur, als wenn in ſolchen Wuͤſteneyen Donnerwetter, Re-
gen und Nacht die Reiſenden uͤberfallen; dann erſcheint
die Natur im entſetzlich ſchaudervollen Gewande. *)
Aber, werden Sie ſagen, welcher Reiſende macht denn
hier Wege und Stege? — Die wilden Thiere, die an
den Bergen hinaus, wo ſie anſtatt mit Baͤumen, voll
von ſchoͤner Weide ſind, ſolche Wege treten, daß ein
Unerfahrner dadurch, indem er glaubt auf von Menſchen
gemachten Fußſtegen zu irgend einer Wildſchuͤtzenhuͤtte
(Simowja) zu wandern, oͤfters in ein wildes Chaos
geraͤth. Trift ſich ein ſolcher, obſchon ſeltener Fall,
ſo koͤnnen nur Fluͤße zum Leitfaden dienen, um ge-
rettet zu werden. Gluͤcklich iſt ein ſolcher, wenn er ein
Beil, ſeine Buͤchſe, Pulver und Bley bey ſich hat; hie-
mit verſchaft er ſich Wohnung und Nahrung. Ohne
dieſes wird er entweder von den Baͤren zerriſſen, oder
muß verhungern. — Wohin treibt doch der Trieb zum
Gewinnſt nicht oͤfters die Menſchen? dacht ich zuweilen.
Ein alter, ehrlicher, guter Mongoliſcher Wildſchuͤtz, der
alle
[51]aus Sibirien.
alle Stege, Fluͤſſe und Wege ſeit ſeinen 40 jaͤhrigen Rei-
ſen in dieſen Gebirgen auf das genaueſte inne hatte,
diente mir zum Wegweiſer. Von ihm lernte ich groͤß-
tentheils alle Arten, wie das ſibiriſche Wild gefangen
wird, wovon ich weiter unten reden werde.


Ob ſchon die Thaͤler noch voller Eiß waren, ſo
bluͤhete doch ſchon an erhabnen Orten Rheum undu-
latum Pall.
das hin und wieder anfing ſich zu zeigen.
Ein Fluͤßchen Gornokowa, bey welchem wir auf einer
angenehmen Wieſe mittagten, hat ſeinen Namen von
einem der erſten Ruſſen, die in dieſen Wildniſſen gejagt
haben. Da er ſchon uͤber 80 Jahre todt iſt, ſo iſt nur
bloß ſein Name noch uͤbrig. Er begab ſich freywillig
hieher, und lebte von dem, was er an Wildpret erlegte,
und zu gewiſſen Zeiten Felle und Rauchwerk verkaufte.
Solche Liebhaber giebt es noch jetzt ſehr viele, nur mit
dem Unterſchiede, daß ſie nur in der beſten und ergie-
bigſten Jagdzeit die Gebirge bewohnen, und die uͤbrige
Zeit in ihren Doͤrfen zubringen. Daher traf ich waͤh-
rend meinem Zuge auf Jagdhuͤtten, allerley Arten von
Fallen und Anſtalten, um das Wild zu fangen. Je
weiter wir den mehrerwaͤhnten Fluß Kunalei aufwaͤrts
zogen, je gefaͤhrlicher wurde das Durchreiten; ſeine
ſchnelle Stroͤmung und die vielen ſchluͤpfrigen mit Con-
ferven uͤberzogenen abgerundeten Granitbloͤcke machten,
daß man bey jedesmaligem Ueberſetzen, und dies geſchah
wenigſtens 4 bis 5 mal im Tage, wo nicht Abſchied
von dieſer Welt, aber doch von Armen und Beinen
nehmen mußte. Jndeſſen die hieſigen Pferde ſind der-
D 2gleichen
[52]Sievers Briefe
gleichen Paſſagen gewohnt, und ſo iſt es ſelten, daß ſie
ſtuͤrzen. Nachdem wir noch einige abſcheuliche Suͤm-
pfe, und ein ganz hohes, bloß felſigtes Gebirge paßirt
waren, ſo kamen wir den 7ten Jun. gluͤcklich zu den
warmen Quellen, wo wir wenigſtens eine ziemlich
gute Simowia oder Huͤtte vorfanden. Dieſe, nebſt gu-
ter Weide, kam Mann und Pferd, die aͤußerſt ermuͤdet
waren, ſehr zu ſtatten, noch mehr da es ſeit geſtern ange-
fangen hatte zu regnen, und heute ſcharf zu donnern.
Jch entſchloß mich alſo einen Tag auszuruhen, um Jh-
nen ein Bischen von dem Mineral-Waſſer und Florens
Schaͤtzen vorſchwatzen zu koͤnnen.


Es ſind hier zwey warme Quellen die von ein-
ander etwa 36 Faden entfernt ſind, und in einem nicht
ſehr unangenehmen großen Alpenthal, worin der Kuna-
lei ſtroͤmt, und welches mit Bergen, Gletſchern, auf wel-
chen fuͤrchterliche Felſen, oͤfters in Ruinenaͤhnlichen Figu-
ren ſtehen, umgeben iſt, ihren Urſprung unter einigen
großen weißlichen Granitbloͤcken nehmen. Sie fließen
dem etwa 10 Faden niedrigern Kunalei zu. Jhr
Waſſer iſt ſo klar, wie irgend eins in der Welt, und hat
durchaus weder Geſchmack noch Geruch. Der Thermo-
meter eine Stunde hineingehangen, zeigte 16° Waͤrme
Reaumur; die Atmosphaͤre uͤber denſelben am Mittag
zur ſelben Zeit im Schatten 14°, und in der freyen Luft
20°, die Lage dieſer Quelle war ſo, daß die Sonnen-
ſtralen nicht darauf wirken konnten. Das Waſſer des
Kunalei hatte 5° Waͤrme. Die andre Quelle war
mit einem Gelaͤnder eingefaßet, quoll aus einen ſchlam-
migern
[53]aus Sibirien.
migern mit Granit-Grand, der aus Quarz, Glimmer
und Feldſpat beſtand, angefuͤllten Boden, und war der
Sonne ganz ausgeſezt, daher dann auch ſeine Tempera-
tur 17° Reaumur war. Faſt beſtaͤndig ſtiegen haͤufige
große Luftblaſen aus dem hin und wieder mit conferva
bulloſa
bedeckten Boden auf, die nichts anders wie at-
mosphaͤriſche Luft zu ſeyn ſchienen. Jm Schlamm la-
gen einige rußiſche Kupfermuͤnzen, die gruͤn angelaufen
waren, welches ich aber von der phlogiſtiſchen Sumpf-
luft herleite, die nun aus dem Schlamm ausſtieg, als
meine Geldbegierige Caſaken anfiengen alles durch-
einander zu wuͤhlen. Zwey Stunden brauchte das Waſ-
ſer, ehe es ſich wieder abhellte. Silber legte ich 4 Stun-
den lang hinein, es blieb aber rein wie vor. Bey erſt-
erwaͤhnter Quelle war ein langer hoͤlzerner Badetrog an-
gebracht, auf deſſen Rande, an einem Ellenhohen Sto-
cke eine ſolche kleine Windmuͤhle ſich drehete, wie bey
uns die Kinder oͤfters aus duͤnnen Breterchen zum Spie-
len zu machen pflegen; auf die Brettchen war in tan-
gutiſcher Sprache das Gebet: Om-ma-ni-bad-me-
chum
geſchrieben, hieraus und aus der Kupfermuͤnze,
die dem Waſſergott, als ein Opfer gebracht worden, ſah
ich gleich daß alle dieſe erwaͤhnte Anſtalten und Einfaſ-
ſung von unſern Mongolen, die hierher zum Baden
kommen, gemacht waren. So oft die kleine Windmuͤhle
vom Winde umgedrehet wird, bedeutet jede Umdrehung
die Herſagung des Gebets. Jn einem Umfange von
10 bis 15 Faden fand ich hier folgende Pflanzen: Ru-
bus chamaemorus, Holcus odoratus; Viola uniflora,

D 3biflora,
[54]Sievers Briefe
biflora, und canina; Marchantia polymorpha, Caltha
paluſtris, Trollius aſiaticus, Roſa pimpinellifolia, Po-
lytrichum commune, juniperif. \& piloſum; Carex
acuta, nigra; Ranunculus hederaceus, Lichen cornu-
copioides, pyxidatus
und cocciferus; Agaricus campa-
nulatus
auf altem Pferdemiſt; Polypodium fragile und
Phegopteris, Mnium purpureum, fontanum und hy-
grometricum, Bryum murale
und ein Hypnum; ferner
Oxalis Acetoſella, Trientalis europaea, Polygonum vi-
viparum, Anthoxanthum odoratum, Fragaria veſca,
Lichen aphtoſus
und caninus; Pinus Cembra, Abies
und ſylveſtris; Juniperus communis, Myoſotis Scorpi-
oides latifolia, Convallaria bifolia, Vaccinium uligino-
ſum
und Vitis Idaea; Leontodon Taraxacum, Gnapha-
lium dioicum, Ribes nigrum, Potentilla fruticoſa lato-
pinnata, Chryſoſplenium alternifolium, Saxifraga
craſſifolia
und ſibirica, Carex loliacea, Sphagnum pa-
luſtre, Lichen atrovirens
und ſaxatilis, Ledum paluſtre,
Stellaria dichotoma, Lonicera dauurica Pall.


Alle dieſe Pflanzen beweiſen zur naͤhern Beſtim-
mung der Eigenſchaft des Waſſers nichts weiters, als
daß es rein Waſſer ſey. Aber moͤchte ich nun fragen
woher ruͤhrt ſeine Waͤrme? Vielleicht ſind Schwefel-
kieſe tief im Gebirge verborgen. Das Gebirge woraus
es quoll war ein uraltes, die Gegend eine der hoͤchſten
im noͤrdlichen Aſien. Nicht gar weit von den Quellen
war die entbloͤßte Erde mit mineraliſchem Laugenſalz
ausgeſchlagen, wovon bey haͤufigen Regen der Quell zu-
weilen einen ſehr geringen Geſchmack annimmt. Hier-
von
[55]aus Sibirien.
von kann kein warmes Waſſer entſtehen. — Vorſtehen-
de Experimente machte ich um 3 Uhr Nachmutag, als
die Sonne 4 Stunden geſchienen hatte. Jch wieder-
holte ſelbe den naͤchſten Morgen fruͤh, als bey kalter reg-
nigter Luft ein Dampf aus den warmen Quellen ſtieg.
Die Temperatur der Atmosphaͤre war 9° Waͤrme, und
die Quellen waren nur einen halben Grad kaͤlter als ge-
ſtern, aber das Waſſer des Kunalei brachte das Queck-
ſilber nur auf zwey Grad Waͤrme.


Obſchon bis 9 Uhr an dem heutigen Tage ein
Staubregen fiel, ſo ließ ich doch die nunmehro munte-
rern Pferde bepacken, und ritt davon. Bald darauf
klaͤrte es ganz auf mit einigen Donnerſchlaͤgen, und wir ſtie-
gen, indem wir den Kunalei verließen, der nicht fern von
hier aus 4 kleinern Fluͤßen, durch deren Vereinigung ſei-
nen Urſprung nimmt, ſechshundert Faden beſtaͤnoig ei-
nen kahlen Felſenberg oder Goletz hinauf. Jch ſah bey
dieſer fuͤr die Pferde ſehr beſchwerlichen Arbeit zum er-
ſtenmale das vortrefliche Rhodod. Chryſanthum in Bluͤ-
the, gewiß eine der ſchoͤnſten Alpenpflanzen. Wie wir
die kahle Spitze des Berges erreicht hatten, ſo mußten
wir den Pferden wiederum Ruhe geben, waͤhrend dem
ich die fuͤrchterlichſten Seenen in der Natur mit Er-
ſtaunen betrachtete, mein hoher Standpunkt gewaͤhrte
mir auf allen Seiten freye Ausſicht. Mit Schnee be-
deckte Gletſcher, die ſich in den Wolken verlohren, noch
weit hoͤhere Felſen, wie vorhin gemeldet, kroͤnten, wie
ganze Feſtungswerke und Ruinen die Berge (Chrebti);
andre rauchten, wie Vulkane, von Nebel. Ueber dieſe
D 4bruͤllte,
[56]Sievers Briefe
bruͤllte, bey hellem Sonnenſchein, der Donner fuͤrchter-
lich und — — ich wollte fortſchreiben aber mein Blut
erſtarret bey dem Gemaͤlde; leſen Sie unterdeſſen, bis
ich mich erhole, Thomſon’s Summer, Seite 88 — 90.
Jch ſchließe alſo und werde die Ehre haben bald mit
Mehrerm aufzuwarten


der Jhrige.


Fuͤnfter Brief.



Simowie am Tſchikokanfluß.

Jch that ſehr wohl, daß ich den vorigen Brief auf
dem Berge endigte: denn waͤhrend der neuntaͤgigen
Reiſe hieher ſah ich alles Schaudervolle vielleicht vom
ganzen Erdboden vereinigt. Erſtaunen haͤufte ſich mit
Erſtaunen, beſonders da ich dergleichen nie vorher geſe-
hen hatte und ſolche Scenen nur aus Buͤchern kannte.
Nachdem die Pferde ſich ausgeruhet hatten und wiede-
rum bepackt waren, ſtiegen wir den Berg hinunter und
kamen in ein wenigſtens 8 Werſt langes Thal, worin
der Fluß Uwaliſta langſam ſtroͤmte. Zu den vorherer-
waͤhnten Geſtraͤuchen geſellte ſich hier, am Fuß des Go-
letz, noch die Potentilla fruticoſa und Lonicera dauurica,
die ſich mit ihren Geſchwiſtern ſo in einander verwebt
hatten, daß wir uns mit dem Saͤbel in der Fauſt den
Weg bahnen mußten. Aus dieſem Labyrinth geriethen
wir auf 2 Werſt in einen Moraſt, und wenn dieſer tie-
fer
[57]aus Sibirien.
fer als eine halbe Elle aufgethauet geweſen waͤre, ſo haͤt-
ten wir Pferde und Bagage ſelbſt tragen muͤſſen; aber
zu unſerem Gluͤck war dieſes Thal noch voller Eiß und
der Grund gefroren. Hier bedauerte ich innigſt, daß
ich nicht zeichnen konnte oder daß keiner bey mir war,
der das aͤußerſt romantiſch-pittoreſque Thal haͤtte abma-
len koͤnnen. Die ſonderbaren Felſenfiguren erſchienen
unten weit merkwuͤrdiger noch, wie ſo zu ſagen vom Him-
mel herab. Viele einzelne Verge endigen ſich damit,
daß ihre Gipfel in eine Pyramide von ungeheuren Felſen-
bloͤcken aufgethuͤrmt ausgehn. Dies hat ohngefaͤhr das
Anſehen wie wenn Aepfel in einer Schuͤſſel zum Nach-
tiſch aufgeſetzt werden. Dergleichen Pyramiden finden
ſich in dieſen Alpen viele, und daher ſoll der rußiſche
Name Jablonnoi Chrebet oder Apfelgebirge, ent-
ſtanden ſeyn. Denn uͤbrigens exiſtiren wirkliche Aepfel
nirgends. Der Uwaliſta, den wir durchritten, machte
dem Moraſte ein Ende und nun folgte bis an das Nacht-
lager am breiten Tſchikokan ein trockener guter Weg
groͤßtentheils uͤber Arbutus Uva Urſi, Licher niveus ma-
jor \& minor, islandicus major \& minor,
und coralli-
nus.
Ein am Tſchikokan von den Wildſchuͤtzen gebau-
ter Balagan, gewaͤhrte uns Schutz vor dem Staubre-
gen, der ſich um 6 Uhr Abends wieder einſtellte. Um
dieſen Balagan wuchs Ranunculus geoides, Dracoce-
phal. nutaus, Potentilla nivea u. m.


Den Morgen fruͤh als den 9ten Jun. ließ ich, ohn-
erachtet des fortdauernden Regens, ſatteln, in der Hoff-
nung es wuͤrde aufklaͤren; indem das Ziel der Reiſe nur
D 5noch
[58]Sievers Briefe
noch 20 Werſt entfernt war. Wir ſetzten durch den
Tſchikokan und laͤngſt demſelben unſern Weg fort. Wir
bereueten aber bald daß wir den Balagan verlaſſen hat-
ten, denn nicht allein hoͤrte der Regen nicht auf, ſondern
fuhr fort in dicken Tropfen auf uns herabzufallen; dies
war die kleinſte Widerwaͤrtigkeit: Wir geriethen auch
in einen Weg, dergleichen die Welt nicht abſcheulicher
haben kann. Von allen unſern vorigen Muͤhſeligkeiten
erfuhren wir hier die Wiederhohlung im groͤßten Maaße.
Spielwerk war’s was wir vorher gelitten hatten: ver-
ſchiedene Male mußten einige verſunkene Pferde, deren
jedes 5 Pud trug aus tiefem Moraſte mit unendlicher
Muͤhe hervorgezogen werden. Zehnmal ſetzten wir durch
den Tſchikokan, der zum Gluͤck nicht ſo ſchnell und
voller Steine war wie der Kunalei; aber ſeine Ufer wa-
ren noch mit anderthalb Ellen hohen Eißfeldern bedeckt.
Kurz wir erreichten Abends unſere elende Wohnung in
einem Zuſtande, der ſich beſſer denken wie beſchreiben
laͤßt. Das elende Gebaͤude deuchte uns der Himmel zu
ſeyn, um ſo mehr als man das Eſſen auftrug, und wir
unſern heißhungrigen Magen befriedigen, die naſſen
Kleidungen abziehen und wenigſtens unter Dach ſchla-
fen konnten. Ach! in ſolcher Lage ſchmeckt ein Stuͤck
Brod wie Ananas und ein Brett ſcheint das weichſte
Bett zu ſeyn. —


Da es den naͤchſten Tag das ſchoͤnſte Wetter von
der Welt geworden war, ſo ſah ich nun die umliegende
Gegend, die darin beſtand, daß unſere Simowie, unter
der der Tſchikokan floß, rund umher mit ſehr hohen dick-
bewal-
[59]aus Sibirien.
bewaldeten Gebirgen umgeben war, ſo daß man, wie in
einem Thurme, nur wenig vom Firmament ſehen konnte.
Die Bagage befand ſich in ledernen Saͤcken (Tuluni),
dergeſtalt daß ſie nur wenig vom geſtrigen abſcheulichen
Wetter gelitten hatte. Alles was naß war wurde ge-
trocknet, die Jnſtrumente in Stand geſetzt und den 11.
Jun. ließ ich den Anfang mit dem Rhabarbergraben ma-
chen, bey welcher Arbeit ich dann manchmal Muße hatte
botaniſche Wanderungen zu machen, wovon ich Jhnen
in dieſem Briefe Rechenſchaft geben will. Der Anfang
ſey die Rhabarber ſelbſt. Dieſe waͤchſt in hieſigen
Gebirgen an den Ufern der Fluͤſſe, im Schiefergeruͤlle
oder im Sande: hat große oͤfters anderthalb Faden lan-
ge, von der Hauptwurzel ausgehende Nebenaͤſte, und
durchaus ſaure Blattſtiele, die einen kriſtalliſirbaren Saft
haben, und ein wohlſchmeckendes geſundes Gemuͤſe ab-
geben. Da ich weitlaͤufiger von der Rhabarber in ei-
nem Briefe an Hrn. Staatsrath und Ritter Pallas, der
im 6ten Theile der nordiſchen Beytraͤge gedruckt iſt, ge-
ſagt habe, ſo verweiſe ich meine Leſer dahin, und fuͤge nur
hier noch hinzu, daß diejenige Rhabarber, welche in ſo
hohen, kalten und naſſen Gebirgen waͤchſt, in Ruͤckſicht
ihrer mehrentheils ſehr ſchwammigen Wurzeln durchaus
zum Arzeneygebrauch nichts taugt; deſto beſſer aber die
Blattſtiele zu einem Verſuch, dem Sauerkleeſalze ein
aͤhnliches Salz an die Seite zu ſetzen. Denn da dieſe
Rhabarber bey der Verſetzung in trocknere Plantagen
ihre Saͤure nicht verliert, ſo waͤre die Ausfuͤhrung dieſer
Sache nicht ſo unmoͤglich.


Da
[60]Sievers Briefe

Da der Saft wenn er etwas verdickt wird ſo gallert-
haft wird, ſo wollte ich, um der Eindickung auszuwei-
chen, verſuchen, wie ſich mein Saft mit dem minerali-
ſchen Alcali aus dem Chudſhir verhielt, ich gedachte nem-
lich nur etwas zuzuſetzen, um das groͤßere Uebergewicht
von Saͤure an das Alcali zu binden, ſo wie etwa im Kre-
mor Tartari; allein in 3 Wochen Zeit gerieth nicht al-
lein dieſes nicht zu Kriſtallen, ſondern auch eine voͤllige
Saͤttigung wollte nicht einmal anſchießen. Bey der
Saͤttigung braußte die Mixtur ſtark und eine Unze
brauchte vier und zwanzig Unzen Rhabarberſtielſaft.
Starkes Kochen zerſtoͤrt die Saͤure des Rhabarbers an
ſich nicht.


Aus einem Verzeichniß der in dieſen Wildniſſen
geſammleten Pflanzen werden Sie erſehen wie freygebig
die Natur hier geweſen. Aber ich bin uͤberzeugt, wenn
verſchiedene Botaniſten auf einmal ſich in verſchiedene
Partheien abtheilten und ſo beynahe moͤgte ich ſagen in
Front gegen Oſten zu uͤber Nertſchinsk, Jakutzk und am
Eißmeer hinzoͤgen und ſich dann wieder alle in Ochotzk
oder auf Kamtſchatka vereinigten, ſo wuͤrden wir noch viel
wichtigere Entdeckungen erhalten; beſonders, ich bin es
uͤberzeugt, ſtecken die Gebirge hinter Nertſchinsk, bey
den Tunguſen bis nach dem oͤſtlichen Ocean hin, und von
Udskoi oſtrog bis an den Amur, voller Seltenheiten.
Der erſte Anfang einer ſolchen wilden Lebensart iſt ſchwer,
aber man gewoͤhnt ſich bald dergeſtalt daran, daß man
ſie hernach nicht verlaſſen will. Man darf ſich nur mit
kundi-
[61]aus Sibirien.
kundigen Schuͤtzen verſehen, ſo fehlt es an dem herrlich-
ſten Wildpret niemals. —


Was die Gegenſtaͤnde aus der Mineralogie anbe-
trift ſo kann ich mit deren Beſchreibung bald fertig wer-
den, ich darf Jhnen nur ſagen: daß alle die von mir
hier geſehenen Gebirge uralte ſind. Merkwuͤrdig ſind
die ungeheuren Schiefergeruͤlle, die gewiß Jahrtauſende
zu ihrer Entſtehung gebrauchten. Geſchuͤtte ſolcher Schie-
fertafeln ſah ich hier zwiſchen bewaldeten feſten Gebir-
gen, deren Koͤrper ein feinkoͤrniger grauer Granit iſt;
faͤngt man an die etwa ½ bis 1 Zoll dicken Tafeln aus-
einander zu werfen, ſo geraͤth man, in einer Tiefe von
1 bis 2 Fuß, auf fruchtbare Dammerde, in der ich oͤfters
die ſchoͤnſten Pflanzen gewurzelt fand, die durch den
Schiefer durchwuchſen. Unter der Dammerde iſt wie-
der feſter Granit. Dieſe Geruͤlle ſind der Wohnort we-
niger kleinen Schlangen und Eidechſen und des niedli-
chen geſtreiften Eichhoͤrnchens (Sciurus ſtriatus,Bu-
runduk
) das hier ganze Magazine von Zapfen des Pi-
nus Cembra
unterhaͤlt. Abgeriſſene Bloͤcke, aus groͤß-
tentheils Quarz, mit Glimmer und wenigem Feldſpath,
traf ich auf den hoͤchſten Alpen; wenige Rauchtopaſe,
rothe Jaſpisſtuͤcke und gemeine Kieſel, ingleichen Alaba-
ſtergeſchiebe, in den Fluͤſſen; aber von edelen Sachen
nichts.


Der Fang der wilden Thiere iſt aber wohl das
Merkwuͤrdigſte warum dieſe Gebirge von Ruſſen, Mon-
golen, Buraͤten und Tunguſen beſucht werden. Alles
was
[62]Sievers Briefe
was ſich hierauf beziehet, will ich bey jedem Thiere er-
waͤhnen. Den Anfang mache


1) Der Baͤr (Urſus Arctos, Chara göröſſa oder
Ajoh) mit allen ſeinen 4 Varietaͤten, dieſer wird haͤufig
in ſeinen Winterlagern erlegt. Ferner erbauet man
ihm Fallen, wo durch 1 ½ Faden hohe eingerammte Baum-
ſtaͤmme ihm ein kleines Zimmer bereitet wird. Hier
wird ein Stuͤck Aas hineingehaͤngt; wenn nun der Baͤr
zu dieſem will, ſo muß er ſich uͤber eine drey Fuß hohe
Thuͤrſchwelle neigen; indem er aber dieſes thut mit dem
Bemuͤhen die Lockſpeiſe zu erwiſchen, ſo ſpringen die Stell-
hoͤlzer loß und eine ungeheure Laſt von glatt gemachten in
die Queer gelegten Rollbaͤumen, die auf zwey langen
durch die Stellhoͤlzer aufgehobenen Baͤumen laufen, er-
druͤckt das Thier, ohne das Fell zu verderben. Dieſe
Maſchine nennt man Paſt, auch Kulon, oder Lo-
wuſchka,
ſo wie auch eine andere Fallbruͤcke die mit
dieſer, einige Abaͤnderungen ausgenommen, beynahe eins
iſt. Viele Baͤren werden erſchoſſen, welches aber im-
mer gefaͤhrlich iſt, wenn etwa die Kugel nicht gleich toͤd-
tet, oder wenn nicht mehrere Schuͤtzen bey einander ſind;
oͤfters iſt es dabey zwiſchen den Baͤren und Schuͤtzen
zum Handgemenge gekommen, wo denn nicht ſelten letz-
terer unterliegen muß und nie ohne jaͤmmerliche Wun-
den davon kommt. Viele Baͤren werden hier erlegt,
wenn ſie des Morgens fruͤh an den Baͤchen herumſchlei-
chen und auf das junge Wild Jagd machen.


2) Urſus Gulo (Roſſomack); dieſer iſt ſelten' und
noch ſchwerer zu fangen. Wenn der Schnee faͤllt ſo ſucht
man
[63]aus Sibirien.
man ſeinen Hoͤlen durch Spuren nach, wo er dann theils
mit eiſernen Schnellfallen, Hunden oder Geſchoß erlegt
wird.


3) Cervus Alces (Sochati mongol. Chàndagà),
iſt haͤufig, liefert wohlſchmeckendes Fleiſch und dickes
ſtarkes Leder. Beſonders ſind die Naſe und die großen
Lippen eine der groͤßten Delicateſſen, die auf den vor-
nehmſten Tafeln prangen koͤnnten, die aber in dieſen Ge-
birgen von den gemeinſten Leuten gegeſſen werden. Man
faͤngt ſie am gewoͤhnlichſten, indem man eine Gegend im
Walde, wo beſonders ihre haͤufigen Maͤrſche ſind, auf
eine Werſt lang in der Form einer ſpitzzulaufenden Allee
mit gefaͤllten Baͤumen begraͤnzt und in der Spitze dieſer
Einfaſſung ein großes tiefes Loch graͤbt und ſelbes mit
duͤnnem Geſtraͤuche und Moos zudeckt. Das Thier fin-
det nirgends Ausweg als durch dies offne ſpitze Ende der
Allee und hier findet es ſeinen Untergang im Loch. Man
laͤßt aber groͤßtentheils ſolche Einfaſſungen in mehrere
Loͤcher auslaufen und graͤbt folglich auch mehrere Loͤcher,
wo die Ausbeute reicher iſt. Der Wildjaͤger beſucht
alle Tage ſeine Gruben und erſticht die lebendigen Thiere
mit auf Stangen gebundenen langen Meſſern. Manch-
mal habe ich geholfen ein Elenn herauswinden, welches
eine ſchwere Arbeit fuͤr 6 Menſchen iſt, denn ein Pferd
iſt um ein weniges kleiner.


Die zweyte Art ſie zu erlegen ſind die ſogenannten
Solonzi oder ſalzige Auswitterungen (Chudſhir) auf von
Kraͤutern entbloͤßten, mehr oder weniger großen Salz-
plaͤtzen. Hier kommt das Wildpret gewoͤhniglich des
Nachts
[64]Sievers Briefe
Nachts zuſammen, um das Salz zu lecken; der Wild-
ſchuͤtz liegt neben bey mit Straͤuchern bedeckt und erſchießt
das ſichere Thier. Eine dritte Art iſt, daß man mit Hun
den auf Schneeſchuhen das Elenn verfolgt und es auf
hohe Felſen oder uͤber jaͤhe Kluͤfte (Otſtoi) treibt, hier
iſt fuͤr das Thier der gewiſſe Tod; entweder es wird er-
ſchoſſen oder es muß ſich vom Felſen herabſtuͤrzen. Noch
eine Art iſt, die Thiere im Fruͤhjahr, wenn die Oberflaͤ-
che des Schnees ſcharf gefroren iſt, zu jagen. Das Thier
faͤllt bey jedem Schritt durch, und die ſcharſe Eißrinde
der Oberflaͤche zerſchneidet oder ſchindet am Ende ihm
die fleiſchigten Theile von den Beinen herab, die Hunde
hingegen laufen uͤber den Schneerinden weg und erha-
ſchen das Wild. Manche liefert der Zufall auch in die
Haͤnde der Schuͤtzen.


4) Cervus Elaphus (Jſubr u. Maral. mong.
Bùgo.) Dieſer Hirſch iſt von den deutſchen durch ſeine
Groͤße und braunere Farbe verſchieden; ſollte er nicht die
zweyte Varietaͤt β. Hippelaphus ſeyn?


Die Art ihm zu fangen iſt mit der vorigen einer-
ley, nur daß dieſer auch noch mit Selbſtgeſchoß entweder
durch Feuerroͤhre oder mit Pfeilen ſich das Leben zu neh-
men gezwungen wird, welches beym Elenn zwar auch,
aber ſeltener geſchiehet. Gleichfalls wird er durch ein
blaſendes, hoͤlzernes, trichterfoͤrmiges Jagdhorn in der
Brunſtzeit haͤufig betrogen und erlegt, indem man auf
dieſem Jnſtrument beynahe eben die bloͤckende Stimme
nachahmen kann, die der Hirſch gebraucht um die Hin-
din zu locken. Hiebey ſetzt der Jaͤger, beſonders die
Tungu-
[65]aus Sibirien.
Tunguſen, das Fell von einem Rehkopf mit den Hoͤr-
nern auf den Kopf, um zwiſchen dem Gebuͤſch eine Hirſch-
maske darzuſtellen.


5) Cervus Capreolus. (Dikaju Koſa. mongol.
Goͤroͤß.) Wird auch mit Selbſtgeſchoß von Pfeilen, in
ſolchen verengten eingezaͤunten Gaͤngen wie beym Elenn
erlegt. Auf den Salzlecken werden ihrer gleichfalls
viel erſchoſſen.


6) Moſchus moſchiferus. (Ruſſ. Chabàrga,
mong. Kuͤdduͤr.) Das Fleiſch ſchmeckt ſehr angenehm
wenn die Thiere nicht in der Brunſtzeit ſind. Dieſe
werden mehrentheils auf Spuren im Schnee erjaget und
erſchoſſen. Da die Gebirge jederzeit voll mit Jaͤgern
ſind, ſo werden ſie auch zufaͤlligerweiſe haͤufig erlegt.
Das Fell wird haͤufig zu warmen Stiefeln (Unti) und zu
weiſſem ſaͤmiſchen Leder, auch zu Jergacki oder Ueberpel-
zen, gebraucht *)


7) Antelope gutturoſa Pall. (Serén.) ſind auf
den Steppen bey Kirau mit dem Erinaceus auritus ge-
mein: nicht in dieſen hohen Gebirgen; ſind aͤußerſt ſchuͤch-
tern und fluͤchtig, ſie fuͤrchten aber die auf den Steppen
weidenden Pferde nicht; hinter dieſe alſo verſteckt ſich
der Jaͤger und erlegt ſie, da aber ihr Fleiſch nicht ſonder-
lich gut ſchmeckt und dabey zaͤhe iſt, ſo werden ſie mehr
des Felles wegen gejagt, die mit oder ohne Haar zu Klei-
dungen der gemeinen Leute dienen.


8) Sus
E
[66]Sievers Briefe

8) Sus Scrofa a) fera. (Kabàn, mong. Botton
gachai.
) wird gejagt und erſchoſſen. Die wilden
Schweine naͤhren ſich groͤßtentheils von den Zedernuͤſſen
(Cembra) und allerley Beeren und Wurzelwerk. Jhr
Fleiſch iſt daher außerordentlich wohlſchmeckend.


9) Felis Onca.Bars und


10) Felis Lynx. (Ruſſ. Riß. mong. Schuͤlluͤß.)
werden mit Hunden auf Baͤume gejagt, beſonders im
Winter, und da erſchoſſen, oder durch Selbſtgeſchoß mit
Pfeilen erlegt. Beyde ſind wilde reiſſende Thiere und
ſchwer zu fangen.


11) Canis Lupus. (Wolk, mongol. Tſchonno.)
Dieſer iſt der gemeine, und ſtreift einzeln herum. Eine
andere Art aber die kleiner und reißender iſt heißt bey
den Mongolen Zoiber-Tſchonnò, und haͤlt ſich gern
Heerdenweiß zuſammen. Sie werden beyde mit einem
ſehr niedrig gelegten Selbſtgeſchoß, oder mit Hunden
und zu Pferde gejagt oder aber mit Kraͤhenaugen getoͤd-
tet, auch in Wolfsgruben (mongoliſch Tamma) gefan-
gen.


12) Canis Vulpes. (Lißitza mongol. Uennoͤgaͤ)
wird durch Kraͤhenaugen oder Selbſtgeſchoß erlegt und
auch mit Pferd, Hunden und Gewehr verfolgt.


13) Lepus timidus. (Saaͤtz mongol. Toòlaͤh.)
dieſes iſt der graue; der weiſſe heißt bey den Ruſſen
Uſchkaan und bey den Mongolen Tſchàndaga. Wie
dieſer mit Schlingen von Pferdehaar die in Waͤldern
haͤufig herumgelegt ſind, gefangen wird, brauche ich hier
wohl weiter nicht zu wiederholen; der weiſſe dient beſon-
ders
[67]aus Sibirien.
ders zu leichtem und doch warmen Unterfutter unter Deck-
betten und Frauenzimmerpelz.


14) Muſtella Zibellina. (Soboll. mong. Bul-
log
à). Die beßten Zobel kommen von den Jakutzkiſchen
und Barguſiniſchen Gebirgen; auch die Kamtſchatkiſchen
ſind nicht uͤbel: und da deſſen Felle beſonders jetzt ſehr
theuer ſind, ſo wird ihm aufs haͤufigſte nachgeſtellt.


Ehedem thaten ſich gewiſſe Geſellſchaften von rußi-
ſchen Wildſchuͤtzen zuſammen, aus ihren eigenen Mitteln
waͤhlten ſie den aͤlteſten und erfahrenſten zum Befehls-
haber, und gaben ihm das Recht ſeine untergebenen Ka-
meraden zu ſtraſen oder zu belohnen. Alle Morgen beym
Fruͤhſtuͤck mußten ſie ihm ihre Traͤume erzaͤhlen und zu-
folge dieſen theilte er ſeine Leute entweder zur Jagd oder
zur Wache in der Simowie ab. Wer wider ſeine Be-
ſehle handelte, wurde beſtraft mit Stockpruͤgeln, diejeni-
gen die das Gegentheil thaten, belohnt. Jetzt exiſtiren
dergleichen Geſellſchaften nicht mehr, ſondern ein jeder
jagt wie er will und wenn Geſellſchaften zuſammentre-
ten, ſo machen ſie einen Vergleich unter ſich, wo ein je-
des Mitglied Gewinnſt und Verluſt theilt. Jch zwei-
fele uͤbrigens ſehr ob jemals von der rußiſchen Regie-
rung Leute auf den Zobelfang hieher zur Strafe ſind ver-
ſchickt worden, wie das auslaͤndiſche Maͤhrchen lautet;
dieſes wuͤrde nicht Strafe ſondern Belohnung ſeyn. —


Jndeſſen, um die Art den Zobel zu fangen zu be-
ſchreiben ſo wird er heutiges Tages groͤßtentheils durch
Jacuten, Tunguſen, Mongolen und Buraͤten betrieben,
die im Winter mit dazu abgerichteten Hunden der Spur
E 2des
[68]Sievers Briefe
des Thiers nachfolgen bis ſie auf ſeine unterirrdiſche
Wohnung gerathen. Vor dieſe legen ſie Fallen und
Schlingen, und ſuchen den Zobel durch Dampf oder
durch Warten heraus und ins Fallſtrick zu bringen.


15) Sciurus vulgaris. (Bjelka mongol. Kermà)
mit allen ſeinen 3 Varietaͤten, doch iſt das weiſſe Eich-
horn ſelten, die andern beyden Arten in ungeheurer
Menge. Die Hauptweiſe felbige zu fangen ſind die ſo-
genannten Plaſchki. Man hauet nemlich, etwa 3 Ellen
hoch von der Erde, in eine Zirbelfichte einen großen
Kerb, in dieſen paßt man die Enden von 2 einer Ellen
langen Brettern ein, ſtellt ein Fußgeſtell darunter und
ſetzt Stellhoͤlzerchen zwiſchen die aufgeſperrten Bretter,
die man mit einen Stuͤckchen geſalzenen und getrockneten
Omul ankoͤdert, hinein, beſchwert aber vorher das obere
Deckbrett mit dem Ende eines etwa 3 Faden langen jun-
gen Fichtenbaums. Sobald das Eichhoͤrnchen, welche
große Liebhaber von den geſalzenen Fiſchen ſind, und die
gewoͤhnlich der Fruͤchte wegen ſich immer Haufenweiſe
auf den Zirbelfichten aufhalten, zu dem Koͤder will, ſo
beruͤhrt es die Stellhoͤlzer, das obere Brett faͤllt auf daſ-
ſelbe nieder und erdruͤckt es. Man ſiehet in dieſen Ge-
birgen Werſte lange Reihen von ſolchen aufgeſtellten
Fallklappen, ſo wie im Braunſchweigiſchen die Donen-
ſtiege zum Aufhaͤngen der Droßeln. Ferner werden dieſe
Thierchen noch mit ſtumpfen hoͤlzernen Pfeilen aus Bo-
gen von den Baͤumen, oder durch kleine Kugeln aus ge-
zogenen Buͤchſen erlegt.


16) Mu-
[69]aus Sibirien.

16) Muſtella Erminea hyberna. (Ruſſ. Gorno-
ſtai
mongol. Ujaͤ) werden gewoͤhnlich mit ſtumpfen Pfei-
len oder mit Kugeln erlegt.


17) Muſtella nivalis. (Ruſſ. Laska) gewoͤhnlich
werden die Wieſelarten in hoͤlzernen Schießfallen, Ga-
ringi
oder Selbſtſchuß gefangen.


18) Muſtella ſibirica. (ruſſ. Kulonnok mongol.
Kulonn) von dieſen gilt eben dies.


19) Arctomys Citillus. Erdzeiſel (ruſſ. Suslic.)


20) Arctomys Marmota. (Surok, Tarbogam
Murmelthier.) Die Rhabarber-Bucharen vom Fluß
Chong-Choa und der Stadt Sinin laͤugnen daß dies
Thier die Rhabarber graben ſoll; in Sibirien wenig-
ſtens hat dies auch noch keiner bemerkt, vielleicht ſchme-
cken ihnen die ſibiriſchen Gattungen nicht; man faͤngt ſie
in Springfallen. Die Mongolen haben noch ein beſon-
dres Selbſtgeſchoß, welches ſie vor die Hoͤlen der klei-
nern Thierchen legen, damit wenn dieſe herausgehen
ſich ſelbſt erſchießen moͤgen. Man nennt es Garinga
z. E. fuͤr Mus Iaculus. mong. Jalma und Allackdaga.
Den Erdbaͤr des Laxmanns (Mus Myoſpalax) Sſom-
bra.
Den Mus Cricetus oder Hamſter. Die wilde
Bergkatze Felis Manul.Stennaga Koſchka u. dergl.


Die Bieber ſind nun gaͤnzlich ausgerottet und Fluß-
ottern (Muſtella Lutra) ſchon ſelten.


Noch giebt es eine Art großer fliegender Eichhoͤrner
(Lelaͤja,Sciurus volaes,Ollwa auf mongoliſch)
deren Felle denen Chineſen verkauft werden, die damit
Kleider verbraͤmen und verzieren.


E 321) Der
[70]Sievers Briefe

21) Der mongoliſche Eſel. (Dſhiggetei. Equus
Hemionus
) an der mandſhuriſchen Grenze. Wird durch
Liſt von den Tunguſen groͤßtentheils gefangen, oder er-
ſchoſſen, oder auf dem Eiſe gejagt. Den ich zu ſehen
Gelegenheit hatte, war ganz jung, bey der Feſtung
Dſhindan-Turuk gefangen worden und ſeit 5 Jahren
ſo zahm geworden, daß er ſich wie andere Pferde, mit
denen er auf die Weide gieng, fangen und ſatteln ließ.
Man konnte ihn reiten und fuͤr eine Weile gieng er ge-
ruhig; aber oͤfters kommts ihm in den Kopf ſtille zu ſte-
hen und dann mag der Reuter nur abſteigen, denn we-
der Ribbenſtoͤße noch Peitſchenhiebe bringen ihn von der
Stelle oder aber er faͤngt an zu ſpringen und hinten und
vornen auszuſchlagen und wenn dieſes ein Weilchen ge-
waͤhrt hat, ſo mag ſich der Reuter wieder aufſetzen und
ſeinen Weg ruhig fortſetzen. Er laͤßt ſich auch in die
Deichſel ſpannen, aber wenn ihm ſeine Grillen einfallen,
ſo iſt man in Gefahr den Wagen zu verlieren.


Fuͤr die Ornithologen iſt hier wenig zu hohlen, wenn
es nicht etwa der große Bartgeier iſt, den die Mongolen
Jóllo nennen. Jch zweifele nicht daß er mit dem
Schweizer Laͤmmergeyer einerley ſey, der in dem neuen
Syſtemate Naturae, Vultur barbatus genannt wird. Aber
da die hieſige Gegend von der Schweiz ſehr verſchieden
iſt, ſo moͤchte dieſer Adler auch wohl in etwas abweichen.
Jch halte alſo eine kleine Beſchreibung von ihm nicht fuͤr
uͤberfluͤßig, wenigſtens dient ſie zur Vergleichung.


Mein Vogel den ich hier beſchreibe war ein Maͤnn-
chen und ein Jahr alt; ſeine Hoͤhe laͤngſt den Beinen
hinauf
[71]aus Sibirien.
hinauf 16 engliſche Zoll, die Laͤnge vom Schnabel bis
an das Ende des Schwanzes 3 engliſche Fuß, und von
einem Ende der ausgebreiteten Fluͤgel bis zum andern 8
ſolcher Fuß. Die natuͤrliche Lage der Fluͤgel war ſo, daß
die Enden der dritten, vierten und fuͤnften Schwungfe-
der (Remiges) mit den Enden der Schwanzfedern (Re-
ctrices
) in einem Abſchnitt ſich endigten. An dem bley-
farbenen Schnabel iſt die obere Kinnlade Hakenfoͤrmig
gebogen, und die untere mit einem nicht großen, aus
zarten Federchen beſtehenden Barte geziert. Die Au-
genbraunen (Supercilia) ſind ſchwarz. Die Regenbogen-
haut (Iris) iſt 3 Linien breit und roͤthlichgelb. Der Stern
(Pupilla) ſchwarz. An der Stirn formiren angedruͤckte
ſchwaͤrzliche, vom Mittelpunkt aus gehende Federn (cen-
trifugae
) einen Stern der in der Mitte aus weiſſen Fe-
derchen beſtehet. Der Nacken (Cervix) iſt mit ſchma-
len, ſchwarzen, zugeſpitzten langen Federn umgeben, die
der Bogel emporſtraͤuben kann; der groͤßte Theil ſeines
Kopfes uͤberhaupt iſt mit ſehr duͤnngeſaͤeten, dicht anlie-
genden, ſchwarzen und einigen weiſſen Federn bedeckt,
zwiſchen welchen ich noch zarte Pflaumfedern (Plumulae)
bemerkte. Hinter dem Nacken laͤngſt dem Ruͤcken hin-
aus zwiſchen den Fluͤgeln ſtellen die weißlichen mit eini-
gen ſchwarzen vermiſchten Federn einen Keil vor, deſſen
Spitze ſich unter den kuͤrzern Schwungfedern verliert.
Die Farbe des Vogels iſt oberwaͤrts ſchwaͤrzlich-braun,
unten weißlich ins Graue fallend, und hier ſind die Fe-
dern weicher, dichter, und bekleiden die Lenden und die
Schenkel (Tibiae) ſo dick daß ſie das Anſehen bekommen
E 4als
[72]Sievers Briefe
als truͤge der Vogel große, weite Schifferhoſen. Von
den bleyfarbenen Zaͤhen ſtehen 3 vorwaͤrts und der 4te
kuͤrzere hinten hinaus. Will man ihn greifen, ſo faͤngt
er ein ſehr durchdringendes, zitterndes, lautes, zwit-
ſcherndes Geſchrey an und holt dabey ſehr ſtark Othem.
Er trinkt niemals, verſchlingt mit ungemeiner Begierde
Knochen und große Stuͤcke Fleiſch. Haare, Federn u.
dgl. m. ſpeyet er den naͤchſten Tag in Geſtalt von Ku-
geln wieder aus, ſeine Excremente ſind duͤnn, weiß und
fliegen ſpruͤtzend von ihm.


Der zweyte merkwuͤrdige Vogel iſt der Berkut
(Falco Fulvus mong. Buͤrgut) den ich hier weiter nicht
beſchreibe, weil er bekannt genug iſt. Dieſer und der
Falco Palumbarius (Jaſtreb oder Sperber) werden
hier zur Jagd abgerichtet. Uebrigens laͤßt ſich hin und
wieder in dieſen Wildniſſen zuweilen ein Singvogel hoͤ-
ren, die mir aber, weil ich ſie nicht zu ſehen bekam, un-
bekannt ſind: wenigſtens halfen ſie mir meinen Aufent-
halt angenehm zu machen. Die Mongolen erzaͤhlen
viel von einem beſondern auf den hoͤchſten Felſen woh-
nenden Thier, Sarrick-tekkaͤ, welches die Groͤße einer
Wieſel und keinen Schwanz haben ſoll. Die Mongo-
len verehren es, und ſchießen es daher nicht. Sie be-
dienen ſich ſeiner Excremente, die man Klumpenweiſe,
einem ſchwarzen Harz aͤhnlich findet als eines allgemei-
nen Medicaments, welches in der thibetiſchen Sprache
Barruckſchen heißt. Die Thierchen werfen ihren Un-
rath gewoͤhnlich auf unzugaͤnglichen hohen Felſen, auf
einen
[73]aus Sibirien.
einen Haufen wo man zuweilen Pude davon beyſammen
findet. Aller angewandten Muͤhe ungeachtet, habe ich
dieſes Thier nicht erhalten koͤnnen.


Sechſter Brief.


Vom Urſprung des Tſchikoifluſſes 17\nicefrac {6} {IX}92.


Jn dieſem Briefe, welcher der letzte aus dem Ja-
blonnoi Chrebet ſeyn wird, werden Sie nur einige Frag-
mente zur Beſchreibung der mir aufgeſtoßenen Begeben-
heiten, waͤhrend meinen Excurſionen, leſen; und als
Fragmente betrachtet, nehmen Sie’s nicht uͤbel, wenn
ich, um nicht unnuͤtze Worte zu verlieren ſie ohne Zuſam-
menhang liefere. „Die Naͤchte, ſagte der brave Fon-
„tenelle: laden unter andern den Menſchen und alle
„uͤbrige Geſchoͤpfe, mit ihrer Dunkelheit und Stille zu
„der benoͤthigten Erhohlung durch den Schlaf ein —
„Verſchoͤnern und vervielfaͤltigen den Anblick der Schoͤ-
„pfung bey ihrem Wechſel mit dem Tage, am Abend
„und Morgen; befoͤrdern die Fruchtbarkeit des Erdbo-
„dens, enthuͤllen unſern Augen den unermeßlichen Schau-
„platz der großen Werke der Natur am Himmelsgewoͤl-
„be, und bieten dem forſchenden Geiſt des wachſamen
„Weiſen reichen Stoff zu den erhabenſten Betrachtun-
„gen dar:“ Ganz vortrefflich! dachte ich, aber ich muß-
te heftig lachen, als ich auf einem der hoͤchſten hieſigen
Gletſcher unterm geſtirnten Himmel eine Nacht hinbrin-
gen mußte, die mir nicht ſo angenehm duͤnkte, als dem
E 5Fonte-
[74]Sievers Briefe
Fontenelle jene in Geſellſchaft einer liebenswuͤrdigen
Marquiſe in einem der ſchoͤnſten Parks! — Hoͤren Sie
was mir geſchah.


Den 12. July gieng ich mit einem Kaſacken, der ein
guter Jaͤger war, den Tſchikokan bis an ſeinen Ur-
ſprung hinauf, um dort Kraͤuter zu ſammlen. Unter
andern erſtieg ich Mittags einen Glaͤtzer (Golez) und
als ich ſo weit hinauf war wo die Baͤume aufhoͤrten, und
Pinus Cembra nur als Buſchwerk erſchien, gab ich
mein Pferd an den Kaſaken, mit dem Befehl, er ſollte
ſie weiden und meiner warten. Jch gieng nun fort,
und brachte mit Botaniſiren auf dem ohne Schnee
ſeyenden ſich weit erſtreckenden ziemlich graßreichen Gi-
pfel bis nach Sonnenuntergang zu, fand aber fuͤr meine
Muͤhe nur Polygonum Biſtorta alpinum, Empetrum
nigrum, Gentiana algida,
eine Campanula die ich mit
keiner andern vergleichen kann; ich nenne ſie daurica;
und Ribes pneobalſamum, eine neue, der ſchwarzen Jo-
hannisbeerſtaude nahe kommende, ſehr wohlriechende
Gattung. — Als ich zu dem Platz kam, wo ich glaubte
Koſack, Pferde und ein Abendeſſen zu finden, ſah ich
mich getaͤuſcht; vielleicht, dacht ich, bin ich unrecht ge-
kommen? Jch fieng alſo an rechts und links zu wandern,
und rief zuweilen den Namen des Begleiters, der ober,
wie ich nachher erfuhr, einen Hirſch erblickt hatte, und
verfolgte. Zur Vorſicht indeſſen, damit ich nicht irren
moͤchte, hatte er, freylich nicht am beſtimmen Orte, ein
großes Feuer angemacht, das ich aber nicht ſah, indem
das Holz ſchon niedergebrannt war. Nach einigem ver-
geblichen
[75]aus Sibirien.
geblichen Suchen kamen mir die Baͤren in den Kopf;
dieſe, dachte ich, haben ſich ein Abendbrod von Mann
und Pferden gemacht. Ein ganz natuͤrlicher Gedanke;
denn ich war ſchon mehrere mahle Zeuge, daß die hieſi-
gen Gebirge voll davon ſtecken. Mir wurde dabey, wie
Sie leicht denken koͤnnen, gar uͤbel zu Muthe; das
Schlimmſte war daß ich Pelz, Mantel, Pulver, Bley
und Saͤbel beym Koſaken gelaſſen, und nichts weiter als
nur einen Kugel-Schuß im Gewehr hatte, und ganz leicht
gekleidet war. Lange ſich zu bedenken war keine Zeit;
es fieng an ſehr kalt und Nacht zu werden, und von NO.
kam ein heftiges Donnerwetter langſam daher. Jch grif
alſo kurz und gut zu, und baute mir, aus den umgefal-
lenen vertrockneten Baͤumen, eine Art von Feſtung, in
welche ich mich begab, und das Weitere erwartete.
Freund Robinſon Cruſoe, ſammt den Baͤren, waren
abwechſelnd der Gegenſtand meiner Gedanken. Um Mit-
ternacht aber wurde die Scene immer fuͤrchterlicher, denn
nun war das Gewitter mein naͤchſter Nachbar; Blitz
und Donnerſchlag war eins, denn ich befand mich mit
den Wolken in derſelben Hoͤhe; Legionen Muͤcken, ohn-
erachtet ich, ſo dicht als moͤglich, auf dem Gewehre lag,
um das Naßwerden des Pulvers zu verhuͤten, ſogen mir
das Blut allenthalben aus. Schloßen wie große Erb-
ſen, und der heftigſte Sturm machten, nebſt dem von
den naͤchſten Gebirgen tauſendfaͤltigen wiederhallenden
Donner zuſammengenommen ein Laͤrmen und ein Concert
das ſchrecklicher war wie jenes, wo der beruͤhmte Don
Quixote mit ſeinem Sancho Panſa in der Sierra Mo-
rena
[76]Sievers Briefe
rena ſich zu dem Abentheuer gegen die Walkmuͤhlen be-
reitete. Ein anderes iſt ein Donnerwetter in einem
Hauſe zu hoͤren, und ein anders iſts in den Gewitterwol-
ken ſelbſt zu wohnen, wo man vom Blitze wie umgeben
iſt. Wenn ich auch bis an den juͤngſten Tag fortſchriebe,
ſo wuͤrde ich Jhnen doch keine treffende Vorſtellung von
meiner Lage, und dem damaligen Ausſehen der Natur
geben koͤnnen; ſolche Auftritte laſſen ſich nur empfinden.
Gegen zwey Uhr nach Mitternacht wurde alles wieder
ruhig; das geſtirnte reinſte Firmament, das lezte Mon-
desviertel, und bald darauf Aurora machten, daß ich
mein ſonderbares Bette verließ, und triefend naß den
Berg herunter durch Buſch und tiefes Gras auf eine
ſchoͤne Wieſe kam, wo ich mit denſelben Augen nun den
Gletſcher anſah, als Sancho Panſa das Wirthshaus,
worin er, durch die vier luſtigen Segovier und Compagnie
gezwungen, die luftigen Capriolen hatte machen muͤſſen.
— Nach meiner naͤchtlichen Avantuͤre folgte der ſchoͤnſte
Tag von der Welt, ich hieng meine naſſen Kleider an
die Baͤume und lief herum um Kraͤuter zu ſuchen, Car-
duus heterophyllus
und einige andre Gattungen ver-
mehrten noch meine Erndte. Der Koſak mußte indeſ-
ſen mein Ruffen, das ich waͤhrend des Botaniſirens fort-
ſezte, gehoͤrt haben, denn bald darauf erſchien auch er.
Wir machten ein herrliches Gericht (Tataſche) von ſri-
ſchem Wildpret, und ritten vergnuͤgt weiter. Dies eben
erwaͤhnte Tataſche iſt ein mongoliſches Gericht und be-
ſteht aus klein zerſchnittenem Fleiſch, gleichviel was fuͤr
welches, das ſo ohne ſonſtige Zuthat gekocht wird; thut
man
[77]aus Sibirien.
man hierzu aber etwas Brod, nebſt dem vortreflich ſchme-
ckenden und hier haͤufig wachſenden Allio ſaxatili P. nebſt
Salz und etwas Pfeffer, ſo hat man ein Gericht, wel-
ches, beinahe moͤchte ich ſagen, alle andre in der Welt
uͤbertrift; freylich kommen hierbey zwey Dinge zuſam-
men: ein beſtaͤndig ſcharfer Appetit, und das ſchoͤnſte
wohlſchmeckendſte Wildpret.


Da ich nun einmal bei den Glaͤtzern oder kahlen
Bergkoppen (Golzi) bin, ſo will ich Jhnen die Bege-
benheiten einer andern Nacht erzaͤhlen, die aber ein Ge-
gentheil der ſo eben beſchriebenen iſt, und wobei gewiß
auch Fontenelle, ohne ſeine Marquiſe, haͤtte in Extaſe
gerathen muͤſſen. Um ſo mehr muß ich noch etwas von
meinen Glaͤtzern melden, da ich Sie fragen hoͤre, wie es
koͤmmt daß die Zirbelfichte in Geſtalt von Buſchwerk
auf ihnen waͤchſt, die noch bis uͤber die Haͤlfte des Ber-
ges die groͤßten und dickſten Baͤume ausmacht. Gewiß,
denken Sie dabey, ſind die Gipfel der Alpen mit ewi-
gem Eiſe belegt! — Nein grade das Gegentheil; Sie
treffen ſtatt deſſen die ſchoͤnſte Weide, beſonders fuͤr die
Botaniſten. Es war der 21. Juli als ich meine Woh-
nung vom Tſchikokan nach dem Urſprung des Tſchikol,
der 60 Werſte entfernt war, verlegte. Jch gieng laͤngſt
dem in den Tſchikokan fallenden kleinern Fluſſe Glubo-
ka
hinauf bis zu ſeinem Urſprung, welcher 30 Werſte
von meiner Simowia aus einem Glaͤtzer kommt, uͤber
welchen man paſſiren muß, wenn man zum Tſchikoi will.
Eben dieſer Glaͤtzer nun iſt es, von dem ich Jhnen et-
was erzaͤhlen will, beſonders weil er hier herum der hoͤch-
ſte
[78]Sievers Briefe
ſte und reichſte an Pflanzen iſt, und die herrlichſte Aus-
ſicht von der Welt gewaͤhrt; manchen vergnuͤgten Tag
habe ich auf ihm zugebracht, und vielmals in der Huͤtte
geſchlafen, die unter den ſchoͤnſten Zirbeln oder Zedern
(Cembra), nur wenig unterhalb des kahlen Gipfels, von
unſern Rhabarbergraͤbern mit Fleiß gebauet worden iſt.
Hier brachte ich meine Pflanzen in Ordnung, die ich des
Tages auf dieſem ſchoͤnen Berge ſammelte. Da wo die
Zirbelfichte aufhoͤrt Baum zu ſeyn, ſteigt man etwa
800 Schritte an der ſanft ſich erhebenden Koppe auf-
waͤrts, durch die ſchoͤne gelbe Schneeroſe, das Buſch-
werk von liegenden Zirbelſichten und anderm Alpenge-
ſtraͤuch. Oben auf der Ebne des Berggipfels, die wohl
drey bis vier Werſt in die Laͤnge, und anderthalb in die
Breite haben mag, die ſich aber hernach wieder in an-
dere Gebirge verliert, ſteht beinahe in der Mitte, auf
dem hoͤchſten Punkte, ein Aggregat von verſchiedenen
ungeheuren Granitbloͤcken, die etwa ſechs bis ſieben Klaf-
tern hoch ſeyn moͤgen. Hier oben eben iſt es, wo man
die majeſtaͤtiſche Ausſicht hat. Eine beinahe zahlloſe
Anzahl von Gebirgen, worunter nur einige wenige im
Juli noch mit Schnee bedeckt ſind, liegen gleichſam zu
den Fuͤßen des Anſchauers. Unter allen dieſen Gebirgen
bemerkt ich nur einen der hoͤher noch zu ſeyn ſchien wie
der meinige; denn ſeine Koppe ragte nicht allein uͤber
alle hervor, ſondern war auch ganz dick mit Schnee be-
deckt, welcher den ganzen Sommer nicht ſchmolz. Ohn-
erachtet er uͤber 80 Werſt von mir entfernt war, ſo ſchien
er mir doch ganz nahe. Eben genannte Glaͤtzer ragen
nie
[79]aus Sibirien.
nie uͤber die Wolken hinaus, wie die am Baikal, ſondern
dienen ihnen, wenn ich mich ſo ausdruͤcken darf, als
Stuͤtzen, indem ihre Haͤupter bey truͤber Atmosphaͤre ge-
woͤhnlich in Wolken verhuͤllt ſind. Jch bin zu allen Zei-
ten und in allen moͤglichen Witterungen hier geweſen,
manchmal erſtarrte ich in den heißeſten Sommertagen
vor Kaͤlte, und zuweilen war auch die Hitze ſo groß, daß
das Queckſilber im Sonnenſchein bis auf 30° Reaumur
ſtieg. Gern moͤchte ich Jhnen nun auch den Stand des
Barometers ſagen, aber leider hatte ich keinen bey mir.
Bey meinem jedesmaligen hieſigen Aufenthalt, wenn
es helles Wetter war, athmete ich aͤußerſt leicht, befand
mich munter und vergnuͤgt, und ſchlief des Nachts vor-
treflich. Hier wars, wo ich die Art ſah, wie die Natur
die groͤßten Fluͤſſe ſchaft. Dieſe Glatzberge nehmlich
ziehen beynahe unaufhoͤrlich die Feuchtigkeiten aus der
Atmosphaͤre an, und ſobald man nur den Gipfel um
einige Klaftern tief herunter ſteigt, ſo hoͤrt man ſchon
ganz kleine Quellchen unter denen mit Raſen bedeckten
Granitplatten rauſchen, die ſich hernach zu groͤßern Quel-
len vereinigen. So ſah ich vor meinen Augen auf der
noͤrdlichen Seite meines Glaͤtzers die Gluboka entſte-
hen, und auf der ſuͤdlichen Seite die Solonzowa die in
den Tſchikoi faͤllt. Unterhalb der eigentlichen kahlen
Koppe des Glaͤtzers findet man gewoͤhnlich einen mehr
oder weniger großen Moraſt, der gleichſam zum Ver-
ſammlungsplatze aller Quellchen dient, von wo heraus ſie
dann ſchon wie Baͤche den Berg herunter ſtuͤrzen, und
oͤfters die ſchoͤnſten Caſcaden machen; wie hier die So-
lonzowe,
[80]Sievers Briefe
lonzowe, die ſo ſchoͤne Waſſerfaͤlle hat, daß ſie die in
Kaſſel auf dem Winterkaſten uͤbertreffen. Denn dort
iſt durch Kunſt manche Unregelmaͤßigkeit aus dem Wege
geraͤumt, hier aber regiert die roheſte Natur.


Auf vorher erwaͤhnten hohen Granitaggregaten war
es, wo ich am 14. Auguſt Morgens mit Sonnenaufgang
eine der goͤttlichſten Ausſichten genoß, die ſich denken laſſen,
eine Ausſicht, die eine beredtere Feder als die meinige
fordert, um ſie nur einigermaßen wuͤrdig zu beſchreiben.
Den Tag vorher hatte es unten ſehr fein geregnet, und
auf den Alpen geſchneyet. Dieſes endigte ſich aber
gegen Mitternacht, und es wurde vollkommen helle.
Bey dieſer Gelegenheit nun war ſehr viel Feuchtigkeit
in den Thaͤlern, die alles mit dickem Nebel uͤberzog. Jch
aber ſtand bey weitem hoͤher wie aller Nebel. Nun
gieng die Sonne auf, das lezte Mondesviertel und
ein reines Firmament uͤber mich. Alle Nebelſaͤulen,
die gegen Oſt und Suͤd hinſtanden und die ſonderbar-
ſten beinahe durchſichtigen Figuren bildeten, erhielten
von der Sonne die herrlichſten Farben; zwiſchen dieſen
ragten hin und wieder die Gebirgruͤcken mit ihren be-
waldeten Koppen hervor. Da ſah man einen wunder-
lichen großen Granitblock im Nebel ſchwimmen; denn
ſeinen Berg worauf er ruhte ſah man nicht. Hier ſah
man ein weites Meer, das ſanft mit ſilberfarbenen Wel-
len wallte. Gegen Norden waren alle dieſe Nebel pech-
ſchwarz und ſchaudervoll; denn die Hoͤhe der Berge und
Wolken hinderte, daß die Sonne ſo fruͤh dort nicht hin-
ſcheinen konnte. Jch ſtand 2 Stunden wie eine Statue
da
[81]aus Sibirien.
da und betete an! — Nun zog ſich der Nebel in die
Hoͤhe, und auf einmal fiengen alle Bergſpitzen an zu
dampfen wie die ſchrecklichſten Oefen, und die Thaͤler
waren rein: bald darauf verließ ich den Berg, und drun-
ten in den angenehmen Wieſen, worin der Tſchikoi fließet,
genoß ich das ſchoͤnſte Wetter.


Wie ein Nadelholzwald geſchwind in Brand ge-
raͤth, ſah ich bey meinem Hierſeyn auch einmal. Meine
Koſacken hatten in einem Thale den Feuerheerd unter
einer großen ſchoͤn gruͤnenden Zeder angelegt, und waren
nach der Mittagsmahlzeit, von der Arbeit ermuͤdet,
auf eine Stunde lang eingeſchlafen; waͤhrend dieſer Zeit
ergrif das Feuer die harzige Rinde der Zeder, dieſe fieng
Feuer, von dieſer wurden die Nachbarn, welche in Weiß-
und Rothtannen, Fichten und Laͤrichen beſtanden, wie-
der angezuͤndet, dermaßen daß in einer halben Stunde
ein ganzer Bergruͤcken im Brande ſtand, von welchem
ein ungeheurer Dampf aufſtieg, der die Luft verdunkelte,
in 2 Tagen in welchem der Brand fortdauerte, waren
ſolcher Bergruͤcken wohl ſechs ausgebrannt, und haͤtten
nicht Fluͤße und Baͤche und tiefe breite Thaͤler dem Feuer
Graͤnzen geſezt, ſo waͤre der Schade noch groͤßer gewe-
ſen. Mit einer unglaublichen Geſchwindigkeit laͤuſt das
Feuer an einem ſolchen Harzbaum hinauf, wobey es ei-
nen donneraͤhnlichen Laͤrm macht. Solche Lauffeuer ſe-
hen des Nachts ſchoͤn aus. Aus dem aufſteigenden
Dampfe regnete es zuweilen, aber nicht lange, anhaltend,
bey hellem Wetter.


FSo
[82]Sievers Briefe

So ſind auch die heftigen Stuͤrme merkwuͤrdig, die
oͤfters urploͤtzlich, und wenn es eben vorher noch ſtille
war, aus den tiefen und ſehr langen Gebirgthaͤlern mit
dem groͤßten Ungeſtuͤm hervorbrechen. Dann gehts uͤber
die Laͤrichenbaͤume, die ſehr hoch und auf ſchwachen Fuͤſ-
ſen ſtehen, erſchrecklich her. Solche Stuͤrme ſind im
ganzen Sibirien ſehr haͤufig, nur im Jablonnoi Chre-
bet
nicht lange anhaltend. Auf der andern Seite wie-
derum ſind ſie, ſo wie alle etwas ſtarke Winde, wohlthaͤ-
tig; denn ſo lange ſie wehen hat man etwas Ruhe vor
den ſehr beſchwerlichen ſtechenden Jnſekten, deren es
hier beſonders dreye vorzuͤglich giebt, nehmlich: 1) Vieh-
bremen (Pauti), welche die Groͤße einer Biene haben,
aber ſehr zaͤrtlich ſind, indem ſie die geringſte Kaͤlte ſchon
verſcheuchet. Wehe dem, der blaue Kleidung hat;
dieſe ſcheinen ſie beſonders zu lieben, denn ſie fallen im
Augenblick wie raſend darauf. Die Pferde leiden am
meiſten von ihnen, welches beſonders an den weißen zu
ſehen iſt, indem ſie ſehr bald mit Blut wie uͤbergoſſen
zu ſeyn ſcheinen. Das zweyte Ungeziefer ſind die Muͤ-
cken, (Kamary), dieſe halten laͤnger aus und ſind bey
weitem beſchwerlicher. Die dritten ſind die kleinen
Stechfliegen (Moſchki) ein verdammtes kleines Ge-
ſchmeiß, was aber nur den Tag aushaͤlt, bey Nacht
aber im Moraſt liegt. Lampyris noctiluca die ſich hier
hin und wieder unter dem Geſtraͤuch aufhaͤlt, iſt deſto
unſchaͤdlicher. —


Wie man hier auf eine wohlfeile Art und in großer
Menge Harz gewinnen kann, muß ich Jhnen doch auch
erzaͤhlen.
[83]aus Sibirien.
erzaͤhlen. Man nimmt die ſehr harzige Rinde von
nicht gar zu jungen Laͤrichen (Larix), zerſchlaͤgt ſie in klei-
nere Stuͤcken, und ſchuͤttet ſelbe auf ein aus Birkenzwei-
gen geflochtenes Sieb, welches auf einen Kaſten, von
Birkenrinde gemacht, geſezt wird, waͤhrend dem hat
man am Abhange eines Berges ein ofenaͤhnliches Loch
gemacht, das ſcharf angefeuert worden. Wenn das Holz
niedergebrannt iſt, fegt man Aſche und Kohlen heraus,
ſezt obigen Kaſten mit dem Siebe, worauf die Rinde
liegt, in dieſen Ofen hinein, deckt ihn gut zu, und laͤßt
es ſo etwa 12 Stunden ſtehen. Nach Eroͤfnung des Lo-
ches wird man das Harz ganz rein in dem untergeſezten
Kaſten (Tſchumak) finden. —


Jch ſchließe damit, daß ich Jhnen noch ſage, daß
alles Eis, welches laͤngſt den hieſigen Fluͤſſen lange aus-
dauert, um die Haͤlfte des July geſchmolzen, und daß
die Temperatur aller hieſigen Fluͤſſe, und beynahe moͤch-
te ich ſagen aller Fluͤſſe in Sibirien von ein bis 80
Reaumur Waͤrme iſt. Den 4. Auguſt werden die Ze-
dernuͤſſe, ein beliebtes ſibiriſches Confekt, die ein vor-
treflich ſchmeckendes gepreßtes Oel geben, reif, und die
Blaͤtter von Birken, Ellern u. ſ. w. werden gelb. Den
24. Auguſt ſezt der Winter ſchon ein.


Jch habe die Ehre zu ſeyn ꝛc.


F 2Sieben-
[84]Sievers Briefe

Siebenter Brief.



Von hier aus beſchreibe ich Jhnen nun eine Reiſe,
die ich unternahm, um die ganze Kette von Gebirgen
des Jablonnoi Chrebet queer zu uͤberreiſen, und wenig-
ſtens Dauurien zu ſehen. Den 6ten September verließ
ich meine Simowie am Tſchikoi, ſezte durch den Tſchi-
koifluß, und hielt bey einem andern warmen Mineral-
quell, 25 Werſte entfernt, einige Tage ſtille, um auch
hier mich ein bischen umzuſehen. Dieſes warme Waſ-
ſer verdient den Namen in der That, und iſt von dem
vorhererwaͤhnten am Kunalei ſehr verſchieden. Als ich
des Abends hier anlangte, und mich dem Quell, der ſo
wie der vorige, aber noch hoͤher, aus einem Granitge-
birge in einem melancholiſchen hohen Bergthal ent-
ſpringt, auf 6 Klaftern naͤherte, ſpuͤrte ich ſchon den Aër
hepaticus.
Jch hieng mein Thermometer hinein, das
nach Verlauf gehoͤriger Zeit 29° Waͤrme zeigte; die
Atmosphaͤre hatte 17°, und ein kleiner Bach, der etwa
3 Ellen weiter davon entſprang 6° Waͤrme. Als ich
mich im Becken des Quells badete, mußte ich Anfangs
viel nieſen; ein anderer Beweiß der Gegenwart von
Schwefelleberluft: Silber, Meſſing und Kupfer wurden
ſogleich ſchwarzbraun wenn ſie ein Weilchen in’s Waſ-
ſer getaucht wurden, welches ſtark aus dem Grunde her-
vorbrudelt. Auf denen hier haͤufig liegenden Rollſtei-
nen war ein weißer erdiger Satz, der aber nur reine
Kalkerde zu ſeyn ſchien. Er brannte durchaus nicht,
gab
[85]aus Sibirien.
gab auch auf keinerleyweiſe einen Schwefelgeruch von
ſich, uͤberhaupt waren ſo wenig auf den Pflanzen, wie
irgend anderswo, Schwefelincruſtate zu bemerken. Jm
Quell ſelbſt war viel Conferva bulloſa die von dem be-
ſtaͤndigen Aufbrudeln der Quelle gar ſonderbare Figuren
angenommen hatte, und das ſchoͤnſte Gruͤn zeigte. Uebri-
gens iſt das Waſſer ſehr helle, und kocht Fleiſch und
Gruͤtze bald gar und weich. Außer einer von Mongolen
erbauten kleinen Simowie fand ich hier uͤbrigens nichts.
Die Pflanzen die in einem Bezirk von etwa 8 Faden
wuchſen, waren folgende: Trollius aſiaticus, Potentilla
fruticoſa latifolia, Dianthus plumarius, Epilobium pa-
luſtre, Scutellaria galericulata, Parnaſſia paluſtris, Loni-
cera caerulea, Triticum, Rubus ſaxatilis, Swertia cor-
niculata; Pinus Cembra, Larix, Abies et ſylveſtris;
Arenaria divaricata, Alopecurus geniculatus, Ranun-
culus hederaceus, Aconitum unciuatum, Polygonum
viviparum, Aconitum pyrenaicum? Carum inodorum,
Senecio ſaracenicus, Spiraea palmata Pall. Achillaea
Millefolium, Aira aquatica, Polemonium caeruleum,
Geranium phaeum, Agroſtis capillaris, Geum rivale,
Rumex obtuſifolius, Euphraſia officinalis, Sedum Te-
lephium purpureum, Spiraea ſalicifolia, Mnium fon-
tanum, fragaria veſca, Artemiſia vulgaris transbaica-
lenſis, Lilium Pomponium, Sanguiſorba officinalis,
Lamium album, Silene mutabilis
und einige Hypna die
aber ziemlich unkenntlich waren, ſo daß ich ſie mit Ge-
wißheit hier nicht nennen kann.


F 3Den
[86]Sievers Briefe

Den naͤchſten Morgen fruͤh wiederholte ich meine
Thermometerbeobachtungen, und fand die Atmosphaͤre
7° Waͤrme, den warmen Quell 28½° und das uͤbrige
wie geſtern. Da hier nun fuͤr mich weiter nichts zu thun
war, ſo ließ ich aufſatteln, und paßirte 6 Werſte von hier
den etwa 25 Faden breiten, in den Onon fallenden Fluß
Kirkun. Dann giengs durch Sumpf, Buſch und Bra-
ken, uͤber einen Golez, der mir wieder eine aͤußerſt wil-
de Ausſicht gewaͤhrte, und uͤber andere Gebirgruͤcken,
wo allenthalten ſchon Schnee genug lag. Wir paßirten
den Kirkun wieder, wo er ſchon mehr wie 30 Faden
breit war, und gelangten in der Grenzwacht Baltſchikan
in Dauurien an, die 80 Werſte von meiner Tſchikoi
Simowie entfernt geſchaͤzt wird, und ſehr angenehm
ſituirt iſt. Nun war ich jenſeits des Jablonnoi Chre-
bet in einem anders ausſehenden Lande. Hier waren
die Berge niedriger und fanftſtreichend, und ein guter
trockner Boden. Aber Korn will der nahen Schneege-
birge wegen nicht fortkommen. Pinus Larix war hier
beinahe das einzige Holz. Auch Chamaejafme zeigte
ſich hier wieder haͤufig, und iſt ein aͤußerſt ſcharfes
und heftiges Mittel. Jch kauete etwa 5 Minuten et-
was von der Wurzel, welche im Anfange ſuͤß und muci-
laginoͤs ſchmeckte, hernach empfand ich aber ein ſo hefti-
ges Brennen im Munde und Halſe, daß, ohnerachtet ich
viel von der hieſigen ſchoͤnen fetten Milch genoß, ich doch
unter 12 Stunden nicht davon befreyet wurde. Sie iſt
ein Draſticum und ein unvorſichtiger Gebrauch davon
bey den Bauren, die ſie Mushik Koren (Manns
Wur-
[87]aus Sibirien.
Wurzel) nennen, hat manchmal einen Patienten in die
andere Welt geſchickt.


Obengedachte Grenzwacht beſteht aus 10 Rußen
und 10 Tunguſen, die hier wohlbeguͤtert und in guter
Eintracht mit einander leben. Von den Tunguſen ſage
ich hier weiter nichts, denn die hat Georgi hinlaͤnglich
genug beſchrieben. Jch war ſehr gern unter ihnen, denn
ſie ſind freundlich, gaſtfrey und ſehr hoͤflich und brav.
Die beſten Subjekte zur Reiterey gewiß. Von dieſer
Grenzwacht geht man uͤber Akſchinskoi Feſtung und
Dſhindan nach Nertſchinsk, etwa 400 Werſt Abſtand.
Den 13. September gelangte ich beym warmen Waſſer
wieder an, wo ich aber alles ſehr veraͤndert fand. Ein
mongoliſcher Fuͤrſt (Taiſcha) mit einem Gefolge von
100 Pferden, 6 Prieſtern, 4 Weibern und mehr wie 30
Menſchen an Wildſchuͤtzen und Aufwaͤrtern. Auf Be-
fehl des Taiſcha waren die Quellen aufgeraͤumt und zwey
Lauben von den Zweigen der Zederſichte daruͤber gebauet,
wovon die eine zum Baden fuͤr die Maͤnner, die andre
fuͤr die Weiber eingerichtet waren. Uebrigens war noch
eine große Simowie fuͤr den Taiſcha beſonders errichtet.
Da eine beſondre Einſegnung des Waſſers vor ſich ge-
hen ſollte, ſo verweilte ich den ganzen Tag bey dem Fuͤr-
ſten, der nach aſiatiſcher Art ſeine Wohnung mit vielen
Teppichen ausgeziert hatte. Neben ihm lag ein Lama,
der viel bey ihm zu gelten ſchien, und ſo zu ſagen den
Fuͤrſten ganz regierte. Zuweilen waͤlzte oder ſtreckte ſich
dieſer, ohne weitere Umſtaͤnde, auf den Decken herum.
Er ſchien mir der Miniſter, der Beichtvater und der
F 4Rath-
[88]Sievers Briefe
Rathgeber zu ſeyn. Rouſſeau hat Unrecht wenn er ſagt
daß ein Unterſchied zwiſchen den Menſchen ſey, wenig-
ſtens was Meynung, Vorurtheil, Jntereſſe, Beſtreben,
Hoffnung und Wunſch betrifft, ſo ſehe ich beynahe allent-
halben die groͤßte Gleichheit. Allenthalben finde ich die-
ſelben Spinnrocken-Maͤhrchen, allenthalben denſelben
Poͤbel, nur daß Sprache und Kleidung die Menſchen in
Haufen abtheilt. Man erzaͤhlt ſich allenthalben von
Rieſen, von Ziegenboͤcken, von Hexenmeiſtern, von
Abentheurern, von vergrabenen Schaͤtzen, vom Teufel
und von ſeinem Anhange. —


Doch wieder auf die mongoliſche Waſſerweihe zu
kommen: — Gegen Abend, kurz vor Sonnenunter-
gang, wurden einige aus Meſſing gegoſſene Goͤtzenbil-
der und Opfergefaͤße, auf einen aus Steinen aufgebaue-
ten Altar am Quell, geſetzt. Hier formirten der Tai-
ſcha, ſeine Prieſter und uͤbrigen Begleiter einen halben
Zirkel ſitzend mit untergeſchlagenen Beinen; und nun
begann der Gottesdienſt der eine halbe Stunde dauerte
und in Singen, Brummen, und Gebeten beſtand. Dann
gieng jeder nach ſeinem Range zum Baden. Dieſe Ze-
remonie geſchiehet alle Tage. Jch ritt indeß wieder da-
von und ſchließe meinen Brief mit der Beſchreibung der
ſogenannten Simowien oder Winterwohnungen und mei-
ner Abreiſe aus dem Jablonnoi Chrebet.


Es giebt zweyerley Arten von Winterwohnungen:
die eine dient denen Wildſchuͤtzen zur Wohnung und zur
Aufbewahrung ihres Proviants und Rauchwerks in den
Wildniſſen und Gebirgen; die andern ſind deswegen an-
gelegt
[89]aus Sibirien.
gelegt damit Reiſende im Fall der Noth Dach und Fach
fuͤr Unwetter haben moͤgen. Jn dieſem Fall ſind ſie an
großen Fluͤſſen, Moraͤſten oder unwegſamen Oertern er-
baut, damit wenn der Wandersmann zu der Zeit reiſet,
da entweder der Winter einſetzt oder Abſchied nimmt, wo
in beyden Faͤllen an verſchiedenen Orten in Sibirien
durchaus nicht weiter zu kommen iſt, ohnerachtet ein
Dorf oder Stadt im Angeſicht iſt; ſo kann er in einer
ſolchen Simowie doch wenigſtens beſſere Herberge finden,
wie auf dem freyen Felde. Doch, da jetzt Sibirien
reich an Staͤdten und Doͤrfern iſt, ſo treibt die Noth,
in Winterwohnungen einige Zeit zuzubringen, die Rei-
ſenden nur dazu etwa am Eißmeer, in den Gegenden
der Muͤndungen des Jeniſei, Lena, Kowyma, Jana,
Jndigirska-Fluͤſſe u. ſ. w. oder in den unwegſamen Ge-
birgen wo bis jetzt noch lauter nomadiſche Voͤlker woh-
nen. Eine Simowie iſt uͤbrigens bald gebauet indem
ſie nur aus uͤber einander gelegten Baͤumen aufgefuͤhrt
und mit Cortex Laricis bedeckt wird.


Den 21ſten September konnte ich endlich dieſe Ge-
birge verlaſſen, bey welcher Gelegenheit ich aber den
Weg laͤngſt dem Tſchikoi-Fluß waͤhlte, als welcher weit
bequemer war, wie ich dieſes von den Wildſchuͤtzen ge-
lernt hatte. Funfzehn Werſte von meiner Wohnung
paßirte ich eine große Alpenwieſe, in welcher ſich ſieben
kleine Landſeen befanden, die deswegen beruͤhmt ſind,
weil, wegen des haͤufigen Wildes, hier viele Jaͤger ſich
zu allen Zeiten aufhalten. Der Weg, den ich zur Heim-
reiſe waͤhlte war bey weitem angenehmer, wie der vor-
F 5her
[90]Sievers Briefe
her beſchriebne. Der Tſchikoi hat ſich die angenehmſten
Gegenden ausgewaͤhlt, worin er ſeinen Lauf fortſetzt;
bald befindet man ſich auf den herrlichſten Wieſen, bald
in einem ſchoͤnen Gebuͤſch, bald hat man mit Schnee
(beſonders im September) bedeckte Gebirge zu beyden
Seiten, bald befindet man ſich in einem angenehmen
Fichtenwalde, bald paſſirt man mit Felſenſtuͤcken von der
Natur gepflaſterte Wege, die fuͤr die Pferde allein be-
ſchwerlich ſind und zuweilen paſſirt man einen Fluß, de-
ren außer dem immer breiter werdenden Tſchikoi (mong.
Zukù) noch folgende waren: Werchnaja Solonzo-
wa, Ub
ùr Jaſſutai, Arui Jaſſutai aus deren Ver-
einigung ein Fluß entſteht der bey den Ruſſen Pute-
ſchinkina
und bey den Mongolen ſchlechtweg Jaſſutei
heißt; noch den Delun, Graͤsnowka und Soſſotui.
So gelangten wir denn endlich wieder im Dorſe Sa-
charewsky an, wo wir die Bauern alle im Felde fanden,
die ihr abgemaͤhetes Korn in Haufen brachten und theils
zu Hauſe fuͤhrten um es auszudreſchen. Nun kam ich,
ſo zu ſagen, wieder in die Welt zuruͤck, wo es das Schick-
ſal ſo ordnete, daß ich die hieſigen Gegenden ganz ver-
laſſen und eine Reiſe nach dem Jeniſei und den um Aba-
kansk und Atſchinsk wohnenden Tataren machen mußte.
Zum Beſchluß will ich Jhnen nur noch melden, daß der
von ſeinem Urſprung bis zu ſeiner Muͤndung zur Selen-
ga bey Selenginsk an 500 Werſt ſtroͤmende Tſchikoi
ſeinen Namen einer verdorbenen Ausſprache des Tungu-
ſiſchen Worts Zochondo zu danken hat. Dieſes Wort
Zochondo aber kommt von einem hohen Goletz, der
ſich
[91]aus Sibirien.
ſich um den Urſprung des Tſchikoiflußes befindet. Auf
der nordoͤſtlichen Seite dieſes Berges fließet der Kirkun
und weiter in Oſten der Jngoda. Aus Zochondo haben
die Mongolen Zucko und die Ruſſen Tſchikoi ge-
macht. Jch habe die Ehre zu ſeyn.


Achter Brief.



Jch erhielt Befehl am Jeniſei und Jrtiſch beque-
me Stellen zu Rhabarberpflanzungen auszuſuchen. So-
bald die Reiſe uͤber das Eiß des Baikals ſicher war, trat
ich meine Reiſe nach Jrkuzk an. Auf dieſer Reiſe war
mir dieſesmal nicht viel Merkwuͤrdiges aufgeſtoßen. Jn
der Station Golouſtnoi, wo ich 24 Stunden aus
Mangel an Pferden bleiben mußte, hoͤrte ich dieſe ganze
Zeit hindurch das beſtaͤndige Donnern des Eiſes auf dem
Baikal. Es entſteht von dem Zerberſten der ungeheu-
ren Eißdecke. Es war itzt das heiterſte Winterwetter;
und nicht zu allen Zeiten ſoll dieſe Kanonade zu hoͤren
ſeyn. — Am Ausfluß der Angara aus dem Baikal wa-
ren auch itzt (im Januar) haͤufige Klipp-Maͤrz- und
Kriekenten, und andre Waſſervoͤgel, auf den offnen
Stellen, welche die ſchnelle Stroͤmung unterhaͤlt, zu ſe-
hen. Man ſchießt ſie auch den ganzen Winter, indem
ſich der Jaͤger hinter eine 3 bis 4 hohe, durchloͤcherte
Eißſcholle legt, aus gezognen Buͤchſen.


Den
[92]Sievers Briefe

Den 28. Februar verließ ich Jrkutzk und hielt mich
in Krasnojarsk ſo lange auf als meine Geſchaͤfte erfor-
derten. Dieſe Stadt erlitt bald nach der Abreiſe der
Herrn academiſchen gelehrten Reiſenden Anno 1772 ei-
nen großen Brand, der die ganze Stadt in einen Aſchen-
haufen verwandelte. Seitdem iſt ſie aber wieder aufge-
baut und eine der ſchoͤnſten Staͤdte in Sibirien, mit
zwey ſteinernen Kirchen. Die Gegend umher iſt außer-
ordentlich ſchoͤn und fruchtbar. Die Euphorbia draſtica,
die hier in den Thaͤlern am Jeniſei waͤchſt, eine Sand-
ſtein-Breccia mit roͤthlichem Eiſenocher, gegen Krasno-
jarsk uͤber, beym Dorfe Twarogowoi und die traurigen
Wirkungen vom Genuß der Wurzeln des Hyoſciamus
niger (Belena)
ſind alles was ich Jhnen von hieraus
ſchreibe. Letztere werden im Fruͤhjahr, von den in den
Gaͤrten ſpielenden Kindern ihrer Suͤßigkeit wegen zuwei-
len genoſſen. Ein ſolcher Fall ereignete ſich waͤhrend
meines Hierſeyns an zwey Knaben. Weil hieſige Stadt
noch gaͤnzlich ohne Arzt iſt, ſo wurde ich zu Huͤlfe geru-
ſen und half den, ſehr laͤcherliche Poſſen treibenden, Kin-
dern mit den gehoͤrigen Mitteln innerhalb 24 Stunden
zurecht. Alles Uebrige hier herum finden Sie ganz vor-
trefflich in Pallas Reiſe. Den 11ten Juni verließ ich
Krasnojarsk und ſetzte meinen Weg, der bis zur Dorf-
aͤhnlichen Stadt Atſchinsk 165 Werſt entſetzlich kothig
war, zu den Katſcher-Tataren fort. Des wohlfeilen
Kornpreiſes wegen ſind ohnweit Atſchinsk zwey Brann-
teweinsbrennereyen angelegt. Eine, Krasnoretſchins-
koi
liegt an der großen Tobolskiſchen Heerſtraße und die
andere
[93]aus Sibirien.
andere Bogatoll 10 Werſt fuͤdlich abwaͤrts. Dieſe hat
65, vierzig Eimer haltende kupferne Deſtillirblaſen, die
aber bloß im Winter nur angefeuert werden, indem we-
gen der Kaͤlte alsdenn weniger Verluſt an Geiſt iſt. Von
hieraus fuhr ich nach dem Dorfe Tſcherbakoll am Fluͤß-
chen Katik nachdem ich nicht weit davon den ſchnellen
Tſchuluͤm paſſirt hatte. Von hier giengs weiter uͤber
die Doͤrfer Altat am Fluͤßchen gleiches Namens, La-
ſarowa
an den Fluͤſſen Altaduͤm und Tſchuluͤm, Uſt-
ſeretskoi
am Toilok und Tſchuluͤm, das Kirchdorf
Podſosninskoi wo der Tſchuluͤm ſeinen Namen ver-
liert und nun ſchwarzer Yjus genannt wird. Weiter
uͤber Skorobogatowa am Fluͤßchen Borzuk; dann
zum Kirchdorfe Udſhur am Fluͤßchen gleiches Namens.
Vierzig Werſt von hier am Fluͤßchen Solgon ſtanden
kusnetzkiſche Tataren wo ich friſchen Vorſpann nahm, bis
zum Dorfe Kopjewa am Yjus der hier nun der weiße
genannt wird, aber immer mit vorhererwaͤhnten nur ein
Fluß iſt. Hier iſt er beſonders ſchnell ſtroͤmend, ſo daß
das Ueberſetzen, welches in großen Boͤten geſchieht die
zu 2, 3 oder 4 an einander gebunden und oben wiederum
mit Brettern bedeckt ſind, nicht ganz ohne Gefahr iſt.
Und nun gieng der Weg bis an die Feſtung Abakansk
beſtaͤndig durch die Sagaiſche Steppe, wo gewiß die
angenehmſten Gefilde in Sibirien zu ſehen, die durchaus
ohne ſtechende Jnſekten ſind. Jn einer der angenehm-
ſten Gegenden am See Jlkuͤl der mit dem Biloͤ durch
einen ſchmalen Canal zuſammenhaͤngt, nahm ich auf ei-
nige Tage bey den Tataren mein Quartier, um in die-
ſem
[94]Sievers Briefe
ſem Briefe alles auf einmal zu ſagen, was ich zu bemer-
ken Gelegenheit hatte.


Die hier wohnenden Katſchinzi ſind meiſtentheils
wohl gebauet, ſprechen eine Sprache die groͤßtentheils
auf dem alten kaſaniſch-tatariſchen Fundamente ſtehet
ſich aber in der Ausſprache mehr der Jacutiſchen naͤhert.
Gleichfalls hat ſie viele kalmuͤckiſche Woͤrter in ſich. Und
ſo kann man die Stufenfolge machen wie ſich dieſe alte
Sprache immer mehr und mehr von ihrem Urſprunge
entfernt. Jn Kaſan wird ſie ſehr rein geſprochen; dann
folgen die Bucharen, die von ihren Perſianiſchen Nach-
barn viel angenommen haben, dann die Kirgiſen, als-
dann die Tataren welche laͤngſt dem Jeniſei oberhalb
Krasnojarsk wohnen und ſo weiter die entfernteſten Ja-
cuten. Jch war in Ruͤckſicht der Gaſtfreyheit und Ar-
tigkeit mit meinen Tataren wohl zufrieden. Sie ſind
die ſorgenloſeſten Leute von der Welt, die von ihren aͤuſ-
ſerſt zahlreichen Heerden alles im Ueberfluß beſitzen was
ihnen noͤthig iſt und ſo weit ich ſie habe kennen lernen
ohne Falſch. Man kann daher ſehr ſicher unter ihnen
reiſen. Sie haben weder Schrift noch Buͤcher; einige
haben ruſſiſch ſchreiben und leſen gelernt. Sie ſind aber
die groͤßten Trunkenbolde die vielleicht außer den Kam-
tſchadalen in Sibirien exiſtiren. Jhre Weiber ſind be-
ſtaͤndig mit Milchbrannteweins-Deſtillationen beſchaͤfti-
get; und ſobald in einer Jurte eine Quantitaͤt vorraͤthig
iſt, ſo kommen die Nachbaren herzu und dann trinkt
Mann und Weib. Man ſieht daher, wenigſtens im
Sommer, ſelten einen nuͤchternen Menſchen; aber dieſe
Voͤlle-
[95]aus Sibirien.
Voͤllerey thut Niemand Schaden. Sie ſitzen vor ſich
weg, machen luſtige Poſſen, und erzaͤhlen ſich allerley
Fratzen und Maͤhrchen. Sie haben die ſchoͤnſten Pferde
in Sibirien, und vortreffliches Rindvieh, welches itzt
ſehr haͤufig von denen hieherkommenden Kaufleuten auf-
gekauft und nach allen Orten, bis auf 6000 Werſt in
die Ferne beſonders haͤufig nach Moskau jaͤhrlich ausge-
fuͤhrt wird. Bey den Tataren ſteckt daher eine große
Menge Geldes, welches ſo gut wie aus der Circulation
verlohren iſt. Denn obſchon ſie ſich ganz artig und rein-
lich kleiden, ſo zahlen ſie doch hievor niemals Geld, ſon-
dern der naͤher wohnende Kaufmann bringt die noͤthigen
Waaren mit ſich, wofuͤr er Vieh eintauſcht. Brannte-
wein vergißt er niemals mit ſich zu bringen, denn mit
dem beſoffenen Tataren laͤßt ſich’s beſſer handeln, wie mit
dem nuͤchternen. Von einer Religion ſah ich nicht die
geringſten Merkmale. Jch verſuchte verſchiedene Male
mit ihnen uͤber dergleichen zu ſprechen, aber, entweder
wollten ſie nichts davon wiſſen, oder wußten auch wohl
in der That nichts. Denn ich erhielt niemals daruͤber
die geringſte Erklaͤrung. So viel weiß ich indeß daß ſie
ein gutes und boͤſes allmaͤchtiges Weſen glauben. Ue-
brigens iſt ein großer Theil davon dem Schein nach
ſchon zur rußiſchen Religion uͤbergegangen. Jhre Jur-
ten ſind reinlich, geraͤumig, und alle von Birkenrinde
gebauet, die bey Sonnenſchein eine blendende Weiſſe in
der Ferne von ſich geben und aufs Angenehmſte mit dem
Gruͤn der Wieſen und Berge contraſtiren. Die Klei-
dung der Weiber beſteht in langen Roͤcken die von den
Schul-
[96]Sievers Briefe
Schultern bis auf die Fuͤße reichen; ſie ſind blau, gruͤn,
oder verſchiedenfarbig, von chineſiſchen, baumwollenen,
oder rußiſchen Linnenzeuge, Camelot, Seide oder Halb-
ſeide, je nachdem der Reichthum groß oder klein iſt. Wie
die Tuͤrkinnen ſo tragen auch ſie lange Beinkleider. Jhre
glaͤnzend ſchwarzen ſchoͤnen Haare zertheilen ſie nach kal-
muͤckiſch-mongoliſcher Art die Weiber in zwey, die Maͤd-
gen in vier bis ſechs oder mehr Flechten, die ſie mit Sil-
berblechen, Perlmuttertafeln, Baͤndern, kupfernen, meſ-
ſingenen, oder zinnernen Blechen auszieren. Oefters
bemerkte ich noch einige aus verſchiedenen mit allerley aus-
geſchnittenen Zierrathen Perlmutterblechen u. dergl. zu-
ſammengeſetzte viereckigte Figuren, die auf den Rock,
etwa zwiſchen die Schultern, aufgenaͤhet waren. Den
Kopfputz macht oͤfters eine mit Zobel, Fuchsbalg, Eich-
hoͤrnchen, u. ſ. w. verbraͤmte platte Muͤtze oder Huͤtchen
aus, wie die Weiber der Kalmuͤcken und Mongolen auch
zu tragen pflegen. Auf dieſen Muͤtzen iſt ein aus rother
Seide gemachter Quaſt, der in den Nacken herunter-
haͤngt und am Ende wiederum mit allerley Blechwerk
behaͤngt iſt. Manchmal bemerkte ich auch auf jeder
Schulter einen viereckigen Flicken eingeſetzt, der eine an-
dere Farbe wie der Rock hatte. Die Maͤnner kleiden
ſich in lange Pelze, oder lange Schlafrock aͤhnliche Roͤcke
ohne Pelze, von verſchiedenen Zeugen. Gewoͤhnlich
aber ſieht man ſie in langen Hoſen und im Hemde. Jn
Huͤten und Muͤtzen haben ſie nichts Eigenes, ſondern tra-
gen ſelbe wie die Ruſſen. Eigentliche Schoͤnheiten habe
ich wenig geſehen, aber durchaus geſunde, handfeſte
Frau-
[97]aus Sibirien.
Frauenzimmer, die ſich zu Liebesaffairen mit einem
Fremden ſehr ſchwer und beynahe niemals uͤberreden laſ-
ſen. Wenn ich meine Pflanzen in andere Papiere um-
legte, ſo war ich beſtaͤndig von einer Menge Menſchen
beyderley Geſchlechts, beſonders Kindern umringt, die
oͤfters ſich luſtig uͤber mich machten und nicht begreifen
konnten, daß ein Menſch ſo weit hergereiſet kaͤme, um
ihre Unkraͤuter zu ſammlen und mit ſo vieler Muͤhe zu
trocknen.


Den 22ſten Juni hatte ich Gelegenheit einem
Trauerfeſt mit beyzuwohnen, welches zum Gedaͤchtniß
eines im vorigen Jahre verſtorbenen Tataren angeſtellt
wurde. Eine Menge wohlgekleideter Maͤnner und Wei-
ber giengen zu Pferde nach dem Grabe, mit einer jun-
gen Stute die zum Schlachten und Eſſen beſtimmt war.
Waͤhrend daß dieſe Stute mit Baͤndern und Schnuͤren
von allerley Farben ausgeziert wurde, ſetzte ſich die Toch-
ter des Verſtorbenen, ein bejahrtes Frauenzimmer, außen
vor der Jurte nieder und begleitet von mehreren Weibs-
leuten, fieng ſie ein jaͤmmerliches faſt monotoniſches Klag-
geheule an, das etwa eine halbe Stunde waͤhrte, wobey
zwiſchen durch eine Schale Milchbranntewein ausgeleert
und Tobak geraucht wurde. Nun war die Stute im
Putz, ein jeder ſetzte ſich, ſchon halbtrunken, zu Pferde
und ſo giengs nach dem Grabe zu. Hier wurden die
guten Leute aber in Erſtaunen geſetzt; denn da die Ta-
taren noch die Gewohnheit haben, allerley koſtbare Sa-
chen mit in die Gruft zu verſcharren, ſo ſind zuweilen
chriſtliche Geldſucher oder Schatzgraͤber, die dergleichen
GSaͤchel-
[98]Sievers Briefe
Saͤchelchen lieber auf der Erde zu behalten wuͤnſchen,
darnach aus. Und ſo wars auch hier: Man fand die
Grube geoͤffnet und die Knochen mit einer Peitſche und
Handſchuh des Verſtorbenen lagen herum. Ein entſetz-
liches Geheule und Klaggeſchrey war die Folge davon;
man ſcharrte alles wieder zuſammen und da nun vor der
Hand nichts weiter zu thun war, ſo gieng der Zug zu
einer nahe gelegenen Uluſſe, wo Verwandte des Verſtor-
benen wohnten. Da wurde nun die Geſchichte von der
Verwuͤſtung des Grabes mit ſchrecklichen Geberden, heu-
lenden Geſaͤngen, wahnſinnigen Toben, erzaͤhlt; die Zahl
der heulenden Weiber vermehrte ſich um ein Anſehnli-
ches; indeſſen wurde denn doch die Maͤhre mit allerley
Zeremonien ihres Zierraths bald beraubt, geſchlachtet,
gekocht und verzehrt, wobey der Brannteweinsbecher und
die Tobackspfeife weidlich herumgiengen, ohne daß das
Geheule ein Ende nahm. Gegen Abend zog man wie-
der heim und nun gieng das Laͤrmen, Sauſen und Freſ-
ſen, Heulen, Schelten auf die Schatzgraͤber und ſo wei-
ter, von neuem wieder los. Viele Maͤnner philoſophir-
ten unter einander fuͤr ſich und ſo wie einer ganz vom
Brandtewein uͤberwaͤltigt wurde, blieb er auch grade auf
der Stelle liegen, und ſchnarchte, ſo daß die heulende
Geſellſchaft bey Wenigem ſich verminderte und nach Mit-
ternacht in eine ſchnarchende verwandelt wurde.


Die hieſigen Tobackspfeifen ſind die ſimpelſten und
elendeſten die ich je geſehen habe; in einem laͤnglichen,
viereckigem oder rundlichen Bloͤckchen ſind zwey Loͤcher-
chen die ſich in der Mitte vereinigen; das eine iſt fuͤr den
eben-
[99]aus Sibirien.
ebenfalls hoͤlzernen ſehr kurzen Pfeifenſtiel und das an-
dere etwas groͤßere fuͤr den Toback. Es faßte etwa ein
halbes Quentchen Toback, der noch dazu mit geſchabten
Birkenſpaͤnen zur Haͤlfte vermiſcht iſt und ſo raucht dieſe
Nation beynahe unaufhoͤrlich. Freylich hat auch man-
cher reiche Tatar europaͤiſche oder chineſiſche weiße ku-
pferne Pfeifen. —


Der Jllkuͤll und ſein Nachbar Biloͤkul ſind reich
an Fiſchen und beſonders ſchoͤnen Hechten. Die Tata-
ren ſind hievon keine Liebhaber, alſo leben dieſe Waſſer-
bewohner in der gluͤcklichſten Freyheit. Das Waſſer in
dieſen beyden Seen gehoͤrt unter die allerreinſten; beyde
zuſammengenommen moͤchte ihre Laͤnge wohl 20 bis 25
Werſt ausmachen und die Breite halb ſo viel. Sie ſind
mit den reizendſten Gebirgen umgeben, die aus verſchie-
denen Granitarten und Schiefern beſtehen. Ein großer
Theil aller hieſigen Berge iſt ohne Waldung. Die be-
waldeten tragen Laͤrichen und Fichten. Die angenehm-
ſten botaniſchen Spatziergaͤnge gewaͤhrten ſie mir. Da
die Tataren gern ihre Todte auf Berge begraben, ſo traf
ich oͤfters auf ihre Begraͤbniſſe. Sie legen die Leichen,
ſo wie wir in Saͤrge. Der Grabhuͤgel beſtehet aus ro-
hen Felſenſtuͤcken. Den 24. Jun. brachte ich den Abend
auf ſolchen Huͤgeln bey hellem Himmel und vollem Mon-
de zu. Gluͤcklich prieß ich die Tataren: Wenn ſie eſſen,
trinken, ſchlafen und Toback rauchen koͤnnen, ſo ſind ſie
mit der ganzen Natur zufrieden. Sorgen, Melankolie,
Miſanthropie, fehlgeſchlagene Projekte, Luftſchloͤſſer, die
in civiliſirten Laͤndern ſo viel gebauet werden, u. ſ. w.
G 2beun-
[100]Sievers Briefe
beunruhigen dieſe Nomaden nie. — Jch hoͤrte bey de-
nen am Fuße meines Berges liegenden Jurten Muſik;
um hieran Theil zu nehmen ſtieg ich zu dieſen guten Leu-
ten herunter und fand die froͤhlichſte Geſellſchaft von der
Welt. Ein Blinder ſpielte auf dem Chómus, einem
Jnſtrument welches nur 2 — 3 Sayten hat und wie ei-
ne Zitter ausſiehet; ein anderer Nichtblinder accom-
pagnirte ihn auf dem Tſchétagan, welches ein Faden lan-
ger und vier Zoll breiter, viereckiger Trog iſt, wenn ich
es ſo nennen darf. Die offene Seite dieſes Troges iſt
unterwaͤrts gekehrt und auf den Ruͤcken ſind 6 Pferde-
haarne Sayten, welche mit den Fingern geruͤhrt werden.
Zwey Saͤnger ſangen ein beynahe monotoniſches Hir-
tenlied im tiefen brummenden Baß dazu. Dieſes Con-
cert, Trinken, Tobackrauchen und nach ihrer Art philo-
ſophiren dauerte bis 3 Uhr nach Mitternacht, wo Mor-
pheus dem Spiel ein Ende machte.


Den naͤchſten Tag ſah ich wiederum eine traurige
Scene: Eine ganze Familie war angelangt, denen in
ſehr kurzer Zeit der Tod ſuͤnf Bruͤder, und eine Feuers-
brunſt ihre Jurten geraubt hatte. Hier gieng das Heu-
len, Lamentiren, Singen, Trinken, Tobackrauchen und
Philoſophiren von Neuem wieder an. —


Ohnweit dem Fluͤßchen Tuuͤm iſt ein Salzreicher
großer See (Samoſadno Oſero), den ich zu ſehen wuͤnſch-
te. Jch nahm alſo von meinen Tataren hier Abſchied
und fuhr dorthin. Ein von dem nicht laͤngſt verſtorbe-
nen krasnojarskiſchen Woewoden Fuͤrſten Pelymsky vor
etwa 15 Jahren erbauetes ſteinernes Magazin ſtehet
noch
[101]aus Sibirien.
noch da. Zu jenen Zeiten war das Salz noch ſo haͤufig,
daß es nur vom Boden des Sees losgebrochen und ſo
ins Magazin aufgeſchuͤttet wurde; nunmehro aber ſind
einige ſuͤße Waſſerquellen im Grunde entſtanden, die die
Salzlauge ſo verduͤnnen, daß ſie nicht mehr kriſtalliſirt.
Und daher hat der Salzgewinn aufgehoͤrt. Die Sohle
iſt aber noch ſo reich, daß wenn man ſie verſieden wuͤrde,
man ohne Verluſt das reinſte Salz gewinnen koͤnnte.
Am Rande des Sees lagen große bis 3 Zoll dicke blen-
dend weiſſe Kuchen vom ſchoͤnſten Sale mirabili Glauberi.
Zur Bewachung des Ganzen werden hier 6 Kaſaken ge-
halten. ‒‒ Von hieraus zog ich weiter durch die Step-
pe bis zum kleinen ruſſiſchen Dorfe Jerba, ſodann 15
Werſt ferner zum Dorfe Toͤs. Dann ſetzte ich 22
Werſt von hier in kleinen Boͤten uͤber den fuͤnf Werſte
breiten Jeniſei, welche Breite durch einige Jnſeln ver-
urſacht wird, und gelangte in der Feſtung, oder Oſtrog
Abakansk an. Auf der ganzen tatariſchen Steppe und
hier herum iſt alles voll von uralten Grabmaͤlern von
einer bis jetzt unbekannten Nation, die nur ſchlechthin
in Sibirien Tſchudi genannt werden. An den vielen
aufgerichteten Steinen ſah ich nirgends Jnſchriften. Der
groͤßte Theil der Einwohner vorhergenannter Doͤrfer ſind
von der Stadt Jeniſeisk etwa vor 30 bis 60 Jahren
hergenommen.


Abakansk liegt ſehr angenehm ſituirt, hart am Je-
niſei. Man hat dieſen Ort zu einer Stadt machen wol-
len, welches aber, wegen verſchiedener Unbequemlichkei-
ten, nicht in Erfuͤllung gekommen iſt. Er wurde im
G 3vorigen
[102]Sievers Briefe
vorigen Jahrhundert angelegt, mit Palliſaden umgeben
und mit 5 metallenen kleinen Kanonen verſehen, um de-
nen Einfaͤllen der Tataren und der damals hier noch woh-
nenden Kirgiſen Einhalt zu thun. Nahe am Oſtrog
ſind etwa ſechs und funfzig Haͤuſer gebauet, wobey eine
hoͤlzerne Kirche iſt. Die Einwohner, worunter viele
abgedankte Kaſaken ſind, gehoͤren nicht unter die armen
Leute.


Meine Geſchaͤfte konnten hier bald geendiget wer-
den, ich kaufte mir alſo ein großes Boot und ſchwamm
mit meiner ganzen Equipage den Jeniſei bis Krasno-
jarsk in 2 Tagen herunter, welches 300 Werſt ausmacht.
Dieſer große Fluß hat ſeinen Lauf hin und wieder durch
die groͤßten Granitfelſen mitten durch gebahnt, die zu
beyden Seiten in hohen ſenkrecht abgeſchnittenen Waͤn-
den ſtehen und hin und wieder allerley Hoͤhlen haben.
Die Ufer des ſchnellſtroͤmenden Jeniſei ſind mit vielen
Doͤrfern geſchmuͤckt, die wohlhabende Einwohner haben.


Den 9ten Jul. verließ ich Krasnojarsk und eilte
zu den altaiſchen Gebirgen am Jrtiſch, Buchtorma und
ſo weiter, um die dort haͤufig wachſende Rhabarber un-
terſuchen zu koͤnnen.


Am 14. Juli erreichte ich Tomsk, wo ich an dem
Commendanten, Obriſten und Ritter de Villeneuve, ei-
nen Greiß von 88 Jahren fand, der noch ſehr munter
und geſund war, und mich freundlich aufnahm. Die
Stadt Tomsk hat 9 Kirchen, ein großes ſteinernes Kauf-
haus, eine tatariſche Metſchet, großen Vorrath an bey-
nahe allen ſibiriſchen Fiſchen, worunter der Muckſun der
gewoͤhn-
[103]aus Sibirien.
gewoͤhnlichſte iſt, liegt in einer zum Handel vortheilhaf-
ten und fruchtbaren Gegend und gehoͤrt mit unter die
groͤßten und reichſten Staͤdte von Sibirien. Das hier
ehedem geherrſcht habende ſchreckliche Saufen hat nun-
mehro nachgelaſſen. Schade, daß die Gaſſen ſo kothig
ſind wenn regnige Zeiten einfallen. Die Stadt iſt noch
nach altem Geſchmack gebauet.


Jch muß denn doch hier bemerken daß je groͤßer
die Volksmenge in Sibirien wird, je ſeltener werden die
Fiſche, denn ſchon jetzt ſind ſie dreymal ſo theuer wie vor
20 Jahren.


  • Sterlede koſtete ſonſt das Pfund 2 itzt 15 Cop.
  • Oſſetrina oder Stoͤr   ‒ ½ — 20 —
  • Muckſun   ‒ ‒ 1 — 4 —
  • Hechte   ‒ ‒ ‒ 1 — 3 —
  • Omuli   ‒ ‒ ½ — 1 —
  • Chairuſi   ‒ ‒ ½ — 2 —
  • Sigi   ‒ ‒ ‒ 2 — 4 —
  • Taimeni   ‒ ‒ 5 — 8 —
  • Lenki   ‒ ‒ ‒ ½ — 2 —
  • Rother Jkra, oder Caviar   ‒ 2 — 4 —
  • Schwarzer Jkra   ‒ ‒ 2 — 30 —
  • Tſchebak   ‒ ‒ 1 — 3 —
  • Karauſſen   ‒ ‒ — 2 —

Den 19ten langte ich in Barnaul an, nachdem ich
von Tomsk aus bis hieher eine der vortreflichſten Land-
ſtraßen paßirt hatte. Die ganze Reiſe nun von Kiachta
bis hieher macht uͤberhaupt 2475 Werſt, nemlich auſ
der großen Heerſtraße gerechnet. Hiezu fuͤgen Sie nun
G 4noch
[104]Sievers Briefe
noch 865 von der Reiſe die ich von Krasnojarsk zu den
Tataren unternahm, ſo haben Sie die Summe von
3340 Werſt. Jch habe die Ehre zu ſeyn ꝛc. ꝛc. ꝛc.


Neunter Brief.



Jn dieſem Briefe gebe ich Jhnen Rechenſchaft von
einer Reiſe von 1809 Werſten, womit ich dieſen Som-
mer im Altaiſchen Gebirge zugebracht habe. Hier war
ich in einem viel waͤrmern Clima, denn im Juniusmo-
nath oder in den erſten Tagen des Julius iſſet man ſchon
die ſchoͤnſten Erdbeeren, Gurken, Melonen und Arbu-
ſen, (Cucurbita Citrullus) welches im oͤſtlichen Sibirien
erſt um 3 — 4 Wochen ſpaͤter geſchieht, und nie ſind
ſie dort von der Guͤte. Jch verließ Barnaul den 28.
Julius und langte in der ſehr nett gebauten und ange-
nehm ſituirten Feſtung Buͤsk den 29ſten an, die beſon-
ders beruͤhmt iſt, weil hier viel von dem rundblaͤttrigen
Tabak (Nicotiana ruſtica) und auch ſchon hin und wie-
der Nic. Tabacum gebaut wird. Dann fuhr ich wei-
ter und ſetzte grade da uͤber den Ob, wo er aus der Ver-
einigung der beyden anſehnlichen Fluͤſſe Bija und Ka-
tunja
(Chattun-gol) entſtehet, welches auch der Name
andeutet, denn Ob, obè, obi heißt auf rußiſch beyde.
Nun gieng ich, immer auf der Kusnetzkiſchen Linie, uͤber
Tſcharyſch, Tigereck, (Tögerök heißt im Kalmuͤk.
rund) nach Uſtkamenogorsk fort. Der Weg iſt um
die beyden erſtgenannten Vorpoſten aͤußerſt bergig, wo
zuwei-
[105]aus Sibirien.
zuweilen die allerheftigſten und lange anhaltenden Stuͤr-
me zwiſchen den Gebirgen hervorbrechen. Gedachte Li-
nie iſt wider die Einfaͤlle einer kalmuͤckiſchen Horde an-
gelegt, die Toͤlengot, oder wie man ſie faͤlſchlich nennt,
Teleuten, Telenguten heißt. Bey Tigerek bricht ein
ſchoͤner roſenfarbener Quarz auf dem hohen Granitgebir-
ge, der die vortreflichſte Arbeit liefern wuͤrde, wenn er
nicht ſo voller Ritzen waͤre. Ueberhaupt ſind die Gebirge
an den Fluͤſſen Kortogan, Tſchariſch, Tigereck, Bija,
Katunja, und um den Teletzkou Oſero voll von den ſchoͤn-
ſten Jaſpisarten, Breccien, Porphyre, Alabaſter, weiße
Jaſpis mit Dendriten u. ſ. w. Man hohlt daher alle
Jahre große Bloͤcke, daraus in Locktewka Sawod die
ſchoͤnſten Tafeln, Schalen, Vaſen, Saͤulen, Aufſaͤtze, u.
ſ. w. geſchliffen werden. Die ganze Gegend iſt noch we-
nig beſucht worden, aber fuͤr die Naturforſcher eine der
wichtigſten in der Welt. Die Kalmuͤcken ſind gezaͤhmt,
alſo iſt von der Seite nichts zu fuͤrchten. Gleichfalls iſt
das ganze Altaiſche Gebirge von allen ſibiriſchen Thieren
voll, nur ſind ſie, ausgenommen die Baͤren, um ein
Merkliches ſchlechter, wie die aus dem oͤſtlichen Sibiri-
en. Die mit ewigem Schnee und Eiß bedeckten Alpen
heißen hier Bjelki (Weißkoppen), deren eine große
Menge im Altai ſind.


Jn der Feſtung Uſtkamenogorsk bereitete ich mich
zur Reiſe, den Jrtiſch aufwaͤrts, und trat meinen Weg
mit 4 Pferden und 2 Kaſaken den 1. Aug. an. Etwa
18 Werſt von der Feſtung kam ich in hohes Gebirge,
davon ich zwey der hoͤchſten und jaͤheſten uͤberſteigen
G 5mußte,
[106]Sievers Briefe
mußte, nemlich Korowoi und Pichtowoi Chrebet.
Von deren Gipfeln ſahe ich eine ungeheure Menge ande-
rer Berge, welche grade das Anſehen hatten, als wenn
der Ocean im heftigſten Sturm begriffen waͤre und nun
auf einmal mit den hohen Wellen verdichtet ſtehen blie-
be, allenthalben umher, die aber außer Graͤſern und an-
dern ſchoͤnen Pflanzen nichts weiter tragen. Der Jrtiſch
blieb mir etwa von 6 bis 12 Werſt rechter Hand. Laͤngſt
den Ufern dieſes Flußes, des etwa 20 Faden breiten
Buchtorma, der aus der Vereinigung der beyden Fluͤſſe
Belò und Burull entſteht, und den ich den 4. Aug.
durchritt und anderer kleinerer Fluͤſſe wachſen Pinus ſyl-
veſtris, Abies, Picea, Betula alba, Populus balſamifera

und tremula, Prunus Padus, Salix frangula, viminalis,
Alba, Capraea
u. ſ. w. Zwey Gruben ohnweit des
Buchtorma, eine auf Kupfer, die andere, Siraͤnofskoi
genannt, am Bach Beroſowka, auf Gold und Silber,
laſſen ſich ſehr hoffnungsvoll an, und ſind ſeit 3 Jahren
mit funfzig Arbeitern belegt. Schon jene alte verlohrne
Nation, die Tſchuden, haben hier geſchuͤrfet, wovon
noch, beſonders bey den Kupfergruben, die großen Hal-
den zu ſehen ſind. Die Kupfergrube liefert bis neun
Pfund im Pude und die Siranofskoi giebt im Durch-
ſchnitt bis 2 Solotnik guͤldiſches Silber vom Pud.


Hier herum wohnten noch vor etwa 30 Jahren die
Sſongaren eine oͤloͤtiſche oder kalmuͤckiſche zahlreiche
Horde, die aber wegen ihrer vielen Unruhen gaͤnzlich
von rußiſchen Grund und Boden vertrieben, und nun-
mehro durch die Chineſer unterjocht ſind. Statt deſſen
hat
[107]aus Sibirien.
hat ſich ſeit etwa 40 Jahren eine andere Gattung von
Leuten in dem hohen Gebirge eingeniſtelt, welche aus ver-
laufenen Soldaten, Dragonern, Berghauern, Bauern,
Bedienten, u. ſ. w. beſtehen. Sie wohnen nur 28 Werſt
von Siraͤnofskoi Rudnik, ich war alſo neugierig auch
dieſe Leute zu ſehen. Vor noch 3 Jahren war es ge-
faͤhrlich zu dieſen Leuten zu reiſen, denn ſie ſind alle
Scharfſchuͤtzen und da ſie, als Verlaufene, jedes Jahr
durch ausgeſchickte Commandos wie das Wild gejagt
wurden, ſo erſchoſſen ſie auch aus ihren Schlupfwinkeln
ſo viele, als ihnen nur zu nahe kamen. Jndeſſen ſie
konnten am Ende doch der Macht nicht widerſtehen, es
vergieng kein Jahr daß nicht eine Menge theils getoͤdtet,
theils gefangen wurden: bey ſo bewandten Umſtaͤnden
und da ſie bis auf etwa 300 Seelen ſchon geſchmolzen
waren, baten ſie endlich um gut Wetter, indem ſie einige
der Beherzteſten ans kolywaniſche Gouvernement ſchick-
ten, mit der Bitte, man moͤchte ſie wiederum in Schutz
nehmen und auf Tribut ſetzen. Beſonders wuͤnſchten ſie
fuͤr immer Bergbewohner zu verbleiben. Dieſes letztere
war eigentlich die Haupturſache warum ſie Verzeihung
erhielten. Denn nun ſind in jenen fruchtbaren Gebir-
gen, die ſonſt nie bewohnt wurden, die Anlagen zu den
beſten Colonien, die bis hart an die chineſiſche Grenze
reichen. Jch hielt mich in dem erſten Dorfe Byko-
wa
einen Tag auf, wo ich ſelbſt Augenzeuge hievon
war. Der eintraͤgliche Kornbau, die Viehzucht,
der Handel mit den Kirgiſen, Ruſſen und Chineſen,
der Wildfang und Fiſchfang machen ſie zu wohl-
haben-
[108]Sievers Briefe
habenden Leuten. Ueberhaupt werden ſie mit der
Zeit fuͤrs Reich ſehr nutzbar werden. Bis auf ihre
Verzeihung reubten ſie die Weibsleute aus den
Doͤrfern, die dann gemeinſchaftlich waren; aber
nunmehro ſind durch gehoͤrige Geſetze und gute Einrich-
tungen alle Unordnungen gehoben. Von Taufen und an-
dern Chriſtlichen Ceremonien war damals nicht die Rede.


Schade daß hier eine ſo ungeheure Menge Moſchki
und Muͤcken iſt. Gleichfalls fehlt es an den ſogenann-
ten Ohrwuͤrmern nicht, die beſonders des Abends und
Nachts ſich haͤufig bey der Tafel und im Bette einfinden.
So auch ſind die Floͤhe hier ein einheimiſches Jnſekt,
welche ſich im Sande ſehr haͤufig generiren. Ein aͤhnli-
ches habe ich auf einer Sandreichen Jnſel in der balti-
ſchen See, mit Namen Seskar, waͤhrend eines 10 woͤ-
chentlichen Aufenthalts, zu bemerken Gelegenheit gehabt.
An gutem Bier wird es mit der Zeit dieſen Bergbewoh-
nern nicht fehlen, denn Hopfen waͤchſt am Buchtorma
haͤufig wild. Jch nahm den 6. Auguſt Abſchied von
meinen freundlichen Wirthen, und kehrte auf demſelben
Wege wieder nach der Feſtung Uſtkamenogorsk,
ohne weitere Unbequemlichkeiten auf der Reiſe gehabt zu
haben, als von den Muͤcken weidlich geplagt zu werden,
und daß eins von meinen Pferden von den ſogenannten
Nokket befallen wurde (einer Krankheit, die einer Epi-
lepſie aͤhnlich iſt, und die wahrſcheinlich von Jnſekten
herruͤhrt, welche ſich etwa, wann das Thier ſeine Excre-
mente von ſich giebt, in den Maſtdarm hineinſchleichen.)
Dergleichen Zufaͤlle ſind hier haͤufig und oͤfters toͤdtlich,
welches
[109]aus Sibirien.
welches aber bei mir gluͤcklicherweiſe der Fall nicht war.
Die Kaſaken blaſen dem kranken Thiere kleinzerſchnit-
tene Pferdehaare in die Naſenloͤcher, um es zum Nieſen
zu bringen, welches eine ohnfehlbare Cur ſeyn ſoll; ich
war Zeuge daß ſie half, denn in 12 Stunden war mein
Pferd wieder geſund.


Um noch alle Rhabarber zu unterſuchen, die laͤngſt
dem Jrtiſch in den Gebirgen waͤchſt, ſo fuhr ich den 9.
Auguſt von hier gegen Weſten. Die Rhabarber ver-
liert ſich bald, ſo daß man nach etwa 60 Werſt ſelbe
ſchon vermiſſet. Jndeſſen da ich ſo nahe bey der Fe-
ſtung Semipalatinſk war, ſo wollte ich dahin, theils der
ſchoͤnen Pflanzen wegen, die am Wege dahin wachſen,
theils um mich mit den Taſchkinern, die ehedem haͤufig
mit der buchariſchen Rhabarber Handel getrieben haben,
bekannt zu machen, damit ich ſoviel wie moͤglich alles er-
fahren moͤchte, was unſre mediciniſche Wurzel nur ir-
gend angehet.


Semipalatinsk iſt neu ausgebauet, hat eine
ſchoͤne ſteinerne Kirche, und ſehr angenehme Lage. Die
Luft iſt hier weit geſunder, wie in der 14 Werſt weiter
gelegenen alten Veſtung, wo man es den Einwohnern
an ihren blaßen Geſichtern ſchon anſiehet, daß ſie unge-
ſunde Sumpfluft einathmen. Von den uralten ſoge-
nannten Sieben Palaten, ohnweit der nunmehrigen
neuen Feſtung, iſt kaum noch eine Spur uͤbrig. Eine
Werſt von gedachter Feſtung iſt der Tauſchhof am Jr-
tiſch, wo, ſo wie in Uſtkamenogorsk, ein nicht vielbe-
deutender Handel mit den Taſchkinern und Kirgiſen ge-
trieben
[110]Sievers Briefe
trieben wird, wovon ich unten ein weiteres zu erwaͤhnen
Gelegenheit haben werde. Hier holen die Taſchkiner
viel Saſſaparille, Zinnober, Queckſilber, Sublimat u.
d. g. weg, welches ſie in ihrem Vaterlande gegen die
veneriſche Seuche gebrauchen.


Ohnerachtet die Kirgiſen weit mehr eingeſchraͤnkt
ſind, wie in vorigen Zeiten, ſo gelingts ihnen doch zu-
weilen, ihre Raͤubereyen zu zeigen. Bey meinem Hier-
ſeyn trieben ſie 18 Bauerpferde weg, indeſſen man ſezte
ihnen nach und nahm die Pferde wieder heim, wobey
aber ein baſchkiriſcher junger Burſche, der Entdecker die-
ſer Raͤuberey, in Jrtiſch ſein Leben verlohr. Die Baſch-
kiren thun hier Kaſakendienſte, und werden dazu alle 6
Jahre aus dem ufimiſchen Gouvernement, durch andre
wieder abgeloͤſet. Gleichfalls ſind auf der hieſigen Linie
viel von den ehemaligen Saporoger Kaſaken vertheilt,
die, haͤufiger Unruhen wegen, aus ihren alten Wohn-
plaͤtzen hieher verſchickt ſind, wo ſie nunmehr recht ſehr
nuͤtzliche Leute bleiben.


Den 14. Auguſt verließ ich Semipalatinsk, gieng
uͤber Loktefskoi Sawod, wo eine ſehr wohleingerich-
tete Steinſchleiferey iſt, die vorher erwaͤhnte Agate, Jas-
piſſe, Porphyre u. ſ. w. verarbeitet. Ein einziges groſ-
ſes Waſſerrad treibt alle uͤbrigen Maſchinen in 2 Stock-
werken, wobey ſelbſt Kinder verſchiedene Arbeiten ver-
richten, wie z. B. Schmirgel auftragen, Waſſer zugieſ-
ſen u. ſ. w. — Die drey Werſte von hier entfernten
Kupfergruben liefern etwa 10000 Pud reines Kupfer
im Jahr. Arme Silbererze werden hier angereichert,
und
[111]aus Sibirien.
und ſo weiter nach der Haupt-Sawode nach Barnaul
abgeliefert. Fuͤnf und ſiebzig Werſt von hier ſind die
beruͤhmten Schlangenberger Silbergruben, von
denen ich weiter nichts erwaͤhnen will, indem nicht allein
dieſe, ſondern auch alle kolywaniſche Gruben vor mir
ſchon aufs beſte beſchrieben ſind. Jch erreichte Bar-
naul
wiederum im September, nachdem ich noch ein-
mal eine Reiſe ins hoͤhere Altaiſche Gebirge, der Rha-
ber-Saamen wegen, gemacht hatte.


Jch habe die Ehre ꝛc.


Zehnter Brief.


Chaſyltaſch auf der Kirgiſiſchen Steppe 17\nicefrac {2}{VI}93.


Die Lage unſrer Expedition erforderte es, daß ich
im Winter eine Reiſe nach Kiachta machen mußte, von
woher ich wiederum nach dem Jrtiſch zuruͤck kehrte, und
den 19. Jun. Uſtkamenogorsk verließ, um eine
Excurſion gegen Suͤden zu machen. Da dieſe Reiſe
von allen meinen vorigen ſehr verſchieden iſt, und bei-
nahe moͤchte ich ſagen in unbekannte Gegenden geſchah,
ſo werden Sie es mir nicht verargen, wenn ich Jhnen
mit einem formellen Tagregiſter aufwarte, ſo ungern ich
auch daran gehe. Uebrigens war ein Geruͤcht, als wenn
die wahre buchariſche Rhabarber jenſeits des Gebirges
Tarabagatai am Fluß Uldſchar wuͤchſe, die Veranlaſ-
ſung dieſer Reiſe.


Den 19. Jun. Jn Boͤten ſchwammen wir heute,
mit allem Noͤthigen uͤber den Jrtiſch, und legten unſers
Waaren
[112]Sievers Briefe
Waaren in dem Tauſchhofe jenſeits des Fluſſes nieder.
Zur Zeit des Fruͤhlingshandels, wo eben die meiſten
rußiſchen, und kaſaniſchtatariſchen Kaufleute nach der
Kirgiſiſchen Steppe, nicht allein aus der Feſtung Uſt-
kamenogorsk, ſondern aus allen uͤbrigen dieſer Linie,
bis Orenburg mit ihren Waaren abreiſen, und gewoͤhn-
lich im Herbſt wieder zuruͤckkehren. Eben erwaͤhnter
Tauſchhof, der mit einem Erdwall umgeben, und von
einigen Kriegsknechten bewacht iſt, dient zur nochmali-
gen Reviſion der Waaren, damit ſich die Zollbedienten
von der Gewißheit der vorherigen ſchriftlichen Angabe in
der Feſtung beſſer uͤberzeugen moͤgen. Hierzu werden
4 bis 6 geraͤumige Jurten errichtet, die aber, ſobald die
Kaufleute abgereiſet ſind, wieder abgetakelt werden, ſo
daß nur die ins Viereck aufgeworfene Erdwaͤlle allein
ſtehen bleiben. Waͤhrend dieſem werden Vergleiche mit
denen ſich hier haͤufig einfindenden Kirgiſen getroffen,
um von ihnen die noͤthigen Kameele, Pferde, Wegwei-
ſer und auch Arbeiter zu miethen. Da ich nicht anders
wie als Kaufmannsdiener einer ſolchen Reiſe beywohnen
konnte, und dieſem gemaͤß auch einen Reiſepaß von dem
commandirenden General aus Omsk, in rußiſcher und
tatariſcher Sprache erhalten hatte, ſo mußte ich mich
auch, zum Schein des Rechten, allen dabey vorkommen-
den Ceremonien unterwerfen. Allein ſobald das Haupt-
geſchaͤft geendigt war, ſo uͤberließ ich alles meinem eigent-
lich zur Reiſe beſtimmten Kaufmann, und, waͤhrend daß
die Kameele herbeygeſchaft wurden, lief ich davon, um
die nahe liegenden kahlen Thon-Schiefer- und Grau-
fels-
[113]aus Sibirien.
felsgebirge, nebſt den kraͤuterreichen Wieſen zu beſuchen.
Meine Muͤhe belohnten: die ſchoͤne Dodartia orientalis,
Cachrys odontalgica, Nepeta violacea, Aſphodelus
ſibiricus Pall. Cunila capitata, Antirrhinum junceum,
Spiraea Filipendula
und andere ſchoͤne Gewaͤchſe. Wie
ſchon geſagt, es iſt nicht ungewoͤhnlich, auf den Bergen
Grabhuͤgel zu finden: ſo traf ich denn auch bey dieſer
Excurſion ein Grab an, deſſen Leichnam nur oberflaͤchlich
eingeſcharret war, (ein Beweiß daß es einem gemeinen
Kirgiſen gehoͤrte.) Auf demſelben lagen eine Menge
Stein, welche mit geflochtenen duͤnnen Binſen zum
Theil bedeckt waren. Eine lederne Flaſche in Form
eines Theekeſſels (Turſuk), vielleicht ſein ganzer Reich-
thum, war oben zur Zierde aufgeſetzt. Dieſes war mir
auffallend, denn gewoͤhnlich kommen die Sachen, die
der Verſtorbene beſaß, und vorzuͤglich fuͤr ihn brauchbar
waren, mit ins Grab. Auf allen meinen Reiſen habe
ich hier dieſen Fall auch nur zum erſtenmal geſehen. —
Die Hitze war im Mittage auf denen der Sonne ausge-
ſezten Bergen ſo groß, daß ich einen Stein kaum in der
Hand erhalten konnte, ohne ihn nicht in die andere
Hand abwechſeln zu muͤſſen, wenn ich ihn etwa naͤher
betrachten wollte.


Bey meiner Heimkunft war die ganze Equipage
beinahe aufgeladen, und zum Abmarſch fertig; der große
Kirgiſiſche Stamm oder Woloſt, (Aul) J [...]likiret an
dem in den Jrtiſch fallenden Ulambalack (Fiſchfluß)
wo der Sultan Tſchurga ſtehet, war nur 15 Werſt
entfernt: wir machten alſo heute noch dieſe Reiſe in der
Hkuͤhlern
[114]Sievers Briefe
kuͤhlern Nacht, indem wir die beyden Fluͤßchen Sara-
uͤſuͤk
(gelb) und Chara-uͤſuͤk (Schwarz-Waſſer) paſ-
ſirten. Der Weg war angenehm und wenig bergig.


Den 20ſten Jun. Da es vortheilhafter iſt, ſich
eigene Pferde und Kameele zu kaufen, ſo blieb ich den
ganzen Tag hier liegen, um dieſes Geſchaͤft zu beendi-
gen. Fuͤr ein Kameel zahlte ich fuͤr 20 Rbl. Waaren,
und fuͤr ein Pferd, zu 10 - bis 24 Rbl. je nachdem es
mehr oder weniger ſchoͤn und brauchbar war. Der
Kirgiſe bey dem ich logirte, ein freundlicher, gutherziger,
reicher und angeſehener Mann, Namens Chaial, trat
bey mir als Wegweiſer, fuͤr 12 Rubel monatlich, in
Dienſte; dieſes iſt eine unumgaͤnglich nothwendige. Sa-
che, man erwirbt ſich dadurch bei den uͤbrigen Kirgiſen
Hochachtung und Anſehen, und dieſes um ſo mehr, je
vornehmer der Wegweiſer iſt. Mit dieſem alſo, und
11 Bauern, 4 Koſacken, dem chirurgiſchen Lehrling
Saleſſoff, einem Kaufmann, einem Dollmetſcher, einem
kirgiſiſchen Arbeiter und einem tobolskiſchen Tataren, war
ich 22 Mann ſtark; eine Anzahl, die, gehoͤrig bewaff-
net, hinlaͤnglich iſt, im Fall eines Ueberfalls bis 200
Kirgifen zu widerſtehen. Denn das Feuergewehr iſt
ihnen beſonders fuͤrchterlich: Sie ſind wohl Raͤuber aber
keine Krieger.


Den 21. Jun. Da nun alles zum Weiterreiſen
fertig war, ſo verließ ich Morgens fruͤh die Wolloſt,
und ſezte meinen Weg laͤngſt dem Ulanbalack aufwaͤrts
fort. Wir giengen an zwey kirgiſiſchen Kirchhoͤfen, die
ohne Umzaͤunung waren, vorbey. Die Grabhuͤgel wa-
ren
[115]aus Sibirien.
ren von ungebrannten Lehmſteinen ganz artig aufgefuͤhrt:
nachdem der Verſtorbene arm oder reich, vornehm oder
niedrig war, ſo hatte man auch die Huͤgel hoͤher oder
niedriger gemacht. Die Koͤrper der ganz Armen hatten nur
einen gemeinen Steinhaufen zur Bedeckung. Wie aͤhn-
lich ſind ſich doch die Menſchen in der ganzen Welt!
Der Arme iſt allenthalben ein Gegenſtand der Verach-
tung. — Laͤngſt dem Wege traf ich oͤfters ganze Stre-
cken von Schiefer in ſcharfen Ruͤcken zu 2, 3 bis 5 Rei-
hen parallel nebeneinander, durch die Steppe hinlaufend
an; ſie hatten in einiger Entfernung das Anſehen von ei-
nem 4 bis 6 Zoll hohen ruinirten Mauer-Fundament.
Dann giengen wir hart den ſogenannten Kloſterfelſen
Monaſtirki, kirgiſ. Dullugala-Tſchoͤckoͤt) vorbey, der
deswegen ſo genannt wird, weil er ſich in der Ferne wie
ein mit 3 Thuͤrmen verſehenes Kloſter zeigt. Es iſt
uͤbrigens nichts weiter, als ein iſolirter, ſchroffer, maͤch-
tig hoher, derber, grobkoͤrniger, uranfaͤnglicher Granit-
fels. Heute zeigte mir die Natur, wie ſie ihre uner-
meßlich großen Steingeruͤlle verfertiget, wovon ich ſchon
vorher in den Briefen aus dem Jablonnoi Chrebet ge-
dacht habe. Jndem ich neben einem feſten Graufelsge-
birge vorbeyritt, ſo broͤckelten, durch die große Sonnen-
hitze verwittert und losgetrennt, nicht ſehr große Stuͤcke
und Tafeln herab; auf dieſe Art war hier ſchon ein Hau-
fen von einigen Millionen Steinbrocken entſtanden. Der
haͤrteſte Felſen muß dem eiſernen ſcharfen Zahn der Zeit
weichen! — Wir trafen auf eine Kirgiſiſche Aul, wo
wir Mittag anhielten. Gegen Abend giengen wir wei-
H 2ter,
[116]Sievers Briefe
ter, und nachteten in einem angenehmen graßreichen
Thale. Vor Schlafengehen lief ich noch ein wenig bo-
taniſiren, und fand in der Daͤmmerung Scorzonera to-
mentoſa, — Spiraea triloba
und Tragopogon croci-
folium.


Den 22. Jun. Unſer Weg gieng allmaͤlig bergan,
bis zum Urſprung des Ulan- balaka, wo es allenthaben
ſchoͤne Weide gab: eine Menge Allii altaiei foliis planis
nahmen wir mit, um das Mittagseſſen dadurch ſchmack-
hafter zu machen. Dann verließ ich die Quellen des
Ulan, und uͤberſtieg ein ziemlich hohes Schiefergebirge,
das oben einige ſehr große, graßreiche Ebenen macht,
weswegen ſich auch im Sommer hier oͤfters Kirgiſen auf-
halten. Das Herabſteigen wurde beſchwerlich genug,
indem der Weg durch ein enges und ſteiles Thal gieng,
welches mit Schieferbrocken angefuͤllt war. Zu beiden
Seiten war die ſchoͤne Robinia tragacanthoides, (eine
neue Gattung) Ferula reſinoſa, welche die Ruſſen Pich-
townik
nennen, Hyſſopus officinarum, u. ſ. w. in groſ-
ſer Menge.


Am Fluͤßchen Kyſyl, der in die Schulba, ohn-
weit Semipalatna faͤllt, und den wir ſogleich erreichten,
hielten wir Mittagsruhe. Der Kyſyl iſt ſehr fiſchreich;
ich ließ das mitgenommene Netz auswerfen, und man
fieng in etwa einer halben Stunde bis 15 Pfund Hechte
und Tſchebakken, welche mit unſerm Allio gekocht, ein
recht wohlſchmeckendes Gericht gaben. Nachmittages
wurde die Hitze durch 2 ſtarke Donnerwetter abgekuͤhlet,
worauf wir dann um 4 Uhr weiter zogen. Das Nacht-
lager
[117]aus Sibirien.
lager war am Fluͤßchen Dſchanama aus dem wir viel
Grimpen fiengen. Eine kirgiſiſche Wolloſt war in der
Naͤhe, indeſſen wunderte es mich doch daß ich bisher ſo
wenige Jurten von dieſer Nation antraf, ohnerachtet der
vielen graßreichen Thaͤler. Sollte die mittlere Horde
wohl auf 200000 Seelen haben? wie doch einige be-
haupten wollen. — Die Nacht wurde uns von einer
ungeheuren Menge Muͤcken ſehr beſchwerlich gemacht.


Den 23. Jun. Mit Sonnenaufgang ſezten wir
unſre Reiſe dem Dſchar- Gurban (Gurban Zarr
bedeutet auf Kalmuͤkiſch drey Stiere) zu fort, welcher
noch 20 Werſt entfernt war; wir paßirten grasreiche
und wirklich romantiſchſchoͤne Geſilde, wo ſich die Robi-
nia fruteſcens
und pygmaea, Lonicera tatarica und Spi-
raea crenatae affinis,
als das einzige Geſtraͤuch zeigte.
Dictamnus albus mit ſeiner ſchoͤnen Jnfloreſcenz verherr-
lichte die Fluren noch mehr.


Um 12 Uhr erreichten wir den Dſchar- oder
Zarr-Gurban, der jezt nicht breit war; aber ich fand
Merkmahle genug, daraus ich ſchließen konnte, daß er
im Fruͤhjahr, wenn der Schnee ſchmilzt, wohl eine
Breite von 15 bis 30 Faden haben kann. Er kommt
mit dem Bekun und dem Ablaket aus einem Gebir-
ge, in welchem auch der Jrtiſch fließt. Von unſerm
Mittagsplatze bis an die drey urſpruͤnglichen Quellen des
Dſchargurban rechnet man etwa 100 Werſt noͤrdlich.
Unſer Lager war auf tſchudiſchen Graͤbern auf dem dieſſei-
tigen hohen ſteinigen Ufer des Fluſſes: der Grabmaͤler
waren drey große und 5 kleinere. Neben dieſen hatten
H 3auch
[118]Sievers Briefe
auch die Kirgiſen einen Ruheplatz fuͤr ihre Todten ge-
waͤhlet: ich zaͤhlte hier ſieben mit Steinen beworfene,
hohe, lange Grabhuͤgel, und ein 1½ Faden hohes, von
thoniger Erde mit kleinen Steinen vermiſchtes Mauſo-
leum. Es iſt der Gebrauch bey den Kirgiſen, von dem
Kopf-Ende der Leiche eine lange Stange aufzupflanzen,
die aus dem Mauſoleo in die offene Luft hinaus gehet;
welche Ehre aber nur den vornehmen Mannsperſonen,
und beſonders Helden (nach ihrer Art) wiederfaͤhrt. Die
drey tſchudiſchen großen Graͤber waren nicht ſehr erha-
bene zirkelrunde Huͤgel, die im Durchmeſſer 16 ge-
woͤhnliche Mannsſchritte maßen, mit einer Einfaſſung
von großen rundlichen weißen Granitbloͤcken. Eins da-
von fand ich aufgebrochen, welches wahrſcheinlich von
denen alle Sommer hier des Handels wegen herumrei-
ſenden Kaufleuten geſchehen war, in der Abſicht um
Schaͤtze zu ſuchen. Den Kirgiſen erlauben ihre Geſetze
dergleichen nicht, die da befehlen fuͤr Graͤber eine ſtrenge
Ehrfurcht zu haben, und dieſes befolgen ſie heilig. Der
vortreflichſte Schmuck des groͤßten Grabmahls war die
ſchoͤne Scutellaria orientalis, Convolvulus cantabricae
affinis,
und Hedyſarum proſtratum Pallaſii. Nie habe
ich ein Grab von der Natur ſchoͤner geziert geſehen. Auch
auf der ganzen Reiſe ſahe ich die Scutellaria nirgends
wieder; hier nur war ſie haͤufig. Die Gegend umher
iſt vortreflich, und zur Anlegung einer Stadt bequem.
Der Dſcharr Gurban iſt reich an Hechten, Barſchen
und Tſchebaken. Jn einer Stunde nach meiner Ankunft
waren die Keſſel mit dieſen wohlſchmeckenden Fiſchen
ſchon
[119]aus Sibirien.
ſchon gefuͤllt und auf dem Feuer. Laͤngſt den Ufern fin-
den ſich reichlich verſchiedene gemeine Weiden, Prunus
Padus, Betula alba, Populus tremula
und balſamifera;
weswegen wir hier nicht noͤthig hatten Pferde- und Kuh-
miſt zur Feuerung zu ſammeln, welches doch gemeini-
glich der Fall zu ſeyn pflegte; aber auch hieran iſt im
Sommer hier kein Mangel, denn die zahlreichen her-
umziehenden Heerden der Kirgiſen verſorgen hinlaͤnglich
die Reiſenden damit. An Steinarten bemerkte ich im
Ufer und im Fluſſe ſelbſt folgende: roͤthliche Jaspisſtuͤcke
mit Quarzadern, zelloͤſe Geſchiebe mit Strahlgips und
Selenit, die vielleicht aus mergelartigen Erdſchichten
hergeſpuͤhlt ſeyn koͤnnen; Jaspis-Geſchiebe mit durch-
ſezten weißen Quarzadern und mehrere gemeine Fluß-
Kieſel. Ein kleiner Regen und heftiger Wind kamen
mir bey meinen botaniſchen Beſchaͤftigungen ſehr zu
Statten; denn nun war ich frey von unwillkommnen
Gaͤſten, ich meyne die Muͤcken und Moſchki. Um 4 Uhr
Nachmittags verließen wir unſere Kirchhoͤfe und giengen
durch den nicht tiefen Dſcharr-gurban, wo wir an der
entgegengeſezten Seite auf einer Hoͤhe wiederum 24
große und kleine kirgiſiſche Grabhuͤgel paßirten. Der
Fluß ſcheint mir beynahe bey den hieſigen Nomaden hei-
lig zu ſeyn, weil ſie ſo gern ihre Todten und beſonders
Vornehme auf ſeine Ufer einſcharren. Wie ich denn unter
den ſo eben genannten Grabmaͤhlern einige recht große fand,
uͤber welche man ſogar nach rußiſcher Bauart Haͤuſer-
chen gebauet, und ſelbige mit thoniger Erde uͤberſchmiert
hatte. Jn dem groͤßten fand ich drey Graͤber, wovon
H 4beſon-
[120]Sievers Briefe
beſonders das mittlere ſehr lang und hoch war. Der
Thon war auf dem Koͤrper ſo aufgetragen, daß es das
Anſehen einer liegenden Mumie hatte. Die Geſtalt des
uͤber dieſen drey Todten aufgebauten Hauſes war einem
Wuͤrfel mit einem niedrigen Gewoͤlbe aͤhnlich, auf deſ-
ſen Mitte ein kugelfoͤrmiger Knopf ſtand. Mein Fuͤh-
rer verſicherte mir, daß rußiſche Laͤuflinge, die ſich bey
ihnen ſeit etwa 20 Jahren aufhielten, dieſe Haͤuſer baue-
ten. Wir ſezten unſern Weg durch graßreiche Ebenen
fort, wo das angenehme Allium caeruleum Pall. oͤfters
haͤufig bluͤhete; bald darauf kamen wir auf grandige,
Kraͤuterarme, ſalzige Steppen mit Alcali minerale vi-
triolatum.
Zu beiden Seiten hatten wir kahles urſpruͤng-
liches Thon-Schiefergebirge. Dieſe Thongebirge
halten Feldſpath und Quarz in ihrer Miſchung, welches
nebſt Jaspis, Quarz und Porphyr, die Hauptgebirgsar-
ten der ganzen kirgiſiſchen Steppe ſind. Auf der ganzen
Steppe ſcheint das urſpruͤngliche Thongebirge unmittel-
bar auf uraltem Granit aufzuſitzen. Uraltes Kalkgebirge
iſt dagegen ſehr ſelten. Da hier allenthalben Tſchudiſche
Graͤber ſind, ſo vergieng auch kein Tag, daß wir nicht
mehrere derſelben vorbeyritten. Heute bemerkte ich ei-
nige, die mit roͤthlichen Jaspisbloͤcken eingefaßt waren.
Eine botaniſche Neuigkeit aber erfreute mich beſonders,
es war ein neues Rheum, welches ich nanum taufen will:


Planta floreſcens ſpithamaea et pedalis; ſemini-
fera
paulo altior, ſpicis ramoſo- divaricatis, pedunculis
fere lignoſis. Folia caulina rariſſima vel nulla, radi-
calia
communiter tria, Diametri 4 ad 6. pollicaria, ad

terram
[121]aus Sibirien.
terram appreſſa, valde nervoſa, glabra, coriacea, ro-
tundato-orbicularia, in margine denticulis albis cartila-
gineis, denſiſſimis, rigidisque notata. Petioli breviſſi-
mi, compreſſi, ſolidi, ſuccum acidum cryſtalliſabilem,
Saporis valde amoeni continentes. Semina maxima,
rubra. Radix alba, communiter tribus ſubdiviſioni-
bus, non raro articulatis in terram fere perpendiculari-
ter deſcendens: guſtu inſipido, minime rhabarbarino,
ſubmucilaginoſo. Illam ſi mandes, Linguam, vi eorum
texturae ſetoſae pungens. Habitat prope fluvium Dſchar-
gurban appellatum, et ad Kurtſchum in Imperio chi-
nenſi in montibus quarzoſo ſchiſtoſis denudatis. Non-
nulli Rutheni incolae, ita et Kirgiſi inſignis hujus plan-
tae radicem univerſale contra morbum caducum ſive
Epilepſiam eſſe remedium, mihi aſſeverarunt. Id quod
etiam ex illius pungenti, ſetoſaque textura poterit ex-
plicari.


Bald darauf paſſirten wir ein Fluͤßchen Dauwà,
das in den Dſchar faͤllt. Hedyſarum proſtratum, Aſtra-
galus hedyſaroides Pall.
und einige andre Gattungen,
zierten unſre Berge, wovon wir einem ziemlich hohen
uͤberſtiegen und uns dann in ein angenehmes futterrei-
ches Thal zum Nachtlager niederließen. Eine Gruppe
von Birkbaͤumen, die uns gegenuͤber am Fuß eines Ber-
ges ſtand, rechne ich mit unter die Seltenheiten auf der
kirgiſiſchen Steppe. Robinia fruteſcens, Lonicera ta-
tarica, Spiraea crenatae affinis, Salix fragilis
und amyg-
dalina
bemerkte ich hin und wieder.


H 5Den
[122]Sievers Briefe

Den 24ſten Juni. Wie gewoͤhnlich mit Sonnen-
aufgang zogen wir weiter uͤber das Gebirge Chalwà, wel-
ches uns noͤthigte Suͤdweſtlich zu gehen, um den beſſern
Weg zu verfolgen, der von den wandernden Kirgiſen ſo
fahrbar gemacht worden, wie eine große Heerſtraße.
Zweymal paſſirten wir das Fluͤßchen Kuͤrmuͤltoͤ, an
welchem Roſa pimpinellifolia nebſt den vorhin erwaͤhn-
ten Straͤuchern wuchs. Nachmittages ließen wir uns
in ein offenes, ſchoͤnes Thal nieder, giengen queer durch
daſſelbe und weil unſere Laſtthiere ermuͤdet ſchienen, ſo
wurde beſchloſſen hier zu uͤbernachten. Der anſehnliche
Koͤpkuktuͤ, ein ſehr fiſchreicher Fluß, ſchien uns beſon-
ders dazu einzuladen. Ohnweit unſerm Lager fiel der
vorher erwaͤhnte Kuͤrmuͤltoͤ hinein. Meine Leute fien-
gen mit Netzen und Angeln innerhalb anderthalb Stun-
den beynahe 3 Pud verſchiedener Fiſche. Hechte, Je-
ſen, Tſchebaken, und Barſche, die dann ein herrliches
Abendeſſen abgaben.


Eine Sache, die mich erfreuete waren einige Mor-
gen Acker-Land, worauf der ſchoͤnſte Waizen ſtand; um
ſo mehr, da man ſich uͤberhaupt einen Begriff von den
Kirgiſen macht, der eben nicht zu ihrer Empfehlung ge-
reicht: Es entſtand daher auch ein Wortſtreit unter mei-
nen Leuten, die groͤßtentheils behaupteten, dieſe Aecker
gehoͤreten den ſich hier auf haltenden, vorhin ſchon er-
waͤhnten rußiſchen Laͤuflingen. Jndeſſen machten einige
Kirgiſen, die aus nahe gelegenen Jurten uns zu beſu-
chen kamen, dem Streit bald ein Ende, indem ſie ſagten
daß ſie ſelbſt das Land ackerten und nicht allein hier, ſon-
dern
[123]aus Sibirien.
dern durch die ganze Steppe, dergleichen noch haͤufiger
vorkommen wuͤrde. Der Ackerbau, der gewoͤhnlich an
Fluͤßchen betrieben wird, bringt vortrefliches Korn, be-
ſonders Waizen! Gewoͤhnlich iſt der Regen ſelten, da
kommen dann die Kirgiſen der Saat durch Waͤſſerung,
vermittelſt uͤber die Felder geleiteter Kanaͤle zu Huͤlfe.
Es ſind nur Dienſtboten oder Sklaven, die die Feldar-
beit beſorgen muͤſſen; denn der reichere Kirgiſe will ſich
noch durchaus zu keiner Arbeit bequemen. Jndeſſen je
mehr ich dieſe Leute ſehe und naͤher kennen lerne, je mehr
werde ich uͤberzeugt, daß ſie gar nicht die gefaͤhrlichen,
wilden Menſchen ſind, wofuͤr man ſie gewoͤhnlich haͤlt. —


Unſer Thal mag fuͤnf Werſte in der Breite haben
und in der Laͤnge von Weſten nach Oſten, wohin es ſich
mit dem vorhergedachten Chalwà bis ohngefaͤhr an die
Mitte des Gebirges Tarabagatai, zu deſſen Anfang
ohnweit des Sees Allaguͤl unſere Reiſe gieng, auf 50
bis 80 Werſt erſtreckt. Am Jrtiſch hoͤrte ich die Nach-
tigallen zum letztenmale; aber vom Dſchar-gurban an
und nachher an allen Fluͤſſen weiter hin, wo nur Ge-
ſtraͤuche war, wiederum auf kirgiſiſchem Grund und Bo-
den. So fehlte es auch nicht an Wachteln, Lerchen und
andern mir unbekannten theils ſchoͤn gezeichneten Sing-
voͤgeln.


Zweyhundert Werſt war ich nun ſchon von der ruf-
ſiſchen Grenzlinie entfernt. Auf dem ſtillfließenden Koͤp-
kuck-toͤ, der unterhalb dem Noor-Saiſſan in den Jr-
tiſch faͤllt, ſchwammen Nymphaea lutea, Potamogeton
natans,
[124]Sievers Briefe
natans, lucens \& perfoliatum. Merkwuͤrdig iſt’s, daß
je weiter vom Jrtiſch man ſich entfernt, je weniger
Schlangen trift man an. Die Urſache davon kann ich
nicht wohl angeben, da ich in der Steppe am Jrtiſch,
ſowohl wie in der kirgiſiſchen bis auf den 45 Grad Nor-
der Breite, keinen Unterſchied in Ruͤckſicht der Pflanzen,
(einige ausgenommen), des Bodens, der Jnſekten u. ſ.
w. finden kann. Auf einem tſchudiſchen Grabe toͤdteten
meine Leute eine von 1½ Ellen Laͤnge, die gruͤngelb war:
Es iſt außerordentlich wie wuͤthend und emſig der ge-
meine Mann in Sibirien ſich bemuͤhet dieſe unſchuldi-
gen oder vielmehr nuͤtzlichen Thierchen zu toͤdten, ſo daß
es bey ihnen ſogar als ein verdienſtliches Werk betrach-
tet wird eine Schlange, die ihnen etwa am Wege auf-
ſtoͤßt, aus dem Wege zu raͤumen. Eben ſo erpicht ſind
darauf die tatariſchen Voͤlker; dahingegen kein Kalmuͤk
oder Mongol eine Schlange zu verletzen wagt.


Den 25ſten Juni. Der heutige Vormittagsmarſch
war nur von 5 Werſt, bis zu einem kleinen Quellbach.
Hier mußten wir waͤhrend der groͤßten Hitze Halte ma-
chen, weil weiter hin auf 40 Werſt kein Waſſer zu haben
war. Unterdeſſen kamen viele Kirgiſen um mit uns zu
handeln. Da ich hier eben Gelegenheit habe des kirgi-
ſiſchen Handels zu gedenken ſo will ich davon etwas weit-
laͤuftiger reden und die Waaren erwaͤhnen, welche hiebey
von beyden Seiten vorkommen, um ſo mehr da bey den
Kirgiſen kein gemuͤnztes Geld gilt. Allenthalben alſo,
wo ich Geld nenne, das ich zum Einkauf von Lebensmit-
teln,
[125]aus Sibirien.
teln, Geſchenken oder Bezahlung fuͤr andere Sachen an-
wenden mußte, ſo verſtehe ich immer, daß ich fuͤr ſo viel
Geld an Waaren gab.


Fuͤr die Kirgiſen ſind die
folgenden ſehr angenehm:


  • Rothgefaͤrbte Kuͤhhaͤute oder
    Jufte zu 350 Kop.
    (Bulgarè.)
  • Rothe kleine rundliche Ko-
    rallen eine Schnur zu —
    (Marſchan.)
  • Schlechte Barbiermeſſer zu
    15 Kop. (Uſtorà.)
  • Grobe gezwirnte Seide al-
    lerley Farbe das Pfund zu
    7 Rbl. (Dſchiwek.)
  • Unaͤchtes geſponnenes Gold
    und Silber, 10 Kop. ein
    Buͤndchen. (Serr)
  • Meſſingene Fingerhuͤte zu 3
    Kop. (Oimack.)
  • Nehnadeln zu 25 Kop. ein
    Papier. (Jnaͤ.)
  • Glaßkorallen von verſchiede-
    ner Farbe, ein Buͤndchen
    auf Faden zu 85 Kop.
    (Tſcheganack.)

Von ihnen erhandelt man
wieder:


  • Kleine krauſe Laͤmmerfelle zu
    10 bis 20 Kop. (Elter.)
  • Wolfsbaͤlge zu 1 bis 3 Rbl.
    (Buͤroͤ.)
  • Fuchsbaͤlge zu 1 bis 4 Rbl.
    (Tuͤlkoͤ.)
  • Murmelthierfelle zu 10 Kop.
    (Sugur.)
  • Kuͤhe zu 4 bis 8 Rbl.
    (Sſuͤr.)
  • Ochſen zu 4 bis 15 Rbl.
    (Oeguͤß.)
  • Pferde zu 8 bis 60 Rbl.
    (Att.)
  • Schaafe zu 30 Kop. bis 1
    Rbl. 60 Kop.(Choi.)
  • Ziegen zu 30 Kop. bis 1
    Rbl.(Jſchki.)
  • Pferdezaͤume zu 40 Kop. bis
    1. Rbl.(Dſhugun.)
  • Riemen um den Pferden 3
    Beine zu ſpannen, wenn ſie
    auf
    [126]Sievers Briefe
    Spiegel zu 30 Kop.
    (Ainaͤ.)
  • Alaun Pf. à 20 Kop.
    (Arſchudaß.)
  • Entalia das 100 zu 25 Kop.
    auf ruß. Jalambaſch, kir-
    giſiſch Tſchelumbaſch.
  • Schwarzer Sammt à 1 Rbl.
    10 Kop. eine Arſchin.
    (Mackpal.)
  • Kaſten von verſchiedener
    Groͤße mit Eiſenblech be-
    ſchlagen. à 5 — 15 Rubl.
    (Ssanduck.)
  • Soldatentuch à 1 Rbl. Ar
    ſchin. (Dſhuwen-tſcheck-
    pen.
    )
  • Haarkaͤmme zu 10 Kop.
    (Tarack.)
  • Toback à 15 Kop. das Pf.
    (Se [...]meke.)
  • Karmoiſin Tuch zu 4 Rbl.
    die Arſchin. (Manat.)
  • Meſſingene Fingerringe zu
    2 Kop. (Dſhuſuͤck.)
  • Weißer Baͤß, ein baumwoll
    ner Zeug ein Stuͤck zu 1 Rbl.
    40 Kop. (Ack-boͤß.)

  • auf der Weide gehen (Tre-
    [...]ogi
    ) zu 15 bis 30 Kop.
    (Tſcheder.)
  • Pferdehaarſtricke zu 20 Kop.
    (Archan.)
  • Schaaffelle 5 bis 15 Kop.
    (Choi-tere.)
  • Ziegenfelle dito.
    (Jſchi-tere.)
  • Ziegelthee zu 50 Kop.
    (Tachta Tſchai oder
    Kiachta-Thee.)
  • Rother Baͤß, ein baum-
    wollner Zeug zu 1 Rbl.
    (Chaſil-matà.)
  • Schaafpelze zu 2 bis 4 Rbl.
    (Tun.)
  • Baͤrenfelle zu 2 bis 6 Rbl.
    (Ai-ju.)
  • Kameelhaarene Zeuge, die
    ſehr ſchmal ſind und entwe-
    der zu Schlafrock aͤhnlichen
    Kleidungen ſchon genaͤhet
    (Armaͤki) zu 2 bis 3 Rbl.
    oder aber in Stuͤcken zu 20
    bis 30 Arſchinen fuͤr 10 Kop.
    verkauft werden.
    (Tſcheckpen.)

Kunitzi
[127]aus Sibirien.
  • Daba, blaues baumwolle-
    nes Zeug 1 Rbl. 40 Kop.
    ein Stuͤck. (Kuckmata.)
  • Salmiak das Pfund 1 Rbl.
    (Muſatr.)
  • Bley das Pfund 10 Kop.
    (Chorgoſſen.)
  • Pulver das Pſund 70 Kop
    (Dare.)
  • Fiſchotterfelle 5 bis 12 Rbl.
    (Wydry, Chunduß.)
  • Perlen 18 Rbl. ein Quint
    lein.(Maͤ [...]wet.)
  • Jngwer.(Bosbogà.)
  • Gewuͤrznelken.
    (Chalemper.)
  • Pfeffer.(Burſch.)
  • Eiſenblech.(Dſheß.)
  • Zinn.(Challai.)
  • Borax.(Denecker.)
  • Meßing.(Dſhiß.)
  • Kupfer.(Moͤß.)
  • Eiſen.(Tuͤmmer.)
  • Beile zu 50 bis 80 Kop.
    (Balià.)
  • Eiſerne Dreyfuͤße.
    (Oſchack.)
  • Große Keſſel von Gußeiſen.
    (Chaſan.)

  • Kunitzi oder Marder zu 50
    bis 80 Kop. (Suſſar.)
  • Silber zu 20 bis 25 Kop.
    ein Quintlein, dieſes erhan-
    deln ſie von den Chineſen u.
    Taſchkinern. (Kumuͤß.)
  • Chineſiſches ſeidenes Zeug
    oder Kanfa. (Torogon.)
  • Korßaki eine Art kleiner grau-
    er Fuͤchſe Canis Corſac.
    (Charßack.)
  • Zobel zu 1 Rbl. 20 Kop.
    bis 3 Rbl. (Kuͤß.)
  • Luchſe zu 8 bis 10 Rbl.
    (Sileißen.)
  • Tieger zu 4 bis 6 Rbl.
    (Jlbiß.)
  • Panther zu 10 Rbl.
    (Dſhoͤl-Barß.)
  • Hirſchfelle zu 1 bis 2 Rbl.
    (Marall.)
  • Elennsfelle zu 2 bis 3 Rbl.
    (Bulan.)
  • Rehfelle zu 20 bis 50 Kop.
    (Ellèck.)
  • Dachsfelle Urſus Meles.
    (Borſuck.)

Eiſerne
[128]Sievers Briefe
  • Eiſerne Hakken.(Tſchot.)
  • Kleine eiſerne Keſſel.(Bachàr.)
  • Eiſerne Schoͤpfloͤffel.(Choll. Bachàr.)
  • Feuerſtahle.(Tſchackmack.)
  • Feuerſteine zu 1 Kop.(Tſchack-mack-taß.)

Chara Sawra ſchwarzer Schagrin; ſo nennen
die Kirgiſen die Stiefel ſo ſie von den Taſchkinern und
Bucharen ſehr theuer erkaufen: der Preiß iſt gewoͤhn-
lich ein Pferd, welches man auf 12 Rubel ſetzen kann;
aber ſie ſind auch ſo ſtark, daß ſie oͤfters 8 Jahre aus-
dauern; ſie werden von Pferdeleder verfertiget und ſind
auf der Oberflaͤche koͤrnig. Außer den erwaͤhnten Waa-
ren tauſchen ſie von ihren aſiatiſchen Nachbaren beynahe
alle uͤbrige Kleidung ein, die groͤßtentheils in baumwol-
lenen Zeugen und ſeidenen Tuͤchern zum Kopfputz der
Frauenzimmer beſteht.


Um 3 Uhr Nachmittages giengen wir weiter und
hatten bis zum Nachtlager, bey einer Wolloſt Chara-
girei,
einen ſchoͤnen ebenen Weg; das Fluͤßchen, woran
dieſes Dorf ſtand, hieß gleichfalls Chara-Sſu ohnweit
dem nicht ſehr hohen kahlen Berge Chuß-Murren
(Vogel-Schnabel). Waͤhrend dieſem Marſche bemerkte
ich große Flecke eiſenſchuͤßigen rothen Thon, Salzpfuͤtzen
und Salzausſchlag auf der Steppe. Der groͤßte Salz-
antheil hier herum iſt Alcali minerale, hat aber auch
zum Theil Vitriol. oder Salzſaͤure beygemiſcht. Hier
traf ich denn auch manche ſchoͤne Salzpflanze als Atri-
plex ſibirica \& laciniata, Serratula ſalſa, Salſolae
von
verſchiednen Gattungen. Mein Fuͤhrer Chaial zeigte
mir
[129]aus Sibirien.
mir von einem hohen Schiefer-Huͤgel ſchon eine mit
Schnee bedeckte Bergſpitze des noch ſehr entfernten Ta-
rabagatai.


Den 27ſten Juni. Mein Tatar hatte ſich von der
Carawane verirrt; ich mußte alſo 2 Kirgiſen ausſenden
um ihn ſuchen zu laſſen, welches mir 16 Stunden weg-
nahm. Unterdeſſen vertrieb ich mir die Zeit mit Bota-
niſiren und mein Kaufmann mit Handeln. Dieſe Ge-
gend empfahl ſich uns um deſto mehr, weil uns keine
Muͤcken und Moſchki quaͤlten, deren es in der Steppe
ſonſt uͤberfluͤßig genug giebt. Eben deswegen war hier
auch alles voller Kirgiſen, die dieſes Teufelsgeſchmeis
mehr fuͤrchten, wie den Satan ſelbſt. So iſt gleichfalls
Ueberfluß an ſchoͤnem Graßwuchs. Nichts fehlt hier als
Waldung.


Nachmittags packten wir auf und zogen weiter, lieſ-
ſen den Chuß-Murren linker Hand und paſſirten eine
Strecke uͤber große, in maͤchtige Tafeln abgetheilte, der-
be Granitbloͤcke die denen bey Kolywan voͤllig aͤhnlich
ſind. Hin und wieder lagen ſolcher Tafeln bis zu ſechs
uͤber einander; einige pyramidenfoͤrmig aufgethuͤrmt.
Gegen Mitternacht fanden wir gutes Waſſer und uͤber-
nachteten.


Den 28ſten Juni. Vor Sonnenaufgang giengs
weiter und immer noch uͤber und zwiſchen durch die vor-
hererwaͤhnten Granittafeln, die weiter hin anſehnliche
Berge ausmachten. Sie moͤgen wohl ſeit Jahrtauſen-
den mit keiner Dammerde bedeckt geweſen ſeyn, daher ſie
dann auch durch Froſt, Sonnenhitze, Regen, Luft und
JWet-
[130]Sievers Briefe
Wetter ſo zertruͤmmert worden, ohne jedoch im Gering-
ſten eine erdhafte oder broͤckliche Oberflaͤche zu haben.
Sie liefern den Botaniſten wenige aber gute Sachen,
die meiſten Pflanzen ſammelte ich jederzeit in graßreichen
Thaͤlern, an den Fluͤſſen und hin und wieder auf der
Steppe. — Nach vollendetem Marſch von 10 Werſten
kamen wir wieder in ebenes Land, welches freylich im-
mer viel waldloſe Huͤgel hatte, indeſſen zum Ackerbau
und Viehzucht außerordentlich tauglich waͤre. Rechter
Hand blieben uns 2 kleine Bitterſalzſeen. Das Mit-
tagsmahl hielten wir ohnfern vom Urſprung des Fluͤß-
chens Baltagara, welches ſuͤdlich in den See Bal-
kaſch
faͤllt und viele Grimpen naͤhret. Mein Fuͤhrer
zeigte mir auf einem hohen Berge abermal die in Nebel
eingehuͤllten Bergſpitzen des Tarabagatai. Der gedachte
Berg ſowohl, wie die umliegenden kleinern, beſtand aus
eiſenſchuͤßigen, zu Tage ausgehenden hornartigen, ban-
dirten Jaſpisſchiefer, mit ſchoͤnen ſchwarzen Dendriten.
Zwiſchen dem Broͤckelwerk wuchs hin und wieder die ſel-
tene Clypeola Schangini eine neue Gattung. Uebrigens
war hier allenthalben botaniſche Armuth. Jn der Wo-
loſt Burà-Naimenße am obgedachten Fluͤßchen Bal-
tagara
hatten wir unſer Nachtlager. Was ich heute
an Pflanzen bemerkte waren: Salix glauca, Populus tre-
mula, Ribes groſſulariae affine, Hyoſciamus phyſaloi-
des, Lonicera alpigena, Senecio, Cineraria,
einige Ar-
temiſiae, Aſtragalus veſicarius
und phyſodes. Vor dem
Schlafengehen hatten wir noch einen nicht betraͤchtlichen
Handel mit den Kirgiſen. Es gehoͤret viel Geduld dazu
mit
[131]aus Sibirien.
mit dieſen Leuten zu handeln. Sie beſehen, beriechen,
befuͤhlen die Waaren eine ſo lange Zeit, berathſchlagen
ſich dann unter einander, nehmen wieder die Waare zur
Hand u. ſ. w. daß mir wenigſtens die Geduld zehnmal
dabey vergieng: Jch war ſehr froh daß ein Kaufmann,
der hiezu ſchon gewohnt war, dieſes Geſchaͤft uͤber ſich
nahm: der wenige Profit wuͤrde mich auf keinerley Weiſe
zu einem ſolchen ſchlaͤfrigen Handel aufmuntern koͤnnen.


Den 28. Juni. Als Phoͤbus anfieng ſich am Hori-
zont zu zeigen, waren unſere Pferde und Kameele ſchon
wiederum im Marſch und zwar groͤßtentheils uͤber ſan-
digthonige duͤrre Steppe und Thaͤler deren botaniſche
Reichthuͤmer nur in Artemiſia beſtand. Je mehr wir
uns dem Tarabagatai naͤhern, je felſiger werden dann
auch unſere benachbarten Berge; einige zeigen ſich in
maͤchtigen uͤber einander liegenden Platten, andere in
ſcharfen Ruͤcken und einige ſchicken ungeheure ſtumpfe
Seitenkeile zu Tage aus. Eine ſich hier findende neue
ſehr ſchoͤne Moluccella die ich quadrangula nenne machte
mir die Hitze und ſchweren Maͤrſche an den Felſen ver-
geſſen. Hier ſind die Ebenen allenthalben voller tſchu-
diſchen Graͤber, die die Goldſucht noch nicht heimgeſucht
hatte, das heißt, ſie waren noch in ihrem urſpruͤnglichen
ganzen Zuſtande: Einige darunter hatten große zwey
Ellen hohe Granitpfeiler, die ſchon abblaͤtterten. Jn-
ſchriften konnte ich daran nicht bemerken. Ein anderes
war mit nicht großen Granitbloͤcken eingefaßt, in wel-
chem aͤußern Kreiſe ſich noch ein kleinerer befand; als-
denn machte das Centrum ein Steinhaufen, worunter
J 2der
[132]Sievers Briefe
der Koͤrper ruhete, der wahrſcheinlich in ſeinem Leben
kein gemeiner Mann geweſen ſeyn mußte. Nicht weit
von dieſen paſſirte ich 2 kirgiſiſche Kirchhoͤfe, davon je-
der 2 Mauſolea, wie vorhin gedacht, in ruſſiſcher Bau-
art hatten. Es ſcheint als wenn die Kirgiſen ſich gern
in der Naͤhe von tſchudiſchen Graͤbern ihre Grabſtaͤtte
waͤhlen. Als wir um 3 Uhr Nachmittags unterhalb dem
Urſprunge des Fluͤßchen Bugaß in der Wolloſt Chara-
girei Chodſhinbet
ankamen, ſo gefiel es meinem Fuͤh-
rer Chaial mich um Erlaubniß zu bitten, hier uͤbernach-
ten zu duͤrfen, um ſeine Freunde zu beſuchen; dieſes
war mir nun freylich nicht ſehr lieb, indeſſen durfte ich’s
nicht abſagen, um mich keinen Verdruͤßlichkeiten aus-
zuſetzen. Denn nun war ich weit von der ruſſiſchen Graͤn-
ze und ganz in den Haͤnden der windigen Kirgiſen.


Dieſem zufolge alſo ließ ich mein Zelt aufſchlagen
und das Mittagseſſen zurichten. Nicht weit von unſe-
rer Wolloſt ſtehet der Sultan Buͤkoͤ, der, als er vor
drey Jahren in Petersburg war, von Jhro Kayſerli-
chen Majeſtaͤt das Patent als Ruſſiſcher Kapitaͤn be-
kam. Unſer Fluͤßchen ernaͤhrt kleine Hechte und Grim-
pen. Achtzig Werſt weiter unten, ohnweit ſeines Ein-
falls in den Noorſaiſſan, in einer Ebene, ſtehet die Chi-
neſiſche Graͤnzwacht, Boͤrroͤ-Taßtagan. Vor mir
habe ich einen merkwuͤrdigen ungeheuern Granitfels,
den Chaſil-Taß (rother Stein).


Jemehr ich mit den Kirgiſen bekannt werde, jemehr
uͤberzeuge ich mich, daß ſie keine Trunkenbolde ſind; ſie
unterſcheiden ſich alſo dadurch von allen uͤbrigen aſiati-
ſchen
[133]aus Sibirien.
ſchen Nomaden. Ohnerachtet ich denen zu mir kommen-
den oͤfters Branntewein darbiete, ſo will doch Niemand
mehr davon, als ſich etwa nur die Lippen zu benetzen, und
dann giebt er das Glas wieder zuruͤck. Mein Fuͤhrer,
der beſtaͤndig ſich nahe an der Graͤnzlinie aufhaͤlt, iſt mit
den ruſſiſchen Kaufleuten ſchon mehr bekannt, alſo auch
ſchon beſſer zum Branntewein gewoͤhnt, denn er trinkt
taͤglich zweymal ſeine Portion, und gaͤbe ich ihm mehr,
ſo wuͤrde ers auch nicht uͤbel nehmen. Vorher habe ich
ſchon geſagt, daß die meiſten Nomaden ihre ſchoͤne
Milch gewoͤhnlich zur ſpirituoͤſen Deſtillation verder-
ben: auch in dieſem unterſcheiden ſich die Kirgiſen; nur
bey beſondern Gelegenheiten oder Feſten geſchiehet es
zuweilen, daß ſie einem geſchaͤtzten Gaſte eine Schale
Milchbranntewein vorſetzen. Aber deſto mehr iſt der
beruͤhmte Kuͤmuͤß oder geſaͤuerte Stutenmilch bey ihnen
gaͤng und gaͤbe: ſie iſt nicht ſehr berauſchend, beſonders
fuͤr einen europaͤiſchen Kopf; aber uͤbrigens ein ſehr heil-
ſames, wohlſchmeckendes, kuͤhlendes und ſaͤttigendes Ge-
traͤnk. Beynahe moͤchte ich behaupten, daß kein anti-
veneriſches Mittel ſich dieſem an die Seite ſtellen koͤn-
ne; wie ich denn weitlaͤuftiger zwey Beyſpiele anfuͤhren
koͤnnte, wo ich ſeine Wunderkraͤfte ſah. Ein ſechswoͤ-
chentlicher Gebrauch davon heilte im erſten Fall einen
durchaus inficirten Koͤrper gaͤnzlich, und im zweyten
Fall eine veneriſche Kraͤtze, die, ohnerachtet aller ange-
wandten Mittel, zwey Jahre ausgedauert und ſich bey-
nahe uͤber den ganzen Koͤrper ausgebreitet hatte. Bey-
nahe bin ich auch uͤberzeugt, dieſes gehoͤre mit unter die
J 3Mit-
[134]Sievers Briefe
Mittel, welche die Schwindſucht heilen. Daher fand
ich auch nirgends bey den Kirgiſen veneriſche Krankhei-
ten, nirgends Blattern, nirgends Ausſchlaͤge auf der
Haut, am allerwenigſten Schwindſuͤchtige: daß ich auf
meiner ganzen Reiſe nur fuͤnf Perſonen ſah, die einen
geringen Ausſchlag hatten, verdient unter der großen
Menge nicht gerechnet zu werden. Die Bereitung die-
ſes vortrefflichen Getraͤnks iſt folgende: Friſche Stuten-
milch z. B. vier Eymer werden in einen ledernen oder
hoͤlzernen hohen Kuͤbel (Butterfaß) unter oft wiederhol-
tem Durcheinanderſchlagen und Miſchen mit einem, wie
in den deutſchen Butterfaͤſſern gewoͤhnlichen hoͤlzernen
Stoͤßel zur ſauern Fermentation ohne weitere Zuthat ge-
bracht. Dieſes geſchiehet innerhalb zwey Tagen, oder
wenn es ſehr warm iſt, in noch weniger Zeit. Jſt ein-
mal dieſer Anfang gemacht, ſo darf man nur alle Tage
das Abgehende durch friſche Stutenmilch erſetzen, und
man wird ſo eine ewige Kuͤmuͤß-Quelle haben. Was
daher in Grens Journal der Phyſik uͤber die Bereitung
des Kuͤmuͤß von einem gewiſſen John Grieve geſagt
wird, iſt wohl nicht ſo ganz tauglich; Kuhmilch gehoͤrt
ſo wenig dazu, wie Schweinefett unter Butter; obſchon
die Baſchkiren und Mongolen ſelbige dazu mit gebrau-
chen. Dieſes geſchiehet aber aus Noth, wenn der Stu-
tenmilch zu wenig iſt.


Beym Untergange der Sonne hatte ich Gelegenheit
einen Kirgiſen ſein Abendgebet verrichten zu ſehen. Er
ſtellte ſich mit dem Geſicht gegen die untergehende Son-
ne, und fieng das Gebet ſingend an, indem er dabey
beyde
[135]aus Sibirien.
beyde Haͤnde an die Ohren hielt und ſie gleichſam zudruͤck-
te; dieſes waͤhrte etwa fuͤnf Minuten, dann murmelte
er fuͤr ſich abermals ein Gebet her, warf ſich dabey oͤf-
ters auf die Knie und mit der Stirn auf die Erde, ſaß
oft lange auf den Knien und ſtreichelte ſich Backen und
Bart, faltete auch zuweilen die Haͤnde, ſtand wieder
auf, kniete abermals nieder, und ſo abwechſelnd waͤhr-
te ſeine Andacht etwa eine halbe Stunde *). Sein Haupt
war mit der ſpitzen Untermuͤtze (Arracktſchin) bedeckt;
die andere weiße groͤßere Filzmuͤtze (Tumack) hatte er
vor ſich liegen. Da die Kirgiſen das ganze Haupt
abſcheeren, ſo nehmen ſie erſtere niemals ab. Uebrigens
verſteht kein Kirgiſe weder zu leſen, noch zu ſchreiben.


Den 29ſten Junii. Wir lagen hier noch bis Nach-
mittag ſtille; ich hatte alſo dadurch Gelegenheit, den vor
mir liegenden, nur eine Werſt entfernten Ch [...]l-Taß
(Rothen-Fels) zu beſuchen. Die Fronte dieſes iſolir-
ten hohen Felſen, der gewiß gerades Weges aus dem
Herzen unſers Planeten heraufſteigt, beſtehet aus zwey
Bergen, die durch ein etwas ſumpfiges, mit einem Fluͤß-
chen verſehenes, grasreiches Thal abgeſchieden ſind; hin-
terwaͤrts aber gegen Suͤdweſt erſtreckt ſich der Fels auf
mehrere Werſte weiter hin. Er beſteht ganz aus derbem
roͤthlichen Granit, der durch die Zeit ſchon in entſetzlich
große Platten und ungeheuer maͤchtige Bloͤcke zum Theil
J 4abge-
[136]Sievers Briefe
abgetrennt iſt. Jn den noch feſt ſtehenden Felswaͤnden
hatten dieſe ausgefallenen Bloͤcke ſo regulaͤr runde Loͤcher
nachgelaſſen, als wenn ſie eigentlich von Steinmetzen
ausgehauen geweſen waͤren. Hier niſten die bey den
Kirgiſen ſo ſehr geſchaͤtzten Jagdadler (Berkut), welcher,
wenn er zur Jagd abgerichtet iſt, zuweilen mit 2 — 3
Pferden (80 Rubl.) bezahlt wird. Steinboͤcke (Capra
Ibex)
ſind gleichfalls hier nicht ſelten, welches mir ein
ſehr großes abgeworfenes Horn bewies, das mir beym
Botaniſiren aufſtieß. Goͤttin Flora belohnte meine Muͤ-
he diesmal ſehr reichlich. Jch hatte hier Gelegenheit
die in Sibirien noch nie geſehene Lonicera Alpigena
recht genau zu beobachten. Jch fand davon mehrere bis
anderthalb Faden hohe Baͤumchen. Aus den Felſenriz-
zen im Schatten wuchs die ſchoͤne weißbluͤhende Aquile-
gia viſcoſa;
das uͤbrige war Acroſtichum ſeptentriona-
le, Juniperus lycia, Hyſſopus officinalis, Ziziphora
capitata, Dictamnus albus, Ephedra polygonoides,
Pall.
welche Staͤmme von einem Zoll im Durchmeſſer
hatte, dergleichen ich an keinem Orte vorher nie geſehen
habe. Das Holz von der Lonicera Alpigena iſt Politur-
faͤhig, hat ſchoͤne braͤunliche Schattirung, und riecht wie
friſch abgeſchaͤumter Honig; die Beeren ſind gelb und
ein heftiges Brechmittel. Aber eine Menge Bremſen,
Moſchki und Muͤcken, ſo wie eine unertraͤgliche Hitze
erſchwerten mir auch ſehr meinen ſchoͤnen Spaziergang.
Bey meiner Zuruͤckkunft machte ich Anſtalt zur Abreiſe,
welche um 4 Uhr auch geſchah.


Ehe
[137]aus Sibirien.

Ehe ich dieſen Brief ſchließe, will ich noch des Obern
oder Aelteſten in der Wolloſt, wo wir eben jetzt waren,
gedenken. Er war ein Mann von 87 Jahren, Namens
Sarembet, ſeine Frau von 81 Jahren, und alle beyde
friſch und munter. Mit zwey Weibern hatte er funfzehn
Kinder gezeugt, von welchen wiederum eine Menge
Kindeskinder entſproſſen waren; ſo daß dieſe einzige
nicht kleine Wolloſt aus einer Familie beſtand. Man
konnte den Alten nicht unrecht einen zweyten Patriarchen
Abraham nennen, er war reich an Kindern, Kindeskin-
dern, großen Heerden von Kameelen, Pferden, Schaa-
fen, Ziegen, Kuͤhen und Ochſen. Es fehlte dem Sa-
rembet weiter nichts, als beſſere Augen, die anfiengen
ſchwach zu werden. Dies iſt indeß eine Schwaͤche, die
allen alten Kirgiſen eigen iſt; im Winter, wo ihre Jur-
ten genauer verſchloſſen ſind, leiden die Augen vom
Rauch, und im Sommer vom Sonnenſchein auf der of-
fenen heißen Steppe.


Wir paſſirten, nachdem wir von unſern alten Wir-
then Abſchied genommen hatten, zwey neue hoͤlzerne
Grabhaͤuschen, und ſetzten dann unſern Weg weiter
uͤber duͤrre, meiſt Schieferberge und Steppe fort. Der
Chaſil-Taß blieb uns zur Rechten, und der Tuͤoͤ-
Moinock
(Kameelhals), ein langer kahler Berg, zur
Linken. Das Nachtlager nahmen wir ohnfern des Ur-
ſprungs des Fluͤßchen Bugaß, wo ich noch vor Schla-
fengehen das Vergnuͤgen genoß, ein neues Cynogloſſum
(viridiflorum) zu entdecken. Jch habe die Ehre zu
ſeyn ꝛc.


J 5Eilfter
[138]Sievers Briefe

Eilfter Brief.



Sehr fruͤh giengs weiter uͤber Huͤgel und Steppe,
welche hin und wieder in großen Stellen mit Alcali mi-
nerale
ausbluͤhete. Die Hitze war entſetzlich, nirgends
ein Baͤumchen, wo man haͤtte zu Schatten kriechen koͤn-
nen. Vor uns hatten wir das hohe Felsgebirge Bor-
Oepkoͤtoͤ.
Am Fluͤßchen Dſhingiskoͤ, das zwar al-
lezeit lehmiges, truͤbes, aber doch kuͤhles, wohlſchmek-
kendes Waſſer hat, hielten wir Mittagsruhe. Unſere
Laſtthiere fanden hier vortreffliches Futter; unſer Fluͤß-
chen faͤllt ſuͤdweſtlich in den See Balkaſch. Waͤhrend
das Eſſen gekocht wurde und Mann und Thiere ausru-
heten, machte ich, ohnerachtet der Hitze, eine botani-
ſche Excurſion zu einigen nicht ſehr entfernten Talk-
Schiefer Huͤgeln. Auf dem Wege dahin uͤber Salz-
ſteppe fand ich die ſeltene Statice argentea Pall. und Sta-
tice reticulata?
Die Huͤgel prangten mit Anabaſis cre-
tacea
und aphylla. Der blaͤuliche Talkſchiefer gieng zu
Tage aus, ſo wie ebenfalls hin und wieder weißer Gra-
nit, der deswegen aus vielem Feldſpath und ganz wenig
Glimmer beſtand. Zwey gemeine kirgiſiſche Grabhuͤ-
gel waren hier, Jurten aber nirgends zu ſehen. Jch
kehrte darauf vergnuͤgt zu meinen Begleitern zuruͤck, und
wir verließen, nach verzehrter Mahlzeit, um 4 Uhr unſer
fiſchloſes Fluͤßchen. Wir paſſirten immerfort viele Huͤ-
gel, die mit Schiefer und Felswacke zu Tage auskeil-
ten. Am Fluß Ajoguͤß, in einem angenehmen, nicht
großen,
[139]aus Sibirien.
großen, grasreichen, kuͤhlen Thale fanden wir ein erquik-
kendes Nachtlager. Der Ajoguͤß iſt zwey bis drey Fa-
den breit, ſchnellfließend, hat ſchoͤnes helles Waſſer, und
naͤhrt viel Taimeni, Hechte und Schmerlen, die uns ein
wohlſchmeckendes Abendeſſen lieferten. Der Fluß ſelbſt
fließt dem Tarabagatai vorbey, und faͤllt weſtlich in den
Balkaſchſee; ſeine Ufer ſind mit einigen gemeinen Fluß-
weiden geziert.


Den 1ſten Julii. Jch verließ noch vor Sonnenauf-
gang mein ſchoͤnes Thal; wir erhoben uns allmaͤhlig
uͤber Huͤgel und ſchoͤne Wieſen ins hohe Gebirge laͤngſt
dem Ajoguͤß hinauf, bis an einen ſeiner Urſprungs-
quellen, wo wir ihn alsdann verließen; den Bor-Oep-
koͤtoͤ
zur Linken habend. Jn einem anmuthigen Thale
ſtand die Wolloſt Charagirei-Baidſhiget-tau-koͤ.
Wenn Sie einmal in dieſen Gegenden reiſen werden, ſo
nehmen Sie ja niemals die hier angefuͤhrten Wolloſten
als Wegweiſer an; denn die Kirgiſen ſtehen ſelten lan-
ge an einem und demſelben Orte. Jn der hier ſtehen-
den Aul ſind zwey Gebruͤder Sultane Dſhaideck und
Sſuͤck die Oberbefehtshaber. Charagirei iſt der Haupt-
mann von mehr wie acht Wolloſten, die davon ſo viele
Unterabtheilungen machen; ſie haben mehrere Sultane
in ſich. Man verſicherte mir hier, daß wahre Rhabar-
ber in der Naͤhe wachſe; ich ſchickte ſogleich dahin, aber
man brachte mir das gewoͤhnliche Rheum Sibiricum
Pall.
Hiermit und einigem Tauſchhandel gieng die Zeit
verloren, ſo daß ich erſt um 6 Uhr Abends weiter rei-
ſen konnte. Jch erreichte wenigſtens doch meinen Zweck,
nahe
[140]Sievers Briefe
nahe am Fuß des Tarabagatai uͤbernachten zu koͤnnen,
und zwar an einem zweyten Urſprungsquell des Ajoguͤß.
Der guten Weide wegen waren hier viele Jurten, aus
welchen man mir ein dreyjaͤhriges Kind mit einem bis
oben an gelaͤhmten Beine zur Kur brachte. Da ich die
zu einer ſolchen Kur gehoͤrigen Arzeneyen nicht bey mir
hatte, ſo konnte ich auch hierbey ſehr wenig helfen, in-
deß, um die Leute doch nicht troſtlos von mir zu laſſen,
ſo hieß ich der Mutter die friſchen Blaͤtter der Achil-
laeae Millefolii
und der Artemiſiae rupeſtris maximae
zu Brey ſtoßen, und das Bein taͤglich einmal friſch da-
mit zu bewinden, anbey verordnete ich den Saft der
Schaafgarbe zu trinken. Ob mein Rath von guten Fol-
gen ſeyn wird, vermag ich nicht zu beſtimmen, denn
wahrſcheinlich ſehe ich dieſe Leute nicht wieder. — Wer
ſich mit allerley Medicamenten verſorgt, und dieſe her-
nach, bey dem Gebrauch, mit etwas Scharlatanerie be-
gleitet, der kann ſich nicht allein bey den Kirgiſen ſehr
in Anſehen bringen, ſondern auch noch ein artiges ver-
dienen. Uebrigens gieng hier ein gruͤnlicher Porphyr
mit weißlichem Feldſpath zu Tage hin und wieder aus.


Den 2ten Julii. Kaum brach der Tag an, ſo ließ
ich ſchon wieder aufpacken. Noch hatten wir 4 Werſte
Steppe, Huͤgel und Wieſen zu paſſiren, ehe wir wirk-
lich anfiengen den Tarabagatai zu beſteigen; welches aber
fuͤr unſere Kameele keine geringe Arbeit war. Mehr wie
ſechsmal mußten wir Halte machen, um die ermuͤdeten
Thiere ausruhen zu laſſen. Waͤhrend dieſem Aufent-
halte lief ich in den reichen Bergwieſen umher, wo ich
meine
[141]aus Sibirien.
meine Muͤhe ſehr wohl bezahlt erhielt. Es prangten hier
verſchiedene Arten Aſtragalus,


Hedyſarum,


Trollius aſiaticus. Papaver alpinum oder nudi-
caule,


Veronica,


Dracocephalum grandiflorum und pinnatum in
außerordentlich kleiner Geſtalt,


Viola grandiflora,


Campanula,


Aſter,


Erigeron gramineum,


Ceraſtium,


Lamium album, Leontodon Taraxacum, Ranun-
culus nivalis, Scrophularia,


Dianthus plumarius, Tragopogon, u. m. andre.


Uebrigens faͤngt dieſes hohe Gebirge ohne Wal-
dung beym See Allaguͤll in Suͤden unter dem 45ſten
Grad Norderbreite an, und erſtreckt ſich nordoſtlich ge-
gen den obern Jrtiſch, wo es ſich mit dem Altaiſchen Ge-
birge vereinigt. Alle Bergruͤcken deſſelben hier ſind
Granit von feiner Textur, wie Sandſtein, andere von
grobem Gewebe, grauer, uralter Schiefer in ſehr dicken
Tafeln, Porphyr zuweilen mit Kupferanflug, gewiß et-
was ſeltenes in einer ſolchen Hoͤhe, und grauer Jaſpis-
aͤhnlicher Hornſchiefer, die insgeſammt oben und an den
Seiten in verſchiedenen, theils wunderlichen Figuren, als
Saͤulen, Troͤge, blaͤttrigen Geſchiebe, theils einzeln in un-
geheuern Aggregaten zu Tage ausgehen. Hin und wie-
der
[142]Sievers Briefe
der zerſtreute mit wellenfoͤrmigen Figuren ungeheure
graue Jaſpisbloͤcke, die ein Serpentinſteinartiges Anſe-
hen hatten. Der großen Menge Schnee wegen, die
allenthalben oben unter den Felſenwaͤnden und in den
Vertiefungen herum lag, waren hier, bey ſo heiterm
Himmel und ſtillem Wetter, keine Bremſen, Muͤcken
und Moſchki zu ſpuͤren. Es iſt der herrlichſte Sommer-
aufenthalt von der Welt und eine majeſtaͤtiſche Ausſicht;
was ich unten in der Steppe fuͤr große Berge anſah, lag
nun in liliputiſcher Geſtalt zu meinen Fuͤßen, die groͤßte
Ferne verlor ſich in blaulichem Nebel. Vor mir, mit
dem Tarabagatai an Hoͤhe gleichſam um die Wette
ſtreitend, erhob ſich der roͤthliche, maͤchtige Bor-Oep-
koͤtoͤ,
ein aus lauter derbem Granit beſtehender nackter
Fels, wie der Chaſil-Taß, der aber doch an Hoͤhe er-
ſterm nachgeben mußte, freylich nur um ein Weniges.
Jndeſſen ein ſonderbarer Kontraſt zwiſchen dem mit vor-
trefflichem Gruͤn bedeckten Tarabagatai und dem nahe
gegenuͤber gelegenen traurigen Boroͤpkoͤtoͤ. Jch wurde
beynahe unwillig, als mir der Koſak mein Pferd brach-
te und eilen hieß, indem die Carawane ſchon weit vor-
geruͤckt war; ungern verließ ich meinen hohen Stand-
punkt. Unſer Weg gieng nun wiederum etwas abwaͤrts,
durch hohe Thaͤler, Wieſen und uͤber Huͤgel, bis an das
in den Noor-Saißan fallende Fluͤßchen Baſar, an deſ-
ſen Urſprung in einer Bergwieſe mit ſchoͤner Weide wir
unſer Lager nahmen. Waͤhrend dieſem Marſche begeg-
neten uns ganze Zuͤge von Bergkirgiſen der großen
Horde, die dahin zogen wo wir herkamen. Hier muß
ich
[143]aus Sibirien.
ich indeß um Verzeihung bitten, wenn ich zu ſchwach
bin, um das Gemaͤhlde zu ſchildern, was ſich mir dar-
bot. Stellen Sie ſich ein ſo hohes Gebirge vor, allent-
halben umher die ſonderbaren Gegenſtaͤnde, die Felſen,
Schnee, Wieſen, von den Spitzen herabrieſelnde Baͤ-
che; dann große Heerden zweybucklichter Kameele, an-
dere mit der Equipage der Kirgiſen beladen; Heerden
von Ochſen, Kuͤhen, Schaafen, Pferden; Maͤnner,
Weiber, Maͤdchen, Kinder, alle in ſonderbarer, ganz
von europaͤiſcher abweichender Kleidung, und ſo haben
Sie eine dunkle Vorſtellung davon. Die Maͤdchen und
Weiber ſangen Lieder, einige der letztern kamen zu uns
und forderten Toback. Jch gab gern alles, was ich hat-
te, dieſen wild ausſehenden, aber freundlichen Kirgiſen.
Jch kann in keiner Sprache den damaligen Zuſtand mei-
ner Seele ſchildern: ein gewiſſes Etwas, mir ganz un-
erklaͤrbares, ruͤhrte mich dermaßen, daß ich wie verſtei-
nert auf meinem Pferde ſaß! — Verdammt, rief ich
mit Extaſe aus, verdammt und verflucht ſeyen alle chriſt-
lich-europaͤiſche Moden, Bon ton, Etiquette, Tanz-
meiſter, Friſeurs und Narren, und ritt weiter. — Rund
um unſer Lager her war’s erſt Fruͤhling: Pflanzen, die
um Barnaul, Uſtkammenogorsk, und in aͤhnlicher Lage
ſchon laͤngſt verbluͤht hatten, fiengen hier nur an ihre
Blumen zu entwickeln. Nachmittags, indem ich ſitze
und meine botaniſchen Reichthuͤmer in Ordnung bringe,
fliegen große Habichte (Falco Milvus, Kirg. Keß-
Guirock
) herzu und holen mir die von der Mittags-
mahlzeit uͤbrig gebliebenen Knochen von der Seite weg.
Sie
[144]Sievers Briefe
Sie werden von den Kirgiſen zur Jagd auf kleineres
Wildpret abgerichtet. Ohnerachtet der Hoͤhe iſt die
Sonne im Mittag doch fuͤhlbar genug. Nach einiger
Ruhe gieng ich mit ſechs Begleitern, etwa 2 Werſt ſuͤd-
lich, auf den hoͤchſten Gipfel des Tarabagatai, um eini-
germaßen das jenſeitige Land zu uͤberſehen, wo beſon-
ders am Fluſſe Uldſhar eine von den neuen Rhabar-
berarten waͤchſt. Wie ich droben war, hatte ich eine
aͤhnliche herrliche Ausſicht, wie vorher erwaͤhnt, nur we-
niger bergig. Es zeigte ſich nehmlich in einer faſt un-
abſehlichen Ebene der See Allaguͤll, der Fluß Uld-
ſhar,
welcher ſeinen Urſprung zu unſern Fuͤßen nahm;
in Suͤden das hohe ſich nicht ſehr ausbreitende Gebirge
Allatau, und in Oſten die chineſiſche Graͤnzfeſtung
Tſchigatſcheck, hinter welcher eine lange, bewaldete,
gegen Norden laufende Bergkette, Tochta, ſich weg-
ſtreckt. Uebrigens bemerkte ich in dieſer großen Ebene,
außer laͤngſt dem Uldſhar, weder Waldung noch Jur-
ten. Nachdem ich nun meine gehoͤrigen Maaßregeln ge-
nommen hatte, beſchloß ich den kommenden Tag in dieſe
neue Welt hinab zu ſteigen: einſtweilen aber examinirte
ich Florens hieſige Schaͤtze. Viola grandiflora caeru-
lea et ochroleuca, Gymnandra borealis Pall. Draco-
cephalum grandiflorum et altaicum, Potentilla nivea,

und andere ſchoͤne Alpengewaͤchſe, zierten die mit ſchwar-
zer fruchtbarer Erde bedeckten Koppen. Iuniperus lycia
war hier kriechend und von einer ſo ungeheuren Dicke,
dergleichen ich nie vorher geſehen hatte: ich ließ einen
Stamm
[145]aus Siberien.
Stamm aushauen, der mir Bretter von ſieben engliſchen
Zollen im Durchmeſſer lieferte.


Eine Menge Kirgiſen wohnen hier allenthalben her-
um, welche die Sommermonate, theils der Kuͤhle we-
gen, theils des gaͤnzlichen Mangels an allerley ſtechen-
den Jnſekten, der vortrefflichen Weide und des ſchoͤnen
Waſſers wegen, hier vergnuͤgt zubringen. Waͤhrend die-
ſer Zeit werden die Futterkraͤuter in den Steppen eini-
germaßen zum Winter geſchont; denn vom Heumaͤhen
und uͤbrigen in Europa gebraͤuchlichen Vorraͤthen fuͤrs
Vieh weiß der Kirgiſe nichts. — An der gegen Suͤden
gekehrten Seite dieſes hohen Gebirges war durchaus
kein Schnee zu ſehen. Nach meiner Ruͤckkunft bey mei-
nem Troß fand ich ein wohlſchmeckendes Abendmahl,
legte mich zur Ruhe, und gieng den 3ten Jul. fruͤh mit
Sonnenaufgang in Begleitung meines Fuͤhrers Chaial,
noch eines andern Kirgiſen und drey bewafneter Arbeiter
uͤber einige Huͤgel hinauf, ſodann ließen wir uns, in-
dem wir einige Quellbaͤche des Uldſhars paſſirten, den
Berg hinunter, welches aber, beſonders bey der Hitze,
eine abſcheuliche Arbeit war. Etwa anderthalb Werſt
mußten wir zu Fuß die Pferde zur Seite fuͤhrend, ſteil
wie eine Wand im Granit und Schiefergeruͤlle hinab
ſteigen, nachher folgte noch ein jaͤher Weg von mehr als
6 Werſt. Jch begreife nicht, wie die wandernden Kir-
giſen mit ihren beladenen Kameelen hinauf kommen,
und doch geſchiehts! Dieſes muͤhſame Herabſteigen wur-
de durch einige ſchoͤne Pflanzen, einen dem Cicer arie-
tinum
aͤhnlichen Lathyrus, Polygonum humifuſum,
KScro-
[146]Sievers Briefe
Scrophularia, die hier hin und wieder wuchſen, ver-
ſuͤßet. — Etwa in der Mitte dieſes Weges ſtießen wir
in einer engen Kluft auf 10 kirgiſiſche Raͤuber, welche
mit langen Piken und Saͤbeln verſehen waren; ſie be-
ſchaueten uns aufmerkſam, ſobald ſie aber unſere in gu-
tem Stande ſeyenden Waffen ſahen, wurden ſie ſehr
freundlich; wir geriethen ins Geſpraͤch, rauchten Toback
mit einander, und nahmen ganz friedlich von einander
Abſchied. Dieſe Kirgiſen kommen hinter dem etwa 50
Werſt entfernten Allatau her; die Ruſſen nennen ſie die
wilden, ſie gehoͤren eigentlich zu der großen Horde, und
ziehen oͤfters gegen die mittlere oder Kaſatſchia Horda
aus, um Pferde, Kameele, Ochſen, Kuͤhe u. ſ. w. zu
rauben. Letztere, um ſich zu raͤchen, machen es denn
eben ſo wieder gegen jene. Jch moͤchte mir gern die
Frage beantworten laſſen, warum doch unter allen Ge-
ſchoͤpfen in dieſer Welt beſtaͤndige Uneinigkeit und Krieg
herrſchet? — Die Kirgiſen gehoͤren mit unter die freye-
ſten natuͤrlichſten Nationen auf dem Erdboden, ſind
warlich im Grunde gutmuͤthige Leute, und haben viele
ganz geſunde, vernuͤnſtige Geſetze unter ſich. Warum
ziehen dieſe Geſchoͤpfe denn nun gegen ihre Sprach-,
Glaubens- und Blutsverwandte aus, nicht um todtzu-
ſchlagen, denn fuͤrs ſterben fuͤrchten ſie ſich außerordent-
lich, ſondern um ſich nur einander ſo geheim als moͤg-
lich das Vieh wegzutreiben? Beynahe dieſe Diebereyen
allein beſchaͤftigen die kirgiſiſchen Rechtsgelehrten.
Kommt eine Streitſache vor, ſo richtet gewoͤhnlich der
Aelteſte oder mehrere derſelben aus der Aul: ſind die Kla-
genden
[147]aus Sibirien.
genden mit dem richterlichen Ausſpruch nicht zufrieden,
ſo gehen ſie zum naͤchſten Sultan, der denn gewiß das
Finale gar bald und oͤfters gebieteriſch genug ausſpricht.
Vorerwaͤhnter Sarembet war im allgemeinen Ruf ſei-
ner vernuͤnftigen Richtſpruͤche wegen. Faſt niemals ge-
hen die ſtreitenden Partheyen unzufrieden von ihm weg.
Furchtſamkeit iſt der Kirgiſen Hauptkarakter; ſo wild
und unbaͤndig ſie gegen unbewehrte, beſonders Fremde
ſind, wenn ſie es ſich nehmlich einfallen laſſen, Beleidi-
gungen auszutheilen, ſo feig ſind ſie gegen herzhafte, mit
Gewehr ausgeruͤſtete Leute. Die geringſte Furcht hat
boͤſe Folgen. Der Kirgiſe iſt kein Moͤrder oder determi-
nirter Straßenraͤuber, deswegen ſieht er ſich wohl vor,
mit wem er zu thun hat. Schießgewehr findet ſich bis
jetzt noch ſehr wenig bey ihnen.


Als ich an den Fuß des Berges kam, erfreute mich
Goͤttin Flora mit einem Wald der ſchoͤnſten Zwerg-
aͤpfelbaͤume,
die hier am Uldſhar zu beyden Seiten
wild wuchſen; ich vergaß Muͤdigkeit, Hitze, Steinge-
ruͤlle und alles, fuhr wie ein Wahnſinniger unter die
annoch unreifen Aepfel und ließ mirs gut ſchmecken.
Verzeihen Sie mir dieſe Ausgelaſſenheit, Sie wiſſen
ja, daß ich in einem Aepfellande gebohren bin; ſeit mei-
nem vierjaͤhrigen Aufenthalte in Sibirien habe ich keine
andern Baumſruͤchte gekoſtet, als die des jenſeit dem
Baikal wachſenden Pyrus baccata, welche man dort als
Confekt zum Nachtiſch mit geſtoßenem Zucker aufſetzt
und ſo mit Theeloͤffeln ißt. Meine jetzt gefundenen Ae-
pfel aber waren gutes weinſaͤuerliches Tiſchobſt, die hier
K 2in
[148]Sievers Briefe
in ihrem wilden Zuſtande ſchon die Groͤße eines Huͤh-
nereyes erlangen, und haben rothe und gelbe Backen.
Jhr kirgiſiſcher Name iſt Almà. Beynahe moͤchte ich
dieſen Pyrus fuͤr neu ausgeben. — Arbor orgyalis
ſaepeque biorgyalis, plures trunci ex eadem radice.
Foliis ſubtus tomentoſiusculis ovatis, floribus umbel-
latis.
— Drey ſibiriſche Bauern, die bey mir waren,
wunderten ſich um deſto mehr, ſie hatten von ihren Vaͤ-
tern, die aus Kleinrußland und Pohlen kamen; oͤfters
der daſelbſt haͤufig wachſenden Aepfel erwaͤhnen hoͤren,
aber nie ſelbſt welche geſehen. Dem ſey nun wie ihm
wolle, ſo zweifele ich gar nicht an dem guten Fortkom-
men meiner tarabagataiſchen Aepfel in Sibirien, beſon-
ders um Uſtkammenogorsk, wo der Boden und das Cli-
ma dem hieſigen am aͤhnlichſten iſt; wenn es hoͤhern Orts
der Aufmerkſamkeit gewuͤrdigt wuͤrde, ſo koͤnnten die ſi-
biriſchen Einwohner bald Fruchtgaͤrten haben und ihre
elgen erzogene Aepfel eſſen, welches bisher noch keinem
gelungen iſt.


Wir giengen, von einigen Donnerwettern uͤber un-
ſern Haͤuptern begleitet, nun immer laͤngſt dem allmaͤh-
lig breiter werdenden Uldſhar fort, indem wir ihn etli-
che male durchritten. Er fließt ſchnell genug uͤber ge-
woͤhnliche abgerundete Flußkieſel. Seine Ufer ſind mit
Populus balſamifera und Salix alba von ungeheurer Hoͤ-
he und Dicke (beſonders letztere) geziert, hin und wie-
der bemerkte ich noch Rhamnus catharticus, Crataegus
foliis inciſis, pinnatis vel lobatis, Spiraea.


Jemehr
[149]aus Sibirien.

Jemehr ich mich vom Tarabagatai entfernte, deſto
mehr wird das Land reicher an geilwachſenden Pflanzen
und verſchieden vom ſibiriſchen. Alles ſchien mir ein
ganz anderes Anſehen zu haben. Jch ſah hier ſeit mei-
ner Abreiſe aus Moſcau zum erſtenmate wieder Conium
maculatum
und Cichorium Intybus. Eine ſehr ſchoͤne
dem Aſtragalus chriſtianus, und eine andere dem Aſtra-
galus alopecuroides
aͤhnliche Gattung, und der Linnéi-
ſche piloſus prangten in ihren beſten Feſttagskleidern.
Waͤhrend wir uns zum Mittagsplatze naͤherten, ſtießen
wir auf Ackerland, wo ein einziger Kirgiſe ein mit Wei-
zen und gelber Hirſe (Panicum miliaceum) angeſaͤetes
Stuͤck Land vermittelſt Kanaͤle waͤſſerte. Der Acker war
wie gewoͤhnlich an einem kleinen Fluͤßchen mit fettem
und ſchwarzem Erdboden, nur war das Korn mit andern
nicht dazu gehoͤrigen, beſonders der Gypſophila pani-
culata
gleichſam uͤberſchwemmt. Wenn das hieſige Erd-
reich davon fleißig gereinigt und gehoͤrig bearbeitet wuͤr-
de, ſo koͤnnte man hier mit dem beſten Nutzen Reiß,
Baumwolle, Mays, Lein, Kartoffeln, Melonen, Ar-
buſen u. ſ. w. erzielen, vielleicht wuͤrde auch der Wein-
bau gedeihen. Bis jetzo finde ich den Ackerbau noch in
ſeiner Kindheit, aber da den Kirgiſen doch das nach her
gewonnene Korn ſehr angenehm iſt, ſo zweifele ich gar
nicht, daß ſie mit der Zeit nicht eben ſo gute Feldbebauer
werden ſollten, wie meine Landsleute. Unter dem Schat-
ten von 6 hohen weiſſen Weiden und in dem nicht ſehr
angenehmen Duft von Mannshohem dicht geſaͤetem
Conium maculatum am Uldſhar, gaben wir Pferd und
K 3Mann
[150]Sievers Briefe
Mann Ruhe, und kochten das Mittagseſſen. Jch glaub-
te dieſes mit friſchen Fiſchen zu vermehren, aber die Leu-
te kamen mit leeren Netzen vom Uldſhar wieder zuruͤck.
Es ſcheint als wenn dieſer Fluß arm an Fiſchen iſt. Jn
dieſer großen Ebene wohnen die Kirgiſen waͤhrend der
Sommermonate, wegen der haͤufigen Bremſen, Muͤcken
und Moſchki, nicht; ſobald aber der Herbſt eintritt und
das erwaͤhnte Ungeziefer ſich anfaͤngt zu verlieren, ſo
wird auch dieſe kraͤuterreiche Steppe wiederum bewohnt.
Mein erſtes Nachtlager im Schilf am Uldſhar machte,
daß ich alle Geduld verlohr; kein Auge konnte ich zu-
thun, ſo muͤde und ſchlaͤfrig ich auch war; die in der
Hoͤlle erſchaffenen und vom Teufel auf unſere Welt her-
abgeſandten Muͤcken und ihre Genoſſen ſchienen unter
ſich zu wetteifern, welche uns am beſten plagen koͤnnten.


Den 4ten Jul. Heute, nach elend hingebrachter
Nacht, giengen wir, wie leicht zu denken, ſehr fruͤh wei-
ter, und paſſirten 6 Werſte von dem durch die Muͤcken
verurſachten blutigen Lager das Fluͤßchen Jgenbalack,
welches in den Uldſhar faͤllt. Nachdem wir etwa 5
Werſte weiter ſuͤdlich geritten waren, ſo zeigte ſich dann
die ſo ſehnlich gewuͤnſchte Rhabarber, weswegen ich
dieſe Reiſe eigentlich unternommen hatte. Ob es die
vom Ritter Pallas bey Aſtrachan gefundene Steppen-
Rhabarber iſt oder nicht, will ich dahin geſtellt ſeyn laſ-
ſen, wenigſtens ſtehet ſie nicht in der neueſten Ausgabe
des Linnéiſchen Pflanzenſyſtems von Reichard und von
Murray herausgegeben. Jch nenne es indeſſen Rheum
cruentum
.
Was den Wuchs und das Anſehen anbetrift,
ſo
[151]aus Sibirien.
ſo kommt ſie mit dem vorher erwaͤhnten Rheo nano faſt
ganz uͤberein. Allein die Wurzel iſt viel dicker, Ruͤben-
foͤrmig, feſt, inwendig braun und wie der wahre Rhabar-
ber gemarmelt, und von einem zuſammenziehenden Ge-
ſchmack. Die Saamen ſind groͤßer und mehr gefluͤgelt.
Das Erdreich, worin ſie waͤchſt, iſt Thonerde mit feinem
Sande vermiſcht, und hin und wieder bemerkte ich alka-
liſch-ſalzigen Beſchlag. Waͤhrend dem, daß ich einige
Wurzeln ausheben und die ſchon uͤberreifen Saamen
ſammeln ließ, gieng ich mit einem Schuͤtzen weiter her-
um, um nun noch die uͤbrigen Pflanzen zu unterſuchen,
welche folgende waren: Roſa berberifolia*), Stellera
Paſſerina, Phlomis lanigera, Ferula grandis et arenaria,

alles neue Gattungen. Der trockene Boden und die
große Hitze hatten aber ſchon den meiſten Pflanzen ihre
Schoͤnheit benommen, ja einige davon hatten ſchon rei-
fe Saamen.


Jch waͤre nun gern noch zu dem nur etwa 20 Werſt
entlegenen See Allaguͤll gezogen, haͤtte gern, trotz aller
ſtechenden Jnſekten und Hitze, noch einige Tage hier zu-
gebracht; aber meine kirgiſiſchen Fuͤhrer, denen Florens
Schaͤtze nicht ſo angenehm waren, wie mir, wollten ſich
durchaus nicht weiter uͤberreden laſſen, oder ich haͤtte dann
K 4muͤſſen
[152]Sievers Briefe
muͤſſen mehr bezahlen, als meine dermalige Lage es er-
laubte. Jch war alſo genoͤthigt wieder umzukehren, und
dieſe hoͤchſt merkwuͤrdige Gegend zu verlaſſen; bey wel-
cher Gelegenheit es jedoch nicht an den abſcheulichſten
Verfluchungen aller Muͤcken, Moſchki und Bremſen
fehlte, denn dieſes infernaliſche Geſchmeiß war allein die
Urſache unſerer Ruͤckkehr. Unſere Pferde trieften von
Blut; meine Begleiter ſchwammen im Schweiß, in-
dem ſie ſich vermittelſt Geſtraͤuch der Jnſekten erwehr-
ten. Jch kam noch am beſten dabey weg, indem ich ei-
nen flornen Schleyer vor dem Geſicht trug. Sollte ich
dieſe Reiſe noch einmal unternehmen, wozu ich ganz und
gar nicht abgeneigt bin, ſo habe ich nun erfahren, daß
fuͤr jeden mitzunehmenden Menſchen ſolche Bedeckungen
unumgaͤnglich noͤthig ſind.


So war ich dann bis auf dem 45ſten Grad noͤrdli-
cher Breite gekommen; die Feſtung Tſchigatſcheck
lag mir etwa 40 Werſt nordoſtlich, alſo ſchon ruͤckwaͤrts;
ſechs Tagereiſen weiter ſuͤdoͤſtlich iſt die chineſiſche Gou-
vernementsſtadt Jlaͤn, Kirgiſiſch Guldſha-Chaineck,
auf Ruſſiſch Bai-inda, am Fluſſe Jlaͤn; Taſchkiner,
Bucharen, Kirgiſen und Kalmuͤcken handeln hier. Mei-
ne eigentliche Abſicht war, noch vorwaͤrts uͤber dem Al-
latau
zu der großen kirgiſiſchen Horde oder den ſoge-
nannten wilden Kirgiſen zu reiſen; aber es fehlte an ge-
nugſamen Waaren. Denn in dieſer Horde koſten die
Fuͤhrer viel Geld, indem keiner weiter als aus einer Wol-
loſt in die andere mitgehet, und da man immer die vor-
nehmſten zu Fuͤhrern waͤhlen muß, ſo ſind ihre Forde-
rungen
[153]aus Sibirien.
rungen auch deſto hoͤher geſpannt. Um aber doch meine
noch bey mir habenden Waaren nicht wiederum unnuͤtzer
Weiſe nach Uſtkammenogorsk zuruͤck zu ſchleppen, ſo wur-
de beym Mittagseſſen, um 4 Uhr Nachmittags, am Uld-
ſhar großer Rath gehalten, wobey das Finale da hin-
aus fiel, daß wir eine Expedition zum Noor-Saiſſan,
ſodann zum obern Jrtiſch ſo weit ins chineſiſche Reich
unternehmen wollten, wie ſichs thun ließ. Geſagt, ge-
than! wir wiſchten uns den Schweiß vom Geſicht, bade-
ten uns im Uldſhar, und zogen ſodann wiederum dem
Tarabagatai zu. Waͤhrend deſſen wurden einige Saigi
angeſchoſſen, aber nicht gefangen. Des guten Graſes
wegen mußten wir abermals das Nachtlager an eben ge-
dachtem Fluſſe nehmen, wo aber die Muͤcken den guͤld-
nen Schlaf, den Troͤſter in Beſchwerden, weit von uns
jagten. Dieſes, die Hitze des Tages, das Reiten und
das Botaniſiren erſchoͤpften meine Kraͤfte dermaßen, daß
auch nicht einmal der Schlag einiger ſpaͤter Nachtigal-
len und das Girren der wilden Tauben viel Eindruck
auf mich machten.


Den 5ten Jul. Jndeſſen geſchlafen oder nicht; wir
verließen unſer verdammtes Lager noch vor Sonnenauf-
gang. Es ſtand ein nicht hoher, einzelner, kahler Huͤgel
etwa 40 Werſte NO. vor uns, dieſen, den die Kirgiſen
Dſhaj-Tuwaͤ nennen, wollte ich ſehen. Wir ritten alſo
durch den Uldſhar darauf zu. Waͤhrend dem Marſche
paſſirten wir viele und einige wahrſcheinlich recht vor-
nehme tſchudiſche Graͤber, und eine mit Erdwaͤllen um-
gebene verlaſſene Feſtung, bey welcher zwiſchen den
K 5Chi-
[154]Sievers Briefe
Chineſen und denen Anno 1770 oder 71 von Aſtrachan
entflohenen Kalmuͤcken eine Schlacht vorgefallen ſeyn
ſoll. Jetzt wohnen noch zahlreiche Reſte dieſes Volks in
guter Ruhe theils um den Urſprung der Fluͤſſe, aus de-
ren Vereinigung der obere Jrtiſch entſtehet, theils an
den Fluͤſſen Boro-tall und Gandſhagà. Sie ſtehen,
nebſt denen am See Sarenkuͤll, hinter dem Allatau,
alle unter chineſiſcher Bothmaͤßigkeit. — Vey vorge-
dachtem Huͤgel, von welchem nicht weit das Fluͤßchen
Chattun. Sſu vorbey und dem Allaguͤll zufließt, fand
ich noch eine große Menge vom obgemeldeten Rheo cru-
ento
,
aber, außer vorher erwaͤhnten Pflanzen, alle uͤbrige
ſchon verdorret. Einen Korſſak(Canis Corſac) ver-
folgten wir lange, er rettete ſich aber durch ſeine Ge-
ſchwindigkeit. Ehe wir zum Tarabagatai kamen, be-
merkte ich ganz beſondere Huͤgel und Graͤben, die mir
vermuthen ließen, als waͤren hier ehemals befeſtigte
Wohnungen geweſen. Meine Kirgiſen konnten mir wei-
ter keine Auskunft daruͤber geben. Vielleicht ſind ſie von
den Tſchuden.


Den 7ten Jul. Endlich heute Nachmittag kamen
wir denn gluͤcklich, aber ſehr ermuͤdet, wieder zu unſerer
nachgelaſſenen Equipage auf dem hohen Tarabagatai an.
O! wie aͤußerſt angenehm war es hier, kuͤhle, erfriſchen-
de Luft, keine ſtechenden Jnſekten, und keine verdorrte
Pflanzen! Hier fand ich einige Bekannte meines Doll-
metſchers, die vorſetzlich fuͤr mich Milchbranntewein
(Arracki) deſtillirt hatten. Es wurde alſo ein freund-
ſchaftlicher Kreiß gemacht, in deſſen Mitte gar bald ein
gebra-
[155]aus Sibirien.
gebratenes Lamm, ein großer lederner Schlauch (Turſ-
ſuck
) mit Kuͤmuͤß, und der Branntewein paradirte; man
kann ſich leicht gedenken, daß es uns an Appetit nicht
fehlte, denn gar bald verſchwand alle Zierde des Krei-
ſes, und nun, noch mit der Tobackspfeife im Munde,
ſuchte ein jeder einen Schlafplatz, wo ich wenigſtens ſehr
geſchwind alles in der Welt vergaß, und den 8ten Jul.
wie friſch gebohren und erquickt die aufgehende Sonne
gruͤßte. Nach eingenommenem Fruͤhſtuͤck, waͤhrend dem
ich meine vortrefflichen Uldſhariſchen Pflanzen in Ord-
nung brachte, kam mein geſtriger freundlicher Kirgiſe,
mit Namen Aldſhigit, und invitirte mich in ſeine nahe
gelegene Jurte. Bey dieſer Gelegenheit nahm ich denn
fuͤr ſeine Weiber und Toͤchter einige kleine Geſchenke mit,
worunter befonders Naͤhnadeln, Fingerhuͤte und meſſin-
gene Ringe willkommen waren. Erſtere gebrauchen die
fleißigen Kirgiſinnen mit vieler Geſchickſichkeit, und naͤ-
hen nach ihrer Art gar vortreffliche Muſter. Fingerrin-
ge tragen ſie gewoͤhnlich drey an jeder Hand, am Dau-
men, Zeige- und Goldfinger. Sie ſind im eigentlichen
Verſtande Sclavinnen ihrer Maͤnner, alle haͤusliche Ar-
beit liegt auf ihnen, ſie muͤſſen das Vieh melken, But-
ter, Kaͤſe, Kuͤmuͤß beſorgen, dem Mann das Pferd ſat-
teln, die Jurten aufbauen und abtakeln; ſie machen alle
Kleidungen, ſogar die Stieſeln. Da hingegen der Mann
ißt, trinkt, ſchlaͤft, raucht Toback, reitet auf die Jagd,
treibt die Heerden zuſammen, oder geht in Geſellſchaft
mit andern aufs Rauben aus. Jn einer der beſten Jur-
ten, worinn ſchon eine Menge Nachbaren verſammelt
waren,
[156]Sievers Briefe
waren, wurde ich dann ſtattlich bewirthet; wir tranken
Kuͤmuͤß und aßen gekochtes Hammelfleiſch ohne Brod,
Salz, Gabel und Loͤffel, nach der Landesgewohnheit, mit
den Haͤnden. Das Schlachten der Thiere geſchiehet im-
mer durch Maͤnner, und oͤfters unter Herſagen eines Ge-
bets, nach mahometaniſcher Art, ſo wie auch das Ko-
chen, Zerſchneiden, Auftragen u. ſ. w. das Geſchaͤft der
Maͤnner iſt. Nachdem wir abgegeſſen hatten, wurde der
Reſt dem in ihrem Winkel vom Eingange zur Rechten
ſitzenden Frauensvolke gegeben; denn dieſe eſſen nie mit
den Maͤnnern zuſammen, ſondern ſind unterdeſſen, ſo
wie faſt zu allen Zeiten, mit irgend einer Handarbeit
beſchaͤftiget. Einige davon z. B. brachten ihre vielen
Haarflechten auf dem Kopfe in Ordnung, andere ſpan-
nen mit der Spindel durch Drehen in der Hand Zwirn
aus Kameelswolle u. ſ. w. Die Weiber haben mit ih-
ren Haaren jederzeit viel Arbeit, weil darinn eine große
Zierde beſteht. Denen Maͤnnern iſts damit deſto leich-
ter, die Baarthaare zupfen ſie ſich zum Theil mit Zan-
gen aus. Zwey Maͤnner machten eine wie gewoͤhnlich
beynahe monotoniſche Tafelmuſik; einer davon ſpielte
auf einer Ellen langen, mit Bindfaden zuſammengebun-
denen, aus zwey Haͤlften beſtehenden, weißen, hoͤlzernen,
etwa Daumens dicken Schallmey. Jndem er hinein
bließ, gab er ſeine ſingende Baßſtimme mit dazu, und
gab dann mit den Fingern auf den Loͤchern einige Toͤne
an bis ein Athemzug ausgeblaſen war, womit er es
lange genug aushielt. Jn der Ferne klingt dieſe Muſik
wie ein Dudelſack; die Leute, die viel und oͤfters dieſes
bla-
[157]aus Sibirien.
blaſende Jnſtrument gebrauchen, haben gewoͤhnlich ein
blaſſes Anſehen. Der andere Muſikant accompagnirte
ihn auf einer ſonderbar gemachten Geige eben ſo ſonder-
bar: er ſpielte ſie auf die Art, wie man eine Baßgeige
ſtreicht. Der Reſonanzboden war ohne Bedeckung; dies
zweyſaytige Ding mit einem Beine hat das Anſehen ei-
nes großen hoͤlzernen Schleifes, iſt etwa eine Elle lang,
und wird Chuwuß genannt, die Schallmey hingegen
Suwuſagà. Nach kirgiſiſcher Art war der heutige
Nachmittag ſchon ein herrliches Feſt.


Den 9ten Jul. Heute war in den benachbarten Jur-
ten ein Aß beremeß oder Gedaͤchtnißfeyer eines Verſtor-
benen. Hierbey giengs beynahe eben ſo her, wie oben
bey den katſchiniſchen Tataren: die Weibsleute heulten
und die Maͤnner ſoffen Kuͤmuͤß, fraßen, rauchten To-
back und philoſophirten.


Den 10. Jul. Jch hatte vor einigen Tagen meinen kir-
giſiſchen Fuͤhrer Chaial, der Rhabarber wegen, uͤber 100
Werſte ausgeſchickt. Dieſer kam heute mit einem wohl-
habenden, nahe an der chineſiſchen Feſtung Tſchigatſcheck
wohnenden Kirgiſen zuruͤck, mit welchem ich mich ſo-
gleich in ein Geſpraͤch einließ. Jch erfuhr durch ihn, daß
die Chineſen ohnweit der gedachten Feſtung ihre verkaͤuf-
liche Rhabarber in Plantagen ordentlich kultivirten; die
Saamen dazu erhielten ſie oͤſtlich, tiefer aus dem Rei-
che. Es waͤre ein Vorrath von getrockneter Rhabarber
in der Feſtung, die aber ſchon ein Kommiſſionaͤr des in
Semipalatinsk wohnenden taſchkiniſchen Kaufmanns
Bedel. Babà zu 1 Schaaf das Pfund behandelt habe,
welches
[158]Sievers Briefe
welches ohngefaͤhr 20 Rbl. à Pud ausmachen wuͤrde.
Da aber dem Commendanten von Tſchigatſcheck noch
neuerlich bey Lebensſtrafe verboten waͤre, keine Rhabar-
ber von dieſer Seite des Chineſiſchen Reichs ausfuͤhren
zu laſſen, ſo haͤtte der Handel auch nicht zur Wirklich-
keit kommen koͤnnen. Die Geſchichte mit dem Handel
des Bedel-Babà iſt richtig, denn hieruͤber hatte ich
ſelbſt ſchon im vergangenen April nach Semipalatinsk
correſpondirt; ob aber die Rhabarberplantagen dort wirk-
lich exiſtiren, daran will ich noch vorerſt etwas zweifeln,
relata refero. Freylich — Non eſt de nihilo quod pu-
blica fama ſuſurrat
et ſemper habet partem veri fa-
bula.
Vielleicht haͤlt ſich Jemand in Tſchigatſcheck ei-
nige Rhabarberpflanzen zur eigenen Liebhaberey.


Jch verſprach indeſſen meinem Kirgiſen 200 Ar-
ſchinen ſchwarzen Sammet zum Geſchenk, wenn er mir
koͤnnte einige friſche Wurzeln, nebſt Saamen, aus der
Plantage jenes Liebhabers ſtehlen. Er verſprachs, ich
gab ihm meine Addreſſe und verließ dann endlich


den 11ten Jul. den Tarabagatai wo mir manches
ſchoͤne Pflaͤnzchen, die freundliche Aufnahme bey den
Kirgiſen viele angenehme Stunden und die reine kuͤhle
Luft ganz neue Kraͤfte zur fernern Reiſe gegeben hatten.
Der Reaumuriſche Thermometer zeigte waͤhrend meines
hieſigen Aufenthalts nie mehr als 100 W und nie weni-
ger als 60 W. im Schatten. Ein paar Donnerwetter
nebſt etwas Regen trugen noch mehr zur Kuͤhle bey.


Jch habe die Ehre zu ſeyn ꝛc. ꝛc. ꝛc.


Zwoͤlf-
[159]aus Sibirien.

Zwoͤlfter Brief.



Der Herabmarſch vom Tarabagatai war leichter
wie vorher der Aufmarſch. Wir paſſirten denſelben Weg
wiederum, welchen wir gekommen waren, uͤber die Ur-
ſprungsquellen des Baſars, kamen bald zum Anfange des
Ajoguͤß-Fluſſes, an welchem wir herunter wieder in die
offene Steppe gelangten: Den nackten, ſchroffen an
Kraͤutern ſehr arm ſeyenden Borr-opkoͤptoͤ zur Rechten
laſſend.


Alle Kirgiſen die auf unſerer Hinreiſe in dieſen
graßreichen Gefilden campirten, waren itzt fort. Das
Nachtlager hatten wir am Ajoguͤß, 40 Werſt von ſei-
nem Urſprung, in einem mit kahlen Granit und Schie-
fergebirgen umgebenen, ganz angenehmen Thale Schon
ſpaͤt in der Nacht, beym hellen Mondſchein, kamen zwey
Kirgiſen, vielleicht Pferdediebe, zu uns; ſie zogen aber,
als ſie ihre Neugierde durch einige Fragen an die auf
der Wache ſtehenden Leute geſtillet hatten, ſogleich wie-
der fort.


Jul. d. 12. Sehr fruͤh bey bewoͤlktem Himmel ſetz-
ten wir unſern Stab weiter, und giengen mehr rechts,
nordoͤſtlich, uͤber ein anſehnliches Porphyrgebirge, wo-
von verſchiedene artig marmorirte Stuͤcke am Tage her-
um lagen; z. B. 1) ſchwarzer Porphyr mit feinen weiſ-
ſen Feldſpathkoͤrnern. 2) Geſchiebe eines roͤthlichen Ja-
ſpis mit weiſſen Quarzadern. 3) Schwarzgrauer Porph.
mit einliegenden großentheils laͤnglichen, theils runden
Feld-
[160]Sievers Briefe
Feldſpath-Kriſtallen oder ſogenannter Serpentino an-
tico-nero.
4) Gruͤnlich grauer Hornſtein. Jenſeits
fand ich Cuſcuta flava die mir neu ſchien Epithymum,
Anabaſis ramoſa, Allium ceſpitoſum
und ſchoͤne Um-
bella
ten. Das Mittagsmahl hatten wir wieder am vor-
hin erwaͤhnten leimigen Fluͤßchen Dſhingiskoͤ, wo un-
ter andern nun ein ſchoͤner Lotus bluͤhete und Kameelen
und Pferden ein angenehmes Futter lieferte. Jn der
vorhin gedachten Familie des Sarembets, am Bugaß,
uͤbernachteten wir. Der Alte ſelbſt war zum Capitain
Sultan geritten, um eine Streitſache beylegen zu helfen.
Jndeſſen genoſſen wir alle von ſeinen Anverwandten die
freundlichſte Aufnahme. Jn der Herreiſe vom Dſhin-
giskoͤ zum Bugaß traf ich zu meiner großen Verwunde-
rung in einem aus dem Fuß eines Huͤgels und in einer
ſumpfigen Wieſe fließenden Quelle, als ich eben trinken
wollte, ſchwarzgraue Schiefertafeln mit in Kalkſtein ver-
ſteinerten Bohrmuſcheln; nirgends habe ich in allen die-
ſen Gegenden dergleichen geſehen, wohl aber ſolche
Quellen.


Den 13. Jul. Unter Begleitung eines Kaſaken
ſchickte ich heute alle Bauern, den Fuͤhrer Chaial auf
ſein eigen Begehr, die Kameele und alles uͤberfluͤßige
Schwere wiederum fort, nach Uſtkamenogorsk, um deſto
leichter meine noch vorzunehmende Expedition ins chine-
ſiſche Reich bewerkſtelligen zu koͤnnen. Mein Zelt ließ
ich ſodann zwiſchen die Jurten des Sarembet aufſchla-
gen, worin ſogleich der Boden mit den beſten kirgiſiſchen
Woilocken (Filzen) von meinen freundlichen Wirthen
aus-
[161]aus Sibirien.
ausgelegr wurde; darauf ließ ich Thee bereiten und noͤ-
thigte die alte Stammmutter des ganzen Auls, mit vie-
len von ihren Kindern und Kindes-Kindern. Die Alte
ſaß mir zur Linken, der Dollmetſcher zur Rechten, und
alle Uebrigen im Kreiß herum. Beym Theetrinken ſang
einer von den Maͤnnern ein beynahe monotoniſches Lied,
betreffend den Zuſtand unſers Lebens in jener Welt; den
Tugendhaften wurde darin ewige Gluͤckſeligkeit ſo wie
den Boͤſen ewige Verdammniß zugeſagt. Dergleichen
Lieder, davon einige ſehr lang ſind, lernen die Kirgiſen
bloß durch muͤndlichen Unterricht, denn von Leſen und
Schreiben wiſſen ſie nichts. Haben ſie Schriftgelehrte
noͤthig, ſo wenden ſie ſich an taſchkiniſche Mulahs, die
zu gewiſſen Zeiten in der Steppe zu dieſem Endzweck
herumziehen; dieſe verrichten das Beſchneiden der Kin-
der, und andere Gottesdienſtliche Handlungen; ſie ſind
ihre Aerzte, und von ihnen erhalten ſie auch gewiſſe
Amulete, die ſodann in ſchwarzen Sammt, in runder,
dreyeckiger oder viereckiger Form, auf den Ruͤcken oder
auf die Bruſt an die Kleidung feſtgenaͤhet werden. —


Nach geendigtem Theetrinken theilte ich 2 Pfund
Taback unter die Maͤnner, und Naͤhnadeln, Fingerrin-
ge, Fingerhuͤte, Schlangenkoͤpfe u. ſ. w. an die Weiber,
der alten Frau des Sarembet aber etwas weiſſen Zucker
aus. Fuͤr dieſe Kleinigkeiten, die noch nicht einen Ru-
bel koſteten, hatte ich alle Liebe und Zuneigung, die nur
je ein Kirgiſe zu geben faͤhig iſt. Jch genoß hier alle
laͤndliche Gluͤckſeligkeit im volleſten Maaße. Meine gut-
muͤthigen Gaͤſte ſchieden davon, ein jeder in ſeine Jurte.
LJch
[162]Sievers Briefe
Jch blieb nun allein ausgeſtreckt, wie ein Sultan auf
ſeinem Sopha, und uͤberdachte das aͤußerſt begluͤckte Le-
ben der Nomaden. Jndem ſie die ſorgenloſeſten, frohe-
ſten Stunden verleben, quaͤlt ſich der Europaͤer, wie er
Ruhm, Ehre, Reichthuͤmer, hohe Ehrenſtellen u. ſ. w.
fuͤr ein ſpannenlanges Leben erwerben will. Hundertmal
kam mir der Gedanke in den Kopf, meine Stelle nieder-
zulegen und hieher wieder zuruͤckzukehren, zu Voͤlkern
wo, beynahe moͤchte ich ſagen, ein ſuͤndloſes Leben und
das wahre delicioſo far niente der Jtaliaͤner herrſcht.
Aber leider, fand ich, daß ich noch zu wenig Philoſoph
war; der Hang zu den Europaͤern behielt fuͤr dasmal
noch die Oberhand. Was doch die Erziehung nicht
macht? —


Jch fieng beinahe an ganz unwillig zu werden, als
die reichſten, nach Hauſe kommenden Heerden von Zie-
gen, Schaafen, Pferden, Ochſen, Kuͤhen und beſon-
ders mehr wie 500 Kameele meinem Philoſophiren ein
Ende machten. Jch gieng zum Zelt hinaus und ſah
nun mit Vergnuͤgen den Dirnen zu, die denen ſich wil-
lig darbietenden Ziegen und Schaafen ihre Milch abza-
pften, indem ſie ſie erſtlich, wie die Dragonerpferde, an
ein langes Seil in 2 Reihen Kopf neben Kopf feſtge-
knuͤpft hatten. Mir waͤſſerte der Mund nach der ſchoͤ-
nen Milch, ich lief geſchwind nach einer Schaale, und
nun melkte mir ein ganz artiges Maͤdchen die Schaale
voll. Nicht fuͤr die Milch, ſondern fuͤr die Schoͤnheit
und Willfaͤhrigkeit des Maͤdchens, brachte ich ihr ein
kleines Geſchenk, dadurch verdarb ich’s aber ganz bey
den
[163]aus Sibirien.
den andern; denn nun kamen ihrer vier angelaufen und
wollten ihre Milch auf eine aͤhnliche Art anbringen.
Dieſen guten Kindern ihr Begehren abzuſchlagen, waͤre
unverzeihlich geweſen. Sie erhielten daher alle etwas,
mit dem Beding, mich Morgens und Abends mit fri-
ſcher Milch zu verſorgen. Beynahe gegen Mitternacht
rief mich einer von den Soͤhnen des Sarembets zum
Abendeſſen. Wie ich in die Jurte trat, fand ich beyna-
he die ganze Wolloſt verſammelt, mit dreyen heute an-
gelangten Fremden zaͤhlte ich 36 Gaͤſte. Es iſt die
Sitte bey den Kirgiſen daß wenn ein bekannter fremder
Gaſt kommt, ſo muß die Familie heraus und ſollte es
Mitternacht ſeyn, und ein Schaaf oder Ziege ſchlachten.
Pferde werden nur bey großen Feyerlichkeiten gegeſſen,
Kuͤhe und Ochſen hoͤchſt ſelten oder vielleicht niemals,
dieſe dienen mehr zum Handel.


So wie heute, gieng auch der 14. Jul. noch immer
mit froͤlichem Schmauſen hin. Aber


den 15. Jul. dachte ich denn auch einmal wieder
ans Botaniſiren; etwa 10 Werſt gegen uͤber den vorhin
erwaͤhnten Chaſill-Taß, in Nordoſt, lag eine Kette
kahler, Eiſenhaltiger, nicht hoher Schieferberge: dieſe
beſtimmte ich dann heute zum Gegenſtande meiner Ex-
curſion, waͤhrend welcher ich ein Mittagseſſen fuͤr die
ganze Sarembetſche Familie zurichten ließ. Jch genoß
das Vergnuͤgen drey neue Rekruten zu meiner Kraͤuter-
ſammlung aufzutreiben. Die Artemiſiam abrotanifoli-
am, Tanacetum tomentoſum
und das wohlſchmeckende
Allium, welches die Kirgiſen Saramßack nennen. Er-
L 2muͤdet
[164]Sievers Briefe
muͤdet vom Marſch erreichte ich eben mein Zelt, als die
Speiſen zum Genießen fertig waren. Jch habe dabey
weiter nichts zu erinnern, als daß wir ſaͤmmtlich ver-
gnuͤgt waren und ich mir die Liebe der ganzen Familie
erwarb. Nachmittages ließ ich einige Pud rohes Zie-
gen- und Schaaffleiſch in ſchmale lange Riemen zer-
ſchneiden, ſalzen, und an der Sonne, aufgehaͤngt, zur
weitern Reiſe nach dem Noorſaiſſan, austrocknen.


Unterdeſſen langten einige Fremde an, die etwas
entfernt von der Aul ein von rothem Soldatentuch ge-
machtes nicht großes Zelt aufſchlugen. Der Zweck ihrer
Herreiſe war den Brautſchatz (Kaluͤm) Der Zweck ihrer
Maͤdchen zu hohlen, die an einen Knaben von 12 Jah-
ren, ein Großkind des alten Sarembet, verheyrathet
werden ſollte. Es iſt die Gewohnheit der Kirgiſen ihre
Kinder ſehr fruͤh mit einander zu verſprechen, ſie fragen
nicht die Neigung der letztern, denn die ſind oͤfters noch
bey dergleichen Verſprechungen in der Wiege; ſondern
die Eltern ſehen nur auf die gegenſeitigen Reichthuͤmer.
Sind dieſe annehmlich, ſo iſt die Hochzeit ſo gut wie ge-
ſchehen und es fehlt dann nur an Braut und Braͤutigam.
Erſtere muß ihre Jungferſchaft unverſehrt mit ins Braut-
bette bringen, widrigenfalls iſt ſie in Gefahr auf eine
jaͤmmerliche Art ihr Leben zu verlieren, wenn etwa ihr
Vater ſich zu einer ſchweren Strafe nicht verſtehen will,
d. i. den Kaluͤm doppelt oder vierfach zu bezahlen. Wenn
bis zum voͤlligen Auswuchs etwa einer von den ſchon Ver-
ſprochenen ſtirbt, ſo wird der Nachgebliebene an den
naͤchſten Anverwandten der oder des Verſtorbenen ver-
heyra-
[165]aus Sibirien.
heyrathet. Jſt gar kein heyrathungsfaͤhiger Anverwand-
ter vorhanden, ſo geht der Kaluͤm wieder zuruͤck; ein
ſolcher Vorfall trift ſich indeſſen aͤußerſt ſelten, der Braut-
ſchatz belaͤuft ſich, ganz Arme ausgeſchloſſen, gewoͤhnlich
von 150 bis auf 1000 Nbl. und wird maͤnnlicher Seits
groͤßtentheils mit Stuten bezahlt. Dieſen werden noch
andere Thiere beygefuͤgt, je nachdem die Parthey reich
iſt. Sind etwa in die Gefangenſchaft gerathene Scla-
ven da, ſo gehen auch hievon einige mit. Die Braut
bringt eine ganz neue Filzjurte, nebſt Bette, Kaſten,
und allen kirgiſiſchen Mobilien mit; ſie muß uͤberdem
mit Kleidern, Perlen, rothen Korallen aͤcht oder unaͤcht,
goldenen und ſilbernen Treſſen, wohl verſehen ſeyn, je
nachdem es ihr Stand und Reichthum erlaubt. Man
ſieht hieraus alſo, daß die Geſchenke von beyden Seiten
ſo ziemlich gleich ſind. Bey der allererſten Verlobung
wird gewoͤhnlich nur beym Schmauß ein muͤndlicher Ver-
gleich in Gegenwart der Aelteſten getroffen; waͤchſt das
verſprochene Paar alsdenn bis zum ſechſten, achten, bis
funfzehnten Jahre auf und giebt Hoffnung zur Fortdauer
ihrer Geſundheit, ſo wird dann ſchon der Anfang mit
Bezahlung des Kaluͤm’s zum Theil gemacht, und bey
der Hochzeit hernach foͤrmlich geendiget. Ein ſolcher
Fall traf ſich nun hier. Die 8 jaͤhrige Braut wohnte
etwa 80 Werſt von unſerer Aul entfernt, die eben gedach-
ten Ankoͤmmlinge waren die Bevollmaͤchtigten ihrer
Seits, oder die Freywerber. Waͤhrend ihrer Gegen-
wart darf ſich der Braͤutigam durchaus nicht zeigen, noch
viel weniger vor der Hochzeit zu ſeiner Braut reiſen, um
L 3ſich
[166]Sievers Briefe
ſich mit ihr bekannt zu machen. Jſt ſie ſchoͤn oder haͤß-
lich, klug oder dumm, u. ſ. w. dies muß ihm gleichviel
ſeyn: ſein kuͤnftiges Gluͤck dependirt lediglich vom Schick-
ſal. Da dieſe Leute keine Siegwarte und keine Wer-
ther, keine Friederiken, Thereſen u. ſ. w. ſind, ſo befin-
den ſie ſich bey ihrer natuͤrlichen Einrichtung recht ſehr
gluͤcklich. Hoͤchſt ſelten iſt Streit zwiſchen Mann und
Frau, oder beſſer geſagt, dies gehoͤrt unter die unbekann-
ten Dinge. Da die Vielweiberey bey den Kirgiſen
herrſcht, ſo trift ſich wohl zuweilen eine Uneinigkeit un-
ter den Weibern, denn dieſe ſind ja allenthalben Weiber.
Nachmittag z. B. begleiteten einige Maͤnner ein Paar
Abreiſende: kaum waren die Maͤnner aus dem Geſicht,
ſo hatte ich mein Zelt ſchon voller Weiber. Dieſe Vi-
ſite koſtete mir nun freylich einige Geſchenke, aber dafuͤr
hatte ich dann auch das Vergnuͤgen die Kirgiſinnen naͤ-
her kennen zu lernen; ich merkte bald, daß ſie keine der
ſtrengſten Veſtalinnen waren. Eine davon zu einer ge-
heimen Unterredung zu bekommen, iſt vielleicht ſo gar
ſchwer nicht. Schade nur daß im Ganzen genommen,
ſo wenig Schoͤnheiten unter ihnen ſind: Jch glaube das
Verhaͤltniß iſt etwa wie 1 zu 30. —


Jul. d. 16. Heute fruͤh zog der ganze Aul und ich
mit meinem Zelt und Gepaͤcke etwan 6 Werſt weiter,
das Fluͤßchen Bugaß herunter, in ein ſehr graßreiches
Thal. Der Zug von 40 beladenen Kameelen, einige
1000 Pferde, Ochſen, Kuͤhe, Schaafe, Ziegen, ſo viel
Maͤnner, Weiber, Maͤdchen, Kinder die wie gewoͤhn-
lich nur bey ſolchen Gelegenheiten, alle mit den beſten
Kleidern
[167]aus Sibirien.
Kleidern geputzt ſind, gewaͤhreten wirklich fuͤr einen Eu-
ropaͤer einen ſehr ſchoͤnen und merkwuͤrdigen Anblick. Die
beladenen Kameele waren zum Theil mit artigen bucha-
riſchen Teppichen oder kirgiſiſchen bunten Filzdecken be-
haͤngt. Auf dem Ruͤcken verſchiedener derſelben klingel-
ten, in einem beſondern kleinen Geruͤſte, kleine Gloͤck-
chen. — Was mich beſonders ruͤhrte, war der Zug ei-
ner reichen Wittwe, deren Mann vor etwa vier Mona-
ten geſtorben war. Es iſt Sitte unter dieſen Nomaden,
daß die Wittwen ein ganzes Jahr ihre abgeſchiedenen
Maͤnner betrauern muͤſſen. Eben genannte Wittwe war
gleichfalls aufs Beſte geputzt, aber den ganzen Koͤrper
bedeckte ein langes, ſchwarzes, ſammetenes Trauerlaken.
Neben ihr ritt ein Knabe, der ein ſchwarzes dreyeckiges
Faͤhnlein trug. Jn der Mitte von noch andern dreyen
Weibern hielt ſie, waͤhrend der Zug vor ſich gieng, eine
beynahe ſingende Trauerrede wobey ihr die Weiber be-
huͤlflich waren. Als wir auf dem beſtimmten Platz an-
langten, theilte ſich ſogleich jede Familie beſonders ab
und in weniger als anderthalb Stunden ſtanden 10 Jur-
ten im halben Zirkel da. Sarembets und mein Ge-
zelt ſtanden in der Mitte, ich war hier gewiß — rara
avis in terris nigroque ſimillima Cygno.
— Die Er-
richtung der Jurten liegt ſaͤmmtlich den Weibsleuten ob,
indeß die Maͤnner die Heerden beſorgen, abtheilen und die
Fuͤllen an lange Seile in Reihen anbinden. Die Er-
bauung einer Jurte geſchiehet folgendermaaßen. Zuerſt
wird der Kreiß von Flechtwerk (Keregaͤ) aus duͤnnen
Staͤben, die aus 4 — 5 Stuͤcken die ſich wie ein Faͤcher
L 4zuſam-
[168]Sievers Briefe
zuſammenlegen laſſen, beſteht, und etwa 6 Fuß hoch iſt,
als das Fundament der Jurte aufgerichtet; außen her-
um wird dieſes denn noch mit einem eben ſo hohen, aber
ganz dichten Flechtwerk (Tſchi) aus Schilf bekleidet.
Dann wird mittelſt einer langen hoͤlzernen Gabel der
Kranz (Tſchagarack) aufgehoben, und indem dieſer
von einer Perſon ſchwebend gehalten wird, ſind die uͤbri-
gen Weiber beſchaͤftiget, die beynahe wie ein S geboge-
nen Staͤbe in die an den Buͤgel des Kranzes befindli-
chen Loͤcher und auf das Flechtwerk zu ſtecken. Darauf
wird dies ganze Gerippe mit Woilocken (Filz) wovon
die untern Turluck und die obern Ueſuck heißen bedeckt,
mit langen Leinen umwunden und das Gebaͤude iſt fer-
tig. Fuͤr die Thuͤr iſt keine beſtimmte Richtung nach
irgend einer Weltgegend; wo ſie eben hin zu ſtehen
kommt, da bleibt ſie. Jnwendig aber, grade der Thuͤre
gegenuͤber, werden jederzeit die Reichthuͤmer in Kaſten
und Packen aufgelegt. Zur Rechten iſt der eigentliche
Platz fuͤr die Weiber und Kinder und zur Linken fuͤr die
Maͤnner, auch wohl zuweilen fuͤr neulich gebornes Vieh,
Jagdadler und Falken, Gewehr, Saͤbel und Picken.
Die Bettſtelle hat keinen beſtimmten Ort. Jedes kir-
giſiſche Frauenzimmer iſt alſo ihr eigener Architekt, oh-
ne die Ordnung der Saͤulen in Rom oder Florenz ſtudirt
zu haben; aber freylich iſt denn auch zwiſchen ihren und
den italiaͤniſchen Pallaͤſten ein maͤchtiger Unterſchied.


Eine große Menge von Robinia Halodendron die
noch mit einigen ſpaͤten Blumen prangte und viele tſchu-
diſche Graͤber waren die einzigen Merkwuͤrdigkeiten am
Wege.
[169]aus Sibirien.
Wege. Bey Erwaͤhnung dieſer Graͤber fuͤhre ich hier
an, was mir heute mein kalmuͤckiſcher Fuͤhrer der ein
Torgut von Aſtrachan war und ſeine Jugendjahre unter
den Lamas verlebt hatte, erzaͤhlte. Jn ihren Buͤchern
ſey die Geſchichte der verlohrnen Nation, welcher dieſe
Graͤber gehoͤrten, alſo aufgezeichnet: Ein Hirte, der die
Pferde huͤthete, zuͤndete ein Feuer an, band ſein Pferd
nahe dabey feſt, und ſchlief ein, das Feuer verbreitete
ſich aber, indem es das trockene Graß und Geſtraͤuche
ergriff, bis zum Pferde, brannte Sattel und Zaum an
und verurſachte daß das Pferd wie toll und raſend da-
von, unter die Heerde lief. Dieſe von dem herzuge-
rannten brennenden Pferde erſchreckt, ſprengten eben ſo
toll und raſend unter die Wohnungen der Menſchen, wel-
che von den unſinnigen Thieren zertreten wurden. Durch
ein Zorngericht Gottes (vielleicht ein Erdbeben) ſtuͤrzten
die Haͤuſer und Jurten ein und die Menſchen wurden
darunter begraben. Dieſes Ungluͤck traf die ganze Na-
tion, der kleine Ueberreſt davon aber, floh zu den Tuͤr-
ken und Chineſen, mit welchen ſie ſich vermiſchten und ſo
verſchwand die Nation, dermaßen, daß man weder von
ihrem Namen, noch von ihrer Sprache, die geringſte
Nachricht nachbehalten hat. Jenes Ungluͤck ſoll ſich ſchon
vor 2000 Jahren zugetragen haben. (Waren denn da
ſchon Tuͤrken?) Die damals regierende Chane nannte
mein Torgut Dſhanabek und Toktamuͤß, deren ge-
heimſter Miniſter und Rathgeber Edege-Bi geweſen
ſeyn ſoll! Si fabula vera eſt.


L 5Kaum
[170]Sievers Briefe

Kaum hatte meine Nachbarin, die Frau des zwey-
ten Sohnes des Sarembet ihre Jurte ferrig, ſo kamen
ihr die Wehen an. Jch war mit dem Dollmetſcher eben
in der Jurte, um etwas auszuruhen und hatte bereits ei-
ne halbe Stunde geſchlafen als man uns weckte und bat
herauszugehen. Es waͤhrte darauf nicht lange, ſo war
ein Soͤhnlein da. Die Weiber aus den benachbarten
Jurten waren zur Huͤlfe dabey und alles gieng in der
Kuͤrze und der groͤßten Ordnung zu. Zwey Tage darauf
arbeitete die Kirgiſin ſchon wieder und befand ſich wohl.
Mein mehreremale erwaͤhnter Kalmuͤck, als ein ſehr be-
kannter und angeſehener Mann in dieſer Wolloſt, ſchenkte
der Woͤchnerin drey Ellen Sammet, welchem ich noch
einige Pfunde Taback fuͤr den Mann beyfuͤgte. Dieſer
brachte uns nun dafuͤr in mein Zelt friſche Ziegenbutter
und eine Art ſuͤßen Broͤckelkaͤſe (Eremtſchick). Die-
ſes iſt aber eine Zeremonie welche bey jeden Geburten
beobachtet wird: denn es waren noch mehrere Gaͤſte ge-
genwaͤrtig, welchen dieſelbe Ehre wiederfuhr. Es wurde
ihnen ſo wie uns in hoͤlzernen Schaalen vorgeſetzt und
beydes vermiſcht, und ſo ohne weitere Zuthat mit den
bloßen Haͤnden zum Munde gefuͤhrt. Gleich drauf kam
denn auch der alte Sarembet zu Hauſe; ermuͤdet von
der Reiſe, legte er ſich ſchlafen, hernach trank er Thee
mit mir. Das neugebohrne Kind wird den Namen von
ihm empfangen, welchen denn gewoͤhnlich immer der
aͤlteſte Anverwandte aus der Familie, unter Herſagen
einiger Gebete zu geben pflegt.


Jch habe die Ehre u. ſ. w.


Drey-
[171]aus Sibirien.

Dreyzehnter Brief.



Den 17. Jul. Jch erwaͤhnte im letzten Briefe des
ſuͤßen Broͤckelkaͤſes (Eremtſchick). Mit der Beſchrei-
bung deſſelben und des Churt (ſauren Kaͤſes) will ich
dieſen Brief anfangen. Die Bereitungsart des erſtern
iſt folgendermaaßen: Man nimmt etwa 2 Eimer Schaaf-
milch, (Kuhmilch taugt zwar auch, jene iſt aber beſſer),
ſetzet ſelbige ſo warm wie ſie von den Schaafen koͤmmt,
in einem eiſernen Keſſel auf ganz gelindes Kohlenfeuer,
ſo daß ſie nicht koche, iſt ſie nun warm genug, ſo hat
man unterdeſſen gedoͤrrte Magen von ſolchen Laͤmmern
bey der Hand, die außer Muttermilch noch weiter nichts
genoſſen haben. Dieſe laͤßt man in einer beſondern hoͤl-
zernen Schaale mit etwa 2 Pf. warmer Milch aufwei-
chen, indem man ſie einige Zeit mit den Haͤnden in der
Milch zerdruͤckt. Dieſe Mixtur wird, nachdem ſie eine
Weile ruhig geſtanden hat, wie eine dicke Gallerte. Sel-
be verruͤhrt man nun in der auf dem Kohlenfeuer ſtehen-
den Milch; wenn dieſes des Abends geſchiehet, ſo bleibt
der Keſſel auf dem gelindeſten Feuer die Nacht uͤber ſte-
hen, wobey ſie aber doch dann und wann umgeruͤhrt wer-
den muß und man erhaͤlt des Morgens fruͤh eine in wei-
che gelbliche Broͤckelchen eingetrocknete Milch, die ſodann
herausgenommen wird, um ſie auf Flechtwerk von Bin-
ſen an der Sonne vollends zu trocknen. Der Erem-
tſchick
iſt das Confekt der Kirgiſen, welches nur bey be-
ſondern Gelegenheiten vorgeſetzt wird. Es hat einen
ſuͤßen
[172]Sievers Briefe
ſuͤßen nicht unangenehmen Geſchmack, kann ſich vielleicht
aber wohl nicht lange ohne zu verderben halten. Der
Churt oder ſaure Kaͤſe, iſt ein Nahrungsmittel, wel-
ches von den reiſenden Kirgiſen auf lange Reiſen mitge-
nommen wird, wo ſie keine andere Eßwaaren vermuthen
koͤnnen. Sie legen alsdenn 10 bis 20 derſelben in ihre
geraͤucherten ledernen halb durchſichtigen großen Flaſchen,
gießen Waſſer drauf, haͤngen es an die Saͤttel der Pfer-
de und, indem die kleinen Kaͤſe durch das Schuͤtteln er-
weicht werden, haben ſie ein ſaͤuerliches Getraͤnk, wel-
ches den Durſt und den Hunger zugleich ſtillet. Die
Weiber verfertigen dieſe Materie, indem ſie ſaure dicke
Kuhmilch, die mit allen fettigen Theilen durch beſtaͤndi-
ges Schlagen in ihren ſehr großen Schlaͤuchen ſauer ge-
worden iſt (Airaͤn), in eiſernen Grapen auf dem Feuer
kochen; ſcheidet ſich etwa zu viel Wadecke ab ſo wird die-
ſe abgegoſſen welches ſich aber doch ſelten ereignet; iſt
das Gemiſch nun dick genug, ſo wird es mit den Haͤn-
den zu Eyfoͤrmigen Koͤſen ausgeknaͤtet und vollends ge-
trocknet. Dieſe mit Waſſer aufgeweichten Kaͤſe und
der Kuͤmuͤß ſind die vortreflichſten Getraͤnke bey heißen
Steppenreiſen, ſie werden von der Sonne nie warm,
welches bey letztern die haͤufige fixe Luft und bey erſtern
die Milchzuckerſaͤure zu verhuͤthen ſcheint. —


Nach eingenommenem Fruͤhſtuͤck beſuchte ich einige
Berge in Suͤden. Zwey Pflanzen auf die ich ſtieß hat-
ten auch zwey verſchiedene Wirkungen bey mir. Das
niedliche Lythrum Hyſſopifolia, welches ich in einem
falzigen und graßreichen Thale zum erſtenmale und recht
haͤufig
[173]aus Sibirien.
haͤufig wild antraf, verurſachte mir große Freude; nach-
hero in der Mittagshitze, wobey ich vergeblich den Durſt
mit der wohlſchmeckenden Saramſakzwiebel zu ſtillen
ſuchte traf ich hoch am Gebirge die Lonicera alpigena
mit vielen reifen gelben Beeren an, ich kannte ihre boͤſe
Wirkungen damals nicht, aß alſo ohnbekuͤmmert etwa
20 — 30 von den Beeren, die mir aber nicht ſchmecken
wollten. Kaum aber hatte ich ſie eine Viertelſtunde im
Leibe gehabt, als mir zu Muthe ward wie wenn ich Jpe-
cacuanna genommen haͤtte, und nun urploͤtzlich drauf
giengs Erbrechen an. Sechsmal waͤhrend einer halben
Stunde mußte ich ihre Wirkungen aushalten und nun
wurde mir ſo wohl, daß ich mit der groͤßten Leichtigkeit
einen ſehr ſteilen und hohen Berg hinankletterte, wo ich,
auf deſſen Gipfel, bey einem einzigen kirgiſiſchen Grabe
mit einem hohen ſteinernen Pfeiler, mich ausruhete.
Die kuͤhle Luft hier und eine ſchoͤne Ausſicht machten mir
den Mund wiederum ganz waͤſſericht. Bey Sonnenun-
tergang erreichte ich mein Zelt wieder, ſetzte mich nieder
und ſchrieb, wobey ich dreyerley Gaͤſte hatte: Schaafe,
Ziegen und deren Laͤmmer, die mir ins Schreibbuch kuck-
ten, und die Muͤcken, die mir das Blut ausſogen. Hier
am Bugaß findet ſich dieſes verwuͤnſchte Geſchmeiß nur
des Abends und Nachts ein. Zum Gluͤcke aber nicht in
großer Menge.


Den 18. Jul. Der heutige Sonntag war mir des-
wegen merkwuͤrdig, weil ich bey einer recht großen kirgi-
ſiſchen Gaſterey zugegen war. Die Veranlaſſung dazu
gaben die drey nach dem Kalym hergekommenen Frem-
den.
[174]Sievers Briefe
den. (Siehe Jul. d. 15. im vorigen Briefe). Es wurde
Vormittages ein junges Fuͤllen, nebſt 2 Hammeln ge-
ſchlachtet; waͤhrend derſelben Zubereitung wurde in der
geraͤumigen Jurte des Sarembet von 60 Anweſenden
Taback geraucht, geſchwatzt und Kuͤmuͤß getrunken. Die-
ſer paradirte in der Mitte der Jurte, in einem hoͤlzernen,
viereckigen, etwa 5 Eymer haltenden, oben am Rande
mit artig ausgearbeiteten Platten vom Geweyh des
Elenn-Hirſches und mit gelben meſſingenen Naͤgeln ge-
zierten Gefaͤß, deſſen Figur im Durchmeſſer ohngefaͤhr
einem Blumenkuͤbel gleicht. Zwey der juͤngſten Anver-
wandten trugen, in hoͤlzernen Schaalen, denen im Kreiſe
ſitzenden Gaͤſten das Getraͤnk herum. Ein anderer An-
verwandter verrichtete das Einſchoͤpfen und eine Anver-
wandtin, in der Thuͤr ſtehend, warf Haͤnde voll vom
Eremtſchick denen Gaͤſten nach allen Seiten zu mit ſo
viel Geſchicklichkeit, daß wenig davon verlohren gieng.
Dieſe Geſchichte waͤhrete ſo etwa anderthalb Stunden,
alsdann wurde das Eſſen in drey Gaͤngen ſo aufgetra-
gen, daß das zweyte nicht folgte, ehe das erſte nicht auf-
gezehrt war. Zuerſt erſchien der Pferdekopf, geſpalten,
auf einer hoͤlzernen Schuͤſſel. Da dies das ehrwuͤrdigſte
Gericht bey den aſiatiſchen Nomaden uͤberhaupt iſt, ſo
verzehren es auch nur die Aelteſten und Vornehmſten,
vor denen es daher auch niedergeſetzt wird. Die Be-
gleiter des Kopfes waren, allerley uͤbrige Theile des Pfer-
des. Jch hatte die Ehre, mit dem Dollmetſcher, bey
dem alten Sarembet am oberſten Ende zu ſitzen, d. i. der
Thuͤre grade gegenuͤber. Der Alte freuete ſich daß ich
ſo
[175]aus Sibirien.
ſo friſch mit ſpeiſete; nichts fand ich ſo wohlſchmeckend,
als das celluloͤſe, mit kernigem Fett durchwachſene wei-
che Fleiſch, oben vom Halſe, wo die Haare der Maͤhne
ihren Urſprung nehmen. Eben dieſer Delikateſſe we-
gen bekamen vom ſelben aber auch nur die Vornehmſten.
Nach dieſem machte ich mich uͤber die Rippen her, die
ich mit eben dem Appetit verzehrte, wie ehemals einen
Kaͤlberbraten. Der zweyte Gang waren hoͤlzerne Schuͤſ-
ſeln, je auf 2 Mann eine, mit kleinzerſchnittenem Pferde-
und Hammelfleiſch. Drittens wurde vor den Haupt-
freywerber eine maͤchtige große, etwa 3 Eimer haltende,
hoͤlzerne Schaale geſetzt, die ein Gemenge von kleinge-
ſchnittenem Pferde- und Hammelfleiſch, mit ſehr viel
Fett und gekochten dicken ſauren Schmant, enthielt. Jn
dieſes Gemengſel nun fuhr der Freywerber hinein, mit
den Armen bis an die Ellenbogen entbloͤßt, und miſchte
ſelbiges durch einander; dann fuͤllte er mit den Haͤnden
die ihm dargebrachten Schuͤſſeln voll, wovon uns allen
vorgeſetzt wurde. Jch hatte mich ſchon ſatt gegeſſen,
koſtete alſo das Gericht nur und gab meine Schuͤſſel wei-
ter; denn ohne Brod und Salz dieſes fette Zeug zu eſ-
ſen, war meine Sache eben nicht. Da nicht ſo viele
Teller vorraͤthig waren, um jedem davon vorzuſetzen, ſo
rief der Freywerber einen nach dem andern auf, und
ſchob jedem nun eine Hand voll ins Maul, indem der
Eſſende ſeinen Bart uͤber die Schaale hielt. Eine ſol-
che feine Fuͤtterey war nun wohl nicht fuͤr einen Euro-
paͤer ſehr appetitlich anzuſehen; allein dies iſt die Mode
ſo bey den Kirgiſen und gehoͤret mit unter die ehrerbie-
tigſten.
[176]Sievers Briefe
tigſten. Ein kirgiſiſcher Wirth zeigt dadurch ſeine Hoch-
achtung, wenn er Jemand beym Eſſen zu ſich ruft und
ihm eine Hand voll Speiſe ins Maul ſchiebt: Loffel und
Gabeln kennen dieſe Leute nicht. Unſer Fuͤtterer, der
uͤbrigens ein wohlausſehender Mann und wohlgekleidet
war, nahm dann zuweilen auch eine Hand voll zu ſich.
Denen außen vor der Jurte ſitzenden Weibern wurde von
allen Speiſen hinausgeſchickt; denn nach Landesſitte duͤr-
fen dieſe nicht mit den Maͤnnern zugleich in einer Geſell-
ſchaft eſſen. Nur des Sarembets Frau mit einer al-
ten Anverwandtin genoſſen das Gluͤck in einem Winkel
hinter dem alten Stammvater mitzuſpeiſen. Bey ſol-
chen Gaſtereyen iſt uͤbrigens Niemand ausgeſchloſſen, er
ſey arm oder reich, Sklave oder Herr. Nur der Braͤu-
tigam darf ſich nicht ſehen laſſen. — Als das große Ge-
faͤß ausgeleert war, wurde Waſſer zum Haͤndewaſchen
herumgetragen und dem Eſſen hiemit ein Ende gemacht;
dann ſagte einer von den Aelteſten ein langes Gebet her,
wobey er ſich, ſo wie alle Anweſende auch thaten, mit
beyden Haͤnden zuweilen uͤber den Bart fuhr und alle
ausriefen: Jsmila Rachma Rachuͤm. Waͤhrend
dem ſtillen Zuhoͤren aber hielten alle in einiger Entfer-
nung von der Bruſt beyde Haͤnde empor, ſo daß ſich die
beyden Spitzen der laͤngſten Finger beruͤhrten. Eben
dieſe gottesdienſtliche Handlung geſchah auch vor dem
Eſſen. Nach dieſem wurden die Pfeifen wieder hervor-
gelangt, geraucht, geſprochen, geſpaßt und ſo giengen
die Gaͤſte mit vollen Baͤuchen aus einander.


Abends
[177]aus Sibirien.

Abends hatte ich abermals eine andere Neuigkeit:
ich war eben ins Bette geſtiegen als eine Menge Dirnen
und Weiber, mein Zelt vorbey, in eine benachbarte
Jurte marſchirten und bald darauf ein Lied anſtimmten.
Jch wollte wiſſen was dies ſey, ſtand alſo auf und gieng
mit dem Dollmetſcher in die Jurte in deren Mirte ein
Feuer brannte und neben dieſen die ſingenden Frauenzim-
mer in einem Haufen verſammelt ſaßen; ihr Geſang
wurde von 15 Mannsperſonen, außen vor der Jurte, be-
antwortet. Der Gegenſtand deſſelben war, von Seiten
der Weiber eine vortheilhafte Beſchreibung des Braͤuti-
gams und anderer dahin gehoͤrigen Dinge, und die Maͤn-
ner lobten dann ihrer Seits hinwiederum die Braut und
das eheliche Leben. Einer unter ihnen predigte ſingend,
waͤhrend des Geſangs unaufhoͤrlich vom kuͤnftigen Leben.
Unter den Weibsleuten war eine beſonders ſchoͤn geklei-
det, dieſe ſtellte die Braut vor, ſo wie von der andern
Seite ſich auch einer unter den Mannsperſonen befand
der wohlgekleidet den Braͤutigam vorſtellte. Jn der
Jurte ſelbſt wollten ſie keine Mannsperſonen leiden, ich
mußte mich alſo bald mit meinem Gefolge entfernen,
nicht ohne Urſache; denn die Dirnen, waͤhrend meines
Daſeyns ſahen nur auf uns, lachten, ſchaͤkerten, ver-
gaßen ſo ihre Andacht und verwirrten die Zeremonie;
man wieß uns alſo einen Platz außen bey der maͤnnli-
chen Verſammlung an. Das Geſaͤnge dauerte bis ge-
gen Morgen und war eigentlich der Beſchluß der heuti-
gen Tagesfeyerlichkeit.


MDen
[178]Sievers Briefe

Den 19ten Jul. Heute wurde in Ruͤckſicht des Ka-
lyms
mit Tracraten hingebracht. Es entſtand unter
den Partheyen mancher Streit; bald waren den Freyern
die Maͤhren nicht jung genug, bald nicht ſchoͤn genug,
bald ihre Anzahl zu geringe, u. ſ. w. ſo daß endlich der
Vater des Braͤutigams voller Unwillen ſagte: geht zum
Henker mit ſammt eurer Braut, mein Sohn iſt noch jung
genug, ich finde ſchon ein Maͤdchen fuͤr ihn. Bey dieſen
Worten wurde denn die Gegenparthey gelinder, und
man verglich ſich ſo, daß der Braͤutigams-Vater ſeiner
kuͤnftigen Schwiegertochter 70 Koͤpfe Pferde, mehren-
theils Stuten, 4 Kameele, 9 Ellen Soldatentuch und
einige andere Kleinigkeiten, zuſammen ohngefaͤhr fuͤr
600 Rubl. Werths, bewilligte.


Den 20ſten Jul. Heute fruͤh dann endlich zogen die
Freywerber mit dem Kalym ohne die geringſten Zere-
monien ab. Dreyßig Stuten blieben bis zur voͤlligen
Hochzeit einſtweilen noch zuruͤck. Jch meiner Seits
machte denn auch Zubereitungen zur Abreiſe. Zum Be-
gleiter bekam ich einen ſehr freundlichen, braven, alten
Kirgiſen, der mit einigen Mann nach ſeiner Heymath,
auf chineſiſchem Grund und Boden, zuruͤck reiſete: er
hieß Saͤnduͤck.


Den 21ſten Jul. Sehr fruͤh verließ ich und der
ganze Aul unſern bisher gehabten Aufenthalt, und zo-
gen den Bugaß etwa 15 Werſte weiter hinunter. Jch
bemerkte bey dieſem Zuge bald ein praͤchtig gekleidetes
junges Weib, die nur erſt vor drey Tagen in der Nacht
angelangt war, indem ſie mit einem Mann aus der
Sa-
[179]aus Sibirien.
Sarembetſchen Familie ſich verheyrathet hatte. Sie
fuͤhrte nicht, wie viele andere Weiber, die bepackten
Kameele, ſondern ritt, von zweyen andern ihres Ge-
ſchlechts begleitet, auf einem ſchoͤnen, mit einer großen
carmoiſinfarbnen Schabracke, mit großen braunrothen
Quaſten an den Enden, bedeckten Wallachen. Jhr Sat-
tel und Decken waren nicht minder ſchoͤn. Sie ſelbſt
hatte ein ſchwarzes, mit Gold geſticktes ſammetnes Kleid
an, vor der Bruſt viel Perlen, Korallen, Schlangen-
koͤpfe und Stickerey. Den Kopfputz bedeckte ein feiner
weißer baumwollener Schleyer, der uͤbers Geſicht bis
auf die Knie herunter hieng. Jn den erſten Tagen nach
der Hochzeit befiehlt es die Sitte der Kirgiſen, daß die
jungen verheyratheten Weiber ſich jederzeit wohl geklei-
det zeigen, beſonders bey Veraͤnderung ihrer Wohn-
plaͤtze, welches, wie ich merke, immer ein großes Feſt
iſt. Außer eben erwaͤhnter Frau machte noch eine Toch-
ter des aͤltern Sohnes des Sarembet, in roſenrother
Seide gekleidet, eine beſonders ſchoͤne Figur. Ein großer
Theil der Maͤdchen trug lange Piken, womit ſie oͤfters
einen Nebenausreißer im ſtaͤrkſten Gallop machten.


Nachdem wir an Ort und Stelle waren und ein
Bischen gefruͤhſtuͤckt hatten, unternahm ich einen bota-
niſchen Spaziergang. Am Bugaß wuchſen Centaurea
glaſtifolia
und pectinata, Atriplex tatarica, Echinops
Ritro, maximus, Roſa pimpinellifolia
und canina, und
verſchiedene gemeine Flußweiden, deren Bluͤthe einen
herrlichen Geruch verbreitete *). Nachher beſtieg ich
M 2ein
[180]Sievers Briefe
ein nahes in NO. gelegenes hohes Jaſpisgebirge, das
eine Fortſetzung des Chuß-Murrin iſt. Hier war al-
lenthalben botaniſche Armuth, doch fand ich Cachrys Li-
banotis
und Seſeli pyrenaicum. Der ſchoͤne Band-
jaſpis, der oͤfters Dendriten zeigte, keilt zu Tage in
maͤchtigen Bloͤcken aus, iſt aber ziemlich muͤrbe und
verwittert. Jm Jnnern des Berges moͤchten ſich wohl
vortreffliche Exemplare davon zu Tafeln, Saͤulen, Ge-
faͤßen u. ſ. w. finden laſſen. Jch will indeß nicht gewiß
behaupten, daß dieſer Berg ein Jaſpisfels ſey. Nur
aͤußerſt feine Textur des Geſteins, die ganz durchgehen-
den vielfarbigen Streifen, die offenbare Politur eines
ſehr verhaͤrteten Thons beſtaͤrkten mich in obiger Mei-
nung. Hin und wieder auf dem Gipfel keilte neben
dem Jaſpis eine Steinart von ebenfalls feiner Textur
und thonartigem Gehalt aus, die aber gerade das An-
ſehen hatte, wie eben zu roſten aufangendes ſcharfeckig
geſchmiedetes Eiſen. Der Berg mag auch wohl unter
die Hornfelsarten gehoͤren, worinn der Thon die Ober-
hand haͤtte. Bey meiner Zuruͤckkunft hatte ich das Ver-
gnuͤgen den Hunden einen Dipus Jaculus Pall. (Choſ-
ſojack
der Kirgiſen) abzujagen, den ſie ſo eben erwuͤr-
gen wollten. Meine Freude waͤhrte aber auch nicht lan-
ge, denn indem ich eine Pflanze recht beſehen wollte, ent-
wiſchte mir ganz ohnvermerkt der Freund aus dem
Schnupftuche. — Abends ganz ſpaͤt machten mich mehr
wie 50 Schaafe und Ziegen aufmerkſam, die ſich uͤber
ein
*)
[181]aus Sibirien.
ein kriechendes Geſtraͤuch recht luſtig hermachten und
mit außerordentlicher Begierde verzehrten. Um es naͤ-
her zu ſehen, rannte ich zu, jagte die Thiere aus einander,
und erhielt noch mit genauer Noth einige Zweige der von
mir hieſelbſt zum erſtenmale geſehenen Nitraria Schobe-
ri.
Es iſt doch ſonderbar, ohnweit davon waren meh-
rere Salzpflanzen im beſten Wachsthum, wie z. B. A-
triplex ſibirica et pedunculata
und verſchiedene Salſola;
aber nie habe ich, ſo wenig hier, als anderswo, ge-
merkt, daß ſie vom Viehe gefreſſen wuͤrden; um ſo auf-
fallender, da letztere meiner Empfindung gemaͤß ange-
nehmer vom Geſchmack ſind, als die Nitraria.


Den 22ſten Jul. Endlich dann heute fruͤh nahm ich
mit meinen Begleitern von unſern braven Wirthen Ab-
ſchied, wobey denn freylich keine franzoͤſiſche Complimen-
te und Capriolen geſchnitten wurden; ein bloßer Haͤnde-
druck und Großerdank war alles, was nach kirgiſiſcher
Gewohnheit dabey noͤthig war. Begleitet von einer
zwey junge Kameele fuͤhrenden Frau, einigen Soͤhnen
des Sarembet, dem alten Saͤnduͤck, nebſt ſeinen Rei-
ſegefaͤhrten, giengen wir uͤber daſſelbe Jaſpisgebirge,
worauf ich geſtern botaniſirt hatte. Der Weg gieng in
einem grasreichen, allmaͤhlig ſich erhebenden Thale, ohne
uns beſchwerlich zu ſeyn, uͤber und zwiſchen den hoͤch-
ſten Koppen hindurch, bis wir, etwa 8 Werſt heruͤber,
uns in eine außerordentlich duͤrre ſalzige Steppe herun-
terließen. Hier verließen uns die Soͤhne des Sarem-
bet, und wir ſetzten nun unſern Weg nordoſtlich fort.
Rechts blieben fuͤnf ſich einander ſehr aͤhnliche, iſolirte,
M 3hoͤcke-
[182]Sievers Briefe
hoͤckerige, kahle Berge, denen die Kirgiſen den Namen
Beß-Tſchocho (fuͤnf Berge) gegeben haben. Linker
Hand wurde die Steppe von dem ziemlich hohen Gebir-
ge Lawa begraͤnzt. Die erſte chineſiſche Graͤnzwache
Boͤroͤ Taßtagan blieb uns etwa 25 Werſte rechter
Hand; ſie iſt am Fuß eines kleinen iſolirten Huͤgels am
Bugaß ins runde wie ein Staͤdtchen gebauet. Nicht
weit davon iſt an dem vorbey fließenden Fluͤßchen Ba-
ſar
Ackerbau. Auf unſerer duͤrren Steppe, deren Bo-
den bald ein rother eiſenſchuͤſſiger, mit vielen Scherben
von eiſenhaltigem Schiefer vermiſchter, bald ein gelbli-
cher oder ſchmutzig weißer, vom Regen und Hitze ganz
feſt gewordener und voller Riſſe ſeyender Lehm, mit gro-
bem Granitgrieß hin und wieder uͤberſtreut war, bemerk-
te ich, außer einer ungeheuren Menge Artemiſia Santoni-
cum, Nitraria Schoberi,
einigen Salſolis, Agroſtis arun-
dinacea
und Robinia argentea, einem ſchoͤnen neuen
Strauch, der ſehr hoch und aͤſtig wuchs, der Spiraea
mit dem Spatelfoͤrmigen Blatte, noch die Atripiex pe-
dunculata,
und einen neuen kriechenden Straͤuchlein, wel-
ches ich fuͤr einen neuen Tamarix halte. Die ganze
Steppe ſcheint wohl ſo wenig zum Ackerbau, als zur
Viehzucht zu taugen. Sie muß auch zuweilen Ueber-
ſchwemmungen ausgeſetzt ſeyn, welches ein haͤufiges, fi[t]-
ziges, duͤnn aufgeſchwemmtes Gewebe bewieß. Durch
dieſe Steppe ſtreichen hin und wieder Schiefer in nie-
drigen ſcharfen Kaͤmmen oder Ruͤcken. Tſchudiſche Graͤ-
ber fiengen ſich auch an wieder zu zeigen. Jn der Naͤ-
he von einem ſehr großen derſelben, deſſen Gewoͤlbe ein-
gefal-
[183]aus Sibirien.
gefallen ſeyn mußte, welches man wohl oben an der ein-
geſenkten Mitte ſehen konnte, gerieth ich auf einen nicht
hohen Huͤgel, der Steine zu Tage ſchickte, die wie der
ſogenannte Sienit, ganz ſchwarzglaͤnzend und nicht uͤbel
ausſahen. Es war eigentlich ein gemeiner Granit, der
von dem groͤßern Antheil Schoͤrl ein ſchwaͤrzeres Anſe-
hen hatte; den naͤchſten Antheil macht Quarz, dann
Feldſpath, und Glimmer das Wenigſte. Wir mittag-
ten an einigen kleinen Quellen, die einen ganz geringen
Gehalt von Kuͤchenſalz zu haben ſchienen, und einen
Moraſt bilden, um welchen herum Senecio paludoſus,
Scirpus lacuſtris, Chenopodium glaucum, Arenaria me-
dia, Glaux maritima, Atriplex ſalina?
und ein Iuncus
merkwuͤrdig waren. Vor uns erhob ſich nun eine Kette
nicht hoher, oͤfters durch Steppe unterbrochener Gebirge,
Sſarachol. Viele Huͤgel beſtanden aus abgetheilten,
uͤber einander liegenden, großen Granittafeln. Kaum
hatten wir abgegeſſen und angefangen aufzupacken, als
wir von einem ſtarken Donnerwetter mit graͤßlichem Re-
gen uͤberfallen wurden; dieſer Zufall haͤtte beynahe alle
meine bloß liegenden Papiere mit den Pflanzen verdor-
ben, eine ungluͤckliche Minute haͤtte beynahe eine vier-
woͤchentliche hoͤchſt muͤhſame Arbeit verdorben. Bota-
niſche Exkurſionen in einem mit allen Bequemlichkeiten
verſehenen ſchoͤnen Kraͤutergarten, in Lauben und Haͤu-
ſern, mit Limonaden und Kaffee, Schokolade und Thee
u. ſ. w. und Exkurſionen auf einer offenen heißen Step-
pe ohne alle Bequemlichkeit und unter tauſend Unbe-
quemlichkeiten, oft nicht ohne Sorge und Gefahr, ſind
M 4him-
[184]Sievers Briefe
himmelweit von einander unterſchieden. Hier braucht
man beynahe mehr wie menſchliche Geduld. — Jndeß
rettete ich fuͤr dasmal noch alles, bekam aber die ganze
Taufe ſelbſt auf den Leib, indem ich in einen großen
Mantel gehuͤllt uͤber den Papieren ſtand. Der heutige
Tag ſchien aber zum Durchnaͤſſen beſtimmt zu ſeyn: denn
etwa um 5 Uhr ſtieg abermals von Weſten nach Oſten,
alſo uͤber den halben Compaß, ein ſchrecklich anzuſehen-
des Gewoͤlke herauf, das durch die untergehende Son-
ne beynahe kohlſchwarz erſchien; unaufhoͤrliche Blitze
ſchlaͤngelten ſich in demſelben herum, mit dem fuͤrchter-
lichſten Donner begleitet. Bald darauf floß das Waſſer
wie in Stroͤmen auf uns herab; dieſe ſchoͤne Muſik waͤhr-
te zwar nicht uͤber eine halbe Stunde, aber ein feiner Re-
gen hielt bis um 3 Uhr Morgens an, wobey uns nichts
trockenes blieb, als meine Pflanzen und der Proviant,
welcher in ledernen großen Torniſtern ſich befand.


Den 23ſten Jul. Dem allen ohngeachtet hatten wir
unter dem naſſen Zelt und auf den naſſen Decken ſanft
geſchlafen. Mit Sonnenaufgang glengen wir weiter,
freylich mit hungrigem Magen; erreichten aber bald ei-
nen grasreichen Bach, wo unſere Thiere und wir uns
ſaͤmmtlich etwas wieder labten. Rechter Hand erblickten
wir einige Jurten, welche wir aber vorbey zogen.


Auf den letzten Huͤgeln des Sſaracholl zeigten mir
meine Fuͤhrer in NW. einen hohen, abgerundeten Berg
Oertoͤng-Tau, der ein vor Alters ausgebrannter Vul-
kan ſeyn ſoll. Weiter hinter in derſelben Richtung er-
ſchien der hohe, ebenfalls abgerundete, bekannte Berg
Kall-
[185]aus Sibirien.
Kallmuͤck-Tologoi (Kallmuͤcken Koppe) mit ſeinen
ſich nordwaͤrts, dieſſeits des Jrtiſches, hinſtreckenden an-
gehaͤngten Gebirgen. Eine ungeheure Menge von ei-
nem Allio, das neu ſcheint, war hier, wovon zum Mit-
tagseſſen geſammelt wurde. Nun ließen wir uns in eine,
beſonders nach Oſten zu, ganz offene glatte Steppe nie-
der, worinn, noch 2 Tagereiſen von uns entfernt, der
beruͤhmte Noor-Saiſſan liegt, wovon weiter unten ein
Mehreres.


Aſclepias rubra ſah ich hier an den ſandigen Raͤn-
dern von kleinen ſalzigen, mit Arundo Calamagroſtis
bewachſenen Seen. Wir mittagten an einem Fluͤßchen
ohne Waſſer, das Choß-Agatſch hieß. Choß heißt,
wenn 2 Baumſtaͤmme aus einer Wurzel hervorwachſen:
eine ſolche Birke ſtand etwa eine Werſt niedriger, und
davon hatte das Fluͤßchen ſeinen Namen. Es muß zu-
weilen groß genug werden, denn an vielen Plaͤtzen ſah
ich Merkmale von Ueberſchwemmungen. Hin und wie-
der war vom geſtrigen Regen Waſſer uͤbrig geblieben,
welches zum Kochen dienen mußte. Am ufer herum
wuchſen Salix — — Ephedra monoſtachya mit ſchoͤ-
nen rothen Beeren uͤberſaͤet, Cuſcuta Epithymum und
europaea, Aſtragalus caulibus proſtratis diſſuſis, Son-
chus tataricus,
und mehr andere. Rechter Hand, et-
wa 10 Werſte vor uns, lag die chineſiſche Graͤnzwache
Dſchuͤs-Agatſch (hundert Baͤume) am ſtillfließenden
Fluͤßchen Tſchegedeck. Dieſe iſt von Boͤroͤ-Taßtagan
55 Werſte entfernt, und zwar deswegen ſo weit, weil
in dem ganzen Abſtand kein Ort iſt, wo ſich Menſchen
M 5halten
[186]Sievers Briefe
halten koͤnnen, aus Mangel an Waſſer, Holz, Futter
u. ſ. w. Von Dſchuͤs-Agatſch folgt weiter unten zum
Jrtiſch, am Fluß Bekoͤ oder Bekun die Wache Chat-
tun-Karragai,
und dann am Jrtiſch eine andere,
Koßtuͤboͤ, welche noch, nebſt einigen andern darauf
folgenden, unter die Hauptfeſtung Sagiſtan, oder ei-
gentlich Tſchangaſta, gehoͤren. Bis hieher ſind dieſe
Graͤnzwachen, von Suͤden her gerechnet, groͤßtentheils
mit Kallmuͤcken beſetzt, unter den Befehlen eines chine-
ſiſchen Offiziers; aber von dem jenſeitigen, am Jrtiſch
liegenden Graͤnzpoſten, bis zum Amur u. ſ. w. beſtehet
die gemeine Beſatzung aus Mongolen oder Mandſchu-
ren. Zu nahe darf kein Fremder dieſen Wachen kommen,
oder er laͤuft Gefahr in Ketten geſchloſſen nach Pe-king
gefuͤhrt zu werden. Durch dieſe ſtrenge Vorſicht ſichern
die Chineſen ihre weſtliche, nordliche und nordoſtliche
aͤußerſt ſchwach beſetzte Graͤnzen.


Nach etwa drey Stunden Ruhe ſetzten wir unſern
Weg weiter fort, und ließen Dſchuͤs-Agatſch nur 4
Werſte von uns rechter Hand liegen. Rund herum war
dieſer Poſten mit Baͤumen umgeben, ſo daß uns in der
Entfernung die Wachthabenden wohl nicht ſehen konn-
ten; indeſſen ſetzte uns doch ein von dorther auf uns zu
reitender Kirgiſe in Furcht; wir fanden aber, als er zu
uns kam, daß dieſe vergeblich geweſen. Er ritt zu ſei-
ner Jurte in der Jtile-Kiretzkiſchen Wolloſt, welche
8 Werſte weiter hin ſtand. Wir eilten alſo, ſo viel wie
moͤglich, weiter, und paſſirten den ſehr traͤgen Tſchege-
deck,
wo wir, weil bis auf 50 Werſt weiter hin kein
Waſſer
[187]aus Sibirien.
Waſſer zu bekommen war, uns recht ſatt tranken und un-
ſere Turßucki vollfuͤllten, in denen von vorhin gedachten
ſauren Kaͤſen (Churt) ſich befanden. Fuͤnf Werſte wei-
ter hatten wir die herrlichſten Wieſen zu paſſiren, die
aber hin und wieder uͤberſchwemmt waren. Jch fand
Carduus cyanoides polyclonos und Arundo Calama-
groſtis.
Aber bald darauf fieng die duͤrre Salzſteppe
wieder an, auf welcher wir in Geſellſchaft von Muͤcken
uͤbernachten mußten.


Den 24ſten Jul. Morgens vor Sonnenaufgang
giengs mit hungrigen Pferden weiter, dem in den Jr-
tiſch fallenden Bekunfluß zu, welchen wir um Mittag
paſſirten. Hier iſt die ganze Gegend voll von blendend
weiſſen, der Laͤnge nach von Suͤden nach Norden hin
laufenden, maͤchtigen Sandhuͤgeln, die groͤßtentheils
aus zermalmtem Quarz zu beſtehen ſcheinen, und bey hel-
lem Sonnenſchein in der Ferne ein ſchoͤnes Anſehn gewaͤhr-
ten. Man vergleiche hier uͤbrigens den dritten Brief von
Kiachta. Hier am Bekun, in dem ſalzigen Sande,
fand ich Pallaſia Pterococos, Robinia Halodendron,
Robinia argentea mihi, Althaea officinalis,
ein Arundo
Calamagroſtis,
und Clematis ſongarica; ferner Moluc-
cella tuberoſa P. Aſclepias ſibirica
mit großen Schoten,
die praͤchtigſten Baͤume von Populus alba in der
groͤßten Menge, nebſt Populus nigra, tremula und Be-
tula alba.
Zehn Werſte hatten wir nun noch bis zum
Jrtiſch, uͤber den wir heute noch ſchwimmen wollten.
Der ganze Weg dahin gieng laͤngſt gedachten Sandhuͤ-
geln, theils uͤber dieſelben, und theils durch recht frucht-
bare
[188]Sievers Briefe
bare Wieſen. Kaum hatten wir unſer Zelt aufgeſchla-
gen, als uns ein Donnerwetter mit einem heftigen Re-
gen wiederum auf drey viertel Stunden heimſuchte. Als
dieſes voruͤber war und wir unſern hungrigen Magen be-
friedigt hatten, machten wir Anſtalt zur Ueberfahrt, wel-
che ohnweit des Noor-Saiſſans zwiſchen den Muͤn-
dungen der beyden Fluͤſſe Kurtſchum und Bekun ge-
ſchah. Die Kirgiſen halten ſich hier beſtaͤndig zu ihrem
haͤufigen Hin- und Herfahren einige Kaͤhne, die jeder
aus einem einzigen ausgehoͤhlten Schwarzpappelſtamm
beſtehen. Meine Begleiter wußten den Ort, wo ſelbi-
ge gewoͤhnlich in dem hier haͤufig wachſenden ſehr hohen
Schilf (Calamagroſtis) verſteckt lagen, zwey derſelben
ſchwammen alſo mit 2 Pferden uͤber den ſehr breiten und
ſchnell ſtroͤmenden Jrtiſch, und ſchleppten die Boͤte her-
uͤber. Dieſe banden wir nun zuſammen, legten die Ba-
gage darauf, ſpannten 2 andere Pferde vermittelſt der
Schweife davor, und ſo ſetzten wir uͤber den Strom, oh-
ne weiter Schaden zu nehmen, bey dem ſchoͤnſten Wet-
ter. Kameele und Pferde, Ziegen und Schaafe, Kuͤhe
und Ochſen der Kirgiſen ſind zu dergleichen Schwimmen
gewoͤhnt. Es koſtet dieſen Leuten daher mit ihren Heer-
den wenig Muͤhe, uͤber einen Fluß zu ſetzen. Nun alſo
ſind wir eigentlich im chineſiſchen Reiche. Jch war wie
ein Dieb hinein geſchlichen; denn waͤren die zwiſchen
den Graͤnzwachen gehenden chineſiſchen Patrouillen auf
uns geſtoßen, ſo haͤtte meine kirgiſiſche Tracht mich nicht
ſichuͤtzen koͤnnen; das europaͤiſche Geſicht wuͤrde mich ver-
rathen haben. Jſt man aber nur uͤber die Graͤnzlinie
hin-
[189]aus Sibirien.
hinaus, ſo hats dann weiter auf einige 100 Werſte im
Jnnern nichts zu ſagen, ſo weit die Kirgiſen nehmlich
wohnen.


Jch habe die Ehre zu ſeyn u. ſ. w.


Vierzehnter Brief.



Wir glaubten uns am Jrtiſch noch nicht ſicher ge-
nug, unſere ermuͤdeten Laſtthiere mußten ſich alſo noch
zu einem Marſch von 10 Werſten verſtehen. Jenſeit
des Kurtſchumfluſſes, laͤngſt welchem wir bald dar-
auf fortzogen, erhob ſich ein kahler Berg, der Kur-
tſchum-Acktuͤboͤ;
dieſer wechſelte in der Mitte mit
rothen und weiſſen Schichten ab. Der Kurtſchum
iſt ziemlich reiſſend, voller großer Flußkieſel, und bey
weitem breiter wie der Bekun; an ſeinen Ufern iſt ein
Ueberfluß von Populus nigra, t [...]mula und Betula alba.
Sein Waſſer iſt, ſo wie das aus dem Bekun, vortreff-
lich. Hin und wieder ritten wir uͤbr Strecken der ſchon-
ſten Weide, wo beſonders eine ganz unbeſchreibliche
Menge Trifolium Melilothus a[b]a, mit der Trigonella
ruthenica,
den Vorzug behaupteten. Dieſe beyden
Pflanzen waren von einer Hohe und fettem Anſehen, der-
gleichen ich nie geſehen habe.


Den 25ſten Jul. Heute, wie geſtern, abwechſelnd
duͤrre Steppe mit Artemiſia Santonicum, hin und wie-
der Ruta divaricata, Artemiſia crithmifolia, Atriplex
pedunculata,
und zuweilen ſchoͤne Weide. Von denen
im
[190]Sievers Briefe
im Jahre 1771 heruͤbergezogenen Aſtrachaniſchen Kall-
muͤcken, denen Toͤrgut, fanden wir noch Spuren ihres
damals hier gehabten Ackerbaues, die in ſchon beynahe
wieder eingeebneten vielen aus dem Kurtſchum abgelei-
teten Kanaͤlen beſtanden. Dieſe Horde, die mit den im
Buͤskiſchen Kreiſe wohnenden Telenten (Toͤloͤt) nahe
verwandt ſind, wohnen nun am obern Jrtiſch, unter chi-
neſiſcher Bothmaͤßigkeit in dem beſten Wohlſeyn, wie
man ſagt. Sie haben unter ſich mehrere Befehlshaber
aus ihrer eigenen Nation, die aber alle dem in der Stadt
Jrumdſchi wohnenden chineſiſchen Gouverneur gehor-
chen muͤſſen.


Allmaͤhlig erhob ſich nun das Altaiſche Gebirge uns
zur Linken, aus welchem der Kurtſchum ſeinen Ur-
ſprung nimmt. Jn unſerer Steppe ſind nun wieder
Saigi(Antelope Saiga), wilde Schaafe (Ovis Am-
mon),
wilde Schweine und tſchudiſche Graͤber nicht
ſelten. Die Ebene oͤnderte ſich nun wieder in kahle ſanf-
te Berge, wir paſſirten einen laͤnglichen geſalzenen See,
wo ich eine große Menge der fetten dickſtenglichen Sali-
cornia caſpica
und Atriplex tatarica antraf. Dann er-
blickten wir Schaafe und Kameele, und gelangten um 4
Uhr Nachmittags in einem Aul an, wo wir, in einer
recht netten Jurte eines Bruders des Saͤnduͤcks, uns
bey dicker ſaurer Kuhmilch (Airoͤn) in etwas erholten,
dann fertigte ich die ganze Equipage den geraden Weg
zu Saͤnduͤcks Jurte 10 Werſte fort, ich ſelbſt aber gieng
mit 2 Begleitern uͤbers Gebirge, in der Hoffnung, die-
ſen Abend noch etwas fuͤr mich zu finden. Jch betrog
mich
[191]aus Sibirien.
mich eben nicht, denn als ich den erſten Berg uͤberſtie-
gen hatte, ließ ich mich in ein merkwuͤrdiges Thal her-
nieder, es beſtand aus einer großen Menge iſolirter Huͤ-
gel, die allenthalben weiſſen Granit, deſſen Hauptbe-
ſtandtheil Feldſpath war, zu Tage ausſchickten. Zwi-
ſchen dieſen bemerkte ich ſchoͤne Quarzkriſtallen, und die
mit denſelben aus einerley Materie beſtehenden, mit Ei-
ſenocher bedeckten Quarzdruͤſen, deren einige ganz
ſchwarz; ferner Quarzgeſchiebe mit Eiſenglanz und Ei-
ſenglimmer, und Quarz-Breccien hin und wieder. Hier
ſollte ich beynahe edle Gaͤnge vermuthen, konnte aber
doch, aller Muͤhe ohnerachtet, am Tage nicht eine Spur
davon entdecken. Tamarix gallica war alles, was ich
von Geſtraͤuchen oder Baͤumen ſah, und die nicht ſchlech-
te Weide beſtand aus bekannten Graͤſern. Uebrigens
ſollte ich mich beynahe uͤberzeugen, daß dieſe Huͤgel nicht
ohne edle Gaͤnge ſeyen. Die einbrechende Nacht hieß
uns eilen: rechter Hand ſahen wir noch einen kleinen
See, und linker Hand wurden die Altaiſchen Gebirge
immer maͤchtiger, einige davon waren mit Schnee be-
deckt. Allmaͤhlig waren hier nun die Thaͤler wiederum
mit Jurten und Heerden voll, und daher fuͤr mich um deſto
angenehmer. Spaͤt langten wir bey dem freundlichen
Saͤnduͤck an, wo ich mein Zelt und Leute ſchon in Ord-
nung fand, und was das Beſte war, ein Schaaf in 2
Keſſeln uͤber dem Feuer, woruͤber wir uns mit 20 an-
dern Gaͤſten um Mitternacht hermachten und uns er-
quickten. Hier war eine ſo anſehnliche Familie wie die
des Sarembets. Sieben Gebruͤder des Saͤnduͤck
ſtan-
[192]Sievers Briefe
ſtanden mit ihren Jurten um einen etwa eine Werſt lang
ſeyenden See mit ſuͤßem Waſſer, dem Ballack-Tſchi-
leck.
Die Eltern dieſer Familie waren bereits vor et-
wa 6 Jahren in einem hohen Alter geſtorben. Jch fand
hier alle moͤgliche gute Aufnahme.


Den 26ſten Jul. Geſchlafen hatte ich, wie ein Je-
der leicht gedenken kann, ganz vortrefflich. Beym Er-
wachen ſchaute ich umher und ſah, daß ich in einem ganz
ſonderbaren Thale mich befand. Um es naͤher zu un-
terſuchen, endigte ich das Fruͤhſtuͤck ſehr bald und lief
davon. Das ſehr hohe Thal mag etwa 5 Werſt in der
Laͤnge und 3 in der Breite haben, es iſt in NWeſten
und Norden von einer Mauer gleichſam begraͤnzt, die
aus ungeheuren roͤthlichen Granitbloͤcken hin und wieder
ganz ſenkrecht abgeſchnitten, an andern Orten wiederum
aus aufgethuͤrmten runden Bloͤcken beſteht. Der groͤßte
Theil des Bodens des Thales iſt gleichſam mit 2, 4 bis
10 Faden langen Tafeln von eben der Steinart ausge-
pflaſtert, zwiſchen welchen ſich hin und wieder noch ein-
zelne Aggregate von Granitbloͤcken oder Tafeln erheben.
Gegen Norden iſt [von] der abhaͤngigen Seite her ein 15
Faden langer, von der Natur gemachter 5 Faden brei-
ter Gang, deſſen Waͤnde ſteil auf gehen, und etwa 4
Faden hoch ſind; in dieſem Gange fließt ein kleiner kla-
rer Quell. Der Theil des Thales, wo der vorgenannte
See iſt und die Jurten ſtehen, hat etwas Weide, und
beſteht gaͤnzlich aus zerriebenem Granitgrieß.


Zur Fuͤtterung des Viehes muͤſſen die Kirgiſen daſ-
ſelbe 5 Werſt weiter treiben, wo es an Weide nicht
fehlt.
[193]aus Sibirien.
fehlt. — Die Pferde haben ſie aber 80 Werſte weiter,
in dem Altaiſchen Gebirge, daher mußten wir auch den
Kuͤmuͤß hier entbehren. Statt deſſen trank man Airaͤn.
Zwiſchen den eben genannten Granittafeln wuchs eine
Robinia hervor, die ich dreiſt neu nennen kann, und der
der Name tragacantoides am angemeſſenſten iſt. Außer
dieſer, der Spiraea alpina, Poa tenella, Sophora alope-
curoides, Roſa canina, Spiraea Chamaedryfolia, Ar-
temiſia rupeſtris minor et crithmifolia, Potentilla ſub-
acaulis,
fand ich in dem getafelten Thale weiter nichts
Merkwuͤrdiges. Die in Oſten gelegenen kahlen Schie-
fergebirge waren voll von Moluccella quadrangula und
Rheum nanum. Jch glaube immer, die Entſtehung die-
ſes auffallenden Thales, mit denen am Jrtiſch geſehenen
Sandhuͤgeln, iſt einer ehemaligen maͤchtigen Waſſer-
fluth zuzumeſſen; vor dieſer Fluth mag das Thal wohl
ein hoͤherer Berg geweſen ſeyn. Jn jene Ueberſchwem-
mung glaube ich auch den Urſprung des Noor-Saiſ-
ſans
ſetzen zu duͤrfen. Jndeſſen, ſonderbar genug, daß
ich nirgends die geringſte Spur von verſteinerten Mee-
resprodukten fand. Wenn die Fluth von Suͤden kam,
ſo ſind ſelbige vielleicht ſchon vor dem Tibetiſchen hohen
Gebirge nachgeblieben.


Bey meiner Zuhauſekunft ſah ich viele Kinder die
großen, weißen, roͤhrigen, ſuͤßen Wurzeln der hier und
beſonders am Saiſſan ſehr haͤufig wachſenden Arun-
do Calamagroſtis
als einen Leckerbiſſen verzehren. Jhr
kirgiſiſcher Name iſt Kogà.


NDen
[194]Sievers Briefe

Den 27ſten Jul. Man erzaͤhlte mir heute, daß ſich
gegen Suͤden, etwa 10 Werſte von hier, koſtbare Stei-
ne finden ſollten, deren Verkauf ehemals denen hier her-
umziehenden Taſchkinern manchen Gewinnſt verſchafft
haͤtte. Um mich hiervon zu uͤberzeugen, gieng ich zu
Pferde ſogleich dahin mit einigen Begleitern ab. Beym
Vorbeyreiten einer von unſern Jurten hoͤrte ich ein Ge-
klopfe, wie wenn man in Deutſchland den Flachs tritt.
Der Wirth war mir ſchon bekannt, ich ſtieg alſo herab,
gieng in die Jurte, und ſah 6 Dirnen mit langen duͤn-
nen weißen Stoͤcken einen in der Mitte liegenden Hau-
fen feiner weißer Schaafwolle ganz taktmaͤßig ſchlagen.
Dieſe Wolle wird zu den feinern Filzen verwalkt, und
wuͤrde auch wohl zu mittelmaͤßigem Tuche getaugt ha-
ben. — Jch ſetzte darauf meinen Weg neben einigen
alkaliſchen Salzſeen, die bey großer Hitze oͤfters ganz
austrocknen, vorbey, nach einem Ort, wo eben derglei-
chen Granit- und Quarzhuͤgel waren, wie vorhin er-
waͤhnt; ich wußte alſo auch vorher, was fuͤr Schaͤtze
hier vergraben lagen. Jch fand wirklich auf einer iſo-
lirten Koppe geſchuͤrft, und brachte ſelbſt noch einige ſchoͤ-
ne ſechseckige Quarzkriſtallen zu Tage. Jndeſſen, der
ſchoͤne vorhin ſchon erwaͤhnte neue Tamarix machte mir
mehr Vergnuͤgen, als die Steine. Sonſt traf ich fuͤr
dasmal nichts, kehrte alſo durch einen andern Weg wie-
der heim, und zwar um eine Tochter meines geweſenen
Wegweiſers Chaial, die hieher verheyrathet war, zu be-
ſuchen. Hierbey hatte ich abermals Gelegenheit zu ſe-
hen, daß die Kirgiſen gefuͤhlvolle Menſchen ſind. Wir
kamen
[195]aus Sibirien.
kamen in eine nette, reiche Jurte, wo wir von einer jun-
gen, wohlgewachſenen Perſon empfangen wurden. Mein
Kalmuͤck brachte ihr einen Gruß von Vater und Mutter.
Augenblicklich erkannte ſie den Kalmuͤcken und fieng fuͤr
Freuden und vielleicht aus Heimweh bitterlich an zu wei-
nen. Sie that unter beſtaͤndigem Schluchſen viel Fra-
gen, ließ ſich dabey, von einigen herbeygekommenen
Frauenzimmern, ſogleich den beſten Kopfputz anlegen,
und warf ein beſſeres Kleid uͤber. Mittlerweile kam ihr
junger Mann dazu und nun verbrachten wir einige Zeit
mit Vergnuͤgen. Beym Abſchiede gieng das Weinen
der Frau von neuem an. —


Meine Edelgeſtein-Promenade war alſo fuͤr das-
mal nicht gelungen, aber eine andere gerieth beſſer. Et-
wa 10 Werſt von hier iſt ein kleiner Salzſee, der nur
erſt neulich ſelbſt von den Kirgiſen entdeckt worden iſt,
die Berge Dolloncharà und Arrachulun umgeben
ihn. Bey meiner Zuhauſekunft waren die dahingeſchick-
ten Kirgiſen und 2 Kameele wieder zuruͤckgekommen,
und hatten ſehr bald etwa 12 Pud des ſchoͤnſten, durch-
ſichtigſten in der groͤßten Vollkommenheit kriſtalliſirten
Kuͤchenſalzes zuſammen geſchaufelt. Nie habe ich in ei-
nem chemiſchen Laboratorio ſo ſchoͤnes Salz geſehen als
was hier die Natur lieferte, um noch ſo viel weniger in
anderen Salzſeen oder Salzſiedereyen. Abends ſchwaͤrm-
ten hier eine Menge fliegender Ameiſen herum, die aber
weiter nicht beſchwerlich waren.


Den 28. Jul. Bisher habe ich Sie mit den le-
bendigen Menſchen unterhalten. Es iſt alſo Zeit daß
N 2ich
[196]Sievers Briefe
ich auch einmal etwas uͤber todte rede. Jn dieſen Ge-
genden iſt es voller an den ſogenannten Tſchudiſchen Graͤ-
bern, wie an irgend einem andern von mir geſehenen
Orte. Einige derſelben zeichnen ſich beſonders durch
ihre Hoͤhe und ſtarken Pfeiler aus. Jch hatte große
Luſt den Jnhalt dieſer Graͤber zu ſehen, fragte daher die
Kirgiſen um ihre Erlaubniß dazu. Sie antworteten
mir, daß zwar nach ihren Geſetzen dergleichen nicht er-
laubt waͤre, indeſſen, da dieſe Graͤber von ganz verlo-
ſchenen Voͤlkern herruͤhrten und nicht von ihrer Nation
ſeyen, ſo wollten ſie dann auch mir keine Hinderniſſe in
den Weg legen. Ja ſie bezeigten ſelbſt Neugler zu ſe-
hen was wohl dieſe Graͤber enthalten moͤchten. Alſo
ohne weitern Zeitverluſt machten wir uns, acht an der
Zahl, an ein nahe gelegenes, anſehnliches Grab. Zwey
Tage koſtete uns dieſe Arbeit: Erſtlich hatten wir eine
große Menge Steine aus einander zu werfen; dann folgte
eine Fuß hohe Lage ſchwarzer Dammerde, unter dieſer
war bis auf den Boden des Grabes nichts wie klarer
Granit und Quarzgrieß, mit vieler Mica foliacea, wo-
von die hieſige ganze Gegend voll iſt. Das Gewoͤlbe
des Grabes war aus großen unbehauenen Granitplatten
zuſammengeſetzt, aber zuſammengefallen. Nachdem
dieſe und eine Menge Sandes weggeraͤumt war, gerie-
then wir dann endlich auf das morſche Gerippe eines 6
jaͤhrigen Pferdes. Dieſes Alter beſtimmten die Kirgi-
ſen aus den noch gut erhaltenen Zaͤhnen. Seine Lage
war von Suͤden gegen Norden; weder Sattel noch ſonſt
einiges Lederzeug war zu finden. Endlich, nach ſorgfaͤl-
tig
[197]aus Sibirien.
kig fortgeſetztem Aufraͤumen, erhielt ich einen menſchli-
chen Kopf, außer dieſem, einige Ueberbleibſel vom Arm-
knochen und einem Schienbein konnten wir durchaus
nichts entdecken. So fehlte auch am Kopfe der Unter-
kinnbacken. Um alle uͤberfluͤßige Beſchreibung zu ver-
meiden verweiſe ich Sie auf die ſehr genau gerathene
dem Herrn Profeſſor Blumenbach mitgetheilte Zeich-
nung in natuͤrlicher Groͤße. Die Phyſionomie mag der
Kalmuͤckiſchen ziemlich aͤhnlich geweſen ſeyn, nur fiel
mir das ſehr flach zuruͤckfallende Stirnbein und die bey-
nahe viereckige Geſtalt der Augenhoͤhlen (Orbitae) auf.
Die Sutura ſrontalis war ziemlich verwachſen. Das
Occiput fehlte ganz ſo wie ein Theil des Diſſepimenti
narium.
Die Lage des Geripps war ohngefaͤhr von Oſten
nach Weſten; da wo die Fontanelle geweſen war fand
ich die Platten ſehr hart und dick, wir ſchloſſen alle auf
ein Alter von etwa 50 Jahren. Zwiſchen dem Men-
ſchen und dem Pferde ſah ich die Figur eines etwa 1½ El-
len langen zweyſchneidigen, zollbreiten geraden Schwerd-
tes, welches aber ſo vermodert war daß ich das Eiſen mit
den Fingern zerreiben konnte. Neben dieſem Schwerdte
fand ich 10 eiſerne Pfeilſpitzen gleichſam an einander
feſtgeſintert, die Enden welche zum Schießen und zum
Eindringen ins Fleiſch dienten, beſtanden aus 3 Blaͤt-
tern und alle 3 machten dann ein Dreyeck. Jn der Ge-
gend auf der Bruſt ſcharrten wir viele Goldblaͤttchen her-
vor, ſo wie ſie natuͤrlich oͤfters in den kolywaniſchen Er-
zen vorkommen. Jn der Gegend der rechten Hand ent-
deckte man 2 geſchmiedete goldene Ringe, jeder etwa
N 3zwey
[198]Sievers Briefe
zwey Quentlein am Gewicht; zwiſchen den Knochen des
Pferdes fanden ſich viele mit Geſchicklichkeit verarbeitete
Spangen und Beſchlaͤge vom Pferdegefchirr; ſie waren
von Kupfer und duͤnn verſilbert. Eine eben ſo verarbei-
tete, 2 Zoll im Durchmeſſer habende Platte, die wahr-
ſcheinlich vor der Bruſt des Pferdes geſeſſen haben mußte
alles aber ſehr verroſtet. Unter dieſer Platte war noch
etwas Leder, welches dem aͤhnlich ſah, das man aus
Elennsfellen zu ledernen Beinkleidern zubereitet. Uebri-
gens fand ich geringe Spuren von Holz, Baumwolle
und Zeug und einen kupfernen ſchlechtweg bearbeiteten
Steigbuͤgel. Das Grab war anderthalb Faden tief.
Ohngefaͤhr in der Mitte der Vertiefung ſetzte eine 3 Zoll
maͤchtige graue Erdlage durch, die das Anſehen von Aſche
hatte: hin und wieder bemerkte ich auch Neſter einer
ſchwarzen Erde, die mir wie gebrannte vorkamen.


Nach dieſem machten wir uns an ein anderes, deſ-
ſen Gewoͤlbe aber fuͤr uns zu ſtark war, indem wir keine
Brecheiſen bey uns hatten. Wir zogen denn doch einen
auf das Gewoͤlbe aufgeſtuͤlpten, etwa 38 Pſund ſchwe-
ren, aus Kupfer gegoſſenen Keſſel hervor, unter wel-
chem ein Streithammer von eben dem Metalle lag. Die
Hoͤhe des Keſſels war 28 engliſche Zoll und der weiteſte
Durchmeſſer oben 16, aber auch nicht eine Spur weiter
von Holz.


Dieſe Leute waren alſo ſchon ziemlich erfahrne Me-
tallarbeiter und nicht ungeſchickte Bergleute, welches
viele Spuren beweiſen, die noch heutiges Tages in ver-
ſchiedenen kolywaniſchen Gruben entdeckt werden. Das
Erdreich
[199]aus Sibirien.
Erdreich worin viele von dieſer verſchwundenen Nation
hier herum begraben liegen, iſt trockener Sand, auf
Granitfelſen. Man wundere ſich alſo nicht daß ich noch
Ueberbleibſel von Knochen fand. Ueber die Frage, wer
dieſe Leute waren? werde ich mir den Kopf nicht zerbre-
chen. Keiner von den aſiatiſchen Nomaden hat mir je
Auskunſt daruͤber geben koͤnnen. Jſt die hieroglyphiſche
Schrift die ihrige, welche vom Ritter Pallas am Jeni-
ſei und ohnweit der Feſtung Ackſcha in der Gegend des
Jngoda-Fluſſes geſehen und gezeichnet worden, ſo iſt
ihr Daſeyn mit den alten Egyptern zu gleicher Zeit ge-
weſen. Sie muͤſſen aber eine maͤchtige Nation geweſen
ſeyn, indem ſich ihre Graͤber auf dem 60. Grad der Laͤn-
ge anfangen und ſich auf dem 140. Grad endigen. Der
Anfang in der Breite iſt ohngefaͤhr auf den 58. Grad
nordlich zu ſetzen; wie weit ſie ſich nach Suͤden erſtreck-
ten, mag ich nicht beſtimmen. Bis auf den 45ſten habe
ich ſie ſelbſt geſehen. Hr. Profeſſor Fiſcher gedenkt in
ſeiner Geſchichte von Sibirien großer Begebenheiten un-
ter mancherley aſiatiſchen Voͤlkern z. B. die Kara-Ki-
taier; eine barbariſche Nation, die Kitan, Einwohner
von Leao-tong; die Heerzuͤge des Tſchingis-Chan; die
des Kaiſers Tſchu u. dgl. Vielleicht ruͤhren ſie von ei-
ner jener Begebenheiten her.


Der Schluß dieſes Briefes mag die Beſchreibung
einer kirgiſiſchen Weberey ſeyn: die einfacheſte die viel-
leicht exiſtirt. Die Kameelgarnfaden, welche die Wei-
ber nach ſibiriſcher Art vermittelſt der Spindel in den
Haͤnden drehen, waren an zwey in die Erde geſteckte
N 4Pfaͤhle
[200]Sievers Briefe
Pfaͤhle befeſtiget, die ohngefaͤhr 4 Faden von einander
entfernt ſtanden. Jn der Mitte dieſer Entfernung befan-
den ſich drey oben zuſammengebundene Pruͤgel an welchen
das Weberblatt oder Kamm angebunden herabhieng,
durch welches die Faden durchliefen: Uebrigens war der
Weberſtuhl die ganze Welt, ohne einen Webertritt zu
haben. Auf dem ſchon gewebten Zeuge ſaß die Frau,
indem ſie mit der Spuhle arbeitete, und um dieſe durch-
werfen zu koͤnnen hatte ſie zwey Brettchen vor und hinter
den Kamm durch die Faden geſteckt um ſie ſo von einan-
der zu theilen. Das Zeug iſt ohngefaͤhr einer Spannen
breit. Ueberhaupt ſind die Kirgiſinnen ſehr geſchickt in
allerley Flechtwerk. So verfertigen ſie, von wollenem
Garn Baͤnder, Zaͤume, Gurten, Leitſtraͤnge, Binden
u. ſ. w. auch verſtehen ſie ſich auf Stickerey in ihrer Art
ganz vortreflich.


Funfzehnter Brief.



Um die Fluͤſſe zu ſehen aus deren Vereinigung der
Jrtiſch entſteht und die in jenen Gebirgen wachſende
Rhabarber zu unterſuchen, machte ich mich heute


den 29ſten Jul. mit dem Lehrling, dem Dollmet-
ſcher, dem Kaufmann und einem Anverwandten des
Sanduͤck auf die Reiſe nach NO. zu. Wir verfolgten
einige Zeit den Weg, den die Chineſen paſſiren, wenn
ſie im Herbſt von den vorhin erwaͤhnten ſogenannten
Som-
[201]aus Sibirien.
Sommerwachen abziehen und ſich zum Ueberwintern tie-
fer ins Land begeben. Ganz der Laͤnge nach ritten wir
uͤber unſer natuͤrlich gepflaſtertes Thal und ließen uns
ſodann hinunter, wo wir nun wiederum in recht frucht-
bares, recht romantiſch ausſehendes, mit waldloſen Ber-
gen beſetztes Land und uͤber viele kleine, in den Kur-
tſchum
fallende, mit einigen Birken, Weiden, Vibur-
num Opulus, Crataegus ſanguinea
und Roſen gezierte
Baͤche kamen, in welchen kleine Seebuſen nicht ſelten
waren. Vor uns, etwa 80 Werſt, praͤſentirte ſich der
mit ewigem Schnee bedeckte, hoͤchſte, von Weſten nach
Nordoſt ſtreichende Ruͤcken des Altai, von welchem eben
gedachte kahle Berge ſo zu ſagen der Fuß waren. Je
weiter ich mich von meinem Thale entfernte, je mehr
zeigte es ſich, wie wenn es von der Seite des Kurtſchums
von Menſchenhaͤnden aufgemauert worden waͤre, es iſt
aber doch das Werk der Natur. — Auf einer hohen
Bergwieſe erquickte uns Goͤttin Flora mit einem ihrer
beſten Gerichte, den ſchoͤnſten Erdbeeren, in vollem Maaße.
Andrer Orten herum wuchs Gentiana adſcendens, Ve-
ratrum album, Spiraea Ulmaria
und verſchiedene andere
ſchon erwaͤhnte Spiraͤen, Clematis integrifolia, Tha-
lictrum aquilegifol
und alpinum, Typha anguſtifolia,
Allium ſeneſcens
und tataricum, Trifol. Melil. alba,
Roſa pimpinellifolia, Rheum Sibiricum, Potentillae
variae, Ribes alpinum, Serratula coronaria
u. dergl.
Fuͤr den Entomologen iſt auf der ganzen kirgiſiſchen
Steppe wenig zu thun.


N 5Gegen
[202]Sievers Briefe

Gegen Abend gelangten wir in ein angenehmes,
enges, tiefes Thal und zu einer Wolloſt, wo wir Anver-
wandte des Sanduͤcks, eine ſehr freundſchaftliche Auf-
nahme und ein nach kirgiſiſcher Art herrliches Abendeſ-
ſen fanden. Hiebey lernte ich abermals ein neues Ge-
richt kennen, welches nur bey beſondern Gelegenheiten
hergegeben wird. Es waren die muskuloͤſen Theile mit
der Tibia von jungen Pferden geraͤuchert. Allenfalls
die wohlſchmeckenden weſtphaͤliſchen Schinken koͤnnte
man in Ruͤckſicht des Geſchmacks dieſen an die Seite
ſtellen. Sie werden in Gedaͤrmen dem Rauche ausge-
ſetzt und Kallbaßi genannt, eine Benennung, die auch
von den Ruſſen fuͤr die Wuͤrſte gebraucht wird.


Den 30. Jul. Da wir eine ſehr gebuͤrgige Reiſe
noch vor uns hatten, ſo gaben wir den Pferden-heute
noch Ruhe. Jch konnte daher den Tag zum Botaniſi-
ren gebrauchen. Die hieſigen hohen Berge, welche
groͤßtentheils mit recht ſchwarzer Dammerde bedeckt wa-
ren, in welcher die ſchoͤnſte Weide fortkam, lieferten mir
folgendes: Spiraea laevigata, Artemiſia borealis Pall.
Veratrum nigrum, Paeonia laciniata,
die ſich bloß durch
die einfachen Blumen unterſchied, ſonſt aber mit der fet-
teſten weitausgebreiteſten, hoͤchſten Garten-Paeonia
gaͤnzlich uͤbereinkam, folglich mich uͤberzeugte daß *) dieſe
und die laciniata ein und eben dieſelbe Pflanze iſt; Cni-
cus
[203]aus Siberien.
cus uniflorus, Rheum Sibiricum, Heracleum alpinum,
Salix alnoides Schangini, Ribes Uva criſpa,
ganz mit
annoch unreifen Fruͤchten beſaͤet; ſo auch wiederum Erd-
beeren, Aconitum pyrenaicum, Veronica paniculata,
ſpicata,
und alpina, Hieracium amplexicaule, Cunila ca-
pitata.
Noch zeigte ſich hier ein beſonderes Mißgewaͤchs,
nemlich eine ganz verunſtaltete Potentilla bifurca die zu-
weilen mit natuͤrlichen Stengeln aus einer Wurzel ent-
ſproß und wie die Weidenroſen denen geſunden Aeſtchen
die Saͤfte ausſog. Die vorige Nacht und die nun fol-
gende regnete es, wurde aber wieder helle


den 31. Jul. an welchem wir fruͤh ſattelten und
uns nun ins hohe Gebirge begaben. Ehe ich dieſe wei-
ter beſchreibe, muß ich noch eines jungen Maͤdchens Er-
macka
gedenken, als eines Beweiſes daß Empſindſam-
keit auch hier zuweilen herrſcht. Dieſe junge Perſon,
die Tochter eines wohlhabenden Kirgiſen, war außeror-
dentlich ſanft und munter in ihrem Weſen, und dabey
wirklich ſchoͤn. Jhr Anzug war reinlich, und nie ſah
ich ſie ohne irgend eine Beſchaͤftigung. Jch wurde die-
ſem Maͤdchen außerordentlich gewogen; dies ſchien ſie
zu merken, ſie war oͤfters um mich, nicht etwa wie ein
Freudenmaͤdchen, denn fuͤr dieſe, glaube ich, empfindet
man wohl keine Liebe. Beym Abſchiede ſchenkte ich ihr
verſchiedene Sachen, wovon ich wußte daß ſie willkom-
men waren. Jhre ohnedem rothen Backen wurden nun
ploͤtzlich noch roͤther, ſie lief davon und brachte mir bald
drauf eine ganze Schaale voll des beſten Eremtſchicks,
welches grade daſſelbe bedeutete, als wenn ein europaͤi-
ſches
[204]Sievers Briefe
ſches Maͤdchen ihrem Liebhaber einen Blumenſtrauß,
ein Band oder ſonſt ſo etwas aͤhnliches verehret. Jch
druͤckte ihr nun die Haͤnde und ritt ganz geruͤhrt davon.
So lange ſie mich ſehen konnte, und dies waͤhrte uͤber
eine Viertelſtunde, blieb ſie unbeweglich auf derſelben
Stelle ſtehen und ſah mir nach: daß ich mich oͤfters nach
ihr umſchaute verſteht ſich von ſelbſt. — Ueberhaupt
ſchien ich in der hieſigen Wolloſt zum Umgang mit Wei-
bern beſtimmt zu ſeyn; alle glaubten krank zu ſeyn. Jch
hatte ſogleich mit Pulsfuͤhlen und mit mediziniſchen Rath-
geben zu thun, ſobald ich mich nur ſehen ließ. Wider
Willen mußte ich auch einige Aderlaͤſſe vornehmen. (Ue-
brigens mag der Kenner der Weiber-Naturen hieruͤber
ſeine Anmerkungen machen.) — Wie vorher ſchon ge-
ſagt, ſind Schwachheiten der Augen bey alten Kirgiſen
nicht ſelten: auch hier traf ſich der Fall. Jch verordnete
dabey die Wurzeln der hier wachſenden Valeriana offici-
nalis
zu trocknen, zu zerreiben und ſelbe mit Tabak ein-
zuſchnauben: und die Cunila capitata ließ ich als trock-
nen Umſchlag gebrauchen. — Etwa 10 Werſt ritten
wir beſtaͤndig uͤber gewaͤchsreiche Gebirge und Fluren;
dann erreichten wir das Gehoͤlze, wo lauter Pinus La-
rix
mit ſeinen ſchoͤnen graden hohen Staͤmmen prangte.
Siſon crinitum, Pall. und Cineraria alpina waren nicht
ſelten. Je naͤher wir dem hohen Ruͤcken des Altai ka-
men, je hoͤher erhuben wir uns dann auch bergan, bis
wir eine von den Urſprungsquellen des Galdſchirwaſch
erreichten, laͤngſt welcher wir bergab uns herunter ließen.
Der Berg war ſo ſteil, das Kraut ſo hoch, daß man die
Pferde
[205]aus Sibirien.
Pferde beym Zaum leiten mußte, wobey es nicht ſelten
geſchah daß das Pferd auf den Fuͤhrer ſtuͤrzte. Eine
große Menge Angelica Archangelica, etwas Rheum ſi-
biricum, Pinus Abies, Lathyrus, Ribes nigrum, Salix
alnoides, Serratula coronaria, Veratrum album, Aco-
nitum pyrenaicum
fanden ſich hier herum haͤufig. —
Endlich trafen wir denn auch in einem langen bewalde-
ten Thale die großen Pferdeheerden der weiter weg woh-
nenden Kirgiſen, wo wir denn den lang entbehrten Kuͤ-
muͤß wieder mit langen Zuͤgen einſchluͤrften. Das Nacht-
lager nahmen wir am Fuß des Saratan, des hoͤchſten
Berges dieſer Gegend, welcher ſein ſtolzes, mit Schnee
fleckweiſe bedecktes Haupt uͤber alle andere emporſtreckte.
War es vielleicht daß ich ſeit 2 Monathen keinen Wald
geſehen hatte, oder fand ſichs in der That ſo, mir duͤnkte
die hieſige Gegend goͤttlich ſchoͤn.


Auguſt den 1 ſten. Nach vortreflich hingebrachter
Nacht fertigte ich 2 Kirgiſen nach einem im Gebirge lie-
genden See Marcha-Kuͤll, wo eine beſondere Art
Rhabarber wachſen ſollte. Jch durfte mich dort ſchon
nicht zeigen, weil ſchon die Jaͤger der Oronchoi dort
herum ihre Herbſtjagd angefangen hatten. Jch hatte
dermalen noch keine Luſt mich in chineſiſche Gefangen-
ſchaft zu begeben. Jndeſſen ſaß ich nicht muͤßig: auf
der Spitze unſers Saratau hofte ich die entzuͤckendſte
Ausſicht. Mit zweyen Begleitern ritt ich alſo hinauf;
dreymal mußten wir den Pferden Ruhe geben. Etwa
in der Mitte des Berges endigte ſich aller Wald, wel-
cher hier allenthalben nur aus Laͤrichen beſtand, wenige
Fichten
[206]Sievers Briefe
Fichten und Tannen ausgenommen. Auf und an dieſem
ſchoͤnen Berge prangten beſonders und machten ein herr-
liches Colorit Aquilegia (alpina) grandiflora, Viola al-
taica, Trollius aſiaticus, Cnicus aſiaticus, Sophora lu-
pinoidi affinis, Bupleurum ranunculoides,
ein ganz
blaurothes Allium Schoenopraſum? Bartſia gymnandra,
die wohl ein eigenes Geſchlecht auszumachen verdient,
und in den Felsritzen waͤchſt; Lepidium alpinum, Saxi-
fraga petraea, Cucubalus.
Oben auf dem Gipfel, wo
hin und wieder der Granit in verwitternden Aggregaten
wie Ruinen ausſehend, zu Tage auskeilte, hatte ich eine
uͤber alle Beſchreibung gehende, vortrefliche Ueberſicht
der ganzen Gegend. Nur in Nord und Nord Oſten be-
graͤnzte ſie der vorher gedachte hoͤchſte, ganz nackte Berg-
ruͤcken des eigentlichen Altai. Dieſer war hoͤher noch
wie mein ſtolzer abgerundeter Saratau. Jene hohe,
mit Schnee bedeckte Felſenmauer, dampfte an vielen
Stellen und gebahr, bey dem helleſten Wetter, vor mei-
nen Augen hellſcheinendes Gewoͤlke. Der Altai geht
oͤſtlich fort, indem er dem von Suͤden herkommenden
Tarabagatai ein Ende macht. Der Kurtſchum
entſprang zu meinen Fuͤßen und rann ſchnellfließend vor-
bey. Jn Oſten ſahe ich den nicht großen Marchakuͤll,
aus welchem der Hauptquell des Galdſchirwaſch
koͤmmt. Wandte ich von dieſem See mein Geſicht wei-
ter Suͤdoͤſtlich, ſo ſch ich die fuͤnf Fluͤſſe aus welchen der
obere Jrtiſch entſteht, nemlich der Kurtiſch, Kar-
tiſch, Buurtſhun, Chawa,
und Galdſchirwaſch.
Noch einer, der Jſultſhuck, faͤllt ſchon unterhalb jener
Vevei-
[207]aus Sibirien.
Vereinigung ein, ſo wie der Allchaweck, und der Bill-
Jſick.
Am Chawa, Buurtſchun u. ſ. w. hin oͤſtlich und
noͤrdlich wohnen die Oronchoi; hinter dieſen folgen die
Doͤrwoͤt, und Soongar. Sie bezahlen der Mann
einen Zobel oder 2 Fuchsbaͤlge, dafuͤr ſind ſie von allen
uͤbrigen Dienſten frey. Ein Theil dieſer Leute bauen
den Acker und entrichten die Zinſen mit Korn. Auf bey-
den Seiten des obern Jrtiſches ſah ich wiederum lange
Huͤgel weißen Sandes. Das ſchoͤne Thal, worin der
Jrtiſch und vorher genannte Fluͤſſe ſich ſchlaͤngelten wur-
de in Oſten durch den Fortſatz des Tarabagatai be-
graͤnzt; deſſen letztes Ende, zunaͤchſt dem Altai, heißt
Sawra; dann folgt der Saechon-Chamuͤr, darauf
der Mangarack, und nun der eigentliche Tarabaga-
tai,
der nach Suͤden hinunter ſich ſtreckte, alle dieſe Al-
pen waren mit Eis bedeckt, welches von den Sonnen-
ſtralen blendend weiß erſchien. Dem Mangarack gegen-
uͤber in Suͤdweſt lag der Noor-Saißan in einer un-
abſehbaren Ebene, ohnerachtet ich von dem See uͤber
100 Werſt entfernt ſtand, ſehr ſichtbar da; ich ſah deut-
lich, wie der obere Jrtiſch hineinſtroͤmte und weſtlich un-
ter dem Namen des untern Jrtiſches ſeinen Lauf weiter
fortſetzt. Der Saißan-See iſt von rußiſchen Biber-
und Otterjaͤgern, die noch nicht vor langen Zeiten hier
geheimer Weiſe reiche Beute machten, in 14 Tagen
ganz umſchifft worden. Seinen ganzen Umfang ſchaͤtze
ich auͤf 300 Werſt. Er iſt mehr lang als breit, und er-
ſcheint beynahe wie ein halber Mond. Acht Tagereiſen
nur war ich hier vom Teletzkiſchen See entfernt, und
eben
[208]Sievers Briefe
eben ſo weit von der davon noͤrdlich nicht weit entlegenen
chineſiſchen Stadt Chobda. Die Gouvernementsſtadt
Jrumdſchi liegt mehr oͤſtlich, in derſelben Entfernung.
Die Hauptjagd in allen hieſigen Gebirgen beſtehet in
Hirſchen, Elenn, Tiger, Fuͤchſen, Biber, die aber ſel-
tener werden; Zobel, Baͤren, Woͤlfen u. ſ. w. Am
Noor-Saißan maͤſten ſich von den ſuͤßen Wurzeln der
aͤußerſt haͤufigen Arund. Calamagroſtis (Kogà) die wil-
den Schweine, die, weil ſie Niemand jagt, hier unge-
ſtoͤrt ſich ungemein vermehren. Aber uͤber alle Vorſtel-
lung gehet die Menge von Sterladen, Oſſetrinen, Hech-
ten, Taimen, und andern Fiſchen die dieſer See ernaͤhrt.
Denn hier wird nie gefiſcht. Daher ſind denn auch die
Fiſchereyen im Jrtiſch rußiſchen Antheils ſo ergiebig.
Man zieht nehmlich gewoͤhnlich nur Seile queer uͤber den
ganzen Jrtiſch, an welchen eine große Menge eiſerner
Haken ohne allen Koͤder haͤngen, an irgend einem bleibt
ein Fiſch haͤngen. Hinter dem Sawra oͤſtlich ſoll ein
Volcan befindlich ſeyn, der beſtaͤndig raucht und zuwei-
len Feuer auswirft. Hier ſindet ſich natuͤrlicher Sal-
miak und Schwefel, auch iſt der Boden daherum reich
an Salpeter, den die Kirgiſen auslaugen und ſich ſo ei-
nen Theil ihres Schießpulvers ſelbſt verfertigen, wel-
ches ſie aber nicht zu koͤrnen verſtehen. — Nachdem
ich mit dem Anſchauen aller mir ſich rund umher darbie-
tenden, mahleriſch ſchoͤnen Gegenſtaͤnde mit dem innigſt-
lebhafteſten Geſuͤhl 2 Stunden hingebracht und mich
nun abermals voͤllig uͤberzeugt hatte daß ſolches Anſchau-
en der goͤttlichen Natur hinreichend alle Muͤhſeligkeiten
belohnt,
[209]aus Sibirien.
belohnt, die man auf ſolchen Reiſen ausſtehen muß, ver-
ließ ich meine Felſen und richtete meine Ruͤckkehr ſo ein,
daß ich zwiſchen den Schneefeldern noch die Pflanzen
unterſuchen konnte. Hiebey fand ich denn noch ein ſchoͤ-
nes Ornithogalum das ich altaicum nenne weil es zu kei-
nen der uͤbrigen paßt. Zwey tſchudiſche Graͤber auf dem
Gipfel dieſes hohen Berges ſetzten mich wirklich iñ Er-
ſtaunen, wenn ich bedachte, mit welcher Muͤhe jene gute
Leute eine ungeheure Menge abgeriſſener Felſentruͤmmer
zuſammengehaͤuft hatten. Gern haͤtte ich dieſen hoͤchſt
wahrſcheinlich tſchudiſchen Schamanen, oder Prieſtern
ihr Bett ein wenig umgeruͤhrt, wenn Gehuͤlfe und Ar-
beitszeug genug gegenwaͤrtig geweſen waͤren. Es iſt eine
Gewohnheit bey den aſiatiſchen Nomaden ihre Schama-
nen auf die hoͤchſten Berge zu begraben: daher kam ich
auch auf die Vermuthung daß hier ſolche Zauberprieſter
ruhen muͤßten. Das Thermometer zeigte uͤbrigens 5°
W. oben und am Fuß des Berges im ſchattigen Thal
15° zu Mittage.


Jch habe die Ehre u. ſ. w.


Sechszehnter Brief.



Den 2, 3, 4, 5 und 6ten Aug. Ohne uns nun wei-
ter aufzuhalten, ritten wir auf einem andern ebenern We-
ge wieder nach unſerm Zelt zuruͤck. Die vorhin nach
Rhabarber ausgeſandten Kirgiſen waren zuruͤck gekom-
men, und brachten mir zwar ſchoͤne Wurzeln, aber leider
Onur
[210]Sievers Briefe
nur von dem ſchon mehrmals erwaͤhnten Rheo ſibirico.
Hiermit war alſo meine ganze Rhabarber-Reiſe geen-
diget, und nichts mehr uͤbrig, als ins ruſſiſche Reich wie-
der zuruͤck zu kehren. Meine geliebte Ermaka ſah ich
diesmal nicht, aus was fuͤr Urſachen ſie ſich verbarg,
weiß ich nicht. Vielleicht wollte ſie mich dadurch zwin-
gen laͤnger zu verweilen; das erlaubten aber dermalen
die Umſtaͤnde nicht.


Auf gegenwaͤrtiger Ruͤckreiſe hatte ich nochmals Ge-
legenheit den Charakter der Kirgiſen kennen zu lernen,
deſſen Erwaͤhnung fuͤr kuͤnftige Reiſende noͤthig iſt. Un-
ter Gottes freyem Himmel uͤbernachteten wir, als es dem
Toguͤß, Sohn des Sanduͤcks, meines Begleiters, ei-
nem ſonſt freundlichen, wohlhabenden, verheyratheten
Manne, einfiel, aus dem Packe meines Kaufmanns ein
Stuͤck Sammet zu ſtehlen, indem er ſich einbildete, wir
ſchliefen recht feſt. Dieſes war der Fall bey mir, aber
nicht bey dem Lehrling: er hoͤrte das Losſchnuͤren des
Packes und ertappte alſo den Dieb. Jch erwachte ob
dem Laͤrm, und da ich die Urſache erfuhr, ſagte ich blos
ganz ruhig und gelaſſen: Freund, dies iſt nicht artig!
„Ach Herr, antwortete er geſchwind, zweifeln Sie nicht
an meiner Ehrlichkeit. Sie kennen den leichten Schlaf
der Kirgiſen (Chaſack), es kam ein fremder Mann in
der Abſicht zu ſtehlen, ich verjagte ihn, und um die Eh-
re meiner Landsleute zu retten, wollte ich das herausge-
zogene Gut ſo leiſe wie moͤglich wieder hinein ſchieben.“
— Man erinnere ſich doch gefaͤlligſt hierbey, wie durch
eine unrecht angebrachte Hitze der beruͤhmte Seefahrer
Cook
[211]aus Sibirien.
Cook auf der Jnſel O-whyhee ſein Leben verlohr. Jch
blieb vor wie nach freundlich, und beſchenkte den Toguͤß
beym Abſchiede noch oben drein. Eine Sache, die de-
nen bey mir ſeyenden chriſtlichen Automaten ſehr ſonder-
bar ſchien, die mich auch deswegen tadelten. Zum Gluͤck
hatte ich mehr Menſchenkenntniß wie dieſe.


Auch die Kirgiſen ſind aberglaͤubiſch: ich ſaß am
Feuer und briet mir die Zwiebeln vom Allio Saramſak;
der alte Sanduͤck, der dieſes ſah, bat mich inſtaͤndigſt,
ich moͤchte das Braten unterlaſſen; ich fragte, warum?
Er antwortete, den Kuͤhen vergienge die Milch davon!
Aber folgende Geſchichte wird noch mehr beweiſen. Am
letzten Abend meines hieſigen Aufenthalts hatte ich in der
Jurte des Toguͤß das Vergnuͤgen, die Heilmethode ei-
nes kirgiſiſchen Doktors zu ſehen. Keiner von Aeſcu-
laps
Soͤhnen hat wohl eine einfachere und wohlfeilere,
wie eben genannter Herr Doktor. Er ſaß auf einem
ſchoͤnen Woilocke am oberſten Platz, das heißt: gerade
der Thuͤr gegen uͤber, mit dem Ruͤcken an die Meublen
des Wirths gelehnt. Jn der Mitte der Jurte brannte
ein hellflammendes Feuer. Er und ein Gehuͤlfe ſpielten
nun zum Anfang auf dem Chowuß oder Fiedel: der
Kranken waren drey. Zu der Violinmuſik ſang der
Quackſalber allein, auf eine ſonderbare Art, ein Lied,
verzog dabey oͤfters das Maul, roͤchelte wie ein ſterben-
der Ochſe, brummte, legte das Ohr zuweilen an den
Chowuß, und ſchrie indem er ſpielte. Hierbey machte er
dann eine ſo wichtige Amtsmiene, dergleichen ich in mei-
nem Leben nie ſah. Es iſt doch ſonderbar, daß auch die
O 2Natur
[212]Sievers Briefe
Natur dergleichen Leuten eine ihrem Handwerk wahr-
haftig angemeſſene betruͤgeriſche Phyſionomie giebt; ſo
oft ich ſolche Marktſchreyer geſehen habe: Englaͤnder,
Deutſche, Ruſſen, Franzoſen, Jtaliaͤner, Ungarn, Mon-
golen, Chineſen, Zigeuner, u. ſ. w. ſo fand ich alle ihre
Geberden, ihre Redensarten, und die Art ihre Gelehr-
ſamkeit anzupreiſen, durchaus ſo gleichfoͤrmig, wie wenn
ſie ſaͤmmtlich bey einem und demſelben Lehrmeiſter Un-
terricht genoſſen haͤtten. Doch wieder auf meinen Mu-
ſik. Doktor zu kommen: Nachdem er nun etwa eine
Viertelſtunde mit mancherley Fratzen und Umherſchauen
ſortgeſpielt und geſungen hatte, ſo mußte der erſte
Kranke, ein junger, ziemlich geſund ausſehender Bur-
ſche, vor ihm niederknien. Nun verzerrte er aber, un-
ter beſtaͤndiger Muſik, das Geſicht noch weit aͤrger,
grunzte, ſchrie, ſpie dem Kranken ins Geſicht, lauſchte
mit abſcheulichen Blicken umher, ob er den Teufel et-
wa nicht ankommen ſaͤhe, beobachtete dann zuweilen
auch die Richtung der Feuerflammen, drehte ſich auf den
Knien herum, mit dem Ruͤcken gegen den Patienten.
Endlich nahm er ſeine erſte Stellung wieder, gab dem
Kranken ein Zeichen, worauf ſich dieſer gegen ihn neig-
te, und nun ſchlug er ihn, unter Herſagung von Teu-
felsbannerworten, viermal mit der Fauſt zwiſchen die
Schulterblaͤtter. Hiermit ſtand der Burſche auf, mach-
te dem Doktor einen Buͤckling, und ſo war er geheilet.
Nachdem dieſer expedirt war, erholte ſich der Feuer-
Doktor ein wenig, dann gieng daſſelbe Spiel, wie
ſchon erzaͤhlt, von neuem wieder an. Und nun kam die
Reihe
[213]aus Sibirien.
Reihe an des Wirths junge wohl ausſehende Frau, die
uͤber Kopf- und Knochenſchmerzen klagte. Mit dieſer
giengs eben ſo, wie mit dem jungen Menſchen, ſie be-
kam von des Doktors ſchwerer Dreſchfauſt vier recht
herzhafte Schlaͤge; eine europaͤiſche Dame waͤre wenig-
ſtens dabey in Ohnmacht gefallen. Nach dieſem ſtanden
ſie beyde auf, kehrten dem Feuer den Ruͤcken zu, und
indem der Quackſalber ſeine Violine in beyde Haͤnde
nahm und aufhob, ſagte er ein langes Gebet her, um
den Teuſel zu beſchwoͤren. Die Wirthin, mit aufgeho-
benen, gefaltenen Haͤnden, hoͤrte dem Dinge andaͤchtig
zu, und hiermit war ihre Kur geendigt. Den Beſchluß
machte eine auf der Thuͤrſchwelle ſitzende ſchoͤne, wohl-
gekleidete, junge Frau, die gleichfalls uͤber fliegende
Schmerzen in Fuͤßen und Armen klagte, und welcher
ſchon auf eifriges Begehren des Mannes von dem Lehr-
ling vor fuͤnf Tagen zur Ader gelaſſen war, der dafuͤr
eine Ziege pro Soſtro erhielt. Dieſe Kirgiſin kam beſ-
ſer weg, wie die vorhergehenden. Dem Feuer-Doktor,
der ſich die Geſchichte der Krankheit erzaͤhlen-ließ, und
dann auch das Aderlaſſen und das Soſtrum erfuhr, kam
ſogleich der Handwerksneid in den Kopf. Er zog alſo
erſtlich gegen das Aderlaſſen und die unnoͤthig weggege-
bene Ziege gar heftig los. Das Blutlaſſen, ſagte er,
waͤre ganz zur unrechten Zeit angewandt, der Frau ſehle
ganz etwas anders. Er erklaͤrte ſich aber doch weiter
nicht, ſondern, nachdem er nun ſeine Galle ausgeſchuͤttet
hatte, nahm er ſeine Violine wieder zur Hand, und be-
gann ſeine Zeremonien. Die ſchoͤne Patientin mußte
O 3nun
[214]Sievers Briefe
nun aufſtehen — aber ſie kam nicht, wie die andern, zum
Doktor, ſondern blieb da ſtehen, wo ſie geſeſſen hatte.
Der muſikaliſche Aeſculap ſah ihr eine Weile ſcharf ins
Geſicht, wobey das Weib außerordentlich erroͤthete, dann
zaͤhlte er ſtillſchweigend etwas an den Fingern her, ſah
ins Feuer, hieß die Frau wieder niederſitzen, ſann ein
wenig nach, fieng abermals an zu geigen, ließ die Frau
von neuem aufſtehen, wiederholte ſeine Feuer-, Finger-,
Singe- und Brumm-Zeremonien, worauf ſich die Frau
niederſetzte, und nun wußte der weiſe Mann genau was
ihr fehlte, ohnerachtet er wenigſtens 14 Fuß von ihr
entfernt ſtand. Der Ehemann dieſer Kranken, der ein
reicher Kautz war, ſollte bey dieſer Gelegenheit gezwickt
werden; deswegen verheelte der Arzt wohl weißlich die
Urſache der Krankheit, um den Mann zu reichen Ge-
ſchenken zu bewegen. Aber ich weiß nicht wie es kam,
dieſer wollte von alle dem nichts wiſſen, und es blieb der-
malen wie es war. Um Mitternacht gieng die Geſell-
ſchaft aus einander. Am darauf folgenden Morgen er-
hob ſich zwiſchen dem Steppen-Doktor und dem Toguͤß
ein ſchrecklicher Streit; erſterer, der bey ſeinen mangeln-
den Vorderzaͤhnen, in der heftigſten Wuth die ſonder-
barſte Figur ſchnitt, forderte die Bezahlung fuͤr eine
wichtige Kur, die er vor 2 Jahren an der jetzt noch le-
benden Frau des Toguͤß verrichtet hatte. Sie lag da-
mals ein ganzes Jahr wie wahnſinnig, und war dem
Tode nahe; man rief alſo dieſen Geſundmacher. Er
kam, der Wundermann blieb 2 Tage, und die Frau
wurde geſund!!! ſeine Forderungen beliefen ſich an ver-
ſchie-
[215]aus Sibirien.
ſchiedenen Sachen etwa auf 40 Rubel. Der Toguͤß
wollte ſich nur zur Haͤlfte verſtehen, und dies war die
Urſache des Streits. Mein Kallmuͤck endigte ihn zu
beyderſeitiger Zufriedenheit.


Siebzehnter Brief.



Den ſiebenten Aug. nahmen wir dann endlich von
unſern braven Wirthen Abſchied, ein anderer Sohn des
Sanduͤcks, Namens Konguͤß, der eine außerordentli-
che Liebe zu mir gefaßt hatte, begleitete mich beynahe 6
Werſte. Ueberdem hatte ſich meine Geſellſchaft um vier
Mann vermehrt, die mit Pelzwerk vom Galdſchir-
waſch
hergekommen waren, und ebenfalls nach Uſtkam-
menogorsk giengen. Einer davon, Chonoi Tſchu-
waſchkina
genannt, gewann mein ganzes Zutrauen
beynahe in der erſten Stunde. Waͤhrend der ganzen
Ruͤckreiſe gab er mir viele Beweiſe ſeines redlichen, bie-
dern Charakters. Nach einem Ritt von 10 Werſten paſ-
ſirten wir mit einiger Gefahr den breiten, ſchnellfließen-
den, ſteinigen Kurtſchum, und nun blieb uns dieſer
Fluß beſtaͤndig zur Linken. Jn ſeinem dichten Walde
von Populus nigra, womit ſeine beyden Ufer reichlich ver-
ſehen ſind, war eine Menge der ſchoͤnſten Hindbeeren,
Brombeeren, und die Fruͤchte von Prunus Padus.
Waͤhrend meiner Reiſe zum Sarratau hatte ich den Feh-
ler begangen, daß ich bey großer Hitze viel von den ſau-
ren Kaͤſen (Churt) genoß, und dann kalt Waſſer darauf
O 4trank;
[216]Sievers Briefe
trank; die Folge hiervon war eine Verſtopfung, welche
ſchon drey Tage angehalten hatte, die ich aber ſogleich
nicht achtete, bis da ich wieder reiten mußte. Nunmehr
begannen die heftigſten Koliken, wovon mir oͤfters ſo zu-
geſetzt wurde, daß ich einer Ohnmacht nahe war; oft
mußte ich vom Pferde herunter und im Graſe ausruhen.
Froh war ich, wenn wir das Mittags- und Nachtlager
erreichten. Dieſe Schmerzen hielten noch drey Tage mit
der groͤßten Wuth an, wobey ich keine Minute ſchlafen
konnte, bis wir ſchon den Jrtiſch uͤbergeſchwommen hat-
ten, wo ich auf der andern Seite die Wolloſt Achne-
men
traf, in der ich mir mit dem heilſamen Kuͤmuͤß
und einer vierzehnſtuͤndigen Ruhe voͤllig wieder half.
Der ploͤtzliche Uebergang von Todesangſt zur ſchleunig-
ſten Beſſerung verurſachte, daß ich meinen Empfindun-
gen nicht glaubte, aber auch den Kuͤmuͤß beynahe anbe-
tete, wie etwas goͤttliches. Die fuͤrchterliche Menge waͤh-
rend drey Stunden abgehender Blaͤhungen iſt unglaub-
lich, und ich mußte mich uͤber die ungeheure Staͤrke mei-
ner Gedaͤrme wundern. Um wieder auf ruſſiſchen Bo-
den zu kommen, mußten wir die vorhin erwaͤhnte chine-
ſiſche Graͤnzwache Koſtuͤboͤ ganz dicht vorbey paſſiren.
Damit dieſes nun deſto ſicherer geſchaͤhe, waͤhlten wir die
Nacht dazu, die des hellen Mondſcheins wegen außer-
ordentlich angenehm war. Als wir nahe an den fiſch-
reichen See Ballack-Kuͤll ins hohe Schilf kamen,
wurden wir von einer unſaͤglichen Menge Muͤcken ange-
fallen. Ein voller Gallop rettete uns von dieſer Plage,
mit welchem wir denn auch gluͤcklich die Wache vorbey
wiſch-
[217]aus Sibirien.
wiſchten. Den zweyſtuͤndigen Reſt der Nacht brachten
wir in einer Huͤtte zu, und fanden uns beym Erwachen
mit den ſchoͤnſten Waitzen- und Hirſenfeldern umgeben,
zu deren Bewachung die Kirgiſen die Huͤtte erbauet hat-
ten, ſahen aber uͤbrigens weder Jurten noch Menſchen.


Jndem wir uns von dieſen entfernten und uns dem
in den Jrtiſch fallenden Fluͤßchen Chainda naͤherten, ſah
ich eine ſo große Menge tſchudiſcher Graͤber, worunter
viele ſo hoch wie Berge aufgethuͤrmt und mit maͤchtigen
Pfeilern geziert waren, daß ich beynahe glaube, hier
habe eine der Hauptſtaͤdte der unbekannten Nation ge-
ſtanden, um ſo mehr, da ich noch ohnweit davon eine
Reihe etwa 100 Ellen von einander ſtehender ſteinerner
Pfeiler, die auf der Steppe eingegraben waren, ſah,
uͤber deren Urſprung mir meine Kirgiſen keine weitere
Nachricht geben konnten.


Alle Kirgiſen auf chineſiſchem Grund und Boden
bezahlen ein Pferd vom 100 Tribut. Aber dieſer Tri-
but kommt dem chineſiſchen Kayſer theuer zu ſtehen;
denn die Tributeinnehmer muͤſſen allemal viel Geſchen-
ke mitbringen. Hierdurch werden die Kirgiſen angelockt
zu bleiben, und der chineſiſche Kayſer kann ſich dann
ruͤhmen, er beherrſche auch die Kirgiſen.


Den 11ten Aug. Bis jetzt hatten wir beynahe ebe-
nen Weg gehabt. Aber nun befanden wir uns ohnge-
faͤhr in der Gegend, wo der Narymfluß auf der entge-
gengeſetzten Seite in den Jrtiſch faͤllt, wo ein kahles
hohes Schiefergebirge, fuͤr etwa 80 Werſte, unſern
Pferden mehr zu ſchaffen machte. Wir uͤberſtiegen dieſe
O 5Berge
[218]Sievers Briefe
Berge in den Gegenden, wo der Dſchar-Gurban,
der Bekun, der Aktaß, der Bellkudack und der
Ablaket ihre Urſpruͤnge haben, davon wir die drey letz-
ten verſchiedenemale durchreiten mußten. Der Aktaß
hat ſeinen Namen von einer ungeheuren weiſſen ſteilen
Felſenwand, die aus lauter grauem Kalkſtein mit hin
und wieder aufgeſintertem Tuff, zelligem Quarzgeſchiebe
und Eiſenglimmer beſteht. Denn Ak heißt weiß, und
Taß ein Stein. Jn Ruͤckſicht der Pflanzen, ſo wie der
ganzen Gegend uͤberhaupt, war hier allenthalben die
vollkommenſte Uebereinſtimmung mit denen von Uſtkam-
menogorsk nach dem Buchtorma zu wachſenden Arten.


Den 12ten Aug. Am Fluͤßchen Sſuͤn-Taß, 40
Werſte von den nunmehro bis auf den Grund ruinirten
Ablaketiſchen Gebaͤuden (Siehe Pall. ReiſeII.
Th. Pl.XII.), nahe bey einem vornehmen, aus den
mit vieler Muͤhe von jenen Gebaͤuden herbey geſchlepp-
ten, ungemein großen, ſehr harten, klingenden, blaͤuli-
chen Ziegeln aufgefuͤhrten kirgiſiſchen Mauſoleo, hatten
wir das letzte Mittagseſſen, wobey ich noch Gelegen-
heit hatte die Stengel des hier herum haͤufig wachſenden
Cnicus eſculentus (mongoliſch Goͤgoͤßoͤ) gekocht und in
Aſche gebraten zu verſuchen und mich zu verſichern, daß
wenn dies Gewaͤchs gehoͤrig cultivirt wuͤrde, es am Ge-
ſchmack denen Artiſchocken an die Seite geſetzt werden
koͤnnte. Eben genannte Stengel werden haͤufig von
den Kirgiſen roh genoſſen und Tuͤe-Tawan (Kameelfuß)
genannt. Noch hatten wir eine regnige Nacht am Fluͤß-
chen Beſchokoͤ auszuhalten, worauf des Morgens am
13.
[219]aus Sibirien.
13. Auguſt ein dicker Nebel und dann das vortreflichſte
Wetter folgte. Ein mit Felderbſen beſaͤetes großes Feld,
worauf die ſchoͤne Saponaria Vaccaria prangte, verur-
ſachte uns durch die wohlſchmeckenden Schoten noch ei-
nen halbſtuͤndigen Aufenthalt. Bey dieſem Schmauſe
hatten uns vielleicht einige auf den Hoͤhen ſtehende wach-
habende Kirgiſen wahrgenommen, und uns vielleicht fuͤr
Raͤuber angeſehen. Denn kaum waren wir wieder zu
Pferde, als eine ganze Armee mit Keulen, und Piken,
Beilen und Saͤbeln auf uns loßſprengte; aber auch kaum
erkannten ſie mich und meine Fuͤhrer, als ſie in ein Ge-
laͤchter ausbrachen und uns nun als Freunde im Tri-
umph in die Jtilekiretzkiſche Wolloſt einfuͤhrten, wo
uns der gute, brave ehemalige Wegweiſer Chaial eine
Strecke entgegenritt und mich in ſeiner Jurte mit Eſſen,
Trinken, Betten und allen moͤglichen Bequemlichkeiten
verſorgte. Nur 20 Werſt war ich noch von Uſtkameno-
gorsk entfernt, aber ich blieb einen ganzen Tag hier ſtille
liegen, um zum Beſchluß noch einige allgemeine Bemer-
kungen uͤber die Kirgiſen niederſchreiben zu koͤnnen.


Der Kirgis (Choſack) uͤberlaͤßt ſich ſo, wie das
wilde Thier, was mit ihm auf einer Steppe lebt, ſei-
nem natuͤrlichen Jnſtinkt. Rouſſeau, duͤnkt mich, ta-
delt den Hobbes mit Recht, wo er ſagt, der Menſch ſey
von Natur unerſchrocken und ſein Dichten und Trachten
gienge nur dahinaus um anzugreifen, zu ſtreiten und zu
pruͤgeln. Dies faͤllt wenigſtens bey den Kirgiſen weg.
Wie alle Wilden, ſo iſt der Kirgiſe auch zu Diebereyen
geneigt; wie ein Kind will er alles beſitzen was er ſieht.
Reiche
[220]Sievers Briefe
Reiche Heerden beſonders haͤlt er fuͤr ſeine groͤßte Gluͤck-
ſeeligkeit, und ſie ſind es. Dieſe zu erwerben, geht er
auf Raͤubereyen aus, dieſe zu beſchuͤtzen, verſammlet er
ſie jeden Abend um ſeine Jurte her und ſobald es ſinſter
wird nimmt er ſeine Pike und reitet, abwechſelnd mit
Andern, die ganze Nacht um dieſelbe herum, ſeine Hun-
de begleiten ihn im Schreyen und Rufen, um die Woͤlfe
zu verjagen, denen es dem allen ohngeachtet zuweilen ge-
lingt ein Schaaf wegzuſchleppen. Der Kirgiſe will
durchaus, ſo wie das Steppenthier, im vollen Sinn des
Worts frey ſeyn, mit ſeinen Sultanen (Toͤrroͤ) macht
er wenig Komplimente, er ſetzt ſich neben ſie und raucht
ſeine Pfeife Toback. Bekommt jener ein Geſchenk, ſo
begehrt er ſein Theil davon und reißt es ihm auch wohl
aus der Hand, wenn er zaudert mit ihm zu theilen. Der
Kirgiſe gleicht dem alten Squeir Weſtern in Fiel-
dings Tom Jones.
Die Leidenſchaft, die eben die
Oberhand hat, regiert mit voller Wuth. Er iſt in der
einen Stunde wild wie ein Vieh und in der andern guͤ-
tig und der beſte Freund. Grade nun mit ſolchen Leu-
ten iſts, deucht mir am beſten umzugehen. Einen Kir-
giſen ſo zu gewinnen, daß er ſogar in den groͤßten Ge-
fahren uns nicht verlaſſe, iſt die leichteſte Sache von der
Welt. Man mache ihm kleine Geſchenke, begegne ihm
mit Freundlichkeit und Menſchlichkeit und er wird einen
treuern Diener abgeben, wie die mehrſten Chriſten. Jch
kenne alle Nomaden in Aſien, aber nur erſt bey den Kir-
giſen konnte ich Rouſſeau’s Diſcours ſur l’origine et les
fondemens de l’inegalité parmi les Hommes
verſtehen
und
[221]aus Sibirien.
und mußte geſtehen daß Rouſſeau Recht hat. Wenn ich
als ein Fremder in eine kirgiſiſche Jurte komme, ſo kann
ich ſie anſehen, als die Meinige. Jch nehme ohne wei-
tere Umſtaͤnde den Platz ein, der mir gefaͤllt. Nun ziehe
ich meine Tobackspfeife heraus, fange an zu rauchen,
gebe dem Wirthe fuͤr weniger als eines Pfennigs werth
des ſchlechteſten Tobacks, rauche mit ihm und ſogleich
bin ich in den Augen des Kirgiſen der beſte Menſch in
der Welt. Er wird es nicht zugeben daß mir das ge-
ringſte Leid geſchehe. Sein Kuͤmuͤß iſt auch der meinige.
Seiner Frau ſchenke ich ein Paar Naͤhnadeln und einen
elenden Fingerhut; und nun kann ich von meiner Mut-
ter nicht mehr Liebe fordern, als mir dieſe Frau giebt.
Will ich ein Schaaf ſchlachten, ſo gebe ich einen Spie-
gel, der mir 40 Kopeek koſtet, oder ein Paar Barbier-
meſſer, wovon das Stuͤck 15 Kop. koſtet. Fuͤr das Fell
giebt mir der rußiſche Kaufmann wiederum 20 Kop.
Jſt das Fleiſch gekocht, ſo ſetze ich mich mit dem Kirgi-
ſen nieder und eſſe nach Landes Gewohnheit ohne Loͤffel
und Gabel. Nun bin ich gewiß daß mein Ruhm auf
100 Werſt vor mich her geht, allenthalben nennt man
mich Sultan (Toͤrroͤ) oder Befehlshaber (Baſchlick)
und faßt mich unter die Arme, wenn ich zu Pferde ſtei-
gen will. Alles dieſes thut der Kirgiſe, der unter die
allerwildeſten Raͤuber in der Welt gehoͤrt. Jn den Laͤn-
dern wo unaufhoͤrlich das Evangelium gepredigt wird,
findet man weniger Menſchlichkeit wie in den Laͤndern
wo dies Evangelium unter die unbekannten Dinge ge-
hoͤrt. Wer in großen volkreichen Staͤdten gewohnt hat
wird
[222]Sievers Briefe
wird mir Recht geben. Manche edle Zuͤge ſah ich waͤh-
rend meines kurzen Aufenthalts unter den Kirgiſen. Oef-
ters ſah ich, daß ſie, wenn ſie bey dem Grabe eines
Freundes oder Anverwandten vorbeyritten, abſtiegen
und am Grabe niederkniend, lange mit Beten zubringen.


Man nehme ſich vor den Kirgiſen in Acht, rief
man mir vor der Abreiſe beſtaͤndig zu! ich wußte aber
damals die Urſachen ſchon, woher es koͤmmt daß ſich dieſe
Steppenbewohner oͤfters in einem nicht vortheilhaften
Lichte zeigen muͤſſen, dieſe Urſachen konnte ich aus dem
Wege raͤumen und jeder kanns der nur ein Menſchen-
freund iſt, und ſo fiel auch alle Furcht bey mir weg.


Eine Vorſtellung der Filzhuͤtten meiner Kirgiſen
von der mittlern Horde, der Kleidertracht, wodurch ſich
die Maͤdchen von den Weibern unterſcheiden, ſo wie auch
der maͤnnlichen, und ihres Geſichtskarakters, wird die
beygefuͤgte, wohlgerathne Zeichnung geben: auf welcher
zugleich ihre Weiſe, die groͤßten Raͤuber und Moͤrder
mit der Todesſtrafe zu belegen, wenn ihnen ſolche, von
einem Gericht ihrer Aelteſten zuerkannt wird, vorgeſtellt
iſt. Ehebrecher und Verfuͤhrer werden, mit der ver-
fuͤhrten Perſon, theils geſteiniget, theils von Felſen ge-
ſtuͤrzt, theils gebunden ins Waſſer geworfen ꝛc.


Achtzehnter Brief.



Da bin ich auf einmal wieder an der chineſiſchen
Graͤnze! Wird Jhnen nicht ſchwindlich ſolche Zuͤge mit
mir zu machen? — Ein Gluͤck fuͤr Sie, daß Sie da
im
[223]aus Sibirien.
im Schlafrock zu Hauſe bey einer Taſſe Kaffee vielleicht
und im Lehnſtuhle ſitzen. — Jndeſſen halten Sie ſich
feſt, kommen Sie geſchwind noch einmal wieder nach
Uſt-Kammenogorsk zuruͤck, denn ich bin noch nicht uͤber
den Jrtiſch, und hiebey moͤchte ich mir wohl Jhre Ge-
ſellſchaft ausbitten.


Den 14. Aug. 93. Heute bey recht ſchoͤnem Wet-
ter ſetzte ich mich mit meinem Chaial und uͤbrigen Be-
gleitern zu Pferde und eilten dem Jrtiſch zu. Mit wel-
chem Vergnuͤgen ſah ich auf dem letzten Huͤgel nun die
Feſtung Uſtkammenogorsk vor mir liegen. Fluͤgel
wuͤnſchte ich mir, um in die Umarmungen meiner daſigen
hoͤchſt verehrungswuͤrdigen Wohlthaͤter fliegen zu koͤnnen.
Aber leider wurde ich noch zur Erfuͤllung des Sprich-
worts gezwungen — Feſtina lente! Ehe die Boote her-
beygeſchaft wurden, und ehe alle Equipage uͤbergeſchifft
werden konnte, giengen 4 Stunden vorbey, und es war
Nacht als ich mich in dem Zirkel der beſten Freunde be-
fand. Eine ganze Woche genoß ich mein Leben aufs
beſte, auch wiederum einmal nach europaͤiſcher Art. Aber
hiermit hatte mein Gluͤck noch kein Ende. Jn Barnaul
harrete meiner alles was das menſchliche Leben nur freu-
diges genießen kann. Jch ſtieg hier den 28. Auguſt aus
meinem Wagen. Vergeblich unternehme ichs die gnaͤ-
dige, herablaſſende, aͤußerſt freundſchaftliche Aufnahme
mit gebuͤhrendem Lobe zu beſchreiben, die ich bey Sr.
Excellenz dem Hrn. Artillerie-General-Lieutenant,
Gouverneur des Kolywaniſchen Gouvernements und Rit-
ters von Meller, bey Sr. Excell. dem Hrn. wirklichen
PStaats-
[224]Sievers Briefe
Staatsrath und Befehlshabers der kolywaniſchen Berg-
werke und Ritter Katſchka, bey dem Hrn, Vice-Gou-
verneur und Ritter Aſchwerdoff, einem Maune der
ſeiner ausgebreiteten Kenntniß aller gelehrten europaͤi-
ſchen Sprachen, der großen Laͤnderkunde und uͤbrigen
vielen Wiſſenſchaften wegen, die groͤßte Ehrfurcht ver-
dient, und vieler anderen hieſigen vortrefflichen Maͤnner
zu genießen das Gluͤck hatte. Geſtehen mußte ich doch
am Ende daß es fuͤr einen Europaͤer unter Europaͤern
noch immer am behaglichſten iſt. Koͤmmt ihm einmal
die Langeweile an: Ey nun ſo laͤuſt er eine Zeit lang zu
den Nomaden und alle Langeweile entflieht! —


Variatio delectat.


Aus Kiachta alſo wuͤnſche ich Jhnen allen, liebe
Lehrer und Freunde! viel Gluͤck zum 1794. Jahr. Hier
will ich Jhnen den Prodromum Florae ſibiricae ausar-
beiten und jetzt dieſe Briefe mit einigen Nachrichten von
der wahren Rhabarber ſchließen. Jch empfange
nunmehro von den Rhabarberbucharen ebengenannte me-
diziniſche Wurzel zu 1000 Pudweiſe. Meine Reiſen
ſowohl, wie die Bekanntſchaft mit jenen Bucharen, ha-
ben mich uͤberzeugt, daß bis jetzt noch Niemand, außer
trocknen Wurzeln, das wahre Gewaͤchs der Rhabarber
geſehen hat. Alles, was in den Nachrichten der Jeſuiten
daruͤber ſteht, iſt jaͤmmerliches verworrenes Zeug; alle
Saamen, die jemals unter dem Namen aͤchter Rhabar-
ber erhalten worden, ſind ſalſch; alle Plantagen, von der
des Ritters Murray an gerechnet, bis auf den letzten
Topf, den ſich vielleicht ein Privatmann mit einer Pflan-
ze
[225]aus Sibirien.
ze halten mag, werden niemals den aͤchten Rhabarber her-
vorbringen. Bis auf weitere Entſcheidung erklaͤre ich hie-
mit alle Beſchreibungen in allen materiis medicis fuͤr un-
richtig. Was den Geburtsort anbetrifft, ſo iſt dieſer ſo ziem-
lich richtig angemerkt. Alle kaͤufliche Rhabarber kommt
vermittelſt der etwa vor 80 Jahren in die chineſiſche Ge-
fangenſchaft gerathenen Bucharen aus der chineſiſchen
Stadt Sinin oder Selin, die mit den beyden ihr nahe
gelegenen Staͤdten Kantſcheu und Sotſcheu, im
Gouvernement Schenſi zwiſchen dem 35 und 40° N.
Breite, liegen. Die Rhabarber ſelbſt wird in den da her-
um gelegenen Gebirgen an Koko-Noor und gegen
den Urſprung des großen Fluſſes Chon-cho oder
Chong-Choang durch Bauern, arme Leute, oder wer
dazu Luſt hat, gegraben, und, nachdem ſie von der Erde
gereiniget, in Stuͤcken geſchnitten und mit der Rinde un-
ter Schoppen auf Bindfaden gezogen, und ſo, ohne daß
ſelbige die Sonne treffen kann, ausgetrocknet, wobey bis
zur hernachmaligen gaͤnzlichen Reinigung ein ganzes
Jahr hingeht. Alsdann erſt kann ſie verfuͤhrt werden.
Es hat ſeine Richtigkeit, wenn die Jeſuiten ſagen, daß
ſich auch die nunmehro armſeligen Sifan oder Tu-fan
mit dem Einſammeln der Rhabarber beſchaͤftigen. Die-
ſe holen ſelbige auch aus der Provinz Se-tſchuen von
den Gebirgen, wo der Fluß Ya-long und Yantſe-
kiang
entſpringt und fließt. Uebrigens ſind alle dieſe
Leute keine Narren und theilen den Europaͤern Saamen
von einer Pflanze mit, wodurch ſie ſich Reichthuͤmer er-
werben. Jn der chineſiſchen Sprache wird ſelbige. Tai-
P 2chong,
[226]Sievers Briefe aus Sibirien.
chong, in der tangutiſchen Dſchumſa, in der bucha-
ſchen Sarra jagaſch, in der kirgiſiſchen Scharra-
gaſch,
in der mongoliſchen aber Scharra moddon
genannt; die letztern drey Namen wollen ſo viel ſagen
als Gelbholz. Sie ſoll nicht hoch wachſen und runde
Blaͤtter haben, die am Rande mit beynahe ſtechenden
Spitzchen gezaͤhnt ſind. Thibet iſt gleichfalls reich an
dieſer mediciniſchen Wurzel; es ſcheint mir aber wahr-
ſcheinlich, daß eben genanntes Land nur das Rheum pal-
matum
hervorbringt; ſo viel erhellet wenigſtens aus der
letztern kurzen Reiſebeſchreibung eines gewiſſen Wund-
arztes, Saunders, welche meine Leſer in den Philo-
ſophical Transactions
fuͤr 1789. Vol. 79. nachſchlagen
koͤnnen; wann nicht vielleicht H. Saunders, ohne ein
Augenzeuge geweſen zu ſeyn, dieſes R. palmatum als die
wahre Rhabarber nennt.


Was uͤbrigens die Rhabarber-Brakerey in Kiachta,
mit der ich mich beſchaͤfftige, anbetrifft, ſo iſt dieſelbe
hinlaͤnglich in des ſeligen Ritter Murray’sApparatu
Medicaminum
beſchrieben. Jch halte es alſo fuͤr uͤber-
fluͤßig, hier ein mehreres daruͤber zu erwaͤhnen. Jch ſetze
nur dieſes hinzu, daß ich die Reinigung der angefuͤhr-
ten Rhabarber mit geringerem Abfall und Verluſt, als
ſonſt geſchah, habe beſorgen koͤnnen. Vielleicht ruͤhrte
dies daher, weil die Bucharen jetzt beſſere Waare zu
bringen pflegen. Kuͤnftig das Weitere.


Jch habe die Ehre zu ſeyn ꝛc.


[][][][]
Notes
*)
What cannot active Government perform?
New moulding Man?
Thompſon.
()
*)
Siehe die in dieſem Theile eingeruͤckte, aus dem
Rußiſchen uͤberſezte Schrift des Eigenthuͤmers, uͤber
dieſen Gegenſtand.P.
*)
Wenn die hohe Lage in Betrachtung gezogen wird,
ſo moͤchte die Luft hier vielmehr zu phlogiſtiſch zu
nenuen ſeyn. P.
*)
Jch fand 3 Jahre nachhero im Aprilmonate keine
Spur mehr von irgend einem Mittelſalz, mehr wie
600 Pud mineraliſchen Alcali haͤtte ich hier zuſam-
menſchaufeln koͤnneu.
*)
Der Name Chrebet bedeutet in der rußiſchen Spra-
che einen hohen Gebirgruͤcken von der erſten Art, aber
noch keine kahle Alpen oder Gletſcher die Golzy
heiſſen.
*)
Die Kuͤhe freſſen zur Blutreinigung die A. patens, die
Schaafe hingegen die Pulſatilla.
*)

Far from the Track and bleſt abode of man;
while round him night reſiſtleß cloſes faſt,
and every tempeſt, howling o’er his head,
renders the ſavage wilderneß more wild.
Then through the only ſhapes into his mind,
of cover’d pits unfathomably deep —
A dire deſcent! —

Thomson.

*)
Die Moſchusbeutel koſten jetzt 60 — 80 Rubel.
*)
Es iſt die gewoͤhnliche Gebetsceremonie muhammeda-
niſcher Tatarn, die unſer Reiſender vielleicht zum er-
ſtenmal ſah. P.
*)
Ein treflicher Strauch mit dornigten duͤnnen Ruthen,
an welchen einzelne, den Berberiſſen ganz aͤhnliche
Blaͤtter ſitzen; am Ende der Zweige die feuergelbe
Blume einzeln, deren Blaͤtter am Grunde der Blume
einen dunkelrothen Fleck haben. Vielleicht mit Roſa
perſica
bey Juſſieu einerley. P.
*)
Was fuͤr eine Weide, die hier ſo ſpaͤt bluͤhte? Etwa
die
*)
die im dritten Theil meiner Reiſe beſchriebene Salix ſero-
tina?
P.
*)
Jch muthmaße, daß die hier gemeynte Poͤonie eine
ganz andre Gattung geweſen ſey. Denn P. laciniata
iſt von der Gartenpoͤonie zu ſehr und ſtandhaft un-
terſchieden. P.

Lizenz
CC-BY-4.0
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Sievers, Johann August Carl. Johann Sievers [...] Briefe aus Sibirien an seine Lehrer den Königl. Grosbritannischen Hofapotheker Herrn Brande, den Königl. Grosbritannischen Botaniker Herrn Ehrhart, und den Bergcommissarius und Rathsapotheker Herrn Westrumb. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpq6.0