Alter des Menſchengeſchlechts,
die Entſtehung der Arten
und die
Stellung des Menſchen in der Natur.
: Verlag von Wilhelm Engelmann.
1863.
Bei dem unterzeichneten Verleger erſcheint:
Allgemeine
Weltgeſchichte
mit beſonderer Berückſichtigung
des Geiſtes- und Culturlebens der Völker und mit Benutzung der
neueren geſchichtlichen Forſchungen für die gebildeten Stände
bearbeitet von
Dr.Georg Weber,
Profeſſor und Schuldirector in Heidelberg.
Erſter — vierter Band.
gr. 8. broſch. 7 Thlr. 26½ Rgr.
Die bis jetzt erſchienenen erſten vier Bände enthalten:
1. Band. Geſchichte des Morgenlandes. 1 Thlr. 26½ Rgr.
2. Band. Geſchichte des Helleniſchen Volkes. 2 Thlr.
3. Band. Römiſche Geſchichte bis zu Ende der Republik und Geſchichte
der alexandriniſch-helleniſchen Welt. 2 Thlr.
4. Band. Geſchichte des römiſchen Kaiſerreichs, der Völkerwanderung und
der neuen Staatenbildungen. 2 Thlr.
Band 5 und 6 werden das Mittelalter umfaſſen und zwar der 5. Band die
Geſchichte Europas bis zu den Hohenſtaufenſchen Zeiten, der 6. Band die folgenden
Jahrhunderte bis zur Reformation.
Obgleich bereits die ausgezeichnetſten Zeitſchriften dies neue Werk aufs Wärmſte
empfohlen haben, dürfte es doch von Intereſſe ſein, die Urtheile der Preſſe bei dem
Erſcheinen jedes neuen Bandes zu verfolgen und giebt die Verlagshandlung nach¬
ſtehend diejenigen Beſprechungen der „Allgemeinen Weltgeſchichte“, welche ihr bereits
in dieſem Jahre wieder über die bis jetzt vorliegenden vier Bände zugekommen ſind.
Die „Weſtfäliſche Zeitung“ (1863. Nr. 7) ſagt:
„Der Verfaſſer iſt durch ſeine Handbücher der Geſchichte und Literaturgeſchichte
in den weiteſten Kreiſen aufs vortheilhafteſte längſt bekannt; was jene auszeichnet,
eine ächt freiſinnige tiefe Auffaſſung des Gegenſtandes, findet ſich wieder in dem
großen Werke. Das Material der Geſchichte, namentlich der alten, iſt in der neueſten
Zeit durch, die großartigen archäologiſchen und linguiſtiſchen Forſchungen außerordent¬
lich gewachſen; dieſe Fülle des Stoffes iſt hier zum erſten Male ſorgfältig geſammelt,
geſichtet, verarbeitet und was bisher nur Eigenthum der Fachgelehrten war, wird
durch Webers Weltgeſchichte Gemeingut aller Gebildeten. Eine ähnliche Welt¬
geſchichte beſitzt noch keine andere Literatur. Die politiſche Geſchichte
tritt hier natürlich auch in den Vordergrund ; aber der Verfaſſer geht über dieſen engen
Kreis weit hinaus, er verfolgt das ganze geſchichtliche Leben der Völker in ſeinen
verſchiedenen Ausſtrahlungen, die geiſtige, religiöſe, induſtrielle Lebensfähigkeit der
Völker, und bietet ſo zuerſt eine würdige Weltgeſchichte in dem Sinne, wie das Ideal
Schillern und W. v. Humboldt vorſchwebte.
[]
Die Darſtellung iſt eine anziehende, der Stil edel und geſchmackvoll, frei von
allem Bizarren. Compilationen, wie ſie leider die neueſte Zeit genug kennt, iſt na¬
türlich das Werk eines ſo bedeutenden Hiſtorikers nicht zuzuzählen; die ungewöhn¬
lich raſche Aufeinanderfolge der vier erſten Bände iſt nur dadurch zu erklären, daß
der Verfaſſer bekanntlich eine ſtaunenswerthe Arbeitskraft beſitzt und mehrere Decen¬
nien hindurch ſchon die Vorbereitungen zu ſeinem Werke getroffen hatte.
Da kein Kenner dagegen Zweifel erheben wird, daß die Weber'ſche Weltgeſchichte
die beſte aller populären Weltgeſchichten iſt oder ſein wird, ſo kann
gebildeten Familien nicht genug die Anſchaffung derſelben empfohlen werden ; ſie ge¬
winnen damit ein dauerndes Gut, und thun wohl, nicht die Vollendung abzuwarten,
um nicht dann durch den nicht unbedeutenden Preis zurückgeſchreckt zu werden.“ —
Die „Süddeutſche Zeitung“ (Nr. 35. v. 20. Jan. 1863) berichtet:
„Wir erachten es für ein Glück, daß ſich ein Mann wie G. Weber der ſtief¬
mütterlich behandelten und oft mißhandelten Weltgeſchichte mit ſo großem Geſchick
und einem bewunderungswerthen Eifer annimmt. Als Schulmann und Pädagog,
der ſein Leben zunächſt dem Dienſte der Jugend gewidmet hat, begann Weber einen
Leitfaden für den Geſchichtsunterricht zu ſchreiben. Auf den kleineren mit Beifall
aufgenommenen Leitfaden folgte ein größeres Lehrbuch der Geſchichte in zwei
ſtarken Bänden, das ſchon über die Schule hinaus in weitere Kreiſe zu dringen
wußte. Daß es in wenigen Jahren neun Auflagen erlebt hat, beweiſt am beſten,
wie allgemein man ſeinen Werth ſchätzen lernte. Die Einen rühmten die klare und
verſtändliche Darſtellung. Andere die muſterhafte Gruppirung und Ueberſichtlichkeit
des Stoffs, wieder Andere den glücklichen Tact, womit das Weſentliche vor dem Un¬
weſentlichen hervorgehoben, die politiſche Geſchichte mit der Religion, Literatur,
überhaupt mit der Cultur in Verbindung gebracht iſt. Alle aber mußten die warme
Begeiſterung anerkennen, womit der Verfaſſer den gewaltigen Stoff durchdrungen
und belebt hat. Schreiber dieſer Zeilen wird nicht der Einzige ſein, der ſich früh
durch die Lectüre von Weber's Buch für einen trockenen Geſchichtsunterricht auf der
Schule entſchädigte und gerade durch dieſe Lectüre zuerſt für das Studium der Ge¬
ſchichte begeiſtert worden iſt.
Seit ein paar Jahren iſt endlich das Hauptwerk Weber's „die allgemeine Welt¬
geſchichte“ (in zwölf Bänden) im Erſcheinen begriffen. Vier ſtarke Bände, die Ge¬
ſchichte des Alterthums bis zum Untergang des römiſchen Reichs umfaſſend, liegen
bereits vor; man kann alſo annähernd ſchon über das Ganze urtheilen.
Alle die Vorzüge, die an dem größeren Lehrbuch gerühmt wurden, treten hier
noch deutlicher zu Tage. Vor allem aber muß man den eiſernen Fleiß bewundern,
womit der Verfaſſer überall in die Specialforſchung einzudringen ſuchte. Das Werk
iſt in dem vorliegenden Drittel keineswegs bloße Compilation; namentlich die Ge¬
ſchichte der Griechen und Römer zeugt von ſelbſtändigen Quellenſtudien und bekundet
den Philologen, der mit dem Alterthum ſchon früh vertraut war. Aber auch in an¬
deren Gebieten, z. B. in der Geſchichte der Völkerwanderung und der germaniſchen
Staatengründungen, hat es der Verfaſſer nicht an Detailſtudien fehlen laſſen.
Möge es dem verehrten Verfaſſer vergönnt ſein, mit derſelben Ausdauer und
Umſicht, und vor allem mit derſelben Geiſtesfriſche und Herzensfreudigkeit ſeine Ar¬
beit durch das Mittelalter und die neuere Zeit hindurch der Vollendung entgegenzu¬
führen. Das deutſche Volk wird dann ein Werk haben, das auf ſeine Bildung, auf
die Belebung des hiſtoriſchen Sinnes, auf die Verbreitung wahrer Aufklärung und
ächter Humanität nicht ohne ſegensreichen Einfluß bleiben kann.“
Leipzig, April 1863. Wilhelm Engelmann.
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.
Alter des Menſchengeſchlechts,
die Entſtehung der Arten
und die
Stellung des Menſchen in der Natur.
Verlag von Wilhelm Engelmann .
1863.
Erſte Vorleſung.
Das Alter des Menſchengeſchlechts.
[[4]][[5]]Eine der wichtigſten Fragen, welche gegenwärtig die Naturwiſſen¬
ſchaft beſchäftigt, iſt ohne Zweifel die nach dem Urſprung und dem
Alter des Menſchengeſchlechts auf der Erde. Zwei Werke, die beide
einen ſchon früher angeregten, aber immer wieder bei Seite geſchobe¬
nen Gedanken behandeln, haben in neuerer Zeit erſt vermocht der An¬
gelegenheit einen ſolchen Anstoß zu geben, daß ſie vollſtändig in den
Vorgrund der Unterſuchungen getreten iſt und von Keinem, der in den
Naturwiſſenſchaften lebt, noch wieder vernachläſſigt und mit Still¬
ſchweigen übergangen werden kann. Es ſind dies die beiden Arbeiten
von Darwin über die Entſtehung der Arten und von Lyell über das
Alter der Menſchen auf der Erde.
Die Frage, um die es ſich hier zunächſt handeln wird, iſt die: Wie
lange giebt es Menſchen auf der Erde?; eine Frage, für deren Beant¬
wortung allerdings ſchon frühe Thatſachen ſich dargeboten haben, die
man aber immer zurückſchob und unbeachtet liegen ließ, weil Vorur¬
theile der mannichfachſten Art damit in Streit kamen. Das Eine der¬
ſelben muß ich hier kurz berühren. Es iſt das Vorurtheil, welches aus
unſerem Jugendunterrichte entſpringt und lange Zeit auch die Geologen
verhindert hat, ihre eignen glänzenden Entdeckungen richtig zu verwer¬
then. — Die Meinung, als ſei die Zeitrechnung, welche man gewöhn¬
lich den Erzählungen des alten Teſtamentes unterlegt, wirklich in dem¬
ſelben enthalten und habe ſomit nicht nur wiſſenſchaftliche, ſondern ge¬
radezu heilige Autorität zu beanſpruchen, hat lange Zeit ſelbſt die
Männer der Wiſſenſchaft verwirrt, und zu falſchen Beurtheilungen der
[6]Erſte Vorleſung.klarſten Thatſachen verführt. — Erſt im XII. Jahrhundert fingen die
Juden an, ſich allgemeiner der Rechnung nach Jahren der Welt zu be¬
dienen und ſelbſt ihre, noch keineswegs über allen Zweifel erhobenen
Sagen ſchieben die erſte Aufſtellung dieſer Zeitrechnung, überhaupt den
erſten Verſuch, den Erzählungen des alten Teſtamentes, ihres Wider¬
ſtrebens ungeachtet, eine feſte Chronologie unterzulegen, nicht weiter
zurück als bis in die Mitte des IV. Jahrhunderts nach Chriſto, um
welche Zeit der Rabbi Hillel Ben Jehuda zu Tiberias dieſe neue Chro¬
nologie erfunden und aufgeſtellt haben ſoll. — Thatſache iſt, daß das
alte Teſtament zur Aufſtellung einer feſten Zeitrechnung überhaupt gar
keine Grundlagen darbietet, weil die Juden ſelbſt nie eine Zeitrech¬
nung gehabt hatten. Iſt doch in der That das früheſte Datum in der
ganzen Weltgeſchichte, das früheſte, welches wirklich wiſſenſchaftlich
feſtſteht, der Beginn der Nabonaſſarſchen Aera 747 vor Chr. Alles
was dem vorhergeht, verliert ſich ſehr bald in vage nur mehr oder we¬
niger wahrſcheinliche Vermuthungen, unter denen nur einige Zeitbe¬
ſtimmungen aus der Aegyptiſchen Geſchichte, die mit aſtronomiſchen
Thatſachen in Verbindung gebracht werden können, der Gewißheit
ziemlich nahe kommen.
Das unbeachtete Nachwirken des hier erwähnten Vorurtheils war
es eben, welches die Geognoſten ſo lange blind machte gegen alle Ent¬
deckungen, wodurch die Exiſtenz der Menſchen auf der Erde in Zeit¬
räume verſetzt wird, die weit über alle angeblichen Berechnungen von
dem Alter der Welt hinausgreifen. — Wenn man die gewöhnlich an¬
gegebenen lächerlich kurzen Zeiträume von etwa 6000 Jahren als Ma߬
ſtab feſthielt, ſo war es allerdings unbegreiflich wie die großen Verän¬
derungen, von denen die Erde Zeugniß ablegte, ohne unerklärbare plötz¬
liche Revolutionen vor ſich gehen, wie der Menſch aus dem Zuſtande
eines ſehr rohen Wilden zu den hohen Culturſtufen, mit denen wir ihn
ſchon in dem Beginn der Geſchichte auftreten ſehen, ſich hinauf bilden
konnte. Zum Glück ſind wir aber jetzt im Stande, das alte Vorurtheil
in einer ſolchen Weiſe zu durchbrechen, daß es ſeinen ganzen Einfluß
[7]Das Alter des Menſchengeſchlechts.verlieren muß. — Wenn man mit der Erſcheinung des Menſchen auf
der Erde nothwendig auf wenigſtens 100,000 Jahre zurückgewieſen
wird, ſo bedarf es keiner Entſchuldigung mehr, wenn man die allmäh¬
liche Entwicklung der Erde ſelbſt nach vielen Millionen von Jahren
abzumeſſen verſucht.
Es iſt nun an ſich klar und bedarf keiner weitläufigen Auseinan¬
derſetzung, von wie weitgreifendem Einfluſſe es auf die Behandlung
der verſchiedenſten, kaum damit irgendwie verwandt ſcheinenden
Disciplinen ſein muß, wenn man nachweiſen kann, daß das Alter des
Menſchengeſchlechts ſo lange Zeiträume umfaßt, daß dieſelben für die
langſamen Entwicklungen aus einem rohen, faſt thieriſchen Zuſtande
durch ganz kleine erſt allmählich in Jahrtauſenden ſich ſummirende Fort¬
ſchritte zu höheren Culturſtufen genügenden Raum gewähren. — Nicht
nur die Anſichten der ſyſtematiſchen Naturgeſchichte, ſondern auch die
der Phyſiologie, der Ethnographie, der Linguiſtik und vieler anderer
Wiſſenſchaften werden nach und nach den tiefgreifenden Einfluß dieſer
neuen Entdeckungen erfahren. Dieſe Wichtigkeit läßt es denn auch ge¬
rechtfertigt erſcheinen, wenn ich hier über die dahineinſchlagenden Ent¬
deckungen einen etwas ausführlicheren Bericht erſtatte, indem ich dabei
vorzugsweiſe an das eben erſchienene ſchon oben erwähnte Werk des
berühmten engliſchen Geognoſten Sir Charles Lyell anknüpfe.
Im Jahre 1838 ſprach es der Archäolog Boucher de Perthes
in ſeinem Buche, De la création, essai sur l'origine et la progres¬
sion des êtres, zuerſt ganz beſtimmt aus: »Que tôt ou tard on fini¬
rait par trouver dans le diluvium à défaut des fossiles humains
des traces d'hommes antédiluviens«. — Dieſer ſeiner Ueberzeugung
folgend, durchforſchte er mit unermüdlichem Fleiße alle Diluvialgebilde,
die ihm geeignet ſchienen, dergleichen Spuren früherer Menſchen zu
umſchließen und fand endlich in den Steinbrüchen im Sommethal
in der Nähe von Amiens den Lohn ſeines Eifers. Seine Entdeckun¬
gen ſtellte er dann 1847 in ſeinen »Antiquités celtiques et antédilu¬
viennes« zuſammen, denen er 1857 noch einen zweiten Band folgen
[8]Erſte Vorleſung.ließ. In beiden Bänden theilte er zahlreiche Abbildungen der gefunde¬
nen Kunſtprodukte, namentlich aus Feuerſtein gearbeitete Beile, Lan¬
zen- und Pfeilſpitzen, Meſſer und dergleichen mit. Seine Entdeckungen
wurden anfänglich mit kindiſchem Lachen, dann mit Zweifel und Wider¬
ſpruch aufgenommen. Er verlor aber nicht den Muth; alle Einwürfe
widerlegend, zwang er endlich die Geognoſten, von der Sache Kennt¬
niß zu nehmen; die Fundorte wurden von den ausgezeichnetſten Män¬
nern der Wiſſenſchaft genau unterſucht, die Entdeckungen und die Rich¬
tigkeit der daraus gezogenen Schlüſſe beſtätigt und endlich der Satz in
der Wiſſenſchaft zugelaſſen, daß in einer undenklich frühen Zeit zuſam¬
men mit Mammuth, Rhinoceros, Höhlenlöwen, Höhlenhyänen, Höh¬
lenbären und anderen einer längſt vergangenen Periode der Erdbildung
angehörigen, lange vor der älteſten Sagenzeit ausgeſtorbenen Thier¬
arten auch der Menſch ſchon Bewohner der Erde geweſen ſei. Wenn
vor Boucher de Perthes Niemand einem ſolchen Gedanken hatte
Raum geben wollen, ſo wurden jetzt von allen Seiten ähnliche That¬
ſachen bekannt gemacht oder früher ſchon entdeckte, aber unbeachtet ge¬
bliebene Erſcheinungen aus der Nacht der Vergeſſenheit hervorgezogen.
Gegenwärtig ſind ſchon gegen 35 bis 40 ſolcher Beobachtungen bekannt
geworden, deren älteſte ſogar bis auf das Jahr 1715 zurückgeht, Be¬
obachtungen, welche ſich auf die verſchiedenſten Oertlichkeiten, Aegyp¬
ten, Sicilien und Sardinien, die Pyrenäen, das mittlere
Frankreich, das Seine-, Oiſe- und Sommethal, die Schweiz,
den Rhein, Dänemark, ganz England und Schottland,
Braſilien, Florida, das Miſſiſſippi- und Ohiogebiet bezie¬
hen. Nach dieſen ſämmtlichen Entdeckungen zuſammengenommen kann
man die Anweſenheit der Menſchen auf der Erde ſchon gegenwärtig auf
weit über 100,000 Jahre zurückdatiren und doch ſtehen wir jedenfalls
erſt im allererſten Anfang und keineswegs am Ende der Entdeckungen.
Um die Sache dem allgemeinen Verſtändniſſe näher zu bringen,
will ich zunächſt eine Ueberſicht der allmählichen Entwickelung der Erd¬
oberfläche und ihrer Perioden geben und dann die wichtigeren der ge¬
[9]Das Alter des Menſchengeſchlechts. machten Entdeckungen in dieſe Perioden einreihen. Beſtimmte Gebirgs¬
arten, die wir nach den in ihnen enthaltenen Verſteinerungen als gleich¬
zeitig erkennen, nennen wir Formationen; eine Reihe ſolcher For¬
mationen, die durch gewiſſe Charactere als näher verwandt ſich zeigen,
nennen wir Perioden, und mehrere Perioden können wir noch wie¬
der als Epochen zuſammenfaſſen. — Wenn die älteſte Epoche ſo
eigenthümliche Pflanzen und Thierformen darbietet, daß kaum irgend
eine Beziehung derſelben auf die jetzt um uns lebenden gefunden wer¬
den kann, ſo zeigt die zweite Epoche eine allmähliche Verähnlichung mit
unſerer Jetztwelt, aber erſt in der dritten Epoche treten nach und nach
anfänglich in geringer Artenzahl, dann allmählich immer häufiger Thier¬
und Pflanzenarten auf, die ſich auch noch jetzt lebendig auf der Erde
finden. Die älteſte Epoche oder die Paläozoiſche umfaßt fünf Pe¬
rioden mit 9 Formationen; die Secundäre oder Meſozoiſche
Epoche drei Perioden mit 18 Formationen, endlich die Tertiäre oder
Känozoiſche Epoche drei Perioden mit 7 Formationen. Auf dieſe
34 Formationen folgen dann noch zwei, welche man als die vierte oder
Quartäre Epoche zuſammenfaßt; die älteſte dieſer letzten Formatio¬
nen bezeichnet man als die Poſtpliocäne, ſie enthält zwar keine
Muſcheln mehr, die nicht auch jetzt noch lebend auf der Erde gefunden
würden, aber dagegen ſehr viele eigenthümliche jetzt längſt ausgeſtor¬
bene Säugethierarten, Elephanten-, (Mammuth), Rhinoceros-, Löwen-,
Hyänen-, Bärenarten, Maſtodonten und andere. Die jüngſte Forma¬
tion endlich, welche man als Neuzeit bezeichnet, bietet uns ausſchlie߬
lich nur noch jetzt lebende Organismen aus allen Lebenskreiſen dar. —
Die poſtpliocäne Formation bezeichnete man früher auch wohl als Di¬
luvium und die Neuzeit als Alluvium, beides ſehr ſchlecht ge¬
wählte und daher mit Recht von den neueren Geognoſten beſeitigte
Ausdrücke. Beſtimmt kann man nachweiſen, daß im Anfang der poſt¬
pliocänen Formation Europa eine von der jetzigen ganz verſchiedene
geographiſche Geſtaltung und in Folge deſſen manche höchſt eigenthüm¬
liche phyſikaliſche Erſcheinungen dargeboten hat.
[10]Erſte Vorleſung.
Am Ende der Tertiärperiode war die große Sahara, wie die
Bohrverſuche von Laurent bewieſen haben, ein Meeresbecken, dagegen
hingen nach den Unterſuchungen von Heer und Anderen das nord¬
weſtliche Afrika, die Azoren und Portugal mit dem ſüdöſtlichen
Nordamerika in einem großen Continent zuſammen, woraus ſich die
Uebereinſtimmung der Flora und Fauna der genannten Länder am Ende
der Tertiärepoche erklärt. — Das erſte Verhältniß, ein Meeresbecken
ſtatt einer glühenden Sandwüſte, hatte zur Folge, daß es für Europa
keinen gegenwärtig aus der Sahara kommenden heißen, gletſcher¬
ſchmelzenden Föhnwind gab; das zweite ſchloß den die ganze Weſtküſte
von Europa erwärmenden Golfſtrom vom nördlichen Atlantiſchen
Ocean ab. Der Golfſtrom lief vielmehr durch das Gebiet des jetzigen
Miſſiſſippi gerade nach Norden und brachte ſeinen erwärmenden Ein¬
fluß in die Amerikaniſchen Polargegenden, wovon ſich die letzten Spu¬
ren wahrſcheinlich erſt im Beginn der hiſtoriſchen Zeit verloren haben,
da ſich die großen Norwegiſchen und Isländiſchen Colonien auf Grön¬
land im IX. und X. Jahrhundert nicht füglich denken laſſen, wenn
das Klima jener Gegenden nicht bedeutend milder als gegenwärtig ge¬
weſen wäre. In Folge dieſer ganz verſchiedenen Vertheilung von Land
und Meer, von Wärme und Kälte, war Europa im Beginn der
poſtpliocänen Periode viel rauher als jetzt und zeigte eine Ausdehnung
der Gletſcher und eine Anhäufung von Eis, die für dieſe Zeit den Na¬
men der Eiszeit bei den Geognoſten in Aufnahme gebracht haben.
Man darf dies aber nicht ſo verſtehn, wie es anfänglich auch wohl von
Männern der Wiſſenſchaft aufgefaßt worden iſt, als ob es eine Zeit
gegeben habe, in welcher die ganze Erdoberfläche im Eiſe erſtarrt ge¬
weſen wäre, vielmehr, wie es niemals eine die ganze Erde bedeckende
Fluth, wohl aber zu verſchiedenen Zeiten auf jedem beſchränkteren
Theile der Oberfläche ſolche Bedeckungen des Bodens mit Waſſer gab,
ſo wurde auch die Temperaturerniedrigung, die das Wachſen der Glet¬
ſcher in einem Gebirgsſyſtem hervorrief, durch eine erhöhte Temperatur
in anderen Regionen wieder ausgeglichen; mit dieſer Warnung können
[11]Das Alter des Menſchengeſchlechts. wir nun immerhin ausſprechen, daß faſt jeder Theil der Erdoberfläche
einmal ſeine Eiszeit erlebt hat. — Die Geographie des nördlichen
Europa war nun folgende:
Anfänglich bedeckte Meer faſt den ganzen nördlichen Theil von
Finnland, durch die Oſtſeeprovinzen, das nördliche Deutsch¬
land bis Dünkerken und ebenſo Großbritannien mit Ausnahme
eines ſchmalen ſüdlichen Streifens und der höchſten Gebirgspunkte, die
als Inſeln aus dem Meere hervorragten. Gleichzeitig war nur der
mittlere höchſte Theil von Skandinavien frei vom Meere und ge¬
rade wie gegenwärtig Grönland ganz in Eis gehüllt. In dieſer Zeit
trugen die ſich ablöſenden Eisberge und Eisinſeln Schutt, große und
kleine Blöcke ſkandinaviſcher Felſen über das Meer nach Oſten, Süden
und Weſten und wo das Eis ſtrandete und in der ſüdlicheren Luft
ſchmolz, fielen jener Schutt, jene Felsblöcke auf den Meeresboden.
Darauf folgte eine Zeit, in welcher ſich der Boden allmählich hob und
zwar bis zu einem ſolchen Niveau, daß England und Frankreich
in feſte Landverbindung geſetzt und ein großer Theil der Nordſee trocken
gelegt wurde. In dieſer Zeit breiteten ſich denn auch Nordfranzöſiſche
und Deutſche Pflanzen und Thiere über England aus. Gerade in
dieſer Periode dehnten ſich die Gletſcher in Tyrol, der Schweiz,
Frankreich und Großbritannien von den viel höheren und da¬
her viel kälteren Bergen zu einem Umfange aus, von dem uns jetzt nur
noch die Schliffe und Schrunden auf den Felſen, die alten noch erkenn¬
baren Moränen und Gufferlinien Nachricht geben. Dieſe Gletſcher, mit
ihren gewaltigen ſchweren Maſſen auf den felſigen Unterlagen ſich fort¬
ſchiebend rieben von denſelben, wie das auch noch jetzt geſchieht, eine
große Maſſe des feinſten Staubes ab, die dann von Bächen und Flüſſen
fortgeſchwemmt, in den Ebenen, wo die letzteren ſich ausbreiteten, ab¬
gelagert wurde und ſo die eigenthümlichen oft mächtigen Schichten bil¬
dete, welche von den Geognoſten als Löß bezeichnet werden. — Nun
erſt trat wieder eine allmähliche Senkung ein, welche England und
Frankreich von einander trennte und die Nordſee wieder als Meer
[12]Erſte Vorleſung.herſtellte. Ich habe in Vorſtehendem nur die großen Hauptzüge jener
Periode charakteriſirt, während zeitweilig und an verſchiedenen Orten
untergeordnetere Hebungen und Senkungen noch vielfach mit einander
gewechſelt haben müſſen. Man wird aber nur durch dieſe gewaltigen
Veränderungen in der geographiſchen Vertheilung von Land und Meer
und den mannichfachen dadurch bedingten klimatiſchen Veränderungen
eine etwas anſchaulichere Vorſtellung davon erhalten, welche unendlich
lange Zeiträume nöthig geweſen ſind, um alle dieſe Erſcheinungen ent¬
ſtehen und vergehen zu laſſen. Ähnliche Bewegungen der Erdoberfläche
wie die erwähnten haben zu allen Zeiten ſtattgefunden und langſam,
aber in Zeiträumen von Hunderttauſend und mehr Jahren, die Geo¬
graphie der Erde umgeſtaltet. Ähnliche Bewegungen ſind aber auch an
den verſchiedenſten Orten innerhalb der ſtreng hiſtoriſchen Zeit vor ſich
gegangen oder greifen noch jetzt auf der Erde unter unſeren Augen
Platz, ſo z. B. die bekannte ſchon von Celſius erkannte Bewegung,
durch welche die ganze Oſtküſte von Schweden, ſchneller im Norden,
langſamer im Süden, aus dem Finniſchen Meerbuſen hervorgehoben
wird. Da wir dieſe letztere Bewegung in genügend langen Zeiträumen
beobachten und mit Meßinſtrumenten controliren konnten, um von der¬
ſelben ein mittleres Maß der Hebung oder Senkung abzuleiten, ſo ge¬
winnen wir dadurch einen Anhalt zur Berechnung geognoſtiſcher Pe¬
rioden, indem uns die Umgebung von Stockholm auf eine Niveau¬
veränderung von 1 Fuß im Jahrhundert hinführt. Ein anderes Bei¬
ſpiel bietet uns die Grenze zwiſchen Schottland und England dar,
wo ſeit der Errichtung der ſogenannten Pictenmauer unter Hadrian
ſich das Land um etwa 20 Fuß gehoben hat. Daraus ließe ſich ein
mittlerer Werth der Niveauveränderungen von etwa 1 ½ Fuß für das
Jahrhundert ableiten. Wenn wir nun in England und Schott¬
land Beweiſe finden, daß ſich der Boden innerhalb der eigentlichen
Neuzeit im Ganzen um 600 Fuß gehoben habe, ſo ſetzt das ſchon einen
Zeitraum von 40,000 Jahren voraus. Indeß führe ich dieſes hier nur
an, um an einem einzelnen Beiſpiele dem Laien verſtändlich zu machen,
[13]Das Alter des Menſchengeſchlechts. auf welche Weiſe der Geognoſt zur Beſtimmung der Zeiten, in denen
ein Ereigniß ſtattfand, gelangt. Natürlich iſt die Berechnung für jede
einzelne Oertlichkeit, für jede einzelne Erſcheinung immer nach den be¬
ſonderen Umſtänden und Erwägungen eine ſehr verſchiedene, beruht
aber immer auf ebenſo ſicheren, ja meiſtentheils noch ſicherern Grund¬
lagen als die Angaben der Hiſtoriker für Ereigniſſe, die auch nur eini¬
germaßen weit in der Geſchichte zurückliegen. — Auf dieſe Weiſe kön¬
nen wir nun feſtſtellen, daß die Formation der Neuzeit zum allerwenig¬
ſten einen Zeitraum von 100,000 Jahren und die poſtpliocäne Forma¬
tion jedenfalls einen ebenſo langen oder noch längeren umfaßt, daß wir
daher ſchon mit den letzten Formationen der tertiären Epoche in Zei¬
ten die mehr als 300,000 Jahre hinter der Gegenwart zurückliegen,
eingeführt werden.
Ich gehe nun zu einer etwas genaueren Darſtellung der wichtig¬
ſten der oben erwähnten Entdeckungen über und zwar will ich dieſelben
nach ihrem Alter in drei Gruppen ordnen, die erſten, welche noch den
Menſchen in der Neuzeit, in den uns vertrauten Umgebungen betrach¬
ten, die zweiten, welche das Vorhandenſein des Menſchen in der zwei¬
ten Hälfte der Poſtpliocänformation als Zeitgenoſſen des Mammuth
und Rhinoceros darthun und endlich die dritten, die ihn als gleichzei¬
tig mit den mächtigen Gletſcherentwickelungen der älteren poſtpliocänen
Formation, der ſogenannten Eiszeit erſcheinen laſſen.
Die erſten intereſſanten Thatſachen bieten uns die Torfmoore der
Däniſchen Inſeln und die an ihren Oſtküſten ſich findenden oft 2 Mil¬
lionen Cubikfuß umfaſſenden Bänke von Auſtern- und anderen Mu¬
ſchelſchalen, Knochenreſten, Steinwaffen und dergleichen, welche die
Dänen Kjökken-möddings („Küchenkehricht“) nennen. Die Unter¬
ſuchungen dieſer Acten der Vergangenheit erzählen uns die Geſchichte
einer Bevölkerung, welche vor wenigſtens 10,000 Jahren in dieſen
Gegenden unter mächtigen Kiefernwäldern, eine Baumart, die jetzt
ganz aus Skandinavien verſchwunden iſt, von Jagd und Fiſch¬
fang lebte. Die Bearbeitung dieſer Entdeckungen verdanken wir
[14]Erſte Vorleſung.hauptſächlich dem Dr. Steenſtrup, Dr. Buſh und einigen
Anderen.
An dieſe eben erwähnten Funde ſchließen ſich ſehr eng die viel in¬
tereſſanteren an, mit denen uns ſeit 1858 durch eine Reihe von Auf¬
ſätzen in den Acten der Zürcher antiquariſchen Geſellſchaft, ſowie in
ſelbſtändigen Werken Keller und Rütimeyer bekannt gemacht ha¬
ben. Man fand nämlich zuerſt in dem trocknen Winter 185¾ im Zür¬
cher See bei Meilen, ſpäter in faſt allen übrigen Schweizer Seen
die Reſte von Pfahlbauten (auf Platformen im Waſſer errichteten Woh¬
nungen) wie ſie ſchon in älteſter Zeit von Herodot bei einem Thraki¬
ſchen Stamme, der im See Praſias im heutigen Rumelien ſeine
Wohnſitze aufgeſchlagen hatte, 520 vor Chr. beſchrieben worden ſind.
Zugleich umſchloß der Schlamm der Schweizer Seen zahlreiche Knochen¬
reſte, Stein-, Bronce- und Eiſenwaffen, Töpfergeſchirr, Kähne u. dgl.
m. — Die genauere Durchforſchung dieſer Reſte führte zu einer ganzen
Geſchichte dieſer Pfahlbautenbewohner, die wohl auch über 10,000
Jahre zurückreicht und ſich kurz ſo wiedergeben läßt. Die erſten Grün¬
der dieſer Pfahlbauten kamen aus Aſien, von woher ſie noch Stein¬
waffen aus Beilſtein, der in Europa nicht gefunden wird, mitbrachten.
Sie wurden von anderen wahrſcheinlich Iberiſchen Stämmen ver¬
drängt und dieſe mußten wieder den Kelten der ächten Broncezeit
weichen. Von dieſen wiſſen wir durch Meyer, daß ſie noch 1500
Jahre vor Chr. von Kleinaſien bis zum Weſten Europa's ſehr
verbreitet waren. — Den Kelten folgten jüngere Stämme, die bereits
Eiſenwaffen führten und etwa 200 Jahre vor Chr. zur Zeit der Grie¬
chiſchen Beſitzungen in Marſeille, aus welcher Zeit einige Münzen
gefunden wurden, dieſe Pfahlbauten verließen, die dann verfielen und
vergeſſen wurden, ſo daß Cäſar ſchon keine Kunde mehr von ihnen
erhielt. Man unterſcheidet hier deutlich ein Zeitalter der rohen nur
durch Abſplittern geformten und ein anderes der ſorgfältig durch Schlei¬
fen geglätteten Steinwaffen. Beide gehen der Zeit der Iberiſchen und
der dieſe verdrängenden Keltiſchen Stämme vorher, denn dieſe beiden
[15]Das Alter des Menſchengeſchlechts. haben in ihrer Sprache das Wort für Erz aus derſelben Wurzel wie in
alten Indogermaniſchen Sprachen abgeleitet. Bei den Basken (Ibe¬
rern) findet ſich »urraida«, bei den Iren, Walliſern u. ſ. w. (Kel¬
ten) »jaran, »hajarn», »houarn« u. ſ. w.— Die Iberiſche und Keltiſche
Zeit charakteriſiren ſich in jenen Reſten durch eine rohere und eine fei¬
nere, zierlichere Bearbeitung der Broncewaffen, worauf denn endlich
die Stämme mit Eiſenwaffen, wohl die älteſten Teutoniſchen folg¬
ten. Auch in der Lebensart und den Nahrungsmitteln giebt ſich ein
ſolcher periodiſcher Fortſchritt vom roheren zum civiliſirteren Zuſtande
zu erkennen.
Eine weitere intereſſante Entdeckung wurde durch die von Hor¬
ner, dem Präſidenten der geologiſchen Geſellſchaft in London, veran¬
laßten ſyſtematiſchen Bohrungen im Nilthal herbeigeführt. Dieſelben
brachten aus Tiefen von 60 und 72 Fuß Bruchſtücke von Aegyptiſchem
Töpfergeſchirr herauf. Da wir nun durch Girard's und Rocière's
gründliche Unterſuchungen belehrt die fäculare Erhöhung des Bodens
durch den jährlich abgelagerten Nilſchlamm im Mittel zu etwa 5½ Zoll
annehmen dürfen, ſo haben wir hier einen Beweis, daß die Aegyptiſche
Cultur im Nilthal ſchon wenigſtens 24,000 Jahre alt iſt, daß alſo die
immer für fabelhaft angeſehenen Angaben Manetho's über das Zeit¬
alter der erſten Dynaſtieen vielleicht nichts weniger als übertrieben ſind.
Noch weiter in der Zeit zurück weiden wir aber durch die inter¬
eſſanten Bohrungen im Delta des Miſſiſſippi geführt, von denen uns
Dr.Bennet-Dowler in ſeinem Werke über New-Orleans aus¬
führliche Nachrichten mitgetheilt hat. Nach den ſehr umſichtigen Unter¬
ſuchungen dieſes Forſchers, der alle auf die Bildung des Miſſiſſippi¬
delta's von Einfluß ſeienden Verhältniſſe ſorgfältig erwogen hat, iſt
zur Bildung dieſes Delta's ein Zeitraum von mindeſtens 258,000 Jah¬
ren erforderlich geweſen und die Menſchenknochen, die man aus einer
ſehr bedeutenden Tiefe heraufbrachte, dürfen ein Alter von wenigſtens
57,000 Jahren beanſpruchen.
Endlich erwähne ich noch der beim Graben des Södertelge¬
Schleiden, Vorleſungen. 2[16]Erſte Vorleſung.canals, der den Mälarſee mit dem Finniſchen Meerbuſen verbindet,
64 Fuß unter der Oberfläche des Bodens gefundenen Fiſcherhütte, in
deren Flur man eine Art von Heerd, Holzkohlen und Reiſigbündel
fand. Wir kennen den gegenwärtigen Betrag der Niveauveränderungen
der Schwediſchen Oſtküſte ſehr genau. Lyell hat ſie für die hier in Be¬
tracht kommende Umgegend von Stockholm auf 10 Zoll für das
Jahrhundert berechnet.—Zugleich hat er eine vorhergehende Senkung,
wodurch eben jene Hütte mit Meeresſand und Meeresmuſcheln bedeckt
wurde nachgewieſen, die für die Umgebung von Stockholm wenig¬
ſtens 400 Fuß unter den jetzigen Spiegel der Oſtſee betragen haben
muß, auf welche Senkung erſt die jetzige Hebung folgte. Die ſämmt¬
lichen hier in Betracht kommenden Verhältniſſe beweiſen, daß die Sen¬
kung wie die darauf folgende Hebung ganz ruhig und ſtetig, wie es
noch jetzt geſchieht, ohne gewaltſame Revolutionen und Störungen vor
ſich gegangen ſind, und daß beide Bewegungen, die nach Unten und
nach Oben, durchaus der Neuzeit angehören. Beide Bewegungen zu¬
ſammen zu 800 Fuß angenommen ergeben alſo nach dem obigen Ma߬
ſtab einen Zeitraum von 70—80,000 Jahren, der wenigſtens vergan¬
gen ſein muß, ſeit Fiſcher jene Hütte am Strande der Oſtſee erbauten.
Ich könnte hier die Beiſpiele leicht vermehren, die von mir mitge¬
theilten genügen aber ſchon vollkommen, um die Gegenwart der Men¬
ſchen auf der Erde in der ganzen Neuzeit, alſo in einem Zeitraume von
wenigſtens 100,000 Jahren zu erweiſen. Ich wende mich deshalb lie¬
ber zu den Thatſachen, welche für eine noch viel frühere Exiſtenz des
Menſchen auf der Erde ſprechen.
Wir werden hier in die eigentlich poſtpliocäne Formation hinein¬
geführt, in eine Periode unſerer Erde, in der Elephanten (Mammuth)
Rhinoceros, Höhlen-Löwen, -Hyänen und -Bären das mittlere und
nördliche Europa belebten, der Menſch auf dieſelben Jagd machte,
ihr Fleiſch verzehrte, ihre Knochen aufſchlug, um ſich des Markes zu
bemächtigen und dann von den größeren und härteren Stücken ſich
Lanzen und Pfeilſpitzen zu neuen Jagdabenteuern ſchnitzte, wobei er
[17]Das Alter des Menſchengeſchlechts. rohe Steinmeſſer benutzte, die ebenſo unkünſtleriſch geformt waren als
die von ihm benutzten ſteinernen Beile und Streitäxte.
Schon 1715 hatte man in dem ſogenannten Londoner Thon,
einem Gliede der poſtpliocänen Formation, zwiſchen den Knochen un¬
tergegangener Thiere eine ſteinerne Art gefunden, dieſen Fund aber als
völlig gleichgültig und werthlos bei Seite gelegt und vergeſſen. Nicht
beſſer ging es den Entdeckungen von Frere in Suffolk (1801), von
Tournal im Departement de l'Aube (1828) und von Chriſtol bei
Nismes (1829). Auch die ſchönen Funde von Dr. Schmerling,
der in den Knochenhöhlen von Engis und Engihoul bei Lüttich
(1831—33) viele Menſchenknochen und faſt ganz erhaltene Schädel
fand, wurden nicht einmal von ihm ſelbſt ihrem wahren Werthe nach
gewürdigt und von den Geognoſten, wie ſelbſt Lyell jetzt zugeſteht, mit
ſehr ungerechtfertigter Gleichgültigkeit unbeachtet gelaſſen.
Erſt die, wie ſchon Eingangs erwähnt, anfänglich geradezu ver¬
lachten Unterſuchungen von Boucher de Perthes brachen endlich
für dieſe neuen Anſchauungsweiſen Bahn. Die neuen Entdeckungen
und die Wiederaufnahme älterer Unterſuchungen folgten ſich ſchnell und
alte wurden nun in der richtigen Weiſe verwerthet. So zeigte ſich, daß
das ganze mittlere wie nördliche Frankreich ſo wie das ſüdliche
England in den maſſenhaften Kieſelgeſchieben und Thonlagern,
welche bald nach der Eiszeit abgelagert wurden und die man gewöhn¬
lich Diluvialgebilde nennt, überall in Geſellſchaft mit den ſchon vor
unſerer neueſten Erdbildungsperiode untergegangenen Thieren auch
Menſchenknochen oder menſchliche Kunſtprodukte umſchließe. Aber der¬
artige Entdeckungen blieben keineswegs auf die genannten Länder be¬
ſchränkt. Sicilien, Sardinien, die Pyrenäen wie das Ohio¬
thal ſtellten ihr Contingent zu dieſen längſt untergegangenen Völker¬
ſchaften, deren Lebenszeit jedenfalls noch weit über 100,000 Jahre
hinter uns liegt.
Ich will nur auf einen dieſer Funde etwas näher eingehen, da
2*[18]Erſte Vorleſung. ſich an denſelben einige ganz intereſſante Betrachtungen anknüpfen laſ¬
ſen, die ich, wenn auch nicht ausführen, doch andeuten will.
Im Jahre 1852 unterſuchte ein Arbeiter bei Aurignac im De¬
partement der Haute Garonne einen Kaninchenbau und zog zu ſei¬
ner Ueberraſchung aus der Tiefe deſſelben einen der längeren Knochen
eines Menſchen hervor. Aus Neugier räumte er die lockere Erde am
Abhange des Hügels fort und ſtand nach der Arbeit von einigen Stun¬
den vor einer großen ſchweren, den Eingang in eine Felſenhöhle ver¬
ſchließenden Steinplatte. Nach Entfernung derſelben fand er einen
Raum 7—8 Fuß hoch, etwa 10 Fuß breit und 7 Fuß tief zum großen
Theil mit Knochen gefüllt, von denen er ſogleich zwei Schädel als
menſchliche erkannte. Die Kunde davon verbreitete ſich ſchnell und Dr.
med.Amiel in Amiens, deſſen Name nur wegen ſeiner rohen Un¬
wiſſenheit und Bildungsloſigkeit, die aber bekanntlich in Frankreich
nicht ſelten iſt, aufbewahrt zu werden verdient, ließ alle dieſe Knochen
ſorgfältig ſammeln und aufs neue auf dem Gemeindekirchhof chriſtlich
beſtatten. — Der Herr Doctor medicinae hatte indeß wenigſtens
ſoviel anatomiſche Kenntniſſe, daß er ſich klar machte, er habe nahebei
die ſämmtlichen Knochen von ohngefähr 17 männlichen und weiblichen
Skeleten ſehr verſchiedenen Alters und im ganzen von ſehr kleiner
Statur vor ſich. Das iſt aber leider auch alles, was wir von dieſen
Skeleten wiſſen, denn als 8 Jahre ſpäter die Angelegenheit zufällig
zur Kenntniß wiſſenſchaftlich gebildeter Männer kam, hatte man leider
auch den Ort, wo dieſe Skelete auf dem Kirchhofe begraben waren,
ganz und gar vergeſſen. Es war der Geognoſt Lartet, der zu der er¬
wähnten Zeit Aurignac beſuchte und natürlich ſogleich eine ſorgfäl¬
tige wiſſenſchaftliche Unterſuchung vornahm. Die Reſultate derſelben
ſind kurz folgende.
Die Höhle war eine regelmäßige Begräbnißſtätte. Lartet fand
darin noch einige überſehene Menſchenknochen, ein Muſchelhalsband
nebſt einigen anderen Schmuckſachen von Knochen, ein ganz neues,
noch ungebrauchtes Feuerſteinmeſſer, einige Zähne von Höhlenbären
[19]Das Alter des Menſchengeſchlechts. und Eber- und viele andere Thierknochen, die offenbar als ganze Thiere
mit den Menſchen begraben waren, da die ſämmtlichen Knochen z. B.
die eines Höhlenbären unzerſtreut und im natürlichen Zuſammenhange
des Skeletes neben einander lagen, auch keiner zerſchlagen oder benagt
gefunden wurde. Vor dem Eingang in die Höhle zeigte ſich dagegen
ein ganz anderer Schauplatz. Hier war ein flacher Heerd von Sand¬
ſteinen gebaut, die ſichtbare Spuren der Einwirkung des Feuers zeig¬
ten. Darüber lag eine ſtarke Schicht Erde untermiſcht mit Holzkohlen,
vielen gebrauchten Feuerſteinwaffen, wie Meſſer, Schleuderſteine,
Pfeilſpitzen und dergleichen; ferner fand ſich dazwiſchen eine große An¬
zahl von Thierknochen zerſtreut und darunter namentlich die vom Höh¬
lenbären, Höhlenlöwen, von der Höhlenhyäne, vom Mammuth, dem
ſibiriſchen Rhinoceros, dem irländiſchen Rieſenhirſch, dem Rennthier
und ſo weiter. Die meiſten dieſer Knochen waren mit Steinmeſſern ab¬
geſchabt, einige offenbar am Feuer geröſtet, die markführenden alle auf¬
geſchlagen, um das Mark herauszuziehen. — Unzweifelhaft waren hier
vor der Grabſtätte Todtenfeſte und Schmäuße gefeiert. Der Platz
wurde dann ſpäter wohl von Raubthieren beſucht, um ſich der Ueber¬
bleibſel zu bemächtigen, wahrſcheinlich beſonders von der Höhlenhyäne,
denn viele der übriggebliebenen Knochen waren deutlich benagt und die
weicheren Enden abgefreſſen.
Außer manchen anderen Betrachtungen, zu denen dieſer Fund auf¬
fordert, ſind es beſonders folgende, die von Wichtigkeit erſcheinen. So
hoch wir auch das Alter dieſer Menſchen hinaufrücken müſſen, ſo wa¬
ren dieſelben doch ſchon bis zu einem ſolchen Grade der Cultur ent¬
wickelt, daß ſie ihre Todten regelmäßig und mit gewiſſen Feierlichkeiten
begruben und ihr Andenken durch Todtenfeſte ehrten. Noch bedeutender
iſt aber, daß ſie ihre Todten mit ganzen Jagdthieren, mit Schmuck und
mit neuen Waffen verſorgten, was auf eine, wenn auch noch ſo rohe
Vorſtellung von einem zukünftigen Leben, etwa wie die „glücklichen
Jagdgründe“ der Nordamerikaniſchen Indianer hindeutet und lebhaft
an Schillers Nadoweſſiſche Todtenklage erinnert:
[20]Erſte Vorleſung.
Aber auch hier können wir noch nicht abbrechen, denn nach dem,
was oben über die Entſtehung des Löß, jener eigenthümlichen feinen
Thonart der Europäiſchen Niederungen geſagt worden iſt, müſſen wir
uns an den Gedanken gewöhnen, die Zeit unſerer Vorfahren auf der
Erde noch viel weiter hinaufzurücken, da Menſchenknochen zuſammen
mit ächten (nicht wollhaarigen) Elephanten ſchon 1815—23 in dem Löß
bei Mäſtricht aufgefunden worden ſind. Und in der That möchte es
gut ſein ſich vorläufig mit dieſem Gedanken vertraut zu machen, denn
allem Anſcheine nach ſtehen wir erſt am Anfange, aber noch lange nicht
am Ende der Entdeckungen. Auch Cuvier ſprach noch 1830 ſein Er¬
ſtaunen darüber aus, daß in den tertiären Formationen noch keine
foſſilen Affen gefunden ſeien und in der That blieb es lange ein Glau¬
bensſatz bei den Geognoſten, daß die Affen ganz und gar der allerneu¬
ſten Erdbildung angehörig ſeien. Fünf Jahre nach Cuvier's Tode 1837
wurden faſt gleichzeitig in Europa und Braſilien die erſten foſſilen
Affen der Tertiärzeit entdeckt und jetzt kennt man allein in Europa ſchon
6 Arten derſelben. Es iſt nicht nur nicht unwahrſcheinlich, ſondern im
Gegentheil faſt mit Gewißheit vorauszuſagen, daß über kurz oder lang
auch Menſchenformen, vielleicht von den bis jetzt gefundenen in man¬
chen Punkten abweichend in den tertiären Schichten entdeckt werden
und dann dürften wir mit der Annahme von 300,000 Jahren kaum
das Zeitalter ihres Lebens erreichen.
In Bezug auf dieſen letzten Punkt will ich noch eine intereſſante
[21]Das Alter des Menſchengeſchlechts.Thatſache hervorheben, auf die zuerſt Ami Boué aufmerkſam gemacht
hat. Bekanntlich haben wir in der ſogenannten alten Welt drei große
ganz ſcharf geſchiedene Typen der Menſchheit oder Raſſen, die weiße
oder Indo-atlantiſche, die ſchwarze oder Negerraſſe und die
gelbe oder Mongoliſche Raſſe. Die Vertheilung dieſer drei Raſſen
auf der Erde, zumal, wenn wir an den Anfang unſerer Geſchichte und
Sage zurückgehen, ehe Kriege und Wanderungen die Menſchen ſo ſehr
durcheinander geſchüttelt hatten, bietet nun eine ganz eigenthümliche
Erſcheinung dar. Ich habe ſchon früher darauf aufmerkſam gemacht,
daß die Geographie von Europa und Afrika und wie ich jetzt noch
hinzufügen will auch von Aſien eine durchaus andere war. Zwei
große Meeresbecken, die jetzt als Wüſten ſich darſtellen, durchſetzten die
damals beſtehenden Continente. Der Nordrand von Afrika war mit
Europa vielfach durch feſtes Land verbunden, was wir mit Sicherheit
für den weſtlichen Theil und für Sicilien zwiſchen Marſala und
Cap Bon wiſſen. Aber vom ſüdlichen Afrika war dieſer Landſtrich
durch das große Meer getrennt, deſſen gehobener Boden jetzt in faſt
ununterbrochenem Zuge von der Weſtküſte Afrika's bis an den Fuß des
Hymalaya's ſich erſtreckt. Keine Sage und kein natürliches Denk¬
mal deutet an, daß jemals am Nordende dieſes Meeres Negerſtämme
gehauſt hätten, während wir dieſelben am Südrande bis in die ſüd¬
lichen Theile von Oſtindien verfolgen können. Am Nordrande die¬
ſes Meeres und ſelbſt in Afrika finden wir ſeit den älteſten Zeiten
immer nur Völker der weißen Raſſe anſäßig. In ähnlicher Weiſe bilden
aber auch in Aſien die ehemaligen der Tertiärepoche angehörigen
Meeresbecken von Tübet, der Wüſte Gobi nach Süden und Oſten
die Grenze zwiſchen der weißen Raſſe und der Mongoliſchen. Dieſe
ſeltſame Trennung der Hauptraſſen, nicht durch die gegenwärtigen
Meere, ſondern durch die Meere der Tertiärzeit giebt einen ſtarken
Wahrſcheinlichkeitsgrund dafür, daß dieſe drei Raſſen ſchon in der Ter¬
tiärzeit exiſtirt haben.
Den größten Theil der Thatſachen, welche ſich auf die frühere,
[22]Erſte Vorleſung. Das Alter des Menſchengeſchlechts.vorhiſtoriſche Gegenwart der Menſchen aus der Erde beziehen, hat
Lyell in dem Eingangs erwähnten Werke zuſammengeſtellt, mit der
ſtrengſten Kritik und der ſorgfältigſten Umſicht geprüft und damit einen
augenblicklichen Abſchluß in dieſer Lehre erreicht, deſſen Reſultate ich
im Vorſtehenden überſichtlich zuſammengeſtellt habe. Lyell geht aber
auch noch auf einen anderen Punkt ein, der kürzlich von Darwin an¬
geregt, gegenwärtig aufs lebhafteſte die Naturforſcher beſchäftigt und
allerdings für gewiſſe, ohnehin etwas veraltete Anſchauungsweiſen
geradezu eine Lebensfrage genannt werden kann. Eine Darſtellung
dieſer Angelegenheit würde mich hier aber zu weit führen und ich ver¬
ſchiebe ſie daher auf eine folgende Mittheilung.
Zweite Vorleſung.
Ueber die Entſtehung der Arten.
[[24]][[25]]Nicht nur in den mächtigen Bewegungen des Staatslebens, ſon¬
dern auch in der Geſchichte der Wiſſenſchaft kann man das Wort aus
Schillers Wallenſtein anwenden:
Streng genommen verſteht ſich ja dieſer Ausſpruch ganz von ſelbſt
und beſagt nichts anderes, als daß kein Wunder geſchieht, daß Alles
ſich naturgeſetzlich nach Urſache und Folge entwickelt und jedes gegebene
Verhältniß ſchon die Grundlagen für ſeine ſpätere Geſtaltung in ſich
bergen muß. Es kommt nur darauf an, dieſe Grundlagen in jedem ein¬
zelnen Falle richtig aufzufaſſen und das Geſetz der Entwicklung zu ken¬
nen, um ein guter Prophet zu werden. — Die Geſchichte faſt aller bedeu¬
tenden Entdeckungen und Erfindungen zeigt uns, daß ſie zuerſt in dieſem
oder jenem Menſchengeiſte auftauchen, von einer der Prophetengabe
nicht mächtigen Mitwelt ignorirt oder verlacht werden und daß die
Menſchen Zeit, oft Jahrhunderte und Jahrtauſende, gebrauchten, um
ſich an einen ihnen neuen Gedanken zu gewöhnen, der ihnen dann in
der Regel erſt durch eine Perſönlichkeit, die eigentlich nichts Neues mehr
bringt, ſo vorgetragen wird, daß es von Allen oder doch den Meiſten
verſtanden, nicht mehr verworfen, ſondern als neue Entdeckung oder
Erfindung gerade dieſer Menſchen anerkannt und nach ihnen benannt
wird. Hinterher ſammelt dann die Wiſſenſchaft die früheren Spuren
und Keime dieſes angeblich Neuen und man wundert ſich wohl gar noch,
wie es je habe verkannt werden können. —
[26]Zweite Vorleſung.
In meinem vorigen Berichte habe ich ein Beiſpiel der Art [vorge¬
führt], der heutige Bericht iſt beſtimmt, ein zweites zu erläutern.
Man war lange von der Vorausſetzung ausgegangen, daß es eine
gewiſſe feſtſtehende Zahl von Pflanzen- und Thierarten auf der Erde
gebe und daß die Naturgeſchichte ihr Endziel erreicht habe, wenn ſie
dieſe Arten ſämmtlich erkannt, unterſchieden und vollkommen beſchrie¬
ben habe. Beſonders lebendig und zum allgemeinen Bewußtſein ge¬
bracht wurde dieſer Gedanke durch den Begründer der ſyſtematiſchen
Naturgeſchichte Linné, der allerdings ſich dieſe Aufgabe gar nicht ſo
bedeutend vorſtellte, wie ſie unſeren gegenwärtigen Kenntniſſen zufolge
in der That iſt. In der erſten Ausgabe ſeines Syſtems der Pflanzen¬
arten ſpricht er ſeine Anſicht dahin aus, daß auf der ganzen Erde die
Anzahl der Pflanzen ſchwerlich 10,000 erreiche. Gegenwärtig kennen
wir ſchon ungefähr 200,000. — Der Gedanke ſtand bei den Bearbei¬
tern der Naturgeſchichte feſt, daß die gegenwärtig auf der Erde vor¬
handenen Pflanzen und Thiere von jeher auf derſelben gelebt hätten
und in ununterbrochner Geſchlechtsfolge von den mit der Erde zugleich
geſchaffenen Stammexemplaren abſtammten. Wiſſenſchaftliche Gründe
für dieſe Anſicht gab es durchaus nicht, gleichwohl wurde ſie wie ein
Glaubensſatz feſtgehalten und war auch in der That ein ſolcher. Es
war ein Vorurtheil, welches aus einer falſchen und beſchränkten Auf¬
faſſung der bibliſchen Schöpfungsſage durch den Jugendunterricht auch
in die Köpfe der Gelehrten gekommen war, ſo daß dieſelben mit ſe¬
henden Augen blind waren und in einigen närriſchen Beiſpielen noch
jetzt ſind. —
Die Entdeckungen der Geognoſie mußten dieſem Vorurtheil bald
ein Ende machen. Sobald man erkannte, daß die feſte Rinde unſeres
Planeten eine lange Entwicklungsgeſchichte durchlaufen habe, ſobald
man dieſelbe mit wiſſenſchaftlicher Strenge und Anordnung in Forma¬
tionen, Perioden und Epochen eintheilen lernte und dann fand, daß die
organiſchen Geſtalten der Pflanzen- und Thier-Welt in jeder Periode
und noch gewiſſer in jeder Epoche durchaus andere geweſen ſind, da
[27]Ueber die Entſtehung der Arten. mußte die eine Hälfte jenes Vorurtheils allerdings fallen. Nur noch
höchſt bornirte oder höchſt unwiſſende Menſchen, leider giebt es auch
jetzt noch Einige dergleichen, konnten noch an dem Gedanken der Be¬
ſtändigkeit der Arten feſthalten. Gleichwohl wurde dieſer Schluß lange
nicht mit ausdrücklichen Worten gezogen und man umging die durch
geognoſtiſche Entdeckungen der alten verkehrten Anſicht bereiteten Schwie¬
rigkeiten mit Hülfe des Vortheils, den die Sache jedem anbietet, der
ſich oder Anderen die Wahrheit verbergen und das Falſche plauſibel
machen will. —
Wenn die Geognoſten uns erzählen: „am Schluſſe der paläozoi¬
ſchen Epoche gingen alle vorhandenen Pflanzen und Thiere zu Grunde
und im Beginn der meſozoiſchen Epoche „entſtanden“ neue, die end¬
lich im Anfang der känozoiſchen Epoche der noch jetzt uns umgebenden
Pflanzen- und Thierwelt Platz machten“, — ſo rechnet der Geognoſt
entſchieden auf die Dummheit der Menſchen, die ſich mit dem Worte
„entſtanden“ begnügen und nicht nach dem „wie“ fragen. Dieſe
Frage mußte aber zuletzt geſtellt und beantwortet werden. Sobald die
Geognoſie eine gewiſſe Stufe der Ausbildung erreicht hatte, lag die
Sache ſo: „In den verſchiedenen Perioden der Erdbildung ſind auch
die Thier- und Pflanzenarten verſchieden; keine der jetzt auf der Erde
vorhandenen Thier- und Pflanzenformen reicht über den Beginn der
Tertiärepoche, alſo über eine geognoſtiſch geſprochen ſehr kurze Vergan¬
genheit hinaus rückwärts, älter iſt keine jetzt vorhandene Art; mit wie¬
derholten Schöpfungen, wie ſie noch am Ende des vorigen Jahrhun¬
derts Kirwan annahm und darüber von dem berühmten Theologen
Pott zurecht gewieſen wurde, iſt es nichts; unſere heiligen Bücher
kennen nur eine einmalige Schöpfung und ein Naturforſcher hat auf
ſeinem Gebiete nicht einmal mit dieſer Einen etwas zu thun, denn
ſein Gebiet iſt das des wiſſenſchaftlich Begreifbaren, nicht das der
gläubigen Ueberzeugung; wenn ſich der Geognoſt alſo wiederholte Schö¬
pfungen ſelbſt erfindet, ſo iſt er ein Thor, der ſich ſelbſt nicht verſteht;
wenn neue Arten im Laufe der Erdgeſchichte aufgetreten ſind, und das
[28]Zweite Vorleſung.kann gegenwärtig nur noch ein völlig Unwiſſender läugnen, ſo ſind ſie
naturgeſetzlich entſtanden und es bleibt nur noch die Frage zu beant¬
worten, auf welche Weiſe, nach welchen Naturgeſetzen, kurz wie die
neuen Arten gebildet wurden und wie in ſpäteren Perioden neue ent¬
ſtehen werden“.
Die älteren Experimente von Ehrenberg, Schwann, Schultze
und Anderen, in neuerer Zeit wieder durch die umfaſſenden Unterſu¬
chungen von Paſteur beſtätigt, haben bewieſen, daß eine ſogenannte
„Generatio originaria, oder aequivoca“, das heißt eine Ent¬
ſtehung ſpecifiſch beſtimmter Keime ohne Mitwirkung gegebener Orga¬
nismen aus formloſem Stoffe in der Natur nicht vorkommt. — Da¬
gegen hat ſich der alte Harvey'ſche (?) Satz: „Alles Lebendige entſteht
aus einem Ei“ vollkommen bewährt und nur noch phyſiologiſch-be¬
ſtimmter und ſchärfer dahin ausſprechen laſſen, daß alles Lebendige
d. h. Pflanze und Thier aus einer Zelle entſteht. Nach der uns be¬
kannten Naturgeſetzlichkeit entſteht unter den auf der Erde gegebenen
Verhältniſſen keine Zelle ohne Mitwirkung der ſchon vorhandenen Zel¬
len eines gegebenen Organismus, von denen ſie gebildet wird. Da¬
durch hängen alle lebenden Weſen auf der Erde naturgeſetzlich zuſammen,
ſtehen durch die Fortpflanzung (im weiteſten Sinne des Wortes) mit
einander in Verbindung und jedes gegebene Individuum ſtammt noth¬
wendig von einem früheren Individuum ab. — Eine einzige Zelle, die
unter den ganz beſonderen, jedenfalls von den ſpäteren und gegenwär¬
tigen weſentlich abweichenden Bedingungen der paläozoiſchen Zeit ſich
bildete, genügt, um Stammmutter aller ſpäteren Pflanzen und Thiere
geworden zu ſein. — Ein jeder Organismus bildet, wie wir wiſſen,
auch ſolche Zellen, die ſich geſetzmäßig von demſelben trennen und dann
wieder zu einem ſelbſtändigen Organismus ſich entwickeln können. Wir
nennen dieſen Vorgang eben im allgemeinſten Sinne: „Fortpflan¬
zung“. Das aus einer ſolchen Zelle ſich entwickelnde neue Individuum
iſt zwar in vielen Merkmalen dem Mutterindividuum, welches ja den
materiellen Stoff hergab und die Bedingungen der erſten Entwicklung
[29]Ueber die Entſtehung der Arten.beſtimmte, gleich, aber keineswegs in allen; denn bei der frühen mehr
oder weniger vollkommenen Selbſtändigkeit des neuen Individuums
haben auch ſchon andere Einflüſſe unabhängig vom mütterlichen Orga¬
nismus auf daſſelbe beſtimmend eingewirkt und dieſe Einflüſſe werden
das neue Individuum um ſo mehr abändern, je eingreifender und an¬
dauernder ſie einwirken.
Wenn irgend ein lebendes Individuum weſentlich verſchiedenen
äußeren Lebensverhältniſſen ausgeſetzt wird, ſo kann es doch, voraus¬
geſetzt, daß es dabei überall ſeine Exiſtenz erhalten kann, an ſich ſelbſt
nur wenige und unbedeutende Abänderungen erleiden. Daß aber dieſe
äußeren Verhältniſſe von tief eingreifender Wirkung geweſen ſind, zeigt
ſich in der Nachkommenſchaft, indem dieſe in auffallenderer und man¬
nichfaltigerer Weiſe von dem ganzen Typus des erſten Individuums
abweicht als geſchehen ſein würde, wenn jene äußeren Verhältniſſe
nicht eingewirkt hätten, ſo daß ihr Einfluß eben erſt durch die Nach¬
kommenſchaft, hier aber auch ſehr ſchlagend in die Erſcheinung tritt.
Wir kennen dieſes Geſetz am vollkommenſten bei den Pflanzen; ver¬
ſetzen wir eine wild wachſende Pflanze in den üppig gedüngten Boden
unſerer Gärten, ſo wird ſie außer kräftigerem Wuchs im Allgemeinen
und etwa gewiſſen Verfärbungen der Blätter ſelten irgend eine Verän¬
derung wahrnehmen laſſen, aber die aus ihren Samen erzogenen Indi¬
viduen zeigen die mannichfachſten und oft auffallendſten Abweichungen
von dem Charakter der Stammpflanze. Es bilden ſich ſogleich zahl¬
reiche und oft ſehr merkwürdige Spielarten, die faſt regelmäßig um ſo
mehr abweichen, je länger wir die Samenzucht durch mehrere Genera¬
tionen fortſetzen. Auf dieſe Weiſe ſind z. B. alle die verſchiedenartigen
Gartenpflanzen entſtanden, die wir als Kohlarten zuſammenfaſſen und
die als Wirſing und Weißkraut, als Winter- und Blumen-Kohl, als
Kohlrübe und Kohlrabi kaum noch irgend eine Aehnlichkeit unter ein¬
ander und mit dem wilden Kohl auf den Nordſeedünen und den Hel¬
golander Felſen zeigen. Derſelbe Vorgang zeigt ſich auch bei den Thie¬
ren, wenn auch augenblicklich in weniger auffallenden Zügen. Was
[30]Zweite Vorleſung.wir hier nun in ſehr raſcher Weiſe in Folge unſerer abſichtlichen Ein¬
griffe unter unſeren Augen vor ſich gehen ſehen, mußte ſich ebenſo in
der Geſchichte der Organismen auf der Erde vollziehen, nur langſamer
in den langen Zeiträumen, in welchen ſich allmählich Boden, Verhält¬
niſſe von Land und Waſſer, Temperatur und Atmoſphäre änderten;
der langſamere Proceß in vieltauſendjähriger Dauer bringt zwar au¬
genblicklich weniger ſichtbare, aber mit der Zeit auch deſto eindringen¬
dere und gewaltigere Abänderungen hervor. Dazu kommt die Möglich¬
keit der Baſtardbildung zwiſchen verſchiedenen Geſchöpfen, wozu die
Gelegenheit in der Natur vielleicht ſeltener als in unſeren Ställen ge¬
geben, aber doch auch keineswegs ausgeſchloſſen iſt. Endlich iſt hier
noch zu erwähnen, daß bei vielen niederen Organismen und wahr¬
ſcheinlich in älteren geologiſchen Perioden noch häufiger und ausgebrei¬
teter als jetzt, die Nachkommenſchaft der erſten Generation ſo ſehr vom
mütterlichen Artcharakter abweicht, daß man verſucht wird, dieſelbe ſo¬
gar in ganz andere Ordnungen und Claſſen zu verſetzen und daß die¬
ſelbe erſt nach mehreren Generationen, wenn nämlich die Bedingungen
dazu günſtig ſind, zum Stammtypus zurückkehrt, — ein Vorgang, den
ſein erſter genauer Beobachter, Steenſtrup, mit dem Namen des
Generationswechſels belegt hat.
Aus dieſer ſkizzirten Darſtellung wird man leicht abnehmen kön¬
nen, wie unter Berückſichtigung bekannter Naturgeſetze und ganz be¬
kannter Erſcheinungen ſich die allmähliche Entwicklung neuer organi¬
ſcher Formen aus ſchon vorhandenen mit größter Leichtigkeit erklären
läßt, ohne daß man zu unbegründeten Hypotheſen und zu naturwiſſen¬
ſchaftlich unbrauchbaren und verwerflichen Anſchauungsweiſen ſeine Zu¬
flucht nehmen müßte. Dies ſind die Anſichten, die ich ſeit mehr als 15
Jahren in Schriften und Vorträgen vertreten habe. Ich habe nie daran
gezweifelt und nie daran zweifeln können, daß die in der geologiſchen
Geſchichte unſerer Erde allmählich nach einander auftretenden Formen
der Organismen auf naturgeſetzlichem Wege von vorhergegange¬
nen Formen abzuleiten ſeien und deshalb konnte ich auch nicht einen
[31]Ueber die Entſtehung der Arten. Augenblick anſtehen, die Entwicklung, die Darwin dieſer Lehre gege¬
ben hat, als einen entſchiedenen Fortſchritt zu begrüßen; ehe ich aber
zu einer kurzen Darſtellung der Darwin'ſchen Lehre übergehe, muß ich
hier noch eine Schwierigkeit beſeitigen, die in einem lange feſtgehalte¬
nen philoſophiſchen Irrthum begründet iſt. —
In allen das gegenwärtige Thema betreffenden Erörterungen tritt
uns nämlich ein Wort entgegen, das ſeine beſondere Betrachtung in
Anſpruch nimmt, welches das allergeläufigſte in den naturgeſchichtlichen
Disciplinen iſt und doch ſo wenig beſtimmte Bedeutung hat, daß kaum
zwei Forſcher ganz genau über daſſelbe einerlei Meinung ſind. Es iſt dies
das Wort „Art“. Wir werden darüber zu keiner klaren Einſicht gelan¬
gen, wenn wir uns an die zahlreichen, ſo verſchiedenen, oft ſich ge¬
radezu widerſprechenden Erklärungen der Forſcher wenden, noch
weniger würden wir zum Abſchluß gelangen, wenn wir uns den Be¬
griff ableiten wollten aus der Anwendung, welche die Naturbe¬
ſchreiber von demſelben auf die wirklichen Naturkörper machen, denn
dabei iſt vollends an keine Einigkeit zu denken; wo dieſer 3 Arten von
Vögeln annimmt, macht jener 6; dieſer findet 70 Arten von Eiſenhut,
wo ein anderer nur 7—8 zu unterſcheiden weiß. Es bleibt daher gar
nichts übrig, als den pſychologiſchen Proceß zu verfolgen, durch welchen
wir auf das geführt werden, was wir mit dem Worte „Art“ bezeichnen
wollen und allein bezeichnen dürfen. —
Die Menſchen verſtändigen ſich unter einander, wenn ſie ſich ihre
Wahrnehmungen, Erfahrungen und Gedanken mittheilen wollen, durch
Begriffe, zu deren Bezeichnung wir Worte gebrauchen. Nur da¬
durch iſt eine geiſtige Gemeinſchaft unter den Menſchen möglich. Ein
Beiſpiel mag die Sache erläutern: Ich habe in einem Walde zahlreiche
einzelne Eichen, Buchen, Linden, Ahorne u. ſ. w. geſehen und will
einem andern, der zwar einzelne Linden und Eichen geſehen hat, aber
nie einen Wald, erklären, was das iſt, ſo kann ich ihm ohne unver¬
ſtändlich zu werden oder mein halbes Leben daran zu wenden, nicht alle
die einzelnen Bäume, die ich ſah, beſchreiben, ich wende mich vielmehr
Schleiden, Vorleſungen. 3[32]Zweite Vorleſung.an eine bei ihm vorausgeſetzte Erfahrung und ſage: „ein Wald iſt eine
große Anzahl von Bäumen, die auf einem größeren Areal dicht bei¬
ſammen ſtehen“. Den „Baum“, auf den ich mich dabei beziehe, habe
ich nie geſehen, der, mit dem ich rede, ebenſowenig, denn in der That
exiſtirt ſo ein Ding in der ganzen Welt gar nicht; was exiſtirt, was
wirklich da iſt, ſind nur einzelne nach Alter, Größe, Verzweigung,
Blattzahl und dergleichen ganz beſtimmte Eichen, Buchen, Linden, Wei¬
den, Pappeln u. ſ. w. Aber indem der Menſch viele einzelne beſtimmte
Eichen ſieht, verwiſchen ſich in der Erinnerung allmählich alle die ein¬
zelnen ſcharf gezeichneten Züge, durch welche ſich die eine individuelle
Eiche von der andern unterſchied und in unſerem Vorſtellungskreiſe
bleibt zuletzt eine ſehr unbeſtimmte, faſt nebelhafte Zeichnung ſtehen,
die wir „Eiche“ nennen, die alle die Züge umfaßt, die ſämmtlichen ge¬
ſehenen Individuen gemeinſchaftlich zuſammen gehören, aber nicht einen
einzigen Zug behalten hat, der nur dieſem oder jenem Individuum allein
zukäme; es iſt eine Zeichnung, die das Eigenthümliche hat, daß ſie ſich
niemals anſchaulich darſtellen, niemals etwa auf Papier wirklich aus¬
führen läßt, denn was ich hinzeichne, iſt ſchon wieder ein beſtimmtes
Individuum mit einer ganz beſtimmten Stammdicke und Veräſtelung,
das iſt aber nicht die Eiche in meiner Vorſtellung, denn der Ausdruck
„Eiche“ muß eben ſo gut die zehnjährige wie die tauſendjährige bezeich¬
nen. Nun geht aber derſelbe Vorgang in weiterem Kreiſe wiederum
von Statten; ich ſah viele Eichen, Linden, Erlen u. ſ. w. Was dieſel¬
ben unterſcheidet, verſchwimmt in der Erinnerung, was ſie alle Ge¬
meinſchaftliches haben, bleibt für ſich als ein noch unbeſtimmteres Phan¬
taſiebild ſtehen, welches ich „Baum“ nenne. — Dieſe nebelhaften
Zeichnungen nun, die aus dem Unbeſtimmtwerden und Verſchmelzen
einer gewiſſen Anzahl von Erinnerungen entſtehen, nennen die Pſycho¬
logen im Allgemeinen „Schemata“ (Kant nannte ſie ſehr treffend
„Monogramme der Einbildungskraft“, erinnernd an die wenigen
Striche, mit denen der Maler ſeinen Namen andeutet). — Wenn wir
uns nun aber in Gedanken dieſe Nebelbilder gleichſam ſchärfer auszu¬
[33]Ueber die Entſtehung der Arten.zeichnen verſuchen, wenn wir ſie uns dadurch deutlicher machen, daß
wir die einzelnen Merkmale, die ſie noch in der Erinnerung behalten
haben, hervorheben und zum Bewußtſein bringen, z. B. bei „Baum“
ganz beſtimmt an den holzigen, aſtloſen Stamm mit der das Laub
tragenden oberen Verzweigung, der „Krone“ denken, ſo erheben wir
das nebelhafte Schema zum deutlichen Begriff. Schema und Be¬
griff unterſcheiden ſich alſo nur durch die Deutlichkeit der Auffaſſung,
durch ihr Verhältniß zum Bewußtſein und werden übrigens mit dem¬
ſelben Worte bezeichnet. Solche Begriffe ſind nun zum Beiſpiel „Eiche,
Linde, Weide“ und „Baum“, „Kohl, Salat, Kreſſe“ und „Kraut“, end¬
lich „Pflanze“ u. ſ. w. Dieſe ſämmtlichen Begriffe nennt man im All¬
gemeinen Geſchlechtsbegriffe und dieſelben laſſen ſich immer in Form
eines Flußſyſtems anordnen.
Syſtem der Begriffe.
Je mehr wir von den erſten Quellen zu Bächen, Flüſſen u. ſ. w.
fortſchreiten, deſto allgemeiner werden die Begriffe und deſto ſpäter ſind
ſie im menſchlichen Geiſte entſtanden, indem jeder allgemeinere Begriff
die beſonderen ſchon vorausſetzt (in ſich „begreift“), ſo wie beim be¬
ſonderſten Begriffe, z. B. bei dem der Eiche, die ſämmtlichen einzelnen
3 *[34]Zweite Vorleſung.Individuen, die wir nicht mehr durch Begriffe darſtellen, ſondern nur
durch unſere Sinne wahrnehmen („anſchauen“) können, ebenfalls vor¬
ausgegangen ſein müſſen. Nach der Stellung aus jenem Stromſyſtem
bezeichnen wir die Begriffe nun noch wie in der Tafel angedeutet als
„Artbegriffe“ (Zuſammenfaſſung der Individuen), „Gattungsbe¬
griffe“ (Zuſammenfaſſung der Arten), „Ordnungsbegriffe“ (Zu¬
ſammenfaſſung der Ordnungen). Es verſteht ſich wohl von ſelbſt, daß
die mitgetheilte Darſtellung nur als Beiſpiel die Sache erläutern ſoll.
In der That hängen alle unſere Begriffe in dieſer Weiſe nach unzählig
vielen Abſtufungen zuſammen, deren höchſter und allgemeinſter, oder
nach dem Gleichniß vom Stromſyſtem, deren ſie alle aufnehmender
Ocean der Begriff „Vorſtellung“ ſein würde. —
Dies iſt der für jeden ſorgfältigen pſychologiſchen Beobachter ſich
ganz klar darlegende, wirkliche Vorgang in der menſchlichen Seele, ſo
entſtehen die engſten Begriffe durch „Abſehen“ von den individuellen
Zügen der einzelnen Erſcheinungen, d. h. durch „Abſtraction“ u. ſ. f.
Begriffe ſind alſo bloße Gedankendinge (Vorſtellungen), die ſich in
nothwendiger Geſetzlichkeit durch einen pſychologiſchen Proceß bilden,
ſind aber in der Wirklichkeit ſelbſt nicht vorhanden.
Ebenſo langſam aber, wie ſich in der Geſchichte der Menſchheit die
Kunſt der Naturbeobachtung entwickelte, ebenſo langſam, ja ſelbſt noch
ſpäter, bildete ſich die Kunſt aus, das eigene Innere des Menſchen zu
beobachten, die Seele gleichſam in der geheimen Werkſtätte aller ihrer
Schöpfungen zu belauſchen. Nicht nur in der äußeren Natur irrte man
ſich vielfach und ſah Geſpenſter, ſondern auch in der inneren. Den
oben kurz geſchilderten Vorgang der Begriffsbildung kannte ſelbſt das
große Genie des Ariſtoteles noch nicht. Ihn führten einige unklare
Auffaſſungen an ſich richtiger Gedanken, die aber durch dieſe Unklarheit
zu Halbwahrheiten wurden, die immer, wie ein liebenswürdiger Bö¬
ſewicht, gefährlicher und verderblicher ſind, wie ganze Irrthümer. Ihm
ſchwebte dunkel vor, daß alles Geiſtige höheren Werth habe als das
Körperliche; daß man das Körperliche erſt dann erkennen könne, wenn
[35]Ueber die Entſtehung der Arten.es eine beſtimmte Geſtalt zeige, ſo z. B. könne Niemand den Marmor
ſo ganz im Allgemeinen erkennen, ſondern nur dieſes beſtimmt geſta¬
tete Stück Marmor, dieſe beſtimmte Bildſäule u. ſ. w. Aus dieſen An¬
ſichten entwickelte ſich ihm die Vorſtellung, daß die Form und nicht der
Stoff, das Allgemeine und nicht das individuell Wirkliche an allen
Dingen das allein Weſentliche, allein real Vorhandene ſei. Bei der
Fortbildung des Ariſtoteles im Mittelalter zur ſcholaſtiſchen Philo¬
ſophie entwickelte ſich aus dieſen eigenthümlichen und unklaren Auffaſ¬
ſungen die ganz grundfalſche Lehre des „Realismus“ im Gegenſatz
zum „Nominalismus“, jener mit der Behauptung, daß die Begriffe
etwas real, in der Wirklichkeit Vorhandenes ſeien, dieſer im Wider¬
ſpruch dagegen behauptend, daß die Begriffe nur Worte, bloße Na¬
men, für allmählich im menſchlichen Geiſte entſtandene Vorſtellungen
ſeien, denen aber außerhalb der menſchlichen Seele keine Realität zu¬
komme. Auf dieſe Weiſe ſchuf der Realismus in der That eine ganze,
ſcheinbar wiſſenſchaftliche Geſpenſterlehre, indem er die Begriffe, die
immer bloße Formvorſtellungen ſind und welche die menſchliche Seele
nur als Hülfsmittel zum Denken braucht, für wirkliche Dinge, für
Weſen erklärte. — Durch Albertus Magnus, Thomas von
Aquino und Duns Scotus wurde dieſe Lehre die herrſchende und
zugleich die orthodoxe Kirchenlehre, weshalb der ſich allmählich von
dieſem Irrwege losmachende Menſchengeiſt auch anfänglich nur im ketze¬
riſchen Widerſpruch mit der Kirche auftreten konnte und ſich nur ganz
allmählich gegen die Verfolgungen derſelben und im beſtändigen Kampfe
mit den Lehren des Realismus geltend machte, — ein Kampf, den zu¬
erſt der Franciscaner Wihelm von Occam begann und der endlich
durch die ſich erhebenden und nach und nach ſich entwickelnden Natur¬
wiſſenſchaften und durch den Einfluß ihres Geiſtes beendigt wurde.
Es liegt indeſſen in der Natur des Menſchen, daß derſelbe nur
ſehr ſelten von einem ganzen Irrthum mit einem Schritte zu der entge¬
genſtehenden ganzen Wahrheit übergeht, als daß es uns auffallen
dürfte, wenn wir gewahren, wie auch der Schritt vom Realismus zum
[36]Zweite Vorleſung. Nominalismus nicht ganz und mit einem Male geſchehen konnte, oder
ohne die Schulausdrücke, daß der Menſch nicht plötzlich zu der Einſicht
kam, daß alle Begriffe nur an ſich leere und unwirkliche Zuſammenfaſ¬
ſungen derjenigen Merkmale ſind, die übrig bleiben, wenn man von
den ſämmtlichen Merkmalen, die ſich an den einzelnen wirklichen Din¬
gen finden und wodurch ſich jedes einzelne derſelben von einer gewiſſen
Anzahl anderer ähnlicher Dinge unterſcheidet, abſieht (abſtrahirt) und
daß daher dieſe Abſtraction, d. h. der Begriff, ſeiner Natur nach noth¬
wendig veränderlich iſt, ſowie ſich die Anzahl der Dinge ändert, die wir
unter einen Begriff zuſammenfaſſen wollen, oder ſowie wir dieſe Dinge
genauer kennen, ihre Merkmale ſchärfer faſſen und unterſcheiden ler¬
nen *). Wenn auch wie geſagt der Realismus als ganze die Philoſo¬
phie beherrſchende Lehre geſtürzt wurde, ſo blieben doch einzelne Regio¬
nen, gleichſam einzelne Winkel der Seele zurück, in denen er, weil
unbeargwohnt, auch ungeſtört ſeine Herrſchaft behauptete. So hielten
denn ſelbſt unſere größten und klarſten Denker, Kant, Fries und
Apelt, welche die Philoſophie gerade im ächten Geiſte der Naturwiſ¬
ſenſchaft reformirten, das Vorurtheil feſt, daß die Unweſenhaftigkeit des
Begriffs, die ſie auf allen Gebieten behaupteten, doch nicht in der Na¬
tur ſtattfinde, daß hier vielmehr dem Artbegriff eine objective, reale
Bedeutung zukomme und ſomit einen der ſubjectiven veränderlichen Auf¬
faſſung unzugänglichen, andauernden Werth beanſpruchen dürfe. Sie
verſuchten mit vielem Scharfſinn, aber doch nicht ſehr glücklich, ein
halb metaphyſiſches Naturgeſetz zu conſtruiren, welches ſie das Geſetz
der Specifikation nannten, wonach der ſubjectiven Begriffsbildung
ein objectives Verhältniß in der Natur entgegenkommen ſollte, ſo daß
dem vom menſchlichen Verſtande gebildeten Begriffe einer beſtimmten
Art, z. B. dem Begriffe des „Pferdes“, auch in der Natur etwas ganz
Feſtſtehendes und real Vorhandenes als Pferd entſpreche. Daß dies
[37]Ueber die Entſtehung der Arten.unrichtig iſt, geht ſchon einfach daraus hervor, daß in der Natur jedes
Pferd eine gewiſſe Farbe haben muß, „das Pferd“ als Begriff aber
keine Farbe haben darf, weil dann die anders gefärbten Pferde von dem
Begriffe Pferd durch das Merkmal der Farbe ausgeſchloſſen würden.
Es iſt eine ganz bekannte Erſcheinung, daß es ſtets nur einen ganz
kleinen Theil der Naturforſcher giebt, die immer nur über einen ganz
kleinen Theil der Arten übereinſtimmen; dies wurde denn der unzu¬
länglichen Erkenntniß der Natur zugeſchrieben, ſtatt anzuerkennen, daß
jeder Fortſchritt in der Naturkenntniß nothwendig eine andere Beſtim¬
mung der Arten zur Folge haben und da der Fortſchritt ein unendlicher
iſt, auch die Artbeſtimmung nothwendig eine veränderliche bleiben muß.
— Von jenem letzten Ueberbleibſel des Realismus werden uns nun
hoffentlich die neueren naturwiſſenſchaftlichen Forſchungen befreien und
wiederum einen treffenden Beweis liefern, daß Philoſophie und Natur¬
wiſſenſchaft nur mit einander zur klaren Erkenntniß fortſchreiten können.
Deshalb habe ich auch geglaubt mich bei dieſem Punkte länger aufhal¬
ten zu müſſen. Der Artbegriff ſcheint noch Vielen das eigentliche Fun¬
dament aller Naturwiſſenſchaft zu ſein und es iſt daher eine richtige
Vorſtellung von demſelben eine außerordentlich wichtige Sache. —
Der Menſch hängt in ſeiner Erkenntniß der Natur von der Zeit
ab und für die unendliche Zeit iſt nicht nur die Lebensdauer des Ein¬
zelnen, ſondern ſelbſt der Zeitraum von ein Paar Jahrtauſenden, bis
zu welchen ſeine feſte Geſchichte zurückreicht, kein brauchbarer Maa߬
ſtab. Eine Veränderung in der Natur, die ſo langſam vor ſich geht,
daß die erſten erkennbaren Zeichen dieſer Veränderung erſt nach Zehn¬
tauſenden von Jahren erkennbar ihm entgegentreten können, entgeht
natürlich der unmittelbaren Beobachtung und der Gegenſtand ſtellt ſich
ihm als unveränderlich dar, gerade wie uns der Stundenzeiger einer
Taſchenuhr, die wir nur Secunden lang beobachten, vollkommen ſtille
zu ſtehen ſcheint. Daher kam es, daß ſich die Menſchen die Arten in
der Pflanzen- und Thierwelt, ſo lange die Kenntniß derſelben noch
räumlich und zeitlich beſchränkt war, als feſtſtehend dachten und ihre
[38]Zweite Vorleſung.Entſtehung und Feſtſtellung mit in die Schöpfungsgeſchichte verfloch¬
ten. Der Schöpfungsgedanke gehört aber dem Glauben an, die zeit¬
liche Entwicklung und Veränderung des Geſchaffenen, d. h. des in
Zeit und Raum Eingetretenen, iſt dagegen Aufgabe der Wiſſenſchaft.
Sobald nun die Geognoſie die großen Verſchiedenheiten der Geſchöpfe
in den verſchiedenen ſich folgenden Perioden der Erdbildung dargelegt
und das Vorurtheil abgeworfen hatte, daß ein engbegrenzter Zeitraum
die Entwicklungsgeſchichte der Erde umſchließe, ſo war auch die Anſicht
von der Conſtanz der Arten als ein Irrthum nachgewieſen, an den fer¬
ner nur noch Unwiſſenheit oder große Beſchränktheit glauben kann. Es
bedurfte keiner Ausnahme mehr vom allgemeinen Bildungsgeſetz der
Begriffe für den Artbegriff und die allein richtige Beſtimmung deſſel¬
ben iſt gegenwärtig die von Agaſſiz gegebene: „Zu einer Art gehört
Alles, was ſich durch Merkmale charakteriſirt, die dem Menſchen für
eine gewiſſe längere Zeit als unveränderlich erſcheinen“.
Die Anſicht, daß die Arten nichts Feſtſtehendes, ſondern etwas in
der Zeit Veränderliches ſeien, das die einen ausſterben, während ſich
andere aus ihnen entwickelt haben, iſt durchaus nicht neu; vielmehr
trat ſie ſogleich hervor, als richtigere geologiſche Erkenntniß am Ende
des vorigen Jahrhunderts von dem Bann einer mißverſtandenen Schö¬
pfungsgeſchichte und Zeitrechnung befreite. Zuerſt ſcheint der ältere
Darwin (der Großvater des jetzt lebenden Geognoſten) 1794 und
Geoffroy St. Hilaire 1795 jene Anſicht aufgeſtellt zu haben. Erſt
1809 durch Lamarck und 1828 durch die heftigen Kämpfe G. St. Hi¬
laires gegen Cuvier in der Pariſer Akademie wurde der Angelegen¬
heit eine etwas allgemeinere Theilnahme zugewendet. Daß die beſſeren
Anſichten noch nicht durchdrangen, lag theils in fortwirkenden alten
Vorurtheilen, theils darin, daß jene Männer den richtigen Ausdruck
für den Vorgang der Umänderung der Arten noch nicht hatten finden
können. Auch ſpätere Entdeckungen, z. B. die Anerkennung natürlicher
Baſtarderzeugungen, der Steenſtrup'ſche Generationswechſel u. ſ. w.
halfen hier nicht, da man ſich nicht verhehlen konnte, daß dieſe Verhält¬
[39]Ueber die Entſtehung der Arten.niſſe doch viel zu beſonderer und untergeordneter Natur ſeien, um ein
ſo allgemein die ganze Natur beherrſchendes Geſetz zu begründen. —
Die Veränderlichkeit der Arten konnte in neuerer Zeit freilich nur noch
geognoſtiſche Unwiſſenheit läugnen, aber die Lehre blieb unfruchtbar,
ſo lange das „Wie“ der Veränderung keinen richtigen Ausdruck gefun¬
den hatte.
Dieſer letzten Anforderung genügte nun in ausgezeichneter Weiſe
Charles Darwin, bekannt durch ſeine Reiſe um die Welt und ſeine
geiſtreiche Theorie der Koralleninſeln, und ſo kam es, daß ſein zuerſt
1859 in England erſchienenes und 1860 nach der zweiten engliſchen
Ausgabe von Dr. H. G. Bronn ins Deutſche übertragenes Werk über
die Entſtehung der Arten ein ſo großes Aufſehen machte und vielen
als etwas abſolut Neues und Unerhörtes erſchien.
Darwin's Theorie iſt ſehr einfach und gleicht faſt dem Ei des
Columbus. Er geht von verhältnißmäßig wenigen ganz bekannten
und feſtſtehenden Thatſachen aus, leitet daraus ſeine Schlüſſe ab, oder
entwickelt vielmehr nur das allgemeine Geſetz, welches in jenen That¬
ſachen ſchon liegt und ſtellt dann ſeine Anſicht mit ſolcher Sorgfalt und
Umſicht, mit ſo großem Umfang von Kenntniſſen gegen alle Einwen¬
dungen ſicher, daß ſich irgend Erhebliches ſchwerlich gegen dieſelben
noch vorbringen laſſen wird.
Wir wiſſen, wie eben bereits erwähnt wurde, daß die Nachkommen
einer Pflanze oder eines Thieres ſtets in einzelnen Merkmalen ſowohl
von ihren Eltern als unter einander abweichen und daß dieſe Abwei¬
chungen um ſo auffallender ſind, wenn die Eltern vorher in äußere Le¬
bensverhältniſſe verſetzt wurden, die von denen ihnen früher naturge¬
mäßen mehr oder weniger abweichen. Wir wiſſen ferner, daß Abwei¬
chungen in einer beſtimmten Richtung häufiger und ſtärker hervortreten
in einer dritten Generation, wenn zu ihrer Erzeugung ein Elternpaar
gewählt wurde, bei welchem gerade dieſe beſtimmte Abweichung vor¬
herrſchend war. Zeigt z. B. eine Pflanze einige Blüthen früher als die
Mutterpflanze, aus deren Samen ſie gezogen iſt und wir nehmen den
ferneren Samen von dieſen früheren Blüthen, ſo werden die daraus
[40]Zweite Vorleſung.erwachſenden neuen Pflanzen ſchon mehr frühzeitige Blüthen zeigen
und wenn wir ſo in der „Auswahl“ der Samenpflanzen fortfahren,
erhalten wir in einer Reihe von Generationen Pflanzen, an denen alle
Blüthen früher hervorbrechen als bei den Vorfahren dieſer Pflanzen
normal war.
Dieſe Abweichungen von den Merkmalen eines Stammorganis¬
mus können nun in gewiſſer Beziehung nur dreierlei Art ſein, nämlich:
entweder geben ſie dem neuen Organismus einen, wenn auch noch ſo
kleinen Vorzug, durch den ſeine Exiſtenz erleichtert oder mehr geſichert
wird, z. B. etwas ſchlankeren Bau, um leichter die zur Nahrung die¬
nende Beute zu erreichen, oder eine Farbenverſchiedenheit, die ihn ſei¬
nen Feinden weniger erkennbar macht, — oder die Abweichungen fin¬
den in entgegengeſetzter Richtung ſtatt, — oder endlich ſie ſind gleich¬
gültig. Es verſteht ſich nun ganz von ſelbſt, daß diejenigen Organis¬
men, bei welchen Merkmale der erſten Art ſich finden, hinſichtlich ihrer
Dauer gegen ihre Vorfahren wie gegen ihre Zeitgenoſſen bevorzugt
ſind. Sie werden ſich leichter und beſſer ernähren, leichter und häufiger
fortpflanzen, alſo die vortheilhaften Merkmale mich auf ihre Nachkom¬
men in höherem Grade übertragen. Mit einem Worte, es geſchieht hier
in der Natur, wenn auch langſamer und weniger auffällig nothwendig
dasſelbe, was wir durch abſichtliche „Auswahl“ der zur Nachzucht
beſtimmten Individuen in unſeren ökonomiſchen Viehſtänden und Kunſt¬
gärtnereien hervorbringen. Wenn ſich die äußeren Lebensbedingungen
für die Organismen auf der Erde ändern, ſo werden natürlich diejeni¬
gen Spielarten und Abweichungen, welche für die Exiſtenz unter dieſen
veränderten Bedingungen begünſtigt ſind, ſich erhalten und ausbreiten,
während die anderen allmählich verkümmern und verſchwinden. — Das
iſt das Geſetz für die Geſchichte des Lebendigen, welches Darwin mit
dem Ausdruck: Geſetz der „natürlichen Auswahl“ (natural se¬
lection) bezeichnete. — Man muß aber hierbei die Zeit als weſentlichen
Factor nicht außer Acht laſſen. Keineswegs war der unmittelbare Nach¬
komme eines der großen fliegenden Amphibien des Solenhofer Kalk¬
ſchiefers ein Vogel, aber indem durch viele Jahrtauſende hindurch und
[41]Ueber die Entſtehung der Arten.durch viele Hunderte von Generationen immer eine kleine Abänderung
nach der anderen hinzukam, welche die Exiſtenz eines fliegenden Thie¬
res begünſtigte, wurden auf dieſem langſamen Wege wirkliche Vögel
gebildet. — Nach dieſem Geſetz entſtanden aus der einfachſten Grund¬
lage aus einer noch unvollkommenen Zelle, allmählich die große Zahl
gleichfalls noch unvollkommener, einfacher und niedriger Organismen
im Thier- und Pflanzenreich nach den ſehr verſchiedenen Lebensbedin¬
gungen, die ihnen von den verſchiedenen Oertlichkeiten dargeboten
wurden, ſo entſtanden nach und nach die entwickelteren Formen, den
mehr und mehr ſich verwickelnden äußeren Verhältniſſen entſprechend,
und ſo gingen auch beſtehende Formen unter, während ihre Nachkom¬
men in immer mehr veränderten neuen Formen fortdauerten, in dem¬
ſelben Maaße, wie ſich allmählich durch die geologiſchen Veränderun¬
gen auf der Erde die Wohnſtätte des Lebendigen und ſomit die Lebens¬
bedingungen änderten. Wenn dieſe Veränderungen immer nur in Pe¬
rioden von Hunderttauſenden von Jahren ſich vollziehen konnten und
wirklich vollzogen, ſo darf natürlich der Menſch nicht erwarten auf ſei¬
nem beſchränkten Standpunkte dergleichen Umwandlungen unter ſeinen
Augen vor ſich gehen zu ſehen. Nichtsdeſtoweniger wird die Wiſſen¬
ſchaft in der Folge Mittel finden, um unter den gerade vorhandenen
Organismen diejenigen, die in voller Kraft ſind, von den Formen,
die bereits dem Untergange geweiht ſind, ſowie von denen, welche ſich
auf der Uebergangsſtufe zu neuen Zukunftsformen befinden, zu unter¬
ſcheiden und ſo ein ganz neues zuerſt wahrhaft natürliches Syſtem der
Thiere und Pflanzen herzuſtellen.
Zunächſt dürfen wir aber nur hoffen, daß uns fernere wiſſenſchaft¬
liche Unterſuchungen und glückliche Entdeckungen, zumal in den Schich¬
ten der Tertiärperiode, in welcher wir nach und nach die vollſtändigſten
Arten aufzufinden hoffen dürfen, da dieſer Theil des Naturarchivs als
der neueſte weniger als die übrigen von den Einwirkungen der um¬
wandelnden geologiſchen Kräfte gelitten hat, über kurz oder lang die
Thatſachen an die Hand geben, um die Darwin'ſchen Lehren vollſtändig
durchführen und über allen Zweifel erheben zu können.
[42]Zweite Vorleſung. Ueber die Entſtehung der Arten.
So wunderlich fremd, ja abenteuerlich auch heute noch Manchem
der Gedanke erſcheinen mag, daß alle Organismen auf der Erde,
Pflanzen wie Thiere, Untergegangene und Lebende, als eine einzige
große Familie durch naturgemäße Abſtammung untereinander zuſam¬
menhängen, ſo braucht man doch kein großer Prophet zu ſein, um vor¬
ausſagen zu können, daß es nicht mehr lange währen wird, bis dieſer
Gedanke jedem Naturforſcher geläufig und unbeſtrittenes Eigenthum
der Wiſſenſchaft geworden iſt. Wenn ſich auch gegenwärtig noch
manche verſtändige und viele unverſtändige Stimmen gegen Darwin
erheben, ſo hat er doch auch ſchon eine große Anzahl bedeutender Mit¬
kämpfer gewonnen und die endliche Entſcheidung kann nicht zweifel¬
haft ſein.
Aber nun wirft ſich uns die Frage auf: wo bleibt in dieſer großen
Weſenkette der Menſch? Gehört auch er nach phyſiſcher Abſtammung
dazu, wer ſind ſeine nächſten Verwandten und worin liegt die wunder¬
bare Eigenthümlichkeit, durch welche er ſo ſehr bevorzugt wird, daß er
ſich zum Herrn der ganzen übrigen Erdenſchöpfung berufen fühlt und
dieſe Herrſchaft in der That errungen hat? Eben jenes Herrſchergefühl
erfüllt ihn mit Stolz und dieſer Stolz fühlt ſich, wenn auch aus Mi߬
verſtand gedemüthigt, wenn man ihm den Affen als ſeinen Vorfahren
zeigen will. Das iſt einer der Hauptgründe des Widerſpruches gegen
Darwin's Lehre und es iſt nicht leicht hier die ſtreitenden Intereſſen
zu verſöhnen, wozu die Naturwiſſenſchaft für ſich allein gar keine Mit¬
tel an die Hand giebt.
Sowie die Philoſophie von der Naturwiſſenſchaft, ſo wird wie¬
derum die letztere von der Philoſophie geleitet, gefördert und vor Irr¬
wegen bewahrt; dieſes wird ſich uns deutlicher ergeben, wenn wir die
Frage nach der Stellung des Menſchen unter den übrigen Erdenbür¬
gern zu beantworten verſuchen. Ich muß dieſe Betrachtung, die beſon¬
ders an die neueren Arbeiten von Dana, Huxley und Anderen an¬
zuknüpfen haben wird, aber einem folgenden Vortrage vorbehalten.
Dritte Vorleſung.
Stellung des Menſchen in der Natur.
[[44]][[45]]Es iſt ſchwerlich möglich irgend eine Unterſuchung vollſtändig
zu Ende zu führen, ohne daß ſie ſich zuletzt im Menſchen gipfelt und
abſchließt. Der Menſch iſt das Maaß aller Dinge, ſagte Protagoras.
Für die Richtigkeit jeder vollendeten Gedankenreihe iſt immer gleich¬
ſam die Probe der Rechnung, die Beantwortung der Frage, wie ſteht
der Menſch zu dem Reſultate, wie greift dasſelbe verändernd in ſeine
Beziehungen ein, wie werden ſeine Intereſſen dadurch berührt, gewahrt
oder gefährdet?
Wenn die in der vorigen Vorleſung mitgetheilte Darwin'ſche Lehre
von der allmählichen Entwicklung ſämmtlicher organiſcher Weſen aus¬
einander durch die ſtetige Umbildung der Formen in langen Reihen von
Generationen ſich täglich mehr Anhänger gewinnt, und ohne Zweifel
bald, vielleicht mit geringen Modificationen von untergeordneter Be¬
deutung, die allgemein angenommene werden wird, ſo drängen ſich bei
der Durchführung derſelben doch unvermeidlich die Fragen auf, was
wird bei dieſer Anſchauungsweiſe aus dem Menſchen, der doch von
leiblicher Seite jedenfalls auch zu den organiſchen Geſchöpfen an der
Erde gehört; läßt ſich das Geſetz der allmählichen Entwicklung der
einen Form aus der anderen, des folgenden Organismus aus dem vor¬
hergehenden auch auf ihn anwenden, wo findet er ſeine Verwandten,
gleichſam ſeine älteſten Ahnen, wie begreift man den Sprung vom un¬
vernünftigen Thiere zum vernünftigen Menſchen, wie läßt ſich derſelbe
mit der allmählichen Entwicklung in Einklang bringen u. ſ. w.
Alle dieſe Fragen liegen nun bei Beurtheilung der gegenwärtig
[46]Dritte Vorleſung.angeregten Unterſuchungen, wenn auch meiſt unausgeſprochen und oft
ſogar unbewußt in der Seele jedes Forſchers, und die mehr oder minder
vollſtändige, oft ebenfalls kaum zum Bewußtſein gebrachte Antwort
auf jene Fragen beſtimmt und beeinflußt die Stellung, die der Einzelne
jenen Unterſuchungen gegenüber einnimmt. Gewiß haben in letzter Zeit
nur viele deshalb ſich den Darwin'ſchen Lehren widerſetzt, weil im dun¬
klen Hintergrund ihrer Seele die Anſicht ſtand, daß jene Lehre unver¬
meidlich zum Materialismus führen müſſe, oder weil ſie darin die Lehre
ausgeſprochen zu finden glaubten, der Menſch ſei nichts als ein wohl¬
erzogener Affe, wogegen ihr menſchlicher Stolz ſich auflehnte. Nun
wäre dem wirklich ſo, könnten wir uns der Unabweisbarkeit dieſer Fol¬
gerungen nicht entziehen, ſo hätten jene Zweifler wenigſtens eine Ent¬
ſchuldigung, aber wir würden uns doch dabei zuletzt beruhigen müſſen,
denn nie kann die Wiſſenſchaft die Aufgabe haben, das zu finden, was
wir wünſchen, ſondern das, was wahr iſt und nie und nimmer kann
den Menſchen die wenn auch angenehmſte Täuſchung zum wahren Heil
gereichen, ſondern nur die reine und ganze Wahrheit.
Aber es iſt ja überall noch nicht an der Zeit zwiſchen der ange¬
deuteten Täuſchung und Wahrheit wählen zu müſſen, denn der Fehler
der genannten Gegner liegt gerade darin, daß ſie bis jetzt nur dunkeln
halbbewußten Vorurtheilen folgen und die ganze Reihe der oben auf¬
geworfenen Fragen ſich niemals beſtimmt und deutlich vorgelegt, alſo
noch weniger auf gründliche Unterſuchung geſtützt beantwortet haben.
Ich will dieſe ſo wünſchenswerthe Erörterung und Beantwortung der
wichtigen Fragen verſuchen und glaube zeigen zu können, daß alle Be¬
fürchtungen jener ängſtlichen Männer nichtig ſind und bei der conſe¬
quenteſten und vollſtändigſten Durchführung jener Lehren die wahre
Würde des Menſchen gar nicht in Gefahr kommen kann. Freilich muß
man ſich dabei nicht durch oberflächliches Geſchwätz führen laſſen, ſon¬
dern Schritt vor Schritt in ernſter Forſchung von Anfang bis zu Ende
gehen, man muß ſtrenge auseinander halten, was ſich verſchieden zeigt,
ſtatt mit flüchtigem Aberwitz das Aehnliche als Gleiches zuſammenzu¬
[47]Stellung des Menſchen in der Natur.werfen und man muß die vielen verbindenden Mittelglieder in der Ge¬
ſammtauffaſſung feſthalten und nicht mit gedankenloſer Vergeßlichkeit
Anfang und Ende der Unterſuchung zuſammenknüpfen, indem man die
verbindenden Mittelglieder überſpringt. Wenn ſelbſt ſogenannte wiſſen¬
ſchaftlich gebildete Männer die Darwin'ſche Lehre ſo darſtellen (wie ich
das in der That oft gehört): „Darwin macht den Affen zu unſerem
Großvater“, ſo bleibt dabei dreierlei, was doch weſentlich entſcheidend
iſt, in kindiſcher Oberflächlichkeit ganz unberückſichtigt, nämlich 1. daß
bekanntlich ein häßlicher und dummer Großvater allerdings einen ſchö¬
nen und klugen Enkel haben kann, 2. daß „wir“, das heißt die gebil¬
detſten Individuen der Europäiſchen Menſchheit, den Begriff „Menſch“,
in deſſen Umfang auch Papua's, Neuſeeländer und Peſcherä's gehören,
noch lange nicht ausfüllen und daß endlich 3. der Ausdruck Großvater
ſehr thöricht gewählt iſt, um eine Verwandtſchaft zu bezeichnen, die
durch Reihen von Generationen durchgeht, gegen welche unſere ganze
ſogenannte Weltgeſchichte als ein höchſt unbedeutender Augenblick er¬
ſcheint.
Wenn wir bei der Frage: was iſt der Menſch und wie unterſchei¬
det er ſich vom Thiere, nicht von vorgefaßten Meinungen ausgehen,
ſondern ganz kühl und objectiv die wirklichen Thatſachen, wie ſie Ge¬
ſchichte, Völkerkunde und Naturgeſchichte uns darbieten ins Auge faſ¬
ſen, ſo bleibt uns nichts übrig als zu geſtehen, daß der Sprung vom
Menſchen zum Thiere lange nicht ſo groß iſt als wir ihn gerne ſehen
möchten. Nehmen wir einen ganz entwickelten Menſchen z. B. einen
Goethe in der Vollendung ſeiner körperlichen Bildung, ein äſthetiſches
Ideal der edlen Menſchengeſtalt, nach Form und Thätigkeit gleichmäſſig
ſchön, geſund und harmoniſch ausgeprägt, dann in dem umfaſſenden
Reichthum geiſtigen Gehaltes, der ihm zum vollen Bewußtſein und zur
lebendigen Geſtaltung gediehen iſt, — und nun ſtellen wir ihm einen
Auſtralneger gegenüber mit der faſt thieriſchen Fratze, dem in jeder Be¬
ziehung unentwickelten und häßlichen Körper und dazu den engen auf
das bloße thieriſche Bedürfniß der Ernährung, Fortpflanzung und Ver¬
Schleiden, Vorleſungen. 4[48]Dritte Vorleſung.theidigung beſchränkten geiſtigen Horizont, mit kaum dämmerndem Be¬
wußtſein einer Perſönlichkeit, eines Weſens, das mehr iſt als Sache,
ſo wird Niemand den unendlichen Abſtand verkennen. — Könnten wir
nach allen den Merkmalen, wodurch ſich beide unterſcheiden, ihnen wie
an einer Thermometerſcala ihre Stellung vorzeichnen und dann nach
denſelben Merkmalen einem gut erzogenen Affen darunter ſeinen Platz
anweiſen, ſo würden wir finden, daß der gradweiſe abzumeſſende Un¬
terſchied zwiſchen Goethe und dem Auſtralneger bei weitem größer iſt,
als der von Letzterem zum Thier.
Wer durch zufällige Begünſtigung, wie ſie mir wurde, vor eini¬
gen Jahren in Leipzig gleichzeitig die beiden ſogenannten Azteken, un¬
zweifelhafte Menſchen, und den jungen Orang-Outang, ein unzwei¬
felhaftes Thier, längere Zeit zu beobachten Gelegenheit hatte, konnte
unmöglich anſtehen, dem Orang-Outang die bei weitem größere Bil¬
dungsfähigkeit und die auffallenderen Aeußerungen der Intelligenz zu¬
zuſprechen. — Wir müſſen alſo zunächſt uns von dem Vorurtheil ent¬
wöhnen, als wenn der Abſtand vom Menſchen, als Gattung genom¬
men, zum Thier ſo unendlich groß ſei, vielmehr fällt derſelbe viel ge¬
ringer aus als der Abſtand von einem Menſchen zum andern, wenn
wir die Extreme ins Auge faſſen, viel geringer als derſelbe zwiſchen
Thier und Thier erſcheint. Der Menſch ſteht hier ganz offenbar auf
einer und derſelben Stufenleiter mit dem Thiere, zwar auf der höchſten
Sproße, aber ohne von der vorhergehenden durch eine unüberſchreit¬
bare Kluft getrennt zu ſein.
Bleiben wir hier zunächſt bei dem ſtehen was uns ganz allein auf
der Seite der Naturwiſſenſchaft entgegentritt, ſo kann die Berechtigung
den Menſchen von körperlicher Seite mit dem Thiere zuſammenzuhal¬
ten, ihm unter den letzteren eine beſtimmte Stellung anzuweiſen, nicht
für einen Augenblick in Zweifel gezogen werden. — Die Frage, welche
Stellung ihm gebührt, wo er ſeine nächſten Verwandten findet, wie
ſehr und durch welche Charaktere er ſich von dieſen unterſcheidet, iſt in
neuerer Zeit wieder in den Vorgrund getreten und wir haben von For¬
[49]Stellung des Menſchen in der Natur.ſchern erſten Ranges Unterſuchungen über die Stellung des Menſchen
in der Natur erhalten, ſo von Owen, Dana, Huxley und Carl Vogt,
von deſſen gehaltvollem Werk jedoch erſt einige Bogen erſchienen ſind.
Die Antwort auf jene Frage können wir von vornherein zum Vortheil
der Unterſuchung in engere Grenzen bannen. Daß der Menſch ein
Wirbelthier iſt, eins der höchſt entwickelten Wirbelthiere, daß er von
allen Thieren dem Affen *)am nächſten ſteht und nach der Darwin'ſchen
Theorie aus dieſem hervorgegangen ſein müßte, iſt keinem Zweifel un¬
terworfen. Daß der Menſch ſich durch Schädel- und Knochenbau vom
Affen unterſcheidet und dadurch, ſo wie durch die Einrichtung ſeines
Blut-Gefäßſyſtems nicht nur zum aufrechten Gang befähigt, ſondern
dazu gezwungen iſt, ergiebt ſich als nicht minder gewiß. Die Grenzen
der Ungewißheit lagen in neuerer Zeit beſonders in der Beurtheilung
des Baues der Hände und Füße, des Gehirns und in der Unklarheit
wie man die geiſtigen Beziehungen des Menſchen naturwiſſenſchaftlich
aufzufaſſen habe.
Linné **)trennt von den nächſtverwandten Affen, die er als Vier¬
händer bezeichnete, ſeine Ordnung der Primaten unter dem Charakter
der Zweihändigkeit. — Dieſer Unterſchied muß nach den neueren beſſe¬
ren anatomiſchen Unterſuchungen und darauf gebauten Anſchauungs¬
weiſen als unrichtig aufgegeben werden. Die wirklichen Unterſchiede
zwiſchen Hand und Fuß beim Menſchen beruhen auf der verſchiedenen
Anordnung der Knochen der Hand- und Fußwurzel, in der verſchiede¬
nen Länge eines Beuge- und eines Streckmuskels und in dem äußeren
langen Wadenmuskel, der bei der Hand fehlt. In allen dieſen weſent¬
lichen Puncten ſtimmt Fuß und Hand des Gorillaaffen mit Fuß und
Hand des Menſchen vollkommen überein, während ſchon der nächſt¬
4*[50]Dritte Vorleſung.ſtehende Affe, der Orang-Outang, weſentlich abweicht, ſo daß in die¬
ſem Puncte Menſch und Affe ſich weniger unterſcheiden als ein Affe
vom andern. — Die ſcheinbaren Unterſchiede zwiſchen dem Menſchen-
und Affenfuß und die Handähnlichkeit des Letzteren beruhen nur auf
einem mehr oder weniger in denſelben Grundlagen, vorzugsweiſe in
der größeren Freiheit und Beweglichkeit der großen Zehe, wodurch ſie
im Gebrauch dem Daumen ähnlicher erſcheint. Aber abgeſehen von den
einzelnen armloſen Menſchen, die erlernten, ihren Fuß mit großer Ge¬
ſchicklichkeit als Hand zu gebrauchen, haben wir auch ganze beſonders
baarfuß gehende Völker, welche eine unendlich größere Beweglichkeit
der großen Zehe beſitzen, als die civiliſirten Nationen, denen die frühe
Fußbekleidung die Ausbildung der Fußglieder zur Beweglichkeit un¬
möglich macht, während jene uncultivirten Nationen von der größeren
Beweglichkeit ihres Fußes den beſten Gebrauch machen, Dinge von der
Erde damit aufheben, manche Verrichtungen damit vornehmen u. ſ. w.
Selbſt die Chineſiſchen Matroſen ſollen mit den Füßen rudern und die
Bengaliſchen Handwerker mit denſelben weben können.
Gar mancher Satz in der Naturgeſchichte, den man lange für un¬
umſtößlich hielt, wird oft plötzlich durch eine neue Entdeckung unhalt¬
bar, und ſo wie der neuentdeckte Gorilla mit Hand und Fuß in anato¬
miſch weſentlichen Merkmalen dem Menſchen näher ſteht als den Affen,
zu denen er übrigens gehört, ſo iſt auch ſein Wirbel- und Beckenſyſtem
dem menſchlichen bei weitem ähnlicher als dem Gibbon. Ja ſelbſt das
Gebiß des Gorilla hat in vielen Puncten mehr Aehnlichkeit mit dem der
Menſchen als dem der nächſtſtehenden Affen und die Puncte, in denen
es abweicht, treten bei anderen Affen in noch viel auffallenderem Grade
abweichend hervor. — Nichts macht es unmöglich oder auch nur un¬
wahrſcheinlich, daß nächſte Entdeckungen uns noch näher an den Men¬
ſchen hinantretende Geſchöpfe kennen lehren, wofür ich gegenwärtig nur
auf den in Frankreich gefundenen foſſilen Affen (Dryopithecus Ton¬
tani) hinweiſen kann, deſſen Gebiß nach Lartet eine vollkommene Mit¬
telſtufe zwiſchen dem der lebenden Affen und dem Menſchen bilden ſoll.
[51]Stellung des Menſchen in der Natur.
Bei weitem die wichtigſte Betrachtung knüpft ſich nun aber an den
Schädel- und Gehirnbau des Menſchen und Affen; an das Gehirn
knüpfen ſich bei dem Thiere die Erſcheinungen, die wir mit einem we¬
der ſcharf bezeichnenden noch richtigen Ausdruck die Intelligenz nennen,
die ich, um jedes Vorurtheil aus dem Worte zu verbannen, nur mit dem
Ausdruck der Kunſttriebe bezeichnen werde. Wir ſehen ein Thier ge¬
trieben, beſtimmte Handlungen zur Erreichung eines Zweckes, der nicht
durch eine uns als gegenwärtige unmittelbar ſinnliche Anregung erkenn¬
bare Veranlaſſung gegeben wird vorzunehmen, Handlungen, die wir
daher im Gegenſatz zu Handlungen der letzten Art, den natürlichen,
vorläufig als Kunſt bezeichnen können; was dabei das Treibende iſt,
wie es wirkt, kann hier zunächſt ganz unberückſichtigt bleiben.
Der Schädel als das knöcherne Gehäuſe, in welches der wichtigſte
Theil des ganzen Nervenſyſtems, das Gehirn, eingeſchloſſen iſt, läßt
ſich für die vorliegende Frage nach zwei Seiten betrachten, hinſichtlich
ſeiner Stellung zum übrigen Knochengerüſte und rückſichtlich ſeines
Verhältniſſes zu den Geſichtsknochen. Bei dem erſten Punct treffen wir
auf den Hauptunterſchied zwiſchen Menſchen und Affen, den aufrechten
Gang auf der Sohle der beiden hinteren Extremitäten, welcher dem
Menſchen weſentlich und unvermeidlich, dem Affen aber für mehr als
einige Schritte (die auch der Hund, der Bär, und andere Thiere ma¬
chen können) unmöglich iſt. — Dieſer Unterſchied zwiſchen Menſch und
Thier wird ſchon von Ovid unübertrefflich ausgedrückt: „Während alle
übrigen Thiere gebückt zur Erde ſchauen, gab die Natur dem Menſchen
das erhobene Antlitz und die Fähigkeit, den Himmel zu ſchauen, den
aufgerichteten Blick den Sternen zuzuwenden.“ — Bis auf den heuti¬
gen Tag iſt noch kein weſentlicherer Unterſchied aufgefunden worden
und Dana, indem er, unzufrieden mit der bisherigen naturgeſchichtlichen
Claſſification der Menſchen, eine neue vorſchlägt, bringt doch nichts
als neue Worte für alte Sachen und eine unzweckmäßige Umſchreibung
des aufrechten Ganges. Am Schädelbau drückt ſich dieſes letztere nun
durch das Verhältniß aus, in welchem die Richtung des Längedurch¬
[52]Dritte Vorleſung.meſſers der Schädelhöhle zur Richtung der Wirbelſäule ſteht. Bei den
niederen Wirbelthieren ſind beide Richtungen horizontal und liegen in
einer Linie, beim Menſchen iſt die Richtung der Wirbelſäule vertical
und bildet daher mit der Längsrichtung des Gehirnes einen rechten
Winkel. Aber auch hier bilden die Affen den Uebergang, da ihr Leben
auf Bäumen und die Langarmigkeit vieler doch eine gewöhnlich aufrech¬
tere Haltung begünſtigen, wenn ihnen der aufrechte Gang auch ver¬
ſagt iſt. — Ueberſichtlich zeigt das die beiliegende Skizze I. *)von vier
Fig. I.
Schädeln im ſenkrechten Durchſchnitt, wobei die Linie b die Richtung
der Wirbelſäule angiebt; man ſieht daß in dem erwähnten Verhältniß
zwiſchen dem Auſtralneger und der Chryſothrix, einer Affengattung,
kaum ein Unterſchied ſich zeigt. — Der zweite Punct betrifft das Ver¬
hältniß der eigentlichen Schädelhöhle zu dem Geſicht, jenes enthält das
Gehirn und darin das Organ der Kunſttriebe (Intelligenz), dieſes um¬
faßt die wichtigſten Sinne, ſein Vorherrſchen entſpricht alſo einer über¬
wiegenden Sinnlichkeit. Auch hier zeigt ſich ein allmählicher Uebergang
vom Menſchen zum Affen, wie die beigegebene Skizze darlegt, und der
Schädel eines Weſtindiſchen Negers ſteht in dieſer Beziehung jedenfalls
dem Affen (z. B. der Chryſothrix oder einem jungen Chimpanſe) viel
näher als dem Schädel eines Schiller.
Dies mag genügen für die Bedeutung der Verſchiedenheiten des
Schädels; bei weitem eingreifender und folgereicher müßte die Betrach¬
tung ausfallen des Gehirns, des Theils des Nervenſyſtems, von dem
wir nur einen ſehr geringen Theil mit den körperlichen Functionen der
Empfindung, Bewegung nnd Ernährung in Verbindung bringen kön¬
nen, den wir ſeinem bei weitem größeren Theile nach nur auf die oben
als Kunſttriebe bezeichneten Erſcheinungen beziehen können, wenn nicht
gerade hier unſere Unterſuchungen noch ſo mangelhaft wären, daß wir
uns vorläufig mit einigen allgemeinen Verhältniſſen begnügen müſſen.
Das Gehirn zerfällt in drei wie es ſcheint der Function nach weſentlich
verſchiedene Theile, wofür der ſchematiſche Umriß (Fig. III) als Erläu¬
terung dienen mag. A iſt das große Gehirn, wie es ſcheint ausſchlie߬
lich den Kunſttrieben dienend, B das Mittelgehirn, vorzugsweiſe den
Mittelpunct der Sinnesnerven darſtellend und C das kleine Gehirn,
in weſentlicher Beziehung zu den Bewegungserſcheinungen ſtehend.
Alle drei Theile laufen dann in den Anfang des Rückenmarks (D) zu¬
ſammen. — Das Verhältniß dieſer drei Theile zu einander iſt nun
ebenfalls in der Reihe der Wirbelthiere ſehr verſchieden und bildet ein
wichtiges Moment zur Beſtimmung der höheren oder niederen Stellung
derſelben. — Am deutlichſten ergiebt ſich das, wenn wir mit dem
[54]Dritte Vorleſung.menſchlichen Gehirn (Fig. ll.) den ſchematiſchen Umriß von dem Ge¬
hirn eines Weißfiſches (Fig.III.) vergleichen, bei welchem die Buchſta¬
Fig. II.
Fig. III.
ben dieſelbe Bedeutung haben. Hier iſt das große Gehirn (A) der
kleinſte Theil bedeutend übertroffen von dem kleinen (C), während die
bei weitem größte Maſſe vom Mittelgehirn (B) dargeſtellt wird. Wie
wir nun in dem Thierreiche vom Fiſche bis zum Menſchen aufwärts
ſchreiten, tritt das Mittelhirn immer mehr gegen die andern beiden
Theile zurück, die auffallendſte Entwicklung erfährt aber das große Ge¬
hirn, welches ſchließlich das mittlere und kleine Gehirn vollſtändig von
oben her überdeckt und bisweilen mehr als die Hälfte des ganzen Hirn¬
volumens ausmacht. — Vergleichen wir nun in dieſer Beziehung wie¬
derum den Menſchen mit dem Affen*), ſo ſehen wir auch hier keinen
weſentlichen Unterſchied, welcher, die geringeren Abweichungen, die
unter den Menſchenſtämmen ſelbſt ſtattfinden, überträfe oder auch nur
erreichte. — In dieſer Beziehung hat Owen ſich durch Mangelhaftig¬
keit ihm zu Gebote ſtehender Präparate und Zeichnungen auf das
ſchlimmſte getäuſcht und eine Eintheilung zwiſchen Menſchen und Affen
[55]Stellung des Menſchen in der Natur. hingeſtellt, die aller thatſächlichen Begründung entbehrt, an welcher er
aber ungeachtet der ſchlagendſten Widerlegung, die ihm von allen Sei¬
ten geworden iſt, mit bedauerlichem Eigenſinn feſthält. Die gründlichen
Unterſuchungen der neueren Zeit von Gratiolet, Schröder van der
Kolk, Marſchall, Huxley u. A. haben Owen auf das vollſtändigſte
widerlegt und nachgewieſen, daß durchaus kein weſentlicher Unter¬
ſchied zwiſchen dem Gehirn des Menſchen und dem der höheren Affen
ſtattfindet und daß die wahrnehmbaren untergeordneten Unterſchiede ſich
ebenſo und faſt noch ausgeprägter unter den Raſſen und Individuen
des Menſchengeſchlechts zeigen.
Gehen wir nun zu den Kunſttrieben über, ſo finden wir ebenfalls
nur wenig, was den Menſchen überhaupt von den Thieren unterſchei¬
det, nichts, was uns nöthigte, ihn ſehr hoch über die Thiere hinaus zu
erheben. — Der Menſch iſt ſeiner Natur nach Neſthocker, wie man es
bei den Vögeln nennt, d. h. nach ſeiner Geburt noch längere Zeit un¬
fähig, ſich ſelbſt zu ernähren und der Menſch ſorgt deshalb wie die
Thiere, bei denen dasſelbe ſtattfindet, für ſeine Nachkommenſchaft; die
Liebe der Eltern zu den Kindern iſt noch nichts lobenswerthes ſondern
natürlicher, thieriſcher Trieb. Der Menſch iſt ferner Heerdenthier, wie
man es bei den Vierfüßern zu nennen pflegt; er tritt mit ſeines Glei¬
chen zu größeren Schaaren unter beſtimmten Formen zuſammen. Staa¬
tenbildung finden wir auch bei den Thieren, beſonders bei Wieder¬
käuern und am auffallendſten bei Inſecten, Bienen, Ameiſen, bei eini¬
gen der letzteren in Südamerika ſogar mit Haltung von Arbeitsſklaven
aus einem anderen Inſectengeſchlecht. — Man bezeichnet es wohl als
einen beſonderen Kunſttrieb des Menſchen, daß er ſeine Speiſe, wenn
er irgend kann, erſt an's Feuer bringt, ehe er ſie genießt; aber ohne
unterſuchen zu wollen, ob dieſer Trieb wirklich urſprünglich iſt, ſo ent¬
ſpricht derſelbe doch nur dem Triebe des Waſchbären, der ſeine Speiſe
erſt ins Waſſer taucht. So bleibt nur noch ein Trieb übrig, der von
Pritchard als charakteriſtiſcher Unterſchied des Menſchen vom Thiere
aufgeſtellt worden iſt, daß er nämlich überall Handlungen begeht, die
[56]Dritte Vorleſung. ſich offenbar auf ein Ding oder ein Weſen beziehen, welches nicht für
die Sinne erfaßbar gegenwärtig iſt. Dieſer Trieb zu den (im weiteſten
Sinne des Worts ſogenannten) religiöſen Gebräuchen iſt wohl ebenſo¬
wenig urſprünglich wie der vorige, würde den Menſchen aber ebenſo¬
wenig als vom Thier weſentlich verſchieden charakteriſiren, als die
Biene wegen des Honigbereitens, der Stichling (Fiſch) wegen ſeines
Neſtbaues aufhört, Thier zu ſein.
Wir haben den Menſchen jetzt betrachtet und beurtheilt, wie wir
alles, was uns vorkommt in der Raumwelt allein betrachten können,
nämlich ganz objectiv, wie er uns, den Beobachtern, äußerlich gegen¬
übertritt. Sind wir damit am Ende? Giebt es keinen anderen Stand¬
punct der Betrachtung? Hätten wir einen Weltkörper, einen Kryſtall,
eine Pflanze, ein Thier zu beurtheilen, ſo lautete die Antwort: nein,
es giebt keinen anderen Standpunct, wir ſind am Ende. Mit dem
Menſchen iſt das aber anders, wir ſelbſt ſind Menſchen, und wir kön¬
nen unſeresgleichen nicht allein ſo auffaſſen, wie ſie uns äußerlich ge¬
genübertreten, ſondern wir können, ja wir müſſen ſogar den Menſchen
in uns ſelbſt, in unſerem eigenen Inneren beobachten und zu erkennen
ſuchen und da eröffnet ſich uns eine ganz neue Welt. Es iſt gewiß,
daß wir zunächſt und unmittelbar durch unſere Vorſtellungen zur Er¬
kenntniß der Außenwelt gelangen, erſt eine zweite Frage iſt die, ob
und inwiefern wir durch die Außenwelt zu unſeren Vorſtellungen kom¬
men. Zunächſt und unmittelbar findet ſich jeder Menſch nur in der
Welt ſeiner Vorſtellungen, wie weit dieſelben einer Außenwelt entſpre¬
chen, gehört einer folgenden und ſehr ſchwierigen Unterſuchung an,
denn es bedarf keiner großen Erfahrung, um einzuſehen, daß meine
Vorſtellungen durchaus nicht immer mit dem Sein der Außenwelt
übereinſtimmen und daß der Fehler bald hier bald dort liegt. Da ich
aber nur durch meine Vorſtellungen von der Außenwelt zur Kenntniß
derſelben komme, immer nur eine Vorſtellung von derſelben durch eine
andere (durch die Kritik einer durch die übrigen) unmittelbar verbeſſern
kann, nie durch die Unterſuchung der Außenwelt ſelbſt, von der ich
[57]Stellung des Menſchen in der Natur. immer durch meine Vorſtellungen geſchieden bin, ſo folgt daraus von
ſelbſt, daß für mich die Wahrheit immer nur in meinem Vorſtellungs¬
kreiſe gefunden, und auf ihn und ſeine Geſetzmäßigkeit gegründet ſein
kann.
Unter den Gewölben der Dome ſucht die kindliche gläubige Auf¬
faſſung ihren Gott, unter dem Gewölbe der Schädeldecke wohnt nach
ebenſo kindlicher Auffaſſungsweiſe oder Wiſſenſchaft unſer geiſtiges
Weſen. Ebenſo kindlich, ſage ich, denn ſobald wir uns in uns ſelbſt
nur über unſer Ich irgendwie orientirt haben, ſo finden wir, daß allen
Vorſtellungen, die wir von unſerm Ich, von ſeinen Thätigkeiten, ſeinem
Denken, Fühlen und Wollen beſitzen, gar keine Beziehung auf den
Raum beiwohnt, daß es ein vollkommenes Unding iſt, von einem Sitz
der Seele zu ſprechen. Unſer Geiſt hat ſo wenig ſeinen Sitz im Gehirn
als Rafaels Genie ſeinen Sitz im Pinſel hatte, obwohl er nur durch
den Pinſel wirken konnte; ſo iſt das Gehirn wohl ein Inſtrument des
Geiſtes aber nicht ſein Wohnort, da ihm überall keine Beziehung auf
das „Wo“, keine Räumlichkeit zukommt. Da nun in unſerem Vorſtel¬
lungskreiſe nichts, was wir als körperlich auffaſſen, ſeine Beſtimmung
durch den Raum, durch das „Wo“ und das „Wie groß“ ablegen kann, ſo
ergiebt ſich, daß wir unſer eigentliches Ich, das, was in uns denkt,
fühlt, will, nur als etwas dem Raum nicht angehöriges, Unkörperliches
auffaſſen können.
Eine ſorgfältige und eindringende Kritik unſerer Vorſtellungen
führt uns noch zu einigen anderen ſehr wichtigen Erkenntniſſen. Zu¬
nächſt zerfließt uns die Raumwelt, gerade das, was dem blos ſinnlichen,
nicht denkenden Menſchen als das feſteſte erſcheint, bei näherer Betrach¬
tung unter den Händen zu einem unweſenhaften Nebelbild. Was
wirklich vorhanden, ein wahrhaftiger Gegenſtand für unſere Erkennt¬
niß ſein ſoll, muß doch nothwendig ein fertiges Ganze ſein und auf der
anderen Seite kann es als wirkliches Ganze gar nicht gedacht werden,
wenn es nicht aus beſtimmten, wirklichen d. h. einfachen Theilen
beſteht. — Die Außenwelt erkennen wir aber im Raume, und was im
[58]Dritte Vorleſung.Raume iſt, muß auch ſeine Eigenſchaften haben. Der Raum iſt aber
ſeinem Weſen nach nichts Ganzes, Fertiges, Vollendetes; über jede
denkbare Raumgrenze hinaus kann und muß ich immer wieder den
Raum bis ins Unendliche fort erſtrecken und ſomit alles, was ihn er¬
füllt; ſo bleibt die Raumwelt nothwendig für immer unfertig, unvoll¬
endet und unvollendbar. Auf der anderen Seite kann ich den Raum
und ſomit alles, was in ihm iſt, theilen und immer wieder theilen und
die Theilung wenigſtens in Gedanken mit Hülfe der Mathematik ins
Unendliche fortſetzen, nie komme ich auf einen letzten einfachen wirklich
für ſich beſtehenden Theil. So hat alſo in der That die Raumwelt
keine wirkliche Weſenhaftigkeit. Ich finde in meinem ganzen Vorſtel¬
lungskreiſe nur eins, was wirklich einfach und unzuſammengeſetzt iſt,
nämlich mein geiſtiges Ich, den individuellen Geiſt, dem daher allein
wirkliches weſenhaftes Daſein zukommen kann. Aus ſolchen Betrach¬
tungen entwickelte ſich der Spiritualismus der älteren Philoſophen.
Da aber die ganze Außenwelt im Raume doch einmal für uns wirklich
vorhanden erſcheint, da man im eigentlichſten Sinne des Wortes jeden
mit der Naſe darauf ſtoßen kann, ſo trat bei anderen Philoſophenſchu¬
len jenem Spiritualismus (oder Idealismus) der reine Materialismus
entgegen. Beide Anſchauungen ſtehen in geradeſtem Widerſpruch mit
einander, dieſen Widerſpruch finden wir ſobald wir in unſer eignes
Innere tiefer eindringen, ſogleich und ſcheinbar unauflöslich ausgeſpro¬
chen und er geſtaltet ſich als das, was Kant als die „Antinomieen der
menſchlichen Vernunft“ bezeichnete. Ueberall bei unſeren Beurtheilun¬
gen der Welt ſtehen ſich zwei Behauptungen direct gegenüber und doch
laſſen ſich beide vollkommen ſcharf und folgerichtig beweiſen. Dieſen
Widerſpruch löſte zuerſt Kant, indem er nachwies, daß derſelbe nur
ſubjectiv, in unſerer Auffaſſung, nicht objectiv in dem Weſen be¬
gründet iſt. „Es giebt nichts Weſenhaftes als den Geiſt, aber ſo wie
wir als Menſchen im Erdenleben die Dinge aufzufaſſen gezwungen
ſind, können wir das wahre geiſtige Weſen der Dinge in der Außen¬
welt nicht erfaſſen, es erſcheint uns vielmehr unter der Form der
[59]Stellung des Menſchen in der Natur. Körperwelt in Raum und Zeit. Jene Widerſprüche gehen daraus her¬
vor, daß wir die unvollkommene menſchliche Beurtheilungsweiſe auf das
wahre Weſen der Dinge anzuwenden verſuchen.“ Dieſe vortrefflich aus
gründlicher pſychologiſcher Beobachtung, d. h. aus der Erfahrung ab¬
geleitete Lehre nannte Kant den „transſcendentalen Idealis¬
mus“. Derſelbe wurde nur von Fries richtig verſtanden, ſchärfer aus¬
geführt und ſicherer begründet. So lautet das Reſultat für unſere ge¬
genwärtige Betrachtung, welches wir den hier unvermeidlich nur ſkiz¬
zenhaft vorgetragenen Lehren entlehnen: Allem Erſcheinenden liegen
geiſtige Weſen zu Grunde, deren Exiſtenz der Menſch aber nur in ſich
ſelbſt findet, deren freie unbeſchränkte Natur er eben als Menſch, ſo
lange ſein eigner Geiſt in dieſer irdiſchen Gebundenheit exiſtirt, nicht
begreifen, d. h. ſich auf deutliche Begriffe zurückführen kann, für das
wiſſenſchaftliche Begreifen bleibt er hier an die Auffaſſung in Raum
und Zeit gebunden.
Aber daneben wird uns noch ein anderes Verhältniß bei Behand¬
lung der hier vorliegenden Frage von durchgreifender Wichtigkeit. Un¬
ſer Gebundenſein an die Formen von Raum und Zeit und insbeſondere
auch die Zeitlichkeit aller unſerer Vorſtellungen hat zur unmittelbaren
Folge eine Erſcheinung, die uns eine auch nur ſehr flüchtige Selbſter¬
kenntniß als unumſtößlichen Erfahrungsſatz aufdrängt, daß nämlich
hier auf Erden immer augenblicklich nur ein Theil unſeres ganzen gei¬
ſtigen Eigenthums, nur ein Theil der uns doch ſämmtlich angehören¬
den Vorſtellungen in unſerem Bewußtſein gegenwärtig iſt, daß unſere
Vorſtellungen beſtändig wechſeln, vor unſerm Bewußtſein erſcheinen,
wieder demſelben ſich entziehen, und nach einiger Zeit wieder hervor¬
treten. Deshalb wird die erſte Grundlage für eine jede erfahrungsmä¬
ßig feſtzuſtellende Pſychologie eine genaue Erfahrung des Verhältniſſes
in welchem unſere Vorſtellungen d. h. unſer ganzes geiſtiges Weſen
und Leben zu unſerem Bewußtſein ſteht. Die Erforſchung und Aufklä¬
rung dieſes Verhältniſſes vollendet und ſichert erſt die großen Kanti¬
ſchen Endeckungen und dafür hat ſich eben Fries das unſterbliche Ver¬
[60]Dritte Vorleſung.dienſt erworben. — Beobachtung lehrt uns ſehr bald, daß dasjenige
Gebiet unſeres Geiſtes, deſſen wir uns in jedem Augenblicke bewußt
ſind, einen ſehr veränderlichen von körperlichen Zuſtänden abhängigen
Umfang hat, in der erſten Kindheit, im Schlafe, in gewiſſen Krankhei¬
ten verſchwindend klein iſt, in der vollendeten Kraft unſerer Entwicke¬
lung am größten erſcheint und dazwiſchen alle Mittelſtufen durchläuft.
Ebenſo iſt dieſes Gebiet wie oben ſchon angedeutet für die verſchiede¬
nen Individuen, wie Völker äußerſt verſchieden. Bei den Einen ent¬
ſpricht es während des ganzen Lebens nur dem nebelhaften Halbbe¬
wußtſein des Kindes, bei anderen beſonders einzelnen eminenten Gei¬
ſtern kann es zu einer außerordentlichen Klarheit und zu einem großen
Umfang entwickelt ſein. Jedes Individuum macht hier die Erfahrung,
daß dieſe Entwicklung zu einer vollendeteren Bewußtſeinsſtufe von zwei
Verhältniſſen abhängt, — einmal von der natürlichen Anlage des kör¬
perlichen Organs, die im Großen, wie die Vorzüge unſerer Haus¬
thiere, raſſenmäßig, alſo nach Volksſtämmen, bedingt iſt, und aus¬
nahmsweiſe in der körperlichen Begünſtigung eines Einzelnen gegeben
wird — anderſeits aber auch von dem Grade der Aufmerkſamkeit, des
Fleißes, der Denkanſtrengung, die jeder Einzelne auf die Entwicklung
ſeines geiſtigen Lebens verwendet, abhängig wird und dadurch zu einem
höheren Grade der Vollkommenheit gebracht werden kann. Erfahrungs¬
mäßig grenzt der Zuſtand des Schlafwandlers, des Kindes, der auf
der tiefſten Stufe ſtehenden Nationen wie der Auſtralneger unmittelbar
an den ſchlummernden Zuſtand, in welchem ſich das geiſtige Weſen bei
den höheren Thieren befindet.
Faſſen wir nun alle dieſe Andeutungen, denn mehr als ſolche wä¬
ren hier nicht am Platze geweſen, zuſammen und wenden ſie auf die
Frage nach der Stellung des Menſchen zum Thiere an, ſo erhalten wir
folgende Antwort. — Die irdiſche Erſcheinung unſeres Geiſtes iſt an
ein körperliches Organ, das Gehirn gebunden, jeder Aeußerung geiſti¬
gen Lebens entſpricht ein Organiſationsverhältniß und eine Thätigkeit
desſelben. Unter allen Erſcheinungen des Geiſteslebens iſt das Be¬
[61]Stellung des Menſchen in der Natur.wußtſein, durch welches wir eben zur Erkenntniß unſeres geiſtigen We¬
ſens kommen die höchſte, auch ihr muß eine beſtimmte Organiſation
des Gehirns entſprechen. Wie jeder Theil des Körpers kann auch die¬
ſer Theil mehr oder weniger vollkommen ausgebildet werden. — Der
Unterſchied zwiſchen Thier und Menſchen beſteht alſo im Allgemeinen
darin, daß das Gehirn des letzteren ſo entwickelt iſt, daß er ſich ſeiner
ſelbſt bewußt werden und damit gleichſam ſich ſelbſt in Beſitz nehmen
kann. Der Unterſchied zwiſchen Thier und Menſchen beſteht aber auch
nur in dieſer Möglichkeit. Für die Realiſirung des Unterſchieds bleibt
das angegebene Merkmal des Bewußtſeins nur eine Aufgabe, die er
mit allen ſeinen Kräften, ſo weit wie es dem körperlich gebundenen
Menſchen überhaupt möglich iſt, zu löſen hat. Sobald eine Körper¬
form, die vom Affen, wenn auch in langen Generationsreihen abge¬
wandelt iſt, gerade in dieſer Beziehung begünſtigt wurde, daß das ent¬
wickeltere Gehirn das allmählich aufdämmernde geiſtige Selbſtbewußt¬
ſein möglich macht, ſo iſt damit gleichſam die Schöpfung des Menſchen
vollendet, zu der Entwicklung der körperlichen Form tritt nun plötzlich
der göttliche Odem, die Fähigkeit ſich ſeiner geiſtigen Weſenhaftigkeit
bewußt zu werden, und damit die Möglichkeit der Zweckſetzung und der
Selbſterziehung damit zugleich die unendlich viel vortheilhaftere Stel¬
lung im Vergleich mit den nächſt verwandten Thieren, welche dem
Menſchen ſeine Dauer und ſeine Herrſchaft über die anderen Geſchöpfe
ſichert. Nun beginnt innerhalb dieſer vollkommneren Geſchöpfe eine
ganz neue Geſchichte der Erde in der allmählichen Ausbildung dieſer
Geſchöpfe, und dem allmählichen Fortſchritt bis zur höchſten Vollen¬
dung, deren der Menſch fähig iſt, welche ſich aber bis jetzt nur in ein¬
zelnen Individuen und auch bei dieſen faſt immer nur einſeitig ausge¬
prägt hat. Ich möchte unter den mir bekannt gewordenen Menſchen
einen Plato, Galilei, Leſſing, Kant und Goethe als die am meiſten all¬
ſeitig Entwickelten nennen.
Geiſtiges Weſen liegt allen körperlichen Erſcheinungen zum
Grunde, nur im Menſchen erſcheint es mit der Fähigkeit ſich ſeiner
[62]Dritte Vorleſung. Stellung des Menſchen in der Natur.geiſtigen Natur ſelbſt bewußt zu werden. Wenn wir körperlich vom
Affen abſtammen, ſo iſt damit keine Entwürdigung des Menſchen aus¬
geſprochen, denn jene Fähigkeit des Selbſtbewußtſeins bildet eine
unendliche Kluft, über die keine Dreſſur, keine Erziehung den Affen
hinausheben kann und welche bleibt, wenn die Fähigkeit auch bei Ein¬
zelnen noch ſo wenig entwickelt iſt, und auf den niederſten Stufen ſich
bis zur Verwechslung an die Stufe der Thierheit anzuſchließen ſcheint.
Weit entfernt materialiſtiſch auszulaufen, giebt uns auch dieſe natur¬
wiſſenſchaftliche Unterſuchung einen neuen Eingang in das Gebiet des
Geiſtes.
Appendix A
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.
Appendix B
Bei Wilhelm Engelmann in Leipzig erſchien ferner:
Ueber den Materialismus
der neueren deutſchen Naturwiſſenſchaft,
ſein Weſen und ſeine Geſchichte.
Zur Verſtändigung für die Gebildeten
von
M. J. Schleiden, Dr.
gr. 8. br. 12 Ngr.
Die Pflanze und ihr Leben.
Populäre Vorträge
von
M. J. Schleiden, Dr.
Fünfte verbeſſerte Auflage.
Mit einer in Oelfarben gedruckten Copie eines auf der Dresdener Gallerie befindlichen
Fruchtſtückes von J.D. de Heem, 14 Blättern gezeichnet von W. Georgy, in Holz geſchnit¬
ten von Flegel, 5 Kupfertafeln und neuem allegoriſchen Umſchlag.
gr. 8. broſch. 3 Thlr. 10 Ngr.
Studien.
Populäre Vorträge
von
M. J . Schleiden, Dr.
Prof. in Jena.
Zweite umgearbeitete und vermehrte Auflage.
Mit dem wohlgetroffenen Bildniß des Verfaſſers, einer Anſicht, einer Karte der
Nordpol-Expeditionen und drei lithogr. Tafeln.
gr. 8. In elegantem Umſchlag, 3 Thlr.
Grundzüge
der wissenschaftlichen Botanik
nebſt einer methodologiſchen Einleitung
als Anleitung zum Studium der Pflanze
von
M. J. Schleiden, Dr.
Vierte vom Verfasser durchgesehene Auflage.
Mit 288 Holzschnitten und 5 Kupfertafeln.
gr. 8. brosch. 4 Thlr. 25 Ngr.
Appendix C
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.
Es verſteht ſich, daß das hier Geſagte ſeine Anwendung eben ſo findet,
wenn wir aus der Zuſammenfaſſung einer gewiſſen Anzahl von Begriffen einen Be¬
griff nächſthöherer Ordnung bilden. —
Wenn einige verſucht haben, das zu läugnen, ihn mit den Sauriern zuſam¬
menzuſtellen und von dieſen abzuleiten, ſo läßt ſich das nicht mit gründlicher
Kenntniß in Anatomie und Phyſiologie vereinigen.
Die Bezeichnung „Vierhänder“ gebrauchte zuerſt Tyſon im Jahre 1699, der
Ausdruck „Zweihänder“ ſtammt wohl von Buffon; Blumenbach und Cuvier haben
den Ausdruck „Vierhänder“ leider durch ihre Autorität geläufig gemacht.
Nach Huxley.
Hierbei dient wieder die Skizze A, auf welcher c das große, a das kleine
Gehirn bezeichnet.
- Lizenz
-
CC-BY-4.0
Link zur Lizenz
- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Schleiden, Matthias Jacob. Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bppn.0