Druck und Verlag von Eduard Hallberger.
1879.
Jedes Recht, vorzüglich das der Ueberſetzung dieſes Werkes in fremde
Sprachen, wird vorbehalten, Nachdruck ſtrengſtens verfolgt.
In der Pfahldorfgeſchichte hat der geneigte Leſer
das Manuſkript kennen gelernt, das mir aus Venedig
zukam. Der zwei Bedingungen, an welche die Voll¬
macht zum Abdruck geknüpft war, erinnert er ſich aus
unſerem Geſpräch in Göſchenen. Er wird alſo aus
der Thatſache, daß der Abdruck vorliegt, bezüglich der
einen Bedingung von ſelbſt den Schluß ziehen, daß
ich in der Pfahldorfgeſchichte noch etwas Anderes fand,
als nur einen anachroniſtiſch ſatiriſchen Scherz. Was
dieß Andere ſei, hat A. E. dazumal ſo beſcheiden
angedeutet, als man es irgend von einem Menſchen
erwarten darf, der Selbſtgefühl, der Charakter hat;
ich würde näher darauf eintreten, wenn ich nicht allen
Schein der Parteilichkeit für meinen Mann vermeiden
möchte; eher iſt es von Intereſſe für mich, auf die
Mängel hinzudeuten, wozu Gelegenheit ſich ergeben
wird. Bevor ich erzähle, wie die andere Bedingung
eintraf, will ich noch melden, was auf dem beigelegten
Viſcher, Auch Einer. II. 1[2] Zettel geſchrieben ſtand; es lautete: „Sollte Ihnen
das Opus in dem Sinne, wie ich damals in Göſchenen
geſagt, nicht eben unwerth erſcheinen, ſo mögen Sie
es alſo vom Stapel laſſen, wenn ich todt bin. Dann
müſſen Sie aber eine Bemerkung beifügen. Ich habe
in dem Hymnus des Barden ein Gedicht von einem
lebenden Dichter auf eine Weiſe verwendet, die unver¬
antwortlich iſt, wenn ihm nicht eine Genugthuung
gegeben wird, falls der Spaß gedruckt erſcheint. Ich
habe ſeine Strophen erweitert, da verändert, dort
unverändert gelaſſen. So verlangte es mein Zuſammen¬
hang. Es lieber durch ein anderes erſetzen? Das
konnte ich nicht über mich bringen, weil ich einen gleich
guten Grund für den gegebenen Zweck zu legen mich
unfähig fühlte. Aber auf mein heilig Ehrenwort, es
ſoll kein Diebſtahl ſein und ebenſowenig eine wohlweiſe
Verbeſſerung. Wer die Gedichte des Mannes kennt,
der weiß, welches ich meine; wer ſie nicht kennt, den
geht dieſe Bemerkung eben einfach nichts an. Noch
eine andere Unthat habe ich begangen: demſelben
Poeten iſt das Kahnlied zugeſchrieben, das Alpin ſingt
dort, wo über die Beſchickung der Barden berathen
wird. Taugt es nichts, ſo habe ich ſehr gefrevelt.
Es ſoll für beide Sünden ſeine Verzeihung, ſeine
Zulaſſung eingeholt werden.“ *)
Mit Seufzen packte ich das Manuſkript zuſammen,
als ich es geleſen, und barg es bei den Papieren, die
ich am ſorglichſten verwahre. Je mehr es mich rührte,
daß der Mann, mit dem ich menſchlich einſt in ſo
eigenthümliche Berührung gekommen, mich nun ſo
vertraut auch in die Gänge ſeines Talents blicken
ließ, deſto ſtärker wollte ſich der Unmuth in mir
melden, daß er mit ſeiner Perſon ſolch' grillenhaft
heimliches Weſen trieb. Von Zeit zu Zeit überfiel
mich auch einfach die Neugierde, ein paarmal ſchoß
der Gedanke in mir auf, ich wolle ſchnell nach Italien
aufbrechen, ſeine Spuren aufſuchen, ſeinen Namen
und Stand erkunden. Doch ebenſo ſchnell faßte ich
mich nach ſolchen Momenten und ſagte mir, daß das
kindiſch wäre. Und gerade dieſe Selbſtrüge führte
auch wieder zu gerechterer Auffaſſung jener Grille.
Mußte ich mir geſtehen, daß ein ſolcher Spürungs¬
gang ein kleinliches Thun wäre, ſo war damit auch
anerkannt, daß es gar ſo unnatürlich eben nicht war,
wenn der Sonderling die Anhängſel ſeiner Perſönlich¬
keit, Namen, Heimat, Stand verbarg und nur Menſch
zu Menſch ſich ſtellen wollte. Freilich konnte auch
dieſe Erwägung nicht immer vorhalten; denn jene
Anhängſel ſind ja das Mittel, wodurch Menſchen, die
ſich kennen gelernt, ſich menſchlich nahe getreten, ein¬
ander wieder auffinden können. Warum ſollte ich ihn,
warum wollte er mich nicht wiederſehen? Dieß war
[4] denn doch krank. Was konnte dahinter ſtecken? Hatte
ihm unſer Abenteuer in den Schöllenen den Gedanken
des Selbſtmords, der ja unheimlich genug aus ſeinem
Selbſtgeſpräch am ſchauerlichen Felsrand hervorblitzte,
noch nicht ausgeheilt? Wollte er allein wandeln, um
frei dem Todesgedanken nachzugehen und ungeſtört,
wenn er reif wäre, ihn zur That zu machen? Bei
dieſer Betrachtung überkam mich wieder das Mitleid,
jenes Mitleid, das mich einſt zum halsbrecheriſchen
Kletterwagniß getrieben, das mir beim Abſchied die
Thräne ausgepreßt hatte. Und nun ward mir der
Inhalt der Pfahldorfgeſchichte zu einer Quelle neuer
herzlicher Rührung. Ich zog ſie wieder hervor und
vertiefte mich ſo recht rein pathologiſch in das durch¬
gehende Motiv: die wunderliche Erfindung einer Religion,
einer Mythologie, worin ſich Alles um den Katarrh
dreht. Doch wurde durch ein Gefühl anderer Art
dem Mitleid das Gleichgewicht gehalten: der Arme,
der mit dieſem läſtigen Leiden ſo fatal verwachſen war,
daß ſein Gedankenleben ſich gewöhnt hatte, ſich halb¬
wahnſinnig um dieſen Einen und verwandte Punkte
zu drehen: er hatte es ja doch vermocht, ſich ſo ſeiner
ſelbſt zu entäußern, daß der Krankheitsſtoff als gegen¬
ſtändliches Bild humoriſtiſch ausgeſchieden wurde. Das
war denn wirklich kein geringer Akt geiſtiger Freiheit.
Immerhin komiſch war mir allerdings die Stelle in
Arthur's Feuerrede, wo ſo manches Böſe doch als Aus¬
[5] fluß genannten Uebels entſchuldigt wird, der Redner
aber fühlt, daß dieß gegen den Strich ſeines Gedanken¬
gangs läuft und ſich mühſam in dieſen zurückhilft.
Dabei drängte ſich mir zugleich die Bemerkung auf,
daß er ſich im Verhältniß zum Umfang ſeiner Grille
im Grund enthaltſam erwieſen habe, denn die Ver¬
ſuchung mußte groß genug ſein, ſich nicht auf das
eine der ſogenannten kleinen Uebel zu beſchränken,
ſondern durch reichliche Einführung anderer eine Aus¬
ſicht auf das unabſehliche Gebiet läſtiger Durchkreuzungen
menſchlichen Seins und Thuns durch den winzigen
Zufall zu eröffnen, mit dem er ſich in ſo großer Aus¬
dehnung und ſo verbiſſen beſchäftigte. Einzelnes der
Art, was vorkommt, wie das Herabfallen des Druiden
von der Kanzel, iſt doch motivirt und zählt alſo eigent¬
lich nicht in die Sphäre des reinen Widerſinns. Dieſe
Einſchränkung durfte ich ebenfalls für einen Erweis
von Freiheit gelten laſſen: er konnte eine Menge
komiſcher Motive aus dieſem Gebiete ſchöpfen, aber
der Zuſammenhang ſeiner Kompoſition wollte es nicht
zulaſſen, und als Künſtler fügte er ſich in dieß Verbot,
während er als Menſch doch gewiß auf Schritt und Tritt
einen ſtarken Reiz fühlen mußte, es zu übertreten.
So ſchwankte mir Denken und Gefühl hin und
her, bis endlich die allgewaltige Macht der Zeit, die
politiſchen Ereigniſſe, die Häufung täglicher Arbeit das
Bild des Mannes und ſeines Werks mir in den Hinter¬
[6] grund der Erinnerung ſchoben, aus dem es nun ſeltener,
doch allemal friſch und lebendig wieder auftauchte.
Des Tages dachte ich weniger daran, aber häufig träumte
mir von Urhixidur, vom Wiſentkampf, vom Scheiter¬
haufen, zu welchem Arthur verdammt war, und ein
andermal ſchwebte ich ſchwindelnd über Abgründen,
toſenden Waſſern, über mir, hoch am ſteilen Fels, eine
geiſterhafte, titaniſch bewegte Geſtalt, und oft erwachte
ich dann ſchweißgebadet im Augenblick, wo ich in die
jähe Tiefe zu ſtürzen glaubte. Es war in der Nacht,
nachdem die franzöſiſche Kriegserklärung 1870 bekannt
geworden, als ſich mir ſolche Erinnerungsbilder mit
Vorſtellungen, welche dieſe Kunde mit ſich brachte,
wunderlich im Traume verknüpften. Ich befand mich
wieder in der Schöllenenſchlucht und ſah auf einer
der wilden, ſteilen Felſenhöhen — nicht meinen Mann,
ſondern einen Spahi, einen wilden Sohn Afrikas —
nicht ſtehen, ſondern reiten; der Fels nahm die Form
eines Pferdes an, der Spahi, während ſein weißer
Mantel dunkler und dunkler wurde, ſich mehr und
mehr ausbreitete und als ſilbergeſäumte Wetterwolke
am Himmel zu flattern ſchien, ſpornte es heftig in die
Seite und rief: „Nach Berlin! nach Berlin!“ Jetzt kam
A. E. herbeigeeilt, ſchrie: „Herab, Pferdsſchinder!“ packte
ihn am Bein, der Spahi ſpringt aus dem granitnen
Sattel herab, zieht ſeinen krummen Säbel, ich ſtürze
hinzu, wir raufen, und im Handgemenge ſehe ich A. E.
[7] ſtürzen, die blitzende Waffe iſt ihm in die Hüfte ge¬
fahren, ein Blutſtrahl ſpritzt aus der Wunde, der
Schreck weckt mich auf und erwacht meine ich noch
mein Stöhnen im Traume zu hören.
Am Morgen darauf hatte ich eine kleine Reiſe
anzutreten in der Richtung gegen Süden. Ich ſtand
auf dem Perron eines Bahnhofs und ſah die Leute
in einen Zug einſteigen, der, von oben kommend, einen
kurzen Halt gemacht hatte. Das Zeichen zur Weiter¬
fahrt war ſchon gegeben, als ich einen Mann, der ſich
etwas verſpätet hatte, dem Wagen zueilen ſah. Er
erreichte ihn noch, blieb aber mit der Bruſttaſche ſeines
nur umgeworfnen Ueberrocks im Griff der Wagenthüre
hängen; ich hörte einen heftigen Fluch und ſah zugleich,
wie der Fremde einen zornigen, ſo gewaltſamen Ruck
mit ſeinem Kleide that, daß die Taſche rieß: man hörte
trotz dem Pruſten des Dampfrohrs die Nähte krachen
und der Inhalt rollte über den Wagentritt auf die
Schienen und über ſie hinweg bis an die Grenze des
Perrons. Inzwiſchen war der Mann im Wagen ver¬
ſchwunden und der Zug fortgeſauſt. Ich war ſeiner
nur von hinten anſichtig geworden, aber Geſtalt und
Bewegung waren mir bekannt vorgekommen, die Stimme,
der Fluch und das ungeduldige Reißen kamen mir noch
bekannter vor; jetzt beeilte ich mich, die Sachen aufzu¬
nehmen; es war eine Brieftaſche und eine Cigarren¬
ſpitze; mit dem erſten Blick erkannte ich dieſe Dinge
[8] als Eigenthum A. E.'s, denn wenn ſich bedeutende
Stunden in unſerem Gedächtniß feſtſetzen, ſo gräbt
ſich ja gern auch unwichtig Aeußerliches als geläufige
Zubehör der Perſönlichkeit in die geiſtige Tafel mit ein.
Ich begab mich mit meinem Fund auf das Zimmer
des Inſpektors. Er öffnete vor meinen Augen die
Brieftaſche und zog neben einigen Blättern und Briefen
eine Paßkarte hervor; ſie war 1869 ausgeſtellt nach
Italien (und Sicilien), daneben aber lag ein älterer,
ganz vergilbter Paß von 1865, der wohl mitgenommen
war für den Fall, daß die Paßkarte nicht genügen
ſollte. Er lautete ebenfalls nach Italien. Ganz merk¬
würdig: der Name hieß Albert Einhart; alſo die
Anfangsbuchſtaben ebendie, womit ich mir nur zur
Aushülfe, die Bedeutung: „Auch Einer“ hineinlegend,
bisher den Mann bezeichnet hatte. Alter auf dem
Paß: fünfzig Jahre, Paßkarte demgemäß: vierundfünfzig.
Stand: Vogt außer Dienſten. Flugs fiel mir dabei
der Auftritt mit den zwei Strolchen auf dem Gotthard¬
paß ein. — Den Wohnort wollen wir übergehen: er
thut nichts zur Sache und der Leſer, wenn ihn etwa die
Neugierde hinreizte, würde den Mann doch nicht mehr
finden. Ich ſchrieb auf eine Karte mit meinem Namen:
„Der glückliche Finder, der Reiſekamerad von 1865,
grüßt;“ ich bat den Beamten, die Karte zu den Sachen
zu legen; er erklärte, daß er am übernächſten Tage,
wo ſich die Ankunft des Eigenthümers in ſeinem Wohn¬
[9] ort als erfolgt mit Wahrſcheinlichkeit annehmen laſſe,
telegraphiren werde. Der Vorfall machte mir Spaß,
wohlgeſtimmt reiſte ich weiter; allein die Zufriedenheit
hielt nicht lange vor, eine Unruhe kam über mich;
du mußt hin, ſagte ich mir, eine Dummheit wär's,
ſich länger an die Schrulle eines Eigenſinnigen binden;
naturwidrig, barbariſch iſt's, daß man ſich nicht mehr
ſehen ſoll. Ich entſchloß mich und wollte, wieder zu
Haus angekommen, ungeſäumt aufbrechen. Allein ich
konnte mich ſo ſchnell nicht losmachen. Der Krieg hatte
ſeine blutige Arbeit begonnen, nahe Verwandte hatten
Söhne im Feld, Schlag auf Schlag folgten ſich die
großen, mörderiſchen Schlachten, es gab zu Hauſe gar
viel zu thun für Pflege der Verwundeten, für Sanitäts¬
züge, ich durfte, ich konnte mich von meinen nächſten
Umgebungen nicht trennen. Endlich kam der Schickſals¬
tag von Sedan. Die Hoffnung auf das Ende des
Kriegs konnte ich zwar nicht theilen, aber eine Pauſe
mußte folgen, ich glaubte mich auf einige Tage frei
machen zu dürfen und fuhr ab.
Auf der Station, wo der erzählte Vorfall ſpielte,
ſetzte ich einen Zug aus und fragte an, ob die Sachen
abgegangen und Nachricht von ihrer Ankunft einge¬
troffen ſei. Der Beamte zeigte mir den Empfang¬
ſchein und ich erkannte mit dem erſten Blick die Hand¬
ſchrift. Man kann ſich denken, daß ich mich doch
nicht wenig geſpannt fühlte, als der Zug am folgenden
[10] Morgen dem Ziele ſich näherte. Ich enthielt mich,
Mitreiſende mit Erkundigungen anzugehen; ungeſchmä¬
lert von halbem Vorwiſſen wollte ich die Wohlthat
genießen, nun den Mann in ſeiner Heimath, ſeinen
Lebensbedingungen erſt ganz kennen zu lernen. Gleich
nach der Ankunft eilte ich in einen Gaſthof und fragte
ſchon unter der Thüre nach der Wohnung des räthſel¬
haften Freundes. „Sie treffen ihn nicht mehr am
Leben,“ ſagte mit ſchmerzlicher Miene der Wirth. Ich
zuckte zuſammen. „Ein blutiger Tod,“ ſetzte er hin¬
zu; „Tod durch einen Meſſerſtich im Streite mit
einem rohen Fuhrmann.“ — „Hat er Familie hinter¬
laſſen?“ — „Er war Junggeſelle, eine Verwandte
hielt ihm Haus, Frau Hedwig, eine Wittwe.“ — „Iſt
ſie noch da?“ — „Sie verbleibt im Hauſe.“ — Ich
ließ mir Straße und Hausnummer angeben, wies
Begleitung ab und fand mich bald zurecht.
Ich ſah an der Nummernzahl, daß ich der Woh¬
nung nahe ſein müſſe, als mir hart an der Naſe ein
Trinkglas vorüberflog und auf dem Pflaſter klirrend
zerſchellte. Mir war, als ſtreifte mich der Geiſt des
Verſtorbenen. — Das Haus war gefunden und wurde
auf mein Läuten geöffnet; im Flur ſtürzten zwei
Hunde die Treppe herab auf mich zu, laut bellend,
doch nicht in feindlichem Tone, es war der halbwim¬
mernde Ruf, welchen dieß Hausthier in der Aufregung
der Freude hören läßt. Plötzlich blieben ſie vor mir
[11] ſtehen, blinzten mich an und hängten die Schweife.
Es war ein großer Hatzrüde von der gelbgrau ge¬
ſtrömten Raſſe und ein borſtiger Rattenfänger. Ich
betrachtete ſie mir und redete ſie wie alte Bekannte
an, denn das waren ſie doch, da ihr verlorener Herr
ſie mir ja im Geiſt längſt ſchon vorgeführt hatte. —
„Ach, ihr guten Kerle, gelt, 's iſt eben nicht euer
Herr, der kommt nicht mehr.“ Die Thiere win¬
ſelten leiſe und giengen mir die Treppe hinauf zur
Thüre voran, die nun geöffnet wurde, ehe ich ſie er¬
reicht hatte. Eine Frau im Alter von etwa fünfzig
Jahren, ganz in Schwarz gekleidet, kam mir entgegen;
ich nannte meinen Namen. — „Ach, ſind Sie's?“
rief ſie, „es war mir doch vor, ich hab's gleich ge¬
dacht! Denken Sie, ich bin zuſammengefahren, als Sie
ſchellten! Sie ziehen die Glocke ganz wie der Herr
ſelig!“ — Sie gab mir die Hand, führte mich in ein
behagliches getäfeltes Zimmer, worin auf dem Fenſter¬
ſims ein großer Kater ruhte und halbſchläfrig nach
mir herſah. Wir ſtanden uns gegenüber und ſahen
uns in die Augen. Sie weinte und auch ich konnte
die Thränen nicht unterdrücken. Mit gebrochener
Stimme brachte ſie nach einer Pauſe hervor: „O, wie
iſt das unglücklich gegangen! Er hat mir von Ihnen
erzählt, ich weiß, daß Sie die Pfahldorfgeſchichte haben,
ich hab' ihm recht Vorwürfe gemacht, daß er ſo grund¬
los Geheimniß hielt, er war darin gar ſo eigenſinnig,
[12] doch gegen das Ende iſt er milder geworden und als
die Sachen ankamen mit Ihrer Karte, ſo wollte er
Ihnen ſchreiben oder Sie beſuchen, aber dann ver¬
ſchleppte er es wieder, nun kam das Unglück und
darnach in ſeinen letzten Stunden hat er noch einmal
von Ihnen geſprochen und mir das Verſprechen ab¬
genommen, Sie noch recht herzlich zu grüßen, auch
noch einen Auftrag gegeben, von dem wir ein ander¬
mal reden wollen.“
„Und das Unglück? Wie iſt es geſchehen?“
Wir hatten uns geſetzt.
Sie fieng an: „Mein Vetter war ſeit der Nach¬
richt von der Schlacht bei Gravelotte —“
Sie wurde durch ein Klopfen unterbrochen. Ein
Polizeidiener trat ein, blieb an der Thüre ſtehen und
ſagte, den Kopf ſchief haltend und ſchmunzelnd: „Frau
Hedwig, 's Gewöhnliche!“
Die Frau wurde hochroth bis unter die Stirn¬
haare, gieng zu einem Schranke, holte Münze heraus
und gab ſie dem Polizeimann, der immer noch halb¬
lächelnd mit Verbeugung abgieng.
Ich hatte verſtanden — das Glas! Alſo auch ſie
— auch dieſe ſichtbar ſo gehaltene, verſtändige Frau! —
Sie machte ſich beiſeite zu ſchaffen, ſuchte ihr Ge¬
ſicht zu verbergen, beſann ſich aber, trat vor mich,
ſah mich feſt an und ſagte: „Göſchenen — ich weiß.“
Mir kam mitten im Weh das Lachen, ihr auch und
[13] ſie überließ ſich der befreienden Erſchütterung, während
ihr noch die hellen Thränen in den Augen ſtanden. Und
ſo lachten zwei redlich tiefbetrübte Menſchen ein Duett.
Der Ernſt ſtellte ſich ſchnell genug wieder ein und
ſie erzählte:
„Herr Einhart kam im Frühjahr 1866 von ſeiner
zweiten Reiſe nach Italien zurück. Die erſte hat er
im Jahre 1860 gemacht. Er hatte Italien früher
ſehen wollen; ein Jahr Urlaub von 1847 auf 1848
war, das weiß ich, zuerſt für Norwegen, dann für
Italien beſtimmt. Damals muß ihn nicht nur ein
Nervenfieber aufgehalten haben, das ihn dort heim¬
ſuchte, dort ſpielt ein Geheimniß, und ſtatt über die
Alpen gieng er in den Kampf für Schleswig-Holſtein.
Genug, es gelang ihm zwölf Jahre ſpäter, das er¬
ſehnte Land endlich zu ſehen. Er kam ſehr erfriſcht
und erheitert zurück, mit ganz beſonderer Empfindung
ſprach er von den umbriſchen Bergſtädten, hielt aber
ein paarmal auffallend ſchnell inne, als ihn die
Schilderung der Madonnen der alten ſieneſiſchen Mei¬
ſter auf den dortigen Frauentypus zu ſprechen brachte.
Das neue größere Amt, das er um dieſelbe Zeit an¬
getreten, nahm nun ſeine ganze, ſtets willige Arbeits¬
kraft in Anſpruch. Laſſen Sie mich für jetzt ſchweigen
von den Dingen, die nachher kamen, von ſeinem
Sturz, von der Stimmung, in welcher er die zweite
Reiſe nach Italien unternahm, auf welcher er im Hin¬
[14] weg Sie kennen lernte. Nach ſeiner Rückkehr gieng
es im Anfang ordentlich, er lebte geſammelt in ſeinen
Reiſeerinnerungen, manchmal freilich befiel ihn eine
plötzliche Unruhe und es ſchoß der Gedanke in ihm
auf, er wolle wieder fort, wieder nach Italien. Er
ſchob es auf das nordiſche Wetter, es wollte mir
ſcheinen, es müſſe noch etwas Anderes dahinter ſtecken.
Es koſtete mich Mühe, es ihm auszureden. Ab und
zu thaute er auf und ſprach dann prächtig über einige
Hauptſtellen ſeiner Reiſe, über Land und Leute, über
Formen und Farben der ſüdlichen Natur, über Kunſt¬
werke, die er ſah, wie ſie nicht Jeder ſieht, nemlich
mit den eigenen Augen. Dabei fehlte es nicht an
komiſchen Beobachtungen und Erlebniſſen, und ſo hat
er mir denn auch den großen Opferakt, den er auf
der Hinreiſe auf dem Gotthard mit Ihnen vollzogen,
heiter und feierlich erzählt. Doch immer kehrten dunkle
Stunden wieder; es mußte mir ſcheinen, der ver¬
ſchloſſene Mann verſchweige mir irgendwelche neue
trübe Erfahrungen.“
„Hat er Ihnen auch erzählt,“ fragte ich, „was
jenem Auftritte vorangieng?“
„Nichts,“ war die Antwort. Sie fuhr fort:
„Nun blieben auch neue Verkältungen nicht aus und
warfen ſich ihm wie immer auf die Schleimhäute und
da war er dann, wie Sie ſich denken können, —
ſchrecklich —“
[15]
Ich unterbrach ſie mit der Frage, ob ſie ihn auch
ſchwer krank geſehen und wie er dann ſich gehalten habe.
„O, wie ein Lamm,“ war die Antwort; „kein
Wort der Klage. Zweimal hab' ich's erlebt: einmal
Geſichtsſchmerz, glücklicherweiſe vorübergehend; man
hörte kaum ein unterdrücktes Stöhnen; einmal eine
Luftröhrentzündung; dieſes Mal ſprach man ihm von
möglichem Tode und er nahm es ganz unbewegt auf.
Nur zu beklagen war's, daß er faſt alle Pflege abwies.
Ein Kranker ſei ein Lump, ſtieß er aus, der müſſe
beſcheiden ſein und ſich hübſch verbergen. Uebrigens
ſagte er auch gern, wenn man ſeine Geduld rühmte:
‚Das Moraliſche verſteht ſich immer von ſelbſt. 'Um
jene Zeit nahmen auch ſeine ſehr guten Augen etwas
ab, er wurde fernſichtig, mußte zum Leſen eine Brille,
zu augenblicklicher Aushülfe eine Lorgnette tragen.
Nun kam das häufige Suchen, das ewige Putzen,
wobei er jedesmal über die Heimtücke der Stangen
wetterte, daß ſie hindernd über die Gläſer hereinfielen,
und, was noch ſchlimmer war: die Schnur, woran
er das Gläschen trug, that ihm gar ſo viel Schaber¬
nack, fieng ſich an einem Weſtenknopf, ſchob ſich in
die Bruſttaſche mit ein, wenn er ſein Notizbuch hin¬
einſtecken wollte, ſo daß es ſich ſtaute, und das immer
am liebſten, wenn die Sache Eile hatte. Herr meines
Lebens, iſt er da wild geworden!“
„Kenne, kenne, weiß,“ ſagte ich etwas ungeduldig.
[16]
„Inzwiſchen war es in der Welt draußen ja zum
Kriege zwiſchen Preußen und Oeſterreich gekommen.
Sie können ſich denken, wie es einem alten Kämpfer
für Schleswig-Holſtein zu Muthe war, als die Sache
dieſen Gang nahm, als nun die Preußen in Böhmen
einrückten, als Schlag auf Schlag ihre blutigen Siege
folgten. Man ſah dem Mann einen ſchweren inneren
Kampf an, er ſprach wenig, ich hörte ihn droben
häufig mit ſtarken Schritten auf und ab gehen. Ein¬
mal ſagte er: ,’s iſt unrecht, aber es wäre ſchwerlich
anders gegangen;‘ das andere Mal: ‚es wäre ſchwer¬
lich anders gegangen, aber es iſt unrecht, es wird
nachhaltig der öffentlichen Moral ſchaden.‘ Aus ſeiner
Abendgeſellſchaft im Stern kam er meiſt aufgeregt,
oft verſtimmt nach Hauſe. Wenn ich ihn zu beruhigen
ſuchte und zur Langmuth ermahnte, konnte er ſagen:
‚Es ſind eben Parteiſimpel, alle bis auf Einen.‘ Er
meinte einen jungen Mann, den Aſſeſſor. Schließlich
ſchöpfte er doch immer wieder Hoffnung. Man konnte
merken, daß ein Umſchlag alter Anſichten in ihm vor
ſich gieng. Einmal fuhr er bei Tiſche plötzlich auf,
trat an's Fenſter, als ſähe er nach dem Wetter und
ſagte dann mit einem Tone wie ein Schlafredner:
‚Da iſt Hoffnung, ja, ja, — der Spieler in Frank¬
reich — der hilft uns noch — ein guter Krieg kor¬
rigirt den ſchlimmen und die Mainlinie.‘
„Die Jahre,“ fuhr ſie fort, „zogen ſich ſo hin,
[17] er warf ſich wieder recht auf ſeine Bücher, die Laune
wurde erträglicher und als ich einen jungen Kater
von ungewöhnlichem Feuer einthat, war er deſſen ſehr
zufrieden. Dort ſitzt das Thier, aber es iſt ſeit ſeinem
Eintritt in's mannbare Alter ſehr langweilig geworden,
ganz rein materiell, der Selige hat einmal behauptet,
er habe den Kerl überraſcht, wie er aus ſeiner Bib¬
liothek Büchner's Schrift: „Kraft und Stoff“ hervor¬
gezogen hatte und ſtudierte. — Im vorigen Jahr kam
wieder ein ganz böſer.“
Frau Hedwig nahm mit Grund an, ich wiſſe hiezu
das Hauptwort zu ergänzen. —
„Ich rieth ihm, den Winter in Rom oder lieber in
Palermo zuzubringen und vorher oder nachher Neapel zu
beſuchen, das er noch nie geſehen hatte. Schon öfters,
ja ſchon in den vorderen Mannesjahren, war man für
ſeine Bruſt beſorgt geweſen; er muß doch eine ſehr
ſtarke Natur gehabt haben, daß die Lunge den Folgen
ſo vieler Verkältungen ſo lange zu widerſtehen ver¬
mochte. Er ließ ſich meinen Vorſchlag gefallen, ja
mehr als dieß, mir ſchien aus einzelnen abgebrochenen
Winken dießmal wie früher, nur noch merklicher, hervor¬
zugehen, es treibe ihn neben dem beſonderen Reiz, den
das klaſſiſche Land auf eine ſo nordiſche Natur üben
mußte, noch etwas Einzelnes, Geheimes. Freche Raub¬
anfälle waren damals in Sicilien vorgekommen, das
machte ihm keine Sorge, doch nahm er die Reiſe
Viſcher, Auch Einer. II. 2[18] dießmal ſchwerer als ſonſt und war viel in Gedanken.
Kurz vor Aufbruch fiel es ihm ein, er wolle das Thal
‚noch einmal‘ ſehen, wo er vier Jahre, vom vierzehnten
bis zum achtzehnten, in einer Erziehungsanſtalt zugebracht
hat. Er hatte immer gern von jener Zeit geſprochen,
von den alten Kloſterräumen, worin die Schule ſich
befand, von der Schönheit des Thales, von den alten
Kameraden. Still und ſichtbar weich geſtimmt kam er
zurück und trat bald darauf die Reiſe an. Er ſchien
ſich nach den wenigen Lebenszeichen, die mir aus der
Entfernung zukamen, in Neapel, dann in Palermo
ganz munter zu befinden. Ueber Pompeji ſchrieb er
einen ausnahmsweiſe langen, gar ſchönen Brief; durch
den tiefen Ernſt ſeiner Schilderung und Betrachtungen
ſchien mir etwas wie eine Todesahnung hindurch¬
zuklingen, am Schluß aber ſprang er auf ſeine Weiſe
in Scherz um, indem er berichtete, er beſchäftige ſich
jetzt profund mit der Frage, ob die Griechen und
Römer auch Hühneraugen gehabt haben; er habe die
Figuren der Verſchütteten, die man durch Gypseinguß
in den Lavamantel gewonnen, mikroſkopiſch genau
darauf angeſehen, aber leider ſei die Epidermis zu
ſehr zerſtört. Von Palermo ſollte im Frühling eine
Rundreiſe durch die Inſel angetreten werden, aber
auf einmal kam ein Brief aus Rom, dann lange keiner
mehr, ich dachte, er ſitze nun im römiſchen Gebirge,
als endlich, um die Zeit des Kriegsausbruchs, ein paar
[19] hingeworfene Zeilen aus Aſſiſi anlangten, die mir ſeine
plötzliche Rückreiſe anzeigten. Ein paar Wochen darauf
war er da, eigenthümlich verändert. Es war etwas
Geklärtes in ſeinen Zügen, die Stirne erſchien glätter,
der Blick freier und heller, die Mundwinkel neigten
nicht mehr zu dem bitteren Zug nach unten. Er er¬
klärte, er wolle in den Krieg. Ich erſchrack, wiewohl
ich es vorausſehen konnte; es wäre ein Wunder geweſen,
wenn der Freiwillige von 1848 ſich nicht in ihm
geregt hätte. Nach ſeinem Kraftmaß reichte auch die
Rüſtigkeit noch aus, aber mit ſo unſeliger Haut, zu
ſchweren Verkältungen ſo entſetzlich geneigt, wie wäre es
möglich geweſen, die Strapazen, namentlich die Beiwachen,
auszuhalten! Mit ſo ſchwarzen Farben als denkbar
malte ich ihm das vor und ſtellte ihm das Geſpenſt
eines Nervenfiebers in Ausſicht. ‚Nervenfieber oder
Schuß,‘ rief er, ‚gleichviel, doch anſtändig geſtorben!‘
Er wollte ein freiwilliges Jägerkorps, ein berittenes,
errichten, gewann Freunde zu Niederſetzung eines
Komite, man wandte ſich an das Kriegsminiſterium,
er ſchaffte ſich ein neues Reitpferd an und nahm bei
einem Rittmeiſter Lektionen in der Offizierſchule. Da
kam mir ein Unfall zu Hülfe: er ſtürzte auf einem
Ritt und verrenkte den Fuß. Er pflegte auf ebenem,
ſicherem Boden äußerſt vorſichtig, ja ängſtlich, dagegen
auf ſchlimmen, gefährlichen Wegen ganz tollkühn zu
reiten; ſo rannte er eines Tags über einen holprigen,
[20] ſteinigen Abhang, und zwar ohne Anſtoß, aber auf
der bequemen Landſtraße angekommen, machte er durch
unnöthiges Zockeln ſein Pferd unruhig, es ſcheute an
einem Papierblatt auf dem Wege, ſtieg, croupirte, fiel
mit ihm und er konnte noch von Glück ſagen, daß er
mit verletzten Fußſehnen davonkam. So erfuhr man
es von einem Augenzeugen, er ſelbſt wetterte auf die
böſen Geiſter, die ihm Solches angethan, während er
doch ſo vorſichtig ſei. Sie können ſich denken, wie
ſchlecht er die Geduldprobe des langen Stillhaltens,
Schonens, nachdauernden Hinkens in ſo drangvoller
Zeit beſtanden hat. Inzwiſchen wurde das kriegeriſche
Vorhaben ohnedieß vereitelt, da die Regierung, nachdem
ſie ſich zuerſt geneigt erwieſen, am Ende doch abſchlägig
beſchied. So war es denn kein Wunder, wenn die
klare und freie Stimmung, die A. E. von der Reiſe
mitgebracht hatte, nicht vorhielt. Aber es war da
noch etwas Anderes, als Mislaune; wäre es dieſe
allein geweſen, ſie hätte den Siegesbotſchaften, wie ſie
ſich auf dem Fuße folgten, doch nicht zu widerſtehen
vermocht. Sie entzückten ihn auch, aber dahinter ſtieg
ein dunkler Geiſt in ihm auf, den ich anfangs nicht
enträthſeln konnte, der erſt nach und nach durch beſtimm¬
tere Aeußerungen mir verſtändlich wurde. ‚Ich bin der
Eulenſpiegel,' ſagte er einmal, ‚der heult, wann's luſtig
bergab geht.' Als der Tag von Sedan kam, rief er,
ſichtbar den Jubel der Seele unterdrückend: ‚Ach Gott,
[21] ach Gott! ſo viel Glück ertragen die Deutſchen nicht!‘
Schließlich folgte das klare Wort: ‚Wir werden unſer
Ziel erreichen, aber von ſo viel ungewohntem Gelingen
auch einen ſchlimmen Butzen davon tragen; wenn der
Tempel aufgebaut iſt, gebt Acht, wie ſich die Fälſcher,
Krämer, Wechsler, Wucherer breit darin einniſten
werden!‘ Am Abend jedoch ließ er frei und hell den
Freudenſturm des Herzens hervorſchießen und gab ſeinen
Hunden einen Feſtſchmaus. So trieb es ihn um.
Wo er Schlechtes ſah — und es gibt deſſen genug
in unſerer Stadt, mein Herr, gar Viele wollen ſchneller
reich werden, als es mit Ehre und Gewiſſen vereinbar
iſt, und die Mehrheit iſt gar genußſüchtig, Verbrechen,
Raub, Todtſchlag, Brandſtiftung häufen ſich — da
wurde er noch grimmiger als ſonſt, beklagte auf's Neue,
was verſchmerzt ſchien, den Verluſt ſeines Amts, ſeiner
Amtsgewalt —“
Wie ſehr es mich drängte, über dieſen ſchweren
Schlag, den ſie mir ſchon angedeutet hatte, Näheres
zu erfahren, wollte ich doch mit Fragen jetzt nicht in
die Erzählung eingreifen; ich ſah der Frau an, daß
ſie ſich dem Schluſſe näherte, ihr Athem wurde kürzer —
„Um die Zeit mußte wieder ein Katarrh kommen,
und als er ſich erträglich abwickelte, ſtellten ſich bereits
Anzeichen eines neuen ein. In dieſem Zuſtand geht
er eines Tags aus — zum letzten Mal: man brachte ihn
mir ohnmächtig mit einer tiefen Wunde in der Hüfte.“
Sie verfiel in Schluchzen und ſammelte ſich müh¬
ſam, den Bericht zu vollenden. „Er begegnete auf der
Landſtraße einem Fuhrmann, der mit grauſamen Hieben
ein überladenes Pferd mishandelte. Es war ein Menſch,
den er einſt als Vogt wegen derſelben Rohheit ſcharf
beſtraft hatte. Zuerſt ermahnt er ihn ruhig, bekommt
darauf eine rohe Antwort und der Barbar haut nur
noch wilder auf das Thier los. Einhart entreißt ihm
die Geißel, ſie raufen, der Fuhrmann vermag ihn
nicht zu bewältigen, zieht ſein Meſſer und verſetzt dem
Pferd mehrere Stiche; jetzt haut A. E. mit der ent¬
riſſenen Peitſche auf den Wütherich ein, dieſer ſpringt
wie ein Tiger gegen ihn und das Meſſer fährt ihm
in die Hüfte.
„Leute, die des Weges kamen, fanden den Fuhr¬
mann zu Boden geriſſen und hier feſtgebannt vom
drohenden Rachen des Hatzrüden, daneben den Ver¬
wundeten; ein Wagen wurde raſch herbeigeſchafft, die
Kunde verbreitete ſich pfeilſchnell, als man ihn durch
die Straßen führte; ein Freund, der Aſſeſſor, kam
herbeigeeilt und brachte unſern Arzt ſchon mit, den er
unterwegs aufgeboten hatte. Wir trugen den Ohn¬
mächtigen auf's Bett, ich und der Aſſeſſor, nachdem
mit ſeiner Hülfe ein Verband angelegt war, verließen
das Zimmer, um durch keinen Laut den Schlummer
zu ſtören, in welchen nach ſchmerzhaftem Zucken die
Ohnmacht übergegangen war. Der Arzt hat mir
[23] nachher ſo erzählt: Nach einiger Zeit ſchlug der Kranke
die Augen auf, ſchien mit Verwundern ſich in dieſer
Lage und den Arzt neben ſich zu ſehen, beſann ſich
eine Weile und nickte dann wie Einer, dem Ent¬
ſchwundenes zum Bewußtſein kommt. Er fühlte an
ſeine Hüfte, nickte noch einmal, nahm dann nach einer
neuen Pauſe die Hand des Arztes und ſagte: ‚Doktor,
eine Gewiſſensfrage: ‚Iſt anzunehmen, daß ich noch einen
kriege?' Der Doktor war in kurzem Kampfe mit ſich,
erwiderte dann ruhig den feſten, wartenden Blick des
Kranken und ſagte: ‚Kaum.' — ‚Ich danke,' verſetzte
dieſer und zog die Glocke.
„Wir waren indeſſen ſchweigend, in tödtlicher Span¬
nung im Nebenzimmer geſtanden, traten jetzt leiſe
hinein, A. E. ſah uns der Reihe nach freundlich an
und ſagte dann mit ſchwacher Stimme, aber in ganz
warmhellem Tone: ‚Freut euch mit mir, ich kriege
keinen mehr, ich weiß es vom Doktor da! Ich darf
anſtändig ſterben. Es iſt doch ſo auf eine Art, wie
wenn ich im Kriege gefallen wäre.‘ Der Arzt wider¬
ſprach nicht. Der Kranke fiel wieder in Schlummer.
‚Warum ſollte ich es ihm verſchweigen?‘ flüſterte nun
jener uns zu, ‚er iſt ein Mann; wir müſſen uns
gefaßt halten, er iſt unrettbar, jede weitere Behand¬
lung ſeiner Wunde würde nur die Qual vermehren;
er wird den Tag nicht überleben.‘ Wieder erwacht,
gab A. E. ein Zeichen, daß er ein Wort mit mir
[24] allein ſprechen wolle. ‚Frau Baſe,' ſagte er, als die
Andern das Zimmer verlaſſen hatten, ‚in Plato's
Phädon hat mir immer etwas ſo gut gefallen: wie
Sokrates den Tod herankommen fühlt, ſagt er den
Freunden, ſie ſollen dem Asklepios einen Hahn opfern;
das möchte ich wohl auch thun.' Ich übernahm den
Auftrag, er ſank mit geſchloſſenen Augen in's Kiſſen
zurück, ſchlug ſie aber nach einigen Minuten wieder
auf und ſagte: ‚Wiſſen Sie was? wir laſſen es, mein'
ich, lieber bleiben, es wäre doch nur eine Nachahmung,
und dann, warum ſoll der Gockel, der zum Opfer
auserſehen würde, nicht noch eine Weile fröhlich und
ſtolz ſcharren und krähen und ſein Hühnervolk be¬
herrſchen?‘ Die Augen fielen ihm wieder zu, er ent¬
ſchlummerte, ſchien zu träumen, ſeine Lippen zuckten,
er ſprach: ‚Tief da unten wirbelt die Reuß! Wie tobt
ſie! Hinab? Nein!' — Er wachte wieder auf und
fragte: ‚Wo iſt er?' — ‚Wer?' — ‚Der Reiſekamerad!'
— Er nannte Ihren Namen, kam klar wieder zu ſich
und nun hat er mir den herzlichen Gruß an Sie und
den Auftrag gegeben, den ich Ihnen mittheile, wenn
ich Ihnen ſeinen Nachlaß zeige.
„Die Männer traten wieder ein. Er wurde ſchwächer
und ſchwächer, die Zwiſchenräume tiefen, matten Schlum¬
mers länger. Gegen Abend aber richtete er ſich mit
unerwarteter Kraft im Bett auf und ſprach mit feſter
Stimme: ‚Ich hab's erleben dürfen, daß meine Nation
[25] zu Ehren gelangt, und ich will mit Manneskraft die
Angſt abſchütteln, daß der traurige Anſatz ſittlicher
Fäulniß in ihr fortfreſſe; ein Volk, dem zu Ehren der
Weltgeiſt den Tag von Sedan eingeleitet hat, kann
nicht ſo bald verlottern! — Ach, daß ich nicht mitthun
konnte, — bringt Wein!' Ich ſah den Arzt an, er
nickte; es wurde Rheinwein gebracht, Jedem ein Glas
gefüllt, er hob das ſeine, ſtieß an und trank es kräftig
aus. Dann fiel er in ſolche Ermattung, daß wir den
letzten Augenblick gekommen glaubten; er begann aber
noch einmal zu phantaſieren, er ſchien ſich träumend
in der Schlacht zu befinden und in heißer Bedrängniß
Befehle zu geben, die Stimme war aber zu ſchwach
zum Ruftone, man vernahm nur gepreßte Laute; die
Worte: Signal — Front — Feuer — Bajonet —
Klumpen bilden! — ſind mir, wie fremd auch einem
weiblichen Ohr, im Gedächtniß geblieben, — die Lippen
bewegten ſich lautlos noch kurze Zeit, das Haupt ſank
zurück, doch nach einer Viertelſtunde etwa erwachte er
noch einmal, da unverſehens der kleine Hund, der
Schnauz, winſelnd auf ſein Bett ſprang, während
Tyras daneben ſaß und kein Auge von ſeinem Herrn
verwandte. Er reichte mir matt die Rechte und ſprach:
‚Ich danke Ihnen für alle Treue; droben im Schreib¬
tiſch, mittleres Fach, liegt mein letzter Wille.' Mit
der Linken ſtreichelte er dann zuerſt den kleinen, dann
den großen Hund, zu dem er noch kaum hörbar
[26] murmelte: ‚Armes, treues Thier, haſt mir nicht mehr
helfen können.‘ Nach einer Pauſe ſtammelte er noch
wenige Worte: ich meinte zu verſtehen: ‚Kommſt du,
Erik, führſt — an der Hand? Sie nickt —‘ Mitten
in dieſen gebrochenen Lauten verſchied er. Der zweite
Name, den er genannt, war mir unverſtändlich ge¬
blieben, er klang nicht deutſch.“
Wir ſchwiegen lang. Ich drängte alle weiteren
Fragen über Perſönlichkeit und Leben des Verſtorbenen
zurück; es war mir nicht darnach zu Muthe, jetzt
weiter zu reden; ich brach auf. Eine Einladung zu
Tiſche lehnte ich dankbar ab, bat dagegen am Abend
eintreten zu dürfen, begab mich in meinen Gaſthof und
gieng nach Faſſung ringend in meinem Zimmer auf und
nieder. Peinlich genug war es mir, in dieſer Stimmung
an die Wirthstafel ſitzen zu ſollen, dennoch mochte ich
nicht allein auf meinem Zimmer eſſen, es ſchien mir
noch unheimlicher. Einige Stammgäſte und wenige
Fremde ſaßen am Tiſche. Unter jenen war ein junger
Mann, deſſen Geſicht mir wohlgefiel, ich meinte, einen
Ausdruck von Vernünftigkeit in ſeinen Zügen zu ſehen;
er trug eine Brille, die ihm doch keinerlei Anſchein
von Wohlweisheit gab, und fixierte mich ein paarmal
flüchtig, ohne den geringſten Anflug läſtiger Neugierde.
Ich brach vor Beendigung der Tafel auf, er folgte
mir und ſagte: „Entſchuldigen Sie, daß ich als Unbe¬
kannter mich Ihnen ſelbſt vorſtelle, Aſſeſſor N. Ich
[27] habe vom Wirth erfahren, daß Sie gekommen ſind,
nach unſerem verſtorbenen A. E. zu fragen: ich ſchließe,
Sie ſeien der Herr, den er auf ſeiner zweiten italieni¬
ſchen Reiſe kennen gelernt hat; er hat mir von Ihnen
erzählt. Sie ſind wohl begierig, Näheres von ihm zu
erfahren. Nicht eben viel, doch Einiges kann ich Ihnen
mittheilen.“ Das war denn der junge Mann, den
Frau Hedwig erwähnt hatte; ich nahm dankbar ſein
Anerbieten an und er ſchlug mir auf die ſpätere Nach¬
mittagszeit einen gemeinſchaftlichen Gang vor. Bis
dahin ſtreifte ich zuerſt planlos durch einige Straßen
der Stadt, immer begleitet von dem Gedanken: dieſe
Häuſer, dieſe Wege ſind das Bild geweſen, das täglich
in ſein Auge fiel: daran verſpürte ich, wie theuer mir
der Todte geworden war. Tief in Betrachtung verſunken
wartete ich dann zu Hauſe, bis ich abgeholt wurde.
Der Aſſeſſor ſchlug mir einen Gang um die Stadt und
dann zu Einhart's Grabe vor; wir brachen auf und
ſobald wir uns außerhalb der belebteren Straßen
befanden, bat ich den jungen Mann, mir zu erzählen.
So erfuhr ich denn die früheren Lebensumſtände.
„Ich war Referendär unter ihm,“ begann er, „als
er noch wohlbeſtellter Vogt war — — Sie wiſſen, der
alte Titel für unſere Oberamtleute oder Bezirkspolizei¬
direktoren? — Er war raſch in das hieſige Amt, einen
bedeutenden Wirkungskreis vorgerückt; man hatte ihm
verdenken wollen, daß er auf einer Urlaubreiſe im Jahr
[28] 1848 ſich von Norwegen nach Schleswig-Holſtein auf¬
machte und mitkämpfte; er war damals Beamter in
einem kleinern Landkreis, im Jahr nach ſeiner Rückkehr
aber gelang es ihm, eine große Gaunerbande durch die
Umſicht und die Straffheit ſeiner Fahndungen zu be¬
wältigen. An einem Kampfe mit den zwei überlegenen
Führern nahm er perſönlich Theil und rieß den Einen,
der ſeine Piſtole auf ihn abgefeuert, zu Boden. Bald
darauf wurde er auf den größern Poſten hieher verſetzt.
Ein Jahr vor ſeiner Entlaſſung trat ich als junger
Anfänger bei ihm ein. Haarſcharf ſtreng war der
Mann in der Ordnung des Dienſtes, ein Minos und
Rhadamant gegen rohe oder frivole Willkürexzeſſe, gegen
Alles, was nach Zuchtloſigkeit ausſah, insbeſondere
richtete ſich ſein Eifer auch gegen die Thierquälerei,
einen Zug von Rohheit, der in unſerem Volke leider
ſehr ſtark iſt und in dem er ein Hauptſymptom wach¬
ſender Verwilderung ſah; ſeine Polizeimannſchaft war
ſtreng angewieſen, dieſe Form der Barbarei ſcharf zu
überwachen. Dabei ganz unpedantiſch, nachſichtig, ſo¬
weit irgend das Amt es erlaubte, gegen Ausſchreitungen
harmloſer Art, hülfreich, höchſt thätig in Pflege von
Wohlthätigkeitsanſtalten, in Verbeſſerung der Gefäng¬
niſſe, in Auftreibung von Mitteln zur ſittlichen Rettung
Beſtrafter, und äußerſt mild in der Form, wo nicht
Kampf gegen Trotz und ſchlechten Willen geboten war,
dann aber, wenn dieß eintrat, voll imponirender Straff¬
[29] heit und wohlbeherrſchten, befehlenden Zornes. Der
Mann war nun aber doch wenig beliebt bei der Re¬
gierung. Man kannte ſeine Mücken, die ich Ihnen
nicht zu nennen brauche; man war zur Nachſicht ge¬
neigt, obwohl es dabei nicht ohne Ausſchreitungen ab¬
lief, die am allerwenigſten bei einem Polizeibeamten
vorkommen ſollten. Da muß ich Ihnen doch einen
einzelnen Fall erzählen. Die ‚Exekutionen‘, die er an
‚ſtrafwürdigen Objekten‘ vorzunehmen liebte, ſind Ihnen
vielleicht bekannt.“
„Ja, ziemlich,“ ſagte ich kleinlaut.
„Sie galten gewöhnlich nur lebloſen Gegenſtänden.
Einmal aber hatte ihn ein Hund durch wiederholten
Ungehorſam erzürnt. Er war ſonſt nur zu gut gegen
Thiere, aber wo es Disziplin galt, verſtand er auch da
keinen Spaß und konnte ſehr hart ſein. In ſeinem
Grimm packt er den Hund und ſchleudert ihn aus
dem Fenſter. Der Unſtern will es, daß das Thier einem
Menſchen an den Kopf fliegt und ihn zu Boden wirft.
Der Menſch war zufällig ein Miniſterialrath und
Abtheilungschef im Miniſterium des Innern. Mit
großer Mühe wurde der ſchlimme Fall ausgeglichen;
der Herr hatte eigentlich auf Realinjurie klagen wollen
‚wegen Werfung eines Hunds an den Kopf‘. Man ſah
durch die Finger, weil der Thäter im Uebrigen ein ſo
verdienter Beamter war. Auch bei einigen ſtarken Ver¬
ſtößen in Kanzleirechnungen kam er mit leichter Rüge
[30] davon. Uebler vermerkte man allerdings, daß er zu
Hauſe Philoſophie, Literatur- und Kunſtſtudien trieb,
man roch hinter denſelben politiſche Ketzerei. Und hier
lag nun ein bedenklicher Punkt; er war politiſch eben
gar nicht ſo ganz korrekt. Er war von der Freiheits¬
bewegung der Jahre von 1848 nicht berauſcht worden,
aber zu ſehr ein Mann des Rechtes, um die Stumpf¬
heit, Rohheit und Heuchelei, die nach ihrem Nieder¬
gang an's Ruder kam, nicht von Herzen zu verab¬
ſcheuen und offen zu verdammen. Sie kennen die
Jahre der ſchnöden Reaktion, Sie wiſſen, wie Schleswig-
Holſtein preisgegeben wurde, Sie werden ſich vorſtellen,
wie das dem Kämpfer von Bau in die Seele ſchnitt;
nun kam die Wiederaufrichtung des Bundestags, kamen
die Reden vom chriſtlichen Staat, die Bündniſſe zwiſchen
der Gewalt und ihrer vermeintlichen Stütze, der Hier¬
archie, die Konkordate, kam die Begrüßung Napo¬
leon’s III. als Retters der Geſellſchaft. Ich verfolge
nicht die weiteren Ereigniſſe in der politiſchen Welt
bis in den Anfang der ſechziger Jahre, denn es war
eine Frage der innern Geſetzgebung, welche zu dieſer
Zeit die Kataſtrophe im Schickſal Einhart's herbei¬
führte. Es begab ſich das Wunder, daß ein Beamter,
und gar ein durch ſeine Strenge bekannter Polizei¬
beamter, vom hieſigen Wahlkreis in die Kammer ge¬
wählt wurde. Es war dieß ſonderbarerweiſe ebenſo
ſehr das Werk von Umtrieben der Regierung, als von
[31] Agitationen der patriotiſch Geſinnten in der liberalen
Partei; jene, obwohl ihm ſonſt doch eben nicht hold,
begünſtigte in ihm den Mann der ſtrengen Ordnung,
dieſe den Mann des Rechts und noch mehr des deut¬
ſchen Einheitſtrebens. Die Dinge in Schleswig-Holſtein
waren ſoeben wieder in Fluß gekommen, und man
wußte, daß Einhart zu ſagen pflegte, die deutſche
Kaiſerkrone liege dort im Küſtenſand begraben, müſſe
dort herausgehauen werden. Einhart nahm die un¬
geſuchte Wahl an und führte ſeinen Sturz herbei.
Sie erinnern ſich, daß damals viel von Wiederein¬
führung der Prügelſtrafe die Rede war. Er ſtellte
einen Antrag, der ſich in den Vorderſätzen nachdrücklich
dagegen ausſprach, weiterhin aber eine Ausnahme poſtu¬
lirte, und zwar gegen die Mishandlung von Thieren.
In der Kammerrede, worin er den Antrag begründete,
— Sie müßten ſie gehört haben wie ich! — es war
ein Feuerſtrom und doch Alles wohlbedacht! ſo mag
Demoſthenes auf der Rednerbühne geſprüht und ſonnen¬
hell geſtrahlt haben — im erſten Theil dieſer Rede
nahm er den Ruf der reaktionären Kreiſe nach Wieder¬
einführung der entehrenden Strafe zum Ausgangs¬
punkt, ein vernichtendes Bild jener kurzſichtigen Leiden¬
ſchaft zu entwerfen, welche damals die Regungen alles
berechtigten Dranges der Nation nach einem würdigen
politiſchen Daſein zerſtampfte, welche ſich nicht begnügte,
die Propheten maßloſer, centrifugaler Freiheit mit
[32] ſpäter Strenge zu verfolgen, ſondern auch ſchnöde Rache
gegen Alle ſann, die den Gedanken der nationalen Einigung
mit der Energie und Vernunft des Mannes zu verwirklichen
geſtrebt hatten. Aezende Ironie wechſelte mit Donner¬
ſchlägen des reinſten ſittlichen Zornes. Wie arme Sünder
ſaßen die Herren herum, die damals jene Phraſe vom
chriſtlichen Staat im Munde führten, gerade dieſe
und ihre nackte Heuchelei zerrieb er zu Staub im
Mörſer ſeiner Dialektik und ſeines echten Pathos. Jetzt
ging er zum Bilde der Schmach über, welche die Po¬
litik der ‚Feuerlöſchanſtalt‘ angeſichts der Völker Eu¬
ropas über Deutſchland gebracht, welche es dahin ge¬
trieben, daß ein Zwerg wie Dänemark uns verhöhnen
dürfe. ‚Schmach,‘ rief er, ‚den Seelen, die nichts
von der Ehre einer Nation wiſſen! — Ihr lächelt und
ſteckt die Köpfe zuſammen? Ich weiß, was ihr flüſtert,
ihr meint, ich habe vergeſſen, wer es zuerſt war, der die
ſchöne Bewegung für Freiheit und Einheit der Nation
entſtellt und verderbt hat, aber mit nichten iſt das
Unrecht Derer, die dieß verſchuldet, euer Recht!‘ —
Jetzt wurde die Front verändert, die Hiebe fielen gegen
die Blindheit und Wildheit, in welcher die Demokratie
durch Unmaß, rohes Treiben, Putſch und Barrikaden
und Mord verwüſtet hatte, was ſo groß, ſo rein im
Werden war. Bis dahin war Alles Ein Guß aus
glühendem, echtem Redemetall. Nun aber, als dieſe
Kraftfülle entladen war und als der Redner auf ſein
[33] Thema, die Prügelſtrafe zurückkam, gerieth er bald
auf eine ſchiefe Fläche. Was er gegen Wiederein¬
führung der rohen, menſchenentehrenden Strafart über¬
haupt vorbrachte, war nur vernunftgemäß und gut,
wenn auch mitunter barock. So ſagte er, indem er
ſie mit der Todesſtrafe vergliech, für die er ſich erklärte,
unter Anderem, der unſchuldig Hingerichtete habe doch
nicht nöthig, ſich aus Verzweiflung über das ungerecht
Erduldete umzubringen, aber der unſchuldig Geprügelte
müſſe ja dieß noch auf ſich nehmen. Dann aber, da
es an die Ausnahme gieng, kam mehr und mehr un¬
ausgeſchiedener Stoff aus den Eigenheiten des Redners
zum Vorſchein. Den wahren Satz, daß frühe Thier¬
quäler oft zu Mördern und in politiſchen Stürmen
zu Blutmenſchen werden, ſtellte er nicht nur als einen
unbedingten hin, ſondern ſtürmte los, als wäre er auch
umzudrehen, ſo daß folgte, jeder Verbrecher müſſe noth¬
wendig zuerſt ein Thierquäler geweſen ſein. Die Zuhörer
wurden unruhig, fiengen an zu murren, und als er
nun gar verlangte, Thierpeiniger ſollen auf öffentlichem
Platz ausgepeitſcht werden, wuchs der Tumult zu einem
Gewitter, wie es unſere Kammer nie erlebt hat; rechts
die Männer des Rückſchritts, links die Fortſchrittsleute,
ſie übertobten ſich um die Wette, die Einen gegen jene,
die Anderen gegen dieſe Hälfte der Rede. Einige
Augenblicke war es prächtig, zu hören, wie der Redner
mit ſeinem mächtigen Organ dieſen furchtbaren Lärm
Viſcher, Auch Einer. II. 3[34] noch überdonnerte; plötzlich aber ſchlug ihm die Stimme
über, lächerlich hohe Fiſteltöne ließen ſich vernehmen,
Gelächter miſchte ſich jetzt in das Geſchrei der empörten
Gegner und wüthend ſtürzte Einhart von der Redner¬
bühne.“ —
„Das kenne ich von unſerer Reiſe her, kann mir's
ſehr gut vorſtellen. Und?“
„Die Folgen des unglücklichen Vorgangs ließen
nicht lang auf ſich warten. Sein Miniſter berief ihn,
ließ ihn heftig an, worauf A. E. ſagte: „Excellenz
leiden wohl an Katarrh? Kondoliere.‘ Abends am
ſelben Tage kam ihm ein ſchriftlicher Verweis zu, ſo
geſalzen, daß er umgehend ſein Entlaſſungsgeſuch ein¬
gab. Daheim wollte das Volk ſein Haus ſtürmen,
man warf die Fenſter ein, und der Frau Hedwig, die
krank zu Bette lag, flog ein ſchwerer Stein hart am
Kopfe vorbei. Schnell benachrichtigt, eilte er von der
Reſidenz nach Hauſe, am folgenden Abend erneuerte
ſich der Sturm, ſeine Mannſchaft war zu ſchwach, ihn
zurückzuſchlagen, und als wieder Steine in die Fenſter
flogen, feuerte er ſein Gewehr in den Haufen ab und
tödtete einen der Schreier. Es war ein Glück, daß
gleichzeitig die Entlaſſung da war, da ſie auf dieſe
Handlung unerbeten hätte folgen müſſen. Er kam
vor's Schwurgericht, es ſprach ihn frei, die Nothwehr
konnte nachgewieſen werden und der Getödtete war ein
Elender aus der Hefe des Volkes.“
[35]
„Wie trug er ſein Schickſal?“
„Still und feſt, doch hat er's nie ganz ver¬
wunden.“
„Ich begreife doch immer noch nicht, kann mir
eine Perſönlichkeit, die doch ſo vorwiegend Innenleben
war, als Polizeimann nicht denken. Wie reime ich
den verbohrten Phantaſiekampf gegen den kleinen Zu¬
fall mit dem Willensſtrom einer thätigen Natur?“
„Je nun, in wie Manchem ſtecken zwei Naturen!
Uebrigens iſt doch ein Zuſammenhang. Er war eine
befehlende Kraft und eine dichteriſch denkende; den be¬
fehlenden Mann empörte der Widerſtand der unbot¬
mäßigen todten Dinge, denen der dichteriſch vorſtellende
einen Willen lieh, und den harmonieſuchenden Denker
das Chaos der Durchkreuzungen. Wiſſen Sie, was
eines ſeiner erſten Worte war, als er amtlos in der
Welt ſtand? ‚Auch gut,‘ ſagte er zu Frau Hedwig,
‚jetzt leſ' ich in meinen Büchern, ſchreibe Etliches nieder,
prügle ab und zu einen argen Thierquäler und exe¬
kutionire einiges allzu rebelliſche Objekt.'“ —
Wir waren an den Kirchhof gekommen und giengen
an der Werkſtätte eines Grabmalkünſtlers vorbei. „Ge¬
rade recht,“ ſagte der Aſſeſſor, „treten wir einen Augen¬
blick ein.“ Er zeigte mir in der Ecke des Hofes eine
Marmorplatte: „Da, ſehen Sie die Inſchrift an!“
Sie lautete:
[36]„Hier ruht
nach
—jährigem redlichem Kampfe
gegen das
Albert Einhart, weiland Vogt, fernerhin nur Menſch,
geboren den 1. Juli 1815, geſtorben den — “
Ich ahnte dunkel, was die Lücke bedeuten mochte,
aber wie hätte ich die Löſung wirklich finden können?
Der Aſſeſſor kam zu Hülfe. „Dieſen Grabſtein,“ ſagte
er, „hat ſich A. E. ſchon bald nach ſeiner Entlaſſung
beſtellt, damit er einſt ſein Grab ſchmücke. Es ſollte
heißen: ‚Hier ruht nach (ſo und ſo viel) -jährigem
redlichem Kampfe gegen das verfluchte Objekt u. ſ. w.'
Aber der Tetem erfuhr es und erklärte, dieſer Stein
dürfe nie geſetzt werden; o, es gab ſchreckliche Händel!“
In mir tauchte es auf wie ein alter Traum.
Die Axenſtraße, dann der Gotthardpaß ſtanden vor
mir, ich ſah die Felſengeſichter wieder, hörte ſie höhnen:
„Tetem,“ ich ſah mich mit meiner Reiſetaſche wieder
laufen, hörte ſie mit dem abſurden Laute: „Tetem,
Tetem“ an meine Hüfte ſchlagen —
„Wie? Was? Tetem? Was iſt das? Wer iſt das?“
„Verzeihen Sie, mein Herr, Sie ſprechen die zwei
E unrichtig aus; es heißt —“
„Aber ſo ſagen Sie mir doch —“
[37]„Die E ſind eigentlich ſo zu ſprechen wie in
Flexionsſylben, mit dem Nebenlaut eines dumpfen, halb
naſalen A.“
„Nun ja, meinetwegen, alſo?“
„Der Tetem iſt unſer zweiter Stadtgeiſtlicher, ein
hochbeliebter Kanzelredner. Er heißt eigentlich Zunger.
Er iſt freiſinniger Theolog. A. E. kannte ihn gut,
er unterhielt ſich gern mit ihm, denn er iſt ein huma¬
niſtiſch wohlgebildeter Mann. Allein das Verhältniß
wechſelte zwiſchen Anziehung und Abſtoßung. A. E.
hatte dieſer Schattirung im geiſtlichen Stande gegen¬
über ſtatt Eines Standpunkts zwei, die ſich ſchwer
vereinigen ließen und, wie es in ſolchen Fällen geht,
wechſelsweiſe die Oberhand bekamen. Mit ſeiner ſchwert¬
ſcharfen Logik erkannte er leicht die Inkonſequenz, bis
zu gewiſſen Grenzmarken der modernen Wiſſenſchaft
ihr Recht einzuräumen, an dieſen Stellen aber ihr
Halt zu gebieten oder mit ſchönen Redensarten ſich
und Anderen Einklang zwiſchen ihr und dem Dogma
vorzutäuſchen; „überdieß,“ ſo pflegte er zu ſagen, „ſind
ſie eben doch Heuchler auf alle Fälle, denn auch die
Glaubensſtücke, die ſie offen für unhaltbar erklären,
müſſen ſie in Gottesdienſt und Seelſorge trotzdem jederzeit
im Munde führen; was hilft da die Hinterthüre des
ſymboliſchen Sinnes? Unwahr iſt und bleibt unwahr.“
Dazu kam, daß Zunger immerhin auch ein Geſchmäck¬
chen von Wohlweisheit hat. Er ermahnt gern, gibt gern
[38] erzieheriſche Winke; man bekommt zu fühlen, daß er
der Menſchennatur im Grunde nicht viel Gutes zu¬
traut. Allein A. E. war doch auch wieder viel zu
billig und gerecht, um nicht einzuſehen, wie man durch
Lebensbedingungen in ſolch' ein Fahrwaſſer hinein¬
gerathen kann, zu klar, um nicht einzuſehen, daß die
Welt ohne Halbheiten nicht durchkommt und daß ſich das
Volk in den Händen dieſer Halbdurchſichtigen unzweifel¬
haft beſſer befindet als unter den Fingern und Fäuſten
der Schwarzen. Ich erinnere mich, wie er einmal
ſagte: ‚Ach, geht mir mit dieſen geweihten Beſſerungs¬
technikern!‘ Aber er nahm das Wort ſchnell zurück: es
müſſe eben doch einen Stand geben, ſo berichtigte er
ſich, welcher der Wechſelerziehung der Leute ein wenig
nachhelfe, eine Art Sittengoumer. Sie kennen das
Wort? Ich habe es von ihm.“
„Ja wohl, ich auch.“
„Nun,“ fuhr er fort, „ſo vertrug man ſich denn
zwar nicht ohne Ebbe und Flut, doch ganz leidlich.
Ebbe pflegte namentlich einzutreten, wenn ein gewiſſer
ſüßer Zug in dem würdigen Manne hervortrat. Zunger
iſt muſikaliſch und ſingt gern Choräle zur Hausorgel.
Er gibt ab und zu Geſellſchaften und ſchenkt es den
Gäſten nicht, beim Thee ein Zwiſchenſpiel muſikaliſcher
Erbauung ſich gefallen zu laſſen. A. E. war einmal
eingeladen und hatte dieß mitzugenießen. Zunger liebt
ganz beſonders das Lied: ‚Wie groß iſt des Allmächt'gen
[39] Güte.' A. E. konnte es nicht leiden, nicht ausſtehen.
Dieſer Kinderbrei, pflegte er zu ſagen, reize zu ent¬
brannter Oppoſition, bei ſo zuckerigem Lobpreis müſſe
es Jedem, der kein Dummkopf ſei, gerade recht ein¬
fallen, daß in der Natur ebenſoviel, wenn nicht mehr
teufliſche Grauſamkeit als Güte herrſche; gebe es dar¬
über einen Troſt, ſo ſei der mit kräftigen Gedanken
mannhaft zu erringen, zu erkämpfen, zu ertrotzen, denn
er ruhe auf einem: trotzdem; ſolchen Troſt ſauge man
nicht aus dem Kinderſchnuller. Nun, erinnern Sie ſich
der Melodie; bitte, vergegenwärtigen Sie ſich, wie ſie
klingt bei den Worten: ‚Der mit verhärtetem Gemüthe'.
Zwei ausdrucksvolle Noten fallen gerade auf die be¬
deutungsloſen Biegungsſylben des Worts: ‚verhär¬
tetem‘, und ebendieſe zwei Noten ſang Zunger ſo
gefühlsinnig, ſo höchſt ſeelenvoll, daß allerdings ein
gründlich komiſcher Widerſpruch zwiſchen Sinnwerth und
Tonwerth entſtand; er ſchwelgte förmlich in dieſem
gefühlten ‚tetem'. A. E. war zum Lachkrampf dis¬
ponirt. Er verſteckte ſich, da er dieß Uebel anpochen
fühlte, unter den Zuhörern, aber es ſchüttelte ihn ſo,
daß es nicht zu verbergen war, und ihm blieb nichts
als ausbrechen, entwiſchen, abſtürzen. Von da an
führte bei ihm Zunger den Namen ‚Tetem', Frau
Hedwig eignete ſich die Nomenclatur auch an, weiter¬
hin ich und Mehrere. Tetem nun erfuhr um dieſelbe
Zeit von der verrückten Grabſchrift und erklärte, wie
[40] geſagt, er werde nie dulden, daß ein Stein mit ſolcher
Inſchrift auf dem Kirchhof ſtehe; man muß ja wohl auch
zugeben, daß er es wirklich nicht konnte, nicht durfte.
A. E. aber war darin unbillig, ja unvernünftig, hat
ihm von da an gezürnt, daß er ihm ſein ‚ſchönes‘ Epi¬
taphium unterdrücke, dieß Zeugniß edler und gerechter
Selbſtachtung, das er ſich nach ſeinem Tode vor der
Welt auszuſtellen gedenke. Vom Tetem muß ich rüh¬
men, daß er ihm ſein Zürnen nicht nachgetragen, daß
er ihm eine nach Möglichkeit dogmenfreie, nach Kräften
verſtändnißvolle, ja ſchöne Grabrede gehalten hat.“
Wir waren auf den Kirchhof eingetreten. Wie
ernſt-andächtig hatte ich mir dieſen Moment voraus¬
gedacht! Wie anders ſollte es kommen! Ich mußte
mir immer den frommen Sänger mit ſeiner gefühl¬
vollen Partizip-Deklinationsendung und dahinter den
lachkrämpfigen A. E. vorſtellen, mit aller innern An¬
ſtrengung konnte ich das alberne Bild nicht los werden,
vergeblich ſagte ich mir, wie ſchmachvoll es wäre, wenn
ich lachend an den Todtenhügel träte; das wäre ja,
ſo ermahnte ich mich, nicht ein entlaſtendes, rührungs¬
volles Lachen wie jenes, das mich am Vormittag mit
der guten Frau Hedwig in Einer Stimmung ver¬
einigte, ſondern häßlich, mit böſem Gewiſſen behaftet,
armenſündermäßig, wüſt, ſchnöd, ja bübiſch; gerade
die grauſame Anſpannung des Willens gegen eine
ſolche erniedrigende Naturgewalt wirkte mit dem Reize
[41] des Verbotenen nur doppelt ſtark auf das blinde
Zwerchfell, damit ſteckte ich meinen Begleiter an, und
ſo ſchritten zwei ernſte Männer mit krampfverzogenen
Geſichtern, momentane Ausbrüche des verhaltenen Kit¬
terns erbärmlich verbeißend, an eine Stätte, die ſie
mit dem reinen Gefühl der tiefſtgeſammelten Trauer
zu betreten gewillt waren. Ach, was iſt der Menſch!
Zwei Hunde mußten uns zu uns bringen. Einhart's
Lieblingsthiere lagen auf dem Grabe, ſie wedelten und
wimmerten, als ſie uns ſahen, ohne ſich von der Stelle
zu rühren. Mit Einem Schlage war durch dieſen
Anblick die Stimmung gereinigt, und ſchnell wiech die
profane Thräne des Lachens dem heiligen Thau, der
vom kryſtallenen Nachthimmel frommen Gedenkens fällt,
Gedenkens an gute Menſchen, an Menſchenloos und
an das, was ewig iſt.
Als wir hinweggiengen, lockte ich den Hunden und
ſie folgten mir. „Sie ſind der Erſte, dem das ge¬
lingt,“ ſagte mein Begleiter; „die Thiere ſchliechen dem
Leichenzuge nach, ſie ließen ſich nicht abtreiben, ſeither
machen ſie von Zeit zu Zeit den Gang und gehorchen
keinem Befehl, die Stelle zu verlaſſen, bis ſie Nacht
und Hunger nach Hauſe treiben.“
Der Aſſeſſor lud mich beim Abſchied ein, mich
am Abend des folgenden Tags im Herrenſtübchen des
Gaſthofs „zum Stern“ einzufinden, wo ich eine Ge¬
ſellſchaft treffen werde, in welcher A. E. jede Woche
[42] ein paar Abende zugebracht habe. Gern ſagte ich zu
und begab mich zu Frau Hedwig.
Ich traf die trauernde Frau im Helldunkel der
Dämmerung ohne Licht. Wie manche Abendſtunden
mochte ſie ſo zugebracht haben, ſtill in Gedanken an
den Todten! Sie ermunterte ſich bei meinem Eintritt,
ließ die Lampe anzünden und begann Thee zu be¬
reiten. „Er mochte ihn nicht,“ ſagte ſie dazwiſchen;
ich geſtand, daß ich es darin mit ihm halte, ſie ſchien
das erwartet zu haben und ſtellte mir ein ſchweres
geſchliffenes Glas hin mit den Worten: „Sie ſollen
ſeinen Wein aus ſeinem Tiſchglas trinken.“ Als ich
durch die erhellte dunkelrothe Flut auf den Grund des
Gefäßes ſah, fiel mir Juſtinus Kerner's ſchönes Ge¬
dicht auf das Trinkglas eines Freundes ein, ich ge¬
dachte dieſer liebenswürdigen Dichternatur, und erfuhr
von Frau Hedwig, daß A. E. in ſeiner Abendgeſell¬
ſchaft ein paarmal ſich für ihn verſtritten habe. „Die
Menſchen,“ ſagte er einmal beim Frühſtück nach einem
ſolchen Zanke, „wiſſen doch auch von nichts als von
Alternativen! Entweder, oder, ſo ſteht's in ihren
Zwiſchenwandköpfen! Entweder Betrüger oder Narr!
Keiner wollte begreifen, daß der Mann mit einem
Fuß im Geiſterweſen ſtand, mit dem andern heraus
war. Logiſche Konſequenz fordern von einem Poeten,
deſſen beſtes Talent ein ungemein herrlicher, grund¬
naiver und doch freier Phantaſieſinn für's Verrückte
[43] war! O, Poeten ſchweben ja! Es iſt ja ein
Schweben!“
Wir ſaßen eine Weile nun ſchweigend beiſammen,
an der Wand pickte eine Schwarzwälderuhr, am Boden
lagen die Hunde, Tyras zuckte und bellte dumpf im
Schlaf — ob er wohl im Traum wieder für ſeinen Herrn
kämpfte? — Frau Hedwig, wohl fühlend, wie manche
Fragen ich am Vormittag werde zurückgehalten haben,
begann nun unaufgefordert von ſich und von A. E.
zu erzählen. Ich gebe nur in Kürze wieder, was ſie
ſelbſt betrifft, da uns hier ein anderes Schickſal be¬
ſchäftigt. Sie war Drittenkind mit ihm und verlor
frühe einen geliebten Gatten. Dieſer Tod brachte ihr
zugleich den Wermuthbecher der Armuth. A.E. war
ihr Retter, er bat ſie, ſein Haus zu führen, — „und
wie ſchön iſt es, dankbar ſein zu dürfen, wenn man
zugleich weiß, daß man nützlich ſein kann! Wie ſah
es da im Haushalt aus, als ich die Leitung in die
Hand nahm, wie war der Mann vernachläſſigt und
betrogen worden! Ach, er konnte ja gar nicht rechnen!
Nur das Addiren gieng noch ſo halbwegs!“
„Eine ſchlimme Sache bei einem Beamten,“ meinte
ich, „auch wenn er kein Finanzbeamter iſt!“
„Freilich, freilich! es hat doch auch ein wenig zu
ſeinem Sturze mitbeigetragen, es fanden ſich Ver¬
ſtöße ſchwerer Art in ſeinen Amtsrechnungen, und
nur halb ſah man ein, daß man es hier mit einem
[44] Kind im Zahl- und Geldweſen zu thun habe. Wären
nicht ſeine vielen Verdienſte geweſen, hätte man ver¬
geſſen dürfen, daß er dazumal die gefährliche Gauner¬
bande eingefangen, man hätte ihn ſchon viel früher
fortgeſchickt.“
Ich erfuhr weiter, daß A. E. nicht reich, doch
vermöglich war. „Er brauchte blutwenig für ſich, viel
für die Armen und“ — ſetzte ſie noch einmal erröthend
hinzu — „Einiges für Exekutionen an aufrühreriſchen
Objekten, die er ſeine weiſeſten, ſittlichſten, wahrhaft
gemeinnützigen Handlungen nannte.“
„Weiß, weiß, kenne das,“ fiel ich ein. — „Wir
verſtehen uns mit ihm,“ ſagte ſie lächelnd.
„Und nun kommen Sie, laſſen Sie uns in ſein
Studierzimmer gehen!“
Wir ſtiegen über eine Treppe und betraten einen
prunkloſen Raum mit Schreibtiſch, Bücherſchränken,
wenigen Möbeln für die Bequemlichkeit und einigen
Gemälden und Kupferſtichen an den Wänden. Sie
öffnete ein verſchloſſenes Fach am Schreibtiſch, zog ein
Blatt heraus und reichte mir es hin. „Das Original,“
ſagte ſie, „liegt auf dem Rathhaus; es iſt amtliche
Abſchrift.“ Ich las:
„Ich ſetze Frau L. Hedwig als Erbin meines
Hauſes und Vermögens ein. Ich füge eine Liſte
der Armen bei, die ſie ferner zu unterſtützen hat.
Sämmtliche Papiere, die zu meinen Studien ge¬
[45] hören und ſich in den Fächern ... befinden, ver¬
mache ich Herrn ... als Eigenthum und überlaſſe
ſeinem Ermeſſen, welche Beſtimmung er ihnen
geben will.
Albert Einhart, Vogt a. D.“
„Und alſo auch das Haus gehört mir,“ ſagte ſie,
indem ſie das Blatt aus meiner Hand zurücknahm und
Thränen ihr in's Auge traten, „das Haus, das er
gekauft und ſich zurechtgebaut hat, als er verabſchiedet
war; ich bin reicher geworden, als ich bedarf, und
kann dafür mehr an den Armen thun, als mir wört¬
lich aufgegeben iſt.“ — Das Vermächtniß, das unver¬
muthet mir geworden, war mir im erſten Augenblick
befremdend, ich konnte die Ueberlaſſung nicht mit dem
Weſen eines Mannes reimen, dem es eben nicht gleich
ſah, ſich vor irgend Jemand nackt zu zeigen, und Ent¬
hüllungen waren von dieſen Blättern doch zu erwarten.
Da fiel mir Hamlet ein, wie er ſterbend den Horazio
bittet, dem verſammelten Volke kund zu geben, wie
Alles gekommen ſei, um ſeinen ſchwer verletzten Namen
zu retten. Jetzt erfaßte ich, daß dieſer ſeltſam ver¬
hüllte, dem tragiſchen Helden nicht eben unverwandte
Mann doch ein Bedürfniß in ſich getragen habe, nach
ſeinem Tode in richtigem Lichte geſehen zu werden,
und herzlich fühlte ich mich nun geehrt, daß er mich
als ſeinen Horazio auserleſen.
Während Frau Hedwig die Fächer öffnete, worin
[46] die Papiere lagen, ſah ich mich etwas im Zimmer um.
Drei Landſchaftgemälde von guter Hand ſchmückten eine
der Wände: das eine Perugia, das andere die römiſche
Campagna, das dritte Venedig darſtellend; an einer
andern Wand fiel mir ein Bild auf, das durch ein Loch
verunſtaltet war. Als ich näher trat, erkannte ich ein
Werk aus der altdeutſchen Schule; ein heiliger Sebaſtian,
von den Pfeilen durchbohrt, ſchien im Ausdruck ergrei¬
fend gegeben, ſo weit der defekte Zuſtand errathen ließ,
gewiſſe Eigenheiten der Form, die leuchtende Kraft der
Farbe, die warme Mürbe des Fleiſches ſchienen mir
auf Zeitblom zu weiſen, das Loch aber gieng mitten
durch die Naſe und erſtreckte ſich noch auf die Naſen¬
wurzel, ſo daß ein ſicheres Kennzeichen des Ulmer
Meiſters ausgetilgt war; denn dieſer ernſte, feierliche,
innigfromme, farbenſaftige, lebenswahre Künſtler hat
ja leider die Grille gehabt, faſt alle ſeine Köpfe mit roth
angelaufenen Naſen und einer knopfigen Anſchwellung
der Naſenwurzel auszuſtatten. „Was iſt denn nun aber
das?“ fragte ich. — „Ja, der ſchöne Zeitblom!“ war
die Antwort, „den der Herr auf einer Reiſe nach
Schwaben entdeckt und um ſchweres Geld gekauft hat!
Er ſchätzte und liebte das Bild nicht nur wegen ſeines
Kunſtwerths, er dachte dabei gern an ſeine eigenen
Leiden unter den ſpitzen Bolzen der Lebensübel. Da
fuhr einer der Steine durch, die dazumal, als ich
krank lag, durch's Fenſter flogen, der Selige hängte
[47] das Bild nun in ſein Studierzimmer und war ſchlech¬
terdings nicht zu einer Herſtellung zu bewegen. Das
geſchah keineswegs bloß zum Andenken an die über¬
ſtandene Gefahr. Er hatte immer ſeinen Spaß ge¬
trieben über die rothe Naſe und geſchwollene Naſen¬
wurzel. ‚Es werden wohl,' pflegte er zu ſagen, ‚die
ſtarken Donaunebel ſchuld ſein, daß in Ulm Jeder¬
mann immer Schnupfen hat, alten oder neuen; der
gute Meiſter wird ſeine Mitchriſten wohl nie in einem
andern Zuſtande geſehen haben! Das wär' ein Aufent¬
halt für mich, das Ulm!‘ Nun, als der Stein durch¬
ſchlug[,] da gieng, ſobald nur Schrecken und Zorn ver¬
raucht waren, der Spaß erſt recht an: ‚Der Lümmel
hat's verſtanden! Radikalkur! Der Sebaſtian kriegt
keinen mehr! Nun, und der Schütze auch keinen mehr!
Dem iſt's faſt zu gut geworden!' — So gieng es
fort.
„Da,“ ſagte Frau Hedwig, indem ſie nun eine
eingerahmte, auf dem Schreibtiſch ſtehende Photographie
mir hinhielt, „das iſt ein Bild, das er immer vor
Augen hatte.“ Es war das Porträt eines Mannes in
den beſten Jahren, und je mehr ich es betrachtete,
um ſo tiefer fühlte ich mich angezogen. Selten habe
ich ſo viel Feſtigkeit mit ſo viel Güte in Einem Aus¬
druck verbunden geſehen. — „Dieſem Mann iſt zu trauen!“
ſagte ich. — „Ja,“ erwiderte Frau Hedwig, „und
dem muß der Verſtorbene viel verdankt haben, mehr
[48] als wir wiſſen.“ Sie konnte nur angeben, daß es
das Bild eines ſchwediſchen Arztes ſei, der ihn auf
der norwegiſchen Reiſe von einem Nervenfieber gerettet
habe; „aber,“ ſagte ſie, „da muß noch etwas mitge¬
ſpielt haben, was ich nie erfuhr, es war etwas Ge¬
heimnißvolles in dem Kultus der Pietät, womit er
an dieſem Bilde hieng; und ein Jahr vor der zweiten
Reiſe nach Italien, auf der Sie mit ihm zuſammen¬
traffen, erfuhr Einhart den Tod dieſes Mannes. Er
ſchloß ſich einen Tag lang ein und man hörte ihn
weinen. Er hat nie aufgehört, ihn zu betrauern.“
Sie nahm ihr Geſchäft an den Schubfächern wieder
auf und als ſie eine Blätterſchichte aus einer der
Laden heben wollte, ſtieß ihre Hand in der hinterſten
Ecke an etwas Hartes, ſie zog einen ſchwarzen Gegen¬
ſtand heraus und rief bei ſeinem Anblick: „Ah, dort
ſtack's? find' ich's wieder?“ Sie reichte mir ein Etuis
hin, aus dem mir, als ich es öffnete, eine Photographie
entgegenſah, ein weibliches Bruſtbild von großer, aber
unheimlicher Schönheit. Ein ganzer Wald von glän¬
zenden Locken umgab wie eine Löwenmähne das wohl¬
gebildete Haupt; ich konnte es nicht bloß auf die
Lichtwirkung ſchieben, daß mir dieſes Haar wie metal¬
liſch erſchien. Warum wollte mir, wenn mein Auge von
der Betrachtung des Geſichts zu dieſer reichen Umkrän¬
zung zurückkehrte, mehr und mehr ſcheinen, als bewegten
ſich dieſe Ringel, als ziſchelten Schlangen aus ihren
[49] Spitzen? Das konnte nur eine Phantaſieübertragung
des Eindrucks ſein, den die Geſichtszüge mir machten.
Aus dieſen Augen blitzte etwas, auf dieſen Lippen,
dieſer leicht gehobenen Unterlippe ſaß etwas, um dieſe
Mundwinkel ſpielte etwas, das ich unbewußt in die
Vorſtellung Schlange überſetzte. Und doch wieder ein
Gepräge der Tüchtigkeit und eine Anmuth! Aus den¬
ſelben Augen ſchien Juno und Aphrodite zu blicken,
auf dieſen Lippen ſich edler Stolz und freie Gewährung
zu wiegen, auf dieſer Stirne, auf dieſer fein geboge¬
nen Naſe ſinniges Denken und heiterer Witz zu thronen.
Während ich in dieſen Anblick verloren war, rief Frau
Hedwig: „Halt! hier iſt das rechte!“ Unter dem Um¬
ſchlag eines Papierſtoßes war ein Blatt hervorgefallen,
ſie hatte es aufgenommen, betrachtete und bot es mir her.
Es war eine Kreidezeichnung, ebenfalls ein weibliches
Bruſtbild, und ich erkannte im Augenblick die Dame
von Flüelen und Bürglen. Ich hielt beide Bildniſſe
nebeneinander in der Hand, Frau Hedwig ſah mir
über die Schulter, vertieft wie ich in den vergleichen¬
den Anblick. Unter dem zweiten ſtand: Σώτєιϱα.
Als ich das Wort ausſprach, rief Frau Hedwig:
„Das iſt's! So klang ſein letztes Wort!“ Ich über¬
ſetzte: Retterin. — „Retterin?“ ſagte ſie, nickte und
wurde ſehr nachdenklich. Dann fragte ſie mich: „Haben
Sie dieß Weib geſehen?“ Ich erzählte ihr jetzt den
Theil unſerer gemeinſamen Reiſeerlebniſſe, den ihr
Viſcher, Auch Einer. II. 4[50] A. E. verſchwiegen hatte, doch nicht ſogleich Alles,
nicht den traurig komiſchen Abbruch in Bürglen, nicht
die Scene am Felſen. — „Was wiſſen Sie denn,“
ſagte ich, „wenn die Frage nicht unzart iſt?“
Eigentlich muß ich geſtehen, daß ſeit Jahren und
jetzt in dieſen Tagen ſtärker denn doch etwas wie
Neugierde im Innern mir umſchliech, ob denn dieſer
ſeltſame Mann auch Beziehungen zum Weib — oder
vielmehr, da ſich dieß von ſelbſt bejahte — was für
er wohl gehabt habe. Geborener und geſchworener
Weiberfeind konnte er nicht ſein, die letzten Momente
in Göſchenen ſprachen zu hell dagegen; aber geworde¬
ner? hartgeſottener Junggeſelle? Und warum? Wie
mochte das mit den zwei Bildern zuſammenhängen?
„Wiſſen?“ ſagte Frau Hedwig, „eigentlich nichts,
nur rathen. Rathen aus Andeutungen, die ihm in
bewegten Momenten entſchlüpften. Einmal, ja, in
der Zeit vor ſeiner Entlaſſung, als ihm eine hieſige
Frau durchaus kuppeln wollte — die Frau des Herrn
Tetem, — gewiß auf wohlgemeintes, beſſerungseifriges
Zureden ihres Mannes, — da wurde er ſehr wild,
ſprang dann auf ſein Studierzimmer, polterte wieder
herab und hielt mir das eine Bild unter die Augen,
das da (ſie zeigte auf die Dämoniſche), und ſtieß her¬
vor: ‚Die Valandinne hat mir's vertrieben!' Das
Wort hab' ich dann in ſeinem altdeutſchen Lexikon
aufgeſchlagen, Teufelin heißt's. Weiter kein Wort!
[51] Das Eine ſchien ihn zu reuen. Es war Schlafens¬
zeit, er eilte auf ſein Zimmer. Ich hörte ihn oben
laut mit ſich ſelber reden, was er freilich gar oft that.
Es iſt ſchmählich zu ſagen, ich habe dann im Vorbei¬
gehen ein wenig gehorcht — ich hörte ihn auf und
ab ſtürzen, Stühle auf die Seite ſchleudern — ich ver¬
nahm unverſtändliche Laute, ein Wort kehrte wieder,
das hieß Foß, aber in Zuſammenſetzungen, die ich
nicht behalten konnte, dazwiſchen: ‚Schweiß der Scham!'
— ‚Hölliſcher Hohn!' — Nach einer Pauſe hörte
ich wieder fremdklingende Namen rufen, eine Zuſam¬
menſetzung mit Strand, Sjöſtrand oder ähnlich, und
mit Hag — ich meine: Baldurshag. Er ſchrie öfters:
‚O! o!' Er ſtöhnte. — Dann war es lange ſtill und
dann vernahm ich weiche Laute: ‚Lichtgeiſt, Friedens¬
bote — frei! frei!' — Wieder ward es ſtiller, hier¬
auf hörte ich ihn laut kommandieren, ähnlich wie
ſpäter in ſeiner Todesſtunde; ſoweit ich es verſtehe,
waren es Rufe, wie wenn einer Truppe auf drang¬
vollem Rückzug vor ſtarker Uebermacht öfters Halt
und erneuerte Gegenwehr geboten wird, dabei hörte
ich eine Mühle und ein Gehölz nennen.“
„Die Kupfermühle bei Kruſau,“ ſagte ich, „ich
wollte damals, als Sie mir das Aehnliche von ſeinen
Traumreden kurz vor dem letzten Augenblick erzählten,
nicht mit einer Notiz unterbrechen; ich erinnere mich
noch der Berichte von dem Kampfe bei Bau, A. E.
[52] muß beim rechten Flügel geſtanden ſein, der ſich ſo
heldenmüthig bis zur Eiſengießerei vor Flensburg
durchgeſchlagen hat.“
„Nach geraumer Zwiſchenzeit meinte ich ein leiſes
Weinen zu vernehmen und wieder das Wort: ‚Ge¬
rettet!’ Dann den Seufzer: ‚Spät! — Cordelia, o
Cordelia — warum —' Bei dieſen Lauten voll
Innigkeit überfiel mich eine Scham, daß ich horchte,
und ich ſchliech hinweg. — Es muß in Norwegen
etwas vorgegangen ſein, ehe er von dort nach Schles¬
wig-Holſtein gieng und verwundet wurde. hat immer
ſo ſichtbar abgelenkt, wenn ich auf das Land zu ſprechen
kam oder wenn man ihn gar in Geſellſchaft mit Fragen
bedrängte.“
Dunkle Schlüſſe aus dieſen kargen Spuren ziehend
verweilte ich in der Betrachtung der beiden Bilder.
Es war, als ränne ein milder Geiſt des Friedens
aus den ſanften Zügen des zweiten Bildes und legte
ſich beruhigend über die wirren Wogen widerſprechen¬
der, beängſtigender Vorſtellungen, die aus dem andern
wie aus einem Hexenkeſſel brodelnd hervorquollen. Es
war ganz der Ausdruck der Lauterkeit, Güte und Vernunft¬
ruhe, der mich vor Jahren an dieſem Weibe ſo herzlich
gerührt hatte, jetzt nur doppelt wirkſam im ſchlagenden
Gegenſatze zur wilden Schönheit des Nebenbildes.
„Nun aber,“ fieng Frau Hedwig nach einer Weile
wieder an, „muß da ſpäter noch etwas gekommen
[53] ſein, irgend ein Unglück, ein Unſtern, der Unglück
wurde. Denn nach der Reiſe, wo er Sie kennen ge¬
lernt hat —“
„Eben auf der Reiſe iſt ſolch ein Unſtern vorge¬
kommen,“ fügte ich ein. Sie fragte geſpannt und ich
erzählte jetzt den Auftritt in Bürglen und was dann
in der Gotthardſchlucht Unheimliches, Erſchütterndes
dem närriſchen Schlußakte in Göſchenen vorangegangen.
Es wäre kindiſch geweſen, ihr das Unſchickliche, was
dort geſchah und den plötzlichen Aufbruch veranlaßte,
zu verſchweigen oder mit einem erfundenen Surrogate
zu vertuſchen; die Frau hatte ja Salz.
Sie wurde ſehr aufmerkſam, lachte über das
Komiſche jenes erſten Vorgangs nicht, ſchwieg nach¬
denklich und fragte dann, ob ich keine weitere Spur
von der reiſenden Familie entdeckt habe. Ich ver¬
neinte. „Er wird gemeint haben, ſie meiden zu müſſen,“
ſagte ſie, „ich muß da noch etwas anführen: daß er
nach ſeiner Rückkehr damals bald wieder in Mißlaune
und Trübſinn verfiel, dazu muß dieſe Folge des Vorfalls
mitgewirkt haben. Im Anfang eines neuen heftigen
Katarrhs hörte einmal der Bediente, der neben ſeinem
Studierzimmer zu thun hatte, wie er nach wiederholtem
ſtarkem Nieſen tief aufathmend ſchrie: ‚Ach, gottlob, gott¬
lob! Hier verjagt mich's doch von Himmelsboten,
der vielleicht — Gelt, gutes, dummes Vieh (— das
konnte nur ſeinem Kater gelten, den er gern bei ſich
[54] duldete, wenn er ſich ſchnurrend auf ſeinem Schreibtiſch
niederließ —), gelt, dir iſt's gleich, ob ich dich annieſe?'“
Wir wetteiferten in Vermuthungen und Ver¬
knüpfungen, mußten aber, da uns aller beſtimmtere
Anhalt fehlte, unſere Verſuche aufgeben. Es war
auch offenbar nicht Ort und Stunde, zu grübeln; das
Gefühl ſträubte ſich dagegen, an der Schnur der
Reflexion fortzuſpinnen, und ſtrebte zurück zur Ver¬
tiefung in reine Trauer um den theuren Todten.
Aber eine Beimiſchung des Geheimnißvollen erhielt
nun dieß einfache Gefühl des innigen Leides. In dieſem
Leben mußte ein Sturm gewüthet haben, deſſen Ge¬
walt wir wohl kaum ahnten; rettendes, himmliſches
Licht mußte dann erſchienen, aber irgend ein Schmerz
nachgeblieben ſein, der einen Wolkenſchleier von Weh¬
muth um die Lichterſcheinung legte.
Wir ſaßen noch ein Stündchen in der Nacht bei¬
ſammen und ſprachen von dem Todten. Die gute,
klare Frau erzählte mir noch Manches aus ſeinem
Leben, ſeinen Verhältniſſen zu manchen Menſchen aus
allerlei Ständen. Das Bild der Perſönlichkeit wurde
mir runder, voller, ohne mir planer zu werden. Der
andere Tag, der letzte des kurzen Aufenthalts, den mir
meine Zeit erlaubte, war beſtimmt, eine erſte Einſicht
von den Papieren zu nehmen, die mein Eigenthum
geworden waren.
So betrat ich denn des andern Morgens zu früher
[55] Stunde den ſtillen Raum, worin der Geiſt des Ver¬
ſtorbenen mich zu umſchweben ſchien. Die Bücher rings
in den Schränken ſahen mich an, als wollten ſie mit
mir ſprechen, mir vom Zwiegeſpräch zwiſchen ihnen
und dem Todten erzählen. Ich fand die ſtaatswiſſen¬
ſchaftliche Literatur weit abſeits geſtellt und nur mäßig
vertreten. Dagegen nahe zur Hand ſtanden philoſophiſche
und ſchön-wiſſenſchaftliche Werke. Starke Spuren von
häufigem Gebrauch zeigten die Werke des Plato, des
Ariſtoteles, Spinoza. Kant's, Fichte's, Schelling's,
Hegel's Schriften, die größeren, wie einzelne Abhand¬
lungen, füllten eine Reihe von Fächern: was von
Schopenhauer bis dahin erſchienen, fand ſich in der
Nähe; den meiſten Bänden ſah man, wie jenen
Werken der älteren Philoſophen, leicht an, daß ſie nicht
als müßige Zierde ſtanden. Eine ausgewählte poetiſche
Literatur reihte ſich an dieſe ernſten Kolonnen, Homer,
Aeſchylos, Sophokles, Euripides und neben ihnen
Shakeſpeare befanden ſich griffbequem auf dem Bücher¬
brett juſt dem Sitzenden gegenüber; ich ſchlug im
Vorübergehen den Hamlet auf und fand alle Blätter
zwiſchen den Linien und am Rand über und über
beſchrieben, ebenſo Goethe's „Fauſt“, als ich mich in der
deutſchen, ſolid vertretenen Literatur umſah. Mein
Blick fiel im Streifen auf den Namen Hölderlin; neben
den ſämmtlichen Werken in der bekannten verdienſt¬
vollen Ausgabe von Chriſtoph Schwab ſtanden die Ge¬
[56] dichte in der Sammlung von 1843, mit dem Bildniſſe
nach der Zeichnung von Luiſe Keller, das ich erwähnt
habe, als ich von der Gotthardreiſe erzählte. Ich
griff nach dieſem Bändchen und als ich es aufſchlug,
entglitt ein Blatt, das neben dem Stiche lag, ich nahm
es auf und fand mit Bleiſtift querüber darauf geſchrieben:
„Armer Werther Griechenlands! Dein Lieben war
ja wohl hoffnungslos, denn einem Albert, der ſeine
Braut ſtrenge verſchließt, dem unerbittlichen Chronos
war deine Lotte verlobt. — Du führteſt zu wenig
Eiſen, du Guter, du Schöner, du mein edlerer Bruder
mit dem Heiligenſchein des ganzen Wahnſinns um's
Haupt!“
Ich wurde begierig, zu wiſſen, ob er nicht auch
in J. Paul's Werke etwas eingeſchrieben habe, die da¬
neben ſtanden. Und richtig fand ich auf dem weißen
Blatt vor dem Titel des erſten Bandes folgende Verſe,
die ich mir ſogleich abſchrieb:
Der Leſer ſoll ſich nicht weiter bemühen, die Bücher¬
ſammlung mit mir zu durchmuſtern; erwähnt ſei nur
noch, daß mehrere engliſche, franzöſiſche, deutſche Werke
nebſt Julius Cäſar's Schrift de bello gallico (— ein
Zeichen ſtack noch im Abſchnitt von den Druiden —)
auf eingängliche keltiſche Studien zu ſchließen gaben,
die der Verſtorbene für ſeine Pfahldorfgeſchichte gemacht
haben mußte. Ob ganz zum Nutzen derſelben? ſchien
mir nicht eben ausgemacht. Manchmal wollte mir
dünken, es ſei ihm nicht recht gelungen, die ſeltſame
Religion, welche er für ſeine Pfahlbewohner erfunden
hatte, mit den mythiſchen Vorſtellungen, die er ſeinen
hiſtoriſchen Quellen entnommen, genügend ineinander
zu verarbeiten, verſchiedene Zeiten ſeien zu grell ge¬
miſcht und es blicke da und dort ein Zug antiquariſcher
Belehrung hervor, der einer dichteriſchen Kompoſition
ſo übel anſteht. Doch ſchwankte ich wieder; gegen
den letzteren Vorwurf ließ ſich ſagen, daß die gelehrten
[58] Brocken doch eben ſelbſt auch größtentheils humoriſtiſch
gemeint ſeien. Ich vermochte mein Urtheil nicht abzu¬
ſchließen. Das iſt nun Sache des Leſers.
Ich füge noch hinzu, daß in einem der geſchloſſenen
Fächer des Schreibtiſchs auch das Konzept der Pfahl¬
dorfgeſchichte ſich vorfand, ein Manuſkript, von Durch¬
ſtrichen, Korrekturen, Einſchiebungen über und über
durchſchnitten und überſät. Da ich ſchon öfters Gelegen¬
heit gehabt hatte, mit Hülfe ſolcher Blätter in die ge¬
heime Werkſtätte eines Dichters zu ſehen, ſo konnte mich
dieſer Zuſtand nicht zu der Vorſtellung verleiten, die
Arbeit ſei wie ein mühſames Moſaik entſtanden. Frei
poetiſche Initiative und häufiges Umändern und Nach¬
beſſern ſchienen mir einander nicht auszuſchließen.
Dem Dichter ſchwebt ein Bild vor wie ein Traumbild,
hell in allen weſentlichen Zügen und doch noch ſchwebend,
unbeſtimmt in Umriſſen. Zudem iſt die Sprache ein
ſprödes Material, das nicht leichten Kaufes ſich hergibt,
ſein dem Proſabedarf dienendes Gefüge zur durch¬
ſichtigen Form für freie Anſchauung umwandeln zu
laſſen. Er ſucht und ſucht, ringt und ringt, er reibt,
wie man reibt, um einen verdunkelnden Firnis zu ent¬
fernen, der über einem Gemälde liegt, endlich gelingt
es der ſauern Mühe, herauszuarbeiten, was ganz friſch,
ganz leicht, ganz Ein Guß und Fluß aus eigener
Tiefe von Anfang an vor der Seele ſtand.
Nun ein Wort von den zu freier Verfügung mir
[59] vermachten Papieren. Es wird wohl gut ſein, wenn
ich vom Zufall den Rath annehme, gewiſſe Stücke
aus denſelben dem Leſer vorzuführen, ehe ich zur
weiteren Mittheilung übergehe. Sie fielen mir bei
vorläufigem Durchblättern in die Augen und ſind ſo
närriſchen Inhalts, daß ich ſie lieber geſondert vom
Uebrigen aufdecke, — nicht daß der Leſer erwarten
dürfte, im Nachfolgenden ununterbrochenen Ernſt zu
finden, bunt genug ſieht es überall aus in dieſem
Tagebuche — wenn man ihm den Namen geben darf,
denn es iſt keineswegs erzählende Buchführung des
Verſtorbenen über ſein Leben; ein abgebrochenes Hin¬
werfen von Erlebtem, untermiſcht mit nachdenklichen
Reflexionen und wetterleuchtenden Einfällen möchte ich
es nennen, und überall, wie man ſich denken kann,
wechſelt Ernſt mit Humor oder ſchimmern beide durch¬
einander. Die Dinge aber, die mir da zuerſt ent¬
gegenſprangen, ſind von der Art, daß ich beſorge, ſie
möchten, wenn ich ſie nicht getrennt halte, der Stimmung
des Leſers, obwohl ſie auf ſolche Miſchung gefaßt iſt,
denn doch zu viel bieten. Nur unterdrücken glaube ich
ſie nicht zu dürfen, denn ich ſoll ein Bild von einem
Menſchen geben und darf nichts ausſcheiden, was be¬
zeichnend iſt. So mag denn das vor dem Eintritt
abgethan werden.
Zunächſt fielen mir zwiſchen den Blättern gewöhn¬
lichen Formats zwei zuſammengelegte Bogen auf, dickes
[60] Zeichenpapier und ungemeiner Umfang. Ich entfalte
ſie und meinem Auge zeigt ſich ein Chaos von Linien
auf dem einen, ein noch größeres von Linien und
Farben auf dem andern. In den Feldern dieſer krauſen
Netze ſtand Schrift in verſchiedenen Richtungen geführt,
wie ſolche durch die eintheilenden Linien gegeben waren:
ſenkrecht, wagrecht und über's Kreuz in Diagonalen.
Beide mühſamen Kunſtwerke waren unvollendet, man
ſah ein Stück ausgeführt, daneben auf derſelben Fläche
Verſuche, andere Theilungslinien zu führen, die ver¬
worrener und verworrener wurden und ſchließlich er¬
kennen ließen, daß der Künſtler nicht weiter wußte,
ſtecken blieb, erlag. Kleinere Blätter lagen dabei, auf
denen der Unglückliche es mit wiederholten neuen
Anordnungsentwürfen verſucht und einzelne Anmer¬
kungen niedergeſchrieben hatte. Beide Papierungeheuer
trugen die ſehr ſchön in Fraktur geſchriebene Ueber¬
ſchrift:
Syſtem des harmoniſchen Weltalls.
Mir wurde ganz ſchwindlig, als ich angefangen,
mich in den Inhalt hineinzuleſen, und mit Hülfe des
wenigen Kommentars auf den Beilagen zu einer
ungefähren Vorſtellung von der Abſicht des Unter¬
nehmens gelangte. Ich rannte wie betrunken mit den
zwei Rieſentabellen zu Frau Hedwig hinab, hielt ſie
[61] ihr vor Augen und fragte: „Kennen Sie denn das?“
— „Ach freilich, freilich!“ war die Antwort, „das
war's ja eben! Ich weiß noch, als wär's heute, wie
er anfieng, ſich oben einzuſchließen, ganz zergrübelt,
in allen Nerven geſpannt ausſah, wenn er zu Tiſche
eintrat, wie er einmal herabgeſprungen kam und den
Bedienten fortjagte, ihm einen Reißzeug zu kaufen, —
er müſſe eine geometriſche Figur ausführen —, dann
wie er ebenſo haſtig des andern Tags nach einer
Farbenſchachtel ſchickte! Wie es immer ärger mit ihm
wurde, hab' ich dann nicht geruht, bis er mir ſeine
Arbeit geſtand und zeigte. Ich begieng anfangs die
Thorheit, ihm helfen zu wollen, wurde aber ſelbſt
darüber faſt verrückt. Und nun erkannte ich, daß es
hohe Zeit ſei, ihn herauszureißen, denn wirklich, er
war nah' am Ueberſchnappen; ſo erreichte ich es denn
mit viel Bitten und Drängen, daß er nach Italien
abreiste durch die Schweiz über den Gotthard, und
nun ſehen Sie, in dieſer Periode haben Sie ihn
kennen gelernt!“
Ich gehe nun mit Seufzen an die Aufgabe, dem
geneigten Leſer ein, nach Möglichkeit abgekürztes, Bild
von dem Bilde des harmoniſchen Weltalls vorzuführen.
Was gegeben werden ſollte, war eine klar geordnete
Ueberſicht der Durchkreuzungen, denen das Leben und
Thun des armen Sterblichen durch die Tücke jenes
Etwas unterliegt, das wir in Kürze den kleinen Zufall
[62] nennen. Man begreift, daß A. E. ſeinem Plane gemäß
eigentlich hätte ſchreiben müſſen: Harmoniſches Bild
des unharmoniſchen Weltalls; man begreift aber eben¬
ſoſehr, daß ein Geſchmack wie der ſeine den ironiſchen
Ausdruck vorziehen, man ahnt auch zum Voraus, wie
es ihm bei ſeinem Verſuche ſyſtematiſcher Ordnung
ergehen mußte.
Kaum iſt die Vorbemerkung nöthig, der Leſer möge
ſich erinnern, wie A. E. gewohnt war, vermöge einer
poetiſchen Verwechslung von Objekt und Subjekt die
Stellen und Gegenſtände, worin nach ſeiner Mythologie
die böſen Geiſter ſich einzuniſten lieben, ſo zu tituliren,
als wären ſie ſelbſt die böſen Geiſter oder verwandelten
ſich in ſolche. Fangen wir nun an, die Ober-
und Untereintheilungen des Materials, mit welchem
unſer Philoſoph ſchaltet, aufmarſchieren zu laſſen, ſo
wird der Leſer ſogleich in eine Art von logiſcher
Beunruhigung ſich geſtürzt fühlen. „Hauptarten der
Teufel“ iſt die erſte Obereintheilung und dieſe zer¬
fällt in: innere und äußere Teufel. Unter „innere
Teufel“ verſteht er die Stellen und Angriffspunkte,
die der Menſch durch ſeinen Körper (natürlich ebenſo¬
ſehr als geiſtig höchſt leidensfähiges Weſen) dem ſtörenden
Zufall darbietet; unter „äußere Teufel“ die Leiden
verurſachenden Gegenſtände in unſerer Umgebung.
Schon dieß iſt verwirrend. Die Eintheilung ſcheint
nur Störungen im Auge zu haben, die von außen
[63] kommen; ſitzen nun in den Organen unſeres Leibes
Teufel und ebenſo in den äußern Dingen, von denen
die Störung ausgeht, ſo folgt ja, daß in allen dieſen
Fällen ein Teufel einen Teufel plagt. Es entſtehen
aber doch viele Leiden direkt aus dem eigenen Or¬
ganismus, das einzelne Organ erkrankt infolge von
Störungen in irgend einem größeren Funktionsgebiete;
ſitzt nun dort ein innerer Teufel, dann wohl auch hier
und ſomit plagt auch in dieſem Fall ein Teufel einen
Teufel, dießmal ein innerer einen innern. Jedoch
kann man ſagen, auch Störungen, die zunächſt aus
dem Innern des Organismus kommen, ſeien indirekt
durch Einflüſſe der äußern Natur herbeigeführt, dann
kehrt aber das erſte der genannten Verhältniſſe wieder:
ein (äußerer) Teufel plagt einen (innern) Teufel.
Dieß ſind nur Andeutungen, die Reihe der ſich er¬
gebenden Skrupel iſt unendlich. Genug, der Urheber
wird ſelbſt nicht am wenigſten darunter gelitten haben,
zur Sache!
Als Motto ſteht ein ziemlich ruchloſer Vers:
Hierauf folgt die Eintheilung und lautet alſo:
[64]I. Hauptarten der Teufel.
A.Innere Teufel.
Schleimhäute. Zunge. Kehle. Lunge. Zwerchfell.
Magen. Gedärme. Blaſe. Gelenke. Sehnen. Nerven.
Gehirn. Augen. Naſe. Ohren. Haut. Hals. Rücken.
Arme. Finger. Kreuz. Beine. Zehen. Nägel.
Es fällt ſehr auf, wie wenig dieß iſt. A. E. hätte
ja eigentlich alle empfindungsfähigen Stellen unſeres
Körpers, ſelbſt die mikroſkopiſch kleinſte, aufführen müſſen.
Er wollte ſich auf die vorzüglich gefährdeten beſchränken
und dieſe nur in Bauſch und Bogen angeben, wurde
an dieſem Verfahren irre, fieng an, mehr in's Einzelne
zu gehen, führte unter Anderem die einzelnen Theile
des Auges auf, z. B. Lid und Wimper (offenbar, um
nachher das peinliche Einſtrupfen von Wimperhaaren
anzubringen), er ſah im Fortgang ein, daß er in's
Unendliche geriethe, ſtriech wieder aus, ſchrieb doch
wieder, ſtriech wieder aus und ſo fort. — Merkwürdig
verloren ſteht zwiſchen dem Uebrigen das Gehirn, doch
begreift man die Verlegenheit des Anordners; denn
von der einen Seite wird freilich jeder Eindruck im
Gehirn erſt empfunden, und darnach müßte eine klare
Eintheilung zeigen, daß hier Alles im Mittelpunkte
ſich ſammelt; von der andern Seite gibt es aber doch
auch lokale Leidenszuſtände des Gehirns und inſofern
war dieß Centralorgan unter andere einzureihen. Er¬
[65] ſichtlich iſt übrigens, daß er unter Gehirn auch die
geiſtigen Funktionen in der Weiſe mitinbegriff, daß
er an Durchkreuzungen eines Gedankenzuſammenhangs
durch Vorſtellungen dachte, die in denſelben nicht ge¬
hören, an Zerſtreutheiten, Gedächtnißirrungen und der¬
gleichen, wie ſolche ſich dann im Sprechen äußern; da
die Zunge aufgeführt iſt, ſo haben wir allerdings das
Material beiſammen, um erwarten zu können, daß dann
in der betreffenden Rubrik der entſprechende Zufallsakt,
alſo z. B. närriſches Vernennen, nicht fehlen ſollte.
B. Aeußere Teufel.
a. Unorganiſches
und abgeſtorbene organiſche Stoffe.
Luft. Wind. Licht. Finſterniß. Nebel. Waſſer.
Regen. Schnee. Eis. Erde. Moraſt. Pfützen. Staub.
Sand. Steine. Gruben. Holzpflöcke. Strohhalme.
Dorne. Härchen. Schreibfedern. Sägmehl. Eiſenfeil¬
ſpähne.
b. Artefakte.
Brillen. Haken. Nägel. Uhren. Zündhölzchen.
Kerzen. Lampen. Münzen. Stiefelknechte. Schnüre.
Bändel. Beinkleider. Hoſenträger. Knöpfe. Knopf¬
löcher. Rockhängeſchleife. Hut. Armlöcher. Schuhe.
Stiefel. Galoſchen. Meſſer. Gabel. Löffel. Teller.
Schüſſeln mit Suppe und Anderem. Papier. Tinte.
Böden, beſonders Parketböden. Treppen. Thüren.
Viſcher, Auch Einer. II. 5[66] Schlöſſer. Wände. Fenſter. Kandeln. Fußbänke. Wägen,
ſpeziell Eiſenbahnwägen.
c.Pflanzen.
Blatt. Stengel. Zweig. Aſt. Stamm. Wurzeln.
Kirſch- und Trauben- und andere Kerne. Erbſen.
Bohnenfaſern. Spitzgras. Brennneſſeln.
d.Thiere.
Inſekten. Vögel. Mäuſe. Rind. Pferd. Hunde.
Katzen. Haſen. Rehe. Hirſche. Roß. Elephant. Würmer.
Fiſche. Gräten.
e.Menſchen.
Kinder. Frauen. Männer. Greiſe. Stände:
beſonders vornehme.
An dieſer Stelle wimmelte es von Korrekturen
und Durchſtrichen. Man ſah in eine wahre logiſche
Verzweiflung hinein. Der Verfaſſer fieng an, aufzu¬
zählen, nämlich die Organe, vermittelſt welcher uns von
außen durch Menſchen verdrießliche Störungen bereitet
werden, ſichtbar aber erkannte er, daß er dadurch in
Wiederholungen gerieth, theils mit I. A., theils mit
der folgenden Rubrik: Aktionen.
Immerhin war denn nun eine — freilich ſehr
mangelhafte — Ueberſicht der Leidensquellen und Leidens¬
ſtellen gegeben. Nun mußten die Leiden ſelbſt aufge¬
zählt werden, die im Zuſammenſtoß aller dieſer Dinge
den leidensfähigen Theil mehr oder minder empfind¬
lich treffen. Dieß bringt die nächſte Haupteintheilung:
II.Aktionen.
A.Der inneren Teufel.
Kratzen. Kitzeln. Nieſen. Huſten. Schleimen über¬
haupt. Tröpfchen an der Naſe. Raſſeln. Orgeln.
Pfeifen. Raſpeln. Schnarchen. Sich verſchlucken. Lach¬
krampf. Kolik. Rheumatismen. Hexenſchuß. Dumpfheit.
Schlafdruck. Schwindel. Stechen. Glühen. Brennen.
Toben. Brauſen. Jücken. Beißen. Bohren. Rutſchen.
Stolpern. Fallen. Anſtoßen. Danebengehen. Sich ver¬
wickeln. Fehlgreifen. Fehlſchlagen. Fehltreten. Hühner¬
augenſtich. Ueberſchlagen (der Stimme). Fehlſprechen.
Sich vernennen. Bock ſchießen. Vergeſſen. Mit ſich
reden. Im Schlaf ſprechen. Verwechſeln.
B.Der äußeren Teufel.
Hier hat es denn, wie wir vorbereitend ſchon
bei I. bemerkt haben, dem Verfaſſer große Schwierig¬
keiten gemacht, daß er Vieles, was der Rubrik I. B. a.
(unorganiſche und abgeſtorbene organiſche Stoffe) ent¬
ſpricht, bereits unter II. A. gebracht hat, als z. B.
Rutſchen, Stolpern, Fallen: Ereigniſſe, die allerdings
öfters ohne erkennbares Einwirken eines äußern Teufels
vorkommen, am öfteſten aber doch durch ſolche herbei¬
geführt werden, die ſich in Schnee, Eis, Steine, Holz¬
pflöcke, Strohhalme verſtecken. Auch was die weiteren
[68] Eintheilungen unter I. B. betrifft, ſo konnte er in
gegenwärtiger Rubrik nicht mehr mit ihnen zurecht¬
kommen, wenn er in dieſer letzteren Eintheilungsfelder
ziehen wollte, die den I. B. a. b. c. d. e. logiſch
entſprächen; denn es iſt doch klar, daß z. B. Sich
verſtecken eine Tücke iſt, welche von der Schreibfeder,
die unter I. B. a. vorkommt, ebenſo häufig verübt
wird, als von der Brille, die unter I. B. b. auftritt.
Er ließ alſo in dieſer jetzigen Rubrik alle Unter¬
eintheilung weg und ſchrieb getroſt ohne ſymmetriſche
Ordnung nieder, was ihm eben gerade einfiel, als
z. B.: Sich verſtecken. Einhaken. Fallen. Fliegen.
Flattern. Knotenbilden. Zu weit, zu eng ſein. Fort¬
rollen. Gleiten, Mitgehen (— ein Randzeichen ver¬
weist hier auf ein Beiblatt, das Belege enthält, als
z. E.: ein Jahr lang wird in der Regiſtratur der
letzte Bogen eines Aktenſtoßes verzweifelt und vergeblich
geſucht, endlich findet er ſich auf dem Grund eines
andern Faszikels; er war beim Verpacken mitgegriffen
worden. Der Leſer wird ſich erinnern, daß A. E.
dieſes hochwichtige Ereigniß auch in Brunnen erwähnt
hat. Folgt noch eine Reihe ähnlicher Trauerſpiele).
Klemmen. Ankleben. Ein Loch kriegen. Umſtrupfen
(z. B. Regenſchirm, Handſchuh). Verlöſchen, ausgehen.
Dazwiſchen rennen, reden u. ſ. f.
Nun fügte er zu den Aktionen A. der inneren,
B. der äußeren Teufel noch eine Rubrik und zwar:
C.Kombinirte Aktionen oder Häufungen.
Man verſteht, daß hier das Zuſammentreffen von
zwei oder mehreren Unfällen an die Reihe kommt.
Hier war denn aufzuführen z. B. Huſten und Hexen¬
ſchuß vereinigt (Beiſatz: „ſo daß bei jedem Huſtenſtoß
ein Schmerz durch's Kreuz geht, als führe ein glühendes
Bajonet hinein.“ (Der Verfaſſer hatte hier im Zorn
einen Fluch beigeſetzt, doch ſich faſſend ihn wieder
geſtrichen.) Hier ferner: Katarrh und Kolik (Beiſatz:
für letztere rother Wein verordnet, für erſteren ver¬
boten); Kolik auf der Eiſenbahn. Hut vom Wind
fortgerollt, gleichzeitig eine Galoſche vom Fuß verloren,
auch ſummirt mit Umſtrupfen des Schirms, etwa
überdieß mit Hinunterfallen der Brille. Merkwürdiger¬
weiſe ſteht unter Anderem ahnungsvoll, als hätte er
vorausgeſehen, was ihm auf der Fahrt nach Luzern
widerfuhr: Stimme überſchlagen, Hängenbleiben, Fallen
vereinigt. Welche Schwierigkeiten ſich hier einer den
andern Theilen parallel entſprechenden Anordnung ent¬
gegenſtemmten, werden wir ſehen; erſt müſſen wir alles
Material beiſammen haben.
Der Verfaſſer begnügte ſich nicht mit den bisher
aufgereihten Rubriken. Als Mann von Geiſt mußte er
dieſe nackte Aufzählung von Mißgeſchicken, die großen¬
theils nur ſinnlicher Art ſind, doch ungeſalzen finden.
[70] Es fehlte noch eine höhere Beziehung, eine ideale Be¬
leuchtung. Es ſollte dargeſtellt werden, wie die Teufel
lügen, als wären die Künſte, womit ſie die Menſchen
foltern, ſchöne Künſte, als wäre ihre Hölle ein Paradies,
ein Himmel, ihre Folter- und Schmachwelt eine Welt
der Romantik. „Schön iſt häßlich, häßlich ſchön.“
So beſchloß er denn, ſeinem Aufzählungsſyſtem eine
äſthetiſche Weihe zu geben, ein Afterbild von Weihe
freilich, eine Taufe des Satans, eine Glorie von farbig
ſchillernden Lichtern aus dem Schwefelpfuhle des Ab¬
grunds. Dieß ſollte vollzogen werden durch Zuſammen¬
ſtellung der aufgezählten Uebel mit den ſchönen Künſten
und deren Zweigen. Dabei ſchien er es mit der
Architektur und Skulptur ohne Erfolg verſucht zu haben,
dagegen mit der Malerei, Muſik und Poeſie gieng es
ihm ſichtbar beſſer — vorerſt nämlich — d. h. im
Konzept, auf den Beiblättern. Hier hat er ſich zunächſt
ſeine Rubriken aufgeſtellt: Malerei mit ihren Zweigen:
Landſchaft, Sittenbild, Hiſtorie, dazu Untereintheilungen:
Freske, Staffeleibild und Anderes. Muſik: Inſtrumental-
und Vokalmuſik; in Untereintheilungen ſteht: Dur,
Moll; verſchiedene Taktarten, tempi, Ouvertüre, Sym¬
phonie; Lied, Arie; Duett, Terzett, Quartett und ſo
manches Weitere. Bei Poeſie fehlte natürlich nicht die
Hauptunterſcheidung: Lyrik, Epos, Drama; bei Lyrik:
Hymne, Dithyrambus, Ode, Elegie, Lied, Ballade.
Bei Epos fand ſich die beliebte Eintheilung: ernſtes
[71] und komiſches nicht, — begreiflich, da in dieſem
ganzen Syſtem Alles komiſch iſt, nämlich für uns,
und Alles ſehr ernſt, nämlich für ſeinen philoſophiſchen
Urheber. Nicht vergeſſen waren natürlich die modernen
Formen der epiſchen Dichtung, Roman und Novelle.
Bei Drama wird in erſter Linie die Gliederung in
Expoſition, Schürzung und Kataſtrophe betont, ſodann
der Unterſchied der Style: klaſſiſch hoher Styl und
modern charakteriſtiſcher oder realiſtiſcher. Die Ein¬
theilung: Tragödie und Komödie fehlt aus demſelben
Grunde, warum dieſe Stimmungsgegenſätze im Epos
nicht aufgeführt ſind. — Als Anhang zur Poeſie iſt
noch die Rhetorik aufgeführt.
Dieß alſo das Ganze des Materials, das zuſammen¬
zuſtellen war. Wie es nun tabellariſch ordnen? Für
I. A. B. wurden zuerſt ſenkrechte Felder durch Linien
abgetheilt und das Einzelne in Kolonnenform hinein¬
geſchrieben. Es machte ſich ſehr ungleich: für die
inneren Teufel (A.) hatte der Schöpfer dieſes Syſtems,
wie der Leſer mit uns ſchon begriffen hat, keine
nähere Eintheilung finden können. Er hatte es ver¬
ſucht, z. B. indem er ſetzte: a) Bedeckung, b) Ein¬
geweide, c) Schleimhäute, d) Sinne, e) Glieder,
f) Muskel, g) Nerven, Gehirn u. ſ. w.; allein er
gab es wieder auf, da er ſah, daß ſich hier ſo nicht
trennen laſſe, indem doch, um nur Ein Beiſpiel
anzuführen, die Naſe hauptſächlich um Schleimhaut¬
[72] leidens willen aufgeführt war, die Schleimhäute aber
unter einer andern Nummer ſtanden. Dagegen die
äußeren Teufel (B.) erfreuten ſich ja einer ziemlich reich¬
lichen Dispoſition. — Nun gieng es an die Aktionen.
Für dieſe wurden wagrechte Felder abgetheilt, das
Einzelne kam alſo in ebenſolche Linienform zu ſtehen;
der Papierbogen wurde in derſelben Dimenſion in zwei
gleiche Hälften getheilt, die eine für innere Aktionen,
die andere für äußere. Viereckige Fächer waren jetzt
entſtanden und in ihnen ſollten je die bezüglichen
Aktionen ſowohl mit den betreffenden Organen des
Körpers, als auch mit den äußeren Teufeln ſich zuſammen¬
finden. Sie fanden ſich auch etwa da und dort zu¬
ſammen, z. E. Eiſenfeilſpähne mit Augen oder Härchen
mit Schreibfeder, aber dieß eben nur ausnahmsweiſe,
im Ganzen entſtand lediglich ein kunterbuntes Gemiſche.
Nun aber die kombinirten Aktionen! Für ſie wurden
Linien gezogen, welche die vorigen Quadrate in der
Diagonale ſchnitten, ſo daß alſo nun auch ein Syſtem
von Dreieckfeldern entſtand. Jetzt ſollten denn zum
Beiſpiel Hexenſchuß und Huſten aufeinanderſtoßen und
zwar erſterer zugleich mit: Kreuz, der zweite mit: Schleim¬
häute; allein es gieng nicht anders, als vorher, wo
das Einzelne von I. A. B. mit dem Einzelnen von
II. A. B. richtig zuſammentreffen ſollte: die Sachen
trafen eben nicht zuſammen, oder ebenſo wie vorhin nur
ganz ausnahmsweiſe fand ſich etwa: Fortrollen mit Hut
[73] und Moraſt in nachbarlicher Stellung. Und endlich
die Künſte! Für dieſe, das geſammte Gebiet der realen
Leiden überſpannende Idealbeziehung wurde wiederum
eine Quereintheilung angeordnet: Diagonalen, die mit
den vorigen ſich kreuzen, ſo daß jetzt ſämmtliche Vierecke
nicht mehr nur in zwei größere, ſondern in vier kleinere
Dreiecke, dem Kreuzgewölbe gleich, zerfielen. Nun gieng
es aber eben nicht anders, als bei den früheren Ein¬
theilungen. Es war leicht abnehmen, wohin der Schalk
eigentlich zielte, auf Beiblättern war ſogar ausdrücklich
vorgemerkt, was zuſammentreffen ſollte, es braucht dem
denkenden Leſer nicht geſagt zu werden, welche Unfälle
mit welchen Formen der Muſik, welchen Inſtrumenten,
ferner mit welchen Formen der Dichtkunſt ſollten neben¬
einander zu ſtehen kommen. Allein es wollte eben
wiederum nicht gehen; ausnahmsweiſe wohl auch hier:
z. B. Hals, Kehle, Schnarchen, Fagot trafen zuſammen,
aber Anderes, was noch viel klarer ſich zuſammenfinden
ſollte, verirrte ſich rein irrationell in andere Kreuz¬
gewölbe. Es iſt ſchon erwähnt, daß unſer Tabellen¬
bildner behufs klarerer Unterſcheidung auch zu den
Farben griff. Offenbar waren es die Künſte, die ihn
dazu geſtimmt hatten, dieß augerfreuende Mittel beizu¬
ziehen. Ein ſtarkes Blau ſollte dieſen Pſeudohimmel
charakteriſiren und war in den ſtarken Strichen der
genannten zweiten Diagonalen repräſentirt; nun wurde
die koloriſtiſche Behandlung fortgeſetzt; kombinirte Aktionen
[74] feuerroth; einfache Aktionen grün in zwei Schattirungen,
innere Teufel gelb, äußere rothgelb. Die Farben waren
am leeren Rand ungemiſcht vorgeſetzt. Aber nun, da
in allen Feldern Alles zuſammentraf, durchdrangen ſich
ja alle dieſe Farben und entſtand ein verſchwommenes
Schmutzbild, unter deſſen Geſchmiere man die Schrift
kaum noch leſen konnte. Dieſe und alle vorhin ge¬
nannten Uebelſtände beſtimmten den Künſtler, es öfters
auf's Neue mit andern Anordnungen zu verſuchen:
l. A. B. wagrecht, II. A. B. ſenkrecht, die linke
Diagonale (kombinirte Aktionen) rechts, die rechte
(Künſte) links, das Einzelne in allen Rubriken um¬
geſtellt, das Farbengemengſel durch feine Laſuren
gemildert: — Alles umſonſt, das Gewirre und Gekleckſe
wuchs und wuchs und ſpiegelte ſich ſo ſichtlich auf den
Hauptbögen und Beiblättern ab, daß aus dieſen ſtummen
Flächen in mein eigenes Gehirn der Wahnſinn herüber¬
zuſchweben drohte.
Ich warf den ſchnöden Papierhaufen zu Boden,
eine gründliche Empörung kam über mich. Ich wußte
doch genug von dieſem Menſchen, um ihm ein höchſt
empfindliches Gefühl des Werthes ſeiner Zeit zuzu¬
trauen. Man durfte ihn nur eine Stunde kennen,
um überzeugt zu ſein, daß ſein Geiſt immer in Arbeit
war. Sein Grimm über die kleinen Zufälle war ja
in ſeiner beſſeren Quelle nichts Anderes, als Grimm
über Zeitraub, der auf einer Vergleichung des Werths
[75] der kleinen Außendinge mit dem Werthe ſeiner Geiſtes¬
thätigkeit ruhte. So konnte man den Widerſpruch
begreifen und verzeihen, daß er eben aus dieſem
Grimm bei der Betrachtung jener Dinge ſich aufhielt
und eben die Zeit, deren ſie nicht werth ſind, ihnen
widmete. Aber nun dieſen Widerſpruch ſo weit treiben,
ſich ſo ſchwer an ſeiner Zeit verſündigen: das war
denn doch zu arg, war unverantwortlich, war abſcheu¬
lich! Mir fiel wieder ein, was ich einſt auf der
Axenſtraße ihm zu Gewiſſen geführt, ich hätte den
Todten aus dem Grabe fordern und in Donnerpredigt
wiederholen mögen, was ich ihm ſchon damals vor¬
gehalten, ich ballte den Papierhaufen zu einer großen
Kugel zuſammen und ſchleuderte ſie an die Wand,
als wäre ihre Fläche die Stirne des ſtrafwürdigen
Sünders. Doch deſſen ſchämte ich mich wieder, legte
den Knäuel vor mich hin, ſah ihn ruhig an und fand
bei geſammeltem Nachdenken, daß dieſer närriſche Ver¬
ſuch ſo ganz unmerkwürdig eben nicht ſei, freilich nur im
negativen Sinne, nemlich als abſchreckendes Beiſpiel.
A. E. wollte der Weltordnung — allerdings nur dem
unteren Stockwerk derſelben, denn an der Güte des
oberen Stockwerks, des ſittlichen Reiches, war er ja
nicht verzweifelt — den Poſſen ſpielen, ihr einmal
tabellariſch vor die Augen — als hätte ſie ſolche —
zu rücken, was für eine ſchlechte Ordnung ſie ſei.
Alſo ein geordnetes Bild des Ungeordneten ſollte auf¬
[76] gebaut, eine harmoniſche Ueberſicht über alle dishar¬
moniſchen Durchkreuzungen ſollte hergeſtellt werden.
Wie konnte es anders kommen, als daß das Objekt
auf das Subjekt, der Inhalt auf die Form ſich über¬
trug? Durchkreuzungen ſind ja Durchkreuzungen, ich
kann ſie nicht berechnen, nicht ordnen, ſie laufen von
und nach allen Seiten, ſind rein unbeſtimmbar; ſo
mußte denn die Ueberſicht einer ungeordneten Welt natür¬
lich ſelbſt ungeordnet, das Bild der Disharmonie ſelbſt
disharmoniſch werden; es gibt ja keinen Plan für's
Planloſe, kein Syſtem des Syſtemloſen. — Ich wollte,
da ſie nun in dieſem verneinenden Sinne Werth für
mich bekamen, die Papiere doch nicht zerſtören, faltete
den Klumpen wieder auseinander, glättete die Bögen,
da fiel mein Blick auf eine Stelle, wo ein Wort ſtand,
das ein in dunkler Ferne ſchwebendes Erinnerungs¬
bild in mir auffriſchte. Es hieß amplificatio. Ich
ſah aufmerkſamer nach. Es kam vor bei der Rubrik
Rhetorik. Dort ſtanden einige der Namen, mit welchen
die alte Wiſſenſchaft der Beredtſamkeit gewiſſe Theile
der Rede lateiniſch zu bezeichnen pflegte: exordium,
narratio, reprehensio und dergleichen. Amplificatio
nannte man eine Prachtwendung am Schluſſe, worin
der Redner durch eine Fülle von Bildern und Häufung
konzentrirter Beweisſätze ſeine Weisheit noch einmal
tüchtig aufputzt, um ſo mit einem recht flotten Trumpf
abzutreten. Dieſe amplificatio ſollte nun auf der
[77] Tabelle zu einem Hauptſtück kombinirter Aktionen zu
ſtehen kommen. Und dießmal war es ihm denn wirk¬
lich gelungen, das Wort zuſammenzubringen mit der
vorhin erwähnten Kombination: Huſten, Hängenbleiben,
Fallen. Geheimnißvoller Zug des Menſchenſchickſals!
Als hätte er es geahnt, was ihm kurz darauf bei
Küßnacht widerfahren ſollte! War es ein Wunder,
wenn er uns das gelehrt klaſſifizirende Wort zurief,
als ſeine Ahnung ſo furchtbar ſich erfüllt hatte?
Und nun — was konnte ich machen? — nun
dauerte er mich wieder.
Geſondert vom Uebrigen theile ich ferner die un¬
vollendete Skizze eines Singſpiels mit, die mir beim
Blättern in die Hände fiel. Die Ueberſchrift bezeichnet
dieß Produkt als Singtragödie.
Akt I.
Szene 1. Schreibzimmer.
Perſonen:
- Ein Härchen.
- Tinte.
- Eine Schreibfeder.
- Ein Buch.
Das Härchen, mikroſkopiſch klein, in einem Tinten¬
faß befindlich, trägt im dünnſten Sopran eine Arie
vor, Text gerichtet an die daneben liegende Schreib¬
[78] feder, welche den ausgedrückten böſen Abſichten Ent¬
gegenkommendes in einer Antiſtrophe ſpitz vorträgt,
hierauf entſprechendes Duett.
Demnächſt Rezitativ, Baßſtimme, ausgehend von
einem Buch auf dem Bücherbrett über dem Schreib¬
tiſch. Kichernde Antwort von Geiſtern in der Tinte.
Duett von Tinte und Buch vereinigt ſich mit Härchen
und Feder zu einem gefühlten Quartett.
Szene 2.
Perſonen:
- Hilario, ſchöner Jüngling.
- Die Vorhergehenden.
Man hört Schritte, genannte Geiſter verſtummen.
Hilario tritt ein. Monolog. Hilario liebt auf's
Aeußerſte eine Jungfrau Adelaide. Iſt ſchüchterner
Komplexion, hat noch kein Wort gewagt, beſchließt zu
ſchreiben. Tunkt ein.
Härchen und Feder vereinigen ſich innig, Hilario wird
nach mehreren Verſuchen, mit dem verfluchten Pinſel zu
ſchreiben, ſehr wild, ſchreibt Grobheiten ſtatt Zärtlichkeiten.
Neue Feder. Fängt von vorn an. Es geht fließend
vorwärts. Beſchließt Citat aus Petrarka. Will den Band
herabnehmen, er fällt auf's Tintenfaß, das ganze Schrei¬
ben wird ſchwarz übergoſſen. Hilario beſchließt in Ver¬
zweiflung, es doch mit dem lebendigen Worte zu ver¬
[79] ſuchen. Er hofft, der Geliebten im Park zu begegnen,
will wagen, ſie anzureden. Ab. Hinter ihm her hölli¬
ſcher Lach-Chor genannter Perſonen der erſten Szene.
Szene 3. Park.
Perſonen:
- Eine Pfütze.
- Ein Hühnerauge.
Arie mit einem gewiſſen klebrigen Etwas in der
Tonfärbung vorgetragen von der Pfütze, entſprechend
von Inſtrumenten begleitet.
Ein weißlicher Punkt ſchwebt herbei; derſelbe erweist
ſich, näher ſichtbar, als Hühnerauge (äußerſt giftiger Blick
und Geſammtausdruck). Arie: hornig harter, friktiv
brennender Ton. Text offenbart teufliſche Abſichten.
Verſchwörungsduett zwiſchen Beiden.
AktII.
Szene 1.
Perſonen:
- Die Vorhergehenden.
- Hilario.
- Adelaide, ſelbſtbewußte Jungfrau.
- Vögel.
Hilario tritt auf, heiter geſpannt, das Hühnerauge
ſchwebt, einen feurigen Faden durch die Luft ziehend, nach
ihm hin, verſchwindet in ſeinem Lackſtiefel. Er winſelt,
[80] hinkt, fällt in die Pfütze, wird ſehr dreckig. In dieſem
Augenblick erſcheint Adelaide. Lacht ſehr, verhöhnt ihn
bitterlich. Beide ab. Triumphchor genannter Objekte,
vermehrt durch Vögel, welche von Bäumen zugeſchaut.
Dieß wird genügen, ein Bild von A. E.'s Kom¬
poſition zu geben; ich darf die Geduld des Leſers nicht
durch weiteren Auszug ermüden. Es genügt, noch zu
erwähnen, daß die Skizze andeutet, Hilario wiſſe, durch
einen Kampf mit einer Reihe ähnlicher Hinderniſſe vor¬
dringend, endlich doch Adelaidens Liebe zu erringen,
eineſelige Stunde werde ihm in Ausſicht geſtellt; dann
folgt noch eine um Weniges ausgeführtere Szene:
Szene X. Apotheke.
Perſonen:
- Ein Kolben mit Mandelmilchſyrup.
- Eine junge Katze.
- Ein junger Apotheker.
- Hilario.
Arie obgedachten Kolbens: weichlich zäher, doch zu¬
gleich tückiſcher Ton, entſprechender Text. Junge Katze
erſcheint; kindlich heiterer Geſang. Duett. Sehr eilig
eintretend Hilario. Aus dem Nebenzimmer kommt der
Apotheker. Hilario bittet ſehr dringend um einige
Tropfen Laudanum, der Apotheker verlangt ärztlichen Vor¬
weis, und allzu gewiſſenhaft (— noch junger Gehülfe —),
da Hilario ſolchen nicht beſitzt, verweigert er die Bitte.
[81] Hilario: „dann Mandelmilch, ſchnell!“ — Apotheker:
„dieß gern!“ holt den Kolben, ſtolpert über die junge
Katze, der Kolben liegt zerſchellt am Boden. Hilario
raſend ab. Furienhafter, grell-gellender Verhöhnungs¬
chor der Scherben und der Katze. Trio mit der Jammer¬
ſtimme des Apothekers.
Hier brach das Fragment mit einem wilden Fahrſtriche
der Feder ab, die dann wie toll in kratzigen, borſtigen
Linien auf dem Papier umhergewüthet haben, hierauf etliche
Male ſenkrecht aufgeſtaucht worden ſein mußte; dieß be¬
wieſen ſtarke, von Spritzaureolen umgebene Tintenkleckſe.
Das pathologiſch geſchnellte Abbrechen war mir
nicht gerade komiſch, es gab an Anderes, wenn auch
noch ſo Verſchiedenes, zu denken.
Bei weiterem Durchſtöbern ſtieß ich auf eine Schichte
gedruckter Blätter, auf deren Rand ich Anmerkungen
mit rother Tinte bemerkte. Das Gedruckte konnte nicht
von A. E. verfaßt ſein, es war der Anfang eines
Romans, deſſen Styl und Inhalt weiblichen Urſprung
erkennen ließ, das Titelblatt fehlte. Auf einem Bei¬
blatt ſtand von ſeiner Hand geſchrieben: „Das iſt keine
Kunſt, ideal thun, wenn man Alles ungenau nimmt.
Wart', Blauſtrumpf, wart', Gans, ich will dir's ein¬
mal zeigen! Meinſt du, die Dinge der Welt laufen
nur ſo glattweg in geölter Kurbel?“
Ich ſtelle einige Sätze heraus mit den Anmerkungen,
um einen Begriff von dieſen Korrekturen zu geben:
„Es war ein lachender Morgen Ende Auguſts. Wir
ſtanden reiſefertig. Der gute, liebe Onkel! Es war
ihm ſchwer geworden in ſeinen Jahren, aber er hatte
ſich entſchloſſen; mein Sehnen ſollte erfüllt werden;
er führte mich nach Paris. Die Koffer waren ge¬
packt —
Anmerkung: bis auf einen, den Hauptkoffer, wozu der
Schlüſſel verlegt war —
Die Droſchke war beſtellt —
Anm.: und kam nicht.
Endlich ſteigen wir in den Wagen —
Anm.: wobei der Onkel fehltrat und umfiel —
Wir ſitzen, das Dampfroß ſchnaubt, die Räder beginnen
zu rollen —
Anm.: das Handgepäck fällt aus dem Netzfach und treibt
dem Onkel den Hut an.
Noch ein Gruß an die liebe Schweſter Ida, ein
Schwenken meines Tuchs —
Anm.: wobei das Fenſter fällt und mir die Hand einklemmt.
Der Kondukteur coupirt, o, er erſchien mir wie ein
Götterbote, der meine Seele nach Elyſium einlade —
Anm.: doch der Onkel fand unſere Billette nicht.
Mir gegenüber — o ſchöner Anfang! ein junger Mann
— in Civil — hat aber etwas edel Kriegeriſches,
ſelbſtbewußte Haltung, Blick lebhaft, dabei etwas männ¬
lich Herrſchendes und doch zugleich ſo Feines — wohl
Gardeoffizier?
[83]
Anm.: worauf beſagter Herr den einen und dann den
andern Fuß neben den Onkel auf's Polſter hinüber¬
legt und der Onkel ſich ſanft beſchwert und eine
ſackgrobe Antwort bekommt.
Mit ritterlich gefälligem Tone fragt mich der junge
Mann, ob ich erlaube, daß er das Fenſter öffne —
Anm.: welches geſchieht und worauf dem Onkel eine
Kohlenfaſer in's Auge fährt.
Balſamiſche Morgenluft weht herein, Städte und
Dörfer im Sonnenglanze fliegen vorüber, die Schwalben
ſchwirren, die Natur taucht, badet, ſchwimmt beſeligt
in ſich ſelbſt. Ja, die Natur hat Seele, ſie iſt doch
immer ſeeliſch beſagend. Die Natur iſt Geiſtflüſterung,
der Menſch Geiſtſprechung, ſie iſt Geiſtduftung, der
Menſch Geiſtblitzung. — Dieß iſt ein Gedanke! Ich zeichne
mir ihn in mein Poeſiealbum. — Und nun, du Natur
der Natur, goldiger Süden, dufte mir labend entgegen!
Anm.: Sie ſucht die mitgenommenen Orangen, der liebe
Onkel hat ſie verſeſſen.
Wehe! kann wolkenlos kein Himmel bleiben? Das
lachende Antlitz der Natur trübt ſich, ein Strichregen
beginnt zu fallen, ſie ſinkt ſich ſelbſt als weinendes
Kind in die Arme. Aber warum ſo heftig, deine
Thränen netzen mich zu ſtark! ‚Ja, bitte, edler junger
Mann, ſchließen Sie das Fenſter —‘
Anm.: welches eingequollen iſt, weßwegen der Onkel mit¬
hilft. Beide drücken und da es raſch nachgibt,
ſtoßen ſie die Scheibe hinaus.“
Genug und wohl ſchon allzuviel, der Spaß wäre
geradezu langweilig zu nennen, wenn er nicht auf eine
Steigerung losarbeitete; ich darf nicht verſchweigen,
daß dieſe etwas ſtark iſt, indem die Scherben der Scheibe
auf die Sitze fallen, und da ich eine Pflicht fühle,
die vielleicht zarten Nerven des Leſers zu ſchonen, ſo
breche ich ab, wiewohl es an einigen Witzkörnern
im Folgenden nicht fehlt. Uebrigens waren es nur
wenige Blätter; die Nörgelei muß dem Krittler ſelbſt
denn doch entleidet ſein oder er muß gefühlt haben,
daß ja jede ſeiner Anmerkungen die folgende und ſo
den ganzen Roman aufhob.
Haben dieſe grillenhaften Phantaſieen, wie ſie bis
in die Schnurre, die Kinderei ausſchweifen, den hart¬
geprüften Leſer verdroſſen, geärgert, faſt um die Ge¬
duld gebracht, ſo ſöhnt er ſich doch vielleicht mit dem
ſchiefgewickelten Manne wieder aus, wenn er nun im
Tagebuche die Goldfäden findet, die ſich durch das
bunte Garn dieſer Wicklung reich und ſtark hindurch¬
ziehen. Das Feinſte dieſes Goldes iſt Denken, philo¬
ſophiſches Denken, „des Menſchen allerhöchſte Kraft“.
Ob man darum den Mann einen Philoſophen nennen
darf, das freilich iſt eine Frage: ich enthalte mich, das
Wort darüber zu nehmen, das Tagebuch mag ſelbſt
antworten. Vielleicht iſt ein Theil des innern Unglücks
in dieſem Leben auf dieſer Stelle zu ſuchen; der Leſer
wird Andeutungen finden, die dahin zeigen; vielleicht
[85] trug es zu ſeiner Verſtörung bei, daß die Miſchung
der Kräfte in ihm zu bunt war, um der edelſten ein
gerades und ausgewachſenes Gebilde zu erlauben. Und
doch war ſie ſtark genug, ihrer Gegenfüßlerin, der
Phantaſie, des Raumes ſo viel wegzunehmen, daß ihr
dieſelbe Hemmung widerfuhr. Freilich iſt es mit dieſem
bunten Theil des Einſchlags an ſich ſchon eben auch
ſeltſamlich beſtellt; der Weber neigt zu ſehr zum Zick¬
zack, als daß man ein harmoniſches Geflechte von ihm
erwarten könnte, und wir dürfen es ihm wohl immer¬
hin gutſchreiben, daß er es dieſer Neigung wenigſtens
abgerungen hat, die Pfahldorfgeſchichte fertig zu bringen,
die doch in einem gewiſſen Sinn ein Ganzes genannt
werden kann. Dieß iſt aber auch das einzige Durch¬
geführte; da und dort finden ſich Fäden für andere
Kompoſitionen, ſie brechen aber ab, ſind fallen ge¬
laſſen, und ſo kann man ſchließen, daß auch nach dieſer
Seite ein Gefühl des Unglücks über eine unterbundene
Ader in ihm umwühlte; denn er wollte thätig ſein,
wollte leiſten, wollte der Welt etwas ſein. Was ich
Zickzack nenne, dazu gehört auch eine über das Maß
gehende Liebe zum Elemente der närriſchen Vorſtellung.
Oft mußte ich ſchon beim erſten Durchleſen an Lichten¬
berg denken. Obwohl ich einige der ſtärkſten Proben
dieſes Zuges vorausgenommen habe, möge ſich der
Leſer doch erinnern, daß ich ihm nicht die Ausſicht
eröffnen konnte, es werde ihm nach überſtandener
[86] Geduldprobe im Folgenden nur Vernünftiges geboten
werden; auch des Tollen im ebengenannten Sinne wird
ihm noch Manches aufſtoßen. Es wäre in der That
ein verkehrtes Thun, wenn ich eine völlige Ausſcheidung
vornehmen wollte, ſo verkehrt, wie wenn ich frei über
die Reihenfolge der Blätter diſponirend verſuchen würde,
in das Durcheinander eines Tagebuchs, geführt unter
den Impulſen des Augenblicks von einer tief, heftig
und widerſpruchsvoll bewegten Natur, eine logiſche
Ordnung zu bringen.
Noch finden ſich andere Fäden, die der wilden
Farbenmiſchung einen ſehr ernſten Untergrund geben,
ſchwarz wie die Nacht, wohl auch blutroth. Ich fand
zwiſchen den Blättern ein ſchwarz eingeſiegeltes Paket.
Ich ſcheute mich, es in jenen Tagen zu öffnen, die ich
in der Heimat des Verſtorbenen zubrachte. Ich ahnte
Erſchütterndes und wollte es für jetzt ruhen laſſen mit
dem Todten, der es überwunden hatte; ich wollte dem
Ganzen eines abgeſchloſſenen Lebens in ſtill wehmüthiger
Betrachtung nachſchauen, kein Theil dieſes Ganzen ſollte
mir in dieſer Stimmung reinen Schmerzes zur er¬
ſchreckenden Gegenwart werden. Wie ſehr fühlte ich,
daß ich Recht gethan, als ich nachher zu Hauſe die
Siegel öffnete! Das Räthſel, das jene zwei Frauen¬
bilder uns vorgelegt, es löſte ſich, wiewohl nicht zu
völliger Helle. Ein zuckendes Schlaglicht fiel auf ein
ſchweres, ja furchtbares und nach Ueberwindung des
[87] Schwerſten immer noch tragiſches Stück Menſchenleben.
Einen Beitrag zu weiterer Löſung brachte mir ſpäter
ein Zufall, von dem ich berichten werde. An der
Stelle, wo im Tagebuch eine große Lücke aufſtößt,
werde ich als Herausgeber das Wort ergreifen und
einfügen, was ich durch dieſen Zufall erkundet habe.
Alles Dunkel wird freilich auch durch dieſe Nachhülfe
nicht gehoben. Uebrigens war A. E. in dem Verſiegeln
von Stücken, denen er beſonders intime Erlebniſſe
anvertraut hatte, nicht konſequent. Im offenen Theil
der Manuſkripte finden ſich der Stellen nicht wenige,
die ſich auf den gewitterdunklen Inhalt jener Blätter
beziehen, auf den ſchrecklichern ihrer Lücke rathen laſſen,
und man ſieht in einen Zuſammenhang, der ſich weiter¬
hin durch das Ganze dieſes ſchwergeprüften Lebens als
nächtliche Stimmung ausbreitet. Ein Leſer, den auch
der Gedankenernſt des Verſtorbenen noch nicht mit
ſeinen Launen, ſeinem barocken Humor verſöhnt haben
ſollte, wird, ſo darf ich wohl vorausſetzen, wenigſtens
durch Theilnahme an den Stürmen, die durch dieſes
Leben gefahren ſind, zu größerer Nachſicht bewegt
werden, um ſo mehr, da doch in der Schlußſtimmung,
ſo viel möglich, die harten Misklänge ſich löſen.
Bedauerlich iſt, daß man nichts von der Jugend¬
geſchichte des Verfaſſers erfährt; das Tagebuch be¬
ginnt nicht früher, als mit dem Antritt ſeines
erſten Amtes. Man möchte ſo gern Aufſchluß dar¬
[88] über erhalten, aus welchem Boden ein Baum mit ſo
krausgebogenen Aeſten entſprungen, unter welchen Ein¬
flüſſen er ſo knorrig und krumm gewachſen iſt. Mir
ziemt jedoch nicht, den Gedanken, die ſich der Leſer
hierüber bilden mag, mit Schlüſſen und Vermuthungen
aus meiner Werkſtatt vorzugreifen.
Sehr Vieles habe ich geſtrichen, die Blätter könnten
mit weit mehr Recht ein Tagebuch genannt werden,
wenn ich allen Stoff aufgenommen hätte, was doch
gewiß nicht zweckmäßig geweſen wäre. Ein Theil des¬
ſelben beſteht aus einer Maſſe ganz trockener Notizen.
Es ſind in den Abſchnitten, welche der Zeit der Amts¬
thätigkeit angehören, meiſt Vormerkungen für die Tages¬
aufgaben, man ſieht in ein ſehr pünktliches, gewiſſen¬
haftes Arbeiten hinein. Außerdem findet ſich überall
eine Menge äußerſt kleinlichen Zeuges; A. E. zeichnet
ſich auf, wo man dieß und jenes Bagatell am beſten
kauft, z. B. Hemdknöpfe von richtigem Profil; für die
Reiſen beſonders iſt in dieſer Richtung umſtändlich
vorgeſorgt; ſehr wichtig wird überall die Frage nach
guten Gaſthöfen behandelt, und es läßt ſich erkennen,
daß A. E. ein bitterer Feind der Häuſer war, die
auf vornehmen, modernen Fuß eingerichtet ſind, eifrig
meidet er, was hôtel heißt, und weilt dagegen gern,
wo es noch in gutem patriarchaliſch-gemüthlichem Style
zugeht. Geräth er in ein Gaſthaus der erſteren Klaſſe,
ſo kann man die Zwiſchenbemerkung finden: „Einen naſe¬
[89] weiſen Kellner geſchüttelt“, oder: „Die Bougies auf die
Straße geſchmiſſen“, oder: „Händel wegen der Zeche“,
während in einem albergo, das er als altgediegen
belobt, Trinkgelder von auffallend ſplendider Höhe
notirt ſind. Für die Städte ſind überdieß als Frucht
eines ſichtbar eifrigen Nachfragens häufig die Ge¬
ſchäfte bemerkt, wo man den und jenen Artikel des
Reiſebedürfniſſes gut einkauft, namentlich findet ſich
die Fußbekleidung ernſtlich bedacht. In Venedig heißt es
einmal: „Wieder eine Stunde bei meinem wackern cal¬
zolajo geſeſſen; guter Alter, enge Werkſtätte maleriſch;
intelligenter Kopf, begreift den Fuß.“ Zwiſchen ſolchen
Notizen liest man einmal: „Da bittet mich eine deutſche
Dame in Mailand, ſie mit belehrenden Winken für ihre
weitere Reiſe auszurüſten. Bereitwillig nenne ich ihr
gute Gaſthöfe, gebe ihr den werthvollen Rath, nie an¬
ders als mit genügend ausgetretenem Schuhwerk zu
reiſen u. ſ. w., ſie ſieht mich verblüfft und verſtimmt
an und geſteht dann ihre Enttäuſchung. Dumme
Menſchen! Jetzt meinen die, ich werde mit äſthetiſchen
Phraſen — ‚Italiens ewig blauer Himmel — ent¬
zückendes Panorama — Perle der Plaſtik — gött¬
liches Gemälde' — und derlei loslegen — Donner¬
wetter! Wer kann Schönes ſehen, Schönes fühlen,
wenn ihn ein Hühnerauge brennt! Wer widrig wohnt,
hat für nichts Stimmung, wer nicht gern zu Haus
iſt, den freut auch draußen nichts. Das Höhere ver¬
[90] ſteht ſich ja immer von ſelbſt! Für die Baſis, die
Vorbedingung, muß geſorgt werden.“ Solcher Zwiſchen¬
bemerkungen, weil ſie doch charakteriſtiſch erſcheinen, hätte
ich vielleicht mehr aufnehmen ſollen, aber da ſie meiſt
mit ſo viel trockenem Inhalt verzahnt ſind, war es zu
ſchwierig, ſie auszuſchneiden. — Zwiſchen dieſen Dingen
liegt in dichten Garben die Ernte wichtigerer Vorſtudien
gehäuft: Auszüge aus Reiſebüchern, Geſchichtswerken,
namentlich aber aus kunſthiſtoriſcher Literatur. Man
ſieht mit Vergnügen: der ſeltſame Menſch war ſo weit
ganz vernünftig, daß er gut einſah, man könne nie zu
wohl vorbereitet auf Reiſen gehen. In der That hängt
ja von dieſer Stoffſammlung, die dem Naturmenſchen
als etwas Todtes erſcheint, nichts Geringeres ab als
die Belebung der Stätten, die der Reiſende beſucht.
Ehe ich an die Veröffentlichung gieng, habe ich
mich nach ... begeben und das Ganze des Tage¬
buchs Frau Hedwig vorgelegt. Man kann ſich denken,
wie die Mittheilung der beſonders inhaltſchweren Ab¬
ſchnitte ſie bewegte. Einverſtanden war ſie mit mir,
daß ich mich nicht ſcheuen dürfe, auch dieſe Theile der
Oeffentlichkeit zu übergeben. Sie ſind zum Verſtänd¬
niß des Ganzen der Perſönlichkeit nicht zu entbehren, und
übrigens hat ja der Tod „eine reinigende Kraft“. Auch
das Wildeſte, ja das Graſſe erſcheint abgekühlt, erſcheint
wie unter einem dämpfenden Flor, wenn das Leben
abgeſchloſſen, wenn es ein Vergangenes geworden iſt.
[91]
Nur Weniges bleibt mir noch zu erzählen, ehe ich
das Wort an die ſprechenden Blätter abtrete.
Mein ganzer zweiter Tag jenes erſten Beſuches in
. . . war einer vorläufigen Durchſicht des offenen
Theiles derſelben gewidmet; Abends holte mich der
Aſſeſſor ab, um mich unſerer Verabredung gemäß in
die Gaſthofgeſellſchaft zu bringen, in welcher der Ver¬
ſtorbene ein paarmal jede Woche ſeine Abenderholung
zu ſuchen pflegte.
„Spielen Sie Billard?“ fragte mich ganz außer
Zuſammenhang mein Begleiter, als wir uns mit einiger
Schwierigkeit auf der ſtark belebten Hauptſtraße vor¬
wärts bewegten.
„Warum? Wird denn heut Abend dort — ?“
„Nein, nein, nur um zu wiſſen, ob Sie das Spiel
kennen.“
„Wohl, ich habe früher nicht ungern geſpielt.“
„Nun, dann wiſſen Sie, was man Deſſin nennt,
mit oder ohne Deſſin ſpielen, — verzeihen Sie mein
raſches Fragen, — ich wollte eigentlich vom Seligen
reden —“
„Sollte der ein leidenſchaftlicher Billardſpieler — ?“
„Nichts weniger, konnte es wenigſtens in Konver¬
ſationszimmern nicht ausſtehen — ‚verklappert uns das
Wort im Munde — macht den beſten Gedanken in's
Eckloch' konnte er ſagen; — ich bedurfte nur das
Wort Deſſin.“
[92]
„Wir können es mit Vordenken überſetzen.“
„Recht, alſo Vordenken. Sehen Sie, gieng man
mit dem Seligen durch dieſe Straße, da hatte man
ſeine liebe Noth. Er war ſo furchtbar heftig gegen
unbequemes Indenweglaufen, er gieng auch ſehr
ſchnell —“
„Jawohl, und ſtraff geradlinig, immer die kürzeſte
Linie beſchreibend, es ſchien mir, er könne gar nicht
ſchlendern, ich bemerkte, daß er, wo irgend möglich,
bei Biegungen des Weges die Sehne des Bogens
gieng —“
„Freilich! freilich! Und im Menſchengedränge, da
war es ja nicht möglich, ſo direkt und raſch nach dem
Ziel zu eilen. — Nun brauche ich Ihnen nicht erſt
zu ſagen, daß er das ſehr wohl begriff, ſo unver¬
nünftig, ſo ſinnlos ungeduldig war er ja nicht. Er
nahm das Gedränge ganz in Rechnung, faßte mit
ſeinen ſcharfen Sinnen das Raumbild mit den darin
ſich bewegenden Menſchen blitzſchnell auf und zog ſich
im Geiſt augenblicklich eine Linie, auf welcher er durch
die gegebenen Lücken wie ein Pfeil hindurchſchießen
wolle. Bei dieſer Linearberechnung vergaß er nur,
daß der Zufall noch ſchneller iſt, als unſere Strategie,
und in ſolche Engpäſſe im Nu neue Wanderer hinein¬
zuſchieben pflegt. Wenn nun das geſchah, ſo wurde
er — nicht ſogleich, aber bei läſtiger Wiederholung —
geradezu wüthend; er erklärte die Eindringlinge für
[93] Menſchen, die ſich von den Teufeln aufſtiften laſſen.
Wir giengen einmal juſt in dieſer Gegend hinter drei
Menſchen her, welche die Breite der Fußbank ein¬
nahmen und uns zu langſam ſich vorwärts bewegten.
An ihnen vorüberzukommen, will A. E. einmal, zwei¬
mal den Moment benützen, wo ſich ein Zwiſchenraum
zwiſchen oder neben den Dreien ergab, jedesmal wird
uns der freie Raum verrannt, und als das zum dritten
Mal kam, verlor er die Faſſung ſo ſehr, daß er dem
harmloſen, unbekannten Thäter im Anſtreifen zurief:
‚Welcher Teufel führt Sie in meine Thermopylen?'
Der Herr ſchoß mit einem unwilligen Grunzen weiter,
kehrte dann raſch um, holte A. E. ein, hielt ihn an
einem Rockknopf und ſagte: ‚Wohin, Herr Leonidas?
nach Fernau?' (unſere Irrenanſtalt). — ‚Nein, o
Xerxes, nur zum Hades!' antwortet A. E. ſehr ruhig
und ernſt. Im Weitergehen ſagte er mir, es habe ihm
allen Zorn niedergeſchlagen, daß der Herr etwas griechi¬
ſche Geſchichte wiſſe. — Es war kurz vor ſeinem Tode.“
„Hübſch, daß Sie mir das erzählen,“ ſagte ich,
„ein Bild des Lebens —“
„Nicht wahr? Dieß Durchkreuztwerden im Gehen,
Und ſein ſtraffes Zielen im Gang ein rechtes Bild
von jenen Menſchen, die von einem beſonders feinen und
ſcharfen Gefühl des Zweckmäßigen heimgeſucht ſind —“
„Ja, zu vordenkende Naturen, die ſtets übler durch¬
kommen als die glücklich Blinden, welche einfach zutappen,
— Naturen, denen das Leben ſo ſchwer wird, weil
ihr Gefühl des Zweckwidrigen ebenſo zugeſchärft ſein
muß wie ihr Gefühl des Zweckmäßigen —“
„Prometheus im Kleinen, nicht vom Geier, ſondern
von Spatzen zerhackt —“
Wir waren im Abendzirkel angekommen. Außer
ein paar Herren, deren Namen und Stand ich ver¬
geſſen, fand ich den Diakonus Zunger (Tetem), den
Oberförſter, zwei Aerzte, einen penſionirten Kameral¬
verwalter. Ich wurde natürlich als ein Freund des
Verſtorbenen vorgeſtellt. „Eben recht,“ ſagte der Ober¬
förſter, „wir ſind gerade einmal wieder am Thema.“
Der eine der Aeſkulape, — mit Namen Schraz —
der Aſſeſſor ſagte mir nachher, A. E. habe ihn früher
zum Arzte gehabt, dann „wegen ſehr dummer Art von
Verſtändigkeit“ aufgegeben — dieſer Doktor Schraz
hatte behauptet, das verſtorbene Mitglied ſei ein Ge¬
ſprächtyrann geweſen, habe nur ſich wollen reden
hören. Der Oberförſter hatte ihm halb und halb bei¬
geſtimmt.
„Das erlaube ich mir zu bekämpfen,“ ſagte Zunger,
„und es iſt — verzeihen Sie, meine Herren, — unge¬
recht von Ihnen, ſo zu urtheilen. Der Herr Vogt
wurde mindeſtens ebenſo ärgerlich, wenn man Andere,
als wenn man ihn unterbrach. Erinnern Sie, Herr
[95] Oberförſter, ſich nicht mehr, wie er damals fortlief,
weil man Ihnen öfters in die Rede fiel?“
„Ja, ja, damals,“ ſagte der andere Arzt, „wie
Sie die Geſchichte von Ihrer iſabellfarbigen Diana
erzählten mit der Wurſt und —“
„Und wahr iſt's erſt noch,“ rief jetzt der Nimrod,
der plötzlich das eigentliche Thema vergaß; er ließ
ſich gern anreizen, noch einmal zu erzählen, und nach
einer begeiſterten Charakterſchilderung ſeiner Hündin,
die ‚mindeſtens ſo geſcheut ſei wie ein Menſch‘, er¬
fuhren wir denn, daß der Jägersmann dieſes edle
Thier einmal ertappte, wie es ſo ganz unter ſeine
Würde herabſank, daß es in der Küche eine Bratwurſt
ſtahl. „Und dann?“ riefen die Zuhörer. „Und wahr
iſt's und bleibt wahr,“ betheuerte er, ſeinen langen,
blonden Schnurrbart ſtreichend, „ich nehme Gift dar¬
auf, die Diana, wie ſie mich ſieht, läßt die Wurſt
fallen und wird feuerroth im ganzen Geſicht —“
Ich lachte herzlich mit dem Chore, ein erröthendes
Thier war auch mir neu, weit neuer, als die Be¬
hauptung dieſes Münchhauſen, ſeine Diana könne
veritabel lachen.
Man kam auf A. E. zurück, ſeine Thierliebe, man
erfreute ſich der Eigenſchaft, nur Doktor Schraz fand ſie
„etwas kindlich“. Dann brachte ihn die Hundsgeſchichte
auf das Anekdotenweſen und dieß gab dem wenig
Wohlwollenden Anlaß, den Todten zu beſchuldigen,
[96] daß er doch ein gar zu ſtarker Anekdotenerzähler, ein
Meidinger II. geweſen ſei.
Jetzt fiel lebhaft der Aſſeſſor ein: „Haben Sie nie
bemerkt, meine Herren, daß er in dieſer Richtung immer
nur dann loslegte, wenn ſich Sondergeſpräche am Tiſch
aufthaten? wenn dann auch das zu laute Sprechen
anfieng? Die Leute zu Einem Geſpräch zuſammen¬
bringen mit jedem Mittel, — helfe, was helfen mag!
— war das keine geſellige Tugend? Iſt unſere Unter¬
haltung nicht harmoniſcher gefloſſen, ſo lang er uns
ſo zuſammenhielt?“
„Doch jedenfalls über die Maßen nervös hat er's
getrieben,“ meinte der Oberförſter; „das führt denn doch
weit, wenn man gar keine Theilgeſpräche an einem
Tiſch dulden will, es hat doch ſo Mancher mit Dem
und Jenem etwas Beſonderes zu reden.“
„Nervös,“ ſagte der andere Arzt (er hieß Volkart);
„nun, wenn man will. Oft nennt man normale
Nerven kranke, denn die der Mehrheit ſind ſtumpf und
ſo erſcheint ihr das Richtige als pathologiſche Aus¬
nahme. Bemerken Sie, wenn Abends in einer Familie
die Lampe aufgeſtellt wird: die Kinder halten ſich die
Augen zu, die Flamme blendet ſie. Das iſt aber
geſunder Sehnerv und abgeſtumpft iſt der von uns
Alten, der keine Blendung empfindet. Grellem Lichte
kommt aber doch gewiß ein Gewirre von Geſprächen
gleich.“
„Es war eben doch überhaupt eine beſondere Art
von Gehirn,“ bemerkte jetzt der Geiſtliche; „wir dürfen
faſt ſagen: eine Annäherung an Wahnſinn —“
„Nun, nun,“ verſetzte Doktor Volkart; „ja und
nein, nein und ja, jedenfalls nimmermehr bis zu der
Linie, wo es Gegenſtand für Pſychiatrie wird, —
wer ergründet Gehirnleben!“
Jetzt fuhr Doktor Schraz auf: „Ich wiederhole, was
ich oft geſagt: kein Narr war er, ſondern — erlauben
Sie mir das Wort männlich zu bilden: ein Kokett, denn
Coquard ſagt nicht ganz daſſelbe. Geſpiegelt hat er ſich
in ſeiner Seltſamkeit und geſpielt mit uns und Allen.“
Das Wort entzündete Aufruhr, es entſtand ein
Durcheinander von lebhaften Reden und heftigen Gegen¬
reden; der Widerſpruch war faſt allgemein, ich bemerkte,
wie der Aſſeſſor lächelnd dem Tumulte zuſah, und
meinte auf ſeinem Geſichte zu leſen, was ich ungefähr
auch dachte: daß nämlich der Doktor ein mikroſkopiſch
kleines Körnchen Wahrheit, das dem Inkulpaten nicht
im mindeſten zur Unehre gereichte, zum groben Klumpen
aufgeſchwellt hatte. —
Dem Geiſtlichen gelang es, den wirren Streit zu
beſchwichtigen. Mit gehaltener Würde ſprach er, nach¬
dem die Ruhe hergeſtellt war: „Einen Vorwurf freilich
können wir dem guten Manne nicht erſparen: all' dieſe
Ungeduld beruhte ſchließlich doch einfach auf Unglauben
an die Vorſehung, an einen perſönlichen Gott.“
„Im Krieg ſchießt man mit Fleiß auf die Leute,“
ſagte jetzt ruhig der Aſſeſſor.
„Wie? Was? Wie?“
„Ich meine es nur formal logiſch,“ verſetzte mild der
junge Mann. „Wenn Jemand aus allerlei Gründen,
zum Beiſpiel wegen der großen und allgemeinen Grauſam¬
keit in der Natur, namentlich aber aus ſehr ſcharfer
Erkenntniß der unendlichen Durchkreuzungen in der Welt
dahin gelangt, daß er dem Einen, das Allem zu Grunde
liegt, die Perſönlichkeit abſprechen zu müſſen glaubt,
ſo kann man doch nicht ſagen, das komme eben daher,
daß er ſie ihm abſpreche.“
„Und an eine ſittliche Weltordnung hat er doch
geglaubt,“ fiel Doktor Volkart ſo raſch ein, als befürchtete
er von den ſprechbereiten Lippen des Kanzelredners
einen längeren Vortrag.
„Ohne Gründer und Hüter!“ rief der eifrig
Mann.
„Ohne Einen, aber mit vielen, ſehr vielen!“ er¬
widerte für den Arzt der Aſſeſſor.
„Ja, das iſt auch wahr, beim Moraliſchen war er
ſtreng feſt, ſagte ja auch ſo oft: das Moraliſche ver¬
ſteht ſich immer von ſelbſt,“ ſo unterſtützte nun der
ehrſame Oberförſter.
Das Geſpräch verſtrickte ſich wieder zu einem Wirrwarr,
worin es ſtets auf's Neue ſich um den Punkt der einen
Frage drehte, ob die Grillen des Verewigten nicht viel
[99] weiter gegangen ſeien, als zuläſſig, als mit Vernunft,
Würde und Normalſtand der Menſchennatur vereinbar
ſei. Die ganze Zeit über hatte der penſionirte Kameral¬
verwalter, der unten am Tiſch ſaß, beharrlich geſchwiegen.
Ich hatte mir ihn öfters betrachtet. Er gehörte zu jenen
bequemlichen alten Herren, die einen ganzen Abend ſtock¬
ſtill in einer Geſellſchaft ſitzen; die einzige dramatiſche
Belebung, wodurch ſie etwas Wechſel in die abſolute
Gleichheit dieſes Daſeins bringen, beſteht darin, daß ſie
von Zeit zu Zeit bedächtig die Cigarre aus dem Mund
nehmen, die Meerſchaumſpitze betrachten, wie weit ſie
braun geraucht ſei, und ſie ebenſo bedächtig, ja feier¬
lich wieder in den Mund ſtecken. So hielt es auch
dieſer ſtumme Herr, mit der einzigen Zuthat, daß er
bisweilen die Hand langſam über ſeinen Kahlkopf
gleiten ließ, wie um zu prüfen, ob die ſorgſam von
hinten herübergekämmten grauen Härchen noch ordent¬
lich liegen. Der Aſſeſſor hatte mir, bemerkend, daß
mein Blick öfters mit Behagen auf dem behaglichen
Schweiger verweilte, einmal zugeflüſtert: „Ueber dieſen
hat der Selige einſt zu mir geſagt: ‚der iſt ſo trocken,
ich muß in die Hand ſpucken, wenn ich nur an ihn
denke; der Menſch feiert ja ordentliche Bacchanalien,
Orgien der langen Weile'; dennoch hat er ihn gern
gehabt.“ Nun, dieſer Herr begann jetzt unter allge¬
meinem Erſtaunen über das Wunder, daß man ihn
zu mehr als ein paar Worten ausholen hörte: „Ich
[100] bitte, meine Herren, da hab' ich heut in dem guten
alten Buch Simpliciſſimus von Grimmelshauſen etwas
geleſen, das hab' ich mir wörtlich gemerkt, mir ſcheint,
es paſſe hieher: ‚Ich glaube, es ſei kein Menſch in
der Welt, der nicht ſeinen Sparren habe, denn wir ſind
ja Alle einerlei Geſchöpfe und ich kann bei meinen Bir'n
wohl merken, wann andere zeitig ſind.'“
Die Herren wurden nachdenklich und ſtill. Mir ſchien
das Citat nicht übel, nur zu wenig. Ich geſtehe, daß
es mich anwandelte, die Geſellſchaft mit der Paradoxie
zu erſchrecken, der Selige habe mit ſeinen angeblichen
Grillen überhaupt Recht gehabt. Ich that es nicht,
ich dachte: für den Hausbrauch iſt das Wort des
behäbigen Herrn gerade ausreichend, und was den
Geſcheuteren, den Aſſeſſor, betrifft, der wird ſein Theil
ſchon von ſelbſt hinzudenken. Das Geſpräch verlief
und warf ſich dann auf andere Gegenſtände.
Das ſind die Brocken aus jener Abendunterhaltung,
die ich mir vor Bettgehen aufzeichnete und die ich dem
Leſer nicht vorenthalten zu dürfen glaubte. Ich nahm
des andern Tages mit dem Vorſatz, von Zeit zu Zeit
wiederzukommen, gerührten Abſchied von Frau Hedwig
und vom Aſſeſſor und reiſte mit meinem Papierpack
nach Hauſe.
Es iſt noch zu erzählen, daß ich vor ein paar
Jahren im Herbſt die Gotthardſtraße und den Schau¬
platz unſerer Großthat wieder beſucht habe. Den
[101] Wirth in Göſchenen fand ich nicht wieder, von den
ſchönen Bellinzoneſen ſah ich nichts mehr, der Granit¬
block gegenüber dem Wirthshauſe war verſchwunden,
die ganze Ortſchaft ſchien italieniſch geworden, denn
ſie wimmelte von welſchen Arbeitern am Bau der
furchtbaren Höhle, die Menſchenhand durch die Einge¬
weide der Granitwelt bohrt: bleiche, traurige Menſchen,
die man mit ihrer Hängelampe zu dem dumpfen,
ſtickluftſchwangern Schlunde ſchleichen ſieht, als gienge
es in's Grab. Als ich vom Marſche bis Andermatt
wieder zurückkam und das Dorf raſch durchſchritt, kam
mir Jemand nachgelaufen und ſprach mich an. Es
war eine wohlgethane Frau von vorgeſchrittenen Jahren
in ſauberer, ländlicher Kleidung; „ach,“ rief ſie, „ver¬
zeihen Sie doch, ſchon heut Vormittag meinte ich Sie
zu erkennen, ſind Sie denn nicht der Herr, der anno
Fünfundſechzig dazumal mit dem andern Herrn — ?“
Ich erſparte ihr gern die Mühe, einen Satz zu
vollenden, der die nicht leichte Aufgabe hatte, rückſichts¬
voll zu bezeichnen, was Tolles damals geſchehen war,
und bejahte um ſo eher, da ich gleichzeitig die Frau
zu erkennen meinte, die damals mit dem Kind auf
dem Arm ſo ſtill vorwurfsvoll unſerem Beginnen zuſah.
„Burgi! Burgi!“ rief ſie zurück, „komm' doch, komm'!“
Ein blühendes Mädchen kam nachgelaufen. „Sieh',
das iſt der Herr, der kann uns erzählen von unſerem
Wohlthäter, der iſt mit ihm dageweſen.“ Ich küßte
[102] das Mädchen auf ſeine erdbeerfriſchen, rothen Backen.
„Damals war es ein mageres, bleiches Kind,“ ſagte
ſie, „und ich ein dürres, hungerbleiches Weib; wiſſen
Sie denn auch? Ein Kapital, von dem wir einen
Acker und zwei Kühe kaufen konnten; mit Sparen und
Hauſen haben wir's dann zu einer kleinen Wirthſchaft
gebracht, wir geben jetzt Arbeitern Kantine, aber keine
ſchlechte, über die unſrige hat's nicht den Krawall
gegeben, — und das Kapital, aus Deutſchland iſt's
gekommen von dem guten, lieben Herrn, ach, nun
kann ich ihn noch grüßen, ihm tauſend, aber tauſendmal
danken, ſagen Sie ihm: vergelt's Gott ſein ganzes
Leben lang und noch im Himmel droben!“ Ich ſchwieg
vorerſt von dem, was ſeither geſchehen, gieng mit der
Frau in ihr Haus, fand in der reinlichen kleinen
Wirthsſtube ihren Mann, der mir herzlich die Hand
drückte und ein Glas feurigen Veltliner vorſetzte. Ich
begann zu erzählen und ſuchte den einfachen Menſchen
einen ungefähren Begriff von dem Manne zu geben,
den die Frau ſo närriſch geſehen und der dann ihr
Retter geworden. Nun hielt ich nicht mehr zurück
mit dem traurigen Ende. In der Ecke ſaß ein italieni¬
ſcher Arbeiter in verſchoſſener Sammetjacke, er bat mich,
da er die Thränen der tiefbewegten, dankbaren Men¬
ſchen ſah, ihm zu ergänzen, was er nicht verſtanden
hatte. „Ah, che bravo!“ ſagte er dann und bewegte
die braune Hand nach den dunklen Augen. —
[103]
Ich nahm herzlichen Abſchied von den guten Leuten
und machte mich auf den Weg, um in Waſen zu über¬
nachten. Unweit des Dorfes fuhr ein Wagen an mir
vorüber, in welchem ich den würdigen alten Herrn
und die zwei Knaben zu erkennen glaubte, die ich einſt
in Bürglen an der Tafel getroffen hatte. Es war
an einer Steigung, der Wagen fuhr langſam. Ich
bemerkte, wie die Knaben, nachdem ſie aufmerkſam
nach mir hergeſehen, dem Alten etwas zuflüſterten.
Er ließ halten und fragte mich höflich, ob er nicht im
Spätſommer 1865 das Vergnügen gehabt, mich in
Bürglen an der Tafel zu treffen; er ſagte, er erinnere
ſich zwar nicht, daß ich damals an der Unterhaltung
theilgenommen hätte, wohl aber, daß ich Herrn Einhart
halb fremd, halb wie ein Bekannter gegrüßt. Er bot mir
an, einzuſteigen, ich ſchlug höflich ab; er mochte mir
aber anmerken, daß ich zwiſchen Unluſt, zu fahren, und
Drang, ihn zu ſprechen, im Kampfe ſtand, und fuhr
fort: „Wir füttern in Waſen die Pferde, werden eine
ſtarke Stunde verweilen; könnten wir uns dort ſprechen?“
Ich bejahte gern. Waſen war bald erreicht. Herr
Mac-Carmon, ſo hatte er ſich mir vorgeſtellt, kam mir
entgegen; ſchnell war unſer Geſpräch im Fluß, und
ſchmerzvoll theilte er mir mit, er ſei auf dem Rückwege
nach Schottland von Italien; er habe ſich ſchwer vom
Grabe ſeiner Tochter getrennt, der ihr Mann, ein
ſchwediſcher Arzt, ſieben Jahre im Tode vorangegangen
[104] ſei. „Sie ruht neben ihrer Mutter,“ ſagte er mit
brechender Stimme, „die auch jung geſtorben iſt auf
einer Reiſe, die ich mit ihr nach Perugia, ihrer Vater¬
ſtadt, machte. Beide konnten das Klima Schottlands
nicht ertragen und meiner Tochter hat wohl das nor¬
wegiſche den Todesſtoß gegeben. Zweimal habe ich
Cordelia zu ihrer Erholung nach Italien gebracht;
wir verweilten den Winter, nachdem wir Sie in
Bürglen getroffen, in den umbriſchen Städten, wir
begaben uns vor wenigen Jahren wieder dahin, als
ihre Kräfte ſich immer ſchwächer erwieſen, unſere
Nebel, unſere Winde zu ertragen. Sie war nicht
mehr zu retten, ſie ſtarb in Aſſiſi und ruht in
Perugia.“
Ich drückte ihm ſchmerzergriffen, ſchweigend die
Hand. „Sprechen wir von Einhart,“ fuhr er nach
einer Pauſe fort; „Sie kannten ihn doch wohl näher?“
Ich erwähnte zuerſt flüchtig, daß ich nach raſcher
gegenſeitiger Annäherung damals, in Bürglen, durch
augenblickliche Verſtimmung mit ihm geſpannt geweſen,
erzählte in kurzen Zügen, daß unſer Verkehr durch
nachfolgendes neues Zuſammentreffen raſch wieder in
Fluß gekommen ſei, faßte alles Weitere im Abriß zu¬
ſammen und berichtete vom blutigen Ende, das der
Unglückliche gefunden. Mac-Carmon ſah tief erſchüttert
eine Weile vor ſich nieder und ſagte dann: „Das
alſo war die Ahnung Cordeliens? — Sie hat ihn
[105] kurz vor ihrem eigenen Ende geſehen, nachdem auf
unſerer früheren Reiſe eine Spur von ihm in Aſſiſi
aufgetaucht, aber ſchnell wieder verſchwunden war.“
Ich ſagte, daß ich dieß aus dem Tagebuch entnommen
habe. „Und auch die Ahnung?“ fragte der Schotte. Auf
meine Erwiderung, daß nur ein paar Worte in dieſen
Blättern auf einen ſolchen innern Vorgang dunkel hin¬
weiſen, erzählte er mir, als Cordelia in Aſſiſi der
Auflöſung nahe im Haus ihrer Tante darniederlag,
ſei ganz unvermuthet von A. E. ein Brief eingetroffen
mit der Frage, ob ſein Beſuch nicht unwillkommen
wäre. Am Abend vorher ſei die Nachricht von der
Kriegserklärung zwiſchen Frankreich und Deutſchland
nach Aſſiſi gelangt und in der Nacht habe Cordelia
geträumt, ſie ſehe den alten Freund verblutend neben
einem Pferde liegen. „Ohne daß wir,“ fuhr er fort,
„eben geneigt wären, an myſtiſche Fernſicht der menſch¬
lichen Seele zu glauben, wollte uns unter dem Ein¬
druck der aufſchreckenden Kriegskunde dieſes Traumbild
doch wie ein prophetiſches erſcheinen, und die ſchwere
Stimmung, in die es uns verſetzte, hat dann dieſem
Wiederſehen eine gar dunkle Farbe gegeben, die ich
doch keine troſtloſe nennen kann, denn — o, Sie hätten
dieſen Abſchied zwiſchen Beiden mitanſehen müſſen!
— Das war —“ — „Die wenigen Worte der hinter¬
laſſenen Blätter laſſen mich errathen, was das für
eine Stunde war,“ ergänzte ich die ſtockende Rede.
[106] Ich meldete ihm jetzt vom Teſtamente, von der Voll¬
macht, die es in meine Hand gelegt, theilte ihm mit,
daß ich eben im Begriff ſtehe, das Intereſſanteſte aus
dem Tagebuch zu veröffentlichen, und ließ nicht uner¬
wähnt, daß ich hier auf Lücken und Andeutungen
räthſelhafter Art, auf ſchweres Dunkel zwiſchen jähen,
kurzen Lichtern geſtoßen ſei. „Einige Aufhellung kann
ich Ihnen geben, wenn auch keine volle,“ ſagte der
ſchmerzlich bewegte Mann, „Sie werden dann auch erſt
ganz verſtehen, warum mir die Worte nicht gehorchen
wollen, ein Bild von jener Scheideſtunde zu geben;
wer vermochte es mit trockenem Auge zu ſehen, wie
er ihre blaſſe Hand drückte und mit Thränen bedeckte,
mit welchem Blick ſeine Augen zu ihr aufſchauten! —
Sie ſollen, ſo viel ich zu berichten weiß, erfahren,
was in Norwegen geſchehen iſt, laſſen Sie uns hinaus
in's Freie gehen.“
Ich nahm die nöthigſte Erfriſchung und trat dann
einen Gang in die nächſten Feldwege mit ihm an,
der uns nahe an der toſenden Reuß hinführte; ihr
dumpfes Donnern in tiefgefreſſener Felsſchlucht war
die rechte Begleitung zu dem, was der Mann mir zu
ſagen hatte.
In einer Bewegung, die der Leſer im Verfolg
begreifen wird, nahm ich Abſchied von Vater und
Enkeln, die in der Nacht noch Flüelen erreichen wollten.
Die Knaben waren ſchlank emporgewachſen, ſeit ich ſie
[107] das erſte Mal geſehen hatte, der eine ſchon zum Jüng¬
ling entwickelt. Sie hatten beide die dunklen, großen,
von langen Wimpern beſchatteten Augen der Mutter
und blickten mich an wie einen Vertrauten ihres Kummers,
ich umarmte die Frühverwaisten und küßte ſie auf die
reinen Stirnen.
Mit fliegendem Stifte und, ich geſtehe es, mit
zitternder Hand zeichnete ich mir in der Herberge auf,
was ich vernommen, und beſchloß, nicht, wie ich ge¬
wollt, in Waſen zu übernachten. Ich hätte nicht
ſchlafen können, ich zog einen nächtlichen Marſch bis
Amſteg vor, um durch Ermüdung Ruhe zu finden.
Es war ein dunkler Gang, dunkel von innen wie
von außen.
Freier und heller wurde es in mir, als am andern
Vormittag der Vierwaldſtätterſee im Gürtel ſeiner ſtolzen
Ufer groß, weit, den blauen Himmel ſpiegelnd vor
meinen Augen ſich aufthat. Das ſonnige Bild ſchien
mir zu ſagen, daß im unendlichen All doch jeder
Mislaut ſich löſen muß, und ich durfte es mir be¬
ſtätigen, indem ich bedachte, daß auch der umgetriebene
Sohn der Erde, mit dem ich einſt dort drüben auf
der Axenſtraße gewandelt, doch freien Geiſtes über den
Riſſen und Klüften in ſeiner Seele ſchwebte und daß
ihm gegönnt war, mit einer letzten reinen Rührung
im Gemüthe ſein Einzelleben dem Weltall zurück¬
zugeben.
[108]
Ich hatte zu Schiffe bis Luzern fahren wollen, zog
aber, da ich das Dampfboot voll von Touriſtenvolk
ſah, die Stille und Einſamkeit eines Marſches auf der
Axenſtraße bis Brunnen vor und wanderte ſo meines
Weges, in Erinnerung verſunken. Ein Bote begegnete
mir, ein Eſel zog ſeinen kleinen Wagen. Ich erkannte
den Mann jener Szene wieder, die vor Jahren hier
vorgefallen; er war etwas gealtert, ſah aber ganz
behäbig aus. Ich ſprach ihn an, wurde von ihm
ebenfalls erkannt und nun erzählte er, der ſonderbare
und doch gute Herr ſei im Frühling 1866 erſchienen,
um nachzuſehen, ob er Wort gehalten; er habe ihm
ſeinen Eſel gezeigt, dann ſeien ſie zuſammen nach der
Ortſchaft N. gegangen, einen „Kollegen“ zu beſuchen,
der von ihm bewogen worden, ebenfalls ſeinen Zug¬
hund mit dem leiſtungsfähigen grauen Hufthier zu
vertauſchen, dann habe der Herr ſie beide in's Gaſt¬
haus mitgenommen, bewirthet und ihn reicher beſchenkt,
als er verſprochen hatte.
[[109]]
Tagebuch.
[[110]][[111]]
Alſo ein Amt! Kann wirken! Recht! Friſch dran!
Viel zu ordnen! Will drein fahren! Sollen mich
ſpüren!
Wie will ich fertig werden? Kann doch meine
Bücher nicht ganz liegen laſſen. Die Zeit zum Leſen
muß her und müßte ich ſie an den Haaren herbei¬
reißen. Vier ganze Wochen nicht dazu gelangt, etwas
zu leſen. Da entdeck' ich den Schopenhauer: Die Welt
als Wille und Vorſtellung. Schon zweite Auflage.
Die Welt ſo ſchlecht als möglich, Produkt des ganz
dummen Urwillens, das Weſen der Dinge Nichts.
Höchſtes Ziel Nirwana. Voll von Widerſprüchen,
beſtechend gut geſchrieben, geiſtreich. Hat doch Tiefe.
Verwandt. Wie hab' ich als Student über dem Nichts
gebrütet! Oft Piſtole ſchon geladen. Klage einmal
dem ordentlichen Kerl, dem Theologen aus Stolpe,
ich zweifle eigentlich, ob Etwas ſei. Der räth mir,
[112] Troſt bei der Bibel zu ſuchen, ich ſage: wenn ich nur
wüßte, ob es eine Bibel gibt.
Wenn aber Nichts iſt, iſt doch Schlechtes ſo wenig,
als Gutes.
Der Unſinn mit dem Nichts kommt nur daher,
daß man zuerſt verlangt, die Einheit aller Dinge ſolle
neben den Dingen auch Etwas ſein, und dann ſich
darüber erzürnt, daß ſie Nichts iſt, wenn man die
Dinge, deren Einheit ſie iſt, von ihr wegdenkt. Es
iſt latenter Theismus. Davon kommt Alles her. Man
ſieht große Uebel in der Welt, negirt einen perſönlichen
Gott, meint aber doch Jemand verantwortlich machen
zu müſſen, und ſtürzt in die Narrheit, ihn heimlich zu
glauben, aber für einen ſchlechten Kerl zu halten.
Fällt mir der Krämer in Brackniz ein, Dilettant im
Atheismus. Hatte ein Lädchen zu ebener Erde, zwei
Stufen unter der Richthöhe der Straße. Wenn der
Bach anſchwoll, lief ihm das Waſſer herein, er mußte
dann mit dem ganzen Kram in den erſten Stock
ziehen. Pflegte, wenn's lang regnete und das Uebel
drohte, zum Himmel hinaufzuſehen und boshaft zu
ſagen: „nun ja, ich kann dir ja den Gefallen thun,
wenn es durchaus ſein ſoll!“ Einmal, als er hinauf¬
[113] ziehen gemußt, ſtellt er ſich an's Fenſter und ſpricht,
in den Regenhimmel hinaufblickend: „dir geh' ich noch
mehr zum Abendmahl!“
Um Gottes willen, mein kleiner Finger jückt, linkes
Auge glüht, Naſenzipfel brennt — es kommt ein
neuer!
Zum Troſt einen Hund gekauft, junger zottiger
Dachs; ſeltener Schlag. Heißt Igelmeyer. Neulich
ſagt des Oberrichters Sohn: „Gelt, Vater, ohne Hund
wär's doch nix auf der Welt.“ Gut! Wahr!
Dieſer Nihilismus und Peſſimismus iſt eigentlich
Spätprodukt der Romantik, Erſcheinung ihres Zer¬
ſetzungsprozeſſes, Schopenhauer iſt Heine in der Philo¬
ſophie. Mit Abzug natürlich; der Philoſoph ernſter,
trauriger. Herkunft der Romantik vom Idealismus.
Der verlangte von der Welt mehr, als ſie ſein kann,
forderte überſpannt. Nun Weltſchmerz, Zerriſſenheit.
Dann Blaſirtheit. Dieſe nimmt jetzt philoſophiſche
Form an: es iſt Alles nichts. Doch Vieles wahr,
viel Recht gegen erbauliche Illuſionen. Hauptfehler:
Sie erkennen ganz, wie ſchlecht es neben ſo viel
Viſcher, Auch Einer. II. 8[114] Schönem hergeht im untern Stockwerk, in der Natur,
wollen aber nicht einſehen, daß ſich über ihm ein
zweites aufgebaut, das Geſetze hat, feſt über der Will¬
kür, objektiv, nichts fragend nach Luſt oder Unluſt,
und doch Seligkeit gewährend im Dienſt, in der Arbeit
am zeitlos Werthvollen.
Die Natur hat ſich ſchwer und wild abgemüht,
bis ſie die jetzigen Typen (Gattungen und Arten)
feſtgeſtellt hat, an ihrer Spitze den Menſchen. Viel¬
leicht kommt noch Einer auf den Gedanken, wahrſchein¬
lich zu machen, daß ſie nicht nur formell ausſehen,
als wäre eine Form aus der andern entwickelt (wie
die vergleichende Anatomie bei der Thierwelt zeigt),
ſondern daß es wirklich real ſo zugegangen, alſo auch
der Menſch vorher Thier geweſen iſt. Nun hat dann
der Menſch wieder von vorn angefangen, er iſt zuerſt
jedenfalls nicht viel beſſer geweſen als ein Thier.
Wüthend, viehiſch muß Menſch mit Menſch gerauft haben
um Wohnſitz, Speiſe, Weib, Macht. Ein Kampf,
dem analog, durch den einſt die Typen, die genera
und species geworden ſein müſſen. Durch eine Reihe
furchtbarer Erfahrungen, in unermeßlicher Zeitdauer
muß dieſer Kampf dahin geführt haben, daß allmälig
rechtliche, ſittliche, politiſche Ordnungen ſich heraus¬
arbeiteten und gründeten, z. B. bis man einſah, daß
[115] es Eigenthum geben muß, durch Geſetze geſchützt, daß
die Raſerei des Geſchlechtstriebs nicht zu zügeln ſei,
als durch die Ehe. So entſtand eine zweite Welt
in der Welt, eine zweite Natur über der Natur, die
ſittliche Welt. Dieß heiße ich für meinen Bedarf das
zweite Stockwerk. Wie nun jene Naturtypen nach ſo
langen, harten Prozeſſen feſtgeſtellt ſind, als wären ſie
ewig feſtgeſtanden, ſo die ſittliche Ordnung. Sie hebt
ſich über die Zeit aus der Zeit heraus, iſt ein Unbe¬
dingtes, an ſich Wahres, man kann ganz davon ab¬
ſehen, es iſt auch gleichgültig, daß ſie in der Zeit
entſtanden iſt, — ewige Subſtanzen, die „droben
hangen unveräußerlich und unzerbrechlich, wie die
Sterne ſelbſt“. Sie ſind allerdings auch in einer
Entwicklung begriffen, aber dieſe trifft nicht ihren
Kern; Eigenthum, Recht, Geſetz, Staat muß immer
und ewig ſein. Und das Höchſte in dieſem Hohen:
die Einrichtungen, Thätigkeiten, die dem Mitleid ihr
Daſein verdanken, und Kunſt und Wiſſenſchaft. —
Mir will es aber immer vorkommen, als ſei in dem
erſten Stockwerk ein Zorn, ein Gift darüber, daß es
das zweite tragen muß, als ſei da — ein — ein
Etwas, ein Rachgeiſt, Tücke, nach den höheren Weſen,
nach den Zimmerleuten des zweiten Stockwerks mit
Nadeln, mit Pfriemen, haarfeinen Dolchen durch die
Dielenſpalten hinaufzuſtechen — —
[116]
Noch ſo jung, ein Eichbaum in Kraft, und dieſe
Schmarotzerpflanze an ihn angeſogen, die ihn um¬
ſchlingt, umgarnt und ſchmachvoll, langſam tödten
wird!
Igelmeyer ſchon ſehr anhänglich. Begrüßt mich
ſehr, wenn ich vom Amt komme, geräth dann öfters
in einen bacchiſchen Wahnſinn vor Freude, umkreiſt
mich in raſendem Laufe, ſpringt auf Tiſche, Schränke
in tollen Sätzen. In einer italieniſchen Reiſebeſchrei¬
bung habe ich auch ſo etwas Dionyſiſches geleſen. Der
Verfaſſer reiſt mit einem deutſchen Grafen, einem
bildſchönen jungen Manne, kommt nach Iſchia, eine
Alte ſieht den Jüngling, geräth in Rauſch des Ent¬
zückens, holt ihr Tamburin und umtanzt ihn trommelnd
und ſingend: quanto è bello! quanto è bello!
Er war ihr ein Gott. — So der wieder erſcheinende
Herr dem Hund. Ja, Thiere und Völker, die noch
halbe Heiden ſind, die wiſſen's anders, als wir ver¬
nunftlederne [Aufklärungschriften].
Komiſch ſind gar nicht bloß die ſtarken Irrungen
der Thiere, wie geſtern, da man den Igelmeyer in
der Küche allein fand, vor dem Speiſeſchrank auf¬
wartend. Ein Thier iſt überhaupt den ganzen Tag
[117] komiſch in ſeiner Menſchenähnlichkeit, die doch nicht
zum Menſchſein reicht. Jede Gebärde, das Geſicht,
die Leidenſchaftlichkeit, die Dummheit in der Ge¬
ſcheutheit. Legt man ihnen einen Menſchen unter,
ſo gibt es zu lachen auf Tritt und Schritt. Wer
die Thiere nicht liebt, dem fehlt die Phantaſie, dieſe
Unterlegung zu vollziehen.
Die Thiere ſind ungeheuer neugierig wie leere
Menſchen. Lieber Gott, was ſollen ſie auch thun,
womit ihren Tag ausfüllen! — Für die Menſchen
gilt: je weniger Wißbegierde, deſto mehr Neugierde.
Heute etwas freier. Frühſtück geſchmeckt. Fällt
mir da am Tiſch der Peſſimismus und Nihilismus
wieder ein. Habe da einen runden Tiſch, trägt mir
loyal meine Kanne, Taſſe, Krug, Zeitungen, Schüſſeln,
Teller. Denke manchmal, er könnte auch viereckig ſein,
aber er iſt eben rund und mir doch ſo gerade recht,
bin zufrieden. Kommt da ein Kerl her und ſagt:
„Du biſt ein elender Optimiſt, du ſollſt den ganzen
Tag daran denken, daß der Tiſch nicht zugleich vier¬
eckig iſt, daß er da aufhört, wo er aufhört, ſollſt in
das Nichtſein des Vierecks in ſeinem Rund dich ver¬
tiefen, verbohren, verbeißen, ſollſt ferner täglich und
[118] ſtündlich erwägen, daß er nicht ewig dauern kann,
ſollſt alſo an dem Tiſch kein Genüge mehr haben,
ſollſt ferner von ihm Anlaß nehmen, vom frühen
Morgen bis zum ſpäten Abend dich zu entſinnen,
daß überhaupt Alles im Sein auch nicht iſt, nein!
ſollſt vom Sein abſehend in das Nichts hineinſtieren
und ſo denn tagtäglich ſchon beim Frühſtück dich ver¬
bittern!“ — Den Kerl ſoll doch der Teufel holen!
Es iſt derſelbe Prometheus, der den Menſchen
das Feuer, die Technik, das Selbſtbewußtſein, das
Denken, die Vernunft, und der ihnen die Illuſion
gebracht hat: er gab ihnen die Freude am Augen¬
blick und das Glück der blinden Hoffnung — der¬
ſelbe. So nimmt es wenigſtens Aeſchylos. Alſo
Prometheus, der Vordenkende! Er, der uns das
Vordenken gebracht, er hat es auch durch die Phantaſie
begrenzt, begrenzt aus Vordenken darüber, was ſonſt
folgen würde. Die Illuſion iſt alſo ein philoſophi¬
ſches Gut.
Man wird ſehen, es taucht gewiß noch Einer auf,
der aus Schopenhauer's blindem Urwillen und der
Vorſtellung, indem er ſie kopulirt, vollends eine
ganze niedliche Mythologie herausſpinnt! Und ich
[119] wette, er wird dabei noch verlangen, man ſolle ernſt
bleiben.
Geſtern den rückfälligen ſtörriſchen Lumpen Peter
krumm geſchloſſen, er verdiente Feßlung, doch nicht ſo
hart. Bin ungerecht geweſen, hab's in der Katarrh¬
wuth gethan. Da ſieht man, wohin es Einen bringt.
Dennoch werde ich kein Peſſimiſt. Oberer Stock bleibt.
Welche raſſeloſe Weiber ſind doch hier! Schlechter
Hals und Nacken, Schultern und Bruſtkorb abgenagte
Gansgerippe u. ſ. f. Was geht's mich an! Das
Weib iſt nicht für mich, bin ſchon mit Fräulein
Schnuppe verlobt.
Höchſtens ein Frauenbild im großen Styl könnte
mich aus dem Gleichgewicht bringen — wahrſcheinlich
zu meinem Unglück. Ich habe auf der Inſel Föhr
frieſiſche Landmädchen geſehen, groß, aufrecht, in Be¬
wegung und Benehmen vom Naturadel alter Völker.
Die altdeutſchen Weiber müſſen noch ſtolze Erſcheinun¬
gen geweſen ſein! Fern in Skandinavien muß es noch
mehr dergleichen geben. Auf einigen griechiſchen Inſeln
ſoll noch altgriechiſcher Schlag ſein, gewiß auch alt¬
[120] morgenländiſcher im Orient. Nun, und Italien!
Römiſches Gebirge — auch mit altklaſſiſchen Frauen¬
namen: Valeria, Cornelia und ſo — man muß
doch hin!
Dort, auf jenen Inſeln der Nordſee, hat ſich
die ſchöne Raſſe erhalten trotz der Durchſäuerung,
welche die menſchliche Natur durch die finſtern Zeiten
des Proteſtantismus erfahren hat; merkwürdig, denn
ſonſt iſt die Scheidung ſo ſcharf, daß man nur durch
einen Fluß getrennt verkümmertes Menſchenbild in
traurigem Schwarz auf dem proteſtantiſchen, ſtylvolle
Weiber in erhaltener ſchöner alter, farbiger Tracht
auf dem katholiſchen Ufer ſehen kann. Mehr Heiden¬
thum in der katholiſchen Welt, alſo auch noch mehr
Natur, — auch Augen mit Naturglanz, friſche Wald¬
kirſchen. Doch dafür auch leidenſchaftlicher, leicht wild
in Liebe und Zorn; ſchon die Griechen klagen über
die verrückte Leidenſchaftlichkeit ihrer Weiber. — Edler
Schlag und proteſtantiſch tiefe Bildung vereinigt: das
wäre ſchön. — Auf alle Fälle thut Vorſicht gut.
Man muß eben immer und überall dafür ſorgen,
daß man ſich ſelbſt behält. „Sich ſelbſt haben iſt der
größte Reichthum“, altes Wort von Chriſtoph Lehmann,
† 1630. (Florilegium poeticum.)
Leſſing's „Nathan“, Goethe's „Iphigenie“ und
Schiller's „Don Carlos“ ſind die drei prieſterlichen,
hochreligiöſen Dichtungen des Aufklärungszeitalters in
der reinſten, geläutertſten Form ſeiner Ideen. Dramen
der Humanität, der Menſchenliebe.
Alle drei ſymboliſche Gedankenprodukte, das Ge¬
ſchichtliche nur Maske: Orient im Mittelalter, vor¬
geſchichtliches Griechenland, Spanien zur Reformations¬
zeit; überall die Handlung unwahrſcheinlich. In allen
drei der Gedanke zur tiefen Gefühlsmacht geworden,
daher trotz der Symbolik alle drei poetiſch, tiefwirkend,
am ſtärkſten das dritte, weil das Gefühl Feuer, Leiden¬
ſchaft. Zweien davon fehlt, echt deutſch, das drama¬
tiſche Leben, am meiſten der „Iphigenie“, die darin ſehr
ſchwach iſt; das dritte voll Spannung und Handlung,
dagegen in der Kompoſition gequält, auch zu redneriſch.
Die Menſchenliebe iſt im „Nathan“ religiöſe To¬
leranz zwiſchen Nationen, Religionen, in „Iphigenie“
ſittigende, ſühnende, fluchlöſende Kraft, ausgehend von
der Familienliebe (Schweſterliebe), im „Don Carlos“
politiſch, völkerbefreiend, Staat auf Menſchenwürde
gründend, mächtig in's Allgemeine wirkend.
Träger: im „Nathan“ ein Greis, im „Don Carlos“
ein jugendlicher Mann, in der „Iphigenie“, echt Goethiſch,
ein Weib, reine Jungfrau.
In allen dreien ruht das Werk der Liebe auf Re¬
ſignation, Frucht ſchweren innern Kampfes.
[122]
In den zwei erſten iſt es ſtill wie in einer Kirche
(aber ohne Pfarrer), im „Don Carlos“ laut, doch
die Luft im Mittelpunkt religiös geſtimmt auch hier.
(W. Tell reifes Kunſtwerk, doch nicht ſo tief.)
Welches Menſchenvolk, das, dieſe Vernunftwerke
an der Spitze ſeiner Dichtung und Bildung, heute
noch nicht weiß, was Religion iſt! Sie noch in den
Glaubensſätzen ſucht! Oder mit ihnen wegwirft!
Goethe hatte zum Drama zu wenig Galle. Schiller
hatte mehr von dieſem Deſiderat. Shakeſpeare das
rechte Quantum, und doch gerade bei ihm bleibt die
Galle nirgends als bloßer Stoff liegen (außer im
Timon von Athen). — Ungeläuterter Stoff findet
ſich bei ihm auf anderen Punkten.
Goethe hat in die Schlechtigkeit der Menſchen ſchon
in früher Jugend zum Erſchrecken hell hindurchgeſehen.
Er ſagt irgendwo, es ſei ein Wunder, daß ihm das
Leben nicht langweilig werde, da ihm die Erfahrung
hierin gar nichts Neues bringe. Seine hohe Natur
hat ihm darüber emporgeholfen, er hat ſich an die
Guten gehalten und von da aus — von der „engen
Himmelszelle“ — die Welt angeſchaut. Wobei ihm
ſein leichtes Frankenblut viel geholfen hat. Nun hat
[123] er aber keine rechte Entrüſtung, keinen Zornſtoß. „Thö¬
richt, auf Beſſ'rung der Thoren zu hoffen“ — „haltet
die Narren eben für Narren auch, wie ſich geziemt“ —
Aber was ſagt er von Schiller?
Goethe war in dieſem Sinn zu früh objektiv. Der
Dichter ſoll freilich auch das Schlechte, Dumpfe, Böſe
ganz objektiv geben, dennoch ſoll man ihm anſpüren,
daß er es haßt, daß ein Grimm dagegen in ihm kocht.
Geſtern ein Geſpräch mit einem Dichter von großem
Talent. Der glaubt an Fernſehen, Fernwirken, Geiſter.
Erzählt mir als ganz beglaubigt eine Geſchichte von
einem adeligen Schloß, wo irgend eine Ahnfrau, deren
Bild im Saale hängt, alle Abend zum Eſſen erſcheint
und hinſitzt. „Das iſt ein langweiliger und imperti¬
nenter Geiſt,“ ſage ich; „der Geiſt Banquo's, der
weiß, warum er kommt; ein Geiſt darf erſcheinen,
wenn ihn ein Dichter brauchen kann; Punktum.“ —
Es that mir beſonders leid, weil es ein Poet iſt. Die
Poeſie läßt nicht nur in Erfindung von Handlungen,
Begebenheiten, ſondern in jedem gefühlten und ſtim¬
mungsvollen Einzelbilde die Kräfte der Seele und der
[124] Natur zuſammenwirken wunderbar, myſtiſch, die be¬
kannten unumſtößlichen Grenzen, Geſetze durchbrechend,
überfliegend. Sie kann Wunderweſen erſcheinen laſſen,
wie es ihr dient; ihr einziges Geſetz iſt das Band des
Zuſammenhangs. Ob es außerhalb der Dichtung
Solches gibt — mit dieſer Frage verhält es ſich ſo:
es werden wohl Fälle berichtet von myſtiſchen Hinüber¬
wirkungen, die gut bezeugt ſcheinen. Aber was ſollen
wir damit anfangen? All' unſer Thun und Denken
ruht unverbrüchlich auf dem Grunde der feſten Natur¬
geſetze. Soll ich glauben, die Natur ſei bloß ein
fadenſcheiniger Vorhang, hinter welchem ein Geiſter¬
reich laure, um hervorzubrechen, Niemand weiß, wann?
ſo wird Alles ungewiß und ſchwankend; ich weiß nicht,
ob dieſer Tiſch, dieſer Stuhl, dieſer Vogel nicht ſich
in einen Geiſt verwandelt oder ſein Träger wird; ich
lebe wie im Rauſche, die Konſequenzen, wenn ich ſie
vollzöge, müßten mich verrückt machen. Es folgt, daß
man ſich mit dieſen Dingen nicht befaſſen kann, nicht
befaſſen ſoll. Ich ſag' allemal, wenn man mir Derlei
bringt: „Mir iſt's, als wenn man einem Hund einen
Apfel gäbe: er riecht für ihn nicht, er hat keine Be¬
ziehung zu ihm, er kann einfach damit nichts anfangen.“
Nun aber erſt der Poet! Uebel, übel, wenn er an¬
fängt, ſich in hölzernem Ernſt doktrinell, dogmatiſch
mit dieſen Dingen zu beſchäftigen! So viel er ſich
damit abgibt, ſo viel iſt es Abbruch an ſeiner Poeſie.
[125] Was er als Phantaſieſchein betreiben darf und ſoll,
das betreibt er nun lehrhaft, ſcheinlos, phyſikaliſch oder
eigentlich hyperphyſikaliſch. Der Dichter läßt das Cen¬
trum alles Daſeins aus den Dingen, den Weſen, her¬
ausſcheinen, glühender, als es je in Wirklichkeit ge¬
ſchieht; in freiem, idealem Spiele durchbricht er für
dieſen Zweck je nach Bedürfniß die naturgeſetzlichen
Schranken und läßt z. B. inniges Andenken an die
Geliebte magiſch in die Ferne wirken. Der Gemein¬
ſpruch von der Beſeelung der Natur durch die Phantaſie
iſt ja auch nichts Anderes, als Aufhöhung der Wahr¬
heit, daß der Geiſt ſchon in der Natur ſchlummert,
durch Phantaſiemyſtik. Dieß Alles wird pure, auf
Koſten des freien Phantaſieſpiels geſchäftlich betriebene
Proſa, wenn man ſich ernſtlich auf den Wunder- und
Geiſterglauben einläßt, und jede Viertelſtunde, die ein
Dichter dieſem traurigen Ernſte widmet, ſtiehlt er ſeinem
höheren Thun, wo er denſelben Stoff frei ſymboliſch,
im Sinne des gefühlten, ahnungsreichen Symbols
allerdings, zu behandeln hat. — Nicht zu reden davon,
wie dick man angelogen wird, wenn man ſich einmal
auf das Zeug einläßt.
Goethe erfährt, daß Hegel eine Vorleſung über die
Beweiſe vom Daſein Gottes halte, und ſagt zu Ecker¬
mann, „dergleichen ſei nicht mehr an der Zeit.“ Das
[126] hat nun der alte Herr eben doch nicht recht verſtanden,
ſich gar nicht vorſtellen können, was da vorkommt:
das reinſte Waſſer auf die Mühle ſeiner eigenen großen
Anſchauung: „Das Daſein iſt Gott“ — und dieß
als Ergebniß einer Kritik der ſogenannten Beweiſe
von Gottes Daſein. Man kann zum Beiſpiel nicht
ſagen, das Daſein der Welt ſei Beweis für das Da¬
ſein Gottes. Man muß ſagen: „Das Daſein Gottes
iſt die Welt.“
Allerdings mit Unterſchied. Die Welt iſt das Da¬
ſein Gottes nicht in ruhiger Weiſe, ſondern ſo, daß
Gott ſein Daſein darin ſtets verbeſſert, ſtets auf’s
Neue eine geringere Form deſſelben durch eine beſſere
beſchämt. Gott iſt eigentlich eben dieſe wunderbare und
heilige Unruhe.
Gott iſt das Beſte in Allem.
Seit ich nichts mehr glaube, bin ich erſt religiös
geworden.
Neulich ſagt Einer, das ſei doch abſcheulich, daß
Gott den Juden geboten habe, ganze Städte zu ver¬
[127] wüſten, Alles, was männlichen Geſchlechts, niederzu¬
machen. Sagt ein Anderer drauf: „Da war eben
der liebe Gott ſelber noch jung.“ Gut.
Eine der liebenswürdigſten Etappen auf Gottes Welt¬
gang vom Guten zum Beſſern iſt die Schöpfung des Hundes.
O weh, jetzt hab' ich mich ſelbſt ſtrafen müſſen,
weil der Igelmeyer polizeiwidrig gehandelt hat! Wagen
angebellt, Pferde ſcheu gemacht. Hab' ihn fortgeben
müſſen, den guten; froh, daß gut untergebracht. Sie
haben erſt ſo ſehr Recht, die Köter, aber man darf es
ja nicht ſagen! Alles ſchnelle Fahren in Städten iſt
eigentlich Unfug, Unverſchämtheit gegen die Fußgänger,
Beſchämung, Beleidigung. Wäre ich mächtiger Tyrann,
in meiner Stadt dürfte nicht im Trab gefahren und
geritten werden. Der Hund iſt Polizeimann, höchſt
polizeilich geſinnt, er erkennt einfach richtig den Unfug,
nur natürlich das zu begreifen, daß man ihn nicht
verbieten kann, iſt ihm zu verwickelt. Er handelt in
der tiefſten Ueberzeugung, recht zu thun, der öffent¬
lichen Ordnung zu dienen. Er ſchläft nach ſolcher
That den Schlummer des Gerechten. O, wie rührend
iſt ſo ein gutes, ehrliches Hundsgeſicht im Schlaf!
[128]
Das Bellen kann ſehr ſtörend ſein, wohl! aber
viel öfter muß es erfreuen. Es iſt ſo etwas Reſolutes
darin. Ein Schuß. Wie oft, wenn ich in Zweifeln
hieng und zappelte, in Brüten klebte, hat es mir wohl¬
gethan, mich erfriſcht, gelabt, wenn ich den entſchloſſenen,
unzögernden, friſchweg vorbrechenden Laut vernahm!
Es iſt auch der Stolz des Hundes. Ich bin über¬
zeugt, eine Hundsmutter, wenn ſie ihren Sohn zum
erſten Mal bellen hört, fühlt daſſelbe, was eine menſch¬
liche Mutter, wenn ſie ihrem Sohn, welcher Theologie
ſtudirt und welcher die erſte Predigt thut, mit Mann,
Vetter und Baſe hineingeht.
Da erfahre ich, daß Einer, ſonſt ein ordentlicher
Herr, mir einen Polizeidiener beſticht, und zwar erſt
noch ganz unnöthig, da der Mann doch ganz dienſt¬
eifrig iſt und von ſelbſt bereit war, auf begründete
Klage über ſtörenden Lärm gegen den Nachbar einzu¬
ſchreiten. Ich habe die zuläſſig ſchärfſte Strafe gegen
Beſtechungsverſuch in Anwendung gebracht. — So ſind
die Menſchen! Der A beſticht, der B noch flotter, der
C überbietet Beide, die Menſchen in Dienſt und Amt
werden verderbt und thun endlich ihre Pflicht nicht
mehr, wenn ein Armer, der nicht beſtechen kann, oder
ein Redlicher, der es nicht will, ihrer Dienſte bedarf.
[129] — Eine allgemeine Kette der Charakterloſigkeit, der
breiigen Schlechtigkeit. —
Ach Gott, wenn ich doch meinen Katarrh hinaus¬
bellen könnte! Doch wieder den ganzen Tag gearbeitet.
Mit welchem Hinderniß, weiß Niemand. Das Hirn
verwüſtet, blöd, ein Halbſimpel, möchte nur ſchlafen,
und muß mich ſtellen, als wachte ich. Und ein Wetter!
Ja, Deutſchland! Iſt — das Land, wo man neun
Monate Katarrh und drei ein Tröpfchen an der Naſe
hat. — Bruſtſtechen. Doktor fängt an, mich bedenk¬
lich anzuſehen. Spricht von Urlaub. Was? In meinen
Jahren, mit meiner Kraft? — Bringe doch etwas
vorwärts. Schon Manches aufgeräumt im Bezirk.
Unordnung im Abnehmen. Straßen reinlicher. Spital¬
verhältniſſe geordnet. Gefängnißbau. Strammes Land¬
jägerkorps. — Einfluß auf die Wahlen, den die Re¬
gierung mir zumuthete, abgelehnt.
Wenn ich im Amt etwas zu Stande gebracht habe,
vergrabe ich mich doppelt gern in meine Bücher. Der
gelungene Kampf führt mich hoch in den reinen Aether.
Da iſt mir dann Spinoza ſo friedenbringend! Calmo
di mare!
Viſcher, Auch Einer. II. 9[130]
Ich philoſophire gern, bin aber kein Philoſoph.
Meine Gedanken gehen zu ſchnell.
Einen Schandſchuft von Weinfälſcher erwiſcht. Seinen
ganzen Keller voll herausgeriſſen, in die Goſſe aus¬
laufen laſſen! Hätten wir ein ſtrengeres Strafgeſetz!
Einſt ſtand auf geſundheitsſchädliche Fälſchung Todes¬
ſtrafe! O, wie Aepfel im Herbſt ſollten mir die
Schurkenköpfe fallen!
Habe dem Halunken geſagt, er habe keine Religion,
und er hat mich angegrinst und erwidert, er habe
mich noch in keiner Kirche geſehen. „Man fälſcht die
Religion, wie Sie den Wein“, habe ich geſagt.
Gott iſt die Religion.
Die reine Religion begründet reine Ethik, nicht
von außen befohlen.
Alſo iſt Gott das Gute.
[131]
Wo das Menſchliche waltet gegen das Rohe, Wilde,
Böſe, beſonders gegen das Grauſame, gegen das
Schlechte, da iſt Gott.
Insbeſondere aber auch, wo geforſcht wird.
„Edel ſei der Menſch, hilfreich und gut!“ man
kann hinzufügen: „und klar im Geiſt, ein Denker und
ein Künſtler!“ Damit dieß ſein könne, muß es eine
Welt geben, dem zu lieb iſt ſie da. Aber warum gar
ſo viel des Uebrigen? Es iſt nicht anders: Gott hat
einen Untergrund. Jakob Böhme, Schelling, Schopen¬
hauer haben ſoweit Recht (dunkler Grund, purer
Wille und wie ſie es nennen). Er mußte ſich — muß
ſich — einen undurchſichtigen Unterbau ſchaffen, um
als Geiſt aus ihm aufzuſteigen, und geräth darüber
ſo in's Zeug, daß er oft ganz vergißt, es handle ſich
erſt um einen Unterbau; daher zum Beiſpiel alle wild
teufliſche Grauſamkeit in der Natur und im Menſchen¬
geſchlecht, ſo weit es bloß Natur. Wo in aller Welt
mag währenddeſſen das wahre Weſen Gottes ſtecken?
Das Grundthätige im Univerſum weiß zum Beiſpiel
um die Zeit, wo es dem Gattungstrieb ſeine furcht¬
bare Stärke gibt, nichts davon, daß die Menſchen ein
Reich der Sitte gründen müſſen, wozu unter Anderem
[132] das Inſtitut der Ehe gehört; es weiß nur, daß jener
Trieb ungeheuer ſtark ſein muß, weil ſonſt aus —
ſtille davon! — kein Menſch gezeugt würde; darüber
macht es ihn im Eifer noch ſtärker, als nothwendig,
und daraus entſteht in unzähligen Kolliſionen mit dem
Reich der Sitte unabſehliches, fürchterliches Elend.
Dieß iſt die blinde Wildheit in der Natur, ſie iſt
der ſchwerſte Stein im Wege des Forſchens nach dem
Geheimniß der Gottheit. Man ziehe nicht das eigent¬
lich Böſe, die Empörungen des Willens gegen die ſitt¬
liche Welt herbei! Da liegt die Sache ungleich klarer.
Es wäre kein Gutes, wenn kein Böſes wäre. Aus
dieſer Nothwendigkeit des Böſen als Reiz, Ferment
und als Objekt des Guten folgt nicht im mindeſten,
daß der Adler den Haſen, die Katze die Maus ſtunden¬
lang teufliſch quälen muß, ſtatt die Beute kurzweg zu
treffen. Es iſt etwas Dämoniſches in der Natur —
es iſt nicht anders, das eben iſt „der dunkle Grund“,
das traurige Geheimniß im Unterbau. Wem dieß
Wort ſonderbar vorkommt, der möge nur bedenken, wie
räthſelhaft das iſt: aus dem Schooß der Natur kommt
ein Weſen, das die Natur (nicht ganz, aber doch in
Vielem) überwindet. Da nun die Welt keine eigene
Subſtanz neben und außer Gott haben kann, ſo folgt:
es iſt eine Selbſtſetzung und eine Negation und Ver¬
beſſerung dieſer Setzung im abſoluten Weſen. Der
Mythus von der Auferſtehung Chriſti, wenn er einen
[133] Sinn hat, muß dieſen haben. — Aber es iſt und
bleibt eben unbegreiflich: der Menſch findet unter ſich
die Natur, als unteren Theil ſeines Weſens, den er
oft genug verächtlich hinabzwingen muß; da der Menſch
aber doch aus der Natur kommt und Natur bleibt,
ſo verachtet dann alſo in ihm die Natur ſich ſelbſt.
Der Untergrund zieht ſich, erſtreckt ſich in den Ober¬
bau hinauf, der ihn doch abſetzt, entſetzt, der Unter¬
bau ſetzt ſich alſo durch dieſen ſelbſt ab. Ich bin kein
Raubthier und trage doch ein Raubthier in mir, ich
bin ein wandelnder Sichſelbſterhöher und Sichſelbſt¬
abſetzer und darin ein Bild der Welt. — So viel iſt
gewiß: das Univerſum ganz begreifen hieße die ganze
Einheit im ganzen Widerſpruch begreifen.
In dieſem Dunkel gibt es keine Beruhigung, als
dieſe: wo Liebe iſt, wo Mitleid iſt, dann, wo Klar¬
heit iſt, da jedenfalls iſt Gott. Da iſt denn auch
allein wirkliche Luſt, und weil alles Gute erarbeitet
ſein will, alſo wahre Luſt nur in der Arbeit.
Es iſt einer der Grundfehler des Peſſimismus,
daß er eudämoniſtiſch von der unmittelbaren Luſt
ausgeht, von da aus operirt. Sagt man zum Bei¬
ſpiel: Niemand arbeitet, wenn er nicht muß, ſo gilt
dieß richtig vom Menſchen, ſo lang er noch im Unter¬
grund, im untern Stockwerk ſteckt. Die zweite Ord¬
[134] nung, die ſich darüber aufbaut, hat nach der Meinung
der Peſſimiſten keine Bälken, da baut ſich kein Objek¬
tives, kein Geſetzmäßiges, da kann man alſo auch
nicht wohnen. O alter Hegel, ſtylvoller Philiſter,
der du groß befohlen haſt, daß das Subjekt pariren
ſoll, könnte man das erleben, daß du erſtändeſt und
mit deinem Stecken über das ſubſtanzloſe Geſchlecht
kämeſt!
Wenn die Menſchen nur nicht immer auseinander¬
ſägen, nur nicht in ihrem Denken immer Alles trennen
würden, was zuſammengehört! So meinen ſie, ſie
hätten die Schlechtigkeit der Welt bewieſen, wenn ſie
aufgezeigt haben, daß Illuſion Illuſion iſt! Daß es
ein Weſen gibt, Menſch genannt, deſſen Phantaſie¬
blick die Natur beſeelt, Alles in ſchönere Farbe, reine¬
res Licht taucht, in der guten Stunde über das Elend
der Welt hinwegſieht, das gehört ja auch zur Ein¬
richtung der Welt, ohne dieſe edlen Täuſchungen iſt
ja die Stimmung nicht denkbar, aus der auch das
Gute fließt. Im Guten wird freilich ein Theil der
Täuſchung abgeworfen, da muß dem Elend der Welt
hell in's Geſicht geſehen werden, bleiben aber muß die
Hoffnung, die zwar mehr vortäuſcht, als erreicht wird,
aber darum nicht ganz Täuſchung iſt, ſondern zur
größeren Hälfte Wort hält, indem ſie ſelbſt Urſache
[135] deſſen wird, was ſie hofft, nemlich als Sporn des
einzig Realen, des Guten.
Das Bäschen auf einen Ball begleiten müſſen.
Schrecklich! — Und tanzen thun ſie, als ſähe man
Hühner im Dünger ſcharren. — Seit ich dazumal in
Amtspflegers Töchterlein verliebt war, mit ihr Nachts
nach den Sternen ſah und darauf ein Gedicht machte,
— ich erinnere mich gut: in horaziſchem Odenmaß,
und der Schluß hieß:
Und ich ſchwankte ſehr, ob es nicht beſſer wäre,
zu ſetzen:
ich weiß es wirklich heute noch nicht — ſeit da¬
mals, als ich ſo klaſſiſch dichtete und als ich ein paar
Wochen lang heulte, da ſie fortreiste, hab' ich triplex
aes circa pectus. Die Liebe kommt mir langweilig
vor. — Seele, den Tag nicht vor dem Abend loben!
Wenn dir ein Weib erſchiene, das Styl hat?
Ich muß recht Philoſophie treiben, das wappnet
am beſten gegen dieß und das, gegen mich, gegen
[136] mein leidenſchaftlich Weſen. Auch Stoiker! Man liest
ſie zu wenig. Der Menſch iſt eine Entelechie. Eine
Burg. Will er recht, ihn kann nichts erſchüttern.
Erſchüttern wohl, aber nicht brechen. Starke Thürme
ſchwanken, wenn man läutet, gerade Beweis ihrer
Feſtigkeit.
Auf dem Ball dann weg aus dem Saal in die
Wirthsräume. Im Nebenzimmer die Geſpräche gehört,
die an den Tiſchen in der Volksſtube los waren.
Zwiſchen den Bürgern unzufriedene Arbeiter, unter
den Bürgern ſelbſt unruhige Köpfe. Die politiſche
Luft wird ſchwül. Es flirrt elektriſch. In Frankreich
wackelt Luis Philipp's großer Regenſchirm, bekommt
Riſſe. Wäre gut genug für die Franzoſen, aber zu
unritterlich und doch auch gemein, krämerhaft.
Es wird eine große Freiheitsbewegung kommen.
Geſchrei nach Republik. Eigentlich wäre auch mein Ge¬
ſchmack Republik, aber eine recht ſtrenge, und die gibt's
nicht mehr. Sie werden nach Republik brüllen und Ge¬
ſetzloſigkeit darunter verſtehen. Alles begreiflich, weil Geſetz
und Ordnung jetzt faſt überall in unreinen Händen iſt.
O Elend! Es iſt freilich wahr: „Der Menſch iſt
nicht geboren, frei zu ſein.“ Unrecht, ungerechter
[137] Druck erzeugt den Schrei nach Freiheit, und Freiheit
wird alsbald Willkür. Sie wird niedergeſchlagen von
der Gewalt und dann fängt das Lied von vorne an,
indem die Gewalt das Unrecht (mit dem ſchnöden
Vorrecht) herſtellt.
Wer das Geheimniß finden könnte, die Strenge,
die Zucht, die der Menſch bedarf, nur in reine
Hände zu legen!
Arme, rathloſe Menſchheit!
Man wird es ſehen, wenn's losgeht, wenn dann
gegen wildes Unmaß die Gewalt wieder an's Brett
kommt, dann wird ſie mit der Spreu das Korn aus¬
fegen. Eine anſtändige Minderheit in der Bewegung,
die da bevorſteht, wird gegen die ſchlechteſte aller Re¬
publiken, die Fürſtenrepublik: deutſcher Bund, dieſen
polniſchen Reichstag Deutſchlands, kämpfen. Die ſieg¬
reiche Gewalt wird ſie noch rachſüchtiger verfolgen,
als die Schreier nach falſcher Volksfreiheit. Die Ver¬
folgung der Einheitsbeſtrebungen iſt der ſchnödeſte,
ſchmutzigſte Schmachfleck in der Geſchichte unſerer Nation.
Wer nicht wollte, daß der Deutſche im Ausland wie
ein Hund verachtet ſei, dem war Kerker, dem war
Vertrauern der beſten Jugend in feuchtem Mauerloch
gewiß. Der übelriechendſte Proletarier, der nach zucht¬
loſer Freiheit ſchreit, iſt ſo gemein nicht, als jene Ge¬
[138] walthaber, die Hekatomben Menſchenglücks und Men¬
ſchenlebens opferten für die zuchtloſe Fürſtenfreiheit im
deutſchen Bunde.
Ach, vielleicht ſeh' ich zu ſchwarz! Geb's der Him¬
mel! Laſſe mich, du beſſerer Stern meines Lebens, mit¬
ſtreiten, wenn es losgeht, mitſtreiten für das Goldkorn
im wilden Schutte, den die Bewegung aufwirbeln wird!
Und doch, wie nobel iſt ſelbſt die verrückteſte poli¬
tiſche Leidenſchaft gegen die Gelbſucht der Geldſucht!
Geſtern ein paar ſolche Geſichter in der Geſellſchaft.
Zum Erbrechen. Ein grauſig Mördergeſicht iſt flott
dagegen. — Und um was drehen ſich die Unter¬
haltungen dieſes Geſchlechts! Nicht daß ſie vom
Kleinen reden, iſt das Niedrige, ſondern daß ſie vom
Kleinen nicht zum Bedeutenden aufſteigen, vielmehr
umgekehrt jedes Bedeutende in's Kleine zerren. Spricht
man etwas, das Inhalt hat, ſo überſetzen ſie es gütig
nachhelfend erſt in's Platte, dann verſtehen ſie es. —
Ihr liebſtes Element aber iſt der Klatſch.
Es hilft nichts, mit aller Mühe kann ich das Ge¬
meine nicht begreifen. Ich bin doch gar kein Idealiſt,
glaube mir auch das Zeugniß geben zu dürfen, daß
ich läßlich bin, eingänglich, ein herzlicher Feind der
[139] Prinzipien-Fanatiker. Ein Geſpräch von Hunden,
Pferden, richtiger Konſtruktion von Oefen iſt mir ganz
recht und gut genug. Aber das Gemeine! Daß ich
durchaus mir nicht abthun kann, alle Menſchen für
nobel zu nehmen und mich zu wundern, wenn ich das
Gegentheil finde! — Es wird daher kommen, daß ich
zu ſinnlich bin, um Verkünſteltes zu begreifen, denn
das Künſtlichſte, was es gibt, iſt das Gemeine.
Die beſſeren Menſchen ſind Gebirgsleute, ſie kommen
vom Gebirge her, ſind geſunde Gebirgsbauern, das
Thal mit ſeiner dumpfen Luft drückt auf ihre Lunge.
Das Gemeine iſt künſtlich, weil der Menſch als
ſolcher von Adel iſt.
Die Menſchheit hat ſich um dieß Bewußtſein ge¬
bracht, indem ſie den Adel als beſondern Stand ge¬
ſchaffen hat. Dieſem hat ſie aufgetragen, für ſie edel
zu ſein, zu vikariren. Eine der ſchädlichſten, menſch¬
heitentwürdigendſten Mythenbildungen, die es gibt,
und doch ſo begreiflich wie jeder andere Mythus, und
ebenſo unvertilgbar.
[140]
Große Freiheitsbewegungen der Völker haben einen
ganz andern Charakter, als Einheitsbewegungen. Jene
beginnen mit einer ſeligen Trunkenheit, dieſe ſind, ſollen
ſie irgend etwas taugen, auf die proſaiſche Frage der
zweckmäßigſten Form der Einheit gerichtet. Freiheit
iſt heilig, Einheit iſt nothwendig. Wer die erſte Be¬
geiſterung der erſten franzöſiſchen Revolution erlebt hat,
iſt zu beneiden. Aber die Freiheitsbewegung macht
trunken, der Rauſch wird in den Mehrheiten ein wüſter
und die Schönheit der Bewegung verläuft in Schmutz,
Schlamm, Blut. Die wahre Freiheit iſt die Ord¬
nung. Fällt Freiheits- und Einheitsbewegung in Eine
Zeit, ſo reißt leicht die erſte die zweite mit ſich in
den Untergang.
Gelingt es unſerer Nation noch, die Einheit zu
erringen, ſo iſt ſehr zu wünſchen, daß bei der Ver¬
faſſung, die dann zu berathen iſt, die Stimmung, die
jetzt anwächſt, ſo wenig als möglich nachwirke. Die
Folge wäre namentlich eine zu milde Strafgeſetz¬
gebung. Milde gegen das Verbrechen und beſonders
Milde in der Subſumtion verſchiedener Schlechtigkeiten
(wie Fälſchung, Beſchwindlung und dergleichen) unter
den Begriff des Verbrechens würde dahin führen, daß
die deutſche Nation verlumpt.
[141]
Rekrutirungsgeſchäfte. Tabellenarbeit ſehr lang¬
weilig. Bei der Muſterung und Meſſung anweſend.
Mich doch erfriſcht; der Schlag geht an; Raſſe noch
ziemlich. Einige ſtattliche Burſche, groß und breit.
Wenn ich das erleben dürfte, daß die Lümmel auf
den Reichsfeind, auf die Franzoſen klopfen dürften!
Und mit ganz Deutſchland! — Armer Traum! Gegen¬
wärtig große Verhandlung im Bundestag um gleiches
Kaliber für die Muskete. Unſer Zwergſtaat gibt nicht
nach; iſt ja Selbſtherr, natürlich! Und Kopfbedeckung!
Jeder will einen anderen Kübel. Könnt' ich ihnen
drauf hauen, daß die Reife und Dauben flögen!
Wenn nur meine Geſundheit hält! Ich bin doch
eigentlich nicht „veiclich getân“, wie Hagen von Chriem¬
hildens Knaben Ortlieb ſagt. Was will der Doktor
immer? Ich laß mir nicht Angſt machen. Spricht
wieder und dringender von einem Urlaub! Soll ich
jetzt, jetzt ſchon von der Arbeit weg?
Halt! ich folg' ihm. Ein Stück helleres Leben
im Weiten, Freien, Großen kann gut thun. Kann
mich konſerviren, erfriſchen für die Zeit, die da kommt.
[142]
Norwegen. Chriſtiania. Schlimmes kann
doch auch Gutes tragen, zum Beiſpiel Sorge vor
Emphyſem ein freies Jahr. Möchte ſchon lang Italien
ſehen, aber auch Norwegen. Gut, gut, Herr Doktor,
Sie wollen mich nach Italien, aber da iſt Juli und
Auguſt zu heiß, dagegen in Norwegen die Zeit der
hellen Nächte, alſo zuerſt Norden, dann Süden!
Durchgeſetzt und — einmal ein Glück — ein Stell¬
vertreter geſchickt zur Hand, Urlaub herausgeſchlagen,
fort, fort!
Wie freier ſchon die Bruſt, ſeit ich das Meer
wieder geſehen! Eigentlich zum erſten Mal; denn da¬
mals auf Sylt und Föhr habe ich es noch nicht ſo recht
verſtanden, brachte noch nicht Ernſt genug. Zuerſt groß,
unendlich in Stille. Dann mäßig bewegt, alſo Alles
ſehen dürfen: die Großheit der Horizontale, Helldunkel,
Farbe, Durchſichtigkeit, Spiel der Reflexe und der
herrlichen, ſchwanenhalſigen Bogenlinien! Die Seele
jauchzte mir. O, da gibt es viel Gott!
Jetzt bald in die Berge! Hinein zu den Aſen,
den alten Göttern! Brauſe mir entgegen, Odin,
Lebensathem! Zerſchmettre, Thor, mit dem Donner¬
hammer meine böſen Geiſter! Baldur, du Guter, du
Schöner, laß meine Seele nicht zu ſtolz und wild
werden, wenn ſie unter den alten Rieſen wandelt,
[143] und führe mir Bragi herbei, ſeine Gattin Idun an
der Hand mit den Alles verjüngenden Wunderäpfeln!
Du aber meide mich, wie ich dich meide, liebreizende
Freyja! Behüte mich vor ihr, Heimdall! Warne mich
mit dem Gjallarhorn, wenn ſie mir naht!
Was erlebt!
Von Chriſtiania nach Kongsberg, dann weſtlich
hinein, die Bekanntſchaft der Schneegebirge machen,
Melfjeld, Liefjeld, Bleefjeld, Rieſenhaupt Gouſta; den
Tindſee, dann den Rjukanfoß ſehen! — Pferd genommen
vom Hofe Vig, guter Rappe; trägt mich luſtig an's
Ziel. Ein Kahn mit drei Perſonen am Ufer des Tind¬
ſees, im Begriff abzuſtoßen; man bemerkt, daß ich mich
nach Fahrgelegenheit umſehe, und läd't mich ein. Ich
lehne nicht ab. Führer nimmt das Pferd zurück. Ein
älterer Herr, ein junger Mann, eine Dame. Stelle
mich vor, wer ich ſei, der Herr ſich und die Andern.
Gebe kaum Achtung, höre nur, daß der Aeltere Dyring
heißt und daß ſie in Bergen zu Hauſe ſind. Denn
welch' ein Weib! Haare, wie ich ſie nie geſehen. Nein
metalliſcher, hochgelber Goldglanz, ſonderbar, herrlich
und unheimlich. Fallen geringelt an der Stirn, den
Schläfen herab, darüber rothes Tuch um den Kopf;
hat auf dem Bergausflug dieß Stück Volkstracht ange¬
legt; Kopftuch ſonſt blau, würde ihr beſſer ſtehen;
[144] ſcheint für Roth geſtimmt. Reines Profil, markiges
Kinn, Unterlippe um's Merken voller, als Oberlippe.
Auge zeigt ſich noch wenig, läßt einen raſchen Blick
aus weiter, freier Wölbung über mich hinſchießen,
ſenkt dann die Lider wie vorher und ſie ſchaut ſtill
vor ſich hin; Geſtalt groß, zwar noch verborgen unter
faltenreichem Ueberwurf.
Vorderer Arm des Sees in furchtbarer Felsſchlucht;
die Gipfel ſcheinen ſich oben zuſammenzuneigen. Dunkel,
unterweltlich, dann eine ſo ſchmale Spalte, daß eben
nur Raum für die Ruder bleibt, dann in's Offene,
Breite, rechts leuchten die fernen Schneekuppen des
Bleefjelds herein, links ſtürzt der Gigantenleib des
Gouſta herab. Alles Ufer ſteile, nackte Felswand.
„Rudre du, Goldrun,“ ſagt Herr Dyring, „zeig' jetzt,
was du kannſt.“ Sie legt den Ueberwurf ab, einer
der Schiffer gibt ihr ſein Ruder. Welche Geſtalt ent¬
wickelt ſich, welche Kraft und Gewandtheit in der
Bewegung und wie mächtig ſchön treten dieſe großen
Formen, tritt dieſe energiſche Schwellung der Hüfte
heraus, wenn ſie, das eine Bein kräftig vorgeſetzt, das
Ruder zuckt, eintaucht und drehend nachdrückt! —
Wolken, Wind. Schaumbüſche fahren auf an den
unnahbaren, unerbittlichen Schroffen der Ufer. „Und
nicht wahr, jetzt ſingen Sie uns etwas?“ ſagt Arn¬
helm, der junge Mann. Sie ſchaut zurück, ſieht mit
leuchtendem Blick bejahend den Jüngling an, ein zweiter
[145] fliegt wieder nach mir hin, dann beginnt ſie, während
der Wind in ihren Goldlocken wühlt, daß ſie bald
langgezogen in der Luft ſpielen, bald wellig mit auf¬
ſchimmernden Lichtern das ſtolzgehobene Haupt um¬
wogen. Stimme gegen Alt hin, düſtre Melodie:
Sie ruhte einen Augenblick. Die letzten Töne
hallten lang nach an den Felswänden. Weithin hörte
man das Rauſchen der ſchäumenden Brandungen. Mitten
aus ihnen ſchien mir jetzt die verhallende Menſchen¬
ſtimme entgegenzukommen, ein Geiſterlaut. Mir ſchwin¬
delte in tiefſter Seele. Sie ſchaute zurück und ihr
Viſcher, Auch Einer. II. 10[146] Auge, erglänzend im Wiederſchein ungewiſſen Licht¬
ſchimmers, der durch die Wolken brach, ruhte zuerſt
auf dem einen, dann dem andern der zwei Be¬
gleiter — mit einem Ausdruck — o, träfe auch mich
ein ſolcher Blick! Aber mich übergieng ſie, ruderte
wieder einige Schritte und fuhr dann fort im Ge¬
ſange:
In dieſem Augenblick fuhr ein Fiſch von ſeltener
Größe, wohl acht Schuh lang, aus dem Waſſer her¬
vor, glotzte ſie einen Moment lang an und tauchte
wieder unter, ſie ſchlug ihm mit dem Ruder nach und
rief: „Das iſt ein Wels! Hat dich die Gewitterſchwüle
heraufgelockt, alter Seeräuber?“
„Auch ein Verehrer,“ ſagte Dyring.
[147]
Die paar Wörtchen wollten mir unheimlich vor¬
kommen. Ich hatte keine Zeit, zu grübeln.
Sie ſang zu Ende:
Wer könnte die Töne dieſes Geſangs beſchreiben!
Schweres Dunkel, ſich verdichtend, anſchwellend, war
ihre Grundſtimmung. Bei den Lockworten der Nixe
giengen ſie in eine ſchmelzende Süßigkeit über, wur¬
den heißer und heißer, man meinte den wollüſtigen
Jubel zu hören, der nach den gezogenen Klagelauten
aus den Wirbeln der Nachtigallſtimme auflodert. Sie
ſanken in ein tiefes Weh gegen das Ende, aber wirk¬
lich am Ende, beim letzten Verſe ſtieg wie ein Geiſt
aus den geſungenen Thränen des Mitleids ein Etwas
hervor und miſchte ſich unſagbar mit ihnen, — ein
[148] Etwas — Triumph und Schadenfreude wären ein
plumper Ausdruck; auch wenn ich es umſchreiben
wollte „dahin kann ein Weib einen Mann bringen“,
es wäre nackt und roh überſetzt, o, es war unheimlich
und doch unwiderſtehlich! — Die letzten Töne ver¬
klangen im Echo der Felſen und jetzt ſah ſie wieder
zurück, dießmal auf mich. Wer kann ſagen, was über
ihr Angeſicht zuckte! Ein Schatten von Ernſt, dann
wieder Luſt, Reiz, Wonne, Muthwille, Witzgeiſt, Spott,
Uebermuth, helles Siegesfrohlocken, das beim Himmel
noch etwas Anderes beſagte, als: „ſo kann ich ſingen!“
Aber wer hätte das triplex aes circa pectus be¬
wahrt! Ja, ſo konnte ſie ſingen — und? —
„Jetzt aber raſch an's Land!“ rief Dyring, „es
wird bedenklich; und ſitze jetzt zu uns!“ Sie gab das
Ruder ab, die zwei Bootsmänner ſtrebten mit Macht
vorwärts, hinaus aus dem Felſengefängniß, Sanden
zu. Goldrun ſetzt ſich aber nicht, ſie ſchaukelt den
ohnedieß taumelnden Kahn, trunken von Luſt ſchnalzt
ſie mit den Fingern, als ſchlüge ſie Caſtagnetten, und
jauchzt in den brauſenden Wind hinaus: Evoë! Evoë!
Ἰάϰχε, Ἰάϰχε! Wie blitzen ihre großen Augen! Noch
muthwilliger als vorhin, halbwild trifft mich ihr
Strahl! — Angſt wegen des Sturms kann ſie mir
nicht anſehen. Darum kann ſie mich nicht auslachen.
Ein entzückend Weib.
Aber warum fuhr mitten im Entzücken ein paar¬
[149] mal der Gedanke in mir auf: ſtoße ſie hinab zu den
ſchnappenden Fiſchen, zum phosphoraugigen Wels, da
gehört ſie hin!?
Weſtfjorddalen. Herrliches grünes Thal, Korn¬
felder, ſammetne Matten, Saft und Pracht der Bäume,
ein Tempe, von Bergen umſchloſſen, und majeſtätiſch
im Silberglanz ragend die Pyramide des Gouſta, ſechs¬
tauſend Fuß hoch. Wir wandeln durch's Grüne, an
Hütten, Höfen vorüber. Still, ganz ſtill. Nur der
dumpfe Donner des Hongafoſſes von dort herüber.
Goldrun iſt wie umgewendet. Sanft. Vater und
Mutter früh verloren. Nachdenklich. Dann wieder
heiter. Scherz; verſteht ſelbſt meine Luſt am ſchlechten
Witz. Thut mit. Dann wieder ernſte Gedanken über
Menſch, Leben, Religion. Sie iſt doch gut. Nun an
einem klaren Bach hin, Erlen. „Der Iliſſus mit ſeinen
Platanen iſt's nicht, doch anmuthig Denken ſchwebt
auch hier“, ſagt ſie. Dieſe drei Menſchen leben in
Plato's Ideenwelt. Dyring ihr Lehrer, Freund des
früh der Mutter nachgeſtorbenen Vaters. Er hat ſie
in die Griechen eingeführt und jetzt athmen ſie in der
Bergluft des attiſchen Philoſophen. Arnhelm, Schrift¬
ſteller, Dichter, nimmt eifrig Theil an den Lehr-
und Geſprächſtunden. — Phädrus. Seele am über¬
himmliſchen Ort die Urbilder ſchauend, das Gute,
[150] Wahre, und leuchtender das Schöne. Herabgeſunken
in's Irdiſche, und nun, wenn ſie ein ſchön Menſchen¬
bild ſieht: Erinnerung, Staunen, Entzücken, Begei¬
ſterung, heiliger Wahnſinn. Wie hat ſie's verſtanden!
Wahre Liebe erziehende Seelenliebe. Dabei lange
Blicke gewechſelt zwiſchen ihr und Dyring, wie väter¬
lich die ſeinen, wie dankbar die ihren! Und Arnhelm,
welche reine Glut, womit ſeine Augen bitten, der
Dritte im Bunde zu ſein!
Dieſe Liebe, die erziehende, die ſeelenbildende, iſt
entſinnlichend, zähmt das dunkle Roß Begierde. Gol¬
drun ſagt es ohne Schüchternheit, philoſophiſch objek¬
tiv. Wir giengen um eine Biegung des Wegs, die
Zwei auf Augenblicke zurücklaſſend. Dieſer Geſundheit
des Geiſtes kann ich nicht widerſtehen, faſſe ihre Hand.
Ein warmer, langer Druck der ihrigen ſagt mir, wie
ſie mein Verſtändniß verſteht. „Phile Phaidre,“ ſagt
ſie lächelnd dazu. „Diotima!“ rufe ich.
Rjukan-Foß, wilde Herrlichkeit des Rauch-Falls. —
Sie hat's gewagt, mit mir den ſchwindelnden Fußſteg
Mariſtien hinauf über die fürchterlichen Felswände.
Die Anderen nicht, ſind unten geblieben. Sie iſt von
echtem altem Gothenblut! Ja, ſo müſſen die altdeut¬
ſchen Heldenweiber geweſen ſein. — Hoch oben. Der
ganze Fluß Maanelv wüthet neben uns herab, tief
[151] unten hinein in ſchwarzen, zackig umſtarrten Höllen¬
ſchlund, wo er verborgen weiter ſiedet, donnert, dumpf
hinbrüllt. Wie ſie wirbeln, hochauffahrend ſchwellen,
dem Rauch einer Feuersbrunſt gleich, die Dampfwolken
des Waſſerſtaubs! Schwindellos ſteht das ſtolze Weib
und ſchaut und ihr Auge leuchtet. Und ich ſchaue ſie
an, faſſe und küſſe ſie. Und wie hat ſie's erwidert!
Küſſe aus der Wurzel gezogen!
Drunten über dem rauchenden Schlund ein drei¬
facher Regenbogen, glühend, wie ich das Schauſpiel
nie geſehen. Verkündigſt du Frieden? Du brennſt auf
Dampfſäulen aus Schauertiefen, zitterſt an ſchwarzen
Felswänden, ſchillerſt über Todesgrauen — — ſtrahle,
Traumbild, ſtreue Schimmerfarben, male Seligkeit über
den Abgrund!
Schieße noch höher empor, Gouſta, und ſchau' her
unter dem Schneehelm auf mein Glück!
Hinab mit ihr in den Abgrund! — es ſchoß mir
mitten in der Wonne wie ein Blitz, wie ein langer,
dünner Dolch durch die Seele.
Im Herabklettern gleite ich aus. Sie hält mich.
Nur ein Haar fehlte, und ich zerſtäubte, war dahin,
lag als Schutt, als Nichts im finſteren Schachte. Aber
[152] ſie lacht. Spottet, bei den Zweien angekommen, über
meine Bleichheit. Bleibt ſpöttiſch den ganzen Tag.
Bleich? War ich bleich vor Todesangſt? Warum
blieb ich bleich? Hab' ich je den Tod gefürchtet?
Den Kuß und dann die Kralle,
So ſind ſie alle.
Pfui!
Fort? — Sie iſt wieder gut, ſtrahlt wieder.
Kann die Thiere nicht leiden, mag die Hunde
nicht. Auch kein guter Zug.
Doch wer widerſteht! Es geht nach Hardanger.
Und ſoll ich die Gelegenheit nicht benützen? Welt der
Prachtwaſſerfälle, Welt der Gletſcher und Gletſcher¬
ketten ſoll ich ſehen, Hardanger-Jökul, Treßfonn, Folge¬
fonn, weiße Rieſenhäupter, ragend, ſchauend über die
Buchten, die grünen Thäler.
[153]
Im Gebirge redet leis, flüſternd und laut im
Donnerton die Natur mit ſich ſelbſt. Alles ſpricht.
Selbſt innen in den Felſen tönt es von geheimen
Stimmen der eingeſchloſſen fallenden, ſteigenden Waſſer.
Wie löst ſich aber die Zunge im Waſſerfall! Vörings¬
foß, mächtig. Hochher über alle Berge ragen von
Norden die blauweißen Eismaſſen des Hardanger-Jökul.
Wir ſtehen, ſchauen, hören. „Das ſind Jötunſtimmen,“
ſagt ſie, „Stimmen der alten Rieſen, die noch erzäh¬
len vom Kampfe mit Thor.“ Sie kennt den alten
Götterglauben, die Heldenſagen. Ich habe ihr auch
vom keltiſchen Glauben erzählt und geſagt, er weiſe
doch eigentlich auf mehr Geiſt; eine Sage, wie die
von Gwyon-Talieſin, habe die germaniſche Religion
nicht, man erfahre kaum von Gründung der Civiliſa¬
tion, der Humanität. „Ja,“ ſagt ſie, „und doch nein.
Keine alte Religion hat eine Götterdämmerung. Ver¬
glühen alles Endlichen, ſelbſt deſſen, was ewig ſchien,
iſt doch weit, weit mehr als Talieſin; wiſſen Sie
aus der Edda vom Wettgeſpräch zwiſchen Odin und
dem weisheitsberühmten Rieſen Vaſthrudnir?“
„Nein.“
„Der weiß auf alle Fragen Odin's Beſcheid, auf
eine nicht; Odin fragt ihn: ‚weißt du, was ich meinem
Sohne Baldur in's Ohr geſagt habe, ehe er auf den
Scheiterhaufen gelegt wurde?‘ Das weiß der Rieſe
nicht — Wird ein Wort geweſen ſein vom neuen
[154] Leben nach der Götterdämmerung, Wiedergeburt der
Welt, Aufgang der Geiſtwelt.“
Ich ſchwieg und dachte: wie konnte ich ſie ver¬
kennen! Dann ſagte ich: „Ja, da liegt Tiefe; im
Uebrigen iſt Alles wilder, mannhafter, bergiger als im
Keltiſchen; Streitbarkeit iſt Grundzug, Heldenkampf,
es iſt eine Reckenreligion. Doch iſt auch ein Geiſtgott
da, ein Apollo: Bragi, der Skaldengott. Und ein
Zug von weicher, holder Güte, ſo recht ein grund¬
guter Zug: Baldur, den alle Götter lieben, durch
ihn iſt dem Frühling inniges Gemüth geliehen.“
Sie wandte ſich heiter zu mir und ſagte: „Lieb¬
reiz iſt ja doch auch, — Freyja, Freyja, die Freun¬
din der Liebenden, die gern ein ſchönes Liebeslied
anhört.“
Ich ſagte: „Ein Lied verſuch' ich wohl auch noch
um einen recht guten Kuß.“ Schimmernd erglänzte
die Reihe feiner Goldketten an ihrem Hals, wie ſie
ſich umwandte. Freyja's goldenes Halsband fiel mir
ein. Sie biegt ſich zu mir her, das hohe, ſtolzfreie
Weib, leuchtend, athmend, ich ſtrecke die Arme aus.
Da zuckt mir etwas durch die Seele, was mich bannt,
ich weiß nicht, welches innere Stocken. Es muß aus¬
geſehen haben wie Schüchternheit, Blödheit. Ich über¬
winde es, will in ihre Arme ſtürzen, ſtrauchle über
eine Wurzel und taumle wie ein Tölpel. Sie lacht
laut auf, gellend, und geht vorwärts.
[155]
„Und Katzen ziehen Freyja's Wagen,“ rufe ich er¬
zürnt ihr nach. Sie ſchaut nicht um, man ſieht ihrem
Schritt, dem Schwenken der Hüfte an, daß mein Wort
ihr einen Stich gegeben. — Aber wie herrlich ſchreitet
das Weib! Die kann gehen, was ja doch Tauſende
nicht können. Ihr Gang iſt hoher Wohllaut. Ver¬
loren ſchau' ich ihr nach.
Natürlich kein Zweifel, daß unſer Planet einmal
in Stücke fährt und in die Sonne fliegt oder ſo etwas.
Und unſer Sonnenſyſtem geht eben auch einmal in
Trümmer. Dem Weltall ſehr gleichgültig, denn es
entſtehen immer neue. Götterdämmerung iſt immer.
Der Geiſt ſteht aus der Verglühung des Zeitlichen
nie auf oder immer. Es gibt jetzt Weſen, die es
erringen, jetzt über der Zeit zu leben, oder es gibt
keine. Gibt es jetzt ſolche, jetzt iſt immer, es werden
immer ſolche Jetzt ſein, wo zeitliche, empfindende,
denkende Weſen ſich erheben in das, was nie und
immer, nirgends und überall iſt. Iſt es ſo, ſo iſt es
um keinen Untergang ſchade. Fragt man: was wird
aus dem ganzen Schatze von Erfahrung, Wiſſen, Bil¬
dung, den das Geſchlecht auf unſerem Planeten mit
unnennbaren Mühen, in furchtbaren, ungezählte Jahr¬
tauſende langen Kämpfen geſammelt hat? Geht er
mit dem Planeten verloren oder iſt ein Weg denkbar,
[156] daß er erhalten, anderswo aufgefaßt, dort weiter ent¬
wickelt ein Glied bildete in einer unendlichen Kette
geiſtiger Erwerbungen aller denkbaren menſchenähnlichen
Weſen auf allen bewohnbaren Weltkörpern? Die Ant¬
wort iſt leicht: verloren geht er, undenkbar iſt ſolch'
ein Band, ſolch' ein Weg. Das ſcheint troſtlos. Iſt's
aber gar nicht. Alle anſteigende Bildungsarbeit aller
Geſchlechter erreicht ja nie das Ziel. Gibt es kein
Vollglück auf jedem Punkte mitten in der ewig an¬
ſteigenden Bahn, ſo gibt es überhaupt keines. Jeder
Augenblick der Freude, der wahren Freude, alſo vor
Allem der Freude im reinen Schauen, Forſchen und
im reinen Wirken iſt aber doch Sein im Ewigen an
ſich, greift alſo aus der Kette heraus, unabhängig von
ihren Bedingungen, Eins mit ſich, frei. Jene Schätze
haben ihren Werth in ſich ſelbſt gehabt. Was Werth in
ſich hat, das beglückt, beſeligt. Jeder Menſch, der ſich in
die Welt des in ſich Werthvollen erhebt, iſt in jeder
Minute, in der es geſchieht, mitten in der Zeit ewig.
Wie viele Menſchen, wie lange Zeit Menſchen ſo des
Ewigen theilhaftig werden, verändert daran gar nichts.
Sind auf andern Weltkörpern menſchenähnliche Weſen,
ſie mögen ſorgen, daß ſie ebenſo in's Unzeitliche ſich
erheben.
So iſt es ja auch mit der Frage nach der Un¬
ſterblichkeit des Einzelnen. Du möchteſt der Zeit nach
ewig leben, mein lieber Piepmeyer? Aber wenn du
[157] auf immer neuen Planeten ewig ein neues Zeitleben
lebſt, ſo kommt es in jedem derſelben immer nur dar¬
auf an, ob du vermagſt, in's Zeitloſe emporzuſteigen.
Von der endloſen Zeit, mein Lieber, haſt du gar
nichts, nicht den geringſten Spaß, ſie gähnt dich nur
an, ihr gehören iſt nicht beſſer, als ewige Höllenſtrafe.
Wir ſind nur Bilder; wirklich, buchſtäblich nur
Bilder. Wir werden ja in jedem Moment erſt ge¬
woben, gemalt und auch wieder aufgetrennt, ausge¬
wiſcht. Was jeden Augenblick erſt wird, iſt doch kein
wahrhaft Seiendes. Wir ſtehen ja nicht feſt, wir
ſchweben ja nur wie ein Traumbild. Wir ſcheinen
ſo ſolid wie Bein und Eiſen, und ſind doch ſo porös,
nur wandelnde Auflöſung und Wiederknüpfung.
Das braucht aber Niemand bange zu machen.
Sorge du nur dafür, daß du Bild wirſt in einem
zweiten und beſſeren Sinn. Laß dich nicht bloß von
der Natur hingepinſelt, hingeſtickt ſein! Sorge dafür,
daß du Bild wirſt, aufbewahrt im Geiſte der Menſchen.
Sein iſt Schein. Das wahre Sein verdient man ſich
durch nicht mehr Sein, — wer nemlich gut vorge¬
[158] arbeitet hat. Das kann auch der Geringſte machen,
daß ein gutes Bild von ihm in den Seinigen fortlebt.
Der große Mann freilich hat als die Seinigen ein
ganzes Volk, ganze Völker. Aber man braucht kein
großer Mann zu ſein; das kleinſte Scherflein zum
Kapital der Menſchheit wuchert fort und fort. Das
Brod, das ich heut eſſe, das Kleid, das mich wärmt,
die Gerechtigkeit, die mich ſchützt im Verein mit Vielen:
vor tauſend und tauſend Jahren haben ſchon gute
Menſchen daran gearbeitet. Kannſt du's ſo machen,
daß du auch deinen Namen in's Gedenkbuch der
Menſchheit einſchreibſt: gut, aber nicht nothwendig;
mag dein Gedächtniß nach wenigen oder mehreren
oder vielen Generationen erlöſchen, geht der Planet
auch unter und mit ihm das Gedächtniß der Größten,
die unſterblich hießen: Werth und Zeit ſind ja zweierlei;
in dem Wiſſen, es werth zu ſein, daß man deiner ge¬
denke, biſt du ewig, biſt wahres, unvergängliches Bild.
Goldrun, du biſt eben auch nur ein Bild und
darum noch lange kein zweites, kein wahres. Du
ſcheinſt es in Manchem, jetzt in mir, doch das iſt nur
Schimmer. Du ſchwebſt nur. Dein Gerippe wird
einſt im Grab faulen, wie jedes andere auch, und in
wem lebſt du dann noch?
[159]
Ach, was hilft mir alle Philoſophie gegen das
Traumbild! Mir ſchwindelt, wenn ich es ſchweben
ſehe, mein Gehirn wirbelt.
Weiter, weiter! Berg und Thal, Fjord herüber
und hinüber, Buchten, Ströme, Fels, Gebirge, Waſſer¬
ſtürze; geſtern unausſtehlich launiſch, heute wieder
ſprühend von Luſt, Witz, Reiz. Taghelle Nächte,
Mitternachtſonne, Geiſterglut, banges, fremdes Entzücken.
Geſtern! O! —Gelandet in Vikör, Noreimsſund.
Bauernhochzeit auf Sandven. Tanz. Goldrun ver¬
ſchwindet und erſcheint wieder in der Feſttracht der
Braut, rother Rock, ſchwarzes Mieder, reiche Ketten
um Hals und Bruſt, „Lilienhaube“: Goldkrone voll
ſchwanker Spitzen, ſpielender Flitter. Tanzt mit dem
Bräutigam, mit zwei andern hübſchen Burſchen, mit
Arnhelm, dann allein. Wer kann da vernünftig
bleiben! So hat Herodias des Täufers Kopf wegge¬
tanzt. Gehaltene Grazie, dann raſcher und raſcher,
heißer und heißer, endlich Bacchantin, heilige Wuth
im ſtolzen Leib, ihre Locken ſauſen um's hochgetragene
Haupt; ſo mögen ſie in Rom, in Neapel die Taran¬
tella raſen. — Will mich aufziehen, ich danke, will mich
nicht lächerlich machen, will ſchauen.
[160]
Sie endet. Ich trete Kühlung ſuchend unter die
Thüre. Die Welt brennt im Nachtſonnenlicht, in
Hochglut feurigen Goldes. Ein heißer, raſcher Athem
an meinem Ohr und die Flüſterworte: Ovsthusfoß
— in einer Stunde.
Wir hatten am Nachmittage den Waſſerfall ge¬
ſehen. Der Fluß ſpringt im Bogen vom Felſkamm,
man ſteht unter dem Fall unbenetzt, ſieht durch ſeinen
breiten Silberſchleier die Welt. Jetzt, in dieſer
Stunde, Alles in myſtiſchem Goldglanz, Waſſer und
Welt! O, hier! In ſolcher Grotte! Geborgen! „Die
Welt wird nie das Glück erlauben, als Beute wird
es nur gehaſcht; entwenden mußt du's oder rauben,
eh' dich die Mißgunſt überraſcht. — Leis auf den
Zehen kommt's geſchlichen — die Stille liebt es und
die Nacht — O, wölbe dich in breitem Bogen, ver¬
ſchwiegner Strom, um uns herum und drohend mit
empörten Wogen vertheidige dieß Heiligthum!“ —
Unerträglich! — Verhext —
Fort, verbirg dich, vergehe! verwehe!
Ein Teufel! ein Teufel! Nur ein Teufel kann
mir das — böſe Geiſter ſind — müſſen ſein —
[161]
Und der Hohn ſeither!
Doch wieder nachgelaufen — Tropf, der ich bin!
Jetzt muß ich laufen wie ein Geiſt, wie eine arme
Seel, die keine Ruh' hat im Grab und verdammt iſt,
umzugehen und zu ſuchen vergrabenen Schatz, ver¬
ſcherztes Gut. — Natur ſperrt ſich gegen ſo viel
gleichzeitigen Vorgang im Gehirn — Denken und
geheimes Haſſen —, und aber wiederum doch —
Bergen. Alter Königsſitz; jetzt ſtill trotz Handels¬
verkehr. Eingemiethet in einer „Stube“ der alten Hanſe¬
kaufleute. Getäfelt, behaglich. Deutſche Erinnerungen.
Tüchtige alte Stadt; bürgerlich, angenehm philiſteriös;
Almendingsplätze, zum Theil anziehend langweilig
mit Gras bewachſen. Feſtung darüber, hoch auf den
maſtenreichen Hafen herabſchauend. Will arbeiten,
einmal wieder etwas leſen, nur ſelten hingehen. Es
regnet viel, mir jetzt recht. Goldrun auf der Herreiſe
lang ſtill, dann voll Spott, höhnte auf Regiſtraturen,
Amtsſtuben, Sitzen, Verdorren. — Jetzt ſtill und zahm.
Man hat die griechiſchen Studien wieder aufge¬
nommen; Phädon, dann ſoll es an den Oedipus König.
Ich muß doch theilnehmen; man lädt mich ſehr ein.
Viſcher, Auch Einer. II. 11[162]
Stille Tage. Geſammelte Abende. Dieſer Dyring
iſt doch dem wilden Weſen ein Halt. Wie ſanft iſt
ſie, wenn ſie an ſeinen Blicken hängt, auf ſeine Worte
lauſcht! Seine hohe Stirn, ſein tiefes Auge breitet
Meeresſtille aus. Arnhelm in einer wahren Andacht,
oft wie verzückt. Das Griechiſche fließt wie Honig
des Hymettus von ihren Lippen; wie ertönt da das
klangvolle oϛ der Endungen!
Merkwürdig, wie der Tod Leben entzünden kann!
Ueber dem Phädon, dem ſterbenden Sokrates gibt's
viel zu denken an ihn. Der Tod iſt pures Nichts,
ſage ich, der Tod iſt, wobei man überhaupt nichts
denken kann. Entweder ich lebe, dann bin ich nicht
todt, oder ich bin todt und dann lebt Keiner, der es
bedauerte, daß er todt iſt. Man hat Angſt davor,
ſich einmal todt vorzufinden, aber der Todte ſucht und
ſieht ſich ja nicht. Daher iſt es purer Unſinn, an den
Tod zu denken. Wenn nur die Phantaſie nicht wäre,
die uns zwingen will, uns vorzuſtellen als im Tode
lebend und uns todt wiſſend! Eine Wittwe hat mir
erzählt, ſie habe den plötzlichen Tod des Vaters dem
kleinen Töchterchen einen Tag lang verheimlicht, dann
aber das nicht länger gekonnt. Das Kind ſchweigt
eine Weile und ſagt dann: aber da wird der Vater
traurig ſein, daß er todt iſt! — Genau wie die alten
[163] Völker: Schattenleben im Scheol, im Hades; — todt
und im Tod ſo viel lebend, um zu wiſſen, wie un¬
angenehm der Tod ſei. — Was iſt nun das Uebel?
Es braucht Denken, viel Denken, dieſe Phantaſie fern
zu halten, als ſtäcken wir lebend im Tod, und zu
begreifen, daß man an den Tod ſchlechthin nicht denken
ſoll. So kommt es, daß man vor lauter Denken,
warum man an den Tod nicht denken ſoll, zu viel
an den Tod denkt.
Das hat nun Goldrun begriffen und mir die
Hand gedrückt und mich hat es hoch gefreut, daß ſie
es begriff. Denn Jugend will ja ſonſt nichts vom
Tode wiſſen. Vom Alter ja auch nichts. Ich erinnre
mich, wie wir als junge Kerle von ungefähr fünfund¬
zwanzig Jahren einen Kameraden auslachten, der
dreißig geworden. Dummheit, denkt man, ſo etwas
paſſirt mir nicht! Man will natürlich fortleben, aber
daß man dabei älter wird, das ſchiebt man einfach
aus dem Kopfe weg. Und ſterben? Seien wir nur
redlich gegen uns: wir ſind in Wahrheit Ariſtokraten
des Lebens und ſehen ſpöttiſch mitleidig auf den, dem
das Sterben paſſirt, eben doch herab wie auf eine
Art von Lump.
Nun hat mich alſo der Handdruck gar ſehr gefreut
und ich habe wieder gedrückt und wir haben uns ge¬
küßt und nun iſt's wieder im Zug.
[164]
Dieſer Arnhelm — jetzt gibt er wieder ein Bänd¬
chen lyriſche heraus. Wird es ihr widmen. Nun ja,
wenn nur ich's nicht leſen muß; — ſchrecklich! Was
will ſie mit dem Süßling? In ſeinen Blicken nach
Goldrun liegt doch ein Etwas — feucht ſentimentaler
Art — ſo etwas Anſaugendes — hübſcher Stutzer,
was man ſchön nennt, Modejournal-Monatrettiggeſicht
mit aufgedrehtem Bärtchen — Wie, eiferſüchtig auf
den Wonneflöter? Schäm' dich, Herz!
Wieder verſchnupft. Sie meint mich wie armes
Würmlein behandeln zu können. „Ei mit Kandis¬
zucker? — Holderthee? Naß Tuch und wollene Binde
um den Hals?“ Als ob ich ein Mutterkindel wäre!
Spottet auch auf deutſche Verweichlichung, deutſches
Weſen, Volk, doch da bin ich geſtern ſehr grob ge¬
worden. Sonſt — es ſoll Humor ſein und man
will doch Spaß verſtehen. Muß ich die verfluchten
Hemdkrägen haben und kann nirgends rechte finden.
Die haben ganz den Teufel im Leib, halten nicht
hinten, rutſchen über die Kravate heraus, ſitzen auf
der bloßen Haut; muß zupfen den ganzen Tag. Sie
ſieht Alles mit Sperberblick. Schrecklicher Realismus
des Weibs, Falkenauge der Mädel für Komiſches,
für Ungeſchicktes im Aeußern.
Das thät' wenig, aber dann wieder bös launiſch,
[165] Tage lang; will ſichtbar mich doch eiferſüchtig machen.
Wie hat ſie geſtern Dyring's Locken geſtreichelt, mit
Arnhelm geäugelt!
Größere gewählte Geſellſchaft in ihren Zimmern.
Verehrer, einige Damen. Ihr Weſen vornehm, takt¬
voll unbefangen, das ganze Benehmen jene geſellige
Kunſt, die Natur iſt. — Singt alte Balladen, auch
die Olafballade wieder. Dabei Blick nach mir her,
wie damals, Blitz im Auge. Dann Vorleſung aus
Antigone. Dann Odyſſee: Geſang von der Nauſikaa.
Sie hat nach deutſchen Ueberſetzungen mit Dyring's
Hülfe gut in's Schwediſche überſetzt. Liest abwechſelnd
mit ihm vor. Er ſingend, langweilig, ſie mit
ganzem Kothurngefühl, und wie mächtig das Leiden¬
ſchaftliche in der Tragödie, wie rein und gehalten das
Gefühlte im Epos! — Dann Tanz. Der Arnhelm
nimmt ſie doch ſehr eng um den Leib. Sie tanzt
auf Verlangen Solo. Pompejaniſche Tänzerin, —
man meint, wie damals in Hardanger, ſie werde jetzt
aufſchweben. Ich muß mich abwenden, mir wird
unheimlich. Jetzt heißer und heißer, wieder die ſau¬
ſenden Tarantellakreiſe. Klatſchen, Beifallstumult —
inzwiſchen — ſollte ich mich getäuſcht haben? — wie
ſie athmend ſtillſteht, — ein Blick zu Dyring hinüber,
der am Klavier ſitzt — von ihm herüber — über
[166] die jungen Leute weg, die ihr die Hände faſſen und
tätſcheln — nur ein Moment — war das väterlicher
Lehrerblick? War das dankbar töchterlicher Blick der
Schülerin? — Nicht, als wollten ſie ſich ſagen: nippt
ihr immerhin, ihr Fliegen, — wir Zwei — ? —
Nein, fort mit dem Gedanken, fort! Er kommt aus
der Hölle!
Heut' bringt der Arnhelm das Bändchen lyriſche.
Bekommt einen Kuß. Kuß doch zu lang für bloß
ornamentalen Kuß! Sie merkt mir etwas an, da geht
der Spott wieder los.
Die Nagelſchmiedin.
Will mir mit Arbeit helfen. Einmal doch wieder
Schelling's Abhandlung über die Freiheit vornehmen und
gründlich leſen, vielleicht, wenn ich Gedanken darüber
zuſammenbringe, einen Aufſatz ſchreiben. Richtig bei
einem Antiquar gefunden, da liegt's vor mir: „Philo¬
ſophiſche Unterſuchungen über das Weſen der menſch¬
lichen Freiheit und die damit zuſammenhängenden
Gegenſtände“. Landshut 1809. Lang her. Noch un¬
[168] aufgeſchnitten; worden wenig Philoſophen in Bergen
ſein. Goldrun hat's auch nicht erwiſcht. Die könnte
ſich ſpiegeln; ſtammt ſchnurgerad aus dem dunklen
Grund in Gott, den der Philoſoph dozirt.
Will nichts werden mit dem Denken und Schreiben.
Wollte ſchreiben, ehe ich recht gedacht, das mechaniſche
Thun der Hand dabei ſollte mich an der Stange halten,
daß die Gedanken nicht abſchweifen. Aber auch dabei
ſtellen mir die Teufel nach. Alles wie verhext. Will
ich eifrig fortleſen, ſo wollen zwei Blätter nicht aus¬
einander. Beim Schreiben iſt die Näſſe der Tinte, und
daß man nicht ſchon etwas Anderes hat erfinden können,
ein heilloſer Umſtand. Tags hundertmal ein Fließblatt
einlegen! Darüber vergißt man die beſten Gedanken.
Und Sand? Dieß Grüſeliche nicht zum Ertragen.
Feder will ſich nicht ſchneiden laſſen, und mit Metall
kann ich nicht ſchreiben. Alles Papier zu glatt; macht
mich nervös, wenn die Feder ſo rutſcht; Spannen in
der Herzgrube. Ich liege in einem Ameiſenhaufen.
Tinte auch klebrig. Und verſchüttet, zwei wichtige
Seiten im Buch zum Teufel! Drei Blätter zernagt
mir des Hausbeſitzers junger Hund, ſonſt liebens¬
würdig. Alles fällt. Tiſch wackelt. Schreibunterlage
will ſich nicht flach legen. Es iſt nicht anders, es muß
Teufel geben. Ganze Neſter wie Raupenneſter. Stammen
[169] auch aus dem dunklen Grunde. Haſſen den Menſchen,
weil er aus der Natur heraus — —
Ja, ja, ich muß eine Mythologie daraus entwickeln,
und dazu eine überzeugende, ja den eigenen Urheber
überzeugende. Doch nicht wie die neuen Peſſimiſten,
die verlangen, man ſolle ernſt bleiben. Cum grano.
Es ſoll erlaubt ſein, zu lachen, obwohl —
Mythologie? Werde mir bald ſelbſt zum Mythus!
Mich mit dem jungen Schöngeiſt um das unheimliche
Weib als Trabantenpaar herumbewegen! — Der Fant
iſt auch Romantiker. Spricht da neulich mit Phraſen¬
duft von den Uebertritten der Friedr. Schlegel, Zach.
Werner! — Schönfärber. Widerlich! — Dabei ein
gewiſſes Schillern, ein feuchter Glasglanz im Auge
und das geſcheitelte Haar!
Und ſie? Und ſie? Ein Menſch oder ein Geiſt?
Solches Metallhaar hat ja doch kein richtiger Menſch.
Iſt Schmetterlingsflügelſtaub oder Vogelfedernſchmelz,
Fiſchſchuppenglanz. Ihre Augen: blau, grau oder
grün? Kann es nicht herausbringen. Es muß eben
doch eine Nixe ſein. Aber dieſe Augen antik, das Weiß
[170] der Bindehaut über den Sternen ſichtbar. Das glüht!
Wie die Augen der Juno auf pompejaniſchem Wandbild.
Truggeſpenſter um mich! — Treibt ſich da ſeit
Wochen eine Figur um mit glattem Elfenbeingeſicht
und ſo einem Strich, einem Pli über die Augen herunter,
als hätte der Menſch als Magnetiſeur ſein eigen Geſicht
mit der Hand gebügelt; man hält das Ding für einen
Jeſuiten. Find' ich in der Dämmerung den Arnhelm
in vertieftem Geſpräch mit dem Geſpenſt, dort in der
Nygaardsallee. Höre im Vorbeigehen die Worte:
„Heilige Symbolik — Mariendienſt —“ Sollte das
Bürſchchen gar ein Krypto — nun, es wird eben
äſthetiſche Leckerei ſein!
Stachelſchweinrauſchen! — Sie wird mir immer
unheimlicher. Gehe wieder hin, erzähle ihr die Be¬
obachtung, rede vom Proſelytenthum jener widerlichen
Seelen, die ſich vom Schimmer des Katholizismus
fangen ließen, Schönheit und Wahrheit verwechſelten,
predige ihr vom Ernſte proteſtantiſcher Bildung, zu
dem ſie gehöre und einfach halten ſolle — ach, wie
man ja immer der Thor iſt, beſſern zu wollen, wenn
man unwürdig liebt! Sie ſpricht von Pedanterie —
eine prédilection artistique ſei noch nicht blutiger
[171] Ernſt, und derlei mehr. Ich ſag' ihr, das Wort
habe ſie aus einem Brief Wilh. Schlegel's aufge¬
ſchnappt, der ſei aber auch ſchon tief genug im Lügen¬
quark geſteckt, nahe genug am Verſinken, verlogenes
Pack ſei das ganze Gelichter geweſen — Wahrhaftig¬
keit, rufe ich, Wahrhaftigkeit! mit gehobenem Finger.
Sie wird ſchnell bös, fährt vom Seſſel auf, ruft mit
Furienblick: Prediger! — und dabei in der kurzen
Bewegung ein Rauſchen der Kleider, ſo ſtark wie bei
ſauſendem Fluge. — Wenn das Stachelſchwein drohen
will, ſo treibt es den Wald ſeiner Kiele auf, man
vernimmt dabei ein Rauſchen, viel zu ſtark, als daß
es aus dem Aneinanderſchlagen der vielen Hornſpieße
erklärt werden könnte, das Thier vermag Luft in die
Röhren dieſer Organe zu treiben, um durch den winds¬
brautähnlichen Ton den Feind zu ſchrecken. Eine ähn¬
liche Vorrichtung müſſen die dämoniſchen Weiber in
den Poren haben, um bei heftigem Aufzucken Luft in
ihre Gewänder zu pumpen, daß ſie geiſterhaft rauſchen
und ſauſen. — Sie wird mir phyſiologiſch unheim¬
lich, monſtrös. Und der Zorn, weil ich an Wahr¬
haftigkeit mahne! Weiß, warum ſo beleidigt. Dieß
Weib iſt nicht wahr.
Tagelang wieder gemieden. Geſtern Nacht am
Haus hin und her geſtreift. Sie ſang. Das Olaf's¬
[172] lied. Es ſchmetterte wie Nachtigallenſchlag in die
Nacht und dann klang's wieder wie Drohen und
Hohn dunkler Meergeiſter und wieder wie Mitleid,
o, wie Klage der Okeaniden, die den gefeſſelten
Prometheus beweinen, — ach, dieß Weib iſt doch
entzückend!
Dyring krank. Sie viel mit Arnhelm allein.
Eigentlich nicht hingewollt. Aber es zog mich eben
doch. War mir ſchwül zu Muthe. Doch eben Sehn¬
ſucht! Sehnſucht — Und — gefunden in Arnhelm's
Arm — des Knaben — heiß! heiß! — O, jetzt fort,
fort, hinweg aus der Hölle!
Geſchlagen habe ich ſie! Aber — o Schmach!
dann — Wie ich ſie ſo gefunden, ſtürze ich zuerſt
ſchweigend fort, kehre nach kurzem Gang wieder um,
treffe ſie jetzt allein, trete vor ſie, ſag' ihr die Wahrheit;
Metze hab' ich ſie genannt. Wie ein ſchöner gefleckter
Panther ſpringt ſie gegen mich auf, ſtößt etwas heraus
vom Rechte des freien Weibs — ich packe ſie an den
Schultern — ſie thut einen ſchüttelnden Ruck mit
ſolcher Brunhildenkraft, daß ich zur Seite ſchwankend
den Kopf an einen Schrank ſchlage („daz ihm ſin
Houbet lute an eime Schamel erklank“), jetzt muß ich
[173] mich erwehren, ſchleudre ſie zu Boden und gebe der
Fallenden einen Schlag — ſie weint — es reut mich
— ein Weib! — ich werde wieder weich, weil ich ſie
weich ſehe — hebe ſie auf — die Goldlocken umwallen
aufgelöst ihr Haupt und Marmorſchultern, ich muß
ſelbſt weinen, — ach, es iſt ja ſo ſchade um ſie! —
bedecke ſie mit Küſſen, ſchäme mich vor mir und renne
hinaus und begegne draußen wieder dem Monatroſen¬
geſicht mit den Belladonnaaugen, dem Fant, dem ge¬
ſcheitelten Schöngeiſt-Engelkopf Arnhelm, — ein Lechzen
ſichtbar auf ſeinen Kirſchenlippen — und nun aber
endlich aufgepackt und weit, weit fort!
Drontheim. Da wär' ich! Frei! Weit weg!
Wie am Ende der Welt! — Wild auf wilden Wegen
weiter, immer weiter. — Frei? Wenn nur die
Träume nicht wären — auch in's Wachen herein!
Dieſe beſtändige Bangigkeit, dieß Weh in der Herz¬
grube! Ich fürchte keinen Menſchen und bin doch ſo
athemlos zuſammengeſchnürt — Träume voll Todes¬
angſt — ich bin vergeiſtert, wohne im Reich der
Dämonen.
Hätte mich das Ungethüm zerriſſen bei Joſtedalsbrä,
mir wäre wohl beſſer. Die Bärenjagd mitmachen, — ich
[174] hoffte eine Kraftkur für die arme Seele. Im ewigen
Schnee, am Eis der Gletſcher: Kühlung, Kühlung!
Will es ohne Schuß wagen mit aufgepflanztem Hau¬
bajonet. Bär ſteht, Stoß fehlt. Die Rothjacke hat
mich mit wohlgezieltem Schuſſe gerettet. Unkraut ver¬
dirbt nicht. Aber Tatzenhieb über die Schulter. Gut,
daß der Doktor die Jagd mitmachte, der Schwede Erik
hat mich in den Gard bringen laſſen, verbunden. Wund¬
fieber. Wilde Phantaſieen: Goldrun, goldglänzende
Bärin, haut mich über die Bruſt, ſchleppt mich hinter
den Obsthusfoß, umarmt mich dort als Meerfräulein,
verwandelt ſich plötzlich in den Wolf Fenrir. — Am
andern Tage wieder hell, doch ſchwach. Der Doktor
gar guter, geſund nüchterner junger Mann. Sitzt an
meinem Lager, der Ton ſeiner Stimme, der Blick ſeiner
Augen ſo ehrlich und beruhigend; erzählt: hat ſich als
Arzt in Bergen niedergelaſſen, holt bald ſeine Braut
von Schottland herüber. Wird nicht müde, ſie zu
rühmen, wie reiches Seelenleben und dabei ſo ſanft,
gut, brav; Vater ein Schotte, Mutter aus Perugia;
heißt Cordelia, „und,“ ſagt er, „iſt auch Cordelia.“
Malt ſich rührend ſein nahes Glück aus, — wie die
Zimmer einrichten — Alles. Mir tönt das wie ferne
Glocken, wie alte Sage von der in's Meer ver¬
ſunkenen Stadt. Einfaches Menſchenglück! — Für
mich nie!
[175]
Geheilt weiter gewandert. Ueber wüſte Hochebenen,
todeseinſam. Oft hungernd fortgeſchleppt, bis ein ärm¬
licher Säter mich aufnahm. Ein Schneehuhn flattert
auf, ein Fuchs ſchleicht, keine Menſchenſeele. An Berg¬
ſeen ſchwerträumend. Hinab? Unter? Nein, weiter!
Ich ſehe Geſtalten im Geiſt über dieſe Wüſten ſchreiten,
kriegeriſche, abgemagert, zerlumpt, ungebeugt, ein jugend¬
lich Haupt ihr Führer. König Sverrir, der du mit
deinen kühnen Banden einſt hier ringend mit Kälte,
Schnee, Hunger umhergeirrt, Kriegern in Birkenrinde
gekleidet, oft der Verzweiflung nahe, ſich fragend, ob
ſie ſich nicht lieber hoch von den Klippen ſtürzen oder
gegenſeitig tödten ſollten, — haſt ausgehalten mit deiner
Schaar, ein halb Jahrhundert gekämpft gegen Prieſter¬
herrſchaft, drunten im Sognefjord in blutiger See¬
ſchlacht geſiegt, — o, ſo etwas! wer mir das brächte!
— Aber will aushalten! Will mich nicht ſchämen vor
euch Heldengeiſtern. Bin Mann.
Hinüber in's Jötunfjeld, von den alten Rieſen
gethürmt gegen die Aſen, Gipfel an Gipfel, Zacken an
Zacken, ewiges Eis, wüthende Waſſerſtürze, Hochthal
dazwiſchen ſchauerlich ſchön —, geiſterhafte Seen —,
ich ſchaue empor an den unerbittlichen Kryſtallen —
fällt mir ein aus der Edda, wie es von Brynhild
heißt:
[176]
Die Wilde in Bergen könnt' ich mir auch ſo denken.
Muß ich ſie überall finden?
Was ſoll ich aber hier in dem Drontheim da wieder
unter den Menſchen? — Einſt, welchen Zauber hätte
für meine Phantaſie gehabt ſo uralt, fremd, fern hoch¬
nordiſche Krönungsſtadt! — Jetzt, was geht's mich an,
was es hier gegeben hat ſeit Olaf Trygvesſön? Die
Domkirche ſtudiren, ihre alten Königsgräber? Norwegiſch¬
gothiſche Zickzackornamente nachzeichnen? Zickzack genug
in mir ſelbſt. — Auf dem Fjord im Sturm gefahren,
hat wohlgethan; doch, wo Waſſer, fällt mir der Tindſee
wieder ein, immer, immer —
Ja, wenn's noch Vikinger gäbe! Hinaus auf dem
Wellenroß in Sturm, in blutigen Krieg! Das wäre
für mich!
Warum nicht hinweg? Jetzt auf, fort, hin nach
Italien? Es hält mich mit Geiſterknoten; es bannt
[177] mich. Ich mache mir vor, ich müſſe Stimmung ab¬
warten, innen austoben laſſen, bis Sammlung zu
ruhiger Kontemplation —, als ob man die nicht ſuchen
müßte durch Weithinwegeilen. Aus den Augen, aus
dem Sinn! Im ſelben Land iſt immer noch in den
Augen. Iſt es aber ganz nur Selbſtanlügen? Mir
iſt immer: es fehlt noch ein Punktum. Ach, immer
noch der unerlöste Geiſt von damals!
Daß aber doch auch das Denken nichts, gar nichts
helfen will! Beſinne mich auf alle Weisheitsſprüche
— was ich nur aufgraben kann, aus dem gefrornen
Gedächtniß heraushauen — Sprüche Salomonis, Weis¬
heit der Bramanen, Sakja-Muni’s herrliche Arzneien
gegen die Leidenſchaft, Kongfutſe’s Weisheit, Sieben
Weiſe Griechenlands, Plato — ach, über dem fällt
mir der ſanfte Gang in Weſtfjorddalen wieder ein,
unſere Plato-Abende in Bergen, jede Stunde, wo ſie
gut war und vernünftig fort, weiter: die Stoiker,
Markus Aurelius, der reine Kühlbrunnen ſeines єἰς
ἑαυòν —, Goldworte des Neuen Teſtaments —:
da thaute aus Knabenzeit wieder in mir auf: „Denen,
die den Herrn lieben, müſſen alle Dinge zum Beſten
dienen,“ — die Augen wurden mir feucht —; mein
Spinoza — Kant — der fiel mir nach langer Zeit
wieder ein, ſein ehrliches Schriftchen: „Von der Macht
Viſcher, Auch Einer. II. 12[178] des Gemüthes, durch den bloßen Vorſatz ſeiner kranken
Gefühle Meiſter zu werden“, — u.ſ.w. u.ſ.w.
u.ſ.w. — Und Alles umſonſt! Die Leidenſchaft iſt
eine profunde Sophiſtin. Was ſagt ſie? Sie ſagt:
Alles ganz wahr und ſchön, mag auf alle Fälle paſſen,
nur auf dieſen nicht; der iſt von abſoluter Be¬
ſonderheit. Das Dieſe kämpft gegen die Wahr¬
heit und Macht des Allgemeinen, will ſich in ſeiner
zäh gebackenen Dichtigkeit nicht von ihm perforiren
laſſen. Ja die Dießheit, das iſt etwas gar Dunkles,
Schweres, ein großes Geheimniß.
Und dieſe Einſicht in den Sophismus der Leiden¬
ſchaft nützt mir auch nichts, rein nichts, hilft mir
nicht, meine Seele wieder holen, die mir abhanden
gekommen, die nicht mehr mir gehört. Mein Centrum
iſt außer mir, heißt Goldrun, wandelt, wo es mag,
mißhandelt mich, entehrt mich. Ich bin nicht mehr Ich.
Dämoniſch iſt das Weib, deſſen Reiz noch fort¬
wirkt, während man ſie ſchon verachtet. — Eine De¬
finition unter anderen, es gibt noch mehrere.
Oft war ſie zwiſchen Herrſchſucht, Siegeshohn ganz
unterthänig, mehr als recht.
[179]
Den erſten habe ich zu wenig bekämpft, den zweiten
nie benützen mögen. Ach, in der Liebe, meint man
ja, gelte nur Ein Geſetz: unendlich gut ſein!
Vertrakte Zufälle führen mich ganz gegen meinen
Sinn und Geſchmack an eine Table d'hôte. Rede nach
Gewohnheit, weil ich in der Jugend für meine Zu¬
thulichkeit gar ſo ſchwer Lehrgeld gegeben, am Wirths¬
tiſch überhaupt nichts, außer wenn Nachbarn mit mir
anfangen. Alles ſchweigt, nur da und dort kurze ge¬
dämpfte Geſpräche. Dauert zwei Stunden, hab's Eine
ausgehalten, weil erſt nach einer Stunde das Stückchen
Braten kam, das geſunde Nahrung. Dann fort. —
Unendlich rohe und gemeine Sitte, zwei Stunden lang
ſtumm freſſen, den Magen vollſtopfen. Kuh an der
Raufe frißt gebildeter.
Wieder hinaus in die Berge. Etwas erfriſcht.
Rothmützige, dunkelbraune, ſchmalaugige Lappen ge¬
ſehen, Rennthiere weidend. Die haben's gut, ſtill bei
den ſtillen Thieren mit den ſanften Augen. Freſſen
auch beide an keiner Table d'hôte.
[180]
Es iſt gar trocken heiß, wir ſind ſtark im Auguſt.
Alles ſeufzt nach Regen. Alle Abend Wolken, lang
Wetterleuchten und reicht doch nicht, kann doch nichts
werden. So iſt's in mir. Es muß noch einen Durch¬
bruch nehmen. —
Endlich! Ein Prachtgewitter. Wie hat mir's
wohlgethan! So mächtig durchſchlagen! — Da hat
ſich mir unvermuthet die Muſe einmal wieder ein¬
geſtellt.
Mir auch, mir auch ſo — Schlag, Sturz, Küh¬
lung !
Gehe ſpazieren. Fjord prachtvoll. Luft mild.
Selbſt Nußbäume. Fluren ſaftig. Kröne mich mit
Stille, ſalbe mein heißes Haupt mit Oel des Frie¬
dens, alte Krönungsſtadt Nidaros!
[182]
Will keine Geſellſchaft. Am wenigſten die Eng¬
länder da, die ich zum dritten Mal in der Speiſe¬
wirthſchaft finde. Verwünſchte Sprache. Ein Gott
hat ſie im Lachkrampf erfunden und geſagt: eine
Sprache ſoll ſein, die ſei zweckmäßig kurz und doch
reich, dadurch faſt zur Weltſprache geeignet, aber im
Klang ſo, als brächte man zum Spaß unanſtändige
Töne hervor. — Uebrigens kann man die Sprachen
auch ſo eintheilen: das Engliſche reine Auſter, ſchlei¬
mig mit Seegeruch. Das Italieniſche Rothwein mit
Orangen. Das Franzöſiſche Liqueur und Biscuit.
Das Deutſche gutes Roggenbrod mit Rettich und Bier.
Das Holländiſche ganz Häring.
Doch alles dieß iſt auch wieder gleichgültig, denn
jede Sprache hat außerdem noch Nektar im Keller. Da
ſind die Dichter die Schenken, ideale Kellner. In der
lächerlichſten aller Kulturſprachen hat Shakeſpeare ge¬
ſchrieben.
Mich einmal wieder über die Menſchen empört.
Einige Herren, dabei Vater mit Sohn, am ſelben Tiſch
drüben im Kaffeehaus. Die Unterhaltung geht in
Zoten über, eckelhaft. Man ſollte gar nicht mehr
unter die Menſchen gehen. — Gewiß enthält das Ge¬
ſchlechtsleben des Menſchen reichen Stoff des Komi¬
ſchen. Es wäre abgeſchmackt, dieſe Quelle für Lachen
[183] und Witz verpönen zu wollen. Wo fängt nun aber
das Gemeine, das Wachtſtubenmäßige an? Was iſt
die Grenzlinie? Habe oft darüber nachgedacht, es iſt
ſchwer finden. Ungefähr ſo: das Gemeine beginnt,
wo der Stoff nicht mehr durch zufälligen komiſchen
Kontraſt oder durch erzeugten, d. h. durch Witz ver¬
flüchtigt wird, ſondern wo er als Stoff ſchon komiſch
intereſſant ſein ſoll. Es muß ein Plus von komiſchem
Kontraſt oder Witz über den puren Stoff da ſein. Wie
eckeln mich die Kerle an, die meinen, es ſei an ſich ſchon
witzig, wenn man Dieß oder Jenes auf das Geſchlecht¬
liche bezieht! Dann das Augenzwinkern, Zunicken:
weißt, wir verſtehen, wir kennen das! Dann das
ſtinkige Bocksgelächter. Dieſe Schweine in Glacéhand¬
ſchuhen haben ſogar vor dem Vater und Sohn, die neben
einander ſaßen, Zoten geriſſen. Schamlos; es ſind Dreck¬
ſeelen. — Man kann die Menſchen nicht keuſch machen,
aber die Schamhaftigkeit ſollten ſie ſich erhalten, Mann
wie Weib. Keuſchheit verloren iſt noch nicht Scham ver¬
loren, ſonſt wäre ja die Ehe etwas Schamloſes.
Schamhaftigkeit zum Teufel, ſo iſt die Schwungfeder
zu allem Idealen in der Seele zum Teufel. — Das
Geſchlechtsleben iſt an ſich ehrwürdig, heilig. Der un¬
verdorbene Jüngling verehrt unbewußt in der Jungfrau
das geheimnißvolle Gefäß von Menſchenkeimen. Das
Geſchlechtliche ſteht alſo an ſich ſchlechtweg in keinem
Kontraſt zum rein Spirituellen in der Liebe. Der
[184] tiefſte Geiſt kann ſo Tiefes nicht erfinden, wie das
Wunder der Zeugung. Natürlich jedoch müſſen Be¬
leuchtungsmomente eintreten, wo ſcharfer Kontraſtſchein
entſteht. Höchſten ethiſchen Zwecken, Gefühlen gegen¬
über fällt auf das Sexuelle das Schlaglicht des Thieri¬
ſchen, ja Mechaniſchen. Man hat über dieſen Kon¬
traſt gelacht, ſo lang die Welt ſteht, auch das reinſte
Weib. — Gut, dann lacht! Sucht es aber nicht,
macht nicht Jagd nach ſolchen Beziehungen, meint
nicht, es ſei ſchon witzig, anzudeuten, daß euch der Ge¬
ſchlechtsprozeß und ſeine Luſt bekannt ſei; das iſt ja
Koth! Das heißt ja: ſich freuen, Thier zu ſein, unter
dem Thier, das Thier reißt keine Zoten!
Ihr Götter, was fange ich an zu fühlen! Him¬
melsthau: lange Weile! O gegrüßt, das iſt Zeichen
der Geneſung!
[185]
Draußen am Lerfoß geweſen, eine Geſellſchaft ge¬
troffen aus Chriſtiania, wobei ein Prachtweib, groß,
durchaus ſtylvoll gebaut. Weg, will nichts davon!
Will kein Raſſeweib mehr ſehen! Es iſt ein Elend,
daß unſer Einem kein Weibesgebild gefallen kann,
wo der Teig ſitzen geblieben; bei den Raſſeweibern iſt
er gut gegangen, aber der Teufel hat den Herd
geheizt.
Sammlung wächst, wenn ich nicht ganz irre.
Glaube mich auch gewappnet gegen die heißen und
plaſtiſchen Weiber in Italien. Muß nun doch bald
hin, dort Heilung vollenden. Noch eine, zwei Wochen
vorher lateiniſche Klaſſiker leſen, wird gut thun. Ob¬
jektive Sprache; wird kühlen. Dann auf und hin
zum Süden!
Die Träume ſind mir doch noch gefährlich. Dieſe
Nacht vor Einſchlafen ſurrt mir der letzte Vers des
Gewittergedichts im Ohr. Träumt mir, das getränkte
Erdreich öffne ſich und ihm entſteige ein nacktes Pracht¬
gebilde. „Dieß iſt nicht das Meer,“ ſage ich, „du
biſt nicht Anadyomene.“ Sie nickt, ich meine das
ſchöne Weib zu erkennen, das ich draußen am Lerfoß
geſehen. „Laß mich!“ rufe ich. „Komm',“ flüſtert ſie,
[186] „ich zeige dir Anadyomene.“ Wie magnetiſch zieht
ſie mich, ſchwebt mit mir über Gebirge, Meere, der
Himmel wird tiefer blau, Inſeln ſchwimmen, rein ge¬
zeichnet, in Azur getaucht; ein Vorgebirge ſteigt auf,
eine Landzunge in's Meer vorgelagert; „hier iſt Kni¬
dos,“ ſpricht die geiſterleichte Trägerin, läßt mich vor
einer Tempelhalle nieder, ich trete ein und da ſteht
ſie, die Gewänderablegende, — leuchtend, das Höchſte,
was kunſtgewordene Natur erſchaffen kann. Schauen
will ich, ſpricht's in mir, und fern bleiben. Da ſeh'
ich Lebenswärme durch den Marmor rieſeln, das Ant¬
litz färbt ſich, das Haar wird Gold und ich erkenne
Goldrun. Sie regt ſich, winkt. Der Boden wankt.
Ich verſinke.
Theurer Phaon! *)
Hinweggegangen biſt du und hergeſchritten iſt mit
ehernem Fuß der langhinſtreckende Tod, im Hades
wandelt der Freund, der Enkel der Hellenen, der Weiſe,
der Deuter des göttlichen Platon; ſterbend hat er dich
genannt und geſtammelt: er nun dein Schutz und
[187] Hort. — Geſchieden iſt der Jüngling, der kurze Blind¬
heit hellem Geiſt hat angehaucht. — Du zürneſt,
zürne nicht länger!
Alſo ſpricht Pſappha, die Lesbierinn, alſo ſpreche
ich, alſo ſprich auch du, o Freund!
Einſam bin ich, o Guter, wandle ſeufzend wie
Schatten am Acheron.
Vielfach ſind die Bewegungen des Eros, ſanft die
einen, gewaltig die anderen, um dich aber, o Freund —:
Ich habe zu ſeiner göttlichen Mutter gefleht:
Und gekommen iſt ſie, Sperlinge, zierlich flinke,
die eilenden Flügel ſchwingend, trugen den goldenen
Wagen
Und Lächeln im unſterblichen Antlitz fragte die
ewig Heitere:
Wiſſe, o Freund, am Sjöſtrand dort, am Ufer
des Sognefjords war Baldur's Hag, und Frithiof,
der junge Held, fürchtete nicht des Gottes Zorn und
der gute ſchöne Gott duldete es, daß er in ſeinem
Haine Götterſtunden lebte mit der ſüßen Pflegſchweſter
Ingeborg, König Beli's Kind.
Komm', du Guter, Theurer, komm', Phaon, in die
Arme deiner
Pſappha Chryſoſtoma.
[189]
Aus iſt's, ich kann nicht widerſtehen. Es iſt eben
doch ein gutes Weib. Kurze Verirrung des Gefühls
— warum ſoll man ſie ſchließlich nicht verzeihen?
Wird mit Arnhelm doch nicht zu weit gegangen ſein,
und übrigens muß man ſie eben überhaupt als Griechin
auffaſſen. Und ihr Spott war und iſt eben Humor.
Solch' ein Weib findeſt du ja doch nicht wieder! Auf!
Heute noch vorerſt Eiſenbahn bis Stören, dann weiter
zu Schiff, zu Fuß, zu Pferd, Skyds-Fuhr im rum¬
pelnden Stolkjären, in ſchaukelnder Carriole, fort, fort
durch Dick und Dünn, fort zu Baldur's Hag! Nach
Haus, ja nach Haus, zu Haus bin ich doch nur, wo
ſie iſt!
Lekanger am Sogne-Fjord. Getroffen. —
Sjöſtrand eine Luſtaue, als wäre man in Italien.
Fruchtgarten an Fruchtgarten. Vögel girren und ſchla¬
gen, Eichen und Eſchen flüſtern, Bäche rieſeln, groß
brandet die Woge. Aber welche Berge, welche Schnee¬
häupter ragen herüber wie Ewigkeit in den Moment
der Wonne! Ja hier, hier! Gönne mir mein Glück
in deinem heiligen Hage, deiner alten Friedens- und
Opferſtätte, du Jugendgott mit den blühenden Wangen,
gönne mir's, Baldur! Haſt's auch Frithiof nicht mi߬
gönnt, als er herüberſteuerte von Framnäs, des Vaters
Haus, auf ſeinem Schiff Ellidi, und ſie beſuchte, die
Geſpielin ſeiner Kindheit, die holde Ingeborg, ihm ver¬
weigert von den ſtolzen Brüdern Helgi und Halfdan
und verwahrt in deinem Heiligthum!
Selige Tage, nur Tage, denn noch ſcheint die
Mitternachtsſonne unſern Entzückungen.
[191]
Wir rudern her und hin am Fjord, hinüber nach
Balholmen an König Beli's Grabhügel, hinüber nach
Vangsnäs, dem alten Framnäs, wo er ſeine Kinder¬
tage lebte, der ſtarke, der liebende, der treue Held.
Welche Großheit wieder, wenn ſie das Ruder
ſchwingt, wenn ſie vorgeſtreckt den ſtarken Druck übt,
dann die Schaufel dreht, das Ruder zurückzieht und
aufrecht wieder in ihrer Gliederpracht ſteht, herumſchaut
und geröthet vom tüchtigen Werk mich mit den großen
Augen anlächelt! So war ſie ja auf dem Tind-See,
da hat ſie mir's angethan, nur hat ſie mich ſo ſonnig
aufgeblüht noch nicht angeſchaut!
Geſtern Sturm. Wir hatten ſchwer zu kämpfen.
Wie trotzig ſtand ſie wieder, wie herrlich wühlte wie¬
der der Wind in ihren Goldlocken! Frithiof fiel uns
ein, wie er auf König Helgi's Gebot fort muß, weg
vom heißen Glück, und Jarl Angantyr zwingen, daß
er Schatzung zahle, und wie draußen in offener See
der tobende Schneeſturm auf ſein Schiff Ellidi geſtürzt
kommt. Sie ſang aus dem alten Liede:
Ich nahm die Strophe auf:
Der Sturm warf Regen und Hagel, die Kälte
ſchüttelte uns. Da lachte ſie und ſagte: „Auch die
Götter froren; als Frithiof zurückkam, fand er Helgi's
Frau, wie ſie Baldur am Feuer wärmte.“ — Wie
verheißend zuckt es dabei über ihre Züge, welcher ſüße
Frevel ſpielt auf ihren Lippen!
O ihr Aſen hoch im Himmel! O Bragi, o Bal¬
dur! Nicht zu Ran, nicht zur dunkeln Hel im Ab¬
grund, nein, als ehrlichen Kämpfer mit den Einherien
zu Walhalla laßt mich einſt fahren! — Es wird un¬
heimlich um mich! —
Meine Eiſenbahnverſe haben wenig Glück bei ihr
gemacht. Sie mag den gerührten Ton nicht.
[193]
Dieſe Nacht, wie ich ſo die Schlummernde, Hin¬
gegoſſene beſchaute, warum kam denn plötzlich ein
Grauen über mich? Ich bin doch ſo ſehr im Vollglück.
Und warum beim Anblick von Dyring's Bild, das ſie
auf Medaillon am Buſen trägt? Er war doch ſo eine
platoniſche Natur, ſo ernſt, ſo edel!
Warum wächſt denn dieß Grauen und muß mir
einfallen, wie Fauſt in der Helena, die ihm der Teufel
zuführt, ein Gerippe umarmt?
Habe den griechiſchen Einladungsbrief wieder ge¬
leſen. Wo war meine Naſe? Zur Luſt locken hart
am Grabesrande des väterlichen Freundes? — Und
ſollte er, er ſterbend ſie an mich —, iſt's glaublich,
wenn ich mich gewiſſer Blicke — doch nein, dieſe
Mißgeburt ſtoße aus, mein krankes Hirn! — Aber
der Brief! Ein Geflicke aus Lappen der Sappho¬
bruchſtücke! —
Mit ihrem Griechiſch iſt es auch ſo weit nicht
her, als ich meinte. Dyring und Arnhelm haben ihr
immer geſchickt nachgeholfen.
Viſcher, Auch Einer. II. 13[194]
Dieſe anhaltende alte Angſt kommt wieder, dieſe
Zuſammenſchnürung der Herzgrube.
Ich meine immer, ich müſſe ihr recht fürchterliche
Predigten halten und dafür ſolle ſie mich recht küſſen.
Vereinigter, gleichzeitiger Kußregen und Ohrfeigen¬
regen — ſo ſteht's hier um's Wetter, dieß wäre meine
Loſung.
Könnte jetzt mit andern Verſen aufwarten.
Soll ich's ihr zum Leſen geben?
Enſetzlich! Unmöglich! Und doch! — „So war
ich mit ihm.“
Mit dem Platolehrer! — Sind mit dem Knaben
Arnhelm zwei gleichzeitig, drei ſo gut als gleichzeitig!
[196] Denn daß ſie mit dem jungen Schöngeiſt auch „ſo
war“, wie könnt' ich noch zweifeln! — Und hin¬
geſagt hat ſie's leichtweg, als verſtände ſich's nur
ſo von ſelbſt!
Wirklich, er hat's angenommen. Er muß arg
hungrig geweſen ſein, der Köter. Mir iſt zu Muth,
als nähme kein Hund mehr ein Stückchen Brod von
mir an. Der wenigſtens verachtet mich doch nicht.
Bäume, Berge, Schornſteine grinſen auf mich her,
Waſſer blinzeln nach mir her und ſagen: uns eckelt
an dir!
Sie niederſtoßen? — Ein Weib? — Daß ich
ihn erreichen könnte — das Meſſer bis an's Heft in
die Bruſt und zwölfmal darin umdrehen! — Einen
Dolch muß ich mir doch anſchaffen — einen ſchönen,
ſpitzen, langen, recht blank — nur öfters anſehen und
denken —
Lachſt du, Heuchlerfratze? Verkreuchſt dich in deinen
Fuchsbau drunten und kicherſt herauf? Wart, wart,
Larve, man kann auch einen Todten — — Mein
Gehirn ſiedet, — es rieſelt mir ſo oben herüber —
[197] Schatten, Wolken — auch der triefende Schweiß zu¬
rückgetreten, in dem ich von ihr fortſtürzte — hinaus
in den Sturmwind — verkältet in's Mark hinein —
böſe, böſe Miſchung —
Hier iſt es, wo die Blätter des Tagebuchs auf
eine lange Lücke ſchließen laſſen. In dieſe Lücke tritt,
was ich von Mac-Carmon in Waſen vernommen habe.
Ich laſſe ihn ſprechen.
„Mein Schwiegerſohn Erik lernte A. E. kennen
auf einer Bärenjagd in den Joſtedalsgebirgen und be¬
handelte ihn als Arzt, da er verwundet wurde. Er
ſchien auch in der Seele wund, — ſie kamen ſich im
Austauſch ziemlich nahe, doch nur aus hingeworfenen
einzelnen Worten konnte Erik auf eine Verſtörung
ſchließen, deren beſtimmtere Urſache ihm undeutlich
blieb; einige abgebrochene Reden, die er in der Phan¬
taſie des Wundfiebers hervorſtieß, legten aber den
Schluß auf eine ſchwere Erfahrung mit einem Weib
nahe.
„Erik kehrte nach Bergen zurück, wo er ſich nieder¬
gelaſſen. Von A. E. wußte er nur, daß er ſich
Drontheim zugewendet. Ein paar Monate waren ver¬
gangen, da glaubt er Nachts beim Schein einer
Laterne A. E. zu erkennen, der in wildem Laufe
[198] keuchend an ihm vorüberſtürzt. Er vernimmt ein
heiſeres Fluchen, von Huſten und Nieſen ſeltſam, faſt
komiſch unterbrochen, und erinnert ſich, daß A. E.
öfters über Neigung zu katarrhaliſchen Affektionen ge¬
klagt hatte. Der kurze Lachreiz vergieng ihm, als er
im Nachſchauen etwas wie einen Dolch in der Hand
des nächtlichen Springers funkeln ſah. Er kann noch
wahrnehmen, daß die dunkle Geſtalt einem Hauſe zu¬
eilt, das vereinzelt an einem Kanale des Hafens ſteht;
er ſieht Jemand aus dem Hauſe treten, A. E. den
Begegnenden anhalten, er meint zu beobachten, wie
er den blinkenden Stahl gegen ihn hebt, dann aber
den Ruf zu vernehmen: ‚Nein, nicht dir!‘ Ver¬
worrene Laute gedrängter Bewegungen laſſen auf ein
Ringen der Beiden ſchließen, es folgt ein platſchender
Schall, wie wenn ein Körper in's Waſſer fällt, Erik
iſt inzwiſchen näher gekommen, ſieht einen Schwim¬
menden ſich an die gegenüberliegende Kanaltreppe
durcharbeiten, A. E. aber in dem Hauſe verſchwinden.
Es war ihm nicht unbekannt, daß hier eine durch
Schönheit und Geiſt ausgezeichnete, aber von dunkeln
Gerüchten umſponnene Dame wohnte; er bemerkt Licht
in den Zimmern zu ebener Erde; nach wenigen Minuten
hört er hinter den Fenſtern einen Schrei, einen
dumpfen Fall, kurz darauf ſtürmt A. E. aus der
Hausthüre und ſinkt nah an der Schwelle zu Boden.
Er beugt ſich über ihn, befühlt ihn, kann kein Blut
[199] entdecken; ‚Nichts, nichts!' hört er ihn hauchen. Er
läßt vorerſt von ihm ab, denn ohne Verzug muß er¬
kundet werden, was im Hauſe geſchehen iſt. Erik tritt
raſch ein, ſieht eine Thüre offen, aus welcher Helle
dringt, und im Zimmer eine weibliche Geſtalt am
Boden liegen; eine Dienerin iſt um ſie beſchäftigt,
Erik bemerkt einen Dolch am Boden und ruft: „Hier
iſt ein Mord geſchehen!“ Bei dieſem Laut erwacht die
Hingeſtreckte und ſtöhnt: „Kein Mord! kein Mord!
Schweigen! Um Gottes willen, geheim halten!“ Die
Dienerin ſtottert hervor, ſie ſei dem Hineinſtürmenden
nachgedrungen, habe noch geſehen, wie er unter wilden
Ausrufungen, die ſie nicht verſtanden, der Herrin einen
Dolch an den Kopf ſchleuderte, dann ſei er fortgeſtürzt.
Erik nahm den Dolch auf, es war kein Blut an der
Klinge, aber mit Grauſen warf er ihn weit von ſich,
als er näher hingeſehen hatte. An der Stirn der
Dame glaubte er eine kleine Ritzwunde zu bemerken.
Er eilt nun, ſich des Ohnmächtigen anzunehmen,
bringt ihn durch Benetzen mit kaltem Waſſer aus dem
nahen Brunnen zu ſich und ſchafft ihn, halb führend,
halb tragend, in ſeine nahe Wohnung, wo er, ent¬
kleidet, auf ein Bett gelegt, verworrene und doch nur
zu verſtändliche Worte fiebernd herauszuſtoßen beginnt.
‚Unter die Erde verſchlüpft, Plato? — Man findet
dich!' — Hier fieng er an mit den Händen Be¬
wegungen zu machen, als hiebe und ſcharrte er mit
[200] einer Haue. — ‚Haben wir dich? — Grinſeſt du?
Höhnſt mich? Ziehſt du die halbverwesten Lippen in
Fältchen zuſammen und pfeifſt mich aus? Her die
Bruſt, woran ſie gelegen! — So! So! — ſchon
ziemlich weich! — Pfeifſt wieder, loſer Schalk? Auch
aus der Bruſt?‘ Der Phantaſirende rührte dabei die
Arme, als ſtieße und wühlte er, und brach dann in
ein entſetzliches Gelächter aus. Nun ſah man ſeine
Arme und Beine zucken wie die eines Schlafenden,
dem man anmerkt, daß er zu laufen träumt, auf ein¬
mal bäumte er ſich auf ſeinem Lager, ſchien gewalt¬
ſam zu ſchütteln, dann wie mit einem heftigen Ruck
etwas feindlich Umſchlingendes hinwegzuſchnellen und
man hörte die Worte: ‚Da, kühl' dich, Jeſuit!‘ Es
folgte eine Pauſe, dann keuchte er hervor: ‚Erſchrickſt,
Sappho? — Nur keine Angſt — da haſt deinen
Plato!‘ Er hatte dabei den Arm wie zum Schleudern
gehoben, ließ ihn ſchnell wieder fallen und ſank nun
mit ſchweißbedeckter Stirne matt in die Kiſſen zurück.
„Am frühen Morgen ließ Erik den Kranken wohl¬
verwahrt in deſſen eigene Wohnung ſchaffen, kehrte
das Nöthige zu ſeiner Pflege vor und eilte dann zu¬
erſt auf den Kirchhof. Hier fand er den Todten¬
gräber in ſtarrem Staunen vor einem aufgewühlten
Grab ſtehen, darin einen offenen, ſichtbar zerſchlagenen
Sarg und im Sarg eine Leiche mit zerriſſener, breit¬
klaffender Bruſt. Er vermochte den Mann zu über¬
[201] zeugen, daß es ein gutes Werk ſei, dieſe That eines
Wahnſinnigen geheim zu halten; er glaubte in dem
Einen Falle kein Unrecht zu thun, wenn er ſeine
Gründe mit einer Summe Geldes unterſtützte, die
dem bedürftigen Mann eine Wohlthat war und Nie¬
mand ein Uebel brachte. Während der Beſchenkte ſich
ſchnell an die Arbeit machte, das Grab wieder zu
ſchließen, eilte Erik in das Haus, wo der graſſe Auf¬
tritt vorgefallen war; er fand die Dame im Fieber,
die leichte Stirnwunde erſchien etwas entzündet, er
rieth ihr dringend, ſogleich den eigenen Arzt herbei¬
zurufen und ihm das Vorgefallene nicht zu verhehlen,
er verſicherte ſie, daß er ſelbſt für Wahrung des Ge¬
heimniſſes geſorgt habe und weiter ſorgen werde; die
Kranke ſuchte ihn feſtzuhalten, Geſtändniſſe ſchienen
auf ihren Lippen zu ſchweben, aber er konnte und
durfte nicht verweilen. Erik hatte in dieſen Tagen
Alles zu einer Ueberſiedlung nach Chriſtiania vorbe¬
reitet, wo durch Abgang eines geſuchten Arztes ihm
eine ungleich bedeutendere Praxis in Ausſicht ſtand.
Es war keine Zeit zu verſäumen, der Zweck forderte
dringend ſeine baldige Abreiſe, es gab viel zu thun,
Anordnungen ſchnell abzuändern, die vor Kurzem noch
unter andern Umſtänden getroffen waren. Erik hatte
eben um dieſe Zeit ſeine Braut in Edinburg abholen
wollen. Ich ſelbſt mußte ihm unter dieſen Umſtän¬
den rathen, davon abzuſtehen, ich beſchloß, meine
[202] Tochter nach Chriſtiania hinzubringen und die Hochzeit
dort zu feiern. Und in dieſem Momente war dem
edlen jungen Manne die Pflege jenes Unſeligen auf¬
gebürdet! Er konnte, er wollte ihn nicht im Stich
laſſen, zu tief bewegte ihn dieß dunkle Menſchenſchickſal.
Auf der andern Seite, da er denn einmal die Für¬
ſorge für ihn wie eine Pflicht fühlte, war die Sach¬
lage doch auch nicht ungünſtig zu nennen, da ihr
Drang zugleich das Mittel der Rettung aus drohenden
Gefahren darbot; zwar daß der unfreiwillig Gebadete
ausſchwatzen werde, war offenbar nicht zu befürchten,
aber wer konnte bürgen, ob von anderer Seite das
Geheimniß bewahrt bleibe? Ob dem Todtengräber nicht
ein unvorſichtiges Wort entfalle, ob ſich die verſtörte
Dame nicht ſelbſt, ob der Kranke ſich nicht verrathe,
wer wiſſen, wie der andere Arzt, den Erik nicht kannte,
im Gewiſſenskonflikt ſich entſcheiden werde? Aufwühlung
eines Grabes, Vergehen an einem Leichnam, — die
Behörden mußten thätig werden, ein allgemeines Auf¬
ſehen mußte entſtehen und die unheimlichen Folgen
waren nicht zu überſchauen. Beſſer konnte nicht vor¬
gebeugt werden, als wenn man den Mann, auf den
vor Allem das allgemeine Aufſehen ſich werfen mußte,
den Thäter, den Kranken hinweg, weit hinwegſchaffte
— aus den Augen, aus dem Sinn!
„Erik fand ihn, als er nach wenigen Stunden ihn
beſuchte, ruhiger, meiſt ſchlummernd, doch ſtark fiebernd,
[203] ein Typhus war ſehr zu befürchten, trotzdem war es
nicht allzu gewagt, ihn zu Schiffe fortzubringen, die
Seeluft konnte ſogar heilſam wirken; raſch wurden die
Vorbereitungen getroffen, die Abreiſe bewerkſtelligt, das
Wetter war ſchön und verſprach, es zu bleiben;
wirklich begünſtigte es die Dampfſchifffahrt um die
Südſpitze der Halbinſel und ohne ſtörenden Zwiſchen¬
fall wurde Chriſtiania erreicht. Für Unterkunft und
Pflege des Kranken konnte ausreichend geſorgt werden,
ein Nebenhaus der Wohnung, die Erik bezog, bot
paſſenden Raum und ein verſchwiegener Krankenwärter
wurde bald gefunden. Sehr glückliche Umſtände! Denn
jetzt brach das befürchtete Nervenfieber aus, furchtbar
ſchüttelte es den Unglücklichen und entſetzliche Phantaſie¬
bilder jagten ſich in ſeiner Seele. Er glaubte, das
falſche Weib als Drachen über Eisberge zu verfolgen,
mit ihr vom Rjukanſoß durch Felsſchluchten in's Innere
der Erde hineingeſchlagen zu werden, er verwechſelte
ſich mit der mishandelten Leiche und glaubte, Goldrun
wühle mit dem Dolch in ſeiner Bruſt, dann träumte
er wieder von der Sognebucht, vom Baldurshag, ſeine
Ausrufungen ließen auf beſeligende Bilder ſchließen,
aber ſchnell vertauſchte ſich die Bucht mit dem Tindſee,
er ſang Verſe von Olaf, den die Meernixe verführt,
plötzlich ſah er ſich von einem Ungeheuer der Tiefe
verfolgt, rettete ſich auf ein Schiff, fuhr als Vikinger
hinaus in die Welt, er ließ Schlachtrufe vernehmen,
[204] er glaubte verwundet niederzuſtürzen, er röchelte wie
ein Sterbender. Endlich traten die erſten Symptome
der Geneſung ein, Erik hatte von Anfang an vertraut,
daß der gute Schatz männlicher Kraft in ſeiner Natur
die ſtarke Krankheit beſiegen werde. Doch drückte ihn
eine dunkle Sorge: er befürchtete Schlimmes von dem
Moment, wo mit der völligen Helle des Bewußtſeins
die Erinnerung des wirklich Geſchehenen ſich einſtellen
müſſe. Nur zu begründet war die Beſorgniß; die
ſchwachen Verſuche, dem Fragenden die Wahrheit zu
verhüllen, konnten nicht vorhalten, die tagende Beſinnung
fand den Weg zum Ausgangspunkte ſeines Leidens,
die kaum erſtarkenden Nerven hielten die Erſchütterung
des furchtbaren Lichtanbruchs nicht aus: der Rückfall
war da. Erik's Kunſt und Sorgfalt hat auch dieß
überwunden; doch nicht allein — ihm ſtand jetzt eine
Gehülfin zur Seite. Es war ſeine junge Frau, es
war meine Tochter Cordelia. Ich hatte mein liebes
Kind dem Harrenden herübergebracht. Auf einen
dunkeln Grund war nun freilich das junge Glück der
Neuvermählten geſetzt. Aber nur um ſo reiner ſtrahlte
der Edelſtein dieſes braven Gemüthes. Sie war ein¬
geweiht, hatte geſchaudert, begriffen, verziehen, denn
das Element ihrer Seele war das Mitleid. Von den
Tagen an, wo der Kranke wieder bei klarem Bewußt¬
ſein war, aber noch ſehr matt niederlag, machte ſie
tägliche Beſuche bei ihm im Nebenhaus. Es war zu
[205] erkennen, daß dieſe Beſuche höchſt wohlthätig wirkten,
und früher, als man gehofft, konnte er als geneſen
betrachtet werden.“
Mac-Carmon wußte mir von A. E. des Weiteren
nichts zu erzählen, was nicht auch aus dem folgenden
Inhalt des Tagebuchs zu entnehmen iſt, der den Leſer
in die Lage ſetzt, vom Innern aus zu ſehen, was ſich
ferner begeben hat, die Dinge in der Beleuchtung zu
erblicken, die von der Seele des Erlebenden ausgeht.
Es bleibt mir als Zwiſchenredner nur noch übrig,
zu ſagen, daß indeſſen der Winter weit vorgerückt, der
Februar des Jahres 1848 über die Hälfte verfloſſen
war, und daß ich von Mac-Carmon zum Schluß auch
über das Ende der Urheberin ſo großer Leiden noch
Kunde erhielt. Bei einer Begegnung mit dem Arzte
in Bergen, der ſie behandelte, erfuhr Erik, daß ſie
kurz nach jener Nacht an Blutvergiftung geſtorben,
daß es gelungen war, die wirkliche Natur ihrer Krank¬
heit und ihrer Urſache, ſowie den ganzen Hergang
geheim zu halten, und daß ſie neben dem Manne be¬
graben lag, dem die Raſerei einer empörten Seele die
Grabesruhe geſtört hatte. Und nun mag denn das
Tagebuch wieder ſprechen.
Hat ſich der Himmel über mir geöffnet? Iſt aus
goldenen Höhen ein Engel niedergeſchwebt in's Thal
[206] der Fieberträume, in's Land des Bangens und der
Folterqual? — Ich erwache vom Schlummer. Weiche
Hände an meinem Haupt, ein feuchtes Tuch auflegend,
ich fühle ſo eine ſanfte Kühle um meine heiße Stirn —,
über mich gebeugt eine ſchlanke Geſtalt — flüſtert mir
zu: „Stille halten, ruhig bleiben, fortſchlummern“ —
ſie geht hinweg — mit Schritten — nicht Schritten
— berührt ſie den Boden? — Mildes Dämmerlicht
im getäfelten Zimmer, gedämpfter, warmgelber Schein
der Abendſonne —
Ich nickte wieder ein — ſeliger Traum — Traum
wie Raphael's, als er ſeine Sixtina träumte — Augen
weich beflort, — in beſchatteter Höhle aufdämmernd,
— ſo menſchlich gut und ſo fremd himmliſch — ſagen
— was ſagen ſie? Das faßt kein ſterblich Wort, das
nennt keine Zunge, wie es dort iſt in jenen Gefilden
— ſelig — Gefilde der Güte, des Friedens — ſo
ſagen dieſe Augen. Was ſtammle ich? Wer bin ich?
Es iſt ein Weſen von Fleiſch und Blut. Erik's
junges Weib, und heißt Cordelia. Er hat ſie an der
Hand mir an mein Qualenlager geführt. Da iſt mir
wieder Alles eingefallen — „Ja, ja! — berührt mich
nicht,“ rief ich, — „mir keine Hand — in die Hölle
[207] zu den Teufelsfratzen gehöre ich — grauſen ſoll euch
vor mir“ — „Cordelia,“ ſagt Erik, „leg' ihm die
Hand auf die Stirne“ — ſie thut es, läßt ſie über
meine Locken gleiten, — da fällt mir König Lear ein
— träumend, nur halb bewußt, halb kindiſch — er¬
wachend im Arm ſeines guten Kindes — hat große
Thorheit, ſchwere Schuld begangen, viel gelitten, in
Sturmnacht umgewüthet, all' ſeiner Würde vergeſſen
in Wahnſinn getobt — und jetzt gebettet in Kindes¬
liebe, ſanft gepflegt, zu ihm geneigt die Gute, die Reine
— läßt ſeine armen Locken durch ihre weichen Finger
gleiten —
Und ihre Stimme „ſanft, mild und leis, ein köſtlich
Ding an Frauen“.
Geſtern kommt ſie mit einem Zeitungsblatt; „Erik
ſchickt's Ihnen,“ ſagt ſie. — Was? Die Welt in
Flammen? Sturmbrauſen von Frankreich herüber?
Deutſchland aus dem Schlaf geweht — Schleswig-
Holſtein will frei werden, deutſch —
„Einhart,“ ſagt ſie, „Sie ſollen leben, es gibt zu
thun!“
Ich Elender, ich hatte nur an mich gedacht —
mein Vaterland vergeſſen! Hab' Alles verdient —
[208] Abgrund von Schuld! Auf nun — da büße, da
kämpfe, da arbeite — da iſt die Heilung!
Ich erſtarke, ich darf bald fort!
Hamburg. Schwerer Abſchied! — Von Cor¬
delien noch ein reiner Kuß. Meine Lippen ſind ent¬
ſündigt! — Nicht Schmerz brüten! Morgen hinüber!
Kruſau bei Bau. Dank den ewigen Mächten
im Himmel droben! Es geht los! Wir ſind noch
ſchwach, können die Preußen nicht abwarten — ſei's
drum, der Himmel wird weiter helfen!
Kleines Gefecht bei Hökkerup, der Feind aus
Rinkenys vertrieben. Zwar kein Gewinn, der kleine
Sieg kein guter Anfang, der Feind im Vortheil friſcher
Rachwuth. Großer Fehler, den ſelbſt ein Laie in der
Kriegskunſt leicht erkennt, Freiwillige, Ungeübte hier
als Vorhut auf ſo wichtigem Poſten auszuſetzen:
Studenten, Turner, ungenügend bewaffnet, dabei nur
eine Handvoll Linie. Der Feind zur ſtarken Ueber¬
macht ein Regiment Reiter und die Kanonen der
Kriegsſchiffe dort im Hafen, — werden hübſch drein
fegen. Sei's auch darum! — Ich darf mich nicht
anlügen, daß mir das Herz nicht klopfe, aber was iſt
Viſcher, Auch Einer. II. 14[210] dieß bischen Angſt gegen jene Geiſterbangigkeit drüben,
ſo lang ich in den Banden war! Etwas Beklemmung
vor Fleiſch und Blut, was will das heißen gegen die
Seel' und Leib zuſammenſchnürende Geſpenſterangſt!
Und wie viel leichter zu bezwingen! — Ich will mich
gut halten. Sie haben mich zum Offizier gemacht,
habe das Mögliche gethan, ſie einzuüben, zu ordnen.
Meine alte Vorliebe zum Soldatenweſen kommt mir
jetzt zu gute.
Kiel. *) Wieder einmal ein Koboldſtreich der Dä¬
monen. Ich hatte den Kerl ſo richtig auf's Korn ge¬
nommen, muß mir der gute Stutzen verſagen! —
Kann eben noch den Säbel ziehen und pariren, doch
der Pallaſch iſt ſtärker und nun mit dem zerhauenen
Arm unbrauchbar! — Doch was will mein kleines
Leiden ſagen — da lagen ſie, die Blüte des Landes
— hingemäht! Ich hatte Freunde gewonnen in den
wenigen Wochen. Dieſer Karl, ein Jüngling wie ein
Siegfried, da ſank er neben mir, reicht mir noch ſeine
Büchſe, da er den Dragoner auf mich herjagen ſieht;
ſein letzter Blick, im Tode brechend, ich werd' ihn nie
vergeſſen.
[211]
Troſt, die Preußen ſind da, Wrangel dringt vor.
Mein Urlaub zu Ende, jetzt beruhigt heim! Mit dem
Blut in Bau iſt mir aller alte Wahnſinn ausgefloſſen.
Das Hirn iſt kühl geworden. Aber die verſagende
Büchſe! Gibt zu denken — Zufallsteufel.
Wieder im Amt. Stete Arbeit. Wohlthat! Wenn
ich nur nicht zuſehen müßte, wie die Narrenapoſtel den
Pöbel berauſchen und wie ſie die ſchöne Saat eines
neuen Staatslebens verwüſten!
Waffenſtillſtand von Malmö. O Pfuhl der Schmach!
— Darüber Barrikaden in Frankfurt — ſchnöde Mord¬
thaten des Geſindels — niedergeſchlagen — und das
iſt der Todestag der großen Bewegung. — Wär's der
Sinn, der über den Unſinn geſiegt!
Hier unter den Leuten, man kann kein Geſpräch
mehr führen. Die Menſchen wiſſen nur von Partei,
und keine verſteht die andere. Ich faſſe mich am eigenen
Naſenzipfel. Neulich hörte ich Einen huſten, und zwar
auf ſonderbare Art. Ich ärgerte mich. Er darf huſten,
aber er ſoll huſten, wie ich huſte. So iſt es auch
mit Speiſen. Da ißt Einer ein Gericht, das ich nicht
[212] mag, und mit Appetit. Eſel! denke ich und ſpüre
Luſt, ihn zu injuriren. In einer ſehr ſoliden Wirth¬
ſchaft auf dem Lande ward neulich der Wirth ſehr
unangenehm, da ich ſein Sauerkraut nicht mochte, das
er mir höchlich anrühmte. — Wenn es nun ſo ſteht
mit ſonſt leidlich vernünftigen Menſchen, wie kann
man ſich verwundern, daß vollends Halb- und Unge¬
bildete ſich nicht in den Andern verſetzen können? Da
dieſe Kunſt, ſich in die Menſchen verſetzen, ſo ſelten,
ſo ſchwer iſt, wie begreiflich der blinde Haß, die
Extremreiterei der Parteien! — Wenn ſie nur nicht
ſo ſchädlich wären!
Die hab' ich doch gekriegt! Spitzbubenrotte mit
kommuniſtiſchen Führern. Von Katzenmuſiken nach und
nach zu Diebſtählen, Einbrüchen. — Dem rothen Peter
die Piſtole aus der Hand — geht mir an der Naſe
los. Gut gelungen, Alle eingethan. Zu meiner Er¬
bauung im Heinrich VI. den Aufruhr von Hans Cade
wieder geleſen. Wie wahr!
Die Zeit wird ſtiller. Kann wieder mehr leſen.
Muß auch, denn in der Welt ſteht's ſo, daß ich gar
nicht hinſehen mag. Kehre zurück in dich! Ich hoffe,
wieder ganz zu mir zu kommen. Nur von Zeit zu
[213] Zeit ein Schwindel in der Seele, da iſt mir, als fiele
ich in den Tindſee. Dann kann ich nicht fortarbeiten.
Ich muß noch ein Ablenkmittel haben. Aeltere Liebe,
Thierwelt.
Hund eingethan; Pudel. Luſtig und doch ſehr
rationell. Gutes Vieh. Rührend. Wie viel wedelt
doch ſo ein Hund den Tag über! Wenn man bedenkt,
daß jedes Wedeln eine heitere oder wohlwollende Em¬
pfindung ausdrückt, wenn man dann beobachtet, wie
oft ein Hund wedelt: wie viel Herzensfreude, wie viel
Menſchenliebe, Güte zieht alſo den lieben, langen Tag
durch ſo eine Hundeſeele! Auch wie viel Humor, denn
das Wedeln iſt ja auch Surrogat für Lachen. Unend¬
lich merkwürdiges Supplement für Mienenſpiel, pſycho¬
graphiſcher Schwanz.
Merkwürdig, doch ganz konſtant ſtehender Zug:
wenn ein Hund in große Freudenbewegung geräth,
wenn er z. B. im höchſten Entzücken auf den erſehnten
wiedergefundenen Herrn losſtürzt, muß er mitten im
Sprung einhalten und ſich kratzen. Dieß kann erklärt
werden
- a) direkt;
- b) indirekt.
[214]
- ad a) Das Entzücken wirkt einfach als Reiz vom
Nervencentrum auf die Haut. - ad b) Die Bewohner des Pelzes, entomologiſcher
Klaſſe, ſpüren bei dieſem Reiz Erwärmung
und werden lebendig.
Welche Erklärung iſt die tiefere, a) oder b)?
Verhalten des Hunds, wenn ihm ein Fremder
lockt. Da ſieht man die Charaktere. Der eine folgt
und ſchmeichelt: Kalfakter — ſchlecht. Der andre
fletſcht die Zähne, brummt, beißt ſogar: Charakter,
aber unſchön harter Charakter. Ein dritter, und das
iſt der gute Hund, bleibt ſitzen, wedelt ganz ſchwach
und flüchtig und blinzt den Fremden an mit einem
Blick, der höchſt verſtändlich ſagt: bedaure — könnte
vielleicht ein ganz angenehmes Verhältniß werden —
habe aber ſchon einen Herrn — bedaure wirklich. Dieß
iſt der ſchöne Charakter, Würde mit Anmuth; ſo iſt
mein Pudel.
Goethe's Hermann und Dorothea wäre ein Dicht¬
werk, dem man das Prädikat der Vollkommenheit zu¬
erkennen müßte, wenn nicht Eines darin fehlte: ein
Hund. Gehört doch gewiß in ein Idyll. Goethe
konnte aber bekanntlich die Hunde nicht leiden. Hätte
[215] er ſie gern gehabt und ſelbſt einen gehalten, ſo wäre
gewiß ſeine ſpätere Poeſie natürlicher geblieben und
namentlich ſein zweiter Theil Fauſt nicht ſo ganz fleiſch¬
los ausgefallen.
Wenn ein Hund ſeinem Herrn oder einem Freunde
ſeines Herrn ſich bemerklich machen, ſeine Anweſenheit
ihm anzeigen möchte, kann aber nicht beikommen, weil
der ihm den Rücken bietet, ſo ſtupſt er ihn ein Weniges
mit der Naſe an die Wade. — Mit ſeinem feinſten
Organ. Wie zart!
Wieder viel geärgert. Das Objekt ſtellt mir doch
wieder ſehr nach. Ein Aktenſtück hat ſich ruchlos ver¬
krochen, — verzweiflungsvoll geſucht — umſonſt. Ka¬
tarrh mit drei Tagen ordentlichem, dann ſechs Wochen
latentem, von keinem Arzt zugegebenem Fieber. Sonn¬
tags auf's Land. Mich doch ſehr aufgeheitert über einem
Bock. Etliche Buben fahren auf einem Reiberſchlitten den
Hügel am Pfarrhaus hinunter, mit großem Hallo, pfeil¬
ſchnell, ſitzen unten ab, ziehen den Schlitten wieder hinauf,
dann wird wieder hinabgerutſcht und ſo fort. Ein großer,
ſchöner Bock dabei, der ſich ganz zur Geſellſchaft zählt;
wenn's allemal wieder losgeht und die Buben jauchzen,
ſpringt er hoch, ſteigt und ſchlägt zugleich aus wie
[216] ein Pferd und meckert. Das heitere Bild hat mich
ordentlich aufgerichtet. Die Hausthiere rechnen ſich
ganz zu den Kindern.
Und kaum wieder da, Montag, ſo fängt der ſchnöde
Schabernak wieder an. Amts- und Studirzimmer,
Alles happert, zwickt, klemmt, klebt den ganzen Tag
und Abend. Ein Glas, ein Plättchen, worauf meine
Taſſe, dann meine Lampe, begehen hinter einander
daſſelbe Bubenſtück, ſich nicht ſchieben zu laſſen; pappen
feſt, es braucht ſtärkeren Druck, darauf lauert das
Teufelspack, fällt um und ſchüttet ſeinen Inhalt auf
meine Papiere. — Sind mit der niedrigen, giftigen
Reaktion in der Welt draußen auch die Privatteufel
wieder ganz los? — — Alles, Alles rings um mich
wie die verſagende Waffe im Gefechte bei Bau und
— o Symbolik! — ſtille!
Das darf ich doch auch ſagen: wer nicht intenſiv
arbeitet, hat gut predigen über Geduld mit den kleinen
Hinderniſſen. Wer nur mit halbem Willen an die
Arbeit geht, nicht ganz dabei iſt, den macht das Här¬
chen in der Feder, der Tintenfleck, das Verkriechen
nöthiger Blätter, das Uebereinanderrutſchen aller Papiere
nicht wüthend, er verliert darüber keinen Gedanken¬
[217] zuſammenhang. Ja, es iſt ihm wohl gerade recht,
denn er kann ſich anlügen, das Mühen mit dieſen
knirpſigen Dingen, das Zupfen, Nörgeln, Krabbeln
und Zappeln ſei auch gearbeitet.
Abends in der Dämmerung, da kommt's über
mich. Die Nerven werden ruhig. Oft fühl' ich's wie
ein zartes, lindes Wehen. Frieden. Sie erſcheint mir,
beugt ihr Haupt über mich, blickt ſo himmliſch gut,
kühlt mir die heiße Stirne. Erinnerung! — Aber
ich darf nicht, darf ja nicht oft, nicht zu innig mich
hineingeben, — ach, es könnte Sehnſucht werden und
darf ja nicht! — Trauerſt du mit mir, Himmels¬
bild, daß es ſo gekommen im Vaterland, daß ich da¬
für, dafür mein Blut vergoſſen?
Schwarz zu ſehen, dazu hätte ich ja wohl Grund
genug. Das erleben! Und ich meine nicht das Aergſte,
Sturz in den Abgrund, in's Dämonenreich. Da war
ich ſchuldvoll, — obwohl doch auch ein wenig, wenig
entſchuldbar: warum? mag's mir ſelber nicht nennen.
Und mein ganzes Leben der ewige Schund, Marter¬
kampf mit den teufliſchen Zwerggeiſtern des kleinen
und doch ſo furchtbar großen Uebels iſt doch auch ein
Abbüßen. Es muß ja ein Neſt irgendwo geben, wo
[218] ſie brüten, von wo ſie ausgehen. Muß weiter nachdenken;
jetzt ernſtlicher an meine neue Mythologie gehen. Dunkler
Naturgrund, dort die Eier. Haß gegen den Menſchen,
weil er über die Natur aufſteigt, lichte Ordnungen
gründet, Lichtreich. Dort muß es liegen. Richtig. —
Nun mein Amt. Polizei üben iſt ein gar enttäuſchendes
Thun. Könnte den Peſſimiſten noch viel Stoff liefern;
hab' oft Eckel an den Menſchen, an Allem; aber
ſintemalen ihr Stoff iſt, iſt die Polizei eben auch. Ich
arbeite, und nicht wie ein Karrengaul, ich arbeite
gern. Ich bringe nicht ſo viel vorwärts, als ich
will, aber ich bringe nicht Nichts vorwärts, ſondern
Etwas. Es wird beſſer in meinem Amtskreis, ich
nütze. Dieß iſt Weſen und ſo lebe ich im Weſen.
Hab' auch oft über das Nichts geträumt, aber es
iſt nichts mit dem Nichts. Es kann nicht Nichts ſein,
das Nichts kann nicht ſein. Zu: Nichts kann man
nicht ſetzen das Verbum: ſein, außer wo man von
einem beſtimmten Einzelnen, das war oder zu ſein
ſcheint, auszuſagen hat, es ſei Nichts mehr oder Nichts.
Weil nicht Nichts ſein, weil das Nichts nicht ſein kann,
darum, einfach darum iſt die Welt. Zu dem Begriffe
des Nichts gelangt man anders nicht als an der
Springſtange des Seins. Irriger Weiſe auch an der
Stufenleiter des Seins, abſteigend nämlich. Man geht
[219] von entwickelteren Weſen zu ärmeren, einfacheren herunter
bis zum einfachſten, dem unorganiſchen Stoff, und unter
dieſem, meint man, einmal in's Niederſteigen hinein¬
gekommen, ſei das Nichts. Da iſt auch die Verwirrung
des Zeitbegriffs, während Schopenhauer doch im
Uebrigen die Zeit als bloßen Schein erkennt. Zuerſt ſind
die Weltkörper entſtanden als feuerflüſſige Kugeln, ihre
Oberfläche iſt erſtarrt, bewohnbar geworden, es wurden
Pflanzen, Thiere, niedrige, immer höhere, bis zum
Menſchen, da kam Empfindung, in dieſem höchſten
Weſen Geiſt. Darüber vergißt man zwei Dinge:
daß, wenn auf der Spitze der Geiſt ausſchlüpft, er
irgendwie zuunterſt als künftige Möglichkeit ſchon
ſtecken muß; ferner, daß unſer Präteritum unwahr iſt.
Vergangenheit und Zukunft finden lediglich keine Anwen¬
dung auf das Weltall. Muß die aufſteigende Bewegung
vom ſogenannten Stoff zum Höheren und Höchſten
immer geweſen ſein (auf andern Planeten) und immer
bevorſtehen, wiederkehren, ſo fällt das Vorher und
Nachher weg und iſt ewige Kreisbewegung. Es wird
noch kommen, daß der Nihilismus aufſtellt, die Welt
werde ſich zurück in's Nichts auflöſen; folgt, daß ſie
auch in der Zeit einſt aus dem Nichts entſtanden ſei, —
eine Vorſtellung, ſo roh und kindiſch, daß ſie in keinem
Hirn auftauchen ſollte, das nur zwei Minuten lang
philoſophiſch denken gelernt hat.
[220]
Gleich kindiſch iſt es, dem Univerſum das Prädikat
ſchlecht beilegen. Was abſolut, was nothwendig iſt,
ſteht unendlich über Gut oder Schlecht. Das Uni¬
verſum iſt, weil es iſt, und iſt ſo wie es iſt, weil es
ſo iſt. Das Prädikat gut oder ſchlecht ertheilen wir,
indem wir unſern Standpunkt über und außer dem
Gegenſtand nehmen und ihn mit andern Gegenſtänden
vergleichen. Wir können aber aus dem Univerſum ja
nicht hinaus, es gibt kein Univerſum neben oder über
demſelben, auf das wir uns ſtellen und das Univerſum
abſchätzen könnten. — Ich kann mein Vaterland ver¬
laſſen und die Welt ſehen, ich kann ſie auch durch
Bücher kennen lernen und ich gewinne ſo einen Stand¬
punkt über meinem Land und ſeinen Leuten, zu denen
ich ſelbſt gehöre und mit denen ich vorher unkritiſch
und ſelbſtzufrieden in der Maſſe dahinſchwamm, ſo
daß ich ſie nun einer Schätzung, einem Urtheil unter¬
werfen kann. Aber aus dem Univerſum kann ich nicht
fortreiſen, kann nicht andere Univerſa durch Bücher
kennen lernen, kann es aus keiner Vogelperſpektive
ſehen. Davon gar nicht zu reden, wie winzig der
Theil des Einen und einzigen Alls iſt, den ich über¬
ſehe. Gibt es nun da neben dem, was wir gut nennen,
Vieles, was wir übel nennen, was kann ein ver¬
nünftiger Menſch Anderes dazu ſagen, als: ich über¬
ſehe zu wenig, um die Summe zu ziehen, und da
das Univerſum nothwendig iſt, ſo wie es iſt, ſo wird
[221] es auch recht ſein. Recht: das heißt gerichtet nach
abſoluter Richtſchnur.
Ich hab', glaub’ ich, ſchon einmal in dieſe Blätter
geſchrieben, dem Peſſimismus gehe ein verborgener
Reſt von Theismus nach. Sie wollen ſich’s nicht ge¬
ſtehen, daß ſie den Kinderbegriff von einem Gott nicht
los werden, der zwiſchen verſchiedenen möglichen Welten
wählte. Das beweist eben ihr Schlechtfinden „dieſer“
Welt. Gut oder ſchlecht kann im Grunde nur ſein,
was Jemand gemacht hat. Die Welt kann nicht ge¬
macht ſein, weil die Kategorie Kauſalität nur inner¬
halb des Ganzen, nicht für das Ganze gelten kann.
Was von ſelbſt iſt, iſt weder gut noch ſchlecht, ſondern
nothwendig. Es kann Einzelnes im Naturreiche für
mich gut oder ſchlecht ſein, aber nicht vom Naturreiche
bloß (gegenüber dem moraliſchen Reiche) ſpricht man,
wenn vom Univerſum die Rede iſt und man es noth¬
wendig nennt, ſondern vom Ganzen. Wer dieß Ganze
tadelt, der meint, es ſei ein Machwerk. — Eine gute
Arznei gegen die Uebel darin oder eigentlich gegen die
Klage darüber iſt und bleibt Beyle’s Satz: ce qui
excuse Dieu, c'est, qu'il n'existe pas. Uebrigens
war der Taugenichts Beyle ein Narr, der trotz dieſem
guten, echt religiöſen Wort einen perſönlichen Gott
glaubte und haßte wie der Krämer von Brackniz.
[222]
Nun aber iſt die Aufgabe, in dem, was iſt, zu
unterſcheiden, was ſich als weſenhaft bewährt und was
zwar nothwendig, aber nicht weſenhaft, ſondern nur
Moment iſt, damit Weſenhaftes ſein könne. Das ver¬
mögen wir. Weſenhaft iſt nicht die Materie, das
meint ja auch Schopenhauer nicht. Weſenhaft ſind die
Gattungsformen. Weſenhaft iſt die Wiſſenſchaft. Weſen¬
haft iſt die Kunſt. Weſenhaft aber auch alle redliche
Arbeit. Denn ſie iſt Arbeit an der ſittlichen Weltordnung.
Ob es aber eine ſolche gibt? Nein, was man ſo
ſagt: „es gibt“, das nicht. Das „es gibt“ iſt über¬
haupt, angewandt auf das wahre Sein, das nichts
Einzelnes iſt, ein Unſinn. „Gäbe“ es einen Gott, ſo
wäre er ein Einzelner, alſo nicht das Abſolute. —
Die ſittliche Weltordnung iſt nicht außer dir. Sie iſt
nur durch dich. Glaube ſie und du hilfſt ſie — mit
allen Guten — machen. Da iſt der Glaube die Ur¬
ſache deſſen, woran er glaubt. So iſt es mit allem
ethiſchen Glauben: was er glaubt, macht er. Vom
Glauben im Sinne der poſitiven Religion iſt hier nicht
die Rede, das gehört in ein anderes Kapitel.
So iſt es auch mit der Luſt. Unſer Glaube an
Luſt macht Luſt. Wie kann man alſo meinen, man
[223] habe die Luſt wegdiſputirt, ſo lang man dieſen Glauben
nicht wegdiſputiren kann!
Wie wir Studenten waren, giengen wir einmal
draußen vor der Stadt an einer Sumpflache vorüber,
worin ein Schöpfkübel mit langer Stange lag. Will
ſich ein knotiger Burſch den Spaß machen, einem
Kameraden rücklings den Kübel über den Kopf auszu¬
gießen. Schöpft, hebt hoch und der Inhalt fällt ihm
ſelbſt auf den Kopf. So macht's nach den Peſſimiſten
der Weltgeiſt.
Eier von Luſtſpielen oder Poſſen. Ein Onkel will
ſeinen Neffen, luſtigen Studenten, der öfters zu viel
trinkt, einmal abfaſſen. Begibt ſich in das Wirths¬
lokal, wo die Studenten ſitzen, in ein Nebenzimmer,
um von da im rechten Moment hervorzubrechen und
den Jüngling im Blütezuſtand ſeiner Sünde zu ertappen.
Trifft Geſellſchaft, trinkt, trinkt fort, und endlich findet
der Neffe, der in's Nebenzimmer tritt, den Onkel voll¬
ſtändig reif, vom Neffen nach Hauſe geführt zu werden.
In einer Vorſtadt von . . . . . traf ich noch einen
alten Briefträger, der halb blind und halb taub war.
[224] Das gäbe Motiv zu mehr als Einem Luſtſpiel: Liebes¬
briefe, Schuldbriefe, Scheltbriefe, Amtsſchreiben falſch
ausgetragen, — benützt von heiteren Schelmen, Intri¬
ganten, es ſteigt ein ganzes Gewimmel von Anſätzen
zu komiſchen Verwicklungen aus dem Samenkorn auf.
Wenn ich nur etwas der Art machen könnte!
Junger Mann tritt auf in einem Gaſthof. Iſt in
die Kreisſtadt gereiſt, um ſeine Scheidung zu be¬
treiben. Sieht am Fenſter gegenüber eine reizende
Erſcheinung. Es beginnt ein Roman auf Diſtanz
während der langen Weile des Prozeſſes. Zeichen, Brief¬
chen u. ſ. w. Muß geſteigert, geſpannt, auch gelegentlich
exponirt werden, daß er kurzſichtig iſt. Endlich Zuſammen¬
kunft. Die Unbekannte iſt ſeine Frau. Verſöhnung.
Ließe ſich nicht die Agnes Bernauer noch einmal
behandeln? Folgendes gäbe eine hochtragiſche Szene:
Prinz Albrecht iſt von Straubing, wo er Agnes im
Schloß geborgen glaubt, Ingolſtadt zugeritten, mit
luſtiger Begleitung. Macht Halt bei einem Dorf.
Ahnt nichts vom Vorgehen des Herzogs gegen Agnes,
vom Hexenprozeß. Selig in ſeinem Glück, übermüthig.
Man zecht im Freien, in der Nähe eines Bauernhofs.
An deſſen Wand liest Albrecht den Spruch:
[225]
„Wiſch' ab!“ ruft Albrecht einem der Begleiter zu.
Dieſer ſträubt ſich — warnt — tiefe Scheue. Der
Prinz will ihn zwingen, vergeblich; „verlangt's nicht,
Herr! Mir hält ein Geiſt die Hand.“ Albrecht er¬
greift eine Hellebarde und ſchürft den Spruch aus.
Im ſelben Augenblick kommt ein Bote und berichtet,
wie Agnes vertränkt worden iſt, mit allen graſſen
Einzelheiten des Hergangs. — Albrecht fällt in Ohn¬
macht.
Schon gut, aber was helfen mir die ungebrüteten
Eier! Ich bringe nichts fertig. Bin ich ein tragiſcher
Menſch? Nein, ich bin ein richtiger Polizeimann.
Aber es füllt mich nicht aus. Poeſie, Philoſophie:
bringe nichts fertig. Ich bin ein rüſtig marſchirender
Stelzfußmann.
Ich glaube, mit der bildenden Kunſt befaſſe ich
mich noch zu wenig. Meine paar Bilder, Kupferſtiche,
Galeriegänge auf Reiſen in Deutſchland genügen eben
nicht. Die bildende Kunſt iſt mir doch ſo wohlthätig,
Viſcher, Auch Einer. II. 15[226] weil ruhig, weil ganzes Gegenüber dem Subjekt. Auge,
ſtiller, contemplativer Sinn. Heraus aus mir, aus
meiner rings von Brennneſſeln zerſtochenen Haut, mich
in Objekt verſenken — anſchauen — das könnte cal¬
miren. Muſik? Nein. Verſtehe zu wenig und ſo
wie ich den Faden des Geſetzes im Tönegewirbel ver¬
liere, ſtellt ſich das Auge ein und ich denke nichts
als: was haben denn die Kerle, daß ſie ſo reiben,
zwicken, kratzen, ſchlagen, die Backen aufblaſen, oder
die Sänger: das Maul ſo aufreißen? Aber wo ich
verſtehe, da zu pathologiſch — Alles aufgewühlt —
tief — Herzbangigkeit, Herzgruben-Geiſterſpannung
kommt wieder, der Schwindel, der Tindſee. — Ich
muß mich gegen das Gefühlsweſen verhärten, mein
Auge muß wie Horn werden gleich dem des Odyſſeus,
da ſein Hund Argos ihn ſterbend noch erkennt.
Es iſt hohe Zeit, hereinzuholen, Italien zu ſehen.
Wenn ich hin könnte! Rom — da ſollte Manches in
mir ſich ſetzen. Umbrien, Heimath ihrer Mutter, ſehen
— meiden? Könnten zufällig da ſein — oder doch hin?
Ich habe Stiche geſehen nach Pietro Perugino und
wenige Bilder von ihm in deutſchen Galerieen. Von
Raphael's Jugendwerken die Madonna del Granduca,
[227] wo er noch Peruginesk, in — gewiß ſehr unzuläng¬
lichem — Stich, — welche keuſche Holdſeligkeit muß
im Originale ſein! — o dieſe umbriſchen Köpfe! Ich
muß doch hin.
Die Alten haben vom Ich, von dem Geſpenſte des
Ich eigentlich noch nichts gewußt. Die Italiener
werden auch nicht darüber grübeln. Man wird das
alſo los werden dort? Doch ja nicht ſo ganz! In dieſer
Krankheit iſt auch Wahrheit! — Faſt allgemein unver¬
ſtanden iſt doch J. Paul's Schoppe geblieben, wie ihn
das Brüten über das Ich wahnſinnig macht! Es iſt
eines der tiefſten poetiſchen Motive dieſes Dichters.
Nur fehlt in dieſem Brüten eine Unterſcheidung. Wenn
ich ſo Nachts im Bett vor dem Einſchlafen über das
Ich nachdenke, fühle ich immer gar gut, wie man
darüber wahnſinnig werden kann. Doch nicht eigent¬
lich, daß Ich iſt, iſt ſo ſeltſam, daß es verrückt machen
könnte, darüber nachzudenken. Die Natur mußte auf
der Spitze ihrer Bildungen den Sprung über ſich
hinaus machen, daß ſie Weſen ſchuf, in denen ſie ſich
ſelbſt erfaßt, in denen alſo der Zirkel beſteht, daß
Erfaſſender und Erfaßter Eines iſt. Aber dieſer Ich!
Daß es da Einen gibt, der A. E. heißt, der infolge
Geburt von dieſen Eltern, infolge Vererbung aus
unendlicher Ahnenreihe, auf Grund unzählbarer Um¬
[228] ſtände ſo und ſo beſchaffen iſt, ausſieht u. ſ. w. —
was iſt es denn nun mit dieſem? Wer iſt er? Was
thut er da? O, daran kann man gar nicht hin, das
iſt rein unfindbar, rein nicht zu heben, zu erheben!
Warum denn? Nun, weil er eigentlich irrationell,
nun, weil es eigentlich nichts damit iſt; dieſer Kerl,
dieſer Einzeltropf iſt undenkbar, daher iſt es nichts
Rechtes, iſt es nicht geheuer mit ihm, iſt er nur ein
Schein und daher muß er auch wieder fort. — Wieder
auch hier das ungeheure Räthſel der Dießheit!
Ich wäre gewiß geſetzter, wenn es nur nicht ſo
langweilig wäre. — Sitze ich bei Holzköpfen, ſo reizt
mich ihre Fadheit, Langweiligkeit, wichtige Wohlweisheit
und leerer Ernſt, zu ſalzen, zu verſalzen, zu über¬
treiben, meine Rede auf alle Art in's Leidenſchaftliche zu
ſteigern, um die Klötze zu erſchrecken, aufzuregen, aufzu¬
wecken. Natürlich verſtehen ſie es nicht, meinen, es ſei mir
Alles ernſt, belehren mich, ſpotten, werden unangenehm.
Cum grano! Cum grano! Cum grano salis!
Wie Blutwenige verſtehen's! Man kann nichts ſprechen,
wo ſie nicht gleich meinen, es ſei Alles buchſtäblicher,
dicker, blutiger Ernſt. Hören die Obertöne nicht; bei
einem lebendigen Menſchen ſchwirren ja neben dem
[229] Grundton ſeiner Worte immer noch Obertöne. Daher,
mag er pfeffern ſo ſtark er will, es iſt nie ſo ſchlimm,
als es ſcheint, läßt Luft, Spielraum, hat etwas Un¬
maßgebliches, etwas Flüſſiges, etwas Strahlenſtreuendes.
Und das verſtehen dann die guten Leute nicht, wiſſen
nichts von Hintergrund in der Malerei. Ja, unrechte
Nebenbeziehungen ſuppliren, das können ſie, das thun
ſie gern. So iſt auch ihr eigenes Reden entweder
ohne allen Oberton oder mit dem falſchen der Liſt. —
Das führt auch wieder auf die Parteien in allen
Streitfragen. Kein Menſch von ſchwingendem Gehirn
hängt niet- und nagelfeſt an der Hälfte einer ganzen
oder der einen Seite einer zweiſeitigen Wahrheit.
Fordert es aber Zweck und ernſter Augenblick und
exakte Beſtimmung, ſo wird kein rechter Kerl die Kraft
der Einſeitigkeit ſcheuen.
Noch etwas bereitet mir viel Noth. Wenn ich mich
für einen Satz, irgend eine Vorſtellung erwärme im
Geſpräch, ſo ſchwebt mir oft ein imaginativer Gegner
vor, gegen den ich hitzig werde, mich heftig ereifere,
während der wirkliche Menſch, mit dem ich rede, ganz
mit mir einverſtanden iſt, oder, wenn nicht oder nicht
ganz, mich dach mit keinem Worte gereizt hat. Das
pflegt nun der nicht zu verſtehen, bezieht es auf ſich,
und ſo — wie oft bin ich mißverſtanden worden, wie oft
[230] habe ich ordentliche Leute abgeſtoßen, von mir entfernt!
Die Phantaſie thut doch dem Menſchen viel Schabernack
an! — Sehr oft hält man mich dann auch für betrunken.
Wenn ich mich unter dem Lärm vieler umgebender
Geſpräche mit Jemand unterhalten ſoll, wenn ich
daher ſchreien muß, um verſtanden zu werden, ſo
erzeugt ſich mir ſehr oft aus meinem Schreien die
Vorſtellung, ich habe Streit, und ich muß mich dann
ſehr zuſammennehmen, nicht heftig, nicht beleidigend
zu werden gegen ganz harmloſe Mitſammenredner.
Uebrigens habe ich kaum je erlebt, daß mein Nach¬
bar in einem von Geſprächen durchſchwirrten Lokale
mir den Gefallen gethan hätte, die Stimme ſo weit
zu erheben, daß ich ihn verſtehen konnte. Mich laſſen
ſie geruhig die Lunge anſtrengen und den ganzen Abend
fragen: „Was?“ — „He?“ — „Wie?“ — O Sinnen¬
rohheit! Sinnenſtumpfheit — !
Neſtelt ſich da geſtern einmal wieder in Geſellſchaft
Einer an mich an und legt ſich mir mit einem Seiten¬
geſpräch in's Ohr, ja einem ſubtilen über feine Fragen,
die in Stille bedacht ſein wollen; vergeblich bedeute ich
[231] ihm auf alle Weiſe, daß ich bei einem Geſammtgeſpräche
betheiligt bin. Ein andermal ebenſo auf der Straße
unter Wagengeraſſel. Und das iſt ein im Uebrigen
ganz gebildeter Menſch! — Aber es ſpreche Niemand
von wahrer Bildung, der ungebildete Sinne hat!
Einmal wieder bei einem Leichenbegängniß geweſen,
im Zuge gegangen; ſehr verdienſtvoller Mann begraben.
Es war wieder, als zöge man mit einer wandelnden
Kaffeeviſite; man ſchwatzt, geſtikulirt, lacht, man mäßigt
nicht einmal die Stimme. Und es ſind lauter Männer
aus den gebildeten Ständen! Alſo nicht einmal ſo
lang, nicht einmal, wo es doch gilt, den Ernſt des
Todes, die Religion des pietätsvollen Andenkens auch
nur wenigſtens der Form nach darzuſtellen — auch
das nicht! Könnt ihr denn auch abſolut nur Ord¬
nung halten, wenn ihr den Stock ſeht? Ein Beamter
gieng neben mir, redete mich immer an und begriff
nicht, warum ich ihm keine Antwort gab. Der wird
mich nun auch für ein Ungeheuer halten, für einen
Schweigtyrannen, während man mich da, wo Sprechen
vergönnt iſt, für einen Geſprächtyrannen hält.
Auch die beſten Todten haben eine Unart, ſie
ziehen beim Begräbniß gern die Freunde zu ſich hin¬
[232] unter, indem dabei gewöhnlich Zugluft geht, die Leute
bei den Grabgebeten den Hut abnehmen müſſen und
ſich verkälten. Wie Unzählige haben da den Tod
geholt! — Ich werde teſtamentlich verordnen, daß
man an meinem Grabe während ſämmtlicher Beſtattungs¬
formen den Kopf bedeckt halten darf. Ein Todter
muß nicht anſpruchsvoll, muß billig ſein.
Ich werde doch oft Menſchenfeind, was doch gar
nicht in meiner Art iſt. Das Miſanthropenweſen iſt
im Grund eine affektirte Geſchichte aus dem Zeitalter
der Sentimentalität. Es müßte ſehr langweilig ſein,
die Maske feſthalten. Einfach unlogiſch; ich bin ein
Individuum der Gattung, ein ſo kleiner Bruchtheil,
daß ich allein mir doch nicht die Gattung ſein kann.
Nun trifft man freilich nur allzu Viele, die bloß
nominell der Gattung, eigentlich dem Thierreich ange¬
hören, aber man ſoll bedenken, daß man Eins in's
Andere rechnen muß, läßlich ſein, zuwarten, bis man
auf einen Zähler trifft. Es kann nicht lauter Brocken,
es muß auch Brühe geben. Schiller's „Menſchenfeind“
iſt eine geſuchte Macherei. In Shakeſpeare's „Timon
von Athen“ iſt's anders, der flieht die Menſchen, aber
er braucht ſie doch immer, um ſie anzuwettern und
anzufluchen. Dieß iſt energiſche Art.
[233]
Uebrigens hat man, wenn man es zeitenweis bei
den Menſchen nicht mehr aushält, die Thiere. Aus
meiner Kinderzeit freut mich nichts ſo ſehr, als wie
ich eine „Arche Noä“ zum Chriſttag bekam.
Der Hund — abgeſehen vom Amtshund — iſt
weſentlich und vor Allem Gaſſenjodel, eben ganz wie
ein Bub. Dabei furchtbarer Renommiſt. Sein Feſt
iſt, hinauslaufen mit dem Herrn, namentlich mit Pferd
und Wagen. Er ſtürzt, wenn's fortgeht, hinaus mit
wüthendem Lärm, er thut, als wollte er die Welt zer¬
fleiſchen, ja, das Kantiſche Ding an ſich zerſchlitzen.
Hallo! Wir ſind da! Hellauf!
Wenn ich mit Caro an einer Wieſe vorbeigehe,
ſo ſpringt er hinein, hält, ſieht mich an, und jeder
Zug, Blick, jede Bewegung ſagt: Wohlan denn!
Eh bene! Eh bien! — Ich ſoll mit ihm Fangens
ſpielen.
Höchſt komiſch iſt das Scharren des Hundes, wenn
er Waſſer gelaſſen hat. Er vergißt vollſtändig, warum
er es thut, fällt ihm nicht ein, dem Zweck des Zudeckens
gemäß zu verfahren; hält ſich für ein Pferd, das
[234] ausſchlagen kann, und bellt mit großer Prahlerei.
Alſo Zweckbewegung zum reinen Ornamentſpiel ge¬
worden in großem Unterſchied von der Katze, der es
Ernſt damit iſt, rein zu machen.
Die Thiere ſind auch ſehr eitel. Zeigen, was ſie
können: fliegen, ſpringen, apportiren, klettern u. ſ. w.
Die Katze folgt dem Herrn, der Frau in den Garten,
klettert auf die Bäume und ſieht oben herunter: da
guck her! mach's nach, wenn du kannſt! Kommt ein
Beſuch, ſo hüpft ſie auf den Sopha zu ihm, ſchmiegt
ſich ihm an und ſagt mit jedem Zuge: ſiehſt du, das
iſt nun unſere Stube! und ich gehöre auch dazu. —
Pferd, Kuh ſogar, wiſſen ſehr wohl, wenn ſie auf¬
geſchmückt, bekränzt ſind.
Ein ganzes Hausweſen wäre ſchon recht, aber —
aber — wer das erfahren hat! — Und, wenn je ein gut
Weib, ob ſie meinen Kampf mit dem Objekt verſtünde?
Und wenn das nicht, wenn wohlweis, welches Elend!
Frauen ſind die Schützerinnen der Unlogik. Ohne
ſie würden die Männer pedantiſch. Tauſend und
tauſend Fälle gibt es immer, wo es nicht die Logik,
[235] ſondern der raſche oder der warme Blick thut; mit
der Logik kann man ja kein Ganzes einholen.
Anders, wo es auf Logik ankommt, da können ſie
abſcheulich werden.
Biſt du irgend ein Menſch, der gern nachdenkt,
und willſt heirathen, ſo nimm ja kein Weib, außer
ein philoſophiſches. Unter philoſophiſch verſtehe ich
hier eigentlich das Gegentheil von philoſophiſch und
doch auch wieder nicht das Gegentheil. Das Weib
ſoll nur ſo viel des Ahnenden in ſich haben, daß ſie
fühlt: mit Gemeinplätzen iſt es nicht gethan. Erwiſcheſt
du ein Weib — es mag in weltlichen Dingen noch
ſo geſcheut ſein — in göttlichen Dingen platt rationa¬
liſtiſch (von dumm pietiſtiſchen nicht zu reden), ſo gibt
es im beſten Fall eine lahme Ehe, wahrſcheinlich eine
unglückſelige. Das Weib wird dir zuerſt langweilig,
dann nach und nach verhaßt werden. Nun iſt aber
die Mehrzahl der Weiber natürlich höchſt zufrieden mit
der geläufigen Löſung des Welträthſels: der liebe Gott
hat die Dinge eben ſo gemacht, Punktum. Und da
das Weib äußerſt zur Wohlweisheit neigt, iſt es auch
fähig, einen Mann, der weiter denkt, lächerlich zu
finden, ſogar ihm noch zu predigen. Ergo: du thuſt
unter Anderem auch darum gut, nicht zu heirathen.
[236]
Man darf nur auf der Straße Kinderſpielen zuſehen
und die kleinen Fratzen beobachten, ſo wird man den
Satz nicht beſtreiten, daß Wohlweisheit ein Hauptlaſter
des Weibs iſt. Ach, weil „Weiberſinn ſpannenlang iſt“,
darum iſt ihnen Alles ſo ſchrecklich klar! Vielleicht
weil Sokrates geſtand, daß ihm nichts klar ſei, wurde
Xantippe zu einer Pantoffelmeiſterin und zu einem
Drachen.
Aber: incidit in Scyllam — noch viel ſchlimmer
das Weib, das die Seichtigkeit der Gemeinplätze erkennt,
aber nun den Weg der Unweiblichkeit einſchlägt, das
eigentliche Philoſophiren anfängt und Blauſtrumpf wird.
Nein! nein! ſtill ahnend und beſcheiden, im ſtillen
Ahnen begreifend, daß ein denkender Mann mit Grund,
wenn auch ohne ganzen Erfolg, ſich forſchend abmüht:
ſo iſt das rechte Weib. Das Weib iſt in ſeinem hell¬
dunklen Weſen eine geheimnißvolle Einheit der Welt¬
pole Natur und Geiſt. Will es zugeſpitzt aus dieſer
Einheit heraustreten, ſo wird es actu weniger, als es
im Weſen iſt, theilt ſich, verliert ſich, wird unange¬
nehm, widerwärtig. Es gibt eine Dummlichkeit, die
unendlicher Anmuth voll iſt. Eine Desdemona, eine
Ophelia webt mitten in dem Traum, worin der Welt¬
geiſt dichtet.
[237]
Es gibt auch eine mittlere Gattung: ahnende
Weiber mit einzelnen ſcharfen Gedankenblitzen — die
geiſtreichen. Es kann ſcheinen, dieß wäre ja das Rechte.
Aber da ſie es zum Ordnen der Gedanken doch nicht
bringen und da ſie übrigens ſehr geſalzen ſind, ſo ſind
ſie beunruhigend und öfter bös, als gut. — Man
kommt immer auf's Einfachſte zurück: wünſche dir ein
Weib, gut, wiewohl nicht dumm, verſtändig für die
Welt, ahnungsſtill in tieferen Dingen und dann etwa
den Tagmenſchen dummlich erſcheinend, — thut nichts —.
Es wird auch ſolche geben, aber ſie zu finden müßte
man mehr Glück haben, als unſereiner, und übrigens
ohnedieß — o ſtille, an ſolche Sachen ſollte ich gar
nicht denken!
Im Elend dieſer Zeiten, in dieſer Aera der Kon¬
kordate, der Staaten, die ihre ganze Aufgabe darein
ſetzen, „Feuerlöſchanſtalten“ zu ſein, des verrathenen
Schleswig-Holſteins, des entehrten Preußens, des knaben¬
haften Gedankens, dafür in Neuenburg Lorbeeren zu
holen, nun dieſer Dinge in Italien, da Deutſchland,
Europa den Spieler in Frankreich groß und größer
werden, ſich ganz über den Kopf wachſen läßt, — ich
kann es einem Philiſtersmann nicht verdenken, wenn
er auf's Heirathen verfällt, um ſich in ſeine vier
Wände warm einzuſpinnen, und zu dem Zweck nun
[238] das ſchrecklich mühſame Geſchäft auf ſich nimmt, die
ſchriftlichen Sachen, Taufſchein, Leumundszeugniß u. ſ. w.
herbeizuſchaffen. Der Ehebruch einer Frau iſt haupt¬
ſächlich deßwegen ſchändlich, weil es ſich der Ehemann
damit ſo ſauer hat werden laſſen müſſen. Für dieſe
Plackerei ſollte er doch billig ſein Weib allein haben dürfen.
Wie klafft doch immer die alte Lücke in mir, das
verſäumte Italien! In die Kunſt, in's Große der
Kunſt — hier mich einſpinnen, hier mich mit ganzer
Seele häuslich einrichten! Da jetzt im Leben Alles,
Alles ſo ſtyllos liegt, nichts Durchſchlagendes, nichts,
was Hunde vom Ofen lockt. In Italien zwar ein
Hinderniß für mich, daß es jetzt in politiſchen Geburts¬
wehen liegt. Eben, weil mich das ſo zwieſpältig
bewegt. Bin kein äſthetiſcher Ruhkopf, gönne der
Nation, daß ſie wird. Aber gerade weil mich das
beſchäftigt, ich aber dabei nichts zu thun habe und
weil ich als Deutſcher den Würfler haſſe, dem ſie's
verdanken, und ferner, weil ich dort nur der Be¬
trachtung leben will, ſo weiß ich doch kaum, ob ich
jetzt hinreiſen ſollte, wenn ich könnte.
Zu meiner armen Seele Stärkung einmal wieder
im Aeſchylos geleſen. Agamemnon. Wie Klytämneſtra
[239] vom Mord herauskommt, die Axt auf der Schulter,
den Bluttropfen auf der Stirn — wie grauſig groß!
— Plötzlich weggeworfen, weil mir — ein Weib ein¬
fiel, das ich mir ſo denken könnte. Mich ermannt,
wieder geleſen und nun frei im Elemente des Großen.
Möchteſt du es zum großen Styl bringen in der
Kunſt, in der Dichtung? Ich weiß dir ein Rezept
dazu: habe eine große Seele. Wenn man's nur in
der Apotheke beſtellen könnte!
Es kommt Alles darauf an, ob Einer ein Kerl iſt,
das heißt, ob er Kaliber hat. Wie viele hübſche Sachen
bringt Tieck! Er hat Geiſt, Witz, viel bildliche Er¬
findung, Anmuth, ſchwebendes Spiel, aber er hat kein
Kaliber und ſo iſt er doch eigentlich nicht unſterblich
geworden. Die Zeit iſt eben eine ſtarke Worfelſchaufel.
Uebrigens führt das zu ſchweren Fragen. Die
Formaliſten werden ſagen: gut, ſo kommt bei den
Künſtlern, Dichtern, die Größe haben, zum äſthetiſchen
Werth ein zweiter, ein ethiſcher, hinzu. Aber ich bitte!
Die innere Wucht in der Seele der großen Künſtler
hat ja doch eben die Formen ſelbſt geſtreckt! Das
Große iſt doch nicht neben den Formen! Alſo handelt
es ſich doch um eine völlige Einheit zweier Dinge:
„der Gehalt in deinem Buſen und die Form in deinem
Geiſt.“ Oder vielmehr dieſes Wort Goethe's iſt ſelbſt
[240] dualiſtiſch; Buſen und Geiſt ſind die eine Seite,
Phantaſie iſt die andere, und Form, große, echte Form
iſt die Einheit von beiden.
Soll auf einige Wochen nach Schwaben reiſen,
ſtädtiſche Anſtalten einſehen, Gefängnißweſen und
Anderes. Auch gut, verluſte mich nebenher, möchte
auch bei der Gelegenheit die alte ſüddeutſche Maler¬
ſchule beſſer kennen lernen; Zeitblom muß etwas
von Styl haben und Farbe dem Giovanni Bellini
verwandt.
Einen heiligen Sebaſtian von ihm aufgetrieben
um viel Geld, das Geld faſt ſo gern ausgegeben wie
für großen Opferakt an rebelliſchem endlichem Objekt.
Wahr, wahr, auch da iſt Styl: Feier, Geſammeltſein
tief in ſich vor Gott. Farbe warm verarbeitet, leuchtend.
Aber etwas Geſchmackloſes, etwas Vertraktes muß hinein,
anders thun ſie's nicht, unſere alten deutſchen Meiſter.
Bei Zeitblom außer der eckigen Dürre überall die
dumme, bornirte Schwellung über der Naſenwurzel,
die Naſe ſelbſt immer roth angeflogen. Will er, muß
er damit die gewiſſe Verknopfung im ſchwäbiſchen
Weſen ausdrücken?
[241]
Meine, ſie nun zu kennen, dieſe Schwaben. Schwer¬
blütig, unvermögend, ſich aus ſich herauszuleben. Wie
leichtlebig dagegen ſelbſt unſere mitteldeutſchen Stämme!
— Und dabei merkwürdig ſtarkes Stammesgefühl.
Meinen, ihre Eigenheiten ſeien beſſere, eignere Eigen¬
heiten, als die Eigenheiten anderer Stämme. Meinen,
ſie haben die Gemüthlichkeit gepachtet.
Gemüthlichkeit? Es iſt jeder Dialekt gemüthlich
und behüte uns der Himmel vor Dialektloſigkeit! Sie
mögen Recht haben, daß ſie durch alle Stände daran
halten. Aber es iſt auch Gefahr in dieſem Hegen,
es bildet ſich ein behagliches einander Mögen und
Gernhaben im engen Kreiſe, ein Element, aus welchem
ſchwer zum reſoluten Ausſprechen der Wahrheit auf¬
getaucht wird, wenn ſie unangenehm iſt. Die Vetter¬
michelsgemüthlichkeit liegt ſo nahe an der unwahren
Höflichkeit, als der weltglatte Bildungsſchliff, mag ſie
auch am unrechten Orte manchmal grob ſein. Man
ſollte Jedem, der unfrei im Dialekt hängt, auf zwei
Jahre den Gebrauch deſſelben bei Strafe verbieten
und nachher wieder erlauben.
Nachdenkliches Weſen, viel Talent, aber ſtellt das
T und L um, bleibt latent. Sind ſo geſcheut wie
nur irgend Jemand, haben aber wie die Schildbürger
Viſcher, Auch Einer. II. 16[242] beſchloſſen, heimlich geſcheut zu ſein. Will nichts
heraus. Kein Zuſammenleben, keine Geſellſchaft —
denn verhockte Wirthshauskreiſe ſind nicht Geſellſchaft
— kein Geſpräch. Man trifft freilich im kleinſten
Winkel vereinzelt unterrichtete Menſchen, wenn man
ſie anbohrt, oft und viel, — guter Verſtand überall.
Aber kein Geſpräch, will ſagen, kein geſelliges, ver¬
breitetes, Städte durchfliegendes Ventiliren neuer Dinge,
die Jedermann intereſſiren. Kein warmes Wort, kein
lebendiger Ideenſtreit über neue Bücher, Theaterſtücke,
Kunſtwerke, aufregende politiſche Ereigniſſe oder Fra¬
gen. Scheint mir auch verſtockter Eigenſinn zu Grund
zu liegen. Machen Geſichter, die ſagen: jetzt, weil Je¬
dermann davon ſpricht, weil alle Welt meint, davon
müſſe die Rede ſein, jetzt gerade erſt recht nicht. —
Sind übrigens auch fremdenſcheu, fremdeln.
Auch Gutes in dieſer Verſtocktheit? Haſſen windiger
Volubilität? Flunkerhaften Leichtredens? Gewiß, und
darin viel Recht. Begründeter, gerechter Widerwille
gegen das Umſichwerfen mit vergriffener Sprachmünze
bei ſo manchen Norddeutſchen, gegen die Schwatz¬
virtuoſität und Wohlweisheit des Berliners. — Auch
eine gewiſſe edle Scham, das Innere nur ſo geſchwind
herauszugeben? Selbſtgefühl, das ſich gegen Mode¬
lebtag ſperrt? Ja, auch davon ein Korn, im Uebrigen
[243] Phlegma, oder iſt es anders zu bezeichnen? Man
meint oft, dieſe Leute müſſen ja Fiſchblut haben, wird
irre, wenn man wieder den nachhaltigen Zorn ſieht.
Die Schwaben ſind zornig. Muß namentlich vom
Neckarwein kommen, der bös macht; hab’s in jenen
Wochen an mir erfahren. Schiller veredelte dieſen
Zorn zum Zorn gegen das Gemeine. Das Volk ſehr
roh, ſo viel ich an Sonn- und Feiertagen auf der
Eiſenbahn bemerken konnte. Beſonders wüſtes Fluchen.
Auch wilde Thiermißhandlung. Beamter in Stuttgart,
klarer Mann, fähig, aus Vogelperſpektive zu ſehen, ſagte:
was ein rechter Schwab iſt, wird nie ganz zahm. —
Sehr häufig die „oculi truces“ des Tacitus.
Formloſigkeit prinzipiell gemacht: ſie gilt für wahre
Natur; Form gilt für affektirt, vor Allem: höher
belebte Form, doch auch einfach richtige Form, zum Bei¬
ſpiel reines Deutſch. Wiſſen aber doch in Kunſt und
Wiſſenſchaft ſehr wohl, was große Form iſt.
Vieles offenbar auch Folge der langen Abgeſchloſſen¬
heit vom großen Verkehr. Weltloſigkeit, Verſeſſenheit,
Stagnation. Hauptſtadt in einem Keſſel, können
nicht oben hinausgucken. Entſteht ein deutſches Reich,
[244] ſo wird ſie vielleicht die Luftdurchſtrömung wecken;
wird etwa ſein, als ob man einen großen Fluß durch¬
leitete. — Doch gewiß langſam.
Halten ſich in ihrer Selbſtliebe für beſonders ehrlich,
ſolid, reell — während es mit der Gewiſſenhaftigkeit
in Handel und Wandel, im Handwerk um kein Haar
beſſer ſteht als irgendwo in unſerer Zeit. Herrſchend
ſelbſt in Städten, lang ſogar in der Hauptſtadt, lumpiger,
fünf Zoll dicker Holzriegelbau, Nomadenzelte. Von dieſen
gefälſchten Mauern muß ein Geiſt der Unſolidität in alle
Geſchäfte ausſtrömen. — Hören gern: „biedre Schwa¬
ben“. Der wahre Biedermann wird aber die Bieder¬
keit haben, dieß Prädikat nicht anzunehmen, weil es
klingt, als ob die Leute anderswo nicht bieder wären.
Das viele Talent ſichtbar in viel Humor. Aber
dieſer Humor öfters in's Kleine, eng Lokale verkräuſelt.
Lach- und Spottneigung; gefährlich, kehrt ſich leicht gegen
wahres wie gegen falſches Pathos. Spottluſt dadurch
etwas entſchuldigt, daß man ſie ſelbſt viel verſpottet
und doch viel mit Unrecht. Auch ihren Dialekt ver¬
ſpottet man oft ungerecht; unter all' ſeiner Unſchönheit
iſt doch ein feiner Sprachſinn verborgen, ein Ohr, ein
Nerv von viel Schärfe für Sprachfehler moderner
[245] Abſchleifung, naturloſer Sprachkultur. Habe zum Bei¬
ſpiel niemals den Akkuſativ und Ablativ, nie das Her
und Hin, Hier und Dort verwechſeln hören.
Beamtenſtand habe ich in Mehrheit ſehr gewiſſen¬
haft gefunden. — Auch die Sitte im Ganzen und
Großen noch etwas intakter, als anderswo. Verkehrs¬
anſtalten exakter Dienſt. — Viel Tüchtigkeit. — Schul¬
weſen höchſt ſolid.
Summa: Völklein ſchwer zu begreifen; Gutes und
Schlimmes verknäuelt wie kaum irgendwo. Ueberraſcht
aus ſeiner engen Exiſtenz die Welt auf einmal mit
einem Schiller, Schelling, Hegel. Vielleicht kann man
ſagen: unter dem dichten, knorpligen Schildkrötenſchild
ein ſtets geſparter, obwohl auch viel zu ſehr geſparter
Schatz von Talent und Kraft. Dieß die mildeſte
Anſicht und billigſte Entſchuldigung. — Nur der Leb¬
tag von der Gemüthlichkeit ſehr verdammenswerth,
erregt Ueberdruß.
Das iſt übrigens auch wahr: keinen einzigen bla¬
ſirten Menſchen habe ich gefunden, und bin doch mit
Vielen umgegangen. Dieß beſagt nicht wenig.
[246]
Gemüth iſt warmes, inniges Eingehen in Zu¬
ſtände, Thiere, Menſchen, Scharfer Gegenſatz gegen
die Sinnesart, die mit Begriffen oder Zwecken ſich
nur von außen über die Dinge herſpannt, daher
humorlos iſt und zum Beiſpiel nicht begreifen kann,
warum ich auf der Straße ſtehen bleibe, dem Spiel
junger Hunde zuzuſehen. Iſt ſehr arm an Sinn für's
Naive, verſteht vom Komiſchen faſt nur das Ironiſche.
Hierin nun ſind die Schwaben ſehr gut organiſirt,
auch die Bajuwaren; die Franken, zu denen ich mich
rechne, obwohl nahe der alten Sachſengrenze, bin ich
noch ſo eitel zu nennen. Das Niederdeutſche iſt
laugiger, neigt mehr zum ſchelmiſchen Aufziehen
(Reineke Vos). — Zum Finden oder Erzeugen des
Komiſchen gehören zwei Dinge: jenes Eingehen, Mit¬
ſein, ſich Mitfühlen im Andern, alſo ſelbſt noch naiv
ſein; gleichzeitig aber darüber ſchweben mit Blick der
Geiſtesſchärfe. Wem das Erſte fehlt, der mag lieber
gar keinen Verſuch machen, echt Komiſches zu genießen,
mag ſich mit der ſauern Dünnkoſt des Spottes begnügen.
— Gut, alſo Gemüth. Etwas Anderes iſt Gemüth¬
lichkeit, ſie iſt verbreiteter Gemüthston, iſt Gemüths¬
ton als Lokal- oder Provinzialkoſtüm, namentlich im
Dialekt (zum Beiſpiel ſtarker Gebrauch von Diminu¬
tiven). Nun aber, wenn dieß Ton, Koſtüm geworden,
ſo ſpricht und thut auch der Spitzbube, der Betrüger,
ja der Mörder gemüthlich. Damit verliert es allen
[247] Werth; konventionell gewordenes Gemüth iſt kein
Gemüth mehr. Man kann höchſtens ſagen: denen,
die doch wirklich Gemüth haben, hält ringsherrſchender
Gemüthston das Weſen des Gemüths in ſtets friſcher
Erinnerung und dient ihnen zugleich als Mittel, das
Gemüth in angemeſſener Sprachform auszudrücken.
Noch Abſtecher in die Schweiz. Tüchtige Männer
kennen gelernt, brave, gaſtfreundliche Häuſer. — Schon
auf der Eiſenbahn aufgefallen: man ſieht mehr ganze
Köpfe als anderswo. Ganz: worüber die zermürbende
Egge der Kultur mit ihren theils nützlichen, theils
charakterebrechenden feinen giftigen Spitzen nicht ge¬
gangen iſt. Man hört auch gottlob nicht ſo viel von
Gemüthlichkeit. Was ich von jungen Leuten aus der
Sphäre wiſſenſchaftlicher Bildung kennen gelernt, friſch,
frei von Ironie. — Schulen blühen, Dörfern ein
ſchönes Schulhaus Ehrenſache. Reinlichkeit höchſt wohl¬
thuend. — Habe bemerkt, daß die Wahrheit mehr
in's Geſicht geſagt wird, als in unſerer verſchliſſenen
Welt, obwohl oft ſtroblig rauh; doch wie viel beſſer
dieß, als nach dem Maul ſchwätzen! Aber ernſte Männer
klagen über den reißenden Fortſchritt des Geldgeiſtes.
Monarchieen, ſagt ein Schweizer ſelbſt, ein guter
Republikaner, zu mir, öffnen den menſchlichen Leiden¬
ſchaften mehr Abzugskanäle, zum Beiſpiel Titel, Adels¬
[248] diplome, Hofdienſte, Orden dem Ehrgeiz, der Eitelkeit;
hier aber wirft ſich aus Mangel an Anderem die
ganze Sinnlichkeit faſt allein auf's Geld; dazu das
Unglück, daß unſer Land von der unendlichen Reiſe¬
flut überſchwemmt wird; das iſt ein Fluch, das muß
verderben. Ach, ſchloß er, wir brauchen bald eine
neue, große Bluttaufe, einen furchtbaren Kampf um
unſer Daſein; ich vertraue, es ſei noch ſo viel alte
Schweizertugend da, ihn zu beſtehen. — Gebe ihm
der Himmel Recht, dem braven Manne! Denn daß
inmitten unſerer monarchiſchen Großſtaaten noch eine
Republik beſteht, auf altgeſunder Grundlage, verſtändig,
nicht ideologiſch, gut konſervativ: das ſoll ſein, iſt
recht und in der Ordnung. Wenn ſie ſich nur auch
vor der modernen Demokratie brav hütet! Gerade
einer Republik nichts verderblicher, als der falſche,
abſtrakte Freiheitsbegriff!
Wieder zu Haus. kleine Reiſe will in der Nachkur
nicht vorhalten. Wenn ich mich vom Amt verſchnaufe
und meinen Zeitblom anſehe, ſeinen Anſatz zur Streckung
der Formen und daneben doch das Verwachſene, Un¬
freie, Verknorrte, ſo kommt mich's nun erſt recht an:
ich ſollte eben doch hin, muß hin, muß den freien,
großen Styl in der Kunſt endlich einmal anders
ſchauen, als nur in Gypsabgüſſen und Stichen. Ein
[249] unwiderſtehlich Sehnen kommt mich an, wie ich da
ſchreibe: die Formen ſtrecken. In meinem Leben, in
dem Rattenkrieg mit dem kleinen Uebel iſt Alles ge¬
knittert, gekettelt, genörgelt, gezupft, klein gebrochen,
knopfig geneſtelt. Strecken! An dem, was dem Auge
große Bahnen gibt, muß ich mich ſelber ſtrecken. —
Ich muß ſehen, wie ich's mache. Muß aber dann,
wenn es gelingt, mit aller Kraft meinen Vorſatz halten,
nach den politiſchen Werdekämpfen Italiens nicht hin¬
zuſehen. Verzeih' mir's zum Voraus, Genius eines
aufſtrebenden, geiſtvollen und liebenswürdigen Volks!
Und ihrer Mutter Heimat ſehen, das wird ja
erlaubt ſein und nicht zu ſtark an der Seele zucken,
ſo daß ſie aus der Ruhe der Betrachtung geriſſen
würde.
Bravo! Noch einmal Bravo! Zwei Dinge auf
einmal: Neues Amt, größere Kreisſtadt und vorher
Urlaub! Doktor wieder brav; ſchreibt mir Zeugniß:
„Abgearbeitet — akute und chroniſche Affektion der
Schleimhäute — geſtörte Verdauung — mildere Luft
— Bewegung — mildes Klima —“ Wollte eigent¬
lich Kairo, doch läßt mit ſich auf Italien herunter¬
handeln. Regierung willfährig, insbeſondere weil ich
dazumal mit dem kommuniſtiſchen Geſindel fertig ge¬
[250] worden und weil ich die Fauſt feſt auf die verrotteten
Volksbeglücker drücke. — Daß man mich nur nicht
für gar zu brav hält! — Doch für jetzt ſchon recht!
— Aufgepackt, fort! Von Caro ſchwerer Abſchied, doch
in guter Hand!
Sammlungen von Pfahlbewohnerreſten — Boden¬
ſee — Schweizerſeen — Steinzeit, Bronzezeit. Man
wird ganz zu Hauſe, haben es auf ihre Weiſe ganz
bequem gehabt, glaubten ſich gewiß auf Bildungshöhe.
— Gedanke einer Pfahldorfgeſchichte. Mondſymbole
— halt, daraus kann eine Religion für die Pfahl¬
menſchen herausgeſponnen werden!
Deſenzano. Muße zum Schreiben, Strafe für meine
Dummheit und vielleicht doch gut, daß ich mich etwas
ſammle von der Haſt. — Durch die Schweiz gehetzt, will
jetzt nichts von Gebirgsland, vollends wenn vollgeſtopft
mit Reiſegeziefer. Abgeleckte Idylle. Wenn einlaſſen, dann
brauchte es mehr Zeit, erſt im Volk, fernab von den
Gaſthöfen, zuzuſehen, wie viel noch alter Kern da iſt.
Hat mich nur der Splügen gefreut und wie flott der
Poſtknecht die Zickzackwendungen hinabfuhr nach Chia¬
venna; das Reſolute thut wohl, die hohen Berge ſind
auch reſolut, aber mir für jetzt zu hart, zu formlos.
[251] Dürſte nach anderen, ſchwungvolleren Erdbildungen,
auch nach großen Waſſerflächen, dieß hat mir doch
Norwegen angethan mit ſeinen zwei Größen: Gebirg
und Meeresbucht. War mir dann der Comerſee doch
wieder zu weich, will den Gardaſee mit ihm vergleichen
und ſeinen geſtrengeren und doch, wie ich aus Beſchrei¬
bung weiß, ſchon ſüdlich plaſtiſchen Monte Baldo. Unter¬
wegs in Brescia an zwei Gegenſtänden hoch erbaut:
Köpfen weiblicher Heiligen von Moretto und antiker
Erzfigur, griechiſcher Arbeit: Nike. Dort die Züge, hier
die Geſtalt — rühren mich noch anders, als Hinz und
Kunz. Weiß warum; — erinnern. — Den Gardaſee
hinauf und herab. Meine ich Dummkopf, in Italien
geb's keinen Katarrh, kleide mich zu leicht, fange einen
gründlichen und ſitze nun da und kann ihn ausbrüten.
Ufer mit Limonengärten, maleriſche Steige hinauf
nach Ledrothal, Ortſchaften wie Schwalbenneſter hän¬
gend, rechts dann die rein modellirten Formen des
Monte Baldo, ſanft geröthet von Morgenlicht, herr¬
liches Blaugrün des Sees, Alles nur wie im ſchweren
Traum durch verklebten Flor geſehen — hat mich
nicht gekühlt, Naſe, Ohren, Augen glühend — das
der Einſtand? Du dort oben auf höchſtem Berg,
Madonna di Salò, biſt gewiß eigentlich die Minerva,
die dort ſicher ihren Tempel hatte, warum haſt du
mir nicht gnädig Gehirn kühl, Augen klar bewahrt?
[252]
Vom Bahnhof aus die Spia d'Italia geſehen,
ſteht bei Solferino auf der Höhe, wo der blutige
Kampf war. Nicht hinüber! Das nicht ſehen! Die
Fauſt ballt ſich mir gegen den glücklichen Croupier,
während doch Oeſterreich auch recht geſchah für ſeine
Lumperei. Aber der Croupier wird's auch noch büßen,
das weiß ich. Doch Vorſatz halten! Keine Politik!
Verona. Arme Maulthiere und Eſel! Seufzende
Kreatur! — Ihr ſtammt von dem Geſindel, ihr Thier¬
ſchinder, das einſt dort in der Arena die ſcheuslichen
Kämpfe anſah. — Für was lauft ihr in die Kirchen?
Das katholiſche Syſtem iſt Reklame, Revalenta
arabica, Königstrank, Mailänder Haarbalſam. Kommt
zu mir, ich habe eine Apotheke, euch ſelig zu machen
ohne eigene Mühe! Was ihr am meiſten fürchtet: das
Gewiſſen und den Tod: ich zieh' euch den Zahn
ſchmerzlos aus!
Doch nett in San Zeno. Ich trete in der Abend¬
dämmerung ein. Dort in einer Kapelle ein gewöhn¬
liches Kerzenlicht. Ich gehe hin: eine alte Nähterin
näht an einem Röckchen für's Chriſtkind auf morgen
[253] zum Feſt, ein alter, dicker geiſtlicher Herr ſteht dabei
und fädelt ihr ein, mit großer Brille auf der Naſe.
Und nun heut Abend! In der Kapelle der ganze
neue Kindszeug ausgeſtellt: Häubchen, Kittelchen für's
Chriſtkind. Gedräng dahin von Mädchen, Frauen.
„Ma, quanto grazioso! che carino!“ — Man muß
immer wieder lachen. Die Menſchen bleiben Kinder.
Bologna. Akademie. Wie wird mir nun meine
Vorſtellung von dieſem Pietro Perugino zur Wahrheit!
Zu den Menſchen da unten, die in unſagbarer Sehn¬
ſucht hinaufweinen, wie, mit welchem Blick der Un¬
endlichkeit neigt aus geöffnetem Himmel die Jungfrau
ſich herab! Dabei Alles noch grundnaiv, auch die
mandorla, die Mandelform der Oeffnung des Him¬
mels. Und doch Farbe ſchon tief warm, leuchtend
von Seele.
Florenz. Hier Nachts im Mondſchein! Da
wandle mit Andacht! Wo wären wir ohne dieſen
Quellpunkt aller neueren Bildung? Barbaren, nichts
weiter. Dort im Garten lehrten die Griechen. Dann
all' die Dichter und Künſtler! Die Geiſterluft, die von
[254] hier aus wehte, iſt weicher noch, als die Lüfte dieſer
Mondnacht.
Es iſt wahr, die Renaiſſance war nur die eine
Hälfte der Wiedergeburt, die andere die Reformation.
Dieſe die ethiſche, und wie nothwendig! Eine Halbheit
zwar, auch mit ihrem eigenen Maßſtab, dem der Reli¬
gion, gemeſſen. Aber durch Halbheiten geht die Ge¬
ſchichte; die Menſchheit erträgt nichts Ganzes. Und
wohl der Halbheit, die ein gut Stück vom Centrum,
vom Kern des Ganzen hat! Luther hat viel Unnöthiges
ſtehen laſſen, aber in ihm brannte Centralfeuer, heiliger
Grimm aus heiliger Liebe ſprühend. — Deßwegen
gehören auch nicht je wieder zwei Völker ſo zuſammen,
wie Deutſche und Italiener. Die zwei Hälften der
Menſchennatur ſuchen ſich. Die Italiener erkennen es
jetzt noch wenig, haſſen uns hiſtoriſch-politiſch, aber es
wird ſchon kommen.
Wie ſich's geſtreckt hat, weiß ich jetzt, hab's mit
Augen verfolgen können. Kapelle Brancacci in S.
Maria del Carmine: Maſaccio, der hat den größten
Ruck gethan im Strecken. Aber wenn mir iſt, als
geriethe ich bei dieſem Anblick ſelbſt in's Wachſen und
freie Auswickeln, wie eigen rührt mich doch gleichzeitig
[255] die holde Unreife, die liebenswürdige Armuth des
Nochnichtkönnens! Sie hilft ja, den geſchloſſenen Kern
der Innigkeit ſtreng bewahren, daß er in der ent¬
bundenen Form nicht verdunſte. Seit ich den Peru¬
gino in der Akademie zu Bologna geſehen, iſt mir
das erſt recht aufgegangen. Nun hier weiter zurück
der herrliche Fieſole! Auch in ihm iſt ſchon Zug
zum Strecken, will da und dort die mündige Form
ſchon ausſchlüpfen — welche große Bahnen in den
Falten des weißen Mantels, der den auferſtehenden
Chriſtus majeſtätiſch umfließt — dort in der Kloſter¬
zelle von San Marco — aber ſein frommes Kinder¬
herz! Welche Welt von Rührung! Wie keuſch zuſam¬
mengehalten !
Und dann, ich kann ſagen, wahrhaft gute Stunden
genieße ich in S. Maria Novella. Welch ein edel
freier, heiterer Menſch iſt dieſer Domenico Ghirlandajo!
Da geht's hinaus in die ſchöne, ſonnige Welt. Und
hinein in das Wärmeliche der Zuſtände menſchlichen
Behagens. Wie köſtlich dieſe Kindsſtuben, das Pflegen
der Neugebornen, die Nachfragen der beſuchenden
ſchönen Frauen und Mädchen, die wohnlichen Räume!
Und wieder, welche Würde der Geſtaltung ſchon,
welche ernſte Ruhe und adelige Bewegtheit!
[256]
Pitti. Madonna del Granduca. Nicht ganz, ihr
Geſicht um einen Hauch ſchmäler, aber doch ſie! O
ja, ſie, das iſt ſie! — Solches Oval, ſolches Blicken,
Neigen, Beugen — nur Raphael, nur er, und er, als
hätte er ſie geſehen!
Der große Grabmalkünſtler von San Lorenzo will
mich nicht recht annehmen, ſtehe dort bald hingeriſſen,
hoch getragen, bald geärgert. Zu dieſer genialen Geiſter¬
tiefe der übertriebne Wurf und ſo viel widerwärtige
Gedunſenheit. — Rom abwarten. Dort laß dich
auch von der Antike erſt ganz erfüllen, o Seele! Und
von Raphael's ganzer Herrlichkeit!
Oft, wenn ich oben ſtehe bei dem Kleinod alt¬
frommer Baukunſt, bei San Mignato, und herunter¬
ſchaue auf Thal und Berge und Fluß und Stadt, und
dann auch jenes Wunderbaren gedenke, deſſen Schatten
hier umſchwebt, des Hölle, Himmel und Welt um¬
faſſenden Dante, des Geiſtes, der einer weitgeſpannten,
hochgewölbten Kuppel gleicht, und wenn ich dann denke,
wie viel Wildes und Furchtbares doch auch an den
Flächen dieſer Kuppel wie mit Glut und Blut gemalt
iſt, dann entſinne ich mich auch, wie viel doch ge¬
wüthet und gemordet worden iſt in dieſer ſanften,
[257] edlen Stadt. Ja, ich weiß, ich kenne, was Wildes
im Menſchen iſt. O ebnet mich, ihr weichen Linien!
Singe mich in Schlaf, mild rauſchender Fluß! Lindert
mich, ihr Oelbäume, kühlet mich, ihr ſtillen Cypreſſen,
und hebet mich, ihr ſchlanken Pinien mit der leichten,
rundlich geſchwungen übergelegten dunklen Krone!
Da beginnt es, in Siena, da ſieht man die
traumhaft verſchleierten, mandelförmigen Augen. Wie
ſtimmen ſie mit der Madonnenanmuth der keuſch hageren
alten Bilder! Iſt es etruriſch, umbriſch? Wer waren
dieſe alten Umbrier? Doch gewiß nicht Kelten, nicht
Gallier; — Iberer? Dunkles, vorgeſchichtliches Volk
der Eusken? — Und ihre, ihre Sprache! Lingua Tos¬
cana in bocca Romana; nur in ihrem Mund feiner,
ganz leiſer, entfernt nicht unſchöner Anklang des Eng¬
liſchen, — Stimme einer milden Fee, wenn ſie liſpelt. —
Gute ſtimmungsvolle Stadt, nicht nur ſo reich an
Bildern, ſelbſt Bild an Bild! Die gothiſchen Paläſte,
burgartig, die Zinnenthürme, ſie gemahnen den Deut¬
ſchen deutſch; plaudernd mit deinen freundlichen,
feinen Bewohnern lebt man ſich zurück in die alten
Zeiten, ich wandle mit dem guten Simone Memmi,
dem ehrlichen Ambrogio Lorenzetti über den ſchönen,
Viſcher, Auch Einer. II. 17[258] eingetieft aufſteigenden, halbrunden Marktplatz und ſehe
ſie ihre naiven Bilder malen in den Rathhausräumen,
ich begleite den ſanften und doch ſo geſtaltenreichen
Duccio nach dem prächtigen Dom und freue mich mit
ihm der leuchtenden Augen, womit das Volk ſeine
herrliche Tafel betrachtet; ich ſehe die reinen Linien
der Marmor-Niellen, Marmor-Intarſien aus feinen
Künſtlerhänden in die Platten des Fußbodens rieſeln.
Und hier, in der Libreria, ſchon Raphael näher, ſchon
ſeine jugendliche Hand fühlbar in den Fresken! —
Für Hände, die ſchon Alles los haben wie Sodoma,
ſo ſchön er's oft macht, kann ich jetzt, hier, keinen rechten
Sinn in mir aufbringen.
Tiefer hinein in die alte etruriſche Welt. Unheim¬
liche Fahrt allein mit ſpitzbübiſchem Vetturino. Regen,
Einkehr in Caſciano: ſitze fieberkrank auf dem Herd
am Kohlenfeuer. Vetturin flüſtert mit den Wirths¬
leuten, ich merke, das; er mich hier über Nacht feſt¬
halten, ſo den ganzen Kontrakt zu ſeinem Vortheil ver¬
wirren, vielleicht morgen mich Banditen in die Hände
liefern will: weigert ſich, einzuſpannen. Ich ſpringe
wie ein Panther vom Herd und herrſche ihn an, daß
er ſchnurſtracks gehorcht. Kann doch noch befehlen. Und,
Kerl, du ahnſt nicht, wohin, wohin mein Sinn ſteht!
[259]
Mondnacht. Dort im Bergegürtel, hoch überragt
von geiſterhaften Gipfeln, blitzt ſilbergrau zwiſchen
ſchwarzen Eichen der Traſimenerſee auf. Im Röh¬
richt flüſtert's von Hannibal und Flaminius. Geiſter¬
heer von Reitern jagt die gedrängten Römer hinein
in die Waſſer, ich meine das Röcheln der Unterſinken¬
den zu hören zwiſchen dem Schlachtgeſchrei, karthagiſche,
römiſche, galliſche Rufe wild durcheinander.
Chiuſi. Alter Herrſcherſitz des Porſenna. Heut
Alles grau, ſchwerer Himmel, wandle durch Hügelland,
Eichengründe nach alten Gräbern. Da — reichbemalte
Grabkammer, kleiner Aſchenſarkophag mit ſtämmiger
Figur des Todten. Stilles, ſtilles Todtenhaus; Geiſter¬
ſtube, ganz wohnlich, ausgeſtattet mit Allem, was dem
Lebenden einſt lieb war; ſieht ſich an der Wand im
Bilde jagen, ausfahren mit zierlichen, ſchlanken Roſſen.
Todt ſein iſt doch auch gemüthlich. — Was ſchwebt
im Halbdunkel? Welche liebe Geiſtgeſtalt? Warum ſo
bleich, da ſie ferne noch athmend im friſchen Leben
wandelt?
Chieſerella bei Citta della Pieve. Jetzt kenne ich
ihn noch beſſer, den guten Meiſter Raphael's. Die
Anbetung der Könige. Madonna ſchaut über das Kind
[260] hinaus zu Boden im reinſten, ſinnenden Nichtwiſſen.
Wie wollt ihr heutigen Nazarener dieſe holdſelige Un¬
ſchuld zuwege bringen, welche träumend die königlichen
Ehren nicht verſteht und nicht, wie königlich ſie doch
ſelbſt iſt! Männerköpfe in ernſte, wehmuthvoll be¬
glückte Andacht ganz verſunken. Formen jetzt runder
und voller. — Und wie wenig fragt meine Rührung
darnach, daß dieß Alles Märchen iſt! Es iſt dennoch
wahr: Wenige wiſſen wie ich, warum —
Und nun zur Abwechslung Salvator Roſa in
natura: Einkehr in ländlicher Oſteria, Wirthſchaft in
der Küche, Spieß dreht auf dem Herd; ein Jäger in
hohen Campagnagamaſchen mit Hund ſitzt beim Wein.
Alle Wände geſchwärzt und darüber der rothe Feuer¬
ſchein der Herdflamme. Hexenhafte Wirthin, höchſt
maleriſcher Schmutz ringsum. — Dann hinaus, weiter,
von Ochſen hinaufgezogen nach Perugia.
Perugia. Da bin ich. Durfte es ja wagen, ſie iſt
ja nicht da! — Ahnungsvolle alte Stadt, über Bergrücken
kletterndes, durch Schluchten geſchlungenes Labyrinth
altergefurchter Häuſer, Kirchen, Paläſte, Klöſter. Lucu¬
monenſitz im grauen Alterthum. Dann Römerpomp,
Thor des Auguſtus, Porta Marzia. Germanenzeit
[261] — ihres Bluts ſicher auch ein Tropfen zurück; dann
Mittelalter — Hohenſtaufen — im Dom von Aſſiſi
Friedrich II. getauft, hat Kinderjahre dort drüben auf
der Burg verlebt, — dieß Alles auf dem dunklen
alten Grund — wie ſeltſam Alles, Klang einer alten
Sage, wie wunderſam fremd und magiſch anziehend.
Auch fürchterliche Zeiten — Bluthochzeit von Perugia!
Alter Marktbrunnen mit den Figuren der piſaniſchen
Meiſter, die aus halboffener Knospe der Kunſt ſo friſch
hervorquellen, was plauderſt du? Was erzählſt du die
ganze lange Nacht, wenn's ſtill iſt ringsum? Weißt
noch, wie du prangteſt an Aſtorre's Vermählungstag?
Wie die Mordnacht folgte? Wie Simonetto's Leiche,
den alten Trotz im Angeſichte, zum Himmel ſtarrte?
Und wie die zwei Frauen Atalanta und Zenobia die
weißen Gewänder im Blut nachſchleppten, als ſie gien¬
gen, das Herz des ſterbenden Grifone zu rühren, daß
er ſeinen Mördern verzeihe? — Fort von den grauſen
Bildern! — Ihr blauen Gebirge, ſo feierlich violett
am Abend, was habt ihr Alles geſehen! Auf euch
hat Raphael's junges Auge geweilt. — Alter Tiber¬
fluß, wie viel Zeiten haſt du geſchaut! — Und dieſe
Welt war das Bilderbuch der Kindheit ihrer Mutter.
In reiner Unwiſſenheit über das Wilde, was einſt in
dieſen Gaſſen, dieſen Thälern getobt, wird ſie den
Ernſt und im Großen das Sanfte, das Ahnungsvolle
eingeſogen haben, das rings in dieſen tiefen Farben
[262] und gewaltigen Bahnen webt und waltet, wird oft da
oben geweilt haben im Kloſter Franzesco del Monte
und hinab, hinaus in's Weite geblickt! Da iſt auch das
liebliche Preſepio von Pietro Perugino; ſolchen Bildes
mag ſie in der Ferne gedacht haben im nebligen Norden,
als Cordelia in der Wiege lag; wird dem heran¬
wachſenden Kinde, wenn ſie vom hohen Schloßthurm
in Edinburg mit ihm hinausſchaute auf das graue
Meer, erzählt haben, wie viel blauer und ſonniger Alles
ſei in ihrer Heimath und welche ſeligen Augen dort
von Leinwand und Mauer auf fromme Beſchauer blicken,
und die Künſtlergeſichte werden wie ein Märchen in
die träumende Seele des Kindes hineingeleuchtet haben.
Deutſchen Kunſtkenner getroffen: nennt Perugino
ſüß ſentimental. Man darf ihn nicht an die ſtrengen,
kräftig herben florentiniſchen Realiſten halten, ſage ich,
man muß ihn für ſich nehmen, ſonſt thut man ihm
unrecht; ſeine weiche Welt iſt ſeine Welt.
Das Elternhaus ihrer Mutter erfragt, auch er¬
fahren, daß noch eine Muhme lebt, in Aſſiſi verhei¬
rathet. Hinüber! Dort winkt ſie ſchon von Weitem
her über die hohen Mauerbögen, die Franziskuskirche.
Stigmatiſirt, heiliger alter Bruder? Gut. Ich auch.
[263] Wir Alle — wer nämlich in Wahrheit lebt. Wunden¬
male Chriſti — erfahren haben, was heißt: Menſch
ſein. Nur aber fort mit dem Heiligengeruch! —
Warum mußte er heilig werden, genügte es nicht, daß
er gut war? Ich mag ihn, ſeit ich ſeinen Hymnus
kenne, jenen Hochgeſang, worin er in ſeinem ehrlichen
Altitalieniſch den Allmächtigen preist, daß er geſchaffen
hat Herrn Bruder Sonn — misser lu frate Sol
—, der da ſchön und ſtrahlend iſt mit viel Glanz,
daß er uns erleuchte für ihn, und Schweſter Luna
und die Sterne, die er am Himmel gebildet hat klar
und koſtbar und ſchön, Bruder Wind und Luft und
Wolken und heiteres und jeder Art Wetter, die den
Kreaturen ihren Unterhalt geben, Schweſter Waſſer,
welche ſehr nützlich und niedrig und köſtlich und keuſch
iſt, und Bruder Feuer, welcher iſt ſchön und luſtig
und gewaltig ſtark, und unſre Mutter Erde, die uns
trägt und führt und hervorbringt mancherlei Früchte
und farbige Blumen und Kräuter. — Und am Schluß
preiſt er den Herrn noch für den Tod, er iſt ihm
weiblich (la morte) und er nennt ihn unſere Schweſter.
Die Tante gefunden, geſprochen. Frau Cornelia
Ruggieri. Entfernte Aehnlichkeit, mehr latiniſch. Gute
Frau, echt katholiſch, doch ohne Gift. Man ſei ſich
etwas fremd geworden, ſeit ihre Schweſter nach Schott¬
[264] land geheirathet habe und dort zwar nicht förmlich
in's Lager der Unchriſten übergetreten, doch, wie man
vernehme, nicht mehr zur Meſſe gegangen ſei. Als
ſie dem Tode nahe mit ihrem Mann nach Perugia
kam, habe es ſich beſtätigt, daß ſie der Kirche fremd
geworden, und als ſie gar auf dem Sterbebett die
Sakramente nicht nahm, das ſei ein Entſetzen für alle
guten Chriſten geweſen. „Aber,“ fügt Frau Cornelia
weinend hinzu, „ich glaube doch, daß ſie Gott Vater
in Gnaden in den Paradiſo aufnehmen wird nach
kurzem Fegfeuer, ſie war bis zum letzten Augenblick
ſo carina, tanto, tanto buona.“ — Die Tochter, be¬
fürchte man, folge der Mutter nach in der Ketzerei,
man erfahre wenig von dorther, außer neulich ſei eine
Nachricht gekommen, daß Cordelia beſorglich kränkle;
das Klima Schottlands und Norwegens ſcheine dem
ſüdlichen Blute nicht zuträglich. —
Wirſt du früh hingehen, hinwegſchweben in gold¬
geſäumte Wolken, aus denen du mir kamſt? Und ich
— dir nachſehen, wie die Apoſtel auf dem alten
Bilde dort im Kloſter, gebräunt von Erdenſonne, ver¬
laſſen, arm, hülflos emporſchaun, da die Erde nun
öde, leer, grau, verwaist?
Werde ich Nazarener? Man ſpürt hier recht, wie
dieſe alten Bilder es unſern Overbeck, Veit, Steinle
[265] haben anthun können. Bei unſereinem iſt aber doch
beſſer dagegen geſorgt, ja gründlich. — Jetzt auf nach
Rom! Das Große ſoll mich aufnehmen, umgeben. Da
halt' ich's am eheſten aus, ſo tief bekümmert, ſo feier¬
lich bang, wie mir zu Muth iſt.
Rom. Es iſt wahr, es iſt richtig. In Rom er¬
fährt ein nordiſcher Menſch, daß ſich etwas in ihm ſetzt.
Wenn ich ſehr übel aufgelegt, Blut im Kopf, Hirn gereizt,
Augen trüb, brennend, Ohren roth und blau flam¬
mend, dann hat mir öfters ein gutes, gut gegebenes
Theaterſtück geholfen: Kopf wurde kühl, Augen klar,
Alles, was nicht oben im Kopf ſein ſoll, niederge¬
ſchlagen. Ariſtoteles hat ſeine ϰαϑαρσις halb phyſio¬
logiſch gemeint und muß genau an dieſen Zuſtand
gedacht haben. Nun, und ſo wirkt Rom auf die
Grundſtimmung. Das Alles iſt zu groß, als daß
deine Grillen, deine Ich-Aushegungen, Ich-Brütungen,
Hirnſchnaken dagegen beſtehen könnten! Sie werden zu
Boden gelegt. Höhere Art von Brauſepulver. —
Nun auch namentlich die Campagna. Dieſe plaſtiſche
Erdhorizontale, dahinter doch reingezeichnete Berge,
rechts fern das Meer: da wird der innere Menſch wie
mit einem Modellirholz ausgeſtrichen, Knöpfe, Warzen,
Buckeln, Raupen in der Seele planirt.
[266]
In unſerem Klima, ſeiner Kälte, ſeinen Scheer¬
meſſerwinden, ſtrupft, ſo ſchneidig angeweht, der ganze
Menſch nach innen um und zieht ſich krampfhaft auf
einen Punkt zuſammen: das ärgerliche Ich. Da ſoll
man nicht ſubjektiv werden! Der Südländer lebt mit
ſeiner geſund transpirirenden Haut von innen nach
außen, wir von außen nach innen. Doch mit dieſer
unſerer Krankheit hängt untrennbar auch unſer innerer
Reichthum zuſammen.
Alſo noch einmal: doch germaniſch bleiben, nur
lernen, nicht nachahmen, ſonſt flach, abgeflacht, leer
wellenlinig wie die italieniſirten, akademiſirten Nieder¬
länder, denen Rubens und noch viel gröber Rembrandt
die Fauſt entgegenballte.
Nimm dem Albrecht Dürer ſeine Ecken, Knorren,
wurmgeringelten Faltenneſter: gut, verſuch's und ſieh'
zu, wo du durchſchneiden kannſt, ohne ſeine Eigenart
geſtrengen Charakters, ſein Gefühl des warm Be¬
ſchränkten und traulich oder herb Geſchloſſenen, ſeine
treulich zuſammengehaltene Empfindung mitwegzumähen.
Hätte er den freien Fluß der Linie gehabt, den Löwen
des heiligen Antonius ſchlank, rund, plaſtiſch zu zeich¬
nen, hätte er dann das Ganze gezeichnet wie es iſt?
So gutes, warmes Stübchen, Sonnenbild der runden
[267] Scheiben an der Fenſterlaibung, Scheere im Riemen
an der Wand, Kürbis an der Holzdecke hängend, ganzer
Raum ſo gemüthlich ausgefüllt, Spitzhund ſo ſchmucke¬
lig hingelagert neben dem zahmen Raubthier, und den
Heiligen ſo ehrlich vertieft?
Aber jetzt fort mit Vergleichungen, Unterſcheidungen!
Sei ganz hier! Wandle unter Göttern im Vatikan!
Weſen aus Einem Stück. Haben keinen Pfahl im Fleiſch.
Der Künſtler will uns ſagen und ſagt es ganz
und rund: hier ſiehſt du Weſen, die auf den Höhen
des Olymp und Parnaß wohnen, wo allerdings (den
Aufſchmückungen der Dichter zum Trotz) bis in Sommers
Mitte Schnee liegt, die aber dennoch nie einen Katarrh
haben. Die innere unbewölkte Einheit dieſer Weſen
mit ſich fühlt man nun erſt im Marmor ganz, deſſen
körnige Textur, auf der Oberfläche durchſcheinend, uns
ſagt, daß ſolches Syſtem ungeſtörter ſeeliſcher Prozeſſe
ſpezifiſch von ungeſtörtem Hautleben ausgieng. — O
Stubenexiſtenz unſerer traurigen Menſchheit!
Man hat aber immer ſeine Lieblinge. Trauer iſt
ja dennoch in all' dieſen ſeligen Geſtalten. Beſagt
[268] Vielerlei, unter Anderem, daß ein ſolches Volk, das
ſeine Götter ſo ſich dachte, ſo bildete, weil es ſo war,
nicht lang beſtehen konnte: „auch das Schöne muß
ſterben“. — Beſagt mehr, mehr, leiſe Klage, die
durch alles, alles Leben geht. Aber einige dieſer Ge¬
ſtalten ſind noch anders, ſind ausdrücklich traurig. Da
iſt nun der Eros-Torſo und der iſt mein Liebling.
Selig ſchöner Halbjünglingknabe, das Antlitz unter
dem Lockenwald niederneigend in wehmuthvollem, ahnen¬
dem Träumen. Was meinſt du damit, Meiſter Praxiteles?
Iſt Eros dem Tode verwandt? O ja, er iſt es, und
nicht bloß, weil ein Ich ſterben muß, um im andern
aufzugehen. Liebe iſt tödtlich ſchön. Ihr innigſter
Wunſch kann werden: in Einem Moment ſich geliebt
wiſſen und ſterben dürfen.
Heute wieder Sixtina. Gewaltenſturm im jüngſten
Gericht, urgebirgs-, urweltkräftig. Wohl! Aber M. Angelo
iſt eben nicht mein Mann. Verſtehe zwar ſeinen hohen
Zorn, das Herum- und Auffahren ſeiner Geiſtmenſchen
gegen die Welt, das Wetternde, Schmetternde. Dabei
aber nun dieſe geſchwollene Ueberſtärke und die Be¬
gierde, die Zeichnungskunſt zu zeigen, und zwiſchen
dem ſchön Großen das Geſchmackloſe, das iſt und bleibt
widerwärtig. Shakeſpeare — dem ſo verwandt —
iſt in ſeinen Abſurditäten unſchuldiger. Auch in den
[269] Deckenbildern da und dort eine Form, eine Bewegung
abſtoßend, ungereimt; ſonſt — ich bin wohl nicht der
Letzte, der die wahre Großheit hier und das myſtiſch
tiefaufglühende Feuer fühlt, dieß abgrundtiefe Brüten
dieß ſauſende Wehen, dieß zuckende Außerſichſein des
tiefſten Inſichſeins der Ahnung. Ich bleibe aber eben
bei meinem Raphael, obwohl ich ſeine Achillesferſe
nun auch kenne, bleibe bei ihm, weil man von keinem
Künſtler in der Welt ſo ſagen kann: was er gemacht,
iſt ſchön; — weiß wohl, was man dagegen hat: wird
gar noch eine Zeit kommen, wo ein Künſtler nichts
mehr gilt, wenn er Schönes bildet. Pathologiſch
fühlen? Es ſei darum! — — ich muß noch einmal
hinauf nach Florenz zur Madonna del Granduca —
dann auch vielleicht wieder nach Perugia. —
Nein! beſſer nicht! — Hinauf nach Pietro in
Montorio! Dort noch einmal die Abendbeleuchtung!
— Zuerſt Purpurglut, wie flammt ſie über Kapitol,
Forum, Palatinus, Koloſſeum! Breite ihn, breite
ihn, ſcheidende Sonne, den Kaiſermantel über die ewige
Stadt, ſteiget auf im Feuermeer, ihr Rieſengeiſter, die
ihr um dieſe Trümmer ſchwebt! — Vergiß nicht,
Seele, Rom war die Geſchichte, Rom war die Welt.
Hörſt du den wunderbaren Klang in den Lüften?
Stimmen der alten Tage, Klagelaut verſunkener Götter.
[270] Und jene Wolke dort — iſt es nicht Jupiter's bärtiges
Haupt, das auf ſein Kapitol niederſchaut? — Und
doch wieder Alles ſo ruhig ſanft; auf Glut- und Blut¬
roth, dann Prachtviolett folgt zarte Roſenröthe, weich
weilend auf Albaner- und Sabinerbergen und dem
rein gezeichneten Sorakte.
Werde Heimweh haben wie Alle. Noch ein Trunk
aus Fontana Trevi. Haſt mir oft Kühle in's ver¬
glühende Herz gerauſcht. Rauſche mir ſo kühlend in
mein künftig Leben. — Seele hat ſich hier doch an¬
geſogen, eingeniſtet. So tragiſch groß und doch auch
ſo gut heimatlich! Das bewohnte Rom, das ſich
zwiſchen die erhabenen Trümmer, Paläſte, Kirchen ge¬
legt, hat ganz gewöhnliches, ordinäres Ausſehen, in
Wohnungen findet man gemüthliches Philiſterium, gute
Mütterchen, die dem Gaſt ein brodo lungo bereiten.
So werden die Straßen, die Häuſer bald alte Be¬
kannte. Dieſe Miſchung des Wunderbaren und des
vertraut Gewöhnlichen, dieß erſt gibt Rom ſeinen
Stempel und macht, daß man ſo anwächst. Und dazu
ſo viel Stille und die vielen rauſchenden Brunnen.
— Mag es Italien gönnen, wenn du Reſidenzſtadt
wirſt, aber ich gehe dann nicht mehr hin. Rom ohne
Stille? Nein.
[271]
Genua. Der hat ſchön gewohnt, der alte Doria.
Altersaſyl am Golf, von der Stadt gebaut, „ut maximo
labore jam fessus honesta vita requiesceret“.
Edle Renaiſſance, heitere Fresken von Raphael's
Schüler, Perin del Vaga. Blick über den Garten
mit dem Prachtſpringbrunnen nach dem Hafen. Drinnen
altes Bild, ſehr verwaſchen, doch erkennbar: der alte
Andrea und ein großer prächtiger Kater. Dieſer ſitzt
auf dem Tiſch, der Alte davor, Beide ſehen ein¬
ander an.
Mailand. Bernardino Luini: auch die Holdſelig¬
keit der früheren Meiſter. Das unſagbar ſanfte, liebende
Neigen des Hauptes haben ſie hier von Lionardo da
Vinci. Der Johannes dort auf dem herrlichen Abend¬
mahlbilde, wie der ſich zu Chriſtus herbeugt! O, ich
kenne dieß Herneigen. Aber der junge Raphael!
Spoſalizio: ja dieſe keuſche, kinderreine Grazie, —
dieß noch ſehen iſt mir wir noch einmal nach Perugia
gehen und ihrer gedenken.
... Da wären wir wieder! Addio, Italia! Alles
nur grau hier, was uns blau vorkommt; Grün friſcher,
das iſt wahr. Aber jetzt Schlackerwetter, Entlaubung.
Geſichter — doch aber auch faſt keins, das nicht ver¬
[272] zeichnet wäre, verſtaucht wie Zangengeburten, Naſen meiſt
aufwärts, daß es hineinregnet. Vergiß nicht, Seele, ver¬
giß nicht: wenn die Natur die Menſchen individueller
bilden wollte, ſo mußte ſie von der Normallinie ab¬
weichen in's Unendliche.
Nimm dich zuſammen! Friſch an's Werk! Großes
Amt, gibt viel aufzuräumen. — Wenn ich nur gegen
das Geſindel, das anſtändig ausſieht und der Polizei
nicht verfällt, mehr ausrichten könnte! Welche Charakter¬
welt! Fuchsſchwänzer, Speichellecker und Flegel gegen
den, der nicht wieder leckt, Tuckmäuſer mit Bieder¬
mannston, gemüthliche Seelen mit Taſchen voll Steinen,
auf die Wenigen zu ſchleudern, die Charakter haben.
Alles ſoll durch Gunſt gehen, Jeder tätſchelt den An¬
dern um Gegendienſt — Halunkenpack!
Gottlob, tüchtiger Referendär und gute Subalterne.
— Hab's gleich bemerkt bei einer Einladung. Bedarfſt
du gute Arbeitskräfte für irgend ein geduldforderndes
Geſchäft, ſo ſuche die in Frage Kommenden beim Geflügel¬
eſſen zu beobachten. Wer gern (und ſäuberlich) nagt,
den wähle, wer ſich mühelos die Pfaffenſchnitten gönnt,
mit dem wird nicht viel zu machen ſein.
[273]
Geſuche um Theaterkonzeſſionen. Die Sache mit
den ſtädtiſchen Kollegien erörtert. Abgeſchlagen. Weiß,
was die Schufte wollen: etwas wie die jetzigen wiener
Vorſtadttheater, Variétés- und Café chantant-Schand¬
bühnen in Paris. Wollen die Jugend vergiften. Das
könnten wir in unſerer Zeit noch brauchen, daß das Lebens¬
alter, dem es noth thut, die Seele mit dem Hohen und
Reinen und mit giftfreiem Humor zu nähren, ſich ge¬
wöhnt, ſchamloſe Weiber anzuſehen und anzuhören, und
zwar mit Vielen zugleich, wobei Jeder den Nachbar im
Zuſtand der Begierde, in der Hundsbrunſt weiß. Für
die Deutſchen gehört: sera juvenum Venus. Dem
Deutſchen ſoll das Weib bis in reife Jahre Myſterium
bleiben, ſonſt verkommt ſein Seelenleben, verlottert,
fault im Kern, wird gemein.
Im Oeffentlichen noch der alte Stand: Pfaffen
überall Oberwaſſer, Konkordate mehren ſich; der Staat,
der im Gefühl ſeiner Sünden die Kirche zu ſeinem
Stab macht, wie wird er's büßen müſſen! Einzig
rechte, freilich leider nur ideale Formel lautet: der
Staat muß die Kirche zerſtören, um die Religion zu
retten. Es können nicht zwei Arme in Einem Aermel
ſtecken, aller modus vivendi iſt nur palliativ, es gibt
kein geſundes Verhältniß zwiſchen Staat und Kirche,
denn nie wird ſie auf Macht verzichten, und Macht
Viſcher, Auch Einer. II. 18[274] gehört doch nur dem Staate. Aber wie ein viel beſſeres
Gewiſſen müßte der Staat haben, wenn er ſich ge¬
trauen wollte, der einzige Hüter der ethiſchen Güter
zu werden, wie viel ferner müßte die Gefahr byzan¬
tiniſcher Zuſtände liegen, die uns in dem Staate drohen
würden, wie er bisher war und wie er iſt! Er hat
ein Gewiſſen wie ein böſes Kind, das ſich in der Angſt
an den Rock einer böſen Mutter hängt. — Und Cavour
drüben: freie Kirche im freien Staat!? Unverſchämte
Kirche im feigen Staat!
Im beſſern Staat wäre der Geiſtliche einfach Staats¬
diener als Volkspädagog und Kultusverwalter. Jeder
magiſche Nimbus fiele weg; der Nimbus enthält immer
den Zauberbegriff in ſich, und davon geht alle Un¬
möglichkeit des Friedens zwiſchen Staat und Kirche aus.
Die Romanen befreien ſich kritiſch von der Kirche,
aber ſie haben keine ſittliche Empörung gegen ihre
Lügen, Verderbniß, Blutſinn, Frechheit. Das hatte
Luther, das iſt deutſch. Daher bleibt ihnen die Kirche
eine Schachfigur, mit der ſie rechnen. Und ſo werden
ſie den Giftkörper, den Kanker nicht los. „Il papato
è un cancro, che bisogna lusingare,“ ſagte neulich
ein Miniſter. Da hat man's.
[275]
Weiß der Himmel, daß es der Zeit an Religion
fehlt! Aber was iſt Religion? Wie tauſendmal iſt's
geſagt, und immer vergeblich, daß an dieſe und dieſe
übernatürliche Perſon, behauptete Wunderthatſachen und
dergleichen glauben nicht Religion iſt. Ja, wenn man
unter Glauben verſtände Glauben an eine ſittliche Welt¬
ordnung, die wir nicht ſtreng beweiſen können! Aber
das meint man ja eben nicht bei dem Wort, ſondern
Glauben an genannte Stücke, das heißt an ſinnlich Ein¬
zelnes, das überſinnlich ſein ſoll. Ein Kind könnte
doch einſehen, daß man das Alles glauben und doch
gemein, niedrig egoiſtiſch, ſeelenroh, undankbar, lieblos
ſein, überhaupt ſo leben kann, als müßte das Weltall
dieſem Ich dienen. Frage dich täglich: bin ich denn
das Weltall? So kannſt du dich zur Religion an¬
leiten. Religion iſt Opfer der Selbſtſucht, Religion
iſt: Durchſchüttert-, Durchweicht-, Durchmürbtſein vom
Grundgefühl: ich bin ein Nichts im Ganzen, wenn ich
ihm nicht diene! Religion iſt daher tragiſche Freude,
zu dienen. Was die Moral fordert, dazu gibt Religion
die Luſt und Kraft, und was ich fehle, nicht leiſten
kann: da tröſtet mich die Religion durch Gefühl und
Ahnen der unendlichen Wechſelergänzung im Ganzen.
Je mehr getreuer Knecht, um ſo mehr biſt du frei
und Herr.
[276]
Alle poſitive Religion unterſcheidet ſich dadurch von
der reinen, daß ſie ſinnliche Formen in's Ueberſinn¬
liche, Begriffe, die nur dem Endlichen gelten, in's Un¬
endliche überträgt. Der Fluch der Pfaffen auf uns
heißt, richtig überſetzt: ſeid verdammt, weil ihr vom
Ueberſinnlichen nicht ſinnlich denkt wie wir!
Geiſtlichkeit und Geiſtigkeit ſind jedenfalls keine
Synonyma. — Es iſt nur das kleine l, was den
großen Strich dazwiſchen macht. Das l iſt hier eine
Schlinge, mittelſt welcher in das rein Geiſtige (ſittliche
Volkserziehung) ein Zauberbegriff hereingezogen wird.
Könnten wir den Begriff aufheben, daß die Verwalter
des Kultus und höheren Volkspädagogen Magier ſeien
(in den ſogenannten Sakramenten), ſo wäre ihnen und
uns geholfen. Ihnen, denn wie viele brave Männer
in dieſem Stande werden durch den Machtwahn, zau¬
bern zu können, verführt und verkrümmt!
Religion zu haben, nicht die wahre, ſondern was
dafür gehalten wird, gilt jetzt für vornehm. Mit ſchön¬
gebundenem Geſang- oder Gebetbuch in Predigt oder
Meſſe! Wenn ſie's wüßten, wie falſch ſie Recht haben!
Ja wohl, ja wohl, Niemand hat Bildung anzuſprechen,
der nicht Religion hat! Das wahrhaft Bildende iſt
[277] nur die Religion; der Feinſte bleibt ein Wilder ohne ſie.
Aber Religion iſt eben ein ander Ding, als ihr meint.
Merkwürdig, welche große Rolle in der ſogenannten
Religion die Neugierde ſpielt! Einem gaſtirenden Pre¬
diger nachlaufen: wer kann dem widerſtehen! War
neulich ein Jeſuit bei uns von großem Ruf als Redner,
Meiſter in Effekten, Miſchung von tragediante und
comediante. Eine Maſſe von Leuten lief ihm hinein,
die nach dem Stand ihres Urtheils einen ſolchen Hans¬
wurſt gar wohl durchſchauen. Wenn doch die Men¬
ſchen begriffen, daß man ſolcher Neugierde nicht folgen
darf, ohne Schuld auf ſich zu laden! Denn daß ihr
mit freiem Urtheil kommt, das ſieht euch Niemand an,
ihr zählt eben in der Menge mit, und helft alſo mit,
das Anſehen, die Macht des Wahnes, den Glanzerfolg
und Ruhm der Charlatanerie zu vermehren. — Neuer¬
dings findet ein Pasquillroman ungeheuern Abgang.
Unter den Käufern kenne ich manche, die ihn verachten,
aber der Neugierde nicht widerſtehen können, ihn zu
leſen, ſie vermehren alſo den Succeß des Schlechten.
„Einer, das macht ja nichts“, aber ſo denken Tauſende.
Der Hund hat etwas der Religion Analoges in
ſich, indem er getreuer Knecht iſt. — Um dieſes Beſten
[278] willen iſt ſchändlicherweiſe ſein Name ein Schimpfwort
geworden.
Wie oft in Geſellſchaft, die ſich für ſo recht ge¬
bildet und intereſſant hält, bei all' dem Gerede und
Feinthun ſeufze ich innerlich: wenn doch nur ein Hund
da wäre!
Alle und jede, die in dieſer arſenikaliſchen Zeit
noch nicht ſo ſtark an Blutvergiftung leiden, daß ſie
nicht durch ſtrenge Diät noch rettbar wären, ſollte man
einſperren und zwingen, den Homer zu leſen mit guter
Anleitung, und zwar ſo oft, ſo lang, bis ſie ihn aus¬
wendig wiſſen. Dann könnte man ſie frei laſſen. Ver¬
dorbene, ironiſch Durchſäuerte, Blaſirte, die nur Ver¬
pfeffertes, Muffiges leſen können, ſollte man auf
Zeitlebens einſetzen mit keiner andern Lektüre als Homer:
gute Höllenſtrafe.
Ich muß mir mit Anſtrengung immer wieder ſagen:
vergiß nicht, das Gemeine und Schlechte ſpielt breit
auf der Oberfläche, iſt haußen auf dem offenen Markte,
ſtill in ihren vier Wänden ſitzen noch gewiſſenhafte
Beamte, Gelehrte, Künſtler, in ihren Werkſtätten Hand¬
[279] werker, in ihren Spitälern Aerzte, und arbeiten ehrlich
und ernſtlich, oft um kargen Sold. Der Glaube iſt
eine gewiſſe Zuverſicht deß, das man nicht ſiehet. —
Aber was jene Hetzjäger um Geld und Genuß
eigentlich meinen, dazu reicht mein Kopf nicht, das zu
verſtehen. Wer nur begriffe, was ſie wollen? Muß
man ſich denn ſo ſchrecklich Mühe geben, um ſich ein
ſchlechtes Gewiſſen zu erſchinden? Da wäre ein ordent¬
licher Straßenraub, Mord, Einbruch doch kürzer, raſcher,
unterhaltender. Meine Kerle hinter Schloß und Riegel
ſind mir oft ganz achtbar, wenn ich an das für honett
geltende Hetzjagdpack denke.
Neulich bringt ein Scheuſal im Wahne, die Sei¬
nigen vor Verarmung retten zu müſſen, Frau und vier
Kinder um. Nun ſchaudert Alles. Es iſt grauenhaft,
aber viel grauenhafter iſt mir das Gift, das jetzt wie
ein Geiſt umgeht und immer tiefer und weiter in die
Maſſen dringt; davor ſchauern die Leute nicht, weil
ſie Geiſter nicht ſehen können.
Uebrigens hätte ich den Bluthund fixweg zum Tod
verurtheilt. Zurechnungsfähig oder nicht? Als er den
[280] Mordgedanken faßte, da war er unzweifelhaft zurech¬
nungsfähig; es weiß Jeder, daß Mord Verbrechen iſt.
Er gab ihm Gehör, er hegte ihn, bis er ihm über den
Kopf wuchs, bis er halb unfrei von der großgenährten
Geburt ſeines eigenen Gehirnes fortgezogen wurde.
Ebendieß bedeutet der Geiſterdolch, der den Macbeth
magiſch nach Dunkan's Schlafgemach zieht. Die Um¬
kehrung der Freiheit in Unfreiheit iſt alſo ſelbſt
Schuld.
Ueber Todesſtrafe wie oft meine Anſicht gewechſelt
für und gegen, gegen und für, bis ich mir's ganz
gemein einfach ſo formulirt habe —: An der Gewalt
der Abſchreckung iſt nicht zu zweifeln. Das weiß ich
von mir ſelbſt. Es ſchlummert in Jedem ein mög¬
licher Mörder. Wenn ab und zu der Satangedanke
in mir aufſchoß, einen rechten Hauptſchurken abzu¬
muckſen, hab' ich mich alsbald darüber ertappt, daß
im ſelben Moment ein Beſinnen eintrat: wie es ver¬
bergen, um dem Schaffot zu entgehen? Natürlich nicht
immer vermag es die Abſchreckung gegen die Stärke
der Leidenſchaft, aber doch in manchen Fällen, nehmen
wir immerhin die wenigeren an. Gut, und nun ſage
ich ſo: wenn ich ſechs Mörder dem Schwert über¬
liefert habe und es dadurch erreiche, daß in einem
ſiebenten Falle die Angſt vor der Todesſtrafe einen
[281] Menſchen abhält, der große Luſt zu einem Morde
hätte, daß alſo ein ſchon zum Mord auserſehenes
Opfer gerettet wird, ſo ſind doch jene ſechs wahr¬
haftig nicht zu gut geweſen, dieſe Rettung durch ihren
Tod zu erzielen. Dieß iſt eine ſchlichte und doch ge¬
wiß zugleich ſehr expediente Rechnung.
Anderes genügt nicht, die Todesſtrafe zu recht¬
fertigen. Sie iſt rein juridiſch nicht haltbar. Strafe
iſt doch Zufügung eines Uebels; das iſt nicht die
ganze Definition, aber doch ein weſentlicher Theil der¬
ſelben. Um ein Uebel zuzufügen, brauche ich ein
Subjekt, dem ich es zufüge, das es empfindet. Ein
Subjekt aufheben heißt aber nicht, einem Subjekt ein
Uebel zufügen. Der Tod iſt kein Uebel, das ein
Subjekt empfindet, denn wenn der Tod da iſt, iſt das
Subjekt nicht mehr da. Etwas Anderes iſt die Todes¬
angſt. Sie iſt das entſetzlichſte aller Uebel. Einem
Menſchen den Tod auf eine beſtimmte Stunde, Mi¬
nute als unentrinnbar anſagen, das ſtürzt ſeine Phan¬
taſie in eine Hölle von Qualen, die kein Name nennt.
Dieſe Qualenhölle will aber als ſolche das Recht nicht:
es verhängt den Tod, nicht die Todesangſt. Alſo
was das Recht will, iſt kein Uebel, und was es nicht
will, das größte, äußerſte von allen. Dem iſt aber
nicht abzuhelfen, denn ſucht man auch auf einen Augen¬
[282] blick den Unſinn feſtzuhalten, die Juſtiz dürfte die An¬
kündigung der Todesſtrafe unterlaſſen, den Verbrecher
im Gefängniß überfallen, wie er ſein Opfer überfiel:
das müßte ja eingeführt ſein, dem Verbrecher wäre
alſo dieſe Methode bekannt und das Bewußtſein der
ungewiſſen Gewißheit, dieß entſetzliche, grauſige Warten
ſtürzte ihn in denſelben Höllenabgrund der Angſt, wie
die Ankündigung. Summa: die Todesſtrafe iſt keine
rechtliche Strafe, aber eine wohlbegründete Sicherungs¬
maßregel gegen Beſtien, vor denen das Menſchen¬
leben nicht ſicher iſt.
Erholt und erquickt nach ſo viel Graſſem, da mich
die bildſchönen Nachbarkinder beſuchten. — Man iſt
froh, wenn man wieder in ein gutes Kindergeſicht
ſieht. — Am Kindergeſicht finde ich dieß das Rüh¬
rende, daß es ſo lieblich arm bittend zu ſagen ſcheint:
ich kann ja gewiß nichts dafür, daß ich gemacht bin.
— Eigentlich von Rechtswegen ſollte man Jeden vor¬
her fragen, ob er exiſtiren wolle. Dabei müßte man
ſein Lebensſchickſal wiſſen, ihm vorausſagen, und ſo
dann fragen: willſt du unter dieſen Bedingungen zur
Exiſtenz gelangen? Müßte man nun dem Gefragten
ein ganz unglückliches Leben in Ausſicht ſtellen, würde
der wohl Ja ſagen? — Hier hebt ſich die ganze,
höchſt belehrende Vorſtellung von ſelbſt auf. Ja,
[283] freilich würde er Ja ſagen! Denn unſer Satz nimmt
an, er lebe, ehe er lebt, ſonſt könnte man ihn ja nicht
fragen. Dann hat er ja aber das Leben ſchon ver¬
ſchmeckt, ſchon ſich angewöhnt, und dieſem Reiz wider¬
ſtehe der Teufel!
Wen der Gedanke unglücklich macht, nach dem
Tode nicht fortzuleben, der müßte eigentlich an die
logiſche Konſequenz erinnert werden. Es iſt doch
Niemand unglücklich darüber, daß er einmal erſt an¬
gefangen hat, zu leben, daß er vor ſeiner Geburt
nicht lebte; ebenſowenig ſollte er darüber unglücklich
ſein, daß er einmal aufhören wird, zu leben. Frei¬
lich, da iſt ein großer Unterſchied: in der Zwiſchenzeit
hat er ſich das Leben angewöhnt und das ſchmeckt
eben ungeheuer nach mehr, mehr! Wohl, aber dennoch
ſteht jene Logik feſt, unwiderlegbar, mathematiſch exakt.
„Süßes Leben! Schöne, freundliche Gewohnheit
des Daſeins!“ So über die Straße gehen; da kommt
ein alter Kamerad geſtiegen. „Ei, grüß' dich Gott!
Was machſt auch? Wie geht's? Komm' da herein, wir
trinken ein Gläschen!“ — Ja, daß das einmal auf¬
hören muß, lernt ſich nicht leicht.
[284]
Aber es iſt nicht anders: wenn wir unſterblich
wären, würden wir nicht ſterben.
Jeder Menſch iſt ein Schwab. Und da iſt das
Sprüchwort nicht richtig; es iſt nichts mit dem Ge¬
ſcheutwerden im vierzigſten Jahr. Was ein rechter
Menſch iſt, wird nie geſcheut. Ein dummer Menſch
wird bald geſcheut, ein geſcheuter bleibt dumm bis an
ſein ſeliges Ende. Das Unglück, ganz geſcheut zu
werden, erlebt aber der Menſch erſt, wenn er ſtirbt.
Das einzige abſolut richtige Urtheil, das Jeder, auch
der Allerdummſte fällt, iſt der Tod, denn er iſt das
Urtheil, daß der Einzelne nicht die Gattung iſt.
Das Alles ſind aber nichts als arme Zeitgeſchichten.
In jedem Zeitmoment, wo er wahrhaft lebt, lebt jeder
Menſch ewig. Der Dummſte kann ſich wenigſtens
freuen, — ich meine wahre Freude. Da vergißt er
die Zeit und da iſt er geſcheut.
Wie hoch ſteht ein ſpielendes Thier über einer Geld¬
ſeele, hoch im Idealreich des Zweckloſen! — Jetzt hab’
ich’s, ein Hund muß wieder her, das fehlt mir.
[285]
Und die Moden! Auf jedem Schritt über die
Straßen werde ich beleidigt. Karikaturen auf Weg
und Steg. „Jeder nach ſeinem Geſchmack!“ Gut! Nur
zu! Nur zu! Man ſieht, was dabei herauskommt! —
Ich finde, daß ein Menſch, der ſich ganz geſchmacklos
kleidet, ja in ſeinem Anzug eine förmliche Rebellion
gegen den Geſchmack aufthut, eigentlich etwas Aggreſ¬
ſives für jeden Begegnenden in ſeiner Erſcheinung hat,
etwas Kränkendes, Injuriöſes. Ich meine nicht
alte Herren, die hinter der Mode bleiben, nicht gut¬
artige Narren, die irgend ein Formen- oder Farben¬
kobold reitet, ſondern Stutzer und Stutzerinnen, die
eine rohe Unform der Mode flugs mitmachen und noch
übertreiben. Sie haben einen Ausdruck im Geſicht,
in allen Bewegungen, der ſtillſchweigend dem Mit¬
menſchen zuruft: „Es ſoll dir doch gefallen! Siehſt
du, ſo mußt du mich nun ſehen, magſt wollen oder
nicht! Ich ſchlage dir mit dieſer meiner Verzerrung
des richtigen Menſchenbilds in's Geſicht und du darfſt
nicht muckſen!“
Was folgt? Das folgt, daß es auch in dieſem
Gebiet heißt: der Menſch iſt nicht geboren, frei zu
ſein! Er gebraucht ſeine Freiheit, die freilich doch nur
die Freiheit des Sklaven, nur Modeknechtſchaft iſt, zu
nichts, als zur Mißhandlung ſeiner Mitmenſchen!
Ach! nun aber auch in dieſem Stück: woher den
Gerichtshof nehmen, woraus ihn bilden, dem man die
[286] Gewalt anvertrauen dürfte, eine Kleiderordnung ein¬
zuſetzen, nach ihr die wilde Willkür zu maßregeln,
frech Gekleidete flugs zu arretiren!
Sonntagsgetriebe. Da fahren ſie; gefahren muß
ſein. Nach den Pferden, ob ſie es leiſten können,
fällt Keinem ein zu ſehen, auch keinem Weib. Ich
müßt' mich ſchon vor ſo einem armen, lahmen, müden
Thiere ſchämen, breit einzuſitzen und ſeine letzte Kraft
zu mißbrauchen.
Unglückliche Hundsgeſchichte. Dumm genug, einen
Bologneſer aus vornehmem Haus zu übernehmen.
Hieß Ida. Demoraliſirte Beſtie, gehorcht nicht. Ge¬
richtsakt vollzogen. Wieder teufliſcher Rank des Zu¬
falls! — Doch zugleich Lenkung höheren Fingers:
muß gerade der Tuckmäuſer es ſein — heiter, hübſch,
wie das Miniſterialräthchen in den Koth purzelt, da
ihm das pelzige Wurfgeſchoß an den Kopf fliegt.
Dießmal noch verpflaſtert. Das Männlein wollte
auf Realinjurie klagen. Steht wieder ab. Sie brau¬
chen mich, weiß. — Bin aber nicht zu Allem brauch¬
bar. Mir iſt doch immer vor, es gehe noch einmal
zu böſen Häuſern.
[287]
Ich tauge eben nicht in Familiengeſellſchaften.
Kann ja jetzt auch beſſer Abends zu Haus bleiben,
ſeit Frau Hedwig Haus hält, und etwas plaudern.
War das eine verfluchte Geſchichte bei dem Stadt¬
pfarrer Zunger, wo ich ſonſt nicht ungern, weil bür¬
gerliche Bildung. Wieder Choralgeſpiel. Lachkrampf
über dem „verhärteten“. Gerade recht, daß ich durch¬
brennen mußte, ſo konnte die treffliche Frau Stadt¬
pfarrerin doch ihr unerträgliches Thema nicht fort¬
ſetzen. Will mir kuppeln. „Es iſt nicht gut, daß
der Menſch allein ſei“ und dergleichen. Hat mich
ſchon einmal ganz wild gemacht. Frau Hedwig ver¬
ſteht's beſſer, begreift, daß man mich damit in Ruhe
laſſen ſoll, daß ich einſamer, freier Menſch ſein muß,
geſellig nur, wenn ich mag und bedarf. Liebt die
Thiere; hat mir den jungen Kater eingethan, wahr¬
ſcheinlich echt ägyptiſcher Abkunft, blaßgelb, geſtrömt.
Hilft mir, nachdem es nichts war mit der Ida, beſſern
Hund ſuchen.
Vortreffliche, vernünftige Art, dieſe hülfreiche Baſe.
Nüchtern, nie aufgeregt. Kann ſogar rechnen. Wenn
es nur nicht vier Spezies gäbe, das iſt zu viel; ich
bringe es über Addiren nicht mehr hinaus. — Und
hat doch auch Phantaſietalent. Lernt; verſteht die
Tücke des Objekts und wie gerecht dagegen die Juſtiz¬
[288] akte. Nur in Hemdknöpfchen auch ſie, auch ſie nicht
ganz zuverläſſig.
Gleich zwei neue aufgegabelt, Hatzrüd und Ratten¬
fänger, beide noch jung. Vom erſten Tag an ſchon
gute Kameraden. Gute moraliſche Anlagen.
Höhere Thiere, gebildete Hausthiere können doch
recht affektirt ſein; verſteht ſich: naiv affektirt zu ihrem
Zweck. Der Kleine geht nicht gern in's Waſſer. Ich
hetz' ihn ſcharf. Jetzt ſtellt er ſich, als verſteh' er
mich falſch und fährt wie wüthend auf einen unſchul¬
digen Wanderer auf der Landſtraße los.
Spielen ganz reizend mit dem Kater. Hund ganz
Pierro, Katze ganz Arlecchino.
Außer dem Hunde wohl nur der Elephant lernt das
Deuten verſtehen, nie eine Katze, auch kein Affe. Es iſt
kein Kleines, von der Spitze des Fingers eine geiſtige
Linie nach dem Punkte ziehen, wohin er deutet. Es hat
mich einmal ein altes Weib bedient, das es nicht verſtand.
[289]
Das Heulen des Hunds bei Muſik iſt ein ganz
anderes, als wenn er aus gewöhnlichem Schmerz
heult. Ich habe einen Hund beim Anblick eines ſel¬
tenen großen ungariſchen Bocks ebenſo heulen hören.
Es iſt Unglück, nicht Klaſſifiziren zu können.
Die Katze hat neben dem vielen ſich Putzen auch
dieß mit dem Weib gemein, daß ſie gern zu Haus
bleibt. Aber noch etwas, was mich oft wirklich er¬
ſchreckt: die ſtarken Backenknochen; man ſehe nach: faſt
jeder weibliche Kopf hat darin etwas katzenartiges.
Nicht alle, gottlob! Kenne Ausnahmen.
Der gebildete Hund leidet auch an wahrhaft menſch¬
lichen Krankheiten. Die meiſten Hunde in beſſeren
Häuſern ſind Hämorrhoidarien. Die Katze dagegen
hat Schwierigkeiten im Schlingen, engen Schlund.
Intereſſanter Polarismus!
Die Menſchen fallen mir ſehr ein, wenn ich zu
meiner Erheiterung Morgens früh aus dem Fenſter
die Nachbarhunde beobachte. Einer wie der andere,
auch die wohlgenährten Lieblinge ſeiner Familien machen
ſich an die Kehrichtfäſſer und wühlen; dabei haben ſie
Viſcher, Auch Einer. II. 19[290] ein grundſchlechtes Gewiſſen und hängen miſerabel den
Schwanz, ſie ſchämen ſich ihrer Niedertracht vor ihrem
Herrn, den ſie abweſend wiſſen und ſich doch gegen¬
wärtig vorſtellen, ja ſchämen ſich vor ſich ſelbſt, vor
ihrem beſſeren Ich, und können doch nicht ablaſſen.
O, es ſind noch lang nicht die übelſten Menſchen, die
wenigſtens vor ſich erröthen, während ſie im Kehricht
nach dem alten, ſchmutzigen Knochen wühlen, den die
Mehrheit für Inhalt des Lebens hält.
Wie viel geben die Schreckmittel der Thiere zu
denken! Neulich erſchrack ich, als ich einen Siphon zu
ſtark drückte und das Waſſer ziſchend, ſpeiend heraus¬
fuhr. Fiel mir ein, daß gerade ſo die Katze thut.
Wer hat nun die Katze gelehrt: du mußt, um dich zu
wehren, thun, daß der Feind meint, es werde ihm
Waſſer in's Geſicht geſpieen!? Der Siphon war doch
lange noch nicht erfunden, als die Katze wurde. Wer
die Gans: du mußt dich in eine ziſchende, züngelnde
Schlange oder Drachen verwandeln!? Wer den Hund:
du mußt durch einen Schuß erſchrecken!? da doch das
Schießpulver noch lange nicht erfunden war! Dann
im Guten, im Frieden. Als noch geſponnen wurde,
wie behaglich hörte ſich der Ton des Spinnrads
namentlich an Winterabenden an, wenn die Familie
gemüthlich beiſammenſaß! Das weiß die Katze, darum
[291] ſchnurrt ſie, aber es gab doch noch kein Spinnrad,
als die Natur die Katze erfand und die Katze das
Schnurren.
Nil admirari? Nein, nein: omnia admirari!
Symbolik der Thierſprache. Immer zu wenig
beobachtet. Weit mehr Menſchenähnlichkeit, als man
glaubt. Viel gelernt aus dem trefflichen Buche von
Piderit: Wiſſenſchaftliches Syſtem der Mimik und
Phyſiognomik. In aller natürlichen Mimik werden
phyſiſch motivirte Bewegungen unwillkürlich verwendet,
um nach Analogie ſeeliſche Zuſtände auszudrücken. Um
zum Beiſpiel widerlichen Geſchmack zu vermindern, ent¬
fernt der Menſch den Unterkiefer vom Oberkiefer, denn
das Schmecken iſt ſchwächer, wenn die Zunge ſich nicht
an die Gaumenwölbung legt. Und daſſelbe thut man,
wenn man moraliſchen Eckel ausdrücken will. An
ſolchen Uebertragungen fehlt es auch im Thierleben
nicht. Der Hund leckt ſich das Maul aus, wenn er
was Gutes gefreſſen hat, er thut es auch, wenn er
einen guten Biſſen vor ſich ſieht oder ihm nur die
hoffende Vorſtellung davon aufſteigt; er gibt ſich Vor¬
ſchmack. Dieſe Gebärde trägt er aber nun über auf
Verhältniſſe, die für ihn das ſind, was für uns
[292] Situationen, welche verſprechen, geiſtig intereſſant zu
werden. Es nähert ſich zum Beiſpiel ein Unbekannter
— ein Hund meine ich und rede nicht von Hündin,
es handelt ſich von Fällen ohne Geſchlechtsreiz. Wenn
dieſer dem dieſſeitigen Hund bedeutſam erſcheint, ſo
daß er ſich vorſtellt, es werde da ein belebtes Ver¬
hältniß, vielleicht flotte Rauferei ſich ergeben, ſo leckt
er ſich das Maul aus, er gibt ſich Vorſchmack, nun
alſo rein ſymboliſch. — Wie fragt ein Hund? Wenn
er etwas ſieht, was er nicht erkennt, ſo ſtellt er den
Kopf ſchief, verändert hiemit den Sehwinkel, um deut¬
licher wahrzunehmen; daſſelbe thut er nun, wenn er
einen Befehl nicht verſteht oder ſeinen Herrn fragt,
ob er noch nicht nach Hauſe gehe.
Wenn die Katze von einer ganz angenehmen Vor¬
ſtellung erfüllt iſt, ſtellt ſie den Schwanz kerzengerad
aufwärts. Wenn ſie angreift, trägt ſie ihn von
der Wurzel aus in einem Bogen, von da an einfach
niederhängend; ebenſo wenn ſie Anſatz zum Schein¬
kampf, zum Spiele nimmt. Soll aber das Spiel
recht ausnehmend luſtig werden, iſt ſie ganz hans¬
wurſtiſch geſtimmt, dann thut ſie von der Seite geſehen
daſſelbe, jedoch ſo, daß von hinten geſehen der Schwanz
zugleich ſchief ſteht. Das heißt doch ganz klar: jetzt
ſoll es einmal ganz ſchief hergehen!
Es wäre noch viel von dem Ringeln des Schwanzes
zu ſagen. Es drückt immer prickelnde Gedanken aus,
[293] ernſt ſchlimme oder humoriſtiſch ſchlimme. Häufiger
Erſteres.
Ich ſah auf einer Dachrinne ein Schwälbchen
ſitzen, das flügge war, aber noch nicht jagen konnte.
Es wurde von den Alten geäzt, die mit Tauſenden
in der Luft herumſchwirrten. Das Junge ſah immer
wartend in die Höhe und ſchüttelte mit der bekannten
Bittgeberde die Flügel, wenn eines der Alten herbei¬
geflogen kam. Es erkannte aber dieſelben auf weite
Ferne, wenn ſie ſich noch mitten in der ſchwärmenden
Schwalbenmenge befanden, und dieß Erkennen ließ
ſich mit Sicherheit beobachten, denn niemals ſchüttelte
es die Flügel, ohne daß bald nachher eines der Alten
mit Futter eingetroffen wäre. An was nun aber?
Unmöglich an etwas Anderem, als an individuellen
Eigenheiten in der Flugbewegung, die kein Menſchen¬
auge je entdecken könnte. Unbegreiflich! Da fiel mir
aber ein, daß wir unſersgleichen an Eigenheiten der
Handſchrift erkennen, die um nichts beſtimmbarer ſind,
als jene im Flug eines Vogels. Es gibt kein Maß
für die Unterſchiede der Führung der Feder bei Schreibung
eines Buchſtabs, ſie ſind nicht minder fein, als der
Bogen oder Haken, wie dieſe und keine andere Schwalbe
ihn beſchreibt, oder die Art der Tragung oder der
beſondere Umriß ihres Flügels, und doch, wenn uns
[294] eine Handſchrift öfter vorgekommen, wiſſen wir mit
dem erſten Blick auf eine Briefadreſſe, wer den Brief
geſchrieben. Unerforſchliches Wunder der Individualität
und der Sicherheit und Schnelligkeit des Schluſſes
aus der ſinnlichen Wahrnehmung!
Zu den ſtärkſten Beweiſen gegen den Materialis¬
mus gehört die Schamröthe und das Genie. Wenn
ſich der Menſch ſchämt, wünſcht er, nicht geſehen zu
werden, möchte ſein Geſicht verhüllen; ſo iſt ſein Ge¬
fühl, nicht daß er es irgend in Worten dächte. Was
thut die Natur? Sie pumpt das Blut in die kleinen
Gefäße des Angeſichts, um raſch einen rothen Schleier
darüber zu ziehen. Das iſt freilich kein eigentliches
Verhüllen, ſie kann es eben nicht beſſer, ſie macht's,
ſo gut ſie kann, ſymboliſch. Wenn nun die Natur
ſo etwas vermag, wenn in dem, was wir Materie
nennen, ſo etwas vorgeht, ſo muß doch die Materie
etwas Anderes ſein, als die Materialiſten meinen.
Sagte ein Gegner, da handle es ſich ja nicht von
getrennter Materie, ſondern von ſolcher, die in den
Zuſammenhang aufgenommen ſei, welchen wir ſeeliſch
nennen: gut; wie könnte aber Stoff, als purer Stoff
angeſehen, je in ſolchen Zuſammenhang treten? — Das
Genie wird geboren. Wird es geboren, ſo folgt
haarſcharf, daß die Natur ſelbſt ein Genie iſt. Wendet
[295] da nichts von Vererben ein! Es kann durch Ver¬
erbungsſummationen nichts werden, was nicht poten¬
tialiter in den ſogenannten Atomen liegt. Zwei Sätze
ſtehen gegen einander und wollen in Einklang ge¬
bracht ſein: Geiſt iſt nicht, wo kein Träger für Geiſt
(Gehirn). Und: ein Träger für Geiſt könnte nicht
entſtehen, wenn die Materie nur wäre, was wir
Materie nennen. Die Materie, als Gehirn, denkt, iſt
Geiſt, der Geiſt als Gehirn iſt Materie, und umgekehrt.
Materialiſten und Spiritualiſten: ſollte man die
Einen nehmen und die Andern damit herumſchlagen.
Die Materie iſt und iſt nicht; ſie wird ſtets auf's
Neue geſetzt, um in immer neuen Formen in Leben,
Empfindung, Geiſt aufgehoben zu werden. Es gibt
Materie und es gibt keine. Sie iſt das μὴ ὂν. Die
Materie iſt nur inſofern, als —
Ein Dichter iſt immer geſcheuter, als er ſelbſt;
freilich auch dummer, als er ſelbſt.
Wir ſtecken bis über die Ohren im Univerſum.
Wir haben bei der Weltwerdung mitgethan, oder, da
ſie ja ewig iſt, vielmehr: wir thun mit. Es ſind nur
[296] ſo Viele, daß die Portion von Mitthun, die auf Einen
kommt, unendlich klein iſt, und daher ſind wir uns
des Mitthuns nicht bewußt. So können wir auch nur
mit Hülfe ſchwerer Wiſſenſchaft und nur ſehr kümmer¬
lich herausbringen, wie wir beim Bauen unſeres untern
Stockwerks, des ſogenannten Körpers, verfahren ſind
oder vielmehr verfahren. Ueber der Mühe, die der
Aufbau des oberen Stockwerks koſtet, haben wir es
vergeſſen oder vielmehr vergeſſen es jeden Augenblick.
So können wir uns durchaus nicht beſinnen, warum
wir als winzige Theile des Ganzen, doch aber bei ihm
mitbeſchäftigt, öfters nicht umhin können, uns krank
zu machen. Daher kommt uns dieß dann rein als
fremde Gewalt vor. Aber es liegt ein großer Troſt
darin, es zu erkennen, daß eigentlich wir ſelbſt als
Theile des unendlichen Ganzen es eben nicht anders
fügen konnten, daß alſo auch der Tod ſchließlich immer
unſere eigene That iſt; dieß Denken befreit, macht frei.
Die Natur iſt Phantaſie und zwar geregelte.
Unſere menſchliche Phantaſie iſt vorerſt ungeregelt.
Wenn ſie ſich bildet, bringt ſie es dahin, der geregel¬
ten Phantaſie, nemlich alſo der Natur, obwohl ihr
abſolut verpflichtet, in freiem Scheinbild nachzuhelfen.
Denn die geregelte Phantaſie bei aller übrigen Sicher¬
heit leidet doch an ſehr großen Lücken, lapsus, ſetzt
[297] ihre Produkte jedem verderblichen Zufall aus und
führt daher ihre Anſchauungen nie rein durch, bis ſie
ſich im Menſchen als Künſtler erſt zur Reinheit ſammelt
und aus den getrübten Formen die Urform herſtellt.
Da die δóξα unvernünftig und allgemein iſt, ſo
muß, wer beſſer ſieht, nothwendig immer paradox er¬
ſcheinen. Alle Wahrheit iſt paradox. — Man ſollte
eigentlich Unterricht darin nehmen, in Gemeinplätzen
zu reden; hätte man es gut gelernt, ſo wäre man in
Geſellſchaft beſſer gelitten. Es kann den Menſchen
nicht angenehm ſein, wenn man ihnen zumuthet, auf
dem Kopfe zu gehen.
Auch im Sehen des ſogenannten Kleinen hält
man die helleren Menſchen für halb verrückt. Im
Ganzen ſind die Leute doch eben durch ihre Blindheit
glücklich. Niemand will an einem Föhntag glauben,
daß er die Zeche ſchon am Abend, in der Nacht,
jedenfalls den andern Tag mit Unwetter zahlen muß.
Die Menſchen haben in Mehrheit auch äußerſt grobe
Sinne, ſtumpfe Nerven. Sie geben auch nicht Acht.
Sie wollen durchaus im Zerſtreuten, im Duſel leben.
Wer gefälſchte Getränke genießt, dem ſchwebt wohl
dunkel vor, es ſchmecke etwas Fremdes auf der Zunge,
[298] aber wie gegen den Satan ſperrt er ſich dagegen, den
Eindruck in's Bewußtſein, in's Nachdenken zu erheben.
Spürt er Tags darauf die nux vomica im Hirn, ſo
flirrt ihm wohl etwas vor, es ſei da oben nicht ganz
richtig, aber reflektiren? O, nur das nicht! — Neulich
war ich im Geſpräch mit einem ſehr gelehrten und
geſcheuten Mann; es kam ihm ein Haar vom Kopf
zwiſchen die Wimpern und hieng ihm gerade über's
Auge. Es brauchte ungefähr eine Viertelſtunde, bis
er etwas bemerkte, dann fieng er an, zu ſchielen;
man ſah ihm an, daß ihn etwas ſtöre, er wurde zer¬
ſtreut, aber da war keine Rede von ſo viel Konzen¬
tration auf ſeinen Zuſtand, daß er auf die Urſache
hätte kommen können. Ich ſtand auf, zog ihm das
Haar aus den Wimpern und er war ſehr verwundert,
daß es ihm nun wieder freier und lichter zu Muthe
war. — Ach, ja freilich, ſchon gut, daß die Welt
ſo iſt! Wenn die Menſchen ſehend wären, wo käme
ihr Glück hin, ſo wie die Meiſten ſind, unfähig, das
Glück im Unſichtbaren zu finden! Aber wir Wenigen
ſind eben auch ſo, wie wir ſind, warum muß alſo uns
die Menſchheit ſo grimmig haſſen, ſo höhniſch verlachen,
weil wir das Haar vor ihrem Auge ſehen?
Und im Geſpräch ſind ſie auch merkwürdig, ſelbſt
abgeſehen vom Durcheinanderſchreien. Herr N. N. hört
[299] dir geſpannt zu, ſo ſcheint es. Auf einmal fangen
ſeine Augenſterne an, zu fappeln, zu irren, er hört
nach einer andern Seite. Die Gedanken auch nur
fünf Minuten beiſammenbehalten — es wäre ja ent¬
ſetzlich, nicht zu ertragen! O, dieß Geſchlecht kann nur
unter der Fuchtel des Unteroffiziers aufmerken, und
darunter gehört es auch. — Unter den Künſten zwingt
die Muſik am wenigſten, die Gedanken zuſammen¬
zuhalten, darum iſt die Mehrzahl muſikliebend. Alle
Menſchen ſind eigentlich Wiener.
Muß jetzt auch mehr in vornehme Geſellſchaft —
— Was ich doch mit der Form auf geſpanntem Fuße
ſtehe! Ich reſpektire ſie eigentlich, ja freue mich an
ihr, weiß jedenfalls ganz gut, wie nothwendig ſie iſt.
Dazwiſchen aber habe ich Stunden, wo ich einem
ungeheuren Reiz nicht widerſtehen kann, ſie vor den
Kopf zu ſtoßen, ihr auf's Muthwilligſte zu zeigen,
daß ich ſie als geiſtlos verachte, weil ſie doch gar ſo
viel Irrationelles enthält und ſo äußerſt zahm iſt.
Auch Stunden, wo ich zwar ganz zahm, aber durch¬
aus beſinnungslos bin in Beziehung auf ſie und
Dummheiten, Vergeſſenheiten begehe, die unglaublich
ſind. Etwas von einer ſolchen Natur iſt in Goethe's
„Taſſo“ idealiſirt. Der Dichter ſelbſt, in der Lage
wie ſein Taſſo, hat ſich durch die Angewöhnung einer
[300] ſteifen Würde herausgeholfen. Das iſt die beſte Ent¬
ſchuldigung für die ſeltſame Feierlichkeit, die er nach
und nach annahm. Als ein Sohn der Natur und
Phantaſie konnte er ſich nicht gehen laſſen, ohne
Formen zu verletzen; da konnte ihn nur der Zwang
retten, den er ſich ſo lang anthat, bis er ihm ſaß
wie ein getragener Rock. Seine Steifheit beweist alſo
ihr Gegentheil in Goethe's Natur. Wer über die
Form erhaben iſt, iſt ängſtlich in ihr.
Es gibt zweierlei Takt: formellen und Herzens¬
takt. Jener vermeidet das Unſchickliche, dieſer das
Unzarte. Es iſt ſchwer, den erſten ſich zu erwerben,
er lernt ſich nur durch lange geſellige Uebung. Es
iſt ungefähr wie vier- oder ſechsſpännig fahren lernen.
Der Taktloſe gibt nur auf die zwei erſten Pferde Acht,
und ſieht nicht, ob die vorderſten irgendwo anrennen;
wer Takt hat, ſieht immer auf alle vier oder ſechs.
Der Herzens- oder Seelentakt aber läßt ſich nicht
erlernen, man hat ihn oder nicht. Man kann
ihn haben und den formellen nicht, man kann dieſen
haben, ja ſehr haben und keine Spur vom Herzens¬
takt. Gar Manche fahren ganz ſicher und geſchickt,
rennen nie an einen Eckſtein, aber es gibt unſicht¬
bare Eckſteine, das ſind die zarteſten Empfindungen
der Menſchen, die wir ſchonen ſollen, wir müſſen
[301] ſie ſpüren, und der feinſte Pferdelenker ſpürt ſie
häufig nicht.
Beide Taktarten vereinigen ſich aber äußerſt ſchwer
und ſelten.
Die formelle lernen beſonders die Gelehrten ſchwer.
Sie ſpannen ſich zum Beiſpiel im Geſpräch mit naivem
Eifer direkt auf den Gegenſtand, und bedenken nicht,
wer die Zuhörer ſind. Sie können nur zwei-, faſt
nur einſpännig fahren; es geht immer ungeſchickt ehr¬
lich geradeaus auf Beweis, auf Erklärung los. Aehn¬
liches paſſirt aber auch Phantaſiemenſchen wie unſer¬
einem; im raſchen Bilderzug vergeſſen ſie, wer herumſitzt.
Man meint immer, Einmal dürfe man ſich doch
gehen laſſen. Falſch! Man darf es nie. Es iſt
kein Moment, wo man nicht gegen innern oder äußern
Feind auf der Wacht ſtehen muß. Die Menſchen um
uns, ſelbſt die beſten, ſie ſchenken uns keine Blöße.
Selbſt in der Liebe darfſt du nie dich gehen laſſen.
Das liebreichſte Weib möchte dich beherrſchen. Nie iſt
Waffenſtillſtand. Das Leben iſt ſchwer! Wehe dem,
der nicht in jedem Augenblick geladen, Zündhütchen
auf, Finger am Drücker hat!
Das darf ich dieſem Herrn von Y. nicht vergeſſen,
daß ich neulich, als er mitten im friedlichen Geſpräch
[302] ſo biſſig gegen mich ausfuhr, nicht gefaßt war, ihm
die gehörige Antwort zu geben. Wenn ich unvor¬
bereitet mit ſcharfem Wort angegriffen werde, geht mir
eine türkiſche Muſik im Kopfe los, alles Blut ſteigt
in's Hirn, die rechte Erwiderung fällt mir ein, wenn
der Menſch fort iſt, und wird dann zu einer vortrefflichen
Rede komponirt. So bin ich wehrlos, aber darum
darf ich nicht ehrlos ſein. Etwas muß doch geſchehen
gegen den, der mich überfallen hat, als mein Gewehr un¬
geladen an der Wand hieng, ich meide ihn, ich ſpreche
womöglich nie mehr mit ihm. Blind, wie die Menſchen
in ihrer Bosheit ſind, weiß ein Solcher dann gewöhn¬
lich gar nicht mehr, was er mir angethan hat und
warum ich mit ihm gebrochen. Wird es ihm kund,
ſo meint er, ich ſei ein Trutzer, ein Nachträger, wäh¬
rend ich im Grunde doch mir ſelbſt eine Buße auf¬
lege: ich ſtrafe mich für meinen erbärmlichen esprit
de l'escalier dadurch, daß ich mir die Entbehrung
eines Umgangs auflege, der Werth für mich hatte,
worin ich aber jeden Tag unſicher bin, ob ich nicht
auf's Neue in den Fall komme, in der Blöße meiner
Wehrloſigkeit dazuſtehen. — Es iſt ſehr fatal. Aber
macht' ich's nicht ſo, die Menſchen würden am Ende
Holz auf mir ſpalten.
Hat mir Jemand Unrecht gethan, ſo paſſirt mir
oft und leicht die Verwechslung, daß ich mich vor ihm
[303] ſchäme, ſtatt mich für ihn zu ſchämen; mir iſt, als
hätte ich das Unrecht ihm gethan. Anders, wenn es
in meiner Macht liegt, ihn zu ſtrafen; iſt dieß voll¬
zogen, ſo bin ich wieder leicht und frei und verzeihe
mir, will ſagen: ihm, gern und ganz das Verübte.
Denn ich ſtrafe eigentlich ungern, wiewohl ſcharf.
Briefe ohne beſondern Inhalt laſſe ich nun Frau
Hedwig ganz ſelber komponiren und unterzeiche nur.
Aber ſolche, die ich ſelbſt abfaſſen muß, da iſt eben
die alte Noth. O, wie ſchwer iſt ein Brief! Gerade
auch an Freunde! — Man meint: da darfſt du dich
ja gehen laſſen, es iſt ja doch faſt wie geſprochen, iſt
ja kein Aufſatz, kein Amtsſchreiben. Aber was Schwarz
auf Weiß daſteht, iſt eben ein ander Ding als das
Geſprochene: hier iſt der Ton der Stimme, Blick,
Mienenſpiel dabei und bringt zu einem ſcharfen Wort,
einem ſtark geſalzenen Spaß die erklärende, verſöhnende
Begleitung, während die ſchwarzen Haken auf dem
Papier abſtrakt daſtehen und am Leſer herumkratzen.
Das mag der Teufel lernen, ſich gehen laſſen und
zugleich nicht gehen laſſen, einen Beſuch machen in
Hemdärmeln und doch im wohlgebürſteten und ge¬
knöpften Rock! — Zehnmal lieber ein neues Polizei¬
geſetz verfaſſen oder hundert Paragraphen eines philo¬
ſophiſchen Lehrbuchs in Lapidarſtyl! Ich ſchreibe auch
[304] nicht Einen Brief, in den mir nicht etwas Ungeſchicktes
hineinkommt. Wie viele habe ich verbrannt, neu ge¬
ſchrieben, ein drittes Mal ſogar! Aber es dauert einen
eben oft die Zeit, da bedenkt man dann nicht, daß man
beſſer jetzt Zeit verliert, als auf Tage, Wochen oder
länger die gute Stimmung, und man wirft den Brief
in die Poſtlade. Dann fängt die Reue an zu bohren,
zu graben, — dumpfe Spannung, bis die Anwort
kommt, — dann ſieht man aus dieſer, wie man wehe
gethan. — Nun aber erſt noch das glatte Poſtpapier
und der Racker von Feder! Wie oft habe ich mit
ſpröder Feder grob geſchrieben, wo ich freundlich, und
mit zu weicher ſchlaff und breiig, wo ich mannhaft
entſchieden ſchreiben wollte!
Verwünſchte Kanzleirechnung! — Wieder dreimal
verrechnet, da ich ſie nicht zu Frau Hedwig hinüber¬
nehmen konnte, mir helfen zu laſſen. Menſchen, die
das arithmetiſche Organ haben, können ſich in ſolche,
denen es fehlt, gar nicht genügend verſetzen. Es iſt
nicht bloß, daß man nothdürftig nur noch addiren
kann; nein, man hat ſich ſo oft verrechnet, daß man
dem ganz Gewiſſen, dem Ausgemachten nicht traut.
Wenn ich irgend eine Amtsrechnung prüfen ſoll: ich
weiß wohl, daß zweimal zwei vier iſt; aber könnte es
denn nicht ausnahmsweiſe einmal, zum Beiſpiel heute
[305] Vormittag, fünf ſein? Ein Jammerſtand des Be¬
wußtſeins, ein tiefinneres Unglück und Elend.
Frau Hedwig, mein guter Privatſekretär, meint,
die Briefe, die ich ſelbſt abfaſſen muß, könne ich ihr
ja diktiren. Kann ihr aber nicht diktiren, fällt mir
nichts ein, wenn Jemand mit angeſetzter Feder wartet.
Neulich ſoll meinem Pferde zur Ader gelaſſen werden,
der Bediente beſtellt einen feſten, auch darin erfahrenen
Hufſchmied. Ich ſehe zu. Der nörgelt an dem Thier
herum, will den Schnepper hier, dort anlegen, kommt
nicht zum Schluß, nimmt den Johann in eine Ecke,
flüſtert mit ihm, und dieſer tritt zu mir her und richtet
mir aus: ich möge doch verzeihen, der Hufſchmied
könne es nicht verrichten, wenn ich zuſehe. Und es
iſt ein ſtarker, breiter, nichts weniger als nervöſer
Mann! So das geſchieht am grünen Holze — — —.
Ich ſuche und ich fliehe die Menſchen, bin geſprächig,
und kann mich ſo ſchrecklich erzürnen über ein dummes
Geſpräch. Jedes Geſpräch, das nicht durch Austauſch
nach Erkenntniß ſtrebt, iſt dumm. Halt! Da muß
aber: Erkenntniß in faſt unerlaubt weitem Sinn ver¬
ſtanden werden. Ich bin ein nur zu großer Freund
von rein närriſchen Geſprächen. Sie ſind höchſt er¬
Viſcher‚ Auch Einer. II. 20[306] laubt, ja von Zeit zu Zeit Pflicht, Pflicht gegen ſich
ſelbſt, Pflicht gegen Andere, denn Phantaſie will leben.
Und ſpielend muß alle Unterhaltung guter Geſellſchaft
ſich bewegen. Doch jede, auch die närriſche, führt auf
manchen Punkten immer zu dem Bedürfniß, dieſen oder
jenen Begriff klarzuſtellen. Da gibt es nun aber
Naturen, die ſich dagegen ſperren, davor verkreuzen
wie vor dem Gottſeibeiuns. Nur nicht in dem Nebel
der Flachheit umrühren, nur auf nichts tiefer eingehen,
nur nicht das Meſſer des unterſcheidenden Begriffes an
Gemeinplätze legen! Nur Alles in der Brühe, in der
Sauce der Unbeſtimmtheit belaſſen! — Die ſtumpfe
Denkfaulheit der Menſchen. Aber auf dieſem Wege
verkommt man. Geſellige Unterhaltung von Menſchen
ohne Erkenntnißdrang iſt Sumpf. Das Forſchen iſt
es, was den Menſchen zum Menſchen macht, ohne
dieſes auch keine Moral. Forſchen iſt die Stahlfeder
im menſchlichen Weſen. Was die Franzoſen in ihrer
liederlichſten Zeit aufrecht erhalten hat, das waren jene
Salons, wo die Geſpräche gepflegt wurden, in denen
unter Scherz, Reiz des Weibes, Würze der Phantaſie
nach Erkenntniß, nach Quellen der Wahrheit gebohrt
wurde.
Geſellſchaft beim Staatsrath X. Zwei Töchter, eine
ſehr ſchön und hat den Gebrauch der Schönheit nicht
[307] gelernt. Noblesse oblige, aber beauté oblige auch.
Man muß zugeſtehen: ſchwer! ſchwer! Siegesgewi߬
heit auf jedem Schritt und doch ſtreng haushalten!
Freude des Anblicks, des Umgangs für Viele, und doch
den Schatz der Liebe und ihrer Zeichen, jedes Blicks,
jeder Bewegung, jedes Winks, der dahin wieſe,
ſtreng nur für Einen vorbehalten — ja ſchwer! Um
ein ſchönes Weib ſchwirrt es in der Luft von Liebes¬
geiſtern, die alle an ihm ſchieben — hinein in die Ko¬
ketterie. Kokette misbraucht ihr Pfund, ungerechte Haus¬
hälterin. Gleicht endlich dem Trinker, der im einen
Weinhaus ſchon auf's andere denkt, hat beim Malvaſier
ſchon Ueberſchuß an Durſt nach Marſala — — „ein
Mädchen, das an meiner Bruſt mit Lächeln ſchon dem
Nachbar ſich verbindet“ — Endlich alt. Was bleibt?
Man ſollte ſchlechterdings Niemand heirathen laſſen,
der nicht ein Examen über Erziehung beſtanden hat.
Das Wiſſen allein macht nicht Alles, aber etwas, ja
viel. Es iſt Niemand berechtigt, Kinder zu erzeugen,
der nichts von Erziehung weiß.
Die meiſten Menſchen werden in den erſten Lebens¬
jahren, ja ſchon in den Windeln verzogen; ſpäter,
wenn ſie die erſten Kleider bekommen, am ſchlimmſten
[308] die Mädchen. Man kleidet ſie äffiſch nach der Mode
der Erwachſenen, preist ſie, wie hübſch ſie ſeien, wenn
ſie herausgeputzt ſind, und ſchon dadurch werden ſie
für immer zu Fratzen. Im Uebrigen verzieht die
Mutter die Knaben, der Vater die Töchter, denn jene
ſieht in jenen, dieſer in dieſen das Erinnerungsbild
der Jugendliebe heranwachſen. Den Knaben wird es
im Ganzen beſſer, weil es doch in der Schule ſtreng
zugeht und Gehorſam durchgeſetzt wird. Es iſt doch
wahr, daß mehr Ehen durch das Weib unglücklich
werden, als durch den Mann. Meine nur ja nicht,
Bildung und Moralität einer Familie verbürge dir,
daß die Töchter gut erzogen ſind! Gerade in den
Kreiſen der Bildung, insbeſondere der vornehmen,
werden ſie erſt recht verzogen. Es iſt zwar richtig,
daß die Mädchen wie Pflanzen den Charakter des
Bodens und der Luft annehmen, worin ſie ſtehen,
und daß insbeſondere das ſtille Beiſpiel der Mutter
mehr wirkt, als Erziehungsakte, aber manchmal braucht
es eben auch bei ihnen ein Donnerwetter väterlicher
Strenge, und daran pflegt es zu fehlen.
Wie mich Alles, Alles dorthin, dorthin führt, ich
mag es zu unterdrücken ſuchen, wie ich will! Denn
ich weiß ein Weib — eine Oaſe im Sandmeer.
— Jetzt lange her, daß ich ohne Nachricht bin, ſeit
[309] der Geburt des zweiten Knaben. Glück gewünſcht,
herzlich, kurz. Ach, dorthin kann ich ja nicht ſchreiben!
Wie oft verſucht und ausgeſtrichen, Feder weggeworfen!
Gewöhnliches? Wie nichtig! Inneres — wie wäre
das möglich? In Thränen ſchwämme das Blatt! Und
doch iſt mir's unheimlich, mein vieles, langes Schwei¬
gen. Noch Beruhigung, daß Erik ſo wenig Freund
von Briefſchreiben, als ich, und daß man mich dort
kennt, daß er ja weiß, daß ſie, ſie weiß — oder auch
ahnt — o nein, Schweigen! Schweigen!
Todt! Erit todt! Erik todt! — Als wäre der
Welt ihr Krondiamant ausgebrochen! — Und ſie? —
Wie ſelten wir uns geſchrieben, ich wußte ihn
doch! In dieſer Welt der Falſchheit, des Eigennutzes,
der Kriecherei, der Ränke — ich wußte, wußte, ſagte
mir's tagtäglich: es gibt noch Redlichkeit, Geradheit,
Treue, Opfer, Mannheit: Erik lebt! — An ihm ein
Halt, auf ihn ein Verlaß, eine Ruhe für mein auf¬
geregt heftig Weſen — Mein Freund, mein guter
Kern, mein Fels, meine Tugend — unſichtbar nahe
— o, Erik todt! — Verwaiſt — rings kein Freund
mehr! — Und — Soteira? —
[310]
Auf! Auf! Lebe noch! Es gibt noch zu thun!
„Herz, mein Herz, halt aus, ſchon Schnöderes haſt
du erduldet.“
Abgeordneter? Gar noch? Ich? Doch es ſei —
Ruf des Schickſals — mich aufraffen — aufraffen zu
mehr als Amt — auch aus dem Schlag! — Auf!
— Hab' auch viel auf dem Herzen, es ſoll einmal
heraus an den Tag, einmal in's Große, Oeffentliche!
Wahlkämpfe. Wahlreden. Zungenfechterei, Ko¬
mödie. Doch gute Sprechübung. Das Reden geht
ja beſſer, als ich mir zugetraut hatte, wenn nur genug
Diſtanz iſt. Sobald mir die Leute zu nahe ſind, weiß
ich nichts oder bleibe ſtecken. Sie drücken auf mich,
ſind ſtatt bloße Bilder empiriſche Exiſtenzen, die mich
läſtig fragen: Nun, was haſt du zu ſagen? Wird's
bald? Nun, was weiter? — Das wirft mich aus
dem Denken an die Sache heraus. In jedem Redner
laufen zwei Vorſtellungsreihen nebeneinander; die eine
beſchäftigt ſich mit dem Thema, die andere mit den
ſinnlichen Wahrnehmungen während des Redens. Dieß
geht ſo lang, bis auf die zweite zu viel Accent fällt,
dann wirft er um. Zu viel Accent: Urſache entweder
eine Beobachtung, z. B. dort wird geflüſtert, gelacht
[311] oder alſo die Leute zu nahe. Diſtanz bringt Objek¬
tivität.
Oft meine ich doch, ich vermög' es nicht länger.
Der Schmerz um Erik will im Sturm hervorbrechen
mitten in dem Gewühl; aber dann packe ich ihn und
werf' ihn gewaltſam hinüber zu dem Zorn auf ſo viel
Schlechtes in unſeren Zuſtänden, zwinge ihn, ſich als
Zorn auf das Unrecht ſolchen Todes mit dieſem zu
addiren. Es muß doch gehen. Wenn ich nur nicht
zu heftig werde! Muth! Sei Mann, es gibt zu thun,
ſei brav wie Erik!
Alte Deviſe: Adler, über Wolken der Sonne zu¬
fliegend mit Schrift: nunc pluat! — ſei mir Vorbild!
Zerfetzt! Am Boden! Was jetzt, wie weiter?
Erſt nicht verzagen! Arbeiten! Gutes thun, wirken
ohne Amt, Vereine für Wohlthätigkeit, — Erziehung
Verwahrloster. — Für mich meine Bücher, hab' nun
Zeit. Schreiben — halt! an die Pfahldorfgeſchichte!
— gleich aufnehmen! Fortreiſen, noch einige Samm¬
lungen ſehen von Ausgegrabnem aus der Pfahlzeit —
Studien machen. — Man nimmt an, es ſeien Kelten —
Das Ueberſchnappen der Stimme, das war das
Aergſte, das ſcheusliche Auslachen. Alles Andere er¬
trüg' ich eher. Teufel!
[313]
Es muß ertragen ſein. Dabei noch ein Troſt.
Jetzt muß ich die Thüre von meinem Amtszimmer in
die Kanzleiſtube doch nicht mehr knarren hören. Ein¬
ölen ſchwierig und half ſo gut wie nichts. Der pfei¬
fende Knarrton that immer ganz deutlich wie „eo
ipso!“ O, ja freilich, will's ja glauben, es verſteht
ſich von ſelbſt, daß du knarrſt! auch, daß ich gehen
muß! — Noch als ich das letzte Mal dort war, auf
immer Abſchied vom Amte zu nehmen, knarrt das
Luder: eo ipso! — Dich, unverſchämter Regenpfeifer,
dich bin ich doch nun los — Eo ipso!
Es geht ja vorwärts. Fort, ihr Dämonen, ſollt
mich nicht abbringen! — Ich weiß jetzt, ich mach's
wie Luther, der dem Teufel das Tintenfaß an den
Kopf warf! Will noch anders reagiren, als mit
Exekutionen — literariſch — will euch brandmarken
— ein ganzes Syſtem gegen euch, euch an den
Kopf! Etwa: „Syſtem des harmoniſchen Weltalls“
oder —
Ich bin zu ehrgeizig, um ehrgeizig zu ſein. Ich
habe ein heimliches, ſehr verfängliches Verhältniß, eine
unglückliche Liebe zu einer ſehr ſpröden Schönen: der
Nachwelt. Daher geize ich ſo wenig um die Ehre bei
[314] der Mitwelt, verſäume ſo oft ſchuldige Aufmerkſamkeit
und bin ſo zerſtreut gegen Formen: wie es eben allen
Verliebten zu gehen pflegt. Es iſt ſtolz geſprochen,
ach, zu ſtolz, denn was habe ich gethan, meine Schöne
zu erobern? Mein Wirken? — Lächerlich geendet!
Da die Pfahlnovelle? Dichterruhm? Pah!
Wie ich das wieder leſe — unſelige Vergleichung!
— Vier Worte, Laute hab' ich ihr geſchrieben:
„O Gott! o Gott!“ — Mehr nicht? Muß ſie nicht
einen inhaltvollen Brief erwarten? Wohl zehnmal ver¬
ſucht, verbrannt! Und es wäre doch ſo natürlich,
wäre Pflicht. Ja, aber daß in jeden Brief etwas
hinein will, — was doch nicht darf, nicht ſoll —
davon darf kein Hauch — Sie wird wohl errathen,
aber — o Knäuel von Verflechtung!
Arbeit will nicht gehen. Fehlt mir doch gar ſehr
Dienſt, Pflichtzwang der Stunde. Daher auch die
Teufel wieder in Legionen. Merken wohl meine Ab¬
ſicht, wollen mich vorher aufreiben. Zwei Tage ein
entzündetes Auge. Fliegt mir juſt eine Mücke in's
rechte, worein mir kurz vorher ein Funke Brennſtoff
von einem Zündhölzchen gefahren.
[315]
Das Leben iſt eine Fußreiſe mit einem Dorn oder
Nagel im Stiefel. Felſen, Berge, Schluchten, Flüſſe,
Löcher, Sonnenglut, Froſt, Unwetter, Räuber, Feinde,
Wunden, damit müſſen wir kämpfen, das will be¬
ſtanden ſein, dazu haben wir die Willenskraft. Aber
der Nagel im Stiefel: das iſt die Zugabe, kommt
außerdem und überdieß dazu, und für den Nagel
bleibt dem Manne, der mit den großen Uebeln redlich
ringt, keine Geduld übrig. Haben denn die Menſchen
Zinkblech ſtatt Haut an den Fußſohlen, daß mich darin
Niemand verſtehen will? — Oder auch: das Leben iſt
eine Schublade, die nicht geht, ſtockt, ſtaut, ſpannt —
In meiner Arbeit mag ich oft einen Haufen
Papier, wo ich nothwendig etwas herauszunehmen
hätte, ſtundenlang nicht anrühren, weil ich weiß, beim
erſten Griff fährt der helle Teufel hinein, Alles ſchlüpft,
klebt oder entwiſcht, — was nicht mit ſoll, geht
mit, was mit ſoll, geht vom Andern nicht los, die
Feder fliegt zu Boden und ſpießt ſich in's Holz, daß
ich eine halbe Stunde brauche, eine neue zu ſchneiden,
— der vollendete Pöbelaufruhr. —
Lang, lang nicht unter die Leute gegangen —
was ſoll mir — ? Frau Hedwig treibt — hat wohl
[316] Recht. Habe mich doch oft vergeſſen, bin aufgethaut,
wenn ich von Gram und Verdruß zu Stein, zur
ſtarren Maske gefroren unter die Menſchen kam, eine
Mehrheit von Augen wirkt erweckend auf mich.
Das war ein Tag! Wetter: oberer Föhn bei
unterem unverſchämtem, injuriöſem, rechtsverletzendem
Nordweſtwind, der mir meinen Hut nimmt, den ich
doch um mein Geld erſtanden habe und daher als recht¬
mäßiger Eigenthümer beſitze. Nerven und Gehirn elek¬
triſch durchzuckt, Blut kochend, Haut ſtechend. Den¬
noch und auch unterſchiedlichen Teufeln zum Trotz den
ganzen Tag ſcharf gearbeitet. Abends ſehr Erholung,
Ausſpannung bedurft. In Geſellſchaft. Und hier?
fängt erſt die rechte Folter an. Zu acht an einem
Tiſch, eine Zahl, durchaus nicht zu groß, um recht
gut noch eine gemeinſchaftliche Unterhaltung zu erlau¬
ben. Beginnt folgendes liebliche Spiel:
A eröffnet mit C ein Sondergeſpräch, dann E
mit G, dann H mit F, und D foltert mich B, ich
ſoll mit ihm eines führen. Da jedes dieſer vier
Sondergeſpräche das andere übertrommelt, ſo fangen
Alle das Schreien an und nun hört man das eigene
Wort nicht mehr. Ich ſuche auszuwickeln, ſuche laut
ein Geſpräch für Alle auf's Tapet zu bringen, —
vergeblich, Niemand begreift mich.
[317]
Nicht genug, weiter! Sie fangen über's Kreuz
an: A mit D, C kräht nach mir (B) herüber, E mit
H, G mit F. Nun iſt zum Beiſpiel in einer der
lieblichen Gruppen von Preußen und Bayern die Rede,
in der Diagonale ſchlagen den zwei Politikern die
Namen Dante und Petrarka, von anderer Seite Cer¬
velatwurſt und Gansleberwurſt, in der dritten Kreu¬
zung ſcheuslicherweiſe auch noch die Begriffe Aktien und
Prioritäten, in der vierten die Streitfrage über Sän¬
gerin Blözke und Grilli auf's Trommelfell.
Noch nicht genug. Eine kurze Pauſe tritt ein.
D fragt A, welcher Altdeutſch verſteht, nach einem
verwickelten Punkte, nämlich: wann das E geſchloſſen,
wann offen zu ſprechen ſei. Man ſieht, es iſt ihm
wirklich darum, belehrt zu werden, den Anderen iſt
es auch von Intereſſe, mir nicht weniger, und Alle
horchen. Während nun der A eben recht im Zug iſt,
den Punkt auseinander zu ſetzen, bricht ihm der D,
der ihn ja eben ſelbſt gefragt hat, in die Rede mit
der Frage, ob er geſtern im Konzert geweſen ſei, gleich
darauf fängt der C mit mir vom Theater an und ſo
läuft es fort: Jeder hat vergeſſen, daß er ſoeben ſich
für einen Zuſammenhang intereſſirte.
Ich ſchoß auf und fort, zermartert, zerſchunden,
zerfetzt, zerſägt, zerrieben, zerdroſchen, zerwirbelt, zer¬
raſpelt in allen Nerven kam ich nach Hauſe. Das
war meine Abenderholung: nach ſchwerer Tagesarbeit
[318] noch ſchwerere am Abend! Möchte das arme Hirn ent¬
laſten und muß mir alle ſeine Saiten zerreißen laſſen.
Die Mehrheit der Menſchen beſteht nicht gerade
ganz aus Betrügern, Räubern, Dieben, Mördern, aber
aus ſozialen Ungeheuern, und zwar durch alle
Stände und beide Geſchlechter, die Weiber treiben's
ärger, aber die Männer kaum um ein Haar beſſer.
Was habt ihr dumpfe Geſchöpfe nur für eine Vor¬
richtung in den Hörwerkzeugen, daß ihr das eine Ge¬
ſpräch gegen die andringende Lautmaſſe der fremden
Geſpräche in eurer Auffaſſung zu iſoliren vermögt?
Einen eiſernen Rollladen? Einen Ofenſchirm von
Sturz? Ei was! nichts habt ihr, grobe, ſtumpfe, ab¬
norme Sinne habt ihr und konfus im Kopf wollt ihr
ſein und bleiben, Alles ſchlechterdings nur halb denken,
und mich, der ich normale Sinne habe und klar
ſein will, mich haltet ihr für ein Monſtrum! Ihr
wollt ſprechen und gehört ſein, ihr wollt hören, und
im Augenblick vergeßt ihr es wieder, weil euch noch
viel lieber als Sprechen und Hören das Wirrſal,
weil der Durmel euer Element iſt.
Für richtige Sinne und für wirkliche Bildung gibt
es an einem Tiſch, wo nicht ſo Viele ſitzen, daß ein
gemeinſames Geſpräch unmöglich wird, durchaus
keinen Einzelnen. Neben einem plätſchernden
Brunnenrohr kann man ſich unterhalten, denn es
ſpricht keine Worte, welche die Geſprächsworte durch
[319] Bezeichnungslaute aus einem andern Zuſammenhang
kreuzen, neben einem Separatgeſpräch iſt es unmöglich.
Ein Menſch, der geſunde Natur, Disziplin des
Denkens und der Form hat, wird ſich alſo im ge¬
nannten Fall nie, abſolut nie an einen Einzelnen wen¬
den, wiſſend, daß, ſobald er's thut, die Loſung zum
allgemeinen Geſprächschaos gegeben iſt, er wird
immer nur nach der Mitte, in's Ganze hinein ſprechen.
Da nun die Menſchen auch hierin wirr, wild,
willkürlich und disziplinlos ſind, was folgt? Das
folgt, daß ſie nicht einmal der Geſprächfreiheit im
Privatleben werth ſind. Das folgt, daß man ſie auch
hier in das Joch der parlamentariſchen Ordnung ein¬
ſpannen müßte. Das folgt, daß eine Geſprächpolizei
organiſirt werden müßte. Macht mich zum Vorſtand
und ich verſpreche euch, ein Tyrann erſter Klaſſe, ein
Nero, Caligula, Attila, Dſchengis-Chan, Tamerlan der
Geſprächszucht zu werden! Aber Strafgewalt müßt
ihr mir geben! Mit Geißeln und Skorpionen will ich
ſie züchtigen, die Geſpräch-Buſchklepper, Geſpräch-
Strauchdiebe, Geſprächs-Räuber, Geſprächs-Mörder,
Geſprächs-Meuterer, in die Waſſer der Urflut will ich
ſie zurückſtoßen, dieſe Geſprächs-Ichthyoſauren! Und nie
werde ich meine Vollmacht mißbrauchen, nie mir zum
Vortheil anwenden, nein, Anderen ſoll ſie zugute kommen
auf meine Koſten! Ein Leben, das der Gerechtigkeit
gewidmet war, ſei Zeuge für meine Betheurung!
[320]
Ach Gott, es iſt ja auch dieß nur ein ſchöner
Traum! Ich weiß ja: ein Unſinn! Da aber der Zu¬
ſtand, wie er beſteht, auch ein Unſinn iſt, ſo bleibt's
eben dabei: gerade ſo unfähig, wie einen vernünftigen
Staat zu bauen, iſt die Menſchheit auch, eine Geſell¬
ſchaft zu bauen, oder umgekehrt, wie man will!
O Einſamkeit, wie gut biſt du!
Dabei bin ich erſt gar kein Pedant. Ausnahms¬
weiſe muß man auch in die Rede fallen dürfen, nament¬
lich wenn ſonſt der Augenblick für einen guten Witz
verloren gienge. Aber bei dem Trätſchvolk iſt die
Ausnahme Regel und der konfuſe Lärm Lebenselement.
Wieder lang einſam, hat gut gethan und auch
nicht. Wäre mein guter Rappe nicht — ihm ver¬
danke ich, daß ich nicht einhuzle, einſchrumpfe. Be¬
ſuch manchmal vom Referendär, jetzt Aſſeſſor; der nicht
unerquicklich. Geſcheut. Wenn nur nicht auch da die
Teufel wären — bleibt aus, wenn ich ihn ſo recht
herwünſche, kommt dann im ungeſchickten Moment —
Rezept: — Wenn du einen Beſuch erwarteſt und
er kommt lange nicht, ſo nimm kalt Waſſer in den
[321] Mund. Es ſoll bekanntlich hinter den Zähnen ge¬
halten werden, bis es warm iſt, um den Mund aus¬
zuſpülen, ſonſt verſchlägt es ſie. Vergiß, ein Gefäß
aufzuſtellen, wohin du das Waſſer ausſpucken kannſt.
Laß den Diener entfernt ſein, der einen Beſuch in's
Wartezimmer führen könnte. — In kurzer Zeit wird
es klopfen. Der Menſch draußen hört dich zappeln,
begreift nicht, klopft und klopft. — O, ich habe Einen
gekannt, ſehr gebildet, ſehr manierlich, der rieß in der
Verzweiflung die Thür auf und ſprudelte dem un¬
ſeligen Beſucher die Beſcherung in's Geſicht, — be¬
reut innig den ſchmachvollen Wahnſinn — doch gab
es ein Duell; glücklicherweiſe ohne Blut abgelaufen.
Ich mag es anfangen wie ich will, es vergeht
keine Woche, ohne daß ich einen oder mehrere Fehler
mache. Und das beim redlichſten Bemühen, es recht
zu machen. Ganz blind. Hintennach, meiſtens erſt
ſpät, gehen mir dann die Augen auf und ſenkt ſich
mir die Einſicht mit ſolcher Centnerlaſt auf die Seele,
daß ich, allein in meinem Zimmer, ja auch mitten auf
der Straße, laut hinausſchreien muß, nur irgend einen
Laut bellen, nur um mich etwas zu entlaſten. Da
meinen dann die Leute, ich ſei verrückt, und muß ich
mich vor meinem Bedienten ſchämen, wenn er im an¬
ſtoßenden Raum iſt, oder froh ſein, wenn gerade
Viſcher, Auch Einer. II. 21[322] Katze oder Hund bei mir im Zimmer iſt, daß er etwa
meinen kann, ich unterhalte mich mit dieſen. — Wie
geht es denn nun aber Anderen? Machen ſie denn
keine oder gar ſo viel weniger Fehler? Oder machen
ſie ebenſoviele, werden ſich aber nachher nicht durch¬
ſichtig, haben eine Seele von dickem Juchtenleder? —
Oder werden ſich durchſichtig, ſchütteln aber die Laſt
des innern Vorwurfes federleicht ab? Geht doch kaum!
Warum müſſen ſie denn alſo nicht auch ſchreien wie ich?
Wißt es, ihr Köpfe, mit meinen Fehlern und mit
meinem Wahnſinn hab' ich ſo gut ein Recht, zu exi¬
ſtiren, wie ihr mit euern Fehlern und mit eurem
Kahlſinn!
Fremdlinge auf Erden lachen gern. Das kommt
von ihrem ſcharfen Auge und von der Höhe ihres
Sehpunkts. Aber es iſt ein anderes Lachen, als das
Lachen gemeiner Seelen. — Auch lachen ſie gern über
ſich ſelbſt.
Du haſt lange Weile? Mußt nach Unterhaltung
jagen? — Haſt du denn an dir gar keine Geſellſchaft?
Kannſt du dich gar nicht in Zwei ſpalten und hat,
[323] wenn du es kannſt, der Eine dem Andern gar nichts
zu ſagen?
Um mich zu beſſern, habe ich ſchon das Mittel ver¬
ſucht, eine Korreſpondenz mit mir ſelbſt zu eröffnen. Ich
ſchrieb mir ſehr weiſe ermahnende Briefe. Nun wurde
aber der Ich b über die Altklugheit des Ich a verdrie߬
lich, fieng an, unwirſch zu antworten, wurde grob und
gröber, der Ich a blieb ihm die Antwort nicht ſchuldig,
das Ding machte mir Spaß und endlich gab es eine
vollkommene Zank- und Scheltkomödie. — Larifari! —
Man ſoll den Idealismusnarren nicht trauen! Sie
ſind immer auch böſe Narren. Sie werden giftig.
Da ſie an alle Welt die Forderung der Vollkommen¬
heit ſtellen, nur nicht an ſich ſelbſt, ſo iſt ihnen nichts
und Niemand recht, ſie verdammen, höhnen, haſſen,
halten inwendig den ganzen Tag grimmige Monologen,
ballen die Fauſt offen und im Sack, üben Ränke und
Tücke. Dahin kommt es mit edlen Menſchen, denen
die Läßlichkeit fehlt.
Auch den Hamlet macht ſein Idealismus bös,
grauſam gegen die arme Ophelia. Ein Weib ſchlecht,
ſo werden es alle ſein. — Ein Engländer hat einen
[324] unſerer Shakeſpeareerklärer, der die Ophelia für eine
leichte Weltdame nimmt, auf Piſtolen gefordert. Recht.
Der hat meinen Geſchmack.
Was ich immer auf's Neue bewundern muß, iſt
das höchſt Stimmungsvolle in allen Theilen dieſes
Dramas, das doch von Gedankentiefe und ſcharfer
Bewußtheit ſtrotzt. Das Grundgefühl iſt Schwüle;
dieß iſt längſt erkannt und oft geſagt, aber es iſt
nicht bloß Schwüle in dieſer beſtimmten Situation.
Hamlet geht um wie ein Menſch, der zu enge Schuhe
anhat und ſie nicht ablegen kann, dem daher alles
Blut nach Herz und Gehirn ſchießt und der es daher
in ſeiner Haut faſt nicht aushält, und der richtige
Zuſchauer fühlt nicht nur, wie ſchwer ſeine Lage,
ſondern wie furchtbar ſchwer das Leben überhaupt iſt.
Nur der paradieſiſch naive, der beſchränkte und der
gewiſſenloſe Menſch lebt leicht, dem tiefer Gehenden
hämmern die Pulſe, wenn er bedenkt, welch' ein
fürchterliches Schraubenwerk das Leben iſt, das uns
zwiſchen Fragen einpreßt bis zum Erſticken. Der
Monolog „Sein oder Nichtſein“ iſt nach ſeinem Ge¬
dankengehalt ſehr überſchätzt worden, ſein Werth liegt
in der Stimmungstiefe: unerreichbar der Ausdruck des
Brütens, das nicht weiß, wohinaus, des athemloſen
Eingeengt-, Eingeſchnürtſeins.
[325]
Ich bin ſo ſchrecklich bedenklich, ſo ſehr Buridan's
Eſel, daß mich der Zweifel’, in welchem Laden ich
einen Kamm oder Bürſte kaufen, mit welchem neuen
Buchbinder ich es verſuchen ſoll, wochenlang umtreiben,
in ein wahres Elend von Einklemmung zwiſchen Für
und Wider verſetzen kann. Und doch bin ich auch
wieder ganz unbedenklich, gehe friſchweg darauf los,
fürchte nichts und Niemand, und weiß ganz gewiß,
daß ich, wäre ich ein Obergeneral und ſtünde im Felde,
den richtigen Moment für eine Schlacht mit zweifel¬
loſer Entſchloſſenheit ergriffe und drauf ſchlüge. Auch
das würde mich nicht irren, daß gezweifelt werden
könnte, ob nicht der folgende Tag einen noch günſti¬
geren Moment brächte. Ich würde mir ſagen: nach
menſchlicher Erkenntniß iſt der Moment jetzt günſtig,
ob morgen ein noch günſtigerer kommt, kann man
nicht wiſſen, handle ich alſo jetzt, ſo habe ich richtig
gehandelt, auch wenn's nicht gut ausläuft und wenn
ſich herausſtellt, daß es beſſer geweſen wäre, zu warten.
Daher wäre ich auch ganz feſt gegen Reue. — Liest
das einmal Jemand, er mag's für Prahlerei halten,
aber ich weiß, was ich weiß.
Sonſt im bürgerlichen Leben und in allen Lagen,
wo es nicht drängt, wo Aufſchub nicht Gefahr und
Schaden bringt, zapple ich, wenn Wahl iſt, endlos
[326] im Hexenkreiſe der Abwägung. Wer denkend iſt, hat
eben eine lebhafte Vorſtellung von den Hinderniſſen,
von den Möglichkeiten des Mißlingens. Hamlet handelt
freilich gerade da nicht, wo es eilt und drängt, im
Uebrigen gilt für alle ſolche Naturen ſein hartes Wort:
„verzagter Zweifel, welcher zu genau bedenkt den
Ausgang — ein Gedanke, der, zerlegt man ihn, ein
Viertel Weisheit nur und ſtets drei Viertel Feigheit
hat“. Hamlet iſt verklemmt und reſolut, beides, —
juſt ſo geht mir's, ob mir gleich nicht einfällt, mich
an Geiſt mit ihm zu meſſen.
Und auch dieſe Selbſterkenntnis; hilft mir nichts,
rein nichts. Daß man nicht aus ſeiner Haut fahren
kann!
In welche führe ich? Ja, da fängt's erſt recht an
mit: wer die Wahl hat, hat die Qual!
Nun! in gar keine!
Es wird ſchlimmer. Nichts um mich und an mir,
was nicht riebe, klebte, zwickte. Es ſind keine Ameiſen
[327] mehr, es ſind Klemmer. Haben mir's wohl extra
angethan, daß ich meine treffliche Arbeit: „Syſtem des
harmoniſchen Weltalls“, nicht vollenden ſoll, weil großer
Hauptſchlag gegen ihr Armeekorps. — Große Sing¬
tragödie will auch nicht werden. *)Dort liegt die
Pfahldorfgeſchichte, — ſkizzirt, kaum angefangen; keine
Stimmung.
Ich werde lebendig macerirt, zerſtochen, zerkitzelt,
zernagt, zerkritzelt, zerbröſelt, zerſtäubt. Seele, wohin?
Wohin? O, eine Leidenſchaft! — Die Eine, die
arme, die unterirdiſche, gute, ſtille und tiefe, — darfſt
ſie dir nicht geſtehen! — In den Krieg? O, da lebt
man! — „und ſetzet ihr nicht das Leben ein —“.
Aber in dieſen? in den, der ſich in Deutſchland bald
entſpinnen muß? O! —
Frau Hedwig ſchickt mich nach Italien. Hat am
Ende Recht. Noch Vieles dort noch nicht geſehen. —
Pfahldorfgeſchichte mitnehmen, etwa im ſtillen Venedig
vollenden, war ja einſt auch ein Pfahldorf.
[328]
Airolo. Ausathmen, ausathmen! O ſcheuslich,
o Streich in der unterſten Hölle ausgeheckt! — Meine
Sehnen müſſen ja doch von Eiſen ſein! — Das abſolut
Lächerliche tödtlich tragiſch, das Tragiſche zum Todt¬
lachen! — O, wer aus dem Bewußtſein heraus könnte!
— Hinab in die Strudel! Schnell! — Ja, wenn
nicht da unten — mit den grünen Nixenaugen, ſie —
ſie — Biſt du da?
Gerettet? Heißt man das retten? Oder doch ver¬
borgenes Weltgeſetz? Daß der gute Menſch ſein Leben
wagt und daß der zum Retter wird, der gerettet werden
ſoll und — wird? Iſt jener zu Dienſten aufgehoben
für das Leben, zu erklecklichem Wirken? Steht der
Zufall in tiefem, nicht zu überſehendem Zuſammen¬
hang? Ich, auch ich zu Zwecken gerettet? Ich? o,
das iſt vorbei!
Iſt meine Natur unverwüſtlich? Stößt das Ver¬
zweiflungsfieber im Exekutionsverfahren aus, daß der
Höllenſtoff in Scherben dort liegt am Granitblock in
Göſchenen! Kriſe? Aber wozu? Sei's wie es will,
was iſt, iſt, muß ſein.
[329]
Immerhin ordentlicher Menſch das, hat's recht
vernünftig mitgemacht. Nur komiſch, daß er wiſſen
und ſeinerſeits angeben zu wollen ſchien. — als ob
nicht: „Namen ſind uns Dunſt“. — Cornelia —
Augen — ſeltſam — nicht weiter denken! Fort —
dem Lago maggiore zu! Tüchtig marſchiren! —
Bellinzona. — Dort bei Oſogna! Der Reiſe¬
wagen — mich verborgen — Sie ſind es geweſen,
deutlich erkannt — und ich? — Hätte ich nicht doch
gedurft? Thor, Thor, warum nicht hervortreten? —
Nein, nein, es war beſſer ſo!
Aber wohin jetzt, wohin? Sie iſt dort. Es zieht
mich ſchwindelnd hin. Und darf doch nicht. Kann
nicht, dürfte nicht, auch wenn ich dürfte.
Aſſiſi. — Und doch hieher — im Fluge. —
Dort bei den hohen, ſchlanken Säulen des Minerven¬
tempels hab' ich ſie gehen ſehen, ſchweben — Nach¬
eilen? Halt, nein! Hinab, fort in's Thal, — ſie
darf mich nicht entdecken. Muß ihr's erſparen. Nicht
anders möglich: das Grauſen von damals hieng doch
wenigſtens mit Furchtbarem zuſammen, aber jetzt — Ja,
[330] wenn ich ihr Freund, nur ihr Freund wäre, ſonſt
nichts, — vielleicht nach dem Freund ſehnt ſie ſich
trotzdem, aber — es bleibt dabei, es darf nicht ſein.
Habe das Dienſtmädchen der Muhme umlaufen
ſehen, ſchien eilig zu ſuchen, mich zu erkennen, ver¬
doppelt ihre Schritte — ſie ſoll mich nicht finden!
Verborgen im Gedräng der Anbeter in der Kuppel¬
kirche. — Dumpfe, ſtumpfe Wahnſinnige, Zerrbilder
der Menſchheit, die ihr da das Bethäuschen des heiligen
Franziskus anplärrt, das Roſenwunder anglotzt! —
Und doch Wahnſinn — Wahnſinn des Sehnens auch
in mir — Madonna degli angioli!
Hier iſt es am beſten, in dieſem ganz einſamen
Hochthal oben hinter dem Kaſtell. Dieß Thal und
ich, wir verſtehen uns und es verräth mich nicht.
Es iſt, als ob dieſe faſt baumloſen Senkungen die
wehmüthigen Gedanken ſchon manches ſtillen Menſchen
eingeſogen hätten, deſſen Seele wohl ſtill war, weil
ſie auch zu laut war, wie die meinige. Ihr habt
wohl auch ſchon leiſes Schluchzen gehört, verſchwiegene
Gelände. — Hier bleibe ich bis zur Nacht, dann die
[331] Nacht durch zu Fuß rückwärts und ſchnell weiter, hinauf,
— wohin?
Hin, wo großes Leben den Todesſchlaf ſchläft —
nach Venedig!
Hab' ja auch kein Handwerk mehr. „Der Menſch
muß ein Handwerk haben.“ — Wohl ſagt Nathan:
„Man muß nicht müſſen,“ das gilt ganz, wo es
ſich um That handelt. Anders iſt es mit der Thä¬
tigkeit, da heißt es: der Menſch muß müſſen. Un¬
glücklich, wen kein Dienſt an die Zeit bindet, gerade
ſeine Freiheit drückt ihn in's Sklavenjoch der Zeit.
Eingefahren um Mitternacht in die Lagunenſtadt.
Ganz ſtill, Alles todtenſtill. Gerade recht für mich.
Ihr erzählt viel, alte Mauern, in aller Stille viel.
[332] Mancher Menſch iſt auch ſo eine ſtill gewordene alte
Stadt. — Unter der Seufzerbrücke heraus in's Offene.
Der Mond taucht auf. Dogenpalaſt. Hier Piazzetta,
Markus-Löwe, der heilige Theodor mit dem „coco¬
drillo“. Stich zu auf den Drachen, hab' auch
ge — — — — ſtill, ſtill, davon ſtill, in's Kühle
ſchauen, in's graue Silber auf den Wellen!
Der Sarg auf der Gondel nach S. Chriſtoforo
ſchwimmend — wie ſtill, lautlos — dort unter
Cypreſſen — am Meere — wie gut — dort ruht
auch Leopold Robert — unſere Schatten würden ſich
leis als Verwandte grüßen —
Die Nacht nicht geſchlafen, worauf ich mich nach
dem langen Gang nach fundamenta nuove doch ge¬
freut. Zanzare, Moskitos um die Jahreszeit noch!
— Verteufelte Symbole meiner Quälgeiſter! — Auf
Lido, ſagen ſie, ſei mehr Ruhe vor ihnen. Alſo
dorthin, in's Einſame, an den friſchen Hauch und
Wogenſchlag!
Lido. So mit mir allein, doch beſſerer Zuſtand,
ein Freund, das Meer. Gänge am Strand. Täglich
[333] Bad, kühlend tief hinein. Warum ſo unſtät, zapplich,
ihr Möven? Meer immer groß ſtät; auch wenn es
die Löwenſtimme erhebt, auch im Sturm: immer
Rhythmus. Machſt mich ruhig, Dank, heiligen Dank,
du Großes, du Unendliches! Was Alles liegt begraben
in dir, du aber ſchlägſt und wogeſt ruhig darüber hin,
wandellos in ewig gleicher Bewegung. Du überlebſt,
ich kann es auch überleben. Zerre, zapple nicht mehr,
Seele, halt ſtille!
Die Pfahldorfgeſchichte hervorgezogen. Das Wäſſe¬
rige um mich, Ufergeruch, Schilf, Röhricht, Seegras,
Binſen am Strand bringt Stimmung zum Seebild.
Kann jetzt wieder unter Menſchen. Herüber! —
Schöne Wohnung gefunden an der Riva dei Schiavoni.
Auch hier Seeluft, frei, friſch, weit. Kann auch wieder
lachen. Menſchen, ſelbſt die ſchlimmen, doch alle etwas
antik Naives. Puppenſpiele drunten, ich ſtehe gern
mitten unter den Kindern, alten und jungen, ſchaue
und lache. Der Hanswurſt ſchrauft ſeinem Wider¬
ſacher die lange Naſe aus dem Geſicht und haut
ihn damit: gut, tief, ſehr gut, mir lieber als feine
Komödie. Dalmatiner, Montenegriner, Griechen vor
den Kaffeehäuſern, Feß, Pelzjacken, braune Raub¬
[334] vogelköpfe. — Und keine Thierqual, kein Fahrlärm:
Hauptſache.
Alles groß, geſchichtlich ſtylvoll und doch auch
häuslich, heimelig wie bei uns alte Reichsſtadt. Die
engen Gäßchen hab' ich beſonders gern; Gemüth ſpinnt
ſich ein, wird zu Hauſe. Freunde gefunden, brave,
heitere Kameraden. Gondolier plaudert mir vor von
Kind und Kegel, auch von ſeiner Großmutter, liebens¬
würdig. Und dann wieder die hohen Bilder der alten
Macht und Größe, die lebensvollen, blutwarmen und
doch ſo adeligen Maler, — die Kirchen, die Paläſte;
die Farben, die Reflexe im Waſſer. Nun ja, man
kann doch leben. Hinein in die Kirchen vorerſt nicht,
brauche Tageslicht, im Helldunkel drohen Geſpenſter.
Die byzantiniſchen Starraugen an den Wänden in der
Markuskirche predigen todten Tod im Leben, wider¬
wärtige Mumien.
Gehe vom Arſenal zurück an der kleinen Kirche
St. Martino vorüber, da iſt noch einer der Fratzen¬
köpfe mit offenem Rachen für Denunziationen. Hier
gegen Ketzer; Inſchrift: Denoncie secrete contro
Bestemmiatori et Irreverenti alle chiese. Ein
Gruſel ſtieg mir auf und nachher mußte ich lachen,
[335] denn ich ertappte mich auf böſem Gewiſſen. Werden
mich ſchön verketzern, denoncie, nicht secrete, ſondern
publiche in die Zeitungsrachen ſtecken, wenn der Reiſe¬
kumpan ſich einſt entſchließt, meine Pfahldorfgeſchichte
in Druck zu geben, und wenn ſie das Kinderbehör
am Feſt, die Katechiſation leſen. Und iſt doch ſehr
harmlos. Ich muß die Religion der Pfahlbewohner
exponiren — die übrigens nicht närriſcher iſt, als
manche alte Naturreligion —, nun, das darf ich doch
nicht in eigener Perſon, nicht direkt thun, muß doch
als Poet verfahren, da fällt mir das Motiv ein, es
ſo in Szene zu ſetzen. Wüßte durchaus nichts Anderes.
— An ſich habe ich, als ich zu Hauſe für dieſen
Zweck das Konfirmationsbüchlein wieder einmal zur
Hand nahm, zweierlei gefühlt. Ganze Klumpen von
logiſchen Widerſprüchen, die den Kindern, ſobald ſie
zu Verſtand kommen, in die Augen ſtechen müſſen, ſo
daß ſich ihr Kopf heftig gegen das Ganze ſträuben
wird, daß ſie dann nicht mir herauswachſen, ſondern
in Widerwillen das Kind mit dem Bad ausſchütten
werden. Zugleich aber gewiſſer ehrlicher, guter Herz¬
ton, rührend; man ſieht, wie felſenfeſt dieſe Theologen
an die ganze Miſchung von Sinn und Unſinn glaubten.
Wären wir Neueren ſo herzfeſt in der wahren, der
reinen Religion!
Halt, ein Gedanke! Ueber dem: Qui si denunzia!
[336] Alpin ſoll aus Eiferſucht Denunziant an Arthur werden!
Gut, muß ſehen, wie ich's verwende.
Den Kirchenlauf nun doch angetreten. Wo frei¬
ſchöne Bilder, ertrage ich auch den Weihrauchgeruch.
Wenn doch einmal Heidenthum, ſei es da, wo es ſeinen
Göttern Herz und Schönheit verlieh. Dabei immer die
Anfänge oder erſten großen Schritte, das Flügelregen
bei noch nicht völliger Flügge ſo reizend. Dieſer
Giovanni Bellini, dieſe Maria mit den muſizirenden
Engelknaben am Throne, dort in der Sakriſtei von
ai Frari, iſt ganz zum innig reinen Verlieben. —
Dann reife Schönheit. Heilige Barbara in S. Maria
Formoſa — jeden Tag dahin. Schreckte mich zuerſt,
weil die junoniſche Geſtalt mich — ich ſtürzte hinaus.
Doch wieder gewagt — und nun das Etwas um die
weichbeſchatteten Augen — ganz von ihr — wunder¬
bar. Und dieſe Weichheit durchrinnt als Welle doch
auch die ſtolze Geſtalt — Siegerin über alles Wilde
— Und Palmzweig! Ich habe dein Fächeln geſpürt!
— Gehe nun täglich dahin.
Sonſt mag ich die Venetianer doch mehr als
Männermaler, trotz Tizian's, Paolo Veroneſe's, Palma
Vecchio's, Pordenone's, Bordone's Weibern. Suche
[337] meiſt vergeblich jenes Etwas. Aber ganze Mannheit
feſt, ſonnenbraun, im Gegenwärtigen zu Haus und
Eins mit ſich, keine Sehnſucht, eine zweite Antike.
— Tizian doch auch oft ſinnlich brünſtiger, als
echte Kunſt ſoll. Doch in der Verkündigung Mariä
zu Treviſo und in der Aſſunta auch das hoch myſtiſch
„ewig Weibliche“. Apoſtel unten auf der Aſſunta —
ſchon nah' an überreifer Kunſt, wenigſtens der eine mit
dem theatraliſch geſtellten rechten Bein; andere herrlich
— nun mit voller Herrſchaft über die Darſtellungs¬
mittel jenes Nachſchauen, das mich ſo in's Mark hinein
ergreift, Gefühl: die Welt ein Schattenthal ohne ſie.
Stehe oft und gern Nachts auf einer der kleinen
Brücken, ſehe hinab auf den dunkeln Kanal, da und
dort von Lichtſchein überblitzt. Wenn dann eine Gondel
durchfährt, ſo ganz ſtill, nur ſelten der Ruf: Sta li!
ſonderbar, dann iſt mir oft, als liege ich, der da oben
zuſieht, zugleich todt in der Gondel, und der Todte
freue ſich zugleich der ſtillen Nachtfahrt.
Hübſch — neulich auf der Fahrt nach Treviſo;
ein paar gebildete Venetianer im Wagen; auch ein
Abbate, vernünftiger, klarer Menſch, intereſſante Aus¬
nahme. Wagenfenſter offen, auf dem Bocke ſitzt ein
Viſcher, Auch Einer. II. 22[338] hagerer Pfaff. Wir kommen auf Kloſterweſen, Cölibat,
weiter auf anderes Ungeſunde der katholiſchen Kirche
zu ſprechen, ganz geſetzt, ernſthaft. Der Pfaff drau¬
ßen horcht mit halbgewendetem Kopf. Der Wagen
hält einige Minuten. Schaut der Pfaff herein mit
durchbohrendem Blick und ruft mit Stentorſtimme:
„Signori, la morte!“ — Er meinte, er dürfe das
Wort nur nennen, ſo werde es uns wie ein Donner¬
wetter in die Eingeweide fahren. — Es war nicht
möglich, nicht zu lachen. — Aber belehrend: da ſieht
man, an was die Schauſpieler den armen, feigen
Menſchenpöbel packen. — Fürchte den Tod nicht und
dir kann kein Pfaff bei! —
Einer der Italiener hat etwas höchſt Treffendes
geſagt. Ich lobte die Reformation, ich ſagte, ſie ſei
die unentbehrliche ſittliche Ergänzung zur Renaiſſance;
die Italiener ſollten ſie irgendwie nachholen, ſich beeilen,
aus ihrer Kirche hinauszukommen. „Va bene,“ ſagt
der Herr, „ma poi anderemo più lontano che voi
Tedeschi, che vi siete fermati nella prima osteria.“
Wie wahr! Wie hat es die Reformation verderbt,
daß ſie ſich gleich wieder in eine Kirche einſchloß mit
Dogmengezänk, wie ein Fußreiſender, der im erſten
Wirthshaus hängen bleibt.
[339]
Am Rialto, auf dem alten Börſenplatz jenſeits
der Brücke, meine ich leibhaft den Shylok zu ſehen,
wie ſie ihm auf den Bart ſpucken, wie er hinweg¬
ſchleicht, den brennenden Haß gegen die Chriſten in
der Seele. Ja, Shakeſpeare! — Wenn er Venedig
hätte ſehen können, wie es jetzt iſt! Das Traum¬
gewordne! O, er hätte es ganz verſtanden! Wie
iſt er traumwebend! Und zugleich heller, wacher Tag.
Oft iſt's, als ſiedete ſein Gehirn vor Phantaſiren
und doch iſt er ganz bei ſich, durchdenkt, ordnet, be¬
fiehlt. — Auf der Brücke, in der Dämmerung zurück¬
gehend, glaubte ich ihm ſelbſt zu begegnen. Konnte
ſeine Züge nicht ſehen, nur ſeine hohe Stirn. Kein
Menſch auf Erden unter allen, die geweſen, den ich
ſo drangvoll verlange von den Todten erwecken zu
können, um ihn zu ſehen, an ſeinen Lippen, ſeinen
Augen zu hängen. Und wie würde ich ihn mit Fragen
beſtürmen! — Aber es iſt gut, daß er uns nicht mehr
erſcheinen kann, er würde zu todt gefragt — mit vielen
nöthigen und mit noch weit mehr dummen Fragen.
Pfahldorfgeſchichte fertig. Beſorge Abſchrift für
den Reiſekameraden; ſoll bald abgehen. Etwas doch
zu Stande gebracht! Wie es auch ſei, es kann doch
— im Kleinen — ein Ganzes heißen.
[340]
Goethe hat geſagt, der Humor ſei zwar ein Element
des Genies, aber ſobald er vorwalte, begleite er die
abnehmende Kunſt, zerſtöre und vernichte ſie zuletzt.
Dieß iſt doch nur dann wahr, wenn man unter „vor¬
walten“ außer dem Ueberhandnehmen beſonders ver¬
ſteht eine Einmiſchung in das Dichtwerk auf Koſten
der Objektivität. Belehrend iſt hierin J. Paul; das
humoriſtiſche Ich des Dichters drängt ſich zerſprengend
in das Bild, das er geben ſoll. Er verwechſelt Dichter
und Gedicht. Er will Narren oder ſeltſame Begeben¬
heiten vorführen und ſtatt deſſen führt er ſeltſam und
närriſch vor. So wird der reiche, herrliche Geiſt
ungenießbar und Niemand liest ihn mehr, — leider!
Sollte es aber nicht eine ſchöne Aufgabe ſein, zu
zeigen, daß es auch einen Humor gibt, der dieſer
Verſuchung widerſteht und ein Bild des Närriſchen
mit der Objektivität des Künſtlers entwirft und durch¬
führt? Zweite verbeſſerte Auflage J. Paul's, der mit
Unrecht zu den Todten geworfen iſt? Auferſtandener,
genießbar gewordener J. Paul?
Sei's, wie es kann, geh' hin, mein Kind! Und
ich kann auch gehen. Abſchied wie von einer
lieben Heimat. Noch einmal den Colleoni geſehen,
ehern, dunkel ragend im Mondſchein. Bleibe mir,
Bild, erinnere mich Zeitlebens an den Schlachttag!
[341] Dürft' ich einen zweiten erleben und dann ſo ein
eiſerner Reitersmann voraus im Pulverdampf: vor¬
wärts! vorwärts! Marſch! Marſch! — Noch einmal
Markusplatz in Mitternacht, im Florlicht des blaſſen
Geſtirns — ob ich noch einmal herkommen werde?
Ich Vergangenheit? — Was bliebe mir noch zu ſtürmen!
— Zu meinem Fenſter von der weiten Lagune her
köſtliche Nachtluft, Seeluft. Dort die Inſeln wiegen
ſich ſchlafend auf dem weichen, freien, breitergoſſenen
Elemente im Flimmerſchleier der leiſe ſingenden Nacht.
Nun wieder zu Haus. Im Winter muß man zu
Hauſe ſein. Ofen. Ohne Ofen doch kein Gefühl des
wahrhaft Heimiſchen. Völker, wo bloß Kamin herrſcht,
haben doch immer irgend einen unheimlichen Zug. —
Des Reiſens vorerſt wieder genug. Reiſen iſt Schund.
Reiſen heißt, ſich über grobe und ſpitzbübiſche Menſchen
ärgern, von Leuten bedient werden, die zu wenig Zeit
für mich haben, weil ſie zu Viele bedienen müſſen,
die fortſchnurren, wenn ich etwas frage, etwas beſtelle.
Reiſen heißt in Zimmern wohnen, wo der Stiefelknecht
fehlt oder zu weit, wo der Schrank nicht ſchließbar iſt,
weil der Reiſende in Twiſt oder auch die Gräfin X
geſtern aus Verſehen den Schlüſſel mitgenommen hat,
oder der Schlüſſel zwar ſteckt, aber nicht geht. Reiſen
heißt in dummen Betten ſchlafen (Italien ausgenommen),
[342] auf unſinnig konſtruirten Seſſeln, in wahnſinnig ge¬
polſterten Coupés ſitzen. Reiſen heißt ſchamlos wohnen,
in Gaſthöfen nämlich, wo überall die Zimmer nur
durch eine dünne Thüre vom Nachbarzimmer getrennt
ſind; der hört alſo jeden Laut und die Folge iſt, daß
man nothwendig meinen muß, er ſehe Einen auch,
zum Beiſpiel nackt beim Hemdwechſel; reiſen heißt mit
abſurden Menſchen ſein müſſen, wenn man einſam ſein
will, am meiſten, wenn man mit der keuſchen Natur
andächtig verkehren möchte, dagegen einſam ſein, wenn
man ſich nach Menſchen ſehnt; reiſen heißt ewig packen
müſſen, und ein Fürſt hat es nur ſcheinbar beſſer, ihm
beſorgt die Sache ſein Marſchall durch die Bedienten,
aber wer beſorgt ihm ſeinen Marſchall und wer beſorgt
ihm, daß er nicht beſorgt, ſein Marſchall beſorge es
ihm nicht recht? Dennoch muß man reiſen, denn der
Schund ſtärkt den Charakter. Und übrigens nachher
vergißt man all die Noth und eine Welt neuer An¬
ſchauungen — wenn anders man zu ſchauen wußte
— bleibt. — Nebenher auch Argument gegen den
Peſſimismus.
Eine Art zu reiſen, ja, die iſt Genuß an ſich, wohl
der reinſte Lebensgenuß, vorausgeſetzt gut Wetter, gute,
wohlausgetretene Schuhe und kein Hühnerauge; eine
Fußreiſe ohne Begleiter außer einem Hund. Nur ja
[343] Niemand mit, und wäre es der Buſenfreund, der eigene
Bruder, der eigene Sohn — nicht, nicht! Man hat
ungleichen Schritt, will ſich gern nach dem Begleiter
einrichten, vergißt es immer wieder nach wenig Minuten,
und der Eine oder Andere zappelt ſich ab, iſt gehetzt;
der Eine will einkehren, der Andere nicht, der Eine
reden, der Andere ſchweigen, dieſer gibt nach, und man
verſchwatzt die herrlichſten Landſchaftspunkte, die ſchönſten
Beleuchtungen. Es iſt Entbehrung, ſich nicht mittheilen
zu können, aber dieß negative Uebel viel kleiner als
jene poſitiven. — Wandern, wandern, ſeiner Rüſtigkeit
froh, Diogenes mit federleichtem Gepäck, ſchauen, träu¬
men, viel denken und nichts denken, bei Sennen ein¬
kehren, im ländlichen Wirthshaus übernachten, wo es
noch einen Hausknecht gibt, der mit der Innigkeit edler
Leidenſchaft die Stiefel wichst, in deſſen Geſicht nicht
jeder Zug Trinkgeld heißt, — freundlich plaudern mit
Landvolk, mit Hausthieren, ſchlafen wie ein Sack, in
Morgenfrühe weiter, von Lerche, Fink, Amſel begrüßt
— kurz, man lebt. — Leider geht's in Italien,
wenigſtens auf den Hauptlinien, nicht; brennende Land¬
ſtraßen, zu wenig Feldwege, zu wenig Grün, zu wenig
reinliche und zuverläſſige Landherbergen.
Warum fährt es manchmal wie ein Blitz in mir
auf: gleich wieder fort und hin!? Haſt Wahnſinn
[344] begangen dort in Aſſiſi! Das einzige Glück für dein
gebrochenes Leben — Nein, nein, ſo ſpricht nur der
alte Adam in mir! Beſſer ſo, es bleibe des Schmerzes
Reinheit!
Was aber nun thun? Nachdem die Pfahldorf¬
geſchichte fertig iſt? Die Reiſeerinnerungen nieder¬
ſchreiben? Gar drucken laſſen? Pah! Dieſe Flut
vermehren, unter die Schmierer gehen, die nichts leben
können, ohne es zu ſchreiben? Wieder etwas kom¬
poniren? einen Roman, Drama? Pah! als ob dazu
dein Talent reichte! Und überdieß — aufwühlen?
aufwühlen? — Könnte es ohne das abgehen? — Wie
dann noch den Stoff beherrſchen?
Philoſophie? Etwas zu bauen ſuchen? Reicht
nicht. Ueberdieß das Unglück: die Diskreditirung der
Philoſophie durch die Syſteme. Syſtem iſt immer
Ausbau eines Gedankens, der als Gedanke Eines
Kopfs, wenn auch auf und über vielen Schultern und
Köpfen, doch immer nur dieſes Einen Menſchen Ge¬
danke iſt. Und trotzdem das Erhabenſte, was ein
Menſch leiſten kann: Verſuch, das Weltall im Begriff
nachzubauen. — Amphiboliſche Sache.
[345]
Er kommt, der Bürgerkrieg. Dialektik darin, die
mich raſend machen könnte. Großdeutſch geweſen lang.
Immer mit Eifer behauptet: ein Theil kann und darf
nicht das Ganze werden, werden wollen. Wird nichts
ſein, falſche Anwendung der Logik auf das Reale, das
aus zu vielen Fäden beſteht, um direkt logiſch ver¬
meſſen zu werden. Auch das preußiſche Weſen nicht
leiden können, Eſſigſäure, Wohlweisheit, Herr Doktor
Gſcheutle. Zuneigung zu Oeſterreich, wußte nicht, wie
liederlich. Antipathie, Sympathie — keine Politik.
Nun Preußen ſehr gute Naſe: wittert, daß die deutſche
Kaiſerkrone im Dünenſand Schleswig-Holſteins verborgen
liegt, dort auszugraben iſt. Oeſterreich niedlich dran
gekriegt, hineingelockt, um graben zu helfen, — dann
aus der Hand ſchlagen! — Begreife, es will aus Un¬
recht ein neues Recht aufſtehen. Wohl, aber die
Menſchheit würde charakterlos, ſchlecht, wenn in ſolchem
Fall Niemand für das alte Recht kämpfte, ob auch
hoffnungslos. Und dann — Politik und Privatmoral
freilich zweierlei; aber Sieg neuer politiſcher Form,
auf Gewalt gebaut, die durch Liſtgewebe eingeleitet iſt,
doch immer auch von entſittlichender Nachwirkung —
Moral der Nation trägt eine Schlappe davon. Man
wird’s ſehen, wenn die neue Form wird — Dennoch —
Die Politik iſt doch ein merkwürdiges Gebiet,
Theater, worin wie ein Narr ſitzt, wer nicht hinter
[346] die Couliſſen ſieht. Und was dort hinten ſpielt, iſt
die Liſt. Sie iſt keine kleine Kraft, namentlich wo ſie
mit ſehr vielen und verwickelten Fäden zu ſchalten hat,
aber ſie iſt doch ein Element niedriger Art. Viel
sapientia und doch nur quantilla. Die Katze iſt
liſtiger, weit mehr Diplomat als der viel geſcheutere
und viel edlere Hund. Verdient ein Staatsmann groß
zu heißen, ſo verdient er es trotzdem, daß er in
dieſem Elemente ſich bewegen muß. Den großen Staats¬
mann führt die Idee, ſie iſt ſein Zweck, die Liſt ſein
Mittel, — Edles im Unedlen, Hohes im Gemeinen.
Man muß nur zum Beiſpiel bedenken, was da Alles
gelogen wird! — Reineke Fuchs — ein Heil, wenn
er zugleich ein Löwe iſt. — Doch iſt Jedem Glück zu
wünſchen, der mit der ganzen krummen Partie nichts
zu thun hat. Was iſt Kunſt, Wiſſenſchaft, einfache,
gerade Amtsarbeit dagegen für ein reines Element!
Es fängt an, ſpielt ſich in unſere Nähe — glaube,
Hannover wird eingeſackt werden — dieß wäre jeden¬
falls hochkomiſche Epiſode — würdig, einen Ariſto¬
phanes zu finden. — „Bis an's Ende der Tage!“
Kann in dieſem Netz meſſerſpitziger Fragen zap¬
pelnd nichts arbeiten. Aus Verzweiflung dummerweiſe
[347] wieder mehr in Geſellſchaft. Da die pure Partei¬
konfuſion, links, rechts, überall; mir ſchwindelt das
Hirn, wenn ich mich in die undialektiſchen Köpfe ver¬
ſetze. — Noch dummer: nehme geſtern einmal wieder
eine Einladung an in patente Geſellſchaft. Nobles
Haus, gaſtfreundlich, aber wie alle. Wer bewirthet,
trägt bei aller Güte doch meiſt eine Tücke im Herzen;
denkt: das Alles erweiſe ich euch nun, und ihr dürft
keinen Heller dafür zahlen; aber dafür verlange ich
Eines: ihr ſollt euch verkälten. Es werden im Sommer
Fenſter, im Winter Thüren aufgeriſſen, die einen Zug
geben. Der arme Gaſt zahlt die Zeche nach mit Elend!
o Elend! — 's fängt ſchon an, beißt in der Naſe,
ich ſpür's. O großer Buchbinder Weltgeiſt, warum haſt
du mich zu fein eingebunden! — In dieſer Welt
braucht's Schweinsleder.
Dießmal war's ernſt. Schnupfen nicht genug,
Zahnweh, acht Tage Geſichtsſchmerz. Zwar darin
doch Fortſchritt: doch der Mühe werth. — Und hat
mir über's Aergſte draußen in der Welt hinüber¬
geholfen. Blutbad von Sadowa. Entſchieden! —
Was jetzt kommt? eine gute Weile ſchließ' ich die
Augen.
Nach innen fühle ich ein Etwas befördert, be¬
ſchleunigt, das freilich auch von ſelbſt die Jahre mit
[348] ſich bringen. Geht etwas vor in mir. Es iſt wie
eine Art Zahnen im Geiſt. Die Menſchen werden mir
durchſichtig. Es fällt mir wie Schuppen vom Auge.
Eigentlich ein gar ſchwerer Uebergang! Denn ſeit die
Menſchen nackt vor mir ſtehen, weiß ich erſt recht, daß
die Mehrheit Lumpenpack iſt. Kommt dazu das ſicht¬
bar beſchleunigte Wachsthum der Schlechtigkeit in jetziger
Zeit. Es iſt ſchon zum Bitterwerden. War einſt ſo
zutraulich, auch Polizeiberuf machte mich lange nicht
mistrauiſch, dachte: das ſind Ausnahmen, gieng nament¬
lich gern mit dem Bürger um, der Stand kam mir ſo
recht kernhaft vor; fragte nicht lange nach Perſonalien.
Jetzt kann man nicht mehr wohl mit einem Unbekannten
ſich einlaſſen, — vielleicht Gründer, — Sattler, der
Roßhaar herausnimmt, Seegras hineinſteckt, — Fälſcher
von Waaren, Lebensmitteln, Kaſſendieb — und weiß
der Teufel, was Alles.
Dennoch ſoll man ſich nicht verbittern laſſen. Wenn
man nicht zählt, ſondern wägt, ſo wiegt ja doch die
anſtändige Minderheit die ſchlechte Mehrheit auf; wohl
ſelbſt jetzt noch. Ferner: du darfſt kein Menſchenver¬
ächter werden, weil du nie wiſſen kannſt, wer aus der
ſchlechten Mehrheit fähig, empfänglich iſt, in die Minder¬
heit heraufgehoben zu werden. Die Grenze zwiſchen
Beiden iſt flüſſig. Man kann alſo heiter bleiben trotz
der Weltlumperei, und man braucht dieſe Stimmung,
eben um jene Grenze flüſſig zu erhalten. Umgekehrt
[349] ſoll man auch der Feſtigkeit der Grenze von oben nach
unten nicht trauen. Zählſt du dich zur guten Minder¬
heit: du magſt Recht haben, aber zupfe dich an der
eigenen Naſe, beſinne dich auf die Blindheit deiner
Jugend, falle nicht in Sicherheit und Dünkel, ins¬
beſondere prüfe dich daran, ob du aktiv biſt. Hoch¬
muth kommt vor dem Fall. Eine Minderheit, die nur
klagt und ſchilt, taugt gar nichts, verliert ihren Werth.
Nicht ob moraliſche Uebel vorhanden ſind oder nicht,
iſt die Frage, — ſie ſind immer vorhanden, weil die
Mehrheit ſchlecht iſt, — ſondern ob ſie bekämpft werden
oder nicht, ob die beſſere Minderheit thätig iſt oder
unthätig. Iſt ſie unthätig, ſo verkommt ſie ſelbſt.
Das Menſchenbataillon hat eben wie jedes mehr Ge¬
meine als Offiziere. Erſt wenn dieſe faul werden,
ſteht es ſchlecht.
Wer die Gemeinheit der Welt, den maſchinenhaft
rohen Druck der Verhältniſſe in dieſem ſtoßenden Ge¬
dräng, wo Alles vom Intereſſe geſchoben wird und
dazwiſchen die eiſerne Schraube der Nothwendigkeit
läuft, wer dieß mit grauſam täuſchungsloſem Auge
geſehen hat wie kein Anderer, das iſt Shakeſpeare.
Die Gröblichkeit der Welt nennt er's einmal, Buckingham
ſagt's in Richard III.: grossness of this age; this
age iſt aber jedes age. Alle tragiſche Literatur aller
[350] Zeiten gibt dieß Bild nicht in ſo unerbittlicher Schärfe;
mit Shakeſpeare verglichen herrſcht überall ideale Be¬
ſchönigung, die nicht vollkommen ideal iſt, eben weil
ſie noch beſchönigt. Gegen dieſe Wildſchweinwirthſchaft
der Welt brennt nun in ihm wie glühend Eiſen der
heilige Zorn und läßt er in ſeinen furchtbaren Tra¬
gödien die himmliſche Gerechtigkeit mit blitzendem Flam¬
berg durchhauen, und nicht von außen, ſondern von
innen. Er weiß ſehr wohl, daß es ſo nicht wird in
der Mehrzahl der einzelnen Fälle, im beſten nicht ſo
leuchtend; aber er vertraut und glaubt, obwohl er es ſo
wenig beweiſen kann als irgend ein Sterblicher, er glaubt,
daß ein ſolches Geſetz geheimnißvoll, weil ein nicht
überſichtliches Unendliches beherrſchend, unſerem Auge
oft verſchwindend, im Großen waltet, und als Dichter
faßt er dieſe zerſtreuten Strahlen in den Focus eines
einzelnen Falls, der dadurch, wie durch jenes fürchter¬
lich wahre Bild der Welt, hochſymboliſch wird. Dabei
werden die tragiſch Betheiligten und ſchuldig Gewordenen
nicht, nur die Geſellſchaft wird gerettet, die Wahrheit
der über alles Einzelne übergreifenden Mächte: Ehre,
Liebe, Recht, Vernunft, Menſchlichkeit; unter ihrem mit
ſo theurem Blute begoſſenen Baume können nun Un¬
zählige in Frieden leben. Dieſe Mächte bleiben, während
das Endliche verglühen muß. Shakeſpeare will durch die
Häufung von Leiden und Leichen in ſeinen letzten Akten
den Eindruck der Götterdämmerung, des jüngſten Tags
[351] hervorbringen. Daher ruft Kent beim Anblick Lear's,
der die todte Cordelia auf ſeinen Armen geſchleppt
bringt: „Iſt dieß das prophezeite Weltende?“ und ſetzt
Edgar hinzu: „Iſt's ein Vorbild jener Schrecken?“
und Albanien: „Des allgemeinen Untergangs?“
Und dieſer Unerreichbare iſt mit den argen, argen
Flecken behaftet: Aberwitz und eckelhafte Zoten! Der
letztere wird von den Anbetern nicht geleugnet, der
erſtere etwa einmal ſo zugegeben, wie man mit be¬
dientenhafter Art von Reſpekt ein Mängelchen an
Erdengöttern zugibt. Was ich doch aber auch nicht
ausſtehen kann, iſt die Pietätsmichelei. An großen
Männern werden zu Götzendienern Alle und Jede, die
keine Spur verwandten Geiſtes in ſich fühlen. So
entſteht der Nimbus. Die Menſchen müſſen Götter
haben. Es iſt wohl wahr, daß die Sprache arm iſt,
eine Bewunderung auszudrücken, wie wir ſie für ſo
große Genien fühlen, ſie kann faſt nicht umhin, zu
vergöttlichenden Namen zu greifen. Aber wer ihres
Geiſts auch nur ein Tröpfchen in ſich ſpürt, wird dar¬
über nie und nimmer unkritiſch werden, ja er wird
gegen wirklich entſtellende Flecken noch ſchärfer los¬
gehen, als bei gewöhnlichen Sterblichen, denn der Be¬
wunderte hat ſchwerere Verantwortung, als andere
Menſchenkinder. Gegen Mittelgut, wofern es beſcheiden
[352] iſt: mild, gegen Große ſtreng! — Ich hätte gute Luſt,
eine Shakeſpeare-Abſurditätenſammlung anzulegen —
zur größern Ehre des Dichters. Nichts ſchadet ja dem
großen Geiſte mehr, als wenn man den guten Leuten
zumuthet, ihn mit Haut und Haar zu bewundern;
ihnen ſoll man ſagen: ſiehſt du, das und das iſt zu¬
gegeben als roh, als abgeſchmackt u. ſ. w., damit plage
dich nicht, damit du die Seele frei bekommſt für das
Große, das rein Schöne! — Es iſt nicht leicht ergründen,
worin eigentlich das Abſurde beſteht. Wer vermöchte
den Abgrund von Aberwitz in folgendem Prachtſtück mit
Begriffen zu erſchöpfen! Romeo im Sonettenſtyl über
Roſalinde, da Benvoglio ſagt, es gebe ſchönere Mädchen:
Genommen vom Hexen- und Ketzerprozeß: Waſſer- und
Feuerprobe. — Das ſagt nun Romeo zwar im euphui¬
ſtiſchen Modeton, man kann ſich aber darauf verlaſſen,
daß Shakeſpeare damit etwas Extrafeines in allem Ernſt
zu bieten meinte und daß die Geſellſchaft ſeiner Zeit
es höchlich bewunderte. Und in keinem deutſchen Kom¬
mentar auch nur ein Wort gegen den vertrakten, hirn¬
verbrannten Schwulſt! — Shakeſpeare iſt mit Einem
Bein ſpäter aus dieſem Geſchling heraus, mit dem
[353] andern nicht, noch in ſeinen reifſten Werken kommen
derart Schnörkel. Zeitgeſchmack freilich, aber er hat
ſichtbar ſeinen Gefallen daran; der Zug zum Ver¬
ſalzen, allen phantaſieſtarken Geiſtern eigen, verführt
ihn dazu. — Auch Zote war Zeitgeſchmack, dennoch
begreift man nicht, wie Shakeſpeare keinen Eckel davor
haben konnte. Er ſteht doch über der Wachtſtube.
Habe nebenher leider meinen beſondern Spaß am
Abſurden. Eigenthümlicher Schauer über den Buckel her¬
unter, kitzliches Weh- und Wohlthun, Gänſehautreiz.
Was nicht Gänſehaut macht, iſt noch nicht recht abſurd.
Möchte eine Abhandlung darüber ſchreiben, habe aber
den Grundbegriff noch nicht finden können; „Ma߬
verletzung, Grenz- oder Taktverletzung“ ganz oberfläch¬
lich. — Auf die Definition müßte eine Eintheilung
folgen. Shakeſpeare's Abſurditäten ſind falſche, quer¬
köpfige Bilder, krumme Ideenaſſociationen überreicher
Phantaſie. Eine andere Gattung wäre die wohlweiſe,
die bei ihm nicht vorkommt. Derart habe ich mir
Einiges ausgeheckt, um für ferneres Nachdenken über das
Weſen der Abſurdität gute Beiſpiele bereit zu haben:
Geiſtreiche Gedanken eines Schulpedanten.
Idee 1. Er hat ſich die Lehre gemerkt, daß ein
Dichter Alles individualiſiren muß. Schlägt daher
Viſcher, Auch Einer. II. 23[354] vor, eine Stelle in Schiller's „Wilh. Tell“ zu ver¬
beſſern oder eigentlich zu bereichern. Monolog in der
hohlen Gaſſe. Stelle:
Hier einzufügen:
Idee 2. Anmerkung zum Schluß des Monologs:
Die älteſten Uhren waren Sand- oder Sonnen¬
uhren. Es gab übrigens auch Waſſeruhren. Häufig
wird Severus Boëtius im Jahre 510 als Erfinder
der Uhren betrachtet, aber er verfertigte nur eine künſt¬
liche Waſſeruhr. Auch die Uhr, welche der Khalif
Harun al Raſchid Karl dem Großen ſchenkte, war wohl
eine Waſſeruhr, mit welcher jedoch Räderwerk in Ver¬
bindung ſtand, denn ſie hatte ein Stundenglas, welches
ſich alle zwölf Stunden umdrehte. Dem Mönch Gerbert
(ſpäter Papſt Sylveſter II., ſt. 1003) wird häufig die
Erfindung der Schlaguhren zugeſchrieben; er wurde
deßhalb als Zauberer verſchrieen; nach Mancher Mei¬
nung war jedoch auch dieſes Werk nur eine künſt¬
[355] lichere Sonnenuhr. Dante zu Ende des dreizehnten
Jahrhunderts beſchreibt zuerſt eine Schlaguhr. Die
erſten bekannten Gewichts- und Schlaguhren ſind von
Dondi in Italien, von Wallingford in England und
von de Wik in Deutſchland. Im vierzehnten Jahr¬
hundert hatte man Uhren zuerſt in Klöſtern, in Städten
waren ſie bis zu Ende deſſelben noch eine Seltenheit.
— Wie viel mehr in Dörfern! Tell lebte im An¬
fang des vierzehnten Jahrhunderts; er hat alſo höchſt
ſchwerlich in einer Stadt (— er beſuchte wohl über¬
dieß Städte nur ſelten —), eher etwa in einem Kloſter
eine mechaniſche Uhr geſehen. Doch iſt wahrſchein¬
licher, daß Schiller nur eine Sand- oder Sonnenuhr
im Auge hat. — Eine Taſchenuhr konnte Tell nicht
beſitzen. Solche ſind entweder von dem Nürnberger
Peter Hele um 1500, oder nach Anderen von dem
Straßburger Iſak Habrecht um 1529 erfunden. —
Doch wie, wenn der Dichter dem Schauſpieler einen
kühnen Anachronismus hätte nahe legen wollen? Von
großer, ja ungeheurer Wirkung müßte es freilich ſein,
wenn der Mime bei obigen Worten eine Taſchenuhr
(— um dem Geſchichtlichen etwas näher zu bleiben,
nürnberger Ei —) zöge, einen Blick darauf wärfe und
dann ſtraff abgienge.
Idee 3. Aufgabe zu lateiniſchem Aufſatz:
Spiritum illum, qui dicitur Flibbertigib¬
betius, in tragoediam nominatam rex Lea¬
[356] rius innectendo quid sibi voluerit inclytus
poeta Britannicus Shakespearius, eo, quo
decet, acumine enucleetur.
Idee 4. Ibideculus, das heißt: der ebendaſelbſt
befindliche kleine Mann oder ſonſtige Gegenſtand
gen. masc. Wie viele geiſtvoll zweckmäßige
Kürzungen dieſer Art ließen ſich noch in die
Sprachen einführen!
Idee 5. Die Hand iſt Prototyp für alle Werk¬
zeuge, die der Menſch erfunden hat. So ent¬
hält ſie im Nagel auch das Falzbein. Dieß
dürfen wir als Zeichen, Fingerzeig anſehen, daß
der Menſch zum Schreiben, zur Gelehrſamkeit
beſtimmt iſt, und ſo gewinnen wir ein neues,
höchſt bedeutſames Argument für die teleologiſche
Weltbetrachtung, für die Theodicee.
Idee 6. Von einem übermüthigen Offizier be¬
leidigt, dichtet derſelbe Schulmann zu ſeiner
innern Satisfaktion den Vers:
„Wie der Soldat, ſo hat auch der Civil
Denken, Begehren und dann das Gefühl.“
Niemand aber, ſelbſt dieſer Schulmeiſter nicht,
thut's in der Abgeſchmacktheit dem Traume gleich.
Der leiſtet hierin das Ideale. So träumt mir geſtern,
[357] ich komme Nachts an mein Haus und ſehe vor dem¬
ſelben eine große Verſammlung von Männern, ſchwarz
angethan, Trauerflor am Hut und mit brennenden
Frackzipfeln. Ich frage verwundert, was das bedeute,
und erhalte zur Antwort: Hiemit werde das Leichen¬
begängniß des Herrn A. E. gefeiert und man nenne
das einen Frackelzug. Ich war ſehr erbaut und be¬
lehrt, beſtaunte ſehr die tiefſinnige Wortbildung, zündete
mir ſelbſt den Frackſchoß an und gieng mir ſelbſt ſehr
andächtig in der Klage mit. Zugleich wie furchtbar
eitel!
Eines haben die Peſſimiſten auch ausgelaſſen: das
Lachen. Sie ſind ganz humorlos. Eine Welt, wo
ſo viel gelacht wird, kann ſo ſchlecht nicht ſein.
Gelacht wird über das Verkehrte, auch das Ruch¬
loſe, ſelbſt über die größten Uebel, wenn ſie nur irgend¬
wie unter den Geſichtspunkt der Zweckwidrigkeit gerückt
werden können. Vorausgeſetzt iſt das humoriſtiſche
Lachen freier, reiner und univerſal blickender Gemüther.
Sie lachen im Bewußtſein, daß ſchließlich das Ver¬
kehrteſte der ſittlichen Weltordnung nichts anhaben
kann, denn eben die ſo Lachenden ſind ihre Schützer,
ihre Retter.
Wir ſind von Räthſeln umgeben. In dieſer Lage iſt
es das einzig Vernünftige, als wahr anzunehmen, was
[358] uns am wohlſten thut, ſofern es nur unleugbaren
Verſtandesgeſetzen nicht widerſpricht. Dabei iſt nur
vorher auszumachen, was wahrhaft wohl thut. Dieß
kann ausgemacht werden, denn es iſt aus dem Weſen
der menſchlichen Seele und aus dem richtigen Begriffe
der Zeit zu beweiſen, daß wahrhaft wohl nur ein
gutes Gewiſſen thut, das man ſich erwirbt durch treue
Arbeit im Dienſte der unzeitlichen Güter. Nun werden
wir in dieſer Arbeit unendlich beſtärkt durch die An¬
nahme, es walte ein unbedingtes Etwas, das aus
ſtreng logiſchen Gründen nicht Perſon ſein kann, das
dennoch eine Ordnung erwirke und baue in dem ver¬
worrenen Weſen, Welt genannt, und zwar auf dem
Unterbau der (auf dieſem Auge) blinden Natur und
des blinden Zufalls einen Oberbau, worin ſich durch
immer neue Thätigkeit unzähliger Menſchen die Sitte,
das Gute, der Staat, die Wiſſenſchaft, die Kunſt her¬
ſtellt. Indem nun dieſe Annahme uns in der Er¬
werbung eines guten Gewiſſens unterſtützt, ſo kommt
dieſes unſer Wohlbefinden zugleich Andern zu gut und
das iſt Grund genug, zu glauben, was wir nie be¬
weiſen können.
Was ich mir immer und immer wieder vom Werthe
der Arbeit vorſage, darin bin ich aber gar kein Phili¬
ſter. Geſtern Abend kam ein Kauz in die Reſtauration,
[359] der Vogelſtimmen, auch Stimmen mancher Vierfüßler
ſo ausgezeichnet nachahmte, daß Jedermann vergnügt
wurde und auch ich auf's Heiterſte mich vergaß. Es
muß Alles entwickelt werden, was von Fähigkeiten im
Menſchen liegt, ſo auch Seiltanzen, Kunſtreiten,
Jongleur- und Balliniſtenweſen. — Der heitere Schelm
hatte ſichtbar ſelbſt eine Freude an ſeinen Leiſtungen,
war ganz dabei. Warum ſoll das nun nicht auch
gelten? Als der Spaßvogel anfieng, befand ich mich
eben in ſehr mißlicher Lage. Saß mir am Tiſchchen
ein Herr gegenüber, der ſchickt auf einmal aus der
Zeitung einen höchſt bedeutſamen Blick, einen wahren
Couponblick unter der Brille hervor auf mich und ſagt:
„Amerikaner 70“. Der Menſch war am Ende wirk¬
lich fähig, zu meinen, ich verſtehe das! Ich werde in
ſolchem Fall leicht unangenehm und es hätte bös ab¬
laufen können. Da ſchlug die Wachtel und befreite
mich. Wer könnte zweifeln, was höher iſt, Vogel¬
ſtimmen nachahmen oder in Papieren machen und
davon ſich unterhalten? — Der Künſtler gieng
übrigens von einfachen Rufen zu belebten Szenen über:
Plaudern junger Schwalben und Begrüßung der Alten,
Gezänke zwiſchen Vögeln, ganze Katzenkonzerte, große
Hunderaufereien, kurz: Idylle, Novelle, Eposfragment,
Lyrik, Drama. Wohl intereſſanter, belehrender, als
manches Profeſſors Vortrag über Zoologie. Jedenfalls
hat der heitere Schelm ein paar Dutzend Menſchen in
[360] der Abendſtunde aus dem Geſtrüpp und Sumpfſchlamm
Zeit herausgehoben. Iſt er im Uebrigen ein Lump,
er mag es mit ſich abmachen; hier wenigſtens hat er
mit ſeiner Arbeit ſich ein Verdienſt erworben, worüber
ſein Bewußtſein ihm ein gutes Zeugniß ausſtellen darf.
Ich weiß ein armes Weib von fünfundachtzig
Jahren. Sie hat ihr Leben lang das Geſchäft des
Gaſſenkehrens getrieben, und zwar mit Eifer, mit
Seele. Sie thut über Pflicht; ſieht ſie auch außer
der Arbeitſtunde thieriſche Abfälle liegen, ſo ſpringt ſie
nach dem Beſen. Das Weib iſt heiter, geſund in
ihrem Alter, ganz Eins mit ſich, ganz zufrieden,
klaſſiſch gediegen. Ihr wird kein Monument errichtet
werden, ſie weiß ſich aber als nützliches Glied in der
unendlichen Kette weſentlicher menſchlicher Thätigkeiten
und iſt darin unſterblich.
Von der Dichtkunſt erwartet die Mehrheit der
Menſchen, ſie ſolle ihnen ihre gewöhnlichen Vorſtel¬
lungen, nur mit Flittern von Silber- und Goldpapier
aufgeputzt, angenehm entgegenbringen. Da ſie in
Wahrheit das gemeine Weltbild vielmehr auf den
Kopf ſtellt, ſo wäre kein großer Dichter je berühmt
geworden, wenn nicht die Wenigen, welche wiſſen,
[361] was Phantaſie iſt, allmälig einen Anhang geſammelt
und denſelben mehr und mehr erweitert hätten. Sie
haben Stein auf Stein in das ſtehende Waſſer der
Meinung geworfen, bis die Wogenkreiſe den ganzen
Spiegel in Bewegung ſetzten. Wäre dieß nicht, ſo
ſtände heute noch Wieland, Iffland, ja gar Kotzebue
in der Blüte der öffentlichen Gunſt, Goethe und
Schiller gälten für Phantaſten. Man würde ſich nur
größere Doſis von Schauer ausbitten, als die alten
Lieblinge boten, und in dieſem Punkt eine Beimiſchung
aus den Ritter-Romanen vorziehen; Wieland müßte
noch ſtimulanter werden, als er ſchon iſt. Nun, an
ſolchen Wielanden fehlt es uns ja nicht. Das merkt
ſich jeder Elende, daß er ſeiner Wirkung ſicher iſt,
wenn er mit ſexualen Reizen operirt, denn wie dick¬
häutig ein Leſer ſein mag, Geſchlechtsnerven beſitzt er
ja doch. Unſere Illuſtratoren ſchlagen ebenfalls hübſch
Münze aus dieſem Umſtand. — Auch Humor will
man haben, aber wenn er kommt, der Wilde, erſchrickt
man wie vor einem Geiſt. Er dürfte wild ſein, aber
er ſoll zugleich zahm, anſtändig ſein. Ja, Poeten
vor tauſend oder etlichen hundert Jahren, die durften
im Humor auch den Cynismus wagen, das iſt etwas
Anderes, wir aber, wir Menſchen der „Jetztzeit“, wir
ſind gebildet, und nicht Wenige von uns gehören zur
„guten Geſellſchaft“; zwar eine feine Zote, ja das iſt
was Anderes, das zieht.
[362]
Dieſem ebenſo anmaßenden wie platten Philiſter¬
volk liebt nun die Poeſie, die Kunſt von Zeit zu Zeit
recht grundſatzmäßig das Phantaſtiſche an den Kopf
zu ſchleudern, damit es merke: die poetiſche Welt iſt
nicht die gemeine. Dieß iſt begreiflich, doch ſoll der
Künſtler und Dichter es nicht zum Prinzip erheben
wie unſere Romantiker thaten. Das Ideale ſtellt die
gemeine Anſicht von Welt und Leben auch dann auf
den Kopf, wenn es die Dinge ganz naturgemäß ge¬
ſchehen läßt. Echtes Kunſtwerk hat mitten im Klaren
doch immer Traum-Charakter, iſt von „Geiſterhauch
umwittert“. Göthe's Gedichte hören ſich wie ein leiſes
Schlafreden, nur um ein Weniges, ganz Weniges
deutlicher. Man kann ihren Inhalt nicht greifen, nicht
an den Fingern abzählen. Der Charakter im Dichter¬
bild wurzelt, ſo beſtimmt er ſich ausladet, in ge¬
heimnißvollen Naturtiefen und das Schickſal, die Nemeſis,
ſchreitet auch nicht fadengerade, ſondern ſtrickt aus gar
vielen Maſchen unrechenbar das Geiſternetz, worin es
die vermeintlich frei wandelnden Menſchen einfängt.
Auch die Zeit iſt vor dem Dichter bloßer Schein.
Gloſter's Schickſal ſteckt ahnbar ſchon im erſten kurzen
Auftritt des erſten Akts des Königs Lear. Goneril
blüht, ſtrotzt in ihrer Bosheit und Frechheit. „Gut,
gut, — der Ausgang,“ ſagt Albanien, da ſie ſich
ihrer klugen Berechnung der Zukunft rühmt. In den
vier Wörtchen liegt die ganze Lehre vom bloßen Scheine
[363] der Zeit. In Goneril's Verruchtheit blitzt ſchon das
Meſſer, das ſie ſich, an der Verzweiflung angelangt,
in's Herz ſtoßen wird. Alſo iſt auch ihr Selbſtgenuß
in ihrer Verruchtheit nur Schein, ſie iſt ſchon unſelige
Selbſtmörderin. — Was könnten die Menſchen für
ihr ethiſches Leben lernen, wenn ſie den Begriff der
Zeit beſſer ſtudiren würden! Alles Laſter, Verbrechen
iſt ſchlechte Logik.
Luſt fühlen heißt die Zeit nicht fühlen. Darnach
jagt nun alle Welt. Aber die Luſt iſt eine große
Kokette; wer ſie ſucht, den täuſcht ſie, wer nicht nach
ihr fragt, dem hängt ſie an und wird am End' eine
ordentliche Frau. — Das gibt zu denken über Eudä¬
monismus.
Die meiſten Menſchen wiſſen ſich nicht zu behan¬
deln, daher ſtehen ſie mit ſich ſelbſt auf ſo ſchlechtem
Fuße.
Vorſehung. Man ſollte eigentlich ſagen: Nach¬
ſehung. Es handelt ſich doch vom Zufall. Der Zu¬
fall iſt eine im Moment ihres Auftretens von keiner
Intelligenz überwachte, rein irrationale, geſetzloſe
[364] Schneidung der Linien, auf denen die Natur und die
Geiſteswelt ihre Thätigkeiten, jede an ſich geſetzmäßig,
ausüben. Nun aber ſind alle dieſen zwei Gebieten
angehörigen Kräfte ſtets beſchäftigt, den Zufall zu
verarbeiten: das Günſtige, das er bringt, zu benützen,
auszubilden, das Uebel zu überwinden, zu heilen, ſelbſt
zum Gute und Guten zu kehren. Einen Mann, der
verdienſtvoll wirkt, der Familienvater iſt, tödtet ein
Ziegel, der vom Dache fällt. Der Unfall ſpornt ſeine
Söhne, der Mutter eine Stütze zu werden, der Staat
ſtrengt Kräfte an, die Lücke auszufüllen. Es kann
auch ſchlimm gehen, beides nicht geſchehen, dann wird
das weitere Unglück Kräfte wecken. Es iſt ein un¬
endliches Netz, ein unendliches Weben. Das ganze
Leben, die ganze Geſchichte iſt Verarbeitung des Zu¬
falls. Er wird in das Reich des Naturwirkens und
des menſchlichen Denkens, Willens und Thuns hinein
ſtetig verarbeitet. Vorher, in ſeinem Eintreten, iſt er
blind, nachher wird er eine von ſehenden Augen ge¬
flochtene Maſche im unendlichen Netze der Thätigkeiten.
Alſo eigentlich Nachſehung. Aber da die Zeit eigent¬
lich nur Schein iſt, ſo iſt das „Nach“ auch falſch, ſo
falſch wie das „Vor“. Soll man etwa einfach ſagen:
Sehung? Zuſehung? Nicht das Auge eines perſön¬
lichen Gottes, aber unzählige Augen ſehen den blinden
Zufall und ihnen dienen unzählige Kräfte, etwas aus
ihm zu machen, was er in ſeiner Entſtehung nicht iſt.
[365] In der unendlichen Thätigkeit Aller, den Zufall zu
verarbeiten, ſind nun geheimnißvolle Geſetze thätig,
denen die Philoſophie der Geſchichte mit wenig Erfolg
nachforſcht. — Gewiß iſt freilich Eines: unendlich Vieles
fällt durch die Maſchen in’s Leere, unzähliges Leben
geht elend zu Grunde, ohne daß wir eine Frucht ab¬
ſehen. Da iſt nicht zu helfen; darein muß man ſich
ergeben; da gibt es keinen Troſt, als den: ſollen die
blinden Naturgeſetze unendliches Leben ſchaffen und
unendliches Wohl, ſo geht es nicht anders, ſie müſſen
auch ihre Opfer haben. — Und erſt der meskine, der
ganz knirpſige, lumpige, nüſſige Kleinzufall, der nie¬
mals Frucht tragen kann, was iſt es mit dem? Nun
eben, hier tritt als einzige Auskunft meine Dämono¬
logie in’s Mittel. Aber es wird ja auch gegen die
Dämonen gekämpft. Die Canaillen haben mich doch
nicht untergekriegt, ich habe nie am obern Stockwerk
gezweifelt und treulich daran gebaut, was ich konnte.
Ueber Freiheit und Nothwendigkeit, nachdem ich
mir an der Frage faſt das Hirn lahm gearbeitet, bin
ich endlich bei einem ordinären Behelf angekommen,
der mir doch ſeine Dienſte thut. Es ſei ſo, daß es
Wahlfreiheit des Willens nicht gibt. Alſo ſchwindet
die Zurechnung; es gibt nicht Schuld, nicht Verdienſt,
der Verbrecher muß. Allein, da doch Alles noth¬
[366] wendig, ſo müſſen Die, welche ihn ſtrafen, auch. Sie
ſtrafen ihn, weil ſie ihn für zurechnungsfähig, für
ſchuldig halten, und da ſie ihn ſtrafen müſſen, ſo iſt
es ſo gut, wie wenn er es wäre. Geſchieht Heilſames,
ſo freuen ſich die guten Menſchen und lohnen es, —
nicht alle, doch viele, — als ob es Verdienſt wäre.
Sie müſſen und der Mann, der ſich verdient gemacht,
hat auch gemußt. Aber da beide müſſen, ſo iſt es
ebenſo gut, wie wenn beide frei handelten. Und ſo
kann ich ganz getroſt nach den gewöhnlichen Begriffen
von Freiheit des Willens leben, befehlen, ſtrafen, loben,
lohnen, und thut die Menſchheit recht, ſich an dieſelben
zu halten; denn da, wenn Nothwendigkeit waltet, nicht
das Eine nothwendig iſt, das Andere nicht, ſondern
ſowohl die Gegenwirkung als die Wirkung, ſo bleibt
gut gut und ſchlecht ſchlecht.
Nur gegen Den ſoll man nachſichtig ſein, der
Schnuppen oder gar Grippe hat, das iſt etwas An¬
deres, da hört die Freiheit in jedem Sinn auf.
Nennt mich neulich ein junger Fant liebenswürdig.
Dieſer, Männern gegenüber von Männern gebraucht, un¬
verſchämte Ausdruck kommt immer mehr auf. Ich habe
dem naſeweißen Geck geſagt: Danke, bin nicht liebens¬
würdig, bin zufrieden, wenn man Reſpekt vor mir hat.
[367]
In was Alles ich mich nicht gefügt, weiß man
und rechnet mir dick auf. In was Alles ich mich
aber ſtill gefügt, weiß oder bedenkt man nicht.
Ihr verlacht, verachtet mich wegen meines Grimms
über die Kreuzung durch das Kleine. Ihr würdet
mich verſtehen, wenn Größe in euch wäre. Ich will
gar nicht ſtolz reden; — ich meine darum nicht, ich
ſei Alexander der Große, Karl, Friedrich der Große,
oder Plato, Ariſtoteles, Spinoza, Kant, oder ihr ſollt
es ſein. Aber etwas von Größe, ein Anſatz dazu iſt
doch in jedem rechten Kerl. Großen Uebeln begegnet
das Große in ihm groß, der Schund mit dem Kleinen,
dem Winzigen muß ihn empören.
Ich laſſe meinen meiſten Zorn an Schubladen,
Töpfen, Hemdknöpfen und dergleichen aus. Das
kommt den Menſchen zugute, daß ſo viel Wuth nach
der Seite abläuft. Doch nie den ſchlechten.
Wer das Leben nach ſeinem Idealwerthe ſchätzt,
ich frage, ob der nicht wüthend werden muß, wenn
er auch nur ungefähr überſchlägt, wie viel Kraft und
Zeit uns das Bagatell raubt, ich meine das recht
[368] eigentliche Bagatell, das nicht des Nennens werth iſt.
Wer von jenem Werthe durchdrungen iſt und doch
geduldig bleibt: gut, recht, er ſoll ein Engel ſein.
So lang ich aber nicht ſonſt Proben habe, daß Einer
engelgleich iſt, bin ich ſo frei, zu glauben, daß er den
Kampf mit dem Bagatell nur darum leicht nimmt,
weil er grobe Nerven hat oder nicht vergleicht, nicht
rechnet. Rechnen wir nur ſehr ſchwach: per Tag
1½ Stunden für An- und Auskleiden und der¬
gleichen, hiezu nur ¾ Stunden für ſpeziellen Kampf
mit Knöpfen und Anverwandten: macht per Woche
105¾ Stunden.*) Nehmen wir hinzu, daß nur
Einmal wöchentlich noch ſpeziellere und ganz tragiſche
Kämpfe ſich ereignen, wie verzweifeltes Suchen eines
Blatts, einer Notiz, und bedenken wir, das ein ſolcher
Vorgang das Hirn, das ganze Nervenleben in eine
ähnliche Betäubung verſetzt, wie Verirren Nachts im
Walde, alſo für einen ganzen Vormittag arbeits¬
unfähig macht, thut 6 Stunden: Summa in der
Woche 1056¾, Stunden: welche Zahl!*)
Was ich nicht aushalten kann, das iſt ein Menſch
ohne Leidenſchaft, und ein Menſch, der gemeine Leiden¬
ſchaften hat.
[369]
Nur keine Geſchichten, nur keine Szenen! So
denken die Meiſten und ſo zum unendlichen Schaden
der Welt namentlich Staatsmänner. Es ſoll nichts
aufgerührt werden, es ſoll Alles beim Alten bleiben,
und wenn ein Kind einzuſehen vermag: es kann
nicht beim Alten bleiben, es muß ja doch brechen.
Aber: après nous le deluge!
Das Weib iſt ſchamhafter als der Mann, weil es
weniger unſchuldig iſt. Das Mädchen weiß das Ge¬
ſchlechtliche weit früher als der Knabe, lernt früh,
wenn auch noch unbetheiligt, das ganze Liſtgetriebe
des Männerfangſpiels kennen, das Weib iſt ſich des
Geſchlechts weit bewußter als der Mann, und hat
dieß Wiſſen zu verbergen, daher muß es mehr Scham
haben. Dieß iſt im geringſten keine Schande für das
Weib. Es erhebt ſie. Sie iſt mehr Naturweſen als
der Mann, und wird ſittliches Weſen, indem ſie es
verhüllt, mit Bildungsleben zudeckt.
Bedarf übrigens der Mann weniger Schamhaftig¬
keit, ſo iſt das lange kein Freibrief für Schamloſig¬
keit. Ein Mann, der keine Scham bewahrt, iſt fertig,
iſt hin, er mag dieß und das noch treiben, ja leiſten,
aber er iſt eben gemein, und gemein iſt gemein. Den
Mann, der darin richtig beſtellt iſt, wird man beſonders
Viſcher, Auch Einer. II. 24[370] daran erkennen, daß er gut unterſcheidet, wo Cynismus
berechtigt iſt, wo nicht, und daß er gut erkennt: der
gröbſte Cynismus iſt unſchuldiger als der feinſte
Obſcönismus.
Darin liegt eine große Schwäche des Weibs, daß
es im Geſpräch ſo gern Nebenbeziehungen findet,
Anſpielungen, Stiche, Ausfälle, wo davon keine Spur
iſt. Der Mann redet gewöhnlich einfach und ehrlich
auf die Sache los und denkt nicht daran, was man
dabei ſonſt und nebenher noch denken könnte.
Die Frage nach dem Werthe des Weibs iſt eine
der zweiſeitigſten, die es gibt. Der Mann iſt weit
commenſurabler. Mit dieſem Wort iſt ſogleich der
Grund der beunruhigenden Schwierigkeit in der Frage
ausgedrückt. Incommenſurabler iſt das Weib im Guten;
Großthaten des weiblichen Enthuſiasmus leuchten in
Menge wie Sterne am Nachthimmel der Geſchichte,
incommenſurabler auch im Böſen: „o, undistinguish'd
space of woman's will!“ (König Lear IV, 6.) Wie
ſieht es mit der Geduld aus? Das Weib iſt ſowohl
viel geduldiger, als auch viel ungeduldiger, als der
Mann. Jenes z. B. im Katarrh mit Zubehör und
bei Krankenpflege, dieſes bei Meinungs- und Willens¬
[371] kreuzungen. Ein Bekannter, der in ganz erträglicher
Ehe lebt, ſagt neulich, er habe ſo rührend ſchöne
Ideen gehabt, wie er Geduld lernen wolle am ſanften
Bande der Ehe; „ja, oha!“ fährt er fort, „hab' ſie
wohl lernen müſſen, aber anders, als ich meinte: im
Widerſtand gegen Ungeduld.“
Geſtern an unſerem Tiſch im Gaſthoflokal miſcht
ſich ein Herr in's Geſpräch über das Weib und läßt
ſich ſehr gemein aus, erlaubt ſich auch Zoten. Sonſt
formell ganz anſtändiger Menſch, doch etwas anrüchig
wegen Benehmens in Ehrenfragen. Wir ſchweigen ihn
an, und fühlbar, da er fortmacht, keimt und wächst
im Kreis eine Neigung, ihm die Thüre zu weiſen.
Plötzlich bricht er auf und geht von ſelbſt. Staunen.
Sagt X: „Mir ſcheint, der Menſch hat einen inneren
Hausknecht — einen Reſt von Scham —, der hat
ihn hinausgeworfen.“ Gut.
Nun muß ſich aber hintennach in dem Menſchen
doch die Vorſtellung ausgebildet haben, er ſei von
uns hinausgeworfen worden; er münzt es auf mich
und verdächtigt mich politiſch in einer Zeitung. „Schmutz
riecht ſich ſelber nur,“ habe ich erwidert.
[372]
Menſchen, die einander ohne thatſächlich klaren
Grund nicht trauen, trauen ſich ſelber nicht.
Dieſe Art Menſchen kann man auch mit ziemlicher
Sicherheit daran erkennen, daß ſie nicht gern allein
ſind, obwohl man natürlich den Schluß nicht umdrehen
darf, denn die Mehrheit iſt nur aus Leerheit nicht
gern allein. Auch ſpazieren können ſie nicht recht
gehen, denn eine gemeine Seele iſt keiner Contempla¬
tion fähig.
Man muß arbeiten können, man muß aber auch
müßig gehen können, nur betrachten. In dieſen Mo¬
menten muß man ſich verhalten können, wie bloße
Natur oder eigentlich ſich ſelbſt betrachtende Natur.
In glücklichem Wechſel mit Arbeit ſind ſie ſo gut,
ſo werthvoll wie Arbeit.
Vater und Sohn,
an einem See vorbeigehend.
Knabe. Papa, heut Nacht iſt der See, glaub' ich,
doch ein bischen unartig gegen mich geweſen.
Vater. Was hat er dir denn gethan?
[373]
Knabe. In der Schul hat geſtern der Schulmeiſter
geſagt, was ein ordentlicher Menſch ſei, müſſe
auch eine ordentliche Beſchäftigung haben; darnach
müſſe man bei Jedem fragen. Jetzt hat mir's
heut Nacht geträumt, ich komm' an den See
und frag' ihn: „Herr See, mit was beſchäftigen
Sie ſich?“ Jetzt hat der See geſagt: „Ich be¬
ſchäftige mich damit, naß zu ſein.“ Iſt das
nicht ein wenig grob?
Vater. Je nun!
Wenn ich Poetiſches geleſen habe, zum Beiſpiel
Jamben, und komme nachher an Proſaiſches, ſo meine
ich einige Minuten lang, es auch als Jamben leſen
zu müſſen. So gieng es mir einmal mit einem
Regierungsſchreiben. Zufällig liefen die erſten Zeilen
ganz ordentlich. Ich las:
So weit gieng's, aber weiter nicht, das Folgende war
nicht in Jamben zu bringen und ich erwachte zur Proſa.
Uebrigens belehrender Beitrag zur Pſychologie der
[374] Rhythmik oder eigentlich der idealen Nervenlehre. Fort¬
ſchwingen des rhythmusfühlenden Nervs. — Da liegt die
Abſchrift des Schreibens vor mir, die ich mir zum An¬
denken genommen habe, — Erinnerung an alte Zeiten.
Nachts hatte ich dann einen recht kindiſchen Traum.
Ich kam in ein beſſeres, beglücktes Land, Wohnſitz
hochgeſtimmter Menſchen. Hier wurden alle amtlichen
Schreiben, Regierungs- und Behördenerlaſſe, Reſkripte,
Ausſchreiben, Geſetzurkunden, Protokolle, all' Dieſes
und Aehnliches in Verſen abgefaßt und zwar ſtets in
einem zum Inhalt paſſenden Metrum. Einen Staats¬
anwalt hörte ich im Geſchwornengericht die Anklage
gegen einen Mörder in centnerſchweren kurzen Stab¬
reimen vortragen. Das Protokoll über den Thatbeſtand
erklang fürchterlich im Versmaß des Eumenidenchors
des Aeſchylos. Der Vertheidiger ſuchte in weichen
ſapphoartigen Strophen zu rühren. Das Strafgeſetz
beſtand in laſtenden Trochäen. Das Dienſtreglement
für meine Polizeimannſchaft bewegte ſich in gemeſſenen
Dantesken Terzinen. Ein Geſuch um Freinacht bei
Anlaß einer Hochzeit gewährte ich in hüpfenden Ana¬
päſten und Daktylen und gieng gegen den Schluß in
Zeilen über, die in freiem Spiele zwiſchen gebundener
und ungebundener Form dithyrambiſch ſchwebten. Dafür
aber bekam ich einen Verweis von der Kreisregierung
[375] in gemeſſenen Alexandrinern, worin mir eröffnet wurde,
daß Dithyramben faſt eine Einladung zur Trunkenheit
und jeder Art von Exzeß repräſentiren. Daran er¬
wachte ich. Den Verweis überbrachte mir ein in die
toga hirsuta (Zotteltoga) gekleideter Kanzleidiener.
Die Beamten trugen die toga praetexta, untergeord¬
nete mit breitem, höhere mit ſchmalem, feinem Streifen
oder clavus. — Es war kurz vor den Dingen, die
mich mein Amt gekoſtet haben, — ahnungsvoll!
Das habe ich doch meiſt bewährt gefunden, daß
man den Menſchen im Schlaf ihren Charakter anſieht.
Seit es Eiſenbahnen gibt, hat man mehr Gelegenheit.
Da habe ich nun auch eine Gattung Menſchen entdeckt,
die ein Geſicht machen, als koſtete ihnen das Schlafen
Mühe. Es ſind meiſt hart arbeitende Leute, denen
der Ausdruck vom Wachen her auf den Zügen ſtehen
bleibt. Doch nicht bloß, man kann es auch bei ge¬
bildeten und ſicherlich nicht ſchwer beſchäftigten Men¬
ſchen beobachten. Das ſind nun offenbar Naturen,
denen alle Geiſtesfreiheit abgeht, denen im Wachen
Alles, ſelbſt die Freude, Geſchäft iſt, die niemals zu
ſchweben verſtehen, daher entbindet auch der Schlaf
ihre Züge nicht. Ich nenne den Ausdruck ungernig,
ſie ſehen aus, als ſchliefen ſie ungern.
[376]
Es iſt auch deßwegen in Ordnung, daß der Menſch
endlich ſtirbt, er ſoll ſich ſchon deßwegen gern darein
fügen, weil ſich mit der Zeit gar zu viel Sach um
ihn anſammelt. Man erfährt das ſo recht bei einem
Umzug. Nicht nur Bücher, — Briefe, Blätter, Blätt¬
chen, Zeitungsnummern, Büchſen, Schachteln, Salben,
Pulver, tauſend Geräthe. Wie oft, alter Narr, willſt
du die alte Papiertute hinten in der Schubladenecke
noch einmal hervorziehen, öffnen, finden, daß ein Reſt
Holder- oder Wollblumenthee darin ſteckt, dich beſinnen,
ob du ihn wegwerfen willſt, ihn noch einmal behalten?
— Mach', geh' fort, nimm Abſchied auf einmal von
all' dem Quark!
Ballaſt! Ein- für allemal zu viel Ballaſt! — So
ſtark bin ich nicht, daß mir nicht manchmal eine Sehn¬
ſucht aufſtiege: nur ein Jährchen lang nach dem Tode
noch auf einem Planeten, wo man keinen Schneider,
Schuſter, Schreiner braucht und wo es überhaupt gar
kein Wetter, alſo auch keinen Katarrh gibt! Nicht
unſterblich, o nein, nur dieß Jährchen! — Aber das
ſind ſchwache Stunden.
Vitam, non mortem recogita! Altes Motto.
[377]
Aber man muß den Tod recogitare, um ihn
nicht zu fürchten. Nun iſt das nicht die Art der
Menſchen. Daß ſie in Maſſe überhaupt auf kein
Uebel gefaßt ſind, hat ſeinen guten Grund. Sie
wären, — ſo muß der erſte Satz von mehreren Sätzen
lauten —, ſie wären ja Narren, ſich das künftig
mögliche Uebel vorzuſtellen, ſie würden ſich nur die
Gegenwart verbittern. Lebe voll und ganz in der
Gegenwart!: das iſt ja richtig. Wer würde zum
Beiſpiel die Geliebte an den Altar führen, wenn er
ſich recht darein vertiefte, daß Eines von Beiden vor
dem Andern ſterben muß! — Allein der zweite Satz
lautet: Stelle dir das Uebel dennoch vor, ſonſt trifft
es dich ungefaßt und vor Allem das ſcheinbar ſchreck¬
lichſte, der Tod. Alſo Widerſpruch zwei gleich wahrer
Sätze. Folgt, daß es eines dritten Satzes bedarf.
Stelle es dir nicht nur vor, ſondern durcharbeite,
durchbohre, durchſetze, durchäze es ganz mit klaren
Gedanken, bis du damit fertig biſt, dann ſchwindet
das Drohende des Schattens und du kannſt frei die
Gegenwart genießen, biſt auf unendlich höherer Stufe,
was das Thier auf ſeiner iſt: ſorglos blind für die
Zukunft. „Gefaßt ſein iſt Alles.“
Schiller hat geſagt, der Tod könne kein Uebel ſein,
weil er allgemein ſei. Man denke ſich einmal, ein
[378] Theil der Menſchen müſſe ſterben, ein anderer nicht,
und Niemand wiſſe, ob er zur einen oder andern
Klaſſe gehört: wie entſetzlich! Stelle dir immer vor,
du falleſt in der Schlacht, wo das Zuſammenſterben
den Tod ſo ſehr erleichtert. Das Allgemeine iſt noth¬
wendig, iſt ein Geſetz. Ein Geſetz fürchten iſt kindiſch.
Du kannſt doch nicht anſprechen, die Gattung zu ſein!
Was dir aber ſicher hilft, das iſt: lebe in der Gat¬
tung, im Allgemeinen, dann ſtirbſt du nicht, obwohl
du ſtirbſt, und kannſt ſagen mit dem Römer: non
omnis moriar.
Träger, ſchwerfällig trauriger Nachmittag. Unten
im Hofe wird Holz gemacht. Ich muß immer dem
Sägen zuhören. Zuerſt ein ſcharfkratziger Ton, dann
tiefer, breiter, dann kommen hohe Klagetöne des Scheits,
als riefe es: jetzt kann ich nicht mehr lang widerſtehen!
es folgen noch einige kurze, gerupfte, ſchnell in der
Skala ſinkende, mürbe Laute und man hört die Klötze
fallen. — So ſind mir die Freuden des Lebens durch¬
geſägt worden, eine um die andere, ich höre jetzt noch
die Stümpfe zu Boden rumpeln.
Aber mit dem Holz hab' ich mir doch einen Ofen
geheizt, den ich mir ſelbſt gebaut habe.
[379]
Ofen freilich wie er eben ſein kann in Anbetracht
der Umſtände. Hat einen Riß, raucht. Doch etwas
beſſer, als keiner.
Eine große Gunſt iſt mir doch widerfahren: ich
bin im Krieg geweſen, habe ein Treffen mitgemacht.
Habe erfahren, wie es dem Mann in der höchſten
Anſpannung aller ſeiner Kräfte zu Muth iſt.
Beklagen, daß ich damals nicht gefallen bin, wäre
gemacht ſentimental. Wenn ich aber nur wüßte, ob
mir nicht das noch begegnet, daß ich lächerlich ſterben
muß! Es ſähe mir ganz gleich. Oder gar ein Krüppel
werden auf ſolchem Weg? Noch hübſcher! Einem Sol¬
daten wird ein Auge ausgeſchoſſen; es geſchieht auf
dem Felde der Ehre. Ich wette, ich werde noch ein
Auge durch ein Knallbonbon verlieren.
K. v. Suckow „Aus meinem Soldatenleben“ er¬
zählt von einem Hauptmann, der ſich mit ihm aus
Rußland fortſchleppte, mit ihm hungerte, und unter
dieſen Leiden nicht aufhörte zu rühmen, was für treff¬
lichen Zwiebelkuchen ſeine Frau machen könne; es ſei
ſein Leibeſſen, und wenn er nach Hauſe komme, müſſe
[380] das Erſte ſein, daß die Theure ihm einen bereite.
Sein Idealtraum gieng nicht in Erfüllung, er hat den
Zwiebelkuchen nicht mehr geſehen, gegeſſen, iſt in Wilna
am Nervenfieber geſtorben. Ach, ſo ſterben wir Alle,
Jeder trägt in ſich den Traum vom Zwiebelkuchen und
muß in die Grube, eh' er Wahrheit geworden.
Auch iſt das ganze Leben ein ruſſiſcher Feldzug.
Allgemeiner wilder Stoß und Schub im Menſchen¬
getümmel iſt die Bereſinabrücke. Kanonenſchläge da¬
zwiſchen: das Unglück rechter Art, das draſtiſche Uebel;
dieß Glück wäre mir nicht widerfahren. Für mich
Lanzen der Koſakenſchwärme, die Wespenſtiche des
kleinen Uebels. Das Aergſte ſoll aber doch geweſen
ſein ein beſtändiger, fein meſſerſcharf ſchneidender Wind,
und — wer nicht fiel, nicht verhungerte, nicht am
Typhus ſtarb — hinſiechend in beſtändigem Katarrh¬
fieber.
Hab' auch wieder einen, werde mir bald die Füße
zum Mund heraushuſten.
Frau Hedwig und der Doktor ſchicken mich noch
einmal über die Alpen. Will gehorchen; muß Neapel,
[381] Sizilien nachholen — Nachholen? Sonſt nichts? —
Geſteh' dir, Menſch, — eine Unruhe, als ob dein noch
etwas wartete — Willſt ſuchen? — Nein! — Doch?
Ich muß, ehe es fortgeht, mein Jugendthal noch
einmal ſehen. Wird zum letzten Mal ſein. Träumt
mir neuerdings mehr als ſonſt davon.
Geſchrieben in der Felshöhle
am Kloſterberg in St....l.
München. Zuerſt einmal hier verweilen, Kunſt an¬
ſehen. Pinakothek. O Gott, o Himmel, wie trifft mich's!
Da liegt ſie unter königlichem rothem Baldachin, konnte
die Kerze nicht mehr faſſen, die ihr der weinende Johan¬
nes reicht; Alles rings getreulich nach den Formen der
Zeit; Wohnraum, Geräthe, Kultushandlung beim Tod
einer hohen Perſon, Weihwaſſer, Weihrauch, Gebet¬
formeln aus dem Buch, die Apoſtel hartgemeißelte
Köpfe, unfeine Geſtalten aus der gröblichen Wirklich¬
keit, überall voller Schein des Lebens bis hinaus auf
[384] den Reflex der Kohlenglut im Geſichte des Jüngers,
der in's Rauchfaß bläst. In Allen Ein Schmerz, der
Widerklang dieſes Todes in dieſen ehrlichen Seelen. Und
ſie! Seligkeit der Auflöſung in den Aether reinen Da¬
ſeins, Verſchweben im ſeligen Traum! Ein Kopf, Züge
— reiner Kryſtall für durchſcheinendes Himmelslicht!
O, ſo, ſo ſtürbe — — und ich, ich grobe Erſcheinung,
ich gemeine Erdbildung, wenn — wenn dieß — wenn
— dabei Zeuge ſein, das ſchauen — Verwehe, Traum!
Piſa. Habe widerſtanden, bin nicht öſtlich hin¬
über von Piſtoja; morgen nach Livorno, zur See
hinunter. — Wie ſchön hier Alles beiſammen: Dom,
Baptiſterium, Campo ſanto, und wie gut ruhig, fried¬
lich ringsum! — Komme mir vor wie der ſchiefe
Thurm dort, der hält, obwohl geknickt. Im Campo
ſanto — hätte den ganzen Tag da bleiben mögen,
ja möchte hier wohnen, mich an den rührenden Bildern
freuen wie ein Kind und ganz ſtille ſein.
Pompeji. Die Gypsformen der Todten —
genau in dem Moment, wie ſie vor faſt zweitauſend
Jahren im Todeskampf zuckten. Sonderbar — das thut
ſonſt der Bildhauer aus Kunſtzweck: er feſſelt einen
Zeitmoment im Raume. Hier hat die Natur daſſelbe
[385] gethan: die Sterbenden erſtickend umhüllt, die Um¬
hüllung verhärtet und nach achtzehnhundert Jahren
einem ſcharfſinnigen direttore degli scavi ſo die
Gußform dargeboten, die er nur ausgießen durfte.
Ich möchte gerade nicht in einer ſolchen Todes¬
zuckung nach Jahrtauſenden als Gypsfigur wieder auf¬
ſtehen, übrigens raſch und gewaltſam ſterben iſt doch
auch ſo übel nicht.
Gegenwärtige Vergangenheit, vergangene Gegen¬
wart, — aufgehobene Zeit — Traum, wunderbar.
Komme mir ſelbſt vor, als ſei ich ſchon lange geſtor¬
ben und ſehe dort aus einem Denkmal der Gräber¬
ſtraße mir zu, wie ich nun umgehe, ſchaue, ſtaune.
Oder als ſei ich gerade vor einer Stunde geſtorben
und der Tod habe mir noch auf einen Tag Ferien
gegeben, da ſpazieren zu gehen, als alter Pompejaner
zu ſchlendern. Wir haben auch in Wahrheit Alle in
allen entſchwundenen Menſchengeſchlechtern ſchon ge¬
lebt und werden leben mit den künftigen. Doch möchte
ich herausbringen können, wie mir zu Muthe geweſen,
als ich noch ein antiker Menſch war, Menſch aus
Einem Guß, ohne Riß mittendurch, ohne mehr Augen,
als nöthig. Aber wenn vielleicht doch auch jene Ein¬
Viſcher, Auch Einer. II. 25[386] fachen — ? Muß unterſuchen, ob man an der Zehen¬
haut nichts mehr entdecken kann. — In Kleinaſien,
ja in Aegypten hat man in Schädeln plombirte Zähne
gefunden. Alſo jedenfalls doch auch ſchon Zahnweh.
Gibt ſehr zu denken.
Droben qualmt der Veſuv. Bin doch hinauf zum
Krater. Empedokles hat ſich in den Aetna geſtürzt,
das Naturgeheimniß zu ergründen. Könnte man Ele¬
ment werden und zugleich wiſſen, was Element iſt!
Zuerſt Corricolo, dann ausgeſtiegen. Golf. Wie
die Menſchen, ſolche Linien, ſolche Kurven, ſolche Far¬
ben, ſolches Rauſchen des ewigen Meeres vor Auge und
Ohr, ihr Nachbar-Naturweſen, das Thier, ſo teufliſch
mißhandeln mögen — o, fehlte mir nicht die Macht!
Sorrent. Alles kocht im Segen, man meint, man
ſpüre die Frucht des Oelbaums, die Beeren der Traube
ſich mit Säften füllen. — Taſſo's Wohnung — wir
kennen uns. — An die Marine. In einer Fiſcher¬
hütte bildſchönen Knaben mitgenommen. Sieht dem
putto gleich rechts unten auf Raphael's Sixtina, der
den Kopf auf die Aermchen legt und ſo küſſenswerth
[387] den Zuſchauer anſieht. Starke Briſe. Wie weit kann
man auf die Klippen jetzt hinaus? „Paolo weiß ſchon.“
Brandung wilder und wilder, ein göttliches Wüthen.
Wir ſtehen mitten drin auf einer der durchfreſſenen
Klippen. Schaumwelt wie ein wahnſinniger Traum,
Rieſenfächer ausgebreitet, Federbüſche, breite Waſſer¬
raketen aufſchießend, bäumende Roſſe, Bären, Elephan¬
ten, Centauren, Fabelungeheuer, — Geſtalt in Geſtalt
verrinnend, Ziſchen, Speien, Pfeifen, Heulen, Klagen,
Jauchzen, Kichern, Johlen, Wiehern, Brüllen, Baß- und
ſchrille Hochtöne einer Rieſenorgel, — Kanonenſchüſſe,
Donnerſchläge, — wir zwanzigmal überſchüttet, Paolo's
rothe Mütze fort, in den Strudeln umgezerrt — o, ſo
wohl, ſo frei iſt mir's nur in der Schlacht geweſen, mir,
der ſonſt mäßigen Wind nicht erträgt. — Paolo ſchlägt
die großen dunklen Augen unter den triefenden langen
Wimpern doch etwas ängſtlich nach mir auf. „Sei
ruhig, caro ragazzo, uns geſchieht nichts. Das
kommt nicht von den Teufeln, kommt von guten Gei¬
ſtern, mir zu Ehren aufgeführt, zur Labung nach all'
der Qual!“ — Ich ſtürme, wirble, jauchze, donnere
mit, entbunden, frei Alles und Jedes, was Kraft¬
ahnung in mir iſt. Hohe, herrliche Trunkenheit!
Abends im Albergo geplaudert mit den ſchönen
Wirthstöchtern und ein paar friſchen Burſchen aus
[388] Nachbarhäuſern. Fällt den jungen Leuten das Tanzen
ein. Ich muß die Kaſtagnetten dazu ſchlagen. Es
kommt toller und toller, aber ſtets anſtändig, wildes
Feuer, doch ohne einen Hauch von Frechheit. Vom
Saltarello zur Tarantella. Herr meines Lebens, welch'
mänadiſches Sauſen! — Plötzlich fällt mir Vikör und
die Abendgeſellſchaft in Bergen ein. Die Kaſtagnetten
entfallen meiner Hand, ich ſtürze hinaus, höre hinter
mir ſagen: „pare, che il Signor soffre.“ Ja wohl,
ja wohl! — Hinaus in Mitternacht wieder an's Meer.
Es iſt ſtill, ſanft geworden, Mondlicht. — Habe doch
ſchlafen können.
Von Caſtellamar über den Monte S. Angelo
nach Amalfi. Räuber? Warnt mich nicht! Thun mir
nichts. Beglückender Marſch, gerollten Mantel über
der Schulter. Oben oft wie deutſch, Dörfer zerſtreut,
Holzhäuſer mit ſteilem Giebel, Meiſen ſchlagen, Buch¬
finken ſchmettern ihr Reiterſignal, aber dann weit, weit
der Blick hinaus auf dieſen, dann auf jenen Golf.
So gelöſt, ſo entlaſſen! Himmelsluft!
Ravello. Das iſt nun aber doch auch ganz wie
ein Traum! Hoch, hoch über dem Golf von Salerno
alte, einſt reiche, mächtige Stadt, urſprünglich mauriſch.
[389] Paläſte, Thürme, Stadthaus, Spitäler, uralter, in Zopf¬
ſchnörkel entſtellter Dom. Bauſtyl behielt übrigens im
Rococo immer arabiſche Anklänge, das Gerollte, Ge¬
ſchweifte lenkt in mauriſche Motive ein. Brunnen mit
geflügeltem Löwen und Adler erzählt von ſieben Jahr¬
hunderten. — Nicht zerſtört, aber faſt ausgeſtorben.
Große Terraſſe weit vorſpringend, ſchwebend auf Fels¬
fläche über der ſteilen Tiefe. Unten tiefblau der Golf,
Ausſicht drüber hinaus wie in's Unendliche. Einſam,
einſam, nur ein paar alte Herren dort, ſonnen ſich,
ſind wohl von den wenigen Nachkommen der ſtolzen
Familien, gedenken wohl ſtill an vergangene Zeiten
wie an alte Märchen. Dort der Greis iſt vielleicht ein
Ruffoli aus dem Prachtpalaſte da drüben. — Mein
Leben wird mir auch ein Vergangenes, eine alte Sage
von Einem, der — —
Eigentlich gefällt es mir ſo ganz doch immer nur
da, wo es traumhaft ausſieht. Freilich doch auch im
Deutlichen, Klaren. Aber Beides kann ſich ja gut
vereinigen.
Jetzt durch's Mühlthal herab nach dem Golf.
Meer ſchäumt auf an Felſen und alten Sarazenen¬
thürmen, Gang zwiſchen Oliven, Johannisbrodbäumen,
[390] Limonen, Orangen, Feigen, Agaven, Piniengruppen,
Himmel bedeckt, laue Luft, Vogelſang aus allen
Zweigen. —
Amalfi. Was iſt aus dir geworden, ſtolze, reiche,
weitherrſchende Republik! Dein alter Andreas dort in
ſeiner Kathedrale, dem verbleichten Reſte deiner Pracht,
er hat dich nicht geſchützt vor Piſa's, Genua's Schwert
und dem Rachen einſtürzender Meerflut. — Da oben
aber im einſtigen Kapuzinerkloſter, wie wohnt es ſich
ſo einzig ſtill, ſo frei gehoben! Als Einſiedler da
herabſchauen? Nein, nicht Ritter Toggenburg! —
Weiter, Salerno zu, immer am Ufer hin, rechts das
mächtige Rauſchen, den ernſt ſtahlgrauen Spiegelglanz
des göttlichen Elements, links ein Paradies zwiſchen
Fels, ſtrengem Gebirgszug und all' dem herrlichen
Grün mit der klaſſiſchen Zeichnung und ernſten, ge¬
ſättigten Farbe. — Mittags im Neſt Minari nach
Kaffeehaus gefragt; weist man mich da zu der Alten.
Enger Raum, Küche und Stübchen zugleich; das Weib
am großen Spinnrad. Ganz gemüthlich geplaudert
und Kaffee gut. Was gibt es behagliches Schwatzen
in Italien mit alten Frauen! Gründliche Kinder¬
unwiſſenheit. Lebt ſo da eingeſponnen im Engen, um
ſich dieß Elyſium. Gehört auch in ein altes Märchen.
[391]
Salerno. Lang dem Meer zugehört im Bett.
Tempo: ſtilleres, feierliches Rauſchen, dann anſchwellen
zu Donnerton. Erzählte viel von Völkern, Griechen,
Römern, Karthagern, Longobarden, Normannen, Sara¬
zenen; ſah die Roßſchweife wallen, hörte ihr Allah il
Allah! — Aber was raunſt du mir, was rufſt
du mir? Darf ich bald hin in's ewig Große?
Oder kommt mir noch ein Großes hier auf dieſem
geballten Weltſtoff? Darf ich's noch erleben und dann
zerſchäumen wie die Woge? — Darf ich, — wag'
ich's, zu hoffen? — mein Vaterland noch groß ſehen?
— Wohin mich die Wanderſchritte tragen, von Deutſch¬
land iſt wie von einem Nichts die Rede. Jetzt zwar
Reſpekt vor Preußen. Geſtern Abend wieder im Gaſt¬
hof: Signore è Prussiano? Hab' der Wahrheit die
Ehre gegeben: „nein“, und dann, als ich mein Ländchen
nannte, giengen den Herren alle Begriffe aus. —
Nach Peſtum. Schwere, dunkelgraue Wolkenwand,
darunter der Himmel offen, feuchtfett, giftig ſchwefel¬
gelb glühend. Dunkel auf dieſen Hintergrund geſetzt
die alterbraunen Tempel, voran die ſtämmigen Säulen
des Neptuntempels mit den breit ausgeladenen Wülſten.
Da malt ſie der Himmel hin, die Elegie des Völker¬
ſchickſals. — Bin doch plötzlich wieder aufgebrochen,
es gieng zu tief jetzt, jetzt, da ich horche, wann die
[392] Sonne in Donnergang aufſteige für mein Volk. Und
- die fiebergelben Menſchen, die mich anbetteln, denen ich
nicht helfen kann! Da regt ſich die alte Zwecknatur
wieder: entſumpfen, dann Anbau? reißt mich aus der
Betrachtung des Bildes als Bild — in Pein hinweg¬
gereist.
Palermo. Fahrt hieher von Neapel in reinem
Aether, alle Götter günſtig, Phöbus ſtrahlend, Poſeidon
lachend, Delfine umher ſpielend, in Bogenſchüſſen ſich
elaſtiſch aus den Wogen ſchnellend, in unmalbarem
Blau ſchwimmen die ſeligen Inſeln und Vorgebirge.
Es war ein Schweben, keine Erdenſchwere mehr.
Das Schönſte des Schönen der Monte Pelegrino.
Unter allen Berglinien der Welt eine edler und in
allem Adel leichter gezeichnete kann es nicht geben.
Wie klar und ruhig legt oben die Fläche ſich über,
wie anmuthig biegt ſich das Profil ein, ehe es hinab¬
rinnt, ſich in die Horizontale von Land und Meer
aufzulöſen! O, wären die Linien meines Lebens ſo
wie dieſe, o, ſenkte es ſich ſo ſchön herab, in ſo reiner
Kurve, wie dieſer Berg ſich herniederſenkt zum Meere!
Und wäre die Farbe meines Lebens ſo rein blau wie
das Meer, das ihn wiederſpiegelt!
[393]
Die Hohenſtaufengräber in der Kathedrale kann
ich nicht zum zweiten Mal ſehen. Hic situs est
magni nominis Imperator et rex Siciliae Frede¬
ricus II. — — Kann nicht zur reinen Anſchauung,
nicht zur ungetheilten Stimmung gelangen vor dem
Porphyrſarg. Der Hohenſtaufen ſchiebt ſich mir in
die Bildkammer der Phantaſie herein, wie ich ihn
einſt geſehen, in Formen ſo ſchön, als ſtände er
nicht neben deutſcher Alb, — kahl, matt röthlich be¬
leuchtet von der Abendſonne. Verliere mich in die
Frage, ob es geſchichtliche Nothwendigkeit geweſen, daß
dieſe großen Kaiſer Stiefväter ihrem Heimatland waren.
Erwäge das vielbeſprochene Für und Wider. Es gräbt,
bohrt, ſticht in mir, daß unſere Geſchichte Gipfel hat,
die keine Gipfel für unſere Nation ſind. Alte Pein,
einem belächelten Volk anzugehören, wacht auf. Werde
mir nun ſelber bös, daß ich angeſichts des großen
Gegenſtandes Auge und Gefühl nicht rein gegenſtändlich
ſtimmen, meinen Vorſatz, die Politik zu laſſen, nicht
halten kann. Alſo eben fort, hinaus wieder an den
Hafen, meinem Liebling, meinem Herzblatt gegenüber,
dem Monte Pelegrino!
Die reinen Heiden ſind ſie doch! Man muß
zürnen und lachen, lachen und zürnen. Führen da
ihre Heilige als Puppe auf Prachtwagen herum wie
[394] die Alten ihre Götter. Blumenweſen, Feuerwerk mit
Girandola, Muſik, große Gugelfuhr. Wer war wohl
einſt die heilige Roſalia? Geborene Minerva, Diana,
Juno? — Es ſind Kinder, enfants terribles, dieſe
guten Leute, geſtehen nur ganz, ſagen nur heraus,
was allerwärts nicht beſſer iſt, nur anderswo mehr in¬
wendig ſtecken bleibt.
Immer mit einer wahren logiſchen Beunruhigung
leſe ich die Urtheile der Römer und Griechen über das
Chriſtenthum in ſeinen Anfängen. Es hat der Welt
eine neue Seele eingeſetzt. Es iſt Religion der Herz¬
lichkeit. Der Stifter war ein Menſch freien, wohl¬
wollenden, lichthellen Gemüths, will uns ſanft, liebevoll,
verzeihend, gut. Das hatte keine der Naturreligionen,
es war ganz neu; was Plato, was Stoiker, was
jüdiſche Sekten lehrten, iſt in Manchem verwandt, hat
vorbereitet, aber dieſer Einheitspunkt, dieß vertiefte Herz
war das grundeigene Geheimniß des Mannes Jeſus,
von dem wir ſo wenig Geſchichtliches wiſſen; Berg¬
predigt — himmliſchen Geiſtes voll. Dazu iſt gekommen
oder daraus hat ſich entwickelt die richtende Einkehr des
Menſchen in ſich ſelbſt, wie keine frühere Religion ſie
hatte, Geiſt der ſittlichen Selbſtkritik, begreiflicherweiſe
zuerſt zu negativ, finſter dualiſtiſche Verwerfung der Sinn¬
lichkeit, doch auch ſo Grundlage für eine neue Ethik.
[395]
Nun war dieſer Kern im Urſprung ſchon getrübt,
mit Mythologie umhängt. Der Stifter ſelbſt ſchon
glaubt Engel und Teufel, glaubt wiederzukommen
als Königmeſſias und das himmliſche Reich auf Erden
zu gründen. Kaum todt, ſo vermehrt ſich die Mhthen¬
glorie: Wunder, Auferſtehung, Chriſtus wird Gottes¬
ſohn, ſein Tod Opfertod nach alter, blutiger, ja graſſer
Opferidee, bald dann Maria Göttin. Müßte auch
wunderbar zugegangen ſein, wenn zu den jüdiſchen
Wahnvorſtellungen nicht die bekehrten Heiden zeitig die
ihrigen zugebracht hätten: Götterſöhne, Frühlings¬
götter, Oſiris, Adonis, Mithras, Herkules, dann Ur¬
göttinnen, Iſis, Here, Venus, Aſtarte, Mylitta, Rhea,
Kybele und wie ſie heißen, — nachdem im Teufel
ſchon der Ahriman eingewandert. Dort in Pompeji
die aufgehängten Votivbilder im Tempel der Venus,
kranke Arme, Beine, Hände, Naſen von Zinn, Silber,
Thon, die ſie heilen ſollte, — ſie erſetzen eine ganze
religionsgeſchichtliche Abhandlung über chriſtliches Heiden¬
thum.
Nun, wenn ich leſe, wie die Römer und andere
Polytheiſten über das Chriſtenthum urtheilten, ſo peinigt
mich ein eigenes Gefühl: ich muß mich vor ihnen
ſchämen für jene frühen Chriſten, wie ich mich heute
noch ſchämen muß, wenn Miſſionäre den Heiden unſere
[396] Märchen bringen und dieſe ſagen, ſie haben das auch
und reichlicher. Durch die beigemiſchte Trübung wurde
die neue Religion in die grundſchiefe Lage der Kon¬
kurrenz mit dem Heidenthum geſetzt. Mit Mythologie
konnte das auch aufwarten, und mit einer volleren,
ſchöneren. Es iſt wahr, die chriſtlichen Götter hatten
einen neuen Seelenblick und hoben dadurch dem ver¬
borgenen Sinne nach ihre Jenſeitigkeit in Immanenz,
hoben alſo ihre eigene Perſonifikation wieder auf.
Aber dieſe Innigkeit verſtand kein Römer, kein
Syrier, kein Lydier, kein Aegypter, kein Grieche,
und wenn: es war Niemand da, ihm den letzteren
Sinn zu deuten.
Dazu noch etwas gar Fatales. Die neue Liebes¬
welt, die neue Religion, aufgegangen in einem unter¬
jochten Volk, wußte und wollte nichts von Staat, von
öffentlichem Leben — heute noch ein- für allemal ein
ungeheurer Mangel des Chriſtenthums. Wollen wir
Bürgerpflichten daraus ableiten: es muß auf mühſamem
Umweg künſtlicher Argumentationen geſchehen. Man
denke zum Beiſpiel: zur Vorſchule des Mannes für
ſein politiſches Pflichtleben gehört Gymnaſtik. Dem
Griechen ſagte das auch ohne Wort der Gott am Ein¬
gang der Paläſtra. Wie höchſt verzwungen aber ſind
Verſuche, vom Chriſtenthum aus ſo etwas als Pflicht
[397] zu deduziren! — Die Alten haßten und verachteten
die Chriſten darum am meiſten, weil ihnen der Staat
gleichgültig, ja Aergerniß war. Allerdings verwickelt
ſich das: den heidniſchen Staat mußten die Chriſten
freilich verabſcheuen. Aber damit iſt jene arge Lücke
nicht hinwegdemonſtrirt. Das Chriſtenthum iſt an ſich
eine apolitiſche Religion. Die Konſequenz haben wir
heute noch: die Kirche leugnet den Staat und will
den doch vorhandenen beherrſchen. Da der Menſch
ein handelndes Weſen und das Chriſtenthum dieſem
Weſentlichen ſeiner Natur abgewendet iſt, ſo hat ſich
ergeben, daß es endlich zu einem Syſtem von Hand¬
lungen wurde, die gegen das Syſtem des vernünftigen
Handelns, den Staat, gerichtet ſind.
Wie iſt es nun mit der mythologiſchen Trübung?
— Ich nenne ſie, dieſe Bilderwelt der Religion, kurz¬
weg Pigment. — Dieß führt auf eine Betrachtung,
die bei der reinen, verzweifelten Rathloſigkeit anlangt.
Die Sache liegt ſchlechthin amphiboliſch, antinomiſch.
Für —: Ohne Pigment keine Religion — denn
Religion muß ja doch eine Gefühlsgemeinſchaft ſehr
Vieler und ein Kultus ſein. Es kann keine farbloſe
Volksreligion geben. Die Andacht muß etwas zum
Anreden haben, alſo vorgeſtellte überſinnliche Perſon,
Perſonen und, zum Anſchauen, Anſingen, auch That¬
[398] ſachen. Woher ſollte die Kirchenmuſik — und Muſik
iſt doch das Unentbehrlichſte zum Kultus — ihren
Text nehmen? — Das weiter zu demonſtriren, wäre
vom Ueberfluß. Kurz „Stützen“, wie es Leſſing
nennt.
Gegen —: Dieſe Stützen ſind ebenſo ſehr Spieße
in's Mark der Religion. Der tiefſtliegende Schaden
iſt: ſie dienen als Surrogate für's Weſen; die Men¬
ſchen, wie ſie einmal in Mehrheit ſind, meinen, ſie
dürfen ſich dafür, daß ſie an das Pigment glauben,
die Religion erſparen. Da haben wir nun den
„Glauben“, der = Religion gilt. Millionen Seelen,
die nie von einer Ahnung des Unendlichen, nie von
einem Gefühl der erhebenden Tragödie des Lebens
durchhaucht worden ſind, gelten nun ſich und der Welt
als religiös, weil ſie glauben. Dieſe ſchnöde Ver¬
wechslung hat ſich als allgemeines Vorurtheil fixirt,
mit Macht bekleidet, gefoltert, verbrannt, gekreuzigt,
gepfählt, lebendig geſchunden, Gedärme aus dem Leib
gehaſpelt, geblendet, verſtümmelt, lebendig begraben,
erdolcht, geſpießt, vergiftet, — es gibt keine ſo wild¬
viehiſche und keine ſo teufliſch durchdachte Grauſamkeit,
die nicht die gläubige Verfolgungswuth mit techniſcher
Vollendung ausgeübt hätte. Bekreuzt euch nicht davor,
ſtillgläubige Seelen! Das folgt haarſcharf aus der
Verwechslung des Pigments mit dem Weſen! Bekreuzt
euch nicht, gebildete Konſiſtorien! Ihr verbrennt,
[399] kreuzigt, pfählt nicht mehr, aber nun haben wir der
Unzähligen noch nicht gedacht, denen ihr moraliſch das
Herz gebrochen, das Gewiſſen mißhandelt habt, indem
ihr ſie in die Wahl ſtießet: gläubiges Bekenntniß gegen
die eigene beſſere Ueberzeugung oder mit Weib und
Kind zum Bettelſtab greifen! Und du, zahmer Ver¬
mittler, ſage nur ja nicht, der todte Glaube tauge
freilich nichts, der Auferſtandene müſſe Leben in uns
werden, und wie du es ſonſt ſchön ausdrücken magſt.
Nein! nein! Glauben und Religion ſind zweierlei,
und jener hat dieſer von je mehr geſchadet als ge¬
nützt. Was „den Glauben beleben“? Nichts da,
fort mit dem Glauben und die Religion kann leben!
Ihr lobt euern Schiller, ihr kennt ſein Diſtichon:
„Welche Religion ich bekenne? Keine von allen,
Die du mir nennſt. Und warum keine? Aus Religion.“
Aber ihr lest es im gewohnten Duſel und ſeid zu denk¬
faul, zu begreifen, was es beſagt, was daraus folgt.
Alſo der helle Widerſpruch von Für und Gegen.
Und alſo, wer weiß nun Rath? — Es ſcheint da
eine Auskunft. Die wohlbekannte: ſymboliſch nehmen!
Man muß wirklich ſagen: es iſt dieß die Auskunft
[400] aller edleren Geiſter von humaniſtiſcher Bildung, und
ihre Gemüthslage iſt darin nicht ſo einfach als es
ſcheint, es iſt da ein ſehr intereſſantes Helldunkel. Wir
ſind der chriſtlichen Bilderwelt entwachſen, und ſie iſt
uns zum freien äſthetiſchen Schein geworden, wie die
alte Mythologie. Doch nein, wir, auch wir ſtehen
nicht gleich zu beiden. An jene knüpft ſich für uns
eine Rührung, die einen Anklang an Glauben hat,
ohne eigentlich Glauben zu ſein, — innige Reminis¬
cenz unſerer Kinderzeit. Fauſt am Oſterfeſt, —
Weihnachtsrührung, — und am ſtärkſten: Verſetzung
in die Schönheit des Madonnenideals, der heidniſchen
Göttin, deren Bild das durchweichte und entzückte Herz
des Mittelalters mit der Ahnung aller Unſchuld und
ſittlichen Güte echter Weiblichkeit durchläutert hat.
Die Sprache ſelbſt könnte ohne den religiöſen
Glaubensapparat des Chriſtenthums rein nicht mehr
auskommen. Könnte die Liebe und könnten die Dichter
die Engel entbehren? Und wo bliebe Goethe's Fauſt
ohne den Teufel und ſeine Geſellen? Und wo meine
treffliche Mythologie?
Aber das hilft eben auch nichts, damit iſt natür¬
lich auch nicht auszukommen. Es handelt ſich ja um
[401] die Maſſe, um das Volk, das ſich auf Symbolik ein- für
allemal nicht verſteht. Und da ſtehen wir vor einer
noch ganz andern, ſtehen wir erſt vor der eigentlichen,
verzweifelten Amphibolie — :
Ein Satz: Die Maſſe braucht in alle Ewigkeit ein ge¬
glaubtes Bilderbuch. Wie viel immer das Pigment
ſchaden mag, es iſt doch auch Stütze. — Religion fort:
auch Moral fort. Gefärbte Religion doch beſſer als keine.
Anderer Satz: Ein ſehr großer Theil des Volks
iſt allerdings aus der Bilderwelt herausgewachſen, das
nimmt nun aber zu in geflügelter Progreſſion; noch
iſt es nicht die Mehrheit, aber bald wird ſie in die
Strömung gezogen ſein. Wer nur irgend ſich etwas
umſieht, Handwerker, Arbeiter, Kaufmann, wer immer
von Phyſik und Geſchichte auch nur einigen Lichtſtrahl
empfängt, iſt rein fertig mit Allem, was überſinnliche
Figur, was Regierung des Univerſums von außen,
was Wunder heißt, kurz mit dem ganzen Pigment.
Nun ſind aber alle dieſe hülflos in's Leere geworfen.
Die gefärbte Religion ſind ſie los, zur reinen reicht
es bei ihnen nicht, und wenn es reichte, wer reicht
ſie ihnen? Niemand. Unſere Prieſter bieten nimmer¬
mehr Religion ohne Pigment, und man muß auf
Grund des erſten Satzes zugeben: es wäre nicht mög¬
lich. Eigentlich iſt die reine Religion allerdings nicht
farblos. Zur Farbe hat ſie nichts Geringeres als die
Weltgeſchichte, die mythenlos wahre. Das aber iſt
Viſcher, Auch Einer. II. 26[402] von viel zu langer Hand, mit dieſer ungeheuren Pa¬
lette kann der religiöſe Volkserzieher nicht malen, da
braucht es einen idealen Auszug, nämlich eben die
Mythen. Und ſo fallen denn die Armen in's Leere,
die über das mythiſch illuſtrirte Chriſtenthum hinaus
ſind. Es liegt in der That ſo traurig, daß man
jammern möchte. Die alte Ehrfurcht ſind ſie los,
für eine neue können ſie die Begründung nicht finden.
Moral ruht ſchlechterdings auf Religion, und da ſie
mit der bunten Religion die reine wegwerfen, ſo werden
ſie Lumpenhunde, laſſen ſich in den Wirbel der Hetz¬
jagd reißen, die jetzt los iſt, der Hetzjagd nach dem
Glück, das keines iſt. Ihnen ſagt Niemand, zeigt
Niemand einfach aus dem innern Weſen der Seele
und aus dem Verhältniß der Einzelſeele zur Seele der
Menſchheit, das; und warum es keinem Menſchen wohl
wird, außer im Guten. Sagt man es ihnen je, ſo
hängt man doch den Märchenkram wieder daran, den
ſie nicht mehr ertragen, und ſo laufen ſie weg.
Weiß der Himmel, wie ſehr ich ſelbſt mich oft
ſehne, mir von einem guten Redner die ermattende
Seele aufrichten zu laſſen, aber da ſchenkt uns ja
keiner den Farbenzuſatz, von dem wir nichts mehr
wollen, der unſerem erhellten Auge widerſteht.
[403]
Wenn die allgemeine Zuchtloſigkeit zunimmt, wenn
ſie zu Verbrechen auf Verbrechen führt, wird der Staat
meinen, die beſtehende Religion mit Zwangsmitteln
aufrechtzuhalten, wiederherſtellen zu müſſen. Vergeblich!
Eine in der Auflöſung begriffene Religionsform läßt
ſich nicht halten; man pflanzt nur Heuchelei. Drako¬
niſche Strenge wird gut thun, aber eine Reaktion
in dieſer Richtung würde den Staat nicht ſtützen,
nur noch mehr untergraben; er würde ſich nur die
Ruthe der Pfaffengewalt noch läſtiger auf den Rücken
binden, und wollte er nachher wieder einlenken, lockern,
ſo würde ein Ravaillac nicht ausbleiben.
Oft in dieſer Noth meines Herzens um die hülf¬
loſe Menſchheit denke ich: ehe Luther kam, ahnte auch
kein Menſch, daß ein ſolcher Reformator erſcheinen
werde. Niemand von Allen, die in das Elend ein
Einſehen hatten, wußte Rath. In ſolcher Stunde
iſt es doch ſchon mehr als Einmal geſchehen, daß der
rettende Genius geboren wurde. Das iſt nun freilich
pure Hoffnung, ganz blind, ohne jeden Begriff; denn
alle Begriffe führen ja eben in's Rathloſe. Luther
ließ einen guten Theil des Pigments ſtehen, das be¬
durfte ja die Mehrheit, und wenn jetzt die Mehrheit
dem entwächſt, ſo iſt ſie doch nicht die Allheit, ein
Reſt Bedürftiger bleibt in alle Zeit. Wie ſollte nun
[404] ein neuer Luther etwas ſchaffen können für Beide:
für Die, welche der Kinderkoſt bedürfen, und für die
Anderen, die ſie nicht mehr verdauen? — Oder bildet
ſich vielleicht eine Gemeinſchaft für die reine Religion,
die ſich allmälig ausdehnt? Nichts, nichts, da iſt ja
kein Kultus möglich!
Allerdings iſt es eben auch ſo eine Sache mit den
Lokalen für den Kultus. Gebildete Perſönlichkeiten
pflegen ſich da zu verkälten. In bitterem Ernſte:
kommt uns je ein Retter aus obiger Noth, ſo denke
ich mir gern, er werde zuerſt als Erfinder auftreten,
der eine urwohlthätige Grundlage für die Stimmung
herſtellt: Luft in geſchloſſenem Raum und doch kein
Zug! Wer dieſe Aufgabe löſt, wird einer der größten
Wohlthäter der Menſchheit ſein. Iſt dieß erſt entdeckt,
ſo werden die Menſchen milder, launenloſer, klarer,
gemüthsfreier, ſie werden beſſer, ſie werden edler werden.
Ja, damit wird der erhoffte Reformator beginnen, auf
dieſem Grunde wird er aufbauen!
Bin wahrlich kein Freund vom Allegoriſiren, aber
wem ſoll's nicht einfallen: ja, Schwüle oder Zugluft
oder Beides beiſammen: ſo lebt die Menſchheit. Wär'
ich ein Egoiſt, mir könnt's ja Eins ſein. Warum
[405] muß ich dieß Senſorium haben, daß mich ihr Loos
ſo bekümmert, mich nicht ſchlafen läßt? Die breiige
Föhnluft ihres dumpfen Vorſtellungslebens verſetzt mir
den Athem und wenn ſie die Fenſter aufreißt und die
tollen Windſtöße verkehrten, abſtrakten, fanatiſchen Ideen¬
zugs hereinläßt, ſo beſtürzt mich für ſie die pneumatiſche
Grippe. O Elend! O Leiden des Mitleids, das nicht
rathen, nicht helfen kann! Ich habe Stunden, wo ich
die träge Seele beneide, die ihr Stück Käs in Ruhe
verzehrt. Bis unter die Nägel brennt mich's, bis in
die Zehen durchzuckt mich's. Dann veracht' ich mich
wieder, daß ich, ich mit den dunklen Flecken auf meinem
Leben, ich vor mir poche, gar ein Jesus patibilis
zu ſein! Ach, es iſt Zeit, daß ein Ende werde!
Nehmt mich, wiegt mich, lüftet mir die Bruſt, ſinget
den Schlafloſen in Schlaf, gute Geiſter, wo ihr ſchweben
mögt, in Lüften oder im Meeresſchooß! Macht's gnädig,
führt mich noch in eine Reinheit, eine Klarheit und
laßt in Ehren mich enden. — Gute Geiſter! Einen
weiß ich. Zu ihm ſeufze ich, rufe ich, wie der Hirſch
ſchreit nach friſchem Waſſer.
Was? Was war das? Welcher Abgrund ſendet
mir das? — Biſt du da — dieß Bild? — Engel
und Boten des Himmels, ſteht mir bei! — Unter den
Luſtwandelnden auf Corſo Garibaldi. — Nur etwas
[406] kleiner und kein Metallhaar, ſonſt ganze Doppelgängerin
— hat bemerkt, wie ſcheu ich ſie anſehe, läßt einen
mürriſch fragenden Blick über mich herlaufen. —
Geſichter hier ſind eine Bilderreihe zur Geſchichte der
Inſel. Dort ein rein latiniſches, adlernaſiges, hier
noch ein Reſt griechiſchen Profils, jetzt tiefbraun arabi¬
ſcher Typus, jetzt glaubt man ſchwäbiſches Gepräge
aus Hohenſtaufenzeit zu erkennen, mitunter glüht Afrika
herüber: äthiopiſche Wulſtlippen und Plattnaſe, Farbe
faſt ſchwarzbraun, dazwiſchen aber auf einmal nor¬
manniſch: da und dort ein weibliches Geſicht blond,
helläugig, ſelbſt mit dem mattſammtenen Hautton nörd¬
lichen Klimas — trotz der Sonne Siziliens. Und
nun da — Hat einſt ein Normanne, ein wilder
Wikinger, Ururahns Bruder, hier mit einem Meerweib
die Ururahne dieſer Erſcheinung gezeugt?
Der Traum dieſer Nacht ſei aufgezeichnet, ſchnell,
bevor er ſich verwiſchen kann! So gut ich's vermag
nach ſo viel Grauſen, Beben und Entzücken.
Ich wandle wieder auf dem Corſo. Der Himmel
wie neulich in Peſtum. Die ſchwere Wolkenwand ſinkt
herab und ſchließt den Spalt, durch den man dort die
Abendſonne im trüben Sciroccogelb leuchten ſah. Nacht.
Die Begegnenden ſehen ſich nicht mehr. Schwül und
ſchwüler, endlich faſt zum Erſticken. So muß es in
[407] und um Pompeji geweſen ſein, als der alte Plinius
den Athem aufgab. Jetzt langſam wächst eine Ziegel¬
röthe über den Himmel, geht in feuerrothes Glanzlicht
über. Stille, todesbang. — Horch, welcher Ton? Man
hört ein wehendes Blaſen, etwas wie ein Fegen, es
wird zu einem lauten und lauteren ſtürmiſchen Speien,
jetzt knallen Donnerſchläge dazwiſchen — jetzt wankt
zuckend die Erde unter mir — ich ſchaue um und auf,
der Monte Pelegrino hat ſich in den Aetna verwandelt,
offen iſt die fürchterliche Eſſe, glutroth fährt die Lohe
aus der Unterwelt empor und rings am ſchrecklichen
Geiſterberg ſchlängeln ſich Lavabäche zu Thal und ver¬
löſchen ziſchend im flammenden Gewäſſer des Hafens.
Die Feuerſäule aber, die zu oberſt emporſchießt, wölbt
über ſich hoch in Lüften eine rabenſchwarze Wolke, aus
der ein Regen von Aſche, Steinen, Lavaklumpen nieder¬
praſſelt rings über die bebende Menge, die dort fliehend
auseinanderſtäubt, hier in wilden Knäueln ſich drängt
und ſtößt oder Gebete heulend ſich am Boden wälzt.
Ich ſtehe ſchauernd, aber feſt, und ſchaue in die brauſende,
ſauſende Lohe, ſtill ſtaunend, einſam unter den vielen,
vielen Menſchen. Da — was hebt ſich aus dem Krater
empor? Ein Drachengeſpann — es reißt hinter ſich
einen Wagen aus dem Schlund — er ſcheint leer —
dann richtet ſich ein Schatten in ihm auf — jetzt ſchwebt
er wie auf ſicherem Boden in ebener Linie durch die Lüfte
— herwärts der Stadt, meinem Standort zu, — iſt
[408] das nicht etwas wie eine weibliche Rieſengeſtalt, was
aus ihm emporragt? — — der Wagen ſenkt ſich —
ſchwebt ſinkend näher und näher — deutlicher im
ſchweflichen Glut- und Blutſchein wird die Lenkerin
des Drachenpaars — Augen wie Fackeln brennen aus
ihrem Antlitz — ihre Locken ſind von Gold, ringeln
ſich aber wie Schlangen, blaue Funken kniſtern aus
ihren Spitzen, — jetzt wankt mir der Muth, ich denke
an Flucht, die Beine ſind mir lahm, angewurzelt ſtehe
ich, denn das iſt ja — ſie! ſie! das Weib, das mir
die Seele ver— Der Wagen hält in Lüften — ein
Blick — was für ein Blick! Ich kenne ihn! — trifft
mich, ſtreift dann über die Köpfe der Menge hin —;
ſie wirft ſtolz ihr Haupt auf und erhebt die Stimme,
— es iſt der Ton, mit dem ſie einſt jene Stellen des
Olaflieds ſang, woraus es hervorklang wie Mitleid
und Hohn zugleich, — nur lauter jetzt, greller, ein
Herrſcherton — ſo mag einſt Libuſſa ihre Schlacht¬
befehle gerufen haben — „Adoratemi! Sono la santa
Rosalia!“ Das Volk ſtarrt ſie an, dann rufen Stimmen:
Auf die Kniee! Seht ihr das Kreuz auf ihrer Stirn?
— und Alles ſank auf die Kniee. Ich ſehe hin nach
ihrer Stirne und erkenne mit Grauſen — — „Betet
nicht an! das iſt kein Kreuz! ſchaut beſſer hin —
eingeätztes Bild eines Dolchs!“ — Das entſetzliche
Weib wendet den Blick wieder nach mir und herrſcht
mir jetzt griechiſche Worte zu: Ἄνω τὴν κεφαλὴν!
[409] Βλέπε ἄνω! Ich ſchaue über ihr Gorgonenhaupt
hinweg, hinauf nach dem ſpeienden Krater. Da fliegt
wie eine Rakete emporgetrieben ein ſchwarzer Körper
zwiſchen den Flammengarben auf, hält dann im
Schweben ſtill, fängt an mit den Beinen zu gaukeln,
zu zappeln wie ein Hampelmann, tanzt baumelnd,
ſich überſchlagend eine Weile in den Lüften, kugelt
dann abwärts und herwärts, immer näher, bis er
über meinem Haupte flattert, und beginnt nun mit
kreiſchender Stimme zu ſtottern: „Gu — gu — guck
mich an!“ Ich lache, doch verzwungen und angſtvoll,
und rufe: „Du biſt der Stotterer vom Theater
S. Carlin in Neapel!“ „Oho, oho,“ ſtammelt es
jetzt, „wie du — du — dumm! Ich bin ja der Pla —
Pla — Plato! der Plato! Kann auch pfei — pfeifen!“
— Er pfiff, der ſchrille Ton gieng in eine Schelmen¬
melodie über und es war jetzt, als pfiffen zwei Stimmen,
eine höhere und eine tiefere, und die tiefere ſchien aus
einem großen Loch in der Bruſt zu kommen. — O,
ich hatte mir's nur verhehlen wollen, — ſchon vorher
hatte ich die verzerrten Züge, die halbgrauen, nun
wild flatternden Locken erkannt, die mir einſt ſo ehr¬
würdig erſchienen. Eine Wuth befiel mich mitten in
der Verſteinerung, im kalten Schauer, der mir vom
Wirbel zur Fußſohle niederrieſelte. „O, ein Gewehr,
ein Gewehr,“ brachte ich mit halb gebannter Stimme
mühſam hervor, „wie einen Geier, wie einen Schuhu
[410] hole ich dich, Schandfetzen, aus der Luft herunter!“ —
„Da, nimm!“ höre ich jetzt eine freundliche Stimme
mir über die Schulter ſagen, drehe mich um und in
rothem Hemde ſteht ein Mann vor mir mit den be¬
kannten Zügen Garibaldi's und reicht mir ein Gewehr,
doch war es auch wieder nicht Garibaldi, ſondern der
arme, treue Karl, der mir bei Kruſau ſterbend ſeine
Büchſe herbot; „da, nimm, ſie iſt geladen und auch
ſchon geſpannt!“ „O Dank, Dank, Dank!“ Ich er¬
greife die Waffe, lege an, ziele, drücke — ſie verſagt!
Nicht plötzlicher Donnerſchlag, nicht Kanonenknall kann
erſchrecken, wie dieß Ausbleiben eines Schalls, dieſer
Nichtſchuß mich entſetzte.
Ich erwachte, fuhr auf, eiskalt rann es mir durch
die Glieder, aber ſchnell wiech die tödtliche Kälte einer
brennenden Fieberglut. Mir war, ich fühle mein
Gehirn in ſeiner Höhle kochen. Mein linker Arm war
noch ausgeſtreckt, als hielte er den Lauf des Geſchoßes,
mein rechter gekrümmt und der Zeigefinger gebogen,
als läge er noch am Drücker. Ein Krampf ſpannte
mir alle Muskel auf die Folter. Als ich klarer zu
mir kam, war mein ganzes Weſen nur Ein Sehnen,
nur Ein Seufzer nach Ruhe, Stille, Kühlung. In
dieſem Gefühle ſchlief ich wieder ein. Der Traum
nahm ſein Spiel wieder auf und knüpfte ſeinen Faden
an den erſten Gang, loſe, wie er zu thun pflegt.
Ich fand mich unterwegs aus der Stadt. Ich will
[411] jetzt auf meinen lieben Berg hinauf, ſagte ich mir,
hinauf nach der Grotte der wahren Roſalia, da will
ich Kühlung ſuchen. Ich wanderte und wanderte, zwiſchen
Villen, zwiſchen Alohecken, Gartenmauern weiter und
weiter und konnte den Weg nicht finden, den Berg
nicht gewahr werden. Da ſehe ich unter dem Blätter¬
buſch einer blühenden, hochaufgeſchoſſenen Alo einen
Zwerg ſitzen, der mich ſinnend, freundlich, mitleidig
anſieht. „Könnten Sie mir nicht ſagen, guter Herr
Nano,“ rede ich ihn an, „wo es auf den Monte Pele¬
grino geht?“ — „Verehrter Herr Pilger, Excellenza irren
ſich,“ iſt die Antwort, „der Berg iſt jetzt umgekehrt
im Meer drunten — wiſſen Sie nicht, der Aetna hat
ihn weg- und umgedrückt — wenn Sie nur ge¬
fälligſt —“
In dem Augenblick fühlte ich mich von Waſſer
umgeben und ſinken. Ich ſank tiefer und tiefer, nicht
mit Bangen, ſondern voll labenden Gefühles der
Kühlung. Delfine huſchten vorbei und ſahen mich mit
klugen Augen an, als wollten ſie ſagen: nicht wahr,
hier iſt es gut, hier ſind keine feuerſpeienden Drachen?
Endlich fühlte ich Grund und der Zwerg ſtand wieder
neben mir. „Hier,“ ſprach er, „hier iſt die Grotte.“
— „Das iſt ja keine Grotte,“ ſagte ich, denn ich
ſtand vor einem Hochaltar mit vergoldetem reichem
Schnitzwerk, das über den geſchloſſenen Flügeln des
Diptychon aufſtieg. „Thut nichts,“ flüſterte der Zwerg,
[412] den Zeigefinger der linken Hand an die Lippen legend,
indeß er mit der rechten einen Schlüſſelbund aufnahm,
der an ſeinem Gürtel hieng. Er ſuchte lang, während
ich in geſpannter Erwartung nach dem geſchloſſenen
Schreine hinſah und mich vergeblich bemühte, zu er¬
kennen, was die verwaſchenen Heiligenbilder auf den
Flügeln vorſtellten. Jetzt zog er aus dem Stahlring
einen ſilbernen Schlüſſel, öffnete, ſchlug die Flügel
auseinander und —
Hat ſich der Himmel aufgethan? Vor mir wölbte
ſich die blaue Grotte von Capri, nicht Bild, nicht
Gemälde, ſondern Wirklichkeit. Und doch auch wieder
nicht. Denn wohl raunt das Volk von gewiſſen Fels¬
höhlen an jener Inſelküſte, es ſeien Spiriti darin, aber
was leuchtet hier, welch' Unbekanntes, Neues, welchen
Wunderkern umſchließen dieſe blau erglänzenden
Wölbungen? Eine Erhöhung des Felſes ragt aus
dem Waſſer, wie zur natürlichen Ruheſtätte gebildet,
auf weißer Decke, die darüber ſich breitet und falten¬
reich niederfällt, in weißem Gewande, das Haupt auf
weißem Schlummerkiſſen ruht ein Weib, mir entgegen¬
gekehrt, das Angeſicht mir gegenüber, halbgeſchloſſen
ſind die von langen Wimpern überſchleierten Augen.
Friede wohnt auf ihrer Stirne, ein ſeliges Lächeln
umſpielt ihre Lippen, Verklärung iſt dieß Antlitz.
Das magiſche Licht, das auf Correggio's berühmter
„Nacht“ vom Chriſtuskind ausgeht, auf den Geſichtern
[413] der anbetenden Gruppe wiederſcheint und im Dunkel
der Hütte, der nächtlichen Landſchaft verſchwebt, es iſt
ſtumpf und erdig gegen die Lichtfülle, die von dieſem
Himmelsbilde ausſtrömt und doch nicht blendet, ſondern
mondſcheingleich das Blau, das vor lauter Leuchtkraft
wie Roth auf das Auge wirkt, zu ſanfter Kühle er¬
mäßigt. Ich ſollte die Züge dieſes Weibes kennen,
ſprach es in mir. Nur ſo wagte ich es im Innern
zu ſagen, denn ſehr wohl beim erſten Blicke kannte
ich ſie. Doch drang es mir über die Lippen: „Soteira!“
flüſterte ich und trat um einen kleinen Schritt näher;
das Waſſer, das ihr Felsbett umſchwankte, ſchien zugleich
feſter Boden, der dem Fuße Stand und Gang erlaubte.
Sie öffnete jetzt die Augen und ließ ſie auf mir ruhen.
Wer beſchreibt den Blick! Mir war wie damals, als
ſie ſich über mich beugte und das feuchtkühle Tuch auf
meine Stirne legte, nur daſſelbe Gefühl in's Unme߬
bare, in's Unſagbare erhöht. Nun ſprach ſie, — es
war jener grundgute Ton, der mir einſt in's Herz
des Herzens gedrungen —: „Nicht wahr, hier iſt es
gut ſtill und kühl?“ — „Ja, du Gute,“ ſagte ich,
„aber das iſt ein Ort für Reine, da darf ich nicht
bleiben; verzeih', verzeih', daß ich hier eingedrungen;
aber du glaubſt nicht, o, du glaubſt nicht, wie fürchter¬
lich es droben ausſieht im Thale der Schrecken.“ Wie
vorher ruhten dieſe Augen auf mir mit dem Blick der
Güte und des Mitleids, den keine Zunge nennt. Dann
[414] hob ſie langſam den Arm, bot mir die ſchneeweiße
Hand und ſagte: „Reiche die deine, das kühle Lichtblau
hat Alles, Alles abgewaſchen.“ Zitternd hob ich die
Hand und faßte die ihre. Sie war kalt, aber nie
im Leben hat der Druck einer warmen, lebendigen
Hand einen Menſchennerv und ein Menſchenherz ſo
ſelig durchzittert, wie mich die Berührung dieſer weichen,
zarten Finger, die wie aus Schnee gerundet ſchienen.
Ich hielt ſie feſt und flüſterte: „Ewig.“ — „Ja,
ewig,“ hauchte ſie.
Ich glaubte ſie noch zu halten, als ich erwachte.
Dieß Erwachen! Hinweggeſpült aus meiner hämmern¬
den Bruſt iſt der Krampf und Brand des Lebens,
ſanft geht mein Puls. Ich bin frei.
Aber da bin ich noch und was nun thun? Der
aufzuckende Gedanke, ich müſſe nun auf und fort, hin¬
wärts, dorthin — nein! Mein Traum und die Fragen,
die Zwecke der Wirklichkeit: zwiſchen ihnen iſt kein
Verhältniß, keine Gleichung. Auch den Gedanken, mein
Geſicht könne eine Ahnung geweſen ſein, halte ich
nieder. Ich mag mich mit keinerlei Fragen einlaſſen.
Mir iſt Alles vollendet. Ich bin. Ich habe das
Gefühl, zu ſein. Mit ihr, in ihr. Tief in der blau
ſchimmernden Grotte. — Die Dinge am Tageslicht
ſind mir nun pure Gegenſtände, nichts mehr mit mir
verwachſen.
[416]
Wenn man nicht weiß, was nun thun, ſo thut
man vorerſt nichts, das heißt, man treibt, was der
Tag bringt. Ich bin einmal in Palermo, will mich
erſt noch weiter umſehen. Ich will doch die Einladung
des fremden Herrn annehmen, den ich beim Frühſtück
getroffen, mit ihm zwei Bilder von Creſcenzio zu ſehen,
einem merkwürdigen Maler des Quatrocento, eines im
Hofe des Hoſpitals, das andere eine Stunde von der
Stadt im Kloſter S. Maria di Geſu.
Freske im Kreuzgang des Hoſpitals: eine Art von
Todtentanz — trionfo della morte. Sieht ſich faſt
deutſch an, blonde Köpfe, herb individuelle Formen;
Sage von einem flandriſchen Meiſter, doch möglich von
Creſcenzio unter frühem nordiſchem Einfluß. Der Tod
rennt als Gerippe auf magerem Klepper durch die
Luft, Pfeile vom Bogen ſchießend, Arme und Krüppel,
die ihn um Erlöſung flehen, übergehend, Hohe und
Ueppige ereilend. Links eine heitere Geſellſchaft: feſt¬
lich gekleidete Mädchen zum Tanz antretend nach dem
Klang einer Zither, aber ſchon von Todesbläſſe über¬
zogen, dabei ein Paar, das verlobt wird. Ihr verlobt
euch gültig, der Tod wird kopuliren. —
Die Fresken im Kloſter draußen großentheils ver¬
dorben; monochrom. Erhalten eigentlich nur eines
der Seitenbilder: der Leichnam des heiligen Franziskus,
[417] umgeben von trauernden Mönchen und Volk. Der
Meiſter, ſchwerlich Creſcenzio, hat die ſtreng auf die
Sache losgehende Art des Giotto. Schmerz, andächtig
rührungsvolles Schauen in die ſtillen Züge des Todten,
dieſe Affekte in ihrer Einfachheit, ohne Zuſatz feinerer
Miſchung, aber auch ohne abflachende Rundungen, und
nur um ſo ergreifender. Die ausgewachſene Kunſt
füllt Formen und Ausdruck, ſpielt aber ſtets an der
Grenze hin und über ſie, wo das fühlbare Zeigen
ihres Könnens beginnt. An der vollen Krone des
Baums, der in Sommers Mitte prangt, findet man
immer ſchon einige welke Blätter. — Eigenthümlich
hat mich der todte Franziskus berührt, der tiefe Friede
in ſeinen hageren Büßerzügen. Was iſt es, worin er
liegt? Ein gläſerner Sarg? Nicht mehr zu erkennen.
— Als Ort wird Aſſiſi zu denken ſein. —
Jetzt weiß ich, wohin! — Der Fremde im Rück¬
weg lange ſchweigſam. Ich auch. „Die Bilder,“
beginnt er endlich, „haben mich ſeltſam ergriffen, —
auch darum, weil die Szene, die wir zuletzt geſehen,
in Aſſiſi vorzuſtellen iſt. Ich habe eine traurige Nach¬
richt: der Tod zielt jetzt eben in meine Verwandtſchaft.“
— Er nennt mir ſeinen Namen, ſein Vaterland
Schweden, ſeinen Heimatsort Gothenburg und ſeinen
Stiefbruder — Erik. Deſſen Wittwe, ein Juwel aller
Viſcher, Auch Einer. II. 27[418] Frauen, liege todkrank nieder in Aſſiſi. — Zu Schiff,
zu Schiff!
Neapel. So weit wär' ich. Der Seeſturm über¬
ſtanden, ich wußte gut, daß er mir nichts anhaben könne.
Das Dampfſchiff gilt für altersſchwach, es müſſe noch
dienen, ſo lang es halte; der Kapitän ſtand immer an
der Maſchine, ſah hinab, horchte, ob ſie noch gehe. Bald
Alles ſeekrank außer mir und der Bedienung des Fahr¬
zeugs. Halte mich am Maſt und ſchaue und höre.
Ton durchaus wie von Millionen Trommlern, die mit
anwachſender Schlaggewalt zum Sturme wirbeln, im¬
mer wieder von vorn beginnend. Wo möglich furcht¬
barer das dünne, ſchneidend ſcharfe Pfeifen des Winds
in den Tauen, wie wenn Einer auf der ſcheermeſſer¬
ſchmalen Kante von Papier pfeift, — dieß in's Un¬
endliche geſteigert. Wogen — eine Welt; nicht jede
gelingt, die gelungenen herrlich in der Linie ihrer
Hohlkehlen und Roßhalsrücken, drüber die Schaum¬
mähnen, die der Sturm flockig hinausbläſt. Wälzt
ſich eine heran, man meint jedesmal, ſie müſſe das
Schiff umſtoßen oder überflutend begraben, doch ſie
nimmt es auf ihre Schultern, dann ſchießt es in's
nächſte Wogenthal hinab. Welches Brauſen und
Donnern! Kann ſonſt den Wind nicht ausſtehen; ſo
gefällt er mir, wie neulich in Sorrent auf der
[419] Klippe: wenn einmal doch, dann auch recht! —
Weinen, Jammern, Beten ringsum. Ich laſſe mir
ſtark den Syrakuſaner munden; der Kellner preßt ſich,
um einſchenken zu können, an Maſtbaum oder Wand,
wenn ich dann nicht ſchnell trinke, iſt der Wein fort,
als ſchlüge Jemand mit Gewalt unten an's Glas.
Nacht, unmöglich oben zu bleiben, ich muß hinab in
meine Koje und wie ich entkleidet bin, beſchleicht mich
eine kurze Anwandlung von Feigheit. Was doch
Kleider, namentlich Stiefel, ein Gefühl von Halt
geben! — Da unten iſt's unheimlich; an der Schiffwand
höre ich mitten unter dem dumpfen Brummſtoß der
Wellen und dem Aechzen aller Rippen des hohlen
Baues manchmal etwas wie Saugen und Gurgeln,
als lutſchten da draußen die Mollusken ſo vorläufig
am Holz in Ausſicht auf beſſere Speiſe. Auf der
Treppe ſitzt ein großer, ſchöner Kerl mit langem Bart,
in flotter Uniform, Leibjäger irgend eines vornehmen
Herrn, und weint wie ein Kind; — vielleicht ein
andermal beherzt; ſind halbantike Menſchen, laſſen
Alles heraus. Im Damenkabinet liegt eine ſeekranke
Frau mit Kind; ruft alle Viertelſtund: cameriere!
come ſta? Und der ſagt jedesmal: cosi, cosi. Die
Laterne hängt in immer ſpitzerem Winkel von der
Decke; wenn ſie mit ihr gar keinen Winkel mehr bildet,
ſondern parallele Linie, ſo ſind wir fertig. Kommt
ein Kapuziner und bittet mich, mit halbem Leib in
[420] meine Koje hereinliegen zu dürfen, die unterſte von
je dreien; ich erlaub' es, der Kapuzenzipfel kitzelt mich
im Geſicht und überdieß heult und jammert der Tropf,
betet wimmernd den heiligen Antonius an und alle
Heiligen noch dazu. Ich halte nun dem Wurm von
Menſchen eine Predigt — die erſte in meinem Leben
— ziemlich wohlgeſetzt, im Weſentlichen des Inhalts,
er ſehe mich, ein Weltkind, ruhig, er ſolle ſich doch
ſchämen, daß er, der all' Tag und Stund die Erde
als Jammerthal ſchmähe, den Tod und den Himmel
preiſe, nun ſo erbärmlich verzweifle. Hat natürlich den
Teufel gefruchtet, obwohl der Vortrag nicht bloß leid¬
lich gut eingetheilt, ſondern auch rhetoriſch hübſch ge¬
ſchmückt war. — Gegen Morgen ermattet die Sturm¬
wuth; man kann auf das Verdeck, doch als ich mich
geſetzt und eingenickt, rollt mich ein Ruck wie eine
Kugel das Verdeck entlang. Hat mich gefreut, daß
ich wieder hell lachen kann. — Der Sturm mit all'
ſeinem Lärm iſt mir ganz ſtill vorgekommen in Ver¬
gleich mit dem hölliſchen Traum, mit dem ſtummen
Brüten in der Luft, das den Larven vorangieng, und
mit ihren Hohnrufen.
Rom. Nur eine Wanderung hier über das Kapitel
hinaus. Morgen vorerſt Perugia. — Dum Capitolium
scandet cum tacita virgine pontifex. Horaz hatte
[421] doch Momente. Cum tacita virgine — begleite mich,
Bild der prieſterlichen Jungfrau — mit ihren, ihren
Zügen! — Ueber das Forum hinaus ein Stück in
die Campagna, an dieſem ſtillen Abend im Mondſchein.
Mein Leben wird Vergangenheit, es iſt müdes, weiches
Verdämmern ohne Empfindungsſchwäche. Tiefes Weh
nur, wenn ich vergleiche. Trümmer von ſo Großem —
und mein Daſein niemals mit vollem Band an Großes
geknüpft. Schäme mich vor den Geiſtern, die hier
ſchweben. Horaz kann ſich doch wenigſtens rühmen,
das äoliſche Versmaß der lateiniſchen Sprache an¬
geeignet zu haben. Aber die Männer, die Helden!
Und ich? Ja, einmal, einmal, da wollte es werden,
habe gekämpft für ein Vaterland. Kurzer Traum!
Ihr Gewaltigen habt Reiche beſiegt, habt die Welt
beherrſcht.
Wohl ſeh' ich auch im Geiſt, wie blondlockige
Gothenſchaaren dort auf den Palatinus hinauf und
in's Koloſſeum dringen und die Mauern brechen.
Alte Geſchichten. Mein Deutſchland ſchläft wieder,
nachdem eine Halbheit auf zweifelhaften Wegen zu
Stand gekommen. Man muß auch das lernen: hin¬
gehen, ohne ein Vaterland erlebt zu haben. Gefaßt,
ganz gefaßt. Und ſo wird's wieder ruhig in mir,
ſanft. Ich ſauge eure Größe ein in ſüßem Dieb¬
ſtahl, ihr Trümmer, athme Heldenluft in großer Stille.
[422]
Was haben die deutſchen Künſtler da drin im
Café Greco? Haſchen heftig nach den Zeitungen.
Wird auch der Mühe werth ſein! — Mich kümmern
keine Neuigkeiten mehr.
Perugia. Es iſt ſo, ſie liegt drüben in Aſſiſi;
man hat ſie in die freiere Bergluft gebracht zur
Muhme Cornelia. Ihr Vater, ihre Söhne bei ihr.
Habe an ihn geſchrieben, ob ich erſcheinen darf.
Mir war nur ſtill und feierlich zu Muthe; jetzt bin
ich nicht mehr ſo ruhig. Mutharm, ſchwer, bang,
daß mir faſt Arm und Fuß den Dienſt verſagt, bis
Antwort da iſt. — Stehe wieder vor dem Geburts¬
haus ihrer Mutter, verwechſle ſie immer und wenn
ich da nach der Loggia hinaufſehe, ſehe ich ſtatt ihrer
Cordelia als Kind dort zwiſchen den Oleandern herab¬
ſchauen.
Man erwartet mich, ſoll kommen, ſchnell. Mir
wird ſchon leichter. Ich darf.
Es iſt geweſen. Es iſt. Ja, wie dort auf dem
Bilde des Kölner Meiſters die heilige Jungfrau, ſo
umgeben von Weinenden, Vater, Kindern, ſo lag ſie.
[423] Und auch wie der ſelige Geiſt im blauen Lichtmeer
der verklärten geheimnißvollen Grotte.
Knieend an ihrem Bett — ſie weint — weint
ſie auch um mich? — Es gibt Krieg, ſagt ſie. —
Ich wußte nichts von der Welt draußen. — Der
Vater beſtätigt: Krieg Deutſchlands mit Frankreich. —
Iſt die Stunde wieder da, wo in Chriſtiania — ihr
Aufruf — ? Sie mahnt nicht, dießmal nicht. — In
mir Entſchluß, augenblicklich. Nun weiß ich meinen
Weg, ſage ich, — ſie ſchweigt, ſie weint, reicht mir
die Hand, die weiße, bleiche, — hebt ſie, nachdem ich
ſie lang gehalten, und legt ſie auf mein Haupt, ſeg¬
nend, Worte flüſternd, unhörbar, meine Thränen
ſtrömen, — ſie bedarf Ruhe — Leb' wohl! leb' wohl!
— Ein ſanftes „wohl“ kann ich noch vernehmen —
ein Blick ruht auf mir — ich werd' ihn ewig ſehen.
Und du, Erik! — dein Geiſt über uns — ich ſah
ihn freundlich nicken. — Ja, ja, nun weiß ich meinen
Weg. —
Hier endigt das Tagebuch. Weitere Aufzeichnungen
haben ſich nicht gefunden; nur die Tage der Schlachten
jenes Sommers ſind noch eingetragen, zuletzt der
Entſcheidungstag von Sedan.
Iſt geſchehen. Anm. d. Herausg.
Hier findet ſich ein Blatt von fremder, weiblicher Hand,
ein Brief in griechiſcher Sprache. Es geht zur Hälfte ein Riß
hindurch; der Empfänger, ſcheint es, wollte ihn zerſtören und
ließ wieder ab. Ich gebe den Inhalt in deutſcher Ueberſetzung.
Der Herausgeber.
Unſichere Züge, ſichtbar mit der Linken geſchrieben.
Anm. d. Herausg.
In dieſer Gegend lagen die verrückten Elaborate, von
denen der Leſer ſchon weiß. Anm. d. Herausg.
) Sie! Anm. d. Herausg.
- License
-
CC-BY-4.0
Link to license
- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Vischer, Friedrich Theodor. Auch Einer. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpnh.0