Pflanze und ihr Leben.
Verlag von Wilhelm Engelmann.
1848.
[][][]
M. I. Schleiden ſec.Luh. Anst. v. J.G. Bach in Leibzig
Pflanze
und ihr Leben.
Verlag von Wilhelm Engelmann.
1848.
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Der
Frau Erbgroßherzogin
zu
Sachſen-Weimar-Eiſenach,
Wilhelmine Marie Sophie Louise
gebornen
Prinzeſſin der Niederlande, Königliche Hoheit,
in dankbarer Ergebenheit und ehrfurchtsvoller Unterthänigkeit
zugeeignet
vom
Verfaſſer.
[][]
Inhalt.
- Seite
- Vorwort und Einleitung 1
- Erſte Vorleſung.
Das Auge und das Microſcop 11 - Zweite Vorleſung.
Ueber den innern Bau der Pflanzen 35 - Dritte Vorleſung.
Ueber die Fortpflanzung der Gewächſe 55 - Vierte Vorleſung.
Die Morphologie der Pflanzen 75 - Fünfte Vorleſung.
Vom Wetter 101 - Sechſte Vorleſung.
Wovon lebt der Menſch? (Erſte Beantwortung) 123 - Siebente Vorleſung.
Wovon lebt der Menſch? (Zweite Beantwortung) 145 - Achte Vorleſung.
Ueber den Milchſaft der Pflanzen 171 - Neunte Vorleſung.
Beiträge zur Kenntniß der Cactuspflanzen 193 - Zehnte Vorleſung.
Die Pflanzengeographie 209 - Elfte Vorleſung.
Geſchichte der Pflanzenwelt 249 - Zwölfte Vorleſung.
Die Aeſthetik der Pflanzenwelt 285
[][[1]]
Vorwort und Einleitung.
Die folgenden Vorleſungen ſind im Verlauf der letzten 8 Jahre
nach und nach entſtanden, wie die Veranlaſſung dazu von einem
Kreiſe geiſtreicher und gebildeter aber vom Schulſtaube freier Menſchen
gegeben wurde, und ſie waren durchaus nicht zur Veröffentlichung
beſtimmt. In dieſem letzten Puncte habe ich freundſchaftlichem An-
ſinnen nachgegeben und ſehe mich nun genöthigt noch einige Worte
hinzuzufügen, um unrichtigem Urtheil und Mißverſtändniß vor-
zubeugen. —
Die Vorleſungen ſind der Veranlaſſung zu ihrer Abfaſſung ge-
mäß durchaus nicht beſtimmt, den poſitiven Inhalt der Wiſſenſchaft
zu lehren, neues Eigenthümliches zu bringen, oder Probleme der
Forſchung zu löſen. Es kann ſogar ſeyn, daß hie und da eine einzelne
Nebenſache factiſch nicht ganz richtig iſt, obwohl ich mir Mühe gab
dergleichen zu vermeiden, und dabei kann dieſer Mangel den Zwecken,
die ich bei der Ausarbeitung dieſer kleinen Abhandlungen mir vorſetzte,
durchaus nicht in den Weg treten. Mein Hauptwunſch war eigentlich
die Befriedigung einer Standeseitelkeit. Ein großer Theil der Laien
ſelbſt unter den Gebildeten, iſt noch von früher daran gewöhnt, den
Botaniker für einen Krämer in barbariſch-lateiniſchen Namen an-
zuſehen, für einen Mann, der Blumen pflückt, ſie benennt, trocknet
und in Papier wickelt, und deſſen ganze Weisheit in Beſtimmung und
Claſſification dieſes künſtlich geſammelten Heus aufgeht. Leider iſt
dieſes Bild des Botanikers einmal wahr geweſen, aber es ſchmerzte
mich zu ſehen, daß es jetzt, wo es auf den größten Theil der Pflan-
zenforſcher nicht mehr paßt, noch von gar vielen feſtgehalten wird und
Schleiden, Pflanze. 1
[2] ich verſuchte in den vorliegenden Vorträgen die wichtigeren Probleme
der eigentlichen Wiſſenſchaft der Botanik dem allgemeinen Verſtänd-
niß nahe zu legen, zu zeigen wie die Botanik faſt mit allen tiefſten
Disciplinen der Philoſophie und Naturlehre aufs Engſte zuſammen-
hängt und wie faſt jede Thatſache oder größere Gruppe von That-
ſachen geeignet iſt, ſo gut in der Botanik wie in jedem andern Zweige
der menſchlichen Thätigkeit die ernſteſten und wichtigſten Fragen anzu-
regen und den Menſchen vom Sinnlichgegebenen auf das geahnte
Ueberſinnliche hinzuführen. —
Wenn es mir gelungen iſt, das zu erreichen, daß fernerhin der
Leſer dieſer Skitzen von der Botanik und dem Botaniker eine würdigere
Anſicht faſſe, daß er einen richtigern Begriff von dem Umfang und
den Aufgaben unſerer Wiſſenſchaft ſich bilde, ſo bin ich zufrieden.
Sollte in weiterem Kreiſe durch dieſe Studien ein Intereſſe für die
Botanik ſelbſt angeregt werden, ſollte der eine oder andere Leſer durch
meine Worte zu dem Wunſche verleitet werden, weiter in dieſe ſo
freundlichen und ſo tiefen Lehren eindringen zu wollen, ſo ſind meine
Wünſche übertroffen.
Noch ein paar Worte über die Art der Behandlung mögen hier
Platz finden. Ich habe mich meiner Ueberzeugung getreu von allem
Schellingiſch-naturphiloſophiſchem Geſchwätz, von allen Phantaſtereien
frei gehalten und ich bin der feſten Ueberzeugung, daß die Wiſſen-
ſchaft dieſes Narrenputzes nicht bedarf um intereſſant, geiſtreich auch
dem Laien zu erſcheinen. Humboldt in ſeinen Anſichten der Natur,
Dove in ſeiner meiſterhaften Vorleſung über das Klima von Berlin
haben uns den Beweiß gegeben, daß die Wiſſenſchaft auch ohne die
Schminke jener bewußten oder unbewußten Lüge, welche Dichtung
dem Gedanken, Phantaſie dem Wiſſen, Traum der Wahrheit unter-
ſchieben möchte, anziehend, ja ſelbſt liebenswürdig und hinreißend
erſcheinen kann. Ich habe mich wenigſtens bemüht den vorliegenden
Abhandlungen ſoweit Schmuck zu verleihen, als meine mangelhafte
äſthetiſche Ausbildung mir auszutheilen verſtattet. Daß es mir dabei
nicht einfällt mit jenen Meiſtern der Sprache in die Schranken treten
[3] zu wollen, bedarf keiner Erinnerung. Ich glaube aber, wenn die Män-
ner der Wiſſenſchaft mehr den Verſuch machten, die Wahrheit in ſchönem
Gewande in die Geſellſchaft einzuführen, dieſes jenem unerträglichen,
geheimnißvoll und tiefthuenden Geſchwätz ohne Kern ſicherer den
Weg abſchneiden würde, als alle gründliche Polemik dagegen. Der
Deutſche hat ein zu geſundes Urtheil, einen zu gediegenen Geſchmack, um
nicht ohne viel Bedenken das Aechte und Gehaltvolle dem leeren Stroh
vorzuziehen, wenn nur beides in gleich genießbarer Form ſich darſtellt.
Den Inhalt der einzelnen Vorleſungen anlangend, ſo iſt zwar,
wie es die Veranlaſſung mit ſich brachte, jede für ſich abgeſchloſſen
und von den Andern unabhängig, gleichwohl läuft durch alle eine Art
von Faden durch, der ſie innerlich zuſammenhält. Es ſey mir ver-
gönnt, dieſen hier noch etwas auffälliger zu machen, indem ich ihn
im Einzelnen aufweiſe. —
Die ganze Pflanzenwelt, wenn man nur in ihr etwas Anderes
ſehen will als Material fürs Herbarium, bietet ſo mannigfaltige Be-
rührungspuncte dem Menſchen dar, daß derjenige, welcher ſich dem
Studium derſelben hingiebt, bei weitem eher von den ſich andrängen-
den intereſſanten Fragen und Aufgaben erdrückt wird, als über Mangel
an Stoff zu klagen hätte. Man kann füglich die ſämmtlichen Betrach-
tungen unter vier Geſichtspuncte ordnen: erſtens, wie verhält ſich die
Pflanze für ſich als Aufgabe wiſſenſchaftlicher Forſchung, zweitens,
in welchen Beziehungen ſtehen die einzelnen Pflanzen zu einander,
drittens, in welchem Verhältniß ſtehen die Pflanzen als Organismen
zum Organismus der ganzen Erde und viertens, wie verhält ſich der
Menſch zur Pflanzenwelt. Da aber in jedem Zeitmoment die Pflanze
jede dieſer vier Beziehungen erfüllt, ſo iſt es unendlich ſchwer, wo
nicht unmöglich, jene Geſichtspuncte rein und unvermiſcht feſtzuhalten
und wenn wir an eins jener Verhältniſſe herantreten und es einer ge-
nauern Erforſchung unterwerfen wollen, ſo werden wir immer unwill-
kührlich gezwungen ſeyn, bald mehr bald weniger auch die andern zu
berückſichtigen und in den Kreis unſerer Unterſuchung zu ziehen. Leitet
man nun aus jenen Aufgaben etwa nach ihrer Reihefolge folgende
1*
[4] Disciplinen ab: theoretiſche oder reine Botanik, Syſtematik der Pflan-
zen, Pflanzengeographie und angewandte Botanik, ſo läßt ſich doch
keine derſelben nach ihrem Hauptgeſichtspunct allein behandeln, wenn
ſie überhaupt auf Wiſſenſchaftlichkeit und Gründlichkeit Anſpruch
machen ſoll; noch weniger aber iſt es möglich die ſtrenge Durchfüh-
rung jener vier Theile da feſtzuhalten, wo es nicht auf trockene Wiſſen-
ſchaftlichkeit, ſondern auf lebendigere Anſchaulichmachung der wich-
tigern Puncte ankommt. Die folgenden Abhandlungen können ſich
daher nur ſehr ungefähr der Eintheilung in jene vier Hauptverhält-
niſſe anbequemen und eine freiere Behandlung wird durch den Reich-
thum des Stoffes geboten, der uns ſtets verführt, vom Wege abzu-
weichen, um hier und da eine farbig leuchtende oder ſüß duftende
Blume zu pflücken — oder die Geſellſchaft, die uns auf unſerer Wan-
derung durch das Gebiet der Wiſſenſchaft begleitet, beſtimmt uns
häufig, die gerade aber ſtaubige und ermüdende Landſtraße zu ver-
laſſen, um hier einen ſich durch Wieſen ſchlängelnden Pfad, dort
einen ſchattigen Waldſteig zu verfolgen. Wir wollen ſehen, wie wir
geführt werden.
Die Pflanze iſt nicht wie ein Kryſtall oder wie eine reine Flüſ-
ſigkeit ein durch und durch gleichartiger Körper, bei dem die Kenntniß
Eines Stoffes, aus dem er beſteht, und der ihn begrenzenden Form
zu ſeiner Ergründung genügte, ſie iſt vielmehr aus vielen kleinen,
ſelbſt ſehr künſtlich gebauten und mannigfache Stoffe enthaltenden
Zellen zuſammengeſetzt, und eine möglichſt ergründende Unterſuchung
dieſes inneren Baues muß allen übrigen Betrachtungen vorangehen.
(II.) Aber die kleinen Körperchen, die ich ſo eben als Zellen bezeich-
nete, ſind größtentheils ſo klein, daß das unbewaffnete Auge zu ihrer
Erforſchung bei weitem nicht hinreicht. Das Microſcop iſt das noth-
wendige Inſtrument, ohne welches der Botaniker keinen geſicherten
Schritt in der Wiſſenſchaft vorwärts thun kann. Es giebt nun freilich
Viele, welche in dem Irrthum befangen ſind, es bedürfe zu microſcopi-
ſchen Unterſuchungen nur eines Auges und eines Inſtrumentes und alles
ſey abgethan. Aber nicht allein, daß der Gebrauch des Microſcopes
[5] eine ſchwere erſt zu erlernende Kunſt iſt, ſelbſt das wiſſenſchaftliche
Sehen mit unbewaffnetem Auge hat ſeine Schwierigkeiten, die von
Manchem verkannt werden und es iſt daher vor allem nöthig, wenig-
ſtens die Geſichtspuncte aufzuweiſen, aus denen der Gebrauch des
Auges und des Microſcops zu beurtheilen iſt. (I.)
Gehen wir nun einen Schritt weiter, ſo wirft ſich uns als nächſte
Frage auf, was hält denn jene vielen kleinen Organismen, die Zellen
in der Pflanze, zu einem Individuum zuſammen und wir werden
an die Betrachtung der Geſtalten gewieſen, zu denen ſich die Zellen
aufbauen. Die Morphologie oder Geſtaltlehre (IV.) macht ihre eignen
Anſprüche an unſere Erkenntnißthätigkeit. Aber hier finden wir, daß
wir es ſelten mit einfachen Pflanzen zu thun haben, daß vielmehr
die meiſten Gewächſe, ähnlich einem Polypenſtock, einer Corallencolo-
nie, aus zahlreich mit einander verwachſenen und lebendig verbun-
denen Individuen beſtehen, welche Producte der Fortpflanzungsthä-
tigkeit der Pflanze ſind und ehe wir an die Morphologie hinantreten,
erſcheint es uns zweckmäßig erſt die Fortpflanzung der Gewächſe et-
was weiter zu verfolgen. (III.)
So haben wir die Pflanze in ihrem innern, ihrem äußern Bau
erkannt, wir haben geſehen, wie ſich eine nie ermüdende Kraft der
Bildung gefällt, immer aufs neue in unerſchöpflichem Reichthum
Pflanzen hervorzurufen und zu ſorgen, daß der reiche bunte Teppich,
in welchen die Natur die arme nackte Erde gehüllt, keine kahlen Stel-
len bekomme. Die Pflanze bedarf aber zur Bildung ihrer Geſtalt und
Organe, zur Hervorrufung und Zeugung zahlreicher Abkömmlinge des
Stoffes. Sie ſoll entſtehen, ſich erhalten, ſich vermehren und dadurch
werden wir auf die Ernährung der Pflanzen hingewieſen. Hier iſt
es beſonders, wo wir ſchon nicht mehr umhin können, die Pflanze
im Verhältniß zu ihrer Trägerin der Erde und zu ihrem Vernichter
dem Menſchen zu betrachten. Die ganze Thierwelt und vor allen der
Menſch macht ſeine Anſprüche an die Pflanzenwelt geltend, ſie ſoll
Nahrungsſtoffe liefern für zahlloſe Bedürftige; indem ſie ſich ernährt
und wächſt verlangt ihre Beſtimmung im Erdenleben, daß der Stoff,
[6] den ſie zu ihrer Bildung verwendet, zugleich ein Nähr- oder Nutzſtoff
für andere Organismen an der Erde ſey. Von zwei Seiten aber
können wir dieſe Ernährung der Pflanzen betrachten, denn, um es
kurz anzudeuten, wenn wir eine Pflanze verbrennen, ſo wird nur ein
Theil derſelben durchs Feuer vernichtet und wir nennen dieſen ver-
brennlichen Theil den organiſchen Stoff der Pflanze, er vor Allem
nimmt unſer Intereſſe in Anſpruch (VI.), weil er die Hauptnahrungs-
ſtoffe für die Thierwelt umfaßt. — Jedoch bleibt ſtets ein größerer
oder geringerer Theil der Pflanze unverbrannt als Aſche zurück und
auch dieſer, den wir als unorganiſchen Stoff bezeichnen, fordert uns
zum Nachdenken auf, (VII.) um ſo mehr, da wir bald finden, daß
dieſe Aſche, ſo unwahrſcheinlich es auch anfänglich uns vorkommen
mag, doch ſelbſt bei der Ernährung der Thiere und des Menſchen eine
nicht unweſentliche Rolle ſpielt. Wir werden in beiden Betrachtungen
daran erinnert, daß der Menſch, wo ihn die fortgeſchrittene Civiliſa-
tion enger auf kleine Areale zuſammengedrängt hat, ſich nicht mehr
damit begnügt und begnügen kann, was die Mutter Erde freiwillig
hervorbringt und ihm als Nahrung anbietet, daß vielmehr der Acker-
bau ihm die Mittel verſchaffen ſoll, die geſteigerten Bedürfniſſe zu
befriedigen. Doch der Menſch pflügt nur das Feld und ſtreut den
Saamen aus, Gedeihen und Segen aber erwartet er gläubig von
Oben. Bei weitem mehr, als man gewöhnlich glaubt, hängt die ganze
Vegetation aufs Engſte mit den Erſcheinungen zuſammen, welche
in Sonnenſchein und Kälte, in Dürre oder Regen, in Sturm oder
dem linden Hauche des Südweſtes, das zuſammenſetzen, was wir
Wetter und Klima nennen. Wir ſtellen daher den Unterſuchungen
über die Ernährung der Pflanzen billig eine Betrachtung des Wetters
voran. (V.)
Wenn auch die wichtigſte Grundlage für das Beſtehen der Thier-
welt von der Erde darin gegeben iſt, daß die Pflanze den Nah-
rungsſtoff bereitet, ſo iſt doch zumal der Menſch durch ſeinen Kunſt-
fleiß berechtigt und befähigt eine ungleich umfaſſendere Anwendung
von der Pflanze und den in ihr enthaltenen Stoffen zu machen. So
[7] eröffnet ſich uns ein neues Gebiet aber faſt ein unbegrenztes. Soll ich die
Gewerbe ſämmtlich aufzählen, die ihr zu verarbeitendes Material dem
Pflanzenreich entnehmen? Jeder mag nur in ſeinem Zimmer, in ſeinem
Haushalt um ſich blicken, um alsbald zu gewahren, wie zahlreicher
Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens er entbehren müßte,
wenn die Pflanzenwelt aufhörte ihm ihren Tribut zu entrichten. —
Sollen wir noch dazu die vielen Fächer und Büchſen der Officinen
öffnen und ſehen, welch' einen großen Schatz von Mitteln auch hier
die irdiſche Vegetation beiſteuert? Ein vollſtändiger Ueberblick gäbe
nur ein trocknes Namenregiſter, eine ausführliche Betrachtung aller
ein bändereiches Werk für ſich. Wir laſſen uns daher hier an einem
Beiſpiele genügen, indem wir den Milchſaft der Pflanzen einmal
näher in's Auge faſſen. (VIII.)
Nicht an eine, nicht an wenige unter ſich verwandte Pflanzen iſt
die Bildung des Milchſaftes geknüpft, ſondern wir finden wenigſtens
drei größere Gruppen, welche vorzugsweiſe uns mit dieſem intereſ-
ſanten Stoffe verſorgen. Die Zahl der einzelnen Arten von Pflanzen
iſt nämlich ſo groß, (vielleicht nach Schätzung einiger Gelehrten
200,000) daß man zur Ueberblickung dieſer Maſſe wiſſenſchaftliche
Hülfsmittel, nämlich ſyſtematiſche Anordnung der einzelnen Gattun-
gen nöthig hat. Zum Glück kommt uns die Natur auf halbem
Wege entgegen. In der ganzen äußeren Erſcheinungsweiſe, in der
Zahl, der Anordnung und dem Bau der einzelnen Theile, in den Ge-
ſetzen, nach denen die Entwicklung vor ſich geht, zeigen nämlich größere
Gruppen von Pflanzenarten eine große Uebereinſtimmung in ſich und
unterſcheiden ſich eben dadurch von anderen Gruppen. Wer kann
aufmerkſam zur Zeit der Blüthe eine Mohrrübenpflanze, den Schier-
ling, die Peterſilie, den Kerbel, Anis, Till und andere anſchauen,
ohne von der merkwürdigen Uebereinſtimmung im ganzen Bau dieſer
Pflanzen überraſcht zu werden; wem würde nicht auf ähnliche Weiſe
die innere Beziehung klar, welche zwiſchen den Kohlarten, dem Senf,
dem Meerrettig, dem Radies, der Rübe und dergleichen Pflanzen mehr
ſtattfindet? Wem ſollte bei genauerer Unterſuchung entgehen, daß
[8] eine große Menge von Pflanzen, die ſich durch ein kräftiges Aroma
auszeichnen, die Meliſſe, Münze, der Salbei, Thymian, Majoran,
Lavendel u. ſ. w., auch eine wunderbare Uebereinſtimmung in ihrem
ganzen Bau erkennen laſſen. — So deutet uns die Natur ſelbſt den
Weg an, den wir zu gehen haben; dieſe Spur verfolgend haben die
Botaniker nach und nach eine große Anzahl ſolcher Pflanzengruppen
erkannt und characteriſirt, die von ihnen Familien genannt werden. —
Daß auch hier wie im vorigen Fall eine Vollſtändigkeit nicht dieſes
Orts iſt, bedarf wohl keiner Erwähnung, aber beiſpielsweiſe eine
Familie vorzuführen und genauer zu characteriſiren, haben wir uns
nicht verſagen mögen. (IX.) Bei der gewählten Gruppe, der der
Cactuspflanzen, muß unter manchem Andern die merkwürdige Ver-
theilung derſelben auf einem verhältnißmäßig kleinen Stück der Erd-
oberfläche unſere Aufmerkſamkeit auf ſich ziehen und dies führt uns
ſehr natürlich zu der Frage, wie denn überhaupt ſich die einzelnen Pflan-
zenarten, in größeren und kleineren Gruppen auf der Erde ausbreiten,
ob dieſe Vertheilung vom Zufall abhängig oder an Geſetze gebunden ſey
und an welche? — Wohlan! folgen wir Humboldts Tritten und einem
ſolchen Führer uns überlaſſend, treten wir in ein neues, weit ausge-
dehntes, uns von ihm zuerſt entdecktes Gebiet, in die Pflanzengeo-
graphie ein. (X.) Eine Wiſſenſchaft eigner Art, noch jung und mit
allen Fehlern der Jugend behaftet, überſprudelnd in Lebensfülle, eines
ſchönen und kräftigen Mannesalters gewiß, aber noch ungeordnet und
unklar, viel noch Unverſtandenes ſammelnd für reifere Jahre und jetzt
noch mehr träumend als denkend. — Ein kurzer Schattenriß dieſer
anziehenden Erſcheinung kann nicht ohne Intereſſe bleiben. Noch eine
jüngere Schweſter aber führt jener Jüngling an der Hand, zwar noch
im zarten Kindesalter aber doch eine hoffnungsvolle Knoſpe. Laßt uns
freundlich ihren kindlichen Plaudereien, den ahnungsvollen Anklängen
zukünftiger harmoniſcher Schönheit lauſchen, wenn ſie uns auch nicht
ſehr belehrt, ſo wird ſie uns doch ein Stündchen angenehm vertän-
deln helfen. Warum ſollten wir denn ihr, der Pflanzengeſchichte nicht
ein kleines Plätzchen gönnen. (XI.) —
[9]
Und dürfen wir uns hier überhaupt den Kindern entziehen? Sind
denn die Kinder nicht Blumen, die Blumen nicht Kinder, — eine
bewußtloſe Entwicklung, ein friedliches, freundliches, aber noch träu-
meriſches Daſeyn — wie nah muß dieſer Vergleich liegen, der ſo
oft ſchon von Dichtern ausgeſprochen iſt:
Es beruht auf der ähnlichen Stimmung, welche durch das An-
ſchauen von Kindern und Blumen in unſerer Seele hervorgerufen
wird. Nun aber wird jeder gewiß ſogleich zugeben, daß dieſe Aehnlichkeit
ſich nur auf gewiſſe Blumen einſchränkt. Niemand wird daſſelbe von
der weißen Lilie, von der krötenfarbenen Stapelie, von der zauber-
haften Königin der Nacht behaupten. Noch weniger gilt Aehn-
liches vom ganzen Pflanzenreich. Auf den ſinnigen Menſchen macht
vielmehr dieſes einen äußerſt verſchiedenen Eindruck nach ſeinen man-
nigfachen Erſcheinungsweiſen, aber immer einen ſo unabweislichen,
daß kaum der roheſte Menſch ſich überall demſelben entziehen kann.
Wie die ganze Natur, ſo iſt auch die Pflanzenwelt uns eine Hiero-
glyphe des Ewigen; in den irdiſchen Geſtaltungen ſuchen und finden
wir Deutungen auf ein überirdiſches Daſeyn. Wohl ließe ſich dafür
eine eigne Disciplin denken, die Aeſthetik der Pflanzen (XII.), in
welcher dieſe nach ihrem Verhältniß zum menſchlichen Geiſte betrachtet
werden. Aber leider beſitzen wir dieſe Lehre noch gar nicht, einige
Andeutungen und Bruchſtücke müſſen ihre Stelle vertreten.
Dies mag genügen, um das Band aufzuweiſen, welches den In-
halt der einzelnen Vorleſungen zu einem gewiſſen Ganzen verknüpft;
es wird aber noch einiges über das Gewand nachzutragen nöthig
ſeyn, in welchem dieſe Vorleſungen vor dem Publicum erſcheinen.
„Kleider machen Leute“, ſagt man, weshalb ſollten Kleider denn
nicht auch Vorleſungen machen können. Dies iſt in der That nur
zum Theil Scherz, in gewiſſer Weiſe aber bitterer Ernſt. — Die Auf-
ſätze, welche hier vorliegend, wurden nicht für das leſende, abweſende
Publicum, ſondern für das hörende und ſehende, gegenwärtige auf-
[10] geſchrieben. Dem Gegenwärtigen konnte alles durch augenblickliche
Vorführung in der Natur, durch Demonſtration unterm Microſcop
und durch Vorlegung zahlreicherer Abbildungen lebendig und anzie-
hend gemacht werden. Dieſe Einkleidung gerade mag den Vorträgen
in den Augen wohlwollender Freunde ein Intereſſe gegeben haben,
welches ſie hinriß, mich zur Herausgabe dieſer Aufſätze anzuregen.
Dieſer Reiz, den eine ſolche Unterhaltung hat, in welcher man alle
Thatſachen ſelbſt ſieht, und indem man gleichzeitig dem Vortrag folgt,
die Sätze der Wiſſenſchaft ſelbſt aus den Beobachtungen abgeleitet zu
haben meint, dieſer Reiz fällt bei der Leſung eines ſolchen Vortrags
nothwendig weg, mit der Einkleidung geht auch der Werth der Sache
ſelbſt ganz oder theilweiſe verloren, und der Verfaſſer muß fürchten,
beſonders da, wo es auf Formenverhältniſſe ankommt, bei denen die
beſte Beſchreibung die Anſchauung nie erſetzen kann, den Leſer zu
langweilen, wo er das Intereſſe des Hörenden und Schauenden leicht
lebendig zu halten wußte.
Dieſem Mangel abzuhelfen, war es nöthig durch bildliche Darſtel-
lungen dem Leſer wenigſtens einigermaaßen zu Hülfe zu kommen. Da
aber kein koſtbares Kupferwerk, welches den vorgeſetzten Zweck nothwen-
dig verfehlt hätte, beabſichtigt war, ſo mußte ich mich mehr darauf
beſchränken, durch Skitzen der Phantaſie des Leſers zu Hülfe zu kommen
und ſeine geiſtige Anſchauungskraft anzuregen. So entſtanden die zur
Erläuterung dieſer Vorleſungen beſtimmten Bilder, über welche ich nur
wenige Worte zu ſagen habe. Sie beziehen ſich jedesmal auf den Inhalt
derjenigen Vorleſung, welcher ſie beigegeben ſind und [finden] zum größten
Theil in derſelben ihre ausführliche Erläuterung. Die Titelvignetten
ſind auf der Rückſeite des Titels ſelbſt durch einige Anmerkungen er-
klärt, bei einigen iſt Erläuterung überflüſſig. So möge denn das Ge-
wand bunt genug ſeyn, um manche Fehler und Schwächen der Sache
ſelbſt zu verdecken oder doch minder fühlbar zu machen, kurz möchten
dieſe in der That anſpruchsloſen Betrachtungen, nachſichtige und
freundliche Leſer finden.
[[11]]
Erste Vorlesung.
Das Auge und das Microſcop.
(Seneca.)
Keins ſo wichtig für die Schönheit des Lebens. —’
[[12]]
Die Vignette giebt einen idealen Durchſchnitt durch die kleine Camera ob-
ſcura, welche wir Augapfel nennen. — Der Pfeil und die punctirten Linien
dienen dazu um zu verſinnlichen auf welche Weiſe das Bild auf der Netzhaut
(der auffangenden Fläche des Apparats) hervorgebracht wird. —
[[13]]
Der als Motto dieſem Vortrag vorangeſchickte Ausſpruch eines
älteren Weiſen mag vielleicht nicht ganz unbeſtritten daſtehen; wenig-
ſtens zeigt uns eine ziemlich allgemeine Erfahrung, daß alle voll-
kommen Tauben mißmuthig, trübe, hypochondriſch, alle Blinde
dagegen heiter und fröhlich ſind; das Auge führt uns nur in die
Körperwelt ein, das Ohr aber in unſere eigentliche Heimath, in
die Gemeinſchaft geiſtiger Weſen. Nichts deſto weniger läßt ſich
nicht leugnen, daß unter allen Sinnen keiner iſt, dem wir theils
wirklich ſo viel Elemente unſerer Kenntniß der uns umgebenden Welt
verdanken, theils ſo viel von dem, was wir wiſſen, wenn auch mit
Unrecht, zuſchreiben, als der Sinn des Geſichts. Insbeſondere
aber iſt er es, der unſer ganzes Wiſſen um die Körperwelt zuerſt
einleitet und fortwährend erweitert und ſo mag man ihn wohl recht
eigentlich den Sinn des Naturforſchers nennen. Ohne ihn wäre die
Naturwiſſenſchaft kaum denkbar und ſo verdient er ſicher vor allen
andern eine genauere Erwägung, die um ſo fruchtbarer iſt, da das
meiſte, was wir bei Betrachtung deſſelben als allgemein Geſetzliches
finden nicht nur auf ihn, ſondern mit Berückſichtigung der eigen-
thümlichen Unterſchiede unter den einzelnen Sinnen auf die Sinne
überhaupt ſeine Anwendung findet.
Durchlaufen wir die Geſchichte der allmäligen Entwicklung unſe-
rer Naturwiſſenſchaften, ſo tritt uns eine Erſcheinung entgegen,
welche von dem größten Einfluß geweſen iſt, faſt immer hemmend,
verwirrend und den Blick auf die einfache und reine Geſetzlichkeit
trübend, ſich in die Forſchungen eingemiſcht hat. — Der Menſch,
wenn er über ſich ſelbſt nachdenkt, fühlt ſich alsbald als Bürger
[14] zweier Welten. Sein ganzes Weſen wird nicht von der Körperwelt
allein umfaßt, ſondern eine Welt freier, geiſtiger Weſen, in der
er Unſterblichkeit fordert, über welcher er einen Gott als gütigen
Lenker ſich denkt, fordert ihren Antheil an ſeinem Daſeyn. Auf ge-
heimnißvolle, uns als Menſchen ewig unenträthſelbare Weiſe iſt
in unſerer Natur Seele und Leib, Geiſtiges und Körperliches ver-
ſchmolzen. Wo iſt die Grenze des Einen, wo der Anfang des
Andern? Die meiſten Menſchen und ſelbſt oft die größten Forſcher
antworten uns, wir wiſſen es nicht; es giebt keine Grenze, Beides
geht in einander über und durchdringt ſich in jeder Weiſe. Hier
liegt der Irrweg, dem forſchenden Menſchen ſo nahe gerückt, daß
er ihn nur unendlich ſchwer vermeiden kann, daß derſelbe oft die
Scharfſinnigſten verführt und dennoch ein Irrweg, denn Geiſt und
Körper ſind für uns ſo ſtrenge, ſo unvermeidlich getrennt, daß keine
Brücke von einem zum Andern überführt. Es iſt hier nicht am Ort,
dieſes Verhältniß in allen ſeinen Beziehungen zu entwickeln und in
ſeinem ganzen Umfange gründlich zu erörtern, aber die genauere
Unterſuchung deſſen, was wir Sehen nennen, wird uns Gelegen-
heit geben, wenigſtens an einem Beiſpiel den großen Sprung vom
Körperlichen zum Geiſtigen aufzuweiſen und anzudeuten, wie die
Nichtanerkennung dieſer Trennung auch bei'm Auge, oft die größten
Forſcher verwirrt hat.
Was iſt die Welt, in welcher das Auge heimiſch iſt, was iſt
das Gebiet des Sehens? Die Welt des Lichtes und der Farben.
Das Licht —
In wenig kräftigen Zügen giebt hier Mephiſtopheles die ganze
Lehre vom Licht. Das Licht, wenn wir es ganz für ſich betrachten,
iſt nicht hell, nicht gelb und blau und roth, das Licht iſt eine Be-
wegung einer ſehr feinen überall verbreiteten Materie, des Aethers,
— Schwingungen, welche ſich in dieſem geradlinig fortpflanzen,
[15] wie die Schallwellen in der Luft. In ihrem geraden Gange ſtoßen
ſie auf Körper, die in ihrem Wege liegen, werden wie die an's Ufer
ſchlagende Woge zurückgeworfen, wenn der Körper das iſt, was wir
undurchſichtig nennen, gehen durch den Körper durch, wie die Welle
durch einen in das Meer mündenden Kanal, wenn der Körper zu
den ſogenannten durchſichtigen gehört. — Das Oelgas verbrennt
und während ſeiner Verbindung mit Sauerſtoff ſetzt es den Aether
in Schwingungen, es leuchtet; das Oelgas iſt verbrannt und mit
dem Körper „der zu Grunde ging“, erliſcht auch das Licht. Ein
unendliches Aethermeer, das ganze Univerſum erfüllend und in ihm
die tauſend und aber tauſend Wellen nach den verſchiedenſten Rich-
tungen fortſchreitend, ſich durchkreuzend, ſich aufhebend oder verſtär-
kend, — das iſt die körperliche Natur des Lichtes und der Farbe.
Wer vermöchte zu ſagen, daß er je dieſes Licht, dieſe Farben geſehen?
So wenig ſind wir dazu im Stande, daß es vielmehr des Scharf-
ſinns der größten Geiſter bedurfte, um uns dieſe eigentliche Natur
des Lichtes zu enthüllen.
Durch das dichte Dach der Weinlaube zittert ein Sonnenſtrahl
in den heimlich wohlthuenden Schatten, du glaubſt den Lichtſtrahl
ſelbſt zu ſehen, aber weit entfernt davon, iſt, was du wahrnimmſt,
Nichts als eine Reihe von Stäubchen, die vom leiſeſten Hauch be-
wegt in der Luft ſchweben — aber keineswegs ſind es die Wellen,
die ſich in raſtloſer Folge mit einer Schnelligkeit von 40,000 Meilen
in der Secunde durch den Aether jagen. — Könnte der Phyſiker ſei-
nes Menſchengeiſtes ſich entäußern und nur mit dem Auge der Wiſ-
ſenſchaft die Welt um ſich her betrachten, er würde Nichts gewahren
als eine öde, farb- und lichtloſe Maſſe, ein unheimlich, unge-
heures Uhrwerk, in welchem tauſende von Stoffen und bewegenden
Kräften zu einem ewig wechſelnden Spiel verbunden ſind.
Aber faſſen wir jetzt auch die ſchönere Kehrſeite ins Auge. Die
Nacht iſt vorüber, der belebende Strahl der Morgenſonne zuckt uͤber
die fernen Höhen. Die grünenden Matten erglühen wärmer, getrof-
fen vom himmliſchen Lichte. Hier öffnet die Blume ihre farbeſtrah-
[16] lende Krone dem erſehnten Element, dort ſchwingt der erwachte Vo-
gel ſein buntes Gefieder durch die blauen Lüſte; — Koſend um-
ſchwärmt der ſchillernde Schmetterling die liebliche Roſe und auf
bräunlichem Mooſe kriecht emſig der ſmaragd-glänzende Käfer her-
bei, um ſeinen Durſt am funkelnden Thautropfen zu ſtillen. Eine
ganze, volle, ſchöne Welt des Lichtes und Glanzes, der Farben und
Geſtalten liegt vor uns ausgebreitet, jede Bewegung iſt Leben, iſt
Schönheit und ſchön in ihrer Freiheit. „Ich ſehe das Alles“,
ſagt der Menſch und dankt entzückt dem Geber alles Guten. —
Aber was heißt dieſes Sehen? Es iſt nicht ein Wahrnehmen deſſen,
was außer ihm wirklich vorhanden iſt. Es iſt eine zauberhafte
Phantasmagorie, die ſich der Geiſt ſelbſt vorführt, in freiem Schaf-
fen und dabei nur auf wunderbare Weiſe geleitet und gebunden
durch das, was außer ihm wirklich iſt, ohne daß er dieſer Wirklich-
keit ſelbſt ſich bewußt würde.
Wenn der Reiſende auf dem Meere die niederen Breiten er-
reicht, ſo taucht vor ihm am fernen Horizonte in einer von uns
kaum geahnten Pracht am tief dunkeln Himmel die majeſtätiſche Ge-
ſtalt des ſüdlichen Kreuzes auf. „Preis und Dank dem allmächtigen
Schöpfer“ ruft er aus und Anbetung zieht ihn faſt unwiderſtehlich
auf ſeine Kniee nieder. — Wohl gebürt dem heiligen Urquell al-
ler Weſen dieſer Dank, aber nicht dafür, daß er die Welt ſo ſchön
gemacht, denn dieſe iſt an ſich weder ſchön noch häßlich, ſondern da-
für, daß er, wie die alte Sage erzählt, dem Menſchen ſeinen Geiſt
einhauchte und ihm ſo die Gabe verlieh, alles was ihn berührt als
Leben, Freiheit, Schönheit zu empfinden.
So himmelweit wie dieſe beiden Skitzen liegen Körperwelt und
Geiſteswelt auseinander. Wenn uns das friſche Grün des Früh-
lings mit freudiger Hoffnung erfüllt, wenn das gelbe fallende Blatt
des Herbſtes uns mit Wehmuth wie ein Abſchiedsgruß durchzuckt, ſo
iſt das Blatt für uns grün und gelb und in dieſen Farben Sinn-
bild moraliſcher Beziehungen, für ſich, für den Baum, der es trägt,
für die Erde, auf die es herabſinkt, mit einem Wort in der körper-
[17] lichen Natur hat das Blatt keine Farbe ſondern es enthielt einen
Stoff der gewiſſe Lichtwellen zurückwarf die dann in unſer Auge ge-
langten, es giebt im Herbſte einige Atome Sauerſtoff ab und die-
ſelben Lichtwellen gehen jetzt ungehindert durch ihn durch, während
er Wellen anderer Beſchaffenheit reflectirt.
Verweilen wir noch einen Augenblick bei dieſem Beiſpiel.
Bringen wir das friſch grünende Blatt auf unſere Zunge und koſten
wir ſpäter das entfärbte des Herbſtes ſo zeigt uns der Sinn ſogleich
den Unterſchied in der chemiſchen Natur beider Zuſtände an, aber es
entſteht dadurch keine Vorſtellung der Farbe in uns. Zerknicken wir
vor unſerm Ohr ein friſches, ein getrocknetes Blatt, ſo wird durch
den verſchiedenen Ton uns angedeutet, daß das Blatt ſeines Waſ-
ſers beraubt iſt, aber Nichts ſagt uns dabei, daß auch das Licht in
anderer Weiſe vom friſchen wie vom trocknen Blatte zurückgeworfen
werde. Mit einem Worte, wir finden, daß jeder unſerer Sinne nur
für ganz beſtimmte äußere Einflüſſe empfänglich iſt und daß die Er-
regung jedes Sinnes in unſerer Seele ganz andere Vorſtellungen
hervorruft. — So ſtehen zwiſchen jener äußern ſeelenloſen Welt,
welche uns nur durch die Wiſſenſchaft erſchloſſen und zugänglich
wird, und der ſchönen Welt in der wir geiſtig uns finden, die Sin-
nesorgane als Vermittler. Sie ſind es, welche zuerſt die Eindrücke
empfangen, ſie ſind es, welche dieſe Anregungen dem Geiſte über-
liefern, Anregungen, nach deren Anleitung ſich der Geiſt ſein Welt-
gemälde in Farben und Geſtalten ausführt. Und ſuchen wir nun
nach dem Weſentlichen dieſer Sinnesorgane — der verſtändig aus-
geführte Knochenbau ſo feſt und ſo beweglich zugleich, der kräftige
Muskel, der durch ſeine Zuſammenziehung jenes Hebelwerk der
Knochen in Bewegung ſetzt, das Herz mit ſeinen zahlreichen Röhren,
den Adern, ein meiſterhaft ausgeführtes Pumpenwerk, welches die
ernährende Flüſſigkeit, das Blut, durch alle Theile treibt, der ganze
verwickelte Bau von Behältern und Canälen in denen Nahrungsſtoffe
aufgenommen, in mannigfacher Weiſe chemiſch zerſetzt und wieder
anders verbunden, hier dem Blute beigemiſcht, dort als unbrauch-
Schleiden, Pflanze. 2
[18] bar ausgeſondert werden, die vielfachen Faſern und Häute, welche
alle Theile mit einander verbinden und das Ganze umkleiden und
zur ſchönen menſchlichen Geſtalt abrunden, ſie alle ſind es nicht.
Von ihnen allen reicht kein Theil an das geiſtige Gebiet hinan. —
Aber durch alle dieſe Bildungen durch, in alle eindringend, ziehen
ſich Millionen der zarteſten Fäden, die Nervenfaſern, die einerſeits in
jene Theile einſtrahlen, andererſeits in eine einzige Halbkugel, in
das Gehirn zuſammenlaufen. Dieſe Fäden ſind es, welche, von den
Bewegungen und Veränderungen der äußern Welt berührt, angeregt
werden, welche dieſe Anregung auf das Gehirn übertragen. Das
Gehirn aber iſt die geheimnißvolle Stätte wo Geiſtiges und Körper-
liches ſich berühren. Jede Veränderung im Gehirn iſt von einem
Wechſel im Spiele unſerer Vorſtellungen begleitet; zu jedem auf die
Außenwelt gerichteten Gedanken findet ſich eine gleichlaufende Ver-
änderung im Gehirn, die von den Nervenfaſern wie von Boten an
die Organe übertragen wird, die vom Willen bewegt werden ſol-
len. — Es ſind alſo die Nerven eigentlich das Weſentliche jedes
Sinnesorganes, in ihnen haben wir das Mittelglied zwiſchen Kör-
perwelt und Geiſt zu ſuchen; die Geſetzmäßigkeit ihres Wirkens ha-
ben wir zu erforſchen wenn wir uns über unſere Verbindung mit der
Körperwelt unterrichten wollen.
Nur zwei Puncte müſſen wir hier beſonders hervorheben, die
eigenthümlich genug ſind. Wunderlich iſt der Herr im Verhältniß zu
ſeinen Dienern, jener, der Geiſt, überſetzt ſich alles was ihm dieſe, die
Nerven, überbringen in ſeine Sprache und zwar hat er für jeden
Diener eine andere. Mögen die Faſern des Sehnerven getroffen
werden, wovon ſie wollen, mag die Lichtwelle ſie erſchüttern, der
Finger ſie drücken, die überfüllte Ader an ſie pulſiren, oder der elec-
triſche Funke ſie durchzucken, der Geiſt überſetzt alle dieſe verſchieden-
artigen Eindrücke in die Sprache des Lichts und der Farben. —
Wenn das erregte Blut, die Adern aufſchwellend, die Nerven drückt,
ſo fühlen wir es in den Fingern als Schmerz, wir hören es im Ohr
als Summen, wir ſehen es im Auge als zuckenden Blitz. Und hierin
[19] haben wir den entſchiedenen Beweis daß unſere Vorſtellungen freie
Schöpfungen unſeres Geiſtes ſind, daß wir nicht die Außenwelt ſo
auffaſſen wie ſie iſt, ſondern daß ihre Einwirkung auf uns nur die
Veranlaſſung wird zu einer eigenthümlichen geiſtigen Thätigkeit, de-
ren Producte häufig in einem gewiſſen geſetzmäßigen Zuſammen-
hang mit der Außenwelt ſtehen, häufig aber auch gar nicht damit
zuſammenhängen. Wir drücken unſer Auge und ſehen einen leuch-
tenden Kreis vor uns, aber es iſt kein leuchtender Körper vorhan-
den. Welch' eine reiche und gefährliche Quelle von Irrthümern aller
Art hier fließt, iſt leicht zu ſehen. Von den neckenden Geſtalten der
monddurchglänzten Nebellandſchaft bis zu den wahnſinndrohenden
Viſionen des Geiſterſehers haben wir eine Reihe von Täuſchungen,
die alle nicht der Natur, nicht ihrer ſtrengen Geſetzlichkeit zur Laſt
fallen, ſondern in das Gebiet der freien und deshalb dem Irrthum
unterworfenen Thätigkeit des Geiſtes gehören. Großer Umſicht, viel-
ſeitiger Bildung bedarf es, ehe der Geiſt ſich hier von allen ſeinen
eignen Irrthümern losmacht und ſie ganz beherrſchen lernt. Das
Sehen im weitern Sinne des Wortes erſcheint uns ſo leicht und
doch iſt es eine ſchwere Kunſt. Nur nach und nach lernt man, wel-
chen Botſchaften der Nerven man vertrauen und danach ſeine Vor-
ſtellungen formen dürfe. Selbſt Männer von Wiſſenſchaft können
hier irren, irren oft und um ſo öfter, je weniger ſie darüber verſtän-
digt ſind, wo ſie die Quellen ihres Irrthums zu ſuchen haben.
Aber noch auffallender als das eben entwickelte Verhältniß iſt
es, daß der Herr, nämlich die Seele, Botſchaften von ſeinen Dienern,
den Nerven, empfängt, Befehle an ſie austheilt ohne ſich ihrer Ge-
genwart überhaupt zunächſt bewußt zu werden. Erſt ſpät, erſt durch
die weit fortgebildete Wiſſenſchaft erfährt der Menſch, daß Nerven
exiſtiren und daß beſtimmte Functionen ihnen zugewieſen ſind. Er
ſieht und weiß nichts von ſeinem Sehnerven, ihn ſchmerzt die ge-
brannte Hand, aber er wird ſich der leitenden Faſer nicht bewußt, er
bewegt ſpielend mit geläufiger Geſchwindigkeit die Zunge, aber er-
fährt nichts von dem Wege, den die beſtimmenden Nerven nehmen.—
2*
[20] Wir empfinden mit einem Worte niemals den Zuſtand eines Nerven,
ſondern bilden uns vielmehr unmittelbar ſo wie der Nerv gereizt
wird die Vorſtellung eines äußeren Gegenſtandes, und es erfordert
erſt wiſſenſchaftliche Verſtändigung, daß wir dieſen Gegenſtand als
Urſache eines Nervenreizes erkennen.
Iſt nun aber, um in dem gewählten Gleichniß zu bleiben, das
Verhältniß des Herren zu ſeinen Dienern ein ganz eigenthümliches,
ſo ſind nicht minder die Diener ganz beſonderer Art. Keiner derſel-
ben weiß etwas vom Andern, erfährt etwas von deſſen Daſeyn und
Thätigkeit, oder theilt ſich ihm mit. Ja was noch wichtiger iſt, kei-
ner derſelben d. h. keine Nervenfaſer kann gleichzeitig mehr als eine
einzelne einfache Botſchaft ausrichten und darin gleichen ſie vollkom-
men einfältigen Bedienten. Zwei ihnen gleichzeitig übergebene Auf-
träge vermengen ſie mit einander zu einem einzigen einfachen. Am
leichteſten iſt dies deutlich zu machen, wenn man ſolche Theile des
Körpers, wo die Nervenfaſern ſehr vereinzelt und weit auseinander
liegen z. B. den Oberarm oder die Mittellinie des Rückens mit den
Spitzen eines geöffneten Zirkels berührt. Wenn auch die Spitzen ei-
nen Zoll weit aus einander ſtehen, ſo fühlt man an den genannten
Theilen doch nur einen einfachen Stich, da die Nerven hier ſo weit
von einander entfernt ſind, daß beide Stiche in den Bereich einer
Faſer fallen und dieſe iſt unfähig mehr als einen Eindruck zur Zeit
aufzunehmen. —
Nach dieſen allgemeinen Erörterungen über die eigenthümliche
Natur der Nervenwirkungen können wir uns wieder unſerer Aufgabe
ſelbſt nähern indem wir insbeſondere den Sehnerven betrachten.
Derſelbe iſt wie er in den Augapfel eintritt, ein ziemlich dickes Bün-
del zahlreicher einzelner Nervenfaſern und dieſe breiten ſich im Aug-
apfel in eine Halbkugelfläche aus, ſo daß jede Faſer einen kleinen
Theil dieſer Fläche bildet. Der Augapfel ſelbſt aber gleicht vollkom-
men einem optiſchen Apparat, einer Kamera obſcura, und die Halb-
kugelfläche des Sehnerven, die ſogenannte Netzhaut des Auges, ent-
ſpricht dem weißen Blatt Papier, welches das Bild der Kamera
[21] obſcura auffängt. Jedes von dem Bilde getroffene Fäſerchen fängt
gleichſam einen Punct deſſelben auf und bringt die Nachricht davon
zum Gehirn, wo die vorſtellende Seele ihren Sitz hat und dieſe muß
ſich dann aus allen dieſen einzelnen Puncten erſt das Bild conſtrui-
ren. Ob aber richtig oder falſch conſtruirt wird, hängt von der Ue-
bung und Ausbildung der Seele ab. — Man könnte mir hier ein-
wenden, daß wir ja von dieſer Conſtruction gar kein Bewußtſein
haben und daß das Sehen daher doch wohl viel einfacher ſeyn müſſe.
Indeß läßt ſich leicht an einigen Beiſpielen zeigen, daß hier nur
die Uebung uns die Sache ſo leicht macht, daß wir uns der einzel-
nen Geiſtesthätigkeiten dabei gar nicht mehr bewußt werden. —
Das Kind, bei dem dieſe Uebung noch nicht Statt gefunden hat,
conſtruirt daher auch häufig falſch, es greift nach den Sternen, wie
nach den glänzenden Knöpfen an dem Rocke des Vaters, es verſucht
den fernen Mond auszublaſen, wie es ihm mit dem Licht auf dem
Tiſche gelungen. — Und dieſelben Erſcheinungen finden wir bei
Blindgebornen die operirt wurden; namentlich iſt uns ein merkwür-
diger Fall der Art in den Annalen der Augenärzte aufbewahrt, wo
ein Blindgeborner erſt in ſeinen ſpätern Lebensjahren, als er ſchon
genügende Bildung ſich erworben um von den Vorgängen in ſeinem
Innern Rechenſchaft zu geben, ſein Augenlicht wieder erhielt und
nun ausführlich berichten konnte, wie er erſt allmälig die verſchiede-
nen Licht- und Farbenempfindungen zu einer geordneten Weltan-
ſchauung zuſammenſetzen lernte. Der entſchiedenſte Beweis für die
Richtigkeit der aufgeſtellten Behauptung liegt aber darin, daß wir,
wenn die Umſtände verführeriſch ſind, falſch conſtruiren, ohne daß
das Bild auf der Netzhaut dazu Veranlaſſung gegeben hätte. Der
Mond nämlich erſcheint uns größer, wenn er aufgeht, als wenn er
über uns im dunkeln Luftmeere ſchwimmt. Meſſungen zeigen aber,
daß er beidemale in der That gleich groß iſt, und daß ſein Bild auf
der Netzhaut in beiden Fällen ebenfalls gleichen Durchmeſſer hat. —
Der Grund der falſchen Conſtruction liegt aber darin, daß wenn der
Mond am Horizont zwiſchen uns bekannten Hügeln, Bäumen oder
[22] Häuſern aufgeht, wir ſeine Entfernung nach den ihm zunächſt er-
ſcheinenden Gegenſtänden beurtheilen deren bedeutende Entfernung
uns bekannt iſt. Den Mond oben am Himmelsgewölbe dagegen
denken wir uns näher, da zwiſchen ihm und uns keine Gegenſtände
ſind, nach denen wir ſeine Entfernung ſchätzen könnten. So in der
Beurtheilung der Entfernung uns täuſchend conſtruiren wir nach ei-
nem und demſelben Netzhautbilde verſchieden, alſo auf jeden Fall
das eine Mal falſch. —
Das Reſultat dieſer ganzen hier mehr angedeuteten und ſkizzir-
ten als ausgeführten Unterſuchung iſt alſo folgendes: In der wirk-
lichen Welt befinden ſich zahlreiche Stoffe und Kräfte in Wechſelwir-
kung, dieſe verändern, wo ſie mit den Nervenfaſern unſeres Körpers
zuſammentreffen, den Zuſtand derſelben, und dieſe veränderten Zu-
ſtände werden die Veranlaſſung, daß unſer Geiſt ſich eine ganze
Weltanſicht ausmalt. Am lebendigſten tritt uns dieſe ſelbſtgeſchaffne
Welt entgegen wenn die Erregungszuſtände dem Augennerven ange-
hören, aber auch gerade hier können wir am deutlichſten nachweiſen,
daß die Welt in unſerer Vorſtellung ſich zwar immer auf die Welt
außer uns bezieht, aber durchaus nicht mit ihr gleichartig, identiſch
iſt. — Noch ein Beiſpiel mag dienen dies deutlich zu machen und
zugleich uns den Uebergang zum Folgenden zu bahnen. Das ein-
fachſte Verhältniß, welches ſich gewiß in der Außenwelt denken läßt,
iſt das von Stoff, Materie oder wie wir es nennen wollen, die ei-
nen gewiſſen Raum einnimmt. Wenn nun unſere Vorſtellung der
Welt irgend mit der wirklichen Welt übereinkommen ſollte, ſo müß-
ten wir doch vor Allem wiſſen, wie groß der Raum ſei und wie groß
das Stück des Raumes den das Materielle z. B. ein Fels einnimmt.
Wir haben aber gar keinen Maaßſtab für die Größe des Raums und
daher gar keinen Begriff von der Größe der Welt. — Wenn wir ſa-
gen: „dieſer Menſch iſt 6 Fuß groß,“ ſo heißt das nur: „in der
Welt unſerer Vorſtellungen iſt der vorgeſtellte Menſch 6 mal ſo groß
wie der vorgeſtellte Fuß;“ es iſt nur eine Vergleichung zweier Vor-
ſtellungen unter einander. — Dann natürlich entſteht die Frage:
[23] wie groß iſt denn ein Fuß, wie groß ein Zoll, eine Linie und ſo wei-
ter? und immer antworten wir nur durch Vergleichungen mit andern
ebenſo wenig für ſich beſtimmbaren Größen. — Hier zeigt ſich ſo-
gleich wie wir nicht einmal im einfachſten Falle aus dem Spiel un-
ſerer Vorſtellungen heraus zur Erkenntniß der wirklichen Welt kom-
men können, der ganze Begriff der Größe hat für die Welt ſelbſt
keine weſentliche Bedeutung, ſondern nur für unſere Vorſtellungen.
Und gleichwohl ſpricht der Microſcopiker von Vergrößerungen und
meint damit die Gegenſtände beſſer zu erkennen als vorher? Um das
zu begreifen, müſſen wir wohl noch etwas über Größe philoſophi-
ren, um dieſem ſo ſchwankenden Begriff größere Beſtimmtheit und
Feſtigkeit zu verleihen. Wir nennen z. B. den Fuß der Bavaria von
Schwanthaler coloſſal, den Fuß eines erwachſenen Mannes groß,
und den einer Dame klein und weshalb? Dies iſt leicht zu ſagen,
theilen wir jeden dieſer Füße in 12 Zolle, jeden Zoll in 12 Linien
und jede Linie wieder in 12 Theile, ſo ſind dieſe Zwölftellinien beim
Damenfuß nicht mehr zu unterſcheiden, beim Männerfuß ſind ſie
noch recht deutlich, aber an der Bavaria könnten wir jede Zwölftel-
linie abermals in 12 Theile theilen, und jeder derſelben würde noch
deutlich zu erkennen ſeyn. So haben wir aber zugleich eine einfache
Beſtimmung der Größe gefunden. Ein Ding iſt für uns um ſo grö-
ßer, je mehr Theile wir in ihm unterſcheiden können.
Allein es kann uns bei dieſer Beſtimmung des Begriffs noch
eine andere Betrachtung führen. Wir haben einen ſcheidenden
Freund bis auf den Hügel vor die Stadt geleitet, noch einmal
drücken wir ihn an die Bruſt, noch einmal ſchauen wir ihm lange
und tief in's Antlitz, um uns alle die lieben, uns ſo vertrauten, ein-
zelnen Züge recht feſt einzuprägen. Endlich reißt er ſich los und eilt
von dannen, wir ſchauen ihm noch lange nach. Er blickt ſich um
und noch erkennen wir das bekannte Geſicht. Immer größer wird
die Entfernung und mehr und mehr verſchwimmen die Einzelnheiten
der Geſtalt. Eine Biegung der Straße verbirgt ihn uns eine zeit-
lang, da taucht er noch einmal auf am fernſten Hügelabhang, ein
[24] kleiner ſchwarzer ſich bewegender Punct; er ſteht ſtill, winkt noch
mit dem Tuche, aber ſelbſt dieſe Bewegung ſind wir ſchon nicht mehr
im Stande zu unterſcheiden, und endlich verſchwindet er gänzlich in
der Ferne. — Je ferner der Freund von uns gerückt wurde, je we-
niger konnten wir an ihm unterſcheiden, je kleiner erſchien er uns,
bis zuletzt ein Nadelsknöpfchen, vor unſer Auge gehalten, größer
war, als er. — Indem wir hier bemerken, wie ſelbſt ein uns ganz
bekannter Gegenſtand allmälig kleiner wird und zuletzt ganz ver-
ſchwindet, ſo zeigt ſich uns auch ſogleich das Mittel, einen Gegen-
ſtand zu vergrößern, um ihn deutlicher zu erkennen, mehr einzelne
Theile an ihm zu unterſcheiden einfach darin, daß wir ihn unſerm
Auge näher bringen. Der Verſuch zeigt uns nun auch allerdings die
Anwendbarkeit dieſes Mittels, aber bald erfahren wir, daß hier eine
gewiſſe Grenze eintritt, über welche hinaus wir einen Gegenſtand
dem Auge nicht mehr nähern dürfen, ohne daß uns das deutliche
Sehen überhaupt unmöglich wird. Der Grund dafür liegt in dem
Bau der kleinen Kamera obſcura, welche wir Augapfel nennen.
Derſelbe kann, ſo wie jedes ähnliche Inſtrument des Optikers, nur
für gewiſſe Entfernungen eingerichtet ſeyn, und wollen wir in grö-
ßerer Nähe ſehen, ſo müſſen wir an dem optiſchen Apparat eine ent-
ſprechende Veränderung vornehmen, was einfach dadurch geſchieht,
daß wir einen nach beſtimmten Geſetzen geformten, durchſichtigen
Körper, wir benutzen dazu gewöhnlich geſchliffnes Glas, vor das
Auge bringen. Ein ſolches Glas aber iſt eine ſogenannte Loupe oder
ein einfaches Microſcop, deſſen Wirkung nur darin beſteht, daß es
uns möglich macht, einen Gegenſtand in einer Nähe noch deutlich
zu ſehen, in welcher es ſonſt unmöglich wäre. — Es iſt unnöthig
hier auf die Entwicklung der optiſchen Geſetze einzugehen, denen ge-
mäß dieſe Wirkung erfolgt, nur darauf aufmerkſam machen will ich,
daß man ſehr leicht hierbei beſtimmen kann, wie ſtark der Gegen-
ſtand bei einem ſolchen einfachen Microſcop vergrößert erſcheinen
müſſe. Man nimmt an, daß durchſchnittlich das menſchliche Auge
bei 8 Zoll Entfernung noch deutlich ſehen könne, aber nicht mehr in
[25] größerer Nähe. Benutze ich nun ein Glas, welches mir erlaubt, ei-
nen Gegenſtand noch bei 4 Zoll Entfernung deutlich zu ſehen, ſo er-
ſcheint er noch einmal ſo groß, bei 2 Zoll Entfernung 4 mal ſo groß,
bei \nicefrac1{10} Zoll Entfernung 80 mal ſo groß und ſo weiter, mit einem
Worte die Vergrößerung iſt allein davon abhängig wie nah der Ge-
genſtand an's Auge gebracht wird. Früher machte man von dieſen
einfachen Microſcopen einen ſehr ausgedehnten und faſt ausſchließ-
lichen Gebrauch in der Wiſſenſchaft, weil die zuſammengeſetzteren
Microſcope damals noch ſo ſchlecht waren, daß ſie gegen die ein-
fachen Inſtrumente weit zurück ſtanden. Der berühmte Leuwenhoek
hat alle ſeine wunderbaren microſcopiſchen Beobachtungen mit ganz
kleinen Glaskügelchen gemacht, die er ſich ſelbſt an der Lampe aus
einem feinen Glasfädchen zuſammenſchmolz. In neuerer Zeit ge-
braucht man aber die einfachen Microſcope nur noch zu ſehr ſchwachen
Vergrößerungen und bedient ſich für ſtärkere allgemein der zuſam-
mengeſetzten Microſcope. Während dieſe nämlich verhältnißmäßig
wenig das Auge angreifen, iſt das Beobachten mit dem einfachen
Microſcop zumal bei ſtarken Vergrößerungen eine ſo ermüdende An-
ſtrengung, daß Augenleiden nur zu häufig die Folge davon ſind. —
Das Princip, worauf das zuſammengeſetzte Microſcop beruht,
iſt ebenfalls ſehr leicht deutlich zu machen. Es beruht daſſelbe auf
einer Verbindung der Kamera obſcura mit dem einfachen Micro-
ſcope. — Die gewöhnliche Kamera obſcura beſteht im Weſentlichen
aus einigen linſenförmig geſchliffenen Gläſern; die von einem Ge-
genſtand ausgehenden Lichtſtrahlen gehen durch dieſe Gläſer durch
und erzeugen hinter denſelben ein Bild des Gegenſtandes, welches
man bei dem gewöhnlichen optiſchen Spielwerk auf einer matt ge-
ſchliffenen Glastafel, oder auf einer weißen Papierfläche aufzufan-
gen pflegt. Je weiter der Gegenſtand von den Gläſern entfernt
iſt, deſto kleiner erſcheint das Bild. Nähert man den Gegenſtand,
ſo wächſt das Bild bis Bild und Gegenſtand gleich groß ſind. Rückt
man nun aber den Gegenſtand den Gläſern noch näher, ſo wird das
Bild größer als der Gegenſtand. Dieſes letzte Verhältniß wenden
[26] wir zwar niemals bei der ſogenannten Kamera obſcura an, wohl
aber bei der Zauberlaterne, die in ihrer weſentlichen Grundlage von
erſterer in Nichts verſchieden iſt. — Beim zuſammengeſetzten Micro-
ſcop iſt nun ein ſolcher Apparat ſo angebracht, daß man das vergrö-
ßerte Bild des Gegenſtandes nicht unmittelbar mit dem Auge, ſondern
abermals mit einem einfachen Microſcop betrachtet und ſo noch um
ein beträchtliches vergrößert. — Iſt zum Beiſpiel das Bild 100 mal
ſo groß wie der Gegenſtand und vergrößern wir das Bild noch zehn-
mal, ſo muß uns der Gegenſtand tauſendmal vergrößert erſcheinen.
Es beſteht alſo das zuſammengeſetzte Microſcop aus einem doppelten
optiſchen Apparat, erſtens den Gläſern, welche dem Gegenſtand oder
Object zugewendet ſind und von dieſem ein vergrößertes Bild ent-
werfen, man nennt ſie eben deshalb die Objectivgläſer, und zweitens
aus einem einfachen Microſcop, durch welches wir das vergrößerte
Bild des Gegenſtandes abermals vergrößern und welches dem Auge
zugewendet iſt und deshalb Ocular genannt wird. — Man ſollte
nun dem Geſagten zufolge glauben, daß es auf dieſe Weiſe möglich
ſey, die Vergrößerung bis auf jeden beliebigen Grad zu ſteigern, da
einmal die Größe des Bildes nur davon abhängt wie nah man den
Gegenſtand ans Objectiv bringt, und dann die Vergrößerung des
Bildes nur dadurch bedingt iſt, daß wir das Auge dem Bilde immer
mehr nähern. Aber dieſer theoretiſchen Möglichkeit treten practiſch
ſo viele Schwierigkeiten entgegen, daß die wirklich ausgeführten In-
ſtrumente alle unendlich weit von der Grenze der theoretiſchen Mög-
lichkeit zurückbleiben. —
Ich will hier nur das wichtigſte Verhältniß berühren und um
daſſelbe deutlich zu machen, an eine ſehr bekannte Thatſache anknü-
pfen. Bücher, die beſtimmt ſind, in die Hände aller Leute zu kommen,
wie Bibeln und Geſangbücher, verbreitet man in verſchiedenen Drucken,
bald mit ganz kleinen, bald mit mittleren, bald für ältere ſchwachſich-
tige Leute mit ganz großen Buchſtaben. Hier iſt nun ein einzelnes
Wort in dem letzten Druck vielleicht 6 mal ſo groß als in dem erſten,
und es läßt ſich deshalb bequem erkennen, aber gleichwohl erkennt
[27] man natürlich nicht mehr Buchſtaben in dem einen wie in dem an-
dern. Daſſelbe Wort könnte aber auch von einem Schreibkünſtler ſo
klein geſchrieben ſeyn, daß es dem unbewaffneten Auge nur wie ein
einziges ſchwarzes Pünctchen erſchiene. Hier würde die Vergrößerung
das Pünctchen in ſeine einzelnen Theile auflöſen und die Buchſtaben
und Züge derſelben deutlich erkennen laſſen, aber eine fernere Ver-
größerung würde dann wohl den Maaßſtab, nach welchem die ein-
zelnen Theile erſcheinen, vergrößern, aber ohne feinere Theile, die
früher nicht erkennbar waren, zur Anſchauung bringen. Ein ähnliches
Verhältniß findet nun beim Microſcop ſtatt. Bis zu einem gewiſſen
Grade iſt das Bild, welches das Objectiv von dem Gegenſtande ent-
wirft ein ſolches, daß die in demſelben enthaltenen Einzelnheiten noch
durch das Ocular aufgelöſt oder deutlich gemacht werden. Aber bald
tritt die Grenze ein, bei welcher wegen der Unvollkommenheit der
Objective das von ihnen entworfene Bild zwar noch vergrößert wer-
den kann, aber ohne daß dabei mehr einzelne Theile erkennbar werden.
Es beſteht gleichſam aus einer beſtimmten Anzahl von Buchſtaben,
die ſtärker vergrößert, ſich zwar bequemer erkennen laſſen, aber ohne
daß dieſe ſtärkere Vergrößerung einen ſcheinbar einfachen Buchſtaben
als noch aus zweien zuſammengeſetzt zeigte. — Auf dieſe Weiſe tritt
das merkwürdige Verhältniß ein, daß man häufig mit einem beſſer
gearbeiten Microſcop bei ſchwächerer Vergrößerung bei weitem mehr
ſieht, d. h. mehr Einzelnheiten des Gegenſtandes erkennt, als bei
viel ſtärkeren Vergrößerungen eines minder gut gearbeiteten Inſtru-
mentes. — Da es aber bei allen wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen
gerade auf die Erkennung der einzelnen Theile und Structurverhält-
niſſe ankommt, ſo haben die Vergrößerungen überhaupt nur bis ſo
weit Bedeutung, als dieſer Anforderung noch entſprochen wird. Dieſe
Grenze fällt aber bei allen bis jetzt gebauten Inſtrumenten auf eine
Vergrößerung von etwa 3—400 mal im Durchmeſſer und alle ſtär-
keren Vergrößerungen ſind theils unbrauchbare Spielereien, theils
und zwar am häufigſten nur angeblich, wie die millionenfachen Ver-
größerungen der Hydrooxygengasmicroſcope, mit denen herumziehende
[28] Charlatans ſich brüſten und die meiſt nicht einmal ſo viel leiſten wie
die 50 fachen eines guten gewöhnlichen Microſcops.
Aus dieſen Bemerkungen geht hervor, daß dem wiſſenſchaftlichen
Forſcher unendlich viel daran liegen muß, genau die Güte eines In-
ſtrumentes in dieſer Beziehung beurtheilen zu können und man hat
allen Fleiß angewendet, um die dazu führenden Mittel ausfindig zu
machen. — Man hat zu dem Ende ſogenannte Probeobjecte aufge-
ſucht, die im Allgemeinen in Gegenſtänden beſtehen, welche feine
ſchwer zu erkennende Structurverhältniſſe zeigen. Zu ſolchen Probe-
objecten kann man künſtliche oder natürliche Gegenſtände wählen.
Die erſten ſind bis jetzt nur von dem Königsberger Mechaniker No-
bert angefertigt und beſtehen in Syſtemen von hundert mit dem Dia-
mant auf Glas gezogenen Linien, von denen je zehn und zehn nach
einem beſtimmten Maaße enger beiſammen ſtehen und feiner ſind.
Mit den meiſten Inſtrumenten kann man nur das ſechſte und ſiebente
Syſtem noch deutlich als aus einzelnen Linien beſtehend erkennen,
beſſere Inſtrumente reichen bis zum achten und neunten. Das zehnte
löſt aber kein bis jetzt gebautes Microſcop in ſeine einzelnen Be-
ſtandtheile auf. Dieſe Linienſyſteme machten, wie ſie bekannt wurden,
großes Aufſehen, ſie haben indeſſen den weſentlichen Fehler, daß ein
Exemplar dem andern nicht ganz genau gleich iſt, daß alſo jeder For-
ſcher einen andern Maaßſtab in die Hände bekommt. Ungleich genauer
als der Menſch arbeitet die Natur und man ſieht daher noch immer
die Schmetterlingsſchuppen als die beſten Probeobjecte an. — Die
meiſten derſelben ſind kleine, mit einem Stielchen verſehene längliche
Platten, auf ihrer Oberfläche mit feinen Längsrippen beſetzt, die
durch äußerſt zarte Querrippen verbunden werden. Beide Arten von
Rippen ſind aber bei den verſchiedenen Schmetterlingen von
ſehr verſchiedener Feinheit und insbeſondere ſind die Querrippen
von Hipparchia Janira, einem ſehr gemeinen braunen Schmetterling,
ſo zart, daß ſie bis jetzt nur durch die ausgezeichnetſten Inſtrumente
eines Amici, Plösl, Oberhäuſer und Schieck deutlich zu erkennen ſind.—
Außer dieſen gewöhnlichen Schuppen kommen aber auch noch
[29] mannigfaltige, theils anders geformte, theils auf ihrer Oberfläche
anders gezeichnete vor und wenn man ſich eine Zeitlang mit dieſen
Unterſuchungen beſchäftigt hat, ſo erſtaunt man über den unendlichen
Reichthum von Geſtalten, den die Natur hier noch in den unſchein-
barſten und winzigſten Theilen entwickelt hat. — Gar manche haben
ſich, beſonders in frühern Zeiten, wohl mit dieſer Freude an zierlichen
Bildern genügen laſſen und kaum die Bedeutſamkeit microſcopiſcher
Unterſuchungen für die Wiſſenſchaft geahnt, wie ſchon die Titel ſo
vieler im vorigen Jahrhundert erſchienener Werke andeuten, z. B.
Ledermüller microſcopiſche Gemüths- und Augenergötzung (Nürnberg
1761), Röſel von Roſenhoffs Inſectenbeluſtigungen (Nürnberg 1746
—61) u. ſ. w. — Doch fehlte es auch ſchon früh nicht an Beobach-
tern, welche den ganzen Ernſt dieſer Richtung in den naturwiſſen-
ſchaftlichen Studien einſahen und wir haben ſogar ein merkwürdiges
Beiſpiel der Uebertreibung an Swammerdam, der in ſeinen letzten
Lebensjahren einen großen Theil der durch die mühſamſten Unter-
ſuchungen gewonnenen Reſultate dem Feuer übergab, weil er meinte,
der Schöpfer habe dieſe feinern Verhältniſſe nicht ohne weiſe Abſicht
dem Menſchen verborgen und es ſey Frevel, die Geheimniſſe Gottes
zu profaniren. — In der That würde man aber mit einer ſolchen
Anſicht, wenn ſie conſequent durchgeführt würde, jeder Erhebung des
Menſchen über den roheſten faſt thieriſchen Naturzuſtand in den Weg
treten.
Es war unſerm Jahrhundert vorbehalten das Microſcop bei dem
Studium der Natur in ſeine Rechte einzuſetzen und es iſt eine erfreu-
liche Erſcheinung zu betrachten, wie ſich die Anwendung dieſes In-
ſtruments immer mehr und mehr Eingang verſchafft und wie in im-
mer größern Kreiſen die intereſſanteſten Reſultate durch daſſelbe ge-
wonnen werden.
Leicht begreiflich iſt es, wie das Studium der Verhältniſſe des
feineren Baues der Thiere und ſelbſt des Menſchen ein ganz neues
Licht auf die phyſiologiſchen Vorgänge im Körper werfen mußte und
in der That kann man für alle Zweige der mediciniſchen Wiſſenſchaf-
[30] ten, von der Anwendung des Microſcops an, eine durchaus neue
Periode datiren. — Daß für die Kenntniß der kleineren Organismen
im Thier- und Pflanzenreiche das Microſcop ein entſcheidender Wen-
depunct werden mußte, iſt eben ſo leicht einzuſehen. Dagegen liegt es
weniger auf der Hand, wie auf den Gebieten der Chemie, Minera-
logie, und Geognoſie die microſcopiſche Beobachtung ihr eigenthüm-
liches Feld hat finden können. — Und gleichwohl iſt die Bedeutſam-
keit deſſelben auch hier theils ſchon von den ausgezeichnetſten Forſchern
anerkannt, theils kann dieſe Anerkennung nicht lange mehr ausbleiben.
Insbeſondere iſt auf dem Gebiete der organiſchen Chemie ein In-
ſtrument nicht zu entbehren, welches oft allein im Stande iſt uns
darüber Aufſchluß zu geben, ob wir es mit einem einfachen Stoff oder
mit einem mechaniſchen Gemenge verſchiedener Beſtandtheile zu thun
haben. Eine Menge angebliche Stoffe wären nie in der Wiſſenſchaft
aufgeführt worden, es wären nie die Kräfte ausgezeichneter Forſcher
daran vergeudet worden, wenn man mit dem Microſcop vorher die
Natur derſelben genauer unterſucht hätte. So finden wir doch, daß
ſelbſt die ausgezeichnetſten Chemiker, wie Berzelius, Liebig u. a. von
Stoffen reden, die gar nicht exiſtiren. So iſt die ſtärkemehlartige
Faſer, worunter man den Rückſtand der Kartoffeln nach Gewinnung
des Kartoffelmehls verſteht, ein Gemenge ganz gewöhnlicher Stärke
und ganz gewöhnlicher Holzfaſer, oder Zellſtoffs, ſo iſt das Pollenin,
womit man den Grundbeſtandtheil des Blüthenſtaubs bezeichnen will,
ein mannigfaltiges Gemiſch von ſehr vielen einzelnen ganz bekannten
Subſtanzen. — Dergleichen Beiſpiele ließen ſich aber noch unzählige
aufführen.
Noch auffallender zeigt ſich die Bedeutſamkeit des Microſcops
in der Mineralogie und Geognoſie. Hier handelt es ſich nämlich um
eine ganz andere und genauere Kenntniß der eigenthümlichen Natur
ganzer Gebirgsſyſteme, größerer Formationen oder einzelner Mineral-
ſubſtanzen, als uns dieſe Wiſſenſchaften bisher geben konnten. Wenn
wir früher in den Gebirgszügen, welche im weſtlichen Aſien ſich
herabziehen, einen Gürtel um das nördliche Deutſchland und Frank-
[31] reich bilden und dann im griechiſchen Archipelagus wieder auftreten,
nur muſchelführende Maſſen kohlenſauren Kalkes erkannten, den wir
wegen ſeines eigenthümlichen Aggregatzuſtandes Kreide nannten,
wenn wir die Polirſchiefer, Kieſelguhre und Bergmehlarten als Kie-
ſelerde in fein vertheiltem Zuſtande betrachteten, wenn wir im Dyſo-
dil nur ein Gemenge von Kieſelerde und Erdpech fanden und in den
meiſten Opalen und Feuerſteinen eben nur dichtere glasartige Kieſel-
erde wahrnahmen, ſo eröffnen uns Ehrenbergs microſcopiſche For-
ſchungen hier einen Blick in eine ganz neue lebensvolle Welt. Wir
finden auf höchſt merkwürdige Weiſe das Entſtehen nicht unbeträcht-
licher Theile der feſten Rinde unſeres Planeten in ihrer eigenthüm-
lichen Form an das Leben ganz kleiner dem bloßen Auge unſichtbarer
Thiere geknüpft, die bei ihrer ans Wunderbare gränzenden ſchnellen
Vermehrung durch Individuenzahl und Unzerſtörbarkeit ihrer Ueber-
reſte das erſetzen, was ihnen an Maſſe abgeht.
Außer den Infuſorien, deren ganze Organiſation nur aus faſt
gallertartiger thieriſcher Subſtanz beſteht, giebt es nämlich andere
Arten, deren Eigenthümlichkeit darin ſich zeigt, daß ſie ſich ähnlich
den Muſcheln und Schnecken mit feſten Panzern in den allerzierlich-
ſten Formen umgeben, die entweder aus kohlenſaurem Kalk oder aus
Kieſelerde gebildet ſind. Das geſtorbene Thier ſelbſt fällt zwar der
Verweſung anheim, aber die ſelbſt gebauten Wohnungen, die Scha-
len bleiben und häufen ſich unter günſtigen Bedingungen für das
Leben der Thiere ſo ſehr an, daß ganze Gebirgsſyſteme faſt allein aus
ihnen aufgebaut ſind. — Die aus Kieſelerde gebildeten Schalen ſin-
tern zuweilen durch einen eigenthümlichen uns noch fremden Proceß
zuſammen und bilden ſo Feuerſteine und Opale. — Grade dieſe
kieſelſchaligen Thierchen ſind es auch, mit denen der Botaniker eine
genauere Bekanntſchaft nicht verſchmähen darf, da der Streit noch
immer nicht geſchlichtet iſt, der lange Zeit ſelbſt mit einer gewiſſen
Erbitterung geführt wurde, ob dieſe kleinen Organismen Thiere oder
Pflanzen ſeyen. — Bedeutender der Maſſe nach ſind freilich die durch
kalkſchalige Infuſorien entſtandenen Bildungen. Ein anſehnlicher
[32] Theil Rußlands an der Wolga, Polens, Pommerns (z. B. Rügen),
Mecklenburgs, Dänemarks, Schwedens, des ſüdlichen Englands und
nördlichen Irlands, des nördlichen Frankreichs, Griechenlands, Sici-
liens, des nördlichen Afrikas und vielleicht auch der Sahara, des
nordweſtlichen und arabiſchen Aſiens beſteht aus ſolchen Kreideboden
und Kreidegebirgsmaſſen, deren verticalen Durchmeſſer man oft z. B.
in England auf 1000 Fuß berechnen kann. Die Phantaſie erlahmt,
wenn ſie dieſe Maſſen organiſchen Lebens erfaſſen ſoll, wenn man
ſich erinnert, daß eine einzige mit Kreideüberzug verſehene Viſiten-
karte ſchon ein zoologiſches Cabinet von vielleicht 100,000 Thier-
ſchalen bildet.
Wie Galilei, Kepler, Newton, Herſchel uns in eine unendliche
Welt der großen Maſſen einführten, wie Columbus, Magelhaens
und ſeine Nachfolger uns die ganze eine Hälfte der Erde erſt ent-
deckten, ſo hat in neueſter Zeit Ehrenberg durch ſeinen raſtloſen Fleiß
uns eine wunderbare Welt des organiſchen Lebens erſchloſſen, welches
in ſeinen Individuen unſcheinbar klein, auch dem ſchärfſten unbe-
waffneten Auge unſichtbar, doch durch die unerſchöpfliche Thätigkeit
des Bildens, durch die unausſprechlich großen Zahlen der Einzel-
weſen Maſſen anhäuft, vor denen ſelbſt der Menſch als ohnmächtiges
Weſen erſcheint.
Am 26. Januar 1843 war auf der Round-Down-Klippe un-
fern von Dover eine zahlreiche Menſchenmenge in ängſtlicher Erwar-
tung verſammelt, um den Ausgang einer der großartigſten und kühn-
ſten Sprengungen beizuwohnen, welche je die genialen Combina-
tionen menſchlichen Scharfſinns auszuführen unternommen. Die
Vorarbeiten hierzu, die Anlegung der Schachte und Stollen, hatten
Jahre erfordert. Durch eine rieſenhafte galvaniſche Batterie wurde
die bis dahin noch niemals angewendete Menge von 185 Centnern
Pulver auf einmal entzündet. — Faſt lautlos wurde die ungeheure
Klippe ins Meer geſchleudert, in einer Minute waren 20 Millionen
Centner Kalkfelſen zerriſſen und eine Fläche von faſt 15 Acres 20 Fuß
hoch mit ihren Trümmern bedeckt. Man mag daraus die ungeheure
[33] Kraft ermeſſen, welche angewendet werden mußte. Und mit wem ließ
ſich hier die menſchliche Geiſteskraft in dieſen Rieſenkampf ein? —
Mit den Ueberreſten von Geſchöpfen, von denen tauſende durch den
Druck des Fingers vernichtet werden können. Wir ſtaunen und fragen
uns: was heißt „klein“ in der Natur?
Es kann aber wohl überhaupt keinem Zweifel unterliegen, daß
es einem noch höchſt rohen Zeitalter oder einer ſehr niedrigen Bil-
dungsſtufe angehört, wenn man den Werth, die Wichtigkeit eines
Dinges nach groß oder klein abmeſſen will, ein Maßſtab, der ja bei
dem allerweſentlichſten und werthvollſten was wir kennen keine An-
wendung findet, denn der Menſchengeiſt läßt ſich nicht nach Fuß, Zoll
und Linie beſtimmen. Nur der ſinnlichen Natur imponirt das phyſiſch
Große, der gebildetere Menſch wird die Gegenſtände ſeiner Betrach-
tung vollſtändig nach allen ihren Verhältniſſen kennen zu lernen
ſuchen und dann erſt aus der vollſtändigen Kenntniß derſelben ſich
ein Urtheil über weſentlich und unweſentlich erlauben und gar oft
wird er dann dahin geführt werden, dasjenige, was die kleinſten
Dimenſionen hat, für das allerbedeutendſte zu erklären.
Es findet aber dieſe Bemerkung vor allem ihre volle Anwendung
auf die Botanik. Es gab für dieſelbe eine Zeit, in welcher ſie an-
fing ſich aus der mittelalterlichen Nacht des Nichts empor zu arbeiten,
wo ſie alſo nur noch in ihren roheſten Anfängen exiſtirte, es iſt die
Zeit der Linné'ſchen Schule. Wir wollen Linné's Verdienſt nicht
ſchmälern, denn größer iſt der Ruhm eine Wiſſenſchaft zu erfinden,
neu zu geſtalten, als ſie, wenn ihre Grundſteine einmal gelegt ſind,
weiter auszubauen; wir wollen Linné, wie geſagt, nicht damit zu
nahe treten, wenn wir ihn als den Urheber eines der traurigſten Vor-
urtheile bezeichnen, welches lange die Botanik auf einer äußerſt nie-
drigen Stufe erhalten hat und auch jetzt nicht ſo ganz überwunden
iſt, daß ſeine ſchlimmen Nachwirkungen nicht noch mannigfach dem
Fortſchritt der Wiſſenſchaft hemmend in den Weg träten. Wir meinen
Linné's Widerwillen gegen das Microſcop und ſeine Verachtung aller
Kenntniſſe, die ſich nur mit Hülfe deſſelben gewinnen laſſen. — Der
Schleiden, Pflanze. 3
[34] Einfluß der Linné'ſchen Schule iſt in dieſer Beziehung ſo verderblich
geweſen, daß faſt alles, was ſchon am Ende des 17ten Jahrhunderts
durch einzelne ausgezeichnete Männer wie z. B. beſonders durch Mal-
pighi gewonnen war, im 18ten Jahrhundert für die Wiſſenſchaft ſo
vollſtändig wieder verloren ging, daß ſelbſt die Ausgezeichneteren im
Anfang dieſes Jahrhunderts die Höhe von Malpighi noch lange nicht
in allen Stücken erreichten. Die folgenden Vorträge werden aber
unter anderen auch davon Zeugniß geben, wie eine wiſſenſchaftliche
Bearbeitung der Botanik, eine Bearbeitung, die mehr als ein öder
unfruchtbarer, dem Gedächtniß anvertrauter Namenwuſt ſeyn ſoll,
ohne faſt beſtändige Anwendung des Microſcops gar nicht gedacht
werden kann. Hierhin wendet ſich auch die ganze neuere Richtung in
der Wiſſenſchaft, und Namen wie Robert Brown, Briſſean, Mirbel,
Amici und Mohl bezeichnen den Anfang einer neuen ſegensreichen
Epoche.
[[35]]
Zweite Vorlesung.
Ueber den innern Bau der Pflanzen.
Und fängſt es nun im Kleinen an.’
(Fauſt.)
3*
[[36]]
Die Vignette zeigt den ſämmtlichen Hausrath des wiſſenſchaftlichen Kleinig-
keitkrämers oder Microſcopikers; rechts ein einfaches Microſcop zum Präpariren
kleiner Gegenſtände, links ein zuſammengeſetztes Inſtrument von Amici, daneben
Pincetten, Loupen, Meſſerchen, Nadeln und dergl. mehr. —
[[37]]
Wenn wir einem gewandten Taſchenſpieler zuſchauen, wenn er
die zauberähnlichen Wirkungen ſeiner täuſchenden Kunſt vor uns ent-
faltet, werden wir nach und nach zur ſtaunenden Bewunderung hin-
geriſſen, die uns endlich unwillkürlich die Aeußerungen des Beifalls
entlockt, welche gewöhnlich ſeine gelungenen Productionen zu beglei-
ten und zu belohnen pflegen. — Wird es uns nun aber geſtattet, ſein
Theater zu betreten, ihm im eigentlichſten Sinne in die Karten zu
ſehen, wie ſehr kommen wir da von unſerm Erſtaunen zurück, wenn
wir wahrnehmen, wie complicirter Vorrichtungen er bedarf, wie viele
Gehülfen ihm zur Hand gehen müſſen, mit einem Worte, wie man-
nigfaltige und große Mittel er anwenden muß, um Erfolge hervor-
zubringen, die doch am Ende mit den angewendeten Mitteln in kei-
nem Verhältniſſe ſtehen. — Und ſehen wir uns weiter um in allen
Verhältniſſen des Lebens, finden wir da nicht bald, daß es ein charak-
teriſtiſcher Zug für die beſchränkte Stellung des Menſchen iſt, daß
das Reſultat ſeiner kühnſten Anſtrengungen zuletzt auf Wenig oder
Nichts hinausläuft, daß, wenn er Alles aufgeboten, was Talent und
begünſtigende Umſtände ihm an Macht darreichten, er ſich am Ende
doch geſtehen muß, daß das, was er errungen, nur ein geringer Preis
iſt für die verwendeten Koſten? —
Der gerade Gegenſatz von dem iſt die Natur. — Von Jugend
auf gewohnt, ihre Werke in ewig ſich erneuerndem Reichthum um
uns ausgebreitet zu ſehen, gehen wir meiſt kalt an ihnen vorüber.
Das ſinnigere Gemüth fühlt ſich von ihnen angezogen und fängt an,
mit einer Art ſüßen Schauers die geheimnißvollen Kräfte, die um
[38] uns walten, zu ahnen. Welche Mittel, denken wir, müſſen nicht dieſer
großen Künſtlerin zu Gebote ſtehen? Welche wunderbare Verkettungen
noch unbekannter Kräfte müſſen nicht da noch verborgen liegen? Die
Wiſſenſchaft verſucht dieſes Räthſel zu löſen und macht ſich nur zagend
an ihre Aufgabe, fürchtend, daß es dem menſchlichen Verſtande viel-
leicht unmöglich ſeyn werde, eine ſo wunderbare Verſchlingung und
Verwicklung zu überſehen und zu erfaſſen, aber je weiter wir vor-
dringen, deſto mehr wächſt unſer Erſtaunen. Jeder Schritt bringt uns
eine einfachere Löſung eines verwickelten Räthſels, jede zuſammen-
geſetzte Erſcheinung weiſt uns auf einfachere Urſachen und Kräfte
zurück und unſere Bewunderung wird zuletzt zur frommen Anbetung,
wenn wir ſehen, mit wie geringen Mitteln die Natur ihre ungeheuer-
ſten Erfolge erreicht. Aus dem einfachen Verhältniß, daß Körper, die
in Bewegung begriffen, ſich gegenſeitig anziehen, wölbt die Natur
den ganzen Sternenhimmel über uns, und ſchreibt der Sonne und
ihren Planeten die unwandelbaren Bahnen vor. Aber wir brauchen
nicht nach den Sternen zu greifen, um zu erkennen, wie wenig die
Natur bedarf, um ihre Wunder zu entwickeln.
Verweilen wir einen Augenblick bei der Pflanzenwelt. Von der
ſchlanken Palme, die ihre zierlichen Wipfel hoch über dem heißen
Brodem der braſilianiſchen Wälder in den kühlenden Lüften ſchaukelt,
bis zu dem feinen kaum zolllangen Mooſe, welches unſere feuchten
Grotten mit ſeinem phosphoreſcirenden Grün auskleidet, — von der
prachtvollen Blume der Victoria Regina, die ihre roſafarbenen Blätter
auf den ſchweigenden Fluthen der guianiſchen Landſeen wiegt, bis zu
den unſcheinbaren gelben Blüthenknöpfchen der ſogenannten Waſſerlinſe
auf unſeren Teichen; welches wunderbare Spiel der Geſtalten, welch
ein Reichthum der Formen! — Von den 6000jährigen Affenbrod-
bäumen an den Ufern des Senegal, deren Saamen vielleicht ſchon
auf der noch von Menſchen unbewohnten Erde keimten, bis zu dem
Pilz, dem eine fruchtwarme Sommernacht ein Daſeyn gab, das ſchon
der nächſte Morgen zerſtörte, welche Verſchiedenheit der Lebens-
dauer! — Von dem feſten Holz der Neuholländiſchen Eiche, aus
[39] welchem der wilde Urbewohner ſeine Streitkolben ſchnitzt, bis zu dem
grünen zerfließenden Schlamm unſerer Gräben, welche Mannigfal-
tigkeit, welche Abſtufungen im Gewebe, Zuſammenſetzung und Feſtig-
keit! Sollte man es für möglich halten, in dieſem verwirrenden Reich-
thum die Ordnung, in dieſem ſcheinbar regelloſen Spiel der Formen
die Geſetzmäßigkeit, in dieſen tauſendfach verſchiedenen Lebensweiſen
den einen Typus, die gleiche Idee finden zu können? Bis vor weni-
gen Jahren war allerdings die Möglichkeit noch nicht einzuſehen,
denn wir dürfen, wie ſchon bemerkt, nicht eher erwarten, die Natur
in ihren Geheimniſſen belauſchen zu können, bis wir auf ſehr einfache
Verhältniſſe durch unſere Forſchungen geführt ſind. So konnte man
auch über die Pflanze nicht zu wiſſenſchaftlichen Reſultaten gelangen,
bis man nicht das einfache, allen den verſchiedenen Formen gleich-
mäßig zu Grunde liegende Element gefunden und ſeine lebendige
Eigenthümlichkeit unterſucht und beſtimmt hatte. Mit Hülfe der
neueren Microſcope ſind wir endlich ſo weit gekommen, den Aus-
gangspunct für die ganze Theorie der Pflanze zu finden.
Die Grundlage für den Bau aller auch noch ſo ſehr von einander
abweichenden Gewächſe iſt ein kleines, aus einer meiſt durchſichtigen,
waſſerhellen Haut gebildetes, rings herum geſchloſſenes Bläschen,
welches die Botaniker „Zelle“ oder „Pflanzenzelle“ nennen.
Eine Ueberſicht von dem Leben der Pflanzenzelle muß nothwendig dem
Verſtändniß der ganzen Pflanze vorhergehen, ja iſt eigentlich bis jetzt
faſt das einzige ächt Wiſſenſchaftliche in der Botanik.
Aber bei dieſen Betrachtungen verlaſſen uns unſere Sinnesor-
gane. Das menſchliche Auge kann unbewaffnet, ohne Hülfe des
Microſcops nichts von allen dieſen wunderbaren Geheimniſſen wahr-
nehmen und es iſt daher nöthig zu bemerken, daß alle folgenden That-
ſachen nur durch Hülfe des Microſcops zur Anſchauung gebracht
werden können. — Um dem augenblicklichen Bedürfniß nachzuhelfen
lege ich meinen Leſern die wichtigſten Gegenſtände in Abbildungen
vor, welche mit Hülfe eines guten Microſcops gemacht ſind.
Wenn man die äußere derbe Haut von der in unſern Gartenan-
[40] lagen jetzt ſo häufigen Schneebeere (Symphoricarpos racemosa) ent-
fernt, ſo ſtößt man auf eine Maſſe, welche aus kleinen, etwas ſchlüpf-
rigen, glänzend weißen Körnchen beſteht. Jedes davon iſt eine ein-
zelne vollſtändige Zelle. (Taf. I. Fig. 1.) Wenn man die derbere
Oberhaut von dem Blatte einer Gartennelke abzieht, ſo findet man
darunter ein ſammtartiges grünes Gewebe, von welchem ſich leicht et-
was abſchaben läßt. Dieſes vertheilt ſich im Waſſer zu kleinen grünen
Pünctchen; auch dieſe ſind vollſtändige Zellen, welche ſich von den
vorigen nur dadurch unterſcheiden, daß ſie außer einem zähen gelb-
lichen und einem flüſſigen waſſerhellen Safte noch grün gefärbte Kör-
ner enthalten. (Taf. I. Fig. 2.) — Beide Arten von Zellen und ähnlich
alle lebendig vegetirenden Zellen haben das gemein, daß ihre Wand
aus einer doppelten Schicht beſteht, einer feſteren farbloſen, der eigent-
lichen Zellenhaut und einer halbflüſſigen zähen etwas gelblichen Sub-
ſtanz, welche die innere Fläche jener Zellenhaut vollkommen überzieht
und ſo die Zelle auskleidet. Dieſe letztere Schicht iſt aufs Engſte mit
dem Leben der Zelle verknüpft. Nicht ſelten findet man ſie ohne daß
ſie ſich gerade nothwendig von der Zellenwand entfernt, ganz oder in
einzelnen etwas dickeren ſtreifenartigen Partien in einer fortſtrömenden
Bewegung, die man die Circulation des Zellenſaftes nennt. Die
eigentliche Zellenwand iſt eine aus Kohlenſtoff, Waſſerſtoff und
Sauerſtoff gebildete Subſtanz, der Zellſtoff; die halbflüſſige Ausklei-
dung dagegen, von Hugo von Mohl Primordialſchlauch genannt, ent-
hält außerdem noch Stickſtoff. Man kann ſie leicht dadurch deutlicher
machen, daß man eine Zelle mit etwas Salpeterſäure betupft, denn
da ſie ein dem Eiweiß ſehr ähnlicher Stoff iſt, ſo gerinnt ſie durch die
Einwirkung der Säure und zieht ſich zuſammen, ſo daß ſie dann wie
ein loſes Säckchen in der Zelle liegt. (Taf. I. Fig. 3.) —
Ueber die Entſtehung der Zelle iſt man noch keineswegs völlig im
Reinen, ſo viel iſt gewiß, daß dabei ein eigenthümliches dem Pri-
mordialſchlauch angehöriges Körperchen, der Zellenkern genannt
(Taf. I. Fig. 1, a.), eine ſehr weſentliche Rolle ſpielt.
Dieſe Zellen ſchließen ſich nun bei weiterer Entwicklung dicht
[41] aneinander und bilden ſo die ganze Maſſe der Pflanze, das Zellge-
webe, welches man aber nach den verſchiedenen Formen der Zellen,
beſonders aber nach der verſchiedenen Bedeutung derſelben für das
Leben der Pflanzen in drei Hauptgewebe abtheilen kann. —
Ehe wir aber zur Betrachtung dieſer drei Gewebe uns anſchicken,
müſſen wir noch etwas genauer mit den Veränderungen uns bekannt
machen, welche die Zelle in ihrem Leben durchlaufen kann. — Die
Zelle dürfen wir nämlich als einen kleinen ſelbſtſtändigen, für ſich
lebenden Organismus anſehen. Aus ſeiner Umgebung nimmt derſelbe
flüſſigen Nahrungsſtoff auf, aus demſelben bildet er durch chemiſche
Proceſſe, die im Innern der Zelle beſtändig rege ſind, neue Stoffe, die er
theils zur Ernährung und zum Wachsthum ſeiner Wandung verwendet,
theils für zukünftige Bedürfniſſe in ſich aufbewahrt, theils als un-
braubar gewordene Stoffe wieder ausſcheidet, um Statt deſſen aber-
mals neue Stoffe aufzunehmen. In dieſem regen Spiel der Aufnahme
und Ausſcheidung von Stoffen, der chemiſchen Bildung, Umbildung
und Zerſetzung von Stoffen beſteht eigentlich das ganze Leben der
Zelle und — da die Pflanze eigentlich Nichts iſt, als die Summe
vieler Zellen, die zu einer beſtimmten Geſtalt verbunden ſind —, auch
das Leben der ganzen Pflanze. —
Bei der Ernährung und dem Wachsthum der Zellenwand laſſen
ſich aber noch zwei verſchiedene Verhältniſſe unterſcheiden. Das
Wachsthum nämlich iſt einmal dahin gerichtet den Umfang der Zelle
zu verändern und zu vergrößern. Daher entſtehen nach und nach aus
den Anfangs rundlichen Zellen gar verſchiedene Formen. Zunächſt,
wenn ſie ſich dicht aneinander drängen, verlieren ſie ihre runden ge-
bogenen Wände, drücken ſich gegenſeitig flach und erſcheinen dann
wie ſehr unregelmäßige Bienenzellen oder auf einem zarten Durch-
ſchnitt, wie vielſeitige Maſchen. (Taf. I. Fig. B, a.) — Andere
Zellen dehnen ſich mehr ſtellenweiſe aus und bilden Fortſätze oft ſehr
zierlich als ſechsſtrahlige Sterne, oft ſehr unregelmäßig zu wunder-
lichen Figuren. Noch andere Zellen werden flach indem ſie ſich von
zwei Seiten abplatten, andere endlich werden mehr in die Länge aus-
[42] gedehnt und erſcheinen dann als Cylinder, oder Prismen, noch mehr
geſtreckt, ſpindelförmig, oder gar als lange dünne Fäden. (Taf. I.
Fig. 6, 7, 8, 9, 13, b.)
Bei allen dieſen Veränderungen der Form kann die Wand der
Zelle die Dicke behalten, welche ſie urſprünglich hatte, immer bleibt
ſie geſchloſſen und ringsum vollkommen zuſammenhängend. — Es
kommt aber meiſtens noch eine zweite Veränderung hinzu, die Ver-
dickung der Wand. Dieſe kommt ſo zu Stande, daß ſich eine ganz
neue Schicht zwiſchen dem Primordialſchlauch und der urſprünglichen
Zellenwand auf die innere Fläche derſelben abſetzt. Das Eigenthüm-
liche dabei iſt, daß dieſe neue Lage niemals eine gleichförmige überall
zuſammenhängende Haut bildet, ſondern auf die mannigfaltigſte Weiſe
unterbrochen erſcheint. — Bald iſt ſie überall mit kleinen Löchern
durchbohrt (Taf. I. Fig. 6; Taf. II. Fig. 8, b.), bald mit längern
Spalten (Taf. I. Fig. 4.), bald erſcheint ſie als ein Netzwerk, bald
iſt ſie ganz in ein ſpiralig aufgewundenes Band zerſchnitten (Taf. I.
Fig. 5.), bald ſtellt ſie ſich nur unter der Form einzelner Ringe dar
(Taf. I. Fig. 7). Man bezeichnet nach dieſer Erſcheinung der Ver-
dickungsſchicht die Zellen als poröſe und Spaltzellen, als Netz-, Spiral-
und Ring-Faſerzellen. — Hat ſich auf dieſe Weiſe eine Verdickungs-
ſchicht gebildet, ſo folgt häufig eine zweite und dritte, oft ſo weit, daß
die ganze Zelle faſt ganz ausgefüllt wird. — Es iſt leicht zu begreifen
wie aus dieſen Veränderungen, in Verbindung mit den eben vorher
erwähnten Formenſpielen aus einer ſo einfachen Grundlage wie die
Zelle iſt, eine faſt zahlloſe Menge von Verſchiedenheiten des Gewebes
hervorgehen kann, die wir denn auch in den Pflanzen verwirklicht
finden. Dazu kommt noch, daß ſich häufig in der Zellenwand und
ihren Verdickungsſchichten fremdartige Stoffe, z. B. Kalk, Kieſelerde
u. ſ. w. ablagern, wodurch zahlreiche Abſtufungen in der Weichheit
und Härte, in Zähigkeit und Sprödigkeit entſtehen.
Aber es bleibt hier erſt noch eine wichtige Eigenſchaft der Pflan-
zenzelle zu erörtern, ehe wir zum Folgenden fortſchreiten dürfen. Wenn
ſich in der Zelle der Nahrungsſtoff über ein gewiſſes Maaß hinaus
[43] vermehrt, ſo bilden ſich aus demſelben in ihr mehrere neue Zellen,
Tochterzellen; ſie pflanzt ſich fort und in der Regel wird dann die
Mutterzelle allmälig aufgelöſt und verſchwindet und 2, 4, 8 und mehr
junge von ihr gezeugte Zellen treten an ihre Stelle. — Der ganze
Vorgang, den wir bei den Pflanzen Wachſen nennen, beſteht eben
in ſeiner weſentlichen Grundlage aus einer ſolchen fortwährenden
Fortpflanzung der Zellen, wodurch die Zahl der Zellen bis ins Un-
glaubliche und Unzählbare vermehrt wird. Nach einer annäherungs-
weiſe angeſtellten Berechnung bilden ſich zum Beiſpiel an einem ſehr
ſchnell wachſenden Pilze, dem Rieſenboviſt (bovista gigantea), in
jeder Minute 20,000 neuer Zellen.
Aber ſo zierlich auch die oben erwähnten Formen der Zellen ſich
unterm Microſcop ausnehmen mögen, ſo intereſſant auch die Aufgabe
für den Botaniker iſt, die Geſetze zu erforſchen, von denen die Bildung
dieſer zahlloſen Verſchiedenheiten abhängt, ſo haben ſie doch zur Zeit
für uns noch gar keine Bedeutung, wenn wir von dem Leben der
ganzen Pflanze reden wollen und wir müſſen hier, alle jene Unter-
ſchiede völlig überſehend, ganz andere Abtheilungen des Gewebes der
Pflanzen aufzuſtellen ſuchen, die zum Theil gar nicht, zum Theil nur
ſehr durchſchnittlich mit beſtimmten Zellenformen zuſammenfallen.
Jede noch in der Bildung begriffene Pflanze und jeder noch un-
entwickelte Pflanzentheil beſteht ausſchließlich aus kleinen, zarten, rund-
lichen Zellen. So verſchieden ſich auch dies Zellgewebe im Einzelnen
ſpäter modificiren mag ſo ſind es doch nur zwei Portionen, welche ſich
durch ihre ſpätere Entwicklung und ihre Bedeutung für das ganze
Pflanzenleben, weſentlich von jener Grundmaſſe, die auch ſpäterhin
in ausgebildetem Zuſtande das Hauptgewebe der Pflanzen bildet,
unterſcheiden. Die Eine iſt die ganze äußere Zellenſchicht der Pflanze,
welche ſich in Berührung mit Waſſer oder Erde, beſonders aber der
Luft ausgeſetzt entwickelt. Dieſe Zellen ſchließen ſich ſo feſt aneinander,
daß man ſie meiſtens als eine zuſammenhängende Haut von der
Pflanze abziehen kann. — Sie bedeckt ſich früher oder ſpäter mit einer
dicken oder dünnen Schicht einer gleichartigen Subſtanz, welche
[44] noch einen feinen Ueberzug von Wachs oder Harz erhält und dadurch
wird die Oberhaut völlig undurchdringlich für Flüſſigkeiten und ſelbſt
unnetzbar, indem Waſſer davon wie von einer fettigen Subſtanz ab-
läuft. Nur an gewiſſen Puncten bleiben zwiſchen den Zellen kleine
Lücken, welche ins Innere der Pflanze führen. In dieſe Lücke lagern
ſich gewöhnlich zwei halbmondförmige Zellen, die mit der ausgerun-
deten Seite einander zugewendet ſind und ſo zwiſchen ſich eine Spalte
laſſen, übrigens aber die Lücken vollig verſchließen. Dieſe Spalte,
wodurch die Pflanze mit der Atmoſphäre communicirt und Gasarten
und Waſſerdünſte aushaucht, verengert und erweitert ſich nach dem
Bedürfniß. Man nennt dieſe Lücken mit den halbmondförmigen Zellen
Spaltöffnungen und die ganze Zellenſchicht, in welcher ſie vorkommen,
die Oberhaut der Pflanzen. (Taf. I. Fig. 12.)
In jedem lebhaft-vegetirenden Pflanzentheil findet aber auch
ein beſtändiges Zuſtrömen von neuem Nahrungsſtoffe Statt, welcher
von der Wurzel aufgenommen wird und deſſen überſchüſſiges Waſſer
eben durch die Spaltöffnung verdunſtet. — Dieſe Saftbewegung ver-
wandelt die Streifen von Zellen, durch welche es mit beſonderer
Lebhaftigkeit durchgeht in langgeſtreckte Zellen. Die meiſten derſelben
werden ſtark verdickt, einige verlieren auch wohl plötzlich ihren flüſſi-
gen Inhalt und nehmen ſtatt deſſen Luft auf, man nennt dieſe dann
Gefäße (Luftgefäße) und ſo bilden ſich in der Maſſe des Zellgewebes
Bündel langgeſtreckter Zellen und Gefäße, Gefäßbündel genannt
(Taf. I. Fig. 13, b.), die dem unbewaffneten Auge wie derbe Faſern
erſcheinen, welche das Pflanzengewebe durchziehen. Bei einer großen
Pflanzenabtheilung, bei den Monocotyledonen, wozu Gräſer, Lilien,
Palmen u. ſ. w. gehören, bleiben dieſe Gefäßbündel auf einer ge-
wiſſen Stufe der Ausbildung ſtehen und verändern ſich ferner nicht.
Bei einer andern Claſſe von Pflanzen dagegen, bei den Dicotyledo-
nen, wozu unſere Waldbäume, Küchenkräuter und Gemüſe, ſo wie
viele andere gehören, entſtehen fortwährend an der Außenſeite jedes
Gefäßbündels neue Zellen, die ebenfalls zu Gefäßbündelzellen werden
und ſo die Gefäßbündel fortwährend verdicken. In Folge deſſen
[45] ſchließen ſich dieſe nach und nach zu einem feſten Gewebe an einan-
der, zu dem, was wir im gemeinen Leben Holz nennen (Taf. II.
Fig. 8, 9, 10).
Fragen wir nach dem Verhältniß in welchem dieſe drei Theile
der Pflanze zu den Bedürfniſſen des Menſchen ſtehen, ſo finden wir
auch eine dreifache Verſchiedenheit. Die Oberhaut iſt in ihrem ge-
wöhnlichen Zuſtande für den Menſchen ganz nutzlos, nur an peren-
nirenden Pflanzen zumal an Bäumen entwickelt ſich aus derſelben die
Borke, welche bei einigen Bäumen (z. B. bei der Korkeiche, quer-
cus suber) ſehr weich und elaſtiſch, als Kork, einer ſehr ausgedehn-
ten Anwendung fähig iſt. Die Gefäßbündelzellen werden durch die
Subſtanz ihrer Zellenwände wichtig, theils als Baſt theils als Holz.
Endlich das übrige Zellgewebe hat ſeine Bedeutung für uns faſt nur
durch den Inhalt ſeiner Zellen.
Von allen Zellenformen ſind, wie bemerkt, die wichtigſten für
den menſchlichen Haushalt ohne Zweifel die Holzzellen und die
Baſtzellen. Die verſchiedenen Holzarten laſſen ſich bei großer Auf-
merkſamkeit unter dem Microſcop ſelbſt an den kleinſten Abſchnitten
noch unterſcheiden; der wichtigſte Unterſchied iſt freilich der zwiſchen
Laub- und Nadelholz, welcher ſelbſt an verſteinertem Holze noch be-
ſtimmt zu erkennen iſt. (Taf. II. Fig. 8, 9, 10.)
Die „Baſtzellen“ ſind unter allen die längſten; ſie haben
meiſt ſehr dicke, aber ſehr biegſame Wände (Taf. I. Fig. 8), ſelten
mit poröſer oder ſpiraliger Zeichnung; nur an der Seidenpflanze,
dem Oleander und verwandten Pflanzen findet man eine zarte ſpira-
lige Streifung in der Wand. Alle übrigen Baſtzellen ſind unterm
Microſcop nicht wohl zu unterſcheiden, ſo verſchiedenartig auch die
Pflanzen ſind, von denen ſie genommen werden. Die Baſtzellen aber
ſind es, welche wegen ihrer Länge und Biegſamkeit uns faſt allein
das Material zu unſern Geweben und zu Seilerarbeiten liefern.
Wie ſchon bemerkt, werden die verſchiedenartigſten Pflanzen zu die-
ſem Zwecke benutzt. Bei uns iſt es hauptſächlich der Flachs und der
Hanf, auf den Philippinen bedient man ſich des Baſtes aus den
[46] Blättern der Piſangarten, in Mexico liefern die Blätter einiger wil-
den Ananas einen ähnlichen Stoff. In neuerer Zeit iſt für die eng-
liſche Marine beſonders der ſogenannte neuſeeländiſche Flachs wich-
tig geworden, welcher aus den Blättern eines lilienartigen Gewäch-
ſes gewonnen wird. Eigenthümliche Zeuge werden ohne Spinnen
und Weben auf den weſtindiſchen Inſeln aus dem Baſt des ſoge-
nannten Spitzenbaums (Palo di laghetto der Spanier) und auf
Otaheite aus dem des Papiermaulbeerbaums bereitet. Zu Stricken
werden noch eine unendliche Menge von Pflanzen benutzt, indem
faſt jedes Land ſeine eignen Pflanzen dazu anwendet. Durch die
Güte eines Freundes in Berlin erhielt ich einſt ein Endchen Bind-
faden, mit dem ein Weinkrug in Pompeji zugebunden geweſen war
und fand zu meinem Erſtaunen, daß er aus den leicht erkennbaren
Baſtzellen der Seidenpflanze (Asclepias syriaca) oder einer ver-
wandten bereitet ſei, die, ſoviel bekannt, jetzt nirgends mehr zu die-
ſem Zwecke angewendet werden.
Sehr verſchieden von dieſen Baſtfaſern iſt die Baumwolle,
welche als Haarſchopf die Saamen der Baumwollenſtaude umgiebt.
Dies ſind zwar auch ſehr lange, aber ganz dünnwandige Zellen, wes-
halb ſie im trocknen Zuſtande zuſammengefallen ein plattes Band mit
etwas rundlichen Rändern und nicht wie die Baſtfaſern einen über-
all gleich dicken cylindriſchen Faden bilden (Taf. I. Fig. 9). Durch
dieſen ſcharfen Unterſchied iſt man in den Stand geſetzt, jede Ver-
miſchung des Leinens mit Baumwolle augenblicklich unter dem Mi-
croſcop zu erkennen und ſelbſt an den Zeugen, mit denen die ägypti-
ſchen Mumien umwickelt ſind, noch ihren Urſprung auszumachen.
Beiläufig mag hier bemerkt werden, daß die Wollenfaſer (Taf. I.
Fig. 11) und der feine Faden des Seidenwurmes (Taf. I. Fig. 10)
ebenſo auffallende Merkmale darbieten, wie ein Blick auf die beige-
gebene Tafel ſogleich zeigt, und in der That iſt das Microſcop
vielleicht das einzige vollkommen ſichere Mittel, um jede Ver-
miſchung dieſer verſchiedenen Fäden in einem Gewebe augenblicklich
zu erkennen.
[47]
Wir haben nun zwar geſehen, daß die einfache Zelle in ihren
verſchiedenen Formen die Grundlage aller Pflanzen in aller Mannig-
faltigkeit ihrer Erſcheinungen ſey; was die Sache aber noch unend-
lich viel merkwürdiger macht, iſt, daß dieſe Zellen, die überall auf
dieſelbe Weiſe ſich gebildet haben und ſelbſt dann, wenn auch ihre
ſpätere Form ganz dieſelbe bleibt, die Kraft haben, in ihrem Innern
ſo ganz verſchiedene Stoffe zu erzeugen und dadurch der Natur ein
Mittel an die Hand zu geben, um den Reichthum und die Schön-
heit der Pflanzenwelt bis ins Unendliche zu vervielfältigen.
Es führt uns dies auf den eigenthümlichen Lebensproceß der
Pflanzenzelle. Jede einzelne Zelle führt gleichſam ein geſondertes
Leben für ſich. Ihre Wände ſind freilich nicht durchlöchert, aber den-
noch dringt die Flüſſigkeit, die ſie zur Ernährung brauchen, ein.
Dieſe beſteht aus Waſſer, Kohlenſäure, Ammoniakſalz und einigen
andern aufgelöſten Salzen des Erdbodens. Dieſe von der Zelle auf-
genommenen wenigen Stoffe werden nun durch ihre eigenthümliche
Kraft mannigfach verändert und aus ihnen alle die verſchiedenen
Materialien gebildet, wodurch die Pflanzen eben ſo ſehr für den
äſthetiſchen Beſchauer wie für den Haushalt des Oekonomen ihren
Werth erhalten.
Gar viele Zellen führen freilich einen farbloſen Saft, nament-
lich alle Holz- und Baſtzellen, viele ſogar Luft, wie z. B. die ſo-
genannten Gefäße. Andere aber zeigen in ihrem Innern die pracht-
voll gefärbten Säfte, die den Blumen und Früchten den Reiz eines
ſo lieblichen Farbenſchmelzes verleihen, oder anderen, ſonſt grünen,
Pflanzentheilen das geſcheckte, fleckige Anſehen geben (Taf. II.
Fig. 7). Dahin gehören alle Töne der rothen, blauen und gelben
Farbe. Die grüne Färbung der Pflanzen beruht dagegen auf einem
ganz anderen Verhältniſſe, denn niemals iſt der Saft der Pflanzen
grün. Betrachtet man nämlich die Zellen, die dem unbewaffneten
Auge grün erſcheinen, unter dem Microſcop, ſo ſieht man, daß ein-
zelne Körnchen einer grünen Subſtanz (Chlorophyll oder Blattgrün)
an der innern Wand der Zelle ankleben und ſo den grünen Schein
[48] hervorrufen. (Taf. I. Fig. 2, 13 c.). — Die prachtvolle Farbe
des Indigo iſt nichts weiter als eine eigenthümliche Modification
dieſes grünen Farbeſtoffs, welche ſich beſonders in den Indigoarten
(Indigofera tinctoria und anil), in dem Waid (Isatis tinctoria) und
im Färbeknötreich (Polygonum tinctorium) bildet.
In einigen Zellen finden wir höchſt zierliche Kryſtalle ent-
weder einzeln oder als nadelförmige Kryſtalle in Bündeln verei-
nigt, oder zu mehreren in eine kleine Kryſtalldruſe zuſammengrup-
pirt (Taf. II. Fig. 1).
Intereſſanter aber für den Menſchen iſt derjenige Inhalt der
Pflanzenzellen, welcher ihm als nothwendige Nahrung, als wohl-
thuende Erquickung oder als anregendes Gewürz dient, und nicht
minder wichtig ſind auch diejenigen Stoffe, welche dem kranken Or-
ganismus dargeboten, wieder die Fähigkeit herbeiführen der reichen
Gaben einer ſchöpferiſchen Natur auf's Neue ungeſtört ſich freuen zu
können. — Dieſes Feld der Betrachtung iſt außerordentlich ausge-
dehnt, aber noch lange nicht genügend angebaut; indeß zu einem inter-
eſſanten Geſetz haben die bisherigen Forſchungen ſchon geführt, daß
nämlich Pflanzen, welche in ihren äußeren Formen nahe verwandt
ſind, auch in ihren gleichnamigen Organen gleiche oder doch nahe
verwandte Stoffe erhalten. So giebt es ganze Pflanzenfamilien
in denen alle Pflanzen bald mehr bald weniger giftig ſind wie die
Nachtſchattenpflanzen, die Verwandten unſerer Kartoffel und unſeres
Tabaks, und wieder andere die durchweg fade, geſchmacklos und
ohne irgend eigenthümliche Stoffe ſind wie z. B. die Verwandten
unſerer Gartennelken. Es würde hier zu weit führen alle einzelnen
Stoffe und ihr Vorkommen in der Pflanzenwelt durchzugehen und
es mag daher an einigen allgemeinen Bemerkungen und der genauen
Betrachtung einiger beſonders intereſſanter Stoffe genügen.
Alle in den Pflanzenzellen vorkommenden Subſtanzen ſind ent-
weder im Waſſer auflöslich oder nicht. Im erſten Falle giebt uns das
Microſcop keinen Aufſchluß über dieſelben, da ſie im wäſſrigen Zell-
ſaft verſchwinden, nur die Chemie kann dann ihre Gegenwart nach-
[49] weiſen. Hierzu gehören unter andern Eiweiß, Gummi, Zucker und
die angenehmen Säuren unſerer Früchte, z. B. Aepfel- und Citronen-
ſäure. Der Saft z. B. in den Zellen des Zuckerrohrs iſt vollkom-
men klar und durchſichtig, erſt wenn er ausgepreßt iſt und abgedampft
wird ſcheidet ſich der aufgelöſte Zucker aus.
Dagegen zeigen ſich die flüſſigen Oele recht deutlich unterm
Microſcop, ſowohl die fetten, die in Geſtalt kleiner glänzender gelber
Kügelchen im Zellſafte herumſchwimmen wie in dem Kern der Man-
del, als auch die wohlriechenden (ätheriſchen) Oele, welche gewöhn-
lich ganz allein in Einem großen Tropfen eine Zelle ausfüllen.
Zwei der wichtigſten Beſtandtheile in den Pflanzenzellen ſind
aber der halbflüſſige, halbkörnige Schleim, welcher, aus einer ſtick-
ſtoffhaltigen Subſtanz gebildet, die Zellen entweder ganz ausfüllt,
oder neben Oel oder Stärkemehl vorkommt und dann dieſes Letztere
ſelbſt. — Gewiſſe ſtickſtoffhaltige Beſtandtheile bilden den eigentli-
chen Nahrungsſtoff in den Pflanzen. Ein Theil derſelben kommt auf-
gelöſt im Zellſafte vor, wie namentlich das Eiweiß, ein anderer und
zwar der wichtigere Theil in kleinen ſchleimigen Körnchen. Wenn
wir einen Durchſchnitt durch ein Weizen- oder Roggenkorn machen,
ſo erkennen wir von Außen nach Innen unterm Microſcop ſehr ver-
ſchiedene Lagen. Die äußern derſelben gehören der Frucht und Saa-
menſchaale an (Taf. II. Fig. 2, a.) und werden beim Mahlen des Ge-
treides als Kleie abgeſchieden. Aber der Mühlſtein trennt nicht ſo genau
wie der Blick durch's Microſcop zu unterſcheiden vermag, nicht einmal
ſo genau als das Meſſer des Pflanzenanatomen und ſo wird zugleich
mit der Kleie auch noch die ganze äußere Zellenlage des Kerns und
ſelbſt einige der darauf folgenden Schichten entfernt. Ein Blick auf die
Abbildung der Taf. II. Fig. 2. zeigt aber ſogleich, daß die äußeren
Zellen des Kerns einen ganz andern Inhalt haben als die innern
Zellen, während dieſe ſehr viel Stärkemehl und nur ſehr wenig ſtick-
ſtoffreiche Subſtanz enthalten, findet ſich in der äußern Zellenlage
nur die letztere, die man bei den Getreidearten Kleber zu nennen pflegt
und ſo erklärt ſich aus der anatomiſchen Unterſuchung eines ſolchen
Schleiden, Pflanze. 4
[50] Getreidekorns ſehr leicht weshalb das Brod um ſo weniger nahrhaft
iſt, je ſorgfältiger vorher die Kleie vom Mehl abgeſchieden war.
Der merkwürdigſte Stoff, den wir als Zelleninhalt antreffen, bleibt
aber ohne Zweifel das Stärkemehl, nicht allein weil es bei der Er-
nährung des Menſchen eine ſo weſentliche Rolle ſpielt, ſondern auch,
abgeſehen davon, wegen der eigenthümlichen und meiſt zierlichen Ge-
ſtalten, welche es unterm Microſcop zeigt, und welche auf einen hohen
Grad innerer Organiſation deuten.
Es kommt in jeder Pflanze, in jedem Pflanzentheil vor, aber
nur die Wurzeln, Knollen, Saamen und Früchte, und ſeltner (wie
bei der Sagopalme) das Mark enthalten es in ſo großer Menge, daß
man ſie als Nahrungsmittel benutzen kann, oder daß es der Mühe
lohnt, das Stärkemehl daraus zu gewinnen.
Einer höchſt wunderbaren Eigenſchaft des Stärkemehls verdan-
ken wir es, daß wir überall daſſelbe auch in der kleinſten Menge im
Innern der Pflanze erkennen können. Es wird nämlich, wenn man
es mit einer Auflöſung von Jodine befeuchtet, plötzlich prachtvoll
violett-blau gefärbt.
Das Stärkemehl ſelbſt beſteht aus kleinen, glänzenden, durch-
ſichtigen Körnern, die oft zu 20—30 in einer Zelle liegen. (Taf. II.
Fig. 2, c.) Die einzelnen Körnchen zeigen nicht ſelten einen ſehr zu-
ſammengeſetzten Bau. Sie beſtehen aus einem kleinen Kern, um den
ſich eine größere oder geringere Zahl Schichten abgeſetzt hat. Da dieſe
Schichten gewöhnlich an einer Seite dicker ſind als an der andern,
ſo erſcheint deshalb der Kern auch nicht immer in der Mitte (Taf. II.
Fig. 3). Aber nicht in allen Fällen iſt dieſer Bau ſo leicht zu erkennen
wie bei den eiförmigen Körnchen unſerer Kartoffel oder des ächten
weſtindiſchen Arrowroots (Taf. II. Fig. 5.), (auch dieſes iſt nichts
als ein ſehr reines Stärkemehl) oder wie bei den flachen ſcheiben-
förmigen Körnchen des oſtindiſchen Arrowroot (Taf. II. Fig. 6).
Dafür zeigt ſich bei andern Pflanzen eine andere Eigenthümlichkeit,
daß nämlich die Stärkekörnchen zu 2, 3, 4 oder mehreren mit einander
vereinigt gleichſam zuſammengewachſen ſind. Am ſchönſten ſieht man
[51] dies in den Zwiebeln der Herbſtzeitloſe (Colchicum autumnale), und
ähnlich tritt dieſelbe Form bei dem viel häufiger als das Aechte
im Handel vorkommenden unächten weſtindiſchen Arrowroot auf
(Taf. II. Fig. 6).
Ich habe ſo in kurzem, flüchtigem Umriß das ganze Innere der
Pflanze gezeichnet. Wie einfach iſt der Bau, wie wenig verwickelte
Verhältniſſe und wie unendlich ſind die Reſultate, welche die Natur
durch dieſe einfachen Mittel erreicht! Die wenigen Andeutungen, die
ich mir erlaubte über den Einfluß der Pflanzen auf das Wohlſeyn
der Menſchen, ja ſelbſt auf die Möglichkeit ihrer Exiſtenz mögen ge-
nügen; die vollſtändige Ausführung dieſes Themas würde hier zu
weit führen; vollends aber der Reichthum und die Schönheit der
Pflanzenwelt iſt der noch immer unerſchöpfte Vorwurf für alle Dichter
aller Zeiten und aller Völker — aber hier trete ich zurück, denn der
trockne Ernſt der Wiſſenſchaft reicht nicht in jene heiteren Regionen.
4*
[[52]]
Erklärung der Tafeln.
- Taf. I. Alle Figuren ſind ſtark vergrößert.
- Fig. 1. Zwei Zellen aus der Schneebeere. Man erkennt in jeder einen
Zellenkern a. und zahlreiche Strömchen einer gelblichen ſchleimigen Subſtanz,
welche von demſelben ausgehen oder zurückkehren. Bei einigen derſelben iſt die
Richtung des Stromes durch einen Pfeil angedeutet. - Fig. 2. Zwei Zellen aus dem Blatte der Gartennelke. Man unterſcheidet
die farbloſe Zellenwand, eine zarte, gelbliche, ſchleimige Auskleidung und einige
größere durch Blattgrün gefärbte Körner. — - Fig. 3. Eine Zelle aus derſelben Pflanze, welche mit einem Tröpfchen
Salpeterſäure und etwas Jodtinktur befeuchtet war. Die grünen Körner ſind
bräunlich geworden, die ſchleimige Auskleidung der Zelle iſt geronnen und hat
ſich in Folge deſſen von der Wand der Zelle zurückgezogen und bildet ein loſes
in derſelben liegendes Säckchen. — - Fig. 4. Eine Netzfaſerzelle aus dem Blatte der breitblättrigen Gesnerie.
(Gesneria latifolia). - Fig. 5. Eine [Spiralfaſerzelle] aus dem Blatte einer tropiſchen Orchidee
(Pleurothallis ruscifolia). - Fig. 6. Eine poröſe Zelle aus der Knolle einer tropiſchen Orchidee (Ma-
xillaria atropurpurea). - Fig. 7. Eine Ringfaſerzelle aus dem Stengel des italieniſchen Schilf-
rohrs (Arundo Donax). - Fig. 8. Eine ſehr kurze Baſtfaſer (langgeſtreckte Zelle) aus dem Stengel
des Flachſes. - Fig. 9. Ein Stückchen einer Baumwollenfaſer. —
- Fig. 10. Ein Stück eines Fadens roher Seide von einem Cocon.
- Fig. 11. Ein Stückchen einer Faſer der Schaafwolle.
- Fig. 12. Ein Stückchen der von einem Blatte der Gartentulpe abgezogenen
Oberhaut. Sie beſteht aus länglichen, faſt ſechseckigen Zellen und zeigt auf
dieſem Stückchen vier Spaltöffnungen (Athmungswerkzeuge der Pflanze a.). - Fig. 13. Ein zartes Schnittchen aus dem Stengel des italieniſchen Schilf-
rohrs, ſo geſchnitten, daß eines der Gefäßbündel (der derben den Stengel durch-
ziehenden Faſern) durch den Schnitt blos gelegt worden iſt. a. Zellen des Mar-
kes. b. Gefäßbündel, beſtehend aus langgeſtreckten Zellen und zwar von Innen
nach Außen auf einander folgend aus Ringfaſer-, einfachen Spiralfaſer-, poröſen-
und Baſt-Zellen. c. Zellen der Rinde, die äußerſten enthalten einige durch Blatt-
grün gefärbte Körnchen. - Taf. II. Alle Gegenſtände ſind ſtark vergrößert dargeſtellt.
- Fig. 1. Einige Zellen aus einem Cactus, welche verſchiedene Formen von
Kryſtallen enthalten, daneben einige freie Kryſtalle von noch andern Formen.
Hier iſt zu bemerken, daß in der Natur dieſe ſämmtlichen Formen wohl niemals
ſo nahe beiſammen vorkommen, als hier der Raumerſparniß wegen dargeſtellt iſt. - Fig. 2. Der äußere Theil eines feinen Querſchnittes durch ein Roggen-
korn. a. Einige Lagen gelblicher zuſammengedrückter Zellen, welche die Schaale
des Kerns bilden. b. Die äußere Schicht der Zellen des Kerns; dieſelben ſind
ganz mit einer gelblichen, ſchleimig-körnigen Subſtanz angefüllt. c. Die innern
Zellen des Kerns, welche faſt nur Stärkemehlkörnchen enthalten, und nur hin
und wieder etwas von jener ſchleimig-körnigen Subſtanz, welche den ſog. Kleber
des Mehls bildet und eigentlich der nahrhafteſte Beſtandtheil des Getreides iſt.
Die beim Schroten abgeſtreifte Kleie umfaßt mindeſtens alle Schichten bis c.,
alle übrigen in das weiße oder feine Mehl übergehenden Zellen gleichen in Form
und Inhalt den unter c. beſchriebenen. - Fig. 3. Stärkemehlkörner aus der Kartoffel.
- Fig. 4. Desgleichen, das oſtindiſche Arrowroot bildend.
- Fig. 5. Desgleichen, das ächte weſtindiſche Arrowroot bildend.
- Fig. 6. Desgleichen, das gewöhnlich im Handel vorkommende unächte weſt-
indiſche Arrowroot bildend. Seinen mediciniſchen Eigenſchaften nach ſteht dies
letztere übrigens dem ächten ganz gleich. - Fig. 7. Ein Stückchen der äußern Zellenſchichten von dem rothgefleckten
Blüthenſtiel der gründlich blühenden Veltheimie. Man erkennt ſogleich, daß die
rothen Flecken aus kleinen Zellengruppen beſtehen, welche einen rothgefärbten
Saft enthalten, während die benachbarten mit grün gefärbten Stoffen erfüllt
ſind. Zugleich iſt dies ein ſchlagender Beweis dafür, daß die einzelnen Zellen
ganz von einander unabhängig und ringsum geſchloſſen ſind, weil ſich ſonſt die
verſchieden gefärbten Säfte mit einander vermiſchen müßten. — - Fig. 8. Ein feines Längsſchnittchen vom Eichenholz, aus Holzzellen a. und
poröſen Zellen b., ſogenannten Gefäßen des Holzes, beſtehend.
- Fig. 9. Ein feines Querſchnittchen deſſelben Holzes. Man unterſcheidet
leicht die kleineren aber ſehr dickwandigen Holzzellen a. von den ſehr großen
aber verhältnißmäßig dünnwandigen Gefäßzellen b. auch auf dem Querſchnitt.
Bei c. nimmt man noch einige Reihen eigenthümlicher Zellen wahr, vom Pflan-
zenanatomen Markſtrahlen, vom Holzarbeiter Spiegelfaſern genannt, welche das
Holz ſtrahlenförmig vom Marke bis zur Rinde durchziehen. - Fig. 10. Ein zartes Längsſchnittchen aus dem Holze der gemeinen Kiefer,
beſtehend aus ſehr langgeſtreckten poröſen Holzzellen, aber dadurch ausgezeichnet,
daß die Poren mit zwei Kreiſen einem größeren äußeren a. und einem kleineren
inneren b. bezeichnet ſind, eine Eigenheit, die in ähnlicher Weiſe nur beim Nadel-
holz vorkommt und es uns möglich macht dieſes auch noch aus der Braunkohle
und im verſteinerten Zuſtande zu erkennen.
[[55]]
Dritte Vorlesung.
Ueber die Fortpflanzung der Gewächſe.
Entwinden tauſend Keime ſich,
Im Trocknen, Feuchten, Warmen, Kalten. —’
(Fauſt.)
[[56]][[57]]
Tief im Innern ſeines Gemüthes fühlt der Menſch, daß er ſeiner
beſſern Natur nach nicht dieſer Körperwelt, die ihn umgiebt, ange-
höre, daß eine Welt ſelbſtſtändiger lebendiger Geiſter ſeine eigentliche
Heimath ſey, und gern ſchwingt er ſich in begeiſterter Ahnung auf in
jene Regionen, die ihm als ſein wahres Heimathland erſcheinen.
Kehrt er nun zurück von ſolchen Ausflügen, zu denen ihn das Gefühl
ſeines Urſprungs die Flügel geliehen, wird er nach ſolchen Erhebungen
wieder zurückverſetzt in die todte Welt ſchwerer Maſſen, ſo trennt er
ſich unwillig nur von ſeinen ſchönen Bildern und gern trägt er zumal
in der Jugend, wie des Individuums ſo des ganzen menſchlichen Ge-
ſchlechts, das freie geiſtige Leben, das ihm verwandt, über auf die
ihn umgebende Natur. Die jugendliche Phantaſie leiht dem Fels,
dem Baume, der Blume einen ſie belebenden Genius und in dem
Rollen des Donners hört ſie Gottes Stimme. Dem tritt dann die
ernſte Wiſſenſchaft entgegen, ſie entkleidet die Natur von jenem be-
geiſtigenden Zauber und unterwirft ſie dem blinden Fatum ausnahms-
loſer Naturgeſetze. Zwar iſt ihr Ziel eben den Geiſt in ſeiner Selbſt-
ſtändigkeit unabhängig von der Natur in ſeine Rechte einzuſetzen und
über ſie in religiöſer Ahnung mit Bewußtſeyn das höchſte Weſen zu
erheben, aber doch wird der Durchgang zu dieſem erhabenen Ziel von
dem warmfühlenden Menſchen feindſelig empfunden und nur mit bit-
term Schmerz trennt er ſich von den lebendigen Geſtalten, mit denen
er ſeine Welt bevölkert hatte. Selten hat wohl Jemand dieſen Zwie-
ſpalt, der noch nicht zur höhern Verſöhnung gediehen, ſchöner aus-
geſprochen als Schiller in ſeinen Göttern Griechenlands.
[58]
Auch meine Lebensaufgabe iſt es, nach meinen Kräften an dieſer
Entgeiſtigung der Natur zu arbeiten und es war mir in meiner frü-
hern Vorleſung vergönnt, nachzuweiſen, wie die das ſinnige Gemüth
ſo lebendig anſprechende Formenwelt der Pflanzen, ihr ſo geheimniß-
voll ſcheinendes ſtilles Weben und Wirken ſich vor dem Auge des
beſonnenen Naturforſchers auflöſt in chemiſch-phyſicaliſche Proceſſe,
die an und in einem unſcheinbaren Bläschen, der Pflanzenzelle, vor
ſich gehen. Aber die ganze Pflanze iſt nicht eine einzelne Zelle, ſon-
dern nur aus ſolchen zuſammengeſetzt, und zwar nach einer ſo be-
ſtimmten Regel zuſammengeſetzt, daß ſeit Jahrtauſenden auf allen
Puncten der Erde dieſelben feſtſtehenden Formen wiederkehren. Es
fragt ſich nun allerdings, ob denn auch dieſes Zuſammentreten der
Zellen zu ganzen Pflanzen beſtimmten Naturgeſetzen unterworfen ſey?
Ehe man aber zur Beantwortung dieſer Frage geht, muß man die
Art und Weiſe, wie ſich gewiſſe Pflanzenformen in der Natur erhal-
ten, mit einem Worte die Fortpflanzung der Vegetabilien genauer ins
Auge faſſen.
Es ſey mir verſtattet, mich dieſer Aufgabe auf einem Umwege
zu nähern. Am zweckmäßigſten laſſen wir uns hier von einer Ueber-
ſicht der Maſſen animaliſchen Lebens auf der Erde leiten. Wohin
immer den Menſchen ſeine Noth, Eigennutz oder edler Forſchungstrieb
führt, begleitet ihn das thieriſche Leben. Auf dem Meere umſpielt
ihn die gewandte Schaar der Gefährten des Nereus, der Pilot gleitet
ſeinem Schiffe voran und der gefräßige Hai folgt ihm, der Beute ge-
wärtig. Auf dem Lande überall regt ſich um ihn, friedlich oder feind-
lich zu ihm geſtellt, der Thierwelt mannigfaches Formenſpiel. In dem
beeiſten Norden begleitet ihn der treue Hund, das nützliche Rennthier,
fängt er ſich den Kleidung, Nahrung und Licht gebenden Seehund,
ſtellt ſich ihm der Eisbär zum wilden Kampfe entgegen. Unter den
ſenkrechten Strahlen der glühenden Sonne droht ihm der ſcharfe
Zahn der großen Katzen, umſpielt ihn die ſchlanke Gazelle, bietet ihm
„was wiederkäut und die Klauen ſpaltet“ Nahrung und Kleidung
dar. Auf den ſtarrenden Schneeflächen des Chimboraſſo umflatterte
[59] noch der Schmetterling Humboldt und ſeine Gefährten und noch weit
über ihnen in unberechenbarer Höhe ſchwebte der rieſige Condor.
Selbſt unter der feſten Decke, die wir betreten, wühlt der Wurm ſeine
dunkeln Gänge. Und dieſe ganze Maſſe des Lebendigen, der Menſch
ſelbſt nicht ausgeſchloſſen, lebt nur auf Koſten der ſchon fertigen or-
ganiſchen Subſtanz, die ihm Pflanzen- und Thierwelt darbieten.
Kein einziges lebendiges Geſchöpf, welches wir dem Thierreich bei-
zählen, kann ſich durch unorganiſche Nahrung erhalten. Die wenigen
Beiſpiele, die uns bekannt geworden, die Erde freſſenden Otomaken,
die Thonkugeln verſchlingenden Neger, deren Humboldt gedenkt, die
Beiſpiele, daß Menſchen in Hungersnoth ſogenanntes Bergmehl
gegeſſen, oder, wie Ehrenberg kürzlich bei den Finnländern nachge-
wieſen, die Kieſelpanzer foſſiler Infuſorien verzehrt haben, ſind durch
genaue phyſiologiſche Forſchungen dahin beſchränkt, daß dieſe unor-
ganiſchen Stoffe nicht als Nahrung, ſondern nur als Abſtumpfungs-
mittel für den gereizten Zuſtand des Magens anzuſehen ſind.
Aber gehen wir in eine frühere Periode unſerer Erde zurück, ſo
zeigen ſich Maſſen von lebenden Weſen, die früher unſern Erdball
bevölkerten, von denen wir kaum uns einen Begriff machen können,
und, worauf ich hier gleich aufmerkſam machen will, faſt nur Thiere,
die auf vegetabiliſche Nahrung angewieſen waren. Die großen Heer-
den von Mammuths, die die ausgedehnten Flächen Sibiriens durch-
zogen, die zahlloſen Ueberbleibſel rieſengroßer Ochſen, Schaafe,
Hirſche, Schweine und Tapire laſſen uns auf einen ungeheuren Ver-
brauch von Pflanzenmaſſen in früheren Zeiten der Erde ſchließen.
Und doch iſt Alles, was uns über die Zahl der größern Thiere der
untergegangenen Welt aufklären kann, noch verſchwindend klein gegen
die Maſſen unſcheinbarer Geſchöpfe, die uns aufbewahrt ſind. Die
ganzen, theils noch beſtehenden, theils durch ſpätere Fluthen zerſtör-
ten Bergketten, z. B. von Rügen bis zu den däniſchen Inſeln, die
weißen Kreidefelſen, die England den Namen Albion gaben und die
ſich durch Frankreich bis ins ſüdliche Spanien ziehen, die ſämmtlichen
Kreideberge Griechenlands, denen unter Anderm Creta ſeinen Namen
[60] verdankt, beſtehen nach Ehrenbergs Unterſuchungen nur aus den
Schaalen kleiner Muſcheln und Schnecken, theils zerſtört, theils
wohl erhalten. Ja wenden wir uns an die kleinſten Geſchöpfe, die
die Natur aufweiſt, Weſen, die durch die Menge der Individuen das
erſetzen, was dem Einzelnen an Maſſe abgeht, Thierchen, die ſo klein,
dem unbewaffneten Auge faſt unſichtbar, auch die meiſten von ihnen
ſind, doch einen weſentlichen Zweck im Leben der ganzen Natur er-
füllen, ſo erlahmt die Phantaſie gänzlich an den nur in abſtracten
Zahlen auszuſprechenden Mengen. Großes Aufſehen hat mit Recht
Ehrenbergs Entdeckung der foſſilen Infuſorien gemacht, denn hier
verſagt uns die Anſchauung jedes Bild, um uns die Vorſtellung ſol-
cher Mengen erfaßbar näher zu bringen. In einem Cubikzoll des
Biliner Polirſchiefers befinden ſich in runder Zahl 41,000 Millionen
Thiere, das ganze Lager hat aber 8—10 Quadratmeilen Ausdeh-
nung und eine wechſelnde Mächtigkeit von 2—15 Fuß.
Ueberblicken wir nun dieſe ganze Thierwelt ſpecieller, ſo finden
wir zwei große Abtheilungen, je nachdem ſich die Arten von Pflanzen
oder von Thieren nähren. Die letztern ſind der Artenzahl nach bei
weitem die wenigſten und die einzelnen Arten zeigen eine geringe In-
dividuenzahl. Zahllos ſind dagegen die Arten der Pflanzenfreſſer und
nach wenn auch übertriebenen Berechnungen neuerer Werke ſoll man
allein 560,000 Inſectenarten, von denen der größte Theil zu den Pflan-
zenfreſſern gehört, als auf der Erde lebend und verbreitet annehmen
dürfen. Aber nicht genug, ganz allgemein ſind auch alle Arten der
Pflanzenfreſſer an Individuenzahl den Fleiſchfreſſern überlegen. Alle
großen Pflanzenfreſſer leben geſellig in zahlloſen Heerden und jeder
Controle ſich entziehend ſind beſonders die Schwärme der Inſecten,
die durch ihre Menge und ungeheure Gefräßigkeit das erſetzen, was
ihnen an körperlicher Größe abgeht; allein die deutſche Eiche muß 70
verſchiedene Inſecten ernähren.
Für alle dieſe hungrigen Gäſte mußte die Natur den Tiſch decken,
als ſie die Pflanzen hervorrief, und wollte ſie ihre eine Schöpfung,
die Thierwelt, nicht untergehen laſſen, ſo mußte ſie die Vermehrung
[61] der Pflanzen auf eine ſolche Weiſe ſicher ſtellen, daß ſie, jedem ſchäd-
lichen und ſtörenden Einfluſſe entzogen, einen allgemeinen Mangel
ganz unmöglich machte.
Daß hierbei es nicht auf eine einfache, feſtbeſtimmte Form der
Vermehrung ankommen durfte, wie bei den höheren Thieren, iſt für
ſich klar und zeigt ſich noch um ſo mehr, wenn wir beachten, daß der
Menſch und die meiſten Thiere gerade auf diejenigen Pflanzentheile
bei ihrer Nahrung angewieſen ſind, die wir gewöhnlich für die ein-
zigen Vermehrungsorgane der Pflanzen nehmen, ich meine die Saamen.
Gleichwohl bot ſich dem forſchenden Blicke des Menſchen zuerſt
die Beobachtung dar, daß die meiſten Pflanzen gewiſſe Organe bil-
den, aus denen ſich unter Umſtänden eine neue Pflanze entwickelt,
welche man bei den größeren ſchon fertig angelegt von einigen Hüllen
umſchloſſen, im Saamen, erkennen konnte. Nahe lag hier die Ver-
gleichung mit einem Ei, in welchem der Keim ſchon zum jungen
Thiere, zum Embryo, gezeitigt iſt. Aber man blieb dabei nicht ſtehen.
Schon früh bemerkte man, daß es bei manchen Pflanzenarten zwei
verſchiedene Formen von Individuen gebe, von denen nur die eine
Form den Saamen trägt, wie beim Hanf (Cannabis sativa), der
Dattelpalme (Phoenix dactylifera), den Piſtacien (Pistacia lentis-
cus). Ebenfalls ſehr früh machte man die Beobachtung, daß die
Saamen der einen Pflanze gar nicht zur Ausbildung kommen, wenn
nicht ein Exemplar von der anderen Form in ihrer Nähe wächſt und
gleichzeitig blüht. Schon Theophraſt und Plinius berichten, daß die
Landleute, die ſich mit der Cultur der Datteln beſchäftigen, Blüthen-
zweige des einen Baums zwiſchen die Blüthenzweige des ſaamen-
tragenden aufhängen, um ſo die Entwicklung der Saamen und Früchte
hervorzurufen. Kämpfer erzählt uns, daß bei einem Einfall der Türken
in Baſſora die Einwohner den Feind allein dadurch zur Rückkehr ge-
zwungen hätten, daß ſie ſchnell alle Palmenbäume der einen Art abge-
hauen, ſo daß die andern unfruchtbar geworden ſeyen, wodurch dem
Feinde das einzige Nahrungsmittel entzogen ſey. Noch auffallender
erſcheinen die zuerſt von Micheli an einer italieniſchen Waſſerpflanze
[62] (der Vallisneria spiralis) wahrgenommenen Vorgänge. Die Pflanze
hat zwei verſchiedene Arten von Blüthen; die einen, in welchen ſich die
Saamen entwickeln, ſind lang geſtielt und erheben ſich an die Ober-
fläche des Waſſers, die anderen ſind aber kurz geſtielt und dadurch am
Grunde gefeſſelt. Zu einer beſtimmten Zeit reißen ſich dieſe Letzteren
vom Stiele los, erheben ſich an die Oberfläche und ſchwimmen zu den
andern Blumen hin, die dann erſt fähig werden, ihre Saamen zu
entwickeln.
Die noch durch keine genaue wiſſenſchaftliche Beobachtung in
Schranken gehaltene Phantaſie war gleich bei der Hand, aus dieſen
beiden Blumen Mann und Weib zu machen und den geheimen Zug
der Liebe, der die Menſchenbruſt beſeligt, auch auf die angeführten
Naturerſcheinungen zu übertragen. Kaum war der Gedanke in An-
regung gebracht, ſo bemächtigte ſich die Wiſſenſchaft deſſelben, führte
ihn ins Einzelne für alle Pflanzen aus, und noch heute nennen wir
darnach die Linné'ſche Anordnung der Pflanzen das Sexualſyſtem.
Leider tritt dieſen ſchönen, beſonders von Dichtern oft ſo zart
ausgeſponnenen Träumen die beſonnene Wiſſenſchaft mit ihren neuern
Entdeckungen entgegen und weiſt nach, daß von allen dieſen erträum-
ten Aehnlichkeiten mit den ganz anders organiſirten Thieren durchaus
auch nichts gegründet ſey. Es war insbeſondere der Antheil, den ich
an der Fortbildung der Botanik genommen habe, der dieſes Reſultat
zu Tage legte.
Um aber den wirklichen Vorgang bei der Vermehrung der Ge-
wächſe kurz ſchildern zu können, muß ich an das erinnern, was mir
in einer frühern Vorleſung vorzutragen vergönnt war. Ich hatte
nämlich bemerkt, daß unter Anderm der einzelnen Pflanzenzelle auch
das Vermögen zukomme, in ihrem Innern neue Zellen zu bilden und
ſo gleichſam ſich fortzupflanzen. Die neu entſtandenen Zellen haben
aber immer zugleich die Eigenheit, daß ſie ſich der Zelle, in der ſie
entſtanden, conform ausbilden und anordnen. Dadurch nun iſt bei
allen Pflanzen die Möglichkeit gegeben, daß ſich aus jeder von ihren
Zellen, wenn dieſe in begünſtigende Verhältniſſe verſetzt wird, eine
[63] neue Pflanze entwickeln könne, und darin iſt die Leichtigkeit, mit der
ſich faſt alle Pflanzen vermehren laſſen, begründet.
Man kann hier aber noch ſehr verſchiedene Stufen unterſcheiden
nach den verſchiedenen Verhältniſſen, unter denen die Natur die Ent-
wicklung der einzelnen Zelle zu einer neuen Pflanze möglich macht.
1) In der ganz allgemeinen Form, wie ich das Geſetz eben aus-
geſprochen, kommt die Sache nur höchſt ſelten vor, weil nur in ſehr
ſeltenen Fällen das nothwendige Zuſammentreffen aller begünſtigenden
Verhältniſſe eintritt. Indeß giebt es doch in der That einige ſo auf-
fallende Beiſpiele der Art, daß Blätter einer Pflanze auf der Erde
und ſelbſt im Herbarium ſich plötzlich ganz mit Knoſpen, was eben
ſo viel heißt als mit Anlagen zu neuen Pflanzen, bedeckt haben, daß
man an der Gültigkeit des Geſetzes nicht mehr zweifeln darf.
2) Gar häufig kommen dagegen Beiſpiele vor, in denen eine
etwas beſchränktere Anwendung des Geſetzes Statt findet, indem
nämlich ganz beſtimmte Stellen an Blättern dazu gebracht werden
können, junge Pflänzchen hervorzubringen. Wenn man z. B. ein Blatt
von Bryophyllum calycinum auf feuchte Erde legt, ſo entwickeln ſich
aus allen Einkerbungen des Blattes junge Pflanzen, die nur der
außerordentlichen Entwicklung einzelner beſtimmter Zellen des Blattes
ihr Daſeyn verdanken können (vergl. Taf. III. Fig. 5). Aehnliches
findet an der Bruchfläche abgepflückter Blätter bei den ſchönen ſchar-
lachroth blühenden Echeverien und bei vielen andern aus der Gruppe
der ſogen. Fettpflanzen, ſowie bei den Orangenbäumen Statt. Unſere
Gärtner benutzen dieſe Erſcheinung zur Vermehrung dieſer Gewächſe,
und ſchon im Mittelalter reiſte ein Italiener Mirandola umher und
brüſtete ſich mit der geheimen Kunſt, aus Blättern Bäume zu ziehen.
Bei den prachtvollen Gesnerien darf man nur eine der dicken Adern
des Blattes einknicken und nach acht Tagen hat ſich an der Bruchfläche
ein neues junges Pflänzchen erzeugt.
3) Bei noch andern Pflanzen geſchieht es, daß ſich ganz regel-
mäßig und von ſelbſt ſchon an den Blättern, die noch am Stengel
feſtſitzen, kleine Knöllchen bilden, auf deren Spitze eine Knospe, aus
[64] deren unterm Theile Wurzeln hervortreten um ſo eine neue Pflanze
darzuſtellen. Beſonders findet ſich dieſe Eigenthümlichkeit bei vielen
Farnkräutern und Aroideen, den Verwandten unſerer ſogenannten
Calla (richtiger Richardia) aethiopica. Zwar iſt hier immer noch der
Sitz dieſer Knollen und Knospenbildung ein nicht ganz beſtimmter,
aber doch ſchon in ſo fern ein geſetzmäßiger, als gewiſſe Stellen des
Blattes, namentlich die Winkel der Adernvertheilung, ausſchließlich
die Fähigkeit ſolche Knospen zu bilden beſitzen. Sobald nun ein
ſolches Blatt im natürlichen Laufe der Vegetation abſtirbt, fallen jene
Knollknospen, die allein lebenskräftig bleiben, auf den Boden und
wachſen hier zu ganzen vollſtändigen Pflanzen aus. Hier tritt alſo
auch ſchon eine wirkliche natürliche Fortpflanzung oder Vermehrung
der Individuen ein, worauf es uns zunächſt vorzugsweiſe ankommt.
4) Schon bei weitem mehr an beſtimmte Bedingungen gebunden
iſt das folgende Verhältniß. Eigentlich beſteht die einfache Pflanze
nur aus einem einfachen Stengel und ſeinen Blättern; in dem Win-
kel der Blätter bilden ſich aber ganz regelmäßig beſtimmte Zellen zu
Knospen aus (Taf. III., Fig. 3). Eine Knospe iſt nun im Grunde
weiter nichts als eine Wiederholung der Pflanze, an der ſie ſich bil-
dete. Eine neue Pflanze der Anlage nach beſteht ſie ebenfalls aus
Stengel und Blättern und der Unterſchied iſt nur der, daß der Stengel
der Knospe an ſeinem Grunde aufs Innigſte mit der Mutterpflanze
verwachſen, kein freies Wurzelende hat, wie es die aus einem Saamen
entwickelte Pflanze zeigt. Indeß iſt dieſer Unterſchied ſo groß nicht wie
er auf den erſten Anblick ſcheint. Jede höher organiſirte Pflanze beſitzt
nämlich die Fähigkeit, unter dem begünſtigenden Einfluß der Feuch-
tigkeit aus ihrem Stengel hervor Nebenwurzeln zu treiben und ſehr
häufig muß eine Pflanze, auch wenn ſie aus dem Saamen gezogen
wird, ſich ganz mit ſolchen Nebenwurzeln begnügen, da es in der
Natur vieler Pflanzen z. B. der Gräſer liegt, daß ihre eigentliche
Wurzel, wenn ſie ſchon der Anlage nach vorhanden iſt, doch niemals
zur Entwicklung kommt.
Wir ſind nun freilich gewohnt, uns die Sache ſo zu denken,
[65] als ob ſich die Knospen immer an der Pflanze ſelbſt und mit ihr
in Verbindung zu Zweigen und Äſten entwickeln müßten und wir
ſehen ſie denn auch im gewöhnlichen Leben als Theile einer Pflanze
und nicht als ſelbſtſtändige Pflanzen an, was ſie doch in der
That ſind, obwohl ſie, gleichſam wie Kinder die noch im Vater-
hauſe blieben, in der engſten Verbindung mit der ſie erzeugt
habenden Pflanze verharren. Daß ſie aber wenigſtens der Mög-
lichkeit nach vollkommen ſelbſtſtändige Pflanzen ſind, zeigt ein Ver-
ſuch der bei der nöthigen Sorgfalt häufig gelingt, nämlich das
Abbrechen und Ausſäen der Knospen unſerer Waldbäume. Ebenſo
beruhen hierauf die bekannten Gartenoperationen des Pfropfens und
Oculirens und das Ziehen von Abſenkern und Stecklingen unterſchei-
det ſich von dem erwähnten Ausſäen der Knospen nur dadurch, daß
man dieſelben erſt an der Mutterpflanze bis zu einer gewiſſen Reife
der Entwicklung kommen läßt, ehe man ſie vom Stamme trennt.
Alles beruht hier auf der Leichtigkeit mit der dieſe Knospen-Pflanzen
Nebenwurzeln treiben (ſich bewurzeln) ſo bald ſie mit feuchter Erde
in Berührung kommen.
Aber weit entfernt, daß nur der Menſch allein hier eine ſolche
künſtliche Vermehrung der Pflanzen erzwänge, ſo benutzt vielmehr
die Natur außerordentlich häufig dieſes Mittel um die Vervielfältigung
gewiſſer Pflanzen ſelbſt in ungemeſſener Menge hervorzurufen. Selten
iſt hier der Vorgang dem künſtlichen Ausſäen der Knospen ähnlich
indem die Pflanze zu beſtimmter Zeit die gebildeten Knospen freiwillig
abſtößt, wie das zum Beiſpiel bei der Feuerlilie unſerer Gärten mit
den kleinen zwiebelähnlichen Knospen, die in den Winkeln der oberen
Blätter ſich zeigen, geſchieht. Gewöhnlicher iſt der Vorgang folgen-
der: die Knospen an einer Pflanze, welche ſich dem Erdboden nahe
gebildet haben, wachſen aus, alſo zu einem Zweige mit Blättern;
der Zweig ſelbſt aber wird ganz lang, dünn und zart, die Blätter
erſcheinen verkümmert als kleine Schuppen, in ihren Winkeln da-
gegen entwickeln ſich kräftige Knospen, welche ſich in demſelben oder
doch im nächſten Jahre bewurzeln und dadurch daß der dünne ſie mit
Schleiden, Pflanze. 5
[66] der Mutterpflanze verbindende Zweig abſtirbt und verweſt, zu freien
ſelbſtſtändigen Pflanzen werden. Auf dieſe Weiſe überzieht unſere
Erdbeere (Taf. III. Fig. 4.) in kurzer Zeit einen ganzen nicht ange-
bauten Garten; in dieſer Weiſe faſt allein vermehrt ſich die Kartoffel,
denn dieſe nützliche Knolle iſt nichts als eine in der Erde gebildete
große fleiſchige Knospe; in ähnlicher Weiſe endlich bedeckt die kleine
ſelten blühende und Saamen tragende Waſſerlinſe (Entenflott) im
Frühjahr in kurzer Zeit unſere Gräben und Teiche mit Tauſenden
von Individuen. — Zahlreiche ähnliche Beiſpiele ließen ſich noch an-
führen, es mögen indeſſen dieſe als die nächſtliegenden hier genügen. —
In merkwürdiger Beziehung ſteht aber dieſe Fortpflanzung durch
Knospen zu der weiter unten anzuführenden Vermehrung durch
Saamen, indem man die durchſchnittlich gültige Regel aufſtellen
kann, daß ſich eine Pflanze um ſo mehr durch Knospen vervielfältigt
je weniger ſie reifen Saamen entwickeln kann und umgekehrt; die
Natur hat hier gleichſam dafür geſorgt, daß unter allen Umſtänden
die Pflanzen erhalten werden ſollen.
5. Alle die bis jetzt angeführten Vermehrungsweiſen der Pflan-
zen kann man als die unregelmäßige Fortpflanzung zuſammenfaſſen und
ihnen die regelmäßige Fortpflanzung gegenüberſtellen, welche im We-
ſentlichen folgende Erſcheinungen zeigt. Jede Pflanze bildet nämlich in
ihrem Innern eine beſtimmte Menge einzelner loſer, mit einander nicht
verbundener Zellen, die zu einer gewiſſen Zeit ſich von der Pflanze frei-
willig trennen. Eigen iſt, daß bei den Pflanzen, die wirkliche Blätter
haben, ſich dieſe Zellen nur im Innern der Blätter ausbilden, wobei
aber die Blätter oft eine ſehr abweichende Geſtalt annehmen, wie z. B.
die Staubfäden. Auch iſt noch ein anderes Verhältniß merkwürdig.
Nur bei den niedrigſten ſowie bei den ganz unter Waſſer blühenden
Pflanzen iſt die Fortpflanzungszelle nackt (Taf. III. Fig. 1.), bei
allen Andern iſt ſie von einer ganz eigenthümlichen, chemiſch noch
nicht erforſchten, meiſt gelb ausſehenden, äußerſt ſchwer zerſtörbaren
Subſtanz überzogen. Dieſe Subſtanz nimmt oft ganz wunderbare
Formen an. Oft gleichen ſie kleinen Wärzchen, oft Stacheln, oder ſie
[67] bilden kleine vorſpringende Leiſten, Bogengänge, Feſtungsmauern
mit Thürmchen und ſo weiter. Aber auch nicht die leiſeſte Andeutung
hat uns bis jetzt die Natur über den möglichen Zweck dieſer Formenſpiele
gegeben. So zierlich ſie ſind, ſo völlig unnütz ſcheinen ſie zu ſeyn.
Fritſche in Petersburg hat in einem eignen Werke eine große Menge
der niedlichſten Formen abgebildet. Jene Zellen ſind nun vorzugs-
weiſe zur Vermehrung beſtimmt, indem ſich aus jeder Einzelnen eine
neue Pflanze entwickelt. Es kommt bei dieſer Entwicklung aber noch
eine weſentliche Verſchiedenheit vor, die man ſchon früh bemerkte und
an der man ſo feſthielt, daß man darüber die höhere Uebereinſtim-
mung ganz überſah. Es finden nämlich folgende beiden Entwick-
lungsweiſen Statt:
A. In dem einen Falle werden die zur Vermehrung beſtimmten
Zellen gleich dorthin auf den Boden oder in das Waſſer verſtreut,
wo die neue Pflanze wachſen ſoll. Entweder bildet ſich dann die ganze
Zelle allmälig zu einer neuen Pflanze um, indem in ihr neue Zellen
entſtehen und an ihre Stelle treten, in dieſen abermals und ſo fort,
wie dies bei den Algen (Taf. III. Fig. 1.), Pilzen, Flechten und
einem Theil der Lebermooſe der Fall iſt, oder die Zelle dehnt ſich in
einen länglichen Schlauch aus und nur das Ende dieſes Schlauches
füllt ſich mit Zellen die allmälig zur neuen Pflanze heranwachſen,
während der übrige Theil der Zelle allmälig abſtirbt. Dies iſt denn
der Fall bei den übrigen Lebermooſen, den Laubmooſen, Farn-
kräutern, Bärlapparten und Schachthalmen. Ein Beiſpiel dieſer
letzten Entwicklungsweiſe bieten uns in jedem Treibhauſe die
Farnkräuter, welche hier faſt immer keimend zu finden ſind. (Vergl.
Taf. III. Fig. 2.)
Dieſe ſämmtlichen hier genannten Pflanzen bezeichnete Linné
als Kryptogamen, oder verborgen blühende, weil er fälſchlich voraus-
ſetzte daß ihnen das im folgenden zu erwähnende zweite Organ der
Fortpflanzung „die Saamenknospe“ keineswegs fehle, ſondern nur
ſo klein und verſteckt ſey, daß man es bisher nicht habe auffinden
können. In der That iſt es aber gar nicht oder nur in unweſentlichen
5*
[68] Andeutungen vorhanden. Bei allen dieſen Kryptogamen nennt man
die Fortpflanzungszellen Sporen oder Keimkörner.
B. Anders aber verhält ſich die Sache bei denjenigen Pflanzen, die
man mit Linné Phanerogamen oder offenbar blühende nennt. Die Ver-
mehrungszellen, die hier Pollen oder Blüthenſtaub genannt wer-
den, bilden ſich in eigenthümlich veränderten Blättern, die Staub-
fäden heißen. Neben dieſen Staubfäden finden ſich aber in den Blüthen
auf derſelben Pflanze oder auf verſchiedenen Pflanzen noch andere
Organe. Dieſe beſtehen im Weſentlichen aus einem hohlen, meiſt
birnförmigen Körper, der nach oben eine kleine Oeffnung hat. Man
nennt ihn Fruchtknoten und die Oeffnung Narbe. In der Höhle be-
finden ſich kleine aus Zellgewebe beſtehende Knöpfchen, die Saamen-
knospen, denen man früher den ſehr unpaſſenden Namen Eierchen
gegeben hatte. In jeder Saamenknospe zeigt ſich eine außerordentlich
große Zelle, die man den Embryoſack (Keimſäckchen) nennt. Zur
Zeit der Blüthe nun fällt der Blüthenſtaub auf die Narbe, und hier
fängt die Entwicklung der Fortpflanzungszellen an. Jede von ihnen
dehnt ſich lang und fadenförmig aus, gerade wie bei den Kryptogamen,
und dringt dabei in dieſer Form erſt in die Höhlung des Fruchtknotens
und dann in eine der Saamenknospen und zwar bis in den Embryoſack
hinein. Das eingedrungene Ende nun füllt ſich mit Zellen und dieſe ent-
wickeln ſich dann zu einem vollſtändigen, obwohl noch einfachen und
kleinen Pflänzchen, dem ſogenannten Embryo oder Keim. (Vergl.
Taf. III. Fig. 6—9.) Gleichzeitig mit der Ausbildung der Pollen-
zelle zur Keimpflanze entwickelt ſich auch die Saamenknospe zum
Saamen, der Fruchtknoten zur Frucht. Nun tritt plötzlich ein Still-
ſtand im Wachsthum ein und der Saame kann oft lange in dieſem
Zuſtande von Scheintod aufbewahrt werden. So wie aber begünſti-
gende Einflüſſe von Außen hinzutreten, beginnt das Leben von Neuem
und es zeigt ſich die weitere Entfaltung der Pflanze, die wir gewöhn-
lich Keimen nennen. (Taf. III. Fig. 10—12.) Wie lange dieſe
Lebenskraft im Saamen ſchlummern kann, geht daraus hervor, daß
der verſtorbene Graf von Sternberg (wie ſpäter ein Engländer)
[69] aus Weizenkörnern, die in einem Mumienſarge gefunden waren,
die alſo an 3000 Jahre geruht hatten, ſehr geſunde Weizen-
pflanzen erzog und dieſe der Verſammlung der Naturforſcher in
Freiburg vorlegte.
Bei den „Kryptogamen“ genannten Pflanzen iſt es von ſelbſt klar,
daß die Vermehrung der Pflanzen vollſtändig geſichert iſt, indem die
Sporen, die noch dazu in ungeheurer Anzahl vorhanden ſind, ſogleich
auf den Boden fallen, in welchem ſie ſich vollſtändig entwickeln ſollen.
Bei den Phanerogamen iſt die Sache indeß ſcheinbar nicht ſo ganz
ſicher. Freilich ſtehen in ſehr vielen Blüthen der Fruchtknoten und der
Staubfaden ſo nahe beiſammen geſellt, daß der Blüthenſtaub den
Ort, an dem er ſeine Entwickelung beginnen ſoll, die Narbe, ſchein-
bar nicht verfehlen kann. Dieſe räumliche Beziehung genügt indeß
allein noch nicht, es müſſen auch beide Theile, Staubfäden und Frucht-
knoten oder richtiger Blüthenſtaub und Narbe, gleichzeitig auf gleicher
Stufe phyſiologiſcher Entwicklung ſtehen; wenn der Staubbeutel
aufſpringt, wenn der Pollen ausfällt, muß die Narbe auch bereit
ſeyn ihn aufzufangen und ſeine Entwicklung hervorzurufen. Dieſes
findet nun aber in gar vielen Blüthen nicht Statt, vielleicht bei Weitem
öfter als man gewöhnlich glaubt geht der Blüthenſtaub für die Narbe
derſelben Blume verloren weil ſie noch nicht weit genug ausgebildet
iſt oder im Gegentheil ſchon im Abſterben begriffen iſt, wenn der
Augenblick der Ausſtreuung des Pollens herannaht. Noch ſchwieriger
wird die Sache bei einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Pflanzen,
bei denen jede Blüthe entweder nur Staubfäden oder nur Fruchtknoten
enthält und wo dieſe beiden Blüthenarten an derſelben Pflanze, oder
gar auf verſchiedenen Pflanzen räumlich von einander getrennt ſind,
die Linné als einhäuſige (Monöciſten) und Zweihäufige (Diöciſten)
bezeichnete. Ja in manchen Pflanzengruppen z. B. bei den Aſclepia-
deen und Orchideen ſcheint ſich die Natur ordentlich Mühe gegeben
zu haben durch den verwickelten und abweichenden Bau der Organe
jedes natürliche Zuſammenkommen des Blüthenſtaubs und der Narbe
geradezu unmöglich zu machen. Hier treten nun auf wunderbare Weiſe
[70] der Pflanzenwelt ganz fremde Naturkräfte ins Mittel und greifen,
indem ſie ihre eignen unabhängigen Naturzwecke erfüllen, ganz bei-
läufig auf eine ſo weſentliche Weiſe in das Leben der Pflanzenwelt
ein, daß man glauben ſollte dies ſey ihre einzige Beſtimmung. Denn
ſind es Landpflanzen, ſo treibt der Wind die ungeheure Menge des
Blüthenſtaubs weit umher und die Luft iſt oft ſo ſehr damit erfüllt,
daß ein plötzlicher Regen den Blüthenſtaub in ſichtbarer Menge als
ſogenannten Schwefelregen aus der Luft niederſchlägt. Bei ſo großem
Ueberfluß erreichen dann natürlich auch Körner genug den Ort ihrer
Beſtimmung. Sind es dagegen Waſſerpflanzen, ſo ſchwimmt der
Fruchtknoten in einer Weiſe, daß die leichten Wellen ihn beſpülen,
und der im Waſſer umhertreibende Pollen wird ſo an ſeinen Ort
gebracht. Bei den meiſten Pflanzen aber ſind die Inſecten, die ihre
Nahrung in dem ſüßen Safte der Blüthen ſuchen, zugleich gezwungen,
den Transport des Blüthenſtaubs an den Ort ſeiner Beſtimmung zu
übernehmen. Beſonders in den beiden großen Pflanzenfamilien, den
Aſclepiadeen, denen die ſyriſche Seidenpflanze angehört, und den
Orchideen, die mit ihren prachtvollen, bunten Schmetterlingen und
wunderlich gebauten Inſecten gleichenden Blüthen die feuchtwarmen
Schatten der Tropenwälder ſchmücken — bei dieſen beiden Pflanzen-
gruppen beſonders zeigt ſich das entſchiedene Eingreifen der belebten
Geſchöpfe zur Vermehrung der Pflanzen. Bei ihnen iſt der Blüthen-
ſtaub jedes Staubbeutels durch einen Vogelleim ähnlichen Stoff zu
Einer Maſſe zuſammengeklebt und hängt ſich den Nectar ſuchenden
Inſecten ſo feſt an, daß ſie ihn nicht abwerfen können. Die Honig-
behälter ſind in einer Weiſe in den Blumen angebracht, daß das
Inſect, um zu denſelben zu gelangen, nothwendig eng an der Narbe
vorbei ſtreifen muß, und ſo wird der Pollen an ſeinen Ort gebracht.
Oft ſieht man auf der Seidenpflanze Fliegen umherkriechen die eine
große Anzahl ſolcher keulenförmigen Pollenmaſſen an den Beinen
hängen haben und in einigen Gegenden kennen die Bienenväter eine
eigne Krankheit ihrer fleißigen Thierchen, „die Keulenkrankheit“ die in
nichts Anderem beſteht als daß ſich ſo viele Blüthenſtaubmaſſen der Orchi-
[71] deen an die Stirne der Bienen feſtgeheftet haben, daß ihnen das Fliegen
unmöglich wird und ſie darüber zu Grunde gehen. Ueber den Antheil, den
die Inſecten an der Fortpflanzung der Vegetabilien nehmen, haben wir
am Ende des vorigen Jahrhunderts ein weitläufiges Werk von einem
Rector Chriſtian Conrad Sprengel erhalten, der in ſeinem frommen
Beobachtungseifer den Inſecten faſt die ganze Gärtnerei der Natur über-
tragen wollte. Leicht mag es ſeyn, mit einem ironiſchen Lächeln dem
kindlichen Sinn des gläubigen Naturfreundes im Einzelnen ſeine
Beſchränktheit nachzuweiſen, ſchwer bleibt es, den richtigen Standpunkt
für die Beurtheilung dieſer ſcheinbar wunderbarſten Erſcheinung in
dem Leben der Natur zu gewinnen. Freilich iſt es ein ſehr natürlicher
Zuſammenhang, wenn in einer Pflanze neben dem Blüthenſtaub auch
eine klebende Subſtanz gebildet wird; es iſt leicht erklärt, daß dadurch
der Blüthenſtaub nothwendig an der Biene hängen bleiben muß, es
iſt allerdings das Einfachſte und Natürlichſte anzunehmen, daß ſie
beim Weiterſchwärmen auch dieſen Blüthenſtaub zufällig einmal an
der rechten Stelle abſtreifen wird, — daß ein Bächlein fließend in
kleinen Wellen ſpielt, daß bei dem durch den heißen Sand der Sahara
aufgehobenen Gleichgewicht der Luft der Wind den leichten Pollen
der Dattelpalme umherweht, iſt freilich ein natürliches Ereigniß und
beruht auf ausnahmsloſen Naturgeſetzen. Und dennoch, wenn wir
die Phänomene im Großen, im Zuſammenhange auffaſſen, ſo können
wir die Fragen, die ſich uns aufdrängen, weder zurückweiſen, noch
auch ſogleich beantworten. Was hat denn der Wind mit der Dattel-
ernte von Biledulgerid und mit dem Lebensunterhalt von Millionen
Menſchen zu ſchaffen? Was weiß die ſeelenloſe Welle, welche die
Cocusnuß an die fernen unbewohnten Inſeln trägt, wo ſie am Rande
keimt, davon, daß dadurch der Ausbreitung des Menſchengeſchlechtes
der Weg gebahnt wird? Was geht es die Gallwespe an, daß ſie
durch ihre Geſchäftigkeit den Feigenhandel Smyrnas möglich macht
und Tauſenden von Menſchen Nahrung und Unterhalt gewährt; oder
begreift der Käfer, der durch ſein Naſchen die Vermehrung der Kamt-
ſchatkiſchen Lilie (Lilium camschatioum) erleichtert, daß ihre Zwiebeln
[72] in folgenden harten Wintern die ganze Bevölkerung Grönlands vor
dem Hungertode ſchützen werden? Wenn auch alles Dieſes im
Einzelnen auf weſenloſen Naturgeſetzen beruht, woher dies wunder-
bare Ineinandergreifen und Zuſammenſpielen der untergeordneten
Naturkräfte, um Wirkungen hervorzubringen, die ſo tief in die Ge-
ſchichte der Menſchheit eingreifen? Wir durchſchauen wohl den Me-
chanismus der Marionetten, aber wer hält die Fäden in ſeiner Hand
und leitet alle Bewegungen zu Einem Zweck? Hier iſt die Aufgabe
des Naturforſchers zu Ende und ſtatt aller Antwort weiſt er über die
Raumwelt der todten Maſſen hinaus dahin, wo wir in heiliger
Ahnung den Lenker der Welten ſuchen.
[[73]]
Erklärung der Abbildungen.
- Taf. III. Die meiſten Gegenſtände ſind auf dieſer Tafel ſtark vergrößert dar-
geſtellt; wo dies nicht der Fall iſt, wurde es durch die Buchſtaben „n. G.“ (natür-
liche Größe) ausdrücklich bemerkt. - Fig. 1. Entwicklung einer Fortpflanzungszelle von einem Waſſerfaden (einer
Conferve), welcher ſich häufig als grüner fadenförmiger Schleim in unſern ſtehenden
Gewäſſern findet. a. Die Spore (Fortpflanzungszelle). b. Erſte Stufe der Ent-
wicklung. Die Spore hat einen dünnen ſchlauchförmigen Fortſatz getrieben. c. Zweite
Entwicklungsſtufe. Der Fortſatz hat ſich verlängert und am entgegengeſetzten Ende
der Spore iſt eine neue Zelle entſtanden. d. Vierte Stufe. Die junge Pflanze hat
ſich mit dem Fortſatz an ein Stückchen Holz befeſtigt und wächſt auf der entgegen-
geſetzten Seite allmälig zum vollſtändigen Faden aus, indem ſich daſelbſt immer
mehr neue Zellen bilden. - Fig. 2. Entwicklung einer Spore eines Farnkrautes. a. Die Spore, welche
hier nicht aus der Fortpflanzungszelle allein beſteht, ſondern noch mit einem eigen-
thümlichen dunkeln Ueberzug bedeckt iſt. b. Erſte Stufe. Die Zelle hat den Ueber-
zug durchbrochen indem ſie ſich ſchlauchförmig verlängert. c. Zweite Stufe. Im
hervorgeſchobenen Ende des Schlauches haben ſich mehrere Zellen gebildet und ſchon
grün gefärbt, die urſprüngliche Zelle bleibt aber immer in dem dunkeln Ueberzuge
ſtecken. Eine Zelle hat einen kleinen Fortſatz getrieben. d. Dritte Stufe. Die grünen
Zellen haben ſich ſo weit vermehrt, daß ſie ein kleines rundliches Blättchen, den
Vorkeim, darſtellen. e. Vierte Stufe (n. G.). Der Vorkeim iſt zweilappig oder herz-
förmig geworden. Die Sporenzelle mit ihrem Ueberzuge und dem einen Ende des
Schlauches beginnt abzuſterben. f. Fünfte Stufe (n. G.). In der Kerbe des größer
gewordenen Vorkeims hat ſich ein Knötchen gebildet, welches nach Unten in eine
Wurzel auswächſt, nach Oben das erſte Blatt hervorzutreiben beginnt. g. Sechſte
Stufe (n. G.). Der Vorkeim iſt in ſeiner höchſten Ausbildung und beginnt von
hier an abzuſterben. Das erſte Blatt der Pflanze iſt ganz entwickelt, das zweite im
Beginnen, die Wurzel veräſtelt ſich. h. Siebente Stufe (n. G.). Der Vorkeim iſt
völlig abgeſtorben und zerſtört. Die junge Pflanze vollkommen gebildet, entwickelt
ſich jetzt ohne beſondere Erſcheinungen weiter. - Fig. 3. (n. G.). Ein Zweig mit einem Blatte, in deſſen Achſel eine Knospe,
d. h. eine mit der Hauptpflanze verbundene neue Pflanze ſich gebildet hat. - Fig. 4. Eine Pflanze der Gartenerdbeere (⅙ der natürlichen Größe). Die
Hauptpflanze a. hat aus den Achſeln ihrer Blätter dünne Zweige getrieben, welche ſtatt
mit ausgebildeten Blättern nur mit ſchuppenförmigen Blattbildungen ſehr weitläufig
beſetzt ſind; man nennt ſie Ausläufer. Aus der Achſel jedes dieſer ſchuppenförmigen
Blätter entwickelt ſich eine Knospe, welche ſogleich nach Unten Wurzel ſchlägt und ſich
zu einer vollſtändigen Erdbeerpflanze c. entwickelt. Im folgenden Jahre ſtirbt der
Verbindungszweig mit der Mutterpflanze b. ab und dieſe iſt dann von einer großen
Anzahl junger Nachkommen umgeben.
- Fig. 5. Ein Blatt von Bryophyllum calycinum (n. G.), welches auf feuchte
Erde gelegt (feuchte Luft hat denſelben Einfluß) nach und nach in allen Einkerbun-
gen ſeines Randes kleine Pflänzchen entwickelt. - Fig. 6. Ein Längsdurchſchnitt durch den Stempel des Gartenſtiefmütterchens
(Viola tricolor). In der kopfförmigen hohlen Narbe a. liegen eine Menge Fort-
pflanzungszellen (Blüthenſtaub), aus den aufgeſprungenen Staubbeuteln hierher
verſetzt. Dieſelben haben ſich ſämmtlich in lange Schläuche ausgedehnt, welche durch
den Canal des Staubwegs b. herab bis in den Fruchtknoten c. kriechen und hier
theilweiſe in die zahlreich vorhandenen Saamenknospen d. eintreten. — - Fig. 7. Eine einzelne Saamenknospe derſelben Pflanze durch einen Längs-
ſchnitt geöffnet, nebſt dem ganzen Schlauch der Fortpflanzungszelle. Dieſe a. iſt
wie beim Farnkraut von einer dunkeln Umhüllungsſubſtanz eingeſchloſſen, welche der
Schlauch b. durchbrochen hat. Das freie Ende des Schlauches an der Saamen-
knospe c. angelangt, geht durch die verſchiedenen Hüllen derſelben durch, bis es die
innere Höhle erreicht, hier ſchwillt es etwas an, füllt ſich mit grünen Zellen, die
dann allmälig ſich zur Keimpflanze umbilden, während der übrige Theil nebſt der
Fortpflanzungszelle nach und nach abſtirbt und zerſtört wird. Die große und weſent-
liche Aehnlichkeit dieſes Vorgangs mit dem beim Farnkraut beſchriebenen iſt nicht
zu verkennen. — - Fig. 8. Das Ende des Schlauches in einer ſpätern Periode aus der Saamen-
knospe herausgenommen. Der Schlauch c. iſt im Abſterben begriffen. Der kleine
rundliche Körper der entſtehenden Keimpflanze treibt rechts und links, zwei kleinen
Höckern ähnlich, die erſten Blätter hervor a., nach Oben endet er in der Anlage zum
Stengel, das entgegengeſetzte Ende wird zur Wurzel. - Fig. 9. Die faſt vollkommen ausgebildete Keimpflanze aus der zum Saamen
umgebildeten Saamenknospe herausgenommen. Die beiden erſten Blätter (die Keim-
blätter, oder Saamenlappen genannt) ſind vollſtändig entwickelt (a. b.) und be-
decken das zwiſchen ihnen befindliche Knöspchen, die Anlage zum ſpätern Stengel;
auf der andern Seite iſt die Wurzel c. ebenfalls vollſtändig ausgebildet. Nun tritt ein
Zeitpunct ein, in welchem alle Vegetationskraft völlig erſchöpft zu ſeyn ſcheint. Der
reife Saame wird von der Pflanze abgeworfen und liegt längere oder kürzere Zeit im
Boden, ohne daß die in ihm befindliche Keimpflanze auch nur eine Spur fortdauern-
den Lebens zeigte. Endlich zur beſtimmten Zeit beginnt die Keimung, wofür die
Leinpflanze als Beiſpiel dienen mag. - Fig. 10. Längsdurchſchnitt durch ein Leinſaamenkorn. Man erkennt von einer
doppelten Hülle umgeben die der Länge nach durchſchnittene Keimpflanze, nach Unten
in ein Würzelchen auslaufend, nach Oben in ein Knöspchen endend, welches von den
beiden großen Keimblättern zwiſchen ſich genommen wird. - Fig. 11. Ein keimender Leinſaamen (n. G.). Das Pflänzchen hat die Hüllen
geſprengt und iſt im Begriff die Schaale abzuſtreifen. - Fig. 12. Eine etwas ſpätere Stufe (n. G.). Das junge Pflänzchen iſt völlig
ſelbſtſtändig geworden und das Knöspchen fängt an ſich zu Stengel und Blättern
zu entwickeln.
[[75]]
Vierte Vorlesung.
Die Morphologie der Pflanzen.
Und ſo deutet der Chor auf ein geheimes Geſetz.’
(Göthe.)
[[76]][[77]]
Vor mehreren Jahren ſtand ich in einem ſehr freundſchaftlichen
Verhältniß zu dem dirigirenden Arzte an einer großen Irrenanſtalt
und ich pflegte die mir deshalb geſtattete Freiheit, das Haus und
ſeine Bewohner nach Gefallen zu beſuchen, fleißig zu benutzen. Eines
Morgens trat ich in das Zimmer eines Wahnſinnigen, deſſen beſtän-
dig wechſelnde ſeltſame Vorſtellungsſpiele mich beſonders intereſſirten.
Ich fand ihn am Ofen niedergekauert, mit geſpannter Aufmerkſamkeit
einen Tiegel beobachtend deſſen Inhalt er ſorglich umrührte. Bei dem
Geräuſch meines Eintrittes drehte er ſich um und flüſterte mit wich-
tiger Miene: „Bſt, Bſt, ſtören Sie mir meine kleinen Schweine
nicht, ſie ſind gleich fertig.“ Voll Neugier zu wiſſen, wohin ſich nun
wieder ſein abnormer Gedankengang verirrt habe, trat ich näher.
„Sie ſehen“, ſagte er leiſe, mit dem geheimnißvollen Ausdruck eines
Alchymiſten, „ich habe hier eine Rothwurſt, Schweineknöchelchen und
Borſten im Tiegel, hier iſt Alles was nöthig iſt, es fehlt nur noch die
Lebenswärme und das junge Schwein iſt wieder fertig hergeſtellt.“ —
So lächerlich wie mir damals dieſer Einfall vorkam, ſo ernſt bin ich
in meinem ſpäteren Leben wieder an dieſen Wahnſinnigen erinnert
worden, wenn ich über gewiſſe Irrwege der Wiſſenſchaft nachdachte,
und wenn die bloße Form des Irrthums hier das Entſcheidende wäre,
ſo müßten ſelbſt manche ausgezeichnete Naturforſcher unſerer Tage
die enge Zelle meines unglücklichen Mahlberg theilen. —
Der Irrthum allgemein ausgeſprochen lautet nämlich ſo, daß
eine beſtimmte Miſchung beſtimmter Stoffe ſchon ein vollkommner
individualiſirter Naturkörper ſey, während doch zweierlei zuſammen-
[78] kommen muß, nämlich Stoff und Form oder Geſtalt, welche beide
gleich nothwendig ſind, um insbeſondere den Begriff eines Organis-
mus zu vollenden. Die beſtimmte räumliche Abgrenzung der Materie
iſt gerade das, was uns als Hauptmerkmal eines individualiſirten
Naturkörpers gilt. Die uns umgebende körperliche Welt zeigt ſich uns,
wie wir uns auch ſtellen mögen, immer von drei ganz verſchiedenen
Seiten und jede derſelben giebt uns Gelegenheit zur Entwicklung eines
eigenthümlichen wiſſenſchaftlichen Syſtems. Es liegt weit über die
Vorausſicht aller Menſchen hinaus ob es jemals gelingen werde,
zwei dieſer Syſteme oder gar alle in eine gemeinſame von einem
Princip auslaufende wiſſenſchaftliche Weltanſchauung zu umfaſſen. —
Am Einfachſten und Verſtändlichſten laſſen ſich dieſe drei Syſteme,
welche die Hauptabtheilungen unſerer geſammten Naturwiſſenſchaft
ſind, an der Betrachtung unſeres Sonnenſyſtems nachweiſen. Wir
finden in demſelben zuerſt große Körper, die aus Stoffen ver-
ſchiedener Art gebildet ſind. Dieſe Stoffe, ihre Eigenſchaften, die
Maſſe, die dem ganzen Syſtem zu Grunde liegt, iſt die erſte Aufgabe
für unſere Unterſuchung, daraus bildet ſich die Lehre von den Stoffen
oder die Hylologie. Wir bemerken aber auch eben ſo früh, daß dieſe
ſchweren Maſſen des Stofflichen niemals in Ruhe ſind, daß raſtloſe
Veränderung ihrer gegenſeitigen Stellungen ſie durch den Raum treibt.
Dieſe Bewegungen und ihre Geſetzmäßigkeit bilden die zweite Auf-
gabe für unſere Forſchung, die Bewegungslehre oder Phoronomie.
Aber mit beiden haben wir die Kenntniß des Sonnenſyſtems noch
nicht erſchöpft. Weder aus den Eigenſchaften des Stoffes, noch aus
den Geſetzen der Bewegung läßt ſich ableiten weshalb gerade 14
Planeten die Sonne umkreiſen, weshalb nur Erde, Jupiter, Saturn
und Uranus Trabanten, weshalb nur der Saturn einen Ring habe,
weshalb die Ebenen der Planetenbahn gerade dieſe und keine andere
Neigung gegen einander haben u. ſ. w. Kurz es giebt noch beſtimmte,
feſtſtehende, gewordene, räumliche Verhältniſſe, welche nicht aus
dem Geſetze der Bewegung folgen, welche nicht als Eigenſchaft der
Materie, des Stoffes überhaupt betrachtet werden können, Verhält-
[79] niſſe, die die Form ausmachen unter der uns die bewegten Maſſen
erſcheinen, mit einem Worte, eine beſtimmte Geſtalt dieſes unſeres
Sonnenſyſtems, welche als zufällig in ſo fern erſcheint, als daneben
noch unzählige andere Geſtalten möglich und vielleicht auch für andere
Sonnenmittelpuncte wirklich ſind. Dieſe letzteren Betrachtungen geben
uns die Lehre von der Geſtaltung oder die Morphologie. — Gehen
wir nun vom Sonnenſyſtem zu den Verhältniſſen unſerer Erde ſelbſt
über ſo wird die Hylologie zur Chemie, die Phoronomie zur Phy-
ſik, oder auf organiſche Körper angewendet zur Phyſiologie und die
Morphologie liefert die characteriſtiſchen Lehren für Mineralogie,
Zoologie und Botanik. —
Die einfachſte Pflanze, welche wir unterſuchen, zeigt uns ſo gut
wie jenes Sonnenſyſtem im Großen eine Reihe von Thatſachen, welche
ſich vollſtändig unter jene drei Hauptabtheilungen der Naturwiſſen-
ſchaft vertheilen laſſen. — Die Pflanze, chemiſch zerlegt, ergiebt ſich
als zuſammengeſetzt aus größern oder geringern Mengen verſchiedener
Stoffe, deren Eigenſchaften, ſo weit wir ſie bereits kennen, aufs Engſte
mit der Eigenthümlichkeit der ganzen Pflanze, verbunden ſind (Stoff-
lehre). Aber bei genauerer Aufmerkſamkeit finden wir bald, daß dieſe
Stoffe niemals in Ruhe ſind, daß Stoffe einerſeits in die Pflanze
eintreten, andererſeits dieſelbe verlaſſen, in der Pflanze ſelbſt aber
in einer beſtändigen Bewegung von einem Ort zum andern, in beſtän-
diger Verbindung und Trennung begriffen ſind (Bewegungslehre oder
Phyſiologie der Pflanze). Haben wir damit nun das ganze Weſen
der Pflanze erſchöpft? Keineswegs, und zwar ſo fern ſind wir davon,
daß es denkbar wäre, alle jene Stoffe, alle jene Bewegungen ſoweit
ſie auf chemiſche Verbindungen und Trennungen abzielen in den
Retorten und Tiegeln unſerer Laboratorien nachzumachen, ohne daß
dabei eine Erſcheinung hervorträte, welche auch nur im Allerentfern-
teſten an eine Pflanze erinnerte. Aus Zucker, Gummi oder Pflanzen-
gallerte bildet ſich Zellſtoff, aber Zellſtoff iſt noch keine Zelle. Erſt
die Zellenbildung, alſo die Geſtaltung, macht den Stoff zum pflanz-
lichen Organismus. Aus gleichartigen Zellen ſind ſämmtliche Pflanzen
[80] zuſammengeſetzt, aber ſie unterſcheiden ſich untereinander als ver-
ſchiedene Pflanzen eben durch den Umriß, die Zeichnung, nach welcher
die Zellen aneinander gefügt ſind. Ob im Weſen der Sache begrün-
det, wiſſen wir zwar nicht, aber für die Erſcheinung wenigſtens tritt
bei Betrachtung der Pflanzen die Geſtaltenbildung ſo ſehr in den
Vorgrund, daß man oft ſogar alles Uebrige ganz darüber vergeſſen
hat und ſo wird die Geſtaltungslehre oder Morphologie auf jeden Fall
die wichtigſte Disciplin in der ganzen Botanik. Aber man würde
ſehr irren, wenn man glaubte, daß die Morphologie ſich nur bei einer
magern Aufzählung und Beſchreibung der Formen zu beruhigen hätte.
Auch ſie iſt eine naturwiſſenſchaftliche Aufgabe, auch ſie hat nach der
Erkenntniß von Geſetzen zu ſtreben und muß wenigſtens vorläufig die
Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen unter Hauptgeſichtspuncte ordnen,
nach Regel und Ausnahmen zuſammenſtellen und ſo allmälig der
Auffindung wirklicher Naturgeſetze näher rücken. —
Die Ahnung einer ſolchen Geſetzgebung für die Geſtaltung der
Pflanzen iſt zuerſt von Göthe in ſeiner Idee einer Urpflanze aus-
geſprochen worden, worunter er ſich eine Idealpflanze dachte, deren
Verwirklichung gleichſam der Natur als Aufgabe vorgelegen und
welche ſie in den einzelnen Pflanzen mehr oder minder vollkommen
erreicht habe. Dieſer Gedanke leidet nun allerdings an einigen weſent-
lichen Mängeln. Zunächſt iſt kaum für irgend Einen, der an ſcharfes
Denken gewöhnt iſt noch zu erwähnen, daß überhaupt alle dieſe Be-
ziehungen menſchlicher Beſtrebungen auf die Bildungen der Natur
durchaus unhaltbare Spielereien ſind, durch welche im beſten Falle
einem lahmen Kopfe die Verhältniſſe etwas der Anſchaulichkeit näher
gerückt werden, aber ſtets auf Koſten der allein wahren Anſchauung
ſelbſt. Aufſtellen eines Planes, Ausführung deſſelben, dabei Begehen
von Fehlern, und folglich mehr oder minderes Gelingen des Ganzen
ſind Beziehungen, welche nur auf die unvollkommene Vernünftigkeit
menſchlicher Weſen paſſen, „deren Wiſſen Stückwerk iſt.“ Dieſe
ſogenannte Anthropopathie (Vermenſchlichung) hat aber für die Natur
gar keinen Sinn; entweder iſt dieſe je nach dem Standpunct, den der
[81] Menſch bei ihrer Beurtheilung einnehmen will, das Product blinder
nach ausnahmsloſen Naturgeſetzen wirkender Kräfte und da iſt von
keinem Plane, keinem mehr oder minder Vollkommenen die Rede, weil
alles ſtarre Nothwendigkeit iſt, oder ſie erſcheint uns als die lebendige
Schöpfung eines heiligen Urhebers und dann iſt Plan und Ausführung
im Größten wie im Kleinſten gleich vollkommen und vollendet, aber
für den Erdenſohn überall gleich geheimnißvoll und unbegreiflich. —
Aber auch auf der andern Seite leidet jener Götheſche Gedanke einer
Urpflanze an einer Unklarheit, da nicht deutlich wird wie man ſich
eine ſolche Urpflanze zu denken habe. So viel iſt gewiß, daß ſolche
widerlich geſchmackloſe Zuſammenhäufungen einer Menge im Einzel-
nen möglicher Formen zu einer wahren Mißgeburt von Pflanze, wie
ſie von Turpin in ſeinem Atlas zu Göthes naturwiſſenſchaftlichem
Werke gegeben iſt, alles andere ſind nur nicht das, was ſich der klare
Göthe unter einer Urpflanze vorſtellen mochte. Soll der Gedanke mit
ſinniger Bedeutſamkeit zugleich ausführbar ſeyn, ſo müſſen wir uns
als Urpflanze eine Zeichnung entwerfen, welche uns die höchſte Ent-
wicklung der Pflanzenwelt in ihrer einfachſten Form giebt, woraus
alſo alle niedrigern Entwicklungsſtufen durch bloße Weglaſſung oder
Zuſammenziehung, alle nebengeordneten durch Combinationen und
Verwicklungen abgeleitet werden können. —
Den Verſuch, eine ſolche Pflanze hinzuſtellen, mag die Tafel
vorführen. — Man kann dieſes Bild als eine Abſtraction von einer
ſehr einfachen und bekannten Pflanze, der Anagallis phoenicea an-
ſehen, deren großblumige blaue Spielart auch als Topfpflanze unter
dem Namen Anagallis Monelli unſere Fenſter ziert. Eine genauere
Betrachtung dieſes Bildes kann dazu dienen, einige der wichtigeren
morphologiſchen Begriffe geläufiger und anſchaulicher zu machen.
Ein auch nur flüchtiger Anblick zeigt uns folgende Verhältniſſe. Zu-
nächſt entdecken wir einen durchgehenden Hauptkörper (a bis aVI.)
und an dieſem verſchiedene ſeitliche Anhängſel (b, c bis cVII. und d).
Bei genauerer Betrachtung zeigen aber dieſe letzteren einige ſehr auf-
Schleiden, Pflanze. 6
[82] fallende Verſchiedenheiten, die ſie in 3 Claſſen zu ordnen verſtatten
(demgemäß ſie durch die Buchſtaben b, c und d unterſchieden ſind).
Noch genauere Unterſuchung zeigt uns, daß die mit d bezeichneten
Organe (ſiehe Fig. dI. Fig. dII.) ebenfalls aus einem Hauptkörper und
ſeitlichen Organen zuſammengeſetzt und in ihrer ſpätern Entwicklung
ſich ganz wie die Pflanze ſelbſt verhaltend nur Wiederholungen dieſer
ſind, ſo daß ſie ſich von derſelben nur dadurch unterſcheiden, daß ihnen
das freie untere Ende der Pflanze fehlt. Wir können dieſe „Knos-
pen“ genannten Theile alſo vorläufig ganz von unſerer Betrachtung
ausſchließen. Die mit b bezeichneten Organe ferner ſind ſo ſehr über-
einſtimmend in ihrer ganzen Erſcheinungsweiſe mit dem untern freien
Ende des Pflanzenkörpers, daß wir ſie vorläufig als Theile deſſelben
anſehen können, wenn auch die Wiſſenſchaft ſpäter nachweiſt, daß ſie
in manchen Stücken weſentlich verſchieden ſind. So bleiben uns dann
eigentlich nur noch zwei Organe an der ganzen Pflanze übrig. Das Erſte
iſt der durchgehende Hauptkörper der Pflanze, „Axe oder Stengel-
organ“ genannt, letzteres weil die verſchiedenen Formen des Pflanzen-
ſtengels ſich ſtets nur aus dieſem Theile entwickeln. Dieſe Axe iſt an der
ganzen Pflanze bei ihrer Entſtehung das Erſte, Urſprüngliche und nicht
ſelten bilden ſich die andern Organe nur ſehr unvollkommen, oder nur
in einzelnen beſondern Erſcheinungsweiſen aus, wie die blattloſen Cac-
teen, Stapelien und faſt alle paraſitiſchen Pflanzen zeigen. Das zweite
Organ ſtellen die mit c bezeichneten ſeitlichen dar, bei mannigfacher
Verſchiedenheit im Einzelnen doch eine weſentliche Grundphyſiogno-
mie zeigend, welche ſie nie ablegen und welche beſonders in ihrer Ent-
wicklungsgeſchichte hervortritt; man nennt ſie im Allgemeinen „Blatt-
organe oder Blätter.“ — Auf dieſe Weiſe ergiebt ſich uns, daß
auch die vollkommenſte Pflanze eigentlich nur zwei weſentlich ver-
ſchiedene Grundorgane, nämlich Stengel und Blatt, beſitzt, daß alſo
das in der Phantaſie ausgezeichnete Pflanzenideal, die Urpflanze, eine
über alle Erwartung einfache Grundlage habe. Genauer müſſen wir
aber noch folgende Modificationen der Grundorgane unterſcheiden
und bezeichnen.
[83]
1) An der Axe finden wir ein unteres Ende „die Wurzel“
(a), mit deren ſeitlichen Organen, „Nebenwurzeln“ (b), ein mitt-
leres Stück (aI. bis aV.) als eigentlichen „Stengel“ und als Träger
der Blattorgane und Knospen, endlich ein oberes Ende (aVI.), das
ſich ſpäter nach mannigfachen Vorgängen zum Saamen entwickelt und
deshalb paſſend „Saamenknospe“ (früher mit einem unglücklich
gewählten Wort „Pflanzenei“) genannt wird.
2) Bei den Blättern finden ſich folgende bei Weitem mannig-
faltigere Verſchiedenheiten. Die erſten, welche eine ſich entwickelnde
Pflanze zeigt, welche meiſt ſchon im Saamen ſich ziemlich ausgebildet
an dem Keim nachweiſen laſſen, ſind die „Saamenlappen oder
Keimblätter“ (c), von ſehr einfachen Umriſſen. Von dieſen nach
der Mitte des Stengels werden die Blätter nach einem ziemlich durch-
greifenden Geſetz immer mannigfaltiger und verwickelter in ihren Um-
riſſen und dann bis in die Nähe des oberen Endes wieder einfacher
(cI. — cIII.). Dieſe Formen bezeichnet man ſämmtlich als „Laub-
blätter“, ſie machen das aus, was man im gemeinen Leben aus-
ſchließlich unter dem Ausdruck Blätter zu verſtehen pflegt. Die dann
folgenden Blattorgane (cIV. — cVII.) faßt man zugleich mit den zwi-
ſchen ihnen befindlichen Stengeltheilen unter dem etwas unbeſtimmten
Wort „Blume“ oder „Blüthe“ zuſammen, unterſcheidet aber
noch wieder vier Entwicklungsſtufen. Die erſten, zweiten und vierten
(cIV. cV. cVII.), als „Kelch“ „Blumenkrone“ und „Fruchtblät-
ter“, unterſcheiden ſich gewöhnlich nur noch durch ihre Zartheit und
beſonders die zweiten durch ihre Farbe von den Laubblättern. Die
Fruchtblätter erhalten ihren Namen davon, daß ſie in ihren ſpätern ſehr
merkwürdigen Veränderungen meiſt den weſentlichſten Theil deſſen
bilden, was man im Leben als Frucht bezeichnet. Ganz anders
verhält es ſich aber mit der dritten Entwicklungsſtufe, in welcher das
Blatt durch ſo weſentliche Structurverſchiedenheit verändert wird, daß
es kaum als Blatt wieder zu erkennen iſt. Die Hauptſache beſteht
darin, daß es ziemlich ſchmal und dick wird, indem ſich in demſelben
mehrere (häufig vier) der Länge nach neben einander liegende Höhlen
6*
[84] bilden, die ſich mit zahlreichen ganz iſolirten, ſtaubähnlichen Zellen
füllen und dieſe letztern dadurch, daß ſie regelmäßig ſich öffnen, aus-
ſtreuen. Dieſe Blätter nennt man „Staubfäden“ oder ſo weit
die Höhlen reichen „Staubbeutel“ und die iſolirten Zellen
„Blüthenſtaub“ oder „Pollen.“
An der hier betrachteten Idealpflanze braucht man nun nur die
etwas zuſammengeſetztern Laubblätter (cI. und cII.) wegzulaſſen, die
Zahl der Blattorgane der Blüthe bis auf fünf vermehrt und in vier
Kreiſe verwachſen zu denken, endlich ebenfalls ſtatt der einen Saamen-
knospe viele anzunehmen, die auf einem knopfförmigen Ende des
Stengels ſich vereinigen, ſo erhält man ein Pflänzchen jener oben
genannten kleinen Anagallis.
Wollten wir aber aus dieſer Idealpflanze nun die einfacheren
Pflanzenformen z. B. Farnkräuter, Mooſe, Schwämme u. ſ. w.
ableiten, ſo müſſten wir dieſelbe ſo zuſammenſtreichen und verſchmel-
zen, daß zuletzt gar Nichts mehr übrig bliebe, was noch eine entfernte
Beziehung zu ihr hätte. Nun kann es uns aber mit den Verſuchen
einer morphologiſchen Geſetzgebung eben ſo wenig darum zu thun
ſeyn, ſtatt in der wirklichen Welt nur in den ſpieleriſchen Producten
unſerer Einbildungskraft uns zu bewegen, als uns mit Erklärungen
und Geſetzen zu begnügen, welche nur für einen kleinen Theil der
Pflanzenwelt Anwendung finden, während alles Uebrige dunkel und
nnverſtändlich bleibt. Es iſt daher mit Göthes Urpflanze überhaupt
nichts anzufangen und wir müſſen uns nach anderen Eingängen in die
Betrachtung der verwickelten Formenverhältniſſe der Pflanzenwelt
umſehen. —
Die Sache hat größere Schwierigkeiten als es anfänglich den
Anſchein hat, und um eine richtige Einſicht in dieſe Fragen ſich zu
verſchaffen, um ſelbſt grobe Fehler zu vermeiden, die ſogar von aus-
gezeichneten Forſchern begangen ſind und noch täglich begangen wer-
den, muß man weit über das Gebiet der Pflanzenwelt um ſich blicken.
Wenn wir von Formen, von Geſtalten reden, ſo meinen wir damit
beſtimmt begrenzte Körper in der Natur. — Der Begriff eines jeden
[85] Körpers ſetzt aber ſchon zum Voraus, daß er nach allen drei Rich-
tungen des Raumes, nach Länge, Breite und Tiefe ausgedehnt ſey.
Eine bloße Linie oder Fläche ſind keine Körper und daher keine Ge-
ſtalten und die einfachſten Beziehungen zum Raum geben uns daher
gar keinen Eintheilungsgrund. Zwar können auch bei einem Körper die
eine oder zwei Richtungen der Ausdehnung vorherrſchen; wir unter-
ſcheiden einen Faden leicht von einem Blatte Papier nur nach dieſen
Verhältniſſen. Es liegt hier jedoch nur ein Mehr oder Minder, nicht
aber ein innerer weſentlicher Unterſchied vor, wie es ſich am Deut-
lichſten darin zeigt, daß da, wo eben die äußere Umgrenzung, die Ge-
ſtalt, zuerſt in der Naturwiſſenſchaft eine große Bedeutung gewinnt,
nämlich bei den Kryſtallen, ein und dieſelbe Kryſtallform als lange
dünne Nadel, als ein kleines flaches Plättchen oder als ein nach
allen Dimenſionen gleichförmig ausgedehnter Körper erſcheinen kann.
Der in Pflanzen ſo häufig vorkommende kryſtalliſirte ſauerkleeſaure
Kalk hat beſtändig in allen ſeinen Formen ein Quadrat zur Grund-
fläche, auf welcher ſich eine quadratiſche Säule erhebt. Iſt dieſe aber
ſehr kurz, ſo liegt ein kleines viereckiges Plättchen vor, wird ſie höher
ſo nähert ſie ſich allmälig immer mehr einer Würfelform; noch länger
geht ſie über dieſen hinaus und erſcheint endlich als ein langes dünnes
Nadelchen faſt fadenförmig, immer bleibt dabei aber die Kryſtallgeſtalt,
das Weſentliche der Form, völlig gleich, nämlich eine quadratiſche
Säule; ungefähr wie wir die gleiche menſchliche Geſtalt anerkennen,
mag der Menſch kurz und dick, oder ſehr lang und ſchlank ſeyn. Der
Schluß, den wir gleich hieraus ziehen können iſt der, daß wir aus
dem allgemeinen Begriff eines Körpers gar keine Merkmale ab-
leiten können, um die Geſtalten zu unterſcheiden und anzuord-
nen. Zwar laſſen ſich auf dem Papier in der Studirſtube präch-
tige Syſteme ausdenken, aber für die Wirklichkeit haben dieſe
gar keine Bedeutung. So wie wir an dieſe hinantreten, müſſen
wir vielmehr beſcheiden erſt anfragen, ob die Natur geneigt ſey
uns ihre Geheimniſſe zu verrathen, ob ſie in dieſem oder jenem
einzelnen Falle uns offenbaren will, welche Merkmale ſich bei
[86] ihrer Geſtaltenbildung als weſentliche ausſprechen, welche Grund-
lagen ſie uns alſo zur Bildung unſerer Syſteme anbietet.
In dieſer Beziehung ſtehen wir nun auf ſehr verſchiedenen Stu-
fen der Vollendung unſerer Wiſſenſchaft bei den einzelnen Claſſen der
Naturkörper, überall aber vom Ziele noch weit entfernt. Dieſes Ziel
nämlich wäre, alle Geſtalten aus den geſetzmäßigen Wirkungen der
Kräfte in der Natur erklären zu können, was aber zur Zeit noch in
keinem einzigen Falle uns möglich iſt. Die vorbereitenden Stufen,
um zu dieſem Ziel zu gelangen, beſtehen aber erſtens in der genauen
Kenntniß und Anordnung der verſchiedenen Geſtalten nach ihren in-
nern Verwandtſchaften und zweitens in der allmäligen vollſtändigen
Auffindung und Sammlung der äußern Bedingungen, unter deren
Einfluß ſich die einzelnen Geſtalten bilden. Für die letzte Aufgabe
haben wir hin und wieder einzelne wenige Bruchſtücke geſammelt, für
die erſte Hälfte iſt uns die Anordnung der Kryſtallgeſtalten ziemlich
vollſtändig gelungen; dagegen haben wir für Pflanzen und Thier-
welt nur von ſehr verſchiedenen Standpuncten aus einzelne Perſpec-
tive und Ueberſichten gewonnen, die im Ganzen noch wenig innern
Zuſammenhang darbieten.
Das Störende iſt im letzten Falle nämlich in gewiſſer Beziehung
gerade das, was wir das Lebendige nennen; nur wird ſelten deutlich
erkannt worin eigentlich das Characteriſtiſche dieſes Lebens liegt. Auch
der Kryſtall ſpringt nicht auf einmal, eine fertige Minerva, aus dem
Haupte Jupiters hervor, der Stoff, aus dem er ſich bildet, durchläuft
eine ſtetige Reihe von Veränderungen, deren Endreſultat die vollendete
Kryſtallgeſtalt iſt. Auch der Kryſtall hat eine individuelle Geſchichte,
eine Lebensgeſchichte, aber nur eine Geſchichte ſeines Werdens, ſeines
Entſtehens. Iſt er geworden, ſo iſt ſein Leben zu Ende, ſein Be-
ſtehen ſchließt jede Veränderung aus; der Augenblick ſeiner Geburt
iſt das Aufhören ſeines Lebens, er iſt todt von dem Moment an, in
welchem er ſein vollendetes Daſeyn beginnt. Den geradeſten Gegen-
ſatz dazu bilden Pflanzen und Thiere und eben hierin liegt das Ge-
meinſchaftliche, was uns bewegt ſie unter einem Begriff als organiſche,
[87] oder lebendige Weſen zuſammenzufaſſen. Ich will hier aber meine
folgenden Erörterungen auf die Pflanzenwelt beſchränken, um nicht
zu weitläufig zu werden.
Wir vertrauen das Gerſtenkorn im Frühling der ernährenden
Erde, der Keim fängt an ſich zu regen, ſprengt ſeine Hüllen, die der
Verweſung anheimfallen. Ein Blatt nach dem andern tritt hervor
und entwickelt ſich, dann erſcheinen die Blüthen in dichtgedrängter
Aehre; durch wunderbare Wechſelwirkungen hervorgerufen, entſteht
in jeder der Keim eines neuen Lebens und während dieſer ſich mit
ſeinen Hüllen zum Korne ausbildet, gehen von Unten nach Oben
ſtetige Veränderungen an der Pflanze vor ſich; ein Blatt nach dem
andern ſtirbt ab und vertrocknet, zuletzt ſteht der dürre, nackte Stroh-
halm da; gebeugt unter der Laſt der goldenen Gabe der Ceres bricht
er zuſammen und verweſt im Boden, während leis und heimlich vom
wärmenden Schnee gedeckt ſich in den verſtreuten Körnern eine neue
Entwicklungsperiode vorbereitet, die im nächſten Frühling beginnen
ſoll und ſo geht es ins Unendliche fort. Hier iſt nichts Feſtes, nichts
Beſtehendes, ein endloſes Werden und Entwickeln, ein fortwährendes
Abſterben und Vernichten neben einander und in einander greifend,
ſo iſt die Pflanze. Sie hat eine Geſchichte nicht nur ihrer Bildung,
ſondern auch ihres Daſeyns, nicht nur ihres Entſtehens, ſondern
auch ihres Beſtehens. Wir ſprechen von Pflanzen; wo ſind ſie?
Wann ſind ſie fertig, vollendet, daß ich ſie aus dieſem beſtändigen
Wechſel des Stoffes und der Form herausreißen und als ein Gewor-
denes betrachten dürfte; wir ſprechen von Geſtalten und Formen; wo
ſollen wir ſie erfaſſen, die proteusartig jeden Augenblick wieder unter
unſern Händen verſchwinden und in andere übergehen? — Wie in
Döblers dissolving views verſchwindet ganz unmerklich das eine Bild
vor unſern Augen und ein anderes tritt an ſeine Stelle, ohne daß
wir im Stande wären den Augenblick anzugeben, wo jenes aufgehört
hätte zu ſeyn, dieſes begonnen hätte in die Erſcheinung zu treten. In
jedem gegebenen Momente iſt die Pflanze die Ruine der Vergangen-
heit und doch zugleich der entwicklungsfähige und ſich wirklich ent-
[88] wickelnde Keim der Zukunft, und noch mehr, ſie erſcheint uns auch
noch dabei als ein fertiges, vollendetes und abgerundetes Product
für die Gegenwart. —
Hier liegt zwar die Grundurſache, weshalb eine Morphologie
der Kryſtalle oder der unorganiſchen Welt eine ſo ganz weſentliche
verſchiedene Bedeutung und Entwicklung gewinnen muß, wie die Ge-
ſtaltenlehre der ſogenannten lebenden Weſen; es kommt aber noch ein
anderes, freilich gegen das angegebene viel untergeordneteres Ver-
hältniß hinzu, wodurch die Betrachtung der organiſchen Formen eine
Schwierigkeit und Verwicklung erhält, welcher die menſchliche Faſſungs-
kraft mit den ihr gegenwärtig zu Gebote ſtehenden Mitteln noch lange
nicht gewachſen iſt. —
Unter Geſtalt verſteht man die Begrenzung der Körper im Raume;
die Grenzen, wodurch ſich eben die beſtimmte Geſtalt vom grenzen-
loſen Raum abſcheidet, ſind Flächen. Flächen ſelbſt ſind entweder
ebene und dann wieder durch Linien begrenzt, oder gekrümmte und
dann in verſchiedener Weiſe durch das Verhältniß ihrer Theile zu
einer oder mehreren Linien beſtimmt. Die ebenen Flächen ſind geo-
metriſch leicht zu conſtruiren und zu ordnen, wenn ihre Grenzlinien
gerade ſind, und ſomit auch die von ihnen begrenzten Körper, wie die
Kryſtalle. Bei Ebenen, die von Curven begrenzt werden, wächſt die
Schwierigkeit mehr und mehr, nach der größern Verwicklung, welche
die Theorie der krummen Linien darbietet. Von den gekrümmten
Flächen ſind dagegen nur wenige, wie die Kugel, das Elipſoid und ſo
weiter, geometriſch ſcharf zu beſtimmen, ſehr bald werden die Verhält-
niſſe ſo verwickelt, daß ſie den ſcharfſinnigſten Combinationen der größ-
ten Mathematiker Trotz bieten. Nun ſind aber alle Linien und Flächen,
die an organiſchen Körpern vorkommen, gekrümmt und faſt immer ſo
unregelmäßig, daß an eine geometriſche Beſtimmung derſelben durch-
aus noch nicht zu denken iſt. — So ſind wir ſchon, abgeſehen von
allen anderen Schwierigkeiten, bei der bloßen Bezeichnung der ein-
zelnen organiſchen Formen außer Stand geſetzt, uns ſcharf beſtimmter
geometriſcher Ausdrücke zu bedienen und wir können uns nur durch
[89] Vergleichungsformeln und eine eigenthümliche daraus entwickelte,
aber natürlich ihres Urſprungs wegen ſehr ſchwankende Kunſtſprache
helfen. Selbſt Ausdrücke wie cylindriſch, prismatiſch, kreis- und
kugelrund, kegelförmig u. dgl. m., haben in ihrer Anwendung auf
die Pflanzenwelt keine ſcharfe mathematiſche Bedeutung mehr, ſondern
nur einen annähernden Vergleichungswerth.
Aus allem Dieſen ergiebt ſich nun, daß eine ſehr allgemeine
Orientirung und ein eigenthümlicher naturwiſſenſchaftlicher Tact,
ich möchte faſt ſagen Inſtinct, dazu gehört, um in der Formenlehre
der Pflanzen mit Sicherheit einen Schritt vorwärts thun zu können
und daß es hier vor Allem darauf ankommen wird, aus der Natur
des Gegenſtandes ſelbſt ſpecielle, leitende Maximen zu entwickeln,
nach denen wir die unzähligen möglichen Syſteme der vegetabiliſchen
Morphologie kritiſiren, verwerfen oder zulaſſen. Damit iſt freilich
noch nicht mehr als das negative Reſultat gewonnen, daß alle nach
jenen leitenden Regeln verworfenen Syſteme gewiß unbrauchbar ſind,
während die zugelaſſenen immer nur eine Möglichkeit, aber keine Gewiß-
heit ihre Richtigkeit gewinnen. Gleichwohl iſt damit ſchon viel gewon-
nen, da dadurch die Unterſuchungen unendlich viel einfacher werden. —
Sehen wir uns nach ſolchen leitenden Principien um, ſo bietet
uns die Pflanze zwei Eigenthümlichkeiten, welche ihren beſtimmten
Anſpruch an Berückſichtigung an alle unſere Forſchungen geltend
machen. Die eine iſt die Zuſammenſetzung der Pflanze aus kleinen
faſt ſelbſtſtändigen und individualiſirten Elementarorganismen, näm-
lich den Zellen, die andere iſt der fortgehende Proceß der Aufnahme
und Ausſcheidung von Stoff, der Neubildung und Auflöſung von
Zellen und in Folge von Beiden die beſtändige Veränderung der in-
neren und äußeren Form, der Structur und Geſtalt.
Die daraus abzuleitenden Maximen lauten nun:
„was in der Pflanze nicht auf ſeine Zuſammenſetzung aus ein-
zelnen Zellen zurückgeführt iſt, bleibt zur Zeit noch unerkannt und un-
verſtanden, kann alſo keiner theoretiſchen Betrachtung zum Grunde
gelegt werden“ und zweitens
[90]
„keine einzelne feſtſtehende, oder vielmehr als feſtſtehend be-
trachtete Form, ſondern nur die Entwicklungsreihen können Gegen-
ſtand einer botaniſchen Formenlehre ſeyn, jedes Syſtem, welches ſich
mit den herausgeriſſenen Formenverhältniſſen dieſes oder jenes Zeit-
abſchnittes ohne Berückſichtigung des Entwicklungsgeſetzes beſchäftigt,
iſt ein phantaſtiſches Luftſchloß, welches keinen Boden in der Wirklich-
keit hat und gehört deshalb nicht der wiſſenſchaftlichen Botanik an.“ —
Es kann hier nicht meine Aufgabe ſeyn, nunmehr unter Leitung
jener Maximen alle einzelnen Sätze, welche die Morphologie bis jetzt
gewonnen hat, oder doch gewonnen zu haben glaubt, aus den That-
ſachen der Beobachtung ſelbſt zu entwickeln; es würde das nicht weni-
ger heißen als eine ganze Botanik ſchreiben. Ich kann vielmehr hier
nur einen Ueberblick über die ganze Pflanzenwelt nach ihren morpho-
logiſchen Characteren ſkitzenhaft vorführen. —
Betrachten wir die Pflanzenwelt als ein Ganzes, als ein Indivi-
duum, deſſen verſchiedene Lebens- und Entwicklungsſtufen ſo neben
einander vorliegen, wie ſie bei der einzelnen Pflanze nach ein-
ander folgen, ſo können wir die einfachſten Formen gleichſam als die
Anfänge der Pflanzenwelt betrachten und finden dann, daß dieſe ſich
eben ſo wie die Einzelpflanze aus einer einfachen Zelle hervorbildet
und entwickelt. Wo wir an alten feuchten Mauern und Bretterzäunen,
an Gläſern, in denen wir zur Sommerszeit während mehrerer Tage
weiches Waſſer ſtehen ließen, einen zarten, ſchöngrünen, oft faſt
ſammetartigen Anflug finden, da begegnen wir den erſten Anfängen
der Vegetation. Unterm Microſcop entdecken wir in dieſen grünen
Maſſen eine Menge kleiner, kugelrunder Zellen mit Saft, farbloſen
Körnchen und Chlorophyll erfüllt. — An andern Orten finden ſich
ähnliche, gelbliche, braune, rothe Zellen, und faſt alle darf man,
wenigſtens zur Zeit noch, als ganze vollſtändige Pflanzen anſehen,
welche von den Botanikern mit verſchiedenen Namen belegt ſind. Die
paſſendſte Bezeichnung dafür iſt Protococcus, Urbläschen.
Von dieſer einfachen als Pflanze ſelbſtſtändig vegetirenden Zelle nimmt
die Entwicklung der Pflanzenwelt ihren Ausgang und ſteigt durch
[91] immer größere Combinationen und Verwicklungen endlich bis zu den
complicirteſten Pflanzen auf, die wir als die höchſte Stufe anzuſehen
gezwungen ſind, obwohl es dem Laien wunderbar vorkommen mag,
wenn ich als einen Repräſentanten dieſes höchſten Ausdruckes vege-
tabiliſcher Entwicklung das kleine, ſo allgemein verbreitete und des-
halb meiſt verachtete Gänſeblümchen*) nenne.
Die jenen einfachſten Pflanzen zunächſt ſich anſchießenden Bil-
dungen beſtehen zwar auch nur aus einer einzelnen einfachen Zelle,
die aber doch ſchon fadenförmig verlängert, oft veräſtelt iſt und daher
ſchon mehr Formenbildung zeigt, demnächſt reihen ſich die Zellen linien-
förmig auf mannigfache Weiſe aneinander, es erwächſt ſchon eine man-
nigfaltige Vegetation, die im Waſſer als Waſſerfäden oder Con-
ferven, meiſt mit grüner Farbe oder an faulenden organiſchen Körpern
als die vielfach verſchiedenen oft ſo zierlichen Formen des Schimmels
in den bunteſten Farbenſpiel auftreten. — Weiter legen ſich die Zellen
zu flachen Gebilden zuſammen, unter dem Namen Ulven den Bota-
nikern bekannt und häufig faſt jungen Sallatblättern ähnlich im Meere
wachſend, oft grün oft purpurroth, armen Küſtenbewohnern nicht
ſelten eine magere Speiſe. — Weiter drängen ſich die Zellen endlich
zu körperlichen Maſſen aneinander, verſchiedengeformte Klümpchen,
Kugeln u. dgl. bildend. Nun beginnt eine mannigfachere und
reichere Formenentwicklung als früher bei den einfachen Grundlagen
möglich war, aber häufig wiederholen ſich beſonders auf den niederen
Stufen der Pflanzenwelt auch noch für die einzelnen Gruppen und für
die höhern Stufen faſt für alle einzelnen Organe die Unterſchiede
der Entwicklungen nach der Länge, nach Länge und Breite, oder nach
Länge, Breite und Tiefe.
Es iſt hier am Ort auf ein eigenthümliches Verhältniß bei den
Pflanzen aufmerkſam zu machen, welches in der Thierwelt in ähn-
licher Weiſe gar nicht oder doch keineswegs ſo auffallend vorkommt
und dann immer nur da, wo ſich ohnehin die Analogien mit der Pflan-
zenwelt am ſchärfſten faſſen und feſthalten laſſen, nämlich beim Kno-
[92] chen und Hautſyſtem. Bei den bisher erwähnten niederen Pflanzen
läßt ſich überall in ihren einzelnen Theilen, ſo wenig wie eine be-
ſtimmte Gliederung des Umriſſes, eben ſo wenig auch eine beſtimmte
Vertheilung der Lebensthätigkeiten an einzelne beſtimmte Theile des
Ganzen erkennen. Es finden ſich hier überall noch keine Organe weder
ſolche, die durch eine beſtimmte Geſtalt, durch ein in gleicher Weiſe überall
wiederkehrendes Verhältniß ihrer Form zur Form der ganzen Pflanze,
alſo morphologiſch beſtimmt wären, noch ſolche, an welche bei einer
von andern Pflanzentheilen verſchiedenen Form ſtets eine beſtimmte ein-
zelne Lebensäußerung geknüpft wäre, die alſo als phyſiologiſch be-
ſtimmte Organe bezeichnet werden könnten. — Nach und nach ſehen
wir zwar bei den etwas weiter entwickelten Tangarten, bei den
Schwämmen und Flechten ganz beſtimmte Zellen, die ſich weſent-
lich von andern unterſcheiden, für die Bildung der Fortpflanzungszellen
beſtimmt; wir finden dieſe Zellen unter ganz beſtimmten Formen zu-
ſammengeordnet, nach deren mannigfaltigen Bildungen man dann
auch größere und kleinere Gruppen unterſcheiden kann, — aber dabei
bleibt die Sache in der Pflanzenwelt auch ſtehen. Bis zu den höchſt
entwickelten Pflanzen hinauf finden wir ſtets, die Fortpflanzungsor-
gane abgerechnet, eine völlige Unabhängigkeit der phyſiologiſchen von
der morphologiſchen Bedeutung der einzelnen Organe, — und es hat
eine arge, ſchwer auszumerzende Verwirrung in die ganze Formen-
lehre der Pflanzenwelt gebracht, daß man dieſes Verhältniß verkannt
hatte. — Ein und daſſelbe Organ kann bei verſchiedenen Pflanzen
die verſchiedenſten Lebensthätigkeiten vermitteln und derſelbe Lebens-
proceß kann bei der einen Pflanze an ein Blatt, bei der andern an
den Stengel geknüpft ſeyn.
Nach dieſer Vorbemerkung können wir unſern Ueberblick des
vegetativen Reichs nach ſeinen Geſtalten weiter auszeichnen. Die
ganze Pflanzenwelt theilt ſich morphologiſch in zwei ungleiche Hälften,
von denen die kleinere aus den drei Gruppen der Algen oder Tang-
arten, der Schwämme und der Flechten gebildet wird. Bei
dieſer Abtheilung iſt von weiteren Organen als dem Apparat zur
[93] Bildung der Fortpflanzungszellen überhaupt nicht die Rede und zwar
deshalb, weil der Entwicklungsproceß in allen Theilen der Pflanze ein
und derſelbe iſt, jeder Theil daher die ganze Pflanze repräſentirt und
als ſolche fortwachſen und fortleben kann. Die Geſtalten ſind hier mei-
ſtentheils von außerordentlich vagen Umriſſen begrenzt, am meiſten bei
den Schwämmen, bei denen die eigentliche Pflanze nur ein außeror-
dentlich vergängliches Geflecht einiger zarten Fäden iſt. Die gewöhnlich
im gemeinen Leben als Schwämme bezeichneten Körper ſind nämlich nur
die Fortpflanzungsorgane, gleichſam die Früchte der Pflanze. Aehn-
liche Unbeſtimmtheit der Formen herrſcht noch bei den einfachen Algen,
lauter Waſſerpflanzen, und nicht minder bei den niederen Flechten,
den ſogenannten Kruſtenflechten, welche als ein weißlicher, grauer
oder gelber Schorf alte Mauern, Steine und Planken überziehen.
Nur bei den höheren Algen und Flechten werden die Formen etwas
beſtimmter und zeigen oft ſehr conſtante Geſtalten, die ſelbſt die
Aehnlichkeit von Stengeln und Blättern erhalten, aber ohne daß ſie
dieſelbe Bedeutung, denſelben morphologiſchen Werth wie in der
zweiten großen Pflanzenabtheilung erhielten.
Erſt in dieſer zeigen ſich zwei ſo weſentlich verſchiedene Entwick-
lungsproceſſe an einer und derſelben Pflanze, daß man die Producte
derſelben als weſentlich verſchiedene Grundorgane der Pflanze be-
trachten muß.
Das eine Organ iſt das Erſte, Urſprüngliche, und bildet ſich immer
an ſeinen beiden freien Enden fort, dieſe Enden ſind immer ſeine jüngſten
zuletzt gebildeten Theile, wir nennen dieſes Organ Stengel im weite-
ſten Sinne des Worts, oder Axe der Pflanze. An dieſem erſten
Grundorgan und aus demſelben hervor bildet ſich dann ein zweites, deſ-
ſen freies Ende zuerſt entſteht, alſo der älteſte Theil des Organs iſt, es
wächſt nur an ſeinem Grunde, wo es mit dem Stengel zuſammen-
hängt und auch hier nur eine gewiſſe Zeit lang fort, und wird auf
dieſe Weiſe gleichſam aus dem Stengel hervorgeſchoben. Es wird
Blatt in weiterer Bedeutung genannt. Während jenes ein unbe-
grenztes Wachsthum als möglich erſcheinen läßt, iſt dieſes durch die
[94] Art ſeiner Bildung ſelbſt in beſtimmten Grenzen abgeſchloſſen.
Man erſieht hieraus zweierlei: erſtens daß Stengel und Blatt ſich
als Gegenſätze einander bedingen; nur wo das Eine vorhanden iſt,
kann auch vom Andern die Rede ſeyn. Man unterſcheidet demzufolge
jene beiden Hauptabtheilungen, auch als ſtengelloſe Pflan-
zen und Stengel-Pflanzen. Zweitens ergiebt ſich aber
auch aus dem Vorgetragenen, daß die Pflanze überall nur zwei ih-
rem Weſen nach verſchiedene Organe haben könne, nämlich Blatt
und Stengel, und daß alle übrigen ſogenannten Organe der Pflanze
nur minder wichtige Abänderungen eines dieſer Organe, oder aus
beiden zuſammengeſetzte und verſchmolzene Bildungen ſeyn müſ-
ſen. — Erſt ſeit Caspar Friedrich Wolff und Göthe hat man dieſen
Satz mit Beſtimmtheit ausgeſprochen und aus den Verſuchen nach-
zuweiſen, daß alle Organe der Stengelpflanzen ſich auf das eine oder
andere Grundorgan zurückführen laſſen, iſt eine eigenthümliche Lehre
entſtanden, für welche durch Göthe der Name „die Metamorphoſe
der Pflanze“ als allgemein gültig eingeführt iſt. Wie ſchon aus dem
bisher Mitgetheilten klar geworden ſeyn wird, umfaßt dieſelbe nur
einen ganz kleinen Theil derjenigen Lehre, welche als Morphologie ei-
nen der weſentlichſten Abſchnitte der ganzen Botanik ausmachen ſoll. —
Leicht könnten wir hier an einem Beiſpiel einen kurzen Ueber-
blick dieſer Lehre geben, ohne gerade in alle Einzelnheiten, die noch
manche Schwierigkeiten und ungelöſte Probleme darbieten, einzu-
gehen. — Das Wichtigſte iſt aber ſchon oben bei der Erläuterung
der Idee der Urpflanze vorgekommen, und es bedarf hier nur noch
eines kleinen Zuſatzes hinſichtlich der Blüthenbildung, welche einige
Verwicklungen zeigt.
An der Stelle, wo ſich an der Urpflanze die Fruchtblätter und
Saamenknospe befinden, alſo in der Mitte der Blume, zeigt ſich
bei den meiſten Pflanzen ein Organ, welches rings geſchloſſen, im
Innern hohl, die Saamenknospen umſchließt und deſſen Höhle nur
nach Oben durch einen gewöhnlich ſchwer erkennbaren Kanal mit
der Außenwelt communicirt. Dieſen Körper nennt man im Gan-
[95] zen „Stempel,“ den Theil, von welchem die Saamenknospen
umfaßt werden „den Fruchtknoten“ (ſo viel als Fruchtknospe,
Anlage zur Frucht) und die obere Oeffnung Narbe. Iſt der Körper
zwiſchen Fruchtknoten und Narbe ſtielförmig in die Länge gezogen,
ſo wird dieſer Theil „Staubweg“ genannt (vergl. Taf. IV.
Fig. 2). Dieſer Körper nun iſt es vorzüglich, welcher auf das
Mannigfachſte zuſammengeſetzt iſt; bald ganz aus einem oder mehre-
ren Fruchtblättern, gebildet wird, bald nur in ſeinem unteren
Theile, dem Fruchtknoten, bald ganz aus einer eigenthümlichen Um-
bildung des Stengels beſteht. Auch die Stengeltheile, welche ſonſt
noch zur Blüthe gehören (aIII.—aV.) ſind oft auf die wunderbarſte
Weiſe umgeſtaltet, und auf dieſen beiden Verhältniſſen beruht zum
Theil die große Verſchiedenheit der Blumen, wozu dann noch die Zahl
und Stellungsverhältniſſe der übrigen Theile das ihrige beitragen.
Wunderlich nehmen ſich die aus einer ſolchen wiſſenſchaftlichen
Betrachtung hervorgehenden Bezeichnungen aus, wenn man ſie ins
gemeine Leben überträgt, und es klingt ſeltſam genug, wenn man
erfährt, daß uns die Erdbeere nur durch einen Theil des Blü-
thenſtengels erfreut, während die wirklichen Früchte als kleine un-
genießbare Körner erſcheinen, daß wir dagegen bei einer Himbeere
eine Menge kleiner ächter Früchte, nämlich fleiſchig und ſaftig ge-
wordene Fruchtblätter genießen, während dieſelben Stengeltheile,
welche bei der nahe verwandten Erdbeere unſeren Gaumen reizen,
hier einen kleinen weißen ſchwammigen Zapfen darſtellen, — daß wir
bei dem Apfel einen Theil des Blüthenſtiels, bei der Kirſche
einen Theil eines Blattes verzehren, und daß bei der Ruß und
Mandel ſogar eine ganze kleine Pflanze mit Wurzel, Stengel,
Blättern und Knospe von uns verſchlungen wird. —
Aber was ſchon im Eingang bei Betrachtung der Urpflanze er-
wähnt wurde, müſſen wir uns hier noch einmal ins Gedächtniß zu-
rückrufen: daß nämlich die bei der Urpflanze erwähnten einzelnen
Theile und Formen bei weitem nicht bei allen Pflanzen, ja nicht ein-
mal bei allen Stengelpflanzen, vorkommen. Auch unter dieſen letz-
[96] tern finden ſich eine große Anzahl, die viel einfacher gebaut ſind, und
um hier die Entwicklung der Stufenleiter ferner zu durchlaufen, müſſen
wir noch einmal auf die Fortpflanzung der Gewächſe zurückkommen.—
Aus einer früheren Vorleſung iſt erinnerlich, daß die Bildung
von beſtimmten Fortpflanzungszellen, die Lostrennung derſelben von
ihrer Bildungsſtätte und ihre Entwicklung zu einer neuen Pflanze
der allgemeine Vorgang der Vermehrung bei allen Pflanzen ſey, daß
aber ſich ein weſentlicher Unterſchied darin herausſtelle, ob die Fort-
pflanzungszelle ſich ſogleich ohne Weiteres im Waſſer oder in der
Erde zu einer neuen Pflanze entwickeln kann, oder ob dieſe Ausbil-
dung bis zu einer gewiſſen Stufe nur innerhalb eines eignen Or-
gans der Pflanze, in der ſogenannten Saamenknospe, erfolgen
könne. — Zu den Pflanzen der erſten Art, welche Kryptogamen
oder Geſchlechtsloſe genannt werden, gehört nun auch ein gro-
ßer Theil der Stengelpflanzen. Namentlich will ich hier nur die Le-
bermooſe und Mooſe, die Bärlappenarten (deren Fort-
pflanzungszellen das ſogenannte Truden- oder Hexenmehl der Apo-
theken ausmachen), die Farnkräuter und die Schachthalme
(z. B. das Scheuerkraut) aufführen. — Alle dieſe Pflanzengruppen
gehören zu denen, bei welchen man deutlich Stengel und Blätter un-
terſcheiden kann, aber es bildet ſich bei ihnen eine eigne Stufenfolge
dadurch, daß die Bildung der Fortpflanzungszellen, welche bei Le-
bermooſen und Mooſen noch in einer ihrer morphologiſchen Be-
deutung nach unbeſtimmten Kapſel geſchieht, bei den folgenden
Gruppen in immer engere Beziehung zum Blatte tritt, und zuletzt
beſtimmte Blattorgane ſo ganz in Anſpruch nimmt, daß ſie ihre Aehn-
lichkeit mit den übrigen Blätter genannten Organen ganz verlieren.
Dieſe Blätter werden, da man die Fortpflanzungszellen als Sporen
bezeichnet, „Sporenblätter“ genannt, und bei den Schachthal-
men erſcheinen ſie ganz in der Geſtalt wie in der folgenden und
höchſten großen Abtheilung der Stengelpflanzen, nämlich bei den
Geſchlechtspflanzen oder Phanerogamen, die Staub-
fäden mit ihren Staubbeuteln ſich zeigen. —
[97]
Bei Lebermooſen, Mooſen und Farnkräutern findet ſich noch ein
eigenthümliches Organ vor, welches ſeinen Structurverhältniſſen
nach der Saamenknospe bei den Geſchlechtspflanzen entſpricht, ſei-
ner morphologiſchen Bedeutung nach noch unbeſtimmt iſt, in phyſio-
logiſcher Beziehung aber noch gänzlich unerklärlich daſteht und we-
nigſtens gewiß mit dem Fortpflanzungsgeſchäft nicht in weſentlichem
Zuſammenhange ſteht. Man nennt dieſe Organe gewöhnlich An-
theridien. — Sie erinnern auf's Lebhafteſte an eine Erſcheinung
in der Stufenleiter der Thiere, wo wir ebenfalls nicht ſelten in einer
Gruppe oder einem Geſchlecht ein Organ vorgebildet finden, welches
hier aber gar nicht functionirt, ſondern erſt in einer benachbarten
Gruppe ſeine wirkliche Bedeutung für das Leben gewinnt. —
Stengel und Blatt als Grundorgane, beſtimmte Blätter umge-
wandelt zu Sporenblättern für die Bildung der Fortpflanzungszellen
und ein noch vages Organ mit den Structurverhältniſſen der Saa-
menknospe, das ſind die Erwerbniſſe, mit denen die Natur an die
Entwicklung der letzten großen Abtheilung der Pflanzenwelt geht, an
die Gruppe der Geſchlechtspflanzen. — Das Characteriſtiſche
für dieſelben iſt, daß hier die Saamenknospe in ihre vollen Rechte
als Fortpflanzungsapparat eintritt und zwar hier beſtimmt als End-
glied der Stengelorgane erſcheint (aVI.). —
Die ſämmtlichen Geſchlechtspflanzen zerfallen nun zuerſt wie-
derum in zwei ungleich große Abtheilungen. In der erſten kleineren
iſt die Blüthenbildung noch ſehr einfach, indem einerſeits noch das-
jenige fehlt, was man im gemeinen Leben vorzugsweiſe unter Blume
zu verſtehen pflegt, andererſeits die Saamenknospe und folglich auch
der ſpäter daraus ſich entwickelnde Saame nackt, von keinem Frucht-
knoten eingeſchloſſen ſich zeigt. Dieſe Abtheilung, welche die Na-
delhölzer, die Loranthaceen mit der unſern Obſtbäumen ſo
ſchädlichen paraſitiſch wuchernden Miſtel und eine tropiſche Pflan-
zenfamilie, die Cycadeen, umfaßt, wird als Claſſe der Nackt-
ſaamigen oder Gymnoſpermen der Claſſe der Verhüllt-
ſaamigen oder Angioſpermen entgegengeſetzt. —
Schleiden, Pflanze. 7
[98]
In dieſer letzten großen Abtheilung der Pflanzen endlich iſt es
beſonders die Blüthenbildung, welche unſere Aufmerkſamkeit auf ſich
zieht. Auch hierin laſſen ſich die Grundzüge einer Stufenleiter nicht
verkennen, jedoch muß man hier noch eine andere Beſonderheit vor-
her ins Auge faſſen, welche die ganze Menge der hierher gehörigen
Pflanzen gleichſam in zwei parallele Entwicklungsreihen vertheilt.
Wenn ſich aus der Fortpflanzungszelle allmälig die Keimpflanze ent-
wickelt, ſo bildet ſich an dem natürlich zuerſt entſtehenden Axenkör-
per entweder Ein erſtes Blatt, welches die ganze Pflanzenaxe ſchei-
denförmig umfaßt, und im obern Theile ganz einhüllt, oder es bil-
den ſich gleichzeitig und auf gleicher Höhe an der Stengelgrundlage
Zwei erſte Blätter, welche ſich in den Umfang theilen und den
obern Theil der Keimpflanze zwiſchen ſich einſchließen. Die erſte Reihe
nennt man die Einſaamenlappigen oder Monocotyledo-
nen, zu denen zum Beiſpiel alle Lilien-ähnliche Pflanzen, die Palmen,
Gräſer und Rietgräſer gerechnet werden, die andere die Zweiſaa-
menlappigen oder Dicotyledonen, wofür unſere gewöhnlich-
ſten Gartenpflanzen und Laubbäume als Beiſpiele dienen können. —
Die Pflanzen beider Reihen weichen aber nicht nur in dieſem ſchein-
bar untergeordneten Merkmale, ſondern auch in ihrer ganzen übri-
gen Organiſation weſentlich von einander ab und unterſcheiden ſich
ſelbſt ſo auffallend in ihrer äußeren Erſcheinungsweiſe, daß ein ei-
nigermaßen geübtes Auge ſie leicht auf den erſten Blick erkennt. —
Die Erſten haben meiſt im Stengel zerſtreute, Faſern ähnliche Holz-
bündel, wie der Maisſtengel, die andern einen feſtgeſchloßnen
Holzkreis, wie die Weide; die erſteren haben gewöhnlich Blätter mit
einfachen parallelen Längsadern, wie die Gräſer, die andern Adern,
die ſich baumartig verzweigen und ſo ein zierliches Netz auf der Blatt-
fläche bilden, wie bei der Linde; endlich finden wir in den Blüthentheilen
der erſteren häufig die Dreizahl vorherrſchend, wie bei der Tulpe, bei
den letzteren dagegen die Fünfzahl, wie bei der Primel. Dieſe beiden
Reihen ſchreiten nun parallel neben einander, und was im Folgenden
über die Blüthenbildung geſagt iſt, gilt für beide in gleicher Weiſe. —
[99]
Die Elemente, deren Combination zu höheren Einheiten hier
der Natur zu Gebote ſteht, haben wir kennen lernen. — Das Erſte,
was ſie thut, iſt, daß ſie die Saamenknospe in den eigenthümlichen
Apparat einſchließt, den wir oben als Stempel bezeichnet haben.
Anfänglich ſind aber Staubfäden und Stempel noch ohne weſentliche
räumliche Beziehung zu einander. Jedes Organ bildet eine Blüthe
für ſich. Dann werden beide vereinigt, indem ſich eine beſtimmte
Anzahl von Staubfäden um einen oder mehrere Stempel verſam-
meln. Demnächſt treten erſt einer, dann mehrere Kreiſe von Blatt-
organen zu dieſer Blüthe hinzu und bilden ſo das, was man ge-
wöhnlich als Blume zu bezeichnen pflegt. Dieſe Blätter nehmen an-
dere Formen, andere Farben, zum Theil auch zartere Structurver-
hältniſſe an und werden als Blüthenhülle, Kelch, Blumenkrone u. ſ. w.
bezeichnet. Endlich auf der höchſten Stufe vereinigt die Natur aber-
mals eine Anzahl ſolcher einzelnen Blumen zu einem größeren abge-
ſchloſſenen Ganzen, indem ſie dieſelben nach einem ganz ſcharf ge-
zeichneten Typus zuſammenordnet und mit Kreiſen von Blättern um-
giebt und abſchließt. Dieſe zuſammengeſetzten Blumen (wie
Linné ſie nannte) characteriſiren in der erſten Reihe der monocotyle-
donen Pflanzen die Gräſer, in der zweiten der dicotyledonen Pflan-
zen diejenige Pflanzenfamilie, zu welcher das Marienblümchen,
der Löwenzahn, die Diſteln, Artiſchocken und unzählige
andere Pflanzen gehören, die man dieſer Eigenthümlichkeit wegen als
die zuſammengeſetztblüthigen oder Compoſiten bezeichnet.
Was das kränzewindende Mädchen Kornblume nennt, iſt in der
That eine ganze Geſellſchaft kleiner, aber ganz vollſtändiger Blumen.
Wenn wir in dem Fortſchritt vom Einfacheren zum Zuſammengeſetzteren
eine Reihenfolge erkennen wollen, ſo müſſen wir offenbar die Gräſer
und Compoſiten als die höchſte Stufe der gegenwärtigen irdiſchen
Vegetation anſehen. Merkwürdig genug ſind es auch gerade dieſe
beiden Familien, welche durch ihre Arten- und Individuenzahl den
eigentlichen characteriſtiſchen Beſtandtheil der ganzen gegenwärtigen
Erdenflora ausmachen, indem bei einer Geſammtzahl von etwa
7*
[100] 300 Pflanzenfamilien die Familie der Gräſer allein 1/20, die der
Compoſiten 1/10, alſo beide zuſammen faſt 1/7 ſämmtlicher Pflan-
zenarten umfaſſen.
Ich muß mich hier damit begnügen, in der vorliegenden Skitze
die Hauptgeſichtspuncte hervorgehoben zu haben, welche beim gegen-
wärtigen Stande unſerer Wiſſenſchaft die Wendepuncte der morpho-
logiſchen Betrachtung ausmachen. Daß ſich hier im Einzelnen noch
zahlloſe Fragen und Betrachtungen aufdrängen, wird jedem Denken-
den einleuchten. Demjenigen, der noch nicht ſich gewöhnt hat durch
die äußere Erſcheinungsweiſe hindurch auf den weſentlichen innern
Zuſammenhang der Geſtaltentwicklungen zu blicken, wird es freilich
ſehr paradox vorkommen, wenn wir ihm ſagen, daß die kugelförmige
gerippte fleiſchige Maſſe eines Cactus mit ſeinen prachtvollen Blü-
then eigentlich nichts iſt als ein tropiſcher Stachelbeerſtrauch,
daß die oft 30 Fuß hohen Palmen-ähnlichen Stämme der Dracä-
nen mit mächtigen Büſcheln großer Lilienblumen durchaus demſel-
ben Formen- und Entwicklungskreiſe angehören, wie unſer unſchein-
barer Gartenſpargel, oder daß unſere an Dorfwegen überall die
Ränder ſchmückende, kriechende Käſepappel oder wilde Malve
mit den 6000 Jahre alten Rieſenſtämmen des Baobab auf der
africaniſchen Weſtküſte bei Weitem näher verwandt ſey, als mit dem
neben ihr vegetirenden wilden Mohn, und gleichwohl iſt dies Alles
unzweifelhaft wahr. Denn um noch einmal auf das oben vorge-
führte Princip zurückzukommen, bei den organiſchen Weſen entſchei-
det nicht die Erſcheinung des Gewordenen, ſondern das Geſetz des
Werdens über gleich und ungleich, ähnlich und unähnlich und die
Idee der Entwicklungsgeſchichte iſt der allein befruchtende Gedanke
in der wiſſenſchaftlichen Betrachtung des Lebendigen und beſtimmt
den Werth der Diſciplinen; deshalb ſteht auch die Pflanzenphyſio-
logie höher als die ſyſtematiſche Botanik, die vergleichende Anato-
mie höher als die beſchreibende Zoologie und die Geſchichte höher
als die Statiſtik.
[[101]]
Fünfte Vorlesung.
Vom Wetter.
Vom Meer auf's Land, vom Land auf's Meer,
Und bilden wüthend eine Kette
Der tiefſten Wirkung rings umher.’
(Fauſt.)
[[102]][[103]]
Seit lange ſchon iſt die beſſere Geſellſchaft darin übereinge-
kommen, daß es wider den guten Ton ſey, vom Wetter zu reden,
daß es nichts Langweiligeres gebe, als Wettergeſpräche und daß
man dieſelben den Matroſen und unbeholfnen Liebhabern überlaſſen
müſſe, und man verſichert ſich gegenſeitig, daß in allen Geſellſchaf-
ten, wo guter Geſchmack herrſcht, das Wetter nicht mehr als Ge-
genſtand der Unterhaltung vorkomme. Wenn ich gleichwohl mich
unterfange, heute vom Wetter zu reden, ſo will ich zwar gern zu-
geben, daß vielleicht mein Vortrag herzlich langweilig werden kann,
aber ich muß es durchaus in Abrede ſtellen, daß auch in der beſten
Geſellſchaft weniger als anderswo vom Wetter geſprochen werde,
ich muß beſtimmt darin widerſprechen, daß das Wetter ein lang-
weiliger Gegenſtand ſey. Was iſt überhaupt langweilig? — ſelten
oder nie der Gegenſtand, wohl aber die Art und Weiſe, in welcher
er behandelt wird. — Gäbe es wohl für Damen und vielleicht ſelbſt
für einige Herren einen intereſſanteren Gegenſtand als die Mode?
Und doch würde es eine Dame ebenſo langweilig finden, wenn Je-
mand das Geſpräch mit der Bemerkung einleitete: „wir haben jetzt
eine ſehr hübſche Mode,“ ebenſo langweilig meine ich, als wenn
Einer bemerkt: „wir haben heute eine ſehr ſchöne Witterung.“ —
Wie anders aber, wenn man, leicht hervorhebend, wie gut die ge-
wählte Haube zur Form des Kopfes paſſe, ſinnig zu den Hauben-
formen der verſchiedenen Nationen, zu denen berühmter Frauen
übergeht, nachweißt, welchen Einfluß Klima, Bedürfniß, Volksei-
[104] genthümlichkeit auf die Bildung gewiſſer Formen der Kleidungs-
ſtücke haben, wie der Geſchmack die ſo entſtandenen Formen ergreift,
nach ſeinem Zwecke umgeſtaltet und endlich ſich die Laune einmiſcht,
um durch das Eingreifen ihrer Bizarrerien die bunte Mannigfaltig-
keit hervorzurufen, die unſer Auge immer ergötzt, ſo lange nicht ein
überſättigter Sinn und ein verdorbener Geſchmack offenbar Häßliches
ſchaffen. — Ebenſo beim Wetter, und um ſo mehr ſo, als nichts
ſo tief in unſer körperliches und geiſtiges Leben eingreift, als eben
dieſes. Wer möchte heut zu Tage bei unſern complicirten Lebens-
verhältniſſen noch behaupten, er ſey abſolut geſund? und brauche ich
es erſt auseinander zu ſetzen, welchen Einfluß das Wetter auf einen
nicht vollkommen geſunden Menſchen ausübt, wie insbeſondere alle
die an chroniſchen Krankheiten leiden, in ihrem Wohlbefinden von
der Witterungsconſtitution abhängig ſind? Wer kennte nicht die alte
Redensart: „der Mann hat einen Kalender an ſich,“ welche ſich
auf die beſtändig wechſelnden Gefühle in einem kranken Gliede, in
größeren Wunden, oder an Amputationsflächen, ſelbſt dann, wenn
der Menſch übrigens vollkommen geſund iſt, zeigen, ſo wie ſich be-
deutende Veränderungen im Wetter zutragen. — Hier ſind es die
Nerven, die ſich im menſchlichen Körper überall hin gleichſam wie
Fühlfäden der Seele ausſtrecken, welche oft genauere und frühere
Kunde von den Veränderungen um uns geben, als die nur auffal-
lende Erſcheinungen erfaſſenden Augen. — Aber eben wegen dieſer
Nerven muß man auch behaupten, daß ſelbſt der geſunde Menſch
fortwährend den Einflüſſen der Witterung offen iſt. Von jedem
Mann kann man zwar verlangen, daß er dieſen unmerklichen Ein-
wirkungen durch den Willen zu widerſtehen vermag, daß er ihnen
auf ſein Denken und Handeln keinerlei Einfluß geſtatte. Wer aber
dieſe Einwirkung des Wetters auf ſich, auf das Gefühl der Luſt oder
des Unbehagens, der Kraft und Geſundheit oder der Niedergeſchla-
genheit und Mattigkeit ableugnen wollte, den müßte ich der Un-
wahrheit oder der mangelhaften Selbſtbeobachtung zeihen, oder ihn
als einen Mann von krankhaft abgeſtumpften Nerven beklagen. Ja,
[105] es ließe ſich vielleicht für jede Nüancirung des Wetters eine Ge-
müthsſtimmung auffinden, welcher ſie durch ihren Einfluß auf die
Nerven förderlich iſt, deren Gegentheile ſie alſo feindlich entgegen
tritt. Schon unſere Vorfahren kannten und benannten einen Wonne-
mond und in England heißt der November „the month of fog,
misanthropy and suicide.“ Thatſache iſt, daß die meiſten Selbſt-
morde dort in dieſem Monat begangen werden. Frommond erzählt,
daß beim Südwind die Einwohner der Azoren herumgehen, als
wenn ſie vor den Kopf geſchlagen wären und daß ſelbſt die kleinen
Kinder betrübt zu Hauſe ſitzen, ſtatt auf den Gaſſen zu ſpielen.
Sanctorius bemerkte, daß alle Menſchen ſich ſchwerfälliger fühlten
bei feuchtem nebligen Wetter und Unzer behauptet, daß Kranke und
Geſunde ſtets wohler ſeyen bei hohem Stande des Queckſilbers.
Schon bei Hippocrates finden wir bemerkt, daß feuchte Frühjahre
heftige Fieberepidemien nach ſich zögen und an allen Seeküſten iſt
der Glaube verbreitet, daß die Mehrzahl der Menſchen aus dem
Leben ſcheide, wenn der Mond um 90 Grad von ſeiner Culmination
entfernt ſey, nämlich zur Zeit der Ebbe. Ich führe dieſes Alles nicht
an, weil ich die Thatſachen ſelbſt für über allen Zweifel erhaben
halte, ſondern nur um zu zeigen, wie allgemein die Ueberzeugung
verbreitet iſt, daß das Wohlbefinden des Menſchen vom Wetter ab-
hängig ſey. — Wenn wir auf ſehr hohen Bergen ſind, ſo liegen
gar häufig Wolken, Regen und alle Trübſale des Wetters tief un-
ter unſern Füßen und ſo mögen auch die, welche auf den Höhen der
Menſchheit ſtehen, die Herrſcher der Völker und die Großen weniger
berührt werden von dem Wechſel des Wetters, deſto mehr hängt in
den niedern Regionen alles Wohl und alles Wehe des Lebens von
Regen und Sonnenſchein ab. Stellen wir uns einen Augenblick ne-
ben Le Sage's hinkenden Teufel und ſchauen in das Innere der Häu-
ſer hinein; hier harret die liebende Gattin des Mannes, ſie eilt dem
wiederkehrenden freundlich entgegen und wird mürriſch zurückgeſtoßen,
jubelnd läuft der ſechsjährige Bube auf den Vater zu und beſchmuzt
mit ſeinen Fingerchen deſſen Kleid. Ein derber Hieb iſt ſeine Be-
[106] grüßung; finſter wirft ſich der Mann auf's Canapee und peinliches
Schweigen herrſcht im Zimmer, mit einem Worte, wo man Liebe
und Freude geſucht, iſt Mißmuth und Trübſinn eingezogen, und
warum? der anhaltende Regen hat die Heuernte ruinirt und wegge-
ſchwemmt; der Schaden beläuft ſich auf viele tauſend Thaler.
Und dort: mit einer gewiſſen Bangigkeit blickt eine Frau in den
ſonnigen Herbſtmorgen, da ſtürmt der Mann herein, umarmt ſie
und ſpricht: „Ein köſtliches Jahr, ein Wein wie der Elfer, baaren
Gewinn von 10,000 Thaler, ſo eben verkaufte ich den ganzen Er-
trag. Freue dich mit mir, Geliebte,“ und dabei überreicht er ihr den
langerſehnten Caſchmirſhawl; Freunde kommen, um Glück zu wün-
ſchen und bis ſpät in die Nacht tönt der Jubel der Freude aus dem
Hauſe. — Das Wetter iſt es, welches hier beglückt, dort Kum-
mer bereitet.
Erheben wir uns endlich noch auf höheren Standpunkt.
Die ganze Erde liegt ausgebreitet zu unſern Füßen. Dort ſehen wir
ein weichliches Volk, der Deſpot in allen Lüſten ſchwelgend, der
Bonze allmächtig, der Paria gedrückt und getreten, Aberglaube ſtatt
Glaube, Formelweſen ſtatt Geiſt. Hier ein kräftiges Volk, ſtolz auf
ſeine Macht, „Freiheit kehrt ungehindert in die ärmſte Hütte ein
und ſchüttet Reichthum aus auf die beglückten Fluren,“ *) wie der
Dichter ſagt. Dort ſehen wir ein Volk, geiſtig entwickelt und gebildet,
wie kein anderes, beſtändig beſchäftigt mit den höchſten Aufgaben der
Menſchheit und meiſt in ihren Löſungen glücklich und bei dieſem re-
gen Geiſtesleben faſt des Leiblichen vergeſſend und ſorglos einigen
Wenigen die Leitung ſeiner Angelegenheiten überlaſſend und unter
andern Breiten derſelbe Stamm, entartet durch Schwelgen, verſun-
ken faſt in thieriſchen Genuß der Sinnenreize, über die er als deſpo-
tiſcher Herr in ſeinen eignen Angelegenheiten gebietet und unbeküm-
mert, ob es ein ſolches Ding wie eine Seele gebe, die ihr höheres
Recht auf Entwicklung und Ausbildung geltend machen könnte.
[107]
Mit einem Blick überſehen wir den fröhlichen Tahitier, den ſtum-
pfen Feuerländer, den förmlichen Chineſen, den ungebundenen Be-
duinen, den kindlichen Hindu, den männlichen Engländer, den ab-
ſtracten Deutſchen, den materiellen Yankee und alle dieſe und neben
ihnen die tauſend andern Nüancirungen der menſchlichen Natur ſind
in ihren letzten Gründen abhängig, oder doch gefördert vom
Wetter. —
Iſt es denn nur möglich, daß der Menſch dieſe ſeine Abhängig-
keit für längere Zeit vergeſſen kann? Und dieſe ungeheure Macht,
die Körper und Geiſt, das Leben des Einzelnen wie die Geſchichte
der Menſchheit beherrſcht, ſollte nicht ein würdiger Gegenſtand des
Nachdenkens, der Unterhaltung ſeyn? — Aber können wir wirklich
in dieſe Werkſtatt der Natur eindringen, oder iſt etwa der Gegen-
ſtand deshalb des Intereſſe's unwürdig, weil wir eben verdammt
ſind bei ihm ſtets auf der Oberfläche zu bleiben? Unſere heiligen
Schriften ſagen: Du hörſt wohl des Windes Rauſchen, aber du
weiſt nicht von wannen er kommt und wohin er fährt!
Leider kann ich den Vorwurf nicht ganz abweiſen, daß wir
Naturforſcher nicht gar viel von der Bibel halten. Möglich iſt es da-
bei freilich, daß eben, weil wir nicht viel davon halten, wir das
Wenige, was wir davon behalten, auch klarer, reiner und deßhalb
richtiger auffaſſen, als andere; doch das gehört nicht hierher. Ich
muß allerdings zugeben, daß, ſo weit es naturwiſſenſchaftliche Fra-
gen betrifft, wir der Bibel durchaus gar keine Autorität einräumen
können, vielmehr behaupten müſſen, daß ſie ſich dabei auf einer
menſchlich höchſt beſchränkten Stufe eines unwiſſenden und ungebil-
deten Jahrhunderts bewegt. Wir glauben jetzt allerdings recht wohl
zu wiſſen, von wannen der Wind kommt und wohin er fährt.
Doch zunächſt müſſen wir beſtimmter ſagen, was wir unter
Wetter verſtehen. Den Hauptpunkt habe ich ſchon genannt. Für un-
ſere Gegenden iſt es der Wind, der abwechſelnd nach ſeinen verſchie-
denen Richtungen uns Wolken und Sonnenſchein, Wärme und Kälte,
Regen und Schnee, Ruhe und Gewitterſturm bringt und durch al-
[108] les Dieſes dem allgemeinen Charakter der Jahreszeiten erſt die indi-
viduellen Eigenthümlichkeiten aufprägt, die wir Wetter nennen.
Alle jene verſchiedenen Erſcheinungen und vor Allen der Wind ſind
aber nur Veränderungen, verſchiedene Zuſtände der Zuſammen-
ſetzung, Ruhe und Bewegung der feinen Materie, die uns umgiebt,
und die wir als Luft bezeichnen. Treten wir hinaus in die klare
Nacht und blicken über uns aufwärts zu den Sternen, ſo erblicken
unſere Augen keine Grenze zwiſchen uns und jenen Himmelslich-
tern. Es deucht uns wohl ſo, als ob daſſelbe unſichtbare Etwas,
welches uns umgiebt, ſich ununterbrochen hinauf erſtrecken müſſe,
bis zu jenen glänzenden Welten, deren Licht ſcheinbar ſo ungehin-
dert zu uns herabſtrömt. Dem iſt aber nicht alſo. Könnten wir auf-
wärts ſteigen, ſo würden wir, ſchon ehe wir noch ein nennens-
werthes Stück unſeres Weges zurückgelegt, an der Grenze der Luft
angekommen ſeyn. Nicht unrichtig nennt ſie die dichteriſche Sprache
Luftmeer, und die kühnen Sterblichen, die ſie durchflogen, Luft-
ſchiffer. Wie eine dünne flüſſige Schicht umgiebt ſie unſeren Erdball
und nimmt an ſeinen Schickſalen Theil. Mit ihm durchfliegt ſie die
Räume des Weltalls in ſeinem Laufe um die Sonne, mit ihm
dreht ſie ſich in gleicher Schnelligkeit von Weſt nach Oſten um ſeine
Axe. Thäte ſie dieſes nicht, oder bewegte ſie ſich auch nur langſa-
mer, als er, ſo würden wir, die wir an den Boden und ſeinen
Umſchwung gefeſſelt ſind, uns durch ſie durchdrängen müſſen, ſie
würde uns als Sturmwind entgegen zu kommen ſcheinen, eine
Thatſache, die, wie ſich ſpäter erweiſen wird, von großem Ein-
fluſſe auf die Theorie der Winde iſt. Ich habe die Luft eine Flüſſig-
keit genannt und das iſt ſie in der That. Sie fließt aus einem
Raum in den andern und eben dieſe Luftſtröme nennen wir Winde.
Aber, wird man fragen, wo iſt denn der Raum, in welchen ſie ein-
ſtrömen könnte, da ja überall Luft verbreitet iſt, alſo überall Gleich-
gewicht herrſchen muß, wie in einem ruhig ſtehenden Gefäße mit
Waſſer? — Um dies zu erläutern, muß ich zunächſt eine der wich-
tigſten Eigenſchaften der Luft näher aus einander ſetzen. Die
[109] Wärme hat bekanntlich die Eigenſchaft, die Körper, welche ſie durch-
dringt, auszudehnen. Ein Eiſenſtab, wenn er glühend gemeſſen wird,
iſt breiter, dicker und länger, als derſelbe Stab, nachdem er wieder
vollſtändig erkaltet iſt. Daſſelbe gilt auch für die Luft, ſie wird aus-
gedehnter und in Folge deſſen auch leichter, wie die einfachſte Form
des Luftballons, die nach ihrem Erfinder ſogenannte Montgolfière
beweiſt, welche dadurch ſteigt, daß man die gemeine, in einem unten
offnen Ballon eingeſchloſſene Luft durch eine ſtarke, unten angebrachte
Flamme erhitzt. Die leichter gewordene Luft ſteigt dann durch die
kältere Luft wie Oel durch's Waſſer in die Höhe und ſchwimmt auf
derſelben. — Liegt die kalte Luft auf einer ſchrägen Fläche, ſo fließt
die wärmere auf der kalten Luft herab, wie Waſſer an einem Berge,
ſcheinbar ohne ſich, wenn der Temperaturunterſchied bedeutend iſt,
mit derſelben zu vermiſchen.
Da aber die warme Luft dünner iſt, als die kalte, d. h. weil in
einem gleichen Raume weniger Luft iſt, wenn ſie warm als wenn ſie
kalt iſt, ſo fließt auch die kalte Luft in jeden Raum hinein, der er-
wärmt iſt und zwar, weil ſie ſchwerer iſt, am Boden. Oeffnet man
in ſehr kaltem Winter die Thür eines erheizten Zimmers, ſo ſtrömt
die kalte Luft am Boden ein, die warme Luft in der Höhe aus, was
ſich deutlich durch die Bewegung einer hoch oder tief in die Thür ge-
haltenen Lichtflamme zu erkennen giebt. Dies iſt im Kleinen die Ver-
anlaſſung zu dem von dem zarten Frauengeſchlecht und auch von
einigen zarten Herren ſo ſehr gefürchteten Zuge. Dies im Großen die
Urſache deſſen, was der Matroſe nach Umſtänden durch Beten und
durch Pfeifen herbeiruft, oder verflucht, die Urſache des Windes und
der Stürme. Freilich wird man mir antworten, daß wir damit immer
noch nicht klüger geworden ſind. Denn wenn um den kahlen Gipfel
des Brockens die Frühlingsſtürme brauſen und in ſchaurigem Treiben
den Schnee aufwirbeln, daß der geblendete Wanderer nur noch hun-
dert Schritte vom gaſtlichen Hauſe entfernt, ſich verirrt und eine
Beute des Todes wird, ſo frägt ſich's immer noch, wo iſt denn hier
das geheizte Zimmer und wo die geöffnete Thür? und am Ende be-
[110] hält die alte Rede doch Recht, die den für einen klugen Mann erklärt,
der immer weiß', woher der Wind weht. — Ich getraue mir aber
nachzuweiſen, daß das gar ſo ſchwer nicht ſey, denn jene Redensart
ſetzt voraus, daß es ſo viele Winde auf Erden gebe, als die Wind-
roſe des Compaſſes Puncte hat, während es doch in der That eigent-
lich nur zwei Winde giebt.
Indeß, ehe ich zur Erklärung dieſer ſonderbar ſcheinenden Be-
hauptung übergehe, muß ich noch einer anderen Eigenſchaft der Luft
erwähnen, die für die Erſcheinungen, die wir Wetter nennen, nicht
minder wichtig wird. Ich knüpfe an eine Allen bekannte Erſcheinung
an. Wenn man ein ganz trocknes aber recht kaltes Glas in ein war-
mes Zimmer bringt, ſo beſchlägt es, wie man ſagt, d. h. es bedeckt
ſich plötzlich mit kleinen Waſſertröpfchen, und zwar um ſo ſtärker, je
größer der Unterſchied zwiſchen der Wärme der Zimmerluft und der
Kälte des Glaſes iſt. Woher kommt dieſes Waſſer? Sicher nicht aus
dem Glaſe, denn dieſes war vorher trocken, ſondern aus der Luft in
der Stube. Der Grund, daß dieſes vorher unſichtbare, luftförmige
Waſſer plötzlich in Geſtalt kleiner ſichtbarer Tropfen erſcheint, liegt
in dem Unterſchiede der Temperatur der Luft in der Stube und der
Luft in der Nähe des kalten Glaſes und es zeigt ſich hierdurch zugleich
das Geſetz, daß die Luft um ſo mehr unſichtbares Waſſer enthalten
kann, je wärmer ſie iſt. Dieſes ganze Verhältniß iſt die Urſache der
Wolkenbildung, des Regens, Schnee's und ähnlicher Erſcheinungen
auf der Erde.
Beide Betrachtungen aber, ſowohl über die Urſachen des Win-
des, als über die Bildung der wäſſrigen Niederſchläge der Atmo-
ſphäre führten uns zu einer Kraft, von welcher beide Erſcheinungen
wiederum abhängig ſind, nämlich zur Wärme. Suchen wir nach der
allgemeinen Quelle derſelben, ſo werden wir auf die Sonne gewieſen.
Sie iſt die Allbewegerin auf Erden und auf eine wunderbare einfache
Weiſe unterhält ſie an der Erde einen beſtändigen Kreislauf der
Stoffe, wodurch allein das Leben der organiſchen Weſen, der Pflan-
zen und Thiere möglich gemacht wird. Schon der Kaiſer Aurelian
[111] ſagte, daß er unter allen den Göttern, welche die welterobernde Roma
von den Beſiegten entlehnt und in ſich verſammelt hätte, keinen der
Anbetung wahrhaft würdig gefunden habe, als die Sonne, und unter
allen Formen des Heidenthums iſt gewiß die erhebenſte Feier die,
wenn der Parſe frühmorgens am Ufer des Meeres harrt und bei den
erſten Strahlen der Sonne, die über die tanzenden Wellen hinzucken,
ſich mit dem Antlitz zu Boden wirft um im ſtillen Gebet die Wieder-
kehr der Allbelebenden und Allzeugenden zu begrüßen.
Leider iſt hier abermals der Ausſpruch der Bibel, welcher eine
gleiche Vertheilung der himmliſchen Gaben an alle Menſchen be-
hauptet („der Herr läßt es regnen über Gerechte und Ungerechte“)
unrichtig und der Menſch hat je nach ſeinem Wohnplatz auf der Erde
ſehr verſchiedenen Antheil an dem erwärmenden und belebenden Ein-
fluß der Sonne. Nur dann ſpendet ſie ihren Seegen im höchſten
Maße, wenn ihre Strahlen ſenkrecht den Erdboden treffen und dies
geſchieht wegen der Stellung der kugelrunden Erde zur Sonne nur
in einer ſchmalen Zone zu beiden Seiten des Aequators, im Ganzen
etwa nur in einem Viertel der ganzen Länge vom Südpol bis zum
Nordpol. Von dieſem Gürtel an nimmt ihre Einwirkung ſo ſchnell
ab, daß ſie ſchon durchſchnittlich im 70° nördlicher und ſüdlicher
Breite nicht im Stande iſt, den gefrornen Boden tiefer als wenige
Fuß aufzuthauen und im 80° auch die Oberfläche ſogar im höchſten
Sommer von unſchmelzbarem Eiſe ſtarrt. Der Aequator ſelbſt liegt
zweimal im Jahre, zur Zeit der Herbſt- und Frühlings-Tagundnacht-
gleiche, unter den ſenkrechten Strahlen und ebenfalls jeder Ort in der
eben bezeichneten Zone, aber ſo, daß die Zeitpuncte immer näher zu-
ſammenrücken bis ſie unter den Wendekreiſen zuſammenfallen, welche
nur einmal im Jahre, und zwar der Wendekreis des Krebſes zur Zeit
unſeres längſten Tages, der des Steinbocks zur Zeit unſeres kürzeſten
Tages, von den ſenkrechten Strahlen der Sonne durchwärmt werden.
Wenn der Schiffer auf ſeiner Fahrt nach Süden mitten im at-
landiſchen Oceane ſich dem Aequator nähert, ſo ergreift bange Furcht
die ganze Equipage. Früher oder ſpäter, je nach der Jahreszeit, wird
[112] der günſtige Wind, der ihn bis dahin getragen, ſchwächer und ſchwä-
cher, er ſchweigt anfänglich für kurze Zeit und zuletzt gänzlich. Um
ihn breitet ſich das Meer aus, eine endloſe Spiegelfläche. Das vor
Kurzem noch einem Vogel gleich dahin fliegende Schiff liegt feſtge-
bannt auf dem flüſſigen Kryſtall. Die ſenkrecht herabfallenden Strahlen
der Sonne durchglühen den engen Raum, auf welchem die Menſchen
eingeſchloſſen ſind. Das Verdeck brennt durch die Sohlen der Schuhe.
Ein erſtickender Dunſt füllt die Räume. Schon vierzehn Tage liegt
der ſtolze Beherrſcher der Meere unbeweglich auf derſelben Stelle.
Der Vorrath des trinkbaren Waſſers iſt verzehrt. Glühender Durſt
heftet die lechzende Zunge an den Gaumen. Mit wilden, mordſchwan-
gern Blicken der Verzweiflung ſieht jeder ſeinen Leidensgefährten an.
Die Sonne ſinkt herab, in eigenthümlichem Kupferroth leuchtet
der abendliche Himmel. Und mit der emporſteigenden Nacht erhebt
ſich auch eine ſchwarze Mauer in Oſten, ein leiſes ſchrilles Pfeifen
tönt aus der Ferne, von woher ein weißer Schaumſtreifen über den
ſchwarzen Ocean heranzieht. Das Schiff bewegt ſich und ſchwankt
auf den unregelmäßig ſich erhebenden Wellen, aber noch hängen die
Segel ſchlaff am Maſte herunter und klappern unheimlich an die
Stangen. Da plötzlich raſt der Sturm mit furchtbaren Brüllen heran,
kreiſchend zerreißen die Segel und fliegen in Fetzen davon, ein lautes
Krachen, ein zweites, und der Hauptmaſt fliegt über Bord, mit An-
ſtrengung gelingt es der Mannſchaft ſeine letzten Stricke zu durchhauen
und nun fliegt das Schiff auf dem Ocean dahin, bald hoch auf den
Rücken der Wellen gehoben, bald hinabgeſchleudert in die Tiefe, daß alle
Rippen beben und knirſchen als wollten ſie von einander weichen. —
Endlos rollt der Donner, die Blitze zucken ohne Aufhören durch die
empörte Atmoſphäre. In Strömen ſtatt in Tropfen ſtürzt der Regen
herab. Zehnmal glauben ſich die Schiffenden verloren, wenn der
zitternde Bau in den Abgrund der Wellen hinabſtürzte und immer
wieder erhebt er ſich. Endlich läßt der Sturm nach, einzelne Stöße
folgen immer ſeltener, die Wellen ebnen ſich und wenn die tröſtende
Sonne im Oſten herauf ſteigt, beleuchtet ſie daſſelbe troſtloſe Bild,
[113] wie am vorigen Tage. Spiegelglatt dehnt ſich wieder die endloſe
Fläche aus, nach acht Tagen iſt der geſammelte Waſſervorrath ver-
zehrt und abermals ſchauen ſich die ſtumm herumſchleichenden Geſpen-
ſter mit mordgierigen Blicken an. Ein neuer Sturm, eine neue Wind-
ſtille und ſo in ſchrecklichem Wechſel fort, bis endlich das Schiff jen-
ſeits des Aequators wieder in die Region der friedlichen Paſſate ge-
jagt iſt. — Hunderte von Schiffen ſind ſchon hier in den Stürmen
zu Grunde gegangen, Hunderte haben durch den ſchrecklichſten Tod des
Verdurſtens ihre Mannſchaft verloren. Und die, welche die ſchreck-
liche Region der Calmen, oder Windſtillen, ſo nennt ſie der Schiffer,
überſchritten haben, wenden ſich im ernſten Gebet zum Himmel und
danken für das neugewonnene Leben.
Das deutſche Mährchen nennt eine Höhle, in der Frau Holle
ſitzt und das Wetter braut. In der Wirklichkeit iſt jene Region der
Windſtillen und Stürme Frau Hollens Höhle. Dort wird das Wetter
gemacht für den ganzen Erdkreis.
Die Sonne, welche ſich zweimal im Jahre ſenkrecht über dieſer
Region befindet, nie ſich weit genug entfernt, daß eine Abkühlung
eintreten könnte, durchglüht hier die Atmosphäre ſo ſehr, daß ſie
durch die Hitze dünner, leichter geworden, in einem fortwährend
aufſteigenden Strome (courant ascendant) ſich befindet. Gleichzeitig
verdunſtet von der ungeheuren Fläche des atlantiſchen und ſtillen
Oceans eine namenloſe Menge von Waſſer, welche ſich in der heißen
Luft verbreitet und mit ihr emporſteigt. Aber ſo wie die Luft höher
und höher ſich von der Erde erhebt, kühlt ſie ſich mehr und mehr ab,
oft plötzlich um viele Grade und ein großer Theil des mitgenommenen
Waſſers ſchlägt ſich nun plötzlich in Tropfenform nieder, dadurch
werden große Veränderungen in der Electricität der Atmosphäre her-
vorgerufen und ſo bilden ſich die furchtbaren, ſchnell entſtehenden und
ſchnell vergehenden Gewitterſtürme in der Gegend, die ſonſt wegen
des beſtändigen Aufwärtsſteigens der Luft völlig windſtill erſcheint.
Anders aber geſtaltet ſich die Sache an den beiden Grenzen dieſer
Zone. Die in Folge der Hitze fortwährend aufſteigende Luft läßt einen
Schleiden, Pflanze. 8
[114] Raum zurück, der nur äußerſt verdünnte Luft enthält und in dieſen
ſtrömt von Norden und Süden her beſtändig die kalte Luft mit großer
Heftigkeit und Stetigkeit hinein. Dies iſt der eine Wind der Erde,
wir wollen ihn, weil er von den Polen nach dem Aequator zu fließt,
den Polarſtrom nennen. Auf der nördlichen Halbkugel iſt er natürlich
ein Nordwind, auf der ſüdlichen ein Südwind. Wir müſſen aber
bedenken, daß ein ſolcher Strom oder Wind nur ein ſich fortbewegen-
der Theil der Atmosphäre und daß dieſe in allen ihren Theilen an
die Erde und ihre Schickſale gebunden iſt und, wie ſchon erwähnt,
ſich mit derſelben von Weſten nach Oſten um ihre Axe dreht. Dies
geſchieht aber in verſchiedenen Gegenden, wie ſchon ein Blick auf die
Erdkugel lehrt, in ungleicher Schnelligkeit. Während am Pol ſelbſt
ſich die Luft nur um ſich ſelbſt dreht, ohne vorwärts zu kommen, ſo
legt die Luft am Aequator in Einer Stunde einen Weg von mehr als
200 Meilen zurück. Denken wir uns nun die Luft des Poles plötzlich
an den Aequator verſetzt, ſo wird längere Zeit vergehen, ehe ſie die-
ſelbe Geſchwindigkeit von Weſten nach Oſten angenommen, als die
dort befindliche Luft, ſie wird gegen dieſe zurückbleiben, indem die
Erde gleichſam unter ihr weggleitet, oder, mit andern Worten, ſie
wird als Luft erſcheinen, die ſich von Oſten nach Weſten bewegt,
d. h. als Oſtwind. Wenden wir dieſes auf die Polarſtröme an, ſo
ergiebt ſich, daß dieſe, je länger ſie wehen, je mehr ſie ſich dem Aequa-
tor nähern, um ſo mehr als Nordoſt- und Südoſtwinde erſcheinen
müſſen. In der That zeigt ſich uns zu beiden Seiten der Region der
Windſtillen und Stürme eine Region, in welcher Jahr aus Jahr ein,
hier ein Oſtnordoſt-, dort ein Oſtſüdoſtwind, der allen Schiffern be-
kannte Paſſatwind, weht.
Erwähnen wir nun noch, daß die Polarluft die ſchwerere, käl-
tere, trocknere iſt, daß alſo beim Nord, Nordoſt und Oſt (alle drei
ſind ja derſelbe Wind) das Barometer ſteigen, das Thermometer ſin-
ken und der Himmel heiter werden muß, ſo haben wir alle weſent-
lichen Eigenſchaften des einen Hauptwindes, des Polarſtromes,
genannt.
[115]
Wir müſſen aber weiter nach den ferneren Schickſalen der er-
wärmten Luft fragen, welche in den Tropen den beſtändig aufſteigen-
den Strom bildet. Je höher ſie ſich erhebt, deſto mehr kühlt ſie ſich
ab und in Folge deſſen wird ſie ſchwerer und fängt an zu ſinken; da
aber unter ihr der ſchwere, kalte Polarſtrom gleichſam einen feſten
Boden bildet, ſo fließt ſie auf dieſer Luftſchicht ab gegen die Pole
hin und bildet ſo den zweiten auf der Erde herrſchenden Wind, den
man nach ſeinem Urſprunge paſſend den Aequatorialſtrom benennt.
Für uns iſt derſelbe ein Südwind, für die ſüdliche Erdhälfte natürlich
ein Nordwind. — Aber ſo wie der Polarſtrom bei ſeinem Fortrücken
gegen den Aequator ſich allmälig in einen Oſtwind umänderte, ſo
wird aus denſelben Gründen der von dem Aequator zu den Polen
abfließende Luftſtrom, im entgegengeſetzten Sinne abgelenkt, allmälig
zum Weſtwind. Auch kommen dieſem Aequatorialſtrom natürlich ge-
rade die entgegengeſetzten Eigenſchaften zu, wie dem Polarſtrome, er
iſt leichter, wärmer und feuchter, er bringt das Barometer zum Fallen,
das Thermometer zum Steigen und bedingt Bildung von Wolken,
Regen und Schnee. Durch beide Ströme in Verbindung mit einan-
der wird eine beſtändige Circulation in der geſammten Atmosphäre
der Erde unterhalten, welche es unmöglich macht, daß irgendwo,
durch locale Einflüſſe bedingt, ein den Organismen weſentlicher Stoff
der Atmosphäre, z. B. Sauerſtoff oder Waſſerdampf, vollſtändig ver-
zehrt werde, oder ein ſchädlicher, z. B. Kohlenſäure, ſich übermäßig
anhäufe. So iſt alſo das Beſtehen der ganzen belebten Natur an
dieſen Kreislauf gebunden.
Beim erſten Anblick ſcheinen die einfachen und großartigen Züge
des Grundgeſetzes der atmosphäriſchen Veränderungen wie ich es
ſo eben zu ſkitziren verſucht habe, durchaus nicht zu paſſen zu dem
ſcheinbar ſo launenhaften Spiel des Wetters, wie es uns erſcheint
und welches geradezu als Prototyp der Veränderlichkeit und Unbe-
ſtändigkeit gilt. Das Folgende mag dazu dienen, dieſen ſcheinbaren
Widerſpruch aufzuklären. Nach den Witterungserſcheinungen können
wir die Oberfläche unſerer Erde in zwei ungleiche Theile theilen, in
8*
[116] die Region des beſtändigen Wetters und in die Region des veränder-
lichen. So weit ſich der Einfluß der Paſſatwinde an beiden Seiten
der Tropenregion erſtreckt, kann man faſt auf Tag und Stunde das
Wetter auf viele Jahre vorherſagen. Die mittlere Zone (vom 2°—4°
n. B.) iſt die, in welcher ohne Unterbrechung durch das ganze Jahr
hindurch mit großer Hitze und Windſtille nächtliche Platzregen und
Gewitterſtürme wechſeln. Zu beiden Seiten nach Norden und Süden
folgt eine Zone (vom 4°—10° n. Br.), wo die ſo eben genannten
Erſcheinungen nur im Sommer eintreten, im Winter dagegen der
Paſſatwind einen regenloſen Himmel bedingt. Sodann folgt eine
Zone (vom 10°—20° n. Br.), wo im Winter und Sommer der un-
ausgeſetzt wehende Paſſat keine Trübung des ewig blauen Himmels
duldet und oft viele Jahre vergehen, ehe ein kurzer ſchnell vorüber-
ziehender Regen die dürſtende Erde erquicket. Endlich bildet gegen
Norden und Süden noch eine Zone (vom 20°—30° n. Br.) die
Grenze des beſtändigen Wetters, in welcher die Paſſate einen regenloſen
Sommer bedingen, der Winter aber einen warmen, jedoch nicht ganz
beſtändigen Regen bringt. Die ungefähre Angabe der Breiten bezieht
ſich nur auf die nördliche Halbkugel und den atlantiſchen Ocean,
den einzigen Ort, für welchen wir genügend genaue Beobachtungen
beſitzen. Nun folgt aber eine Breitenzone von etwa 24 Breitengraden,
in welcher ein beſtändiges Kämpfen der Polarſtrömungen mit den
zurückkehrenden Aequatorialſtrömen ein durchaus veränderliches Klima
erzeugt, welches uns eben deshalb ſo launenhaft und zufällig erſcheint,
weil die Bedingungen, von welchen das Vorherrſchen des einen oder
des andern Stromes in einer gegebenen Localität abhängt, ſo com-
plicirt ſind, daß wir das Geſetz für die Veränderungen noch nicht
haben aus den verſchiedenen Beobachtungen ableiten können. Gehen
wir der Sache genauer nach, ſo zeigt ſich uns nämlich Folgendes.
Nach dem ſo eben Angeführten giebt es nur zwei Windſtröme auf der
Erde, den von den Polen zum Aequator wehenden und den von dort
zu den Polen zurückkehrenden. Denken wir uns irgend einen Ort in
der Region des ſogenannten veränderlichen Wetters, etwa in Deutſch-
[117] land, und nehmen wir an, daß dieſer Ort gerade in der Richtung
des Polarſtromes liegt. Es weht ein Nordwind, die Luft iſt kalt, der
Himmel heiter und bleibt ſo, während der Wind nach und nach ab-
weicht und zuletzt als reiner Oſtwind erſcheint, deſſen trockene ſauer-
ſtoffreiche Polarluft dem Bruſtkranken ſo gefährlich iſt. Dieſer Oſt-
wind weht ſo lange, bis ihn ein anderer Wind ablöſt, nun giebt es
aber keinen andern als den Aequatorialſtrom, der ſtets als Südwind
beginnt und das Zuſammentreffen dieſes Südwindes mit dem Oſt-
winde bringt zunächſt mittlere Richtungen, ſüdöſtliche Winde hervor,
in denen die feuchte, warme Luft des Aequatorialſtromes durch den
kalten Polarſtrom abgekühlt und gezwungen wird, einen Theil ihres
aufgelöſten Waſſers als Wolken, als Schnee oder Regen niederzu-
ſchlagen. Allmälig wird der Aequatorialſtrom herrſchend, es wird
bei Südwind hell und warm und bleibt ſo, bis allmälig der Aequa-
torialſtrom mehr und mehr nach Weſten abweicht. Ihn kann wiederum
nur der nördliche Polarſtrom ablöſen, deſſen Vermiſchung mit der
feuchten Luft abermals im Nordweſtwinde häufige atmosphäriſche
Niederſchläge hervorruft. Es ſind dies die kalten feuchten Tage, welche
ſo ſchwer von denen ertragen werden, welche an Nervenſchwäche leiden.
So geht es fort, ſtets in derſelben Ordnung, die man jetzt, nach dem,
der zuerſt wiſſenſchaftlich dieſe längſt bekannte Thatſache auffaßte,
das Dove'ſche Geſetz der Drehung der Winde genannt hat, und wir
können mit großer Sicherheit das Wetter auch in dieſen Regionen
vorherſagen, nur nicht für beſtimmte Zeiträume, da uns die Beding-
ungen unbekannt ſind, an welche die Dauer des einen oder des an-
dern Stromes oder ihres Kampfes im Südoſt- und Nordweſtqua-
dranten geknüpft iſt.
Merkwürdiger Weiſe umfaßt dieſe Zone des Veränderlichen,
welche man als die ungünſtigſte für die Entwicklung des Menſchenge
ſchlechtes anſehen möchte, faſt ganz das mittlere Aſien, die Nordküſte
von Afrika, Europa und Nordamerika, alſo den ganzen Schauplatz,
auf welchem ſich die Geſchichte der Menſchheit und ihre allmälige
geiſtige Entwicklung bewegt. Vielleicht hängt dieſe Erſcheinung damit
[118] zuſammen, daß dieſe Region ebenfalls auf die Entwicklung der Pflan-
zenwelt einen ſo eigenthümlichen Einfluß hat, daß ſie nicht ohne Bei-
hülfe menſchlicher Thätigkeit die nöthige Menge Nahrungsſtoff für
eine irgend beträchtliche Menſchenmenge produciren kann und daher
ſchon bei Befriedigung des erſten und dringendſten Bedürfniſſes den
Menſchen zu geiſtiger Anſtrengung aufforderte. Jenſeits dieſer Region
endlich, in der Nähe der Pole ſcheint das Klima wieder einfacheren
Geſetzen ſich zu unterwerfen, aber aus leicht begreiflichen Gründen
fehlen uns auch für jene Gegenden die genügenden Beobachtungen,
um mit Sicherheit darüber abſprechen zu können.
Haben wir ſomit auf der einen Seite in großartigen Hauptzügen
uns die Vertheilung des Wetters auf der Erde ſkitzirt, und das ein-
fache Geſetz gefunden, welches ſeinem Wechſel zu Grunde liegt, ſo
dürfen wir auf der andern Seite nicht vergeſſen, daß dieſe geſetzmäßige
Vertheilung nur dann für die Erde Gültigkeit haben würde, wenn
ihre Oberfläche überall dieſelbe wäre, wenn ſie entweder überall mit
Waſſer bedeckt, oder überall mit einer gleichen ebenen Erddecke um-
hüllt wäre. Das iſt ſie aber nicht und die Verſchiedenheit zwiſchen
Meer und Land, Ebenen und Gebirgen, nackten Sandwüſten und
dichten Waldſtrecken u. ſ. w. bringen ſo große Störungen in jene
einfachen Geſetze, daß es lange gedauert hat, bis man dieſe unterge-
ordneten Verhältniſſe überſehend ſich zur Erkenntniß jener einfachen
Grundlagen durchgefunden hat. Alexander von Humboldt iſt hier
der Erfinder der wiſſenſchaftlichen Meteorologie, Dove der, welcher
das Syſtem zuerſt nach allen Seiten mit eminentem Talente ent-
wickelt hat.
Von den Einflüſſen, welche die einfache Geſetzmäßigkeit in der
Vertheilung des Wetters weſentlich modificiren, iſt eine der wichtig-
ſten die eigenthümliche Vertheilung von Land und Waſſer auf der
Erde. Das Land erwärmt ſich, den Sonnenſtrahlen ausgeſetzt, viel
ſchneller, und nimmt eine viel höhere Temperatur an, als das Waſſer,
welches ſich dafür auch, einmal erwärmt, um ſo langſamer abkühlt.
Der nächſte Erfolg davon iſt, daß die heißeſte Zone, die Region der
[119] Windſtillen, nicht gleichmäßig an beiden Seiten des Aequators ver-
theilt iſt, ſondern wegen der größern Maſſe des Landes auf der Nord-
hälfte, ganz dieſſeits des Aequators liegt. Am Auffallendſten iſt dieſes
Hinaufrücken nach Norden im Oſtindiſchen Meere zu bemerken, wo
im Winter zwar der Nordoſtpaſſat weht, im Sommer aber vollſtändig
verdrängt und durch den übergreifenden Südoſtpaſſat erſetzt wird.
Dieſer muß aber, ſobald er den Aequator überſchreitet, wegen der
Drehung der Erde nach Weſten abweichen und ſo bilden hier die beiden
Paſſate die ſo regelmäßig von 6 zu 6 Monaten abwechſelnden Nordoſt-
und Südweſtwinde, die die Schiffer als Monſoons bezeichnen. Viel
wichtiger und intereſſanter für uns Europäer iſt aber die andere That-
ſache, daß durch die große, bis zur höchſten Gluth von der Sonne durch-
wärmte Sahara gerade im Süden von Europa die Region der Calmen,
und ſomit auch die Region der Polarſtrömungen od. Paſſate, ſoweit nach
Norden hinauf geſchoben wird, daß die zurückkehrenden warmen Aequa-
torialſtröme erſt viel weiter nördlich, als in Amerika und Aſien der Fall
iſt, den Boden erreichen, oder, wenn ſie früher herabkommen, in Italien
als Sirocco, in den Alpen als Föhn ungleich heißer bei uns anlangen,
als anderwärts. Darauf zum großen Theil beruht es, daß Europa bis
weit gegen den Pol hin ein ſo viel milderes Klima hat, als alle an-
dern unter gleicher Breite gelegenen Gegenden. Während am Ranen-
fiord in Norwegen noch Roggen gebaut wird, ſtarrt in Nordamerika
unter gleicher Breite Alles faſt während des ganzen Sommers von
Schnee und Eis. Während bei Drontheim noch Weizen wächſt, iſt
an der Houdſonsbay in gleicher Breite keine menſchliche Niederlaſſung
mehr möglich; und in Sibirien thaut unter demſelben Parallelkreiſe
der Boden ſelbſt im höchſten Sommer etwa nur zwei Fuß tief auf.
Drontheim hat etwa die Temperatur von Canada, welches doch noch
ſüdlicher als Paris liegt. In Newyork in gleicher Breite mit Neapel
blühen die Bäume erſt zur ſelben Zeit wie in Upſala. Spitzbergen hat
noch eine Art von kurzen Sommer, während ein warmer Sommertag
auf der 3 Breitengrade ſüdlicher gelegenen Melvillesinſel 14° Kälte hat.
Indeſſen verdankt Europa dieſen Vorzug doch nicht allein dem
[120] angegebenen Verhältniß. Es bleibt noch ein weſentliches Moment zu
erwähnen, welches an der Vertheilung der Wärme und ſomit des
Wetters auf der Erde einen nichts weniger als unbedeutenden Antheil
hat. Dies ſind die Strömungen des Waſſers in den großen Oceanen.
Hier bringt nämlich die Erwärmung durch die Aequatorialſonne ganz
ähnliche Erſcheinungen hervor wie in dem Luftmeere; auch hier ent-
ſtehen Polarſtröme, welche das kalte Waſſer nach der Linie führen
und rückkehrende Aequatorialſtröme, welche das wärmere Waſſer wieder
nach dem Pole zurückbringen. Natürlich werden aber dieſe Strö-
mungen, eingeſchloſſen in die vom feſten Lande gebildeten Betten,
gehindert oder gefördert in ihrem Laufe von ſubmarinen Gebirgszügen,
noch bei Weitem mehr von der aus dem Princip zu conſtruirenden
Regelmäßigkeit abweichen, als die ungefeſſelt oft ſelbſt über die höch-
ſten Berge dahinbrauſenden Luftſtrömungen. Aber einer dieſer rück-
kehrenden Aequatorialſtröme, deſſen Wäſſer im Golf von Mexico wie
in einen Keſſel gekocht ſind, fließt in nordöſtlicher Richtung gerade
gegen die Weſtküſte von Europa ab und bringt dieſer die Wärme,
welche er an der Küſte von Veracruz und Tampico in ſich aufgenom-
men. Dies iſt der Golfſtrom, deſſen Lauf den Schiffer mit der Schnel-
ligkeit von 1½ Meile in der Stunde vom klippenſtarrenden Cap
Hatteras bis in die ſtürmiſche Bay von Biscaja führt und Producte
der weſtindiſchen Inſeln bis an die Küſten von Irland treibt.
Eine andere Folge der verſchiedenen Erwärmung von Land und
Meer iſt die Erſcheinung, welche alle Küſten darbieten, daß während
des Tages ein ſtarker Zug nach dem ſtark erwärmten Lande von dem
kühleren Meere her „ein Landwind“ weht, der Abends in den ſoge-
nannten „Seewind“, den Zug vom ſchnell ſich abkühlenden Lande auf
das lange warm bleibende Meer, umſpringt. Abends verläßt der
Schiffer den ſicheren Hafen, der Abſchiednehmende findet Troſt in
den Armen des Schlafes, Morgens ſteuert der Schiffer zum Port und
wer nach langer Abweſenheit aufs Neue die Heimath begrüßt, erblickt
ſie im Glanz der aufgehenden Sonne.
Es würde hier zu weit führen, wollte ich alle die einzelnen Ver-
[121] hältniſſe entwickeln, welche dazu mitwirken, dem einfachen geſetzmä-
ßigen Gang der Witterungserſcheinungen die zahlloſen kleinen Ab-
weichungen einzuprägen, welche für jeden Ort den Localcharacter des
Klimas bedingen. — Aber erwähnen, wenn auch nicht ausführen,
muß ich noch eine der wichtigſten Erſcheinungen, welche mit der An-
ordnung des Wetters zuſammenhängt.
Wir haben geſehen, wie die Wärme und ihre verſchiedene Ver-
theilung nach Breite und Länge, nach Höhe und Tiefe eigentlich das
Grundphänomen iſt, um welches ſich die übrigen gruppiren, von wel-
chem ſie abhängig ſind. Auf's Innigſte iſt damit der Feuchtigkeitsgrad
der Luft verbunden und Wärme und Feuchtigkeit ſind die Grundbe-
dingungen für alles Pflanzenleben. Von jenen beiden Hauptmo-
menten hängt alſo auch zum großen Theil die Vertheilung der Pflan-
zen auf der Erde ab. Und der Pflanze folgt die Thierwelt, da die
Pflanzenfreſſer direct, die Fleiſchfreſſer indirect an beſtimmte Pflanzen-
formationen gebunden ſind. So iſt nicht blos warm und kalt die
Folge der Stellung der Sonne zur Erde, ſondern das ganze Leben
derſelben, das Wirken ihrer mächtigſten Kräfte, im tobenden Orkan,
welcher vier und zwanzigpfündige Kanonen durch die Luft ſchleudert*)
bis zur unſcheinbaren Arbeit des kleinſten Infuſorium, das Rauſchen
der Chileniſchen Fichte und das leiſe Flüſtern der nordiſchen Birke,
das Brüllen des Löwen, der die Gazelle würgt, bis zum Pfeifen des
Käuzchens, welches Mäuſe fängt, und deſſen unheimliche Stimme
der wachgerufene Aberglaube als „Komm mit, komm mit“ deutet. —
Wir werden vom Fuchs und Tiger zu Huhn und Giraffe, von dieſen
zu Gerſtenfeldern und Acacienhainen, von dieſen zur gemäßigten Zone
Europas und zu den glühenden Savannen Afrikas gewieſen. Das
Erſte, nicht nur Belebende und Erregende, ſondern auch das erſte Ord-
nende iſt die Sonne, und ihre glänzenden Strahlen ſind die Griffel
mit denen ſie Licht und Schatten, das glühende Gelb des dürren
Sandes und das kühle Grün der feuchten Wieſe, mit denen ſie die
[122] Geographie der Pflanzen und Thiere auf die Erdoberfläche zeichnet
und ſelbſt den Entwurf zu einer ethnographiſchen Karte für das Men-
ſchengeſchlecht ſkitzirt. —
Und wenn wir dieſen innern Zuſammenhang durchblicken, wenn
wir erkennen, daß die alles Uebrige beherrſchenden Grundzüge ſich
vielleicht nirgends ſo ſcheinbar regellos, ſo abnorm zeigen, als in
unſerm gebildeten Europa, während ein Theil der Tropengegenden
die einfachen Grundgeſetze Jedem verſtändlich ausſpricht, wenn wir
ſomit finden, daß das, was den Fortſchritt in allen Disciplinen be-
dingt, die Erkenntniß der Naturgeſetze, faſt nur in fremden Regionen
möglich iſt, ſo erklärt ſich uns hier noch eine Erſcheinung, die ſonſt
räthſelhaft und unerklärlich in der Geſchichte der Menſchheit daſtehen
würde, daß nämlich in jeder mit den Naturwiſſenſchaften nur entfernt
zuſammenhängenden Lehre, und zumal in jenen ſelbſt, der Fortſchritt
aufs Engſte mit Erweiterungen unſerer geographiſchen Kenntniſſe
zuſammenhängt, daß der Naturforſcher, den doch beſtändig eine Natur
umgiebt, doch keinen höhern Genuß kennt, als Reiſen, daß er oft
ſelbſt mit ungerechter Verachtung deſſen, was ihm ſeine Umgebung
bietet, nach exotiſchen Schätzen greift, daß dem Botaniker Treibhäuſer,
Herbarien, dem Zoologen Thiergärten und Sammlungen zum unab-
weisbaren Bedürfniß geworden ſind.
Wollte ich überall in gleicher Manier zeichnen, ſo durfte ich von
dem großen lebensvollen Gemälde nur eine flüchtige Skitze entwerfen,
möchte es mir dabei gelungen ſeyn, wenigſtens die Hauptzüge mit
genügender Schärfe und Klarheit hervorgehoben zu haben. Auf jeden
Fall werde ich es mir gefallen laſſen müſſen, daß man auf die Frage:
„war's denn intereſſant?“ achſelzuckend antwortet: „Je nun, es
war von Nichts, als vom Wetter die Rede.“
[[123]]
Sechste Vorlesung.
Wovon lebt der Menſch?
Erſte Beantwortung.
(Fauſt.)
[[124]][[125]]
Wenn wir den Gelehrten fragen, was ihn treibt, daß er allen
Genüſſen des Lebens fern auf ſeinem einſamen Stübchen über den
abſtracteſten Problemen brütet, den Soldaten, warum er ſich's ge-
fallen läßt, in Staub und Schweiß die ſaure Recrutenſchule durch-
zumachen, den regſamen Kaufmann, zu welchem Endzweck er früh
und ſpät Bedürfniß und Ueberfluß auf der Erde durch ſeine Thätigkeit
auszugleichen ſucht, ja wenn wir ſelbſt beim Verbrecher nach der
Urſache forſchen, die ihn verwegen dem ſchimpflichen Tode trotzen
läßt, ſo werden wir von Allen eine Antwort vernehmen, deren Kern
nach Abzug der einkleidenden Redensarten lautet: „Was ſoll man
machen, man muß wohl; der Menſch kann einmal nicht von der Luft
leben.“ Die Antwort ſcheint denn auch Jedermann einleuchtend und
ſelbſt die ſtrenge Criminaljuſtiz iſt von der Gültigkeit dieſer Rede ſo
überzeugt, daß ſie den Hunger als Milderungsgrund in gewiſſen
Fällen gelten läßt.
Da kommt aber der Naturforſcher, ein unbequemer Menſch, der
keine Autorität anerkennen will, an Nichts glaubt, als was er mit
Händen greifen kann, und ſpricht: „Ihr närriſchen Leute, der Menſch
kann allerdings von der Luft leben, ja er lebt allein von Luft und von
gar nichts Anderem.“ Das ſcheint nun dem Theologen eine gar an-
maßliche Rede, er mahnt zürnend: „Menſch, bedenke dein Ende, du
biſt vom Staube und mußt einſt wieder zu Staub werden. — O der
Thorheit! lacht der Naturforſcher, das wäre eine ſeltſame Verwand-
lung der Stoffe; aus der Luft ſtammen wir und in die Luft kehren
wir bei unſerer endlichen Auflöſung wieder zurück.“ Das ärgert nun
[126] auch den Moraliſten und er denkt, es könne wohl gar der Vorwurf:
„luftiger Patron oder Windbeutel“ noch einmal zum allgemeinen
Ehrentitel aller Menſchen erhoben werden. Nun wird der Natur-
forſcher bedenklich. Im Grunde möchte er es denn doch ungern mit
all dieſen frommen Herren verderben. Die Paradoxe iſt aber einmal
ausgeſprochen und er mag zuſehen, wie er ſie rechtfertigt.
Wovon lebt der Menſch eigentlich? Die Antwort lautet wohl
ſehr verſchieden. Der Gaucho, der mit fabelhafter Gewandtheit ſein
halbwildes Pferd in den weiten Pampas von Buenos-Ayres tum-
melt, den Laſſo oder die Bolas ſchwingt, um den Strauß, das Gua-
naco oder den wilden Stier zu fangen, verzehrt täglich 10 bis 12
Pfund Fleiſch und ſieht es als einen hohen Feſttag an, wenn einmal
in irgend einer Hacienda ihm ein Stückchen Kürbis zur Abwechſelung
geboten wird. Das Wort Brod ſteht überall nicht in ſeinem Wörter-
buche. Im fröhlichen Leichtſinn dagegen genießt nach mühevoller
Arbeit der Irländer ſein „potatoes and point“, er, der es nicht laſſen
kann, ſelbſt in dem Namen, den er ſeinem kärglichen Mahle giebt,
noch Poſſen zu treiben. Fleiſch iſt ihm ein fremder Gedanke und glück-
lich ſchon der, dem es gelang, viermal im Jahre zur Würze der meh-
ligen Knolle einen Hering aufzutreiben. Der Jäger der Prärieen hat
mit ſichrer Kugel den Biſon niedergeworfen und der ſaftige, zart mit
Fett durchwachſene Höcker deſſelben, zwiſchen heißen Steinen geröſtet,
iſt ihm ein durch nichts zu erſetzender Leckerbiſſen; derweile trägt zier-
lich auf weiße Stäbe gereiht der induſtrielle Chineſe ſeine ſorgfältig
gemäſteten Ratten zu Markt, ſicher, unter den Feinſchmeckern von
Peking ſeine gut zahlenden Käufer zu finden, und in der heißen,
rauchigen Hütte unter Schnee und Eis faſt vergraben verzehrt der
Grönländer ſeinen Speck, den er eben, jubelnd über den köſtlichen Fang,
von einem geſtrandeten Wallfiſche abgehauen. Hier ſaugt der ſchwarze
Sclav am Zuckerrohre und ißt ſeine Banane dazu, dort füllt der afri-
caniſche Kaufmann ſein Säckchen mit der ſüßen Dattel als alleiniger
Nahrung für die wochenlange Wüſtenreiſe, und dort ſtopft ſich der
Siameſe mit Mengen von Reis, vor denen ein Europäer zurückſchrecken
[127] würde. Und wo wir hinantreten auf der bewohnten Erde und das
Gaſtrecht begehren, faſt auf jedem kleinen Flecke, wird uns eine an-
dere Speiſe vorgeſetzt und das „tägliche Brod“ in anderer Form
geboten.
Aber, dürfen wir fragen, iſt denn der Menſch wirklich ein ſo
bewegliches Weſen, daß er aus den verſchiedenartigſten Stoffen doch
auf gleiche Weiſe das ſichtbare Haus ſeines Geiſtes aufbauen kann,
oder enthalten vielleicht alle jene ſo verſchiedenartigen Lebensmittel
einen oder wenige gleiche Stoffe, die eigentlich dem Menſchen ſeine
Speiſe bieten? Und allerdings findet das Letzte Statt.
Alles was uns umgiebt, iſt aus ſehr wenigen, etwa 53 Grund-
ſtoffen oder Elementen zuſammengeſetzt, welche die Chemie nach und
nach entdeckt hat. Aber von dieſen ſind es beſonders vier, welche faſt
allein weſentlichen Antheil nehmen an der Zuſammenſetzung alles Deſ-
ſen, was auf Erden organiſch, lebendig heißt: Stickſtoff und Sauer-
ſtoff bilden die beiden wichtigſten Beſtandtheile der reinen atmoſphäri-
ſchen Luft, Sauerſtoff und Waſſerſtoff ſind die beiden Elemente,
aus deren Verbindung das Waſſer entſteht, Kohlenſtoff und Sauer-
ſtoff ſind es, deren Zuſammenſetzung zu Kohlenſäure (ſog. fixer Luft)
die Grotta del cane zu Neapel, und die Dunſthöhle zu Pyrmont zur Fol-
terkammer der armen Hunde macht, endlich Stickſtoff und Waſſer-
ſtoff treten zu Ammoniak, ſog. Salmiakgeiſt zuſammen, eine Luftart,
welche in ungeheurer Menge den Eſſen des unterirdiſchen Feuers, den
Vulcanen, entſtrömt — hier haben wir die vier Elemente, den Kohlen-
ſtoff, den Waſſerſtoff, Sauerſtoff und Stickſtoff, welche in ihren
Verbindungen alle diejenigen Subſtanzen bilden, aus denen Pflanzen
und Thiere beſtehen; von ihnen ſind Waſſerſtoff, Sauerſtoff und Stick-
ſtoff Luftarten oder Gaſe, der Kohlenſtoff aber ein feſter Körper, den
wir, kryſtalliſirt, Diamant nennen. Zugleich nennen wir hiermit aber
auch die wichtigſten und am Allgemeinſten in der Natur verbreiteten
[128] Verbindungen dieſer Elemente, nämlich das gewöhnlich flüſſige Waſ-
ſer, welches aber auch in großer Menge als Dunſt in der Luft ent-
halten iſt, ferner Kohlenſäure und Ammoniak, welche ſich beide
nur als Gaſe in der Atmosphäre finden. — Um die Betrachtung
dieſer drei Verbindungen, jener vier Elemente dreht ſich die ganze
Betrachtung des Thier- und Pflanzenlebens.
Unſere Atmosphäre iſt aus etwa ⅘ Stickſtoff und ⅕ Sauer-
ſtoff gemengt, dazu kommen Kohlenſäure etwa 1/2000 und Ammoniak-
gas in noch nicht genau beſtimmten Mengen. Seit man den Sauer-
ſtoff durch Prieſtley kennen und ſeine Bedeutung beim Athmen hatte
verſtehen lernen, glaubte man die Güte der Luft nach ihrem Antheile
an Sauerſtoff beurtheilen zu können. Es entſtand eine eigene Wiſſen-
ſchaft, die Eudiometrie, die hauptſächlich auf Ausmittelung des Ver-
hältniſſes von Sauerſtoff und Stickſtoff in der Luft gerichtet war;
nach und nach haben hierbei die Methoden größere Schärfe und Ge-
nauigkeit gewonnen und man hat ſo gefunden, daß bis auf Tauſend-
theile die Luft überall, wo man ſie auch unterſucht, ganz gleich zu-
ſammengeſetzt gefunden wird. Sehr voreilig hat man aber von dieſer
conſtanten Zuſammenſetzung der Atmosphäre Folgerungen in Bezug
auf den Lebensproceß der Pflanzen und Thiere abgeleitet. Unſere ganze
Atmosphäre enthält nämlich nach Poggendorfs Berechnung ohnge-
fähr 1,954,570 Cubik-Meilen Sauerſtoff, der jährliche Verbrauch
deſſelben durch das Athmen aller Menſchen und Thiere und durch
ſämmtliche Verbrennungsproceſſe beträgt 2½ Cub. M., alſo in
100 Jahren 250 Cub. M. oder beinahe nur ein Zehntauſendſtel. Eine
Verminderung um eine ſo geringe Größe würden unſere Inſtrumente
aber ſelbſt dann noch nicht anzeigen, wenn ſie auch ſchon ſeit Jahr-
hunderten ebenſo genau gearbeitet und angewendet worden wären.
Eine bei Weitem größere Genauigkeit laſſen nun unſere Methoden
zur Beſtimmung des Kohlenſäuregehalts der Luft zu und deshalb
ſtellt man eine weit ſicherere Berechnung (wie ſich ſpäter ergeben wird,
für dieſelben Folgerungen anwendbar) ſo: Beim Athmen haucht der
Menſch für jeden Cubik-Zoll Sauerſtoff, den er aufnimmt, einen
[129] Cub. Zoll Kohlenſäure aus und ganz derſelbe Tauſch findet bei den Ver-
brennungsproceſſen Statt. Nach den obigen Annahmen müßten alſo im
Verlauf von 5000 Jahren ungefähr 12,500 Cub. Meilen Kohlenſäure
in die Luft gehaucht ſeyn, wenn wir die großen Quantitäten, die den
Vulcanen alljährlich entſtrömen, noch ganz unberückſichtigt laſſen.
Es müßte folglich die Kohlenſäure in der Luft ſich zum Sauerſtoff
wie 1:500 verhalten, während ſie in der That doch nur den vierten
Theil davon ausmacht. Es ergiebt ſich daraus, daß es irgendwo
einen Proceß geben muß, durch welchen der Atmoſphäre die Kohlen-
ſäure wieder entzogen und in andere Verbindungen übergeführt wird.
Der Sauerſtoff hat die Eigenſchaft, ſich leicht mit andern Stof-
fen, beſonders mit Kohlenſtoff und Waſſerſtoff zu verbinden, ein Vor-
gang, den der Chemiker Verbrennen nennt, wenn auch nicht gerade
Lichterſcheinungen dabei Statt finden; bei welchem aber ſtets eine im
Verhältniß zum verbrauchten Sauerſtoffe ganz beſtimmte Menge von
Wärme entbunden wird. Der Stickſtoff dagegen hat nur ſehr geringe
Verwandtſchaft zu andern Stoffen, er verbrennt faſt gar nicht, aber
verbindet ſich leicht mit dem Waſſerſtoffe zu Ammoniak.
Die vier genannten Elemente bilden nun durch ihre Verbindun-
gen unter einander zahlreiche Stoffe, aber für die organiſche Welt
haben nur zwei Reihen eine durchgreifendere Bedeutung. Die eine
Reihe umfaßt Stoffe, die aus allen vier Elementen zuſammengeſetzt
ſind. Hierher gehören Eiweiß, Faſerſtoff, Käſeſtoff und Leim.
Aus dieſen Stoffen iſt der ganze thieriſche Körper gebildet, und wenn ſie
von demſelben getrennt, vom Leben verlaſſen werden, gehen ſie alle
in kurzer Zeit durch Verweſung in Waſſer, Ammoniak und Kohlen-
ſäure über, welche ſich in der Luft verbreiten. Die zweite Reihe enthält
dagegen Stoffe, welche ſtickſtofffrei ſind, nämlich Gummi, Zucker,
Stärkemehl, die daraus bereiteten Getränke, wie Spiritus, Wein,
Bier, und endlich die Fettarten. Dieſe gehen ſämmtlich nur durch
den thieriſchen Körper durch, indem ihr Kohlenſtoff und Waſſerſtoff
durch den beim Athmen aufgenommenen Sauerſtoff verbrannt und als
Kohlenſäure und Waſſer wieder ausgehaucht werden. Durch dieſen
Schleiden, Pflanze. 9
[130] langſam, aber unausgeſetzt fortgehenden Verbrennungsproceß wird
die zum Leben unentbehrliche Wärme erhalten. Nun erfahren wir
aber durch die glänzenden Entdeckungen der neueren Chemie und
Phyſiologie, daß der thieriſche Körper unfähig iſt, die zu ſeiner Aus-
bildung und Erhaltung durchaus nothwendigen Stoffe: Eiweiß,
Faſerſtoff ꝛc. aus den Elementen zuſammenzuſetzen, oder aus andern
Stoffen mit Ausnahme des Käſeſtoffes zu bilden, daß das Thier viel-
mehr dieſe Stoffe ſchon fertig gebildet aufnehmen muß, um ſie zur
Ernährung verwenden, oder zum Behufe der Knochenbildung in Leim
umwandeln zu können. Eiweiß, Faſerſtoff und Käſeſtoff werden daher
mit Recht von Liebig ausſchließlich Nahrungsmittel genannt,
ſie können durch keine andern Stoffe erſetzt werden, bei ihrer völligen
Ausſchließung geht der Körper rettungslos dem Hungertode entgegen.
Daneben müſſen aber auch ſtickſtofffreie Beſtandtheile vorhanden ſeyn,
gleichſam als Brennmaterial auf dem Herde des organiſchen Lebens,
und dieſe Stoffe, die man im gemeinen Leben auch Nahrungsmittel nennt,
bezeichnet Liebig treffend mit dem Namen Reſpirationsmittel.
Vergleichen wir nun mit dieſen Anforderungen, welche der thieriſche
Körper in Bezug auf ſeine Erhaltung macht, den Gehalt der Pflan-
zen, welche Menſchen und Thieren als Nahrungsmittel dienen, ſo
finden wir in allen Pflanzen, in allen Organen derſelben eine bald
größere, bald geringere Menge Eiweiß, im Safte derſelben aufgelöſt.
In den unſchätzbaren Geſchenken der Ceres, in den Körnern der Ge-
treidearten, kommt bald mehr, bald weniger von einem Stoffe vor, den
man früher als Kleber bezeichnete. Liebig und Mulder haben
nachgewieſen, daß derſelbe einem Gemenge von Leim und thieriſchem
Faſerſtoffe durchaus gleich ſey. In den Hülſenfrüchten entdeckte die
frühere Chemie eine Subſtanz, welche man nach der Pflanzenfamilie, in
welcher ſie ſich vorfand, nach den Leguminoſen, Legumin nannte.
Jetzt wiſſen wir aus neuern Unterſuchungen, daß dieſes Legumin
durchaus in Nichts vom thieriſchen Käſeſtoffe verſchieden iſt. Legumin
und Kleber oder Käſeſtoff und Faſerſtoff kommen in geringer Menge
wahrſcheinlich ebenfalls in den meiſten Pflanzenzellen vor.
[131]
Die zweite Reihe, die der ſtickſtofffreien Subſtanzen oder der
Reſpirationsmittel, iſt nicht minder allgemein in der Pflanzenwelt
verbreitet. Ueberblicken wir alle die Nahrungsmittel, welche ſich der
Menſch aus dem Pflanzenreiche gewählt, ſo finden wir drei Gruppen,
von denen ſich die Erſte durch den großen Gehalt an Stärkemehl aus-
zeichnet. Hierher gehören die Cerealien und Hülſenfrüchte,
die Knollengewächſe, Kartoffeln, Erdäpfel, Manjoc,
Yams- und Taroowurzeln, endlich die markigen Stämme der
Cycadeen und Palmen, welche den Sago liefern; die zweite
Gruppe umfaßt die zucker- und gummireichen Früchte, welche durch
Apfel-, Citronen- und Weinſteinſäure ihre eigenthümlichen
kühlenden Eigenſchaften und durch geringe Menge aromatiſcher Stoffe
ihren Reiz erhalten, außer den bei uns bekannten Früchten, insbeſon-
dere die Dattel, die Banane und die Brodfrucht, ferner die
zuckerreichen Stengel, namentlich das Zuckerrohr, und endlich die
zucker- und gummihaltigen fleiſchigen Wurzeln, die einen großen Theil
unſeres Gemüſes bilden; die dritte Claſſe endlich beſteht aus den ölhalti-
gen Kernen verſchiedener Früchte: der Cocusnuß, der Nußderchile-
niſchen Fichte, der Paranuß und der vielen Nüſſe- u. Mandelarten,
welche in Europa zum Theil dem Hunger, zum Theil nur dem Reize des
Gaumens ihren Tribut zollen. Endlich dürfen wir bei dieſer Aufzäh-
lung die vielen, faſt alle aus dem Pflanzenreiche ſtammenden Getränke
nicht vergeſſen. Faſt überallhin iſt dem Europäer der Weinſtock ge-
folgt, wo climatiſche Verhältniſſe ſeinen Anbau nicht unmöglich mach-
ten. Obſtweine, Bier und Weingeiſt ſind weit verbreitete Ge-
tränke. Eine eigenthümliche Aufgabe iſt in der That noch dem Pſycholo-
gen aufbehalten in dem merkwürdigen Umſtande, daß, ſo weit wie das
Menſchengeſchlecht auf Erden verbreitet iſt, auf dem höchſten Gipfel
ſeiner Ausbildung wie in den erſten Anfängen der Cultur (vielleicht
nur mit Ausnahme einiger weniger den Thieren faſt näher als den
Menſchen ſtehender Stämme), auch der Gebrauch ſich findet, durch
die verſchiedenartigſten Mittel ſich in einen erhöhten Zuſtand geiſtiger
Thätigkeit zu verſetzen, den man in ſeinen höhern und ſchlimmern
9*
[132] Erſcheinungen Trunkenheit nennt. Der Magueywein oder Pulque
der Mexicaner, der Palmenwein der Chilenen, der Trank aus ge-
käntem Mais bei den Anwohnern des Orinocco u. Amazonenſtroms,
endlich der Kumiß der Tartaren, aus Pferdemilch bereitet, ſtehen un-
ſern Getränken in ſofern gleich, als bei allen der durch Gährung aus
Zucker oder Stärkemehl erzeugte Weingeiſt das berauſchende Princip
iſt. Ganz unbekannt iſt uns die Wirkung der Cocca, der Blätter eines
americaniſchen Baums (Erythroxylon Coca). Der größte Genuß des
peruaniſchen Muletero (Maulthiertreiber) beſteht darin, dieſe Blätter
zu käuen und ſich dadurch in einen Zuſtand träumeriſchen Hinbrütens
zu verſetzen, in welchem er, ohne trunken zu ſeyn, nur in ſüßer, künſt-
lich erregter Faulheit Tage lang mit Nichtsthun zubringt. Dagegen
iſt das Verzehren des Fliegenſchwammes bei den Bewohnern des
nördlichen Sibiriens, das Rauchen des Opium bei den Südaſiaten,
des Haſchich oder Hanfextracts bei den nördlichſten und ſüdlich-
ſten Africanern und endlich der Genuß des Getränkes, welches ſich die
Südſeeinſulaner aus einer beſondern Art von Pfeffer (Piper methys-
ticum) bereiten, geradezu eine narcotiſche Vergiftung, welche bei öfterer
Wiederholung ſehr ſchnell die Zerſtörung des Körpers nach ſich zieht.
Allen dieſen Mitteln nun, durch körperliche Einwirkung die Thätigkeit
des Geiſtes, insbeſondere der Phantaſie anfänglich auf angenehme
Weiſe zu erhöhen, haben in der neueſten Zeit zwei Männer mit ſehr
ungleichem Erfolge den Krieg erklärt; der Eine kämpfte mit materiellen
Waffen und unterlag, nämlich der Kaiſer von China, der Andere
erficht täglich neue Siege durch die Gewalt des Geiſtes, ich meine
den kühnen Mäßigkeitsapoſtel, den frommen Pater Mathew.
Der Letzte hat für die Entſagung, die er forderte, Erſatz geboten in
einem andern Getränke, welches wir von den Chineſen entlehnt haben.
Ob dieſes Getränk, der Thee, wirklich ein unſchuldiger Erſatz ſey,
wäre vielleicht noch erſt einer genauen Unterſuchung zu unterwerfen,
bei welcher ich mich hier aber nicht länger aufhalten kann. Ich kann
aber nicht umhin, bei dieſer Gelegenheit auf ein intereſſantes, noch
ungelöſtes phyſiologiſches Räthſel aufmerkſam zu machen.
[133]
Im J. 1554 entſtand eine heftige Aufregung in Conſtantinopel;
die hohe Geiſtlichkeit beſtürmte den Sultan und drohte mit allen
Schrecken, welche ihr Amt ihr zu Gebote ſtellte, und der Grund war
der glänzende Erfolg der in demſelben Jahre eröffneten erſten Caffee-
häuſer. Den ganzen Tag waren dieſe belagert und die Moſcheen
waren wie verwaiſt. Der Sultan half ſich durch den für ihn vor-
theilhafteſten Ausweg; er legte eine hohe Abgabe auf die Caffeehäu-
ſer, beruhigte dadurch die Muftis, verſchaffte ſich eine bedeutende Ein-
nahme und der Genuß des Caffees breitete ſich trotz dem mit einer
ungeheuren Schnelligkeit über Europa aus. 1652 eröffnete der Grieche
Pasqua in George Yard, Lombard Street (nach M'Culloch in
St. Michael's-Alley, Cornhill auf der Stelle, wo jetzt das Virginia-
Caffeehaus ſteht) das erſte Londoner Caffeehaus und 1671 entſtand
das erſte in Marſeille. Im Ganzen mag die Production jetzt etwa
500 Mill. Pfund betragen, während ſie vor etwa 150 Jahren ſchwer-
lich 10 Mill. Pfund überſtieg. Im J. 1820 berechnete A. v. Hum-
boldt die Conſumtion in Europa zu 150 Mill. Pfund im Werthe von
30 Mill. Speciesthaler, während der gegenwärtige Verbrauch von
250 Mill. Pfund vielleicht den Werth von 28 Mill. Speciesthaler
noch nicht erreicht. Woher ſtammt der Gebrauch, Caffee zu trinken,
wer entdeckte den köſtlichen Stoff? Wir wiſſen es nicht. Die ſicherſten
Nachrichten darüber finden wir in dem Werke des Scheikh Abd-Alka-
der Ebn Mohammed vom J. 1566, welches uns Sylveſtrede
Sacy in ſeiner Chrestomathie Arabe mitgetheilt hat, und welches
den Titel führt: „Die Stütze der Unſchuld in Bezug auf die Geſetz-
lichkeit des Caffees.“
Danach führte im Anfange des 15. Jahrh. der ſehr gelehrte
und fromme Scheikh Djemal-eddin-Ebn-Abou-alfaggar das
Caffeetrinken in dem in neuerer Zeit politiſch ſo bedeutend gewordenen
Aden ein, von wo es ſich bald nach Mekka und Medina verbreitete.
Er ſelbſt war mit dieſem Getränke in Abyſſinien bekannt geworden,
wo es ſeit undenklichen Zeiten bekannt war. Die gemeine Meinung,
daß der Caffee urſprünglich in Arabien heimiſch ſey, iſt alſo ganz falſch.
[134]
Man trank damals ebenſo oft eine Abkochung der geröſteten
Schaalen, als der nach dem arabiſchen Worte Bounn ſo genannten
Bohnen. Das Getränk hieß in beiden Fällen Kahwa. Weiſe Leute, wie
z. B. Tadjeddin-Ebn-Jacoub, empfahlen ſchon damals kaltes
Waſſer zum Caffee zu trinken, um der dem Genuſſe folgenden Schlaf-
loſigkeit vorzubeugen. Indeß war dieſes gerade dem Grunde der Ein-
führung des Caffees zuwider. Man wollte ſich nämlich durch denſel-
ben während der heiligen Nächte zum Gebete wach erhalten. So
wurde der Caffee anfänglich vorzugsweiſe beim Gottesdienſte in einer
kleinen Schaale aus einer großen braunen Kanne geſchöpft und herum-
gereicht, und ſo erklärt es ſich leicht, weßhalb dieſes Getränk für einige
muhamedaniſche Orthodoxe ſogleich ein Gegenſtand der Anfeindung
und überhaupt ein Gegenſtand ſehr gelehrter theologiſcher Unterſu-
chungen werden konnte. Die Gegner des Caffees gingen ſelbſt ſo weit,
zu behaupten, daß die Geſichter derer, welche Caffee getrunken, am
Tage der Auferſtehung noch ſchwärzer als der Caffeeſatz erſcheinen
würden. Da aber die Frauen nach dem Koran überhaupt nicht ins
Paradies kommen, ſo können ſie ohne Furcht im Genuſſe ihres Lieb-
lingsgetränkes ſchwelgen.
Nach den übrigen von Abd-Alkader-Ebn-Mohammed mitge-
theilten Nachrichten ergiebt ſich übrigens, daß in Abyſſinien der Gebrauch
des Caffeetrinkens über die Zeit der hiſtoriſchen Erinnerungen hinaus
liegt und daß auch in Arabien der Caffee nur ein der Wirkung nach
ähnliches Getränk den Cafta, von den Blättern des Cat (Celastrus
edulis Forskael) verdrängte, deſſen Genuß ebenfalls ohne Kunde
ſeines Urſprungs von den Vätern ererbt war.
Als die Spanier zuerſt in Mexico landeten, wurden ſie mit
einem dort ſeit undenklichen Zeiten einheimiſchen Getränke bekannt,
welches die Mexicaner Chocollatl nannten und aus den Saamen
eines Baums bereiteten, der bei ihnen Cacahoaquahnitl, Caca-
hoa-Baum hieß. So weit die ſpaniſche Herrſchaft ſich ſpäterhin aus-
dehnte, ſo weit hat ſich auch der Gebrauch des Chocoladetrinkens ver-
[135] breitet, und das übrige Europa hat ſeinen reichlichen Antheil an die-
ſem neuen Getränke gefordert.
Im Anfange des 17. Jahrhunderts wurden einer ruſſiſchen Ge-
ſandtſchaft nach China für ihre prachtvollen Zobelpelze ſorgfältig ver-
packte getrocknete grüne Blätter als Gegengeſchenk gegeben, und ſelbſt
trotz ihres Proteſtirens gegen ſo unnütze Waare aufgedrungen. Aber
als ſie dieſelbe nach Moskau brachten und vorſchriftsmäßig bereiten
ließen, fand der Thee, denn das war es, gleich großen Beifall.
Faſt um dieſelbe Zeit verſuchte die holländiſch-oſtindiſche Compagnie
Salbey, den man damals ähnlich wie jetzt den Thee genoß, nach
China zu verhandeln, und erhielt dafür als Aequivalent chineſiſchen
Thee. 1664 glaubte die engliſch-oſtindiſche Compagnie dem Könige
von England mit 2 Pfund Thee ein glänzendes Geſchenk zu machen.
Der Gebrauch des Thees als Getränk verliert ſich in China in die
früheſten Zeiten und die Sagen erzählen ſchon im 3. Jahrhundert
mit Beſtimmtheit davon. Die älteſte chineſiſche Sage erinnert auf-
fallend an den Grund der Einführung des Caffeetrinkens in Arabien.
Sie erzählt: Ein frommer Eremit, der bei Wachen und Gebet oftmals
vom Schlafe überraſcht worden war, ſo daß ihm die Augen zufielen,
ſchnitt ſich, in heiligem Eifer gegen das ſchwache Fleiſch zürnend, die
Augenlider ab und warf ſie auf die Erde. Aber ein Gott ließ aus
denſelben den Theeſtrauch aufwachſen, deſſen Blätter noch die Form
eines mit Wimpern beſetzten Augenlides zeigen und die Gabe beſitzen,
den Schlaf zu verſcheuchen. — Als die Europäer ihn kennen lernten,
war er ſchon im ganzen ſüdöſtlichen Aſien allgemein verbreitet, und
Europa blieb nicht lange hinter ſeinen Lehrmeiſtern zurück. Zur See
werden jetzt jährlich etwa 50 Mill. Pfund aus China ausgeführt,
über Kiächta gegen 10 Mill., nach Thübet, Indien ꝛc. zu kommen
vielleicht nahe an 30 Mill. In China und Japan ſelbſt werden ſicher
400 Mill. Pfund conſumirt, ſo daß die Geſammtproduction mit
500 Mill. Pfund gewiß nicht allzu hoch angeſchlagen iſt.
Mit derſelben Leidenſchaft, mit welcher der Chineſe ſeinen Thee
genießt, erfreut ſich der Braſilianer und faſt die ganze Bevölkerung von
[136] Südamerica am Maté oder Paraguay-Thee, den Blättern einer
braſilianiſchen Stechpalme (Ilex paragayensis), welcher unter Um-
ſtänden mit dem Camini, den Blättern der Cassine Gongonha oder
mit der Guarana, einer Artvon Caffee aus den Saamen der Paullinia
sorbilis bereitet, vertauſcht wird. Auch der Gebrauch des Maté iſt
ſeit undenklichen Zeiten in Braſilien einheimiſch.
So ſind dieſe Getränke überall zu nothwendigen Lebensbedürf-
niſſen geworden, überall iſt der Anfang ihres Gebrauchs in mythi-
ſches Dunkel gehüllt, überall hat der Menſch, nicht etwa durch ver-
nünftige Ueberlegung, durch Kenntniß der Eigenſchaften und Wir-
kungen, durch Vergleichung derſelben mit ſchon bekannten Nahrungs-
ſtoffen geführt, ſondern gleichſam inſtinctmäßig dieſe Getränke in die
Zahl ſeiner täglichen Bedürfniſſe aufgenommen.
Bei der großen Wichtigkeit des Stoffes ſelbſt und bei dem In-
tereſſe, welches die eben angedeutete Betrachtung erregen mußte, hat
denn die Chemie verſucht, in wie weit ſie zur Aufklärung dieſer ſelt-
ſamen Erſcheinung beitragen könnte. Das Reſultat iſt gegen alle
Erwartung ausgefallen und hat das Räthſel nur noch mehr verwirrt.
Oudry fand im Thee einen in feinen weißen Nadeln kryſtalliſirenden
Stoff, den er Thein nannte, und der etwa ½ Proc. des Thees aus-
macht. Früher ſchon 1820 hatte Runge im Caffee eine Subſtanz ent-
deckt, deren zarte ſeidenglänzende Kryſtalle kaum zu ⅓ Proc. im
Caffee enthalten ſind. Runge nannte ſie Caffein. Ein Anderer fand
im Cacao das Theobromin in geringer Menge, dann wies man das
Thein im Maté, das Caffein in der Guarana nach und endlich zeig-
ten die genauern Unterſuchungen, daß Thein und Caffein ein und
derſelbe Stoff ſey, der ſich von allen bekannten Pflanzenſtoffen durch
ſeinen außerordentlich großen Stickſtoffgehalt auszeichnet, und daß
Theobromin, wenn nicht vielleicht identiſch mit denſelben, doch höchſt
nahe verwandt ſey. Muß es nicht im höchſten Grade auffallend er-
ſcheinen, daß ein wenn auch nur ſehr geringer Gehalt eines und deſ-
ſelben eigenthümlichen Stoffes ſich in allen dieſen Getränken finden
muß, welche ſo auffallend ſchnell zu nothwendigen Bedürfniſſen der
[137] ganzen bewohnten Erde geworden ſind? Ein merkwürdiges Räthſel,
von deſſen Löſung wir noch um ſo entfernter ſind, da von Aerzten und
Chemikern angeſtellte Verſuche bis jetzt keine Andeutung einer beſon-
dern Wirkung nach dem Genuſſe größerer Mengen reinen Theins
erkennen laſſen, der Stoff alſo ohne auffallende Wirkung auf die
thieriſche Oeconomie erſcheint.
Ich kehre nach dieſer Abſchweifung, die der Hauptfrage ohnehin
nicht ſo fremd iſt, wieder zu meiner Aufgabe zurück. Der Menſch
bedarf alſo zu ſeiner Nahrung zunächſt dreier ſtickſtoffreicher Subſtan-
zen, des Faſerſtoffs, Käſeſtoffs und des Eiweißes, und dieſe findet er
nicht nur im Thierreich, ſondern auch im Pflanzenreich allgemein
verbreitet. Er verbraucht ferner zur Unterhaltung der Reſpiration und
dadurch der Wärme eine gewiſſe Menge ſtickſtofffreier Subſtanzen,
welche ihm außer im Fette der Thiere im reichſten Maaße von den
meiſten und verbreitetſten Pflanzenſtoffen geboten werden.
Sehr leicht erklären ſich uns nun einige der auffallendſten Erſcheinun-
gen in der Ernährungsweiſe des Menſchen und der Thiere. Jägervölker
und fleiſchfreſſende Thiere bedürfen einer großen Menge ihrer gewöhnlich
fettarmen Nahrung. Durch angeſtrengte körperliche Thätigkeit müſſen
ſie dieſe ſtickſtoffhaltige Nahrung erſt in zwei Beſtandtheile zerlegen,
einen der ſämmtlichen Stickſtoff, einen andern, der einen Theil des
Kohlen- und Waſſerſtoffs enthält, und dieſen letztern verwenden ſie
dann für die Reſpiration, da bei der Unverbrennlichkeit des Stickſtoffs
ſtickſtoffhaltige Subſtanzen dazu untauglich ſind. Eben darin findet
auch die unruhige, raſtlos thätige Lebensweiſe des reißenden Thiers,
wie des Jägers ihre Erklärung, indem ſie nur durch heftige Anſtren-
gungen des Körpers ſo viel der ſtickſtoffhaltigen Nahrung zerſetzen
können, um für den Reſpirationsproceß das nöthige Material zu
ſchaffen. Aber auch die große Maſſe von Nahrung, die eine ſolche
Lebensart erfordert, iſt dadurch leicht erklärt, zumal da meiſt viel mehr
thieriſches Leben vernichtet wird, als unmittelbar dem Nahrungsbe-
dürfniß entſpricht. Aus beiden Gründen bedarf das reißende Thier
[138] wie das Jägervolk ein ausgedehntes Areal zu ſeiner Exiſtenz und
bedingt eine ſehr dünne Bevölkerung.
Die Viehzucht bildet hier den Uebergang, indem der Menſch
hier die Hausthiere benutzt, um in den Beſtandtheilen der Milch und
in dem reichlichen Fette der Hausthiere, welches den wilden Thieren
faſt ganz abgeht, ſich neben der Fleiſchſpeiſe auch mit ſtickſtofffreien
Beſtandtheilen zu verſehen.
Die zweckmäßigſte Lebensweiſe führt aber das verſtändige Acker-
bau treibende Volk, welches ſeine Nahrungsmittel ganz in dem Ver-
hältniſſe miſcht, wie ſie die Natur dem Säugling in der Milch ge-
miſcht hat. Dieſe enthält nämlich in dem Käſeſtoff die ſtickſtoffhaltigen
Nahrungsmittel, in der Butter und dem Milchzucker die ſtickſtofffreien
Reſpirationsmittel im richtigſten Verhältniſſe. Darüber hinaus finden
wir die Extreme in den Völkern, welche, wie die oſtindiſchen Stämme,
die Negervölker und die Bewohner einiger europäiſchen Landſtriche,
ganz von Reis, Bananen, Kartoffeln und dergleichen Pflanzenſtoffen
leben, in welchen nur wenig ſtickſtoffreiche Beſtandtheile vorkommen.
Daher die ungeheuern Mengen, welche dieſe Völkerſchaften zu ſich zu
nehmen gezwungen ſind, um aus der Maſſe der Reſpirationsmittel
die nöthige Menge der wirklichen Nahrungsmittel zuſammenzuſuchen.
Dieſen Völkern treten unſere ganz von Pflanzen lebenden Hausthiere
und die übrigen Pflanzenfreſſer an die Seite, welche ihr ganzes Leben
mit Freſſen und Schlafen zubringen und große Maſſen zu ſich nehmen
muͤſſen, weil nur verhältnißmäßig geringe Mengen von wirklicher
Nahrung darin enthalten ſind. Endlich finden wir noch in den ſämmt-
lichen Polarländern den übermäßigen Genuß von Fett als unzer-
trennlich mit der Lebensart in dieſen Climaten verbunden. Auch hier
erklärt ſich uns dieſer Naturtrieb gar leicht aus den vorherigen Be-
trachtungen. Der Menſch muß hier, um leben zu können, größere
Mengen von Wärme produciren und bedarf dazu auch größerer Men-
gen von Brennmaterial; dazu eignet ſich kaum eine Subſtanz ſo gut, als
das ganz allein aus Kohlen- und Waſſerſtoff beſtehende Fett der Thiere.
So hätten uns unſere Betrachtungen alle dahin geführt, anzu-
[139] erkennen, daß die ganze Thierwelt zunächſt von der Pflanzenwelt lebt,
entweder unmittelbar durch die Pflanzennahrung, oder mittelbar,
indem die Pflanzenfreſſer die eigentlichen Nahrungsſtoffe aus den
Pflanzen für die Fleiſchfreſſer ſammeln, die ſtickſtofffreien Reſpirations-
mittel aber als Fett ablagern. Aber hier finden wir keinen Abſchluß und
die Frage wirft ſich uns von ſelbſt auf, wovon lebt denn die Pflanze?
Die Beantwortung dieſer Frage umfaßt den Gegenſtand der leb-
hafteſten Debatte, welche in neuerer Zeit in der Wiſſenſchaft geführt
worden iſt, ſie umfaßt die Theorie des wichtigſten Gewerbes, welches
der Menſch erfunden hat, nämlich des Ackerbaues. Die richtige Be-
antwortung dieſer Frage findet ſich ſchon theilweiſe in der Mitte des
vorigen Jahrhunderts bei Pflanzenphyſiologen und Chemikern, wurde
ſeitdem immer genauer von Einzelnen entwickelt, aber erſt in neuerer
Zeit durch Liebig mit einer Lebendigkeit und Klarheit geltend gemacht,
daß ſie ſogleich einen lebhaften allgemeinen Kampf erregte, der damit
endigen wird, daß die richtige Grundlage allgemein anerkannt und
als neu gefundener Buchſtabe dem ABC der Wiſſenſchaft hinzuge-
fügt wird.
Zunächſt müſſen wir hier fragen, woraus beſteht die Pflanze?
Sehen wir vorläufig, wie wir auch beim Thiere gethan, von den un-
organiſchen Beſtandtheilen, den Erden und Salzen, ab, ſo iſt die Ant-
wort ſchon gegeben durch die beiden oben aufgeſtellten Reihen. Der
Körper der Pflanze aber iſt aufgebaut aus ſtickſtofffreien Beſtandtheilen,
nämlich aus Zellſtoff und Pflanzengallerte, welche mit den an-
dern Stoffen, Zucker, Gummi, Stärkemehlganz gleich zuſammen-
geſetzt ſind und ſich von den Fett- und Wachsarten nur durch ein
geringeres Verhältniß des Sauerſtoffs in letzterem unterſcheiden. Da-
neben aber bedarf die Pflanze der ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheile nicht
ſowohl um ihren Körper aufzubauen, ſondern um den chemiſchen
Proceß zu veranlaſſen, durch welchen die Umbildung der aufgenom-
menen Nahrungsſtoffe erfolgt. Die Frage nach der Ernährung der
Pflanze umfaßt alſo die Frage nach dem Urſprunge des Kohlenſtoffs
und Stickſtoffs, indem für Waſſerſtoff und Sauerſtoff durch Waſſer
[140] und atmoſphäriſche Luft genügend geſorgt iſt. Die bisherige allgemein
geltende Anſicht ging nun dahin, daß die Pflanze ihren Kohlenſtoff
und Stickſtoff dem Dünger oder dem Humus des Bodens entnähme.
Alle Thier- und Pflanzenkörper gehen nämlich, ſobald ſie todt
ſind, in einen Zerſetzungsproceß über, durch welchen ſie früher oder
ſpäter in Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer verwandelt, ſich in die
Atmoſphäre verlieren. So lange aber dieſer Zerſetzungsproceß noch
nicht vollſtändig beendigt iſt, bleibt noch ein freilich ſchon veränderter
Rückſtand mit brauner oder ſchwarzer Farbe, den man im Anfange
der Zerſetzung Dünger, gegen das Ende derſelben Humus oder Baum-
erde nennt. Es iſt ein complicirtes Gemiſch gar mannigfacher Zer-
ſetzungsproducte. Man argumentirte nun ſo: Kohlenſtoff und Stick-
ſtoff ſind reichlich im Humus vorhanden; auf einem Boden, der reich
an Humus iſt oder gut gedüngt wird, gedeihen Pflanzen beſſer, als
auf einem humusarmen, alſo iſt Humus die Quelle des Kohlenſtoffs
und Stickſtoffs der Pflanzen. Dieſem ganzen Räſonnement fehlt aber
die Schlußkraft.
Es gab eine Zeit auf unſerer Erde, in welcher noch keine Vege-
tation die feſte Rinde bedeckte, in welcher kein Thier lebte, in welcher
kein Humus vorhanden ſeyn konnte. Auf dieſem humusleeren Boden
entwickelte ſich allmälig eine Vegetation in ſo großer Maſſe, in ſo
rieſiger Ueppigkeit, daß dieſelbe, durch ſpätere Erdrevolutionen be-
graben und uns aufbewahrt, einen höchſt weſentlichen Platz in dem
Haushalte der heutigen Menſchheit einnimmt, ich meine die Vege-
tation einer der älteſten geognoſtiſchen Formationen, der Steinkohlen-
periode. Der jährliche Verbrauch der Steinkohle in Europa beträgt
über 677,500,000 Centner und die Geognoſie weiſt nach, daß ſelbſt
bei ſteigendem Verbrauche der Vorrath noch für 500 Jahre ſicher
ausreicht. Ein ſolcher Vorrath entſpricht aber 240,500,000,000 Cent-
nern Kohlenſtoff, den dieſe Pflanzen offenbar nicht dem humusleeren
Boden der Urzeit entnommen haben konnten. Jenes falſche Räſon-
nement ſetzt nämlich ſtillſchweigend folgende Hypotheſe voraus:
„Es giebt auf der Erde eine beſtimmte Quantität organiſcher
[141] Subſtanz, welche zwiſchen Pflanzen- und Thierreich circulirt, das
abſterbende Thier dient der Pflanze als Nahrung, und die entwickelte
Pflanze wieder dem Thiere.“
Das könnte nun auch ganz gut der Fall ſeyn, wenn der Ver-
weſungsproceß nicht dazwiſchenträte, durch welchen doch ohne Frage
fortwährend mindeſtens ein Theil der organiſchen Subſtanz dem an-
geblichen Kreislaufe entzogen, und als unorganiſche Verbindung, als
Kohlenſäure und Ammoniak, in die Atmoſphäre verflüchtigt wird.
Im Verlaufe der Jahrtauſende müßte aber auf dieſe Weiſe ſämmt-
liche angeblich mit der Erde zugleich geſchaffene organiſche Subſtanz
längſt verbraucht ſeyn. Wir finden aber gerade das Gegentheil. So-
wohl im Verlaufe der großen geognoſtiſchen Perioden als auch im
Verlaufe der mit dem Menſchen beginnenden Geſchichte der Erde
zeigt ſich uns dort von Periode zu Periode, hier von Jahrhundert zu
Jahrhundert eine immer größere Fülle des organiſchen Lebens, eine
fortwährende Vermehrung der Thier- und Pflanzenwelt. Woher
ſtammt dieſe, wenn es nicht einen Proceß giebt, durch welchen die
unorganiſche Subſtanz übergeführt wird in den Kreislauf des Orga-
niſchen? Auf der andern Seite können wir leicht überſchlagen, welche
ungeheure Mengen von Ammoniak und Kohlenſäure ſich durch Ath-
mung und Verbrennungsproceſſe, aus der Verweſung ſo vieler Mil-
liarden von Thier- und Pflanzenkörpern und durch die fortwährenden
Ausſtrömungen der großen Vulcane in der Luft ſeit Jahrtauſenden
müßte angehäuft haben, während in der That das Ammoniak in ver-
ſchwindend kleinen Mengen, die Kohlenſäure in einem beſtimmbaren,
aber ſehr geringen Antheil in der Atmoſphäre ſich befindet. Es muß
alſo ein ganz geſetzmäßiger Abfluß Statt finden, durch welchen ebenſo
der Atmoſphäre jene Stoffe wieder entzogen und der organiſchen Welt
wieder einverleibt werden. Und wie im Großen können wir daſſelbe im
Kleinen an Welttheilen und immer kleinern Gebietsgrößen nachweiſen.
Die Pampas von Südamerica hatten zur Zeit ihrer Beſitz-
nahme durch die Spanier dieſelbe dürftige Steppenvegetation, wie
noch jetzt, ſoweit ſie nicht in der nächſten Nähe der Städte und durch
[142] die Verwilderung der großen Pampasdiſtel und der Artiſchocke ver-
ändert iſt; dieſelbe dünne Bevölkerung, dieſelben einheimiſchen Thier-
mengen wie noch heute durchſtreiften dieſe öden Ebenen. Die Spanier
führten das Pferd und das Rindvieh ein und dieſe vermehrten ſich in
unglaublich kurzer Zeit in ſolchem Maaße, daß allein Montevideo
jährlich 300,000 Stierhäute ausführt, daß die Kriegszüge des
General Roſas viele Hunderttauſende von Pferden koſteten, ohne daß
auch nur im Geringſten eine Abnahme merklich wurde. Das einhei-
miſche organiſche Leben und ſeine Maſſe hat ſich ſeit der Entdeckung
durch die Spanier alſo nicht vermindert, ſondern bedeutend vermehrt,
und dabei ſind Millionen Pfunde von Kohlenſtoff und Stickſtoff zu
organiſchen Subſtanzen verbunden durch den Handel mit Ochſen-
häuten ausgeführt, ohne daß das Land den geringſten berechenbaren
Erſatz an organiſchen Stoffen erhalten hätte. Woher können dieſe
Maſſen anders entſtammen, als der Atmoſphäre? — Wenn wir alle
übrigen Beſtandtheile des Thees vernachläſſigen, ſo führt doch China
mit dem halben Procent Thein alle Jahre über 300,000 Pf. Stick-
ſtoff aus, ohne dafür irgend namhaften Erſatz wieder zu erhalten. —
Von dem in gutem Stande erhaltenen Walde gewinnen wir jährlich
für den Morgen ohngefähr dritthalbtauſend Pfund trockenes Holz,
welche etwa 1000 Pfund Kohlenſtoff enthalten. Aber wir düngen
den Waldboden nicht, und ſein Gehalt an Humus, weit entfernt,
erſchöpft zu werden, nimmt vielmehr von Jahr zu Jahr durch Wind-
bruch und Blattfall bedeutend zu. — Auf den für jedes Vieh unüber-
ſteiglichen Alpen der Schweiz und Tyrols mäht der Wildheuer all-
jährlich ſeine beſtimmte Menge Gras, ohne dem Boden auch nur das
Allergeringſte an organiſcher Subſtanz wieder zurückzugeben. Woher
ſtammt dieſes Heu, wenn nicht aus der Atmoſphäre? Kohlenſtoff und
Stickſtoff bedarf die Pflanze, und in Südamerica, im Walde auf der
wilden Alpe giebt es für ſie keine Möglichkeit, ſich dieſer Stoffe zu
bemächtigen, als vermittelſt des Ammoniaks und der Kohlenſäure der
Atmoſphäre. — Die Provinzen Nord- und Südholland, Friesland,
Gröningen und Dronthe führen alljährlich mit ihrem Käſe etwa
[143] 1 Million Pf. Stickſtoff aus. Sie entnehmen dieſelben durch die
Kühe ihren Wieſen, die niemals anders, als von dem darauf wei-
denden Viehe gedüngt werden. Dadurch erhalten die Wieſen aber
keinen Erſatz, denn Alles, was die Kühe produciren, ſtammt ja von
den Wieſen her. Woher nun dieſe enormen Maſſen von Stickſtoff?
Vielleicht der Veſuv oder Aetna, oder die großen Feuerſchlünde der
Cordilleren hauchten die Menge des kohlenſauren Ammoniaks aus,
welches den Pflanzen der holländiſchen Wieſen durch die Luftſtrö-
mungen zugeführt und von dieſen durch die Kühe endlich als Käſeſtoff
zum Gegenſtande des Handels und der Gaumenluſt gemacht wurde.
Dieſe und unzähliche ähnliche Thatſachen zuſammengenommen
geben uns nun ſchon einen ſehr ſichern Abſchluß, welcher endlich durch
die Verſuche Bouſſingaults, die großartigſten und faſt die einzi-
gen wahrhaft wiſſenſchaftlichen, welche je in landwirthſchaftlicher Be-
ziehung angeſtellt ſind, über allen Zweifel erhoben wird. Bouſſingault
beſtimmte auf ſeinem Gute Bechelbronn im Elſaß 4 Hectaren
Landes (genau 16 heſſiſche Morgen) zu Verſuchen, die mit derſelben
Genauigkeit viele Jahre fortgeſetzt wurden. Die Länge der Zeit, die
Größe des benutzten Areals vernichten alle Einwürfe, welche ſonſt
bei Verſuchen im Kleinen gemacht werden können. Bouſſingault ließ
jene 16 Morgen während 21 Verſuchsjahren ganz auf die im Elſaß
gebräuchliche Weiſe beſtellen. Es wurde aber genau der Dünger ge-
wogen, welcher aufgefahren, ebenſo alles das, was jedes Jahr ge-
erntet wurde, und von beiden wurde ſtets durch genaue chemiſche
Unterſuchungen die darin enthaltene Menge von Kohlenſtoff, Waſſer-
ſtoff, Sauerſtoff, Stickſtoff und Aſchenbeſtandtheilen beſtimmt. Das
Reſultat dieſer Verſuche war, daß durchſchnittlich im Jahre mit der
Ernte zweimal ſo viel Stickſtoff, dreimal ſo viel Kohlenſtoff und
Waſſerſtoff und viermal ſo viel Sauerſtoff vom Boden gewonnen,
als mit dem Dünger darauf gebracht wird, wobei noch vorausgeſetzt
iſt, daß der ſämmtliche Gehalt des Düngers den Pflanzen zu Gute
kommt, was doch in der That nicht der Fall ſeyn kann.
Iſt nun Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer die Nahrung der
[144] Pflanze und finden wir, daß wir dieſe Stoffe niemals ſo combiniren
können, daß ſie nicht bei Weitem mehr Sauerſtoff enthalten, als die
in den Pflanzen vorkommenden Subſtanzen, ſo muß nothwendig bei
dem Lebensproceſſe der Pflanze beſtändig Sauerſtoffgas frei und aus-
geſchieden werden.
So erhalten wir als Endreſultat unſerer Betrachtungen folgende
großartige Anſicht von dem Stoffwechſel in den drei Reichen der Na-
tur. Die Verweſung und der Athmungsproceß löſen alle Pflanzen-
und Thierſtoffe, indem der Sauerſtoff der Atmoſphäre vermindert
wird, in Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer auf, welche ſich in der
Atmoſphäre verbreiten. Dieſer Stoffe bemächtigt ſich die Pflanze und
bildet daraus unter beſtändiger Vermehrung des Sauerſtoffs der At-
moſphäre kohlenſtoff- und waſſerſtoffreiche und ſtickſtofffreie Beſtand-
theile: Stärke, Gummi, Zucker und Fettarten, und ſtickſtoffreiche Be-
ſtandtheile: Eiweiß, Faſerſtoff und Käſeſtoff. Dieſe Beſtandtheile
dienen dem Thiere, indem es aus Letztern ſeinen Körper baut und die
Erſten im Reſpirationsproceſſe zur Erhaltung der nöthigen Wärme
verbrennt. Dieſe Theorie ſteht nach den angeführten Thatſachen jetzt
unerſchütterlich feſt und der Naturforſcher hat allerdings Recht, wenn
er ſagt, daß der Menſch durch die Vermittelung der Pflanzen in letzter
Inſtanz von der Luft lebt. Oder drücken wir es vielmehr ſo aus:
aus der Atmoſphäre ſammelt die Pflanze die Stoffe, aus denen ſie
die Nahrung des Menſchen zuſammenſetzt. Das Leben ſelbſt aber iſt
nur ein Verbrennungsproceß, die Verweſung nur der letzte Abſchluß
deſſelben. Durch dieſe Verbrennung kehren alle Beſtandtheile wieder
in die Luft zurück und nur eine geringe Menge Aſche bleibt der Erde,
der ſie entſtammt. Aber aus dieſen langſamen, unſichtbaren Flammen
erhebt ſich ein neugeborner Phönix, die unſterbliche Seele, in Regio-
nen, wo unſere Naturwiſſenſchaft keine Geltung mehr hat.
[[145]]
Siebente Vorlesung.
Wovon lebt der Menſch?
Zweite Beantwortung.
Wie meine Muhme, die berühmte Schlange.’
(Fauſt.)
Schleiden, Pflanze. 10
[[146]][[147]]
Ob die Worte unſeres Motto, welche der Dichter dem böſen
Geiſte in den Mund legt, Wahrheit haben? Ob die Rede des ge-
meinen Lebens wie der heiligen Poeſie, daß der Menſch dem Staube
entſtamme und wieder zu Staub und Aſche werde, mehr ſind als ein
poetiſches Gleichniß? Nur die Naturwiſſenſchaft, die Phyſiologie
kann es uns beantworten.
Es war mir erlaubt, in einer früheren Vorleſung den Natur-
forſcher zu vertheidigen, wenn er behauptete, der Menſch lebe nur
von der Luft, ſtamme von derſelben und kehre in dieſelbe wieder
zurück. Die Verweſung löſt alle thieriſchen Körper in Ammoniak,
Kohlenſäure und Waſſer auf, und dieſe verfliegen als Gas und
Waſſerdunſt in die Luft. Seine Nahrung entnimmt der Menſch mit-
telbar oder unmittelbar ganz dem Pflanzenreiche, und dieſes lebt
weſentlich ganz auf Koſten der Kohlenſäure, des Ammoniak und des
Waſſers der Atmoſphäre.
Dieſe Anſichten verdanken wir den ſich folgenden und ergänzen-
den Unterſuchungen der ausgezeichnetſten Forſcher der letzten 100
Jahre; doch erſt in neueſter Zeit ſind ſie von Liebig in einer Weiſe
ausgeſprochen, die die allgemeine Aufmerkſamkeit auf ſie lenkte.
Gegen ihn haben ſich von den verſchiedenſten Seiten her lebhafte
Stimmen erhoben, aber ſehr verſchieden ſind die Gründe und Ein-
würfe, welche man gegen ihn geltend gemacht hat. Ein Theil der
Oppoſition galt nicht den Anſichten, ſo weit ſie mitzutheilen mir früher
vergönnt war, ſondern der gar nicht zu rechtfertigenden Unart, mit
welcher Liebig ihm völlig fremde Wiſſenſchaften herabſetzte und in
10*
[148] Bauſch und Bogen die Männer, die ſie vertreten, verunglimpfte,
während er gleichzeitig die craſſeſte Unwiſſenheit in dieſen Diſciplinen
zur Schau trug. Ein andrer Theil der Einwürfe kam von den un-
wiſſenden und beſchränkten Köpfen aus älteren naturwiſſenſchaftlichen
Schulen, denen, um dieſe Sätze zu beurtheilen, nicht mehr als Alles
und namentlich gründliche Kenntniß der Phyſik und Chemie abging.
Endlich ein anderer Theil entſprang noch aus einem Mißverſtand,
den Liebig ſelbſt durch unklare Auffaſſung und mangelhafte Einklei-
dung veranlaßt hatte. Man glaubte nämlich, daß dieſe Theorie des
Stoffwechſels durch die drei Reiche der Natur ſchon eine Theorie des
Pflanzen- und Thierlebens ſeyn ſolle, und dachte mit dem Nachweis,
daß hier gar Vieles unerklärt und dunkel bleibe, gar Vieles ſich nicht
mit jener Theorie reimen laſſe, dieſe ſelbſt umwerfen zu können. Das
Verhältniß jener großartigen Anſichten zum Thier- und Pflanzenleben
iſt aber ein ganz anderes. Für ſich ſind jene allgemeinen Umriſſe voll-
endet und unerſchütterlich feſtgeſtellt. Für das Pflanzen- und Thier-
reich aber gelten ſie uns als leitende Maximen, mit denen in Einklang
wir die genauere Auszeichnung des Bildes zu verſuchen, nach denen
wir die Zuläſſigkeit der Hypotheſen im Einzelnen zu entſcheiden haben,
und es mag ſeyn, daß wir noch lange forſchen müſſen, bis wir hier
alle einzelnen Glieder auffinden, die die Kette vollſtändig ſchließen. Die
Theorie des Stoffwechſels ſagt uns nur im Allgemeinen, was zwiſchen
Pflanzen und Thieren, Thieren und Atmoſphäre, Atmoſphäre und
Pflanzen vor ſich geht, aber ſie ſagt uns nicht, was für Proceſſe in
der Pflanze, im Thier Statt finden, wohl aber bindet ſie unſere fer-
neren Unterſuchungen in ſofern, als wir von vorn herein jeden Er-
klärungsverſuch als falſch verwerfen müſſen, der jener Theorie des
Stoffwechſels widerſpricht. Alle Verſuche z. B. die Ernährung der
Pflanzen aus den organiſchen Beſtandtheilen des Bodens abzuleiten,
ſtehen ganz müſſig da, weil wir durch jene Theorie wiſſen, daß wir
mit den ſämmtlichen organiſchen Stoffen nie und nimmer auch nur
für den vierten Theil der darauf wachſenden Pflanze Rechenſchaft
geben können.
[149]
Hier wirft ſich aber ganz von ſelbſt ein Einwurf auf, der der
ganzen Theorie ſehr ungünſtig zu ſeyn ſcheint. Wir ſehen doch nun
einmal unzweifelhaft, daß in humusreichem Boden, auf gutgedüngtem
Felde die Culturpflanzen beſſer gedeihen, als auf ungedüngtem. Wenn
aber die Pflanze Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer aus der Luft
bezieht, wenn das ihre einzige Nahrung iſt, wozu nützt dann der
Dünger, warum müſſen wir ihn anwenden, wenn wir nicht auf jedes
Gedeihen der Culturpflanzen verzichten wollen? Dieſe Frage kann
nur durch eine doppelte Antwort erledigt werden, die Eine aus der
Phyſik, die Andere aus der Chemie entlehnte, die Eine die Wirkung
des Humus im Allgemeinen, die Andere insbeſondere die Nothwen-
digkeit oder Vortheilhaftigkeit des Düngers erklärend.
Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſerdunſt der Atmoſphäre ſind
allerdings die Nahrungsmittel der Pflanzen, aber die Frage iſt, durch
welche Organe ſie dieſelben aufnehmen. Beim Waſſer leidet es keinen
Zweifel, daß es ganz oder doch zu 99 Procenten durch die Wurzeln
aufgenommen werden muß. Aus den Verſuchen des Engländers
Hales und des Deutſchen Schübler ſcheint hervorzugehen, daß
die Pflanzen bedeutend größere Quantitäten von Waſſer verbrauchen,
als mit dem Regen herabfällt. Eine Sonnenblume verbraucht täglich
1¼ Pfund Waſſer; alſo wenn jede Pflanze 4 Quadratfuß einnimmt,
bedürfen die Pflanzen eines Morgens in den vier Sommermonaten
1,500,000 Pfund. Der Boden zwiſchen ihnen iſt aber mit Gras und
Unkraut bewachſen und auch dieſes verzehrt Waſſer, welches man noch zu
1,500,000 Pfund veranſchlagen kann. Im Ganzen verlangt alſo ein
Morgen Landes mit Sonnenblumen beſetzt 3 Millionen Pfd. Waſſer.
Durch ähnliche Berechnungen findet man für den Bedarf eines
mit Kohl bepflanzten Morgens 5 Millionen Pfund; für einen Obſt-
garten mit Zwergbirnbäumen beſetzt ebenſoviel; für einen Morgen,
der mit Hopfen bepflanzt iſt, ſogar 6 bis 7 Millionen Pfund.
Die dieſen Berechnungen zu Grunde liegenden Verſuche wurden
in England angeſtellt, wo während der vier Sommermonate höchſtens
1,600,000 Pfund Regen auf den Morgen Landes fällt. Man würde
[150] aber einen großen Irrthum begehen, wenn man glaubte, daß dieſes
Regenwaſſer alles den Pflanzen zu Gute käme. Es verfliegt vielmehr
gleich ein großer Theil in die Luft, aber ein noch bei Weitem größerer
Theil läuft ab und wird durch Quellen, Bäche und Flüſſe dem Meere
zugeführt. Zur Beſtimmung dieſer letzten Menge beſitzen wir immer
noch nicht genügend genaue Meſſungen und Berechnungen. Auffallend
aber iſt es, daß, ſo wie ſich im Laufe der Jahrhunderte die Methoden
der Beſtimmung mehr und mehr entwickelt haben, ſo wie die Beobach-
tungen genauer wurden, ſich auch herausſtellte, daß man früher dieſe
Waſſermenge viel zu klein angeſchlagen habe. Die ältern Phyſiker
nahmen an, daß etwa ⅙ des als Regen fallenden Waſſers durch
die Flüſſe dem Meere zugeführt werde. Die ſchon viel genaueren Be-
rechnungen von Dauſſe für die Seine und von D'Alton für die
Themſe zeigten, daß man wenigſtens ⅓ annehmen könne. Noch ge-
nauer ſind die Angaben von Berghaus für den untern Rheinlauf,
wonach ¾, und von Studer für den obern Rhein, wonach ⅘ alles
Regens, Schnee's und Thau's durch den Rhein abfließen würde.
Endlich ſind die von Berghaus über die Weſer mitgetheilten ſehr
ins Specielle gehenden Thatſachen der Art, daß es beinahe wahr-
ſcheinlich wird, daß dieſer Fluß noch etwas mehr Waſſer abführt, als
ihm die atmoſphäriſchen Niederſchläge liefern können, daß alſo noch
andere Naturproceſſe ihn mit Waſſer verſorgen müſſen. Nehmen wir
aber auch an, daß im Ganzen nur die Hälfte des Regenwaſſers abfließt,
ſo ergiebt ſich doch ſogleich die Unmöglichkeit, daß die übrigbleibenden
800,000 Pfund Waſſer, auch abgeſehen von der Verdunſtung, den
Bedarf der Pflanzen decken können, welcher von 3 bis zu 6 Millionen
beträgt. Es muß den Pflanzen alſo der Waſſerdunſt der Luft noch auf
andere Weiſe zugeführt werden, und dieſes geſchieht durch die Eigen-
ſchaft der meiſten den Boden bildenden Beſtandtheile, die Waſſer-
dünſte der Luft einzuſaugen. Dieſe Eigenſchaft kommt aber keiner
Subſtanz in ſo hohem Grade zu, als dem aus der allmäligen Ver-
weſung der organiſchen Subſtanzen entſtandenen Humus. Merk-
würdiger Weiſe zeichnet ſich aber der Humus auch durch ſeine beſondere
[151] Kraft aus, Kohlenſäure und Ammoniakgas der Luft zu entziehen und
gleichſam zu ſammeln; auch in dieſer Beziehung kommt ihm keine
feſte Subſtanz des Erdbodens gleich und nur das Waſſer ſteht ihm
darin am nächſten. Der Humus enthält ſomit unter allen Umſtänden
ſtets ein mit Kohlenſäure und Ammoniak geſchwängertes Waſſer,
und ſo wie ihm daſſelbe durch die Wurzeln der Pflanzen entzogen
wird, erſetzt er den Verluſt wieder aus der Atmoſphäre. Sicher iſt
dies der hauptſächlichſte Weg, auf welchem den Pflanzen das Waſſer
zugeführt wird, höchſt wahrſcheinlich der weſentlichſte Canal, durch
welchen ſie mit Ammoniak geſpeiſt werden, und gewiß wird ihnen
dadurch wenigſtens ein großer Theil der Kohlenſäure zugeführt.
Sehen wir eine kürzlich blosgelegte Fläche eines Granitblocks z. B.
auf der Spitze des Brockens an, ſo finden wir, daß, ernährt von der
geringen Menge von kohlenſaurem, mit Ammoniak geſchwängerten
atmoſphäriſchen Waſſer ſich bald eine Vegetation einer kleinen zarten,
nur unterm Microſcop erkennbaren Pflanze auf demſelben entwickelt.
Dieß iſt der ſogen. Veilchenſtein, ein ſcharlachrother, pulverförmiger
Ueberzug des nackten Geſteins, welcher durch ſeinen beſonders beim
Reiben hervortretenden Veilchengeruch eine fleißig geſuchte Merkwür-
digkeit für den ſinnigen Brockenwanderer geworden iſt. Durch das
allmälige Abſterben und Verweſen dieſer kleinen Pflänzchen bildet ſich
nach und nach ein ganz dünner Ueberzug von Humus, der ſchon ein
Paar großen ſchwarzbraunen Flechten die nöthige Nahrung aus der
Atmoſphäre zuführen kann. Dieſe Flechten, welche die Halden um
die Tagöffnungen der Bergwerke von Fahlun und Dannemora in
Schweden dicht überziehen und durch ihre düſtre Farbe, die ſie der
ganzen Gegend aufprägen, jene Pingen oder Tagfahrten als die fin-
ſtern Schlünde des Todes erſcheinen laſſen, haben die Botaniker tref-
fend die ſtygiſche und die Fahluner Flechte genannt. Aber ſie ſind
hier keine Boten des Todes; ihr Abſterben vielmehr bereitet den
Boden für das kleine zierliche Alpenmoos, deſſen Vernichtung bald
grünere und üppigere Mooſe folgen, bis ſich hinreichender Boden für die
Rauſchbeere, für den Wachholder und endlich für die Fichte gebil-
[152] det hat. So erwächſt aus unſcheinbarem Anfange eine immer dickere
Humusdecke über dem nackten Geſtein, und eine immer kräftigere und
üppigere Vegetation nimmt Platz, nicht von jenem Humus ſich er-
nährend, der ſich vielmehr mit jeder abſterbenden Generation ver-
mehrt, ſtatt vermindert, ſondern durch ihn nur mit Nahrung aus der
Atmoſphäre verſehen. Ein noch intereſſanteres Beiſpiel der Art führt
Bouſſingault in ſeiner „économie rurale“ an. Er beſuchte bei
ſeinem erſten Aufenthalt in Amerika eine Gegend in der Nähe von La
Vega da Supia die während ſeiner Anweſenheit durch einen Berg-
ſturz in eine wüſte Fläche von Porphyrtrümmern verwandelt wurde,
wobei alle Vegetation vernichtet und viele Klafter tief unter Fels-
ſtücken begraben war. Als er nach 10 Jahren zum zweiten Mal in die-
ſelbe Gegend kam, hatte ſich das wilde und nackte Felsgerölle bereits
wieder mit einem jungen, üppig grünenden Acacienhain bedeckt.
Sicher ſind auf ähnliche Weiſe die den Fluthen des Uroceans durch
vulkaniſche Kräfte entſteigenden Felſeninſeln in einer Periode, die
Hunderttauſende von Jahren über alle Menſchengeſchichte auf unſerer
Erde hinausliegt, allmälig mit Vegetation bedeckt, bis an günſtigen
Stellen ſich zuletzt die Maſſen von Humus anhäuften, die dem uner-
ſchöpflichen vegetabiliſchen Leben der tropiſchen Urwälder zur üppigen
Unterlage dienen. In dieſen phyſicaliſchen Eigenſchaften des Humus,
nicht aber in ſeinen chemiſchen Beſtandtheilen haben wir den Grund
zu ſuchen, warum auf einem humusreichen Boden eine üppigere
Vegetation gedeihen kann, als auf einem andern, in deſſen Miſchung
dieſe Subſtanz fehlt.
Wie nun aber? wenn Kohlenſäure, Ammoniak und Waſſer die
alleinige Nahrung der Pflanzen ſind, wenn dieſe Stoffe in dem großen
Reſervoir des Luftmeeres ſtets in genügender Menge vorhanden ſind,
wenn ſelbſt ohne Humus dieſe Stoffe einer dürftigen Vegetation zu-
geführt werden können, wenn dieſe durch ihr Abſterben beſſeren Pflan-
zen den Boden bereiten, warum findet dennoch trotz alles Humusge-
halts eine ſo große Verſchiedenheit in der Vegetation Statt? Weß-
halb gedeiht eine und dieſelbe Pflanze auf dieſem Boden höchſt üppig,
[153] während ſie auf einem andern verkümmert oder überhaupt gar nicht
ſich entwickelt?
„..... Nicht jeder Boden trägt Alles.“
„Hier gedeihen die Saaten üppiger, dort beſſer die Trauben*).“
Virgils Gedicht vom Landbau.
Auf den Schweizer Voralpen wächſt unſere prachtvollſte Orchidee,
der Frauenſchuh, überall, wo der ſogen. Alpenkalk den Boden bil-
det; ſie begleitet den ganzen ſchwäbiſchen Muſchelkalk und verſchwindet
dann plötzlich, ſo wie man dieſſeit der Donau auf den Sand der
Jura- und Keuperformation gelangt. Erſt im thüringiſchen Muſchel-
kalke tritt ſie wieder auf und zieht ſich mit demſelben an der Werra
hinunter bis in die Gegend von Göttingen, überſpringt dann den
bunten Sandſtein des untern Eichsfeldes, den Granit des Oberhar-
zes, um wieder auf den Kalkformationen öſtlich vom Brocken den
Wanderer zu erfreuen. Dann ſucht man ſie vergebens auf all den
Thon- und Sandformationen der norddeutſchen Ebene, bis ſie im
äußerſten Norden auf Rügen wieder ſich einfindet, wo ſich die Kreide-
felſen von Arkona und Stubbenkammer erheben. — An der weſtlichen
Küſte von Frankreich wachſen verſchiedene unſcheinbar ausſehende
Strandgewächſe, die Solſola- u. Salicornienarten, welche dort
von den Einwohnern benutzt werden, um aus ihrer Aſche Soda zu
gewinnen. Wenn wir von dort nach Oſten reiſen, ſo vermiſſen wir
überall auch beim ſorgfältigſten Suchen dieſe Pflänzchen und nur hin
und wieder zeigt ſich die eine oder andere da, wo der Boden von einer
Salzquelle durchfeuchtet iſt. Endlich gelangen wir in die großen ſüd-
öſtlichen ruſſiſchen Steppen, die, im Sommer oft mit einer dicken
Salzkruſte bedeckt, ſich als der Boden eines ausgetrockneten Meeres
zu erkennen geben, und hier treten jene Pflanzen wieder in derſelben
Fülle und Ueppigkeit auf, wie an den Küſten von Frankreich. — An den
Küſten von Norddeutſchland wächſt auf dem dürftigen Dünenſande die
kleine blaßrothe, ſtrohblumenartige Grasnelke und hat ſich überall
[154] auf den Sandflächen der norddeutſchen Ebene ausgebreitet; dann
aber überſpringt ſie die Granite, Thonſchiefer und Gypſe des Harzes,
die Porphyre und Muſchelkalke Thüringens und erſcheint erſt jenſeit
des Mains wieder auf der Keuperſandebene, welche das ehrwürdige
Nürnberg umgiebt. Weiter ſteigt ſie herab durch die Pfalz nach
Süden, bis ihr abermals der Muſchelkalk der ſchwäbiſchen Alpe eine
Grenze ſetzt; aber ſie überſpringt dieſen und die ganzen reichen Alpen,
um endlich im nördlichen Italien wieder auf Sandboden zu erſcheinen.
Wie kommt es nun, daß die genannten Pflanzen überall den üppig-
ſten Boden in ihrem geographiſchen Verbreitungsbezirk verſchmähen,
und nur auf ganz beſtimmte Gebirgsarten beſchränkt ſind? Sollte
hier nicht der Kalk, das Salz, der Sand oder vielmehr die Kieſelerde
den entſchiedenſten Antheil daran haben?
Und man kann noch weiter fragen: Weshalb kann ein und der-
ſelbe Boden die eine Pflanze zur höchſten Stufe ihrer Entwicklung
bringen, während eine andere auf ihm nicht im Stande iſt, ihr Leben
zu friſten? Warum endlich ſehen wir das Leben und geſunde Gedei-
hen unſerer meiſten Culturpflanzen ſo entſchieden an die Düngung
des Bodens mit organiſchen Subſtanzen gebunden? Dieſe Frage hat
nun zuerſt Liebig auf eine gründliche und ächt wiſſenſchaftliche Weiſe
beantwortet. Weshalb, fragt er dagegen, gedeiht in dem humus-
reichſten Boden, in reiner Baumerde, kein Weizen? Weil der Weizen
einen Stoff, die Kieſelerde, enthält, ohne den er nicht beſtehen kann
und den er gleichwohl in der Baumerde nicht findet. Wenn wir eine
Pflanze, ſey es, welche es wolle, verbrennen, ſo erhalten wir als
Rückſtand, der ſich nicht mit den Verbrennungsproducten verflüchtigt,
eine größere oder geringere Quantität Aſche. Kalk, Kieſelerde, Soda
und Pottaſche, Kochſalz und eine Verbindung von kohlenſaurem und
phosphorſaurem Kalk (ſogen. Knochenerde, weil ſie den unverbrenn-
lichen Theil der [thieriſchen] Knochen bildet), Gyps und einige andere
Beſtandtheile ſind die Subſtanzen, aus welchen gewöhnlich die Aſche
gemiſcht iſt. Vergleichen wir aber die Reſultate der Unterſuchung der
Aſche einer größern Reihe von Pflanzen unter einander, ſo kommen
[155] wir zu einigen merkwürdigen Geſetzen. Wir finden, daß eine und
dieſelbe Pflanze immer nahebei die gleiche relative Menge Aſche giebt,
daß dieſe Aſche innerhalb gewiſſer ſehr enge nach chemiſchen Grund-
ſätzen beſchränkter Grenzen ganz gleichmäßig zuſammengeſetzt iſt. Wir
entdecken endlich, daß verſchiedene Pflanzen eine aus ſehr verſchiedenen
Subſtanzen zuſammengeſetzte oder doch ſehr verſchieden gemiſchte Aſche
nach dem Verbrennen hinterlaſſen.
So wenig wie es vernunftgemäß iſt, vorauszuſetzen, daß die
Pfeilwurzel blos deshalb ein ſo reines Stärkemehl bildet, damit
wir unſere Kinder und Kranken damit nähren können, ohne daß dieſe
Subſtanz eine ganz beſtimmte Bedeutung auch für das Leben der
Pflanze ſelbſt hätte, ebenſo verkehrt würde es ſeyn, anzunehmen, daß
eine Pflanze ganz beſtimmte Mengen von Aſchenbeſtandtheilen nur
deshalb aus dem Boden aufnehme, damit wir hin und wieder etwas
Pottaſche daraus gewinnen können, oder damit dieſe Aſche uns ein
läſtiger Rückſtand im Ofen bleibe. Wir müſſen vielmehr durch die
Erſcheinung, daß gewiſſe Pflanzen ganz geſetzmäßig gewiſſe unorga-
niſche Mineralbeſtandtheile aus dem Boden aufnehmen, zu der An-
ſicht geführt werden, daß dieſe Beſtandtheile eben ſo weſentlich für das
Beſtehen und folglich für die Ernährung der Pflanze ſind, als jene Ele-
mente, aus denen dieſelbe ihre organiſchen Bildungen zuſammenſetzt.
Dabei iſt es zunächſt ganz gleichgültig, ob wir durch den Stand unſerer
Wiſſenſchaft ſchon befähigt ſind, in jedem einzelnen Falle nachzuweiſen,
welche Bedeutung dieſem oder jenem beſtimmten Stoffe im Leben der
Pflanze zukomme. Genug, daß wir wiſſen, daß dieſe Stoffe unerläß-
liche Bedingung für das geſunde Gedeihen gewiſſer Pflanzen ſind.
So neu und fremdartig Manchem auch jetzt die Behauptung
erſcheinen mag, daß die unbedeutende Aſchenmenge in einer Pflanze
überhaupt im Leben derſelben berückſichtigt zu werden verdiene, ſo
wird man ſie doch leicht gelten laſſen und ſich an dieſelbe gewöhnen,
ſo lange und weil man dieſes Verhältniß immerhin nur für eine wenn
auch in ihrer Weiſe nothwendige Nebenſache anſieht. Aber ganz an-
ders nimmt es ſich aus, wenn wir, vertraut mit den Grundprincipien
[156] und dem Gange, den die Wiſſenſchaft in der nächſten Zeit nehmen
muß und nehmen wird, ſchon jetzt das Schlußreſultat anticipiren,
an deſſen vollkommener Begründung vielleicht noch ein Jahrhundert
arbeiten kann. Dann lautet unſer Sprüchlein dahin, daß überhaupt
der ganze Reichthum und die ganze Mannigfaltigkeit der irdiſchen
Vegetation, ihre große Verſchiedenheit, ſowohl wenn wir Längen- und
Breiten-Zonen, als wenn wir die wilde Natur mit dem Culturlande ver-
gleichen, ganz ausſchließlich abhängig iſt von der Verſchiedenheit der un-
organiſchen Beſtandtheile, welche die Pflanze aus dem Boden aufnimmt.
Betrachten wir die wilde Vegetation unſerer Breiten, ſo finden
wir zwei Hauptclaſſen des Bodens, die eine im Torf- oder Moor-
boden, welcher faſt ganz allein aus Humus, alſo aus verweſten or-
ganiſchen Stoffen beſteht, und die andere im Kalk-, Sand- und Thon-
boden, in welchem die unorganiſchen Beſtandtheile ſo ſehr vorherr-
ſchen, daß der Humus in dem ſchwärzeſten Boden höchſtens 10 Procent
und ſelbſt in dem üppigſten und pflanzenreichſten oft kaum ½ Procent
ausmacht. Und jener an Humus ſo reiche Torf- oder Moorboden kann
von den 5000 in Centraleuropa wachſenden Phanerogamen noch keine
300 ernähren, und vielleicht ſind es keine 50 Pflanzen, alſo noch
nicht 1 Procent, deren Gedeihen wirklich durch den Moorboden bedingt
wäre, die nicht auch anderweitig, wo ihnen die nöthige Feuchtigkeit
geboten wird, trefflich gedeihen könnten. Die meiſten dieſem humus-
reichſten Boden angehörigen Pflanzen ſind aus der Familie der Bin-
ſen und Riedgräſer, welche dem Landmanne als ſogen. ſaures Futter
völlig unnütz und verhaßt genug ſind. Dagegen ernährt die andere
Claſſe die ganze Vegetation unſerer Breiten in einer Mannigfaltigkeit,
die für unſer durch die Tropenwelt nicht verwöhntes Auge bunt genug iſt,
und meiſt finden wir die reichſte Fülle auf dem Boden, der am ärmſten
an Humus, aber am reichſten an unorganiſchen Beſtandtheilen iſt,
auf Baſalt-, Granit-, Porphyr- und Kalkboden. Alle jene verſchie-
denen Pflanzenarten kehren uns Jahr aus Jahr ein in derſelben
Form wieder, der Kreis ihrer Merkmale iſt ſtreng begrenzt, und wenn
wir die jüngſten geognoſtiſchen Formationen durchſuchen, ſo finden
[157] wir die Pflanzen der Jetztwelt ganz mit denſelben Merkmalen,
welche ſie noch jetzt zeigen, in den Schutt der letzten Revolution
der Erdoberfläche eingeſchloſſen. Ganz Hamburg, ſein Hafen und
ein breiter Streifen nach Südoſt und Nordweſt von dieſer Stadt
z. B. ruht auf einem untergegangenen Walde, der jetzt 30 bis 100
Fuß unter der Oberfläche begraben iſt. Dieſer beſtand ganz aus
denſelben Linden und Eichen, die wir jetzt noch in jenen Gegenden
kennen; zu andern Zwecken angeſtellte Aufgrabungen haben Tau-
ſende von Haſelnüſſen aus jenem Grunde zu Tage gebracht, welche
in Nichts von unſerer heutigen Haſelnuß verſchieden ſind. So hat
ſich für unſre Breiten die wilde Vegetation ſeit Jahrtauſenden ganz
in demſelben Charakter erhalten, den ſie angenommen hatte, als
ſich nach der letzten Erdrevolution die climatiſchen Verhältniſſe ſo
geſtaltet hatten, wie ſie gegenwärtig von uns beobachtet werden.
Ganz anders verhält es ſich mit unſerm Culturboden, von welchem
ich hier nur das Gartenland berückſichtigen will, weil es die hervor-
zuhebenden Eigenheiten in der auffallendſten Weiſe zeigt.
Wir beſchränken unſern ſorgfältigen Pflanzenbau auf eine ge-
wiſſe verhältnißmäßig kleine Anzahl von Kräutern, und die Aus-
wahl derſelben, in früherer Zeit dem Zufalle überlaſſen, jetzt nicht
ſelten mit Bewußtſein nach beſtimmten Grundſätzen geleitet, wird
beſonders durch Eine Hauptrückſicht beſtimmt.
Unſere Culturpflanzen zeigen ſämmtlich Merkmale, die ihnen
im wilden Zuſtande nicht zukommen, welche aber gerade das um-
faſſen, was uns dieſelben werth macht. Die 4 bis 6 Pfund ſchwere,
ſüße, ſaftige Altring hammöhre iſt im wilden Zuſtande eine
dürre, dünne, ungenießbare Wurzel; der fauſtgroße, zarte, wohl-
ſchmeckende Wiener Glaskohlrabi iſt wild ein ſchlanker, holziger,
ſaftloſer Stengel; der weiße, weiche, gewürzige Blumenkohl iſt auf
ſeinem natürlichen Standort, in ſeiner natürlichen Tracht, ein faden-
dünner, verzweigter Blüthenſtiel mit kleinen grünen, bitter ſchmec-
kenden Blüthenknospen und ſo fort. Alle dieſe ſo verſchiedenen Ei-
genheiten, wodurch die Pflanzen ſo wichtige Begleiter des menſch-
[158] lichen Haushaltes geworden ſind, werden aber hervorgerufen durch
einen eigenthümlichen, der Pflanze urſprünglich fremdartigen chemi-
ſchen Proceß, den nicht die überall für alle Pflanzen gleichen und
faſt gleichmäßig vertheilten organiſchen Elemente, ſondern die im
Boden vorhandenen und durch die Wurzeln aufgenommenen unor-
ganiſchen Beſtandtheile bedingen. Sobald ein Boden reich iſt an
den verſchiedenen den Pflanzen überhaupt zukommenden Salzen, ſo
ändern ſich die Charactere der Pflanzen, es entſtehen Varietäten,
Monſtroſitäten u. ſ. w., was im wilden Zuſtande der Pflanze, wo
ſie ſich immer nur auf dem genau ihr zuſagenden Boden hält, nie-
mals Statt findet. Die Pflanzen zeigen aber eine ſehr verſchiedene
Geneigtheit, durch ſolche äußere Einflüſſe in ihrer eigenthümlichen
Natur abgeändert zu werden. Während einige unter den verſchieden-
ſten Verhältniſſen bis in die geringſten Einzelnheiten hinein genau
ihre Merkmale beibehalten, gehen andere leicht in unzählige Spiel-
arten über. Während bei einigen die Spielarten nur wenig Be-
ſtändigkeit zeigen, leicht wieder in die wilde Form oder in neue
Spielarten übergehen, bilden andere Pflanzen mannigfaltige Ab-
änderungen, die nach der Cultur einiger Jahre ſchon mit völliger
Sicherheit durch den Saamen fortgepflanzt werden können und auf
dieſe Weiſe ſogenannte Unterarten bilden. Gerade dieſe Eigenſchaft
der Pflanzen aber iſt es, welche ſie geeignet macht, zu einem vor-
theilhaften Gegenſtand der Cultur zu werden, daß ſie nämlich leicht
ſehr verſchiedene und beſtändige Spielarten bilden, aus denen der
Menſch ſich dann die für ſeine Zwecke vortheilhaften ausſucht und
ſie in die Zahl ſeiner vegetabiliſchen Unterthanen aufnimmt.
Hier haben wir nun drei ſich gegenüberſtehende Verhältniſſe,
den gemeinen Boden, den Moorboden und den Gartenboden. Der
erſte nährt einen Reichthum verſchiedener Pflanzenformen, die ſich
aber in ſtarrer Conſequenz durch Jahrtauſende gleich bleiben. Der
Moorboden iſt außerordentlich arm an Gewächſen, nur die form-
loſeſten und unbrauchbarſten Pflanzen bringt er hervor. Endlich der
Gartenboden ernährt nicht nur üppig jede Pflanze, die ihm über-
[159] geben wird, ſondern er vermehrt ſelbſt beſtändig den Reichthum der
Pflanzenformen ins Unendliche, wobei wohl nur die Ungunſt des
Climas ein Ziel ſetzt und die Formen wieder auf ihre Urgeſtalten
zurückführt, ſobald die begünſtigenden Einflüſſe der Cultur auf-
hören. Dann treten zwei andere Verhältniſſe als Gegenſätze vor
unſere Betrachtung. Wir haben einerſeits den gemeinen Boden mit
wenig oder gar keinen organiſchen Reſten und ſeinem Pflanzenreich-
thum, andererſeits den Moorboden und den Gartenboden, beide bis
zum Uebermaaß reich an dem ſchwarzen Beſtandtheile, Humus ge-
nannt, welcher aus der Zerſtörung thieriſcher und pflanzlicher Orga-
nismen ſich gebildet hat. Und gleichwohl finden wir beim Moor-
boden und Gartenland einen ſo verſchiedenen Einfluß auf die Vege-
tation. Dieſer erklärt ſich aber leicht aus der Art und Weiſe, wie
beide gebildet werden. Der Torfboden entſteht da, wo organiſche
Subſtanzen bei Gegenwart von vielem Waſſer verweſen. Die Folge
davon iſt, daß das Waſſer alle auflöslichen Salze, welche in jenen
Organismen enthalten waren, ſogleich wie ſie frei werden, auf-
nimmt und fortführt. Dagegen bleiben im Gartenboden alle jene
löslichen Salze zurück, kommen unmittelbar der Pflanze zu Gute
und häufen ſich bei einer reichlichen Pflege des Bodens zuletzt außer-
ordentlich in ihnen an, während die organiſchen Beſtandtheile durch
die ununterbrochen fortſchreitende Verweſung immer wieder vermin-
dert werden und ſo nie ſich in der Weiſe anſammeln können, wie in
Torf- oder Moorboden, wo die Gegenwart des Waſſers von einer
gewiſſen Zeit an das weitere Fortſchreiten der Verweſung hemmt
oder doch ſehr verzögert. Es kann nicht leicht einen ſchlagendern
Beweis für die Richtigkeit der neuern Anſichten über die Ernährung
der Pflanzen geben, als dieſe Betrachtungen, für Anſichten, welche
faſt gleichzeitig von einem der ausgezeichnetſten Chemiker, Liebig
und einem der bedeutendſten praktiſchen Landwirthe, Bouſſingault,
aufgeſtellt und ausgeführt ſind.
Aber ich erlaube mir noch einmal auf die früher erörterte Frage
zurückzugehen: wovon lebt der Menſch? Wir haben geſehen, daß
[160] die in ſeinem Körper enthaltenen nährenden Flüſſigkeiten, daß
Muskeln, Haut und der Leim, welcher die Grundlage der Knochen
bildet, weſentlich aus ſtickſtoffhaltigen Subſtanzen gebildet ſind,
welche ihm die Pflanzen als Nahrung darbieten. Aber der Leim
macht nicht allein den Knochen aus; wir finden vielmehr in dieſem
neben dem Leim die ſogenannte Knochenerde, eine Verbindung von
kohlenſaurem und phosphorſaurem Kalke. Dieſe iſt es, welche dem
Knochen ſeine Feſtigkeit, ſeine Härte giebt, durch welche allein er
fähig iſt, die ſtützende Grundlage des ganzen Körpers zu ſeyn; wir
wiſſen, daß, wo dieſe Knochenerde mangelt, eine ſchreckliche Krank-
heit, die ſogenannte Knochenerweichung, eintritt. Woher nimmt
der Menſch dieſen nicht minder weſentlichen Beſtandtheil ſeines Kör-
pers? Wir wiſſen ferner, daß alle Flüſſigkeiten des Körpers eine
beſtimmte Menge gewiſſer Salze enthalten, daß ohne dieſelben dieſe
Flüſſigkeiten dem Körper nicht die Dienſte leiſten, zu welchen ſie
beſtimmt ſind. Auch von dieſen Stoffen müſſen wir Rechenſchaft
geben, wenn wir die Ernährung des Thierkörpers erklären wollen.
So wie von den ſtickſtoffhaltigen Theilen des Körpers wird auch be-
ſtändig von dieſem Unorganiſchen eine gewiſſe Menge bei der
Thätigkeit des Körpers zerſetzt und ausgeſchieden und muß erneuert
werden. Wir denken hier unwillkürlich zunächſt an die Erde eſſenden
Ottomaken, an die Thonkugeln verſchlingenden Neger, an die
zahlloſen Beiſpiele, daß Menſchen in Hungersnoth, oder ſonſt aus
einer Art Liebhaberei ſogenanntes Bergmehl, eine feine Kieſel- oder
Kalkerde, verzehrt haben. Aber ſogleich werden wir dieſen Gedan-
ken abweiſen, wenn wir bemerken, daß hiermit nicht allgemeine
Nahrungsmittel aller Menſchen, ſondern nur einige wenige aus
krankhafter Verſtimmung der Magennerven oder aus Noth hervor-
gegangene abnorme Erſcheinungen genannt ſind. Die Quelle, aus
welcher der thieriſche Körper die unorganiſchen Beſtandtheile ſchöpft,
muß eine Allgemeine ſeyn, und wir ſehen uns damit wieder auf die
Pflanzen gewieſen. Wenn nun Knochenerde und ſtickſtoffhaltige Be-
ſtandtheile den thieriſchen Körper aufbauen, wenn wir wiſſen, daß
[161] alcaliſche Salze ſtets die Galle begleiten, welche nach Liebigs An-
ſichten eine bedeutende Rolle in dem Athmungs- und Verbren-
nungsproceß ſpielt, durch welchen die thieriſche Wärme unterhalten
wird, ſo muß es uns natürlich überraſchen, bei den Pflanzen ganz
conſtant die ſtickſtoffhaltigen Nahrungsmittel von phosphorſauren
Salzen, die ſtickſtofffreien Reſpirationsmittel von Alcalien begleitet
zu finden. So hat die weiſe Fürſorge der Natur ſogleich in der
Pflanze vereint, was gerade in dieſer gewiſſen Verbindung ander-
weitig im Thiere nützlich werden ſoll.
Die Naturwiſſenſchaft darf aber bei ſolchen teleologiſchen Be-
trachtungen nicht ſtehen bleiben und unſere Aufgabe wird zunächſt
ſeyn, nachzuweiſen, daß für die Pflanze ſelbſt jene unorganiſchen
Salze ganz beſtimmte Bedeutung haben. Ja ſelbſt wenn wir die-
ſen Nachweis noch nicht zu liefern im Stande ſind, ſo müſſen wir
doch aus dem conſtanten Vorkommen beſtimmter Mineralbeſtand-
theile in beſtimmten Pflanzen auf die Nothwendigkeit derſelben für
das Beſtehen und Gedeihen der Pflanze ſchließen, wie zuerſt Th.
de Sauſſure in ſeinen unſterblichen Recherches sur la végétation
gethan hat. Auf dieſe Anſicht geſtützt ſprach nun Liebig aus: da die
organiſchen Nahrungsmittel allen Pflanzen überall in gleichem
Maße zu Gebote ſtehen, ſo kann in ihnen die Urſache der großen
Verſchiedenheit der Vegetation nicht geſucht werden, folglich muß
dieſelbe in den unorganiſchen Beſtandtheilen liegen, und wenn wir
den Dünger auf den Acker bringen, ſo iſt es im Weſentlichen ganz
daſſelbe, wenn wir ihn erſt verbrennen und nur die Aſche auf den
Boden ſtreuen, denn nur in den Aſchenbeſtandtheilen kann ſeine
Wirkſamkeit begründet ſeyn.
Es iſt leicht einzuſehen, daß dieſer Grundſatz, auf den Land-
bau angewendet, über alle Erſcheinungen, um deren Erklärung
man ſich bisher vergebens abmühte, plötzlich ein neues helles Licht
ausgießt. Nun können wir es leicht begreifen, warum eine Rieſel-
wieſe jährlich ohne Düngung die großen Mengen von Heu liefern
kann, wenn ihr im Quellwaſſer die nöthigen Quantitäten von
Schleiden, Pflanze. 11
[162] Salzen zugeführt werden. Es wird uns klar, wie der Peruaner auf
dem dürrſten Flugſande die üppigſten Maisernten erzielen kann,
wenn nur ein kleines Bächlein von den Schneegipfeln der Andes
ihm die nöthigen auflöslichen Erdſalze zuführt. Hunderte von ähn-
lichen Erſcheinungen werden plötzlich durch dieſen genialen Gedan-
ken Liebigs aufgeklärt, aber auch Hunderte von neuen Gedanken
fruchtbar für die Ausbildung und Verbeſſerung, für Vereinfachung
und Sicherung des Landbaus werden angeregt, welche die nächſte
Folgezeit ausbeuten wird, und wir fangen an, es natürlich zu fin-
den, daß England, wo der Ackerbau auf einer nach dem bisherigen
Maßſtabe ſo hohen Stufe ſteht, ihn, den Begründer einer rationel-
len Pflanzencultur im Gegenſatz der bisherigen rein empiriſchen auf
eine Weiſe feiern und mit Feſten und Ehrenbezeigungen aller Art
überhäufen konnte, wie es kaum einem Menſchen und ſicher nie ei-
nem Ausländer in England widerfahren iſt.
Wenn wir die Aſchen der Pflanzen unterſuchen, finden wir
insbeſondere folgende vier Beſtandtheile, durch welche ſie charakteri-
ſirt ſind: Leicht auflösliche alcaliſche Salze, Erden beſonders Kalk-
und Talkerde, Phosphorſäure und Kieſelſäure oder Kieſelerde.
Bald herrſcht eine, bald zwei von dieſen Subſtanzen in der Aſche
der Pflanzen vor.
Hiernach theilte Liebig die Culturgewächſe ein in:
- 1) Alcalipflanzen, wozu Kartoffeln und Runkeln;
- 2) Kalkpflanzen, wozu Klee, Erbſen u. ſ. w.;
- 3) Kieſelpflanzen, wozu die Gräſer;
- 4) Phosphorpflanzen, wozu Roggen und Weizen gehören.
Aber außerdem enthalten die Pflanzen noch manche andere
Stoffe, deren Mengen und Bedeutung wir nur zur Zeit noch weni-
ger genau kennen. Bei fortſchreitender Wiſſenſchaft wird aber ſicher
jene Liebig'ſche Eintheilung noch eine viel ausführlichere Geſtalt
annehmen.
Alle jene Stoffe finden ſich nun zwar in den Gebirgsarten der
feſten Erdrinde vor, aber faſt alle in einem völlig unauflöslichen,
[163] zum Theil kryſtalliniſchen, alſo für die Pflanze durchaus unbrauch-
baren Zuſtande. Die Frage aber, wie dieſe Stoffe auflöslich
gemacht, wie ſie allmälig zum Boden der Pflanze werden, kann
uns nur die Geognoſie beantworten.
Verſetzen wir uns im Geiſte in eine Zeit, welche die großartig
poetiſche Sage der Hebräer mit den Worten bezeichnet: „Und die
Erde war wüſte und leer, und es war finſter auf der Tiefe und der
Geiſt Gottes ſchwebte auf den Waſſern;“ ſo zeigt ſich uns die Erde
in dichte Nebel gehüllt, größtentheils mit Waſſer bedeckt, dem,
durch vulcaniſche Kräfte gehoben, zuerſt die Gebirge entſtiegen, die
in feurigem Fluß oder doch in breiartigem Zuſtande an die Luft
treten und hier mehr oder weniger kryſtalliniſch als ſogenannte Ur-
gebirge erſtarren. Gleichzeitig erhebt ſich durch dieſelben Kräfte der
benachbarte Meeresboden über den Spiegel deſſelben und zeigt ſich
in ſchichtenweis aus dem Meere abgeſetzten Niederſchlägen als
Uebergangsgebirge. Sogleich aber beginnt der zerſetzende Einfluß
der Atmoſphäre. In die Sprünge und Riſſe des feſten Felſens, die
bei der Abkühlung entſtehen, drängt ſich das atmoſphäriſche Waſſer
hinein. Durchs Gefrieren ausgedehnt ſprengt es die oberflächlichen
Lagen, und die einzelnen Blöcke rollen an den Bergen hinab. An
ihnen wiederholt ſich derſelbe Vorgang ſo oft, bis ſie zuletzt mit
den ihnen nachfolgenden in Staub zerfallen ſind, den theils Regen-
güſſe auf das flache Land hinabſpülen, theils die mächtigen Ströme
dem Meere zuführen, wo er ſich wieder in Schichten abſetzt, die,
ſpäter ebenfalls durch immer von Neuem aufſteigende geſchmolzene
Maſſen gehoben, als ſecundäre und tertiäre Schichten und Dilu-
vium erſcheinen. Die zerſtreuten größeren Maſſen auf dem feſten
Lande werden durch furchtbare Regengüſſe zuſammengeſchwemmt,
an allen blosliegenden Felſen nagt beſtändig neben der bloßen
mechaniſchen Zerkleinerung, wodurch ſie in kleine Theile und in
Staub zerfallen, noch ein chemiſcher Zerſetzungsproceß, durch wel-
chen ganz neue Verbindungen gebildet werden, welche durch Regen
und geringere Ströme zum Alluvium zuſammengewaſchen werden.
11*
[164]
So bildet ſich die nackte Rinde unſeres Planeten. Aber Bil-
dungsproceſſe, von denen wir jetzt keinen Begriff mehr haben und
haben können, laſſen gleich vom erſten Beginn an, wo ſich Meeres-
ablagerungen als Uebergangsgebirge an die Luft erheben, vegeta-
biliſche Keime entſtehen, welche in Kohlenſäure, Ammoniak und
Waſſer und in den Verwitterungsproducten der Geſteine ihre Nah-
rung finden. Es entſteht eine lebensvolle Welt der Organismen
auf der Erde, deren bunte Mannigfaltigkeit nicht bedingt iſt durch
die vier Elemente, welche ihre organiſchen Beſtandtheile im engern
Sinne bilden, ſondern vielmehr durch die unendliche Verſchieden-
heit des chemiſchen Proceſſes, welche durch die mannigfaltige Art
und Menge der unorganiſchen Stoffe hervorgerufen wird. Dagegen
bildet die aus dem Abſterben der lebendigen Weſen hervorgehende
ſchwarze Subſtanz, der Humus, die Möglichkeit, daß dieſe zahllo-
ſen Organismen ſich zur höchſten Kraft entwickeln können, indem
er ihnen die organiſche Nahrung zuführt. Die Verwitterung des
Felſens und ſeine chemiſche Zerſetzung in auflösliche Beſtandtheile,
ſowie die Verweſung der organiſchen Verbindungen hängen aber
von der Wärme und der chemiſchen Zuſammenſetzung der Atmoſphäre
ab. Verhältniſſe, wie wir ſie jetzt nur noch unter den Tropen fin-
den, machen eine ſchnelle Verwitterung und eine ſchnelle Verweſung
möglich und bedingen ſo die reiche und üppige Vegetation der Tro-
pen. In einer früheren Periode der Erdemuß aber unſere Atmoſphäre
überall feuchter, dicker und folglich wärmer geweſen ſeyn, und in
dieſer Zeit konnte unbeſchränkt auf der ganzen Erde die Fülle von
Organismen ſich entwickeln, die wir ohne Rückſicht auf die geogra-
phiſche Breite jetzt als Verſteinerungen in den Felsſchichten be-
graben finden.
Doch ich kehre wieder zu meiner Aufgabe zurück. Die geiſt-
reiche, durch Liebig begründete Anſicht weiſt uns alſo nach, daß ge-
rade die Beſtandtheile, welche wir gewohnt ſind, zu verachten und
zu überſehen, für die Pflanzenwelt von der weſentlichſten Bedeu-
tung ſind. Wohl beſtehen alle die ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheile der
[165] Pflanzen, deren wir als Nahrung bedürfen, nur aus Kohlenſtoff,
Waſſerſtoff, Sauerſtoff und Stickſtoff. Aber alle Gegenwart dieſer
Stoffe hilft allein der Pflanze nichts, ſie kann daraus nicht ein
Körnchen Eiweiß oder Kleber bilden, wenn ſie nicht gleichzeitig in
dem gehörigen Verhältniß phosphorſaure Salze erhält. Wohl iſt
das nützliche Stärkemehl, der ſüße Zucker, die kühlende Citronen-
ſäure, das gewürzige Orangenöl nur aus Kohlenſtoff, Waſſerſtoff
und Sauerſtoff zuſammengeſetzt, aber die Pflanze kann uns bei al-
lem Ueberfluß an dieſen Elementen jene Geſchenke nicht bereiten,
wenn es ihr an alcaliſchen Salzen fehlt. Der ſchlanke Stengel des
Weizens kann ſich nicht erheben, um an der Sonne ſein Korn zu
reifen, wenn ihm der Boden nicht die Kieſelerde liefert, durch
welche er ſeinen Zellen die Feſtigkeit verleiht, um ſich aufrecht
zu erhalten.
Auf dieſe Thatſachen geſtützt hat Liebig in neuerer Zeit ver-
ſucht, unſer ganzes bisheriges landwirthſchaftliches Verfahren um-
zuſtoßen durch die Empfehlung der von ihm erfundenen minera-
liſchen Dünger, für deren Anfertigung er in England ein Patent
gelöſt und daſſelbe an die Herren Musprath u. Comp. verkauft hat.
Seine Abſicht dabei iſt, für jede Bodenart und für jede Pflanze eine
eigne Compoſition derjenigen mineraliſchen Stoffe zu liefern, welcher
die Pflanze bedarf und die in dem Boden fehlen, und zwar in einer
ſo eigenthümlichen Verbindung, daß die Stoffe auflöslich genug
ſind, um von der Pflanze aufgenommen werden zu können, und
doch nicht ſo leicht auflöslich, daß der Regen bedeutende Mengen
davon wegſpülen könnte. Ob Liebig dieſe Abſicht erreicht hat, läßt
ſich erſt dann entſcheiden, wenn die Erfahrung ſich darüber ausge-
ſprochen. Theoretiſch muß man behaupten, daß das Princip richtig
und die Ausführung möglich iſt. Aber einen Einwurf wird die
Pflanzenphyſiologie dieſem Syſtem der Düngung mit Recht machen
und dieſen Einwand wird die Erfahrung beſtätigen, daß nämlich,
wie im Vorigen nachgewieſen, der Humus zwar keineswegs ein
Nahrungsſtoff für die Pflanzen iſt, aber doch für eine geſunde und
[166] kräftige Vegetation ein unerläßlicher Beſtandtheil auf allen Boden-
arten bleibt, die nicht, was ſelten der Fall iſt, auf eine äußerſt
glückliche Weiſe mit Thon, der einigermaßen den Humus erſetzen
kann, gemiſcht ſind. Liebigs chemiſche Einſeitigkeit in dieſer Be-
ziehung wird den Landwirthen, die nicht durch eigne gründliche na-
turwiſſenſchaftliche Kenntniß dieſem Mangel entgegenwirken können,
wahrſcheinlich ebenſo verderblich werden, als auf der andern Seite
der Mangel an gründlichen naturwiſſenſchaftlichen Studien und die
rohe empiriſche Einſeitigkeit in neueſter Zeit ſo viele, beſonders
deutſche Landwirthe verhindert, an den großen, durch das Fort-
ſchreiten der Wiſſenſchaften hervorgerufenen Verbeſſerungen Theil
zu nehmen. Vielleicht aber giebt ein Ereigniß, welches an ſich trau-
rig genug iſt, hier die Veranlaſſung zu einer ernſten Aufmerkſamkeit
auf die Reſultate der Wiſſenſchaft und wird ſo, indem es weſent-
liche Umgeſtaltungen in unſerem landwirthſchaftlichen Betriebe her-
vorruft, zu einem ſegensvollen Momente in unſerer Culturgeſchichte.
Ich meine die Kartoffelkrankheit, welche in dem letzten Jahre in einer
ſo drohenden Geſtalt aufgetreten iſt, daß ſie wohl geeignet iſt, auch den
Indolenteſten aus dem Schlummer aufzuwecken, und an der wir ei-
nen der ſchönſten Belege für die Richtigkeit der Liebigſchen Theo-
rieen haben.
Die vorjährige Erſcheinung ſteht keineswegs iſolirt da, ſchon
ſeit mehr als 100 Jahren haben ſich Krankheiten unter den Kartoffeln
gezeigt und ſind jedesmal bei ihrem Wiedererſcheinen in größerer
Ausdehnung und Heftigkeit aufgetreten. Daß ſie nicht allein oder
auch nur weſentlich von Witterungseinflüſſen abhängig ſind, zeigten
ſchon ihre immer ſchlimmer werdenden Formen, insbeſondere aber
ihre Verbreitung im Jahre 1845, indem ſie mit gleicher Furcht-
barkeit im ſüdlichen Schweden und in Südamerika erſchien, welche
beide Länder im Gegenſatz zum mittlern Europa einer ausgezeichnet
ſchönen Witterung ſich zu erfreuen hatten. Uebrigens iſt die Kartof-
fel in keiner Lage, bei keiner Culturmethode, bei keiner Spielart
ganz verſchont geblieben, und ſchon das weiſt uns darauf hin, daß
[167] hier kein einzelner äußerer Einfluß, ſondern eine innere Ausartung
der Kartoffel der eigentliche Grund der Krankheit ſeyn muß. Fragen
wir, wie ſich eine ſolche Ausartung entwickeln konnte, ſo kann uns
dabei nur folgende Betrachtung leiten. Die wilde Kartoffel iſt eine
kleine grünliche, bitter ſchmeckende Knolle, welche aber viel Stärke-
mehl enthält. Sie gehört zu den Pflanzen, welche leicht auf Cul-
turboden Spielarten bilden, die ziemliche Unveränderlichkeit zeigen,
wenn die Culturbedingungen genau dieſelben bleiben. Wenn dies
nicht der Fall iſt, ſo bilden ſich neue Abänderungen, ſie arten aus,
wie man zu ſagen pflegt. Die Verſchiedenheit dieſer Spielarten be-
ſteht nun nur zum Theil in der bei Weitem unweſentlichern Verän-
derung der Geſtalt der Kartoffel, in ihrem ſchnelleren oder lang-
ſameren Reifen. Bei Weitem wichtiger dagegen iſt die Verſchieden-
heit in dem chemiſchen Proceß, durch welchen die relativen Mengen
des Stärkemehls und des Eiweißes in den Knollen verändert wer-
den. Das Stärkemehl, ein ſtickſtofffreier Stoff, iſt der eigentliche
characteriſtiſche Beſtandtheil der Kartoffel, eine Subſtanz, welche
für ſich längere Zeit der Fäulniß widerſteht. Die Bildung deſſelben
erfordert die Gegenwart einer großen Menge Kali und deshalb ge-
hört die Kartoffel ganz beſonders zu den Alcalipflanzen. Das Ei-
weiß dagegen, ſtickſtoffhaltig, iſt außerordentlich zur Zerſetzung und
Fäulniß geneigt, und ſeine Gegenwart in größerer Menge macht
auch andere Subſtanzen, die für ſich lange der Fäulniß widerſtehen,
z. B. Zellſtoff und Stärkemehl, geneigter zu dieſem Auflöſungs-
proceß. Die Entſtehung des Eiweißes ſetzt das Vorhandenſeyn einer
großen Menge phosphorſaurer Salze voraus.
Unterſuchen wir nun die geſunde normale Kartoffel, ſo finden
wir in ihr durchſchnittlich das Verhältniß der ſtickſtoffhaltigen Be-
ſtandtheile zu den ſtickſtofffreien wie 1 : 20; das Verhältniß der
phosphorſauren Salze zu den Alcaliſalzen wie 1 : 10. Dagegen ent-
hält das friſchgedüngte Culturland aus phyſiologiſchen Gründen,
welche zu entwickeln, mich hier zu weit führen würde, die genann-
ten unorganiſchen Beſtandtheile faſt in dem Verhältniſſe wie 1 : 2.
[168] Die Folge davon iſt, daß die in ſolchem Boden gebaute Kartoffel
gezwungen wird, immer im Verhältniſſe zu den alcaliſchen Salzen
eine größere Menge phosphorſaurer Salze aufzunehmen, als ſie ih-
rer Natur nach bedarf, und in Folge deſſen bildet ſich auch in ihr
eine größere Menge von ſtickſtoffhaltigen Beſtandtheilen, von Eiweiß,
als ſie in ihrem normalen Zuſtande enthalten ſollte. Dieſe letzteren
aber müſſen unausbleiblich die Beſtandtheile der ſtets ſehr waſſerrei-
chen Kartoffel zu Zerſetzungsproceſſen geneigt machen, die dann un-
ter den verſchiedenſten Formen auftreten und bald, wie bei der früher
ſchon beobachteten Trockenfäule (dry rot der Engländer), vorzugs-
weiſe das Stärkemehl, bald, wie bei der vorjährigen naſſen Fäule,
vorzugsweiſe den Zellſtoff ſelbſt angreifen. Daß eine ſolche Anlage
augenblicklich ſich als verderbliche Krankheit zeigen wird, wenn äu-
ßere Einflüſſe, beſonders ungünſtige Witterungsverhältniſſe, hinzu-
kommen, iſt ſehr begreiflich, ſo wie es ſich auch von ſelbſt verſteht,
daß, wenn die ſchädlichen Einflüſſe, welche die Krankheitsanlage er-
zeugten, fortdauern, die Ausartung der Kartoffel und ihre Geneigt-
heit zu Krankheiten ſich immer mehr ſteigern muß. In ſolchem Falle
bietet uns nun jene Theorie von Liebig und Bouſſingault abermals
einen ſichern Anhaltepunct zur Vermeidung des Uebels. Eine ſorg-
fältigere Beachtung der unorganiſchen Subſtanzen läßt uns bald das
Geſetz finden, daß es nicht allein darauf ankommt, daß die einzelnen
Stoffe überhaupt in genügender Menge im Boden vorhanden ſind,
ſondern, daß ſie auch zu einander in richtigem Verhältniſſe ſtehen;
daß die Berückſichtigung dieſes Verhältniſſes am wichtigſten wird
für die Pflanzen, welche ihrer Natur nach geneigt ſind, Abarten zu
bilden, und am meiſten für diejenigen Pflanzen, deren chemiſche Zu-
ſammenſetzung am wenigſten eine Veränderung ihrer Beſtandtheile
ohne weſentliche Nachtheile erträgt. Alles dieſes trifft aber vorzugs-
weiſe die Kartoffel, am wenigſten aber unſre Kornarten, Roggen und
Weizen. Vergleichen wir nun die Aſchenbeſtandtheile dieſer letzteren
mit dem Gehalte eines friſch gedüngten Bodens, ſo finden wir in
beiden die Verhältniſſe faſt gleich und merkwürdigerweiſe bleibt,
[169] wenn wir die Aſchenbeſtandtheile des Roggens vom Gehalte des
Bodens abziehen, faſt genau das Verhältniß der einzelnen Stoffe
übrig, wie wir es in der Aſche der Kartoffel finden. Der Schluß
iſt alſo einfach der, daß wir in Zukunft nicht mehr, wie es im größ-
ten Theile von Europa bis jetzt geſchehen, die Kartoffeln als erſte
Frucht bauen dürfen, ſondern daß wir mit dem Roggen anfangen
und erſt die Kartoffel auf ihn oder vielleicht noch beſſer zwei Jahre
ſpäter auf den Klee folgen laſſen müſſen, wenn wir eine geſunde
Frucht erziehen und für die Zukunft von der vorjährigen Landplage
befreit ſeyn wollen. Der Grundſatz wird fernerhin unerſchütter-
lich ſtehen bleiben, daß die Nahrungsſtoffe, welche die Pflanze
dem Boden ſelbſt entnimmt, im Weſentlichen nur in den unor-
ganiſchen Beſtandtheilen deſſelben beſtehen, daß dieſe und nicht die
organiſche Subſtanz im Boden ſeinen eigenthümlichen Reichthum
ausmachen.
In der Pflanze aber ſind an die organiſchen Verbindungen un-
trennbar die unorganiſchen geknüpft, und wenn wir uns jener be-
mächtigen, müſſen wir dieſe mit in den Kauf nehmen.
Aber dieſelben ſind nicht nur nicht ein unnützer Ballaſt, ſon-
dern ſie ſind ſelbſt für unſeren Körper und deſſen Erhaltung weſent-
liche Beſtandtheile. Sehen wir nun zu, woraus der Menſch eigent-
lich beſteht. Nach Quetelet wiegt der erwachſene Mann durchſchnitt-
lich 140 ℔., und wenn wir die große Menge Waſſer, welche alle
Theile unſers Körpers durchdringt, ſie geſchmeidig und biegſam er-
hält, abziehen, etwa 35 ℔. — davon kommen 13 ℔. auf die Kno-
chen und 22 ℔. auf alle übrigen Theile. Jene enthalten durchſchnitt-
lich 66 %, dieſe 3 % erdige Beſtandtheile, die beim Verbrennen als
Aſche zurückbleiben. Der Menſch beſteht alſo bis mehr als ⅓ aus
unorganiſchen Beſtandtheilen, die zu ſeinem Beſtehen nothwendig
ſind, die er alſo auch mit der Nahrung aufnehmen muß. Er muß,
wie der böſe Geiſt ſagt, in der That vom Staube ſich nähren.
Gerade ſo wie die weicheren Organe des menſchlichen Körpers
bei jeder Thätigkeitsäußerung deſſelben zum Theil abgenutzt und ver-
[170] braucht und durch die Ernährung wieder erſetzt werden, verliert der
Menſch auch beſtändig einen Theil jener unorganiſchen Subſtanzen
und muß dieſen Verluſt durch Nahrungsmittel wieder ausgleichen.
Zwiſchen beiden aufgenommenen Stoffen beſteht aber während des
Lebens ein eigenthümliches Verhältniß. Beim Kinde, welches noch
wachſen, ſeine Organe zum Theil erſt entwickeln ſoll, wird beſtändig
von beiden Claſſen von Stoffen, von organiſchen ſowohl wie von un-
organiſchen, bei Weitem mehr aufgenommen, als abgenutzt; beim
Erwachſenen halten ſich Einnahme und Ausgabe gerade das Gleich-
gewicht, im Greiſenalter dagegen tritt ein eigenthümliches Mißver-
hältniß ein. Von organiſchen Stoffen verbraucht der Greis allmälig
immer mehr, als er aus der Nahrung wieder erſetzen kann. Die
Stärke ſeiner Muskeln ſchwindet, die Menge des Bluts wird gerin-
ger, er magert ab. Die unorganiſchen Stoffe werden aber nicht in
gleichem Maße abgenutzt, als ſie aus der Nahrung aufgenommen
werden. In dieſer Beziehung tritt der Menſch auf die Kindheits-
ſtufe zurück und wir erhalten eine der früher entwickelten faſt gerade
entgegengeſetzte Anſicht vom Leben und vom Tode. Immer mehr
und mehr ſetzen ſich erdige Beſtandtheile im Menſchen an, Organe,
die früher weich und biegſam waren, verknöchern und verſagen ih-
ren Dienſt, immer ſchwerer zieht ihn der Staub zum Staube nieder,
bis endlich die leichtbeſchwingte Pſyche, des Druckes müde, die zu
ſchwer gewordene Chryſalidenhülle abwirft. Sie überläßt den ſtaub-
gebornen Leib der langſamen Verbrennung, welche wir Verweſung
nennen. Ein Aſchenhäufchen bleibt der Erde, der es entlehnt war.
Die Pſyche, ſelbſt unſterblich und unverwesbar, kehrt aus der Skla-
verei der Naturgeſetze zum Lenker der geiſtigen Freiheit zurück.
[[171]]
Achte Vorlesung.
Ueber den Milchſaft der Pflanzen.
(Fauſt.)
[[172]]
Die Vignette zeigt eine Indianerfamilie bei der Bereitung des Cafſave-
mehls aus dem Manioc beſchäftigt; in den aus dem gepreßten Wurzelbrei ab-
tröpfelnden giftigen Milchſaft taucht eine der Frauen die Pfeile des Mannes.
[[173]]
Auf jenem glänzenden Paradeplatz der ſchönen Welt, deſſen
Eingang der berühmte Obelisk von Luxor ziert, auf jenem Felde,
wo in unblutigen Kämpfen die Siege der Mode entſchieden werden,
obgleich es urſprünglich der humilité de notre Dame geweihte Erde
war, in Longchamp, ertönte vor nicht gar langer Zeit die Looſung:
„Paletot oder Mackintoſh.“ Für den Augenblick ſiegte der Paletot,
aber bald mußte er ſelbſt dem Burnus und andern Nachfolgern un-
terliegen, während der Mackintoſh ſein Leben wenn auch nicht mehr
als Beherrſcher der Mode, bis dieſen Augenblick gefriſtet hat. Es
mag der Mühe werth ſeyn zu fragen, was denn eigentlich dem
Mackintoſh den Werth gegeben, der ihn wohl für längere Zeit als
unentbehrlich zu gewiſſen Zwecken in der Garderobe erhalten wird.
Es ſtehen ſich auch außer den Vorkämpfern der Mode zwei Parteien
gegenüber, von denen die eine die Vortrefflichkeit, die andere die
gänzliche Verwerflichkeit des Mackintoſh behauptet. Sollen wir ſie
nicht hören?
Die Vertheidiger rühmen die Leichtigkeit bei völliger Waſſer-
dichtigkeit und großer Wärme. Dieſe Vorzüge beruhen alle auf dem
eigenthümlichen Stoff, mit welchem das Zeug zum Mackintoſh zu-
bereitet worden iſt, auf dem ſogenannten elaſtiſchen Gummi oder
Kaoutſchouck. In neuerer Zeit hat daſſelbe eine ſo ausgedehnte An-
wendung in den Gewerben erhalten, daß eine nähere Kenntniß deſ-
ſelben gewiß nicht unintereſſant iſt. Den großartigſten Gebrauch
von dieſem eigenthümlichen Produkt der Pflanzenwelt machen die
[174] Engländer. 1830 wurden über 52,000 ℔. in England eingeführt.
Im Jahr 1829 faſt 100,000 ℔. Im Zolljahr, welches mit 1833 zu
Ende ging, waren 178,676 ℔. verzollt. Seitdem hat ſich der Ver-
brauch fortwährend geſteigert. In Greenwich werden in einer Fabrik
allein täglich an 800 ℔. in eiſernen Gefäßen der trocknen Deſtillation
unterworfen. Der Rückſtand iſt eine eigenthümliche ſchmierige Sub-
ſtanz, welche nie ihre Zähigkeit und Biegſamkeit verliert, jedem
Einfluſſe von Luft und Waſſer Trotz bietet, und deshalb benutzt
wird, die Stricke der engliſchen Marine zu tränken und ſie dadurch
dauerhafter zu machen. Die überdeſtillirte Flüſſigkeit dagegen iſt ein
flüchtiges, brenzliches Oel, welches die Eigenſchaft beſitzt, das
Kaoutſchouck leicht aufzulöſen, aber nachher beim Verdunſten mit al-
len ſeinen Eigenſchaften wieder zurückzulaſſen. Dadurch wurde es
möglich, auf leichte Weiſe das Kaoutſchouck allen beliebigen Formen
anzupaſſen und ſeine Undurchdringlichkeit für Luft und Flüſſigkeiten
faſt aller Art auf jeden andern Stoff zu übertragen. So entſtanden
denn die vielen waſſerdichten Zeuge, von denen eins nach ſeinem
Erfinder Mackintoſh genannt wird. Auf die mannigfachſte Weiſe
macht man ferner Gebrauch von ſeiner großen Elaſticität, einer für
manche Zwecke höchſt ſchätzbaren Eigenſchaft. Zu dem Ende werden
auf eignen Maſchinen die größern Kaoutſchouckmaſſen erſt in dünne
Platten und dann in ganz feine Fäden zerſchnitten. Dieſe Fäden
werden mit Leinen, Baumwolle oder Seide umſponnen und dann
mit anderm gewöhnlichen Garn, welches als Einſchlag dient, zu
Bändern u. dgl. verwebt. Endlich wird auch im unbereiteten Zu-
ſtande das Kaoutſchouck vielfach angewendet, wobei ich nur an die
ſogenannten Gummiſchuhe erinnern will.
Südamerika iſt das Land, welches für dieſen großen Bedarf
die reichlichſte Menge Kaoutſchouck liefert; aber auch aus Oſtindien
wird gar viel eingeführt und ſelbſt Afrika würde dieſen Stoff liefern
können, wenn dort nicht die ſocialen Verhältniſſe der Eingebornen
ſich der Benutzung ihrer einheimiſchen Hülfsquellen entgegenſetzten.
Alle die Länder, welche Kaoutſchouck unter ihre Produkte zählen,
[175] gehören der heißen Zone an. Schon A. v. Humboldt bemerkt in
ſeinen Ideen zu einer Pflanzengeographie, daß ſich die Milchſaft ge-
benden Pflanzen vermehren, ſo wie man ſich den Tropen nähert.
Es iſt aber gerade der Milchſaft der Pflanzen, welcher dieſe eigen-
thümliche elaſtiſche Subſtanz enthält. Die tropiſche Wärme ſcheint
auf die Ausbildung derſelben einen entſchiedenen Einfluß auszuü-
ben, denn man hat die Bemerkung gemacht, daß dieſelben Pflanzen,
welche unter dem Aequator reichlich Kaoutſchouck liefern, ſtatt deſ-
ſen bei uns, ſelbſt in den Treibhäuſern, einen Stoff enthalten,
der dem aus unſerer einheimiſchen Miſtel gewonnenen Vogelleim
gleichkommt.
Wer von meinen Leſern hätte nicht unſre einheimiſche Wolfs-
milch geſehen, deren weißer, milchähnlicher Saft vom Volksglau-
ben als Mittel gegen Warzen empfohlen wird. Wer hätte nicht in
ſeiner Jugend wenigſtens mit dem Schöllkraut Bekanntſchaft ge-
macht, aus deſſen Stengel und Blatt, wenn man ſie abreißt, eine
ſchöne orangenfarbene Milch ausfließt. Wer hätte nicht ſchon
beobachtet, daß aus unſerem Salat, wenn er aufgeſchoſſen, bei der
leiſeſten Berührung eine milchweiße Flüſſigkeit hervorſpritzt. Aber
das Vorkommen ſolcher milchiger Säfte bei den Pflanzen iſt nicht
auf dieſe wenigen beſchränkt. Die nützlichſten wie die giftigſten
Stoffe bietet uns die Pflanzenwelt zum Theil in dieſen Milchſäften,
und ich will hier nur an das Opium, den eingetrockneten Milchſaft
unſeres großen Gartenmohns, erinnern.
Eine größere Anzahl von Pflanzen, welche insbeſondere drei
großen Familien angehören, nämlich den Wolfsmilcharten, den
Apocyneen (Juss.) und den Neſſelpflanzen, zeichnen ſich durch
einen eigenthümlichen anatomiſchen Bau aus. In ihrer Rinde und auch
zum Theil in ihrem Marke finden wir eine Menge langer, vielfach
gebogener und unter einander veräſtelter Röhren, die den Adern der
Thiere nicht ganz unähnlich ſind. Dieſe Aehnlichkeit hat auch den
Prof. Schultze in Berlin verführt, eine weitläufige Theorie der Cir-
culation über dieſe Gebilde und die in ihnen enthaltenen Flüſſigkei-
[176] ten, die er Lebensſaft nennt, zu entwickeln, welche die beſonnene
Wiſſenſchaft leider gezwungen war, ſogleich bei ihrer Bekannt-
machung, die um ſo größeres Aufſehen machte, als ſie in einer von
der Pariſer Akademie mit dem Monthyonſchen Preiſe beehrten
Schrift erſchien, für ein bloßes Hirngeſpinnſt der Phantaſie zu er-
klären. In jenen Röhren befindet ſich ein trüber Saft von der Con-
ſiſtenz einer recht fetten Milch, der deshalb auch Milchſaft genannt
wird. Seine Farbe iſt gewöhnlich milchweiß, doch kommen auch
gelbe, rothe und ſehr ſelten blaue Milchſäfte vor, noch häufiger aber
ſind ganz farbloſe. Aehnlich der thieriſchen Milch beſteht dieſer Saft
aus einer waſſerhellen Flüſſigkeit und kleinen Kügelchen. Den Ge-
halte nach finden wir die verſchiedenartigſten Stoffe in demſelben,
und auf der verſchiedenartigen Menge und Miſchung dieſer Stoffe
beruht die große Verſchiedenheit dieſes Saftes. In allen iſt in grö-
ßerer oder geringerer Menge Kaoutſchouck enthalten, welches in Ge-
ſtalt kleiner Kügelchen vorhanden iſt. Dieſe werden auf ähnliche
Weiſe wie die Butterkügelchen der Milch durch eine eiweißartige
Subſtanz am Zuſammenfließen gehindert. Gerade wie bei der Milch
der Rahm (die Butter), ſo ſteigen aus dem Milchſafte der Pflanzen
die Kaoutſchouckkügelchen beim längeren Stehen an die Oberfläche,
bilden hier einen Rahm und fließen zuſammen, und können eben ſo
wenig wie die Butter wieder in ihre getrennten Kügelchen zurück-
geführt werden.
Alle jene drei großen Familien, welche ſich durch den Gehalt
an Milchſaft auszeichnen, obwohl ſie botaniſch ſehr weit von einan-
der verſchieden ſind, zeigen doch gerade durch die Natur ihres Milch-
ſaftes einige höchſt merkwürdige Uebereinſtimmungen.
Es wird wohl nicht unintereſſant ſeyn, dieſe drei Familien et-
was näher kennen zu lernen und beſonders die wichtigern Pflanzen
derſelben zu erwähnen.
Die bedeutendſte iſt in Bezug auf den Kaoutſchouckgehalt die Gruppe
der Wolfsmilcharten oder Euphorbiaceen. Aus dem Hafen
von Para in Südamerika, aus der Guyana und den benachbarten
[177] Staaten wird eine unglaubliche Menge des Federharzes nach Europa
verſchifft, welches hauptſächlich von einem großen Baum jener Gegen-
den, der Siphonia elastica, gewonnen wird. Im J. 1736 machte der
berühmte franzöſiſche Gelehrte la Condamine zuerſt auf das Kaout-
ſchouck aufmerkſam und beſchrieb die Gewinnung deſſelben genauer.
Jener bis 60 F. hohe, ſchöne Baum hat eine glatte, bräunlich graue
Rinde, in welche die Indianer lange und tiefe Einſchnitte bis aufs
Holz machen, aus denen dann reichlich der weiße Saft hervorquillt.
Noch ehe er Zeit hat anzutrocknen, wird er auf Formen von unge-
branntem Thon, gewöhnlich in Geſtalt größerer oder kleinerer, rund-
licher und kurzhalſiger Flaſchen geſtrichen und dann über Rauchfeuer
getrocknet. Man wiederholt dieſen Anſtrich ſo oft, bis der Ueberzug
die gehörige Dicke erlangt hat. Durch dieſe Operation, bei welcher
die fremdartigen Theile des Saftes nicht abgeſchieden und noch durch
den Rauch mehr verunreinigt werden, erhält das Kaoutſchouck die
braune oder ſchwarze Farbe, während das reine Kaoutſchouck weiß
oder hellgelblich und halb durchſichtig iſt.
Spätere genauere Kenntniß des Baumes und ſeiner Verbreitung
verdanken wir 1751 Fresneau, insbeſondere aber dem unermüdlich
für Naturwiſſenſchaft thätigen Aublet du Petit-Thouars.
Noch eine große Zahl anderer Pflanzen dieſer Gruppe enthält
Kaoutſchouck. Aus keiner iſt es ſo leicht in größerer Menge zu ge-
winnen. Iſt nun der Saft der Siphonia mindeſtens unſchädlich, wird
der Saft der Tabayba dolce (Euphorbia balsamifera Ait.) ſogar
einer ſüßen Milch ähnlich und von den Bewohnern der Canariſchen
Inſeln, wie Leop. v. Buch in ſeiner intereſſanten Beſchreibung der
Canariſchen Inſeln erzählt, zu Gelée eingedickt, als Delicateſſe ge-
noſſen, ſo ſind doch die meiſten Pflanzen dieſer Gruppe eben ihres
Milchſaftes wegen verdächtig, oder geradezu den heftigſten Pflanzen-
giften beizuzählen. Und ſeltſamer Weiſe liefern ſie dennoch zum Theil
die geſündeſte Nahrung, der wir kaum Aehnliches an die Seite zu
ſetzen haben. Im ganzen heißeren Amerika macht der Anbau der
Manjocwurzel (Jatropha Manihot) einen der wichtigſten Cultur-
Schleiden, Pflanze. 12
[178] zweige aus. Die eingebornen Wilden, wie der Europäer, der ſchwarze
Sclave, wie der freie Farbige erſetzen auf gleiche Weiſe unſer Weißbrod
und den Reis durch die Tapiocca und die Mandiocca farinha oder das
Caſſavamehl, welches eben aus jener höchſt giftigen Pflanze gewon-
nen wird, und durch die daraus bereiteten Kuchen (pan de tierra cali-
ente der Mexikaner). Man unterſcheidet indeß die ſüße Juca (Juca
dulce) (dies iſt der dortige Name der Manjocpflanze) von der ſauern
oder bittern (Juca amara). Die Erſtere, welche deshalb vorzugs-
weiſe künſtlich angebaut wird, kann ohne Gefahr ſogleich gegeſſen
werden, dahingegen die Letztere, friſch genoſſen, ein ſchnellwir-
kendes Gift iſt. Sie dient dem unciviliſirten Sohne der ſüdamerika-
niſchen Tropen zur Nahrung und wir wollen ihn einen Augenblick in
ſeinem Lager belauſchen. In den dichten Wäldern der Guyana hat
der Indianerhäuptling zwiſchen hohen Stämmen der Magnolie ſeine
Hängematte ausgeſpannt, im Schatten breitblättriger Bananen ruht
er unthätig rauchend und dem Treiben ſeiner Familie neben ihm zu-
ſehend. Mit hölzerner Keule in einem ausgehöhlten Baumſtamme
ſtampft ſein Weib die geſammelten Manjocwurzeln und wickelt den
dicklichen Brei in ein dichtes Flechtwerk von den zähen Blättern großer
Lilienpflanzen. An einem Stabe, der auf zwei hölzernen Gabeln ruht,
wird das lange Bündelchen aufgehängt und unten ein ſchwerer Stein
befeſtigt, durch deſſen Gewicht es ausgepreſſt wird *). Der abfließende
Saft läuft in eine untergeſetzte Schaale des Calabaſſenkürbis (Cres-
centia Cujete). Daneben kauert ein kleiner Knabe und taucht die
Pfeile des Vaters in die herabtröpfelnde tödtliche Milch, während die
Frau ein Feuer anzündet, um den ausgepreßten Wurzelbrei zu dörren
und durch Hitze völlig von dem flüchtigen Giftſtoffe zu befreien. So-
dann wird er zwiſchen Steinen gerieben und das Caſſavemehl iſt
fertig. Unterdeſſen hat der Knabe ſein unheilvolles Geſchäft vollendet,
der Saft hat nach längerem Stehen ein zartes weißes Kraftmehl ab-
geſetzt, von welchem die giftige Flüſſikeit abgegoſſen wird. Nachdem
[179] das Mehl noch mit Waſſer ausgewaſchen, iſt es das feine weiße dem
Arrowroot in jeder Beziehung ähnliche Tapiocca. Auf ähnliche mehr
oder minder künſtliche Weiſe wird überall die Mandiocca und Tapiocca
bereitet. Der geſättigte Wilde ſchlendert umher, um ein neues Plätz-
chen zum Schlafen zu ſuchen, aber Wehe ihm, Unachtſamkeit hat ihn ver-
leitet, unter dem furchtbaren Manchinellbaum (Hippomane Man-
cinella) ſein Lager zu bereiten und ein plötzlich einfallender Regen träuft
von deſſen Blättern auf ihn herab. Unter furchtbaren Schmerzen,
bedeckt mit Blaſen und Geſchwüren, wacht er auf, und wenn er mit
dem Leben davonkommt, ſo iſt er mindeſtens um eine furchtbare Er-
fahrung über die giftigen Eigenſchaften der Euphorbiaceen reicher.
Aber nur ſelten wird das einem Eingebornen begegnen, da der Man-
chinellbaum in Amerika mit eben ſo geheimnißvoller und faſt aber-
gläubiſcher Scheu gemieden wird, als der fabelhafte Giftbaum von
Java. Zum Glück erhebt ſich gewöhnlich gleich neben dem Manchi-
nellbaum als ſeine beſtändige Begleitung der ſchöne pupurblüthige
Trompetenbaum (Bignonia leucoxylon), deſſen Saft das ſicherſte
Gegengift gegen jene gefährliche Euphorbiacee gewährt. Mehrere
ähnliche Bäume, deren Ausdünſtung ſchon, deren Saft aber ſicher,
Geſundheit und Leben gefährdet, gehören dieſer Familie an. Der
Pflanzer am Cap beſtreut mit den zerriebenen Früchten einer dortigen
Pflanze (Hyaenanche globosa Lam.) Stücke Fleiſch und legt ſie als
unfehlbares Gift den Hyänen vor. Mit einer Wolfsmilch (Euphor-
bia caput Medusae) vergiften die wilden Bewohner des ſüdlichen
Afrikas, wie uns Bruce berichtet, ihre Pfeile, von Andern
(Euphorbia heptagona, E. virosa W., E. cereiformis) machen die
Aethiopier nach Virey einen ähnlichen Gebrauch, ſo wie die Wilden
des ſüdlichſten Amerika von dem Saft einer dritten (E. cotinifolia).
Ja ſelbſt unſer ſcheinbar ſo unſchuldiger Buchsbaum, der ebenfalls
dieſer Familie angehört, iſt ſo ſchädlich, daß in einer Gegend Per-
ſiens, wo er ſehr verbreitet iſt, keine Kameele gehalten werden können,
weil man ſie an dem Genuß dieſer ihnen tödtlichen Pflanze nicht zu
hindern vermag. Ich kann dieſe Familie nicht verlaſſen, ohne noch
12*
[180] einer merkwürdigen Erſcheinung zu erwähnen, von der uns Martius
in ſeiner inhaltsreichen Reiſe durch Braſilien berichtet hat. Dort
wächſt nämlich eine Wolfsmilchart (E. phosphorea Mart.), deren
Milch, wenn ſie in den dunkeln heißen Sommernächten dem Stamm
entquillt, ein helles, phosphoriſches Licht um ſich her verbreitet.
Wenn die ſo eben berührte Familie, mit meiſt unſcheinbaren
Blüthen verſehen, faſt nur durch die ſeltſamen Formen, in welchen
einige von ihnen ſich den Cactuspflanzen annähern, die Aufmerkſam-
keit unſerer Kunſtgärtner in Anſpruch nimmt, ſo iſt dagegen die Familie
der Apocyneen eine ſolche, deren wunderbarer Blüthenſchmuck
oft noch durch merkwürdige Blumenbildung und durch abweichende,
ebenfalls den Cacteen ſich annähernde Geſtaltung der Pflanze ſelbſt
anziehend, einen reichen Schmuck unſerer Gärten und Treibhäuſer
ausmacht. Welcher Blumenliebhaber kennt nicht die prachtvollen
Blüthen der Carissa, Allamanda, Thevetia, Cerbera, Plumeria,
Vinca, Nerium- und Gelseminum-Arten, die ſeltſamen Stengel und
krötenfarbigen, übelriechenden Blumen der Stapelien? Aber nicht
minder intereſſant iſt dieſe Familie auch in andern Hinſichten. Das
beſte bis jetzt bekannt gewordene Kaoutſchouck, das von Pulo-Penang,
ſtammt von einer Pflanze dieſer Familie (Cynanchum ovalifolium).
Auch das von Sumatra (Urceola elastica Roxb.), von Madagascar
(Vahea gummifera Poir), ein Theil des Braſilianiſchen (Collophora
utilis Mart. und Hancornia speciosa Mart.) und des Oſtindiſchen
(Willughbeja edulis) wird von Pflanzen gewonnen, welche der
Gruppe der Apocyneen angehören.
Seltſamer Weiſe zeigt auch dieſe Familie eben ſo wie die folgende
und letzte die eigenthümliche Erſcheinung, welche ſich ſchon bei der
erſtgenannten der Euphorbiaceen ausſprach, nämlich daß der Milch-
ſaft, der in einigen Arten reich an Federharz iſt, bei andern ſich zu
einer zarten, wohlſchmeckenden und geſunden Milch mildert, während
dagegen bei noch andern dieſe Flüſſigkeit nach und nach durch immer
größeren Gehalt an ſchädlichen Stoffen bis zum furchtbarſten Gift
[181] geſteigert wird. In den Wäldern der engliſchen Guyana wächſt ein
Baum, den die Eingebornen Hya-Hya nennen (Tabernaemontana
utilis Arn.). Seine Rinde und ſein Mark ſind ſo reich an Milch,
daß ein nur mäßiger Stamm, den Arnott und ſeine Gefährten am
Ufer eines ſtarken Waldbachs fällten, das Waſſer deſſelben in Zeit
einer Stunde ganz weiß und milchig färbte. Dieſe Milch iſt völlig
unſchädlich, von angenehmem Geſchmack, und wird von den Wilden
als erquickendes Getränk genoſſen. Noch ſchöner ſoll der Geſchmack der
Milch des Ceylon'ſchen Kuhbaums, der Kiriaghuma (Gymneura
lactiferum Rob. Br.) ſeyn, deſſen ſich die Cingaleſen nach Bur-
mann's Erzählung ganz wie wir unſerer Milch bedienen.
Furchtbar dagegen ſind die Wirkungen des unter geheimnißvollen
Zauberſprüchen von den Anwohnern des Orinoco gebrauten ſo ſchreck-
lichen Woorareegiftes, zu welchem der Saft einer hierhergehörigen
Pflanze (Echites suberecta) und die Rinde einiger andern ebenfalls
der Familie der Apocyneen zugezählten Bäume (Strychnos gyanensis
Mart. und Str. toxifera Schomb.) die Hauptingredienzien liefern.
Eine höchſt poetiſche Schilderung von der Bereitung dieſes Giftes
hat uns in neueſter Zeit Schomburgk in ſeinen ſo reichhaltigen
Reiſeberichten geliefert, welche bis jetzt leider nur noch bruchſtück-
weiſe in einzelnen Zeitſchriften erſchienen ſind.
Pöppig hat auf ſeinen romantiſchen Wanderungen durch Süd-
amerika oft genug Gelegenheit gehabt, die furchtbaren Wirkungen
des Wooraree kennen zu lernen. Ein großes langes Rohr wird von
den Indianern ausgehöhlt und mit vieler Sorgfalt geglättet. Von
ſehr hartem Holze ſchnitzen ſie dann etwa fußlange Pfeile, deren
Spitze in jenes Gift getaucht, deren anderes Ende mit Baumwolle
umwickelt wird, ſo daß es genau jenes Rohr ausfüllt. Mit dieſer
furchtbaren Waffe verſehen, beſchleicht der Wilde den argloſen Feind,
der vielleicht gerade beſchäftigt iſt, ſich den eben gejagten Hirſch zum
leckern Mahle zu bereiten. Kein Geräuſch verräth den geübten, leiſe
dahingleitenden Fuß, kein Auge erkennt im dichten Gebüſch das ge-
[182] fährliche Rohr, aus welchem, nur vom kräftigen Hauche getrieben,
lautlos und ſicher der geflügelte Bote des Todes ſelbſt auf 30 Schritte
Entfernung das ungewarnte und wehrloſe Opfer erreicht, das bei der
kleinſten Wunde ſchon nach wenig Minuten unter Convulſionen ſeine
Seele aushaucht.
Auch die Nordamerikaner benutzen eine Apocynee (Gonolobium
macrophyllum Mich.) als Pfeilgift und Gleiches erzählt Mungo
Park von den Mandingos am Niger. (Bei ihnen iſt's eine Echi-
tesart.)
Viele andere verwandte Pflanzen gehören noch zu den heftigſten
Giften (Cerbera Thevetia und C. Ahovai), und beſonders zeichnen
ſich die Saamen dieſer Pflanzengruppe faſt noch mehr wie die der
vorigen durch ihre Gefährlichkeit aus, indem namentlich zwei der heftig-
ſten Pflanzengifte, das Strychnin und das Brucin, in derſelben
vorkommen. Bekannt ſind in dieſer Hinſicht insbeſondere einige der
wirkſamſten Arzneiſtoffe unſerer Apotheken, wie z. B. die ſogen.
Ignatiusbohne (Ignatia amara auf Manilla) und die Krähen-
augen (Strychnos nux vomica, durch alle Tropen verbreitet).
Nicht unerwähnt bleiben darf hier ein ſeltſamer Gebrauch der
Malgaſchen (der Bewohner von Madagascar), bei denen in einer
Art von Gottesurtheil die Kraft des Magens über Schuld und Un-
ſchuld entſcheidet. Wenn Jemand eines Verbrechens angeſchuldigt iſt,
ſo zwingt man ihn in öffentlicher Verſammlung unter Vorſitz der Prie-
ſter eine Thanginnuß (von Tanghinia venenifera) zu verſchlucken;
wenn ſein Magen im Stande iſt, dies furchtbare Gift durch Brechen
zu entfernen, ſo wird er freigeſprochen, wenn nicht, ſo iſt die Dar-
legung ſeiner Schuld zugleich ſeine Strafe und der Unglückliche ſtirbt
an den Folgen des Beweistermins.
Es würde nicht ſchwer fallen, ſelbſt einem botaniſchen Laien
einige der weſentlicheren Charaktere der beiden erwähnten Pflanzen-
familien ſo deutlich zu machen, daß er mit Leichtigkeit jede derartige
Pflanze als ſolche erkennen könnte. Ganz anders iſt es mit der letzten
[183] und folgenden, der Juſſien'ſchen Familie der Neſſelpflanzen oder
Urticeen. Auffallend verſchieden ſind die hierhergehörigen Pflanzen in
ihrer äußern Bildung von den kleinſten, unſcheinbarſten Kräutern, wie
unſer gemeines Glaskraut und unſere Neſſeln, bis zu den größten
und ſtattlichſten Bäumen, den Brodfruchtbäumen (Artocarpus in-
tegrifolia und incisa), die mit ihren weitgeſtreckten Aeſten und breiten,
ſchöngeformten Blättern die Hütte des Südſeeinſulaners beſchatten,
welchen ihre ſchmackhafte Frucht ernährt. Wenn in der Familie der
Wolfsmilcharten nur einige wenige Pflanzen in ihren Saamen wohl-
ſchmeckende, nußähnliche Kerne ſpenden (ſo Aleurites triloba auf
den Molukken, Conceveiba gujanensis in Südamerika), wenn in der
Gruppe der Apocyneen ſchon mehrere Bäume die ſaftig kühlenden
und deshalb hochgeſchätzten Früchte den Bewohnern der heißen Ge-
genden darbieten, Carissa Carandas in Oſtindien, C. edulis in
Arabien u. ſ. w., ſo umfaßt die Familie der Urticeen die ſeltſamſte
Mannigfaltigkeit der Fruchtbildung. Die kleinen ölreichen Körner des
Hanfs, die grünen, Trauben ähnlichen Büſchel, welche anmuthig den
ſchlank ſich windenden Hopfen zieren, die würzige Maulbeere, die
ſüße Feige, die nützliche Brodfrucht, alle dieſe ſo verſchiedenen For-
men gehören einer Pflanzengruppe an und der Botaniker verfolgt in allen
die gleiche Grundbildung, ſo unvereinbar auch dem Laienauge dieſe
mannigfaltigen Bildungen ſcheinen mögen. Nur eine Eigenheit er-
ſtreckt ſich ohne Ausnahme auf alle Arten dieſer zahlreichen Ordnung,
nämlich das Vorhandenſeyn feiner und doch ſtarker Baſtfaſern in der
Rinde dieſer Pflanzen. Urſprünglich von den Faſern der Neſſel (Ur-
tica cannabina) gemacht, trägt noch jetzt das Neſſeltuch ihren Namen,
und der Kunſtfleiß des ſanften Tahitiers bereitet die zarteſten Stoffe
ohne Spinnrad und Webſtuhl aus dem weißen, feinen Baſte des Auté
oder Papiermaulbeerbaums (Broussonetia papyrifera Vent.).
Ein verwandter, zierlicher Baum, der Holquahuitl der Mexikaner
oder Ule di Papantla der Spanier (Castilloa elastica Deppe) liefert das
neuſpaniſche Kaoutſchouck, und die unbegreiflichen Mengen dieſer
Subſtanz, welche von Oſtindien unſern Häfen zugeführt werden, ſind
[184] zum größern Theile von den ehrwürdigen Feigenbäumen geſammelt,
an denen jene aſiatiſche Tropenwelt ſo reich iſt. Auf dickem, umfang-
reichem, aber ſelten über 15 Fuß hohem Stamme ruht die ungeheure
Krone der Banyane oder heiligen Feige (Ficus religiosa); wagerecht
laufen die oft 100 Fuß langen Aeſte vom Stamme ab, in kleinern
oder größern Zwiſchenräumen lange, gerade Wurzeln zur Erde herab-
ſendend, die hier bald eindringen und feſtwachſen, auf dieſe Weiſe
den langen Aeſten zur Stütze dienend. Dem Gotte Fo ſind dieſe wun-
derbaren, jeder für ſich einem kleinen Walde gleichenden Bäume ge-
weiht und auf ſeinen Zweigen baut ſich der unbehilfliche, faullenzende
Bonze ſeine Hütte, einem Vogelkäfig nicht unähnlich, in den er ſeine
Tage theils verſchläft, theils in beſchaulicher Unthätigkeit, froh des
kühlen Schattens, verträumt. Dieſe großen Feigenbäume (Ficus re-
ligiosa, indica, benjaminea L., elastica Roxb.) geben ſüße Früchte
und in ihrem Milchſaft das intereſſante Kaoutſchouck. Auch unter dieſen
Pflanzen haben einige einen unſchädlichen Saft. Wohl am merkwür-
digſten in dieſer Beziehung iſt der Palo de Vacca oder Arbol de Leche,
der Kuhbaum von Südamerika (Galactodendron utile Kunth), mit
welchem uns A. v. Humboldt zuerſt bekannt gemacht hat. Bei
einem einigermaßen bedeutenden Einſchnitt in den Stamm dieſes
Baumes fließt ſo Viel einer weißen, fetten, angenehm duftenden und
ſüßen, der thieriſchen Milch ſelbſt in ihren Beſtandtheilen ſehr ähn-
lichen Flüſſigkeit aus, daß es zur Erquickung und völliger Sättigung
vieler Menſchen vollkommen hinreichend iſt.
Wie ſehr damit in Widerſpruch ſtehen dagegen die Eigenſchaften
anderer Neſſelpflanzen. Man wird verſucht, ſie die Schlangen des
Pflanzenreichs zu nennen, und die Parallele iſt nicht ſchwer durchzu-
führen. Am auffallendſten iſt die Aehnlichkeit in dem Werkzeug, mit
welchem beide ihre Wunden beibringen und vergiften. Die Schlangen
haben vorn im Oberkiefer zwei lange, dünne, etwas gebogene Zähne,
welche der Länge nach von einem feinen Canal durchbohrt werden,
der ſich vorn an der ſcharfen Spitze öffnet. Dieſe Zähne ſind nicht
wie die übrigen ganz feſt in den Kiefer eingefugt, ſondern ähnlich
[185] den Krallen der Katzen nur in minderem Grade beweglich. In der
Höhle des Kiefers liegt unter jedem Zahn eine kleine Drüſe, in wel-
cher das Gift bereitet wird, und der Ausführungsgang dieſer Drüſe
verläuft in dem erwähnten Zahnkanal und öffnet ſich an ſeiner Spitze.
Beim Beißen wird nun durch den Widerſtand des gebiſſenen Körpers
der Zahn zurückgeſchoben, drückt ſo auf die Giftdrüſe und preßt aus
derſelben den ätzenden Saft heraus und in die gemachte Wunde.
Betrachten wir daneben die Haare auf den Blättern der Neſſeln, ſo
finden wir eine wunderbare Uebereinſtimmung. Eine einzelne Zelle
bildet das ſtechende Haar, oben
in ein kleines Knöpfchen geendet.
Nach unten erweitert ſich die Zelle
in ein Säckchen, welches das
ätzende Gift enthält. (Man ver-
gleiche den Holzſchnitt.) Bei der
leiſeſten Berührung bricht die
ſpröde Spitze mit dem Knöpfchen
ab, dadurch wird das Haar zu
einem vorn offenen Canal, dieſer
dringt dann in weichere Theile
ein und in Folge des Drucks,
der durch den Widerſtand beim
Eindringen auf das Säckchen
ausgeübt wird, ſpritzt ein Theil
des Giftſaftes heraus in die ge-
machte Wunde. Das Gift unſerer einheimiſchen Neſſeln und Schlan-
gen iſt nur unbedeutend, aber je mehr wir uns den Tropen nähern,
deſto häufiger und gefährlicher werden beide. Wo die glühende Sonne
Indiens das Gift der furchtbaren Brillenſchlange kocht, da wachſen
auch die gefährlichſten Neſſeln. Wer hätte nicht ſchon bei uns die
kleinen, aber empfindlichen Stiche der Neſſel gefühlt, welche ſie durch
die feinen, giftgefüllten Haare hervorbringt; aber keine Ahnung haben
wir von den Qualen, welche ihre Nächſtverwandten (Urtica stimu-
[186] lans, U. crenulata Roxb.) in Oſtindien hervorrufen. Eine leiſe Be-
rührung genügt, um den Arm unter den furchtbarſten Schmerzen an-
ſchwellen zu laſſen, und Wochen lang dauern die Leiden, ja eine auf
Timor wachſende Art (Urtica urentissima Blume) wird von den Ein-
geborenen Daoun Setan (Teufelsblatt) genannt, weil die Schmerzen
Jahre lang anhalten und oft nur die Amputation des verletzten Glie-
des vor dem Tode ſchützen kann.
Zwar finden ſich viele der heftigeren Gifte in dieſer Familie und
ſelbſt einige Feigenarten (Ficus toxicaria L.) gehören zu den gefähr-
lichſten Pflanzen, doch lohnt es nicht bei dieſen Minderbedeutenden zu
verweilen. Aber faſt einer düſteren, unheimlichen Sage gleich ziehen ſich
die Erzählungen vom Upas und vom Giftthal durch die Kenntniß
des oſtindiſchen Inſellandes. Die Krone der holländiſchen Colonieen,
Java, durch ihre günſtige Lage ſo wie durch den unerſchöpflichen
Reichthum ihrer Producte dazu berufen, mit der Zeit der Mittelpunkt
des großen indiſchen Archipelagus zu werden, hat von jeher auch die
Aufmerkſamkeit der Naturforſcher in hohem Maße auf ſich gezogen.
Holland hat ſtets den Ruhm gehabt, daß es in keiner Zeit und in
keiner ſeiner Colonieen vergaß, auf die Kenntniß der natürlichen Pro-
ducte der erworbenen Länder ſein Augenmerk zu richten und die Na-
turwiſſenſchaften in ihren Beſtrebungen aufzumuntern, zu unterſtützen
und zu belohnen. Swammerdamm, Leuwenhoek, Rheedetot
Drakenſteen, Rumph und Andere, der Lebenden nicht zu gedenken,
werden ſtets mit unſterblichen Namen in den Annalen der Wiſſenſchaft
glänzen. Auch über die berüchtigten Giftbäume haben wir die Auf-
klärungen, in deren Beſitz wir jetzt ſind, den Ermunterungen und
Förderungen zu danken, welche die holländiſche Regierung den Natur-
forſchern angedeihen ließ, insbeſondere den noch lebenden Dr.Blume
und Dr.Horsfield, welcher Letztere, wenn auch ein Engländer
von Geburt, doch ſchon 1802, alſo 8 Jahre vor der kurzen engliſchen
Beſitznahme, unter dem Schutze der holländiſchen Regierung ſeine
Forſchungen begann.
Schon im 16. Jahrhundert verbreiteten ſich die Nachrichten über
[187] den macaſſariſchen Giftbaum auf Celebes, und nach und nach mel-
deten Aerzte und Naturforſcher von den Wirkungen des Giftes, welche
ſo ſchrecklich geſchildert wurden, daß die geringſte Menge, in's Blut
gebracht, nicht nur augenblicklich tödte, ſondern ſo furchtbar zerſtörend
wirke, daß ſchon nach einer halben Stunde das Fleiſch von den
Knochen falle. Die erſte Beſchreibung des Baumes gab im J. 1682
Neuhof. So fürchterlich aber auch die ältern Schriftſteller das Gift
darſtellen, ſo ſind ihre Berichte doch noch frei von den finſtern Fabeln,
welche Spätere darüber mittheilen. Schon zu Ende des 17. Jahrh.
behauptete Gervaiſe, daß das bloße Anrühren und Beriechen des
Giftes tödtlich werde, und bei Camel (1704) kommt ſchon die Er-
zählung vor, daß die Ausdünſtung des Baumes alles Lebende auf
eine beträchtliche Strecke ringsumher vertilge, und daß Vögel, welche
ſich auf ihm niederlaſſen, ſterben, wenn ſie nicht gleich darauf
Krähenaugen (die Saamen von Strychnos nux vomica) freſſen,
wodurch ſie zwar am Leben erhalten werden, wenn ſie ſchon alle
Federn verlieren. Schon früher hatte Argenſola (Conquista de
las islas Molucas) von einem Baume berichtet, in deſſen Nähe Jeder
einſchlafe und ſterbe, wenn er von der Weſtſeite darauf zugehe, wäh-
rend die von der Oſtſeite ſich Nähernden gerade durch den Schlaf von
der tödtlichen Wirkung befreit blieben. Jetzt berichtete man auch, daß
das Sammeln des Giftes lediglich Verbrechern übertragen werde,
welche ihr Leben verwirkt und welche von der Strafe befreit blieben,
wenn ſie ihr Geſchäft glücklich vollendet. Durch Rumph erfuhr man,
daß der Giftbaum außer auf Celebes auch auf Sumatra, Borneo und
Bali vorkomme. Die abenteuerlichſten Berichte brachten aber erſt
gegen das Ende des 18. Jahrh. der holländiſche Wundarzt Förſch
über den javaniſchen Giftbaum in Umlauf. Sein Brief über denſelben
erſchien zuerſt 1781 und wurde nach und nach in faſt alle europäiſchen
Sprachen überſetzt, und ſein Inhalt in alle Handbücher der Natur-
geſchichte, der Länder- und Völkerkunde aufgenommen. Ganz im ent-
gegengeſetzten Sinne berichteten freilich ſchon 1789 die Commiſſäre
der bataviſchen Societät van Rhyn und Palm, welche nicht allein
[188] die ſämmtlichen Erzählungen Förſch's als Lügen bezeichneten, ſon-
dern auch ſelbſt die Exiſtenz eines ſolchen Giftbaums auf Java gänzlich
in Abrede ſtellten. Faſt ebenſo äußerten ſich ſpäter Stanton, Bar-
row und Labillardière, während dagegen Deſchamp, der ſich
mehrere Jahre in Java aufhielt, verſichert, daß der Upas im Diſtricte
von Palembang nicht ſelten vorkomme, daß aber ſeine Nachbarſchaft
nicht gefährlicher ſey, als die jeder andern Giftpflanze.
Schon der vorſichtige und nüchterne Kämpfer fügte 1712 ſei-
nem ausführlichen Bericht über den Giftbaum aus Celebes hinzu:
„Wer aber könnte Aſiaten etwas nacherzählen, ohne daß der Bericht
mit Fabeln durchflochten ſey.“ Dennoch aber haben die neueren
Unterſuchungen von Leſchenault (1810), von Dr.Horsfield
(1802—18) und endlich von Blume die völlige Richtigkeit aller ein-
zelnen Nachrichten beſtätigt und uns gezeigt, wie nur Verwechſelungen
und Vermengungen ſehr verſchiedener Dinge die Veranlaſſung zu allen
jenen zum Theil allerdings fabelhaften Erzählungen gegeben haben.
Zwei ſehr verſchiedene Bäume wachſen in jenen noch wenig be-
ſuchten Urwäldern Java's. Wie zu den Pforten des Allerheiligſten
ſind alle Zugänge zu denſelben verſperrt und bewacht. Nur mit Feuer
und Axt bahnt man ſich einen Weg durch das undurchdringliche Ge-
flecht der Schlingpflanzen, der Paullinieen mit ihren mehrere Fuß
langen Trauben großer ſcharlachrother Blüthen, der Ciſſusarten, auf
deren weithin kriechenden Wurzeln die wunderbare Rieſenblume der
Raflesia Arnoldi wuchert. Palmen mit Stacheln und Dornen, ſchilf-
artige Gewächſe mit ſchneidenden Blättern, welche wie Meſſer ver-
wunden, weiſen den Eindringling ſogar angreifend zurück, und über-
all im Dickicht drohen die ſchon erwähnten furchtbaren Neſſelarten.
Große ſchwarze Ameiſen, deren ſchmerzhafter Biß den Wanderer
peinigt, zahlloſe Schwärme quälender Inſecten verfolgen ihn. Sind
dieſe Hinderniſſe überwunden, ſo folgen endlich noch die dichten
Büſchel der oft 50 Fuß hohen und armdicken Bambusſtämme, deren
feſte, glasharte Rinde ſelbſt der Art widerſteht. Endlich iſt auch hier
der Weg gebahnt und jetzt öffnen ſich die majeſtätiſchen Dome des
[189] eigentlichen Urwaldes. Rieſige Stämme des Brodfruchtbaums, des
eiſenfeſten Teckholzes (Tectona grandis), der Leguminoſen mit ihren
prachtvollen Blüthenbüſcheln, der Barringtonien, Feigen und Lor-
beeren bilden die Säulen, welche das dichte grüne Gewölbe tragen.
Von Aſt zu Aſt ſpringen die muntern Schaaren der Affen, neckend
den Wanderer mit Früchten werfend. Von einem moosumwachſenen
Felſen erhebt ſich ernſthaft am Stabe in's dichtere Dickicht wandelnd
der melancholiſche Orang-Utang. Ueberall iſt reiches animaliſches
Leben und weit entfernt von dem öden und ſchweigſamen Charakter
vieler amerikaniſchen Urwälder. Hier umſchlingt ein ſich windender
und kletternder Strauch mit armdickem Stamme die Säulen des Do-
mes, die höchſten Bäume überwuchernd, oft von der Wurzel an in
einer Länge von 100 Fuß völlig einfach und aſtlos, aber mannigfach
gewunden und gekrümmt. Die großen, glänzend grünen Blätter wech-
ſeln mit langen ſtarken Ranken, mit denen er ſich feſtklammert, reiche
Dolden grünlich-weißer, wohlriechender Blumen hängen von ihm
herab. Dieſe Pflanze, der Familie der Apocyneen angehörig, iſt der
Tjetteck der Eingebornen (Strychnos Tieuté Lesch.), aus deſſen
Wurzel das furchtbare Upas Radja oder Fürſtengift gekocht wird.
Auf eine leichte Verwundung von einer damit vergifteten Waffe,
einem kleinen Pfeile aus hartem Holz welcher auch eben ſo wie von
den Südamerikanern aus Blasröhren verſchoſſen wird, fängt der
Tiger an zu zittern, ſteht unbeweglich eine Minute da und ſtürtzt dann
plötzlich wie von Schwindel ergriffen auf den Kopf und ſtirbt in kur-
zen, aber heftigen Zuckungen. Der Strauch ſelbſt aber iſt ungefähr-
lich und kein Nachtheil droht dem, deſſen Haut etwa mit ſeinem Safte
in Berührung gekommen war. Aber gehen wir weiter, ſo überragt
ein ſchöner ſchlanker Stamm die benachbarten Pflanzen. Völlig cylin-
driſch ſteigt er 60—80 Fuß aſtfrei und glatt in die Höhe und trägt
eine zierliche halbkuglige Krone, die ſtolz auf die niedern Gewächſe
unter ihr, auf die vielen am Stamme aufſtrebenden Schlingpflanzen
herabblickt. Wehe dem, der unvorſichtig ſeinen aus leicht verletzter
Rinde reichlich hervorquellenden Milchſaft mit ſeiner Haut in Be-
[190] rührung bringt. Große Blaſen, ſchmerzhafte Geſchwüre, ähnlich wie
bei unſerm Giftſumach, nur noch gefährlicher, ſind die unausbleib-
lichen Folgen. Dies iſt der Antjar der Javaner, der Pohon Upas
(wörtlich Giftbaum) der Malayen, der Ypo auf Celebes und den
Philippinen (Antiaris toxicaria Lesch.). Von ihm ſtammt das ge-
wöhnliche Upas (deutſch Gift), welches beſonders zum Vergiften der
Pfeile diente, ein Gebrauch, der über alle Sundainſeln verbreitet ge-
weſen zu ſeyn ſcheint, ſich jetzt aber nach Einführung des Feuerge-
wehrs nur noch bei den Wilden in den rauhern und unzugänglichen
Gebirgen des Innern der Inſeln findet. Schauerlich und zugleich
großartig erhaben iſt auch der Charakter dieſer Gebirge, die wie die
ganzen Inſeln den furchtbarſten vulkaniſchen Kräften ihren Urſprung
verdanken. Ueberall noch zeigen ſich die Spuren der Thätigkeit des
unterirdiſchen Feuers, ſelbſt in jenen Wäldern, beſonders wenn man
beginnt in ihnen den Fuß der Gebirge allmälig hinanzuſteigen. Die
höchſten Spitzen bilden die furchtbaren Vulcane, deren Schrecken
längſt bekannt ſind. Ihnen reihen ſich die merkwürdigen Schlamm-
vulcane an, die ohne Feuer- und Lichterſcheinung, oft ohne vorher-
gehende Warnung plötzlich hervorbrechen. So entlud ſich am 8. und
12. Octbr. 1822 der Berg Galungung, indem er die Umgegend auf
40 engl. Quadratmeilen in eine Wüſte umwandelte, 40—50 Fuß
tiefe Thäler ausfüllte, Flüſſe abdämmte, 11,000 Menſchen, unzählige
Zugochſen, 3000 Acker Reisfeld und 800,000 Kaffeebäume unter
ſeine ſchmutzigen Fluthen begrub. Endlich weiter unten am Fuß der
Gebirge zeigen ſich Quellen aller Art, manche darunter ſauer von
großen Mengen freier Schwefelſäure, andere mit aufgelöſter Kieſel-
erde die benachbarten Bäume verſteinernd, oder milchweiß erſcheinend
von dem darin vertheilten feinen Schwefelpulver. An andern Orten
trifft man dicht aneinander geſtellte Gruppen von 3—5 Fuß hohen
Gypskegeln, aus deren Gipfeln beſtändig heißes oder kaltes Waſſer
ſprudelt, welches durch ſeinen Abſatz fortwährend die Kegel vergrößert.
Große Strecken ſind durch die Wirkungen großer vulcaniſcher Phä-
nomene verödet. Ueberall aber ſproßt neben der Zerſtörung neues
[191] friſches Leben hervor und überkleidet bald wieder die nackte Erde.
Nur einzelne Regionen machen davon eine Ausnahme. Aus dem
Dickicht des Urwaldes hervortretend erklettert man einen mäßigen
Hügel und plötzlich breitet ſich in grauenhafter Wildniß, ein wahres
Hoflager des Todes, ein ſchmales flaches Thal vor den Blicken des
entſetzten Wanderers aus. Keine Spur eines Pflanzenwuchſes bedeckt
die nackte, von der Sonne ausgedörrte Erde. Skelette von Thieren
aller Art liegen auf dem Boden. Oft erkennt man an ihrer Lage, wie
den furchtbaren Tiger im Augenblick, als er ſeine Beute ergriffen,
mit dieſer zugleich das Verderben erfaßt, wie der Raubvogel, ge-
kommen, um von der friſchen Leiche zu zehren, im Genuß vom Tode
ergriffen wurde. Ganze Haufen todter Käfer, Ameiſen und anderer
Inſecten liegen dazwiſchen und bewähren noch mehr das Treffende des
Namens: Thal des Todes oder Giftthal, denn ſo heißen dieſe
Orte bei den Eingebornen. Die Furchtbarkeit dieſer Localitäten beruht
nämlich auf den Ausdünſtungen des Bodens, in kohlenſaurem Gaſe
beſtehend, welches ſeiner Schwere wegen nur langſam in der Luft
ſich zerſtreut. Gerade wie in der berühmten Grotta del cane bei
Neapel, in der Dunſthöhle von Pyrmont, bringt dieſe Gasart Jedem,
der ſich dem Boden nähert, unausbleiblichen Erſtickungstod. Nur der
Menſch, dem es Gott gegeben, aufrecht zu wandeln, geht gewöhnlich
ungefährdet über dieſe öden Strecken, indem die giftigen Ausdünſtun-
gen nicht bis zu ſeinem Kopf hinanreichen. Wie auf dem Himalajah
die Eingebornen das erſchwerte Athemholen auf den 15 und 16,000
Fuß hohen Alpenpäſſen der Ausdünſtung giftiger Kräuter zuſchrieben,
ſo wurden auch dieſe grauenerregenden Erſcheinungen der Todes-
thäler mit den Wirkungen des Antjargiftes und der gefährlichen Be-
rührung des Pohon Upas verbunden, und die Sagen mußten nach
und nach einen um ſo furchtbarern Charakter annehmen, als bis jetzt
noch gegen jene heftigen und ſchnell wirkenden vegetabiliſchen Stoffe
kein Gegengift bekannt geworden iſt. Wir wollen den Tropenbe-
wohner nicht um die Milch ſeines Kuhbaums beneiden, und zufrieden
mit dem Geſchenke des nützlichen Kaoutſchoucks gern auf die üppige
[192] Natur jener Gegenden verzichten, die neben aller Schönheit ſo viel
Furchtbares haben. Noch bändigt kein Heilmittel die Wirkungen jener
Gifte; als verderbliche Räthſel ſtehen ſie feindſelig dem Menſchenge-
ſchlechte entgegen, auch von ihrer Seite den Satz beſtätigend, daß die
hellen Lichter der tropiſchen Natur ebenſo ſchwarze Schatten neben ſich
bedingen und daß mehr als ein Drache dieſe Gärten der Hesperiden
bewacht.
Doch ich bemerke mit Schrecken, daß ich mich weit von meinem
urſprünglichen Thema verirrt. Paletot und Mackintoſh war die Lo-
ſung des Streites, die Vorzüge des Letztern ſollten mein Thema ſeyn,
von dem ich mich aber wohl zu weit entfernt habe, um hier noch
wieder darauf zurückkommen zu dürfen.
[[193]]
Neunte Vorlesung.
Beiträge zur Kenntniß der Cactuspflanzen.
In's weite Reich, ihm ſcheint's ein ſchwerer Traum,
Wo Mißgeſtalt in Mißgeſtalten ſchaltet,
Das Ungeſetz geſetzlich überwaltet. —’
(Fauſt.)
Schleiden, Pflanze. 13
[[194]]
Die Vignette zeigt eine Gruppe von Cactuspflanzen.
[[195]]
Den nächſten und höchſten Zweck aller wiſſenſchaftlichen Natur-
forſchung dürfen wir wohl beſonders ſeit den neueren Fortſchritten
dahin beſtimmen, die ganze uns umgebende Welt als unter aus-
nahmsloſe, mathematiſche Geſetze gebannt darzuſtellen und jede vor-
gehende Veränderung aus ſolchen Geſetzen abzuleiten. Sehr ver-
ſchieden aber iſt die Vollendung der einzelnen Zweige der Naturwiſ-
ſenſchaft, je nachdem ſie dieſes höchſte Ziel ſchon erreicht haben, oder
ihm noch näher oder ferner ſtehen. Von der Aſtronomie, dem vollen-
detſten Theile unſerer menſchlichen Wiſſenſchaft, bis zur Kenntniß der
organiſchen Weſen iſt eine große Kluft, an deren Ausfüllung die
Menſchheit noch Jahrtauſende arbeiten wird, bis ein ſicherer Pfad
hinüberführt. Da es wahrlich nicht an dem Fleiße der Forſcher liegt,
ſo muß in der Sache ſelbſt der Grund geſucht werden, weshalb unſere
wiſſenſchaftliche Kenntniß der organiſchen Weſen noch ſo weit von
ihrem Ideal entfernt iſt, daß es ſelbſt Naturkundige giebt, die den
endlichen Ausgangspunct noch nicht einmal anerkennen wollen. Der
Grund liegt wohl in Folgendem. Wir finden in der Natur mannig-
fache Stoffe, dieſe wirken auf einander ein und daraus geht ein be-
ſtändiges Spiel von Thätigkeiten hervor, wofür uns die unverrückbare
Geſetzmäßigkeit in den Bewegungen unſeres Sonnenſyſtems das
klarſte und großartigſte Beiſpiel iſt. Dieſes Spiel von Kräften zeigt
13*
[196] ſich aber ſchon beim Sonnenſyſtem unter einer beſtimmten Form, in-
dem die Planetenbahnen nicht alle gleichförmig um eine und dieſelbe
an der Sonne gezogene Linie kreiſen, ſondern von dieſer Linie, jeder
auf ſeine Weiſe abweichen, indem die Größe der Planeten nicht in
einer ſtetigen Reihe von der Sonne aus zu- oder abnimmt u. ſ. w.
Schon hierbei verlaſſen uns für jetzt unſere Kenntniſſe und wir ſind
unfähig, eine geſetzmäßige Ableitung für dieſe Form des Sonnen-
ſyſtems zu finden. Bei Weitem zuſammengeſetzter werden aber dieſe
eigenthümlichen Formen bei den Naturproceſſen an der Erde und wir
nennen ſie hier, wo ſie uns ſogleich anſchaulich entgegentreten und
ſich leicht als ein Ganzes überſehen laſſen „Geſtalten.“ Mögen wir
nun zwar bei den Kryſtallen wegen ihrer regelmäßigen mathematiſchen
Form ahnen, daß auch ſie ſtrengen Geſetzen bei ihrer Bildung unter-
worfen ſind, ſo erſcheint es uns doch immerhin als rein zufällig,
warum gerade das Kochſalz und der Schwefelkies in reinen Würfeln
kryſtalliſiren und nicht wie der Flußſpath in achtflächigen Körpern.
Endlich bei Pflanzen und Thieren werden die Formen ſo mannigfaltig
und ſo abweichend, daß wir eine mathematiſche Grundlage auch nicht
einmal zu ahnen vermögen. Alles erſcheint hier rein zufällig oder
launenhaftes Spiel einer blind wirkenden Naturkraft. Es liegt aber
im Menſchen ein unabweisbares Bedürfniß, in ſeiner Weltanſchauung
Nichts dem Zufalle zu überlaſſen, der ihn troſt- und hoffnungslos den
ihm überlegenen Naturkräften gegenüber ſtellen würde, und wo daher
die Erkenntniß der Geſetzmäßigkeit zur Zeit noch verſagt iſt, legt er den
Sachen nach Maaßgabe ſeiner eignen Handlungsweiſe eine Zweckmä-
ßigkeit unter, deren letzte Urſache er in einem mächtigen und weiſen Schö-
pfer und Erhalter der Welt ſucht. Wie ſehr aber für die wiſſenſchaftliche
Beurtheilung der Natur dieſes unzureichend ſey, zeigt ſich gleich darin,
daß wir mit einer ſolchen Beurtheilung nach Zwecken auch durchaus
nicht ausreichen. Für die uns am Nächſten ſtehenden Thiere gelingt
es freilich noch, ihre Formen in Beziehung zu ſetzen mit ihrer Lebens-
weiſe, wir erkennen wohl, daß ein Vogel zum Fliegen, ein Fiſch zum
[197] Schwimmen am zweckmäßigſten gebaut iſt, und wir bewundern den
Scharfſinn, mit dem Cuvier den Zweck, für den die Thiere beſtimmt
ſind, benutzt hat, um daraus mit überraſchender Sicherheit ihre Ge-
ſtalt und die feinſten Verſchiedenheiten ihres anatomiſchen Baues zu
entwickeln. Treten wir aber in die Höhle von Antiparos, wo Tauſende
von Kryſtallen das Licht der Fackeln in wunderbarem Glanze brechen
und ein Mährchen aus der Feenwelt unſerm ſtaunenden Auge vor-
führen, bahnen wir uns einen Pfad durch die dichten Wälder der
Guyana, wo die Rieſenſtämme tauſendjähriger Bertholetien neben
den ſchlanken Pfeilern der Palmen ſtehen, das zarte wunderbar ge-
fiederte Laub der Farren mit den einfachen großen Blättern der Pi-
ſanggewächſe ſeltſam contraſtirt, wo die kahlen, dünnen, hundert Fuß
langen Stengel der Llanen ſich wie Schiffsſeile von Baum zu Baum
ziehen, auf welchen die ſchlanke Tigerkatze auf- und abklettert, während
Tauſende von verſchiedenen winzig kleinen und zierlichen Mooſen und
Lebermooſen die Stämme überziehen; ſehen wir, wie dazwiſchen ſich
in den bunteſten Farben und dem wunderbarſten Formenſpiele die
ganze prachtvolle Blüthenwelt der Tropen ausſchüttet — dann freilich
erlahmt auch die kühnſte Einbildungskraft daran, für dieſe mannig-
faltigen Formen und Geſtalten beſtimmte Begriffe der Zweckmäßigkeit
aufzuſuchen und feſtzuhalten und wir haben nichts mehr, als das
Princip der Schönheit, nach dem wir die Natur beurtheilen können;
ſie allein ſpricht noch zu unſerm Gefühl und läßt uns in heiliger
Ahnung ein höheres Weſen hinter dem unermeßlichen Reichthum man-
nigfaltiger Geſtalten anbeten. Aber leider müſſen wir gewahr werden,
daß auch dieſer Gedanke nicht ausreicht, um uns überall als Leitſtern
durch die zahlloſen Formen der Natur zu dienen. Mit dem Gefühl,
daß, wo wir nicht aus Geſetzen erklären, wo wir nicht nach Zwecken
beurtheilen können, doch wenigſtens das unerklärte Weſen der Schön-
heit auf eine geheimnißvolle Weiſe die Symbole der Natur uns aus-
zudeuten vermöge, verlaſſen wir die Wälder der Guyana, die letzten
Hängematten der Guaraunen zwiſchen den Stämmen der Mauritius-
[198] palme und treten hinein in die Pampas von Venezuela, von denen
uns Humboldt ein ſo geiſtreiches und lebendiges Bild entworfen.
Kein lachendes Grün überzieht hier den glühenden Felſenboden, in
deſſen Ritzen nur hin und wieder mit furchtbar drohenden Dornen
beſetzt die runden Ballen des Melonencactus ſich zeigen. Steigen
wir höher an den Anden herauf, ſo bedeckt ſich die Erde ſtatt mit
zarten Gräſern mit den fahlen, graugrünen Kugeln der ſtachligen Ma-
millarien, dazwiſchen hebt ſich ernſt und traurig mit langen grauen
Haaren behängt der Greiſencactus. Führt uns der Flug der Phan-
taſie weiter nach Norden, ſteigen wir hinab in die Ebenen Mexico's, wo
die Rieſentrümmer der Azteckenburg, ein Zeugniß einſtmaliger längſt
verſchollener Cultur, ſich zeigen, ſo breitet ſich vor uns die Landſchaft
aus kahl und nackt von der glühenden Sonne der Tierra caliente ge-
dörrt; in mattem Graugrün, zweig- und blattlos erheben ſich, zwanzig,
dreißig Fuß hoch, die kantigen Säulen der Fackeldiſteln mit einer un-
durchdringlichen Hecke der empfindlich ſtechenden indianiſchen Feige
eingefaßt, und rings umher zeigen ſich Gruppen der meiſt ſeltſam häß-
lichen Geſtalten der Echinocacten und kleinen Cereen, zwiſchen
denen ſchlangenartig oder wie großes giftiges Gewürm die langen,
dürren Stengel des großblumigen Cactus (Cereus nycticallus)
umherkriechen. Kurz, auf dieſer ganzen Wanderung begleitet uns eine
Pflanzenfamilie, die der Cactusgewächſe, welche ſich in ihren
wunderlichen Formen durchaus dem Princip der Schönheit zu entziehen
ſcheint und die ſich gleichwohl ſo auffällig, ſo ſehr den eigenthümlichen
Charakter der Landſchaft beſtimmend hervordrängt, daß wir gezwungen
ſind, ihr unſere Aufmerkſamkeit zuzuwenden. Und gewiß verdient eine
Pflanzengruppe, die ſich ſo weit von allen Geſetzen der übrigen Vege-
tation zu entfernen ſcheint, unſere ganze Theilnahme in hohem Grade.
Sie iſt ihr in reichem Maaße geworden, und für die, denen Ver-
hältniſſe nicht erlauben, aus eigner Anſchauung die Kinder einer
humoriſtiſchen Laune der Natur kennen zu lernen, zeigen unſere Gär-
ten, in denen die Cactusgewächſe eine der erſten Modepflanzen ge-
[199] worden ſind, eine reiche Auswahl der Geſtalten. Eine genauere Be-
trachtung dieſer eigenthümlichen Familie möchte daher wie für den
Naturfreund belehrend, ſo auch nicht ohne zeitgemäßes Intereſſe ſeyn.
Linné kannte von dieſer ganzen Familie nur etwa ein Dutzend
Arten, die er unter dem Namen Cactus vereinigte, gegenwärtig
ſind über 400 Arten bekannt, welche von den Botanikern in etwa 10
Geſchlechter vertheilt ſind. Die meiſten derſelben werden in Deutſch-
land cultivirt. Die reichſte Sammlung möchte wohl die des könig-
lichen botaniſchen Gartens bei Berlin ſeyn, welche über 360 Arten
beſitzt; demnächſt folgt ohne Zweifel die fürſtlich Salm-Dyk-Reiffer-
ſcheid'ſche Collection. Der königlich botaniſche Garten zu München,
der Garten des japaniſchen Palais zu Dresden möchten demnächſt an
Reichhaltigkeit die bedeutendſten ſeyn. In der Nähe ſind die Samm-
lungen von Haage in Erfurt und die im Breiterſchen Garten in
Leipzig die vollſtändigſten.
Alles an dieſen Pflanzen iſt wunderbar. Mit Ausnahme des
Geſchlechts Peireskia hat keine hierher gehörige Pflanze Blätter.
Denn was man beim Cactus alatus und der indianiſchen Feige
wohl Blätter zu nennen pflegt, ſind nur platt ausgebreitete Sten-
gel. Dagegen zeichnen ſich alle durch einen außerordentlich fleiſchi-
gen Stengel aus, der mit einer graugrünen, lederartigen Haut be-
deckt und an den Stellen, wo geſetzmäßig die Blätter ſitzen ſollten,
mit mannigfaltigen Haarbüſcheln, Stacheln und Spitzen beſetzt
durch ſeine verſchiedene Ausbildung den verſchiedenen Charakter der
Pflanzen bedingt. In vier- bis neunkantigen oft faſt runden Säulen
erheben ſich die Fackeldiſteln dreißig bis vierzig Fuß hoch, meiſt aſt-
los, zuweilen aber auf die ſeltſamſte Weiſe Candelabern gleich ver-
zweigt; niedriger ſind die indianiſchen Feigen, deren ovale flache
Aeſte nach allen Seiten an einander gereiht eigne Geſtalten hervor-
rufen. Die niedrigſten und dickſten Fackeldiſteln ſchließen ſich an die
runden mit hervorſpringenden Rippen beſetzten Echinocacten und
Melonencacten an und führen ſo zu den faſt ganz kugligen, mit län-
[200] geren oder kürzeren fleiſchigen Warzen ſehr regelmäßig bedeckten
Mamillarien über. Endlich giebt es noch Formen, bei denen der
Längswachsthum vorherrſcht, die mit langen dünnen, oft peitſchen-
förmigen Stengeln wie der bei uns ſo häufig cultivirte Schlangen-
cactus von den Bäumen, auf denen ſie paraſitiſch leben, herabhängen*).
Wenige Familien haben einen ſo engen Verbreitungsbezirk auf
der Erde. Alle Cacteen vielleicht ohne eine einzige Ausnahme ſind
in Amerika zwiſchen dem 40° S. Br. und dem 40° N. B. einhei-
miſch. Von da haben ſich aber einige Arten ſo ſchnell gleich nach der
Entdeckung von Amerika in der alten Welt verbreitet, daß ſie faſt
als völlig eingebürgert anzuſehen ſind. Faſt alle lieben einen dürren
und der brennenden Sonne ausgeſetzten Standort, der ſeltſam mit
ihrem fleiſchigen, von wäſſrigem, nicht unangenehm ſäuerlichem
Safte ſtrotzendem Gewebe contraſtirt. Durch dieſe Eigenſchaft ſind
ſie für den verſchmachtenden Reiſenden von unſchätzbarem Werthe und
Bernardin de St. Pierre hat ſie treffend die Quellen der Wüſte
genannt. Auch die wilden Eſel der Llanos wiſſen ſich dieſe Pflanzen
zu Nutze zu machen. In der trocknen Jahreszeit, wenn alles thie-
riſche Leben aus den glühenden Pampas entflieht, wenn Crocodill
und Boa in dem austrocknenden Schlamme in todtenähnlichen
Schlaf verſinken, ſind es allein die wilden Eſel, welche die Steppe
durchſtreifend ſich gegen den Durſt zu ſchützen wiſſen, indem ſie be-
hutſam mit dem Hufe die gefährlichen Stacheln des Melonencactus
abſtreifen und dann gefahrlos den kühlenden Saft der Pflanze aus-
ſaugen. In der ſenkrechten Ausdehnung ſind die Cacteen weniger
beſchränkt und ziehen ſich von den niedrigſten Küſtenſtrichen durch
die weiten Ebenen hinan bis zum höchſten Rücken der Andeskette.
Am Ufer des Sees von Titicaca 12,700 Fuß über der Meeresfläche
ſieht man hochſtämmige Peireskien mit ihren prachtvollen dunkel-
braunrothen Blüthen und auf dem Plateau des ſüdlichen Peru nahe
[201] der Vegetationsgrenze, alſo beiläufig 14,000 Fuß hoch wird der
Wanderer durch eigenthümliche Geſtalten von gelbrother Farbe über-
raſcht, die von Ferne täuſchend den Anſchein des ruhenden Wildes
haben, ſich bei näherer Unterſuchung aber als unförmliche Haufen
niedriger, mit gelbrothen Stacheln dicht beſetzter Cacteen ausweiſen.
Was die Natur aber dem äußern Anſehen der Pflanze entzogen, das
hat ſie den meiſten in reichlichem Maaße in den prachtvollen Blü-
then erſetzt. Man ſtaunt die unförmlich graugrüne Maſſe einer
Mamillaria mit den ſchönſten purpurrothen Blüthen bedeckt zu finden.
Seltſam iſt der Contraſt zwiſchen dem troſtloſen und unheimlichen
Anblick des kahlen, dürren Stengels der großblumigen Fackeldiſtel
(Cereus grandiflorus) und ſeinen großen prachtvollen, iſabellfar-
benen, vanilleduftenden Blumen, die in verſchwiegener Nacht ſich
entfaltend einer Sonne gleich ſtrahlen und in dem wunderbaren
Spiel ihrer Staubfäden faſt zu einem höheren thieriſchen Leben hin-
anzuſtreben ſcheinen.
Aber nicht die Schönheit der Blüthen allein iſt es, die
den Menſchen erfreut, nicht ihr erquickender Saft allein, der den
ſchmachtenden Wanderer erfriſcht. Auch ſonſt iſt ihr Nutzen für
den Haushalt der Menſchen von mannigfachem Einfluß. Faſt
alle Cacteen haben eßbare Früchte und ſie gehören zum Theile mit
zu den ſchönſten Erquickungen in der heißen Zone, welche ſie zur
Reife bringt. Faſt alle größeren Opuntien, die unter dem Namen
der indianiſchen Feige bekannt ſind, liefern in Weſtindien und
Mexico beliebte Früchte des Nachtiſches, und ſelbſt die kleinen roſen-
rothen Beeren der Mamillarien, die bei uns geſchmacklos zu ſeyn
pflegen, haben unter den Tropen einen angenehmen ſüßſäuerlichen
Saft. Im Allgemeinen kann man ſagen, daß ihre Frucht eine edlere
Form der bei uns einheimiſchen Stachel- und Johannisbeeren iſt,
denen ſie auch in botaniſcher Hinſicht am nächſten verwandt ſind.
So ſaftreich auch der Stamm der meiſten Cacteen iſt, ſo bildet ſich
doch mit der Zeit in ihnen ein eben ſo feſtes als leichtes Holz aus.
[202] Beſonders findet ſich dies bei den langen ſäulenförmigen Cereen, de-
ren alte abgeſtorbenen Stämme, nach Zerſtörung der graugrünen
Rinde, mit weißem Holze Geſpenſtern gleich zwiſchen den lebenden
Stämmen ſtehen bleiben, bis ein von der Nacht überfallener Rei-
ſender ſich ihrer bemächtigt, um in jenen holzarmen Gegenden ſich
ein Feuer gegen Moſquitos anzuzünden, ſeinen Maiskuchen dabei
zu röſten, oder indem er ſie als Fackel anbrennt, die dunkle Tropen-
nacht zu erhellen. Von dem letztern Gebrauch haben ſie eben den
Namen der Fackeldiſteln erhalten. Auf die Höhen der Cordilleren
werden dieſe Stämme wegen ihrer Leichtigkeit auf Maulthieren hin-
aufgeſchafft, um als Balken, Pfoſten und Thürſchwellen der häu-
ſer zu dienen, wie z. B. in der Meierei von Antiſana, vielleicht dem
höchſten bewohnten Ort der Erde (12,604 F.). Ganz wie bei uns
ihre Verwandten, die Stachelbeerbüſche, vom Landmann zur Ein-
zäunung ſeiner Gärten benutzt werden, wendet man in Mexico, an
der Weſtküſte Südamerika's und in den ſüdlichen Theilen Europa's
und auf den Canaren mit noch größerem Erfolg die Opuntien an,
deren feſte, unförmliche Zweige ſich ſchnell zu einem undurchdring-
lichen Zaun zuſammenſchlingen und durch ihre furchtbaren Stacheln
jedem Eindringling ein unüberwindliches Hinderniß entgegenſetzen.
Endlich geht auch der Arzneiſchatz nicht leer aus, indem die Aerzte
Amerika's vielfach von dem ſäuerlichen Safte Gebrauch zu Umſchlä-
gen bei Entzündungen machen und die eingekochten Früchte als
Bruſtſaft anwenden, einiger anderer Vorſchriften nicht zu gedenken.
Aber in ähnlicher Weiſe wie Gras und Klee nicht ſowohl un-
mittelbar, ſondern nur als Nahrungsmittel nützlicher Thiere dem
Menſchen ſchätzbar werden, iſt es auch eine Anzahl von Cacteen,
die ein Thier ernähren, welches von außerordentlicher Wichtigkeit
iſt. Es iſt dies das Cochenille-Inſect (Coccus Cacti), ein klei-
nes, höchſt unſcheinbares Thier, im Aeußern ganz dem kleinen wei-
ßen, wolligen Schmarotzer ähnlich, der in unſern Treibhäuſern ſo
häufig ſich auf den Pflanzen einfindet, und doch durch den unſchätz-
[203] baren Farbſtoff, den es enthält, ſo unendlich davon verſchieden.
Früher war die Cochenillezucht allein auf Mexico beſchränkt und
wurde daſelbſt mit großer Sorgfalt von der Regierung geheim ge-
halten. Noch im Jahre 1725 wurden heftige Streitigkeiten in Eu-
ropa darüber geführt, ob die Cochenille überhaupt ein Inſect, oder
ein Saamenkorn einer Pflanze ſey. Nur mit Lebensgefahr brachte
Thierry de Menonville ſie im Jahre 1785 nach dem franzöſi-
ſchen Domingo hinüber. Seit 1827 iſt ſie auch durch Berthelot
auf den Canaren eingeführt. Selbſt in Corſica ſo wie in Spanien
ſind in neuerer Zeit glückliche Verſuche mit ihrer Cultur gemacht.
Zwar auch in Braſilien und Oſtindien jetzt häufig gezogen, bleibt
doch immer Mexico der Ort der größten Production und der ſchön-
ſten Cochenille. Nach Alex. v. Humboldt(Essai politique sur
la nouvelle Espagne Vol. III.) beträgt die Ausfuhr der Cochenille
noch jetzt allein aus Oaxaca viertehalb Millionen Thaler, eine un-
geheure Summe wenn man bedenkt, daß das Pfund etwa 10 Tha-
ler koſtet und 70,000 Thierchen zu einem Pfunde gehören. Es ſind
beſonders die Provinzen Oaxaca, Tlascala und Guanaxuato, welche
ſich mit der Zucht der Cochenille beſchäftigen. Auf großen Meiereien
Nopaleros genannt, von dem ſpaniſchen Namen der Opuntia (Nopal)
wird felderweiſe der Tunacactus(Opuntia Tuna) gezogen. Nur
auf den weſtindiſchen Inſeln und in Braſilien bedient man ſich des
ſogenannten Cochenillecactus(Opuntia coccinellifera). Die
Pflanzungen müſſen oft erſetzt werden, weil das Inſect mit großer
Schnelligkeit die Pflanze ſo ausſaugt, daß ſie vertrocknet und ab-
ſtirbt. Die Kaufleute unterſcheiden zwei Sorten von Cochenille, die
grana fina und grana sylvestre; die erſtere iſt reicher an Farbeſtoff
und ihre Farbe feuriger als bei der letzteren, und der weiße Ueber-
zug des Inſects mehr ſtaubig, bei der letzteren dagegen flockig. In-
deß iſt es noch nicht gelungen auszumachen, ob dieſer Verſchieden-
heit zwei verſchiedene Arten des Thieres zum Grunde liegen, oder
ob die Verſchiedenheit von der Culturweiſe und der Art der Pflanze
[204] abhängt, auf welcher das Thier lebt. Wenn die Thiere völlig aus-
gebildet ſind, werden ſie mit dem Schweife eines Eichhörnchens von
den Zweigen der Pflanze abgekehrt und durch Sonnenhitze oder heiße
Waſſerdämpfe getödtet, getrocknet und in den Handel gebracht. Bei
uns wird daraus durch Zuſatz von Alaun der koſtbare Carmin und
durch Zuſatz von Thonerde der Carminlack (Florentiner Lack) bereitet.
So wie aber die Familie der Cactusgewächſe durch ihre äußere
häßliche Form, durch die Pracht ihrer Blüthen, durch ihren viel-
fachen Nutzen im Allgemeinen ein hohes Intereſſe erregt, ſo iſt ſie
auch in engerer Beziehung nicht minder für den Botaniker intereſ-
ſant. Von jeher haben die Zoologen in der Betrachtung der Mißge-
burten und der abweichenden Formen einen reichen Stoff gefunden,
um ihre Kenntniſſe des regelmäßig ſich entwickelnden Organismus
zu läutern und auszubreiten. Es läßt ſich daher auch erwarten, daß
in der Pflanzenwelt ähnliche Verhältniſſe ähnlichen Werth haben
werden, und welche Familie könnte man beſſer zu dieſem Zwecke
auswählen, als die der Cacteen, die nur ein natürliches Muſeum
von Mißgeburten zu ſeyn ſcheint und deren Formen zum Theil ſo ab-
norm ſind, daß man eine Art überhaupt nicht anders als mit dem Na-
men des monſtröſen Cactus(Cereus monstrosus) zu bezeichnen
wußte. Auch haben ſie in vielfacher Hinſicht die Aufmerkſamkeit der
Botaniker auf ſich gezogen und es haben ſich manche ſowohl anato-
miſche als phyſiologiſche Eigenthümlichkeiten ergeben, durch welche
ſie von allen übrigen ſelbſt den nächſt verwandten Pflanzen abweichen.
Ja die Ergebniſſe würden ſicher noch viel intereſſanter ſeyn, wenn es
nicht ſo unendlich ſchwer wäre, ſich das Material für die Unterſuchung
zu verſchaffen, indem nur zu ſelten Gärtner und Blumenliebhaber ſich
geneigt zeigen, ihre Lieblinge dem Meſſer der Wiſſenſchaft zu opfern.
Die Cacteen haben lange Zeit in der Wiſſenſchaft zur Stütze eines
Satzes dienen müſſen, der durchaus falſch, doch häufig genug ſelbſt von
ausgezeichneten Botanikern behauptet worden iſt, ich meine nämlich die
Anſicht, als könnten viele oder gar alle Pflanzen ihre Nahrung aus der
[205] Luft ſaugen. Noch in den neuſten Zeiten iſt dieſer Gedanke von Liebig,
deſſen organiſche Chemie ſo großes Aufſehen gemacht hat, mit den
alten längſt widerlegten Gründen wieder aufgefriſcht. Man glaubte
nämlich, daß aus der großen Maſſe des wäſſrigen Saftes in den
Cacteen, verbunden mit der Thatſache, daß die meiſten und gerade die
ſaftreichſten auf dürrem Sande in faſt von aller Dammerde entblößten
Felſenritzen vegetiren, wo ſie noch dazu oft drei Viertel des Jahres
den austrocknenden Sonnenſtrahlen eines ewig heitern Himmels aus-
geſetzt ſind — aus dieſem Zuſammentreffen eben glaubte man um ſo
mehr mit Sicherheit ſchließen zu dürfen, daß dieſe Pflanzen ihre
Nahrung aus der Luft anziehen, als man auch noch in unſern Treib-
häuſern die Beobachtung machte, daß die Zweige von Cactusſtäm-
men abgeſchnitten und in einem Winkel vergeſſen oft ohne Weiteres,
ſtatt abzuſterben, weitergewachſen waren und drei und mehr Fuß lange
Aeſte getrieben hatten. Erſt De Candolle kam auf den richtigen
Weg, indem er ſolche ohne Boden fortwachſende Cactuszweige wog und
dabei fand, daß die Pflanze ſo wie größer immer leichter wurde und
daher weit entfernt, aus der Atmoſphäre etwas aufzunehmen, viel-
mehr noch an dieſe abgegeben hatte. Das ganze Wachſen geſchieht
hier auf Unkoſten des ſchon früher in dem ſaftigen Gewebe angeſam-
melten Nahrungsſtoffes, und erſchöpft die Pflanze meiſt ſo ſehr, daß
ſie nachher nicht mehr zu retten iſt. Es iſt gerade das vollſaftige Ge-
webe, welches die Cactuspflanzen fähig macht, man könnte ſie den
Kameelen vergleichen, auf lange Zeit im Voraus ſich mit Flüſſigkeit
zu verſehen und ſo der regenloſen Jahreszeit trotzen zu können. Dabei
werden ſie aber auf eigne Weiſe durch anatomiſche Verhältniſſe unter-
ſtützt. Wir wiſſen durch die Verſuche von Hales, daß die Pflanzen
hauptſächlich durch die Blätter das in ihnen enthaltene Waſſer ver-
dunſten und gerade Blätter fehlen den Cacteen. Ihr Stamm aber iſt
ebenfalls abweichend von allen übrigen Pflanzen mit einer eigenthüm-
lichen lederartigen Haut bekleidet, welche die Verdunſtung faſt völlig
verhindert. Dieſe Haut beſteht aus ſehr ſonderbaren faſt knorpeligen
[206] Zellen, in deren Wunden häufig die zierlichſten kleinen Canäle ver-
laufen. Sie iſt bei verſchiedenen Cactusarten verſchieden dick und
zwar am dickſten und daher undurchdringlichſten bei den Melonen-
cactus, die in den dürrſten und heißeſten Gegenden wachſen, am
wenigſten auffallend dagegen bei den Rhipſalisarten, welche
paraſitiſch auf den Bäumen der feuchten braſilianiſchen Wälder leben.
Eine andere Merkwürdigkeit dieſer Pflanzengruppe iſt die Bildung
einer außerordentlichen Menge von Sauerkleeſäure. Dieſe Säure
würde in großer Menge in der Pflanze angehäuft für dieſelbe nothwen-
dig tödtlich werden müſſen. Die Pflanze nimmt daher aus dem Boden,
auf dem ſie wächſt, eine verhältnißmäßige Menge Kalk auf, dieſer ver-
bindet ſich dann mit der Sauerkleeſäure zu unlöslichen Kryſtallen,
welche ſich in allen Cacteen in großer Menge finden. In einigen
Arten, z. B. dem peruaniſchen und Greiſen-Cactus enthält die Pflanze
fünf und achtzig Procent oralſauren Kalk. Sicher ließen ſich die
Cacteen unter den Tropen mit Vortheil zur Gewinnung des Sauer-
kleeſalzes benutzen.
Eine dritte Eigenthümlichkeit zeigt ſich ferner bei den kugligen
Formen der Melonencactus und Mamillarien in der Bildung des
Holzes, welches durchaus von dem der gewöhnlichen Holzpflanzen
abweicht. Das gewöhnliche Holz, z. B. der Pappel beſteht aus langen
Holzzellen, deren Wände ganz einfach und gleichförmig ſind, und
aus luftführenden Zellen, ſogenannten Gefäßen, deren Wände ganz
dicht mit kleinen Poren beſetzt ſind. Ganz abweichend davon zeigt das
Holz der genannten Cacteen nur kurze ſpindelförmige Zellen, in denen
ſich höchſt zierliche ſpiralförmig gewundene Bänder, wie kleine Wen-
deltreppen hinaufziehen.
Endlich verdienen die an der Stelle der Blätter ſitzenden Haare,
Stacheln u. ſ. w. noch eine beſondere Erwähnung. Man kann im
Allgemeinen drei Formen derſelben unterſcheiden, die gewöhnlich zu-
ſammen an derſelben Stelle vorkommen. Die Erſten ſind ganz biegſame
[207] einfache Haare, welche ein kleines, flaches, weiches Kiſſen bilden. Zwi-
ſchen ihnen findet ſich ein Büſchel etwas längerer, aber dünner Stacheln.
Dieſe ſind es hauptſächlich, welche wegen ihres eigenthümlichen
Baues das unvorſichtige Angreifen der Cactuspflanzen ſo gefährlich
machen. Dieſe kleinen Stacheln ſind nämlich ſehr dünn und ſpröde,
ſo daß ſie leicht abbrechen, und von oben bis unten mit rückwärts
gerichteten Widerhaken beſetzt. Bei der Berührung drückt ſich gleich
ein ganzer Büſchel in die Haut ein; verſucht man es abzuſtreifen, ſo
brechen die einzelnen Stacheln in der Haut ab und die Stückchen
dringen wieder in andere Theile der Haut; wo man mit der Hand
überſtreift, hängen ſie ſich ein und ein unerträgliches Jucken und zu-
letzt eine leichte Entzündung verbreitet ſich überall dahin, wo man ſie
durch Berührung hingebracht. Beſonders zeichnet ſich dadurch die
Opuntia ferox aus, die davon ihren Namen, die wilde, hat. Zwiſchen
dieſen Haaren und kleinen Stacheln erheben ſich dann in verſchiedener
Anzahl und Form ſehr lange und große Stacheln, welche die beſten
Kennzeichen zur Beſtimmung der Arten abgeben. Dieſe ſind bei einigen
ſo hart und ſtark, daß ſie z. B. häufig die Lähmung der wilden Eſel
herbeiführen, wenn dieſe zur Stillung ihres Durſtes die Stacheln
mit dem Hufe abſtreifen und dabei ſich unvorſichtig verletzen. Bei
Opuntia Tuna, die am meiſten zu Zäunen benutzt wird, ſind ſie ſo
groß, daß ſelbſt Büffel, die ſich dieſe Stacheln in die Bruſt rannten,
an der darauf folgenden Entzündung geſtorben ſind. Gerade dieſe Art
war es auch, welche in dreifacher Reihe als Grenzſcheide gepflanzt
wurde, als die Engländer und Franzoſen die Inſel St. Chriſtoph
zwiſchen ſich theilten.
Dieſe kurze Ueberſicht möge denn genügen, um das Intereſſe zu
rechtfertigen, welches ganz allgemein jetzt dieſe Pflanzenfamilie er-
weckt hat. Ihre genauere Erforſchung giebt dem Naturforſcher reichen
Stoff, ihr mannigfaltiger Nutzen beſonders in ihrer Heimath lenkt
mit Recht auf ſie die Aufmerkſamkeit der Staatsökonomen; aber be-
deutungsvoller als dieſes wird ſie in der Mannigfaltigkeit ihrer durch-
[208] weg häßlichen Formen eine Aufgabe für den Naturphiloſophen, welche
ihn daran mahnt, wie unzulänglich zur Zeit noch alles das iſt, was
wir zum tiefern Verſtändniß der Natur erdacht haben, und wie end-
los daher noch die Bahn vor uns liegt, die ganz durchlaufen ſeyn
muß, ehe wir es wagen dürfen, an die Aufſtellung eines naturphilo-
ſophiſchen Syſtems zu gehen, wenn es nicht ſtatt wiſſenſchaftlicher
Begründung, die vielleicht ſchönen, aber immer unwahren Träume
einer dichteriſchen Phantaſie bringen ſoll.
[[209]]
Zehnte Vorlesung.
Die Pflanzengeographie.
‘Die Gegend wird zum Paradieſe,
Hier blüht die ganze weite Welt. —’
(Göthe.)
Palmſonntags ächter Palmen,
Die Cardinäle beugen ſich
Und ſingen alte Pſalmen,
Dieſelben Pſalmen ſingt man auch,
Oelzweiglein in den Händen,
Muß im Gebirg zu dieſem Brauch
Stechpalmen gar verwenden,
Zuletzt, man will ein grünes Reis,
So nimmt man Weidenzweige …’
(Göthe.)
Schleiden, Pflanze. 14
[[210]]
Dem folgenden Vortrag wird vor Allem die Anſchaulichkeit fehlen, die dem-
ſelben durch keine Macht der Sprache zu verleihen war. Ich muß meine freundlichen
Leſer erſuchen, eine gute Weltkarte und die vortrefflichen Pflanzengeographiſchen
Tafeln in Berghaus' phyſicaliſchem Atlas zur Hand zu nehmen und dadurch die
beim mündlichen Vortrag ſo bequem unterſtützende Demonſtration zu erſetzen, und
gern will ich zugeſtehen, daß vielleicht ein Blick auf die Berghaus'ſchen Vege-
tationstafeln lebendigere Anſchauung hervorruft und ebenſo zum Nachdenken erregt
als dieſe Vorleſung. —
[[211]]
Die Vertheilung der Pflanzen auf der Erdoberfläche.
Wenn wir die Erdkugel durch einen größten Kreis in zwei Hälf-
ten theilen, ſo daß die eine Hälfte die größtmögliche Fläche feſten
Landes umfaßt, ſo liegt ſeltſamer Weiſe London gerade im Mittel-
punct dieſer Hemiſphäre. Können wir wohl einen beſſern Ausgangs-
punct wählen, wenn wir uns zu irgend einem Behufe einen Ueber-
blick über die Erde verſchaffen wollen? Wir treten ein in dieſe Metro-
pole des Handels, nach dem unruhigen Umhertreiben ſuchen wir Er-
holung im St. James Park und wenden uns von da über die Carl-
ton Teraſſe in die Regentſtraße. Eine Geſellſchaft etwas fremdartig
ausſehender Männer verführte uns, mit ihnen in Pall Mall einzubiegen
und ein neues Prachtgebäude zwiſchen dem Athenäum und Reform-
Club-Hauſe zu betreten. Es iſt der Verſammlungsort des Travellers-
Club. In England verfolgt Jeder mit Freiheit ſeine Launen. Lord
Ruſſel ſetzt ſeinen Ruhm darin, Führer eines Whigparlaments
zu ſeyn, O'Connel in die Aufregung der Irländer, Oberſt Sib-
thorp in ſeinen Schnurrbart, Graf D'Orsay in ſeinen Backenbart
und Lord Ellenborough in ſeine Locken, die Mitglieder des Travel-
lers Club kennen keinen andern Ehrgeiz, als weit gereiſt zu ſeyn und
die Kellner im Club-Hauſe erhaſchen ſpielend aus den Geſprächen
der Gäſte mehr geographiſche Kenntniſſe, als wenn ſie Jahre lang
Ritters fleißige Schüler geweſen wären. Warum ſollten nicht auch
wir von der Gelegenheit Nutzen zu ziehen ſuchen. Wir treten zu
einem Tiſch an welchem drei Männer im eifrigen Geſpräche ſitzen,
deren ſonnenverbrannte Geſichter ſogleich die leidenſchaftlichen Sports-
men verrathen, die einer bloßen Tagslaune nachjagend oft An-
14*
[212] ſchauungen ſammeln, um welche viele Naturforſcher ſie beneiden
würden.
„In der Mitte des Octobers vorigen Jahres, erzählt der Eine,
durchſtrich ich die wunderlieblichen Berge von Morray. Vor mir
lag einer jener ſtillen, ſpiegelhellen Gebirgsſeen, welche jene Graf-
ſchaft zieren, an deſſen einem Ufer ſich eine weite, mit Moos und
Rietgräſern und mit dem weißhäuptigen Wollgraſe bedeckte Moor-
niederung hinzog, während das andere Ufer ſich in maleriſchen Ab-
ſtürzen zu grauen wilden Felſen, ſpärlich mit Birken und Haſelbüſchen
beſetzt, erhob und zuweilen zu hohen Klippen aufſtieg deren Gipfel
die Raben krächzend umkreiſten. Der dichte Herbſtnebel begann all-
mälig vor der Sonne zu fliehen, die in den leicht bereiften Büſchen
und Hecken in tauſend Diamanten funkelte. Zu phantaſtiſchen Ge-
ſtalten dicht zuſammengeballt zog ſich die leichte Dunſtſchicht durch
die Schluchten der Berge und ließ die benachbarten Hügel im düſtern
Braunroth des Haidekrauts erglänzen oder drängte ſich höher hinauf
im Gebirge durch die lichten, kräftigen Kämme der ſchottiſchen Fich-
ten, die in immer beſtimmteren Zügen hervortraten. Lange hatte ich
das Spiel einer beſonders wunderlich geſtalteten Wolke verfolgt, als
ſie plötzlich vom leichten Morgenwinde zuſammengewirbelt und zu-
rückgeworfen eine Hügelfläche frei ließ, auf welcher in ruhiger Maje-
ſtät ein prachtvoller Sechszehnender gelagert war. Mein erſter Ge-
danke war mich ſeinem Anblick zu entziehen, indem ich mich nieder-
warf und rücklings eine kleine Böſchung herabkroch bis ich nur noch
die Spitzen ſeines Geweihs erblicken konnte. Seine Stellung war
die unvortheilhafteſte, die ſich denken ließ und meine Hoffnung, mich
ſeiner zu bemächtigen, beruhte nur auf einem kleinen Bach, der ſich
zwiſchen mir und ihm hinſchlängelte und ſich dann über einen ſteilen
Abſturz in den See ergoß. Mit einem bedeutenden Umweg gelangte
ich unbemerkt in ſein Bette, deſſen ſteile Wände mich verbargen, ſo daß
ich, immer die Spitzen des Geweihs als Zielpuncte im Auge, mich
bis auf etwa 100 Schritte an ihn heranſchleichen konnte. Hier hatte
ich den vollen Anblick des ſchönen Thieres, wie es dalag, hingeſtreckt
[213] zwiſchen rother Haide und graugrünen Binſen unbeweglich und nur
zuweilen ſich mit dem Gehörn die Weichen reibend. Endlich richtete es
ſich auf, ſtreckte ſich und ſchritt langſam auf eine Biegung des Baches
zu, von welcher ich nur durch einen flachen, ſchmalen Hügel, um
den ſich dies Waſſer herumwand, getrennt war. Ich griff zur Flinte,
wechſelte aus Vorſicht das Zündhütchen und kroch ſoweit das Ufer
hinan, daß ich das Wild etwa 50 Schritt vor mir bis an die Knie
im Waſſer ſtehend und in langen Zügen trinkend erblickte. Ich feuerte
auf den Hals dicht am Kopf. Es ſtürzte in die Knie, erhob ſich aber
ſogleich wieder und ſprang einen Hügel hinan, doch ſchon zu matt
für dieſe Anſtrengung wankte es, kehrte zum Bache zurück und ſtürzte
anſcheinend todt, wenige Schritte von mir, häuptlings in das tief
eingeſchnittne Bette. Ich warf die Flinte fort und warf mich mit einem
Freuderuf und mit gezücktem Waidmeſſer auf meine, wie ich glaubte,
ſichere Beute. Aber kaum berührte ich das edle Thier als es aufſprang
und mich mit einem Stoße rückwärts gegen die Steine ſchleuderte,
daß ich nur mit Mühe und ſchmerzenden Gliedern mich wieder erheben
konnte. Ich war betäubt und in einer unangenehmen Lage. Hinter
mir der ſteile Abſturz, über welchen der Bach ſein Waſſer in den See
ergoß, vor mir das zornige Thier von Schweiß und Waſſer triefend
und wie es ſchien zu einem neuen Stoß ſich anſchickend. So ſtarrten
wir einige bange Minuten Einer in des Andern Auge, bis ich mich
etwas erholte und ſchnellen Entſchluſſes mit ſo raſcher Wendung mich
auf den Uferrand ſchwang, daß mein Gegner nicht Zeit behielt ſeinen
Stoß zu vollführen. Nun ſchlug ich von oben her dem ſchon matten
Thier mein Plaid um Kopf und Augen, und warf mich abermals
auf ihn. Aber erſt nach verzweifelter Gegenwehr von ſeiner Seite
gelang es mir ihm den Genickfang zu geben und erſchöpft ſank ich
neben meine Beute in das feuchte Moos nieder.“
„Es iſt nichts Seltnes, begann der Zweite, daß ein ſo edles und
ſtarkes Thier den Jäger in gefährliche Verlegenheit bringt, ich erlebte
aber im vorigen Jahre den lächerlichſten Auftritt in dem ohne meine
Dazwiſchenkunft hoffnungsloſen Kampf eines Mannes mit einem der
[214] ſchwächſten und feigſten Thiere. An einem ſchönen Sonntage durchſtrich
ich frühmorgens die weiten Ebenen von Gippsland. Meine Ge-
danken waren durch die Eigenthümlichkeiten der mich umgebenden Natur
ganz von meinem eigentlichen Zwecke der Jagdluſt abgezogen. Zuerſt
führte mein Pfad durch jene ſchattenloſen Wälder Neuhollands von
blattloſen Caſuarinen und von den ſchwachbelaubten Eucalyp-
ten und Cajuputbäumen gebildet, deren ſchmale Blätter noch dazu
in ſeltſamer Verdrehung nicht ihre Fläche, ſondern ihre Kanten nach
Oben und Unten richten. Mit Bewunderung belauſchte ich die ſelt-
ſame Thierwelt der Inſecten, unter denen beſonders eine Heuſchrecken-
form, die vollkommen einem wandelnden Strohhalme glich, meine
Aufmerkſamkeit feſſelte. Nun trat ich auf eine weite ſandige Fläche,
zum Theil mit dem wunderlichen Grasbaum*) bedeckt. Die meh-
rere Fuß hohen Stämme tragen auf ihrer Spitze einen Büſchel rieſen-
mäßigen Graſes, aus deſſen Mitte ſich 14—20 Fuß hoch der den
Blüthenkolben tragende Schaft erhebt. — Zuweilen wurde der Boden
feucht und die Vegetation, obwohl nur niedriges Buſchwerk, faſt
undurchdringlich dicht. Nur hin und wieder erhoben ſich mit pracht-
vollen goldgelben Blüthenbüſcheln ſüßduftende Acacien**), oft vom
wilden Wein***), wie von rieſigen Stricken dicht verſchlungen. Auf et-
was lichteren Stellen breitete der Lyraphaſan ſein prunkvolles Gefie-
der aus und gefiel ſich darin, die ſämmtlichen Naturlaute dieſes eigen-
thümlichen Landes, das Geſchrei verſchiedner Vögel, das Bellen der
wilden Hunde, das Schreien der Cicaden täuſchend in unermüdlicher
Ausdauer nachzuäffen. Mit einiger Mühe hatte ich mich durch dieſes
Dickicht durchgearbeitet und erreichte jetzt ein ſumpfiges Gebiet, wel-
ches aber ausgetrocknet durch die glühende Sonne nur noch einzelne
Pfützen und Bächelchen zeigte, die mit dichten Gebüſchen rieſiger Riet-
gräſer und breitblättrigen Schilfes abwechſelnd dem ſeltſamen Natur-
ſpiele, dem Schnabelthiere, zum Aufenthalt dienen. Auf dem etwas
[215] beſſern Raſen feſſelte eine freundliche Erinnerung an die ferne Hei-
math, die einzige in dieſem fremdartigen Lande, meine Blicke und eben
bückte ich mich um dankbar das einſame kleine Marienblümchen zu
pflücken, als ein lauter Hülferuf mit Geſchrei und Flüchen gemiſcht,
mein Ohr traf. Ich eilte nach dem Orte hin, woher die in dieſer
Wildniß überraſchenden Töne zu kommen ſchienen und war nicht
wenig erſtaunt über das was ich entdeckte. In der Mitte eines Waſ-
ſertümpfels ſtand ein feiſter männlicher Känguruh 7 Fuß hoch auf-
recht auf ſeinen Hinterfüßen und am Ufer vor ihm lag ein zerfleiſch-
ter, aus vielen Wunden blutender Hund. Ich griff zur Flinte und
legte an, als meine Aufmerkſamkeit abgelenkt wurde durch das Antlitz
eines Menſchen, welcher zerkratzt und blutig ſich zwiſchen den Binſen
des Ufers zeigte. Sogleich ſprang ich zu Hülfe, aber während ich
den Menſchen aus dem Schlamm hervorzog hatte der „alte Mann*)“
ſein Heil in der Flucht geſucht und war unſern Blicken entſchwunden.
Die Wunden des unglücklichen Jägers waren zum Glück weniger ge-
fährlich als ſie ausſahen und er hatte ſich bald erholt, ſo daß er mir
ſeine Abentheuer erzählen konnte. Frühmorgens hatte er ſich ohne
Flinte, nur von ſeinen Hunden begleitet, auf die Känguruhjagd bege-
ben. Bald hatten die Hunde ein Rudel aufgeſpürt und verfolgt, aber
nur einer derſelben war zu ſeinem Herrn zurückgekehrt. Nichtsdeſto-
weniger hatte er ſeinen Waidgang fortgeſetzt und bald den „alten
Mann“ aufgetrieben, auf den er ſeinen Hund anhetzte. Das alte
kluge Thier aber ſtatt zu fliehen, ſtellte ſich an jener Lache und hielt
ſich mit den Vorderpfoten den Hund vom Leibe. Um nicht müſſig zu
ſeyn verſuchte der Jäger einen Angriff von Hinten durchs Waſſer,
aber das einmal gereizte Thier wendete ſich auch gegen ihn, zerkratzte
ihm das Geſicht und warf ihn rücklings in die Lache. — Jedesmal,
wenn er verſucht hatte ſich wieder zu erheben, drückte ihn der „alte
Mann“ wieder mit dem Kopf unter das Waſſer, ſo daß er ohne
meine Dazwiſchenkunft rettungslos ertrunken wäre. Inzwiſchen hatte
das Thier wahrſcheinlich den Hund bei einem erneuerten Angriff
[216] kampfunfähig aus Ufer hingeſtreckt. Nachdem der Jäger ſich von
Schlamm und Blut gereinigt, wendeten wir unſern Beiſtand dem ge-
fährlich verwundeten Hund zu und trennten uns endlich, jeder ſeinen
eigenen Weg verfolgend und der Jäger ſchwörend, daß er nie wieder
ohne Flinte mit einem „alten Mann“ anbinden wolle.“
„So niedlich ſolche Erzählungen ſich im Damenkreiſe ausnehmen
mögen, hob der Dritte an, ſo ſollte der Mann doch darüber hinaus
ſeyn in ſolchen Trivialitäten Genuß zu finden. Nur wenn das Leben
täglich und ſtündlich aufs Spiel geſetzt wird, wenn die Gefahren in
allen Formen ſich zeigen, läßt ſich von einer Aufregung reden, die eine
würdige Unterhaltung des Mannes ſeyn kann, und wo fände man
das in dem Maaße wie bei einer Wallfiſchjagd auf den nordiſchen
Meeren. Mit Luft denke ich noch jetzt an eine Scene zurück, welche
im vorletzten Winter bald auf eigenthümliche Weiſe meinem Leben
ein Ende gemacht hätte. Wir hatten bereits 16 Tage bei einem
furchtbaren Sturme am Eingang der Baffinsbay gekreuzt. Die Take-
lage ſtarrte von Eis, die Seiten des Schiffes waren mit großen glän-
zenden Maſſen überzogen. Die Mannſchaft war halb erfroren und
wir konnten keinen Strick durch einen Block bewegen ohne vorher
heißes Waſſer darüber gegoſſen zu haben. Wir hatten wenig Tages-
licht wegen des dichten Nebels, aber noch furchtbarer waren die langen,
ſchauerlichen Nächte, wenn das Schiff ſich auf den ſchwarzen Wellen
bergan erhob und dann wieder hinabſtürzte in die Tiefe, ſo daß wir
jeden Augenblick fürchten mußten an den Eismaſſen zu zerſchellen,
welche der heulende Sturm wie fahl leuchtende und ſchäumende Nacht-
dämonen zu unſerer Vernichtung geſendet über die brauſende Waſſer-
fläche dahinjagte. Eines Morgens gegen Ende des Sturms nach
einem friſchen Schneefall näherte ſich uns mit erſchreckender Ge-
ſchwindigkeit ein 500 Fuß hoher Eisfelſen, ſchon war er in gefahr-
drohender Nähe, da erſcholl plötzlich der Schreckensruf: Er wendet
ſich!*) Da kam er näher, ſeinen wankenden Gipfel langſam auf un-
[217] ſere Häupter niederbeugend. Unſer Schickſal ſchien entſchieden, die
ganze rieſige Eismaſſe ſank auf unſer Schiff herab und mußte uns in
Stuͤckchen zerſchmettern. Wir alle fielen auf unſere Knie, ſtill betend
und den entſetzlichen Augenblick erwartend; ſelbſt der Steuermann
kniete, ohne aber das Steuerruder aus den Händen zu laſſen. Schon war
der Eisfelſen halb übergebogen, als er ſich durch eine ungleiche Schwere
ſeiner untergetauchten Theile drehte und in demſelben Augenblick etwa
auf Kabellänge hinter unſerm Spiegel ins Meer ſtürzte, das Waſſer
in Schaummaſſen bis über die Maſtſpitzen ſchleudernd und uns
alle blendend durch die Gewalt, mit welcher die eiſigen Tropfen in
unſer Geſicht geſpritzt wurden. Eine Minute lang ſchienen die Wogen
in ihrem Laufe gehemmt, die See ſchien zu kochen, das Schiff zitterte
und ſchwankte und ſelbſt der Sturm ſchien geſtört, denn die Segel
klapperten an den Maſten und warfen das Eis ab, mit welchem ſie
ſo lange bedeckt geweſen waren. Da brach plötzlich die Sonne durch
einen Wolkenriß und mit der eigenthümlichen Roſenfarbe des rothen
Schnees*) breitete ſich vor uns eine weite Küſte aus, die dem müden
Schiffer eine kurze Raſt verhieß.“ —
Welche contraſtirende Bilder führen uns dieſe Erzählungen vor,
wie muß es zum Nachdenken auffordern, wenn wir bemerken, daß in
jeder dieſer drei Skitzen die Naturverhältniſſe, Klima, Pflanzen und
Thierwelt ſolche ſind, daß ſie in einer der Andern gar nicht vorkommen
könnten. Ja die einzige Uebereinſtimmung, die ſelbſt dem Laien auf-
fiel, das Vorkommen eines unſcheinbaren Blümchens unſerer Wieſen,
gerade in dem eigenthümlichſten und fremdartigſten Lande, welches
wir bis jetzt auf der Erde haben kennen lernen, kann nur dazu bei-
*)
[218] tragen unſer Erſtaunen noch zu ſteigern. — Bunt, formen- und far-
benreich iſt der Teppich der Natur, aber gewiß nicht aus einzelnen
Lappen regellos zuſammengeſtückt, ſondern wie eine Stickerei von
künſtleriſchen Händen, nach einem ſchönen Plan gewirkt. Wenn wir
aber uns vorſtellen, daß eine mit Sinn und Faſſungskraft begabte
Mücke auf einem koſtbaren Gobelin umherkröche und aus den farbigen
Pünctchen, die ſie einzeln nicht einmal ganz zu überſehen vermag,
ſich ein Bild des Ganzen entwerfen, die Zeichnung und Farbengebung
verſtehen und beurtheilen ſollte, wir würden zugeſtehen, daß ſie das
größte Genie ſeyn müßte, das je gelebt. Und in wie viel unvortheil-
hafterem Verhältniſſe ſteht der Menſch zur ganzen Erde. Wie Viele
haben hier ihre Beobachtungen zuſammentragen müſſen, um nur ganz
kleine Theile vorläufig überſehen und erkennen zu lehren, wie viele
Meiſter werden noch ihr Leben daran ſetzen müſſen, bis uns eine
völlige Kenntniß des Ganzen gewonnen iſt. Kaum können wir zur
Zeit mehr thun, als die einzelnen Bilder jener Jäger vermehren und
etwas genauer auszeichnen.
Ein Brauersſohn aus Huntingdon Oliver Cromwell ſchwang
ſich in wenigen Jahren zum unumſchränkten Herrſcher von Großbrit-
tanien auf, und ſchrieb ſelbſt dem halben Europa durch die Macht
ſeines Geiſtes Geſetze vor. Die Tradition ſagt, daß ihn dabei eine
ihm ſchon in früher Jugend eigne Redensart geführt: „Der kommt
am weiteſten, der nicht weiß, wo er hin will.“ Man kann dieſen
Spruch in einer weniger paradoxen Sprache ſo ausdrücken, daß der
Menſch in ſeinen Angelegenheiten nur dann etwas Tüchtiges erreicht,
wenn er ſich von vorn herein die höchſte Aufgabe, das unerreichbare
Ideal als Ziel ſteckt. In dieſer Weiſe aber können wir auch Crom-
wells Lebensſpruch als Führer in jeder Wiſſenſchaft betrachten und
wir werden finden, daß er auch hier ſeine Macht keineswegs ver-
leugnet. Im erſten Augenblick mag man freilich glauben, daß es gar
leicht ſey, einer ſolchen Anforderung nachzukommen. Es iſt ſo ſchwer
nicht ſich das ethiſche, oder wenn man lieber will, das umfaſſendere
chriſtliche Ideal auszuzeichnen und hinzuſtellen, aber gleichwohl ge-
[219] wiß, daß nichts deſto weniger in dieſer Beziehung von dem einzelnen
Menſchen gar wenig erreicht wird. Man wird daraus den Schluß
ziehen, daß es bei Weitem weniger auf die richtige Kenntniß des Ziels
als vielmehr auf die Thätigkeit, durch welche wir daſſelbe erſtreben, an-
komme. — Man verwechſelt dabei aber zwei weſentlich verſchiedene
Standpuncte mit einander und leider geht dieſe Verirrung durch einen
großen Theil unſerer wiſſenſchaftlichen Beſtrebungen durch und bringt
ein gutes Theil des Mißverſtandenen, Unklaren und Falſchen in un-
ſere Beurtheilungen hinein. Die Sache liegt ſo. An den auf Erden
lebenden Menſchen wird eine gedoppelte Anforderung, für geiſtige
Thätigkeit und Entwicklung, geſtellt. Die eine betrifft das ethiſch-
religiöſe Element, die andere ſeine wiſſenſchaftliche Ausbildung.
Beide greifen ineinander und unterſtützen ſich gegenſeitig; beide ſind
aber ihrem Urſprung, ihrem innerſten Weſen nach ganz getrennt und
haben eine unendlich verſchiedene Bedeutung, entſprechen einer un-
endlich verſchiedenen Werthgebung für den Menſchen. — Die ethiſch-
religiöſe Entwicklung bezieht ſich auf den ewigen und unverderblichen
Antheil des Menſchen auf ſeine ewige Seele, alſo auf das eigentliche
nie aufhörende Ich. — Hier ſtellt ſich eine allgemeine und nothwen-
dige Anforderung an jeden Menſchen, es iſt der Punct wo wir alle
vor Gott gleich, gleich berechtigt und gleich belaſtet ſind und zwar
deshalb gleich, weil die einfachſte Selbſtverſtändigung ſchon hinreicht,
die Aufgabe, das Ideal vollkommen und rein zu faſſen und auszu-
ſprechen. Wir finden deshalb hierin auch keinen nennenswerthen Fort-
ſchritt in der Geſchichte der Menſchheit. Von den älteſten bis auf die
neueſten Zeiten ſind hier die Anforderungen in gleicher Weiſe, nur
bald ſo, bald ſo im Ausdruck verſchieden geformt, klar und beſtimmt
hingeſtellt worden. Hier iſt allerdings das Wichtigſte für den Ein-
zelnen, jenen Anforderungen zu entſprechen und ſich dadurch, daß er
ihnen entſpricht, als Menſch im edleren Sinne des Wortes, als ein
zur höheren Vollendung und zu ewiger Dauer beſtimmtes Weſen zu
legitimiren. Ohne dieſe Legitimation hat er keine Berechtigung auf
Achtung, auf Anerkennung irgend einer Art, und möchte er in Bezug
[220] auf den zweiten, gleich zu erwähnenden Punct eine auch noch ſo hohe
Stufe erſtiegen haben. —
Die zweite Anforderung, die an die Menſchen geſtellt iſt, bezieht
ſich dagegen auf ihre Ausbildung für ihren beſchränkten Standpunct
auf der Erde. Hier iſt die Aufgabe, jede körperliche und geiſtige Seite
unſeres Weſens zur vollkommenſten Ausbildungsſtufe zu erheben, um
dadurch die Erreichung des erſtgenannten Ziels zu erleichtern und zu
ſichern. Hierher gehören alle Wiſſenſchaften, die die Verhältniſſe für
Staat und Kirche, für Natur und Kunſt, Genuß und Bequemlichkeit
ordnen und fördern; Alle zuſammen, mag man ſie übrigens unter den
Menſchen hoch oder niedrig ſchätzen, ſtehen darin auf einer und der-
ſelben nichtigen Stufe, daß ihre Bedeutung ſogleich mit dieſem Leben
aufhört, daß ſie nur hier auf unſerem kleinen Sonnenſtäubchen der
Erde, Geltung und Werth haben. Hier mag einer Großes geleiſtet
haben, es giebt ihm nicht den leiſeſten Anſpruch auf meine Achtung,
meine Anerkennung, wenn er der höheren Anforderung ſittlich reli-
giöſer Ausbildung nicht nachgekommen iſt. Was er etwa als Künſt-
ler, als Gelehrter geleiſtet, ich nehme es an und verwende es für
meinen Nutzen, aber ohne Dank, wie ich das Geldſtück einſtecke, was
ich finde, während ich den Schmutzwiſch, in den es gewickelt war,
mit Ekel von mir werfe. Was auf jenem Gebiete erlangt wird, be-
ſchließt ſich im Individuum, mit dem dieſelbe Entwicklung ſtets wieder
von Neuem beginnt, giebt ihm und nur ihm einen Werth. Was hier
allmälig errungen iſt gehört nicht dem Einzelnen, ſondern der Menſch-
heit und eine Zeit knüpft da an, wo die vorige aufhörte. Die Leiſtung
des Einzelnen hat zwar Werth für die Menſchheit, ſie verleiht aber
dem Einzelnen ſelbſt keinen Werth.
Auf der andern Seite darf ich meine Achtung, meine Anerken-
nung eines edlen, geiſtigen Weſens auch dem nicht entziehen, der
durch ſittlich religiöſes Leben ſeine Berechtigung auf dieſe Anerken-
nung erwieſen hat, mag er auch noch ſo wenig in irgend einem
anderen Zweige menſchlicher Ausbildung erreicht haben. Die letz-
tere Anforderung iſt nämlich keine nothwendige und gleiche für alle
[221] Menſchen, ſondern vielfach modificirt, nach unzähligen Abſtufungen
in äußeren Bedingungen, in Hemmungen und Begünſtigungen. Sie
iſt deshalb keine allgemein gleiche und nothwendige, weil hier gerade
umgekehrt die Erkennung der Aufgaben, die Stellung der zu löſenden
Fragen, das bei Weitem Schwierigſte iſt und natürlich nur von dem
eine richtige Antwort erwartet werden kann, dem die richtig geſtellte
Frage vorlag. Insbeſondere gilt dies nun aber für alle naturwiſſen-
ſchaftlichen Disciplinen und man könnte mit wenig Uebertreibung
ſagen, fragt nur richtig, ſo bleibt die Naturwiſſenſchaft keine Antwort
ſchuldig. Ihre Mangelhaftigkeit, ihr verhältnißmäßig noch ſo be-
ſchränkter Standpunct liegt nur darin, daß die Fragen ſo ſchwierig
richtig zu ſtellen ſind. Es ſammeln ſich Reihen von Thatſachen, die
ſichtbar verwandter Natur ſind; wird ihre Menge bedeutend ſo faßt
man ſie in ſyſtematiſcher Ordnung zu einer ſogenannten Wiſſenſchaft
zuſammen, aber die Forſcher irren ohne Halt und Ziel hierhin, dort-
hin, das Material wird angehäuft und dennoch kommt die Wiſſen-
ſchaft um keinen Schritt weiter. Da tritt ein mit eminentem Genie
begabter Mann oder oft auch nur ein durch den Zufall begünſtigter
Glücklicher dazwiſchen und nennt das Räthſel, um deſſen Löſung man
ſich ſchon lange gequält, ohne es noch zu kennen und nun plötzlich
richtet ſich alle geiſtige Kraft der Forſcher dieſem einen Punct zu,
Schlag auf Schlag fallen die Schranken, mit Riefenſchritten geht
die Wiſſenſchaft vorwärts bis ſie wieder überall den Ausweg ver-
ſchloſſen, überall eine gleiche und undurchdringliche Mauer ſich ent-
gegengeſtellt ſieht und nun auf höherer Stufe dieſelbe Entwicklungs-
geſchichte aufs Neue durchmachen muß, bis abermals ein neuer
Führer an die rechte Stelle klopft, wo die Mauer hohl klingt und
dadurch die Möglichkeit eines weitern Fortſchritts verräth. So haben
wir auf dem ethiſch-religiöſen Gebiet Aufgaben, aber wir ſuchen die
Wiſſenſchaften, die ihre Löſung ſichern; — auf der andern Seite, da-
gegen haben wir zahlreiche Wiſſenſchaftrn, die ſich aber ſtets im Kreiſe
herumdrehen, bis bald dieſer, bald jener von der Vorſehung eine neue
Aufgabe genannt und ſie ſo zu einem Fortſchritt befähigt wird.
[222]
Einen treffenden Beleg für dieſe Anſichten bietet uns zum Bei-
ſpiel die Pflanzengeographie dar. Schon in den früheſten Zeiten der
Botanik merkte man natürlich bei jeder Pflanze, welche man beſchrieb
an, wo ſie zu finden ſey, aber Niemand ahnte noch in dieſen Be-
merkungen die Keime einer Wiſſenſchaft. Da machte der geniale
Botaniker Tournefort eine Reiſe in die Levante und bei Beſteigung
des Ararat fiel es ihm auf, daß mit ſeiner allmäligen Erhebung
über der Meeresfläche die Vegetation auch einen weſentlich verſchie-
denen Character annahm, und daß dieſe Veränderungen nahebei dem
entſprechen, was man beobachtet, wenn man von Kleinaſien nach
Lappland reiſt. Hier war ein Räthſel genannt und eifrig ging man
an die Löſung. Adanſon, nicht minder ausgezeichnet als Tourne-
fort, ſprach es zuerſt aus, daß die Doldenpflanzen innerhalb der
Wendekreiſe faſt gar nicht vorkommen und damit war eine Frage hin-
geworfen, die abermals ihre Antwort erwartete. — Im Jahr 1807
erſchien Humboldtsessai sur la geographie des plantes, worin
er die beobachteten Eigenthümlichkeiten in der Vertheilung der Ge-
wächſe mit den Beſonderheiten des Climas in Verbindung zu bringen
ſuchte. Aber erſt 10 Jahre ſpäter, nachdem ſich abermals die Maſſe
der Thatſachen gehäuft hatte, ohne daß man etwas weſentlich Neues
damit zu beginnen wußte, that abermals Humboldt den letzten
Schritt, indem er mit einem genialen Blick die ganze Erde umfaſſend
die Pflanzengeographie einer Theorie der Erde einfügte und die Ver-
theilung der Pflanzen im Großen wie im Kleinen von der phyſicali-
ſchen Beſchaffenheit der Erde abhängig machte. Damit zuerſt war
nicht etwa die Wiſſenſchaft vollendet, ſondern erſt begonnen, ſie hatte
einen beſtimmten Ausgangspunct erhalten, was aber ihr Endziel ſeyn
wird iſt zur Zeit noch ſchwer, wo nicht unmöglich, zu entwickeln.
Wenigſtens iſt es ſehr leicht an einigen Beiſpielen nachzuweiſen, daß
für die ganze eine Hälfte der Erſcheinungen noch keine Andeutungen
vorhanden ſind, woher, aus welchem Kreiſe von Naturgeſetzen der-
einſt die Erklärungsgründe für ſie zu entlehnen ſeyn werden.
Dieſſeits der Alpen wachſen keine Orangen. Ueber die
[223] Breite von Berlin hinauf reift keine Traube mehr. In
Schonen und auf der ſüdlichſten Spitze Norwegens erreicht
die Buche ihren nördlichſten Standort. Von Biornoe, nörd-
lich von Drontheim, zieht ſich eine Linie quer durch Nor-
wegen, durch Jämtland und Herjedalen, welche im nörd-
lichen Theil von Gefleborg die Oſtküſte von Schweden ſchnei-
det und dem Anbau des Weizens nach Norden eine unüberſteig-
liche Schranke ſetzt. Höher hinauf bildet die Kiefer die Baumvege-
tation, aber wo ſelbſt die genügſame Birke zuletzt nicht mehr gedeiht,
da erlaubt noch ein kurzer, aber wenigſtens zuweilen warmer Som-
mer die Cultur der raſch wachſenden Gerſte. Für dieſe ganze Reihe
von Thatſachen iſt es nicht ſchwer die Erklärungen aufzufinden, ſie
ſind durchaus abhängig von klimatiſchen Einflüſſen und ſchon allein
eine genaue Unterſuchung der Temperaturverhältniſſe genügt, um von
allen dieſen Thatſachen erklärende Rechenſchaft ablegen zu können. —
Ganz anders verhält es ſich mit den folgenden Erſcheinungen. Von
der Südſpitze von Africa bis zum Nordcap auf Mageroe ziehen
ſich durch die ganze alte Welt die Haidepflanzen, nur die eigentli-
chen Tropengegenden überſpringend. In gleichen Breiten, bei gleichem
Clima, gleichen Bodenverhältniſſen finden wir in ganz America nicht
eine einzige ächte Haideart. Andere ihnen verwandte Pflanzen ver-
treten ihre Stelle, Pflanzen, die wenigſtens derſelben Familie (den
Ericeen) angehören; gehen wir aber nach Auſtralien, ſo finden
wir unter entſprechenden Verhältniſſen auch nicht einmal eine Ericee,
an deren Stelle eine andere zwar verwandte, aber doch ganz eigen-
thümliche Pflanzenfamilie der Epacrideen, auftritt. In einem
kleinen Winkel Aſiens wächſt die Theeſtaude und gewiß iſt es nicht
der Mangel an entſprechenden climatiſchen Einflüſſen in der ganzen
übrigen Welt, der den Thee auf China beſchränkt. Ein ſchmaler
Gürtel an den Anden der nördlichen Hälfte von Südamerica wächſt
das Geſchlecht der Chinarindenbäume, ſollte die ganze Erde
weiter keinen Fleck aufzuweiſen haben, auf welchem gleiche Tempera-
[224] tur und Bodenverhältniſſe ſich zuſammenfänden? Doch genug, ſchon
ein einziges Beiſpiel würde hinreichen, darauf aufmerkſam zu machen,
daß es eine Vertheilungsweiſe der Pflanzen auf der Erde giebt, die
von den uns bekannten Bedingungen der Vegetation nicht hervor-
gerufen, durch dieſelbe nicht erklärt wird. — Wir erhalten hier
nebeneinander zwei ganz verſchiedene Gruppen von Kenntniſſen, die
ſich auf dieſelben Pflanzen beziehen, denn jede zeigt in ihrer Weiſe
beide Arten der Verbreitung. Es liegen neben einander eine auflös-
liche und eine unauflösliche Aufgabe, die erſtere auflöslich, weil die
Frage beſtimmt geſtellt werden konnte und durch A. v. Humboldt
geſtellt iſt: nämlich die Abhängigkeit der Verbreitung der Pflanzen
von den phyſicaliſchen Verhältniſſen des Erdkörpers, — die zweite
unauflöslich, weil wir eben keine beſtimmte Aufgabe, deren Löſung
ſich die Forſchung zuwenden könnte, aufſtellen [könne]. In der erſten
Beziehung können wir daher die ſämmtlichen Thatſachen in einen
erklärenden Zuſammenhang bringen, aus dem letzten Geſichtspunct
erhalten wir dagegen nichts als ein Aggregat unter ſich unzuſammen-
hängender, zur Zeit noch keiner Erklärung fähiger, aber vielleicht eben
deshalb um ſo mehr das Intereſſe in Anſpruch nehmender That-
ſachen. — Es ſey mir erlaubt in beiden Beziehungen das Verhältniß
der Pflanzen zur Oberfläche der Erde in einer flüchtigen Skitze zu
zeichnen und zum Schluß mit etwas größerer Ausführlichkeit gleich-
ſam als ein mehr durchgeführtes Beiſpiel, die Verbreitung der wich-
tigern Nahrungs- und Nutzpflanzen auf der Erde zu ſchildern. —
Abhängigkeit der Pflanzenvertheilung von
phyſicaliſchen Verhältniſſen.
Vom kleinſten, beſchränkteſten Kreiſe müſſen wir hier ausgehen,
um uns zuletzt über die ganze Erde auszubreiten. Der kleine Anfang
der umfaſſenden Pflanzengeographie iſt die alltägliche Frage: wo
wächſt die Pflanze? und jede Botanik handelt mehr oder weniger
oberflächlich ein Kapitel von den ſogenannten Standorten, dem
Wohnort und Vaterland der Pflanze ab. Schon bei dieſen erſten
[225] Anfängen der Wiſſenſchaft iſt erſt nach und nach Licht und Ordnung
in die Begriffe gekommen und noch wohl iſt Vieles verworren, was
erſt Spätere aufklären werden. Zweierlei iſt aber weſentlich zu unter-
ſcheiden. Die Haidepflanzen kommen vor auf trocknen, ſonnigen,
ſandigen Ebenen, ſie verbreiten ſich vom Cap der guten Hoffnung
durch Africa, Europa und das nördliche Aſien, bis an die äußerſten
Vegetationsgrenzen in Scandinavien und Sibirien, in dieſem großen
Gebiet vertheilen ſich dieſe Pflanzen, ſo daß Südafrica unzäh-
lige, verſchiedene Arten hat, von denen aber ſtets nur wenige Indivi-
duen neben einander wachſen, daß dann gegen Norden die Zahl der
Arten ſich plötzlich bedeutend verringert, dagegen allmälig die Menge
der Individuen zunimmt, bis endlich im Norden Europas eine ein-
zige Art, die gemeine Haide *), in Millionen von Einzelweſen ganze
Länder überzieht. Zunächſt ſehen wir leicht, daß nur die erſte Be-
ſtimmung, die des Vorkommens nämlich, ſich mit Nothwendig-
keit auf jedes Individuum bezieht; daß dagegen der Verbreitungs-
bezirk und die Vertheilungsweiſe Momente hervorhebt, welche
für das einzelne Individuum gar keine, deſto größere Bedeutung da-
gegen für die größeren Pflanzengruppen haben, die wir Art, Ge-
ſchlecht, Zunft u. ſ. w. nennen. Hiervon gehört aber nur das erſte,
das Vorkommen der Pflanzen ganz, die beiden andern dagegen nur
theilweiſe zu den aus phyſicaliſchen Einflüſſen erklärlichen Verhält-
niſſen, gleichwohl müſſen wir uns fürs Erſte mehr an jene Ordnung
halten, da ſie eine logiſch ſtrenge iſt, die für unberechenbar lange
Zeit unverrückbar ſtehen bleiben wird, während natürlich die letzte
Anordnung nur für den jedesmaligen Stand der Wiſſenſchaft ihre
Gültigkeit hat. — Wenn wir nämlich die verſchiedenartigen Einflüſſe
überblicken, von denen das Leben und die geſunde Vegetation einer
Pflanze nach unſern gegenwärtigen phyſiologiſchen Kenntniſſen ab-
hängig iſt, ſo finden wir bald, daß nur eine geringe Anzahl phyſica-
liſcher Kräfte bis jetzt in ihrer Wirkung auf den Organismus von
Schleiden, Pflanze. 15
[226] uns durchſchaut wird, daß dagegen eine nicht minder große Anzahl
noch zur Zeit durchaus unſern Bemühungen um nähere Kenntniß
ihrer Einwirkungen ſpottet, obwohl wir mit Sicherheit behaupten
dürfen, daß das Pflanzenleben ſo gut von ihnen wie von den andern
abhängig iſt und ſeyn muß. Nur Beiſpielsweiſe will ich hier Licht,
Electricität und Luftdruck nennen. Die beiden erſten als beſtändig
einwirkend auf jeden chemiſchen Proceß, der letztere für ſämmtliche
Vorgänge und Verhältniſſe zwiſchen Gasarten und Dünſten von
weſentlicher Bedeutung, müſſen auch das Pflanzenleben, welches in
fortlaufenden chemiſchen Verbindungen und Trennungen, in beſtän-
digen Aufnahmen und Ausſcheidungen von Dünſten und Gaſen be-
ſteht, mächtig afficiren. Das Wie iſt uns aber noch völlig unbekannt,
und manche uns zur Zeit noch ganz unbegreiflichen Verhältniſſe in
Verbreitung und Vertheilung der Arten mögen über kurz oder lang
in dieſen Einflüſſen ihre genügende Erklärung finden.
Wenn wir von den ſchneebedeckten Eisflächen des höchſten Nor-
dens, wo nur noch die rothe Schneealge an eine pflanzliche Organiſation
erinnert, uns nach Süden wenden, ſo breitet ſich vor uns zunächſt ein
Gürtel aus, in welchem Mooſe und Flechten den Boden bedecken und
eine eigenthümliche Vegetation niedriger mit unterirdiſchen Stengeln
perennirender, meiſt groß- und ſchönblumiger Kräuter, die ſogenannten
Alpenpflanzen, der Natur einen eigenthümlichen Character verleihen.
Faſt ſämmtliche Pflanzen bilden kleine, flache, vereinzelte Polſter,
Pyrola, Andromeda, Pedicularis, Löffelkraut, Mohne,
Hahnenfuß und andere ſind characteriſtiſche Gattungen für dieſe
Flora, in der kein Baum, kein Strauch gedeiht. — Verlaſſen wir dieſe Re-
gion, die von den Botanikern das Reich der Mooſe und Saxifra-
gen, oder nach einem der Gründer der Pflanzengeographie Wahlen-
bergs Reich genannt iſt und gehen mehr nach Süden, ſo zeigen ſich
anfänglich kleine niedrige Gebüſche von Birken, dann mehr zuſammen-
hängende Wälder, zu denen ſich Kiefern und andere Nadelhölzer
hinzugeſellen und wir befinden uns endlich in einem zweiten größeren
Vegetationsgürtel, der ſich dadurch characteriſirt, daß alle Wälder der
[227] Ebene faſt ausſchließlich aus Nadelhölzern gebildet ſind, die daher
der Flora einen eigenthümlichen Character aufprägen, Kiefern
und Fichten, Zürbeln und Lärchen bilden große und aus-
gedehnte Waldmaſſen, an Bächen und auf feuchtem Boden finden ſich
Weiden und Erlen ein. Auf dürren Hügeln wächſt die Renn-
thierflechte und das isländiſche Moos. In der Preißel-
beere, Multebeere*), Johannisbeere und anderen bietet ſchon
freiwillig die Natur, wenn auch ſpärliche Nahrungsmittel und ein
reicher Flor bunter Blumen dient zur Verzierung der Zone, die ſich
in Scandinavien bis an die ſchon erwähnte Nordgrenze des Weizen-
baues, in Rußland und Aſien aber faſt bis Kaſan und Jakutzk erſtreckt.
Wir wollen ſie die Zone der Nadelhölzer nennen. — Schon in
Drontheims Umgebungen fängt wenn auch noch ſpärlich der Obſt-
bau an, bald tritt die kraftvolle Eiche auf, mit etwas zu weit getriebener
poetiſcher Freiheit, „die Deutſche“ genannt; Schonen, Seeland,
Schleswig und Holſtein nähren die prachtvollſten Buchen wälder.
Etwa in der Breite von Frankfurt a. M. geſellt ſich noch ein Baum
hinzu, der ſich durch ſeine kühne, maleriſche Veräſtelung der Eiche an
die Seite ſtellt, die er durch die Pracht ſeines Laubes, ſo wie durch
den Nutzen ſeiner Früchte weit übertrifft, die edle Kaſtanie nämlich.
Pyrenäen, Alpen und Kaukaſus bilden die Südgrenze dieſer Zone,
in welcher mehr nach Oſten die Linde und Ulme in ſo reichlichem
Maaße zur Waldbildung beitragen, daß erſtere ſelbſt den Verwüſtun-
gen widerſteht, welche die Eſthen zur Anfertigung ihrer Lindenbaſtſchuhe
anrichten. In dem Hopfen, Epheu und der Waldrebe finden
ſich hier die erſten Repräſentanten tropiſcher Schlingpflanzen ein.
Mit dem düſtern Schatten der Wälder wechſelt das lachende Grün
der Wieſen und der Menſch hat ſich in Beſitz der Erde geſetzt, die
wilde Vegetation bis auf das Nothwendigſte für Holz- und Heube-
darf beſchränkend und reiche Saaten lohnen ſeinem Fleiß. — Wir ver-
laſſen dieſe Zone der ſommergrünen Laubhölzer, um die Felſen-
15*
[228] mauer der Alpen zu überſteigen, wodurch eine weiſe Vorſehung den
Deutſchen gegen Süden beſchränkt hat, die er vorwitzig überſtieg, um
aus dem ſinnlichen und verderbten Süden ſeinem Volke unendliches
Elend und Jahrhunderte durch zehrendes Siechthum zu holen. Hier
treten plötzlich ganz andere Pflanzenformen auf; an die großen Wälder
aus Laubhölzern, deren lederartige, glänzende Blätter den leichten
Winter überdauern, um deren mächtige Stämme ſich die Reben und
feuerfarbigen Bignonien ſchlingen, ſchließen ſich ähnliche Gebüſche
von Myrte, Tinus, Erdbeerbäumen und Piſtacien gebildet.
Hin und wieder findet ſich die Zwergpalme ein, Labiaten und
kreuzblüthige, und ſchönblühende Ciſtroſen erſetzen im Sommer
die Frühlingsflor duftender Hyacinthen und Narciſſen, aber
ſelten noch in günſtigſten Lagen erfreut ſich das vom Glanz der immer-
grünen Blätter, oder von dem grellen Farbenſpiel nackter, zackiger Ge-
birgszüge geblendete Auge des milden Schimmers grünender Wieſen.
Dafür hat ſich der Menſch in dieſem Gürtel immergrüner
Laubhölzer der Frucht der Hesperiden bemächtigt. Es iſt
Aber weiter, immer weiter ſtrebt das unerſättliche Geſchlecht der
Japetus, keine Sage vom afrikaniſchen Wüſtenſande, keine Todes-
nachricht von den vielen kühnen Reiſenden, die ausgingen die Quellen
des Nigers zu ſuchen, ſchreckt ihn zurück. An der Weſtküſte Africas,
auf den canariſchen Inſeln, findet er zwar nicht mehr den rieſen-
mäßigen Hund, nach welchem, wie Plinius berichtet, die Hunds-
inſeln benannt ſind, aber Flora beut ihm die reichſten Schätze, welche
ſie mit Hülfe der tropiſchen Sonne dem von Meeresdünſten durch-
feuchteten Boden zu entlocken vermag. Um Sycomoren ſchlingen
ſich mächtige Ciſſusſtämme, Capern und Bauhinien durch-
flechten die Gebüſche von balſamreichen Sträuchern gebildet.
Schlank erhebt ſich die Dattelpalme und zu rieſigen Holzmaſſen
erwächſt der Baobab*). Die wunderlichen cactusähnlichen Formen
[229] blattloſer Wolfsmilcharten, durch ihre giftige oder wohlſchmek-
kende ſüße Milch ausgezeichnet, verrathen eine eigenthümliche Bil-
dungskraft in der Natur und der Drachenbaum in den Gärten
von Orotava auf Teneriffa, eine rieſige baumartige Lilienpflanze,
erzählt dem ſinnigen Lauſcher die Sagen von vielen Jahrtauſenden.
Sechs Vegetationsgürtel ſind wir ſo durchzogen, in denen die allmä-
lig ſteigende Temperatur des Climas eine immer andere, eine üppigere
Vegetation hervorrief und wir beſchließen unſere Wanderung, indem
wir nach kurzer Raſt unter jenen fünftauſendjährigen Dracänen
den Pic von Teyde erſteigen. Am flachen Fuße deſſelben hat der
Menſch vom Boden Beſitz genommen und die urſprüngliche Vegeta-
tion verdrängt. Durch Weinberge und Maisfelder ſteigen wir aufwärts
bis uns die Schatten immergrüner Lorbeern umfangen. Sei-
delbaſtarten und ähnliche Pflanzen ſchließen ſich an, wir durchwan-
dern eine Zeitlang einen Gürtel immergrüner Laubhölzer. Auf
einer Höhe von 4000 Fuß verlieren ſich die Pflanzen, die uns bis dahin
begleitet haben. Nur eine geringe Anzahl eigenthümlicher Gewächſe deu-
tet uns eine ſchnell durchſchrittne Zone ſommergrüner Laubhöl-
zer an, und wir ſind umgeben von den harzigen Stämmen der canari-
ſchen Kiefer. Ein Gürtel der Nadelhölzer ſchützt uns gegen die
Sonnenſtrahlen bis zu einer Höhe von 6000 Fuß, dann wird die Vege-
tation plötzlich niedrig, durch niedriges Gebüſch geht ſie über in eine
Flor, welche ganz den Character der Alpenkräuter trägt, bis zuletzt
nackter Fels jedem organiſchen Leben eine Schranke ſetzt und nur deshalb
kein Schnee und Eis die Spitze des Berges bedeckt, weil ſeine Höhe
von 11430 Fuß bei einer dem Wendekreis ſo nahen Lage nicht bis in die
Region des ewigen Schnees hinaufreicht. Den weiten Weg von
Spitzbergen bis zu den Canaren, eine Ausdehnung von mehr als
50 Breitengraden, haben wir, wenn wir ihn nach den Vegetations-
grenzen beurtheilen, hier aufwärts ſteigend in wenigen Stunden zu-
rückgemeſſen. —
Auf dieſem ganzen Wege, abwärts nach Süden und aufwärts
zur Spitze des Teyde, verändert ſich die Vegetation conform mit den
[230] climatiſchen Verhältniſſen und wir können faſt allein ſchon durch die
Zunahme und Abnahme der Wärme für die beobachtete Vertheilung
der Gewächſe Rechenſchaft geben. Wenn wir unſere Unterſuchungen
weiter ausdehnen, können wir ſogar beſtimmte Pflanzenarten nennen,
welche einer beſtimmten nördlichen Breite eigen ſind, aber in niederen
Breiten auch regelmäßig in den Gebirgen auf einer beſtimmten Höhe
ſich wieder einfinden. Indeß tritt dieſer Fall doch verhältnißmäßig
ſelten ein und wir werden zuletzt gezwungen dafür auf andere, weni-
ger oder gar nicht gekannte, Einflüſſe zu verweiſen. Wenn wir Ge-
genden in den tropiſchen Gebirgen finden, die rückſichtlich der Feuch-
tigkeit und Temperatur, ſo wie rückſichtlich der Bodenconſtitution
durchaus gewiſſen Gegenden in nördlichen Breiten entſprechen und
die dennoch eine dem allgemeinen Character nach zwar ähnliche, den
Geſchlechtern und Arten nach aber ſo ganz verſchiedene Vegetation
ernähren, ja wenn wir bemerken, daß die Uebereinſtimmung zwiſchen
nördlicher Breite, und Erhebung über der Meeresfläche in ſüdlicher
Breite ſich durchſchnittlich nur bis zu einer Höhe von etwa 6000 Fuß
nachweiſen läßt, ſo werden wir darauf hingewieſen, dem Licht, dem
Luftdruck u. ſ. w. einen weſentlichen Einfluß einzuräumen, wenn
wir auch nicht im Stande ſind das Wie zu entwickeln. —
Am Beſtimmteſten werden wir auf einen ſolchen zukünftigen Ent-
wicklungsgang der Wiſſenſchaft hingewieſen, wenn wir die Vergan-
genheit derſelben näher ins Auge faſſen und gewahr werden, wie hier
die allmälig ſich entwickelnde genauere Kenntniß beſtimmter phyſica-
liſcher Verhältniſſe auch die Erklärung vieler Erſcheinungen möglich
gemacht hat, die früher ſehr räthſelhaft daſtanden. Am auffallendſten
zeigt ſich dies in der Lehre von der Wärmevertheilung auf der Erde.
Anfänglich verſuchte man, wie Halley, Euler und Andere, dieſe
Vertheilung aus der Stellung der Erde zur Sonne zu berechnen, ein
Verfahren was augenblicklich ſehr annehmlich erſcheint, da gegen-
wärtig die Sonne, wenn nicht die einzige, doch die weſentlichſte
Wärmequelle für die Erde iſt. Aber in welchem ſchreienden Contraſt
treten mit den ſo gewonnenen Reſultaten die Erſcheinungen in der
[231] Wirklichkeit. Natürlich müßte dann die Temperatur regelmäßig mit
der wachſenden Breite abnehmen, aber während die ruſſiſche Armee
auf ihrem Marſch nach Chiwa unter dem 40. Grad der Breite durch
Kälte zu Grunde ging, bleiben auf den Faröern unter dem 62. Breiten-
grade die Schaafe während des ganzen Winters auf der Weide. Jede
ſolcher Berechnungen hat nämlich nur unter der Vorausſetzung Werth,
daß die ganze Erde vollkommen gleichförmig zu beiden Seiten des
Aequators in völligen Ebenen mit Subſtanzen bedeckt wäre, die ſich
gegen Wärmeſtrahlen völlig gleich verhalten und endlich völlig in
Ruhe ſind. Von allen dieſen Bedingungen iſt aber keine einzige auf
der Erde verwirklicht. Man wurde alſo auf die unmittelbare Beobach-
tung gewieſen. Man fand, daß wenn auch die Wärme in Tages-
und Jahreszeiten verſchieden vertheilt iſt, doch derſelbe Ort durch-
ſchnittlich jedes Jahr eine gleiche Temperatur habe. Wenn man näm-
lich von mehreren täglichen Beobachtungen die mittlere Zahl der
Wärmegrade nimmt und dieſe mittleren Zahlen von allen Tagen im
Jahre zuſammenſtellt und daraus abermals einen Mittelwerth zieht,
ſo weicht der ſo gewonnene Mittelwerth von dem des vorhergehenden
oder folgenden Jahres nur um wenige Grade ab. Nimmt man eine
größere Anzahl Jahre z. B. 20, ſo erhält man einen Werth, der von
dem der vorhergehenden oder nachfolgenden 20 Jahre kaum noch ein
Zehntel eines Grades verſchieden iſt. — Humboldt kam nun zuerſt auf
den ſinnreichen Gedanken, alle Orte auf der Erde, die nach der eben
beſchriebenen Beſtimmungsweiſe gleiche mittlere Temperatur haben,
durch eine Linie auf der Karte zu verbinden (Iſotherme oder Linie
gleicher Wärme), und bald fand man nun, daß ſo ſehr auch dieſe
Iſothermen in ihren Biegungen von den Parallelkreiſen abweichen,
doch ſich die Vegetationsgrenzen viel näher an ſie ſchmiegen als an
dieſe. Noch immer aber blieben viele Räthſel ungelöſt. Drontheim
z. B. hat gleiche mittlere Temperatur mit der ſüdlichſten Spitze von
Island, die Hebriden, Orkaden und Shettlands Inſeln
haben eine um faſt 3 ° höhere mittlere Temperatur. Gleichwohl hat
Drontheim noch Obſt- und Weizenbau, während der Weizenbau
[232] erſt bei Inverneß in Schottland, der Obſtbau noch etwas ſüdlicher
beginnt. So wurde man endlich darauf geführt auch die Vertheilung
der Wärme innerhalb der Jahreszeiten mit in den Kreis der Unter-
ſuchung zu ziehen, da ſich zeigte, das hiervon oft die Vegetation viel
weſentlicher beſtimmt wird, als durch die mittlere Temperatur oder
die Summe der Wärme, die ſie empfängt. — Man berechnete nun
auf die angedeutete Weiſe die mittlere Sommer- und Winterwärme
und verband ebenfalls die Orte, die ſich in dieſer Beziehung gleich-
ſtanden, durch Linien: Iſotheren (Linien gleicher Sommerwärme)
und Iſochimenen (Linien gleicher Winterkälte). Nun hat z. B.
Drontheim eine mittlere Winterkälte von — 4°,8 während die Faröer
eine mittlere Wintertemperatur von + 3°,9, die Shettlands Inſeln
gar von + 4°,0 haben, aber die mittlere Sommerwärme beträgt in
Drontheim + 16°,3, dagegen auf den Faröer nur + 10°,0, auf
den Shettlandsinſeln + 11°,9 und dabei reift weder Weizen noch
Obſt, obwohl Letzteres eine viel ſtärkere Winterkälte als — 4,3 ver-
tragen kann. Moscau, welches eine treffliche Vegetation hat, er-
trägt eine mittlere Wintertemperatur von — 10°,5. Das 15 Brei-
tengrade nördlichere Mageroe, ſchon außerhalb aller Pflanzencultur
gelegen, hat eine mittlere Temperatur des Winters von — 5°,0 die der
von Aſtrachan, 10 Breitengrade ſüdlicher als Moscau und wo ſchon
Wein und Mais gedeiht, gleich iſt. Die mittlere Sommerwärme
von Mageroe iſt aber + 6°,4, von Moscau + 16°,9 und von
Aſtrachan + 22°,0 und es iſt ganz beſonders die Wärme, welche
während der Vegetationszeit der Pflanzen herrſcht, die ihr Gedeihen
beſtimmt. Bei einjährigen Pflanzen oder, man ſollte richtiger ſagen,
bei Sommergewächſen verſteht ſich die Sache ohnehin von ſelbſt
und die perennirenden Pflanzen treten meiſt im Herbſt in einen Zu-
ſtand vegetativer Unthätigkeit, einen wirklichen Winterſchlaf, der ſie
ſelbſt große Kältegrade ohne Nachtheil ertragen läßt.
Aber wir ſind durch alle dieſe Unterſuchungen noch lange nicht
ans Ziel gekommen, der nächſten Zeit wird es obliegen, auch die
Theilung der mittleren Temperatur in Winter- und Sommerwärme,
[233] noch weiter in die mittlere Temperatur der einzelnen Monate aufzu-
löſen, denn die halbjährigen Abſchnitte ſind noch viel zu groß, um
eine genauere Vergleichung mit den Vegetationsperioden der Pflanze
zuzulaſſen. Sehr wahrſcheinlich wird es auch nicht allein darauf an-
kommen, welche Temperatur die Pflanze überhaupt während ihrer
Vegetationszeit empfängt, ſondern auch weſentlich darauf, wie dieſe
Temperatur auf die Zeit des Keimens, Wachſens, Blühens und
Früchtereifens vertheilt iſt. Hier wie überall ſieht der tiefer eindrin-
gende Naturforſcher noch unendliche Arbeit vor ſich und nur der un-
wiſſende Schwätzer glaubt ſchon etwas zu wiſſen, weil ſein blödes
Auge nicht weiter reicht als das Buch, aus welchem er ſo eben müh-
ſam ſein Krümchen Weisheit geſammelt. —
Schon in frühern Vorträgen ſind wenigſtens die Hauptpuncte
berührt, von denen das Leben der Pflanzen, von deren Verſchieden-
heit auf der Erde alſo auch die Verſchiedenheit der Vegetation ab-
hängt. Das erklärliche Leben der Pflanze iſt Bildung organiſchen
Stoffes aus unorganiſchen Verbindungen. Abhängig iſt alſo die
Pflanze von der Bodenbeſchaffenheit im weitern Sinne des Wortes,
von ihrem Nahrungsvorrath und von Allem was den chemiſchen Pro-
ceß der Bildung ſelbſt bedingt, alſo vorzugsweiſe von einer beſtimm-
ten Temperatur. Nachdem ich die Temperaturverhältniſſe im Vori-
gen berührt, will ich hier noch kurz den Einfluß des Bodens näher
betrachten. Man unterſcheidet zwar gewöhnlich ſehr verſchiedene ſo-
genannte Standorte der Pflanzen, aber ohne dieſelben eigentlich nach
phyſiologiſchen Grundlagen beſtimmt zu haben. Das allgemeine un-
entbehrliche Nahrungsmittel der Pflanze und zugleich der Stoff, durch
welchen alle übrigen in die Pflanze eingeführt werden, iſt das Waſſer.
Ohne Waſſer giebt es keine Vegetation. Dies Element der Alten
bietet ſich der Pflanze in drei verſchiedenen Formen dar und danach
vor allen Dingen müſſen wir die Standorte der Pflanzen unterſchei-
den. Die Orchideen der tropiſchen Wälder laſſen ihre eigenthümlich
gebaute Wurzel von dem Aſt, auf dem ſie kleben, in die feuchtwarme
Atmoſphäre hineinhängen und ſaugen das Waſſer in Dunſtform
[234] auf. Nur von tropfbarflüſſigem Waſſer umgeben, oder doch mit
den Wurzeln in ſolches eingetaucht, gedeihen unſere Waſſerlilien und
die eigentlichſten Sumpfpflanzen. Ganz anders aber verhält es ſich
mit der größten Anzahl der Pflanzen, die ihre Nahrung der Erde ent-
ziehen müſſen, welche die Feuchtigkeit in einem eigenthümlichen Zu-
ſtande aufgeſogen enthält. Fügen wir dieſen drei Claſſen der Luft-,
Waſſer- und Erdpflanzen noch eine dritte hinzu, nämlich die ächten
Paraſiten, welche wie unſere Flachsſeide ihre ſchon organiſirte
Nahrung aus andern Pflanzen ſaugen, ſo haben wir die Hauptein-
theilung für die Standorte gewonnen. Hieran erſt ſchließen ſich die
Unterabtheilungen, die ſich nach den Stoffen beſtimmen, welche das
Waſſer aufgelöſt enthält und ſo den Pflanzen zuführt. Daß unter
dieſen Kohlenſäure und Ammoniakſalze ſich überall befinden müſſen,
wo Vegetation möglich ſein ſoll, habe ich ſchon früher erörtert. Viel-
leicht aber macht auch hier ſchon das Mehr oder Weniger beider Be-
ſtandtheile und ihr Verhältniß zu einander einen Unterſchied, den wir
noch nicht zu würdigen im Stande ſind. Deutlicher ſind uns die Be-
ziehungen der unorganiſchen Beſtandtheile, der vom Waſſer aufge-
löſten Salze, zur Pflanze. Die Wiſſenſchaft hat gerade in dieſer Be-
ziehung mannigfach in den entgegengeſetzteſten Richtungen geirrt.
Noch im Anfang dieſes Jahrhunderts gab es Männer, welche be-
haupteten die Pflanzen könnten aus Luft und deſtillirtem Waſſer alle
ihre organiſchen und unorganiſchen Beſtandtheile ſelbſt bilden. Ober-
flächliche Experimente, die noch dazu von urtheilsloſen Akademikern
gekrönt wurden, phantaſtiſches Geſchwätz ſtatt logiſcher Gedanken-
ſchärfe ließen ſolche ſchiefen Anſichten bei einem Theil der Forſcher
für eine zeitlang Geltung erlangen. Später irrte man in das ent-
gegengeſetzte Extrem, indem man jeder geognoſtiſchen Formation eine
eigne Flora zuzuſchreiben geneigt war und dieſer letzte Irrthum ſpukt
noch jetzt in den landwirthſchaftlichen Lehren, die Güte und Gehalt
des Bodens nach den darauf wachſenden Pflanzen beſtimmen wollen.
Das Richtige liegt hier zwiſchen beiden Extremen. Ich habe
früher Gelegenheit gehabt auszuführen, wie die Pflanzen ſehr ver-
[235] ſchiedene Mengen und Arten von unorganiſchen Stoffen zu ihrer
Vegetation in Anſpruch nehmen. Wenn wir finden, daß die Aſchen
der Lucerne, des Tabaks, des Klee's über 60 Procent Kalk
und Talkſalze enthalten, ſo kann es uns unmöglich Wunder
nehmen, wenn wir dieſelben auf einem reinen Sandboden, der kaum
Spuren von Kalk enthält, nicht antreffen, aber falſch iſt es, daraus
zu ſchließen, daß gerade der Muſchelkalk, oder der Keuperkalk, oder
der Jurakalk, oder irgend eine andere Kalkſchicht einer beſtimmten
Formation gerade der eigentliche Boden für dieſe Pflanzen wäre.
Daß eine Pflanze wie der große Zuckertang*), der ſo reich iſt an
Natron, Jod und Brom nur im Meere nicht im ſüßen Waſſer ſich
findet, wo ihm Natron höchſt ſpärlich, Jod und Brom gar nicht zu-
gemeſſen ſind, iſt wohl leicht begreiflich. Gleichwohl giebt es doch,
wenn wir den Boden im Großen nach den geognoſtiſchen Grundlagen
beurtheilen wollen, nur ſehr wenig Pflanzen, welche für gewiſſe
Bodenbeſtandtheile characteriſtiſch ſind und zwar iſt auch dies Ver-
hältniß wieder ſehr natürlich und nothwendig. Nahebei kann man
behaupten, daß alle Pflanzen in ihrer Aſche dieſelben Beſtandtheile
enthalten, aber in ſehrverſchiedenen Verhältniſſen. Auf einem Boden,
der daher ganz rein aus einer Erdart, z. B. Kalk, Kieſel, Gyps
beſtände, würde alſo gar keine Pflanze gedeihen können. Jeder
Boden der Pflanzen trägt, enthält auch alle von allen Pflanzen ge-
forderten Stoffe in ſeiner Miſchung, nur ſind die Verhältniſſe ver-
ſchieden und das Vorwalten von Kieſelerde, Kalkerde, Kochſalz muß
auch vorzugsweiſe das Wachsthum der Grasgewächſe, der Hülſen-
pflanzen, der Strandpflanzen begünſtigen, obwohl dieſelben keines-
wegs ausſchließlich auf den eigentlichen Sandboden, Kalkboden,
oder auf den Strand beſchränkt ſind. Ich wüßte in dieſer Beziehung
wahrlich keine andern Pflanzen als kohlenſaure Kalk-, Gyps- und
Salzpflanzen als wirklich zu rechtfertigende Benennungen hinzuſtellen.
Es kommt zu dieſem chemiſchen Verhältniß aber noch ein
[236] anderes, welches das erſte modificirt und da wo es dieſelben Wir-
kungen hervorbringt, dazu beiträgt, gewiſſe Pflanzen deſto feſter aus-
ſchließlich an gewiſſe Bodenarten zu feſſeln, im entgegengeſetzten Fall
auch dazu beiträgt den Zuſammenhang zwiſchen Pflanzen und chemi-
ſchem Gehalt des Bodens zu verdecken oder zu verwiſchen. Es iſt
dieſes der mechaniſche Zuſammenhang und die phyſicaliſchen Eigen-
ſchaften des Bodens. So giebt es Pflanzen, die nur auf den unzer-
kleinerten Felſen ſich anſiedeln, die dann, wenn die übrigen Bedingun-
gen ſich dazu finden, von den Felſen auf unſere Mauern überſpringen
wie die Mauerraute*), ein kleines Farnkraut, das von ſeinem
Standort den Namen führt. Andere finden ſich nur da wo die Ver-
witterung das derbe Geſtein zu kleinen Brocken zertheilt hat, Geröll-
pflanzen, die dann dem Menſchen ſich anſchmiegend die ihrem natür-
lichen Standort ähnlichen Schutthaufen wählen; unſere große
Neſſel und das Bilſenkraut mögen als Beiſpiele dienen. Endlich
andere Pflanzen wachſen nur in dem völlig zu feinen Pulver aufgelöſten
Gebirge, im Sande oder in dem noch feinkörnigeren durch chemiſche
Zerſetzung entſtandenen Thon. Die ſogenannte deutſche Saſſapa-
rille, das Sandrietgras, iſt ein Beiſpiel für das erſte Ver-
hältniß, dem nicht wohl ein beſtimmtes Verhältniß in der Nähe
menſchlicher Wohnungen entſpricht. Dem Thone dagegen ſtellt ſich
die aus Zerſtörung organiſcher Stoffe hervorgegangene ſchwarze Sub-
ſtanz, der Humus, an die Seite. Beide reich an auflöslichen der Vege-
tation wichtigen Salzen, beide ausgezeichnet in Rückſicht auf ihre
Eigenſchaft, Gaſe und Waſſerdünſte aus der Atmoſphäre aufzu-
ſaugen und ſo den Pflanzenwurzeln zuzuführen, bedingen einzeln oder
in Verbindung miteinander die üppigſte Vegetation. Wir erhalten
ſo eigentlich drei Stufen, hinſichtlich der Bodenbeſchaffenheit: reine
Erdarten als völlig vegetationsleer, — gemiſchte Erden ohne Thon
und Humus mit zwar dürftiger aber characteriſtiſcher Vegetation —
und endlich thon- und humusreicher Boden mit der größten Fülle und
[237] Mannigfaltigkeit der Pflanzen. — Selbſt im Norden fällt auch dem
Laienauge der größere Reichthum und die kräftigere Entwicklung des
Pflanzenreichs auf thonreichem Baſalt- oder Porphyrboden auf und
reiner Quarzſand iſt ſelbſt unter der tropiſchen Sonne eine Wüſte,
wenn ihm nicht Waſſer und darin fremde Stoffe zugeführt werden.
Vertheilung der Pf[l]anzen auf der Erde ohne
nachweisbare Abhängigkeit von phyſi-
caliſchen Bedingungen.
In den einleitenden Erzählungen zu gegenwärtigem Aufſatze habe
ich ſchon bemerkt, daß Auſtralien eine ſehr gemeine Pflanze, das ſoge-
nannte Gänſeblümchen, mit Europa gemein habe. Daſſelbe kleine
Pflänzchen findet ſich in Nordaſien, in einigen Gegenden Africas
und Südamericas und wo es vorkommt ſteigt es an den Bergen von
dem Niveau des Meeres bis zur Schneegrenze hinauf. Das kleine
Hexenkraut, die zarte Linnaea, das Bitterſüß, der Vogel-
knöterich, die blaue Gentiane, die Zwergbirke und die kraut-
artige Weide*) und mehrere Andere ſind zugleich in Europa und
Nordamerica einheimiſch. Der gemeine Braunheil, die Waſſer-
linſe und unſer Schilf**) wachſen auch in Neuholland. Das Torf-
moos***) bedeckt ſo gut die Moore Peru's und Neu-Granada's
als die des Harzes und des Dovrefjeld in Norwegen. Die bräun-
liche Schorfflechte†), welche alle unſere Mauern, Planken und
alten Bäume überzieht, findet ſich nicht minder auf den Felſen des
erſt 90 Jahre alten Yorullo in Mexico. Das bläuliche Borſten-
gras††), welches bei uns auf Sandboden das gemeinſte Garten-
und Ackerunkraut iſt, wächſt ebenſo im Innern Braſiliens auf paſſen-
dem Boden. Eine characteriſtiſche Pflanze unſers Strandes und der
Umgebung der Salzquellen, die Ruppia†††), wächſt zugleich an der
[238] norddeutſchen Küſte, in Braſilien und Oſtindien. Doch wozu die Bei-
ſpiele häufen, da dieſe ſchon hinreichen zu zeigen, daß die Anſicht
einige Stütze in der Beobachtung findet, welche annimmt, daß
jede Pflanze auch da auf der Erde ſich finden müſſe, wo die uns be-
kannten Bedingungen ihrer Vegetation vorhanden ſind. Aber eben
deshalb habe ich jene drei Scenen gleich an den Eingang meiner
Mittheilungen geſtellt, um von vornherein darauf aufmerkſam zu
machen, daß gerade die eben erwähnten Fälle, die uns auf den erſten
Anblick eine natürliche und nothwendige Folge der Pflanzenorgani-
ſation zu ſeyn ſcheinen, geradezu nur als ſeltene Ausnahmen vorkom-
men. — Schon das kleine Gänſeblümchen zeigt einen gewiſſen Eigen-
ſinn. Es fehlt in ganz Nordamerica und was wir auf unſern Wieſen
als unbedeutendes Unkraut zertreten, wird dort mit der zärtlichſten
Sorgfalt in den botaniſchen Gärten erzogen. Gehen wir die Vege-
tation verſchiedener Länder durch, ſo ſehen wir, daß die für unſere
jetzigen Kenntniſſe gleich erſcheinenden Bedingungen zwar ähnliche
aber keineswegs gleiche Pflanzenformen hervorrufen. Den Pflanzen
einer beſtimmten nördlichen Breite entſprechen auf der analogen Höhe
der ſüdlicher gelegenen Alpen andere Arten deſſelben Geſchlech-
tes, oder andere Geſchlechter derſelben Pflanzenfamilie, oder die
Pflanzen Americas werden auf gleicher Breite in der alten Welt durch
andere aber in ihrer Entwicklung nahe verwandte Pflanzen vertreten.
Ja ſelbſt Pflanzen, die ganz und gar verſchiedenen Familien ange-
hören, nehmen wenigſtens in ihrer äußeren Erſcheinungsweiſe ähn-
liche Geſtalten an. So entſprechen den Cacteen der neuen Welt die
blattloſen fleiſchigen Wolfsmilcharten des heißen Africas.
Wenn wir auch ahnen, daß eine größere Mannigfaltigkeit der
Vegetationsbedingungen der Grund iſt, weshalb die Mannigfaltigkeit
der Vegetation, die Zahl der Pflanzenarten von den Polen nach dem
Aequator hin ſtetig zunimmt und eben deshalb die Zahl der geſellig
wachſenden Pflanzen, der Arten, welche in zahlloſen Exemplaren
große Strecken überziehen, in eben demſelben Maaße abnimmt, ſo
ſind wir doch weit davon entfernt uns darüber wiſſenſchaftlich Rechen-
[239] ſchaft ablegen zu können. Ganz Reſultat launenhafter Willkühr
muß es uns aber erſcheinen, warum einzelne Pflanzen weit auf der
Erde verbreitet ſind, während andere auf die kleinſten Flecke einge-
ſchränkt leben müſſen, wie z. B. die ausſchließlich auf den Kärnthner
Alpen vorkommende Wulfenie; warum einzelne Familien, wie die
Compoſiten, über die ganze Erdevertheilt gedeihen, während andere,
wie die Pfefferarten, die Palmen, nur zwiſchen ſehr beſtimmten
Breitegraden zu beiden Seiten des Aequators, die Proteaceen nur
auf der ſüdlichen Halbkugel, die Cactuspfanzen nur auf der weſt-
lichen Hälfte der Erde ſich finden. Eben ſo wenig erklärlich iſt uns die
Vertheilungs weiſe der Pflanzenfamilien. Während die Palmen-
arten vom Aequator gegen die höheren Breiten abnehmen, erreichen die
Compoſiten gerade in der mittleren Temperaturzone ihre höchſte
Entwicklung, ihre Artenzahl nimmt von da nach beiden Seiten, ſo-
wohl nach dem Aequator als nach den Polen zu, ab, während die
Gräſer endlich ſtetig vom [Aequator] nach den Polen hin zunehmen.
Hier iſt aber noch eine eigenthümliche Betrachtungsweiſe her-
vorzuheben, nach welcher man die Vertheilung der Familien zu beur-
theilen pflegt.
Die Rietgräſer z. B. treten in der Flora von Frankreich mit
134 Arten auf, in der Flora von Lappland dagegen nur mit 55 Arten.
Frankreich iſt alſo ohne Frage abſolut reicher an Arten als Lappland.
Anders aber ſtellt ſich die Sache, wenn wir dieſe Pflanzen im Ver-
hältniß zur ganzen Vegetation beider Länder betrachten und wenn es
uns darauf ankommt, eben das Characteriſtiſche der Vegetationsge-
biete aufzufaſſen, ſo dürfen wir nur dieſe Betrachtungsweiſe gelten
laſſen. Frankreich beſitzt im Ganzen etwa fünftehalb Tauſend phane-
rogame Pflanzen und davon machen die Rietgräſer nur 1/27 aus;
Lapplands Phanerogamen dagegen beſchränken ſich auf etwa 500
Arten und darunter iſt 1/9 Rietgräſer. Die letztern ſind daher ein viel
weſentlicherer Theil der Lappländiſchen Flora als der Franzöſiſchen, jene
hat relativ eine größere Anzahl Arten als dieſe. Nur dieſes iſt es was
man unter Zunehmen der Arten, in einer beſtimmten Richtung, verſteht.
[240]
Durch dieſe uns unerklärliche Vertheilungsweiſe der Pflanzen
nach Arten, Geſchlechtern, Familien, Ordnungen und Claſſen ent-
ſtehen nun gewiſſe eigenthümliche Gebiete auf der Erde, welche ſich
durch das Vorherrſchen gewiſſer Pflanzenformen oder das ausſchließ-
liche Vorkommen beſonderer Familien characteriſiren. Man hat dieſe
Theile der Erdoberfläche, deren man bis jetzt etwa 25 zählt, pflan-
zengeographiſche Reiche genannt und ihnen die Namen der Männer
beigelegt, welche ſich vorzugsweiſe um die Erforſchung dieſer Gegen-
den berühmt gemacht haben.
Schon früher habe ich des Reichs der Saxifragen und Mooſe,
oder des Wahlenberg'ſchen Reiches gedacht, welches ſich vom ewigen
Schnee der Pole oder der Berggipfel bis an die Baumgrenze erſtreckt und
ſich eben durch das gänzliche Fehlen der baumartigen Pflanzen und ſelbſt
der höheren Büſche auszeichnet. — An dieſes ſchließt ſich das große Lin-
né'ſche Reich, Nordeuropa und Nordaſien umfaſſend, bis an die gro-
ßen Gebirgsketten, welche ſich von den Pyrenäen bis zu den Alpen fort-
ziehen. Wälder von Nadelhölzern oder von ſommergrünen Bäu-
men, üppige Wieſen und weite Haiden, in Aſien die eigenthümlichen
Salzſteppen beſtimmen vorzugsweiſe die Eigenthümlichkeiten die-
ſes Gebiets, welches aber wenigſtens in ſeinem europäiſchen Theile
ſchon zu ſehr von der Cultur in Beſitz genommen iſt, um noch ſeine
natürliche Phyſiognomie zur Schau zu tragen. — Das weite Becken
von den Alpen bis zum Atlas, deſſen tiefſte Stelle das Mittelländiſche
Meer erfüllt, bildet ein drittes Reich, durch den Reichthum an ge-
würzigen Lippenblumen, ſchönen aber ſchnellvergehenden Lilien-
pflanzen, und durch die harzreichen Ciſtroſen ausgezeichnet. Die ein-
zelnen Zwergpalmen und Balſambäume deuten in dieſem Reiche
Decandolle's auf einen Uebergang zu tropiſchen Regionen. — Den
letztgenannten beiden Reichen parallell theilt ſich Nordamerica in ein
nördlicheres Michaux zu Ehren benanntes Reich, durch eigenthümliche
Nadelhölzer, Eichen und Wallnüſſe, durch zahlloſe Aſtern und
Goldruthen von dem Linnéſchen Reich unterſchieden, — und in das
ſüdlichere Reich Pursh's, in welchem beſonders die Bäume mit breiten
[241] glänzenden Blättern und großen prachtvollen Blumen wie der Tul-
penbaum, die Magnolie und andere den Character beſtimmend
hervortreten. Zwiſchen dem China und Japan umfaſſenden Reiche
Kämpfer's, dem Wallich'ſchen Reiche im Hochlande von In-
dien und dem durch ſeinen Giftbaum und ſeine Rieſenblume berühm-
ten polyneſiſchen oder Inſelreiche Reinwardt's liegt Roxburgh's
Reich, welches in beiden indiſchen Halbinſeln ſich ausbreitet und im
Schatten der rieſigen Feigenbäume die prachtvollen Scitamineen od.
Gewürzlilien, wie Ingwer, Cardamomen und Gelbwurz
birgt oder in kleinen Wäldern die gewürzigen Rinden des Zimmts
und der Caſſie, in dicken unförmlichen Stämmen das Stärkemehl
des Sagos zeitigt. — Wir überſpringen das Reich Blume's in
den Gebirgen Javas, das Reich Chamiſſo's oder den Archipel der
Südſee und das Reich Forſter's auf Neuſeeland, und wenden uns
wieder nach Africa, wo die Wüſte, das Reich Delile's, in den Oaſen
die Dattel reift und in den zartblättrigen Acacien die Mengen
des arabiſchen und Senegalgummi's kocht, welche der Handel unſerem
Kunſtfleiß zuführt. — Hieran ſchließt ſich nach Oſten das Reich der Bal-
ſambäume von Forskael beherrſcht, nach Süden das Reich Adan-
ſon's, deſſen Characterpflanze ebenfalls den Namen jenes genialen
Botanikers verewigt, die tauſendjährigen Rieſenſtämme der Adan-
sonia digitata (oder Baobab). Das dürftig gekannte Africa bietet
uns nur noch in ſeiner Südſpitze das Reich Thunberg's mit Sta-
pelien, Meſembryanthemen, bunter Haide und übelriechenden
Buccoſträuchern bedeckt, aber arm an Wäldern. — Neuholland
und Van Diemens Land tragen den Namen ihres erſten und gründlichſten
botaniſchen Erforſchers Rob. Brown's und das mittlere und ſüdliche
America vertheilt ſeinen Pflanzenreichthum noch in acht Reiche, welche
Jacquin, Bonpland, Humboldt, Ruiz und Pavon,
Swartz, Martius, St. Hilaire und d'Urville gewidmet
ſind, unter denen das Jacquinſche Reich durch ſeine ſeltſamen
Cacteen, das Reich Humboldt's auf den Höhen der ſüdamerica-
niſchen Anden durch ſeine Chinawälder, und Martius' Reich im
Schleiden, Pflanze. 16
[242] Innern Braſiliens durch ſeinen Reichthum an Palmen, durch die
Menge der Schlingpflanzen und Schmarotzergewächſe ausgezeichnet
ſind. —
Dieſe wenigen Züge mögen genügen, nicht ein Bild der Erden-
flora zu entwerfen, denn das erforderte die Kenntniß eines Rob.
Brown, die Feder eines Humboldt, ſondern nur anzudeuten,
welch' ein Reichthum hier verborgen liegt, den nur zum Theil der
Fleiß und Geiſt der ausgezeichneten Forſcher uns bis jetzt hat zu-
gänglich machen können. Ich wende mich jetzt zum letzten Abſchnitt
meiner Aufgabe, zu einer
Skitze der Verbreitung der wichtigſten Nahrungs-
pflanzen auf der Erde.
Es giebt wohl kein Reich unter den im Vorigen Genannten,
welches nicht einige ſeiner Bürger zur Verzierung unſerer Luſtanlagen
oder zum Dienſt der Wiſſenſchaft in unſern botaniſchen Gärten hätte
hergeben müſſen und wenn wir auch die aus den eigentlich tropiſchen
Reichen von Martius, Jacquin, Adanſon, Reinwardt und
Roxburgh entlehnten Pflanzen durch künſtliche Wärme entweder
überwintern oder auch ſelbſt im Sommer gegen die Ungunſt des
Climas ſchützen müſſen, ſo bleiben doch immer eine große Anzahl
Pflanzen aus allen Theilen der Erde und aus den Tropen wenigſtens
die Gebirgspflanzen übrig, welche von uns in freier Luft angebaut
den Satz zu erhärten ſcheinen, daß auch in dieſer Beziehung der Menſch
Herr der Schöpfung iſt und daß er, wie auch die Natur die Pflanzen-
decke auf der Erde angeordnet haben möge, die Macht habe, dieſe
Anordnung nach ſeinem Gefallen und beſonders zu ſeinem Nutzen
abzuändern. Dem iſt aber nicht ſo und die ganze zu Grunde gelegte
Thatſache nur illuſoriſch, wenn wir nicht auf die kleinen Erdfleckchen
eines botaniſchen Gartens, ſondern auf die Culturen im Großen ſehen
wollen, die doch allein von Bedeutung ſind. Hier erſcheint der Menſch
wieder als ein ohnmächtiges Geſchöpf, ſeine Thätigkeit mit Ackern und
Düngen als eine unbedeutende Beihülfe zum Gedeihen der Cultur-
[243] pflanzen, denen die climatiſchen Verſchiedenheiten ebenſo beſtimmte
Ausdehnungsbezirke vorzeichnen wie der wilden Flora und welche die
Gunſt oder Ungunſt einer Jahreswitterung zur üppigen Entwicklung
bringt, oder vernichtet.
Auf der ganzen Erde hat der Menſch, um ſeinem Nahrungsbe-
dürfniß zu entſprechen, ſich faſt nur Sommergewächſe, d. h. ſolche
Pflanzen ausgewählt, die ihre geſammte Vegetation, oder doch die
Entwicklung der die Nahrungsſtoffe enthaltenden Theile, innerhalb
weniger Monate vollenden. Dadurch hat er ſich in den halb tropi-
ſchen Gegenden von der Ungunſt der dürren Jahreszeit, in den höheren
Breiten von dem ſtörenden Einfluß der Kälte unabhängig gemacht
und ſo die Möglichkeit ſich geſichert, Pflanzen anbauen zu können,
die dort der Dürre des Sommers, oder hier der Kälte des Winters
erliegen müßten. Scheiden wir die mehr der Annehmlichkeit als der
Nothwendigkeit dienenden Obſtarten aus, ſo bleiben uns unter den
eigentlichen Nahrungspflanzen nur noch 3 baumartige Gewächſe auf
der ganzen Erde übrig, nämlich die Brodfrucht, die Cocosnuß,
die Dattel, welche wirklich für eine größere Menſchenmenge und
auf einem größeren Areal das Hauptnahrungsmittel liefern und des-
halb Gegenſtand der Cultur geworden ſind, und höchſtens kann man
vielleicht für einen ſehr beſchränkten Kreis in Oſtindien noch die Cy-
cadeen und Sagupalmen eben ihres ſtärkemehlreichen Markes
wegen hinzurechnen. Alle andern Nahrungspflanzen ſind ſolche,
die entweder einen unter der Erde fortvegetirenden, gewöhnlich knol-
lenförmigen Stamm beſitzen, der nur wenige Monate dauernde Triebe
über den Boden hervortreibt, an denen ſich Blüthen entwickeln und
Früchte reifen, während er in der übrigen Zeit gleichſam ſchlafend
unter der ſchützenden Erddecke der Ungunſt des Climas trotzt, — oder
ſolche, die am Ende einer kurzen Vegetationsperiode ganz abſterben
und nur im ſchlummernden Keim des Saamens die zukünftige Wie-
dererzeugung ſichern. Zu den erſtern gehören z. B. die den Cordil-
leren Chili's, Peru's und Mexico's entlehnte Kartoffel, zu den
andern faſt alle unſere Getreidearten.
16*
[244]
Nur eine Pflanze zeichnet ſich unter den Culturpflanzen noch
durch eine beſondere Vegetationsweiſe aus, eine Pflanze die vielleicht
das erſte Geſchenk der Natur an den erwachenden Menſchen und ſo-
mit der Gegenſtand der allerälteſten Cultur iſt, ich meine die Ba-
nane*). Und nicht nur die erſte, auch die werthvollſte Gabe der
Natur iſt dieſe Pflanze, deren ſchwacharomatiſche, ſüße und nahrhafte
Früchte dem größten Theil der Bewohner der heißern Landſtriche die
Einzige oder doch die vornehmſte Nahrung ſind. Ein unter der
Erde fortkriechender Wurzelſtock treibt aus ſeitlichen Augen einen
15 — 20 Fuß langen Schaft in die Höhe, der nur aus den überein-
andergerollten, ſcheidenförmigen Blattſtielen beſteht, welche die oft
10 Fuß langen und 2 Fuß breiten ſammetartig glänzenden Blätter
tragen; nur die Mittelrippe des Blattes iſt derb und dick, die Blatt-
fläche zu beiden Seiten aber ſo zart, daß ſie vom Winde leicht zerriſ-
ſen wird, wodurch das Blatt ein eigenthümlich gefiedertes Anſehn
erhält **). Zwiſchen den Blättern hervor drängt ſich der reiche Blü-
thenbüſchel, der ſchon drei Monate nachdem der Trieb ſich erhoben
150 bis 180 reife Früchte, etwa von der Größe und Form einer
Gurke, gebildet hat. Die Früchte zuſammen wiegen etwa 70—80
Pfd. und derſelbe Raum, welcher im Stande iſt 1000 Pfd. Kartoffeln
zu tragen, bringt in bedeutend kürzerer Zeit 44,000 Pfd. Bananen
hervor, und wenn wir den Nahrungsſtoff ſelbſt in Rechnung bringen,
den dieſe Frucht enthält, ſo kann eine Fläche, die mit Weizen beſtellt
einen Menſchen ernährt, mit Bananen bepflanzt, fünf und zwanzigen
ihren Unterhalt gewähren. Nichts fällt einem Europäer, der in der
heißen Zone landet, anfänglich ſo ſehr auf als das winzige Fleckchen
Culturland um eine Hütte, die eine höchſt zahlreiche Indianerfamilie
birgt. —
Erſt bei Weitem ſpäter lernte der Menſch die Gaben der Ceres
kennen und anbauen. Jetzt muß es uns in der That überraſchen
zu ſehen, daß bei Weitem dem größten Theile aller Menſchen nur
[245] wenige Arten einer einzigen Pflanzenfamilie den hauptſächlichſten
Nahrungsſtoff liefern, nämlich die ſogenannten Getreidepflanzen
oder Cerealien aus der Familie der Gräſer. — Die Familie um-
faßt nahe an 4000 Arten und von dieſen werden noch nicht 20 zur
Nahrung für den Menſchen cultivirt. Dieſe Culturgräſer ſind ihrer
Natur nach zwar ſämmtlich Sommergewächſe, aber von einigen der
wichtigſten hat ſich der Menſch eigne Abarten gezogen, die in dem dazu
geeigneten Clima im Herbſt geſäet keinen und dann unter der wär-
menden Decke des Schnees überwintern, ſo daß ſie im Frühling ſchon
kräftig fortwachſen können, während noch für die übrigen Sommer-
gewächſe der Boden zur Aufnahme des Saamens vorbereitet wird.
Mit Berückſichtigung dieſer Ausnahme kann man ſagen, daß das
Gedeihen ſämmtlicher Cerealien von der Temperatur des Sommers
oder der Vegetationszeit abhängig iſt, und wenn wir ihre Verbrei-
tung auf der Erde uns verſinnlichen, ſo zeigen ſie uns Gürtel, welche
nicht ſo ſehr wie manche andere Vegetationsverhältniſſe von dem Ver-
lauf der Iſotheren abweichen.
Es laſſen ſich aber die Temperaturverhältniſſe, unter denen die
Getreidearten vegetiren, noch vielleicht genauer entwickeln als durch
die Angabe der Iſotheren möglich iſt. In Aegypten, an den Ufern
des Nils, ſäet man die Gerſte Ende November und erndtet Ende
Februar, die Vegetationszeit beträgt alſo 90 Tage und die mittlere
Temperatur dieſer Zeit iſt 21°,0. In Tuquerés nahe bei Cumbal
unter dem Aequator iſt die Beſtellzeit auf den Gebirgen für die Gerſte
etwa am 1. Juny, die Zeit der Erndte Mitte November, die mittlere
Temperatur dieſer Vegetationszeit von 168 Tagen iſt 10°,7. Zu
Sta. Fé de Bogota zählt man zwiſchen Ausſaat und Erndte 122 Tage
mit einer mittlern Temperatur von 14°,7. Wenn man nun die An-
zahl der Tage mit der Zahl der mittleren Temperatur multiplicirt ſo
erhält man für Aegypten 1890, für Tuquerés 1798, für Sta.
Fé 1793, alſo ſo nahebei dieſelbe Zahl als es die Unſicherheit in
der Beſtimmung der Tage, der genaueren mittleren Temperatur und
die Ungewißheit ob überall dieſelbe Gerſtenart gebaut wird, nur
[246] irgend erwarten laſſen. Aehnliche Reſultate erhält man beim Weizen,
Mais, der Kartoffel und andern Culturpflanzen. — Wir können die-
ſes Reſultat ſo ausſprechen: jede Culturpflanze bedarf zu ihrer Ent-
wicklung einer gewiſſen Quantität Wärme, es iſt aber gleichgültig
ob dieſe Wärme auf einen längern oder kürzeren Zeitraum vertheilt
wird, ſobald nur gewiſſe Grenzen nicht überſchritten werden; denn wo
die mittlere Temperatur unter 8° ſinkt, wo ſie ſich über 22° erhebt, da
reift keine Gerſte mehr. Wir müſſen alſo, um genau die Temperatur-
verhältniſſe, die eine Pflanze zu ihrem Gedeihen fordert, zu beſtim-
men, angeben innerhalb welcher Grenzen ihre Vegetationszeit ſchwan-
ken kann und welche Quantität der Wärme ſie bedarf. Auf dieſes
höchſt merkwürdige Verhältniß iſt zuerſt von Bouſſingault aufmerk-
ſam gemacht, aber leider beſitzen wir noch nicht genügend genaue Anga-
ben über die Culturverhältniſſe in den verſchiedenen Gegenden der Erde,
um dieſe geiſtreiche Anſicht bis in alle Einzelheiten verfolgen zu können.
Ich habe in Vorigem deshalb die Gerſte als Beiſpiel ge-
wählt, weil ſie von allen Cerealien den größten Verbreitungsbezirk
hat und von den äußerſten Grenzen der Cultur in Lappland bis auf
die Höhen unmittelbar unter dem Aequator angebaut wird. Aber
keineswegs hat ſie überall dieſelbe Bedeutung wie in den nördlichſten
Gegenden, wo ſie in einem kleinen ſchmalen Gürtel als alleiniges
Brodkorn auftritt, und nur in der letzten Beziehung ſoll im Folgenden
die Verbreitung der wichtigern Cerealien betrachtet werden. Schon
in Lappland und im nördlichen Aſien tritt ſehr bald neben ihr der
Roggen auf, von der Ungunſt des Climas aber noch auf glückliche
Jahre beſchränkt nnd daher nicht als die eigentliche Hauptnahrung
anzuſehn. Erſt in Norwegen, Schweden, Finnland und Rußland wird
der Roggen das eigentliche Brodkorn, dem dann im nördlichen Eng-
land und Deutſchland der Weizen eben ſo an die Seite tritt als früher
der Roggen der Gerſte ſich anſchloß. In der Mitte von Deutſchland,
im ſüdlichen England, in Frankreich und in einem weiten Bezirk nach
Oſten, das ganze caspiſche Meer umfaſſend, wird dann Weizen die
herrſchende Culturpflanze, der ſich erſt am Becken des Mittelmeeres,
[247] ſo wie in ganz Nordamerica der Mais zugeſellt. Die Stelle des
letztern vertritt in Aegypten und im nördlichen Indien der Reis, der
ſelbſt dann wiederum auf beiden indiſchen Halbinſeln, in China,
Japan und auf dem oſtindiſchen Inſellande zur Alleinherrſchaft ge-
langt, die er auf der Weſtküſte Africas mit dem Mais theilen muß,
der dagegen im größten Theil des tropiſchen Americas die ausſchließ-
liche Culturpflanze iſt, wenn wir einige minderbedeutende Ausnahmen
abrechnen. — Im ſüdlichen America, Africa und Auſtralien tritt bei der
wiederabnehmenden Temperatur auch der Weizen wieder in ſeine Rechte
ein. Von bei Weitem untergeordneter Bedeutung iſt die Cultur des
Tef*) und Tocuſſo**) in Abyſſinien, der Hirſe***) in Weſtafrica
und Arabien, ſo wie der Eleuſine†) und Hirſe††) in Oſtindien.
Einen bei Weitem weſentlicheren Antheil als die eben genannten
Gräſer nehmen einige andere Pflanzen an der Ernährung der Men-
ſchen. Schon in dem nördlichſten Gürtel der Gerſte und des Rog-
gens bildet der Buchweizen den Gegenſtand einer ziemlich ausge-
dehnten Cultur. Neben den ſchon beſprochenen Bananen geben die
Yamswurzeln†††), die Manjoc*†) und die Batate*††) einen
ſehr beträchtlichen Beitrag zu den alltäglichen Nahrungsmitteln der
Tropenbewohner, ſowohl der alten als der neuen Welt, wozu auf
den Anden noch ein eigenthümliches Gewächs, die Quinoa*†††)
kommt, eine Pflanze, die gleichzeitig eßbare Knollen und reichliche,
dem Buchweizen zu vergleichende, Saamen bringt. Nicht über-
gehen dürfen wir endlich die Brodfrucht im eigentlichen Sinne des
Wortes, welche das Hauptnahrungsmittel der Bewohner der großen
Inſelkette iſt, welche ſich von Oſtindien durch das ganze tropiſche Meer
bis an die Weſtküſte von America hinzieht, die Gabe des ſchönen großen
Baums aus der Familie der Neſſelpflanzen, den man ſeines Nutzens
wegen den Brodfruchtbaum†*) genannt hat. Zur Abwechſe-
[248] lung bauen einige daneben noch die Tarroo-Wurzel*), die Tacca-
knollen**), oder einige Farnkräuter***), deren mehlreiche Blatt-
ſtiele zur wohlſchmeckenden Speiſe dienen. Soll ich endlich noch die
Kartoffel erwähnen, die ſich von den Gebirgen der neuen Welt
mit ſolcher Schnelligkeit über die ganze Erde verbreitet hat, daß ſie
an manchen Orten nicht eben zum Vortheil der Menſchen jede andere
Cultur zu verdrängen droht. Nur ein Theil ihres Vaterlandes ſelbſt,
nämlich Mexico, iſt freigeblieben und baut nur in neueſter Zeit
wenige ſchlechte Knollen an den Küſtenorten, um den verwöhnten euro-
päiſchen Gäſten ihre, man kann mit ſeltſamer Verkehrung der Begriffe
ſagen, vaterländiſche Speiſe vorzuſetzen. Wozu bedurfte auch ein Land
der Kartoffel, in welchem die vielleicht tauſendjährige Cultur den
Boden ſo wenig erſchöpft hat, daß nach weniger Arbeit eine ſchlechte
Maiserndte 200fältigen Ertrag liefert, der ſich in guten Jahren auf
das 600fache ſteigert.
Und wir, die wir uns ſchmeicheln große Landwirthe zu ſeyn, die
wir ackern, düngen und ſäen mit den ſinnreichſten Maſchinen, bilden
uns ein, Großes gewirkt zu haben, wenn wir ein zwölffaches Korn
erndten. Selbſt dieſes verdanken wir nicht unſerer Kunſt, der wir
es ſo gern zuſchreiben möchten. Der am ſchlechteſten beſtellte Boden
bringt in einem günſtigen Jahre reichere Erndte, als wir dem beſten
Boden mit allem Culturfleiß in dem ungünſtigſten Jahre abzwingen
können. Wahrlich, nur wer mit beſchränktem Blick an der Scholle
kleben bleibt, die ſein Pflug aufgeworfen, kann noch das Gefühl der
Bedeutſamkeit menſchlicher Thätigkeit in ſeiner Bruſt bewahren. Wer
den freien Blick über das Rund der Erde ſchweifen läßt, und im
Großen das Spiel der wirkenden Kräfte überblickt, der lächelt des
grabenden, ſchleppenden, geſchäftigen, keuchenden Ameiſenhaufens,
den wir Menſchheit nennen und der mit aller ſeiner eingebildeten Weis-
heit nicht im Stande iſt, die kleinſte Wirkung der Geſetze zu ändern,
welche die tyranniſche Rieſin Natur ihren Sclaven vorgeſchrieben.
[[249]]
Elfte Vorlesung.
Geſchichte der Pflanzenwelt.
Der ewig waltenden Natur,
Und aus den unterſten Bezirken
Schmiegt ſich herauf lebend'ge Spur.’
(Fauſt.)
[[250]]
Die Vignette zeigt eine Gruppe von verſteinerten Pflanzen oder Pflanzenab-
drücken, z. B. ganz hinten einen Calamitenſtamm, links und rechts einige Farn-
krautabdrücke und ſo weiter. —
[[251]]
Es könnte ſeltſam erſcheinen, daß der Menſch von den früheſten
Zeiten an über nichts ſo gern nachgedacht, nichts ſo ausführlich ent-
wickelt und über nichts ſo weitläufig gelehrt und geſchrieben hat als
über das, wovon wir Menſchen nichts wiſſen und nichts wiſſen kön-
nen. Gleichwohl iſt die Sache ſehr natürlich in der menſchlichen
Trägheit einerſeits und Eitelkeit andererſeits begründet. Sobald die
erſte Stufe ſinnlicher Anregung und gewohnheitsmäßigen Dahin-
lebens überwunden iſt, ſobald der Menſch überhaupt anfängt an gei-
ſtiger Bewegung Gefallen zu finden, erwacht auch der Ehrgeiz, mehr
zu wiſſen, tiefer zu blicken als Andere. Der rechte Weg zu dieſem
Ziele, umfaſſende Kenntniſſe und anhaltendes, ernſtes, begriffsmäßiges
Nachdenken iſt aber gar zu beſchwerlich und deshalb nicht Jedermanns
Sache, und ſtatt auf dieſem Wege dem wirklich Erkennbaren nachzu-
ſtreben, wendet der Menſch lieber ſeine Phantaſie, ein Vermögen,
deſſen Thätigkeit wegen ſeiner halb ſinnlichen Natur ſcheinbar einen
ungleich größeren Genuß gewährt, den Regionen zu, wo nicht die
unbequeme Thatſache und die ſicher abſprechende Logik den Anſichten
in den Weg treten können, wo die Phantaſie, die nicht dem Urtheils-
ſpruch der Wahrheit unterworfen iſt, in dem Einen eben ſo berechtigt
iſt als im Andern und alſo von dieſem keine Widerlegung zu fürchten
hat, und wo man, die Begründung der aufgeſtellten Träume klüglich
ganz überſpringend, gleich ſich hinter die uneinnehmbare Verſchan-
zung zurückzieht: Beweiſe mir das Gegentheil! Ich will hier
nicht auf die verſchiedenartigen religiöſen Phantasmagorien, auf die
Unterſuchungen über das, was nach dem Tode ſeyn wird, und der-
[252] gleichen eingehen, ſondern nur die Kosmogonien hervorheben,
die ſich jedes Volk, ja in jedem Volke faſt jeder Einzelne anders
auszeichnet und daran erinnern, daß mit mehr Eifer über die
Wahrheit der ſechstägigen moſaiſchen Schöpfungsgeſchichte geſtritten
iſt, als man jemals daran gewendet, ſich den Spruch: „liebe dei-
nen Nächſten als dich ſelbſt“ in allen Beziehungen zu ent-
wickeln und danach zu handeln. Während die übermüthige engliſche
Hochkirche, viel verächtlicher als das Pabſtthum in ſeinen widerlichſten
Extremen, ſich mit dem Schweiß und Blut von Millionen armer
hungernder Irländer mäſtet, verfolgt ſie in England mit allen Nichts-
würdigkeiten, die ihrer Macht zu Gebote ſtehen, jede wiſſenſchaftliche
Unterſuchung, die ihrer bornirten Anſicht von der Buchſtabenwahrheit
alter jüdiſcher Poeſien zu widerſprechen ſcheinen. Nirgend mehr und
faſt nur da iſt der Menſch unduldſam, wo an eine wiſſenſchaftliche
Begründung oder Widerlegung nicht zu denken iſt. Wer auf dem
Gebiete des Beweisbaren dem geſunden Menſchenverſtande ins Ge-
ſicht ſchlagen will, unterliegt dem Fluche der Lächerlichkeit, dem nichts
widerſteht. Aber da, wo kein Beweis dafür und folglich auch in der
Regel kein Beweis dagegen möglich iſt, erzwingt die Eitelkeit, wenn
ſie mit Macht gepaart iſt, die Anerkennung ihrer Träumereien und
behauptet wohl gar mit gottesläſterlicher Frechheit, daß der ewige
Lenker der Welten ſie vor allen Menſchen mit beſondern geheimen
Mittheilungen ausgerüſtet habe. — Das Schlimmſte dabei bleibt
aber, daß, während man ſich dem Ausſpinnen, Vertheidigen und An-
greifen von Traumgebilden über unfaßbare Dinge hingiebt, ſo
häufig die Zeit und Gelegenheit verſäumt wird, nicht nur ſeine Pflicht
zu thun und Gottesfurcht im Leben zu üben, ſondern auch mit Ruhe
und Klarheit die Verhältniſſe aufzufaſſen, die Thatſachen zu ſammeln,
welche nothwendig ſind, um das mögliche Wiſſen zu fördern und
zu entwickeln.
Ueber den einfachen Ausſpruch: „Gott iſt der heilige Urheber
aller Dinge, und ſeine Weisheit, ſeine Liebe hat die Welt erſchaffen“,
kommt auch der tiefſte Naturforſcher nicht hinaus. Er gilt ihm wie
[253] jedem in ſich ſelbſt verſtändigten Menſchen als eine unantaſtbare
Wahrheit. Aber er entwerthet dieſe Wahrheit nicht dadurch, daß er
ſie in das Zeitliche und Räumliche oder gar in das blos Irdiſche
überträgt. Er fragt nicht bei dem Allmächtigen nach dem menſchlich
beſchränkten Wie der Vermittlung, nicht bei dem Ewigen, Zeitloſen,
nach der nur in der Zeit Platz greifenden Folge von Urſache und
Wirkung. — Er weiß, daß, wo er die ihn umgebende Natur mit
Beobachtung oder Gedanken rückwärts oder vorwärts verfolgt, er
nur eine endloſe Reihe von Veränderungen des Geſchaffenen, aber
nie ein Entſtehen, ein Vergehen finden kann.
Die einfach poetiſche Sage der Juden oder die ſogenannte Schö-
pfungsgeſchichte bewegt ſich wie natürlich auf einem Standpunct, wo
das Rund der Erde noch den Blick des Menſchen umfing, wo ihm
Sonne, Mond und Sterne nur freundliche Lichter waren, den Tag
zu erhellen, die Nacht zu verſchönern. Naturbetrachtungen im Großen
und in einer großartigen Natur, noch unzerſtreut durch die verwirrende
Menge der Einzelanſchauungen, mochten früh ſchon dem gebildeten
Stand der ägyptiſchen Prieſter eine Ahnung erweckt haben, daß ge-
waltige Umwälzungen unſere Erde erſt nach und nach zu dem Zu-
ſtande gebracht, in welchem wir ſie jetzt finden. Es mochten ſich hier
durch Nachdenken über das große Spiel der Naturkräfte beſtimmtere
Anſichten gebildet haben über die allmälige Bildung der feſten Erdrinde,
das Vorangehen der vegetabiliſchen Entwicklung von der thieriſchen und
das endliche Auftreten des Menſchen als des vollkommenſten Orga-
nismus, den wir auf Erden kennen, dem man billig das Unvollkomm-
nere ſtufenweiſe vorhergehen ließ. Dieſe Anſichten über die allmälige
Bildung der Erde, die dem damaligen Menſchen noch mit der Welt
gleichbedeutend war, faßte einer der größten und genialſten Köpfe des
Alterthums, Moſeh, mit ſeinem geläuterten und reinen Gottesglauben
zuſammen und zeichnete ſie unter dem Bilde der Weltſchöpfung aus.
Aber nicht die wenigen Züge naturhiſtoriſcher Kenntniß, die ſich darin
finden, ſind das Großartige, das alle andern Sagen der Völker hoch
Ueberragende, ſondern der Ausſpruch: „die Welt iſt nicht ſeit an-
[254] fangsloſer Zeit geweſen, iſt nicht Spiel einer blinden Bildungskraft,
nicht Product einer ſtarren Nothwendigkeit, eines Schickſals, ſondern
es iſt die freie That eines heiligen Urhebers, einer ewigen Liebe.“ In
dieſem Sinne hat ſich keiner der Menſchenſtämme je zu dem Begriffe
der Schöpfung erhoben, denn ſelbſt die nahe anklingende und
offenbar verwandte Brahmaſage iſt, gegen dieſen einfachen, klaren
Gedanken gehalten, phantaſtiſch verworren und ſinnlich unklar. —
Immer bis in die fernſten Zeiten wird es unverändert wiederhallen:
„Gott ſchuf die Welt;“ aber weit hinaus ſind wir ſchon über die
damit vermengten naturwiſſenſchaftlichen Anfänge. Sie beziehen ſich
nicht auf die Welt, ſondern auf eines der kleinſten Stäubchen von Einem
der unzählbaren Staubhäufchen, die im Aethermeere ihren endloſen
Reigen tanzen. Von allen jenen Millionen andern größern, wunder-
baren Weltkörpern wiſſen wir über Entſtehung und Entwicklung
nichts. Von der Welt wiſſen wir nur, ſie iſt da und gehorcht jetzt
einfachen, ausnahmsloſen Naturgeſetzen; jene moſaiſche Schöpfungs-
geſchichte dagegen iſt zuſammengeſchmolzen zu Einer Zeile in dem
Rieſenbuche, welches die zeitlichen Veränderungen des ſchon Geſchaf-
fenen erzählt, eine Zeile, von der wir zwar einige Buchſtaben mehr
entziffert haben als die Menſchheit zu Moſes Zeit, aber ohne daß wir
ſie ſchon vollſtändig leſen könnten. Wir wollen verſuchen, wie wir
die entzifferten Buchſtaben zu einem verſtändlichen Ganzen zuſammen-
faſſen können.
Der erſte Zuſtand der Erde, auf deſſen Kenntniß noch
mehr als bloße Träumereien, und wenigſtens wohl geordnete
wiſſenſchaftliche Analogieen hinführen, iſt der einer geſchmolzenen,
feurigflüſſigen Maſſe, umgeben von einer dichten Atmoſphäre, welche
ſämmtliche jetzt auf der Erde fließende Gewäſſer als Dampf enthielt,
vielleicht eine beträchtlich größere Menge Sauerſtoff, ſicher aber einen
ungleich größeren Antheil an Kohlenſäure als jetzt zu ihren Beſtand-
theilen zählte. In dem nach ungefähren Schätzungen wenigſtens
— 40 Grad kalten Weltraum mußte die Erde ſich allmälig abkühlen,
die geſchmolzenen Maſſen mußten erſtarren und ſo bildete ſich eine
[255] feſte Rinde, auf welche ein Theil des Waſſerdampfes, von der ver-
minderten Erdwärme nicht mehr zurückgehalten, als Regen nieder-
ſtürzte. Jeder ſich abkühlende Körper zieht ſich aber zuſammen und ſo
mußte ſich auch die Erdrinde zuſammenziehen, es mußten Riſſe ent-
ſtehen, aus denen ein Theil des noch flüſſigen Kerns hervorgepreßt
wurde, ſich über den Riß erhob und über ſeine Ränder ausbreitete, auf
dieſe Weiſe die erſten Unebenheiten oder Berge, und dadurch auch zuerſt
den Unterſchied zwiſchen höherem trockenem Lande und dem die Fläche
bedeckenden Meere bildend. Bei immer größerer Abkühlung, bei immer
ſtärkerer Verdickung und Zuſammenziehung der Erdrinde mußte ſich
dieſer Vorgang öfter und in immer heftigerer Weiſe wiederholen,
heftiger weil in der dickern Rinde die Spalten immer enger wurden
und die ſchon durch Abkühlung mehr zähflüſſig gewordene Maſſe, ſich,
aus den Riſſen hervortretend, nicht gleich über die Ränder ausbreitete,
ſondern nach und nach immer höher hervorſchob. Aber in eben demſel-
ben Maaße wie die feſte Kruſte dicker und widerſtandsfähiger wurde,
mußten jene Proceſſe auch mehr örtlich werden, und ihre erſchütternde
Wirkung ſich auf einen geringern Theil der Erdoberfläche ausbreiten.
An manchen Stellen bildeten ſich auch wohl nur blaſenförmige Er-
hebungen, die ausdem Waſſer hervortraten und öfter, wenn der Inhalt
ſich anderswo Luft machte, ſchneller oder langſamer wieder einſanken.
Wie oft ſich ſolche Erſcheinungen im größeren Maasſtabe
wiederholt haben mögen, wiſſen wir nicht. Viele Geologen nehmen
nach den an unſern jetzigen Gebirgsſyſtemen beobachteten Verhältniſſen
an, daß 12, 24 ſolcher Erhebungen Statt gehabt haben mögen, einige
zählen noch mehr, andere noch weniger, indeß iſt die Annahme nur
für das jetzt vor uns liegende Product gültig, denn Niemand kann
uns darüber eine Andeutung geben, wie viele ganze Gebirgsſyſteme
ſchon in frühern Zeiten beſtanden haben und völlig wieder vernichtet
oder auf den Grund des Oceans hinab geſunken ſind.
Zu jener Erſtarrung der feurigflüſſigen Maſſen, woran vielleicht
der Sauerſtoff der Atmoſphäre in ſo fern einen Antheil nahm, als
er ſich mit dem Metall des Kalks, der Kieſelerde, des Kali, Natron
[256] und andern zu den Sauerſtoffverbindungen oder Oxyden verei-
nigte, aus denen gegenwärtig die Gebirgsmaſſen beſtehen — zu
jener unmittelbaren Bildung der Gebirge aus der ſich abkühlen-
den und erhärtenden Grundmaſſe, ſage ich, kam noch ein anderer
Vorgang, der von nicht minder großem Einfluß war. Sobald näm-
lich die erſten feſten Geſteinsmaſſen ſich in die Luft erhoben, waren
auch ſchon Kräfte thätig ſie wieder zu zerſtören, Kräfte, die wir größ-
tentheils noch jetzt, wenn auch vielleicht in minderer Heftigkeit, raſt-
los an der Vernichtung und Verflachung der Gebirge arbeiten ſehen.
Der Wechſel von Hitze und Abkühlung bewirkte ein Zerſpringen der
Geſteinsmaſſen; in die Sprünge drang das von Kohlenſäure geſät-
tigte Waſſer ein, zerſetzte die früher entſtandenen chemiſchen Verbin-
dungen und lößte auf dieſe Weiſe den innern Zuſammenhang der
Felſen, der zerbröckelte und endlich in Staub ſich auflöſte. So ſehen
wir noch jetzt auf dem Brocken große Granitblöcke in einer Reihe
von Jahren zu einem grobkörnigen Sande zerfallen. Jene Sand- und
Staubmaſſen wurden aber von den gewaltigen Regengüſſen, die bei
weiterer Abkühlung der Erde immer heftiger herunterſtürzten, in die
Tiefen, die großen Becken des Uroceans zuſammengeſchwemmt und
ſetzten ſich hier beim ruhigen Stehen des Waſſers ſchichtenweis auf dem
Boden ab, bis etwa ein neuer Ausbruch dieſen Meeresboden und die
darauf abgeſetzten Schichten wiederum über den Spiegel des Waſſers
hinaushob. Es verſteht ſich, daß auch dieſe ſo gehobenen Gebirgs-
maſſen dem Proceß der Verwitterung unterlagen, und daß die
Producte derſelben zuſammengeſchwemmt zu neuen Ablagerungen
anderer Art Veranlaſſung geben mußten. Indeſſen ſind doch die ur-
ſprünglichen Verſchiedenheiten dieſer Ablagerungen der Zeit nach nicht
ſehr verſchieden und laſſen ſich auf Sandſtein, Kalkſtein und Thone
oder Mergel zurückführen, die in allen Perioden wiederkehren. Dieſe
Vorgänge müſſen viele Hunderttauſende von Jahren gedauert haben,
bis ſich die feſte Rinde des Erdkörpers allmälig der Geſtalt annäherte,
welche ſie noch jetzt zeigt und bis ſich der heftige Kampf zwiſchen der
noch feurigflüſſigen Maſſe und der Dampfatmoſphäre bis zu einer
[257] gewiſſen Ruhe gemäßigt hatte. Dieſe Bildungsgeſchichte unſeres Erd-
körpers führt uns auf die Annahme zweier ihrem innerſten Weſen
nach verſchiedenen Gebirgsmaſſen, nämlich der ungeſchichteten aus
geſchmolzenem Zuſtande erkalteten und der geſchichteten aus den Ab-
ſätzen des Waſſers entſtandenen Geſteine.
Zu irgend einer Periode dieſer allmäligen Geſtaltung des
Landes entſtanden durch Kräfte, die zwar noch vorhanden ſeyn
mögen, aber unter Bedingungen und einem Zuſammenwirken
jener verſchiedenen Kräfte wie es jetzt auf unſerer Erde nicht
mehr möglich ſcheint, die erſten Keime organiſcher Weſen. Wahr-
ſcheinlich war das Meer die Geburtsſtätte dieſer Organismen und
waren die Formen derſelben noch ſehr einfach. Die abſterbenden
Organismen wurden im Grunde des Meeres von den Abſätzen be-
graben und erhielten ſich ganz oder in ihren feſteren Theilen (Schalen
oder Knochen), wenigſtens ihrer äußern Form nach, wenn auch die
organiſche Subſtanz zum größten Theil zerſtört und oft durch ein-
dringende unorganiſche Stoffe erſetzt wurde, als ſogenannte Ver-
ſteinerungen (Petrefacten). Schon aus dem über die Bil-
dungsgeſchichte der Gebirge Geſagten geht hervor, daß ſolche Ver-
ſteinerungen nur in den geſchichteten Steinen vorkommen können.
In ſpäteren Perioden entſtanden dann auch Organismen auf dem
trocknen Lande und auch von dieſen gingen Reſte als Verſteine-
rungen in die Gebirge über und zwar auf doppelte Weiſe, entweder
wurden ihre Leichen durch Regengüſſe und die größeren Ströme dem
Meere zugeführt, oder der ganze Boden, auf welchem ſie lebten, ver-
ſank, wie oben erwähnt, unter den Meeresſpiegel und begrub ſie ſo
in ganzen Maſſen unter den Abſätzen der Gewäſſer. —
Das ſorgfältige Studium der Gebirgsſyſteme, Gebirgsmaſſen
und Verſteinerungen hat nun dahin geführt, daß man die allmälige
Bildung der Erde in beſtimmte, zwar nicht der Zeit aber doch ihren
Producten nach begrenzte Perioden hat eintheilen können und man
nennt dieſe Producte Gebirgsformationen, die in beſtimmter
Reihefolge geordnet ſich ſo verhalten, daß nirgends auf der Erde ſich
Schleiden, Pflanze. 17
[258] eine tiefer in der Reihe ſtehende Formation auf einer höher ſtehenden
aufgelagert findet, ſo daß man mit Sicherheit annehmen kann, daß
ſie in dieſer Ordnung nach einander ſich gebildet haben. — Von
dieſen Formationen faßt man nun mehrere zuſammen und bildet daraus
größere Bildungsperioden, gleichſam Altersſtufen der Erde,
nach denen ich dann auch im Folgenden kurz die allmälige Entwick-
lung des Pflanzenreichs ſchildern will.
Ehe ich aber dazu übergehe muß ich noch einmal auf den ur-
ſprünglichen Zuſtand der Atmoſphäre unſerer Erde, auf den clima-
tiſchen Zuſtand derſelben und ſeine allmäligen Veränderungen zurück-
gehen. Die Temperatur unſeres Erdkörpers hat eine doppelte Quelle,
nämlich die eigne ihm inwohnende Wärme und die, welche er durch
die Strahlen der Sonne erhält. Von der Wärme aber, die er hat
oder erhält, giebt er beſtändig eine gewiſſe Menge an den kalten
Weltraum ab. Abkühlung und Erwärmung von der Sonne her ſtehen
jetzt in dem Verhältniß zu einander, daß ſie ſich vollkommen das
Gleichgewicht halten und daß wenigſtens ſeit faſt 3000 Jahren die
Temperatur der Erde ſich nicht um den zehnten Theil eines Grades
verändert haben kann. Dafür haben wir zwei Beweiſe, einen aſtro-
nomiſchen, welcher ſich auf die Beobachtungen der Mondfinſterniſſe
des Hipparch ſtützt, den ich hier übergehe, und einen botaniſchen,
den der geiſtreiche Arago zuerſt aufgefunden hat. Der Weinſtock reift
dort keine Früchte mehr, wo die mittlere Temperatur des Jahres höher
wird als 20 Grad, und umgekehrt gedeiht keine Dattel mehr, wo die
Temperatur unter 20 Grad herabſinkt. Dieſe Bedingungen treffen
nun gerade in Paläſtina zuſammen und hier fanden die Juden bei
ihrer Einnahme des Landes Datteln und Trauben vereinigt; hätte ſich
nun die Temperatur der Erde um ein Geringes ſeit jener Zeit erhöht
oder erniedrigt, ſo müßte eine jener Pflanzen in Paläſtina verſchwunden
oder doch unfruchtbar geworden ſeyn, was jedoch nicht der Fall iſt.
Wenn aber die Erde jetzt gerade ſo viel Wärme von der Sonne
empfängt als ſie durch Abkühlung wieder an den Weltenraum ver-
liert, ſo heißt das mit andern Worten, daß die Sonne jetzt die
[259] einzige Quelle der Wärme iſt und es muß daher die Wärme auf der
Erde auch ihrer Stellung zur Wärmequelle gemäß vertheilt, die Tropen
müſſen am heißeſten, die Pole kalt ſeyn, wie das ſchon in einer an-
deren Vorleſung entwickelt wurde. — Dies Verhältniß fand aber nicht
immer Statt. So lange die Erde noch feurig flüſſig und von einer
dichten, die Sonnenſtrahlen nur wenig durchlaſſenden Atmoſphäre
umgeben war, blieb die Wärmemenge, welche ſie von der Sonne
erhielt, verſchwindend klein gegen diejenige, welche ſie durch Abküh-
lung verlor, oder mit andern Worten: zur Zeit der ſich erſt bildenden
Erde lag die Quelle ihrer Wärme ſo gut wie ganz in ihr ſelbſt. Hier
fand daher auch keine nur vom Stande der Erde zur Sonne abhängige
Vertheilung der Wärme auf der Erde Statt und ſie hatte nahebei
überall die gleiche hohe Temperatur. Eine heiße, feuchte Atmos-
phäre, gegenwärtig das Characteriſtiſche der Tropenwelt, herrſchte
damals auf der ganzen Erde und machte die Polargegenden den Tro-
penländern gleich. Erſt nach und nach, wie ſich die Erde immer
mehr und mehr abkühlte, die Atmoſphäre immer mehr ihrer Dämpfe
als Regen herabſchüttete, ihre Kohlenſäure an die organiſche Welt ab-
gab und ſo lichter und durchſichtiger wurde, gewann die Sonne eine
größere Bedeutung und ſo gingen ſtufenweiſe die Gegenden höherer
Breiten und ſelbſt die Polarländer nacheinander die Climate durch,
die wir jetzt von dem Aequator zu den Polen nebeneinander auf
der Erde finden. Dieſes Verhältniß wird ſich ſpäter zur Erklärung der
verſchiedenen ſich folgenden Vegetationen an der Erde als ſehr fol-
genreich erweiſen.
Wie ſchon erwähnt entſtanden wahrſcheinlich die erſten Keime
des Lebendigen im Waſſer, und dem entſprechend finden wir in den
älteſten geſchichteten Felsarten, dem Grauwackengebirge, oder wie
die Engländer es nennen, dem ſiluriſchen Gebirge, nur einige
wenige Reſte von Tangarten, begleitet von den ſchon in der vor-
hergehenden cambriſchen Formation in einzelnen Vertretern ſich
zeigenden Meerthieren. Die gefundenen Tangarten zeigen im Allge-
meinen große Uebereinſtimmung mit den jetzt unter den Tropen vor-
17*
[260] kommenden Formen. Allerdings dürfen wir hier nicht unbemerkt
laſſen, daß das Grauwackengebirge bis jetzt faſt nur in England und
Deutſchland ſorgfältiger durchforſcht iſt, und daß gerade an dieſen
Orten die Schichten deſſelben durch ſpäter aufſteigende Gebirge und
durch die Einwirkung dieſer glühenden Maſſe ſo gewaltſam geſtört
und verändert ſind, daß gewiß viele in denſelben eingeſchloſſene Reſte
durch dieſe Revolutionen wieder vernichtet ſind. Dagegen ſcheint
dieſe Formation in Rußland in ungemeiner Ausdehnung noch auf
ungeſtörter Lagerſtätte vorzukommen, nur langſam und ruhig über
das Niveau des Meeres emporgehoben, und von dort werden wir erſt
in der Folgezeit eine genauere Kenntniß dieſer älteſten Meeresabſätze
erhalten.
In der zweiten Periode haben ſich zahlreiche Inſeln gebil-
det, deren Boden, zum größten Theil aus Schichten der vorigen Periode
beſtehend, ſchon eine reiche Landvegetation ernährt. Ein Theil von
England und Schottland, der Rheingegend, das Erzgebirge und die
Sudeten, Mittelfrankreich, die Vogeſen, nördlich ein Theil von
Schweden und Norwegen, die Alleghanys in Nordamerica und einige
andere Puncte können wir mit Sicherheit als ſolche Inſelgruppen nen-
nen, auf denen ſich eine ihrem Character nach ganz tropiſche, aber in
ihren einzelnen Formen ganz fremdartige und zu einem großen Theil aus
völlig von der Erdeverſchwundenen Pflanzengeſchlechtern beſtehende Ve-
getation entwickelte. Wenige Palmen und einige Cycadeen, einige
rieſige 12—20 Fuß hohe Formen von Schafthalmen, fanden ſich
zerſtreut in dichten Wäldern von baumartigen Farn, die mit Lepido-
dendren (zu mächtigen Stämmen ſich erhebenden Bärlappenar-
ten), Sigillarien (vielleicht Cactus ähnliche Pflanzen) mit Cala-
miten, Stigmarien und Radelhölzern abwechſelten. Noch
finden wir keine Spur davon, daß dieſe Inſeln auch von Thieren be-
wohnt geweſen ſind, aber im Meere jagten ſchon furchtbare Haie
die kleinen Fiſche, die Ufer waren mit zahlreichen Formen von Co-
rallen umſäumt, die Trilobiten, ſeltſame krebsartige Thiere,
wunderliche den Nautilen verwandte Geſchöpfe und die zierlichen,
[261] lilienähnlichen Encriniten und Pentacriniten gaben der Waſ-
ſerfauna eine reiche Mannigfaltigkeit. Ueberall auf der ganzen
Erde iſt jene Flora dieſelbe, von den jetzt eiſigen Klüften Islands,
bis zur glühenden Küſte von Malabar. — Lange muß dieſe Vege-
tation gedauert haben, oft muß der von den Reſten der abgeſtorbenen
Pflanzen mit dicker Humusſchicht bedeckte Boden wieder unter den
Meeresſpiegel verſunken und mit einer Schicht von Abſätzen überdeckt
und dann aufs Neue emporgeſtiegen ſeyn, um einer gleichen und gleich
üppigen Vegetation neuen Boden zu gönnen, denn dieſe Vegetation
iſt es, welche die unberechenbar großen, halbzerſtörten, vegetabiliſchen
Maſſen zurückgelaſſen hat, die als Steinkohle jetzt faſt einen der
weſentlichſten Theile des natürlichen Reichthums eines Landes aus-
machen. Wir finden oft 20 bis 30 Lager von Steinkohlen über-
einander, immer durch Schichten von Meerthiere einſchließende
Kalkabſätze getrennt. Wir finden oft in ſolchen Steinkohlenlagern
noch die aufrechten Stämme ganzer Wälder, beweiſend, daß das
ganze Land mit ſeiner Vegetation langſam und ohne bedeutende Revo-
lution unter die Meeresfläche herabgeſunken iſt, wie Aehnliches noch
jetzt an der Südweſtküſte von Nordamerica vorgeht; ja wir finden
ſolche Stämme nach unten mit ihren Wurzeln in die Steinkohle, das
heißt in den humusreichen Boden, der ſie nährte, verſenkt, während ihr
oberer Theil von der ſpäter auf den Boden abgelagerten Kalkſchicht
eingehüllt iſt. Wenn man bedenkt, daß bei der üppigſten Vege-
tation der Tropen die Bildung einer 9 Zoll dicken Humusſchicht faſt
ein Jahrhundert erfordert, daß dieſe Schicht, um zu Steinkohle
zu werden, auf den 27ſten Theil ihrer Dicke zuſammengepreßt werden
muß, ſo kann man ſich einen ungefähren Begriff von der Dauer jener
Periode machen, da die übereinander liegenden Kohlenlager in Eng-
land z. B. oft eine Geſammtmächtigkeit von 44 Fuß haben, alſo einem
Zeitraume von faſt 100,000 Jahren entſprechen würden. — Der
Character der Pflanzenwelt der Steinkohlenperiode in dem Vor-
herrſchen großer baumartiger Kryptogamen beſonders der Farnkräuter
ausgeſprochen, erinnert am meiſten an die Flora der tropiſchen Süd-
[262] ſeeinſeln, auch ſcheint die Vegetation dieſer Organismen vorzugsweiſe
durch eine heiße mit Feuchtigkeit geſättigte Atmoſphäre, wie wir
ſie für jene Epoche der Erde anzunehmen gezwungen ſind, bedingt
zu ſeyn. —
In der darauf folgenden Periode der ſecundären Gebirge ſchei-
nen die vorher vorhandenen Inſeln mit ihren Floren zum Theil wieder
ins Meer verſenkt worden zu ſeyn, während ſich andere ausgedehntere
Landſtriche erhoben, deren Boden vorzüglich aus den Kalken und
Sandſteinen der Steinkohlenperiode beſtand. Zum Theil traten dieſe
Landſtrecken wohl mit den noch vorhandenen Inſeln in Verbindung
und ſo retteten ſich einzelne Pflanzenformen der vorigen Epoche in die
neue Ordnung der Dinge herüber, während die meiſten eigenthüm-
lichen Pflanzengeſchlechter theils mit ihrem Boden verſanken, theils
wohl in Folge der allmälig weſentlich veränderten phyſicaliſchen Ver-
hältniſſe ausſtarben. Die baumartigen Farnkräuter und die
Calamiten ſind zwar noch vorhanden, werden aber ſeltener, dagegen
ſind die Cycadeen und Nadelhölzer in größter Menge und in
zahlreichen eigenthümlichen Formen entwickelt, dichte Wälder am
Rande größerer Landſeen bildend, in denen große ſchilf- und bin-
ſenartige Gewächſe vegetirten. Großartige Formen zu Bäumen
ſich erhebender Liliaceen, der Bucklandien und Clathrarien
bildeten vielleicht auf höherem Boden eigenthümliche Gruppen. Da-
zwiſchen wälzten ſich die Rieſenleiber vorweltlicher Gaviale,
Leguane und Schildkröten, flatterten die ſeltſamen Ptero-
dactylus arten, coloſſalen Fledermäuſen vergleichbar, und auf den
trocknen Plätzen ſpielten wunderliche Beutelratzen, während im
Meere die Ungeſtalten der Pleſioſauren und Ichthyoſauren,
halb Fiſche halb Eidechſen, ſich von den zahlreichen kleinen Bewohnern
des flüſſigen Elementes ernährten, das außerdem durch Ammoniten
und Nautilen, ſonderbaren Krebſen und eigenthümlichen Seeſter-
nen belebt wurde. In ſehr kleinem Maaßſtabe wiederholten ſich hier die
Verhältniſſe der Steinkohlenperiode und die Reſte jener Pflanzenwelt
finden ſich in der ſogenannten Keuperformation als Letten-
[263] kohle hin und wieder ſo mächtig, daß man es der Mühe werth ge-
achtet, ſie bergmänniſch zu gewinnen. Beſtand das Eigenthümliche
der Steinkohlenflora in dem Ueberwiegen baumartiger Kryptogamen,
zu denen ſich nur einzelne Coniferen und Cycadeen hinzugeſellt, ſo
werden dieſe dagegen für die Periode der ſecundären Formationen
die eigentlich den Character beſtimmenden Pflanzen, während ſich
einzelne monocotyledone Formen einfinden. Aber ſchon gegen das
Ende der ſecundären Periode ändert ſich der Character der Vegeta-
tion, indem wahrſcheinlich ein großer Theil des ſchon gebildeten Landes
abermals langſam in das Meer verſank, umrandet von mächtigen Coral-
lenbänken, während anderwärts ſich mächtigere Continente, zum Theil
ſchon den jetzt noch vorhandenen entſprechend, erhoben. Wir finden
daher aus den letzten Formationen der ſecundären Gebirge faſt nur
einige Algen und monocotyledone Waſſerpflanzen und nur Andeu-
tungen, daß Cycadeen und Nadelhölzer nicht ausgeſtorben waren.
Die nun auftretende neue Ordnung, von den Geognoſten als
tertiäre Bildungen bezeichnet, beginnt zwar noch mit einem weit
auf der Erde verbreiteten tropiſchen Character, wir finden ſelbſt in
hohen Breiten, ſo in England noch reiche Palmenvegetation,
die überhaupt jetzt auffallend hervortritt und die Phyſiognomie der
Landſchaft beſtimmt zu haben ſcheint, während Coniferen und
Cycadeen allmälig ſich mehr auf beſtimmte Localitäten, vielleicht
jene auf kühlere Höhen, dieſe auf trockene ſonnige Hügel, zurückziehen.
Zwiſchen Pandaneen und mächtigen Rohrkolben weiden rieſen-
mäßige Tapire und die ſchon von dicotyledonen Laubhöl-
zern gebildeten Wälder werden durch Vögel und kleinere Landthiere
belebt. Wale, Walroſſe und Robben durchziehen die Meere. —
Während von den Polen her die Erde allmälig bis zu ihrer
gegenwärtigen Temperatur abzukühlen beginnt, werden Pflanzen und
Thierwelt immer beſtimmter localiſirt, es bilden ſich Faunen und
Floren beſtimmter Zonen. Schon gegen das Ende dieſer Periode be-
darf das Mammuth in den Steppen Sibiriens des wärmenden
Wollhaares gegen die eindringende Kälte und ſtiefmütterlicher von der
[264] Natur bedacht als ſein jüngerer Bruder der Elephant, muß es von
den ſich auf den Norden und die höheren Berge beſchränkenden Na-
delhölzern zehren. Immer mehr treten in der Pflanzenwelt die Formen
der Jetztwelt hervor. Erlen und Pappeln bedecken die friſche Nie-
derung, Kaſtanien und Feigen die ſonnigen Hügel und ſchlanke
Birken kämpfen mit den Fichten um den Beſitz des dürftigern und
kühleren Bodens. — Der Rieſenſtrom Nordamericas, der Miſſi-
ſippi, wälzt mit ſeinen Fluthen alljährlich unmeßbare Maſſen fort-
geſchwemmter vegetabiliſcher Leichen, große Baumſtämme aus den
Wäldern ſeines Quellengebietes, abwärts dem Meere zu. Hier kann
die langſamere Strömung jene ſchweren Leiber nicht mehr ſchwim-
mend erhalten und ſetzt ſie an der Mündung ab, ihre Zwiſchenräume
mit Schlamm und Steingerölle ausfüllend. Von Reworleans er-
ſtreckt ſich eine ſumpfige Niederung viele Meilen abwärts, die ganz
aus ſolchen zuſammengeſchwemmten, mit Sand und Thon verkitteten
und allmälig zu einer braunkohligen Subſtanz zerſetzten Pflanzen-
maſſen beſteht und für ferne Zeiten ein Kohlenlager bildet. Auf
ähnliche Weiſe haben große Ströme dieſer Periode zahlloſe Stämme,
beſonders von Nadelhölzern, in Buchten und Süßwaſſerbecken zuſam-
mengeflößt und abgeſetzt, welche vielleicht durch ſpätere Senkungen
noch tiefer unter die Meeresfläche gebracht, durch Ablagerungen von
Sand, Kalk oder Thon bedeckt und dann mit an die Oberfläche ge-
hoben wurden. Dieſe ſind es, welche die oft ſo ſehr ausgedehnten
Braunkohlenflötze bilden, die immer ein werthvolles Geſchenk
des Bodens, doch nur einen [d]ürftigen Erſatz für die verſagte Stein-
kohle bieten.
Dieſem ganzen Leben ſcheint die abermalige Erhebung einiger
bedeutenden Gebirgsſyſteme und insbeſondere der Himalaya durch
die herbeigeführte Niv[e]auveränderung des Meeres zum größeren
Theil ein Ende gemacht, und während gleichzeitig die Erde die Grenze
ihrer möglichen Abkühlung erreichte, ſo die gegenwärtige Bildung
des feſten Landes und ſeiner Organismen hervorgerufen zu haben.
Alle folgenden Veränderungen, die noch Statt fanden, Hebungen
[265] und Senkungen des Landes ſind unmittelbar nur von untergeordneter
localer Wirkung geweſen.
Wir können die hier vorgeführte Skitze kurz in folgende Haupt-
puncte zuſammenfaſſen. Die allmälige Entwicklung der Pflanzenwelt
beginnt bei den einfachſten Pflanzen und ſchreitet durch die ſich fol-
genden Perioden allmälig bis zu den vollkommenſten Gewächſen un-
ſerer gegenwärtigen Vegetation fort. — Die Bildungen der erſten
Perioden entſprechen einem gleichförmig über die ganze Erde verbrei-
teten Tropenclima, welches erſt nach und nach von den Polen zum
Aequator hin in die gegenwärtigen climatiſchen Verhältniſſe übergeht
und damit gleichlaufend erſcheint, eine andere Veränderung, indem
die Pflanzen der älteſten Perioden gleichmäßig über der ganzen Erde
verbreitet geweſen zu ſeyn ſcheinen, erſt nach und nach die Ver-
breitungsbezirke beſchränkter werden und ſo in die große geographiſche
Verſchiedenheit der Pflanzenwelt übergehn. — Die allmälige Umän-
derung des allgemeinen Tropenclimas in die climatiſchen Zonen der
Gegenwart, läßt ſich noch auf intereſſante Weiſe an einem ganz ſpe-
ciellen Beiſpiele nachweiſen. Jeder Holzſtamm der Nadel-Bäume ver-
dickt ſich fortwährend in ſeinem ganzen Umfang. In den Aequatorial-
gegenden, wo das Clima unausgeſetzt denſelben Character das ganze
Jahr hindurch beibehält, geht auch dieſe Verdickung des Stammes
ununterbrochen und gleichförmig vor ſich, kein Merkmal verräth uns
auf einem glatten Querſchnitt des Stammes die Zeit, welche zu ſeiner
Ausbildung nöthig war. So wie wir aber nach Norden fortſchreiten,
ſo wie die climatiſchen Verhältniſſe mehr und mehr eine Verſchieden-
heit der einzelnen Jahreszeiten bedingen, ſo zeigt ſich auch dem ent-
ſprechend das Wachsthum in die Dicke durch die begünſtigenden
Jahreszeiten gefördert, durch die ungünſtigeren Zeiten dagegen ge-
hemmt oder ganz unterdrückt. Auf einem Querſchnitte des Stammes
zeigen ſich je mehr er in einer höheren Breite gewachſen iſt, um ſo
mehr auch Verſchiedenheiten in der Bildung der aufeinander folgenden
Theile des Holzes, die endlich in den Breiten mit ſcharfem Wechſel
von Winter und Sommer ſo auffallend das zuletzt im Sommer ent-
[266] ſtandene von dem zuerſt im nächſten Frühjahre gebildeten Holze un-
terſcheiden, daß man an den dadurch auf einem Querſchnitt hervor-
gerufenen ringförmigen Zeichnungen mit der größten Sicherheit und
Genauigkeit die Zahl der Jahre, welche das Holz zu ſeiner Bildung
bis dahin gebraucht hat, abzählen kann. Man nennt deshalb auch
dieſe kreisförmigen Linien des Querſchnittes, die jedem Förſter be-
kannt ſind: Jahresringe. Vergleichen wir mit dieſer Kenntniß
ausgerüſtet nun die Stämme der Nadelhölzer, welche uns aus den
verſchiedenen Bildungsepochen aufbehalten ſind, untereinander, ſo
finden wir, daß die älteſten Ueberreſte durchaus keine Spur von
Jahresringen zeigen, daß aber ſo wie wir mit der Zeit fortſchreiten
dieſe letzten immer ſchärfer und endlich in der jüngſten Bildung, z. B.
in der obern Braunkohle, gerade ſo ſcharf hervortreten wie an den in
denſelben Gegenden noch jetzt lebenden Bäumen.
So ſkitzenhaft und unvollkommen die von mir gegebene Darſtel-
lung der ſich einander folgenden irdiſchen Vegetationen iſt, eben ſo,
nur auf höherer Stufe unvollſtändig und lückenhaft, iſt überhaupt
unſere Kenntniſſe von dieſen Zeiten, die nicht mehr ſind. Wenn man
erwägt, wie viele Zufälligkeiten zuſammentreffen mußten, daß Orga-
nismen, nur einigermaßen erkennbar, in ſich bildende Gebirgsmaſſen
eingeſchloſſen werden konnten, wie vielerlei zerſtörende Kräfte während
der Hunderttauſende von Jahren, die zwiſchen den erſten Anfängen einer
Vegetation und der Jetztwelt liegen, ihren Einfluß auf die bewahrten
Organismen geltend machen mußten, ſo wird man ſich nicht wundern,
daß unſer Wiſſen hier, mehr wie irgend wo, Stückwerk iſt, aber man
wird auch den Männern ſeine Bewunderung nicht verſagen können,
deren raſtloſer Fleiß, deren geiſtreiche Combinationen das, was wir
von der Urgeſchichte der Pflanzenwelt wiſſen, zu Tage förderten und
mit einem ſo hohen Grade von Gewißheit hinſtellen konnten. Be-
ſonders ſind hier die Ramen Sternberg, Brogniart, Göp-
pert und Unger zu nennen, die ſich um die Kenntniß der urwelt-
lichen Flora unſterbliche Verdienſte erworben haben. —
Aber ich habe nur eine Skitze gegeben von dem, was wir
[267]wiſſen, von dem, was zu verſchiedenen Zeiten der Erde war, und
gleichwohl möchte Manchem die Frage nach Dem was wir nicht
wiſſen, nach dem wie es wurde, ein nicht minder großes Intereſſe
zu haben ſcheinen. Hier nun gerathen wir faſt ganz in das Gebiet der
willkürlichen Phantaſieſpiele, nur ſchwankende Analogieen können wir
hin und wieder herbeiziehen, um uns die Bilder mit einem ſchwachen
Schein von Wahrſcheinlichkeit auszumalen, und ſo natürlich es auf der
einen Seite iſt, daß hier die Anſichten der einzelnen Forſcher unendlich
von einander abweichen, ſo lächerlich und zwecklos iſt es doch auf der
andern Seite, ſich über dieſe oder jede Meinung, über die Wahrheit
oder Falſchheit eines wachen Traumes zu ſtreiten, wie nur zu oft
geſchehen iſt.
Daß einmal wenigſtens aus dem Kampf der unorganiſchen Ele-
mente die Keime des organiſchen Lebens an der Erde hervorgegangen
ſeyn müſſen, leidet keinen Zweifel, aber eine andere Frage iſt die:
hat dieſer Vorgang öfter Statt gefunden und mußte er öfter Statt
finden? — Da in dieſer Sache jeder ſeine Phantaſieen für ſich hat
und haben darf, warum ich nicht die Meinige auch. Ich halte die
Annahme einer mehrmaligen Urzeugung, einer ganz neuen Ent-
ſtehung von Pflanzenkeimen aus unorganiſirten oder ſelbſt unorgani-
ſchen Stoffen, für überflüſſig und folglich für verwerflich und zwar
aus der Zuſammenſtellung folgender Betrachtungen über die allmä-
lige Entwicklung der Pflanzenwelt. Die einfachſte Grundlage der
ganzen Pflanzenwelt iſt die Zelle *), ein ſehr einfach gebauter Orga-
nismus, deſſen Entſtehung aus dem eigenthümlichen Zuſammentreten
von Kohlenſäure und Waſſer einerſeits zu Gummi und Pflanzen-
gallerte, und von Kohlenſäure und Ammoniak andererſeits zu Schleim
oder Eiweiß, einer möglichen Erklärung nicht ſo ſehr ſich entzieht als
die plötzliche Entſtehung eines Pflanzenkeims mit ganz beſtimmten
Entwicklungsvermögen zu einer eigenthümlichen Pflanzenart. Daß
die Zelle als eine ſelbſtſtändige Pflanze fortvegetiren kann, wiſſen wir
[268] aus der noch jetzt uns umgebenden Pflanzenwelt, da viele der
einfacher gebauten Pflanzen, zumal der Waſſerpflanzen, aus
einer einzelnen Zelle beſtehen und ſich unter einander nur durch die
verſchiedene Form der Zellen unterſcheiden. Die Hauptbedingungen
zu einer üppigen und formenreichen Pflanzenwelt unter den Tropen
ſind Feuchtigkeit und Wärme, die Urſachen ihrer Mannigfaltigkeit
ſcheinen in dem Reichthum des Bodens an leicht auflöslichen unor-
ganiſchen Stoffen zu liegen, welche zunächſt eine Abänderung des
chemiſchen Proceſſes in den Pflanzen und dadurch ein größeres oder
geringeres Abweichen in den Formen hervorrufen *). Beide Verhält-
niſſe finden ſich unter den Tropen zuſammen, weil ſie von einan-
der abhängig ſind, denn die durch feuchtwarme Atmoſphäre hervor-
gerufene üppigere Pflanzenwelt bereitet durch ihr Abſterben und raſches
Verweſen einen an leicht löslichen unorganiſchen Subſtanzen reicheren
Boden für die folgende Generation. Aehnliche Verhältniſſe, das heißt
größeren Reichthum an löslichen unorganiſchen Stoffen, zeigt auch
unſer gedüngtes Culturland, und die Alpenregion, welche von den
am meiſten der Verwitterung preisgegebenen nackten höheren Felſen
beſtändig mit einem Reichthum auflöslicher Verwitterungsproducte
verſorgt wird **). Wir wiſſen ferner, daß einmal gebildete Spielarten,
[269] wenn ſie mehrere Generationen hindurch unter denſelben Bedingungen
fortvegetiren, zuletzt in Unterarten, das heißt in Spielarten, die ſich
mit Sicherheit durch ihren Saamen fortpflanzen laſſen, übergehen, wie
das z. B. unſere Erbſenbeete, unſere Kohlpflanzungen, unſere Wei-
zenfelder beweiſen. Wie nun aber, wenn dieſelben Einflüſſe, die eine
Abänderung der urſprünglichen Form einer Pflanze hervorriefen, nicht
Jahrhunderte und Jahrtauſende, ſondern 10 und 100 Tauſend Jahre
in gleicher Weiſe zu wirken fortfahren, — wird nicht da zuletzt wie aus
der Spielart eine Unterart, ſo aus dieſer eine ſo feſtſtehende Pflan-
zenform werden, daß wir ſie als Art bezeichnen und bezeichnen müſſen?
Nun denn, iſt die erſte Zelle gegeben, ſo iſt dann mit dem Vorigen
auch der Weg bezeichnet, wie ſich ausgehend von Derſelben allmälig
der ganze Reichthum der Pflanzenwelt durch Bildung von Spielarten,
Unterarten und Arten und ſo fort von dieſen aufs Neue beginnend,
habe bilden können, — freilich in Zeiträumen, von denen wir keinen
Begriff haben, über die wir aber, wenn es ſonſt an Nichts fehlt, in
unſern Träumen nach Belieben verfügen dürfen; denn um es hier
noch zu erwähnen, alle neuern ausgezeichneten Geologen kommen im-
mer mehr und mehr zu der Anſicht, daß gar Vieles bei der Bildung
unſerer Erdveſte, was man früher heftigen, krampfhaften und plötz-
lichen Revolutionen zuſchrieb, vielmehr das Product langſam aber
durch ungeheure Zeiträume hindurch wirkender Thätigkeit geweſen
ſey. Der Niagarafall z. B. ergießt ſich in eine Schlucht, die in eine
Gebirgs-Terraſſe eingeſchniten iſt und Lyell hat nachgewieſen, daß
**)
[270] der Waſſerfall anfänglich, das heißt ſchon am Ende aller ſogenannten
Erdrevolutionen und Sündfluthen, ſein Waſſer über den Rand der Ter-
raſſe ſelbſt herabgeſchüttet und erſt allmälig ſich jene Schlucht ausge-
waſchen habe. Dazu bedurfte es aber eines Zeitraums von minde-
ſtens 20,000 Jahren und ſo lange zum Wenigſten alſo beſteht Nord-
america ſchon in ſeiner jetzigen Configuration und unter denſelben
phyſicaliſchen Verhältniſſen. Ein anderes ähnliches Beiſpiel iſt ſchon
oben bei den Steinkohlen angeführt worden, und es wäre leicht die
Nachweiſe zu vermehren, daß der Zeitraum, den wir mit prahleriſcher
Selbſtgefälligkeit die Weltgeſchichte zu nennen belieben, kaum die
letzte flüchtige Minute in der unendlich langen Lebensgeſchichte unſeres
winzigen Planeten iſt.
Erinnern wir uns nun der oben gegebenen Skitze der ſich fol-
genden Vegetationsepochen, ſo ſehen wir, daß die Pflanzenwelt im
Waſſer mit den einfachſten Formen und gerade in der Familie be-
ginnt, wo am häufigſten noch jetzt eine einzelne Zelle die ganze Pflanze
vorſtellt. Hieran ſchließen ſich in den folgenden Perioden dann die
anderen Pflanzengruppen, indem ſie in einer Reihefolge auftreten,
die ihrer immer höheren Organiſation, d. h. ihrem immer mannig-
faltigeren Lebensproceß nach, dem mannigfaltiger und verwickelter wer-
denden phyſicaliſchen Bedingungen entſpricht. So folgen auf die ſten-
gelloſen Kryptogamen, die mit Stamm und Blättern Verſehenen.
Dann miſchen ſich die Gymnoſporen (Nadelhölzer und Cyca-
deen) ein, ihnen folgen die Monocotyledonen und endlich erſchei-
nen auch die Dicotyledonen. So unvollſtändig auch die uns er-
haltenen Acten ſind, ſo wenig wir auch noch davon entziffert haben,
ſo finden wir doch in keiner Periode das Auftreten einer ganz neuen
Schöpfung, ſondern immer ſchließen ſich die organiſchen Weſen in
den unterſten Gliedern einer Periode denen der oberſten Glieder der
Vorhergehenden in der Weiſe an, daß ſie wenigſtens denſelben Haupt-
typus wiederholen, ja wir können noch mehr ſagen, wenn auch Ge-
ſchlechter und Arten, ja ſelbſt Pflanzenfamilien von der Erde ver-
ſchwunden ſind, ſo findet ſich doch ſelbſt unter den älteſten Ueber-
[271] bleibſeln keine eine eigenthümliche größere Gruppe gleichſam eine
Bildungsſtufe der Pflanzenwelt ausmachende Pflanzenform, welche
nicht ihre Repräſentanten auch noch in der Flora der Jetztwelt auf-
zuweiſen hätte.
Dieſe Anſicht, daß aus einer einzigen Zelle und ihrer Nachkom-
menſchaft, durch allmälige Bildung von Spielarten, die ſich zu Arten
ſtereotypirten und dann auf gleiche Weiſe wieder die Erzeuger neuer
Formen wurden, ſich allmälig die ganze Fülle der Pflanzenwelt entwickelt
habe, iſt mindeſtens eben ſo möglich als jede andere, und vielleicht
wahrſcheinlicher und entſprechender als jede andere, weil ſie das ab-
ſolut Unerklärbare, nämlich die Urzeugung eines organiſchen Weſens,
in die allerengſten Grenzen, die ſich denken laſſen, zurückweiſt.
Erſt am Ende dieſer ganzen Reihe von Entwicklungen tritt auf
uns unerklärliche Weiſe der Menſch in den Kreis der Erdenbewohner
und trennt dadurch die Reihe der vorhergehenden Veränderungen,
als Urgeſchichte der Pflanzenwelt von den folgenden als Zeit-
geſchichte ab. Die Grenze iſt etwas verwiſcht und ein Irrthum von
10—20,000 Jahren bei dem Verſuch einer Zeitbeſtimmung leicht
möglich, ſogar wahrſcheinlich, gleichwohl haben ſich Thoren auf ſolche
Angaben eingelaſſen, wie es ja auch complete Narren gab, die Jahr,
Monat, Tag und Stunde ausrechneten, an denen Gott die Welt
geſchaffen. —
Aus der Hand der Natur empfing der Menſch ſein ihm bereitetes
Erbtheil: Pflanzen und Thierwelt, die todten Stoffe und ihre Kräfte
und wie hat er dieſes Erbtheil verwaltet? Mag er Rechenſchaft davon
ablegen, aber zu fürchten iſt, daß er hier, wie überall, nur ſchlecht
beſtehen werde. —
Fragen wir nach den Zwecken, welchen die Pflanzenwelt, die bunte
Decke der Erde, zu entſprechen beſtimmt iſt, ſo finden wir einen drei-
fachen. Der niedrigſte iſt ohne Zweifel der, den gemeinen Bedürfniſſen
der Menſchen, ſeiner Ernährung und ſeinem Gewerbe, in einem
Wort, ſeinem Haushalt zu dienen. Ich nenne ihn den niedrigſten,
weil hier nur jedes einzelne Individuum in ſeinen thieriſchen, wenn
[272] auch durch die Cultur noch ſo ſehr verfeinerten und übertünchten Be-
dürfniſſen von der Natur Befriedigung fordert. — Schon höher er-
ſcheint die Bedeutung der Pflanzenwelt für die Regulirung zahlreicher
und umfaſſender phyſicaliſcher Proceſſe an der Erde. Die Gluth der
africaniſchen Wüſte, ihre dürre Regenloſigkeit und die Lebensfülle der
Urwälder mit ihren Wolkenbruch ähnlichen Sturzregen, erhalten ihren
eigenthümlichen Character durch die Pflanzenwelt. Feuchtigkeit und
Trockenheit der Atmoſphäre, Wärme und Kälte des Bodens, Gleich-
förmigkeit oder ſchroffer Wechſel im Clima und dergleichen mehr, und
vor Allem das Leben der Thiere und endlich des Menſchen im Großen
ſind bedingt durch die Ueppigkeit und Art der Vegetation. Dieſe
Bedeutung des Pflanzenlebens bezieht ſich nicht auf das einzelne arm-
ſelige Individuum, ſondern auf ganze Länder und Völkergebiete, auf
zahlreiche einander folgende Generationen, bei denen Möglichkeit und
Leichtigkeit des Lebens an die Formation der Pflanzenwelt im Großen
geknüpft iſt. — Endlich zeigt ſich eine dritte Seite, welche die Pflan-
zenwelt uns zuzuwenden vermag, ohne Frage die Edelſte und Höchſte.
Sie iſt ſo gut wie alle andere Natur Symbol des Ewigen; wir
ehren hinter dieſem Spiel todter Naturkräfte und ſeiner Producte einen
heiligen Urheber und Lenker. Die Pflanzenwelt iſt die reiche Altar-
decke im Tempel Gottes, in welchem Anerkennung der Schönheit und
Erhabenheit die Form des Cultus ausmacht. —
Und der Menſch der Pflanzenwelt gegenüber? Mannigfach ver-
ändernd hat er eingegriffen und die großen Phaſen ſeiner Geſchichte
ſind auch auf dem grünen Blatte der Vegetation verzeichnet. Aber
wie hat er gewirthſchaftet? Ei, die Culturgeſchichte wird uns ant-
worten: „Trefflich; er hat das rohe ungefüge Material der Natur
durch weiſe Pflege erſt zu jenen köſtlichen Gaben gemacht, als welche
es jetzt erſcheint.“ Nun ja, wir wollen ihm den Ruhm nicht abſtreiten,
daß da, wo Eigennutz und thieriſches Bedürfniß ihn trieben ſich
wohl der Einzelne auf ſeinen Vortheil verſtanden hat, aber dann mit
Mitmenſchen und Nachwelt nur gezwungen durch Naturgeſetze den
erlangten Vortheil theilend. Hingegen da, wo kein augenblicklicher
[273] Vortheil für ihn im Unterſtützen der Natur oder auch nur im Schonen
derſelben lag, wo es ſich ja nur um das Elend von ein Paar Millio-
nen Nachgeborner handelte, hat er mit barbariſcher Rohheit zerſtört
und vernichtet, auf Jahrtauſende hinaus oft den nicht nur ihm, ſon-
dern auch ſeinen Nachkommen verliehenen Segen Gottes liederlich ver-
ſchleudert. Und hat er ſich bemüht, den Tempel Gottes zur allge-
meinen Verehrung zu ſchmücken und zu heiligen? O nein, bei ſeinem
eigennützigen Treiben, bei den Kummerthränen des durch ſeine Schuld
elend gewordenen Bruders, bei dem Heulen des gepeitſchten Sclaven
war ihm die beſtändige Erinnerung an Gott unangenehm und ſtörend,
er erklärte das Wehen des göttlichen Odems in der Natur für ein
Ammenmährchen, um nicht mehr durch ſein Gewiſſen erſchreckt zu
werden. Die Schönheit, der Ausdruck des Göttlichen in der Natur
verſchwand vor der eigennützigen Ausbeutung der Pflanzenwelt und
höchſtens, engherzig nur für ſich ſorgend, grenzte ſich der Einzelne ein
Räumchen ein, in dem er die Schönheit der Natur nicht als Cultus,
ſondern als Sinnenreiz pflegte. Das ſind bis jetzt die Thaten der
Menſchen, nach Jahrtauſenden hoffen wir Beſſeres berichten zu können,
denn wir verzweifeln nicht an der Menſchheit, in ihr liegt der Keim
des Göttlichen, der ewiger Entwicklung fähig und für dieſelbe be-
ſtimmt iſt. Aber ſpottend möchten wir dem Geſchrei über unſere hohe
Bildung entgegentreten, da doch jede ernſte ethiſche Betrachtung der
Geſchichte uns ſagen könnte, daß wir uns kaum etwas aus dem Koth
der tiefſten Erniedrigung und Rohheit hervorgearbeitet. Möchten
die folgenden Thatſachen vielleicht in beſſerer Weiſe benutzt, die
Anhaltepuncte zur Erlangung eines etwas beſſeren Reſultates ge-
währen können.
Die Wiege des Menſchengeſchlechts, für uns in unerforſchliche
Ferne geruͤckt, ſtand wahrſcheinlich in einem wärmern halbtropiſchen
Clima, beſchattet von den breiten Blättern der Banane, des Pi-
ſangs und dem zartgefiederten Laub der Dattelpalme. Was des
Menſchen erſte Nahrung war, wiſſen wir nicht, aber früh ſchon ſcheint
er ſich der genannten beiden Pflanzen bemächtigt zu haben, denn beide
Schleiden, Pflanze. 18
[274] zeigen ſchon ſeit den älteſten Zeiten, über welche uns Nachrichten auf-
behalten ſind, ſich nicht mehr ſo, wie ſie aus der Hand der Natur
hervorgingen, ſondern durch die Cultureingriffe der Menſchen weſent-
lich verändert. Die wilde Banane iſt eine kleine grüne, unſchmack-
hafte Frucht, erfüllt mit zahlreichen Saamen; die cultivirte Pflanze
dagegen enthält in ihrer nahrhaften Beere gar keine keimfähigen
Saamen; ihre Erhaltung, ihre Vermehrung iſt ganz von der Thätig-
keit des Menſchen abhängig, der ſie künſtlich durch Stecklinge fort-
pflanzt. Ebenfalls ſchon ſehr früh müſſen die Menſchen die großſaa-
migen Gräſer ihrer Vorrathskammer zinsbar gemacht haben. Wir
kennen von keiner jetzt als Brodkorn benutzten Pflanze die Zeit, in
der ſie aus dem Eden Gottes auf die Felder der Menſchen verpflanzt
wurde. Ihre Benutzung ging von Einem Völkerſtamm auf den Andern
über, aber wenn wir an die älteſten Quellen kommen, ſo berichtet
uns die Sage in mannigfachem Gewande und verſchiedenartiger Aus-
ſchmückung, daß ſie Geſchenke der Götter ſeyen, daß dieſe dem Men-
ſchen den Kornbau gelehrt.
Die Perſonificirung phyſiſcher Kräfte und Vorgänge, des Lichts,
der Wärme, des Regens, der Nilüberſchwemmungen, mag ſich mit
der Verehrung von den einzelnen hervorragenden Perſönlichkeiten, die
zuerſt verſuchten in weiterem Umfange die Schätze der Natur für die
Zwecke der Menſchen auszubeuten, mannigfach in ſolchen Sagen ver-
bunden und vermiſcht haben. Eine auffallende Erſcheinung, die auf
das ungeheure Alter des Anbaus der Cerealien hindeutet, iſt, daß
man trotz vieler gründlichen Nachforſchungen bis jetzt nicht im Stande
geweſen iſt, die eigentliche natürliche Heimath der wichtigeren Korn-
arten aufzufinden. Keiner der fleißig forſchenden Reiſenden in America
hat dort den Mais anders als cultivirt oder offenbar verwildert ange-
troffen. Ueber unſere europäiſchen Kornarten beſitzen wir nur ſehr
ungenaue Andeutungen, daß ſie hin und wieder in den ſüdweſtlichen
Ländern Mittelaſiens wild gefunden ſeyn ſollen. Aber die Geſchichte
weiſt uns nach, daß jene Gegenden früher eine ſo ſtarke Bevölkerung
nährten, und in einem ſo hohen Culturzuſtande ſich befanden, daß
[275] die Annahme, jene Culturpflanzen fänden ſich noch jetzt dort in einem
andern Zuſtande als dem der Verwilderung, ſchwerlich gerechtfertigt
werden kann. Aus der Kenntniß des größten öſtlichen Theils von
China wiſſen wir, daß eine dichte Bevölkerung bei einem gewiſſen
Grade induſtrieller Cultur es in der That dahin bringen kann, jede
wildwachſende Pflanze zu vertilgen und ausſchließlich mit abſichtlich
gezogenen Pflanzen den ganzen Boden zu bedecken. Außer einigen
wenigen Waſſerpflanzen, in den abſichtlich überſchwemmten Reis-
feldern, findet der Botaniker im chineſiſchen Flachlande ſo gut wie keine
Pflanze, die nicht Gegenſtand der Cultur wäre. So wäre es gar
nicht unmöglich, daß die Cerealien, vielleicht urſprünglich, wie
noch jetzt ſo viele Pflanzen Auſtraliens, auf einen engen Verbrei-
tungsbezirk beſchränkt, der früh ſchon von einer ſich mächtig entwickeln-
den Bevölkerung eingenommen wurde, in der That als urſprünglich
wildwachſende Pflanzen ganz von unſerer Erde verſchwunden ſind. —
Die älteſten Kornarten ſind ohne Zweifel Weizen und Spelze,
welche ſchon im Homer als Brodkorn erwähnt werden, und Gerſte,
womit Homers Helden, wie noch jetzt die Südeuropäer, ihre Roſſe
fütterten. Erſt zu Galens Zeiten wurde über Thrazien her der
Roggen in Griechenland eingeführt. Verſchiedene Haferarten
wurden in Griechenland nicht zur Saamengewinnung, ſondern nur
als Grünfutter gebaut. Der eigentliche Haferbau findet ſich erſt
ſpäter in Deutſchland, wie es ſcheint von öſtlichen Völkern entlehnt,
woher auch Deutſchland ſeinen Roggen erhielt. Nach der gewöhn-
lichen Annahme hat zwar die ganze alte Welt den Maisbau erſt von
America überkommen; indeß ſind doch auch Angaben verhanden, die
es mindeſtens eben ſo wahrſcheinlich machen, daß ſchon zu Theo-
phraſt's Zeit der Mais von Indien her bekannt war, und daß
wenigſtens das öſtliche Europa den Mais aus dem Morgenlande
erhalten habe. Eine ganz ähnliche Ungewißheit wie beim ſogenannten
türkiſchen*)Korn finden wir bei der Cactus Opuntia oder india-
18*
[276]niſchen Feige. Dieſe jetzt in ganz Südeuropa, Africa und einem
Theil des Orients nach der Anſicht der Meiſten nur durch Verwil-
derung einheimiſche Pflanze Americas, ſoll nach den Forſchungen An-
derer mit größerer Wahrſcheinlichkeit als völlig einheimiſch in dieſen
Gegenden angeſehen werden können. Dieſe durch die Einwirkungen
der Menſchen bewirkten Wanderungen der Pflanzen ſind eine häufig
gar nicht zu umſchiffende Klippe, an welcher die genaueſten Pflanzen-
geographiſchen Unterſuchungen ſcheitern, wenn uns nicht beſtimmte
hiſtoriſche Urkunden aufbewahrt ſind.
Was von den Getreidearten geſagt iſt, daß der Anfang ihrer
Cultur weit über die hiſtoriſche Zeit hinausliegt, gilt auch von den
meiſten unſerer Gemüſearten und Obſtbäume. Ja man kann be-
haupten, daß mit äußerſt wenigen Ausnahmen alle weſentlichen Cul-
turpflanzen ſchon ſeit undenklicher Zeit den Menſchen bekannt ge-
weſen ſind, und daß, mit Ausnahme der Kartoffel, keine ſpäter dem
wilden Zuſtande entriſſene Pflanze eine irgend bedeutende Rolle in
unſerm Haushalte ſpielt.
Von allen Einflüſſen der Menſchen auf die Pflanzenwelt iſt ohne
Zweifel eine der ſegensreichſten die von ihm bewirkte Umwandlung
wilder, oft faſt ungenießbarer Vegetabilien in die köſtlichſten Zierden
unſerer Tafel. Wenn auch in der That die Apfel-, Birn- und
Kirſchbäume urſprünglich beſondere Arten ausmachen und nicht
durch allmälige Veredlung aus den Holz-Aepfeln, Birnen und
Kirſchen entſtanden ſind, ſo bleiben doch immer noch genug Pflan-
zen übrig, an welchen man nachweiſen kann, welche große Macht in
der That der Menſch hier über die Natur ausübt. Welche Aehnlich-
keit hat denn der Blumenkohl, der krauſe grüne Kohl, der
Kohlrabi mit der dürren, widrig bitter ſchmeckenden Kohlpflanze,
die ohne Zweifel die Stammpflanze unſerer köſtlichen Gemüſe iſt, da
wir dieſe durch Verwilderung leicht wieder in jene überführen kön-
nen. Wer würde bei der Vergleichung der zuckerſüßen, zarten, orange-
*)
[277] gelben Carotte mit der ſpindligen und holzigen Wurzel der wil-
den Möhre glauben, daß Beide einer und derſelben Pflanzenart
angehören? — und gleichwohl iſt es der Fall. Kurz der Menſch vermag
hier weſentlich in die Entwicklung der einzelnen Naturkörper verän-
dernd einzugreifen und wie er ſich aus dem blutgierigen Raubthier, aus
dem wilden Hund, den neckiſchen Pudel, den nützlichen Jagdgenoſſen
und den rettenden Bernhardshund oder aus irgend einem ſtruppigen
Wollthier das edle Merinolamm erzogen, ſo gelingt es ihm auch in
der Pflanzenwelt, das Nutzloſeſte was ihm die Natur anbietet zu
einem werthvollen Gegenſtand ſeiner Cultur zu erheben.
Weniger bedeutend als dieſe Eingriffe könnten die Veränderungen,
die der Menſch in der Vertheilung der Gewächſe hervorgerufen hat,
erſcheinen. Als ganz natürlich muß es uns vorkommen, daß wir die Nutz-
und Nahrungspflanzen dem Menſchen überall hin folgen ſehen, wo die
climatiſchen Bedingungen ihres Wachsthums ſich noch vorfinden. Dieſe
Pflanzenwanderungen ſind vom Menſchen mit Abſicht und Bewußtſeyn
veranſtaltet und geführt. Aber ſchon an dieſe Pflanzenzüge ſchließt
ſich, wie an große Völkerzüge das Geſindel der Nachzügler und Räu-
ber, ganz untrennbar eine Menge von Pflanzen an, die der Menſch,
der ſich eine Naturpflanze holt, gleichſam als Zugabe in den Kauf
nehmen muß, ich meine die Unkräuter. Mit Sicherheit kann man
behaupten, daß ein Theil unſerer Ackerunkräuter, die nie und nirgends
bei uns gefunden werden als unter beſtimmten Saaten, nicht in un-
ſeren Gegenden einheimiſch, ſondern mit den Culturpflanzen, zwiſchen
denen ſie vorkommen, eingewandert ſind. Zu ſolchen ungebetenen Gäſten
gehört ſicher das niedliche Adonisröschen, die blaue Cyane,
die Kornrade, der Ackermohn, der Feldritterſporn, der
Leinlolch, der Hanfwürger und viele andere.
In noch höherem Grade, freiwillig und ohne bewußte Mitwir-
kung des Menſchen, ſchließt ſich eine gewiſſe Anzahl von Pflanzen
an den Herrn der Schöpfung an und folgt ihm, wohin er geht, wo
irgend auf Erden er ſeine Wohnung aufſchlägt, nicht an die von ihm
mitgebrachten Culturgewächſe gebunden, ſondern ſich in unmittelbarer
[278] Nähe des Menſchen, um die Hütte, um den Stall, auf Dünger- und
Compoſthaufen anſiedelnd. Es iſt mehr als wahrſcheinlich, daß die
einzelnen großen Völkerfamilien auch in dieſer Beziehung ſich unter-
ſcheiden, und daß man an den ſich feſtgeſetzt habenden Unkräutern mit
einiger Sicherheit beſtimmen könne, ob Slaven oder Germanen,
Europäer oder Orientalen, Neger oder Indianer u. ſ. w. ſich früher
an dem Platze ihre Hütte gebaut. So werden uns noch jetzt die großen
Völkerzüge, die ſich im Mittelalter von Aſien aus gegen das mittlere
Europa wendeten, durch das Vordringen aſiatiſcher Steppenpflanzen,
z. B. der Kochia*), des tartariſchen Meerkohls**), der er-
ſteren nach Böhmen und der Krain, des letzteren durch Ungarn und
Mähren bezeichnet. Sinnig benennt der nordamericaniſche Wilde
unſern Wegebreit***) „die Fußtapfe der Weißen“ und eine ge-
meine Wickenart†) bezeichnet noch jetzt die ehemalige Wohnſtätte
der norwegiſchen Coloniſten in Grönland. — Wahrſcheinlich würde
die genauere Kenntniß dieſer eigenthümlichen Floren uns noch manche
intereſſante Aufſchlüſſe über die Wanderungen der Völkerſtämme und
ihre Verwandtſchaften geben können, wenn nicht ſo viele botaniſche Rei-
ſende ſogenannte Syſtematiker, d. h. geiſt- und kenntnißloſe Heuſamm-
ler wären. Ich erwähne noch als Beiſpiele ſolcher, beſonders dem Euro-
päer folgenden Gewächſe die Neſſel- und Gänſefußarten. Eins
der auffallendſten Beiſpiele der Art iſt aber die allmälige Verbreitung
des Stechapfels durch ganz Europa, der aus Aſien her den Zügen
der Zigeuner gefolgt iſt, welche häufige Anwendung dieſer giftigen
Pflanze bei ihren polizeiwidrigen Geſchäften machten, und die daher,
vielfach von ihnen gebaut, auch ungefordert neben ihren Wohnplätzen
ſich einfand. Auguſt St. Hilaire ſagt in ſeiner Einleitung in die
Flora von Braſilien: „In Braſilien wie in Europa ſcheinen gewiſſe
Pflanzen dem Menſchen auf dem Fuße zu folgen und erhalten die
Spuren ſeiner Gegenwart, häufig haben ſie mir mitten in den Wüſten,
welche ſich über Paracuta hinauserſtrecken, die Stelle einer zer-
[279] ſtörten Hütte auffinden helfen. Nirgends haben ſich europäiſche
Pflanzen in ſo großer Menge vermehrt als in den Gefilden zwiſchen
Thereſia und Montevideo und von dieſer Stadt aus bis zum Rio
negro. Schon haben ſich in der Umgegend von Sta. Thereſia
das Veilchen, der Borretſch, einige Geranien, der Fenchel
und Andere angeſiedelt. Ueberall findet man unſere Malven und
Camillen; unſere Mariendiſtel, beſonders aber unſere Arti-
ſchocken, welche in die Ebene des Rio de la Plata und Uru-
guay eingeführt ſind, bedecken jetzt unermeßliche Landſtriche und
machen ſie zu Weiden untauglich.“ — Nach den Befreiungskriegen fand
ſich an vielen Stellen, wo Koſacken gelagert, z. B. um Schwetzi-
gen, eine den Gänſefußarten verwandte Pflanze *) ein, welche
ſonſt ausſchließlich in den Steppen am Dnieper einheimiſch iſt,
und in ähnlicher Weiſe verbreitete ſich die Bunias orientalis mit den
ruſſiſchen Heereszügen von 1814 durch Deutſchland bis Paris.
Aber auch ganz ohne Mitwirkung des Menſchen finden ſich ſolche
Wanderungen der Pflanzen. An die Ufer der Malediven treibt von
Meeresſtrömungen getragen die Sechellennuß**) und keimt dort
im Sande. Die erſten Anſiedler neuentſtehender Coralleninſeln im
ſtillen Ocean ſind Cocospalmen und Pandaneen, deren durch
harte Schalen geſchützte Früchte man überall in jenen Meeren treibend
findet. Flüſſe führen die Saamen höherer Landſtriche den Niederungen
zu und ſo verbreiten ſich zum Beiſpiel an den Ufern der Alpenſtröme
in Süddeutſchland, in Baiern und Würtemberg, Formen, die
urſprünglich höhern Bergen eigenthümlich waren. Unbeabſichtigt giebt
auch der Menſch den erſten Anſtoß zu ſolchen Wanderungen, die dann
die Pflanze, unabhängig vom Menſchen, fortſetzt. So hat ſich der
Calmus über ganz Europa ausgebreitet, der anfänglich aus Indien
geholt in einigen botaniſchen Gärten gezogen wurde. Die india-
niſche Feige und die americaniſche Agave haben verwildernd
weſentlich die Phyſiognomie der Landſchaft im ſüdlichen Spanien,
[280] Italien und Sicilien verändert. In der Mitte des 17. Jahrhun-
derts kam in einem ausgeſtopften Vogel ein Saame von Erigeron
canadense nach Europa, wurde geſäet und jetzt iſt die Pflanze überall
in ganz Europa auf Plätzen verbreitet, wo kein Menſch jemals ſie
hingebracht hat. Die Bildung der Saamen und Früchte, welche ſie
geſchickt macht weit vom Winde fortgetragen zu werden, die Gefrä-
ßigkeit der Vögel, welche den unverdaulichen Saamen mit verſchlin-
gen, der dann nachher oft in weiter Entfernung von ſeiner Mutter-
pflanze im Auswurf des Vogels keimt und ähnliche Verhältniſſe
ſind es, die dieſe leichte Verbreitung der Gewächſe erklären.
Ungleich bedeutender aber als alle dieſe Veränderungen im Klei-
nen und Einzelnen ſind die climatiſchen Veränderungen, welche die
Zeit oder die Einwirkung der Menſchen auf der Erde und in der
Pflanzenwelt hervorruft. Zwar wiſſen wir, daß die Geſammt-
menge der unſerer Erde zukommenden Wärme ſich ſeit Jahrtauſenden
nicht um ſo viel verändert hat, um auch nur die geringſte Verän-
derung in der Pflanzenwelt, die dadurch allein bedingt wäre, hervor-
zurufen, aber die Vertheilung der Wärme auf der Erde und in
den verſchiedenen Jahreszeiten kann im Laufe der Zeit eine weſentlich
verſchiedene werden und dadurch die ganze Phyſiognomie eines Landes
umgeſtalten. Das unglückliche Island hatte noch vor wenigen Jahr-
hunderten Getreidebau *), der jetzt ganz aufgehört hat und ſich auf
einige dürftige, in den meiſten Jahren fehlſchlagende Gerſtenärndten
beſchränkt; die ſonſt dichte Wälder bildende Birke iſt jetzt zu kurzem
Geſtrüpp verkümmert. Bekannt iſt die weſentliche Veränderung des
Climas, welche, mit dem zwölften Jahrhundert beginnend, Grönland
zu einer faſt unbewohnten Eiswüſte gemacht hat.
So ſehr nun auch dieſe Vorgänge im Großen der Willkühr des
Menſchen entzogen ſcheinen, ſo iſt dies doch keineswegs der Fall und
ſeine fortgeſetzte auf einen beſtimmten Punct gerichtete Thätigkeit ver-
[281] mittelt zuletzt Erfolge, die ihn ſelbſt überraſchen, weil er augenblicklich
die erſt allmälig eintretenden Folgen bei ſeinen Handlungen nicht
bemerkte, noch, durch die nöthigen Kenntniſſe geleitet, das Endreſultat
vorherſah.
Ueberall faſt finden ſich in den großen Zügen, mit denen die Natur
ihre Chronik ſchreibt, in verſteinerten Wäldern, Braunkohlenlagern
und ſo weiter, oder ſelbſt in den kleinen Aufzeichnungen der Menſchen,
z. B. in den Urkunden des alten Teſtaments, Nachweiſe oder doch
Andeutungen, daß jene Länder, die jetzt baum- und waſſerarme Wüſten
ſind, ein Theil Aegyptens, Syriens, Perſiens und ſo weiter, früher ſtark
bewaldete, von großen jetzt verſiegten oder doch verkümmerten Strö-
men durchzogene fruchtbare Länder waren, während jetzt die dörrende
Gluth der Sonne und beſonders der Waſſermangel, nur einer ſpärlichen
Bevölkerung zu leben geſtattet. Im Gegenſatz dazu, wie muß nicht
ein fröhlicher Zecher, der vom Johannisberg aus den Rheingau über-
blickt und dem edelſten der deutſchen Ströme ein Hoch in Rüdesheimer
bringt, lächeln, wenn er ſich des Ausſpruchs des Tacitus erinnert,
daß am Rhein nie eine Kirſche, viel weniger ein Traube reifen könne.
Und fragen wir nach der Vermittlung dieſer mächtigen Veränderun-
gen, ſo werden wir auf das Verſchwinden der Wälder gewieſen. Mit
dem ſorgloſen Vernichten des Baumwuchſes greift der Menſch mäch-
tig verändernd in die natürlichſten Verhältniſſe eines Landes ein.
Wohl können wir jetzt am Rhein einen der edelſten Weine bauen,
wo vor zweitauſend Jahren noch keine Kirſche reifte, aber dagegen ſind
jetzt auch da, wo die dichte Bevölkerung der Juden von einer üppigen
Cultur ernährt wurde, halbe Wüſten. Der eine feuchte Atmoſphäre
erfordernde Kleebau hat ſich von Griechenland nach Italien, von dort
nach Süddeutſchland gezogen und fängt ſchon jetzt an jene immer
trockner werdenden Sommer zu fliehn und ſich auf den feuchteren Nor-
den zu beſchränken. Flüſſe, die ſonſt im ganzen Jahre in gleichmäßiger
Fülle ihren Seegen ſpendeten, laſſen jetzt im Sommer die lechzende
Flur verdurſten, während ſie im Frühjahr plötzlich die im Winter
[282] angehäuften Schneemaſſen über die Stätten der erſchreckten Menſchen
ausſchütten. — Wenn der fortſchreitenden Lichtung und Zerſtörung
der Wälder anfänglich größere Wärme, ſüdlicheres Clima, üppigeres
Gedeihen zarterer Pflanzen folgt, ſo zieht hinter dieſem erwünſchten
Zuſtande doch auch bald ein anderer her, welcher die Bewohnbarkeit
einer Gegend eben ſo ſehr und vielleicht in noch engere Grenzen als
früher zurückdrängt. Kein Pythagoras brauchte jetzt in Aegypten
ſeinen Schülern den Genuß der Bohne*) zu verbieten, längſt iſt das
Land unfähig geworden ſie hervorzubringen. Der Wein von Men-
des und Moreotis, der die Gäſte der Kleopatra begeiſterte,
den ſelbſt Horaz noch rühmte, er wächſt nicht mehr. Kein Mör-
der findet mehr den heiligen Fichtenhain des Poſeidon, um ſich zu
verbergen und dem zu dem Feſte heranziehenden Sänger aufzulauern.
Die Pinie hat ſich längſt vor dem eindringenden Wüſtenclima auf
die Höhen der arcadiſchen Gebirge zurückgezogen. Wo ſind die Wei-
den jetzt, wo die Gefilde um die heilige Burg des Dardanus, die
am Fuße des quellenreichen Ida die 3000 Stuten nährten **)? Wer
möchte jetzt noch vom „wogendrängenden Xanthos***) reden“?
Wer würde jetzt noch die „roſſenährende Argos“ begreifen?
Ich ſchließe dieſe Skitze, wenn auch nicht den Worten, doch dem
Gedankengange eines der edelſten Veteranen unſerer Wiſſenſchaft,
des ehrwürdigen Elias Fries in Lund, folgend.
Ein breiter Streifen verwüſteten Landes folgt allmälig den Schrit-
ten der Cultur. Wenn ſie ſich ausbreitet ſtirbt ihre Mitte und ihre
Wiege ab und nur im äußerſten Umfang finden ſich ihre grünenden
Zweige. Aber nicht unmöglich, nur ſchwer iſt, daß der Menſch, ohne
auf die Vortheile der Cultur ſelbſt zu verzichten, den Schaden dereinſt
wieder gut mache, den er angeſtiftet; er iſt zum Herrn der Schöpfung
beſtimmt. Wahr iſt es, Dornen und Diſteln, häßliche und giftige
[283] Pflanzen, treffend vom Botaniker Schutt pflanzen genannt, bezeich-
nen den Pfad, den der Menſch bisher durch die Erde gegangen iſt.
Vor ihm liegt die urſprüngliche Natur in ihrer wilden aber großar-
tigen Schönheit. Hinter ſich läßt er die Wüſte, ein häßliches, ver-
dorbenes Land; denn kindiſche Zerſtörungsluſt, oder unbeſonnene
Verſchwendung der Pflanzenſchätze haben den Character der Natur
vernichtet und erſchreckt flieht der Menſch ſelbſt den Schauplatz ſeiner
Thaten, um rohen Stämmen oder den Thieren die entwürdigte Erde
zu überlaſſen, ſo lange noch ein anderer Fleck ihm in jungfräulicher
Schönheit entgegenlächelt. Auch hier wieder eigennützig nur ſeinen
Vortheil ſuchend und bewußter oder unbewußter folgend dem ſcheuß-
lichſten Grundſatz, der größten moraliſchen Nichtswürdigkeit, die je ein
Menſch ausgeſprochen: „après nous le déluge“, ſein Zerſtörungs-
werk aufs Neue beginnend. So überließ die fortrückende Cultur den
Orient und vielleicht früher ſchon die ihres Kleides beraubte Wüſte,
ſo das ehemals ſchöne Griechenland wilden Horden, ſo wälzt ſich
mit entſetzlicher Schnelligkeit dieſe Eroberung von Oſten nach Weſten
durch America, und der Pflanzer verläßt ſchon jetzt häufig den ausge-
ſogenen Boden, das durch Vernichten der Wälder unfruchtbar ge-
wordene Clima des Oſtens, um im fernen Weſten eine ähnliche Revo-
lution einzuleiten. Aber wir ſehen auch, daß edle Stämme, oder wahr-
haft gebildete Männer ſchon jetzt ihre warnende Stimme erheben, im
kleinen Hand anlegen an die zweite gewaltigere Arbeit, die Natur wie-
der herzuſtellen in ihrer Kraft und Fülle, aber auf einer höheren Stufe
als der der wilden Natur, vielmehr unterthan dem vom Menſchen
gegebenen Zweckgeſetz, nach Planen, die der Entwicklung der Menſchheit
ſelbſt nachgebildet ſind, geordnet. Freilich bleibt das Alles zur Zeit noch
ein machtloſes und für das Ganze verſchwindend kleines Unterneh-
men, aber es wahrt den Glauben an den menſchlichen Beruf und
ſeine Kraft, ihn zu erfüllen. Dereinſt wird und muß es ihm gelingen
die Natur, indem er ſie ganz beherrſcht, leitet und ſchützt, frei zu
machen von der tyranniſchen Sclaverei, zu welcher er ſie jetzt noch
[284] erniedrigt und in welcher er ſie nur durch raſtloſen Rieſenkampf gegen die
ewig ſich Auflehnende erhalten kann. Wir ſehen in nebelgrauer Ferne
der Zukunft ein Reich des Friedens und der Schönheit auf der Erde
und in der Natur, aber bis dahin muß der Menſch noch lange in die
Schule der Natur gehen und vor Allem ſich ſelbſt von den
Banden des Egoismus befreien.
[[285]]
Zwölfte Vorlesung.
Die Aeſthetik der Pflanzenwelt.
‘Die Bedeutung der Geſtalten
Möcht' ich amtsgemäß entfalten,
Aber was nicht zu begreifen,
Wüßt ich auch nicht zu erklären.’
(Fauſt.)
‘Daran erkenn' ich den gelehrten Herrn,
Was Ihr nicht taſtet, ſteht Euch meilenfern,
Was Ihr nicht faßt, das fehlt Euch ganz und gar,
Was Ihr nicht rechnet, glaubt Ihr ſey nicht wahr,
Was Ihr nicht wägt, hat für Euch kein Gewicht,
Was Ihr nicht münzt, das meint Ihr gelte nicht. —’
(Fauſt.)
[[286]][[287]]
Unerklärbar iſt das Weſen der Schönheit. Nur im Gefühle er-
ſcheint es dem empfänglichen Gemüth und dem logiſch ordnenden,
wiſſenſchaftlich verknüpfenden, theoretiſch ableitenden Verſtande bleibt
es immer ein fremdes, verſchloſſenes Gebiet. Aber
Wenn wir mit unſeren Beobachtungen und Experimenten, mit
Zergliederungen, Schlüſſen und Beweiſen uns die Natur in ein plan
verſtändliches Gewebe von Stoffen und Kräften zerfaſert haben,
treten uns die Schönheit und Erhabenheit derſelben dazwiſchen, ver-
knüpfen das Zerlegte wieder zu einem einigen Ganzen und ſpotten
unſerer Bemühungen das ewig Unbegreifliche begreifen zu wollen.
Wir erklären's nicht und doch iſt es wahr, wir begreifen's nicht und
doch iſt es da. Das reine Gemüth ſpricht es ohne Zaudern aus,
was der ſchärfſte Verſtand nicht findet:
„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Veſte verkündet
ſeiner Hände Werk. Ein Tag ſagt es dem Andern und eine Nacht
thut es kund der Andern.“
Immerhin, was wir nicht begreifen, nicht erklären können, mag
doch vielleicht in ſo fern einer Auseinanderſetzung und Darlegung
fähig ſeyn, daß wir uns klar machen wo, wie und warum das Unbe-
greifliche nothwendig eintritt in das Geſammtgebiet unſeres Geiſtes-
lebens. Wenn wir das Weſen der Schönheit an ſich auch nicht ent-
wickeln können, ſo iſt es uns doch vielleicht möglich aufzufinden, was
ſie für uns, die Menſchen, bedeutet, wie ſie erſcheint und was ihre
wirkenden Elemente ſind.
Der Naturforſcher kennt und verſteht keine andere Entwicklung
[288] als den Fortſchritt vom Einfacheren zum Zuſammengeſetzteren, vom
Unvollkommneren zum Vollkommneren und ſo hat jene andere Lehre
keinen Sinn für ihn, die hin und wieder aufgetaucht und vertheidigt
worden iſt, nach welcher der Menſch vollkommen aus der Hand der
Schöpfung hervorging und allmälig durch Verderbniß und Verwil-
derung zu dem geworden iſt, was er jetzt zeigt. Ich nannte den Fort-
ſchritt vom Unvollkommenen zum Vollkommneren, muß aber bemerken,
daß das nur ein Gleichniß, eine menſchlich unbeholfne Vorſtellung
iſt, in der That aber auf die Producte der Natur und um ſo mehr
auf die Schöpfung eines heiligen Urhebers der Dinge keine Anwen-
dung findet.
„Wenn die Geſchöpfe auch verſchieden erſcheinen, ſo ſind ſie doch
von gleicher Güte *).“
Wir müſſen uns dieſen Fortſchritt vielmehr auf eine andere
Weiſe dem Verſtändniſſe näher bringen. Die ganze Pflanzen-
welt wie die einzelne individuelle Pflanze entwickelt ſich aus einer
Zelle. Die Zelle iſt es, welche das ganze Pflanzenleben in ſeinen
mannigfachſten Erſcheinungen, in ſeinen verwickelſten Zuſammen-
ſetzungen in ſich einſchließt; in ihr iſt aber Alles noch einfach und
leicht zu überſchauen. Die Pflanzenzelle ſchreitet fort in ihrer Aus-
bildung und nach und nach nehmen einzelne Theile derſelben eine
andere Bedeutung an als die übrigen. Die ganze Zelle iſt anfäng-
lich gleichmäßig Organ der Nahrungsaufnahme, der Aneignung, der
Ausſcheidung und der Fortpflanzung. Zuerſt treten nur beſondere
Theile der weiter entwickelten Zelle auf, welche ausſchließlich die
Function der Fortpflanzung, die Bildung neuer Zellen übernehmen.
Nach und nach wird eine größere Menge von Zellen unter dem Um-
riß einer Pflanze vereinigt und dann vertheilen ſich ſchon die einzelnen
Thätigkeiten auch an beſondere Zellen, in denen ſie wenigſtens vor-
zugsweiſe hervortreten. Der Ernährungsproceß ſelbſt iſt anfänglich
ſehr einfach; aus dem aufgenommenen Stoff wird direct das für das
[289] Leben der Zelle Wichtige gebildet und das Ueberflüſſige ausgeſchieden.
Später treten mehr und mehr fremdartige Stoffe dazwiſchen und der
unmittelbare einfache Vorgang der Nahrungsbereitung lößt ſich in eine
ganze Reihe einzelner Proceſſe auf, deren Endreſultat erſt mittelbar
die Erzeugung der Pflanzenſubſtanz iſt, während auf den Zwiſchen-
ſtufen eine Anzahl von für das Weſen der Sache gleichgültigen Neben-
producten entſtehen. Doch wozu das Gleichniß weiter ausführen;
was uns als ein Fortſchritt erſcheint, iſt in der That eine Entwicklung
im eigentlichſten Sinne des Worts, ein Entfalten und Auseinander-
legen des Einfachen in eine größere Anzahl das Ganze zuſammen-
ſetzender Theile. So iſt die Zahl 100 eine einfache Zahl, durch Ent-
wicklung kann ſie aber zu 99 + 1, zu 3. 33 + 1, zu 3. (32 + 1)
+ 1, zu 3. [(4 mal 8) + 1] + 1 und ſo weiter werden, wir können
uns die in ihr enthaltenen Verhältniſſe auseinanderlegen, ſtatt der
einfachen Bezeichnung von 100 Einheiten eine höchſt verwickelte Rech-
nung hinſtellen, deren Endproduct eben auch nur 100 iſt. Das iſt
der Gang, den jede Entwicklung in der Natur annimmt. —
Der leidende Grieche wendete ſich an den Prieſter des Hercules
oder des Aeſculap. Ein Kraut, das dieſer neben dem Tempel baute,
diente als Heilmittel und das Opfer, welches der Prieſter leitete, gab
dem Sterblichen das Vertrauen auf den Beiſtand der unſterblichen
Götter. Und was hat ſich Alles im Laufe der Zeiten aus dieſem ein-
fachen Naturzuſtande entwickelt: Die ganze verwickelte Vergliederung
unſeres geiſtlichen Standes und der Seelſorge einerſeits und anderer-
ſeits die Medicin und Chirurgie, zerfallend in zahlreiche Zweige, die
ſämmtlichen Naturwiſſenſchaften mit ihren einzelnen Diſciplinen;
Pharmaceuten, Droguiſten ſind Nachfolger der Prieſter des Aeſculaps;
die Jardins des plantes, die zoologiſchen Gärten und botaniſchen
Anſtalten, die ganzen Landſtriche, in denen gewerbfleißige Menſchen
officinelle Kräuter bauen, ſind alle Entwicklungen jenes Tempelgar-
tens. Viele Hunderte von Menſchen wirken jetzt mit allen ihren gei-
ſtigen und körperlichen Kräften zuſammen, um beſſer, beſtimmter,
entwickelter das zu erreichen, was einfach jener Prieſter des Aeſculap,
Schleiden, Pflanze. 19
[290] wenn auch minder erfolgreich, in ſich vereinigte. Denn wir müſſen
es eingeſtehen, daß, wenn auch nicht Gotteswerk, doch Menſchenwerk
vom Unvollkommenen beginnt und zum Vollkommenen fortſchreitet,
daß beim menſchlichen Thun und Treiben in der That der einfachere
unentwickelte Zuſtand auch der unvollkommnere iſt. Gleichwohl fin-
den wir auch in der menſchlichen Entwicklung ein ſolches Auseinander-
treten der einzelnen Elemente, die anfänglich verbunden und ununter-
ſcheidbar gleichſam in einem Chaos zuſammenliegen. Wir wollen
hier aber nur ein Verhältniß näher ins Auge faſſen und uns klar zu
machen ſuchen, nämlich die Stellung, welche der Menſch der Natur
gegenüber einnimmt. —
Im Beginn der Entwicklung finden wir ſtets eine innige und
völlige Verſchmelzung von Phyſik und religiöſer Weltanſchauung und
jede urſprüngliche Darlegung der frommen Gefühle des Menſchen iſt
Naturdienſt. So ſpricht ſich in den ägyptiſchen Culten der Iſis und des
Oſiris, der heiligen Thiere gar nicht zu gedenken, unmittelbar unter
der Form der Gottesverehrung, die Anerkennung der um den Aegypter
wirkſamſten und ſegenreichſten Naturkräfte aus, ſo geſtaltet ſich aus
der üppigen Natur Indiens die bilderreiche Naturgeſchichte des
Brahmanenthums und auf den lichten, ſonnigen Höhen Irans
und Turans betet der Menſch die lichtbringende Sonne und
ihr Symbol das Feuer an, während man in der nordiſchen Mytho-
logie unſchwer den Kampf des eiſigen Winters und ſeiner Stürme
mit dem kurzen Sommer erkennt. Am ſchönſten, feinſten und durch-
gebildetſten erſcheint uns aber dieſe Naturreligion bei den geiſtig ſo
hochbegabten Griechen, in deren im Ganzen trocknen heitern Lande
das ganze Gedeihen der organiſchen Welt an die locale und jährliche
Vertheilung der Feuchtigkeit gebunden war und ſo in der vergöttern-
den Perſonificirung des heitern Zeus, der Wolken bringenden Here,
des wärmenden Apollo, des blitzenden Hephaiſtos und ſofort
eine wunderbar ſchöne Geſtaltung und Verſchmelzung von Religion,
Phyſik und Poeſie, ein Mythos geſchaffen wurde, deſſen Reichthum
[291] und plaſtiſche Schönheit eine nie verſiegende Quelle des Genuſſes
für alle Zeiten ſeyn wird.
Aber dieſes Verhältniß kann nur auf einer gewiſſen Bildungs-
ſtufe der Menſchheit beſtehen. Der forſchende Vorwitz des Menſchen
läßt ihn bald am Iſisſchleier der Natur zerren und je mehr es ihm
gelingt denſelben zu lüften, deſto mehr ſchwinden die Götter aus ſei-
ner unmittelbaren Umgebung, von der Erde und endlich auch aus dem
Sternenhimmel und die ganze Natur mit ihrem Getriebe von Kräften
und Stoffen fällt der „gemeinen Deutlichkeit der Dinge“, der entgei-
ſternden Phyſik anheim. Es bleibt keine Subſtanz, nichts Weſent-
liches in der Natur zurück, was eines Gottes bedürfte, einen Gott
enthielte; unter weſenloſen, unveränderlichen Naturgeſetzen läuft das
Uhrwerk ab und zieht ſich auf, ohne Bedürfniß, — aber auch ohne
Schönheit, ohne Freude. — Aber ſeltſam! der Naturforſcher beweißt
ſich unwiderleglich: es giebt in der Natur keine Farbe, ſondern nur
Aetherwellen verſchiedener Länge, es giebt keinen Ton, ſondern nur
Luftſchwingungen, die ſich langſamer oder raſcher folgen und ſo fort —
und doch entzückt ihn zugleich das Farbenſpiel des Regenbogens, doch
ſchwellt das tiefe Flöten der Nachtigall ſeine Bruſt mit Sehnſucht, doch
kann er von dem ganzen Haufwerke ſeelenloſer Maſſen, die als Land-
ſchaft vor ihm liegen, den „goldnen Duft der Morgenröthe“ nicht
abſtreifen, wodurch ſie ihm lieblich zum Herzen ſpricht oder in ihrer
Erhabenheit ſeine Seele fortreißt über die Grenze der Raumwelt;
wohin? er weiß es nicht, nur ſein Gefühl pocht darauf: es muß ein
Jenſeits geben; aber wo liegt dieſes? —
Nicht im Raume, nicht in der Zeit. Zwar iſt das Paradies der
Völker wie des Einzelnen, wenn auch nicht räumlich, doch zeitlich zu
ermitteln. Das Eden des Menſchen iſt eben jene erſte urſprüngliche
Stufe, wo er ſich noch keine Rechenſchaft gegeben über ſeinen Zuſtand,
ſeine Stellung zur Natur, wo ihm Gott und Natur noch als Eins erſchei-
nen, weil er von beiden falſche Vorſtellungen hat, die er ſich nach Ana-
logie ſeiner eigenen Natur ausführt, Vorſtellungen, welche Natur und
Gottheit einander nahe bringen, weil ſie jene zu hoch und dieſe zu
19*
[292] niedrig ſtellen. Aber die Lage des Jenſeits, welches der gebildete
Menſch erſtrebt, wird durch kein Wo und kein Wann beſtimmt. — So
lange und ſo weit die Natur dem Menſchen noch unerklärlich und
unverſtändlich iſt, ſucht er hinter dieſem von ihm nicht Durchſchauten
ein ihm gleiches geiſtiges Weſen, er belebt die „Nachtſeiten der Na-
tur“ mit den von ihm ſelbſt geſchaffenen Geiſtern oder Geſpenſtern,
die aber ſchnell vor dem Lichte der Wiſſenſchaft entfliehen. Auf der
anderen Seite läßt ihn das Bedürfniß ſeines Herzens nach einer Macht
ſuchen, in deren verſtändiger Lenkung der Begebenheiten er Schutz
gegen das Spiel des Zufalls oder die Tyrannei des Schickſals fin-
den könne, und dieſe Macht zeichnet er ſich nach dem Höchſten was
er bis dahin kennen gelernt, nach dem Beſten, Weiſeſten der Menſchen
und fügt dieſem Bilde nur noch die Herrſchaft über die Erſcheinungen
hinzu, in denen er zuerſt Zufall und Schickſal fürchten lernte, nämlich
über das Spiel der Naturkräfte. Immer aber bleibt der Menſch mit
ſeinen Vorſtellungen von Gott in dem Kreiſe des Menſchlichen und
deshalb fühlt er ſich dem ſelbſtgeſchaffenen Gotte immer noch ver-
wandt genug, um, wenn auch nicht für ſich, doch für ſeine glücklichern
Vorväter ihre gerade Abſtammung von den Göttern oder ihren un-
mittelbaren Umgang mit denſelben in Anſpruch zu nehmen. — Je
weiter nun der Menſch in ſeiner Ausbildung und Entwicklung fort-
ſchreitet, deſto klarer, durchſichtiger, verſtändlicher wird ihm die Na-
tur, aber deſto weiter wird auch ſein Abſtand von Gott und deſto
unbegreiflicher wird ihm derſelbe. Dem am Höchſten gebildeten
Menſchen iſt Gott am unbegreiflichſten, denn er iſt ſich bewußt, daß
jede Vorſtellung, ſey es welche es wolle, die er ſich vom höchſten Weſen
entwirft, demſelben durchaus in keiner Weiſe entſprechen kann; aber nur
Wenige erreichen dieſe Stufe der Ausbildung, nur wenige ſind ſo weit
mit ſich ſelbſt verſtändigt, daß ſie ſich ruhig beſcheiden, daß der Men-
ſchen Wiſſen nie dahin reicht, wo Gott und Unſterblichkeit wohnen.
O! des thörichten Hochmuthes der Menſchen, die, um ſich ſelbſt
nur nicht zu klein zu finden, lieber das höchſte Weſen zu ſich in den
Staub menſchlicher Verſtändlichkeit herabziehen möchten.
[293]
Wie aber finden wir uns hier zurecht und zu unſerer Auf-
gabe ſelbſt zurück? — Ich meine auf folgendem Wege. Die
ganze Natur zeigt ſich uns in Raum und Zeit gebunden und
eben deshalb erſcheint ſie uns auch mit Nothwendigkeit als nich-
tig und unwürdig. In unſerm Herzen ſelbſt lebt unabweisbar
die Forderung nach etwas Vollendetem, Unveränderlichem, wir
fühlen uns zu dem Ausſpruch berechtigt: „nur das Vollkom-
mene beſteht wirklich“; aber was im Raum iſt, iſt auch wie der
Raum ſelbſt ohne Grenzen, nirgends abgeſchloſſen, nirgends fertig, un-
endlich, d. h. unvollendbar; was in der Zeit iſt, gehorcht dem Geſetz
der Veränderung, oder der Aufeinanderfolge verſchiedener Zuſtände.
In Raum und Zeit dürfen wir alſo Das nicht ſuchen, was unſerem
Herzen Befriedigung gewähren ſoll, das wahrhaft Seyende, Vollendete;
die allein wirkliche Gotteswelt iſt nicht die uns umgebende Natur. —
Nun denn, ſo wäre Alles, was uns anſchaulich entgegentritt, nichts
als ein neckender Fiebertraum, ein leerer, weſenloſer Schein? — Wohl
hat es Leute gegeben, welche zu dieſem ſeltſamen Schluſſe gekommen
ſind, der auch nach dem, was wir bisher erörtert, vielen Schein für
ſich zu haben ſcheint. Aber der Schein gilt auch nur dem mangel-
haft über ſich ſelbſt verſtändigten Menſchen. Forſchen wir nämlich
weiter, ſo kommen wir bald auf die Entdeckung, daß Raum und Zeit
überall nichts den Dingen ſelbſt Angehöriges ſind, ſondern nur zu
der Art und Weiſe gehören, wie wir menſchlich beſchränkt die Dinge
auffaſſen und, ſo lange wir eben Menſchen bleiben, auch aufzufaſſen
gezwungen ſind. Raum und Zeit ſind gleichſam die gefärbte Brille,
welche wir Alle von der Wiege bis zur Bahre tragen, ohne ſie jemals
ablegen zu können, was der Macht auch des Gebildetſten unmöglich
iſt. Aber der wahrhaft Gebildete kann es wohl dahin bringen, einzu-
ſehen, daß er eine Brille trägt, welche ihm die Dinge nicht ſo zeigt
und nicht ſo zeigen kann, wie ſie in der That an ſich ſind. — Nun,
dann ſchließen wir weiter: ſo iſt es doch das Reich Gottes, welches
uns umgiebt und aufnimmt und nur unſerem menſchlich beſchränkten
Standpuncte, unſeren umdüſterten Blicken iſt es zuzuſchreiben, daß
[294] wir mit dem Scheine der größten Wahrheit, mit mathematiſcher
Gewißheit nämlich, dieſe Welt ſo auffaſſen als ob ſie dem ewigen und
heiligen Urheber der Dinge entfremdet wäre. Ein Nebelſchleier, den
wir nicht zu heben vermögen, macht uns die Anſchauung des Gött-
lichen in der Natur unmöglich, aber es wird, es muß ein Zuſtand
kommen, wo Raum und Zeit, dieſe Schranken unſerer menſchlichen
Auffaſſungsweiſe, fallen und wir ſchauen, was wir jetzt nur ahnen.
„Wir ſehen jetzt durch einen Spiegel, in einem dunkeln Wort,
dann aber von Angeſicht zu Angeſicht.“
Jene ſcheinbar ſo feſte, klare mathematiſche Auffaſſung der Na-
tur, und mit ihr alle Wiſſenſchaft, iſt alſo im Grunde die dürftigſte,
niedrigſte, unwahrſte, weil ſie nur die menſchlich beſchränkte iſt. Aber
ſo wie der dem Menſchen erſcheinenden Natur die hehre Gotteswelt
zum Grunde liegt, ſo lebt auch in uns, ungeachtet unſeres menſchlich
beſchränkten Zuſtandes, der göttliche Funke, nicht erloſchen, ſondern
nur für die Zeit durch Staub und Aſche bedeckt. Dieſer Funke, die
Sehnſucht nach dem Ewigen, Unverderblichen, fordert zu ſeiner Be-
friedigung das ihm Gleichartige, und ahnt in der Erſcheinung das
Weſen, im naturgeſetzlichen Mechanismus der todten Maſ-
ſen das freie Göttliche, und was er niemals in klaren Begriffen
auszuſprechen vermag, lebt gleichwohl als ſein edelſtes Erbtheil in
den Gefühlen ſeines Herzens. Das eben iſt es, was ihm als uner-
klärbar, unbegreiflich in der Natur entgegentritt, was ſich jeder
wiſſenſchaftlichen Behandlung entzieht und doch als ein Beſſeres,
Höheres denn alle Wiſſenſchaft ankündigt, das iſt es was uns als
Schönheit in der Natur mit unendlichem Entzücken erfüllt, oder als
Erhabenheit mit unausſprechlich heiligen Schauern durchbebt.
Und hier ſchließt die Entwicklung zu einem Ring zuſammen;
auf der höchſten Stufe der Bildung gewinnen wir mit Bewußtſeyn
und geläuterter Einſicht Das wieder, womit unbewußt der kind-
liche Verſtand begonnen. Naturbetrachtung wird wieder Gottes-
dienſt, aber erſt nachdem wir alles Ungöttliche, Menſchliche, alles
wiſſenſchaftlich Erklärbare, gemein Begreifliche aus der Natur abge-
[295] ſchieden haben und nichts geblieben iſt als das Geheimniß der Schön-
heit. In ihr geht uns die Ahnung einer höheren Bedeutung aller
Erſcheinungen auf, ihre Anerkennung iſt Cultus, iſt der reinſte und
höchſte Gottesdienſt, zu welchem der Menſch ſich erheben kann, in ihr
wird uns die unmittelbarſte Offenbarung des Heiligen, deren der
Menſch fähig iſt. — Laßt uns, um Mißverſtand vorzubeugen, noch
hinzufügen, daß die Schönheit der äußern körperlichen Natur nicht
die höchſte iſt, die uns im Leben begegnet. Es giebt noch Edleres als
die Körperwelt, das iſt der Geiſt des Menſchen; Schönheit der Seele
und die edelſte Blüthe derſelben, reine Liebe, iſt ein noch vollkomm-
nerer Abglanz des Göttlichen und nicht aus der Körperwelt, aus dem
innerſten Leben des Menſchengeiſtes entlehnen wir daher unſere
höchſten Symbole.
Hat nun auf dieſe Weiſe die Natur ihre eigentliche Bedeutſam-
keit für uns erhalten, ſo ſcheinen wir mit unſerer Rede am Schluſſe
zu ſeyn. Die Schönheit iſt keiner erklärenden Wiſſenſchaft fähig. Die
Ausſprüche, in denen wir ſie anerkennen, die Geſchmacksurtheile ſind
nicht durch Schlußreihen zu ſtützen. Jedes ſteht vielmehr für ſich
allein da und macht ſeinen Anſpruch auf unmittelbare Gültigkeit,
ſelbſt dann noch, wenn es ſich in der Seele verſchiedener Beſchauer
ganz verſchieden geſtaltet. Woher ſollen wir den Stoff nehmen zu
weiterer Ausführung? — Können wir auch das Weſen der Schönheit
nicht zerlegen, ſo können wir doch den Gegenſtand, der uns als ſchön
erſcheint, einer genauern Betrachtung unterwerfen, wir können uns
ſeiner einzelnen Theile und Merkmale, ihres Verhältniſſes zu einander
bewußt werden und uns in einer gewiſſen Syſtematik entwickeln,
welche Elemente und welche Verbindungen derſelben in uns das Ge-
fühl des Schönen und Erhabenen beleben. Analog den Unterſuchun-
gen über Harmonie der Farben, Regeln der Compoſition und ſo weiter,
können wir auch in der Pflanzenwelt näher die Eigenthümlichkeiten
aufſuchen, durch welche der äſthetiſche Eindruck, den ſie auf uns
macht, vermittelt wird.
Vor Allem aber müſſen wir hier bevorworten, daß nirgends
[296] ſo wenig noch mit Geiſt und Geſchmack vorgearbeitet iſt, als
gerade in dieſer höchſten Aufgabe der Botanik und daß wir hier
deshalb wenig mehr finden als ſehr unzuſammenhängende Bruch-
ſtücke. Dies mag denn das noch weniger als Skitzenhafte der fol-
genden Mittheilungen entſchuldigen.
Das geſammte Material, welches uns hier zu Gebote ſteht, zerfällt
in drei Gruppen, nach der Art und Weiſe, in welcher die Pflanzen ihre
Bedeutſamkeit geltend machen. Das Erſte iſt die Symboliſirung der ein-
zelnen Pflanzen. Der Menſch, ſobald er ſich dem roheſten Zuſtande des
Jägerlebens entriſſen, wird ſchon durch den Heerden pflegenden Beruf
des geſänftigtern Hirten, mehr aber noch durch die Eigenthum aner-
kennende Geſittung des Ackerbaus auf die Beobachtung der Pflanzen
im Einzelnen, ihres Entſtehens und Vergehens, ihres Lebens und
ihrer Fortpflanzung, endlich ihrer Abhängigkeit von fördernden oder
ſtörenden Einflüſſen der äußern Natur, von Sonne, Thau, Regen
und Boden hingewieſen. Dem Menſchen, der zuerſt zum Gefühl
eigner Freiheit erwacht iſt, der gefühlt hat, daß er „Thäter ſeiner
Thaten“ ſey, iſt es faſt unvermeidlich, überall da wo er Veränderung
ſieht Handlung, wo er Thätigkeit ſieht Freiheit und daher geiſtiges
Leben vorauszuſetzen. So erhält anfänglich jede Pflanze, jeder Baum,
jede Blume ein perſonificirendes Princip, als einwohnenden Gott;
Dryaden beleben die Wälder, im ſäuſelnden Graſe tanzen Elfen
ihren leichten Reigen. — Noch beſtimmter bemächtigt ſich ſpäterhin
die ſymboliſirende Dichtung des Lebens der einzelnen Pflanzen und
in Cultus und Poeſie verflechten ſich reiche Kränze aus dem friedlichen
Reiche der Flora. Die Sehnſucht nach einer Fortdauer jenſeits des
unvollkommenen Erdenlebens greift begierig nach jedem Zug in der
Natur, der eine ſolche Unſterblichkeit andeutet. Die ernſte und
dauernde Cypreſſe ſchmückte bei den Griechen die Gräber der Ge-
liebten und die Wieſen der homeriſchen Unterwelt belebt der blaue
Aſphodelos, deſſen lichte Blüthe, in jedem Frühling neu aus der
in der Erde ſich bergenden Zwiebel emporgehoben, ein ewiges Wieder-
aufleben, eine ſichere Unſterblichkeit verkündete. — Auf den ſtillen Ge-
[297] wäſſern des ſeegenbringenden Nils, des allernährenden Iſisſtromes ruft
der belebende Einfluß des Sonnengottes Oſiris die üppige Lotos-
blume hervor, in ihren großen, mandelähnlichen Kernen dem älte-
ſten Menſchengeſchlechte leicht gewonnene Nahrung ſpendend, und in
dankbarem Gefühle wird dieſe Pflanze jenen milden Gottheiten ge-
weiht; ſie ſelbſt wird das Symbol der Fruchtbarkeit, der ſegensvollen
Kraft der Entwicklung der Natur, und nachdem die Nothdurft ander-
weitig befriedigt iſt, wird der Genuß ihrer Frucht, als einer gehei-
ligten, dem ſtaubgebornen Menſchen unterſagt; zugleich mit ägypti-
ſcher Prieſterweisheit verkündet Pythagoras ſeinen Schülern das
Verbot jene Bohnen zu eſſen. — Es iſt Athene, die Göttin der hei-
tern Luft, welche den Griechen den ſonnige Standorte liebenden Oel-
baum ſchenkt und der Uferbenetzer Poſeidon kränzt ſeine Stirn
mit den Zweigen der ihm heiligen Strandkiefer*).
Leider iſt die Verbindung lebendiger Naturanſchauung mit todter
philologiſcher Gelehrſamkeit noch viel zu neu, als daß es möglich
wäre, die Symboliſirung der Pflanzenwelt durch alle Formen der
Gottesverehrung bei den verſchiedenen Menſchenſtämmen zu verfolgen.
Gerade die Seiten der alten religiöſen Mythen ſind bis auf die
neueſte Zeit am meiſten vernachläſſigt worden, in welchen ſich ihre
Verbindung mit dem Naturleben ausſpricht, in welchen man daher
die ſicherſten Anhaltepuncte zu ihrer Erklärung und Aufklärung ge-
funden haben würde, während man jetzt nur zu oft der Deutung die
albernſten Phantaſien untergeſchoben hat.
Wir finden daher natürlich auch noch eine Menge von Be-
ziehungen zwiſchen religiöſem Mythus und Pf[l]anzenwelt, welchen
wir zu deuten gegenwärtig noch ganz außer Stand ſind. Die Deu-
tung der Roſe und Myrte zum Beiſpiel auf Liebe und Ehe, ſchon
den alten Völkern geläufig, beruht ſicher nicht auf einem bloßen äſthe-
tiſchen Wohlgefallen, ſondern auf einer tiefern Beziehung zum
griechiſchen Naturcultus, deren Entzifferung uns auch wohl erklären
[298] würde, weshalb zwei der Charitinnen mit Roſe und Myrte, die
Dritte aber durch einen Würfel characteriſirt werden. Auch der Bogen
des indiſchen Liebesgottes Kamadawa, aus Zuckerrohr gefertigt,
ſymboliſirt wohl mehr als die bloße Süßigkeit der Liebe, was ohne-
hin ein etwas froſtiges Gleichniß wäre und gewiß eine tiefſinnige
Naturbetrachtung hat ihm als Pfeilſpitze die roſenrothen Blüthen-
knoſpen des Amrabaumes gegeben.
Freilich muß zugeſtanden werden, daß dieſe ſymboliſche Auffaſ-
ſung der Pflanzenwelt nicht mit einem beſtimmten Zeitalter der
Menſchheit abgeſchloſſen iſt, ſondern daß der an ſich unerſchöpfliche
Stoff auch fortwährend von dem dichteriſchen Geiſt des Volkes aus-
gebeutet wird, mag ſich nun der Urſprung irgend einer ſolchen Parabel
in der Menge des Volkes verlieren oder beſtimmt an ein einzelnes
Genie knüpfen, welches mit ſo richtigem Gefühle dem Volke vorge-
dichtet hatte, daß dieſes ſogleich den fremden Gedanken als Gemein-
gut adoptirte. So mag es oft ſchwer halten zu beſtimmen, wie
weit in der Geſchichte die erſte Entſtehung und Ausbildung eines
ſpäter allgemein gebrauchten Gleichniſſes, einer typiſch gewordenen
Bedeutung einer Pflanze oder eines Vorgangs aus ihrem Leben
hinaufreicht. Die geknickte Lilie, das beſcheidene Veilchen, die
ſtolze Kaiſerkrone und ſo weiter ſind ſo natürlich anſprechende und
verſtändliche Bilder, daß wir ſie in gleicher Weiſe faſt bei jedem ge-
bildeten Volke wiederfinden und doch kennt man weder von dieſen
noch von den unzähligen ähnlichen, welche geradezu der Sprache ſelbſt
angeeignete Formen geworden ſind, die erſten Urheber. Selbſt da
ſind wir im Unklaren, wo die Eigenthümlichkeit des Symbols auf
ganz beſtimmte Orte und Zeiten in der Geſchichte hinweißt. Der Mos-
lem, der von Mecca zurückkehrt, bringt als Zeugniß ſeiner Pilger-
fahrt die Aloe*) mit und hängt ſie, mit der Spitze nach Mecca wei-
ſend, über ſeiner Schwelle auf, welcher dann kein unſauberer Geiſt
mehr nahen kann. Dieſer Gebrauch, deſſen abergläubiſcher Theil
[299] ſelbſt auf die Juden und Chriſten in Cairo übergegangen iſt, hängt
ſicher auf eigenthümliche Weiſe mit der Entſtehung der Pilgerſchaft
nach Mecca und mit der Natur dieſer Pflanze zuſammen, aber das
Wie iſt uns unbekannt.
Manche der früher gebräuchlichen Bilder und Symbole haben
ſich auch im Laufe der Zeit umgeſtaltet, andere ſind an ihre Stelle
getreten, wenn genauere Naturbeobachtung zeigte, daß ſie den zu be-
zeichnenden Gedanken ſchärfer und prägnanter ausſprachen. Ja oft
möchte man in ſolchen Vertauſchungen den ſtrafenden Volkswitz ver-
muthen. Die alte deutſche Mannstreue*) iſt zwar eine etwas
derbe, auch rauhe und ſtachliche Pflanze aber dauerhaft in Geſtalt
und unverwüſtlich ächt in Farbe, was man dagegen heut zu Tage
Männertreue**) nennt iſt ein kleines blaues Blümchen, das kaum
gepflückt ſchon abfällt, deſſen allerdings verlockend ſchöne Farbe ſchon
nach wenig Stunden an der Sonne verbleicht.
Doch wozu noch dieſe einzelnen Anführungen häufen, da jeder
Gebildete, der einigermaßen mit dem Geiſte ſeiner Mutterſprache ver-
traut iſt, dieſer Bilder aus dem Pflanzenleben ſich zu Tauſenden aus
ſeinen Sagen, Mährchen und Dichtungen erinnern wird. —
Wichtiger und intereſſanter möchte es vielleicht ſeyn, mehr im
Großen die Elemente der Pflanzenwelt aufzuſuchen, welche die Vermitt-
ler des äſthetiſchen Eindrucks ſind. Hier treten uns nun wieder zwei
verſchiedene Aufgaben entgegen. Was uns im Großen in der Natur
entzückt, die als ein Ganzes zuſammengefaßten Naturerſcheinungen,
mit einem Wort die Landſchaft, iſt eben eine Moſaik einzelner auch
für ſich beſtehender und für ſich bedeutungsvoller Theile. Wald und
Wieſe, in einer Gegend ſich gegenſeitig hebend durch den Contraſt
und ſo die Schönheit derſelben bedingend, ſind auch für ſich, ohne
Rückſicht auf den Antheil den ſie an der Zuſammenſetzung des größern
Ganzen nehmen, characteriſtiſche Bildungen der Pflanzenwelt und
jede auf eine beſondere Weiſe aus einzelnen Pflanzenarten zu einem
[300] beſtimmten äſthetiſchen Eindruck zuſammengeſetzt. Man kann ſolche
Pflanzengruppirungen, wie Wald, Wieſe, Haide u. ſ. w.,
Pflanzenformationen nennen, und gewiß verdienen ſie eine
bei Weitem tiefere Erforſchung und ſorgfältigere Darſtellung als ihnen
bisher zu Theil geworden iſt.
Wir werden aber, wenn wir näher treten, bald darauf geführt,
daß ihr eigenthümlicher Charakter wieder in mannigfacher Weiſe be-
dingt iſt von dem ſo zu ſagen phyſiognomiſchen Ausdrucke der Pflan-
zenarten, woraus ſie beſtehen. Die Botaniker unterſcheiden nach
mannigfachen Merkmalen, am beſten und wiſſenſchaftlichſten nach
den eigenthümlichen Verſchiedenheiten und Aehnlichkeiten in der gan-
zen Entwickelungsgeſchichte der Pflanzen zahlreiche größere und klei-
nere Gruppen, welche man gemeinhin als Familien bezeichnet. Die
zu einer Familie gerechneten Pflanzen verknüpft natürlich ein enges
verwandtſchaftliches Band, und wer ſich auf feinere phyſiognomiſche
Studien verſteht, dem werden auch die feineren Familienzüge, in
denen alle übereinſtimmen, nicht entgehen. Aber ſo wie im Großen
unter Menſchen uns doch zunächſt die von Familienverwandtſchaften
ganz unabhängigen Raçencharaktere und Spielartenbezeichnungen:
Kalmückenaugen, Negerſchädel, Habichtsnaſen,
Blondinen und Brünetten u. dgl. auffallend entgegentreten, ſo
ſind es auch unter den Pflanzen durchaus nicht die Aehnlichkeiten und
Verſchiedenheiten, welche durch die wirkliche natürliche Verwandtſchaft
hervorgerufen werden, ſondern es ſind vielmehr allgemeinere, meiſtens
in vielen Familien zugleich vorkommende Eigenthümlichkeiten der Er-
ſcheinung und des Baues der Pflanzen, von welchen ihre phyſiogno-
miſche Bedeutung für die Zuſammenſetzung der botaniſchen Formatio-
nen und ſomit der Landſchaften abhängig iſt. Die Beachtung dieſer
Eigenſchaften der Pflanzen läßt uns denn für ſie gewiſſe allgemeine
Formen aufſtellen, nach welchen ohne Rückſicht auf die natürliche
innere Verwandtſchaft die Pflanzen nur danach zuſammengeordnet
werden, wie ſie einen gleichen gemeinſchaftlichen äſthetiſchen Ein-
druck auf uns machen und zugleich als Charakter beſtimmend in den
[301] Formationen oder überhaupt in der Phyſiognomie der Landſchaft
hervortreten.
So erhalten wir ſtatt der etwa 300 Familien, welche die
Botaniker bis jetzt aufgeſtellt und durch feinere, ſorgfältig erforſchte
Merkmale von einander unterſchieden haben, nur eine verhältniß-
mäßig geringe Anzahl von Pflanzenformen.
Meiſt grau und dürr, ſchorfig flach oder ſtachlich, wie rieſige
Schneekryſtalle in einander gewirrt, fröſtelnde Schauer hervorrufend,
überzieht die Flechtenform die öden Grenzflächen der Vegetation
gegen die unorganiſche Natur und zu dieſer gleichſam den Uebergang
bildend, während in der Form der Mooſe dicht gedrängte, zarte
gelblichgrüne Blättchen meiſt mit Seidenglanz einen polſterartigen
Sammetüberzug über Boden und Geſtein bilden. — Aehnlich den beiden
Genannten, ſich nicht zu freien Geſtalten aufrichtend, ſondern faſt
nur die nackte Fläche, nicht der Erde aber des Waſſers, kleidend ent-
wickelt ſich bedeutungsvoll für die Schönheit aller waſſerreichen Land-
ſchaften die Form der Seeroſen*). Große breite Blätter, mit
abgerundeten Umriſſen, flach auf dem Waſſer ſchwimmend oder
etwas ſchüſſelförmig vertieft ſich wenig über daſſelbe erhebend, pracht-
voll gefärbte Blumen von ſchönem Bau und großem Umfange, auch
kaum aus dem naſſen Elemente auftauchend, ſind die bezeichnendſten
Züge in der Phyſiognomie dieſer Gewächſe. — Die Form der Grä-
ſer zeichnet ſich vor Allen beſonders aus durch ihre Geſelligkeit; die
nicht hohen Stengel tragen flache, ſchmale, biegſame, lebhaft und
wohlthuend grüne Blätter, und auf dünnen Stielchen wiegen ſich
im leiſeſten Hauche die feinen Blüthenriſpen; noch iſt in ihnen die
Pflanzenwelt an den Boden gebannt, über welchen ſie ſich wenig
erheben und den ſie als weicher, wolliger Teppich bedecken. — Ihnen,
die den Eindruck heiterer Behaglichkeit hervorrufen, des Hirten
Freude, der Heerden üppiger Nahrung zur Seite ſteht die düſtere
[302]Form der Binſen; aus verſumpfter ſchwarzer Erde ragen in
ſchmutzigem Graugrün die ſteifen, ſtruppigen, rundlichen Stengel
und Blätter, hin und wieder Knäulchen brauner oder ſchwarzer
trockener Blüthchen tragend oder weiße wollige Flocken, das Greiſen-
haar der Früchtchen, in den herbſtlichen Sturmwind ſtreuend; ſaure
Gräſer nennt ſie ſeufzend der Landwirth und das Vieh verſchmäht ſie. —
Am Rande friſcher Gewäſſer dagegen und zumal unter dem befruch-
tenden Einfluſſe feuchtwarmen Tropenklimas erhebt ſich das Gras zur
edleren hohen und breitblättrigen Schilfform*), in Hindoſtan ſelbſt
Bäume überragend **) und eine Wieſe über dem Walde bildend. —
Hier im Reiche der Gewürzlilien ſchwillt der Stengel von Saft, breitet
ſich das Blatt in Länge und Breite, aber zur Seite der Mittelrippe
ſo dünn, daß es leicht vom Winde zerſpalten wird; die Pflanze
färbt ſich mit dunklem, ſammetſchillerndem Grün oder dem wärmſten
Gelbgrün, und in reinen intenſiven Farben ſtrahlen die großen Blüthen-
büſchel; ſo entſteht die Piſang-Form***), eine der characteriſtiſch-
ſten für die Ueppigkeit der Tropenvegetation. — Durch die Pracht der
Blüthen den Piſang- oder Bananenpflanzen, durch die Tracht der
Blätter faſt dem Schilfe ähnelnd, ſteht zwiſchen beiden gleichſam
mitten inne die Form der Liliengewächſe, die einzige, welche
gerade in dem hier genommenen Umfange einen künſtleriſchen Dar-
ſteller an dem franzöſiſchen Blumenmaler Redouté gefunden hat. —
Endlich ſtellt ſich noch eine dritte Form der Aroiden†) daneben.
Dreieckige oder pfeilförmige ſaftig grüne Blätter auf langen Stielen
und wunderliche oft ſchön gefärbte Tuten, welche kolbenförmige
Blüthenſtände umhüllen, bilden die Pflanzen, die auf den mächti-
[303] gen Stämmen tropiſcher Waldbäume ſich anſiedelnd, den Uebergang
zu den Orchideen andeuten.
Wenn in allen dieſen zuletzt genannten Formen die Blattbil-
dung übermäßig hervortrat, ſo ſetzen wir ihnen jetzt einige Formen
entgegen, welche vielmehr eine bevorzugte Entwickelung des
Stengels zeigen. Zunächſt möchte ich dahin die Haiden-Form
rechnen; niedres, vieläſtiges, holziges Geſträuch, deſſen kleine matt-
grüne oder graue Blätter ſo dicht gedrängt ſtehen, daß ſie faſt nur
als Rauhigkeiten der Zweige erſcheinen und ſelbſt die oft ſchöne Farbe
der trockenen Blüthen den traurigen Eindruck nicht verwiſcht, den die
Pflanzen überall hervorrufen, wo ſie die Phyſiognomie der Land-
ſchaft beſtimmen. — Eine Nebengruppe könnte man hier für die Ca-
ſuarinen beſtimmen und ſie baumartige Haideform nennen,
die in Auſtralien die unheimlichen blatt- und ſchattenloſen Wälder bil-
den. — Noch auffallender iſt aber die Stammbildung begünſtigt in den
ſtachlichen Cacteen, die nur aus fleiſchigen, wunderlich geform-
ten Stämmen und Aeſten beſtehen, welche Cactusform noch in
manchen andern Familien, z. B. bei den Wolfsmilcharten,
bei den Stapelien, und wenn auch allerdings mit bedeutenderer
Blattentwickelung, doch mit gleich phyſiognomiſchem Ausdrucke in
den meiſten Fettpflanzen, Aloen und Meſembryanthemen
wiederkehrt. — Zwar nicht bezüglich ihrer wirklichen Organiſation,
aber doch mit Berückſichtigung der eigenthümlichen Art und Weiſe,
wie ſie Theil nehmen an der Zuſammenſetzung eines Pflanzengemäl-
des, müſſen wir hierher zu den blattloſen oder vielmehr nur durch
ihre Stengel wirkenden Pflanzen alle diejenigen rechnen, die wir mit
den ſpaniſchen Anſiedlern in Amerika als Llanen oder Lianen-
form*) zuſammenfaſſen. Wie ſtarke Schiffstaue gedreht oder
ſchlangenförmig hin- und hergebogen, bald Schnüren gleich, bald
flach und bandartig, bald abwechſelnd rechts und links mit flachen
[304] kammähnlichen Auswüchſen beſetzt, ziehen ſich 40, 50, ja 100 und
mehrere Hunderte von Fußen blatt- und aſtlos die Bauhinien,
Ariſtolochien, Winden, Bignonien und andere in den tropi-
ſchen Urwäldern von Baum zu Baum; oft an dem Einen hinauf-
ſteigend, ihn umſchlingend bis zum Erſticken, dann überſpringend auf
einen Andern, dann herabfallend in einem Bogen und wieder bis in die
höchſten Gipfel eines dritten Baumes hinankletternd, wo die Pflanze
vielleicht einen Büſchel der prachtvollſten Blüthen in den lichteren Lüften
wiegt, während ſie höhnend dem Wanderer im Waldesſchatten nichts
beut als ihre nackten Stämme, mit denen ſie oft faſt undurchdring-
lich das Dickicht verflicht. Aus dieſem Grunde wiſſen wir auch bei
allem Fleiße der Sammler nur in den wenigſten Fällen, welche der
zahlreichen in den Herbarien aufbewahrten Blüthen mit den ebenfalls
reichlich geſammelten, oft gar wunderbar abweichend gebauten Stäm-
men zuſammengehören.
Zu einer ganz eigenthümlichen Zeichnung verknüpft die Natur
gleichſam die beiden in der vorigen Familie getrennt auftretenden
Elemente, nämlich den Büſchel ſchön entwickelter Blätter und den
rein für ſich ausgebildeten nackten Stamm in der von dem Cultus
geheiligten, vom Alterthum geprieſenen, von Dichtern beſungenen
Palmenform*). Es zerfällt aber dieſe Form in mehrere Unter-
abtheilungen, bei denen beſonders durch die Subſtanz und Geſtal-
tung der Blätter ihr phyſiognomiſcher Charakter noch eigenthümlich
individualiſirt wird. Im Allgemeinen erhebt ſich bei dieſer Pflanzen-
geſtalt der Stamm von einer ganz niedrigen, an einen Kugelcactus
erinnernden Maſſe bis zu der ſchlankeſten, mehrere 100 Fuß hohen
Säule, und natürlich iſt der Eindruck, den die faſt ſtammloſen
Zwerg- und Nipapalmen hervorrufen, noch weſentlich verſchieden
von der majeſtätiſchen Erhabenheit des 180 Fuß hohen Schaffts der
Wachspalme der Anden; es bleibt aber doch insbeſondere die
[305] Anordnung und Form des Laubes, welche bedeutſamer den Total-
eindruck modificirt. In dieſer Rückſicht unterſcheiden wir die Form
der baumartigen Lilien oder die Agaven-Form, mit oft hin-
und hergebogenen, zuweilen nach Oben in wenige kurze dicke Aeſte
getheiltem Stamme, deſſen Enden einen nach allen Seiten gleich-
mäßig ausgebreiteten Büſchel lilienartiger, gewöhnlich derber, ſtarrer,
und deshalb von leichtem Winde nie bewegter, oft mattgrüner Blätter
tragen und ſo das Bild der unerſchütterlichen Ruhe darbieten. Die
thebaiſche Cocospalme, die rieſigen Fourcrojen, die Yuc-
cen Mexicos, die Vellozien und Barbacenien Chiles, die
großen Aloen Africa's, die Grasbäume Auſtraliens gehören
hierher und Polyneſien liefert noch eine beſondere Form in den Pan-
daneen, mit ſteifen, zweiſchneidigen, glänzend grünen und in
auffallend hervortretenden Schraubenlinien geſtellten Blättern, die
Schraubenfichten (screw-pine) der Engländer. — Den Gegen-
ſatz hierzu bildet die Form der Farnkräuter, deren zartes, viel-
fach zerſchlitztes Laub ſchirmartig ausgebreitet, vor Allem den Charakter
anmuthiger Zierlichkeit und im leiſeſten Windhauche zitternd den Ein-
druck beweglicher Leichtigkeit hervorruft. — Die Mitte zwiſchen beiden
Extremen hält die Palmenform im engeren Sinne des Wortes, deren
vollendete Geſtalten, gleichſam durch einen noch rohen, halbmiß-
lungenen Verſuch der Natur in den Cycadeen vorgebildet, eigent-
lich die imponirende Schönheit der Tropenwelt bedingen. Sie ver-
dienen, daß wir einige Augenblicke bei ihnen verweilen, und wir
können hier keinem Beſſern als A. v. Humboldt folgen.
Die Stämme der Palmen ſind bald unförmlich dick, bald rohrartig
ſchwach, bald nach oben, bald nach unten, bald in der Mitte bau-
chig anſchwellend, bald glatt wie abgedrechſelt, bald ſchuppig,
bald dicht beſetzt mit fußlangen, ſchwarz glänzenden Stacheln, bald
umwunden mit zartem Netz von braunen Faſern. Seltſam erſcheinen
ſie, wenn ſie, durch hoch am Stamme entſpringende Wurzeln über
den Erdboden gehoben, gleichſam vielfüßig daſtehen oder ihren Ur-
ſprung in wulſtartig ſie umwuchernde Wurzelfaſern verſtecken. Die
Schleiden, Pflanze. 20
[306] großen Blätter ſind gefiedert oder fächerförmig zertheilt, die ſtarken
Blattſtiele, welche man ſchon in Genua von der Dattelpalme als
Spazierſtöcke benutzt, ſind bald glatt, bald ſcharf gezahnt. Das
Grün der Blätter iſt bald dunkelglänzend, bald auf der untern Seite
ſilberfarben weiß. Bisweilen iſt die Mitte des Fächerblattes mit
concentriſchen gelben und bläulichen Streifen pfauenſchweifartig
geſchmückt.
In Tracht und Phyſiognomie der Palmen liegt überhaupt ein
großer, ſchwer mit Worten auszudrückender Charakter, beſonders
durch die Richtung der Blätter ſelbſt hervorgerufen. Die Theile der-
ſelben, die Blättchen, ſind theils kammartig in einer Fläche dicht
aneinander gereiht mit ſteifem Zellgewebe, wie bei der Cocos und der
Dattel, daher der herrliche Abglanz der Sonne auf der obern Blatt-
fläche, welche friſcheren Grüns in der Strandliebenden Cocos, matter
und aſchfarbiger in der Wüſten umſäumenden Dattel iſt; bald er-
ſcheint das Laub ſchilfartig, von dünneren, biegſamen Elementen ge-
webt und nach der Spitze hin gekräuſelt. Den Ausdruck hoher Ma-
jeſtät gewährt den Palmen außer dem Stamme hauptſächlich die
Richtung der Blätter. Je anſtrebender, je ſpitziger der Winkel iſt,
den ſie mit dem Stamme nach oben machen, deſto großartiger und
erhabener iſt die Form. Welchen verſchiedenen Anblick gewähren die
herabhängenden Blätter der Palma de Covija am Orinoco, ja ſelbſt
der Cocos- und Dattelpalme und die himmelanſtrebenden
Zweige der Jagua und Pirijao! Alle Schönheiten der Form hat
die Natur in der Jaguapalme, welche die Granitfelſen in den
Kataracten des Atures und Maypure bekränzen, zuſammen-
gehäuft. Ihre ſchlanken glatten Stämme erheben ſich 60 bis 70 Fuß
hoch, ſo daß ſie über das Dickicht des Laubholzes wie ein Säulen-
gang hervorragen. Dieſe luftigen Gipfel contraſtiren wunderſam
mit den dickbelaubten Ceibaarten, mit dem Walde von Lauri-
neen- und Balſambäumen, welche ſie umgeben. Ihre Blätter,
kaum 7 bis 8, ſtreben faſt ſenkrecht 14 bis 16 Fuß hoch aufwärts.
Die Spitzen des Laubes ſind federbuſchartig gekräuſelt. Die Blättchen
[307] haben ein grasartig dünnes Gewebe und flattern luftig und leicht um
die ſich langſam wiegenden Blattſtiele. Bei Palmen mit gefiedertem
Laube entſpringen die Blattſtiele entweder aus dem dürren, rauhen,
holzigen Theile des Schaftes, oder auf dem rauhen Theile des
Stammes iſt ein grasgrüner, glatter, dünnerer Schaft wie Säule auf
Säule aufgeſetzt, aus dem die Blätter hervortreten. In der Fächer-
palme ruht die blätterreiche Krone oft auf einer Lage dürren Lau-
bes, ein Umſtand, der dem Gewächſe einen ernſten, melancholiſchen
Charakter gewährt. In einigen Schirmpalmen beſteht die Krone aus
wenigen ſich an ſchlanken langen Stielen erhebenden Fächern.
Unter dem Urſprunge der Blätter aus dem Stamme brechen bei
allen Palmen die Blüthentheile hervor. Die Art dieſes Hervorbrechens
modificirt ebenfalls ihre Geſtalt. Bei Wenigen ſteht die große tuten-
förmig zuſammengerollte Scheide ſenkrecht und aus ihr erhebt ſich der
dichte Strauß der Früchte, einer Ananas ähnlich. Bei den Meiſten
hängen die oft mehrere Fuß langen Scheiden bald glatt, bald feindlich
rauh abwärts, oft von blendender Weiße, die weit in die Ferne glänzt.
Auch in Geſtalt und Farbe der Früchte iſt mehr Mannigfal-
tigkeit als man gewöhnlich glaubt. Die Lepidocaryen, die
Sagupalme ſind mit eierförmigen Früchten geziert, deren ſchup-
pige, braune, glatte Oberfläche ihnen das Anſehen junger ſchöner
Tannenzapfen giebt. Welcher Abſtand von der ungeheuren dreikan-
tigen Cocosnuß zu der Beere der Dattel und den kleinen kirſchenähn-
lichen Steinfrüchten des Corozo. Keine Palmenfrucht kommt aber
an Schönheit den Früchten der Pirijao von St. Fernando de Ata-
bapo gleich; eierfarbene, goldfarbene und zur Hälfte purpurrothe
Aepfel hängen traubenartig zuſammengedrängt von dem Gipfel der
majeſtätiſchen Stämme herab. —
Mag dieſes zur Charakteriſtik der Palmen genügen, uns bleibt
noch eine letzte Hauptform zu betrachten übrig, in der ſich am innig-
ſten Stamm und Blattbildung mit einander verſchmelzen und unge-
ſondert den Totaleindruck beſtimmen, nicht ohne daß derſelbe bald
vom Stamme und ſeiner Veräſtelung bald von den Blättern und
20*
[308] ihren Formen eigenthümliche Modificationen empfinge. Die Form
der Bäume zerfällt wieder in noch größerem Verhältniß als die
der Palmen in beſondere charakteriſtiſche Unterformen.
Drei derſelben liegen unſerer Anſchauung ſo nahe, daß es kaum
mehr bedarf als ihrer zu erwähnen. Es ſind die Form des Laub-
holzes mit ihrem nach allen Seiten verzweigten Stamme und ihrer
reichen, kurz- und breitblätterigen Belaubung dichte compacte Pflan-
zenmaſſen bildend; — die Weidenform mit lockern, ruthenförmigen
Zweigen, ſchmalen oder langgeſtielten flatternden Blättern, deren
untere, gewöhnlich weiß behaarte Seite dem bewegten Laube einen
eigenthümlichen weißen Schiller verleiht, bei uns durch Weide und
Pappel, im Süden durch den nützlichen Oelbaum repräſentirt; —
endlich drittens die Form des Nadelholzes, durch die ſchmalen,
graugrünen Blätter und die quirlförmig vertheilten oder ſchirmförmig
ausgebreiteten Aeſte der braunrothen Stämme ausgezeichnet, faſt
eine zwergartige aber dichte Binſenvegetation auf einem Baume
angeſiedelt.
Ihnen ſtellen ſich drei Formen aus den ſüdlicheren und Aequi-
noctialregionen gegenüber, die ſich bei ganz verſchiedenem Weſen doch
in mancher Beziehung ihnen vergleichen laſſen. Die Maſſe der Laub-
wälder, beſonders das Unterholz der Gebüſche wird unter den Tro-
pen eigenthümlich charakteriſirt durch die Malvenform*), bei wel-
chen die großen, handförmig gelappten, gewöhnlich langgeſtielten Blät-
ter, die bei aller Ausbreitung in die Fläche ihres lockeren Standes
wegen doch keine dunkeln Schatten geben, auf meiſtens kurzen dicken,
nur an der Spitze zu einer Krone verzweigten, ſeltener zu lang ver-
äſtelten, weit hin gekrümmten Stämmen vertheilt ſind. Der Rieſe der
Pflanzenwelt, der heilige Baobab, die unförmliche Maſſe des ton-
nenförmig angeſchwollenen Bombaxſtammes, die purpurblüthi-
gen Eibiſchgebüſche gehören dieſer Geſtaltung an.
[309]
Durch den eigenthümlichen Eindruck, den die Pflanzen durch
die Textur und Farbe ihrer Blätter machen, iſt die Lorbeer- und
Myrtenform den mehr nordiſchen Weiden verwandt, in welche
viele neuholländiſche Myrtaceen geradezu bis zur phyſiognomiſchen Un-
unterſcheidbarkeit übergehen. Im Ganzen ſind freilich breite, leder-
artig ſteife, wie lackirt glänzende und das Licht blendend zurückwer-
fende Blätter das Bezeichnende für dieſe Pflanzen, welches noch ſon-
derbar modificirt wird, wenn ein weißer dichter Filz, wie bei den
Proteaceen, die untere Blattfläche überzieht und ſo in das glän-
zende Grün einen eigenen ſilberfarbenen Ton miſcht. — Für die
höchſte Vollendung aller Pflanzenformen aber möchte ich die Aca-
cienform erklären. Die vielfache, oft ſchirmartig einfache, oft
netzförmig luftige, oft eichenähnlich knorrige Veräſtelung der hier
ſchlanken, dort maſſigen Stämme bedingt einen der Schönheit ſo
förderlichen Reichthum von Formenſpielen, der aufs Mannigfachſte
vervielfältigt wird von den gefiederten leichten Blättern, die bald
klein und zierlich wie feinſte Stickereien und Spitzen ſich auf dem
klaren Himmelsgrunde abzeichnen, bald weit ſich hinausſtreckend in
maleriſchen Biegungen mit dem Palmenlaube wetteifern. Nur ein
ſchwaches Bild giebt die aus Nordamerika bei uns eingewanderte
Robinie von der Mannigfaltigkeit, der Zartheit, Pracht und
Majeſtät, zu welcher ſich dieſe Form unter dem belebenden Strahle
der tropiſchen Sonne entwickelt.
Wenn wir uns auf dieſe ſkizzenhafte Aufzählung charakteriſtiſcher
Pflanzenformen beſchränken, ſo liegt es wohl in der Natur der Sache,
daß dieſelbe keineswegs genügt, um den Reichthum der Natur zu
malen, aber es fehlt uns gerade hier am meiſten an ſicheren, mit
künſtleriſcher Hand entworfenen Zeichnungen. Die Reiſenden, nur
zu oft geiſtloſe Sammler, haben noch zu wenig dieſe Seite der Na-
turbetrachtung angebaut. Auch unter ſolchen, welche darauf Rück-
ſicht nehmen, ſind gar Manche, deren Blick nicht ruhig und unbe-
fangen genug iſt, das, was ihnen ſubjectiv auffällig und intereſſant
erſcheint, von dem Charakterbeſtimmenden in der Landſchaft zu
[310] ſondern, Viele in dem eiteln Drange, etwas Abſonderliches ſagen
zu wollen, reihen mühſam geſuchte Worte, die doch kein Bild geben,
aneinander, oder überlaſſen ſich dem Uebermaaß der Gefühle und
dem Fluge einer ungezügelten Phantaſie. Selten ſind die claſſiſche
Objectivität und die plaſtiſche Anſchaulichkeit, welche die Natur-
ſchilderungen des klaren Göthe, des reichen und lebendigen Seats-
field, vor Allen aber den Meiſter der Wiſſenſchaft, der künſtleri-
ſchen Auffaſſung und der Sprache, Alexander von Humboldt
auszeichnen.
Ich habe jene Formen aneinander gereiht, je nachdem ſie blos
die nackte Erde bekleiden oder ſich über derſelben zu ſelbſtſtändigen
Geſtalten erheben und die letzteren, je nachdem ſie vorzugsweiſe durch
Blattbildung oder mehr durch das charakteriſtiſche Hervortreten der
Stämme oder endlich durch eine Verbindung und Verſchmelzung Bei-
der den beſonderen Eindruck hervorrufen, den eine von ihnen beſtimmte
Landſchaft auf den Beſchauer macht. Es ließen ſich aber wohl
noch andere, wichtigere, mehr dem künſtleriſchen Standpunkte ent-
nommene Eintheilungsgründe geltend machen. So wie wir die
Landſchaft ſelbſt eintheilen in Vorgrund, Mittelgrund und Hinter-
grund, ſo müßten auch vor Allem die charakteriſtiſchen Pflanzenformen
in ihrer verſchiedenen Bedeutung für dieſe drei Theile jedes Natur-
gemäldes aufgefaſſt und mit ſicherer Zeichnung hingeſtellt werden.
Die kleinen Formen der Gräſer, nur in dem Totaleindruck ihrer
Maſſen bedeutſam, verlieren nichts durch die größere Ferne, während
Piſang- und Aroideengewächſe wegen der ſchönen Form ihrer
großen Blätter ſelbſt den nächſten Vorgrund vertragen. Dagegen
verſchwimmen die feinen Linien der Mimoſenblätter im Hintergrunde
in eine grüne Maſſe, während die höheren Palmen, zu nahe geſtellt,
der Totalanſchauung überlegen werden, ſo daß ihre Schönheit auf-
hört wirkſam zu ſeyn.
Nachfolgende Reiſende werden die Zahl der Pflanzenformen ver-
mehren, ihre Bedeutung beſtimmter hervorheben und die zarten
Nüancirungen auffaſſen lehren, welche jene größeren Gruppen noch
[311] in kleinere zu zerfällen erlauben, und vorzugsweiſe wird die An-
ſchauung gewinnen, wenn uns ein größerer Vorrath ſolcher künſt-
leriſcher Darſtellungen vorliegt, wie ſie mit unnachahmlicher Treue
Baron von Kittlitz in ſeinen Vegetationsanſichten geliefert hat.
Am Meiſten des Studiums werth, aber noch faſt gänzlich un-
beachtet und unerforſcht iſt die Seite dieſer Pflanzenformen, welche
ſich dem Menſchen, ſeiner Bildungsgeſchichte, ſeiner Lebensanſicht
zuwendet. Hier gewinnen dieſe Typen der Natur erſt ihre höhere
Bedeutung und werden für den Pſychologen, den Ethnographen
faſt noch wichtiger als für den Pflanzenforſcher. Daß ſich anders die
Weltanſchauung Dem geſtalten muß, der ſeine erſten Eindrücke von
den ernſten wintergrünen Fichtenwäldern Schwedens erhielt, anders
Dem, der in den nebelfeuchten Hochmooren und Haiden Schottlands
aufwuchs und wieder anders bei Jenem, den von ſeiner Kindheit an
das glänzende Laub der Lorbeeren und Myrten unter dem heitern
griechiſchen Himmel umgab, liegt ſcheinbar zu nahe, um der Er-
wähnung zu bedürfen, und doch läßt ſich die daraus hervorgehende
Lebensanſchauung leichter herausfühlen als mit Worten klar und
deutlich entwickeln. So wie bei der Mythologie, ſo iſt auch hier
die lebensvollſte und fruchtbarſte Seite noch gar nicht erforſcht wor-
den; gleichwohl können wir es als allgemeinen Satz geltend machen:
es giebt keine Disciplin, die ſich irgendwie auf irdiſche Verhältniſſe
bezieht oder in ſolchen verwirklicht wird, die ohne naturwiſſenſchaft-
liche Grundlage je etwas Anderes als todte Wortgelehrſamkeit oder
unwahre Phantaſterei ſein und werden könnte. Des Menſchen Seele
verſteht man nicht ohne ihre Verbindung mit dem Körper und dieſen
nicht ohne ſeine Abhängigkeit von der ganzen Natur und was gäbe
es außerdem noch, was Gegenſtand der Wiſſenſchaft werden
könnte.
Dieſen Einfluß, den insbeſondere auch die Pflanzenwelt auf
die Entwickelung des Menſchen geltend macht, zeigen jene Pflanzen-
formen aber nicht für ſich, ſondern vielmehr erſt in und durch ihre
Verbindung zu den ſchon genannten Pflanzenformationen.
[312] Man erwarte auch hier von mir nicht mehr als eine ſkizzirte Hindeu-
tung auf den unendlichen Reichthum der Natur, mehr zu geben ver-
bietet mir der enge Rahmen, welcher meine Bilder begrenzt. Ja wenn
es hier unſere Aufgabe wäre, vollſtändig dieſes Verhältniß zu er-
ſchöpfen, ſo müßten wir ſelbſt Thierwelt und geognoſtiſche Grund-
lage noch mit in den Kreis unſerer Betrachtung ziehen. Der natür-
liche Menſch lebt nicht mit dieſen oder jenen Einzelnen Naturkörpern,
ſondern mit dem Ganzen ſeiner Umgebung, die Landſchaft mit allen
ihren ungeſonderten Elementen wirkt auf ſeine Gemüthsſtimmung
und dadurch unmerklich auf die ganze Geſchichte ſeines Inneren, erſt
allmälig bei fortgeſchrittener Bildung wird es ihm möglich, die ein-
zelnen Beſtandtheile aus dem Bilde herauszulöſen und den Total-
eindruck in ſeine Einzelwirkungen zu zerlegen. Nicht das Gras, ſon-
dern die Wieſe, nicht der Baum, ſondern der Wald, nicht der Myr-
tenbuſch, ſondern die ganze Fläche mit niedrig buſchigen, immer-
grünen Pflanzen bedeckt, welche ſich als eigner Gürtel an den grie-
chiſchen Bergen hinzieht, einerſeits mit den blühenden Wieſen, andrer-
ſeits mit den hochaufſtrebenden Fichten contraſtirt, haben den mäch-
tigen Einfluß auf das Behagen oder den Mißmuth des Menſchen
ausgeübt. So wird uns die Betrachtung der Pflanzenformationen,
wie ſie aus jenen Formen zuſammengeſetzt ſind, ungleich bedeutſamer
und um ſo mehr ſo, als gerade hierin vorzüglich der eigenthümliche
Character der verſchiedenen Länder ſich ausſpricht.
Keiner der Unſrigen, den ein freundlicher Genius in die reiche
Welt der ſenkrechten Sonne führte und glücklich zurückleitete, hat
ſich des Eindrucks erwehren können, den die Eigenthümlichkeit der
Tropenvegetation auf ihn gemacht hat, und niemals wird er den-
ſelben wieder vergeſſen. Nur unklar und matt ſind die gewöhn-
lichen Ausdrücke: Reichthum, Fülle, Ueppigkeit, wodurch man
jenen Character wiederzugeben ſucht; ja ſelbſt falſch ſind ſie, denn
wer jemals einen nordiſchen Urwald ſah, die mächtig ragenden
Stämme, die modernden Pflanzenleichen, die Fülle der Farnkräuter
und Mooſe, Alles, Todtes und Lebendiges, bekleidend und umhüllend,
[313] der muß zu dem nahebei richtigen Glauben kommen: eine größere
Ueppigkeit des Pflanzenwuchſes ſey nicht wohl denkbar. Schon mehr
die richtige Vorſtellung erweckend iſt die Rede, daß, je mehr man
ſich den heißen Gegenden nähere, um ſo mehr auch die geſellig le-
benden Pflanzen ſich verlören, um ſo mehr die verſchiedenſten Pflan-
zenformen durch einander vorkämen. Und gleichwohl, ſo wahr dieſer
Satz iſt, wird Der weniger geneigt ſein ihn anzuerkennen, der, ſich
mehr an die Phyſiognomie als an die botaniſchen Beſtimmungen hal-
tend, einzelner characteriſtiſchen Waldformen, Gebüſchbildungen oder
Steppen ſich erinnert, denn die Erklärung nennt zwar die Grund-
urſache des Phänomens, ſie führt aber nicht aus, wie dieſelbe das
Endreſultat vermittele. —
Wenn wir von dem dunklen Schatten unſerer dichtbelaubten
Buchenhochwälder einen Schluß machen auf die ungleich vollere und
gedrängtere Vegetation in einem tropiſchen Urwalde, ſo fühlen wir
uns ſeltſam getäuſcht, in ihm Alles ſo hell, ſo lichterfüllt zu finden.
Dieſer Reichthum der Vegetation, der von den höchſten Gipfeln der
Palmen und Bertholletien von Zweig zu Aſt, von Aſt zu
Stamm herabſteigt, die Erde bekleidet und ſich noch in reichen Feſtons
durch den Luftraum zieht, wäre aber gar nicht möglich, wenn nicht
das der Vegetation unentbehrliche Licht bis in die niederſten Regio-
nen Zugang hätte. Der dichte Schatten unſerer Wälder, den im
Verhältniß zu den tropiſchen Urwäldern ſelbſt unſere feinnadeligen
Kiefern durch ihre dichtgedrängte Verzweigung hervorrufen, durch
welche ſie dem herbſtlichen Sturme, dem rauhen Winter, dem la-
ſtenden Drucke der Schneemaſſen Widerſtand leiſten, verhindert ge-
rade unter den Bäumen jene reiche mannigfaltige Entwicklung des
vegetabiliſchen Lebens, welche unter den Tropen in Länge und Breite,
in Höhe und Tiefe jeden Winkel erfüllt und ſchmückt. Es liegt näm-
lich in dem Character der tropiſchen Waldbäume die eigenthümliche,
weitläufige, luftige Verzweigung und eine Blattvegetation, welche,
die Tracht der Palmen im Kleinen und Einzelnen nachahmend, ſich
nur an den äußerſten Spitzen der Zweige geltend macht. Dazu
[314] kommt dann die große Verſchiedenheit der Pflanzen, welche auf einem
kleinen Raume neben einander ſtehen und in ſo ungleicher Weiſe hin-
aufragen in die Luft, daß ſchon in der Ferne ein tropiſcher Wald
nicht die einfachen abgerundeten Umrißlinien zeigt, wie ein nordiſcher
Buchen- oder Lindenwald. Endlich kommt noch hinzu das Vorherr-
ſchen oder doch häufige Vorkommen glänzender Blätter, die das Licht
der Sonne reflectirend in die dunkleren Schatten hineinwerfen oder der
weißen Fläche der hoch aufgerichteten Palmenblätter und anderen
Laubes, welche Spiegeln gleich die Strahlen der Sonne ins Innere
der Wälder tragen. Aus dieſen und vielleicht noch unzählichen einzelnen
kleinen Zügen iſt dies Bild zuſammengeſetzt, welches uns mit ſo
fremdartigem Character und doch mit ſo anziehendem Reize entgegen-
tritt. —
Indem wir aber von Pflanzenformationen ſprachen, ent-
lehnen wir dieſen Ausdruck eigentlich einer andern Wiſſenſchaft, der
Geognoſie, und meinen auch, ſo weit überhaupt eine Vergleichung
zuläſſig iſt, Aehnliches damit zu bezeichnen. So wie wir aber in
der geognoſtiſchen Betrachtung der Erdoberfläche zunächſt zwiſchen
ebenem Lande und Gebirgszügen unterſcheiden, können wir auch
hier in Anwendung dieſer Betrachtungen auf die Pflanzenwelt zuerſt
als zwei Hauptbildungen Plänen und Wälder von einander
trennen. Jede dieſer Hauptabtheilungen zerfällt dann wieder in die
einzelnen Formationen ſelbſt, die es ja eben ſind, die hier oder dort
entwickelt, hervortretend oder zurückgedrängt, wie in der Geognoſie
den geognoſtiſchen, ſo hier den vegetativ landſchaftlichen Charakter
eines Landes beſtimmen. Insbeſondere in der Aufſuchung und Dar-
ſtellung dieſer Formationen liegt eigentlich der Reiz, den man ge-
wöhnlich mit einer Verwechſelung der Begriffe der Pflanzengeogra-
phie zuſchreibt. Dieſe aber kann und ſoll wiſſenſchaftliche Zwecke
verfolgen, theoretiſche Aufgaben ſich ſetzen und löſen — und
„Grau, theurer Freund, iſt alle Theorie.“
Aber „grün des Lebens goldner Baum“ und es iſt angedeutet, wie
gerade dieſe ſtrenger Wiſſenſchaftlichkeit unzugängliche, äſthetiſche
[315] Seite der Natur es iſt, welche, wenn auch geheim und ſchwer in ihrem
Wirken zu verfolgen, doch am allermächtigſten beſtimmend, hem-
mend oder fördernd in den Gang der geiſtigen Entwicklungsgeſchichte
eingreift. „Wie der Menſch, ſo iſt ſein Gott“ iſt ſicher wahr, aber
man muß noch weiter gehen und hinzufügen, der Menſch in ſeinen
erſten Bildungsſtufen iſt auch wie die Natur, in der er aufgewachſen
iſt. —
Auf der anderen Seite müſſen wir aber auch eine weſentliche
Verſchiedenheit hervorzuheben nicht verſäumen, wodurch ſich die
geognoſtiſche Formation von der vegetabiliſchen unterſcheidet. Jene
ſteht in ausgeprägter Starrheit unwandelbar und unveränderlich,
wenigſtens weit hinaus über die höchſtens nach Jahrhunderten den-
kenden und rechnenden Menſchen feſt, dieſe dagegen mit dem Ge-
präge des organiſchen Lebens folgt in ihrer Weiſe dem Spiele der
mächtigen Naturkräfte an der Erde. Die Zeichnung iſt keine feſte,
unbewegliche, ſondern ſo wie ſich der Charakter der Natur im Gro-
ßen ändert, zeigt ſie auch andere Züge und blickt den Menſchen gleich-
ſam mit anderm Antlitz an, und dieſelbe Bildung, die heute zu
fröhlichen Gefühlen erweckte, drückt vielleicht morgen das Gemüth
mit dem Bilde melancholiſcher Verödung nieder. Je weiter hinauf
wir in höhere Breiten kommen, deſto verſchiedener iſt die Natur in
ihrem Winter- und Sommerkleide, und jenachdem die klimatiſchen
Verhältniſſe bald nur eine, bald zwei, bald drei, bald vier Jahres-
zeiten bedingen, iſt auch die Phyſiognomie der Pflanzenwelt bald
eine feſte unveränderliche, bald eine in mannigfacher Weiſe ihren
Charakter wechſelnde. Nicht aber in dieſem oder jenem einzelnen
Zuſtande, ſondern ganz beſonders darin, wie die Geſchichte der
Natur, der Ablauf ihrer Veränderungen, der Zeit nach die Thätig-
keit des Menſchen begleitend beſtimmt, iſt die mächtige Einwirkung
auf die Gefühle und ihr Spiel, auf den Gedankengang und ſeine
Ausbildung begründet. Während das fahle Graugrün der Fichten-
nadeln unter der laſtenden Schneedecke den Eindruck des Winters nur
noch trüber und melancholiſcher macht, lügt der heitere Glanz der
[316] immergrünen Laubwälder des Südens noch einen Sommer in die
Bruſt des Menſchen, wenn auch der Körper vom Froſtpunct getroffen,
jene meteorologiſche Verirrung Lügen ſtraft. —
Es iſt ſchwer den Character der verſchiedenen Waldformatio-
nen mit Worten auch nur einigermaßen lebendig und anſchaulich
wiederzugeben, was dem Landſchaftsmaler, dem Zeichnung, Baum-
ſchlag, Farbe und Lichteffect zu Gebote ſteht, ſo leicht gelingt.
Gleichwohl ſind die Verſchiedenheiten auffallend genug für Jeden, der
mit offnen Sinnen an die Natur hinantritt. — Schon die Fichten-
und Kiefernwälder zeigen weſentliche Verſchiedenheiten in ihren
Zügen; jene mit geraden ſäulenförmigen untereinander parallelen
Stämmen, mit der kegelförmigen von quirlartig geſtellten Aeſten getra-
genen Krone, dieſe auf knorrig gebogenen Stämmen, deren Linien ſich
überall in der Perſpective kreuzen, einen flachen Laubſchirm tragend, eine
Tracht, die am reinſten und edelſten von der Pinie dargeſtellt wird.
Dieſe Kiefernwälder wie ſie im meilenweiter Ausdehnung die Mark
Brandenburg bedecken, wiederholen ſich in üppiger Entwicklung in
den Kiefernhaiden (Pine barrens) Nordamericas. Hier wie dort
einen kieſeligen Boden liebend, ziehen ſie ſich in einem breiten, viele
Hundert engliſche Meilen langen Gürtel an der Küſte von Virginien
und Nordcarolina herab und bilden durch ihre Maſſe einen ſcharf her-
vortretenden Zug in der Phyſiognomie des ganzen Landes. —
Noch auffallender iſt der Unterſchied zwiſchen den einzelnen For-
mationen des Laubholzes; der dichtgedrängte Stand der geſelligen
Buchen, Linden oder Rüſtern bildet Wälder mit dunkeln Schat-
ten und vegetationsleerem Boden, während die ſtolze Eiche, allen
Baumwuchs in ihrer unmittelbaren Nähe unterdrückend auf einem
mit Gras und Kräutern freundlich bekleideten Boden ſich vereinzelt
oder in kleinen Gruppirungen zu den wunderbaren Waldlandſchaf-
ten, vereinigt, die uns Ruisdaels unſterblicher Pinſel ſo oft vor-
führt. — Anders wirkt der maſſive Glanz der Magnolienwälder
des ſüdlichen Nordamericas, als die zierliche Schönheit africaniſcher
Acacienhaine oder die geiſterhafte Durchſichtigkeit nordiſcher
[317]Birken und vollends die Tropenwelt entwickelt eine Mannigfaltig-
keit, deren Schilderung ein unerſchöpfliches Thema ſeyn würde. Ich
will hier nur noch auf einen ſeltſamen Contraft aufmerkſam machen,
welchen einige Gegenden der heißen Climate darbieten. Die rauhe
Winterkälte beraubt unſere Wälder ihres ſchönſten Schmucks und
entblättert ſtarren die ſchwärzlichen Ruthen aus dem Schnee, oder dem
feuchten ſchwarzen Boden in die trübgraue Novemberluft; umgekehrt
durchwandert der braſilianiſche Reiſende in der glühendſten Hitze die
Catingas, Wälder, die durch den verdorrenden Einfluß der Sonne
gerade im Sommer entlaubt werden und mit ihrer kahlen Verzwei-
gung ſeltſam gegen das friſche üppige Grün am Ufer eines kleinen
Baches oder gegen die von der Hitze unberührten, ſaftig-fleiſchigen
Maſſen der Cacteen contraſtiren. — Aber auch in der friſcheſten Be-
laubung können die Wälder den Character der ſchauerlichſten und
abſchreckendſten Wildheit annehmen. Wo dichte Belaubung den Ein-
fluß der Sonne und den erfriſchenden Luftwechſel hindert und ſo die
Zerſetzung der vegetabiliſchen Maſſen verlangſamt, wo der Boden
flach und ohne Gefälle ohnehin ſchwer ſeines Waſſerreichthums ſich ent-
ledigt, und um ſo weniger, wenn die aufgehäuften Pflanzenleichen be-
ſtändig den Abfluß hemmen, und der entſtandene Humus begierig die
Feuchtigkeit anſaugt, da bilden ſich die ausgedehnteſten Sumpf-
moore. Durch die fortwährende Zunahme der Vegetationsreſte er-
hebt ſich der Boden und oft liegt eine ſolche waſſerdurchtränkte, halbflüſ-
ſige Maſſe zuletzt weit über dem Niveau der umgebenden Ebene, ohne
daß jetzt noch die Sonne im Stande wäre, auch wenn Stürme das
ſchützende Dach entfernen, den Sumpf auszutrocknen oder auch nur
ſein Fortwachſen zu beſchränken. Ein ſolcher Sumpf erhebt ſich bis
zu 12 Fuß über die umgebende Ebene in Virginien zwiſchen den
Städten Suffolk und Waldon, von den Einwohnern „the great
dismal“ (der große Unſelige) genannt, der nicht unbeträchtlichen Flüſſen
den Urſprung giebt und ſie mit Waſſer verſorgt. Es iſt beſonders die
nordamericaniſche Cypreſſe*), welche mit ihrer feinen aber dichten
[318] Belaubung zur Bildung deſſelben Veranlaſſung gegeben. Derſelbe
Baum iſt es, welcher die furchtbaren, verrufenen Cypreſſenſümpfe
Louiſianas an den Ufern des Redriver und Miſſiſippi bildet.
Rieſenſtämme von unerhörter Mächtigkeit drängen ſich aneinander,
ihre Zweige ineinander flechtend und am hellſten Tage ein düſtres
Dämmerlicht verbreitend. Der Boden beſteht nur aus halbverfaulten
übereinander gethürmten Blöcken und dazwiſchen aus einem uner-
gründlich tiefen flüſſigen Schlamm, in welchem ſich gefräßige Ali-
gators und die beißende Schildkröte umherwälzen, die alleinigen
Herren dieſer unter der Gluth der faſt tropiſchen Sonne qualmenden
Hölle; ſo im hohen Sommer, während im Frühling ſich brauſend
die trüben, ſchlammigen Fluthen der austretenden Ströme in meilen-
weiter Ausdehnung durch dieſe feindſelige Vegetation ergießen. — So
entſprechen dieſe Cypreſſenſümpfe, von denen uns Seatsfield ein
ſo lebendiges Bild entworfen, im Binnenlande, den Mangrove-
wäldern, welche die Flußmündungen faſt aller Tropenſtröme um-
ſäumen. Aus nur wenig Pflanzenarten zuſammengeſetzt, unter denen
der Manglebaum der gemeinſte iſt, ſind ſie vorzugsweiſe durch
die große Anzahl ihrer hoch am Stamme entſpringenden ſtarken
Wurzeln, von denen jener über der Fläche des Bodens getragen wird,
auffallend. Der eigentliche Standort dieſer Pflanze iſt das ſoge-
nannte Brakwaſſer, welches zur Zeit der Ebbe aus dem ſüßen
Waſſer des Fluſſes beſtehend, zur Fluthzeit vom andringenden Meer-
waſſer verdrängt wird. Die zahlreichen Wurzeln bilden oft ein ſo
dichtes Geflecht, daß die Lücken durch fallende Blätter verſtopft wer-
den können und ſo ſich allmälig für eine zweite Vegetation ein Boden
ſammelt, unter welchem zu verſchiednen Tageszeiten das Meer oder der
Fluß ſeine Wogen dahinrollt. Häufiger aber beſchränkt ſich die
Wirkſamkeit der Wurzeln darauf, den Strom des Waſſers zu ver-
langſamen und zwiſchen ihrem Geflecht die vom Fluſſe herabgetrie-
benen Pflanzen- und Thierleichen zurückzuhalten, die dann hier in
Berührung mit dem Meerwaſſer und ſeinen Salzen faulen. So ent-
wickelt ſich in dieſen Gegenden das furchtbare Schwefelwaſſerſtoffgas,
[319] die Atmoſphäre vergiftend, daß die von Jugend auf an dieſen Aufent-
halt gewöhnten Eingebornen gleichwohl wie Geſpenſter herumwanken,
während den eindringenden Europäer faſt unausweichbar der Tod
dahinrafft. Dieſe Wälder ſind vorzüglich der Feind, welcher ſich bis-
her unüberwunden faſt allen Nigerexpeditionen entgegengeſetzt und
die Reihen der kühnen Abentheurer ſchrecklich gelichtet hat. Auch ich
habe einen Freund, den für die Wiſſenſchaft zu früh geſtorbenen
Theodor Vogel beweint, der auf Fernando da Po dieſem Dä-
mon znm Opfer fiel.
Wie zwiſchen Berg und Ebene der Hügel, ſo bildet zwiſchen
Waldformationen und Plänen das Gebüſch und die nur mit ein-
zelnen kleinen Baumgruppen beſetzte Ebene das Zwiſchenglied. —
Zum Theil muß man ſchon die ſogenannten Wälder an der
Nordküſte Auſtraliens hierher rechnen, die den ungeheuren Landſtrich,
der ſich ſüdlich von der Rafflesbay und Eſſington ins Innere
ausdehnt, bedecken. Sie zeigen eine ganz beſondere Phyſiognomie,
die faſt überall in dieſem ſeltſamen Lande ſich wiederfindet. Die
Bäume und Büſche haben lederartige Blätter, die Mehrzahl derſelben
iſt mit einem weißen harzigen Staube bedeckt, der ihnen einen äußerſt
monotonen, trübſeligen, blaßgrünen Schein verleiht. Die Haupt-
bäume ſind Eucalypten, Acazien, Prachtfaden und Caje-
putarten*). Mehrere andere Pflanzen können neben den Genannten
kaum zählen und leben unter dem Schutz dieſer hohen graulichen,
weit auseinander ſtehenden Stämme, deren mageres, unaufhörlich
zitterndes Blätterwerk an die Trauerweiden mahnt. Schöne Gras-
büſchel mit langem ſchlanken Halm wachſen in der ganzen Ausdeh-
nung dieſer Büſche und darin niſten Känguruhs, die Ringel-
taube und andere Vögel. Die Strahlen der Sonne dringen leicht
durch die ſchmalen, ſtets auf ihren langen Stielen ſich wiegenden
Blätter und machen ein zweifelhaftes mit flüchtigen Schatten ſich
miſchendes Licht. Das Auge blickt weit hin durch die Gewölbe von
[320] Zweigen und Blättern und wird weniger durch die Dichtigkeit der
Vegetation als durch den ſtets wechſelnden Glanz eines ungewiſſen
myſtiſchen Lichtes aufgehalten.
Noch lichter, noch weniger den geſchloſſenen Stand der Wälder
repräſentirend, iſt eigentlich die Palmenform überall da, wo ſich
geſellig lebende Pflanzen derſelben zuſammengruppiren. Schon die
wirklichen Palmenhaine am Nordrande der Sahara, an den Ufern
der braſilianiſchen Ströme gleichen mehr offnen Säulenhallen mit
durchbrochener Decke und ganz eigenthümlich ſtellen ſich auf dem dürren
Boden der Hochebenen von Mexico die Stämme der Yucca,
Fourcroya und andere hochſtämmige Lilienarten zuſammen,
weder Schatten gegen die Sonne, noch Schutz gegen den Wind ge-
während. An ſie ſchließen ſich die unförmlichen Pflanzenmaſſen der
Magueypfanzen mit ihren breiten, dicken, graugrünen, ſteifen,
am Rande ſcharf gezähnten Blättern und den 20 Fuß hohen Blüthen-
ſchaften, durch Cacteen mannigfacher Form zu ſeltſam phantaſtiſchen,
undurchdringlichen Gebüſchen abgerundet. —
Die aus 6—7 Fuß hohen Mosquitoſträuchen gebilde-
ten mit Lianen durchſchlungenen, undurchdringlichen Chappa-
rals, in dem ausgedehnten Landſtrichen zwiſchen dem Nueces
und Rio grande; — die aus Schilf und Zwergpalmen gebildeten
Palmettofelder an den Ufern der Sabine, Ratches und an-
derer Flüſſe von Texas; — die niedrigen Acaciengebüſche von
Auſtralia felix und endlich die weit ausgedehnten von Elephanten
und Tigern durchſtreiften, von Bambuſen und andern hohen Grä-
ſern gebildeten Djungles in Oſtindien ſind eben ſo viele eigen-
thümlich characteriſirte Formationen der Buſchbildung, die die Größe
des Menſchen oft nicht erreichend oder doch nur wenig überragend
den oft unüberwindlichen Widerſtand, den ſie dem Eindringling ent-
gegenſetzen, beim erſten Anblick gar nicht verrathen und noch lange,
nachdem ſchon der Menſch ſich in ihren Umgebungen angeſiedelt hat,
nur auf Pfaden durchſchnitten werden können, welche die wilden
Thiere vorgebahnt.
[321]
Der Wechſel iſt es, welcher durch die Bewegung, die er in der
Anſchauung oder im Gedanken hervorruft als ein weſentliches Mittel
zur Erweckung des äſthetiſchen Gefallens oder des Intreſſes auftritt.
Die gerade Linie iſt nicht ſchön, ja eigentlich weder ſchön noch häß-
lich, aber ſchon die gebogene, gebrochene Linie macht, indem ſie das
Auge zu einer abweichenden Bewegung auffordert, Anſpruch auf
äſthetiſche Beurtheilung und wir nennen ſie ſchön, wenn die Bewe-
gung des Auges mild und ſtetig vermittelt iſt, häßlich, wenn das
Auge oft und plötzlich von ſeinen Wege abgelenkt, der eckig geknickten
Linie nicht mit Einer in ſich zuſammenhängenden Bewegung, ſondern
nur in unvermitteltem Wechſel der Richtung folgen kann. Doch auch
durch den Contraſt, durch den Gegenſatz kann das Gefühl für Schön-
heit geweckt werden, wenn gleichſam einer unbewußt zum Grunde
gelegten Geſetzmäßigkeit (wie in der bekannten Nebeneinanderſtellung
der complementairen Farben) und der Anforderung der Ergänzung zu
einem idealen Ganzen der Erſcheinung genügt und ſo im Contraſt
ſelbſt ein befriedigendes Gefühl der Vollendung hervorgerufen wird.
Aus dieſen Andeutungen verſtehen wir vielleicht beſſer die alte Rede,
daß den heißen Gegenden ein landſchaftlicher Hauptreiz in dem Mangel
unſerer Wieſen abgehe, denn an grasbewachſenen baumloſen Ebenen
fehlt es keineswegs in der neuen Welt überhaupt, und beſonders
unter den Tropen des alten und neuen Continentes. Wenn wir aber
von der Schönheit unſerer Wieſen reden, ſo meinen wir in der That
eigentlich gar nicht die Weiſe, d. h. die mit Gräſern bedeckte ebene
Fläche, ſondern den formenreichen und dadurch anmuthigen Gegen-
ſatz zwiſchen dem ſammetartigen grünen Teppich und den in ſchönen
abgerundeten Formen daneben ſich erhebenden Gebüſchen, bis hinauf
zum majeſtätiſchen Hochwald und die traurigen märkiſchen Kiefern-
haiden würden dadurch um nichts ſchöner werden, wenn die ganze
endloſe von keinem in ihr vorkommenden Hügel überſehbare Fläche
mit Ausſchluß aller Baumvegetation von noch ſo üppigem Graswuchs
bedeckt wäre. —
Wenn wir nun die Formationen der Plänen, denen der
Schleiden, Pflanze. 21
[322]Wälder an die Seite ſetzen, ſo führen wir hiermit zugleich ein ganz
neues äſthetiſches Element in die Naturbetrachtung ein. Aus den
Wäldern iſt ſchon wegen des Reichthums der Formen, wegen der
Verſchlungenheit der Zeichnung, die fortwährend das Gefühl und
den Geiſt zu wechſelnder Thätigkeit anregen, das Element der Schön-
heit nicht wegzudenken. Ganz anders iſt es mit den großen Pflanzen-
ebenen, die deshalb auch einen durchaus eigenthümlichen Eindruck
auf das Gemüth des Menſchen machen.
Mit einem gewiſſen Gefühle getäuſchter Erwartung reitet der Rei-
ſende ein in die Prärien des Weſtens, nur unerquicklich ſcheint ihm die
mit hohem Graſe gleichförmig bewachſene monotone Fläche, deren Hori-
zontlinie von keiner noch ſo geringen Erhebung unterbrochen wird. Aber
er reitet und reitet und immer dehnt ſich in gleicher Einförmigkeit, in glei-
cher ruhiger Einfachheit der grenzenloſe Raum vor ſeinen Blicken aus.
Was ſich anfänglich ſeiner Anſchauung entzog, die dem kleinen Menſchen
überlegene Unendlichkeit, tritt ihm entgegen, das Gefühl der troſtloſen
Einſamkeit ſchleicht ſich allmälig in ſein Herz. Ein Tag nach dem
andern ſteigt im Oſten herauf und ſinkt im Weſten herab. Immer
weiter und weiter dehnt ſich die Unendlichkeit um ihn aus und wächſt
alle ſeine bisherigen Begriffe von Größe überragend. Immer mehr
ſchrumpft das Selbſtgefühl zuſammen, immer lähmender und beklem-
mender legt ſich das Bewußtſeyn der Nichtigkeit auf ſeine bebende
Seele und noch ehe er die jenſeitige Grenze erreicht, haben Verzweif-
lung oder eine unendlich tiefe und innige Frömmigkeit von ſeinem
Herzen Beſitz genommen. Sobald das einförmig Große überhaupt
geeignet iſt einen äſthetiſchen Eindruck zu machen, ſo iſt es der der
Erhabenheit, vor der der Menſch anbetend in den Staub ſinkt.
Eine beſondere Modification jener Prärien ſind ſo bezeichnend von
den Anſiedlern rolling prairies (wogende Ebenen) genannt, ein
grenzenloſes Meer flacher, gleichförmiger, 20—30 Fuß hoher Erd-
wellen. Ich wage es nicht das andere zornglühende Antlitz dieſer
Rieſenwieſen zu ſchildern, wenn im Sommer ein Zufall oder Abſicht
das dürre Gras entzündet haben und der Brand ſich mit raſender
[323] Schnelligkeit über die Fläche fortwälzt; nach Cooper und Seats-
field hieße das, Eulen nach Athen tragen.
Unter ähnlichen Breiten und climatiſchen Verhältniſſen gelegen,
tragen die Pampas von Buenos-Ayres auch einen ähnlichen
Character wie die nordamericaniſchen Prärien, nur hat hin und
wieder der Menſch durch ſeine Einwirkung der Natur einen eigen-
thümlichen Stempel aufgedrückt. Die mit der Ankunft des Europäers
eingewanderte Diſtel und Artiſchocke haben ſich raſch des herren-
loſen Bodens bemeiſtert und mit unglaublicher Schnelligkeit Gebiete
von vielen Quadratmeilen mit ihrer ſtachlichen Vegetation überzogen,
die hier ſich zu einer in Europa unerkannten Ueppigkeit entwickelt hat.
So ſind dieſe Diſtelwüſten zu einer furchtbaren Landplage ge-
worden, ſelbſt Räuber den Boden beſſeren Gewächſen wegnehmend
und ein nicht zu beherrſchender Schlupfwinkel der großen raub- und
mordgierigen Katzen und der noch viel gefährlicheren menſchlichen
Banditen, dem ſtechenden Unkraut halber Civiliſation.
Faſt möchte man behaupten, daß die eigenthümlichen Steppen,
welche uns zu allernächſt liegen, weniger bekannt ſeyen, als jene durch
die Schilderungen genialer Männer uns faſt vertraut gewordenen
Naturformen ferner Welttheile, denn in der That hört man nur zu
oft aus den Reden der Menſchen, welche falſche Vorſtellungen ſie
von jener ausgedehnten Plänen haben, die gewöhnlich mit dem Namen
der norddeutſchen Haide bezeichnet werden. Von den Weſtgrenzen des
nördlichen Frankreichs durch Belgien, Norddeutſchland, Rußland
bis faſt zur Oſtgrenze Sibiriens zieht ſich eine breite Ebene, ſel-
ten durch niedrige Höhenzüge unterbrochen und eben ſo ſelten aus-
gedehnterem Waldwuchs einen paſſenden Boden darbietend, der ſich
im Ganzen auf den von benachbarten Flüſſen durchtränkten beſſern
Boden beſchränkt. Am Südrande dieſer Ebene hin zieht ſich eine
Kette von Hügeln und Bergen, bald vorgebirgartig in die weiten
Flächen hinaus vorſpringend, bald zu weitern oder engern Buchten
zurücktretend, die Küſten eines ehemaligen die ganze Ebene bedeckenden
Meeres. In dieſer ganzen unendlichen Ausdehnung hat eine einzige
21*
[324] Pflanzenart ſich eine faſt ausſchließliche Herrſchaft begründet, die
Haide, welche dieſem Landſtrich ihren Namen geliehen hat. Aehn-
liche Verhältniſſe aber als in Nordamerica den Unterſchied zwiſchen
der Kiefernhaide und Cypreſſenſümpfen hervorrufen, ſind
auch hier thätig eine weſentliche Verſchiedenheit zu begründen. Die
große Ebenheit des Bodens, an manchen Stellen ſelbſt geognoſtiſche
Verhältniſſe, indem geringere Bodenerhebungen flache rings geſchloſ-
ſene Becken bilden, machen an vielen Orten den freien Abfluß des
Waſſers unmöglich und die Haide, unterſtützt durch die von der Feuch-
tigkeit hervorgerufene eigene Vegetation, bildet durch die jährlich
ſich anhäufende Pflanzenſubſtanz, welche im Waſſer nur bis zu einem
gewiſſen Grade verkohlt ohne völlig zerſetzt zu werden, jene ſchwarzen
Maſſen vegetabiliſcher Ueberreſte, welche als Torf in der Oeconomie
der Anwohner eine ſo weſentliche Rolle ſpielen. So wechſeln hier in
verſchiedener Vertheilungsweiſe, dürre, trockne Sandhaiden mit
feuchten ſchwammigen Torfhaiden oder Mooren. Am Rande
der letzteren, ſeltner auf ihnen ſelbſt, pflegt ſich eine bald mehr bald
weniger geſunde Baumvegetation anzuſiedeln und man findet oft in
der Lüneburger Haide Gruppen von prachtvollen Eichen, welche
eins jener behaglich freundlichen, ſtrohgedeckten Häuſer beſchattend,
und gehoben durch den Hintergrund der in eigenthümlichen rothen
Farbentinten ſchimmernden Haide, einen hier gar nicht vermutheten
landſchaftlichen Reiz entwickeln. — Dieſen großen Mooren reihen ſich
noch die Torfmoore einiger höheren Gebirge des Brockens, der Röhn,
des Fichtelgebirges und ſo weiter und die ſogenannten Mooſe von
Süddeutſchland und der Schweiz an.
In einem andern Clima, in einem andern Vegetationsgürtel
zeigen ſich analoge Verhältniſſe, den äußerſten Norden Europas durch-
ziehend. Wie dort die dürre Sandhaide mit den waſſerdurchtränkten
Mooren, ſo wechſeln auch hier in mannigfacher Weiſe trockene waſſer-
leere Streifen mit ſumpfigem Boden. Aber wir befinden uns hier
in Wahlenbergs Reich der Flechten und der Mooſe. Die dürren
Stellen überziehen in unabſehbaren Flächen krauſe, trockene, bleigraue
[325] Flechten, unter denen das Rennthier ſeine dürftige Nahrung ſucht
und auf dem tiefdurchnäßten, auch nicht die leichteſten Schritte tra-
genden Boden, täuſcht eine üppige Moosvegetation von Ferne mit
dem Schein einer lachenden Wieſe. Hier verſinkt der unvorſichtige
Wanderer in das von den Mooſen mehr verſteckte als verdrängte
Waſſer, während auf jenen Flechtenhaiden, Tundras nennt ſie der
Lappländer, der ſonnendurchglühte Boden im Sommer jeden Schritt
zur Qual macht.
So wie in den Waldformationen die ſüdamericaniſchen Catin-
gas den nordiſchen Laubholzwäldern, ſo ſtehen auch unter den
Ebenen die Lanos von Venezuela den ruſſiſchen Steppen gegen-
über. In jenen, von welchen A. v. Humboldt ein ſo lebensvolles
Bild entworfen, tritt der Schlaf der Natur im Sommer in der heißen,
dürren Jahreszeit ein, die Vegetation vertrocknet und zerfällt zu Staub,
den Boden nackt zurücklaſſend, das animaliſche Leben der Vierfüßler
flieht das abgeſtorbene Land, während die Crocodile und Boas
ſich in den Schlamm der allmälig verſiegenden Steppenflüſſe ein-
wühlen und mit dieſem zugleich erſtarren, bis der erſte Regenguß,
der eine friſche, jugendliche Vegetation auf dem öden Boden hervor-
zaubert, auch ſie wieder zur Auferſtehung ruft.
Anders in den Steppen, welche ſich vom ſüdlichen Rußland
nach Oſten durch das mittlere Aſien fortziehen. Nur erwähnen will
ich der ſeltſamen Salzſteppen, die im Sommer oft wie vom friſch-
gefallenen Schnee durch ausgewittertes Salz glänzen und eine ganz
eigenthümliche Vegetation nähren. Dagegen kann ich es mir nicht
verſagen, noch kurz eine Schilderung der, wenn auch dürftig bevölker-
ten, doch bewohnten tartariſchen Steppen am Pontus zu verſuchen.
Nicht überall bieten dieſelben eine gleichmäßige Fläche dar, die viel-
mehr durch die Durrina's, niedrige Buſchparthien aus Schlehen,
Weißdorn, Hagebutten und Brombeeren unterbrochen wird.
Aber auch die übrige Vegetation wird noch von den Kleinruſſen, nach
ihrem Nutzen für die Viehzucht, in zwei weſentlich verſchiedene Grup-
pen getheilt, in die „Truwa“, den Raſen, und den „Burian“, die
[326] ſtruppigen hochaufſchießenden Kräuter, die wegen ihres holzigen
Stengels keine Nahrung für die Steppenheerden ſind. Unter den
Gräſern bildet das Federgras*) die Hauptpflanze. Gleich nach
der Blüthe ſtreckt es ſeine langen zartgefiederten Grannen, den fein-
ſten Maraboutfedern nicht unähnlich, aus der Aehre heraus, ſich
weit über die Büſchel ſchmaler, dürrer Grasblätter erhebend. Je älter
die Steppe, deſto höher entwickelt ſich der holzige Wurzelſtock über
den Boden, zum Aerger der mähenden Bauern. Wer nur wenige
Meilen in der Steppe gereiſt iſt hört ſchon das Wort Burian. Auf
den Burian ſchilt der Hirt mit ſeinen Rindern und Pferden, über
den Burian jammert der Ackerbauer, der Burian iſt der Fluch des
Gärtners und der Troſt der Köchin. Denn bei dem für gewiſſe
Pflanzen, wir nennen ſie Unkräuter, eigenthümlich fruchtbaren Boden
der Steppe ſchießen dieſe bis zu einer unglaublichen Höhe heran,
wo irgend die Cultur den feſten Boden, den ſie meiden, gelockert hat
und ihr einziger Nutzen iſt der, daß ſie im Herbſte abgedörrt zugleich
das einzige Brennmaterial in dieſer öden Gegend liefern. Vor allen
zeichnen ſich, wie in den Pampas von Buenos-Ayres, auch hier
die Diſteln aus, die bis zu einer Größe, Entwicklung und Verzwei-
gung kommen, die in der That bewundernswürdig iſt. Oft ſtehen ſie
kleinen Bäumen gleich neben den niedrigen Erdhütten des Landmanns,
oft bilden ſie auf günſtigen Bodenſtellen ausgedehnte Gebüſche, ſelbſt
den Reiter zu Pferde überragend, der in ihm rathloſer iſt, wie im
Walde, da ſie jeden Umblick verhindern und doch keinen Stamm dar-
bieten, den man erklettern könnte. Neben der Diſtel erhebt ſich
mannshoch der Wermuth untermiſcht mit der rieſenmäßigen Kö-
nigskerze, dem „Steppenlicht“ der Kleinruſſen. Selbſt die kleine
Schaafgarbe wird mehrere Fuß hoch und wird nicht gering ge-
ſchätzt, da ſie von dem bei ärmlichem Vorrath die Hitzkraft des Burian
ſorgfältig prüfenden Bewohner als das beſte Brennmaterial geſchätzt
wird. Von allen Pflanzen des Burian iſt aber die characteriſtiſchſte
[327] die, welche die Ruſſen „perekatipole“ den Springinsfeld, die
deutſchen Coloniſten faſt noch bezeichnender die „Windhexe“ nen-
nen. Eine dürftige Diſtelpflanze zerſplittert ſie ihre Kraft in der
Bildung zahlreicher, dürrer, dünner Zweiglein, die ſich nach allen
Seiten hin ausbreiten und ineinander verwirren. Bitterer als der
Wermuth wird ſie auch im dürftigſten Hungerjahr von keinem
Vieh berührt. Die Kuppeln die ſie im Raſen bildet, werden oft
drei Fuß hoch, haben zuweilen 10—15 Fuß im Umfang und ſind
aus lauter zarten dünnen Aeſtchen gewölbt. Im Herbſt fault der
Stamm der Pflanze ab, die Zweigkugel trocknet zu einem großen
federleichten Balle aus, den dann der Herbſtwind durch die Lüfte
über die Steppe führt. Viele ſolcher Bälle fliegen oft auf einmal
über die Ebene, mit einer Schnelligkeit, daß kein Reiter ſie einholen
kann, bald hüpfen ſie in kurzen raſchen Sprüngen über den Boden,
bald wirbeln ſie in großen Kreiſen übereinander wegkugelnd zu ge-
ſpenſtiſchem Reigen auf den Raſen fort, bald ſteigen ſie plötzlich vom
Wirbel gefaßt zu hunderten hoch in die Luft. Oft häkelt ſich eine
Windhexe an die andere, zwanzig andere geſellen ſich hinzu, die ganze
rieſige und doch luftige Maſſe rollt vor dem pfeifenden Oſtwind da-
hin. — Man braucht wahrlich keine Felſenſchlünde, keine Bergwerke,
oder heulende Seeſtürme, um Nahrung genug für den Aberglauben
des Menſchen zu finden. — Ein gefährlicheres Leben erhält die Steppe,
wenn ein Landmann „ſein Gehöfte gereinigt“, d. h. den Burian
auf demſelben und alle Reſte des durch die neue Erndte unbrauchbar
gewordenen alten Strohs und Heus mit den darin enthaltenen Mäuſen
und anderem Ungeziefer in Brand geſteckt und dieſer das dürre Gras
der Steppe ergriffen hat. Im gewöhnlichen Graſe fährt er wie eine
Schlange mit mäßiger Raſchheit dahin, hier ergreift er einen Bu-
rianbuſch und mit gewaltigem Lärm, platzend und ziſchend lodert
die Lohe hoch gen Himmel, dann eine Strecke mit üppigen Federgras
erreichend zuckt ſie in zarten weißen Flammen auf, ſchwingt ſich mit
ſchrecklicher Gewandtheit über das wogende Feld, die Millionen zarter
Federchen in wenig Augenblicken verzehrend. Zuweilen, zwiſchen zwei
[328] vegetationsentblößte Wege, oder zwiſchen Waſſerriſſe eingeklemmt,
zieht ſich die Flamme eng zuſammen faſt dem Verſchwinden nah,
dann plötzlich eine neue Dürrgrasfläche erreichend, gewinnt ſie neue
furchtbare Kräfte, in ein weites Rauch- und Feuermeer auseinander-
gehend, in welchem die höher und heller aufwirbelnden Feuerſäulen
die unglückſeligen Stätten menſchlicher Wohnungen bezeichnen. Auf
unberechenbaren Kreuz- und Querwegen bewegt ſich ein ſolcher Step-
penbrand oft acht und zehn Tage in einer Gegend umher, jedem verän-
derten Windzuge folgend, oft jedem noch ſo wohl überlegten Verſuch
zur Flucht Hohn ſprechend. Endlich kommt ein Regen und das mäch-
tige Element des Feuers unterliegt dem noch mächtigeren des Waſſers.
Aber die Steppe iſt öde, der Vegetation beraubt, was die Flamme
verſchonte war ohnehin ſchon als Opfer dem eiſigen Hauche des ein-
dringenden Winters verfallen. Immer dichter und düſterer ziehen die
Wolken heran, immer dichter fällt der Schnee und immer ſchneidender
zieht der kalte Nord über die ſchutzloſe Fläche. Der verſpätete Reiſende
treibt haſtig ſeine Pferde zur angeſtrengteſten Eile. Silberne Streifen
erheben ſich von der Ebene und ſteigen immer häufiger auf, der Wind
fängt an zu heulen und zu ſauſen, die Luft erglänzt mehr und mehr
von Kryſtallen des Schnees und endlich wird dies Alles eine dichte
dunkle Maſſe, die in einer Richtung fortzieht, bis ſie vom Wirbel-
winde gefaßt ſich im Kreiſe dreht, oder von den erhabenen Stellen der
Steppe abprallt. Es iſt der Buran, der Steppenſturm; ſchon lange
hat der entſetzte Führer ſeine Wahrzeichen erkannt und mit verzweif-
lungsvoller Kraft auf die allmälig ermattenden Pferde gepeitſcht.
Heftiger und ſchneller folgen ſich die Schneewirbel, in wehendem
Schwindel alles umkreiſend und betäubend, jeder Gedanke an Orien-
tirung muß aufgegeben werden und blindlings überläßt man ſich dem
Zuge der Roſſe, die nun ſelbſt wie vom Wahnſinn gejagt durch die
Ebene dahinfliegen. An dem Schlitten vorbei brauſt eine entſetzte
Heerde und kaum erlaubt ein flüchtiger Blick durch den dichten Schnee-
ſtaub zu erkennen wie ſie blindlings in ihrer Angſt einen Felſenabhang
[329] hinunterſtürzt, an deſſen Fuße im nächſten Frühling ihre zerſchmet-
terten Gebeine bleichen werden.
Jede Hoffnung ſcheint verloren und der Untergang gewiß, ſchon
bricht die Nacht herein, da ermattet der Sturm; die aufgejagten
Schneemaſſen ſenken ſich und plötzlich wie er entſtanden legt ſich
auch nach kaum halbtägiger Dauer der Buran wieder, der Luftkreis
wird noch einmal durch das abendliche Dämmerlicht erhellt und
der erſchöpfte Reiſende ſieht vor ſich eine menſchliche Wohnung. —
Bietet ſie auch nur geringe Entſchädigung für die ausgeſtandenen
Beſchwerden, ſo erlaubt ſie doch wenigſtens den Schlummer. Ein
freundlicher Traum trägt den müden Wanderer in die ferne Heimath.
An den freundlichen Ufern des ſanft dahingleitenden Fluſſes wandert
er durch üppige Wieſen, der Abend ſenkt ſich herab auf die erwärmten
Fluren. Feuchte Thaunebel erheben ſich erquickend vom Boden und
ziehen durch die Ufererlen und hüllen ſie in ihren Schleier, Erlkönig
und ſeine Töchter umſchweben in neckiſch-wechſelndem Spiel der Ge-
ſtalten die altersgrauen Stämme der Weiden. Da bebt durch die
duftige Abendluft ein leiſer Klang. Die Glocke des heimathlichen
Dorfes ruft den Heimgekehrten nach raſtloſem Umherſtreifen in der
großen Gotteswelt, nach reichen Anſchauungen, anregenden Aben-
theuern, ſpannenden Mühſeligkeiten und wunderbaren Genüſſen zurück
zur Ruhe, — in das trotz alles Dazwiſchenliegenden unvergeſſene und
unvergeßliche Paradies der Kindheit, in das Elternhaus, in die
Arme der Mutter. —
[]
Appendix A
Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.
[]
Appendix B
and scatters plenty o'er the shining land.“ Thomson's seasons.
25. Juli 1825.
hic segetes, illic veniunt felicius uvae. — Virg. Georg.
Pflanzengruppe darſtellt.
getrieben, ragen oft zwei und mehrere Hundert Fuß aus dem Meere hervor, aber
ſiedelt ſich nicht ſelten eine kleine microſcopiſche Alge, der Protococcus nivalis, an,
welche nebſt einigen kleinen Infuſionsthierchen die roſenrothe Färbung oft ganzer
Schneefelder bedingt.
von dem wärmern Waſſer des Oceans aufgelößt und dann tritt ein Zeitpunct ein,
in welchem der ganze Eisberg ſich überſtürzt und ſein unteres Ende über die Meeres-
fläche erhebt, während das bis dahin hervorragende Ende nunmehr eintaucht.
culare, Gentiana Pneumonanthe, Betula nana, Salix herbacea.
corea sativa.
nopodium Quinoa.
tum, Pteris esculenta u. a.
größeren Formenreichthum darſtellen und Reihen der auffallendſten Spielarten bilden,
wenn man nur einen Blick auf ein Handbuch über eine genauer durchforſchte Flora
wirft. Nicht ſo augenfällig möchte es für das Culturland ſeyn und ich erwähne daher
hier noch kurz Folgendes: Unter den deutſchen Pflanzenfamilien ſind es beſonders
die Gänſefußarten und Melden (Chenopodeen und Atripliceen), welche auf Schutt,
Compoſthaufen und in Gärten, alſo recht eigentlich unter dem unvermeidlichen Ein-
fluß der durch unſre Cultur gegebenen Bedingungen wachſen und keinem Pflanzen-
kenner iſt es unbekannt, in welchem Reichthum von Formen und Spielarten gerade
die Meiſten dieſer Pflanzen abändern. Nehmen wir aus der am beſten und ſorgfäl-
tigſten gearbeiteten Flora von Deutſchland diejenigen Pflanzengeſchlechter heraus, die
am meiſten feſtſtehende Arten zeigen, dabei aber zugleich einige Arten umfaſſen, welche
ganz entſchieden unter den Einflüſſen unſerer Cultur vegetiren, ſo zeigt ſich uns ſo-
gleich, daß dieſe letztern ausſchließlich oder doch vorzugsweiſe in einem Reichthum
von Formenſpielen vorkommen, wobei ſie mehr oder minder ſich von dem Haupt-
character ihrer Art entfernen. Ich nenne beiſpielsweiſe als ſolche Arten: Thalic-
inflata, Spergula arvensis, Medicago falcata, lupulina, tribuloides,
Vicia villosa, sepium, grandiflora, angustifolia, Knautia hybrida, arven-
sis, Scabiosa gramuntia, Cirsium arvense, Taraxacum officinale,
Galeopsis ladanum, Agrostis stolonifera, vulgaris, Aira caespitosa,
Festuca ovina, rubra, Bromus secalinus. — Ja manche Arten mögen erſt
innerhalb der hiſtoriſchen Zeit aus ſolchen Spielarten entſtanden ſeyn, ſo Thalic-
trum minus und majus, Veronica praecox und triphyllos. Daß alle eigent-
lichen Culturpflanzen aber in zahlloſen Spielarten vorkommen, brauche ich wohl
kaum noch zu erwähnen, da Erbſen, Kohl und Kartoffeln, der Obſtbäume gar nicht
zu gedenken, Jedem dieſe Wahrheit nahe genug legen.
orientaliſchen Urſprung hin.
Iliade 12, 310.
sostomus πεϱί πϱόνοιας.
weiß und roſenrothen Blüthen, die 4 Fuß im Umfange haben, bildet den Mittelgrund
des Titels.
ſten dar.
Pflanzen.
Bildes ein Feſton einer prachtvoll blühenden Trichterwinde.
fiedertem Laube, links die kräftigere Mauritiuspalme mit fächerförmigen Blättern.
luftige Belaubung dieſer Pflanzen.
Federgras genannt, Stipa pennata.
- License
-
CC-BY-4.0
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- Citation Suggestion for this Edition
- TextGrid Repository (2025). Schleiden, Matthias Jacob. Die Pflanze und ihr Leben. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpmp.0