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Ruhe iſt die erſte Bürgerpflicht.
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Ruhe iſt die erſte Bürgerpflicht
oder
Vor fünfzig Jahren.


Vaterländiſcher Roman
Zweiter Band.


Berlin.
: Verlag von Carl Barthol.

1852.
[][[1]]

Erſtes Kapitel.
Staub.

„Und wir behalten Frieden, und Alles bleibt
beim Alten,“ ſchloß der Geheimrath Lupinus, dies¬
mal aber der in der Jägerſtraße, und ſchob den
grünen Augenſchirm zurecht.


Es lag eine ſonntägliche Heimlichkeit über der
geweihten Stube. Kein Dienſtbote durfte ſie aus
freien Stücken betreten. Die Frau Geheimräthin
beſorgte ſelbſt das Abſtäuben der Bücher, und wenn
ſie der Hülfe einer gröberen Hand bedurfte, mußte
der Fuß, der zu dieſer Hand gehörte, die Schuhe
zurücklaſſen. Aber das Abſtäuben und Reinemachen
war ein Feſttag, zu dem man die günſtige Stunde
ablauſchen mußte. Der Geheimrath behauptete,
nichts ſei ſo gefährlich der Geſundheit als der Staub;
in demſelben ſammelten ſich die Atome, die der or¬
ganiſche Lebensproceß nicht zu abſorbiren vermöge,
alſo das Todte, vielleicht das Tödtende. Warum alſo
das aufregen, künſtlich in Bewegung ſetzen, was ſich
ſelbſt bereits, nach dem Geſetz der Schwere, vom
Leben abgeſetzt hat?


II. 1[2]

Die Geheimräthin hatte dagegen nur zwei Ein¬
wendungen. Es ſei doch beſſer, den Staub mit
allen Vorſichtsmaßregeln für die Geſundheit, als da
ſind naſſe Tücher, Handbeſen, feuchter Sand und
geöffnete Fenſter, durch einen raſchen, wohlgeleiteten
Angriff bewältigen, als abzuwarten bis eine zufällige
Gelegenheit dieſen Feind der Geſundheit von ſelbſt
in Aufruhr bringt. Demnächſt, wenn er immer liegen
bleibt, verderbe er die Bücher ſelbſt, und darunter
Raritäten, die unerſetzlich wären.


Das letztere Argument hatte angeſchlagen. Wenn
Menſchen ſterben, werden andere dafür geboren, ſel¬
tene Ausgaben, Incunabeln, gehen unter, um nie
wieder geboren zu werden.


Hinſichts des erſteren Argumentes hatte er manche
Bedenken gehabt. Die Vorſicht, die man beim ge¬
fährlichen Ausſtäuben anwende, könne beſſer darauf
verwandt werden, daß man jeden Anlaß vermeide,
der den Staub aufregt: wenn man leiſe gehe, leiſe
ſpreche, ſich jeder heftigen Bewegung enthalte, was
überhaupt zur Conſervation des Lebens zuträglich ſei.
Denn das eigentliche Gift des Lebensorganismus
ſeien die Affecte, weit gefährlicher als üble Ange¬
wöhnungen, ſelbſt als Laſter. Deshalb hatte er an
den Fenſtern doppelte Reiber anbringen und Tuch¬
ecken an die Seiten anſchlagen laſſen, auch eine
Doppelthür vor das Vorzimmer, und die geſteppte
Tuchdecke verhinderte jede Erſchütterung beim Gehen.


„Sie vergeſſen nur, hatte die Geheimeräthin er¬
[3] widert, daß Ihre Fußdecke mit dem Heu darunter
ſelbſt ein Staubreſervoir iſt, und daß Sie beim lei¬
ſeſten Auftreten dieſe feinen Atome aufrühren, und
gerade die, welche am gefährlichſten auf die Lunge
fallen.“


Der Geheimerath ſparte im Leben die lau¬
ten Worte, da ein Wortwechſel auch mit ſich ſelbſt
zu Affecten führen kann, aber wenn ein Thema ihn
angeregt, was ihn intereſſirte, oder andere es in ihm
angeregt, ergoſſen ſich auch die lang geſperrten Schleu¬
ſen in langen Sermonen. Er erinnerte daran, daß
die Müller und Steinſetzer ein verhältnißmäßig kurzes
Leben führten und gewöhnlich an der Auszehrung
ſtürben, weil der feine Mehlſtaub von den zerklopften
und gefeilten Sandſteinen auf die Lunge falle. Es
gebe auch einen Staub von gewiſſen Vegetabilien,
Steinerden und Metallen, ſo feiner Art, daß ihn das
unbewaffnete Auge nicht zu entdecken vermöge, und
doch ſei er höchſt ſchädlich. So wirke der Arſenik in
den Gruben. Gewöhnlich ſage man, die Verbrecher,
die dort arbeiten, ſtürben an der vergifteten Luft,
das ſei aber uneigentlich geſagt, denn ſie kämen um
an dem atomiſirten Staub des Metalls. Im Mittel¬
alter und aus den Höhlen des Jeſuitismus ſeien da¬
raus grauenhafte Künſte hervorgegangen, man habe
durch künſtlich präparirte Stoffe einen Staub erzeugt,
der plötzlich oder langſam nach einer gewiſſen Be¬
rechnung die dazu erwählten Opfer getödtet. Dieſer
habe einen Brief eröffnet, und der Streuſand, der
1 *[4] ihm entgegen ſpritzte, ſei Gift geweſen. Einem an¬
dern — und er nannte ſogar einen Kaiſer-Namen —
habe man die Kerzen, die in ſeinem Zimmer brann¬
ten, mit Arſenik verſetzt, und das ausſprühende Licht
habe allmälig den vergiftet, der nach der Meinung
einer Hofpartei, die das Dunkel liebte, zu viel Licht
geliebt hatte.


Die Geheimeräthin hatte aufmerkſam zugehört:
„Und doch wollen Sie ſich mit dem Staube ver¬
tragen?“


Er hatte gelächelt: „Das ſind Ausnahmen, meine
Liebe, aus den Zeiten der Barbarei und Finſterniß.
Feinde und Staub ſind nur Produkte unruhiger
Thätigkeit.“


Dann wäre eigentlich das Beſte, ſein ganzes
Leben lang ſchlafen! hatte ſeine Frau gedacht. Er
aber hatte fortgefahren: „Wenn wir alles ruhen
ließen, was liegt, wäre das Leben noch ein Mal ſo
glücklich. Weil die Menſchen alles beſſer machen
wollen, rühren ſie das auf, was die Vernunft und
die Geſchichte längſt beſeitigt hatte, und es kommt in
neuer Form und Färbung zum Vorſchein und quält
uns auf's neue, was unſre Väter und Urgroßväter
ſchon gequält hatte. Die Geſchichte des Menſchen¬
geſchlechts, meine Theure, pflegte er lächelnd hinzu¬
zuſetzen, iſt in einem kleinen Buch geſchrieben, wenn
wir das immer und immer wieder läſen, kennt n wir
alle ſeine Beſtrebungen in das vetitum nefas, alle
ſeine eitlen Hoffnungen und Thorheiten und die Lehre,
[5] welches der einzige Weg zum Glück iſt, ſich zu finden
in das was iſt und — nicht unnöthig Staub auf¬
rühren.“


Alsdann pflegte eine Lobrede auf den Horaz zu
folgen, die aber von der Geheimräthin an einem
beſtimmten Wendepunkte mit einer praktiſchen Bemer¬
kung auf etwas anderes übergeleitet ward. Der Ge¬
heimrath wußte es, lächelte, ſchwieg und war eigentlich
zufrieden. In der Hauptſache aber waren ſie zu einem
Accord gekommen. Seine Ausgaben des Horaz, die
auf einer Reihe niedrigerer Regale wie eine Art
Schirmwand um den Arbeitstiſch ſtanden, durfte die
Frau wöchentlich einmal abſtäuben; aber nur ſie ſelbſt
und mit einem weichen Pfauenwedel. Sie nahm
jeden Band einzeln heraus, trug ihn in das Vor¬
zimmer und fegte ihn am geöffneten Fenſter. Da
lächelte er zufrieden, die andern Bücher, die großen
ſchweinsledernen Folianten, die hinten bis an die
Decke die Zimmerwände füllten, ſollten nur dann und
wann, und nur ganz oberflächlich abgeſtäubt werden.
Auch ſollten dazu ſonnige Tage abgewartet werden,
weil die Sonne den Staub niederdrückt. Die Horaz¬
regale ſollten dabei mit Leinentüchern überdeckt, und
der Geheimrath ſelbſt jedesmal vorher avertirt werden,
um zu unterſuchen, ob es nöthig ſei. — Ob dieſe
Bedingungen ſtreng inne gehalten wurden, bleibt ein
häusliches Geheimniß. Die letzte gewiß nicht, denn
der Geheimrath hätte es nie für nöthig gefunden.

Aber der Eifer der Geheimräthin mußte nachge¬
[6] laſſen haben; die Luft verrieth, daß die Fenſter ſehr
lange nicht geöffnet worden. Der chromatiſche Far¬
benſpiegel der Scheiben, und die Spinneweben an
den Fenſterecken gaben den vollgültigſten Beweis
dafür, daß, wie alle Paſſionen, auch die des Rein¬
lichkeitsſinnes einem Wechſel unterworfen ſind. Oder
es waren andere Gründe? Gerade dieſe Spinnen,
der ſchillernde Glanz der Scheiben, der Duft des
Unberührtſeins war es, was dem Zimmer den Cha¬
racter ſonntäglicher Heimlichkeit gab. Wohlverſtan¬
den der ſonntäglichen Heimlichkeit einer alten deut¬
ſchen Gelehrtenſtube, in welche der Qualm des Ta¬
backs noch nicht eingedrungen und den Büchergeruch
noch nicht niedergedrückt hat. Und ganz zu dieſer
Stube, will man ſagen wie die Seele zum Körper,
oder die Spinne in ihrem Netze, paßte die Geſtalt
des Geheimrathes, der den Kopf im Ellenbogen und
den Ellenbogen auf einem Folianten in ihrer Mitte
ſaß, wohlgefällig, zufrieden, ſchlau lächelnd.


So hatte er das Wort geſprochen: „Und wir behal¬
ten Frieden und Alles bleibt beim Alten!“ als ein Seuf¬
zer aus der tiefen Stille des Zimmers ihm antwortete.


Der Geheimrath glaubte an keine Geſpenſter,
er ſah auch nach keinem, als ſein ſchlauer Blick
über das Regal, welches die Zweibrückner Horaze
trug, auf die ſchweinslederne Hinterwand fiel, wo
jemand auf der Leiter einen Folianten in der Hand wiegte.


„Gehören Sie auch zur Kriegspartei, mein Herr
van Aſten?“


[7]

„Ich bin ein ſtiller Civiliſt, Herr Geheimrath,“
war die Antwort.


„Wozu beſchweren Sie ſich denn aber da mit
dem Hugo Grotius? Sein de jure gentium gehört
doch ſonſt nicht zu Ihren Studien.“


Wenn der Geheimrath ſo weit ſehen können,
würde er eine leichte Röthe auf des jungen Mannes
Geſicht bemerkt haben.


„Nehmen Sie's nur runter, fuhr er fort. Sie
können's auch mit nach Hauſe nehmen, wenn's Ihnen
nicht zu ſchwer iſt, die Edition iſt nicht ſelten, man
kann ſie bei den Antiquaren bekommen. Der Mon¬
tesquieu ſteht auch noch angeſchrieben.“


Der junge Mann war von der Leiter geſtiegen, den
Folianten im Arm: „Wenn Sie mir alſo erlauben —“


„Aber nehmen Sie ſich in Acht, Ihr blauer Frack
iſt von dem Grotius ganz ſtaubig. Der hat zwar
auch mal in einer Kiſte geſteckt, wenn ich mich recht
entſinne, einer Bücherkiſte, und da wird er noch ſtau¬
biger rausgekrochen ſein, aber er wollte nur in Frei¬
heit kommen, nicht zu einer jungen ſchönen Demoi¬
ſelle. Aber Sie wollen doch nicht der Mamſell
Alltag aus dem Hugo Grotius Vorleſungen halten?
Das Kind iſt zwar geſcheit, aber ich zweifle doch,
daß ihr die Lectüre ſehr plaiſant ſein wird.“


Der Geheimrath war in ungewöhnlich guter
Laune, der junge Mann ſchien außer Gewohnheit
befangen. Indeſſen hatte er ſich ſchnell geſammelt,
während er den Staub vom Rock abklopfte.


[8]

„Herr Geheimrath ſind heiterer, ſeit Mamſell
Alltag hier iſt. Ihr Haus ward belebter. Stören
Sie aber die vielen Geſellſchaften nicht?“


Au contraire! Was ſo jetzt die Menſchen allar¬
mirt und ſonſt auch wohl bis zu mir drang, bleibt nun
außer meinem Rayon. Die Herrſchaften können das
nun bequemer unter ſich und mit meiner Frau ab¬
machen.“


„Sollte es nie in Ihren Rayon dringen!“
ſagte van Aſten ſehr ernſt.


„Wenn ich mich einſchließe, das wollte ich doch
mal ſehen. Aber ei, ei, Herr van Aſten, will die
Romantik Sie nicht verlaſſen! Sie ſehen da wieder
eine Geiſtererſcheinung.“


„Die, welche ich ſehe, Herr Geheimrath, ſehen
viele mit mir. Dieſer Herbſt wird die Fluren, wo
fröhliche Saaten gereift, mit Leichen und Blut
decken.“


„Sehn Sie mal, ſagte der Geheimrath, was
Sie nicht alles ſehen!“ und wiſchte mit dem Läppchen
die Dinte aus der Feder, die er dann ſorgſam vor
ſich auf das Papier legte. Sein Geſicht bekam dabei
einen immer, was man nennt, glaueren Ausdruck,
wie ein kluger Mann, wenn er einen, der ſich auch
für klug hält, auf eine Sandbank abgeſetzt zu haben
glaubt. „Und dieſe Vielen, die mit Ihnen dieſe er¬
ſchreckliche Geiſtererſcheinung ſehen, ſind, curios genug,
dieſelben, die vor Freude damals zitterten, als der
Herr General Bonaparte, wie ſie es nannten, die
[9] Hydra der Revolution niedergetreten hatte. Da ſollten
wir andern mit ihnen hüpfen und ſpringen vor Ent¬
zücken, denn ſie ſagten uns, er wäre ein Meſſias
der neuen Weltordnung. Sehn Sie mal, wir thaten
das nun nicht, denn wir entſannen uns, daß dieſelben
ſpring- und hüpfluſtigen jungen und alten Herren
ein Zehn Jahr vorher ebenſo geſprungen und geſun¬
gen hatten, als dieſe Hydra in Paris den Kopf erhob,
und ſie hatten damals auch darin einen neuen Meſſias
und Weltbeglücker, und wer weiß was, entdeckt. Wir
ſprangen nicht, weil wir mit König Salomo wiſſen,
es giebt nichts Neues unter der Sonne, aber wir
ließen ſie ſpringen, weil wir wußten, ſie werden
ſchon müde werden. — Es iſt mancher müde geworden,
mehr als müde. Da ich nun nicht in Verzückungen
gerathen bin, nicht damals bei der erſten, und nicht
damals bei der zweiten Menſchenbeglückung, warum
ſoll ich denn jetzt in Raviſſements des Zorns oder
Patriotismus gerathen, weil dieſe ſelben Herren in
ihrem Götzen nun plötzlich das Thier der Apokalypſe
entdeckt haben! Was kümmert mich Hannover. Im
ſiebenjährigen Kriege waren die franzöſiſchen Mar¬
ſchälle oft darin und brandſchatzten, aber gerade nur
ſo lange, als der große Friedrich beſſeres zu thun
hatte. Und wenn ſie's ihm zu arg machten und er
verdrießlich wurde, ſchickte er ſeinen Seydlitz oder
einen Braunſchweiger hinüber, und ließ ſie wieder
fortjagen.“


„Es ſind andere Zeiten. Wir haben keinen
[10] Friedrich mehr, und die Conſtellationen ſind furcht¬
bar, Herr Geheimrath!“


„Und der alte Lupinus weiß nichts davon! Nicht
wahr?“ Der Geheimrath nahm mit großem Wohl¬
gefallen eine lange Priſe. „Der Mortier, oder wie
ſein General heißt, hat Hannover mir nichts dir
nichts beſetzt, ohne uns zu fragen, und wir hatten
es doch ſo halbweges, noch vom Baſeler Frieden
her, garantirt. Und er hat es gethan, um uns mit
England aneinander zu bringen. Er ſperrt die Flu߬
häfen gegen die Colonialwaaren, und die Engländer
ſperren ſie uns, daß wir unſer Holz und unſre Leinwand
nicht rausſchicken können. Das giebt nun viel Jammer
und Geſchrei, aber das iſt alles nichts als das Stroh¬
feuer, womit man die Bienen aus dem Baume und
die Fiſche aus dem Waſſer lockt. Die ganze deutſche
Nation hat auf uns gewartet, daß wir doch nun los¬
ſchlagen würden. Man kann's in allen Zeitungen
leſen, daß alle Biedermänner auf uns warten. Aber
es giebt noch viel ungeduldigere Leute. Der Schweden¬
könig iſt wie toll umhergelaufen, und hat überall
angeklingelt: Macht doch Krieg! Der ruſſiſche Kaiſer
rüſtet: Krieg partout! ruft er. Und ganz in der
Stille rüſtet Oeſtreich. Darum ſollen wir auch in
die Falle gehn und auch rüſten. Aber wir gehn nicht
in die Falle, und rüſten nicht. Denn rüſten koſtet
Geld, und der Krieg bringt nichts ein, und was
gehts uns an. Sehn Sie, der alte Lupinus hat
doch auch etwas in die Zeitungen geguckt.“


[11]

„Und wir, eingekeilt in dieſe Mitte! Ganz Eu¬
ropa in Waffen gegen einander, und wir —“


„Sehen zu — wie ſie ſich ſchlagen und vertragen,
und denken mit König Salomo: Alles iſt eitel!“


Walters Bruſt hob ſich; es waren ernſte Gefühle,
die heraus wollten, aber er überwand ſich —, es
war hier nicht der Ort dazu. Nur ein Stoßſeufzer
brach es hervor: „Und der Brand in unſern eignen
Eingeweiden!“


„Ein Eimer Waſſer drauf, lieber Walter. Iſt
probat!“ Hatte der Gelehrte heute ein Sonntagsge¬
ſicht? Er der nichts ſah, was um ihn vorging,
blickte er heut in die Seelenzuſtände eines andern
und fand ſein Vergnügen darin das Verborgene
heraus zu ſchöpfen? — „Da ſteht wieder auf Ihrem
Geſicht: Ach Gott, der gute Geheimrath Lupinus!
Er weiß, woran die Verfaſſungen in Rom und Athen
zu Grunde gingen, aber wie es im Preußiſchen
Staat gährt und ſtockt, das ſind ihm Böhmiſche Dör¬
fer. — Wer wird denn gleich Einen verdammen,
junger Herr, ohne daß er ein bischen verſucht hat,
ihn zu beſſern! — Oder zu unterſuchen, ob denn
nicht doch ein Lichtchen der Erkenntniß in ihm flackert!
— Manche Fahne, die vor dem Heer des großen
Königs flatterte, iſt von den Motten zerfreſſen, das
weiß ich, und die Monturen im Zeughauſe gehen in
Plunder, wenn man ſie ausklopft. Weiß auch noch
mehr. Unſre Soldaten ſind nicht Bonaparte's Sol¬
daten. Und unſre Officiere, — weiß ich auch, man
[12] muß aber nicht alles ſagen, was man weiß. Die
eiſernen Ladſtöcke, durch die wir bei Mollwitz ſiegten,
ſind jetzt Gemeingut geworden, die Räder von unſerm
Fuhrweſen gehen aber noch in dem Geleiſe von Anno
ehemals. Unſer Schatz iſt ausgepumpt, das weiß
ich auch, und das Bischen, was unſer junger König
durch Sparſamkeit wieder hineinfließen läßt, löſcht
noch nicht den Durſt. Es ſieht auch in den Finan¬
zen gar curios aus; unter dem Schimmel werden
wohl noch manche harte Thaler liegen, aber man
kratzt den Schimmel nicht ab, weil manches andre
damit bloß gelegt würde. Ja ja die Blöße fürchtet
man, und hat daran ganz recht. Viele Schlöſſer
ſehn blank geputzt aus, ſchließen aber nicht mehr, und
manche Mühlen klappern wohl, mahlen aber nicht
mehr. Auch die große Staatsmühle macht noch
daſſelbe Geräuſch, daß man's in weiter Ferne hört,
und wunders denkt, was ſie mahlen muß, aber wer
in die Mehlkammern ſieht, merkt, daß es kaum zur
Noth hinreicht. Das kann nun von mancherlei her¬
kommen. Etwa davon, daß man niemals vorher
weiß, woher der Wind kommt, und, wenn er da iſt,
erſchrocken links und rechts rennt, und was links
ſtehen ſoll, rechts ſtellt, und was rechts links. Auch
kann die Mühle von alter Conſtruction ſein, und in
Holland und Amerika haben ſie ſeitdem beſſere Gänge
erfunden. Und dann ſpricht man auch von der großen
Staatsuhr, deren Räderwerk erſt gar quer und ver¬
kehrt wäre, denn wenn einer nicht täglich ſie ſtellte,
[13] ſo zeigte ſie nie die rechte Stunde an. Das käme
aber daher, weil kein Rad mehr ins andre griffe,
große und kleine, es ginge jedes für ſich, die Räder
der Miniſter, und kein Oberminiſter, der ſie regulirte,
und wenn ſie auch mal regulair gingen, ſo hätten
die Geheimen Kabinetsräthe wieder ihren aparten
Schlüſſel, und die Oberpräſidenten in den Provinzen
wohl auch; und wäre mal, rara avis, alles egal und
conform, dann ſchöbe ein Finger von ganz oben den
Zeiger um eine Viertelſtunde zurück, wodurch denn
das ganze Räderwerk in Unordnung geriethe. Das
iſt nur etwas, es iſt aber noch viel mehr.“


Walter hatte mit ſteigender Verwunderung zugehört.


„Und was ich nun thue? wollen Sie fragen.
Da will ich Ihnen mit einem Dichter antworten,
keinem alten, nein, einem allerneueſten, den ich auf
meiner Frau Tiſch fand, das iſt der Herr Bürde
aus Schleſien. Da leſen Sie es:


Glücklich, wer im engbegrenzten Raume

Seiner Heimath tiefe Wurzeln ſchlägt,

Und, gleich einem wohlgediehnen Baume,

Feſt ſteht, und die Aeſte nur bewegt!
Der die Lebens-Nothdurft nur begehret,

Und, allein auf Gegenwart beſchränkt,

Was er heut erworben, heut verzehret,

Und ſich weder heftig freut noch kränkt;
Den die Welt zu ſehen nicht gelüſtet,

Der mit Beßrem Gutes nicht vergleicht,

Und, zur letzten Reiſe ſtets gerüſtet,

Sich geräuſchlos aus dem Leben ſchleicht
[14]
Nur umſonſt verdoppeln wir die Schritte,

Nie erreichen wir das Ziel der Bahn;

Immer ſtehn wir in des Cirkels Mitte,

Und der Umkreis weicht, ſo wie wir nahn.

Das ſind noch Gefühle eines Dichters,“ ſprach er,
das Buch fortlegend.


„Der einer erſterbenden Welt angehört, wie
ſein Horaz,“ ſprach Walter für ſich. Er nahm die
Vorleſung als Zeichen zum Abſchied, der Geheime¬
rath hatte es aber nicht ſo gemeint:


„Wenn eine Mühle in's Stocken geräth, glauben
Sie, daß wir darum kein Brod mehr zu eſſen be¬
kommen, und wenn alle Uhren unrichtig gingen, daß
die Sonne ſich darum auch einmal verſpätet, auf¬
zugehen?“


Walter meinte, es ſei doch eines Jeden Pflicht,
dafür zu ſorgen, daß ſeine Uhr richtig gehe.


„Für ſeine eigne mag er ſorgen, lieber Herr
van Aſten, aber nicht um die Rathhausuhr.“


Lupinus ſah ihn dabei ſehr pfiffig an. Walter
erröthete wieder: „Sie möchten unſern Staat wieder
auf die Beine bringen.“


„Wer wünſcht das nicht.“


„Warum denn nicht! Wer jung iſt! Einer ſam¬
melt Schmetterlinge, der andre Mineralien, Wappen.
Mancher möchte auch gern ein Taſchenſpieler werden.
Alles unſchädlich, ſo lange wir jung ſind. Die Welt
liegt ja vor uns wie ein Feld mit Blumen. Weil
wir noch nicht dran denken, wie ſauer es uns wird,
[15] bis an's Ende zu kommen, flattern wir von einer
zur andern. Warum denn da nicht auch Collecta¬
neen machen aus den Maximen großer Staatsmänner,
warum nicht auch aus eigenen Gedanken etwas ein¬
flicken! Die Claſſiker haben auch Lücken. Hatte ſchon
Homer, als ſie ihn in Alexandria herausgaben, und
wie haben ſie den Livius geflickt! Wo's Ganze Flick¬
arbeit, merkten ſie oft gar nicht die eignen Lumpen
der Editoren. A propos! Da ließen Sie neulich
einen Zettel fallen — Warten Sie, wo hab ich ihn
gleich hingelegt? — Hier! Das iſt wohl kein Excerpt,
ſo mit friſcher Dinte, recht friſch aus dem Herzen ge¬
ſchrieben: „„Daß ein Staat, der beſtehen will, der
Sitten, oder, wo dieſe fehlen, kräftiger Männer zur
Ausführung kräftiger Maßregeln bedürfe, gewahrt
Niemand. Die Augen gehn erſt in der Noth auf.““


Walter ſteckte haſtig den Zettel in die Bruſt¬
taſche: „Zu einem Briefe —“


„So, alſo ein Brief! Da wollte ich Sie nur
bitten, ſich an den zu erinnern, welchen der junge
Herr Gentz bei der Thronbeſteigung an Seine Ma¬
jeſtät den König ſchrieb. Das war mal genial! Wie
riß man ſich darum! Da lag's doch klar, wie ein
umgeſtürzter Pudding auf der Schüſſel, wo's bei
uns manquirte, was anders, beſſer nun gemacht
werden ſollte. Man brauchte nur zuzugreifen, gar
keine Mühe ſich zu geben, nur zu thun, zu decretiren,
wie's der junge Herr Gentz den Miniſtern wies.
— Haben ſie's gethan? Haben ſie zugegriffen? Nichts
[16] angerührt, 's iſt Alles beim Alten geblieben. Und
Herr Gentz? Iſt er Miniſter, Kabinetsrath, Präſident
geworden? Er blieb Kriegs- und Domainenrath,
hatte niemals Geld, aber immer Schulden. Bis es
ihm hier zu langweilig ward, und er fortlief, nach
Oeſtreich. Seine Sachen brauchte er nicht zu ver¬
kaufen, dafür ſorgten ſchon ſeine Gläubiger; aber
ſeine Grundſätze, die waren lange vorher ſchon ver¬
ſilbert. Na, an wen iſt denn Ihr Brief gerichtet?“


Da lag ſein Geheimniß trocken an der Luft.
Walter hatte bis da nur einen Stolz, als freier
Mann unter den drängenden Verhältniſſen zu ſtehen.
Mußte ihm der, von dem er es am wenigſten ver¬
muthete, ablauſchen, was er ſich ſelbſt noch nicht
vollkommen eingeſtand!


Lupinus mußte ſeine innerſten Bewegungen
verſtanden haben.


„Junger Freund! Warum denn gegen ſich ſelbſt
unwahr ſein! Was die Freiheit iſt, hat weder Plato
noch Seneca erklärt, gewiß iſt aber, ſie giebt nichts
zu beißen und zu brechen. Ein Dichter wollen Sie
nicht werden, und ein Kaufmann auch nicht. Ganz
recht, der eine kann Bankerott machen und der andere
verhungert, wenn nicht ganz, doch beinah. Alſo was
bleibt Ihnen, als eine Anſtellung ſuchen. Den Staat
verbeſſern wollen, iſt aber der ſchlechteſte Anfang von
einer Carriere.“


Walter hatte ſich wieder geſammelt: „Wenn ich
aber nun doch ſo thöricht wäre, anmaßend, geben Sie
[17] meinem Willen einen Namen, welchen Sie wollen,
ich proteſtire nicht dagegen, aber wenn ich denn doch
in mir den Ruf fühlte, nach dieſem Ziele zu ſtreben,
warum nicht anfangen, wie ich enden will?“


Der Gelehrte ſah ihn ſcharf an: „Weil Sie
dann nicht zum Ziele kommen, hub er nach einer
Pauſe an. Ein Mann, der ſeine Frau erziehen will,
muß es ihr ja nicht ſagen, ſo ſagt man wenigſtens,
und wer den Staat verbeſſern will, muß es ja nicht
merken laſſen. Wollen Sie mein Recept wiſſen?
'S iſt kein neues, uralt wie die Welt. Wenn man
groß iſt, muß man ſich klein ducken, ſich anſchlängeln
an das, was gilt. Meiſtens an Perſonen, zuweilen
an Gedanken. Wenn's auch recht dumm iſt, und
man von Herzen drüber lacht, oder ſich ärgert! —
Lachen Sie immer und ärgern ſich, nur bei zuge¬
ſchloſſenen Thüren! — Ohr und Auge aufhaben,
aufgepaßt auf alle Falten und Fältchen, und da bei
guter Zeit ein Zeichen zwiſchen gelegt! Was kann
man nicht in ſchwachen Stunden belauſchen, und hat
man erſt die Schwächen eines großen Mannes weg,
dann mit einiger Klugheit wird man ihm bald noth¬
wendig. Und iſt man ihm erſt nothwendig, ſo iſt
man auch ſein Herr. Vor dem Brauſewind, der alles
beſſer wiſſen, alles wegfegen will, verſchließen ſich
ſolche Herren, auch wenn ihnen ſeine Anſichten ge¬
fallen. Sie denken, der kann dich mal ſelbſt fortfegen.
— Und die Herren am Ruder hier ſind ſo affabel.
An Protectionen ſoll's Ihnen nicht fehlen, Schrei¬
II. 2[18] ben Sie eine Vertheidigung der Politik der Herren
Kabinetsräthe.“


„Ich!“


„Liebſter Herr van Aſten, wie Vieles hat Cicero
vertheidigt, was er im Grund der Seele verdammte.
Ganz partheilos, verſteht ſich, und ſehr patriotiſch
müſſen Sie ſchreiben: Eine Stimme aus dem Volke!
oder ſo was. So recht biedermänniſch, daß man
glaubt, es kommt aus dem Herzen, daß es den
Herren wie Honig beim Frühſtück herunterläuft.
Wenn ſie mal einen recht dummen Streich gemacht,
daß ſie ſich ſelbſt ſchämen, und Alles thun möchten,
ihn ungeſchehen zu machen, dann dreiſt los auf die
Gegner, aus der Defenſive in die Offenſive, gefragt
ſie: Was würdet Ihr denn gethan haben? Werden
wieder ſchimpfen. Schadet nichts. Kriegen vielleicht
einen Hacks ab. Schadet noch weniger. Ueber den
Spektakel iſt am Ende vergeſſen, um was es los
ging, die Herren Räthe haben freie Luft bekommen,
und —“


„Und was iſt das Ziel?“


„Na, man wird Sie nicht gleich zum Kriegs¬
und Domainenrath machen, aber ein kleines Pöſtchen
giebt's ſchon, vielleicht ein beſſeres, als mit einem
Titel, ſo ein Secretair in secretis —“


„Und wohin führt das?“


„Warten Sie doch! Ein klein Bischen Geduld
nur, und ein Bischen mehr noch. Haben Sie erſt
Poſto gefaßt, Ihre Fühlfäden ausgeſtreckt, kennen
[19] Sie die Menſchen und ihre Gedanken, was ſich an¬
zieht und was ſich abſtößt, wiſſen Sie, was noch
feſtſteht und was ſchwankt, dann iſt ja noch immer
Zeit.“


„Wozu?“


„Was Sie wollen. Meinethalben, Sie werden
ſchon was Gutes gewollt haben. Sind Sie der
Mann am Steuer, und an Capacitäten, fehlt es Ihnen
nicht, und äſtimire auch Ihren Charakter, aufrichtig,
dann — einen Schub, einen Fußſtoß! Wie Sie's
anfangen, daß der alte Plunder zuſammen bricht,
darum iſt mir nicht bange. Nicht wie Coriolan und
Catilina muß man anfangen. Cicero wußte, wo er
ſich bücken mußte, und wo er grad aufrecht ſtehen
durfte. —“


Walter hatte ſeinen Hut ergriffen: „Daß Cicero's
Name auf der Proſcriptionsliſte ſtand und ſein Kopf
aus der Portechaiſe fiel, würde mich vielleicht nicht
abhalten, wie Cicero zu handeln, aber — mein Herr


Geheimerath, ich habe ein anderes Vorbild aus dem


Alterthume, von dem Ihr großer Horaz geſungen
hat: Integer vitae —“


„Scelerisque purus, fiel der Gelehrte ein, und
nahm wieder eine lange Priſe. Auch ein ſchönes
Vorbild. Gar nichts dagegen zu ſagen. Au con¬
traire
, aber dieſer Integer vitae war nicht verliebt.“


Da war abermals ein zweites Geheimniß, und
von den poeſieloſeſten Lippen trocken in die Luft ge¬
ſetzt, ein ſo ſtill in der Bruſt gehütetes, kaum ſich
2*[20] ſelbſt geſtandenes, ein ſo zartes Kind, daß es in
dieſer rauhen Luft erſtarren konnte. War dieſer
Bücherwurm heute ein Magier!


„Sie ſind in die Mamſell Alltag verliebt, fuhr
er fort. Verdenk's Ihnen gar nicht. Ein hübſches
und geſcheidtes Mädchen. Sie möchten ſie einmal
heirathen. Noch beſſer. Zum Heirathen braucht man
Brod, ſicheres Brod, und ſicheres Brod giebt nur
eine Anſtellung. Darum wollen Sie Ihre Freiheit
hingeben und Carriere machen.“


In dem Augenblick öffnete ſich die Thüre, und
der Kopf der Geheimräthin blickte herein: „Ehe Sie
gehen, Herr van Aſten, auf ein Wörtchen!“


Die Thüre ging wieder zu. Der Blick mußte
eine eigenthümliche Wirkung haben. Ihr Geſpräch
war unterbrochen, aber auch die ſonntägliche Stille
des Zimmers war geſtört. Der Kater hatte ſich
knurrend aufgerichtet, und Staub wirbelte durch den
Sonnenſchein. Es blieb noch eine Weile ſtill. Es
war, als ob der Gelehrte ſich ſchämte. Dem Ein¬
dringling hätte er nicht zurufen können: Noli turbare
circulos meos
! er ſelbſt war ja aus ſeinen Kreiſen
getreten; das machte ihn befangen.


Walter war es auch. Vor dem alten freund¬
lichen Manne, der mit der Wünſchelruthe ſeinen ver¬
borgenen Schatz berührt, hätte er ſprechen mögen,
wie ihm zum Herzen war. Es lag ſchon auf der
Zunge. Da war es plötzlich erſtarrt vor dem
ſtechenden Blicke, das ſüße Geheimniß ſchien ihm
[21] vergiftet, ein Nebelſchauer hatte einen Mehlthau auf
die Blüthen gelagert. Er beſann ſich und ſprach ſchöne
Worte, die nicht der Ausdruck ſeines Gefühls waren:


„Seine Träume gehören nicht dem Menſchen
allein, es ſind gaukelnde Kinder aus anderen Welten.
Sie haben einen berührt, der, lieblich gaukelnd,
Einlaß forderte. Aber — auch die ſüßeſten Träume
muß der Mann verſcheuchen können, wo die Pflicht
gebietet. Ich glaube meinen Gönner nicht verſichern
zu dürfen, daß dies ſchöne Mädchen, dem Sie gaſt¬
lich ihr Haus geöffnet, dem Ihre Gattin Mutterſorge
widmet, ihres Unglücks wegen mir heilig iſt. Sie
und ich, das iſt ein langer Weg, den wir zu gehen
hätten, bis wir uns träfen, und ſie ſelbſt ahnt viel¬
leicht noch nicht —“


Der Geheimrath wehrte mit beiden Händen:
„Iſt nicht mein Departement. Iſt meiner Frau ihres.
Da ſprechen Sie, da ſchweigen Sie, wie Sie's für
gut finden.“ Er faßte ſeine Hand und ſah ihn ver¬
traulich, faſt bittend an: „Lieber Walter, ſchweigen
Sie lieber, es iſt beſſer, daß Niemand etwas davon
erfährt. Wir haben hier vielerlei Allotria getrieben.
Gott weiß, wie ich mich fortreißen ließ So iſt's
mit unſrer Stärke und unſern Entſchüſſen! Rühmte
mich, nichts ſolle in meine Kreiſe dringen, wenn ich
meine Thür verſchlöſſe, und plötzlich ſtand drinnen
der Bonaparte, unſre Monturen, Finanzen, und gar
eine Liebſchaft von Ihnen, und rannten mich beinahe
um unter meinen Büchern. — Vergeſſen Sie, daß
[22] Sie einen alten Mann in einer ſchwachen Stunde
betroffen haben!“


„Alſo das bleibt Alles unter uns,“ ſchien das
letzte Wort, als er Waltern gleichſam an die Thüre
gedrängt, aus Beſorgniß, daß von den Allotriis doch
noch etwas über die Lippen kommen könnte. Aber
dort legte er die Hand ihm noch einmal auf die
Schulter:


„Lieber Herr van Aſten, um Sie iſt mir nicht
bange. So oder ſo, aus Ihnen wird was. Bleiben
Sie ein vir integer. Rühren Sie nicht mehr Staub
auf, als abſolut nöthig iſt. Aber das kann ich Ihnen
wohl ſagen: Wer nie in Italien war, nie das Al¬
baner-Gebirge geſehen hat, mit keinem Fußtritt am
See geſtanden, und doch wie Sie den Tractus von
Albalonga, die alte Latinerſtadt in dem länglichen
Bergrücken herausfand, der iſt auch zu mehr berufen.
Heyne und Wolf und Alle, im Grunde genommen,
was ſind ſie uns! Graeca sunt, non leguntur; es
hat etwas für ſich. Aber Latium! Rom iſt ewig.
Und nun will ich's Ihnen ſagen, habe Ihre Diſſer¬
tation an Herrn Niebuhr geſchickt. Er findet Sen¬
timent darin — äſtimirt Ihre Conjecturalkritik, wird
einmal ſelbſt an Ort und Stelle unterſuchen — jetzt
kommt er her und wird wahrſcheinlich Bancodirector.
Iſt das, dann können Sie auf eine Anſtellung bei
der Bank rechnen, und Ihr Schickſal iſt gemacht.“

[[23]]

Zweites Kapitel.
Unterricht in der Erziehung.

Wir waren nur am ſpäten Abend, bei einem
flüchtigen Beſuch, in den Zimmern der Geheimräthin.
Es ſah jetzt anders darin aus. Die Möbel hatten neue
Ueberzüge erhalten, manches Veraltete war einem neu
Angeſchaffenen gewichen. Die Schildereien waren ge¬
ſchmackvoller geordnet, das Silberzeug glänzte friſch
aufgeputzt, und die Geheimräthin war ſelbſt beim
Drapieren der Gardinen beſchäftigt, als van Aſten
eintrat.


„Sie finden mich in einer ungewohnten Beſchäf¬
tigung. Aber wenn man etwas ordentlich gemacht
haben will, kann man es den Leuten nicht überlaſſen.
Es hält ſchwer, unſeren Ouvriers Geſchmack beizu¬
bringen.“


„Frau Geheimräthin erwarten Geſellſchaft?“


„Eine ganz kleine. Sie wiſſen, wie die großen,
glänzenden mir zuwider ſind, wo alles auf den Ap¬
parat abgeſehen iſt, und Geiſt und Herz ſich ver¬
ſtecken müſſen.“


[24]

Die geöffneten Flügelthüren einer Reihe Apar¬
tements, die ausgelegten Teppiche und die Wachs¬
kerzen auf den Kronleuchtern, ſchienen indeß mit dieſer
Angabe nicht zu ſtimmen. Die Lupinus mochte den
beobachtenden Blick des Lehrers bemerkt haben, als
ſie hinzuſetzte:


„Aber es wird nicht geſpielt. Daß dieſe geiſt¬
tödtende Unterhaltung im Anfange des neunzehnten
Jahrhunderts ſich noch erhalten kann, und in Kreiſen,
die durch ihre Bildung hervorſtechen! Man wird es
ſpäterhin kaum begreifen.“


Van Aſten meinte, es wäre wenigſtens eine
harmloſe Schattenſeite. „Der Geiſtreiche kann doch
nicht immer ſprudeln und ſich ausgeben, und der
Geiſtarme findet ein ſicheres Verſteck. Welt und
Geſellſchaft ſind nun einmal zuſammengewürfelte
Kunſtſtücke von Reichen und Armen. Den bunten
Schleier, der den Unterſchied verbirgt, ſollte man
nicht muthwillig zerreißen.“


Der Geheimräthin mißfiel dieſe Auslegung nicht:
„Es freut mich, daß Adelheid ſich in dieſem Kreiſe
zu gefallen anfängt. Im Anfang war ich beſorgt.
Aber ſie gewöhnt ſich ſchon —“


„Sie gewöhnt ſich!“ wiederholte van Aſten und
ſchwieg doch wieder.


„Sie gewöhnt ſich an die edlere, feinere Art,
nachdem ſie inne wird, daß ihre naiven Antworten
nur ihrer Neuheit wegen gefielen und wirkten. Das
iſt der Takt des Kindes, den ich admirire. Daß
[25] man bei der zweiten, dritten naiven Antwort ſchon
anders lacht, als bei der erſten, hat ſie gemerkt. O
es iſt ein höchſt gelehriges Kind. Man braucht nur
anzutippen. Sie müſſen eine wahre Freude an ſol¬
cher Schülerin haben.“


Van Aſten ſchien die Freude nicht in dem Maaße
zu empfinden, als die Geheimräthin es erwartete.


„Man ſpricht ſchon in der Stadt von Ihren
geiſtvollen Cirkeln.“


Die Geheimräthin zuckte die Achſeln: ſie möchte
wünſchen, daß man weniger davon ſpreche, man könne
ſein Haus doch auch nicht für jedermann offen halten.
Dennoch wehrte ſie die Elogen ſchon ſchwächer ab,
als Walter van Aſten die Aeußerung einer geiſtvollen
Prinzeſſin wiederholte, die ſich gefreut, daß doch end¬
lich einmal das Haus eines Officianten ſich der Bil¬
dung und Kunſt erſchloſſen, da wer nach Geiſt und
Intelligenz verlangt, ſie bis jetzt faſt nur in den
reichen Judenhäuſern ſuchen mußte.


Die Geheimräthin lächelte: „Zu gütig von dieſer
geiſtreichen Prinzeſſin. Der Prinz, ihr Bruder,
macht allerdings keinen Unterſchied, ob er in der
haute volée oder in den Judenhäuſern iſt; nur im
Schooß ſeiner Familie ſieht man ihn am ſeltenſten.“


Die Bemerkungen waren ſo hingeworfen, daß
Walter darin die Aufforderung las, noch mehr zu
erzählen, obwohl ihre Worte dagegen proteſtirten.
Dieſelbe Prinzeſſin hatte geäußert, es ſei doch eine
wirkliche Beſchämung für unſern Adel, daß er der
[26] Kunſt und Wiſſenſchaft und dem Umgange mit den
Geiſtern der Nation ſich verſchließe, die ihre Ehre
ausmachen. Da hätte eine Fremde, die Stael, nach
Berlin kommen müſſen, um äſthetiſche Cirkel zu bil¬
den, und jetzt uſurpire Prinzeß Biron von Kurland,
was die Pflicht des einheimiſchen Adels ſei.


Die Geheimräthin machte einige Bemerkungen
über die Herzogin von Kurland, daß ſie ſich merk¬
würdig conſervirt habe, ſchöner eigentlich noch als
ihre Töchter, die doch auch ſehr liebenswürdig wären.
Aber ihre Gedanken waren wohl nicht bei der Her¬
zogin, noch den Gelehrten und Dichtern, die ſie in
ihren Bann gezogen.


„Prinzeß Radziwill hatte auch gefragt, wer denn
Schiller gefeiert, als er hier war? Ebenfalls wieder
Juden, Fremde, Diplomaten, einige bürgerliche Häuſer.“


„Ich habe mir Schiller doch anders gedacht,
ſagte nach einer Pauſe die Lupinus. Er war ſo
ſchweigſam. An Ehrenbezeugungen hat es ihm doch
wirklich nicht gefehlt, aber es blitzte ſo ſelten das in¬
nere Feuer auf. Ich ſprach zwei Mal mit ihm, und
beide Mal redete er wie ein gewöhnlicher Menſch.
Ob er uns vielleicht der erhabenen Sentiments, der
berauſchenden Gedanken nicht werth hält, die doch
bei jeder geiſtigen Berührung aus einem Geiſte wie
der ſeine aufſteigen, emporwirbeln müſſen, denke ich,
wie die Lerche in den Aether!“


„Es iſt vielleicht nicht gut, daß man die Dichter
mit Lerchen vergleicht.“


[27]

„Sie wollen ſie lieber mit Nachtigallen ver¬
gleichen, ſagte die Lupinus ſpitz, die aus der Nacht ihrer
Einſamkeit ihre Töne ſchmettern laſſen, wenn es ihnen
eben bequem iſt, eigenſinnig, qu'importe wer ſie hört!“


„Es mag auch manches Andere ihn verſtimmt
haben, ſagte Walter, noch ungewiß, wohin die Ge¬
heimräthin ſteuerte. Ihre Majeſtät die Königin
hätte ihn gern hierher gezogen.“


„Meinen Sie nicht auch, ein Genius wie ſeiner
wäre in unſerem Staube, unſerer Kritik, an unſerer
Hofluft untergegangen. In Weimar thront er in
einem Tempel, hier hätte er Tempeldienſte verrichten
müſſen. Es fehlt hier an der rechten Sonne, meinen
Sie nicht auch? Und noch immer ſo viel Rückſichten,
Bedenklichkeiten. Es ſieht Einer den Andern an, wenn
er in die Geſellſchaft tritt, und wenn er ihn noch
nicht geſehen, fragt er zuerſt, ob er auch zu ihm ge¬
hört? Mein Gott! Dieſe Geburts- und Standesun¬
terſchiede müßten doch verſchwinden, wenn die rechte
Sonne des Geiſtes in einem Centralpunkt auf alle
ſchiene, gleich wie in einem Saal die Kerzen an den
Seitenwänden keinen Schatten werfen, wenn ein voller
Kronenleuchter Alle von oben beleuchtet. So könnte
ich mir das Haus der Herzogin denken. Aber ſie iſt
nur eine paſſagere Erſcheinung, und dann ladet ſie doch
auch nur eine gewiſſe Elite ein, es iſt auch noch
manches andre da, doch passons là dessus. Ebenſo
können die Kreiſe der geiſtreichen Jüdinnen nicht do¬
minirend werden, es ſtößt ſich doch Mancher daran.“


[28]

Jetzt wußte van Aſten, wohin die Geheimräthin
ſteuerte. Er hatte ja ſelbſt dahin das Schiff der Un¬
terhaltung gelenkt, und nur nicht gemerkt, daß ſie
durch ein Scheinmanöver es abgelenkt, nur damit
er mit noch mehr Nachdruck die Richtung wieder
einſchlage. Warum ſollte er nicht in ihre Wünſche
eingehen! Es war keine Sünde gegen die Wahrheit,
daß er es für verdienſtlich erklärte, wenn eine Dame
ihr Haus als Vereinigungspunkt für die Notabili¬
täten der Intelligenz öffne, eine Dame, die mit
klarem Verſtande, Beleſenheit, feiner Senſualität,
und durch den Stand ihres Gatten und ihre eigne
Geburt dazu wie berufen ſcheine.


„Sie ſcherzen! Das könnte eine Jede, wenn
ſie wollte. Im Uebrigen, was iſt es denn auch be¬
ſonderes, wenn man etwas anders ausſieht, als dieſe
ehrbaren Hausfrauen, die vom Bügeln und Kinder¬
wiegen noch echauffirt ſcheinen, wenn ſie ihr Geſell¬
ſchaftskleid angelegt haben. Denn allerdings kommt
mir Manche vor, wenn ſie nach dem Kuchenteller den
Arm ausſtreckt, als mache ſie eine Bewegung, um
ein Stück Wäſche über die Leine zu werfen. Und
dann, lieber van Aſten, Sie ſpielen auf meine Her¬
kunft an. Ich bitte Sie, um Gottes Willen, nur
davon nichts, daß ich von Adel bin. Ueber dieſe
Unterſcheidungen ſind wir doch hinaus. Sie wiſſen,
daß ich meinen Namen ohne Thränen einem Bürger¬
lichen hingeopfert habe. Laſſen wir die Todten ruhen!
Ja, ich will gern meine Schwäche bekennen, es iſt
[29] mir manches Mal recht angenehm, ja es ſchmeichelt
mir, wenn ich mich als den Mittelpunkt dieſer heitern,
von Geiſt und Witz funkelnden Kreiſe betrachte. Aber,
— ſie hielt einen Augenblick inne — aber, wenn ſie
gegangen, die Lichter ausgelöſcht ſind, überfällt mich
doch wieder, ich weiß nicht was, ein inneres Gähnen,
eine Hohlheit.“


„Verlangen Sie von einem Spiel ein Re¬
ſultat?“


„Aber von all dem ſchwirrenden Geſchwätz, von
den Händedrücken, den zärtlichen Betheuerungen, was
bleibt denn andres als — eine Lüge! Ich weiß recht
gut, daß einige von den jungen Leuten, die am Tiſch
die Mäßigen geſpielt, noch ins Weinhaus eilen, um
ſich zu reſtauriren. Es thun es auch noch andere,
Johannes Müller, Herr Dedel, auch vom Prinzen
weiß ich es. In ihren Sympoſien machen ſie ſich
herzlich über uns luſtig. Und ich verdenke es ihnen
nicht. Gährt und lacht es doch auch in mir, und
wenn meiner Natur die erhitzenden Getränke nicht
entgegen wären, könnte ich mit ihnen Vergeſſenheit
trinken wollen. — Sie ſehen mich verwundert an.
Nein, nein, ich verſichere Sie, ich empfinde das ganze
Unbehagen, von dem man mir erzählt, daß es die
Schweiger nach ihrem Rauſche fühlen.“


Van Aſten ſah ſie betroffen an. „Warum ſtür¬
zen Sie ſich denn in die Lüge, wenn Sie ihre Wir¬
kungen kennen?“ Er verſchluckte es.


„Und wenn die Leute ſich auch wirklich amüſirt
[30] haben, fuhr ſie nach einer Pauſe fort, wie ſie ver¬
ſichern, worüber war es! Die in der Ecke am lu¬
ſtigſten ſchienen, lachten vielleicht über mich, über
mein Beſtreben, ihnen einen angenehmen Abend zu
bereiten. Vielleicht über den Geheimrath, unſre Be¬
wirthung, Einrichtung, Gott weiß worüber. Alle
ſind meine Feinde, Neider, und ich mußte doch beim
Abſchied die Hand ihnen drücken, und ſie verſichern,
wie unendlich ich mich gefreut, ſie bei mir zu ſehen,
warum ſie ſo ſchnell forteilten. Darum Embraſſe¬
ments, nachgewinkte Küſſe, Betheuerungen, daß ſie
ſeit lange keinen ſo vergnügten Abend verlebt. Und
wenn ſie auf der Straße ſind, kaum in den Wagen
geſtiegen, gähnen ſie, wie ich gähne: Gott ſei Dank,
daß der langweilige Abend vorüber iſt.“


Welcher Dämon war plötzlich in die ſeltſame
Frau gefahren! Mit der Gefallſucht, über die er
nicht Richter ſein wollte, hatte ſie begonnen, und
aus ihrem Innerſten quoll heraus, was ſie ihm nicht
ſagen wollen. War er der Magnet, der ihre verbor¬
genen Gedanken und Qualen wider ihren Willen ent¬
lockte, oder welche unſichtbare Macht zwang ſie, noch
eben in der geſchmückten Lüge ſich ſchaukelnd, den
häßlichſten Grund der Wahrheit herauszukehren! Es
war eine Wahrheit der Empfindung; dieſer verknif¬
fene Zug um den Mund, dieſer böslächelnde Blick
konnten nicht heucheln.


„Es iſt das Myſterium der Natur, ſagte er, daß
oft, wo wir ſie nicht ſäen, wir Liebe erndten.“


[31]

„Und doch ſind Liebe, Freundſchaft, Entzücken
und Begeiſterung nur Masken für den Egoismus.
Mit ihnen will jeder ſo viel für ſich herauspreſſen,
als er kann. So lange es ihm gelingt ein Ver¬
gnügen ſich zu verſchaffen, ſo lange dauert die Freund¬
ſchaft, die Liebe, der Fanatismus, die er auch grade
ſo lange für echt und wahr hält, als der Reiz dauert.
Iſt der hin, das Thema erſchöpft, wird uns die liebſte
Freundin, der beſte Freund gleichgültig, Anſtands
halber führen wir noch eine Weile die Täuſchung
fort, bis wir die Puppen fallen laſſen, herzlich froh,
wenn ein Zufall uns trennt.“


Damit war das Geſpräch zu Ende. Statt eines
eitlen geiſtvollen Weibes ſtand neben ihm eine Salz¬
ſäule. Es war eine Verwandlung, zu der ſie ſo
wenig gethan als Lots Frau zu der ihren; nur ein
Naturprozeß. Es wehte ihn kühl an; er hatte nichts
mehr mit ihr zu reden, und doch forderte die Con¬
vention, daß er nicht ſchweigend ging: „Wenigſtens,
äußerte er, werde die Tochter des Kriegsraths Alltag,
davon ſei er überzeugt, nie vergeſſen, was ſie der
Geheimräthin Lupinus verdankt.“


„Meinen Sie!“ Die Salzſäule ſah ihn mit
einem ihrer eigenthümlichen Blicke an, und ihre Mund¬
winkel verzogen ſich zu einem ſpöttiſchen Lächeln.
„Grade ſo lange wird ſie mich als die Schöpferin
ihres Glückes enthuſiaſtiſch lieben, als ſie ſich in
meinem Hauſe amüſirt und vergöttert wird. Viel¬
leicht auch nicht einmal ſo lange. Nur bis ſie auf
[32] eigenen Füßen ſteht, und von mir nichts mehr pro¬
fitiren kann.“


Er verbeugte ſich: „Frau Geheimräthin haben
ſonſt mir nichts zu befehlen?“


„Adieu — doch! Warten Sie. Ich hatte ja
einen Auftrag für Sie. Richtig. — Springen Sie
doch im Vorübergehen bei Alltags an. Die Kriegs¬
raths werden ſich vielleicht wundern, wenn ſie von
der Geſellſchaft heut Abend hören und nicht einge¬
laden ſind. Aber das geht doch nicht immer. Sie
paſſen ja nicht.“


„Ihre Eltern —“


„Eben darum; nur Adelheid zu Liebe! — Wenn
ſie ſehen, daß das Mädchen ſolche gewöhnliche El¬
tern hat!“


„Der Vater iſt doch ein geachteter Mann —“


„Wer redet von den Aeußerlichkeiten. Sie paſſen
nicht zu der gebildeten Geſellſchaft. Wenn auch etwa
Schadow und Hirt mit ſolchen Kern und Natur¬
menſchen ſich zu unterhalten einen Spaß finden, ſo
ſind doch andere, die daran keinen Spaß finden. Die
Ruſſiſche Fürſtin hat zugeſagt, und ich — Sie ſehen
mich in einer kleinen Aufregung und Spannung —
ich hoffe auch Jean Paul wird kommen.“


„Jean Paul Friedrich Richter!“


„Ich hoffe wenigſtens. Man reißt ſich ſo um
ihn, daß man es wirklich einen glücklichen Augen¬
blick nennen kann, wo man ihn frei trifft. — Indeſſen
— wie geſagt alſo, gehn Sie zu den Eltern, und
[33] Sie werden ſchon die beſte Art finden, es ihnen be¬
greiflich zu machen. Es hätte ſich erſt heute ſo
zufällig gemacht —“


„Es wird ſchwer ſein, die Art zu finden, die
nicht beleidigt.“


„So ſagen Sie, — nein ſagen Sie, was Sie
wollen, es iſt mir im Grunde ganz gleichgültig. Was
gehören Alltags zu Jean Paul!“


Van Aſten verneigte ſich wieder, aber an der Thür
rief ihn die Geheimräthin wieder zurück: „A propos,
ich habe doch ganz vergeſſen, was ich Ihnen ſagen
wollte. Mein Compliment dem Lehrer, ſie lernt un¬
begreiflich ſchnell, aber Sie müſſen ihr etwas mehr
äſthetiſchen Elan geben.“


Van Aſten ſah ſie erſtaunt an: „Ich finde in
ihr ein Verſtändniß der Dichter —“


„Ja, ja, das iſt ſchon recht — das iſt es aber
nicht —“


„Ihr Gedächtniß für alle wahrhaft ſchönen
Stellen —“


„Iſt bewunderungswürdig. Das Fiſcherlied
von Goethe hörte ſie nur ein Mal von Ihnen,
und am Abend recitirte ſie es mir vorm Zubette¬
gehen. Admirabel! Das iſt alles recht ſchön, auch
kann ſie die Glocke beinahe auswendig. Schiller
war enchantirt davon. Ich hatte es nämlich ſo ein¬
zurichten gewußt, daß er ſich mit der Berg an der
Thür im Nebenzimmer unterhielt, als ſie, von den
jungen Mädchen wie zufällig aufgefordert, einige
II. 3[34] Partieen draus declamirte. Aber Sie hätten ihr
Geſicht ſehen ſollen, als Schiller plötzlich in die
Hände klatſchte. Glauben Sie, daß, wenn ich ſie
vorher ihm vorgeſtellt, ſie nur den Mund aufgethan
hätte! Mit Schiller paſſirte das noch, aber wie be¬
nahm ſie ſich gegen Jean Paul! Da von der Ge¬
ſellſchaft unter den Linden will ich nichts ſagen. Es
war ja ein Gedränge um ihn, beinahe ein Scandal.“


Walter lächelte. Der böſe Leumund erzählte
von zwei Freundinnen, die in derſelben Abſicht nach
dem Seſſel eilten, von dem der Dichter eben aufgeſtanden.
Der Natur der Dinge nach konnte nur eine die glückliche
ſein und ſitzen, wo der Dichter geſeſſen. Man behaup¬
tete, daß beide ſeitdem nicht mehr Freundinnen wären.


Die Geheimräthin las aus Walters Lächeln den
Sinn: „So ſeid Ihr alle, und keiner beſſer als der
andre. Die Huldigungen edler Frauen für eine
Größe, wenn ſie Euch ſelbſt nicht gelten, ſind nur
gut für Euren Spott. Nicht wahr, das charmante
Triolett, was durch die Stadt läuft, iſt von einem
Ihrer Freunde, von dem Herrn Tieck oder Bernhardy,
oder einem der Herren Schlegel?“


„Unſre Freunde, ſagte er, erkennen das echte
Feuer, das aus dieſem Genius in ſo wunderbaren
Flammenwirbeln der Phantaſie und des Humors
gen Himmel praſſelt, wenngleich der krauſe irdiſche
Troß, den es mitnimmt, vielen das Verſtändniß ſei¬
ner Seelenaccorde erſchwert.“


„Wir nun bemerken nicht dieſen Troß und ſind
[35] darin glücklicher als die Herren der Schöpfung, denen
ſo oft der Sinn über die verletzte Form verloren
geht. — Das aber iſt es, ja ja, Herr van Aſten, Sie
wollen Ihrer Schülerin einen zu claſſiſchen Sinn
einimpfen. Sie dämpfen Ihre Entzückungen — aber
was ich ſagen wollte, — ich habe ihn nachher mit
Adelheid beſucht —“


„Jean Paul?“


„Ja wir ſahn ihn im Heiligthum ſeiner Häus¬
lichkeit. Es war doch etwas ganz anderes als bei
der albernen Ihlendorf unter den Linden. Mein
Gott, wie wird dieſe unglückliche Frau von dem einen
glücklichen Hang wieder aufgebläht werden! Ihr ſil¬
berner Theekeſſel ſoll manchen Abend ganz umſonſt
rauchen, und die arme Baronin in fieberhafter Angſt
auf jeden Klingelzug hören! Und nun war Jean Paul
einmal bei ihr, ihre Säle vollgeſtopft und ganz
Berlin ſpricht davon! — Aber, ich ſage Ihnen, unter
ſeinen Penaten muß man einen großen Mann ſehen.“


„Sie waren in ſeiner Wohnung — und mit
Adelheid?“


„Die Ruſſiſche Fürſtin war eben fortgefahren.
Wir trafen nur noch vier Damen, die ihm einen
Teppich gebracht, denn der Fußboden iſt ſehr kalt,
weil er über einem Stall wohnt. Sie ließen es ſich
nicht nehmen ihn ſelbſt anzunageln, und während dem
hatten wir die ſchönſten Minuten. Ach wie ganz
anders iſt Jean Paul als Schiller! Jeden Moment,
jedes Blitzen eines Sonnenſtrahls, weiß er zu benutzen,
3*[36] es ſprüht immer etwas Sinnvolles, Angenehmes. Wenn
eine der Damen ſich auf die Finger klopfte, beneide¬
ten die Genien ſie um den Schmerz, den eine edle
Seele bei einem Liebeswerk empfindet.“


„Und die Damen erwiderten die Galanterieen?“


„Es ſcheint wirklich ein Pfingſtgeiſt in unſre Lands¬
männinnen gefahren. Denken Sie, ſelbſt die Eitel¬
bach, wie berauſcht von ſeiner Nähe, ward witzig.
Sie ſprach etwas, was im Hesperus ſtehen könnte.“


„Oder vielleicht ſchon darin ſteht.“


„Gleich viel, es iſt eine Magie, die Alle in
ſeiner Gegenwart über ſich ſelbſt erhebt. Ich ließ
ihm durch Adelheid ein Bouquet überreichen.“


„Gewiß mit Worten, die im Titan ihren Ehren¬
platz fänden.“


„Es war, meine ich, keine üble Phraſe, eine Phan¬
taſie, die mir am Morgen eingefallen war. Sie hatte
ſie auch ganz gut auswendig gelernt, eine Art Streck¬
vers — Sie trug einen Kornblumenkranz im Haar.“


„Kornblumen! —“


„Natürlich künſtliche. Die Kornblumenzeit iſt
ja vorüber. Sie ſollte mir recht natürlich kind¬
lich ausſehen. Aber ſie ſprach ſo hölzern, ich
möchte ſagen gedehnt. Mir ward ſchon ängſtlich zu
Muthe, und ſie war kaum in der Mitte, als die
Eitelbach den Schrei ausſtieß. Sie nämlich war es,
die ſich mit dem Hammer auf den Finger geklopft
hatte. Da ſprang Jean Paul vom Sopha und
küßte ihr das Blut vom Finger.“


[37]

„Was eine unangenehme Unterbrechung gab.“


„Stellen Sie ſich vor, Adelheid war nun ſo
in Confuſion, oder was war es, ſie hatte den Streck¬
vers vergeſſen, überreichte ihm, wie ein Bauermäd¬
chen, den Strauß und ſagte: Die Blumen bleiben ja,
was ſie ſind, auch ohne Worte.“


„Der Dichter wird durch ein Impromptu die
Verlegenheit ausgeglichen haben.“


„Das iſt es eben, er ſprach ſo wunderſchön, in
lauter gewählten, ich möchte ſagen ſelbſt in Streck¬
verſen; aber ſie antwortete ihm als wäre er ein
Mann wie andere, ganz offen, naiv, dreiſt. Es ſchnitt
mir durch die Seele. Das Mädchen empfand ſo gar
nichts von der Veneration. Jeder giebt ſich doch
Mühe, ſo viel er wenigſtens kann, ſie an den Tag
zu legen.“


„Jean Paul wird ihr verziehen haben.“


„Ich aber nicht, fiel die Geheimräthin ſcharf ihn
anblickend, ein. Was ſoll er von mir denken, wenn
nicht einmal meine Umgebung das Intereſſe an den
Tag zu legen weiß, das er bei den unbedeutendſten
Frauen erregt. Unbedeutend iſt Adelheid nicht, es
muß alſo doch etwas an ihren Lehrern liegen —“


„Oder an ihrem Character.“


„Den ich in dieſem einen Punkte zu biegen mir
erlauben werde, mein Herr van Aſten. Uebrigens
wird ſie Gelegenheit haben, ihn in dieſem Augenblick
zu zeigen. Da ich heut Morgen durch Doctor Selle er¬
fuhr, daß die Geſellſchaft der Kurland ausfällt — ſie iſt
[38] an den Hof geladen — alſo Jean Paul frei iſt, ſchickte
ich Adelheid zu ihm, ihn zu invitiren.“


„Das junge Mädchen —“


„Mit dem Bedienten.“


„Aber — er logirt — was man gewöhnlich eine
Kneipe nennt.“


„Ich weiß es, unten iſt eine Bierſtube, auf dem Hofe
eine Hufſchmiede. Iſt er darum weniger der Dichter?“


„Und in der frühen Stunde. In Pantoffeln
und Schlafrock, die Pfeife im Munde —“


„Empfängt er Fürſtinnen, denen die Stunde
und das Coſtüm nicht unanſtändig erſcheint, wenn
es gilt, dem Genius die Huldigungen darzubringen,
würdig des Mannes, welcher ſo die wahre Frauen¬
würde erkannt hat. Adelheid wird davon nicht ſter¬
ben, beruhigen Sie ſich, wenn ſie ſich einmal ſelbſt
überwindet. Wir müſſen uns alle überwinden, das —
iſt die Aufgabe unſeres Lebens. Morgen aber kommen
Sie etwas ſpäter zur Lection, Herr van Aſten. Wir
müſſen ausſchlafen.“


Als er die Thüre öffnen wollte, trat Adelheid ein.


„Kommt er?“ rief die Geheimräthin.


„Er kommt.“ Sie flog der Geheimräthin an
den Hals, die ihre Locken ſtreichelte und ihre Stirn küßte.


„Ich wußte es, einem ſo ſchönen Mädchen konnte
er nichts abſchlagen.“


„Ach hätten Sie ihn geſehen, wie ich ihn ſah,
liebe — Mutter — das Wort kam etwas zögernd über
die Lippen. Mit welchem Herzklopfen ich die kleine,
[39] ſteile Treppe hinaufſtieg, aber es war heut alles ganz
anders. Wie er mir ſchon entgegentrat! Er iſt ein
herrlicher Mann! — Ach Herr van Aſten, bald hätte
ich Sie überſehen! O gehn Sie noch nicht fort, blei¬
ben Sie, Sie müſſen es auch hören —“


Sie reichte ihm die Hand: „Ja, wie man ſich
in dem Menſchen täuſchen kann. Neulich kamen mir
alle ſeine Reden ſo künſtlich vor, und daß er das
zuließ von den Damen. Mir fiel einer von den
Götzen ein, von denen Sie mir aus Indien erzählt,
die ſich umherrollen laſſen, und ihre Sclaven liegen
auf der Erde. Verzeihen Sie mir, Mama, ich konnte
mich kaum zurückhalten aufzulachen, er kam mir ſo
unmännlich, albern vor, wie er auf dem Sopha ruhig
die Huldigungen hinnahm, und nichts dafür gab, als
blumigte Reden. Aber heut trat er mir mit einem
friſchen, kräftigen „Herein!“ entgegen, ſchon ange¬
kleidet. Er faßte meine Hand, als ich Ihre Bitte
kurz ausſprach, aber nicht ſo ſüß wie neulich, es war
wie ein Mann dem andern die Hand ſchüttelt. Er
hörte mich freundlich an, und ſprach dann: „„Sagen
Sie Ihrer Pflegemutter, ich nehme ihre Einladung
mit Dank an und werde kommen, ich danke Ihnen
aber, mein liebes Kind —““ doch das thut nichts
zur Sache —“


Raſch abbrechend küßte ſie noch einmal die Mutter,
ſchüttelte van Aſten zutraulich die Hand: „Freuen
Sie ſich, er kommt!“ und legte Umſchlagetuch und
Hut fort.


[40]

Aber die Geheimräthin wollte mehr, ſie wollte
alles wiſſen, was Adelheid nicht wieder ſagen wollte.
Vor einem Genius verſtummen alle Rückſichten.


„Er fuhr mit der Hand über meine Stirn. Dabei
ſah er mich ungemein freundlich an. Sie ſind ein
wahrhaftes deutſches Mädchen! Das kann ich wohl
wiederſagen ohne zu erröthen, aber was er nachher
ſprach, wie er ſich ein deutſches Mädchen, und wie
er ſein großes Vaterland ſich denke und es liebe, ach
da müßte ich ja ſelbſt eine Dichterin ſein. Ich dachte
an Sie, Herr van Aſten, wiſſen Sie noch, als Sie
bei der Geſchichte der alten Kaiſer aus Schwaben
in Feuer geriethen, es war wie ein großes Bild,
das Sie in die Luft malten, und ich ſah alles leuch¬
ten wie Flammen und Abendroth, wenn Sie mit
Ihrem Finger Kreiſe durch die Luft zogen: Da be¬
ginnt die deutſche Glorie auf dem Berge Hohen¬
ſtaufen, dann fuhren Sie mit dem Finger im Zickzack
durch ganz Deutſchland, jetzt nach Italien, nach Aſien,
ich ſah deutlich den reißenden Fluß mit den ſchönen
Bäumen, in dem der Kaiſer Barbaroſſa ertrank, dann
fuhren Sie hinüber nach Sicilien, Sie zeigten das
Blutgerüſt, auf dem der edle Konradin verblutete,
und endlich wieſen Sie nach dem Berge in Thüringen,
und ſchloſſen: Das war Deutſchland und da ruht
ſeine Zukunft! Ich werde es nie vergeſſen. Und was
Jean Paul ſprach von der Auferſtehung der freien,
großen Nation, der wir freudig entgegen leben ſollten,
uns vorbereitend in Tugend und Sitte und reinem
[41] Naturſinn, da ſtand mir Ihr Bild wieder klar vor
der Seele.“


„Daß es Ihnen nie untergehe, ſprach raſch der
junge Mann. Ich irrte mich nicht in ihm. Leben
Sie wohl!“


„Auf Wiederſehen, heute Abend. Ich ſelbſt will
Sie ihm vorſtellen.“


Der Lehrer ſprach einige undeutliche Worte. Die
Geheimräthin ſtotterte: „Herr van Aſten ſei wohl heute
behindert, da er von ihrem Manne ſo lange aufge¬
halten worden.“


„Mama, haben Sie ihn nicht eingeladen?“
fragte Adelheid verwundert als ſich die Thüre ſchloß.


„In die Geſellſchaft paßt er doch nicht.“


„Mein Lehrer, den Sie ſelbſt ſo ſchätzen?“


„Es iſt nicht deswillen. Aber er iſt zu unan¬
ſehnlich.“


„Unanſehnlich!“


„Jean Paul freut ſich an ſchönen Geſichtszügen.
Van Aſten iſt doch eigentlich häßlich.“


„Häßlich!“ rief Adelheid mit Zaudern und ſchien
ſich zu beſinnen. Das iſt mir nie eingefallen, daß
van Aſten häßlich ſei. Daran habe ich überhaupt nie
gedacht.“


„Was auch recht gut iſt, liebes Kind, entgegnete
lächelnd die Geheimräthin. Und überdem iſt er nichts
in der Geſellſchaft.“

[[42]]

Drittes Kapitel.
Man muß gelten wollen.

Die Vorbereitungen zu dieſer Geſellſchaft ſchienen
uns vorhin doch ſchon fertig; es mußte indeß nicht
ſo ſein, wenn wir gegen Mittag eine Scene im
Speiſeſaal der Geheimräthin belauſchen.


In der Mitte am Tiſche ſtand Adelheid vor
einem Salatnapf und neben ihr, mit prüfendem Blicke
jede ihrer Bewegungen beobachtend, die Geheimräthin.
Um Adelheids Augen war eine Binde geknüpft. Sie
übte ſich, den Salat zu miſchen, die Eier zu zer¬
drücken, Oel und Eſſig aufzugießen, ohne dieſe In¬
gredienzien zu ſehen. Aber die Geheimräthin hatte
Flaſchen und Eierteller an einen beſtimmten Ort ge¬
ſtellt und wenn Adelheids Arm irrte, gab ſie durch
leiſe Töne ihr ein Zeichen. Einige Schüſſeln zur
Seite geſetzt, deuteten darauf, daß dies Experiment
ſchon mehrmals verſucht war. Jetzt ſchien es zu
gelingen. Der Salat kräuſelte ſich im Napf, doch
verriethen Adelheids Bewegungen noch immer eine
innere Aengſtlichkeit, und wer unter die Binde ſehen
[43] können, würde eine Thräne in ihrem Auge entdeckt
haben.


„Nur etwas ruhiger, ſagte die Wirthin, und
dann geht es vortrefflich.“


„Aber ich werde doch nicht mit der Binde zu
Tiſche gehen,“ entgegnete das junge Mädchen.


„Du wirſt aber, wenn Du den Salat machſt,
gen Himmel, das heißt an die Decke blicken. Es
wird ſich irgend eine Gelegenheit finden, Dich auf¬
zufordern ein Gedicht, am beſten eines von ihm her¬
zuſagen, Du geräthſt von der Schönheit hingeriſſen,
in Affect, und blickſt in die Wolken. Während Du
recitirſt, ſtellt der Bediente den Salatnapf vor Dich
und flüſtert Dir zu: Fräulein der Salat! Du läßt
Dich nicht ſtören und unterbrechen, greifſt aber un¬
willkührlich nach Löffel und Gabel, und ohne einen
Blick hinunter zu werfen, verrichteſt Du mechaniſch
die Arbeit.“


„Aber die Liane aus dem Titan iſt ja, wie Sie
mir geſtern vorlaſen, wirklich in dem Augenblick blind,
und der häßliche Miniſter, ihr Vater, zwingt ſie nur
zu der Komödie, damit die Geſellſchaft glauben ſoll,
ſeine Tochter könne noch ſehen. Herr Richter und
alle unſre Gäſte wiſſen aber, daß ich ſehen kann,
warum ſoll ich denn nun eine Fertigkeit zeigen, von
der jeder Menſch weiß, daß ſie eine außerordentliche
Abrichtung koſtet. Die Gäſte werden wahrſcheinlich
den Titan geleſen haben.“


Adelheid hatte die Binde abgeriſſen.


[44]

„Das ſetze ich ſogar voraus, ſagte lächelnd die Lupi¬
nus. Sie werden ſogleich wiſſen, was es bedeutet. Ach
eine Liane! wird es von Mund zu Munde gehn.
Du liebſt ja nicht die groben Complimente, dies,
hoffe ich, ſoll eines der feinſten ſein, die ihm in Berlin
begegnet.“


Adelheid kam das Ganze mehr wie eine Belei¬
digung als wie ein Compliment vor gegen den gro¬
ßen Mann.


„Du kennſt nicht die Welt und noch nicht die
großen Männer, ſeufzte die Geheimräthin. Grade
wer überſättigt iſt von Lob und Bewunderung, iſt
am empfänglichſten für die kleinen Aufmerkſamkeiten.
Kann man Jean Paul noch mehr mit Huldigungen
überſchütten, als es die Damenwelt hier gethan! Der
Hausknecht ſchimpft ſchon, wo er wohnt, über die
vielen verwelkten Blumen, die er täglich in die Müll¬
grube kehren muß, und glaubſt Du, daß wir ihm
eine Freude machten, wenn wir ihn wieder mit einem
Blumenregen überſchütteten! Er würde das hinneh¬
men als etwas, was ſein muß, und denken, wenn
Ihr nichts weiter könnt! Aber eine ſolche verſteckte
Anſpielung muß ihm ſchmeicheln, eben weil er recht
gut weiß, welche große Vorbereitungen es gekoſtet hat.“


„Und warum muß ihm denn geſchmeichelt
werden?“


„Weil er ein Menſch iſt wie andere.“


„Und warum muß man überhaupt ſchmeicheln?“


„Weil wir leben wollen.“
[45] Adelheid ſah ſie groß an. Sie ſchien ſagen zu
wollen, ich ſchmeichle Niemand und lebe doch.


„Weil Du jung und hübſch biſt, antwortete die
Geheimräthin auf den unausgeſprochenen Gedanken,
darum iſt man gegen Dich aufmerkſam. Wenn Du
nicht mehr jung und hübſch biſt, wirſt Du Dich
ſchminken müſſen. Es giebt mancherlei Schminke.
Je älter man wird, mein liebes Kind, um ſo mehr
Arbeit hat der Menſch, denn um ſo mehr muß man
die Schwächen der andern ſtudiren, um vor ihnen zu
gelten.“


„Warum muß man denn gelten wollen!“ Es
entfuhr ihren Lippen; ſie wußte ſich kaum den Sinn
der Worte zu ſagen, und hätte ſie gern wieder ver¬
ſchluckt, als die Pflegemutter ſie anſchielte.


„Ja warum lebt man! Der Philoſoph fehlt
noch, der uns die Frage beantwortet.“


Es entſtand eine Pauſe. Die Salatnäpfe wur¬
den vom Dienſtmädchen fortgeſchafft, die Geheimräthin
brachte die Tafel wieder in Ordnung, putzte die
Möbel und richtete oder vertauſchte die Kupferſtiche
an der Wand. Adelheid war emſig über eine weib¬
liche Arbeit gebeugt, es ſchien um ihr Geſicht zu
verbergen. Vielleicht hatte der ſcharfe Ton der
Pflegemutter ſie verwundet. Es klang davon noch
etwas in der kurzen Frage wieder:


„Kam das auch von Deinem Lehrer?“


„Was, Mama?“


„Daß man nicht ſoll gelten wollen! Herr van
[46] Aſten iſt ein Philoſoph, der ſich die Welt conſtruirt,
wie ein Dichter ſie anſieht. Nicht wahr, hat er Dir
nicht geſagt, jeder Menſch ſoll gar nicht ſcheinen wol¬
len, ſondern nur ſein was er iſt? Das klingt hübſch,
aber die Menſchen ſähen ſehr häßlich aus, wenn ſie
nichts thäten, um ſich zu verſchönern. Davon,
mein Kind, macht keiner eine Ausnahme.“


„Er ſelbſt will gewiß nicht mehr ſcheinen als
er iſt — “


„Sprich es nur aus, was Du verſchluckſt, Du
meinſt, er wäre ſogar noch beſſer als er ſcheinen will.
Nicht wahr, denkſt Du es nicht bisweilen, wenn er
in einer begeiſterten Rede plötzlich inne hält, als
wolle er etwas nicht ſagen aus Beſcheidenheit, wenn
er die Augen abwendet, raſch auf ein anderes Thema
übergeht! — Und wenn er nun damit nichts wollte,
als daß Du glauben ſollteſt, er wäre und wiſſe noch
weit mehr, als Du denkſt?“


Adelheid ſah ſie groß an: „Dann wäre er ja
ein abſcheulicher Menſch!“


„Nicht ſchlimmer als andere. Ja er thäte ge¬
wiſſermaaßen nur ſeine Pflicht. Ein Arzt, ein Pre¬
diger und Lehrer, wenn ſie wirken ſollen, müſſen
einen Glauben an ihre Vortrefflichkeit um ſich ver¬
breiten, damit ihre Patienten und Schüler an ſie
glauben.“


„Er brauchte es gewiß nicht,“ ſagte Adelheid.


„Da haſt Du gewiſſermaßen wieder Recht. Er
war ein guter Lateiner, wie mein Mann ſagt, er hätte
[47] nur einen gewiſſen Claſſiker zu ediren brauchen, und
eine Anſtellung und Anerkennung hätte ihm nicht
gefehlt. Aber man ſagt, das gilt jetzt nicht mehr
viel. Da wandte er ſich den jüngern Geiſtern zu,
die aus der Natur, veralteten Poeten und der Myſtik,
Gott weiß, welche Schätze zu graben vermeinten.
Abgeſtandene Aufklärung nannten dieſe jungen Genies
die Werke, durch welche jene Männer, die vor ihnen
berühmt waren, ihren Ruhm gewonnen. Auf dem
Wege war kein Platz mehr für ſie zur Geltung zu
kommen. Van Aſten wollte auch Dichter ſein.“


„Das hat er wieder aufgegeben, liebe Mutter.
Er ſagte mir, wer fühlt, daß ſeine Begabung für
die Poeſie nicht ausreicht, ſoll davon bei Zeiten ab¬
ſtehen.“


„Sehr vernünftig. Von der ganzen jungen
Schule hat noch kein einziger eine Anſtellung erhal¬
ten. Herr Iffland will auch ihre Theaterſtücke nicht
zur Aufführung bringen. Es hat einen glänzenden
Schein, mein Kind, aber es gilt nicht. Darum hat
Dein Herr van Aſten ſich auch wieder auf anderes
geworfen. Er will ein ſelbſtſtändiger Mann, ein
Character ſein. Er hat ſich von ſeinem Vater ge¬
trennt, der ein angeſehener reicher Mann iſt, und
will ſich ſelbſt ſein Fortkommen verſchaffen. Wenn
es ihm gelingt, hat er recht. Das iſt die Aufgabe
des Genius, aus ſich heraus ſeine Welt ſich zu er¬
ſchaffen. Sein Anfang iſt recht hübſch. Er tritt
nicht auf wie ein junger Candidat, der mit gekrümm¬
[48] tem Rücken um die Erlaubniß bittet, ein Wort mit¬
ſprechen zu dürfen, ſondern er geht aufrecht, und
ſpricht wenig, kurz, aber entſchieden. Das frappirt
auch Vornehmere, und man fragt, wer er iſt? Ich
will ihm nur wünſchen, daß es ausreicht. Aber ich
fürchte, es wird nicht ausreichen. Gute Privatſtun¬
den geben, und dann und wann eine gute Abhand¬
lung in den Journalen drucken laſſen, damit erlangt
ein junger Mann keine Bedeutung. Er thäte noch
immer am geſcheiteſten, wenn er zu ſeinem Vater ins
Comtoir zurückkehrte. Wenn man einmal der Erbe
von van Aſten und Compagnie wird, kann man ſich
ſchon bequemen ein paar Jahre am Ladentiſch zu ſtehen.“


„Walter!“


„Dann würde er Dir wohl weniger gelten?“


„Das nicht, aber —“


„Vor den Leuten würde er an Geltung verlieren.
Ach mein Kind, es ſteht keiner ſo hoch, daß er nicht
Alles verliert, wenn er vor den Leuten nicht mehr
gilt; Kaufleute und Könige, Gelehrte und junge
Mädchen. Warſt Du etwa eine andre, als Du in
dem ſchlechten Hauſe betroffen wardſt? Benahmſt
Du Dich wie die Mädchen dort, trugſt Du Kleider
wie ſie, blickteſt Du frech die Männer an? Nichts
von alledem, Du warſt die tugendhafte ſittſame Adel¬
heid, die Du vorher warſt und jetzt biſt, aber Du
galteſt vor den Leuten für ein Mädchen wie die
andern, und aller Deiner trefflichen Eigenſchaften
ungeachtet, wärſt Du auf ewig verloren geweſen —“


[49]

„Wenn Sie nicht meiner ſich erbarmt hätten.“


Man thäte der Geheimräthin Unrecht, wenn man
glaubte, daß ſie mit dem langen Eingang nur eine
neue Dankopferung bezweckt habe. Im Gegentheil, ſie
liebte nicht Affectſcenen, wo das Herz auf dem Prä¬
ſentirbrett liegt.


„Ich habe nichts für Dich gethan damals, ſprach
ſie mit einer Ruhe, welche die Aufwallung entſchie¬
den zurückwies. Du wurdeſt nur dadurch gerettet,
weil der Zufall Dich in mein Haus führte. Das
Deiner Eltern iſt gewiß ein ſehr ehrbares, aber Dein
Vater und Deine Mutter haben wenig Umgang mit
der Geſellſchaft. Wenn ſie Dich auch noch ſo behütet
und eingeſchloſſen, Du hätteſt doch einen Flecken be¬
halten. Die Dich gekannt, wußten freilich, was Du
warſt, die andern aber hätten gedacht: ſchade um das
arme Mädchen, ſie lebt nun ſo zurückgezogen, führt
ſich ſo ſittſam auf, und thut alles was ſie kann den
Verſtoß wieder gut zu machen, ſie iſt auch vielleicht
ohne eigne Schuld, aber ſie war doch ein Mal in
dem Hauſe, und das vergißt man nicht.“


„Aber, Mama, warum nennen Sie es Zufall?
Es war Ihr edles Herz, Ihre Großmuth, die mich
aufnahm.“


„Es war der ausgezeichnete Mann, den der
Zufall Dich finden ließ. Mit bewunderungswürdigem
Scharfſinn erkannte er im Augenblick die ganze Lage.
Hier iſt nichts zu vertuſchen und durch Flicken nichts
zu retten, ſagte er. Was verloren iſt, muß man ver¬
II. 4[50] loren geben, und dafür Neues erobern. Sie muß
aus ihrer Sphäre entrückt, in eine andere höhere
verſetzt werden. Das muß mit einem gewiſſen Eclat
geſchehen, der die Klatſchcirkel verblüfft, durch einen
leuchtenden Akt der Anerkennung muß man ihnen auf
den Mund ſchlagen, daß ſie an ihrem Urtheil irre
werden. Und das iſt nicht ſchwer, denn die Menge
murrt zwar über die Vornehmen, richtet ihr Urtheil
aber immer inſtinctartig nach dem ein, was dort gilt.
Iſt das ſchöne junge Mädchen in den Kreiſen, ich
ſage nicht retablirt, ſondern mit vollen Ehren aufge¬
nommen, wird ſie gehätſchelt, ſo ſinkt das Urtheil der
Menge über ſie von ſelbſt zuſammen, und am Ende
ſchämt ſich jeder, der über ſie geurtheilt und leugnet
es ab, denn er will doch nicht dümmer erſcheinen als
die vornehmen Leute. So argumentirte der Lagations¬
rath, und ich gab mich gefangen, und Deine Eltern
endlich auch. Und hatte der Treffliche nicht Recht?
Iſt nun nicht Alles gut? Man reißt ſich um Dich.
Biſt Du eine andere geworden als damals in der
kleinen Wohnung am Gensd'armenmarkt? Habe ich
Dich beſſer gemacht, erzogen? Ich bin weit von der
Eitelkeit entfernt, mir das anzumaßen; ich weiß ſo¬
gar, daß Du ein Character biſt, der ſich eigentlich
nicht erziehen läßt, der ſich aus ſich ſelbſt heraus¬
bildet. Was Du nach meinem Willen thuſt, geſchieht
nur aus Dankbarkeit, und Du behältſt doch Deinen
Willen. Aber vor der Welt biſt Du eine andre, Du
giltſt, ich ſage nicht für tugendhaft, davon iſt nicht
[51] mehr die Rede, aber vielleicht für mehr als Du jetzt
ſchon biſt, Du biſt ein enfant gaté der Modewelt,
alles, weil Du in einem Hauſe lebſt, was Geltung
hat. Ja, mein liebes Kind, wer unter den Menſchen
leben will, muß vor ihnen gelten wollen.“


Die Geheimräthin wühlte mit einem kalten Eiſen
in einem warmen Herzen. Es war nicht das erſte
Mal, es geſchah auch nicht zufällig; ſie meinte auch,
nicht mit grauſamer Abſicht. Um feſt zu werden für
das Leben vor uns, muß man jeden Augenblick über
das hinter uns klar ſein, war ihr Argument.


Auch Adelheid wiederholte nur, was ſie ſchon
tauſendmal geſagt, von dem Schutzengel, den ſie ge¬
funden, dem neuen Leben, welches ſie in dieſem Hauſe
angefangen, wie ſie ſich ſelbſt jedesmal ſtrafe, wenn
ſie dem Willen ihrer Retterin entgegen handelte, wie
Alles hier zu ihrem Glücke ausſchlage.


„Und doch wünſchteſt Du dich ſchon fort!“


So eiskalt der durchdringende Blick der Lupinus
war, der auf ihr ruhte, eine ſo hohe Röthe übergoß
Adelheids Stirn und Wangen; ſie ſenkte die Augen:
ſie ſei vielleicht zu glücklich, darum wünſche ſie
manchmal, es wäre alles ein Traum.


„Das ſind idylliſche Stimmungen, die ich Dei¬
nen Jahren gönne, aber Dein Verſtand überflügelt
ſchon Deine Jahre. Dir mißbehagt manches, Du
fühlſt Dich nicht ganz zu Hauſe; ich verdenke es Dir
nicht, aber Du mußt klar mit Dir werden. Ich weiß
es ſehr wohl, liebes Kind, manche Beſucher, die Ge¬
4*[52] ſellſchaftsformen, mein Verhältniß zum Geheimrath,
auch das zu Deinen Eltern, die ich nicht als zu
meiner Familie gehörig betrachten kann, das verſtimmt
Dich. Auch ſtimmen unſere Sentiments nicht immer
zu einander. Das beklemmt Dich; ich verarge es
Dir nicht. Aber es iſt nun einmal ſo. Der Ka¬
narienvogel findet ſich in ſeinem glänzenden Käfigt
auch beklommen. Aber wenn man ihn hinaus ließe
erſtarrte er an der rauhen Luft. Du wirſt einmal
hinaus, wenn ſich eine gute Partie für Dich findet,
was in meiner Geſellſchaft ſich bald machen dürfte,
und dann biſt Du frei.“


„Nicht doch! nicht doch!“ Adelheid küßte mit
Heftigkeit die Hand der Lupinus.


„Du biſt unruhig. Hätteſt Du wieder beleidigende
Aeußerungen gehört?“


„Im Gegentheil, liebe Mutter, das iſt alles
überwunden, ſelbſt der ſchreckliche Gedanke, daß ich
in die Zeitungen kommen mußte, auch das iſt nun
vorüber. Als wir neulich durch die Nebel auf der
Wieſe fuhren, und die Sonne ging dann auf, und
ſie verdampften, bis alles, alles klar war, da fühlte
ich mich wie aufgelebt. Das Gras, die Büſche und
die Blumen ſind doch nicht Schuld daran, dachte ich,
daß der häßliche Nebel ſie belegt.“


Der Geheimräthin prüfender Blick war noch
derſelbe: „Und Dir iſt doch etwas! Du kamſt ſo
echauffirt zurück. Du kannſt Dich nicht verſtellen.
Iſt er Dir wieder begegnet?“
[53] Adelheid nickte nur mit dem Kopf.


„Wo?“


„Als ich in den Thorweg zu Herrn Richter ein¬
bog, glaubte ich ihn um die andre Ecke kommen zu
ſehen, ich hoffte, er hätte mich nicht bemerkt. Und
darum war es mir lieb, daß Herr Richter mich länger
aufhielt. Aber als ich heraustrat, und wirklich, ich
hatte ihn in dem Augenblick ganz vergeſſen über den
herrlichen Mann, da —“


„Unterſtand er ſich, Dich auf offener Straße
anzutreten!“


„Nein, eigentlich nicht. Er ſtand am Eckhauſe,
wo ich vorbei mußte, mit gekreuzten Armen, wie ein
Träumender.“


„Und als Du vorbei gingſt?“


„Mama, ich glaube beinahe, ich hüpfte vorbei,
ſo wohl war mir in dem Augenblick und ich ſah ihn
erſt, und er gewiß mich auch, als ich beinahe an
ihn ſtieß.“


„Und —“


„Ich weiß nicht, ſtieß ich einen Schrei aus,
aber es war gewiß nicht laut, ich fuhr zurück —“


„Und er?“


„Vielleicht ſagte er auch etwas. Das weiß ich
nicht mehr. Aber der Blick, den er auf mich warf,
verfolgte mich.“


„Ich freue mich, daß es nur ſein Blick war.“


„Nein, — er ging mir nach.“


„Unerhört! Ließeſt Du ihn nicht durch den Be¬
[54] dienten zurecht weiſen! Er iſt ja ein fürchterlicher
Menſch.“


„Den armen kranken Johann, der ſich nur ſo
hinſchleppt —“


„Du hätteſt den erſten beſten Polizeimann oder
Soldaten anrufen ſollen.“


„Nein, theuerſte Mutter, laſſen Sie mich lieber
nie mehr ausgehen, ohne Ihre Begleitung. Ich bitte
Sie recht dringend, inſtändigſt darum. Ich hätte
wohl den Muth, ihm Rede zu ſtehen, wie er verdient,
aber —“


„Drei Mal hatte er ja wohl die Unverſchämtheit,
ſich anmelden zu laſſen, ſeit er aus dem Arreſt iſt?“


„Das dritte Mal grade als Sie zum Polizei¬
präſidenten gefahren waren.“


„Da iſt auch keine Abhülfe, ſagte die Geheim¬
räthin kopfſchüttelnd. Der Präſident meinte die paar
Wochen, die man ihn wieder eingeſperrt, ſeien das
Aeußerſte, was man thun könne. Denn von der
Inſulte gegen Dich iſt nicht die Rede geweſen, nur
weil er maskirt auf der Straße erſchienen und mit
der Wache ſeinen Spott trieb! — Aber, mit uns
treibt er täglich ſeinen Spott, ſagte ich, er verfolgt
im Theater, auf der Straße meine Pflegetochter, er
dringt in mein Haus. Wer ſchützt uns? Der Herr
Präſident hatten keine Antwort, als, er bedaure, daß
wir keine Baſtille hätten, und keine lettres de cachet
für Perſonen, die uns unbequem ſind.“


Adelheid ſenkte die Augen: „Was that er uns
[55] auch eigentlich, was die Obrigkeit verbieten kann?
Andre fixiren mich auch im Theater. Er wollte in
unſer Haus, aber bei hellem Tage, er klingelte und
ließ ſich ordentlich melden. Er ſchrieb einen Brief an
mich, aber wir ſchickten ihn uneröffnet zurück. Wir
können dem Richter nicht ein Mal angeben, was er
will.“


„Sollen wir warten bis er eine Leiter anlegt,
oder nachts übers Dach einbricht?“


„Neulich, als ſie fortgefahren waren, hatte er
mich durch das Flurfenſter geſehen, und doch reſpec¬
tirte er die Unwahrheit, die der Bediente auf Ihren
Befehl ſagte: ich ſei nicht zu Hauſe. Johann hatte
die Thür ſchon geöffnet, er brauchte nur den Fuß
vorzuſetzen, ihn mit dem Ellenbogen zurückſtoßen und
wenn er ſeiner Tollheit nachgehen wollte, war er
Herr im Hauſe. Es mag in dem Augenblick auch ſo
etwas in ſeinen Sinnen umgegangen ſein. Die Arme
auf der Bruſt verkreuzt, ſtand er eine Weile auf dem
Flur und ſein Auge ſchien in die Dielen zu brennen.
Da hab ich auch einen Augenblick gezittert. Plötzlich
rief er: „ich werde ſie ein ander Mal zu Hauſe finden!“
und ohne ſich umzuſehen, ſtürzte er die Treppe hin¬
unter. Es kann doch alſo keine böſe Abſicht ſein.“


„Seine Abſicht iſt, meinem Hauſe einen Affront
anzuthun. Es iſt eine Beleidigung jetzt mir zuge¬
fügt. Sein Vater hat den Taugenichts zwar des¬
avouirt, nichts deſto weniger bleibt ſein Vater der
Herr Geheimrath Bovillard, der am Ende noch Ge¬
[56] fallen daran findet, wenn ſein ungerathener Sohn
eine Dame inſultirt, die er ſchon mit ſeinen Plaiſan¬
terien verfolgt. Aber das ſoll, muß anders werden.
Wir werden einen Beſchützer finden. Dein Erretter,
der Legationsrath, der unglücklicher Weiſe bald nach
jener Affaire Berlin verlaſſen mußte, um ſeine Güter
zu revidiren, wird bald zurückkehren. Er weiß, wie
man uns Ruhe verſchafft. Er iſt jetzt der Mann,
der gilt, der Stern der Geſellſchaften, und ich hoffe
von ſeinem Einfluß auf den alten Bovillard,
daß er ſelbſt endlich müde wird und den Vaurien
auf gute Art aus der Stadt ſchafft.“


Die Lupinus hatte in ihrem Eifer überſehen,
daß Adelheid den Mund zu einer Mittheilung geöff¬
net: „Herr von Wandel iſt ja zurück.“


Die Geheimräthin hätte jetzt ebenſo Grund ge¬
habt, in Adelheids Art etwas Auffälliges, eine Auf¬
geregtheit zu finden, aber weil ſie ſelbſt aufgeregt
war, merkte ſie es nicht.


„Er zurück! — Woher weißt Du das?“


„Als ich vor ihm — vor jenem — in einen
Laden flüchten wollte, trat er heraus.“


„Wandel — und — mein Gott, das Wichtigſte
ſagſt Du mir jetzt erſt!“


„Ich war ſo überraſcht, verwirrt — “


„Und —“


„Ja, was eigentlich geſchehen, weiß ich nicht.
Ich glaube, ich habe ihm die Hand gereicht.“


„Du glaubſt —“


[57]

„Mama, ich glaube, ich hätte jedem ſie ge¬
reicht, der mir entgegentrat, es war eine Angſt, ich
ſah nichts mehr vor mir.“


„Und der Legationsrath! — Haben ſich beide
wieder erkannt?“


„Ich weiß es nicht. Der Legationsrath ſah nur
meine Angſt. Aber — dann hat er mich nach Haus
geführt.“


„Er — Dich? Hierher? Wo iſt er — Was
ſagte er?“


„Liebe Mutter, zürnen Sie mir, ich weiß nichts
von dem Geſpräch. Ich horchte nur immer, ich bebte,
ob er noch hinter uns wäre. Er wird mich für ſehr
kindiſch gehalten haben.“


„Ich will es Dir vergeben, weil Du beſchämt
warſt, nicht mehr Muth gezeigt zu haben. Und vor
dem herrlichen Mann, deſſen Gegenwart ſchon Deine
geſunkenen Geiſter erheben mußte! — Aber mein
Gott, wo iſt er? Er hat Dich hergeführt. Warum
kam er nicht mit herauf?“


Adelheids Geiſter waren nicht gehoben. Auf
alle Fragen der Geheimräthin über ihren Begleiter,
wußte ſie kaum ſich zu entſinnen, daß er beim Ab¬
ſchied geſagt, wenn er nicht zu einem Miniſter be¬
rufen, würde er ſich ſofort das Vergnügen gemacht
haben, bei ihrer gütigen Pflegemutter anzuſprechen.
Adelheid ward mit dem Befehl entlaſſen, für ihre
Toilette zu ſorgen.


Die Geheimräthin war in ſichtlicher Unruhe zurück¬
[58] geblieben. Ihre Gedanken machten Kreuz- und Quer¬
ſprünge: „Was iſt denn wichtig, und was ſind nicht
Bagatellen! Nur das, was grade gilt. Und ſie gilt,
weil — weil geſtern die Frivolität Mode war und
heute die Unſchuld. Auf wie lange? Und wenn man
auch Unſchuld und Schönheit conſerviren könnte wie
Mumien, ſo würden es doch abgeſtandene Dinge
werden, denn der Reiz iſt nur beim Neuen. Und
wer ihnen immer Neues, immer Pikantes vorſetzen,
wer ſich wie das Chamäleon umwandeln könnte, in
jedem Jahr und Monat ihnen neu ſein, der würde
ihnen am Ende auch gewöhnlich und alt werden,
weil er es kann, weil man es von ihm erwartet,
und ſie würden ihn bei Seite ſchieben, wenn er nichts
anders kann, und ihn wegwerfen, wenn er es nicht
mehr kann.“


Als der Blumenſtrauß, den ſie aus der Vaſe
genommen, von ihr gedankenlos zerpflückt war, er¬
ſchrak ſie über die bittre Richtung, die ihre Gedanken
genommen. Eine ſchlechte Vorbereitung zu dem heu¬
tigen Abend. Es ſollte ein Feſt der feinſten Heiter¬
keit ſein. Wenn ſie den Legationsrath präſentiren
konnte, ihn, den neueſten Lion der Geſellſchaft, den
bewunderten, räthſelhaften Mann, der aber als er,
eine neue Sonne, aufgegangen, plötzlich wieder ver¬
ſchwunden war! Wenn er, nach ſeiner langen Ab¬
weſenheit, zuerſt in ihrer Geſellſchaft wieder erſchien!
Wenn er jetzt anklopfen ſollte, ſein erſter Beſuch bei
ihr? Wenn — Niemand kannte den geheimen Grund
[59] ſeines Aufenthalts in Berlin, und welches Vertrauen
hatte er grade ihr gezeigt, als ihn ein dringendes
Geſchäft plötzlich auf ſeine Güter rief! — Wenn er
ſich gedrungen fühlte, ſie zur Mitwiſſerin ſeiner Ideen
zu machen. Ihre Phantaſie malte ſich eine Reihe
angenehmer Situationen, als eine kalte Frage da¬
zwiſchenfuhr: Wird er denn überhaupt kommen? Hat
er dem Mädchen nicht vielleicht etwas aufgebunden,
nur um ſie los zu werden? Iſt er nicht vielleicht ab¬
gereiſt, um ſeine Verbindungen hier zu brechen? Er
kehrt zurück, Gott weiß warum, aber nicht, um die
wieder anzuknüpfen, deren er überdrüßig iſt. Er iſt
ein Mann, der der Welt angehört, Berlin ihm ein
Stationsort, um ſich auszuruhen, nicht länger als
nöthig, und die Perſonen, mit denen er umgeht,
zum Zeitvertreib zu gebrauchen. Zum Thor hinaus,
in der nächſten Stadt, hat er uns vergeſſen —


Aus dieſem neuen peinlichen Selbſtgeſpräch riß
ſie ein feſter Klingelzug und gleich darauf meldete
der Diener den Legationsrath von Wandel.

[[60]]

Viertes Kapitel.
Der Legationsrath.

Man hätte eine der chamäleoniſchen Verwand¬
lungen, von denen ſie ſprach, in der Geheimräthin
ſelbſt erblickt, als ſie auf dem Kanapee dem gefeierten
Manne gegenüber ſaß. Ihre Wangen waren ange¬
haucht, ihr Auge glänzte lebhafter, die Schärfe ihm
Züge hatte ſich gemildert; wie ſanft klang ihre Stimme,
während ihre Finger ſich mit den Polſterquaſten der
Sophalehne beſchäftigten.


Er war derſelbe. Sein Geſicht ſchien ſich nicht
verwandeln zu können. Die dunkeln Augen konnten
dominiren; ihr gewöhnlicher Ausdruck aber war der
des Obſervirens. Er las, was in der Seele ſtand,
aber man konnte, was er geleſen, im Spiegel ſeines
Auges nicht wieder leſen. Leidenſchaften hatten dies
Auge entzündet und ihre Spuren waren auf dem
edel geformten Geſichte unverkennbar, allein er hatte
die Ruhe der Betrachtung gewonnen, die ſich von
kleinen Emotionen nicht mehr irren läßt.


Die Geheimräthin war in der Regel die Erſte
[61] in den Kreiſen, in welchen ſie ſich bewegt, ſie war
ſich dieſes Uebergewichts bewußt, dennoch glaubte ſie
den rohen Kitzel überwunden zu haben, welcher ſich
darin gefällt, dies Uebergewicht auch die Anderen
empfinden zu laſſen. Dem Legationsrath gegenüber
fühlte ſie dieſen Zauberbann zerſtört. Aber grade
gegen eine geiſtige Uebermacht anzukämpfen, iſt inte¬
reſſant. Eine Frau hat ſo viele kleine Künſte, mit
denen ſie unvermerkt in das feſte Syſtem des Mannes
Breſche legt, wenn es der Mühe verlohnt.


Er ſtand auf der Höhe, wo man nur wenig
auszugeben braucht, aber man reißt ſich um die Münze,
wie um eine Seltenheit. Dann ſieht man auch wohl
nicht immer genau nach, ob die Münze echt iſt. Er
ſaß nachläſſig im Fauteuil, doch mit dem Anſtand
des vornehmen Mannes einer Dame gegenüber, die
er auch dafür anerkennt.


Ihre Unterhaltung hatte ſich weit entfernt aus
den Kreiſen, in welchen wir die Lupinus zu Hauſe wiſſen.


„Einer Frau von Ihrem Geiſt iſt keine Region
verſchloſſen, in die ſie dringen will,“ hatte er auf
eine Bemerkung der Geheimräthin erwiedert, daß ſie
die Sphären des Staats für, ihrem Geſchlecht wenn
nicht unzugänglich, doch geſchloſſen halte.


„Man ſagt uns doch ſo oft, wir ſollen uns
nicht aus unſerer Sphäre verlieren.“


„Wer das uns auf ſich beziehen will! Iſt die
Stael keine Frau! Mich dünkt, man braucht nicht ſo
weit zu ſuchen. Sind nicht die höchſten Damen an
[62] unſerem Hofe die eifrigſten Partiſaninnen der Politik!
Und wer ſagt uns, ob nicht die ganze Politik der
Zukunft in den Händen der Frauen ruhen wird!“


„O, wer in dieſe Zukunft blicken könnte, ob ſie
uns Aufſchlüſſe, Lichter, Befriedigung bringt, oder
das alte Einerlei des Zweifels, der getäuſchten Hoff¬
nungen, der immer neuen Erwartungen, die nie er¬
füllt werden!“


„Die Zukunft, gnädige Frau, wird ſein wie die
Gegenwart, wenn wir ſie nicht zu ergreifen verſtehen.“


„Und wer ergreift dieſe! Wir Frauen ſcheinen
wenigſtens nicht dazu beſtimmt.“


„Auch Frauen ergriffen ſie und blieben Sie¬
gerinnen grade ſo lange als der Mann es bleibt,
das iſt ſo lange als er ſich ſelbſt beherrſcht.“


„Die Enthaltſamkeit ſoll uns doch nicht zum
Siege führen!“


„Die Kraft, das Ziel unverrückt im Auge zu
behalten, die Wege, die die kürzeſten und ſicherſten,
nie zu verlieren und die Mittel zu handhaben, wie
man Roſſe zügelt und ſpornt, deren Natur wir kennen.“


„Das iſt nur an den Männern.“


„Warum! Der Mann iſt bei der Umfaſſenheit
ſeiner Bildung, Bezüge zum Leben, weit leichter der
Verführung ausgeſetzt.“


„Das ſind Paradoxien.“


„Nichts weniger. Er iſt zugänglicher den
Leidenſchaften, weil er ſie leichter befriedigen kann,
dem Ehrgeiz, den Illuſionen aller Art; und giebt er
[63] ihnen ſich hin, hört er auf zu berechnen, verfolgt er
eine Phantaſie, iſt er ſchon verloren. Das Weib in
ſeiner anſcheinend beſchränkteren Sphäre kann ihre
ganze Kraft weit leichter auf einen beſtimmten Ge¬
genſtand concentriren, und wie ſie den Mann be¬
herrſcht, wenn ſie will, warum nicht die Welt!“


„Spötter!“


„Dem Weibe gab die Natur die feine Beo¬
bachtungskraft, die wir nur mit unendlicher Anſtrengung
uns aneignen, die Gabe aus Symptomen, die un¬
ſerem in die Ferne ſchweifenden Blick entgehen,
Seelenzuſtände, vergangene und künftige Begeben¬
heiten zu entziffern. Vermag ſie's, Herrin zu werden
über ihre Neigungen, Vorurtheile, ihre Liebe und
ihren Haß, ihre Impulſe und abergläubige Vor¬
ſtellungen; vermag ſie's, ihre Beſtrebungen, ihre Liebe
und ihren Haß auf größere Dinge zu richten, als
den Untergang einer Rivalin, die Protection eines
Günſtlings, dann, ſage ich Ihnen, kann ſie mit
ihren außerordentlichen Mitteln Großes, Außerordent¬
liches, warum nicht das Größte.“


Die Geheimräthin ſchwieg nachſinnend. Sie
hielt es für den Moment geeignet, ſeitwärts ab¬
zuſpringen: „Sie wollen die Begeiſterung nicht gel¬
ten laſſen,“ ſagte ſie wieder aufblickend.


„Ich kann einen Trunkenen beneiden, aber nur
ſo lange er es iſt.“


„Damit ſtreichen Sie aus der Geſchichte ihre
ſchönſten Thaten.“
[64] „Aus der Geſchichte nicht, meine Gnädigſte.
Sie iſt ein großes Quodlibet, wo Platz iſt für vieles.
Nur aus dem Katechismus der Wenigen, ſtreiche
ich ſie, welche wiſſen, was ſie wollen.“


„Und wie wenige Größen bleiben dann übrig,“
erwiederte die Geheimräthin.


„Wenige, aber zum belehrenden Exempel genug.
Cäſar blieb ſich gleich bis zum Gipfelpunkt.“


„Und fiel durch Mörderhand.“


„Der rohe Zufall liegt außer unſerer Berech¬
nung; er fiel, nachdem er erreicht, was er erſtrebt.
Und doch vielleicht war's auch nicht ganz Zufall!“


„Wie hätte Cäſar den Arm des Brutus hem¬
men können, wenn er keine Ahnung ſeines Vorſatzes
hatte!“


Der Legationsrath lächelte: „Cäſar hatte Ver¬
trauen, wo er nur Argwohn haben durfte. Cäſar
war der große Mann, weil er ſich ſelbſt Alles ver¬
dankte, weil er im Siegerglück nicht glaubte, daß er
nun genug gehandelt, daß nun das Schickſal für ihn
wieder handeln müſſe, weil er nicht, von der eignen
Größe trunken, an eine Miſſion glaubte. Aber er
irrte, als er glaubte, daß ein großer Mann auch ſo¬
genannte menſchliche Regungen haben, daß er, ohne
ein beſtimmtes Intereſſe, großmüthig ſein dürfe. Er
durfte nur auf die Schlechtigkeit der Menſchen ſpe¬
culiren, und er ſpeculirte auf ihren Edelſinn. Er,
in ſeiner Lage, durfte nicht hoffen und lieben, nur
beobachten und rechnen, und ihm war der Argwohn
[65] eine Tugend und Nothwendigkeit. Er ſchloß das
ſcharfe Auge, er rechnete falſch und vertraute. Ein
Cäſar darf auf nichts vertrauen!“


Es trat eine Pauſe ein. Das Geſpräch hatte
eine Wendung genommen, die vermuthlich an den
Anfang deſſelben wieder anknüpfte. Man hatte
von den Ereigniſſen des Tages geſprochen, von dem
Stern, über den die Meinung ſich noch theilen konnte,
ob er ein leuchtendes Tages-Geſtirn ſei oder ein
nächtliches Meteor?


„Und er iſt Kaiſer, hub die Geheimräthin an,
er hat ſich ſelbſt dazu erklärt! Es liegt etwas ſo
wunderbar die Sinne Berauſchendes darin, ein
geweſener Artillerielieutenant! Und die altgekrönten
Mächte beeilen ſich, ihn anzuerkennen!“


„Sie müſſen wohl!“


„Nehmen Sie ſich in Acht, Herr Legationsrath.
Man darf ihn hier nicht ungeſtraft in allen Kreiſen
bewundern. Und Sie beſuchen —“


„Die verſchiedenſten,“ fiel er raſch ein. Es war
das geweſen, wofür der Gaſt es nahm, ein Klopfen
auf den Buſch. „Ich bewundere nichts, fuhr er fort,
ich beobachte nur, und mein Facit der Anerkennung
ziehe ich erſt, wenn ich einen Mann am Ziele ſehe.“


„Wird er es erreichen?“ fragte die Geheim¬
räthin leiſer.


„Wenn Sie mir ſagen könnten, was ſein Ziel
iſt, würde ich verſuchen, auf die Frage zu ant¬
worten.“


II. 5[66]

„Sein Ziel!“ — die Geheimräthin ſah ihn groß
an, aber ſie verſtummte vor ſeinem abmeſſenden
Blicke. Mit einem Seufzer ſagte ſie: „War es denn
ein Verbrechen, in ihm einen Beglücker der Menſch¬
heit zu erblicken!“


„Ein Verbrechen iſt Unſinn, und der Wahn,
daß Einer für Alle etwas ſchaffen könne, eine Thor¬
heit. Jeder ſchafft für ſich. Ich weiß nicht, ob der
junge Bonaparte in ſeiner Jugend wirklich dieſem
Wahne nachhing, der Kaiſer der Franzoſen wird ihn
belächeln. Man muß die Menſchen kennen gelernt haben,
wie wir, gnädige Frau, um zum Reſultat gekommen
zu ſein, daß, was man ſo die Menſchheit nennt,
nicht werth iſt, ſein Beſtes für ſie zu opfern.“


„Aber mein Gott für wen ſoll man ſich denn
opfern!“


Der Gaſt ſchien es überhört zu haben, oder
ſeine Gedanken hatten unwillkürlich einen andern
Gang genommen: „Es iſt zu bedauern, daß die
Kaiſerin ihm keine Hoffnung auf Nachkommen ge¬
währt. Eine wahre Zierde ihres Geſchlechts!“


„Sie kennen die Kaiſerin Joſephine!“


„Ihre Majeſtät, Königin Louiſe, iſt gewiß die
perſonificirte Huld und Schönheit, aber dieſe Creolin
in der ſichtlich noch das tropiſche Blut pulſt, hat
etwas Beſtechendes, Fortreißendes. Man muß ſie
geſehen haben — ach ſchon als Joſephine Beauhar¬
nais!“ —


„Sie kannten ſie damals ſchon?“
[67] „Es rühmen ſich Viele, doch wer kann ſagen,
daß er ſie kennt! Kennt man nur ihren Einfluß auf
den Kaiſer!“


„Sie hat vieles Blutvergießen verhindert.“


„Sagt man. Wer dieſe on dit's geſchickt aus¬
zuſtreuen weiß, der commandirt über Armeecorps.
Und beide, der Kaiſer und die Kaiſerin, ſind darin
geſchickt, es fragt ſich eben nur wie lange beide zu¬
ſammen operiren werden?“


„Mein Gott, Sie ſcheinen auch mit den häus¬
lichen Verhältniſſen des Kaiſerpaares vertraut.“


„Ich leſe nur, was jeder leſen kann, der die
Augen aufhat. Will er ein Reich gründen, was ihn
überlebt, muß er einen Sohn haben, der ihn beerbt.
Wer arbeitet mit voller Kraft für einen andern Dritten!
Was iſt ihm der adoptirte Stiefſohn! Erinnern Sie
ſich was die ſentimentalen Seelen von ihm hofften,
nachdem er die Revolution beſiegt?“


„Ich habe nie geglaubt, daß Napoleon ſich zu
einem Monk herabwürdigen könne,“ ſagte die Ge¬
heimräthin.


„Gewiß, wer die Kraft hat ein Egoiſt zu ſein,
wird ſich nie mit einer Livree begnügen.“


„Egoiſt!“


„Alle großen Männer ſind es, eigentlich alle
wahren Männer. Wer ſchaffen will, muß für ſich
ſchaffen, und wer ein Weltreich gründen will, für
eine Dynaſtie, die ſeine iſt. Die Kaiſerin Joſephine
iſt aber auch eine kluge Frau. Sie ſieht das ein;
5 *[68] wie weit ſie vorausſieht, wiſſen wir nicht, aber ſie
hat einen Sohn. Es iſt nun ein recht kluger Anfang,
daß ſie die Maske der Milde, Liebe und beſänftigen¬
den Güte vornimmt, und ob es von ihrem Gatten
klug iſt, ſie ihr zu laſſen — das iſt eine andere Frage,
die — uns beide wenigſtens, meine theuerſte Geheim¬
räthin, glücklicherweiſe nichts angeht.“


Er war aufgeſtanden. Die Geheimräthin hätte
die Unterhaltung gern fortgeſetzt: „Sie ſind gewiß
ſehr affairirt. Eine ſo ehrenvolle Sendung muß
Ihre ganze Zeit in Anſpruch nehmen.“


„Ich bitte Sie, kein Wort von der Bagatelle.
Natürlich wird man nicht gerade zur Thür hinaus¬
geworfen, wenn man als Ueberbringer ſolcher Ehren¬
zeichen ankommt, indeſſen, wie geſagt, ich wünſchte, daß
man in den Cirkeln hier kein Aufhebens davon
machte.“


„Indeſſen ſehen wir auch wohl bald Ihre eigne
Bruſt mit einem dieſer Ehrenzeichen geſchmückt.“


„Für einen Briefträgerdienſt! Monſieur Laforeſt,
der Geſandte, lachte über die Miſſion, und das ver¬
dient ſie auch; haben wir doch jeder für wichtigeres
zu ſorgen! Ich freue mich nur, daß die Demoiſelle
Alltag Ihre Liebe und Sorgfalt lohnt. Sie haben
ſich da eine ungemein ſchwierige Aufgabe aufge¬
bürdet.“


„Ich freue mich, daß alle Ihre Berechnungen
ſo richtig eintrafen. Adelheids Renommee iſt nicht
allein hergeſtellt, ſie iſt — nun Sie erfuhren es ſchon.
[69] Möchte ſie nie den Dank gegen den vergeſſen, dem
ſie ihr Alles verdankt.“


„Dank, meine Gnädige! Es giebt keine Sub¬
ſtanz in der Chemie, die ſo ſchnell verflüchtigt! Wer
darauf bauen wollte —“


„Sie brauchen nicht zu bauen, denn Ihr Haus
ſteht feſt. Freilich, was iſt Ihnen daran gelegen,
daß man Sie in Berlin vergöttert! Indeſſen es iſt
doch auch für einen Philoſophen nicht ganz unange¬
nehm, wenn ihn die Leute auf der Straße kennen
und feiern. Ach, mein Gott, warum mußten Sie
damals ſo ſchnell abreiſen. Das war ein Erkundigen,
ein Fragen nach Ihnen. Der Hausknecht, die Ouvriers,
die für Sie gearbeitet, wer nur das Glück gehabt,
Sie in Geſellſchaft, in ſeinem Hauſe zu ſehen, mußte
Auskunft geben, wie Sie ausſähen, ſprächen, welche
Ihre Freunde, ob Sie verheirathet wären, ob Sie
hier Ihr Domicil aufſchlagen würden? Man wußte
Sie in kleine Theile zu zerlegen, und meinte der
kleinſte wäre doch noch etwas, was der Betrachtung
Stoff giebt. Einige meinten, es ſei doch eine Art
Koketterie, daß Sie durch Ihre ſchnelle Abreiſe der
allgemeinen Bewunderung ſich entzögen, ich indeß
meinte etwas anderes —“


„Und darf ich fragen, was meine Freundin meinte?“


„Sie leben ſich ſelbſt, und fühlen einen andern
Beruf, als der Neugier der Menge Räthſel aufzu¬
geben, die Sie nicht löſen wollen, vor ihr wenigſtens.
Wahrhaftig, ich verdenke es Ihnen nicht.“


[70]

Der Legationsrath ließ einen ſeiner undurch¬
dringlichen Blicke an der Diele haften, einen der
Blicke, welche die tiefſte Abſorbirung der Gedanken
ausdrücken; man will indeß behaupten, daß auch die
Kunſt ſolche Blicke gebrauche, um den Mangel an
Gedanken zu verbergen: „Ach, meine Freundin, was
verräth uns mehr welche Leerheit rings um uns iſt,
als dieſes Haſchen nach Geheimniſſen, die nicht da
ſind. Weil ſie aus ſich heraus nichts ſchaffen können,
weil ſie ſich ſelbſt nichts ſind, darum haſchen ſie nach
einem Spielwerk, und ein unbekannter Fremder wird
zu einem Räthſel, weil er vielleicht ſeinen Rock anders
zuknöpft, anders den Hut abnimmt, einen andern
Ton auf die Worte legt als hier alltäglich iſt.“


„Da ich immerwährend beſtürmt werde, ſagen


Sie mir was ich den Leuten ſagen, oder wenigſtens,
was ich ihnen verſchweigen ſoll —“


„Verſchweigen! Mein Gott, iſt denn zwiſchen
uns ein Geheimniß! Malen Sie mich Ihren Be¬
kannten, wie Sie wollen. Eine ſolche Meiſterin
wird immer das Richtige treffen. Warum ich hier
bin, das iſt ja wohl das intereſſanteſte Räthſel. Ich
ſoll Emiſſair ſein, Gott weiß von welchen Illumi¬
naten- oder Freimaurer-Orden, obgleich dieſe Albern¬
heiten längſt aus der Mode ſind! Ich bin geheimer
Envoyé einer Macht, man weiß nur nicht welcher.
Nicht wahr? Natürlich ſoll ich Staatsgeheimniſſe
ausſpioniren! Ja wenn nur deren hier wären! Und
da ich an der Tafel der Miniſter, der Prinzen ſpeiſe,
[71] da ich ziemlich offen mit ihnen converſire, iſt es doch
nicht meine Schuld, wenn ich Dinge erfahre, an
denen mir wirklich nichts gelegen iſt. Ich ſoll ja
auch wohl ein Cröſus ſein, und bald wieder ein
Glücksritter! Soll ich nicht auch nach einer reichen Ehe
mich umſehen! — Er ſeufzte: Und die Geiſter einer
unausſprechlich geliebten Gattin ſchweben noch um
ihren Grabeshügel! Doch genug davon. Meinethal¬
ben laſſen Sie mich einen Caglioſtro ſein. Im Uebri¬
gen habe ich noch Niemand verhehlt, daß der Zuſtand
meiner Güter in Thüringen mich hergeführt hat.
Treffliche Güter, aber verwildert unter meinem Vor¬
beſitzer. Es bedarf einer wiſſenſchaftlichen Agricultur¬
behandlung, um ihre Ertragsfähigkeit auf die Höhe
zu bringen, die ich mir zum Ziel geſetzt. Ich beſitze
chemiſche Kenntniſſe, wer aber kann alles wiſſen, wer
braucht nicht des Rathes, fremder Einſicht! In Berlin
finde ich einen Hermbſtädt, Klaproth, Flittner. Sie
ſind meine Lehrer, Freunde, ich conſultire ſie, experi¬
mentire mit ihnen in der Zerſetzung von Kalkerde,
Mergel, in allen Arten künſtlicher Dungarten. Das
meine Beſchäftigung hier. — Sie ſelbſt aber ſehen
mich ungläubig an. Ach, ich verſichere Sie, in dieſer
Wiſſenſchaft allein iſt mein Troſt. Hier iſt Wahrheit,
hier lern' ich kennen, was ſich bindet, was ſich ab¬
ſtößt, hier iſt Folgerung, Zuſammenhang, hier lös
ich mir Räthſel, welche der Ballſaal der Menſchen¬
welt mit ſeinen tauſendfachen bunten Umhüllungen
und Masken ſo verwirrend umhüllt, daß oft das
[72] ſchärfſte Auge, wenn es die Wahrheit glaubt gefun¬
den zu haben, doch nur beſchämt vor einer neuen
Larve ſteht. Vor der Chemie gilt keine Täuſchung.
Während ſie Farben und Formen zaubert, zerſetzt ſie
Alles in ſeine Urſtoffe. Das Kräuſeln des Dampfes
in der Retorte, im Tiegel, der Geruch, den ſie ent¬
wickelt, der Lichtglanz, die ſchimmernde Farbe auf
der brodelnden Eſſenz iſt das Leben, flüchtige Mo¬
mente, während wir doch nur den Tod produciren,
Schlacke, Aſche, Staub, Luft in Luft. Der Tod nur
iſt dauernd. Leben Sie wohl.“


„Mein Gott, was iſt Ihnen? Sie betonen das
Wort Tod ſo beſonders.“


„Mit jeder Stunde, die wir leben, bereiten wir ja
den Tod. Ich hoffe alſo heut Abend auf Wiederſehn.“


„Sie hoffen nur? Vorhin ſagten Sie beſtimmt
zu. Sie erwarten heut keinen Befehl eines Prin¬
zen mehr.“


„Nein; wenn indeß ein Hinderniß —“


„Sie müſſen doch nicht wieder fortreiſen?“


„Ich hoffe nicht, daß es ſo ſchlimm ausfallen wird.“


„Sie ſpannen meine Neugier. Jetzt müſſen Sie
ſprechen.“


„Es iſt nur eine der Kleinigkeiten, die das Leben
pikant machen. Den jungen Bovillard, den ich in
der That auf meiner Reiſe vergeſſen hatte, traf ich
vorhin auf der Straße, und wenn meine Phyſiog¬
nomik mich nicht täuſcht, finde ich zuhauſe das, was
ich längſt erwarten durfte. Indeſſen wird er ſich doch
[73] nicht ſo überhaſten, daß er mir nicht noch das Ver¬
gnügen gönnt, einen vergnügten Abend in Ihrer
liebenswürdigen Geſellſchaft zu verbringen.“


„Allmächtiger Gott! rief die Geheimräthin er¬
blaſſend. — Eine Herausforderung! — Und dieſer
Taugenichts darf ſich unterſtehen einen Mann wie
Sie — und um die edelſte Handlung —“


„Vor ſeine Kugel zu fordern.“


„Das darf nicht ſein. Beſter Freund, Sie kennen
nicht ſeinen Ruf. Mit Ihrer Ehre verträgt es ſich nicht —“


„Er ſaß noch nicht im Zuchthauſe, ward nicht
ertappt auf dem Volteſchlagen, auch hat er ſeine
Spielſchulden, wie ich höre, noch immer bezahlt, und
ein Dutzend Duelle als Cavalier beſtanden; das,
meine gütige Freundin, giebt dem Sohn des Geheim¬
rath Bovillard nach den Ehrengeſetzen unſerer Welt
das Recht, auch Beſſere wie ich, vor die Geſchicklichkeit
ſeines Arms zu laden, und wenn ſeine Kugel dies
Herz durchbohrt, ſo verſichre ich Sie, iſt ſein Re¬
nommee nicht ſchlimmer, ſondern beſſer.“


„Abſcheulich! Wer beſſert das!“


„Ein Mirabeau hatte einmal den Muth. Er
ſprach es aus, daß man einem Dummkopf nicht das
Recht laſſen dürfe, dem genialſten Mann Frankreichs
mit einem Stück Blei ſeinen Kopf zu zerſchmettern. —
Die Revolution iſt überwunden und die Dummköpfe
haben wieder ihr Recht.“


„Aber um Gottes willen, es muß doch Mittel
geben —“


[74]

„Ein Cäſar Borgia würde freilich in ſolchem Falle
Mittel finden; auch haben ſehr kluge Köpfe ſich da¬
durch der Welt erhalten, die allerdings mehr von
ihrem Ingenium profitirt hat, als von zehn Hau¬
degen, welche die Weinhäuſer mit ihren Radomon¬
taden erfüllen. Indeſſen, wir ſind keine Borgias
und das neunzehnte Jahrhundert verträgt keine Sti¬
lets und Banditen.“


„Aber es muß ſeine edelſten Männer ſchützen.
Es giebt auch andre Mittel, eine höhere Polizei,
eine Juſtiz. Bovillard der Vater muß es erfahren,
er muß endlich etwas thun, dem Unweſen ſeines
Sohnes zu ſteuern. Der König ſelbſt iſt entſetzt über
dieſe blutigen Raufereien —“


Der Gaſt hatte ihren Arm ergriffen: „Um des
Himmels willen, meine gütigſte Freundin, ſoll ich
bereuen, daß ich im Vertrauen die Lippen öffnete.
Es war Alles Scherz —“


„Nein, es iſt Ernſt.“


„Wenn Sie dem Dinge den Namen gönnen,
ſo beſchwöre ich Sie, kein Sterbenswörtchen davon!
Sie werden mich verſtehen. Was iſt das Leben?
Eine Anweiſung auf Geltung. Wird dieſer Wechſel
zurückgewieſen, was bleibt uns davon! Wer mag
der Lebensluft, in der wir nur athmen können,
den Rücken kehren! Ich rechne alſo auf Ihre Dis¬
cretion. Jedes Wörtchen, jeder Wink könnte von
meinen Feinden anders gedeutet werden. Es iſt ja
auch möglich, daß der junge Mann ſich eines Beſſeren
[75] beſinnt. Ach Gott, der Möglichkeiten ſind ſo viele, daß
ich es aufrichtig bereue, Sie nur einen Augenblick
geängſtigt zu haben. Keinenfalls darf die Vorſtellung
Ihre Heiterkeit ſtören. Meine ſoll es wenigſtens ge¬
wiß nicht, denn ich freue mich aufrichtig den neuen
Abgott der Reſidenz kennen zu lernen.“


„Sie kennen Jean Paul noch nicht?“


„Ich begegnete ihm wohl irgendwo.“


Die Geheimräthin ſah etwas verlegen vor ſich
hin: „Ich hoffe, Sie disapprobiren nicht —“


„Was ſich verſteht in Credit zu ſetzen. Der
Werth eines Staatsmanns, meine Freundin, und der
eines Dichters, was ſind ſie an und für ſich, es kommt
allein ihr Courswerth in Betrachtung, gleichviel, ob
der Dichter ihn ſich ſelbſt gemacht, oder andere ſo
gütig waren. A propos, da kann ich Ihnen eine
Neuigkeit mittheilen. Bei Hofe iſt eine lebhafte In¬
trigue. Nachdem es nicht gelungen Schillern hier zu
feſſeln, verſucht man Herrn Richter uns ein zu impfen.
Die Parteien ſind getheilt. Ihre Majeſtät die Kö¬
nigin wünſcht ihm eine Präbende zuzuwenden. Beim
Könige fürchtet man auf Schwierigkeiten zu ſtoßen.
Um deswillen ſpielen alle Maſchinen. Die Berg
läuft von dieſem zu jenem. Herr Jean Paul ſoll
von der allgemeinen Gunſt gehoben und getra¬
gen werden, bis er dem Throne ſo ins Auge
gerückt iſt, daß Seine Majeſtät ſich zu einer Aus¬
zeichnung gleichſam gezwungen fühlen. Daher werden
die Kunſtgärtner bis zum Exceß um ihre ſeltenen
[76] Blumen geplündert, daher die Damendeputationen
an den neuen Frauenlob. Die Königin lüde ihn gern
ſelbſt ein, aber er muß erſt gewiſſe Leiterſtufen der
Einladungen durchgemacht haben, bis das in einem
petit circle möglich wird. Man iſt daher auch ſehr
zufrieden mit den Arrangements unſrer theuren Freun¬
din, und die Stufe der Ehre, die Sie ihm heut
erweiſen — “


„Mein Gott, wie kann man wiſſen — “


„Man weiß Alles. Aber bedenken Sie wohl,
daß die Gunſt der Königin nicht jedesmal zur Gunſt
Seiner Majeſtät führt. Er iſt kein Freund der Ab¬
götterei. Doch qu'importe, aber hüten Sie ſich,
daß unſre Schönheit hier, wenn ſie ihm den Lorbeer¬
kranz auf die Schläfe drückt, nicht zu tief ins Auge
des Dichters ſieht. Man ſagt zwar, er wäre in alle
Huldinnen Berlins verliebt, und in ſeinen Entzückun¬
gen weiß er nur noch nicht, welcher er das Tuch zu¬
werfen ſoll; aber nur nicht unſrer Adelheid! Ihre
Natur iſt zu ſchön, um ſie mit einem Dichter zu ver¬
träumen. A revoir!“


Der Legationsrath ließ die Geheimräthin in
einem Meer von Gedanken. Sie paßten nicht alle
zu dem Feſt des heutigen Abends und ſchienen ihre Luſt
etwas zu trüben.

[[77]]

Fünftes Kapitel.
Mars mit dem Zopf.

Eine Geſellſchaft, zur Zeit als Geſellſchaften die
Blüthe des geiſtigen Lebens repräſentirten, mag man
mit einem Sonnenſyſtem vergleichen. Wenn aber
viele Sonnen mit gleichen Anſprüchen da ſind, kann
ſie uns wie ein Univerſum erſcheinen, das, nicht fer¬
tig, noch nach einem Centralpunkt ſucht. Ein ſolches
meteoriſches Wogen iſt für Viele unbehaglich, für
den Beobachter intereſſant, für den Maler aufzufaſſen
unmöglich. Er muß ſich mit Segmenten genügen
laſſen.


Die Wirthin wäre gern die Sonne geweſen.
Aber eine Sonne muß nicht allein ſcheinen und leuch¬
ten, ſie muß auch wärmen. Sie war eine Frau von
Verſtand und ſelbſt Witz, eine Erſcheinung, die nicht
ohne Eindruck blieb, aber es war nicht der Verſtand
und Witz, der feſſelt, nicht die Erſcheinung, die
zugleich imponirt und anzieht. Sie durchdrang die
Geſpräche, ſie wußte ſie zu leiten, abzubrechen, aber
ihnen nicht den Hauch und die Färbung zu geben,
[78] daß ſie ſich von ſelbſt fortſpannen. Sie war die
liebenswürdigſte Wirthin, die für Jeden etwas An¬
genehmes in Bereitſchaft hatte, aber es ſchien ſo ſpitz
zugeſchnitten, daß die Oekonomie dem Geſchmeichelten
nicht entging. Es blitzte, wo ſie erſchien, die Con¬
verſation wogte in ſanften Wellenlinien einer gewähl¬
ten Sprache, aber ſie ſtockte plötzlich, wenn ſie zu
andern Kreiſen ſich wandte. Man fühlte ſich genirt,
wo ſie hinzutrat, und frei, wenn ſie den Rücken ge¬
dreht. Das wird freilich in allen Geſellſchaftskreiſen
ſein, wo eine an Geiſt und Bildung überragende
Erſcheinung der Unterhaltung ihr Siegel aufdrückt,
die minder Gebildeten fühlen das unſichtbare Joch,
die Magie des Geiſtes, gegen die ſie, ohne ſich ſelbſt
bloß zu geben, nicht rebelliren dürfen, ſie fühlen ſie
ſogar doppelt, wo der Geiſt ſich zu ihren Vorſtel¬
lungen herabläßt, und ſie würdigt, in ihrer Sprache
zu reden. Ader dieſe Geſellſchaft war eine ungleich
andere, als die gemiſchte, in der wir neulich die Ge¬
heimräthin zu beobachten Gelegenheit hatten. Sie
war eine gewählte. Die Geheimräthin kannte Alle,
ſie wußte was man vermeiden, was man andeuten
dürfe, und doch traf ſie es nicht, daß es den Leuten
wohl ward. Eine liebenswürdige Wirthin, eine geiſt¬
volle Frau! war das allgemeine Urtheil; wohlver¬
ſtanden das, was zwei ſich ſagten, die ſich und ihre
Meinungen noch nicht kannten. Wenn ſie ſich ver¬
ſtändigten, kamen einige „Aber“ hinterher. „Aber
ſehr ſcharf.“ — „Geiſtreich, ſehr geiſtreich, aber ihr
[79] Geiſt ſchneidet.“ — „Enfin, ſagte ein Dritter, ſie hat
Alles, um eine Geſellſchaft zu entzücken, nur fehlt
ihr der Aplomb.“


Es waren Wandelſterne und Fixſterne. Zu jenen
gehörten die Wirthin und ihre Pflegetochter. Wenn
jene mit ihrem leiſen Tritt die Kreiſe durchwandelte,
konnte man ſie mit einer Geſpenſtererſcheinung ver¬
gleichen. Das iſt ein gewagtes Gleichniß; aber eben
ſo gewagt iſt es doch, wenn andre Adelheid mit dem
aufgehenden Morgenſtern verglichen, oder gar mit
einer Sonne, die Frohſinn und Luſt verbreite. Wer
ſchärfer geſehen, hätte vielleicht auch die große An¬
ſtrengung des jungen Mädchens bemerkt, ſo zu er¬
ſcheinen, wie die Pflegemutter es wünſchte, immer
munter, naiv, geiſtreich. Es war noch ein anderer
weiblicher Stern von ſehr verſchiedener Natur, auf
den wir ſpäter treffen werden. Jean Panl war noch
nicht da, auch Herr von Wandel ließ noch auf ſich
warten. Dagegen ſchien an dem großen Ofen eines
Nebenzimmers einer der Fixſterne zu ſtehen in der
Perſon des franzöſiſchen Geſandten Laforeſt. Der
Diplomat brauchte ſeine Kreiſe ſich nicht aufzuſuchen,
oder er wollte es nicht, aber er zog magnetiſch die kleinen
Lichter an ſich. Er war heute ſehr aufgeräumt und
liebenswürdig, behauptete man. Ein Bonmot ging
ſchon durch die Zimmer. Auf eine unbeſcheidene Frage:
was ihm in Berlin am beſten gefalle, hatte er geant¬
wortet: die Oefen. Andere hatten ſchon gehört, daß
er geſagt: es ſei das einzige Gute, was er in Ber¬
[80] lin gefunden. Noch andere, er habe geſagt: in einer
Stadt, wo er nichts kalt und warm gefunden, ſei
eine Maſchine, die man nach Belieben heizen und
kühlen könne, der preiswürdigſte Gegenſtand.


In einer Herrengruppe muſterten einige die Ge¬
ſellſchaft. Man wunderte ſich den Geheimrath Lu¬
pinus von der Vogtei unter den Gäſten zu ſehen.


„Was wundert Sie das, ſagte der Regierungs¬
rath von Fuchſius. Er iſt völlig freigeſprochen und
Alles bleibt ja beim Alten.“


„Aber ſein Leben auch daſſelbe. Es iſt doch ein
Scandal, wie ich hörte,“ bemerkte ein Major noch in
jüngeren Jahren; er hatte nicht den preußiſchen Pli.


„Wir bleiben Alle, was wir ſind, ſagte aufſeuf¬
zend Fuchſius. Seit Lombard zurück, die Anſtren¬
gungen der Königin, neue Lebensgeiſter ins Mini¬
ſterium zu bringen, geſcheitert ſind, iſt es mit allen
den guten Vorſätzen und den ſchönen Anſätzen vor¬
über. Welche trefflichen Reden und Memoiren ſind
umſonſt geſchrieben.“


„Zum Teufel mit den Reden!“ ſagte ein Ge¬
neral, den grauen Schnurrbart ſtreichend; aber es
leuchtete noch ein Feuer aus ſeinen lebhaften Augen.


„Das denkt vermuthlich der Geheimrath Lupinus
auch, fuhr der Rath fort. Warum ſoll er ſich ge¬
niren? Es ſchwimmt ja Alles wieder in dieſem
Sumpfe ſüßer Gewohnheit weiter. Und wenn der
Staat ſelbſt ſich auf dem Lotterbette weiter ſtreckt und
wiegt, was darf er vom Einzelnen fordern, daß er
[81] ſich aufrafft! Der König, das gebe ich Ihnen zu,
wünſchte es —“


„Wenn er nur wenigſtens die franzöſiſchen Orden
nicht angenommen hätte!“ rief der General, der ſich
auf einen Stuhl geſetzt, und preßte die Bruſt auf der
Rabate zuſammen. „Schimpf und Schande! Mag er
ſie der Clique austheilen, aber der preußiſche Ehren¬
rock iſt beſchimpft, wenn auch Militairs ſie tragen
müſſen!“


„Das kommt auf Anſichten an! erlaubte ſich der
jüngere Militair zu entgegnen. Der feindliche Ge¬
neral, den Napoleon in ſeinen Bulletins lobt, fühlt
ſich doch mehr geſchmeichelt, als ſelbſt durch die Orden,
die ihm ſein eigener Fürſt ertheilt.“


„Spitzfindigkeiten, mein Herr von Eiſenhauch! fiel
der General ein. Sie gerade würden ſich am meiſten
ſchämen. — Alliancen, wo ſie natürlich und möglich ſind,
ein Entſchluß, wo die Ehre gebietet, und Krieg, wo
es die Exiſtenz gilt.“


„Vergebung, meine Herren, ſagte der Major.
Sie wiſſen, ich bin kein geborner Preuße und habe
erſt ſeit kurzem die Ehre Ihrer Armee anzugehören.
Vielleicht gab mir aber meine Stellung als Beo¬
bachter von außen Gelegenheit, unbefangener in man¬
chen Dingen die Politik Ihres Staates zu betrachten.
Schleudern Sie nicht zu heftige Bannſtrahlen gegen
die Männer am Ruder.“


„Die Politik, daß wir uns an der Naſe herum¬
ziehen laſſen, mein Herr Major!“


II. 6[82]

„Preußen fühlt ſich groß, und hat doch den In¬
ſtinkt, daß es nicht ſo groß iſt, um das Gewicht in
die Wagſchaale der Weltbegebenheiten zu werfen, wie
damals als ein jugendlicher Kriegsheld, der Genius
des Jahrhunderts, an ſeiner Spitze ſtand. Daher
die natürliche Scheu herauszutreten, ein entſcheidendes
Wort mitzuſprechen. Wenn es nun nicht gehört
würde? Dann iſt der Nimbus hin. Wenn es unter¬
läge? Dann iſt ſeine Exiſtenz hin. Wenn es ſich
aber den vielfachen Coalitionen unbedingt jedesmal
angeſchloſſen, die ſeit der Pilnitzer den Europäiſchen
Brand ſtatt zu löſchen vermehrt haben? Es hätte
ſich der Selbſtſtändigkeit begeben, die ihm Friedrich
hinterließ, es wäre kein Körper mehr, eine mit fort¬
geriſſene Partikel. Es kämpft, und ringt, und ver¬
handelt eben ſo um ſeinen Schein, als um ſein
Weſen. Darum das Laviren, die unleugbaren Zwei¬
deutigkeiten ſeiner Politik, die ihm die Herzen ent¬
fremdeten, welche erwartend, hoffnungsvoll ihm in
Deutſchland entgegen ſchlugen. Meine Herren, wer
unter uns lobt das! Aber nachdem wir ſo lange
den Frieden uns eingehandelt, eingetauſcht, ertrotzt
oder erbeten, was ſollen nicht Männer, die der gro¬
ßen Aufgabe nicht gewachſen ſind, vor dem Augen¬
blick der Entſcheidung erſchrecken! Leugnen wir uns
nicht, es heißt jetzt Alles einſetzen, Alles in die Schanze
ſchlagen, um nicht mehr zu gewinnen als Preußen
hatte, ja vielleicht nicht das einmal, denn wir wiſſen
nicht, was die mächtigen Verbündeten, denen wir
[83] uns hingeben müſſen, uns davon laſſen! Wundern
Sie ſich, daß dieſe Männer auf andere warten, die
es ihnen abnehmen, daß ſie nicht ſelbſt wagen, die
Toga zu ſchütteln: Hier habt ihr Krieg!“


„Wenn man Sie nicht beſſer kennte, ſagte der
General, nicht wüßte, daß Sie Ihre Dienſte von
Staat zu Staat tragen, wo nur Auſſicht iſt zum
Kriege gegen die Franzoſen!“


Fuchſius ſagte, ſich vorſichtig umblickend: „Neh¬
men Sie ſich etwas in Acht. Man weiß in Saint
Cloud, daß Sie ein militairiſcher Ideologe und ich
weiß, daß Laforeſt Sie beobachten läßt. Aus Enghiens
Beiſpiel wiſſen wir wenigſtens, wie der neue Kaiſer
zu ſchrecken verſteht.“


„Pah! rief der General. Wir ſind nicht in Ba¬
den. Zügeln Sie indeß Ihre Advokaten-Beredtſamkeit,
Herr von Eiſenhauch. Es könnte Sie mancher mi߬
verſtehen. Ich aber ſage Ihnen, wer jetzt nicht
herbeieilt, um am Brande mitzulöſchen, iſt ſo ſchlimm,
als wer Feuer hinzuträgt. Wonach Bonaparte trach¬
tet, liegt klar zu Tage. Oeſtreich ſoll erdrückt, zer¬
malmt werden. Ein Thor, wer jetzt noch glaubt,
daß Oeſtreichs Vernichtung Preußens Erhebung iſt.
Das Schickſal hat beſtimmt, daß beide Feinde zu¬
ſammen handeln. Nur darin ſollen ſie rivaliſiren,
wer am tüchtigſten los ſchlägt. Zaudern wir jetzt
wieder —“


„So ſind wir iſolirt und — verloren!“ rief
Fuchſius.


6*[84]

Ein ſtolzer Commandoblick des Generals traf
den Sprecher: „Wer ſagt das!“


„Wenn wir alle unſere Bundesgenoſſen von
uns geſtoßen —“


„Sind wir noch wir ſelbſt.“


Der General hatte ſich erhoben, die beiden Her¬
ren folgten, ſie blickten ſich bedeutungsvoll an.


„Ja, meine Herren, fuhr der General fort, es
wäre ein namenloſes Unglück, man könnte uns der
Frechheit, des Verrathes, beſchuldigen, wenn wir
wieder die Gelegenheit entwiſchen laſſen, wie vor
ſechs Jahren, aus Eigenſinn oder Eigennutz. Ein
Unglück ja, wenn wir nicht losſchlagen, aber ver¬
loren ſind wir nicht, wenn wir allein ſtehen.“


Die jüngeren Zuhörer ſenkten die Augen. Der
Veteran aber fuhr mit leuchtenden Blicken und ge¬
hobener Stimme fort:


„Nein, meine Herren, vielleicht fügt es das
Schickſal ſo, damit wir noch größer einſt daſtehen.
Sie ſind kein Preuße, Herr von Eiſenhauch, Herr
von Fuchſius iſt kein Militair, ich bin beides, und
mein Herz pocht laut und froh bei dem Gedanken:
wir allein ihm gegenüber! Dann Alles in die Wag¬
ſchale geworfen, und, ich ſage Ihnen, wir ſchnellen
nicht in die Luft! Braunſchweig, Möllendorf, Hohen¬
lohe, Kalkreuth! ſind das nicht Namen, vor denen die
Davouſt und Bernadotte, und wie ſie heißen, er¬
bleichen! Einer genügte ſchon; denn welcher Ruhm
und welche Erfahrung ſind da aufgeſpeichert. Und
[85] nun denken Sie, alle dieſe Namen vor einer Armee,
deren Officiere zur Hälfte noch unter Friedrich ſieg¬
ten, vor graubärtigen Soldaten, die noch ſein Auge
anfunkelte. Und die Generale, die zum Felddienſt zu
alt, pflanzen ihre Fahnen auf die Mauern un¬
ſerer ſtolzen Feſtungen. Denken Sie ſich dies Cor¬
pus von altem Ruhm, unvergleichlicher Taktik, von
preußiſchem Muthe beſeelt, von Wuth entflammt,
zehnjährige Unbilden zu rächen, und gegenüber —
die zuſammengeſtoppelten, gepreßten Schaaren der
windigen Franzoſen, die nur ſiegten, weil ſie ſchneller
ſich bewegen konnten, — dies räumen wir ihnen ein,
— denken Sie ihn anpreſchen mit ſolchen Schwär¬
men gegen ein Quarré, ein Quarré aus der ganzen
Preußiſchen Armee, und fragen Sie ſich dann, wie
viel Napoleon Bonaparte's Name wiegen, wie viel
Ueberzahl er haben muß, welche taktiſche Künſte aus¬
reichen, damit er dieſe Eiſenmauer durchbricht. Er
wird ſie nicht durchbrechen, und wir, wir wollen
ſehen, wie Friedrichs Geiſt von Leuthen auf uns
herabblickt!“


Es war etwas hinreißendes in dem Feuer, dem
der alte Kriegsmann ſich überlaſſen. Man wußte,
als Cornet hatte er unter Friedrich ſeine Sporen er¬
worben, der große König ſelbſt hatte den Jüngling
mit ſeiner Gnade beglückt. Es war Wahrheit in
der Rede, wenn auch nur die des Glaubens.


Man ſchwieg. Der General that einige Schritte
auf und ab. Dann zog er die Befreundeten zu ſich
[86] in eine Ecke, und ſprach mit leiſerer Stimme: „Meine
Herren, das iſt noch keine Entſcheidung und wir
dürfen die Hoffnung noch nicht aufgeben. Wir müſ¬
ſen zuſammenhalten, arbeiten, miniren, wir müſſen
Tag und Nacht auf der Hut ſtehen, dieſer Clique
auf die Finger zu ſehen; wir müſſen, zur Ehre un¬
ſeres Königs, den Hahn geſpannt, die Lunte in der
Hand halten, und unſere tägliche Loſung muß ſein:
Kein Nachgeben mehr! Und wenn der Allianztraktat
mit Frankreich zur Unterſchrift auf des Königs Tiſche
läge, dann grade, dann noch zaudert er. Er zau¬
dert, wenn er ein Todesurtheil unterſchreiben ſoll;
was, wo ſo viele Tauſende durch einen Federzug
decretirt werden! Die Hoffnung, ſage ich, nicht auf¬
gegeben, denn ein Lüftchen kann alles ändern. Da¬
rin ſind wir einig. Im andern nicht. Sie ſind
beide jung, auf Schulen geweſen, glauben Syſteme
zu haben. Ich tadle es nicht, ich war auch einmal
jung, aber die beſte Schule iſt das Leben.“


„Aber Herr General geben mir zu, —“ was
der Major ſagen wollte, ward vom General unter¬
brochen.


„Daß einige Reformen nothwendig ſind. Ja,
einige, Herr Major.“ Er hatte ihn am Rock gefaßt,
und fuhr vertraulicher fort. „Die reitende Artillerie,
das bedenken Sie wohl, war Friedrichs Schöpfung.
In einem Lieblingskinde ſehen die geſcheiteſten Väter
oft nicht die Fehler. Auch ein großer Menſch iſt ein
Menſch, und darum keinen Vorwurf auf den großen
[87] König! Ihre Conſtruktion der Laffetten, ich ſage es
grade heraus, trotz Tempelhofs Autorität, iſt ad¬
mirabel; ſie muß eingeführt werden, was auch der
Kriegsminiſter opponirt. Auch Ihre Ideen über die
Beſpannung zeigen von dem Scharfſinn, den ich äſti¬
mire. Selbſt zugeben will ich, daß in unſerm Ge¬
ſchützgießen Verbeſſerungen möglich ſind, aber ich
denke, daß unſre Kanonen noch, wie ſie ſind, einen
Preußiſchen Donner orgeln ſollen, der die Franzoſen
an Roßbach erinnern wird. Nicht alles auf ein Mal!
Gegen Ihre Propoſitionen hinſichts der Spontons
bin ich; das ſage ich Ihnen jetzt offen raus. Das
Spontonexercitium mag immerhin andern närriſch
erſcheinen, Narren werden Sie in der Welt überall
finden. Das Präſentiren mit dem Sponton iſt das
Präſentiren der Armee vor ſich ſelbſt. Der Fähnrich, der,
vor die Front ſpringend, es balancirt, jetzt ſenkrecht, nun
verquer, macht die Honneurs vor dem Feldherrn,
dem General, vor dem Bataillon, vor ſich ſelbſt, nicht
vor dem Publicum. Das halten Sie feſt. Der
Franzos mag darüber ſich moquiren, ſo viel er
will, er hat Recht, für ihn iſt's Narretheidung, weil
er das nicht hat, was wir haben, — verſtehn Sie
mich recht — unſre Eſſenz, meinethalben Exiſtenz.
Das Sponton iſt das Reſidium des alten Ritter¬
geiſtes im Preußiſchen Militair. Wenn ich ſo ſagen
darf, er betrachtet ſich als eine geſchloſſene Zunft und
iſt das Symbolum des Reſpectes vor ſich ſelbſt. Und
meine Herren, ſchaffen Sie erſt die Spontons ab,
[88] ſo fällt auch der Ringkragen, warum nicht auch die
Schärpe und der Federhut, und wo iſt das Ende!“


Fuchſius und der Major hatten ſich angeſehen.


„Sie wollen auch gern die Kamaſchen fort haben,
fuhr der General freundlich fort. Der Preußiſche
Soldat ohne die Kamaſche ſage ich Ihnen, iſt nicht
mehr der Preußiſche Soldat. So kennen ſie uns,
ſo ſollen ſie uns wieder kennen lernen, anders nicht.
Weiß wohl, liebſter Major, was Sie in Ihrem Me¬
moire über die Maſſenbewegungen ſagen. Charmant
exprimirt, fein beobachtet. Durch dieſe ſchnellen Evo¬
lutionen, daß er gleichſam aus einem Sack die leicht¬
füßigen Maſſen ſchüttelte, ſeinen Feind flankirte, von
allen Seiten ſcheinbar zugleich angriff, ſofort die
Geworfenen durch neue Maſſen erſetzte, dadurch hat
Bonaparte in den meiſten Bataillen geſiegt. Richtig!
Aber gegen welche Feinde! Sehn Sie, offenherzig
geſprochen, ich admirire auch ſeinen Erfolg und ſein
Genie, aber was ſagt Friedrich in ſeinen Memoiren?
Wenn ſich zwei Feldherrn in langen Campagnen
gegenüberſtanden, lernen ſie ſich dermaßen kennen,
daß jeder die Manier und die Finten des andern
auswendig weiß. Wir ſind nun in der Lage, daß
wir durch bald zehn Jahr ihn aus der Ferne beo¬
bachtet haben, und ich ſage Ihnen, dieſes großen
Taſchenſpielers Kunſtſtücke kennen wir nun, er aber
kennt uns nicht und kann uns nicht überraſchen. Seine
Chocs werden an uns abprallen, wie die Schwärme
der Parther an den Römiſchen Triariern, und was
[89] unſre Cavallerie anlangt, ſo braucht Niemand in
Sorge zu ſein. Die Ziethen und Seydlitze werden
ſich finden zur poursuite, wenn wir einmal die Ca¬
naille geworfen. Freilich im Laufen kommen wir
ihnen nicht gleich.“


Der General glaubte geſiegt zu haben. Der Major
aber ſah ihn wieder fragend an: „Indeſſen, mein
Herr General, es waren doch auch andere Punkte —“


Der Veteran lächelte mit der Freundlichkeit eines
Gönners, der einen Clienten nicht zu herb in die
Grenzen des Reſpectes zurückweiſen will.


„Ich habe das auch wohl geleſen, und mich über
die Intentionen, und die wohlarrangirte Explication
gefreut. Aber, meine Herren, — er ſchien auch den
Rath in ſeine Belehrung hineinziehen zu wollen —
mit Theorien hätte Friedrich Schleſien nicht erobert;
unſere Armee iſt nun einmal ſo und nicht anders,
Herr von Eiſenhauch. Und ſo war ſie gut, und ob ſie
dann noch gut bleiben wird, wenn Ihr Recrutirungs¬
ſyſtem durchginge? Um Gottes willen keine neuen
Flicken auf ein alt Kleid. Draußen Unruhe, aber
Ruhe, Ruhe, Ruhe im Innern. Nichts angerührt!
Friedrichs Seele ſteckt in den Trommeln und den
Grenadiermützen ſo gut als in dem point d'honneur
der Officiere und der Cantonpflicht der Rekruten.
Ich räume Ihnen ein, ein Etwas muß anders wer¬
den, das Verhältniß der Capitaine mit Compagnie,
zu den Capitains ohne Compagnie. Dieſe ſechshundert
Thaler, und jene mit vielen Tauſenden, mit Equipagen,
[90] Reitpferden, Fourgons, Dienerſchaft. Das ſchadet der
Disciplin. Das muß anders werden. Die Zahl der
zu Beurlaubenden muß den Herren Compagniechefs
genau beſtimmt werden und kein Mann darüber.“


„Würde dieſe Beſtimmung genügen?“


„Für jetzt, Herr Major, wenn wir das durch¬
ſetzen, können wir zufrieden ſein. Wenn Sie mich
aber nicht verrathen wollen, in meinen Ideen gehe
ich weiter. Es wird eine Zeit kommen, wo der Ca¬
pitain nichts mit dem Traktement ſeiner Leute zu
ſchaffen haben darf, wo ſie nur in einem Connex
reiner Disciplin zu einander ſtehen. So muß es
einſt kommen, ſag ich Ihnen, aber dieſe Zeit erleben
nicht wir, vielleicht nicht unſre Kinder. Denn —
der Menſch muß nicht zu klug ſein wollen, oder es
iſt vorüber mit aller Autorité.“


Der General ging.


„Eine aus lauter Preußenthum concentrirte
Säure!“ ſagte der Major.


„Und doch immer noch einer der beſſern, ent¬
gegnete der Rath. Er wird ſich auch, wenn es gilt,
in ſeiner verroſteten Rüſtung noch mit einem gewiſſen
Geſchick rütteln.“


„Was hilfts den andern! rief der Major, der
ſich in den Armſtuhl mit einem Schmerzensſeufzer
niederwarf. — Iſt dies die Hauptſtadt des großen
Genius, von dem das Licht nicht über ſein, nein,
über unſer aller Deutſchland aufging! Deutſchland
glaubt wenigſtens noch, daß es hier hell ſei; es iſt
[91] der Anker, an den ſeine letzte, ſchmerzliche, krampf¬
hafte Hoffnung ſich klammert.“


„Hat man es Ihnen draußen anders geſchildert?“


„Nein! Aber der Tand, das Spiel und die Ei¬
telkeit hielt ich für die Maske, unter der der männ¬
liche Entſchluß, die Vorbereitung zur That, ſich ver¬
birgt. Der blonde Arminius ließ auch die ſchönen
Römerinnen lange mit ſeinen Locken ſpielen. Mit
dieſer Selbſttäuſchung reiſte ich durch Ihre Pro¬
vinzen. Es ſieht knöchern aus, überall ausge¬
wachſene Kleider, ſchlotternde Glieder, eine Maſchine,
die klappert. Der Geiſt nur kann das zuſammen
halten, tröſtete ich mich; der Nimbus um Friedrichs
Thron flimmert noch in ſo wunderbarem Flammen¬
glanz von fern geſehen. Und nun hier zur Stelle!
Aus Kreiſen in Kreiſe, aus Geſellſchaften in Geſell¬
ſchaften werde ich geſchleppt. Irgendwo hoffe ich
wird ein Vorhang ſich lüften, die Stimme von Sais
ertönen. Aber ein Vorhang nach dem andern reißt —“


„Und Sie ſehen nur Draht, Stricke und Ku¬
liſſenſchieber, der Dirigent fehlt.“


„Sie haben doch einen König, der nüchtern blieb
unter den Taumelnden, der nicht blaſirt iſt, ein ſchar¬
fes Auge hat für das Unziemliche, der nicht den
Esprit fort ſpielen will um ſeine Frivolität zu ent¬
ſchuldigen und ſeine Unwiſſenheit zu verbergen. Er
will das Gute —“


„Gewiß! Und es überkommt ihn oft ein Schauer,
in mancher Morgenſtunde fühlt er, es kann ſo nicht
[92] mehr lange gehen. Aber von wem ſoll er erfahren,
wie es gehen muß? — Keine Stände, keine Mag¬
naten, kaum etwas, was einem Adel ähnlich ſieht.
Die Prinzen, was ſind ſie ihm? Die Polterer ver¬
trägt er nicht, die Genies ſind ſeiner Natur zuwider.
Unſre Miniſter kennen Sie, unſre Kabinetsräthe noch
beſſer. Sie leben nur in den Tag hinein, zufrieden
wenn ſie bis Morgen geſorgt haben. Er iſt fried¬
fertig und alle Morgen präſentiren ſie ihm eine
Schüſſel: Ruhe! Mit Maaslieb und Vergißmeinnicht
geſchmückt: „„So ſieht es bei uns aus, Majeſtät,
und ſehen Sie, wie es draußen ausſieht, wo ſie
alles beſſern wollten.““


„Aber er iſt Friedrichs Enkel!“


„Grade der iſt ſein Spukbild. Wo es ihm zu
arg wird, wo er darunter fahren möchte, es anders
haben, ſagt man ihm: das hat doch unter Friedrich
beſtanden und es ging ganz gut! Oder gar: Maje¬
ſtät, das hat Friedrich ſelbſt eingerichtet. Dann
erſchrickt er; in ſeiner Beſcheidenheit getraut er ſich
nicht, es beſſer machen zu können. Und dies heilige
Geſpenſt wird dem jungen Fürſten grade von denen
citirt, welche vor ſeinem Geiſt in Staub und Aſche
verſinken müßten. Es ſollte mich nicht wundern,
wenn der König einen förmlichen Widerwillen gegen
ſeinen Großoheim einſaugte, ſo ſtörend wird ſein
Bild ihm überall vorgehalten, wo er etwas Selbſt¬
eigenes durchſetzen will.“


„Aber, mein Gott, Ihr großer König nannte
[93] ſich Rex Borussorum, König der Preußen! Wo ſind denn
ſeine Preußen! Hat denn das Volk gar keine Stimme
mehr, das ihn einſt auf ſeinen Schildern trug? Oder
war der Schmerzenslaut auf ſeinem Sterbebett eine
Wahrheit? War der Große wirklich müde über Scla¬
ven zu herrſchen?“


Der Rath zückte die Achſeln: „Das iſt eine Frage,
mein Herr, über die wir die Antwort der Zukunft
überlaſſen.“


„Aber wenn keine Stimme, hat Ihr Volk auch
keine Sinne mehr? Wo die Sturmglocken über den
Continent läuten, wo der nächtliche Feuerſchein von
allen Seiten, der Brannſtgeruch den Siebenſchläfer
aufwecken muß, ſchläft das Preußiſche Volk allein da
fort, begreift es nicht, was ſelbſt jener verroſtete Ge¬
neral ahnt, daß es ſich um Sein und Nichtſein han¬
delt! — Wo der Geiſt ſchläft, wacht doch das In¬
tereſſe. Für die Nothdurft, den Vortheil iſt auch im
Sclaven der Sinn rege.“


Der Eifer des Majors verwandelte das halb¬
laute Geſpräch oft in ein lautes. Der Regierungs¬
rath hatte mit vorſichtigem Blicke Wache haltend, den
Eifer zu dämpfen verſucht. Er ſetzte ſich jetzt dicht
neben ihn:


„Mein theuerſter Freiherr, rufen Sie Alles hier
an, nur nicht das Intereſſe. Wer ſoll denn wün¬
ſchen, daß es anders wird? Sie befinden ſich ja noch
erträglich wohl, und die Kette klinkt auch noch in
einander, wenn man nicht zu ſtark dran reißt. Der
[94] Ertrag der großen Güter ſteigt, ihre adligen Beſitzer
zahlen keine Steuern und ihr Werth läßt ſich durch
die bekannten Künſte im Hypothekenbuch ins Enorme
hinaufſchrauben. Ein Krieg und dieſer Werth ſinkt.
Und ſollen die Junker ihn wünſchen, denen im Heere,
am Hofe, ſelbſt in der Regierung die oberſten Stellen
nach wie vor reſervirt ſind! So viel Bürgerliche ſich
auch dazu im Laufe eines Jahrhunderts aufgeſchwun¬
gen, ſie blieben Ausnahmen, oder gingen da oben
in die Klaſſe der Bevorzugten über. Sollen die Kauf¬
leute einen Krieg wünſchen, oder auch nur eine Aen¬
derung? — Sie ſeufzen unter ſtarken Abgaben, aber
der Handel blüht und ſie werden reich. Die übrigen
Staatsdiener werden zwar kärglich bezahlt, aber pünkt¬
lich. Wenn ein Krieg die Kaſſen leert, woher dann
die Beſoldung nehmen.“


„Iſt das Ihre ganze Nation! Haben Sie nicht
Künſtler, Handwerker, Männer der Wiſſenſchaft, kleinere
Grundbeſitzer, Bauern, die unter einer drückenden
Eintheilung der Laſten ſeufzen?“


„Sie ſeufzen wohl, aber ſie ſprechen nicht mit.
Und wenn ſie zu ſprechen Luſt hätten, ſo haben ſie noch
nicht zu denken gelernt. Mein Herr Major, Preußen's
Volksſinn ſteckt noch immer unter dem blauen Rocke. Und
nun betrachten Sie auf den Wachtparaden dieſe ſchwer¬
fälligen, alten Officiere, dieſe Pontacsnaſen, dieſe Ca¬
pitaine, die kaum die Schärpe um den Leib preſſen,
in der ſie drei Viertel ihrer Compagnie verſchluckten.
[95] Sollen die Beſſerung wünſchen, nach Neuerung ver¬
langen? Ich gebe Ihnen zu, es ſind nicht alle ſo,
die Armee zählt ſchon viel jüngere Officiere, voll
Feuer, Eifer, Begeiſterung —“


„Aber die Begeiſterung iſt eine Fuchtelklingen¬
begeiſterung, unterbrach der Major, und ihr Herz
ſchlägt nicht für's Vaterland, nur für das point
d'honneur
und den esprit de corps —“


„Halt, mein Herr, es giebt auch —“


„Ich ſah, ich hörte ſie auf meiner Reiſe. Mir
ward bange, wenn ich dachte, daß Preußen auf dieſen
Säulen allein ruht, und die Säulen ſind unterſpült
und gelöſt von der Erde, die ſie tragen ſoll. Ich
ſchauderte, wenn ich hörte, wie man überall vor den
Soldaten die Schubläden und Thüren verſchließt, als
wären es nur geworbene Landsknechte, nicht des
Landes Söhne. Doch ſei das, mögen ſie noch Leib¬
eigene ſein, nicht dem Vaterlande, ihrem Capitaine.
Aber, allmächtiger Gott, welche Sprache mußte ich
unter dieſen hören, in den Wachtſtuben der Herren
Officiere. Wäre das Deutſchlands Adel, ſo wäre er
verloren, nur ſchmähliger als der Frankreichs; nicht
unter der Guillotine, er ſtürbe an einem inneren
freſſenden Schaden. In den kleinen Städten, wenn
der Bürger dem Fuchtelexercitium zuſah, welche Ur¬
theile! Sie gönnen es den Junkern, daß ſie recht
tüchtig mal von den Franzoſen geklopft würden. Und
das mußte ich von guten Patrioten hören. Weiß man
denn nichts davon hier? Iſt man blind, taub, ſtumpf?
[96] Iſt das nicht ein Zerſetzungsprozeß, der den Blut¬
lauf erſtarrt?“


Der Major empfand einen Stoß an ſeinem Ellen¬
bogen: „Pſt! Laforeſt wirft ſchon lange von ſeinem
Ofen her beobachtende Blicke.“


„Mag er es! rief der Major aufſtehend. Lieber
ihm in den Rachen, als da dem neuen Rhino¬
ceros.“


Das neue Rhinoceros war der eben eingetretene
Legationsrath von Wandel, eine Sonne, die ſofort
ihre Trabanten hatte.


„Ich kann den Menſchen nicht leiden, ich weiß
nicht warum,“ ſagte der Major.


„Das geht anderen auch ſo, Herr von Eiſenhauch,
zum Exempel unſerm Miniſter. Bovillard möchte
ihn gar zu gern in unſern Staatsdienſt ziehn, Ex¬
cellenz haben aber eine unwiderſtehliche Averſion.“


„Iſt es denn wahr, daß er die ſieben Adler von
Napoleon hergebracht hat?“


„So iſt es.“


„Dann iſt's ja klar, er iſt eine franzöſiſche
Creatur.“


„An dem Herrn iſt mir noch nichts klar.“


„Mir ſcheint er gefährlich.“


„Iſt's Ihnen darum zu thun, Aufklärung über
den Punkt zu erhalten, laſſen Sie uns zu Laforeſt
gehen. Der Kreis um ihn lichtet ſich.“


„Sie warnten mich eben vor ihm.“


„In ſeinem Rayon iſt man wenigſtens vor ſeinen
[97] Spionen geſchützt. Es iſt ſogar gut, daß Sie ſich
ihm arglos zeigen.“


„Wie ſollte er aber dazu kommen, uns Auf¬
ſchlüſſe zu geben?“


„Er gehört nicht zu den zugeknöpften Diplo¬
maten. Ueberdem iſt er jetzt ſatt. Bonapartes Ge¬
ſandter hat, was er will, hier erreicht. Er kann
den nonchalanten Plauderer ſpielen. Er kann nicht
allein den Rock aufknöpfen, auch das Hemde auf¬
reißen, damit wir ſeine Bruſt ſchlagen ſehen. Die
gewinnende Vertraulichkeit wird auch wohl noch zum
Leimſtock für eine harmloſe Fliege. Wie vergnügt
Alle von ihm fortgehen! Trauen Sie keinem ſeiner
Worte, und doch iſt es möglich, daß er uns die
reinſte Wahrheit ſchenkt. Denn ob er mit ihr, oder
mit der Lüge uns täuſcht, iſt ihm gleichgültig. Uebri¬
gens weiß er alles was hier geſchieht, und früher
und genauer als der Polizeipräſident. Was der Kö¬
nig beim Frühſtück geäußert, läßt er ſchon am Mittag
chiffriren. Er kennt die Anträge der Miniſter, die
nicht bis zum Könige durchgedrungen ſind, weil die Ka¬
binetsräthe Widerſtand leiſten, und ehe noch Seine
Majeſtät eine Sylbe davon erfahren, fliegt der Cou¬
rier damit ſchon nach Paris.“


„Warum macht man Laforeſt nicht zum Miniſter
des Auswärtigen.“


„Beſſer des Innern. Der ruſſiſchen Fürſtin
ward vorgeſtern ein Brillanthalsband geſtohlen. Die
Polizei ſuchte umſonſt. Er hat es gefunden. Ge¬
II. 7[98] ſtern erhielt die Fürſtin das Band, heut die Gerech¬
tigkeit die Diebe!“


„O wer den Dieb, der Deutſchlands Heilig¬
thum geſtohlen, der Gerechtigkeit überlieferte! ſeufzte
der Major. Ob wir uns auch an die fremde Di¬
plomatie werden wenden müſſen!“ —

[]

Sechstes Kapitel.
Der Diplomat.

Die Unterhaltung mit Laforeſt ward natürlich
franzöſiſch geführt. Der Geſandte pikirte ſich dann
und wann, eine baroke deutſche Phraſe einzuſchalten.
Es klang ſo vertraulich und ſo abſcheulich; er war
von der beſten mediſirenden Laune.


„Excellenz ſcheinen ſich zu amüſiren.“


„Vortrefflich, où peut-on être mieux qu'au
sein
der illüſtren Geiſter dieſer Reſidenz.“


„Die Dame des Hauſes kann von beſonderem
Glück ſagen, wenn Herr von Laforeſt ſo lange in
ihrer Geſellſchaft verweilt,“ ſagte Herr von Fuchſius.


„Ein Geſandter muß beobachten.“


„Da Preußen in den letzten Monaten in Brüſſel
und Paris war, bemerkte der Major, hatte Frank¬
reichs Geſandter allerdings wenig aus dem ver¬
laſſenen Berlin zu berichten.“


„Sagen Sie das nicht, mein Herr Baron. Den
Kaiſer intereſſiren die inneren Bewegungen ihrer Ka¬
7*[100] pitale mehr, als Sie denken. Vor ſeinem durch¬
dringenden Blicke iſt kein Winkel in Madrid und
Conſtantinopel verborgen, aber in Deuſchland, dieſem
Land der Ideen und Schulen, ſind ihm überall
Querzäune, Hecken und Gräben gezogen. Er hat
ſich oft darüber geäußert. Wenn er über Reuß-
Greitz im Klaren zu ſein glaubt, gewahrt er plötzlich,
daß es in Reuß-Schleitz ganz anders ausſieht. Hier
verehren ſie Schiller, dort Goethe. Dort Kant, hier
Fichte. Hier gilt ſchon etwas für Dummheit und
Aberglauben, was dort noch gefährliche Aufklärung
iſt. Feine Conjecturalpolitik, logiſche Schlüſſe rei¬
chen auf dies Land der Mannigfaltigkeiten nicht aus.
Da ſtampft er mit dem Fuß, ſchreibt eigenhändig
Marginal-Bemerkungen: Warum dies? Warum
das? — Ein franzöſiſcher Geſandter an einem deut¬
ſchen Hoſe müßte eigentlich erſt auf deutſche Schulen
gehen, wenn er alle Fragen des genialen Mannes
beantworten wollte.“


„Allerdings bequemer, wenn man auch Deutſch¬
land über einen Leiſten ſcheeren könnte.“


Der Geſandte lächelte beifällig.


„Er hat ein gutes Scheermeſſer, wie Sie wiſ¬
ſen, und was das übrige Deutſchland betrifft, ſo
kommt es ihm auf einige Höcker mehr oder weniger
nicht an. Aber warum Ihr ſpecielles Vaterland ſich
noch zu Deutſchland rechnet, das intereſſirt ihn.
Dieſe intenſiven Bande der Sprache, des Gefühls,
der Poeſie und Philoſophie.“


[101]

„Was ihm gewiß ungleich intereſſanter iſt als
die Situation unſerer Feſtungen und Straßen zu
erhalten.“


„Unbedenklich,“ ſagte der Geſandte, eine Priſe
nehmend, die verbergen ſollte, daß er recht wohl be¬
merkte, wie der Rath umſonſt dem Major einen Wink
gab, ſein Invectiven zu laſſen. „Denn wenn es zum
Kriege mit Preußen käme, was der Himmel verhüte
und ich für unmöglich halte, ſo läßt der Kaiſer, mein
Herr, weder durch Terrain-Schwierigkeiten noch
Feſtungen ſich aufhalten. Der Continent liegt vor
ihm wie eine Specialkarte, er hat die Riſſe aller
Feſtungen und die Kataſter Ihrer Zeughäuſer. Er
weiß, wo er die Elbe paſſiren muß, um nach Berlin
zu marſchiren, er kennt ſogar die Straßen, durch die
er einrücken würde; aber Ihre Parteien, das muß
ich geſtehen, kennt er nicht.“


„Auch nicht, wo ein ſolcher Beobachter ihn davon
in Kenntniß ſetzt?“


Ma foi, ich kenne ſie auch nicht. Denn Sie
meinen doch nicht jene unruhigen Geiſter, die von
der ehemaligen Herrlichkeit des Reiches deklamiren,
von Arminius und Wittekind und — Thusnelda und
deutſchem Adel, zuweilen von Freiheit, zuweilen von der
Liebe zu den angeſtammten Herrſcherhäuſern, und die
überall conſpiriren möchten, im Namen der Religion
und Tugend für ein Etwas, was nie geweſen iſt!
Verzeihen Sie, darüber berichte ich ihm wirklich nicht;
er würde mich auslachen.“
[102] „Sind Seine Majeſtät, der Kaiſer, ſo ſcherzhaft
geſtimmt?“


„Er lachte wenigſtens eines Tages, als Talley¬
rand ihn auf die gefährlichen Tendenzen dieſer adligen
Tugendritter aufmerkſam machte. „„Soll ich mich
etwa um Commis-Voyageurs bekümmern, welche die
verlegene Waare des feudaliſtiſchen Patriotismus
an den Mann zu bringen ſuchen?““ Aber als
Freund möchte ich Ihnen, meine Herren, anrathen,
wo Sie etwa einen dieſer Reiſenden träfen, ihn zu
warnen, daß er es nicht zu arg treibt. Der Kaiſer,
einmal in Harniſch gebracht, verſteht keinen Spaß
mehr.“


Der Rath hatte die Hand des Majors raſch er¬
griffen, ehe dieſer den Mund öffnen konnte: „Excellenz
haben ganz Recht, es giebt unter uns keine Par¬
teien, da wir alle daſſelbe wollen, das Glück unſeres
Vaterlandes.“


„Ganz wie in Frankreich! ſagte der Geſandte.
Wenn die Nationen ſich nur verſtänden, ſo wäre die
Erde ein Paradies.“


„Und Diplomaten können viel dazu beitragen.“


„Wie ich von Herrn von Laforeſt überzeugt bin,
daß er nur Gutes und Wohlmeinendes über uns
nach Paris berichtet.“


„Was könnte ich anders! A propos, da fällt
mir ein, neulich konnte ich ihm nur Stoßſeufzer
berichten. Sagen Sie, was iſt das für ein Weg
von hier nach Tegel! Knietiefer Sand und Steine!
[103] Aus Erbarmen für meine Pferde mußte ich aus dem
Wagen ſpringen.“


„Was führte Excellenz nach Tegel?“


„Sein expreſſer Auftrag.“


„Napoleon ſollte dies unbedeutende Dorf kennen?“


„Im Kreiſe der Kaiſerin war von der Stael die
Rede geweſen, Madame Joſephine ſuchte ſie zu ver¬
theidigen gegen den ſprudelnden Zorn ihres Ge¬
mahls — unter uns, Napoleon iſt darin etwas
kleinlich — dabei kam man auf ihre Studien in
Deutſchland, auf Herrn von Goethe, der ein roman¬
tiſcher Poet und Miniſter zugleich ſei, was Napoleon
wieder nicht begriff, auf ein didaktiſches oder dra¬
matiſches Poem deſſelben, Doctor Fauſt, auf die Illuſtra¬
tion eines Hexenſabbats, ich glaube Walpurgisnacht,
wo ein Vers vorkommt, der ja wohl heißt:
Und dennoch ſpukt's in Tegel!
Irgend ein Germanomane muß wohl in der kleinen
Societät geweſen ſein, wie dem nun ſei, der Kaiſer
ließ ſich die Worte überſetzen und erklären. Das
Spuken kann er nicht leiden, er meinte, es ſpuke
überall in Deutſchland, warum in dem Orte, von
dem man ihm geſagt, daß er dicht bei Berlin liegt,
was das zu bedeuten habe, was Tegel ſei? Kurz,
das Ende vom Liede, eine Anfrage an mich, ein
Befehl, an Ort und Stelle zu unterſuchen und zu
berichten.“


„Und Sie entdeckten nur den ſtillen Ruheſitz des
großen Gelehrten, der wohl nicht auf den Cordilleres
[104] mit Ihrem Bonpland gegen den Kaiſer conſpirirt
haben wird.“


„Ein großer Mann pikirt ſich in ſeiner Laune
oft auf Kleines. Er traut Ihrem Könige, wie ſeinem
Buſenfreunde, aber bei einem Spukhaus in Deutſch¬
land denkt er ſogleich an Höllenmaſchinen und Con¬
ſpirationen des Herrn Pitt. Den Baron Humboldt
äſtimirt er ſehr.“


Der Major bemerkte: „Wahrſcheinlich war dies
das letzte Wichtige, was Excellenz aus Berlin zu
melden hatten.“


„Im Gegentheil, Herr von Eiſenhauch, was gab
es nicht in den letzten Monaten zu berichten: Die
Anſichten, die bedenkliche Stimmung im Publikum
bei der Hinrichtung der Kindesmörderin. Es handelte
ſich dabei um Abſchaffung der Todesſtrafe, im Volk
glaubte man es wenigſtens. Wenn Preußen die
Initiative ergriffe, glauben Sie nicht, daß der Kai¬
ſer mit Vergnügen darauf einginge? Dann die
Frage, ob der Geheimrath Lupinus abzuſetzen ſei
oder nicht? Welche anderen Fragen knüpfen ſich nicht
daran! Unter uns, Napoleon würde vielleicht kür¬
zeren Prozeß gemacht haben; freilich je nachdem.
Und dann die Exceſſe in dem Hauſe der Obriſtin.
Wie viele feine Hoffäden ſpielen da hinein, und ich
muß geſtehen, man hat es mit Takt applanirt. Der
Kaiſer war, wie ich Ihnen im Vertrauen ſagen kann,
darüber erfreut; an einem andern Hofe würde man
in der verdächtigen Dame eine ſeiner Emiſſairinnen
[105] gewittert haben. Auch die Anweſenheit der vielen
vornehmen Fremden genirt ihn gar nicht. Ginge es
freilich nach Talleyrand, ſo hätten wir längſt auf die
Ausweiſung der Fürſtin Gargazin gedrungen. Sagt
man nicht im Publikum, ſie intriguire für Rußland!
Immerhin. Wir kennen Ihren König, Ihren Hof,
Ihr Volk und Land, und ſind vollkommen ruhig.“


„Was kann uns ſchmeichelhafteres geſagt
werden.“


„Und was habe ich jetzt zu berichten über den
Empfang des Monſieur Jean Paul. Muß ich nicht
aus Geſellſchaft in Geſellſchaft, um nur Zeuge zu
ſein der Huldigung und Vergötterung des Poeten.“


„Wenn Troubadoure, wie die Rattenfänger von
Hameln durch den Continent zögen, würde Seine
Majeſtät Kaiſer Napoleon ſparen können an —
Diplomaten, die beobachten, vielleicht auch an Ar¬
meen, die für ihn erobern.“


„Mein Kaiſer iſt ein Eroberer, Sie haben recht,
Major. Er iſt dazu geboren. Glauben Sie aber
nicht, daß er es vorzöge, wenn er den Embarras der
Waffen ſparen, und die Herzen erobern könnte?
Wenn die Deutſchen doch ihre wahren Intereſſen
verſtänden. Theilen wir! Der Kaiſer erobert die
Reiche dieſer Welt und läßt dafür Ihre Nation
ſchaffen und erobern allein in dem der Ideale und
der Schönheit. Die Deutſchen haben Ueberfluß an Pro¬
dukten, und ihnen fehlt nur der Markt dafür. Den
eröffnet er ihnen in ſeinem Weltreiche.“


[106]

„Unſer Dichter Friedrich Schiller ſang ſchon von
dieſer Theilung.“


„Ah, ich weiß, ein ſchönes Lied, vom Parnaß.“


„Indeſſen hat uns Seine Majeſtät, Ihr Kaiſer
auch ſchon mit etwas Irdiſchem beglückt. Sieben
ſeiner höchſten Ordenszeichen, allein für unſern Hof!“


„Ich bin beſchämt eben zu hören, daß Seine
Majeſtät Ihr König ſo ſchnell ſich revanchiren will.
Auch ſieben ſeiner ſchwarzen Adlerorden gehen nach
Paris.“


„In der That! ſagte der Major. Ich möchte
der glückliche Ueberbringer ſein.“


„Wie der Ueberbringer der Kaiſerlichen Aus¬
zeichnungen auch hier einer glücklichen Entree ſicher
iſt,“ ſetzte Herr von Fuchſius hinzu.


„Nein, er hat das Bein gebrochen,“ ſagte der
Geſandte.


Rath und Major ſahen ſich verwundert an und
dann nach dem andern Zimmer, wo der Legations¬
rath der Ruſſiſchen Fürſtin eben die Pflegetochter des
Hauſes vorſtellte.


„Er ſcheint doch in voller Geſundheit auf ſeinen
Beinen zu ſtehen.“


„Ach, ein kleiner Irrthum, meine Herren! Ein
Adjutant von Mortier war als Cabinetscourier her¬
geſchickt. Er brach in einem Hohlweg unglücklicher¬
weiſe Wagen und Bein, und da ihm zur Pflicht
gemacht war, Depeche und Beilage an einem be¬
ſtimmten Tage mir einzuhändigen, glaubte er ihr zu
[107] genügen, wenn er beides jemand überlieferte, auf
den er ſich verlaſſen könnte. Der arme Debeleyme
liegt noch auf ſeinem Schmerzenslager auf dem Gute
des Herrn von Wandel, der wirklich mit aufopfernder
Güte und Courierpferden den Auftrag ſtatt ſeiner
ausgeführt hat.“


Rath und Major hatten aus der Antwort nicht
erfahren, was ſie wiſſen wollten.


„Der Adjutant konnte ſich alſo auf Herrn
von Wandel verlaſſen?“ ſagte nach einer Pauſe der
Major.


„Ein Paket von Erfurt nach Berlin zu tragen!
Das übergebe ich dem erſten beſten Landreiter, der ein
anſtändiges Trinkgeld einem gefährlichen Angriff auf
bunte Blechwaaren vorzieht.“ Laforeſt lächelte:
„Meine Freunde, wozu unter uns ein Verſteckſpiel,
wo jeder dem Andern in die Karten ſieht! Sie
wünſchen zu erfahren, ob und in welchem Connex
ich mit Herrn von Wandel ſtehe? Wenn ich nun feier¬
lich dagegen proteſtirte, würden Sie mir glauben? —
Sie würden wenigſtens ſehr unrecht thun. Ich pro¬
teſtire aber gar nicht dagegen.“


„Sie geben ihn nur durch Ihre Erklärung bloß.“


„Ich überlaſſe ihn Ihrer Divinationsgabe, denn
meine iſt bis dato noch an ihm geſcheitert.“


„So muß er Ew. Excellenz beſchäftigen?“


„En passant. Der Fürſtin Gargazin drängt er
ſich auf, alſo gehört er nicht zu ihr. Ein Oeſt¬
reichiſcher Agent iſt er auch nicht, er ſpricht zu viel
[108] von ſeinen vertrauten Bekanntſchaften am Wiener
Hofe. Für Engliſche Spione habe ich einen beſon¬
dern Takt. Aber —“


„Vielleicht aus Spanien oder Schweden,“ warf
der Major ironiſch hin.


„Ein eigenes Lächeln ſchwebte um die Lippen
des Geſandten: „Warum nicht auch aus Frankreich.
Ich bin nur der officielle Geſandte, mag Talleyrand
nicht auch einen geheimen für nöthig halten, der
mich beobachtet?“


Hier war die Möglichkeit einer Wahrheit. Die
Blicke der Beiden geſtanden es ſich, und Fuchſius er¬
wähnte, daß der Legationsrath, ſeiner Angabe nach,
bedeutende Güter in Thüringen beſitze. Intereſſirte
er wirklich in der angegebenen Art den Geſandten,
ſo mußte dieſer ſich darüber Aufklärung verſchafft
haben. Laforeſt ging auch ſofort darauf ein:


„Allerdings hat er ſich dort angekauft; in einer
Subhaſtation erſtand er nicht unbedeutende Güter¬
ſtrecken, man ſagt indeß ſolche, die nie lange in der
Hand ihres Beſitzers blieben, weil ſie, ſchwer belaſtet,
kaum die Mühe der Cultur lohnen. Hier in Berlin
will er ſein, um mit den Männern der Wiſſenſchaft
einen Meliorationsplan zu entwerfen. Warum nicht!
Er kann aber auch zu allerhand andern Geſchäften
da ſein: um die Quadratur des Cirkels zu finden,
Geiſter zu citiren, — das Wahrſcheinlichſte iſt mir
aber immer, um Geld zu machen. D'ailleurs Mes¬
sieurs
, dieſe Myſticismus duftenden Perſonen ſind
[109] meiner Natur entgegen. Ich überlaſſe daher den Le¬
gationsrath, auf parole d'honneur, ganz wie er iſt
Ihren Recherchen.“


Wenn Wahrheit überhaupt in einem Diploma¬
ten möglich iſt, dachte der Major, ſo iſt ſie dies. Der
Rath mußte daſſelbe denken:


„Da Bovillard ihn protegirt, lag es ſehr nahe
zu glauben, daß er auch Excellenz bekannter wäre,
als wir jetzt hören.“


„Wer ſteht denn dafür, wenn er ein Magier iſt,
daß nicht Bovillard der Protegirte iſt und er der
Protector! Aber da fällt mir ein — wiſſen Sie ſchon,
daß der junge Bovillard ihn heut auf Piſtolen ge¬
fordert hat?“


„Den Legationsrath! — Ach, es iſt richtig, we¬
gen jener alten Geſchichte.“


„Meine Herrn, iſt der junge Bovillard vielleicht
Ihr Freund?“


„Nichts weniger als das!“ ſagte der Rath, der
über die Aufmerkſamkeit verwundert ſchien, mit wel¬
cher Laforeſt den Gegenſtand ihres Geſprächs zu be¬
obachten ſchien.


„Man findet es ſonderbar, daß Herr von Wandel
gleich nach der Affaire abreiſte, und grade damals an
Ort und Stelle ſeine Güter und ſo lange amelioriren
mußte.“


Auch der Major hatte während des Geſprächs
die betreffende Perſon ſcharf ins Auge gefaßt: „Ich
ſehe keine Veränderung in dieſem eiſernen Geſichte.“


[110]

„Möglich. Naturen dieſer Art ſind mir, wie
geſagt, fremd. Die Präparationen des Duells aber
ſollen mit der ſtrengſten Verſchwiegenheit vorgenom¬
men werden. Beobachten Sie doch gefälligſt, meine
Herren, wenn Sie ſich nachher in die Geſellſchaft
verlieren, ob ſchon Andere davon wiſſen, ob der Le¬
gationsrath bekannte Perſonen in den Winkel zieht?
Das ſind freilich Bagatellen, aber aus Bagatellen
lernt man einen Menſchen kennen.“


Der Seitenſprung ſchien auf beide Herren keinen
beſondern Eindruck gemacht zu haben; die Perſon des
jungen Bovillard war ihnen gleichgültig. Auch die
Aufmerkſamkeit des Geſandten ſchien raſch auf andere
Dinge übergegangen. Er ſprach etwas von Sym¬
pathieen und Antipathieen, jene weil ſie ſich chemiſch
auf ihre Elemente zerlegen laſſen, kümmerten ihn
nicht, woher aber komme die Idioſynkraſie, jener an¬
geborne Widerwille, den die Vernunft umſonſt be¬
kämpfe? Wie alles Wunderbare finde er auch
ihn in dieſem Lande zuhauſe. Aber er ſchien jetzt
nur der Sympathie zu huldigen, indem er die Frauen
die Muſterung paſſiren ließ.


„Herr von Fuchſius ſcheint mit beſonderer Sym¬
pathie die ſchöne Pflegetochter des Hauſes zu beo¬
bachten. Allen Reſpect Ihrem Geſchmack. Oder flat¬
tern Ihre Augen weiter; denn, man muß geſtehen,
es entfaltet ſich ein unvergleichlicher Blumenflor. Das
ſind ja wohl Reichards Töchter? Kann man anmu¬
thigere Bilder ſehn! Dieſer friſche Hauch der Jugend,
[111] dieſe ſchwellende Roſenfülle! Wenn es zu einem
Nationalkriege käme, ſollten Sie Ihre Frauen in die
Vorderreihen ſtellen. Der franzöſiſche Soldat ergäbe
ſich aus Galanterie. Wer iſt die junoniſche Schön¬
heit dort?“


„Excellenz meinen die Herz?“


„Nein, die den halben Rücken uns zugedreht.“


„Baronin Eitelbach?“


„Die!“ Der Geſandte ſchielte mit ſardoniſchem
Lächeln über das Ofengeſims. „Schön iſt ſie.“


„Auch tugendhaft.“


„Nous le verrons.“


„Zweifeln Sie nicht daran, Excellenz! die arme
ſchöne Frau hat keine andern Eigenſchaften.“


Messieurs! Die Gelegenheit macht Diebe und
Intriguen den Verſtand. Geben Sie einer Deut¬
ſchen die Erziehung einer Pariſerin, verſetzen Sie ſie
täglich in die Salons, wo der Verſtand ſich reiben
und ſchleifen muß. — Der Witz ſprießt von ſelbſt
heraus und — Ihre Landsmänninnen werden ſo lie¬
benswürdig und intriguant wie eine Pariſerin.“


„Was die Baronin betrifft, ſo haben wir Grund
es zu bezweifeln.“


„Meine Herren, was gilt die Wette, dieſe Dame,
die jetzt für dumm gilt, hat in Jahr und Tag
Esprit, ſie wird intereſſant, witzig, das Stadtge¬
ſpräch, vielleicht ſie Beauté, die Sonne der Geſell¬
ſchaften.“


Man ſah Laforeſt verwundert an.


[112]

„Die neueſten Myſterien von Berlin. Und es
iſt exakte Wahrheit.“


Er zog ſie hinter den Ofen, und flüſterte, die
Hand am Munde, etwas, was ihn ſelbſt wenigſtens
angenehm kitzeln mußte, denn das Geſicht verlor im
Erzählen den diplomatiſchen Ausdruck.


„Qu'en dites-vous? Aber es bleibt ein My¬
ſterium.“


„Was ſagen Sie dazu?“ fragte der Regierungs¬
rath, als Laforeſt ſie verlaſſen.


„Daß Berlin auf gutem Wege iſt Paris zu
werden. Aber das riecht ſogar nach Byzanz. Im
Augenblick des höchſten Ernſtes ein ſolches Spiel
niederträchtiger Frivolität!“


„Dieſe Menſchen können nicht aus ihrer Natur.“


„Was ſolls mich denn kümmern, ob Einer mehr
noch einen Faden treibt in das Gewebe verſtockter
Thorheit, niederträchtiger Geſinnung und liederlichen
Willens!“


„Sie müſſen ſpielen um zu leben.“


„Man naht doch mit heiliger Scheu der Stätte,
die ein großer Geiſt geweiht hat. Noch ſind's nicht
zwanzig Jahr, daß ſein Auge leuchtete, ſeine Stimme
tönte, und nur ſolche Creaturen wimmelnd im Dunſt¬
kreis ſeines Grabes! Sind das die Würmer, die an
des Rieſen Leichnam nagten? Oder, fragt man ſich
unwillkürlich, erſchien auch der Rieſe uns nur ſo gigan¬
tiſch in ſeinem Dunſtkreiſe? Und war es anders, wenn
man ihn im Schlafrock ſah.“


[113]

„Das iſt eine fürchterlich ernſte Frage, mein
Herr von Eiſenhauch. Seine Atmosphäre war viel¬
leicht nicht angethan, um Männer zu erzeugen. Er
ſehnte ſich nach ihnen in ſeiner tiefen Einſamkeit,
aber ſein ſcharfer Athem, das Feuer ſeines Auges
ließ die Embryonen nicht aufkommen. Friedrichs
Tafelrunde war für blitzende Geiſter und kühne
Ritter, aber für Charactere war doch kein Platz.“


„Und wir brauchen ſie, Männer — wenn nur
einen, und der Eine iſt es auch nicht — eine ver¬
glaſte Ruine, an der die Flamme nur noch zuwei¬
len emporleckt, um die ungeheure Verwüſtung zu
zeigen.“


Der Rath drückte ihm die Hand: „Tröſten wir
uns, daß die Zeiten verſchieden ſind. Eine jede ge¬
biert das, deſſen ſie bedarf, alſo auch ihre Männer.“


Sie verloren ſich in der Geſellſchaft. Fuchſius
ſtieß an der Thür mit Laforeſt wieder zuſammen, der,
den Hut in der Hand, die Verſammlung raſch ver¬
laſſen zu wollen ſchien.


„Wohin Excellenz?“


„Zum Berichten.“


„Was, wenn das Herz des Diplomaten noch
geöffnet iſt?“


„Was Sie mehr intereſſirt als mich.“


„Geht die Eitelbach in die Falle?“


Der Geſandte flüſterte ihm ins Ohr: „Stein
wird doch Miniſter.“


„Eine Attrape?“


II. 8[114]

„Für den es trifft, übrigens eine neueſte wirk¬
liche Neuigkeit?“


„Von Engeln Ihnen zugeraunt?“


„Der Ruſſiſchen Fürſtin.“


„Und warum jetzt?“


„Weil man keinen andern Finanzminiſter auf¬
treiben kann. Nutzen Sie es, Herr von Fuchſius. Ein
neuer Miniſter verſpricht alles und gewährt zuweilen
einiges, wenn man ſchnell dahinter iſt.“


Laforeſt verſchwand.

[[115]]

Siebentes Kapitel.
Die ruſſiſche Fürſtin.

Einfacher konnte man für eine große Geſellſchaft
nicht gekleidet ſein, als die ruſſiſche Fürſtin. Ihr
Kleid ſchimmerte ins Graue, nichts von Brillanten,
kein Geſchmeide. Die glänzend ſchwarzen Haare ſchei¬
telten ſich ſchmucklos um ein feines, ausdrucksvolles
Geſicht, in deſſen breiter als europäiſch geſchlitzten
Augen zuweilen ein ſtilles Feuer glühte, das ſeine
Strahlen aus einer ſchönern Welt zu borgen ſchien,
und ein ſüß harmoniſches Lächeln ſpielte dazu um
die wohlgeformten Lippen. Sie mußte Jedem etwas
Angenehmes oder Intereſſantes zu ſagen wiſſen, denn
ein ſolcher Eindruck ſtrahlte vom Geſicht derer, die
von ihr gingen.


Seit Laforeſt den Schauplatz verlaſſen, ſchien ſie
der Magnet geworden, welcher die Wandelſterne anzog.


„Was hat die nordiſche Sybille meiner Freun¬
din vertraut? fragte die Wirthin die Baronin Eitel¬
bach. Sie lächeln ja ſo vergnügt.“


8*[116]

„I Gott bewahre, ich lache nicht. Sie hat mir
nur geſagt — o es iſt zum Todtlachen!“


„Gewiß eine Wahrheit. Das ſehe ich auf Ihrem
Geſicht.“


„Sehn Sie auch in die Geſichter rein, Geheim¬
räthin? Ich wäre ſterblich verliebt, hat ſie geſagt,
oder wenn noch nicht, ſo würde es bald zum Aus¬
bruch kommen. Iſt das nicht zum Todtlachen!“


„Prüfen Sie Ihr Herz,“ ſprach die Geheim¬
räthin, den Zeigefinger erhebend, und entfernte ſich
in der Richtung nach dem neuen Zauberkreiſe. Die
Anweſenheit der Fürſtin war ihr zwar angenehm,
ſogar ſehr angenehm, es war die vornehmſte Frau
in ihrer Societät. Aber was ſie Laforeſt vergab, war
ihr hier nicht mehr angenehm; die Fürſtin zau¬
berte zu viel.


Herr von Wandel ſtand neben der ſchönen Frau,
die an ihrer Schärpe zupfte. Er hatte das Geſpräch
behorcht: „Prüfen Sie Ihr Herz!“ wiederholte er
mit ſanfter Stimme.


Sie fuhr etwas zuſammen. Ein Wort des Vor¬
wurfs ſchien auf ihren Lippen bereit, aber mit ſo
Zutrauen erweckendem Blicke ſah der ernſte Mann
ſie an. Er hatte es nicht böſe gemeint, und er
ſpaßte nicht.


„Wir ſtehen den jungen Leuten hier im Wege,“
ſagte er, und bot der Baronin den Arm, um ſie
von der Thür in das nächſte Zimmer zu führen. Sie
ließ ſich führen.


[117]

„Was Sie da ſagen, ſagte ſie nach einer Weile,
iſt ſehr ſchön geſagt, aber —“


„Sie wollen mich nicht verſtehen. Die wahre
Tugend hat das mit der wahren Schönheit gemein,
daß ſie ihren Werth nicht kennt und weil ſie ihn
nicht kennt, begreift ſie nicht die Wirkungen, die ſie
auf Andere ausübt.“


„Das hat mir aber noch kein Menſch geſagt,
ſagte ſie, und mein Mann am wenigſten.“


„Ei, wer wird denn zum Verräther werden! —
Die Knoſpe weiß nicht, daß ſie zur Blume ſich ent¬
falten wird, und wenn es ein Zauberer ihr verriethe,
wer weiß ob die Roſenblätter dann ſo roth aufgingen!
Das Nichtbewußtſein iſt es, was der Blumen Farbe
und Duft nährt, die ſüße Scham, daß ſie ſich ſelbſt
dem Lichte zeigen werden. Dies das Myſterium der
Natur und der Liebe, meine Gnädige.“


„Sie ſprechen ja ganz wie Jean Paul!“


„Wäre der vielleicht der Glückliche!“


Die Baronin bat ihn, mit ſeinen Ueberſchweng¬
lichkeiten inne zu halten, und wollte ſich doch aus¬
ſchütten vor Lachen. „In Jean Paul ſind wir Alle
verliebt.“


„Eine doch vielleicht mehr als die andere. Prüfen
Sie Ihr Herz!“ wiederholte der Legationsrath mit
einem ernſten Tone.


„Na, ich bitte Sie, Herr Legationsrath. Sie
denken doch nicht, im Ernſt? Man macht es mit wie
die Andern. Jean Paul —“
[118] „Wer ſpricht von Jean Paul! Er reitet nicht und
macht nicht Fenſterparade.“


Die Baronin öffnete ihren ſchönen Mund, was
ein Zeichen des Erſtaunens war, dem die Worte
fehlten, weil eigentlich der Gedanke fehlte. Er drückte
ihre Finger an ſeine Lippen, und indem er ſich mit
ihr erhob, ſagte er leiſe:


„Wenn dies Herz am Altar der Grauſamkeit
geopfert hat, ſo ſein Sie wenigſtens menſchlich grau¬
ſam, zeigen ſich nicht immer Mittags am Fenſter, ihr
Köpfchen zwiſchen den Balſaminentöpfen. Das nährt
die Hoffnung, die Sie nicht erfüllen können.“


„Das thue ich ja immer.“


„Und weil er das weiß, reitet er immer vor¬
über.“


„Wer? — Sie meinen doch nicht die Dragoner
und die Gensd'armen, die marſchiren immer nach
der Parade durch unſre Straße. Ihre Muſik iſt gar
zu ſchön und die Uniformen —“


„Der Dragoner — und auch der Gensd'armen,“
ſetzte der Legationsrath mit Betonung hinzu.


„Herr Gott, Sie ängſtigen mich, Legationsrath,
wer ſieht denn nach mir rauf?“


„Machen Sie eine Badereiſe. Vielleicht vergißt
er Sie.“


„Wer? Wer? Sie Quälgeiſt!“


Der Legationsrath hielt die ſchöne Hand noch
immer in ſeiner, und blickte ſo ſinnig fragend zu ihr
herab: „Sollte das Verſtellung ſein? Nein, dies
[119] ſeelenvolle Auge kann nur der Spiegel der innern
Wahrheit ſein.“


„Sie meinen doch nicht den Lieutenant Kleiſt
oder den Fähndrich Kaphengſt? Mit dem hab ich ja
noch geſpielt als Kind, und der iſt mein Neveu.“


„Sie ſpielten ein gefährlich Spiel mit ihm —
das Spiel des Zornes, gnädige Frau. Eine Frau
darf nicht haſſen.“


„Wen hab ich denn gehaßt, ich wüßte Niemand.“


„Nennen Sie es Antipathie, Widerwillen, wie
Sie wollen; ſobald die Abneigung zur Leidenſchaft
wird, hat ſie etwas — Intereſſantes, Lockendes.
Mancher Kranke, der eine Medicin mit Widerwillen
nahm, ſchlürft ſie zuletzt mit Leidenſchaft. Ja hätten
Sie ihm gleichgültige Verachtung gezeigt! Aber Sie
exponirten ja Ihre Antipathie. Das darf eine Frau
nie thun! Sie ließen ihm merken, wie ſchon ſeine
Gegenwart, ſein Anblick Ihnen zuwider war. Das,
von einem Weib, reizt den Mann. Er kann ſich
rächen wollen. Das ſind unedle Naturen. Aber
gehaßt zu werden von einer ſchönen Frau iſt ein be¬
rauſchendes Gefühl. Es ſtachelt unſre Eitelleit, wir
ſinnen nach, welche unſrer Eigenſchaften denn dieſe
Leidenſchaft in dem ſchönen Gegenſtande geweckt
haben kann?“


„Herr Gott, Sie meinen doch nicht!“


„Namen nenne ich nie. Wenn Sie ihm den
Rücken kehren, ſieht er nur Ihre ſchöne Taille, wenn
Sie die Schleppe verächtlich um den Arm ſchlagen,
[120] nur den gerundeten Ellenbogen. So wiſſen Sie nicht,
daß Sie in jeder Bewegung, die Ihre Abneigung
deployiren ſoll, einen Köder auswerfen, und ſtatt
Ihn abzuſtoßen, feſſeln Sie ihn.“


Die ſchöne Frau warf einen Blick ins Leere
und er traf die Wahrheit. Momente giebt es,
wo ſie in jeder Natur durchſchlägt; aber es ſammel¬
ten ſich zugleich eine Maſſe Erinnerungen, die ihr
Auge jetzt trübten, jetzt einen Strahl des Zornes
entzündeten, und es platzte heraus:


„Wie das Porzellanſervice aus Meißen ankam,
und der Spediteur es ſo ſchlecht verpackt hatte, und
mehr als die Hälfte war auf dem Transport zer¬
ſchlagen, vierhundertfunfzig Thaler der Schaden,
und Gott weiß, welche Mühe es gekoſtet, daß ich
meinen Mann dazu gekriegt! Und war nicht verſichert!
Da ſollten einem wohl nicht die Thränen in's Auge
treten, ich möchte heute noch weinen, und er — lachte,
ja das hat er, ſich ordentlich geſchüttelt! O er hat
ein ſchlechtes Herz. Ich hab's ihm aber geſagt, das
kam aus einem boshaften Gemüth. Und voriges
Jahr noch in der Geſellſchaft bei den Leuten — i
mein Gott, Sie kamen ja auch noch nachher — da nahm
er mir ja den Stuhl vor der Naſe weg. Ich begreife
gar nicht, wie man ſo grob ſein kann und ſo maliciös.“


„Vor andern. Wer ſieht ins Herz!“


„Er puſtet ja ordentlich vor Selbſtgefälligkeit.
Glaubt er, alle Frauen müßten ſich in ihn verlieben,
wenn er den Bart ſtreicht?“


[121]

„Das iſt ein eigen Kapitel, meine Freundin, von
der Sympathie und der Antipathie. Ich kenne den
Herrn Rittmeiſter nicht, ich weiß nur —“


„Daß mir ordentlich wohl iſt, wenn ich ihn in
einer Geſellſchaft nicht treffe.“


„Ob ihm aber wohl iſt! — Sie ſahen nicht,
wie er nach jener Geſellſchaft, wo er Sie ſo auffal¬
lend beleidigt, Ihnen immer von fern folgte, wie er
wartete, um Sie einſteigen zu ſehen; wie er, als der
Wagen vor Ihrem Hauſe vorfuhr, ſchon durch Quer¬
gaſſen ſchneller dahin gekommen war, und an der
Ecke, im Mantel verhüllt, ſah er Sie ausſteigen!
Mich dünkt, Sie ſahen ſich um, und wandten ſchnell
den Kopf —“


„Ich erinnere mich nicht.“


„Sie müſſen ihn geſehen haben. Wenn da
grade nicht, doch ein ander Mal. Entſinnen Sie
ſich nur. Man kann ſagen, er folgt Ihnen auf
Schritt und Tritt, vielleicht unwillkürlich.“


„Sie erſchrecken mich, Herr von Wandel. Der
Menſch lauert mir auf, um mir einen Affront an¬
zuthun.“


„Das will ich nicht hoffen.“


„Aber, ich bitte Sie, 's iſt ja rein unmöglich.
Wer ſich ſo vor den Menſchen beträgt, was kann der
Gutes im Schilde führen!“


„Der unerklärte Trieb unſerer Natur, der ewige
Zwieſpalt unſerer ſelbſt, das Licht und der Schatten,
der Ahriman und der Ormuz, daß wir ſchaffend ver¬
[122] nichten, vernichtend ſchaffen. Wenige, die ſich über
dieſen Zwieſpalt erheben, die dies Räthſel der Natur
gelöſt. Sie ſelbſt, meine theure Freundin, werden
dies oft empfunden haben. Ihr ſinnend Auge giebt
mir die Antwort.“


Darüber ſann nun zwar die Baronin nicht nach,
aber ſie entſann ſich, wo der Rittmeiſter ihr in den
Weg getreten war, und ſie kam zum Reſultat, daß
es in letzter Zeit öfter geſchehen als früher. Sie
glaubte auch ſich zu entſinnen, daß er ſich nicht ſo
grob benommen, wie früher.


„Sie meinen alſo, er wird jetzt höflicher ſein?“


„Im Gegentheil. Er wird um ſo kälter und
ſchroffer ſich zeigen, als er in ſich glüht und weich
iſt. Weil er ſich, in ſeinem falſchen Stolze, dieſer
Affection noch ſchämt, ſetzt er einen Trumpf drauf
ſie in ſchlimmern Trotz zu verſtecken.“


„Mein Gott, aber was ſoll ich da thun?“


„Wenn Sie klug handeln wollen, nichts.“


„Wenn er mich, aber wirklich verfolgt! — Am
Ende haben Sie mich doch zum Beſten!“


„Seh ich wie ein Spötter aus! Wenn Sie in
ſeinen Leiden einen Erſatz ſuchen für die Kränkungen,
ſo wird Ihre Rache bald geſättigt ſein. Ein ſolcher
innerer Kampf verzehrt. Mich dünkt, Herr von Doh¬
leneck ſieht ſchon jetzt blaſſer aus. Es wird Ihnen
nicht entgangen ſein, daß er in ſeiner Kleidung nach¬
läſſiger iſt. Wie unſtät iſt ſein Blick! Wenn er krank
würde, das wäre noch das Beſte. Oder das Feuer
[123] bricht plötzlich heraus. Einen Exceß beſorge ich nicht,
weder ein Attentat gegen Ihre Perſon — auch keinen
Selbſtmord. Nein, er iſt von zu guter Familie. Und
wenn er plötzlich mit einer Liebeserklärung vorbricht,
ſo werden Sie ja ſelbſt am beſten wiſſen, wie ihm
antworten. — Aber, wie geſagt, meine Gnädigſte,
ängſtigen Sie ſich ja nicht. Es kann ja Alles beſſer
werden, als wir denken, die Zeit heilt viele Wunden,
und ſein Penchant geht vorüber. Mein Gott, ich kann
mich ja auch irren. Nur würde ich Ihnen, wenn
es mir erlaubt iſt, anrathen, mehr die Unbefangene
zu ſpielen. Heiter, heiter! als bemerkten Sie nichts,
railliren Sie ihn, das bringt Verliebte am beſten
aus der Faſſung; und dann beobachten Sie, Ihrem
feinen Blick kann es nicht entgehen. Wie geſagt,
ich kann mich ja geirrt haben.“


„Dieſer Menſch begegnet mir überall, ſagte der
Major an einer andern Stelle zum Regierungsrath,
wie ein eiskalter Luftzug. Undurchdringlich im Ge¬
ſpräch, alles wiſſend, jedem Gefühl verſchloſſen. Ich
bin jetzt zu glauben geneigt, daß Laforeſt wirklich
kein Bohrloch in dieſer glatten Wand gefunden.“


„Und doch ſehen Sie, welches Leben er in die
ſchöne Bildſäule gehaucht! Man möchte erfahren, was
der Magus mit ihr ſprechen konnte.“


„Sollte er in der frivolen Intrigue mitſpielen?
Sie waren nachher in eifriger Converſation mit
ihm.“


„Eifrig?“


[124]

„So war ſeine Miene.“


Fuchſius lächelte: „Er fragte mich, ob das Ver¬
mögen von ihr, oder von ihm käme? Von Heyms
neuer Wunderkur, von der Legirung des Platina und
von der neueſten Liaiſon der Unzelmann. Das war
ein Theil unſeres Geſprächs, das glatt wie ein Aal
hingleitete. Nähern wir uns der Sybille. Jetzt
ſpricht er mit ihr.“


„Auch nur en passant.“


Die Sybille ſchien einen Köcher von Liebes¬
pfeilen ausgeſchoſſen zu haben; oder waren es wirk¬
lich ſybilliniſche Sprüche, was der Phyſiognomie der
Andern einen ſo beſondern Ausdruck gab! Doch hatte
jene plötzlich allen den Rücken gekehrt, um der Wir¬
thin ihre ganze Aufmerkſamkeit zu ſchenken.


„Elle est une merveille d'amabilité! verſicherte
der Geheimrath Lupinus von der Vogtei, beide Hände
als Schallrohr vor dem Mund, denen, die ihm ent¬
gegen kamen. Pleine de grâce, et d'une sagesse,
s'il m'est permis de m'exprimer ainsi presque éthé¬
rée. Et un savoir-faire!“


„Na warum denn?“ ſagte der Doctor Marcus
Herz, der ihm in den Weg getreten kam, und nicht
Platz machte.


Mon ami! rief Lupinus. Elle a une pénétra¬
tion parfaite, elle lit dans votre coeur comme dans
un livre ouvert.“


„Auch in Ihrem, Geheimrath?“ fragte der Arzt,
ſeine Hand auf Lupinus Schulter legend.


[125]

„Elle connaît tout le monde, elle enchante tout
et est enchantée de tout.“


„Auch von Ihnen! Na hören Sie, dann iſt ſie
mehr als ein Wunder — ein Meerwunder.“


„Immer der liebenswürdige Satyriker. Mais
quant à la beauté
, Madame Herz kein Vergleich.
Elle est la beauté même et aussi pleine de
sagesse.“


Die Fürſtin hatte ihren ſchönen Arm halb um
die Wirthin geſchlungen, ihr für den vergnügten
Abend zu danken: „Aber das Beſte entziehen Sie
mir ſo lange.“


Die Lupinus bedauerte, daß der Dichter noch
immer auf ſich warten laſſe; gewiß ſei es ein plötz¬
liches Hinderniß, was die Ankunft, der alle Herzen
entgegen ſchlügen, nur verzögere.


„Ich kann die Spannung begreifen, entgegnete
die Fürſtin, ob er aber die Erwartung befriedigen
wird! Es kommt ſehr auf die Laune an, in der er
iſt. Aber ich meine jetzt unſre theure Wirthin, die
freilich der Geſellſchaft angehört, und ein einzelner
Gaſt wäre unbeſcheiden, wenn er mehr fordert, als
auf ſeinen Theil ihm zukommt.“


Die Geheimräthin meinte, ſie habe nicht den an¬
dern im Lichte ſtehen wollen, und beſonders vor einem,
nach dem alle unwiderſtehlich ſich gezogen fühlten.


Ohne auf das Bittere zu achten, was ſich dem
Compliment unwillkürlich beimiſchte, ſah mit einem
innigem Blick die Fürſtin ſie an: „Wozu dieſe Ge¬
[126] meinplätze zwiſchen uns! Sie ſind eine Märtyrin,
und Ihr ganzes Leben iſt ein Opfer. Ich weiß ja
alles und ich betrachte mit einer bewundernden Theil¬
nahme Ihr ſtilles Wirken der Reſignation. Was
kann Ihnen dieſe Geſellſchaft ſein? Sind Sie nicht
mit ſich ſelbſt, mit Ihren Büchern immer in einer
beſſern? Und alle dieſe Embarras nur um Andern
Freude zu machen!“


Die Lupinus proteſtirte dagegen. Sie kannte
die Fürſtin noch zu wenig. Sie wußte nur, daß ſie
vertrauten Umgang mit Eliſe von der Reck gepflogen,
daß die Jünger der romantiſchen Schule bei ihr
Zutritt hatten, man ſagte auch, daß ſie der katholi¬
ſirenden Richtung dieſer Schule huldige. Sie ant¬
wortete mit der Banalphraſe, daß Andern Freude
bereiten ſelbſt Freude ſchaffe.


Die Fürſtin ſtreifte darüber hinweg, wie über
ein etwas, was keiner Erwiedrung bedurfte. Aber
es lag keine Beleidigung in ihrem Blick.


„Ihr ganzes Opferleben fühl ich in mir ſelbſt
wieder, ſprach ſie, ſich in die Ottomane zurückleh¬
nend, auf der beide in einer Niſche Platz genommen.
Ich fühle es wieder, obgleich mir, was die Welt ein
glücklicheres Loos nennt, beſchieden war. Der Fürſt, mein
Gatte, verſtand mich, ich verſtand ihn. Ich brauchte
nicht ängſtlich vor der Welt den Schirm vorzuhalten,
damit man ſeine Schwächen nicht gewahre. Er war
kein eminenter Geiſt, kein Gelehrter, er liebte das
Leben und trank ſeine Genüſſe, wie den Schaum des
[127] Weines, er war, was die Welt nennt, ein vollkomm¬
ner Lebemann; aber ohne Arg, grade wie er war
gab er ſich. Da mußte die Vorſehung nach einem
kurzen Glück — Wozu Elegieen an einem ſo frohen
Tage! Es war ſo beſſer, für ihn, für mich.“


Wo ſollte das hinaus! dachte die Geheimräthin.
„Mein Mann iſt —“ Die Fürſtin unterbrach ſie aber
mit einem ſanften Händedruck:


„Ich frage mich oft, warum müſſen dieſe Kräfte
durch Anſtrengungen gehemmt werden, die nie eine
andre Frucht tragen können, als einen Schein? Denn
Ihren ſonſt ſo trefflichen Mann werden Sie doch nicht
geſund machen, ich meine ſo geſund, daß er ſich wieder
ins Leben taucht!“


„Ich verſuche wenigſtens, es ihm ſo angenehm
wie möglich zu machen. Seine Anſprüche ſind ſo
beſcheiden!“


„Das weiß ich. Aber iſt das eine Aufgabe für
eine Frau Ihres Geiſtes! Sein Glück iſt gemacht,
indem Sie ihn in ſeiner Aſſiette ſich ſelbſt überlaſſen.
Sie könnten doch frei, ſich mehr Ihren eigenen, edle¬
ren Trieben überlaſſen. Freilich haben Sie ſich eben
wieder eine neue Sorge auferlegt, die Sie ganz ab¬
ſorbirt, doch wer wollte da ein Wort gegen ſagen! —
Aber nun bewundere ich Sie wieder, wie Sie ſich
auch der Familie Ihres Mannes annehmen. Dies
Feſtin iſt doch auch gegeben, um Ihren Schwager
gewiſſermaßen in der Geſellſchaft wieder zu re¬
tabliren.“


[128]

Die Geheimräthin ſeufzte: „Man muß doch für
ſeine Familie leben!“


„Das iſt ein ſchöner Zug im deutſchen Gemüths¬
leben!“


„Wo der Staat ſeine Ehre anerkannt hat, darf
die Familie ſie nicht ſinken laſſen.“


„Hoffen Sie, daß er wieder den rechten Weg
finde, der arme Irrende.“


„Das hoffe ich nicht —“


„Man muß nie eine Hoffnung aufgeben. Aber
ſehn Sie da — ſie iſt reizend! Und welche Gruppe
dieſe beiden Frauen! Zum Malen!“


Ihre Blicke hafteten auf Adelheid, die mit der
Doctor Herz im Nebenzimmer ſich unterhielt. Die
Fürſtin ſchwärmte in dem Lobe ihrer Schönheit. Es
war mehr als Malerei, ſie lebte in der Schilderung
mit, ihre nervöſen Bewegungen verriethen es.


„Hier kann man den Unterſchied von Schönheit
und Schönheit ſtudiren. Madame Herz iſt gewiß
eine vollkommne, aber ihr fehlt etwas.“


„Der Kopf iſt zu klein für die junoniſche Ge¬
ſtalt,“ ſagte die Geheimräthin.


„Ich betrachte ſie nicht als Sculpteur. Die
Pſyche iſts, die mich intereſſirt, wie das innerſte Sein
knospet und blüht in der Erſcheinung! Aber Sie
mögen Recht haben, liebe Frau, aus dieſer edlen,
großen Geſtalt, ſchoß nicht mehr auf als ein kleiner
Kopf, weil es an dem Feuer gebrach, das eine
gebietende Stirn, eine Jupitersnaſe, ſchwellende
[129] Lippen, das ſchwimmende, überwältigende Auge
ſchafft.“


„Die Herz iſt paſſiv, aber ſehr intenſiv.“


„Qu'importe!“


„Und tugendhaft.“


„C'est ça. Par son naturel. Aber ſehn Sie,
trotz des orientaliſchen Nimbus, ich frage Sie, könnte
ein Maler aus dem Geſicht eine Heilige machen?
Nimmermehr, ihm fehlt die Sinnlichkeit. — Sie be¬
wegt ſich — jetzt recht lebhaft — drückt ihre Lippe
es aus? Verräth es das Auge? — Und nun da¬
gegen Adelheid! Eine unwillkührliche Bewegung ihres
Füßchens, und die Lippe ſpricht es aus, das Grüb¬
chen am Kinn. Elaſtiſch die ganze Figur, aber das
Geſicht die Blüthe. Wenn ich nichts als das Ge¬
ſicht ſähe, wollte ich mir ihre ganze Geſtalt con¬
ſtruiren. O Sie müſſen eine wahre mütterliche Freude
an dieſer Acquiſition haben.“


„Wenn ſie meinen Erwartungen entſpricht. Ihre
Erziehung entſprach den beſchränkten Sphären ihres
elterlichen Hauſes. Es müſſen viele Gewöhnungen,
vulgäre Anſichten ausgetrieben werden —“


„Nichts austreiben, um Gottes willen nichts
austreiben, theure Frau!“


„Ihr fehlt das Sublime. Ich ſehe noch immer
durch alle ihre Reize den Thon, aus dem ſie ge¬
bildet. Aus ihren äſthetiſchen Urtheilen platzt zu¬
weilen eine Natürlichkeit, über die ich erſchrecke. Daß
die Herz ſich für ſie intereſſirt iſt mir lieb; ich hoffe,
II. 9[130] ſie ſoll aus ihrer Converſation lernen. Manches
Eckige, Erdige wird ſich abſchleifen, um dem Sinni¬
gen Platz zu machen.“


Die Fürſtin ſah ſie verwundert an, aber die
Mißbilligung, die in ihrem Blicke lag, ging in ein
Lächeln über: „Nicht die Herz! Keine Hofmeiſterin!
Die Herz würde ihr ſchöne Maximen predigen! O
keine Predigten! — Sie zur Tugendpuppe erziehen,
das heißt eine Natur verderben, wie ſie nicht oft aus
Gottes Schöpfung hervorgeht.“


„Ich meinte auch nicht grade eine Kloſter¬
erziehung.“


„Dies pulſende Blut will ſein Recht. Der
Schöpfer träufte es in unſre Adern, wie er die Sonne
in den Aetherbogen warf, wie er der Traube würzi¬
ges Blut gab, uns zu berauſchen. Wer nie berauſcht
war, nie im Wirbel der Leidenſchaft taumelte, wer
nie die Wonne dieſer Erde koſtete, der kann auch
nicht die Wonne der himmliſchen Seligkeit empfinden.“


Ihr ſchönes Auge glänzte ſo ſeltſam dabei, wäh¬
rend ſie ſtarr nach der Decke ſah. Nach einer langen
Pauſe ſtand ſie auf, und ſtrich tief aufathmend ihren
Scheitel mit beiden Händen. Sie lächelte ſchelmiſch
die Geheimräthin an:


„Nicht wahr, ich habe recht viel dummes Zeug
geſprochen? Vergeſſen Sie es und entſchuldigen mich.
— Aber als ob ich mich vor Ihnen zu entſchuldigen
brauchte, vor einer Frau, die ja auch weiß, wie der
Geiſt ſo oft ſich von dem Körper trennt, und die
[131] Seele hinfliegt in Räume, wohin das Auge nicht
dringt. — Aber kommen Sie ſchnell unter die An¬
dern, wir kommen ins Gerede. Wenn man auch
etwas anders iſt als die andern, um Gottes willen
man muß es ihnen nicht verrathen!“


„Wo ſehen Durchlaucht plötzlich hin?“


„Ich —“ Die Fürſtin erröthete leicht und flüſterte
ihr ins Ohr: „Mir war's, als ſähe ich Jean Paul
dort über den Gensdarmenmarkt kreuzen, um ſchneller
hier zu ſein. — Da unterhält ſich ja der Herr
von Fuchſius ſehr lebhaft mit Ihrer Tochter. — Ei,
ei, ſelbſt der ernſte Major Eiſenhauch widerſteht dem
Magnete nicht und vergißt auf einen Augenblick ſeine
großen Vaterlandsgedanken. Ich beſorge, meine
Freundin, Ihr Haus wird bald wie Troja ausſehen —“


„Sehn Sie eine Zerſtörung voraus?“ fragte die
Lupinus. Der Clairvoyantenblick der Fürſtin hatte
ſie etwas verſtimmt.


„Nur die Helena, um die ein trojaniſcher Krieg
entbrennen wird. Sorgen Sie bald, wenn Sie dem
entgehen wollen, für eine anſtändige Partie. Der
Regierungsrath iſt ein junger Mann, dem eine gute
Carriere bevorſteht.“


„Herr von Fuchſius ſieht nach Vermögen. Es
iſt nur Galanterie. Ich werde indeß ein wachſames
Auge haben.“


„Wozu! Laßt doch die Schmetterlinge ſpielen.
Die Jugend iſt ſo kurz! Und was ſagen Sie zum
Legationsrath?“


9*[132]

„Der —!“ Das Wort ſchien der Geheimräthin
auf der Lippe zu erſterben. „Er und das Kind?“


„Sie haben nicht daran gedacht. Es iſt auch
ſo beſſer.“


„Durchlaucht kennen ihn? Er wird von ſo Vie¬
len verkannt.“


„Die Beſtimmung jeder Größe! Sie fühlt ſich
nur zu Gleichgeſinnten hingezogen. Es täuſchten
mich auch vorhin wohl nur einzelne Blicke. Es war
Eliſe, die mir ihre Beobachtungen mittheilte. Ach
die gute Recke dachte vielleicht an ihr eigenes Ver¬
hältniß mit Caglioſtro.“


„Caglioſtro!“ wiederholte die Lupinus.


„Caglioſtro war doch vielleicht mehr, als wofür
die Welt ihn jetzt erkannt haben will, meine Freundin.
Er mußte fallen, wie Viele gefallen ſind, weil —
passons là-dessus! — Unſre große Katharina war in
dieſem Punkte eiferſüchtig. — Es iſt mir recht ver¬
drießlich, daß Herr von Wandel der Affaire wegen mit
dem jungen Manne — nicht wahr Bovillard heißt
er? — in Verwickelung gekommen iſt. Und wie ich
höre, ſtellt er Adelheid nach. Das muß für Sie
doppelt peinlich ſein.“


„Ich hoffe, Durchlaucht, das wird nichts auf
ſich haben. Der wüſte Menſch ſoll uns nicht länger
ſtören.“


Die Fürſtin ſah ſie fragend an: „Blutdürſtig,
meine ſanfte Freundin! Der Lauf der Kugeln iſt
zweifelhaft. — Das war auch nicht Ihre Meinung.“


[133]

„Durchlaucht, dieſer Menſch iſt incorrigibel.“


„Deſto beſſer. Laſſen Sie ihn fortſündigen.
Grade über dieſe Sünder, die ihr Ohr der Stimme
der Vernunft verſchloſſen haben, zuckt ſchon ein an¬
derer Strahl. Da thun wir nichts bei, das kommt
mit einem Male. Was wäre die Welt mit ihren
gaukelnden Marionettenpuppen, die das grelle Schau¬
ſpiel von Eitelkeit, Verkehrtheit, Ungerechtigkeit und
Sünde vor uns aufführen, wenn wir nicht wüßten,
daß plötzlich eine unſichtbare Hand aus den Wolken
fährt, und zerſtört iſt ihr Spiel. Ein Licht zückt
herab und die Irrenden ſehen den Abgrund, vor
dem ſie ſtehen. Warum den jungen Wüſtling gleich
aufgeben, opfern wollen; da giebt es ja tauſend
Mittel. — Nur keine öffentlichen Schritte. Es läßt
ſich ſo Vieles unter Hand abthun, eben wenn man
Freunden vertraut. Freunden haben Sie ja nur zu
winken. Commandiren Sie auch über mich. A propos,
ich habe viel von dem jungen Lehrer gehört, ein ori¬
gineller Charakter, ſagt man. Wo iſt er? Stellen
Sie mir ihn vor.“


„Er iſt nicht hier. — Für unſre Geſellſchaft —“


„Würde er keine Augen haben, nur für ſeine
ſchöne Schülerin. — Sie ſehen mich an. Wie? Soll
er ſein Blut in Eis verwandeln, oder ſpielt die Ge¬
ſchichte von Abälard und Heloiſe nur in der grauen
Vorzeit! Ach eine reizende Geſchichte, aber wenn Sie
dieſelbe nicht wiederholt ſehen wollen, müſſen Sie
auch da Acht haben, mehr als nach Außen das Auge
[134] wach! Ja, theure Frau, die Obliegenheiten einer
Mutter ſind groß. Sie haben eine halb Gefallene
aufgerichtet, aber wer ſich vor dem Fallen noch fürch¬
ten kann, iſt ſtets dem Fallen nah — O weh! da
fällt Ihr Diener — ein Glück, daß der andere ihm
das Präſentirbrett hielt. Der arme Menſch iſt krank —“


„Aber Johann, wie konnte er auch!“ fuhr die
Geheimräthin auf.


Der Diener hatte ſich wieder erhoben, und, es
ſchien, erholt. Er verſicherte es wenigſtens, und
wollte ſich nicht hinausſchicken laſſen; es ſei eben nur
ein Schwindel geweſen. Die Geheimräthin verſicherte
der Fürſtin, ſie habe ſo viel Lohnbedienten angenom¬
men, daß Johann gar nicht nöthig gehabt, ſelbſt zu
ſerviren; er habe es nur aus Eigenſinn gethan.“


„Oder Furcht, daß ſeine Herrſchaft ihn für ent¬
behrlich hält, ſagte die Fürſtin. — Wie liebreich Adel¬
heid ihm zuſpricht! Sie hat ihn überredet, ſie ſchickt
ihn hinaus. Bravo! Hören Sie! Herren und Da¬
men ſind entzückt, ſie muß etwas Seelenvolles geſagt
haben.“


Die Geheimräthin fand ſich allein. Auch die
Fürſtin war zu denen geeilt, die Adelheid mit ihrem
Beifall überhäuften. Die Geheimräthin fand ſich ſehr
allein. Nur Diener, auf den Tag gemiethet, in
Livreen, friſirt oder noch in Perrücken, bewegten ſich
in den Zimmern, mit den Vorbereitungen für die
Abendtiſche beſchäftigt. Sie kannte mehre von ihnen
nicht. Der eine ſchien im Vorübergehen einen ſelt¬
[135] ſamen Blick auf ſie zu werfen, zwei dunkle Augen,
aber er wandte ſie raſch auf die Teller, die er trug.
Ward ſie beobachtet, hatte man auch in ihre Geſell¬
ſchaft Lauſcher geſchickt, von Seiten der clairvoyanten
Geſandten oder Geſandtinnen? — Sie wollte in den
Saal. Aber der Fürſtin nacheilen, welche ihr eben
ſo brüſt den Rücken gedreht! Sie umfaßte Adelheid.
So hatte die Gargazin auch ſie vorhin umfaßt. Sie
zog ſie auf ein Kanape, ſie ſpielte mit ihrer Hand;
ſie ſagte, ſie flüſterte ihr tauſend ſchöne Dinge ins
Ohr. Adelheids Geſicht glühte. O ſie war weit
liebenswürdiger, lebhafter, zuvorkommender gegen die
Tochter als gegen die Mutter. Alle gruppirten ſich,
näher oder ferner, um dieſen Mittelpunkt. Nach der
Wirthin ſah Niemand, es kam Niemand in den Sinn,
daß ſie abgeſchloſſen war. Der Legationsrath ſtand
in einer Fenſterniſche, weit jenſeits, die Arme unter¬
ſchlungen, und beobachtete die Gruppen, ſein Geſicht
unbeweglich wie immer; aber als der Strahl ſeines
Auges ſie traf, glaubte ſie in dem Auge eine an ſie
gerichtete Bemerkung zu leſen. War es ein Vorwurf,
Bedauern, Mitleid?


„Warum ſich der Geſellſchaft entziehen, ma belle-
soeur
?“ rief der Geheimrath Schwager, der zufällig
aus einem hinteren Zimmer kommend, der Wirthin
entgegentrat, als ſie die beſte Partie ergriff, weil
kein Menſch ſich um ſie, ſich auch nicht um die
Menſchen zu kümmern, ſondern um die Teller und
Tiſche.


[136]

„Weil ich überflüſſig bin,“ war die kurze Ant¬
wort, mit der ſie an ihm vorüberſtreifte.


Wenn er an Ton und Art noch nicht gemerkt,
daß ſie auch ihn für überflüſſig hielt, ward er auf
der Schwelle zum Saal daran gemahnt, als die
Fürſtin, am Arm des Legationsrathes, über dieſe
Schwelle rauſchte. Wenn es nicht grade mit dem
Ellenbogen geſchah, fühlte er ſich doch durch Blick
und Bewegung mit ſeiner ganzen Perſönlichkeit bei
Seite geſchoben.


Die Fürſtin verließ die Geſellſchaft. Den Lega¬
tionsrath hatte ſie gewürdigt, ſie als Cavalier an
den Wagen zu begleiten; aber nicht einmal eines
Blickes würdigte ſie den Mann, der vorhin ihre Lie¬
benswürdigkeit auspoſaunt. War er ein Anderer
geworden? Sie gewiß! Einen Kopf größer ſchien ſie
ihm. Fort waren die Rollen der Liebenswürdigen,
der nervös Irritirten, der Beſcheidenen und der
Schwärmerin geworfen, als Fürſtin hielt ſie ihren
Ausgang.


„Ach, unſere emſige Wirthin. Immer wie eine
Biene für den Honig ſorgend.“


„Durchlaucht wollen uns doch nicht verlaſſen?“


„Leider, eine heftige Migraine! O, bitte, nehmen
Sie nicht auf mich Rückſicht. Ich verſchwinde wie
ein Schatten, um Licht und Heiterkeit zurückzulaſſen.“


Die Geheimräthin öffnete den Mund, um da¬
gegen zu demonſtriren, aber unwillkürlich kehrte ihr
die Erinnerung an jene Geſellſchaft vom vorigen
[137] Sommer zurück, — da war ſie es ja, welche die
Rolle der Fürſtin geſpielt. Sie verſtummte. Mi¬
grainen ſind oft angenehm für die, welche ſie vor¬
ſchützen, nicht immer für die, welchen ſie vorgeſchützt
werden.


A propos! rief die Fürſtin. Herr von Wandel,
nur einen Augenblick, zwei Worte mit unſerer Freundin.“


Sie zog dieſe bei Seite: „Wiſſen Sie ſchon,
Jean Paul — “


„Kommt nicht? Vielleicht hat er von einer Clair¬
voyanten gehört, daß er Fürſtin Gargazin nicht mehr
trifft.“


„Nein, er kommt, aber in welcher Laune! Es
iſt mir wirklich recht leid. Nur Ihretwillen.“


„Iſt ihm etwas paſſirt?“


„Er ward bei der Berg ſo lange aufgehalten.
In der beſten Abſicht, denn wer konnte anders denken,
bei der beſondern Vorliebe, mit der die Königin ſich
der Sache angenommen. Da um neun erſt bringt der
Fourier die Hiobspoſt.“


„Eine Hiobspoſt!“


„Der König will die Präbende nicht geben.“


„Und Ihre Majeſtät die Königin hatte doch —“


„Nichts geſpart, was Klugheit und Liebenswür¬
digkeit vermögen. Bis acht Uhr gaben ſie im Palais
die Hoffnung nicht auf. Man paßte nur auf den
günſtigen Augenblick und er ſchien gekommen. Ma¬
jeſtät brachen eben ein Stückchen von dem Kuchen,
den Sie beſonders lieben, und verſicherten, ſo vor¬
[138] trefflich ſei er noch nie gebacken. Das benutzte Ihre
Majeſtät, und der König lächelte ihr auch mit der
liebenswürdigſten Laune zu, aber eben ſo liebens¬
würdig ſchüttelten Sie den Kopf und ſagten: Herr
Jean Paul mag ein ſehr guter Romanſchreiber ſein,
aber darum iſt er noch kein guter Domherr.“


„Hat Ihre Majeſtät nicht Lafontaines Beiſpiel
eingewandt? Der hat doch auf ihre Vorſtellung die
Präbende erhalten.“


„Ihre Majeſtät ſind zu klug, um nach ſolcher
Erklärung noch ein Mal anzufangen. Und es giebt
wichtigeres zu bitten.“


„Der arme Jean Paul alſo gänzlich aufge¬
geben?“


„Für Berlin verloren. Ich wollte Sie nur aver¬
tiren. Noch weiß Niemand hier davon. Sie thun
alſo gut, liebe Frau, die Sache auch zu ignoriren.
Die Verehrung für den Dichter hängt mit der Auf¬
merkſamkeit zuſammen, die ihm der Hof erzeigt. Er¬
fahren Sie, daß der ihn aufgiebt, iſt der Luſtre fort.“


„Nein, es gilt nichts mehr,“ ſagte die Geheim¬
räthin bitter.


„Es thut mir nur um Sie leid, aufrichtig, meine
liebe Geheimräthin. So viel Embarras! Sie würden
die Geſellſchaft auch nicht gegeben haben, wenn Sie
das voraus gewußt. Adieu et au revoir!“


„Jean Paul kommt!“ ging ein Gemurmel durch
die Zimmer.


Die Geheimräthin meinte, der Legationsrath
[139] hätte doch in zu ehrerbietiger Entfernung auf die
Fürſtin gewartet, als er ſie hinausführte.


„Fürſtin Gargazin liebt Herrn Jean Paul nicht?“
bemerkte Herr von Wandel, als er auf einen raſchen
Armdruck ſie ſeitwärts in ein Zimmer geführt, damit
ſie dem Dichter, der die Treppe heraufkam, nicht
begegne.


„Ich liebe nicht den Cultus für ſogenannte große
Menſchen, antwortete die Fürſtin beim Hinuntergehen.
Die Lupinus wird ſich mit dieſem Zauberfeſt wieder
lächerlich machen.“


„Ein Erbſtück der Familie.“


„Sagen Sie dieſer Menſchen, dieſer Stadt, dieſer
Zeit. Weil jeder aus ſeiner Sphäre treten möchte —“


„Ohne den Character zu haben, die neue ſich
unterthänig zu machen.“


„Wenn jeder die Sphäre des Andern durchſchauen
könnte! erwiederte die Fürſtin langſam, den Blick
auf den Begleiter gerichtet. Uebrigens thut mir die
arme Frau leid. Prinz Louis wird nie zu ihr kom¬
men. Sie läßt alle ihre Minen umſonſt ſpringen.“
Die Fürſtin drückte beim Einſteigen dem Legations¬
rath die Hand: „Ich werde nichts vergeſſen.“

[[140]]

Achtes Kapitel.
Eine ſchlimme Nacht.

„Wie er ſich hätſcheln läßt!“


„Daß eine ſolche Weibervergötterung einem
Manne nicht widerwärtig wird,“ ſagte der Major. —
„Und daß man uns dazu eingeladen hat!“ der General.


„Sehn Sie mal, rief Baron Eitelbach, und
öffnete eine Kapſel, in der einige Haare ſich befan¬
den. Das ſoll ich in Gold faſſen laſſen. Meine
Frau hat ſie ihm ſelbſt abgeſchnitten.“


„Frau Baronin wollen ſie als Medaillon tragen?“


„Verſteht ſich. Ich habe ſie gefragt, ob ich ihr
auch die Scheere ſoll vergolden laſſen? Da hat ſie
gleich einen Scheerenorden drunter.“


„Thun Sie das ja nicht, Baron, ſagte der
General, man fände Anſpielungen. Sie ſcheeren unſer
Armeetuch genug.“


„Und er iſt doch ein Mann, äußerte der Major.
Welche Gedankenfülle, welche Jugendkraft, welches
Morgenroth für unſer Vaterland!“


„Sahn Sie, mit welcher Unbefangenheit die
[141] Alltag ihn empfing! ſagte der Regierungsrath. Wie an¬
ders, ungenirt unterhält ſie ſich mit ihm.“


Ein Geflüſter war durch die Geſellſchaft gegan¬
gen. Die ſchöne Baronin arbeitete ſich zu der Gruppe,
in der wir uns befinden: „Wiſſen Sie ſchon? 'S
iſt nichts mit ihm. Er bleibt nicht hier. Der König
will ihn nicht. 'S iſt doch ſchrecklich!“


Man ſteckte die Köpfe zuſammen, und das Ge¬
heimniß, welches die Fürſtin der Wirthin anvertraut,
war längſt ein Gemeingut, als die Geſellſchaft zu
Tiſche ging. Vorher aber ſah man ein Schauſpiel,
es war ein Impromptu. Adelheid hatte von der
Tafel einen Blumenkranz ergriffen, und ihn plötzlich
auf die Stirn des Dichters gedrückt: „Nun ſind Sie
ein freier Mann!“


Es war alles anders geworden, als die Ge¬
heimräthin gewollt. Die Bekränzung ſollte ſtattfinden,
aber in andrer Art, ſpäter, an der Tafel ſelbſt. Sie
hatte Figuranten geworben, die bei jedem Geſpräch
mit Phraſen aus des Dichters Schriften ihm ant¬
worten ſollten; das mußte jetzt rückgängig gemacht
werden, es paßte nicht mehr. Die Empfindſameren
umringten ihn, ſtatt mit Siegeshymnen, mit Condo¬
lenzverſicherungen. Es ſah nicht wie bei einem Freu¬
denfeſte aus. Während die Mehrzahl nicht laut
genug ihr Bedauern an den Tag legen zu können
glaubte, ſchlichen andere fort. Die Geheimräthin
begegnete dem General, der ſeinen Hut zum Gehen
ergriffen.


[142]

„Auch Sie uns verlaſſen?“


„Man weiß nicht, was im Palais vorgegangen
iſt, ſagte der Officier mit ſeiner ſoldatiſchen Offenheit,
nicht in wie weit Seine Majeſtät ſich über die Perſon
des Herrn aus Baireuth ausgeſprochen haben.“


„Aber ein Character wie mein Herr General —“


„Hat auch Rückſichten zu nehmen. Der König,
meine liebe Frau Geheimräthin, erfährt jeden Mor¬
gen genau, wer bei Rüchel war und wer bei Blücher war.
Und Sie wiſſen gar nicht, wie dieſe Rapportements
gemacht werden. Hat er ſich nun wirklich ungnädig
über den Poeten ausgedrückt, ſo wird auch von Ihrem
Feſtin ihm berichtet und Sie wiſſen nicht wie. Ihnen
kann das nun nichts ſchaden, wenn Einer ſagt: Es
iſt doch auffällig, daß die Lupinus dem Fremden ein
Feſt giebt, als wenn er ein Potentat wäre, und grade
in dem Augenblick, wo Eure Majeſtät ſich ſo nach¬
drücklich über die Stellung ausgeſprochen haben, die
er nur beanſpruchen kann. Beyme ſetzt vielleicht hinzu:
Und jetzt, wo Eure Majeſtät eben einen ſolchen Gna¬
denakt gegen ihren Schwager ausgeübt. Wer weiß
denn, wer zwiſchen den Lippen murmelt: Undank iſt
der Welt Lohn! Und wenn Lombard dabei iſt, wird
er ſich die Gelegenheit entgehen laſſen mir einen
kleinen Freundſchaftsſtoß zu verſetzen? Ich höre ihn
ſchon hinwerfen: Es iſt doch noch ſonderbarer, daß
grade unſer General dabei ſein mußte. Er iſt doch
ſonſt kein Admirateur von Poeten. — Sollte das
andere Gründe haben? fügt vielleicht noch ein guter
[143] Freund hinzu, denn Sie glauben nicht, wie viel gute
Freunde jedermann am Hofe hat, der eine gute
Stellung hat, die andern zu gut für ihn dünkt.“


„General, aber bei Ihrem Renommee!“


„Je höher der Kornhaufen, ſo mehr Mäuſe na¬
gen unten. Mein Commando wird mir Seine Ma¬
jeſtät darum nicht nehmen, aber wird mir vielleicht
das nächſte Mal ſagen: „„Sind auch ein ſo großer
Verehrer von dem Herrn Romanſchreiber? Meinte
die Lorbeerkränze ſchickten ſich nur für Generale.““
Und das wäre noch das Beſte, dann iſt es ausge¬
ſchüttet. Ohnedem bleibt etwas, denn der König hat
ein vortrefflich Gedächtniß. Und wiſſen wir, von
wem und wann daran weiter gebohrt wird! Ein
wunder Fleck hat anziehende Kraft. Und weiß ich,
was noch hier geſchieht bei Tiſch von den Admira¬
teurs, welche Geſundheiten ſie ausbringen! Kann nicht
Einer beim Wein eine Beleidigung gegen Seine
Majeſtät ausſprechen! Hör ich's ruhig mit an, ſo
heißt's im Palais, ich habe eingeſtimmt, und red ich
drein — nein, meine gnädige Frau, ich will Ihr
ſchönes Feſtin nicht ſtören.“


Sie ſelbſt aber wollte es ſtören. Die Salat¬
ſcene ſollte nun unterbleiben. Sie war, als der
General ihr begegnete, eben auf dem Wege zum
kranken Johann geweſen, um ihm Contreordres zu
geben. Sie hatte aber auch vorhin den Befehl zum
Serviren gegeben und in dem Augenblick brach die
Geſellſchaft, um zu Tiſch zu gehen, auf. Es ent¬
[144] wickelte ſich heut Alles gegen ihren Willen. Jean
Paul hatte ihr ſeinen Arm reichen ſollen. Ihrer
Zweifel, ob es nicht jetzt paſſender ſei, dieſe Ehren¬
pflicht dem vornehmſten Gaſt zu übertragen, ward ſie
überhoben, als der Dichter ſchon ihre Tochter ent¬
führte. Sie mußte, um nicht allein zu gehen, ihren
Arm nothgedrungen dem reichen, welcher allein ledig
an der Thür ſtand, es war der Schwager, und ſie
mußte zufrieden ſein, daß es ihr wenigſtens gelang
eine Tafelordnung ſo ziemlich herzuſtellen.


Wenigſtens ſaß Jean Paul neben ihr. Wenn
er von dem Fehlſchlag ſeiner Hoffnungen verſtimmt
geweſen, hatte er unter ſo viel Theilnahme und beim
Klang der Gläſer es überwunden. Der gute Wein
wirkt nach einer Aufregung doppelt. Er ſprach oder
ſang in Worten die wie Streckverſe klangen. Die
Lüfte in den märkiſchen Pinien hätten ihm zugerauſcht
das alte Lied: Wo es dir wohl geht, iſt dein Va¬
terland! aber da ſei aus dem blauen Aether eine
Taube niedergerauſcht mit einem Lorbeerzweig und
habe ihm zugeflüſtert: Der Dichter muß frei ſein!
Und ein friſcher Morgenwind habe ſeine Stirn, ſeine
heiße Bruſt gekühlt, er ſei erwacht und wieder arm,
aber frei, frei wie der Vogel in der Luft, und dies
Glas bringe er aus auf die Taube mit dem leuch¬
tenden Fittich.


Nur ein Theil der Geſellſchaft verſtand es. Der
Geheimrath von der Vogtei, der auch ſein Glas ge¬
füllt hatte und ſich für verpflichtet hielt, als nächſter
[145] Anverwandter der Wirthin, die Geſundheit des Gaſtes
zu übernehmen, unterbrach den Dichter: die erſte Ge¬
ſundheit gebühre ihm ſelbſt. In einer Rede, die,
wenn auch ſonſt nichts, doch verrieth, daß er von
deſſen Schriften nichts geleſen, gratulirte er dem
Poeten, der nun mit Piron ſich die Grabſchrift ſetzen
könne:


Ci-gît Piron, qui ne fut rien,

Pas même académicien.

Aber wie Piron ein aimabler Poet geblieben, obgleich
er ſonſt nichts geweſen, ſo werde auch ohne Präbende
für ſie Alle hier:


Unſer herrlicher Jean Paul Friedrich Richter

Bleiben ein ihnen unvergeßlicher Dichter!

Im Gläſerklang erhob ſich der Gaſt: „Unſer Auge
blickt nach den blauen Bergen, und unſer Herz ſchwillt
vor Sehnſucht, weil der Himmel ſie küßt. Aber oben
weht es uns zu rein an, wir athmen zu bang in
der Nähe des Unausſprechlichen, und die Thäler ver¬
ſchwimmen vor unſern Augen. So ſehnt des Dich¬
ters Bruſt ſich nach dem Schönſten und Höchſten,
wie Semele nach Zeus wahrhaftiger Geſtalt. Aber
in der Feuergluth zerſpringt ſein Herz, er kann nur
leben im Thal, athmen im Duft der Kräuter, und
die Berge über ihm, die Fußſchemel des Unnenn¬
baren, ſind die Säulen der Ewigkeit, an denen ſein
Geiſt ſich aufrankt. „Wer ein Mal dort oben vom
Lichte getrunken, habe genug für's Leben. Nun möge
man ihn beglückt zurückkehren laſſen in die ſtillen
II. 10[146] Thäler ſeines Fichtelgebirges. Wenn ſeine Waldbäche
über die bemooſten Steinblöcke rieſelten, die Fichten
ſäuſelten, die Veilchen aus dem feuchten Grün duf¬
teten, und wenn dann wieder an des Dichters Seele
edle ſchöne Frauen vorüber ſchwebten, Lianen und
Natalien, im Diadem des Morgenrothes, wenn ihre
Füße im Thau ſich badeten, ihre ſeelenvollen Augen
das Blau des Aethers ſaugten, um Huld und Wohl¬
wollen für tauſend blutende Herzen wiederzuſtrahlen,
— dann kämen ſie von den Bergen, die er einmal
beſtiegen, wo auch er Seligkeit getrunken. In ſeiner
Eremitage nun kein Einſiedler mehr, umſchwebten ihn
Berlins edle Frauen, beim Frühroth böten ſie aus
der Kryſtallſchaale ihm den Morgentrank und wenn
die Königin des Tages hinter die Berge ſinke, ſollte
den Dichter einlullen die Harmonie ihrer Silberſtim¬
men. Dies Glas leere er auf Berlins ſchönere Hälfte.


Unter dem Gläſerklang der Herren, unter den
Verzückungen der Damen war Adelheid aufgeſtanden.
Den Wink der Geheimräthin hatte ſie nicht bemerkt.
Ihre Augen gegen den Plafond gerichtet, tönte ihre
metallreiche Stimme durch den Saal: „Aber die
Sterne oben ſind nicht ſtumm, ſie tönen, im Feſtſaal
des Ewigen kreiſend, die Sphärenſprache der Har¬
monie, und der Geweihte verſteht ſie. Der blaſſe
Geweihte, der am Schmerzenslager überwindet, der
Geweihte, deſſen Stirn die Freude des Sieges röthet,
und er der Geweihte, der der Aeolsharfe ihre Klage¬
töne abgelauſcht, den Vögeln ihren Geſang, er der
[147] die ſummenden Stimmen der Völker verſteht, Phöbus
geweihter Prieſter hört den Geſang der Sterne —“


„Mamſell der Salat!“ flüſterte Johanns zitternde
Stimme, aber er getraute ſich nicht mehr den Napf
zu tragen. Die Geheimräthin war beim Anfang der
Tafel wieder umgeſtimmt geworden, denn die Stim¬
mung der Geſellſchaft war entſchieden für den Dichter,
und die Lupinus theilte nicht die Beſorgniß des Ge¬
nerals. Im Gegentheil ſchien ihr eine derartige Ma¬
nifeſtation jetzt als ein Ehrenpunkt. Aber Jean Paul
hatte ihr bei Tafel gar keine Aufmerkſamkeit erwieſen.
Er ſchwärmte in eignen Gefühlen, ſeine Compli¬
mente waren nur an ihre Tochter gerichtet. Sie
wollte es ihn empfinden laſſen, und ihre Lippen hatten
ſich zu einigen ſpitzen Worten geſpitzt, die mit dem
Stichwort ſchließen ſollten, auf welches Adelheid ein¬
zufallen hätte, als dieſe unerwartet, gegen die Ver¬
abredung von einem Impuls ſich hinreißen ließ. Un¬
glücklich fügte ſich auch hier alles, der kranke Johann
ſtotterte zur Linken die Worte, während einer der ſo¬
genannten „Ausgeſtopften,“ das heißt der gemietheten
Lakaien, ihr zur Rechten den Salatnapf überreichte.
Es war derſelbe Lakai, deſſen funkelnde Augen ſie
vorhin erſchreckt. Adelheid ergriff in ihrer Extaſe den
Napf und ſtatt ihn niederzuſtellen, hob ſie ihn wie
eine Opfervaſe empor — „Und er der geweihte
Prieſter hebt die Schaale den Göttern entgegen“ —
fuhr ſie in der Rolle fort, entnommen aus irgend
einer Dithyrambe der Jean Paul'ſchen Poeſie, die
10 *[148] wir wieder vergeſſen haben, vielleicht auch aus denen,
die von der Geheimräthin zu dieſem Zweck compo¬
nirt waren, als der „Ausgeſtopfte“ ihr etwas zu¬
flüſterte. Die Worte hörte man nicht, aber die Ge¬
ſellſchaft konnte nicht anders denken, als daß der
Sinn von dem, was der Lohnlakai ſprach, nichts
anderes ſei, als was der kranke Bediente ziemlich
vernehmlich zur ſelben Zeit ſprach: „Auf den Tiſch,
Mamſell, 's iſt ja der Salatnapf!“


Adelheids Stimme ſtockte plötzlich. Als ſie nach
der Seite blickte, ſtieß ſie einen Schrei aus. Dar¬
über entfiel ihr der Napf. Viele Arme wollten helfen.
Ein Armleuchter war umgeſtoßen. Die Kerzen fielen
auf das Tiſchtuch; eine ſtreifte an den Fruchtkorb,
der mit künſtlichen Papierblättern ausſtaffirt war. Das
Papier brannte, das Tiſchtuch brannte. Man ſchlug
zu, man ſchlug ungeſchickt zu. Man riß am Tiſch¬
tuch und noch ein Leuchter fiel. Es flammte und floß,
man ſchrie: Hülfe! Feuer! Die Stühle ſchlugen um,
die Damen in den leichten, feuerfangenden Kleidern
ſchrieen am lauteſten und ſtürzten fort, Herren und
Bedienten riſſen am Tiſchtuch. Es brannte ſchon
lichterloh, die Kerzen vom Kronleuchter träuften, als
einige entſchloſſene Arme die Tiſchtuchenden über die
geſammte Verwüſtung zuſammenſchlugen. Der Brand
ward ſo erſtickt, aber auch das Porzellan, Glaswerk,
Torten und alles was zerbrechlich war, in dem Chaos
zuſammengeſchüttet und vernichtet.


So konnte man vermuthen, daß es hergegangen,
[149] denn der Brand war gelöſcht, ehe die Nachtwächter
Berlin in Allarm verſetzten. Im Uebrigen wußte Nie¬
mand ſpäter über den Hergang klare Auskunft zu
geben. Es lag auch in mancher Intereſſe, es im
Dunkeln zu belaſſen. Die Entſchloſſenſten hatten ſchnell
ihre Damen fortgeriſſen, um den Abſchied unbeküm¬
mert, nur Garderobe und Straße galt es erreichen.
Wenn ſie dem Feuerſchaden auswichen, entgingen
einige Damen dem des andern Elements nicht. Die
Waſſereimer, mit welchen die Diener ihnen entgegen¬
ſtürzten, verdarben manche Toilette. Das Gedränge
kam einer Verſtopfung nahe. Man ſprach von Ohn¬
machten. Die ohnmächtig geſagten, leugneten es.
Am Boden gelegen wollte Niemand haben, nur viel¬
leicht auf einem Stuhl. Viele ließen es ſich nicht
nehmen, daß die Wirthin wirklich im Gedränge ohn¬
mächtig geworden. Nach ihren eigenen Aeußerungen
ſpäter konnte man es glauben, ſie ſprach von einem
Schleier, der über ſie gekommen, eine wohlthätige
Macht hätte die Schreckensſcene vor ihr verhüllt.
Es wäre allerdings eine doppelte Schreckensſcene für
ſie geweſen, wenn ſie alle Urtheile wirklich hören
müſſen, welche in der Aufregung über ſie und ihr
Feſt laut wurden.


Die erſte Gerettete war die Baronin Eitelbach.
Als ihr Gemahl ſie in den Wagen heben wollte,
rief ſie aus: „Herr Gott, die Mamſell Alltag
brennt ja.“


Sie wollte zurück. Der Gemahl aber ſtieß ſie
[150] in den Wagen: „Entweder iſt ſie jetzt verbrannt oder
ſie iſt gelöſcht; wir ändern's nicht.“


Der Lärm hatte auch den Geheimrath aus ſeiner
Studirſtube gelockt. Als er im Schlafrock und Pan¬
toffeln in die Vorzimmer drang, war die Geſellſchaft
ſchon entflohen. Nur ein branſtiger Qualm drang
durch die Thüren, Waſſerrinnen ergoſſen ſich über
die Dielen, und Wirrwar, Gedränge und Getreibe
überall. Aus der Thür des Speiſeſaals trug ein
Lakai Adelheid und legte die Ohnmächtige auf ein
Sopha. Bruſt und Schultern waren in ein naſſes
Tuch eingeſchlagen. Ihr Muſſelinkleid war von der
Flamme ergriffen worden. Sie hätte mit einem
Druck der Hand die Flamme löſchen können, aber
ſie hatte wie eine Bildſäule dageſtanden, regungslos.
Der Bediente Johann hatte eine Serviette ergriffen,
aber ſeine Hände zitterten, die Serviette gerieth ſelbſt
in Brand. Da hatte einer der fremden Lakaien
ihn fortgeſtoßen, und mit Tüchern, die er ſchon in
einen Waſſereimer getaucht, das Feuer erdrückt. Aber
jetzt war ſie ohnmächtig geworden, und der Lakai,
ein kräftiger, junger Mann, hatte ſie in das Entree¬
zimmer getragen, als der Geheimrath dazu kam.


Das war das Reſultat einer kurzen Unterſuchung,
welche der Gelehrte angeſtellt, und bei dem er ſich,
als er ſpäter in ſeine Arbeitsſtube zurückkehrte, voll¬
kommen beruhigte. „Jetzt muß man ihr die naſſen
Tücher abnehmen, ſie erkältet ſich ſonſt,“ hatte er ge¬
ſagt, der Lakai aber gerufen: „Man muß einen
[151] Arzt holen!“ und war nach der Thür geſtürzt. „Das
wird nicht nöthig ſein, hatte der Legationsrath Wan¬
del geſagt, der aus der dampfenden Stube trat. Es
iſt nur eine Affection der Nerven.“ Er hatte mit
dem Geheimrath die naſſen Tücher abgezogen und
gefunden, daß keine Brandverletzung ſtatt gefunden,
ſelbſt der Brandfleck am leichten Oberkleide war ge¬
ringfügig, die Flamme hatte nicht einmal das feſtere
Unterkleid ergriffen. Der Legationsrath ſteckte das
Eſſenzenbüchschen, welches er geöffnet, wieder in die
Taſche, murmelnd: „Hydor ariston!“ Das hatte eine
freundliche Falte auf die Stirn des Geheimraths ge¬
lockt. Er redete den Legationsrath lateiniſch an, und
dieſer antwortete lateiniſch. Herr von Wandel hatte
eine ſchöne, reine Ausſprache, nicht ganz ciceronianiſch,
aber er applicirte ſehr geſchickt einige Feinheiten der
Latinität: „Es iſt nichts als eine pſychiſche Aufregung,
vielleicht Exaltation für den Dichter, vielleicht etwas
anderes — aber es geht ſchnell vorüber, ſie wird
ſich von ſelbſt erholen!“ Und ſo geſchah es, auf
einige Tropfen, die er aus einem Waſſerglaſe auf ihr
Geſicht ſprühte, ſchlug Adelheid die Augen auf. Sie
erkannte die Gegenſtände, athmete und machte eine
Bewegung mit der Hand, daß die Herren ſich ent¬
fernen möchten: „Das übrige wird weibliche Pflege
und ein Camillenthee thun,“ beruhigte der Gaſt den
Wirth.


Der Geheimrath hatte dem Legationsrath die
Hand gereicht, und den Wunſch ſeiner näheren Be¬
[152] kanntſchaft ausgedrückt. Er that dies ſelten. Im
Speiſeſaal grinſte ihn die Verwüſtung an. Es dampfte,
fluthete, er mußte über umgeworfene Stühle, Tiſche,
Scherben ſteigen. Wenn das in ſeiner Studirſtube
paſſirt wäre! Der blaſſe Geiſterſchreck, den dieſer
Gedanke auf ſein Geſicht zauberte, trieb ihn zu einer
ungewohnten Thätigkeit. Er rief den Dienern, den
Mägden, er legte ſelbſt Hand mit an.


Da flog ein erſtes Lächeln über die weißen Lip¬
pen der Geheimräthin, und es zückte etwas von Leben
in ihrem ſtarren Blicke. Sie hatte bis da regungs¬
los auf dem Canapé halb geſeſſen, halb gelegen,
vielleicht im Gedränge von den Fortſtürzenden dahin
geſtoßen. Das Eau de Cologne, was Liſette ihr in's
Geſicht geſprengt, war ohne Wirkung geblieben. Jetzt,
beim Anblick der Thätigkeit ihres Mannes kehrte das
Leben zurück. Die Zunge löſte ſich, ſie konnte ſprechen,
es platzte heraus wie ein Lachen: „Mit den Pan¬
toffeln! Sie erkälten ſich ja im Waſſer die Füße.“


Der Geheimrath fühlte jetzt, was ihm ein Un¬
behagen verurſacht, für das er ſich keinen Grund
anzugeben gewußt. Er ging im Waſſer, ſeine Füße
waren ganz naß.


„Aber es muß doch Ordnung geſchafft werden,
meine Liebe.“ Er ſah ſich um.


„Dafür wird Liſette ſorgen, die verſteht es
beſſer. Gehn Sie in Ihre Stube und ziehen ſich
andere Strümpfe an, morgen iſt alles wieder
wie ſonſt.“


[153]

„Aber — ich hoffe die Incommodität wird Ihnen
nicht ſchlecht bekommen?“


„Ganz und gar nicht, ſagte die Geheimräthin,
die aufgeſtanden war. Eine kleine Störung in den
Gewohnheiten des Lebens. Weiter nichts. Morgen
iſt's vergeſſen. Ich hoffe, daß in Ihrer Stube nichts
derangirt iſt.“


Das hoffte der Geheimrath auch; er hatte hier
nichts mehr zu thun. Die Geheimräthin ließ ſich von
Johann führen. Mit jedem Schritte, den ſie that,
ging ſie feſter. Der Bediente hielt ſich an dem
Thürpfoſten, als er ſie in ihr Schlafzimmer gebracht.
Sie maaß ihn mit einem durchdringenden Blicke:
„Was ſoll das werden mit ihm, Johann?“


Er verſtand es: „Um Gottes Erbarmen, gnä¬
dige Frau Geheimräthin, ſtürzen Sie mich nicht in
mein Elend.“


Ihm war es, als bohrte ihr Blick in ſein Herz
aber ſie ſprach kein Wort: „Morgen früh ſoll Hof¬
rath Heim kommen.“


Er ging. Sie rief ihn zurück: „Nein, nicht
Heim! Der iſt zu nichts zu brauchen — murmelte
ſie. Selle, rufe er den Geheimrath Selle, ich laſſe
ihm meine dringende Empfehlung machen — Sie
ſtockte und hub wieder an: Nicht zu Selle, zum
alten Geheimrath Mucius, ich ließe ihn dringend
bitten.“


Johann war gegangen. Sie ſchellte wieder:
„Es ſoll mich Niemand ſtören. Was auch vorfalle.
[154] Ich werde mich ſelbſt ausziehen. Liſette ſoll mit den
andern die Sachen fortſchaffen, aber ſie ſoll ſich
nicht unterſtehen Lärm zu machen. Ich will nichts
mehr wiſſen, verſteht Er mich.“


„Johann ging. Sie rief ihn doch wieder zurück:
„Morgen früh wird Niemand vorgelaſſen. Niemand.“


„Herr Jean Paul Richter fragten wann er ſeine
Aufwartung machen könne, um Abſchied zu nehmen?“


„Ich bin nie, wenn er ſich meldet, zuhauſe.“


Sie ſtand noch eine Weile, nachdem der Be¬
diente fort war, die Blicke auf die Diele geheftet.
Ihr mußte ſehr heiß ſein, ſie ſchöpfte tief Athem, riß
Tuch und Kleidungsſtücke auf und warf ſich auf das
Sopha, den Kopf im Arm geſtützt.


Sie wollte nichts von dem Geräuſch hören, und
hörte doch alles, das Aufheben jedes Stuhls, das
Klappern der Teller, ſo leiſe Mägde und Diener ihr
Geſchäft verrichteten. Sie gab ſich Mühe die Tritte
jedes einzelnen zu erkennen, und indem ſie ſich darüber
ärgerte, horchte ſie nur immer ſchärfer. Sie haderte
innerlich, dieſe Magd ſollte einen Verweis erhalten,
jene entlaſſen werden.


Was glühte in ihren Adern, was war die trockene
Hitze, die ihr alle Spannkraft raubte, was die Un¬
ruhe, die jede Anwandlung von Schlaf verſcheuchte?
Ein verlorener Tag? Es war nur ein Tag unter
vielen. Eine verlorene Schlacht in einem Kriege, in
einem langen, troſtloſen mit dem Leben. — Und von
wem war ſie geſchlagen? — Von allen. Heut, wo
[155] ſie ſo ſicher auf einen Sieg gerechnet. Sie kannte
die Geſellſchaft, die böſen Zungen, die Macht des
Lächerlichen. Ihre Niederlage war eine auf lange
Jahre hinaus. Sie hörte ſchon die Fragen mit
ſpöttiſchem Lächeln: „Waren Sie auch bei dem Zau¬
berfeſt der Geheimräthin?“ Die eben ſo lächenden
Antworten: „Sie hat es ſich etwas koſten laſſen.
Recht ſchade, wozu das?“ — „Sie hat einmal kein
Geſchick dazu,“ — „Die Apotheoſe Jean Pauls war
doch au comble du ridicule.“ — „Und dazu das
Unglück noch! Die arme Frau. Warum wird ſie
aber nicht klug!“ Oder die bitterſten: „Es iſt
ihr ſchon recht, daß ſie mal die Lection bekom¬
men hat!“


Sie war unerſchöpflich in der Selbſtmarterung,
ſie vertheilte dieſe Sarkasmen und Bonmots, zu deren
Zielſcheibe ſie ſich ſelbſt machte, unter ihre Bekannten,
ihre beſten Freunde. Und hatte ſie es denn von
ihnen anders erwartet? Sie lachte auf. Ach das
Lachen half nichts. Sie empfand einen ungeheuren
Durſt, aber nicht Waſſer, nicht Wein konnte den ſtillen.
Aber an wem dieſen Durſt kühlen? — Laforeſt, warum
mußte er das erſte Zeichen zum Aufbruch geben, er,
der nur gekommen ſchien, um Audienz zu geben,
Huldigungen zu empfangen. Der General, der feige
davon lief? Mochte er laufen. Jean Paul, der,
erſtickt von Eitelkeit, nur im Lobe ſich berauſcht, nur
mit den jungen Mädchen getändelt, ohne ihr, die ſie
mit ſo raffinirter Sinnigkeit das ganze Feſt für ihn
[156] bereitet, nur ein Wort des Dankes zu ſagen, nur
die gewöhnlichſte Aufmerkſamkeit zu erweiſen. Alle,
alle hatten ſich nur um ſich bekümmert, um andre
Geſtirne, ſie war eine Einſiedlerin geweſen in ihrer
Geſellſchaft.


Die Dienerſchaft draußen mußte mit ihrer Ver¬
richtung zu Ende ſein. In der Stille hörte man nur
noch vereinzeltes Thürenklappen und hin- und her¬
laufen. Sie lauſchte aufmerkſamer. Den Tritt kannte
ſie. Der Legationsrath war noch im Hauſe geblieben?
Er kam grade auf ihre Thür zu. Endlich ein Menſch,
ein Geiſt, der ſich ihrer annehmen, mit dem ſie ihre
Gedanken austauſchen könnte. Sie war aufgeſprungen.
Sie wollte die Thür aufreißen. — Nein, es war an
ihm. Gleichviel, wollte er ſich melden laſſen, klopfen,
eintreten. Er blieb ſtehen. Sie glaubte ihn gähnen
zu hören. Er zog ſich den Ueberrock an. Er ſprach
leiſe mit Liſetten. Es war von Tropfen und andern
Hausmitteln die Rede, für eine Magd, die der Schreck
niedergeworfen, von einem Thee, den ſie dem Ge¬
heimrath kochen ſollte. Auch dem Johann ſollte ſie
davon eine Taſſe geben — von ihr kein Wort! —
Er fragte nicht nach ihr. War ſie kein menſchlich
Weſen? Hatte der Schreck auf ſie keine Einwirkung?
Hatte er ſie vergeſſen?


Er war fort, ſie lag wieder auf dem Sopha.
Ihre Stirn war ſo heiß, ſo heiß — ein kühlender
Tropfen nur! Aber vor dieſer Stirn tanzten Bilder
in erſchreckender Klarheit. Sie wußte jetzt, wer ihre
[157] Feindin war. Wen hatte Wandel hinausgeführt,
wem ſeinen Cavalierdienſt erwieſen, die gewöhnlichſten
Regeln der Artigkeit gegen die Wirthin, wer dieſe
auch geweſen, verletzend. Weil ſie die Vornehmre,
die Vornehmſte war? O dahinter ſteckte mehr. Die
Fürſtin war es, welche, unter der Maske der an¬
ſpruchloſeſten Holdſeligkeit ihr den Abend verdorben,
welche ihr auf ihrem eigenen Grund und Boden eine
totale Niederlage beigebracht. Sie hatte das Feſt
beherrſcht, ſich Huldigungen darbringen laſſen, durch
ihr Geſpräch ſie ſelbſt gefeſſelt, daß ſie ihr Auge der
Geſellſchaft entzog. Dann, nachdem ſie ihr durch die
böſe Nachricht den Todesſchlag verſetzt, war ſie trium¬
phirend fortgegangen. Aber nicht Zufall war es, —
nein Plan; ein weit hinausreichender Plan. Der
Fürſtin, die einen Kreis um ſich zaubern wollte, waren
die angenehmen Cirkel der Geheimräthin im Wege.
Hatte ſie nicht in einem langen Geſpräch ſie nach
allen Verhältniſſen, Perſonen ausgefragt! Wozu das?
Sie wollte auskundſchaften was den Zauber dieſes
Kreiſes bilde. Was konnten die fremde, vornehme
Frau ſonſt die Verhältniſſe eines bürgerlichen Hauſes
in Berlin intereſſiren! Und jetzt wußte, kannte ſie
alles, und hatte vielleicht alles zerſtört. — Wer würde
denn noch ihre Geſellſchaften beſuchen? Nicht weil
der König ſich gegen den Dichter ausgeſprochen. O
nein, das konnte ihrer Societät grade einen neuen
Reiz geben, die freien muthigen Geiſter locken, aber
vor dem Fluch des Lächerlichen flieht die Geiſterwelt.
[158] Und er — ſollte, könnte ihr dabei hülfreiche Hand
geleiſtet haben! Unmöglich!


Eine unausſprechliche Bitterkeit ergriff die Ge¬
quälte. Kann eine Frau einen Mann fordern? Was
kann überhaupt eine Frau, und wenn ſie den Muth
einer Judith und Herodias beſaß, in dieſer Welt der
Conventionen! Ihr Haß mag glühen wie der Aetna,
den Athem muß ſie in ſich zurück preſſen, ſonſt ver¬
wundet ſie ſich ſelbſt. Die Macht des Lächerlichen
umſtarrt ſie wie himmelhohe Eisfirnen, die auf ihrem
Spiegel nur die verzerrten Züge ihrer Wuth als
Karikaturen wiedergeben. Giebt es denn keine Mittel
für ein Weib, der Welt den Krieg zu erklären? Sie
erinnerte ſich, was Wandel von den großen Frauen
geſprochen, die ihre Welt beherrſcht, von den Fabel¬
königinnen Semiramis und Zenobia bis zu den
Katharinen von Medicis und der großen Czarin auf
dem Ruſſiſchen Thron. — Thorheit an ſolche Mög¬
lichkeit zu denken! Und wenn die Revolution fort¬
gährte über die Welt, ſie erhöbe nur Männer, und
die Weiber blieben Sklavinnen und Intriguantinnen.
Nur das kleine Spiel der Ränke, um hie und da mit
giftigen Nadeln zu ſtechen, ihnen vergönnt! Einen
Verhaßten — mag eine Frau, die einen Mächtigen
beherrſcht, verfolgen, vernichten; wenn nun aber ihr
Haß nicht an Einzelnen ſich genügen läßt, wenn die
Vernichtungsluſt ihre Adern wie ein wildes Feuer
durchglüht, wenn ſie die Armſeligen, Gemeinen, Un¬
dankbaren von der Erde wegſpülen möchte, wie
[159] Pharaonis Schaaren das rothe Meer — wenn ſie
fühlt, mit dieſem Rachekitzel der Menſchheit ſelbſt
einen Dienſt zu leiſten! — Sie kann nur morden im
Traume!


Sie preßte ihre Hände an die heiße Stirn, als
ſie wieder ein Geräuſch hörte. — Das war Adelheids
Stimme, hell — wie ein Aufſchrei. Es kam von
weitem her, aber nicht weit genug, daß es von ihrem
Zimmer ſein konnte. Da kam ihr das Mädchen
wieder in den Sinn. Sie hatte gar nicht an ſie
gedacht. Was war aus ihr geworden? Sie ſann
nach. Eine dunkle Vorſtellung, daß man Hülfe! Sie
brennt! gerufen. Sie durfte ſich verſengt haben.
Von ihren Feinden war ja alles geſchehen, der Sache
einen Eclat zu geben. Aber der Ton kam wieder;
nicht mehr ein Schrei, aber der bange tönende Schall,
den die Menſchenſtimme annimmt, wenn etwas Unge¬
wöhnliches uns überkommt. Sie hörte noch eine
andre Stimme. Auch ein Schrei, wie wenn man
Geiſter erblickt. Das war keiner von der Diener¬
ſchaft, auch nicht ihr Mann. Wie ein tiefes Schluchzen!
Eine heftige Bewegung. Sie hörte Männertritte.
An Muth fehlte es der Geheimräthin nicht. Sie
ergriff den Leuchter und trat hinaus. Die Kerze
warf nur ein ſchwaches Licht in den verwüſteten Saal.
Ihr: „Wer iſt da?“ hallte ohne Antwort durch die
Räume, aber aus dem Cabinet daneben war eine
Geſtalt bei ihrem Eintritt fortgeeilt. Sie ſchlüpfte
durch die Thür nach dem Entree. Sehen konnte ſie nur
[160] einen Schatten, ſie hörte das leiſe Klinken der Thür
draußen, ſie hörte deutlicher Tritte, die auf der Treppe
allmälig verhallten.


Im Cabinet ſtand Adelheid, die zugedrückten
Hände an der Stirn. Sie athmete ſchwer; ein inten¬
ſives Zittern ſchüttelte ihre Glieder. Sie erſchrak
aber nicht, als ſie die Hände allmälig vom Geſicht
fortzog, nicht vor dem Glanz des Lichtes, und nicht
vor dem Anblick, und dem forſchenden Blick der Ge¬
heimräthin.


„Was war das, Adelheid? Wer war hier?“


„Fragen Sie mich nicht, antwortete das Mäd¬
chen. Es war alles wie ein Traum.“


„In dem noch ein anderer mit träumte!“


Das Mädchen ſchöpfte nach Luft. Aber ihr Blick
hatte doch eine Sicherheit, welche die Geheimräthin
frappirte. Adelheid ſank auf einen Stuhl und ſtützte
den Kopf im Arme: „Es war faſt zu viel! ſchluchzte
ſie, zu viel für mich. Und, mein Gott, warum
komme ich dazu. Warum ich dazu auserſehen!“


Die Geheimräthin ſetzte ſich neben ſie: „Hat Dich
jemand gekränkt, beleidigt? —“


„Ich weiß es nicht.“


„Ein Menſch entſchlüpfte durch jene Thür, er
war bei Dir —“


„O mein Gott, er war bei mir, und nun iſt
er fort — “


„Und wer war es?“


„Das iſt ein Geheimniß, laſſen Sie es mir.
[161] Es ſprengt mir die Bruſt, aber ich werde ſchon ſtark
werden! Er iſt fort, er wird nicht wieder kommen.“


„Ein Geheimniß vor der, die Mutterſtelle an
Dir vertritt! — Bedenke, liebes Mädchen, es darf
kein Geheimniß zwiſchen der ſein, für deren Ehre ich
durch Deine Aufnahme in meinem Hauſe Bürgſchaft
vor der Welt leiſtete —“


„Die Sie — von da aufhoben,“ fiel Adelheid
ſchaudernd ein.


„Und der geringſte Verdacht, ein Geheimniß,
was ich verdecken, ein Fleck, den ich beſchönigen
hülfe —“


„Wäre mein Verderben! rief Adelheid aufſprin¬
gend. Ich weiß es, ich weiß Alles — o Gott, ich
bin unglücklich, aber es iſt nicht mein Geheimniß.“


„Weſſen denn?“


„Dem ich auf ſeinen Knieen verſprach, es zu
bewahren.“


„Auf ſeinen Knieen!“ Hätte die Lupinus der
Beruhigung über einen Punkt bedurft, ſo war ſie
jetzt durch Adelheids Exaltation und durch die Sicher¬
heit ihrer Sprache beruhigt. Aber dieſer bedurfte
ſie nicht.


„Verſtoßen Sie mich, gütige Frau! Ich weiß
ja welchen Undank ich auf mich lade. Stoßen Sie
mich aus Ihrem Hauſe, zurück in meine unge¬
wiſſe Lage, — nein mehr als das, es koſtet Ihnen
nur ein Wort, wenn Sie mich aufgeben, ſo fällt
der ganze Fluch wieder auf mich, alle die böſen Er¬
II. 11[162] innerungen, das Gerede erhält neue Kraft, dann bin
ich vor der Welt verloren.“ —


„Exaltire Dich nicht, ſagte die Geheimräthin,
mich kümmert das Urtheil der Welt nicht, ich ver¬
lange nur Wahrheit zwiſchen uns.“


„Und ich — darf Sie Ihnen — heut nicht
geben.“


Heut nicht — wiederholte langſam die Ge¬
heimräthin. Da es kein Dieb und Räuber war, denn
es iſt doch nichts entwendet, und er floh vor dem
Anblick einer ſchwachen Frau, kann es nur ein leiden¬
ſchaftlicher Menſch geweſen ſein. Da Du aufſchrieſt,
war es auch kein Rendezvous, ſondern er überraſchte
Dich, und vielleicht aus Mitleid oder Schonung willſt
Du ſeinen Namen jetzt nicht nennen. Nun das preſſirt
ja auch nicht. Du willſt ihn nicht wiederſehen, und
wenn Du es ihm ſelbſt ſchon geſagt, überhebſt Du
mich der Mühe, ihm mein Haus zu verbieten. Auch
wirſt Du klug ſein, um Dich und mich nicht in De¬
melés zu verwickeln, und die Vorſicht gegen Andere
beobachten, die Du gegen mich übſt. Im Uebrigen
könnte es mich wenig kümmern, wer es iſt, da es
an thörichten Menſchen in der Stadt nicht fehlt, die
Dich auf Tritt und Schritt angaffen und uns beiden
Incommoditäten verurſachen, wenn ich nicht beſorgen
müßte, daß es einer der Freunde unſeres Hauſes wäre.
Wenn das iſt, müßte ich Mamſell Alltag bitten, bis
morgen ſich zu beſinnen, ob Sie mir den Namen
nennen will, denn Perſonen, welche hinter meinem
[163] Rücken das Recht der Gaſtfreundſchaft verletzen, müßte
ich den Stuhl vor die Thür ſetzen.“


Sie hatte ſich umgewandt. An der Thür holte
Adelheid ſie ein. Sie preßte die Hand der Geheim¬
räthin an die Lippen und bedeckte ſie mit heißen
Thränen: „O verzeihen Sie mir, ich bin ein undank¬
bares Geſchöpf, aber — nicht ſo undankbar, — nein
aus Ihrem Hauſe iſt er nicht, er iſt nie über Ihre
Schwelle getreten, er darf nicht über Ihre Schwelle
treten.“


Mit dem Lichtſtrahl, der plötzlich in der Lupinus
aufſchoß, fiel ein ſchwerer Stein von ihrem Herzen.
Es war ein erſtes, wohlgefälliges Lächeln, das über
ihre Lippen ſchwebte. Sie hatte an den Legations¬
rath gedacht, jetzt ſchämte ſie ſich faſt, daß ſie an ihn
denken können.


Sie zupfte Adelheid am Ohr: „Nimm Dich in
Acht! — So verräth man ſich. — Ich hoffe, Du
haſt Dich gegen ihn nicht verrathen? — Doch wie
kam er ins Haus?“ — Plötzlich ſtand der fremde
Bediente vor ihren Augen, deſſen blitzende Augen
ſie am Abende erſchreckt. „Ich werde künftig dafür
ſorgen, daß man keine Verkleidungen in meinem Hauſe
aufführt, und Du — nun das hängt von Dir ab —
Es iſt ſpät, wir wollen zu Bette gehen.“


Dem ſpäten Einſchlafen der Geheimräthin gingen
Träume vorauf, die wir nicht begleiten. Nur ein¬
mal ſchrie und fuhr ſie auf. Sie hatte von der
Folter geträumt; ihre Glieder wurden zerſchlagen.
11 *[164] Sie befühlte ihren Arm. Sie hörte ein ſtilles Weinen.
Die Wände ſanken nieder, die ihr und Adelheids
Schlafzimmer trennten. Adelheid lag auf ihrem Bett,
mit den ſchlafloſen Augen ins Wüſte ſtarrend: „Es
leidet noch eine hier,“ flüſterte der Dämon, und eine
wohlthätige Wärme verbreitete ſich wieder durch ihre
Adern. Sie lächelte als ſie einſchlief.

[[165]]

Neuntes Kapitel.
Scheiden und Meiden.

Jülli weinte, den Kopf auf den Tiſch gelegt,
ſtill vor ſich hin. Vor ihr lag ein kleiner Beutel
mit Geld. Am Tiſch ſtand Louis Bovillard, mit
unterſchlagenen Armen, den Hut auf dem Kopf, der
beinahe die Decke des engen Hofſtübchens berührte.
Es war nichts Freundliches in der Stube, bis auf
die Reſedatöpfe im Fenſterbrett, auf welche grade ein
durch zwei hohe Hinterhäuſer ſich drängender Sonnen¬
ſtrahl fiel.


„Damit willſt Du mich abkaufen,“ ſchluchzte ſie.


Er antwortete nicht.


„Du willſt verreiſen, nicht wieder kommen.“


„Ich verreiſe nicht,“ ſagte er nach einer Pauſe.


„Aber Du willſt mich nicht wieder ſehen. Wa¬
rum giebſt Du mir mehr, als Du geben kannſt?
Dein Vater giebt Dir nichts, Du haſt Schulden, ich
weiß es. — Wozu brauchte ich denn ſo viel Geld!“


Plötzlich war ſie aufgeſprungen, die Thränen
brachen ihr aus den Augen, und ſie ſtürzte mit wilder
[166] Heftigkeit ihm um den Hals: „Nein, Louis, verzeih'
mir Louis, ich weiß nicht, was ich ſage, Du haſt mich
nicht abkaufen wollen. Was hätteſt Du abzukaufen!
Du biſt die Großmuth ſelbſt. Nur aus Mitleid,
aus purem Mitleid haſt Du mich aus dem Staube
aufgerafft, bloß um die dumme Schmarre da am
Halſe. O hätte der Herr ſeinen ſpitzen Degen mir
doch durch's Herz geſtoßen, dann wären meine
Schmerzen aus, und ich machte Dir nicht ſo viele.
Du haſt Recht, ſtoße mich fort, ich bin eine Laſt an
Deinen Hacken. Du liebſt mich nicht, Du haſt mich
nie geliebt. Sag's raus, grade raus, das wirkt
vielleicht wie die Degenſpitze — und dann iſt alles gut.“


„Mädchen, ſei nicht närriſch.“


„Närriſch bin ich nicht. Ich hab's wohl über¬
legt, Du haſt unrecht gethan, daß Du mich hier in
das Haus brachteſt, wo Du ſelbſt wohnſt. Das
ſchadet Deinem Ruf.“


Er lachte auf: „Ich habe keinen zu verlieren.“


„Doch! O mein Gott, ja, ich habe es ſelbſt von
den Herren gehört: Wenn er wenigſtens die Schick¬
lichkeit beobachtet hätte, das Geſchöpf auswärts ein¬
zumiethen. Man kann ja nicht mehr mit Anſtand
über ſeine Schwelle.“


„Zur Thür hinaus mit den anſtändigen Freunden!“


„Sage das nicht, Louis. O wenn ich Freunde
gehabt hätte, damals, einen nur wie Dich, ich
wäre jetzt nicht, was ich bin. — Mein alter Vater,
der blinde Conrector, der war ſo gut, er hätte ſich
[167] meiner erbarmt, wenn Einer ihm nur zugeſprochen.
Aber die Leute und die Stiefmutter! — Ach mein
Herz brannte, mehr von dem Schimpf als von der
Schande! — Wie ſie mich in den Korbwagen pack¬
ten, und die halbe Stadt darum — die höhniſchen
Geſichter, die Finger und die ſpitzen Reden: Nun
kann ſie mit ſeidenen Kleidern gehen, — nun kann
ſie Romane leſen! Als es zum Thor hinausrollte,
wie ſchnitt mir's in's Herz!“


„Kammermädchenphantaſieen!“


„Die gnädige Frau hätte es auch gut mit mir ge¬
meint — aber — ich war noch ſtolz wie Du, ich
wollte mich nicht ihr zu Füßen werfen. — Aus
Schaam ſtürzte ich fort und in's Elend. — Louis,
glaube mir, es braucht jeder Freunde, ſonſt fällt er.“


„Ich nicht mehr,“ murmelte er zwiſchen den
Lippen.


Sie riß die Augen weit auf, ſie faßte ihn krampf¬
haft an der Weſte: „Allmächtiger Himmel, iſt's das!
— Als ich vorgeſtern in Dein Zimmer kam, — es
war unrecht von mir, ich weiß es, und Du thatſt
recht, daß Du auffuhrſt; Du packteſt mich am Arm,
und fragteſt, ſo bös hab ich Dich nie ſprechen hören,
was ich mich unterſtehe, Du ſtießeſt mich zur Thür
hinaus, und ſchlugſt ſie mit einem Schimpfwort zu
— es war ein häßlich Wort, aber es hat mich nicht
beleidigt; es hatte mich auch nicht beleidigt, als ſie
mich Geſchöpf nannten, nein ich bin ſtolz darauf,
wenn ſie mich Dein Geſchöpf nennen, ich wollte auf
[168] Deiner Schwelle ſchlafen, wenn Du mich mit Füßen
träteſt, wenn Du mich todt träteſt, und nur dabei
ſprächeſt: ich thue es aus Liebe, das wäre ein ſeliger
Tod. Aber ich habe etwas geſehen, Louis, ehe Du
mich raus warfſt, und darum warfſt Du mich raus
— Du putzteſt Piſtolen auf dem Tiſche.“


„Was kümmert's Dich!“


„Louis! Geh' nicht allein aus der Welt. Wenn
Du gehſt, nimm mich mit.“


„Ich denke einen mitzunehmen, ſprach er vor
ſich hin. Im Uebrigen ſei ruhig, Mädchen, die
Piſtolen ſind nicht für mich geladen.“


„Das iſt nicht wahr. Für wen denn? — Ich
laſſe Dich nicht ſo fort. Willſt Du in den Krieg?
Es iſt ja kein Krieg. Sie ſagen, wir behalten
Frieden.“


„Krieg! Alles iſt in Krieg mit einander, Tu¬
gend und Vernunft, Wahnſinn und Laſter; Alles be¬
trügt ſich, ſchlägt ſich ein Bein, kuppelt, ſtiehlt, ſpielt
falſch; nur die Schurken und Memmen leben in Frie¬
den und Eintracht, und wenn ſie in der Stille den
Sündenbecher der Niederträchtigkeit geleert, wenn ſie
ſatt ſind, predigen ſie uns Honnetität.“


„Sprich nicht ſo häßlich. Ich kann's nicht leiden.
Spaße lieber. Sag's mir im Spaß, daß Du mich
nicht mehr magſt, daß ich Dir unausſtehlich bin, daß
Du das Geld nur giebſt, um mich los zu werden,
hörſt Du, Louis, ſag's im Spaß, und thu's dann
im Ernſt. Aber ſag' es mir ja nicht vorher. Lache
[169] mich aus, nenne mich ein dummes Gänschen, wie
Du ſonſt wohl thateſt; ſo geh' fort, daß ich denken
kann, daß ich träumen kann, Du kommſt wieder.
Und wenn Du dann auch nicht wieder kommſt, ſo
erwarte ich Dich noch immer, und wenn ich Dich er¬
warte, bin ich glücklich — bis, bis — thu' mir den
einzigen Gefallen —“


Er fuhr mit der Hand in ihre Haare: „Biſt
Du ſo ein verzogenes Kind, das vor dem rauhen
Lüftchen Wahrheit zittert? Das ſollteſt Du den fei¬
nen Damen überlaſſen, die ſich überglätten mit der
Politur der Tugend. Eine wie Du müßte doch vor
dem Nackten nicht erſchrecken, nicht vor dem nackten
Laſter, dem nackten Elend — auch nicht vor dem
nackten Tode.“


„Wenn Du mich ſo recht ſchmähſt und ſchlecht
machſt, glaub ich zuweilen, daß Du mich doch lieb
haſt. Wenn ich Dir gleichgültig wäre, thäteſt Du
es nicht.“


„Haſt recht! Wen man lieb hat, kann man
quälen, martern, man wird ein wildes Thier. Da
am letzten Abend bei der Malchen. Nicht wahr!
Und ich bin ſeitdem nicht beſſer geworden. Gott
bewahre! Wer Dir das ſagt, belügt Dich.“


„Kaum daß Du frei kamſt, erkundigteſt Du dich
nach mir, Du haſt für mich geſorgt, daß ich nicht
auf die Straße gerieth.“


„Einbildung! Pure Einbildung. Ich wollte
nur ein Geſchöpf haben, an das ich mein ſchwarzes
[170] Blut, meine tolle Laune auslaſſe. Warf ich Dich
nicht zur Thüre hinaus, ſchimpfte ich Dich nicht,
drückte ich Dir nicht mal die Kehle, daß Du zu er¬
ſticken glaubteſt, — aus purem Muthwillen? Und
habe ich Dich nicht auch geſchlagen?“


„Nein, Louis, das haſt Du nicht. Du haſt
mich nie geſchlagen.“


„Dann war's eine Andre. Und Eine, der ich
das größte Herzeleid angethan. Wenn ich ein guter
Menſch wäre, hätte ich auf meinen Knieen rutſchen
müſſen, bis ich es gut gemacht. Beleidigt hatte ich
ſie, daß ich ihr nicht vor's Geſicht treten durfte, und
ich hatte auch gute Vorſätze, — aber das wilde Thier
bäumte ſich gegen das Gute, und ich war raſend,
toll vor Scham. — Da habe ich ſie gequält, daß ſie
auch in Thränen ausbrach — aber das waren andre
Thränen — und das war der Dämon, das Unge¬
heuer, das die zerſtört, die es zu lieben vorgiebt. —
Darum ſei froh, Mädchen, ich erwürgte Dich noch
einmal in der Nacht —“


Er drückte ihr abgewandt die Hand und wollte hinaus.


„Louis! Das iſt wider Abrede. Du wollteſt mir
noch was vorlügen.“


„Was?“


„Befiehl mir, ich ſolle, wenn ich zu Bett geh,
die Thür offen laſſen, Du wollteſt hereinſchleichen,
mich im Schlaf erwürgen. Ach Louis, wenn Du
das thäteſt! Ich könnte wieder beten zum lieben Gott.
Wie ruhig würde ich einſchlafen.“
[171] „Bete! ſagte er, ihr die Hand reichend. Das
andere findet ſich. Wenn ich — es iſt doch möglich,
daß ich — vielleicht in ein Weinhaus geriethe, nicht
nach Hauſe käme, dann ſetz Dich morgen auf die Poſt.
Zu Deinem alten Vater! Die Stiefmutter iſt ja todt.
Er braucht eine Pflege für ſeine alten Tage.“


„Weil er blind iſt, ſieht er meine Schande nicht,
denkſt Du. — Ach die Leute da —“


„Das Neſt! Erzähl ihnen von den vornehmen
Damen hier, auf die ſie nicht mit Fingern weiſen.
— Dummheit, ward kein Mädchen dort verführt,
lief keine mit ihrem Geliebten fort, und kehrte wie¬
der. Du haſt Dich mit ihm überworfen, und willſt
ſolide werden. In dem Beutel iſt genug, damit
kannſt Du einen Putzladen anfangen. Putzen will
ſich jede, auch in einem Neſt. Vielleicht machſt Du
auch die Lehmkabache Deines Vaters damit ſchulden¬
frei, und dann iſt Alles gut.“


„Adieu, Louis, ſprach ſie, ich danke Dir auch
recht ſchön. — Ja es wird Alles gut werden.“


Sie hatte ſich nach dem Fenſter umgewandt, und
ſtopfte heftig mit dem Finger die Erde im Reſedatopf.
Sie durchſtach die Wurzeln.


„Auf Wiederſehn!“ ſagte er, die Klinke in der
Hand.


Er ſah ſich noch einmal um. Die volle Gluth
der Sonne fiel auf ihr Geſicht; dennoch war es
todtenblaß, die Zähne klappten unmerklich unter den
feſt geſchloſſenen Lippen. Sie verließ plötzlich die
[172] Blumentöpfe und kam auf ihn zu, aber nicht ſtür¬
miſch, ſie zitterte nur etwas als ſie ſprach:


„Ich muß Dir doch noch danken, lieber Louis,
daß Du ſo gut warſt, ſelbſt zu mir zu kommen. Du
hätteſt mir ja das Geld durch einen andern ſchicken
können, und ſchreiben. Das wäre Dir viel leichter
geworden. Du haſt es Dir nicht leicht gemacht, um
mir noch eine Freude zu machen. Das nehme ich
dafür, daß Du mir doch gut biſt. Gott lohn es Dir.“


Sie ſchüttelte ihm die Hand; er drückte einen
Kuß auf ihre eiskalte Stirn.


„Alſo — ich komme wieder,“ ſagte er, auch
ſeine Stimme ſchien zu zittern.


„Nimm Dich nur in Acht auf der ſteilen Treppe,
daß Du nicht fällſt.“


Sie ſah ihm nach. Als ſie die Thür zudrückte,
vergingen ihr die Kräfte. Sie wollte nach dem kleinen
alten Sopha, ſie ſtreckte die Arme danach aus,
aber ſie kam nur bis in die Mitte der Stube. Mit einem
erſtickten Schrei ſchlug ſie beſinnunglos auf die Dielen.


„Daß uns das Abſchiednehmen ſo ſchwer gemacht
iſt! Selbſt dieſer! ſprach Bovillard für ſich auf dem
Rückwege. Und doch woraus beſteht das Leben?
Nur aus einer langen Reihe von Trennungen. Jeder
Moment der Abſchied von dem vorangegangenen. Und die
Menſchheit erfand ſich keinen andern Troſt als die
Illuſion des Wiederſehens. Als ob je Einer wieder¬
fand, was er verließ! Den Trunk aus dem Becher,
den ſüßen Blick; den Kuß, den ſprudelnden Witz?


[173]

Und wenn es ſtehen geblieben, kein andres geworden
wäre, ſo wärs ein abgeſtandener Wein, eine ekle Wieder¬
holung. Und des Daſeins Loſung bleibt doch —
weiter! Bis — und da hoffentlich auch weiter.“


In ſeiner Stube fand er zwei verſiegelte Briefe.
Ein verächtliches Lächeln ſchwebte über ſeine Lippen,
als er den erſten durchflog. Er zerriß ihn: „Dacht
ichs doch!“ Er öffnete den zweiten, ihm widerfuhr
daſſelbe Schickſal: „Eine Copie! Süße Harmonie
edler Seelen! Sie hätten das doppelte Schreiben
ſparen können.“


Seine beiden Secundanten, die endlich zugeſagt,
nachdem er vergebens bei andern angefragt, mußten
mit dem größten Bedauern ſich wieder losſagen, der
Eine wegen einer unvermeidlichen Dienſtreiſe, dem
Andern war eine zärtlich geliebte Schweſter erkrankt.


„O dieſe zärtlichen und pflichteifrigen Menſchen!
Könnten ſie nicht auch aus Dienſteifer für das Ge¬
meinwohl, aus Zärtlichkeit für unſern zartpulſirenden
Staat, Hülfe leiſten wollen, wo ein verrufener Rauf¬
bold aus dieſer harmoniſchen Geſellſchaft ausgeſtoßen
werden ſoll! Zittern ſie vor Angſt, daß man ſie für
meine Freunde hält! — Jülli hat Recht, es giebt
Momente, wo man noch Freunde braucht — zum
Sterben. Sonſt — er wog ſeine Piſtolen in der
Hand — ſind das die zuverläſſigſten Freunde, und
einen von uns beiden, wenn nicht beide, liefern ſie
ins Jenſeits ohne viele Umſtände. Aber auch dazu
fordert man Umſtände!“


[174]

Er ging aus, ſich einen Secundanten zu ſuchen!
Wen? — Er ſann umſonſt nach. Den erſten beſten,
der ihm auf der Straße nicht ausweichen würde, mit
einem Geſicht, auf dem geſchrieben ſtände: Tritt mir
nicht in den Weg! Der Zufall führte ihn vor das
Haus, wo Walter van Aſten wohnte. Er blieb zau¬
dernd ſtehen. Schon wollte er, kopfſchüttelnd, weiter,
als er den Thorweg geöffnet hatte: „Er war in Halle
ein guter Schläger, und als Senior der Marchia
ſtand ich ihm oft zur Seite. Er iſt mir noch Re¬
vanche ſchuldig und ſolche Auffriſchung unter ſeinem
Bücherſtaub wird ihm ganz zuträglich ſein.“


Die Freunde hatten ſich lange nicht geſehen.
Walter ſah jünger, friſcher aus. Sein Händedruck war
elaſtiſch, ein kräftiges Willkommen! tönte Louis entgegen.


„Du ſiehſt ja wie das Morgenroth aus! Und
doch unter Büchern verpackt. — Und da eine neue
literariſche Arbeit!“


„Dazu iſt nicht Zeit jetzt!“


„Nu, wozu denn?“


Louis warf ſich auf den Stuhl am Arbeitstiſch
und ergriff das Concept. Er las — las weiter, und
warf plötzlich den Hut vom Kopf, daß er auf die
Erde rollte: „Plagt Dich der —! Laſten der Bauern,
Vorſpann, Naturalverpflegung der Cavallerie! „„Und
alles das noch auf das verkümmerte Daſein einer
Menſchenklaſſe geworfen, welche unter dem Joch der
Leibeigenſchaft ſeufzt, die, wie milde ſie auch immer¬
hin gehandhabt werde, das Gefühl der Menſchen¬
[175] würde niederdrückt. Unter Hand- und Spanndienſten
für den Edelmann, gemeſſenen und ungemeſſenen
Frohnen, ohne Selbſtgefühl, Freiheitsgefühl, ohne
Eigenthum, ohne Liebe zur Scholle, an die er ge¬
feſſelt, ohne Sicherheit für die Vortheile, welche ſein
Fleiß erringt, wie ſoll da das heiligſte Gefühl, die
aufopfernde Liebe fürs große Vaterland erſtarken!““
— Was haſt Du denn mit den Gefühlen der Bauern
zu thun?“


„Unſre Gefühle werden darin dieſelben ſein!“


„Wir machten uns wenigſtens beide über Iff¬
lands tugendhafte Bauern luſtig.“


„Ich rede von unſerm realen Bauernſtande.“


„Wahrhaftig! rief Louis weiterblätternd. Willſt
Du ein Thomas Münzer, oder ein Grache werden.“


„Wir brauchen nicht ſo weit zurückzublättern.
Was gab Frankreich die Elaſticität! Was ſchaffte ihm
gegen dieſe Maſſe Alliirter eine ſolche Allianz von
Jugendkraft, von Muth, Begeiſterung, Material, als
die Freigebung aller Arbeitskräfte. Nur dadurch, daß
es alle Bann-Stapel-Zunftfeſſeln ſprengte, daß es
dem Landmann den Boden zurückgab, den der Fleiß
ſeiner Arme durch Jahrhunderte erworben, daß es
ihm Rechte gab, wo er nur Pflichten gekannt, ward
ein ſolches kampffreudiges Heer aus der Erde gezau¬
bert, nur dadurch ward es möglich, daß das junge
Frankreich einer Welt von Feinden ſiegreich wider¬
ſtand. Und was hat uns in der Rheincampagne,
was Oeſtreich in ſo vielen Kriegen, was ſie alle
[176] unterliegen laſſen? Daß wir nur geworbene, gepreßte
Söldnerheere ihm entgegenführten, daß unſere Taktik,
Kriegskunſt, daß unſer ganzes Sein, unſer Denken
und Athmen, veraltet und verrottet war. Es iſt
nicht Napoleons Adlerblick, nicht Tollkühnheit, Genie
und Talent ſeiner jugendlichen Feldherrn, auch Oeſtreich
und Rußland ſtellten große Talente und eiſerne Ge¬
nerale vor ihre tapfern Heere, aber die Welt ward
eine andere, und weder mit Condottieribanden, und
Wallenſteins Schwärmen, noch mit Friedrichs Pha¬
langen läßt ſich mehr ein bewaffnetes großes Volk
überwinden. Ein Volk wird nur noch durch ein Volk,
Ideen werden nur durch Ideen überwunden.“


Bovillard hatte, ohne genau aufzuhören, in dem
Papier weiter geblättert.


„Ein ganzes, neues Rekrutirungsſyſtem!“


„Nenne es ein Regenerationsſyſtem. Wenn
wir nicht von Grund und Boden anfangen, wenn
nicht den Stand frei machen, auf den die ganze Laſt
des Staates zurückdrückt, wenn wir nicht dem Bauern
die Halseiſen und Fußſchellen löſen, wenn wir nicht
in dem einzig noch geſunden Theil unſers Körpers,
aus dem der andere verwitterte und blaſirte ſich friſches
Blut holen kann, wenn wir in ihm nicht den natür¬
lichen Blutumlauf herſtellen, ſo ſind alle Veranſtal¬
tungen und Beſſerungen von oben herab umſonſt.
Dahin zu wirken iſt unſre Aufgabe.“


„Aufgabe! rief Bovillard, das Papier hinwer¬
fend. Unſre Aufgabe iſt, uns vom Strom treiben
[177] zu laſſen. Einige wirft er ans Ufer aus, andere
ſpült er bis ins Meer — und das iſt die Ver¬
geſſenheit.“


„Und noch andre —“


„Stemmen in kindiſchem Uebermuthe den Fuß
gegen ihn, und hoffen ſeinen Lauf hemmen zu können.
Solche ſtierhautſtirnmauerbrechende Thoren zerdrückt
er zu Atomen, oder er hebt ſie federleicht auf ſeinem
ſpritzenden Schaum zum Geſpött des Pöbels.“


„Haſt Du auch den Glauben an Miſſionen ab¬
geſchworen?“


„Dazu gehört andre Luft, andrer Boden, ein
ander Volk. Vulkane, Gebirge, deren Gipfel die
Wolken küſſen, Steppen vielleicht, wo der Samum
hauſt, wo der Odem der Allmacht in dem ungeheuren
Nichts die Seele ergreift. Wir hier ſind nicht Nichts
und nicht Etwas. Friedrich, ja, er hatte eine Miſſion.
Willſt Du noch einen Friedrich auf Friedrich impfen?
Klopf nicht zu ſtark den Staub aus den Purpur¬
mänteln; ſie werden ſelbſt Zunderlappen und Staub
unter der Purification.“


„Drüben iſt eine Miſſion, fiel Walter ein,
ein Attila, eine Geißel Gottes, ein Hunnenſchwarm,
voran eine Feuerſäule mit drei wunderbar leuchten¬
den Farben. Warum nicht hier? Sollen wir's ruhig
abwarten, was über uns kommt? Der germaniſchen
Nation alle Fähigkeit, Kraft abſprechen? Eintreten
im alten Schlendrian, in Reih und Glied, gewärtig
wie der Feind eins um das andre wirft und zertritt.“
II. 12[178]Wir! Bovillard lachte, aber nicht höhniſch.
Nu laß uns mal ohne Poeſie ſprechen, denn ich kam
zu einem ſehr proſaiſchen Geſchäfte. Was willſt Du
eigentlich?“


„Es intereſſirt Dich heut wohl nicht. Ein ander
Mal.“


„Das könnte dann zu ſpät werden.“


„Weil Alle zu ſpät handeln, iſt's jedes Recht¬
lichen Pflicht, zu ſprechen, ſo lange es noch Zeit iſt.“


„Ja! Du ſchreibſt eine Diſſertation, willſt wohl
promoviren, ein Cameraliſticum in Halle leſen. Steck's
nur den Jungen in die Köpfe, dann ſchießt's wild
auf als Unkraut, und reif wird's grade, wenn's nicht
mehr Zeit iſt. Das iſt der deutſche Entwickelungsgang.“


„Ich will nicht dociren. Ich will's deutſch ſagen,
was ich denke. Und ich denke nicht an die Zuhörer,
an die Sache. Und die Sache iſt nicht mein, ſie iſt
unſer Aller. Dieſe Gedanken fluctuiren in tauſend
Geiſtern. Sie ſtöhnten und ächzten ſchon längſt ſelbſt
in der trägen Maſſe. Nach einer Beſſerung, Er¬
löſung ſehnten ſich Alle. Weil die Gräuel in Frank¬
reich ſeitdem auch die Beſten in bleichen Schreck
verſetzt, iſt darum das Licht nicht Licht, weil es ein¬
mal geblendet hat? Sollen wir das Feuer nicht mehr
nutzen zum Wärmen, Sieden, Schmelzen, weil es
einmal zur Feuersbrunſt aufloderte? Dieſe Ideen
leben noch in unſerer Nation, und wo kein anderer
ihm zuvorkommen will, iſt der Schwächſte ſtark
genug, er iſt berufen, er hat die Pflicht, mit ihnen
[179] hervorzutreten. Mag dann draus werden, mag aus
ihm werden, was da will!“


„Wenn ſie's nur läſen! — Haſt Du noch nicht
die Hoffnung auf dieſe Zöpfe und Perrücken auf¬
gegeben? Das beſte noch, wenn ein Miniſter aus¬
ruft: Da iſt auch wieder Einer, der's beſſer verſtehen
will als wir!“


„Es ſind nicht Alle, wie —“


„Mein Vater. Kennſt Du die Andern? Der
Beſte wird Dir zurufen: Das iſt alles recht ſchön,
aber nicht an der Zeit. Im Augenblick, wo die
Renner zum Wettlauf geſattelt werden, iſt nicht Zeit
eine Vorleſung anzuhören über die Veredlung der
Pferderacen.“


„Und Du auch meinſt, wie die Tauſende und
Abertauſende, daß wir nur berufen ſind, über Schiller
und Goethe zu ſtreiten, nur in die Tiefen der Myſtik
und der Metaphyſik uns zu verſenken! Andere für
uns handeln laſſen, das wäre unſre Deſtination.
Louis, wir hatten einen Wartburg-Krieg von Minne¬
ſängern, aber von derſelben Wartburg leuchtete
Luthers Fackel über Europa! —“


„Das war ein Mirakelmann, aus der Zeit der
Wunder. Wir leben unter Wichtelmännern; in einem
verſchütteten Bergwerk ſuchen ſie mit der Laterne nach
Glimmer und Spiesglas. Die edlen Erze ſind längſt
gefördert und courſiren als Scheidemünze.“


„Wir hier haben noch Kräfte, nur ungeordnete,
ſie ſind überlaſtet, man hat ſie aus dem Auge ver¬
12*[180] loren. Nur drauf hinzuweiſen braucht es, daß ſie
gähren, kochen, zum hellen Kryſtall aufſchießen. Dazu
iſt kein Mirakelmann, nur ein guter Schürmeiſter
nöthig. Wir haben einen jungen Fürſten, der das
Rechte will und bange ahnt, wo das Schlechte liegt,
aber eine dicke Atmoſphäre, nenn's eine elaſtiſche
Mauer, hat ſich um ihn geſetzt. O Gott, daß die
friſchen Lüfte, die Lichtblitze endlich zu ihm drängen!
Da iſt's Jedes Pflicht, da iſt Niemand zu gering,
zu ſchwach, der eine Stimme hat, zu ſprechen; wer
malen kann, der male, wer meißeln, meißle in
Stein, daß er das Auge aufreißt vor der Gefahr.
Und raſch, denn ſie rückt mit Rieſenſchritten näher,
ſie iſt nicht zu ermeſſen, wie ſtehen an einem Ab¬
grunde, der Alle verſchlingt. Und aus dieſem Grunde
heraus, könnten wir eine Feſtung bauen, unnehmbar!
Jetzt das Volk aus ſeiner Erſtarrung, ſeiner Gleich¬
gültigkeit, ſeiner Entfremdung gegen das Höchſte und
Heiligſte auf Erden, jedes Glied zum mitfühlenden
Glied der großen Kette zu erheben, Volk und Fürſt
in Eins zu verſchmelzen, das wäre die Aufgabe des
Geſendeten. Ich ſehe ihn nicht, Du ſiehſt ihn nicht,
keiner ſieht ihn, aber iſt er darum nicht da? Hat
nicht Jeder, dem ein Funken durch die Adern zückt,
die Aufgabe, Steine dem künftigen David zuzutragen?
Wenn er die Steine ſieht, wird er nach der Schleu¬
der greifen.“


Louis Bovillard hatte ihm mit verſchränkten
Armen zugehört. Die Wimpern der ſchönen Augen
[181] zückten zuweilen auf, und warfen ihm einen theil¬
nehmenden Blick zu. Aber die Saiten ſeiner Seele
waren nicht geſtimmt für die Töne, die Walter's
Bogen ſtrich. — Er ſchwieg einen Augenblick, dann
entſtieg ein gähnender Seufzer der Bruſt, der Ko¬
bold ſaß auf der Lippe, und griff das letzte Wort auf:
„Zum Steinewerfen haben ſie allenfalls noch Muth;
wenn's auch nicht Schädel trifft, doch Fenſterſcheiben.
Wenn nicht die des franzöſiſchen Geſandten, doch
der Schauſpielerin ihre, die er unterhält“


Walter ſah ihn wehmüthig an: „Haften, ſchwe¬
ben, kräuſeln denn Louis Bovillards ſämmtliche Ge¬
danken heut nur noch bei den Gensd'armerieofficieren?
Der Louis Bovillard, der einmal auf der Winds¬
braut reitend, nach den Strahlen der Sonne griff!
Und heut noch an perſönliches ſich klammern, in einer
Zeit, wo der Einzelne nur Luft zum Athmen findet,
wenn er ſich verſenkt ins Allgemeine.“


„Das iſt Lüge, glaub's mir, pure Lüge. Wir
kriechen nicht aus unſerer Haut. Es iſt alles per¬
ſönlich, unſer Appetit und unſre Begeiſterung, unſer
Haß und unſre Liebe. — Auch Dir iſt was Ange¬
nehmes im Traum begegnet, darum träumſt Du jetzt
für die Menſchheit und für den Staat Seiner Ma¬
jeſtät des Königs von Preußen.“


Der frohe Zug um Walters Lippen, ſein heller
Blick ſprach für Louis Behauptung. Ein deutliches
Ja beantwortete ſie: „Ich träume einen ſchönen
Traum, und darum gehe ich mit Muth an mein Werk.“


[182]

„Laß es aber nicht drucken,“ ſagte Bovillard.


„Warum?“


„Es ſind verteufelt gute Gedanken darin; ge¬
druckt ſind ſie Allgemeingut. Irgend Einer ſchmeißt
ſie etwas um, gießt ſeine Sauce drauf. So laufen
ſie durchs Publikum und Du gehſt Deinen Profit quitt.“


„Sie ſollen wirken. Auf dieſem Wege gelangen
Sie an ihr Ziel. Wenn auch verrückt, verfälſcht,
es haftet etwas. Will ich etwas für mich?“


Bovillard ſah ihn ſcharf an, und ſagte: „Ja!“


Walter erröthete.


„Du willſt wirken, das heißt ſelbſt eine Wirk¬
ſamkeit haben. Zünden Deine Gedanken, ſo wärſt
Du ein Narr, wenn Du am Feuer nicht Deinen Topf
wärmen wollteſt. Du hoffſt noch und haſt ein ver¬
ſöhnlich Gemüth. — Purpurrother Freund der Wahr¬
heit, wenn Du im Amte biſt, lerne Dich etwas ver¬
ſtellen, nur zum Beſten des Allgemeinen, in
das der Einzelne ſich verſenken muß
. Wer
dem realen Staat dienen will, muß lügen können.“


Walter hatte nicht geſehen, wohin Bovillard ſah.
Indem er ihn zu fixiren ſchien, hatte er über ſeinen
Kopf weg auf der Wand einen Kranz vertrockneter
Kornblumen entdeckt, die künſtleriſch mit einem blau¬
ſeidnen Bande verſchlungen waren.


„Und außerdem biſt Du verliebt, und wünſcheſt
eine anſtändige Verſorgung, um heirathen zu können.“


Die Purpurröthe auf Walters Geſicht wich einer
Bläſſe, doch nicht auf lange. In ſeinem Auge ſam¬
[183] melte ſich wieder der milde Glanz der Zuverſicht von
vorhin.


„Weshalb vor dem Freunde ein Geheimniß.
Ich liebe und ich hoffe. — Nun ſchütte Deine Phi¬
lippica aus gegen meinen Egoismus, ich will ver¬
ſuchen ob ich dem Hagelſchauer widerſtehe und doch
noch etwas von mir rette —“


„Wenn wir auch ein verſchieden Facit zögen,
die letzte Rechnung ſchließt jeder doch nur mit ſich
ab. Du thuſt recht. Dir ſteht's an der Stirn ge¬
ſchrieben, daß Du zum guten Bürger geboren biſt,
an meiner ſtand etwas von Cains Zeichen. — Haſt
Du Dich mit Deinem Vater ausgeſöhnt?“


„Unſere Trennung iſt wohl keine fürs Leben.“


„Fandſt Du die Couſine, Mamſell Schlarbaum,
jetzt liebenswürdiger?“


„Ein gutes Mädchen, aber noch weniger, als
der Dichter in ihrer Bruſt einen Wiederhall gefunden
hätte, würden es die Töne, die jetzt in meiner
klingen.“


„Eine politiſche Schwärmerin haſt Du doch nicht
zur Hausfrau gewählt?“


„Sie iſt ein deutſches Mädchen —“


„Und liebt Dich?“


Walter ſchwieg, dann reichte er dem Freunde die
Hand: „Ich hoffe es. — Nun von Dir. Du kamſt
in Geſchäften. Womit kann ich Dir zu Dienſt ſein?“


„Mit nichts.“


„Du wollteſt von mir?“


[184]

„Was ich jetzt nicht mehr will.“


„Und warum nicht?“


„Weil Du verliebt biſt.“


„Die Liebe tödtet nicht die Freundſchaft.“


„Weil Du glücklich biſt.“


„Liebende und Glückliche ſind freigebig. Sie
möchten die ganze Menſchheit ans Herz drücken.“


„Und ich — ihr den Hals brechen.“


Mit einem raſchen Händedruck ging er aus der
Thür.

[[185]]

Zehntes Kapitel.
Wachtſtuben-Abenteuer.

„Hol Euch alle der —“ rief der eine Spieler
und warf die Karten auf den Tiſch. Das Tarock¬
ſpiel war beendet. Er zog die lange ſeidene Börſe,
um die letzten Goldſtücke dem Gewinner hinzuſchleu¬
dern. Bei der Berechnung ergab ſich, daß ſie nicht
reichten. Er ließ ſie zurück gleiten, machte einen
Knoten und ſteckte die Börſe in die Taſche. „Am
nächſten Gagetag!“


Ein höhniſches Gelächter antwortete darauf. Es
waren Officiere, der Ort des Spiels eine Wachtſtube.
Der Verlierende war in einer Parüre, die auf den
erſten Anblick allerdings Zweifel ließ, ob er der Mann
ſei, um einen bedeutenden Spielverluſt durch die Ein¬
nahme eines Gagetages aufzubringen. In einem nicht
mehr ganz reinlichen Kamiſol, das zerknitterte Hemde
nur durch eine leichte Binde um den Hals feſtgehalten,
die Füße in Pantoffeln, im Munde eine Thonpfeife,
verrieth nur die gelbe Weſte unter dem Kamiſol, und
die auch etwas vernachläſſigte Friſur den Officier.
[186] Aber der Capitain war ein Arreſtat; die Wachtſtube
ſein Gefängniß.


„Ihre nächſte Gage, Herr Bruder, gehört ja dem
Schneider,“ ſagte der Wachthabende, der einzige unter
den Spielern, deſſen Parüre in parademäßigem Zu¬
ſtande war. Das vielſtündige Spiel hatte bei den
andern manche Manquements in der Adrettität zur
Folge gehabt.


„Den ſchmeißt er wieder zur Treppe runter,“
ſagte der Cornet auf dem Schemel kippend.


„Und dann kommt der Ephraim und der Levi.“


„Die beſtellt er auf dieſelbe Stunde, wie neulich,
und ſie müſſen warten, bis er raus rufen läßt: Einer
ſoll rein, denn Einer kann heut nur bezahlt werden.
Dann fallen ſie ſich in die Bärte, prügeln ſich, und
er läßt ſie wegen Ruheſtörung arretiren. Onkel und
Herr von Kniewitz, ſchade daß Sie nicht dabei waren.
Es war ein capitales Stück. Ich ſehe noch die blanken
Thaler und die Judengeſichter, neu geprägt, auf dem
Tiſche; die Sonne ſchien drauf. Freilich der Regi¬
mentsquartiermeiſter ſtand dabei. Hatte ſie ihm nur
auf eine Viertelſtunde geliehen. Aber die Juden!
wie ſie ſie zu Geſicht kriegten; ſie trauten zuerſt ihren
Augen nicht. Nu einer dem andern vor, wie Waſſer
aus 'ner Schleuſe, und eh einer die Hand an den
Tiſch gebracht, einer den andern zurück, an Bruſt
und Kragen, beide auf der Erde, kopfüber, das ſtram¬
pelte und ſchrie.“


„Wenn ſie ſich nun vertragen und getheilt hätten?“


[187]

„War mir gar nicht bange, Onkel! Der Capi¬
tain verſtehts. Du hättſt ihn ſehn ſollen. Nicht die
Miene verrückt, und mit einem Mal ſchoß er auf,
Augen wie der alte Deſſauer: „„Schafft mir die
Beſtien aus den Augen. Auf die Wache mit den
Schuften, die ſo den Reſpect vor dem Rock des
Königs verletzen.““


„Dafür ſoll er leben!“ der Wachthabende ſtieß
an. Die Gläſer klangen.


„Und die Straßenjungen hinter den Juden her,
ſetzte der Cornet hinzu, es war ein Schauſpiel für
Götter!“


„Eigentlich iſts contre façon, ſagte der Capi¬
tain, daß chriſtliche Officiere einem Kameraden aus¬
ziehen, was die Juden übrig laſſen! Und noch
dazu einem gefangenen, den Ihr in Eurer Gewalt
habt.“


„Hört den Fuchs! Du müßteſt doppelt blechen,
weil wir unſer Renommee aufs Spiel ſetzen. Mit
einem ſpielen, der mißliebig ward, ſich vergangen hat
an einem Kaiſerlich Ruſſiſchen Geſandten!“


„Sitz ich etwa darum, daß ich den auf der
Maskerade emitirt habe? — Euretwillen, Ihr Herren
Gensd'armen, allein um Euretwillen! Weil Ihr da¬
mals dem Pfaffen bei der Malchen das Katzenſtänd¬
chen brachtet. Majeſtät waren fuchswild; aber Ihr
wurdet durchgeſchwatzt. Das kennt man ſchon, wenn's
nur an die Cavallerie gehn ſoll. Für den nächſten
wars aufgehoben, und das war ich. Und nicht um
[188] den Alopeus, ſondern um den Pfaffen bin ich der
Sündenbock.“


Der Cornet ſtrich ſeinen Milchbart, als wäre es
wirklich ſchon ein Knebelbart, ſein Oheim, der Ritt¬
meiſter, lächelte und drehte ſeinen vollen roth ſchim¬
mernden mit ſtillem Vergnügen in die Höhe: „Nicht
wahr, Fritz, das war auch ein capitales Vergnügen?“


„Koſtet mich baare hundert Friedrichsd'or, die
ich dem Onkel pumpen mußte nachher in der Wein¬
ſtube. Aber, Onkel, weißt Du, ich hätte Dir noch hundert
zugepumpt, wenn Du hätteſt: Abſitzen! blaſen laſſen.“


„Ich glaubs dem Jungen, ſagte der Rittmeiſter,
der hätte gern oben Ordnung gemacht.“


„Die Prediger-Mädels ſahen wir noch. Na die
paſſirten; aber die Beſcheerung nachher hätte ich ſehn
mögen.“


„Glaubs auch, ſagte der Onkel, und wirbelte
noch immer am Bart. Na, davon muß man jetzt
nicht reden. Du vor allem nicht. Wie ſtehſt Du
denn mit der Comteß Laura?“


„Davon redet man nicht!“ erwiederte der Cornet,
ſich gemächlich, ein Bein übers andre, im Schemel
wiegend, und aus den übermüthigen Lippen den Rauch
blaſend.


„Verfluchter Junge der! ſagte der Onkel. Dem
iſts Glück mit der Muttermilch angeblaſen. Solchem
Milchbart, der kaum flügge iſt, muß ſie winken.“


„Fortuna iſt ein Weibsbild!“ ſeufzte der Ge¬
fangene.


[189]

„Und wenn man den General nicht fängt, iſt
man zuweilen mit dem Cornet zufrieden,“ bemerkte
der Wachthabende.


„Werde Sie um Erklärung nachher bitten laſſen,
Herr Lieutenant!“ ſagte der Cornet, ohne ſeine Stel¬
lung zu ändern.


„Kik in die Welt! rief der Rittmeiſter. Cornet
Wolfskehl genannt zu Ritzengnitz, ein Cornet kann
keinen Officier um Erklärung bitten laſſen.“


„Der wäre im Stande, und forderte den
Prinzen ſelbſt, ſagte der Arreſtat. Gefällt mir an
ihm. Solche lieben die Damen. Plaudert nicht
am Morgen in der Wachtſtube die Eroberungen der
Nacht aus.“


„Fritz, merkſt Du was! Der Capitain ſpeculirt
auf Deinen Beutel. Lob iſt nicht umſonſt. Revan¬
chire Dich, bezahl ſeine Schulden. — Er rührt ſich
wahrhaftig nicht. So ein junger Glückspilz! Das
war das pfiffigſte Stück meiner ſeligen Schweſter,
daß ſie ihren Alten beſchwatzen mußte, ihn mit ein¬
undzwanzig mündig zu erklären. Um 'ne halbe
Million das Pupillencollegium betrügen! Als ob die
Weiber das nicht wüßten, auch ohne Pupillencolle¬
gium, und nun bildet ſich der Junge ein, 's iſt um
ſein glattes Geſicht.“


„Onkel, wir ſtehn in Relationen.“


„Halt's Maul! Willſt Du dem Herrn Capitain
ſeine Spielſchuld vorſtrecken? Das iſt das vernünf¬
tigſte, was Du thun kannſt.“


[190]

„Mit Vergügen, lieber Onkel, ſobald Du Deine
Wechſel bei mir eingelöſt haſt.“


„Kinder, nun bitte ich Euch, iſt das nicht gegen
die Moralität, daß ein Neffe von ſeinem Onkel
Wechſel hat! — Haſt neulich erſt in der Garniſon-
Kirche gehört, was der Prediger von der Sitten¬
verderbniß ſprach. Pfui!“


„Herr Bruder haben Recht, ſagte der Wacht¬
habende. Ueberhaupt ſolche Papierwiſche. Wär' ich
König, ich ließe alle Wechſel verbrennen.“


„Fritz, nimm alſo Raiſon an, willſt Du?“


„Bin nicht bei Kaſſe.“


„Bin ich's etwa!“


„Laßt den Horſtenbock nur erſt los kommen,
ſagte der Wachthabende. Er findet auch noch einen
Salomon Schmuel, der ihm fünf und vierzig Procent
auf den fünf und vierzigſten Gagetag vorſchießt.
'S ſind chriſtliche Gemüther unter der löblichen
Judenſchaft.“


„Reinen Tiſch! rief plötzlich der Rittmeiſter.
quit ou double!“


Auf dem unreinen, wie eine Wachtſtube ihn mit
ſich bringt, miſchte er die zergriffenen Karten, und
blickte fragend den Areſtaten an. Er nickte Zuſtimmung:


„In ſechs Monat.“


„Quit ouquadrupel—“


„Was?“ Alle ſahen ihn verwundert an.


„Quit ou quadrupel, à payer, wenn Horſtenbock
'ne Compagnie hat!“


[191]

Alle lachten; das Intereſſe ſteigerte ſich, ſie rück¬
ten wieder näher an den Tiſch. Darin war Ver¬
nunft. Die vervierfachte Summe des Spielgewinn¬
ſtes war ein Capital, aber eine Compagnie war auch
ein Capital. Der Capitain ſchlug ein.


„Und meinem Neffen, dem Cornet, verkauf ich
ſie für neunzig. Nutzt der Junge wieder ſein Geld
mit zehn Procent.“


„Was ein guter Onkel nicht thut! lachte der
Lieutenant. Aber wenn nun Krieg wird?“


Tant mieux! rief der Arreſtat. Wenn mich 'ne
Kugel trifft, lach' ich Euch Alle aus.“


„Roth oder ſchwarz?“ rief der Wachthabende,
die Karten noch einmal zu dem wichtigen Spiel
häufelnd.


„Roth!.“ rief der Rittmeiſter. Alſo „Schwarz!“
der Capitain.


„Verloren! jubelte der Cornet auf, mit den Fin¬
gern ſchnaltzend. Onkel verloren!“


Der Arreſtat warf diesmal nicht die Karten auf
den Tiſch, er trocknete die Näſſe, nämlich vom Wein,
der auf dem Tiſche reichlich floß, mit dem Aermel
ab, und legte ſie ſorgfältig zuſammen: „Rittmeiſter,
ein andermal bin ich zur Revanche bereit.“


„Die hat Dohleneck nicht nöthig. Wer ſo viel
Glück in der Liebe hat, hat's nicht im Spiel.“


Es pruſtete unter den Anweſenden auf, der
Cornet wollte ſich überſchlagen.


„Herr Bruder, Sie haben Unrecht, ſagte der
[192] Wachthabende, als eine Wolke auf der immer hei¬
teren Stirn des Rittmeiſters ſich zuſammenzog, die
Geſchichte mit der Tänzerin noch immer als eine
particulaire zu betrachten. Sie iſt eine Corps¬
angelegenheit.“


„Eine verflucht kniffliche Geſchichte, erinnre ich
mich, ſagte der Arreſtat, ſie kam ja bei allen Officier¬
corps zur Sprache. Die Meinungen waren ſehr ge¬
theilt.“


„Kinder! rief der Rittmeiſter. Ueber die Sache
iſt längſt Gras gewachſen. Laßt die Todten ruhen.“


„Den Teufel auch, rief der Wachthabende. Der
Louis Bovillard iſt noch lebendig, und wie! Die
Sache muß noch mal zu Ende kommen.“


„Die Hetzpeitſche!“ jubelte der Cornet.


„Man wäre auch ſchon einig darüber geworden,
wenn nicht —“


„Der Vater wäre.“


„Der ſollte uns nicht geniren. Wenn man nur
wüßte, ob er nicht doch ein Edelmann iſt?“


„Das müßten ja die Liſten der Refugiés er¬
geben.“


„Sind nachgeſchlagen, ſo weit wir zukonnten;
da muß ſich der Alte, oder Lombard zwiſchen gelegt
haben, und unſre fanden verſchloſſene Schränke. Zwei
verſchiedene ältere Liſten hatten wir nachgeſehen. In
der einen war ein Pierre Bovillard aufgeführt, mit
dem Zuſatz confiseur; in der andern ein Sieur Pierre
Bertolet Fulcrand de Bovillard, maitre de Cerisé.

[193] Da ſtanden wir nun am Berge. Der Obriſt wollte
es mal unter der Hand von Lombard erfahren, der
Fuchs mußte aber Lunte riechen, und antwortete:
alle Refügiés ſtammten direct von Adam, und
alle unſre Väter wären einmal Perrückenmacher ge¬
weſen!“


„Ein Scandal!“ Der Arreſtat ſpuckte.


„Aber kriegen wir's raus, daß er vom Con¬
ditor iſt —“


„Die Hetzpeitſche! jubelte der Cornet. Ich habe
ein Paar Burſche aus der Neumark, die wiſſen ſie
zu appliciren. So halb polniſche Race. Haben's an
ihrem eigenen Rücken gelernt, und theilen herzlich
gern Anderen ihre Erfahrung mit.“


„Modération! meine Herren Brüder! ſagte der
Rittmeiſter aufſtehend. Wenn einer von uns den Bo¬
villard vor die Klinge fordern könnte, tant mieux,
von Herzen gern, ſo wäre der Geſchichte mit einem
Mal der Kopf abgeſchnitten. Bis dahin aber —
vergeſſen Sie nicht, daß es anders iſt, als es war —“


„Muß wieder werden wie's war! trumpfte der
Arreſtat mit der Fauſt auf den Tiſch. Wenn ſie uns
die Fuchtelklinge nehmen, iſt's mit der Disciplin
aus. Aber kommt noch mehr eingeſchobene Canaille
in die Armee, Adieu dann esprit de corps, Adieu
Friedrichs Geiſt, Adieu Preußens Ehre!“


Eine Ordonnanz überbrachte ein Roſabillet, mit
Vergißmeinnicht ſauber verſchlungen; es ſchien ein
Spott auf die dampfende Wachtſtube: „Herrn Ritt¬
II. 13[194] meiſter Stier von Dohleneck eigenhändig zu über¬
geben.“


Der Empfänger mußte es an das trübbrennende
Talglicht halten, um in dem Tabacksrauch die fein¬
gekritzelte Adreſſe zu leſen: „Von wem?“


„Ein Frauenzimmer brachte es. Sie wollte
aber nicht bleiben.“


„Ein Rendez-vous! — Warum iſt ſie nicht ſelbſt
gekommen, das liebe Kind? — Kann nicht mal ab¬
warten, bis er von der Wache zurück iſt.“


Der Rittmeiſter hörte nicht auf die Raillerien.
„Hier iſt's zu dunkel. Herr Bruder von Horſtenbock er¬
lauben wohl, daß ich's bei ihm am Fenſter leſe.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, war er in die daran
ſtoßende Kammer getreten, die Thüre hinter ſich zu¬
werfend.


„Vielleicht von der Jenny! rief der Cornet. Sie
hat Reue gekriegt, und iſt zurück.“


Der Arreſtat fragte nach dem eigentlichen Zu¬
ſammenhang der Geſchichte, die ihrer Zeit ſo viel
zu reden gemacht. Er hatte damals in der Provinz
geſtanden und nur Widerſprechendes darüber gehört.
Dohleneck hörte jetzt nicht zu, es ſei alſo kein Grund
hinterm Berge zu halten.


„Herr von Dohleneck war nur unſer Deputirter,
ſagte der Wachthabende, es iſt daher thöricht, wenn
er ſich die Sache perſönlich zu Herzen nimmt. Das
Perſönliche verſchwand bei der Sache gänzlich und er
war nur der Vertreter für das Allgemeine. Wie der
[195] Prinz zuletzt mit dem Blitzmädchen ſtand, weiß jedes
Kind. Ob er aber wirklich ſo vernarrt war, wie er
vorgab, das weiß der Himmel. Eines Abends beim
Champagner verſchwor er ſich gegen ein zehn von
uns, die er invitirt, die Hexe wäre ſo ſpeciell in
ihn verliebt, daß ſie auf keinen andern hören würde.
Nun müſſen Sie geſtehen, meine Herren, daß das für
uns eine directe Herausforderung war. Wer wußte
nicht, wie's um die Jenny ſtand. Alſo wir hielten
im Geheimen eine Art Kriegsrath, und es war auch
nicht eine Stimme dagegen. Es war eine Corps-
Sache. Auf der Stelle ward zuſammengeſchoſſen,
baar, es kam eine erkleckliche Summe zuſammen, und
zwei wurden ausgelooſt. Sie müſſen auch geſtehen,
Herr Bruder von Horſtenbock, daß das loyal und
cavaliermäßig gegen den Prinzen gehandelt war.“


„Und klug auch. Die Liebenswürdigſten und
Hübſcheſten zu wählen, wär doch eine kitzliche Sache
für die Cameradſchaft geweſen.“


„Es fiel auf Dohleneck und einen andern. —
Ein Billet an die Tänzerin bat um die Erlaubniß,
bei ihr ein Souper en trois nach der Oper zu ar¬
rangiren, und dies kleine Souvenir mit dem Vergi߬
meinnicht als Angebinde anzunehmen. Drin lagen
hundert Ducaten. Die Antwort war: ſie werde das
Vergißmeinnicht zum ewigen Andenken bewahren und
den Tiſch decken laſſen. Unſer Koch hatte während
der Oper ein kaltes Souper, exquiſite Sachen von
Sala Tarone, arrangirt, und die Jenny ſprang ihnen
13*[196] ſchon an der Treppe entgegen. War auch keine Sylbe
die Rede von Tugend und Treue, ſie war ausge¬
laſſen luſtig, und ſagte, ſie wäre ſchrecklich hungrig.
Unſre Cameraden waren's auch. Aber kaum fliegt
der erſte Pfropfen an die Decke, als ein Wagen vor
die Thür raſſelt. Sie erſchrickt: „Er wird doch nicht.“
Kaum hat ſie das Tüchlein wieder um den Hals ge¬
neſtelt, als es die Treppe rauf knarrt. Nu aufge¬
ſprungen, als die Kammerkatze reinſtürzt: „Herr Je¬
mine, der Prinz, Mamſell!“ — „Retten Sie ſich!“
ruft die Jenny, und wirft das eine Couvert in den
Waſchkorb. Die Officiere wollen ins Nebenzimmer
fliehen, da holt ſie die Katze zurück: „Meine Herren
um Gotteswillen, da kommt er ja durch.“ Retour
alſo, und wollen zur Stubenthür auf den Flur. Da
klirren ſeine Sporen und er klopft. Hannchen mach
auf! ruft die Jenny und hat derweil ſchon den großen
Kleiderſchrank aufgeriſſen: „Meine Herren, iſt's ge¬
fällig?“ Platz hatten ſie drin, das iſt wahr, und
die ſüßeſten Erinnerungen an alle Schäferinnen, und
Göttinnen, die in den Cotillons geſteckt, aber — nun
das Uebrige iſt kaum nöthig zu erzählen. Verſchloſſen
waren ſie, und der Schlüſſel ſteckte in Jennys Taſche,
und Jenny hing am Halſe des Eintretenden, und
bat ihren herzgeliebten Louis und ſchönſten Louis,
und einzigen Louis um Verzeihung, daß ſie nicht auf
ihn gewartet, aber ſie wäre zu durſtig geweſen vom
Schauffement.“


„Merkten ſie's da?“
[197] „Auf parole d'honneur haben ſie vor unſerm
Ehrengericht verſichert, der Kerl hätte täuſchend den
Prinzen geſpielt.“


„Sie konnten Alles hören?“


„Jedes Anſtoßen, jeden Kuß, das Kritzeln mit
dem Meſſer auf dem Teller.“


„Donner und Wetter!“


„Zwei Pfropfen hörten ſie gegen die Decke knallen,
ſelbſt durſtig zum Verkommen und hungrig auch.
Zwei Stunden ſaßen ſie am Tiſch.“


„Bloß am Tiſch?“


„Meine Herren, bedenken Sie, es waren Of¬
ficiere, die da für ihre Cameraden ſtanden. Ja ſie
haben eingeräumt, zuletzt entdeckten ſie durch eine Ritze,
daß es Bovillard war. Was aber war zu thun?
Ich frage Sie, Capitain, hätten ſie poltern ſollen?“


„Eine verfluchte Situation und eine Frage, daß
einem der Kopf ſchwindelt. Wenn ich für mich da¬
geſtanden —“


„Hätten Sie die Thür geſprengt. Sehr richtig.
Aber in dem Schranke ſtand das ganze Officiercorps;
das erwägen Sie.“


„Nein, da durften ſie's nicht.“


„So entſchied auch unſer Ehrengericht.“


„Aber was ward nachher daraus?“


„Sie hörten rutſchen, packen, Kiſten und Kaſten
aufreißen — man ſprach unter Gekicher davon, auf
den Apolloball zu gehen.“


„Und nachher?“


[198]

„Keiner ſchloß auf. Blieben ſitzen.“


„Kam denn nicht die Kammerkatze?“


„Nicht Katze, nicht Maus; die war mit der
Jenny fort. Kurz um, wie Ihnen bekannt ſein wird,
die Tänzerin war mit Extrapoſt nach Leipzig gefahren.
Iſt heut noch nicht zurück. Nicht einmal austrommeln
laſſen konnte man ſie. Die Wirthin mußte endlich,
als ſie zu poltern anfingen, das Schloß aufbrechen
laſſen. Frei waren ſie da freilich, aber —“


„Von wem nun Satisfaction!“


„Meine Herren, ich verſichre Sie, die Sache
hat uns Allen ſchwere Nächte gemacht. Was ſollten
wir thun? Bovillard fordern? Wenn es damals noch
ging! Aber die Raiſon? Hatten ſie's denn mit ihm
zu thun gehabt? — Er ſtellte ſich gegen Dritte als
die pure Unſchuld. War bei der hübſchen Tänzerin
geweſen, hatte ſich ungemein amüſirt. Sollten wir
uns nun blamiren und ihm mit dürren Worten ſagen,
daß wir uns nicht amüſirt hätten? Durften wir über¬
haupt an die große Glocke ſchlagen? Durften wir es
vor dem Prinzen! Wer wußte denn, ob er nicht mit
im Spiele ſteckte? Ob er's nicht eingeleitet, um mit
guter Manier die Jenny los zu werden! Es war ja
ein Labyrinth, ein Wespenneſt, in das wir ſtachen.
Gott weiß, was draus geworden wäre. Dohleneck
und der Andre wollten ihren Abſchied fordern. Das
ging auch nicht. Sie waren ja wir. Das ganze
Officiercorps hätte den Abſchied nehmen müſſen. Meine
Herren, ich verſichere Sie, es war eine Hundegeſchichte,
[199] und dazu den Bovillard anſehen müſſen, der wie der
Sonnenſchein über die Parade ſpazierte.“


„Sag' ich doch, man hat zuweilen im Leben
Pech und weiß nicht wo's herkommt.“


Der Rittmeiſter hatte die Worte des Arreſtaten
noch gehört, als er eintrat, den Roſabrief auf den
Tiſch warf, und ſich auf den Schemel: „Iſt das Pech,
oder nicht, oder was iſt es! Ich weiß es nicht.“


„Onkel, ein Rendez-vous? Will's Dir abkaufen,
unbeſehens. Bin generös. Den erſten Wechſel dafür.“


„Leſt mal das Zeug. Ich kriegs nicht klar.“


Der Arreſtat las: „„Wenn ein menſchliches Herz
in Ihnen ſchlägt, ſo ſetzen Sie Ihr Betragen nicht
fort. Mein Gott im Himmel, iſt es denn möglich,
daß ein Cavalier, ein Officier des Königs, ein Mann,
dem man ſonſt gute Eigenſchaften nicht abſpricht, im
Martern eines weiblichen Herzens ſein Vergnügen
finden kann! Wenn Sie auf unſre Bitten nicht hören
wollen, wenn Sie Ihre Schwadron täglich vorüber
reiten laſſen müſſen, treiben Sie den Hohn wenig¬
ſtens nicht ſo weit, immer vor ihrem Fenſter den
Bart zu ſtreichen. Sie ſehen freilich nicht die Dolch¬
ſtiche, die es in das Herz der Armen drückt, denn
die Balſaminen verbergen ſie Ihren Augen. Wir
vertheidigen die Arme nicht, ſie iſt ein ſchwaches
Weib. Sie verſpricht uns wohl am Abend, morgen
will ſie ſich in die Hinterſtube verſchließen, aber wenn
Ihre Trompeter um die Ecke blaſen, reißt es ſie mit
unwiderſtehlicher Gewalt an's Fenſter. Wenn ſie
[200] dann ſchluchzend, ohnmächtig in unſre Arme ſinkt,
verſpricht ſie uns freilich, es ſoll das letzte Mal ge¬
weſen ſein, aber — vielleicht wird es ein Mal das
letzte Mal ſein. — Bietet denn eines Mannes Bruſt
eine ſo unerſchöpfliche Höhle für das Rachegefühl,
daß er nie vergeben kann, und einer Frau, einer
ſchönen Frau? Sie hat Sie beleidigt, ja, das geben
wir zu, aus Uebermuth gekränkt, aber das Herz des
Weibes gehört den Impulſen. Was wären wir, wenn
wir ihnen nicht mehr gehorchten! — Damit Sie es
denn wiſſen, ja dies Gefühl, Sie gekränkt zu haben,
iſt es, was an ihrem zarten Daſein nagt, dieſe Vor¬
würfe, die krampfhaft ihre Bruſt durchſchütteln, die
ſie im Schlaf aufſchreien laſſen, die Wermuth in den
Becher der Freude träufeln. Und das könnte ein
Mann ruhig anſehn, und ſich durch die Qualen, die
er einer Frau bereitet, geſchmeichelt fühlen! — Nein,
mein Herr, es kämpft noch immer mit mir der Gedanke,
daß unter dieſem brüsken, zur Schau getragenen
Affront — ein andres Gefühl ſich nur gewaltſame
Selbſttäuſchung erheuchelt! — Ich wiederhole meine
Bitte, beſinnen Sie ſich, nehmen Sie Urlaub; ent¬
fernen Sie ſich einige Zeit aus Berlin. Die Zeit
heilt viele Wunden. Es iſt alles vorbereitet; man
wird Ihnen bereitwillig Urlaub ertheilen. Auch wenn
Sie augenblicklich der Mittel entbehrten, ſoll dafür
geſorgt werden. Es gilt ja das Glück einer der
edelſten Seelen. — Bleiben Sie aber doch dann,
dann — nein ich laſſe es mir nicht abſtreiten,
[201] was ich ahne — Dann hören Sie mehr von
mir.““


„Na was iſt das, Dohleneck?“


„Ja, was iſt's! So ſoll doch Gott den Teufel
todtſchlagen, wenn ich 'ne Sterbensſilbe von verſtehe!“


„Der Brief deutet auf andres, was voranging?“


„Freilich, ſchon zwei ſolche Wiſche, und neulich
auf der Maskerade ward mir was ins Ohr geflüſtert.
Ich glaube, ich bin in einem Tollhauſe.“


„Herr Bruder beſinnen Sie ſich, ſagte der Wacht¬
habende. Da ſind ja viele Indicien im Briefe: —
eine ſchöne Frau, alſo iſt's kein Mädchen, eine Frau,
die Sie beleidigt hat, eine Frau, an deren Fenſter
Sie täglich vorbeireiten. An welcher Ecke laſſen Sie
die Trompeter blaſen? Und Balſaminen ſtehn am
Fenſter.“


„Onkel, übertrags mir, ich kriegs raus. Du
biſt immer ſo commode. Haſt's lieber, wenn's Mäd¬
chen zu Dir kommt, als daß Du zu ihm gehſt.“


„Herr Bruder haben wahrſcheinlich einige Avan¬
cen nicht bemerkt, ſagte der Arreſtat, ſo was nimmt
das Frauenzimmer übel.“


„Das will ich meinen, rief der Cornet. Aber
Onkel iſt auch jetzt ſehr intereſſant geworden, ſeit der
Geſchichte mit der Jenny.“


Der Rittmeiſter hörte ihn nicht, er ſaß den
Ellenbogen auf dem Tiſch, die Fauſt an die Stirn
gedrückt.


Der Arreſtat überflog das Billet:


[202]

„Es muß eine Frau von Diſtinction ſein.“


„Das will ich meinen, rief der Cornet. 'S iſt
ja mein Onkel. Wie wird ſich was Ordinaires an
den hängen! — Onkel, noch einmal, überlaß mirs.
Parole d'honneur, ich handle nur für die Familien¬
ehre, nicht für mich. Eines Abends bring ich ſie Dir
im dichten Schleier in die Kaſerne. Schubs in die
Thür hinein: Nun verſöhnt Euch! — Nachher will
ich ſie auch wieder nach Hauſe bringen. Kann ein
Neffe mehr für 'nen Onkel thun!“


Der Rittmeiſter war aufgeſprungen. Ein Licht
ſchien auf ſeiner Stirn zu leuchten, und doch glänz¬
ten die Augen nicht wie eines Liebenden, der im
Morgenſchein ein lieblich Bild ſieht, ſondern wie
eines aufgeſchreckten Schläfers, dem ein Geſpenſt an
der Wand vorübergleitet:


„Donnerwetter! Schock-Schw — —!“ wenn die
es wäre!“


Da öffnete ſich die Thüre und der Gefreite ſchritt
gravitätiſch auf den Wachthabenden los.

[[203]]

Eilftes Kapitel.
Ein Satz in die Löwenhöhle.

Der Gefreite ſchulterte:


„Herr Lieutenant, ich rapportire.“


„Was?“


„Es ſchleicht ein Verdächtiger um die Wache.“


„Was hat er gethan?“


„Er hat in's Fenſter gekuckt, und dann iſt
er fort.“


„Warum iſt er verdächtig?“


„Acht Zoll, Haare ohne Puder, kleiner Kopf,
verfluchte Augen, und am Ellenbogen ein Loch, oder
iſt's ein Kalkfleck.“


„Und ſonſtens?“


„Der Vorpahl und Schlagebohm haben ihn ſchon
geſehen. Zwei Mal iſt er eingebracht worden auf
dem Molkenmarkt. Einmal war er Bandit. — Da
kommt er all wieder. Soll'n wir'n rein ſchmeißen,
Herr Lieutenant?“


Der Cornet war an's Fenſter geſprungen: „Höll
und Teufel, das iſt Bovillard!“


[204]

„Was! rief der Wachthabende, ſollte der Kerl
es wagen —“


„Eine Peitſche!“ ſchrie der Cornet, als Louis Bo¬
villard ſchon in der Stube ſtand und mit ihm bei¬
nahe zuſammenprallte.


Der Eintretende war nicht der, welcher zurückwich.


„Eine Peitſche wünſchen Sie, Cornet? Für
Pferde oder für Hunde? Das muß man wohl unter¬
ſcheiden. Pferdegerten bekommen Sie am beſten
bei Conradi an der Schleuſenbrücke, aber wenn Sie
Hundepeitſchen wollen, gehn Sie ja nicht anders, als
zu Krilow, Spandauerſtraße. Echtes Juchtenleder,
elaſtiſch, fein gearbeitet. Aber nehmen Sie ſich in
Acht, nie zu ſtark geſchlagen. Der beſtdreſſirte Hund
knurrt, wenn man ihn mit Juchtenleder zu ſtark
traktirt. Alſo merken Sie, Cornet von Wolfskehl,
bei Krilow, Spandauerſtraße, Eckhaus nach dem
neuen Markt zu.“


Bovillard war beinahe um einen Kopf größer
als der Cornet, und es ſchien ſehr natürlich, als er
ihn mit der Hand dabei auf die Schulter klopfte.
Aber es war nicht natürlich, daß der Cornet es ſich
gefallen ließ. War's die Magie des Auges, oder
was bewirkte nach ſolcher Ausgelaſſenheit ſolche Ein¬
ſchüchterung?


„Was ſuchen Sie hier?“ trat ihm der Wacht¬
habende entgegen.


„Männer von Ehre.“


Was dem Cornet geſchehen, geſchah jetzt mit
[205] der ganzen ehrenwerthen Verſammlung. Sie ſchwiegen.
Als wär's eine electriſche Berührung, die Alle in
einem Moment umgewandelt hatte! Ein Dritter
würde es ein Gefühl der Geſchlagenheit genannt
haben. Sie wußten nicht, was ſie zu thun hatten.
Bovillard war wie ein Geiſt aus der Mauer in
ihre Mitte gedrungen; ein Züſcheln oder ſelbſt nur
ein Verſtändigen durch Blicke war nicht mehr thun¬
lich. Indeſſen nahm der Wachthabende das Wort:


„Sie kommen in welcher Abſicht?“


„Ihren Schutz und Beiſtand anzuſprechen.“


Die Sache war auf's Neue vollſtändig verrückt.


„Werden Sie von der Populace verfolgt?“


„Die Populace kümmert mich nicht.“


„Oder wollen Sie ſich freiwillig in Arreſt über¬
liefern, weil Sie —“


Der Officier hielt inne. —


„Nichts weniger als das.“


„So muß ich den Herrn auffordern, ſich deut¬
licher zu expliciren.“


„Mit dem größten Vergnügen.“


Der Wachthabende hatte, um ſeine Autorität
aufrecht zu erhalten, ſich auf den Schemel nieder
gelaſſen, was der Arreſtat und der Rittmeiſter ſchon
vor ihm gethan. Auch der Cornet ſchien Willens,
dem Beiſpiel zu folgen, als Bovillard mit einer
raſchen Schwenkung den vierten und letzen Schemel
vor dem Wachthabenden niederſetzte, und ſich ſelbſt
darauf:
[206] „Ich komme um einer Ehrenſache halb.“


Alle ſahen unwillkürlich den Sprecher, dann
ſich unter einander an.


„In ſolchen Angelegenheiten pflegt ein Cavalier
nicht ſelbſt zu kommen, ſondern durch einen Ver¬
mittler — wenn überhaupt davon die Rede ſein
kann,“ ſetzte der Wachthabende trocken hinzu.


„Dieſen Vermittler hoff' ich hier zu finden.“


„Donnerwetter! brummte der Arreſtat. Glaubt
der Herr da, oder wer's iſt, den ich nicht kenne, daß
wir hier ſolches Gelichters ſind! Vermitteln! Peſtilenz!
Wer mir das anböte —“


„Iſt wohl ein Mißverſtändniß,“ ſagte der Ritt¬
meiſter.


„Gewiß, fuhr Bovillard ruhig fort, wenn die
Herren an Beilegen denken. Ich will nichts beige¬
legt wiſſen, da ich vielmehr einen Gang auf Leben
und Tod vorhabe. Wo man a tempo auf zehn
Schritt ſchießt, pflegt der Tod näher zu ſein als das
Leben. Dieſe Rückſicht beſtimmt auch mich, über
andere Rückſichten weg zu ſehen.“


„So weit ſchon? Was wollen Sie denn noch?“


„Nur einen Secundanten. Auf Morgen Abend
ſteht die Promenade an. Die Bekannten, auf die ich
feſt gerechnet, haben mich nachträglich im Stich ge¬
laſſen, Freunde habe ich nicht, alſo muß ich an —
Nichtfreunde mich wenden. Unter den Civiliſten
war meine Bemühung vergebens, ich wende mich
daher an das Militair.“


[207]

„Wie — ich meine, wie kommen Sie zu uns?“


„Weil Sie auf der Wache ſind. — Meine Herren,
ich betrachte Sie nicht als Individuen und Perſonen,
ſondern als Vertreter Ihres Standes, und Ihren
Stand als den, welcher die Ehre zu vertreten hat.
In einer Univerſitätsſtadt würde ich mich an die
Senioren der Landsmannſchaften gewandt haben,
hier wende ich mich an Sie. — Auf der Wache
ſtehen Sie wie im Felde. Käme ein feindlicher Of¬
ficier zu Ihnen, um eine Ehrenangelegenheit ab¬
zumachen, ſo würden Sie, als Cavaliere und Of¬
ficiere doch keinen Augenblick anſtehen, die nöthigen
Arrangements zu treffen.“


Die Officiere ſahen ſich wieder, halb befremdet,
halb zuſtimmend, an. Der Rittmeiſter ſtrich vergnügt
ſeinen Bart. Der Wachthabende ſagte nach einer
Pauſe:


„In ſolchen Dingen kommt doch Alles auf die
Verhältniſſe und Perſonen an, mit denen man zu
thun hat.“


„Gewiß, entgegnete Bovillard, und ich habe
keinen Grund, vor den Herren den Namen meines
Adverſaire zu verſchweigen, Ihr Wort vorausgeſetzt,
daß Sie Namen und Sache bis zum Austrag ver¬
ſchwiegen halten wollen.“


Der Wachthabende blickte ſich nach ſeinen Ca¬
meraden um: „Ich kann in Ihrem Namen die Ver¬
ſicherung geben.“


„Was kaum noth thäte. Die Herren wür¬
[208] den doch nicht eine Ehrenſache rückgängig machen
wollen!“


„Hol mich der Teufel, nein!“ brach es von den
Lippen des Rittmeiſters, derſelbe freudig verächtliche
Ausdruck ſtand auf den Geſichtern der andern.


„Mein Adverſaire iſt der Ihnen wahrſcheinlich
nicht unbekannte Legationsrath von Wandel.“


Der!“ Alle ſahen wieder befriedigt, faſt ver¬
gnügt ihn an.


„Die Sache iſt contrahirt, und er hats ange¬
nommen?“


„Contrahirt, angenommen, Ort, und Waffen,
Zeit beſtimmt.“


Der Werth des Fremden war in der Wachtſtube
ſichtlich geſtiegen. Der Wachthabende hatte ſich wieder
vom Schemel erhoben.


„Der Bonapartes ſchwarze Nachteulen hergebracht
hat? Die ſieben Stück Ehrenlegionen!“ ſchrie der Cornet.


„Derſelbe.“


„Na da iſt nun wohl keine Frage mehr!“ rief der
Rittmeiſter mit ſeiner breiten Hand auf ſein Knie
ſchlagend.


Nur der Arreſtat war ſitzen geblieben und zün¬
dete mit dem Fidibus die Pfeife: „Kenn ihn nicht
von Perſon. Müßten doch aber erſt nähere Recherchen
halten. Wie ich gehört, treibt ſich der Monſieur
de Wandel viel um mit dem Geheimrath — Bo¬
villard heißt er ja wohl? — Iſt das nicht ein Ver¬
wandter von — ich meine von Ihnen da?“


[209]

„Iſt egal,“ rief der Rittmeiſter, der in einen
immer angenehmeren Roſenharniſch zu gerathen ſchien;
vielleicht um die ſtörenden Gedanken von vorhin
abzuſchütteln. „Wers auch ſei, mit dem ſchleichenden
Fuchs, der die Weisheit verſchluckt hat, loszugehen,
iſt ja ein Plaiſir.“


„Meine Herren, ſagte der Wachthabende, ſich
umſchauend, das iſt ein eigener Caſus.“


„Gegen den Kerl, der um den Bonapartege¬
ſandten ſchwänzelt, muß man jedem beiſtehn,“ meinte
der Cornet.


„Man muß ihn aber doch auch kennen, ſagte
der Arreſtat. Es kommt auf die Verhältniſſe und
Perſonen an, mit denen man zu thun hat, äußerten
Herr Bruder vorhin.“


„Der Grund ihres Disputes iſt?“ fragte der
Wachthabende.“


„Gründe unter Cavalieren!“ rief Bovillard
jetzt auch aufſtehend. Die Hand in der Bruſt ver¬
neigte er ſich leicht. — „Verzeihung, meine Herren,
wenn ich mich getäuſcht hatte. Es war nicht meine
Abſicht Sie zu incommodiren.“


Es war aber jetzt durchaus nicht die Ab¬
ſicht der andern, ſie wollten ſich incommodiren
laſſen.


„Es frägt ſich eben nur mit wem wir —“ Der
Redner ſtockte. Bovillard fiel ein:


„Die Ehre haben zu thun zu haben. Sehr be¬
greiflich. Da ich nicht ſo glücklich bin von Ihnen
II. 14[210] gekannt zu ſein, wünſchen Sie meinen Stammbaum
einzuſehn.“


„Das Wort Stammbaum ſchien wieder eine Wir¬
kung hervorzubringen. Dennoch blieb dem Wacht¬
habenden die Frage im Munde ſtecken. Der Arreſtat
fragte über den Tiſch:


„Sie heißen — Bovillard?“


„Wie meine Ahnen.“


„Da war auch mal hier ein Paſtetenbäcker, pâtis¬
sier et confiseur Louis Bovillard
.“


„Ich habe die Ehre ſein Urenkel zu ſein. Man
rühmt ihn als einen der trefflichſten Männer in un¬
ſerm Hauſe, ein Character und ein ſeltner Esprit.“


„Es gab aber auch unter den Refugiés, fiel der
Wachthabende ein, einen Sieur Louis Bertolet Fulc¬
rand de Bovillard, der als Maitre de Ceriſé in den
Liſten eingetragen ſteht.“


„War auch mein lieber Urgroßvater, ein excel¬
lenter Mann.“


„Wie paßt das zuſammen?“


„Sie waren ein und dieſelbe Perſon.“


„Mein Herr, wir ſprechen hier in einer ſerieuſen
Angelegenheit.“


„Die ſerieuſeſte von der Welt. Mein Anherr
konnte die Güter von Ceriſé nicht mitnehmen, als
er vor Louis Dragonern bei Nacht und Nebel über
die Grenze ſchlüpfte, aber ſein Talent Paſteten zu
backen, hat er mitgebracht. Er befand ſich auch ganz
wohl dabei. Ein jovialer Mann. Ich bin nicht ſtolz
[211] auf Verdienſte meiner Vorfahren, die mir abgehen,
aber ich darf mit Ruhm ſagen, daß ſeine Confituren
am Hofe des nachmaligen König Friedrich im beſten
Renommee ſtanden. Sonſt wäre er auch nicht auf
kurfürſtliche Durchlaucht Befehl mit nach Königsberg
beordert worden.“


„Er ward mit zur Krönung befohlen!“


„Und mit zur Tafel gezogen?“ fragte der Arreſtat.


„Allerdings. Die große Paſtete an der Krönungs¬
tafel war ſein Werk. Sie nimmt in der Geſchichte
keinen unrühmlichen Platz ein. Wir beſitzen in der
Familie eine Abbildung davon. Wenn es den Herren
gefällig wäre, ſie zu ſehen, ſtehe ich immer zu
Dienſten.“


„Und in die Paſtete hat Ihr Urgroßvater ſeinen
Adel eingebacken?“


„Wie Sie's nehmen wollen, Herr Capitain. Als
ſie aufgeſchnitten ward, kam der bekannte Zwerg
heraus. Mein Ahnherr ward gerufen, mit Lob über¬
ſchüttet. Ihre Majeſtät, die geiſtreiche Königin So¬
phie Charlotte ſetzte ihm eigenhändig einen kleinen
Lorbeerkranz auf. Leibnitz erwähnt ſeiner und der
Paſtete in einer Epiſtel; Gundling ſchrieb ſpäter eine
Abhandlung darüber, auch Morgenſtern.“


„Und für dieſe Verdienſte —“


„Ward er perſönlich von der Perrückenſteuer
befreit.“


„Man muß geſtehen, Ihre Familie hat eine
hiſtoriſche Entrée in unſerm Staat gemacht.“


14 *[212]

„Wie viele andre. Bekanntlich fällt in jene Zeit
die Blüthe des Königsberger Marzipans. Gewöhn¬
lich ſchreibt man die Erfindung einem Schweizer
Kuchenbäcker zu. Mit welchem Rechte, und ob ich
Traditionen in unſrer Familie Glauben ſchenken darf,
das bleibt für immer in den Nebeln des Alterthums
verhüllt.“


„Aber da Ihre Väter in den Staatsdienſt ge¬
treten ſind, erkannten muthmaaßlich die Preußiſchen
Könige durch Briefe Ihren franzöſiſchen Adel an?“


„Die Bovillards haben nie etwas auf den Brief¬
adel gegeben. Kann man etwas geben, was nicht
iſt, und etwas vernichten was iſt? So hat einer
meiner Vorfahren geſagt, dem man einige Schwierig¬
keiten machte, als er aus den Kreuzzügen zurück¬
kehrte. Louis der Heilige ſagte lächelnd zu ihm, als
er's erfuhr: Das kommt mir vor, als wenn Martell
Deinen Ahnherrn in der Mohrenſchlacht nach ſeinem
Recht gefragt hätte, den Mohren den Schädel einzu¬
ſchlagen. Mein Ahnherr, ſagte jener zu König Louis,
hätte Karl Martell antworten können: Die Römer
fragten bei Zülpich nicht danach, als mein Urahn
hinter Chlodwig in ihr Speerquaree einhieb.“


Bis zu den Kreuzzügen konnten ihm weder die
Stiere von Dohleneck und die Kniewitze, noch die Hor¬
ſtenbock und Wolfskehlen genannt zu Ritzengnitz folgen.
Aus Beſorgniß, daß er ſie nicht noch bis zur Schöpfung
der Welt incommodire, erklärte man ſchnell das Ver¬
hör für beendet, und der Rittmeiſter ſchätzte es ſich
[213] zum Vergnügen, den Herrn von Bovillard in ſeiner
Ehrenſache mit dem fremden Legationsrath zu be¬
gleiten.


Bovillard bat den Wachthabenden, ihn mit dem
Herrn, den er noch nicht zu kennen die Ehre habe,
bekannt zu machen. Er bat es mit Ruhe und feinem
Anſtande. Mit demſelben Anſtande erfolgte die Prä¬
ſentation.


„Von einem Officiere Ihres Rufes konnte ich
dieſe ritterliche Geſinnung erwarten.“


„Hol' mich der und jener, ſagte der Rittmeiſter,
ich freue mich, daß ich Sie anders kennen lerne,
als ich — dachte.“


„Sei keuſch wie Eis, und rein wie Schnee, du
wirſt der Verleumdung nicht entgehen, ſagte ein Poet
zu Ophelia, und es iſt auch ſo geſchehen.“


„Die ſprang ja wohl in's Waſſer, ſprach der
Rittmeiſter, den Pallaſch umſchnallend. Herr von
Bovillard, wir gehn in's Feuer; da wird es
anders.“


„Hat ſich magnifique benommen, ganz als ein
Cavalier, ſagte der Wachthabende, als beide die
Stube verlaſſen. Man muß es ihm laſſen.“


Der Arreſtat paffte Gedanken in die Luft, die
er nicht nöthig fand, in Worten zu äußern. Sie
mochten nicht ganz mit denen des Wachthabenden
harmoniren.


„Donnerwetter! rief der Cornet am Fenſter.
Sie gehen Arm in Arm!“


[214]

„Was ſoll nun daraus werden!“


„Die Hetzpeitſche kann er nicht mehr bekommen. —“


„Das kommt davon, wenn man einen leicht¬
ſinnigen Onkel hat!“


Der neue Cavalier mochte die Gedanken der
Herren in der Wachtſtube mit empfinden, denn
auf der Straße hatte er den Rittmeiſter gefragt,
ob er ſich nicht fürchte, in ſeiner Geſellſchaft ge¬
ſehen zu werden. Der Rittmeiſter konnte das
Wort fürchten nicht leiden, er hatte ſich mit einem
um ſo feſteren Druck an Bovillard's Arme ge¬
hängt. „Wer ſich ſchlagen will und zum Sterben
bereit iſt —“


„Ueber den iſt die Fahne geſchwenkt, fiel Bo¬
villard in's Wort, und er iſt ehrlich, wie des
Scharfrichters Schwerdt den armen Sünder ehrlich
macht.“


In der Caſerne, wo Dohleneck wohnte, hatten
beide eine lange Unterhaltung. Unmöglich konnte
das Geſpräch allein die Arrangements des morgen¬
den Ganges betreffen. Sie ſchieden mit einem Hände¬
druck, wie Freunde, die ſich herzlich über Vieles aus¬
geſprochen haben.


„Wiſſen Sie, was ich möchte? — Philoſophie ſtu¬
diren!“ ſagte der Rittmeiſter, als die Hände noch
in einander lagen.


„Warum?“


„Damit ich auf die vielen verfluchten Warum,
die Einem aufſtoßen, immer ein Darum wüßte. Wa¬
[215] rum haben wir uns nun heute erſt kennen gelernt?
Warum haben wir uns ſo viele Jahre gefoppt und
geärgert? — Sympathien nennen ſie's. Wir ſtecken
Beide in Schulden, ſind Beide ehrliche Kerls, lie¬
ben Beide mal 'nen tollen Spaß, werden beide ge¬
plackt und geſtoßen, von Schuften, die wir gründlich
haſſen, warum, ſagen Sie, warum ſtecken die Sym¬
pathien nicht an der Stirn wie die Ringkragen am
Hals. — Und dann — er athmete tief auf — wa¬
rum placken wir uns ſelbſt? Warum iſt nun das?
Exerciren, Parade, Liebſchaften, Komödie, ein Spiel¬
chen, auf die Wache kommen und wieder 'raus
kommen? Wie ein Schnürchen, wenn's zu Ende
fängt's wieder von vorn an. Warum leg ich mich
Abends zu Bette, um Morgens aufzuſtehen? Und
warum ſtehe ich Morgens auf, da ich weiß, daß ich
Abends wieder zu Bette gehen muß?“


Louis Bovillards Hand faßte die des Anderen
etwas höher nach dem Gelenk und er ſah ihn ſcharf
an: „Dieſer Drang nach Philoſophie deutet auf eine
Krankheit.“


„Na, krank bin ich nicht.“


„Das Kriterium der gefährlichſten Krankheit
iſt der Glaube, geſund zu ſein. Sie ſehnen ſich
auf Augenblicke hinaus aus dieſem Leben?“


„Weiß der Henker — zuweilen wünſche ich, es
wäre aus.“


„Und Sie haben immer Appetit?


„Vollkommen.“


[216]

„Alle Funktionen in Ordnung?"


„Regulair.“


„Dann iſt's — Sie ſind verliebt.“


„Nein — nein — 's iſt Eine in mich verliebt!
Das iſt's.“


„Das Warum?“


„Ein Andermal.“

[[217]]

Zwölftes Kapitel.
Iphigenia.

Der Unterricht, den Walter im Lupinus'ſchen
Hauſe ertheilte, war einige Tage ausgefallen, weil
Mamſell Alltag ſich unpäßlich befand. Doch hatte
der Bediente hinzugefügt, es habe nichts zu bedeuten.
Walter war zufrieden, obgleich er nie zufriedener war,
als wenn an den Gensd'armenthürmen die Glocke
ſchlug, die ihn zur Stunde rief; er hatte in dieſen
Tagen ſeine Arbeit fertig machen können.


Adelheid ſah heute wirklich noch etwas blaß aus,
aber nie hatte Walter ſie reizender geſehen. Ein
Häubchen umſchloß ihre Locken, ein leichtes, bis unter
dem Halſe ſchließendes Morgenkleid ihre elaſtiſchen
Glieder. Den griechiſchen Schnitt, in den die Ge¬
heimräthin ſie nöthigte, hatte er nie geliebt. Der
ſchöne Arm erſchien ihm heut ſchöner unter dem fal¬
tigen Ueberrock, als wenn er in leuchtender Fülle aus
den kurz geſchnittenen Aermeln ſchoß. Sie war ihm
raſch entgegen geeilt, ſie hatte ſeine Hand ſo herzhaft
gedrückt, und doch zitterte ſie. Sie hatte ihr Guten
[218] Morgen! nie mit einem ſo feſten Tone geſprochen,
und doch war ihre Stimme etwas belegt. Sie hatte
ihn herzlich angeſehen, und doch ſogleich wieder die
Augen geſenkt.


„Wir haben viel nachzuholen, lieber van Aſten,
hatte ſie geſagt, darum müſſen wir raſch anfangen.“
Sie ſaß am Tiſch, er ihr gegenüber. Es war ein
wunderſchöner Morgen. Die Linden auf dem Hofe
ſpielten im Sonnenſchein. Der Schatten der Blätter
ſpielte durch das geöffnete Fenſter auf die Tiſchplatte.
Es funkelte auch golden auf den Blättern des Buches.
Daher mochte es kommen, daß er ſich verlas; auch
ſie las oft falſch. Und dazu zwitſcherten die Sper¬
linge, gewohnt am Fenſter die Krumen zu ſtehlen,
welche Adelheids Hand ihnen hinſtreute, und eine
Wespe verirrte ſich in die Stube und trieb Unfug,
bis man ſie mit den Tüchern hinausgeſcheucht.


Es war viel Störung in der heutigen Lection.


Walter ſchlug vor, das Fenſter zu ſchließen. Adel¬
heid fand die freie Luft ſo ſchön, ihr ſei noch ſo be¬
klommen. Aber es würde ſchon vorübergehen —
„ich werde ſchon Muth bekommen,“ ſetzte ſie leiſer hinzu.


Sie hatten heute die Iphigenia beendet. Adel¬
heid hatte den letzten Akt geleſen.


„Sie müſſen mir ſpäter ein Mal die ganze Iphi¬
genia hinter einander vorleſen, wenn Sie bei voller
Stimme ſind, ſagte Walter. Das Gedicht klingt und
dringt ganz anders ins Herz mit Ihrer ſchönen Stimme.
Das Parzenlied —“


[219]

„Heut könnte ich es nicht leſen, fiel Adelheid
ein, es iſt zu ſchrecklich.“


„Für den ſchönen Morgen! Sie haben Recht.
Wir müſſen uns heut allein mit dem Character der
Iphigenia beſchäftigen. Iphigenia iſt der leuchtende
Gedanke der Verſöhnung, der in der alten Welt wie
ein Strahl auf dunklem Meere erſcheint, aber er
fand noch nicht die eigentliche Verkörperung. Was
die griechiſchen Dichter noch als einen Torſo hinſtell¬
ten, hat der Deutſche, der aus anderer Quelle ſein
Licht ſchöpfte, zur Erſcheinung gebracht. Dieſes Atri¬
dengeſchlecht — “


„Um Gottes Willen, rief Adelheid, wie konn¬
ten die alten Dichter ſo etwas erſinnen! Sie ſagten
doch, die Griechen hätten immer der Schönheit ge¬
huldigt, und ſelbſt dem Häßlichen wußten ſie eine
Wendung zu geben, daß es das Gefühl nicht ver¬
letzte. Wie iſt es nun möglich, daß ſie ſolche Gräuel
erfanden, die doch unmöglich ſind?“


„Unmöglich? fragte der Lehrer. Die erſte Ge¬
ſchichte des Hellenenthums iſt nur eine Verkörperung
des Kampfes, den die Cultur mit der Barbarei ge¬
führt. Der Barbarei iſt alles möglich, und wenn
der finſtre religiöſe Wahn hinzutritt, iſt ſie zu Gräueln
fähig, für die uns Begriff und Worte fehlen. Er¬
tödten wir aber die Cultur, reißen wir die edle Hu¬
manität an der Wurzel aus, welche Kunſt, Wiſſen¬
ſchaft, der Geiſt des Chriſtenthums jetzt durch Jahr¬
tauſende gepflanzt und gepflegt, ſo ſinken wir Alle
[220] wieder in den Naturzuſtand, in die Barbarei zurück,
wo die Thaten der Atreus und Thyeſtes möglich ſind.“


Sie ſchauderte, vor ſich niederblickend. Hatte er
zu viel geſagt?


„Vor einer andern Schülerin würde ich das nicht
ſagen, aber Ihr Geiſt, Adelheid, iſt ſtark. Sie ſelbſt
haben, ſo jung noch, Prüfungen zu überſtehen gehabt,
Sie haben Blicke in die wüſte Verworfenheit gethan.
Iſt z. B. eine Mutter, die ihr Kind ermordet, nur um
mit Anſtand noch in der Geſellſchaft weiter zu erſcheinen, ſo
viel beſſer, als jene rohen Barbaren, die ihrem Rache¬
trieb alles opferten! Und ſind es die vielen hier, welche
aus falſcher Empfindſamkeit die entſetzliche That be¬
ſchönigten? Wiſſen Sie, weiß ich, welche Prüfungen
auch meiner Freundin noch aufgeſpart ſind, wie viele
von denen, die Sie jetzt mit Aufmerkſamkeiten über¬
häufen, die ſo liebenswürdig, edel, ſprechen und zu
handeln ſcheinen, Ihnen in einem ganz andern Lichte
erſcheinen werden!“


Adelheid ſah ihn verwundert an. Er war in
Gedanken vertieft. — „Es war Unrecht von mir, rief
er plötzlich auf. Die Vorſehung hat uns die ſchönen
Illuſionen als Pathengeſchenk mitgegeben, damit wir
Muth behalten. Sie ſelbſt lüftet für jeden nur ſo
viel von dem Schleier, als er ertragen kann. Und
Niemand hat das Recht, dem andern die ſchirmende
Decke fortzureißen. Vergebung! Kehren wir zur Iphi¬
genia zurück.“


Er hielt die Hand zur Vergebung über den Tiſch,
[221] ſie ſchlug, ohne zu zaudern ein, und beide mußten
vergeſſen haben, daß ſie eingeſchlagen hatten, denn
als er in ſeiner Rede fortfuhr, blieben die Hände
noch immer auf dem Tiſch.


„Das Schrecklichſte hat ſich nun erfüllt, das
Schickſal der Atriden liegt wie ein wüſter Traum im
Hintergrunde. Ein ſonſt edler Jüngling, der den
letzten Blutſchlag gethan, Oreſtes iſt der Träger des
Fluches. Er wird von den züngelnden Furien ge¬
peitſcht, die nur in der Nähe des Heiligthums, wo
der reine Gedanke, der Geiſt des Gottes herrſcht,
vor dem Zerriſſenen weichen. Er iſt geflohen von
der Blutſtätte, von den heimathlichen Geſtaden, wo
jeder Stein an die Geſchichte ſeiner Ahnen mahnt,
über Meere und Berge. Aber wie der Pſalmiſt ſagt,
und nähme er Flügel der Morgenröthe und flöge
an's äußerſte Meer, die Erinnyen folgen ihm. Da
tritt Iphigenia auf, die, zum Opfer beſtimmt, die
Göttin ſchon früh mit gnädiger Hand aus dem
Gräuelhauſe forttrug und zur Prieſterin ſich weihte.
Sie iſt das außerordentliche Weib, das den Fluch
ihrer Geburt überwunden hat. Selbſt längſt entſühnt,
iſt ſie beſtimmt als verſöhnende Prieſterin zu walten.
Schon hat die Macht der reinen, edlen Weiblichkeit
ſogar die Sitte der Barbaren gemildert und Thoas
muß von ihr ſagen:


— es fehlt, ſeitdem du bei uns wohnſt,

Und eines frommen Gaſtes Recht genießeſt,

An Segen nicht, der uns von oben kommt.
[222]

Aber dieſen Segen ſoll ſie auch dem verlornen Bruder
mittheilen. Der Athem ihrer reinen Bruſt ſoll den
Wahnſinn auf ſeiner glühenden Stirne kühlen, die
wüſten Bilder aus ſeiner zerriſſenen Bruſt vertreiben.
Er bekennt ihr den ganzen, vollen, entſetzlichen Fluch,
der auf ihm laſtet, er ſtürzt vor ihr nieder, als er ſie
erkennt —“


Walter mußte inne halten. Adelheid hatte plötz¬
lich die Hand zurückgezogen und hielt ſich die Bruſt.
Dann fuhr ſie ſich über die Stirn.


„Iſt Ihnen wieder unwohl?“


„Nichts, lieber Walter. — Fahren Sie nur fort,
Sie erzählen ſo ſchön.“


„Es iſt doch wohl beſſer, wir ſetzen heut noch
die Stunde aus.“


„Nein, um Gottes Willen nein, heute muß es
ſein. Nicht bis Morgen wieder verſchoben. Ich werde
gewiß Muth bekommen. Es war nur die Vorſtellung
der Furien — ich möchte das Stück nie auf dem
Theater ſehen, ſo ſchön es iſt.“


„Aber Oreſt wird ja geheilt.“


„Wer ſeine Mutter todt ſchlug!“


„Leſen Sie, liebe Adelheid, irgend eine heitre
Rede der Iphigenia. Sie kann wie Balſam wirken.“


Adelheid las, was ſie zufällig aufſchlug:


„Das iſt's, warum mein blutend Herz nicht heilt.

In erſter Jugend, da ſich kaum die Seele

An Vater, Mutter und Geſchwiſter band;

Die neuen Schößlinge, geſellt und lieblich,

[223]
Vom Fuß der alten Stämme himmelwärts

Zu dringen ſtrebten; leider faßte da

Ein fremder Fluch mich an und trennte mich

Von den Geliebten. — Selbſt gerettet, war

Ich nur ein Schatten mir, und friſche Luft

Des Lebens blüht in mir nicht wieder auf.“

Er nahm das Buch und ſchlug eine andre Stelle
auf. Er ſuchte nicht viel, die Situation war ihm
peinlich, er nahm die erſte beſte dithyrambiſche und
ſie las den Anfang des vierten Actes:


„Denken die Himmliſchen,

Einem der Erdgebornen

Viele Verwirrungen zu,

Und bereiten ſie ihm

Von der Freude zu Schmerzen

Und von Schmerzen zur Freude

Tief erſchütternden Uebergang:

Dann erziehen ſie ihm

In der Nähe der Stadt,

Oder am fernen Geſtade,

Daß in Stunden der Noth

Auch die Hülfe bereit ſey,

Einen ruhigen Freund.“

Sie hatte das Buch fallen laſſen, ſie war aufge¬
ſtanden. An der Tiſchecke ſchwankte ſie, ſie wandte ſich ab,
dann raſch auf Walter zueilend, ergriff ſie ſeine Hand:


„Ich habe den Freund gefunden. Walter, Sie
haben mich lieb?“


Er umfaßte, aufſpringend, ihre Hand, er bog
den Kopf zurück, er ſtarrte ſie wie eine Erſcheinung
an: „Iſts Traum oder Wahrheit?“


[224]

„Walter, Walter, ſprechen Sie, ſonſt wird's ein
Traum, und mein Muth verläßt mich.“


Er preßte die Hand heftig an ſeine Bruſt: „Ja —
um Gottes Willen. Adelheid, Du —“


Er erdrückte den tiefen Seufzer, den er zu hören
glaubte, indem er ſie an die Bruſt ſchloß.


Ihr Herz ſchlug an ſeinem, ſie weinte an ſeinem
Halſe, aber ſtill, nicht wie die Leidenſchaft, nicht wie
die Seligkeit der Liebe weint. Er ſank auf den
Stuhl zurück, er hielt ihre Hände gefaßt. So be¬
ſchaute er ſie. „Es iſt des Glücks zu viel, zu viel auf
ein Mal. Laß mich Dir ins Geſicht ſehen, ob es
nicht doch nur ein Traum iſt?“


„Jetzt nicht, es könnte ausſehn wie die Lüge,
ſagte ſie, nicht bis ich alles geſagt. Das Schwerſte
iſt heraus, aber — Sie müßten ja roth werden über
mich, wenn — wenn nicht alles ſo gekommen wäre,
wie es iſt.“


„Wie es iſt! wiederholte er. Du ſahſt in mein
Herz. Du erbarmteſt Dich meiner, um mich nicht
länger in Hangen und Bangen zu laſſen.“


Sie ſchüttelte den Kopf: „Nein, Walter. Sie
müſſen ſich nicht anklagen, um mich zu entſchuldigen.
Sie waren nicht in Hangen und Bangen, Sie ſind
ein Mann.“


„Nun fort das kalte Sie, rief er. Ich nehme
Beſitz von meiner Eroberung.“


„Du wußteſt recht gut, daß, wenn Du mich
fragteſt, ich nicht nein ſagen könne. Und, weiß Gott,
[225] nicht um Dir das Herz zu erleichtern, habe ich ge¬
ſprochen.“


Er wollte ſie noch einmal an ſein Herz drücken.
Aber ſie entwandte ſich ſanft ſeinen Armen.


„Keinen Kuß auf eine Unwahrheit. Es muß
jetzt volle Wahrheit zwiſchen uns ſein.“


„Unwahrheit!“


Sie nickte mit einem thränenfeuchten Blick. „Laß
mich nur einen Augenblick Athem ſchöpfen.“


Sie hatte ſich an den Tiſch geſetzt, der Kopf
gleitete in die Arme. Er hatte ſich leiſe an ihren
Stuhl geſtellt und legte ſanft den Arm auf ihre
Schulter. „Ich habe Dich lieb und bin bei Dir
und Du haſt mich auch lieb. Was hindert Dich
noch?“


„Ich habe Dich lieb gehabt, ſeitdem ich Dich
gekannt, ſagte ſie ruhig ſich zurücklehnend, wie einen
Bruder, vor dem ich mein Herz offen legen konnte.
Habe ichs nicht gethan? Und wenn ichs nicht that,
war es, weil ich dachte, Du läſeſt ja ſchon in meiner
Seele wie in einem offenen Buche. Aber ſeit der —
der fürchterlichen Geſchichte ward es noch anders.
Du allein bliebſt immer derſelbe gegen mich. Die
andern — erſt wußten ſie nicht, wie ſie mich anſehn
ſollten, und wichen mir aus. Nachher überſchütteten
ſie mich mit Liebkoſungen und Bewunderung, und
machten aus mir wunder was, was ich nicht bin.
Ich war doch nicht ſchlechter, nicht beſſer, Gott weiß
es — aber was ich nun bin, nun ja, was ich beſſer
II. 15[226] bin, bin ich durch Dich. Seit ich das fühlte, ward
mir bange. Du hatteſt es mir vorausgeſagt, durch
große Leiden werde der Menſch geläutert, ſeine Sinne
gehen auf für das Edle und Schöne und ſein inneres
Auge für das Ewige und Wahre. Und da ſah ich,
wie Du viel ſorgſamer und liebevoller wardſt, und
mit jeder Schülerin würdeſt Du Dir nicht ſo viel
Mühe geben. Und Dein Unterricht ward auch ſo
beſonders. Und da, Walter, da kam dann — ich
weiß nicht wie — der Gedanke, daß es ſo ſein
müßte —“


„Und erſchrakſt Du vor dem Gedanken?“


Sie ſchwieg einen Augenblick: — „Nein gewiß
nicht, Walter. — Wo konnte ich beſſer aufgehoben
ſein, dachte ich, wer ſollte mich beſſer zum Rechten
führen und ſchützen! Ich gewöhnte mich ſo daran,
daß —“


„Du gewöhnteſt Dich nur daran!“


Jetzt erſchrak ſie vor dem Ton der Frage. Sie
legte ſanft die Hand auf ſeine, und blickte ihn klar
an: „Haſt Du nicht zuweilen gemerkt, daß ich lächelte?
Ich dachte dann an das, was Du oft geſagt, der
Menſch erzieht ſich ſelbſt, und man kann keine Natur
ändern. Und Du wollteſt mich doch ändern, ſo wie
Du mich wünſchteſt. Und dann widerſprach ich aus
Uebermuth. Nur aus Schelmerei, ich nahm mir im
Herzen doch vor, zu werden, wie Du es wünſchteſt.“


„Das hatteſt Du Dir vorgenommen und ich war
der Gegenſtand Deiner Gedanken!“


[227]

„Und da kam ich auf curioſe Dinge. Ob ich
Dir auch würde auf die Schulter klopfen, wie Mutter
thut, wenn ſie den Vater freundlich haben will. Wenn
Vater auffährt, ob Du auch zornig werden könnteſt?
Und ob ich dann auch ſo machen dürfte, wie Mutter
thut, um ihn wieder gut zu machen. Ich muß Dir
ſagen, es kam mir nicht ganz recht vor, wenn auch
Mutter ſagt: ſo muß man die Männer behandeln,
wenn man Friede im Hauſe haben will. Du biſt doch
ein ganz andrer Mann, und ich meinte, wir müßten
uns jeder dem andern grad heraus ſagen, was er
denkt. Ach und tauſend Dinge. Aber, Walter, das
dachte ich alles weit entfernt.“


„Haſt Du nicht auch gedacht, daß Du jetzt in
einem glänzenden Hauſe biſt, eine gefeierte Schönheit,
von Bewerbern umſchwirrt, die von ihrer Anbetung
ſprechen? Haſt Du nicht an Dein Herz gefühlt, ob,
wenn der Eine oder der Andre ernſt ſpräche —“


„Nein, fiel ſie raſch ein. Sie ſind mir alle
gleichgültig.“


„Aber die Geheimräthin! Du biſt ihr Augapfel.
Sie wünſcht, daß Du eine gute Partie machſt, ſie
ſucht vielleicht ſchon nach einem paſſenden Gatten,
der Dich über Deinen Stand erhebt. Vielleicht auch,
ſie iſt kinderlos, reich, das große Vermögen kommt
von ihr —“


Sie faßte mit Heftigkeit ſeine Hand. „Nein Wal¬
ter, das denke um Gottes Willen nicht. Ich habe
nie daran gedacht.“


15 *[228]

„Und der Gedanke iſt ſo natürlich. Du ſchau¬
derſt ja faſt.“


„Ich begreife es oft nicht, warum ich nicht mehr
Dank für ſie fühle, aber — aber laſſen wir das!
Walter, verrathe mich nicht, und deute es mir nicht
ſchlimm, es iſt mir oft, als möchte ich je eher je
lieber aus dieſem Hauſe fort. Es iſt mir ſo heiß,
ſo bang oft —“


„Aber weißt Du, in welches ich Dich führen
könnte? Ein armer Gelehrter, — würdeſt Du aus
Deinem Reichthum mir in eine Hütte folgen?“


„Sie ſah ihn mit ihrem klaren Lächeln an: „Ja,
Walter. Ich bin ja nicht für den Reichthum geboren.
Wer weiß, wenn ſie meiner überdrüſſig wird, ſetzt ſie
mich hinaus. Da müßte ich mir vorſorglich ein Ob¬
dach ſuchen. — O pfui! keinen Scherz. — Aber ich
habe mir es auch gedacht, daß Du zu ſtolz ſein könn¬
teſt, weil Du arm biſt. O ich liebe Dich ſo ſtolz,
wenn Du den reichen und vornehmen Herren kein
Wort, keinen Blick ſchuldig bleibſt. Wie viele bücken
ſich und kriechen, Du gehſt grade. — Nein, Walter,
auch darum nicht, nicht, weil ich Dir zu Hülfe kom¬
men wollte — Ach, hilf mir doch — das Schwerſte
iſt heraus, und das Allerſchwerſte ſteckt noch in der
Bruſt.“


Sie barg ihr Geſicht an ſeinem Halſe. Er ſtrich über
ihre Stirn; er bat ſie zu denken, ſie ſei in der Kirche
wie die fromme Katholikin, von der ſie neulich ge¬
leſen, und er ihr Beichvater.


[229]

„Neulich, nach unſrem Feſte — Du weißt von
dem unglücklichen Zufall. Ich verlor meine Beſin¬
nung, Jemand trug mich aus dem brennenden Zim¬
mer. Häßliche, gleichgültige Menſchen kamen und
gingen; aber in der Nacht, als es ſtill ward, halb
wachte ich, halb träumte ich — die andern hatten
mich wohl vergeſſen in dem Wirrwar, und die Nacht¬
lampe brannte dunkel, da ſchlich es herein. Er über¬
raſchte mich —“


„Gerechter Gott!“


„Nein Walter, erſchrick nicht.“


„Wer?“


„Ich kannte ihn, und darf ihn doch nicht nennen.
Er umfaßte meine Knie, wie der Oreſt das Bild der
Göttin, und ſeine ſchönen Augen rollten, wie eines
Wahnſinnigen. Ich wollte aufſchreien, mich los¬
machen, aber ich konnte nicht, wenn ich ihm ins Auge
ſah. Ihn peinigten ja auch, wie den Sohn des
Agamemnon — die Furien.“


„Was wollte der Freche?“


„Er bat mich, daß ich vergeſſen, vergeben
ſollte.“


„Was ſollteſt Du ihm vergeben?“


„Das iſt aus der alten ſchrecklichen Geſchichte —“


„Von der kein Wort! — Die Geheimräthin er¬
wähnte neulich eines Unverſchämten, der Dich auf
der Straße verfolgt —“


„Ach, Walter, jetzt verſtehe ich erſt, was wir in
den Gedichten laſen. Iſt das Liebe, ſo iſt ja Liebe
[230] eine Krankheit, vor der Gott Dich und mich bewahre.
So muß Oreſt krank geweſen ſein.“


„Er ſprach ſeine Leidenſchaft aus, er quälte,
marterte Dich? — Weiß jemand darum?“


„Keiner ſoll davon wiſſen, außer Dir. Dich
nehm ich aus.“


„Du verſprachſt ihm Verſchwiegenheit?“


„Ihm nicht, mir gelobte ich ſie aus — einem
Mitleid, das ich noch nie empfunden. Walter, o hät¬
teſt Du ihm in das Geſicht geſehen, das ſchöne,
fürchterliche Geſicht. Bald ein wildes Thier, das
mich zerreißen konnte, bald wie ein Kind ſo ſanft.
— Ich bedurfte keines Beiſtandes, keiner Hülfe,
glaube es mir, gewiß nicht. Ich wäre ihm wie eine
Heilige, eine Göttin, eine Prieſterin, deren Wünſche
ihm Befehle ſind. —“


„Das iſt die Sprache der Wüſten! Du kennſt
dieſe Menſchen noch nicht. Wo ihre gewöhnlichen Künſte
nichts fruchten, ſie einen Widerſtand finden, den ſie
damit nicht bewältigen, ſtehlen ſie aus der Seele
ihres Opfers die edelſten Gefühle, um ſie zu über¬
liſten. Mit Thränen, empfindſamen Reden neſteln ſie
ſich wie der Mehlthau an die Faſern und Fäden einer
edlen Seele. Sie reißen die Bruſt auf, um Schmer¬
zen zu zeigen, die ſie erheuchelt, und indem ſie das
Mitleid aufrufen, ſpritzen ſie Gift in die argloſe Seele
der Theilnehmenden.“


Sie ſah ihn ruhig an, und ſchüttelte den Kopf:
„Du kennſt ihn nicht; der nicht. Nein, Walter, das
[231] war keine Täuſchung. Er ſchüttete ſeine volle Seele,
ſeinen brennenden Schmerz, ſeine Selbſtanklagen aus.
Und dahinter blieb nichts zurück, kein Fältchen. —
Wie eines Wahnſinnigen Reden klang es, ja; aber
wie die Wahnſinnigen im Alterthum, ſagteſt Du,
die Wahrheit verkündeten. So ſpricht keiner, daß
er unwürdig ſei, ſo entſagt keiner dem, was ihm
das Liebſte iſt — ſo ſpricht keiner von dem Stern,
der ihm zu ſpät geleuchtet. So nicht vom Vaterlande,
das untergeht. So klagt ſich keiner an, daß er zu
früh verzweifelt und darum ſelbſt in dem Sumpfe
verſank, wo keine Rettung iſt. Ich reichte ihm meine
Hand, ich ſagte, ich wollte ihn aufziehen, er rief,
berühre mich nicht, es iſt zu ſpät! Walter, das
vergeß' ich nie, das klang wie das Parzenlied. Da
iſt ein edler Menſch verloren gegangen.“


„Verloren! rief Walter, in ſich hinbrütend, das
iſt ein ſchrecklich Wort.“


Sie ergriff ſeine Hand: „Und darum, Walter,
darum habe ich geſprochen, wie ein Mädchen nicht
ſprechen ſoll. Und nun betrachte mich wie Dein
Eigenthum; ich bin ganz ruhig und zufrieden. Schalte
und walte damit, wie Du willſt, ſchilt mich, züchtige
mich, daß ich den Schleier der Schicklichkeit zerriß,
daß ich nicht abwartete, bis Du geſprochen. Bin ich
nicht auch, wie die griechiſche Fürſtentochter, fortge¬
riſſen aus dem Hauſe der Eltern, in die Welt ge¬
ſtoßen. Mein Gott hat es ſo gewollt, daß das
Schrecklichſte, Unerhörteſte an einem armen Mädchen
[232] vorüberging. Da ward ſie eine andere. Und Du
biſt der Mann, an den ſich das ſchwache Mädchen
lehnt, Du der Einzige, den ich werth fand, mich ihm
zu geben, wie ich bin. War's Recht oder Unrecht,
nun iſt's an Dir, zu entſcheiden. Du aber biſt nun
die Säule, an die der Epheu ſich rankt, Du der
Freund, den mir die Götter erzogen. Du ſprichſt
nun für mich. So an Dich mich ſchmiegend, will
ich ſtehen, wenn neue Stürme drohen, und der Un¬
glückliche, der Verlorene, wenn er wieder kommt,
Deine Verlobte, Walter, wird, ruhig und heiter,
nicht mehr erſchrecken.“


Die Schwalben und die Bienen, und die Sonne
in der Linde ſchauten auf einen Glücklichen und eine
ſtill Zufriedene. Ein Moment, von dem Dichter
jener Zeit geſagt hätten, daß Götter die Sterblichen
darum beneiden könnten. Der Neid der Götter war
immer gefährlich, aber auch jene Götter täuſchten
ſich und wurden getäuſcht. Sie ſchaukelten über den
Spiegel auf der See und ſahen nicht den Sturm,
der ſchon ihre Tiefe aufwühlte. — Ueber die Dächer
tönte es vom Gensd'armenthurm. Die Lehrſtunde war
wohl zu Ende. Sie hörten mit Schrecken die Schläge.
Es waren aus der einen Stunde drei geworden.


Das ſüße Geheimniß, was es für andre noch
bleiben ſollte, durfte es nicht vor der Pflegemutter.
Walter hatte es ſo gewollt. Adelheid erkannte ſeine
Gründe an, aber ſie ſeufzte, als ſie aufſtanden. Es
war ein ſchwerer Gang.


[233]

An der Thür der Geheimräthin hörten Sie ein
Geſpräch. Es war Wandels Stimme. Liſette, die
hinzukam, ſagte: Frau Geheimräthin wolle nicht ge¬
ſtört ſein. — Adelheid athmete auf. Walter drückte
ihre Hand:


„Alſo ein andermal, theures Fräulein.“ —


„Die ſind auch einig,“ ſagte Liſette, nach dem ſie
die Flurthür hinter ihm zuſchloß.

[[234]]

Dreizehntes Kapitel.
Auch eine Lehrſtunde.

In dem Geſpräch zwiſchen der Geheimräthin
und dem Legationsrath mochte auch ſchon weit über
eine Stunde verſtrichen ſein. Es war gewiſſermaßen
auch eine Lehrſtunde, aber vom urſprünglichen Gegen¬
ſtande mochten ſie ebenfalls weit abgeſchweift ſein.
Wir fanden neulich die Geheimräthin in aigrirter
Stimmung auf den bewunderten Mann. Jetzt ſaßen
ſie beide im intimſten Seelenverkehr auf dem Kanapé.
Die Ausſöhnung war längſt erfolgt. Am Morgen
nach der Geſellſchaft war er ſchon vor Mucius und
vor Selle dageweſen, er hatte ihr von dem präpa¬
rirten Aether gebracht, der ſie wunderbar ſchnell ge¬
ſtärkt und hergeſtellt? Er hatte Mucius durch ſeine
Kenntniſſe, die er in beſcheidene Fragen einkleidete,
überraſcht, daß der Doctor beim Weggehen geäußert:
„Das iſt ein Tauſendkünſtler, Madam! Den müßten
wir ſetzen laſſen, daß er nicht ins Handwerk pfuſcht!“
Hatte er nicht Selle, der durch das Verſehen des
Dieners auch beſtellt worden, ſo geſchickt in die Con¬
[235] ſultation zu ziehen gewußt, daß er die Verlegenheit
der Geheimräthin nicht merkte!


Wie geſagt, es war alles ausgeglichen, — zwiſchen
ihnen, aber nicht die tiefe Falte auf ihrer Stirn.
Noch heut verrieth ſie den Riß in der Bruſt.


„Ich werde gar keine Geſellſchaften mehr geben,“
hatte ſie geſagt.


„Gott ſei Dank!“ ſagte er.


„Warum?“


„Weil Sie endlich zur Ueberzeugung kamen,
daß man das für die Menſchheit ſich opfern den
Narren überlaſſen muß.“


„Sie meinen doch nur für die reale Menſchheit,
die in ihren Flitterkleidern ihre Armſeligkeit zu ver¬
bergen ſucht.“


„Und was iſt die nicht reale Menſchheit? Sollen
wir uns für den Begriff begeiſtern, der zwiſchen Adam
und dem jüngſten Wiegenkinde liegt?“


„Aber was iſt der Menſch, der ſich für nichts
intereſſirt! Für irgend etwas muß er doch der Opfer
fähig ſein, er muß leben, oder er kehrt zum Thier
zurück.“


„Phyſiologen behaupten, daß jedes Menſchen¬
geſicht eine Aehnlichkeit mit einer Espeçe derſelben hat.“


„So wäre es an uns, zu entdecken, mit welchen
wir Verwandſchaft haben. Und wenn wir's wiſſen,
ſind wir am Rande unſrer Erkenntniß.“


„Moraliſten behaupten, daß es alsdann unſre
Aufgabe ſei, dieſes Thier zu bekämpfen.“


[236]

„Mit welchem haben Sie zu kämpfen?“ fragte
die Lupinus.


„Sie ſind in aigrirter Laune, theuerſte Frau.
Das iſt eigentlich die beſte. Mit dieſem moraliſchen
Scheidewaſſer ſpülen wir am ſchnellſten die ſenſualen
Auswüchſe ab, die uns an unſerm Glück hindern.“


„Was verſtehen Sie unter dieſen Auswüchſen?“


„Die ſogenannten wohlwollenden Gefühle, die
die ärgſte Lüge ſind, der Selbſtbetrug, der uns am
klaren Denken, am folgerechten Handeln hindert.“


„Sie lenken von meiner Frage ab. Für was
lebt der Menſch?“


„Nur für ſich ſelbſt.“


„Aber in dies Selbſt ſchließen Sie die Ideen,
Beſtrebungen, Illuſionen, wie Sie es nennen wollen,
ein, die unſer Daſein über das Vegetiren der Pflanze,
über den Inſtinct der Thiere erheben?“


„Vielleicht.“


„Warum nur bedingt? Sie wollen ihn noch nicht
bewundern, aber Sie anerkennen Napoleon.“


Er hatte mit unterſchlagenen Armen, im Sopha
zurückgelehnt, geſeſſen. Er ſah ſie ſcharf an:


„Wollen Sie ein Napoleon werden?“


„Thorheit!“


„Fühlen Sie Beruf, eine Semiramis, Zenobia
zu ſein, oder eine Maria Thereſia, Katharina?“


„Das liegt ganz außer meiner Sphäre.“


„Das iſt das Löſewort. Wer die Gränzen ſeiner
Sphäre erkennt, weiß wofür er lebt. Er weiß auch,
[237] wie er leben ſoll, das heißt, er kennt die Mittel, mit
denen er wirkt, bis wohin er wirken kann. Wenn
er aber das weiß, weiß er auch, daß nichts ihn hin¬
dern darf, ſo zu wirken, wie er kann, ſagen wir
muß. Was man will und kann, muß man; es
giebt keine höhere Aufgabe. Das aber iſt die Krank¬
heit unſerer Zeit, das Siechthum unſerer Halbwollen¬
den, daß ſie den großen Männern ihre großen End¬
ziele abſtehlen wollen. Haben ſie Adlerflügel, Ti¬
tanenkräfte? So flattern ſie, wie die Motten, ins
Licht und zerſtoßen ihre blutwarmweichen Hirnſchädel,
mit denen ſie Mauern einbrechen wollten, am erſten
beſten Zaunpfahl. Daher dieſe Idealiſten, Staats¬
künſtler, Menſchheitsverbeſſerer! Was war es, das
ſie den Großen abſtehlen ſollten? — Die richtige
Erkenntniß ihrer Sphäre, die ſie füllen, der Kräfte,
über die ſie gebieten können. Der achtzehnte Brü¬
maire wäre ein Verbrechen, nein eine Dummheit ge¬
weſen, wenn der Lieutenant von Toulon ihn gewagt,
für den Sieger an den Pyramiden ward es eine
Tugend, die Europa und die Welt bewunderte; er
wußte was er konnte.“


„Und was können wir, die wir nicht wiſſen,
was wir wollen, können?“


„Kein Menſch iſt ſo gering, daß er nicht etwas
will, was ſcheinbar über die Verhältniſſe, über ſeine
unentwickelten Kräfte hinausgeht. Aber wenn er den
Muth hat, es ſich zu geſtehen, ſo wachſen ſchon da¬
durch unvermerkt dieſe Kräfte. Liegt das Ziel im
[238] Kreiſe des Möglichen, wohlverſtanden für ihn, ſo iſt
es auch für ihn erreichbar. — Ich bin entfernt davon,
in Ihre geheimen Wünſche dringen zu wollen; aber
denken Sie ſich, meine Freundin, einen ſolchen Wunſch,
den Sie bisher für unerreichbar hielten, verkörpern
Sie ihn ſich, und überrechnen Sie dann die Mittel,
die Ihr Geiſt, Ihr Vermögen, Ihre phyſiſche Kraft,
Ihre Freunde Ihnen bieten. Reichen dieſe Mittel
aus, ſo ſind Sie am Ziel; denn es iſt allein Ihre
Schuld, wenn ſie es nicht erreichen.“


„Das iſt ein gefährlicher Gedanke.“


„Warum? — Geſetzt, Sie fühlten ſich unglück¬
lich mit Ihrem Gatten —“


„Ich bitte Sie, Herr Legationsrath — “


„Nun Sie wünſchten ihn zu einem lebensluſtigen
Mann zu machen. Iſt das etwas Unrechtes? — Doch
es iſt ein indiscretes Beiſpiel, Verzeihung! Alſo um¬
gekehrt — Sie wollten ſich ganz der Armenpflege
widmen, Ihr Haus zum Hospital umſchaffen, ſelbſt
Krankenwärterin werden. Ihre Mittel wären end¬
lich erſchöpft, ja, meine Freundin, die Möglichkeit
wäre da, daß Sie ihm auch ſeine Stube nähmen,
ſeine Bibliothek verkauften — “


„Ach, der arme Mann!“


„Nur nicht Mitleid! Wer etwas will, muß dieſe
Rückſichten verbannen. Sehn Sie, die Fürſtin Gar¬
gazin möchte uns alle zu Convertiten machen, ſie
ſcheut keine Mittel — gar keins, wenn ſie nur Einen
bekehren kann.“


[239]

„Mein Mann ſtürbe, wenn er von ſeinen Bü¬
chern laſſen müßte.“


„Und wird von ihnen laſſen müſſen, wenn er
von Allem läßt! Doch, um wieder auf Bonaparte zu
kommen, wie viel Peripherien hat er, eine nach der
andern, um ſeinen jeweiligen Standpunkt gezogen,
weit, weiter, und das iſt das Bewunderungswürdige,
nicht ſeine gewonnenen Schlachten, ſondern daß er,
im Mittelpunkt des Kreiſes, nie über den Kreis hin¬
ausgriff! So ward er Conſul, Kaiſer —“


„O ich bin ungemein begierig, Ihre Anſichten
darüber zu erfahren.“


„Wozu das, Freundin? Wozu die eigne Kraft
anſtrengen und uns vergeſſen?“


„Aber es iſt ſo intereſſant —“


„Sie haben Recht — ſeine Familienverhältniſſe!
Da liegt der Hemmſchu für den Giganten.“


„Die Familie erhebt er mit ſich.“


„Aber Joſephine hat keine Kinder. — Sie
muß fort.“


„Wie! Sie hob ihn. Er kann ſie doch nicht
verſtoßen.“


„Ei, ſeine Bewunderin hält ihn für ſo klein.
Gefühle der Dankbarkeit ſollen ihn an ſeinem Welt¬
beruf hindern.“


„Aber das Urtheil der Welt würde —“


„Den Titanen regieren! Da habe ich keine Skru¬
pel. Aber die Creolin iſt eigenſinnig, reizbar. Wenn
ſie ſich nun nicht ſcheiden laſſen will?“


[240]

„Sie meinten neulich, daß Joſephine gegen ihren
Mann contre operiren könnte?“


„Darüber bin ich hinaus. Sie iſt nur eine
Frau mit den gewöhnlichen Affecten eines Weibes.
Groß im Kleinen, zu klein zu einer That, zu weich,
gutherzig. Nein, nein, von der Seite iſt nichts zu
beſorgen, aber er — Napoleon muß ſich von ihr
ſcheiden, er muß Söhne haben, er iſt in voller Mannes¬
kraft, er iſt durch die Verhältniſſe wie von ſelbſt zu
einer Ehe gedrängt, die ſeine Nachkommenſchaft vor
der Meinung legitim macht, welche aus dem Schutt
und Staub der Revolutionen aufſteigt und die Throne
wieder mit einem Nimbus umzieht. Das iſt ganz
unabänderlich, das muß er. Und wenn ſie ſich nun
nicht ſcheiden laſſen will, was muß er thun? Was
wird er thun? Da, Freundin, wird ſichs bewähren,
ob er — er iſt.“


„Mein Gott, Sie meinen —“


„Bisher war er ſich immer klar. Aber dieſe
Differenz —“


„Er liebt Joſephinen!“


„Was iſt Liebe? Verſtehn wir uns! Wir beide
meinen nicht jene Veilchenduft-, jene Vergißmeinnichts¬
ſchwärmerei zartgeſchaffener Seelen, noch jene dämo¬
niſche Leidenſchaft, die Mauern einreißt, um im Ge¬
nuß ſich zu tödten. Das ſind Kinderſpiele. Ich meine
die Liebe, vor der Jahre und Verhältniſſe wie Plunder
verſinken, das in den Myſterien der Natur geborne
Bündniß derer, die ſich verſtehen, ſich das Zeugniß
[241] der Ebenbürtigkeit Einer dem Andern ausſtellen. Dieſe
Liebe bedarf keiner Beſiegelung durch Lieder, Be¬
theuerung und Schwüre. Sie iſt da von ſelbſt. Die
Geiſter wie die Blicke brauchen ſich nur zu finden,
und im Moment iſt der Bund geſchloſſen, ohne
Worte.“


Die Geheimräthin ſeufzte: „Das iſt eine Vor¬
ſtellung, erhaben wie die Ewigkeit!“


„Und nun, frage ich, herrſcht zwiſchen ihm und
ihr ein ſolcher Bund? Begreift ſie ihn nur? Freilich
möchte ſie ſich ſonnen in ſeinem Diademen-Glanze,
die immer liebenswürdige Kaiſerin und Franzöſin
ſein, entzückend in Toilettenkünſten, Intriguen, brilli¬
rend von Esprit in der Converſation, bezaubernd die
Herzen durch ihr weiches Herz, wenn er zuſchlagen
muß, ihm in den Arm fallend: Ach thu's doch lieber
nicht! Was iſt ſie ihm? — Eine Laſt, die er ab¬
ſtreifen muß. Er muß, ſage ich, wenn er vorwärts
will, und er kann es, es kommt nur darauf an, ob
er Muth hat es zu wollen.“


„Mein Kopf ſchwindelt.“


„Traf dies Loos nicht auch ſolche, die er wahr¬
haft liebte? Und er vernichtete ſie, weil er ſie liebte.“


„Ich verſtehe ſie nicht.“


„Jene graubärtigen Krieger, ſeine Veteranen,
die Säulen ſeines Ruhmes, die ihm nach Afrika
gefolgt. Im Sonnenbrande der ſyriſchen Wüſten
war ſeine Miſſion erfüllt, er huldigte nicht der Thor¬
heit, ein romantiſcher Alexander ſein zu wollen, er
II. 16[242] dürſtete nicht nach Eroberungen, die ſich nicht halten
laſſen. Er mußte zurück. Konnte er die Kranken,
die Verwundeten durch die glühende Sandwüſte mit¬
ſchleppen; kaum ſeine Geſunden hielten die Strapatzen
aus! Sollte er die Unglücklichen dem Grimm barbari¬
ſcher Feinde zurücklaſſen? Er war raſch entſchloſſen —“


„Sie nehmen das Gerücht für wahr an?“


„So wahr ich ihn ehre. Gewiß nach einem
ſchweren Kampf. Wer trennt ſich leichten Herzens
von denen, die uns die Theuerſten ſind. Aber als
es in ihm klar war, daß es ſein mußte, zauderte er
keinen Moment Hand ans Werk zu legen. Durfte
er ſie erſchießen, erſchlagen laſſen? Das durfte er
nicht vor dem Urtheil der unmündigen Welt, nicht
vor ihnen ſelbſt. In ſüße Illuſionen ließ er ſie ein¬
wiegen durch Opium bis — bis ſie in ſüßen Träu¬
men von dieſer Welt ſchieden. Wie mancher der
Soldaten mag auf dem ſauren Rückweg, unter Durſt
und Sonnenſtichen erliegend, hülflos vielleicht zurück¬
gelaſſen, weil er ſich von der Colonne verirrt, im
Angeſicht des Tigers, der Hyäne, deren Geheul ſeiner
Witterung nachging, wie mancher mag an die ſchnell
und glücklich Geſtorbenen in Accum zurückgedacht,
ihr Loos beneidet haben! Napoleon ging an ihren
Lagerſtätten umher, ſeine Augen blitzten ſie an;
dem nickte er, dem drückte er die Hand, dem rief
er ein baldiges Wiederſehn auf dem Felde der
Ehre zu. Sie Alle richteten ſich begeiſtert auf, und
riefen ihrem großen General ein Vivat!“


[243]

„Und im Leibe des —“ Sie hielt zuſammen¬
ſchaudernd inne.


Er ſpielte ein bedeutungsloſes Fingerſpiel. Er
hatte ſehr wohlgeformte ariſtokratiſch weiße Hände.
Ein ſanftes Lächeln ſpielte um die Augen, die auf
die Hände niederſahen:


„Wenn wir uns nur gewöhnen könnten die Dinge
anzuſehen nicht wie die Leute, ſondern wie ſie ſind!
Wir würden viel glücklicher ſein, und weit mehr Glück
um uns verbreiten. — Hätte der große Mann ſich
um den Katechismus, und die Morallehrer und Gott
weiß welche Gevattern und Muhmen gekümmert, was
hätte er dann thun ſollen? Etwa um die hunderte
oder tauſende Kranke nicht zu verlaſſen, ſelbſt zurück
bleiben, mit ſeinem ſchon geſchmolzenen Heere, ohne
Vorräthe, der wachſenden Zahl ſeiner Feinde, der Hitze,
den neuen Krankheiten gegenüber? Er wäre ſo wahr
zwei mal zwei gleich vier iſt als Opfer gefallen.
Dann hätten freilich alle alten Weiber und alle ro¬
mantiſchen Seelen ſein Lob geſungen, als Märtyrer,
der ſich ſelbſt geopfert für Nothleidende, und wie
viel Tauſende mit, das iſt ihnen gleichgültig; es iſt
doch eine edle That. Aber daß er alsdann eine andre
Miſſion vergeſſen hätte, daß es galt ſein großes
Frankreich aus der Anarchie zu retten, die aufs Neue
ihre Polypenarme ausſtreckte, daran denken dieſe ſenti¬
mentalen Gemüther nicht. Lieber die arme Fliege
retten, die im Netz der Spinnen ſich gefangen hat,
als zugreifen, wo die Gardine Feuer fängt, und das
16*[244] Haus kann verbrennen. Das iſt die Moral, welche
die ſanften Seelen uns predigen.“


Er war aufgeſprungen: „O wie glücklich könnte
die Welt ſein, wenn die Menſchen es verſtänden, frei
zu ſein!“ Er war ſichtlich in einer Gemüthsbewegung.
Man hörte Adelheids Stimme am Klavier.


„Was würden Sie thun? wandte er ſich plötzlich
zur Lupinus. Hier wäre Ihr Johann erkrankt, zu
Ihren Füßen hingeſtürzt, und dort hörten Sie einen
Schrei Ihrer Tochter — der tolle Menſch, durch's
Fenſter geſtiegen, überfiele ſie am Klavier. Oder, —
er iſt zwar zu allem fähig, — aber ſetzen wir nur
den Fall Sie wüßten, daß er wieder zu ihr einge¬
drungen, daß er ſie mit ſeinen Verführungskünſten
zu umgarnen ſucht, was würden Sie, frage ich,
zuerſt thun? Dort nach Ihrem Schrank mit den
Eſſenzen ſpringen, um den Diener zu ſoulagiren,
oder da nach dem Zimmer zu Ihrer Tochter? Ginge
Ihnen der Diener oder die Tochter vor, der kranke
Menſch, der doch über kurz ſterben muß, oder das
blühende junge Weſen?“


„Meine Tochter natürlich, ſagte die Lupinus.
Aber wenn der Menſch, der Johann, inzwiſchen
ſtürbe? Was würde die Welt dazu ſagen?“


„Was würden Sie dazu ſagen? Das iſt allein
die Frage. Doch nichts anderes, als: dort droht
ein unerſetzlicher Verluſt, hier kann ein Menſch ſter¬
ben, für den der Tod eine Wohlthat iſt. — Leben
Sie wohl!“


[245]

„Habe ich Sie beleidigt?“


„Mich?“


„Sie raunen mir da eine entſetzliche Möglichkeit
ins Ohr.“


„Poſſen! Phantaſieſtücke. — A propos, haben
Sie Ihre kleine Apotheke arrangirt? — Den Aether
brauchen Sie, ich bitte nochmals, nur im äußerſten
Nothfall.“


Er war an das Glasſchränkchen getreten, und
überſah die Etiketten der Gläſer.


„Ich werde noch Ihres Unterrichts in manchen
Mixturen bedürfen.“


„Nur mit keiner Sylbe gegen Jemand davon
erwähnt. Doctor Mucius und die Andern wären
im Stande einen Ausweiſungsbefehl gegen mich zu
erwirken. Die Herren Aerzte vertragen es nicht,
wenn man in ihr Amt pfuſcht.“


Mit einem zweiten Händedruck hatte er die
Thür erfaßt, als Adelheids volltönende Stimme im
Zimmer hinter dem Entree die Reichardtſche Com¬
poſition des


Freudvoll und leidvoll,

Gedankenvoll ſein

am Fortepiano ſang.


„Die Kleine ſingt recht hübſch.“


„Reichardt iſt zufrieden. Duſſeck war neulich
entzückt.“


„Weil Sie gut zu eſſen geben — und Ihr
Wein vortrefflich iſt.“


[246]

„Lachen Sie nicht ſo abſcheulich.“


„Eine gute Figur. Sie könnte auch auf dem
Theater Ihr Glück machen.“


„Pfui! Darum hätte ich ſie —“


„Wie Sie wollen. Aber ſie genirt Sie doch
wohl zuweilen. Nicht wahr? Bekennen Sie es nur.“


„Sie kann recht impertinent ſein.“


„Offenherzig! Ich verdenke es ihr nicht.“


„Hat ſie ein Recht dazu?“


„Wird ihr nicht hundertfach geſagt, daß ſie hier
der Glanzpunkt iſt? Sie allein der Magnet, der
die Leute in dies Haus zieht? Sagen Sie es nicht
ſelbſt, Freundin? Ich könnte mir ein Gewiſſen
draus machen, ſie zu Ihnen gebracht zu haben, wenn
ich nicht wüßte, daß auch eine Philoſophin zuweilen
eine Narrenſchule um ſich braucht.“


„Einige finden ſie geiſtreich.“


Jetzt hätte die Geheimräthin mehr Recht gehabt,
ſein Lächeln abſcheulich zu nennen.


„Es wird ſich ja wohl bald für das geiſtreiche
Mädchen eine gute Partie finden.“


„Wer weiß! Die jungen Leute ſehen nach Geld.“


„Der Herr Bovillard würde vielleicht auch nicht
ſo toll verliebt ſein, wenn er nicht an eine Mariage
dächte, um ſeine Schulden zu bezahlen.“


„Wie! Sie denken, es iſt ſein Ernſt —“


„Wenn es Ihr Ernſt iſt, ſie zur Erbin ein¬
zuſetzen.“


„Wer denkt daran!“


[247]

„Außer ſehr Vielen Adelheids Eltern, und ſehr
ernſtlich.“


„Impertinent! Am Ende wünſchen ſie, daß ich
noch bei meinen Lebzeiten meines Vermögens mich
entäußere, um das aufgenommene Mädchen aus¬
zuſtatten.“


„Solche Wünſche ſpricht man wenigſtens nicht
laut aus.“


„O ſie ſollen ſich getäuſcht ſehen. Ich will —“


„Keinen Eclat, meine Freundin. Keine Affecte
in ſolcher gleichgültigen Sache. Ihr Wille iſt ja
genug. Sie hatten alſo nie im Sinne, ſie wirklich
an Kindesſtatt anzunehmen?“


„Und wenn ich einmal daran dachte —“


„So ſind Sie bei reiferer Ueberlegung von der
Thörigkeit dieſes Entſchluſſes überzeugt, und Sie
ſind die Frau, die in einer Aufwallung nichts ändert.
Was braucht es denn mehr, die Sache iſt zwiſchen
uns — ich meine in Ihrem Geiſte klar. Aber wozu
das auszuſprechen. Ich würde es auch nicht merken
laſſen. Laß die Gimpel ſich doch täuſchen. Wozu
gab Gott jedem ſein Maaß Klugheit? Warum ſol¬
len wir mit dem, was wir übrig haben, den Thoren
beiſpringen. Und vielleicht verſchafft der Glaube
dem Mädchen doch eine gute Partie. Und iſt es
einmal ſo weit, dann ſpringt auch nicht gleich jeder
darum ab. Das Point d'Honneur iſt eine Erfindung, um
die Mittelmäßigen zu reguliren. Und giebt es nicht
mariages d'inclination? Und — wer weiß, wie Sie
[248] das Mädchen auf andre Art wieder los werden?
Es fügt ſich ſo manches. — Ich lache ordentlich, daß
ich Ihnen darüber Inſtruktionen geben will. Laſſen
Sie ſie freudvoll und leidvoll, unter Hangen und
Bangen, ihrem Schickſal entgegenhüpfen. Wir ha¬
ben doch wahrhaftig für anderes als dafür zu
ſorgen.“


„Der abſcheuliche junge Menſch will mir nicht
aus dem Sinn,“ ſagte die Geheimräthin.


„Er wird Sie bald nicht mehr beunruhigen,“
entgegnete der Legationsrath, indem er ein verſiegeltes
Päckchen in den Schrank gelegt, den Schlüſſel ab¬
gezogen, und ihn in die Hand der Geheimräthin
gedrückt hatte: „Bewahren Sie ihn wohl.“


„Was haben Sie hinein gethan?“


„Etwas, was Sie nur eröffnen dürfen nach
meinem Tode.“


Sie ſtarrte ihn an. Er drückte ihre Finger an
die Lippen: „Auch davon ſtill, ſtill! Es iſt nur mein
Teſtament.“


Sie preßte krampfhaft ihre Hand auf ſeinen Arm:


„Was haben Sie mir geſagt?“


„Daß ich einen feſten Arm habe, einen ſichern
Blick, daß meine Kugel nie geirrt; daß — das wilde
Blut des Leidenſchaftlichen nicht zielen kann, und —
ſo gewiß Sie vor mir ſtehen, ich werde nicht
fallen
. Ich habe Ihnen noch mehr geſagt, mit
kaltem ruhigen Blute werde ich ihn zu Boden ſtürzen
ſehen. Das Bewußtſein, die Geſellſchaft von einem
[249] Ruheſtörer zu befreien, wird mir Befriedigung ſein —
wenn es dazu kommt!“


„Aber —“


„Weil der Zufall dämoniſch iſt, ſchrieb ich
das auf.“


„Mein Freund, was ſoll ich mit Ihrem Teſta¬
ment.“


„Es leſen — annehmen, oder verwerfen.“ Er
wollte mit umgewandtem Geſichte hinaus.


„Nicht ſo! Ich muß wiſſen, ob ich nichts Ge¬
fährliches im Schrank verſchließe.“


„Gefährliches! — Ich hatte eine Freundin, eine
theure Freundin, ſie war mein Alles, ich war es ihr.
Sie verſtand mich, ſie ging nicht in meine Ideen
ein, ſie ging ihnen voraus —“


„Angelica, Ihre Gattin —“


„Auch dies äußere Band ſollte das unlösbare
unſerer Geiſter befeſtigen, — wenn das nöthig, ſagen
Sie möglich geweſen wäre! — als eine andere rauhe
Hand es zerriß. In ihrem Teſtamente hatte ſie mir
ihr Vermögen hinterlaſſen, mit den Worten: „es iſt
ja nicht meines, es iſt Deines, denn was mein war,
war Dein, ich war Du, Du ich. Wirke es in Deiner
Hand für mich. —“ Sollte ich es etwa nun nicht
annehmen, weil die Verwandten lamentirten und
Gott weiß was für Klagen wegen Uebervortheilung,
Erbſchleicherei, vorbrachten? — In ihrer Hand war
es vergeudet, in meiner lebte es zu den großen
Zwecken der Seligen. — So wird auch meine
[250] Freundin keinen Anſtand nehmen, wenn ich das mir
Anvertraute ihr wieder vertraue. Sie kannten mich,
Sie wiſſen, was damit zu wirken, und wenn die
Spanne Zeit zu kurz war, um unſre Geiſter ganz
in einander aufgehn zu laſſen — in dem Papiere —
wozu Schrift, wo der Geiſt lebendig bleibt! Ihrer
wird klären, wo es dunkel ſcheint; wo es dunkel iſt,
werden Sie Licht bringen. Die Verwaltung meiner
Güter braucht Sie nicht zu erſchrecken, es iſt dafür
geſorgt. Verwandte werden Sie nicht ſtören, die
Welt der Blutsbande iſt hinter mir in aſchgraue
Nebel verſunken, — ich ſtand allein in dieſer — die
Zukunft war mein Reich — ich hoffte vielleicht neue
— doch wozu das! Pfui über dieſe angeborne Na¬
tur, die uns immer wieder in die Sackgaſſe der
Sentimentalität treibt.“


„Wie komme ich dazu?“


„Wie! — Er lächelte. Nein, Sie ſind im Recht,
Sie mußten ſich darüber täuſchen; es mußte Sie
frappiren, daß ich in erſter Zeit mich in ſcheuer Ferne
hielt. — Ach die Entſchlafene ſchwebte ja noch immer
an meiner Bettwand — und wer iſt ſtark genug,
wenn er Doppelgängerinnen ſieht. — Aber ſeit auch
der Geiſt der Seligen nicht todt iſt, ſeit — Ge¬
nug. Wir werden uns ganz verſtehen lernen, und
wenn nicht, wenn unter einem ſchrillen Accord
Sie plötzlich die Saite ſpringen hörten, dann
— würden ſich unſre Geiſter erſt recht gefunden
haben.“


[251]

Mit einem langen, brennenden Kuß auf ihre
Hand war er raſch verſchwunden.


Sie betrachtete eine Weile die Hand. Ent¬
weder weil ſie brannte, oder weil ſie zitterte, oder
fragte ſie ſich, warum denn die Schwägerin auf
ihrem Sterbebette geſagt, daß ſie ſpitze Finger
hätte?

[[252]]

Vierzehntes Kapitel.
Im Grunewald.

„Sie waren zu eilig.“


„Ich laſſe nie auf mich warten,“ entgegnete der
Legationsrath dem noch ſehr jungen Manne, welcher
dieſe Frage that, und deſſen Aeußeres unverkennbar
den Franzoſen verrieth; wir ſetzen hinzu: auch den
Diplomaten, wenn gleich die Diplomatie jener Zeit
noch nicht ganz wieder die Parure der untergegan¬
genen angenommen hatte, und die moderne noch nicht
erfunden war.


Der junge Franzos ſtand unter einem Baum.
Zwei Paar Piſtolen lagen auf einem über dem Erd¬
reich ausgebreiteten Mantel, daneben eine Pulverbüchſe,
ein Kugelbeutel und was ſonſt zu den Vorbereitungen
eines Geſchäfts gehört, welches unzweifelhaft am Aus¬
gange des Kiefernwaldes im Werke war. Die Pi¬
ſtolen waren noch nicht geladen; der junge Mann
prüfte, den Hahn abdrückend, die Schärfe der Feuer¬
ſteine. Sie ſchlugen helle Funken, Alles war im
guten Stande.


[253]

Der Legationsrath ging, mit gemeſſenen Schritten
unter den Bäumen auf und ab. In der Ferne hinter
dem Kieferngebüſch, in welches der hochſtämmige
Nadelwald auslief, bemerkte man eine leichte Kaleſche,
vor der zwei muthige Hengſte ungeduldig den Sand
ſtampften.


Der Legationsrath ſprach ab und zu, wenn er
vorüber kam, ſeinen Secundanten an. Zuweilen ſchien
er in Gedanken verſunken ihn zu überſehen.


„Wie weit rechneten Sie die Gränze?“


„Wenn Ihre Pferde in geſtrecktem Gallopp auf
den Seitenwegen die zweite Station erreichen, ſind
Sie mit dem Poſtrelais morgen früh auf ſächſiſchem
Grund und Boden. Es iſt nur der fatale Sand.“


Der Fragende ſchien, während er die Antwort
hörte, den Gegenſtand ſchon vergeſſen zu haben:
„Wenn die Sonne hinter den Hochwald ſinkt, wer¬
den Sie die Poſition ändern müſſen, Vicomte.“


„Sein Sie unbeſorgt. Die Sonne wird getheilt.“


Der Spaziergänger war nach einer weitern Pro¬
menade wieder zurückgekehrt. Die Falten aus ſeinem
Geſicht waren verſchwunden, er ſchien ſogar zu lächeln,
als er an der ſchweren goldenen Kette die Uhr aus
der Hoſentaſche zog: „Die Uhren können differiren.
Ich vergaß meine nach der Academie zu ſtellen.“


„Auch iſt der Rittmeiſter ein pünktlicher Mann,
ſagte der Vicomte. Nur empfahl er Vorſicht. Lieber
Verſpätung, als was Verdacht erregen kann.“


„Ich hoffe doch nicht, ſagte Wandel, und ſein
[254] Auge blitzte, daß unſrer Seits etwas verſehen iſt!
Die Polizei hat Luchsaugen.“


„Verlaſſen Sie ſich auf mich und den Rittmeiſter.
Ihm iſt's ein Vergnügen und mir auch.“


„Sie ſollten ſich in Ihrer Vergnügungsluſt etwas
moderiren, Vicomte, ſprach leiſer der Legationsrath
mit einem halb vertraulichen, halb ſtrafenden Tone.
Man hat hier andre Anſichten als in Paris.“


„Pah!“


„Und Sie würden nicht immer Jemand finden,
der Sie aus ſolchen delicaten Verwicklungen heraus¬
reißt.“


„Thut es Ihnen etwa leid?“


„Mir thut nie etwas leid, was ich gethan.“


„Dann ſoll es mir auch nicht leid thun, daß ich
Ihnen aus Dankbarkeit ſecundire.“


„Bereueten Sie es ſchon?“


„Halb und halb. — Nur aus Zärtlichkeit für
meinen Chef.“


„Laforeſt hat viel Aufmerkſamkeit für mich.“


„Weil er Sie fürchtet.“


„Fürchtet er mich wirklich?“


„Er fürchtet, was er nicht kennt.“


„Aber den Vicomte Marvilliers de la Motte Calvy
fürchtet er doch nicht?“


„Was er nicht hat, macht ihn verdrießlich, und
was er nie erwerben kann, biſſig.“


„Die adligen Familien tauchen wieder auf am
Hofe Ihres Kaiſers. Er wünſcht ſeinen neuen Thron
[255] mit alten Namen zu decoriren. Es wird manches
wieder oben ſchwimmen, was man auf immer im
Abgrund verſunken glaubte.“


Vive la bagatelle! rief der muntre Franzos. Es
iſt immer beſſer, als vive la canaille! Tant mieux,
wenn er das Alte wieder vorzieht. Alles, nur nicht
die alten Frauen!“


Herr von Wandel zog wieder die Uhr: „Ich
kann mir das Unbehagen eines ſo ausgezeichneten
Diplomaten, wie Herr von Laforeſt, denken, wenn
man ihm junge Männer attachirt, die er für Kund¬
ſchafter ſeiner Rivalen hält, vielleicht ſelbſt ſchon für
künftige Rivalen, denn in der Diplomatie tritt der
alte Adel unbedingt wieder in ſeine vorigen Rechte.
Da würde es mir doppelt leid thun, Vicomte, wenn
Ihre Gefälligkeit gegen mich ſein Mißtrauen aufs
Neue anregte. Doch läßt er Sie wohl ohnedies ſeine
wichtigern Depeſchen nicht chiffriren.“


Der junge Mann ſah auf: „Meine Finger ſind
noch ſtumpf von dem Figurenmachen.“


„Die Antwort, die Hardenberg an Duroc er¬
theilte, kann ihm unmöglich ſchon bekannt ſein.“


„Ich will ſie Ihnen auswendig ſagen: Preußen
werde unwandelbar bei ſeinen bisherigen Grundſätzen
verharren und treu ſeinem Programm: die Ruhe des
nördlichen Deutſchlands wahrzunehmen und zu ſchützen
wiſſen. Duroc zieht mit einer langen Naſe ab, wenn
er Ihren König zu überreden meinte, daß er mit
ſeinen Truppen wieder in Hannover einrücke, um
[256] es für uns gegen die Alliirten in Schutz zu neh¬
men.“


„Es iſt nicht mein König,“ ſagte Wandel
kurz.“


„Und daß Preußen, fuhr der Attaché fort,
rüſtet.“


Wenn auf Wandels Geſicht einige Verwunderung
ſich ausgeſprochen, ging ſie in einen ſarkaſtiſchen Zug
über: „Preußen rüſtet gegen Frankreich! Ei, ei, Herr
Vicomte, Sie geben uns überraſchende Aufſchlüſſe!“
„Nur für ſich. Achtzig Tauſend Mann zur be¬
waffneten Neutralität.“


„Man weiß doch, entgegnete Wandel, daß Ge¬
neral Buxhövden hier iſt, um für die ruſſiſche Armee
einen Durchzug durch Schleſien zu fordern.“


„Ja, in dieſem Augenblick kann er wohl noch hier
ſein,“ ſagte ſchlau der Attaché.


„Und — “


„Und er hat gewiß, wie wir Alle, geglaubt,
die Regierung wäre ſo ſchwach oder franzoſenfeindlich,
oder dämlich, daß es nur eines Anſtoßes bedürfe, um
ſie zu zwingen, ſich öffentlich gegen Napoleon zu er¬
klären. Er hat auch angeſtoßen —“


„Und es hat eine Dröhnung gegeben.“


„Man will nicht dämlich ſein, nicht abſolut fran¬
zoſenfeindlich, nicht eingeſtandnermaßen ſchwach und
keine officielle Gliederpuppe, man empfindet die Krän¬
kung, und übermorgen bricht die Armee nach der
Weichſel auf, um den Ruſſen die Zähne zu weiſen.“


[257]

Der Legationsrath hatte hier offenbar Dinge
erfahren, die ihn überraſchten, die neueſten Neuig¬
keiten des heutigen Mittags. Wenn er die Ueber¬
raſchung auf ſeinem Geſichte verrieth, ſo merkte we¬
nigſtens der Attaché nichts davon, und es ſtellte ſich
auf dem eiſernen Geſichte das feine Lächeln der
Ueberlegenheit wieder ein, wie des Meiſters der
einen Schüler auf die Probe geſtellt hat, als er in
gleichgültigem Tone ſagte:


„Die Feldkeſſel wurden beim Gouverneur ſchon
gepackt, als ich vorhin anſprach. Das wird keine
ernſte Campagne werden. Die Anſichten, welche in
der geſtrigen Miniſterconferenz ſiegten —“


„Kennen wir!“ unterbrach der Attaché.


„Ich zweifle nicht an der Divinationsgabe des
Herrn von Laforeſt. Indeſſen ſind hier Viele ſo
glücklich dieſe Anſichten im Allgemeinen zu kennen.“


„Und wir im Beſondern. — Was ſehn Sie
mich ſo verwundert an, Herr von Wandel? — Ich
meine das Circularſchreiben an die Geſandtſchaften
nach Wien und Petersburg.“


Es war in der That ein ſo ſkeptiſcher Blick,
de haut en bas, wie ein Duellant ſeinen Secundanten
nicht anzuſehn pflegt, als der Legationsrath die Hand
auf die Schulter des Vicomte legend, ſprach: „Ja,
Herr von Marvilliers, die diplomatiſche iſt eine an¬
genehme Carriere für einen Anfänger, wenn man
uns nur nicht immer die Broſamen vom Tiſche als
Geheimniſſe aufpackte. Wenn Ihr Geſandter eine
II. 17[258] Copie dieſer Rundſchrift ſich zu verſchaffen gewußt
hat, ſo verſichre ich Sie, er chiffrirt ſie ſelbſt um
Mitternacht bei verſchloſſenen Thüren und in Cha¬
racteren, wozu — kaum Talleyrand den Schlüſſel hat.“


Der Attaché fühlte ſich gar nicht angenehm durch
die Armauflegung des Legationsrathes berührt. Mit
einer raſchen Bewegung hatte er die Brieftaſche aus
der Bruſt geriſſen und ſich zugleich des Armes ent¬
ledigt, zu deſſen Stütze er keinen Beruf fühlte. „Hier
hören Sie! Er las von einem Papier:


„„Sie werden bemerklich zu machen haben,
Preußen ſei von Frankreich noch nicht beleidigt, im
Gegentheil bei der Theilung Deutſchlands gut bedacht
worden. Warum ſolle man einen Krieg beginnen,
nicht für ſich, ſondern für andere? Die Verbindung,
werden Sie einfließen laſſen, mit Oeſtreich und Ru߬
land habe Preußen nie Segen gebracht. Sollte es
vom Rhein her angegriffen werden, finde es in ſeinem
eigenen, unüberwundenen Heere hinlängliche Verthei¬
digungsmittel. Schön ſei es allerdings für Freunde
zu kämpfen, und wenn man für Freunde, ſo kämpfe
man für ſich ſelbſt; nur ſei es Schade, daß Niemand
in Deutſchland ſo recht wiſſe, wer Freund und Feind
ſei? Und wer danke uns denn unſre Erhebung?
Vielmehr fordere Klugheit und Gerechtigkeit: Zurück¬
ziehen in ſich und Beobachtung ſtrenger Unparteilich¬
keit. — Die Demonſtrationen, die wir machen werden,
ſeien nur beſtimmt, um die Stimmung im Volk zu
beſchwichtigen. Hannover würden wir nicht beſetzen,
[259] aber keinen Durchmarſch der vom König von Schweden
in Stralſund geſammelten Truppen geſtatten, auch
nicht den Durchmarſch der Völker Seiner Majeſtät
des Kaiſers von Rußland durch Schleſien, um Oeſt¬
reich Hülfe zu bringen, und ebenſowenig den von
Truppen des franzöſiſchen Kaiſers durch welche Pro¬
vinzen unſres Staates es ſei, um einen Angriff gegen
die Staaten Seiner Majeſtät des Kaiſers von Oeſt¬
reich zu effectuiren, wir würden vielmehr jedes Unter¬
nehmen der Art als casus belli betrachten, getreu
dem ſo lange bewährten Grundſatz unſeres Staates,
unſre Unterthanen vor jeder Unruhe, von innen wie
von außen zu bewahren.““


„Ich habe es ſelbſt chiffrirt,“ ſetzte der Vicomte
hinzu, das Papier wieder einſteckend. Die triumphi¬
rende Miene des jungen Mannes verzog ſich als er
das lauernde Geſicht des Legationsrathes ſah, der
mit angeſtrengter Aufmerkſamkeit, das Auge halb zu,
das Ohr vorgebeugt, hingehorcht hatte. Er hatte
ſich induciren laſſen. Wandel hatte indeß ebenſo
ſchnell ſein Geſicht in die gewohnten Formen zurück
gezwängt, und auch er zog die Brieftaſche heraus,
hielt ſie vors Auge und las — faſt wörtlich daſſelbe,
was der Vicomte geleſen. Gleichgültig ſchloß er nach
dem letzten Worte den Stahldrücker und ſteckte das
Etui in die Bruſttaſche:


„Ich wollte Ihnen nur zeigen, daß es auch
andre Quellen giebt, um aus den preußiſchen Staats¬
geheimniſſen zu ſchöpfen. — Nun aber wünſchte ich
17*[260] wahrhaftig, daß die Herren ſich beeilten. Ich hatte
mir mit dem Engliſchen Geſandten ein Rendezvous
in der Oper gegeben.“


Er wandte dem Secundanten den Rücken, um
mit raſchen Schritten wieder einen Streifzug durch
die Bäume zu machen. Er hatte Grund gehabt,
raſch die Brieftaſche zu ſchließen, denn wenn der
Attaché einen Blick hinein gethan, würde er nur ein
leeres Blatt geſehen haben. Wandel las aus der
Luft; vermöge ſeines außerordentlichen Gedächtniſſes
konnte er den kaum aus dem Munde des Attaché
vernommenen Brief faſt Wort für Wort recitiren.


Der Vicomte blies die Melodie eines neueſten
Chanſons in die Luft, nicht ganz mit ſich zufrieden,
als der Legationsrath auch unzufrieden zurückkehrte,
und verſicherte, daß er auch von der Höhe, wo man
die Straße überſieht, keinen Staub entdeckt habe:
„Wenn Sie ſich geirrt hätten, Vicomte! Man kann
ſich in dieſen Kiefernwäldern, wo die Ausgänge ſich
ſo frappant ähnlich ſehen, leicht täuſchen! Wenn die
Herren an einer andern Seite des Grunewalds auf¬
geſtellt wären, und uns dort eben ſo ſehnſüchtig er¬
warteten, als wir ſie hier!“


Der Attaché verſicherte, daß er ſich beim heutigen
Morgenritt mit dem Rittmeiſter genau orientirt habe.
Er wies auf einen aus der Rinde des Baumes aus¬
gehauenen Spahn. Um die Stelle genau zu be¬
zeichnen, hatte der Officier mit ſeinem Pallaſch vom
Pferde herab die Marke gemacht. Er wies auf eine
[261] Reihe von Bäumen, an denen daſſelbe Zeichen ſich
fand.


„Ich denke ſo ungern Uebles von meinen Geg¬
nern“ ſprach der Legationsrath nach einer Weile vor
ſich hin.


Der Attaché ſummte ſein Lied fort und lud dabei
eine Piſtole.


„Was wollen Sie thun, Marvilliers?“


„Die Krähe da vom Aſt putzen.“


„Warum?“


„Mich zu amüſiren.“


„Verzeihung, wenn meine Meditationen Sie
langweilen. Indeſſen wer mit einem Schritt am
Rande der Ewigkeit ſteht —“


Der Franzos lachte auf: „Würde nicht zuſchnap¬
pen wie ein Hayfiſch nach einer politiſchen Neuigkeit,
die er auf der Stelle gern an den Mann brächte,
oder richtiger geſagt an eine Dame. Denn zu ma¬
dame la conseillère
in der Jägerſtraße reiten Sie
doch gewiß, wenn die Affaire hier beendet, auf Flü¬
geln der Liebe.“


„Herr Vicomte!“


„Ich ſoll mich doch nicht durch die Hengſte da
täuſchen laſſen! Sie denken nicht nach Sachſen, Sie
denken nicht zu ſterben. Sie wollen leben bleiben,
hier bleiben, und ſich amüſiren.“


„Ich habe allerdings, wie ich Ihnen ſagte, das
Präſentiment, daß ich von ſeiner Kugel nicht fallen
werde.“


[262]

„Solche Präſentiments in Ehren, aber was
Ihren Geſchmack anbetrifft —“


„Mein Herr!“


„Sie wollen doch nicht mit mir eine Kugel
wechſeln! Da Sie das Präſentiment haben, leben
zu bleiben, müßte ich fallen, und wenn ich fiele,
was würde aus den Liebesbriefen, die ich zu be¬
ſtellen habe, aus den Seufzern, die ich affectiren,
aus den Vermummungen und Händedrücken, die ich
am ſtillen Abend effectuiren ſoll? Parbleu, Herr
von Wandel, wiſſen Sie, daß Sie mir einen Cri¬
minalprozeß auf die Schultern laden? Das wird
ja eine Halsbandgeſchichte. Wie die La Mothe
können Sie mich an den Pranger ſtellen. Solche
Comödienfarcen en vue und ich ſoll glauben, daß
Sie an den Rand der Ewigkeit denken!“


Ce ne sont que des services d'amitié. Nichts
von Eigennutz.“


„Eigennutz, ein abſcheuliches Wort, wo wir nur
des intérêts kennen. Von Intereſſen und Nutznießung
iſt die Rede, est-ce qu'on parle d'un mariage —!
Und warum einem Fremden, dem Rittmeiſter, ein
Glück aufdringen, und mit dreifacher Anſtrengung,
was Sie mit halber Anſtrengung ſelbſt genießen
könnten! Und eine beauté sans pareille pour
s'amuser
, und ein Leierkaſten, den man nur zu ſtimmen
braucht, und er flötet Liebeslieder, wie Sie wollen,
von Dur bis Moll. Warum denn nun für einen Dritten
ihn ſtimmen! Ein Götterſpaß, ein ſolches Weib für
[263] ſich ſchmachten laſſen, nachlaufen, unſre Schulden be¬
zahlen; um einen freundlichen Blick abzuſtehlen, in
Schleier und Enveloppe auf unſre Stube ſchleichen,
um ſich zu erkundigen, warum wir uns ſo lange
nicht ſehen ließen, ob wir unpäßlich ſind, grollen?
Denken Sie ſich, ſie zündet Ihnen die Pfeife an.
Iſt das nicht auch für die Phantaſie eines Deutſchen
ein entzückender Gedanke!“


„Iſt das ſchon die Libertinage Ihres neuen
Hofes!“


„Alt wie die Welt iſt das Vergnügen. Etwas
jünger vielleicht die Kunſt, es ſich ſo pikant zu machen,
als möglich.“


Der Legationsrath nahm ihm mit einer ent¬
ſchiedenen Bewegung die Piſtole aus der Hand:
„Schießen Sie nicht nach Krähen, wo es eines Men¬
ſchen Leben gilt. Vicomte, ein guter Jäger ſchießt
nur auf ein beſtimmtes Ziel, Dilettanten feuern auch
nach Sperlingen. — Halt! ſie kommen.“


Um die Waldecke flogen Staubwirbel auf. Ein
Reiter ſprengte in geſtrecktem Galopp heran. Er
winkte ihnen ſchon von fern.


„Das iſt nicht der Rittmeiſter; er iſt in
Civil.“ —


„Wenn ich recht ſehe, ſprach Wandel, ſein Neffe,
der Cornet.“


„Machen Sie ſich aus dem Staube, meine Herren!
rief der Reiter. Wir ſind abgefaßt. Schon vor'm
Jagdſchloß. Alles verrathen.“


[264]

„Ich fliehe nicht.“


„Wie es Ihnen beliebt. Bovillard wird nach
der Stadt gebracht. Ich fürchte mein Oheim auch.
Ich ſchwenkte, ehe ſie mich erkannt, um Sie zu
avertiren.“


Der Vicomte ſah den Legationsrath fragend
an, als der Reiter bereits in der Schonung ver¬
ſchwand.


„Packen Sie die Piſtolen ein, wenn's Ihnen
beliebt, wir fahren —“


„Nach Sachſen?“


„Nach der Stadt. Dem Schickſal, das meinen
Gegner trifft, werde ich mich nicht entziehen.“


„Das kann eine lange Verhaftung nach ſich
ziehen; je nachdem —“


„Sie ſind frei, Herr Vicomte. Ich überliefre
mich der Behörde.“


Der Wagen war noch nicht vorgefahren, als
eine andre leichte Jagdchaiſe heran rollte. Der Ritt¬
meiſter ſprang heraus, ein Zeuge und ein Wundarzt
folgten.


Man erfuhr, was eigentlich keiner Verſtändigung
mehr bedürfte. „Aufgeſchoben iſt nicht aufgehoben,
tröſtete der Rittmeiſter. Und wozu hilft eine Unter¬
ſuchung, mein Herr, auf die Sie dringen, wer eine
Unbeſonnenheit und gar einen Verrath beging. Die
Polizei giebt ihre Quellen nicht an.“


„Aber wie begnügte man ſich damit, den einen
Duellanten zu verhaften, warum ſuchte man nicht
[265] den andern? Verdanke ich das etwa Ihrer Güte,
mein Herr Rittmeiſter?“


„Nur Ihrer eigenen Poſition, ſagte der Ritt¬
meiſter ſich officiös verbeugend. Wir wußten ja
nicht, mit wem wir die Ehre hatten. — Ausdrücklich
iſt Herr von Bovillard verhaftet worden, weil er ſich
einer Thätlichkeit und Herausforderung gegen eine
diplomatiſche Perſon zu Schulden kommen laſſen,
welche in expreſſen Angelegenheiten ihres Souverains
in Berlin war. Wegen Verletzung des Völker¬
rechts.“


Der Attaché ſah verwundert auf ſeinen Be¬
gleiter, während der Rittmeiſter ein höhniſches Lächeln
kaum unterdrücken konnte.“


„Wäre es möglich, rief Herr von Wandel, leicht
an die Stirn ſchlagend. Ich bin allerdings auch
hier ſo zu ſagen im Character eines Envoyé, um die
Beſchleunigung einer Prozeßangelegenheit zu ver¬
ſuchen. Indeß wer konnte das wiſſen, und die ganze
Sache iſt ja eine Bagatelle. Der Fürſt —“


„Von Bentheim-Schlotz-Baben-Oberſtein,“ ſagte
der Rittmeiſter.


„Der zu mediatiſiren vergeſſen ward! lachte
Herr von Marvilliers auf. Was hat denn der
hier für Geſchäfte, wenn er nicht inzwiſchen mediati¬
ſirt iſt!“


„Das ſind die diplomatiſchen Geheimniſſe Ihres
Freundes, in die wir kein Recht haben, einzudringen,
ſagte der Rittmeiſter. Die indeß unſerem Freunde
[266] einige Wochen Haft koſten werden. Was man nicht
alles der Diplomatie verdankt!“ ſetzte er hinzu, auf
den Wagen ſpringend.


Beim Heimwege war der Legationsrath ver¬
ſtimmt. Der Attaché konnte es nicht unterlaſſen, ihn
als Collegen zu railliren. Er hatte herausgebracht,
daß die Angelegenheit des Fürſten von Bentheim-
Schlotz-Baben-Oberſtein keine andre ſein könne, als
der Erlaß der Tranſitoſteuer wegen tauſend Kruken
Schlotz-Baben-Oberſteiner Mineralwaſſer, welche bei
der Acciſe mit Beſchlag belegt worden, zu erwirken.
Wer aber konnte ſich für das Mineralwaſſer und die
unangetaſtete Ehre ſeines Regocianten ſo lebhaft
intereſſiren, daß er, um zu retten, das Duell der
Polizei denuncirte — wer anders als die Geheim¬
räthin Lupinus.


„Sie haben ganz recht, ſagte der Legationsrath,
als er auf dem Gensd'armenmarkt halten ließ und
ausſtieg, ich gehe auch eben, um ihr zu danken, oder
zu zürnen.“


Aber der Legationsrath bog nur ſcheinbar in die
Jägerſtraße ein, als der Wagen weiter rollte. Er
eilte raſch um die Ecke und durch die Markgrafen¬
ſtraße nach den Linden, wo er im Hotel der Fürſtin
Gargazin verſchwand.


Die Fürſtin ſchrieb an ihrem Secretair an
mehren Briefen, für welche die Boten warteten.
Niemand ſollte gemeldet werden, der Legationsrath
ward aber dennoch durch einen vertrauten Kammer¬
[267] diener die Hintertreppe heraufgelaſſen und ſogleich
empfangen.


Sie hatten ein langes Zwiegeſpräch. Die Fürſtin
ſchrieb, was Wandel dictirte: „Das Uebrige war mir
ſchon heut Nachmittag bekannt, ſagte ſie. Buxhövden
iſt fort, aber die Depeſche wird ihn überholen. Wir
ſind alſo für heute quitt.“ Beim Abſchied drückte er
ihre Hand an die Lippen, und verſchwand auf dem
Wege, den er gekommen.

[[268]]

Funfzehtes Kapitel.
Gehn ſie nach Karlsbad.

„Ruhe!“ ſagte der Miniſter.


Ein andrer als der, welchen wir in ſeinem Tus¬
culum geſehen. — Trug der hohe ſtattliche Mann auch
nicht Stern und Ordensband, ſo gehörten ſie doch
zu dieſer Miene, dieſer Friſur, dieſer Geſtalt, wie
dazu geboren. Das Wort Ruhe, das er zum Ge¬
heimrath Bovillard geſprochen, paßte ebenſo zu der
ganzen Erſcheinung des im Vollgefühl ſeiner Würde
aufrecht daſtehenden Mannes, ein König in ſeinem
Zimmer.


Bovillard lehnte ſich, den Hut in der Hand, in
die Fenſterbrüſtung. Er war, im Gehen begriffen,
nur noch durch eine Wendung des Geſpräches zurück¬
gehalten. Am Tiſche blätterte der Rath von Fuchſius
in einer der aufliegenden Druckſchriften, die er ſpäter
in die Taſche ſteckte.


„Die Oeſtreicher concentriren ſich zwiſchen Ulm
und Memmingen, ſagte er, durch eine Bemerkung
im Geſpräch der beiden dazu aufgefordert Nach den
[269] letzten Nachrichten aber nicht in einer Stärke; um
einen Angriff wagen zu können. Sie warten offen¬
bar auf Kutuſow und die Ruſſen, die von der Donau
her kommen ſollen —“


„Wenn Napoleon ihnen Zeit läßt,“ fiel Bovil¬
lard ein.


„Wenn wir Kutuſow durch Schleſien laſſen,“
ſagte der Miniſter.


„Das ſoll nun freilich jetzt nicht geſchehen,“
warf der Geheimrath hin.


„Buxhövden iſt eben ſo unverrichteter Dinge
abgereiſt wie vor ihm Duroc.“


„Wir nehmen wirklich die Miene einer reſpec¬
tablen Selbſtſtändigkeit an,“ bemerkte der Rath.


„Sie meinen, weil wir Alle vor den Kopf ſtoßen,
und keinen zum Freunde behalten.“


„Ei, Herr von Bovillard, von Ihnen das!
ſagte der Miniſter. Iſt das jetzt auch Lombards
Meinung? — Haugwitz war freilich beim Lhombre
neulich ganz conſternirt. Aber er leidet am Magen.“


„Excellenz, ich muß geſtehen, die Sachen wachſen
mir über den Kopf. Eine Bewegung wie eine Völker¬
wanderung. Und wir ſo ganz allein in der Mitte!“


„Sollen wir darum auch wandern!“


„Napoleon läßt ſeine Truppen von Boulogne,
vom Rhein heranrücken. Marmont führt ſein Corps
von Mainz her, Wrede eins von der obern Donau,
Davouſt aus Schwaben. Das iſt genug um die
Oeſtreicher zu erdrücken. Und nach Allem, was man
[270] aus Paris ſchreibt, genügt es ihm diesmal nicht,
ſeinen Feind zu ſchlagen, er will ihn vernichten. Sie
ſtudirten vorhin die Karte, ſind Sie nicht der An¬
ſicht, Herr von Fuchſius?“


„Wenn die Ruſſen nicht zu ihm ſtoßen, ſei
Mack geliefert, war Herrn von Eiſenhauchs Meinung.
Napoleon développirt Kräfte wie nirgend zuvor.“


„Kann er nicht,“ warf der Miniſter ein.


„Wer hindert ihn?“


„Wir. Bernadotte ſteht mit Hunderttauſend in
Hannover. Laſſen wir ihn nicht durch, ſo iſt Bona¬
parte ohne ihn nicht ſtärker als die Oeſtreicher.“


„Und wenn er nun doch ſtärker wäre!“ rief
Bovillard.


„So laßt ſie ſich die Köpfe zerſchlagen. Wir
haben Profit tout clair.“


„Excellenz, warum mußte Durocs Antrag ſo
hochmüthig zurückgewieſen werden? Er ließ ſich an¬
hören. Wenn wir Hannover für ihn beſetzt, ſo zog
Napoleon ſeine Truppen heraus. Für wen wir es
beſetzten, blieb der Zukunft zu entſcheiden. Einſtweilen
hatten wir das ganze nördliche Deutſchland damit in
Händen, wir nahmen eine reſpectable Poſition ein.
In der konnten wir allerdings zuſehen, wie Excellenz
mit Recht bemerken und konnten auch lachen, wenn
ſie ſich die Köpfe zerſchlugen. Können wir das jetzt
noch, nach dem wir Napoleon durch unſre Weigerung
erzürnt? Nachdem wir Tête gegen Rußland an der
Weichſel, und auch gegen ihn in Anſpach und Bai¬
[271] reuth machen? Wenn er ſiegt, wie wird er's uns
gedenken? Wenn die Alliirten ſiegen, wie werden ſie
uns Buxhövdens Abweiſung nachtragen?“


Der Miniſter ſagte lächelnd: „Bernadotte laſſen
wir nicht durch Franken und Kutuſow nicht durch
Schleſien. Voilà, das hebt ſich, und wir bleiben im
Equilibrium.“


Man ſchwieg.


„Wozu ſich Sorgen machen, mein Herr Ge¬
heimrath? Haben Dinge genug, die uns kümmern“


„Wenn aber Napoleon unſre Neutralität nicht
reſpectirte!“


„Laſſen wir die Ruſſen durch. Sie ſind doch
ſonſt ein ſo ruhiger Mann. Alteriren Sie die Vor¬
würfe, die man Herrn Lombard macht? Oder küm¬
mert Sie Ihr Sohn? Das iſt ja nun auch abge¬
macht.“


„Ich weiß nicht, Excellenz, es iſt mir zuweilen
wie in einer Gewitterluft.“


„Gehn Sie nach Karlsbad, ſag ich Ihnen. Hilft
von Allem. Pure Hypochondrie.“


„Ich muß geſtehen, daß ich ſonſt nicht zur,
Hypochondrie neige. Indeſſen dieſe Stimmen im
Publicum —“


„Da höre ich nie drauf. Iſt reine Magenver¬
ſtimmung. Sprechen Sie doch mit Hufeland.“


„Lombard, das gebe ich zu, — in vertrauten
Stunden giebt er es ſelbſt zu, — hat ſich durch Na¬
poleons enchantirendes Weſen, ich will nicht ſagen,
[272] beſtechen laſſen, aber, er hat mit zu günſtiger Stim¬
mung für ſeine Perſönlichkeit die Dinge betrachtet.
Napoleon iſt undurchdringlich, er iſt auch gefährlich.
Mein Gott, wer leugnet das! Jetzt nun überall dieſe
Stimme hören, dieſe Blicke ertragen zu müſſen, als
wären wir an alle dem ſchuld, was ſich nicht än¬
dern ließ!“


„Was iſt's denn, mon ami! Werden die Inte¬
reſſen der Pfandbriefe nicht mehr gezahlt? Iſt Hungers¬
noth? Die Weber in Schleſien fangen an etwas zu
lamentiren. Können wir dafür, daß ſie nicht mehr
mit Ducaten Kegel ſchieben? Es geht ja ſonſt bei
uns alles in ſeinem Geleiſe fort.“


„Und mir iſt, als drehte ſich Alles im Wirbel.“


„Gehn Sie nach Karlsbad. Zwei Becher Sprudel
täglich, nachher drei. Drei Wochen lang. Iſt alles
vorbei, iſt alles nur Imagination.“


„Excellenz mögen recht haben, ſagte Bovillard,
ſich zum Gehen anſchickend. Nochmals meinen Dank,
daß Sie ſich meines fils perdu angenommen.“


„Nicht der Rede werth. Aber, wie geſagt, fort
muß er, wenn er abgeſeſſen hat. Leidet auch an
Imaginationen. Die Reden, die er führt, ſollen
ja execrabel ſein.“


„Er hat ſie nicht von mir.“


Assurément! Aber eben darum. Iſt für Sie
ſelbſt am beſten.“


„Gewiß! Aber wie?“


„Ihr Herr Sohn, ſagte Fuchſius, benimmt ſich
[273] diesmal weit gefaßter im Gefängniß, ja er hat ſelbſt
erklärt, es wäre ihm lieb, Berlin und Preußen auf
immer zu verlaſſen.“


„Charmant! ſagte der Geheimrath. Aber wo¬
hin? Wenn wir Colonien hätten!“


„Wenn wir die hätten! ſagte der Miniſter und
legte ſeufzend ſeine Hand auf Bovillards Schulter.
Dann wäre vieles beſſer. Das waren die Herren
von der Theorie unter den vorigen Königen! Ge¬
ſtehn Sie mir, Geheimrath, iſt das ein kluger Staats¬
mann, der eine Domaine, weil ſie nur Tauſend ein¬
bringt und er hoffte 'ne Million, der ſie darum für
'nen Spottpreis fortgiebt! Brauchten wir unſer Korn,
Holz den Engländern zu verkaufen, uns von ihnen
Preiſe machen laſſen? Müßten wir noch von ihren
Colonialwaaren nehmen? Hätten wir Noth, wo
unſre ſchleſiſche Leinwand laſſen? Brauchten wir
Rußland zu bitten, wie neulich, unſere incorrigiblen
Verbrecher nach Sibirien zu ſchaffen! Colonien, Herr
Geheimrath, und wir ſchafften unſre Verbrecher hin,
unſre Rohproducte, unſre Fabrikwaare, Ihren Herrn
Sohn auch, wir machten allein die Preiſe, und die Colo¬
niſten müßten kaufen und bezahlen. Wenn das wäre,
könnten wir doppelt lachen über die Calamitäten um
uns her; wir können es aber auch ſo. Sie ſchlagen
ſich, plündern, brennen, verwüſten, und wir cultivi¬
ren unſer Land, protegiren unſre Fabriken. Dann
halten wir Markt und machen auch die Preiſe. Wie
ſteigen jetzt ſchon unſre Güter mit den Friedens¬
II. 18[274] ausſichten! Wiſſen Sie, was man mir für Schöneichen
geboten hat? — Der van Aſten in der Spandauer¬
ſtraße möchte es gern. Will das Holz ſchlagen laſſen,
Brettermühlen anlegen; aber ich laſſe es ihm nicht.
A propos — der Miniſter zog den Geheimrath bei
Seite und ſprach leiſer — kennen Sie den van Aſten?“


„Er gilt für einen ſehr reſpectablen Mann.“


„Ja, ja, aber das intus! Er hat viel in fran¬
zöſiſchen Weinen gemacht. Seit dem Lager von Bou¬
logne iſt das Holz in Frankreich theuer. Will nun
in Brettern hinmachen und in Wein retour. Entre
nous ſoit dit
, warum ſoll man den Vortheil nicht
mitnehmen! Warum ſoll ich nicht ſelbſt mein Holz
zu Brettern und die Bretter zu Geld machen, oder
auch Wein. Wein im Keller iſt baares Geld.“


„Und der Wein aus Excellenz Kellern unter
Freunden doppeltes Geld werth.“


„Alſo Sie meinen, man kann ihm trauen?
Aber Schöneichen laß ich ihm jetzt nicht. Wiſſen
Sie, wie hoch es der Legationsrath taxirt?“


„Herr von Wandel iſt ein Kenner.“


„Hat mir Mergellagerungen nachgewieſen, an
die kein Menſch gedacht. Hat ſich auch ſehr nobel
bewieſen gegen Ihren Sohn, ſeine ſogenannte di¬
plomatiſche Qualité ganz desavouirt.“


„Von einem ſo edel geſinnten Manne konnte ich
es erwarten.“


„Er meinte, ob man Ihren Sohn nicht auf
eine ſchonende Weiſe, etwa durch einen Courierritt
[275] nach Petersburg oder Madrid entfernen könnte?
Was meinen Sie dazu? Können's ja mit Lombard
abmachen.“


„Ich will darüber nachdenken.“


„Reiten iſt ſehr gut. Treibt auch das finſtre
Blut aus. Sollten auch reiten, Geheimrath, Ihr
Embonpoint — aber beſſer, wie geſagt, iſt Karlsbad.
— Haben Sie ſolche Eile?“


„Zu Herrn von Wandel, dem ich noch meinen
Dank ſchulde. Man trifft ihn ſo ſelten zu Hauſe.“


„Verſchließt ſich auch viel in ſeinem Laboratoire.“


„Oder bei der Lupinus,“ lächelte Bovillard.


„Inclination!“


„Wer hätte das denken ſollen!“


De gustibus — wiſſen Sie. Ueberhaupt, was
der Mann präſtiren kann! Sagt mir der Präſident
vom Pupillencollegium, tagelang ſitzt er in der
Regiſtratur ohne Refraichement.“


„Was macht er denn da?“


„Lieſt die Akten durch. Ich hab ihn empfohlen.“


„Wozu die Pupillenakten?“


„Was der Mann ſich für Agricultur intereſſirt!“


„Der Grund und Boden der märkiſchen Güter
iſt doch nicht in den Pupillenakten verzeichnet.“


„Er findet Ihnen im kleinſten Umſtand Ren¬
ſeignements. Sie glauben nicht, wie merveillös er
im Diviniren iſt. Aus einer Gutsrechnung, was an
Gerſte, Korn, Waizen gewonnen iſt, zu welchen
Preiſen das Holz fortging, wie viel Torf geſtochen
18 *[276] iſt, daraus macht er Schlüſſe, zum Etonnement. Sein
Kopf iſt voll Verbeſſerungspläne für unſere Land¬
wirthſchaft.“


„Um ſo mehr zu bedauern, daß Haugwitz einen
Degout gegen ihn hat. Was könnte er im Staats¬
dienſt nützen!“


„Hat er denn Gout dafür?“


„Der kommt von ſelbſt, wenn man unter Mi¬
niſtern wie Excellenz arbeitet.“


„Ich äſtimire ihn ſehr. Hat geniale Gedanken,
zum Beiſpiel über Schaafzüchterei. Wie ich mich mit
meinen Bauern ſeparirt habe, das möchte er allen
Gutsbeſitzern zum Exempel hinſtellen. Hat mir eine
Rechnung aufgemacht, wie viel der Gutsherr eigent¬
lich Schaden hat bei den Frohndienſten. Ich ver¬
ſichre Sie, die Augen gingen mir über —“


„Vor Freude, daß Ihr Genie ein ſo glückliches
Arrangement getroffen. Die Bauern ſind gewiß auch
zufrieden. —“


„Sie wiſſen, wie Bauern ſind.“


„Aber das Publikum verehrt Excellenz als einen
Wohlthäter der unterdrückten Menſchenklaſſe, und als
der Staat für Ihre Verdienſte Ihnen Schöneichen
ſchenkte, hat er nicht daran gedacht, daß es ſo viel
mehr werth war, als Excellenz daraus gemacht. In
der Taxe, die Seiner Majeſtät damals vorgelegt
wurde, war es ja wohl nur geſchätzt auf —“


Der Miniſter unterbrach ihn: „Ich äſtimire,
wie geſagt, Herrn von Wandel ſehr, indeſſen —“


[277]

„Seine Relationen mit der franzöſiſchen Am¬
baſſade?“


„Was kümmert mich das! Möchte er den Tür¬
ken dienen oder wem draußen. Aber —“


„Haugwitzs Abneigung —“


„Kümmere ich mich um Haugwitzs äußere Af¬
fairen! Was braucht er von meinen inneren zu
wiſſen! Auch ſolche modernen Ideen! Jeder Mi¬
niſter trägt Seiner Majeſtät vor, oder läßt vortragen,
was er für nöthig hält, im übrigen Herr in ſeinem
Departement, und kümmert ſich nicht, was ein an¬
derer Miniſter will und denkt, oder nicht will und
nicht denkt, und wenn ich Jemand anſtelle, der Haug¬
witzs Pläne contrecarriren oder Luccheſini vergiften
wollte, das ginge doch nur mich an, ob ich einen
ſolchen Menſchen behalten will oder nicht. Alſo 's iſt
nicht um Haugwitz noch um irgend Jemand.“


„Dann wüßte ich in der That nichts, was man
Herrn von Wandel vorwerfen kann, als daß er keine
Dinés giebt. Gewiſſe Perſonen choquirt das aller¬
dings.“


„Er hat nicht von unten auf avancirt. Ver¬
ſtehen Sie mich wohl, was ich damit meine. Kann
das Hereingeblaſene nicht leiden. Der Pli muß durch
die Schule kommen. Es iſt mir nicht ſowohl um
die Examina, denn wäre er von guter, ich meine
von ſicherer Extraction, ſo — aber — die Familie
Wandel, ſie mag ſehr reſpectabel ſein, je n'en doute
pas,
indeſſen im Rüxner und in Kaiſer Caroli Land¬
[278] buch finden wir keinen Wandel. Comprenez-vous?
Wie geſagt ein genialiſcher Mann, ſehr unterrichtet,
generös — ich werde ihn Morgen zu Tiſch einladen.“


Die Einladung war die Entlaſſung, oder der
Wink zum Gehen für Bovillard.


An der Thüre winkte ihn noch ein A propos
zurück. Der Miniſter ging dem Rückkehrenden noch
um einige Schritte entgegen, und mit einem fauniſchen
Augenblinzeln flüſterte er in einem Tone, zwiſchen
Herablaſſung und Cordialität: „A propos, Herr Ge¬
heimrath haben ja wohl intereſſante Staatsconfe¬
renzen jetzt bei St. Real?“


„Verſtandesſpiele, Recreations in der Gewitter¬
ſchwüle,“ entgegnete Bovillard und war hinaus.


„Wer war denn das im Vorzimmer? fragte er,
als Fuchſius ihn noch im Flur des Hotels einholte.
Die Phyſiognomie muß ich ſchon geſehen haben.“


„Der Sohn des reichen Kaufmann van Aſten.“


„Der! — Iſt ja ein Genie. Was will der
beim Miniſter?“


Fuchſius zückte die Achſeln: „Was eigentlich, weiß
ich nicht. Vielleicht eine Anſtellung.“


Bovillard lachte: „Sehn Sie! Hab ich's Ihnen
nicht geſagt. Auch dieſe Genies kriechen zu Kreuz.
Wenn der Vater die Taſche zuhält, ſoll der Staat
ſie öffnen. Uebrigens iſt der Alte gar nicht ſo reich.
Ein Schrullenkopf auch.“


„Beim Sohn hat es doch vielleicht andre Gründe.“


„Lieber Rath, warum kriecht Jemand zu Kreuze?
[279] Nur weil die Noth ihn drückt. Das iſt das große
Geheimniß der Staaten, der Zauberſtab, womit die
freien Geiſter der Obrigkeit unterthan gemacht wer¬
den. Zu hungrig muß man ſie nicht werden laſſen,
dann beißen ſie, wie der beſte Hund, wenn der Herr
zu ſtark ſchlägt. Aber auch nicht zu ſatt; ſie beißen
dann aus Uebermuth. Wenn man nur immer mer¬
ken läßt, daß man das Seil zum Brodkorb in der
Hand hat, wedeln die biſſigſten Köter uns um die
Beine.“


„Ich möchte das bei dem jungen Mann bezwei¬
feln. Er kommt mit Ideen zum Miniſter.“


„Und will eine Anſtellung! Machen Sie Berlin
nicht zu einem Tollhauſe.“


„Der Einfluß des Herrn Fichte iſt doch vielleicht
größer, als der Staat denkt.“


„Der Staat denkt nicht, wir denken für ihn.
Herrn Fichte's Staat und Menſchheit liegt im Monde.
Das wäre für Preußen jetzt freilich eine charmante
Situation. — Was kann der junge van Aſten für
andre Gründe haben?“ ſetzte er im Hinausgehen
hinzu.


„Man ſpricht von einer Verlobung mit der Pflege¬
tochter der Lupinus.“


„Ah, der famoſen Schönheit! Nun, da wird der
junge Mann ſeine Fortune machen, wenn die Ge¬
heimräthin ſie adoptirt.“


„Man zweifelt, daß ſie dazu gewillt iſt.“


„Freilich, in dem Fall würden andre Freier
[280] zugegriffen haben. Nicht wahr, Herr von Fuchſius?
Eine reiche und ſchöne Frau iſt auch für den Staats¬
dienſt eine beſſere Mitgift, als der Fichte unterm
Kopfkiſſen. Dinés und eine brillante, geiſtreiche
Gemahlin, ich ſage Ihnen, das hilft in der Carriere.
Nun was nicht iſt, kommt wohl noch.“


Es ſei nicht Zeit zum Hochzeitszuge, wenn die
Gewitter am Himmel rollen, ſagte der Rath.


„Nun wozu iſt denn Zeit!“ rief der Geheimrath,
als er mit einem „Excusez, lieber Rath!“ dem Le¬
gationsrath, der um die Ecke trat, mit offenen Ar¬
men entgegen eilte.


„Dazu iſt Zeit! ſprach Fuchſius für ſich. Sich
wieder in den Schlamm zu werfen, um Seifenblaſen
in die Luft zu ſpritzen! Was klagen wir die Zeit an,
wenn die Menſchen ihre Wahrzeichen nicht verſtehen
wollen. Die arme Zeit, was ſoll ſie mit ſolchen
Menſchen!“


Im Weitergehen begegnete er dem Rittmeiſter,
der, in Gedanken verſunken, ihn nicht ſah. Der Rath
blickte ihm nach:


„Ob es nicht Pflicht wäre, dieſer Puppe den
Stahr zu ſtechen, daß er ſähe, an welchem Draht er
gezogen wird. Es iſt doch eine Natur in ihm!“


Er hatte es unwillkürlich halb laut geſprochen.
Der Major Eiſenhauch, der hinter ihm gekommen,
klopfte ihm auf die Schulter: „Laßt die Puppen noch
eine Weile nach der Drehorgel tanzen. Der Blitz
züngelt ſchon, der die Drähte ſchmelzen wird, alle
[281] mit einem Schlage. Dann laßt uns ſehen, was auf
den Reſonnanzboden fällt, was ſteht!“


„Ihre Augen glühen.“


„Die Wolken rollen; das Gewitter muß ſich
entladen. Abermaliger Aufſchub iſt unmöglich. Die
zuverläſſigſten Nachrichten, ſagte er leiſer und ſich
vorſichtig umblickend, kamen eben an. Napoleon
darf, kann, wird die Oeſtreicher an der Donau nicht
eher angreifen, als bis Bernadotte aus Hannover zu
ihm ſtößt. Er darf keinen Umweg nehmen, die Stunde
brennt, Napoleon muß ſchnell zuſchlagen, bevor die
Oeſtreicher ſich verſtärken; Bernadotte muß alſo durch
die fränkiſchen Lande, um zur Stunde zu kommen.
Wiſſen Sie, was es heißt, wenn Napoleon ſagt, es
muß ſein?“


„Wenn doch ein Menſch bei uns dies Muß
ausſpräche!“ ſtöhnte der Rath.


„Wo die Menſchen zu ſchwach ſind, donnern die
Umſtände. Er wird die Traktaten verletzen, er wird
durch preußiſches Gebiet brechen und wir —“


„Was werden wir thun?“


„Wenn noch ein Funke preußiſchen Muthes iſt,
zündet er und die Mine ſpringt. Sie zweifeln noch!
— Sie glauben, auch dieſen Hohn könne unſre Lang¬
muth dulden! Herr, ich ſchelte Sie einen Hochver¬
räther an ſich ſelbſt. Ich hoffe, auch Haugwitz läßt
ſeine Lhombrekarten fallen; auch Lombard blitzt es in
einem lichten Momente, daß er eine dupe war. Wer
nicht! Oder wäre der Nerv ſchon ausgezogen dieſem
[282] eiſernen Volke, Glanz und Elaſticität dieſem Herr¬
ſchergeſchlechte, jene Wunderkraft, die dies Reich aus
einem Nichts geſchaffen, wäre lungenkrank im letzten
Stadium!“


„Sei unſer Genius wach!“


„Und wir auf ſein Commando! Darauf kommt
es an.“


„Stein iſt feſt. Er wird auf Hardenbergs eben
ſo feſte Unterſtützung rechnen dürfen.“


„Keiner darf ruhen, wir alle müſſen einheizen,
ſchüren, jeder an ſeiner Stelle. Brandſtifter ſein wird
jetzt zur Tugend und Pflicht. Keine Parteimeinungen
mehr, Civil und Militair, die traurige Spaltung
muß verſchwinden. Die Prinzen unterſtützt! Die
Königin! Vor allem Prinz Louis! Die Regimenter
angejubelt auf der Parade beim Marſch. Haben wir
denn keine Kriegslieder, keine Dichter! Auf dem
Theater Stücke, die das Blut entzünden! Wozu ha¬
ben wir Federn, Papier, Druckerſchwärze, Zeitungen,
wenn ſie nur da ſind, um Räthſel und Anektoten zu
drucken. Das wäre das Mittel um Blitze —“


„Sie vergeſſen —“


„Die für die Gebildeten ſchreiben! Ins Volk
die Blitze geſchleudert! Das gilt es. Haß, Grimm
muß die Maſſen durchwühlen, die Rachewuth zum
Opfermuth werden. Erfinde man Gräuelgeſchichten,
wenn die wirklichen noch nicht zünden vom Franzoſen¬
übermuth, von Schande und Schändungen, Er¬
preſſungen, Hohn und Höllenluſt; dieſe Dichtung iſt
[283] heilig, es gilt ja das Volk, nicht uns. Ihm ſein
Alles zu retten, ſeine Sitte, Sprache, Geſchichte, ſein
ſelbſt eigenes Leben, ſeine Zukunft. Denn alles das
ſteht auf dem Spiel, nicht wenn wir geſchlagen werden,
wenn wir nicht ſchlagen. Wir gehn unter in uns,
und vor uns ſelbſt. Wem dies Schrecklichſte der
Schrecken klar iſt, der kennt keine Rückſichten mehr!“


Während Fuchſius auf der Straße ſeinen Freund
bitten mußte, ſich zu mäßigen, um keine Aufmerkſam¬
keit zu erregen, ſtand Walter van Aſten vor dem
Miniſter. Wenn er mit Feuer gekommen war, ver¬
loderte es vor dem aufrechten Mann, der ohne eine
Miene zu verziehen ſeine Anrede angehört hatte. Er
war ins Stocken gerathen, er hatte wenigſtens nicht
das geſagt, nicht alles, was noch auf der Schwelle
zum Hòtel, noch im Vorzimmer in ſeiner Bruſt, ein
wohlgeordneter Strom der Ueberzeugung, fertig lag.


„Was wollen Sie eigentlich?“ ſagte der Miniſter.


„Ich habe es in der Druckſchrift, welche ich
meiner ehrfurchtsvollen Bitte um dieſe Audienz beilegte,
dargelegt.“


„Ich leſe nichts Gedrucktes,“ ſagte der Miniſter.


Es war ein kalter Blitzſchlag. Aber er zündete
in Walters Bruſt. Eine Pauſe, dann verbeugte
er ſich:


„So bitte ich um Verzeihung, daß ich an die
unrechte Stelle mich wandte.“


Walter hatte überſehen, daß der Olymp, aus
deſſen Wolken der Blitz kam, ſeine Stirn nicht kräu¬
[284] ſelte. Auch nach dieſer Antwort blieb er unbeweglich.
Er gab nicht das Zeichen zur Entfernung. Nach
einer neuen Pauſe kam aus denſelben Lippen dieſelbe
Frage:


„Was wollen Sie eigentlich?“


„Jetzt nur meine Dreiſtigkeit bereuen.“


„Sie ſind der Sohn von van Aſten und Com¬
pagnie?“


„Zur Compagnie gehöre ich nicht.“


„Ein reſpectables Haus. Macht nur in Ge¬
ſchäften, die es verſteht.“


Abermals eine Pauſe, und noch kein Zeichen der
Entlaſſung. Aber der Olymp bewegte ſich. Die
Hände auf dem Rücken, ging der Miniſter einige
Mal auf und ab:


„Der Tauſend noch mal wie kommen Sie denn
zu dem Zeug!“


„Alſo hatte er ſich doch vortragen laſſen, von
Jemand, der Gedrucktes las. Der Schluß war richtig,
und Waltern ich ſage nicht der Muth, aber die Luſt
zurückgekehrt:


„Weil ich in Eurer Exellenz den Mann erkannte,
welcher durch die That dem, was nothwendig wird,
vorausgekommen iſt. Sie ſind es, der mit ſeinen
Bauern ſich geſetzt hat, der ihnen Freiheit, Eigen¬
thum zurückgab, Sie der erſte, der dies glänzende
Beiſpiel —“


„Ach alſo darum! unterbrach der Miniſter. Ich
glaubte von wegen Ihres Vaters —“


[285]

„Nein, weil Excellenz erkannt, wo uns der Schuh
drückt, weil Excellenz erkannt, daß dieſe Säule, auf
welcher der germaniſche Staat ruht, der Bauernſtand,
kein Helotenſtand länger bleiben darf —“


„Ja, ja, ja, alſo darum! wiederholte der Mi¬
niſter ihn unterbrechend, und nahm eine Priſe, viel¬
leicht ein Zeichen der Zufriedenheit, jedenfalls eines,
daß er fürs erſte nichts weiter hören wollte. — Was
geht Sie denn der Bauernſtand an? Sie haben doch
keine Güter.“


„Erlauben Sie mir zu fragen, was ging er
Excellenz an —“


„Weil meine Bauern faules Volk ſind, weil der
Meier ſie aus dem Kruge treiben mußte, weil mein
Inſpector gut rechnen kann, und mir wie's Ein mal
Eins bewies, daß die Frohnarbeit uns theurer zu
ſtehn kam, als der Tagelohn, weil ich meine Aecker
durch die Bauernäcker arrondirte, die ſie mir als
Abkaufsſumme hergaben, weil ich ein guter Land¬
wirth bin, und ſie zwei Mal beſſer nutze als ſie, weil
ein großer Complex ſich beſſer bewirthſchaftet als ein
kleiner. Darum mein junger Herr —“


„Und wenn auch nur dieſe, gelten dieſe Gründe
nicht für Alle!“


„Was gehn mich die andern an! Fege jeder vor
ſeiner Thür, und wer ſich im Miſt betten will, warum
ſoll ichs hindern!“


Walters Bruſt hob, ſeine Lippen öffneten ſich,
der vorhin unterdrückte Strom der Rede floß heraus
[286] in kurzen, ſchlagenden Sätzen, und die Excellenz hatte
die Güte ihn nicht zu unterbrechen. Sie beſchäftigte
ſich, einen Fleck auf ihrer Emailedoſe abzuwiſchen.
Er hatte geſprochen; das Was wiſſen wir ſchon, oder
wir erfahren es noch. Da war der Fleck wirklich
gereinigt und der Miniſter ſagte recht freundlich:


„Eine hübſche Elaboration. Wenn Sie das
geſchrieben hätten, könnte man's ad acta nehmen.
Aber Druckſachen, das iſt nichts; es ſchickt ſich nicht
für einen Geſchäftsmann. — Was wollen Sie nun
eigentlich, ich meine Sie für ſich?“


„Ich leugne nicht, Excellenz, wenn dieſe Anſich¬
ten vor unſern erleuchteten Staatsmännern Eingang
finden, und man an die Ausführung ginge, daß ich
mich wohl befähigt fühlte, mit Hand anzulegen. Ich
würde eine Freiheit opfern, die ich mir lange als
ein köſtliches Gut bewahrt, und würde gern eine
Anſtellung annehmen.“


„Sehn Sie, das lieb ich, das iſt vernünftig
geſprochen. Sie gehn auf eine Anſtellung aus, um
das Uebrige kümmern Sie ſich nicht.“


„Dies dürfte doch von meiner Anſicht differiren.“


„Drauf kommt es nicht an. Wird Ihren Vater
ſehr freuen. Iſt ein braver Mann, und wird es
Ihnen an Unterſtützung nicht fehlen laſſen, wenn ich
ein Wort einlege. Denn Unterſtützung werden Sie
noch eine ganze Weile brauchen. Die große Carriere,
die geben Sie natürlich auf, haben ja nicht Came¬
ralia ſtudirt. Und die Examina! Schadet nichts.
[287] Das von unten Anfangen iſt das ſolideſte. Erſt in
der Kanzlei ein Jahr, höchſtens ein Paar als Copiſt.
Dann machen wir einen Verſuch mit dem Expediren,
Secretair! An Connexionen wird es Ihnen ja wohl
bei guter Conduite nicht fehlen — lächelte der Mi¬
niſter — dann Geheimſecretair, Kanzleiinſpector!“


Der junge Mann ſtand ſprachlos da.


„Der Kriegsrath Alltag, ſehn Sie deſſen Car¬
riere! Noch nicht voll ſechszig und war ſchon Kanzlei¬
director mit dem Titel Kriegsrath, und Sie wiſſen
nicht, was er noch wird! — Aber nun etwas, mein
junger Herr, die Flauſen laſſen Sie aus dem Kopf.
Nie etwas beſſer wiſſen wollen als Ihre Vorgeſetzten.
Wenn's auch mal falſch wäre, nie den Mund aufge¬
than. Sie wiſſen nicht, warum Sie's falſch machen.
Keine Sylbe mehr gedruckt, das verſteht ſich von ſelbſt.
Wenn Sie Bücher leſen müſſen, thun Sie's für ſich.
Nöthig iſt's nicht. Stört immer im Dienſt. Gelehrte
ſind ſchlechte Officianten. Und — der Miniſter faßte
mit holdſeliger Miene den Knopf ſeines Rockes —
und am Copiſtentiſch ſollen Sie nicht zu lange ſitzen,
Sie ſchreiben ja eine ſaubre, präciſe Hand, habe
mich wirklich gefreut, die Grundſtriche ſo grade und
voll. Daran ſieht man den Character. Da dispen¬
ſiren wir Sie wohl ſchon nach einem halben Jahre!“


Walter hatte die volle Sprache und Ruhe wieder
gewonnen:


„Gerührten Herzens habe ich Ew. Excellenz gü¬
tige Intentionen vernommen, die ich wohl nur der
[288] guten Meinung verdanke, welche Excellenz für meinen
Vater hegen. Da aber meine Anſichten von der Art,
wie der Staat die Kräfte ſeiner Bürger nutzen muß,
von der Anſicht Deroſelben abweichen, ſo glaubte ich
unrecht zu thun, wenn ich Dero wohlwollende Ge¬
ſinnung Solchen entzöge, welche williger und befä¬
higter zu den Dienſten ſind, für die ich meinen Willen
und meine Kraft unausreichend bekennen muß.“


Der Miniſter ſah ihn weder verwundert, noch
erzürnt an. Er liebte wohlgeſetzte Kanzleiphraſen.
Dann nickte er ihm freundlich Abſchied.


„Alſo Sie wollen nicht. Grüßen Sie Ihren
Vater von mir und gehn Sie nach Karlsbad, lieber
Herr van Aſten. Nach Karlsbad ſage ich Ihnen.
Wenn wir alle Staatsverbeſſerer dahin ſchicken könn¬
ten, würde es mit unſerm Staate beſſer. Nicht nach
der Feſtung, dafür bin ich nicht. Simpel nach Karls¬
bad, drei Becher täglich am Sprudel, die gehörige
Promenade darauf, drei Monat, und wir hätten
Ruhe im Lande.“

[[289]]

Sechzehntes Kapitel.
Eine wichtige Conferenz in Staatsgeſchäften.

„Der Herr Geheimrath ſind nicht zu Hauſe —“
„Der Herr Geheimrath ertheilen heut keine Audienz“ —
lauteten die verſchiedenen Antworten, mit denen der
Kammerdiener die verſchiedenen Perſonen, welche in
der Wohnung des Geheimraths Bovillard nach ihm
fragten, abgewieſen hatte. Auch Herrn von Fuchſius
war daſſelbe begegnet, „wegen einer wichtigen Con¬
ferenz in Staatsgeſchäften.“


Bei Conferenzen in wichtigen Staatsgeſchäften
war der Rath immer zugezogen. Der Diener zückte
lächelnd die Achſeln: „Herr Geheimrath haben heut
expreß befohlen keine Ausnahme zu machen —“
Fuchſius ſah aus dem Thorweg den Wagen des
Miniſters fahren: „Wenn die entſetzlichſte Rathloſig¬
keit wirklich zum Rath — und wenn ſie zur That
führte! ſprach er aufſeufzend. Es iſt ſpät, aber
doch vielleicht noch nicht zu ſpät!“


„Excellenz waren nicht aufgelegt,“ bemerkte der
II. 19[290] Kammerherr von St. Real in der kleinen Hinterſtube,
wo ſich die Conferenz verſammelt hatte.


„Leidet am Magen,“ ſagte Bovillard mit dem
moquanten Lächeln, das ſeine Freunde kannten, wenn
er die Worte eines nicht gegenwärtigen Freundes
citirte.


„Am Magen?“


„Excellenz halten nicht Diät. Miſchen zu viel,
Trüffelwürſte und Rhabarber, Sonnenaufgänge und
nächtliche Promenaden, Tugend und Tänzerinnen — “


„Die auswärtigen Angelegenheiten liegen in
ſeinem Magen wie Kraut und Rüben.“


„Wir ſind indeß, meines Wiſſens nicht hier
wegen der affaires étrangères,“ bemerkte der Kam¬
merherr.


Mais qu'est-ce qu'on peut faire, mon ami,
wenn der Leiermann vor der Thür von Morgen bis
Abend ſie aborgelt, Hardenberg mit ſo ſchönem Dis¬
cant ſingt und Lombard und Beyme und Voß, und
dazwiſchen brummt der Baß des Herrn von Stein,
und Johannes Müller zwitſchert, und Herr von
Maſſenbach giebt ſeine unmaaßgebliche Meinung, und
Lucheſini räuſpert ſich, und Rüchel trommelt und Prinz
Louis ſchmettert mit Trompeten, und ſeine Schweſter
und die Prinzeß Mariane accompagniren mit Jeremiä
Klagegeſang. Da bleibe ein vernünftiger Menſch unaffi¬
cirt! Ich will in allem Reſpect noch gar nichts
ſagen von der Venus Urania, die in der Stille vor
ihrem Spiegel die Haube der Bellona probirt, und
[291] wie ihrem himmliſchen Geſichte der Blick des Zornes
und der Entrüſtung ſteht, den ſie auf den Monſtre¬
pilz bei Gelegenheit werfen will.“


Monsieur de Bovillard braucht uns nicht zu
verſichern, daß er nie ein Admirateur der Venus
Urania war.“


„Offenherzig, ich halte es mit dem edlen Schiller,
— der iſt nun auch todt, alles Edle ſtirbt, meine
Freunde, — als er ſang:


Ach, da euer Wonnedienſt noch glänzte,

Wie ganz anders, anders war es da!

Da man deine Tempel noch bekränzte

Venus Amathuſia!“

Der Dritte im Bunde, der kein anderer war als der
Legationsrath Wandel, meinte, er könne die Beſorgniß
nicht theilen, ſo viel er wiſſe, ſei doch geſtern beſchloſſen:
der König wolle, die beſondere Lage ſeiner fränkiſchen
Lande erwägend, jeder der kriegführenden Mächte den
Durchzug gewähren. Damit ſchiene denn doch alles
ausgeglichen, und die äußern Angelegenheiten dürften
dem excellenten Freunde ſeines edlen Freundes kein
Kopfbrechen mehr verurſachen.


„Geſtern, Theuerſter! Aber heute nicht mehr.
Man hat angeführt, das verrathe Schwäche. Darum
wollen wir heute Stärke verrathen, und erklären,
daß wir Niemand durchlaſſen. Brauchen uns aber
darum nicht zu ängſtigen, morgen haben wir uns
wieder anders beſonnen, und laſſen durch. Dieſer
Durchlaß nun liegt Chriſtian im Magen, ein Aderlaß
19*[292] an ſeinem Humor, und darum lief er fort, eh wir an¬
fingen.“


Der Legationsrath ſagte: „Ich glaube eher, daß
ich die unſchuldige Urſach bin. Als er mich ſah, ſah
ich an ſeinem Geſicht, daß er nicht bleiben würde.
Warum mußten die Herren mich in ihr Vertrauen
ziehen?“


„Haben Sie wirklich einen Baſiliskenblick?
ſagte der Geheimrath. Theuerſter Freund, warum
ſind Sie, wie Sie ſind? Die Uneigennützigkeit ſelbſt,
um Freunden einen Dienſt zu leiſten und wo Sie
für ſich etwas wollen ſollten, karg wie ein Harpagon.“


„Was ſoll ich denn für mich wollen?“


„Scherz bei Seite, im Monde leben Sie ſo
wenig als wir. Was Reelles ſollen Sie wollen.
Sie haben Klaproth bezaubert, Hermbſtädt ſchwört
auf Sie, von den Frauen rede ich gar nicht, warum
verſchmähen Sie es abſolut, unſre Excellenz in Ihren
Bann zu ziehen? — Die Gelegenheit liegt auf dem
Präſentirbrett. Sie ſind jetzt ſein Vertrauter in
dieſem Divertiſſement kann er Jemand fallen laſſen,
den er nicht plaudern laſſen darf? Auf Ehre, Sie
brauchen nur zu wollen, und Sie ſind ein gemachter
Mann.“


Wandel ſchwieg eine Weile, die Augen in dem
unbeweglichen Geſichte fern auf einen Punkt in der
Diele geheftet. Dann brach es mehr heraus, als
daß er es ſprach: „Aber wie lange wird er ſelbſt
es ſein!“


[293]

Es war ein disharmoniſcher Klang. Bovillard
ſchien es zu überlaufen, was man nennt mit einer
Gänſehaut. Es dauerte eine Weile, ehe Herr von
Wandel zu merken ſchien, was er angerichtet.


„Nicht wahr, ſprach er, Sie glauben nicht an
Ahnungen. Sie beſtreiten die Magie; und Sie ha¬
ben recht, ſehr recht. Fort damit, ſie drückt unſern Ma¬
gen. Hätte die Natur denn umſonſt dieſe Bretterwände,
Mauern, Körper, die Diſtancen vor uns aufge¬
führt, damit unſer Auge nicht durch, nicht drüber
hinaus ſehen ſoll? Das Drüben iſt nichts für unſre
Nerven. Ein Thor, ein Narr, ein Raſender, ein
Selbſtmörder, der ein ſchönes Weib, wenn es endlich
in ſeine Arme ſinken will, ſtatt es feurig zu umſchlie¬
ßen, feſthält, und mit dem Aug in die Zukunft bohrt,
wo auch dieſe letzte entzückende Hülle zu Plunder und Aſche
ſinkt, und Modergeruch das Gerippe umhaucht. Nein,
meine Herren, das iſt Krankheit, häßliche Krankheit.
Hören Sie nicht auf mich. Ich bin's zuweilen, aber ich
weiß mich zu curiren. — Ein Glas Wein, feurigen
Wein. Nur um zu genießen gab die Natur uns die
Sinne.“


Er hatte dies raſch, wie in einer Art Schauer,
heraus geſagt, und ſtürzte eben ſo raſch ein Glas
Ungar, das Bovillard ihm geſchenkt, herunter.


„Tokayer Eſſenz! Uebrigens — Ihren Seherblick
in Ehren, Ihr Geſpenſt ſchreckt mich nicht. Fort
müſſen wir Alle, wenn der Vorhang fällt, aber er
fällt erſt, wenn das Stück ausgeſpielt iſt.“
[294] „Die Philoſophie, die uns zu glücklichen Men¬
ſchen macht.“


„Und was ein Rieſe in der Entfernung ſchien,
ſetzte Bovillard hinzu, wird oft in der Nähe zu einer
mittelmäßigen Creatur. — Was beſorgten wir nicht
von Stein! Und was iſt er? Pah, er brummt, pol¬
tert, übrigens — “


„Laſſen wir ihn in den Akten vergraben ſein!
fiel der Legationsrath raſch ein, entſchuldigen Sie
mein Intermezzo, eine Aufwallung der Gefühle.
Laſſen Sie mich aus dem Spiel und — gehn wir
an unſre Geſchäfte.“


Wandel hatte ſich an den kleinen Tiſch geſetzt,
auf dem, wie zum Spott, für vier Perſonen vier
Aktenhefte, Papier und Federn lagen; das wichtigere
Aktenſtück oder Corpus delicti ſtand unter dem Tiſche,
der Champagnerkorb. „Von nun an wird Niemand,
wer es ſei, eingelaſſen,“ rief Bovillard, als der
Kammerdiener die Leuchter auf den Tiſch geſetzt.
„Alſo, meine Herren, wir ſtanden bei Artikel zwei — “
rief er noch mit einer Stimme, welche der abtretende
Diener im Nebenzimmer hören können. Als die äußere
Thür zuklang, erhob ſich der Flaſchenkorb, ein Pfropfen
knallte gegen die Decke und drei Gläſer ſtießen gegen
einander: „Auf guten Fortgang!“


„Der ſcheint geſichert,“ ſagte Wandel.


„Und wir verdanken ihn, was ich als Präſident
hier auszuſprechen mich für verpflichtet halte, insbe¬
ſondre der unermüdlichen Thätigkeit unſeres theuren
[295] Collegen. Herr Legationsrath von Wandel, wiewohl
gleichſam nur als Experter zugezogen, hat ſich doch
der Sache als Amateur angenommen. Gehn wir
demnächſt zur Sache über. Wir ſtanden alſo —“


„Ich erlaube mir, ehe wir fortfahren, eine prä¬
judicielle Bemerkung, hub der Kammerherr an. Ich
weiß für gewiß, daß der franzöſiſche Geſandte von
unſeren Verhandlungen Kenntniß hat. Sollte durch
die unverzeihliche Indiscretion eines Kanzleibeamten
demſelben ein Aktenſtück in die Hände geſpielt ſein?
Wenn dem ſo wäre, erlaube ich mir, bei unſerm
würdigen Herrn Präſidenten den Antrag auf ſtrengſte
Recherche deshalb.“


„Das Collegium hat den Antrag vernommen,
ſagte Bovillard. Ich muß präjudiciell bemerken, daß
ich dagegen ſtimmen werde. Wenn das Collegium
erlaubt, erkläre ich meine Gründe. Pro primo haben
wir keine Aktenſtücke, denn es ward nichts geſchrieben,
logiſcher Schluß: ſie können nicht abgeſchrieben werden.
Pro secundo haben wir keine Kanzlei, was nicht iſt
kann keine Indiscretion begehen, pro tertio würde
eine ſolche Unterſuchung den Verdacht der Indiscre¬
tion auf ein oder das andere Mitglied unſres hoch¬
verehrten Collegii werfen, was wir aus beſonderen und
höheren Rückſichten vermeiden müſſen. Herr College
von Wandel wünſcht uns ſeine Anſicht mitzutheilen.“


„Was das Factum anlangt, ſagte der Legations¬
rath, ſo muß ich dem geehrten Collegen von St. Real
beiſtimmen. Laforeſt weiß es; aber was folgt daraus?
[296] — Laforeſt weiß Alles. Warum ſollte er dies nicht
wiſſen. Wer es ihm zuträgt, —“


„Vermuthlich der Champagnergeiſt, rief Bovil¬
lard, ſein Glas füllend, daß der Schaum über den
Rand ſtieg. Landsleute plaudern gern weiter!“


„Aber es ſchadet unſrer Sache nichts. Diplo¬
matiſche Berichte bleiben verſiegelte Geheimniſſe, und
wenn die Archive ſich für Hiſtoriker lüften, kümmert
es keinen Lebendigen mehr. Ferner was Laforeſt
weiß, weiß er nur für Napoleon oder Talleyrand.
Beide werden unſre Pläne nicht contrecarriren. End¬
lich wenn das Geheimniß auf dem Wege nach Paris
auch hier durchgeſchwitzt hätte, was ich nicht in Ab¬
rede ſtellen will, iſt die Sache doch zu pikant, als
daß der ehrliche Finder den Verräther ſpielen ſollte.
Aus dieſen Gründen, meine Herren, erblicke ich in
dem hingeſtellten Factum weder Gefahr, noch etwas
Hinderliches, und ſtimme, salvo meliori, unmaaßgeb¬
lich über den Einwand hinweg zu gehen.“


Der Präſident blickte, die Feder in der Hand,
ſich um. Es war einſtimmiges Concluſum. Der
Wein fing an die Zunge zu löſen, und man warf
den Curialſtyl mit den Akten in den Winkel.


„Sie alſo tout à fait ébloui?“ rief Bovillard
nach dem Bericht des Legationsraths.


Der Kammerherr anerkannte mit gebührenden
Lobſprüchen die Diligenz, welche Herr von Wandel
bewieſen, beſtand indeß darauf, daß die Baronin,
wenn die Schwadron vorübermarſchirte, ſich jetzt oſten¬
[297] ſibler am Fenſter zeige. Es ſei zu viel gefordert,
wenn ſein Pflegebefohlener, der Amandus, ſich jedes
Mal einbilden ſolle, daß der Kopf der Amanda hin¬
ter
den Balſamintöpfen verſteckt ſei. Die Imagi¬
nationskraft eines Cavallerieofficiers ſei aber nicht
die eines Poeten; er müßte ihn alſo dann und wann
leibhaftig ſehen, um im Glauben zu verharren.


„Unſer Operationsplan aber forderte Bedacht,
entgegnete Wandel. Wir mußten als Pſychologen
zu Werke gehen. Wer iſt ſchwerer zu erobern?
Sie oder Er? Das war die Frage. Es galt eine
Bildſäule zur Galathee zu erweichen, und aus der
Galathee eine Potiphar zu machen. Haben wir erſt
eine Madame Potiphar, ſo iſt doch keine Sorge
darum, daß ein Gardecavallerie-Officier den Joſeph
ſpielen ſollte. Dieſe zweite Eroberung machte ſich
vielmehr dann von ſelbſt. — A propos, warum ich
Herrn Kammerherrn ſo oft erſucht, der Amandus,
Ihr Client, darf nicht mehr den Knebelbart ſtreichen.“


Der Kammerherr verſprach, daß es unterblei¬
ben ſolle.


„Sie haben auch gewiß ſchon eine kleine Entre¬
vue in petto, ſagte Bovillard. Sie etwa im Negligee
von ihm überraſcht!“


„Wer ſetzt auf eine Karte ſein Ganzes, wenn
er im Gewinnen iſt! Wer ſpielt überhaupt ein ge¬
wagtes Spiel, wenn er durch arithmetiſche Pro¬
greſſionen zum Ziele kommen muß! Der beſte Zauber,
meine Herren, iſt, der ſich ſelbſt wirkt, auf organiſchem
[298] Wege. Neugier und Eitelkeit operiren wunderbar
in der Pſyche des Weibes. Die geſpannte Erwar¬
tung entzündet die Phantaſie. Um zu erfahren, ob
es ſo ſei, wie ich angab, gab ſie ſich alle Mühe, den
Amandus zn beobachten, und entdeckte nun mit weib¬
lichem Scharfſinn weit mehr, als ein Mann mit
ſeiner roheren Wahrnehmungsgabe nur erfinden kann.“


„Und die Uhr geht fort?“


„Eine ſchlechte, die man jede Stunde anſtoßen
muß. Sie geht ſo normal, daß ich alle Intermezzos
und gewaltſame oder nur freundliche Hülfe von draußen
wegwünſche.“


Bovillard wiegte ſich, beide Hände in den Seiten¬
taſchen, behaglich im Stuhl, und fixirte ſchlau den Redner:


„Wenn der Schalk ihm nicht im Nacken ſäße!
Allen Reſpect für ſeine Intuitionen in die Pſyche
des Weibes, aber er weiß eben ſo gut, wie man
Weiber durch Weiber behandelt, und uns möchte er
doch einbilden, daß wir ſeine Agentinnen nicht kennen.
In der Jägerſtraße hängt freilich ihr Agenturſchild
nicht heraus, aber die Zwirnsfäden ſieht man doch,
mit denen Sie Ihre Mirakel weben. Ueberhaupt,
cher ami, wozu denn dieſe Myſtères! Iſt gar nicht
Ihr Profit, Legationsrath. An Talismänner und Wün¬
ſchelruthen glauben wir hier nicht, aber je mehr zweibei¬
nige Maſchinen Einer für ſich in Bewegung zu ſetzen ver¬
ſteht, ein um ſo größerer Wunderthäter wird er für uns.“


Auf Wandels Stirn lagerte ſich eine officiöſe
Falte und die Augenbraunen drückten ſich zuſammen:


[299]

„Prätendire ich, ein St. Germain zu ſein! Aber
der ausgezeichneten Frau thun Sie unrecht. Eine
Dame, deren Verſtand in ſo anderen höheren Re¬
gionen ſchweift, würde ſich nie zu einer mesquinen
Intrigue bequemen; Verzeihung, meine Herren, aber
nennen wir die Sache bei ihrem Namen und man
muß ſeine Menſchen kennen. Ich hätte nicht einmal
gewagt, ihr von der Sache zu ſprechen. Meine
Herren, ich wiederhole es, Sie kennen dieſe ſeltene
Frau nicht.“


„Holla! Alſo offen ausgeſprochen Ihr Ritter.
Und uns den Handſchuh hingeworfen! Kennen Sie
ſie denn?“


Nach einigem Schweigen antwortete Wandel:
„Nein! — Es giebt Erſcheinungen, wo der Augen¬
aufſchlag die Seele uns erſchließt, andere, wo der
geſchickteſte Pſychologe ſein Senkblei umſonſt ge¬
braucht. Ich fühle nur, daß dies Seelengewebe aus
ſo zarten, ätheriſchen Faſern zuſammengeſetzt iſt, daß
die leiſeſte Berührung unharmoniſcher Töne es zu¬
ſammenſchrecken macht; und hinwiederum iſt es von
einer Elaſticität, daß ein rauher Anſtoß dieſe Fühl¬
fäden zu hartem Stahl verwandelt.“


„Laſſen Sie ſich nicht erdrücken von dem Stahl.
Heim ſagte mal, in der Frau wäre eine cachirte
Sinnlichkeit. Gegen die Sinnlichkeit habe ich nichts,
aber das Cachirte liebe ich nicht.“


„Dieſe rohen Aerzte, die die Schwungfedern der
Seele nur empiriſch betaſten! Da wollen ſie ihren
[300] Mann mit Assa foetida und Valeriana behandeln,
und ſeine Krankheit iſt rein eine des Gemüthes.
Der Geheimrath lebte längſt nicht mehr, wenn ſie
nicht eine geiſtige Atmosphäre um ihn zu bereiten
wüßte, worin er athmet.“


„So ſchlimm ſtünde es mit dem Bücherwurm?“


„Sie ſahen ja auch wohl ihren Bedienten, einen
Moribundus. Was quält ſie ſich ab, dieſen Men¬
ſchen wieder auf die Beine zu bringen! Ich gebe
Ihnen zu, es iſt vielleicht ein krankhafter Inſtinct,
der Natur in den Arm greifen zu wollen, aber ſie
will's — ſie muß probiren. Die Doctoren haben
ihn längſt aufgegeben, er iſt ja nur ein Bediente,
aber denken Sie — neulich fand ich ſie, wie ſie von
dem theuren Lebensäther, den Herr Flittner präparirt,
dem Menſchen einflößte. Mein Gott, ſagte ich, der
Aether iſt immer nur ein Palliativ, er läßt die Le¬
bensflamme noch einmal auflodern, aber um ſo
ſchneller verzehrt ſie. Man wendet ihn bei hohen
Perſonen an, wo die letzten Momente koſtbar ſind;
aber dieſer Bediente, was kommt es da auf eine
Spanne Leben und Bewußtſein an. Er kann Ihnen
unter den Händen zuſammenſinken. Was würden
Sie dann ſagen? — Ich kann Ihnen das wunder¬
bare Lächeln nicht beſchreiben, mit dem ſie ant¬
wortete: Ich habe mir dann ſelbſt genügt. So
iſt ſie —“


„Eine Schwärmerin! Gehn Sie mir vom Leibe
mit ihrem Lebensäther.“


[301]

„Ich gebe Ihnen gewiſſermaaßen recht, Herr von
Bovillard. Das Verhalten zu ihrem Pflegekind
könnten ſtrenge Moraliſten auch eine Schwärmerei
nennen. Sie opfert ſich ihm ganz und warum? und
wie wird es ihr belohnt! Sie wiſſen von der soit
disant
Verlobung mit dem jungen Schulmeiſter. Eine
andre Frau würde außer ſich ſein. Welche Pläne
ſind ihr vereitelt. Sie lächelt als Philoſophin.“


„Es giebt Perſonen, auf die alles Mißgeſchick
zuſammenſtürmt,“ fuhr er den Kopf ſchüttelnd nach
einer Pauſe fort, wo die andern geſchwiegen; der
Abſtecher, in welchem der Legationsrath ſich ſo zu
gefallen ſchien, kam Beiden ungelegen. „Der Vater des
Lehrers, der alte van Aſten, höre ich, brummt über die
Sache, und iſt ſogar auf die Geheimräthin ungehalten.“


Bovillard fiel ein: „Die Ehrbarkeit ſeines alten
Hauſes fühlt ſich touchirt. Was iſt natürlicher, er
ſah ſie mal aus einem andern Hauſe kommen. Um
das Renommée eines Hauſes und die Ehrbarkeit iſt's
doch eine köſtliche Sache! Was macht der Alte für
Geſchäfte damit, mit dem verräucherten Steinhaufen
in der Spandauerſtraße, mit dem glatt gepuderten
Kopfe, der Catomiene, die ſich nie verzieht, auch nicht
wenn er das große Loos gewinnt, mit ſeinen rinds¬
ledernen Schuhen, die ſchon eine Viertelmeile weit
knarren! Das iſt ein Reſpect auf dem Markte, an
der Börſe, wenn der alte van Aſten mit ſeinem
Bambusſtocke heranhuſtet. Und das nennt die Ca¬
naille nicht Diplomatie.“


[302]

Der Geheimrath ſchien vergnügt, von dem ihm
ſichtlich unangenehmen Gegenſtande abgelenkt zu ha¬
ben, während der Kammerherr mit eben ſo ſicht¬
licher Ungeduld meinte, man komme ja ganz von der
Hauptſache ab.


„Mademoiſelle Alltag bleibt indeß immer eine
ſehr intereſſante Nebenſache,“ lächelte der Legationsrath.


Bovillard ſtichelte, er hege den Verdacht, daß
ſein Freund eine noch vornehmere Agentin in Con¬
tribution geſetzt. Wandels Stirn legte ſich dies¬
mal nicht in officiöſe Falten, ſie blieb ganz glatt,
als er erwiederte:


„Herr von Bovillard will damit andeuten, was
Herr von Laforeſt dazu ſagen dürfte, wenn ich mit
der ruſſiſchen Fürſtin communicire. Laforeſt weiß,
daß ich Kosmopolit, und die Prinzeß, daß ich ein
Sünder bin. Der Unterſchied iſt nur, daß Herr
von Laforeſt es aufgiebt, die Fürſtin aber noch nicht,
mich zu ihrem Glauben zu bekehren.“


„O der Verräther! Nun iſt er auch geſtändig,
unſre Geheimniſſe an Rußland verrathen zu haben!“


„Hat aber damit den Beiſtand ſeiner Diplomatie er¬
kauft. Schlagen Sie dieſen Beiſtand nicht zu gering
an, meine Herren. Ihre Erlaucht intereſſirt ſich wirk¬
lich en passant für die Baronin Eitelbach.“


„Sie will ſie zur Sünderin machen, um ſie
nachher zur Heiligen zu bekehren. Delicieur! Mag¬
niſique der Gedanke!“


„Meine Herren, ſagte der Legationsrath ſich ver¬
[303] neigend, ich habe nun das Meine gethan. Die nächſte
Action muß vom Rittmeiſter ausgehen.“


Man ließ die Gläſer auf den Strategen und
ſeine Agentinnen klingen. St. Real's Bericht war
kürzer:


„Sie glauben nicht, wie ſchwer es uns ward, den
Stier auf die Spur zu bringen. Als es indeß ſo
weit war, ging es auch wie ein Brummtrieſel, der
nicht mehr zu ſich kommt. Oder es überſchauerte ihn
wie ein Donnerwetter mit Platzregen. Der Mann
iſt vollkommen ausgetauſcht, weich ſage ich Ihnen,
wie Wachs. Sein Gewiſſen gerührt; er delirirt, ver¬
wünſcht zuweilen ſeinen Knebelbart, ja es giebt
Augenblicke, wo er ihn abſchneiden möchte. Nach
dem letzten Billet wollte er wirklich Urlaub nehmen.
Wir hatten Mühe, ihm begreiflich zu machen, daß
das jetzt als Feigheit ausgelegt werden könnte. Mit
einem Wort, er iſt zu allem bereit, was das ver¬
ehrte Collegium über ihn beſchließt. Nur muß man
ihm zu Hülfe kommen. Er ward ordentlich jung¬
fräulich ſchüchtern aus Gewiſſensbiſſen, daß er eine
ſchöne Dame, die ihn liebt, ſo lange und grauſam
beleidigt hat.“


Man ſchmunzelte ſtillen Beifall. Die moquante
Miene des Geheimraths ſprach von einem aufſteigen¬
den Wetterleuchten: „Ein ſuperber Menſch! Läßt ſich
ſtellen und ſchicken, wo man will, alles aus Pflicht¬
gefühl. Statt ſolche Talente nun zu nutzen, läßt ſie
der Staat in Wachtſtuben verkommen!“ Doppelte
[304] Pflicht für uns, meine Freunde, ihn zu pouſſiren.“
„Aber was nun weiter?“ ſagte der Kammerherr.


Der Geheimrath nahm die Präſidentenmiene an:
„Unſer Thema alſo war, ſie ſollen und müſſen ſich
verlieben. In der Ausführung ſind wir auf den
Punkt angelangt: ſie ſtehen im Begriff ſich zu ver¬
lieben. Die nächſte Frage iſt nun: wie ſoll dieſer
Prozeß weiter geführt werden? und die darauf fol¬
gende, welchen Ausgang ſoll er nehmen?“


„Als Tragödie oder als Komödie?“


„Nur keine Tragödie! Haben draußen Trauer¬
ſpiele genug. Höchſtens etwas Sentimentales, ein
wenig Jammer, unterbrochen durch einige Affect¬
blitze, Verzweiflungsſeufzer, einige Thränen, etwas
Menſchenhaß und Reue, pour décorer la situation,
aber ſo wenig wie möglich.“


„Eine Zwiſchenfrage, meine Herren. Wünſchen
Sie die Sache ſchnell zum Reſultat geführt?“


„Legationsrath, was fällt Ihnen ein! Wir führen
ja das Stück zu unſerer Recreation auf.“
„In dieſem Falle wird es nöthig einen Hemm¬
ſchuh anzulegen; denn laſſen wir die Dinge ſich jetzt
entwickeln, ſo platzt über kurz die Erklärung heraus und
endet in einer Liaiſon oder einem ſtillen Seelenbündniß.“


„Zum Geier mit Ihrem Seelenbündniß! Auf
Eclat kommt's an, Schauſpiele ſoll's geben, einen
Scandal, daß die Stadt die Hände zuſammenſchlägt.“


„Excellenz meinten nicht ſo —“ warf St. Real ein.


„Excellenz iſt ein Hypochonder geworden. Wer
[305] A geſagt muß B ſagen. Keine Retiraden! Hemmſchuhe
meinethalben. Erſinnen Sie was. Warum ging Ihr
verfluchter pſychologiſcher Prozeß auch mit Sieben¬
meilenſtiefeln? Etwas von Rendezvous auf Redouten,
oder im Mondenſchein, wo man zuſehen kann. Dann
Hinderniſſe! Wenn Eitelbach nicht will, ſo werden
Sie ja ſchon Ehrenwächter finden. Kann man nicht
eine Prinzeſſin, oder die Königin für die Tugend
der Baronin intereſſiren. Grauſame Trennungen,
überraſchendes Wiederſehen!“


„Er könnte wie Leander zur Hero ſchwimmen!
Die Spree iſt nur nicht breit genug.“


„Imagination, meine Herren! Sie können ſich
in einer Kutſche ein Rendezvous geben, ſie wird als
verdächtig angehalten, beide auf die Wache gebracht.“


„Nur nicht auf die Wache! Das iſt ein zu hä߬
licher Eclat!“ rief der Kammerherr.


„Oder er ſteigt zu ihr ein. Der Nachtwächter
entdeckt die Leiter, Lärm wird gemacht, man ſucht
nach Dieben.“


„Wünſchen Sie, daß er mit Madames Bewil¬
ligung eingeſtiegen iſt?“ fragte Wandel.


„Beſſer nicht. Nein, er muß es in toller Leiden¬
ſchaft thun. Sie muß außer ſich ſein. Man kann
ſie ja vorher wieder ein Bischen gegen ihn einge¬
nommen haben. Sie wird empört, daß er ihren Ruf
aufs Spiel ſetzt. In tugendhafter Entrüſtung befiehlt
ſie ihm, ſich nie wieder vor ihr ſehen zu laſſen. Er
ſtürzt ihr zu Füßen, hilft nichts, er muß wieder zum
II. 20[306] Fenſter raus. — Da fehlt die Leiter, der Lärm geht
los. Denken Sie ſich die pikante Situation! Sie in
Zorn, er in Verzweiflung. Je größer die Gefahr,
je näher die Tritte, ſo mehr ſchwindet ihr Zorn, das
Mitleid ſiegt, das Bekenntniß ihrer Liebe platzt her¬
aus. —“


„Und? —“


„Zur Zärtlichkeit iſt da nicht Zeit. Immer Auf¬
ſchub. Die Polizei ſchlägt an die Thür. Sie muß
ihn verſtecken — in den Kleiderſchrank.“


„Da kriegen Sie den Rittmeiſter nicht mehr rein!“
lächelte St. Real.


„Es wird ſich ja ein Verſteck finden. Laſſen
Sie ihn auf den Boden ſpringen, auf's Dach
klettern.“


„Und! — Er muß doch auch vom Dach wieder
herunter. Ich meine, was das Ende vom Liede
ſein ſoll?“


„Kommt Zeit, kommt Rath, Legationsrath;
ſchlagen Sie einen alten Roman nach. Vom Dach
werden wir ihn nicht fallen laſſen.“


„Mit einem Worte, verlangen Sie eine Ent¬
führung oder nur —“


„Prächtig! eine Entführung. Göttermenſch, Sie
ſtehlen mir's aus der Seele. Wie lange iſt in Ber¬
lin keine entführt worden. Das giebt ein Gerede,
Kinder, einen Spaß! Ich will ſelbſt die Poſtrelais
bezahlen, mit Seegebarth ſprechen, die ſchnellſten
Poſtpferde ſollen ſie haben.“


[307]

St. Real ſchüttelte den Kopf: „Alles ſehr ſchön.
Wer ſoll ſie aber verfolgen?“


„Nun, ihr Mann!“


Kaum war es über die Lippen, als er ſelbſt in
das ſtille Gelächter der Andern einſtimmen mußte.


„Er lacht ſich vor Vergnügen todt, wenn er's
hört.“


Es war ein unerwarteter Querſtrich.


Bovillard riß die gekreuzten Arme aus einander,
mit denen er eine Weile vor ſich ſinnend geſeſſen.
„Er thut's doch vielleicht!“


„Der Baron! Er ſchämte ſich in den Tod, daß
man ihn für eiferſüchtig hält.“


„Wer ſpricht von Eiferſucht, St. Real! Neunzigtau¬
ſend Thaler gehn ihm durch. Kann er neunzigtauſend
Thaler mir nichts dir nichts über die Gränze laſſen!“


„Neunzigtauſend Thaler,“ wiederholte der Le¬
gationsrath.


„Sie haben freilich getrennte Gütergemeinſchaft,
ſagte der Kammerherr. Ihn ſchätzt man eben ſo
hoch.“


Hundert achtzigtauſend Thaler unter Brüdern,
meine Herren, fuhr Bovillard fort, die zerreißen wir.
Bedenken Sie das wohl.“


„Hundert achtzigtauſend Thaler!“ wiederholte
der Legationsrath.


„Was ſo ernſthaft, Wandel?“


„Die Sache iſt es. Er müßte ſich nach dem
Eclat ſcheiden laſſen, ſie würde den Rittmeiſter hei¬
20*[308] rathen, und wir verſchaffen ihm eine Frau mit neun¬
zigtauſend Thalern. Meine Herren, Sie räumen
mir ein, daß die Sache dadurch ein ganz anderes
Fundament gewinnt. Es iſt kein Divertiſſement mehr,
es wird zu einem reinen Geſchäft, und wir müßten uns
fragen — das heißt, ich bitte Sie, ſich darüber zu
entſcheiden, welche Raiſon Sie haben, den Herrn
von Dohleneck zu einem reichen Mann zu machen?“


„Raiſon! Pah, was kommt's drauf an! Und hab
ich keine! Der Rittmeiſter hat ſich nobel gegen meinen
Taugenichts benommen. Blutvergießen verhindert.
Sie auch, Legationsrath. Wollen Sie ſie entführen?
Hätte nichts dagegen. Neunzig tauſend Thaler, wir
ſind ja in einer generöſen Laune und er hat Schulden
wie Haare auf dem Kopf.“


Die vierte Flaſche war entkorkt und die Ge¬
ſichter leuchteten. „Handeln wir wie die Vorſehung,
welche die Güter dieſer Welt ausgleicht. Ange¬
ſtoßen auf den großen Gedanken, Freunde! Für die
Menſchheit —“


„Das heißt für Stiers Gläubiger.“


„Das Gefühl uneigennützigen Handelns für die
Zwecke der Humanität ſtärke uns. Reine Liebe edler
Seelen, neunzigtauſend Thaler in erſten Hypotheken
und ſchleſiſchen Pfandbriefen, und eine wunder¬
ſchöne Frau und dumm! Was Götter ſelbſt beneiden
könnten, wir ſchenken's einem verſchuldeten Cavallerie¬
officier.“


Der Legationsrath ſtimmte nicht in die Ausge¬
[309] laſſenheit: „Sie zerſtören Ihre eigenen Beſchlüſſe,
wenn Sie zu haſtig losgehen.“


„Legationsrath, ein edler Entſchluß darf nicht
Runzeln bekommen.“


„Aber ein Witz nicht zur Speculation werden,
ſonſt bricht ſeine Spitze. Conclusum est —“


„Sie ſollen ſich noch eine Weile quälen,“ ſagte
der Kammerherr.


„Hatte ich es beinah vergeſſen! 'S iſt mein
gutes Herz. Ich kann nun einmal Unglückliche nicht
leiden ſehn. Alle Menſchen ſind ja Brüder —“


„Und alle Frauen Schweſtern! ſagte Wandel
aufſtehend. Aber ich muß Contreordre geben, wenn's
nicht ſchon zu ſpät iſt.“ Er zog die Uhr, und ſtampfte
auf. „Wahrhaftig, es iſt ſchon zu ſpät.“


„Was iſt's?“


Sie ſtanden nicht mehr ganz feſt, als ſie jetzt
aufſtanden. Der Legationsrath ſtrich über die Stirn.


„Unſer Joſeph geht heut an Madame Potiphars
Haus vorüber. Ein leiſes Schluchzen ſollte ſeine
Schritte feſſeln —“


„Ei, Herr von Wandel, mir ins Gehege! rief
der Kammerherr. Der Joſeph war zu meiner Dis¬
poſition.“


„Verzeihung! Ich wollte Sie überraſchen; es
war gut gemeint. Eine ſchluchzende Geſtalt am Bal¬
ſaminenfenſter ſollte ein Bouquet auf ſeine Bruſt
fallen laſſen; — eine raſche Entwickelung ſtand dann
in Ausſicht. Wer konnte den heutigen Beſchluß ahnen!


[310]

Um zehn Uhr war's beſtellt, und es iſt ein Viertel
auf eilf. Vielleicht kann ich noch retten.“


Bovillard fiel ihm in den Arm: „Bleiben Sie,
laßt ſie glücklich ſein, wir ſind's ja auch. Glückliche
Menſchen machen, was giebt es Schöneres unterm
Sternenzelt. Fand einmal meine Selige in Thränen
über Lafontaines neueſten Roman: Kriegen ſie ſich
nicht? frage ich. — Nein, ſchluchzt ſie, er iſt ſo grau¬
ſam. — Pfui! ſage ich. — Er iſt erſt am Ende des
erſten Bandes, ſagt ſie. — Er muß! ſage ich. —
Wie kannſt Du's? — Da klopft es. Wer tritt ein?
Herr Lafontaine. Ich riß meine Selige auf, ich
zeigte ihm ihre rothen Augen: Barbar, das iſt Ihr
Werk; können Sie's ruhig anſehen? Eine Thräne der
Rührung, eine Thräne der Verſöhnung. — Er küßte
ihre Hand. — Sie ſollen ſich kriegen, Madame! —
Auf der Stelle ließ ich ihn zu Herrn Sander fahren,
dem Buchhändler. Zwei Bogen wurden maculirt,
und nach acht Tagen kriegte ſie die erſten des zwei¬
ten Theils. Schon im erſten Kapitel hatten ſie ſich
gekriegt. — Den Jammer ſparte er nachher für die
Ehe — zwei Bände voll!“


„Das nenne ich einen exemplariſchen Ehemann!“
ſagte Wandel.


„Und Herr Lafontaine kriegte die Präbende!“
bemerkte St. Real.


„Eine gute That belohnt die andre.“


Schon als Bovillard den Dichter Lafontaine
klopfen ließ, hatte man ein ſtarkes Pochen an der
[311] Hausthür gehört, darauf einen Lärm von mehren
Stimmen; die des Kammerdieners war deutlich zu
erkennen, welche Eindringenden den Zutritt verwehren
wollte. Eine andre Stimme tönte aber ſcharf hin¬
durch, welche den Legationsrath zu frappiren ſchien,
auch der Kammerherr horchte aufmerkſam. Nur der
Geheimrath hörte in ſeiner Aufregung erſt darauf,
als feſte Männertritte die kleine Hintertreppe herauf¬
ſtürmten. „Sie dürfen nicht, ich darf Niemand rein¬
laſſen,“ ſchrie der Kammerdiener, der um die Wette
mit dem Stürmenden zu laufen ſchien. „Aber mich!“
rief es. Darauf ein Fall, der Diener mußte zurück¬
geſtoßen ſein, und die Thür ſprang auf.


„Was bedeutet das!“ rief der Geheimrath, einen
Leuchter ergreifend, und wollte ins Kabinet.


„Das Vaterland!“ rief die Stimme im ſelben
aufgeregten Tone, als der Geheimrath ſchon, wie
von einer Erſcheinung erſchreckt, zurückprallte. Der
Leuchter entfiel ihm.


Der Legationsrath hatte haſtig den Hut gefaßt,
als er den Eintretenden erblickte, der Kammerherr
folgte ihm eben ſo ſchnell. Der Geheimrath Bovillard
blieb mit der Erſcheinung allein im Zimmer.

[[312]]

Siebenzehntes Kapitel.
Vater und Sohn.

Wer den jungen blaſſen Mann geſehen, der in
vernachläſſigtem Anzuge, unfriſirtem Haar, die Hände
auf dem Rücken, durch die Straßen ſchlenterte, von
der frühen Nachmittagsſtunde bis zum ſpäten Abend,
bald die Augen in den Himmel, bald auf das Pflaſter
gerichtet, wäre verſucht geweſen, in ihm ein unheim¬
liches Weſen zu entdecken, das losgeriſſen aus den
Kreiſen einer Ordnung, denen es in anderen Zeiten
angehört, nun ſpukhaft durch ſie wandelt, neugierig,
gleichgültig, ſchadenfroh, wie man will. Entweder
einen Bummler oder ein Hoffmanniſch Geſpenſt. Jene
gab es noch nicht; an Geſpenſter durfte damals kein
Gebildeter in der Reſidenz des Staates der In¬
telligenz glauben. Und doch war es etwas Ver¬
wandtes.


Louis Bovillard war entlaſſen. Er war ein
ſtiller Gefangener geweſen; die Beamten waren er¬
ſtaunt darüber, er hatte diesmal keinen Streit an¬
gefangen, keine Scheibe zerſchlagen, keinen Wärter
[313] zur Thür hinausgeworfen. Er hatte, in ſich ver¬
ſunken, da geſeſſen, bis die Stunde der Befreiung
ſchlug. Nichts von der Außenwelt war zu ihm ge¬
drungen; da war es doch natürlich, daß er ſich jetzt
orientiren wollte in der ihm fremd gewordenen.
Wohl hatte es durch die dicken Mauern geklungen
von außerordentlichen Dingen, von einer Stimmung,
die nie da geweſen, von einem heißen Fieber, das
die Glieder ſchüttle, von einem Geiſt im Volke, der
den langen Winterſchlaf von den Lidern ſtreife. Im
Gefängniß träumt man lebendiger von der Freiheit.
Er aber hatte auf ſeinem Holzbett ſtumm gelächelt;
ſeine Träume waren anderwärts.


Und jetzt lächelte er wieder, wenn er durch die
bewegten und ſtillen Straßen ging. Sie waren ſo
breit, ſo todt und ſo geräuſchvoll, wie immer; die
Mühlen klapperten, die Menſchen ſchwatzten wie immer.
„Was ſuchen Sie, Bovillard?“ fragte ein Bekannter,
der ihm nicht ausweichen können. — „Die Stimmung,“
war ſeine Antwort. Der Calculator ſtutzte, aber er
erinnerte ſich, daß Bovillard Klavier ſpielte. „Sie
ſuchen einen Stimmer? Ihr Klavier“ — „Iſt total
verſtimmt,“ antwortete der junge Mann und wandte
ihm den Rücken.


Ein Plakat an der Ecke! Vielleicht ein Aufruf
des Königs an ſein Volk? — Nein, verlorne Sachen,
drei Auktionen! Doch, auf der andern Seite eine
obrigkeitliche Bekanntmachung: eine Warnung vor
falſchen Zweigroſchenſtücken, die ſich in Oſtfriesland
[314] bedenklicherweiſe gezeigt, und eine Einſchärfung von
Gouvernement und Polizei, wie die unter den vo¬
rigen Königen erlaſſene Verordnung noch jetzt in
voller Kraft ſei: daß die ſogenannten Zelte und Ge¬
bäude im Thiergarten nach wie vor nicht maſſiv,
vielmehr nur von Brettern gebaut werden dürften. —
Auf dem Papier ſtand das Geſetz, im Thiergarten
baute man, wie man Luſt hatte.


Er trat an eines der noch ſeltenen und ſehr be¬
ſcheidenen Schaufenſter, wo Kupferſtiche aushingen.
Vielleicht die großen Generale des letzten Krieges.
Würden endlich Erzherzog Karl und die Andern die
Bilder der franzöſiſchen Generale verdrängt haben?
— Gar keine Generale! Nur König und Königin,
wie ſich's gebührt; Schauſpieler und Schauſpielerinnen,
der Jubelgreis Erman, der Aſtronom Bode mit einem
Sternenkranz um die Schläfe. Er hatte ja einen
neuen Kometen am großen Bären entdeckt.


Willenlos führten ihn ſeine Schritte in einen
Buchladen. Er fragte nach Novitäten für die Zeit¬
geſchichte. „Warum ſind des Kanzleidirektors Kiſt¬
macher in Breslau Gedichte merkwürdig?“ — „Haben
Sie nicht in der Boſſiſchen geleſen? Er zeigt ſei¬
nen Freunden an, daß er mit Gott und ſeinem
König heut geſund und munter in ſein neun und
fünfzigſtes Dienſtjahr tritt. Das hat denn gleich
Nachfrage nach den Gedichten gemacht.“ — Der Buch¬
händler hatte noch einen intereſſanten Beitrag für
„unſre Zeitgeſchichte!“ „Zuverläſſige Nachrichten von
[315] der Sack'ſchen Familienſtiftung zu Glogau, zum
Unterricht für Stiftsberechtigte.“ Sie hatten eben
die Preſſe verlaſſen. „Die Lectüre ſoll mich heut
Nacht erquicken!“ ſagte Bovillard und ſteckte das
Heft in die Taſche.


Er maß die Schritte von der Quadriga bis zu
Prinz Heinrichs Palais; ſieben Mal hatte er die
Länge der Linden gemeſſen und nichts geſehen, als
welke Blätter. Die Geſichter, denen er begegnete,
die Blätter, die der Staubwind um ſeine Füße kräu¬
ſelte, verſchmolzen ſich. Seine Phantaſie ſchweifte in
eine Wüſte; er grübelte, warum die Natur ihnen die
Quellen verſagt, warum keine Erdbeben die Sahara
erſchüttern; Vulcane erheben ſich doch aus dem Meere.


Er ſaß in einer Weinſtube. Er hörte viele
Stimmen. Viele Stimmen machen eine Stimmung.
Männer der Wiſſenſchaft zu ſeiner Linken, Männer
der Praxis zur Rechten, Männer der Kunſt kamen,
als das Theater aus war. Man ſprach links und
rechts vom Fortſchritt. Wie viel öffentliche Vor¬
leſungen befriedigten nicht die Wißbegier! Klaproth
über Chemie für Jedermann, Fiſcher über Expe¬
rimentalphyſik und der gelehrte Bendavid las gar
über Geſchmackslehre! Aber dann brauſte der Streit
von der Rechten zur Linken, und im Centrum über
das Stück des Tages: „Die Organe des Gehirns.“
Wer war größer, Kotzebue oder Iffland? Kotzebue,
der mit beißender Kritik, mit überſprudelnder Laune,
die neue Chimäre der Wiſſenſchaft geißelte, der Gall
[316] auf immer vernichtet hatte, oder der unvergleichliche
Mime, der heute den Lear und morgen den Kanne¬
gießer mit gleicher Virtuoſität ſpielte? Iffland drückte
Kotzebue zu Boden. Alle Lippen bebten vom Lobe
des Mimen; man anatomiſirte den kleinen Finger
ſeiner linken Hand, mit dem er ein widerſtrebendes
Gefühl ausgedrückt, man zerſchnitt ſeine carrirte Weſte,
welche die Zerſetzung eines ſublimen Gedankens in
eben ſo viel Theile darlegte. „Und Fleck iſt doch
größer!“ trumpfte ein ſtabiler Gaſt auf den Tiſch.
— Warum, Renommiſt? „Er ſchafft, Iffland co¬
pirt.“ — Kunſt und Natur, ein ewiger Streit, man
überſchrie ſich; die Gläſer klirrten, die Köpfe wurden
heiß. „Und alle Eure Kunſt iſt doch nur Chemie, ſchrie der
Renommiſt. Die Peſt auf Dichter, die nur die Schädel¬
lehre zerſetzen, aber keinen Schädel lebendig machen.“


Er ſetzte ſich von den Genialen zu den Phi¬
liſtern; doch es waren Philiſter des Fortſchritts. Die
Emdener Heringsfiſcherei hatte zum erſten Mal Di¬
videnden ausgetheilt. Und die Chauſſee von Pots¬
dam nach Brandenburg war ehegeſtern fertig geworden.
„Meine Herren, das erwägen Sie, man kann von
nun an in neun, ja vielleicht künftig in ſieben Stun¬
den von Berlin nach Brandenburg fahren! Und wie
lange iſt es her, wo wir einen Tag brauchten durch
den Sand, um nur nach Potsdam zu kommen! Das
war ja ſchon ein ungeheures Evenement. Wenn
das der alte Fritz erlebt hätte! Bis Potsdam wie
auf einer Diele! Und das hat unſre Regierung ge¬
[317] than, und doch ſind ſie nicht zufrieden! Ich frage
Sie, was verlangt man denn noch? Sollen wir
fliegen? Ja ſchöne fliegen, wenn Krieg kommt!“ —
„Nur die unruhigen Köpfe, Herr Hofrath!“ —
„Ganz richtig, Herr Nachbar, was geht uns Oeſtreich,
was geht uns der Napoleon an!“ — „Jetzt will
jeder Menſch eine Meinung haben, und alle Welt
ſoll man fragen.“ — „Der alte Fritz fragte Niemand,
und es ging doch.“ — „Ganz recht, Herr Geheim¬
ſecretair, es ginge auch noch, wenn nur eben nicht die
unruhigen Köpfe wären.“ — „Und werden die Em¬
dener wieder Dividenden zahlen, wenns losgeht?“ —
„Werden ſich hüten, Herr Hofrath! Mit Handel und
Verkehr, mit Fabriken und Allem iſt's aus.“ —
„Friede! Friede!“ war das Loſungswort in der Ecke.
Ein Zeitungsleſer, der zugehört, lächelte. Da hö¬
ren Sie das allerliebſte Gedicht: „Pensées sur la
position d'àprésent.“
— „Die Voſſiſche Zeitung hat
immer allerliebſte Gedichte.“


Er mußte es vorleſen:


„Je souhaite la paix en tout

Entre l'amante et son amant, et la femme et son époux.

Beaucoup de pleurs seroient épargnées

Si Mars sauvage encor vouloit se reposer.

L'éspérance consolante me reste encore,

Que les mères et les épouses ne pleureront

De leurs fils et maris la mort.

Et que le transport des canons

Et toutes ces préparations

A la paix universelle serviront.“
[318]

„Charmant!“ — „Allerliebſt!“ — „Das iſt
Poeſie!“ — „Das iſt noch ein Dichter, der Gefühl
hat.“ — „Nein, eine Dichterin; es ſteht drunter
Philippine de B.“ — Die poetiſche Entzückung hatte
die andre Seite der Geſellſchaft aufmerkſam gemacht,
Einer das Zeitungsblatt ergriffen und in anderem
Pathos die Poeſie vorgeleſen: „Von Bovillard! rief
er, das riecht nach ſeiner Poeſie!“ und ein ſchallen¬
des Gelächter beſtätigte im Chor.


Louis Bovillard hörte es nicht mehr. Er hatte
ſogleich den Verfaſſer errathen. Sein Vater liebte
ſeine zarteren Gedanken, wie er es nannte, unter weib¬
lichen Namenschiffren ins Publikum zu ſchicken. Er
irrte wieder durch die dunklen Straßen. Verſpätete
Theatergänger. Iffland und immer Iffland! —
Verliebte Pärchen; ſüßes Geflüſter, aufgeſchreckt durch
ſeinen rauhen Fußtritt. — „O Liebe, du Zauberin,
lachte der Dämon in ihm, nur in die laue Nacht
brauchſt Du den Arm zu ſtrecken, und die Herzen
ſetzen an, wie die Fliegen an die Leimſtange.“


In der einſamen Straße, durch die er einbog,
ſtand ein Militair an ein Haus gelehnt in horchender
Stellung. Aus dem geöffneten Fenſter oben blickte ver¬
ſtohlen eine weibliche Geſtalt ſich um, und als ſie Nie¬
mand zu ſehen glaubte, fiel ein Blumenſtrauß auf den
Lauſcher. Als der Militair das Geſchenk an ſeine
Bruſt drücken wollte, fühlte er ſeinen Arm gepackt.
Ein Halt! dröhnte durch die Stille, im ſelben Au¬
genblick klirrte das Fenſter zu.


[319]

Zorn und Schreck hatten nicht Zeit über den
Vorrang zu ſtreiten, als die Erkennung ſchon er¬
folgt war.


„Bovillard! — Plagt Sie der Teufel! — Wo
kommen Sie her?“


„Aus meinen Banden.“


„Wohin ſoll's?“ fragte Dohleneck ſchon mit ge¬
runzelter Stirn.


„In die Freiheit.“


„Sie brauchten Andere nicht mit ſich zu reißen.“


„Nur die ich liebe.“


Der Rittmeiſter hatte ſich eine Weile in der
erſten Ueberraſchung von ihm fortziehen laſſen. Jetzt
erſt, nachdem ſie um die Ecke waren, hatte er Poſto
gefaßt:


„Himmel, Sakkerment, Bovillard, Red und Ant¬
wort, was war das! Wenn einer bis über die Ohren
verliebt iſt —“


„Einen Eimer Waſſer ihm über den Kopf. Was
ſich liebt auseinander zu ſcheuchen, iſt heut mein
Plaiſir.“


„Sie kommen aus dem Tollhauſe, oder —“


„Ich ging aus mir ſelbſt, wollen Sie ſagen.“


„Warum?“


„Weil es mir zu eng drin ward.“


Der Rittmeiſter hatte ſich erholt: „Wenn Sie
es nicht wären! Wiſſen Sie, was Sie thaten?“


„Zur Hälfte.“


„Sie ſtörten —“


[320]

„Einen halben Ernſt, das iſt möglich, gewiß,
eine ganze Poſſe.“


„Neulich vertraute ich Ihnen —“


„Ein namenloſes Liebesabentheuer zur Hälfte.
Und wenn es dies war, gratulire ich Ihnen, wenn
ich auch die andere Hälfte verdarb.“


„Kennen Sie das Haus?“


„Nein, weiß wahrhaftig nicht mal, welche Straße
es war. Aber auf das Soubrettengeſicht fiel grade
ein Lichtſchein aus dem Fenſter drüben.“


„Ein Soubrettengeſicht! Eine majeſtätiſch ſchöne
Frau!“


Bovillard lachte: „Ein durchtrieben Schelmen¬
geſichtchen, und hinter ihr guckte ein Bedientengeſicht
— für ſo was hab ich Augen. So wahr der Wol¬
kenſtreif eben durch die Mondſichel geht, man wollte
Sie foppen!“


„Nein, Sie täuſchen ſich.“


Ein ſanfter aber feſter Händedruck antwortete
ihm: „Darin täuſch ich mich nie. — Sie ſind be¬
trogen — von wem? Das iſt gleichgültig — dies¬
mal von denen da oben am Fenſter —“


Er hatte ihm das Bouquet aus der Hand ge¬
nommen: „Fort mit dem Bettel! Wer weiß in wel¬
cher Hand er war!“ Er ſchleuderte es über die Straße.
Sie gingen ſchweigend neben einander. Was in der
Bruſt des Officiers arbeitete, konnte nicht heraus.


„Laßt die Motten ins Licht fliegen, es iſt ihre Be¬
ſtimmung. Sie, Dohleneck, ſind zu gut dazu, zu arglos.“


[321]

„Sie ſollen darüber richten, ſprach der Rittmeiſter
plötzlich ſtehen bleibend. Grade Sie, Gott weiß woher,
ich traue Ihnen, obgleich — verteufelter Gedanke,
wenn man mich wieder in den April geſchickt!“


„Sie ſpielen alle Komödie! rief Bovillard in
die Wolkenzüge am Himmel blickend. Das iſt ihre
Beſtimmung. Warum träufte die Natur dieſen
Reiz in unſer Blut, dieſe Mottenluſt in unſer Hirn!
Aber ſo wollen ſie uns vielleicht! Daß unſer Auge
ſchwimmt, unſer Mark weich wird, unſre Spannkraft
erſchlafft, das Hirn unfähig einen Gedanken feſtzu¬
halten, der Geiſt zittert vor dem Entſchluß, der Arm
vor dem Schlag. Dieſen goldenen Semeleregen ſehn
ſie mit ſtillem Vergnügen auf das Geſchlecht rieſeln,
damit die Titanenenkel ausgehn ſollen aus dem
lebendigen Geſchlecht. — Rittmeiſter! rief er. Soldat
des Königs! Wenn die Welt in Brand ſteht, iſt's
dann Zeit wie Schmetterlinge um die Flammen wir¬
beln! Wollen Sie das Haus ſtürmen, auf einer Leiter
durchs Fenſter brechen. Mein Wort, da helf ich
Ihnen. Kommen Sie, fordern Sie Wahrheit! Wollen
Sie ein ſchönes Weib entführen, das Sie genarrt,
erzürnt hat, ich bin dabei. Gewalt, Gewalt! Das
iſt noch ein Wort, ein Sturmglockenlaut, der in den
Himmel dröhnt. Wollen Sie? Auf der Stelle —
nur nicht Seufzer, nur nicht Liebesblicke, kein Buh¬
len um Gunſt, keine Küſſe. Ja — ein Weib,
was mich haßte, mit einem Fußtritt mich von ſich
ſtieße —“


II. 21[322]

In dem Augenblick raſſelte eine ſtaubbedeckte Ka¬
leſche um die Ecke. Bei der raſchen Wendung mochte
das Hinterrad an einen Stein geſtoßen ſein, das
Rad brach und der leichte Wagen ſtürzte um. Schon
im nächſten Augenblick hatte der darin Sitzende mit
einem Fluch ſich aus dem Wagen gearbeitet. Der
Fluch galt den Pferden, oder dem Kutſcher, eine
barſche Zurechtweiſung den Beiden, welche zum Helfen
hinzugeſprungen waren. Auf ihre Frage, ob er keinen
Schaden gelitten, antwortete der Mann, der ſeinen
militairiſchen Mantel in die Kaleſche zurückwarf und
haſtig nach einer Ledertaſche griff: „Das wäre das
Wenigſte!“


„Verfluchter Kerl, warum hier grade! rief er
ſich umſehend dem Kutſcher zu. Es iſt ja noch eine
Viertelſtunde bis zum —“ Er nannte den Namen
eines Miniſters.


„Wenn es Ihnen darauf ankommt, führe ich
Sie auf kürzerem Wege dahin?“ ſagte Bovillard.


Es war ein Courier. Der Rittmeiſter, im Schein
der Laterne, bei welchem der Reiſende die Ledertaſche
beſah, erkannte einen befreundeten jüngern Officier.


„Was bringen Sie in Ihrer Taſche, Schmi¬
linsky?“


„Brennend Feuer,“ antwortete der Feldofficier,
indem er die Taſche wieder zuſchloß. „Ja auf dem
nächſten Weg, meine Herren, zum Miniſter.“


Der wohlbeleibtere Cavallerieofficier hatte Mühe,
den Beiden nachzukommen.


[323]

„Was brennt denn?“ fragte Bovillard, als ſie
ihre Schritte mäßigten, um Athem zu ſchöpfen.


„Ich habe keinen Grund, ſagte der Courier, ge¬
heim zu halten, was mir auf dem Fuße nachkommen
muß. Ja, ich wundre mich, daß das Gerücht mir
nicht voraufgeeilt iſt, weil ein ähnlicher Unfall mich
unterwegs aufhielt. Ich glaubte Berlin ſelbſt in
Aufruhr, und finde eine Kirchhofsruhe. Am Thor
wußte man noch nichts.“


„Was iſt's?“


„Die Franzoſen ſind eingebrochen.“


„Wo?“ fragte es mit einem Munde.


„Wie ein Platzregen in's Anſpachſche — Ber¬
nadotte — mit neunzig Tauſend Mann wenigſtens
wälzt er in Sturmmärſchen durch — die Baiern hau¬
ſen wie in Feindes Land —“


„Krieg!“ jauchzte der Rittmeiſter.


„Und die preußiſchen Truppen?“


„Was daſtand machte Platz oder nicht, wie es
kam. — Sie wiſſen nicht, vor Ordre und Contreordre,
was zu thun —“


Sie waren am Hotel angelangt, und riſſen an der
Schelle. Der Courier lehnte ſich erſchöpft am Pfeiler:


„Er wird doch feſter halten als der, ſagte er.
Meine Herren, wer das mit anſehn mußte! — Sie
ſpuckten auf unſre Gränzpfähle; ich ſah einen um¬
geriſſen — aus purem Uebermuth —“


„Wer?“ rief der Rittmeiſter.


„Franzoſen oder Baiern, gleichviel. Der preu¬
21*[324] ßiſche Adler im Koth, die Tapfen ihrer ſchmutzigen
Füße auf Friedrichs zerbrochenem Adler. Meine
Herren, es war ein Stoß ins Herz für einen preu¬
ßiſchen Militair.“


„Das muß der Langmuth den Hals brechen!“
jauchzte Bovillard und ſtürmte an der Hausglocke.
Der Portier hatte endlich den Schieber des Seiten¬
fenſterchens geöffnet.


„Ein Courier! Depeſchen!“ riefen drei Stimmen
zugleich.


„Excellenz haben ſich bereits zur Ruhe verfügt.“


„Der Secretair! Aus dem Bureau, wer es ſei.“


„Alles ſchläft ſchon.“


„In Teufels Namen ſo weckt ſie!“ ſchrie der
Rittmeiſter.


„Ich muß Excellenz perſönlich ſprechen, der
Courier! Ein Courier aus dem Anſpachſchen, De¬
peſchen von äußerſter Wichtigkeit.“


„Nach zehn Uhr wird nichts angenommen. Mor¬
gen früh um acht Uhr. Wenn's ſehr wichtig iſt,
können Sie ſchon um ſieben klingeln.“


Der Laden klappte, das Schiebefenſter ging zu.


„Was iſt da zu thun?“


„Zum Gouverneur!“


Er wird noch von der Schnepfenjagd nicht zurück
ſein, entſann ſich Dohleneck. — Es waren wohl Ad¬
jutanten und Officiere da, aber ſie waren für außer¬
ordentliche Fälle nicht inſtruirt. Es müßte doch wahr¬
ſcheinlich ein Miniſterconſeil berufen werden. Alſo
[325] rieth man einen andern Miniſter aufzuſuchen, es werde
doch einer wachen.


Es wachte aber zufällig keiner. Hier wurden
ſie angeſchrieen, dort höflich zur Ruhe vermahnt.
Sie ſollten wiſſen, daß Excellenz jeden Sonnabend
zu transpiriren einnehmen. Dann werde Niemand,
wer es auch ſei, vorgelaſſen.


„Er ſpielt L'hombre! Man darf ihn nicht ſtören!“
rief Bovillard und unterſchlug die Arme. Sie waren
vom letzten Hotel abgewieſen.


„Was ſehn Sie da, Bovillard?“


„Nach dem neuen Kometen, den Herr Bode am
großen Bären entdeckt hat. Der Mann hat ſich doch
ein großes Verdienſt um den preußiſchen Staat er¬
worben.“


„Wenn Kometen auf Krieg deuten! ſagte Doh¬
leneck. Wohin? Wohin?“


Bovillard ſtürzte ihnen vorauf.


„Ich ſehe Licht, Funken ſchlagen. Es gilt einen
Sturm.“


Die Erſcheinung, welche durch die Hintertreppe
ins Arbeitszimmer des Geheimraths gedrungen, war
ſein Sohn. Es waren Jahre vergangen, ſeit Louis
Bovillard ſeinen Fuß in dieſe Räume geſetzt.


Die auf des Vaters Seite waren entflohen, die
auf des Sohnes unten geblieben, oder ſie hatten ihm
die Sache übergeben und waren auch fortgegangen.
Der Vater und der Sohn waren allein.


[326]

Der Vater hatte ſich wieder gewonnen. Wenn
der erſte Anblick ihn erſchreckt, wenn er hinter den
Tiſch getreten auf dem die Flaſchen rollten, wenn er
an die Glocke ziehen wollen, ſo war der wüſte Traum¬
eindruck ſo ſchnell vergangen, als er aufſchoß. Dieſer
Sohn kam nicht mit der Piſtole in der Bruſt; er floh
nicht vor ſeinen Verfolgern, er war nicht eingedrun¬
gen, um des Vaters Beutel oder Schutz; aber wie
wild auch das Auge rollte, wie ſtarr und wüſt das
Haar um ſeine Stirne ſpielte, wie vernachläſſigt ſein
Anzug, Louis kam auch nicht als verlorner Sohn,
der die Träber gegeſſen, und zerknirſcht vor des Va¬
ters Füßen den Boden küſſen will. Er blieb aufrecht
an der Thür ſtehen: Ein verlorner Sohn hält auch
kein Portefeuille in Händen.


„Mein Vater! Vergeſſen Sie auf einen Augen¬
blick Ihren Sohn, dem Sie dieſe Schwelle verboten.
Sehn Sie nur den Sohn des Vaterlandes. Es gilt
deſſen Ehre, vielleicht ſein Daſein.“


Er hatte in kurzen abgeſtoßenen Sätzen erzählt,
— was wir bereits wiſſen.


„Und was geht es Dich an?“


Louis trat um einen Schritt näher: „Das iſt
nicht Ihr Ernſt, es kann nicht Ihr Ernſt ſein. Auch
Ihr Auge blitzte auf, ich ſah es. Vergeſſen Sie, daß
Ihr Sohn Zeuge iſt dieſer Bewegung, die Ihnen
keine Schande bringt. Herr Gott — Sie müſſen —“


Der Geheimrath war in Bewegung; es gelang
ihm nicht ganz, ſie zu verbergen.


[327]

„Der Du nicht mein Sohn ſein willſt, Du
weißt doch, daß ich nicht Miniſter bin, und die De¬
peſchen ſind nicht an mich.“


Louis war noch um einen Schritt näher getreten,
er hatte des Vaters Arm ergriffen, er ſah ihn mit
einem Blick an, den der Geheimrath nicht ertrug:


„Wenn ihr Kind in's Waſſer fiel, ſpringt die Mut¬
ter nach, auch wenn ſie nicht ſchwimmen kann. Der
Naturtrieb iſt's, ſie kann nicht ohne das Kind leben;
ſie will mit ihm untergehen. Hier handelt ſich's um
Untergang; unſer Vaterland geht an der Donau
unter. Wie Gebirgsbäche nach einem Platzregen ein
Thal überſchwemmen, ſo ſtampfen des Feindes Hufen
auf unſerem eigenen theuren vaterländiſchen Boden
die Quellen auf. Aus unſerem Blut, aus unſeren
Brüdern recrutirt er ſein Heer. Der Baier zieht
mit ihm, wie der Schakal dem Löwen folgt, Baden
iſt längſt gezwungen; in dieſem Augenblick, der
Courier bringt die Nachricht, ſchließt auch Würtem¬
berg ſich an; die Kleinern, die Größern, die Größten
reißt er, er reißt alle mit ſich. Nur wir glaubten
uns von beſſerer Natur, zu groß, wir ſchrieben
Friedrichs Namen mit Ellenbuchſtaben an unſre
Gränze. Da liegt die falſche Rechnung. Eine Tra¬
dition war's, ein Nebelſchild, ein Dunſtbild. Seine
Sappeurs haben unſeren Gränzpfahl niedergehauen,
ſeine Kanonen rollen, ſeine Reiter ſprengen darüber.
Der ſchwarzweiße Pfahl liegt im Graben, der Adler
zertreten, es giebt keine Preußiſche Gränze mehr, es
[328] giebt kein Preußen mehr, wenn wir das ruhig hin¬
nehmen.“


„Wenn das Factum ſich als richtig ausweiſt,
wird Preußen wegen des Gränzpfahls Satisfaction
verlangen. Deſſen darf man ſich verſichern.“


„Und der große Kaiſer, fiel Louis ein, wird ſie
ihm gewähren, o gewiß eine glänzende Satisfaction,
wenn wir ruhig bleiben und uns nicht kümmern um
was uns nichts angeht. Er wird uns auf ſeine
Koſten einen neuen Pfahl aufſtecken laſſen. O es
wird ihm eine Luſt ſein, uns Gränzen zu ſtecken.
Wenn wir ihm nur Zeit laſſen, unſere deutſchen Brü¬
der zu erdrücken und erwürgen, läßt er uns auch
wohl zur Genugthuung die dummen Sappeure füſi¬
liren die's gethan. — Seine Bülletins werden uns
cajoliren. O ſüße Harmonie der Geiſter, wenn das
ganze Deutſchland zertreten iſt, Oeſtreich ins Herz
geſtoßen, verblutet, wenn uns dann der große Kaiſer
belobt, wegen unſrer weiſen Mäßigung — Nur jetzt
fordern Sie es nicht, mein Vater, jetzt hat er anderes
zu thun. Seine Colonnen wälzen ſich, ſchwarze Rauch¬
ſäulen, über das blühende Schwaben und Franken,
er durchbricht die Donau, die Feuerſchlünde und die
Bajonette, die Roß und Mann, die es ihm nehmen
ſollten, er umzingelt Mack und den Erzherzog. Von
Schwaben aus, von Franken, von den Alpen her,
umgarnt, eiſern umarmt ſchon, iſt die öſtreichſche
Armee durch eine Uebermacht, gegen welche die Tapfer¬
keit umſonſt iſt, wenn keine Hülfe erſcheint. Ja, bei
[329] Nördlingen oder Ulm iſt's vielleicht ſchon in dieſem Mo¬
ment entſchieden, und wir— wir ſehen zu und ſchlafen.“


Der Geheimrath hatte ſich ganz wieder gewonnen.


„Du weißt, ich liebe nicht Exaltation, am we¬
nigſten in Staatsangelegenheiten.“


Er hatte ſich auf einen Stuhl niedergelaſſen und
fuhr mit einem Tuch über ſeine Stirn: „Wer leug¬
net, daß unſre Lage kritiſch iſt. Sie iſt ſehr bedenk¬
lich; ich will ernſthaft mit Dir ſprechen, weil ich aus
Deinem Affect heraus ſehe, daß es Dir ernſt iſt.
Es iſt mir nicht unlieb, denn wer weiß, was noch
kommt, wo Ernſt noththut. Wir haben uns täuſchen
laſſen, es iſt ſogar möglich, daß wir nicht zu rechter
Zeit uns entſchieden, uns nicht bei Zeiten wahre
Alliirte verſchafften. Es iſt noch ſchlimmer, daß,
wenn wir es jetzt wollten, man uns nicht mehr traut.
Ja ich fürchte, Napoleon grollt uns im Innern mehr
als einem ſeiner Gegner. So iſt's, mein Herr Sohn,
rief er aufſtehend, ja ſo iſt es. Und weil es ſo iſt,
dürfen wir grade jetzt nicht anders handeln, als wir
gehandelt. Sollen wir, wo das Schickſal von Eu¬
ropa auf der Meſſerſchneide ſchwebt, mit einem Mal
außer uns gerathen, uns ſelbſt verlieren, und dem
Theil, der auf dem Punkt ſteht, zu verlieren, uns
in die Arme werfen! Wir gingen mit ihm unter.“


„Wenigſtens wäre es ein männliches Ende — “


„Eines, der ſich ſelbſt verloren giebt. So weit
ſind wir noch nicht. Aber wir ſind in einer Lage,
wo man nicht vorſichtig genug ſein kann, wo man
[330] behutſam jeden Schritt, jedes Wort, jeden Blick, den
Hauch des Mundes abwägen muß. Unſre Politik
iſt, und kann, ſie darf nicht anders ſein, als hin¬
zaudern, abwarten, wie draußen die Würfel fallen —“


„Das iſt Ihre Politik, Vater!“


„Aller Vernünftigen. Sieh Dich um, und höre
die Stimmen in Berlin —“


„Das Ihre vernünftigen Freunde demoraliſirt
haben. Die Krämer- und Schreiberſeelen zittern frei¬
lich vor jedem Feuerhauch. Er könnte dieſe Stickluft
in Brand ſtecken. Ihr Ich iſt ihr Vaterland, die
Kunden, die morgen ausbleiben, wenn die Kriegs¬
trompete ſchmettert, ſind ihre Brüder. Aber die Pro¬
vinzen, das Land urtheilt anders. Auch hier —“


„Giebt es Brauſeköpfe, wie Du, Phantaſten,
Patrioten, leider ſehr hohe und ſehr gefährliche dar¬
unter, die das Schickſal des Staats auf eine Karte
ſetzen möchten. Das Blut von Tauſenden iſt ihnen
nichts, der Wohlſtand und das häusliche Glück von
Millionen, die Verwüſtung und Vernichtung des
Landes auf eine lange Zukunft hinaus, wenn ſie
nur ihrem Götzen Ehre opfern können. Der Krieg
iſt ihnen ein ritterliches Spiel, und um einzuhauen,
um Lorbeern zu erndten, als Sieger zurück zu kehren —“


„Genug, mein Vater, ſagte Louis Bovillard
und nahm das Portefeuille vom Tiſche. Sie wollen
nicht. Dieſe Depeſchen ſollen auch ruhen, wie des
Königs Miniſter bis — es morgen zu ſpät iſt.“


„Halt! mein Sohn, was iſt denn zu ſpät? Ich
[331] habe Alles zwiſchen uns vergeſſen und rede wie zu
einem, der mir gleich iſt. Dieſer Courier bringt
uns nichts Neues. Verſtehe mich wohl, wir ſahen,
was jetzt geſchehen iſt, ſeit Wochen voraus. Es
konnte nicht anders kommen. Seit acht Tagen er¬
warteten wir jede Stunde, daß es geſchehen wird.
Wir waren darum nicht müßig. Der weiſe Vorſchlag,
daß unſer Staat, was er nicht ändern konnte, frei¬
willig zugebe, die Erlaubniß des Durchmarſches für
alle kriegführenden Mächte, ſcheiterte leider. Wir
ſannen auf anders. Ehe das Auskunftsmittel ge¬
funden ward, iſt das Uebel eingetreten —“


„Das zum Himmel ſchreit.“


„Die Diplomatie hat Mittel, die Schreier ſtumm
zu machen. Nur weil die Hitzigen hier das Ober¬
waſſer hatten, ward die Ausgleichung verſpätet. Wir
haben noch nichts an unſrer Ehre verloren, wenn
Bernadottes Einbruch von Napoleon als ein Mi߬
verſtändniß desavouirt wird. An der Bereitwilligkeit
dazu wird es ihm nicht fehlen, denn mit dem Siege
an der Oberdonau hat er weder Oeſtreich noch Ru߬
land vernichtet. Es kann ihm nicht gleichgültig ſein,
wenn Preußen mit ſeiner ganzen Kriegsmacht hinter
den Verbündeten grollend ihm im Rücken ſteht. Ja,
wir wiſſen, er wird Alles thun, dem böſen Schritt
einen guten Schein zu geben. Laforeſt erwartet ſchon
einen außerordentlichen Geſandten. Napoleon opfert
auch Bernadotte, wenn es ſein muß. Nur muß er
wiſſen, daß wir bereit ſind, auch die Hand zu reichen,
[332] um das Mißverſtändniß zu conſtatiren. Siegen aber
in dieſem Augenblick bei uns die Feuerköpfe, ſo iſt
Alles verloren; und wenn im Schrecken der Nacht
ein Miniſterrath gehalten wird, weiß wer, ob ein
Schlaftrunkener nicht die Fackel ins Pulverfaß wirft.“


„Haben Sie mir noch mehr zu ſagen, mein
Vater?“


„Dein Herzenswunſch iſt es, und Dir verzeih
ich's und den jungen Leuten und patriotiſchen Frauen,
die keinen Blick in unſre Verhältniſſe haben, und ob
wir können, was wir wollen.“


„Wenn der Eroberer ſchon mit Angſt uns auf¬
marſchirt in ſeinem Rücken erblickt!“


„So wird er Kehrt machen, wenn er uns in
die Zähne ſieht, meinſt Du!“ — Der Geheimrath
blickte ſich um, wie wenn er einen Lauſcher fürchtete.
Mit gedämpfter Stimme ſprach er: — „Wir ſind
nicht gerüſtet, da haſt Du die Wahrheit, die man
nicht ausſprechen darf. Die Schulden der Rhein¬
campagne ſind noch nicht ganz gedeckt, die Mobil¬
machung nach der Weichſel hat ein neues Loch in
den Schatz gefreſſen. Wir haben kein Geld, auf
keine Subſidien zu rechnen, da wir mit England
blank ſtehen, es ſieht ſo ſchlimm in unſerer Kaſſe
aus, daß Herr von Stein drauf dringt, Papier¬
geld zu machen. Wer wird das in Zahlung an¬
nehmen?“


„Die Millionen, Vater, die unſer Kriegsweſen
jährlich — “


[333]

„Sind ausgegeben, um den Schein, den äußern
Anſtrich von Friedrichs Heer zu erhalten. Polirt und
friſch geſtrichen iſt Alles, aber das Holz morſch
und faul. Die Schilderhäuſer blinken und funkeln,
in den Magazinen ſtockt es. Unſre Feſtungen ſind
verfallen, unſre Generale Greiſe, unſer Fuhrweſen
verrottet, von unſren Truppen ſtanden die Wenigſten
im Feuer, unſer Exercitium iſt veraltet, und drüben
ſteht ein Feind, flink wie der Wind, mit dem Genie,
aus allem Stoff den er findet, Soldaten zu machen,
aus Pflaſterſteinen Kugeln, aus einem Lande, in dem
wir verhungern würden, Vorräthe in Ueberfluß zu
preſſen, ein Feind, ſage ich Dir, der alle unſre
Schwächen kennt, und wir kennen ſie nicht, und das
iſt das ſchlimmſte. Wir ſchaukeln uns im Uebermuth,
wir ſchreien wie Kinder, die durch ein dunkel Zim¬
mer müſſen, um ſich Muth zu machen, wir taumeln,
wie Machtwandler auf den Dächern, um, wenn man
unſern Namen ruft, herabzuſtürzen. Das wiſſen wir,
die wenigen, die man ſchimpft und verläſtert, mein
Sohn, und darum iſt unſre Politik, den Krieg ver¬
meiden um jeden Preis.“

„Um jeden! rief der Sohn. Mein Vater auch
um den Preis Ihres eignen Rufes, die Ehre des
Namens, den Ihre Väter trugen. Bedenken Sie,
er gehört Ihnen nicht allein. Mir iſt's nicht gleich¬
gültig, wenn ſie mit dem Finger auf meinen Vater
weiſen, wenn einſt in der Geſchichte auch ſein Name
unter denen genannt wird —“


[334]

„Louis! fiel der Geheimrath ihm ins Wort, ich
könnte Dir heut viel vergeben.“


„Nicht wenn ich gleichgültig bliebe zu meines
Vaters Schmach. Auf die Gefahr hin Ihres letzten
Zorns, ich will, muß reden! Kennen Sie das Urtheil
des Publikums? Ganz verhallt ſo was nicht, ganz
läßt es ſich nicht übertäuben in Späßen und in Luſtig¬
keit. In einſamen Stunden, wenn Sie Nachts auf¬
wachen, die Wanduhr tickt, der Wurm im Holze bohrt,
der Wind gegen die Fenſter klappt, ſchreit es Ihnen
da nicht zu, was man von Ihnen und Ihren Freunden
flüſtert, lächelt. — Nein, man ſpricht, man ſchreit es
laut auf dem Markt, mein Vater! — Man ſchilt
Sie Verräther am Vaterlande. Mehr noch, man
glaubt Sie gewonnen vom Feinde, beſtochen. Für
Napoleons Geld gäbe dieſe Verrätherklique dem
Könige Rathſchläge, die das Vaterland ins Verder¬
ben ſtürzen.“


„Ich kenne unſre Feinde.“


„Sie kennen Sie; das iſt mir lieb. Verachten
Sie die giftigen Zungen, ſo wünſche ich es. Aber
nicht durch ſtummes Achſelzücken, nicht indem Sie die
Hände vornehm in den Schooß legen. Dazu iſt nicht
mehr die Zeit. Sie können ſie nur verachten durch
helles offnes Handeln. Hier iſt ein Moment; hier
gilt es raſch handeln. Was der Courier gebracht,
iſt kein Geheimniß; morgen weiß es Jeder, er weiß
auch, daß er verſchloſſne Thore fand, daß die Mi¬
niſter ſchliefen, oder ſchlafen wollten. Der Lieutenant
[335] Schmilinsky, ein Soldat von rohem Schrot und Korn,
nimmt kein Blatt vor den Mund, ja er ſpeit ſchon
Feuer und Flamme. Er weiß jetzt, daß ſeine De¬
peſchen in Ihren Händen ruhen, daß es an Ihnen
wäre, die Miniſter zuſammen zu rufen. Geſchieht
es nicht, ſo fallen, mein Vater, die Verwünſchungen,
die jene treffen, auf Ihr Haupt zuerſt.“


„Das haſt Du gethan.“


„Ich, und mit freiem Willen —“


„Louis — Deinen Vater in eine Lage zu bringen,
die —“


„Ihm Gelegenheit verſchafft, den Makel abzu¬
waſchen. Ich freue mich, ich bin ſtolz darauf. —
Zum Miniſter — befehlen Sie, daß der Kutſcher
anſpannt — befehlen Sie, ich begleite Sie, be¬
befehlen Sie, was Sie wollen, ich bin zu Allem
bereit. Nur keinen Augenblick gezaudert —“


„Und nach alledem, was ich Dir — nur Dir —
vertraute —“


„Will ich meinen Vater rein ſehen, von der
Anklage, wie von der Schuld.“ — Er griff nach des
Vaters Hand. — „Enterben Sie mich, aber das
thun Sie mir zu Liebe. Beim allmächtigen Gott,
ich glaube nicht, was der Argwohn ſpricht, nicht von
Ihnen, auch nicht von den Andern — aber ich lechze,
ich ſehne mich nach Beweiſen, nach einer ſchlagenden
That, damit, was ich wünſche und glaube, zur Ueber¬
zeugung wird, damit ich ſtolz jedem die Stirn
weiſen, damit ich ihm ins Geſicht ſchauen, und
[336] ihn einen Lügner ſtrafen kann, der meinen Vater —
ſchilt.“


Der Geheimrath war in einer Aufregung, die ſich
nicht verbergen ließ, auf und ab gegangen. Jetzt
plötzlich riß er an der Schelle. Er ergriff das Porte¬
feuille, er drückte Louis Hand: „Rufe den Courier,
wir fahren zum Grafen.“

Appendix A

Druck von Eduard Krauſe in Berlin.


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Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 3. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpjc.0