von
Maͤhrchen, Erzaͤhlungen, Schauſpielen und Novellen,
In der Realſchulbuchhandlung.
[][]
An A. W. Schlegel.
(Anſtatt einer Vorrede.)
Es war eine ſchoͤne Zeit meines Lebens, als
ich Dich und Deinen Bruder Friederich zuerſt
kennen lernte; eine noch ſchoͤnere als wir und
Novalis fuͤr Kunſt und Wiſſenſchaft vereinigt
lebten, und uns in mannichfaltigen Beſtre-
bungen begegneten. Jetzt hat uns das Schick-
ſal ſchon ſeit vielen Jahren getrennt. Ich
verfehlte Dich in Rom, und eben ſo ſpaͤter
in Wien und Muͤnchen, und fortdauernde
Krankheit hielt mich ab, Dich an dem Orte
Deines Aufenthaltes aufzuſuchen; ich konnte
nur im Geiſt und in der Erinnerung mit
Dir leben.
Von verſchiedenen Seiten aufgefordert,
war ich ſchon ſeit einiger Zeit entſchloſſen,
meine jugendlichen Verſuche, die ſich zerſtreut
haben, zu ſammeln, diejenigen hinzuzufuͤgen,
welche bis jetzt noch ungedruckt waren, und
andre zu vollenden und auszuarbeiten, die
ich ſchon vor Jahren angefangen, oder ent-
worfen hatte. Dieſe Maͤhrchen, Schauſpiele
und Erzaͤhlungen, welche alle eine fruͤhere
[] Periode meines Lebens charakteriſiren, verei-
nigt durch mannichfaltige Geſpraͤche gleichge-
ſinnter Freunde uͤber Kunſt und Literatur,
machen den Inhalt dieſes Buches. Man-
ches, was ich in dieſen Dialogen nur fluͤch-
tig beruͤhren konnte, werde ich an andern
Orten beſtimmter darzuſtellen und auszufuͤh-
ren ſuchen. Diejenigen Dichtungen, welche
ſchon bekannt gemacht waren, erſcheinen hier
mit Verbeſſerungen, und in der Summe der
ſieben verſchiedenen Abtheilungen wird man
eben ſo viele neue, als in den Volksmaͤhr-
chen, oder anderswo ſchon abgedruckte, an-
treffen. Die groͤßeren Werke, wie der Zer-
bino oder die Genoveva ſchließen ſich von
dieſer Sammlung aus.
Es war meine Abſicht, meinen Freun-
den dieſe Spiele der Phantaſie, die ſie fruͤ-
her ſchon guͤtig aufgenommen haben, in
einer annehmlichern Geſtalt vorzulegen. Du
warſt unter dieſen einer der erſten, die mein
Talent erhoben und ermunterten, Dein maͤnn-
lich heiterer Sinn findet auch im Scherze den
Ernſt, ſo wie er Gelehrſamkeit und gruͤndliche
Forſchung durch Anmuth belebt: Du wirſt guͤ-
tig dieſe Blaͤtter aufnehmen, die das Bild vo-
riger Zeit und Deines Freundes in dir erneuern.
Einleitung.
I. [ I ]
[[2]][[3]]
Dieſes romantiſche Gebirge, ſagte Ernſt, erin-
nert mich lebhaft an einen der ſchoͤnſten Tage
meines Lebens. In der heiterſten Sommerszeit
hatte ich die Fahrt uͤber den Lago maggiore ge-
macht und die Borromaͤiſchen Inſeln beſucht;
von einem kleinen Flecken am See ritt ich dann
mit dem fruͤhſten Morgen nach Belinzona, das
mit ſeinen Zinnen und Thuͤrmen auf Huͤgeln
und im engen Thal ganz alterthuͤmlich ſich dar-
ſtellt, und uns alte Sagen und Geſchichten wun-
derlich vergegenwaͤrtigt, und von dort reiſete ich
am Nachmittage ab, um am folgenden Tage den
Weg uͤber den Sankt Gotthard anzutreten. Am
Fuße dieſes Berges liegt aͤußerſt anmuthig Giar-
nito, und einige Stunden vorher fuͤhrt dich
der Weg durch das reizendſte Thal, in welchem
Weingebirge und Wald auf das mannigfaltigſte
wechſelt, und von allen Bergen große und kleine
Waſſerfaͤlle klingend und wie muſizirend nieder-
tanzen; immer enger ruͤcken die Felſen zuſam-
men, je mehr du dich dem Orte naͤherſt, und
endlich ziehn ſich Weinlauben uͤber dir hinweg
von Berg zu Berg, und verdecken von Zeit zu
[4]Einleitung.
Zeit den Anblick des Himmels. Es wurde Abend,
eh ich die Herberge erreichte, beim Sternenglanz,
den mir die gruͤnen Lauben oft verhuͤllten, rauſch-
ten naͤher und vertraulicher die Waſſerfaͤlle, die
ſich in mannigfachen Kruͤmmungen Wege durch
das friſche Thal ſuchten; die Lichter des Ortes
waren bald nahe, bald fern, bald wieder ver-
ſchwunden, und das Echo, das unſere Reden
und den Hufſchlag der Pferde wiederholte, das
Fluͤſtern der Lauben, das Rauſchen der Baͤume,
das Brauſen und Toͤnen der Waſſer, die wie in
Freundſchaft und Zorn abwechſelnd naͤher und
ferner ſchwazten und zankten, vom Bellen wach-
ſamer Hunde aus verſchiedenen Richtungen un-
terbrochen, machten dieſen Abend, indem noch
die gruͤnenden Borromaͤiſchen Inſeln in meiner
Phantaſie ſchwammen, zu einem der wundervoll-
ſten meines Lebens, deſſen Muſik ſich oft wa-
chend und traͤumend in mir wiederholt. Und —
wie ich ſagte — dieſes romantiſche Gebirge hier
erinnert mich lebhaft an den Genuß jener ſchoͤ-
nen Tage.
Warum, ſagte ſein Freund Theodor, haſt du
nie etwas von deinen Reiſen deinen nahen und
fernen Freunden oͤffentlich mittheilen wollen?
Nenn' es, antwortete jener, Traͤgheit, Zag-
haftigkeit, oder wie du willſt: vielleicht auch ruͤhrt
es von einem einſeitigen, zu weit getriebenen Ab-
ſcheu gegen die meiſten Reiſebeſchreibungen aͤhn-
licher Art her, die mir bekannt geworden ſind.
[5]Einleitung.
Wenigſtens ſchwebt mir ein ganz andres Bild
einer ſolchen Beſchreibung vor; den aͤltern, un-
aͤſthetiſchen laſſe ich ihren Werth: doch jene, in
denen Natur und Kunſt und Voͤlker aller Art,
nebſt Sitten und Trachten und Staatsverfaſ-
ſungen der witzig-philoſophiſchen Eitelkeit des
Schriftſtellers, wie Affen zum Tanze, aufgefuͤhrt
werden, der ſich in jedem Augenblick nicht ge-
nug daruͤber verwundern kann, daß er es iſt,
der alle die Gaukeleien mit ſo ſtolzer Demuth
beſchreibt, und der ſo weltbuͤrgerlich ſich mit
allen dieſen Thorheiten einlaͤßt; o, ſie ſind mir
von je ſo widerlich geweſen, daß die Furcht, in
ihre Reihe geſtellt, oder gar unvermerkt bei aͤhn-
licher Beſchaͤftigung ihnen verwandt zu werden,
mich von jedem Verſuche einer oͤffentlichen Mit-
theilung abgeſchreckt hat.
Doch giebt es vielleicht, ſagte Theodor, eine
ſo ſchlichte und unſchuldige Manier, eine ſo
einfache Anſicht der Dinge, daß ich mir wohl
nach Art eines Gedichtes die Beſchreibung eines
Landes, oder einer Reiſe, denken kann.
Gewiß, ſagte Ernſt, manche der aͤltern Rei-
ſen, naͤhern ſich auch dieſem Bilde, und es ver-
haͤlt ſich ohne Zweifel damit eben ſo, wie mit
der Kunſt zu reiſen ſelbſt. Wie wenigen Menſchen
iſt das Talent verliehn, Reiſende zu ſein! Sie
verlaſſen niemals ihre Heimath, ſie werden von
allem Fremdartigen gedruͤckt und verlegen, oder
bemerken es durchaus gar nicht. Wie gluͤcklich,
[6]Einleitung.
wem es vergoͤnnt iſt, in erſter Jugend, wenn
Herz und Sinn noch unbefangen ſind, eine große
Reiſe durch ſchoͤne Laͤnder zu machen, dann tritt
ihm alles ſo natuͤrlich und wahr, ſo vertraut
wie Geſchwiſter, entgegen, er bemerkt und lernt,
ohne es zu wiſſen, ſeine ſtille Begeiſterung um-
faͤngt alles mit Liebe, und durchdringt mit freund-
lichem Ernſt alle Weſen: einem ſolchen Sinn er-
haͤlt die Heimath nachher den Reitz des Frem-
den, er verſteht nun einheimiſch zu ſein, das
Ferne und Nahe wird ihm eins, und in der
Vergleichung mannigfaltiger Gegenſtaͤnde wird
ihm ein Sinn fuͤr Richtigkeit. So war es wohl
gemeint, wenn man ſonſt junge Edelleute nach
Vollendung ihrer Studien reiſen ließ. Der
Menſch verſteht wahrhaft erſt das Nahe und
Einheimiſche, wenn ihm das Fremde nicht mehr
fremd iſt.
An dieſe Reiſenden ſchließe ich mich noch
am erſten, ſagte Theodor, wenn du mir auch
unaufhoͤrlich vorwirfſt, daß ich meine Reiſen,
wie das Leben ſelbſt, zu leichtſinnig nehme. Frei-
lich iſt wohl in meiner Sucht nach der Fremde
zu viel Widerwille gegen die gewohnte Umgebung,
und ſehr oft iſt es mir mehr um den Wechſel der
Gegenſtaͤnde, als um irgend eine Belehrung zu
thun.
Die zweite und vielleicht noch ſchoͤnere Art
zu reiſen, fuhr Ernſt fort, iſt jene, wenn die
Reiſe ſelbſt ſich in eine andaͤchtige Wallfahrt
[7]Einleitung.
verwandelt, wenn die jugendliche Neugier und
die ſcharfe Luſt an fremden Gegenſtaͤnden ſchon
gebrochen ſind, wenn ein reifes Gemuͤth mit
Kenntniß und Liebe gleich ſehr erfuͤllt, an die
Ruinen und Grabmaͤler der Vorzeit tritt, die
Natur und Kunſt wie die Erfuͤllung eines oft
getraͤumten Traums begruͤßt, auf jedem Schritte
alte Freunde findet, und Vorwelt und Gegen-
wart in ein großes, ruͤhrend erhabenes Gemaͤlde
zerfließen.
Dieſe elegiſchen Stimmungen wuͤrden mich
nur aͤngſtigen, unterbrach ihn Theodor. Ihr
andern, ihr ernſthaften Leute, verbindet ſo wi-
derwaͤrtige Begriffe mit dem Zerſtreutſein, da es
doch in einfachen Menſchen oft nur das wahre
Beiſammenſein mit der Natur iſt, wie mit einem
frohen Spielkameraden; eure Sammlung, euer
tiefes Eindringen ſehr haͤufig eine unermeßliche
Ferne. Auf welche Weiſe aber, mein Freund,
wuͤrdeſt du deine Anſicht uͤber dergleichen Gegen-
ſtaͤnde mittheilen, im Fall du einmal deinen Wi-
derwillen kuͤnftig etwas mehr bezwingen ſollteſt.
Schon fruͤh, ſagte Ernſt, bevor ich noch
die Welt und mich kennen gelernt hatte, war
ich mit meiner Erziehung, ſo wie mit allem Un-
terricht, den ich erfuhr, herzlich unzufrieden. War
es doch nicht anders, als verſchwiege man ge-
fliſſentlich das, was wiſſenswuͤrdig ſei, oder er-
waͤhnte es zuweilen nur, um mit hochmuͤthigem
Verhoͤhnen das zu erniedrigen, was ſelbſt in die-
[8]Einleitung.
ſer Entſtellung mein junges Herz bewegte. Da-
fuͤr aber ſuchte ich nachher auch, gleichſam wie
zum Trotz der Zeit in dieſer falſchen Bildung,
alles als ein Befreundetes und Verwandtes auf,
was mir meine Buͤcher und Lehrer nur zu oft
als das Abgeſchmackte, Dunkle und Widerwaͤr-
tige bezeichnet hatten; ich berauſchte mich auf
meinem erſten Ausfluge in allen Erinnerungen
des Alterthums, begeiſterte mich an den Denk-
malen einer laͤngſt verloſchenen Liebe, ja that
wohl manchem Guten und Nuͤtzlichen mit erwie-
dertem Verfolgungsgeiſt unrecht, und ſtand bald
unter meiner Umgebung ſelbſt wie eine unver-
ſtaͤndliche Alterthuͤmlichkeit, indem ich ihr Nicht-
begreifen nicht begriff, und verzweifeln wollte, daß
allen andern der Sinn und die Liebe ſo gaͤnz-
lich fehlten, die mich bis zum Schmerzhaften er-
regten und ruͤhrten.
Freilich, fiel Theodor lachend ein, erſchienſt
du damals mit deiner Bekehrungsſucht als ein
hoͤchſt wunderlicher Kauz, und ich erinnere mich
noch mit Freuden des Tages, als wir uns vor
vielen Jahren zuerſt in Nuͤrnberg trafen, und
wie einer deiner ehemaligen Lehrer, der dich dort
wieder aufgeſucht hatte, und fuͤr alles Nuͤtzliche,
Neue, Fabrikartige faſt fantaſtiſch begeiſtert
war, dich aus den dunkeln Mauern nach Fuͤrth
fuͤhrte, wo er in den Spiegelſchleifereien, Knopf-
Manufakturen und allen klappernden und rumo-
renden Gewerben wahrhaft ſchwelgte, und dein
[9]Einleitung.
Nichtachten ebenfalls nicht begriff und dich faſt
fuͤr ſchlechten Herzens erklaͤrt haͤtte, da er dich
nicht ſtumpfſinnig nennen wollte: endlich, bei
den Goldſchlaͤgern, lebteſt du zu ſeiner Freude
wieder auf, es geſchah aber nur, weil du hier
die Gelegenheit hatteſt, dir die Pergamentblaͤt-
ter zeigen zu laſſen, die zur Arbeit gebraucht wer-
den; du bedauerteſt zu ſeinem Verdruß ſogar die
zerſchnittenen Meßbuͤcher, und wuͤhlteſt herum,
um vielleicht ein Stuͤck eines altdeutſchen Ge-
dichtes zu entdecken, wofuͤr der aufgeklaͤrte Leh-
rer kein Blaͤttchen Goldſchaum aufgeopfert haͤtte.
Es iſt gut, ſagte Ernſt, daß die Menſchen
verſchieden denken und ſich auf mannigfaltige
Weiſe intereſſiren, doch war die ganze Welt da-
mals zu einſeitig auf ein Intereſſe hingeſpannt,
das ſeitdem auch ſchon mehr und mehr als Irr-
thum erkannt iſt. Dieſes Nord-Amerika von
Fuͤrth konnte mir freilich wohl neben dem alt-
buͤrgerlichen, germaniſchen, kunſtvollen Nuͤrnberg
nicht gefallen, und wie ſehnſuͤchtig eilte ich nach
der geliebten Stadt zuruͤck, in der der theure
Duͤrer gearbeitet hatte, wo die Kirchen, das
herrliche Rathhaus, ſo manche Sammlungen,
Spuren ſeiner Thaͤtigkeit, und der Johannis-
Kirchhof ſeinen Leichnam ſelber bewahrte; wie
gern ſchweifte ich durch die krummen Gaſſen,
uͤber die Bruͤcken und Plaͤtze, wo kuͤnſtliche Brun-
nen, Gebilde aller Art, mich an eine ſchoͤne Pe-
riode Deutſchlands erinnerten, ja! damals noch
[10]Einleitung.
die Haͤuſer von außen mit Gemaͤhlden von Rie-
ſen und alt deutſchen Helden geſchmuͤckt waren.
Doch ſagte Theodor, wird das jetzt alles
dort, ſo wie in andern Staͤdten, von Geſchmack-
vollen angeſtrichen, um, wie der Dichter ſagt:
„zu mahlen auf das Weiß, ihr Antlitz oder
ihren Steiß.“ — Allein Fuͤrth war auch bei alle
dem mit ſeinen geputzten Damen, die gedraͤngt
am Jahrmarktsfeſt durch die Gaſſen wandelten,
nebſt dem guten Wirthshauſe, und der Ausſicht
aus den Straßen in das Gruͤn an jenem war-
men ſonnigen Tage nicht ſo durchaus zu verach-
ten. Behuͤte uns uͤberhaupt nur der Himmel,
(wie es ſchon hie und da angeklungen hat) daß
dieſelbe Liebe und Begeiſterung, die ich zwar in
dir als etwas Aechtes anerkenne, nicht die Thor-
heit einer juͤngeren Zeit werde, die dich dann mit
leeren Uebertreibungen weit uͤberfluͤgeln moͤchte.
Wenn nur das wahrhaft Gute und Große
mehr erkannt und ins Bewußtſein gebracht wird,
ſagte Ernſt, wenn wir nur mehr ſammeln und
lernen, und jene Vorurtheile der neuern Hoffarth
ganz ablegen, und die Vorzeit und alſo das
Vaterland wahrhafter und inniger lieben, ſo kann
der Nachtheil einer ſich bald erſchoͤpfenden Thor-
heit ſo groß nicht werden. — In jenen jugend-
lichen Tagen, als ich zuerſt deine Freundſchaft
gewann, gerieth ich oft in die wunderlichſte Stim-
mung, wenn ich die Beſchreibungen unſers Va-
terlandes, die gekannt und geruͤhmt waren, und
[11]Einleitung.
welche auf allgemein angenommenen Grundſaͤtzen
ruhten, mit dem Deutſchland verglich, wie ich
es mit meinen Augen und Empfindungen ſah;
je mehr ich uͤberlegte, nachſann und zu lernen
ſuchte, je mehr wurde ich uͤberzeugt, es ſei von
zwei ganz verſchiedenen Laͤndern die Frage, ja
unſer Vaterland ſei uͤberall ſo unbekannt, wie
ein tief in Aſien oder Afrika zu entdeckendes
Reich, von welchem unſichre Sagen umgingen,
und das die Neugier unſrer wißbegierigen Lands-
leute eben ſo, wie jene mythiſchen Gegenden
reizen muͤſſe; und ſo nahm ich mir damals, in
jener Fruͤhlingsſtimmung meiner Seele, vor, der
Entdecker dieſer unbekannten Zonen zu werden.
Auf dieſe Weiſe bildete ſich in jenen Stunden
in mir das Ideal einer Reiſebeſchreibung durch
Deutſchland, das mich auch ſeitdem noch oft
uͤberſchlichen und mich gereizt hat, einige Blaͤt-
ter wirklich nieder zu ſchreiben. Doch jetzt koͤnnt'
ich leider Elegien dichten, daß es nun auch zu
jenen Elegien zu ſpaͤt iſt.
Einige Toͤne dieſer Elegie, ſagte Theodor,
klingen doch wohl in den Worten des Kloſter-
bruders.
Am fruͤhſten, ſagte Ernſt, in den wenigen
Zeilen unſers Dichters uͤber den Muͤnſter in
Straßburg, die ich niemals ohne Bewegung habe
leſen koͤnnen, dann in den Blaͤttern von deut-
ſcher Art und Kunſt; in neueren Tagen hat unſer
Freund, Friedrich Schlegel, mit Liebe an das
[12]Einleitung.
deutſche Alterthum erinnert, und mit tiefem Sinn
und Kenntniß manchen Irrthum entfernt, auch
hat ſich die Stimmung unſrer Zeit auffallend
zum Beſſern veraͤndert, wir achten die deutſche
Vorzeit und ihre Denkmaͤler, wir ſchaͤmen uns
nicht mehr, wie ehemals, Deutſche zu ſein, und
glauben nicht unbedingt mehr an die Vorzuͤge
fremder Nationen, das oͤkonomiſche Treiben, die
Verehrung kleinlicher Liſt, die Vergoͤtterung der
neuſten Zeit iſt faſt erſtorben, eine hoͤhere Sehn-
ſucht hat unſern Blick in die Vergangenheit ge-
ſchaͤrft, und Ungluͤck fuͤr vergangene große Jahr-
hunderte den edlern Sinn in uns aufgeſchloſſen.
In jenen fruͤheren Tagen aber hatten wir noch
mehr Ueberreſte der alten Zeit ſelbſt vor uns,
man fand noch Kloͤſter, geiſtliche Fuͤrſtenthuͤmer,
freie Reichsſtaͤdte, viele alte Gebaͤude waren noch
nicht abgetragen oder zerſtoͤrt, altdeutſche Kunſt-
werke noch nicht verſchleppt, manche Sitte noch
aus dem Mittelalter heruͤber gebracht, die Volks-
feſte hatten noch mehr Charakter und Froͤhlich-
keit, und man brauchte nur wenige Meilen zu
reiſen, um andre Gewohnheiten, Gebaͤude und
Verfaſſungen anzutreffen. Alle dieſe Mannigfal-
tigkeit zu ſehn, zu fuͤhlen und in ein Gemaͤhlde
darzuſtellen war damals mein Vorſatz, was unſre
Nation an eigenthuͤmlicher Mahlerei, Sculptur
und Architektur beſitzt, welche Sitten und Ver-
faſſungen jeder Provinz und Stadt eigen, und
wie ſie entſtanden, zu erforſchen, um den Miß-
[13]Einleitung.
verſtaͤndniſſen der neuern kleinlichen Geſchicht-
ſchreiber zu begegnen; welche Natur jeden Men-
ſchenſtamm umgiebt, ihn bildet und von ihm ge-
bildet wird: alles dieſes ſollte wie in einem
Kunſtwerke geloͤſt und ausgefuͤhrt werden. Den
edlen Stamm der Oeſterreicher wollte ich gegen
den Unglimpf jener Tage vertheidigen, die in
ihrem fruchtbaren Lande und hinter reizenden
Bergen den alten Frohſinn bewahren; die krie-
geriſchen und fromm glaͤubigen Bayern loben,
die freundlichen, ſinnvollen, erfindungsreichen
Schwaben im Garten ihres Landes ſchildern, von
denen ſchon ein alter Dichter ſingt:
die beruhrigen, muntern Franken, in ihrer roman-
tiſchen, vielfach wechſelnden Umgebung, denen
damals ihr Bamberg ein deutſches Rom war;
die geiſtvollen Voͤlker den herrlichen Rhein hin-
unter, die biederben Heſſen, die ſchoͤnen Thuͤrin-
ger, deren Waldgebirge noch die Geſtalt und
den Blick der alten Ritter aufbewahren; die
Niederdeutſchen, die dem treuherzigen Hollaͤnder
und ſtarken Englaͤnder aͤhnlich ſind: bei jeder
merkwuͤrdigen Stelle unſrer vaterlaͤndiſchen Erde
wollte ich an die alte Geſchichte erinnern, und
ſo dachte ich die lieben Thaͤler und Gebirge zu
durchwandeln, unſer edles Land, einſt ſo bluͤhend
und groß, vom Rhein und der Donau und alten
Sagen durchrauſcht, von hohen Bergen und alten
[14]Einleitung.
Schloͤſſern und deutſchem tapfern Sinn beſchirmt,
gekraͤnzt mit den einzig gruͤnen Wieſen, auf
denen ſo liebe Traulichkeit und einfacher Sinn
wohnt. Gewiß, wem es gelaͤnge, auf ſolche
Weiſe ein geliebtes Vaterland zu ſchildern, aus
den unmittelbarſten Gefuͤhlen, der wuͤrde ohne
alle Affektation zugleich ein hinreißendes Dich-
terwerk erſonnen haben.
Oft, fiel Theodor ein, habe ich mich dar-
uͤber wundern muͤſſen, daß wir nicht mit mehr
Ehrfurcht die Fußſtapfen unſrer Vorfahren auf-
ſuchen, da wir vor allem Griechiſchen und Roͤ-
miſchen, ja vor allem Fremden oft mit ſo heili-
gen Gefuͤhlen ſtehn und uns durch edle Erinn-
rungen entzuͤckt fuͤhlen; ſo wie auch daruͤber,
daß unſre Dichter noch ſo wenig gethan haben,
dieſen Geiſt zu erwecken.
Manche, ſagte Ernſt, haben es eine Zeit-
lang verſucht, aber ſchwach, viele verkehrt, und
ein hoher Sinn, der Deutſchland ſo liebte und
einheimiſch war, wie der große Shakſpear ſeinem
Vaterlande, hat uns bisher noch gefehlt.
Wir vergeſſen aber, rief Theodor, die herr-
liche Gegend zu genießen, auf die Voͤgel aus
dem Dickicht des Waldes und auf das Gemur-
mel dieſer lieblichen Baͤche zu horchen.
Alles toͤnt auch unbewußt in unſre Seele
hinein, ſagte Ernſt; auch wollten wir ja noch
die ſchoͤne Ruine beſteigen, die dort ſchon vor
uns liegt, und auch mit jedem Jahre mehr ver-
[15]Einleitung.
faͤllt: hier arbeitet die Zeit, anderswo die Nach-
laͤſſigkeit der Menſchen, an vielen Orten der ver-
achtende Leichtſinn, der ganze Gebaͤude nieder-
reißt, oder ſie verkauft, um alles Denkmal im-
mer mehr dem Staube und der Vergeſſenheit zu
uͤberliefern; indeß, wenn der Sinn dafuͤr nur
um ſo mehr erwacht, um ſo mehr in der Wirk-
lichkeit zu Grunde geht, ſo haben wir doch mehr
gewonnen als verloren.
Iſt dieſe Gegend nicht, durch welche wir
wandeln, fing Theodor an, einem ſchoͤnen roman-
tiſchen Gedichte zu vergleichen? Erſt wand ſich
der Weg labyrinthiſch auf und ab durch den dich-
ten Buchenwald, der nur augenblickliche raͤthſel-
hafte Ausſicht in die Landſchaft erlaubte: ſo iſt
die erſte Einleitung des Gedichtes; dann gerie-
then wir an den blauen Fluß, der uns ploͤtzlich
uͤberraſchte und uns den Blick in das unvermu-
thete friſch gruͤne Thal goͤnnte: ſo iſt die ploͤtz-
liche Gegenwart einer innigen Liebe; dann die
hohen Felſengruppen, die ſich edel und majeſtaͤ-
tiſch erhuben und hoͤher bis zum Himmel wuch-
ſen, je weiter wir gingen: ſo treten in die alten
Erzaͤhlungen erhabene Begebenheiten hinein, und
lenken unſern Sinn von den Blumen ab; dann
hatten wir den großen Blick auf ein weit aus-
gebreitetes Thal, mit ſchwebenden Doͤrfern und
Thuͤrmen auf ſchoͤn geformten Bergen in der
Ferne, wir ſahen Waͤlder, weidende Heerden,
Huͤtten der Bergleute, aus denen wir das Ge-
[16]Einleitung.
toͤſe heruͤber vernahmen: ſo oͤffnet ſich ein gro-
ßes Dichterwerk in die Mannigfaltigkeit der Welt
und entfaltet den Reichthum der Charaktere;
nun traten wir in den Hain von verſchiedenem
duftenden Gehoͤlz, in welchem die Nachtigall
ſo lieblich klagte, die Sonne ſich verbarg, ein
Bach ſo leiſe ſchluchzend aus den Bergen quoll,
und murmelnd jenen blauen Strom ſuchte, den
wir ploͤtzlich, um die Felſenecke biegend, in
aller Herrlichkeit wieder fanden: ſo ſchmilzt
Sehnſucht und Schmerz, und ſucht die ver-
wandte Bruſt des troͤſtenden Freundes, um ſich
ganz, ganz in deſſen lieblich erquickende Fuͤlle
zu ergießen, und ſich in triumphirende Woge zu
verwandeln. Wie wird ſich dieſe reizende Land-
ſchaft nun ferner noch entwickeln? Schon oft
habe ich Luſt gefuͤhlt, einer romantiſchen Muſik
ein Gedicht unterzulegen, oder gewuͤnſcht, ein
genialiſcher Tonkuͤnſtler moͤchte mir voraus arbei-
ten, um nachher den Text ſeiner Muſik zu ſuchen;
aber wahrlich, ich fuͤhle jetzt, daß ſich aus ſol-
chem Wechſel einer anmuthigen Landſchaft eben-
falls ein reizendes erzaͤhlendes Gedicht entwickeln
ließe.
Zu wiederholten malen, erwiederte Ernſt,
hat mich unſer Freund Manfred mit dergleichen
Vorſtellungen unterhalten, und indem du ſprachſt
dachte ich an den unvergleichlichen Parceval und
ſeine Krone, den Titurell. Jeder Spaziergang,
der uns befriedigt, hat in unſrer Seele ein Ge-
dicht
[17]Einleitung.
dicht abgeloͤſet, und wiederholt und vollendet es,
wenn er uns immer wieder mit unſichtbarem
Zauber umgiebt.
Sehn wir die Entwickelung der romanti-
ſchen Verſchlingung! rief Theodor; Wald und
Fluß verſchwinden links, unſer Weg zieht ſich
rechts, und viele kleine Waſſerfaͤlle rauſchen aus
buſchigen Huͤgeln hervor, und tanzen und jauch-
zen wie muntre Nebenperſonen zur Wieſe hinab,
um jenem ſchluchzenden Bach zu widerſprechen,
und in Freude und Luſt den glaͤnzenden Strom
aufzuſuchen, den ſchon die Sonne wieder be-
ſcheint, und der ſo laͤchelnd zu ihnen heruͤber
winkt.
Sieh doch, rief Ernſt, wenn mein geuͤbtes
Auge etwas weniger ſcharf waͤre, ſo koͤnnte ich
mich uͤberreden, dort ſtaͤnde unſer Freund An-
ton! aber ſeine Stellung iſt matter und ſein
Gang ſchwankender.
Nein, rief Theodor, dein Auge iſt nicht
ſcharf genug, ſonſt wuͤrdeſt du keinen Augen-
blick zweifeln, daß er es nicht ſelbſt in eigner
Perſon ſein ſollte! Sieh, wie er ſich jetzt buͤckt,
und mit der Hand Waſſer ſchoͤpft, nun ſchuͤttelt
er die Tropfen ab und dehnt ſich; ſieh, nur er
allein kann nun mit ſolchem leutſeligen Anſtande
die Naſe in die Sonne halten, — und ſein Auge
hat uns auch ſchon gefunden!
Die Freunde, die ſich lange nicht geſehn
hatten, und ſich in ſchoͤner Einſamkeit ſo unver-
I. [ 2 ]
[18]Einleitung.
muthet wieder fanden, eilten mit frohem Ausruf
auf einander zu, umarmten ſich, thaten tauſend
Fragen und erwarteten keine Antwort, druͤckten
ſich wieder an die Bruſt und genoſſen im Tau-
mel ihrer freudigen Verwunderung immer wieder
die Luſt der Ueberraſchung. O der Freude, dich
wieder zu haben, rief Theodor aus, du lieber,
lieber Freund! Wie faͤllſt du ſo unvermuthet (doch
brauchts ja keine Motive) aus dieſen allerlieb-
ſten Epiſoden hier in unſre Haupthandlung und
Wandlung hinein!
Aber du ſiehſt matt und krank aus, ſagte
Ernſt, indem er ihn mit Wehmuth betrachtete.
So iſt es auch, erwiederte Anton, ich habe
mich erſt vor einigen Wochen vom Krankenlager
erhoben, fuͤhlte heut zum erſtenmal die Schoͤn-
heit der Natur wieder, und ließ mir nicht traͤu-
men, daß ihr wie aus dem Himmel noch heut
in meinen Himmel fallen wuͤrdet. Aber ſeid mir
tauſend und tauſendmal willkommen!
Man ging, man ſtand dann wieder ſtill,
um ſich zu betrachten, ſich zu befragen, und
jeder erkundigte ſich nun nach den Geſchaͤften,
nach den Abſichten des andern. Meine Reiſe,
ſagte Ernſt, hat keinen andern Entzweck, als
mich in der Naͤhe, nur einige Meilen von hier,
uͤber einige alte, ſogenannte gothiſche Gebaͤude
zu unterrichten, und dann in der Stadt ein alt-
deutſches Gedicht aufzuſuchen.
Und ich, ſagte Theodor, bin meiner Gewohn-
[19]Einleitung.
heit nach nur ſo mitgenommen worden, weil ich
eben weder etwas zu thun, noch zu verſaͤumen
hatte.
Ich beſuche unſern Manfred, ſagte Anton,
der mich auf ſein ſchoͤnes Landgut, ſieben Mei-
len von hier, eingeladen hat, da er von meiner
Krankheit und Geneſung Nachricht bekommen.
Wohnt der jetzt in dieſem Gebirge? fragte
Ernſt.
Ihr wißt alſo nicht, fuhr Anton fort, daß
er ſchon ſeit mehr als zwei Jahren verheirathet
iſt und hier wohnt?
Manfred verheirathet? rief Theodor aus; er,
der ſo viel gegen alle Ehe deklamirt, ſo uͤber
alle geprieſene Haͤuslichkeit geſpottet hat, der es
zu ſeiner Aufgabe zu machen ſchien, das Phan-
taſtiſche mit dem wirklichen Leben aufs innigſte
zu verbinden, der vor nichts ſolchen Abſcheu aͤu-
ßerte, als vor jener geſetzten, kaltbluͤtig morali-
ſchen Philiſterei? Wie iſt es moͤglich? Ei! der
mag ſich denn nun auch ſchoͤn veraͤndert haben!
Gewiß hat ihn das Dreherchen der Zeit ſo um-
gedreht, daß er nicht wieder zu erkennen iſt.
Vielleicht, ſagte Ernſt, konnte es ihm gera-
de am erſten gelingen, die Jugend beizubehal-
ten, in welcher er ſich ſcheinbar ſo wild beweg-
te, denn ſein Charakter neigte immer zum Ernſt,
und eben darum war ſein Widerwille gegen den
geheuchelten, laͤppiſchen Ernſt unſerer Tage oft
ſo grotesk und bizarr: bei manchen Menſchen
[20]Einleitung.
dient eine wunderliche Außenſeite nur zum noth-
wendigen Gegengewicht eines gehaltvollen, oft
faſt melankoliſchen Innern, und zu dieſen ſcheint
mir unſer Freund zu gehoͤren.
Ich habe ihn ſchon im vorigen Jahre geſehn,
ſagte Anton, und ihn gar nicht veraͤndert gefun-
den, er iſt eher juͤnger geworden; ſeine Haus-
haltung mit ſeiner Frau und ihrer juͤngern
Schweſter Clara, mit ſeiner eignen Schweſter
und Schwiegermutter iſt die liebenswuͤrdigſte,
die ich noch geſehn habe, ſo wie ſein Landgut
die ſchoͤnſte Lage im ganzen Gebirge hat: ihr
thaͤtet klug, mich dahin zu begleiten, was ſich
auch ſehr gut mit deinen gelehrten antiquariſchen
Unterſuchungen vereinigen laͤßt.
Er muß! rief Theodor, oder ich laß ihn
im Stich der gothiſchen, oder, wie er will, alt-
deutſchen Spitzgewoͤlbe.
Daruͤber laͤßt ſich noch ſprechen, ſagte Ernſt
halb zweifelnd; da ihm aber Anton noch erzaͤhlte,
daß ſie im naͤchſten Staͤdtchen die beiden laͤngſt
geſuchten Freunde Lothar und Friedrich finden
wuͤrden, die ihn erwarteten, um mit ihm zum
gemeinſchaftlichen Freunde Manfred zu reiſen,
und ſich einige Wochen bei dieſem aufzuhalten,
ſo ließ ſich Ernſt bewegen, ſeine Antiquitaͤten,
auch noch ſo lange beiſeit zu thun, um nach
vielen Jahren einmal wieder im Kreiſe ſeiner
Geliebten eine neue Jugend zu leben, und die alten
theuern Erinnerungen ſeinem Herzen zu erwecken.
[21]Einleitung.
Die Freunde wanderten weiter, und nach
geraumer Zeit fragte Theodor: wie haſt du nur
ſo lange krank ſein koͤnnen?
Verwundre dich doch lieber, antwortete der
Kranke, wie ich ſo bald habe geneſen koͤnnen,
denn noch iſt es mir ſelber unbegreiflich, daß
meine Kraͤfte ſich ſo ſchnell wieder hergeſtellt haben.
Wie wird ſich der gute Friedrich freuen,
ſagte Theodor, dich einmal wieder zu ſehn; denn
immer warſt du ihm unter ſeinen Freunden der
liebſte.
Sagt vielmehr, antwortete der Geneſene,
daß wir uns in manchen Punkten unſers Weſens
am innigſten beruͤhrten und am beſten verſtanden;
denn, meine Geliebten, man lebt, wenn man das
Gluͤck hat, mehre Freunde zu beſitzen, mit jedem
Freunde ein eignes, abgeſondertes Leben; es bil-
den ſich mannichfache Kreiſe von Zaͤrtlichkeit und
Freundſchaft, die wohl die Gefuͤhle der Liebe zu
andern in ſich aufnehmen und harmoniſch mit
ihnen fortſchwingen, dann aber wieder in die
alte eigenthuͤmliche Bahn zuruͤck kehren, daher
eben ſo wie mir der Vertrauteſte in vielen Ge-
ſinnungen fremd bleibt, ſo hebt eben derſelbe
auch vieles Dunkle in meiner eignen Natur bloß
durch ſeine Gegenwart hervor, und macht es
licht, ſein Geſpraͤch, wenn es dieſe Punkte
trifft, erweckt es zum klarſten innigſten Leben,
und eben ſo wirkt meine Gegenwart auf ihn zu-
ruͤck. Vielleicht war manches in Friedrich und
[22]Einleitung.
mir, was ihr uͤbrigen mißverſtandet, was ſich
in uns ergaͤnzte und durch unſre Freundſchaft
zum Bewußtſein gedieh, ſo daß wir uns man-
cher Dinge wohl ſogar erfreuten, die andre uns
lieber haͤtten abgewoͤhnen moͤgen.
Was du da ſagſt iſt ſehr wahr, fuͤgte Ernſt
hinzu, der Menſch, der uͤberhaupt das Leben
und ſich verſteht wird mit jedem ſeiner Freunde
ein eignes Vertrauen, eine andre Zaͤrtlichkeit fuͤh-
len und uͤben wollen. O das iſt ja eben das
Himmliſche der Freundſchaft, ſich im geliebten
Gegenſtande ganz zu verlieren, neben dem Ver-
wandten ſo viel Fremdartiges, Geheimnißvolles
ahnden, mit herzlichem Glauben und edler Zu-
verſicht auch das Nichtverſtandne achten, durch
dieſe Liebe Seele zu gewinnen und Seele dem
Geliebten zu ſchenken! Wie roh leben diejeni-
gen, und verletzen ewig ſich und den Freund,
die ſo ganz und unbedingt ſich verſtehn, beurthei-
len, abmeſſen, und dadurch nur ſcheinbar ein-
ander angehoͤren wollen! das heißt Baͤume faͤl-
len, Huͤgel abtragen und Baͤche ableiten, um
allenthalben flache Durchſicht, Mittheilung und
Verknuͤpfung zu gewinnen, und einen ſchoͤnen
romantiſchen Park deshalb verderben. Nicht fruͤh
genug kann der Juͤngling, der ſo gluͤcklich iſt,
einen Freund zu gewinnen, ſich von dieſer ſelbſti-
ſchen Forderung unſrer roheren Natur, von die-
ſem Mißverſtaͤndniß der jugendlichen Liebe ent-
woͤhnen.
[23]Einleitung.
Was du da beruͤhrſt, ſagte Anton, beruͤhrt
zugleich die Wahrheit, daß es nicht nur erlaubt,
ſondern faſt nothwendig ſei, daß Freunde vor
einander Geheimniſſe haben, ja es erklaͤrt gewiſ-
ſermaßen die ſeltſame Erſcheinung, daß man dem
einen Freunde wohl etwas anvertrauen mag,
was man gern dem verſchweigt, mit dem man
vielleicht in noch vertrautern Verhaͤltniſſen lebt.
Es iſt eine Kunſt in der Freundſchaft wie in
allen Dingen, und vielleicht daher, daß man ſie
nicht als Kunſt erkennt und treibt, entſpringt
der Mangel an Freundſchaft, uͤber welchen alle
Welt jetzt klagt.
Hier kommen wir ja recht, rief Theodor leb-
haft aus, in das Gebiet, in welchem unſer
Friedrich ſo gerne wandelt! Ihn muß man uͤber
dieſe Gegenſtaͤnde reden hoͤren, denn er verlangt
und ſieht allenthalben Geheimniß, das er nicht
geſtoͤrt wiſſen will, denn es iſt ihm das Element
der Freundſchaft und Liebe. Verarge doch dem
Freunde nicht, ſprach er einmal, wenn du ahn-
deſt, daß er dir etwas verbirgt, denn dies iſt
ja nur der Beweis einer zaͤrteren Liebe, einer
Scheu, die ſich aͤngſtlich um dich bewirbt, und
ſittſam an dich ſchmiegt; o ihr Liebenden, ver-
geßt doch niemals, wie viel ihr wagt, wenn ihr
ein Gefuͤhl dem Worte anvertrauen wollt! was
laͤßt ſich denn uͤberall in Worten ſagen? Iſt
doch fuͤr vieles ſchon der Blick zu ungeiſtig und
koͤrperlich! — — O Bruͤder, Engelherzen, wie
[24]Einleitung.
viel thoͤrichtes Zeug wollen wir mit einander
ſchwatzen!
Thoͤricht? ſagte Anton etwas empfindlich;
ja freilich, wie alles thoͤricht iſt, was das Ma-
terielle zu verlaſſen ſtrebt, und wie die Liebe ſelbſt
in dieſer Hinſicht Krankheit zu nennen iſt, wie
Novalis ſo ſchoͤn ſagt. Haſt du noch nie ein
Wort bereut, daß du ſelbſt in der vertrauteſten
Stunde dem vertrauteſten Freunde ſagteſt? Nicht,
weil du ihn fuͤr einen Verraͤther halten konnteſt,
ſondern weil ein Gemuͤthsgeheimniß nun in einem
Elemente ſchwebte, das ſo leicht ſeine rohe Natur
dagegen wenden kann: ja du trauerſt wohl ſelbſt
uͤber manches, das der Freund in dein Herz nie-
der legen will, und das Wort klingt ſpaͤterhin
mißmuͤthig und disharmoniſch in deiner inner-
ſten Seele wieder. Oder verſtehſt du dies ſo gar
nicht und haſt es nie erlebt?
Nicht boͤſe, du lieber Kranker, ſagte Theo-
dor, indem er ihn umarmte; du kennſt ja meine
Art. Schatz, warſt du denn nicht eben einver-
ſtanden daruͤber, daß es unter Freunden Miß-
verſtaͤndniſſe geben muͤſſe? dieſe meine Dumm-
heit iſt auch ein Geheimniß, glaubt es nur, das
ihr auf eine etwas zartere Art ſolltet zu ahnden
oder zu entwirren ſtreben.
Alle lachten, worauf Anton ſagte: das Lachen
wird mir noch beſchwerlich und greift mich an,
ich werde muͤde und matt in unſre Herberge ankom-
men. — Er ſchoͤpfte hierauf wieder aus einem
[25]Einleitung.
voruͤberrollenden Bache etwas Waſſer, um ſich
zu erquicken, und wies den Wein ab, den ihm
Ernſt anbot, indem er ſagte: ihr koͤnnt es nicht
wiſſen, wie erquickend, wie paradieſiſch dem Gene-
ſenden die kuͤhle Woge iſt, ſchon indem ſie mein
Auge ſieht und mein Ohr murmeln hoͤrt, bin ich
entzuͤckt, ja Gedanken von friſchen Waͤldern und
Waſſern, von kuͤhlenden Schatten ſaͤuſeln immer-
fort anmuthig durch mein ermattendes Gemuͤth
und faͤcheln ſehnſuchtvoll die Hitze, die immer
noch dort brennt. Viel zu koͤrperlich und ſchwer
iſt dieſer ſuͤße, ſonſt ſo labende Wein, zu heiß
und duͤrr, und wuͤrde mir alle Traͤume meines
Innern in ihrem lieblichen Schlummer ſtoͤren.
Jeder nach ſeinem Geſchmack, ſagte Theo-
dor, indem er einen herzhaften Trunk aus der
Flaſche that; es lebe die Verſchiedenheit der Geſin-
nungen! Womit aber haſt du dich in deiner
Krankheit beſchaͤftigen koͤnnen?
Der Arzt verlangte, ſagte Anton, ich ſollte
mich durchaus auf keine Weiſe beſchaͤftigen, wie
denn die Aerzte uͤberhaupt Wunder von den Kran-
ken fodern; ich weiß nicht, welche Vorſtellungen
der meinige von den Buͤchern haben mußte, denn
er war hauptſaͤchlich gegen das Leſen eingenom-
men, er hielt es in meinem Zuſtande fuͤr eine
Art von Gift, und doch bin ich uͤberzeugt, daß
ich dem Leſen zum Theil meine Geneſung zu dan-
ken habe.
Unmoͤglich, ſagte Ernſt, kann im Zuſtand
[26]Einleitung.
des Fiebers, des Ueberreizes und der Abſpan-
nung dieſe Anſtrengung eine heilſame ſein, und
ich fuͤrchte, dein Arzt hat nur zu ſehr Recht
gehabt.
Was Recht! rief Anton aus; er hatte einen
ganz falſchen Begriff von der deutſchen Litera-
tur, ſo wie von meiner Kunſt des Leſens, denn
ich huͤtete mich wohl von ſelbſt vor allem Vor-
trefflichen, Hinreißenden, Pathetiſchen und Spe-
kulativen, was mir in der That haͤtte uͤbel bekom-
men koͤnnen; ſondern ich wandte mich in jene
anmuthige Gegend, die von den Kunſtverſtaͤndi-
gen meiſtentheils zu ſehr verachtet und vernach-
laͤſſigt wird, in jenen Wald voll aͤcht einheimi-
ſcher und patriotiſcher Gewaͤchſe, die mein Ge-
muͤth gelinde dehnten, gelinde mein Herz beweg-
ten, ſtill mein Blut erwaͤrmten, und mitten im
Genuß ſanfte Ironie und gelinde Langeweile zulie-
ßen. Ich verſichre euch, einen Tempel der Dank-
barkeit moͤcht' ich ihnen geneſend widmen; und
wie viele auch vortrefflich ſein moͤgen, ſo waren
es doch hauptſaͤchlich drei Autoren, die ich ſtudirt
und ihre Wirkungen beobachtet habe.
Ich bin begierig, ſagte Ernſt.
Als ich am ſchwaͤchſten und gefaͤhrlichſten
war, fuhr Anton fort, begann ich ſehr weislich,
gegen des Arztes ausdruͤckliches Verbot, mit un-
ſerm deutſchen La Fontaine. Denn ohne alles
Leſen aͤngſtigten mich meine Gedanken, die Trauer
uͤber meine Krankheit, tauſend Plane und Vor-
[27]Einleitung.
ſtellungen ſo ab, daß ich in jener anbefohlnen
Muße haͤtte zu Grunde gehen muͤſſen. Kann man
nun laͤugnen, daß dieſer Autor nicht manches
wahr und gut auffaßt, daß er manche Zuſtaͤnde,
wie Charaktere, treffend ſchildert, und daß die
meiſten ſeiner Buͤcher ſich durch eine gewiſſe Rein-
lichkeit der Schreibart empfehlen? Ohne alle Iro-
nie ſei es geſagt, viele ſeiner kleinen Erzaͤhlun-
gen haben mich wahrhaft ergoͤtzt und befriedigt.
Seine groͤßeren Werke, denen die meiſten dieſer
guten Eigenſchaften abgehn, erſetzen dieſen Man-
gel durch die unerſchoͤpfliche Liebe, die ſchon in
Kinderſeelen heroiſch arbeitet, durch einige Ver-
fuͤhrer im großen Styl und anſehnliche Graͤuel,
oder gar durch Kunſturtheile, die mich vorzuͤglich
inniglich erfreuten, und die er leider ſeinen Buͤ-
chern nur zu ſelten einſtreut. Wie war ich hin-
geriſſen, als ich in einem ſeiner Romane an die
ausgefuͤhrte Meinung gerieth, mit welcher er den
Hogarth uͤber Rafael ſetzt. Ja, meine Freunde,
es giebt gewiſſe Vorſtellungen, die unmittelbar
uns Elaſticitaͤt des Koͤrpers und der Seele zu-
fuͤhren, und ſo ſchelte mir keiner die großartige
Albernheit, denn ich war nach dieſem Kapitel
unverzuͤglich beſſer, und durfte doch noch keine
China gebrauchen.
So, ſagte Theodor, wurde der ganz geſunde
Spartaner durch Tyrtaͤus Hymnenklang zum Krie-
gestanze befluͤgelt. Was folgte nun auf dieſe
Periode?
[28]Einleitung.
Dieſe ſuͤßen Traͤume der Kindheit und Sehn-
ſucht, fuhr Anton fort, lagen ſchon hinter mir,
meine muͤndig werdende Phantaſie forderte ge-
haltvolleres Weſen. Treflich kamen meinem Be-
duͤrfniß alle die wundervollen, bizarren und tol-
len Romane unſers Spieß entgegen, von denen
ich ſelbſt die wieder las, die ich ſchon in fruͤ-
heren Zeiten kannte. Die Tage vergingen mir un-
glaublich ſchnell, und am Abend hatte ich freund-
liche Beſuche, in deren Geſpraͤchen die Toͤne jener
graͤßlichen, geſpenſtigen Begebenheiten wieder ver-
hallten. So ward mein Leben zum Traum, und
die angenehme Wiederkehr derſelben Gegenſtaͤnde
und Gedanken fiel mir nicht beſchwerlich, auch
war ich nun ſchon ſo ſtark, daß ich einer guten
Schreibart entbehren konnte, und die herzliche
Abgeſchmacktheit der Luftregenten, Petermaͤnn-
chen, Kettentraͤger, Loͤwenritter, gab mir durch
die vielfache und mannichfaltige Erfindung einen
ſtaͤrkern Ton; meine Ironie konnte ſich nun ſchon
mit der Compoſition beſchaͤftigen, und der Arzt
fand die ſtaͤrkenden Mittel ſo wie eine Nachlaſ-
ſung der zu ſtrengen Diaͤt erlaubt und nicht
mehr gefaͤhrlich.
Wieder eine Lebens-Periode beendigt, ſagte
Theodor.
Nun war aber guter Rath theuer, ſprach
Anton weiter. Ich hatte die Schwaͤrmereien des
Juͤnglings uͤberſtanden, Geſchichte und wirkliche
Welt lockten mich an, zuſammt der nicht zu ver-
[29]Einleitung.
achtenden Lebens-Philoſophie. Mein Fieber hatte
zwar nachgelaſſen, konnte aber immer wieder ge-
faͤhrlich werden, ich litt unausſprechlichen Durſt,
und durfte nicht trinken, was mein Schmachten
begehrte, immer nur wenig und nichts Kuͤhles,
und ich traͤumte nur von kalten Orangen, von
Citronen, ja Eſſig, machte Salat in meiner Phan-
taſie zu ungeheuern Portionen und verzehrte ſie,
trank aus Flaſchen im Felſenkeller ſelbſt den kuͤhl-
ſten Nierenſteiner, und badete mich dann in Mor-
genluft in den Wogen des gruͤn rauſchenden
Rheins. In dieſer ſchwelgenden Stimmung
begegnete mir nun der vortrefliche Cramer mit
ſeinen Ritter- und andern Romanen, und wie
ſoll ich wohl einem kalten, gefunden, vernuͤnf-
tigen Menſchen, der trinken darf, wann und
wie viel er will, die Wonne ſchildern, die mich
auf meinem einſamen Lager dieſe vortreflichſten
Werke genießen ließen? Ich kann nun ſagen:
werdet krank, lieben Freunde und leſet, und ihr
unterſchreibt alles, was neben euch gehender Re-
zenſent ſo eben behauptet.
Maͤßige dich nur, ſagte Theodor, ſonſt biſt
du gezwungen, wieder Waſſer zu ſchoͤpfen, um
dir den Kopf naß zu machen, und auf dieſem
anmuthigen Huͤgel haben wir keine Quelle in
der Naͤhe.
Ja, rief Anton aus, Dank dieſem biederſten
Deutſchen fuͤr ſeine Kaͤmpen, fuͤr ſeinen Has-
par a Spada und den Raugrafen zu Daſſel!
[30]Einleitung.
Wie ſaß ich mit ihnen allen zu Tiſche und ſah
und half die Kannen Ruͤdesheimer und Nieren-
ſteiner leeren; wir verachteten es, in Bechern nur
einzuſchenken, nein, aus dem vollen Humpen
ſelbſt tranken wir Großherzigen das kuͤhle, herr-
liche, duftende Naß, und ich lachte in dieſer
Geſellſchaft meinen Arzt rechtſchaffen aus: ent-
zuͤckt war ich mit dir, und begleitete dich be-
wundernd, du edelſter Bomſen, ich zechte Zug
fuͤr Zug mit dir, du Großer, der ſchon des Mor-
gens um vier Uhr betrunken zu Roſſe ſteigt, um
Thaten eines deutſchen Mannes adlich zu verrich-
ten. Wie deine Geſinnungen, du großer Dichter,
ſo iſt auch dein Styl gediegen und deutſch, und
alle die Pruͤgel und Puͤffe, die den Feinden oder
ſchlechten Menſchen zugetheilt werden, oder gar
den boshaften Pfaffen, waren mir eben ſo viele
Herzſtaͤrkungen und Browniſche Curmittel, und
darum trug ich auch kein Bedenken, deine vor-
zuͤglichſten Werke nach der Beendigung wieder
von vorn zu beginnen, denn hier war ja Erfin-
dung, Charakter, Eſſen, Trinken, Lebens-Philo-
ſophie, Wirklichkeit und Geſchichte alles meiner
draͤngenden Sehnſucht dargebracht, und alles
gleich vortrefflich. Mein ſchmachtender Durſt trieb
ſich nun nicht mehr in gigantiſchen Bildern zweck-
los um, ſondern fand ſeine Bahn vorgezeichnet
und große Beiſpiele, denen er ſich anſchloß; nun
traͤumte ich nicht mehr als Polyphem unter den
ſteinernen Treppen eines Weinberges zu liegen,
[31]Einleitung.
und daß ſich vom Himmel herunter eine unge-
heure Kelterpreſſe druͤcke, die mit Einem Wurf
den ganzen Weinberg ausquetſche, ſo daß in
Caskaden der Wein die Marmorſtufen herunter
rauſche und wie in ein großes Baſſin ſich unten
in meinen durſtenden Schlund ergoͤſſe. Von
dieſen Rieſenbildern war ich geheilt, und ſchon
durft' ich mit Vorſicht kuͤhlende Getraͤnke genie-
ßen, ſchon widerſtanden mir Fleiſchſpeiſen nicht
mehr, und mein Arzt ſchrieb ſich die Namen
der vornehmſten Cramerſchen Romane auf, um
ſie aͤhnlichen Kranken zu empfehlen; ich wandelte
ſchon im Zimmer, ſah bei der erſten Fruͤhlings-
waͤrme aus dem Fenſter, durfte wieder phanta-
ſiren, und nach einigen Wochen konnt' ich ſchon
die Hoffnung faſſen, bald dies Gebirge zu be-
treten, in welchem ich euch, ihr Lieben, zur Vol-
lendung meiner Geneſung, gefunden. — Aber eilt,
man laͤutet ſchon die Abendglocke, wir ſind vor
dem Staͤdtchen, dort treffen wir die Freunde und
vernehmen vielleicht wunderliche Dinge von ihnen.
Im Baumgarten des Gaſthofes ſaßen am
andern Morgen die fuͤnf Vereinigten um einen
runden Tiſch, ihre Stimmung war heiter wie
der ſchoͤne Morgen, nur Friedrich ſchien ernſt
und in ſich gekehrt, ſo ſehr auch Lothar jede
Gelegenheit ergriff, ihn durch Scherz und Froh-
ſinn zu ermuntern.
[32]Einleitung.
Wahrlich! rief Theodor aus, es giebt kein
groͤßeres Gluͤck, als Freunde zu beſitzen, ſie nach
Jahren in ſchoͤner Gegend in anmuthiger Fruͤh-
lingszeit wieder zu finden, mit ihnen zu ſchwatzen,
alle ihre Eigenheiten wieder zu erkennen, ſich
der Vergangenheit zu erinnern und mit dem Zu-
trauen allen in die Augen zu blicken, wie ich es
Gottlob! hier thun kann. Nur der Friedrich iſt
nicht, wie ſonſt. Haſt du Gram, mein Lieber?
Laß mich, guter heitrer Freund, ſagte Frie-
drich, es ſoll nicht lange waͤhren, ſo wirſt du
und ihr alle mehr von mir erfahren. Weißt du
doch nicht, ob ich nicht vielleicht am Gluͤcke
krank liege.
Wenn das iſt, ſagte Theodor, ſo moͤge Gott
nur den Arzt noch recht lange von dir entfernt
halten. O waͤrſt du doch lieber gar inkurabel!
Aber leider iſt die Heilung dieſer Krankheit nur
gar zu gewiß; o die Zeit, die boͤſe, liebe, gute,
alte, vergeßliche und doch mit dem unverwuͤſt-
lichen Gedaͤchtniß, das wiederkaͤuende große ernſte
Thier, die alles erzeugt und alles verwandelt,
ſie wird freilich machen, daß wir einer den an-
dern und uns ſelbſt nach wenigen Jahren mit
ganz veraͤnderten Augen anſehn.
Dadurch koͤnnteſt du ihn noch trauriger
machen, fiel Lothar ein; freilich will uns alles
uͤberreden, daß das Leben kein romantiſches Luſt-
ſpiel ſei, wie etwa Was ihr wollt, oder Wie
es euch gefaͤllt, ſondern daß es aus dieſen Regio-
nen
[33]Einleitung.
nen entrinnt, wir moͤchten es auch noch ſo gerne
ſo wollen und wenn es uns auch uͤber die Maßen
gefiele; der Himmel verhuͤtet auch, daß es ſel-
ten in ein großes Trauerſpiel ausartet, ſondern
es verlaͤuft ſich freilich meiſt, wie viele unerquick-
liche Werke mit einzelnen ſchoͤnen Stellen, oder
gar wie der herrliche Rhein in Sand und Sumpf.
O nein, ſagte Friedrich, glaubt es mir, meine
Freunde, das Leben iſt hoͤheren Urſprungs, und
es ſteht in unſerer Gewalt es ſeiner edlen Ge-
burt wuͤrdig zu erziehn und zu erhalten, daß
Staub und Vernichtung in keinem Augenblicke
daruͤber triumphiren duͤrfen: ja, es giebt eine
ewige Jugend, eine Sehnſucht, die ewig waͤhrt,
weil ſie ewig nicht erfuͤllt wird; weder getaͤuſcht
noch hintergangen, ſondern nur nicht erfuͤllt, damit
ſie nicht ſterbe, denn ſie ſehnt ſich im innerſten
Herzen nach ſich ſelbſt, ſie ſpiegelt in unendlich
wechſelnden Geſtalten das Bild der nimmer ver-
gaͤnglichen Liebe, das Nahe im Fernen, die himm-
liſche Ferne im Allernaͤchſten. Iſt es denn moͤg-
lich, daß der Menſch, der nur einmal aus die-
ſer Quelle des heiligen Wahnſinnes trinken durfte,
je wieder zur Nuͤchternheit, zum todten Zweifel
erwacht?
Bei alledem, ſagte Theodor, waͤre ein Jung-
brunnen, von dem die Alten gedichtet haben,
nicht zu verſchmaͤhn; waͤr' es auch nur der grauen
Haare wegen.
Wie koͤnntet ihr, fuhr Friedrich fort, doch
I. [ 3 ]
[34]Einleitung.
die Schoͤnheit nur empfinden, oder gar lieben,
wenn ſie unverwuͤſtlich waͤre? Die ſuͤße Elegie in
der [Entzuͤcknng], die Wehklage um den Adonis
und Balder iſt ja der ſchmachtende Seufzer, die
wolluͤſtige Thraͤne in der ganzen Natur! dem
Fluͤchtigen nacheilen, es feſthalten wollen, das
uns ſelbſt in feſtgeſchloſſenen Armen entrinnt,
dies macht die Liebe, den geheimnißvollen Zau-
ber, die Krankheit der Sehnſucht, das vergoͤt-
ternde Schmachten moͤglich.
Und, fuhr Ernſt fort, wie milde redet uns
die Ewigkeit an mit ihrem majeſtaͤtiſchen Ant-
litz, wenn wir auch das nur als Schatten und
Traum beſitzen, oder uns ihm naͤhern koͤnnen,
was das Goͤttlichſte dieſer Erde iſt? das muß
ja unſer Herz zum Unendlichen ermuntern und
ſtaͤrken, zur Tugend, zum Himmel, zu jener Schoͤne
uns fuͤhren, die nie verbluͤht, deren Entzuͤckung
ewige Gegenwart iſt.
Muͤßten wir nur nicht vorher aus dem Le-
the trinken, ſagte Anton, und zur Freude ſpre-
chen: was willſt du? und zum Lachen: du biſt
toll!
Theodor ſprang vom Tiſche auf, umarmte
jeden und ſchenkte von dem guten Rheinwein in
die Roͤmer: ei! rief er aus, daß wir wieder ſo
beiſammen ſind! daß wir wieder einmal unſre
zuſammen gewickelten Gemuͤther durchklopfen und
ausſtaͤuben koͤnnen, damit ſich keine Motten und
andres Geſpinſt in die Falten niſten! Wie wohl
[35]Einleitung.
thut das dem deutſchen Herzen beim Glaſe deut-
ſchen Weins! Ja, unſre Herzen ſind noch friſch,
wie ehedem, und daß ſich auch keiner von uns
das Tabackrauchen angewoͤhnt hat, thut mir in
der Seele wohl.
Immer der Alte! ſagte Lothar, du pflegſt
immer die Geſpraͤche da zu ſtoͤren, wo ſie erſt
recht zu Geſpraͤchen werden wollen; ich war begie-
rig, wohin dieſe ſeltſamen Vorſtellungen wohl
fuͤhren, und wie dieſe Gedankenreihe oder dieſer
Empfindungsgang endigen moͤchte.
Wie? ſagte Theodor, das kann ich dir aufs
Haar ſagen: ſieh, Bruderſeele, ſtehn wir erſt an
der Ewigkeit und ſolchen Gedanken oder Wor-
ten, die ſich gleichſam ins Unendliche dehnen,
ſo koͤmmt es mir vor, wie ein Abloͤſen der Schild-
wachen, daß nun bald eine neue Figur auf der-
ſelben Stelle auf und ab ſpatzieren ſoll. Ich
wette, nach zweien Sekunden haͤtten ſie ſich ange-
ſehn, kein Wort weiter zu ſagen gewußt, das
Glas genommen, getrunken und ſich den Mund
abgewiſcht.
„Weiter bringt es kein Menſch, ſtell er ſich
auch wie er will.“ O das iſt das Erquickliche
fuͤr unſer einen, daß das Groͤßte wieder ſo an
das Kleinſte graͤnzen muß, daß wir denn doch
Alle Menſchen, oder gar arme Suͤnder ſind, jeder,
nachdem ſein Genius ihn lenkt.
Du ſcheuſt nur, ſagte Anton, die liebliche
Stille, das Saͤuſeln des Geiſtes, welches in der
[36]Einleitung.
Mitte der innigſten und hoͤchſten Gedanken wohnt
und deſſen heilige Stummheit dem unverſtaͤnd-
lich iſt, der noch nie an den Ohren iſt beſchnit-
ten worden.
Ohren, antwortete Theodor, klingt im Deut-
ſchen immer gemein, Gehoͤrwerkzeuge affektirt, Hoͤr-
vermoͤgen philoſophiſch, und die Hoͤrer oder die
Hoͤrenden iſt nicht gebraͤuchlich, kurzum, man
kann ſie ſelten nennen, ohne anſtoͤßig zu ſein.
Der Spanier vermeidet auch gern, ſo ſchlecht
hin Ohren zu ſagen. Am beſten braucht man
wohl Gehoͤr, wo es paßt, oder das Ohr einzeln,
wodurch ſie beide gleich edler werden.
Dein Tabakrauchen hat aber das vorige
Geſpraͤch erſtickt, ſagte Lothar; freilich iſt es die
unkuͤnſtleriſchſte aller Beſchaͤftigungen und der
Genuß, der ſich am wenigſten poetiſch erheben
laͤßt.
Mir iſt es uͤber die Gebuͤhr zuwider, ſagte
Theodor, und darum betrachtete ich euch ſchon
alle geſtern Abend darauf, denn es giebt einen
eignen Pfeifenzug im Winkel des Mundes und
unter dem Auge, der ſich an einem ſtarken Rau-
cher unmoͤglich verkennen laͤßt; deshalb war ich
ſchon geſtern uͤber eure Phyſtognomien beruhigt.
Mir ſcheint die neuſte ſchlimmſte Zeit erſt mit
der Verbreitung dieſes Krautes entſtanden zu
ſein, und ich kann ſelbſt auf den geprieſenen
Compaß boͤſe ſein, der uns nach Amerika fuͤhrte,
[37]Einleitung.
um dies Unkraut mit manchen andern Leiden
zu uns heruͤber zu holen.
Wie einige Zuͤge im Geſicht durch die Pfeife
entſtehn, ſagte Lothar, ſo werden die feinſten
des Witzes und gutmuͤthigen Spottes, ſo wie
die Grazie die Lippen durchaus, durch die oft
angelegte Pfeife vernichtet.
Ich ließe noch die kalte Pfeife gelten, ſagte
Ernſt, ſo hielt ſich einer meiner Freunde eine
von Thon, um ſie in der gemuͤthlichſten Stim-
mung zuweilen in den Mund zu nehmen, und
dann recht nach ſeiner Laune zu ſprechen; aber
der boͤſe, beizende, uͤbel riechende Rauch macht
das Ding fatal. Ich lernte einmal einen Mann
kennen, der mir ſehr intereſſant war, und der
ſich auch in meiner Geſellſchaft zu gefallen ſchien,
wir ſprachen viel mit einander, endlich, um uns
recht genießen zu koͤnnen, zog er mich in ſein
Zimmer, ließ ſich aber beigehn, zu groͤßerer Ver-
traulichkeit ſeine Pfeife anzuzuͤnden, und von
dieſem Augenblick konnte ich weder recht hoͤren
und begreifen, was er vortrug, noch weniger
aber war ich im Stande, eine eigne Meinung
zu haben, oder nur etwas anders als Fluͤche auf
den Rauch in meinem Herzen zu denken, — „nicht
laute, aber tiefe“ — wie Macbeth ſagt.
Lothar lachte: mit einem troſtloſen Liebha-
ber, fuhr er fort, iſt es mir einmal noch ſchlim-
mer ergangen, er hatte mich hingeriſſen und ge-
ruͤhrt; bei einer kleinen Ruheſtelle der Klage
[38]Einleitung.
ſuchte er ſeine Pfeife, Schwamm und Stein,
ſchlug mit Virtuoſitaͤt ſchnell Feuer, und ver-
ſicherte mich nachher in abgebrochenen rauchen-
den Pauſen ſeiner Verzweiflung. Ich muſte lachen,
und nur zum Gluͤck daß mich der Rauch in ein
ſtarkes Huſten brachte, ſonſt haͤtt' ich dem guten
Menſchen als ein unnatuͤrlicher Barbar erſchei-
nen muͤſſen.
Es laͤßt ſich wohl, ſagte Theodor, alles
mit Grazie thun, ich kenne wenigſtens einen
großen Philoſophen, dem in ſeiner Liebenswuͤr-
digkeit auch dies edel ſteht. Mit dem Caffee
wird nach der Mahlzeit eine lange Pfeife gebracht,
die der Bediente anzuͤndet, es geſchehn ruhig
und ohne alle Leidenſchaft einige Zuͤge, und eh
man noch die Unbequemlichkeit bemerkt, iſt die
Sache ſchon wieder beſchloſſen. Aber ſchrecklich
ſind freilich die kurzen, am Munde ſchwebenden
Inſtrumente, die jede Bewegung mit machen
muͤſſen und ſich jeder Thaͤtigkeit fuͤgen, die den
ganzen Tag die Lippen preſſen und ſelbſt die
Sprache veraͤndern.
Mir iſt es nicht unwahrſcheinlich, ſagte
Anton, daß dieſe Gewohnheit, die ſo uͤberhand
genommen, die Menſchen paſſiver, traͤger und
unwitziger gemacht hat. Wir ſollen keinen Ge-
nuß haben, der uns unaufhoͤrlich begleitet, der
etwas Stetiges wird, er iſt nur erlaubt und
edel durch das Voruͤbergehende. Darum ver-
achten wir den Saͤufer, ob wir alle gleich gern
[39]Einleitung.
Wein trinken, und der Raͤſcher iſt laͤcherlich, der
ſeine Zunge durch ununterbrochenes Koſten er-
muͤdet; vom Raucher denkt man billiger, weil
es eben Gewohnheit geworden iſt, die man nicht
mehr beurtheilt, doch begreif' ich es wenigſtens
nicht, wie ſelbſt Frauen jetzt an vielen Orten da-
gegen tolerant werden.
Koͤnnt ihr euch, ſagte Lothar, einen rauchen-
den Apoſtel denken?
Eben ſo wenig, ſagte Ernſt, als den adli-
chen Triſtan mit der Pfeife, oder den hochſtre-
benden Don Quixote.
Dem Sancho aber, ſagte Lothar, fehlt ſie
beinah; haͤtten manche umarbeitende Ueberſetzer
mehr Genie gehabt, ſo haͤtten ſie dieſe lieber
hinzu fuͤgen, als ſo manche Schoͤnheit weglaſſen
duͤrfen.
Vielleicht iſt dieſes Beduͤrfniß, fiel Friedrich
ein, ein Surrogat fuͤr ſo manches verlorne Be-
duͤrfniß, des oͤffentlichen Lebens der Galanterie
der Geſellſchaft, der Freiheit und der Feſte.
Vielleicht ſoll ſich zu Zeiten der Menſch mehr
betaͤuben, und dann iſt es wohl moͤglich, daß
er ſeinen alten verrufenen blauen Dunſt fuͤr ein
wirkliches Gut haͤlt. Nicht bloß Taback, auch
philoſophiſche Phraſen, Syſteme, und manches
andre wird heut zu Tage geraucht, und beſchwert
den Nichtrauchenden ebenfalls mit unleidlichem
Geruch.
Nicht ſo melankoliſch, ſagte Theodor, laßt
[40]Einleitung.
uns dieſe tiefſinnige Betrachtung wenden, denn
am Ende koͤmmt doch in keiner Tugend der ganze
Menſch ſo rein zum Vorſchein, als in den Thor-
heiten. Die Berge rauchen oft und die Thaͤler
ſind voll Nebel, viele Gegenden verlieren ihn
oft in Monaten nicht, die See dampft, und
ſo laßt denn unſerm guten Zeitalter auch ſeinen
Dampf. Nur wir wollen unſrer Sitte treu blei-
ben. Beſorgt bin ich aber fuͤr Manfred, daß
er ſich dieſen Zuſtand als Appendix der Ehe
moͤchte angewoͤhnt haben, um ſeine weiſen Lehr-
ſpruͤche aus dampfendem Munde, wie Orakel aus
rauchenden Hoͤlen, verehrlicher zu machen, und
ich geſtehe uͤberhaupt, daß ich mich ihm nur mit
einer gewiſſen heimlichen Furcht wieder naͤhern
kann.
Du biſt ohne Noth beſorgt, ſagte Lothar.
Seit lange kenne ich unſern Freund in ſeinem
haͤuslichen Zuſtande, und ich habe nicht bemer-
ken koͤnnen, daß er ſeinen jugendlichen Frohſinn
und ſeine muthwillige Laune gegen jene altkluge
Hausvaͤterlichkeit vertauſcht habe, im Gegentheil,
kann er oft ſo ausgelaſſen ſein, daß die Schwie-
germutter im Hauſe ſo wenig laͤſtig oder uͤber-
fluͤſſig iſt, daß ſie vielmehr zuweilen als kuͤhlende
und beſonnene Vernunft zum allgemeinen Beſten
hervortreten muß.
Wenn alles uͤbrige, ſagte Theodor, auf den-
ſelben Fuß eingerichtet iſt, ſo iſt ſeine Haushal-
tung die vollkommenſte in der Welt.
[41]Einleitung.
Noch mehr, fuhr Lothar fort, dieſe Frau
iſt noch anmuthig und reizend, und man glaubt
es kaum, daß ſie zwei erwachſene Toͤchter haben
koͤnne. Sie hat ſelbſt einige annehmlich ſchei-
nende Parthieen ausgeſchlagen, und Maͤnner
haben ſich um ſie beworben, die an Jahren weit
juͤnger ſind.
Wenn die Mutter ſchon ſo gefaͤhrlich iſt,
ſagte Theodor, ſo muß der Umgang mit den
Toͤchtern gar herz- und halsbrechend ſein.
Die Gattin unſers Manfred, erzaͤhlte Lothar
weiter, iſt ſehr ſtill und ſanft, von zartem Ge-
muͤth und ruͤhrend ſchoͤner Geſtalt, er hat noch
das Betragen des Liebhabers, und ſie das bloͤde
geſchaͤmige Weſen einer Jungfrau; ihre juͤngere
Schweſter Clara iſt der Muthwille und die Hei-
terkeit ſelbſt, launig, witzig, und faſt immer
lachend, im beſtaͤndigem kleinen Kriege mit Man-
fred; man ſollte glauben, wenn man ſie beiſam-
men ſieht, er haͤtte dieſe lieben muͤſſen, und die
aͤltere, ihm ſo ungleiche Schweſter, haͤtte ihn
nicht ruͤhren koͤnnen, allein die Liebe fodert viel-
leicht eine gewiſſe Verſchiedenheit des Weſens
und des Charakters.
Ich komme darauf zuruͤck, ſagte Ernſt, daß
wir immer noch nicht wiſſen koͤnnen, wie viel
in Manfred angewoͤhnte Manier iſt, und wie
viel Natur; ich habe oft bemerkt, daß er ernſt,
ja traurig war, wenn die Umgebung ihn fuͤr
ausſchweifend luſtig hielt. Er hat es von je
[42]Einleitung.
geſcheut, ſeine innerſten Gefuͤhle kund zu thun,
und ſo wirft er ſich oft gewaltthaͤtig in eine
Laune, die ihn quaͤlen kann, indem ſie andre
ergoͤtzt.
Wie wird es aber, fragte Theodor weiter,
mit den Kindern gehalten? Wahrſcheinlich hat
ſich doch auch zu ihm die neumodiſche und weich-
liche Erziehung erſtreckt, jene allerliebſte Confu-
ſion, die jeden Gegenwaͤrtigen im ununterbro-
chenen Schwindel erhaͤlt, indem die Kinderſtube
allenthalben, im Geſellſchaftszimmer, im Garten
und in jedem Winkel des Hauſes iſt, und kein
Geſpraͤch und keine Ruhe zulaͤßt, ſondern nur
ewiges Geſchrei und Erziehen ſich hervor thut,
eine unſterbliche Zerſtreutheit im ſcheinbaren Acht-
geben; jenes Chaos der meiſten Haushaltungen,
das mir ſo erſchrecklich duͤnkt, daß ich die neuen
Paͤdagogen, die es veranlaßt haben, und jene
Entdecker der Muͤtterlichkeit gern als Verdammte
in einen eignen Kreis der Danteſchen Hoͤlle hin-
ein gedichtet haͤtte, der nur eine ſolche neuer-
fundene allgegenwaͤrtige Kinderſtube mit all ihrem
Wirwarr und Schariwari moderner Elternliebe
darzuſtellen brauchte, um ſich als ein nicht un-
wuͤrdiger Beitrag jener furchtbaren Zirkel anzu-
ſchließen.
Auch von dieſer neuen, faſt allgemein ver-
breiteten Krankheit, erzaͤhlte Lothar, findeſt du
in ſeinem Hauſe nichts: ſeine junge Gattinn iſt
eine wahre Mutter, faſt ſo, wie es unſre Muͤt-
[43]Einleitung.
ter noch waren; ſie liebt ihre beiden Kinder uͤber
alles, und hat eben darum eine Art von Scham,
in Geſellſchaft die Mutter zu ſpielen, und die
Kinder wie Dekorationen an ſich zu haͤngen; die
Wartung und alle Erziehung der Kleinen wird
von ihr ſtill im Heiligthum eines entlegenen Zim-
mers beſorgt, und weil ſie ordentlich iſt, und
weiß, was ſie befiehlt, ſo darf ſie die Kinder
zu Zeiten dem gehorſamen Geſinde uͤberlaſſen, und
ſie kann ruhig und heiter an der Geſellſchaft
Theil nehmen, weil ſie die Stunde beobachtet;
kurz, man nimmt an den allerliebſten Creaturen
nur ſo viel Theil, als man ſelbſt will, und ich,
der ich die Kinder kindlich liebe, bin immer
gezwungen, ſie aufzuſuchen.
Vortrefflich! ſagte Ernſt, dies beweiſt am
meiſten fuͤr die Schwiegermutter, die die Toͤch-
ter ſehr gut und zur Ordnung muß erzogen haben.
In deiner Beſchreibung finde ich gerade die ehr-
wuͤrdigſten Muͤtter wieder, die ich je gekannt
habe. Alles Gute und Rechte ſoll nur ſo geſchehn,
daß es ein unachtſames Auge gar nicht gewahr
wird. Unſer Vaterland aber iſt das Land der
geraͤuſchvollſten Erziehung, und die Nation wird
bald nur aus Erziehern beſtehen; fuͤr Muͤtter und
Kinder ſind Bibliotheken, und hundert Journale
und Almanache geſchrieben, alle ihre Tugenden
und Pflichten hat man tauſendfaͤltig in Kupfer
geſtochen und zur groͤßern Aufmunterung illumi-
nirt, und aus dem Natuͤrlichſten und Einfach-
[44]Einleitung.
ſten, was kaum viele Worte zulaͤßt, haben wir
mit Kunſt einen Goͤtzen der vollſtaͤndigſten Thor-
heit geſchnitzt, und es im ausgefuͤhrten Syſtem
ſo weit gebracht, daß wir durch Beobachtung,
Philoſophie und Natur uns von allem Menſch-
lichen und Natuͤrlichen auf unendliche Weite ent-
fernt haben. Nicht genug, daß man die Kin-
der faſt von der Geburt mit Eitelkeit verdirbt,
man ruinirt auch die wenigen Schulen, die etwa
noch im alten Sinn eingerichtet waren; man
zwingt die Kinder im ſiebenten Jahr, zu lernen,
wie ſie Scheintodte zum Leben erwecken ſollen,
man verſchreibt Erzieher aus den Gegenden, in
welchen dieſe Produkte am beſten gerathen; ja
die Staaten ſelbſt verbieten das Buchſtabiren,
und machen es zur Gewiſſensſache, das Leſen
anders als auf die neue Weiſe zu erlernen, und
faſt alle Menſchen, ſelbſt die beſſern Koͤpfe nicht
ausgenommen, drehen ſich im Schwindel nach
dieſem Orient, um von hier den Meſſias und
das Heil der Welt baldigſt ankommen zu ſehn;
aber gewiß, nach zwanzig Jahren verſpotten wir
aus einer neuen Thorheit heraus dieſe jetzige.
Dies ſind auch nur Schildwachen, die ſich abloͤ-
ſen, und ſo viel neue Figuren auch kommen, ſo
bleiben ſie doch immer auf derſelben Stelle wan-
deln. Jeder Menſch hat etwas, das ſeinen Zorn
erregt, und ich geſtehe, ich bin meiſt ſo ſchwach,
daß die Paͤdagogik den meinigen in Bewegung
ſetzt.
[45]Einleitung.
So ſcheint es, ſagte Lothar; ein geiſtreicher
Mann ſagte einmal: wir ſind ſchlecht erzogen,
und es iſt nichts aus uns geworden, wie wird
es erſt mit unſern Kindern ausſehn, die wir
gut erziehn!
Mir daͤucht, ſagte Theodor, es waͤre nun
wohl an der Zeit, auch einmal eine Wochenſchrift
„der Kinderfeind“ zu ſchreiben, um die Thor-
heiten laͤcherlich zu machen, und der ehemaligen
Strenge und Einfalt wieder Raum und Auf-
nahme vorzubereiten.
Du faͤndeſt keine Leſer, ſagte Ernſt, unter
dieſer Ueberfuͤlle humaner Eltern und gereifter
ausgebildter Erzieher.
Friedrich war ſchon vor einiger Zeit vom
Tiſch und Geſpraͤch aufgeſtanden, und auf ſei-
nen Wink hatte ſich Anton zu ihm geſellt. Sie
gingen unter einen Baumgang, von welchem
man weit auf die Landſtraße hinaus ſehn konnte,
die ſich uͤber einen nahe liegenden Berg hinweg
zog. Mich kuͤmmern alle dieſe Dinge nicht, ſagte
Friedrich, treib' es jeder, wie er mag und kann,
denn mein Herz iſt ſo ganz und durchaus von
einem Gegenſtande erfuͤllt, daß mich weder die
Thorheiten noch die ernſthaften Begebenheiten
unſerer Zeit ſonderlich anziehn. Er vertraute ſei-
nem Freunde, der ſeine Verhaͤltniſſe ſchon kannte,
daß es ihm endlich gelungen ſei, alle Bedenk-
lichkeiten ſeiner geliebten Adelheid zu uͤberwin-
den, und daß ſie ſich entſchloſſen habe, auf ir-
[46]Einleitung.
gend eine Weiſe das Haus ihres Oheims, des
Geheimeraths, zu verlaſſen: dieſer wolle einen
alten Lieblingsplan faſt gewaltthaͤtig durchſetzen,
ſie mit ſeinem juͤngeren Bruder, einem reichen
Gutsbeſitzer, zu vermaͤhlen, weil er ſich ſo an
die Geſellſchaft des ſchoͤnen liebenswuͤrdigen Kin-
des gewoͤhnt habe, daß er ſich durchaus nicht
von ihr trennen koͤnne, er ſei geſonnen, nach der
Heirath zu dieſem Bruder zu ziehn, um in ſei-
nem kinderloſen Witwerſtande gemeinſchaftlich mit
ihm zu hauſen. Es ſcheint vergeblich, ſo endete
Friedrich, dieſem Plan unſre Liebe entgegen zu
ſetzen, wenigſtens haͤlt es Adelheid fuͤr unmoͤg-
lich, und zwar ſo ſehr, daß der Oheim noch gar
nicht einmal von meinem Verhaͤltniſſe zu ihr weiß;
ſo erwarte ich nun bei Manfred morgen oder
uͤbermorgen einen Boten, der unſer Schickſal
auf immer entſcheiden wird. Eine druͤckende Lage
wird oft am leichteſten durch eine Gewaltthaͤtig-
keit geloͤſt, und ich hoffe, daß Manfred mir
durch ſeine Klugheit und ſeinen Muth beiſtehen
wird. Ich wuͤrde mich unſerm Ernſt auch gern
vertrauen, wenn er nicht gar zu gern tadelte,
wo aller Rath zu ſpaͤt koͤmmt.
Doch kann Vorſicht nicht ſchaden, ſagte
Anton, und huͤte dich nur, dich von Manfred,
der alles Abentheuerliche uͤbertrieben liebt, in
einen Plan verwickeln zu laſſen, deſſen Verdrieß-
lichkeiten vielleicht dein ganzes Leben verwirren.
Denn es iſt gar zu anlockend, auf Unkoſten eines
[47]Einleitung.
andern muthig und unternehmend zu ſein, der
Menſch genießt alsdann das Vergnuͤgen des Wa-
gehalſes zugleich mit der Luſt der Sicherheit.
Mein Freund, ſagte Friedrich, ich habe lange
geduldet, gefuͤhlt und gepruͤft, und mich gereut,
daß ich nicht ſchon fruͤher gethan habe, was du
uͤbereilt nennen wuͤrdeſt. Sind wir ganz von
einem Gefuͤhl durchdrungen, ſo handeln wir am
ſtaͤrkſten und konſequenteſten, wenn wir ohne
Reflexion dieſem folgen. Doch, laß uns jetzt
davon abbrechen.
Ich mißverſtehe dich wohl nur, ſagte Anton,
weil du mir nicht genug vertraut haſt.
Auch dazu werden ſich die Stunden finden,
antwortete Friedrich. In der Entfernung hatte
ich mir vorgeſetzt, dir alles zu ſagen, und nun
du zugegen biſt, ſtammelt meine Zunge, und
jedes Bekenntniß zittert zuruͤck. Ihre Geſtalt
und Holdſeligkeit toͤnt wie auf einer Harfe ewig
in meinem Herzen und jede ſaͤuſelnde Luft weckt
neue Klaͤnge auf; ich liebe dich und meine Freunde
inniger als ſonſt, aber ohne Worte fuͤhl' ich
mich in eurer Bruſt, und jetzt wenigſtens ſchiene
mir jedes Wort ein Verrath.
Traͤume nur deinen ſchoͤnen Traum zu En-
de, ſagte Anton, berauſche dich in deinem Gluͤck,
du gehoͤrſt jetzt nicht der Erde; nachher finden
wir uns wieder alle beiſammen, denn irgend
einmal muß der arme Menſch doch erwachen und
nuͤchtern werden.
[48]Einleitung.
Nein, mein lieber zagender Freund, rief
Friedrich ploͤtzlich begeiſtert aus, laß dich nicht
von dieſer anſcheinenden Weisheit beſchwatzen,
denn ſie iſt die Verzweiflung ſelbſt! Kann die
Liebe ſterben, dies Gefuͤhl, das bis in die fern-
ſten Tiefen meines Weſens blitzt und die dun-
kelſten Kammern und alle Wunderſchaͤtze meines
Herzens beleuchtet? Nicht die Schoͤnheit meiner
Geliebten iſt es ja allein, die mich begluͤckt, nicht
ihre Holdſeligkeit allein, ſondern vorzuͤglich ihre
Liebe; und dieſe meine Liebe, die ihr entgegen
geht, iſt mein heiligſter, unſterblichſter Wille, ja
meine Seele ſelbſt, die ſich in dieſem Gefuͤhl
losringt von der verdunkelnden Materie; in die-
ſer Liebe ſeh' ich und fuͤhl' ich Glauben und
Unſterblichkeit, ja den Unnennbaren ſelbſt inmit-
ten meines Weſens und alle Wunder ſeiner Of-
fenbarung. Die Schoͤnheit kann ſchwinden, ſie
geht uns nur voran, wo wir ſie wieder treffen,
der Glaube bleibt uns. O, mein Bruder, geſtor-
ben, wie man ſagt, ſind laͤngſt Iſalde und Sy-
gune, ja, du laͤchelſt uͤber mich, denn ſie haben
wohl nie gelebt, aber das Menſchengeſchlecht
lebt fort, und jeder Fruͤhling und jede Liebe
zuͤndet von neuem das himmliſche Feuer, und
darum werden die heiligſten Thraͤnen in allen
Zeiten dem Schoͤnſten nachgeſandt, das ſich
nur ſcheinbar uns entzogen hat, und aus Kin-
deraugen, von Jungfraunlippen, aus Blumen
und Quellen uns immer wieder mit geheimniß-
vollem
[49]Einleitung.
vollem Erinnern anblitzt und anlaͤchelt, und darum
ſind auch jene Dichtergebilde belebt und unſterb-
lich. An dieſer heiligen Staͤtte habe ich mich
ſelbſt gefunden, und ich muͤßte mir ſelbſt ver-
loren gehn, ich muͤßte vernichtet werden koͤn-
nen, wenn dieſe Entzuͤckung in irgend einer Zeit
erſterben koͤnnte.
Seinem Freunde traten die Thraͤnen in die
Augen, weil ihn die Krankheit weicher gemacht
hatte, und er ohnedies ſchon reizbar war; er um-
armte den Begeiſterten ſchweigend, als beide die
Landſtraße einen offenen Wagen mit vier geſchmuͤck-
ten huͤpfenden Pferden herunter kommen ſahn,
von einem mit Baͤndern und Federbuͤſchen auf-
geputzten Kutſcher gefuͤhrt: in wunderlicher bun-
ter Tracht folgte ein Reuter dem Wagen, und
die Sprechenden nebſt den andern drei Freun-
den gingen vor das Thor des Gaſthofes hin-
aus, um das ſonderbare Schauſpiel naͤher in
Augenſchein zu nehmen. Iſts moͤglich? rief ploͤtz-
lich Theodor aus, er ſelbſt, Manfred iſt es! und
eilte den brauſenden Pferden entgegen. Dieſe
ſtanden, auf den Ruf ihres Fuͤhrers, er ſprang
vom Sitz, indem er die Leinen vorſichtig in der
Hand behielt, und umarmte Theodor und die
uͤbrigen Freunde nach der Reihe. Er war freu-
dig uͤberraſcht, auch Ernſt zu finden, den er ſo
wenig wie Theodor hatte erwarten koͤnnen. Ich
komme, euch abzuholen; ſo ſteigt nur gleich ein!
rief er in zerſtreuter Freude aus.
I. [ 4 ]
[50]Einleitung.
Der Reuter war indeß abgeſtiegen und An-
ton erkannte ihn zuerſt: Wie? der verſtaͤndige
Wilibald laͤßt ſich auch zu ſolchen bunten Mum-
mereien gebrauchen? rief er verwundert aus.
Muß man nicht, erwiederte dieſer, mit den
Thoͤrichten thoͤricht ſein? Wir wollten euch recht
glaͤnzend abholen, und euch zu Ehren ſeh ich
faſt ſo wie der Luſtigmacher bei herumziehenden
Comoͤdianten aus.
Alle betrachteten und umarmten ihn, lach-
ten, und ſtiegen dann ein, um in einer Wald-
ſchenke einige Stunden vom Staͤdtchen anzuhal-
ten, und dann noch bei guter Zeit die letzten
Meilen bis zu Manfreds Wohnung zuruͤck zule-
gen. Manfred begab ſich ernſthaft auf ſeinen
Sitz, Wilibald auf ſein Pferd, und ſo rollten
ſie im Gallopp auf der Felſenſtraße davon, indem
ihnen aus jedem Fenſter der Stadt ein verwun-
dertes oder lachendes Angeſicht nachblickte.
Iſt es nicht ein reizender Aufenthalt? fragte
Wilibald, indem er mit Theodor in den Gaͤngen
des anmuthigen Gartens auf und nieder ſchritt.
Manfred iſt ſehr gluͤcklich, antwortete Theo-
dor; aber wo iſt unſre Geſellſchaft?
Ernſt und Lothar ſind ausgeritten, erwie-
derte jener, um einen alten Thurm und Mauer-
werk in der Naͤhe zu betrachten, Friedrich und
Manfred haben ſich eingeſchloſſen, und rath-
ſchlagen, ſo ſcheint es, uͤber Herzensangelegen-
[51]Einleitung.
heit, und Anton, duͤnkt mich, wandelte vor kur-
zem noch in empfindſamen Geſpraͤchen mit Ro-
ſalien, der jungen Frau, und Manfreds Schwe-
ſter, Auguſten. Ich fuͤrchte, das Ende vom
Liede iſt, daß wir uns hier alle verlieben.
Und warum nicht? ſagte Theodor. Ich
ſehe wenigſtens kein Ungluͤck darin. Im Gegen-
theil finde ich es natuͤrlich und ſchicklich, daß
in jeder gemiſchten Geſellſchaft, in welcher ſich
junge Maͤnner und anmuthige Frauen und rei-
zende Maͤdchen befinden, kleine Romane geſpielt
werden, dies eben erweckt den Witz und belebt
und ſchafft den feinern Geiſt der Unterhaltung;
auch kleine Eiferſucht kann nicht ſchaden und
artige Verlaͤumdung, ſamt allen Kuͤnſten eines
edlen Spiels und jener Laune, die den Wei-
bern angeboren ſcheint und wodurch ſie die Maͤn-
ner ſo unwiderſtehlich feſſeln. Dadurch koͤnnen
verlebte Tage von ſolchem poetiſchen Glanz be-
ſtrahlt werden, daß wir das ganze Leben hin-
durch mit Freuden an ſie denken, da ſie uns außer-
dem ziemlich trivial und langweilig verfloſſen
waͤren.
Es kann aber mit Anton bei ſeiner Reiz-
barkeit Ernſt werden, wandte Wilibald ſchuͤch-
tern ein; nicht jeder hat die Geſchicklichkeit be-
hutſam genug mit der Flamme zu ſpielen.
Dafuͤr laß du ihn ſorgen, ſagte Theodor;
oder ſollte etwa ſchon die Eiferſucht aus dir
ſprechen, mein Theurer? O ja, wahrlich, deine
[52]Einleitung.
graͤmliche Mine und dein ſuchender umſchauen-
der Blick ſagen mir nichts geringeres. Nun,
wer iſt denn deine Schoͤne? Klara? oder die
junge anmuthige Gattinn? oder Manfreds Schwe-
ſter, Auguſte? oder die liebenswuͤrdige Schwie-
germutter, die ihr alle lieber Emilie nennt, und
die auch freundlich dieſem Taufnamen entgegen
horcht? oder liebſt du ſie gar alle?
Du bleibſt ein Thor, fuhr Wilibald halb
lachend auf, und ihr alle ſeid ſo ſeltſame liebe
und unausſtehliche Menſchen, daß man eben ſo
wenig ohne euch, als mit euch leben kann. In
der Ferne ſehn' ich mich nach euch allen und bin
ungemuth, und in der Naͤhe aͤrgre ich mich uͤber
alle eure mannigfaltigen Thorheiten.
Nun, fragte Theodor, was haſt du denn
Großes an uns auszuſetzen?
Du ſollteſt mich nicht zu ſolchen Klagelie-
dern auffordern, antwortete Wilibald: daß ihr
alle immer nur ſo ſehr vernuͤnftig und geiſtreich
ſeid, wo es nicht hin gehoͤrt, und niemals da,
wo ihr Vernunft zeigen muͤßtet! da iſt der Man-
fred, der ſich fuͤr einen Heros der Maͤnnlichkeit
haͤlt, welcher meint, ſich und ſeine Empfindun-
gen ſo ganz in der Gewalt zu haben, und ſich
heraus nimmt, jeden zu verachten, den irgend
ein Kummer quaͤlt, und der doch ſelbſt ohne alle
Veranlaſſung ſo unertraͤglich melankoliſch ſein
kann, daß er uͤber die ganze Welt die Schul-
tern zuckt, weil ſie eben ſchwach genug iſt, nur
[53]Einleitung.
zu exiſtiren; ſo ſitzt er in dieſer Stimmung Ta-
gelang im Winkel und findet jeden Scherz geiſt-
los und jedes Geſpraͤch albern, ſein Blick und
kuͤmmerliches Geſicht ſchlagen aber auch jede
Freude und Heiterkeit aus ſeiner Geſellſchaft zu-
ruͤck; er iſt zu traͤge, ſpazieren zu gehn, oder
irgend etwas zu treiben: aber nun faͤllt ihn die
Laune an, nun ſoll jedermann luſtig ſein, nun
findet er es unbegreiflich, wenn irgend jemand
nicht an ſeinen ſchwaͤrmenden Phantaſieen Theil
nimmt, nun iſt jeder ein Philiſter, der nicht zum
Zeitvertreib halb mit dem Kopf gegen die Felſen
rennt, nun muß man mit ihm durch Garten
und Gebirge laufen, fallen und klettern; oder
er zwingt alles Muſik zu machen und zu ſingen;
oder, was das Schlimmſte iſt, er lieſt vor, und
verlangt, jedermann ſoll an irgend einer Schnurre,
oder einem alten vergeſſenen Buche denſelben
krampfhaften Antheil nehmen, zu welchem er
ſich ſpornt. So geſchah es geſtern, als er ploͤtz-
lich den Philander von Sitenwald herbei holte,
ewig lange las, und ſich verwunderte, daß wir
nicht alle mit demſelben Heißhunger daruͤber her-
fielen, wie er, der das Buch in Jahren viel-
leicht nicht angeſehn hat; und ſo bringt er wohl
morgen den Fiſchart, oder Hans Sachs. Wobei
er ſich auch nicht einreden laͤßt, ſondern auf ſeine
Lebenszeit hat er ſich verwoͤhnt, daß alle Men-
ſchen ihm nur eben als Werkzeuge dienen, an
welchen ſich ſeine ſchnell wandelnde Laune offen-
[54]Einleitung.
bart. Nur ein ſolcher Engel von Frau kann
mit ihm fertig werden, und mit ihm gluͤcklich
ſein.
Fahre fort, ſagte Theodor; und Friedrich,
der ſich mit ihm eingeſchloſſen hat.
O, ihr! — ſagte Wilibald, waͤrt ihr nur
nicht ſonſt ſo gute Menſchen, ſo ſollte euch ein
Verſtaͤndiger wohl ſo abſchildern koͤnnen, daß
ihr vielleicht in euch ginget, und ordentlicher
und beſſer wuͤrdet. Dieſer Friedrich, der immer
in irgend einen Himmel verzuͤckt iſt, und den
Tag fuͤr verloren haͤlt, an welchem er nicht
eine ſeiner verwirrten Begeiſterungen erlebt hat,
wie koͤnnte er ſein Talent und ſeine Kenntniſſe
brauchen, um etwas Edles hervor zu bringen,
wenn er ſich nicht ſo unbedingt dieſem ſchwel-
genden Muͤſſiggange ergaͤbe. Auch erſchrickt er
alle Augenblick ſelbſt in ſeinem boͤſen Gewiſſen,
wenn er von dieſem oder jenem thaͤtigen Freunde
hoͤrt, wenn er ihre Fortſchritte gewahr wird.
Will man nun recht von Herzen mit ihm zan-
ken, ſo wirft er ſich in ſeine vornehme hyper-
poetiſche Stimmung, und beweiſt auch von oben
herab, daß ihr andern die Taugenichtſe ſeid, er
aber bleibt der Weiſe und Thaͤtige. Man ſoll
ſeinem Freunde nichts Boͤſes wuͤnſchen, aber ſo
wie er ſich nun, weiß Gott wegen welches raren
Geheimniſſes mit dem Manfred eingeſchloſſen
hat, ſo waͤre es mir doch vielleicht nicht ganz
unlieb, wenn dieſer die Gelegenheit der Einſam-
[55]Einleitung.
keit benutzte, um ihm auf proſaiſche Weiſe etwas
der uͤberfluͤſſigen Poeſie auszuklopfen.
Sacht! ſacht! rief Theodor, woher dieſe
Neroniſche Geſinnung? Ergieb dich der Billig-
keit, Freund, oder du ſollſt ſo mit albernen
Spaͤßen und Wortſpielen, welche dir verhaßt
ſind, gegeißelt werden, daß du den Werth der
Humanitaͤt einſehn lernſt. Nun ſchau auf, geht
druͤben nicht unſer Anton einſam, ſanft und
ſtille, ſein Gemuͤth und die ſchoͤne Natur be-
trachtend? Wie unrecht haben wir ihm ſo eben
gethan.
Dieſes mal, antwortete Wilibald, und wiſ-
ſen wir doch nicht, ob ihn die Weiber nicht ſo
eben verlaſſen haben, denen er mit ſeinem ſanf-
ten, lieben, zuvorkommenden Naturell ſtets nach-
ſchleicht, und die ihm gern entgegen kommen,
weil ſie ihm anfuͤhlen, daß er auch das Schwaͤchſte
und Verwerflichſte in ihnen ehrt und verthei-
digt; denn nicht in ein Individuum, ſondern in
das ganze Geſchlecht iſt er verliebt: macht er
hier nicht Claren, ihrer Mutter, der jungen Frau
und Auguſten emſig den Hof? die uͤbrigen laͤcheln
ihn auch ſtets an, nur ſollte er es doch fuͤhlen,
daß er der letztern zur Laſt faͤllt und ſie in Ruhe
laſſen. Alle andere Menſchen aͤndern ſich doch
von Zeit zu Zeit und legen ihre Albernheiten ab,
ihn aber kannſt du nach Jahren wieder antref-
fen, und er traͤgt dir noch dieſelben Kindereien
und Meinungen mit ſeiner ruhigen Salbung ent-
[56]Einleitung.
gegen, ja, wenn man ihn erinnert, daß er vor
geraumer Zeit die und jene Angewoͤhnung gehabt,
oder jene Sinnesart geaͤußert, ſo dankt er dir
ſo herzlich, als wenn du ihm einen verlornen
Schatz wieder faͤndeſt, und ſucht beides von neuem
hervor, im Fall er es vergeſſen haben ſollte.
Dann muß dir aber doch der wandelbare
und empfaͤngliche Lothar ganz nach Wunſche ſein,
erwiederte Theodor.
Noch weniger als Anton, fuhr Wilibald in
ſeiner Kritik fort, denn eben ſeine zu große Em-
pfaͤnglichkeit hindert ihn, ſich und andre zu der
Ruhe kommen zu laſſen, die durchaus unent-
behrlich iſt, wenn aus Bildung oder Geſelligkeit
irgend etwas werden ſoll. Er kann weder in
einer guten noch ſchlechten Geſellſchaft ſein, daß
ihn nicht die Luſt anwandelt, Comoͤdie zu ſpie-
len, ex tempore oder nach memorirten Rollen;
es ſcheint faſt, daß ihm in ſeiner eigenen Haut
ſo unbehaglich iſt, daß er lieber die eines jeden
andern Narren uͤber zieht, um ſeiner ſelbſt nur
los zu werden. Die heilige Stelle in der Welt,
ſein Tempel, iſt das Theater, und ſelbſt jedes
ſchlechte Subjekt, das nur einmal die Bretter
oͤffentlich betreten hat, iſt ihm mit einer gewiſ-
ſen Glorie umgeben. Geſtern den ganzen Abend
unterhielt er uns mit ſeiner ehemaligen Bekeh-
rungsſucht und Proſelytenmacherei, wie er jeden
armen Suͤnder zum Shakſpear wenden und ihn
von deſſen Herrlichkeit hatte durchdringen wol-
[57]Einleitung.
len; er erzaͤhlte ſo lannig, wie und auf welchen
Wegen er nach ſo manchen komiſchen Verirrun-
gen von dieſer Schwachheit zuruͤck gekommen ſei,
und, ſiehe, noch in derſelben Stunde nahm er
den alten Landjunker von druͤben in die Beichte
und ſuchte ihm das Verſtaͤndniß fuͤr den Ham-
let aufzuſchließen, der nur immer wieder darauf
zuruͤck kam, daß man beim Auffuͤhren die Tod-
tengraͤber-Scene nicht auslaſſen duͤrfe, weil ſie
die beſte im ganzen Stuͤcke ſei. Mir ſcheint es
eine wahre Krankheit, ſich in einen Autor, habe
er Namen wie er wolle, ſo durchaus zu ver-
tiefen, und ich glaube, daß durch das zu ſtarre
Hinſchauen das Auge am Ende eben ſo geblen-
det werde, wie durch ein irres Herumfahren von
einem Gegenſtande zum andern. Selbſt bei Wei-
bern, die Schmeicheleien von ihm erwarten, bricht
er in Lobpreiſungen des Lear und Macbeth aus,
und die einfaͤltigſte kann ihm liebenswuͤrdig und
klug erſcheinen, wenn ſie nur Geduld genug hat,
ihm ſtundenlang zuzuhoͤren.
Gegen unſern Ernſt kannſt du wohl ſchwer-
lich dergleichen einwenden? fragte Theodor.
Er iſt mir vielleicht der verdrießlichſte von
allen, fiel Wilibald ein; er, der alles beſſer
weiß, beſſer wuͤrde gemacht haben, der ſchon
ſeit Jahren geſehn hat, wohin alles kommen
wird, der ſelten jemand ausſprechen laͤßt, ihn
zu verſtehn ſich aber niemals die Muͤhe giebt,
weil er ſchon im voraus uͤberzeugt iſt, er muͤſſe
[58]Einleitung.
erſt hinzufuͤgen, was in der fremden Meinung
etwa Sinn haben koͤnne. Er iſt der thaͤtigſte
und zugleich der traͤgſte aller Menſchen; bald iſt
er auf dieſer, bald auf jener Reiſe, weil er alles
mit eigenen Augen ſehen will, alles will er ler-
nen, keine Bibliothek iſt ihm vollſtaͤndig genug,
kein Ort ſo entfernt, von dem er nicht Buͤcher
verſchriebe; bald iſt es Geſchichte, bald Poeſie
oder Kunſt, bald Phyſik, oder gar Myſtik, was
er ſtudirt, und wieder von neuem ſtudirt; er laͤ-
chelt nur, wenn andre ſprechen, als wollt' er
ſagen: laßt mich nur gewaͤhren, laßt mich nur
zur Rede kommen, ſo ſollt ihr Wunder hoͤren!
Und wenn man nun wartet, und Jahre lang
wartet, ihn dann endlich auffordert, daß er ſein
Licht leuchten laſſe, ſo muß er wieder dieſes Werk
nachleſen, jene Reiſe erſt machen, ſo fehlt es
gerade am Allernothwendigſten, und ſo vertroͤ-
ſtet er ſich ſelbſt und andre auf eine nimmer er-
ſcheinende Zukunft. Die uͤbrigen aͤrgern mich nur,
er aber macht mich boͤſe; denn das iſt das ver-
druͤßlichſte am Menſchen, wenn er vor lauter
Gruͤndlichkeit auch nicht einmal an die Oberflaͤche
der Dinge gelangen kann: es iſt die Gruͤndlich-
keit der Danaiden, die auch immer hofften, der
naͤchſte Guß wuͤrde nun der rechte und letzte ſein,
und nicht gewahr wurden, daß es eben an Bo-
den mangle.
Wollt ihr mir nun nicht auch von mir ein
liebes kraͤftig Woͤrtchen ſagen? neckte ihn Theodor.
[59]Einleitung.
An dir, ſagte Wilibald, iſt auch das ver-
loren, denn ſo wie du mit jeder Feder eine
andere Hand ſchreibſt, klein, groß, aͤngſtlich oder
fluͤchtig, ſo biſt du auch nur der Anhang eines
jeden, mit dem du lebſt; ſeine Leidenſchaften,
Liebhabereien, Kenntniſſe, Zeitverderb, haſt und
treibſt du mit ihm, und nur dein Leichtſinn iſt
es, welcher alles, auch das widerſprechendſte, in
dir verbindet. Du biſt hauptſaͤchlich die Urſach,
daß wir, ſo oft wir noch beiſammen geweſen
ſind, zu keinem zweckmaͤßigen Leben haben kom-
men koͤnnen, weil du dir nur in Unordnung und
leerem Hintraͤumen wohlgefaͤllſt. Heute ſind wir
einmal recht vergnuͤgt geweſen! pflegſt du am
Abend zu ſagen, wenn du die uͤbrigen verleiteſt
haſt, recht viel dummes Zeug zu ſchwatzen; bei
einer Albernheit geht dir das Herz auf, — doch
ich verſchwende nur meinen Athem, denn ich ſehe
du lachſt auch hieruͤber.
Allerdings, rief Theodor im froheſten Muthe
aus, o mein zorniger, mißmuthiger Camerad! du
Ordentlicher, Bedaͤchtlicher, der die ganze Welt
nach ſeiner Taſchenuhr ſtellen moͤchte, du, der
in jede Geſellſchaft eine Stunde zu fruͤh kommt,
um ja nicht eine halbe Viertelſtunde zu ſpaͤt an-
zulangen, du, der du wohl ins Theater gegan-
gen biſt, bevor die Caffe noch eroͤffnet war, der
auch dann im ledigen Hauſe beim ſchoͤnſten Wet-
ter ſitzen bleibt, um ſich nur den beſten Platz
auszuſuchen, mit dem er nachher im Verlauf des
[60]Einleitung.
Stuͤckes doch wieder unzufrieden wird. Ich habe
es ja erlebt, daß du zu einem Balle fuhrſt, und
mich und meine Geſellſchaft ſo uͤber die Gebuͤhr
triebſt, daß wir anlangten, als die Bedienten
noch den Tanzſaal ausſtaͤubten und kein einziges
Licht angezuͤndet war. Dieſe deine Ordnung
willſt du in jede Geſellſchaft einfuͤhren, um nur
alles eine Stunde fruͤher als gewoͤhnlich zu thun,
und gaͤbe man dir ſelbſt dieſe Stunde nach, ſo
wuͤrdeſt du wieder eine Stunde zu verlangen, ſo
daß man, um mit dir ordentlich zu leben, immer
im Zirkel um die vier und zwanzig Stunden des
Tages mit Fruͤhſtuͤck, Mittag- und Abendeſſen
herum fahren muͤßte. Weil geſtern die Geſell-
ſchaft noch nicht verſammelt war, als die Suppe
auf dem Tiſche ſtand, und jeder nach ſeiner Ge-
legenheit etwas ſpaͤter kam, daruͤber biſt du noch
heut verſtimmt, du Heimtuͤckiſcher, Nachtragender!
noch mehr aber daruͤber, daß wir aus Scherz die
geheime Abrede trafen, dich durchaus von Au-
guſtens Seite wegzuſchieben, zu der du dich mit
oͤffentlichem Geheimniß ſo gefliſſentlich draͤngſt,
und meinſt, wir alle haben keine Augen und
Sinne, um deine feurigen Augen und wohl-
geſetzten verliebten Redensarten wahrzunehmen.
Sieh, Freund, man kennt dich auch, und weiß
auch deine empfindliche Seite zu treffen.
Wilibald zwang ſich zu lachen und ging
empfindlich fort; indem ſah man Lothar und
Ernſt von der Straße des Berges, der uͤber dem
[61]Einleitung.
Garten und Hauſe lag, herunter reiten. Der
einſame Anton geſellte ſich zu Theodor und beide
ſprachen uͤber Wilibald; es iſt doch ſeltſam, ſagte
Anton, daß die Furcht vor der Affektation bei ei-
nem Menſchen ſo weit gehen kann, daß er da-
ruͤber in ein herbes widerſpaͤnſtiges Weſen geraͤth,
wie es unſerm Freunde ergeht; er argwoͤhnt al-
lenthalben Affektation und Unnatuͤrlichkeit, er ſieht
ſie allenthalben und will ſie jedem Freunde und
Bekannten abgewoͤhnen, und damit man ihm nur
nicht etwas Unnatuͤrliches zutraue, faͤllt er lieber
oft in eine gewiſſe rauhe Manier, die von der
Liebenswuͤrdigkeit ziemlich entfernt iſt.
So will er die Weiber auch immer maͤnn-
lich machen, ſagte Theodor, ging es nach ihm,
ſo muͤſten ſie gerade alles das ablegen, was ſie
ſo unbeſchreiblich liebenswuͤrdig macht.
Eine eigene Rubrik, fuͤgte Anton hinzu, haͤlt
er, welche er Kindereien uͤberſchreibt, und in die
er ſo ziemlich alles hinein traͤgt, was Sehnſucht,
Liebe, Schwaͤrmerei, ja Religion genannt wer-
den muß. Wie die Welt wohl uͤberhaupt aus-
ſaͤhe, wenn ſie nach ſeinem vernuͤnftigen Plane
formirt waͤre?
Selbſt Sonne und Mond, ſagte Theodor,
halten nicht einmal die gehoͤrige Ordnung, des
Uebrigen zu geſchweigen. Die Abweichung der
Magnetnadel muß nach ihm entweder Affekta-
tion oder Kinderei ſein, und ſtatt ſich in den
Euripus zu ſtuͤrzen, weil er die vielfache Ebbe
[62]Einleitung.
und Fluth nicht begreifen konnte, haͤtte er ru-
hig am Ufer geſtanden, und bloß den Kopf ein
wenig geſchuͤttelt und gemurmelt: laͤppiſch! laͤp-
piſch!
Bis zum Abentheuerlichen unnatuͤrlich ſind
die Cometen, verſetzte Anton, ja alle Exiſtenz
hat wohl nur wie ein umgekehrter Handſchuh
die unrechte Seite herausgedreht, und iſt dadurch
exiſtirend geworden.
Zweifelt ihr daran, ihr armen Suͤnder? rief
Wilibald aus dem naͤchſten Laubengange heraus,
in welchem er alles gehoͤrt hatte; koͤnnt ihr euch
euren doppelten unbefriedigten Zuſtand anders er-
klaͤren? Habt ihr dies nicht ſchon oft im Ernſt
denken muͤſſen, wenn ihr uͤberhaupt daruͤber ge-
dacht habt, was ihr jetzt als Spaß ausſprecht?
Und wenn die Menſchenſeele ſich ſelbſt unvollen-
det und umgedreht empfindet, warum ſoll denn
alles uͤbrige Geſchaffene richtiger und beſſer ſein?
Ihr hoffaͤrtigen Erdenwuͤrmer neigt euch in den
Staub, und macht euch nicht uͤber Leute luſtig,
die, wenn es die Noth erfordert, auch wohl uͤber
Milchſtraßen und Trabanten und Sonnenſyſteme
zu ſprechen wiſſen.
Ernſt und Lothar traten hinzu und erzaͤhl-
ten viel von der anmuthigen Lage der merkwuͤr-
digen Ruine, und Ernſt zuͤrnte uͤber den fre-
velnden Leichtſinn der Zeit, der ſchon ſo viel
Herrliches zerſtoͤrt habe und es allenthalben zu
vernichten fortfahre. Wie tief, rief er aus, wird
[63]Einleitung.
uns eine beſſere Nachwelt verachten, und uͤber
unſern anmaßlichen Kunſtſinn und die faſt krank-
hafte Liebhaberei an Poeſie und Wiſſenſchaft laͤ-
cheln, wenn ſie hoͤrt, daß wir Denkmale aus
gemeinem, faſt thieriſchen Nichtachten, oder aus
klaͤglichem Eigennutz abgetragen haben, die aus
einer Heldenzeit zu uns heruͤber gekommen ſind,
an der wir unſern erlahmten Sinn fuͤr Vater-
land und alles Große wieder aufrichten koͤnnten.
So braucht man herrliche Gebaͤude zu Wollſpin-
nereien und ſchlaͤgt duͤrftige Kammern in die
Pracht alter Ritterſaͤle hinein, als wenn es uns
an Raum gebraͤche, um die Armſeligkeit unſers
Zuſtandes nur recht in die Augen zu ruͤcken, der
in Pallaͤſten der Heroen ſeine traurige Thaͤtigkeit
ausſpannt, und große Kirchen in Scheuern und
Rumpelkammern verwandelt.
Iſt ihnen doch die Vorzeit ſelbſt nichts an-
ders, ſagte Lothar, und des Vaterlandes ruͤhrende
Geſchichte, eben ſo haben ſie ſich in dieſe mit
ihren unerſprießlichen Zwecken hinein geklemmt,
und verwundern ſich laͤchelnd daruͤber, wie man
ehemals nur das Beduͤrfniß ſolcher Groͤße haben
mochte.
Jetzt zeigte ſich die uͤbrige Geſellſchaft. Man-
fred fuͤhrte ſeine Schwiegermutter, Friedrich, wel-
cher verweinte Augen hatte, die ſchoͤne Roſalie,
Anton bot ſeinen Arm der freundlichen Clara,
und Wilibald geſellte ſich zu Auguſten, indem
er dem laͤchelnden Theodor einen triumphirenden
[64]Einleitung.
Blick zuwarf. Man wandelte in den breiten Gaͤn-
gen, welche oben gegen den eindringenden Son-
nenſtrahl gewoͤlbt und dicht verflochten waren, in
heitern Geſpraͤchen auf und nieder, und Lothar
ſagte nach einiger Zeit: wir ſprachen eben von
den Ruinen altdeutſcher Baukunſt, und bedauer-
ten, daß viele Schloͤſſer und Kirchen gaͤnzlich
verfallen, die mit geringen Koſten als Denkmale
unſern Nachkommen koͤnnten erhalten werden, aber
indem ich den Schatten dieſer Gaͤnge genieße,
erinnere ich mich der ſeltſamen Verirrung, daß
man jetzt vorſaͤtzlich auch viele Gaͤrten zerſtoͤrt,
die in dem ſogenannten Franzoͤſiſchen Geſchmack
angelegt ſind, um eine unerfreuliche Verwirrung
von Baͤumen und Geſtraͤuchen an die Stelle zu
ſetzen, die man nach dem Modeausdrucke Park
benamt, und ſo bloß einer todten Formel froͤhnt,
indem man ſich im Wahn befindet, etwas Schoͤ-
nes zu erſchaffen.
Du erinnerſt mich, ſagte Ernſt, an die Ere-
mitags bei Bayreuth und manchen andern Gar-
ten; wenn dieſe Einſiedelei auch manche aufge-
mauerte Kindereien zeigt, ſo war ſie doch in ih-
rer alten Geſtalt hoͤchſt erfreulich, ich verwun-
derte mich nicht wenig, ſie vor einigen Jahren
ganz verwildert wieder zu finden.
Es fehlt unſrer Zeit, ſagte Friedrich, ſo ſehr
ſie die Natur ſucht, eben der Sinn fuͤr Natur,
denn nicht allein dieſe regelmaͤßigen Gaͤrten, die
dem jetzigen Geſchmacke zuwider ſind, bekehrt man
zum
[65]Einleitung.
zum Romantiſchen, ſondern auch wahrhaft ro-
mantiſche Wildniſſe werden verfolgt, und zur Re-
gel und Verfaſſung der neuen Gartenkunſt erzo-
gen. So war ehemals nur die große wunder-
volle Heidelberger Ruine eine ſo gruͤne, friſche,
poetiſche und wilde Einſamkeit, die ſo ſchoͤn mit
den verfallenen Thuͤrmen, den großen Hoͤfen, und
der herrlichen Natur umher in Harmonie ſtand,
daß ſie auf das Gemuͤth eben ſo wie ein vollen-
detes Gedicht aus dem Mittelalter wirkte, ich
war ſo entzuͤckt uͤber dieſen einzigen Fleck unſrer
deutſchen Erde, daß das gruͤnende Bild ſeit Jah-
ren meiner Phantaſie vorſchwebte, aber vor eini-
ger Zeit fand ich auch hier eine Art von Park
wieder, der zwar dem Wandelnden manchen ſchoͤ-
nen Platz und manche ſchoͤne Ausſicht goͤnnt, der
auf bequemen Pfaden zu Stellen fuͤhrt, die man
vormals nur mit Gefahr erklettern konnte, der
ſelbſt erlaubt, Erfriſchungen an anmuthigen Raͤu-
men ruhig und ſicher zu genießen, doch wiegen
alle dieſe Vortheile nicht die großartige und ein-
zige Schoͤnheit auf, die hier aus der beſten Ab-
ſicht iſt zerſtoͤrt worden.
Hier wurde das Geſpraͤch unterbrochen, in-
dem der Bediente meldete, daß angerichtet ſei.
Man ging durch die großen offenen Thuͤren
des Speiſeſaales, der unmittelbar an den Gar-
ten ſtieß, und aus dem man den gegenuͤber lie-
I. [ 5 ]
[66]Einleitung.
genden Berg mit ſeinen vielfach gruͤnenden Ge-
buͤſchen und ſchoͤnen Waldparthieen vor ſich
hatte; zunaͤchſt war ein runder Wieſenplan des
Gartens, welchen die lieblichſten Blumengrup-
pen umdufteten, und als Krone des gruͤnen
Platzes glaͤnzte und rauſchte in der Mitte ein
Springbrunnen, der durch ſein liebliches Getoͤn
gleich ſehr zum Schweigen wie zum Sprechen
einlud.
Alle ſetzten ſich, Wilibald zwiſchen Auguſte
und Clara, neben dieſer ließ Anton ſich nieder,
und ihm zunaͤchſt Emilie, zwiſchen ihr und Ro-
ſalien hatte Friedrich ſeinen Platz gefunden, an
welche ſich Lothar ſchloß, und neben ihm ſaßen
die uͤbrigen Maͤnner. Auf dem Tiſche prang-
ten Blumen in geſchmackvollen Gefaͤßen und in
zierlichen Koͤrben fruͤhe Kirſchen. Wie kommt
es, fing die aͤltere Emilie nach einer Pauſe an,
daß es bei jeder Tiſchgeſellſchaft im Anfang ſtill
zugeht? Man iſt nachdenkend und ſieht vor ſich
nieder, auch erwartet Niemand ein lebhaftes Ge-
ſpraͤch, denn es ſcheint, daß die Suppe eine
gewiſſe ernſte, ruhige Stimmung veranlaßt, die
gewoͤhnlich ſehr mit dem Beſchluß der Mahlzeit
und dem Nachtiſche kontraſtirt.
Vieles erklaͤrt der Hunger, ſagte Wilibald,
der ſich meiſtentheils erſt durch die Naͤhe der
Speiſen meldet, beſonders, wenn man ſpaͤter zu
Tiſche geht, als es feſtgeſetzt war, denn War-
ten macht hungrig, dann durſtig, und wenn es
[67]Einleitung.
zu lange ſpannt, erregt es wahre Uebelkeit, faſt
Ohnmacht.
Sehr wahr, ſagte Roſalie, und die Herren
ſollten das nur bedenken, die uns Frauen faſt
immer warten laſſen, wenn ſie eine Jagd, einen
Spatzierritt, oder ein ſogenanntes Geſchaͤft vor-
haben.
Laſſen denn die Damen nicht eben ſo oft
auf ſich warten, erwiederte Wilibald, und wohl
laͤnger, wenn ſie mit ihrem Anzug nicht einig
oder fertig werden koͤnnen? Da uͤberdies die
meiſten niemals wiſſen, wie viel es an der Uhr
iſt, ja daß es uͤberhaupt eine Zeitabtheilung
giebt.
Recht! ſagte Manfred; neulich wollten ſie
einen Beſuch in der Nachbarſchaft machen, noch
vorher eine Oper durchſingen, und ein wenig
ſpatzieren gehen, um dabei zugleich das kranke
Kind im Dorfe zu beſuchen, dann wollte man
bei Zeiten wieder zu Hauſe ſein und etwas fruͤ-
her eſſen als gewoͤhnlich, weil wir den Nach-
mittag einmal recht genießen wollten; als man
aber, um doch anzufangen, nach der Uhr ſah,
fand ſichs, daß es gerade nur noch eine halbe
Stunde bis zur gewoͤhnlichen Tiſchzeit war, und
die lieben Zeitloſen kaum noch Zeit ſich umzu-
kleiden hatten.
Doch bitt' ich mich auszunehmen, ſagte Ro-
ſalie, tadelſt du mich doch ſonſt immer, daß ich
zu puͤnktlich, zu ſehr nach der Stunde bin, ſonſt
[68]Einleitung.
wuͤrde es auch mit den Einrichtungen der Wirth-
ſchaft uͤbel ausſehn.
Dich nehm' ich aus, ſagte Manfred, und
einer Hausfrau ſteht auch nichts ſo liebenswuͤr-
dig, als eine ſtille, unerſchuͤtterliche Ordnung:
aber auch nur die ſtille Ordnung, denn noch
ſchlimmer als die Unordentlichen ſind die fuͤr
die Ordnung Wuͤthenden, in deren Haͤuſern nichts
als Einrichtung, Abrichten der Domeſtiken, Auf-
raͤumen und Staubabwiſchen zu finden iſt;
eine ſolche Frau haben, waͤre eben ſo wie unter
der großen Kirchenuhr und den Glocken wohnen,
wo man nichts als den Perpendikel und das
fuͤrchterliche Schlagen der Stunden hoͤrt: auch
eine maͤnnlich ordentliche und unternehmende
Thereſe iſt widerwaͤrtig. Aber in aller liebens-
wuͤrdigen weiblichen Unordnung ſchweift meine
theure Schweſter Auguſte etwas zu ſehr aus.
Das weiß Gott! fuhr Wilibald etwas uͤber-
eilt heraus; denn wenn ein Spatziergang abge-
redet iſt, ſo muß man wohl anderthalb Stun-
den mit dem Stock in der Hand unten ſtehn
und warten, und dann hat die liebenswuͤrdige
Dame entweder den Spatziergang ganz vergeſſen,
und beſinnt ſich erſt darauf, wenn man einige-
mal hat erinnern laſſen, oder ſie kommt auch
wohl endlich, aber nun hat man nicht an Hand-
ſchuh und Sonnenſchirm und Tuch gedacht;
man geht zuruͤck, man kramt, und faͤllt dabei
nicht ſelten wieder in eine Beſchaͤftigung, die
[69]Einleitung.
den Spatziergang von neuem mit Schiffbruch
bedroht. O Gott! und nach allen dieſen Leiden
ſoll unſer eins nachher noch liebenswuͤrdig ſein!
Das iſt ja eben die Liebenswuͤrdigkeit, ſagte
Auguſte, denn wenn euch alles entgegen getra-
gen, allen euren Launen geſchmeichelt wird,
wenn man euch ſo ſchlicht hin fuͤr Herrſcher er-
klaͤrt, daß ihr dann zuweilen ein wenig liebens-
wuͤrdig ſeid, iſt doch wahrlich kein Verdienſt.
Um wieder auf die Suppe zu kommen, die
jetzt genoſſen iſt, ſagte Lothar, ſo ruͤhrt es wohl
nicht ſo ſehr von einem materiellen Beduͤrfniß
her, daß man bei ihr wenig ſpricht, ſondern
mich duͤnkt jedes Mahl und Feſt iſt einem
Schauſpiel, am beſten einem Shakſpearſchen Luſt-
ſpiel, zu vergleichen, und hat ſeine Regeln und
Nothwendigkeiten, die ſich auch unbewußt in
den meiſten Faͤllen ausſprechen.
Wie koͤnnte es wohl einem verſtaͤndigen
Menſchen etwas anders ſein? unterbrach ihn
Wilibald mit Lachen; o wie oft iſt doch unbe-
wußt der Luſtſpieldichter ſelbſt ein erfreulicher
Gegenſtand fuͤr ein Luſtſpiel!
Laß ihn ſprechen, ſagte Manfred, magſt du
doch die Mahlzeit nachher mit einer Schlacht,
oder gar mit der Weltgeſchichte vergleichen; am
Tiſch muß unbedingte Gedanken- und Eßfreiheit
herrſchen.
Daß die abwechſelnden Gerichte und Gaͤnge,
fuhr Lothar fort, ſich mit Akten und Scenen
[70]Einleitung.
ſehr gut vergleichen laſſen, faͤllt in die Augen;
eben ſo ausgemacht iſt es fuͤr den denkenden
und hoͤheren Eſſer (ich ignorire jene gemeinere
Naturen, die an allem zweifeln, und etwa in
materieller Dumpfheit meinen koͤnnen, das Eſ-
ſen geſchehe nur, um den Hunger zu vertreiben),
daß eine gewiſſe allgemeine Empfindung ausge-
ſprochen werden ſoll, der in der ganzen Compo-
ſition der Tafel nichts widerſprechen darf, ſei
es von Seiten der Speiſen, der Weine, oder
der Geſpraͤche, denn aus allem ſoll ſich eine
romantiſche Compoſition entwickeln, die mich
unterhaͤlt, befriedigt und ergoͤtzt, ohne meine Neu-
gier und Theilnahme zu heftig zu ſpannen, ohne
mich zu taͤuſchen, oder mir bittre Ruͤckerinn-
rungen zu laſſen. Die epigrammatiſchen Ge-
richte zum Beiſpiel, die manchmal zur Taͤuſchung
aufgetragen werden, ſind gerade zu abgeſchmackt
zu nennen.
Im noͤrdlichen Deutſchland, ſagte Ernſt,
ſah ich einmal Zuckergebacknes als Torf auf-
ſetzen, und es gefiel den Gaͤſten ſehr.
O ihr unkuͤnſtlich Speiſenden! rief Lothar
aus; warum laßt ihr euch den Marzipan nicht
lieber als die Phyſiognomien eurer Gegner backen,
und zerſchneidet und verzehrt ſie mit Wohlge-
fallen und Herzenswuth? duͤrften nicht Rezen-
ſenten, oder ſonſt verhaßte Menſchen, gleich ſo
auf den Maͤrkten zum Verkauf ausgeboten werden?
Von hoͤchſt abentheuerlichen Feſten, ſagte
[71]Einleitung.
Clara, habe ich einmal im Vaſari geleſen, welche
die Florentiniſchen Maler einander gaben, und
die mich nur wuͤrden geaͤngſtigt haben, denn
dieſe trieben die Verkehrtheit vielleicht auf das
aͤußerſte. Nicht bloß, daß ſie Pallaͤſte und Tem-
pel von verſchiedenen Speiſen errichteten und
verzehrten, ſondern ſelbſt die Hoͤlle mit ihren
Geſpenſtern mußte ihrem poetiſchen Uebermuthe
dienen, und Kroͤten und Schlangen enthielten
gut zubereitete Gerichte, und der Nachtiſch von
Zucker beſtand aus Schaͤdeln und Todtenge-
beinen.
Gern, ſagte Manfred, haͤtt' ich an dieſen
bizarren, phantaſtiſchen Dingen Theil genommen,
ich habe jene Beſchreibung nie ohne die groͤßte
Freude leſen koͤnnen. Warum ſollte denn nicht
Furcht, Abſcheu, Angſt, Ueberraſchung zur Ab-
wechſelung auch einmal in unſer naͤchſtes und
alltaͤglichſtes Leben hinein geſpielt werden? Al-
les, auch das Seltſamſte und Widerſinnigſte hat
ſeine Zeit.
Freilich mußt du ſo ſprechen, ſagte Lothar,
der du auch die Abentheuerlichkeiten des Hoͤllen-
Breughels liebſt, und der du, wenn deine Laune
dich anſtoͤßt, allen Geſchmack gaͤnzlich laͤugneſt
und aus der Reihe der Dinge ausſtreichen willſt.
Wuͤſten wir doch nur, ſagte Manfred, wo
dieſe Sphinx ſich aufhaͤlt, die alle wollen geſe-
hen haben, und von der doch Niemand Rechen-
ſchaft zu geben weiß: bald glaubt man an das
[72]Einleitung.
Geſpenſt bald nicht, wie an die Dulcinea des
Don Quixote, und das iſt wohl der Spaß an
dieſem Tagegeiſte, daß er zugleich iſt und nicht iſt.
Seltſam, aber nicht ſelten, fiel Friedrich ein,
iſt die Erſcheinung (die deinen Unglauben faſt
beſtaͤtigen koͤnnte), daß Menſchen, die von Jugend
auf ſich ſcheinbar mit dem Geiſte des klaſſiſchen
Alterthums genaͤhrt, die immer das Ideal von
Kunſt im Munde fuͤhren, und unbillig ſelbſt das
Schoͤnſte der Modernen verachten, ſich doch ploͤtz-
lich aus wunderlicher Leidenſchaft ſo in das Ab-
geſchmackte und Verzerrte der neuern Welt ver-
gaffen koͤnnen, daß ihr Zuſtand ſehr nahe an
Verruͤcktheit graͤnzt.
Weil ſie die neue Welt gar nicht kannten,
antwortete Lothar, war ihre Liebe zur alten auch
keine freie und gebildete, ſondern nur Aberglaube,
der die Form fuͤr den Geiſt nahm. Mir kam
auch einmal ein ſcheinbar gebildeter junger Mann
vor, der, nachdem er lange nur den Sophokles
und Aeſchylus angebetet hatte, ziemlich ploͤtzlich
und ohne ſcheinbaren Uebergang als aͤchter Pa-
triot unſern ungriechiſchen Kotzebue vergoͤtterte.
Ich bin deiner Meinung, ſo nahm Ernſt das
Wort: kein Menſch iſt wohl ſeiner Ueberzeugung
oder ſeines Glaubens verſichert, wenn er nicht
die gegenuͤber liegende Reihe von Gedanken und
Empfindungen ſchon in ſich erlebt hat, darum
iſt es nie ſo ſchwer geweſen, als es beim erſten
Anblick ſcheinen moͤchte, die ausgemachteſten Frei-
[73]Einleitung.
geiſter zu bekehren, weil von irgend einer Seite
ihres Weſens ſich gewiß die Glaubensfaͤhigkeit
erwecken laͤßt, die dann, einmal erregt, alle Em-
pfindungen mit ſich reißt, und die ehemaligen
Anſichten und Gedanken zertruͤmmert. Eben ſo
wenig aber ſteht der Fromme, der nicht mit al-
len ſeinen Kraͤften ſchon die Regionen des Zwei-
fels durchwandert hat, ſeine Seele muͤſte dann
etwa ganz Glaube und einfaͤltiges Vertrauen ſein,
auf einem feſten Grunde.
Vorzuͤglich, ſagte Friedrich, ſind es die Lei-
denſchaften, die ſo oft im Menſchen das zerſtoͤ-
ren, was vorher als ſein eigenthuͤmlichſtes We-
ſen erſcheinen konnte. Ich habe Wuͤſtlinge ge-
kannt, wahre Gotteslaͤugner der Liebe und freche
Verhoͤhner alles Heiligen, die lange mit der ſtol-
zeſten Ueberzeugung ihr veraͤchtliches Leben fuͤhr-
ten, und endlich, ſchon an der Graͤnze des Al-
ters, von einer hoͤhern Leidenſchaft, ſogar zu un-
wuͤrdigen Weſen, wunderbar genung ergriffen
wurden, ſo daß ſie fromm, demuͤthig und
glaͤubig wurden, ihre verlorne Jugend beklag-
ten, und endlich noch einigen Schimmer der Liebe
kennen lernten, deren Himmelsglanz ſie in beſſe-
ren Tagen verſpottet hatten.
Koͤnnte man nur immer, fuͤgte Anton hinzu,
jungen Menſchen, welche in die Welt treten, und
ſich nur zu leicht von den ſcheinbar Reichen und
Freien beherrſchen und ſtimmen laſſen, die Ueber-
zeugung mit geben, wie arm und welche gebun-
[74]Einleitung.
dene Sklaven jene ſind, die gern alle ihre fal-
ſchen Flitterſchaͤtze um ein Gefuͤhl der Kindlich-
keit, der Unſchuld, oder gar der Liebe hingeben
moͤchten, wenn es ſie ſo begluͤcken wollte, in ih-
ren dunkeln Kerker hinein zu leuchten. Wie oft
iſt der uͤberhaupt in der Welt der Beneidete, der
ſich ſelb[e]r mitleidswuͤrdig duͤnkt, und weit mehr
Schlimmes geſchieht aus falſcher Schaam, als
aus wirklich boͤſer Neigung, ein mißverſtandner
Trieb der Nachahmung und Verehrung fuͤhrt
viel haͤufiger den Verirrten, als Neigung zum
Laſter.
Wie aber das Boͤſe nicht zu laͤugnen iſt,
ſagte Ernſt, eben ſo wenig in den Kuͤnſten und
Neigungen das Abgeſchmackte, und man ſoll ſich
wohl vor beiden gleich ſehr huͤten. Vielleicht,
daß auch beides genauer zuſammen haͤngt, als
man gewoͤhnlich glaubt. Wir ſollen weder den
moraliſchen noch phyſiſchen Eckel in uns zu ver-
nichten ſtreben.
Aber auch nicht zu krankhaft ausbilden,
wandte Manfred ein. — Ein Weltumſegler un-
ſers Innern wird auch wohl noch einmal die
Rundung unſrer Seele entdecken, und daß man
nothwendig auf denſelben Punkt der Ausfahrt
zuruͤck kommen muß, wenn man ſich gar zu weit
davon entfernen will.
Dies fuͤhrt, ſagte Theodor, indem er mit
Wilibald anſtieß, zur liebenswuͤrdigen Billigkeit
und Humanitaͤt.
[75]Einleitung.
Es fuͤhrt, antwortete dieſer, wie alles, was
die letzte Spitze und den wahrhaften Schwindel
mit einem gewiſſen Witze ſucht, zu gar nichts.
Theurer Lothar, laß uns wieder vernuͤnftig ſpre-
chen, und fuͤhre deine Vergleichung einer Mahl-
zeit und des Schauſpiels noch etwas weiter.
Um deiner Wißbegier genug zu thun, fuhr
Lothar fort, erklaͤr' ich alſo, daß bei einem Schau-
ſpiele die Einleitung eine der wichtigſten Par-
thieen iſt; ſie kann hauptſaͤchlich auf dreierlei
Art geſchehn. Entweder, daß in ruhiger Erzaͤh-
lung die Lage der Dinge auf die einfachſte und
natuͤrlichſte Weiſe auseinander geſetzt wird, ſo
wie in den Irrungen, oder daß uns der Dich-
ter ſogleich in Getuͤmmel und Unruhe wirft,
woraus ſich nach und nach die Klarheit und
das Verſtaͤndniß eroͤffnen, ſo wie im Romeo und
dem Oldcaſtle, die gar mit Schlaͤgerei beginnen,
oder auf die dritte Weiſe, die uns zwar auch
ſogleich in die Mitte der Dinge fuͤhrt, aber mit
ruhiger Beſonnenheit, wie in Was ihr wollt.
Es iſt keine Frage, daß die letztere Art beim
Gaſtmahl die vorzuͤglichere ſei, und daß deshalb
die ziviliſirten Nationen, und Menſchen, die
nicht bizarr leben und eſſen wollen, ihre Mahl-
zeit mit einer kraͤftigen, aber milden, ruhig
bedaͤchtigen Suppe eroͤffnen. Weil nun alle
Menſchen Hang zum Drama haben, und dunkel
die Ahndung in ihnen ſchlaͤft, daß alles Drama
ſei, ſo huͤten ſie ſich mit Recht, zu witzig, zu
[76]Einleitung.
geiſtreich, oder auch nur zu geſpraͤchig zu ſein,
ſo lange die Suppe vor ihnen ſteht.
Emilie lachte und winkte ihm Beifall, und
Lothar fuhr alſo fort: ſo wie ſich in dem eben
genannten Luſtſpiele nach der faſt elegiſchen Ein-
leitung die anmuthigen Perſonen des Junkers
Tobias, der Maria und des Bleichenwang als
reizende Epiſode einfuͤhren, ſo genießt man zum
Anbeginn der Mahlzeit Sardellen, oder Kaviar,
oder irgend etwas Reitzendes, welches noch nicht
unmittelbar das Beduͤrfniß befriedigt, und ſo,
um nicht zu weitlaͤufig zu werden, wechſelt Be-
friedigung und Reitz in angenehmen Schwin-
gungen bis zum Nachtiſch, der ganz launig,
poetiſch und muthwillig iſt, wie jenes Luſtſpiel
ſich nach ſeinem Beſchluß mit dem allerliebſten
albernen, aber bedeutenden Geſang des liebens-
wuͤrdigſten Narren beſchließt, wie Viel Laͤrmen
um nichts und Wie es euch gefaͤllt mit einem
Tanze endigen, oder das Wintermaͤrchen mit
der lebendigen Bildſaͤule.
Ich ſehe wohl, ſagte Clara, man ſollte
das Eſſen eben ſo gut in Schulen lernen, als
die uͤbrigen Wiſſenſchaften.
Gewiß, ſagte Lothar, ziemt einem gebilde-
ten Menſchen nichts ſo wenig, als ungeſchickt
zu eſſen, denn eben, weil die Nahrung ein Be-
duͤrfniß unſerer Natur iſt, muß hiebei entweder
die allerhoͤchſte Simplicitaͤt obwalten, oder An-
ſtand und Frohſinn muͤſſen eintreten und an-
muthige Heiterkeit verbreiten.
[77]Einleitung.
Freilich, ſagte Ernſt, ſtoͤrt nichts ſo ſehr,
als eine ſchwankende Miſchung von Sparſam-
keit und unerfreulicher Verſchwendung, wie man
wohl mit vortreflichem Wein zum Genuß gerin-
ger und ſchlecht zubereiteter Speiſen uͤberſchuͤttet
wird, oder zu ſchmackhaften leckern Gerichten
im Angeſicht treflicher Geſchirre elenden Wein
hinunter wuͤrgen muß. Dieſes ſind die wahren
Tragikomoͤdien, die jedes geſetzte Gemuͤth, das
nach Harmonie ſtrebt, zu gewaltſam erſchuͤttern.
Iſt das Geſpraͤch ſolcher Tafel zugleich laͤrmend
und wild, ſo hat man noch lange nachher am
Mißton der Feſtlichkeit zu leiden, denn auch bei
dieſem Genuß muß die Scham unſichtbar regie-
ren, und Unverſchaͤmtheit muß in edle Geſell-
ſchaft niemals eintreten koͤnnen.
Dazu, ſagte Anton, gehoͤrt das uͤbermaͤßige
Trinken aus Ambition, oder wenn ein begeiſter-
ter Wirth im halben Rauſch zu dringend zum
Trinken noͤthigt, indem er laut und lauter ver-
ſichert, der Wein verdien' es, dieſe Flaſche koſte
ſo viel und jene noch mehr, es komme ihm aber
unter guten Freunden nicht darauf an, und er
koͤnne es wohl aushalten, wenn ſelbſt noch mehr
darauf gehn ſollte. Dergleichen Menſchen rech-
nen im Hochmuth des Geldes nicht nur her,
was dieſes Feſt koſtet und jeder einzelne Gaſt
verzehrt, ſondern ſie ruhen nicht, bis man den
Preis jedes Tiſches und Schrankes erfahren hat.
Wenn ſie Kunſtwerke oder Raritaͤten beſitzen,
[78]Einleitung.
ſind ſie gar unertraͤglich, und ihr hoͤchſter Ge-
nuß beſteht darin, wenn ſie in aller Freund-
ſchaftlichkeit ihren Gaſt koͤnnen fuͤhlen machen,
daß es ihm, gegen den Wirth gerechnet, eigent-
lich wohl an Gelde gebreche.
Das fuͤhrt darauf, fuhr Lothar fort, daß
ſo wie in den Gefaͤßen und Speiſen Harmonie
ſein muß, dieſe auch durch die herrſchenden Ge-
ſpraͤche nicht darf verlezt werden. Die einlei-
tende Suppe werde, wie ſchon geſagt, mit
Stille, Sammlung und Aufmerkſamkeit begleitet,
nachher iſt wohl gelinde Politik erlaubt, und
kleine Geſchichten, oder leichte philoſophiſche Be-
merkungen: iſt eine Geſellſchaft ihres Scherzes und
Witzes nicht ſehr gewiß, ſo verſchwende ſie ihn
ja nicht zu fruͤh, denn mit dem Confekt und
Obſt und den feinen Weinen ſoll aller Ernſt
voͤllig verſchwinden, nun muß erlaubt ſeyn, was
noch vor einer Viertelſtunde unſchicklich geweſen
waͤre; durch ein lauteres Lachen werden ſelbſt die
Damen dreiſter, die Liebe erklaͤrt ſich unverhol-
ner, die Eiferſucht zeigt ſich mit unverſtecktern
Ausfaͤllen, jeder giebt mehr Bloͤße und ſcheut
ſich nicht, dem treffenden Spott des Freundes
ſich hinzugeben, ſelbſt eine und die andre aͤrger-
liche Geſchichte witzig vorgetragen darf umlaufen.
Große Herren ließen ehemals mit dem Zucker ihre
Narren und Luſtigmacher herein kommen, um am
Schluß des Mahls ſich ganz als Menſchen, hei-
ter, froh und ausgelaſſen zu fuͤhlen.
[79]Einleitung.
Jetzt, ſagte Theodor, bringt man um die
Zeit die kleinen Kinder herein, wenn ſie nicht
ſchon alle in Reih' und Glied bei Tiſche ſelber
geſeſſen haben.
Freilich, ſagte Manfred, und das Geſpraͤch
erhebt ſich zum Ruͤhrenden uͤber die hohen idea-
liſchen Tugenden der Kleinen und ihrer unnenn-
baren Liebe zu den Eltern, und der Eltern hin-
wieder zu den Kindern.
Und wenn es recht hoch hergeht, ſagte Theo-
dor, ſo werden Thraͤnen vergoſſen, als die letzte
und koſtbarſte Fluͤſſigkeit, die aufzubringen iſt,
und ſo beſchließt ſich das Mahl mit den hoͤchſten
Erſchuͤtterungen des Herzens.
Nicht genung, fing Lothar wieder an, daß
man dieſe Unarten vermeiden muß, jede Tiſch-
unterhaltung ſollte ſelbſt ein Kunſtwerk ſein, das
auf gehoͤrige Art das Mahl akkompagnirte und
im richtigen Generalbaß mit ihm geſetzt waͤre.
Von jenen ſchrecklichen großen Geſellſchaften
ſpreche ich gar nicht, die leider in unſerm Va-
terlande faſt allgemeine Sitte geworden ſind, wo
Bekannte und Unbekannte, Freunde und Feinde,
Geiſtreiche und Aberwitzige, junge Maͤdchen und
alte Gevatterinnen an einer langen Tafel nach
dem Looſe durch einander geſetzt werden; jene
Mahlzeiten, fuͤr welche die Wirthinn ſchon ſeit
acht Tagen ſorgt und laͤuft und von ihnen traͤumt,
um alles mit großem Prunk und noch groͤßerer
Geſchmackloſigkeit einzurichten, um nur endlich,
[80]Einleitung.
endlich der Fete los zu werden, die man ſchon
laͤngſt von ihr erwartet, weil ſie wohl zwoͤlf und
mehr aͤhnliche Gaſtmahle uͤberſtanden hat, zu der
ſie nun zum Ueberfluß noch jeden einladet, dem
ſie irgend eine Artigkeit ſchuldig zu ſein glaubt,
und gern noch ein Dutzend Durchreiſende in ih-
rem Garne auffaͤngt, um ihrer Beſuche nachher
entuͤbrigt zu bleiben; nein ich rede nicht von je-
nen Tafeln, an welchen Niemand ſpricht, oder
alle zugleich reden, an welchen das Chaos herrſcht,
und kaum noch in ſeltnen Minuten ſich ein ein-
zelner Privatſpaß heraus wickeln kann, wo
jedes Geſpraͤch ſchon als todte Frucht zur Welt
kommt, oder im Augenblicke nachher ſterben muß,
wie der Fiſch auf dem trocknen Lande; ich meine
nicht jene Gaſtgebote, bei denen der Wirth ſich
auf die Folter begeben muß, um den guten Wirth
zu machen, zu Zeiten um den Tiſch wandeln,
ſelbſt einſchenken und froſtige Scherze in das
Ohr albern laͤchelnder Damen nieder legen; kurz,
ſchweigen wir von dieſer Barbarey unſerer Zeit,
von dieſem Tode aller Geſelligkeit und Gaſtfrei-
heit, die neben ſo vielen andern barbariſchen
Gewohnheiten auch ihre Stelle bei uns gefun-
den hat.
Die krankhafte Karikatur von dieſen Anſtal-
ten, fuͤgte Wilibald hinzu, ſind die noch groͤßern
Theegeſellſchaften und kalten Abendmahlzeiten, wo
das Vergnuͤgen erhoͤht wird, indem alles durch
einander laͤuft, und wie in der Sprachverwir-
rung
[81]Einleitung.
rung die Bedienten gerufen und ungerufen mit
allen moͤglichen Erfriſchungen balanzirend dazwi-
ſchen tanzen, jeder Geladene durch alle Zimmer
ſchweift, um zu ſuchen, er weiß nicht was, und
ein Ordnungsliebender gern am Ofen, oder an
irgend einem Fenſter Poſto faßt, um in der all-
gemeinen Flucht nur nicht umgelaufen, oder von
der voͤlkerwandernden Unterhaltung erfaßt und
mitgenommen zu werden.
Dieſes, ſagte Manfred, iſt der wahre hohe
Styl unſers geſelligen Lebens, Michel Angelo's
juͤngſtes Gericht gegen die Miniaturbilder alter
Gaſtlichkeit und traulicher Freundſchaft, der Be-
ſchluß der Kunſt, das Endziel der Imagination,
die Vollendung der Zeiten, von der alle Prophe-
ten nur haben weiſſagen koͤnnen.
Vergeſſen wir nur nicht, unterbrach Ernſt,
die Feſtlichkeiten des Mittelalters, wo nicht ſel-
ten Tauſende vom Adel als Gaͤſte verſammelt
waren; doch hatte jener freimuͤthige frohe Sinn
nichts von der Zerſtreutheit unſerer Zeit, und
ihre glaͤnzenden Waffenkaͤmpfe, dieſe Spiele, bei
denen die Kraft mit der Gefahr ſcherzte, verei-
nigten alle Gemuͤther zu einem herrlichen Mittel-
punkte hin. Die Schaͤtze der Welt ſind wohl
noch niemals ſo oͤffentlich und in ſo ſchoͤnem
großen Sinne genoſſen worden.
Wie ſoll denn nun aber nach deiner Vor-
ſtellung ein Gaſtmahl endigen? fragte Wilibald;
was ſollte denn wohl auf dieſen luſtigen Leicht-
I. [ 6 ]
[82]Einleitung.
ſinn folgen koͤnnen, um wuͤrdig zu beſchließen,
oder wieder in das gewoͤhnliche Leben einzu-
lenken?
Der orientaliſche Ernſt des Caffee, ant-
wortete Lothar, und nach dieſem, wie neulich
ſchon ausgemacht wurde, vielleicht ſogar die
Pfeife. Da befinden wir uns ploͤtzlich wieder
in der Mitte eines herabgeſtimmten Lebens,
und denken an unſere vorige Luſt nur wie an
einen Traum zuruͤck.
Sollte man ſo bewußtvoll leben, eſſen und
trinken, warf Clara ein, ſo waͤre es eben eine
herzliche Laſt, ſich mit dem Leben uͤberall ein-
zulaſſen.
Es koͤmmt wohl nur auf die Uebung an,
ſagte Theodor, haben doch Elephanten gelernt
auf dem Seile tanzen. Die meiſten Menſchen
machen ſich außerdem ihr Leben noch viel be-
ſchwerlicher, und ſie leben es doch ab: o wahr-
lich, haͤtten ſie nur etwas Leichtſinn in den Kauf
bekommen, ſo entſchloͤſſen ſich viele, ſich ſterben
zu laſſen.
Ich ſage ja nur, antwortete Lothar, daß
uns dunkel dergleichen Vorſtellung eines Dra-
ma vorſchwebt, wie bei allen Dingen, in die
wir uns beſtreben Sinn und Zuſammenhang
hinein zu bringen.
Da man ſich ſchon dem Nachtiſche naͤherte,
ſo ließ Manfred heißern Wein geben und ermun-
terte ſeine Freunde zum Trinken. Du wollteſt,
[83]Einleitung
duͤnkt mich, noch uͤber die Tiſchgeſpraͤche etwas
ſagen, ſo wandte er ſich nach einiger Zeit an
Lothar.
Ich wollte noch bemerken, antwortete die-
ſer, daß nicht jedes Geſpraͤch, auch wenn es
an ſich gut iſt, an die Tafel paßt, oder wenig-
ſtens nicht in jede Geſellſchaft. Beim ſtillen
haͤuslichen Mahl darf unter wenigen Freunden
oder in der Familie mehr Ernſt, ſelbſt Unter-
richt und Gruͤndlichkeit herrſchen, je mehr es
ſich aber dem Feſte naͤhert, um ſo mehr muͤſſen
Geiſt und Frohſinn an die Stelle treten.
Frage nun, ſagte Wilibald, ob wir auch
die gehoͤrigen Diskurſe fuͤhren? Biſt du, drama-
tiſcher Lothar, in deinem Gewiſſen ganz beruhigt?
Auch hiebei, erwiederte dieſer, iſt das gute
Beſtreben, alles was wir geben koͤnnen, auch
hier muß jenes Gluͤck unſichtbar hinzutreten und
die letzte Hand anlegen, um ein erfreuliches
wahres Kunſtwerk hervor zu bringen.
Waͤhrend dieſer Geſpraͤche, ſagte Manfred,
iſt mir eingefallen, daß ich wohl unſre Schrift-
ſteller und Dichter nach meinem Geſchmack mit den
verſchiedenartigen Gerichten vergleichen koͤnnte.
Zum Beiſpiel? fragte Auguſte; das waͤre
eine Geſchmackslehre, die mir ſehr willkommen
ſein wuͤrde, und wonach ich mir alles am beſten
merken und eintheilen koͤnnte.
Ein andermal, ſagte Manfred, wenn du
fuͤr dergleichen ernſthafte Dinge mehr geſtimmt
[84]Einleitung.
biſt, jetzt wuͤrdeſt du es wohl nur ſehr frivol
aufnehmen, und ich bin doch uͤberzeugt, daß
dieſe Vergleichungen ſich eben auch ſo gruͤndlich
durchfuͤhren laſſen, wie alle uͤbrigen.
Es war eine Zeit, ſagte Emilie, in der es
die Schriftſteller, die uͤber die Poeſie ſchrieben,
niedrig und gemein finden wollten, das Ge-
ſchmack zu nennen, was in Werken der Kuͤnſte
das Gute von dem Schlechten ſondert.
Das war eben in jener geſchmackloſen Zeit,
ſagte Theodor.
Wer noch nie uͤber das Tiefe und Innige
des Geſchmacks, uͤber ſeine chemiſchen Zerſetzun-
gen und univerſellen Urtheile nachgedacht hat,
verſetzte Ernſt, der duͤrfte nur einiges uͤber die-
ſen Gegenſtand in den Schriften mancher My-
ſtiker leſen, um zu erſtaunen, und die Veraͤch-
ter dieſes Sinnes zu verachten.
Er duͤrfte auch nur hungern, ſagte Wili-
bald, und dann eſſen.
Lieber noch durſten, ſagte Anton, und dann
trinken, indem er ſelber bedaͤchtig trank.
Am kuͤrzeſten iſt es' gewiß, antwortete Friede-
rich, indeß wie ſelten werden wir darauf gefuͤhrt,
das zu beobachten, und uns uͤber dasjenige zu
unterrichten, was wir in uns Inſtinkt nennen,
und doch iſt der Philoſoph nur ein unvollkom-
mener, der in dieſe Gegend ſeinen ſpaͤhenden
Geiſt noch niemals ausgeſendet hat.
So iſt es freilich mit allen Sinnen, fuhr
[85]Einleitung.
Ernſt fort, auch mit denen, die ſchon dem Ge-
danken verwandter ſcheinen, wie das Ohr und
das noch hellere Auge. Wie wunderſam, ſich
nur in eine Farbe als bloße Farbe recht zu ver-
tiefen? Wie kommt es denn, daß das helle
ferne Blau des Himmels unſre Sehnſucht erweckt,
und des Abends Purpurroth uns ruͤhrt, ein
helles goldenes Gelb uns troͤſten und beruhigen
kann, und woher nur dieſes unermuͤdete Ent-
zuͤcken am friſchen Gruͤn, an dem ſich der Durſt
des Auges nie ſatt trinken mag?
Auf heiliger Staͤtte ſtehen wir hier, ſagte
Friedrich, hier will der Traum in uns in noch
ſuͤßeren, noch geheimnißvolleren Traum zerflie-
ßen, um keine Erklaͤrung, wohl aber ein Ver-
ſtaͤndniß, ein Sein im Befreundeten ſelbſt hin-
ein zu wachſen und zu erbilden: hier findet der
Seher die goͤttlichen ewigen Kraͤfte ihm begeg-
nend, und der Unheilige laͤßt ſich an der nem-
lichen Schwelle zum Goͤtzendienſte verlocken.
Die Kunſt, ſagte Manfred, hat dieſe Ge-
heimniſſe wohl unter ihren vielfarbigen Mantel
genommen, um ſie den Menſchen ſittſam und
in fliehenden Augenblicken zu zeigen, dann hat
ſie ſie uͤber ſich ſelbſt vergeſſen, und phantaſirt
ſeitdem ſo oft in allen Toͤnen und Erinnerun-
gen, um dieſe alten Toͤne und Erinnerungen
wieder zu finden. Daher die wilde Verzweif-
lung in der Luft mancher bacchantiſchen Dichter;
es reißen ſich wohl Laute in ſchmerzhafter uͤppi-
[86]Einleitung.
ger Freude, in der Angſt keine Scheu mehr
achtend, aus dem Innerſten hervor, und ver-
rathen, was der heiligere Wahnſinn verſchweigt.
So wollten wild ſchwaͤrmende Corybanten und
Prieſterinnen ein Unbekanntes in Raſerei ent-
decken, und alle Luft die uͤber die Graͤnze ſchweift
nippt von dem Kelch der Ambroſia, um Angſt
und Wuth mit der Freude laut tobend zu ver-
wirren. Auch der Dichter wird noch einmal
erſcheinen, der dem Grauſen und der Wolluſt
mehr die Zunge loͤßt.
Schon glaub' ich die Maͤnade zu hoͤren,
ſagte Ernſt, nur Paukenton und Cymbelnklang
fehlt, um dreiſter die Worte tanzen zu laſſen,
und die Gedanken in wilderer Geberde.
Seyn wir auch im Phantaſiren maͤßig, und
auch im Aberwitz noch ein wenig witzig, bemerkte
Wilibald.
Ja wohl, fuͤgte Auguſte hinzu, ſonſt koͤnnte
man vor dergleichen Reden eben ſo angſt, wie
vor Geſpenſtergeſchichten werden; das beſte iſt,
daß keiner ſich leicht dergleichen wahrhaft zu
Gemuͤth zieht, ſonſt moͤchten ſich vielleicht wun-
derliche Erſcheinungen aufthun.
Du ſprichſt wie eine Seherinn, ſagte Man-
fred, dieſer Leichtſinn und dieſe Traͤgheit erhaͤlt
den Menſchen und giebt ihm Kraft und Aus-
dauer zu allem Guten, aber beide reißen ihn
auch immerdar zuruͤck von allem Guten und
[87]Einleitung.
hohen, und weiſen ihn wieder auf die niedrige
Erde an.
Es gemahnt mir, bemerkte Theodor unhoͤf-
lich, wie die Hunde, die, wenn auch noch ſo
geſchickt, nicht lange auf zwei Beinen dienen
koͤnnen, ſondern immer bald wieder zu ihrem
Wohlbehagen als ordinaͤre Hunde zuruͤck fallen.
Laßt uns alſo, erinnerte Wilibald, auch
ohne Hunde zu ſein, auf der Erde bleiben, denn
gewiß iſt alles gut, was nicht anders ſein kann.
Wir ſprachen ja von Kuͤnſten, fuhr Theodor
fort, und ich erinnere mich dabei nur mit Ver-
druß, daß ein Menſch, der ſeine Hunde ihre
mannigfaltigen Geſchicklichkeiten oͤffentlich zeigen
ließ, jeden ſeiner Scholaren mit der groͤßten Ernſt-
haftigkeit und Unſchuld einen Kuͤnſtler nannte.
O welch liebliches Licht, rief Roſalie aus,
breitet ſich jetzt nach dem ſanften Regen uͤber
unſern Garten! So iſt wohl dem zu Muthe,
der aus einem ſchweren Traum am heitern Mor-
gen erwacht.
Ich werde nie, ſagte Ernſt, den lieblichen
Eindruck vergeſſen, den mir dieſer Garten mit
ſeiner Umgebung machte, als ich ihn zuerſt von
der Hoͤhe jenes Berges entdeckte. Du hatteſt
mir dort, in der Waldſchenke, mein Freund Man-
fred, nur im allgemeinen von dieſer Gegend
erzaͤhlt, und ich ſtellte mir ziemlich unbeſtimmt
eine Sammlung gruͤner Gebuͤſche vor, die man
ſo haͤufig jetzt Garten nennt; wie erſtaunte ich,
[88]Einleitung.
als wir den rauhen Berg nun erſtiegen hatten,
und unter mir die gruͤnen Thaͤler mit ihren
blitzenden Baͤchen lagen, ſo wie die zuſammen-
ſchlagenden Blaͤtter eines herrlichen alten Ge-
dichtes, aus welchem uns ſchon einzelne liebliche
Verſe entgegen aͤugeln, die uns auf das Ganze
um ſo luͤſterner machen: nun entdeckt' ich in der
gruͤnenden Verwirrung das hellrothe Dach dei-
nes Hauſes und die reinlich glaͤnzenden Waͤnde,
ich ſah in den viereckten Hof hinein, und dane-
ben in den Garten, den gerade Baumgaͤnge bil-
deten und verſchloſſene Lauben, die Wege ſo
genau abgemeſſen, die Springbrunnen ſchim-
mernd; alles dies ſchien mir eben ſo wie ein
helles Miniaturbild aus beſchriebenen Perga-
mentblaͤttern alter Vorzeit entgegen, und befan-
gen von poetiſchen Erinnerungen fuhr ich herun-
ter, und ſtieg noch mit dieſen Empfindungen in
deinem Hauſe ab, wo ich nun alles ſo lieblich
und reizend gefunden habe. Ich geſtehe gern,
ich liebe die Gaͤrten vor allen, die auch unſern
Vorfahren ſo theuer waren, die nur eine gruͤ-
nende geraͤumige Fortſetzung des Hauſes ſind,
wo ich die geraden Waͤnde wieder antreffe, wo
keine unvermuthete Beugung mich uͤberraſcht, wo
mein Auge ſich ſchon im voraus unter den Baum-
ſtaͤmmen ergeht, wo ich im Freyen die großen
und breiten Blumenfelder finde, und vorzuͤglich
die lebendigen ſpielenden Waſſerkuͤnſte, die mir
ein unbeſchreibliches Wohlgefallen erregen.
[89]Einleitung.
Mit derſelben Empfindung, antwortete Man-
fred, betrat ich zuerſt dieſe Gegend, dieſer Gar-
ten lockte mich ſogleich freundlich an. Ich liebe
es, im Freyen geſellſchaftlich wandeln zu koͤnnen,
im ungeſtoͤrten Geſpraͤch, die Blumen ſehen mich
an, die Baͤume rauſchen, oder ich hoͤre halb
auf das Geſchwaͤtz der Brunnen hin; belaͤſtigt
die Sonne, ſo empfangen uns die dichtverfloch-
tenen Buchengaͤnge, in denen das Licht zum
Smaragd verwandelt wird, und wo die lieblich-
ſten Nachtigallen flattern und ſingen.
Mit Entzuͤcken, ſo redete Ernſt weiter, muß
ich an die ſchoͤnen Gaͤrten bei Rom und in man-
chen Gegenden Italiens denken, und ſie haben
meine Phantaſie ſo eingenommen, daß ich oft
des Nachts im Traum zwiſchen ihren hohen Myr-
then- und Lorbeergaͤngen wandle, daß ich oft-
mals, wie die unvermuthete Stimme eines lange
abweſenden Freundes, das liebliche Sprudeln
ihrer Brunnen zu vernehmen waͤhne. Hat ſich
irgendwo ein edles Gemuͤth ſo ganz wie in ei-
nem vielſeitigen Gedicht ausgeſprochen, ſo iſt es
vor allen dasjenige, welches die Borgheſiſche
Villa angelegt und ausgefuͤhrt hat. Was die
Welt an Blumen und zarten Pflanzen, an ho-
hen ſchoͤnen Baͤumen beſitzt, allen Reitz großer
und freier Raͤume, wo uns labend die Luft des
heitern Himmels umgiebt, labyrinthiſche Baum-
gewinde, wo ſich Epheu um alte Staͤmme im
Dunkel ſchlingt, und in der ſuͤßen Heimlichkeit
[90]Einleitung.
kleine Brunnen in perlenden Stralen klingend
tropfen, und Turteltauben girren: der anmuthigſte
Wald mit wilden Hirſchen und Rehen, Feld
und Wieſen dazwiſchen, und Kunſtgebilde an
den bedeutendſten Stellen, alles findet ſich in
dieſem elyſiſchen Garten, deſſen Reitze nie ver-
alten, und der jetzt eben wieder wie eine Inſel
der Seligen vor meiner Einbildung ſchwebt.
Doch hab' ich in vielen Buͤchern geleſen,
wandte Emilie ein, daß die Gartenkunſt der
Italiaͤner noch in der Kindheit ſei, und daß ſie
weit hinter den Deutſchen zuruͤckſtehen.
In allen menſchlichen Angelegenheiten, ant-
wortete Ernſt, herrſcht die Mode, aus der ſich,
wenn ſie erſt weit um ſich gegriffen hat, leicht
Sektengeiſt erzeugt, welchen man oft genug als
Fortſchritt der Kunſt oder Menſchheit unter dem
Namen des Geiſtes der Zeit muß preiſen hoͤ-
ren, und ſo gehoͤren auch dieſe Aeußerungen und
Glaubensmeinungen in das Syſtem ſo mancher
andern, gegen die ich mich faſt unbedingt erklaͤ-
ren moͤchte. Wo ſind denn in Deutſchland die
vortreflichen Gaͤrten im ſogenannten Engliſchen
Geſchmack, gegen die der gebildete Sinn nicht
ſehr Vieles einzuwenden haͤtte?
Sprechen ſie weiter! rief Clara lebhaft;
ſchon einige empfindſame Reiſende haben unſern
muntern Garten als altfraͤnkiſch getadelt und
meiner Mutter auf vielfache Weiſe gerathen, ei-
nen krummen, und wenn man den naͤchſten Huͤ-
[91]Einleitung.
gel mit hinein zoͤge, auch auf- und abſteigen-
den Park mit allen moͤglichen Effekten, anzule-
gen, und meine gute Mutter hatte ſich ſchon
vor einigen Jahren nicht abgeneigt gezeigt, ſo
daß ich ſchon fuͤr meine Blumenbeete und fuͤr
die Waſſerkuͤnſte, die ſelbſt in der Stille der
Nacht fortlachen, gezittert habe.
Wir duͤrfen nur, fuhr Ernſt fort, auf das
Beduͤrfniß zuruͤck gehn, aus welchem unſre Gaͤr-
ten entſtanden ſind, um auf dem kuͤrzeſten Wege
einzuſehn, welche Anlagen im Allgemeinen die
richtigeren ſein moͤgen. Der Landmann hat ne-
ben ſeiner einfachen Wohnung ſeinen Baumgar-
ten, der ihm vor ſeiner Thuͤr Fruͤchte und Kuͤ-
chengewaͤchſe liefert, gern laͤßt er das Gras zwi-
ſchen den Baͤumen wachſen, ſowohl, weil er es
ebenfalls nutzen kann, als auch weil es ihm Ar-
beit erſpart, indem er es ſchont. Sehn wir in
dieſer wilden gruͤnen Anſtalt noch irgend ein
Fleckchen den Gartenblumen beſonders gewidmet
und mit Liebe ausgeſpart, ſo hat dieſe natuͤr-
lichſte Anlage, im Gebirge wie im flachen Lande,
einen gewiſſen Zauber, der uns ſtill und ruͤh-
rend anſpricht, ja in der Bluͤthenzeit kann ein
ſolcher Raum mit ſeinen dicht gedraͤngten Baͤu-
men entzuͤckend ſein. Dieſe ſind unter den Gaͤr-
ten die wahren Idyllen, die kleinen Naturge-
dichte, die eben deswegen gefallen, weil ſie von
aller Kunſt voͤllig ausgeſchloſſen ſind.
Ein Muͤhlbach, der an ſolchem Garten vor-
[92]Einleitung.
uͤberrinnt, ſagte Clara, und Laͤmmchen drinne
huͤpfend und bloͤkend in der Fruͤhlingszeit, und
krausbebuſchte Berge dahinter, aus denen ein
Holzſchlag in den Geſang der Waldvoͤgel toͤnt,
dies kann vorzuͤglich Abends, oder am fruͤhſten
Morgen ſo himmliſche Eindruͤcke von Ruhe, Ein-
ſamkeit und lieblicher Befangenheit erregen, daß
unſer Gemuͤth in dieſen Augenblicken ſich nichts
Hoͤheres wuͤnſchen kann.
Die Gaͤrten der alten Burgen und Schloͤſ-
ſer waren auf ihren Hoͤhen gewiß nur beſchraͤnkt,
ſagte Ernſt, der jagdliebende Ritter lebte im
Walde, oder auf Reiſen und Turniren, oder in
Fehden und Kriegen. Als die neueren Pallaͤſte
entſtanden und die fuͤrſtliche Architektur, als mit
dem milderen Leben Kunſt, Witz und heitere Ge-
ſelligkeit in die Schloͤſſer der Großen und Rei-
chen zogen, wandte ſich die architektoniſche Regel
ebenfalls in die Gaͤrten; in ihnen ſollte dieſelbe
Reinlichkeit und Ordnung herrſchen, wie in den
Saͤulengaͤngen und Saͤlen der Pallaͤſte, ſie ſoll-
ten der Geſelligkeit den heiterſten Raum gewaͤh-
ren, und ſo entſtanden die regelmaͤßigen, weiten
und vielfachen Baumgaͤnge, ſo wurde der un-
ordentliche Wuchs zu gruͤnen Waͤnden erzogen,
Huͤgel ordneten ſich in Terraſſen und bequemen
breiten Treppen, die Blumen ſtanden in Reihen
und Beeten, und alles Wildſcheinende, ſo wie
alles, was an das Beduͤrfniß erinnert, wurde
ſorgfaͤltigſt entfernt; auf großen runden oder vier-
[93]Einleitung.
eckten Plaͤtzen ſuchte man gern die Fruͤhlings-
ſonne, die dichten Baumſchatten waren zu Boͤ-
gen gegen die Hitze gewoͤlbt, verflochtene Lau-
bengaͤnge waren kuͤnſtlich ſelbſt mit unſichtbaren
Kaͤfigen umgeben, in denen Voͤgel aller Art in
ſcheinbarer Freiheit ſchwaͤrmten; die Springbrun-
nen, die die Stille unterbrachen und wie Na-
turmuſik dazwiſchen redeten, und deren geord-
nete Stralen und Stroͤme in vielfachen Linien
aus Muſcheln, Seepferden und Statuen von
Waſſergoͤttern ſich ebenfalls nach Regeln erho-
ben, dienten als phantaſtiſcher Schmuck dem wohl-
berechneten Ganzen. Der bunte gruͤnende Raum
war Fortſetzung der Saͤle und Zimmer, fuͤr viele
Geſellſchaften geeignet, den mannigfaltigſten Sin-
nen zubereitet, dem Geraͤuſch und Prunk anpaſ-
ſend, und auch in der Einſamkeit ein lieblicher
Genuß, denn der Frohwandelnde, wie jener, der
ſich in ſtille Betrachtung ſenkt, fand nichts, was
ihn ſtoͤrte und irrte, ſondern die lebendige Na-
tur umgab ſie zauberiſch in denſelben Regeln, in
denen der Menſch von Verſtand und Vernunft,
und der innern unſichtbaren Mathematik ſeines
Weſens ewig umſchloſſen iſt.
Siehſt du, liebe Mutter, ſagte Clara, welche
philoſophiſche Miene unſer oft getadelte Garten
anzunehmen weiß, wenn er nur ſeinen Sachwal-
ter findet?
Alles, was ich ſagen kann, fuhr Ernſt fort,
ſteht ſchon im Woldemar viel beſſer und gruͤnd-
[94]Einleitung.
licher, als Zurechtweiſung eines einſeitigen und
mißverſtandenen Hanges zur Natur.
Finden Sie denn aber wirklich alle Gaͤrten
dieſer Art ſchoͤn? fragte Auguſte.
So wenig, antwortete Ernſt, daß ich im
Gegentheil viele geſehen habe, die mir durch ihre
vollendete Abgeſchmacktheit eine Art von Grau-
ſen erregt haben. Es giebt vielleicht in der gan-
zen Natur keine traurigere Einſamkeit, als uns
die erſtorbene Formel dieſer Gartenkunſt in dem
barocken uͤbertriebenen Hollaͤndiſchen Geſchmack
darbietet, wo es den Reitz ausmachen ſoll, die
Baͤume nicht als ſolche wieder zu erkennen, wo
Muſcheln, Porzellan und glaͤnzende Glaskugeln
um fuͤrchterlich verzerrte Bildſaͤulen auf gefaͤrb-
tem Sande ſtehn, wo das ſpringende Waſſer
ſelbſt ſeine liebliche Natur eingebuͤßt hat, und
zum Poſſenreißer geworden iſt, und wo auch ſo-
gar der heiterſte blaue Himmel nur wie ein ern-
ſtes mißbilligendes Auge uͤber dem vollendeten
Unfug ſteht: Mond und Sterne uͤber dieſen Fra-
tzen leuchtend und ſchimmernd, ſind furchtbar,
wie die lichten Gedanken im Geſchwaͤtz eines
Verruͤckten.
Vom Waſſer, fiel Theodor ein, wird uͤber-
haupt oft ein kindiſcher Mißbrauch gemacht, dieſe
Vexirkuͤnſte, um uns ploͤtzlich naß zu machen, ſind
den abgeſchmackten neumodiſchen Geſpenſterge-
ſchichten mit natuͤrlichen Erklaͤrungen zu verglei-
chen; der Verdruß iſt viel groͤßer als der Schreck.
[95]Einleitung.
Da man nun ſo haͤufig, ſprach Ernſt wei-
ter, dieſe Geſpenſter von Gaͤrten ſah, ſo er-
wachte zu derſelben Zeit, als man in allen Kuͤn-
ſten die Natuͤrlichkeit forderte, auch in der Gar-
tenkunſt bei unſern Landsleuten ein gewiſſer Sinn
fuͤr Natur. Wir hoͤrten von den Engliſchen
Parks, von denen viele in der That in hoher
Schoͤnheit prangen, und ſo fing man denn in
Deutſchland ebenfalls an, mit Baͤumen, Stau-
den und Felſen auf mannichfache Weiſe zu ma-
len, lebendige Waſſer und Waſſerfaͤlle mußten
die ſpringenden Brunnen verdraͤngen, ſo wie alle
geraden Linien nebſt allem Anſchein von Kunſt
verſchwinden mußten, um der Natur und ihren
Wirkungen auf unſer Gemuͤth Raum zu gewaͤh-
ren. Weil man ſich nun hier in einem unbe-
ſchraͤnkten Felde bewegte, eigentlich keine Vor-
bilder zur Nachahmung vor ſich hatte, und der
Sinn, der auf dieſe Weiſe malen und zuſam-
men ſetzen ſoll, vom feinſten Geſchmack, vom
zarteſten Gefuͤhl fuͤr das Romantiſche der Na-
tur geleitet werden muß, ja, weil jede Lage,
jede Umgebung einen eigenthuͤmlichen Garten die-
ſer Art erfordert, und jeder alſo nur einmal
exiſtiren kann, ſo konnte es nicht fehlen, daß
man von jenem aͤchten Naturſinn verlaſſen, in
Verwirrung gerieth, und bald Gaͤrten entſtan-
den, die nicht weniger widerlich, als jene Hol-
laͤndiſchen waren. Bald genuͤgten die Effekte
der Natur und der ſinnigen Baͤume und Pflan-
[96]Einleitung.
zen nicht mehr, dem bizarren Streben waren
dieſe Wirkungen zu gelinde, man baute Felſen-
maſſen, Labyrinthe, haͤngende Bruͤcken, chineſi-
ſche Thuͤrmchen auf ſteilen Abhaͤngen, gothiſche
Burgen, Ruinen aller Art, und ſo waren dieſe
verworrenen Raͤume am Ende mehr auf ein
unangemehmes Erſchrecken, oder unbehagliche
Aengſtlichkeit, als fuͤr einen ſtillen Genuß einge-
richtet.
Und dabei doch alles kleinlich, fiel Manfred
ein, nicht phantaſtiſch, ſondern nur arm ſind
dieſe Tempel der Nacht und der Sonne, mit
ihren bunten affektirten Lichtern, und kommen
nicht einmal unſern gewoͤhnlichſten Theater-Ef-
fekten gleich.
Fuͤr das Erſchrecken reizbarer oder traͤume-
riſcher Menſchen iſt oft hinlaͤnglich geſorgt, ſagte
Anton, wenn unvermuthet ein Bergmann aus
einem Schacht neben dem Wege heraus zu ſtei-
gen ſcheint, oder im einſamen Dikkicht eine an-
dre widrige Puppe als Eremit vor einem Cru-
cifixe kniet. Selbſt Schaͤdel und Beingerippe
muͤſſen dem Wandelnden zum Ergoͤtzen dienen.
Ohne weiteren Schreck, ſagte Wilibald, er-
regen ſchon die krummen, ewig ſich verwickeln-
den Wege Angſt genug. Man ſieht Menſchen
in der Ferne und vermuthet einen Freund unter
dieſen; aber wie in aller Welt ſoll man es an-
ſtellen, ſich ihnen zu naͤhern? Man nimmt die
Richtung nach jenem Punkt, allein der Weg laͤßt
ſich
[97]Einleitung.
ſich nicht ſo gehn, wie du moͤchteſt, bald biſt du
hinter deinem vorigen Standpunkte zuruͤck, und
ſo iſt es auch wahrſcheinlich jenem druͤben er-
gangen; tagelang rennt man ſich aus dem Wege,
wenn man ſich nicht in einer albernen Moſchee,
oder Otahitiſchen Huͤtte, in die man gegen den
Regen unterduckt, ganz unvermuthet findet.
Eben ſo wenig, fuhr Theodor fort, kannſt
du aber dem ausweichen, dem du nicht be-
gegnen willſt, und das iſt oft noch ſchlimmer.
Nichts alberneres, als zwei Menſchen, die ſich
nicht leiden moͤgen, und die ſich ploͤtzlich in ge-
zwungener Einſamkeit in einer dunkeln Grotte
eng neben einander befinden, da brummt man
was von ſchoͤner Natur und rennt aus einan-
der, als muͤßte man die naͤchſte Schoͤnheit noch
eilig ertappen, die ſich ſonſt vielleicht auf fluͤch-
tigen Fuͤßen davon machen moͤchte; und, ſiehe
da, indem du dich bald nachher eine enge Fel-
ſentreppe hinauf quaͤlſt, kommt dir wieder die
fatale Perſonage von oben herunter entgegen ge-
ſtiegen, man muß ſich ſogar beim Vorbeidraͤn-
gen koͤrperlich beruͤhren, eine nothgedrungene
Freundlichkeit anlegen, und der lieben Humani-
taͤt wegen recht entzuͤckt ſein uͤber das herrlich
romantiſche Weſen, um nur der leidigen Ver-
ſuchung auszuweichen, jenen in den zauber- aber
nicht waſſerreichen Waſſerfall hinab zu ſtoßen.
Die Entdeckung und Anpflanzung der Lombardi-
ſchen Pappel, die weder Geſtalt noch Farbe hat,
I. [ 7 ]
[98]Einleitung.
iſt den Verfertigern der ſchoͤnen Natur ſehr zu
ſtatten gekommen, ihrem Wirrwarr recht eilig auf
die Beine helfen zu koͤnnen. Das Zeug waͤchſt
faſt zuſehends, und nun haben unſre guten al-
ten einheimiſchen Baͤume das Nachſehn. Dieſe
Pappeln ſind mir in geraden und krummen Gaͤn-
gen gleich widerwaͤrtig. Wie ſchoͤn ſind unſre
alten Linden, die vormals ſo manche Landſtraße
zierten, wie erfreulich die ehrwuͤrdigen Nußbaͤume
der Bergſtraße, und wie melankoliſch ſind die
Pappelgaſſen, die ſich um Carlsruh nach allen
Seiten in das Land ſo finſter hinaus ſtrecken.
In gebirgigen Gegenden, ſagte Friedrich,
ſcheint mir ein Garten, wie dieſer hier, nicht
nur der angemeſſenſte, ſondern auch ohne Frage
der ſchoͤnſte, denn nur in dieſem kann man ſich
von den erhabenen Reizen und großen Ein-
druͤcken erholen, die die maͤchtigen Berge beim
Durchwandeln in uns erregen. Jedes Beſtreben
hier etwas Romantiſches erſchaffen, und Baum
und Waldgegenden malen zu wollen, wuͤrde
jenen Waͤldern und Felſenſchluften, den wun-
derſamen Thaͤlern, der majeſtaͤtiſchen Einſamkeit
gegenuͤber nur albern erſcheinen. So aber liegt
dieſer Garten in ſtiller Demuth zu den Fuͤßen
jener Rieſen, mit ihren Waͤldern und Waſſer-
baͤchen, und ſpielt mit ſeinen Blumen, Lauben-
gaͤngen und Brunnen wie ein Kind in einfaͤlti-
gen Phantaſien. Dagegen iſt mir in einer der
traurigſten Gegenden Deutſchlands ein Garten
[99]Einleitung.
bekannt, der allen romantiſchen Zauber auf die
ſinnigſte Weiſe in ſich vereinigt, weil er, nicht
um Effekt zu machen, ſondern um die inner-
lichen Bildungen eines ſchoͤnen Gemuͤthes in
Pflanzen und Baͤumen aͤußerlich zu erſchaffen
vollendet wurde; in jener Gegend, wo der edle
Herausgeber der Arethuſa nach alter Weiſe im
Kreiſe ſeiner liebenswuͤrdigen Familie lebt; die-
ſer gruͤne, herrliche Raum ſchmuͤckt wahrhaft die
dortige Erde, von ihm umfangen vergißt man
das unfreundliche Land, und waͤhnt in lieblichen
Thaͤlern und goͤttergeweihten Hainen des Alter-
thums zu wandeln; in jedem Freunde der Na-
tur, der dieſe liebliche Schatten beſucht, muͤſſen
ſich dieſelben heitern Gefuͤhle erregen, mit denen
der ſinnvolle Pflanzer die anmuthigſte Landſchaft
hier mit dem Schmuck der ſchoͤnſten Baͤume
dichtete, die auf ſanften Huͤgeln und in ſtillen
Gruͤnden mannichfaltig wechſelt, und durch ruͤh-
rende Reize den Sinn des Gebildeten beruhigt
und befriedigt. Denn ein wahres und vollkom-
menes Gedicht muß ein ſolcher Garten ſein, ein
ſchoͤnes Individuum, das aus dem eigenſten
Gemuͤthe entſprungen iſt, ſonſt wird ihm der
Vorwurf jener oben geruͤgten Verwirrung und
Unerfreulichkeit gewiß nicht entſtehn koͤnnen.
Die Damen machten ſchon Miene ſich zu
erheben, als Manfred rief: nur noch dieſe Fla-
ſche, meine Freunde, des lieblichen Conſtanzer-
[100]Einleitung.
weins, jedem ein volles Glas, und mit ihm
trinke jeder eine Geſundheit recht von Herzen!
Ernſt erhub das fluͤſſige Gold, und ſagte
nicht ohne Feierlichkeit: Wohlauf, er lebe, der
Vater und Befreier unſrer Kunſt, der edle deut-
ſche Mann, unſer Goͤthe, auf den wir ſtolz ſein
duͤrfen, und um den uns andre Nationen be-
neiden werden!
Alle ſtießen an, und als Theodor an ein
neuliches Geſpraͤch erinnern wollte, rief Man-
fred: nein, Freunde, keine Kritiken jetzt, alle
Freude unſrer Jugend, alles was wir ihm zu
danken haben, vereinigen wir in unſerer Erinn-
erung in dieſem Augenblick!
Wilibald ſagte: du haſt Recht, der Mo-
ment begeiſterter Liebe kann nur Liebe ſein, und
darum laßt uns Schillers Andenken mit ſeinem
Rahmen vereinigen, deſſen ernſter groß ſtreben-
der Sinn wohl noch laͤnger unter uns haͤtte ver-
weilen ſollen.
Ich trinke dieſes Glas, ſprach Anton bewegt,
dem edelſten und freundlichſten Gemuͤth, dem
liebenswuͤrdigſten Greiſe, dem es wohl gehen
moͤge, dem Weiſen, der nie Sektirer war, dem
kindlichen Jacobi, den uns ein ſanftes Schick-
ſal noch viele Jahre goͤnnen moͤge!
Wir endigen unſer Mahl feierlich, ſagte
Emilie, man kann ſich der Ruͤhrung nicht erweh-
ren, auf dieſe Weiſe an geliebte Abweſende zu
denken.
[101]Einleitung.
Ergeben wir uns, rief Manfred lebhaft aus,
dieſer ſchoͤnen Bewegung, und darum ſtoßt an,
und feiert hoch das Andenken unſers phantaſie-
vollen, witzigen, ja wahrhaft begeiſterten Jean
Paul! Nicht ſollſt du ihn vergeſſen, du deutſche
Jugend. Gedankt ſei ihm fuͤr ſeine Irrgaͤrten
und wundervollen Erſinnungen: moͤchte er in
dieſem Augenblick freundlich an uns denken, wie
wir uns mit Ruͤhrung der Zeit erinnern, als er
gern und mit ſchoͤner Herzlichkeit an unſerm
Kreiſe Theil nahm!
Nie ſei vergeſſen, rief Theodor mit einem
Ernſt, der an ihm nicht gewoͤhnlich war, das
bruͤderliche Geſtirn deutſcher Maͤnner, unſer Fried-
rich und Wilhelm Schlegel, die ſo viel Schoͤnes
befoͤrdert und geweckt haben: des einen Tiefſinn
und Ernſt, des andern Kunſt und Liebe ſei von
dankbaren Deutſchen durch alle Zeiten gefeiert!
So ſei es denn erlaubt, ſprach Lothar, einen
Genius zu nennen, der ſchon lange von uns
geſchieden iſt, der aber uns wohl umſchweben
mag, wenn alle Herzen mit innerlichſter Sehn-
ſucht und Verehrung ihn zu ſich rufen: der große
Britte, der aͤchte Menſch, der Erhabene, der
immer Kind blieb, der einzige Shakſpear ſei von
uns und unſern Nachkommen durch alle Zeital-
ter geprieſen, geliebt und verehrt!
Alle waren in ſtuͤrmiſcher Bewegung und
Friedrich ſtand auf und ſagte: ja, meine Gelieb-
ten, wie wir hier nun beiſammen ſind in Freund-
[102]Einleitung.
ſchaft und Liebe und dadurch eins, ſo umgiebt
uns auch aus der Ferne das Angedenken edler
Freunde, und ihre Herzen ſind vielleicht eben
jetzt hierher gewendet; aber auch den Abgeſchie-
denen zieht unſer Glaube andaͤchtig zu unſern
Mahlen, Freuden und Scherzen, mit Sehnſucht,
Liebe und Freudenthraͤnen herbei, und ſo be-
ſchließt ſich am wuͤrdigſten ein heitrer Genuß;
der Tod iſt keine Trennung, ſein Antlitz iſt nicht
furchtbar: opfert dieſe letzten Tropfen dem viel-
geliebten Novalis, dem Verkuͤndiger der Reli-
gion, der Liebe und Unſchuld, er ein ahndungs-
volles Morgenroth beſſerer Zukunft.
Roſalie ſtieß ſtillſchweigend und geruͤhrt mit
an: ihm ſollen die Frauen danken, ſprach ſie
leiſe und bewegt. Alle erhuben ſich, die Freunde
umarmten ſich ſtuͤrmiſch und jedem ſtanden Thraͤ-
nen in den Augen. Man ging ſchweigend in
den Garten.
Die Geſellſchaft ſaß um den groͤßten Spring-
brunnen, der in der Mitte des Gartens ſpielte,
horchte auf das liebliche Getoͤn und fuͤhlte in
dieſer Pauſe kein Beduͤrfniß, das Geſpraͤch fort
zu ſetzen; endlich ſagte Clara: von allen Na-
turerſcheinungen kommt mir das Waſſer als die
wunderbarſte vor, denn es iſt nicht anders, wenn
man recht darauf ſieht und hoͤrt, als wohne in
ihm ein uns befreundetes Weſen, das uns ver-
ſteht und ſich uns mittheilen moͤchte, ſo klar
[103]Einleitung.
und lockend ſchaut es uns an; es lacht mit uns,
wenn wir froͤhlich ſind, es klagt und ſchluchzt,
wenn wir trauern, es ſchwatzt und plaudert kin-
diſch und thoͤricht, wenn wir uns zum Schwatzen
aufgelegt fuͤhlen, kurz, es macht alles mit;
auch toͤnt ein rauſchender Bach in der Einſam-
keit der Gebirge wohl wie ein Orakel, von dem
wir die prophetiſchen, tiefſinnigen Worte gern
verſtehn lernen moͤchten. Wahrlich, kein Glaube
iſt dem Menſchen ſo natuͤrlich, als der an Ni-
xen und Waſſernymphen, und ich glaube auch,
daß wir ihn nie ganz ablegen.
Anton, der neben ihr ſaß, ſah ſie mit einem
freundlichen, faſt begeiſterten Blicke an, weil die-
ſes Wort die theuerſte Gegend ſeines heimlichen
Aberglaubens liebkoſend beſuchte; er wollte ihr
etwas erwiedern, als Ernſt das Wort nahm
und ſich ſo vernehmen ließ: nicht ſo willkuͤhr-
lich, wie es auf den erſten Anblick ſcheinen moͤchte,
haben die aͤlteſten Philoſophen, ſo wie neuere
Myſtiker, dem Waſſer ſchaffende Kraͤfte und ein
geheimnißvolles Weſen zuſchreiben wollen, denn
ich kenne nichts, was unſre Seele ſo ganz unmit-
telbar mit ſich nimmt, als der Anblick eines
großen Stromes, oder gar des Meeres; ich weiß
nichts, was unſern Geiſt und unſer Bewußtſein
ſo in ſich reißt und verſchlingt, wie das Schau-
ſpiel vom Sturz des Waſſers, wie des Teverone
zu Tivoli, oder der Anblick des Rheinfalls. Dar-
um ermuͤdet und ſaͤttigt dieſer wundervolle Ge-
[104]Einleitung.
nuß auch nicht, denn wir ſind uns, moͤchte ich
ſagen, ſelbſt verloren gegangen, unſre Seele
mit allen ihren Kraͤften brauſt mit den großen
Wogen eben ſo unermuͤdlich den Abgrund hin-
unter: das iſt es auch, daß wir vergeblich nach
Worten ſuchen, mit Vorſtellungen ringen, um
aus unſrer Bruſt die erhabene Erſcheinung wie-
der auszutoͤnen, um in Ausdruͤcken der Sprache
die gewaltige Leidenſchaft, den furchtbaren Zorn,
den Trieb zur Vernichtung, das heftige Toben
im Schluchzen und Weinen, das harte gellende
Lachen in der tiefſinnigen Klage, vermiſcht mit
uralten Erinnerungen, verwirrt mit den Ahn-
dungen ſeltſamer Zukunft zu bilden und auszu-
malen, und keiner Anſtrengung kann dieſes Be-
ſtreben auch jemals gelingen.
Da die Sprache ſchon ſo unzulaͤnglich iſt,
ſagte Lothar, ſo ſollten es ſich die Kuͤnſtler doch
endlich abgewoͤhnen, Waſſerfaͤlle malen zu wol-
len, denn ohne ihr ſinnvolles, in tauſendfachen
Melodieen abwechſelndes Rauſchen ſehn auch die
beſſern in ihrer Stummheit nur albern aus.
Dergleichen Erſcheinungen, die keinen Moment
des Stillſtandes haben und nur in ewigen Wech-
ſel exiſtiren, laſſen ſich niemals auf der Leinwand
darſtellen.
Darum, fuhr Friedrich fort, ſind Teiche,
Baͤche, Quellen, ſanfte blaue Stroͤme, fuͤr den
Landſchafter ſo vortrefliche Gegenſtaͤnde, und die-
nen ihm vorzuͤglich, jene ſanfte Ruͤhrung und
[105]Einleitung.
Sehnſucht hervor zu bringen, die wir ſo oft beim
Anblick des ruhigen Waſſers empfinden.
Die Menge der lebendigen rauſchenden Brun-
nen, ſagte Ernſt, gehoͤrt zu den Wundern Roms,
und ſie tragen mit dazu bei, den Aufenthalt in
dieſer Stadt ſo lieblich zu machen. Entzuͤckt
uns in freier Landſchaft oder in Gaͤrten das
Spiel des Waſſers, ſo ergreift uns neben Pal-
laͤſten und Kirchen, im Geraͤuſch der Straßen
und Maͤrkte, dieſes toͤnende Rauſchen und Spru-
deln noch ſeltſamer. Ich kann nicht ſagen, wie
in der ſtillen Nacht der Abreiſe mich dieſe Brun-
nen ruͤhrten, denn mir duͤnkte, daß ſie alle Ab-
ſchied von mir naͤhmen, mir ein Lebewohl nach-
riefen, und mich an alle Herrlichkeiten dieſer
Hauptſtadt der Welt ſo wehmuͤthig erinnerten;
ich begriff in dieſer Stunde nicht, wie ich mich
vorher oft ſo innig nach Deutſchland hatte ſeh-
nen koͤnnen, denn ſchon bevor ich aus dem Thor
gefahren war, ſehnte ich mich herzlich nach Rom
zuruͤck, wie viel mehr nicht ſeitdem!
So iſt der Menſch, fiel Theodor ein, nichts
als Inkonſequenz und Widerſpruch! So hat Lo-
thar uns heut weitlaͤufig auseinandergeſetzt, mit
welcher Heiterkeit und mit welchem ausgelaſſe-
nem Witze ſich ein Mahl beſchließen muͤſſe, und
wir endigten es hoͤchſt unbedacht mit Ruͤhrung,
was ganz gegen die Abrede war.
Doch nicht minder gut, ſagte Ernſt, denn
wir waren auch in dieſer Bewegung froͤhlich.
[106]Einleitung.
Ich verſtehe uͤberhaupt die Freude der meiſten
Menſchen nicht. Scheint es doch, als muͤßten
ſie alle Erinnerungen des wahren Lebens von
ſich entfernt halten, um nur in blinder Zerſtreut-
heit auf kuͤmmerliche Weiſe ſich das anzueignen,
was ſie Ergoͤtzung und Froͤhlichkeit nennen. Die
Fuͤlle des Lebens, ein geſundes kraͤftiges Gefuͤhl
des Daſeins bedarf ſelbſt einer gewiſſen Trauer,
um die Luſt deſto inniger zu empfinden, ſo wie
dieſe Geſundheit die Tragoͤdie erfunden hat, und
auch nur genießen kann. Je ſchwaͤcher der
Menſch, je lebensmuͤder er wird, um ſo mehr
hat er nur noch Freude am Lachen, und an dem
kleinlichen Luſtſpiel neuerer Zeit. Geh dem aus
dem Wege, der nur noch lachen mag und kann,
denn mit dem Ernſt und der edlen Trauer iſt
auch aller Inhalt ſeines Lebens entſchwunden;
er iſt boͤs, wenn er etwas mehr als Thor ſein
kann. Je hoͤher wir unſer Daſein in Luſt und
Liebe empfinden, je lauter wir in uns aufjauch-
zen in jenen ſeltenen Minuten, die uns nur
ſparſam ein geizendes Schickſal goͤnnt, um ſo
freigebiger und reicher ſollen wir uns auch in
dieſen Sekunden fuͤhlen; warum alſo in die-
ſen ſchoͤnſten Lebensmomenten unſre ehemaligen
Freunde und ihre Liebe von uns weiſen? Hat
der Tod ſie denn zu unſern Feinden gemacht?
Oder iſt ihr Zuſtand nach unſrer Meinung ſo
durchaus bejammernswerth, daß ihr Bild unſre
Luſt zerſtoͤren muß? In jenen ſeligen Stimmun-
[107]Einleitung.
gen moͤchte ich ausrufen: laßt ſie zu uns, in
unſre Arme, in unſre Herzen kommen, daß un-
ſer Reichthum noch reicher werde! Koͤnnt ihr
euch aber mit dem Glauben vertragen, daß ſie
vielleicht huͤlflos, auf lange in Wuͤſten hinaus
geſtoßen ſind, o ſo laßt ihnen einige Tropfen
von der Ueberfuͤlle eurer Luſt zufließen! Aber
nein, du theurer geliebter Abgeſchiedener, in die-
ſen Empfindungen fuͤhl' ich mich zu dir in den
Zuſtand deiner Ruhe und Freude hinuͤber, und
du biſt mehr der meine, als nur je in dieſem
irdiſchen Leben, denn neben meiner ganzen Liebe
gehoͤrt dir nun auch mein hoͤchſter Schmerz um
dich, jener namenloſe, unbegreifliche, jenes angſt-
vollſte Ringen mit dem fuͤrchterlichſten Zweifel,
als ob ich dich auf ewig verloren haͤtte; da
hat meine Liebe erſt alle ihre Kraͤfte aufrufen
und erkennen muͤſſen, da hab ich dich erſt im
Triumph dem Tode abgewonnen, um dich nie
mehr zu verlieren, und ſeitdem biſt du ohne
Wandel, ohne Krankheit, ohne Mißverſtaͤnd-
niß mein, und laͤchelſt jedes Laͤcheln mit, und
ſchwimmſt in jeder Thraͤne: wo kann ich dich
beſſer herbergen, als in dieſem Herzen, wenn
es der Freude geoͤffnet iſt? Mit dieſem Gaſte
ſprech' ich nicht mehr zu ihr: was willſt du?
oder: du biſt toll! denn ſie iſt durch deine holde
Gegenwart edler, milder und menſchlicher.
Clara weinte, und Anton uͤberließ ſich ſeiner
Wehmuth. Hoͤre auf, rief dieſer, ich fuͤhle dieſe
[108]Einleitung.
Wahrheit trotz ihrer Freundlichkeit zu ſchmerz-
lich, eben weil ſie ſo ganz das Weſen meines
Lebens iſt.
Was iſt es nur, fing Clara nach einiger
Zeit wieder an, das uns in der Heiligkeit des
Schmerzes oft wie im Triumph hoch, hoch hin-
auf hebt, und das uns, moͤcht' ich doch faſt
ſagen, mit der Angſt eines Jubilirens befaͤllt,
eines tiefen Mitleidens, einer ſo innigen Liebe,
eines ſolchen Gefuͤhls, das wir nicht nennen
koͤnnen, ſondern daß wir nur gleich in Thraͤnen
untergehn und ſterben moͤchten? So iſt es mir
oft geweſen, wenn ich im Plutarch von den
großen Menſchen las, wie ſie ungluͤcklich ſind
und wie ſie ihre Leiden und den Tod erdulden,
oder wie Timoleon ſein Gluͤck und Schickſal
traͤgt. Das Leben moͤchte brechen vor Luſt und
Schmerz, und wenn dann ein Fremder fragt:
was fehlt dir? ſo moͤchte man antworten: „ o
ich habe eine Welt zu viel! Warum kann ich in
Demuth als Seufzer nicht fuͤr den verwehen,
den ich ſo innig verehren muß? “
Wer nicht auf dieſe Weiſe, ſagte Friedrich,
das Evangelium leſen kann, der ſollte es nie
leſen wollen, denn was kann er anders dort
finden, als die hoͤchſte Liebe und ihre heiligen
Schmerzen? Dieſe Begier ſich aufzuopfern, ſich
ganz, ganz hinzuwerfen dem geliebten Gegen-
ſtande unſrer Verehrung, iſt das Hoͤchſte in uns;
es ruft aus uns uͤber Jahrtauſende hinuͤber:
[109]Einleitung.
fuͤhlſt du mich denn auch? Siehe, du haſt nicht
umſonſt gelebt, ich weiß von dir, nur ein He-
rold der Menſchheit bin ich, nur ein Laut aus
der unzaͤhlbaren Schaar! — Sollte ein ſolches
Gefuͤhl nicht unmittelbare Gemeinſchaft mit dem
geliebten Weſen erzeugen koͤnnen?
Und ſo iſt die Welt unſer, fuhr Lothar
heftig fort, wenn wir dieſer Welt nur wuͤrdig
ſind! Aber leider ſind wir meiſt zu traͤge und
todt, um die zu bewundern, deren Leben ein
Wunder war; denn nicht was unſer leeres Er-
ſtaunen erregt, was wir nicht begreifen, ſollten
wir ſo nennen, ſondern die Kraft jener Welt-
uͤberwinder, die uͤber Schickſal und Tod ſiegten,
dieſe Helden ſollten wir als Wunderthaͤter ver-
ehren; unſer aͤußerer Menſch verſteht und faßt
ſie auch nicht, aber der innere fuͤhlt ſie, und in
Andacht und Liebe ſind ſie ihm vertraut und
mehr als verſtaͤndlich.
Alles, was wir wachend von Schmerz und
Ruͤhrung wiſſen, ſagte Anton, iſt doch nur kalt
zu nennen gegen jene Thraͤnen, die wir in Traͤu-
men vergießen, gegen jenes Herzklopfen, das
wir im Schlaf empfinden. Dann iſt die letzte
Haͤrte unſeres Weſens zerſchmolzen, und die
ganze Seele fluthet in den Wogen des Schmer-
zes. Im wachenden Zuſtande bleiben immer
noch einige Felſenklippen uͤbrig, an denen die
Fluth ſich bricht.
Gewiß, fuhr Friedrich fort, ſollten wir die
[110]Einleitung.
Zuſtaͤnde des Wachens und Schlafens mehr als
Geſchwiſter behandeln, wir wuͤrden dann klarer
wachen und bewußtvoller und leichter traͤumen.
Suchen wir doch am Tage mit der Phantaſie
auf dieſem Fuße zu leben, und wie viel koͤnn-
ten wir von ihr als Nachtwandlerin lernen,
wenn wir ſie als ſolche mehr achteten und be-
achteten. So finden wir auch in der alten
Welt die Traͤume nicht ſo vernachlaͤßigt, ſon-
dern aus ihren Ahndungen ging oft durch den
Glauben der Menſchen eine glaͤnzende Wirklich-
keit hervor.
Wir traͤumen ja auch nur die Natur, ſagte
Ernſt, und moͤchten dieſen Traum ausdeuten;
auf dieſelbe Weiſe entfernt und nahe iſt uns die
Schoͤnheit, und ſo wahrſagen wir auch aus dem
Heiligthum unſers Innern, wie aus einer Welt
des Traumes heraus.
So koͤnnte man denn wohl, unterbrach
Theodor, aus witziger Willkuͤhr mit der Wirk-
lichkeit wie mit Traͤumen ſpielen, und die Ge-
burten der Dunkelheit als das Rechte und Wahre
anerkennen wollen.
Thun denn ſo viele Menſchen etwas anders?
fragte Wilibald.
Und thun ſie denn ſo gar unrecht? ant-
wortete Ernſt mit neuer Frage.
Wir gerathen auf dieſem Wege, ſagte Emi-
lie, in das Gebiet der Raͤthſel und Wunder.
Doch fuͤhrt uns vielleicht der Verſuch, alles umkeh-
[111]Einleitung.
ren zu wollen, am Ende von ſelbſt wieder in
das Gewoͤhnliche zuruͤck.
Damit ich euch ſcheinbar kreuze, fiel Man-
fred ein, ſo bleiben nach meinem Gefuͤhl Witz
und Scherz immer etwas ſehr Nuͤchternes, wenn
ſie nicht unter ihrer Verhuͤllung eine Wahrheit
ausſprechen koͤnnen, ſo wie ich auch glaube, daß
es keine Wahrheit giebt, der Witz und Scherz
nicht das Laͤcherliche abgewinnen moͤgen. La-
chen wir doch auch nur recht herzlich und gemuͤth-
lich, und wahrhaft nur ganz unſchuldig, uͤber
unſre Freunde die wir lieben, und derjenige, der
ſich noch nicht ſeinem Freunde zum Scherze gern
hingegeben hat, hat noch keinen Freund recht
von ganzer Seele geliebt; ja aus Aufopferungs-
ſucht hilft der Liebende ſelbſt dem Spotte nach,
und enthuͤllt freiwillig das Laͤcherliche in ſich,
um ſich gleichſam dem Freunde zu vernichten;
denn, um es heraus zu ſagen, das Lachen iſt
den Thraͤnen wohl naͤher verwandt, als die mei-
ſten glauben, endigt es doch auch, wie die Ruͤh-
rung, mit dieſen.
Ernſt fuhr fort: der Satz, den wir ſo oft
haben wiederholen hoͤren: daß die Menſchen die
Laͤcherlichkeit fuͤrchten, und daß deshalb der komi-
ſche Dichter, oder Satiriker, oder wie ſie ihn
nennen moͤgen, dieſe allgemeine hoͤchſte Reizbar-
keit der Menſchen benutzen muͤſſe, um ſie zu
beſſern; dieſer Satz iſt gewiß in der Anwendung
falſch, und an ſich ſelbſt nur einſeitig wahr.
[112]Einleitung.
Das Laͤcherliche, welches ſich mit dem Veraͤcht-
lichen verbindet, und welches ſo manche Dich-
ter zur Verfolgung, und wo moͤglich Vernich-
tung, dieſer oder jener ſogenannten Thorheit,
oder einer Meinung, oder Verirrung haben brau-
chen wollen, iſt allerdings ſo gehaͤſſig und bit-
ter, daß wohl zu keiner Zeit ein edler Menſch
ſich dieſem Laͤcherlichen hat bloß ſtellen moͤgen,
denn ein feindliches Weſen, das irgend ein Le-
ben zu vernichten ſtrebte, kaͤmpfte in dieſem wil-
den, anmaßlichen Lachen; auch geſtehe ich gern,
daß ich dieſen ſo genannten Satirikern, beſon-
ders der neuern Zeiten, niemals Freude und
Luſt habe abgewinnen koͤnnen, ich weiß auch
nicht, ob ich eben bei ihren Darſtellungen gelacht
habe. Eben ſo wenig moͤgen wir uns an der
Stelle des Narren befinden, der ſeine Menſch-
heit wegwirft und ſich unter den Affen ernie-
drigt, um ſeinem rohen Herrn ein Schauſpiel
des Ergoͤtzens darzubieten, von welchen der Ed-
lere ſich mit Ekel hinweg wendet. Es gehoͤrt
ſchon ein hoͤherer, ein wahrhaft menſchlicher Sinn
dazu, um auf die rechte Art und bei den richti-
gen Veranlaſſungen zu lachen, und wenn die
Thraͤne dich wohl hintergehn kann, ſo kann dich
das Lachen eines Menſchen ſchwerlich uͤber das
Niedrige oder Edle ſeiner Geſinnung taͤuſchen.
Wie unterſchieden iſt aber von jener haſſenden
Bitterkeit und traurigen Veraͤchtlichkeit die Luſt
der Freude, das Entzuͤcken unſrer ganzen Seele,
(in
[113]Einleitung.
(in der ſich wohl, wie Manfred waͤhnt, alle
Urkraft des Wahren in uns ahndungsvoll mit
erregen mag) wenn alle unſre Anſchauungen
und Erinnerungen in jenem wunderſamen Stru-
del der Wonne auf eine Zeit untergehn, wel-
cher die Toͤne des Gelaͤchters aus der Verbor-
genheit herauf erſchallen laͤßt. Erregt ein wah-
rer Schauſpieler dieſen Zuſtand in uns, ſo iſt
er uns ein hoch verehrtes Weſen, und ſo wenig
geſellt ſich ein Gefuͤhl der Verachtung zu unſe-
rer Freude, daß wir im Gegentheil ihn als un-
ſern Freund und Geliebten in unſer innerſtes
Herz ſchließen; der Dichter, der dieſen Strom
der Luſt in der Wuͤſte aus dem Felſen ſchlaͤgt,
erſcheint uns wunderthaͤtig. Ja, ich behaupte,
daß unſre Liebe, wenn ſie einen Gegenſtand
wahrhaft lieben ſoll, an dieſem irgend einen
Schein des Laͤcherlichen finden muß, weil ſie
ihn dadurch gleichſam erſt beſitzt; auch daß wir
keinen Freund oder keine Geliebte haben moͤch-
ten, uͤber die wir in keinem Augenblick ihres
Daſeins lachen oder laͤcheln koͤnnten; der Held
eines Gedichts iſt erſt dann unſers Herzens ge-
wiß, wenn er uns einigemal ein ſtilles Laͤcheln
abgenoͤthigt hat, und dies iſt ein Theil der Zau-
berkraft Homers und der Nibelungen Helden.
Sogar (und ich ſage wohl nichts Widerſinni-
ges, wenn ich dieſe Meinung ausſpreche), ſogar
den heiligſten und erhabenſten Gegenſtaͤnden iſt
dieſes Gefuͤhl ſo wie das des Mitleidens nicht
I. [ 8 ]
[114]Einleitung.
nachtheilig und feindlich, oder hebt unſre Liebe
und hohe Ruͤhrung auf, ſondern wir koͤnnen
den heiligen Wahnſinn der großen Religionshel-
den bewundernd beweinen, und doch kann ein
geheimes Laͤcheln uͤber der Verehrung ſchweben,
denn dieſe ſeltſame Regung erhebt ſich zugleich
mit allen Kraͤften aus den Tiefen der Seele;
wir fuͤhlen, wie ſo vielen Gemuͤthern das, was
wir anbeten, nur belachenswerth ſein duͤrfte,
und weil dieſe vor den Augen unſers aͤußern
Verſtandes nicht Unrecht haben, und ſich fuͤr
dieſen Zweifel auch eine geheime Sympathie in
unſerm innerſten Weſen regt, ſo eilen wir ſo
dringender mit unſerer Verehrung und unſerem
Mitleid huͤlfreich und rettend hinzu, um in angſt-
voller Liebe an dem Gegenſtande unſrer Bewun-
derung ein hoͤheres Recht auszuuͤben. Der alte
Ausdruck von den Helden der Religion: „ſie
haben ſich zu Thoren gemacht vor der Welt,“
iſt vortreflich.
Gewiß, ſagte Manfred, iſt das Laͤcherliche
in ſeiner Tiefe noch niemals angeſchaut und die
wunderbare Natur des Witzes auch nur einiger-
maßen erklaͤrt; wer wird uns denn noch einmal
etwas deutlicheres daruͤber ſagen koͤnnen, warum
wir lachen? Das Lachen an ſich ſelbſt iſt den
meiſten Menſchen nur eine leichte Sache, aber
woher es kommt und wohin es geht iſt noch
ſchwerer als vom Winde zu ſagen. Hier hatte
ich meinen Jean Paul in ſeiner Vorhalle zur
[115]Einleitung.
Aeſthetik erwartet, und gerade hier habe ich nur
ſo wenig von ihm gefunden.
Dieſes Geſpraͤch, ſagte Theodor, erinnert
mich an jene Unſchuld des Komiſchen, welches
ich immer allen andern bedeutenderen Arten des
Laͤcherlichen vorgezogen habe. Ich meine jenes
leichte Beruͤhren aller Gegenſtaͤnde, jenes gemuͤth-
liche Spiel mit allen Weſen und ihren Gedan-
ken und Empfindungen, welches neben ſeiner
kraftvollen kecken Darſtellung einer der herrlich-
ſten Vorzuͤge Shakſpears iſt, den man nicht
leicht demjenigen deutlich machen kann, der im
Witz nur eine Charade oder ein ſinnreiches Raͤth-
ſel ſucht, und der aus der Anwendung und dem
Treffenden nach Außen erſt ruͤckwaͤrts das Komi-
ſche verſtehen will, und dem es leere Albernheit
iſt, wenn es ohne eine ſolche proſaiſche Bedeu-
tung auftreten will.
Von hier aus, meinte Wilibald, muͤſſe es
eine vortrefliche Ausbeugung in das wahre Ge-
biet der Albernheit und in die Gruͤnde ihrer
Rechtfertigung geben, denn dieſe triebe die Un-
ſchuld ſogar ſo weit, daß ſie ſelbſt ohne alles
Leben und alſo vielleicht am meiſten poetiſch le-
bendig ſei; doch Lothar, ohne auf dieſen Angriff
zu achten, oder ihn zu bemerken, bemeiſterte ſich
des Geſpraͤches und fuhr ſo fort: Da unſer
ganzes Leben aus dem doppelten Beſtreben be-
ſteht, uns in uns zu vertiefen, und uns ſelbſt
zu vergeſſen und aus uns heraus zu gehn, und
[116]Einleitung.
dieſer Wechſel den Reitz unſeres Daſeins aus-
macht, ſo hat es mir immer geſchienen, daß die
geiſtigſte und witzigſte Entwickelung unſerer Kraͤfte
und unſers Individuums diejenige ſei, uns ſelbſt
ganz in ein anderes Weſen hinein verloren zu
geben, indem wir es mit aller Anſtrengung un-
ſrer geiſtigen Stimmung darzuſtellen ſuchen: mit
einem Wort, wenn wir in einem guten Schau-
ſpiel eine Rolle uͤbernehmen und uns beſtreben,
die Erſcheinung des Einzelnen wie des Ganzen
mit der hoͤchſten Wahrheit und in der vollkom-
menſten Harmonie hervor zu bringen. Es giebt
wohl auch nur wenige Menſchen, die dem Reitz
dieſer Verſuchung auf immer widerſtehn koͤnnen,
und wenn das Talent des Schauſpielers auch
ſelten ſein mag, ſo iſt die Luſt zur Mimik doch
faſt in allen Menſchen thaͤtig.
Wir haben dieſem Triebe, fuhr Ernſt fort,
gewiß unendlich viel zu danken, unſer innerli-
cher Menſch ahmt oft lange einen Gedanken,
oder die Vortreflichkeit einer Geſinnung, ja ſelbſt
eine Empfindung nur mimiſch nach, bis wir,
gerade wie die Kinder lernen, uns die Sache
ſelbſt durch Wiederholung und Angewoͤhnung
zu eigen machen koͤnnen.
Vergeſſen wir nur nicht, ſagte Wilibald
verdruͤßlich, daß aus demſelben Triebe auch alle
Affektation, Ziererei, Unnatuͤrlichkeit, kurz, alles
aͤffiſche Weſen im Menſchen entſpringt, ſo daß
dieſe Sucht wenigſtens eben ſo ſchaͤdlich iſt, als
[117]Einleitung.
ſie, was ich nicht beurtheilen kann, wohlthaͤtig
ſein mag.
Wir wollen dieſe Unterſuchung fallen laſſen,
fuhr Lothar ungeſtoͤrt fort, da wir ſie jetzt doch
nicht erſchoͤpfen koͤnnen, ich wollte nur auf die
Bemerkung einlenken, wie es zu verwundern ſei,
daß es noch keinem von uns eingefallen iſt, mit
dieſer zahlreichen und ohne Zweifel talentvollen
Geſellſchaft irgend ein dramatiſches Werk, am
liebſten eins der Shakſpearſchen, darzuſtellen.
Welchen Genuß wuͤrde jedem von uns dieſer
Dichter gewaͤhren, wenn wir eins ſeiner Luſt-
ſpiele, zum Beiſpiel Was ihr wollt, bis ins In-
nerſte ſtudirten, und neben dem Vergnuͤgen wel-
ches das Ganze gewaͤhrt, auf das vertrauteſte
mit jeder einzelnen Schoͤnheit und ihrer Bezie-
hung und Nothwendigkeit zum Ganzen bekannt
wuͤrden, und ſo mit vereinigter Liebe eins ſeiner
herrlichſten Gedichte auch aͤußerlich vor uns hin-
zuſtellen ſuchten.
Du haſt ja dieſen Einfall und Verſtand
fuͤr uns alle gehabt, verſetzte Wilibald, auch
kannſt du zur Noth, wie Zettel, drei oder vier
Rollen uͤbernehmen. Schade nur, daß kein roman-
tiſch bruͤllender Loͤwe in dieſem Luſtſpiel auftritt,
um dein ganzes Talent zu entwickeln.
Die Eintheilung der Rollen, antwortete Lo-
thar, habe ich ſchon ziemlich uͤberſehn: den Mal-
volio wuͤrdeſt du ſelbſt unvergleichlich darſtellen,
unſer Manfred uͤbernaͤhme den Tobias und ich
[118]Einleitung.
den Junker Chriſtoph; den liebenswuͤrdigen Nar-
ren Theodor, und Friedrich den Sebaſtian, Ernſt
den Antonio, Anton den Herzog; Auguſte wuͤrde
zierlich und witzig die Marie geben, Roſalia
unvergleichlich die Viola und Clara hoͤchſt anmu-
thig die Olivia; alles uͤbrige findet ſich von ſelbſt.
Wie kommt es nun, ſagte Theodor, daß
eine geiſtreiche Geſellſchaft, ohne Rollen auswen-
dig zu lernen, niemals auf den Gedanken ver-
faͤllt, aus ſich ſelbſt unter gewiſſen angenomme-
nen Bedingungen und Masken ein poetiſches
Luſtſpiel ohne vorgezeichnete Ver- und Entwik-
kelung auszufuͤhren? Der eine waͤre der muͤr-
riſche, mit ſich und aller Welt unzufriedene Lieb-
haber, der andere der Eiferſuͤchtige, jener der
leichtſinnig Flatterhafte, dieſer der Melancholi-
ſche; die Damen theilten ſich in witzige und
zaͤrtliche Charaktere, und alle ſuchten ihrer an-
genommenen Rolle treu zu bleiben, um Heiter-
keit und Geſelligkeit zu erregen und zu befoͤrdern.
Warum ſtreben wir in unſern Geſellſchaften im-
mer das eine ermuͤdende Bild eines negativen
wohlgezogenen Menſchen darzuſtellen, oder uns
in hergebrachter Liebenswuͤrdigkeit abzuquaͤlen?
Die wahre gute Geſellſchaft, ſagte Ernſt,
thut ſchon unbewußt das, was du verlangſt;
und verwechſelt auch mit Leichtigkeit die verſchie-
denen Rollen. Sonſt erinnert deine Beſchrei-
bung an manche ehemaligen gelehrten Geſell-
[119]Einleitung.
ſchaften, und an die verſchiedenen charakteriſti-
ſchen Beinamen ihrer Mitglieder.
Eine, wie die andre Darſtellung, ſagte Emi-
lie, moͤchte fuͤr uns Frauen beſchwerlich, wo nicht
unmoͤglich ſein, aber ich war ſchon geſtern auf
dem Wege, Ihnen einen andern Vorſchlag zu
thun. Ich weiß, daß Sie alle Dichter ſind,
und hoͤre von Manfred, daß Sie gluͤcklicherweiſe
manche Ihrer Arbeiten mitgebracht haben, wie
waͤre es alſo, wenn Sie uns dieſe nach Luſt
und Laune mittheilten, und ſo manche Stunde
angenehm ausfuͤllten, die uns die Muſik, oder
die Beſuche und Spaziergaͤnge uͤbrig laſſen?
O vortreflich! rief Clara aus, und dann
wollen wir Maͤdchen und Frauen nach der Lek-
tuͤr die Rezenſenten ſpielen, und uns uͤber alles
luſtig machen, was wir nicht verſtanden, oder
was uns nicht gefallen hat.
Roſalie fuͤgte ihre Bitten zu denen ihrer
Mutter, auch Auguſte vereinigte ſich mit beiden,
und als Lothar die Freunde ſtillſchweigend ein
Weilchen angeſehn hatte, ſchlug ſich auch Man-
fred zu der Parthei der Damen und rief: o ich
bitte euch ſo inbruͤnſtig, als man nur bitten
kann, ſchlagt uns dieſen bittenden Vorſchlag
nicht ab, denn ſchon laͤngſt habe ich Luſt ge-
habt, einige meiner Thorheiten euch und dieſen
guten wißbegierigen Frauen mitzutheilen, und
keine Gelegenheit dazu gefunden; o ihr Edlen,
wenn ihr eine Ahndung davon habt, wie ſehr
[120]Einleitung.
dem Dichter ſein Manuſkript in der Taſche bren-
nen kann, wenn ihn Niemand darum befragt,
ſo laut man es auch raſcheln hoͤrt, wenn ihr
ſelbſt jemals gerne vorgeleſen habt, o ſo ſeid
nicht ſo grauſam, mir dieſen Genuß zu rauben,
und mein poetiſch beladenes Herz auszuſchuͤtten.
Aber vielleicht ſind einige von euch in derſelben
Verfaſſung.
Lothar lachte und ſagte: der Dichter theilt
ſich gern mit, vorzuͤglich in einem Kreiſe, wie
der gegenwaͤrtige iſt. Wir fuͤhren wirklich einige
Jugendverſuche mit uns, die wir zum Theil vor
kurzem vollendet und uͤbergearbeitet haben, und
wenn unſre Rezenſenten nicht zu ſtrenge ſein
wollen, ſo uͤberwinden wir vielleicht die Furcht,
dieſe Bildungen nach ſo manchem Jahre wieder
auftreten zu laſſen.
Als die Frauen eifrig darauf antrugen, ſo-
gleich mit irgend einer Erzaͤhlung den Anfang
zu machen, rief Wilibald aus: halt! ich prote-
ſtire mit aller Macht gegen dieſe Uebereilung
und Anarchie! denn wie koͤnnte ein wahrer Ge-
nuß entſtehn, wenn wir es dem Zufall ſo ganz
uͤberließen, in welcher Folge unſre Verſuche auf-
treten ſollten? In allen Dingen iſt die Ordnung
zu loben, und ſo laßt uns nachdenken, auf
welche Art und Weiſe wir dieſer Unterhaltung
durch eine gewiſſe Einrichtung etwas mehr Wuͤrze
geben koͤnnen.
So moͤge denn auch hier, ſagte Lothar,
[121]Einleitung.
eine Art von dramatiſcher Einrichtung ſtatt fin-
den. Sei jeder von uns nach der Reihe An-
fuͤhrer und Herrſcher, und beſtimme und gebiete,
welcherlei Poeſien vorgetragen werden ſollen, ſo
ſteht zu hoffen, daß ſolche ſich vereinigen wer-
den, die durch eine gewiſſe Aehnlichkeit freund-
ſchaftlich zuſammen gehoͤren.
Dieſe Einrichtung, wandte Manfred ein,
iſt vielleicht zu gefaͤhrlich, weil ſie an den Boc-
caccio erinnern duͤrfte.
Sie erinnert, ſagte Ernſt, faſt an alle Ita-
liaͤniſchen Novelliſten, die mit minder oder mehr
Gluͤck von dieſer Erfindung Gebrauch gemacht
haben.
Doch werden Sie, ſagte Emilie, uns in
andrer Hinſicht nicht an dieſen beruͤhmten Au-
tor erinnern wollen, denn gewiß verſchonen Sie
uns mit dergleichen aͤrgerlichen und anſtoͤßigen
Geſchichtchen, deren er nur zu viele erzaͤhlt.
Wir koͤnnen dergleichen wohl nicht ſo ganz
unbedingt verſprechen, antwortete Manfred, wenn
wir uns nicht daruͤber erſt etwas verſtaͤndigt ha-
ben, was wir aͤrgerlich oder anſtoͤßig nennen
wollen. Davor, daß wir keine Erzaͤhlungen, die
ihm aͤhnlich oder nachgeahmt ſind, vortragen
werden, ſind Sie hinlaͤnglich geſichert, denn es
erfordert das glaͤnzende Talent ſeiner gediegenen,
ſcharfen und beſtimmten Darſtellung, welche nie
zu viel oder zu wenig ſagt, die nichts verhuͤllt
und doch immer von den Grazien gelenkt wird,
[122]Einleitung.
um dergleichen allerliebſte Seltſamkeiten vorzu-
tragen: alle ſeine Nachahmer, ſelbſt der Ban-
dello nicht ausgenommen — gar des ganz verun-
gluͤckten La Fontaine oder des neueren Caſti zu
geſchweigen — bleiben weit hinter ihm zuruͤck,
ſei nun von Styl, Erfindung, oder Schmuck
des Gegenſtandes die Rede. Doch abgeſehn da-
von, muß ich bezweifeln, daß der Dekameron
gebildeten und freundlichen Gemuͤthern wirklich
anſtoͤßig ſein koͤnnte.
Dieſen Zweifel verſtehe ich nicht, ſagte An-
ton, da er das zartere Gemuͤth und die hoͤhere
Stimmung doch nur zu oft verletzt.
Wie man es eben nimmt, antwortete Man-
fred. Wir ſtehn hier auf der Stelle, auf wel-
cher ſich der Dualismus unſerer Natur und
Empfindung am wunderbarſten, reichhaltigſten
und grellſten offenbart. Sich den Witz und die
Schalkheit der Natur im Heiligſten und Lieb-
lichſten verſchweigen wollen, iſt vielleicht nur moͤg-
lich, wenn man geradezu Karthaͤuſer wird, und
vom Schweigen und Verſchweigen Profeſſion
macht. Wenn der Fruͤhling ſich mit allen ſei-
nen Schaͤtzen aufthut, und die Blumen gedraͤngt
um dich lachen, ſo kannſt du dich in deiner ruͤh-
renden Freude nicht erwehren, ihre Geſtalten zu
beobachten und manche Erinnerungen an dieſe
zu knuͤpfen, ja ſelbſt die holdſelige Roſe ruft dir
erroͤthend die raͤthſelhaften Reime alter Dichter
entgegen, und ſie wird dir darum nicht unlieber,
[123]Einleitung.
ſo fallen dir wohl gar bei andern farbigen Kin-
dern der Sonne die unbeſcheidenen Namen ein,
welche die Koͤniginn im Hamlet verſchweigt, —
purples,
them.
Welche Verſe, ſagte Lothar, Schlegel nicht
haͤtte auslaſſen ſollen. Doch dies nur im Vor-
beigehn: fahre fort.
So wunderbar und noch mehr, begann Man-
fred wieder, iſt es mit der Liebe. Es giebt eine
ſolche Heiligkeit dieſes Gefuͤhls, eine ſo wun-
derſame paradiſiſche Unſchuld, daß im Unbewußt-
ſein, in der Unkenntniß der gegenſeitigen Liebe
wohl oft die hoͤchſte Seligkeit ruht; der erſte
erwachende, ſich begegnende Blick hat dieſen
Fruͤhling entlaubt, und das erſte Wort des Ge-
ſtaͤndniſſes kann der Tod dieſer ſtillen Wonne
ſein. Nirgend fuͤhlt der Menſch ſo ſehr, wie er
verlieren muß, um zu gewinnen, wie jedes Gluͤck
ein Geheimniß iſt, welches angeruͤhrt und aus-
geſprochen ſeine Bluͤte abwirft.
Friedrich ſtand ſchnell auf und ſchien von
wunderbaren Gedanken ergriffen, man ſah ihn
im Buchengange auf und nieder wandeln, indem
er ſich oͤfter die Augen abtrocknete; Manfred aber
fuhr ſo fort: wie es wohl Menſchen mag gege-
ben haben, die ſchon mit dieſem erſten Seufzer
[124]Einleitung.
die Blume ihres Lebens verloren, ſo iſt es doch
natuͤrlicher und wahrer, ſich auch in dieſer wun-
dervollen Lebensgegend, ſo wie bei allen Dingen,
mit einem gewiſſen Heroismus zu waffnen, und
fruͤh zu erfahren, daß wir alles, was wir be-
ſitzen, nur durch den Glauben beſitzen, und daß
am wenigſten die Liebe eine bloße Begebenheit
in uns ſei, ſondern daß ſie, wie alles Gute von
unſerm Willen abhaͤngt; denn von ihm geht ſie
aus, nachher wird er zwar von ihr bezwungen
und gebrochen, kann aber ſpaͤter hin nur durch
ihn allein als Liebe dauern und beſtehn. Ein
ſolcher Sinn und kraͤftiger aber frommer Wille
verliert des Herzens Unſchuld nie, der Scherz
iſt ihm nur Scherz, und er wird nicht anſtehn,
auch mit dem zu taͤndeln, was ihm das Hei-
ligſte und Liebſte iſt, denn wahrlich, dem Rei-
nen iſt alles rein.
Dieſe Beſchreibung, ſagte Ernſt, charakteri-
ſirt die geſunde Zeit unſers deutſchen Mittelal-
ters, als neben den Nibelungen und dem Ti-
turell der ſuͤße Triſtan ſeinen Platz in aller Her-
zen fand, und auch neben dieſen großen Liebes-
gedichten ſo viele muntre und ſchalkhafte Erzaͤh-
lungen. Die ſpaͤter auftretende uͤberſinnliche,
oder außerſinnliche Liebe, war noch nicht von
der ſinnlichen getrennt, ſondern ſie waren wie
Leib und Seele verbunden, in der hoͤchſten Ver-
geiſtigung geſund, in dem freieſten Scherze un-
ſchuldig.
[125]Einleitung.
Warum, fuhr Manfred fort, wuͤrde denn
die Liebe allmaͤchtig genannt? Sie waͤre ja ohn-
maͤchtig, wenn ſie nicht die ſcheinbar aͤußerſten
Enden freundlich verknuͤpfen koͤnnte. Koͤnnte ſie
den unendlich mannigfaltigen Zauber denn wohl
ausuͤben, wenn ſie nicht Alles beſaͤße, und ſich
nicht, eben wie die Geliebte, mit allen Reizen
dem ſehnſuͤchtigen Herzen ergaͤbe? Der verdor-
bene Menſch kann deshalb auch nicht den Scherz
der Liebe und ihren Dichter verſtehn, er faßt
nicht das holde Weſen, welches ſich dem Hoͤch-
ſten und Geiſtigſten zum ſcheinbaren Kampfe
gegenuͤber ſtellt, ſo ſehr er auch einzig dieſem
Spiele nachjagt, welches begeiſterte Dichter damit
trieben, und der Liebende kennt freilich nichts
Verhaßteres als dieſe Menſchen und ihre Ge-
ſinnungen, die im Herzen ſeines Lebens mit ihm
zuſammen zu treffen ſcheinen.
Daher, ſagte Ernſt, der mißverſtandene Spott
dieſer niedrigen Menſchen uͤber die Hochgeſtimm-
ten und ihre Liebe, daher die ſcheinbare Waffen-
loſigkeit dieſer Unſchuldigen, und bei ihrem Reich-
thum ihre unbeholfene Beſchaͤmung von jenen
Bettlern. Dieſe Uneingeweihten laͤſtern die Liebe
und alles Goͤttliche, und ſind von allem Scherz
und Spiel, auch wenn ſie witzig zu ſein ſchei-
nen, weit entfernt, denn ſie ſind in Kampf und
Krieg gegen die Sehnſucht nach dem Ueberirdi-
ſchen. Um nun auf das Vorige einzulenken,
ſo lebte Boccaz freilich ſchon an der Graͤnze
[126]Einleitung.
jener heroiſchen Zeit, als die Menſchheit, weni-
ger geſund, ſich aus der Tragoͤdie und dem gro-
ßen Epos ſchon mehr nach dem Luſtſpiel und
der Parodie ſehnte, als die Trennung des Ge-
muͤthes ſich ſchon ſchaͤrfer gegen uͤber ſtand, und
eine kraͤftiger robuſte Malerei den ſanften Schmelz
und die ſtille Harmonie der alten großſinnigen
Gemaͤlde verdunkelte. Sein Dekameron ward
deshalb nach einiger Zeit das Lieblingsbuch aller
Nationen, und die komiſche, laͤcherliche und nie-
drigere Natur der Liebe ward immer mehr geſun-
gen, geprieſen und gefuͤhlt, ihr holdes Weſen
ſchien immer tiefer zu entarten und immer mehr
den Menſchen dem Thiere naͤher zu fuͤhren, (indeß
nun dieſem Streben gegenuͤber ſchon die ganz
reine, uͤberirdiſche Idee der Liebe, oft bis zum
leeren Goͤtzendienſte entſtellt, ſich auszubilden
ſuchte) bis wir in Peter Aretins und Branto-
me's Schriften endlich die kalte Frechheit ohne
allen Reiz und Grazie auftreten ſehn. Doch
kann dieſe Beſchuldigung nicht den Boccaz und
ſeine freien Scherze treffen, denn in ihm regt
ſich und ſpricht der edle und vollſtaͤndige Menſch,
der zwar ohne aͤngſtliche Zuͤchtigkeit, aber nicht
ohne Scham iſt, der wie Arioſt immer die Schoͤn-
heit fuͤhlt und ſingt, und der nur jene frecheren
Blumen nicht zu ſeinem Kranze verſchmaͤht, ſon-
dern ſie im Gegentheil gern ſo reicht und flicht,
daß ihr ſymboliſcher Sinn unverholen in die
Augen faͤllt. Sein Buch kann uns alſo wohl
[127]Einleitung.
nicht leicht verletzen; aber freilich muͤſſen wir
jetzt, da verdorbene Generationen und Buͤcher
voran gegangen ſind, und edlere Menſchen die
Verwerflichkeit mancher ſchamloſen Produkte eines
Diderot, Voltaire und andrer einſahn, um nur
den Ruhm der Zuͤchtigkeit zu empfangen, auch
den Schein einer gewiſſen Pruͤderie beibehalten,
die das Zeitalter einmal zum Kennzeichen der
Sitte geſtempelt hat. So hat der Menſch nach
uͤberſtandener Krankheit noch lange das Anſehn
eines Kranken, und muß auf einige Zeit noch
etwas von deſſen Diaͤt beibehalten. Eben ſo
verbreitete ſich in England nach einem Zeitalter
der Zuͤgelloſigkeit, von der Sekte der Puritaner
aus, eine Aengſtlichkeit und ſteife Feierlichkeit der
Sitte, die ſeitdem noch immer das Wort fuͤhrt,
ſo daß ein geſittetes Maͤdchen oder eine zuͤchtige
Frau von jetzt oder aus Shakſpears Zeit zwei
im Aeußern ſehr verſchiedene Weſen ſein moͤgen.
Die Reformation hatte in Deutſchland ſchon fruͤ-
her eine aͤhnliche Stimmung hervor gebracht, und
auch die katholiſchen Provinzen beſtrebten ſich
ſeitdem, eine ſtrengere Sitte zur Schau zu tra-
gen, um von dieſer Seite die Vorwuͤrfe ihrer
Gegner zu entkraͤften. Faſt allenthalben aber
werden wir nur Heuchelei ſtatt der Zuͤchtigkeit
gewahr, denn wenn die ehrbaren Herren unter
ſich ſind, ergoͤtzen ſie ſich um ſo lebhafter an
der roheſten und unſittlichſten Frechheit, und
weil der oͤffentliche Scherz und die Gegenwart
[128]Einleitung.
der Grazien und Muſen, ſo wie die liebenswuͤr-
digen Weiber von dieſen Orgien voͤllig ausge-
ſchloſſen ſind, ſo ſind ſie nun in ihrer Einſam-
keit um ſo niedriger und veraͤchtlicher geworden,
am ſchlimmſten, wenn ſie das Gewand der Mo-
ral umlegen, und wehe dem Zarteren, der das
Ungluͤck hat einem Ottern- und Kroͤtenſchmauſe
beiwohnen zu muͤſſen, den ſich eine ſolche tu-
gendhafte Geſellſchaft giebt, die darauf ausgeht,
recht vollſtaͤndig ihren Haß gegen die Untugend
an den Tag zu legen.
Als in Spanien, ſagte Lothar, ein etwas
zu ſtrenger Geiſt in der Poeſie zu herrſchen anfing,
und Cervantes die fruͤhere Celeſtina als zu frei
tadelte, als man in Frankreich und Italien die
ſchamloſeſten Werke las und ſchrieb, und in
Deutſchland ſich kaum noch Spuren von Witz
oder Unwitz antreffen ließen, erhob der edle Shak-
ſpear, das, was ſo viele hatten veraͤchtlich machen
wollen, wieder zum Scherz, geiſtreichen Witz und
zur Menſchenwuͤrde, und dichtete ſeine ſchalk-
haften Roſalinden und Beatricen, die freilich
unſer jetziges verwoͤhntes Zeitalter ebenfalls an-
ſtoͤßig findet.
Was iſt es denn, was uns wahrhaft anſtoͤßig,
ja als Menſchen unertraͤglich ſein ſoll? rief Fried-
rich, der wieder zur Geſellſchaft getreten war,
im edlen Unwillen aus. Nicht der freieſte Scherz,
noch der kuͤhnſte Witz, denn ſie ſpielen nur in
Unſchuld; nicht die kraͤftige Zeichnung der thie-
riſchen
[129]Einleitung.
riſchen Natur im Menſchen und ihrer Verir-
rung, denn nur als ſolche gegeben, ſpricht ſie
niemals unſerm edleren Weſen Hohn: ſondern
dann ſoll ſich unſer Unwille erheben und ohne
alle Duldung aus uns ſprechen, wenn ein So-
phiſt uns ſagen will, und in jeder Dichtung be-
weiſen, daß gegen die Sinnenluſt keine Tugend,
Andacht oder Seelenerhebung beſtehn koͤnne. Ein
ſolcher durchaus zu verwerfender iſt der juͤngere
Crebillon, und nicht iſt jener Deutſche, der ihn
ſo vielfaͤltig nachgeahmt und die edlere Natur
des Menſchen verkannt hat, von dem Vorwurf
einer verdorbenen Phantaſie und eines zu nuͤch-
ternen Herzens frei zu ſprechen: fuͤr ſchwache
Weſen, (aber auch nur fuͤr ſolche) koͤnnen dieſe
beiden Schriftſteller allerdings gefaͤhrlich werden,
ſo ſehr ſich auch der letzte gegen dieſe Beſchul-
digung zu verwahren geſucht hat, denn nicht
darin beſteht das Verderbliche, daß man das
Thier im Menſchen als Thier darſtellt, ſondern
darin, daß man dieſe doppelte Natur gaͤnzlich
laͤugnet, und mit moraliſcher Gleißnerei und ſo-
phiſtiſcher Kunſt das Edelſte im Menſchen zum
Wahn macht, und Thierheit und Menſchheit fuͤr
gleichbedeutend ausgiebt.
Seine Buͤcher, ſagte Emilie, haben mich
immer zuruͤck geſchreckt, und ich habe fruͤher
meinen Toͤchtern lieber manche andre erlaubt, die
nicht in ſo gutem Rufe ſtehn, denn gerade ihre
weichliche Zierlichkeit habe ich fuͤr ſchaͤdlich ge-
halten. Ich hoffe, jetzt koͤnnen ſie auch dieſe
I. [ 8 ]
[130]Einleitung.
ohne allen Nachtheil leſen, da ihr Geiſt geſtaͤrkt
iſt, und ihr Sinn das Edlere anſtrebt.
Mit Recht, ſagte Manfred, macht Jean
Paul Thuͤmmeln den Vorwurf, daß er zu un-
ſauber ſei (denn deſſen Reiſen gehoͤren recht
zu jenen eben geruͤgten Werken, und die Bekeh-
rung des lockern Paſſagiers in den letzten Baͤn-
den iſt noch die ſchlimmſte Suͤnde des Autors);
ich aber moͤchte unſerm witzigen Jean Paul mit
demſelben Rechte einen andern Vorwurf machen,
daß er zwar nicht zu keuſch, wohl aber zu pruͤde
ſei. Ein Autor, der ſo das Geſammte der Men-
ſchennatur, das Seltſamſte, Wildeſte und Tollſte
in ſeinen humoriſtiſchen Ergießungen ausſprechen
will, darf in dieſen Regionen des Witzes und
der Laune kein Fremdling ſein, oder aus miß-
verſtandner Moral neben der Unzucht und Un-
ſitte auch die Schalkheit verachten wollen. Noch
ſeltſamer aber, daß er die mediziniſchen und wahr-
haft ekelhaften Spaͤße liebt, die kaum Witz zu-
laſſen und meiſt nur Widerwillen erregen, wenn
man nicht die Feder des Rabelais beſitzt, der
freilich wohl ſein Kapital von der Gaya Ciencia
ſchreiben durfte. Aber, theure Emilie, und Gat-
tin und Schweſtern, um auf das zuruͤck zu kom-
men, wovon wir ausgingen, ſo mag freilich wohl
hie und da in unſern Dichtungen (vielleicht nur
in meinen, der ich ein oder zweimal das Haus-
recht brauchen und den Wirth ſpielen moͤchte)
etwas vorkommen, was die uͤbertriebene Delika-
teſſe kraͤnkelnder Menſchen (ich meine dich, An-
[131]Einleitung.
ton, nicht hiemit) anſtoͤßig finden moͤchte, was
aber, hoffe ich, nach dem in unſerm Geſpraͤch
angegebenen Unterſchied keinem gebildeten und
heitern Menſchen aͤrgerlich werden kann. Wir
wollen aber weder zu viel verſprechen noch dro-
hen, ſondern laßt uns vielmehr beginnen, und
waͤhlt alſo, ihr Frauen, denjenigen aus, wel-
cher zuerſt der Anfuͤhrer und Gebieter im Felde
unſrer poetiſchen Spiele und Wettkaͤmpfe ſein
ſoll.
Clara gab ihren Blumenſtrauß dem neben
ihr ſitzenden Anton und ſagte: Sie haben faſt
immer geſchwiegen, ſprechen Sie nun. Anton
verbeugte ſich und heftete die Blumen an ſeine
Bruſt: ſo wollen wir denn, ſagte er, mit Maͤhr-
chen der einfachſten Compoſition beginnen, und
jeder bringe morgen das ſeinige vor unſre Richter.
Mit Maͤhrchen, ſagte Clara, faͤngt das Le-
ben an; in ihnen entwickelt ſich das Gefuͤhl der
Kinder zuerſt, und ihre Spiele und Puppen, ihre
Lehrſtunden und Spatziergaͤnge werden vor ihrer
Phantaſie zu Maͤhrchen, die ich noch immer ganz
vorzuͤglich liebe, das heißt, wenn ſie ſo ſind,
wie ich ſie liebe. So gebe die Muſe, daß Ih-
nen die unſrigen wohl gefallen, ſagte Anton.
Indem ſtand die Geſellſchaft auf, um vom
naͤchſten Huͤgel den ſchoͤnen Untergang der Sonne
zu genießen. Auch ein Maͤhrchen, ſagte Roſalie,
indem ſie die Hand vor die Augen hielt, und dem
blendenden Scheine nachſah; ſo wie der Fruͤh-
ling und die Pracht der Blumen, es bluͤht auf in
[132]Einleitung.
aller Fuͤlle und Herrlichkeit, der Schatten faßt
den Glanz und zieht ihn hinab, und wir ſchauen
ihm ſehnſuchtsvoll nach.
So wie dem Maͤhrchen-Gedicht der Schoͤn-
heit, ſagte Anton; und Friedrich fuͤgte hinzu:
doch bleibt unſer Herz und ſeine Liebe die un-
wandelbare Sonne. —
Ein glaͤnzender Sternenhimmel ſtand uͤber
der Landſchaft, das Rauſchen der Waſſerfaͤlle
und Waͤlder toͤnte in die ruhige Einſamkeit des
Gartens heruͤber, in welchem Theodor auf und
niederging und die Wirkungen bewunderte, welche
das Licht der Sterne und die letzten goldnen
Streifen des Horizontes in den ſpringenden Quel-
len hervorbrachten. Jetzt ertoͤnte Manfreds Wald-
horn aus deſſen Zimmer und die melankoliſchen
durchdringlichen Toͤne zitterten vom Gebirge zuruͤck,
als Ernſt, der von den Huͤgeln herunter kam,
durch das Thor des Gartens trat, und ſich zu
dem einſamen Theodor geſellte. Wie ſchoͤn, fing
er an, ſchließt dieſe heitre Nacht die Genuͤſſe
des Tages; die Sonne und unſre Geliebten ſind
zur Ruhe, Waͤlder und Waſſer rauſchen fort, die
Erde traͤumt, und unſer Freund gießt noch einen
herzlichen Abſchied uͤber die entſchlummerte Na-
tur hin.
Anton, ſagte Theodor, ſchlaͤft auch noch
nicht, er ſitzt im Gartenſaale und ſchreibt ein
Gedicht, welches unſern Vorleſungen als Ein-
[133]Einleitung.
leitung oder Vorrede dienen ſoll. Seine Gene-
ſung wird ſich hier ganz vollenden.
Ich hoffe, ſagte Ernſt, auch Friedrich ſoll
geneſen, ich hege das ſchoͤne Vertrauen, daß
unſer aller Freundſchaft ſich hier noch feſter knuͤp-
fen und fuͤr die Ewigkeit haͤrten wird. Sieh,
mein Geliebter, das Flimmern in lauer Luft die-
ſer vergaͤnglichen, fluͤchtigen Leben, die wie Dia-
manten durch das dunkle Gruͤn der Gebuͤſche
zucken, und bald in zitternden Wolken, bald ein-
zeln ſchimmernd, wie ſanfte Toͤne, unſre Ruͤh-
rung wecken, — und uͤber uns den Glanz der
ewigen Geſtirne! Steht nicht der Himmel uͤber
der ſtillen dunkeln Erde wie ein Freund, aus
deſſen Augen Liebe und Zuverſicht leuchten, dem
man ſo recht mit ganzem Herzen in allen Le-
bensgefahren und allem Wandel vertrauen moͤchte?
Dieſe heilige ernſte Ruhe erweckt im Herzen alle
entſchlafenen Schmerzen, die zu ſtillen Freuden
werden, und ſo ſchaut mich jetzt groß und milde
mit ſeinem menſchlichen Blick der edle Novalis
an, und erinnert mich jener Nacht, als ich nach
einem froͤhlichen Feſte in ſchoͤner Gegend mit
ihm durch Berge ſchweifte, und wir, keine ſo
nahe Trennung ahndend, von der Natur und
ihrer Schoͤnheit und dem Goͤttlichen der Freund-
ſchaft ſprachen. Vielleicht, da ich ſo innig ſei-
ner gedenke, umfaͤngt mich ſein Herz ſo liebend,
wie dieſer gluͤhende Sternenhimmel. Ruhe ſanft,
ich will mich auf mein Lager werfen, um ihm
im Traum zu begegnen.
[134]Einleitung.
Die Freunde trennten ſich. Da erhub eine
Nachtigall ihr klagendes Lied aus voller Bruſt,
und zuͤndete, wie eine Feuerflamme, rings in
den Gebuͤſchen die Toͤne andrer Saͤngerinnen
an, aus einer Jasminlaube erklangen die Laute
einer Guitarre, und der gluͤckliche Friedrich wollte
ſein Leid, dieſe Phantaſie ſingend, beſaͤnftigen:
[[135]]
Erſte Abtheilung.
[[136]][[137]]
Die Geſellſchaft ſtand vom Tiſche auf und ging
in den Garten, um die Luft zu genießen, welche
am Morgen ein Gewitter lieblich abgekuͤhlt hatte.
Nun, ſagte Clara, ſind Sie alle Ihres Verſpre-
chens eingedenk geweſen? Wo ſind die Maͤhrchen?
Du biſt ſehr eilig, ſagte Manfred, weißt du
doch nicht, ob ſie dir wirklich Freude machen
werden.
Sie muͤſſen, antwortete ſie lachend, wenn
ich nicht auf die Autoren ſehr ungehalten wer-
den ſoll.
Es iſt ſchwer, ſagte Anton, zu beſtimmen,
worin denn ein Maͤhrchen eigentlich beſtehen und
welchen Ton es halten ſoll. Wir wiſſen nicht,
was es iſt, und koͤnnen auch nur wenige Rechen-
ſchaft daruͤber geben, wie es entſtanden ſein mag.
Wir finden es vor, jeder bearbeitet es auf eigne
Weiſe und denkt ſich etwas anderes dabei, und
doch kommen faſt alle in gewiſſen Dingen uͤber-
ein, ſelbſt die witzigen nicht ausgenommen, die
jenes Colorit nicht ganz entbehren koͤnnen, jenen
wunderſamen Ton, der in uns anſchlaͤgt, wenn
[138]Erſte Abtheilung.
wir nur das Wort Maͤhrchen nennen hoͤren.
Die witzigen, ſagte Clara, ſind mir von je
verhaßt geweſen. So habe ich den Hamilton-
ſchen nie viel Geſchmack abgewinnen koͤnnen, ſo
beruͤhmt ſie auch ſind; die dahlenden im Feen-
Cabinet zogen mich vor Jahren an, um mich
nachher deſto gruͤndlicher zu ermuͤden und zuruͤck
zu ſtoßen, und unſerm Muſaͤus bin ich oft recht
boͤſe geweſen, daß er mit ſeinem ſpaßhaften Ton,
mit ſeiner Manier, den Leſer zu necken und ihm
queer in ſeine Empfindung und Taͤuſchung hin-
ein zu fallen, oft die ſchoͤnſten Erfindungen und
Sagen nur entſtellt und faſt verdorben hat. Da-
gegen finde ich die Arabiſchen Maͤhrchen, auch
die luſtigen, aͤußerſt ergoͤtzlich.
Es ſcheint, ſagte Anton, Sie verlangen
einen ſtill fortſchreitenden Ton der Erzaͤhlung,
eine gewiſſe Unſchuld der Darſtellung in dieſen
Gedichten, die wie ſanft phantaſirende Muſik
ohne Laͤrm und Geraͤuſch die Seele feſſelt, und
ich glaube, daß ich mit Ihnen derſelben Mei-
nung bin. Darum iſt das Goͤthiſche Maͤhrchen
ein Meiſterſtuͤck zu nennen.
Gewiß, ſagte Roſalie, inſofern wir mit ei-
nem Gedicht zufrieden ſein koͤnnen, das keinen
Inhalt hat. Ein Werk der Phantaſie ſoll zwar
keinen bittern Nachgeſchmack zuruͤck laſſen, aber
doch ein Nachgenießen und Nachtoͤnen, dieſes
verfliegt und zerſplittert aber noch mehr als ein
Traum, und ich habe deshalb das herrliche
[139]Erſte Abtheilung.
Maͤhrchen von Novalis, ſo weit ich es verſtehn
konnte, dieſem weit vorgezogen, welches auch alle
Erinnerungen anregt, aber uns zugleich ruͤhrt
und begeiſtert und den lieblichſten Wohllaut in
der Seele noch lange nachtoͤnen laͤßt.
Du haſt hiemit zugleich, ſagte Manfred, die
große Maͤhrchenwelt des Arioſt getadelt, den es
auch an einem Mittelpunkte und wahrem Zu-
ſammenhange gebricht. Die Frage iſt nur, ob
ein Gedicht ſchon vollendet iſt, deſſen einzelne
Theile es ſind, und in wie fern die Seele dann
bei einer ſo vielſeitigen Compoſition jene Fode-
rung eines innigeren Zuſammenhanges vergeſſen
kann.
Dieſe Frage, fiel Ernſt ein, kann gar nicht
Statt finden, denn dieſe Theile ſind ja nur
durch das organiſche Ganze Theile zu nennen,
koͤnnen aber ohne dieſes im ſtrengeren Sinne
nur Fragmente von und zu Gedichten heißen
und als ſolche geliebt werden. Bei aller dieſer
ſcheinbaren Vortrefflichkeit fehlt die beherrſchende,
ordnende Seele, die der fluͤchtigen Schoͤnheit
den ewigen Reiz geben muß. Der Dichter will
Ich kenne dich und Friedrich ſchon, ſagte
Manfred, als Rigoriſten und Ketzermacher, aber
ich und Theodor werden euch zu gefallen den
[140]Erſte Abtheilung.
Arioſt nicht anders wuͤnſchen, als er nun ein-
mal iſt, die Reiſe nach dem Monde und den
Evangeliſten Johannes ausgenommen, denn beide
ſind fuͤr dieſe ſo kuͤhne Fiktion etwas zu matt
ausgefallen.
Ueber dieſen Dichter, ſagte Anton, duͤrfte
ſich ein langer Streit entſpinnen, der ſich nur
ſchwer beilegen ließe; ſein Werk beſteht, ſtrenge
genommen, nur aus Novellen, von denen er
die laͤngſten an verſchiedenen Stellen mit ſchein-
barer Kunſt durchſchnitten hat, dasjenige, was
alle verbindet, iſt ein gleichfoͤrmiger Ton liebli-
chen Wohllauts; ich moͤchte alſo ebenfalls be-
haupten, daß ſein Gedicht eigentlich weder An-
fang, Mitte noch Ende hat, ſo wie ich davon
feſt uͤberzeugt bin, daß nur wenige Verehrer,
ſelbſt in Italien, ihn oftmals von Anfang zu
Ende durchgeleſen haben, ſo ſehr auch alle mit
den einzelnen beruͤhmten und anlockenden Stel-
len vertraut ſind.
Es giebt, ſagte Lothar, eine Gattung der
Poeſie, welche ich, ohne damit ihrer Vortreff-
lichkeit zu nahe treten zu wollen, die bequeme
oder erfreuliche nennen moͤchte, und in dieſer
ſtelle ich den Arioſt oben an. Sehn wir auf
großer Ebene den hohen weit ausgeſpannten
blauen Himmel uͤber uns, ſo erſchreckt und er-
muͤdet in ſeiner Reinheit dieſer Anblick, doch
wenn Woͤlkchen mit verſchiedenen Lichtern in
dieſem blauen Kriſtalle ſchwimmen, wenn die
[141]Erſte Abtheilung.
Sonne ſich neigt, und unten am Horizont wie
uͤber uns die lebendigen Duͤfte in vielfachen
Schimmer ſich tauchen, dann erfuͤllt ein liebli-
ches Ergoͤtzen unſre Seele. So wollen wir die
große Wieſe mit Gebuͤſchen und Baͤumen unter-
brochen ſehn, und auf gleiche Weiſe fuͤhlen wir
in unſrer naͤchſten Umgebung, in unſerm Hauſe,
am dringendſten das Beduͤrfniß einer gewiſſen
Kunſt. Die weißen leeren Waͤnde unſrer Zim-
mer und Saͤle ſind uns unleidlich, Arabesken,
Blumen, Thiere und Fruͤchte umgeben uns in
gefaͤrbten und vielfach durchbrochenen Linien und
Flaͤchen mit mancherlei Geſtalt, und ſelbſt der
Fußboden muß ſich zum Schmuck und zur an-
ſtaͤndigen Zier zuſammen fuͤgen. Alles ſoll den
aͤußern Sinn erregen und dadurch auch den in-
nerlichen beſchaͤftigen, und Rafaels Wandge-
maͤhlde im Vatikan ſind fuͤr Wohnzimmer viel-
leicht ſchon zu erhaben, und alſo als immer-
waͤhrende Geſellſchaft unbequem. Dieſes durch-
aus edle Kunſtbeduͤrfniß des gebildeten Men-
ſchen erfuͤllt Arioſt, er iſt mehr Gefaͤhrte und
Freund als Dichter, und wir thun wohl nicht
Unrecht, wenn wir uͤber die vollendete Schoͤn-
heit des Einzelnen, uͤber dieſe Fuͤlle der Ge-
ſtalten, uͤber dieſen zarten blumenartigen Witz,
uͤber dieſe ernſte und milde Weisheit eines hei-
tern Sinnes die Zuſammenſetzung vergeſſen.
Es ſcheint mir ſehr richtig, fuhr Anton
fort, daß dieſe geſellige Kunſt auch in der Poeſie
[142]Erſte Abtheilung
ſich zeigen duͤrfe, und hier finde ich Gelegenheit,
an unſer geſtriges Geſpraͤch uͤber die Gaͤrten zu
erinnern, welche nach meiner Meinung abbrach,
ohne zu beſchließen. Die hohe Empfindung,
welche uns der Anblick der Natur gewaͤhrt, ſei
es das Gefuͤhl des Waldes, des Meeres oder
Gebirges, laͤßt ſich in keinen Garten ziehn, denn
dieſe Gefuͤhle ſind wechſelnd, unbeſchraͤnkt, un-
ausſprechlich. Diejenigen, welche in Parks das
Seltſam-Schauerliche, oder das Erhaben- Ma-
jeſtaͤtiſche erregen wollten, haben ſich im groͤß-
ten Irrthume befunden, und es war natuͤrlich,
daß ihre Beſtrebungen in Fratzen ausarten muß-
ten. Das Schoͤne und Ruͤhrende iſt es, wel-
ches Huͤgel, Baumgruppen, kleine Fluͤſſe Waſ-
ſerfaͤlle und Seen erregen koͤnnen, ein ſchwaͤrmen-
des muſikaliſches Gefuͤhl, welches ziemlich deut-
lich den Kuͤnſtler, welcher den Garten anlegen
will, bewegen muß, und welches im Beſchauen
eben ſo widertoͤnt. Dieſer Gaͤrtner wird alſo
wohl die Natur, aber nicht das Natuͤrliche aus-
ſchließen, und darum zieht der Englaͤnder gern
kleine Saatfelder in ſeinen Park, um eine ganz
beſtimmte Empfindung von der beſchraͤnkten Be-
ſchaͤftigung der Landwirthſchaft zu erregen, ein
kleiner Weinberg zeigt ſich wohl auch, als ein
reizendes Widerſpiel der Haine und Baumgrup-
pen. Wie mich nun zwar alles an die Natur
erinnert, ſo kann ich ſie doch hier ſo wenig wie
im Gedicht oder in der Mahlerei unmittelbar
[143]Erſte Abtheilung.
empfinden, ſondern ich ſoll die Kunſt in jedem
Augenblicke genießen. Wenden wir uns nun zu
der ſogenannten Franzoͤſiſchen Gartenkunſt, ſo
finden wir hier eine dieſer natuͤrlichen voͤllig
widerſprechende. Wie ſie alle Natur aus ihren
Graͤnzen entfernt, eben ſo die Erinnerung an
das Natuͤrliche, denn ſo wenig Getreide und
Obſt ihren Platz hier finden, eben ſo wenig
Baum-Parthien, die die Durchſicht decken, oder
abwechſelnd reizende Gebuͤſche, und jene ſuͤße
Schwaͤrmerei und muſikaliſche Empfindung ver-
ſchlungener Haine und mahleriſcher Anſichten.
Alles dient hier einer Empfindung, die ich am
liebſten im Gegenſatz jener muſikaliſch ſchwaͤr-
meriſchen Gefuͤhle eine pathetiſche Entzuͤckung
nennen moͤchte, alles erhebt die Seele zur Be-
geiſterung, alles iſt klar und unverworren; gleich
vom erſten Eintritt fuͤhle und uͤberſehe ich den
Plan des Ganzen, und aus jedem Punkte finde
ich mich unmittelbar in den Mittelpunkt der
großartigen Compoſition zuruͤck. Dazu dienen
die großen freien Plaͤtze, die geraden Baumgaͤnge,
die bedeckten und verflochtenen Lauben. Sta-
tuen und Waſſerkuͤnſte verhalten ſich zu dieſem
Garten ſo, wie gegenuͤber Saatfelder und
Weinberge, ſie wollen recht beſtimmt das Ge-
bildete ausſprechen und darſtellen, und wie man
den Park mit Unrecht die Nachahmung einer ge-
mahlten Landſchaft nennen wuͤrde, da der Gaͤrt-
ner und Mahler vielmehr aus einer gemein-
[144]Erſte Abtheilung.
ſchaftlichen poetiſchen Quelle ſchoͤpfen, ſo thaͤte
man auch dieſem Kunſtgarten Unrecht, ihn aus
der Architektur abzuleiten, da auch der Architekt
nur aus jener mathematiſchen Poeſie des Ge-
muͤthes ſeine Erfindungen nimmt. Daher ſcheint
es mir auch geradezu unmoͤglich, in Bergen
einen Park anzulegen, weil die Natur die un-
mittelbar hinein blickt, die Kunſt-Effekte, die
ihr hier verwandt ſein ſollen, vernichtet. Nach
der Natur aber ſelbſt ſehnt ſich gewiß jeder aus
beiderlei Gaͤrten vielmals hinaus und Niemand
kann ſie entbehren. Der regelmaͤßige Garten
ſchließt vielleicht im Hintergrunde am angenehm-
ſten mit einem parkaͤhnlichen, ſo wie der Eng-
liſche am ſchicklichſten nahe am Hauſe freie
Raͤume und eine gewiſſe Regelmaͤßigkeit aus-
ſpart. Es ergiebt ſich auch von ſelbſt, daß der
regelmaͤßige Kunſtgarten eine allgemeinere Form
hat und leichter, vom Geſchmack geleitet, zweck-
maͤßig nachgeahmt werden kann, daß aber der
Park ſich nicht leicht wiederholen laͤßt, ſondern
in jeder neuen Geſtalt als ein anderes Indivi-
duum auftreten muß. Es iſt aber wohl moͤg-
lich, daß es demohngeachtet nur wenige Haupt-
formen giebt, unter welche alle Gaͤrten dieſer
Art ſich vereinigen laſſen, und trotz der anſchei-
nenden Einſamkeit duͤrften dann die Franzoͤſi-
ſchen Gaͤrten wohl eben ſo viele Gattungen auf-
weiſen koͤnnen. Iſt es erlaubt ein Ding durch
ein vergleichendes Bild deutlich zu machen, ſo
moͤchte
[145]Erſte Abtheilung.
moͤchte ich am liebſten den Park mit einem
Shakſpearſchen, und den regelmaͤßigen Garten
mit einem Calderonſchen Luftſpiel vergleichen.
Scheinbare Willkuͤhr in jenem, von einem un-
ſichtbaren Geiſt der Ordnung gelenkt, Kuͤnſtlich-
keit, in anſcheinender Natuͤrlichkeit, der Anklang
aller Empfindungen auf phantaſirende Weiſe,
Ernſt und Heiterkeit wechſelnd, Erinnerung an
das Leben und ſeine Beduͤrfniſſe, und ein Sinn
der Liebe und Freundſchaft, welcher alle Theile
verbindet. Im ſuͤdlichen Garten und Gedicht
Regel und Richtſchnur, Ehre, Liebe, Eiferſucht
in großen Maſſen und ſcharfen Antitheſen, eben
ſo Freundſchaft und Haß, aber ohne tiefe oder
bizarre Individualitaͤt, oft mit den nehmlichen
Bildern und Worten wiederholt, Kuͤnſtlichkeit
und Erhabenheit der Sprache, Entfernung alles
deſſen, was unmittelbar an Natur erinnert, das
Ganze endlich verbunden durch einen begeiſter-
ten hohen Sinn, der wohl trunken, aber nicht
berauſcht erſcheint. Ich laſſe das Gegenbild des
Gartens unausgemahlt, aber man koͤnnte ſelbſt
die Reden in Stanzen oder andern kuͤnſtlichen
Versmaßen, (die ſich gewiß ganz von dem, was
die Naturaliſten Natur nennen wollen, entfer-
nen) mit den beſchnittenen glaͤnzenden Taxus- und
Buxus-Waͤnden vergleichen, wenn man witzig im
Bilde fortſpielen wollte.
Auch dieſe, ſagte Manfred, duͤrfen in einem
Kunſtgarten nicht fehlen, auch vertragen dieſe
I. [ I0 ]
[146]Erſte Abtheilung.
Baumarten die Scheere am beſten, da ihr feſtes
glaͤnzendes Laub nur langſam wieder nachwaͤchſt,
und ſie ſich uͤberhaupt weit mehr als empfind-
ſame Linden und jugendlich kuͤhne Buchen dar-
ein fuͤgen. Doch glaub' ich koͤnnen geſchnizte
Pyramiden und aͤhnliche Figuren fuͤglich aus
jedem Garten ausgeſchloſſen werden.
Unſer Garten, liebe Mutter, rief Clara, iſt
nun hoffentlich auf alle Zeiten gerettet, denn es
ſteht vielleicht zu erwarten, daß man in der Zu-
kunft manche der natuͤrlichen Parks wieder in
dergleichen kuͤnſtliche Anlagen umarbeiten moͤchte.
— Nicht wahr, mein Freund, (ſo wandte
ſie ſich gegen Anton) es iſt uͤberhaupt wohl
ſchwer zu ſagen, was denn Natur oder natuͤr-
lich ſei?
Vielen Mißbrauch, erwiederte dieſer, hat
man oft mit dieſen Worten getrieben, am mei-
ſten in jener Zeit, als man ſich von einem ſtei-
fen Ceremoniell zu befreien ſtrebte, welches man
irrigerweiſe Kunſt nannte, und nun gegenuͤber
ein Weſen ſuchte, welches uns unter allen Be-
dingungen das Richtige und die Wahrheit geben
ſollte. Kunſt und Natur ſind aber beide, rich-
tig verſtanden, in der Poeſie wie in den Kuͤn-
ſten, nur ein und daſſelbe.
Am ſeltſamſten, ſagte Theodor, iſt mir das
Geſchlecht der Naturjaͤger vorgekommen, welches
noch nicht ausgeſtorben iſt, vor einigen Jahren
aber noch mehr verbreitet war; diejenigen meine
[147]Erſte Abtheilung.
ich, welche auf Sonnenauf- und Untergaͤnge von
hohen Bergen, auf Waſſerfaͤlle und Naturphaͤ-
nomene wahrhaft Jagd machen, und ſich und
andern manchen Morgen verderben, um einen
Genuß zu erwarten, der oft nicht koͤmmt, und
den ſie nachher erheucheln muͤſſen. Dieſe Leute
behandeln die Natur gerade ſo, wie ſie mit den
merkwuͤrdigen Maͤnnern umgehn, ſie laufen ihnen
ins Haus und ſtellen ſich ihnen gegenuͤber, da
ſtehn ſie nun an der bekannten und oftmals
beſprochenen Stelle, und wenn in ihrer Seele
nun gar nichts vorgeht, ſo ſind ſie nachher
wenigſtens doch dort geweſen.
Die Natur, fuhr Anton fort, nimmt nicht
in jeder Stunde jedweden vorwitzigen Beſuch an,
oder vielmehr ſind wir nicht immer geſtimmt,
ihre Heiligkeit zu fuͤhlen. In uns ſelbſt muß
die Harmonie ſchon ſein, um ſie außer uns zu
finden, ſonſt behelfen wir uns freilich nur mit
leeren Phraſen, ohne die Schoͤnheit zu genießen:
oder es kann auch wohl ein unvermuthetes Ent-
zuͤcken vom Himmel herab in unſer Herz fallen,
und uns die hoͤchſte Begeiſterung aufſchließen;
dazu aber koͤnnen wir nichts thun, wir koͤnnen
dergleichen nicht erwarten, ſondern eine ſolche
Offenbarung begiebt ſich in uns nur. So viel
iſt gewiß, daß jeder Menſch wohl nur zwei oder
dreimal in ſeinem Leben das Gluͤck haben kann,
wahrhaft einen Sonnen-Aufgang zu ſehn: der-
gleichen geht auch dann nicht, wie Sommerwol-
[148]Erſte Abtheilung.
ken, unſerm Gemuͤth voruͤber, ſondern es macht
Epoche in unſerm Leben, wir brauchen lange
Zeit, um uns von ſolcher Entzuͤckung wieder zu
erholen, und viele Jahre zehren noch von die-
ſen erhabenen Minuten. Aber nur Stille und
Einſamkeit vergoͤnnen dieſe Gaben; eine Geſell-
ſchaft, die ſich zu dergleichen auf einem Berge
verſammelt, ſteht nur vor dem Theater, und
bringt auch gewoͤhnlich dieſelbe alberne Freude
und leere Kritik wie dort mit herunter.
Noch ſeltſamer, ſagte Ernſt, daß ſo wenige
Menſchen den wundervollen Schauer, die Be-
aͤngſtigung empfinden, oder ſich geſtehn, die in
manchen Stunden die Natur unſerm Herzen
erregt. Nicht bloß auf den ausgeſtorbenen Hoͤ-
hen des Gotthard erregt ſich unſer Gemuͤth
zum Grauen, nicht bloß
ſondern ſelbſt die ſchoͤnſte Gegend hat Geſpen-
ſter, die durch unſer Herz ſchreiten, ſie kann ſo
ſeltſame Ahndungen, ſo verwirrte Schatten durch
unſre Phantaſie jagen, daß wir ihr entfliehen,
und uns in das Getuͤmmel der Welt hinein ret-
ten moͤchten. Auf dieſe Weiſe entſtehn nun wohl
[149]Erſte Abtheilung.
auch in unſerm Innern Gedichte und Maͤhr-
chen, indem wir die ungeheure Leere, das furcht-
bare Chaos, mit Geſtalten bevoͤlkern, und kunſt-
maͤßig den unerfreulichen Raum ſchmuͤcken; dieſe
Gebilde aber koͤnnen dann freilich nicht den Cha-
rakter ihres Erzeugers verlaͤugnen. In dieſen
Natur-Maͤhrchen miſcht ſich das Liebliche mit
dem Schrecklichen, das Seltſame mit dem Kin-
diſchen, und verwirrt unſre Phantaſie bis zum
poetiſchen Wahnſinn, um dieſen ſelbſt nur in
unſerm Innern zu loͤſen und frei zu machen.
Sind die Maͤhrchen, fragte Clara, die Sie
uns mittheilen wollen, von dieſer Art?
Vielleicht, antwortete Ernſt.
Doch nicht allegoriſch?
Wie wir es nennen wollen, ſagte jener. Es
giebt vielleicht keine Erfindung, die nicht die Al-
legorie, auch unbewußt, zum Grund und Boden
ihres Weſens haͤtte. Gut und boͤſe iſt die dop-
pelte Erſcheinung, die ſchon das Kind in jeder
Dichtung am leichteſten verſteht, die uns in jeder
Darſtellung von neuem ergreift, die uns aus
jedem Raͤthſel in den mannichfaltigſten Formen
anſpricht und ſich ſelbſt zum Verſtaͤndniß rin-
gend aufloͤſen will. Es giebt eine Art, das gewoͤhn-
lichſte Leben wie ein Maͤhrchen anzuſehn, eben
ſo kann man ſich mit dem Wundervollſten, als
waͤre es das Alltaͤglichſte, vertraut machen. Man
koͤnnte ſagen, alles, das Gewoͤhnlichſte wie das
Wunderbarſte, Leichteſte und Luſtigſte habe nur
[150]Erſte Abtheilung.
Wahrheit und ergreife uns nur darum, weil dieſe
Allegorie im letzten Hintergrunde als Halt dem
Ganzen dient, und eben darum ſind auch Dan-
te's Allegorien ſo uͤberzeugend, weil ſie ſich bis
zur greiflichſten Wirklichkeit durchgearbeitet haben.
Novalis ſagt: nur die Geſchichte iſt eine Ge-
ſchichte, die auch Fabel ſein kann. Doch giebt
es auch viele kranke und ſchwache Dichtungen
dieſer Art, die uns nur in Begriffen herum ſchlep-
pen, ohne unſre Phantaſie mit zu nehmen, und
dieſe ſind die ermuͤdendſte Unterhaltung. — Allein
Anton mag uns jetzt ſein einleitendes Gedicht
vorleſen, welches er uns verſprochen hat.
Anton zog einige Blaͤtter hervor und las:
Phantaſus.
[151]Phantaſus.
[152]Erſte Abtheilung.
[153]Phantaſus.
[154]Erſte Abtheilung.
[155]Phantaſus.
[156]Erſte Abtheilung.
[157]Phantaſus.
[158]Erſte Abtheilung.
[159]Phantaſus.
[160]Erſte Abtheilung.
Mit
[161]Phantaſus.
I. [ II ]
[162]Erſte Abtheilung.
[163]Phantaſus.
[164]Erſte Abtheilung.
Nach einer Pauſe ſagte Clara: ich glaube
Ihren Sinn zu verſtehn, aber unartig, ja grau-
ſam finde ich es, daß Sie uͤber Ihre Krankheit
ſcherzen, und zur Strafe dafuͤr ſollen Sie uns
ohne auszuruhen ſogleich das erſte Maͤhrchen
mittheilen, denn ich hoͤrte geſtern, daß Ihnen
der Beginn dieſer Erzaͤhlungen zugefallen ſei.
Anton fing an zu leſen.
[165]Der blonde Eckbert.
Der blonde Eckbert.
In einer Gegend des Harzes wohnte ein Ritter,
den man gewoͤhnlich nur den blonden Eckbert nannte.
Er war ohngefaͤhr vierzig Jahr alt, kaum von
mittler Groͤße, und kurze hellblonde Haare lagen
ſchlicht und dicht an ſeinem blaſſen eingefallenen
Geſichte. Er lebte ſehr ruhig fuͤr ſich und war nie-
mals in den Fehden ſeiner Nachbarn verwickelt,
auch ſah man ihn nur ſelten außerhalb den Ring-
mauern ſeines kleinen Schloſſes. Sein Weib liebte
die Einſamkeit eben ſo ſehr, und beide ſchienen ſich
von Herzen zu lieben, nur klagten ſie gewoͤhnlich
daruͤber, daß der Himmel ihre Ehe mit keinen Kin-
dern ſegnen wolle.
Nur ſelten wurde Eckbert von Gaͤſten beſucht,
und wenn es auch geſchah, ſo wurde ihretwegen
faſt nichts in dem gewoͤhnlichen Gange des Lebens
geaͤndert, die Maͤßigkeit wohnte dort, und die
Sparſamkeit ſelbſt ſchien alles anzuordnen. Eck-
bert war alsdann heiter und aufgeraͤumt, nur wenn
er allein war bemerkte man an ihm eine gewiſſe Ver-
ſchloſſenheit, eine ſtille zuruͤckhaltende Melankolie.
Niemand kam ſo haͤufig auf die Burg als
Philipp Walther, ein Mann, an welchen ſich Eck-
bert geſchloſſen hatte, weil er an ihm ohngefaͤhr
dieſelbe Art zu denken fand, der auch er am mei-
ſten zugethan war. Dieſer wohnte eigentlich in
Franken, hielt ſich aber oft uͤber ein halbes Jahr
[166]Erſte Abtheilung.
in der Naͤhe von Eckberts Burg auf, ſammelte
Kraͤuter und Steine, und beſchaͤftigte ſich damit,
ſie in Ordnung zu bringen, er lebte von einem klei-
nen Vermoͤgen und war von Niemand abhaͤngig.
Eckbert begleitete ihn oft auf ſeinen einſamen Spa-
ziergaͤngen, und mit jedem Jahre entſpann ſich
zwiſchen ihnen eine innigere Freundſchaft.
Es giebt Stunden, in denen es den Men-
ſchen aͤngſtigt, wenn er vor ſeinem Freunde ein
Geheimniß haben ſoll, was er bis dahin oft mit
vieler Sorgfalt verborgen hat, die Seele fuͤhlt dann
einen unwiderſtehlichen Trieb, ſich ganz mitzuthei-
len, dem Freunde auch das Innerſte aufzuſchlie-
ßen, damit er um ſo mehr unſer Freund werde.
In dieſen Augenblicken geben ſich die zarten See-
len einander zu erkennen, und zuweilen geſchieht
es wohl auch, daß einer vor der Bekanntſchaft
des andern zuruͤck ſchreckt.
Es war ſchon im Herbſt, als Eckbert an einem
neblichten Abend mit ſeinem Freunde und ſeinem
Weibe Bertha um das Feuer eines Kamines ſaß.
Die Flamme warf einen hellen Schein durch das
Gemach und ſpielte oben an der Decke, die Nacht
ſah ſchwarz zu den Fenſtern herein, und die Baͤume
draußen ſchuͤttelten ſich vor naſſer Kaͤlte. Walther
klagte uͤber den weiten Ruͤckweg den er habe, und
Eckbert ſchlug ihm vor, bei ihm zu bleiben, die
halbe Nacht unter traulichen Geſpraͤchen hinzubrin-
gen, und dann noch in einem Gemache des Hau-
ſes bis am Morgen zu ſchlafen. Walther ging
den Vorſchlag ein, und nun ward Wein und die
[167]Der blonde Eckbert.
Abendmahlzeit herein gebracht, das Feuer durch
Holz vermehrt, und das Geſpraͤch der Freunde
heitrer und vertraulicher.
Als das Abendeſſen abgetragen war, und ſich
die Knechte wieder entfernt hatten, nahm Eckbert
die Hand Walthers und ſagte: Freund, Ihr ſoll-
tet euch einmal von meiner Frau die Geſchichte
ihrer Jugend erzaͤhlen laſſen, die ſeltſam genug
iſt. — Gern, ſagte Walther, und man ſetzte ſich
wieder um den Kamin.
Es war jetzt gerade Mitternacht, der Mond
ſah abwechſelnd durch die voruͤber flatternden Wol-
ken. Ihr muͤßt mich nicht fuͤr zudringlich halten,
fing Bertha an, mein Mann ſagt, daß Ihr ſo
edel denkt, daß es unrecht ſey, euch etwas zu ver-
helen. Nur haltet meine Erzaͤhlung fuͤr kein
Maͤhrchen, ſo ſonderbar ſie auch klingen mag.
Ich bin in einem Dorfe geboren, mein Vater
war ein armer Hirte. Die Haushaltung bei mei-
nen Eltern war nicht zum beſten beſtellt, ſie wuſten
ſehr oft nicht, wo ſie das Brod hernehmen ſollten.
Was mich aber noch weit mehr jammerte, war,
daß mein Vater und meine Mutter ſich oft uͤber
ihre Armuth entzweiten, und einer dem andern
dann bittere Vorwuͤrfe machte. Sonſt hoͤrt' ich
beſtaͤndig von mir, daß ich ein einfaͤltiges dummes
Kind ſei, das nicht das unbedeutendſte Geſchaͤft
auszurichten wiſſe, und wirklich war ich aͤußerſt
ungeſchickt und unbeholfen, ich ließ alles aus den
Haͤnden fallen, ich lernte weder naͤhen noch ſpin-
nen, ich konnte nichts in der Wirthſchaft helfen,
[168]Erſte Abtheilung.
nur die Noth meiner Eltern verſtand ich außeror-
dentlich gut. Oft ſaß ich dann im Winkel und
fuͤllte meine Vorſtellungen damit an, wie ich ihnen
helfen wollte, wenn ich ploͤtzlich reich wuͤrde, wie
ich ſie mit Gold und Silber uͤberſchuͤtten und mich
an ihrem Erſtaunen laben moͤchte, dann ſah ich
Geiſter herauf ſchweben, die mir unterirdiſche
Schaͤtze entdekten, oder mir kleine Kieſel gaben,
die ſich in Edelſteine verwandelten; kurz, die wun-
derbarſten Phantaſien beſchaͤftigten mich, und wenn
ich nun aufſtehn mußte, um irgend etwas zu hel-
fen, oder zu tragen, ſo zeigte ich mich noch viel
ungeſchickter, weil mir der Kopf von allen den ſelt-
ſamen Vorſtellungen ſchwindelte.
Mein Vater war immer ſehr ergrimmt auf
mich, daß ich eine ſo ganz unnuͤtze Laſt des Haus-
weſens ſey, er behandelte mich daher oft ziemlich
grauſam, und es war ſelten, daß ich ein freund-
liches Wort von ihm vernahm. So war ich unge-
faͤhr acht Jahr alt geworden, und es wurden nun
ernſtliche Anſtalten gemacht, daß ich etwas thun,
oder lernen ſollte. Mein Vater glaubte, es waͤre
nur Eigenſinn oder Traͤgheit von mir, um meine
Tage in Muͤſſiggang hinzubringen, genug, er ſetzte
mir mit Drohungen unbeſchreiblich zu, da dieſe
aber doch nichts fruchteten, zuͤchtigte er mich auf
die grauſamſte Art, und fuͤgte hinzu, daß dieſe
Strafe mit jedem Tage wiederkehren ſollte, weil
ich doch nur ein unnuͤtzes Geſchoͤpf ſey.
Die ganze Nacht hindurch weint' ich herzlich,
ich fuͤhlte mich ſo außerordentlich verlaſſen, ich
[169]Der blonde Eckbert.
hatte ein ſolches Mitleid mit mir ſelber, daß ich
zu ſterben wuͤnſchte. Ich fuͤrchtete den Anbruch des
Tages, ich wußte durchaus nicht, was ich anfan-
gen ſollte, ich wuͤnſchte mir alle moͤgliche Geſchick-
lichkeit und konnte gar nicht begreifen, warum ich
einfaͤltiger ſey, als die uͤbrigen Kinder meiner Be-
kanntſchaft. Ich war der Verzweiflung nahe.
Als der Tag graute, ſtand ich auf und eroͤff-
nete, faſt ohne daß ich es wußte, die Thuͤr unſrer
kleinen Huͤtte. Ich ſtand auf dem freien Felde,
bald darauf war ich in einem Walde, in den der
Tag faſt noch nicht hinein blickte. Ich lief immer-
fort, ohne mich umzuſehn, ich fuͤhlte keine Muͤdig-
keit, denn ich glaubte immer mein Vater wuͤrde
mich noch wieder einholen, und durch meine Flucht
gereizt mich noch grauſamer behandeln.
Als ich aus dem Walde wieder heraus trat,
ſtand die Sonne ſchon ziemlich hoch, ich ſah jetzt
etwas dunkles vor mir liegen, welches ein dichter
Nebel bedeckte. Bald mußte ich uͤber Huͤgel klet-
tern, bald durch einen zwiſchen Felſen gewundenen
Weg gehn, und ich errieth nun, daß ich mich wohl
in dem benachbarten Gebirge befinden muͤſſe, wor-
uͤber ich anfing mich in der Einſamkeit zu fuͤrch-
ten. Denn ich hatte in der Ebene noch keine Berge
geſehn, und das bloße Wort Gebirge, wenn ich
davon hatte reden hoͤren, war meinem kindiſchen
Ohr ein fuͤrchterlicher Ton geweſen. Ich hatte
nicht das Herz zuruͤck zu gehn, ſondern eben meine
Angſt trieb mich vorwaͤrts; oft ſah ich mich erſchrok-
ken um, wenn der Wind uͤber mir weg durch die
[170]Erſte Abteilung.
Baͤume fuhr, oder ein ferner Holzſchlag weit durch
den ſtillen Morgen hintoͤnte. Als mir Koͤhler und
Bergleute endlich begegneten und ich eine fremde
Ausſprache hoͤrte, waͤre ich vor Entſetzen faſt in
Ohnmacht geſunken.
Ich kam durch mehrere Doͤrfer und bettelte,
weil ich jetzt Hunger und Durſt empfand, ich half
mir ſo ziemlich mit meinen Antworten durch, wenn
ich gefragt wurde. So war ich ohngefaͤhr vier
Tage fortgewandert, als ich auf einen kleinen Fuß-
ſteig gerieth, der mich von der großen Straße
immer mehr entfernte. Die Felſen um mich her
gewannen jetzt eine andre, weit ſeltſamere Geſtalt.
Es waren Klippen, ſo auf einander gepackt, daß
es das Anſehn hatte, als wenn ſie der erſte Wind-
ſtoß durch einander werfen wuͤrde. Ich wußte
nicht, ob ich weiter gehn ſollte. Ich hatte des
Nachts immer im Walde geſchlafen, denn es war
gerade zur ſchoͤnſten Jahrszeit, oder in abgelege-
nen Schaͤferhuͤtten; hier traf ich aber gar keine
menſchliche Wohnung und konnte auch nicht ver-
muthen in dieſer Wildniß auf eine zu ſtoßen; die
Felſen wurden immer furchtbarer, ich mußte oft
dicht an ſchwindlichten Abgruͤnden vorbeigehn, und
endlich hoͤrte ſogar der Weg unter meinen Fuͤßen
auf. Ich war ganz troſtlos, ich weinte und ſchrie,
und in den Felſenthaͤlern hallte meine Stimme auf
eine ſchreckliche Art zuruͤck. Nun brach die Nacht
herein, und ich ſuchte mir eine Moosſtelle aus,
um dort zu ruhn. Ich konnte nicht ſchlafen; in
der Nacht hoͤrte ich die ſeltſamſten Toͤne, bald
[171]Der blonde Eckbert.
hielt ich es fuͤr wilde Thiere, bald fuͤr den Wind,
der durch die Felſen klage, bald fuͤr fremde Voͤgel.
Ich betete, und ſchlief nur ſpaͤt gegen Morgen ein.
Ich erwachte, als mir der Tag ins Geſicht
ſchien. Vor mir war ein ſteiler Felſen, ich klet-
terte in der Hoffnung hinauf, von dort den Aus-
gang aus der Wildniß zu entdecken, und vielleicht
Wohnungen oder Menſchen gewahr zu werden.
Als ich aber oben ſtand, war alles, ſo weit nur
mein Auge reichte, eben ſo, wie um mich her, alles
war mit einem neblichten Dufte uͤberzogen, der
Tag war grau und truͤbe, und keinen Baum, keine
Wieſe, ſelbſt kein Gebuͤſch konnte mein Auge ent-
decken, einzelne Straͤucher ausgenommen, die ein-
ſam und betruͤbt in engen Felſenritzen empor geſchoſ-
ſen waren. Es iſt unbeſchreiblich, welche Sehn-
ſucht ich empfand, nur eines Menſchen anſichtig
zu werden, waͤre es auch, daß ich mich vor ihm
haͤtte fuͤrchten muͤſſen. Zugleich empfand ich einen
peinigenden Hunger, ich ſetzte mich nieder und
beſchloß zu ſterben. Aber nach einiger Zeit trug
die Luſt zu leben dennoch den Sieg davon, ich
raffte mich auf und ging unter Thraͤnen, unter
abgebrochenen Seufzern den ganzen Tag hindurch;
am Ende war ich mir meiner kaum noch bewußt,
ich war muͤde und erſchoͤpft, ich wuͤnſchte kaum
noch zu leben, und fuͤrchtete doch den Tod.
Gegen Abend ſchien die Gegend umher etwas
freundlicher zu werden, meine Gedanken, meine
Wuͤnſche lebten wieder auf, die Luſt zum Leben
erwachte in allen meinen Adern. Ich glaubte jetzt
[172]Erſte Abtheilung.
das Geſauſe einer Muͤhle aus der Ferne zu hoͤren,
ich verdoppelte meine Schritte, und wie wohl, wie
leicht ward mir, als ich endlich wirklich die Graͤn-
zen der oͤden Felſen erreichte, ich ſah Waͤlder und
Wieſen mit fernen angenehmen Bergen wieder vor
mir liegen. Mir war, als wenn ich aus der Hoͤlle
in ein Paradies getreten waͤre, die Einſamkeit und
meine Huͤlfloſigkeit ſchienen mir nun gar nicht fuͤrch-
terlich.
Statt der gehofften Muͤhle ſtieß ich auf einen
Waſſerfall, der meine Freude freilich um vieles
minderte; ich ſchoͤpfte mit der Hand einen Trunk
aus dem Bache, als mir ploͤtzlich war, als hoͤre
ich in einiger Entfernung ein leiſes Huſten. Nie
bin ich ſo angenehm uͤberraſcht worden, als in die-
ſem Augenblick, ich ging naͤher und ward an der
Ecke des Waldes eine alte Frau gewahr, die aus-
zuruhen ſchien. Sie war faſt ganz ſchwarz geklei-
det und eine ſchwarze Kappe bedeckte ihren Kopf
und einen großen Theil des Geſichtes, in der Hand
hielt ſie einen Kruͤckenſtock.
Ich naͤherte mich ihr und bat um ihre Huͤlfe,
ſie ließ mich neben ſich niederſitzen und gab mir
Brod und etwas Wein. Indem ich aß, ſang ſie
mit kreiſchendem Ton ein geiſtliches Lied. Als ſie
geendet hatte, ſagte ſie mir, ich moͤchte ihr folgen.
Ich war uͤber dieſen Antrag ſehr erfreut, ſo
wunderlich mir auch die Stimme und das Weſen
der Alten vorkam. Mit ihrem Kruͤckenſtocke ging
ſie ziemlich behende, und bei jedem Schritte verzog
ſie ihr Geſicht ſo, daß ich im Anfange daruͤber
[173]Der blonde Eckbert.
lachen mußte. Die wilden Felſen traten immer
weiter hinter uns zuruͤck, wir gingen uͤber eine
angenehme Wieſe, und dann durch einen ziemlich
langen Wald. Als wir heraus traten, ging die
Sonne gerade unter, und ich werde den Anblick
und die Empfindung dieſes Abends nie vergeſſen.
In das ſanfteſte Roth und Gold war alles ver-
ſchmolzen, die Baͤume ſtanden mit ihren Wipfeln
in der Abendroͤthe, und uͤber den Feldern lag der
entzuͤckende Schein, die Waͤlder und die Blaͤtter
der Baͤume ſtanden ſtill, der reine Himmel ſah aus
wie ein aufgeſchloſſenes Paradies, und das Rie-
ſeln der Quellen und von Zeit zu Zeit das Fluͤſtern
der Baͤume toͤnte durch die heitre Stille wie in
wehmuͤthiger Freude. Meine junge Seele bekam
jetzt zuerſt eine Ahndung von der Welt und ihren
Begebenheiten. Ich vergaß mich und meine Fuͤh-
rerin, mein Geiſt und meine Augen ſchwaͤrmten
nur zwiſchen den goldnen Wolken.
Wir ſtiegen nun einen Huͤgel hinan, der mit
Birken bepflanzt war, von oben ſah man in ein
gruͤnes Thal voller Birken hinein, und unten mit-
ten in den Baͤumen lag eine kleine Huͤtte. Ein
munteres Bellen kam uns entgegen, und bald ſprang
ein kleiner behender Hund die Alte an, und wedelte,
dann kam er zu mir, beſah mich von allen Seiten,
und kehrte mit freundlichen Geberden zur Alten
zuruͤck.
Als wir vom Huͤgel hinunter gingen, hoͤrte
ich einen wunderbaren Geſang, der aus der Huͤtte
[174]Erſte Abtheilung.
zu kommen ſchien, wie von einem Vogel, es ſang
alſo:
Dieſe wenigen Worte wurden beſtaͤndig wie-
derholt, wenn ich es beſchreiben ſoll, ſo war es
faſt, als wenn Waldhorn und Schallmeyn ganz
in der Ferne durch einander ſpielen.
Meine Neugier war außerordentlich geſpannt;
ohne daß ich auf den Befehl der Alten wartete,
trat ich mit in die Huͤtte. Die Daͤmmerung war
ſchon eingebrochen, alles war ordentlich aufgeraͤumt,
einige Becher ſtanden auf einem Wandſchranke,
fremdartige Gefaͤße auf einem Tiſche, in einem
glaͤnzenden Kaͤfig hing ein Vogel am Fenſter, und
er war es wirklich, der die Worte ſang. Die Alte
keichte und huſtete, ſie ſchien ſich gar nicht wieder
erholen zu koͤnnen, bald ſtreichelte ſie den kleinen
Hund, bald ſprach ſie mit dem Vogel, der ihr nur
mit ſeinem gewoͤhnlichen Liede Antwort gab; uͤbri-
gens that ſie gar nicht, als wenn ich zugegen waͤre.
Indem ich ſie ſo betrachtete, uͤberlief mich mancher
Schauer, denn ihr Geſicht war in einer ewigen
Bewegung, indem ſie dazu wie vor Alter mit dem
Kopfe ſchuͤttelte, ſo daß ich durchaus nicht wiſſen
konnte, wie ihr eigentliches Ausſehn beſchaffen war.
Als ſie ſich erholt hatte, zuͤndete ſie Licht an,
[175]Der blonde Eckbert.
deckte einen ganz kleinen Tiſch und trug das Abend-
eſſen auf. Jetzt ſah ſie ſich nach mir um, und hieß
mir einen von den geflochtenen Rohrſtuͤhlen neh-
men. So ſaß ich ihr nun dicht gegenuͤber und das
Licht ſtand zwiſchen uns. Sie faltete ihre knoͤcher-
nen Haͤnde und betete laut, indem ſie ihre Ge-
ſichtsverzerrungen machte, ſo daß es mich beinahe
wieder zum Lachen gebracht haͤtte; aber ich nahm
mich ſehr in Acht, um ſie nicht boshaft zu machen.
Nach dem Abendeſſen betete ſie wieder, und
dann wies ſie mir in einer niedrigen und engen
Kammer ein Bett an; ſie ſchlief in der Stube.
Ich blieb nicht lange munter, ich war halb betaͤubt,
aber in der Nacht wachte ich einigemal auf, und
dann hoͤrte ich die Alte huſten und mit dem Hunde
ſprechen, und den Vogel dazwiſchen, der im Traum
zu ſeyn ſchien, und immer nur einzelne Worte von
ſeinem Liede ſang. Das machte mit den Birken,
die vor dem Fenſter rauſchten, und mit dem Ge-
ſang einer entfernten Nachtigall ein ſo wunderba-
res Gemiſch, daß es mir immer nicht war, als ſey
ich erwacht, ſondern als fiele ich nur in einen andern
noch ſeltſamern Traum.
Am Morgen weckte mich die Alte, und wies
mich bald nachher zur Arbeit an. Ich mußte ſpin-
nen, und ich begriff es nun auch bald, dabei hatte
ich noch fuͤr den Hund und fuͤr den Vogel zu ſor-
gen. Ich lernte mich ſchnell in die Wirthſchaft
finden, und alle Gegenſtaͤnde umher wurden mir
bekannt; nun war mir, als muͤßte alles ſo ſeyn,
ich dachte gar nicht mehr daran, daß die Alte etwas
[176]Erſte Abtheilung.
Seltſames an ſich habe, daß die Wohnung aben-
theuerlich und von allen Menſchen entfernt liege,
und daß an dem Vogel etwas Außerordentliches
ſey. Seine Schoͤnheit fiel mir zwar immer auf,
denn ſeine Federn glaͤnzten mit allen moͤglichen
Farben, das ſchoͤnſte Hellblau und das brennendſte
Roth wechſelten an ſeinem Halſe und Leibe, und
wenn er ſang, blaͤhte er ſich ſtolz auf, ſo daß ſich
ſeine Federn noch praͤchtiger zeigten.
Oft ging die Alte aus und kam erſt am Abend
zuruͤck, ich ging ihr dann mit dem Hunde entge-
gen, und ſie nannte mich Kind und Tochter. Ich
ward ihr endlich von Herzen gut, wie ſich unſer
Sinn denn an alles, beſonders in der Kindheit,
gewoͤhnt. In den Abendſtunden lehrte ſie mich
leſen, ich begriff es bald, und es ward nachher in
meiner Einſamkeit eine Quelle von unendlichem Ver-
gnuͤgen, denn ſie hatte einige alte geſchriebene Buͤ-
cher, die wunderbare Geſchichten enthielten.
Die Erinnerung an meine damalige Lebens-
art iſt mir noch bis jetzt immer ſeltſam: von kei-
nem menſchlichen Geſchoͤpfe beſucht, nur in einem
ſo kleinen Familienzirkel einheimiſch, denn der Hund
und der Vogel machten denſelben Eindruck auf mich,
den ſonſt nur laͤngſt gekannte Freunde hervor brin-
gen. Ich habe mich immer nicht wieder auf den
ſeltſamen Nahmen des Hundes beſinnen koͤnnen, ſo
oft ich ihn auch damals nannte.
Vier Jahre hatte ich ſo mit der Alten gelebt,
und ich mochte ohngefaͤhr zwoͤlf Jahr alt ſein, als
ſie mir endlich mehr vertraute, und mir ein Ge-
heimniß
[177]Der blonde Eckbert.
heimniß entdeckte. Der Vogel legte nehmlich an
jedem Tage ein Ey, in dem ſich eine Perl oder ein
Edelſtein befand. Ich hatte ſchon immer bemerkt,
daß ſie heimlich in dem Kaͤfige wirthſchafte, mich aber
nie genauer darum bekuͤmmert. Sie trug mir jetzt
das Geſchaͤft auf, in ihrer Abweſenheit dieſe Eyer
zu nehmen und in den fremdartigen Gefaͤßen wohl
zu verwahren. Sie ließ mir meine Nahrung zuruͤck
und blieb nun laͤnger aus, Wochen, Monathe; mein
Raͤdchen ſchnurrte, der Hund bellte, der wunder-
bare Vogel ſang und dabei war alles ſo ſtill in
der Gegend umher, daß ich mich in der ganzen
Zeit keines Sturmwindes, keines Gewitters erin-
nere. Kein Menſch verirrte ſich dorthin, kein Wild
kam unſerer Behauſung nahe, ich war zufrieden
und arbeitete mich von einem Tage zum andern
hinuͤber. — Der Menſch waͤre vielleicht recht gluͤck-
lich, wenn er ſo ungeſtoͤrt ſein Leben bis ans Ende
fortfuͤhren koͤnnte.
Aus dem wenigen, was ich las bildete ich
mir ganz wunderliche Vorſtellungen von der Welt
und den Menſchen, alles war von mir und meiner
Geſellſchaft hergenommen: wenn von luſtigen Leu-
ten die Rede war, konnte ich ſie mir nicht anders
vorſtellen, wie den kleinen Spitz, praͤchtige Damen
ſahen immer wie der Vogel aus, alle alte Frauen
wie meine wunderliche Alte. Ich hatte auch von
Liebe etwas geleſen, und ſpielte nun in meiner
Phantaſie ſeltſame Geſchichten mit mir ſelber. Ich
dachte mir den ſchoͤnſten Ritter von der Welt, ich
ſchmuͤckte ihn mit allen Vortreflichkeiten aus, ohne
I. [ 12 ]
[178]Erſte Abtheilung.
eigentlich zu wiſſen, wie er nun nach allen meinen
Bemuͤhungen ausſah: aber ich konnte ein rechtes
Mitleid mit mir ſelber haben, wenn er mich nicht
wieder liebte; dann ſagte ich lange ruͤhrende Re-
den in Gedanken her, zuweilen auch wohl laut,
um ihn nur zu gewinnen. — Ihr laͤchelt! wir ſind
jetzt freilich alle uͤber dieſe Zeit der Jugend hinuͤber.
Es war mir jetzt lieber, wenn ich allein war,
denn alsdann war ich ſelbſt die Gebieterin im
Hauſe. Der Hund liebte mich ſehr und that alles
was ich wollte, der Vogel antwortete mir mit ſei-
nem Liede auf alle meine Fragen, mein Raͤdchen
drehte ſich immer munter, und ſo fuͤhlte ich im
Grunde nie einen Wunſch nach Veraͤnderung. Wenn
die Alte von ihren langen Wanderungen zuruͤck
kam, lobte ſie meine Aufmerkſamkeit, ſie ſagte, daß
ihre Haushaltung, ſeit ich dazu gehoͤre, weit ordent-
licher gefuͤhrt werde, ſie freute ſich uͤber mein
Wachsthum und mein geſundes Ausſehn, kurz, ſie
ging ganz mit mir wie mit einer Tochter um.
Du biſt brav, mein Kind! ſagte ſie einſt zu
mir mit einem ſchnarrenden Tone; wenn Du ſo fort
faͤhrſt, wird es dir auch immer gut gehn: aber nie
gedeiht es, wenn man von der rechten Bahn
abweicht, die Strafe folgt nach, wenn auch noch
ſo ſpaͤt. — Indem ſie das ſagte, achtete ich eben
nicht ſehr darauf, denn ich war in allen meinen
Bewegungen und meinem ganzen Weſen ſehr leb-
haft; aber in der Nacht fiel es mir wieder ein,
und ich konnte nicht begreifen, was ſie damit hatte
ſagen wollen. Ich uͤberlegte alle Worte genau,
[179]Der blonde Eckbert.
ich hatte wohl von Reichthuͤmern geleſen, und am
Ende fiel mir ein, daß ihre Perlen und Edelſteine
wohl etwas Koſtbares ſein koͤnnten. Dieſer Ge-
danke wurde mir bald noch deutlicher. Aber was
konnte ſie mit der rechten Bahn meinen? Ganz
konnte ich den Sinn ihrer Worte noch immer nicht
faſſen.
Ich war jetzt vierzehn Jahr alt, und es iſt
ein Ungluͤck fuͤr den Menſchen, daß er ſeinen Ver-
ſtand nur darum bekoͤmmt, um die Unſchuld ſeiner
Seele zu verlieren. Ich begriff nemlich wohl, daß
es nur auf mich ankomme, in der Abweſenheit
der Alten den Vogel und die Kleinodien zu neh-
men, und damit die Welt, von der ich geleſen
hatte, aufzuſuchen. Zugleich war es mir dann
vielleicht moͤglich, den uͤberaus ſchoͤnen Ritter an-
zutreffen, der mir immer noch im Gedaͤchtniſſe lag.
Im Anfange war dieſer Gedanke nichts wi-
ter als jeder andere Gedanke, aber wenn ich ſo
an meinem Rade ſaß, ſo kam er mir immer wi-
der Willen zuruͤck, und ich verlor mich ſo in ihm,
daß ich mich ſchon herrlich geſchmuͤckt ſah, und
Ritter und Prinzen um mich her. Wenn ich mich
ſo vergeſſen hatte, konnte ich ordentlich betruͤbt
werden, wenn ich wieder aufſchaute, und mich in
der kleinen Wohnung antraf. Uebrigens, wenn
ich meine Geſchaͤfte that, bekuͤmmerte ſich die Alte
nicht weiter um mein Weſen.
An einem Tage ging meine Wirthin wieder
fort, und ſagte mir, daß ſie diesmal laͤnger als
gewoͤhnlich ausbleiben werde, ich ſolle ja auf alles
[180]Erſte Abtheilung.
ordentlich Acht geben und mir die Zeit nicht lang
werden laſſen. Ich nahm mit einer gewiſſen Ban-
gigkeit von ihr Abſchied, denn es war mir, als
wuͤrde ich ſie nicht wieder ſehn. Ich ſah ihr lange
nach und wuſte ſelbſt nicht, warum ich ſo beaͤng-
ſtigt war; es war faſt, als wenn mein Vorhaben
ſchon vor mir ſtaͤnde, ohne deſſen deutlich mir be-
wußt zu ſein.
Nie hab' ich des Hundes und des Vogels
mit einer ſolchen Aemſigkeit gepflegt, ſie lagen mir
naͤher am Herzen als ſonſt. Die Alte war ſchon
einige Tage abweſend, als ich mit dem feſten Vor-
ſatze aufſtand, mit dem Vogel die Huͤtte zu ver-
laſſen, und die ſogenannte Welt aufzuſuchen. Es
war mir enge und bedraͤngt zu Sinne, ich wuͤnſchte
wieder da zu bleiben, und doch war mir der Ge-
danke widerwaͤrtig; es war ein ſeltſamer Kampf
in meiner Seele, wie ein Streiten von zwei wi-
derſpenſtigen Geiſtern in mir. In einem Augen-
blicke kam mir die ruhige Einſamkeit ſo ſchoͤn vor,
dann entzuͤckte mich wieder die Vorſtellung einer
neuen Welt, mit allen ihren wunderbaren Man-
nigfaltigkeiten.
Ich wußte nicht, was ich aus mir ſelber ma-
chen ſollte, der Hund ſprang mich unaufhoͤrlich
an, der Sonnenſchein breitete ſich munter uͤber
die Felder aus, die gruͤnen Birken funkelten: ich
hatte die Empfindung, als wenn ich etwas ſehr
Eiliges zu thun haͤtte, ich griff alſo den kleinen
Hund, band ihn in der Stube feſt, und nahm
dann den Kaͤfig mit dem Vogel unter den Arm.
[181]Der blonde Eckbert.
Der Hund kruͤmmte ſich und winſelte uͤber dieſe
ungewohnte Behandlung, er ſah mich mit bitten-
den Augen an, aber ich fuͤrchtete mich ihn mit mir
zu nehmen. Noch nahm ich eins von den Gefaͤ-
ßen, das mit Edelſteinen angefuͤllt war, und ſteckte
es zu mir, die uͤbrigen ließ ich ſtehn.
Der Vogel drehte den Kopf auf eine wunder-
liche Weiſe, als ich mit ihm zur Thuͤr hinaus trat,
der Hund ſtrengte ſich ſehr an, mir nachzukom-
men, aber er mußte zuruͤck bleiben.
Ich vermied den Weg nach den wilden Felſen
und ging nach der entgegengeſetzten Seite. Der
Hund bellte und winſelte immerfort, und es ruͤhrte
mich recht inniglich; der Vogel wollte einigemal zu
ſingen anfangen, aber da er getragen ward, mußte
es ihm wohl unbequem fallen.
So wie ich weiter ging, hoͤrte ich das Bellen
immer ſchwaͤcher, und endlich hoͤrte es ganz auf.
Ich weinte und waͤre beinahe wieder umgekehrt,
aber die Sucht etwas Neues zu ſehn, trieb mich
vorwaͤrts.
Schon war ich uͤber Berge und durch einige
Waͤlder gekommen, als es Abend ward, und ich
in einem Dorfe einkehren mußte. Ich war ſehr
bloͤde als ich in die Schenke trat, man wies mir
eine Stube und ein Bette an, ich ſchlief ziemlich
ruhig, nur daß ich von der Alten traͤumte, die
mir drohte.
Meine Reiſe war ziemlich einfoͤrmig, aber je
weiter ich ging, je mehr aͤngſtigte mich die Vor-
ſtellung von der Alten und dem kleinen Hunde;
[182]Erſte Abtheilung.
ich dachte daran, daß er wahrſcheinlich ohne meine
Huͤlfe verhungern muͤſſe, im Walde glaubt' ich oft
die Alte wuͤrde mir ploͤtzlich entgegen treten. So
legte ich unter Thraͤnen und Seufzern den Weg
zuruͤck; ſo oft ich ruhte, und den Kaͤfig auf den
Boden ſtellte, ſang der Vogel ſein wunderliches
Lied, und ich erinnerte mich dabei recht lebhaft des
ſchoͤnen verlaſſenen Aufenthalts. Wie die menſch-
liche Natur vergeßlich iſt, ſo glaubt' ich jetzt, meine
vormalige Reiſe in der Kindheit ſey nicht ſo truͤb-
ſelig geweſen als meine jetzige; ich wuͤnſchte mich
wieder in derſelben Lage zu ſein.
Ich hatte einige Edelſteine verkauft, und kam
nun nach einer Wanderſchaft von vielen Tagen in
einem Dorfe an. Schon beim Eintritt ward mir
wunderſam zu Muthe, ich erſchrack und wuſte
nicht woruͤber; aber bald erkannt' ich mich, denn
es war daſſelbe Dorf, in welchem ich geboren
war. Wie ward ich uͤberraſcht! Wie liefen mir
vor Freuden, wegen tauſend ſeltſamer Erinnerun-
gen, die Thraͤnen von den Wangen! Vieles war
veraͤndert, es waren neue Haͤuſer entſtanden, an-
dre die man damals erſt errichtet hatte, waren
jetzt verfallen, ich traf auch Brandſtellen; alles
war weit kleiner, gedraͤngter als ich erwartet hatte.
Unendlich freute ich mich darauf, meine Eltern nun
nach ſo manchen Jahren wieder zu ſehn; ich fand
das kleine Haus, die wohlbekannte Schwelle, der
Griff der Thuͤr war noch ganz ſo wie damals, es
war mir, als haͤtte ich ſie nur geſtern erſt ange-
lehnt; mein Herz klopfte ungeſtuͤm, ich oͤffnete ſie
[183]Der blonde Eckbert.
haſtig, — aber ganz fremde Geſichter ſaßen in der
Stube umher und ſtierten mich an. Ich fragte
nach dem Schaͤfer Martin, und man ſagte mir,
er ſey ſchon ſeit drey Jahren mit ſeiner Frau ge-
ſtorben. — Ich trat ſchnell zuruͤck, und ging laut
weinend aus dem Dorfe hinaus.
Ich hatte es mir ſo ſchoͤn gedacht, ſie mit
meinem Reichthume zu uͤberraſchen; durch den ſelt-
ſamſten Zufall war das nun wirklich geworden,
was ich in der Kindheit immer nur traͤumte, —
und jetzt war alles umſonſt, ſie konnten ſich nicht
mit mir freuen, und das, worauf ich am meiſten
immer im Leben gehofft hatte, war fuͤr mich auf
ewig verloren.
In einer angenehmen Stadt miethete ich mir
ein kleines Haus mit einem Garten, und nahm
eine Aufwaͤrterin zu mir. So wunderbar, als ich
es vermuthet hatte, kam mir die Welt nicht vor,
aber ich vergaß die Alte und meinen ehemaligen
Aufenthalt etwas mehr, und ſo lebt' ich im Gan-
zen recht zufrieden.
Der Vogel hatte ſchon ſeit lange nicht mehr
geſungen; ich erſchrack daher nicht wenig, als er
in einer Nacht ploͤtzlich wieder anfing, und zwar
mit einem veraͤnderten Liede. Er ſang:
[184]Erſte Abtheilung.
Ich konnte die Nacht hindurch nicht ſchlafen,
alles fiel mir von neuem in die Gedanken, und
mehr als jemals fuͤhlt' ich, daß ich Unrecht gethan
hatte. Als ich aufſtand, war mir der Anblick des
Vogels ordentlich zuwider, er ſah immer nach mir
hin, und ſeine Gegenwart aͤngſtigte mich. Er hoͤrte
nun mit ſeinem Liede gar nicht wieder auf, und
er ſang es lauter und ſchallender, als er es ſonſt
gewohnt geweſen war. Je mehr ich ihn betrach-
tete, je baͤnger machte er mich; ich oͤffnete endlich
den Kaͤfig, ſteckte die Hand hinein und faßte ſei-
nen Hals, herzhaft druͤckte ich die Finger zuſam-
men, er ſah mich bittend an, ich ließ los, aber
er war ſchon geſtorben. — Ich begrub ihn im
Garten.
Jetzt wandelte mich oft eine Furcht vor mei-
ner Aufwaͤrterin an, ich dachte an mich ſelbſt zu-
ruͤck, und glaubte, daß ſie mich auch einſt berauben
oder wohl gar ermorden koͤnne. — Schon lange
kannt' ich einen jungen Ritter, der mir uͤberaus
gefiel, ich gab ihm meine Hand, — und hiermit,
Herr Walter, iſt meine Geſchichte geendigt.
Ihr haͤttet ſie damals ſehn ſollen, fiel Eckbert
haſtig ein, — ihre Jugend, ihre Schoͤnheit, und
welch einen unbegreiflichen Reiz ihr ihre einſame
Erziehung gegeben hatte. Sie kam mir vor wie
ein Wunder, und ich liebte ſie ganz unbeſchreiblich.
Ich hatte kein Vermoͤgen, aber durch ihre Liebe
kam ich in dieſen Wohlſtand; wir zogen hieher,
und unſre Verbindung hat uns bis jetzt noch keinen
Augenblick gereut. —
[185]Der blonde Eckbert.
Aber uͤber unſer Schwatzen, fing Bertha wie-
der an, iſt es ſchon tief in die Nacht geworden, —
wir wollen uns ſchlafen legen.
Sie ſtand auf und ging nach ihrer Kammer.
Walther wuͤnſchte ihr mit einem Handkuſſe eine
gute Nacht, und ſagte: Edle Frau, ich danke Euch,
ich kann mir Euch recht vorſtellen, mit dem ſelt-
ſamen Vogel, und wie Ihr den kleinen Stroh-
mian fuͤttert.
Auch Walther legte ſich ſchlafen, nur Eckbert
ging noch unruhig im Saale auf und ab. — Iſt
der Menſch nicht ein Thor? fing er endlich an; ich
bin erſt die Veranlaſſung, daß meine Frau ihre
Geſchichte erzaͤhlt, und jetzt gereut mich dieſe Ver-
traulichkeit! — Wird er ſie nicht mißbrauchen?
Wird er ſie nicht andern mittheilen? Wird er nicht
vielleicht, denn das iſt die Natur des Menſchen,
eine unſelige Habſucht nach unſern Edelgeſteinen
empfinden, und deswegen Plane anlegen und ſich
verſtellen?
Es fiel ihm ein, daß Walther nicht ſo herzlich
von ihm Abſchied genommen hatte, als es nach
einer ſolchen Vertraulichkeit wohl natuͤrlich geweſen
waͤre. Wenn die Seele erſt einmal zum Argwohn
geſpannt iſt, ſo trift ſie auch in allen Kleinigkeiten
Beſtaͤtigungen an. Dann warf ſich Eckbert wieder
ſein unedles Mißtrauen gegen ſeinen wackern Freund
vor, und konnte doch nicht davon zuruͤck kehren.
Er ſchlug ſich die ganze Nacht mit dieſen Vor-
ſtellungen herum, und ſchlief nur wenig.
Bertha war krank und konnte nicht zum Fruͤh-
[186]Erſte Abtheilung.
ſtuͤck erſcheinen; Walther ſchien ſich nicht viel dar-
um zu kuͤmmern, und verließ auch den Ritter ziem-
lich gleichguͤltig. Eckbert konnte ſein Betragen nicht
begreifen; er beſuchte ſeine Gattin, ſie lag in einer
Fieberhitze und ſagte, die Erzaͤhlung in der Nacht
muͤſſe ſie auf dieſe Art geſpannt haben.
Seit dieſem Abend beſuchte Walther nur ſelten
die Burg ſeines Freundes, und wenn er auch kam,
ging er nach einigen unbedeutenden Worten wieder
weg. Eckbert ward durch dieſes Betragen im
aͤußerſten Grade gepeinigt; er ließ ſich zwar gegen
Bertha und Walther nichts davon merken, aber
jeder muſte doch ſeine innerliche Unruhe an ihm
gewahr werden.
Mit Berthas Krankheit ward es immer be-
denklicher; der Arzt ward aͤngſtlich, die Roͤthe von
ihren Wangen war verſchwunden, und ihre Augen
wurden immer gluͤhender. — An einem Morgen
ließ ſie ihren Mann an ihr Bette rufen, die Maͤgde
mußten ſich entfernen.
Lieber Mann, fing ſie an, ich muß dir etwas
entdecken, das mich faſt um meinen Verſtand ge-
bracht hat, das meine Geſundheit zerruͤttet, ſo
eine unbedeutende Kleinigkeit es auch an ſich ſchei-
nen moͤchte. — Du weißt, daß ich mich immer
nicht, ſo oft ich von meiner Kindheit ſprach, trotz
aller angewandten Muͤhe auf den Namen des klei-
nen Hundes beſinnen konnte, mit welchem ich ſo
lange umging; an jenem Abend ſagte Walther beim
Abſchiede ploͤtzlich zu mir: ich kann mir euch recht
vorſtellen, wie Ihr den kleinen Strohmian fuͤt-
[187]Der blonde Eckbert.
tert. Iſt das Zufall? Hat er den Namen erra-
then, weiß er ihn und hat er ihn mit Vorſatz ge-
nannt? Und wie haͤngt dieſer Menſch dann mit
meinem Schickſale zuſammen? Zuweilen kaͤmpfe
ich mit mir, als ob ich mir dieſe Seltſamkeit nur
einbilde, aber es iſt gewiß, nur zu gewiß. Ein
gewaltiges Entſetzen befiel mich, als mir ein frem-
der Menſch, ſo zu meinen Erinnerungen half.
Was ſagſt du, Eckbert?
Eckbert ſah ſeine leidende Gattinn mit einem
tiefen Gefuͤhle an, er ſchwieg und dachte bei ſich
nach, dann ſagte er ihr einige troͤſtende Worte und
verließ ſie. In einem abgelegenen Gemache ging
er in unbeſchreiblicher Unruhe auf und ab. Wal-
ther war ſeit vielen Jahren ſein einziger Umgang
geweſen, und doch war dieſer Menſch jetzt der ein-
zige in der Welt, deſſen Daſeyn ihn druͤckte und
peinigte. Es ſchien ihm, als wuͤrde ihm froh und
leicht ſein, wenn nur dieſes einzige Weſen aus
ſeinem Wege geruͤckt werden koͤnnte. Er nahm
ſeine Armbruſt, um ſich zu zerſtreuen und auf die
Jagd zu gehn.
Es war ein rauher ſtuͤrmiſcher Wintertag, tie-
fer Schnee lag auf den Bergen und bog die Zweige
der Baͤume nieder. Er ſtreifte umher, der Schweiß
ſtand ihm auf der Stirne, er traf auf kein Wild,
und das vermehrte ſeinen Unmuth. Ploͤtzlich ſah
er ſich etwas in der Ferne bewegen, es war Wal-
ther, der Moos von den Baͤumen ſammelte; ohne
zu wiſſen was er that legte er an, Walther ſah
ſich um, und drohte mit einer ſtummen Gebehrde,
[188]Erſte Abtheilung.
aber indem flog der Bolzen ab, und Walther ſtuͤrzte
nieder.
Eckbert fuͤhlte ſich leicht und beruhigt, und
doch trieb ihn ein Schauder nach ſeiner Burg zu-
ruͤck; er hatte einen großen Weg zu machen, denn
er war weit hinein in die Waͤlder verirrt. — Als
er ankam, war Bertha ſchon geſtorben; ſie hatte
vor ihrem Tode noch viel von Walther und der
Alten geſprochen.
Eckbert lebte nun eine lange Zeit in der groͤß-
ten Einſamkeit; er war ſchon ſonſt immer ſchwer-
muͤthig geweſen, weil ihn die ſeltſame Geſchichte
ſeiner Gattin beunruhigte, und er irgend einen
ungluͤcklichen Vorfall, der ſich ereignen koͤnnte,
befuͤrchtete: aber jetzt war er ganz mit ſich zerfal-
len. Die Ermordung ſeines Freundes ſtand ihm
unaufhoͤrlich vor Augen, er lebte unter ewigen
innern Vorwuͤrfen.
Um ſich zu zerſtreuen, begab er ſich zuweilen
nach der naͤchſten großen Stadt, wo er Geſellſchaf-
ten und Feſte beſuchte. Er wuͤnſchte durch irgend
einen Freund die Leere in ſeiner Seele auszufuͤl-
len, und wenn er dann wieder an Walther zuruͤck
dachte, ſo erſchrack er vor dem Gedanken, einen
Freund zu finden, denn er war uͤberzeugt, daß er
nur ungluͤcklich mit jedweden Freunde ſein koͤnne.
Er hatte ſo lange mit Bertha in einer ſchoͤnen
Ruhe gelebt, die Freundſchaft Walthers hatte ihn
ſo manches Jahr hindurch begluͤckt, und jetzt waren
beide ſo ploͤtzlich dahin gerafft, daß ihm ſein Leben
[189]Der blonde Eckbert.
in manchen Augenblicken mehr wie ein ſeltſames
Maͤhrchen, als wie ein wirklicher Lebenslauf erſchien.
Ein junger Ritter, Hugo, ſchloß ſich an den
ſtillen betruͤbten Eckbert, und ſchien eine wahrhafte
Zuneigung gegen ihn zu empfinden. Eckbert fand
ſich auf eine wunderbare Art uͤberraſcht, er kam
der Freundſchaft des Ritters um ſo ſchneller ent-
gegen, je weniger er ſie vermuthet hatte. Beide
waren nun haͤufig beiſammen, der Fremde erzeigte
Eckbert alle moͤglichen Gefaͤlligkeiten, einer ritt faſt
nicht mehr ohne den andern aus, in allen Geſell-
ſchaften trafen ſie ſich, kurz, ſie ſchienen unzer-
trennlich.
Eckbert war immer nur auf kurze Augenblicke
froh, denn er fuͤhlte es deutlich, daß ihn Hugo
nur aus einem Irrthume liebe; jener kannte ihn
nicht, wußte ſeine Geſchichte nicht, und er fuͤhlte
wieder denſelben Drang, ſich ihm ganz mitzuthei-
len, damit er verſichert ſeyn koͤnne, ob jener auch
wahrhaft ſein Freund ſey. Dann hielten ihn wie-
der Bedenklichkeiten und die Furcht verabſcheut
zu werden, zuruͤck. In manchen Stunden war er
ſo ſehr von ſeiner Nichtswuͤrdigkeit uͤberzeugt, daß
er glaubte, kein Menſch koͤnne ihn ſeiner Achtung
wuͤrdigen, fuͤr den er nicht ein voͤlliger Fremdling
ſey. Aber dennoch konnte er ſich nicht widerſtehn;
auf einem einſamen Spazierritte entdeckte er ſei-
nem Freunde ſeine ganze Geſchichte, und fragte
ihn dann, ob er wohl einen Moͤrder lieben koͤnne.
Hugo war geruͤhrt, und ſuchte ihn zu troͤſten; Eck-
bert folgte ihm mit leichterm Herzen zur Stadt.
[190]Erſte Abtheilung.
Es ſchien aber ſeine Verdamniß zu ſeyn, gerade
in der Stunde des Vertrauens Argwohn zu ſchoͤ-
pfen, denn kaum waren ſie in den Saal getreten,
als ihm beim Schein der vielen Lichter die Mienen
ſeines Freundes nicht gefielen. Er glaubte ein haͤmi-
ſches Laͤcheln zu bemerken, es fiel ihm auf, daß er
nur wenig mit ihm ſpreche, daß er mit den An-
weſenden viel rede, und ſeiner gar nicht zu achten
ſcheine. Ein alter Ritter war in der Geſellſchaft,
der ſich immer als den Gegner Eckberts gezeigt,
und ſich oft nach ſeinem Reichthum und ſeiner Frau
auf eine eigne Weiſe erkundigt hatte; zu dieſem
geſellte ſich Hugo, und beide ſprachen eine Zeitlang
heimlich, in dem ſie nach Eckbert hindeuteten. Die-
ſer ſah jetzt ſeinen Argwohn beſtaͤtigt, er glaubte
ſich verrathen, und eine ſchreckliche Wuth bemei-
ſterte ſich ſeiner. Indem er noch immer hinſtarrte,
ſah er ploͤtzlich Walthers Geſicht, alle ſeine Mi-
nen, die ganze, ihm ſo wohl bekannte Geſtalt, er
ſah noch immer hin und ward uͤberzeugt, daß Nie-
mand als Walther mit dem Alten ſpreche. —
Sein Entſetzen war unbeſchreiblich; außer ſich ſtuͤrzte
er hinaus, verließ noch in der Nacht die Stadt,
und kehrte nach vielen Irrwegen auf ſeine Burg
zuruͤck.
Wie ein unruhiger Geiſt eilte er jetzt von Ge-
mach zu Gemach, kein Gedanke hielt ihm Stand,
er verfiel von entſetzlichen Vorſtellungen auf noch
entſetzlichere, und kein Schlaf kam in ſeine Augen,
Oft dachte er, daß er wahnſinnig ſey, und ſich nur
ſelber durch ſeine Einbildung alles erſchaffe; dann
[191]Der blonde Eckbert.
erinnerte er ſich wieder der Zuͤge Walthers, und
alles ward ihm immer mehr ein Raͤthſel. Er
beſchloß eine Reiſe zu machen, um ſeine Vorſtel-
lungen wieder zu ordnen; den Gedanken an Freund-
ſchaft, den Wunſch nach Umgang hatte er nun auf
ewig aufgegeben.
Er zog fort, ohne ſich einen beſtimmten Weg
vorzuſetzen, ja er betrachtete die Gegenden nur
wenig, die vor ihm lagen. Als er im ſtaͤrkſten
Trabe ſeines Pferdes einige Tage ſo fort geeilt
war, ſah er ſich ploͤtzlich in einem Gewinde von
Felſen verirrt, in denen ſich nirgend ein Ausweg
entdecken ließ. Endlich traf er auf einen alten
Bauer, der ihm einen Pfad, einem Waſſerfall vor-
uͤber, zeigte: er wollte ihm zur Dankſagung einige
Muͤnzen geben, der Bauer aber ſchlug ſie aus. —
Was gilts, ſagte Eckbert zu ſich ſelber, ich koͤnnte
mir wieder einbilden, daß dies Niemand anders
als Walther ſei? — Und indem ſah er ſich noch
einmal um, und es war Niemand anders als Wal-
ther. — Eckbert ſpornte ſein Roß ſo ſchnell es
nur laufen konnte, durch Wieſen und Waͤlder, bis
es erſchoͤpft unter ihm zuſammen ſtuͤrzte. — Unbe-
kuͤmmert daruͤber ſetzte er nun ſeine Reiſe zu Fuß
fort.
Er ſtieg traͤumend einen Huͤgel hinan; es war,
als wenn er ein nahes munteres Bellen vernahm,
Birken ſaͤuſelten dazwiſchen, und er hoͤrte mit wun-
derlichen Toͤnen ein Lied ſingen:
[192]Erſte Abtheilung.
Jetzt war es um das Bewußtſeyn, um die
Sinne Eckberts geſchehn; er konnte ſich nicht aus
dem Raͤthſel heraus finden, ob er jetzt traͤume,
oder ehemals von einem Weibe Bertha getraͤumt
habe; das Wunderbarſte vermiſchte ſich mit dem
Gewoͤhnlichſten, die Welt um ihn her war verzau-
bert, und er keines Gedankens, keiner Erinnerung
maͤchtig.
Eine krummgebuͤckte Alte ſchlich huſtend mit einer
Kruͤcke den Huͤgel heran. Bringſt du mir meinen
Vogel? Meine Perlen? Meinen Hund? ſchrie ſie
ihm entgegen. Siehe, das Unrecht beſtraft ſich
ſelbſt: Niemand als ich war dein Freund Walther,
dein Hugo. —
Gott im Himmel! ſagte Eckbert ſtille vor ſich
hin, — in welcher entſetzlichen Einſamkeit hab' ich
dann mein Leben hingebracht! —
Und Bertha war deine Schweſter.
Eckbert fiel zu Boden.
Warum verließ ſie mich tuͤckiſch? Sonſt haͤtte
ſich alles gut und ſchoͤn geendet, ihre Probezeit
war ja ſchon voruͤber. Sie war die Tochter eines
Ritters, die er bei einem Hirten erziehn ließ, die
Tochter deines Vaters.
Warum hab' ich dieſen ſchrecklichen Gedanken
immer geahndet? rief Eckbert aus.
Weil du in fruͤher Jugend deinen Vater einſt
davon
[193]Der blonde Eckbert.
davon erzaͤhlen hoͤrteſt; er durfte ſeiner Frau
wegen dieſe Tochter nicht bei ſich erziehn laſſen,
denn ſie war von einem andern Weibe. —
Eckbert lag wahnſinnig und verſcheidend auf
dem Boden; dumpf und verworren hoͤrte er die
Alte ſprechen, den Hund bellen, und den Vogel
ſein Lied wiederholen.
Nach einer Pauſe ſagte Clara: Sie ſehn,
lieber Anton, daß uns alle jenen Thraͤnen eines
heimlichen Grauens in den Augen ſtehen, und
ich denke, Sie haben großentheils das Verſpre-
chen Ihres Phantaſus erfuͤllt. Aber erlauben
Sie mir zu fragen: iſt dieſe Erzaͤhlung Ihre
eigene Erfindung, oder eine nachgeahmte?
Ich darf ſie, antwortete Anton, wohl fuͤr
meine Erfindung ausgeben, da ich mich nicht
erinnere, eine aͤhnliche Geſchichte anderswo ge-
leſen zu haben, auch denke ich, iſt es in der
Aufgabe begriffen geweſen, daß nur ſelbſt erſon-
nene Maͤhrchen vorgetragen werden ſollen, we-
nigſtens habe ich es ſo verſtanden, und ich hoffe,
daß auch alle meine Freunde meinem Beiſpiele
heute folgen werden.
Verſprich dies nicht ſo im Allgemeinen,
wandte Friedrich ein.
Wollte man freilich, fuhr Anton fort, ge-
nau erzaͤhlen, aus welchen Erinnerungen der
I. [ 13 ]
[194]Erſte Abtheilung.
Kindheit, aus welchen Bildern, die man im
Leſen, oder oft aus ganz unbedeutenden muͤnd-
lichen Erzaͤhlungen aufgreift, dergleichen ſoge-
nannte Erfindungen zuſammengeſetzt werden, ſo
koͤnnte man daraus wieder eine Art von ſeltſa-
mer, maͤhrchenartiger Geſchichte bilden.
Es iſt aͤngſtlich, ſagte Ernſt, dergleichen
Kleinigkeiten zu gruͤndlich zu nehmen. Ich er-
innere mich mancher Geſellſchaft, in der ſpitz-
und ſalzloſe Anekdoten ſchlecht vorgetragen wur-
den, die man nachher eben ſo unwitzig kritiſirte,
mit Schrecken, und wenn auch etwas aͤhnliches
hier nicht zu beſorgen ſteht, ſo wuͤnſchte ich doch
wohl, daß unſre ſchoͤnen Richterinnen ſich nicht
zu eifrig um den Grund und Boden bekuͤmmern
moͤchten, auf welchen unſre Poeſien gewachſen
ſind; ein weſenloſer Traum buͤßt durch geringe
Stoͤrung zu leicht ſeine ganze Wirkung ein.
Daß ich fragte, antwortete Clara, geſchah
nicht aus kritiſchem Intereſſe, ſondern weil ich,
was vielleicht Schwaͤche ſein mag, auf die ur-
ſpruͤngliche Erfindung einer Dichtung ſehr viel
halte, denn die Kraft des Erfindens ſcheint mir,
mit aller Ehrfurcht von der uͤbrigen Kunſt ge-
ſprochen, etwas ſo eigenthuͤmliches, daß ich mich
fuͤr denjenigen Dichter beſonders intereſſire, wel-
cher nicht nachahmt, ſondern zum erſtenmal ein
Ding vortraͤgt, welches unſre Imagination er-
greift. Beim dramatiſchen Dichter, wenn er es
wahrhaft iſt, tritt wohl eine andere Erfindungs-
kunſt ein, als beim erzaͤhlenden, denn freilich
[195]Erſte Abtheilung.
moͤchte ich lieber eine Scene in „Wie es Euch
gefaͤllt“ geſchrieben haben, als die Novelle er-
funden, aus welcher dies Luſtſpiel entſprungen
iſt. Der Erzaͤhler kann ſeinen Gegenſtand, wenn
dieſer intereſſant iſt, ſchmuͤcken und erheben, ſei-
nen Geſchmack und ſeine Kunſt in der Umbil-
dung beweiſen, ich frage aber immer gern: wer
hat dieſe Sache zuerſt erſonnen, falls ſie ſich
nicht wirklich zugetragen hat?
Ich gebe Ihnen gern Recht, ſagte Ernſt,
und um ſo lieber, weil ich Ihnen mit meinem
Gedichte dann etwas dreiſter nahen darf, weil
ich es wenigſtens fuͤr eigene Erfindung ausge-
ben kann. In ſofern freilich nicht, als die
Vorſtellung vom verzauberten Berge der Venus
im Mittelalter allgemein verbreitet war, aber
das Gedicht vom Tannenhaͤuſer hatte ich, da-
mals ſo wie jetzt, noch nicht geleſen, eben ſo
wenig kannte ich damals die Niebelungen, ſon-
dern nur das Heldenbuch, in deſſen Vorrede ein
getreuer Eckart erwaͤhnt wird, der die jungen
Harlungen beſchuͤtzt, und der nachher beim Hans
Sachs und andern Dichtern oftmals ſprichwoͤrt-
lich vorkoͤmmt, und immer vor dem Berge der
Venus Wache haͤlt. Aus dieſen allgemeinen,
unbeſtimmten Vorſtellungen in welche ich noch
die Sage von dem beruͤchtigten Rattenfaͤnger von
Hameln aufgenommen und verkleidet habe, iſt
folgendes Gedicht entſtanden.
[196]Erſte Abtheilung.
Der getreue Eckart
und
der Tannenhaͤuſer.
In zwei Abſchnitten.
Erſter Abſchnitt.
[197]Der getreue Eckart.
[198]Erſte Abtheilung.
Die Stimme eines alten Landmannes klang
uͤber die Felſen heruͤber, der dieſes Lied ſang, und
der getreue Eckart ſaß in ſeinem Unmuthe auf
dem Berghang und weinte laut. Sein juͤngſtes
Soͤhnlein ſtand neben ihm und fragte: Warum
weinſt du alſo laut, mein Vater Eckart? Wie biſt
du doch ſo groß und ſtark, hoͤher und kraͤftiger,
[199]Der getreue Eckart.
als alle uͤbrige Maͤnner, vor wem darfſt du dich
denn fuͤrchten?
Indem zog die Jagd des Herzoges heim nach
Hauſe. Burgund ſaß auf einem ſtattlichen, ſchoͤn
geſchmuͤckten Roſſe, und Gold und Geſchmeide des
fuͤrſtlichen Herzogs flimmerte und blinkte in der
Abendſonne, ſo daß der junge Conrad den herrli-
chen Aufzug nicht genug ſehn, nicht genug preiſen
konnte. Der getreue Eckart erhob ſich und ſchaute
finſter hinuͤber, und der junge Conrad ſang, nach-
dem er die Jagd aus dem Geſichte verloren hatte:
Der Alte nahm den Sohn und herzte ihn,
wobei er geruͤhrt ſeine großen hellblauen Augen
anſchaute. Haſt du das Lied jenes guten Mannes
gehoͤrt? fragte er ihn dann.
Wie nicht? ſprach der Sohn, hat er es doch
laut genug geſungen, und biſt du ja doch der getreue
Eckart, ſo daß ich gern zuhoͤrte.
Derſelbe Herzog iſt jetzt mein Feind, ſprach
der alte Vater; er haͤlt mir meinen zweiten Sohn
gefangen, ja hat ihn ſchon hingerichtet, wenn ich
dem trauen darf, was die Leute im Lande ſagen.
[200]Erſte Abtheilung.
Nimm dein großes Schwerdt und duld' es
nicht, ſagte der Sohn, ſie muͤſſen ja alle vor Dir
zittern, und alle Leute im ganzen Lande werden
dir beiſtehn, denn du biſt ihr groͤßter Held im
Lande.
Nicht alſo, mein Sohn, ſprach jener, dann
waͤre ich der, fuͤr den mich meine Feinde ausgeben,
ich darf nicht an meinem Landesherren ungetreu
werden; nein, ich darf nicht den Frieden brechen,
den ich ihm angelobt und in ſeine Haͤnde ver-
ſprochen.
Aber was will er von uns? fragte Conrad
ungeduldig.
Der Eckart ſetzte ſich wieder nieder und ſagte:
mein Sohn, die ganze Erzaͤhlung davon wuͤrde zu
umſtaͤndlich lauten, und du wuͤrdeſt es dennoch
kaum verſtehn. Der Maͤchtige hat immer ſeinen
groͤßten Feind in ſeinem eigenen Herzen, den er
ſo Tag wie Nacht fuͤrchtet: ſo meint der Burgund
nunmehr, er habe mir zu viel getraut, und in mir
eine Schlange an ſeinem Buſen auferzogen. Sie
nennen mich im Land den kuͤhnſten Degen, ſie
ſagen laut, daß er mir Reich und Leben zu dan-
ken, ich heiße der getreue Eckart, und ſo wenden
ſich Bedraͤngte und Nothleidende zu mir, daß ich
ihnen Huͤlfe ſchaffe; das kann er nicht leiden. So
hat er Groll auf mich geworfen, und jeder, der
bei ihm gelten moͤchte, vermehrt ſein Mißtrauen
zu mir: ſo hat ſich endlich ſein Herz von mir abge-
wendet.
Hierauf erzaͤhlte ihm der Helb Eckart mit
[201]Der getreue Eckart.
ſchlichten Worten, daß ihn der Herzog von ſeinem
Angeſichte verbannt habe, und daß ſie ſich ganz
fremd geworden ſeyen, weil jener geargwohnt, er
wolle ihm gar ſein Herzogthum entreißen. In
Betruͤbniß fuhr er fort, wie der Herzog ihm ſei-
nen Sohn gefangen genommen, und ihm ſelber,
als einem Verraͤther, nach dem Leben ſtehe. Con-
rad ſprach zu ſeinem Vater: ſo laß mich nun hin-
gehn, mein alter Vater, und mit dem Herzoge
reden, damit er verſtaͤndig und dir gewogen werde;
hat er meinen Bruder erwuͤrgt, ſo iſt er ein boͤſer
Mann, und du ſollſt ihn ſtrafen, doch kann es
nicht ſein, weil er nicht ſo ſchnoͤde deiner großen
Dienſte vergeſſen kann.
Weißt du nicht den alten Spruch, ſagte Eckart:
Ja, mein ganzes Leben iſt unnuͤtz verſchwen-
det: warum machte er mich groß, um mich dann
deſto tiefer hinab zu werfen? Die Freundſchaft der
Fuͤrſten iſt wie ein toͤdtendes Gift, das man nur
gegen Feinde nuͤtzen kann, und womit ſich der Eig-
ner aus [...]nbedacht endlich ſelbſt erwuͤrgt.
Ich will zum Herzoge hin, rief Conrad aus,
ich will ihm alles, was du gethan, was du fuͤr
ihn gelitten, in die Seele zuruͤck rufen, und er
wird wieder ſeyn, wie ehemals.
Du haſt vergeſſen, ſagte Eckart, daß man uns
fuͤr Verraͤther ausgerufen hat, darum laß uns mit
[202]Erſte Abtheilung.
einander fluͤchten, in ein fremdes Land, wo wir
wohl ein beſſeres Gluͤck antreffen moͤgen.
In deinem Alter, ſagte Conrad, willſt du dei-
ner lieben Heimath noch den Ruͤcken wenden?
Nein, laß uns lieber alles andere verſuchen. Ich
will zum Burgunder, ihn verſoͤhnen und zufrieden
ſtellen; denn was kann er mir thun wollen, wenn
er dich auch haßt und fuͤrchtet?
Ich laſſe dich ſehr ungern, ſagte Eckart, denn
meine Seele weiſſagt mir nichts Gutes, und doch
moͤcht' ich gern mit ihm verſoͤhnt ſeyn, denn er iſt
mein alter Freund, auch deinen Bruder erretten,
der in gefaͤnglicher Haft bei ihm ſchmachtet.
Die Sonne warf ihre letzten milden Strah-
len auf die gruͤne Erde, und Eckart ſetzte ſich nach-
denkend nieder, an einem Baumſtamm gelehnt, er
beſchaute den Conrad lange Zeit und ſagte dann:
wenn du gehen willſt, mein Sohn, ſo gehe jetzt,
bevor die Nacht vollends herein bricht; die Fenſter
in der herzoglichen Burg glaͤnzen ſchon von Lich-
tern, ich vernehme aus der Ferne Trompetentoͤne
vom Feſte, vielleicht iſt die Gemahlin ſeines Soh-
nes ſchon angelangt und ſein Gemuͤth freundlicher
gegen uns.
Ungern ließ er den Sohn von ſich, weil er
ſeinem Gluͤcke nicht mehr traute; der junge Con-
rad aber war um ſo muthiger, weil es ihm ein
leichtes duͤnkte, das Gemuͤth des Herzoges umzu-
wenden, der noch vor weniger Zeit ſo freundlich
mit ihm geſpielt hatte. Kommſt du mir gewiß
zuruͤck, mein liebſtes Kind? klagte der Alte; wenn
[203]Der getreue Eckart.
du mir verloren gehſt, iſt keiner mehr von mei-
nem Stamme uͤbrig. Der Knabe troͤſtete ihn, und
ſchmeichelte mit Liebkoſungen dem Greiſe; ſie trenn-
ten ſich endlich.
Conrad klopfte an die Pforte der Burg und
ward eingelaſſen, der alte Eckart blieb draußen in
der Nacht allein. Auch dieſen habe ich verloren,
klagte er in der Einſamkeit, ich werde ſein Ange-
ſicht nicht wieder ſehn. Indem er ſo jammerte,
wankte an einem Stabe ein Greis daher, der die
Felſen hinab ſteigen wollte, und bei jedem Schritte
zu fuͤrchten ſchien, daß er in den Abgrund ſtuͤrzen
moͤchte. Wie Eckart die Gebrechlichkeit des Alten
wahrnahm, reichte er ihm die Hand, daß er ſicher
herunter ſteigen moͤchte. Woher des Weges? fragte
ihn Eckart.
Der Alte ſetzte ſich nieder und fing an zu wei-
nen, daß ihm die hellen Thraͤnen die Wangen hin-
unter liefen. Eckart wollte ihn mit gelinden und
vernuͤnftigen Worten troͤſten, aber der ſehr bekuͤm-
merte Greis ſchien auf ſeine wohlgemeinten Reden
nicht zu achten, ſondern ſich ſeinen Schmerzen noch
ungemaͤßigter zu ergeben. Welcher Gram kann euch
denn ſo gar ſehr niederbeugen, fragte er endlich,
daß Ihr gaͤnzlich davon uͤberwaͤltigt ſeid?
Ach meine Kinder! klagte der Alte. Da dachte
Eckart an Conrad, Heinz und Dietrich, und war
ſelbſt alles Troſtes verluſtig; ja, wenn eure Kin-
der geſtorben ſind, ſprach er, dann iſt euer Elend
wahrlich ſehr groß.
Schlimmer als geſtorben, verſetzte hierauf der
[204]Erſte Abtheilung.
Alte, mit ſeiner jammernden Stimme, denn ſie ſind
nicht todt, aber ewig fuͤr mich verloren. O wollte
der Himmel, daß ſie nur geſtorben waͤren!
Der Held erſchrack uͤber dieſe ſeltſamen Worte,
und bat den Greis, ihm dieſes Raͤthſel aufzuloͤ-
ſen, worauf jener ſagte: Wir leben wahrlich in
einer wunderbarlichen Zeit, die wohl die letzten
Tage bald herbei fuͤhren wird, denn die erſchreck-
lichſten Zeichen fallen draͤuend in die Weit herein.
Alles Unheil macht ſich von den alten Ketten los,
und ſtreift nun frank und frei herum; die Furcht
Gottes verſiegt und verrinnt, und findet kein
Strombett, in das ſie ſich ſammeln moͤchte, und
die boͤſen Kraͤfte ſtehn kecklich in ihren Winkeln
auf, und feyern ihren Triumph. O mein lieber
Herr, wir ſind alt geworden, aber fuͤr dergleichen
Wundergeſchichten noch nicht alt genug. Ihr wer-
det ohne Zweifel den Cometen geſehen haben, die-
ſes wunderbare Himmelslicht, das ſo prophetiſch
hernieder ſcheint; alle Weit weiſſagt Uebles, und
keiner denkt daran, mit ſich ſelbſt die Beſſerung
anzuſahn und ſo die Ruthe abzuwenden. Dies iſt
nicht genug, ſondern aus der Erde thun ſich Wun-
derwerke hervor und brechen geheimnißvoll von un-
ten herauf, wie das Licht ſchrecklich von oben her-
niederſcheint. Habt Ihr niemals von dem Berge
gehoͤrt, den die Leute nur den Berg der Venus
nennen?
Niemalen, ſagte Eckart, ſo weit ich auch her-
um gekommen bin.
Daruͤber muß ich mich verwundern, ſagte der
[205]Der getreue Eckart.
Alte, denn die Sache iſt jetzt eben ſo bekannt, als
ſie wahrhaftig iſt. In dieſen Berg haben ſich die
Teufel hinein gefluͤchtet und ſich in den wuͤſten
Mittelpunkt der Erde gerettet, als das aufwach-
ſende heilige Chriſtenthum den heidniſchen Goͤtzen-
dienſt ſtuͤrzte. Hier, ſagt man nun, ſolle vor
allen Frau Venus Hof halten, und alle ihre hoͤl-
liſchen Heerſcharen der weltlichen Luͤſte und ver-
botenen Wuͤnſche um ſich verſammeln, ſo daß das
Gebirge auch verflucht ſeit undenklichen Zeiten ge-
legen hat.
Doch nach welcher Gegend liegt der Berg?
fragte Eckart.
Das iſt das Geheimniß, ſprach der Alte, daß
dieſes Niemand zu ſagen weiß, als der ſich ſchon
dem Satan zu eigen gegeben, es faͤllt auch keinem
Unſchuldigen ein, ihn aufſuchen zu wollen. Ein
Spielmann von wunderſeltner Art iſt ploͤtzlich von
unten hervor gekommen, den die Hoͤlliſchen als
ihren Abgeſandten ausgeſchickt haben, dieſer durch-
zieht die Welt, und ſpielt und muſizirt auf einer
Pfeifen, daß die Toͤne weit in den Gegenden wie-
der klingen. Wer nun dieſe Klaͤnge vernimmt, der
wird von ihnen mit offenbarer, doch unerklaͤrlicher
Gewalt erfaßt, und fort, fort in die Wildniß ge-
trieben, er ſieht den Weg nicht, den er geht, er
wandert und wandert und wird nicht muͤde, ſeine
Kraͤfte nehmen zu wie ſeine Eile, keine Macht
kann ihn aufhalten, ſo rennt er raſend in den Berg
hinein, und findet ewig niemals den Ruͤckweg wie-
der. Dieſe Macht iſt der Hoͤlle jetzt zuruͤck gege-
[206]Erſte Abtheilung.
ben, und von entgegeneſetzter Richtung wandeln
nun die ungluͤckſeligen verkehrten Pilgrimme hin,
wo keine Rettung zu erwarten ſteht. Ich hatte
an meinen beiden Soͤhnen ſchon ſeit lange keine
Freude mehr erlebt, ſie waren wuͤſt und ohne Sit-
ten, ſie verachteten ſo Eltern wie Religion; nun
hat ſie der Klang ergriffen und angefaßt, ſie ſind
davon und in die Weite, die Welt iſt ihnen zu
enge, und ſie ſuchen in der Hoͤlle Raum.
Und was denkt Ihr bei dieſen Dingen zu
thun? fragte Eckart.
Mit dieſer Kruͤcke habe ich mich aufgemacht,
antwortete der Alte, um die Welt zu durchſtreifen,
ſie wieder zu finden, oder vor Muͤdigkeit und Gram
zu ſterben.
Mit dieſen Worten riß er ſich mit großer An-
ſtrengung aus ſeiner Ruhe auf, und eilte fort ſo
ſchnell er nur konnte, als wenn er ſein Liebſtes
auf der Welt verſaͤumen moͤchte, und Eckart ſah
mit Bedauern ſeiner unnuͤtzen Bemuͤhung nach, und
achtete ihn in ſeinen Gedanken fuͤr wahnwitzig. —
Es war Nacht geworden und wurde Tag, und
Conrad kam nicht zuruͤck, da irrte Eckart durch
das Gebirge und wandte ſeine ſehnenden Augen
nach dem Schloſſe, aber er erſah ihn nicht. Ein
Getuͤmmel zog aus der Burg daher, da trachtete
er nicht mehr, ſich zu verbergen, ſondern er be-
ſtieg ſein Roß, das frei weidete, und ritt in die
Schaar hinein, die froͤlich und guter Dinge uͤber
das Blachfeld zog. Als er unter ihnen war, er-
[207]Der getreue Eckart.
kannten ſie ihn, aber keiner wagte Hand an ihn
zu legen, oder ihm ein hartes Wort zu ſagen, ſon-
dern ſie wurden aus Ehrerbietung ſtumm, umga-
ben ihn in Verwunderung, und gingen dann ihres
Weges. Einen von den Knechten rief er zuruͤck,
und fragte ihn: Wo iſt mein Sohn Conrad? O
fragt mich nicht, ſagte der Knecht, denn es wuͤrde
euch doch nur Jammer und Wehklagen erregen.
Und Dietrich? rief der Vater. Nennt ihre Na-
men nicht mehr, ſprach der alte Knecht, denn ſie
ſind dahin, der Zorn des Herrn war gegen ſie ent-
brannt, er gedachte Euch in ihnen zu ſtrafen.
Ein heißer Zorn ſtieg in Eckarts Gemuͤth auf,
und er war vor Schmerz und Wuth ſein ſelber
nicht mehr maͤchtig. Er ſpornte ſein Roß mit al-
ler Gewalt und ritt in das Burgthor hinein. Alle
traten ihm mit ſcheuer Ehrfurcht aus dem Wege,
und ſo ritt er vor den Pallaſt. Er ſchwang ſich
vom Roſſe und ging mit wankenden Schritten die
großen Stiegen hinan. Bin ich hier in der Woh-
nung des Mannes, ſagte er zu ſich ſelber, der ſonſt
mein Freund war? Er wollte ſeine Gedanken ſam-
meln, aber immer wildere Geſtalten bewegten ſich
vor ſeinen Augen, und ſo trat er in das Gemach
des Fuͤrſten.
Der Herzog von Burgund war ſich ſeiner
nicht gewaͤrtig, und erſchrack heftig, als er den
Eckart vor ſich ſah. Biſt du der Herzog von Bur-
gund? redete dieſer ihn an. Worauf der Herzog
mit Ja antwortete. Und du haſt meinen Sohn
[208]Erſte Abtheilung.
Dietrichen hinrichten laſſen? Der Herzog ſagte
Ja. Und auch meinen juͤngſtes Soͤhnlein Conrad,
rief Eckart im Schmerz, iſt dir nicht zu gut ge-
weſen, und du haſt ihn auch umbringen laſſen?
Worauf der Herzog wieder mit Ja antwortete.
Hier ward Eckart uͤbermannt und ſprach in
Thraͤnen: O antworte mir nicht ſo, Burgund,
denn dieſe Reden kann ich nicht aushalten, ſprich
nur, daß es dich gereut, daß du es jetzt ungeſchehen
wuͤnſcheſt, und ich will mich zu troͤſten ſuchen;
aber ſo biſt du meinem Herzen uͤberall zuwider.
Der Herzog ſagte: entferne dich von meinem
Angeſichte, ungetreuer Verraͤther, denn du biſt mir
der aͤrgerlichſte Feind, den ich nur auf Erden ha-
ben kann.
Eckart ſagte: Du haſt mich wohl ehedem dei-
nen Freund genannt, aber dieſe Gedanken ſind
dir nunmehr fremd; nie hab' ich dir zuwider ge-
handelt, ſtets hab' ich dich als meinen Fuͤrſten
geehrt und geliebt, und behuͤte mich Gott, daß
ich nun, wie ich wohl koͤnnte, die Hand an mein
Schwerdt legen ſollte, um mir Rache zu ſchaffen.
Nein, ich will mich ſelbſt von deinem Angeſichte
verbannen, und in der Einſamkeit ſterben.
Mit dieſen Worten ging er fort, und der Bur-
gund war in ſeinem Gemuͤthe bewegt, doch erſchie-
nen auf ſeinen Ruf die Leibwaͤchter mit den Lan-
zen, die ihn von allen Seiten umgaben, und den
Eckart mit den Spießen aus dem Gemache treiben
wollten.
Es
[209]Der getreue Eckart.
I. [ 14 ]
[210]Erſte Abtheilung.
Niemand in der Gegend wußte, wohin ſich
der Eckart gewendet, denn er hatte ſich in die wuͤ-
ſten Waldungen hinein verirrt, und vor keinem
Menſchen ließ er ſich ſehen. Der Herzog fuͤrch-
tete ſeinen Sinn, und es gereute ihn nun, daß
er ihn von ſich gelaſſen, ohne ihn zu fangen. Da-
rum machte er ſich an einem Morgen auf, mit
einem großen Zuge von Jaͤgern und anderm Ge-
folge, um die Waͤlder zu durchſtreifen und den
Eckart aufzuſuchen, denn er meinte, daß deſſen
Tod nur ihn voͤllig ſicher ſtellte. Alle waren un-
ermuͤdet, und ließen ſich den Eifer nicht verdrießen,
aber die Sonne war ſchon untergegangen, ohne daß
ſie von Eckart eine Spur angetroffen haͤtten.
Ein Sturm brach herein, und große Wolken
flogen ſauſend uͤber dem Walde hin, der Donner
rollte, und Blitze fuhren in die hohen Eichen; von
einem ungeſtuͤmen Schrecken wurden alle angefaßt,
und einzeln in den Gebuͤſchen und auf den Fluren
zerſtreut. Das Roß des Herzogs rannte in das
Dickicht hinein, ſein Knappe vermochte nicht, ihm
zu folgen; das edle Roß ſtuͤrzte nieder, und der
Burgund rief im Gewitter vergeblich nach ſeinen
Dienern, denn es war keiner, der ihn hoͤren
mochte.
Wie ein wildes Thier war Eckart umher ge-
irrt, ohne von ſich, von ſeinem Ungluͤcke etwas
zu wiſſen, er hatte ſich ſelber verloren und in
dumpfer Betaͤubung ſeinen Hunger mit Kraͤutern
und Wurzeln geſaͤttigt; unkenntlich waͤre der Held
jetzt jedem ſeiner Freunde geweſen, ſo hatten ihn
[211]Der getreue Eckart.
die Tage ſeiner Verzweiflung entſtellt. Wie der
Sturm aufbrach, erwachte er aus ſeiner Betaͤu-
bung, er fand ſich in ſeinen Schmerzen wieder und
erkannte ſein Ungluͤck. Da erhub er ein lautes
Jammergeſchrei um ſeine Kinder, er raufte ſeine
weißen Haare und klagte im Brauſen des Stur-
mes: Wohin, wohin ſeid Ihr gekommen, ihr
Theile meines Herzens? Und wie iſt mir denn
ſo alle Macht genommen, daß ich euren Tod nicht
mindeſtens raͤchen darf? Warum hielt ich denn
meinen Arm zuruͤck, und gab nicht dem den Tod,
der meinem Herzen den toͤdtlichſten Stich zutheilte?
Ha, du verdienſt es, Wahnſinniger, daß der Ty-
rann dich verhoͤhnt, weil dein unmaͤchtiger Arm,
dein bloͤdes Herz nicht dem Moͤrder widerſtrebt!
Jetzt, jetzt ſollte er ſo vor mir ſtehn! Vergeblich
wuͤnſch' ich jetzt die Rache, da der Augenblick
voruͤber iſt.
So kam die Nacht herauf, und Eckart irrte
in ſeinem Jammer umher. Da hoͤrte er aus der
Ferne wie eine Stimme, die um Huͤlfe rief. Er
richtete ſeine Schritte nach dem Schalle, und traf
endlich in der Dunkelheit auf einen Mann, der
an einen Baumſtamm gelehnt, ihn wehmuͤthig
bat, ihm wieder auf die rechte Straße zu helfen.
Eckart erſchrack vor der Stimme, denn ſie ſchien
ihm bekannt, und bald ermannte er ſich und er-
kannte, daß der Verirrte der Herzog von Bur-
gunden ſey. Da erhub er ſeine Hand und wollte
ſein Schwerdt faſſen, um den Mann nieder zu
hauen, der der Moͤrder ſeiner Kinder war; es
[212]Erſte Abtheilung.
uͤberfiel ihn die Wuth mit neuen Kraͤften, und er
war des feſten Willens, jenem den Garaus zu ma-
chen, als er ploͤtzlich inne hielt, und ſeines Schwu-
res und des gegebenen Wortes gedachte. Er faßte
die Hand ſeines Feindes, und fuͤhrte ihn nach der
Gegend, wo er die Straße vermuthete.
[213]Der getreue Eckart.
So gingen ſie in Geſpraͤchen fort, als ihnen
im Walde eine andre Mannsgeſtalt begegnete, es
war Wolfram, der Knappe des Herzogs, der ſei-
[214]Erſte Abtheilung.
nen Herrn ſchon ſeit lange geſucht hatte. Die
dunkle Nacht lag noch uͤber ihnen, und kein Stern-
lein blickte zwiſchen den ſchwarzen Wolken hervor.
Der Herzog fuͤhlte ſich ſchwaͤcher, und wuͤnſchte
eine Herberge zu erreichen, in der er die Nacht
ſchlafen moͤchte, dabei zitterte er, auf den Eckart
zu treffen, der wie ein Geſpenſt vor ſeiner Seele
ſtand. Er glaubte nicht den Morgen zu erleben,
und ſchauderte von neuem zuſammen, wenn ſich
der Wind wieder in den hohen Baͤumen regte,
wenn der Sturm von unten herauf aus den Berg-
ſchluften kam und uͤber ihren Haͤuptern hinweg
ging. Beſteige, Wolfram, rief der Herzog in ſei-
ner Angſt, dieſe hohe Tanne, und ſchaue umher,
ob du kein Lichtlein, kein Haus, oder keine Huͤtte
erſpaͤhſt, zu der wir uns wenden moͤgen.
Der Knappe kletterte mit Gefahr ſeines Le-
bens zum hohen Tannenbaum hinauf, den der
Sturm von einer Seite zur andern warf, und je zu-
weilen faſt bis zur Erde den Wipfel beugte, ſo daß
der Knappe wie ein Eichkaͤtzlein oben ſchwankte.
Endlich hatte er den Gipfel erklommen und rief:
Im Thal da unten ſeh' ich den Schein eines Lich-
tes, dorthin muͤſſen wir uns wenden! Sogleich
ſtieg er ab und zeigte den beiden den Weg, und
nach einiger Zeit ſahen alle den erfreulichen Schein,
woruͤber der Herzog anfing, ſich wieder wohl zu
gehaben. Eckart blieb immer ſtumm und in ſich
gekehrt, er ſprach kein Wort und ſchaute ſeinen
innern Gedanken zu. Als ſie vor der Huͤtte ſtan-
den klopften ſie an, und ein altes Muͤtterlein oͤff-
[215]Der getreue Eckart.
nete ihnen die Thuͤr; ſo wie ſie hinein traten, ließ
der ſtarke Eckart den Herzog von ſeinen Schul-
tern nieder, der ſich alsbald auf ſeine Knie warf
und Gott in einem bruͤnſtigen Gebete fuͤr ſeine
Rettung dankte. Eckart ſetzte ſich in einen finſtern
Winkel nieder und traf dort den Greis ſchlafend,
der ihm unlaͤngſt ſein großes Ungluͤck mit ſeinen
Soͤhnen erzaͤhlt hatte, welche er aufzuſuchen ging.
Als der Herzog ſein Gebet vollendet, ſprach
er: Wunderbar iſt mir in dieſer Nacht zu Sinne
geworden, und die Guͤte Gottes wie ſeine Allmacht
haben ſich meinem verſtockten Herzen noch niemals
ſo nahe gezeigt; auch daß ich bald ſterbe, ſagt mir
mein Gemuͤth, und ich wuͤnſche nichts ſo ſehr, als
daß Gott mir vorher meine vielen und ſchweren
Suͤnden vergeben moͤge. Euch beide aber, die ihr
mich hieher gefuͤhrt habt, will ich vor meinem Ende
noch belohnen, ſo viel ich kann. Dir, meinem
Knappen, ſchenk' ich die beiden Schloͤſſer, die hier
auf den naͤchſten Bergen liegen, doch ſollſt du dich
kuͤnftig, zum Gedaͤchtniß dieſer grauenvollen Nacht,
den Tannenhaͤuſer nennen. Und wer biſt du, Mann,
fuhr er fort, der ſich dorten im Winkel gelagert
hat? Komm hervor, damit ich auch dir fuͤr deine
Muͤhe und Liebe lohnen moͤge.
[216]Erſte Abtheilung.
So verging die Nacht. Am andern Morgen
kamen andre Diener, die den kranken Herzog fan-
den. Sie legten ihn auf Maulthiere und fuͤhrten
ihn in ſein Schloß zuruͤck. Eckart durfte nicht von
ſeiner Seite kommen, oft aber nahm er ſeine Hand
und druͤckte ſie ſich gegen ſeine Bruſt, und ſah ihn
mit einem flehenden Blicke an. Eckart umarmte
ihn dann, und ſprach einige liebevolle Worte, mit
denen ſich der Fuͤrſt beruhigte. Er verſammelte
alle ſeine Raͤthe um ſich her, und ſagte ihnen, daß
[217]Der getreue Eckart.
er den Eckart, den getreuen Mann, zum Vormunde
uͤber ſeine Soͤhne ſetze, weil dieſer ſich als den
edelſten erwieſen. So ſtarb er.
Seitdem nahm ſich Eckart der Regierung mit
allem Fleiße an, und jedermann im Lande mußte
ſeinen hohen maͤnnlichen Muth bewundern. Es
waͤhrte nicht lange, ſo verbreitete ſich in allen Ge-
genden das wunderbare Geruͤcht von dem Spiel-
manne, der aus dem Venusberge gekommen, das
ganze Land durchziehe und mit ſeinen Toͤnen die
Menſchen entfuͤhre, welche verſchwaͤnden, ohne daß
man eine Spur von ihnen wieder finden koͤnne.
Viele glaubten dem Geruͤchte, andre nicht, und
Eckart gedachte des ungluͤcklichen Greiſes wieder.
Ich habe Euch zu meinen Soͤhnen angenom-
men, ſprach er zu den unmuͤndigen Juͤnglingen,
als er ſich einſt mit ihnen auf dem Berge vor dem
Schloſſe befand; Euer Gluͤck iſt jetzt meine Nach-
kommenſchaft, ich will in Eurer Freude nach mei-
nem Tode fortleben. Sie lagerten ſich auf dem
Abhange, von wo ſie weit in das ſchoͤne Land hin-
ein ſehn konnten, und Eckart unterdruͤckte das An-
denken an ſeine Kinder, denn ſie ſchienen ihm von
den Bergen heruͤber zu ſchreiten, indem er aus der
Ferne einen lieblichen Klang vernahm.
[218]Erſte Abtheilung.
[219]Der getreue Eckart.
[220]Erſte Abtheilung.
[221]Der getreue Eckart.
[222]Erſte Abtheilung.
Zweiter Abſchnitt.
Es waren mehr als vier Jahrhunderte ſeit dem
Tode des getreuen Eckart verfloſſen, als am Hofe
ein edler Tannenhaͤuſer als kaiſerlicher Rath im
großen Anſehen ſtand. Der Sohn dieſes Ritters
uͤbertraf an Schoͤnheit alle uͤbrigen Edlen des Lan-
des, weswegen er auch von jedermann geliebt und
hochgeſchaͤtzt wurde. Ploͤtzlich aber verſchwand er,
nachdem ſich einige wunderbare Dinge mit ihm
zugetragen hatten, und kein Menſch wußte zu
ſagen, wohin er gekommen ſey. Seit der Zeit des
getreuen Eckart gab es vom Venusberge eine Sage
im Lande, und manche ſprachen, daß er dorthin
gewandert und alſo auf ewig verloren ſey.
Einer von ſeinen Freunden, Friedrich von
Wolfsburg, haͤrmte ſich von allen am meiſten um
[223]Der getreue Eckart.
den jungen Tannenhaͤuſer. Sie waren mit einan-
der erwachſen und ihre gegenſeitige Freundſchaft
ſchien jedem ein Beduͤrfniß ſeines Lebens geworden
zu ſein. Tannenhaͤuſers alter Vater war geſtor-
ben, Friedrich vermaͤhlte ſich nach einigen Jahren,
ſchon umgab ihn ein Kreis von froͤlichen Kindern,
und immer noch hatte er keine Nachricht von ſei-
nem Jugendfreunde vernommen, ſo daß er ihn auch
fuͤr geſtorben halten mußte.
Er ſtand eines Abends unter dem Thor ſeiner
Burg, als er aus der Ferne einen Pilgrim daher
kommen ſah, der ſich ſeinem Schloſſe naͤherte. Der
fremde Mann war in ſeltſame Tracht gekleidet,
und ſein Gang wie ſeine Geberden erſchienen dem
Ritter wunderlich. Als jener naͤher gekommen,
glaubte er ihn zu kennen, und endlich war er mit
ſich einig, daß der Fremde kein anderer als ſein
ehemaliger Freund der Tannenhaͤuſer ſein koͤnne.
Er erſtaunte und ein heimlicher Schauer bemaͤch-
tigte ſich ſeiner, als er die durchaus veraͤnderten
Zuͤge deutlich gewahr wurde.
Die beiden Freunde umarmten ſich, und erſchra-
ken dann einer vor dem andern, ſie ſtaunten ſich
an, wie fremde Weſen. Der Fragen, der verwor-
renen Antworten gab es viele; Friedrich erbebte oft
vor dem wilden Blicke ſeines Freundes, in dem ein
unverſtaͤndliches Feuer brannte. Nachdem ſich der
Tannenhaͤuſer einige Tage erholt hatte, erfuhr
Friedrich, daß er auf einer Wallfahrt nach Rom
begriffen ſey.
Die beiden Freunde erneuerten bald ihre ehe-
[224]Erſte Abtheilung.
maligen Geſpraͤche und erzaͤhlten ſich die Geſchichte
ihrer Jugend, doch verſchwieg der Tannenhaͤuſer
noch immer ſorgfaͤltig, wo er ſeitdem geweſen.
Friedrich aber drang in ihn, nachdem ſie ſich in
ihre ſonſtige Vertraulichkeit wieder hinein gefun-
den hatten, jener ſuchte ſich lange den freundſchaft-
lichen Bitten zu entziehen, doch endlich rief er aus:
Nun, ſo mag dein Wille erfuͤllt werden, du ſollſt
alles erfahren, mache mir aber nachher keine Vor-
wuͤrfe, wenn dich die Geſchichte mit Bekuͤmmerniß
und Grauen erfuͤllt.
Sie gingen ins Freie und wandelten durch
einen gruͤnen Luſtwald, wo ſie ſich nieder ſetzten,
worauf der Tannenhaͤuſer ſein Haupt im gruͤnen
Graſe verbarg und unter lautem Schluchzen ſei-
nem Freunde abgewandt die rechte Hand reichte,
die dieſer zaͤrtlich druͤckte. Der truͤbſelige Pilgrim
richtete ſich wieder auf, und begann ſeine Erzaͤh-
lung auf folgende Weiſe:
Glaube mir, mein Theurer, daß manchem von
uns ein boͤſer Geiſt von ſeiner Geburt an mitge-
geben wird, der ihn durch das Leben dahin aͤng-
ſtigt und ihn nicht ruhen laͤßt, bis er an das Ziel
ſeiner ſchwarzen Beſtimmung gelangt iſt. So
geſchahe mir, und mein ganzer Lebenslauf iſt nur
ein dauerndes Geburtswehe, und mein Erwachen
wird in der Hoͤlle ſein. Darum habe ich nun
ſchon ſo viele muͤhſelige Schritte gethan, und ſo
manche ſtehn mir noch auf meiner Pilgerſchaft
bevor, ob ich vielleicht beim heiligen Vater zu Rom
Vergebung erlangen moͤchte: vor ihm will ich die
ſchwere
[225]Der getreue Eckart.
ſchwere Ladung meiner Suͤnden ablegen, oder im
Druck erliegen und verzweifelnd ſterben.
Friedrich wollte ihn troͤſten, doch ſchien der
Tannenhaͤuſer auf ſeine Reden nicht ſonderlich Acht
zu geben, ſondern fuhr nach einer kleinen Weile
mit folgenden Worten fort: Man hat ein altes
Maͤhrchen, daß vor vielen Jahrhunderten ein Rit-
ter mit dem Namen des getreuen Eckart gelebt
habe, man erzaͤhlt, wie damals aus einem ſeltſa-
men Berge ein Spielmann gekommen ſei, deſſen
wunderbarliche Toͤne ſo tiefe Sehnſucht, ſo wilde
Wuͤnſche in den Herzen aller Hoͤrenden auferweckt
haben, daß ſie unwiderſtreblich den Klaͤngen nach-
geriſſen worden, um ſich in jenem Gebirge zu ver-
lieren. Die Hoͤlle hat damals ihre Porten den
armen Menſchen weit aufgethan, und ſie mit lieb-
licher Muſik zu ſich herein geſpielt. Ich hoͤrte als
Knabe dieſe Erzaͤhlung oft und wurde nicht ſon-
derlich davon geruͤhrt, doch waͤhrte es nicht lange,
ſo erinnerte mich die ganze Natur, jedweder Klang,
jedwede Blume an die Sage von dieſen herzergrei-
fenden Toͤnen. Ich kann dir nicht ausdruͤcken,
welche Wehmuth, welche unausſprechliche Sehn-
ſucht mich ploͤtzlich ergriff, und wie in Banden
hielt und fortfuͤhren wollte, wenn ich dem Zug der
Wolken nachſahe, die lichte herrliche Blaͤue erblickte,
die zwiſchen ihnen hervordrang, welche Erinnerun-
gen Wieſ' und Wald in meinem tiefſten Herzen
erwecken wollten. Oft ergriff mich die Lieblichkeit
und Fuͤlle der herrlichen Natur, daß ich die Arme
ausſtreckte und wie mit Fluͤgeln hineinſtreben wollte,
I. [15]
[226]Erſte Abtheilung.
um mich wie der Geiſt der Natur uͤber Berg und
Thal auszugießen, und mich in Gras und Buͤ-
ſchen allſeitig zu regen und die Fuͤlle des Seegens
einzuathmen. Hatte mich am Tage die freie Land-
ſchaft entzuͤckt, ſo aͤngſtigten mich in der Nacht
dunkle Traumbilder und ſtellten ſich grauenhaft vor
mich hin, als wenn ſie mir den Weg zu allem Le-
ben verſperren wollten. Vor allen ließ ein Traum
einen unausloͤſchlichen Eindruck in meinem Ge-
muͤthe zuruͤck, ob ich gleich nicht die Bilder deut-
lich wieder in meine Phantaſie zuruͤck rufen konnte.
Mir duͤnkte, als waͤre ein großes Gewuͤhl in den
Gaſſen, ich vernahm undeutliche Geſpraͤche durch-
einander, darauf ging ich, es war dunkle Nacht,
in das Haus meiner Eltern, und nur mein Vater
war zugegen und krank. Am naͤchſten Morgen
fiel ich meinen Eltern um den Hals, umarmte ſie
inbruͤnſtig und druͤckte ſie an meine Bruſt, als wenn
uns eine feindliche Gewalt von einander reißen
wollte. Sollt' ich dich verlieren? ſprach ich zum
theuren Vater, o wie ungluͤcklich und einſam waͤre
ich ohne dich in dieſer Welt! Sie troͤſteten mich,
aber es gelang ihnen nicht, das dunkle Bild aus
meinem Gedaͤchtniſſe zu entfernen.
Ich ward aͤlter, indem ich mich ſtets von andern
Knaben meines Alters entfernt hielt. Oft ſtreifte
ich einſam durch die Felder, und ſo geſchah es an
einem Morgen, daß ich meinen Weg verlor, und
in einem dunkeln Walde, um Huͤlfe rufend, herum
irrte. Nachdem ich ſo lange Zeit vergeblich nach
einem Wege geſucht hatte, ſtand ich endlich ploͤz-
[227]Der getreue Eckart.
lich vor einem eiſernen Gatterwerk, welches einen
Garten umſchloß. Durch daſſelbe ſah ich ſchoͤne
dunkle Gaͤnge vor mir, Fruchtbaͤume und Blu-
men, voran ſtanden Roſengebuͤſche, die im Schein
der Sonne glaͤnzten. Ein unnennbares Sehnen
zu den Roſen ergriff mich, ich konnte mich nicht
zuruͤck halten, ich draͤngte mich mit Gewalt durch
die eiſernen Staͤbe, und war nun im Garten. Als-
bald fiel ich nieder, umfaßte mit meinen Armen
die Gebuͤſche, kuͤßte die Roſen auf ihren rothen
Mund, und ergoß mich in Thraͤnen. Als ich mich
eine Zeit in dieſer Entzuͤckung verloren hatte,
kamen zwei Maͤdchen durch die Baumgaͤnge, die
eine aͤlter, die andre von meinen Jahren. Ich
erwachte aus meiner Betaͤubung, um mich einer
hoͤheren Trunkenheit hinzugeben. Mein Auge fiel
auf die juͤngere, und mir war in dieſem Augen-
blicke, als wuͤrde ich von allen meinen unbekann-
ten Schmerzen geheilt. Man nahm mich im Hauſe
auf, die Eltern der beiden Kinder erkundigten ſich
nach meinem Namen, und ſchickten meinem Vater
Bothſchaft, der mich gegen Abend ſelber wieder
abholte.
Von dieſem Tage hatte der ungewiſſe Lauf
meines Lebens eine beſtimmte Richtung gewonnen,
meine Gedanken eilten immer wieder nach dem
Schloſſe und dem Maͤdchen zuruͤck, denn hier ſchien
mir die Heimath aller meiner Wuͤnſche. Ich ver-
gaß meiner gewohnten Freuden, ich vernachlaͤſſigte
meine Geſpielen, und beſuchte oft den Garten, das
Schloß und das Maͤdchen. Bald war ich dort
[228]Erſte Abtheilung.
wie ein Kind vom Hauſe, ſo daß man ſich nicht
mehr verwunderte, wenn ich zugegen war, und
Emma ward mir mit jedem Tage lieber. So ver-
gingen mir die Stunden, und eine Zaͤrtlichkeit
hatte mein Herz gefangen genommen, ohne daß
ich es ſelber wußte. Meine ganze Beſtimmung
ſchien mir nun erfuͤllt, ich hatte keine andere Wuͤn-
ſche, als immer wieder zukommen, und wenn ich
fortging, dieſelbe Ausſicht auf den kuͤnftigen Tag
zu haben.
Um die Zeit ward ein junger Ritter in der
Familie bekannt, der auch zugleich ein Freund mei-
ner Eltern war, und ſich bald eben ſo, wie ich,
an Emma ſchloß. Ich haßte ihn von dieſem Au-
genblicke wie meinen Todfeind. Unbeſchreiblich aber
waren meine Gefuͤhle, als ich wahrzunehmen
glaubte, daß Emma ſeine Geſellſchaft der meinigen
vorziehe. Von dieſer Stunde an war es, als wenn
die Muſik, die mich bis dahin begleitet hatte, in
meinem Buſen unterginge. Ich dachte nur Tod
und Haß, wilde Gedanken erwachten in meiner
Bruſt, wenn Emma nun auf der Laute die bekann-
ten Geſaͤnge ſang. Auch verbarg ich meinen Wi-
derwillen nicht, und bezeigte mich gegen meine El-
tern, die mir Vorwuͤrfe machten, wild und wider-
ſpenſtig.
Nun irrte ich in den Waͤldern und zwiſchen
Felſen umher, gegen mich ſelber wuͤthend: den Tod
meines Gegners hatte ich beſchloſſen. Der junge
Ritter hielt nach einigen Monden bei den Eltern
um meine Geliebte an, ſie wurde ihm zugeſagt.
[229]Der getreue Eckart.
Was mich ſonſt wunderbar in der ganzen vollen
Natur angezogen und gereizt hatte, hatte ſich mir
in Emmas Bilde vereiniget; ich wußte, kannte und
wollte kein anderes Gluͤck als ſie, ja ich hatte mir
willkuͤhrlich vorgeſetzt, daß ihren Verluſt und mein
Verderben ein und derſelbe Tag herbei fuͤhren ſolle.
Meine Eltern graͤmten ſich uͤber meine Ver-
wilderung, meine Mutter war krank geworden,
aber es ruͤhrte mich nicht, ich kuͤmmerte mich wenig
um ihren Zuſtand, und ſah ſie nur ſelten. Der
Hochzeitstag meines Feindes ruͤckte heran, und mit
ihm wuchs meine Angſt, die mich durch die Waͤl-
der und uͤber die Berge trieb. Ich verwuͤnſchte
Emma und mich mit den graͤßlichſten Fluͤchen. Um
die Zeit hatte ich keinen Freund, kein Menſch wollte
ſich meiner annehmen, weil mich alle verloren
gaben.
Die ſchreckliche Nacht vor dem Vermaͤhlungs-
tage brach heran. Ich hatte mich unter Klippen
verirrt und hoͤrte unter mir die Waldſtroͤme brau-
ſen, oft erſchrack ich vor mir ſelber. Als es Mor-
gen war, ſah ich meinen Feind von den Bergen
hernieder ſteigen, ich fiel ihn mit beſchimpfenden
Reden an, er vertheidigte ſich, wir griffen zu den
Schwerdtern, und bald ſank er unter meinen wuͤ-
thenden Hieben nieder.
Ich eilte fort, ich ſah mich nicht nach ihm
um, aber ſeine Begleiter trugen den Leichnam fort.
Nachts ſchwaͤrmte ich um die Wohnung, die meine
Emma einſchloß, und nach wenigen Tagen ver-
nahm ich im benachbarten Kloſter Todtengelaͤute
[230]Erſte Abtheilung.
und den Grabgeſang der Nonnen. Ich fragte:
man ſagte mir, daß Fraͤulein Emma aus Gram
uͤber den Tod ihres Braͤutigams geſtorben ſei.
Ich wußte nicht zu bleiben, ich zweifelte, ob ich
lebe, ob alles Wahrheit ſey. Ich eilte zuruͤck zu
meinen Eltern, und kam in der folgenden Nacht
ſpaͤt in die Stadt, in der ſie wohnten. Alles war
in Unruhe, Pferde und Ruͤſtwagen erfuͤllten die
Straßen, Lanzenknechte tummelten ſich durchein-
ander und ſprachen in verwirrten Reden: es war
gerade an dem, daß der Kaiſer einen Feldzug gegen
ſeine Feinde unternehmen wollte. Ein einſames
Licht brannte in der vaͤterlichen Wohnung als ich
herein trat; eine druͤckende Beklemmung lag auf
meiner Bruſt. Auf mein Anklopfen kommt mir
mein Vater ſelbſt mit leiſem bedaͤchtigen Schritte
entgegen; ſogleich erinnerte ich mich des alten Trau-
mes aus meinen Kinderjahren, und fuͤhle mit innig-
ſter Bewegung, daß es daſſelbe ſey, was ich nun
erlebe. Ich bin beſtuͤrzt, ich frage: Warum, Va-
ter, ſeid Ihr ſo ſpaͤt noch auf? Er fuͤhrt mich
hinein und ſpricht: Ich muß wohl wachen, denn
deine Mutter iſt ja nun auch todt.
Die Worte fielen wie Blitze in meine Seele.
Er ſetzte ſich bedaͤchtig nieder, ich mich an ſeine
Seite, die Leiche lag auf einem Bette und war
mit Tuͤchern ſeltſam zugehaͤngt. Mein Herz wollte
zerſpringen. Ich halte Wache, ſprach der Alte,
denn meine Gattin ſitzt noch immer neben mir.
Meine Sinne vergingen, ich heftete meine Augen
in einen Winkel, und nach kurzer Weile regte es
[231]Der getreue Eckart.
ſich wie ein Dunſt, es wallte und wogte, und die
bekannte Bildung meiner Mutter zog ſich ſichtbar-
lich zuſammen, die nach mir mit ernſten Mienen
ſchaute. Ich wollte fort, ich konnte nicht, denn
die muͤtterliche Geſtalt winkte und mein Vater
hielt mich feſt in den Armen, welcher mir leiſe
zufluͤſterte: ſie iſt aus Gram um mich geſtorben.
Ich umfaßte ihn mit aller kindlichen Bruͤnſtigkeit,
ich vergoß brennende Thraͤnen an ſeiner Bruſt.
Er kuͤßte mich, und mir ſchauderte, als ſeine Lip-
pen kalt wie die Lippen eines Todten mich beruͤhr-
ten. Wie iſt dir, Vater? rief ich mit Entſetzen
aus. Er zuckte ſchmerzhaft in ſich zuſammen und
antwortete nicht. In wenigen Augenblicken fuͤhlte
ich ihn kaͤlter werden, ich ſuchte nach ſeinem Her-
zen, es ſtand ſtill, und im wehmuͤthigen Wahn-
ſinn hielt ich die Leiche in meiner Umarmung feſt
eingeklammert.
Wie ein Schein, gleich der erſten Morgenroͤ-
the, flog es durch das dunkle Gemach, da ſaß der
Geiſt meines Vaters neben dem Bilde meiner Mut-
ter, und beide ſahen nach mir mitleidig hin, wie ich
die theure Leiche feſthielt. Seitdem war es um
mein Bewußtſein geſchehn, wahnſinnig und kraft-
los fanden mich die Diener am Morgen in der
Todtenkammer.
Bis hieher war der Tannenhaͤuſer mit ſeiner
Erzaͤhlung gekommen, indem ihm ſein Freund Frie-
drich mit dem groͤßten Erſtaunen zuhoͤrte, als er
ploͤtzlich abbrach und mit dem Ausdruck des groͤßten
Schmerzes inne hielt. Friedrich war verlegen und
[232]Erſte Abtheilung.
nachdenkend, die beiden Freunde gingen in die Burg
zuruͤck, doch blieben ſie in einem Zimmer allein.
Nachdem der Tannenhaͤuſer eine Weile ge-
ſchwiegen hatte, fing er wieder an: Immer noch
erſchuͤttert mich das Andenken dieſer Stunden tief,
und ich begreife nicht, wie ich ſie habe uͤberleben
koͤnnen. Nunmehr ſchien mir die Erde und das
Leben voͤllig ausgeſtorben und verwuͤſtet, ich ſchleppte
mich ohne Gedanken und Wunſch von einem Tage
zum andern hinuͤber. Dann gerieth ich in eine Ge-
ſellſchaft von wilden jungen Leuten, und in Trunk
und Wolluſt ſuchte ich den pochenden boͤſen Geiſt
in mir zu beſaͤnftigen. Die alte brennende Unge-
duld erwachte in meiner Bruſt von neuem, und
ich konnte mich und meine Wuͤnſche ſelber nicht
verſtehn. Ein Wuͤſtling, Rudolf genannt, war
mein Vertrauter geworden, der aber immer meine
Klagen wie meine Sehnſucht verlachte. So mochte
ein Jahr verfloſſen ſein, als meine Angſt bis zur
Verzweiflung ſtieg, es draͤngte mich weiter, weiter,
hinein in eine unbekannte Ferne, ich haͤtte mich von
den hohen Bergen hinab in den Glanz der Wieſen-
farben, in das kuͤhle Gebrauſe der Stroͤme ſtuͤr-
zen moͤgen, um den gluͤhenden Durſt der Seele,
die Unerſaͤttlichkeit zu loͤſchen; ich ſehnte mich nach
der Vernichtung und wieder wie goldne Morgen-
wolken ſchwebten Hofnung und Lebensluſt vor mir
hin und lockten mich nach. Da kam ich auf den
Gedanken, daß die Hoͤlle nach mir luͤſtern ſei, und
mir ſo Schmerzen wie Freuden entgegen ſende, um
mich zu verderben, daß ein tuͤckiſcher Geiſt alle
[233]Der getreue Eckart.
meine Seelenkraͤfte nach der dunkeln Behauſung
richte und mich hinunter zuͤgle. Da gab ich mich
gefangen, um der Qualen, der wechſelnden Entzuͤ-
ckungen los zu werden. In der dunkelſten Nacht
beſtieg ich einen hohen Berg und rief mit allen
Herzenskraͤften den Feind Gottes und der Men-
ſchen zu mir, ſo daß ich fuͤhlte, er wuͤrde mir ge-
horchen muͤſſen. Meine Worte zogen ihn herbei,
er ſtand ploͤtzlich neben mir und ich empfand kein
Grauen. Da ging im Geſpraͤch mit ihm der
Glaube an jenen wunderbaren Berg von neuem
in mir auf, und er lehrte mich ein Lied, das mich
von ſelbſt auf die rechte Straße dahin fuͤhren
wuͤrde. Er verſchwand, und ich war zum erſten-
mal, ſeit ich lebte, mit mir allein, denn nun ver-
ſtand ich meine abirrenden Gedanken, die aus dem
Mittelpunkte heraus ſtrebten, um eine neue Welt
zu finden. Ich machte mich auf den Weg, und
das Lied, das ich mit lauter Stimme ſang, fuͤhrte
mich uͤber wunderbare Einoͤden fort, und alles
uͤbrige in mir und außer mir hatte ich vergeſſen;
es trug mich wie auf großen Fluͤgeln der Sehn-
ſucht nach meiner Heimath, ich wollte dem Schat-
ten entfliehen, der uns auch aus dem Glanze noch
draͤut, den wilden Toͤnen, die noch in der zarte-
ſten Muſik auf uns ſchelten. So kam ich in einer
Nacht, als der Mond hinter dunklen Wolken matt
hervor ſchien, vor dem Berge an. Ich ſetzte mein
Lied fort, und eine Rieſengeſtalt ſtand da und winkte
mich mit ihrem Stabe zuruͤck. Ich ging naͤher.
Ich bin der getreue Eckart, rief die uͤbermenſch-
[234]Erſte Abtheilung.
liche Bildung, ich bin von Gottes Guͤte hieher
zum Waͤchter geſetzt, um des Menſchen boͤſen Fuͤr-
witz zuruͤck zu halten. — Ich drang hindurch.
Wie in einem unterirdiſchen Bergwerke war
nun mein Weg. Der Steg war ſo ſchmal, daß
ich mich hindurch draͤngen mußte, ich vernahm
den Klang der verborgenen wandernden Gewaͤſſer,
ich hoͤrte die Geiſter, die die Erze und Gold und
Silber bildeten, um den Menſchengeiſt zu locken,
ich fand die tiefen Klaͤnge und Toͤne hier einzeln
und verborgen, aus denen die irdiſche Muſik ent-
ſteht; je tiefer ich ging, je mehr fiel es wie ein
Schleier vor meinem Angeſichte hinweg.
Ich ruhte aus und ſah andre Menſchengeſtal-
ten heran wanken, mein Freund Rudolf war un-
ter ihnen; ich begriff gar nicht, wie ſie mir vor-
bei kommen wuͤrden, da der Weg ſo ſehr enge war,
aber ſie gingen mitten durch die Steine hindurch,
ohne daß ſie mich gewahr wurden.
Alsbald vernahm ich Muſik, aber eine ganz
andre, als bis dahin zu meinem Gehoͤr gedrungen
war, meine Geiſter in mir arbeiteten den Toͤnen
entgegen; ich kam ins Freie, und wunderhelle Far-
ben glaͤnzten mich von allen Seiten an. Das war
es, was ich immer gewuͤnſcht hatte. Dicht am
Herzen fuͤhlte ich die Gegenwart der geſuchten,
endlich gefundenen Herrlichkeit, und in mich ſpiel-
ten die Entzuͤckungen mit allen ihren Kraͤften hin-
ein. So kam mir das Gewimmel der frohen heid-
niſchen Goͤtter entgegen, Frau Venus an ihrer
Spitze, alle begruͤßten mich; ſie ſind dorthin ge-
[235]Der getreue Eckart.
bannt von der Gewalt des Allmaͤchtigen, und ihr
Dienſt iſt von der Erde vertilgt; nun wirken ſie
von dort in ihrer Heimlichkeit.
Alle Freuden, die die Erde beut, genoß und
ſchmeckte ich hier in ihrer vollſten Bluͤthe, uner-
ſaͤttlich war mein Buſen und unendlich der Genuß.
Die beruͤhmten Schoͤnheiten der alten Welt waren
zugegen, was mein Gedanke wuͤnſchte war in mei-
nem Beſitz, eine Trunkenheit folgte der andern,
mit jedem Tage ſchien um mich her die Welt in
bunteren Farben zu brennen. Stroͤme des koͤſtlich-
ſten Weines loͤſchten den grimmen Durſt, und die
holdſeligſten Geſtalten gaukelten dann in der Luft,
ein Gewimmel von nackten Maͤdchen umgab mich
einladend, Duͤfte ſchwangen ſich bezaubernd um
mein Haupt, wie aus dem innerſten Herzen der
ſeligſten Natur erklang eine Muſik, und kuͤhlte
mit ihren friſchen Wogen der Begierde wilde Luͤ-
ſternheit, ein Grauen, das ſo heimlich uͤber die
Blumenfelder ſchlich, erhoͤhte den entzuͤckenden
Rauſch. Wie viele Jahre ſo verſchwunden ſind,
weiß ich nicht zu ſagen, denn hier gab es keine
Zeit und keine Unterſchiede, in den Blumen brannte
der Maͤdchen und der Luͤſte Reiz, in den Koͤrpern
der Weiber bluͤhte der Zauber der Blumen, die
Farben fuͤhrten hier eine andre Sprache, die Toͤne
ſagten neue Worte, die ganze Sinnenwelt war
hier in Einer Bluͤthe feſt gebunden, und die Geiſter
drinnen feyerten ewig einen bruͤnſtigen Triumph.
Doch wie es geſchah kann ich ſo wenig ſagen
wie faſſen, daß mich nun in aller Suͤndenherrlich-
[236]Erſte Abtheilung.
keit der Trieb nach der Ruhe, der Wunſch zur
alten unſchuldigen Erde mit ihren duͤrftigen Freu-
den eben ſo ergriff, wie mich vormals die Sehn-
ſucht hieher gedraͤngt hatte. Es zog mich an, wie-
der jenes Leben zu leben, das die Menſchen in
aller Bewußtloſigkeit fuͤhren, mit Leiden und ab-
wechſelnden Freuden, ich war von dem Glanz ge-
ſaͤttigt und ſuchte gern die vorige Heimath wieder.
Eine unbegreifliche Gnade des Allmaͤchtigen ver-
ſchaffte mir die Ruͤckkehr, ich befand mich ploͤtzlich
wieder in der Welt, und denke nun meinen ſuͤn-
digen Buſen vor den Stuhl unſers allerheiligſten
Vaters in Rom auszuſchuͤtten, daß er mir ver-
gebe und ich den uͤbrigen Menſchen wieder zuge-
zaͤhlt werde. —
Der Tannenhaͤuſer ſchwieg ſtill, und Friedrich
betrachtete ihn lange mit einem pruͤfenden Blicke,
dann nahm er die Hand ſeines Freundes und ſagte:
Immer noch kann ich nicht von meinem Erſtaunen
zuruͤck kommen, auch kann ich deine Erzaͤhlung
nicht begreifen, denn es iſt nicht anders moͤglich,
als daß alles, was du mir vorgetragen haſt, nur
eine Einbildung von dir ſein muß. Denn noch lebt
Emma, ſie iſt meine Gattin, und nie haben wir
gekaͤmpft, oder uns gehaßt, wie du glaubſt, doch
verſchwandeſt du noch vor unſrer Hochzeit aus der
Gegend, auch haſt du mir damals nie mit einem
einzigen Worte geſagt, daß Emma dir lieb ſei.
Er nahm hierauf den verwirrten Tannenhaͤuſer
bei der Hand und fuͤhrte ihn in ein anderes Zim-
mer zu ſeiner Gattin, die eben von einem Beſuch
[237]Der getreue Eckart.
ihrer Schweſter, bei der ſie einige Tage verweilt,
auf das Schloß zuruͤck gekommen war. Der Tan-
nenhaͤuſer war ſtumm und nachdenkend, er beſchaute
ſtill die Bildung und das Antlitz der Frau, dann
ſchuͤttelte er mit dem Kopfe und ſagte: bei Gott,
das iſt noch die ſeltſamſte von allen meinen Bege-
benheiten!
Friedrich erzaͤhlte ihm im Zuſammenhange
alles, was ihm ſeitdem zugeſtoßen war, und ſuchte
ſeinem Freunde deutlich zu machen, daß ihn ein
ſeltſamer Wahnſinn nur ſeit manchem Jahre beaͤng-
ſtigt habe. Ich weiß recht gut wie es iſt, rief
der Tannenhaͤuſer aus, jetzt bin ich getaͤuſcht und
wahnſinnig, die Hoͤlle will mir dies Blendwerk vor-
gaukeln, damit ich nicht nach Rom gehn und mei-
ner Suͤnden ledig werden ſoll.
Emma ſuchte ihn an ſeine Kindheit zu erin-
nern, aber der Tannenhaͤuſer ließ ſich nicht uͤberre-
den. So reiſte er ſchnell ab, um in kurzer Zeit
in Rom vom Papſte Abſolution zu erhalten.
Friedrich und Emma ſprachen noch oft uͤber
den ſeltſamen Pilgrim. Einige Monden waren
verfloſſen, als der Tannenhaͤuſer bleich und abge-
zehrt, in zerriſſenen Wallfahrtskleidern und barfuß
in Friedrichs Gemach trat, indem dieſer noch ſchlief.
Er kuͤßte ihn auf den Mund und ſagte dann ſchnell
die Worte: Der heilige Vater will und kann mir
nicht vergeben, ich muß in meinen alten Wohnſitz
zuruͤck. Hierauf entfernte er ſich eilig.
Friedrich ermunterte ſich, der ungluͤckliche Pil-
ger war ſchon verſchwunden. Er ging nach dem
[238]Erſte Abtheilung.
Zimmer ſeiner Gattin, und die Weiber ſtuͤrzten
ihm mit Geheul entgegen; der Tannenhaͤuſer war
hier fruͤh am Tage herein gedrungen und hatte die
Worte geſagt: dieſe ſoll mich nicht in meinem Laufe
ſtoͤren! Man fand Emma ermordet.
Noch konnte ſich Friedrich nicht beſinnen, als
es ihn wie Entſetzen befiel; er konnte nicht ruhn,
er rannte ins Freie. Man wollte ihn zuruͤck hal-
ten, aber er erzaͤhlte, wie ihm der Pilgrim einen
Kuß auf die Lippen gegeben habe, und wie dieſer
Kuß ihn brenne, bis er jenen wieder gefunden. So
rannte er in unbegreiflicher Eile fort, den wunder-
lichen Berg und den Tannenhaͤuſer zu ſuchen, und
man ſah ihn ſeitdem nicht mehr. Die Leute ſag-
ten, wer einen Kuß von einem aus dem Berge
bekommen, der koͤnne der Lockung nicht widerſtehn,
die ihn auch mit Zauber-Gewalt in die unterirdi-
ſchen Kluͤfte reiße. —
Alle waren nach geendigter Erzaͤhlung ſtill
und in ſich gekehrt, worauf Manfred ſagte: ohne
alle Vorbereitung und einleitende Vorrede will
ich ſogleich die Vorleſung meines Werkes begin-
nen, das, wie ich wohl nicht erſt zu verſichern
brauche, Original und eigne Erfindung iſt. Da
unſre ſchoͤne Clara auf die Originalitaͤt ſo viel
giebt, ſo hoffe ich, daß ſie auch dieſem Maͤhr-
chen ihren Beifall nicht wird verſagen koͤnnen.
Er las hierauf folgende Erzaͤhlung.
[239]Der Runenberg.
Der Runenberg.
Ein junger Jaͤger ſaß im innerſten Gebuͤrge nach-
denkend bei einem Vogelheerde, indem das Rau-
ſchen der Gewaͤſſer und des Waldes in der Ein-
ſamkeit toͤnte. Er bedachte ſein Schickſal, wie er
ſo jung ſey, und Vater und Mutter, die wohl-
bekannte Heimath, und alle Befreundeten ſeines
Dorfes verlaſſen hatte, um eine fremde Umgebung
zu ſuchen, um ſich aus dem Kreiſe der wiederkeh-
renden Gewoͤhnlichkeit zu entfernen, und er blickte
mit einer Art von Verwunderung auf, daß er ſich
nun in dieſem Thale, in dieſer Beſchaͤftigung wie-
der fand. Große Wolken zogen durch den Him-
mel und verloren ſich hinter den Bergen, Voͤgel
ſangen aus den Gebuͤſchen und ein Wiederſchall
antwortete ihnen. Er ſtieg langſam den Berg hin-
unter, und ſetzte ſich an den Rand eines Baches
nieder, der uͤber vorragendes Geſtein ſchaͤumend
murmelte. Er hoͤrte auf die wechſelnde Melodie
des Waſſers, und es ſchien, als wenn ihm die Wo-
gen in unverſtaͤndlichen Worten tauſend Dinge ſag-
ten, die ihm ſo wichtig waren, und er mußte ſich
innig betruͤben, daß er ihre Reden nicht verſtehen
konnte. Wieder ſah er dann umher und ihm
duͤnkte, er ſey froh und gluͤcklich; ſo faßte er wie-
der neuen Muth und ſang mit lauter Stimme
einen Jaͤgergeſang.
[240]Erſte Abtheilung.
Waͤhrend dieſes Geſanges war die Sonne tie-
fer geſunken und breite Schatten fielen durch das
enge Thal. Eine kuͤhlende Daͤmmerung ſchlich uͤber
den Boden weg, und nur noch die Wipfel der
Baͤume, wie die runden Bergſpitzen waren vom
Schein des Abends vergoldet. Chriſtians Gemuͤth
ward
[241]Der Runenberg.
ward immer truͤbſeliger, er mochte nicht nach ſei-
nem Vogelheerde zuruͤck kehren, und dennoch mochte
er nicht bleiben; es duͤnkte ihm ſo einſam und er
ſehnte ſich nach Menſchen. Jetzt wuͤnſchte er ſich
die alten Buͤcher, die er ſonſt bei ſeinem Vater
geſehn, und die er niemals leſen moͤgen, ſo oft
ihn auch der Vater dazu angetrieben hatte; es fie-
len ihm die Scenen ſeiner Kindheit ein, die Spiele
mit der Jugend des Dorfes, ſeine Bekanntſchaften
unter den Kindern, die Schule, die ihm ſo druͤk-
kend geweſen war, und er ſehnte ſich in alle dieſe
Umgebungen zuruͤck, die er freiwillig verlaſſen hatte,
um ſein Gluͤck in unbekannten Gegenden, in Ber-
gen, unter fremden Menſchen, in einer neuen Be-
ſchaͤftigung zu finden. Indem es finſtrer wurde,
und der Bach lauter rauſchte, und das Gefluͤgel
der Nacht ſeine irre Wanderung mit umſchweifen-
dem Fluge begann, ſaß er noch immer mißvergnuͤgt
und in ſich verſunken; er haͤtte weinen moͤgen, und
er war durchaus unentſchloſſen, was er thun und
vornehmen ſolle. Gedankenlos zog er eine hervor-
ragende Wurzel aus der Erde, und ploͤtzlich hoͤrte
er ſchreckend ein dumpfes Winſeln im Boden, das
ſich unterirdiſch in klagenden Toͤnen fortzog, und
erſt in der Ferne wehmuͤthig verſcholl. Der Ton
durchdrang ſein innerſtes Herz, er ergriff ihn, als
wenn er unvermuthet die Wunde beruͤhrt habe, an
der der ſterbende Leichnam der Natur in Schmer-
zen verſcheiden wolle. Er ſprang auf und wollte
entfliehen, denn er hatte wohl ehemals von der
ſeltſamen Alrunenwurzel gehoͤrt, die beim Ausrei-
I. [16]
[242]Erſte Abtheilung.
ßen ſo herzdurchſchneidende Klagetoͤne von ſich gebe,
daß der Menſch von ihrem Gewinſel wahnſinnig
werden muͤſſe. Indem er fortgehen wollte, ſtand
ein fremder Mann hinter ihm, welcher ihn freund-
lich anſah und fragte, wohin er wolle. Chriſtian
hatte ſich Geſellſchaft gewuͤnſcht, und doch erſchrack
er von neuem vor dieſer freundlichen Gegenwart.
Wohin ſo eilig? fragte der Fremde noch einmal.
Der junge Jaͤger ſuchte ſich zu ſammeln und er-
zaͤhlte, wie ihm ploͤtzlich die Einſamkeit ſo ſchreck-
lich vorgekommen ſey, daß er ſich habe retten wol-
len, der Abend ſey ſo dunkel, die gruͤnen Schat-
ten des Waldes ſo traurig, der Bach ſpreche in
lauter Klagen, die Wolken des Himmels zoͤgen
ſeine Sehnſucht jenſeit den Bergen hinuͤber. Ihr
ſeyd noch jung, ſagte der Fremde, und koͤnnt wohl
die Strenge der Einſamkeit noch nicht ertragen, ich
will euch begleiten, denn ihr findet doch kein Haus
oder Dorf im Umkreis einer Meile, wir moͤgen
unterwegs etwas ſprechen und uns erzaͤhlen, ſo
verliert ihr die truͤben Gedanken; in einer Stunde
kommt der Mond hinter den Bergen hervor, ſein
Licht wird dann wohl auch eure Seele lichter machen.
Sie gingen fort, und der Fremde duͤnkte dem
Juͤnglinge bald ein alter Bekannter zu ſeyn. Wie
ſeyd ihr in dieſes Gebuͤrge gekommen, fragte je-
ner, ihr ſeid hier, eurer Sprache nach, nicht ein-
heimiſch. — Ach daruͤber, ſagte der Juͤngling, ließe
ſich viel ſagen, und doch iſt es wieder keiner Rede,
keiner Erzaͤhlung werth; es hat mich wie mit frem-
der Gewalt aus dem Kreiſe meiner Eltern und
[243]Der Runenberg.
Verwandten hinweg genommen, mein Geiſt war
ſeiner ſelbſt nicht maͤchtig, wie ein Vogel, der in
einem Netz gefangen iſt und ſich vergeblich ſtraͤubt,
ſo verſtrickt war meine Seele in ſeltſamen Vor-
ſtellungen und Wuͤnſchen. Wir wohnten weit von
hier in einer Ebene, in der man rund umher kei-
nen Berg, kaum eine Anhoͤhe erblickte; wenige
Baͤume ſchmuͤckten den gruͤnen Plan, aber Wie-
ſen, fruchtbare Kornfelder und Gaͤrten zogen ſich
hin, ſo weit das Auge reichen konnte, ein großer
Fluß glaͤnzte wie ein maͤchtiger Geiſt an den Wie-
ſen und Feldern vorbei. Mein Vater war Gaͤrt-
ner im Schloß und hatte vor, mich ebenfalls
zu ſeiner Beſchaͤftigung zu erziehen; er liebte die
Pflanzen und Blumen uͤber alles und konnte ſich
tagelang unermuͤdet mit ihrer Wartung und Pflege
abgeben. Ja er ging ſo weit, daß er behauptete,
er koͤnne faſt mit ihnen ſprechen; er lerne von ih-
rem Wachsthum und Gedeihen, ſo wie von der
verſchiedenen Geſtalt und Farbe ihrer Blaͤtter. Mir
war die Gartenarbeit zuwider, um ſo mehr, als
mein Vater mir zuredete, oder gar mit Drohun-
gen mich zu zwingen verſuchte. Ich wollte Fiſcher
werden, und machte den Verſuch, allein das Leben
auf dem Waſſer ſtand mir auch nicht an; ich wurde
dann zu einem Handelsmann in die Stadt gege-
ben, und kam auch von ihm bald in das vaͤterliche
Haus zuruͤck. Auf einmal hoͤrte ich meinen Vater
von Gebuͤrgen erzaͤhlen, die er in ſeiner Jugend
bereiſet hatte, von den unterirdiſchen Bergwerken
und ihren Arbeitern, von Jaͤgern und ihrer Be-
[244]Erſte Abtheilung.
ſchaͤftigung, und ploͤtzlich erwachte in mir der be-
ſtimmteſte Trieb, das Gefuͤhl, daß ich nun die fuͤr
mich beſtimmte Lebensweiſe gefunden habe. Tag
und Nacht ſann ich und ſtellte mir hohe Berge,
Kluͤfte und Tannenwaͤlder vor; meine Einbildung
erſchuf ſich ungeheure Felſen, ich hoͤrte in Gedan-
ken das Getoͤſe der Jagd, die Hoͤrner, und das
Geſchrei der Hunde und des Wildes; alle meine
Traͤume waren damit angefuͤllt und daruͤber hatte
ich nun weder Raſt noch Ruhe mehr. Die Ebene,
das Schloß, der kleine beſchraͤnkte Garten meines
Vaters mit den geordneten Blumenbeeten, die enge
Wohnung, der weite Himmel, der ſich ringsum
ſo traurig ausdehnte, und keine Hoͤhe, keinen er-
habenen Berg umarmte, alles ward mir noch be-
truͤbter und verhaßter. Es ſchien mir, als wenn
alle Menſchen um mich her in der bejammerns-
wuͤrdigſten Unwiſſenheit lebten, und daß alle eben
ſo denken und empfinden wuͤrden, wie ich, wenn
ihnen dieſes Gefuͤhl ihres Elendes nur ein einziges
mal in ihrer Seele aufginge. So trieb ich mich
um, bis ich an einem Morgen den Entſchluß faßte,
das Haus meiner Eltern auf immer zu verlaſſen.
Ich hatte in meinem Buche Nachrichten vom naͤch-
ſten großen Gebirge gefunden, Abbildungen einiger
Gegenden, und darnach richtete ich meinen Weg
ein. Es war im erſten Fruͤhlinge und ich fuͤhlte
mich durchaus froh und leicht. Ich eilte, um nur
recht bald das Ebene zu verlaſſen, und an einem
Abende, ſah ich in der Ferne die dunkeln Umriſſe
des Gebirges vor mir liegen. Ich konnte in der
[245]Der Runenberg.
Herberge kaum ſchlafen, ſo ungeduldig war ich,
die Gegend zu betreten, die ich fuͤr meine Heimath
anſah; mit dem Fruͤheſten war ich munter und
wieder auf der Reiſe. Nachmittags befand ich
mich ſchon unter den vielgeliebten Bergen, und
wie ein Trunkner ging ich, ſtand dann eine Weile,
ſchaute ruͤckwaͤrts, und berauſchte mich in allen
mir fremden und doch ſo wohlbekannten Gegen-
ſtaͤnden. Bald verlor ich die Ebene hinter mir
aus dem Geſichte, die Waldſtroͤme rauſchten mir
entgegen, Buchen und Eichen brauſten mit beweg-
tem Laube von ſteilen Abhaͤngen herunter; mein
Weg fuͤhrte mich ſchwindlichten Abgruͤnden voruͤber,
blaue Berge ſtanden groß und ehrwuͤrdig im Hin-
tergrunde. Eine neue Welt war mir aufgeſchloſ-
ſen, ich wurde nicht muͤde. So kam ich nach eini-
gen Tagen, indem ich einen großen Theil des Ge-
birges durchſtreift hatte, zu einem alten Foͤrſter,
der mich auf mein inſtaͤndiges Bitten zu ſich nahm,
um mich in der Kunſt der Jaͤgerei zu unterrichten.
Jetzt bin ich ſeit drei Monaten in ſeinen Dien-
ſten. Ich nahm von der Gegend, in der ich mei-
nen Aufenthalt hatte, wie von einem Koͤnigreiche
Beſitz; ich lernte jede Klippe, jede Schluft des
Gebirges kennen, ich war in meiner Beſchaͤftigung,
wenn wir am fruͤhen Morgen nach dem Walde
zogen, wenn wir Baͤume im Forſte faͤllten, wenn
ich mein Auge und meine Buͤchſe uͤbte, und die
treuen Gefaͤhrten, die Hunde zu ihren Geſchicklich-
keiten abrichtete, uͤberaus gluͤcklich. Jetzt ſitze ich
ſeit acht Tagen hier oben auf dem Vogelheerde,
[246]Erſte Abtheilung.
im einſamſten Gebirge, und am Abend wurde mir
heut ſo traurig zu Sinne, wie noch niemals in
meinem Leben, ich kam mir ſo verloren, ſo ganz
ungluͤckſelig vor, und noch kann ich mich nicht
von dieſer truͤben Stimmung erhohlen.
Der fremde Mann hatte aufmerkſam zuge-
hoͤrt, indem beide durch einen dunkeln Gang des
Waldes gewandert waren. Jetzt traten ſie ins
Freie, und das Licht des Mondes, der oben mit
ſeinen Hoͤrnern uͤber der Bergſpitze ſtand, begruͤßte
ſie freundlich: in unkenntlichen Formen und vielen
geſonderten Maſſen, die der bleiche Schimmer wie-
der raͤthſelhaft vereinigte, lag das geſpaltene Ge-
birge vor ihnen, im Hintergrunde ein ſteiler Berg,
auf welchem uralte verwitterte Ruinen ſchauerlich
im weißen Lichte ſich zeigten. Unſer Weg trennt
ſich hier, ſagte der Fremde, ich gehe in dieſe Tiefe
hinunter, dort, bei jenem alten Schacht iſt meine
Wohnung: die Erze ſind meine Nachbarn, die
Berggewaͤſſer erzaͤhlen mir Wunderdinge in der
Nacht, dahin kannſt du mir doch nicht folgen.
Aber ſiehe dort den Runenberg mit ſeinem ſchrof-
fen Mauerwerke, wie ſchoͤn und anlockend das alte
Geſtein zu uns herblickt! Biſt du niemals dorten
geweſen? Niemals, ſagte der junge Chriſtian, ich
hoͤrte einmal meinen alten Foͤrſter wunderſame Dinge
von dieſem Berge erzaͤhlen, die ich thoͤricht genug
wieder vergeſſen habe, aber ich erinnere mich, daß
mir an jenem Abend grauenhaft zu Muthe war.
Ich moͤchte wohl einmal die Hoͤhe beſteigen, denn
die Lichter ſind dort am ſchoͤnſten, das Gras muß
[247]Der Runenberg.
dorten recht gruͤn ſeyn, die Welt umher recht ſelt-
ſam, auch mag ſichs wohl treffen, daß man noch
manch Wunder aus der alten Zeit da oben faͤnde.
Es kann faſt nicht fehlen, ſagte jener, wer
nur zu ſuchen verſteht, weſſen Herz recht innerlich
hingezogen wird, der findet uralte Freunde dort
und Herrlichkeiten, alles, was er am eifrigſten
wuͤnſcht. — Mit dieſen Worten ſtieg der Fremde
ſchnell hinunter, ohne ſeinem Gefaͤhrten Lebewohl
zu ſagen, bald war er im Dickicht des Gebuͤſches
verſchwunden, und kurz nachher verhallte auch der
Tritt ſeiner Fuͤße. Der junge Jaͤger war nicht
verwundert, er verdoppelte nur ſeine Schritte nach
dem Runenberge zu, alles winkte ihm dorthin, die
Sterne ſchienen dorthin zu leuchten, der Mond
wies mit einer hellen Straße nach den Truͤmmern,
lichte Wolken zogen hinauf, und aus der Tiefe
redeten ihm Gewaͤſſer und rauſchende Waͤlder zu
und ſprachen ihm Muth ein. Seine Schritte
waren wie befluͤgelt, ſein Herz klopfte, er fuͤhlte
eine ſo große Freudigkeit in ſeinem Innern, daß
ſie zu einer Angſt empor wuchs. — Er kam in
Gegenden, in denen er nie geweſen war, die Fel-
ſen wurden ſteiler, das Gruͤn verlor ſich, die kah-
len Waͤnde rieſen ihn wie mit zuͤrnenden Stim-
men an, und ein einſam klagender Wind jagte ihn
vor ſich her. So eilte er ohne Stillſtand fort,
und kam ſpaͤt nach Mitternacht auf einen ſchma-
len Fußſteig, der hart an einem Abgrunde hinlief.
Er achtete nicht auf die Tiefe, die unter ihm gaͤhnte
und ihn zu verſchlingen drohte, ſo ſehr ſpornten
[248]Erſte Abtheilung.
ihn irre Vorſtellungen und unverſtaͤndliche Wuͤn-
ſche. Jetzt zog ihn der gefaͤhrliche Weg neben
eine hohe Mauer hin, die ſich in den Wolken zu
verlieren ſchien; der Steig ward mit jedem Schritte
ſchmaler, und der Juͤngling mußte ſich an vorra-
genden Steinen feſt halten, um nicht hinunter zu
ſtuͤrzen. Endlich konnte er nicht weiter, der Pfad
endigte unter einem Fenſter, er mußte ſtill ſtehen
und wußte jetzt nicht, ob er umkehren, ob er blei-
ben ſolle. Ploͤtzlich ſah er ein Licht, das ſich hin-
ter dem alten Gemaͤuer zu bewegen ſchien. Er
ſah dem Scheine nach, und entdeckte, daß er in
einen alten geraͤumigen Saal blicken konnte, der
wunderlich verziert von mancherley Geſteinen und
Kryſtallen in vielfaͤltigen Schimmern funkelte, die
ſich geheimnißvoll von dem wandelnden Lichte durch-
einander bewegten, welches eine große weibliche
Geſtalt trug, die ſinnend im Gemache auf und nie-
der ging. Sie ſchien nicht den Sterblichen anzu-
gehoͤren, ſo groß, ſo maͤchtig waren ihre Glieder,
ſo ſtreng ihr Geſicht, aber doch duͤnkte dem ent-
zuͤckten Juͤnglinge, daß er noch niemals ſolche
Schoͤnheit geſehn oder geahndet habe. Er zitterte
und wuͤnſchte doch heimlich, daß ſie zum Fenſter
treten und ihn wahrnehmen moͤchte. Endlich ſtand
ſie ſtill, ſetzte das Licht auf einen kryſtallenen Tiſch
nieder, ſchaute in die Hoͤhe und ſang mit durch-
dringlicher Stimme:
[249]Der Runenberg.
Als ſie geendigt hatte, fing ſie an ſich zu ent-
kleiden, und ihre Gewaͤnder in einen koſtbaren
Wandſchrank zu legen. Erſt nahm ſie einen gol-
denen Schleyer vom Haupte, und ein langes ſchwar-
zes Haar floß in geringelter Fuͤlle bis uͤber die
Huͤften hinab; dann loͤſte ſie das Gewand des
Buſens, und der Juͤngling vergaß ſich und die
Welt im Anſchauen der uͤberirdiſchen Schoͤnheit.
Er wagte kaum zu athmen, als ſie nach und nach
alle Huͤllen loͤſte; nackt ſchritt ſie endlich im Saale
auf und nieder, und ihre ſchweren ſchwebenden
Locken bildeten um ſie her ein dunkel wogendes
Meer, aus dem wie Marmor die glaͤnzenden For-
men des reinen Leibes abwechſelnd hervor ſtrahl-
ten. Nach geraumer Zeit naͤherte ſie ſich einem
andern goldenen Schranke, nahm eine Tafel her-
[250]Erſte Abtheilung.
aus, die von vielen eingelegten Steinen, Rubinen,
Diamanten und allen Juwelen glaͤnzte, und betrach-
tete ſie lange pruͤfend. Die Tafel ſchien eine wun-
derliche unverſtaͤndliche Figur mit ihren unterſchied-
lichen Farben und Linien zu bilden; zuweilen war,
nachdem der Schimmer ihm entgegen ſpiegelte, der
Juͤngling ſchmerzhaft geblendet, dann wieder beſaͤnf-
tigten gruͤne und blau ſpielende Scheine ſein Auge:
er aber ſtand, die Gegenſtaͤnde mit ſeinen Blicken
verſchlingend, und zugleich tief in ſich ſelbſt verſun-
ken. In ſeinem Innern hatte ſich ein Abgrund
von Geſtalten und Wohllaut, von Sehnſucht und
Wolluſt aufgethan, Schaaren von befluͤgelten Toͤ-
nen und wehmuͤthigen und freudigen Melodien
zogen durch ſein Gemuͤth, das bis auf den Grund
bewegt war: er ſah eine Welt von Schmerz und
Hoffnung in ſich aufgehen, maͤchtige Wunderfelſen
von Vertrauen und trotzender Zuverſicht, große
Waſſerſtroͤme, wie voll Wehmuth fließend. Er
kannte ſich nicht wieder, und erſchrack, als die
Schoͤne das Fenſter oͤffnete, ihm die magiſche ſtei-
nerne Tafel reichte und die wenigen Worte ſprach:
Nimm dieſes zu meinem Angedenken! Er faßte die
Tafel und fuͤhlte die Figur, die unſichtbar ſogleich
in ſein Inneres uͤberging, und das Licht und die
maͤchtige Schoͤnheit und der ſeltſame Saal waren
verſchwunden. Wie eine dunkele Nacht mit Wol-
kenvorhaͤngen fiel es in ſein Inneres hinein, er
ſuchte nach ſeinen vorigen Gefuͤhlen, nach jener
Begeiſterung und unbegreiflichen Liebe, er beſchaute
[251]Der Runenberg.
die koſtbare Tafel, in welcher ſich der unterſinkende
Mond ſchwach und blaͤulich ſpiegelte.
Noch hielt er die Tafel feſt in ſeine Haͤnde
gepreßt, als der Morgen graute und er erſchoͤpft,
ſchwindelnd und halb ſchlafend die ſteile Hoͤhe hin-
unter ſtuͤrzte. —
Die Sonne ſchien dem betaͤubten Schlaͤfer
auf ſein Geſicht, der ſich erwachend auf einem
anmuthigen Huͤgel wieder fand. Er ſah umher,
und erblickte weit hinter ſich und kaum noch kenn-
bar am aͤußerſten Horizont die Truͤmmer des Ru-
nenberges: er ſuchte nach jener Tafel, und fand
ſie nirgend. Erſtaunt und verwirrt wollte er ſich
ſammeln und ſeine Erinnerungen anknuͤpfen, aber
ſein Gedaͤchtniß war wie mit einem wuͤſten Nebel
angefuͤllt, in welchem ſich formloſe Geſtalten wild
und unkenntlich durch einander bewegten. Sein gan-
zes voriges Leben lag wie in einer tiefen Ferne
hinter ihm; das Seltſamſte und das Gewoͤhnliche
war ſo in einander vermiſcht, daß er es unmoͤg-
lich ſondern konnte. Nach langem Streite mit ſich
ſelbſt glaubte er endlich, ein Traum oder ein ploͤtz-
licher Wahnſinn habe ihn in dieſer Nacht befallen,
nur begriff er immer nicht, wie er ſich ſo weit in
eine fremde entlegene Gegend habe verirren koͤnnen.
Noch faſt ſchlaftrunken ſtieg er den Huͤgel hin-
ab, und gerieth auf einen gebahnten Weg, der ihn
vom Gebirge hinunter in das flache Land fuͤhrte.
Alles war ihm fremd, er glaubte anfangs, er wuͤrde
in ſeine Heimath gelangen, aber er ſah eine ganz
verſchiedene Gegend, und vermuthete endlich, daß
[252]Erſte Abtheilung.
er ſich jenſeit der ſuͤdlichen Graͤnze des Gebirges
befinden muͤſſe, welches er im Fruͤhling von Nor-
den her betreten hatte. Gegen Mittag ſtand er
uͤber einem Dorfe, aus deſſen Huͤtten ein friedli-
cher Rauch in die Hoͤhe ſtieg, Kinder ſpielten auf
einem gruͤnen Platze feſttaͤglich gepuzt, und aus
der kleinen Kirche erſcholl der Orgelklang und das
Singen der Gemeine. Alles ergriff ihn mit unbe-
ſchreiblich ſuͤßer Wehmuth, alles ruͤhrte ihn ſo herz-
lich, daß er weinen mußte. Die engen Gaͤrten,
die kleinen Huͤtten mit ihren rauchenden Schorn-
ſteinen, die gerade abgetheilten Kornfelder erinner-
ten ihn an die Beduͤrftigkeit des armen Menſchen-
geſchlechts, an ſeine Abhaͤngigkeit vom freundlichen
Erdboden, deſſen Milde es ſich vertrauen muß; da-
bei erfuͤllte der Geſang und der Ton der Orgel ſein
Herz mit einer nie gefuͤhlten Froͤmmigkeit. Seine
Empfindungen und Wuͤnſche der Nacht erſchienen
ihm ruchlos und frevelhaft, er wollte ſich wieder
kindlich, beduͤrftig und demuͤthig an die Menſchen
wie an ſeine Bruͤder anſchließen, und ſich von den
gottloſen Gefuͤhlen und Vorſaͤtzen entfernen. Rei-
zend und anlockend duͤnkte ihm die Ebene mit dem
kleinen Fluß, der ſich in mannigfaltigen Kruͤm-
mungen um Wieſen und Gaͤrten ſchmiegte; mit
Furcht gedachte er an ſeinen Aufenthalt in dem
einſamen Gebirge und zwiſchen den wuͤſten Stei-
nen, er ſehnte ſich, in dieſem friedlichen Dorfe
wohnen zu duͤrfen, und trat mit dieſen Empfin-
dungen in die menſchenerfuͤllte Kirche.
Der Geſang war eben beendigt und der Prie-
[253]Der Runenberg.
ſter hatte ſeine Predigt begonnen, von den Wohl-
thaten Gottes in der Erndte: wie ſeine Guͤte alles
ſpeiſet und ſaͤttiget was lebt, wie wunderbar im
Getraide fuͤr die Erhaltung des Menſchengeſchlech-
tes geſorgt ſey, wie die Liebe Gottes ſich unauf-
hoͤrlich im Brodte mittheile und der andaͤchtige
Chriſt ſo ein unvergaͤngliches Abendmahl geruͤhrt
feyern koͤnne. Die Gemeine war erbaut, des Jaͤ-
gers Blicke ruhten auf dem frommen Redner, und
bemerkten dicht neben der Kanzel ein junges Maͤd-
chen, das vor allen andern der Andacht und Auf-
merkſamkeit hingegeben ſchien. Sie war ſchlank
und blond, ihr blaues Auge glaͤnzte von der durch-
dringendſten Sanftheit, ihr Antlitz war wie durch-
ſichtig und in den zarteſten Farben bluͤhend. Der
fremde Juͤngling hatte ſich und ſein Herz noch nie-
mals ſo empfunden, ſo voll Liebe und ſo beruhigt,
ſo den ſtillſten und erquickendſten Gefuͤhlen hinge-
geben. Er beugte ſich weinend, als der Prieſter
endlich den Seegen ſprach, er fuͤhlte ſich bei den
heiligen Worten wie von einer unſichtbaren Gewalt
durchdrungen, und das Schattenbild der Nacht in
die tiefſte Entfernung wie ein Geſpenſt hinab ge-
ruͤckt. Er verließ die Kirche, verweilte unter einer
großen Linde, und dankte Gott in einem inbruͤn-
ſtigen Gebete, daß er ihn ohne ſein Verdienſt wie-
der aus den Netzen des boͤſen Geiſtes befreyt habe.
Das Dorf feyerte an dieſem Tage das Ernd-
tefeſt und alle Menſchen waren froͤhlich geſtimmt;
die gepuzten Kinder freuten ſich auf die Taͤnze und
Kuchen, die jungen Burſchen richteten auf dem
[254]Erſte Abtheilung.
Platze im Dorfe, der von jungen Baͤumen um-
geben war, alles zu ihrer herbſtlichen Feſtlichkeit
ein, die Muſikanten ſaßen und probirten ihre In-
ſtrumente. Chriſtian ging noch einmal in das Feld
hinaus, um ſein Gemuͤth zu ſammeln und ſeinen
Betrachtungen nachzuhaͤngen, dann kam er in das
Dorf zuruͤck, als ſich ſchon alles zur Froͤhlichkeit und
zur Begehung des Feſtes vereiniget hatte. Auch die
blonde Eliſabeth war mit ihren Eltern zugegen, und
der Fremde miſchte ſich in den frohen Haufen. Eli-
ſabeth tanzte, und er hatte unterdeß bald mit dem
Vater ein Geſpraͤch angeſponnen, der ein Pachter
war und einer der reichſten Leute im Dorfe. Ihm
ſchien die Jugend und das Geſpraͤch des fremden
Gaſtes zu gefallen, und ſo wurden ſie in kurzer
Zeit dahin einig, daß Chriſtian als Gaͤrtner bei
ihm einziehen ſolle. Dieſer konnte es unterneh-
men, denn er hoffte, daß ihm nun die Kenntniſſe
und Beſchaͤftigungen zu ſtatten kommen wuͤrden, die
er in ſeiner Heimath ſo ſehr verachtet hatte.
Jetzt begann ein neues Leben fuͤr ihn. Er zog
bei dem Pachter ein und ward zu deſſen Familie
gerechnet; mit ſeinem Stande veraͤnderte er auch
ſeine Tracht. Er war ſo gut, ſo dienſtfertig und
immer freundlich, er ſtand ſeiner Arbeit ſo fleißig
vor, daß ihm bald alle im Hauſe, vorzuͤglich aber
die Tochter, gewogen wurden. So oft er ſie am
Sonntage zur Kirche gehen ſah, hielt er ihr einen
ſchoͤnen Blumenſtrauß in Bereitſchaft, fuͤr den ſie
ihm mit erroͤthender Freundlichkeit dankte; er ver-
mißte ſie, wenn er ſie an einem Tage nicht ſah,
[255]Der Runenberg.
dann erzaͤhlte ſie ihm am Abend Maͤhrchen und
luſtige Geſchichten. Sie wurden ſich immer noth-
wendiger, und die Alten, welche es bemerkten,
ſchienen nichts dagegen zu haben, denn Chriſtian
war der fleißigſte und ſchoͤnſte Burſche im Dorfe;
ſie ſelbſt hatten vom erſten Augenblick einen Zug
der Liebe und Freundſchaft zu ihm gefuͤhlt. Nach
einem halben Jahre war Eliſabeth ſeine Gattin.
Es war wieder Fruͤhling, die Schwalben und die
Voͤgel des Geſanges kamen in das Land, der Gar-
ten ſtand in ſeinem ſchoͤnſten Schmuck, die Hoch-
zeit wurde mit aller Froͤhlichkeit gefeyert, Braut
und Braͤutigam ſchienen trunken von ihrem Gluͤcke.
Am Abend ſpaͤt, als ſie in die Kammer gingen,
ſagte der junge Gatte zu ſeiner Geliebten: Nein,
nicht jenes Bild biſt du, welches mich einſt im
Traum entzuͤckte und das ich niemals ganz vergeſ-
ſen kann, aber doch bin ich gluͤcklich in deiner
Naͤhe und ſeelig in deinen Armen.
Wie vergnuͤgt war die Familie, als ſie nach
einem Jahre durch eine kleine Tochter vermehrt
wurde, welche man Leonora nannte. Chriſtian
wurde zwar zuweilen etwas ernſter, indem er das
Kind betrachtete, aber doch kam ſeine jugendliche
Heiterkeit immer wieder zuruͤck. Er gedachte kaum
noch ſeiner vorigen Lebensweiſe, denn er fuͤhlte
ſich ganz einheimiſch und befriedigt. Nach einigen
Monaten fielen ihm aber ſeine Eltern in die Ge-
danken, und wie ſehr ſich beſonders ſein Vater
uͤber ſein ruhiges Gluͤck, uͤber ſeinen Stand als
Gaͤrtner und Landmann freuen wuͤrde; es aͤngſtigte
[256]Erſte Abtheilung.
ihn, daß er Vater und Mutter ſeit ſo langer Zeit
ganz hatte vergeſſen koͤnnen, ſein einziges Kind
erinnerte ihn, welche Freude die Kinder den Eltern
ſind, und ſo beſchloß er dann endlich, ſich auf
die Reiſe zu machen und ſeine Heimath wieder
zu beſuchen.
Ungern verließ er ſeine Gattin; alle wuͤnſch-
ten ihm Gluͤck, und er machte ſich in der ſchoͤnen
Jahreszeit zu Fuß auf den Weg. Er fuͤhlte ſchon
nach wenigen Stunden, wie ihn das Scheiden
peinige, zum erſtenmal empfand er in ſeinem Leben
die Schmerzen der Trennung; die fremden Gegen-
ſtaͤnde erſchienen ihm faſt wild, ihm war, als ſey
er in einer feindſeligen Einſamkeit verloren. Da
kam ihm der Gedanke, daß ſeine Jugend voruͤber
ſey, daß er eine Heimath gefunden, zu der er ge-
hoͤre, in die ſein Herz Wurzel geſchlagen habe;
er war faſt im Begriff den verlornen Leichtſinn
der vorigen Jahre zu beklagen, und es war ihm
aͤußert truͤbſelig zu Muthe, als er fuͤr die Nacht
auf einem Dorfe in dem Wirthshauſe einkehren
mußte. Er begriff nicht, warum er ſich von ſeiner
freundlichen Gattin und den erworbenen Eltern ent-
fernt habe, und verdrießlich und murrend machte
er ſich am Morgen auf den Weg, um ſeine Reiſe
fortzuſetzen.
Seine Angſt nahm zu, indem er ſich dem Ge-
birge naͤherte, die fernen Ruinen wurden ſchon
ſichtbar und traten nach und nach kenntlicher her-
vor, viele Bergſpitzen hoben ſich abgeruͤndet aus
dem blauen Nebel. Sein Schritt wurde zaghaft,
er
[257]Der Runenberg.
er blieb oft ſtehen und verwunderte ſich uͤber ſeine
Furcht, uͤber die Schauer, die ihm mit jedem
Schritte gedraͤngter nahe kamen. Ich kenne dich
Wahnſinn wohl, rief er aus, und dein gefaͤhrliches
Locken, aber ich will dir maͤnnlich widerſtehn! Eli-
ſabeth iſt kein ſchnoͤder Traum, ich weiß, daß ſie
jetzt an mich denkt, daß ſie auf mich wartet und
liebevoll die Stunden meiner Abweſenheit zaͤhlt.
Sehe ich nicht ſchon Waͤlder wie ſchwarze Haare
vor mir? Schauen nicht aus dem Bache die bliz-
zenden Augen nach mir her? Schreiten die großen
Glieder nicht aus den Bergen auf mich zu? —
Mit dieſen Worten wollte er ſich um auszuruhen
unter einen Baum nieder werfen, als er im Schat-
ten deſſelben einen alten Mann ſitzen ſah, der mit
der groͤßten Aufmerkſamkeit eine Blume betrachtete,
ſie bald gegen die Sonne hielt, bald wieder mit
ſeiner Hand beſchattete, ihre Blaͤtter zaͤhlte, und
uͤberhaupt ſich bemuͤhte, ſie ſeinem Gedaͤchtniſſe
genau einzupraͤgen. Als er naͤher ging, erſchien
ihm die Geſtalt ſo bekannt, und bald blieb ihm
kein Zweifel uͤbrig, daß der Alte mit der Blume
ſein Vater ſey. Er ſtuͤrzte ihm mit dem Ausdruck
der heftigſten Freude in die Arme; jener war ver-
gnuͤgt, aber nicht uͤberraſcht, ihn ſo ploͤtzlich wie-
der zu ſehen. Koͤmmſt du mir ſchon entgegen,
mein Sohn? ſagte der Alte, ich wußte, daß ich
dich bald finden wuͤrde, aber ich glaubte nicht, daß
mir ſchon am heutigen Tage die Freude widerfah-
ren ſollte. — Woher wußtet Ihr, Vater, daß
Ihr mich antreffen wuͤrdet? — An dieſer Blume,
I. [ 17 ]
[258]Erſte Abtheilung.
ſprach der alte Gaͤrtner; ſeit ich lebe habe ich mir
gewuͤnſcht, ſie einmal ſehen zu koͤnnen, aber nie-
mals iſt es mir ſo gut geworden, weil ſie ſehr
ſelten iſt, und nur in Gebirgen waͤchſt: ich machte
mich auf dich zu ſuchen, weil deine Mutter geſtor-
ben iſt und mir zu Hauſe die Einſamkeit zu druͤ-
ckend und truͤbſelig war. Ich wußte nicht, wohin
ich meinen Weg richten ſollte, endlich wanderte ich
durch das Gebirge, ſo traurig mir auch die Reiſe
vorkam; ich ſuchte beiher nach der Blume, konnte
ſie aber nirgends entdecken, und nun finde ich ſie
ganz unvermuthet hier, wo ſchon die ſchoͤne Ebene
ſich ausſtreckt, daraus wußte ich, daß ich dich bald
finden mußte, und ſieh, wie die liebe Blume mir
geweiſſagt hat! Sie umarmten ſich wieder, und
Chriſtian beweinte ſeine Mutter; der Alte aber
faßte ſeine Hand und ſagte: laß uns gehen, daß
wir die Schatten des Gebirges bald aus den Au-
gen verlieren, mir iſt immer noch weh ums Herz
von den ſteilen wilden Geſtalten, von dem graͤßli-
chen Gekluͤft, von den ſchluchzenden Waſſerbaͤchen;
laß uns das gute, fromme, ebene Land beſuchen.
Sie wanderten zuruͤck, und Chriſtian ward
wieder froher. Er erzaͤhlte ſeinem Vater von ſeinem
neuen Gluͤcke, von ſeinem Kinde und ſeiner Hei-
math; ſein Geſpraͤch machte ihn ſelbſt wie trun-
ken, und er fuͤhlte im Reden erſt recht, wie nichts
mehr zu ſeiner Zufriedenheit ermangle. So kamen
ſie unter Erzaͤhlungen, traurigen und froͤhlichen,
in dem Dorfe an. Alle waren uͤber die fruͤhe Be-
endigung der Reiſe vergnuͤgt, am meiſten Eliſa-
[259]Der Runenberg.
beth. Der alte Vater zog zu ihnen, und gab ſein
kleines Vermoͤgen in ihre Wirthſchaft; ſie bildeten
den zufriedenſten und eintraͤchtigſten Kreis von Men-
ſchen. Der Acker gedieh, der Viehſtand mehrte
ſich, Chriſtians Haus wurde in wenigen Jahren
eins der anſehnlichſten im Orte; auch ſah er ſich
bald als den Vater von mehreren Kindern.
Fuͤnf Jahre waren auf dieſe Weiſe verfloſſen,
als ein Fremder auf ſeiner Reiſe in ihrem Dorfe
einkehrte, und in Chriſtians Hauſe, weil es die an-
ſehnlichſte Wohnung war, ſeinen Aufenthalt nahm.
Er war ein freundlicher, geſpraͤchiger Mann, der
vieles von ſeinen Reiſen erzaͤhlte, der mit den Kin-
dern ſpielte und ihnen Geſchenke machte, und dem
in kurzem alle gewogen waren. Es gefiel ihm ſo
wohl in der Gegend, daß er ſich einige Tage hier
aufhalten wollte; aber aus den Tagen wurden Wo-
chen, und endlich Monate. Keiner wunderte ſich
uͤber die Verzoͤgerung, denn alle hatten ſich ſchon
daran gewoͤhnt, ihn mit zur Familie zu zaͤhlen.
Chriſtian ſaß nur oft nachdenklich, denn es kam
ihm vor, als kenne er den Reiſenden ſchon von
ehemals, und doch konnte er ſich keiner Gelegen-
heit erinnern, bei welcher er ihn geſehen haben
moͤchte. Nach dreien Monaten nahm der Fremde
endlich Abſchied und ſagte: Lieben Freunde, ein
wunderbares Schickſal und ſeltſame Erwartungen
treiben mich in das naͤchſte Gebirge hinein, ein
zaubervolles Bild, dem ich nicht widerſtehen kann,
lockt mich; ich verlaſſe euch jetzt, und ich weiß
nicht, ob ich wieder zu euch zuruͤck kommen werde;
[260]Erſte Abtheilung.
ich habe eine Summe Geldes bei mir, die in euren
Haͤnden ſicherer iſt als in den meinigen, und des-
halb bitte ich euch, ſie zu verwahren, komme ich
in Jahresfriſt nicht zuruͤck, ſo behaltet ſie, und
nehmet ſie als einen Dank fuͤr eure mir bewieſene
Freundſchaft an.
So reiſte der Fremde ab, und Chriſtian nahm
das Geld in Verwahrung. Er verſchloß es ſorg-
faͤltig und ſah aus uͤbertriebener Aengſtlichkeit zu-
weilen wieder nach, zaͤhlte es uͤber, ob nichts da-
ran fehle, und machte ſich viel damit zu thun.
Dieſe Summe koͤnnte uns recht gluͤcklich machen,
ſagte er einmal zu ſeinem Vater, wenn der Fremde
nicht zuruͤck kommen ſollte, fuͤr uns und unſre
Kinder waͤre auf immer geſorgt. Laß das Gold,
ſagte der Alte, darinne liegt das Gluͤck nicht, uns
hat bisher noch gottlob nichts gemangelt, und ent-
ſchlage dich uͤberhaupt dieſer Gedanken.
Oft ſtand Chriſtian in der Nacht auf, um
die Knechte zur Arbeit zu wecken und ſelbſt nach
allem zu ſehn; der Vater war beſorgt, daß er
durch uͤbertriebenen Fleiß ſeiner Jugend und Ge-
ſundheit ſchaden moͤchte: daher machte er ſich in
einer Nacht auf, um ihn zu ermahnen, ſeine uͤber-
triebene Thaͤtigkeit einzuſchraͤnken, als er ihn zu
ſeinem Erſtaunen bei einer kleinen Lampe am Ti-
ſche ſitzend fand, indem er wieder mit der groͤßten
Aemſigkeit die Goldſtuͤcke zaͤhlte. Mein Sohn,
ſagte der Alte mit Schmerzen, ſoll es dahin mit
dir kommen, iſt dieſes verfluchte Metall nur zu
unſerm Ungluͤck unter dieſes Dach gebracht? Be-
[261]Der Runenberg.
ſinne dich, mein Lieber, ſo muß dir der boͤſe Feind
Blut und Leben verzehren. — Ja, ſagte Chriſtian,
ich verſtehe mich ſelber nicht mehr, weder bei Tage
noch in der Nacht laͤßt es mir Ruhe; ſeht, wie
es mich jetzt wieder anblickt, daß mir der rothe
Glanz tief in mein Herz hinein geht! Horcht, wie
es klingt, dies guͤldene Blut! das ruft mich, wenn
ich ſchlafe, ich hoͤre es, wenn Muſik toͤnt, wenn
der Wind blaͤſt, wenn Leute auf der Gaſſe ſpre-
chen; ſcheint die Sonne, ſo ſehe ich nur dieſe gel-
ben Augen, wie es mir zublinzelt, und mir heimlich
ein Liebeswort ins Ohr ſagen will: ſo muß ich
mich wohl naͤchtlicher Weiſe aufmachen, um nur
ſeinem Liebesdrang genug zu thun, und dann fuͤhle
ich es innerlich jauchzen und frohlocken, wenn ich
es mit meinen Fingern beruͤhre, es wird vor Freu-
den immer roͤther und herrlicher; ſchaut nur ſelbſt
die Glut der Entzuͤckung an! — Der Greis nahm
ſchaudernd und weinend den Sohn in ſeine Arme,
betete und ſprach dann: Chriſtel, du mußt dich
wieder zum Worte Gottes wenden, du mußt flei-
ßiger und andaͤchtiger in die Kirche gehen, ſonſt
wirſt du verſchmachten und im traurigſten Elende
dich verzehren.
Das Geld wurde wieder weggeſchloſſen, Chri-
ſtian verſprach ſich zu aͤndern und in ſich zu gehn,
und der Alte ward beruhigt. Schon war ein Jahr
und mehr vergangen, und man hatte von dem
Fremden noch nichts wieder in Erfahrung bringen
koͤnnen; der Alte gab nun endlich den Bitten ſeines
Sohnes nach, und das zuruͤckgelaſſene Geld wurde
[262]Erſte Abtheilung.
in Laͤndereien und auf andere Weiſe angelegt.
Im Dorfe wurde bald von dem Reichthum des
jungen Pachters geſprochen, und Chriſtian ſchien
außerordentlich zufrieden und vergnuͤgt, ſo daß der
Vater ſich gluͤcklich pries, ihn ſo wohl und heiter
zu ſehn: alle Furcht war jetzt in ſeiner Seele ver-
ſchwunden. Wie ſehr mußte er daher erſtaunen,
als ihn an einem Abend Eliſabeth beiſeit nahm
und unter Thraͤnen erzaͤhlte, wie ſie ihren Mann
nicht mehr verſtehe, er ſpreche ſo irre, vorzuͤglich
des Nachts, er traͤume ſchwer, gehe oft im Schlafe
lange in der Stube herum, ohne es zu wiſſen, und
erzaͤhle wunderbare Dinge, vor denen ſie oft ſchau-
dern muͤſſe. Am ſchrecklichſten ſey ihr ſeine Luſtig-
keit am Tage, denn ſein Lachen ſey ſo wild und
frech, ſein Blick irre und fremd. Der Vater erſchrack
und die betruͤbte Gattin fuhr fort: Immer ſpricht
er von dem Fremden, und behauptet, daß er ihn
ſchon ſonſt gekannt habe, denn dieſer fremde Mann
ſey eigentlich ein wunderſchoͤnes Weib; auch will
er gar nicht mehr auf das Feld hinaus gehn oder
im Garten arbeiten, denn er ſagt, er hoͤre ein
unterirdiſches fuͤrchterliches Aechzen, ſo wie er nur
eine Wurzel ausziehe; er faͤhrt zuſammen und
ſcheint ſich vor allen Pflanzen und Kraͤutern wie
vor Geſpenſtern zu entſetzen. — Allguͤtiger Gott!
rief der Vater aus, iſt der fuͤrchterliche Hunger in
ihn ſchon ſo feſt hinein gewachſen, daß es dahin
hat kommen koͤnnen? So iſt ſein verzaubertes Herz
nicht menſchlich mehr, ſondern von kaltem Metall;
[263]Der Runenberg.
wer keine Blume mehr liebt, dem iſt alle Liebe und
Gottesfurcht verloren.
Am folgenden Tage ging der Vater mit dem
Sohne ſpatzieren, und ſagte ihm manches wieder,
was er von Eliſabeth gehoͤrt hatte; er ermahnte
ihn zur Froͤmmigkeit, und daß er ſeinen Geiſt
heiligen Betrachtungen widmen ſolle. Chriſtian
ſagte: gern, Vater, auch iſt mir oft ganz wohl,
und es gelingt mir alles gut; ich kann auf lange
Zeit, auf Jahre, die wahre Geſtalt meines In-
nern vergeſſen, und gleichſam ein fremdes Leben
mit Leichtigkeit fuͤhren: dann geht aber ploͤtzlich
wie ein neuer Mond das regierende Geſtirn, wel-
ches ich ſelber bin, in meinem Herzen auf, und
beſiegt die fremde Macht. Ich koͤnnte ganz froh
ſeyn, aber einmal, in einer ſeltſamen Nacht, iſt
mir durch die Hand ein geheimnißvolles Zeichen
tief in mein Gemuͤth hinein gepraͤgt; oft ſchlaͤft
und ruht die magiſche Figur, ich meine ſie iſt ver-
gangen, aber dann quillt ſie wie ein Gift ploͤtzlich
wieder hervor, und wegt ſich in allen Linien. Dann
kann ich ſie nur denken und fuͤhlen, und alles
umher iſt verwandelt, oder vielmehr von dieſer Ge-
ſtaltung verſchlungen worden. Wie der Wahnſin-
nige beim Anblick des Waſſers ſich entſetzt, und
das empfangene Gift noch giftiger in ihm wird,
ſo geſchieht es mir bei allen eckigen Figuren, bei
jeder Linie, bei jedem Strahl, alles will dann die
inwohnende Geſtalt entbinden und zur Geburt befoͤr-
dern, und mein Geiſt und Koͤrper fuͤhlt die Angſt;
wie ſie das Gemuͤth durch ein Gefuͤhl von außen
[264]Erſte Abtheilung.
empfing, ſo will es ſie dann wieder quaͤlend und rin-
gend zum aͤußern Gefuͤhl hinaus arbeiten, um ihrer
los und ruhig zu werden.
Ein ungluͤckliches Geſtirn war es, ſprach der
Alte, das dich von uns hinweg zog; du warſt fuͤr
ein ſtilles Leben geboren, dein Sinn neigte ſich
zur Ruhe und zu den Pflanzen, da fuͤhrte dich
deine Ungeduld hinweg, in die Geſellſchaft der ver-
wilderten Steine: die Felſen, die zerriſſenen Klip-
pen mit ihren ſchroffen Geſtalten haben dein Ge-
muͤth zerruͤttet, und den verwuͤſtenden Hunger nach
dem Metall in dich gepflanzt. Immer haͤtteſt du
dich vor dem Anblick des Gebirges huͤten und
bewahren muͤſſen, und ſo dachte ich dich auch zu
erziehen, aber es hat nicht ſeyn ſollen. Deine De-
muth, deine Ruhe, dein kindlicher Sinn iſt von
Trotz, Wildheit und Uebermuth verſchuͤttet.
Nein, ſagte der Sohn, ich erinnere mich ganz
deutlich, daß mir eine Pflanze zuerſt das Ungluͤck
der ganzen Erde bekannt gemacht hat, ſeitdem ver-
ſtehe ich erſt die Seufzer und Klagen, die allent-
halben in der ganzen Natur vernehmbar ſind, wenn
man nur darauf hoͤren will; in den Pflanzen, Kraͤu-
tern, Blumen und Baͤumen regt und bewegt ſich
ſchmerzhaft nur eine große Wunde, ſie ſind der
Leichnam vormaliger herrlicher Steinwelten, ſie bie-
ten unſerm Auge die ſchrecklichſte Verweſung dar.
Jetzt verſtehe ich es wohl, daß es dies war, was
mir jene Wurzel mit ihrem tiefgeholten Aechzen
ſagen wollte, ſie vergaß ſich in ihrem Schmerze
und verrieth mir alles. Darum ſind alle gruͤnen
[265]Der Runenberg.
Gewaͤchſe ſo erzuͤrnt auf mich, und ſtehn mir nach
dem Leben; ſie wollen jene geliebte Figur in mei-
nem Herzen ausloͤſchen, und in jedem Fruͤhling mit
ihrer verzerrten Leichenmiene meine Seele gewinnen.
Unerlaubt und tuͤckiſch iſt es, wie ſie dich, alter
Mann, hintergangen haben, denn von deiner Seele
haben ſie gaͤnzlich Beſitz genommen. Frage nur
die Steine, du wirſt erſtaunen, wenn du ſie reden
hoͤrſt.
Der Vater ſah ihn lange an, und konnte ihm
nichts mehr antworten. Sie gingen ſchweigend
zuruͤck nach Hauſe, und der Alte mußte ſich jetzt
ebenfalls vor der Luſtigkeit ſeines Sohnes entſetzen,
denn ſie duͤnkte ihm ganz fremdartig, und als wenn
ein andres Weſen aus ihm, wie aus einer Ma-
ſchine, unbeholfen und ungeſchickt heraus ſpiele. —
Das Erndtefeſt ſollte wieder gefeyert werden,
die Gemeine ging in die Kirche, und auch Eliſa-
beth zog ſich mit den Kindern an, um dem Got-
tesdienſte beizuwohnen; ihr Mann machte auch
Anſtalten, ſie zu begleiten, aber noch vor der Kir-
chenthuͤr kehrte er um, und ging tiefſinnend vor
das Dorf hinaus. Er ſetzte ſich auf die Anhoͤhe
und ſahe wieder die rauchenden Daͤcher unter ſich,
er hoͤrte den Geſang und Orgelton von der Kirche
her, geputzte Kinder tanzten und ſpielten auf dem
gruͤnen Raſen. Wie habe ich mein Leben in einem
Traume verloren! ſagte er zu ſich ſelbſt; Jahre
ſind verfloſſen, daß ich von hier hinunter ſtieg,
unter die Kinder hinein; die damals hier ſpielten
ſind heute dort ernſthaft in der Kirche; ich trat
[266]Erſte Abtheilung.
auch in das Gebaͤude, aber heut iſt Eliſabeth nicht
mehr ein bluͤhendes kindliches Maͤdchen, ihre Ju-
gend iſt voruͤber, ich kann nicht mit der Sehnſucht
wie damals den Blick ihrer Augen aufſuchen: ſo
habe ich muthwillig ein hohes ewiges Gluͤck aus
der Acht gelaſſen, um ein vergaͤngliches und zeit-
liches zu gewinnen.
Er ging ſehnſuchtsvoll nach dem benachbarten
Walde, und vertiefte ſich in ſeine dichteſten Schat-
ten. Eine ſchauerliche Stille umgab ihn, keine
Luft ruͤhrte ſich in den Blaͤttern. Indem ſah er
einen Mann von ferne auf ſich zukommen, den er
fuͤr den Fremden erkannte; er erſchrack, und ſein
erſter Gedanke war, jener wuͤrde ſein Geld von
ihm zuruͤck fordern. Als die Geſtalt etwas naͤher
kam, ſah er, wie ſehr er ſich geirrt hatte, denn
die Umriſſe, welche er wahrzunehmen gewaͤhnt,
zerbrachen wie in ſich ſelber; ein altes Weib von
der aͤußerſten Haͤßlichkeit kam auf ihn zu, ſie war
in ſchmutzige Lumpen gekleidet, ein zerriſſenes Tuch
hielt einige greiſe Haare zuſammen, ſie hinkte an
einer Kruͤcke. Mit fuͤrchterlicher Stimme redete
ſie Chriſtian an, und fragte nach ſeinem Namen
und Stande, er antwortete ihr umſtaͤndlich und
ſagte darauf: aber wer biſt du? Man nennt mich
das Waldweib, ſagte jene, und jedes Kind weiß
von mir zu erzaͤhlen; haſt du mich niemals gekannt?
Mit den letzten Worten wandte ſie ſich um, und
Chriſtian glaubte zwiſchen den Baͤumen den gol-
denen Schleier, den hohen Gang, den maͤchtigen
Bau der Glieder wieder zu erkennen. Er wollte
[267]Der Runenberg.
ihr nacheilen, aber ſeine Augen fanden ſie nicht
mehr.
Indem zog etwas Glaͤnzendes ſeine Blicke in
das gruͤne Gras nieder. Er hob es auf, und ſahe
die magiſche Tafel mit den farbigen Edelgeſteinen,
mit der ſeltſamen Figur wieder, die er vor ſo man-
chem Jahr verloren hatte. Die Geſtalt und die
bunten Lichter druͤckten mit der ploͤtzlichſten Gewalt
auf alle ſeine Sinne. Er faßte ſie recht feſt an,
um ſich zu uͤberzeugen, daß er ſie wieder in ſeinen
Haͤnden halte, und eilte dann damit nach dem
Dorfe zuruͤck. Der Vater begegnete ihm. Seht,
rief er ihm zu, das, wovon ich euch ſo oft erzaͤhlt
habe, was ich nur im Traum zu ſehn glaubte, iſt
jetzt gewiß und wahrhaftig mein. Der Alte betrach-
tete die Tafel lange und ſagte: mein Sohn, mir
ſchaudert recht im Herzen, wenn ich die Linea-
mente dieſer Steine betrachte und ahnend den
Sinn dieſer Wortfuͤgung errathe; ſieh her, wie
kalt ſie funkeln, welche grauſame Blicke ſie von
ſich geben, blutduͤrſtig, wie das rothe Auge des
Tiegers. Wirf dieſe Schrift weg, die dich kalt
und grauſam macht, die dein Herz verſteinern muß:
[268]Erſte Abtheilung.
Wunderbare, unermeßliche Schaͤtze, antwortete
der Sohn, muß es noch in den Tiefen der Erde
geben. Wer dieſe ergruͤnden, heben und an ſich
reißen koͤnnte! Wer die Erde ſo wie eine geliebte
Braut an ſich zu druͤcken vermoͤchte, daß ſie ihm
in Angſt und Liebe gern ihr Koſtbarſtes goͤnnte!
Das Waldweib hat mich gerufen, ich gehe ſie zu
ſuchen. Hier neben an iſt ein alter verfallener
Schacht, ſchon vor Jahrhunderten von einem Berg-
manne ausgegraben; vielleicht, daß ich ſie dort
finde!
Er eilte fort. Vergeblich ſtrebte der Alte, ihn
zuruͤck zu halten, jener war ſeinen Blicken bald
entſchwunden. Nach einigen Stunden, nach vie-
[269]Der Runenberg.
ler Anſtrengung gelangte der Vater an den alten
Schacht; er ſah die Fußſtapfen im Sande am Ein-
gange eingedruͤckt, und kehrte weinend um, in der
Ueberzeugung, daß ſein Sohn im Wahnſinn hin-
ein gegangen, und in alte geſammelte Waͤſſer und
Untiefen verſunken ſey.
Seitdem war er unaufhoͤrlich betruͤbt und in
Thraͤnen. Das ganze Dorf trauerte um den jun-
gen Pachter, Eliſabeth war untroͤſtlich, die Kinder
jammerten laut. Nach einem halben Jahre war
der alte Vater geſtorben, Eliſabeths Eltern folg-
ten ihm bald nach, und ſie mußte die große Wirth-
ſchaft allein verwalten. Die angehaͤuften Geſchaͤfte
entfernten ſie etwas von ihrem Kummer, die Er-
ziehung der Kinder, die Bewirthſchaftung des Gu-
tes ließen ihr fuͤr Sorge und Gram keine Zeit
uͤbrig. So entſchloß ſie ſich nach zwei Jahren zu
einer neuen Heirath, ſie gab ihre Hand einem jun-
gen heitern Manne, der ſie von Jugend auf geliebt
hatte. Aber bald gewann alles im Hauſe eine
andre Geſtalt. Das Vieh ſtarb, Knechte und
Maͤgde waren untreu, Scheuren mit Fruͤchten wur-
den vom Feuer verzehrt, Leute in der Stadt, bei
welchen Summen ſtanden, entwichen mit dem Gelde.
Bald ſah ſich der Wirth genoͤthigt, einige Aecker
und Wieſen zu verkaufen; aber ein Mißwachs und
theures Jahr brachten ihn nur in neue Verlegen-
heit. Es ſchien nicht anders, als wenn das ſo
wunderbar erworbene Geld auf allen Wegen eine
ſchleunige Flucht ſuchte; indeſſen mehrten ſich die
Kinder, und Eliſabeth ſowohl als ihr Mann wur-
[270]Erſte Abtheilung.
den in der Verzweiflung unachtſam und ſaumſe-
lig; er ſuchte ſich zu zerſtreuen, und trank haͤufi-
gen und ſtarken Wein, der ihn verdrießlich und
jaͤhzornig machte, ſo daß oft Eliſabeth mit heißen
Zaͤhren ihr Elend beweinte. So wie ihr Gluͤck
wich, zogen ſich auch die Freunde im Dorfe von
ihnen zuruͤck, ſo daß ſie ſich nach einigen Jahren
ganz verlaſſen ſahn, und ſich nur mit Muͤhe von
einer Woche zur andern hinuͤber friſteten.
Es waren ihnen nur wenige Schafe und eine
Kuh uͤbrig geblieben, welche Eliſabeth oft ſelber
mit den Kindern huͤtete. So ſaß ſie einſt mit
ihrer Arbeit auf dem Anger, Leonore zu ihrer
Seite und ein ſaͤugendes Kind an der Bruſt, als
ſie von ferne herauf eine wunderbare Geſtalt kom-
men ſahen. Es war ein Mann in einem ganz
zerriſſenen Rocke, baarfuͤßig, ſein Geſicht ſchwarz-
braun von der Sonne verbrannt, von einem lan-
gen ſtruppigen Bart noch mehr entſtellt; er trug
keine Bedeckung auf dem Kopf, hatte aber von
gruͤnem Laube einen Kranz durch ſein Haar ge-
flochten, welcher ſein wildes Anſehn noch ſeltſa-
mer und unbegreiflicher machte. Auf dem Ruͤcken
trug er in einem feſt geſchnuͤrten Sack eine ſchwere
Ladung, im Gehen ſtuͤtzte er ſich auf eine junge
Fichte.
Als er naͤher kam, ſetzte er ſeine Laſt nieder,
und holte ſchwer Athem. Er bot der Frau guten
Tag, die ſich vor ſeinem Anblick entſetzte, das
Maͤdchen ſchmiegte ſich an ihre Mutter. Als er
ein wenig geruht hatte, ſagte er: nun komme ich
[271]Der Runenberg.
von einer ſehr beſchwerlichen Wanderſchaft aus
dem rauheſten Gebirge auf Erden, aber ich habe
dafuͤr auch endlich die koſtbarſten Schaͤtze mitge-
bracht, die die Einbildung nur denken, oder das
Herz ſich wuͤnſchen kann. Seht hier, und erſtaunt!
— Er oͤffnete hierauf ſeinen Sack und ſchuͤttete
ihn aus; dieſer war voller Kieſel, unter denen
groſſe Stuͤcke Quarz, nebſt andern Steinen lagen.
Es iſt nur, fuhr er fort, daß dieſe Juwelen noch
nicht polirt und geſchliffen ſind, darum fehlt es ih-
nen noch an Auge und Blick; das aͤußerliche Feuer
mit ſeinem Glanze iſt noch zu ſehr in ihrem in-
wendigen Herzen begraben, aber man muß es nur
herausſchlagen, daß ſie ſich fuͤrchten, daß keine
Verſtellung ihnen mehr nuͤtzt, ſo ſieht man wohl,
wes Geiſtes Kind ſie ſind. — Er nahm mit dieſen
Worten einen harten Stein und ſchlug ihn heftig
gegen einen andern, ſo daß die rothen Funken her-
ausſprangen. Habt ihr den Glanz geſehen? rief
er aus; ſo ſind ſie ganz Feuer und Licht, ſie erhel-
len das Dunkel mit ihrem Lachen, aber noch thun
ſie es nicht freiwillig. — Er packte hierauf alles
wieder ſorgfaͤltig in ſeinen Sack, welchen er feſt
zuſammen ſchnuͤrte. Ich kenne dich recht gut,
ſagte er dann wehmuͤthig, du biſt Eliſabeth. —
Die Frau erſchrack. Wie iſt dir doch mein Name
bekannt? fragte ſie mit ahndendem Zittern. — Ach,
lieber Gott! ſagte der Ungluͤckſelige, ich bin ja der
Chriſtian, der einſt als Jaͤger zu euch kam, kennſt
du mich denn nicht mehr?
Sie wußte nicht, was ſie im Erſchrecken und
[272]Erſte Abtheilung.
tiefſtem Mitleiden ſagen ſollte. Er fiel ihr um den
Hals, und kuͤßte ſie. Eliſabeth rief aus: O Gott!
mein Mann kommt!
Sey ruhig, ſagte er, ich bin dir ſo gut
wie geſtorben; dort im Walde wartet ſchon meine
Schoͤne, die Gewaltige, auf mich, die mit dem
goldenen Schleier geſchmuͤckt iſt. Dieſes iſt mein
liebſtes Kind, Leonore. Komm her, mein theu-
res, liebes Herz, und gieb mir auch einen Kuß,
nur einen einzigen, daß ich einmal wieder deinen
Mund auf meinen Lippen fuͤhle, dann will ich
euch verlaſſen.
Leonore weinte; ſie ſchmiegte ſich an ihre
Mutter, die in Schluchzen und Thraͤnen ſie halb
zum Wandrer lenkte, halb zog ſie dieſer zu ſich,
nahm ſie in die Arme, und druͤckte ſie an ſeine
Bruſt. — Dann ging er ſtill fort, und im Walde
ſahen ſie ihn mit dem entſetzlichen Waldweibe
ſprechen.
Was iſt euch? fragte der Mann, als er Mut-
ter und Tochter blaß und in Thraͤnen aufgeloͤſt
fand. Keiner wollte ihm Antwort geben.
Der Ungluͤckliche ward aber ſeitdem nicht
wieder geſehen.
Manfred endigte und ſah auf: ich merke,
ſagte er, meine Zuhoͤrer, noch auffallender aber
meine Zuhoͤrerinnen, ſind blaß geworden.
Gewiß, ſagte Emilie, denn der Schluß
iſt zu ſchrecklich; es iſt aber dem Vorleſer nicht
beſſer
[273]Liebeszauber.
beſſer ergangen, denn er hat waͤhrend ſeinem
Vortrage mehr als einmal die Farbe gewechſelt.
Vielleicht, ſagte Lothar, kann die Erzaͤh-
lung, die ich Ihnen nun vorzutragen habe, durch
ihr grelles Colorit jene zu truͤbe Empfindung
unterbrechen, wenn auch nicht erheitern. Ich
erbitte mir alſo einige Aufmerkſamkeit fuͤr den
Inhalt dieſer Blaͤtter.
Liebeszauber.
Tief denkend ſaß Emil an ſeinem Tiſche und er-
wartete ſeinen Freund Roderich. Das Licht brannte
vor ihm, der Winterabend war kalt, und er wuͤnſchte
heut ſeinen Reiſegefaͤhrten herbei, ſo gern er wohl
ſonſt deſſen Geſellſchaft vermied, denn an dieſem
Abend wollte er ihm ein Geheimniß entdecken und
ſich Rath von ihm erbitten. Der menſchenſcheue
Emil fand bei allen Geſchaͤften und Vorfaͤllen des
Lebens ſo viele Schwierigkeiten, ſo unuͤberſteigliche
Hinderniſſe, daß ihm das Schickſal faſt in einer
ironiſchen Laune dieſen Roderich zugefuͤhrt zu ha-
ben ſchien, der in allen Dingen das Gegentheil
ſeines Freundes zu nennen war. Unſtaͤt, flatter-
haft, von jedem erſten Eindruck beſtimmt und be-
geiſtert, unternahm er alles, wußte fuͤr alles Rath,
war ihm keine Unternehmung zu ſchwierig, konnte
ihn kein Hinderniß abſchrecken: aber im Verlaufe
eines Geſchaͤftes ermuͤdete und erlahmte er eben ſo
I. [ 18 ]
[274]Erſte Abtheilung.
ſchnell, als er anfangs elaſtiſch und begeiſtert gewe-
ſen war, alles was ihn dann hinderte, war fuͤr
ihn kein Sporn, ſeinen Eifer zu vermehren, ſon-
dern es veranlaßte ihn nur, das zu verachten, was
er ſo hitzig unternommen hatte, ſo daß Roderich
alle ſeine Plane eben ſo ohne Urſach liegen ließ
und ſaumſelig vergaß, als er ſie unbeſonnen unter-
nommen hatte. Daher verging kein Tag, daß
beide Freunde nicht in Krieg geriethen, der ihrer
Freundſchaft den Tod zu drohen ſchien, doch war
vielleicht dasjenige, was ſie dem Anſcheine nach
trennte, nur das, was ſie am innigſten verband;
beide liebten ſich herzlich, aber beide fanden eine
große Genugthuung darin, daß einer uͤber den an-
dern die gegruͤndetſten Klagen fuͤhren konnte.
Emil, ein reicher junger Mann von reizba-
rem und melankoliſchem Temperament war nach
dem Tode ſeiner Eltern Herr ſeines Vermoͤgens;
er hatte eine Reiſe angetreten, um ſich auszubil-
den, befand ſich aber nun ſchon ſeit einigen Mo-
naten in einer anſehnlichen Stadt, die Freuden
des Carnevals zu genießen, um welche er ſich nie-
mals bemuͤhte, um bedeutende Verabredungen uͤber
ſein Vermoͤgen mit Verwandten zu treffen, die er
kaum noch beſucht hatte. Unterwegs war er auf
den unſteten allzubeweglichen Roderich geſtoßen, der
mit ſeinen Vormuͤndern in Unfrieden lebte, und
um ſich ganz von dieſen und ihren laͤſtigen Ver-
mahnungen los zu machen, begierig die Gelegenheit
ergriff, welche ihm ſein neuer Freund anbot, ihn
als Gefaͤhrten auf ſeiner Reiſe mitzunehmen. Auf
[275]Liebeszauber.
dem Wege hatten ſie ſich ſchon oft wieder trennen
wollen, aber beide hatten in jeder Streitigkeit nur
um ſo deutlicher gefuͤhlt, wie unentbehrlich ſie ſich
waͤren. Kaum waren ſie in einer Stadt aus dem
Wagen geſtiegen, ſo hatte Roderich ſchon alle Merk-
wuͤrdigkeiten des Orts geſehen, um ſie am folgen-
den Tage zu vergeſſen, waͤhrend Emil ſich eine
Woche aus Buͤchern gruͤndlich vorbereitete, um
nichts aus der Acht zu laſſen, wovon er doch nach-
her aus Traͤgheit vieles ſeiner Aufmerkſamkeit nicht
wuͤrdigte; Roderich hatte gleich tauſend Bekannt-
ſchaften gemacht und alle oͤffentlichen Oerter be-
ſucht, fuͤhrte auch nicht ſelten ſeine neu erworbe-
nen Freunde auf Emils einſames Zimmer, wo er
dieſen dann mit ihnen allein ließ, wenn ſie anfin-
gen ihm Langeweile zu machen. Eben ſo oft
brachte er den beſcheidenen Emil in Verlegenheit,
wenn er deſſen Verdienſte und Kenntniſſe gegen
Gelehrte und einſichtsvolle Maͤnner uͤber die Ge-
buͤhr erhob, und dieſen zu verſtehn gab, wie vie-
les ſie in Sprachen, Alterthuͤmern, oder Kunſt-
kenntniſſen von ſeinem Freunde lernen koͤnnten, ob
er gleich ſelbſt niemals die Zeit finden konnte, uͤber
dieſe Gegenſtaͤnde ſeinen Gefaͤhrten anzuhoͤren, wenn
ſich das Geſpraͤch dahin lenkte. War nun Emil ein-
mal zur Thaͤtigkeit aufgelegt, ſo konnte er faſt da-
rauf rechnen, daß ſein ſchwaͤrmender Freund ſich
in der Nacht auf einem Balle, oder einer Schlit-
tenfahrt erkaͤltet habe, und das Bett huͤten muͤſſe,
ſo daß Emil in Geſellſchaft des lebendigſten, un-
[276]Erſte Abtheilung.
ruhigſten und mittheilſamſten aller Menſchen in der
groͤßten Einſamkeit lebte.
Heute erwartete ihn Emil gewiß, weil er ihm
das feyerliche Verſprechen hatte geben muͤſſen, den
Abend mit ihm zuzubringen, um zu erfahren, was
ſchon ſeit Wochen ſeinen tiefſinnigen Freund ge-
druͤckt und beaͤngſtigt habe. Emil ſchrieb indeß fol-
gende Verſe nieder.
[277]Liebeszauber.
Emil ſtand ungeduldig auf. Es ward finſterer
und Roderich kam nicht, dem er ſeine Liebe zu
einer Unbekannten, die ihm gegen uͤber wohnte und
ihn tagelang zu Hauſe, und Naͤchte hindurch wa-
chend erhielt, bekennen wollte. Jetzt ſchallten Fuß-
tritte die Treppe herauf, die Thuͤr, ohne daß man
anklopfte, eroͤffnete ſich, und herein traten zwei
bunte Masken mit widrigen Angeſichtern, der eine
ein Tuͤrke, in rother und blauer Seide gekleidet,
der andre ein Spanier, blaßgelb und roͤthlich, mit
vielen ſchwankenden Federn auf dem Hute. Als
Emil ungeduldig werden wollte, nahm Roderich
die Maske ab, zeigte ſein wohl bekanntes lachen-
des Geſicht und ſagte: ei, mein Liebſter, welche
graͤmliche Miene! Sieht man ſo aus zur Carne-
valszeit? Ich und unſer lieber junger Offizier kom-
men dich abzuholen, heut iſt großer Ball auf dem
Maskenſaale, und da ich weiß, daß du es ver-
ſchworen haſt, anders, als in deinen ſchwarzen
Kleidern zu gehn, die du taͤglich traͤgſt, ſo komm
nur ſo mit, wie du da biſt, denn es iſt ſchon
ziemlich ſpaͤt.
Emil war erzuͤrnt und ſagte: du haſt, wie es
[278]Erſte Abtheilung.
ſcheint, deiner Gewohnheit nach ganz unſre Abrede
vergeſſen; ſehr leid thut es mir, (indem er ſich
zum Fremden wandte) daß ich Sie unmoͤglich be-
gleiten kann, mein Freund iſt zu voreilig geweſen,
es in meinem Namen zu verſprechen; ich kann
uͤberhaupt nicht ausgehn, da ich etwas Wichtiges
mit ihm abzureden habe.
Der Fremde, welcher beſcheiden war und Emils
Abſicht verſtand, entfernte ſich; Roderich aber nahm
hoͤchſt gleichguͤltig die Maske wieder vor, ſtellte ſich
vor den Spiegel und ſagte: nicht wahr, man ſieht
eigentlich ganz ſcheußlich aus? Es iſt im Grunde
eine geſchmackloſe widerwaͤrtige Erfindung.
Das iſt gar keine Frage, erwiederte Emil im
hoͤchſten Unwillen. Dich zur Carikatur machen,
und dich betaͤuben gehoͤrt eben zu den Vergnuͤgun-
gen, denen du am liebſten nachjagſt.
Weil du nicht tanzen magſt, ſagte jener, und
den Tanz fuͤr eine verderbliche Erfindung haͤltſt,
ſo ſoll auch Niemand anders luſtig ſeyn. Wie
verdruͤßlich, wenn ein Menſch aus lauter Eigen-
heiten zuſammen geſetzt iſt.
Gewiß, erwiederte der erzuͤrnte Freund, und
ich habe Gelegenheit genug, dies an dir zu beob-
achten; ich glaubte, daß du mir nach unſrer Ab-
rede dieſen Abend ſchenken wuͤrdeſt, aber —
Aber es iſt ja Carneval, fuhr jener fort, und
alle meine Bekannten und einige Damen erwarten
mich auf dem heutigen großen Balle. Bedenke
nur, mein Lieber, daß es wahre Krankheit in dir
[279]Liebeszauber.
iſt, daß dir dergleichen Anſtalten ſo unbillig zu-
wider ſind.
Emil ſagte: wer von uns beiden krank zu nen-
nen iſt, will ich nicht unterſuchen, dein unbegreif-
licher Leichtſinn, deine Sucht, dich zu zerſtreuen,
dein Jagen nach Vergnuͤgungen, die dein Herz
leer laſſen, ſcheint mir wenigſtens keine Seelenge-
ſundheit; auch in gewiſſen Dingen koͤnnteſt du wohl
meiner Schwachheit, wenn es denn einmal derglei-
chen ſein ſoll, nachgeben, und es giebt nichts auf
der Welt, was mich ſo durch und durch verſtimmt,
als ein Ball mit ſeiner fuͤrchterlichen Muſik. Man
hat ſonſt wohl geſagt, die Tanzenden muͤſten einem
Tauben, welcher die Muſik nicht vernimmt, als
Raſende erſcheinen; ich aber meine, daß dieſe
ſchreckliche Muſik ſelbſt, dies Umherwirbeln we-
niger Toͤne in widerlicher Schnelligkeit, in jenen
vermaledeyten Melodien, die ſich unſerm Gedaͤcht-
niſſe, ja ich moͤchte ſagen unſerm Blut unmittel-
bar mittheilen, und die man nachher auf lange
nicht wieder los werden kann, daß dies die Toll-
heit und Raſerey ſelbſt ſey, denn wenn mir das
Tanzen noch irgend ertraͤglich ſeyn ſoll, ſo muͤſte
es ohne Muſik geſchehn.
Nun ſieh, wie paradox! antwortete der Mas-
kirte; du koͤmmſt ſo weit, daß du das Natuͤrlichſte,
Unſchuldigſte und Heiterſte von der Welt unna-
tuͤrlich, ja graͤßlich finden willſt.
Ich kann nicht fuͤr mein Gefuͤhl, ſagte der
Ernſte, daß mich dieſe Toͤne von Kindheit auf
ungluͤcklich gemacht, und oft bis zur Verzweiflung
[280]Erſte Abtheilung.
getrieben haben: in der Tonwelt ſind ſie fuͤr mich
die Geſpenſter, Larven und Furien, und ſo flattern
ſie mir auch ums Haupt, und grinſen mich mit
entſezlichem Lachen an.
Nervenſchwaͤche, ſagte jener, ſo wie dein uͤber-
triebener Abſcheu gegen Spinnen und manch ande-
res unſchuldiges Gewuͤrm.
Unſchuldig nennſt du ſie, ſagte der Verſtimmte,
weil ſie dir nicht zuwider ſind. Fuͤr denjenigen
aber, dem die Empfindung des Ekels und des Ab-
ſcheus, daſſelbe unnennbare Grauen, wie mir, bei
ihrem Anblick in der Seele aufgeht und durch ſein
ganzes Weſen zuckt, ſind dieſe graͤßlichen Unthiere,
wie Kroͤten und Spinnen, oder gar die widerwaͤr-
tigſte aller Creaturen, die Fledermaus, nicht gleich-
guͤltig und unbedeutend, ſondern ihr Daſeyn iſt
dem ſeinigen auf das feindlichſte entgegen geſetzt.
Wahrlich, man moͤchte uͤber die Unglaͤubigen laͤcheln,
mit deren Imagination ſich Geſpenſter und grau-
enhafte Larven, ſammt jenen Geburten der Nacht
nicht vereinigen laſſen, die wir in Krankheiten ſehn,
oder die uns Dantes Gemaͤhlde zeigen, da die
gewoͤhnlichſte Wirklichkeit um uns her die fuͤrchter-
lichen verzerrten Muſterbilder dieſer Schrecken uns
vorhaͤlt. Sollten wir in der That das Schoͤne lieben
koͤnnen, ohne uns vor dieſen Fratzen zu entſetzen?
Warum entſetzen? fragte Roderich, warum
ſoll uns das große Reich der Gewaͤſſer und der
Meere gerade dieſe Furchtbarkeit vorhalten, an die
ſich deine Vorſtellung gewoͤhnt hat, und nicht viel-
mehr ſeltſame, unterhaltende und poßirliche Ver-
[281]Liebeszauber.
kleidungen, ſo daß das ganze Gebiet nicht anders,
als etwa wie ein komiſcher Ballſaal anzuſehn waͤre?
Deine Eigenheiten aber gehn noch weiter, denn ſo
wie du die Roſe mit einer gewiſſen Abgoͤtterei
liebſt, ſo ſind dir andre Blumen eben ſo lebhaft
verhaßt; was hat dir nur die gute liebe Feuerli-
lie gethan, wie ſo manch andres Kind des Som-
mers? So ſind dir manche Farben zuwider, manche
Duͤfte und viele Gedanken, und du thuſt nichts
dazu, dich gegen dieſe Stimmungen zu verhaͤrten,
ſondern du giebſt ihnen weichlich nach, und am
Ende wird eine Sammlung von dergleichen Selt-
ſamkeiten die Stelle einnehmen, die dein Ich be-
ſitzen ſollte.
Emil war im tiefſten Herzen erzuͤrnt und ant-
wortete nicht. Er hatte es nun ſchon aufgegeben,
ſich jenem mitzutheilen, auch ſchien der leichtſin-
nige Freund gar keine Begier zu haben, das Ge-
heimniß zu erfahren, welches ihm ſein melankoli-
ſcher Gefaͤhrte mit ſo wichtiger Miene angekuͤndigt
hatte; er ſaß gleichguͤltig im Lehnſeſſel, mit ſeiner
Maske ſpielend, als er ploͤtzlich ausrief: ſey doch
ſo gut, Emil, und leih mir deinen großen Mantel.
Wozu? fragte jener.
Ich hoͤre druͤben in der Kirche Muſik, ant-
wortete Roderich, und habe ſchon alle Abend dieſe
Stunde verſaͤumt, heut koͤmmt ſie mir recht gele-
gen, unter deinem Mantel kann ich dieſe Kleidung
verbergen, auch Maske und Turban darunter ver-
ſtecken, und wenn ſie geendigt iſt, mich ſogleich
nach dem Balle begeben.
[282]Erſte Abtheilung.
Murrend ſuchte Emil den Mantel aus dem
Schranke, gab ihn dem Aufgeſtandenen, und zwang
ſich zu einem ironiſchen Laͤcheln. Da haſt du mei-
nen tuͤrkiſchen Dolch, den ich geſtern gekauft habe,
ſagte Roderich, indem er ſich einhuͤllte, heb' ihn
auf; es taugt nicht, dergleichen ernſthaftes Zeug
als Spielerei bei ſich zu haben, man kann denn
doch nicht wiſſen, wozu es gemißbraucht wuͤrde,
wenn Zank oder anderer Unfug die Gelegenheit
herbei fuͤhrte; morgen ſehn wir uns wieder, lebe
wohl und bleibe vergnuͤgt. Er wartete auf keine
Erwiederung, ſondern eilte die Treppe hinunter.
Als Emil allein war, ſuchte er ſeinen Zorn
zu vergeſſen und das Betragen ſeines Freundes
von der laͤcherlichen Seite zu nehmen. Er betrach-
tete den blanken ſchoͤn gearbeiteten Dolch, und ſagte:
wie muß es doch dem Menſchen ſeyn, der ſolch
ſcharfes Eiſen in die Bruſt des Gegners ſtoͤßt,
oder gar einen geliebten Gegenſtand damit verlezt?
Er ſchloß ihn ein, lehnte dann behutſam die Laͤ-
den ſeines Fenſters zuruͤck und ſah uͤber die enge
Gaſſe. Aber kein Licht regte ſich, es war finſter
im Hauſe gegenuͤber; die theure Geſtalt, die dort
wohnte und ſich um dieſe Zeit bei haͤuslicher Be-
ſchaͤftigung zu zeigen pflegte, ſchien entfernt. Viel-
leicht gar auf dem Balle! dachte Emil, ſo wenig
es auch ihrer eingezogenen Lebensart ziemte. Ploͤz-
lich aber zeigte ſich ein Licht, und die Kleine, welche
ſeine unbekannte Geliebte um ſich hatte, und mit
der ſie ſich am Tage wie am Abend vielfaͤltig ab-
gab, trug ein Licht durch das Zimmer und lehnte
[283]Liebeszauber.
die Fenſterlaͤden an. Eine Spalte blieb hell, groß
genug, um von Emils Standpunkt einen Theil
des kleinen Zimmers zu uͤberſchauen, und dort ſtand
oft der Gluͤckliche bis nach Mitternacht wie bezau-
bert, und beobachtete jede Bewegung der Hand,
jede Miene ſeiner Geliebten; er freute ſich, wenn
ſie dem kleinen Kinde leſen lehrte, oder ſie im Naͤ-
hen und Stricken unterrichtete. Auf ſeine Erkun-
digung hatte er erfahren, daß die Kleine eine arme
Waiſe ſey, die das ſchoͤne Maͤdchen mitleidig zu
ſich genommen hatte, um ſie zu erziehn. Emils
Freunde begriffen nicht, warum er in dieſer engen
Gaſſe wohne, in einem unbequemen Hauſe, wes-
halb man ihn ſo wenig in Geſellſchaften ſehe, und
womit er ſich beſchaͤftige. Unbeſchaͤftigt, in der
Einſamkeit, war er gluͤcklich, nur unzufrieden mit
ſich und ſeinem menſchenſcheuen Charakter, daß er
es nicht wage, die naͤhere Bekanntſchaft dieſes ſchoͤ-
nen Weſens zu ſuchen, ſo freundlich ſie auch einige-
mal am Tage gegruͤßt und gedankt hatte. Er wußte
nicht, daß ſie eben ſo trunken zu ihm hinuͤber
ſpaͤhte, und ahndete nicht, welche Wuͤnſche ſich in
ihrem Herzen bildeten, welcher Anſtrengung, wel-
cher Opfer ſie ſich faͤhig fuͤhlte, um nur zum Be-
ſitz ſeiner Liebe zu gelangen.
Nachdem er einigemal auf und nieder gegan-
gen war, und das Licht ſich mit dem Kinde wie-
der entfernt hatte, faßte er ploͤtzlich den Entſchluß,
ſeiner Neigung und Natur zuwider, auf den Ball
zu gehen, weil es ihm einfiel, daß ſeine Unbe-
kannte eine Ausnahme von ihrer eingezogenen Le-
[284]Erſte Abtheilung.
bensweiſe koͤnne gemacht haben, um auch einmal
die Welt und ihre Zerſtreuungen zu genießen. Die
Gaſſen waren hell erleuchtet, der Schnee kniſterte
unter ſeinen Fuͤßen, Wagen rollten ihm voruͤber,
und Masken in den verſchiedenſten Trachten pfif-
fen und zwitſcherten an ihm vorbei. Aus vielen
Haͤuſern ertoͤnte die ihm ſo verhaßte Tanzmuſik,
und er konnte es nicht uͤber ſich gewinnen, auf
dem kuͤrzeſten Wege nach dem Saale zu gehn, zu
welchem aus allen Richtungen die Menſchen ſtroͤm-
ten und draͤngten. Er ging um die alte Kirche,
beſchaute den hohen Thurm, der ſich ernſt in den
naͤchtlichen Himmel erhub, und freute ſich der Stille
und Einſamkeit des abgelegenen Platzes. In der
Vertiefung einer großen Kirchenthuͤr, deren man-
nichfaltiges Bildwerk er immer mit Luſt beſchaut
und ſich dabei der alten Kunſt und vergangener
Zeiten erinnert hatte, nahm er auch jetzo Platz,
um ſich auf wenige Augenblicke ſeinen Betrachtun-
gen zu uͤberlaſſen. Er ſtand nicht lange, als eine
Figur ſeine Aufmerkſamkeit an ſich zog, die unru-
hig auf und nieder ging, und jemand zu erwarten
ſchien. Beim Schein einer Laterne, die vor einem
Marienbilde brannte, unterſchied er genau das Ge-
ſicht, ſo wie die wunderliche Kleidung. Es war
ein altes Weib von der aͤußerſten Haͤßlichkeit, die
um ſo mehr in die Augen fiel, weil ſie gegen ein
ſcharlachrothes Leibchen, das mit Gold beſetzt war,
hoͤchſt abentheuerlich abſtach; der Rock, den ſie
trug, war dunkel, und die Haube ihres Kopfes
glaͤnzte ebenfalls von Gold. Emil glaubte anfangs
[285]Liebeszauber.
eine geſchmackloſe Maske zu ſehn, die ſich hieher
verirrt habe, aber bald war er beim hellen Scheine
uͤberzeugt, daß das alte braune und runzlichte Ge-
ſicht ein wirkliches und kein nachgeahmtes ſey. Es
waͤhrte nicht lange, ſo erſchienen zwei Maͤnner, in
Maͤnteln gehuͤllt, die ſich dem Orte mit behutſa-
men Schritten zu naͤhern ſchienen, indem ſie oͤfter
von den Seiten ſchauten, ob ihnen Niemand folge.
Die Alte ging auf ſie zu. Habt ihr die Lichter?
fragte ſie haſtig und mit einer rauhen Stimme.
Hier ſind ſie, ſagte der Eine, der Preis iſt euch
bekannt, macht die Sache gleich richtig. Die Alte
ſchien Geld zu geben, welches der Mann unter
ſeinem Mantel nachzaͤhlte. Ich verlaſſe mich da-
rauf, fing die Alte wieder an, daß ſie ganz nach
der Vorſchrift und Kunſt gegoſſen ſind, damit die
Wirkung nicht ausbleibt. Seid ohne Sorgen, ſagte
jener, und entfernte ſich ſchnell. Der andre, wel-
cher zuruͤck geblieben, war ein junger Mann, er
nahm die Alte bei der Hand, und ſagte: iſt es
moͤglich, Alexia, daß dergleichen Ceremonien und
Formeln, dieſe ſeltſamen alten Sagen, an welche
ich nie habe glauben koͤnnen, den freien Willen des
Menſchen feſſeln, und Liebe und Haß erregen koͤnn-
ten? So iſt es, ſprach das rothe Weib, aber
eins muß zum andern kommen, nicht bloß dieſe
Lichter, in der Mitternacht des Neumonden gegoſ-
ſen, mit Menſchenblut getraͤnkt, nicht die Zauber-
formeln und Anrufungen allein koͤnnen es ausrich-
ten, ſondern noch manches andre gehoͤrt dazu, das
der Kunſtverſtaͤndige wohl kennt. So verlaß ich
[286]Erſte Abtheilung.
mich auf dich, ſagte der Fremde. Morgen nach
Mitternacht bin ich euch zu Dienſten, antwortete
die Alte; ihr werdet ja nicht der erſte ſeyn, der mit
meiner Kundſchaft unzufrieden iſt; heute, wie ihr
gehoͤrt habt, bin ich fuͤr jemand anders beſtellt,
auf deſſen Sinn und Verſtand unſere Kunſt gewiß
nachdruͤcklich wirken ſoll. Die letzten Worte ſagte
ſie mit halbem Lachen, und beide gingen aus ein-
ander und entfernten ſich nach verſchiedenen Rich-
tungen. Emil trat ſchaudernd aus der dunkeln
Niſche hervor und erhob ſeine Blicke zum Bilde
der Jungfrau mit dem Kinde; vor deinen Augen,
du Holdſelige, ſagte er halb laut, erfrechen ſich
die Greuel ihre Abrede zu treffen, um ihren ab-
ſcheulichen Betrug zu verhandeln, doch ſo, wie du
dein Kind in Liebe umfaͤngſt, ſo haͤlt uns alle die
unſichtbare Liebe in fuͤhlbaren Armen, und unſer
armes Herz klopft in Freude wie in Angſt einem
groͤſſeren entgegen, das uns niemals verlaſſen wird.
Wolken zogen uͤber die Spitze des Thurms und
das ſchroffe Dach der Kirche hinweg, die ewigen
Sterne ſchauten funkelnd und mit freundlichem
Ernſt hernieder, und Emil wandte ſich entſchloſſen
von dieſen naͤchtlichen Schauern und gedachte der
Schoͤnheit ſeiner Unbekannten. Er betrat wieder
die belebten Gaſſen, und lenkte nach dem heller-
leuchteten Ballhauſe ein, von welchem ihm Stim-
men, Wagengeraſſel, und in einzelnen Pauſen die
laͤrmende Muſik entgegen ſchallten.
Im Saale verlor er ſich ſogleich im fluten-
den Getuͤmmel, Taͤnzer umſprangen ihn, Masken
[287]Liebeszauber.
ſchoſſen an ihm hin und her, Pauken und Trom-
peten betaͤubten ſein Ohr, und ihm war, als ſei
das menſchliche Leben ſelber nur ein Traum. Er
ging durch die Reihen, und nur ſein Auge blieb
wach, um jene geliebten Augen und jenes ſchoͤne
Haupt mit den braunen Locken aufzuſuchen, nach
deſſen Anblick er ſich heut inniger ſehnte als ſonſt,
und dem angebeteten Weſen doch innerlich Vor-
wuͤrfe machte, daß es ſich in dieſem ſtuͤrmenden
Meer der Verwirrung und Thorheit untertauchen
und verlieren koͤnne. Nein, ſprach er zu ſich ſelbſt,
kein Herz welches liebt, wird ſich dieſem wuͤſten
Brauſen oͤffnen wollen, in welchem Sehnſucht und
Thraͤnen verhoͤhnt und mit dem ſchmetternden Ge-
laͤchter wilder Trompeten verſpottet werden. Das
Saͤuſeln der Baͤume, das Rieſeln der Quellen,
Lautenſchlag und edler Geſang, welcher voll aus
dem bewegten Buſen ſtroͤmt, ſind die Toͤne in
welchen Liebe wohnt. So aber donnert und jubelt
die Hoͤlle in der Raſerei ihrer Verzweiflung.
Er fand nicht, was er ſuchte, denn zu dem
Glauben, daß ſein geliebtes Angeſicht ſich vielleicht
unter eine widrige Maske verborgen habe, konnte
er ſich unmoͤglich bequemen. Schon war er drei-
mal den Saal auf und abgewandert und hatte
alle ſitzenden und unmaskirten Damen vergeblich
gemuſtert, als ſich der Spanier zu ihm geſellte
und ſagte: ſchoͤn, daß ſie doch noch gekommen ſind;
Sie ſuchen vielleicht Ihren Freund?
Emil hatte ihn ganz vergeſſen; er ſagte aber
beſchaͤmt: in der That, ich wundre mich, ihn hier
[288]Erſte Abtheilung.
nicht zu treffen, denn ſeine Maske iſt kenntlich
genug.
Wiſſen Sie, was der wunderliche Menſch
treibt? antwortete der junge Offizier; er hat weder
getanzt noch ſich lange im Saale aufgehalten, denn
er fand ſogleich ſeinen Freund Anderſon, der vom
Lande herein gekommen iſt, ihr Geſpraͤch fiel auf
die Literatur, und da dieſer das neulich heraus-
gekommene Gedicht noch nicht kannte, ſo hat Ro-
derich nicht eher geruht, bis man ihm eins der hin-
tern Zimmer aufgeſchloſſen hat, dort ſitzt er mit
ſeinem Gefaͤhrten bei einer einſamen Kerze und
lieſt ihm das ganze Werk vor.
Das ſieht ihm aͤhnlich, ſagte Emil, denn er
beſteht ganz aus Laune. Ich habe alles angewandt,
und ſelbſt freundſchaftliche Zwiſtigkeiten nicht ge-
ſcheut, um es ihm abzugewoͤhnen, immer ex tem-
pore zu leben und ſein ganzes Daſeyn in Im-
promptus auszuſpielen: allein dieſe Thorheiten ſind
ihm ſo ans Herz gewachſen, daß er ſich eher vom
liebſten Freunde, als von ihnen trennen wuͤrde.
Das nemliche Werk, welches er ſo liebt, daß er
es immer bei ſich traͤgt, hat er mir neulich vorle-
ſen wollen, und ich hatte ihn ſogar dringend darum
gebeten, wir waren aber kaum uͤber den Anfang,
indeß ich ganz den Schoͤnheiten hingegeben war,
als er ploͤtzlich aufſprang, mit der Kuͤchenſchuͤrze
umgethan zuruͤck kehrte, mit vielen Umſtaͤnden
Feuer anſchuͤren ließ, um mir Beefſteaks zu roͤſten,
zu welchen ich kein Verlangen trug, und die er
ſich
[289]Liebeszauber.
ſich am beſten in Europa zu machen einbildet, ob
ſie ihm gleich die meiſten Male verungluͤcken.
Der Spanier lachte. Iſt er nie verliebt gewe-
ſen? fragte er.
Auf ſeine Weiſe, erwiederte Emil ſehr ernſt;
ſo, als wollte er uͤber ſich und die Liebe ſpotten,
in viele zugleich, und nach ſeinen Worten bis zur
Verzweiflung, die er aber insgeſamt in acht Ta-
gen wieder vergeſſen hatte.
Sie trennten ſich im Getuͤmmel, und Emil
begab ſich nach dem abgelegenen Zimmer, aus wel-
chem er ſeinen Freund ſchon von fern laut dekla-
miren hoͤrte. Ah, da biſt du ja auch, rief ihm
dieſer entgegen; das trifft ſich gut, ich bin nur
eben uͤber die Stelle hinuͤber, bei der wir neulich
unterbrochen wurden, ſetze dich, ſo kannſt du mit
zuhoͤren.
Ich bin jetzt nicht in der Stimmung, ſagte
Emil, auch ſcheint mir dieſe Stunde und dieſer
Ort wenig geſchickt zu einer ſolchen Unterhaltung.
Warum nicht? antwortete Roderich; es muß
ſich alles nach unſerm Willen bequemen, jede Zeit
iſt gut dazu, ſich auf eine edle Weiſe zu beſchaͤfti-
gen. Oder willſt du lieber tanzen? Es fehlt an
Taͤnzern, und du kannſt dich heut mit einigen
Stunden Herumſpringens und einem Paar ermuͤ-
dender Beine bei vielen dankbaren Damen ziemlich
beliebt machen.
Lebe wohl, rief jener ſchon in der Thuͤr, ich
gehe nach Hauſe.
Noch ein Wort! rief ihm Roderich nach: ich
I. [19]
[290]Erſte Abtheilung.
verreiſe morgen in aller Fruͤhe mit dieſem Herrn
auf einige Tage uͤber Land; ich ſpreche aber noch
bei dir vor, um Abſchied zu nehmen. Schlaͤfſt du,
wie es wahrſcheinlich iſt, ſo bemuͤhe dich nur nicht,
aufzuwachen, denn in drei Tagen bin ich wieder
bei dir. — Der wunderlichſte aller Menſchen, fuhr
er fort, gegen ſeinen treuen Freund gewandt, ſo
ſchwerfaͤllig, mißlaunig, ernſthaft, daß er ſich jede
Freude verdirbt, oder vielmehr, daß es fuͤr ihn
keine Freude giebt. Alles ſoll edel, groß, erhaben
ſeyn, ſein Herz ſoll an allem Antheil nehmen,
und wenn er ſelbſt vor einem Puppenſpiele ſtaͤnde;
wenn ſich dergleichen nun nicht zu ſeinen Praͤten-
ſionen verſtehen will, die wahrlich ganz unſinnig
ſind, ſo wird er tragiſch geſtimmt, und findet die
ganze Welt roh und barbariſch; da draußen ver-
langt er ohne Zweifel, daß unter den Masken
einem Pantalon und Policinell das Herz voll
Sehnſucht und uͤberirdiſcher Triebe gluͤhe, und daß
der Arlechin uͤber die Nichtigkeit der Welt tiefſin-
nig philoſophiren ſoll, und wenn dieſe Erwartun-
gen nicht eintreffen, ſo treten ihm gewiß die Thraͤ-
nen in die Augen, und er wendet dem bunten
Schauſpiel zerknirſcht und verachtend den Ruͤcken.
Er iſt alſo melankoliſch? fragte der Zuhoͤrer.
Das eigentlich nicht, antwortete Roderich, ſon-
dern nur von zu zaͤrtlichen Eltern und ſich ſelbſt
verzogen. Er hatte ſich angewoͤhnt, regelmaͤßig
wie Ebbe und Fluth ſein Herz bewegen zu laſſen,
und bleibt dieſe Ruͤhrung einmal aus, ſo ſchreit
er Mirakel und moͤchte Praͤmien ausſetzen, um
[291]Liebeszauber.
Phyſiker aufzumuntern, dieſe Naturerſcheinung ge-
nuͤgend zu erklaͤren. Er iſt der beſte Menſch unter
der Sonne, aber alle meine Muͤhe, ihm dieſe Ver-
kehrtheit abzugewoͤhnen, iſt ganz umſonſt und ver-
loren, und wenn ich nicht fuͤr meine gute Mei-
nung Undank davon tragen will, muß ich ihn ge-
waͤhren laſſen.
Er ſollte vielleicht den Arzt gebrauchen, be-
merkte jener.
Es gehoͤrt mit zu ſeinen Eigenheiten, antwor-
tete Roderich, die Medizin durch und durch zu ver-
achten, denn er meint, jede Krankheit ſei in jeg-
lichem Menſchen ein Individuum, und koͤnne nicht
nach aͤltern Wahrnehmungen, oder gar nach ſoge-
nannten Theorien geheilt werden; er wuͤrde eher
alte Weiber und ſympathetiſche Kuren gebrauchen.
Eben ſo verachtet er auch in andrer Hinſicht alle
Vorſicht und alles was man Ordnung und Maͤßig-
keit nennt. Von Kindheit auf iſt ein edler Mann
ſein Ideal geweſen, und ſein hoͤchſtes Beſtreben,
das aus ſich zu bilden, was er ſo nennt, das
heißt hauptſaͤchlich eine Perſon, die die Verachtung
der Dinge mit der des Geldes anfaͤngt; denn um
nur nicht in den Verdacht zu gerathen, daß er
haushaͤlteriſch ſey, ungern ausgebe, oder irgend
Ruͤckſicht auf Geld nehme, ſo wirft er es hoͤchſt
thoͤricht weg, iſt bei ſeiner reichlichen Einnahme
immer arm und in Verlegenheit, und wird der
Thor von jedweden, der nicht ganz in dem Sinne
edel iſt, in welchem er es ſich zu ſeyn vorgeſetzt
hat. Sein Freund zu ſeyn, iſt aber die Aufgabe
[292]Erſte Abtheilung.
aller Aufgaben, denn er iſt ſo reizbar, daß man
nur huſten, nicht edel genug eſſen, oder gar die
Zaͤhne ſtochern darf, um ihn toͤdtlich zu beleidigen.
War er nie verliebt? fragte der Freund vom
Lande.
Wen ſollte er lieben? antwortete Roderich, er
verachtete alle Toͤchter der Erde, und er duͤrfte
nur bemerken, daß ſein Ideal ſich gern putzte, oder
gar tanzte, ſo wuͤrde ſein Herz brechen; noch ſchreck-
licher, wenn ſie das Ungluͤck haͤtte, den Schnu-
pfen zu bekommen.
Emil ſtand indeſſen wieder im Getuͤmmel; aber
ploͤzlich uͤberfiel ihn jene Angſt, der Schreck, der
ſo oft ſchon in ſolcher erregten Menſchenmenge ſein
Herz ergriffen hatte, und jagte ihn aus dem Saale
und Hauſe, uͤber die oͤden Gaſſen hinweg, und
erſt auf ſeinem einſamen Zimmer fand er ſich und
ſeine ruhige Beſinnung wieder. Das Nachtlicht
war ſchon angezuͤndet, er hieß dem Bedienten ſich
nieder legen; druͤben war alles ſtill und finſter, und
er ſetzte ſich, um in einem Gedichte ſeine Empfin-
dungen uͤber den Ball auszuſtroͤmen. —
[293]Liebeszauber.
[294]Erſte Abtheilung.
[295]Liebeszauber.
Er hatte geendigt und ſtand am Fenſter. Da
kam ſie gegen uͤber herein, ſo ſchoͤn, wie er ſie
noch nie geſehn hatte, das braune Haar aufgeloͤſt
wogte und ſpielte in muthwilligen Locken um den
weißeſten Nacken; ſie war nur leicht bekleidet und
ſchien noch vor Schlafengehn zu ſpaͤter Nachtzeit
einige haͤusliche Arbeiten verrichten zu wollen, denn
ſie ſtellte zwei Lichter in zwei Ecken des Zimmers,
ordnete den Teppich auf dem Tiſche, und entfernte
ſich wieder. Noch war Emil in ſeinen ſuͤßen Traͤu-
mereien verſunken, und wiederholte ſich in ſeiner
Phantaſie das Bild ſeiner Geliebten, als zu ſei-
nem Entſetzen die fuͤrchterliche, die rothe Alte durch
das Zimmer ſchritt; graͤßlich leuchtete von ihrem
Haupt und Buſen das Gold im Widerſchein der
Lichter. Sie war wieder verſchwunden. Sollte
er ſeinen Augen trauen? War es kein Blendwerk
der Nacht, welches ihm ſeine eigne Einbildung
geſpenſtiſch voruͤber gefuͤhrt hatte?
Aber nein, ſie kehrte zuruͤck, noch graͤßlicher
als zuvor, denn ein langes greiſes und ſchwarzes
Haar flog wild und ungeordnet um Bruſt und
Ruͤcken; das ſchoͤne Maͤdchen folgte ihr, blaß, ent-
ſtellt, die ſchoͤnſten Bruͤſte ohne Huͤlle, aber das
ganze Bild einer Statue von Marmor aͤhnlich.
[296]Erſte Abtheilung.
Sie hatten zwiſchen ſich das kleine liebliche Kind,
welches weinte und ſich an die Schoͤne bittend
ſchmiegte, die nicht zu ihm hernieder ſah. Das
Kindlein hielt flehend die Haͤndchen empor, ſtrei-
chelte Hals und Wange der blaſſen Schoͤnen. Sie
aber hielt es feſt am Haar und mit der andern
Hand ein ſilbernes Becken; die Alte zuckte mur-
melnd das Meſſer und durchſchnitt den weißen
Hals der Kleinen. Da wand ſich hinter ihnen
etwas hervor, das beide nicht zu ſehen ſchienen,
ſonſt haͤtten ſie ſich wohl eben ſo inniglich wie
Emil entſetzt. Ein ſcheußlicher Drachenhals waͤlzte
ſich ſchuppig laͤnger und laͤnger aus der Dunkel-
heit, neigte ſich uͤber das Kind hin, das mit auf-
geloͤſten Gliedern der Alten in den Armen hing,
die ſchwarze Zunge leckte vom ſprudelnden rothen
Blut, und ein gruͤn funkelndes Auge traf durch
die Spalte hinuͤber in Emils Blick und Gehirn
und Herz, daß er im ſelben Augenblick zu Boden
ſtuͤrzte.
Leblos traf ihn Roderich nach einigen Stunden.
Am heiterſten Sommermorgen ſaß in gruͤner
Laube eine Geſellſchaft von Freunden um ein ſchmack-
haftes Fruͤhſtuͤck verſammelt. Man lachte und
ſcherzte, alle ſtießen freudig oft mit den Glaͤſern
auf die Geſundheit des jungen Brautpaares an,
und wuͤnſchten ihm Heil und Gluͤck. Braͤutigam
und Braut waren nicht zugegen, denn die Schoͤne
[297]Liebeszauber.
war noch mit ihrem Schmucke beſchaͤftiget, und
der junge Ehemann luſtwandelte, ſeinem Gluͤcke
nachſinnend, einſam in einem entfernten Baum-
gange. Schade, ſagte Anderſon, daß wir keine
Muſik haben ſollen; alle unſere Damen ſind unzu-
frieden und haben noch nie ſo ſehr zu tanzen ge-
wuͤnſcht, als gerade heut, da es nicht geſchehn
kann; aber es iſt ihm zu ſehr zuwider.
Ich kann es euch wohl verrathen, ſagte ein
junger Offizier, daß wir dennoch einen Ball haben
werden, und zwar einen recht tollen und geraͤuſchi-
gen; alles iſt ſchon eingerichtet und die Muſikan-
ten ſind ſchon heimlich angekommen und unſichtbar
einquartirt. Roderich hat alle dieſe Einrichtungen
getroffen, denn er ſagt, man muͤſſe ihm nicht zu
viel nachgeben, und am wenigſten heut ſeine wun-
derlichen Launen anerkennen.
Er iſt auch ſchon viel menſchlicher und umgaͤng-
licher als ehemals, ſagte der Offizier, und darum
glaube ich, wird ihm dieſe Abaͤnderung nicht ein-
mal unangenehm auffallen. Iſt doch dieſe ganze
Heirath ſo ploͤtzlich gegen unſer aller Erwarten
eingetreten.
Sein ganzes Leben, fuhr Anderſon fort, iſt ſo
ſonderbar, wie ſein Charakter. Ihr wißt ja alle,
wie er im vorigen Herbſt auf einer Reiſe, die er
machen wollte, in unſrer Stadt ankam, ſich den
Winter hier aufhielt, wie ein Melankoliſcher faſt
nur in ſeinem Zimmer lebte, und ſich weder um
unſer Theater noch andre Vergnuͤgungen kuͤmmerte.
Er war beinah mit Roderich, ſeinem vertrauteſten
[298]Erſte Abtheilung.
Freunde, zerfallen, weil dieſer ihn zu zerſtreuen
ſuchte, und nicht jeder ſeiner finſtern Launen nach-
geben wollte. Im Grunde war ſeine uͤbertriebene
Reizbarkeit und Verſtimmung wohl Krankheit, die
ſich in ſeinem Koͤrper zubereitete; denn, wie euch
nicht unbekannt iſt, wurde er vor vier Monaten
vom heftigſten Nervenfieber befallen, ſo, daß wir
ihn alle ſchon aufgeben mußten. Nachdem ſeine
Phantaſien ausgeraſet hatten, und er wieder zu
ſich kam, hatte er ſein Gedaͤchtniß faſt ganz einge-
buͤßt, nur ſeine fruͤheren Kinder- und Jugendjahre
waren ihm gegenwaͤrtig, und er konnte ſich durch-
aus nicht erinnern, was waͤhrend ſeiner Reiſe oder
vor ſeiner Krankheit ſich mit ihm zugetragen habe.
Er mußte alle ſeine Freunde, ſelbſt den Roderich,
von neuem kennen lernen; nur nach und nach ward
es lichter in ſeinem Innern, und die Vergangen-
heit und was ihm widerfahren trat wieder, jedoch
immer nur ſchwach beleuchtet, in ſein Gedaͤchtniß
zuruͤck. Sein Oheim hatte ihn zu ſich in das
Haus genommen, um ihn beſſer zu verpflegen, und
er war wie ein Kind, und ließ alles mit ſich ma-
chen. Als er zum erſtenmal ausfuhr, und bei der
Fruͤhlingswaͤrme den Park beſuchte, ſah er abſeits
vom Wege ein Maͤdchen in tiefen Gedanken ſitzen.
Sie ſah auf, ihr Blick traf den ſeinigen, und wie
von einer unbegreiflichen Begeiſterung ergriffen,
ließ er anhalten, ſtieg aus, ſetzte ſich zu ihr, faßte
ihre Haͤnde, und ergoß ſich in einem Strom von
Thraͤnen. Man war von neuem fuͤr ſeinen Ver-
ſtand beſorgt; aber er wurde ruhig, heiter und
[299]Liebeszauber.
geſpraͤchig, ließ ſich bei den Eltern des Maͤdchens
vorſtellen, und hielt ſogleich beim erſten Beſuch
um ihre Hand an, die ſie ihm auch zuſagte, da die
Eltern ihre Einwilligung nicht verweigerten. Er
war gluͤcklich und ein neues Leben ging in ihm auf;
mit jedem Tage ward er geſunder und zufriedener.
So beſuchte er mich vor acht Tagen auf meinem
Landgute hier; es gefiel ihm uͤber die Maßen, und
zwar ſo, daß er nicht ruhte, bis ich es ihm ver-
kaufen mußte. Es lag nur an mir, ſeine Leiden-
ſchaftlichkeit zu meinem Vortheil und ſeinem Scha-
den zu benutzen, denn was er will, will er heftig
und ploͤtzlich vollendet. Sogleich machte er ſeine
Einrichtungen, ließ Geraͤthe herſchaffen, um hier
noch die Sommermonate zu wohnen, und ſo ſind
wir denn alle heut zu ſeiner Hochzeit in meinem
ehemaligen Wohnſitze verſammelt.
Das Haus war groß und lag in der ſchoͤnſten
Gegend. Die eine Seite ſah nach einem Fluſſe
und angenehmen Huͤgeln hinuͤber, rund um von
mannichfaltigen Gebuͤſchen und Baͤumen umgeben,
unmittelbar davor lag ein Garten mit duftenden
Blumen. Hier waren die Orangen und Citronen-
Baͤume in einem großen offenen Saale aufgeſtellt,
nur kleine Thuͤren fuͤhrten zu Vorrathskammern,
Kellern und Speiſegewoͤlben. Von der andern
Seite breitete ſich ein gruͤnender Wieſenplan aus,
an welchen ohne andre Verbindung ein Park graͤnzte;
hier bildeten die beiden langen Fluͤgel des Hauſes
einen geraͤumigen Hof, und auf dreien uͤber ein-
ander ſtehenden Saͤulenreihen verbanden breite of-
[300]Erſte Abtheilung.
fene Gaͤnge alle Zimmer und Saͤle des Gebaͤudes,
wodurch der Wohnſitz von dieſer Seite einen reizen-
den, ja wunderbaren Charakter erhielt, indem ſich
beſtaͤndig Figuren in mannigfaltigen Geſchaͤften in
dieſen geraͤumigeren Hallen bewegten; zwiſchen den
Saͤulen und aus jedem Zimmer traten neue Ge-
ſtalten hervor, und erſchienen oben oder unten wie-
der, um ſich in andern Thuͤren zu verlieren; auch
verſammelte ſich Geſellſchaft dort zum Thee oder
Spiel, und dadurch gewann von unten das Ganze
das Anſehn eines Theaters, vor welchem jedermann
mit Luſt verweilte, und in Gedanken die ſeltſam-
ſten und anziehendſten Begebenheiten oben erwar-
tete.
Die Geſellſchaft der jungen Leute wollte eben
aufſtehn, als die geſchmuͤckte Braut durch den Gar-
ten ging und zu ihnen trat. Sie war in violettem
Sammet gekleidet, ein funkelnder Halsſchmuck
wiegte ſich auf dem glaͤnzenden Nacken, koſtbare
Spitzen lieſſen den weißen ſchwellenden Buſen
durchſchimmern, das braune Haar ward durch den
Myrthen- und Blumenkranz reizender gefaͤrbt.
Sie gruͤßte alle freundlich, und die Juͤnglinge
waren von der hohen Schoͤnheit uͤberraſcht. Sie
hatte Blumen im Garten gepfluͤckt, und wandte
ſich jetzt nach dem innern Hauſe, um nach der
Ordnung des Mahles zu ſehen. Man hatte in
dem untern offnen Gange die Tafeln hingeſtellt:
blendend ſchimmerten die Tiſche mit den weißen
Gedecken und Kriſtallen, eine Fuͤlle mannichfarbiger
Blumen glaͤnzte aus zierlichen Gefaͤßen herunter,
[301]Liebeszauber.
duftende gruͤne und bunte Kraͤnze ſchlangen ſich
um die Saͤulen, und reizend war der Anblick, als
die Braut ſich jetzt mit holdſeliger Bewegung zwi-
ſchen dem Schimmer der Blumen, neben den Ti-
ſchen und Saͤulen wandelnd bewegte, das Ganze
pruͤfend uͤberſchaute, und dann verſchwand, und
hoͤher hinauf noch einmal wieder erſchien, um ihr
Zimmer zu oͤffnen. Sie iſt das reizendſte und
ſchoͤnſte Maͤdchen, das ich je gekannt habe! rief
Anderſon aus: unſer Freund iſt gluͤcklich!
Selbſt ihre Blaͤſſe, nahm der Offizier das
Wort, erhoͤht ihre Schoͤnheit; die braunen Augen
blitzen uͤber den bleichen Wangen und unter den
dunkeln Haaren ſo maͤchtiger hervor, und dieſe
wunderbare, faſt brennende Roͤthe der Lippen macht
ihr Angeſicht zu einem wahrhaft zauberiſchen Bilde.
Der Schein ſtiller Melankolie, ſagte Ander-
ſon, welcher ſie umgiebt, umfließt ſie wie mit ho-
her Majeſtaͤt.
Der Braͤutigam trat zu ihnen, und fragte nach
Roderich; ſie hatten ihn alle ſchon laͤngſt vermißt
und konnten nicht begreifen, wo er ſich aufhalten
moͤchte. Alle gingen, um ihn zu ſuchen. Er iſt
unten im Saal, ſagte endlich ein junger Menſch,
den ſie ebenfalls fragten, zwiſchen allen Bedienten
und Kutſchern, denen er Kartenkuͤnſte macht, die
ſie nicht genug bewundern koͤnnen. Sie traten
hinein und unterbrachen die ſchallende Verwunde-
rung der Dienerſchaft, indeß ſich Roderich nicht
ſtoͤren ließ, ſondern frei in ſeinen magiſchen Kunſt-
ſtuͤcken fortfuhr. Als er geendigt hatte ging er
[302]Erſte Abtheilung.
mit den uͤbrigen in den Garten und ſagte: ich thue
es nur, um dieſe Menſchen im Glauben zu ſtaͤr-
ken, denn dieſe Kuͤnſte bringen ihrer Kutſcher-
Freigeiſterei auf lange einen Stoß bei, und helfen
zu ihrer Bekehrung.
Ich ſehe, ſagte der Braͤutigam, daß mein
Freund unter ſeinen uͤbrigen Talenten auch das
eines Charlatans nicht zu geringe achtet, um es
auszubilden.
Wir leben in einer wunderlichen Zeit, antwor-
tete jener; man ſoll heut zu Tage nichts verachten,
denn man weiß nicht, wozu es zu gebrauchen iſt.
Als die beiden Freunde ſich allein befanden,
wandte ſich Emil wieder in den dunkeln Baum-
gang und ſagte: Warum bin ich an dieſem Tage,
welcher der gluͤcklichſte meines Lebens iſt, ſo truͤbe
geſtimmt? Aber ich verſichere dich, ſo wenig du
es auch glauben willſt, es paßt nicht fuͤr mich,
mich in dieſer Menge von Menſchen zu bewegen,
fuͤr jeden Aufmerkſamkeit zu haben, keinen dieſer
Verwandten von ihrer und meiner Seite zu ver-
nachlaͤſſigen, den Eltern Ehrfurcht zu beweiſen, die
Damen bekomplimentieren, die Ankommenden em-
pfangen, und die Dienſtboten und Pferde gehoͤrig
zu verſorgen.
Das macht ſich ja alles von ſelbſt, ſagte Ro-
derich; ſieh, dein Haus iſt recht auf dergleichen
eingerichtet, und dein Haushofmeiſter, der alle
Haͤnde voll zu thun und alle Beine voll zu lau-
fen hat, iſt recht wie dazu geſchaffen, alles ordent-
lich zu betreiben, um die allergroͤßte Geſellſchaft
[303]Liebeszauber.
aus Verwirrung zu erretten und mit Anſtand zu
bewirthen. Ueberlaß das ihm und deiner ſchoͤnen
Braut.
Heute Morgen, noch vor Sonnenaufgang,
ſagte Emil, wandelte ich durch das Gehoͤlz; mir
war feierlich zu Muthe, ich fuͤhlte recht im In-
nern, wie mein Leben nun beſtimmt ſey und ernſt
werde, wie dieſe Liebe mir Heimath und Beruf
erſchaffen hat. Ich kam dort der Laube voruͤber;
ich hoͤrte Stimmen: es war meine Geliebte in
einem traulichen Geſpraͤch. Iſt es nun, ſagte eine
fremde Stimme, nicht ſo gekommen, wie ich geſagt
hatte? Gerade ſo, wie ich wußte, daß es geſche-
hen wuͤrde? Ihr habt euren Wunſch, darum ſeid
nun auch froh. Ich mochte nicht zu ihnen treten;
nachher ging ich der Laube naͤher, doch hatten ſich
beide ſchon entfernt. Aber ich ſinne und ſinne:
was wollen dieſe Worte bedeuten?
Roderich ſagte: ſie mag dich vielleicht ſchon
laͤngſt geliebt haben, ohne daß du es wußteſt; du
biſt deſto gluͤcklicher.
Eine ſpaͤte Nachtigall erhub jezt ihren Geſang
und ſchien dem Liebenden Heil und Wonne zuzu-
rufen. Emil wurde tiefſinniger. Komm mit mir,
um dich aufzuheitern, ſagte Roderich, in das Dorf
hinunter, da ſollſt du ein zweites Brautpaar ſehn,
denn du mußt dir nicht einbilden, daß du heut
allein Hochzeit feyerſt. Ein junger Knecht iſt in
Langeweile und Einſamkeit mit einer aͤltern garſti-
gen Magd zu vertraut geworden, und der Pinſel
haͤlt ſich nun fuͤr verpflichtet, ſie zu ſeiner Frau
[304]Erſte Abtheilung.
zu machen. Jezt muͤſſen ſie beide ſchon geputzt ſeyn;
dieſen Anblick wollen wir nicht verſaͤumen, denn
er iſt ohne Zweifel intereſſant.
Der Trauernde ließ ſich von dem ſchwatzenden
heitern Freunde fortziehn, und ſie kamen bald zu
der Huͤtte. Eben trat der Zug heraus, um ſich
nach der Kirche zu begeben. Der junge Knecht
war in ſeinem gewoͤhnlichen leinenen Kittel, und
prangte nur mit einem Paar ledernen Beinkleidern,
die er ſo hell als moͤglich angeſtrichen hatte; er
war von einfaͤltiger Miene und ſchien verlegen.
Die Braut war von der Sonne verbrannt, nur
wenige lezte Spuren der Jugend waren an ihr
ſichtbar; ſie war grob und arm aber reinlich geklei-
det, einige rothe und blaue ſeidne Baͤnder, ſchon
etwas entfaͤrbt, flatterten von ihrem Mieder, am
meiſten aber war ſie dadurch entſtellt, daß man ihr
die Haare ſteif mit Fett, Mehl und Nadeln aus
der Stirn geſtrichen und oben zuſammen geheftet
hatte, auf dieſer Spitze des aufgethuͤrmten Haars
ſtand der Kranz. Sie laͤchelte und ſchien froͤlich,
doch war ſie verſchaͤmt und bloͤde. Die alten El-
tern folgten; der Vater war auch nur Knecht auf
dem Hofe, und die Huͤtte, der Hausrath ſo wie
die Kleidung, alles verrieth die aͤußerſte Armuth.
Ein ſchielender ſchmutziger Muſikant folgte dem
Zuge, der greinend auf einer Geige ſtrich und da-
zu ſchrie, dieſe war halb aus Pappe und Holz zu-
ſammen geleimt, und ſtatt der Saiten mit drei
Bindfaͤden bezogen. Der Zug machte Halt, als
der neue gnaͤdige Herr zu den Leuten trat. Einige
muth-
[305]Liebeszauber.
muthwillige Dienſtboten, junge Burſche und Maͤg-
de, ſchaͤkerten und lachten, und verſpotteten das
Brautpaar, vorzuͤglich die Kammerjungfern, die
ſich ſchoͤner duͤnkten und ſich unendlich beſſer geklei-
det ſahen. Ein Schauer erfaßte Emil; er blickte
nach Roderich um, dieſer war aber ſchon wieder
entlaufen. Ein naſeweiſer Burſche mit einem Ti-
tuskopf, der Bedienter eines Fremden, draͤngte ſich,
um witzig zu erſcheinen, an Emil und rief: Nun,
gnaͤdiger Herr, was ſagen Sie zu dem glaͤnzenden
Brautpaar? Beide wiſſen noch nicht, wo ſie mor-
gen Brod hernehmen ſollen; und heut Nachmittag
werden ſie doch einen Ball geben, der Virtuos
dort iſt ſchon beſtellt. — Kein Brod? ſagte Emil;
giebt es ſo etwas? — Ihr ganzes Elend iſt dem
Volke bekannt, fuhr jener ſchwatzend fort, aber
der Kerl ſagt, er bleibe dem Weſen dennoch gut,
wenn ſie auch nichts zubraͤchte; o ja freilich, die
Liebe iſt allgewaltig! das Lumpenpack hat nicht
einmal Betten, ſie muͤſſen ſogar dieſe Nacht auf
der Streu ſchlafen; das Duͤnnbier haben ſie ſich
zuſammen gebettelt, worin ſie ſich beſaufen wol-
len. Alle umher lachten laut, und die beiden ver-
ſpotteten Ungluͤcklichen ſchlugen die Augen nieder.
Emil ſtieß zornig den Schwaͤtzer von ſich; nehmt!
rief er aus, und warf in die Hand des erſtarrten
Braͤutigams hundert Dukaten, welche er am Mor-
gen eingenommen hatte. Die Alten und die Braut-
leute weinten laut, warfen ſich ungeſchickt auf die
Kniee und kuͤßten ihm Haͤnde und Kleider. Er
wollte ſich losmachen. Haltet euch damit das
I. [ 20 ]
[306]Erſte Abtheilung.
Elend vom Leibe, ſo lange ihr koͤnnt! rief er be-
taͤubt. O auf zeitlebens, mein gnaͤdigſter Herr,
ſind wir gluͤcklich! ſchrien alle.
Er wußte nicht, wie er fort gekommen war;
er fand ſich allein, und eilte mit wankenden Schrit-
ten in den Wald. Die dichteſte, einſamſte Stelle
ſuchte er auf, und warf ſich auf einen Raſenhuͤgel
nieder, indem er den ausbrechenden Strom ſeiner
Thraͤnen nicht mehr zuruͤckhielt. Mir ekelt das
Leben! ſchluchzte er in tiefer Bewegung; ich kann
nicht froh und gluͤcklich ſeyn, ich will es nicht!
Empfange mich bald du freundlicher Boden, ver-
birg mich in deinen kuͤhlen Armen vor den wilden
Thieren, die ſich Menſchen nennen! O Gott im
Himmel! wie verdien' ich es, daß ich auf Daunen
ruhe und Seide trage, daß mir die Traube ihr
koſtbarſtes Blut ſpendet, und alles mir Ehre und
Liebe dringend anbietet und darbringt? Dieſer Arme
iſt beſſer und edler als ich, und das Elend iſt ſeine
Amme, und Hohn und giftiger Spott ſein Gluͤck-
wunſch. Suͤndlich duͤnkt mir jeder Leckerbiſſen, den
ich genieße, jeder Trunk aus geſchliffenem Glaſe,
mein Ruhen auf weichen Betten, das Tragen von
Gold und Geſchmeide, da die Welt viel tauſend
mal tauſend Ungluͤckliche umher jagt, die nach dem
weggeworfenen vertrockneten Brode hungern, die
nicht wiſſen, was Labſal iſt. O jetzt verſteh ich
euch, ihr frommen Heiligen, ihr Verſchmaͤhten,
ihr Verhoͤhnten, die ihr Alles, bis auf euer Ge-
wand der Armuth, ausſtreutet, einen Sack um eure
Lenden guͤrtetet, und ſelbſt als Bettler die Schmaͤh-
[307]Liebeszauber.
ungen und Fußſtoͤße erdulden wolltet, mit denen
roher Uebermuth und reiche Schwelgerei das Elend
von ihren Tafeln weiſen, um nur dieſe Suͤnde des
Ueberfluſſes von euch zu werfen.
Alle Gebilde der Welt ſchwankten wie ein Ne-
bel vor ſeinen Augen; er nahm ſich vor, die Ver-
ſtoßenen als ſeine Bruͤder anzuſehn, und ſich von
den Gluͤcklichen zu entfernen. Lange hatte man
ſchon im Saale ſeiner zur Trauung gewartet, die
Braut war beſorgt, die Eltern ſuchten ihn im
Garten und Park; endlich kam er ausgeweint und
leichter zuruͤck, und die feyerliche Handlung ward
vollzogen.
Man begab ſich aus dem untern Saal nach der
offnen Halle, um ſich zu Tiſche zu ſetzen. Braut
und Braͤutigam gingen voran, und die uͤbrigen
folgten im Zuge; Roderich bot ſeinen Arm einem
jungen Maͤdchen, die munter und geſchwaͤtzig war.
Warum nur die Braͤute immer weinen und bei
der Trauung ſo ernſthaft ausſehn, ſagte dieſe, in-
dem ſie zur Gallerie hinauf ſtiegen.
Weil ſie in dieſem Augenblick am lebhafteſten
von der Wichtigkeit und dem Geheimnißvollen des
Lebens durchdrungen werden, antwortete Roderich.
Aber unſre Braut, fuhr jene fort, uͤbertrifft
noch an Feierlichkeit alle, die ich jemals geſehn habe;
ſie iſt uͤberhaupt immer ſchwermuͤthig, man ſieht
ſie nie recht heiter lachen.
Dies macht ihrem Herzen um ſo mehr Ehre,
antwortete Roderich, gegen ſeine Gewohnheit ver-
ſtimmt. Sie wiſſen vielleicht nicht, mein Fraͤulein,
[308]Erſte Abtheilung.
daß die Braut vor einigen Jahren ein allerliebſtes
verwaiſtes Kind, ein Maͤdchen, zu ſich genommen
hatte, um es zu erziehn. Dieſer Kleinen widmete
ſie alle ihre Zeit, und die Liebe des zarten Ge-
ſchoͤpfes war ihr ſuͤßeſter Lohn. Dieſes Maͤdchen
war ſieben Jahr alt geworden, als ſie ſich auf
einem Spaziergange in der Stadt verlor, und aller
angewandten Muͤhe ohngeachtet, noch nicht wieder
hat aufgefunden werden koͤnnen. Dieſen Unfall
hat ſich das edle Weſen ſo zu Gemuͤth gezogen,
daß ſie ſeitdem an einer ſtillen Melankolie leidet,
und durch nichts von dieſer Sehnſucht nach ihrer
kleinen Geſpielin kann abgezogen werden.
Wahrhaftig, recht intereſſant! ſagte das Fraͤu-
lein; das kann ſich in der Zukunft recht roman-
tiſch entwickeln, und zum angenehmſten Gedichte
Gelegenheit geben.
Man ordnete ſich an der Tafel; Braut und
Braͤutigam nahmen die Mitte ein, und ſahen in
die heitere Landſchaft hinaus. Man ſchwatzte und
trank Geſundheiten, die munterſte Laune herrſchte;
die Eltern der Braut waren ganz gluͤcklich, nur
der Braͤutigam war ſtill und in ſich gekehrt, genoß
nur wenig, und nahm an den Geſpraͤchen keinen
Antheil. Er erſchrack, als ſich muſikaliſche Toͤne
durch die Luft von oben hernieder warfen, doch
beruhigte er ſich wieder, da es ſanfte Hoͤrnertoͤne
blieben, die angenehm uͤber die Gebuͤſche hinweg
rauſchten, ſich durch den Park zogen, und am fer-
nen Berge verhallten. Roderich hatte ſie auf die
Gallerie uͤber die Speiſenden geſtellt, und Emil
[309]Liebeszauber.
war mit dieſer Einrichtung zufrieden. Gegen das
Ende der Mahlzeit ließ er ſeinen Haushofmeiſter
kommen, und ſagte zur Braut gewendet: liebe
Freundin, laß auch die Armuth an unſerm Ue-
berfluſſe Theil nehmen. Er befahl hierauf, eine
Anzahl Flaſchen Wein, Gebackenes, und verſchie-
dene Gerichte in reichlichen Portionen dem armen
Brautpaar hinuͤber zu ſenden, damit ihnen dieſer
Tag auch ein Freudentag ſein koͤnne, deſſen ſie ſich
nachher gern erinnern moͤchten. Sieh, Freund,
rief Roderich aus, wie ſchoͤn alles in der Welt
zuſammen haͤngt! Mein unnuͤtzes Umtreiben und
Schwatzen, das du ſo oft an mir tadelſt, hat doch
nun dieſe gute Handlung veranlaßt. Viele wollten
dem Wirthe uͤber ſein Mitleid und gutes Herz
etwas Artiges ſagen, und das Fraͤulein ſprach von
ſchoͤner Geſinnung und Edelmuth. O ſchweigen
wir! rief Emil zornig: es iſt keine gute Handlung,
ja uͤberhaupt keine Handlung, es iſt nichts! Wenn
Schwalben und Haͤnflinge ſich von den weggewor-
fenen Broſamen dieſes Ueberfluſſes naͤhren, und ſie
zu ihren Jungen in die Neſter tragen, ſollte ich
nicht eines armen Mitbruders gedenken, der mein
bedarf? Wenn ich meinem Herzen folgen duͤrfte,
ſo wuͤrdet ihr mich eben ſo gut wie manchen andern
verlachen und verſpotten, der in die Wuͤſte zog,
um nichts mehr von der Welt und ihrem Edelmuth
zu erfahren.
Man ſchwieg, und Roderich erkannte in den
gluͤhenden Augen ſeines Freundes den heftigſten
Unwillen; er beſorgte, daß er ſich in ſeiner Ver-
[310]Erſte Abtheilung.
ſtimmung noch mehr vergeſſen moͤchte, und ſuchte
ſchnell das Geſpraͤch auf andre Gegenſtaͤnde zu
lenken. Doch Emil war unruhig und zerſtreut
geworden; hauptſaͤchlich wendeten ſich ſeine Blicke
oft nach der oberſten Gallerie, auf welcher die
Bedienten, die das letzte Stockwerk bewohnten, vie-
lerlei zu ſchaffen hatten. Wer iſt die widerliche
Alte, die dort ſo geſchaͤftig iſt, und ſo oft in ihrem
grauen Mantel wieder kommt? fragte er endlich.
Sie gehoͤrt zu meiner Bedienung, ſagte die Braut;
ſie ſoll die Aufſicht uͤber die Kammerjungfern und
juͤngeren Maͤgde fuͤhren. Wie kannſt du ſolche
Haͤßlichkeit in deiner Naͤhe dulden? erwiederte
Emil. Laß ſie, antwortete die junge Frau, wollen
die Haͤßlichen doch auch leben, und da ſie gut und
redlich iſt, kann ſie uns von großem Nutzen ſeyn.
Man erhob ſich von der Tafel, und alles um-
gab den neuen Gatten, wuͤnſchte nochmals Gluͤck,
und draͤngte dann mit Bitten um die Erlaubniß
zum Ball. Die Braut umarmte ihn aͤußerſt freund-
lich und ſagte: meine erſte Bitte, Geliebter, wirſt
du mir nicht abſchlagen, denn wir haben uns alle
darauf gefreut: Ich habe ſo lange nicht getanzt,
und du ſelbſt haſt mich noch niemals tanzen ſehn.
Biſt du denn gar nicht neugierig darauf, wie ich
mich in dieſer Bewegung ausnehme?
So heiter, ſagte Emil, habe ich dich noch nie-
mals geſehn. Ich will kein Stoͤrer eurer Freude
ſeyn, macht, was ihr wollt; nur verlange keiner
von mir, daß ich mich ſelbſt mit linkiſchen Spruͤn-
gen laͤcherlich machen ſoll.
[311]Liebeszauber.
Wenn du ein ſchlechter Taͤnzer biſt, ſagte ſie
lachend, ſo kannſt du ſicher ſeyn, daß dich jeder-
mann gern in Ruhe laſſen wird. Die Braut ent-
fernte ſich hierauf, um ſich umzuziehn und ihr Ball-
kleid anzulegen.
Sie weiß es nicht, ſagte Emil zu Roderich,
mit dem er ſich entfernte, daß ich aus einem andern
Zimmer in das ihrige durch eine verborgene Thuͤr
kommen kann, ich werde ſie beim Umkleiden uͤber-
raſchen.
Als Emil fortgegangen war, und viele der
Damen ſich auch entfernt hatten, um die zum Tanz
noͤthigen Veraͤnderungen des Putzes zu treffen,
nahm Roderich die juͤngeren Leute beiſeit und fuͤhrte
ſie auf ſein Zimmer. Es wird ſchon Abend, ſagte
er hier, bald iſt es finſter; jetzt geſchwind jeder in
ſeine Verkleidung, um dieſe Nacht recht bunt und
toll zu verſchwaͤrmen. Was ihr nur erſinnen koͤnnt,
genirt euch nicht, je aͤrger, je beſſer! Je ſcheußli-
cher die Fratzen ſind, die ihr aus euch hervor bringt,
je mehr will ich euch loben. Da muß es keinen
ſo widerlichen Hoͤcker, keinen ſo ungeſtalten Bauch,
keine ſo widerſinnige Kleidung geben, die nicht heute
paradirt. Eine Hochzeit iſt eine ſo wunderſame
Begebenheit, ein ganz neuer ungewohnter Zuſtand
wird den Verheiratheten ſo ploͤtzlich wie ein Maͤhr-
chen uͤber den Hals geworfen, daß man dieſes
Feſt nicht verwirrt und unklug genug anfangen
kann, um nur irgend fuͤr die Eheleute die ploͤtzliche
Veraͤnderung zu motiviren, ſo daß ſie wie in einem
phantaſtiſchen Traum in die neue Lage hinuͤber
[312]Erſte Abtheilung.
ſchwimmen, und darum laßt uns nur recht in dieſe
Nacht hinein wuͤthen, und nehmt keine Einrede
von denen an, die ſich verſtaͤndig ſtellen moͤchten.
Sey ohne Sorge, ſagte Anderſon, wir haben
einen großen Koffer voll Masken und toller bun-
ter Kleidungsſtuͤcke aus der Stadt mitgebracht, du
wirſt dich ſelbſt daruͤber verwundern.
Aber ſeht her, ſagte Roderich, was ich von
meinem Schneider eingekauft habe, der dieſen koſt-
baren Schatz ſchon in Laͤppchen verſchneiden wollte!
Er hat dieſe Tracht von einer alten Gevatterinn
erhandelt, die damit gewiß bei Lucifer auf dem
Blocksberge Galla gemacht hat. Seht dieſes ſchar-
lachrothe Mieder, mit dieſen goldenen Treſſen und
Franzen, und dieſe goldglaͤnzende Haube, die mir
unendlich ehrwuͤrdig ſtehn muß, dazu nehm ich
dieſen gruͤnſeidnen Rock mit ſafrangelbem Beſatz
und dieſe ſcheußliche Maske, und fuͤhre nachher als
altes Weib den ganzen Chor der Carikaturen in
das Schlafzimmer. Macht, daß ihr fertig werdet!
wir wollen dann feierlich die junge Frau abholen.
Die Hoͤrner muſizirten noch, die Geſellſchaft
wandelte im Garten, oder ſaß vor dem Hauſe. Die
Sonne war hinter truͤben Wolken untergegangen,
und die Gegend lag im grauen Daͤmmer, als
ploͤtzlich unter der Wolkendecke der ſcheidende Stral
noch einmal hervor brach, und rings die Gegend,
vorzuͤglich aber das Gebaͤude mit ſeinen Gaͤngen,
Saͤulen und Blumengewinden, wie mit rothem
Blute beſprengte. Da ſahen die Eltern der Braut,
und die uͤbrigen Zuſchauer den abentheuerlichſten
[313]Liebeszauber.
Zug nach dem obern Corredor ſchweben: Roderich
als die rothe Alte voran, und ihr nachfolgend Buck-
lichte, dickbauchige Fratzen, ungeheure Perucken,
Tartaglias, Policinells und geſpenſtiſche Pierrots,
weibliche Figuren in ausgeſpannten Reifroͤcken und
ellenhohen Friſuren, die widerwaͤrtigſten Geſtalten,
alle wie aus einem aͤngſtlichen Traum. Sie zogen
gaukelnd und ſich drehend und wackelnd, trippelnd
und ſich bruͤſtend uͤber den Gang, und verſchwan-
den dann in eine der Thuͤren. Nur wenige der
Zuſchauer waren zum Lachen gekommen, ſo hatte
ſie der ſeltſamſte Anblick uͤberraſcht. Ploͤtzlich brach
ein gellender Schrei aus den innern Zimmern, und
hervor ſtuͤrzte in das blutige Abendroth die bleiche
Braut, im weißen kurzen Kleide, um welches Blu-
menranken flatterten, der ſchoͤne Buſen ganz frei,
die Fuͤlle der Locken in Luͤften ſchwebend. Wie
wahnſinnig, die Augen rollend, das Geſicht ent-
ſtellt, ſtuͤrzte ſie uͤber die Gallerie, und fand in
ihrer Angſt verblindet keine Thuͤr und Treppe,
und gleich darauf, ihr nachrennend, Emil, den blan-
ken tuͤrkiſchen Dolch in hoch erhobener Fauſt.
Jetzt war ſie am Ende des Ganges, ſie konnte
nicht weiter, er erreichte ſie. Die maskirten Freunde
und die graue Alte waren ihm nach geſtuͤrzt. Aber
ſchon hatte er wuͤthend ihre Bruſt durchbohrt, und
den weißen Hals durchſchnitten, ihr Blut ſtroͤmte
im Glanz des Abends. Die Alte hatte ſich mit
ihm umfaßt, ihn zuruͤck zu reißen; kaͤmpfend ſchleu-
derte er ſich mit ihr uͤber das Gelaͤnder, und beide
fielen zerſchmettert zu den Fuͤßen der Verwandten
[314]Erſte Abtheilung.
nieder, die mit ſtummem Entſetzen der blutigen
Scene zugeſchaut hatten. Oben und im Hofe,
oder von den Gallerien und Treppen herunter
eilend, ſtanden und rannten die ſcheußlichen Larven
in mannichfaltigen Gruppen, hoͤlliſchen Daͤmonen
aͤhnlich.
Roderich nahm den Sterbenden in ſeine Arme.
Mit dem Dolche ſpielend hatte er ihn im Zimmer
ſeiner Gattinn gefunden. Sie war faſt angekleidet,
bei ſeinem Eintreten; beim Anblick des rothen
widrigen Kleides hatte ſich ſeine Erinnerung belebt,
das Schreckbild jener Nacht war vor ſeine Sinne
getreten; knirſchend war er auf die zitternde, flie-
hende Braut zugeſprungen, um den Mord und
ihr teufliſches Kunſtſtuͤck zu beſtrafen. Die Alte
beſtaͤtigte ſterbend den veruͤbten Frevel, und das
ganze Haus war ploͤtzlich in Leid, Trauer und Ent-
ſetzen verwandelt worden.
Alle Zuhoͤrer waren bewegt, am meiſten aber
Clara, die ſchon fruͤher Zeichen von Ungeduld
gegeben hatte. Nein! rief ſie aus und erhob
ſich: es iſt nicht auszuhalten! Dieſe Geſchichten
gehn zu ſchneidend durch Mark und Bein, und
ich weiß mich vor Schauder in keinen meiner Ge-
danken mehr zu retten. Es iſt geradezu abſcheu-
lich, dergleichen zu erfinden. Ich zittre und aͤngſte
mich, und vermuthe, daß aus jedem Buſche, aus
jeder Laube ein Ungeheuer auf mich zutreten
[315]Erſte Abtheilung.
moͤchte, daß die theuerſten bekannteſten Geſtal-
ten ſich ploͤtzlich in fremd geſpenſtiſche Weſen
verwandeln duͤrften, und man iſt und bleibt
thoͤricht, und hoͤrt zu, laͤßt ſich von den Worten
immer weiter und weiter verlocken, bis das un-
geheuerſte Grauen uns ploͤtzlich erfaßt, und alle
vorigen Empfindungen wie in einen Strudel ge-
waltthaͤtig verſchlingt. Es faͤngt an Abend zu
werden, laßt uns hinein gehn und aufhoͤren.
Das iſt aber ganz gegen die Abrede, ſagte
Manfred, wollt ihr Weiber einer Akademie vor-
ſtehn und die Talente aufmuntern, ſo muͤßt ihr
auch mehr Muth und Ausdauer haben. Kannſt
du den guten Lothar mit dieſer unbilligen Kri-
tik ſo kraͤnken? Habt ihr es denn nicht vorher
gewußt, daß man euch wuͤrde zu fuͤrchten machen?
Woruͤber beklagt ihr euch alſo? Mir hat ſeine
Erzaͤhlung ſo wohl gefallen, daß ich, in Nach-
ahmung Alexanders, ausrufen koͤnnte: ich moͤchte
dieſen Liebeszauber geſchrieben haben, wenn ich
nicht meinen Runenberg gedichtet haͤtte! Darum,
ihr Beſten, laßt die Narrheit fahren und bleibt
huͤbſch thoͤricht und in der Ordnung.
Dieſe Geſchichte und die deinige, Bruder
Manfred, ſagte Auguſte, haben uns eben alle
Luſt genommen, noch etwas anzuhoͤren, denn ſie
ſind zu graͤßlich.
Et tu, Brute? rief Manfred aus; Schwe-
ſter, du biſt ja meine Schweſter, wir ſind ja
hoffentlich Ein Blut! nicht gegen die eigne Fa-
[316]Erſte Abtheilung.
milie und das verwandte Fleiſch richte dein Re-
zenſenten-Wuͤthen. Und du, Clara, warum nicht
deinen Zorn gegen unſern Anton wenden, der mit
ſeinem Maͤhrchen zuerſt dieſen Ton angegeben hat?
Aber ich ſehe wohl, wir Autoren ſtehen ſo wenig
hier, wie irgend wo, vor einem unpartheiiſchen
Richterſtuhl, die Leidenſchaften, Vorliebe und Haß
regen ſich bei jeder Rezenſir-Anſtalt. O wohin
entfliehen aus dieſer verderbten Welt? Ich werde
von nun an gar kein Publikum mehr anerkennen!
Wir ſollen alſo, ſagte Roſalie ſanft und er-
roͤthend, auch nicht einmal die kleine Genugthu-
ung haben, zu ſchelten, wenn man uns durch
die Mittel der Dichtkunſt faſt aus unſern Sin-
nen geaͤngſtigt hat?
Laßt es euch doch fuͤr diesmal ſo gefallen,
ſagte Manfred, wir wollen euch ein andermal
einſchlaͤfern und Langeweile genug machen. Habt
ihr aber was zu klagen, ſo klagt uͤber Anton,
den ihr ſelbſt zum Koͤnige dieſes Tages erwaͤhlt
habt, und der uns befohlen hat, dergleichen Zeug
an den Tag zu foͤrdern.
Es waͤre unbillig, ſagte Emilie, ihn zu ſchel-
ten, der uns ſo anmuthig unterhalten hat, und
der nur mit leiſem Schreck, wie aus der Ferne,
die Schilderung der ſtillen Einſamkeit wunder-
barer und anziehender machte.
Wie ihr nun ſeid, fuhr Manfred fort, das
eine iſt vielleicht gut, und das andre darum noch
nicht ſchlimm. Die Phantaſie, die Dichtung
[317]Erſte Abtheilung.
alſo wollt ihr verklagen? Aber eure Wirklichkeit!
Thut doch nur die Augen auf, angenehme Geg-
ner und Widerſacher, und ſeht, daß es dort,
vor euren Augen, hinter eurem Ruͤcken, wenn
ihr euch nur erkundigt, weit ſchlimmer hergeht.
Schlimmer und herber, und alſo auch viel graͤß-
licher, weil das Schrecken hier durch nichts Poe-
tiſches gemildert wird. Soll ich euch dergleichen
Dinge aus dem alltaͤglichſten Leben, oder aus
der Geſchichte erzaͤhlen? Ich bin nicht von den
ſchwaͤchſten Nerven, aber ich weiß noch wohl,
daß ich einige Naͤchte nicht ſchlafen konnte, weil
mich das Bild des armen gefolterten Grandier
die Tage hindurch bei allen meinen Geſchaͤften
verfolgte, ſo daß ich ſelbſt das Buch, worin ich
ſein Schickſal geleſen, mit Grauen betrachtete.
Dieſer Mann, ein Geiſtlicher, ward durch den
gemeinſten abgeſchmackteſten Neid der Zauberei
beſchuldigt, unkluge Nonnen ſtellten ſich beſeſſen
und klagten ihn als den Urheber ihres Zuſtan-
des an; Richelieu, der ſich irrigerweiſe von dem
gebildeten und nicht unwitzigen Manne beleidigt
glaubte, ging in die veraͤchtliche Kabale ein.
Grandier lachte anfangs, aber er ward vor Ge-
richt gezogen, unmenſchlich, bis zum Sterben faſt,
zermartert, und dann auf die grauſamſte Weiſe
verbrannt. Alle ſeine Richter waren von ſeiner
Unſchuld uͤberzeugt, ſein hoher Verfolger am in-
nigſten; eine aufgeklaͤrte witzige Nation ſpottete
uͤber den Prozeß, man beſuchte von Paris die
[318]Erſte Abtheilung.
beſeſſenen Nonnen als eine unterhaltende Aben-
theuerlichkeit: und doch wurde dieſe Abſcheulich-
keit veruͤbt, unſern Tagen ziemlich nahe, in den
Tagen der Philoſophie (nicht etwa im ſogenann-
ten barbariſchen Mittel-Alter), die ehrwuͤrdige
Form der Gerechtigkeit wurde gemißbraucht und
geſchaͤndet, die Religion verhoͤhnt, und alles dies,
woruͤber unſer Eingeweide entbrennt und Rache
ſchreit, hatte weiter keine Folgen, als daß die
Pariſer den Zermarterten gutmuͤthig bedauerten.
Soll ich euch aus den causes celèbres dieſe un-
geheure Begebenheit vorleſen? Oder jene Trauer-
geſchichte, welche erzaͤhlt, wie ein Familien-Va-
ter unſchuldig auf die Galeeren geſandt wird
und dort ſtirbt, ſein Weib und ſeine unmuͤndige
Tochter aber lange im Kerker ſchmachten muͤſſen,
weil ein Prozeß uͤber einen bedeutenden Diebſtahl
ſchlecht eingeleitet ward, und die Richter ſich vom
Stande des Klaͤgers verleiten ließen, uͤbereilt zu
verfahren; der unſchuldig Beklagte aber Vermoͤ-
gen, Ehre und Leben auf das ſchmaͤhlichſte ein-
buͤßte? Die Collekte die das junge Maͤdchen
nachher fuͤr ihre Mutter und ſich erhielt und er-
bettelte, konnte ihnen den Vater nicht wieder
geben, noch den ungeheuren Jammer von ihrer
Seele nehmen. Nicht wahr, dieſe ſind die aͤch-
ten Geſpenſtergeſchichten? Und wer lebt denn
wohl, der nicht dergleichen zu erzaͤhlen wuͤßte,
von der Grauſamkeit der Menſchen, der Beſtech-
lichkeit der Aemter, der Unterdruͤckung des Ar-
[319]Erſte Abtheilung.
men? Von dem Elend, welches große und kleine
Tyrannen erſchaffen? Hier koͤnnt ihr euch nir-
gend troͤſten und euch ſagen: es iſt nur erſon-
nen! die Kunſtform beruhigt euer Gemuͤth nicht
mit der Nothwendigkeit, ja ihr koͤnnt oft in die-
ſem Jammer nicht einmal ein Schickſal ſehn, ſon-
dern nur das Blinde, Schreckliche, das was ſagt:
ſo iſt es nun einmal! In dergleichen maͤhrchen-
haften Erfindungen aber kann ja dieſes Elend
der Welt nur wie von vielen muntern Farben
gebrochen hineinſpielen, und ich dachte, auch ein
nicht ſtarkes Auge muͤßte es auf dieſe Weiſe er-
tragen koͤnnen.
Und wenn du auch Recht haͤtteſt, ſagte Clara,
ſo bleibe ich doch unerbittlich!
Nun gut, ſagte Manfred,
Wie macht ihr Zarten, Weichen, Sanftgeſtimm-
ten, es aber nur in unſern Theatern? Ich habe
mich oft verwundern muͤſſen, daß eure Nerven
die Abſcheulichkeiten aushalten koͤnnen, die wir
doch faſt taͤglich dorten ſehen und hoͤren muͤſſen.
Ich rede nicht von jenen verfehlten Tragoͤdien,
die, um erhaben zu ſeyn, das Oberſte im Men-
ſchen zu unterſt kehren, denn uͤber dieſe kann
man laͤcheln und ſich an ihnen unterhalten, im-
mer wird doch irgend eine That, Begebenheit oder
Schickſal dargeſtellt, welches mich beruhigt, auch
[320]Erſte Abtheilung.
iſt hie und da wohl ein Zug oder eine Scene
gelungen, die fuͤr das Ganze dann gut ſtehn
muͤſſen; ſondern von jenem kleinlichen Zwitter-
ſchauſpiele ſpreche ich, von jenen Familiengemaͤhl-
den und Hofrathsſtuͤcken, von den Hunger- und
Elends-Feſten, von der Noth und Angſt, die
bis in den fuͤnften Akt die Seelen zerdruͤckt, und
ein edles Maͤdchen faſt dahin bringt, einen Lump
zu heirathen und das brillanteſte Herz ſitzen zu
laſſen; oder wo ein hochſtrebender Sohn den
Vater beſtiehlt und zur Verzweiflung bringt, oder
Bruͤder mißhellig ſind, Frauen den Schweiß des
Gatten verſchwenden, und ſo weiter: denn wer
vermoͤchte die unendliche Variation des großen
Einerlei auszuſprechen? Bei dieſen Jammer-Luft-
ſpielen, kann ich nicht laͤugnen, bin ich ein zu
nervenſchwacher Zuſchauer, um nicht auf das Aeu-
ßerſte verſtimmt und im Innern ungluͤcklich zu
werden. Denn dieſe Dichter haben nicht daran
genug, dergleichen Elend nach der Wahrheit zu
ſchildern, wodurch ihre Compoſitionen bloß un-
kuͤnſtlich wuͤrden, ſondern ſie ziehn mit einem
Handgriff, den ſie ſich alle zu eigen gemacht ha-
ben, das Edelſte und Hoͤchſte der Menſchheit,
Kindes- und Elternliebe, Freundſchaft, die theu-
erſten Verhaͤltniſſe, die menſchlichſten, natuͤrlich-
ſten und herzlichſten Ruͤhrungen in ihre Carika-
turen hinein, und ſchlagen die Toͤne an, die im-
mer anklingen muͤſſen, wenn ein gutmuͤthiges Pu-
blikum kein heitres Kunſtwerk, ſondern nur eine
pre-
[321]Erſte Abtheilung.
prekaire Wahrheit verlangt, und erregen dadurch
die Thraͤnenſchauer, auf welche ſie in ihren Vor-
reden ſo ſtolz ſind. Dieſer Thraͤnen (ich muß ſie
ſelbſt vergießen, geſteh ich) ſollten wir uns aber
ſchaͤmen, ſie ſollten uns gerade am meiſten in
Zorn gegen den Dichter entzuͤnden, der das
Hoͤchſte und Theuerſte zum Niedrigſten macht, und
auf dem Troͤdelmarkt ausbietet. Nicht wahr, es
wuͤrde uns alle empoͤren, ein Erbſtuͤck eines ge-
liebten Vaters, das wir nur unſerm koſtbarſten
Schranke anvertrauen, ploͤtzlich in der ſchmuzigen
Judengaſſe oͤffentlich ausſtehn zu ſehn? Gerade
ſo empoͤren mich jene Dinge, von denen ſich un-
ſer Publikum ſo oft erhoben und gebeſſert fuͤhlt,
denn eben die unwuͤrdigſte Taſchenſpielerei jener
Autoren iſt es, an ihr Machwerk die Empfin-
dungen zu knuͤpfen, die uns als Menſchen ewig
heilig und unverletzlich ſeyn ſollen.
Ich verſtehe jetzt, ſagte Emilie, ihren Zorn
etwas mehr, der mir oft genug paradox erſchien,
indem ich ſah, daß Sie ſich einer gewiſſen Ruͤh-
rung nicht erwehren konnten.
Wie koͤnnt ihr Weiber, fuhr Manfred in
ſeinem Eifer fort, es nur dulden, daß man eure
Muͤtterlichkeit, eure Liebe, euer zartes Hingeben,
eure ehelichen Tugenden, eure Keuſchheit, dort
als verzerrte Bilder ſo oͤffentlich an den Pranger
ſtellt? denn das iſt es eigentlich, wie ſehr ſich
alle dieſe Herrn auch die Miene geben wollen,
euch und euren Beruf zu verherrlichen. Und eben
I. [21]
[322]Erſte Abtheilung.
ſo mit den Romanen. In mein Haus ſoll mir
gewiß kein Buch fuͤr Muͤtter, oder Gattinnen, oder
Weiber wie ſie ſeyn ſollen, und dergleichen Un-
kraut kommen, aus der Verkehrtheit unſers Trei-
bens erwachſen und von der Eitelkeit des Zeitalters
genaͤhrt. Und dieſelben Herren, die dergleichen
wahrhaft unmoraliſches Zeug ſchreiben und prei-
ſen, wollen dem Bauer ſeinen Siegfried, Okta-
vian und Eulenſpiegel nehmen, um die Morali-
taͤt der niedern Staͤnde nicht verderben zu laſ-
ſen! Kann es etwas Tolleres und Verkehrteres
geben?
Sollte denn aber, ſagte Anton, meine Regie-
rung gleich ſo verſtuͤmmelt beginnen, zum gefaͤhr-
lichen Beiſpiel aller meiner Thronfolger, und dieſe
Abtheilung, die mir zugefallen iſt, gar nicht vol-
lendet werden? Was werden dazu unſre Freunde
Friedrich, Wilibald und Theodor ſagen? Wahr-
lich, wenn ich meiner Pflicht nur irgend nachle-
ben will, darf ich es nicht zugeben. Die lie-
benswuͤrdige Clara wird alſo hiemit fuͤr eine Re-
bellin erklaͤrt, und ihr eine Minute Friſt geſtat-
tet, ſich zu beſinnen, widrigenfalls ſie ſich der
Strafe ausſetzen wird, daß man ihr ganz allein
in der Einſamkeit die Oktavia, oder Armuth und
Edelſinn, oder irgend etwas dem Aehnliches,
Großartiges vorleſen ſoll.
Ich ergebe mich, ſagte Clara; der furcht-
bare Herrſcher ſehe ich, hat zu ſchreckliche Stra-
fen in ſeiner Hand, er will uns zwar nicht mit
[323]Erſte Abtheilung.
Skorpionen, aber doch mit boͤſem Gewuͤrm gei-
ßeln, und darum ziehe ich es vor, mich dem Le-
ſen dieſer Maͤhrchen zu ergeben, wenn denn doch
einmal geleſen werden ſoll. Nur lebe ich der
Hofnung, daß die drei Erzaͤhlungen, welche noch
zuruͤckbleiben, nicht crescendo dieſes Grauen er-
hoͤhen, ſondern uns decrescendo wieder in den
erſten Ton zuruͤck fuͤhren werden.
Vor allem laßt uns in den Saal treten,
ſagte Emilie; es iſt ungewoͤhnlich kuͤhl geworden,
und unſer geneſender Beherrſcher duͤrfte von der
Abendluft mehr, wie wir von der Poeſie zu be-
fuͤrchten haben.
Als man den Garten verlaſſen und ſich im
offnen Saale wieder geordnet hatte, ſagte Theo-
dor: ich kann wenigſtens verſichern, daß dasje-
nige, was ich mitzutheilen habe, ſchwerlich Schrek-
ken erregen kann.
Von meiner Erfindung kann ich das nehm-
liche zuſagen, fuͤgte Wilibald hinzu.
Wenn Friedrich uns daſſelbe verſpricht, ſagte
Clara, ſo moͤge denn alſo dieſe Maͤhrchenwelt
wieder erſcheinen.
Nur mit Beſchaͤmung, ſagte Friedrich, kann
ich Ihnen dieſe Blaͤtter mittheilen, da ich der
einzige bin, der ſeine Erzaͤhlung nicht erfunden
hat, ſondern mich gezwungen ſehe, Ihnen einen
Jugendverſuch vorzulegen, welcher nur eine alte
Geſchichte nacherzaͤhlt. Auch iſt die Darſtellung
ſo gefaßt, daß ich fuͤrchten muß, dem Gedicht
[324]Erſte Abtheilung.
das groͤßte Unrecht gethan zu haben. Doch er-
lauben Sie mir ohne weitere Entſchuldigung an-
zufangen.
Friedrich las: —
Liebesgeſchichte
der ſchoͤnen Magelone und des
Grafen Peter von Provence.
1.
Vorbericht.
Iſt es dir wohl ſchon je, vielgeliebter Leſer, ſo
recht traurig in die Seele gefallen, wie betruͤbt es
ſey, daß das rauſchende Rad der Zeit ſich immer
weiter dreht, und daß bald das zu unterſt gekehrt
wird, was ehemals hoch oben war? So faͤhrt
Ruhm, Glanz, Pracht und weltberuͤhmte Schoͤn-
heit hin, wie goldene Abendwolken, die hinter fer-
nen Bergen nieder ſinken, und nur auf kurze Zeit
noch ſchwachen gelblichen Schimmer hinter ſich laſ-
ſen: die Nacht tritt ernſt und feierlich herauf, die
ſchwarzen Heere von Wolken ziehn unter Ster-
[325]Die ſchoͤne Magelone.
nenglanz auf und ab, und der letzte Schein erloͤſcht
furchtſam; Wind faͤhrt durch den Eichenforſt und
kein Huͤttenbewohner denkt an die Roͤthe des Abends
zuruͤck. Im Winkel ſitzt wohl ein Knabe in ſich
verſunken und ſieht im daͤmmernden Widerſchein
der Lampe ein Bild der froͤhlichen Morgenroͤthe;
ihm duͤnkt, er hoͤre ſchon die muntern Haͤhne
kraͤhen, und wie ein kuͤhler Wind durch die Blaͤtter
rauſcht und alle Blumen der Wieſe aus ihrem ſtil-
len Schlafe weckt; er vergißt ſich ſelbſt und nickt
nach und nach ein, indem das Feuer ausbrennt.
Dann kommen Traͤume uͤber ihn, dann ſieht er
alles im Glanze der Sonne vor ſich: die wohl-
bekannte Heimath, uͤber die wunderbare fremde
Geſtalten ſchreiten, Baͤume wachſen hervor, die
er nie geſehn, ſie ſcheinen zu reden und menſchli-
chen Sinn, Liebe und Vertrauen zu ihm ausdruͤk-
ken zu wollen. Wie fuͤhlt er ſich der Welt befreun-
det, wie ſchaut ihn alles mit zaͤrtlichem Wohlge-
fallen an! die Buͤſche fluͤſtern ihm liebe Worte
ins Ohr, indem er voruͤbergeht, fromme Laͤmmer
draͤngen ſich um ihn, die Quelle ſcheint mit locken-
dem Murmeln ihn fort fuͤhren zu wollen, das
Gras unter ſeinen Fuͤßen quillt friſcher und gruͤ-
ner hervor.
Unter dieſem Bilde mag dir, geliebter Leſer,
der Dichter erſcheinen, und er bittet, daß du ihm
vergoͤnnen moͤgeſt, dir ſeinen Traum vorzufuͤhren.
Jene alte Geſchichte, die manchen ſonſt ergoͤtzte,
die vergeſſen ward, und die er gern mit neuem
Lichte bekleiden moͤchte.
[326]Erſte Abtheilung.
2.
Wie ein fremder Saͤnger an den Hof des
Grafen von Provence kam.
In der Provence herrſchte vor langer Zeit ein
Graf, der einen uͤberaus ſchoͤnen und herrlichen
Sohn hatte, welcher als die Freude des Vaters
und der Mutter erwuchs. Er war groß und ſtark,
und glaͤnzende blonde Haare floſſen um ſeinen Nak-
[327]Die ſchoͤne Magelone.
ken und beſchatteten ſein zartes jugendliches Ge-
ſicht; dabei war er in aller Waffenuͤbung wohl
erfahren, keiner fuͤhrte im Lande und auch außer-
halb die Lanze und das Schwerdt ſo wie er, ſo
daß ihn Jung und Alt, Groß und Klein, Adel
und Unadel bewunderte.
Er war oft gern in ſich gekehrt, als wenn er
irgend einem geheimen Wunſche nachhinge, und
viele erfahrene Leute glaubten und ſchloſſen daher,
er ſey in Liebe; es wollte ihn darum keiner aus
ſeinen Traͤumen aufwecken, weil ſie wohl wußten,
daß die Liebe ein ſuͤßer Ton iſt, der im Ohre ſchlaͤft
und wie aus einem Traume ſeine phantaſiereiche
Melodie fortredet, ſo daß ihn der Beherberger
ſelbſt nur wie ein dunkles Raͤthſel verſteht, ge-
ſchweige denn ein Fremder, und daß er oft nur
allzuſchnell entflieht, und ſeine Wohnung in dem
Aether und goldenen Morgenwolken wieder ſucht.
Aber der junge Graf Peter kannte ſeine eige-
nen Wuͤnſche nicht; es war ihm, als wenn ferne
Stimmen unvernehmlich durch einen Wald riefen,
er wollte folgen, und Furcht hielt ihn zuruͤck, doch
Ahndung draͤngte ihn vor.
Sein Vater gab ein großes Turnier, zu wel-
chem viele Ritter geladen wurden. Es war ein
Wunder anzuſehn, wie der zarte Juͤngling die Er-
fahrenſten aus dem Sattel hob, ſo daß es auch
allen Zuſchauern unbegreiflich ſchien. Er ward
von allen geruͤhmt und fuͤr den beſten und ſtaͤrk-
ſten geachtet; aber kein Lob machte ihn ſtolz, ſon-
dern er ſchaͤmte ſich manchmal ſelber, daß er ſo
[328]Erſte Abtheilung.
alte und wuͤrdige Rittersmaͤnner ſollte uͤberwunden
haben.
Unter andern war auch ein Saͤnger mit her-
bei gekommen, der viele fremde Laͤnder geſehen
hatte, er war kein Ritter, aber an Einſicht und
Erfahrung uͤbertraf er manchen Edlen. Dieſer
geſellte ſich zu Graf Peter und lobte ihn unge-
mein, ſchloß aber ſeine Rede mit dieſen Worten:
Ritter, wenn ich Euch rathen ſollte, ſo muͤßt ihr
nicht hier bleiben, ſondern fremde Gegenden und
Menſchen ſehn und wohl betrachten, auf daß ſich
eure Einſichten, die in der Heimath nur immer
einheimiſch bleiben, verbeſſern, und Ihr am Ende
das Fremde mit dem Bekannten verbinden koͤnnt.
Er nahm ſeine Laute und ſang:
[329]Die ſchoͤne Magelone.
Der Juͤngling hoͤrte ſtill dem Geſange zu;
als er geendigt war, blieb er eine Weile in ſich
gekehrt, dann ſagte er: ja, nunmehr weiß ich,
was mir fehlt, ich kenne nun alle meine Wuͤnſche,
in der Ferne wohnt mein Sinn, und mancherlei
wechſelnde buntfarbige Bilder ziehn durch mein
Gemuͤth. Keine groͤßere Wolluſt fuͤr den jungen
Rittersmann, als durch Thal und uͤber Feld dahin
ziehn: hier liegt eine hoch erhabene Burg im Glanz
der Morgenſonne, dort toͤnt uͤber die Wieſe durch
[330]Erſte Abtheilung.
den dichten Wald des Schaͤfers Schallmey, ein
edles Fraͤulein fliegt auf einem weißen Zelter vor-
uͤber, Ritter und Knappen begegnen mir in blan-
ker Ruͤſtung und Abentheuer draͤngen ſich; unge-
kannt zieh ich durch die beruͤhmten Staͤdte, der
wunderbarſte Wechſel, ein ewig neues Leben um-
giebt mich, und ich begreife mich ſelber kaum, wenn
ich an die Heimath und den ſtets wieder kehren-
den Kreis der hieſigen Begebenheiten zuruͤck denke.
O ich moͤchte ſchon auf meinem guten Roſſe ſitzen,
ich moͤchte ſogleich dem vaͤterlichen Hauſe Lebe-
wohl ſagen.
Er war von dieſen neuen Vorſtellungen erhitzt,
und ging ſogleich in das Gemach ſeiner Mutter,
wo er auch den Grafen ſeinen Vater traf. Peter
ließ ſich alsbald demuͤthig auf ein Knie nieder und
trug ſeine Bitte vor, daß ſeine Eltern ihm erlau-
ben moͤchten zu reiſen und Abentheuer aufzuſuchen;
denn, ſo ſchloß er ſeine Rede: wer immer nur in
der Heimath bleibt, behaͤlt auch fuͤr ſeine Lebens-
zeit nur einen einheimiſchen Sinn, aber in der
Fremde lernt man das Niegeſehene mit dem Wohl-
bekannten verbinden, darum verſagt mir Eure Er-
laubniß nicht.
Der alte Graf erſchrack uͤber den Antrag ſei-
nes Sohnes, noch mehr aber die Mutter, denn ſie
hatten ſich deſſen am wenigſten verſehn. Der Graf
ſagte: mein Sohn, deine Bitte koͤmmt mir unge-
legen, denn du biſt mein einziger Erbe; wenn ich
nun waͤhrend deiner Abweſenheit mit Tode abginge,
was ſollte da aus meinem Lande werden? Aber
[331]Die ſchoͤne Magelone.
Peter blieb bei ſeinem Geſuch, woruͤber die Mut-
ter anfing zu weinen und zu ihm ſagte: Lieber,
einziger Sohn, du haſt noch kein Ungemach des
Lebens gekoſtet und ſiehſt nur deine ſchoͤnen Hof-
nungen vor dir; allein bedenke, daß es gar wohl
ſeyn kann, daß, wenn du abreiſeſt, tauſend Muͤhſe-
ligkeiten ſchon bereit ſtehn, um dir in den Weg zu
treten; du haſt dann vielleicht mit Elend zu kaͤm-
pfen, und wuͤnſcheſt dich zu uns zuruͤck.
Peter lag noch immer demuͤthig auf den Knien
und antwortete: Vielgeliebte Eltern, ich kann nicht
dafuͤr, aber es iſt jezt mein einziger Wunſch, in
die weite fremde Welt zu reiſen, um Freud und
Muͤhſeligkeit zu erleben, und dann als ein bekann-
ter und geehrter Mann in die Heimath zuruͤck zu
kehren. Dazu ſeid ihr ja auch, mein Vater, in
eurer Jugend in der Fremde geweſen, und habt
euch weit und breit einen Namen gemacht; aus
einem fremden Lande habt ihr euch meine Mutter
zum Gemahl geholt, die damals fuͤr die groͤßte
Schoͤnheit geachtet wurde; laßt mich ein gleiches
Gluͤck verſuchen, ſeht, mit Thraͤnen bitte ich euch
darum.
Er nahm eine Laute, die er ſehr ſchoͤn zu ſpie-
len verſtand, und ſang das Lied, das er vom Har-
fenſpieler gelernt hatte, und am Schluſſe weinte
er heftig. Die Eltern waren auch geruͤhrt, beſonders
aber die Mutter; ſie ſagte: nun, ſo will ich dir
meinerſeits meinen Seegen geben, geliebter Sohn,
denn es iſt freilich alles wahr, was du da geſagt
haſt. Der Vater ſtand gleichfalls auf und ſeegnete
[332]Erſte Abtheilung.
ihn, und Peter war im Herzen vergnuͤgt, daß er
ſo die [Einwilligung] ſeiner Eltern erhalten hatte.
Es ward nun Befehl gegeben, alles zu ſeinem
Zuge zu ruͤſten, und die Mutter ließ Petern heim-
lich zu ſich kommen. Sie gab ihm drei koſtbare
Ringe und ſagte: Siehe, mein Sohn, dieſe drei
koſtbaren Ringe habe ich von meiner Jugend an
ſorgfaͤltig bewahrt; nimm ſie mit dir und halte ſie
in Ehren, und ſo du ein Fraͤulein findeſt, daß du
liebſt und das dir wieder gewogen iſt, ſo darfſt
du ſie ihr ſchenken. Er kuͤßte dankbar ihre Hand,
und es kam der Morgen, an welchem er von dan-
nen ſchied.
3.
Wie der Ritter Peter von ſeinen
Eltern zog.
Als Peter ſein Pferd beſteigen wollte, ſeegnete ihn
ſein Vater noch einmal, und ſagte zu ihm: mein
Sohn, immer moͤge dich das Gluͤck begleiten, ſo
daß wir dich geſund und wohlbehalten wieder ſehen;
denke ſtets meiner Lehren, die ich deiner zarten Ju-
gend einpraͤgte: ſuche die gute und meide die boͤſe
Geſellſchaft; halte immer die Geſetze des Ritter-
ſtandes in Ehren, und vergiß ſie in keinem Augen-
blicke, denn ſie ſind das edelſte, was die edelſten
Maͤnner in ihren beſten Stunden erdacht haben;
[333]Die ſchoͤne Magelone.
ſei immer redlich, wenn du auch betrogen wirſt,
denn das iſt der Probierſtein des Wackern, daß er
ſelten auf rechtliche Menſchen trifft, und doch ſich
ſelber gleich bleibt. — Lebe wohl! —
Peter ritt fort, allein und ohne Knappen, denn
er wollte allenthalben, wie es oft die jungen Ritter
zu thun pflegten, unbekannt bleiben. Die Sonne
war herrlich aufgegangen, und der friſche Thau
glaͤnzte auf den Wieſen. Peter war frohen Mu-
thes und ſpornte ſein gutes Roß, daß es oft mu-
thig aufſprang. Es lag ihm ein altes Lied im
Sinne und er ſang es laut:
Er kam nach vielen Tagereiſen in die edle und
vornehme Stadt Neapolis. Schon unterwegs hatte
er viel vom Koͤnige und ſeiner uͤberaus ſchoͤnen Toch-
ter Magelone reden hoͤren, ſo daß er ſehr begierig
war, ſie von Angeſicht zu Angeſicht zu ſehn. Er
ſtieg in einer Herberge ab, und erkundigte ſich nach
Neuigkeiten; da hoͤrte er vom Wirthe, daß ein
vornehmer Ritter, Herr Heinrich von Carpone
angekommen ſey, und daß ihm zu Ehren ein ſchoͤ-
nes Turnier gehalten werden ſolle. Er erfuhr zu-
gleich, daß auch den Fremden der Zutritt erlaubt
[334]Erſte Abtheilung.
ſey, wenn ſie nach den Turniergeſetzen geharniſcht
erſchienen. Da nahm ſich Peter ſogleich vor, auch
dabei zu ſeyn, und ſeine Geſchicklichkeit und Staͤrke
zu verſuchen.
4.
Peter ſieht die ſchoͤne Magelone.
Als der Tag des Turniers erſchienen war, legte
Peter ſeine Waffenruͤſtung an, und begab ſich in
die Schranken. Er hatte ſich auf ſeinen Helm
zwei ſchoͤne ſilberne Schluͤſſel ſetzen laſſen, von
ungemein feiner Arbeit, ſo war auch ſein Schild
mit Schluͤſſeln geziert, auch die Decke ſeines Pfer-
des. Dies hatte er ſeinem Namen zu Gefallen
gethan und zu Ehren des Apoſtels Petrus, den er
ſehr liebte. Von Jugend auf hatte er ſich ihm
zum Schirm und Schutz empfohlen, und deswe-
gen waͤhlte er ſich auch jetzt dieſes Wahrzeichen,
da er unbekannt bleiben wollte.
Unter Trompetenſchall trat ein Herold auf,
der das Turnier ausrief, das zu Ehren der ſchoͤ-
nen Magelone eroͤffnet wurde. Sie ſelbſt ſaß auf
einem erhabenen Soͤller und ſah auf die Verſamm-
lung der Ritter hinab. Peter ſchaute hinauf, er
konnte ſie aber nicht genau betrachten, weil ſie zu
entfernt war.
Herr Heinrich von Carpone trat zuerſt in die
[335]Die ſchoͤne Magelone.
Schranken und gegen ihn ſtellte ſich ein Ritter
des Koͤniges. Sie trafen auf einander und der
Koͤnigſche wurde buͤgellos, aber er traf zufaͤlliger-
weiſe mit ſeiner Lanze das Pferd des Herrn Hein-
rich vorn an den Schienbeinen, ſo daß das Roß
mit ſeinem Reuter zu Boden ſtuͤrzte. Daruͤber
wurde dem Diener des Koͤniges der Sieg zuge-
ſprochen, als einem, der den Herrn Heinrich um-
gerennt haͤtte. Das verdroß Petern gar ſehr, denn
Herr Heinrich war ein nahmhafter Renner; dazu
ſo beruͤhmte ſich der Diener laut und oͤffentlich
ſeines Sieges, den er doch nur dem Zufall zu dan-
ken hatte. Peter ſtellte ſich alſo gegen ihn in die
Schranken und rannte ihn vom Pferde hinunter,
daß ſich alle uͤber ſeine Kraft verwundern mußten;
er that aber zu aller Erſtaunen noch mehr, denn
er machte auch bald die uͤbrigen Saͤttel ledig, ſo
daß ſich in kurzer Zeit kein Gegner vor ihm mehr
finden ließ. Daruͤber waren alle begierig, den Na-
men des fremden Ritters zu wiſſen, und der Koͤ-
nig von Neapel ſchickte ſelbſt ſeinen Herold an
ihn ab, um ihn zu erfahren; aber Peter bat in
Demuth um die Erlaubniß, daß man ihm noch
ferner erlauben moͤchte, unbekannt zu bleiben, denn
ſein Name ſei dunkel und von keinen Thaten ver-
herrlicht; dazu ſo ſey er ein armer geringer Edel-
mann aus Frankreich, er wolle ſeinen Namen daher
ſo lange verſchweigen, bis er es durch Thaten
werth geworden ſey, ſich nennen zu duͤrfen. Den
Koͤnig freute dieſe Antwort, weil ſie ein Beweis
von der Beſcheidenheit des Ritters war.
[336]Erſte Abtheilung.
Es waͤhrte nicht lange, ſo wurde ein zweites
Turnier gehalten, und die ſchoͤne Magelone wuͤnſchte
heimlich im Herzen, daß ſie des Ritters mit den
ſilbernen Schluͤſſeln wieder anſichtig werden moͤchte;
denn ſie war ihm zugethan, hatte es aber noch Nie-
mand anvertraut, ja ſich ſelber kaum, denn die
erſte Liebe iſt zaghaft, und haͤlt ſich ſelbſt fuͤr einen
Verraͤther. Sie ward roth, als Peter wieder mit
ſeiner kenntlichen Waffenruͤſtung in die Schranken
trat, und nun die Trommeten ſchmetterten, und
bald darauf die Spieße an den Schilden krachten.
Unverwandt blickte ſie auf Peter, und er blieb in
jedem Kampfe Sieger; ſie verwunderte ſich endlich
daruͤber nicht mehr, weil ihr war, als koͤnne es
nicht anders ſeyn. Die Feierlichkeit war geendigt,
und Peter hatte von neuem großes Lob und große
Ehre eingeſammelt.
Der Koͤnig ließ ihn an ſeine Tafel laden, wo
Peter der Prinzeſſin gegenuͤber ſaß und uͤber ihre
Schoͤnheit erſtaunte, denn er ſah ſie jezt zum er-
ſtenmal in der Naͤhe. Sie blickte immer freundlich
auf ihn hin, und dadurch kam er in große Ver-
wirrung; ſein Sprechen beluſtigte den Koͤnig, und
ſein edler und kraͤftiger Anſtand ſetzte das Hofge-
ſinde in Erſtaunen. Im Saale kam er nachher
mit der Prinzeſſin allein zu ſprechen, und ſie lud
ihn ein, oͤfter wieder zu kommen, worauf er Ab-
ſchied nahm, und ſie ihn noch zuletzt mit einem ſehr
freundlichen Blicke entließ.
Peter ging wie berauſcht durch die Straßen,
er eilte in einen ſchoͤnen Garten, und wandelte mit
ver-
[337]Die ſchoͤne Magelone.
verſchraͤnkten Armen auf und nieder, bald langſam,
bald ſchnell, und die Zeit verfloß, ohne daß er be-
greifen konnte, wie die Stunden voruͤber waren.
Er hoͤrte nichts um ſich her, denn eine innerliche
Muſik uͤbertoͤnte das Fluͤſtern der Baͤume und das
rieſelnde Plaͤtſchern der Waſſerkuͤnſte. Tauſendmal
ſagte er ſich in Gedanken den Namen Magelone
vor, und erſchrack dann ploͤzlich, weil er glaubte,
er habe ihn laut durch den Garten ausgerufen.
Gegen Abend erſcholl in der Gegend eine ſuͤße Mu-
ſik, und nun ſetzte er ſich ins friſche Gras hinter
einem Buſche und weinte und ſchluchzte; es war
ihm, als wenn ſich der Himmel umgewendet und
nun ſeine Schoͤnheit und paradiſiſche Seite zum
erſtenmal herausgekehrt haͤtte; und doch machte ihn
dieſe Empfindung ſo ungluͤcklich, unter allen Freu-
den fuͤhlte er ſich ſo gaͤnzlich verlaſſen. Die Mu-
ſik floß wie ein murmelnder Bach durch den ſtillen
Garten, und er ſah die Anmuth der Fuͤrſtin auf
den ſilbernen Wellen hoch einher ſchwimmen, wie
die Wogen der Muſik den Saum ihres Gewandes
kuͤßten, und wetteiferten, ihr nachzufolgen; gleich
einer Morgenroͤthe ſchien ſie in die daͤmmernde Nacht
hinein, und die Sterne ſtanden in ihrem Laufe ſtill,
die Baͤume hielten ſich ruhig und die Winde ſchwie-
gen; die Muſik war jezt die einzige Bewegung,
das einzige Leben in der Natur, und alle Toͤne
ſchluͤpften ſo ſuͤß uͤber die Grasſpitzen und durch
die Baumwipfel hin, als wenn ſie die ſchlafende
Liebe ſuchten und ſie nicht wecken wollten, als
I. [ 22 ]
[338]Erſte Abtheilung.
wenn ſie, ſo wie der weinende Juͤngling, zitterten,
bemerkt zu werden.
Jezt erklangen die lezten Accente, und wie ein
blauer Lichtſtrom verſank der Ton, und die Baͤume
rauſchten wieder, und Peter erwachte aus ſich ſel-
ber und fuͤhlte, daß ſeine Wange von Thraͤnen
naß ſey. Die Springbrunnen plaͤtſcherten ſtaͤrker
und fuͤhrten von den entfernteſten Gegenden des
Gartens her laute Geſpraͤche. Peter ſang leiſe
folgendes Lied:
[339]Die ſchoͤne Magelone.
Er hatte ſich ſelber etwas getroͤſtet, und ſchwur
ſich, Magelonens Liebe zu erwerben, oder unter-
zugehn. Spaͤt in der Nacht ging er nach Hauſe
und ſetzte ſich in ſeinem Zimmer nieder, und ſprach
ſich jedes Wort wieder vor, das ſie ihm geſagt
hatte; bald glaubte er Urſach zu finden, ſich zu
freuen, dann wurde er wieder betruͤbt, und war
von neuem in Zweifel. Er wollte ſeinem Vater
ſchreiben und richtete in Gedanken die Worte an
Magelonen, und trauerte dann uͤber ſeine Zerſtreu-
ung, daß er es wage, ihr zu ſchreiben, die er nicht
kenne. Nun erſchrack er vor dem Gedanken, daß
ihm das Weſen fremd ſey, welches er vor allen
uͤbrigen in der Welt ſo unausſprechlich theuer liebe.
Ein ſuͤßer Schlummer uͤberraſchte ihn endlich
und durchſtrich ſeine Zweifel und Schmerzen, und
wunderbare Traͤume von Liebe und Entfuͤhrun-
gen, einſamen Waͤldern und Stuͤrmen auf dem
Meere, tanzten in ſeinem Gemach auf und nieder,
und bedeckten wie ſchoͤne bunte Tapeten die leeren
Waͤnde.
[340]Erſte Abtheilung.
5.
Wie der Ritter der ſchoͤnen Magelone
Bothſchaft ſandte.
In derſelben Nacht war Magelone eben ſo bewegt
als ihr Ritter. Es daͤuchte ihr, als koͤnne ſie ſich
auf ihrem einſamen Zimmer nicht laſſen; ſie ging
oft an das Fenſter und ſah nachdenklich in den
Garten hinab, und alles war ihr truͤbe und ſchwer-
muͤthig; ſie behorchte die Baͤume, die gegen einan-
der rauſchten, dann ſah ſie nach den Sternen, die
ſich im Meere ſpiegelten; ſie warf es dem Unbe-
kannten vor, daß er nicht im Garten unter ihrem
Fenſter ſtehe, dann weinte ſie, weil ſie gedachte,
daß es ihm unmoͤglich ſey. Sie warf ſich auf
ihr Bett, aber ſie konnte nur wenig ſchlafen, und
wenn ſie die Augen ſchloß, ſah ſie das Turnier
und den geliebten Unbekannten, welcher Sieger
ward und mit ſehnſuͤchtiger Hofnung zu ihrem Al-
tan hinauf blickte. Bald weidete ſie ſich an dieſen
Phantaſien, bald ſchalt ſie auf ſich ſelber; erſt ge-
gen Morgen fiel ſie in einen leichten Schlummer.
Sie beſchloß, ihre Zuneigung ihrer geliebten
Amme zu entdecken, vor der ſie kein Geheimniß
hatte. In einer traulichen Abendſtunde ſagte ſie
daher zu ihr: Liebe Amme, ich habe ſchon ſeit lange
etwas auf dem Herzen, welches mir faſt das Herz
zerdruͤckt; ich muß es dir nur endlich ſagen und
du mußt mir mit deinem muͤtterlichen Rathe bei-
ſtehn, denn ich weiß mir ſelber nicht mehr zu ra-
[341]Die ſchoͤne Magelone.
then. Die Amme antwortete: vertraue dich mir,
geliebtes Kind, denn eben darum bin ich aͤlter und
liebe dich wie eine Mutter, daß ich dir guten An-
ſchlag geben moͤge, denn freilich weiß ſich die Ju-
gend nie ſelber zu helfen.
Da die Prinzeſſin dieſe freundlichen Worte
von ihrer Amme hoͤrte, ward ſie noch dreiſter und
zutraulicher, und fuhr daher alſo fort: o Gertraud,
haſt du wohl den unbekannten Ritter mit den ſil-
bernen Schluͤſſeln bemerkt? Gewiß haſt du ihn
geſehn, denn er iſt der einzige, der bemerkenswerth
war, alle uͤbrigen dienten nur, ihn zu verherrli-
chen, allen Sonnenſchein des Ruhms auf ihn zu
haͤufen, und ſelbſt in dunkler einſamer Nacht zu
wohnen. Er iſt der einzige Mann, der ſchoͤnſte
Juͤngling, der tapferſte Held. Seit ich ihn geſehn
habe, ſind meine Augen unnuͤtz, denn ich ſehe nur
meine Gedanken, in denen er wohnt, wie er in
aller ſeiner Herrlichkeit vor mir ſteht. Wuͤßte ich
nur noch, daß er aus einem hohen Geſchlechte ſey,
ſo wollte ich alle meine Hofnung auf ihn ſetzen.
Aber er kann aus keinem unedlen Hauſe ſtammen,
denn wer waͤre alsdann edel zu nennen? O ant-
worte mir, troͤſte mich, liebe Amme, und gieb mir
nun Rath.
Die Amme erſchrack ſehr, als ſie dieſe Rede
verſtanden hatte; ſie antwortete: liebes Kind, ſchon
ſeit lange waren meine Erwartungen ſo wie meine
Neugier darauf gerichtet, daß du mir geſtehn ſoll-
teſt, welchen von den Edlen des Koͤnigreichs, oder
welchen Auswaͤrtigen du liebteſt, denn ſelbſt die
[342]Erſte Abtheilung.
Hoͤchſten und ſogar Koͤnige begehren dein. Aber
warum haſt du nun deine Neigung auf einen Un-
bekannten geworfen, von dem Niemand weiß, wo-
her er gekommen? Ich zittre, wenn der Koͤnig,
dein Vater, deine Liebe bemerkt.
Nun und warum zitterſt du? fiel ihr Mage-
lone mit heftigem Weinen in die Rede. Wenn er
ſie bemerkt, ſo wird er zuͤrnen, der fremde Ritter
wird den Hof und das Land verlaſſen, und ich
werde in treuer hofnungsloſer Liebe ſterben; und
ſterben muß ich, wenn der Unbekannte mich nicht
wieder liebt, wenn ich auf ihn nicht die Hofnung
der ganzen Zukunft ſetzen darf. Alsdann bin ich
zur Ruhe, und weder mein Vater noch du, keiner
wird mich je mehr verfolgen.
Da die Amme dieſe Worte hoͤrte, ward ſie
ſehr betruͤbt und weinte ebenfalls. Hoͤre auf mit
deinen Thraͤnen, liebes Kind, ſo rief ſie ſchluchzend
aus; alles will ich ertragen, nur kann ich dich un-
moͤglich weinen ſehn, es iſt mir, als muͤßte ich das
groͤßte Elend der Erden erdulden, wenn dein liebes
Geſicht nicht freundlich iſt.
Nicht wahr, man muß ihn lieben? ſagte Ma-
gelone, und umarmte ihre Amme. Ich haͤtte nie
einen Mann geliebt, wenn mein Auge ihn nicht
geſehn haͤtte; waͤr es alſo nicht Suͤnde, ihn nicht
zu lieben, da ich ſo gluͤcklich geweſen bin, ihn zu
finden? Gieb nur Acht auf ihn, wie alle Vor-
treflichkeiten, die ſonſt ſchon einzeln andre Ritter
edel machen, in ihm vereinigt glaͤnzen; wie einneh-
mend ſein fremder Anſtand iſt, daß er die hieſige
[343]Die ſchoͤne Magelone.
Italiaͤniſche Sitte nicht in ſeiner Gewalt hat, wie
ſeine ſtille Beſcheidenheit weit mehr wahre Hoͤflich-
keit iſt, als die ſtudirte und gewandte Galanterie
der hieſigen Ritter. Er iſt immer in Verlegenheit,
daß er Niemand beſſeres iſt, als er, und doch ſollte
er ſtolz darauf ſeyn, daß er niemand anders iſt,
denn ſo wie er iſt, iſt er das Schoͤnſte, was die
Natur nur je hervor gebracht hat. O ſuch ihn
auf, Gertraud, und frage ihn nach ſeinem Stand
und Namen, damit ich weiß, ob ich leben oder
ſterben muß; wenn ich ihn fragen laſſe, wird er
kein Geheimniß daraus machen, denn ich moͤchte
vor ihm kein Geheimniß haben.
Als der Morgen kam ging die Amme in die
Kirche und betete; ſie ſah den Ritter, der auch
in einem andaͤchtigen Gebete auf den Knien lag.
Als er geendet hatte, naͤherte er ſich der Amme
und gruͤßte ſie hoͤflich, denn er kannte ſie und hatte
ſie am Hofe geſehn. Die Amme richtete den Auf-
trag des Fraͤuleins aus, daß ſie ihn um ſeinen
Stand und Namen erſuche, weil es einem ſo edlen
Manne nicht gezieme, ſich verborgen zu halten.
Peter bekam eine große Freude und das Herz
ſchlug ihm, denn er ſah aus dieſen Worten, daß
ihn Magelone liebe; worauf er ſagte: man erlaube
mir, meinen Namen noch zu verſchweigen, aber
das koͤnnt Ihr der Prinzeſſin ſagen, daß ich aus
einem hohen adelichen Geſchlechte bin, und daß
der Name meiner Ahnherrn in den Geſchichtsbuͤ-
chern ruͤhmlich bekannt iſt. Nehmt indeß dies zum
Angedenken meiner, und laßt es einen kleinen Lohn
[344]Erſte Abtheilung.
ſeyn fuͤr die froͤhliche Bothſchaft, ſo Ihr mir wi-
der alles Verhoffen gebracht habt.
Er gab hierauf der Amme einen von den dreien
koͤſtlichen Ringen, und Gertraud eilte ſogleich zur
Prinzeſſin, ihr die erhaltene Kundſchaft anzuſagen,
auch zeigte ſie ihr den koͤſtlichen Ring, der allein
ſchon bewies, daß der Ritter aus einem vorneh-
men Hauſe ſtammen muͤſſe. Er hatte der Amme
zugleich ein Pergamentblatt mitgegeben, in Hof-
nung, daß Magelone die Worte leſen wuͤrde, die
er im Gefuͤhl ſeiner Liebe niedergeſchrieben hatte.
[345]Die ſchoͤne Magelone.
Dieſes Lied ruͤhrte Magelonen; ſie las es und
las es von neuem, es war ganz ihre eigene Em-
pfindung, wie von einem Echo nachgeſprochen. Sie
betrachtete den koͤſtlichen Ring, und bat die Amme
flehentlich, ihr denſelben gegen ein andres Kleinod
auszutauſchen; die Amme wurde betruͤbt, da ſie
ſahe, daß das Herz der Prinzeſſin ſo ganz von
Liebe eingenommen ſey, ſie ſagte daher: mein Kind,
es ſchmerzt mich innig, daß du dich einem Frem-
den gleich ſo willig und ganz hingeben willſt. Ma-
gelone wurde ſehr zornig, als ſie dieſe Worte hoͤrte.
Fremd? rief ſie aus; o wer iſt dann meinem Her-
zen nahe, wenn er mir fremd iſt? Wehe muͤſſe
dir deine Zunge auf lange thun, fuͤr dieſe Rede,
denn ſie hat mein Herz geſpalten. Wie kann er
mir denn fremd ſeyn, wenn ich ſelbſt mein eigen
bin, da er nichts iſt, als was ich bin, da ich nur
das ſeyn kann, was er mir zu ſeyn vergoͤnnt? Die
Luft, den Athem, das Leben, alles, alles, darf
ich ihm nur danken, mein Herz gehoͤrt mit ſelbſt
nicht mehr, ſeit ich ihn kenne; o, liebe Gertraud,
was waͤr ich in der Welt, und was waͤre die
[346]Erſte Abtheilung.
ganze unermeßliche Welt mir, wenn er mir fremd
ſeyn muͤßte?
Gertraud troͤſtete ſie, und die Prinzeſſin legte
ſich ſchlafen, vorher aber hing ſie an einer ſeinen
Perlenſchnur den Ring um den Nacken, daß er
ihr auf der Bruſt zu liegen kam. Im Schlafe
ſah ſie ſich in einem ſchoͤnen und luftigen Garten,
der hellſte Sonnenſchein flimmerte auf allen gruͤnen
Blaͤttern, und wie von Harfenſaiten toͤnte das
Lied ihres Geliebten aus dem blauen Himmel her-
unter, und goldbeſchwingte Voͤgel ſtaunten zum
Himmel hinauf und merkten auf die Noten; lichte
Wolken zogen unter der Melodie hinweg und wur-
den roſenroth gefaͤrbt und toͤnten wieder. Dann
kam der Unbekannte in aller Lieblichkeit aus einem
dunkeln Gange, er umarmte Magelonen und ſteckte
ihr einen noch koͤſtlichern Ring an den Finger, und
die Toͤne vom Himmel herunter ſchlangen ſich um
beide wie ein goldenes Netz, und die Lichtwolken
umkleideten ſie, und ſie waren von der Welt ge-
trennt nur bei ſich ſelber und in ihrer Liebe woh-
nend, und wie ein fernes Klagegetoͤn hoͤrten ſie Nach-
tigallen ſingen und Buͤſche fluͤſtern, daß ſie von
der Wonne des Himmels ausgeſchloſſen waren.
Als Magelone von ihrem ſchoͤnen Traume er-
wachte, erzaͤhlte ſie alles der Amme, und dieſe ſah jezt
ein, daß ſie ihren ganzen Sinn auf den Unbekannten
geſetzt haͤtte, und daß er ihr Gluͤck oder Ungluͤck
ſeyn muͤſſe, woruͤber ſie ſehr nachdenklich wurde.
[347]Die ſchoͤne Magelone.
6.
Wie der Ritter Magelonen einen
Ring uͤberſandte.
Die Amme wandte vielen Fleiß an, den Ritter
wieder anzutreffen, und es geſchah, daß ſie ſich in
derſelben Kirche wieder fanden. Peter war froh,
als er die Amme anſichtig wurde, und ging ſogleich
auf ſie zu und erkundigte ſich nach dem Fraͤulein.
Sie erzaͤhlte ihm alles, wie ſie fuͤr großer Liebe
den Ring fuͤr ſich behalten, und die geſchriebenen
Worte geleſen, und wie ſie in der Nacht von ihm
getraͤumt. Peter ward roth vor Freuden, als er
dieſe Umſtaͤnde erzaͤhlen hoͤrte und ſagte: Ach, liebe
Amme, ſagt ihr doch die Empfindungen meines
Herzens, und daß ich vor Sehnſucht verſchmachten
muß, wenn ich ſie nicht bald ſprechen kann; ſpreche
ich ſie aber muͤndlich, ſo will ich ihr, wie ich ſonſt
Niemand thue, meinen Stand und Namen ent-
decken; aber ich liebe ſie mit einer Liebe, wie kein
andres Herz es faͤhig iſt, und alle meine Gebete
zum Himmel ſind nur der Wunſch, daß ich ſie
zum ehelichen Gemahl uͤberkommen moͤchte, und
daß ihre Gedanken nur etlichermaßen ſo nach mir
gerichtet waͤren, wie die meinigen zu ihr. Gebt
ihr auch dieſen Ring, und bittet ſie, ihn als ein
geringes Andenken von mir zu tragen.
Die Amme eilte ſchnell zu Magelonen zuruͤck,
die vor uͤbergroßer Liebe krank war und auf ihrem
Ruhebette lag. Sie ſprang auf, als ſie ihre Kund-
[348]Erſte Abtheilung.
ſchafterin erblickte, umarmte ſie und fragte nach
Neuigkeiten. Die Amme erzaͤhlte ihr alles und
gab ihr auch den koſtbaren Ring. Sieh! rief die
Prinzeſſin aus, das iſt eben der Ring, von dem
ich getraͤumt habe; o! ſo muß auch das uͤbrige in
Erfuͤllung gehn. Ein Blatt enthielt dieſes Lied:
[349]Die ſchoͤne Magelone.
Magelone ſang das Lied, dann kuͤßte ſie den
Ring, und dann auch den erſten, um ihn nicht
zu kraͤnken; dann las ſie die Worte von neuem,
und ſprach ſie laut, und ſo trieb ſie es in der Ein-
ſamkeit bis ſpaͤt in die Nacht.
7.
Wie der edle Ritter wieder eine Bothſchaft
empfing von der ſchoͤnen Magelone.
Der Ritter befand ſich am folgenden Morgen wie-
der in der Kirche, weil er hofte, von der Geliebten
ſeiner Seele dort eine Nachricht zu uͤberkommen.
Die Amme fand ihn, und es traf ſich, daß ſie
beide in der Kirche allein waren. Er erkundigte
ſich nach Magelonen und die Amme Gertraud er-
zaͤhlte ihm alles. worauf ſie ſagte: Wenn Ihr
mir verſichert, Herr Ritter, daß Ihr mein Fraͤu-
lein in aller Zucht und Tugend lieben wollt, ſo
will ich euch auch nunmehr ſagen, wo Ihr ſie
ſprechen koͤnnt. Peter ließ ſich auf ein Knie nieder
und hob ſeine Finger in die Hoͤhe. Ich ſchwoͤre,
ſagte er, daß meine reinſten Gedanken ſtets um
Magelone ſind; ich liebe ſie in aller Zucht und An-
ſtaͤndigkeit, wie es dem ehrbaren Ritter ziemt,
und ſo dies nicht wahr iſt, ſo verlaſſe mich Gott
in meiner allergroͤßten Noth. Amen! Die Amme
war mit dieſem Schwure wohl zufrieden, ſie ver-‒
[350]Erſte Abtheilung.
traute ihm nun gaͤnzlich und ſagte: ich ſehe, daß
ihr nicht nur der tapferſte, ſondern auch der edelſte
Ritter ſeid auf Gottes weiter Erde; Ihr ſollt
euch daher auch alles Beiſtandes von mir gewaͤr-
tiget ſeyn. Ihr ſeid gluͤcklich in Magelonen und
ſie iſt gluͤcklich in euch; macht euch daher morgen
Nachmittag fertig, durch die heimliche Pforte des
Gartens zu gehn, und ſie dann auf meiner Kam-
mer zu ſprechen. Ich will euch allein laſſen, da-
mit ihr ganz unverholen eure Herzensmeinungen
ausreden koͤnnt.
Sie nannte ihm die Stunde, und verließ ihn.
Der Ritter ſtand noch lange und ſah ihr im trun-
kenen Staunen nach, denn er vertraute dem nicht,
was er gehoͤrt hatte. Das Gluͤck, das er ſo ſehn-
lichſt erharrt, ruͤckte ihm nun ſo unerwartet naͤher,
daß er es im frohen Entſetzen nicht zu genießen
wagte. Der Menſch erſchrickt uͤber den Zufall,
ſelbſt wenn er ihn gluͤcklich macht; wenn unſer
Schickſal ſich ploͤtzlich zur Wonne umaͤndert, ſo
zweifeln wir in dieſem Augenblicke gar zu leicht
an der Wirklichkeit des Lebens. Dies dachte auch
Peter bei ſich, als er alle ſeine Sinne in truͤber
Verwirrung bemerkte. Wie bin ich ſo vom Gluͤcke
uͤberſchuͤttet, rief er aus, daß ich gar nicht zu mir
ſelber kommen kann! Wie wohl wuͤrde mir jetzt
ein Beſinnen auf meinen Zuſtand thun, aber es
iſt unmoͤglich! Wenn wir unſre kuͤhnen Hofnun-
gen in der Ferne ſehn, ſo freuen wir uns an ih-
rem edlen Gange, an ihren goldnen Schwingen,
aber jezt flattern ſie mir ploͤtzlich ſo nahe ums
[351]Die ſchoͤne Magelone.Haupt, daß ich weder ſie noch die uͤbrige Welt
wahrzunehmen vermag.
Er ging nach Hauſe, und glaubte in manchen
Augenblicken, die Zeit ſtehe ſeit der Stunde ſtill,
in der er die treue Amme geſprochen hatte, denn
es wollte nicht Abend werden; als es Abend war,
ſaß er ohne Licht in ſeiner Kammer und betrachtete
die Wolken und Sterne, und ſein Herz ſchlug ihm
ungeſtuͤm, wenn er dann ploͤtzlich an ſich und Ma-
gelonen dachte. Er glaubte nicht, daß es wieder
Tag werden koͤnne, und daß es die bezeichnete
Stunde wagen werde, herauf zu kommen. Einge-
daͤmmert von Erwartungen, banger Sehnſucht und
aͤngſtlicher Hofnung, ſchlief er auf ſeinem Ruhe-
bette ein, und erwachte, als muntre Sonnenſtrah-
len in ſeine Kammer herein ſpielten, und hell und
froͤhlich an den Waͤnden zuckten.
Er raffte ſich auf, und dachte, was er ihr
ſagen wolle; er erſchrack jezt vor dem Gedanken,
daß er ſie ſprechen muͤſſe; dennoch war es ſein
herzinniglichſter Wunſch, er konnte ſich nicht be-
ſaͤnftigen, darum nahm er die Laute und ſang:
[352]Erſte Abtheilung.
8.
[353]Die ſchoͤne Magelone.
8.
Wie Peter die ſchoͤne Magelone beſuchte.
Jezt war die Zeit da, und die Stunde gekommen,
in welcher der Ritter ſeine geliebte Magelone be-
ſuchen ſollte. Er ging heimlicherweiſe durch die
Pforte des Gartens und auf die Kammer der
Amme, wo er die Prinzeſſin fand. Magelone ſaß
auf einem Ruhebett und wollte aufſtehn, als ſie
den Ritter eintreten ſah, und ihm um den Hals
fallen, und ihn mit Thraͤnen und Kuͤſſen in die
Wette bedecken. Doch maͤßigte ſie ſich und blieb
ſitzen, aber eine ſcharlachene Roͤthe uͤberzog ihr
ganzes Geſicht, ſo daß ſie ausſah wie eine Roſe,
die ſich noch nicht entfaltet hat und die jetzt der
warme Sonnenſchein badet, und ihre Blaͤtter aus
einander lockt. Eben ſo war auch der Ritter, der
mit verſchaͤmtem Geſichte vor ihr ſtand, auf wel-
chem holdſelige Freude und Verwirrung ſich wech-
ſelsweiſe abloͤſten.
Die Amme verließ das Gemach, und Peter
warf ſich ohne zu ſprechen auf ein Knie nieder;
Magelone reichte ihm die ſchoͤne Hand, hieß ihn
aufſtehn und ſich neben ſie nieder ſetzen. Peter
that es, und zitterte an ihrer Seite; ſeine Augen
waren wie zwei glaͤnzende Sterne, ſo trunken war
er vor Entzuͤckung, daß er nun die Geliebteſte ſei-
ner Seele ſo dicht vor ſeinen Augen ſah. Lange
wollte kein Geſpraͤch in den Gang kommen, ihre
zaͤrtlichen Blicke, die ſich verſtohlen begegneten, ſtoͤr-
I. [ 23 ]
[354]Erſte Abtheilung.
ten die Worte; aber endlich entdeckte ſich ihr der
Juͤngling, und ſagte, daß er ſich ihr ganz zu eigen
ergeben habe, ſeit er ſie zuerſt geſehn, daß ihr ſein
ganzes Leben gewidmet ſey, und daß er ſich durch
ihre Liebe wie von Engelshaͤnden beruͤhrt, aus ei-
nem tiefen Schlafe erwacht fuͤhle.
Er ſchenkte ihr den dritten Ring, welcher der
koſtbarſte von allen war, wobei er ihre lilienweiße
Hand kuͤßte. Sie war uͤber ſeine Treue innig be-
wegt, ſtand auf und holte eine koͤſtliche guͤldene
Kette, die ſie ihm um den Hals legte und ſagte:
hiemit erkenne ich euch fuͤr mein und mich fuͤr die
eurige, nehmt dieſes Andenken und tragt es im-
mer, ſo lieb ihr mich habt. Dann nahm ſie den
erſchrockenen Ritter in die Arme und kuͤßte ihn
herzlich auf den Mund, und er erwiederte den Kuß
und druͤckte ſie gegen ſein Herz.
Sie mußten ſcheiden, und Peter eilte ſogleich
nach ſeinem Zimmer, als wenn er ſeinen Waffen-
ſtuͤcken und ſeiner Laute ſein Gluͤck erzaͤhlen muͤſſe;
er war ſo froh, als er noch nie geweſen war. Er
ging mit großen Schritten auf und ab und griff
in die Saiten, kuͤßte das Inſtrument und weinte
heftig. Dann ſang er mit großer Inbrunſt:
[355]Die ſchoͤne Magelone.
9.
Turnier zu Ehren der ſchoͤnen Magelone.
Der Koͤnig Magelon von Neapel wuͤnſchte jetzt,
daß ſeine ſchoͤne Tochter in kurzer Zeit mit Herrn
Heinrich von Carpone vermaͤhlt wuͤrde, der ſich
in dieſer Abſicht ſchon ſeit lange am Hofe aufhielt.
Es ward daher wieder ein glaͤnzendes Turnier aus-
geſchrieben, welches alle vorhergehenden an Pracht
uͤbertreffen ſollte, und viele beruͤhmte Ritter aus
Italien und Frankreich verſammelten ſich. Ein
Oheim Peters kam auch aus der Provence, um
dem Turniere beizuwohnen: es war derſelbe, der
den jungen Grafen zum Ritter geſchlagen hatte.
Das Kampfſpiel nahm ſeinen Anfang, und
alle die großen Ritter zogen auf den Plan, und
[356]Erſte Abtheilung.
hielten ſich maͤnnlich. Peter war ungeduldig und
einer der erſten, welche aufzogen. Er hielt ſich ſo
wacker, daß er viele Ritter, von ihren Roſſen
ſtach, unter andern auch den Herrn Heinrich. Ma-
gelone ſtand oben auf dem Altane, und wurde vor
Furcht und herzinnigen Wuͤnſchen bald roth und
bald blaß. Gegen Peter ſtellte ſich endlich ſein
Oheim, der ihn nicht kannte; aber Peter kannte
ihn gar wohl, er rief deshalb den Herold zu ſich,
und ſchickte ihn mit dieſen Worten an ſeinen Vet-
ter: er habe ihm einſt in der Ritterſchaft einen
großen Dienſt erwieſen, deshalb moͤchte er nicht
gegen ihn rennen, ſondern er erkenne ihn ohnedies
fuͤr den beſſeren Ritter. Aber der alte Ritters-
mann ward uͤber den Antrag zornig, und ſagte:
habe ich ihm je einen Dienſt erwieſen, ſo ſollte
er um ſo lieber eine Lanze mit mir brechen, um
auch mir zu Gefallen zu leben; meint er denn,
daß ich ſeiner nicht werth ſey. Denn er wird hier
fuͤr einen uͤberaus tapfern Ritter geachtet, wie auch
ſeine Thaten genugſam an den Tag legen, daß dem
wirklich ſo ſey. Blieb alſo mit ſeinem Roſſe auf
der Bahn ſtehn, und dem jungen Ritter ward
vom Herolde die zornige Antwort uͤberbracht. Sie
rannten gegen einander, aber Peter trug ſeine
Lanze in der Quere, um ſeinen Verwandten nicht
zu verletzen. Jener, Herr Jakob genannt, rannte
den Peter ſo an, daß die Lanze zerſplitterte, und
er ſelber faſt buͤgellos wurde. Alle verwunderten
ſich und die beiden Gegner maßen noch einmal die
Bahn zuruͤck, dann ritten ſie wieder gegen einan-
[357]Die ſchoͤne Magelone.
der, und Peter trug ſeine Lanze wie das erſtemal;
alle waren in Erſtaunen, nur Magelone ſah die
Urſach ein, und wußte wohl warum es geſchah.
Herr Jakob rannte wieder mit heftiger Gewalt
auf ſeinen Gegner, ſeine Lanze traf auf Peters
Bruſtharniſch, aber der junge Ritter blieb unbe-
weglich im Sattel ſitzen, und der Stoß war ſo
gewaltig, daß Herr Jakob dadurch von ſich ſelber
vom Pferde abfiel. Da das Jakob merkte, zog
er ſich zuruͤck, und hatte keine Luſt mehr mit dem
jungen Ritter zu ſtechen. Peter beſiegte auch die
uͤbrigen Ritter, ſo daß ihm der Preis mußte zu-
erkannt werden; der Koͤnig und alle vom Hofe
waren in Erſtaunen, und die uͤbrigen Herren zo-
gen ergrimmt nach ihrer Heimath zuruͤck, da ſie
den Namen des unbekannten Siegers durchaus
nicht erfahren konnten. —
Peter hatte ſeine Geliebte indeſſen ſchon zum
oͤftern heimlich beſucht, und ſo nahm er ſich ein-
mal vor, ihre Liebe auf die Probe zu ſtellen. Als
er ſie daher wieder ſah, that er ſehr betruͤbt, und
ſagte mit klaͤglicher Stimme, daß er bald ſcheiden
muͤſſe, denn ſeine Eltern wuͤrden ſeinetwegen in
der groͤßten Betruͤbniß leben, da ſie ihn ſo lange
nicht geſehn, auch keine Nachricht von ihm bekom-
men haͤtten. Als Magelone dieſe Worte hoͤrte,
ward ſie blaß, dann fing ſie heftig an zu weinen,
und ſank in den Seſſel zuruͤck. Ja, reiſet nur ab,
ſagte ſie, und alle meine traurigen Ahndungen ſind
dann im Erfuͤllung gegangen, ich ſehe euch nicht
wieder und mein Tod iſt gewiß. Was kuͤmmert
[358]Erſte Abtheilung.
er euch? Nun alſo, was kuͤmmert er mich? —
O verzeiht, mein Geliebter, nein, es iſt wahr,
Ihr muͤßt eure Eltern wieder ſehn, ihr habt euch
meinetwegen ſchon zu lange hier aufgehalten; wie
werden ſie um euch trauern, wie ſehr nach eurer
Anweſenheit ſeufzen, Ja, lebt dann wohl, auf
ewig wohl!
Peter ſagte: nein, meine theuerſte Magelone,
ich bleibe; wie koͤnnte ich fortziehn, und dich nicht
mehr ſehn, nicht mehr dieſe theuren Augen erblik-
ken und Hofnung und Staͤrke in ihnen finden,
dieſe liebe Stimme nicht mehr hoͤren, die wie ein
Geſang aus dem Paradieſe in mein Ohr dringt?
Nein, ich bleibe; kein Gedanke nach meiner Hei-
math und meinen Eltern, denn alle meine Gedan-
ken wohnen hier.
Magelone wurde wieder froͤhlicher, dann be-
ſann ſie ſich eine Weile. Wenn ihr mich liebt,
fing ſie wieder an, ſo ſollt ihr dennoch reiſen.
Eure Worte haben einen Gedanken in mir erweckt,
der ſchon ſeit lange in meiner Seele ſchlummert, denn
ich muß euch ſagen, es iſt jetzt an dem, daß mich
mein Vater mit dem Herrn Heinrich von Carpone
vermaͤhlen will. Darum flieht von hier, und nehmt
mich mit euch, denn ich traue eurem Edelmuthe;
haltet morgen in der Nacht mit zwei ſtarken Pfer-
den vor der Gartenpforte, aber laßt es Pferde
ſeyn, die eine weite und ſchnelle Reiſe wohl ver-
tragen koͤnnen, denn ſo man uns einholte, waͤren
wir alle elend.
Der Juͤngling hoͤrte mit frohem Erſtaunen
[359]Die ſchoͤne Magelone.
dieſe Worte. Ja, rief er aus, wir fliehen ſchnell
zu meinem Vater, und das ſchoͤnſte Band ſoll uns
dann auf ewig verbinden.
Er eilte ſogleich fort, um die noͤthigen Anſtal-
ten ſchnell und heimlich zu treffen. Magelone be-
ſorgte ihrerſeits auch das Noͤthige, ſagte aber ihrer
Amme kein Wort von ihrem Entſchluſſe, aus Furcht,
daß ſie alles verrathen moͤchte.
Peter nahm Abſchied von ſeiner Kammer, von
den Gegenden der Stadt, durch die er ſo oft in
ſeliger Trunkenheit gewandelt war, und die er alle
als Zeugen ſeiner Liebe betrachtete. Es war ihm
ruͤhrend, als er die getreue Laute auf ſeinem Tiſche
liegen ſah, die ſo oft von ſeinen Fingern geruͤhrt
die Gefuͤhle ſeines Herzens ausgeſprochen hatte,
die eine Mitwiſſerin des ſuͤßen Geheimniſſes war.
Er nahm ſie noch einmal und ſang:
[360]Erſte Abtheilung.
10.
Wie Magelone mit ihrem Ritter entfloh.
Die Nacht war gekommen. Magelone ſchlich mit
einigen Koſtbarkeiten durch den Garten; der Him-
mel war mit Wolken bedeckt, und ein ſparſames
Mondlicht drang durch die Finſterniß. Sie ging
mit wehmuͤthigen Empfindungen ihren lieben Blu-
men voruͤber, die ſie nun auf immer verlaſſen wollte.
Ein feuchter Wind wehte durch den Garten und
[361]Die ſchoͤne Magelone.
ihr war, als wenn die Geſtraͤuche winſelten und
klagten, und ihr ein zaͤrtliches Lebewohl nachriefen.
Vor der Pforte hielt Peter mit drei Pferden,
darunter war ein Zelter von einem leichten und be-
quemen Gange fuͤr das Fraͤulein, auf einem an-
dern Pferde waren Lebensmittel, damit ſie auf der
Flucht nicht noͤthig haͤtten in Herbergen einzukeh-
ren. Peter hob das Fraͤulein auf den Zelter, und
ſo flohen ſie heimlicherweiſe und unter dem Schutze
der Nacht davon.
Die Amme vermißte am Morgen die Prin-
zeſſin, und ſo fand ſich auch bald, daß der Ritter
in der Nacht abgereiſet ſey; der Koͤnig merkte
daraus, daß er ſeine Tochter entfuͤhrt habe. Er
ſchickte daher viele Leute aus, um ſie aufzuſuchen;
dieſe forſchten fleißig nach, aber alle kamen nach
verſchiedenen Tagen unverrichteter Sache zuruͤck.
Peter hatte die Vorſicht gebraucht, daß er
nach den Waͤldern zugeritten war, die in der Naͤhe
des Meeres lagen; dort waren die Wege am ein-
ſamſten und faſt gar nicht beſucht, hier floh er mit
ſeiner Geliebten ſicher unter dem dichten Schutze
der Nacht hinweg. Der Tritt von den Pferden
hallte im Forſte weit hinab, die Wipfel der Baͤume
rauſchten furchtbar in der Dunkelheit, aber Mage-
lonens Herz war frei und froͤhlich, denn ſie hatte
immer ihren Geliebten neben ſich. Sie weidete ſich
an ſeinem Antlitze, wenn ſie uͤber einen freien
Platz trabten; ſie fragte ihn mancherlei von ſeinen
Eltern und ſeiner Heimath, und ſo verging ihnen
[362]Erſte Abtheilung.
unter banger Erwartung, Geſpraͤch und ſchoͤnen
Hofnungen die langwierige Nacht.
Beim Anbruch des Morgens zogen dichte weiße
Nebel durch den Wald, wie Gottes Seegen, der
ſeine Reiſe antrat und durch unwegſame Buͤſche
den Saatfeldern zueilte, wo er als Thau nieder-
regnete. Sie zogen durch den Flug des Nebels
weiter, und durch den Morgenwind, der die ganze
Natur aus ihrem tiefen Schlafe wach ſchuͤttelte.
Magelone klagte uͤber keine Beſchwer, denn ſie
empfand keine.
Jetzt brach die liebliche Sonne hervor, und
aͤugelte mit gluͤhendem Funkeln durch den dichten
Wald; das gruͤne Gras ſchien am Boden zu bren-
nen, und der wankende Thau erbebte mit tauſend
blendenden Strahlen. Die Roße wieherten, die
Voͤgel erwachten und ſprangen mit ihren Liedern
von Zweig zu Zweig, gelbbeſchwingte badeten ſich
im Thau der Wieſen und flatterten im Glanz des
jungen Lichtes dicht uͤber dem Boden hinweg; durch
den blauen Himmel zogen goldene Streifen herauf
und bahnten der aufgegangenen Sonne den Weg;
Geſaͤnge ertoͤnten aus allen Buͤſchen, die muntern
Lerchen flogen empor und ſangen von oben in die
rothdaͤmmernde Welt hinein.
Auch Peter ſtimmte ein froͤhliches Lied an,
und der ſchoͤnen Magelone ging daruͤber das Herz
vor Freuden auf. Seine Stimme zitterte durch
alle Baͤume hinab, und ein ferner Widerhall ſang
ihm nach. Die beiden Reiſenden ſahen in der
Gluth des Himmels, im Glanz des friſchen Wal-
[363]Die ſchoͤne Magelone.
des nur einen Widerſchein ihrer Liebe; jeder Ton
rief ihr Herz an, und erfuͤllte es mit wehmuͤthiger
Freude.
Die Sonne ſtieg hoͤher hinauf, und gegen Mit-
tag fuͤhlte Magelone eine große Muͤdigkeit; beide
ſtiegen daher an einer ſchoͤnen kuͤhlen Stelle des
Waldes von ihren Pferden. Weiches Gras und
Moos war auf einer kleinen Anhoͤhe zart empor
geſchoſſen, hier ſetzte ſich Peter nieder und breitete
ſeinen Mantel aus, auf dieſen lagerte ſich Mage-
lone und ihr Haupt ruhte in dem Schooße des
Ritters. Sie blickten ſich beide mit zaͤrtlichen Au-
gen an, und Magelone ſagte: Wie wohl iſt mir
hier, mein Geliebter, wie ſicher ruht ſichs hier
unter dem Schirmdach dieſes gruͤnen Baums, der
mit allen ſeinen Blaͤttern, wie mit eben ſo vielen
Zungen, ein liebliches Geſchwaͤtze macht, dem ich
gerne zuhoͤre; aus dem dichten Walde ſchallt Vo-
gelgeſang herauf, und vermiſcht ſich mit den rie-
ſelnden Quellen; es iſt hier ſo einſam und toͤnt
ſo wunderbar aus den Thaͤlern unter uns, als
wenn ſich mancherlei Geiſter durch die Einſamkeit
zuriefen und Antwort gaͤben; wenn ich dir ins
Auge ſehe, ergreift mich ein freudiges Erſchrecken,
daß wir nun hier ſind, von den Menſchen fern
und einer dem andern ganz eigen. Laß noch deine
ſuͤße Stimme durch dieſes harmoniſche Gewirr er-
toͤnen, damit die ſchoͤne Muſik vollſtaͤndig ſey, ich
will verſuchen ein wenig zu ſchlafen; aber wecke
mich ja zur rechten Zeit, damit wir bald bei dei-
nen lieben Eltern anlangen koͤnnen.
[364]Erſte Abtheilung.
Peter laͤchelte, er ſah wie ihr die ſchoͤnen Au-
gen zufielen, und die langen ſchwarzen Wimper
einen lieblichen Schatten auf dem holden Angeſichte
bildeten; er ſang:
[365]Die ſchoͤne Magelone.
11.
Wie Peter die ſchoͤne Magelone verließ.
Peter war durch ſeinen Geſang beinahe auch ein-
geſchlaͤfert, aber er ermunterte ſich wieder, und
betrachtete das holdſelige Angeſicht der ſchoͤnen Ma-
gelone, die im Schlafe ſuͤß laͤchelte. Dann ſah er
uͤber ſich und bemerkte, wie eine Menge ſchoͤner
und zarter Voͤgel oben in den Zweigen ſich ver-
ſammelten, die nicht ſcheu thaten, ſondern hin und
her huͤpften, auch jezuweilen auf den kleinen Gras-
platz zu ihm herunter kamen. Es ergoͤtzte ihn, daß
dieſe unvernuͤnftigen Creaturen an der ſchoͤnen Ma-
gelone ein Wohlgefallen zu bezeigen ſchienen. Da
ſah er aber in dem Baume einen ſchwarzen Ra-
ben ſitzen, und dachte bei ſich: wie kommt doch
dieſer haͤßliche Vogel in die Geſellſchaft dieſer bun-
ten Thierchen, es duͤnkt mir nicht anders, als
wenn ſich ein grober ungeſchliffener Knecht unter
edle Ritter eindraͤngen wollte.
Ihm daͤuchte, als wenn Magelone mit Ban-
gigkeit Athem holte, er ſchnuͤrte ſie daher etwas
auf, und ihr weißer ſchoͤner Buſen trat aus den
verhuͤllenden Gewaͤndern hervor. Peter war uͤber
die unausſprechliche Schoͤnheit entzuͤckt, er glaubte
im Himmel zu ſeyn und alle ſeine Sinne wandten
ſich um; er konnte nicht aufhoͤren, ſeine Augen
zu weiden und ſich an dem Glanze zu berauſchen.
Mit jedem Athemzuge hob ſich die zarte Bruſt und
ſank wieder. Der Ritter fuͤhlte, daß er Magelonen
[366]Erſte Abtheilung.
noch nie ſo geliebt habe, daß er noch niemals ſo
gluͤcklich geweſen ſey. Zwiſchen den Bruͤſten ver-
ſteckt bemerkte er einen rothen Zindel; er war neu-
gierig zu erfahren, was es ſeyn moͤchte, er nahm
ihn und wickelte ihn aus einander. Da fand er
die drei koſtbaren Ringe, die er ſeiner Geliebten
geſchenkt hatte, und er war innig geruͤhrt, daß ſie
ſie ſo liebevoll und ſorgfaͤltig bewahrte. Er wickelte
ſie wieder ein, und legte ſie neben ſich in das Gras;
aber ploͤtzlich flog der Rabe vom Baume hernieder
und fuͤhrte den Zindel hinweg, den er fuͤr ein Stuͤck
Fleiſch anſehn mochte. Peter erſchrack ſehr und
beſorgte, daß Magelone unwillig werden moͤchte,
wenn ihr beim Erwachen die Ringe fehlten. Er
legte ihr alſo ſorgfaͤltig ſeinen Mantel unter das
Haupt zuſammen, und ſtand leiſe auf, um zu ſehn,
wo der Vogel mit den Ringen bleiben wuͤrde. Der
Rabe flog vor ihm her, und Peter warf nach ihm
mit Steinen, in der Meinung ihn zu toͤdten,
oder ihn wenigſtens zu zwingen, ſeinen Raub wie-
der fallen zu laſſen. Aber der Vogel flog immer
weiter, und Peter verfolgte ihn unermuͤdet, doch
keiner von den Steinwuͤrfen wollte den Raben
treffen. So war ihm Peter ſchon eine ziemliche
Weile gefolgt, und kam jetzt an das Meerufer.
Nicht weit vom Ufer ſtand im Meere eine ſpitzige
Klippe, auf dieſe ſetzte ſich der Rabe, und Peter
warf von neuem nach ihm mit Steinen; der Vo-
gel ließ endlich den Zindel fallen, und flog mit gro-
ßem Geſchrei davon. Peter ſah im Meere nicht
weit vom Ufer roth den Zindel ſchwimmen; er ging
[367]Die ſchoͤne Magelone.
am Lande hin und her, um etwas zu finden, wo-
rauf er die wenigen Schritte in das Waſſer hinein
fahren koͤnne. Er fand auch endlich einen kleinen,
alten, verwitterten Kahn, den die Fiſcher hier hat-
ten ſtehen laſſen, weil er ihnen nichts mehr nuͤtzte.
Peter ſtieg raſch hinein, nahm einen Zweig, und
ruderte damit, ſo gut er nur konnte, nach dem
Zindel hin.
Aber ploͤtzlich erhob ſich vom Lande her ein
ſtarker Wind, die Wellen jagten ſich uͤber einander
und ergriffen den kleinen Kahn, in welchem Peter
ſtand. Peter ſezte ſich mit allen Kraͤften dagegen,
aber das Schiff ward dennoch der Klippe voruͤber,
ins Meer hinein getrieben, und weiter und immer
weiter. Peter ſah zuruͤck, und kaum bemerkte er
noch den rothen Flecken, den der Zindel im Meere
machte, und jetzt verſchwand er voͤllig, auch das
Land lag ſchon ziemlich entfernt. Nun gedachte
Peter an ſeine Magelone zuruͤck, die er im wuͤſten
Holze ſchlafend verlaſſen hatte; das Schiff trug
ihn wider Willen immer weiter in die See hinein,
und er kam in Angſt und Verzweiflung. Er war
im Begriff, ſich in das Meer zu ſtuͤrzen, er ſchrie
und klagte, und alle ſeine Toͤne gab ein Echo zu-
ruͤck, und die Wellen plaͤtſcherten laut dazwiſchen.
Das Land lag nun ſchon weit zuruͤck in einer
unkenntlichen Ferne, die Daͤmmerung des Abends
brach herein. Ach theuerſte Magelone! rief Peter
in der hoͤchſten Betruͤbniß ſeiner Seelen heftig aus:
wie wunderlich werden wir von einander geſchieden!
Eine ſchwarze Hand treibt mich von deiner Seite
[368]Erſte Abtheilung.
in das wuͤſte Meer hinaus, und du biſt allein und
ohne Huͤlfe. Was willſt du Ungluͤckſelige im wuͤ-
ſten Walde beginnen? Ach! ich bin Schuld an dei-
nem Tode! Mußte ich dich darum, dich Koͤnigs-
tochter, von deinen Eltern entfuͤhren, um dich der
haͤrteſten Noth Preis zu geben? Biſt du darum
ſo zart und edel erzogen, daß du nun vielleicht eine
Beute der wilden Thiere werden mußt? Was wird
ſie nun machen, wenn ſie erwacht, und den ver-
mißt, den ſie fuͤr den Getreueſten auf der ganzen
Erde hielt? Warum mußte mein Vorwitz nur die
Ringe hervor ſuchen, konnte ich ſie nicht an ihrem
ſchoͤnſten Platze laſſen, wo ſie ſo ſicher waren? O
weh mir, nun iſt alles verloren und ich muß mich
in mein Verderben finden!
Solche Klagen trieb er, und gebehrdete ſich auf
dem wuͤſten Meere aͤußerſt truͤbſelig. Er verlor
alle Hofnung, und gab ſein Leben auf. Der Mond
ſchien vom Himmel herab und erfuͤllte die Welt
mit goldener Daͤmmerung; alles war ſtill, nur die
Wellen ſeufzten und plaͤtſcherten, und Voͤgel flat-
terten zu Zeiten mit ſeltſamen Toͤnen uͤber ihn da-
hin. Die Sterne ſtanden ernſt am Himmel und die
Woͤlbung ſpiegelte ſich in der wogenden Fluth. Pe-
ter warf ſich nieder, und ſang mit lauter Stimme:
O
[369]Die ſchoͤne Magelone.
Er lag im Kahne ausgeſtreckt, und eine dumpfe
Betaͤubung ergriff ihn; er wußte vor Uebermaß
des Schmerzes nicht mehr, wo er war, und ließ
ſich gleichguͤltig von Wind und Wellen weiter trei-
ben; endlich verfiel er in einen Zuſtand, der faſt
einem Schlafe glich.
12.
Die Klagen der ſchoͤnen Magelone.
Magelone erwachte, nachdem ſie ſich durch einen
ſuͤßen Schlaf erquickt hatte, und meinte, daß ihr
Geliebter noch bei ihr ſaͤße. Sie erſchrack, als
ſie ſich aufrichtete und ihn nicht mehr fand; ſie
wartete erſt eine Weile, ob er nicht wieder kom-
men moͤchte, dann ging ſie hin und her, und rief
ſeinen Namen mit lauter Stimme aus. Da ſie
keine Antwort vernahm, fing ſie an zu weinen und
I. [ 24 ]
[370]Erſte Abtheilung.
zu ſchluchzen, wandte ſich dann im Holze nach al-
len Orten hin, und rief ſo lange, bis ſie heiſer
war, aber ſie erhielt keine Antwort. Da wurde
ſie ſo betruͤbt, daß ſie einen heftigen Schmerz im
Haupte empfand, ſie ſank auf den Boden nieder,
und lag eine Weile in einer ſchmerzlichen Ohnmacht.
Als ſie wieder zu ſich erwachte, daͤuchte ihr, daß
es ein Leichtes ſeyn muͤſſe, jetzt gar zu ſterben;
nun ſah ſie nicht mehr auf die Voͤgel, die ſcher-
zend um ſie huͤpften, denn wenn ſie die Augen
aufſchlug, war es ihr zu Sinne, daß jede Kreatur,
die ſich regte und bewegte, gluͤcklicher ſey, als ſie.
Mit vieler Muͤhe ſtieg ſie auf einen Baum,
um ſich in der Gegend umzuſehn, ob ſie nichts
entdecken koͤnne, aber ſie ſah nichts als Waͤlder
auf der einen Seite, keine Wohnung, kein Dorf,
ſo weit ihr Auge reichte; auf der andern Seite
das wuͤſte unabſehliche Meer. Troſtlos ſtieg ſie
wieder herab, und weinte und klagte von neuem:
O ungetreuer Ritter, rief ſie aus, warum haſt du
deine unſchuldige Geliebte verlaſſen? Haſt du mich
darum meinen Eltern geraubt, damit ich hier in
der Wuͤſtenei verſchmachten ſoll? Was hab ich dir
gethan? Hab ich dich zu ſehr geliebt? Biſt du
mein uͤberdruͤßig, weil ich dir mein ſchwaches Herz
zu fruͤh zu erkennen gab? O, ſo biſt du der Elen-
deſte unter den Menſchen!
Sie ging wie wahnſinnig im Walde hin und
her; da traf ſie die Roſſe, die noch ſo angebunden
ſtanden, wie Peter ſie feſt gemacht hatte. O ver-
gieb mir, mein Geliebter! rief ſie aus, jetzt werde
[371]Die ſchoͤne Magelone.
ich wohl gewahr, daß du unſchuldig biſt und daß
du mich nicht vorſaͤtzlicherweiſe verlaſſen haſt. Wel-
ches Abentheuer hat uns denn von einander ge-
trennt?
Die Finſterniß brach mit der Nacht herein,
und der Mond warf gebrochene Strahlen durch den
Wald; ſeltſame fremde Stimmen ließen ſich in der
Ferne hoͤren, und Magelone fuͤrchtete, daß es das
Geſchrei wilder Thiere ſey. Muͤhſam ſtieg ſie wie-
der auf einen Baum. Die Wolken wechſelten am
Himmel wunderlich vom Monde beglaͤnzt, und jag-
ten ſich durch einander; bald ſah ſie in dieſen Luft-
erſcheinungen ihren Ritter, der mit Ungeheuern
kaͤmpfte und ſie beſiegte; dann verwandelte ſich im
Zuge das Wolkengebilde in ein andres; ihr daͤm-
merndes Auge glaubte dann am Himmel Staͤdte
mit hohen Thuͤrmen zu erblicken, oder Berge, auf
denen feurige Caſtelle brannten, Reuter, die in
Geſchwadern auszogen, und dem Feinde im Thale
begegneten. Wie Blitze flatterte es dann durch die
Landſchaft, und die hellgruͤne Himmelsebene lag
praͤchtig zwiſchen den getrennten Wolkenbildern;
dann fuͤhlte ſie, daß ſie nur geſchwaͤrmt habe, und
mit bangem Grauen warf ſie den Blick auf die
Waͤlder unter ſich, die ſchwarz in ernſten unbe-
weglichen Geſtalten ruhten; ſie ſah nach der See
hinab, die in unermeßlicher Flaͤche vor ihren Au-
gen bebte und daͤmmerte. In der ſtillen Nacht
kam das Plaͤtſchern der Wellen zu ihrem Ohre,
das bald wie Gewinſel, bald wie zuͤrnende Schelt-
worte klang; dann glaubte ſie die Stimme ihres
[372]Erſte Abtheilung.
Vaters und ihrer Mutter zu hoͤren, und ſo trieb
ſich ihr Gemuͤth unter Phantaſien auf und ab,
bis der Morgen empor kam. Wie verſchieden war
dieſe Morgenroͤthe von der geſtrigen! Wie weit
ſtand jetzt die Hofnung weg, die geſtern noch mit
leichten Fluͤgeln wie ein blauer Schmetterling vor
ihr hintanzte, die ihr den Weg nach einer lieben
Heimath wies, und alle Blumen am Wege auf-
ſuchte und auf ſie hindeutete.
Das Waldgefluͤgel ließ ſeine Geſaͤnge wieder
klingen, das fruͤhe Roth arbeitete ſich durch den
dichten Wald, ſchlich gebuͤckt und wunderſam
durch die niedrigen Geſtraͤuche, und weckte Gras
und Blumen auf; der Wald brannte in dunkelro-
then Flammen und der Nebel wand ſich in golde-
nen Saͤulen um die Baumſtaͤmme. Magelone hatte
in der Nacht beſchloſſen, nicht zu ihrem Vater zu-
ruͤckzukehren, denn ſie fuͤrchtete ſeinen Zorn, ſie
wollte irgend eine ſtille Wohnung aufſuchen, von
den Menſchen abgeſondert, dort immer an ihren
Geliebten denken und ſo in Froͤmmigkeit und Treue
hinſterben. Sie ſtieg daher vom Baum herunter
und ging wieder zu den treuen Pferden, die noch
angebunden ſtanden, und den Kopf betruͤbt zur Erde
ſenkten. Sie loͤſte ihre Zuͤgel, ſo daß ſie gehn
konnten, wohin ſie wollten, indem ſie ſagte: ſo
wandert nun auch hin durch die weite traurige
Welt, und ſuchet euren Herren wieder, ſo wie ich
ihn ſuchen will. Die Roſſe gingen betruͤbt fort,
jedes einen andern Weg.
Magelone wanderte durch die dichten Waͤlder,
[373]Die ſchoͤne Magelone.
ſie hatte einige Nahrung mit ſich genommen. Um
ſich unkenntlich zu machen, verbarg ſie ihre lan-
gen goldenen Haare und zog einen Schleier uͤber
ihr Geſicht; ſie ſuchte auch ihre Kleidung zu ver-
aͤndern. So kam ſie durch manche Doͤrfer und
Staͤdte und blieb immer betruͤbt.
Nach einer Wanderung von vielen Tagen ſtand
ſie gegen Abend auf einer freundlichen ſtillen Wieſe,
gegenuͤber lag eine kleine Huͤtte, und Vieh wei-
dete auf den nahen Huͤgeln, das mit ſeinen Klok-
ken ein angenehmes Getoͤne durch die Ruhe des
Abends machte; auf der andern Seite lag ein Wald,
und Magelonens Seele wurde hier zum erſtenmale
noch langer Zeit ruhig und heiter. Sie faßte da-
her den Wunſch, in dieſer friedlichen Gegend zu
wohnen. Sie ging auf die Huͤtte zu, aus der ihr
ein alter Schaͤfer entgegen trat, der hier mit ſeiner
Frau ſich angeſiedelt hatte, und fern von der Welt
und den Menſchen fromme Laͤmmer groß zog, und
einen kleinen Acker baute. Sie redete ihn an, und
flehte als eine Ungluͤckliche um Schutz und Huͤlfe.
Er nahm ſie gerne auf, und ſie unterzog ſich den
Dienſten willig, die ſie leiſten konnte, dabei aber
verſchwieg ſie ihrem Wirthe ihre Geſchichte. Es
geſchah manchmal, daß ſie einem Ungluͤcklichen bei-
ſtehn konnten, wenn ihn der Schiffbruch an die
nahgelegene Kuͤſte trieb, und dann zeigte ſich be-
ſonders Magelone huͤlfreich und thaͤtig. Wenn die
Alten ausgingen, bewachte ſie das Haus, und ſang
dann manchmal in der Einſamkeit mit der Spindel
vor der Thuͤre ſitzend:
[374]Erſte Abtheilung.
[375]Die ſchoͤne Magelone.
13.
Peter unter den Heiden.
Peter erholte ſich aus ſeiner Betaͤubung, als die
Sonne eben in aller Majeſtaͤt uͤber die große
Meeresfluth herauf ſtieg. Ein furchtbarer Glanz
ſchwang ſich durch den Himmel und loͤſchte Mond
und Sterne mit gluͤhenden Strahlen aus; die Waſ-
ſer erklangen und verwandelten ſich in Purpur,
Wolkenzuͤge trieben vor der Sonne her und ſegel-
ten, wie von der Majeſtaͤt geſchreckt, uͤber das
Meer hinweg, und ein ſpruͤhender Regen von Fun-
ken verbreitete ſich weit umher, und ergoß ſich in
Bogen uͤber die Fluth. Peter fuͤhlte wieder maͤnn-
lichen Muth in ſeiner Bruſt, die Qualen des Le-
bens ſo wie ſeine Freuden zu erdulden.
Ein großes Schiff ſegelte auf ihn zu, das von
Mohren und Heiden beſetzt war; ſie nahmen ihn
ein und freuten ſich uͤber dieſe Beute, denn Peter
war gar ſchoͤn und herrlich von Geſtalt, dazu gab
ihm ſeine Jugend ein zartes und einnehmendes
Weſen, ſo daß niemand ſein Feind ſeyn konnte.
Der Anfuͤhrer des Schiffes beſchloß, ihn dem Sul-
tan als ein Geſchenk mitzubringen.
Man landete, und Peter ward ſogleich dem
Sultan vorgeſtellt, der einen großen Gefallen an
ihm fand, und ihn bei der Tafel aufwarten ließ,
ihm auch die Aufſicht uͤber einen ſchoͤnen Garten
anvertraute. Peter war allgemein beliebt, weil er
vom Sultan ſo gnaͤdig angeſehn wurde. Oft ging
[376]Erſte Abtheilung.
er einſam zwiſchen den Blumen des Gartens, und
dachte an ſeine geliebte Magelone, oft nahm er
auch in der Abendſtunde eine Zither und ſang:
14.
Die Heidin Sulima liebt den Ritter.
Peter mochte hier vergnuͤgt leben, wenn die Liebe
nicht ſeine Jugend verzehrt haͤtte. Er war nun
ſchon ſeit lange am Hofe des Sultans und von
ihm und den uͤbrigen geſchaͤtzt; er hatte viele Frei-
heit und ward von manchem Hofdiener beneidet,
[377]Die ſchoͤne Magelone.
aber er verdiente dieſen Neid nicht, denn er
ward von ſeiner Unruhe hin und her getrieben,
er ſeufzte und klagte laut, wenn er ſich im Gar-
ten allein befand.
So verſtrich eine Woche nach der andern und
er war nun beinahe zwei Jahr unter den Heiden,
ohne daß er Hofnung hatte, jemals in ſein gelieb-
tes Vaterland zuruͤck zu kehren, denn der Sultan
liebte ihn ſo ſehr, daß er ihn durchaus nicht von
ſich entfernen wollte. Dies zog ſich Peter auch
zu Sinne und ward daruͤber mit jedem Tage be-
truͤbter, denn er dachte unaufhoͤrlich an ſeine Eltern
und ſeine Geliebte. Nichts machte ihm Freude,
und da der Fruͤhling wieder kam, weinte er bei
ſeiner Ankunft, und trauerte tief, indem die ganze
Natur ihr holdſeligſtes Feſt beging.
Der Sultan hatte eine Tochter, die im gan-
zen Lande ihrer Schoͤnheit wegen beruͤhmt war,
mit Namen Sulima. Sie fand oft Gelegenheit
den Fremden zu ſehn, und ohne daß ſie es anfangs
wußte, hatte ſich eine heftige Liebe zu ihm in ihr
Herz geſchlichen. Die Traurigkeit des Ritters zog
ſie vorzuͤglich an, ſie wuͤnſchte, ihn troͤſten zu koͤn-
nen, ihm naͤher zu kommen, und mit ihm zu re-
den. Die Gelegenheit dazu fand ſich bald. Eine
vertraute Sklavin fuͤhrte den Juͤngling heimlich
in einen Saal des Gartens zu ihr. Peter war
erſtaunt und in Verlegenheit; er verwunderte ſich
uͤber die Schoͤnheit der Sulima, aber ſein Herz
hing an Magelonen feſt.
Doch der ſuͤße Trieb, ſein Vaterland wieder
[378]Erſte Abtheilung.
zu ſehn, bemeiſterte ſich bald aller ſeiner Sinnen
ſo ſehr, daß er einem kuͤhnen Anſchlage nachdachte.
Er ſah das Heidenmaͤdchen oͤfter, und ſie ſagte
ihm, daß ſie aus Liebe zu ihm mit ihm entfliehen
wolle, erſt zu einem Verwandten, der ein Schiff
ſegelfertig liegen habe, das auf ihren Wink ſogleich
die Anker lichten wuͤrde; ſie wolle ihm in der be-
ſtimmten Nacht durch eine Laute und ein kleines
Lied ein Zeichen geben, wann er kommen und ſie
abholen ſolle. Peter uͤberlegte dieſen Vorſchlag und
willigte endlich ein, denn er uͤberzeugte ſich, daß
Magelone gewiß geſtorben ſey, und er komme doch
ſo in die Chriſtenheit und zu ſeinen Eltern zuruͤck.
Der Garten des Sultans lag am Ufer des
Meeres, und die beſtimmte Nacht war jetzt herbei
gekommen. Gegen Abend hatte Peter ein wenig
unter den kuͤhlen Baͤumen geſchlummert, und Ma-
gelone war ihm in aller Herrlichkeit, aber mit einer
drohenden Gebehrde, im Traum erſchienen. Die
ganze Vergangenheit zog mit den lebhafteſten Bil-
dern durch ſeinen Buſen, jede Stunde ſeiner gluͤck-
lichen Liebe kam mit allen ſeeligen Empfindungen
zuruͤck, und als er nun erwachte, erſchrack er vor
ſich ſelber und ſeinem Vorſatze. Er haͤtte ſich ſel-
ber entfliehen moͤgen, und das Andenken an ſich
und ſein Bewußtſeyn aus ſeinem Buſen vertilgen.
Die Nacht brach indeß herein, und alle Sterne
glaͤnzten ſchon am Himmel; der Mond ging auf
und warf ſein goldenes Netz uͤber das Meer hin,
als Peter nachdenklich am Ufer auf und nieder
ging. Ein friſcher Wind blies vom Lande her
[379]Die ſchoͤne Magelone.
durch den Garten, und die Baͤume rauſchten mun-
ter und froͤhlich, aber Peter ward dadurch nur
deſto betruͤbter.
O ich Treuloſer! ich Undankbarer, rief er aus,
will ich ſo ihre Liebe belohnen, will ich als ein
Meineidiger in mein Vaterland zuruͤck kehren? Das
waͤre mir ein ſchlechter Ruhm unter meinen Ver-
wandten und der ganze Ritterſchaft; und wie ſollte
ich gegen Magelonen die Augen aufſchlagen duͤrfen,
wenn ſie noch lebt? Und warum ſollte ſie nicht
leben, da ich ſo wunderbar erhalten bin? O ich
bin ein feiger Sklave, daß ich fuͤr mich ſelber noch
nichts gewagt habe! Warum uͤberlaß ich mich
nicht dem guͤtigen Schickſal, und fahre in einem
dieſer Nachen in das Meer hinein? Ueberließ ich
mich nicht auf einem zerbrochenen Brette der em-
poͤrten Fluth, und kam an dies Geſtade? Soll ich
nicht auf Gott vertraun, wenn von Vaterland,
wenn von meiner Liebe die Rede iſt?
Er ſtieg beherzt in ein kleines Boot, das er
vom Lande abloͤſte, dann nahm er ein Ruder und
arbeitete ſich in die See hinein. Es war die ſchoͤnſte
Sommernacht; alle Geſtirne ſahen freundlich in die
mondbeglaͤnzte Welt hinein, das Meer war eine ſtille
ebene Flaͤche, und warme Luͤfte ſpielten uͤber dem
ruhigen Spiegel hin. Peters Herz ward groß von
Sehnſucht, er uͤberließ ſich dem Zufall und den
Sternen, und ruderte muthig weiter; da hoͤrte
er das verabredete Zeichen, eine Zither erklang
aus dem Garten her, und eine liebliche Stimme
ſang dazu:
[380]Erſte Abtheilung.
[381]Die ſchoͤne Magelone.
Peter erſchrack im Herzen, als er dieſen Ge-
ſang vernahm; das Lied rief ihm ſeine Untreue
und ſeinen Wankelmuth nach. Er ruderte ſtaͤrker,
um ſich vom Lande zu entfernen und dem Kreiſe
zu entfliehen, den die lieblich lockenden Toͤne in
der ſtillen Abendluft bildeten. Der Geiſt der Liebe
ſchwang ſich durch den goldenen Himmel; Liebe
wollte ihn ruͤckwaͤrts ziehn, Liebe trieb ihn vor-
waͤrts, die Wellen murmelten melodiſch dazwiſchen,
und klangen wie ein Lied in fremder Sprache, deſſen
Sinn man aber dennoch erraͤth.
Der Geſang vom Ufer her ward immer ſchwaͤ-
cher. Schon ſah Peter die Baͤume am Geſtade
nicht mehr; es war, als wenn ſich ihm die Muſik
uͤber das Meer nacharbeitete, und endlich matt
und kraftlos nicht weiter zu ſchwimmen wagte,
ſondern zum einheimiſchen Ufer zuruͤck ſchlich; denn
jetzt hoͤrte er den Geſang nur noch wie ein leiſes
Wehen des Windes, und jetzt erloſch auch die letzte
Spur, und die Wellen rieſelten nur, und der Ru-
derſchlag ertoͤnte durch die einſame Stille.
15.
Wie Peter wieder zu Chriſten kam .
Wie der Geſang verſchollen war, faßte Peter
wieder friſchen Muth; er ließ das Schifflein vom
Winde hintreiben, ſetzte ſich nieder und ſang:
[382]Erſte Abtheilung.
Als das Morgenroth aufging, ſah er das Land
nur noch wie eine unkenntliche blaue Wolke weit
hinunter liegen, und er erſchrack beinah, als ihn
das allmaͤchtige Meer und der gewoͤlbte Himmel
ſo unermeßlich umgab. In der Ferne ſeegelte ein
Schiff auf ihn zu, und er haͤtte beinah geglaubt,
daß er ſein ehemaliges Ungluͤck nur von neuem
traͤume; aber als es naͤher gekommen, ſah er, daß
die Schiffer Chriſten waren, die ihn ſogleich willig
aufnahmen. Er freute ſich, als er hoͤrte, daß ſie
nach Frankreich ſegelten.
[383]Die ſchoͤne Magelone.
16.
Der Ritter auf der Reiſe.
Um die Zeit war der Graf von der Provence
nebſt ſeiner Gemahlin ſehr betruͤbt, weil ſie noch
gar keine Nachrichten von ihrem geliebten Sohne
bekommen hatten. Beſonders aber war die Mut-
ter in Angſt, denn ſie hatte eine große Sehnſucht,
ihren einzigen Sohn nach ſo langer Zeit wieder
zu ſehn. Sie ſprach oft mit dem Grafen von ih-
rem Kummer, und daß ihr ſchoͤner Sohn wahr-
ſcheinlich umgekommen ſey. Da ſollte ein Feſt ge-
geben werden, und ein Fiſcher brachte einen großen
Fiſch in die graͤfliche Kuͤche; als ihn der Koch auf-
ſchnitt, fand er drei Ringe in deſſen Bauche, die
er der Graͤfin uͤberbrachte. Die Graͤfin verwun-
derte ſich uͤber die Maßen, denn ſie erkannte ſie
fuͤr eben diejenigen, die ſie ihrem Sohne gegeben
hatte. Sie ſagte daher zu ihrem Gemahl: jetzt bin
ich getroͤſtet, denn da ich ſo unvermuthet und auf
ſo wunderbare Weiſe Kundſchaft von meinem Sohn
bekommen habe, ſo bin ich auch uͤberzeugt, daß
Gott ihn nicht verlaſſen hat, ſondern daß er ihn
nach vielen uͤberſtandenen Muͤhſeligkeiten in unſre
Arme zuruͤck fuͤhren wird. —
Peter ſtand im Schiffe und ſah immer nach
der Gegend hin, wo die erwuͤnſchte Heimath lag.
Die Fahrt war gluͤcklich, und man landete an einer
kleinen unbewohnten Inſel, um ſuͤßes Waſſer ein-
zunehmen. Alles Schiffsvolk ſtieg an das Land,
[384]Erſte Abtheilung.
und auch Peter. Er ging durch ein anmuthiges
Thal und verlor ſich hinter einigen Huͤgeln in
das Land hinein; da ſetzte er ſich nieder und ſah
viele ſchoͤne Blumen um ſich ſtehn. Alle blickten
ihn wie mit freundlichen, lieblichen Augen an, und
er dachte innig an Magelonen, und wie ſie ihn ge-
liebt hatte. Wie kann der Liebende, rief er aus,
ſich nur jemals einſam fuͤhlen? Erinnern mich
nicht dieſe blauen Kelche an ihre holdſeligen Augen,
dieſes goldene Blatt an ihr Haar, die Pracht die-
ſer Lilie und Roſe neben einander, an ihre zarten
Wangen? Iſt es doch, als wenn der Wind in
den Blumen ſich bewegt, und es, wie auf Saiten
verſuchen will, ihren ſuͤßen Namen auszuſprechen;
Quellen und Baͤume nennen ihn, fuͤr die uͤbri-
gen Menſchen unverſtaͤndlich, aber mir laut und
vernehmlich.
Er erinnerte ſich eines Geſanges, den er vor
langer Zeit gedichtet hatte, und wiederholte ihn jetzt:
All
[385]Die ſchoͤne Magelone.
Er weinte heftig, indem er die letzten Worte
ſang, denn er glaubte ſein Herz zu verſtehn, das
I. [ 25 ]
[386]Erſte Abtheilung.
ihm ein Ungluͤck vorherſagte. Er betrachtete mit
thraͤnenden Blicken das Blumenlabyrinth um ſich
her, und es war ihm ein Ergoͤtzen, die Blumen
in ſeiner Einbildung ſo zu ordnen, daß ſie den Na-
menszug Magelonens ausdruͤckten. Dann horchte
er auf das lispelnde Gras, das ihm etwas zu ſa-
gen ſchien, auf die Bluͤten, die ſich oft zaͤrtlich
zu einander neigten, als wenn ſie ein herzliches
Geſpraͤch von Liebe fuͤhren wollten. In der gan-
zen Natur ſah er liebevolle Eintracht, und jedes
Geraͤuſch klang ſeinem Ohre wie ein melodiſcher
Geſang. Daruͤber verlor er ſich immer mehr in
Traͤumen; von den Thraͤnen ermuͤdet ſchlief er
endlich unter den Blumen ein, und es war ihm
im Traum, als wenn er laut den Namen Mage-
lone ausrufen hoͤrte; daruͤber ging ihm ſein Herz
wie eine zugeſchloſſene Knospe auf, und er fuͤhlte
eine uͤbergroße Freude.
17.
Peter wird von Fiſchern aufgefunden.
Aber der Wind blies indeß luftig in die Seegel,
und das Schiffsvolk eilte wieder in das Schiff, um
abzufahren, nur Peter blieb aus; man rief ihn,
aber da er nicht kam, fuhren die uͤbrigen fort.
Als ſie ſchon weit vom Ufer entfernt waren,
erwachte Peter aus ſeinem erquickenden Schlafe; er
erſchrack, als er gewahr ward, daß er geſchlafen
[387]Die ſchoͤne Magelone.
hatte. Er eilte an das Ufer, aber Niemand war
da, und das Schiff nirgend zu ſehn. Da ſenkte
ſich eine große Traurigkeit in ſein Herz, alle ſeine
Hofnungen waren wieder verſchwunden: er ſtuͤrzte
nieder und lag am Ufer des Meeres ohne Beſin-
nung und in tiefer Ohnmacht, ſo daß es finſtre
Nacht wurde und er es nicht bemerkte.
Als es nach Mitternacht kam, ging der Mond
auf, und einige Fiſcher fuhren mit einem Kahne
an die Inſel, um ihre Arbeit hier vorzunehmen;
ſie fanden den Juͤngling, der fuͤr todt auf der
Erde ausgeſtreckt lag. Das feſte Land war nicht
weit von dieſer Inſel, ſie luden ihn daher in ihr
kleines Schiff, und fuhren wieder ab, um ihn ins
Leben zuruͤck zu bringen. Schon unterwegs er-
wachte Peter; es duͤnkte ihm ſeltſam, als ihm der
Mond ins Angeſicht ſchien und er die Ruder ſeuf-
zen hoͤrte, und wie er vernahm, daß zwei fremde
Maͤnner mit einander verabredeten, wie ſie ihn
zu einem alten Schaͤfer bringen wollten, der ſein
pflegen wuͤrde. Oft kam es ihm vor wie ein
Traum, oft wieder wie Wahrheit, und er zwei-
felte ſo lange, bis ſie endlich mit dem Aufgang
der Sonne landeten.
Als Peter eine Weile in den erquickenden Son-
nenſtrahlen gelegen hatte, ward er wieder munter
und richtete ſich auf; er dankte in einem Gebete
Gott, daß er ihm wieder von der menſchenleeren
Inſel geholfen habe, dann gab er den guten Fi-
ſchern eine Menge Goldes, und ließ ſich den Weg
nach der Huͤtte des Schaͤfers beſchreiben.
[388]Erſte Abtheilung.
Er ging durch einen dichten, angenehmen Wald,
durch deſſen dunkle Schatten der Morgen noch
daͤmmerte. Er folgte einem geſchlaͤngelten Fuß-
pfade, und uͤberdachte ſchwermuͤthig ſein Schickſal;
alles Ungemach, das er erlitten, kam friſch in ſeine
Seele, und er ward daruͤber ſo unmuthig, daß er
von Herzen wuͤnſchte, endlich zu ſterben.
Mit dieſen Gedanken trat er aus dem Walde
und ſtand vor einer ſchoͤnen gruͤnen Wieſe, die im
Morgenlicht glaͤnzte; gegenuͤber lag eine kleine
einſame Huͤtte, und Schaafe wurden von einem
alten Manne einen Huͤgel hinan getrieben. Alles
ſchimmerte roth und freundlich, und die ſtille Ruhe
umher brachte auch in Peters Seele Ruhe zuruͤck.
Er merkte, daß dies die Huͤtte ſey, die ihm die
Fiſcher bezeichnet hatten, und er wuͤnſchte, hier
einige Tage zu raſten und ſich zu erquicken. Er
ging daher uͤber die Wieſe, auf der viele wilde
Blumen roth und gelb und himmelblau bluͤhten,
der kleinen Huͤtte naͤher. Vor der Thuͤre ſaß ein
ſchlankes ſchoͤnes Maͤgdlein, zu deren Fuͤßen ein
Lamm im Graſe ſpielte, dieſe ſang, indem er uͤber
die Wieſe ſchritt:
[389]Die ſchoͤne Magelone.
[390]Erſte Abtheilung.
18.
Beſchluß.
Peter fuͤhlte ſich von dem Geſange wie von einer
lieblichen Gewalt nach der Huͤtte hingezogen. Die
Schaͤferin, welche vor der Thuͤr ſaß, nahm ihn
freundlich auf, und ließ ihn in der Huͤtte ausruhn
und ſich erquicken. Die beiden Alten kamen auch
bald zuruͤck, und hießen ihren edlen Gaſt von Her-
zen willkommen.
Magelone ging indeſſen im Felde nachdenklich
auf und ab, denn ſie hatte auf den erſten Blick
den Ritter erkannt; alle ihre Sorgen waren nun
[391]Die ſchoͤne Magelone.
wie Schnee vor der Fruͤhlingsſonne hinweg ge-
ſchmolzen, und ihr Lebenslauf lag gruͤn und er-
friſcht vor ihr, ſo weit nur ihr Auge reichte. Sie
ging in die Huͤtte zuruͤck, und gab ſich noch nicht
zu erkennen.
Nach zweien Tagen war Peter wieder ganz
zu Kraͤften gekommen. Er ſaß mit Magelonen, ohne
daß er ſie kannte, vor der Thuͤr der Huͤtte. Bie-
nen und Schmetterlinge ſchwaͤrmten um ſie, und
Peter faßte ein Zutrauen zu ſeiner Verpflegerin,
ſo daß er ihr ſeine Geſchichte und ſein ganzes Un-
gluͤck erzaͤhlte. Magelone ſtand ploͤtzlich auf und
ging in ihre Kammer, da loͤſte ſie ihre goldenen
Locken auf, und machte ſie von den Banden frei,
die ſie bisher gehalten hatten, dann zog ſie ihre
koͤſtliche Kleidung an, die ſie eingeſchloſſen hielt,
und ſo kam ſie ploͤtzlich wieder vor die Augen Pe-
ters. Er war vor Erſtaunen außer ſich, er um-
armte die wiedergefundene Geliebte, dann erzaͤhl-
ten ſie ſich ihre Geſchichte wieder, und weinten und
kuͤßten ſich, ſo daß man haͤtte ungewiß ſeyn ſollen,
ob ſie vor Jammer oder uͤbergroßer Freude ſo herz-
brechend ſchluchzten. So verging ihnen der Tag.
Dann reiſte Peter mit Magelonen zu ſeinen
Eltern, ſie wurden vermaͤhlt, und alles war in der
groͤßten Freude; auch der Koͤnig von Neapel ver-
ſoͤhnte ſich mit ſeinem neuen Sohne, und war mit
der Heirath wohl zufrieden.
Auf dem Orte, wo Peter ſeine Magelone
wieder gefunden hatte, ließ er einen praͤchtigen
Sommerpallaſt bauen, und ſetzte den Schaͤfer zum
[392]Erſte Abtheilung.
Aufſeher hinein, den er mit vielem Lohne uͤber-
haͤufte. Vor dem Pallaſt pflanzte er mit ſeiner
jungen Gattin einen Baum; dann ſangen ſie fol-
gendes Lied, welches ſie nachher auf derſelben Stelle
in jedem Fruͤhjahre wiederholten:
[393]Erſte Abtheilung.
Es war indeſſen finſter geworden. Roſalie
klingelte, um Lichter bringen zu laſſen, worauf ſie
ſich gegen Friedrich wandte und ſagte: Mir iſt
ſeit meiner fruͤhen Jugend ſchon dieſe Geſchichte
bekannt, aber ich danke Ihnen dafuͤr, daß Sie
das Spital und die Verpflegung der Kran-
ken auf dieſe Weiſe unnoͤthig gemacht haben;
das laͤndliche Gemaͤhlde der heitern Wieſe und
ſtillen Einſamkeit ſind der Imagination weit an-
genehmer.
Ich dachte vor Jahren eben ſo, antwortete
Friedrich, und habe mir deshalb dieſe Umaͤn-
derung erlaubt, mit der ich jetzt aber um ſo un-
zufriedener bin; auch hoffe ich, daß ich Sie wohl
noch einmal zu meiner Meinung, und zur alten
Erzaͤhlung zuruͤck fuͤhren werde.
Wenn es aber gar nicht erlaubt ſeyn ſollte,
wandte Auguſte ein, alte bekannte Geſchichten
nach Gutduͤnken und Laune abzuaͤndern, und ſie
unſerm Geſchmack zuzubereiten, ſo wuͤrden wir
ohne Zweifel viel verlieren, denn manches ginge
ganz unter, das uns ſo erhalten bleibt. Sind
dergleichen Erfindungen ſchon ehemals umgeſchrie-
ben und neu erzaͤhlt worden, ſo begreife ich nicht,
warum dieſe Freiheit nicht jedem neuern Dichter
ebenfalls vergoͤnnt ſeyn ſollte. In Arabien, wo
ſie ſo viele Maͤhrchen erzaͤhlen, bleibt man ge-
wiß nicht immer der Sache treu, denn in jedem
Erzaͤhler regt ſich die Luſt, die Umſtaͤnde anders
zu wenden, ſie wunderbarer oder anmuthiger zu
[394]Erſte Abtheilung.
machen, und ſich dadurch die fremde Erfindung
anzueignen.
Sie moͤgen nicht Unrecht haben, antwortete
Friedrich; wenn aber eine alte Erzaͤhlung einen
ſo herzlichen Mittelpunkt hat, der der Geſchichte
einen großen und ruͤhrenden Charakter giebt, ſo
iſt es doch wohl nur die Verwoͤhnung einer neu-
ern Zeit und ihre Beſchraͤnktheit, dieſe Schoͤn-
heit ganz zu verkennen, und ſie mit einer will-
kuͤhrlichen Abaͤnderung verbeſſern zu wollen, durch
welche das Ganze eben ſo wohl Mittelpunkt als
Zweck verliert.
Ich bin Ihrer Meinung, ſagte Clara. Giebt
es etwas Ruͤhrenderes (und zwar nicht von der
Art des Ruͤhrenden, welches man gewoͤhnlich ſo
nennt), als daß ſie ſich in treuer Liebe und Hof-
nungsloſigkeit dem Dienſt der Kranken fromm
und andaͤchtig widmet? Lange hat ſie dem ſelbſt-
gewaͤhlten Berufe mit edler Treue vorgeſtanden,
da kommt er ſelbſt, von Liebe und Sehnſucht er-
mattet, an der Trennung ſterbend, in ihre Pflege
(nicht, wie hier erzaͤhlt wird, halb ungetreu); ſie
kennt ihn nicht, ſie nimmt ihn auf wie jeden
Kranken; da faͤngt er an zu geneſen, er faßt ein
Zutrauen zu der guten, alt ſcheinenden Waͤrte-
rin und erzaͤhlt ihr ſeine Geſchichte; ſie, vor
Schrecken und Wonne wie vernichtet, geht in
die Kammer, loͤſt die rollenden goldgelben Lok-
ken auf, wirft das Gewand der Buͤßenden ab,
und tritt ſo im Jugendglanz dem wieder vor
[395]Erſte Abtheilung.
Augen, der mit dem Fruͤhling der Geſundheit
den Lenz der Liebe von neuem aufbluͤhen ſieht.
Das alte Gedicht iſt eine Verherrlichung der Liebe
und frommen Demuth, die neuere Erzaͤhlung iſt
ſuͤß freigeiſteriſch und unglaͤubig.
Lope de Vega hat unter den Namen der drei
Diamanten die Geſchichte fuͤr das Theater bearbei-
tet, bemerkte Lothar, und ſie in ſeiner etwas lok-
kern Manier ausgefuͤhrt; auf dasjenige, was nach
unſerer Meinung der Hauptpunkt ſeyn ſollte, hat
er auch nur wenig Gewicht gelegt. Die Sage
ſelbſt ſcheint mir aber auch voͤllig undramatiſch.
Mir nicht, erwiederte Friedrich. Wiſſen wir
doch uͤberhaupt noch nicht recht, was wir drama-
tiſch oder undramatiſch nennen ſollen. Nach un-
ſern gewoͤhnlichen Anſichten gehn die Novelle und
Erzaͤhlung oft von ſelbſt in das Drama uͤber, und
viele Novellen ſind Comoͤdien nach dieſer Meinung,
ſo wie wir auch nicht wenige Comoͤdien beſitzen,
ſelbſt beruͤhmte, die durchaus nur dialogiſirte
Novellen ſind. Dieſe koͤnnen ſehr geiſtreich und
witzig ſeyn, wie die des Machiavell zum Bei-
ſpiel, ſind aber darum doch noch keine Schau-
ſpiele. Damit Erzaͤhlung oder Sage Schauſpiel
werde, muß ein neues Element hinzu treten,
welches das Ganze allſeitig durchdringt, und
im Mittelpunkte des Gedichtes ſeine Beglaubi-
gung findet: dazu Individualitaͤt und ſcheinbare
Willkuͤhr, zugleich eine Aufopferung alles deſſen,
was die Novelle reizend macht, ſo daß es dem
[396]Erſte Abtheilung.
ungeuͤbten Auge ſogar ſcheint, als ſey eine gute
Novelle im Drama nur verdorben worden. Nicht
ſelten hat man Shakſpears Luſtſpiele ſo angeſehn
und beurtheilt. Haͤufig aber, wenn wir vom
Dramatiſchen ſprechen, verwechſeln wir dieſes
mit dem Theatraliſchen, und wiederum ein moͤg-
liches beſſeres Theater mit unſerm gegenwaͤrtigen
und ſeiner ungeſchickten Form; und in dieſer
Verwirrung verwerfen wir viele Gegenſtaͤnde
und Gedichte als unſchicklich, weil ſie ſich frei-
lich auf unſrer Buͤhne nicht ausnehmen wuͤrden.
Sehn wir alſo ein, daß ein neues Element erſt
das dramatiſche Werk als ein ſolches beurkun-
det, ſo iſt wohl ohne Zweifel eine Art der Poe-
ſie erlaubt, welche auch das beſte Theater nicht
brauchen kann, ſondern in der Phantaſie eine
Buͤhne fuͤr die Phantaſie erbaut, und Compo-
ſitionen verſucht, die vielleicht zugleich lyriſch,
epiſch und dramatiſch ſind, die einen Umfang
gewinnen, welcher gewiſſermaßen dem Roman un-
terſagt iſt, und ſich Kuͤhnheiten aneignen, die kei-
nem andern dramatiſchen Gedichte ziemen. Dieſe
Buͤhne der Phantaſie eroͤffnet der romantiſchen
Dichtkunſt ein großes Feld, und auf ihr duͤrfte
dieſe Magelone und manche alte anmuthige Tra-
dition ſich wohl zu zeigen wagen.
Ernſt ſagte hierauf: unter den gelehrten Ita-
liaͤnern iſt es eine alte hergebrachte Meinung, daß
dieſe Geſchichte, ſo wie wir ſie jetzt als Volks-
buch beſitzen, die fruͤheſte Uebung des Petrarka
[397]Erſte Abtheilung.
geweſen ſey, der ſie ſo nach einem Manuſkript
aus dem zwoͤlften Jahrhundert umgearbeitet habe.
Die Erzaͤhlung iſt ſo ſchoͤn und einfach, daß die
Sache an ſich ſelbſt nicht unwahrſcheinlich iſt.
Manfred ſchlug ein lautes Gelaͤchter auf,
und ſagte nach einiger Zeit: O vortreflich! Die
Autoren, die uns den Oktavian und die Hey-
monskinder in ihrer alten treuherzigen Geſtalt
gaben, waren gewiß auch keine Stuͤmper, und
wer weiß, ob nicht einſt entdeckt wird, daß un-
ſer Eulenſpiegel nichts als eine Umwandlung des
beruͤhmten verlohrenen Margites iſt. Wie recht
hat Wilhelm Schlegel, wenn er einmal ſagt:
die gebildeten Staͤnde in Deutſchland haben noch
keine Literatur, aber der Bauer hat ſie. Denn
wohl ſind in dieſen unſcheinbaren ſchlecht ge-
druckten Schriften faſt alle Elemente der Poeſie,
vom Heroiſchen bis zum Zaͤrtlichen und hinab
zum kraͤftig Komiſchen, ausgeſprochen. Ich muß
hier auf meine Verwunderung zuruͤck kommen:
was meinen nehmlich nur die Herren, die mit
fanatiſcher Vernuͤnftigkeit und Mangel alles poe-
tiſchen Sinnes dieſe Buͤcher verfolgen, ſie dem
Bauer nehmen und Strafen auf ihre Verbrei-
tung ſetzen? Wenn ich nicht irre, war vor eini-
gen und dreißig Jahren, der gute alte Buͤſching
der erſte, welcher auf dieſen Krieg antrug; ſeine
Stimme wurde damals nicht gehoͤrt, jetzt aber
dringt ſeine gut gemeinte Thorheit durch, zu ei-
ner Zeit, wo man ſich doch zugleich bemuͤht, Pa-
[398]Erſte Abtheilung.
triotismus und die alten verſtorbenen Tugenden,
die den Aufgeklaͤrteren ja auch nur Aberglaube
waren, wieder aufzupflanzen. Ich moͤchte mir
doch nur das Boͤſe nennen und aufzeigen laſſen,
welches dieſe unſchuldigen Poeſien ſchon hervor-
gebracht haben. Oder haͤtten dieſe Herren dieſe
Buͤcher vielleicht gar nicht geleſen? Der Druck
iſt nicht der beſte, die Vignetten ſind nicht in
punktirter Manier, auch hat ſich weder Petrarka
noch ein andrer beruͤhmter Name bei ihrer Her-
ausgabe genannt, und das iſt freilich verdaͤchtig
genug. Sollten denn wirklich etwa die paar
freien Spaͤße im Eulenſpiegel und den Schild-
buͤrgern die Nation verderben koͤnnen? Wird
man denn die Schenken verſchließen, oder einen
Polizeiwaͤchter hinein ſetzen, der jeden nicht ſitt-
lichen Spaß eines luſtigen Bruders aufzeichnet
und der Behoͤrde einreicht? Oder hofft man
wirklich durch das alberne moraliſche Gewaͤſch,
welches ſie jetzt als Volksbuͤcher drucken laſſen,
von gutgearteten Gatten und ſaubern Kindern,
Birnenmoſt, Giftkraͤutern und Wohlthaͤtigkeit, die
niederen Staͤnde ſo tief in die edle Geſinnung hin-
ein und unterzutauchen, daß keiner mehr eine
Zwei- oder Eindeutigkeit ſpricht und denkt? O
der glorreichen Ausſcht in das kuͤnftige Jahr-
hundert!
Suchte man nur etwa, ſagte Wilibald, die
aſtrologiſchen und Zauberbuͤcher, deren es noch hie
und da, aber auch nur ſelten giebt, zu verban-
[399]Erſte Abtheilung.
nen, ſo haͤtte die Sache Sinn, aber ſo iſt ſie
freilich eine Erſcheinung, die im grellſten Wider-
ſpruche mit der Zeit ſteht, die dieſelben verfolg-
ten Buͤcher zu achten und zu ſtudiren anfaͤngt.
Im Gegentheil, fuhr Ernſt fort, ſollten wir
dem gemeinen Manne nicht nur dieſe Poeſien
laſſen, ſondern ihm auch eine ihm verſtaͤndliche
Bearbeitung der Niebelungen und der Helden-
buͤcher in die Haͤnde zu ſpielen ſuchen, damit
er ſich vor der weichlichen leeren Leſerei bewahre,
die auch ihn zu ergreifen und auszuhoͤhlen droht.
Der Spanier hat, zu unſrer Beſchaͤmung, eine
hoͤchſt wohlfeile Ausgabe ſeines vortrefflichen
Don Quixote, mit ſchlechten Holzſchnitten und
auf grobem Papier. Aber bei uns iſt es kei-
nem, auch in der erſten Begeiſterung eingefallen,
dem deutſchen Bauer etwa den Goͤtz von Berli-
chingen ſo anzubieten. Ließe man doch uͤberhaupt
das Bewachen des Volks, und lernte es erſt ken-
nen, waͤre dann ſelber erzogen, um andre zu er-
ziehn, und ſuchte nicht eine falſche, ſchwaͤchliche
Bildung Nationen aufzupraͤgen.
Mit Verlaub, ſagte Theodor, daß ich die-
ſen Diskurs unterbreche, es wird ſonſt Mitter-
nacht, ehe wir unſre Vorleſungen geendigt haben.
Er fing an.
[400]Erſte Abtheilung.
Die Elfen.
Wo iſt denn die Marie, unſer Kind? fragte der
Vater.
Sie ſpielt draußen auf dem gruͤnen Platze,
antwortete die Mutter, mit dem Sohne unſers
Nachbars.
Daß ſie ſich nicht verlaufen, ſagte der Vater
beſorgt; ſie ſind unbeſonnen.
Die Mutter ſah nach den Kleinen und brachte
ihnen ihr Vesperbrodt. Es iſt heiß! ſagte der Bur-
ſche, und das kleine Maͤdchen langte begierig nach
den rothen Kirſchen. Seid nur vorſichtig, Kinder,
ſprach die Mutter, lauft nicht zu weit vom Hauſe,
oder in den Wald hinein, ich und der Vater gehn
aufs Feld hinaus. Der junge Andres antwortete:
o, ſey ohne Sorge, denn vor dem Walde fuͤrch-
ten wir uns, wir bleiben hier beim Hauſe ſitzen,
wo Menſchen in der Naͤhe ſind.
Die Mutter ging und kam bald mit dem Va-
ter wieder heraus. Sie verſchloſſen ihre Wohnung
und wandten ſich nach dem Felde, um nach den
Knechten und zugleich auf der Wieſe nach der Heu-
ernte zu ſehn. Ihr Haus lag auf einer kleinen
gruͤnen Anhoͤhe, von einem zierlichen Stakete um-
geben, welches auch ihren Frucht- und Blumen-
garten umſchloß; das Dorf zog ſich etwas tiefer
hinun-
[401]Die Elfen.
hinunter, und jenſeit erhob ſich das graͤfliche Schloß.
Martin hatte von der Herrſchaft das große Gut
gepachtet, und lebte mit ſeiner Frau und ſeinem ein-
zigen Kinde vergnuͤgt, denn er legte jaͤhrlich zuruͤck,
und hatte die Ausſicht durch Thaͤtigkeit ein ver-
moͤgender Mann zu werden, da der Boden ergie-
big war und der Graf ihn nicht druͤckte.
Indem er mit ſeiner Frau nach ſeinen Feldern
ging, ſchaute er froͤlich um ſich, und ſagte: wie iſt
doch die Gegend hier ſo ganz anders, Brigitte,
als diejenige, in der wir ſonſt wohnten. Hier iſt
es ſo gruͤn, das ganze Dorf prangt von dichtge-
draͤngten Obſtbaͤumen, der Boden iſt voll ſchoͤner
Kraͤuter und Blumen, alle Haͤuſer ſind munter
und reinlich, die Einwohner wohlhabend, ja mir
duͤnkt, die Waͤlder hier ſind ſchoͤner und der Him-
mel blauer, und ſo weit nur das Auge reicht,
ſieht man ſeine Luſt und Freude an der freigebi-
gen Natur.
So wie man nur, ſagte Brigitte, dort jenſeit
des Fluſſes iſt, ſo befindet man ſich wie auf einer
andern Erde, alles ſo traurig und duͤrr; jeder Rei-
ſende behauptet aber auch, daß unſer Dorf weit
und breit in der Runde das ſchoͤnſte ſey.
Bis auf jenen Tannengrund, erwiederte der
Mann; ſchau einmal dorthin zuruͤck, wie ſchwarz
und traurig der abgelegene Fleck in der ganzen hei-
tern Umgebung liegt; hinter den dunkeln Tannen-
baͤumen die rauchige Huͤtte, die verfallenen Staͤlle,
der ſchwermuͤthig voruͤber fließende Bach.
Es iſt wahr ſagte die Frau, indem beide ſtill
I. [ 26 ]
[402]Erſte Abtheilung.
ſtanden, ſo oft man ſich jenem Platze nur naͤhert,
wird man traurig und beaͤngſtigt, man weiß ſelbſt
nicht warum. Wer nur die Menſchen eigentlich
ſeyn moͤgen, die dort wohnen, und warum ſie ſich
doch nur ſo von allen in der Gemeinde entfernt
halten, als wenn ſie kein gutes Gewiſſen haͤtten.
Armes Geſindel, erwiederte der junge Pach-
ter, dem Anſchein nach Zigeunervolk, die in der
Ferne rauben und betruͤgen, und hier vielleicht ih-
ren Schlumpfwinkel haben. Mich wundert nur,
daß die gnaͤdige Herrſchaft ſie duldet.
Es koͤnnen auch wohl, ſagte die Frau weich-
muͤthig, arme Leute ſeyn, die ſich ihrer Armuth
ſchaͤmen, denn man kann ihnen doch eben nichts
Boͤſes nachſagen, nur iſt es bedenklich, daß ſie
ſich nicht zur Kirche halten, und man auch eigent-
lich nicht weiß wovon ſie leben, denn der kleine
Garten, der noch dazu ganz wuͤſt zu liegen
ſcheint, kann ſie unmoͤglich erhalten, und Felder
haben ſie nicht.
Weiß der liebe Gott, fuhr Martin fort, in-
dem ſie weiter gingen, was ſie treiben moͤgen,
kommt doch auch kein Menſch zu ihnen, denn der
Ort wo ſie wohnen iſt ja wie verbannt und ver-
hext, ſo daß ſich auch die vorwitzigſten Burſche
nicht hingetrauen.
Dieſes Geſpraͤch ſetzen ſie fort, indem ſie ſich
in das Feld wandten. Jene finſtre Gegend, von
welcher ſie ſprachen, lag abſeits vom Dorfe. In
einer Vertiefung, welche Tannen umgaben, zeigte
ſich eine Huͤtte und verſchiedene faſt zertruͤmmerte
[403]Die Elfen.
Wirthſchaftsgebaͤude, nur ſelten ſah man Rauch
dort aufſteigen, noch ſeltener wurde man Men-
ſchen gewahr; jezuweilen hatten Neugierige, die
ſich etwas naͤher gewagt, auf der Bank vor der Huͤtte
einige abſcheuliche Weiber in zerlumptem Anzuge
wahrgenommen, auf deren Schooß eben ſo haͤß-
liche und ſchmutzige Kinder ſich waͤlzten; ſchwarze
Hunde liefen vor dem Reviere, in Abendſtunden
ging wohl ein ungeheurer Mann, den Niemand
kannte, uͤber den Steg des Baches und verlor
ſich in die Huͤtte hinein; dann ſah man in der
Finſterniß ſich verſchiedene Geſtalten, wie Schatten
um ein laͤndliches Feuer bewegen. Dieſer Grund,
die Tannen und die verfallene Huͤtte machten wirk-
lich in der heitern gruͤnen Landſchaft, gegen die
weißen Haͤuſer des Dorfes und gegen das praͤchtige
neue Schloß den ſonderbarſten Abſtich.
Die beiden Kinder hatten jetzt die Fruͤchte ver-
zehrt; ſie verfielen darauf, in die Wette zu laufen,
und die kleine behende Marie gewann dem lang-
ſameren Andres immer den Vorſprung ab. So
iſt es keine Kunſt! rief dieſer endlich aus; aber laß
es uns einmal in die Weite verſuchen, dann wol-
len wir ſehen, wer gewinnt! Wie du willſt, ſagte
die Kleine, nur nach dem Strome duͤrfen wir
nicht laufen. Nein, erwiederte Andres, aber dort
auf jenem Huͤgel ſteht der große Birnbaum, eine
Viertelſtunde von hier, ich laufe hier links um
den Tannengrund vorbei, du kannſt rechts in das
Feld hinein rennen, daß wir nicht eher als oben
[404]Erſte Abtheilung.
wieder zuſammen kommen, ſo ſehn wir dann, wer
der beſte iſt.
Gut, ſagte Marie, und fing ſchon an zu
laufen, ſo hindern wir uns auch nicht auf demſel-
ben Wege, und der Vater ſagt ja, es ſei zum
Huͤgel hinauf gleich weit, ob man disſeits, ob man
jenſeits der Zigeunerwohnung geht.
Andres war ſchon vorangeſprungen und Ma-
rie, die ſich rechts wandte, ſah ihn nicht mehr.
Er iſt eigentlich dumm, ſagte ſie zu ſich ſelbſt,
denn ich duͤrfte nur den Muth faſſen, uͤber den
Steg, bei der Huͤtte vorbei, und druͤben wieder
uͤber den Hof hinaus zu laufen, ſo kaͤme ich gewiß
viel fruͤher an. Schon ſtand ſie vor dem Bache
und dem Tannenhuͤgel. Soll ich? Nein, es iſt
doch zu ſchrecklich, ſagte ſie. Ein kleines weißes
Huͤndchen ſtand jenſeit und bellte aus Leibeskraͤf-
ten. Im Erſchrecken kam das Thier ihr wie ein
Ungeheuer vor, und ſie ſprang zuruͤck. O weh!
ſagte ſie, nun iſt der Bengel weit voraus, weil
ich hier ſteh und uͤberlege. Das Huͤndchen bellte
immer fort, und da ſie es genauer betrachtete,
kam es ihr nicht mehr fuͤrchterlich, ſondern im Ge-
gentheil ganz allerliebſt vor: es hatte ein rothes
Halsband um, mit einer glaͤnzenden Schelle, und
ſo wie es den Kopf hob und ſich im Bellen ſchuͤt-
telte, erklang die Schelle aͤußerſt lieblich. Ei! es
will nur gewagt ſeyn! rief die kleine Marie, ich
renne was ich kann, und bin ſchnell, ſchnell jen-
ſeit wieder hinaus, ſie koͤnnen mich doch eben nicht
gleich von der Erde weg auffreſſen! Somit ſprang
[405]Die Elfen.
das muntere muthige Kind auf den Steg, raſch
an den kleinen Hund voruͤber, der ſtill ward und
ſich an ihr ſchmeichelte, und nun ſtand ſie im
Grunde, und rund umher verdeckten die ſchwarzen
Tannen die Ausſicht nach ihrem elterlichen Hauſe
und der uͤbrigen Landſchaft.
Aber wie war ſie verwundert. Der bunteſte,
froͤhlichſte Blumengarten umgab ſie, in welchem
Tulpen, Roſen und Lilien mit den herrlichſten Far-
ben leuchteten, blaue und goldrothe Schmetterlinge
wiegten ſich in den Bluͤten, in Kaͤfigen aus glaͤn-
zendem Drath hingen an den Spalieren vielfar-
bige Voͤgel, die herrliche Lieder ſangen, und Kin-
der in weißen kurzen Roͤckchen, mit gelockten gel-
ben Haaren und hellen Augen, ſprangen umher,
einige ſpielten mit kleinen Laͤmmern, andere fuͤt-
terten die Voͤgel, oder ſie ſammelten Blumen
und ſchenkten ſie einander, andere wieder aßen
Kirſchen, Weintrauben und roͤthliche Aprikoſen.
Keine Huͤtte war zu ſehn, aber wohl ſtand ein
großes ſchoͤnes Haus mit eherner Thuͤr und erha-
benem Bildwerk leuchtend in der Mitte des Rau-
mes. Marie war vor Erſtaunen außer ſich und
wußte ſich nicht zu finden, da ſie aber nicht bloͤde
war, ging ſie gleich zum erſten Kinde, reichte ihm
die Hand und bot ihm guten Tag. Kommſt du
uns auch einmal zu beſuchen? ſagte das glaͤnzende
Kind; ich habe dich draußen rennen und ſpringen
ſehn, aber vor unſerm Huͤndchen haſt du dich ge-
fuͤrchtet. — So ſeid ihr wohl keine Zigeuner und
Spitzbuben, ſagte Marie, wie Andres immer
[406]Erſte Abtheilung.
ſpricht? O freilich iſt der nur dumm, und redet
viel in den Tag hinein. — Bleib nur bei uns,
ſagte die wunderbare Kleine, es ſoll dir ſchon ge-
fallen. — Aber wir laufen ja in die Wette. — Zu
ihm kommſt du noch fruͤh genug zuruͤck. Da nimm,
und iß! — Marie aß, und fand die Fruͤchte ſo
ſuͤß, wie ſie noch keine geſchmeckt hatte, und An-
dres, der Wettlauf, und das Verbot ihrer Eltern
waren gaͤnzlich vergeſſen.
Eine große Frau: in glaͤnzendem Kleide trat her-
zu, und fragte nach dem fremden Kinde. Schoͤnſte
Dame, ſagte Marie, von ohngefaͤhr bin ich her-
ein gelaufen, und da wollen ſie mich hier behalten.
Du weißt, Zerina, ſagte die Schoͤne, daß es ihr
nur kurze Zeit erlaubt iſt, auch haͤtteſt du mich
erſt fragen ſollen. Ich dachte, ſagte das glaͤnzende
Kind, weil ſie doch ſchon uͤber die Bruͤcke gelaſſen
war, koͤnnt ich es thun; auch haben wir ſie ja
oft im Felde laufen ſehn, und du haſt dich ſelber
uͤber ihr muntres Weſen gefreut; wird ſie uns doch
fruͤh genug verlaſſen muͤſſen.
Nein, ich will hier bleiben, ſagte die Fremde,
denn hier iſt es ſchoͤn, auch finde ich hier das beſte
Spielzeug und dazu Erdbeeren und Kirſchen, drau-
ßen iſt es nicht ſo herrlich.
Die goldbekleidete Frau entfernte ſich laͤchelnd,
und viele von den Kindern ſprangen jetzt um die
froͤhliche Marie mit Lachen her, neckten ſie und
ermunterten ſie zu Taͤnzen, andre brachten ihr Laͤm-
mer oder wunderbares Spielgeraͤth, andre machten
auf Inſtrumenten Muſik und ſangen dazu. Am
[407]Die Elfen.
liebſten aber hielt ſie ſich zu der Geſpielin, die ihr
zuerſt entgegen gegangen war, denn ſie war die
freundlichſte und holdſeligſte von allen. Die kleine
Marie rief einmal uͤber das andre: ich will immer
bei euch bleiben und ihr ſollt meine Schweſtern
ſeyn, woruͤber alle Kinder lachten und ſie umarm-
ten. Jetzt wollen wir ein ſchoͤnes Spiel machen,
ſagte Zerina. Sie lief eilig in den Pallaſt und
kam mit einem goldenen Schaͤchtelchen zuruͤck, in
welchem ſich glaͤnzender Saamenſtaub befand. Sie
faßte mit den kleinen Fingern, und ſtreute einige
Koͤrner auf den gruͤnen Boden. Alsbald ſah man
das Gras wie in Wogen rauſchen, und nach we-
nigen Augenblicken ſchlugen glaͤnzende Roſengebuͤ-
ſche aus der Erde, wuchſen ſchnell empor und ent-
falteten ſich ploͤtzlich, indem der ſuͤßeſte Wohlge-
ruch den Raum erfuͤllte. Auch Maria faßte von
dem Staube, und als ſie ihn ausgeſtreut hatte,
tauchten weiße Lilien und die bunteſten Nelken her-
vor. Auf einen Wink Zerinas verſchwanden die
Blumen wieder und andre erſchienen an ihrer Stelle.
Jetzt, ſagte Zerina, mache dich auf etwas Groͤße-
res gefaßt. Sie legte zwei Pinienkoͤrner in den
Boden und ſtampfte ſie heftig mit dem Fuße ein.
Zwei gruͤne Straͤucher ſtanden vor ihnen. Faſſe
dich feſt mit mir, ſagte ſie, und Marie ſchlang die
Arme um den zarten Leib. Da fuͤhlte ſie ſich em-
por gehoben, denn die Baͤume wuchſen unter ihnen
mit der groͤßten Schnelligkeit; die hohen Pinien
bewegten ſich und die beiden Kinder hielten ſich hin
und wieder ſchwebend in den rothen Abendwolken
[408]Erſte Abtheilung.
umarmt und kuͤßten ſich; die andern Kleinen klet-
terten mit behender Geſchicklichkeit an den Staͤm-
men der Baͤume auf und nieder, und ſtießen und
neckten ſich, wenn ſie ſich begegneten, unter lau-
tem Gelaͤchter. Stuͤrzte eins der Kinder im Ge-
draͤnge hinunter, ſo flog es durch die Luft und
ſenkte ſich langſam und ſicher zur Erde hinab.
Endlich fuͤrchtete ſich Marie; die andre Kleine ſang
einige laute Toͤne, und die Baͤume verſenkten ſich
wieder eben ſo allgemach in den Boden, und ſetzten
ſie nieder, als ſie ſich erſt in die Wolken geho-
ben hatten.
Sie gingen durch die erzene Thuͤr des Pal-
laſtes. Da ſaßen viele ſchoͤne Frauen umher, aͤl-
tere und junge, im runden Saal, ſie genoſſen die
lieblichſten Fruͤchte, und eine herrliche unſichtbare
Muſik erklang. In der Woͤlbung der Decke wa-
ren Palmen, Blumen und Laubwerk gemahlt, zwi-
ſchen denen Kinderfiguren in den anmuthigſten Stel-
lungen kletterten und ſchaukelten; nach den Toͤnen
der Muſik verwandelten ſich die Bildniſſe und gluͤh-
ten in den brennendſten Farben, bald war das Gruͤne
und Blaue wie helles Licht funkelnd, dann ſank die
Farbe erblaſſend zuruͤck, der Purpur flammte auf
und das Gold entzuͤndete ſich; dann ſchienen die
nackten Kinder in den Blumengewinden zu leben,
und mit den rubinrothen Lippen den Athem einzu-
ziehn und auszuhauchen, ſo daß man wechſelnd
den Glanz der weißen Zaͤhnchen wahrnahm, ſo wie
das Aufleuchten der himmelblauen Augen.
Aus dem Saale fuͤhrten eherne Stufen in ein
[409]Die Elfen.
großes unterirdiſches Gemach. Hier lag viel Gold
und Silber, und Edelſteine von allen Farben fun-
kelten dazwiſchen. Wunderſame Gefaͤße ſtanden an
den Waͤnden umher, alle ſchienen mit Koſtbarkeiten
angefuͤllt. Das Gold war in mannichfaltigen Ge-
ſtalten gearbeitet und ſchimmerte mit der freund-
lichſten Roͤthe. Viele kleine Zwerge waren beſchaͤf-
tigt, die Stuͤcke auseinander zu ſuchen und ſie
in die Gefaͤße zu legen; andre, hoͤckricht und
krummbeinicht, mit langen rothen Naſen, trugen
ſchwer und vorn uͤber gebuͤckt Saͤcke herein, ſo
wie die Muͤller Getraide, und ſchuͤtteten die Gold-
koͤrner keuchend auf dem Boden aus. Dann ſpran-
gen ſie ungeſchickt rechts und links, und griffen
die rollenden Kugeln, die ſich verlaufen wollten,
und es geſchah nicht ſelten, daß einer den andern
im Eifer umſtieß, ſo daß ſie ſchwer und toͤlpiſch
zur Erde fielen. Sie machten verdruͤßliche Geſich-
ter und ſahen ſcheel, als Marie uͤber ihre Geber-
den und Haͤßlichkeit lachte. Hinten ſaß ein alter
eingeſchrumpfter kleiner Mann, welchen Zerina ehr-
erbietig gruͤßte, und der nur mit ernſtem Kopf-
nicken dankte. Er hielt ein Zepter in der Hand
und trug eine Krone auf dem Haupte, alle uͤbri-
gen Zwerge ſchienen ihn fuͤr ihren Herren anzuer-
kennen und ſeinen Winken zu gehorchen. Was
giebts wieder? fragte er muͤrriſch, als die Kinder
ihm etwas naͤher kamen. Marie ſchwieg furcht-
ſam, aber ihre Geſpielin antwortete, daß ſie nur
gekommen ſeyen, ſich in den Kammern umzuſchauen.
Immer die alten Kindereien! ſagte der Alte; wird
[410]Erſte Abtheilung.
der Muͤßiggang nie aufhoͤren? Darauf wandte er
ſich wieder an ſein Geſchaͤft und ließ die Gold-
ſtuͤcke waͤgen und ausſuchen; andre Zwerge ſchickte
er fort, manchen ſchalt er zornig. Wer iſt der
Herr? fragte Maria; unſer Metallfuͤrſt, ſagte
die Kleine, indem ſie weiter gingen.
Sie ſchienen ſich wieder im Freien zu befin-
den, denn ſie ſtanden an einem großen Teiche,
aber doch ſchien keine Sonne, und ſie ſahen keinen
Himmel uͤber ſich. Ein kleiner Nachen empfing ſie,
und Zerina ruderte ſehr aͤmſig. Die Fahrt ging
ſchnell. Als ſie in die Mitte des Teiches gekom-
men waren, ſah Marie, daß tauſend Roͤhren, Ca-
naͤle und Baͤche ſich aus dem kleinen See nach al-
len Richtungen verbreiteten. Dieſe Waſſer rechts,
ſagte das glaͤnzende Kind, fließen unter euren Gar-
ten hinab, davon bluͤht dort alles ſo friſch; von
hier koͤmmt man in den großen Strom hinunter.
Ploͤtzlich kamen aus allen Canaͤlen und aus dem See
unendlich viele Kinder auftauchend angeſchwommen,
viele trugen Kraͤnze von Schilf und Waſſerlilien,
andre hielten rothe Carallenzacken, und wieder an-
dre blieſen auf krummen Muſcheln; ein verworre-
nes Getoͤſe ſchallte luſtig von den dunkeln Ufern
wieder; zwiſchen den Kleinen bewegten ſich ſchwim-
mend die ſchoͤnſten Frauen, und oft ſprangen viele
Kinder zu der einen oder der andern, und hingen
ihnen mit Kuͤſſen um Hals und Nacken. Alle be-
gruͤßten die Fremde; zwiſchen dieſem Getuͤmmel
hindurch fuhren ſie aus dem See in einen kleinen
Fluß hinein, der immer enger und enger ward.
[411]Die Elfen.
Endlich ſtand der Nachen. Man nahm Abſchied
und Zerina klopfte an den Felſen. Wie eine Thuͤr
that ſich dieſer von einander, und eine ganz rothe
weibliche Geſtalt half ihnen ausſteigen. Geht es
recht luſtig zu? fragte Zerina. Sie ſind eben in
Thaͤtigkeit, antwortete jene, und ſo freudig, wie
man ſie nur ſehn kann, aber die Waͤrme iſt auch
aͤußerſt angenehm.
Sie ſtiegen eine Wendeltreppe hinauf, und
ploͤtzlich ſah ſich Marie in dem glaͤnzendſten Saal,
ſo daß beim Eintreten ihre Augen vom hellen Lichte
geblendet waren. Feuerrothe Tapeten bedeckten mit
Purpurgluth die Waͤnde, und als ſich das Auge
etwas gewoͤhnt hatte, ſah ſie zu ihrem Erſtaunen,
wie im Teppich ſich Figuren tanzend auf und nie-
der in der groͤßten Freude bewegten, die ſo lieblich
gebaut und von ſo ſchoͤnen Verhaͤltniſſen waren,
daß man nichts Anmuthigeres ſehn konnte; ihr
Koͤrper war wie von roͤthlichem Kriſtall, ſo daß
es ſchien, als floͤſſe und ſpielte in ihnen ſichtbar
das bewegte Blut. Sie lachten das fremde Kind
an, und begruͤßten es mit verſchiedenen Beugungen;
aber als Marie naͤher gehen wollte, hielt ſie Ze-
rina ploͤtzlich mit Gewalt zuruͤck, und rief: du ver-
brennſt dich, Mariechen, denn alles iſt Feuer!
Marie fuͤhlte die Hitze. Warum kommen nur,
ſagte ſie, die allerliebſten Creaturen nicht zu uns
heraus, und ſpielen mit uns? Wie du in der Luft
lebſt, ſagte jene, ſo muͤſſen ſie immer im Feuer
bleiben, und wuͤrden hier draußen verſchmachten.
Sieh nur, wie ihnen wohl iſt, wie ſie lachen und
[412]Erſte Abtheilung.
kreiſchen; jene dort unten verbreiten die Feuerfluͤſſe
von allen Seiten unter der Erde hin, davon
wachſen nun die Blumen, die Fruͤchte und der
Wein; die rothen Stroͤme gehn neben den Waſſer-
baͤchen, und ſo ſind die flammigen Weſen immer
thaͤtig und freudig. Aber dir iſt es hier zu heiß,
wir wollen wieder hinaus in den Garten gehn.
Hier hatte ſich die Scene verwandelt. Der
Mondſchein lag auf allen Blumen, die Voͤgel wa-
ren ſtill und die Kinder ſchliefen in mannigfaltigen
Gruppen in den gruͤnen Lauben. Marie und ihre
Freundin fuͤhlten aber keine Muͤdigkeit, ſondern
luſtwandelten in der warmen Sommernacht unter
vielerlei Geſpraͤchen bis zum Morgen.
Als der Tag anbrach, erquickten ſie ſich an
Fruͤchten und Milch, und Marie ſagte: laß uns
doch zur Abwechſelung einmal nach den Tannen
hinaus gehn, wie es dort ausſehen mag. Gern,
ſagte Zerina, ſo kannſt du auch zugleich dorten
unſre Schildwachten beſuchen, die dir gewiß gefal-
len werden, ſie ſtehn oben auf dem Walle zwiſchen
den Baͤumen. Sie gingen durch die Blumengaͤr-
ten, durch anmuthige Haine voller Nachtigallen,
dann ſtiegen ſie uͤber Rebenhuͤgel, und kamen end-
lich, nachdem ſie lange den Windungen eines kla-
ren Baches nachgefolgt waren, zu den Tannen und
der Erhoͤhung, welche das Gebiet begraͤnzte. Wie
kommt es nur, fragte Marie, daß wir hier inner-
halb ſo weit zu gehn haben, da doch draußen der
Umkreis nur ſo klein iſt? Ich weiß nicht, ant-
wortete die Freundin, wie es zugeht, aber es iſt ſo.
[413]Die Elfen.
Sie ſtiegen zu den finſtern Tannen hinauf, und
ein kalter Wind wehte ihnen von draußen entge-
gen; ein Nebel ſchien weit umher auf der Land-
ſchaft zu liegen. Oben ſtanden wunderliche Geſtal-
ten, mit mehligen beſtaͤubten Angeſichtern, den
widerlichen Haͤuptern der weißen Eulen nicht un-
aͤhnlich; ſie waren in faltigen Maͤnteln von zotti-
ger Wolle gekleidet, und hielten Regenſchirme von
ſeltſamen Haͤuten ausgeſpannt uͤber ſich; mit Fle-
dermausfluͤgeln, die abentheuerlich neben dem Rok-
kelor hervor ſtarrten, wehten und faͤchelten ſie un-
ablaͤſſig. Ich moͤchte lachen und mir graut, ſagte
Marie. Dieſe ſind unſre guten fleißigen Waͤchter,
ſagte die kleine Geſpielin, ſie ſtehen hier und we-
hen, damit jeden kalte Angſt und wunderſames
Fuͤrchten befaͤllt, der ſich uns naͤhern will; ſie ſind
aber ſo bedeckt, weil es jetzt draußen regnet und
friert, was ſie nicht vertragen koͤnnen. Hier un-
ten kommt niemals Schnee und Wind, noch kalte
Luft her, hier iſt ein ewiger Sommer und Fruͤh-
ling, doch wenn die da oben nicht oft abgeloͤſt wuͤr-
den, ſo vergingen ſie gar.
Aber wer ſeid ihr denn, fragte Marie, indem
ſie wieder in die Blumenduͤfte hinunter ſtiegen,
oder habt ihr keinen Namen, woran man euch
erkennt?
Wir heißen Elfen, ſagte das freundliche Kind,
man ſpricht auch wohl in der Welt von uns, wie
ich gehoͤrt habe.
Sie hoͤrten auf der Wieſe ein großes Ge-
tuͤmmel. Der ſchoͤne Vogel iſt angekommen! rie-
[414]Erſte Abtheilung.
fen ihnen die Kinder entgegen; alles eilte in den
Saal. Sie ſahen indem ſchon, wie Jung und
Alt ſich uͤber die Schwelle draͤngte, alle jauchzten
und von innen ſcholl eine jubilirende Muſik heraus.
Als ſie hinein getreten waren, ſahen ſie die große
Rundung von den mannigfaltigſten Geſtalten ange-
fuͤllt, und alle ſchauten nach einem großen Vogel
hinauf, der in der Kuppel mit glaͤnzendem Gefie-
der langſam fliegend vielfache Kreiſe beſchrieb. Die
Muſik klang froͤhlicher als ſonſt, die Farben und
Lichter wechſelten ſchneller. Endlich ſchwieg die
Muſik, und der Vogel ſchwang ſich rauſchend auf
eine glaͤnzende Krone, die unter dem hohen Fenſter
ſchwebte, welches von oben die Woͤlbung erleuch-
tete. Sein Gefieder war purpurn und gruͤn, durch
welches ſich die glaͤnzendſten goldenen Streifen zo-
gen, auf ſeinem Haupte bewegte ſich ein Diadem
von ſo hellleuchtenden kleinen Federn, daß ſie wie
Edelgeſteine blitzten. Der Schnabel war roth und
die Beine glaͤnzend blau. Wie er ſich regte, ſchim-
merten alle Farben durcheinander, und das Auge
war entzuͤckt. Seine Groͤße war die eines Adlers.
Aber jetzt eroͤffnete er den leuchtenden Schnabel,
und ſo ſuͤße Melodie quoll aus ſeiner bewegten
Bruſt, in ſchoͤnern Toͤnen, als die der liebesbruͤn-
ſtigen Nachtigall; maͤchtiger zog der Geſang und
goß ſich wie Lichtſtrahlen aus, ſo daß alle, bis
auf die kleinſten Kinder ſelbſt, vor Freuden und
Entzuͤckungen weinen mußten. Als er geendigt
hatte, neigten ſich alle vor ihm, er umflog wieder
in Kreiſen die Woͤlbung, ſchoß dann durch die
[415]Die Elfen.
Thuͤr und ſchwang ſich in den lichten Himmel, wo
er oben bald nur noch wie ein rother Punkt er-
glaͤnzte und ſich den Augen dann ſchnell verlor.
Warum ſeid ihr alle ſo in Freude? fragte
Marie, und neigte ſich zum ſchoͤnen Kinde, das
ihr kleiner als geſtern vorkam. Der Koͤnig kommt!
ſagte die Kleine, den haben viele von uns noch
gar nicht geſehn, und wo er ſich hinwendet iſt
Gluͤck und Froͤhlichkeit; wir haben ſchon lange auf
ihn gehofft, ſehnlicher, als ihr nach langem Win-
ter auf den Fruͤhling wartet, und nun hat er durch
dieſen ſchoͤnen Bothſchafter ſeine Ankunft melden
laſſen. Dieſer herrliche und verſtaͤndige Vogel, der
im Dienſt des Koͤniges geſandt wird, heißt Phoͤ-
nix, er wohnt fern in Arabien auf einem Baum,
der nur einmal in der Welt iſt, ſo wie es auch
keinen zweiten Phoͤnix giebt. Wenn er ſich alt
fuͤhlt, traͤgt er aus Balſam und Weihrauch ein
Neſt zuſammen, zuͤndet es an und verbrennt ſich
ſelbſt, ſo ſtirbt er ſingend, und aus der duftenden
Aſche ſchwingt ſich dann der verjuͤngte Phoͤnix mit
neuer Schoͤnheit wieder auf. Selten nur nimmt
er ſeinen Flug ſo, daß ihn die Menſchen ſehn,
und geſchieht es einmal in Jahrhunderten, ſo zeich-
nen ſie es in ihre Denkbuͤcher auf, und erwar-
ten wundervolle Begebenheiten. Aber nun, meine
Freundin, wirſt du auch ſcheiden muͤſſen, denn der
Anblick des Koͤniges iſt dir nicht vergoͤnnt.
Da wandelte die goldbekleidete ſchoͤne Frau
durch das Gedraͤnge, winkte Marien zu ſich und
ging mit ihr unter einen einſamen Laubengang;
[416]Erſte Abtheilung.
du mußt uns verlaſſen, mein geliebtes Kind, ſagte
ſie; der Koͤnig will auf zwanzig Jahr, und viel-
leicht auf laͤnger, ſein Hoflager hier halten, nun
wird ſich Fruchtbarkeit und Seegen weit in die
Landſchaft verbreiten, am meiſten hier in der Naͤhe;
alle Brunnen und Baͤche werden ergiebiger, alle
Aecker und Gaͤrten reicher, der Wein edler, die
Wieſe fetter und der Wald friſcher und gruͤner;
mildere Luft weht, kein Hagel ſchadet, keine Ue-
berſchwemmung droht. Nimm dieſen Ring und
gedenke unſer, doch huͤte dich, irgend wem von uns
zu erzaͤhlen, ſonſt muͤſſen wir dieſe Gegend fliehen,
und alle umher ſo wie du ſelbſt entbehren dann
das Gluͤck und die Seegnung unſrer Naͤhe: noch
einmal kuͤſſe deine Geſpielin und lebe wohl. Sie
traten heraus, Zerina weinte, Marie buͤckte ſich,
ſie zu umarmen, ſie trennten ſich. Schon ſtand
ſie auf der ſchmalen Bruͤcke, die kalte Luft wehte
hinter ihr aus den Tannen, das Huͤndchen bellte
auf das herzhafteſte und ließ ſein Gloͤckchen ertoͤ-
nen; ſie ſah zuruͤck und eilte in das Freie, weil
die Dunkelheit der Tannen, die Schwaͤrze der ver-
fallenen Huͤtten, die daͤmmernden Schatten ſie mit
aͤngſtlicher Furcht befielen.
Wie werden ſich meine Eltern meinethalb in
dieſer Nacht geaͤngſtigt haben! ſagte ſie zu ſich
ſelbſt, als ſie auf dem Felde ſtand, und ich darf
ihnen doch nicht erzaͤhlen, wo ich geweſen bin und
was ich geſehn habe, auch wuͤrden ſie mir nimmer-
mehr glauben. Zwei Maͤnner gingen an ihr vor-
uͤber, die ſie gruͤßten, und ſie hoͤrte hinter ſich ſagen:
das
[417]Die Elfen.
das iſt ein ſchoͤnes Maͤdchen! Wo mag ſie nur her
ſeyn? Mit eiligeren Schritten naͤherte ſie ſich dem
elterlichen Hauſe, aber die Baͤume, die geſtern
voller Fruͤchte hingen, ſtanden heute duͤrr und
ohne Laub, das Haus war anders angeſtrichen, und
eine neue Scheune daneben erbaut. Marie war
in Verwunderung, und dachte, ſie ſey im Traum:
in dieſer Verwirrung oͤffnete ſie die Thuͤr des Hau-
ſes, und hinter dem Tiſche ſaß ihr Vater zwiſchen
einer unbekannten Frau und einem fremden Juͤng-
ling. Mein Gott, Vater! rief ſie aus, wo iſt
denn die Mutter? — die Mutter? ſprach die Frau
ahndend, und ſtuͤrzte hervor; ei, du biſt doch wohl
nicht, — ja freilich, freilich biſt du die verlorene,
die todt geglaubte, die liebe einzige Marie! Sie
hatte ſie gleich an einem kleinen braunen Mahle
unter dem Kinn, an den Augen und der Geſtalt
erkannt. Alle umarmten ſie, alle waren freudig
bewegt, und die Eltern vergoſſen Thraͤnen. Ma-
rie verwunderte ſich, daß ſie faſt zum Vater hin-
auf reichte, ſie begriff nicht, wie die Mutter ſo
veraͤndert und geaͤltert ſeyn konnte, ſie fragte nach
dem Namen des jungen Menſchen. Es iſt ja un-
ſers Nachbars Andres, ſagte Martin, wie kommſt
du nur nach ſieben langen Jahren ſo unvermuther
wieder? Wo biſt du geweſen? Warum haſt du
denn gar nichts von dir hoͤren laſſen? — Sieben
Jahr? ſagte Marie, und konnte ſich in ihren Vor-
ſtellungen und Erinnerungen nicht wieder zurecht
finden; ſieben ganzer Jahre? Ja, ja, ſagte An-
dres lachend, und ſchuͤttelte ihr treuherzig die Hand;
I. [ 27 ]
[418]Erſte Abtheilung.
ich habe gewonnen, Mariechen, ich bin ſchon vor
ſieben Jahren an dem Birnbaum und wieder hie-
her zuruͤck geweſen, und du Langſame, kommſt
nun heut erſt an!
Man fragte von neuem, man drang in ſie,
doch ſie, des Verbotes eingedenk, konnte keine
Antwort geben. Man legte ihr faſt die Erzaͤhlung
in den Mund, daß ſie ſich verirrt habe, auf einen
vorbeifahrenden Wagen genommen, und an einen
fremden fernen Ort gebracht ſey, wo ſie den Leu-
ten den Wohnſitz ihrer Eltern nicht habe bezeich-
nen koͤnnen; wie man ſie nachher nach einer weit
entlegenen Stadt gebracht habe, wo gute Men-
ſchen ſie erzogen und geliebt; wie dieſe nun geſtor-
ben, und ſie ſich endlich wieder auf ihre Geburts-
gegend beſonnen, eine Gelegenheit zur Reiſe er-
griffen habe und ſo zuruͤck gekehrt ſey. Laßt alles
gut ſeyn, rief die Mutter; genug, daß wir dich
nur wieder haben, mein Toͤchterchen, du meine
Einzige, mein Alles!
Andres blieb zum Abendbrod, und Marie konnte
ſich noch in nichts finden. Das Haus duͤnkte ihr
klein und finſter, ſie verwunderte ſich uͤber ihre
Tracht, die reinlich und einfach, aber ganz fremd
erſchien; ſie betrachtete den Ring am Finger, deſ-
ſen Gold wunderſam glaͤnzte und einen roth bren-
nenden Stein kuͤnſtlich einfaßte. Auf die Frage
des Vaters antwortete ſie, daß der Ring ebenfalls
ein Geſchenk ihrer Wohlthaͤter ſey.
Sie freute ſich auf die Schlafenszeit, und eilte
zur Ruhe. Am andern Morgen fuͤhlte ſie ſich be-
[419]Die Elfen.
ſonnener, ſie hatte ihre Vorſtellungen mehr geord-
net, und konnte den Leuten aus dem Dorfe, die
alle ſie zu begruͤßen kamen, beſſer Red und Ant-
wort geben. Andres war ſchon mit dem Fruͤhe-
ſten wieder da, und zeigte ſich aͤußerſt geſchaͤftig,
erfreut und dienſtfertig. Das funfzehnjaͤhrige auf-
gebluͤhte Maͤdchen hatte ihm einen tiefen Eindruck
gemacht, und die Nacht war ihm ohne Schlaf
vergangen. Die Herrſchaft ließ Marien auf das
Schloß fordern, ſie mußte hier wieder ihre Ge-
ſchichte erzaͤhlen, die ihr nun ſchon gelaͤufig gewor-
den war; der alte Herr und die gnaͤdige Frau be-
wunderten ihre gute Erziehung, denn ſie war be-
ſcheiden, ohne verlegen zu ſeyn, ſie antwortete
hoͤflich und in guten Redensarten auf alle vorge-
legten Fragen; die Furcht vor den vornehmen Men-
ſchen und ihrer Umgebung hatte ſich bei ihr verlo-
ren, denn wenn ſie dieſe Saͤle und Geſtalten mit
den Wundern und der hohen Schoͤnheit maß, die
ſie bei den Elfen im heimlichen Aufenthalt geſe-
hen hatte, ſo erſchien ihr dieſer irdiſche Glanz
nur dunkel, die Gegenwart der Menſchen faſt ge-
ringe. Die jungen Herren waren vorzuͤglich uͤber
ihre Schoͤnheit entzuͤckt.
Es war im Februar. Die Baͤume belaubten
ſich fruͤher als je, ſo zeitig hatte ſich die Nachtigall
noch niemals eingeſtellt, der Fruͤhling kam ſchoͤner
in das Land, als ihn ſich die aͤlteſten Greiſe erin-
nern konnten. Aller Orten thaten ſich Baͤchlein
hervor und traͤnkten die Wieſen und Auen; die
Huͤgel ſchienen zu wachſen, die Rebengelaͤnder er-
[420]Erſte Abtheilung.
huben ſich hoͤher, die Obſtbaͤume bluͤhten wie nie-
mals, und ein ſchwellender duftender Seegen hing
ſchwer in Bluͤthenwolken uͤber der Landſchaft. Al-
les gedieh uͤber Erwarten, kein rauher Tag, kein
Sturm beſchaͤdigte die Frucht; der Wein quoll er-
roͤthend in ungeheuern Trauben, und die Einwoh-
ner des Ortes ſtaunten ſich an, und waren wie
in einem ſuͤßen Traum befangen. Das folgende
Jahr war eben ſo, aber man war ſchon an das
Wunderſame mehr gewoͤhnt. Im Herbſt gab Ma-
rie den dringenden Bitten des Andres und ihrer
Eltern nach: ſie ward ſeine Braut und im Winter
mit ihm verheirathet.
Oft dachte ſie mit inniger Sehnſucht an ihren
Aufenthalt hinter den Tannenbaͤumen zuruͤck; ſie
blieb ſtill und ernſt. So ſchoͤn auch alles war, was
ſie umgab, ſo kannte ſie doch etwas noch Schoͤne-
res, wodurch eine leiſe Trauer ihr Weſen zu einer
ſanften Schwermuth ſtimmte. Schmerzhaft traf
es ſie, wenn der Vater oder ihr Mann von den
Zigeunern und Schelmen ſprachen, die im finſtern
Grunde wohnten; oft wollte ſie ſie vertheidigen,
die ſie als die Wohlthaͤter der Gegend kannte, vor-
zuͤglich gegen Andres, der eine Luſt im eifrigen
Schelten zu finden ſchien, aber ſie zwang das
Wort jedesmal in ihre Bruſt zuruͤck. So ver-
lebte ſie das Jahr, und im folgenden ward ſie
durch eine junge Tochter erfreut, welche ſie El-
friede nannte, indem ſie dabei an den Namen der
Elfen dachte.
Die jungen Leute wohnten mit Martin und
[421]Die Elfen.
Brigitte in demſelben Hauſe, welches geraͤumig
genug war, und halfen den Eltern die ausgebrei-
tete Wirthſchaft fuͤhren. Die kleine Elfriede zeigte
bald beſondere Faͤhigkeiten und Anlagen, denn ſie
lief ſehr fruͤh, und konnte alles ſprechen, als ſie
noch kein Jahr alt war; nach einigen Jahren aber
war ſie ſo klug und ſinnig, und von ſo wunder-
barer Schoͤnheit, daß alle Menſchen ſie mit Er-
ſtaunen betrachteten, und ihre Mutter ſich nicht
der Meinung erwehren konnte, ſie ſehe jenen glaͤn-
zenden Kindern im Tannengrunde aͤhnlich. Elfriede
hielt ſich nicht gern zu andern Kindern, ſondern
vermied bis zur Aengſtlichkeit ihre geraͤuſchvollen
Spiele, und war am liebſten allein. Dann zog ſie
ſich in eine Ecke des Gartens zuruͤck, und las oder
arbeitete eifrig am kleinen Naͤhzeuge; oft ſah man
ſie auch wie tief in ſich verſunken ſitzen, oder daß
ſie in den Gaͤngen heftig auf und nieder ging und
mit ſich ſelber ſprach. Die beiden Eltern ließen
ſie gern gewaͤhren, weil ſie geſund war und ge-
dieh, nur machten ſie die ſeltſamen verſtaͤndigen
Antworten oder Bemerkungen oft beſorgt. So
kluge Kinder, ſagte die Großmutter Brigitte viel-
mals, werden nicht alt, ſie ſind zu gut fuͤr dieſe
Welt, auch iſt das Kind uͤber die Natur ſchoͤn, und
wird ſich auf Erden nicht zurecht finden koͤnnen.
Die Kleine hatte die Eigenheit, daß ſie ſich
hoͤchſt ungern bedienen ließ, alles wollte ſie ſelber
machen. Sie war faſt die fruͤheſte auf im Hauſe,
und wuſch ſich ſorgfaͤltig und kleidete ſich ſelber
an; eben ſo ſorgſam war ſie am Abend, ſie ach-
[422]Erſte Abtheilung.
tete ſehr darauf, Kleider und Waͤſche ſelbſt einzu-
packen, und durchaus Niemand, auch die Mutter
nicht, uͤber ihre Sachen kommen zu laſſen. Die
Mutter ſah ihr in dieſem Eigenſinne nach, weil
ſie ſich nichts weiter dabei dachte, aber wie er-
ſtaunte ſie, als ſie ſie an einem Feiertage, zu ei-
nem Beſuch auf dem Schloſſe, mit Gewalt um-
kleidete, ſo ſehr ſich auch die Kleine mit Geſchrei
und Thraͤnen dagegen wehrte, und auf ihrer Bruſt
an einen Faden haͤngend, ein Goldſtuͤck von ſelt-
ſamer Form antraf, welches ſie ſogleich fuͤr eines
von jenen erkannte, deren ſie ſo viele in dem un-
terirdiſchen Gewoͤlbe geſehn hatte. Die Kleine war
ſehr erſchrocken, und geſtand endlich, ſie habe es
im Garten gefunden, und da es ihr ſehr wohlge-
fallen, habe ſie es ſo aͤmſig aufbewahrt; ſie bat
auch ſo dringend und herzlich, es ihr zu laſſen,
daß Marie es wieder auf derſelben Stelle befeſtigte
und voller Gedanken mit ihr ſtillſchweigend zum
Schloſſe hinauf ging.
Seitwaͤrts vom Hauſe der Pachterfamilie la-
gen einige Wirthſchaftsgebaͤude zur Aufbewahrung
der Fruͤchte und des Feldgeraͤthes, und hinter die-
ſen befand ſich ein Grasplatz mit einer alten Laube
die aber kein Menſch jetzt beſuchte, weil ſie nach
der neuen Einrichtung der Gebaͤude zu entfernt
vom Garten war. In dieſer Einſamkeit hielt ſich
Elfriede am liebſten auf, und es fiel Niemanden
ein, ſie hier zu ſtoͤren, ſo daß die Eltern oft in
halben Tagen ihrer nicht anſichtig wurden. An
einem Nachmittage befand ſich die Mutter in den
[423]Die Elfen.
Gebaͤuden, um aufzuraͤumen und eine verlorene
Sache wieder zu finden, als ſie wahrnahm, daß
durch eine Ritze der Mauer ein Lichtſtrahl in das
Gemach falle. Es kam ihr der Gedanke, hindurch
zu ſehn, um ihr Kind zu beobachten, und es fand
ſich, daß ein locker gewordener Stein ſich von der
Seite ſchieben ließ, wodurch ſie den Blick gerade
hinein in die Laube gewann. Elfriede ſaß drinnen
auf einem Baͤnkchen, und neben ihr die wohlbe-
kannte Zerina, und beide Kinder ſpielten und er-
goͤtzten ſich in holdſeliger Eintracht. Die Elfe um-
armte das ſchoͤne Kind und ſagte traurig: Ach,
du liebes Weſen, ſo wie mit dir habe ich ſchon
mit deiner Mutter geſpielt, als ſie klein war und
uns beſuchte, aber ihr Menſchen wachſt zu bald
auf und werdet ſo ſchnell groß und vernuͤnftig;
das iſt recht betruͤbt: bliebeſt du doch ſo lange ein
Kind, wie ich!
Gern thaͤt ich dir den Gefallen, ſagte Elfriede,
aber ſie meinen ja alle, ich wuͤrde bald zu Ver-
ſtande kommen, und gar nicht mehr ſpielen, denn
ich haͤtte rechte Anlagen, altklug zu werden. Ach!
und dann ſeh ich dich auch nicht wieder, du liebes
Zerinchen! Ja, es geht wie mit den Baumbluͤ-
ten: wie herrlich der bluͤhende Apfelbaum mit
ſeinen roͤthlichen aufgequollenen Knospen! der Baum
thut ſo groß und breit, und jedermann, der drun-
ter weg geht, meint auch, es muͤſſe recht was
Beſonderes werden; dann kommt die Sonne, die
Bluͤte geht ſo leutſelig auf, und da ſteckt ſchon
der boͤſe Kern drunter, der nachher den bunten
[424]Erſte Abtheilung.
Putz verdraͤngt und hinunter wirft; nun kann er
ſich geaͤngſtigt und aufwachſend nicht mehr helfen,
er muß im Herbſt zur Frucht werden. Wohl iſt
ein Apfel auch lieb und erfreulich, aber doch nichts
gegen die Fruͤhlingsbluͤte: ſo geht es mit uns
Menſchen auch; ich kann mich nicht darauf freuen,
ein großes Maͤdchen zu werden. Ach, koͤnnt' ich
euch doch nur einmal beſuchen!
Seit der Koͤnig bei uns wohnt, ſagte Zerina,
iſt es ganz unmoͤglich, aber ich komme ja ſo oft
zu dir, Liebchen, und keiner ſieht mich, keiner weiß
es, weder hier noch dort; ungeſehn geh ich durch
die Luft, oder fliege als Vogel heruͤber; o wir wol-
len noch recht viel beiſammen ſeyn, ſo lange du klein
biſt. Was kann ich dir nur zu Gefallen thun?
Recht lieb ſollſt du mich haben, ſagte Elfriede,
ſo lieb, wie ich dich in meinem Herzen trage; doch
laß uns auch einmal wieder eine Roſe machen.
Zerina nahm das bekannte Schaͤchtelchen aus
dem Buſen, warf zwei Koͤrner hin, und ploͤtzlich
ſtand ein gruͤnender Buſch mit zweien hochrothen
Roſen vor ihnen, welche ſich zu einander neigten,
und ſich zu kuͤſſen ſchienen. Die Kinder brachen
die Roſen laͤchelnd ab, und das Gebuͤſch war wie-
der verſchwunden. O muͤßte es nur nicht wieder
ſo ſchnell ſterben, ſagte Elfriede, das rothe Kind,
das Wunder der Erde. Gieb! ſagte die kleine Elfe,
hauchte dreimal die aufknospende Roſe an, und kuͤßte
ſie dreimal; nun, ſprach ſie, indem ſie die Blume
zuruͤck gab, bleibt ſie friſch und bluͤhend bis zum
Winter. Ich will ſie wie ein Bild von dir auf-
[425]Die Elfen.
heben, ſagte Elfriede, ſie in meinem Kaͤmmerchen
wohl bewahren, und ſie Morgens und Abends
kuͤſſen, als wenn du es waͤrſt. Die Sonne geht
ſchon unter, ſagte jene, ich muß jetzt nach Hauſe.
Sie umarmten ſich noch einmal, dann war Ze-
rina verſchwunden.
Am Abend nahm Marie ihr Kind mit einem
Gefuͤhl von Beaͤngſtigung und Ehrfurcht in die
Arme; ſie ließ dem holden Maͤdchen nun noch
mehr Freiheit als ſonſt, und beruhigte oft ihren
Gatten, wenn er, um das Kind aufzuſuchen, kam,
was er ſeit einiger Zeit wohl that, weil ihm ihre
Zuruͤckgezogenheit nicht gefiel, und er fuͤrchtete,
ſie koͤnne daruͤber einfaͤltig, oder gar unklug wer-
den. Die Mutter ſchlich oͤfter nach der Spalte
der Mauer, und faſt immer fand ſie die kleine glaͤn-
zende Elfe neben ihrem Kinde ſitzen, mit Spielen
beſchaͤftigt, oder in ernſthaften Geſpraͤchen. Moͤch-
teſt du fliegen koͤnnen? fragte Zerina einmal ihre
Freundin. Wie gerne! rief Elfriede aus. Sogleich
umfaßte die Fee die Sterbliche, und ſchwebte mit
ihr vom Boden empor, ſo daß ſie zur Hoͤhe der
Laube ſtiegen. Die beſorgte Mutter vergaß ihre
Vorſicht, und lehnte ſich erſchreckend mit dem Kopfe
hinaus, um ihnen nachzuſehn, da erhob aus der
Luft Zerina den Finger und drohte laͤchelnd, ließ
ſich mit dem Kinde wieder nieder, herzte ſie, und
war verſchwunden. Es geſchah nachher noch oͤfter,
daß Marie von dem wunderbaren Kinde geſehen
wurde, welches jedesmal mit dem Kopfe ſchuͤttelte
oder drohte, aber mit freundlicher Geberde.
[426]Erſte Abtheilung.
Oftmals ſchon hatte bei vorgefallenem Streite
Marie im Eifer zu ihrem Manne geſagt: du thuſt
den armen Leuten in der Huͤtte Unrecht! Wenn
Andres dann in ſie drang, ihm zu erklaͤren, wa-
rum ſie der Meinung aller Leute im Dorfe, ja der
Herrſchaft ſelber entgegen ſey und es beſſer wiſſen
wolle, brach ſie ab, und ſchwieg verlegen. Heftiger
als je ward Andres eines Tages nach Tiſche und
behauptete, das Geſindel muͤſſe als landesverderb-
lich durchaus fortgeſchafft werden; da rief ſie im
Unwillen aus: ſchweig, denn ſie ſind deine und
unſer aller Wohlthaͤter! Wohlthaͤter? fragte An-
dres erſtaunt; die Landſtreicher? In ihrem Zorne
ließ ſie ſich verleiten, ihm unter dem Verſprechen
der tiefſten Verſchwiegenheit die Geſchichte ihrer
Jugend zu erzaͤhlen, und da er bei jedem ihrer
Worte unglaͤubiger wurde und verhoͤhnend den Kopf
ſchuͤttelte, nahm ſie ihn bei der Hand und fuͤhrte
ihn in das Gemach, von wo er zu ſeinem Erſtau-
nen die leuchtende Elfe mit ſeinem Kinde in der
Laube ſpielen, und es liebkoſen ſah. Er wußte
kein Wort zu ſagen; ein Ausruf der Verwunde-
rung entfuhr ihm, und Zerina erhob den Blick.
Sie wurde ploͤtzlich bleich und zitterte heftig, nicht
freundlich, ſondern mit zorniger Miene machte ſie
die drohende Geberde, und ſagte dann zu Elfrieden:
du kannſt nichts dafuͤr, geliebtes Herz, aber ſie
werden niemals klug, ſo verſtaͤndig ſie ſich auch
duͤnken. Sie umarmte die Kleine mit ſtuͤrmender
Eil, und flog dann als Rabe mit heiſerem Geſchrei
uͤber den Garten hinweg, den Tannenbaͤumen zu.
[427]Die Elfen.
Am Abend war die Kleine ſehr ſtill und kuͤßte
weinend die Roſe, Marien war aͤngſtlich zu Sinne,
Andres ſprach wenig. Es wurde Nacht. Ploͤtzlich
rauſchten die Baͤume, Voͤgel flogen mit aͤngſtli-
chem Geſchrei umher, man hoͤrte den Donner rol-
len, die Erde zitterte und Klagetoͤne winſelten in
der Luft. Marie und Andres hatten nicht den
Muth aufzuſtehn; ſie huͤllten ſich in die Decken
und erwarteten mit Furcht und Zittern den Tag.
Gegen Morgen ward es ruhiger, und alles war
ſtill, als die Sonne mit ihrem heitern Lichte uͤber
den Wald hervor drang.
Andres kleidete ſich an, und Marie bemerkte,
daß der Stein des Ringes an ihrem Finger ver-
blaßt war. Als ſie die Thuͤr oͤffneten, ſchien ihnen
die Sonne klar entgegen, aber die Landſchaft um-
her kannten ſie kaum wieder. Die Friſche des Wal-
des war verſchwunden, die Huͤgel hatten ſich ge-
ſenkt, die Baͤche floſſen matt mit wenigem Waſſer,
der Himmel ſchien grau, und als man den Blick
nach den Tannen hinuͤber wandte, ſtanden ſie nicht
finſtrer oder trauriger da, als die uͤbrigen Baͤume;
die Huͤtten hinter ihnen hatten nichts Abſchrecken-
des, und mehrere Einwohner des Dorfes kamen
und erzaͤhlten von der ſeltſamen Nacht, und daß
ſie uͤber den Hof gegangen ſeyen, wo die Zigeuner
gewohnt, die wohl fortgegangen ſeyn muͤßten, weil
die Huͤtten leer ſtaͤnden, und im Innern ganz ge-
woͤhnlich wie die Wohnungen andrer armen Leute
ausſaͤhen; einiges vom Hausrath waͤre zuruͤck ge-
blieben. Elfriede ſagte zu ihrer Mutter heimlich:
[428]Erſte Abtheilung.
als ich in der Nacht nicht ſchlafen konnte, und in
der Angſt bei dem Getuͤmmel von Herzen betete,
da oͤffnete ſich ploͤtzlich meine Thuͤr, und herein
trat meine Geſpielin, um Abſchied von mir zu
nehmen. Sie hatte eine Reiſetaſche um, einen
Hut auf ihren Kopf, und einen großen Wander-
ſtab in der Hand. Sie war ſehr boͤſe auf dich,
weil ſie deinetwegen nun die groͤßten und ſchmerz-
hafteſten Strafen aushalten muͤſſe, da ſie dich doch
immer ſo geliebt habe; denn alle, ſo wie ſie ſagte,
verließen nur ſehr ungern dieſe Gegend.
Marie verbot ihr, davon zu ſprechen, und
indem kam auch der Faͤhrmann vom Strome her-
uͤber, welcher Wunderdinge erzaͤhlte. Mit einbre-
chender Nacht war ein großer fremder Mann zu
ihm gekommen, welcher ihm bis zu Sonnen - Auf-
gang die Faͤhre abgemiethet habe, doch mit dem
Bedingniß, daß er ſich ſtill zu Hauſe halten und
ſchlafen, wenigſtens nicht aus der Thuͤr treten
ſolle. Ich fuͤrchtete mich, fuhr der Alte fort, aber
der ſeltſame Handel ließ mich nicht ſchlafen. Sacht
ſchlich ich mich ans Fenſter und ſchaute nach dem
Strome. Große Wolken trieben unruhig durch den
Himmel und die fernen Waͤlder rauſchten bange;
es war als wenn meine Huͤtte bebte und Klagen
und Winſeln um das Haus ſchlich. Da ſah ich
ploͤtzlich ein weißſtroͤmendes Licht, das breiter und
immer breiter wurde, wie viele tauſend nieder ge-
fallene Sterne, funkelnd und wogend bewegte es
ſich von dem finſtern Tannengrunde her, zog uͤber
das Feld, und verbreitete ſich nach dem Fluſſe hin.
[429]Die Elfen.
Da hoͤrte ich ein Trappeln, ein Klirren, ein Fluͤ-
ſtern und Saͤuſeln naͤher und naͤher; es ging nach
meiner Faͤhre hin, hinein ſtiegen alle, große und
kleine leuchtende Geſtalten, Maͤnner und Frauen,
wie es ſchien, und Kinder, und der große fremde
Mann fuhr ſie alle hinuͤber; im Strome ſchwam-
men neben dem Fahrzeuge viel tauſend helle Ge-
bilde, in der Luft flatterten Lichter und weiße Ne-
bel, und alles klagte und jammerte, daß ſie ſo
weit, weit reiſen muͤßten, aus der geliebten ange-
woͤhnten Gegend fort. Der Ruderſchlag und das
Waſſer rauſchten dazwiſchen, und dann war wie-
der ploͤtzlich eine Stille. Oft ſtieß die Faͤhre an,
und kam zuruͤck und ward von neuem beladen, auch
viele ſchwere Gefaͤße nahmen ſie mit, die graͤßliche
kleine Geſellen trugen und rollten; waren es Teu-
fel, waren es Kobolde, ich weiß es nicht. Dann
kam im wogenden Glanz ein ſtattlicher Zug. Ein
Greis ſchien es, auf einem weißen kleinen Roſſe,
um den ſich alles draͤngte, ich ſah aber nur den
Kopf des Pferdes, denn es war uͤber und uͤber
mit koſtbaren glaͤnzenden Decken verhangen; auf
dem Haupt trug der Alte eine Krone, ſo daß ich
dachte, als er hinuͤber gefahren, die Sonne wolle
von dorten aufgehn, und das Morgenroth funkle
mir entgegen. So waͤhrte es die ganze Nacht;
ich ſchlief endlich in dem Gewirre ein, zum Theil
in Freude, zum Theil in Schauder. Am Morgen
war alles ruhig, aber der Fluß iſt wie weg ge-
laufen, ſo daß ich Noth haben werde mein Fahr-
zeug zu regieren.
[430]Erſte Abtheilung.
Noch in demſelben Jahre war ein Mißwachs,
die Waͤlder ſtarben ab, die Quellen vertrockneten,
und dieſelbe Gegend, die ſonſt die Freude jedes
Durchreiſenden geweſen war, ſtand im Herbſt ver-
oͤdet, nackt und kahl, und zeigte kaum hie und da
noch im Meere von Sand ein Plaͤtzchen, wo Gras
mit fahlem Gruͤn empor wuchs. Die Obſtbaͤume
gingen alle aus, die Weinberge verdarben, und
der Anblick der Landſchaft war ſo traurig, daß
der Graf im folgenden Jahre mit ſeiner Familie
das Schloß verließ, welches nachher verfiel und
zur Ruine wurde.
Elfriede betrachtete Tag und Nacht mit der
groͤßten Sehnſucht ihre Roſe und gedachte ihrer
Geſpielin, und ſo wie die Blume ſich neigte und
welkte, ſo ſenkte ſie auch das Koͤpfchen, und war
ſchon vor dem Fruͤhlinge verſchmachtet. Marie
ſtand oft auf dem Platze vor der Huͤtte und be-
weinte das entſchwundene Gluͤck. Sie verzehrte
ſich, wie ihr Kind, und folgte ihm in einigen Jah-
ren. Der alte Martin zog mit ſeinem Schwieger-
ſohne nach der Gegend, in der er ſonſt gelebt hatte.
Die Damen waren mit dieſer Erzaͤhlung zu-
frieden. Wilibald war noch uͤbrig, um ſein
Maͤhrchen vorzutragen, und er fing ſogleich ohne
Einleitung an.
[431]Der Pokal.
Der Pokal.
Vom großen Dom erſcholl das vormittaͤgige Ge-
laͤute. Ueber den weiten Platz wandelten in ver-
ſchiedenen Richtungen Maͤnner und Weiber, Wa-
gen fuhren voruͤber und Prieſter gingen nach ihren
Kirchen. Ferdinand ſtand auf der breiten Treppe,
den Wandelnden nachſehend und diejenigen betrach-
tend, welche herauf ſtiegen, um dem Hochamte
beizuwohnen. Der Sonnenſchein glaͤnzte auf den
weißen Steinen, alles ſuchte den Schatten gegen
die Hitze; nur er ſtand ſchon ſeit lange ſinnend an
einen Pfeiler gelehnt, in den brennenden Stralen,
ohne ſie zu fuͤhlen, denn er verlor ſich in den
Erinnerungen, die in ſeinem Gedaͤchtniſſe aufſtie-
gen. Er dachte ſeinem Leben nach, und begeiſterte
ſich an dem Gefuͤhl, welches ſein Leben durchdrun-
gen und alle andern Wuͤnſche in ihm ausgeloͤſcht
hatte. In derſelben Stunde ſtand er hier im vo-
rigen Jahre, um Frauen und Maͤdchen zur Meſſe
kommen zu ſehn; mit gleichguͤltigem Herzen und
laͤchelndem Auge hatte er die mannichfaltigen Ge-
ſtalten betrachtet, mancher holde Blick war ihm
ſchalkhaft begegnet und manche jungfraͤuliche Wange
war erroͤthet; ſein ſpaͤhendes Auge ſah den nied-
lichen Fuͤßchen nach, wie ſie die Stufen herauf
ſchritten und wie ſich das ſchwebende Gewand mehr
oder weniger verſchob, um die feinen Knoͤchel zu
[432]Erſte Abtheilung.
enthuͤllen. Da kam uͤber den Markt eine jugend-
liche Geſtalt, in Schwarz, ſchlank und edel, die
Augen ſittſam vor ſich hin geheftet, unbefangen
ſchwebte ſie die Erhoͤhung hinauf mit lieblicher An-
muth, das ſeidene Gewand legte ſich um den ſchoͤn-
ſten Koͤrper und wiegte ſich wie in Muſik um die
bewegten Glieder; jetzt wollte ſie den letzten Schritt
thun, und von ohngefaͤhr erhob ſie das Auge und
traf mit dem blaueſten Strale in ſeinen Blick. Er
ward wie von einem Blitz durchdrungen. Sie ſtrau-
chelte, und ſo ſchnell er auch hinzu ſprang, konnte
er doch nicht verhindern, daß ſie nicht kurze Zeit
in der reizendſten Stellung knieend vor ſeinen Fuͤ-
ßen lag. Er hob ſie auf, ſie ſah ihn nicht an,
ſondern war ganz Roͤthe, antwortete auch nicht
auf ſeine Frage, ob ſie ſich beſchaͤdiget habe. Er
folgte ihr in die Kirche und ſah nur das Bildniß,
wie ſie vor ihm gekniet, und der ſchoͤnſte Buſen
ihm entgegen gewogt. Am folgenden Tage beſuchte
er die Schwelle des Tempels wieder; die Staͤtte
war ihm geweiht. Er hatte abreiſen wollen, ſeine
Freunde erwarteten ihn ungeduldig in ſeiner Hei-
math; aber von nun an war hier ſein Vaterland,
ſein Herz war umgewendet. Er ſah ſie oͤfter, ſie
vermied ihn nicht, doch waren es nur einzelne und
geſtohlene Augenblicke; denn ihre reiche Familie
bewachte ſie genau, noch mehr ein angeſehener ei-
ferſuͤchtiger Braͤutigam. Sie geſtanden ſich ihre
Liebe, wußten aber keinen Rath in ihrer Lage;
denn er war fremd, und konnte ſeiner Geliebten
kein ſo großes Gluͤck anbieten, als ſie zu erwarten
berech-
[433]Der Pokal.
berechtigt war. Da fuͤhlte er ſeine Armuth, doch
wenn er an ſeine vorige Lebensweiſe dachte, duͤnkte
er ſich uͤberſchwaͤnglich reich, denn ſein Daſeyn
war geheiligt, ſein Herz ſchwebte immerdar in der
ſchoͤnſten Ruͤhrung; jetzt war ihm die Natur be-
freundet und ihre Schoͤnheit ſeinen Sinnen offen-
bar, er fuͤhlte ſich der Andacht und Religion nicht
mehr fremd, und betrat dieſelbe Schwelle, das
geheimnißvolle Dunkel des Tempels jetzt mit ganz
andern Gefuͤhlen, als in jenen Tagen des Leicht-
ſinns. Er zog ſich von ſeinen Bekanntſchaften zu-
ruͤck und lebte nur der Liebe. Wenn er durch ihre
Straße ging und ſie nur am Fenſter ſah, war er
fuͤr dieſen Tag gluͤcklich; er hatte ſie in der Daͤm-
merung des Abends oftmals geſprochen, ihr Gar-
ten ſtieß an den eines Freundes, der aber ſein Ge-
heimniß nicht wußte. So war ein Jahr voruͤber
gegangen.
Alle dieſe Scenen ſeines neuen Lebens zogen
wieder durch ſein Gedaͤchtniß. Er erhob ſeinen
Blick, da ſchwebte die edle Geſtalt ſchon uͤber den
Platz, ſie leuchtete ihm wie eine Sonne aus der
verworrenen Menge hervor. Ein lieblicher Geſang
ertoͤnte in ſeinem ſehnſuͤchtigen Herzen, und er
trat, wie ſie ſich annaͤherte, in die Kirche zuruͤck.
Er hielt ihr das geweihte Waſſer entgegen, ihre
weißen Finger zitterten, als ſie die ſeinigen beruͤhrte,
ſie neigte ſich holdſelig. Er folgte ihr nach, und
kniete in ihrer Naͤhe. Sein ganzes Herz zer-
ſchmolz in Wehmuth und Liebe, es duͤnkte ihm,
als wenn aus den Wunden der Sehnſucht ſein
I. [ 28 ]
[434]Erſte Abtheilung.
Weſen in andaͤchtigen Gebeten dahin blutete; je-
des Wort des Prieſters durchſchauerte ihn, jeder
Ton der Muſik goß Andacht in ſeinen Buſen;
ſeine Lippen bebten, als die Schoͤne das Crucifix
ihres Roſenkranzes an den bruͤnſtigen rothen Mund
druͤckte. Wie hatte er ehemals dieſen Glauben und
dieſe Liebe ſo gar nicht begreifen koͤnnen. Da er-
hob der Prieſter die Hoſtie und die Glocke ſchallte,
ſie neigte ſich demuͤthiger und bekreuzte ihre Bruſt;
und wie ein Blitz ſchlug es durch alle ſeine Kraͤfte
und Gefuͤhle, und das Altarbild duͤnkte ihm leben-
dig und die farbige Daͤmmerung der Fenſter wie
ein Licht des Paradieſes; Thraͤnen ſtroͤmten reich-
lich aus ſeinen Augen und linderten die verzehrende
Inbrunſt ſeines Herzens.
Der Gottesdienſt war geendigt. Er bot ihr
wieder den Weihbrunnen, ſie ſprachen einige Worte
und ſie entfernte ſich. Er blieb zuruͤck, um keine
Aufmerkſamkeit zu erregen; er ſah ihr nach, bis
der Saum ihres Kleides um die Ecke verſchwand.
Da war ihm wie dem muͤden verirrten Wande-
rer, dem im dichten Walde der letzte Schein der
untergehenden Sonne erliſcht. Er erwachte aus
ſeiner Traͤumerei, als ihm eine alte duͤrre Hand
auf die Schulter ſchlug, und ihn jemand bei Na-
men nannte.
Er fuhr zuruͤck, und erkannte ſeinen Freund,
den muͤrriſchen Albert, der von allen Menſchen
ſich zuruͤck zog und deſſen einſames Haus nur dem
jungen Ferdinand geoͤffnet war. Seid ihr unſrer
Abrede noch eingedenk? fragte die heiſere Stimme.
[435]Der Pokal.
O ja, antwortete Ferdinand, und werdet Ihr euer
Verſprechen heut noch halten? Noch in dieſer Stun-
de, antwortete jener, wenn ihr mir folgen wollt.
Sie gingen durch die Stadt und in einer ab-
gelegenen Straße in ein großes Gebaͤude. Heute,
ſagte der Alte, muͤßt ihr euch ſchon mit mir in
das Hinterhaus bemuͤhn, in mein einſamſtes Zim-
mer, damit wir nicht etwa geſtoͤrt werden. Sie
gingen durch viele Gemaͤcher, dann uͤber einige
Treppen; Gaͤnge empfingen ſie, und Ferdinand,
der das Haus zu kennen glaubte, mußte ſich uͤber
die Menge der Zimmer, ſo wie uͤber die ſeltſame
Einrichtung des weitlaͤufigen Gebaͤudes verwundern,
noch mehr aber daruͤber, daß der Alte, welcher un-
verheirathet war, und der auch keine Familie hatte,
es allein mit einem einzigen Bedienten bewohne, und
niemals an Fremde von dem uͤberfluͤßigen Raume
hatte vermiethen wollen. Albert ſchloß endlich auf
und ſagte: nun ſind wir zur Stelle. Ein großes
hohes Zimmer empfing ſie, das mit rothem Da-
maſt ausgeſchlagen war, den goldene Leiſten einfaß-
ten, die Seſſel waren von dem nehmlichen Zeuge,
und durch rothe ſchwerſeidene Vorhaͤnge, welche
nieder gelaſſen waren, ſchimmerte ein purpurnes
Licht. Verweilt einen Augenblick, ſagte der Alte,
indem er in ein anderes Gemach ging. Ferdinand
betrachtete indeß einige Buͤcher, in welchen er
fremde unverſtaͤndliche Charaktere, Kreiſe und Li-
nien, nebſt vielen wunderlichen Zeichnungen fand,
und nach dem wenigen, was er leſen konnte, ſchie-
nen es alchemiſtiſche Schriften; er wußte auch,
[436]Erſte Abtheilung.
daß der Alte im Rufe eines Goldmachers ſtand.
Eine Laute lag auf dem Tiſche, welche ſeltſam
mit Perlmutter und farbigen Hoͤlzern ausgelegt
war und in glaͤnzenden Geſtalten Voͤgel und Blu-
men darſtellte; der Stern in der Mitte war ein
großes Stuͤck Perlmutter, auf das kunſtreichſte in
vielen durchbrochenen Zirkelfiguren, faſt wie die
Fenſterroſe einer gothiſchen Kirche, ausgearbeitet.
Ihr betrachtet da mein Inſtrument, ſagte Albert,
welcher zuruͤck kehrte, es iſt ſchon zweihundert Jahr
alt, und ich habe es als ein Andenken meiner Reiſe
aus Spanien mitgebracht. Doch laßt das alles
und ſetzt euch jetzt.
Sie ſetzten ſich an den Tiſch, der ebenfalls
mit einem rothen Teppiche bedeckt war, und der
Alte ſtellte etwas Verhuͤlltes auf die Tafel. Aus
Mitleid gegen eure Jugend, fing er an, habe ich
euch neulich verſprochen, euch zu wahrſagen, ob
ihr gluͤcklich werden koͤnnt oder nicht, und dieſes
Verſprechen will ich in gegenwaͤrtiger Stunde loͤ-
ſen, ob ihr gleich die Sache neulich nur fuͤr einen
Scherz halten wolltet. Ihr duͤrft euch nicht ent-
ſetzen, denn was ich vorhabe, kann ohne Gefahr
geſchehn, und weder furchtbare Citationen ſollen
von mir vorgenommen werden, noch ſoll euch eine
graͤßliche Erſcheinung erſchrecken. Die Sache, die
ich verſuchen will, kann in zweien Faͤllen mißlin-
gen: wenn ihr nehmlich nicht ſo wahrhaft liebt,
als ihr mich habt wollen glauben machen, denn
alsdann iſt meine Bemuͤhung umſonſt und es zeigt
ſich gar nichts; oder daß ihr das Orakel ſtoͤrt und
[437]Der Pokal.
durch eine unnuͤtze Frage oder ein haſtiges Auffah-
ren vernichtet, indem ihr euren Sitz verlaßt und
das Bild zertruͤmmert; ihr muͤßt mir alſo verſpre-
chen, euch ganz ruhig zu verhalten.
Ferdinand gab das Wort, und der Alte wik-
kelte aus den Tuͤchern das, was er mitgebracht
hatte. Es war ein goldener Pokal von ſehr kuͤnſt-
licher und ſchoͤner Arbeit. Um den breiten Fuß
lief ein Blumenkranz mit Myrthen und verſchiede-
nem Laube und Fruͤchten gemiſcht, erhaben ausge-
fuͤhrt mit mattem oder klaren Golde. Ein aͤhn-
liches Band, aber reicher, mit kleinen Figuren und
fliehenden wilden Thierchen, die ſich vor den Kin-
dern fuͤrchteten oder mit ihnen ſpielten, zog ſich
um die Mitte des Bechers. Der Kelch war ſchoͤn
gewunden, er bog ſich oben zuruͤck, den Lippen
entgegen, und inwendig funkelte das Gold mit ro-
ther Gluth. Der Alte ſtellte den Becher zwiſchen
ſich und den Juͤngling, und winkte ihn naͤher.
Fuͤhlt ihr nicht etwas, ſprach er, wenn euer Auge
ſich in dieſem Glanz verliert? Ja, ſagte Ferdi-
nand, dieſer Schein ſpiegelt in mein Innres hin-
ein, ich moͤchte ſagen, ich fuͤhle ihn wie einen Kuß
in meinem ſehnſuͤchtigen Buſen. So iſt es recht!
ſagte der Alte; nun laßt eure Augen nicht mehr
herum ſchweifen, ſondern haltet ſie feſt auf den
Glanz dieſes Goldes, und denkt ſo lebhaft wie
moͤglich an eure Geliebte.
Beide ſaßen eine Weile ruhig, und ſchauten
vertieft den leuchtenden Becher an. Bald aber
fuhr der Alte mit ſtummer Geberde, erſt langſam,
[438]Erſte Abtheilung.
dann ſchneller, endlich in eilender Bewegung mit
ſtreichendem Finger um die Glut des Pokals in
ebenmaͤßigen Kreiſen hin. Dann hielt er wieder
inne und legte die Kreiſe von der andern Seite.
Als er eine Weile dies Beginnen fortgeſetzt hatte,
glaubte Ferdinand Muſik zu hoͤren, aber es klang
wie draußen, in einer fernen Gaſſe; doch bald ka-
men die Toͤne naͤher, ſie ſchlugen lauter und lau-
ter an, ſie zitterten beſtimmter durch die Luft, und
es blieb ihm endlich kein Zweifel, daß ſie aus dem
Innern des Bechers hervor quollen. Immer ſtaͤr-
ker ward die Muſik, und von ſo durchdringender
Kraft, daß des Juͤnglings Herz erzitterte und ihm
die Thraͤnen in die Augen ſtiegen. Eifrig fuhr die
Hand des Alten in verſchiedenen Richtungen uͤber
die Muͤndung des Bechers, und es ſchien, als
wenn Funken aus ſeinen Fingern fuhren und zuk-
kend gegen das Gold leuchtend und klingend zer-
ſprangen. Bald mehrten ſich die glaͤnzenden Punkte
und folgten, wie auf einen Faden gereiht, der Be-
wegung ſeines Fingers hin und wieder; ſie glaͤnz-
ten von verſchiedenen Farben, und draͤngten ſich
allgemach dichter und dichter an einander, bis ſie
in Linien zuſammen ſchoſſen. Nun ſchien es, als
wenn der Alte in der rothen Daͤmmerung ein wun-
derſames Netz uͤber das leuchtende Gold legte, denn
er zog nach Willkuͤhr die Stralen hin und wieder,
und verwebte mit ihnen die Oeffnung des Pokales;
ſie gehorchten ihm und blieben, einer Bedeckung
aͤhnlich, liegen, indem ſie hin und wieder webten
und in ſich ſelber ſchwankten. Als ſie ſo gefeſſelt
[439]Der Pokal.
waren, beſchrieb er wieder die Kreiſe um den Rand,
die Muſik ſank wieder zuruͤck und wurde leiſer und
leiſer, bis ſie nicht mehr zu vernehmen war, das
leuchtende Netz zitterte wie beaͤngſtiget. Es brach
im zunehmenden Schwanken, und die Stralen reg-
neten tropfend in den Kelch, doch aus den nieder-
tropfenden erhob ſich wie eine roͤthliche Wolke, die
ſich in ſich ſelbſt in vielfachen Kreiſen bewegte, und
wie Schaum uͤber der Muͤndung ſchwebte. Ein
hellerer Punkt ſchwang ſich mit der groͤßten Schnel-
ligkeit durch die wolkigen Kreiſe. Da ſtand das
Gebild, und wie ein Auge ſchaute es ploͤtzlich aus
dem Duft, wie goldene Locken floß und ringelte
es oben, und alsbald ging ein ſanftes Erroͤthen in
dem wankenden Schatten auf und ab, und Ferdi-
nand erkannte das laͤchelnde Angeſicht ſeiner Ge-
liebten, die blauen Augen, die zarten Wangen,
den lieblich rothen Mund. Das Haupt ſchwankte
hin und her, hob ſich deutlicher und ſichtbarer auf
dem ſchlanken weißen Halſe hervor und neigte ſich
zu dem entzuͤckten Juͤnglinge hin. Der Alte be-
ſchrieb immer noch die Kreiſe um den Becher, und
heraus traten die glaͤnzenden Schultern, und ſo
wie ſich die liebliche Bildung aus dem goldenen
Bett mehr hervor draͤngte und holdſelig hin und
wieder wiegte, ſo erſchienen nun die beiden zarten,
gewoͤlbten und getrennten Bruͤſte, auf deren Spitze
die feinſte Roſenknospe mit ſuͤß verhuͤllter Roͤthe
ſchimmerte. Ferdinand glaubte den Athem zu fuͤh-
len, indem das geliebte Bild wogend zu ihm neigte,
und ihn faſt mit den brennenden Lippen beruͤhrte;
[440]Erſte Abtheilung.
er konnte ſich im Taumel nicht mehr bewaͤltigen,
ſondern draͤngte ſich mit einem Kuſſe an den Mund,
und waͤhnte, die ſchoͤnen Arme zu faſſen, um die
nackte Geſtalt ganz aus dem goldenen Gefaͤngniß
zu heben. Alsbald durchfuhr ein ſtarkes Zittern
das liebliche Bild, wie in tauſend Linien brach das
Haupt und der Leib zuſammen, und eine Roſe
lag am Fuß des Pokales, aus deren Roͤthe noch
das ſuͤße Laͤcheln ſchien. Sehnſuͤchtig ergriff ſie
Ferdinand, druͤckte ſie an ſeinen Mund, und an
ſeinem brennenden Verlangen verwelkte ſie, und
war in Luft zerfloſſen.
Du haſt ſchlecht dein Wort gehalten, ſagte
der Alte verdruͤßlich, du kannſt dir nur ſelber die
Schuld beimeſſen. Er verhuͤllte ſeinen Pokal wie-
der, zog die Vorhaͤnge auf und eroͤffnete ein Fen-
ſter, das helle Tageslicht brach herein, und Fer-
dinand verließ wehmuͤthig und mit vielen Entſchul-
digungen den murrenden Alten.
Er eilte bewegt durch die Straßen der Stadt.
Vor dem Thore ſetzte er ſich unter den Baͤumen
nieder. Sie hatte ihm am Morgen geſagt, daß
ſie mit einigen Verwandten Abends uͤber Land fah-
ren muͤſſe. Bald ſaß, bald wanderte er liebetrun-
ken im Walde; immer ſah er das holdſelige Bild,
wie es mehr und mehr aus dem gluͤhenden Golde
quoll, jetzt erwartete er, ſie heraus ſchreiten zu
ſehn im Glanze ihrer Schoͤnheit, und dann zer-
brach die ſchoͤnſte Form vor ſeinen Augen, und er
zuͤrnte mit ſich, daß er durch ſeine raſtloſe Liebe
[441]Der Pokal.
und die Verwirrung ſeiner Sinne das Bildniß und
vielleicht ſein Gluͤck zerſtoͤrt habe.
Als nach der Mittagsſtunde der Spaziergang
ſich allgemach mit Menſchen fuͤllte, zog er ſich tie-
fer in das Gebuͤſch zuruͤck; ſpaͤhend behielt er aber
die ferne Landſtraße im Auge, und jeder Wagen,
der durch das Thor kam, wurde aufmerkſam von
ihm gepruͤft.
Es naͤherte ſich dem Abende. Rothe Schim-
mer warf die untergehende Sonne, da flog aus
dem Thor der reiche vergoldete Wagen, der feurig
im Abendglanze leuchtete. Er eilte hinzu. Ihr
Auge hatte das ſeinige ſchon geſucht. Freundlich
und laͤchelnd lehnte ſie den glaͤnzenden Buſen aus
dem Schlage, er fing ihren liebevollen Gruß und
Wink auf; jetzt ſtand er neben dem Wagen, ihr
voller Blick fiel auf ihn, und indem ſie ſich weiter
fahrend wieder zuruͤck zog, flog die Roſe, welche
ihren Buſen zierte, heraus, und lag zu ſeinen
Fuͤßen. Er hob ſie auf und kuͤßte ſie, und ihm
war, als weiſſage ſie ihm, daß er ſeine Geliebte
nicht wieder ſehn wuͤrde, daß nun ſein Gluͤck auf
immer zerbrochen ſey.
Auf und ab lief man die Treppen, das ganze
Haus war in Bewegung, alles machte Geſchrei
und Laͤrmen zum morgenden großen Feſte. Die
Mutter war am thaͤtigſten ſo wie am freudigſten;
die Braut ließ alles geſchehn, und zog ſich, ihrem
[442]Erſte Abtheilung.
Schickſal nachſinnend, in ihr Zimmer zuruͤck. Man
erwartete noch den Sohn, den Hauptmann mit
ſeiner Frau und zwei aͤltere Toͤchter mit ihren
Maͤnnern; Leopold, ein juͤngerer Sohn, war muth-
willig beſchaͤftigt, die Unordnung zu vermehren,
den Laͤrmen zu vergroͤßern, und alles zu verwir-
ren, indem er alles zu betreiben ſchien. Agathe,
ſeine noch unverheirathete Schweſter, wollte ihn
zur Vernunft bringen und dahin bewegen, daß er
ſich um nichts kuͤmmerte, und nur die andern in
Ruhe laſſe; aber die Mutter ſagte: ſtoͤre ihn nicht
in ſeiner Thorheit, denn heute kommt es auf et-
was mehr oder weniger nicht an; nur darum bitte
ich euch alle, da ich ſchon auf ſo viel zu denken
habe, daß ihr mich nicht mit irgend etwas behel-
ligt, was ich nicht hoͤchſt noͤthig erfahren muß;
ob ſie Porzellan zerbrechen, ob einige ſilberne Loͤf-
fel fehlen, ob das Geſinde der Fremden Scheiben
entzwei ſchlaͤgt, mit ſolchen Poſſen aͤrgert mich
nicht, daß ihr ſie mir wieder erzaͤhlt. Sind dieſe
Tage der Unruhe voruͤber, dann wollen wir Rech-
nung halten.
Recht ſo, Mutter! ſagte Leopold, das ſind
Geſinnungen, eines Regenten wuͤrdig! Wenn auch
einige Maͤgde den Hals brechen, der Koch ſich be-
trinkt und den Schornſtein anzuͤndet, der Keller-
meiſter vor Freude den Malvaſier auslaufen oder
ausſaufen laͤßt, Sie ſollen von dergleichen Kinde-
reyen nichts erfahren. Es muͤßte denn ſeyn, daß
ein Erdbeben das Haus umwuͤrfe; Liebſte, das
ließe ſich unmoͤglich verhelen.
[443]Der Pokal.
Wann wird er doch einmal kluͤger werden!
ſagte die Mutter; was werden nur deine Geſchwi-
ſter denken, wenn ſie dich eben ſo unklug wieder
finden, als ſie dich vor zwei Jahren verlaſſen haben.
Sie muͤſſen meinem Charakter Gerechtigkeit
widerfahren laſſen, antwortete der lebhafte Juͤng-
ling, daß ich nicht ſo wandelbar bin wie ſie oder
ihre Maͤnner, die ſich in wenigen Jahren ſo ſehr,
und zwar nicht zu ihrem Vortheile veraͤndert haben.
Jetzt trat der Braͤutigam zu ihnen, und fragte
nach der Braut. Die Kammerjungfer ward ge-
ſchickt, ſie zu rufen. Hat Leopold Ihnen, liebe
Mutter, meine Bitte vergetragen? fragte der
Verlobte.
Daß ich nicht wuͤßte, ſagte dieſer; in der
Unordnung hier im Hauſe kann man keinen ver-
nuͤnftigen Gedanken faſſen.
Die Braut trat herzu, und die jungen Leute
begruͤßten ſich mit Freuden. Die Bitte, deren
ich erwaͤhnte, fuhr dann der Braͤutigam fort, iſt
dieſe, daß Sie es nicht uͤbel deuten moͤgen, wenn
ich Ihnen noch einen Gaſt in Ihr Haus fuͤhre,
das fuͤr dieſe Tage nur ſchon zu ſehr beſetzt iſt.
Sie wiſſen es ſelbſt, ſagte die Mutter, daß,
ſo geraͤumig es auch iſt, ſich ſchwerlich noch Zim-
mer einrichten laſſen.
Doch, rief Leopold, ich habe ſchon zum Theil
dafuͤr geſorgt, ich habe die große Stube im Hin-
terhauſe aufraͤumen laſſen.
Ei, die iſt nicht anſtaͤndig genug, ſagte die
[444]Erſte Abtheilung.
Mutter, ſeit Jahren iſt ſie ja faſt nur zur Pol-
terkammer gebraucht.
Praͤchtig iſt ſie hergeſtellt, ſagte Leopold, und
der Freund, fuͤr den ſie beſtimmt iſt, ſieht auch
auf dergleichen nicht, dem iſt es nur um unſre
Liebe zu thun; auch hat er keine Frau und befin-
det ſich gern in der Einſamkeit, ſo daß ſie ihm
gerade recht ſein wird. Wir haben Muͤhe genug
gehabt, ihm zuzureden und ihn wieder unter Men-
ſchen zu bringen.
Doch wohl nicht euer trauriger Goldmacher
und Geiſterbanner? fragte Agathe.
Kein andrer als der, erwiederte der Braͤuti-
gam, wenn Sie ihn einmal ſo nennen wollen.
Dann erlauben Sie es nur nicht, liebe Mut-
ter, fuhr die Schweſter fort; was ſoll ein ſolcher
Mann in unſerm Hauſe? Ich habe ihn einigemal
mit Leopold uͤber die Straße gehen ſehn, und mir
iſt vor ſeinem Geſicht bange geworden; auch be-
ſucht der alte Suͤnder faſt niemals die Kirche, er
liebt weder Gott noch Menſchen, und es bringt
keinen Seegen, dergleichen Unglaͤubige bei ſo fei-
erlicher Gelegenheit unter das Dach einzufuͤhren.
Wer weiß, was daraus entſtehn kann!
Wie du nun ſprichſt! ſagte Leopold erzuͤrnt,
weil du ihn nicht kennſt ſo verurtheilſt du ihn,
und weil dir ſeine Naſe nicht gefaͤllt, und er auch
nicht mehr jung und reizend iſt, ſo muß er, dei-
nem Sinne nach, ein Geiſterbanner und verruch-
ter Menſch ſeyn.
Gewaͤhren Sie, theure Mutter, ſagte der
[445]Der Pokal.
Braͤutigam, unſerm alten Freunde ein Plaͤtzchen
in ihrem Hauſe, und laſſen Sie ihn an unſerer
allgemeinen Freude Theil nehmen. Er ſcheint, liebe
Schweſter Agathe, viel Ungluͤck erlebt zu haben,
welches ihn mißtrauiſch und menſchenfeindlich ge-
macht hat, er vermeidet alle Geſellſchaft, und macht
nur eine Ausnahme mit mir und Leopold; ich habe
ihm viel zu danken, er hat zuerſt meinem Geiſte
eine beſſere Richtung gegeben, ja ich kann ſagen,
er allein hat mich vielleicht der Liebe meiner Julie
wuͤrdig gemacht.
Mir borgt er alle Buͤcher fuhr Leopold fort,
und, was mehr ſagen will, alte Manuſkripte, und
was noch mehr ſagen will, Geld, auf mein bloßes
Wort; er hat die chriſtlichſte Geſinnung, Schwe-
ſterchen, und wer weiß, wenn du ihn naͤher ken-
nen lernſt, ob du nicht deine Sproͤdigkeit fahren
laͤſſeſt, und dich in ihn verliebſt, ſo haͤßlich er dir
auch jetzt vorkommt.
Nun ſo bringen Sie ihn uns, ſagte die Mut-
ter, ich habe ſchon ſonſt ſo viel aus Leopolds
Munde von ihm hoͤren muͤſſen, daß ich neugierig
bin, ſeine Bekanntſchaft zu machen. Nur muͤſſen
Sie es verantworten, daß wir ihm keine beſſere
Wohnung geben koͤnnen.
Indem kamen Reiſende an. Es waren die
Mitglieder der Familie; die verheiratheten Toͤch-
ter, ſo wie der Offizier, brachten ihre Kinder mit.
Die gute Alte freute ſich, ihre Enkel zu ſehn; alles
war Bewillkommnung und frohes Geſpraͤch, und
als der Braͤutigam und Leopold auch ihre Gruͤße
[446]Erſte Abtheilung.
empfangen und abgelegt hatten, entfernten ſie ſich,
um ihren alten muͤrriſchen Freund aufzuſuchen.
Dieſer wohnte die meiſte Zeit des Jahres auf
dem Lande, eine Meile von der Stadt, aber eine
kleine Wohnung behielt er ſich auch in einem Gar-
ten, vor dem Thore. Hier hatten ihn zufaͤlliger-
weiſe die beiden jungen Leute kennen gelernt. Sie
trafen ihn jetzt auf einem Caffehauſe, wohin ſie
ſich beſtellt hatten. Da es ſchon Abend geworden
war, begaben ſie ſich nach einigen Geſpraͤchen in
das Haus zuruͤck.
Die Mutter nahm den Fremden ſehr freund-
ſchaftlich auf; die Toͤchter hielten ſich etwas ent-
fernt, beſonders war Agathe ſchuͤchtern und ver-
mied ſeine Blicke ſorgfaͤltig. Nach den erſten all-
gemeinen Geſpraͤchen war das Auge des Alten aber
unverwandt auf die Braut gerichtet, welche ſpaͤter
zur Geſellſchaft getreten war; er ſchien entzuͤckt
und man bemerkte, daß er eine Thraͤne heimlich
abzutrocknen ſuchte. Der Braͤutigam freute ſich
an ſeiner Freude, und als ſie nach einiger Zeit
abſeits am Fenſter ſtanden, nahm er ſeine Hand
und fragte ihn: Was ſagen Sie von meiner ge-
liebten Julie? Iſt ſie nicht ein Engel? — O mein
Freund, erwiederte der Alte geruͤhrt, eine ſolche
Schoͤnheit und Anmuth habe ich noch niemals ge-
ſehn; oder ich ſollte vielmehr ſagen, (denn dieſer
Ausdruck iſt unrichtig) ſie iſt ſo ſchoͤn, ſo bezau-
bernd, ſo himmliſch, daß mir iſt, als haͤtte ich ſie
laͤngſt gekannt, als waͤre ſie, ſo fremd ſie mir iſt,
[447]Der Pokal.
das vertrauteſte Bild meiner Imagination, das
meinem Herzen ſtets einheimiſch geweſen.
Ich verſtehe Sie, ſagte der Juͤngling; ja das
wahrhaft Schoͤne, Große und Erhabene, ſo wie
es uns in Erſtaunen und Verwunderung ſetzt, uͤber-
raſcht uns doch nicht als etwas Fremdes, Uner-
hoͤrtes und Niegeſehenes, ſondern unſer eigenſtes
Weſen wird uns in ſolchen Augenblicken klar, un-
ſre tiefſten Erinnerungen werden erweckt, und un-
ſre naͤchſten Empfindungen lebendig gemacht.
Beim Abendeſſen nahm der Fremde an den
Geſpraͤchen nur wenigen Antheil; ſein Blick war
unverwandt auf die Braut geheftet, ſo daß dieſe
endlich verlegen und aͤngſtlich wurde. Der Offizier
erzaͤhlte von einem Feldzuge, dem er beigewohnt
hatte, der reiche Kaufmann ſprach von ſeinen Ge-
ſchaͤften und der ſchlechten Zeit, und der Gutsbe-
ſitzer von den Verbeſſerungen, welche er in ſeiner
Landwirthſchaft angefangen hatte.
Nach Tiſche empfahl ſich der Braͤutigam, um
zum letztenmal in ſeine einſame Wohnung zuruͤck
zu kehren, denn kuͤnftig ſollte er mit ſeiner jungen
Frau im Hauſe der Mutter wohnen, ihre Zim-
mer waren ſchon eingerichtet. Die Geſellſchaft zer-
ſtreute ſich, und Leopold fuͤhrte den Fremden nach
ſeinem Gemach. Ihr entſchuldigt es wohl, fing
er auf dem Gange an, daß ihr etwas entfernt
hauſen muͤßt, und nicht ſo bequem, als die Mut-
ter wuͤnſcht; aber Ihr ſeht ſelbſt, wie zahlreich
unſre Familie iſt, und morgen kommen noch andre
Verwandte. Wenigſtens werdet ihr uns nicht ent-
[448]Erſte Abtheilung.
laufen koͤnnen, denn Ihr findet gewiß nicht aus
dem weitlaͤufigen Gebaͤude heraus.
Sie gingen noch durch einige Gaͤnge; endlich
entfernte ſich Leopold und wuͤnſchte gute Nacht.
Der Bediente ſtellte zwei Wachskerzen hin, fragte,
ob er den Fremden entkleiden ſolle, und da dieſer
jede Bedienung verbat, zog ſich jener zuruͤck, und
er befand ſich allein. Wie muß es mir denn be-
gegnen, ſagte er, indem er auf und nieder ging,
daß jenes Bildniß ſo lebhaft heut aus meinem Her-
zen quillt? Ich vergaß die ganze Vergangenheit
und glaubte ſie ſelbſt zu ſehn. Ich war wieder
jung und ihr Ton erklang wie damals, mir duͤnkte,
ich ſey aus einem ſchweren Traum erwacht; aber
nein, jetzt bin ich erwacht, und die holde Taͤu-
ſchung war nur ein ſuͤßer Traum.
Er war zu unruhig, um zu ſchlafen, er be-
trachtete einige Zeichnungen an den Waͤnden und
dann das Zimmer. Heut iſt mir alles ſo bekannt,
rief er aus, koͤnnt' ich mich doch faſt ſo taͤuſchen,
daß ich mir einbildete, dieſes Haus und dieſes Ge-
mach ſeyen mir nicht fremd. Er ſuchte ſeine Erinne-
rungen anzuknuͤpfen, und hob einige große Buͤcher
auf, welche in der Ecke ſtanden. Als er ſie durch-
blaͤttert hatte, ſchuͤttelte er mit dem Kopfe. Ein
Lautenfutteral lehnte an der Mauer; er eroͤffnete
es und nahm ein altes ſeltſames Inſtrument her-
aus, das beſchaͤdigt war und dem die Saiten fehl-
ten. Nein, ich irre mich nicht, rief er beſtuͤrzt:
dieſe Laute iſt zu kenntlich, es iſt die Spaniſche
meines laͤngſt verſtorbenen Freundes Albert; dort
ſtehn
[449]Der Pokal.
ſtehn ſeine magiſchen Buͤcher, dies iſt das Zimmer,
in welchem er mir jenes holdſelige Orakel erwecken
wollte; verblichen iſt die Roͤthe des Teppichs, die
goldene Einfaſſung ermattet, aber wunderſam leb-
haft iſt alles, alles aus jenen Stunden in meinem
Gemuͤth; darum ſchauerte mir, als ich hieher ging,
auf jenen langen verwickelten Gaͤngen, welche mich
Leopold fuͤhrte; o Himmel, hier auf dieſem Tiſche
ſtieg das Bildniß quellend hervor, und wuchs auf
wie von der Roͤthe des Goldes getraͤnkt und er-
friſcht; dasſelbe Bild lachte hier mich an, welches
mich heut Abend dorten im Saale faſt wahnſinnig
gemacht hat, in jenem Saale, in welchem ich ſo
oft mit Albert in vertrauten Geſpraͤchen auf und
nieder wandelte.
Er entkleidete ſich, ſchlief aber nur wenig. Am
Morgen ſtand er fruͤh wieder auf, und betrachtete
das Zimmer von neuem; er eroͤffnete das Fenſter,
und ſah dieſelben Gaͤrten und Gebaͤude vor ſich,
wie damals, nur waren indeß viele neue Haͤuſer
hinzu gebaut worden. Vierzig Jahre ſind ſeitdem
verſchwunden, ſeufzte er, und jeder Tag von da-
mals enthielt laͤngeres Leben als der ganze uͤbrige
Zeitraum.
Er ward wieder zur Geſellſchaft gerufen. Der
Morgen verging unter mannigfaltigen Geſpraͤchen,
endlich trat die Braut in ihrem Schmucke herein.
So wie der Alte ihrer anſichtig ward, gerieth er
wie außer ſich, ſo daß keinem in der Geſellſchaft
ſeine Bewegung entging. Man begab ſich zur
Kirche und die Trauung ward vollzogen. Als ſich
I. [ 29 ]
[450]Erſte Abtheilung.
alle wieder im Hauſe befanden, fragte Leopold ſeine
Mutter: nun, wie gefaͤllt Ihnen unſer Freund,
der gute muͤrriſche Alte?
Ich habe ihn mir, antwortete dieſe, nach eu-
ren Beſchreibungen viel abſchreckender gedacht, er
iſt ja mild und theilnehmend, man koͤnnte ein rech-
tes Zutrauen zu ihm gewinnen.
Zutrauen? rief Agathe aus, zu dieſen fuͤrch-
terlich brennenden Augen, dieſen tauſendfachen
Runzeln, dem blaſſen eingekniffenen Mund, und
dieſem ſeltſamen Lachen, das ſo hoͤhniſch klingt
und ausſieht? Nein, Gott bewahr mich vor ſol-
chem Freunde! Wenn boͤſe Geiſter ſich in Men-
ſchen verkleiden wollen, muͤſſen ſie eine ſolche Ge-
ſtalt annehmen.
Wahrſcheinlich doch eine juͤngere und reizen-
dere, antwortete die Mutter; aber ich kenne auch
dieſen guten Alten in deiner Beſchreibung nicht
wieder. Man ſieht, daß er von heftigem Tempe-
rament iſt, und ſich gewoͤhnt hat alle ſeine Em-
pfindungen in ſich zu verſchließen; er mag, wie
Leopold ſagt, viel Ungluͤck erlebt haben, daher iſt
er mißtrauiſch geworden, und hat jene einfache Of-
fenheit verloren, die hauptſaͤchlich nur den Gluͤck-
lichen eigen iſt.
Ihr Geſpraͤch wurde unterbrochen, weil die
uͤbrige Geſellſchaft hinzu trat. Man ging zur
Tafel, und der Fremde ſaß neben Agathe und
dem reichen Kaufmanne. Als man anfing die Ge-
ſundheiten zu trinken, rief Leopold: haltet noch
inne, meine werthen Freunde, dazu muͤſſen wir
[451]Der Pokal.
unſern Feſtpokal hier haben, der dann rundum
gehn ſoll! Er wollte aufſtehen, aber die Mutter
winkte ihm, ſitzen zu bleiben; du findeſt ihn doch
nicht, ſagte ſie, denn ich habe alles Silberzeug
anders gepackt. Sie ging ſchnell hinaus, um ihn
ſelber zu ſuchen. Was unſere Alte heut geſchaͤftig
und munter iſt, ſagte der Kaufmann, ſo dick und
breit ſie iſt, ſo behende kann ſie ſich doch noch be-
wegen, obgleich ſie ſchon ſechszig zaͤhlt; ihr Ge-
ſicht ſieht immer heiter und freudig aus, und heut
iſt ſie beſonders gluͤcklich, weil ſie ſich in der Schoͤn-
heit ihrer Tochter wieder verjuͤngt. Der Fremde
gab ihm Beifall, und die Mutter kam mit dem
Pokal zuruͤck. Man ſchenkte ihn voll Weins,
und oben vom Tiſch fing er an herum zu gehn,
indem jeder die Geſundheit deſſen ausbrachte, was
ihm das liebſte und erwuͤnſchteſte war. Die Braut
trank das Wohlſeyn ihres Gatten, dieſer die Liebe
ſeiner ſchoͤnen Julie, und ſo that jeder nach der
Reihe. Die Mutter zoͤgerte, als der Becher zu
ihr kam. Nur dreiſt! ſagte der Offizier etwas
rauh und voreilig, wir wiſſen ja doch, daß ſie alle
Maͤnner fuͤr ungetreu und keinen einzigen der Liebe
einer Frau wuͤrdig halten; was iſt Ihnen alſo das
Liebſte? Die Mutter ſah ihn an, indem ſich uͤber
die Milde ihres Antlitzes ploͤtzlich ein zuͤrnender
Ernſt verbreitete. Da mein Sohn, ſagte ſie, mich
ſo genau kennt, und ſo ſtrenge meine Gemuͤths-
art tadelt, ſo ſey es mir auch erlaubt, nicht aus-
zuſprechen, was ich jetzt eben dachte, und ſuche
er nur dasjenige, was er als meine Ueberzeugung
[452]Erſte Abtheilung.
kennen will, durch ſeine ungefaͤlſchte Liebe unwahr
zu machen. Sie gab den Becher, ohne zu trin-
ken, weiter, und die Geſellſchaft war auf einige
Zeit verſtimmt.
Man erzaͤhlt ſich, ſagte der Kaufmann leiſe,
indem er ſich zum Fremden neigte, daß ſie ihren
Mann nicht geliebt habe, ſondern einen andern, der
ihr aber ungetreu geworden iſt; damals ſoll ſie das
ſchoͤnſte Maͤdchen in der Stadt geweſen ſeyn.
Als der Becher zu Ferdinand kam, betrachtete
ihn dieſer mit Erſtaunen, denn es war derſelbe,
aus welchem ihm Albert ehemals das ſchoͤne Bild-
niß hervor gerufen hatte. Er ſchaute in das Gold
hinein und in die Welle des Weines, ſeine Hand
zitterte; es wuͤrde ihn nicht verwundert haben,
wenn aus dem leuchtenden Zaubergefaͤße jetzt wie-
der jene Geſtalt hervor gebluͤht waͤre und mit ihr
ſeine entſchwundene Jugend. Nein, ſagte er nach
einiger Zeit halblaut, es iſt Wein, was hier gluͤht!
Was ſoll es anders ſeyn? ſagte der Kaufmann
lachend, trinken Sie getroſt! Ein Zucken des
Schrecks durchfuhr den Alten, er ſprach den Na-
men Franziska heftig aus, und ſetzte den Pokal
an die bruͤnſtigen Lippen. Die Mutter warf einen
fragenden und verwundernden Blick hinuͤber. Wo-
her dieſer ſchoͤne Becher? ſagte Ferdinand, der
ſich ſeiner Zerſtreuung ſchaͤmte. Vor vielen Jah-
ren ſchon, antwortete Leopold, noch ehe ich gebo-
ren war, hat ihn mein Vater zugleich mit dieſem
Hauſe und allen Mobilien von einem alten einſa-
men Hageſtolz gekauft, einem ſtillen Menſchen,
[453]Der Pokal.
den die Nachbarſchaft umher fuͤr einen Zauberer
hielt. Ferdinand mochte nicht ſagen, daß er jenen
gekannt hatte, denn ſein Daſeyn war ihm zu
ſehr zum ſeltſamen Traum verwirrt, um auch nur
aus der Ferne die uͤbrigen in ſein Gemuͤth ſchauen
zu laſſen.
Nach aufgehobener Tafel war er mit der Mut-
ter allein, weil die jungen Leute ſich zuruͤck gezo-
gen hatten, um Anſtalten zum Balle zu treffen.
Setzen Sie ſich neben mich, ſagte die Mutter,
wir wollen ausruhen, denn wir ſind uͤber die Jahre
des Tanzes hinweg, und, wenn es nicht unbeſchei-
den iſt zu fragen, ſo ſagen Sie mir doch, ob Sie
unſern Pokal ſchon ſonſt wo geſehn haben, oder
was es war, was Sie ſo innerlichſt bewegte.
O gnaͤdige Frau, ſagte der Alte, verzeihen
Sie meiner thoͤrichten Heftigkeit und Ruͤhrung,
aber ſeit ich in Ihrem Hauſe bin, iſt es, als ge-
hoͤre ich mir nicht mehr an, denn in jedem Augen-
blicke vergeſſe ich es, daß mein Haar grau iſt, daß
meine Geliebten geſtorben ſind. Ihre ſchoͤne Toch-
ter, die heute den froheſten Tag ihres Lebens fey-
ert, iſt einem Maͤdchen, das ich in meiner Jugend
kannte und anbetete, ſo aͤhnlich, daß ich es fuͤr
ein Wunder halten muß; nicht aͤhnlich, nein, der
Ausdruck ſagt zu wenig, ſie iſt es ſelbſt! Auch
hier im Hauſe bin ich viel geweſen, und einmal
mit dieſem Pokal auf die ſeltſamſte Weiſe bekannt
geworden. Er erzaͤhlte ihr hierauf ſein Abentheuer.
An dem Abend dieſes Tages, ſo beſchloß er, ſah
ich draußen im Park meine Geliebte zum letzten
[454]Erſte Abtheilung.
mal, indem ſie uͤber Land fuhr. Eine Roſe entfiel
ihr, dieſe habe ich aufbewahrt; ſie ſelbſt ging mir
verloren, denn ſie ward mir ungetreu und bald
darauf vermaͤhlt.
Gott im Himmel! rief die Alte und ſprang hef-
tig bewegt auf, du biſt doch nicht Ferdinand?
So iſt mein Name, ſagte jener.
Ich bin Franziska, antwortete die Muter.
Sie wollten ſich umarmen, und fuhren ſchnell
zuruͤck. Beide betrachteten ſich mit pruͤfenden Blik-
ken, beide ſuchten aus dem Ruin der Zeit jene
Lineamente wieder zu entwickeln, die ſie ehemals
an einander gekannt und geliebt hatten, und wie in
dunkeln Gewitternaͤchten unter dem Fluge ſchwar-
zer Wolken einzeln in fluͤchtigen Momenten die
Sterne raͤthſelhaft ſchimmern, um ſchnell wieder
zu erloͤſchen, ſo ſchien ihnen aus den Augen, von
Stirn und Mund jezuweilen der wohlbekannte Zug
voruͤberblitzend an, und es war, als wenn ihre
Jugend in der Ferne laͤchelnd weinte. Er bog ſich
nieder und kuͤßte ihre Hand, indem zwei große
Thraͤnen herab ſtuͤrzten, dann umarmten ſie ſich
herzlich.
Iſt deine Frau geſtorben? fragte die Mutter.
Ich war nie verheirathet, ſchluchzte Ferdinand.
Himmel! ſagte die Alte, die Haͤnde ringend,
ſo bin ich die Ungetreue geweſen! Doch nein, nicht
ungetreu. Als ich vom Lande zuruͤck kam, wo ich
zwei Monden geweſen war, hoͤrte ich von allen
Menſchen, auch von deinen Freunden, nicht bloß
den meinigen, du ſeyſt laͤngſt abgereiſt und in dei-
[455]Der Pokal.
nem Vaterlande verheirathet; man zeigte mir die
glaubwuͤrdigſten Briefe, man drang heftig in mich,
man benutzte meine Troſtloſigkeit, meinen Zorn,
und ſo geſchah es, daß ich meine Hand dem ver-
dienſtvollen Manne gab, mein Herz, meine Ge-
danken blieben dir immer gewidmet.
Ich habe mich nicht von hier entfernt, ſagte
Ferdinand, aber nach einiger Zeit vernahm ich deine
Vermaͤhlung. Man wollte uns trennen, und es
iſt ihnen gelungen. Du biſt gluͤckliche Mutter,
ich lebe in der Vergangenheit, und alle deine Kin-
der will ich wie die meinigen lieben. Aber wie
wunderbar, daß wir uns ſeitdem nie wieder ge-
ſehen haben.
Ich ging wenig aus, ſagte die Mutter, und
mein Mann, der bald darauf einer Erbſchaft we-
gen einen andern Namen annahm, hat dir auch
jeden Verdacht dadurch entfernt, daß wir in der-
ſelben Stadt wohnen koͤnnten.
Ich vermied die Menſchen, ſagte Ferdinand,
und lebte nur der Einſamkeit; Leopold iſt beinah
der einzige, der mich wieder anzog und unter Men-
ſchen fuͤhrte. O geliebte Freundin, es iſt wie eine
ſchauerliche Geiſtergeſchichte, wie wir uns verloren
und wieder gefunden haben.
Die jungen Leute fanden die Alten in Thraͤ-
nen aufgeloͤſt und in tiefſter Bewegung. Keines
ſagte, was vorgefallen war, das Geheimniß ſchien
ihnen zu heilig. Aber ſeitdem war der Greis der
Freund des Hauſes, und der Tod nur ſchied die
beiden Weſen, die ſich ſo ſonderbar wieder gefun-
[456]Erſte Abtheilung.
den hatten, um ſie kurze Zeit nachher wieder zu
vereinigen.
Es war uͤber dem Vorleſen dieſer Maͤhr-
chen viele Zeit verfloſſen, und man ſetzte ſich ſehr
ſpaͤt zu Tiſche. Der Abend war wieder ſo warm,
daß man die Fluͤgel des Saales eroͤffnen konnte,
um die anmuthige Luft zu genießen. Man ſprach
noch vielerlei uͤber die vorgetragenen Erzaͤhlun-
gen, und es ſchien, daß die uͤbrigen Frauen der
Meinung Claras beitraten, welchen die Geſchichte
vom blonden Eckbert allen uͤbrigen vorzog. Emi-
lie wollte im getreuen Eckart eine Disharmonie
bemerken, Roſalie nahm die Magelone in Schutz
und Wilibalds Erzaͤhlung, Auguſte lobte die El-
fen; nur in Anſehung des Runenberges und Lie-
beszaubers blieben alle bei ihrer vorgefaßten Mei-
nung, und verwarfen ſie gaͤnzlich. Mein theurer
Freund, ſagte Manfred, zu Lothar gewandt, troͤ-
ſten wir uns daruͤber, daß die gegenwaͤrtige Zeit
uns nicht verſteht, ich appellire an eine beſſere
Nachwelt, die mich dankbar anerkennen wird.
Wo iſt die? fragte Lothar lachend.
Dorten ſchlaͤft ſie ſchon, ſagte Manfred,
nach der Kinderſtube hinauf deutend, meine bei-
den Jungen meine ich; ſo wie ſie nur ein weni-
ges bei Kraͤften ſind, leſe ich ihnen meine Werke
vor, und belohne ihren Beifall mit Zuckerwerk,
[457]Erſte Abtheilung.
und ich will ſehn, ob ſie mich nicht auf lange
fuͤr den erſten aller Dichter halten ſollen.
Wir ſind aber unſerm Freunde Lothar eine
Verguͤtigung ſchuldig, ſagte Clara, und da er
heute als Autor ſo wenig Gluͤck gemacht hat,
ſo verſuche er es einmal mit der Koͤnigswuͤrde,
er uͤbernehme die naͤchſte Abtheilung und beſtimme
ſie nach ſeiner Willkuͤhr.
Lothar verneigte ſich, und nahm aus dem
Blumenkorbe eine Lilie, um ſie als Scepter zu
gebrauchen. So befehle ich denn, ſprach er, daß
wir dieſe Maͤhrchenwelt noch nicht verlaſſen, nur
wollen wir den Dichtern die Muͤhe der Erfin-
dung ſchenken; moͤgen ſie allgemein bekannte
Geſchichten nehmen, wo moͤglich ganz kindiſche
und alberne, und damit den Verſuch machen,
dieſen durch ihre Darſtellung ein neues Intereſſe
zu geben; jedes dieſer Maͤhrchen ſoll aber ein
Drama ſeyn.
Wilibald huſtete und Auguſte ſagte: nur
bitten wir Maͤdchen, daß es auch hie und da
etwas luſtig darinn zugehn moͤge, und nicht all-
zu poetiſch.
Mir erlaube man auch eine Bitte, fuͤgte
Emilie hinzu, und zwar diejenige, daß wir mit
der Zeit etwas oͤkonomiſcher umgehn und berech-
nen moͤgen, was ſich vortragen und von den
Zuhoͤrern erdulden laͤßt, denn heute haben wir
uns offenbar uͤberſaͤttigt, und der Genuß iſt faſt
zur Pein geworden; Sie muͤſſen bedenken, daß
[458]Erſte Abtheilung.
wir Frauen nicht ſo an das Verſchlingen der
Buͤcher gewoͤhnt ſind, wie die Maͤnner.
Auch dieſes iſt gewaͤhrt, ſagte Lothar, ich
werde mit meinen Raͤthen eine billige und zweck-
maͤßige Einrichtung treffen, beſonders bei dieſen
Dramen, von denen einige laͤnger ausfallen duͤrf-
ten, als die meiſten der heutigen Erzaͤhlungen.
Gute Nacht, ſagte Manfred, ich bin ſo
muͤde, und durch Beifall ſo wenig aufgemun-
tert, daß ich am beſten thun werde, mich in die
Dunkelheit meines Bettes zuruͤck zu ziehn.
Als er ſich entfernt hatte, ſprach man noch
uͤber die ſeltſame Erſcheinung, daß im Schreck-
lichen eine gewiſſe Lieblichkeit wohnen koͤnne, die
dem Reiz des Grauenhaften eine Art von Ruͤh-
rung und Wehmuth beigeſelle. Die letzte der
heutigen Erzaͤhlungen, ſagte Emilie, hat zwar
nichts Furchtbares, kommt man aber darin uͤber-
ein, wie doch die meiſten Menſchen zu glauben
ſcheinen, daß die Liebe die Bluͤte des Lebens
ſey, ſo iſt ſie vielleicht die traurigſte und ruͤh-
rendſte von allen, weil die erzaͤhlte Begebenheit
faſt durchaus moͤglich iſt und ſich an das All-
taͤgliche knuͤpft.
Anton bemerkte, daß die ſtille Lieblichkeit
an ſich leicht ermuͤde und einſchlaͤfre, wie die
meiſten neueren Idyllen, und daß man ihnen
wohl einen Zuſatz wuͤnſchen muͤſſe, entweder von
Schreck, oder Bosheit, oder irgend einem an-
dern Ingrediens, um durch dieſe Wuͤrze den Ge-
[459]Erſte Abtheilung.
ſchmack des Lieblichen ſelber hervor zu heben,
wie durch den Firniß die Farben mancher Ge-
maͤhlde.
Darum, ſagte Lothar, hat man in Frank-
reich mit Recht etwas Wolf in manche Schaͤ-
fereien hinein gewuͤnſcht. Die reine Unſchuld,
als ſolche, vertraͤgt keine Darſtellung, denn ſie
liegt außer der Natur, oder falls ſie natuͤrlich
iſt, iſt ſie hoͤchſt unpoetiſch; ich meine nemlich
jene hohe, ſentimentale, die uns die Dichter ſo
oft haben mahlen wollen. Ich ſah einmal eine
franzoͤſiſche Operette, zwar nur von einem, aber
deſto laͤngeren Akte, in welcher ein junger Menſch
von Anfang bis zu Ende nichts weiter in der
Welt wollte, als ſeinen Papa lieben, den er be-
kraͤnzte, als er ſchlief, und Fruͤchte vorſetzte, als
er erwachte, worauf beide ſich umarmten und
geruͤhrt waren. Ich will nicht ſagen, daß der-
gleichen nicht loͤblich ſeyn koͤnnte; aber was in
aller Welt ging es denn die Zuſchauer an, die
unten ſtanden, und hoͤchſt uͤberfluͤßige Zeugen
dieſer Zaͤrtlichkeit waren?
Die Idyllen der Neueren, ſagte Ernſt, ſind
fruͤh ſentimental geworden, oder allegoriſch, in
der letzten Zeit bei Franzoſen und Deutſchen meiſt
fade und ſuͤßlich. Zwei Gedichte eines Deutſchen
aber ſind mir bekannt, die ich vielen der ſchoͤn-
ſten Poeſien an die Seite ſetzen moͤchte, den Sa-
tyr Mopfus nemlich und Bacchidon und Milon
vom Mahler Muͤller; die friſche ſinnliche Na-
[460]Erſte Abtheilung.
tur, der lyriſche Schwung der Geſaͤnge, die
ſchoͤn gewaͤhlten und kraͤftig ausgefuͤhrten Bil-
der haben mich jedesmal bis zur Entzuͤckung hin-
geriſſen. Trefflich, wenn gleich nicht von dieſer
Vollendung, iſt ſeine Schaafſchur, reicher als
dieſes Gemaͤhlde aus unſerer Zeit, ſein Nußker-
nen. In dem Gedicht „Adams erſtes Erwa-
chen“ befindet er ſich freilich auch zuweilen in
jener Leere, die ſich nicht poetiſch bevoͤlkern laͤßt,
aber einzelne Stellen ſind von großer Schoͤn-
heit, und in der Darſtellung der Thiere ſcheint
er mir einzig; ich weiß wenigſtens keinen Dich-
ter, der ſie uns mit dieſer geiſtigen Lebendigkeit
vor die Augen fuͤhrte. Wie Schade, daß dieſes
wahre Genie, welches ſich ſo glaͤnzend ankuͤn-
digte, nicht nachher das Studium der Poeſie
fortgeſetzt hat! Sein Geiſt ſcheint mir mit dem
des Julio Romano innig verwandt; dieſelbe
Fuͤlle und Lieblichkeit, das Scharfe und Bizarre
der Gedanken, und dieſelbe Sucht zur Ueber-
treibung.
Nach einigen Wendungen des Geſpraͤches
kam man auf die Seltſamkeit der Traͤume, und
wie wunderbar ſich, das Ahndungsvermoͤgen des
Menſchen oftmals in ihnen offenbare, und nach-
dem einige Beiſpiele erzaͤhlt waren ſagte Anton:
mir iſt eine Geſchichte dieſer Art bekannt, die
mir glaubwuͤrdige Freunde als eine unbezwei-
felt wahre mitgetheilt haben, und die ich Ihnen
noch vortragen will, da ſie uns nicht lange auf-
[461]Erſte Abtheilung.
halten wird. Ein Landedelmann ruhte neben ſei-
ner Frau in einem Zimmer des Schloſſes. Mit-
ternacht war ſchon voruͤber, als er ploͤtzlich aus
dem Schlafe auffuhr, und ſeine Gattin weckte.
Was iſt dir, mein Lieber? fragte dieſe verwun-
dert. Mich hat ein ſeltſamer Traum auf eine
eigne Art bewegt, antwortete der Mann. Mir
war, als ginge ich auf den Saal hinaus, und
wie ich mich umſah, ſtand dein Kammermaͤdchen
vor mir, aber ſo geputzt und aufgeſchmuͤckt, wie
ich ſie niemals geſehn habe, auch trug ſie einen
gruͤnen Kranz in den Haaren; ſie warf ſich vor
mir nieder, umfaßte meine Knie, und beſchwor
mich, ich ſolle ihr beiſtehn, denn ihr Leben
ſchwebe in der groͤßten Gefahr. Ich habe ſie
ſo deutlich vor mir geſehn, und bin von ihren
Thraͤnen und Bitten ſo geruͤhrt, daß ich nicht
weiß, was ich davon denken ſoll. Wer wird,
ſagte die Frau, uͤber einen zufaͤlligen Traum
gruͤbeln! Schlafe wohl und ſtoͤre mich nicht
wieder. Beide ſchliefen ein. Nach einer halben
Stunde erwachte der Mann in noch groͤßerer
Beaͤngſtigung; er rief ſeiner Gattin und ſagte
ihr, daß der nemliche Traum mit denſelben Um-
ſtaͤnden ihm wieder vorgekommen ſey, und das
Maͤdchen habe noch dringender gefleht, noch
ſchmerzlicher geweint. Die Frau ſchalt dieſes
Wichtignehmen eines leeren Traumes, Grille, fand
die Widerholung der nemlichen Scene ſehr na-
tuͤrlich und begreiflich; nach einem kurzen Ge-
[462]Erſte Abtheilung.
ſpraͤche war auch der Mann derſelben Meinung,
und beide hatten ſich wieder dem Schlafe uͤber-
laſſen. Sie erſtaunte, als ſie nach einiger Zeit
von dem Geraͤuſch erwachte, welches der Mann
erregte, den ſie angekleidet, und mit einem Lichte,
welches er angezuͤndet hatte, vor dem Bette ſte-
hen ſah. Was iſt dir nur heut? fragte ſie halb
unwillig. Sey es wie es ſey, antwortete ihr
Gatte, ich will dieſesmal einem Traume glau-
ben, wenn auch ſonſt nie wieder, denn das Maͤd-
chen iſt mir jetzt zum dritten male eben ſo er-
ſchienen, hat ihre Bitte wiederholt und mit
aͤngſtlichem Schreien hinzu gefuͤgt: nun iſt es
die hoͤchſte Zeit, in einigen Minuten iſt es zu
ſpaͤt! Ich will jetzt hinauf gehn, und ſehn was
ſie macht. Ohne eine Antwort zu erwarten ver-
ließ er das Schlafzimmer. Wie erſtaunte er, in-
dem er ſich die Treppe hinauf begeben wollte,
daß die breiten Stiegen herunter das Maͤdchen
ihm gerade ſo entgegen ſchritt, wie er ſie im
Traume geſehen hatte, im ſeidenen Kleide, wel-
ches ihr nur vor wenigen Tagen die gnaͤdige
Frau geſchenkt hatte: mit Myrthen und Blumen
in den Haaren, eine kleine Laterne in der Hand;
das Licht, welches er trug, warf einen vollen
Schein uͤber die erſchrockene Geſtalt, die auf die
Anrede, wohin ſie gehe, und was ſie vorhabe,
anfangs in ihrer Verwirrung nichts zu antwor-
ten wußte. Endlich ſammelte ſie ſich etwas und
fiel ihrem Gebieter zu Fuß, deſſen Knie ſie mit
[463]Erſte Abtheilung.
Thraͤnen umfaßte. O Vergebung, mein gnaͤdiger
Herr! rief ſie aus, vergeben Sie, und machen
Sie, daß die gnaͤdige Frau mir verzeiht: in die-
ſer Stunde wollte ich draußen im Garten hinter
der Lindenallee den Gaͤrtner treffen, der mir
ſchon ſeit lange die Ehe verſprochen hat, und
mit dem ich verlobt bin; heute Nacht wollten
wir uns heimlich in der Capelle hier neben an
trauen laſſen, denn ich Ungluͤckliche bin ſeit fuͤnf
Monden von ihm guter Hofnung. Gehe ruhig
in dein Zimmer zuruͤck, ſagte der Herr; ich will
den Gaͤrtner ſelber aufſuchen, ich habe gegen
eure Verbindung nichts, nur dieſe Heimlichkeit
iſt mir anſtoͤßig. Er hat es durchaus ſo gewollt,
antwortete ſie, weil er der Ueberzeugung war,
daß Sie uns beide nicht in Ihren Dienſten be-
halten wuͤrden, wenn Sie die Sache erfuͤhren.
Gieb dich fuͤr heut zufrieden, ſagte der Herr;
morgen wollen wir vernuͤnftig daruͤber ſprechen.
O Gott, ſchluchzte ſie, ſo habe ich doch heute
mein Brautkleid umſonſt angelegt! Mit dieſen
Worten ging ſie die Treppe wieder hinauf. Der
Baron ließ im Saale die Kerze ſtehn, und begab
ſich in den Garten. Die Nacht war finſter und
ohne Sterne, ein feuchter Herbſtwind ſchlug ihm
entgegen, die Baͤume ſauſten winterlich. Er
ſchritt durch die bekannten Gaͤnge, und hinter
den Linden, an der einſamſten und entfernteſten
Stelle des Gartens ſah er aus dem Boden ein
Lichtlein ſchimmern. Als er naͤher ging, ſah er,
[464]Erſte Abtheilung.
daß ſein Gaͤrtner in einer ausgehoͤlten Grube
ſtand, und beim Schein einer kleinen Blendla-
terne eifrig die Hoͤle wie zu einem Grabe erwei-
terte. Ein Beil lag neben ihm. Ein Schauder
ergriff den Herrn. Was macht ihr da? rief er
ihn ploͤtzlich an. Der Gaͤrtner erſchrack und ließ
den Spaten fallen, indem er die Geſtalt ſeines
Gebieters gerade uͤber ſich erblickte. Ich will
hier Fruͤchte fuͤr den Winter einlegen, ſtotterte
er verwirrt. Kommt mit mir in mein Zimmer,
ſagte der Baron, ich habe mit euch zu ſprechen.
Sogleich, gnaͤdiger Herr, erwiederte der Gaͤrt-
ner. Er hob die Laterne auf, und ſtieg aus der
Grube; aber ſtatt ſich nach dem Schloſſe zu wen-
den, blies er ploͤtzlich das Licht aus, ſprang
uͤber die Gartenhecke, und lief in den nahen
Wald hinein. Seitdem hatte ihn Niemand in
der dortigen Gegend wieder geſehn. —
O weh! rief Clara, die ſchrecklichen Ge-
ſchichten fangen von neuem an, und nun iſt es
gar Nacht und finſter! Sie faßte ein Licht, und
dasſelbe thaten die uͤbrigen Frauen, um ſich auf
ihre Zimmer zu begeben, als ein ungeheurer
Schlag ploͤtzlich gegen die Thuͤre erklang. Alle
ſahen ſich ſchweigend an, und herein trat mit
zentnerſchwerem Schritt die Geſtalt des ſteiner-
nen Gaſtes. Er begab ſich bis in die Mitte
des Saales, indem noch keiner ein Wort aus-
zuſprechen wagte.
Ich bin es ja, ihr Narren, rief ploͤtzlich
Man-
[465]Erſte Abtheilung.
Manfreds bekannte Stimme, indem er mit ſeinem
natuͤrlichen Gange naͤher kam. O er iſt unertraͤg-
lich, ſagte Roſalie; glaubſt du denn, daß ich nicht
eben ſo ſtark ſchaudre, wenn ich gleich erkenne,
daß das Geſpenſt nur eine weiße Maske iſt, ge-
rade deshalb, weil du, der Bekannte der Be-
freundete, mir ſo grauenvoll erſcheinſt? Dieſe
Vermiſchung deſſen, was uns lieb und entſetzlich
iſt, iſt gerade das Widerwaͤrtigſte. So will er
auch immer nicht begreifen, daß ich mich vor
ihm fuͤrchte, wenn er, wandelt ihn einmal die
Laune an, den Betrunkenen ſo natuͤrlich ſpielt,
und daß ich eben ſo gern einen wirklich Berauſch-
ten oder Wahnſinnigen vor mir ſehen moͤchte.
Geh, du Ungezogener, und wiſche dir den Pu-
der aus dem Geſichte.
Nicht eher, ſagte Manfred, bis du, und
Auguſte, und Clara, mir jede einen Kuß gege-
ben haben. Er ging auf ſie zu, die drei Frauen
aber flohen mit den Lichtern, die ſie in den
Haͤnden hielten, durch den offenen Saal in den
Garten, und die weiße behelmte Geſtalt rannte
ihnen nach. Man hoͤrte ſie kreiſchen, und ſah
die drei Lichter und ſchlanken Geſtalten durch
den Buchengang ſchweben, dann um die Laube
biegen, und dem Springbrunnen voruͤber ſich in
den großen Baumgang verlieren. Ploͤtzlich ver-
nahm man ein lautes Aufrauſchen im groͤßten
Brunnen, wie wenn eine große Wucht hinein
ſtuͤrzte, und das Waſſer klatſchend daruͤber zu-
I. [ 30 ]
[466]Erſte Abtheilung.
ſammen ſchluͤge. Die Geaͤngſtigten ſtuͤrzten mit
ihren Lichtern herzu, und Manfred, welcher hin-
ein geſprungen war, gab der zunaͤchſt ſtehenden
Clara einen fluͤchtigen Kuß, dann ſeiner Gattin,
und auch Auguſte durfte ſich nicht weigern, weil
er ſchwur, widrigenfalls die ganze Nacht im
Baſſin zu verharren. Nun habe ich meinen
Willen gehabt, ſagte Manfred ruhig, und nun
wird es wohl an der Zeit ſeyn, mich umzuklei-
den oder vielmehr zu entkleiden, und mich im
Bette zu erwaͤrmen.
Man ſchalt und lachte, und Emilie war be-
ſonders unzufrieden. Die Frauen und Manfred
gingen hinauf. Die uͤbrigen Freunde blieben noch
im Garten, wo ſie nach einiger Zeit von dem
obern Zimmer Geſang ertoͤnen hoͤrten, der lieb-
lich durch den Garten ſcholl. Es war ein Sin-
geſtuͤck von Paleſtrina, welches die drei Frauen
ohne Begleitung eines Inſtruments ausfuͤhrten.
Friedrich ſagte: alle Empfindungen, ſchoͤne
wie unangenehme, verſchuͤtten ſie jetzt in dieſe
Wogen des Wohllauts. So wird der Tag am
ſchoͤnſten beſchloſſen, und die Nacht am wuͤrdig-
ſten gefeyert.
Ich halte es fuͤr ein Gluͤck meines Lebens,
ſagte Ernſt, daß ich zeitig genug nach Rom kam,
um noch oftmals den Geſang der paͤpſtlichen
Capelle hoͤren zu koͤnnen. Die Muſik, die man
Weihnachten in Maria Maggiore und in der
Charwoche im Vatikan hoͤrte, vielmals auch im
[467]Erſte Abtheilung.
paͤpſtlichen Pallaſt auf Monte Cavallo, war eben
ſo einzig, als es das juͤngſte Gericht von Mi-
chael Angelo, oder die Stanzen Rafaels ſind;
man konnte dieſen Genuß auch nur in dem ein-
zigen Rom haben, und wie dieſe Hauptſtadt der
Welt, der Mittelpunkt der Mahlerei und Skulp-
tur war, ſo war ſie auch die wahre hohe Schule
der Muſik. Dieſe Herrlichkeit iſt nun auch zer-
truͤmmert, und man kann davon nur wie von
einer alten wunderbaren Sage erzaͤhlen. Schon
fruͤher war es fuͤr mich eine Epoche meines Le-
bens geweſen, dieſen alten wahren Geſang ken-
nen zu lernen: ich hatte immer nach Muſik, nach
der hoͤchſten, geduͤrſtet, und geglaubt, keinen Sinn
fuͤr dieſe Kunſt zu beſitzen, als mit der Kennt-
niß des Paleſtrina, Leo, Allegri, und jener Al-
ten, die man jetzt von den Liebhabern ſelten oder
nie nennen hoͤrt, mein Gehoͤr und mein Geiſt
erwachte. Seitdem weiß ich wohl, was ich vor-
her ſuchte, und warum ehemals mich nichts be-
friedigen wollte. Seitdem glaube ich eingeſehen
zu haben, daß nur dieſes die wahre Muſik ſey,
und daß der Strom, den man in den weltlichen
Luxus unſerer Oper hinein geleitet hat, um ihn
mit Zorn, Rache und allen Leidenſchaften zu ver-
ſetzen, truͤbe und unlauter geworden iſt: denn
unter den Kuͤnſten iſt die Muſik die religioͤſeſte,
ſie iſt ganz Andacht, Sehnſucht, Demuth, Liebe;
ſie kann nicht pathetiſch ſeyn, und auf ihre
Staͤrke und Kraft pochen, oder ſich in Verzweif-
[468]Erſte Abtheilung.
lung austoben wollen, hier verliert ſie ihren
Geiſt, und wird nur eine ſchwache Nachahmerin
der Rede und Poeſie.
Du ſcheinſt mir jetzt zu einſeitig, ſagte Lo-
thar; erinnere ich mich doch der Zeit recht gut,
wo du den Mozart hoch verehrteſt.
Ich muͤßte ohne Gefuͤhl ſeyn, antwortete
Ernſt, wenn ich den wunderſamen, reichen und
tiefen Geiſt dieſes Kuͤnſtlers nicht ehren und lie-
ben ſollte, wenn ich mich nicht von ſeinen Wer-
ken hingeriſſen fuͤhlte. Nur muß man mich kein
Requiem von ihm wollen hoͤren laſſen, oder mich
zu uͤberzeugen ſuchen, daß er, ſo wie die meiſten
Neueren, wirklich eine geiſtliche Muſik habe ſetzen
koͤnnen. Aber er iſt einzig in ſeiner Kunſt.
Als die Muſik ihre himmliſche Unſchuld verlo-
ren, und ſich ſchon laͤngſt zu den kleinlichen Lei-
denſchaften der Menſchen erniedrigt hatte, fand
er ſie in ihrer Entartung, und lehrte ihr aus
bewegtem Herzen das Wunderſamſte, Fremdeſte,
ihr Unnatuͤrlichſte austoͤnen; zugleich jene tiefe
Leidenſchaft der Seele, jenes Ringen aller Kraͤfte
in unausſprechlicher Sehnſucht, nicht fremd ſo-
gar blieb ihr das geſpenſtiſche Grauen und Ent-
ſetzen. Ich ſehe hierinn die Geſchichte des Or-
pheus und der Eurydice. Sie iſt geſtorben; bei
den Schatten, in der dunkeln Unterwelt weilt
die Geliebte; er fuͤhlt Kraft und Muth genug,
das Licht der Sonne zu verlaſſen, ſich der ſchwar-
zen Flut und Daͤmmerung anzuvertrauen; ſein
[469]Erſte Abtheilung.
Zauberſpiel ruͤhrt den ernſten, ſonſt unerbittlichen
Gott, die Larven und Verdammten genießen in
ſeinen Toͤnen einer ſchnell voruͤber fliehenden
Seeligkeit; Eurydice folgt ſeinem Saitenſpiel,
aber nicht ruͤckwaͤrts ſoll er blicken, ihr nicht
ins Angeſicht ſchauen, ſie nur im Glauben be-
ſitzen; ſie lockt, ſie ruft, ſie weint, da wendet
ſich ſein Auge, und blaſſer und blaſſer zittert die
geliebte Geſtalt in den gaͤhnenden Orkus zuruͤck.
Der Saͤnger tritt mit der Kraft ſeiner Toͤne wie-
der in die Oberwelt, ſein Lied ſingt und klagt
die Verlorene, alle Melodien ſuchen ſie, aber
er hat aus dem tiefen Abgrund, den kein Saͤn-
ger vor ihm beſucht, das ſchwermuͤthige Rollen
der unterirdiſchen Waͤſſer, das Aechzen der Ge-
marterten, das Stoͤhnen der Geaͤngſtigten und das
Hohnlachen der Furien, ſamt allen Graͤueln der
dunkeln Reiche mit herauf gebracht, und alles
klingt in vielfach verſchlungener Kunſt in der
Lieblichkeit ſeiner Lieder. Himmel und Hoͤlle, die
durch unermeßliche Kluͤfte getrennt waren, ſind
zauberhaft und zum Erſchrecken in der Kunſt
vereinigt, die urſpruͤnglich reines Licht, ſtille Liebe
und lobpreiſende Andacht war. So erſcheint mir
Mozarts Muſik.
Es war den neuſten Zeiten vorbehalten,
fuhr Lothar fort, den wundervollen Reichthum
des menſchlichen Sinnes in dieſer Kunſt, vor-
zuͤglich in der Inſtrumental-Muſik auszuſpre-
chen. In dieſen vielſtimmigen Compoſitionen
[470]Erſte Abtheilung.
und in den Symphonien vernehmen wir aus
dem tiefſten Grunde heraus das unerſaͤttliche,
aus ſich verirrende und in ſich zuruͤck kehrende
Sehnen, jenes unausſprechliche Verlangen, das
nirgend Erfuͤllung findet und in verzehrender
Leidenſchaft ſich in den Strom des Wahnſinns
wirft, nun mit allen Toͤnen kaͤmpft, bald uͤber-
waͤltigt bald ſiegend aus den Wogen ruft, und
Rettung ſuchend tiefer und tiefer verſinkt. Und
wie es dem Menſchen allenthalben geſchieht,
wenn er alle Schranken uͤberfliegen und das
Letzte und Hoͤchſte erringen will, daß die Leiden-
ſchaft in ſich ſelbſt zerbricht und zerſplittert, das
Gegentheil ihrer urſpruͤnglichen Groͤße, ſo ge-
ſchieht es auch wohl in dieſer Kunſt großen
Talenten. Wenn wir Mozart wahnſinnig nen-
nen duͤrfen, ſo iſt der genialiſche Beethoven oft
nicht vom Raſenden zu unterſcheiden, der ſelten
einen muſikaliſchen Gedanken verfolgt und ſich
in ihm beruhigt, ſondern durch die gewaltthaͤ-
tigſten Uebergaͤnge ſpringt und der Phantaſie
gleichſam ſelbſt im raſtloſen Kampfe zu entflie-
hen ſucht.
Alle dieſe neuen tiefſinnigen Beſtrebungen,
ſagte Anton, ſind meinem Gemuͤthe nicht fremd,
ſie toͤnen wie das Rauſchen des Lebensſtromes
zwiſchen Felſenufern, der uͤber Klippen und
hemmendem Geſtein in romantiſcher Wildniß
muſikaliſch brauſt; nur das iſt mir unbegreiflich
geblieben, wie die Schoͤpfung und die Tages-
[471]Erſte Abtheilung.
zeiten unſers Haydn faſt allenthalben haben
Gluͤck machen koͤnnen, deren kindiſche Mahle-
rey gegen allen hoͤheren Sinn ſtreitet. Seine
Symphonien und Inſtrumental-Compoſitionen
ſind meiſt ſo vortreflich, daß man ihm dieſe
Verirrung niemals haͤtte zutrauen ſollen.
Friedrich wandte ſich zu Ernſt und ſagte:
Lieber, ehe wir jetzt ſcheiden, ſage uns noch die
drei Sonette vor, welche du dichteteſt, als dir
jene alte große Singe-Muſik zuerſt bekannt
wurde. Dieſe Verſe ſind mir immer vorzuͤglich
lieb geweſen, weil ſie mir nicht ſo wohl gedich-
tet als eingegeben ſcheinen.
Ich kann wenigſtens ſagen, erwiederte Ernſt,
daß ich ſie damals niederſchreiben mußte, und
daß ich von den oft beſprochenen Schwierigkei-
ten des Sonetts nichts erlitt. Von dreierlei
Art kann die geiſtliche Muſik hauptſaͤchlich ſeyn.
Entweder iſt es der Ton ſelbſt, der durch ſeine
Reinheit und Heiligkeit die Andacht erweckt,
durch jene einfache edle Sympathie, welche har-
moniſch die befreundeten Klaͤnge verbindet und
miteinander ausſtralen laͤßt, wodurch jene hohe
Muſik entſteht, welche ſinnige Alte dem Um-
ſchwung der Geſtirne ebenfalls zuſchreiben woll-
ten. Dieſer Geſang, ausgehalten, ohne raſche
Bewegung, ſich ſelbſt genuͤgend, ruft in unſre
Seele das Bild der Ewigkeit, ſo wie der Schoͤp-
fung und der entſtehenden Zeit: Paleſtrina iſt
der wuͤrdigſte Repraͤſentant dieſer Periode. Oder
[472]Erſte Abtheilung.
die Muſik iſt mit dem Menſchen und der Schoͤp-
fung ſchon von dieſer heiligen reinen Bahn
gewichen: alles verſtummt; da ergreift die Sehn-
ſucht aus dem Innerſten hervor den Ton, und
will in jene alte Unſchuld zuruͤck ſtuͤrmen und
das Paradies wieder erobern. Leo, und viel-
leicht Marcello, ſo wie viele andre, charakteriſi-
ren dieſe Epoche. An dieſe ſchon mehr leiden-
ſchaftliche Kunſt ſchloſſen ſich nachher die welt-
lichen Muſiker. Drittens kann die geiſtliche
Muſik ganz wie ein unſchuldiges Kind ſpielen
und taͤndeln, arglos in der Suͤßigkeit der Toͤne
wuͤhlen und plaͤtſchern, und auf gelinde Weiſe
Schmerz und Freude vermiſcht in den lieblich-
ſten Melodien ausgießen. Der oft von den
Gelehrteren verkannte Pergoleſe ſcheint mir hierin
das Hoͤchſte erreicht zu haben, den ſeine Nach-
ahmer wohl eben ſo wenig verſtanden, als Cor-
reggio von denen gefaßt wurde, die ſich nach
ihm bilden wollten. Das aͤhnliche ſagen fol-
gende Sonette, welche die Muſik ſelber ſpricht.
[473]Erſte Abtheilung.
[474]Erſte Abtheilung.
[[475]]
Zweite Abtheilung.
Lothar.
[[476]][[477]]
Es war am folgenden Tage ſchon ſpaͤt gewor-
den, und Emilie zweifelte, ob es noch Zeit ſeyn
wuͤrde, eine Vorleſung anzufangen. O meine
verehrte Freundinn, rief Lothar aus, ſoll denn
die Geſellſchaft, die uns heut aufgehalten und
uns alle unruhig gemacht hat, auch auf meine
Regierung und unſre Unterhaltung ſo ſchlimmen
Einfluß aͤußern! Es wird gerade am beſten ſeyn,
durch ein Gedicht, welches von keinem großen
Umfange iſt, die Ruhe wieder zu finden, die
jene flatternden Fraͤulein uns entfuͤhrt haben,
welche unermuͤdet aus einem Zimmer in das
andre, und vom Garten in den Saal und wie-
der aus dem Saal in den Garten zuruͤck wogten,
um irgendwo Spaß und Zeitvertreib anzutreffen,
welche ſich nirgend wollten erhaſchen laſſen.
Anton zog ein Buͤchelchen aus der Taſche,
indem er ſagte: ich muß wieder der erſte ſeyn,
der voran geſchickt wird, um meinen Freunden
die Bahn zu brechen, damit ſie nachher ihre
Verirrungen mit meinem Beiſpiel entſchuldigen
koͤnnen. Unſer Zeitalter iſt durchaus dramatiſch,
und um den allerfruͤheſten Forderungen des Her-
zens zu genuͤgen, habe ich den Verſuch gemacht,
ein Maͤhrchen von der hoͤchſten Albernheit, mit
welchem die Waͤrterinnen faſt zuerſt die Kinder zu
fuͤrchten machen, in einer Tragoͤdie darzuſtellen.
[478]Zweite Abtheilung.
Leben und Tod
des
kleinen Rothkaͤppchens.
Eine Tragoͤdie.
Perſonen:
- Die Großmutter.
- Rothkaͤppchen.
- Hanna,
ein Bauermaͤdchen.
- Der Jaͤger.
- Zwei Rothkehlchen.
- Der Wolf.
- Der Hund.
- Ein Bauer.
- Peter.
- Deſſen Braut.
- Die Nachtigall.
- Der Kuckuck.
[479]Rothkaͤppchen.
Erſte Scene.
Iſt heute gar ein ſchoͤner Tag,
An dem man gern Gott dienen mag,
Das Wetter iſt hell, ſcheint die Sonne herein,
Da muß das Herz andaͤchtig ſeyn.
Ich hoͤre von ferne das Gelaͤute,
Es iſt ein lieblicher Sonntag heute,
Vor dem Fenſter die Baͤume ſich rauſchend neigen,
Als wollten ſie ſich gottsfuͤrchtig bezeigen.
Ich wohn allhier vom Dorf abſeitig,
Sonſt ging ich gern zur Kirche zeitig,
Doch ich bin alt, dazu krank geweſen,
Da thu ich im lieben Geſangbuch leſen,
Der Herr muß damit zufrieden ſich geben,
Eine arme Frau kann nicht mehr thun eben. —
Ach Gott! ſo geht es in der Welt!
Ja, ja, es iſt recht ſchlimm beſtellt.
Meine Tochter Elsbeth backt heute Kuchen,
Da wird mich wohl klein Rothkaͤppchen beſuchen.
Es geht die Thuͤr oder es iſt der Wind,
Ich glaube da kommt das kleine Kind.
[480]Zweite Abtheilung.
Guten Morgen, lieb Großmutter, wie geht es dir?
Großen Dank, mein Kind, es geht ſo ſo — was
matt.
Ich kam ſo ſachtchen durch die Thuͤr;
Ich dachte: wenn ſie nicht gut geſchlafen hat,
So mag ſie wohl jetzt ein bischen nicken,
Da mußt du ſie nicht aus dem Schlummer wecken.
Ich bin ſchon heut fruͤh munter geweſen
Und habe in Gottes Wort geleſen.
Du biſt recht fromm. Die Mutter hat heut
Einen ſchoͤnen großen Kuchen gebacken,
Da ſchickt ſie dir auch ein Stuͤck.
Du liebe Zeit!
Ei, Dank, mein Kind! Der ſchaut recht wacker.
Wo ſind denn die lieben Eltern dein?
Sie werden jetzt in der Kirche ſeyn,
Ich ging vorbei, die Orgel klung
Recht luſtig, der Kanter maͤchtig ſung.
Mit der Kirch iſt es heut beſonders bewendt,
Es predigt drinn der Superdent,
Der Paſtor iſt noch krank, deswegen
Iſts heute drinn recht dick voll Leut;
Sie
[481]Rothkaͤppchen.
Sie meinen, der koͤnnte recht den Text auslegen. —
Du haſt ja ſchoͤnen friſchen Sand geſtreut.
Man muß doch auch wiſſen, daß Sonntag iſt,
Sonſt lebt man wie'n Heide und nicht wie ein
Chriſt.
Sie haben mich auch heute weiß angezogen,
Sieh nur die bunten Blumen, das neue Kleid!
Dem Kaͤppchen bin ich beſonders gewogen,
Das du mir ſchenkteſt zur Weihnachtszeit.
Sie ſagen alle, es thaͤte Noth,
Daß ich das Kaͤppchen ließe liegen
Und es nicht alle Tage truͤge;
Aber es geht doch keine Farbe uͤber Roth.
Ei, liebes Kind, trag du ſie dreiſt,
Ich hab ſie dir geſchenkt zum heiligen Chriſt,
Sie kleidt dich huͤbſch, und wie du weißt,
Du ſeitdem Rothkaͤppchen geheißen biſt;
Iſt die aufgetragen, ſchafft man wohl Rath zu
'ner neuen.
Wie wollt ich mich von Herzen freuen
Wenn ſie mich erſt koͤnnten konfirmiren!
Dazu mußt du mir wieder 'ne rothe Kappe ſchenken.
Daran iſt jetzt noch nicht zu denken,
Du biſt kaum ſieben Jahr, da fuͤhren
Sie noch kein Kind an den Tiſch des Herrn,
Da koͤnnen ſie noch nichts von Religion verſtehn,
I. [ 31 ]
[482]Zweite Abtheilung.
Du duͤrfteſt auch nicht in 'ner rothen Muͤtze gehn,
Muͤßteſt ſchwarz und ehrbar dich tragen,
Einen Muff, 'nen hohen Kragen;
Das kann Gott der Herr nicht vertragen,
Daß man zu ihm wie zum Tanzboden ſpringt,
Sein Wort mit rothen Muͤtzen in der Kirche ſingt.
Bin doch ſchon ſo in die Kirche gegangen,
Und hat mir keiner was drum gethan.
Als Kind iſt dirs ſo hingegangen,
Die Unmuͤnd'gen ſieht er ſo genau nicht an.
Was hat aber Gott an ſo ſchoͤnen rothen Muͤtzen
Denn ſo gar Großes auszuſetzen?
Ei ſchweig, du boͤſes Kind! Vor der Hand
Haſt du davon noch keinen Verſtand;
Wer da will in ſein Himmelreich eingehen,
Muß ſich wohl zu ſchwereren Dingen verſtehen.
Ließe mich Gott nur ſo lange leben,
Daß ich dir zum Abendmahl koͤnnt' ein Muͤffchen
ſchenken!
Doch iſt daran nicht zu gedenken,
Ich muß wohl bald den Geiſt aufgeben.
Großmutter, nein, das thut nicht Noth.
Hin geht die Zeit, her kommt der Tod. —
Ich befehle mich in deine Haͤnde! —
Wer weiß, wie nahe mir mein Ende.
[483]Rothkaͤppchen.
Großmutterchen, willſt du mich lieben
Mußt du mich auch nicht ſo betruͤben.
Du ſollſt noch recht huͤbſch bei mir bleiben,
Wir wollen uns noch ſchoͤn die Zeit vertreiben;
Ein andermal bring ich mein Puͤppchen mit,
Da ſollſt du gewiß brav luſtig werden.
Ach, liebes Kind, auf dieſer Erden
Iſt man vom Grab oft nur zwei Schritt,
Und meint, man ſoll noch weit gelangen. —
Sieh, wie ſchoͤn der Kuchen aufgegangen.
Was macht denn der Vater? Warum koͤmmt er
nicht mal her?
Er hats in den Beinen, das Gehn wird ihm ſchwer,
Das eine Knie iſt ganz geſchwollen.
Da haͤtt' er was zu brauchen ſollen.
Er hat auch mancherlei eingenommen,
Doch will es ihm nicht recht bekommen.
Der Kantor meint, vom Trinken kaͤm es,
Das muͤßt er laſſen bei Medicin;
Doch will er ſich dazu nicht bequemen,
Er ſagt, der Kantor vexire ihn,
Der traͤnke wohl dreimal mehr als er,
Und haͤtte doch keine Beine ſchwer.
Die boͤſen Leut'! Der Brantewein
Muß immer ihre erſte Freude ſeyn.
[484]Zweite Abtheilung.
Ja, es hat manchen Zank geſetzt;
Aber die Mutter hat Recht, denn ſie verſetzt,
Das Trinken waͤr ihm an Arbeit hinderlich.
Der Vater iſt ganz boͤs und wunderlich.
Sei ſtill, mein Tochter, es ſchickt ſich weder
Daß Kinder dergleichen merken noch reden.
Das hat ihm Mutter auch zu Gemuͤth gefuͤhrt,
Daß er ſich nicht ein bischen vor mir genirt,
Wenn er des Abends betrunken heime ſchwaͤrmt
Und ohne Urſach zankt und laͤrmt. —
Ich habe dir ſchoͤnen Blumen mitgebracht,
Bald haͤtt ich daran nicht gedacht,
Es lacht von rother Bluͤthe der ganze Wald,
Von tauſend Voͤgeln das gruͤne Dickicht ſchallt.
Ei ſieh, wie du in deiner Taſche faſt
Die lieben Bluͤmchen ganz zerknittert haſt!
Du biſt und bleibſt ein wildes Ding.
Als ich ſo auf dem Fußſteig ging,
Wars, als haͤtt ich ſie pfluͤcken muͤſſen,
So lachten ſie zu meinen Fuͤßen;
Ich dachte, du koͤnnteſt ſie vors Fenſter ſtellen. —
Horch! was muͤſſen denn wohl die Hunde ſo
bellen?
Man ſpricht, daß ſich ſeit ein'gen Tagen
Ein Wolf hier zeigt, den moͤgen ſie wohl jagen.
[485]Rothkaͤppchen.
Hier iſt es recht luſtig vor deinem Haus,
So dicht am Fenſter der Wald da draus,
Voͤgel ſpringen und ſingen ohne Raſt
Und zwitſchern munter von Aſt zu Aſt;
Magſt du wohl die kleinen Voͤglein leiden?
Ich ſehe ſie an mit vielen Freuden,
Sie ſind ſchon immer recht fruͤhe munter
Und ſingen den gruͤnen Wald hinunter,
Sie muſiziren mit ſolcher Pracht,
Daß einem das Herz im Leibe lacht.
Was iſt das fuͤr ein Baum da, deſſen Blaͤtter
So haſtig flispern, als wenn ſie zittern?
Der wird der Espenbaum genannt.
Aha! Mir iſt ein Sprichwort bekannt:
Er zittert wie 'ne Espe; das kommt daher!
Wovon zittert aber wohl der Baum ſo ſehr?
Das will ich dir gern ſagen, mein Kind,
Nur ſchlag es nicht gleich wieder in den Wind
Als unſer Herr Chriſtus in Menſchengeſtalt
Hatt' auf der Erde ſeinen Aufenthalt,
Da wandelt' er oft durch Berg und Wald.
Er hat auch in der Wuͤſten gereiſt
Und da fuͤnf tauſend Mann geſpeiſt;
[486]Zweite Abtheilung.
Dann hat er viele Quaal erfahren,
Iſt endlich gar gen Himmel gefahren.
Recht! es iſt viel in deinen Jahren
Daß du ſchon ſo viel Gottes Wort weißt.
Im Katechismus ſteht es Wort fuͤr Wort.
Herr Chriſtus reiſte von Ort zu Ort,
Seine Lehr zu predigen, Kranke zu heilen,
Und uns ſein Evangelium zu ertheilen.
So ging er auch einſt durch einen Wald,
Die Baͤum' erkannten ihn alsbald,
In ihrer Unvernunft fingen ſie an ſich zu neigen
Und bis auf die Erde herunter zu beugen,
Rauſchten dazu, als wenn ſie gruͤßten
Und ſeine heiligen Fußſtapfen kuͤßten,
Die Eiche, die Buche, und wie man ſie nennt,
Machen vor Gottes Sohn ihr ſchoͤn Compliment.
Wie ſich nun jeder Baum in Demuth wendt,
Sieht der Herr Jeſus, daß das Espenholz
Grad aufrecht ſteht in ſeinem dummen Stolz,
Ihm auch durchaus will keine Ehr erzeigen,
Den ſteifen Ruͤcken nicht zur Demuth neigen.
Da ſprach der Herr: du willſt mich nicht begruͤßen,
Du ſtellſt dich an, als waͤr ich nicht zugegen,
Dafuͤr ſollſt du beſtaͤndig rauſchen muͤſſen
Und dich in allen deinen Zweigen regen,
Und ſelbſt im allerſtillſten Wetter
Mit deinen gruͤnen Laͤubern zittern!
[487]Rothkaͤppchen.
Die Angſt befiel den Baum, als er ſo ſprach,
Er zittert fort bis an den juͤngſten Tag.
Ja, ja, wer nicht bei Zeiten hoͤrt, der fuͤhle! —
Leb wohl, ich geh zuruͤck, noch iſt es kuͤhle.
Mein Kind, eh du dich nun entfernt,
Sing noch das Lied, das du gelernt.
Das iſt ein ſchoͤnes Lied, das nimm in Acht,
Untugend hat noch nie was eingebracht. —
Gruͤß deine Mutter, ich laſſe mich bedanken,
Daß ſie nicht vergißt die Alten und Kranken.
Leb wohl, Großmutter! ich komme wohl wieder,
Und bringe Nachmittag noch Eſſen heruͤber.
Da laͤßt der Ruſchel die Hofthuͤr auf!
[488]Zweite Abtheilung.
Nun kann jeder zu mir den Hof hinauf;
Sie bleibt ſo wild wie ſie nur war
Und koͤmmt doch in die erwachſene Jahr:
Doch hat es eben nichts zu bedeuten,
Es koͤmmt ja keiner zu mir heute.
Es iſt wahr, nichts uͤber das Maͤdchen geht,
Und wie ihr das rothe Muͤtzchen ſteht!
Zweite Scene.
Immer und ewig ein Jaͤger zu ſeyn,
Das will mir gar nicht den Kopf hinein;
Bei Tag und Nacht den Wald durchrennen,
Wenn andre zu Hauſe ſitzen koͤnnen,
Im Schnee, in der Kaͤlt' und Hitze,
Iſt dem geſundeſten Koͤrper nicht nuͤtze.
Heut iſt im Dorfe kein ſo armer Flegel,
Der nicht ſeine etliche Staͤmme kegelt,
Am Abend ſitzet bei den Wenzeln,
Und ich muß mich hier im Wald rum haͤnſeln,
Einem Wolf auf die Spur zu gerathen,
Was noch am Ende dient zu meinem Schaden. —
[489]Rothkaͤppchen.
Waͤrſt du nicht, Toback,
Waͤr das Leben gar aͤrmlich,
Es ſtaͤnde um uns Lumpenpack,
Dann wahrlich gar zu erbaͤrmlich.
Wunderlich! wie das Feuer im Stein
Und Stahle muß verborgen ſeyn!
Worauf der Menſch doch nicht gekommen!
Wie alle Kunſt ihren Urſprung genommen!
Es iſt erſtaunlich, was im Menſchen liegt,
Und wie er alles zu ſeinem Nutzen fuͤgt;
Und alle Tage bringt mans weiter,
Unſre Kinder werden noch geſcheidter,
Der Kopf wird den Leuten gar zu voll,
Man begreift nicht, wo's mit all dem Verſtande
hin ſoll.
Ei Rothkaͤppchen, ſey tauſendmal willkommen!
Biſt du ſchon ſo fruͤh ausgegangen?
Ich bin von meiner Großmutter gekommen.
Ihr jagt heut?
Ja, es gilt dem Rangen,
Dem Wolf, der hier im Walde iſt,
Und manch unſchuldig Laͤmmchen frißt.
So iſts doch wahr, was die Leute ſagen?
So duͤrfte ſich ein Wolf ſo nahe wagen?
[490]Zweite Abtheilung.
Sie ſind unverſchaͤmte Geſellen,
Die ſich gern aller Orten einſtellen.
Fuͤrcht't ihr euch nicht, ihm zu nahe zu kommen?
Ich hab' ihn ſchon laͤngſt aufs Rohr genommen.
Ihn fuͤrchten? Da waͤr' ich ein rechter Wicht!
Ich fuͤrchte den leibhaftgen Teufel nicht.
O ſprecht nicht ſo, wenn er nun kaͤme,
Und euch ſo unverſehens naͤhme.
Ein Jaͤger muß haben firmen Muth,
Ein großes Herz, ein braves Blut,
Keine Gefahr nicht achten, kein Wetter ſcheun,
Sonſt ſollt' er zum Ofenſitzer beſſer ſeyn.
Ihr ſeyd heut in der neuen Jacke,
Darzu glaͤnzt auch der Hirſchfaͤnger ſchoͤn.
Wenn ich den Monſieur Wolf nur packe,
So iſts gewiß um ihn geſchehn.
Kleidt michs nicht gut, das neue Tuch?
Es iſt fuͤr ſo was gut genug.
Was haſt du daran auszuſetzen?
Die Jacke wuͤrde euch noch beſſer ſitzen,
Waͤr' ſie ſchoͤn roth, wie meine Muͤtze.
[491]Rothkaͤppchen.
Die ganze Welt kann doch nicht wie deine Muͤtze
ſeyn,
Es muß auch andre Farben geben;
Die gruͤne Farbe, bei meinem Leben,
Die macht einen allerliebſten Schein.
Gruͤn iſt ganz gut und dient zur Noth,
Doch geht keine Farbe uͤber Roth.
Der Wald iſt gruͤn, die Erde iſt gruͤn,
Wo du nur wendeſt dein Auge hin, —
Es iſt was in der Farbe, — ein Weſen, —
Ein Glanz, — verſteh, — ein gewiſſes Weſen —
Das Gruͤn iſt wie geringe Leut,
Man findet es ſo allerwege,
Auf jedem Buſch, jedwed Gehege
Da waͤchſt es; ach du liebe Zeit!
Doch iſt von da zu Roth noch weit.
Das Roth macht gleich die Augen rege;
Wie viel bekoͤmmt ein Kind nicht Schlaͤge,
Daß ihn das Naſchen wohl gereut.
Wo ſich was Rothes laͤßt erblicken
Iſt auch die rothe Lippe da
Und ißt, und waͤrs ein unreif Haͤppchen.
Wie ſelig, wem es mochte gluͤcken,
Daß er auf ſeinem Kopfe ſah
Wie ich, ein ſchoͤnes rothes Kaͤppchen.
Du biſt ein Naͤrrchen, gieb mir einen Kuß.
[492]Zweite Abtheilung.
O geht der Toback macht mir nur Verdruß.
Du Schelm, willſt du nicht Toback riechen,
Wirſt du nimmermehr einen Ehmann kriegen.
Die meinen immer, daß wenn man ſie nicht nimmt,
Man eben gar keinen Mann bekoͤmmt,
Hat einer nun vollends eine neue Jacke angezogen,
So denkt er gar, ihm iſt jeder gewogen.
ſpringen um ſie her.
Rothkaͤppchen! Rothkaͤppchen!
Was wollen die Voͤgel von mir?
Schoͤn guten Tag! Wo gehſt du von hier?
Nach Hauſe. Ei ſieh die artigen Dinger,
Wie ſie auf den kleinen Beinchen ſpringen!
Die haben auch Roth um den Hals und die Bruſt;
So'n Voͤgelchen iſt eine herrliche Luſt!
Du biſt ein Rothkehlchen,
Wir ſind wie Rothkaͤppchen,
Das macht uns Freuden:
Wir ſind dir gut,
Freundliches Blut,
Magſt du uns leiden?
[493]Rothkaͤppchen.
Ach, ihr lieben Geſellen,
Hat euch nicht Gott der Herr eben
Selbſt rothe Muͤtzchen gegeben?
Wer wollte ſolch Urtheil faͤllen,
Daß er an den lieblichen hellen
Bunt Farben und luſtigem Leben,
Nicht haͤtte Gefallen ſo eben
Wie an dem Traurig ſtellen?
Den Kummer laß ich fahren,
Ich glaube dreiſt daran,
Ich darf es immer wagen:
Komm ich zu erwachſenen Jahren,
Zieh ich, wie es beliebt, mich an,
Will auch dann ein rothes Kaͤppchen tragen!
geht ab.)
Rothkaͤppchen, Rothkaͤppchen iſt unſer Freund!
Wie lieblich warm die Sonne ſcheint!
Dritte Scene.
Muß nun hier in den dichteſten Geſtraͤuchen
Wie ein Vertriebener auf und nieder ſchleichen,
Und bin verſtoßen und ausgetrieben.
[494]Zweite Abtheilung.
Da iſt kein Weſen, das mich moͤchte lieben;
Keiner koͤmmt mir nah, keiner mag mir traun,
Sie alle mit Abſcheu auf mich ſchaun.
Und warum wird mir dies alles gethan?
Weil ich nicht heucheln und ſchmeicheln kann.
Weil ich mich nicht erniedern will zum Knecht,
So denkt ein jeder von mir ſchlecht. —
Wie oft bin ich gekraͤnkt und verkannt,
Und umgetrieben von Land zu Land,
Vergeblich ſuchend die Sympathie,
Wohl Schlaͤge fand ich, doch nimmermehr die;
Nach mir geworfen, mit Pulver geſchoſſen,
Und Fallen geſtellt, und dergleichen Poſſen;
Man ſchrie, wo ich mich ließ ſehn bei Tageshelle:
Da geht der Wolf! den nehmt beim Felle!
Und dennoch reden ſie von Toleranz,
Und duͤnkt ſich duldend jeder Alfanz
Wenn er des Sonntags im ordinaͤren Rocke geht,
Bei Aermern auch Gevatter ſteht.
Und noch menſchlicher als der Menſch iſt der Hund,
Mein Geſchwiſterkind, und doch im Bund
Mit unſerm gemeinſchaftlichen Tyrannen.
Da kommt ja Spitz, mein Freund! von wannen
Des Weges, guter, edler Spitz?
Sieh da! iſt hier dein Sommerſitz?
Ich geh ein wenig rum ſpatzieren,
Ein Kaninchen oder Haſen zu attrappiren,
Nur fuͤrcht' ich mich vor des Jaͤgers Buͤchſenſchuß,
[495]Rothkaͤppchen.
Denn ſo ein Kerl verſteht uͤber Jagd keinen
Spaß.
Biſt du noch bei Rothkaͤppchens Vater in Dienſt?
O ja, ich habe da guten Gewinnſt,
Die Wirthſchaft iſt groß, und manches bleibt uͤber
Was ſie mir als andern goͤnnen lieber,
Das Kind im Hauſe iſt mir auch gut
Und ſteckt mir heimlich manches zu,
Wofuͤr ich denn die Katze vexire,
Auch Stoͤckchen aus dem Waſſer apportire,
Lege mich auf den Ruͤcken und ſtelle mich todt.
Gottlob! ich leide jetzt keine Noth.
Das ſind die Kuͤnſte, die finden ihr Brod!
Jetzt iſt ſeit vierzehn oder zwanzig Tagen
Im Wald mit Eſſen ein vieles Tragen,
Die Großmutter iſt krank und wird gepflegt,
Fuͤr mich mancher Knochen beiſeit gelegt.
Die Alte ſtirbt vielleicht, zum Lohn
Erbt ihr Vermoͤgen der Schwiegerſohn;
Der kann es brauchen, er ſaͤuft gern viel,
Verliert auch ſein Geld im Kartenſpiel.
Nur ein gewiſſer philoſophſcher Trieb
Iſt mir in meinem Weſen nicht lieb:
Letzt ſchleppt das Kind einen Stein herbei,
Der wiegt wohl mehr als ihrer drei,
Und wirft mir den vor meine Fuͤße,
Mir wars, als ob ich ihn apportiren muͤſſe,
[496]Zweite Abtheilung.
Ich konnt' ihn nicht regen und nirgend faſſen,
Und mußt' ihn auf der Erde liegen laſſen;
Doch immer wieder, geh ich dort vorbei
Iſt mirs, als ob es moͤglich ſey,
Ich will ihn tragen, ich will ihn heben,
Ich knurr', es verkuͤmmert mir mein Leben;
Bald muß ich hier, bald dort probiren,
Ich kanns ſchon in den Zaͤhnen ſpuͤren.
Der Alte lacht mich aus; ja von Natur verſteht er
Wohl nichts, er ſpricht: ſeht doch den dummen
Koͤter!
Ich moͤchte nicht ſeyn in deiner Lage,
Du lebſt doch nur erbaͤrmliche Tage,
Haſt keinen eignen Willen, biſt nicht frei,
Kriegſt auch Schlaͤg' ohn' Urſach. Verzeih,
Daß ich dir alle deine Freude
Und deinen edlen Stand verleide!
Sprich immer, denn ich kenne dich ſchon,
Weiß auch, daß man die Spekulation,
Selbſt die beſte, und alle Theorie,
Muß mengen ins praktiſche Leben nie.
Ei ſieh, du biſt uͤber alles getroͤſtet,
Wie ein Braten von beiden Seiten geroͤſtet.
Du gehſt am Ende und giebſt mich an.
Nein, wiſſe, ich bin ein ehrlicher Mann,
Du biſt von vordem mein lieber Kumpan,
Waͤrſt du ein klein wenig human
Und
[497]Rothkaͤppchen.
Und ließeſt die wilde Geſinnung fahren,
So wuͤrde was aus dir mit den Jahren.
Nein, Freund, wir wollen uns ſo was erſparen.
In der Kindheit, ich denke noch immer mit Thraͤnen
An jene Tage der Unſchuldzeit,
Wie hatt' ich da ein inniges Sehnen,
Wie trug ich von Wirken und Nuͤtzen ein Waͤhnen,
Wie war ich zu herrlichen Thaten bereit!
Es kann ſich keiner in Idealen
So weit verſteigen, ſo praͤchtig ſie mahlen,
Wie ich alle Talente und alle Kraͤfte
Nur widmen wollte dem Menſchheitsgeſchaͤfte,
Dem herrlichen Fortruͤcken des Jahrhunderts,
Verſprach von meinem Wirken mir viel Wunders,
Und alles lief gar lauſig ab,
Wie ich dir ſchon ſonſt erzaͤhlet hab.
Erzaͤhle noch einmal, ich hoͤre dir zu,
Es ſitzt ſich hier gut in der ſtillen Ruh.
Du weißt, wie damals, als ich dich kennen lernte
Beim Bauer Hans, wo du dienteſt als Knecht,
Ich mich aus meinem Wald entfernte
Und alle Kuͤnſte des Hundes lernte,
Verlaͤugnete ganz mein eigen Geſchlecht,
Um nur dem Staate zu werden recht.
Ich verſcheuchte die Diebe, bewachte den Hof,
Im Regen lag ich, daß der Pelz mir troff,
Erlitt oft Hunger, der Pruͤgel nicht wenig,
Doch war ich in meinen Gedanken ein Koͤnig;
I. [ 32 ]
[498]Zweite Abtheilung.
Ich nutzte, und war mit meiner Beſtimmung zu-
frieden,
Mir ſchien ein herrliches Loos beſchieden.
Still! mir iſt, als ob ich Haſen ſpuͤre.
Sei ruhig, du Narr, hoͤr zu und verſtoͤre
Mir meine tragiſche Leidensgeſchicht
Durch derlei platten Egoismus nicht.
Vernimm denn, wie es ein Ende nahm,
Und wie ich durch Erfahrung dazu kam,
Die Menſchen zu haſſen, die ich wie Bruͤder
Geliebt, die ich meine Freunde geheißen;
Jetzt ſind ſie mir in den Tod zuwider,
Ich moͤchte ſie alle mit den Zaͤhnen zerreißen! —
Meine Phantaſie ſtand damals in ihrer Bluͤte
Und jugendlich ſchoͤn war mein Gemuͤthe,
Ich ging im Walde zuweilen ſpatzieren,
Mußt mir das Gluͤck eine Woͤlfin zufuͤhren.
O Freund! was lernt ich da erſt kennen,
Einen Leib, ſo unbeſchreiblich hold,
Einen Geiſt, mit keinen Worten zu nennen,
Verſtand, nicht zu bezahlen mit Gold,
Man haͤtte von ihr ein Buch ſchreiben koͤnnen,
Eliſa, oder die Woͤlfin wie ſie ſeyn ſollt!
Erſpare dir das Entzuͤcken, mein Freund,
Du haͤltſt mich auch fuͤr verliebt, wies ſcheint.
Was ſoll ich dir ſagen? Ich liebte ſie, ſie mich,
Unſre Wonnemonde waren ſo wonniglich;
[499]Rothkaͤppchen.
Ich ſah ſie im Wald, ſie beſuchte mich heimlich,
Wir wuͤnſchten, wir waͤren unzertrennlich.
Eines Morgens verſpaͤtet ſich die Theure,
Die Bauren kommen zum Dreſchen in die Scheure,
Finden da das unvergleichliche Weib,
Drauf mit den Dreſchflegeln uͤber den zarten Leib,
Und haſt du nicht geſehn, von Wuth gezuͤgelt,
Die Geliebte vom Hofe herunter gepruͤgelt!
Da war dir wohl die Peterſilie verregnet?
Iſt es ſo, daß ihr der Liebe begegnet,
Ihr Menſchen? dacht ich in meinem Sinn,
Doch unterdruͤckt ich meinen Grimm,
Ich lernte mich unter der Noth bequemen,
Die Leidenſchaft meines Herzens zaͤhmen.
Es waͤhrte nicht lange, ſo merkten's im Dorf
Ich ſey kein Hund nicht, ſondern ein Wolf.
Was liegt am Namen? da ſie mich kannten,
Da ich ſo treue Dienſte gethan?
Doch war ich ſeitdem ein verlorner Mann,
Weil ſie dies Vorurtheil nicht verbannten.
Man traut mir nicht, man legt mich an die Kette,
Als wenn ich ein Verbrechen begangen haͤtte.
Ich fuͤgte mich mit O! und Ach!
Auch wieder in die neue Schmach;
Doch Nachts vernahm ich einen Plan,
Vor dem mein ganzes Blut gerann:
Man beſchloß, mich ſo in Feſſeln zu legen,
Daß ich nicht Hand nicht Fuß koͤnnte regen;
Hernach, ſo hoͤrt' ich ſie ſich beſprechen,
[500]Zweite Abtheilung.
Wollten ſie mir ungeſaͤumt die Zaͤhne ausbrechen,
So koͤnnten ſie mit mir machen, was ſie wollten,
Und wenn ſie mich auch ſchinden ſollten;
Koͤnnten mich auch an Baͤrenfuͤhrer verkaufen,
So muͤßt ich als Narr die Maͤrkte durchlaufen,
Und waͤr man meiner ſatt, koͤnnte man ohne Gefahr
Mich augenblicklich todtſchlagen gar.
O Spitz, wie das mein Herz durchſchnitt!
Sie ſpielen einem kurioſe mit.
Meiner Wuth riß die Kette bald,
So rannte ich in den naͤchſten Wald.
Ich will ſchweigen, was ich ſeitdem erfuhr,
Denn es empoͤrt die geduldigſte Natur;
Kugeln ſummten oft dicht um die Ohren,
Eiſen waren mir moͤrderlich geſtellt,
Hunde hatten mich oft beim Fell:
O Freund, nirgends iſt eine Creatur.
So ſchlimm in aller weiten Welt
Als wie ein armer Wolf geſchoren.
Seitdem iſt aber auch mein Plan,
Unheil zu ſtiften, ſo viel ich nur kann;
Seitdem thut mir nichts gut,
Als nur der Anblick von Blut.
Ich will alles Gluͤck ruiniren,
Dem Braͤutigam ſeine Braut maſſakriren,
Die Kinder von den Eltern trennen,
Und was man Ungluͤck nur kann nennen,
Darauf ſoll dieſer Kopf auch ſinnen.
Man hat mich ſo weit endlich getrieben,
[501]Rothkaͤppchen.
Ich will ſie freſſen, da ſie mich nicht lieben,
Und waͤrſt du nicht mein Vertrauter eben,
Ich haͤtte dir ſchon den Reſt gegeben.
Gehorſamer Diener, fuͤr die guͤtige Ausnahm!
Doch haſt du denn keine Schand' noch Schaam,
Daß dich nicht dein boͤſer Vorſatz gereut?
Glaubſt du denn nicht an Unſterblichkeit?
An Beſtrafung nach dieſer Zeitlichkeit?
Nein, Kerl, ich halte alles fuͤr Aberglauben!
Die Freuden dort ſind gewiß nur Trauben
Die uns zu hoch haͤngen, mein dummer Freund,
In gar zu weitem Felde das ſcheint:
Was ich freſſe in meinen Leib hinein,
Das iſt gewiß und wahrhaftig mein!
Kann mich zu keiner andern Lehr bequemen.
Ei pfui! ich muß mich fuͤr euch ſchaͤmen,
Will auch nicht mit euch Umgang weiter pflegen,
Ich geh, aus Furcht der Anſteckung wegen.
Das ſind die Koͤpfe, ſo dumm und ſeicht,
Die jede Furcht und Beklemmung erreicht,
Die nichts von Kraft und Selbſtaͤndigkeit wiſſen;
Haͤtt' ich ihn doch lieber in Stuͤcke zerriſſen!
Doch will ich ſein liebes Rothkaͤppchen fangen,
Das iſt ſeit lange ſchon mein Verlangen;
Ihr Vater iſt uͤberdies ein Mann
Der mir ſchon tauſend Drangſal angethan.
[502]Zweite Abtheilung.
Will mich auch auf den Weg gleich machen,
Hungert mich recht nach ihr in meinem Rachen.
Vierte Scene.
Rothkaͤppchen, Hanne.
Es wird ſchon finſter, ich gehe nicht weiter.
Nicht doch, die Sonne ſcheint noch ſo heiter.
Es wird dunkle und finſtre Nacht
Eh' ich den Weg zuruͤck gemacht.
Ei Rothkaͤppchen? gehſt du auch noch ſpatzieren?
Ich muß die Kleine immer vexiren,
Es iſt ein allerliebſtes Kind. —
Nun, Rothkaͤppchen, wie biſt du denn geſinnt,
Willſt du noch mein Braͤutchen ſeyn?
Schweig ſtill, du haſt ja ſchon die dein.
[503]Rothkaͤppchen
Das nehmen wir nicht ſo genau,
Du wirſt dann meine zweite Frau.
Glaubs nicht, er ſpricht nur wie ein Tropf!
Peter, ſetz dem Kinde nichts in den Kopf.
Laß ihn nur reden, Anne Marie,
Ich naͤhme doch den Peter nie,
Er gefaͤllt mir ſchon jetzt nicht ſonderlich,
Dann waͤr er gar alt und kruͤppelich;
Wird mich ſchon, ohne mich an ihn zu hangen,
Ein beßrer Braͤutigam zur Braut verlangen.
Siehſt du, das kommt von deinem Vexiren,
Die weiß die Leute abzufuͤhren,
Die iſt ſo klug wie wir jetzt wohl ſind
Und iſt noch ein kleines buttiges Kind.
Sie ſagte, du waͤrſt ein buttiges Kind.
O laß ſie nur, denn beide ſind
So er wie ſie etwas duͤmmerlich,
Drum antworten ſie ſo kuͤmmerlich.
Er haͤtte keine andre Braut getroffen,
Sie durfte auf keinen andern Braͤutigam hoffen,
Drum halten ſie viel von einander mit Recht,
Und meinen nun jetzt, ſie waͤren nicht ſchlecht.
Hier ſteht eine Butterblume, die will ich blaſen,
Zu ſehn wie lang ich noch ſoll leben.
[504]Zweite Abtheilung.
Mich wundert, daß man die Kinder laͤßt ſo rum
raſen,
Die kaͤmen dem Wolf gerade gelegen.
Geht nach Hauſe, Kinder, das iſt geſcheidt,
Es wird ſchon Abend, da iſt es Zeit.
Ich geh zu Großmutter, bring ihr Abendbrod,
Mit eurem Wolf hats keine Noth.
Wenn er dich erſt wird maſſakriren,
Wirſt du wohl 'ne andre Sprache fuͤhren.
Das iſt jetzt bei Kindern 'ne dumme Weis,
Sie werden gar zu naſeweis
Sieh da, ich lebe wohl noch hundert Jahr.
Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!
Das waͤre doch ein bischen gar zu lang.
Ne, ne, es trift dir auf ein Haar.
Nun iſt mir nicht vor dem Wolfe bang.
So will ich doch auch mein Gluͤck erproben.
Sieh, da iſt alles rein weg geſtoben.
[505]Rothkaͤppchen.
Ach, armes Kind! So bald zu ſterben!
So ſollſt du mein roth Kaͤppchen erben.
Doch leb ich wohl laͤnger wie du mit Luft,
Denn man ſieht ich hab' eine beſſere Bruſt,
Drum ſind die Haare ſo weg geflogen.
Meine Mutter hat mich zu gut erzogen,
Als daß ich an ſo was glauben ſollte,
Ich wuͤßte auch nicht, wie es die Blume wiſſen
wollte;
Erſt iſt ſie gelb, und wird dann greis,
Wie ein kindlicher Mann, der von ſich nicht weiß,
Da ſteht ſie am Wege und koͤmmt ein Wind
Ihr alle Haare ausgeriſſen ſind.
Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!
Das glaubſt du nicht? So weiß ich noch was:
Frag den Kuckuck, wie lang du zu leben haſt;
Wenn ders nicht weiß, ſo weiß es keiner.
Ja ſolchen Voͤgeln trau nur einer,
Der ſitzt in ſeiner Dunkelheit,
Wo er aus Langeweile ſchreit.
Kuckuck! wie lange hab ich zu leben? — —
Siehſt du! er will keine Antwort geben.
Ach, armes Kind! ſo lebe wohl,
Und wenn ich dich nicht wieder ſehen ſoll,
[506]Zweite Abtheilung.
So gedenke im Tode zuweilen meiner,
Dafuͤr gedenk ich im Leben deiner.
Das kleine Maͤdchen iſt nicht recht klug
Und fuͤr ihr Alter noch dumm genug.
Was will der Vogel von mir haben?
Kuck um dich! Kuck! Kuck! ſollſt Vorſicht haben!
Kuck! Kann nicht ſprechen, wie ich wollt; —
Kuck! Kuck! Kuck um dich der Wolf, —
Kuck! Kuck!
Kuck! kuck! der hats im Reden nicht weit gebracht,
Ich haͤtte beinah uͤber den Narren gelacht.
Ei, Hund! Wo kommſt du her? Wie er ſchmeichelt,
Wie er ſich an der Seite ſtreichelt,
Wo er merkt, daß ich das Eſſen trage.
Bau, bau nicht zu ſehr auf Sicherheit.
Wenn ich nach Hauſe komme, dann frage
Nur nach, dann iſt deine Eſſenszeit.
Bau, bau auf deinen Muth nicht zu ſehr,
Ich komm, bau, bau, und knie vor dir her,
Kann nicht recht ſprechen;
[507]Rothkaͤppchen.
Bau, bau, trau, bau nicht zu ſehr,
Der Wolf kann dich freſſen.
Geh, alberner Hund, nun iſt es Zeit,
Du biſt im Kopf nicht recht geſcheidt!
Bau, bau und trau nicht zu ſehr!
Kuck, kuck, kuck um dich mehr!
Tirili! von allen
Voͤgeln hoch und tief Geſaͤnge ſchallen, ſchallen,
Sie lallen
In tauſend Zungen,
Wird von allen geſungen,
Doch iſt es keinem als mir gelungen,
Honetten, netten Leuten zu gefallen, allen, ſchallen.
Kuck, kuck den Hochmuth!
Fuͤnfte Scene.
So war ich gluͤcklich herein gekommen
Und habe der alten Frau das Leben genommen,
[508]Zweite Abtheilung.
Die Thuͤr ſtand, gegen mein Verhoffen
Im Hof' und auch im Hauſe offen;
Die Alte war erzuͤrnt und wollte ſich wehren,
Doch durft' ich mich daran nicht kehren,
Nun iſt ſie erwuͤrgt, liegt unter dem Bette;
Wuͤnſcht' nur, daß ich Rothkaͤppchen hier haͤtte.
Doch will ich ſchlau die Sache anſtellen
Und mich als das alte Weib jetzt ſtellen;
Ich ſetze die Haube auf, es wird ſchon finſter,
Es kommt nicht viel Licht durch die Fenſter,
So lieg' ich im Bett, als waͤr' ich kraͤnklich.
Ich hoͤre ſie ſchon, ſie kommt nachdenklich.
Großmutter, biſt du ſchon zu Bett gegangen?
Schon ſeit einer Stunde, ich hatte Verlangen
Dich, liebes Kind, wieder zu ſehn, mir iſt nicht
wohl.
Ich dich von der Mutter ſchoͤn gruͤßen ſoll,
Sie ſchickt dir ein gekochtes Huhn,
Das wird dir wohl in der Schwachheit thun.
Der Vater war nicht gut aufgelegt,
Ich lief ſchnell fort, weil er manchmal ſchlaͤgt,
Er will nicht immer, daß ich zu dir gehe
Und dir in deiner Noth beiſtehe. —
Du liegſt zu Bett, doch am verkehrten Ende.
Ei, Großmutter, was haſt du fuͤr naͤrriſche
Haͤnde?
Wolf.
[509]Rothkaͤppchen.
Sie ſind gut, damit was feſt zu halten.
Es wollten zu Hauſe die beiden Alten,
Daß ich die Nacht bei dir bleiben ſollte.
Das war es, was ich ſelber wollte.
Sie ſagen, es iſt nicht gut in der Nacht zu gehn,
Man koͤnnte mir da nicht fuͤr Schaden ſtehn. —
Ei, Großmutter, was haſt du fuͤr große Ohren!
Ich kann damit deſto beſſer hoͤren.
Das Fenſter ſteht auf, es zieht kalt herein.
Laß nur, im Bett wird dir waͤrmer ſeyn.
Ich hatte ſo zu dir zu kommen Verlangen,
Nun wird mir hier in der Stube ſo bange.
Ei, Großmutter, was haſt du fuͤr große Augen!
Deſto beſſer ſie zum Sehen taugen.
Auch die Naſe ſitzt dir nicht ſo wie immer.
Mein Kind, das macht der Abendſchimmer.
Ei Herr Je! was haſt du fuͤr'nen großen Mund!
Deſto beſſer er dich freſſen kunnt!
I. [ 33 ]
[510]Zweite Abtheilung.
Ach! Huͤlfe! Huͤlfe! kommt, helft meiner Noth!
Du ſchreiſt vergebens, du biſt ſchon todt!
Komm, laß uns durch das Fenſter fliegen.
Rothkaͤppchen iſt drinne, unſer Vergnuͤgen.
Sie liegt wohl im Bett, ich ſeh' nach ihr.
Die Luft zieht huͤbſch durch Fenſter und Thuͤr.
O weh! O weh! O Jammer und Noth!
Was giebts?
Der Wolf iſt da, Rothkaͤppchen ſchon
tobt.
O weh! o weh! der großen Noth!
Was ſchreit ihr denn ſo gar erbaͤrmlich?
Rothkaͤppchen iſt todt ganz Gotts erbaͤrmlich!
[511]Rothkaͤppchen.
Der wilde Wolf hat ſie zerriſſen,
Und auch zum Theil ſchon aufgefreſſen.
Daß Gott erbarm! ich ſchieße zum Fenſter hinein.—
Da liegt der Wolf und iſt auch todt,
So muß fuͤr alles Strafe ſeyn,
Er ſchwimmt in ſeinem Blute roth.
Es kann einer wohl ein Verbrechen begehn,
Doch kann er nie der Strafe entgehn.
Man ſprach bei Tiſch uͤber die fruͤhe Luſt
der Kinder an der Furcht, und man ſtritt, ob
man dieſen Trieb in ihnen unterhalten ſolle, oder
nicht. Manfred war mit Einſchraͤnkungen dafuͤr,
ſo wie Emilie dagegen. Als man nicht einig
werden konnte, ſagte Clara: laſſen wir dieſen
Kampf, die Kinder werden ſich doch fuͤrchten,
wir moͤgen es anſtellen, wie wir wollen; Anton
ſoll uns lieber noch jenes Gedicht mittheilen,
von welchem er heut Morgen ſprach, und das
er vor einigen Jahren in einer melankoliſchen
Stimmung geſchrieben hat.
Noch krank kam ich von einer Reiſe zuruͤck,
ſagte Anton; die gewohnte Umgebung druͤckte mit
Bangigkeit auf mein Gemuͤth, und doch ſchien
dem Geneſenen alles ſo lieb und hold, ich ſchloß
mich ſo inniger an meine Freunde und ſchrieb
dieſe Verſe:
[512]Zweite Abtheilung.
Die Heimath.
[513]Zweite Abtheilung.
[514]Zweite Abtheilung.
[515]Zweite Abtheilung.
[516]Zweite Abtheilung.
Friederich und Lothar ſahen ſich ſtillſchwei-
gend an, denn es ſchien ihnen, als habe Anton
die letzten Strofen neuerdings hinzu gefuͤgt. In-
dem hoͤrte man ein Getuͤmmel naͤher, das ſich
ſchon waͤhrend des Leſens in der Ferne hatte
ſpuͤren laſſen, und man erfuhr, daß jener Bote,
den Friedrich ſeit dreien Tagen erwartet
hatte, eben jetzt in dunkler Nacht und ermuͤdet
angekommen ſey. Friedrich eilte zitternd hinaus,
ſeine Bothſchaft zu vernehmen und Briefe von
ihm zu empfangen; die uͤbrige Geſellſchaft trennte
ſich, um ſich der Ruhe zu uͤberlaſſen.
Appendix A
Ende des erſten Bandes.
[][][]
- Lizenz
-
CC-BY-4.0
Link zur Lizenz
- Zitationsvorschlag für diese Edition
- TextGrid Repository (2025). Tieck, Ludwig. Phantasus. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bphp.0