[][][][][][][[I]]

Schnellpreſſendruck der [Buchdruckerei] von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen.


[[II]]
Aeſthetik
oder
Wiſſenſchaft des Schönen.


Zum
Gebrauche für Vorleſungen



Dritter Theil:
Die Kunſtlehre.

Stuttgart.:
Carl Mäcken, Verlagsbuchhandlung.
1854.

[[III]]
Aeſthetik
oder
Wiſſenſchaft des Schönen.

Zum
Gebrauche für Vorleſungen



Dritter Theil. Zweiter Abſchnitt.
Die Künſte.
Drittes Heft:
Die Malerei.

Stuttgart.:
Carl Mäcken, Verlagsbuchhandlung.
1854.

[[IV]]

Schnellpreſſendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen.


[[V]]

Inhaltsverzeichniß.


  • Dritter Theil.
    Die ſubjectiv-objective Wirklichkeit des Schönen

    oder
    die Kunſt.
    Zweiter Abſchnitt
    .
    Die Künſte.

    Erſte Gattung.
    Die objective Kunſtform oder die bildenden Künſte
    .
  • §§.   Seite.
  • C.Die Malerei.
  • a. Das Weſen der Malerei.
  • α. Ueberhaupt  648—659  505538
  • β. Die einzelnen Momente.
  • Die äußere Beſtimmtheit.
  • Das Material   660  538543
  • Verhältniß zur Landſchaft, zur Architektur. Größe-
    Maaßſtab   661  543546
  • Das künſtleriſche Verfahren.
  • Die Zeichnung. Prinzip der directen Idealiſirung   662—664  546553
  • Die Licht- und Schattengebung   665—668  553561
  • Die Farbengebung. Prinzip der indirecten Idealiſirung   669—674  561577
  • Das Stylgeſetz  675  577
  • Naturaliſmus und Individualiſmus. Die zwei Styl-
    prinzipien   676  577581
  • Anwendung auf das Landſchaftliche   677—678  581584
  • Anwendung auf thieriſche und menſchliche Geſtalt   679—680  584590
  • Aeußere Bewegung   681  591
  • Ausdruck, Affect, Moment, Charakter   682—685  592609
  • Die Compoſition.
  • Licht- und Farben-Einheit, Linien-Einheit   686  609614
  • Form der äußern Umgrenzung, Rahmen   687  614616
  • Innerer Rhythmus   688—692  616632
  • Cykliſche Compoſitionen.
  • In Wandmalerei   693  632634
  • In Staffeleibildern und Skizzen   694  634636
  • b. Die Zweige der Malerei.
  • Das Mythenbild   695  637644
  • Der wahre Eintheilungsgrund   696  645646
  • Verhältniß zu andern Momenten der Eintheilung   697  646647
  • α. Die Landſchaft.
  • Grundbegriff; Staffage   698  648651

[VI]
  • §§.   Seite
  • Stylbild und Stimmungsbild   699  651653
  • Eintheilung nach Stoff, Seite, Moment der Auf-
    faſſung, Unterſchied des Lyriſchen, Epiſchen,
    Dramatiſchen, des einfach Schönen und Erhabenen   700  653656
  • β. Das Sittenbild.
  • Uebergang: Das Thierſtück, die Architektur-
    malerei
    , das Blumen- und Fruchtſtück und
    das ſogenannte Still-Leben  701  657661
  • Grundbegriff   702  661664
  • Reines, geſchichtliches und mythiſches Sitten-
    bild   703  665666
  • Eintheilung des reinen Sittenbilds nach Stoff und
    Seite der Auffaſſung   704  666669
  • Nach Moment der Auffaſſung, Grad des Umfangs,
    Unterſchied des Lyriſchen, Epiſchen, Dramatiſchen,
    des Schönen, Erhabenen und Komiſchen   705  669671
  • Nach dem Gegenſatz der Style, Unterſchied der Technik   706  672673
  • Verbindung mit Landſchaft, Thierſtück, Geſchichtlichem   707  673674
  • γ. Das geſchichtliche Bild.
  • Uebergang: Das Bildniß  708  674679
  • Grundbegriff. Eintheilung nach Stoffen. Heldenſage   709  679683
  • Epiſche Form: ſittenbildliches Geſchichtsbild   710  683685
  • Lyriſche Form. — Situationsbild   711  685688
  • Dramatiſche Form   712  688689
  • Grad des Umfangs   713  689690
  • Schön, erhaben, komiſch; Gegenſatz der Style, Unter-
    ſchied der Technik   714  690691
  • c. Die Geſchichte der Malerei.
  • Die treibenden Gegenſätze   715  692694
  • α. Die Malerei des Alterthums. Orient, Griechen-
    land (Rom)   716—717  694700
  • β. Die Malerei des Mittelalters, ihre Blüthe
    und Nachblüthe
    .
  • Allgemeiner Charakter, Vorſtufen   718—719  700704
  • 1. Der italieniſche Styl   720—725  704723
  • 2. Der deutſche Styl   726—732  723739
  • γ. Die moderne Malerei.
  • Italieniſcher Eklekticiſmus, Naturaliſmus, franzöſiſche
    Landſchaftmaler   733  739741
  • Belgien, Spanien, Holland   734—736  741747
  • Eintritt des eigentlich Modernen: franzöſiſcher Claſſi-
    cismus   737  747749
  • Deutſcher Claſſicismus   738  749750
  • Die romantiſche Schule   739  750751
  • Die neuſten Bewegungen   740—741  751755
  • Anhang.Die Caricatur  742  756762
  • Die vervielfältigende Technik  743  762768
  • Die Decorationsmalerei  744  768771
  • Die ſchöne Gartenkunſt  745   772—773
[[505]]

C.
Die Malerei.


a.
Das Weſen der Malerei.


α. Ueberhaupt.


§. 648.

Indem die Bildnerkunſt nur die Seite der Erſcheinung, nach welcher die-1.
ſelbe Gegenſtand des taſtenden Sehens iſt, erfaßt und darſtellt, iſt in aller Ge-
diegenheit ihres Werks doch zugleich ein tiefer Mangel und ein Drang, ihn
zu überwinden, zum Vorſchein gekommen. Die Aeußerungen dieſes Dranges
weiſen bereits auf eine andere Art der Phantaſie hin, welche auch im verſchö-
nernden Spieltrieb (§. 515, 2.) ihren erſten Ausdruck findet, nun aber in Wir-
kung treten muß: es iſt diejenige, welche auf das eigentliche Sehen geſtellt
2
iſt (§. 404). Das verhüllte Taſten iſt auch in dieſem noch enthalten, aber
nicht mehr als das Beſtimmende, indem es die feſte Form nur in und
unter einem Ganzen von Licht- und Farbenwirkung erfaßt und im Rahmen der
einzelnen Anſchauung zugleich weſentlich mehr begreift, als die geſchloſſene or-
ganiſche Geſtalt. Auch dieſe Art des Sehens ſchließt ein Meſſen in ſich, aber
im Sinne freierer Auffaſſung allgemeiner Verhältniſſe des Lichts und der Farbe,
ſo wie der Entfernungen.


1. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß die Lehre von jeder einzelnen
Kunſt eine Darſtellung ſowohl ihrer Mängel als Vollkommenheiten iſt, bei der
Bildnerkunſt aber mußte die erſtere Seite, welche uns nun zur Malerei
herüberführt, mit beſonderem Nachdruck hervortreten, weil nicht zwei
Künſte in ſo eigenthümlichem Zuſammenhange ſtehen, ſich ſo eigenthümlich
in die untheilbaren Momente der Erſcheinung theilen, wie die Bildnerkunſt
und die Malerei. Wir mußten ja in der Erläuterung von §. 597 fragen,
warum denn nicht bei dem erſten Schritte zur Nachbildung des perſön-

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 34
[506]lichen Lebens ſogleich das Ganze ſeiner Erſcheinung von der Kunſt darge-
ſtellt werde? Es mußte der Eintritt der Malerei noch abgehalten und
gezeigt werden, warum jener erſte Schritt nothwendig noch auf architek-
turartige Iſolirung einer Seite der Erſcheinung des nun ergriffenen Stoffes
ſich beſchränken müſſe. Es war eine freie Beſchränkung; die Bildnerkunſt
ſteht als reine, ganze, ſelbſtändige Kunſt im vollſten Sinn auf eigenen
Füßen, und doch wies ſie durchaus vorwärts nach ihrer farbenreichen
Schweſter, der ſie die Früchte einer erfüllten Vorbedingung entgegenträgt,
überall war ein Drang ſichtbar, ihre Mängel zu überwinden: in ganz be-
rechtigter Weiſe trat er hervor in der bloßen Andeutung der Farbe, in
gewiſſen maleriſchen Hülfen der Licht- und Schattenwirkung (§. 608), im
richtig behandelten Relief; verfrüht und unberechtigt in der vollen Poly-
chromie, im maleriſch gehaltenen Relief, in einem plaſtiſch unzuläſſigen
Maaße des Naturaliſmus und Individualiſmus, in allzu affectvoller Be-
wegtheit. Ihre urſprüngliche Vorübung aber hat die Malerei wie alle
Kunſt im Spiele, und zwar natürlich in demſelben Gebiete verſchönern-
den Schmucks wie die Sculptur, nur einem andern Zweige. Zwei For-
men ſind es ohne Zweifel geweſen, worin dieſe Kunſt im Keime auftrat:
die eine beſtehend in einem Flechten, Abnähen, Weben, Wirken, das von
ſolchen unorganiſch, geometriſch verfahrenden, arabeskenartigen Motiven,
wie ſie dann als Ornament auch an die Baukunſt übergiengen (vergl. zu §. 573
S. 247), allmählich zu ſchüchternen Verſuchen der Nachbildung des Or-
ganiſchen fortſchritt. Es iſt dieß überhaupt eine der früheſten Aeußerun-
gen des menſchlichen Kunſttriebs, die wir noch heute bei allen wilden Völ-
kern finden; die Muſter ſind bunt, vereinigen das Chromiſche und Gra-
phiſche. Dagegen begann nun das graphiſche Element für ſich mit einer
andern Form: dem ſpielenden Einritzen von Zeichnungen auf weiche Stoffe
(Blätter, Wachs, Holz,) das ſich nach gewonnener Uebung auch an harte
Flächen wagte, wie wir dieß in jenem Verfahren finden, das den eigent-
lichen Koilanaglyphen (reliefs en creux) in Aegypten vorausgieng (vergl.
§. 611 Anm.), eine Technik, die aber auch in Griechenland ſicher urſprüng-
lich beſtand und bekanntlich bis in die ſpäteſte Zeit als Skizzenzeichnung,
in Marmorplättchen eingegraben (Monogrammen), ſich erhalten hat. Die
Farbe trat ſodann wieder hinzu: man füllte die Umriſſe zunächſt mit ein-
fachen Farben aus und hatte ſo Monochrome auf Stein; in Aegypten
gieng man von da wieder zur Sculptur zurück, indem man die Formen
innerhalb der Umriſſe plaſtiſch heraushob. Von dieſen Anfängen der
Malerei als ſelbſtändiger Kunſt iſt das Anmalen der gegebenen Architektur
und Sculptur zu unterſcheiden, aber auch ausdrücklich noch einmal anzu-
führen als Vorübung in der Farbe, die mit der graphiſchen Vorübung erſt
ſich vereinigen ſollte.


[507]

2 Der Geſichtsſinn ſpaltet ſich in zwei Weiſen der Auffaſſung, das
taſtende und das eigentliche Sehen. Es iſt auch in dieſer zweiten noch
ein verhülltes Taſten (vergl. §. 71 Anm.), aber es beſtimmt nicht mehr
den Charakter der ganzen Auffaſſung, wie in der erſten, vielmehr wird die
feſte und dichte Form zwar weſentlich miterfaßt, aber nur als Träger der
Licht- und Farbenwirkungen. Wir würden keine Formverhältniſſe des
Körpers mit dem Auge aufnehmen, wenn nicht der Taſtſinn als ein ver-
geiſtigter im Geſichtſinne mitgeſetzt wäre; es iſt aber etwas Anderes, ob
der letztere ſich auf dieß Taſten ohne wirkliches Taſten iſolirt, oder ob er
daſſelbe nur als flüſſiges Moment in dem Ganzen ſeiner Auffaſſung wir-
ken läßt. Im letzteren Falle entkleidet die Art der Anſchauung den feſten
Körper in gewiſſem Sinn ſeiner Schwere, Dichtheit, überhaupt ſeiner
ſtrengen Körperlichkeit, fühlt dieſe ſo zu ſagen nur leiſe, nur entfernt, der
Körper wird ihr zum Organe, das eine Licht- und Farbenwelt auffängt
und wieder von ſich ausſtrahlen läßt. Dieß Verflüchtigen, Verſchweben-
laſſen liegt alſo ſchon im ſubjectiven Acte, darf nicht, wie gewöhnlich ge-
ſchieht, erſt in dem Werke des Malers aufgezeigt werden. Hiemit iſt nun
bereits auch der weitere Auffaſſungskreis des eigentlich ſehenden Auges
ausgeſprochen: es nimmt nicht die geſchloſſen-organiſche Geſtalt aus dem
unbeſtimmten Gebildeten, weit Ausgedehnten, elementariſch Ergoſſenen,
wozwiſchen ſie ſich bewegt und worin ſie athmet, heraus, ſchneidet nicht
wie mit ſcharfem Meſſer durch, ſondern greift über das dargebotene Ganze
der allgemeinen Medien, der ausgedehnteren und zerfloſſeneren Erſchei-
nungen, und der compacten, organiſch gerundeten über, faßt dieß Alles
in Eine Anſchauung zuſammen. Dieſe breitet ſich zunächſt natürlich immer ſo
weit aus, als der jeweilig gegebene Geſichtskreis, ſie kann ſich jedoch be-
ſchränken und ausſchneidend nur auf einen Theil deſſelben fixiren, aber
auch der Ausſchnitt umfaßt ein Ganzes der genannten Art. Wir haben
zum taſtenden Sehen, als der Quelle der Bildnerkunſt, in §. 599 ſogleich
die Strenge des Meſſens geſtellt, wodurch dort die Nähe der Baukunſt
ſich geltend macht. Das eigentliche Sehen mißt auch noch in demſelben
Sinn, wie jenes, nämlich die Proportionen der organiſchen Geſtalt; von
dieſer Form des Meſſens gilt jedoch daſſelbe, was oben vom mitgeſetzten
Taſten geſagt iſt: es wird zum bloßen, flüchtigen Momente, zur Grund-
lage im Sinn eines Grundes, über den ſich das Weſentliche, Eigentliche
erſt hinziehen, überbreiten ſoll. Dagegen tritt eine andere Art des Meſ-
ſens hinzu, die allerdings im ſubjectiven Acte der Anſchauung noch unbe-
ſtimmter iſt, als die ebengenannte, und auch in der Arbeit der objectiven
Darſtellung nicht bis zu der Exactheit der Proportionen-Meſſung fortgeht:
ſie bezieht ſich auf die allgemeinen Medien und Raumverhältniſſe. Die
Auffaſſung der erſteren iſt natürlich am weiteſten vom ſtrengeren Meſſen

34*
[508]entfernt: ein feines Durchfühlen, Abwägen der Verhältniſſe des Lichts
und Schattens, der Farben; beſtimmter, dem Exacten näher iſt die Auf-
faſſung der räumlichen Erſtreckungen und Entfernungen der feſten Körper,
wie denn dieß auf einen Zweig der Wiſſenſchaft führt, nämlich die Lehre
von der Perſpective. Die letztere Seite im maleriſchen Sehen iſt es eigent-
lich, die der Strenge der Proportionen-Meſſung in der Bildhauerei ent-
ſpricht; aber nicht völlig, denn im Acte der Anſchauung jedenfalls, den
wir zunächſt im Auge haben und genauer, als dieß in §. 404 geſchehen
iſt, unterſuchen, iſt dieſes Meſſen noch kein wiſſenſchaftliches, ſondern ein
unbewußtes, mehr obenhin an Hauptverhältniſſe ſich haltendes, mehr nur
ungefähr abſchätzendes Verfahren des Gefühls, und was die Ausführung
und ihre Vorarbeit betrifft, ſo werden wir finden, daß auch hier die Be-
ziehung auf die Wiſſenſchaft weniger ſtreng iſt, als in der Proportionen-
Meſſung, wie ſie zur Schule des Bildhauers gehört.


§. 649.

1.

Soll nun dieſe Art der Phantaſie eine ihrem Weſen entſprechende Kunſt-
form begründen, ſo muß ſie auf ein Darſtellen durch wirkliche Raumerfüllung
verzichten, den Umriß, die negative Grenze der feſten Form, wie ein Poſitives
auf eine Fläche werfen und mit einem Scheine von Licht und Schatten und
Farbe ſeine Selbſtändigkeit wieder aufheben, ihn ausfüllen und überziehen. Wie
2.der Körper der Fläche zu dieſem ihm aufgelegten Scheine ſich indifferent ver-
hält, ſo iſt das wirkliche Licht nur Mittel der Aufzeigung des Scheinlichts
im Bilde; die dargeſtellte Schwere hat nichts mit wirklicher Schwere zu thun,
die Dimenſionen ſind blos ſcheinbar und relativ, die freie Ausdehnung in die
Tiefe iſt gewonnen, die Größe und Menge der Gegenſtände beliebig, der
Standpunct rein vom Künſtler beſtimmt und dem Zuſchauer vorgeſchrieben, der
Raum, worin ſie auftrcten, wird den Geſtalten mitgegeben, und dadurch iſt, wie
im Umriß, in der Licht- und Schattengebung die Bildnerkunſt, ſo in gewiſſem
Sinn die Baukunſt als Moment in dieſer Darſtellungsweiſe miteinbegriffen.
Die Kluft zwiſchen Erfindung und Ausführung iſt verſchwunden.


2. Ein Ganzes der Anſchauung, die Farbe und Umgebung der Geſtal-
ten miteingeſchloſſen, kann nicht in Raumerfüllender Weiſe nachgeahmt
werden: die gefärbten Figuren wären, wie wir ſchon geſehen haben (vergl.
§. 608), Geſpenſter, für die allgemeinen Medien aber fände ſich gar kein
Material. Das Aufgeben einer buchſtäblichen Nachahmung liegt auch
ſchon im ſubjectiven Acte, der ja das feſte Körperliche nur als Träger
von Licht und Farbe anſchaut. Dieß „Verzichten auf Darſtellen durch
wirkliche Raumerfüllung“ kann natürlich nicht den Sinn haben, als brauche
[509] der Maler keine Materie, an die er ſeine Darſtellung fixirt und durch die
er ſie ausführt, aber das Material, das er für beide Zwecke anwendet,
hat mit dem dargeſtellten Gegenſtande nichts zu ſchaffen. Mittelbar iſt
wohl ein Zuſammenhang, aber nicht einmal ein ſolcher, wie zwiſchen der
Beſchaffenheit und Textur des Stoffs, dem der Bildhauer den Mantel
der reinen plaſtiſchen Form überwirft, und dem Gegenſtande, deſſen Form
er nachahmt, denn zwiſchen dem Gefühle des Feſten und Gediegenen in
dieſem und dem Gefühle des Steins oder Erzes iſt doch eine innere
Beziehung und die Oberfläche des letztern ſoll eben in ihrer Körperlich-
keit doch einen Anflug von Aehnlichkeit mit den oberſten Bedeckungen der
nachgeahmten Geſtalt zeigen, zwiſchen den flüſſigen, vertrocknenden Mitteln
dagegen, mit denen der Maler die Oberflächen der Dinge allein nachah-
men kann, und zwiſchen der körperlichen Natur dieſer Dinge ſelbſt beſteht
eine ſolche Beziehung nicht, da handelt es ſich nur um Schein, und blos
für die größere Vollkommenheit dieſes völligen Scheins iſt das eine Mit-
tel zweckmäßiger, als das andere. Das Mitwiegen des Materials iſt alſo
um einen großen weſentlichen Schritt ein entfernteres, als in der Sculp-
tur. — Der §. ſtellt nun zuerſt nur das Allgemeinſte auf, die Haupt-
momente werden weder in das Techniſche näher verfolgt, noch aus ihnen
die Schlüſſe für den innern Geiſt dieſer neuen Kunſtform gezogen. Daher
wird ſogleich der erſte Act, das Bilden des Umriſſes, noch nicht unter ſei-
nem eigentlichen Namen Zeichnung ſpezieller erörtert. Es iſt dieß nun
aber ein Act von ganz eigenthümlicher, nicht ſo leicht zu begreifender Art.
Schon in der Lehre von der Bildnerkunſt ſahen wir, wie das, was hier
der Künſtler darſtellt, eine reine Grenze, für ſich eigentlich ein Nichts iſt:
das formfüllend Körperliche wird vom Gegenſtande weggelaſſen und der
reine Umriß, die Linie, bis zu welcher die Materie den Raum erfüllt hat,
an einem andern formfüllend Körperlichen hervorgebracht, das unmittelbar
mit dieſer Schönheit der reinen Grenze noch viel weniger zu thun hat,
als im Gegenſtande Bein, Fleiſch, Blut u. ſ. w. nach den Atomen ihres
Stoffbeſtandes. Die Malerei nun nimmt in ihrem erſten Acte dieß reine
Nichts, als wäre es ein Etwas, für ſich und wirft es als ſichtbare Linie,
die ein Leeres umſchreibt, auf eine Fläche. Dieß Verfahren iſt ja das
einzig mögliche, wenn ſich die Kunſt der materiellen Darſtellung entſchla-
gen will: was in der Plaſtik die reine Grenze des Steins, Erzes war,
das muß nun, weil nichts mehr da iſt, deſſen Grenze es ſein könnte, hin-
geſchrieben werden, als beſtünde es für ſich; damit muß ich anfangen,
muß ſcheinbar ſo zu einer neuen grobſinnlichen Verdichtung greifen, wenn
ich nun Ernſt machen will aus dem, was die Bildnerkunſt auch ſchon im
Sinne hatte, daß nämlich nicht die ausfüllende Maſſe, ihr Durchſchnitt,
ſondern rein nur ihr Aufriß, ihr Ende auf allen Puncten als Linien-
[510] Ganzes das iſt, wovon es ſich handelt; da ich nicht Stein, nicht Erz mehr
habe, als deſſen Grenze ich die Linie, dieß nur ideale Formweſen, ent-
ſtehen laſſen kann, ſo muß ich dieſe mit dem Griffel zeichnen. Die Linie
iſt nun für ſich da, ſichtbar für ſich allein, ſie will aber dem Anſchauen-
den nur ſagen, er müſſe ſich einen Körper vorſtellen, der auf allen den
Puncten, welche der Strich angibt, aufhört. Durch dieſe Bedeutung des
bloßen Umriſſes iſt es alſo Ernſt geworden mit dem reinen Schein,
es iſt förmlich geſtanden, was die Plaſtik eigentlich wollte, man kann
keinen Augenblick mehr meinen, es gelte äſthetiſch die Maſſe, nicht viel-
mehr nur ihre Grenze als reinſter Ausdruck der Kräfte, die, in ihr wirk-
ſam, den Körper auf allen Seiten eben bis zu dieſer Grenze gebildet ha-
ben, denn dieſen Ausdruck erzeuge ich am reinſten dann, wenn ich das Bild
dieſer Kräfte von aller wirklichen Maſſe befreie und nur einen Anhalt
gebe, damit der Zuſchauer ſie ſich vorſtelle. Der Umriß iſt daher gerade
der idealſte Theil der Malerei, eben nämlich, weil er die Vorſtellung der
Geſtalt, deren Grenze er bezeichnet, ganz in das Innere, die Phantaſie
des Anſchauenden wirft: nur noch ein Schritt weiter, die Nachhülfe des
Umriſſes, den der Künſtler an eine Fläche heftet, weggelaſſen, ſtatt deſſen
blos das Wort als Anhalt gegeben: und der Künſtler malt unmittelbar
in den Geiſt des — nicht mehr Anſchauenden, ſondern Hörenden, — wir
ſind in der Poeſie. Wir werden bei der beſtimmteren Erörterung der ein-
zelnen Momente darauf zurückkommen. Allein die Malerei beſinnt ſich,
daß ſie eine ſelbſtändige, ganze Form der bildenden Kunſt ſein will, nicht
ein ſchattenhafter Anſatz, der raſch in eine andere Kunſtweiſe einlenkt.
Ihrem Wege gegenüber iſt die Erſcheinung des Umriſſes als eines für
ſich Sichtbaren noch eine Unvollkommenheit, ein Schritt zum reinen Schein,
aber zunächſt noch falſcher Schein, der Schein, als wäre das ſchöne Nichts
der reinen Grenze ein Etwas. Wenn die Malerei in ihrer Kindheit bei
dicken Umriſſen beharrt, die ſie nur dürftig mit Farbe ausfüllt, ſo iſt dieß
halb grobſinnlich, halb übergeiſtig: jenes, weil das rein Negative der Ge-
ſtaltumſchwebenden Grenze als ein ſo grell Augenfälliges ſich behauptet;
dieſes, weil das Grelle des Umriſſes und das Dürftige ſeiner Ausfüllung
doch um ſo ausdrücklicher nur eine Nothhülfe iſt für eine ſehr friſche
Phantaſie, welche äußerſt raſch, verglichen mit der ganzen Aufgabe der
Malerei allzuraſch vom Sichtbaren befriedigt in der Weiſe der Poeſie
ſich innerlich das vom Künſtler beabſichtigte Bild erzeugt. Die Malerei
will ja das Sichtbare im vollen Umfange ſeiner Erſcheinung ſelbſt nach-
bilden. Auf ihrem wahren und eigenen Weg muß ſie alſo den falſchen
Schein, als wäre der Umriß Etwas, wieder aufheben, ihn zu einer Vor-
arbeit herabſetzen, die verſchwindet, wenn ſie das Ihrige geleiſtet hat. Zu-
nächſt gilt es, dem Lichte den Act ſeiner Aufzeigung der wirklichen Form,
[511] noch abgeſehen von der Farbe, abzunehmen, den Schein von Licht und
Schatten durch künſtlich nachahmende Mittel hervorzubringen. Der Umriß
verliert bereits von ſeiner Selbſtändigkeit, bleibt aber als ſolcher noch ſicht-
bar. Es kann dieſer Theil des Verfahrens allerdings zugleich mit der
Farbengebung vorgenommen werden, aber wir halten die in der Vorſchule
des künftigen Malers ohnedieß jedenfalls nothwendige Trennung dieſer
beiden Momente in ihrer Schärfe ein, um deutlich hervortreten zu laſſen,
was weiterhin noch aufzunehmen iſt: daß bis zu dieſem Puncte die Ma-
lerei noch eine auf die Fläche überſetzte Plaſtik iſt, wie denn der §. ge-
gen den Schluß es bereits ausſpricht, daß dieſe Kunſt in jener als Mo-
ment enthalten ſei. Nun erſt folgt die Farbengebung und vertilgt vollends
den Umriß: dieſer hat das Seinige gethan, dem Maler die Grenze an-
gegeben, bis an welche er die Farbe mit Licht und Schatten herauszuführen
habe, er kann nun gehen. Im Orient gieng er nicht; die Umriſſe wurden
mit einfachen Farben ausgefüllt. Hiemit blieb auch der Träger des Ge-
mäldes, die Fläche, in Geltung; man vergaß ſie nicht, wie man ſoll,
über einem vollſtändigen Scheine des Daſeins, der ja erſt erreicht wird,
wenn die Farbe mit allen Mitteln der Kunſt wirkt. Es geht nun aber,
wo die Malerei ihr ganzes Weſen zur Ausbildung gebracht, die Farbe,
und mit ihr ſelbſt Licht und Schatten, viel weiter, als nur bis zur tota-
len Füllung der durch Umriſſe beſtimmbaren organiſch geſchloſſenen Ge-
ſtalt: die maleriſche Anſchauung hat ja (vergl. §. 648) Vieles mitauf-
genommen, was nicht individualiſirte Geſtalt hat, die Nachahmung der
allgemeinen Medien hebt alſo den Umriß nicht nur dadurch auf, daß ſie
ausfüllt, was er umſchreibt, ſondern ſchwebt über ihn hinaus in’s Weite
und Unbeſtimmte, was durch gar keinen Umriß vorher beſtimmt werden
konnte. Es wird weiterhin in volles Licht treten, daß die Farbe noch
mehr durch dieß Uebergießen, „Ueberziehen“, wie der §. es zunächſt
nennt, als durch jenes Ausfüllen den Theil der Malerei hinter ſich
läßt, welcher noch mit der Bildnerkunſt verwandt iſt. Der An-
ſchauende hat nun ein volles Bild vor ſich, ſeine Phantaſie nimmt es
auf, erzeugt es nach, aber das Kunſtwerk gibt ihm dazu mehr, als den
bloßen Anhalt, den der Umriß darbot, es iſt ein ganzer, ein erſchöpfender
Schein, der Gegenſtand iſt im Scheine vollſtändig da.


2. Der weitere Inhalt des §. zeigt nun ebenfalls rein äußerlich die
Freiheit und Weite auf, worin ſich durch dieſe Art ihrer Darſtellung die
Malerei gegenüber der Plaſtik bewegt; dieſen Gewinn in ſeiner inhalts-
volleren Bedeutung zu faſſen iſt dem Folgenden vorbehalten. Daß, un-
beſchadet untergeordneter techniſcher Wichtigkeit derſelben, die Materie der
Fläche, auf welche das Kunſtwerk aufgetragen iſt, mit dieſem nichts zu
ſchaffen hat, iſt in der Bemerkung über die orientaliſche Umrißfärbung
[512] ſchon ausgeſprochen; das Kunſtwerk iſt daran geheftet und ſchwebt doch
davon weg, daran gefeſſelt und doch nur ein Hauch, ein Ueberzug, deſſen
eigene, äußerſt dünne Maſſe ebenfalls für ſich Null iſt, ein Anflug, der,
ohne doch dieſe Bindung entbehren zu können, hinüberfliegt in den Zu-
ſchauer in jedem Moment, wo ein ſolcher da iſt. Das Bild braucht Licht
von außen, aber nicht ſo wie das plaſtiſche Werk: dieſes bedarf ſeiner
noch im Mittelpuncte des Aeſthetiſchen ſelbſt, denn es ſoll ſeine Formen
aufzeigen, jenes rein äußerlich, denn es hat das Licht, wie es äſthetiſch
im Bilde wirken, Formen aufzeigen, ſich zudem in Farben brechen ſoll,
ſich ſelbſt gegeben, und nur damit man dieß Licht mit all ſeinen Wirkun-
gen ſehe, bedarf es des äußern Lichtes; es iſt alſo auch damit, daß dieſes
nur Mittel iſt (vergl. §. 599, 2.), jetzt erſt wahrer Ernſt geworden.
Natürlich iſt nun auch die Schwere verſchwunden und die tiefgreifen-
den Folgen, die ſich insbeſondere aus dieſem Verſprung für Inhalt und
Geiſt der Darſtellung ergeben, werden ſich zeigen. Da mit der Schwere
auch die Ausdehnung nur eine ſcheinbare geworden iſt, ſo kann man
eigentlich nicht, wie Hegel (Aeſth. Th. 3, S. 19.) ſagen, die Malerei
tilge nur eine der Dimenſionen, nämlich die Tiefe. Die Erſtreckung in
Höhe und Breite iſt ebenſoſehr bloßer Schein wie die Erſtreckung in die
Tiefe; der Unterſchied iſt freilich der, daß jene noch auf der wirklichen
Fläche mit Linien angegeben werden, welche den Ausdehnungen des nach-
geahmten Stoffs in ihren wahren Maaßen entſprechen, dieſe aber nur
durch eine optiſche Scheinveränderung derſelben Linien und durch die
flüſſigen Mittel der Farbe angegeben wird; allein auch jener Theil iſt ja
nicht Grenzbeſtimmung eines wirklich Ausgedehnten, die Ausdehnung des
Körpers der Fläche, auf welche gemalt wird, iſt ja nur ein außerhalb
des Aeſthetiſchen der Technik liegendes Mittel, den Schein der Ausdehnung
daran zu heften. Es ſind alſo genauer zwei Arten des Scheins, die
Nachahmung der Tiefe iſt nur in noch engerem Sinne Schein, als die
der Höhe und Breite. Der große Gewinn iſt nun aber, daß das Kunſt-
werk, indem es die Tiefe in dieſer beſondern Art des Scheins behandelt,
den Zuſchauer in beliebige Tiefe fortführen kann, während das Relief faſt
keine, das volle Sculpturwerk nur ſehr mäßige Tiefe haben darf. Die
wahre Bedeutung auch dieſes Vortheils wird erſt im Weitern ſich ergeben.
Wie nun aber alle Art der Ausdehnung zu einer nur ſcheinbaren gewor-
den iſt, ſo hat jetzt die Kunſt die weitere weſentliche Freiheit gewonnen,
daß auch alle Größenverhältniſſe rein relativ werden. Eine ſpannenlange
Menſchengeſtalt erſcheint als Rieſe, wenn die Figur daneben in der Zahl
von Maaßen, um welche ein gewöhnlicher Menſch kleiner iſt, als ein
Rieſe von beſtimmter Größe, unter deſſen Maaßſtab ſteht: nur in der
Zahl von Maaßen, ohne die Größe dieſer Maaße in Wirklichkeit, dieß
[513] iſt eben die bloße Relativität. Unwichtiger iſt, daß der Maler umge-
kehrt auch die in der Natur winzige Geſtalt groß erſcheinen laſſen kann,
denn alle Kunſt hat wenig Intereſſe, das ſehr Kleine nachzuahmen (vergl.
§. 36, 1.). Nun vermag alſo die bildende Kunſt ſo Großes darzuſtellen,
als ſie will, denn ſie muß es nicht ſo groß darſtellen, als es an ſich
ſein müßte. Sie vermag aber auch ſo Vieles darzuſtellen, als ſie will,
denn ſie ſelbſt beſtimmt den Maaßſtab, der die für Einführung einer be-
liebigen Menge von Gegenſtänden und Figuren nöthige Verkleinerung
mit ſich bringt, und zudem kann der unbeſtimmtere Umriß im Bunde mit
der Farbe noch ganze Maſſen aufführen, indem er die Gegenſtände, wor-
aus ſie beſtehen, nur andeutet; die Vorſtellung führt das Angedeutete
vervielfältigend fort und ergänzt ſich die Formen. Allerdings kann ich die
Geſtalten nicht in jeder Art von Gruppe verwickeln wie ich will, denn
durchſichtig ſind ſie nicht; aber ich habe es in der Hand, ſie einander
nicht ſo decken zu laſſen, wie es künſtleriſch unerwünſcht wäre und wie
es dem Bildner zuſtieße, wenn er zu viele Figuren in einer Gruppe ver-
einigte, ſondern nur ſo, wie es äſthetiſch recht und gut iſt. Damit ſind
wir zu dem weiteren, beſonders wichtigen Momente gelangt, aus welchem
erhellt, wie nun Alles geiſtig frei, geiſtig geſetzt iſt: der freien Beſtimmung
des einzigen Standorts durch den Künſtler. Das Werk des Bildners,
zum Umwandeln beſtimmt (vom Relief ſehen wir jetzt ab, das ja doch im
Gewinne wieder verliert), iſt freilich auch auf Einen Sehpunct vorzüglich
berechnet, aber nur vorzüglich, es kann und will ihn nicht erzwingen, es
macht ſich durchaus davon abhängig, daß der Standort gewechſelt wird;
der Maler dagegen ſchreibt ihn vor und läßt keine Wahl, weil er nur den
einen gibt. Dieß iſt jedoch kein Geiſteszwang für den Zuſchauer; der
Gegenſtand läßt allerdings, wie derſelbe wohl weiß, eine Vielheit äſthetiſch
günſtiger Standpuncte zu, doch nicht ſo, wie die nur auf die feſte Form
angeſehene Geſtalt des Menſchen oder Thiers, denn eine Geſammtheit von
Gegenſtänden, wie ſie ſich vor dem eigentlich ſehenden Auge ausbreitet, bietet
nicht jedem Standorte dieſe geſchloſſene Welt allſeitig ſchwungvoller Linien,
ſondern zwiſchen glücklichen Augenpuncten auch entſchieden ungünſtige. Der
Zuſchauer weiß freilich ſo gut wie der Künſtler, daß es außer dem im je vor-
liegenden Kunſtwerke gewählten Standpuncte und den ungünſtigen Stand-
puncten noch unbeſtimmt viele, ebenfalls günſtige, und zwar gleichzeitig ſelbſt
bei dem ruhenden Gegenſtande, nicht nur ſucceſſiv bei dem bewegten, geben
muß, aber die Auswahl iſt ihm abgenommen, für dießmal die Auswahl dieſes
günſtigen Sehpuncts, anderen Kunſtwerken bleibt die Auswahl anderer
vorbehalten. Es iſt ein Blitz des Geiſtes, der dießmal dieſe Erſcheinung
ſo beleuchtet, er entzündet augenblicklich im Zuſchauer die Ueberzeugung,
daß dießmal dieſe Mannigfaltigkeit unter dieſer Einheit geſehen ſein will,
[514] ein andermal mag es anders ſein. Der Zuſchauer bleibt alſo frei, aber
er denkt jetzt nicht an dieſe Freiheit; er weiß um ſie, aber dieß Wiſſen
bleibt ſchlummernd liegen und zwanglos läßt er ſich zwingen, ſo zu
ſchauen, als ſei dieß der einzig richtige Standort. — Endlich muß nun
auch im Kunſtwerke ſich realiſiren, was ſchon in der zu Grund liegenden
Art des Sehens an ſich liegt, was wir bei der Farbengebung bereits wieder
aufgefaßt haben, und was insbeſondere bei dieſer letzten Erwägung ſchon
mitberückſichtigt iſt: das unbeſtimmt Gebildete, das elementariſch Ausge-
dehnte und Ergoſſene war mit den geſchloſſenen Geſtalten gleichzeitig in
Einem Blick angeſchaut, ſo wird es auch mitdargeſtellt. Von objectiver
Seite iſt es die Nachbildung auf der Fläche, welche dieß mit ſich bringt,
aber die Fläche iſt ſelbſt nur der Niederſchlag des Sehkreiſes oder eines
Ausſchnitts deſſelben. Es iſt denn eine weitere grundweſentliche Eigen-
ſchaft der Malerei, daß ſie den ſogenannten Grund, nämlich alle elemen-
tariſche, botaniſche, auch alle durch Menſchenhand gebildete Umgebung den
höheren, geſchloßneren organiſchen Geſtalten mitgibt. Hiedurch ſchließt
ſie (vergl. Hegel a. a. O. Th. 3. S. 11.) mit der Plaſtik auch die
Baukunſt in dem Sinn in ſich, daß ſie vereinigt, was jede dieſer Künſte
gab, und damit ausfüllt, was jeder fehlt: die letztere hatte einen Raum
und kein Subject für denſelben, die erſtere umgekehrt (vergl. §. 599, 2.),
die Malerei faßt Beides zuſammen. — Dieſe Feſtſtellung der allgemeinſten
unterſcheidenden Eigenſchaften der Malerei führt nun auch ſogleich auf
eine Veränderung des Verhältniſſes zwiſchen Erfindung und Ausführung:
in der Baukunſt und Plaſtik fielen beide an verſchiedene Organe ausein-
ander, weil die Ausführung oder wenigſtens ein Theil derſelben eine maſ-
ſenhaft grobe Arbeit forderte; in jener war die Spaltung natürlich völli-
ger, als in dieſer. Die Darſtellung auf der Fläche aber iſt des gröberen
Kampfes mit der Materie ledig, flüſſiger geht das innere Bild durch die
Hand in die Außenwelt über; es entſteht eine neue Welt von Schwierig-
keiten, aber ſie ſind anderer Art und fordern von Anfang bis zu Ende
die eigene Hand des Erfinders. Die Copie des vollendeten Kunſtwerks
wird dagegen nothwendig ſchwerer, eben weil es nicht in wirklicher Räum-
lichkeit völlig nachmeßbar daſteht und der Nachbildende in eine Technik ein-
dringen muß, die als Ganzes, von Anfang bis zu Ende eine vom Geiſte
des Erfinders beſeelte iſt.


§. 650.

Dieſer Fortgang zur Ueberſetzung des räumlichen Daſeins in einen bloßen
Schein auf der Fläche iſt nothwendig mit weſentlichem Verluſte verbunden:
verloren iſt die naturvolle Gediegenheit, die Ruhe im vollen und ungetheilten
Daſein, die Oewichtigkeit, die dem Bildwerke den Ausdruck des Monumentalen
[515] im vollſten Sinne gibt, ebenſo die Vielheit von Kunſtwerken, die es in ſich
ſchließt; und doch iſt das Gebiet der wirklichen Bewegung nicht gewonnen:
auch die Malerei feſſelt noch einen Moment im Raum und behält dadurch
den allgemeinen Charakter aller bildenden Kunſt, den der Objectivität.
Der Verluſt muß aber in tieferem Sinne, als dem einer Reihe von äußeren
Vortheilen (vergl. §. 649), zugleich unendlicher Gewinn ſein: dieß folgt aus
dem Satze §. 54, daß im Schönen das körperliche Daſein in reinen Schein
umgewandelt wird; je näher eine Kunſtform der gänzlichen Vollziehung dieſes
Acts ſteht, deſto reicher und tiefer iſt ihr Weſen.


Es iſt hinreichend auf den Satz zurückgewieſen, daß die einzelnen
Kunſtgebiete, indem ſie gewiſſe Seiten der Erſcheinung mit Abſtraction
von den andern iſoliren, in der Entbehrung gewiſſer Vollkommenheiten
andere um ſo vollſtändiger erſchöpfen (§. 533, 2.). Es bedarf auch keiner
wiederholten Darſtellung, welches die Vollkommenheiten ſind, die der
Bildnerkunſt durch ihr Verzichten auf das Ganze der Geſichts-Wahrneh-
mung zufallen; nur mit einem Worte ſei noch einmal geſagt, daß das
naive, ganze, vollwichtige, herzhafte, reale Daſtehen und ſich Hinpflanzen
im Raume, woran eben die Fülle der einzelnen Züge plaſtiſcher Vollkom-
menheit ſich ſchließt, die Grundvollkommenheit iſt, wodurch die Plaſtik in
einer nur ihr eigenen Herrlichkeit neben den andern Künſten thront.
Dieſe Art von Schönheit iſt nun aufgegeben; mit der Beſtimmung und
ausſchließenden Annahme Eines Sehpuncts durch den Künſtler iſt zugleich
jene Vielheit von Kunſtwerken verloren, die das einzelne plaſtiſche Kunſt-
werk in ſich enthält. Die Malerei ſchreitet aber nicht über das Raum-
geſetz hinaus, nicht das gewinnt ſie durch das Opfer der plaſtiſchen Fülle
und Ruhe, daß ſie eine Reihe von Momenten ſucceſſiv in Einem Werke
darſtellen kann, ſie iſt noch ohne wirkliche Bewegung, ſtumm wie alle
bildenden Künſte, objectiv in dem mehrfach erklärten Sinne (vergl.
§. 551). Nach dieſer Seite alſo iſt nichts gewonnen und es bleibt dabei,
daß alle die Erleichterungen, die der vorh. §. aufgeführt hat, um einen
ſchweren Preis erkauft ſind, nämlich auf Koſten der Solidität. Wir be-
finden uns nun auf einem Puncte des Schwankens, die Wagſchalen des
Gewinns und Verluſts bewegen ſich unſtet hin und wieder. Hier bedarf
es eines entſcheidenden Gewichts und dieſes gibt der aus §. 54 angeführte
Satz nebſt dem, was in §. 533, 1. für ſeine Anwendung auf das Syſtem
der Künſte bereits auseinander geſetzt iſt. Die Malerei hat einen ſo
weſentlichen Schritt vorwärts zum reinen Scheine gethan, daß ihr Gewinn
ungleich größer ſein muß, als ihre Opfer. Dieß iſt noch nicht begründet
durch die erſte, allgemeine, erſt äußerliche Aufweiſung der Vortheile,
die ſie durch ihr Verfahren erreicht; es muß erſt entwickelt werden, was
[516] dieſe Vortheile bedeuten wollen, was Alles ſich für das innere Weſen der
Kunſt aus ihnen ergibt. Aus dieſer Entwicklung wird ſich ſchließlich erſt
die beſondere Modification ergeben, welche die Beſtimmung der Ob-
jectivität in der Malerei erfährt.


§. 651.

Dieſer Gewinn iſt zunächſt ein Gewinn an Weite des Umfangs.
Den veränderten Darſtellungsmitteln öffnet ſich das Reich der landſchaftlichen
Schönheit, der Thierwelt und Menſchenwelt in neuer Ausdehnung, in den
verſchiedenſten Formen äußerer Bewegung und Handlung.


Die Weite, die nun gewonnen iſt, kann natürlich von dem Gewinn
an Tiefe, zu dem wir nachher übergehen, nur relativ getrennt werden;
wir ſind in dieſem Uebergang bereits begriffen, denn im rein äußerlichen
Sinn iſt ja der große Fortſchritt in der Weite bereits ausgeſprochen, und
wenn es ſich jetzt darum handelt, den Inhalt dieſer Erweiterung, die neu
zuwachſenden Sphären beſtimmter anzugeben, ſo führt dieß unmittelbar
zu dem Geiſte dieſer veränderten Kunſtweiſe. Vor Allem holt denn nun
die Malerei nach, was die Bildnerkunſt überſprungen hat: die Landſchaft
(vergl. §. 599, 2.); architektoniſche Umgebungen, mögen ſie mehr oder
minder geſchloſſen ſein, können wir vorläufig zu ihr zählen. Die Malerei
iſt dieſes Gebietes theilweiſe ſchon vermittelſt der Zeichnung mächtig, denn
in der That kann ſelbſt dieſe ungleich weiter greifen, als die Plaſtik, ob-
wohl ſie das plaſtiſche Moment in der Malerei darſtellt; darüber mehr
bei der ſpeziellen Erörterung; natürlich aber iſt es im Weſentlichen erſt
die Farbe, durch welche das eigentliche Sehen ſein Erfaſſen der allgemei-
nen Medien, Licht, Luft, der ausgedehnten Maſſen des Waſſers und der
Erde, der aus unzählbar kleinen Organen aufgebauten Pflanze im
Kunſtwerke wiederzugeben fähig iſt. Wie nun für die Mittel der Malerei
die unbeſtimmbare Vielheit der Pflanzen-Organe darſtellbar wird, ſo er-
ſchließt ſich ihr in einer der Plaſtik verſchloſſenen Weite die Thier- und
Menſchenwelt. Der allgemeinere Ausdruck: „in neuer Ausdehnung“ gilt
zunächſt von der Erweiterung über die Klaſſen der Thierwelt. Das Kleine,
was dem Auge keine größeren Bahnen darbietet, das Dünne, das viel-
fach Zerſchnittene, unbeſtimmt und verſchwommen Gebildete und hiemit
das Reich der wirbelloſen Thiere (vergl. §. 292—294) kann Stoff der
Darſtellung werden. Die Einſchränkung, die allerdings aus jenem Ge-
ſetze der Vermeidung des allzu Kleinen fließt, wird in der Lehre vom
Style zur Sprache kommen. Dieſer Seite der Erweiterung entſpricht, wenn
man vom Begriffe der neu zuwachſenden Art ausgeht, in der Menſchen-
[517] welt die nun eröffnete Möglichkeit die vom reineren Typus entfernteren
Racen, Völker, Stämme, die dürftigeren und unregelmäßigeren Formen
überhaupt darzuſtellen; dieß ſtellen wir nur ſchlechtweg auf, ohne es noch
weiter zu verfolgen, weil es andere, erſt zu entwickelnde Momente ſind,
welche nach dieſer Seite hin als tieferer Grund der weiteren Ausdehnung
zur Sprache kommen, während bei der Thierwelt ſchon aus den verän-
derten techniſchen Mitteln die Möglichkeit derſelben hervorgeht. Uebrigens
auch was dieſe betrifft, ſo wird die Erweiterung des Stoffs noch von
anderer Seite zu beleuchten ſein. Das Weſentliche des Gewinns, in
Beziehung auf Darſtellung der Thier- und Menſchenwelt liegt nun aber
vor allem in der völlig freigegebenen Bewegung. Hier tritt das Er-
gebniß davon in Kraft, daß der Maler es mit gar keiner wirklichen
Schwere mehr zu thun hat. Flug, Sprung, Taumeln, jede Kühnheit
der Stellung: hindert den Künſtler nur ſonſt keine äſthetiſche Rückſicht,
ein Nachwirken der Schwere des Materials in das Gefühl des Zuſchauers
von den Schwere-Verhältniſſen der nachgebildeten Figur hindert ihn nicht
an der freieſten Entfaltung in dieſer Sphäre. Hiezu iſt nun weiter die
Freigebung der Figuren-Menge, die geöffnete Tiefe, die freie Beſtim-
mung des Künſtlers über den Sehpunct, alſo über Art und Grad des
ſich Deckens der Geſtalten aus §. 648 zu nehmen: ſo erkennt man, daß
jede Art des Zuſammenſeins, Zuſammenwirkens, Handelns durch die ge-
fallenen Schranken aufgethan iſt. Kitten, Rudel, Heerden, reiche Men-
ſchengruppen, große Maſſen mögen auftreten in jedem Zuſtand, jeder
Form der Thätigkeit. Die Kunſt hat ſich in Beſitz des ganzen Reichs
des Naturſchönen geſetzt, die Welt iſt offen, nur der Ton iſt ausgenom-
men. Bei näherer Betrachtung werden wir freilich im Einzelnen wieder
Grenzen auftauchen ſehen auch in Darſtellung der ſichtbaren Welt; hier,
wo es ſich von ihren Gebieten erſt im Großen handelt, mögen jene noch
verdeckt bleiben, denn dieſe im Ganzen und Allgemeinen ſind geöffnet.
Es iſt aber Zeit, daß wir von der weiten Ausſicht zur Einſicht in die
veränderte innere Auffaſſung fortgehen.


§. 652.

Der Gewinn an Weite iſt zugleich ein unendlicher Gewinn an Tiefe.
Durch die Ueberſetzung des räumlichen Daſeins in bloßen Schein überhaupt,
namentlich durch die Nachbildung des Lichts und Dunkels und am meiſten durch
die Farbengebung, die als höchſte Zuſammenfaſſung aller Mittel dieſer
Kunſt ihr den Namen Malerei zutheilt, iſt nun ein Uebergewicht des
Ausdrucks über die Form
begründet. Der Geiſt ſcheint als eine in ſich
geſammelte Einheit und Unendlichkeit aus ſeinem Körper wie aus einer durch-
[518] ſichtigen Hülle; der Körper drückt weſentlich den Geiſt als ſein Inneres aus,
aber als ſein über ihn, der nun im offenbaren Gegenſatz als nur endliches
Organ geſetzt iſt, unendlich hinausgehendes Inneres. Die ſinnliche Wärme,
die in der Farbe liegt, ſteht an ſich mit dieſem Charakter der Geiſtigkeit
nicht im Widerſpruch, kann aber allerdings zum falſchen Reize führen. Die
Malerei iſt zwar noch in uneigentlichem, aber in ungleich nachdrücklicherem
Sinn, als die andern Formen der bildenden Kunſt, ſprechend.


Die Uebertragung des Ausgedehnten und Schweren als bloßen
Scheins auf die Fläche iſt ſchon an ſich ein geiſtig-Setzen; die Art
der Auffaſſung ſelbſt, welche dieſem Verfahren vorausgeht, beſtimmt
ſich nun näher dadurch, daß dieſes Verfahren dabei ſchon in Rechnung
genommen werden muß: das Auge blitzt über die Oberflächen hin und er-
haſcht geiſtreich die Spitzen der Dinge, worin das Geheimniß ihrer innerſten
Qualitäten aufleuchtet. Dieß ſchließt natürlich ein ruhiges Eindringen nicht
aus; es iſt nur der Gegenſatz gegen die Bildnerkunſt, der den Nachdruck auf
das Hingleitende der Auffaſſungsweiſe wirft. Es handelt ſich aber hier vor
Allem von Licht und Dunkel und von Farbe. Hier müſſen wir nun auf
das zurückverweiſen, was in der Lehre vom Naturſchönen über dieſe großen
Erſcheinungs-Medien bereits geſagt iſt, ſ. §. 241—253. Die künſtleriſche
Verklärung, welche nätürlich auch dieſes neugeöffnete Reich des Schönen
erſt erfahren muß, bleibt vorausgeſetzt, die nähere Erörterung der einzel-
nen Momente wird auf ſie eingehen; das Weſentliche iſt uns hier, daß
der Künſtler die Lichtwelt nicht nur ſich gegeben ſein läßt, um ſein Werk
in ſie hineinzuſtellen, ſondern ihre Nachahmung ſich zur Aufgabe macht,
ihren Reizen, Geheimniſſen als dem wichtigſten Theile ſeines Stoffes nach-
geht. Insbeſondere vergleiche man nun, was über die ahnungsvolle
geiſtige Symbolik des Helldunkels in §. 245 und über die Farbe §. 247
geſagt iſt. Von letzterer heißt es: „die Geſtalt zeigt das Innere, wie
es ganz zum Aeußern geworden, die Farbe zeigt das Aeußere als Wider-
ſchein des Innern, ſie ſpricht die Seele aus,“ und in der Anmerkung:
„ſie zeigt die innerſte Werkſtätte des Lebens auf der Oberfläche, — ſie
iſt ein über das Ganze verbreiteter Schein, der für ſich nicht zu faſſen
und zu halten iſt wie die Form, ſondern nur die im Innern geheimniß-
voll arbeitende, auf die Oberfläche hinausſtrahlende Miſchung, Gährung,
Stimmung des ganzen Weſens verräth. Die Form zeigt wohl auch
die innere Beſtimmtheit, aber nicht in dieſer Tiefe, denn in ihr iſt das
innerlich Wirkende beruhigt und fertig mit ſeiner Raumerfüllung, durch
die Farbe zeigt es ſich in ſeiner thätig mit ſich fortbeſchäftigten ſubjectiven
Einheit, es läßt nicht eine vollendete Geſtalt von außen beleuchten, ſon-
dern macht ſich ſein eigenes, ſpezifiſches, ſprechendes Licht: ein ſeelenhaft
[519] ergoſſener Schein, der ſich nicht greifen läßt.“ Es genüge hier, zur
näheren Beleuchtung auf den bedeutendſten Sammelplatz alles Lichts und
aller Farbe, auf das Auge hinzuweiſen. Dieſes Organ, das der Bild-
ner nur mangelhaft und auch dieß nicht ohne gewiſſe maleriſche Hülfen
(von denen jedoch farbige Behandlung ausgeſchloſſen iſt, vergl. §. 608)
wiederzugeben vermag, iſt die höchſte Läuterung der Materie, die es gibt:
ein glänzender Spiegel auf ſeiner Oberfläche, farbig durchſichtig, ein
Blitze werfender farbiger Kryſtall läßt es auf den innerſten Grund der
Seele hineinblicken. Dieſe wunderbare Erſcheinung iſt uns aber nicht
nur Beiſpiel, ſondern wirklich die höchſte, concentrirteſte Vereinigung der
über den ganzen Körper und alle Körper ergoſſenen, nur in ihrer Aus-
breitung nicht ſo unmittelbar die Tiefe ihres Sinns offenbarenden Far-
benwirkung. Mit dem Auge hat die Kunſt die ganze Welt in einem
neuen Sinn ergriffen, die ganze Welt wird ihr nun zum Auge. In der
Form hat das Innere, die bauende Seele ſich zwar auch weſentlichen
Ausdruck gegeben, aber in dem fertigen Niederſchlage zugleich ebenſoſehr
wieder verdunkelt; die Form verhüllt, verdeckt im Offenbaren, was ſie offen-
bart; die Farbe fährt fort, durch die Form hindurch die innerlich thätige Seele
zu offenbaren, ſie macht das Aeußere als Durchſcheins-Medium des Innern
ſelbſt zum Innern; „es iſt das Innere des Geiſtes, das ſich im Widerſcheine
der Aeußerlichkeit als Inneres auszudrücken unternimmt“ (Hegel, Aeſth.
B. 3. S. 15.). Hiemit ſind wir bereits bei dem Hauptſatze angekommen, der
das Weſen der Malerei im Gegenſatze gegen das der Bildnerkunſt beſtimmt:
der Ausdruck überwiegt die Form. Man darf dabei natürlich an keinerlei die
abſolute äſthetiſche Einheit zwiſchen Idee und Bild lockenden Ueberſchuß
der erſteren über das letztere denken, beide bleiben ſchlechthin ungetrennt,
aber das Bild hat eine Qualification ſeiner Erſcheinung in ſich aufge-
nommen, wodurch es die inwohnende Idee nicht als einfach in der Er-
ſcheinung beruhigt, ſondern als einen unerſchöpflichen Grund offenbart,
der aus ihm hervorleuchtet, durch es in ſeine Tiefen zurück- und hinunter-
weist. Es iſt hiemit ein Gegenſatz, Gegenſchlag zwiſchen Geiſt und
Materie geſetzt, wie in der Sculptur noch nicht. Man behalte, um ſich
dieß ganz klar zu machen, zunächſt phyſikaliſch das Weſen der Farbe im
Auge und frage ſich dann, welcher Sinn dem Acte zu Grund liege, durch
welchen die Kunſt nun das ganze Geheimniß derſelben erfaßt und dar-
ſtellt. Die Farbe entſteht durch eine Brechung des Lichtes an den Kör-
pern; dieſe wehren es als dichte Materie ab und müſſen es zugleich ein-
laſſen. Auch bei nicht durchſichtigen Körpern muß theilweiſe dieſes Einlaſſen
an den feinſten, mit unſern Werkzeugen nicht mehr faßbaren Bildungen
der Oberfläche Statt finden. Unerkennbar kleine priſmatiſche Flächen, in
beſtimmter Weiſe zu einander geſtellt, durchſchoben und ſich verdunkelnd,
[520] müſſen die Atome ſein, durch welche ein Körper eine beſtimmte Farbe
erhält, denn ein durchſichtig Dichtes von beſtimmten Flächen, das
Priſma, ſtellt die Farben und bei theilweiſer Verdunklung eine
der Farben hervor. Wie nun die Farbe bedingt iſt durch eine
Brechung des Lichts an dem kantig Feſten, Dichten, Dunkeln der
Materie, die doch zugleich von ihm durchdrungen wird, ſo iſt mit ih-
rer Aufnahme in die Kunſt eine innere Entgegenſtellung von Geiſt und
Materie und ein Hinübergreifen des Geiſtes über dieſen Bruch geſetzt.
Wir legen nicht durch bloße Symbolik dieſen Sinn in Licht und Farbe;
die Natur zeigt uns deſſen Wahrheit, wenn ſie dem Weſen, in welchem
durch den innern Gegenſchlag des Bewußtſeins die Materie ſich zum
Geiſte befreit, das farbig helle, durchſichtig leuchtende, klare Auge gibt,
und die Kunſt, wenn ſie dahin gelangt iſt, dieſe Spitze der Erſcheinungs-
welt zu ihrem Stoff zu machen, hat jenen höchſten Gegenſatz und die
Einheit ſeiner Glieder erfaßt. Der Geiſt kommt alſo nun zur Darſtellung,
wie er ſich bricht am Dunkel ſeines Leibes, aber ebenſoſehr es durchdringt;
die Materie iſt als ſein Anderes geſetzt, das er wieder zu dem Seinigen,
zu ſeiner durchſichtigen Hülle macht. Alle begrenzte Geſtalt iſt durch ihre
Begrenzung endlich, aber indem ſie den Geiſt durchſcheinen läßt, geſteht ſie
ihre Endlichkeit und zeigt hinein auf das Unendliche, deſſen Organ ſie iſt,
zu deſſen Unendlichkeit ſie ebendadurch ſelbſt wieder erhoben iſt, daß
ſie derſelben ſich ergibt, ſie aus ſich leuchten läßt. Die Bildnerkunſt iſt
ein herrliches Gefäß, von einem undurchſichtigen Metalle der koſtbarſten
Art gebildet, wir wiſſen, daß es die edelſte Flüſſigkeit enthält, die es ruhig
bis zum Rande füllt; die Malerei iſt ein kryſtallener Pokal, der den feu-
rigen Inhalt durchſcheinen läßt. Die Vergleichung hinkt aber, denn gründ-
licher betrachtet iſt der Inhalt bei der Plaſtik ganz in das feſt Geſtaltete, das
alſo nicht eigentlich als Gefäß angeſehen werden darf, verſenkt; bei der
Malerei erſt löst ſich der Inhalt von der Schaale, die nun erſt eigentlich
Gefäß iſt, und ſcheint doch durch dieſes Gefäß, das ein Andres und doch
nichts für ſich iſt, hindurch. Daß nun mit dieſer veränderten Stellung,
dieſer Negativität der Geſtalt, die doch wieder Affirmation iſt, eine
Geiſteswelt mit einem ganz neuen Inhalt aufgeht, leuchtet unmittelbar
ein. Die Entwicklung des neuen, großen Prinzips iſt dem Weiteren
vorbehalten. Wir haben aber noch eine Seite aufzunehmen, welche mit
dem, was hier entwickelt iſt, auf den erſten Blick unvereinbar ſcheint:
die Farbe wirkt, indem aus ihr das Säfte- und Blutleben, der zuckende
Nerv hervorglüht, ungleich ſinnlicher, als, trotz der Greifbarkeit der Form,
Marmor und Erz. Es iſt herkömmlich, von plaſtiſcher Kälte, maleriſcher
Wärme zu ſprechen, und wenn dieſes Urtheil eine Vorliebe für die Ma-
lerei ausdrückt, ſo kann der Freund der erſteren hinzuſetzen, daß dieſe
[521] Wärme ſehr leicht in pathologiſchen Reiz übergehe. Eine Titianiſche Venus
mit dem warmen Blut-Tone, dem roſigen Anfluge des Fleiſches,
dem wollüſtig leuchtenden Auge ſcheint, verglichen mit einer medizeiſchen,
die, obwohl eben nicht im keuſchen, hohen Style gehalten, doch gewiß
ungleich ruhiger wirkt, als jene, eben kein Beweis für den Satz, daß der
Charakter der Malerei ein geiſtigerer ſei. Um dieſen ſcheinbaren Wider-
ſpruch zurechtzurücken, muß man zuerſt zwei Gebiete unterſcheiden. Wo
es gilt, ernſtes inneres Leben, Charakter, tief innerliche Empfindungen
darzuſtellen, kann kein Zweifel ſein, daß in den Mitteln und der Dar-
ſtellungsweiſe der Malerei Alles das liegt, was wir ausgeſprochen haben.
Bewegt ſich ein dargeſtellter Moment aus dieſem Gebiete durch Gefühle
des Leidens, ſo wird das Bild derſelben allerdings ſympathetiſch ſtärker
wirken, als in der Sculptur, aber auch die geiſtige Kraft der Ueberwin-
dung des Leidens wird tiefer zum Ausdruck kommen und das Gleichge-
wicht herſtellen, den Anreiz zu pathologiſchem Verhalten niederſchlagen.
Allerdings wird nun die Malerei auch ihr Gebiet naturvoller, unverhüllter
Grazie haben und wir werden die Stylrichtung, welche dazu vorzüglich
hinneigt, im Gegenſatz gegen eine andere kennen lernen. Dieſe Dar-
ſtellungen müſſen nun allerdings durch die Gewalt der Farbe heißer wir-
ken, Blut und Nerv im Bilde müſſen Blut und Nerv im Zuſchauer un-
mittelbarer faſſen, als ein Sculpturwerk derſelben Gattung; es ſcheint alſo
unrichtig, der Malerei im Allgemeinen den Charakter tieferer Geiſtigkeit
beizulegen. Allein es iſt hier eine doppelte Art der Sinnlichkeit zu unter-
ſcheiden: eine unmittelbare und eine geiſtig reflectirte. Die erſtere, welche
der Bildnerkunſt zukommt, eröffnet dem Zuſchauer wohl den Blick in ein
einfach heiteres, geſundes Daſein, aber nicht in die Tiefe eines beſondern
Temperaments, einer phantaſievoll entzündeten innern Welt; die zweite
zeigt mit der äußern Fülle der Schönheit uns die innere Werkſtätte des
individuellen Zuſtands und des geiſtigen Lebens, wie eine fröhliche, lau-
tere Sinnenfreude in ſein Inneres hinein und aus ihm hervorſcheint, das
Sinnliche ſelbſt iſt innerlicher. Der Anſchauende wird tiefer erfaßt, leb-
hafter, inniger hineingezogen, aber dieſes innerlicher entzündete Gefühl
des Lieblichen und Reizenden bleibt bei allem Unterſchied ein unſchuldiges
ſo gut als die, dem verharrenden, blutloſen Bildwerk gegenüber ruhiger
verharrende Empfindung. Daß jedoch die Gefahr des Uebergangs zum
falſchen, verführeriſchen, durch Reflectirheit nur doppelt übeln Reiz der
Malerei noch näher liegt, als der Plaſtik, iſt natürlich nicht zu läugnen. —
Schließlich iſt noch ein Wort über den Begriff des Sprechenden zu ſagen,
den wir aus gutem Grunde bei jeder Kunſtform wieder auffaſſen. Auch
der Malerei iſt die Zunge noch nicht gelöst, aber wenn wir jenes Hervor-
leuchtenlaſſen des Geiſtes uneigentlich ein Sprechen nennen, ſo iſt dieſe

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 35
[522]Sprache doch tiefer, umfaſſender, Geiſt-offenbarender, als die ihrer ernſten,
kälteren, in ruhiger Würde der Zuſchauer gegenüber in ſich verharrenden
Schweſter.


§. 653.

Nun erſt erhellt die wahre Bedeutung des Gewinns in der Weite (§. 650).
Dem zu ſeiner Einheit und Unendlichkeit geſammelten Geiſte ſteht die Vielheit
der endlichen Welt in der Breite und Fülle ihrer Erſcheinungen ſelbſtändig ge-
genüber; die ausſchließende Zuſammenziehung der Natur und Menſchheit in ab-
ſolut ideale Weſen iſt zu Ende. Der Geiſt hat aber die Welt zu dieſer Selb-
ſtändigkeit nur entlaſſen, weil er ſie ſeiner innern Unendlichkeit gegenüber als
Endliches geſetzt hat: ebendarum greift er wieder in ſie über, umſpannt ſie,
hebt ſie in ſeine Unendlichkeit. So iſt die Malerei ebenſoſehr ausgegoſſener,
als geſammelter Geiſt, Ausdruck des in ſeiner Sammlung ausgegoſ-
ſenen und in ſeiner Ausgießung geſammelten Geiſtes
.


Die „Vielheit der endlichen Welt“: ſo iſt das dem Geiſte Gegen-
übertretende bezeichnet, um auszudrücken, daß es ſich nicht blos von ſo-
genannt Aeußerem, Sinnlichem handelt. Das verhüllte geiſtige Prinzip
in der außermenſchlichen unorganiſchen und organiſchen Natur, das offen-
bare im Menſchen nennen wir in ſeiner Allgemeinheit den Geiſt und ha-
ben, indem wir ihn ſo herausziehen aus dem Einzelnen, worin er doch
allein lebt und wirkt, durch dieſe nothwendige Abſtraction all das Viele,
worin er eben wirkt, außer ihn hingeſtellt. Dieß Viele iſt nun nicht blos
die Natur, in welcher das geiſtige Prinzip noch unbewußt ſchlummert;
es ſind auch die Menſchen als die Vielen darunter befaßt: der zum Be-
wußtſein ſeiner Unendlichkeit gekommene Geiſt in einem Menſchen weiß
ſich als Einen mit demſelben Geiſt in den andern trotz dem Trennenden,
was die Individuen ſcheidet; neben dieſes Einheitsbewußtſein fällt uns
nun auch die Vielheit der menſchlichen Individuen zunächſt äußerlich ſo
hin, als ob das Individuenbildende nur eine ſinnliche Kraft der Natur
wäre, nicht auch aus dem Geiſte hervorgienge, welcher in der verhüllten
Form blinder Nothwendigkeit der Natur Geſetze gebend innewohnt, wel-
cher die Gattung in Individuen zerlegt, um eben in der Vielheit die Ein-
heit dazuſtellen und ihre höheren Zwecke thätig zu erwirken, und welcher
in der höchſten Gattung zu ſich kommt, bewußter Geiſt wird. Zu dem
Vielen der endlichen Welt gehört ferner dem Geiſt im Menſchen gegen-
über auch ſeine eigene ſinnliche Geſtalt, welche zwar die realiſirte Form
des Geiſtes ſelbſt iſt, aber als Erſcheinendes in die Vielheit der Sinne,
Organe ſich auseinanderlegt. Aber noch mehr: auch das Viele, das als
[523] eine Welt von Trieben, Kräften, Thätigkeiten im Innern des Menſchen
ſelbſt lebt, fällt uns in dieſer gegenwärtigen Trennung neben und außer
den Geiſt hin, der die Einheit dieſes Vielen iſt. Wir haben das reine
Licht, das einfache Weiß des Geiſtes, wie er in ſeiner Unendlichkeit für
ſich iſt; das farbige Leuchten aus der Hülle, wovon der vorh. §. han-
delte, iſt vorerſt wieder bei Seite gelaſſen. Jene Welt des Vielen nun
iſt in der Bildnerkunſt dem Geiſte ſo nicht gegenübergetreten, und weil
ſie nicht gegenübergetreten iſt, iſt ſie zuſammengeſchmolzen. Der Geiſt
webte noch in ſchöner Einheit mit der Natur als der Mutter des Vielen
(das ſie in Wahrheit freilich ſelbſt nur als Stätte des Geiſtes, damit er
aus dem Vielen ſich entzünden könne, gebiert). War nun die Natur dem
Geiſte ſo in ruhiger Einheit einverleibt, ſo ergab ſich für die entſprechende
Kunſtform auf Wegen, die wir nicht noch einmal nachzeigen, eine wohl-
geſichtete Auswahl ſolcher Erſcheinungen, worin das Ganze der Natur
und Menſchheit in ſchöner Einheit der Kräfte ſich darſtellte; daneben gab
es auf dieſem Standpunct eigentlich nicht noch eine Natur, eine Vielheit
der Menſchenwelt und Particulariſation ihrer Triebe, Empfindungen u. ſ. w.;
es war ſogar ein, zwar nothwendiger, Widerſpruch der Phantaſie, daß
es nur mehrere Götter-Ideale gab, denn genau genommen ließ ſich nur
Ein Weſen denken, in welchem Natur und Geiſt zur abſoluten, reinen,
ruhigen Einheit zuſammengegangen war. Nun aber, auf dem weſentlich
veränderten Standpuncte, ſteht alſo dem Geiſte, der zu dem Bewußtſein
ſeiner Einheit, ſeines unendlichen Beiſichſeins in allem Unterſchiede, ge-
kommen iſt, das Viele als ſolches gegenüber, es iſt als ſein Gegentheil
mit Bewußtſein geſetzt. Freilich als die Welt des Endlichen, alſo des
nicht Wahren, aber doch hingeſetzt, hingeſtellt; es wäre ja nicht ein Ge-
genſatz, wenn nicht das Viele, wie gewiß auch zum zweiten Momente,
der Auflöſung des Gegenſatzes übergegangen werden muß, zunächſt für ſich
im Nachdruck des Gegenüber beſtünde. Es iſt alſo in ſeiner Selbſtän-
digkeit geſetzt; es verſchwindet nicht mehr in der Aufſaugung, durch die
es in der Idealgeſtalt in eine reine, ruhige Einheit mit dem Geiſte ein-
gefloſſen, es iſt da, man ſieht es, es breitet ſich in frei entlaſſener Fülle
aus. Dieß iſt der tiefere Grund des Gewinns an Weite (§. 650): die
techniſchen Bedingungen zeigen auch hier, nachdem ſie erſt äußerlich auf-
geſtellt ſind, ihre poſitive, geiſtige Begründung und Wirkung. Allein jener
Gott des Alterthums, in welchen das Viele aufgegangen, iſt nicht ſchlecht-
hin todt, er ſoll in neuer, anderer Lebensform auferſtehen. Nur einen
Augenblick iſt die Abſtraction des Geiſtes in ſeinem reinen Fürſichſein feſt-
zuhalten; ſtellt ſich der Geiſt das Viele gegenüber als Endliches, ſo muß
er im nächſten Moment auch dieß ſetzen, daß dieß Endliche, weil es end-
lich iſt, ihm, dem Unendlichen, gegenüber nichts Beſtehendes für ſich ſein kann,

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[524]ſondern vielmehr die Form iſt, aus der er ſelbſt hervorgeht, die er, nach-
dem er aus ihr hervorgegangen, zwar unendlich hinter ſich zurückläßt, aber
nun wieder zu ſich heraufnimmt, durchdringt, füllt, durchſtrahlt und ſo erſt
wahrhaft, im realen, concreten Sinne ſetzt. Nun iſt all das Viele un-
endlich bedeutend und werthvoll, nun erſt iſt es wahrhaft frei, ſelbſtändig,
denn der Blitz des Geiſtes ſtrahlt aus ihm und in es. Der Verſchluß,
der den Gott gefangen hielt, iſt aufgegangen; der Gott ſtrömt als Geiſt
über in alle Welt. Schon zu §. 632, bei der Vergleichung von Statue
und Gruppe, haben wir die Bezeichnung eines Ausgießens gebraucht und
auf die Kunſtform hinübergewieſen, von welcher dieſe Bezeichnung im
volleren Sinne gilt. Die Malerei iſt das Pfingſtfeſt der bildenden Kunſt.
Ihre Weite und Tiefe iſt jetzt als Eines erkannt. Die Tiefe hat das
Band gelockert, ja ſcheinbar gelöst, das zwiſchen dem Geiſt als dem Ei-
nigenden und der Natur als Mutter der Vielheit beſtand, und die Weite
iſt aufgegangen, aber die Tiefe ſtellt das Band um ſo inniger wieder her,
der Geiſt hat es nur gelöst, weil er dieſe tiefere Herſtellung wollte; er
hat die Natur fallen laſſen, um ſie deſto inniger und wärmer zu verklä-
ren, ſie breitet ſich nun frei aus in []ihrer Weſenfülle und wird doch
vom Wehen des unſichtbar ſichtbaren Geheimniſſes wieder eingeholt und
in die Feier der Innerlichkeit getaucht. — Der weſentliche Inhalt dieſes
§. iſt ſchon von Hegel ausgeſprochen (Aeſth. Th. 2. S. 256. Th. 3.
S. 5. 6. 15. 17 u. a.); die Erläuterung unſeres §. ſucht die Sache in
eingänglicheres Licht zu ſtellen und der Schlußſatz deſſelben faßt Alles in
die möglichſt ſchlagende Formel zuſammen.


§. 654.

Die landſchaftliche Natur, der umgebende Raum überhaupt erſcheint nun
als ſtimmungsvoller Widerhall des perſönlichen Lebens. Tiefer tritt daſſelbe
Verhältniß innerhalb der Perſönlichkeit ſelbſt auf. Vom Bande der unmittel-
baren Einheit mit dem Geiſt entlaſſen ſpielt die Geſtalt und die Welt der man-
nigfaltigen innern Neigungen, Zuſtände, Kräfte in freierer Willkühr, die zu-
gleich zu jeder Einſeitigkeit ſich verhärten kann, öffnet ſich in bewegter Beziehung
zur Außenwelt ihren wechſelvollen Erregungen und läßt dieſelben bis zur tief-
ſten Aufwühlung und Zerreißung der Seele eindringen; aber das Licht des
Geiſtes ſcheint in dieſe bis zur Entzweiung losgelaſſene Außenſeite und erhebt
ihre mannigfaltigen Brechungen zum bedeutungsvollen Ausdruck ſeiner Tiefe.
Das Gute hat jetzt nicht mehr die Form einfacher Subſtantialität des Charakters,
das Böſe iſt als Stoff für die Kunſt erſchloſſen.


Das neue Licht, in welchem die Welt aufgefaßt wird, iſt zunächſt in
Anwendung auf die äußere Natur beſtimmter in’s Auge zu faſſen. Seine
[525] feurigen Zungen ſchweben nicht blos über den Häuptern der Menſchen,
der Gott iſt nicht blos, wie Hegel (Aeſth. Th. 2. S. 258. 3. S. 10 u. a.)
geiſtvoll ſagt, in die Gemeinde hereingetreten; Luft, Erde, Waſſer, Baum,
der letzte Schilfhalm am Teich zittert und webt im ahnungsvollen Glanze
und ſcheint ein bedeutungsvolles Etwas ſagen zu wollen. Durch die Ge-
genüberſtellung von Geiſt und Natur iſt jene Spannung, die uns auf dem
Standpuncte der Bildnerkunſt (vergl. §. 631, Anm. 1) noch fehlte, nun
eingetreten, die ſentimentale Beziehung zur Landſchaft iſt möglich gewor-
den, das Gemüth zieht ſich aus ihr zurück und ſehnt ſich wieder nach ihr,
ſpiegelt ſich in ihr, es leiht ihr ſeine Tiefe, und ihre Zuſtände, Formen,
Beleuchtungen, Morgen, Mittag, Abend und Nacht, Frühling, Sommer
und Winter, Stille und Sturm erſcheinen ihm als Bilder ſeiner Stim-
mungen. Es iſt ein Leihen, aber mit einem wahren Grunde; denn der Geiſt
erinnert ſich, daß er aus der Natur kommt und wie hoch er ſich über ſie
geſchwungen, er ſenkt ſich mit freier Liebe wieder in dieſen ſeinen Schooß
zurück. Zu §. 599, welcher heraushob, daß die Bildnerkunſt die Land-
ſchaft überſpringt, iſt der für das Syſtem hieraus erwachſende ſcheinbare
Widerſpruch, daß die Lehre vom Naturſchönen die landſchaftliche Schön-
heit vor der (thieriſchen und) menſchlichen aufführt und doch in der
Reihe der Künſte erſt die ſpäter folgende, reifere ſie nachholt, bereits be-
ſprochen; wir ſetzen hinzu: erſt muß die Kunſt das menſchliche Weſen in
ſeiner ganzen Kraft und Vollkommenheit erfaßt haben, ehe ſie dahin ge-
langen kann, wo die noch tiefer erwärmte Bruſt reich genug iſt, der är-
meren Form des Daſeins aus dem Ihrigen zu leihen. Uebrigens han-
delt es ſich nicht blos von der Landſchaft, ſondern auch von umgebendem
künſtlichem Raum mit ſeinen Geräthen u. ſ. w. Das von Menſchenhand
Gemachte iſt zunächſt todt und ſcheint nicht wie die lebendige Natur zur
Seelenſprache gelangen zu können; aber es iſt ein Werk zu menſchlichem
Gebrauch, eingewohnt, eingewöhnt, die Wände haben viel „geſehen“,
ſcheinen „erzählen zu können“ und aus dem alten Großvaterſtuhl ſteigen
vor Fauſt’s Gemüth tiefrührende Familienbilder auf. Dazu kommt die
eigenthümliche Wirkung der geſchloſſeneren Luft und des im Helldunkel der
von Wänden eingefangenen Räume bedeutungsvoller geſpannten Lichts.
Das Thierleben führen wir auch hier nebenher. Die Liebe leiht in die-
ſer veränderten Auffaſſung mitleidig auch der gebundenen Thierſeele von
ihrem Reichthum, ſucht in ihr die tiefere Verwandtſchaft mit dem Men-
ſchen auf, zieht es in den magiſchen Kreis ihrer erwärmenden Kraft.
Gehen wir nun zum Menſchen über, ſo ſehen wir daſſelbe Verhältniß
innerhalb der Perſönlichkeit eintreten, das wir bei dem Blick auf die
Natur zwiſchen dieſer und der Perſönlichkeit vor uns haben. Die Per-
ſönlichkeit zerfällt nun ſelbſt in ein Innerſtes, rein Geiſtiges und ein Aeu-
[526] ßeres, eine Natur. Unter dieſem Aeußeren, dieſer Natur iſt, wie wir be-
reits geſehen, nicht blos die Geſtalt, auch nicht blos die Sinnlichkeit zu
verſtehen, ſondern die ganze innere Welt ſelbſt als Vielheit von Formen
des Aufnehmens, ſich Verhaltens und Thuns. Es handelt ſich auch hier
um eine beſtimmtere Anwendung der Sätze des vorh. §. Die Geſtalt,
dem Geiſte gegenüber als Naturexiſtenz geſetzt, iſt der Zufälligkeit unend-
licher Brechungen der gattungsmäßig reinen Form hingegeben, es emanzi-
piren ſich ihre Einzelformen aus der harmoniſchen Einheit. Sie iſt aber hierin
nur Ausdruck der für die Kunſt nun entfeſſelten Vieltönigkeit, Vielſeitigkeit
des Innern. Der Menſch, wie er Stoff der Malerei iſt, erſcheint wie ein In-
ſtrument, das mit einer neuen Menge von Saiten beſpannt iſt, deren
Tonmenge die Bildnerkunſt wie ein Chaos fürchten müßte; denn vom
Bande der Einheit zunächſt entlaſſen wird auch erſt die ganze Welt von
Anlagen, Kräften, die in der menſchlichen Organiſation liegen, flüſſig.
In dieſer Entfeſſlung werden ſich aber nothwendig auch falſche Einheiten
bilden, ſtehende Gewöhnungen einer beſtimmten Richtung, Einſeitigkeiten,
die ſich, wie das Moment der geiſtigen Vielſeitigkeit, das hiemit gar nicht
in Widerſpruch ſteht, in der Geſtalt und ihren Bewegungen ausdrücken
müſſen. Was die Vielſeitigkeit entbindet und aufregt, iſt zugleich weſent-
lich ein unendlich erweiterter Rapport mit der Außenwelt, der natürlichen und
der menſchlichen. Es iſt ja der Perſönlichkeit ein Hintergrund mitgegeben,
ſie iſt nicht herausgeſchnitten aus Luft, Erde, Wohnung, Getümmel des
Verkehrs, ſie iſt dahinaus bezogen, unzählbare ſympathetiſche Fäden lau-
fen von ihr fort in die weite Welt und leiten den elektriſchen Strom un-
endlicher Beziehungen in ſie zurück. Das ſich-Einlaſſen erſcheint zunächſt
als völlige Zulaſſung jener Zerſtreuung, die wir in der Sculptur ſo ſtreng
abweiſen mußten (§. 606). Das Maleriſche hat durchaus den Wurf des
Bezogenen, Beziehungsreichen, des ſich-Umſehens. Durch dieſe geöffnete
Schleuſe brechen nun die Motive der Leidenſchaft in einem Umfang ein,
wie ihn ebenfalls die Sculptur nicht kennt, welche, wie wir ſahen, dem
Affecte mitten in ſeiner Entfeſſlung einen Damm entgegenwirft, wodurch
der Ausdruck bewirkt wird, als wäre der Sturm, während er braust, zu-
gleich auch ſchon beſchwichtigt. Das iſt nur bei geringerem Umfang und
einfacher Natur der Affecte möglich. Die Malerei hat ein weit verwickel-
teres Seelenleben und einen ungleich reicheren Umfang von Erregungen
und Leidenſchaften vor ſich; braust der Sturm in dieß Meer, ſo muß es
wie eine zerwühlte Wellenwüſte erſcheinen und der Ausdruck der Geiſtes-
macht muß in anderer Weiſe gerettet werden. Die Aufwühlung kann bis
zum tiefſten Zerfalle des ganzen Weſens mit ſich ſelber gehen; dabei iſt
die ganze Seite des Menſchen, die wir jetzt ſeiner geiſtigen Einheit ge-
genübergeſtellt vor uns haben, wie eine zweite widerſtrebende Seele mit
[527] dieſer zerfallen und zugleich, als Quelle unendlichen Schmerzes, das volle
Bewußtſein dieſes Zerfalles mehr oder minder entwickelt. Hiemit haben
wir nun freilich die geiſtige Einheit als Band der Vielheit aus dem Hin-
tergrunde, worin wir ſie vorerſt halten mußten, gerade auf der Spitze
ihrer ſcheinbaren Zurückſtellung wieder hervorgezogen. Die Einheit muß
nun das Band in der ganzen Ausdehnung der Vielheit wieder herſtellen,
der Hintergrund ſeinen Vordergrund an ſich nehmen. In dieſer Durch-
dringung wird nun eben das Einzelne, das Viele, das Verwickelte erſt
bedeutungsvoll. Die reich partikulariſirte Welt der Perſönlichkeit iſt nun
die Landſchaft, deren viele Einzelheiten in der Beleuchtung der Geiſtes-
ſonne zur idealen, äſthetiſchen Geltung erhoben werden, und wie in jener
ein Kuß der Abendröthe oder des Mondes auch den rohen, mooſigen
Felsblock verklärt, wie ſelbſt der Schilfhalm am Teich eine Sprache ge-
winnt, ſo leiſtet hier der Geiſt das Wunder, ſelbſt den herben, ſchroffen,
ſeltſam zwiſcheneingeſchobenen, zunächſt alle Harmonie ſtörenden Zug des
menſchlichen Weſens, eine ſtehende Einſeitigkeit, eine flüchtige, zuſammen-
hangsloſe Erregung in ſein Band zu ziehen; ein raſches Licht ſtreift über
die ſonderbaren Falten und Hügel hin und gibt ihnen Bedeutung und
Weihe; ein geiſtiger Phosphor entzündet ſich ſelbſt aus dem Zerworfenen,
Verſtreuten, Abnormen der ſo vor uns erſchloſſenen Welt. Gerade dieß
bezaubert uns, daß das ganz Entlegene, ſcheinbar für die Kunſt Verlo-
rene, das Willkührliche hervorgehoben und doch in die ideale Beleuchtung
gezogen wird. Entfeſſelt aber dieſe Kunſt den Sturm in ſeiner ganzen
Gewalt und geht ſie bis zum Bilde der Zerriſſenheit fort, ſo gilt es nur
um ſo mehr, ſtatt jenes unverlorenen Reſtes von Ruhe, den die Sculp-
tur bewahrt, die Einheitbildende Kraft als eine bewegte, wie aus Geiſter-
tiefen auftauchende in das Dunkel und Grauen ihren verſöhnenden Strahl
werfen zu laſſen, und bleiben wir bei dem Bilde Winkelmann’s, ſo können
wir ſagen, wenn der Bildner mitten im Sturme den unbewegten Meeres-
grund zeigen ſoll, ſo werde dagegen in der Malerei der Geiſt unſichtbar ſichtbar
über den Waſſern ſchweben. — Es folgt aus dem Allem, daß jene ge-
diegene Subſtantialität des Charakters, die ſich dem Allgemeinen gegen-
über ſubjectiv nicht iſolirt, ſondern ihre innere Einheit gar nicht anders
hat, als in der Einheit mit dem Guten, wie es als öffentliche Macht in
geſundem Volksleben waltet, nicht der Standpunct ſein kann, unter wel-
chem die ächt maleriſche Anſchauung die Perſönlichkeit auffaßt. Die durch-
gearbeiteteren, gefurchteren Züge des tüchtigen, der Gemeinſchaft dienenden
Charakters werden uns geſtehen, daß dieſe Hingebung erſt dem Eigenwil-
len einer ſubjectiven Willkühr abgerungen werden mußte, wie die Plaſtik
ſie nicht kennt. Auf dem maleriſchen Standpunct iſt ja durch die Freilaſſung
des Vielen der Einzelne für ſich eine Welt geworden, das Allgemeine
[528] verknüpft ſich ihm ſo mit dem individuell Seinigen, daß darin die tiefſte
Verſuchung liegt, für ſich ein Ganzes, das Ganze ſein zu wollen; daher
ſagt und geſteht uns der Ausdruck der Hingebung an das wahrhaft All-
gemeine, daß das Opfer nicht leicht war. Nun tritt aber nothwendig auch
die wirkliche Empörung als Kunſtſtoff ein, das Böſe ſteigt aus ſeinem
Abgrund hervor. Ja es wird darſtellbar auch ohne den Fortgang zur
Verſöhnung. Eben weil das Einzelne unendlich bedeutend geworden iſt,
kann auch den empörten Einzelwillen eine Geiſtigkeit, Genialität umwit-
tern, die als eine dämoniſche Tiefe mit Geiſterſchauern auf uns wirkt;
dabei darf allerdings der Ausdruck der Selbſtzerſtörung nicht fehlen, der
auch ohne den Fortgang zur poſitiven Verſöhnung in negativer Form
dem Wahren und Guten die Ehre gibt. — Bei der Landſchaft haben wir
ein Wort vom Thierleben geſagt, wie ihm nämlich in der neuen Kunſt-
form ein gemüthliches Intereſſe zugewendet wird. Es muß aber auch der
veränderte Standpunct, unter welchem die Perſönlichkeit dargeſtellt wird,
eine gewiſſe Anwendung auf daſſelbe finden. Wie nämlich in dieſer nun
eine reichere, vielgetheilte Welt aufgeht, ſo wird auch die Lebensform des
Thiers als eine gefülltere, mit Trieben und Beziehungen, die den menſch-
lichen in’s Einzelne analog ſind, reicher ausgeſtattete in wärmerem, be-
wegterem Ton aufgefaßt und im wilden, zerſtörenden Thiere gemahnt
der Ausdruck des Grimmen an jene dämoniſchen Tiefen des menſchlich
Böſen.


§. 655.

Wie nun innerhalb der ſo aufgefaßten Perſönlichkeit die Vielheit der ein-
zelnen Züge in Geltung eingeſetzt iſt, ſo erhält die ganze Perſönlichkeit als
Individuum unter den vielen Individuen unendlichen Werth. Ihre Eigenheit,
wie ſie ſich in der Erſcheinung ausdrückt, mag dieſe nach Form und äußerer
Bewegung noch ſo unſcheinbar oder unregelmäßig ſein, wenn nur geiſtige Tiefe
ſich in ihr offenbart, iſt zur äſthetiſchen Berechtigung erhoben, und dieß findet
auch auf die nicht begeiſtete Natur analoge Anwendung. Hiemit erſt hat die
zunächſt äußerlich begründete Zulaſſung einer unbeſtimmten Vielheit von Geſtal-
ten ihre innere, poſitive Begründung und Bedeutung erhalten. Die Ariſtokratie
der Geſtalt iſt gefallen und die Demokratie der Gleichberechtigung unter Vor-
ausſetzung des Ausdrucks inneren Werths iſt eingetreten.


Wir haben in §. 654 die Perſönlichkeit vor uns gehabt, wie ſie in-
nerhalb ihrer ſelbſt in zwei Seiten, die Vielheit und Einheit, zerfällt;
jetzt halten wir das Ganze der ſo beſchaffenen Perſönlichkeit als Indivi-
duum mit der unbeſtimmten, durch die Mittel der Malerei weit erſchloſſe-
[529] nen Vielheit von Individuen zuſammen. Dieſer Punct unter unendlich
vielen Puncten, der Einzelne, iſt nun, weil die Unendlichkeit des Geiſtes
in ihm gezündet, weil ſich in ihm das Ganze des Menſchengeiſtes zu je-
nem aus dem Innern in’s Aeußere ſcheinenden Strahl zuſammenfaßt, zu
einer, der plaſtiſchen Anſchauung in dieſem Umfang völlig fremden Be-
rechtigung in der Kunſt emporgehoben. Schon bei der vorhergehenden
Betrachtung ergab ſich uns, daß Geſtalt, Bewegung, innere Welt von
Neigungen und Kräften, Leidenſchaft bis in das Unförmliche, Einſeitige,
Zerriſſene gehen mag; dabei iſt die Vergleichung mit Andern eigentlich
bereits vorausgeſetzt, aber erſt, wenn wir dieſe nun ausdrücklich vorneh-
men, tritt die Sache in ihr volles Licht und erhellen die Reſultate.
Man ſtelle nun einen Menſchen von dürftiger oder unregelmäßiger Er-
ſcheinung, worin ſich eine mehr oder minder harte Einſeitigkeit des Vor-
wiegens gewiſſer Neigungen, Kräfte, eine ſchwere Hemmung, Verwicklung
ausſpricht, die jedoch von einer tiefen, originellen Natur zeugt, neben eine
Geſtalt von der Art, die man racemäßig nennt, rein in Formen, im Aus-
druck nicht geiſtlos, aber ohne das Salz einer beſondern, nur dieſer Per-
ſon eigenen Miſchung der Kräfte, ſo wird man nicht anſtehen, die erſtere
mehr maleriſch zu nennen. Verſteht ſich übrigens, daß die Unregelmäßig-
keit nicht bis zur auffallenden Störung der normalen Grundmaaße fort-
gehen muß, daß die Malerei den grelleren Abſprung von dieſem nicht
ohne beſondern Anlaß ſucht, ſondern nur, wenn er ſich ihr darbietet, zu
einem äſthetiſchen Motiv verarbeiten kann; im Gegenſatze gegen das
plaſtiſche Ideal genügt zur maleriſchen Würze ein Abſprung, der in dem
Reiche der möglichen Unregelmäßigkeiten ſelbſt noch fein, anziehend er-
ſcheinen kann; wir reden immer von einer unbeſtimmbaren Scala, ohne
ihre Anfänge und ihre härteren Stufen zu unterſcheiden. Eine unendliche
Mannigfaltigkeit der Brechungen des reinen Menſchentypus iſt nun alſo
mit der Geltung der perſönlichen Monade in das äſthetiſche Recht einge-
ſetzt. Die Sonne der Malerei ſcheinet über Gerechte und Ungerechte,
d. h. Schöne und Unſchöne, und wie der Stifter der chriſtlichen Religion
ausrief: ſelig ſind, die arm an Geiſt ſind, denn ihrer iſt das Himmel-
reich, ſo ſind nun auch die Armen an Geſtalt zur himmliſchen Weihe der
Kunſt eingelaſſen. — Dieß neue Geſetz gilt nun auch der übrigen Natur.
Das Thier braucht, um maleriſch zu erſcheinen, nicht nur nicht zu einer
formenſchönen Gattung zu gehören, ſondern es muß nicht einmal noth-
wendig ein formenſchönes Exemplar ſeiner eigenen Gattung ſein, wenn es
nur in beſtimmtem Zuſammenhang einen ſchlagenden Ausdruck hat; der
Maler kann z. B. recht wohl den trägen, etwas herabgekommenen Kar-
rengaul zur Darſtellung nehmen, vor dem der Bildner das Kreuz machen
müßte. Aber auch mit der Landſchaft verhält es ſich ſo; ſie braucht nicht
[530] in Linien von ſchönem Zuge, nicht in Farbe und Licht von jener reinen
Klarheit, nicht in Vegetation von jenem beruhigend deutlichen und doch
ſchwungvollen Umriß zu ſein wie die ſüdliche Natur, die man um
dieſer Eigenſchaften willen an ſich ſchon (direct) ideal nennen kann, wenn
nur Stimmung, wenn nur jenes Etwas in ihr iſt, was an den tiefen
Zug eines Menſchenantlitzes, den bedeutungsvollen Blick eines Menſchen-
auges erinnert, der mit rauhen, unharmoniſchen Zügen äſthetiſch verſöhnt.
Ein Blick auf die nordiſche Natur und auf einen Ruysdael als ihren
Nachbildner überzeugt, wie auch hier dieſer Bruch zwiſchen Form und Aus-
druck, worin die erſtere durch ein gewiſſes Mißverhältniß um ſo ſtärkeren
Accent auf den letzteren wirft, der Malerei das Willkommenere ſein kann,
ja, wenn ſie ihr ſpezifiſches Weſen recht zur Reife bringen will, ſein muß.
Es entwickeln ſich gerade hieraus wichtige nähere Beſtimmungen über das
Maleriſche, die wir in der ſpezielleren Ausführung ableiten. Klar iſt nun,
wie auch in Beziehung auf die unbeſeelte Natur der äußere, techniſche
Vortheil, daß auch das Unbeſtimmte, unklar Gebildete nachahmbar wird,
ſich zu einer inneren Bedeutung, zum poſitiven Hebel einer beſtimm-
ten Art von Kunſtſchönheit umwendet. — Dieſes neue Prinzip kann man
im Gegenſatze gegen das plaſtiſche ein demokratiſches nennen. Man muß
nicht mehr ſchön ſein im Sinne der reinſten Formen-Entwicklung, um des
Eintritts in die Pforte des Kunſtſtoffs würdig befunden zu werden; die
Ariſtokratie der Geſtalt hat aber darum keineswegs einer Ariſtokratie des
aſcetiſchen Ausdrucks Platz gemacht: dieß gilt nur von einem beſondern
Ideal, dem romantiſchen (ſ. §. 446), mit deſſen hiſtoriſcher Beſtimmtheit
und ſpezifiſchen Mängeln das Weſen der Malerei an ſich nichts zu ſchaf-
fen hat, wiewohl es allerdings mit deſſen allgemeiner Weltanſchauung im
Uebrigen ſo ſichtbar zuſammenfällt, daß wir hier ebenſo ſchwer eine Ver-
miſchung der ſyſtematiſchen mit der geſchichtlichen Darſtellung abhalten,
wie in der Lehre von der Bildnerkunſt, die ebenſo beſtimmt auf ein an-
deres geſchichtliches Ideal, das claſſiſche, hinwies. Die Malerei hat das
Thor geöffnet, durch das die Menſchheit in Schaaren hereinwallt; freilich
nicht ſchlechthin der Einzelne, wie immer ſeine Erſcheinung beſchaffen ſein
möge, iſt eingelaſſen, das Leere und Nichtige fällt wie aus aller Kunſt,
ſo natürlich auch hier weg, die Malerei hat auch ihren Adel, aber er ver-
hält ſich zum Adel der Sculptur wie die Ariſtokratie der Bildung zur
Geburts-Ariſtokratie; geadelt iſt auch der niedrig, d. h. unſchön Geborne,
wenn der ungünſtigen Form der Charakter ſich aufgeprägt hat, geadelt iſt,
wer den Stempel des Geiſtes, ſei es auch auf unebener und hügelicher
Stirne trägt. Die maleriſche Erſcheinung hat dadurch gerade einen ge-
wiſſen vornehmen Wurf, der freilich ganz anderer Art iſt, als jener von
ihr aufgegebene Racetypus eines auserleſenen Geſchlechts; fein und edel
[531] iſt die Linie der griechiſchen Schönheit, aber fein und edel auch das gei-
ſtige Fluidum, das über die gebrochnere Linie ſeinen Zauber gießt.


§. 656.

Durch alle dieſe Momente (§. 651—655) iſt in weitem Umfang das
Häßliche eingedrungen. Daſſelbe iſt in ſolcher Ausdehnung zunächſt durch
die veränderte Darſtellungsweiſe zugelaſſen: das flüſſige Mittel der Farbe hat
überhaupt einen weiter leitenden Charakter, zudem wird das Auge von dem
in Form und Bewegung Häßlichen der einzelnen Geſtalt theils in das Ver-
breitete der äußern Umgebung, theils zu andern Geſtalten, welche ergänzen,
was an der einen mißfällt, theils zu dem Intereſſe einer reicheren Handlung,
wie ſie eben durch die erſchloſſene Vielheit und Bewegtheit der Geſtalten dar-
ſtellbar geworden iſt, fortgeführt. Dieſe Darſtellungsweiſe iſt aber eben das Mittel
der zu Grunde liegenden Auffaſſung, welche vom Aeußern auf das Innere
weist, und dieſe Auffaſſung läßt das Häßliche nicht nur zu, ſondern führt es
ausdrücklich ein, um es in das Erhabene oder Komiſche aufzulöſen, welches
nun den Standpunct des einfach Schönen aus ſeiner beſtimmenden Geltung
verdrängt.


Die Frage über den Spielraum des Häßlichen hätte früher aufge-
nommen, zum Ausgangspuncte gezogen werden können, wie in der Lehre
von der Bildnerkunſt; allein die ungleich größere Freiheit der Bewegung,
welche dieſer Kunſt gegenüber in der Malerei ſich zuerſt aufdrängt, führte
raſcher in den poſitiven Mittelpunct ihres innern Geiſtes und aus der
Darſtellung deſſelben wird hier gefolgert, was ihr dort als urſächliche
Schranke vorangeſtellt wurde. In der That haben wir das Häßliche
längſt vor uns: das Dürftige, in Linien minder Schöne, Unregelmäßige
der Geſtalt und Bewegung, was wir in mehrfachem Zuſammenhang als
berechtigt in der moraliſchen Auffaſſung geſetzt haben, führt in einer un-
aufhaltſamen Linie zum eigentlich Häßlichen, wo die Verkehrung der in-
neren Ordnung eines Organiſmus direct in die Augen ſpringt, und mit
dem Satze, daß die äußerſte Leidenſchaft, die Zerreißung des Gemüths,
daß das Böſe nun unter die Kunſt-Stoffe eintritt, iſt das Häßliche
bereits poſitiv eingeführt, denn dieſe Störungen und Verkehrungen müſſen
ja in ihrer Erſcheinung häßlich ſein. Nun aber bedarf es dieſer Zuſam-
menfaſſung des ſchon Eingeräumten, um einen ſo wichtigen Begriff in ſei-
ner Ausdrücklichkeit hervorzuſtellen und das Weſen der Malerei in Be-
ziehung auf die großen Gegenſätze im Schönen zu beſtimmen. Der §.
holt nun aus der erſt äußerlichen Betrachtung nach, wie das Häßliche
zunächſt zugelaſſen iſt. Die Farbe hat, noch abgeſehen vor ihrer innern
[532] Bedeutung (§. 652), den Charakter des Fortleitenden; ein vertrocknetes
Flüſſiges, beſtimmt ſie das Auge, von den Härten der Form fortzufließen.
Der zugegebene Raum, das allgemeine Medium der Luft mildert alle
Umriſſe, die einzelne geſchloſſene Bildung ſchwimmt im allgemeinen Fluſſe.
Die Mängel und Verkehrungen der Geſtalt und Bewegung finden ferner,
ſo oft die Malerei ihre Freiheit in Vereinigung vieler Geſtalten und viel-
fältiger Bewegungen benützt, ihre Auflöſung in deren Wechſel-Ergänzung;
die Figuren helfen ſozuſagen einander aus. Da Vielheit und Bewegtheit
um Darſtellung einer Handlung willen entfaltet werden, ſo iſt es nament-
lich die Aufmerkſamkeit auf dieſe, was das Auge vom Formloſen oder
Formwidrigen der einzelnen Bildung ablenkt. Dieſer letzte bedeutendſte
Grund führt aber auch bereits aus der äußerlichen, nur negativen Be-
trachtung heraus. Alle dieſe Mittel und Erweiterungen ſchafft ſich ja die
Malerei, um ihre Art der Auffaſſung im Kunſtwerk niederzulegen, das
techniſch Bedingte fließt auch hier aus dem geiſtigen Prinzip. Ihr
Prinzip iſt die Auffaſſung im Lichte der Innerlichkeit, welche durch ein
Mißverhältniß des Aeußern zum Innern, das von unbedeutenderen Män-
geln bis zur Verkehrung fortgeht, gerade die Kraft des Accents doppelt
ſtark auf das letztere wirft. Wo nun das Mißverhältniß zum vollen Aus-
druck kommt, muß der Sieg des Innern in der Form des Erhabenen oder
Komiſchen auftreten, und ſomit erhellt, daß die Malerei dieſe Formen
(und mit ihnen natürlich ihre Vorausſetzung, das Häßliche) nicht blos
zuläßt, ſondern will. Es iſt namentlich das Komiſche, worin die Malerei
ſich ungleich weiter und freier bewegt, als die Bildnerkunſt (vergl. §. 634),
denn dieſes iſt ja die ſubjectivere unter den widerſtreitenden Geſtaltungen
des Schönen; durch das Vorwiegen des Ausdrucks im Kunſtwerke ſind
dem Zuſchauer die Mittel zu jener Leihung, welche der komiſche Prozeß
vorausſetzt, in vollem Maaße an die Hand gegeben; dadurch wird der
nöthige Anhalt an Subjectivität ſelbſt dem Thiere zugelegt und die häß-
lich komiſche Thierwelt, den Affen an der Spitze, ſpringt in den Rahmen
der Kunſt herein. Erhaben iſt die Bildnerkunſt durch ihre Subſtantialität
und Charakterwucht recht ausdrücklich, wir ſahen, wie ſie das Furcht-
bare, das Tragiſche ergreift; aber das Erhabene ſelbſt wird hier vom
Standpuncte des einfach Schönen behandelt, wogegen die über den ſcharf
ausgeſprochenen Bruch herüberſtrahlende geiſtige Erhabenheit oder Furcht-
barkeit im Maleriſchen die Negativität im Weſen des Erhabenen zur
vollen Entſcheidung führt und daher die freieren, geiſtigeren Formen des
Erhabenen des Subjects, die tieferen Kämpfe des Tragiſchen in erweiter-
tem Umfang anbaut. Der harmloſen Grazie des einfach Schönen iſt der
Maler darum, weil ſie nicht das Beſtimmende ſeines Standpuncts bildet,
natürlich nicht abhold, aber man kann ſagen, er ſtellte ſie in einem gewiſſen
[533] zarten Sinn unter den Standpunct des Erhabenen oder Komiſchen, ſo
daß das Verhältniß wirklich ganz das umgekehrte vom plaſtiſchen iſt, wo
der Standpunct des einfach Schönen auch auf das Erhabene und Komiſche
beſtimmend wirkt. Der Zug der Trauer, den Mehrere im plaſtiſchen
Kunſtwerke gefunden, liegt mehr im Zuſchauer und hat gegenſtändlich nur
darin ſeinen Grund, daß die Sculptur durch ihre innern Schranken
geſchichtlich auf eine vor dem aufgegangenen Geiſteslicht verblaßte,
hinabgeſunkene Götterwelt angewieſen iſt und deren Entſchlafen in der
ſteinernen Erſtarrung unwillkührlich darſtellt; in dem Hauche der Weh-
muth dagegen, der um die maleriſche Schönheit ſpielt, dem Zuge eines
fernher dämmernden tragiſchen Gefühls, den ſie in den Blick und die
Lippen der jugendlichen Grazie legt, drückt der Künſtler beſtimmt das Ge-
fühl aus, daß jederzeit und abgeſehen von einem beſtimmten Kunſt-Ideal
die Blüthe der reinen Form ſchnell hinwelkt, und er kündigt gleichſam an,
daß er eine beſtändigere Form des Schönen zu geben vermag in der
durchfurchten Geſtalt, welche keine Jugendſchönheit mehr einzubüßen, aber
aus ihrem Leibe das feſte Haus des Charakters geſchaffen hat. Er kann
aber der Blüthe der Schönheit auch ein Lächeln geben, als wiſſe ſie um
ihre Naivetät, ſtehe mit halbem Bewußtſein helldunkel darüber, ſage ſich
ſelbſt, daß das ſo zwar nicht dauern könne, gebe ſich aber doch in heiterem
Widerſpruch dem ſüßen Traume hin.


§. 657.

Dieß Alles faßt ſich in dem Sätze zuſammen, daß nunmehr das Geſetz
der directen Idealiſirung, wonach die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, dem der
indirecten Idealiſirung, gewichen iſt, wonach das Schöne aus der Ge-
ſammtwirkung einer Vielheit von Geſtalten hervorgeht, die im Einzelnen nicht
ſchön ſein müſſen, deren Ausdruck vielmehr durch irgend einen Grad von Miß-
verhältniß der Form zu ſteigern im künſtleriſchen Intereſſe liegt. Das Geſetz
der directen Idealiſirung iſt aber nicht ſchlechthin unterdrückt, ſondern beſteht
in ſeiner Unterordnung noch fort.


Das Weſentliche dieſer prinzipiell zuſammenfaſſenden Beſtimmung
bedarf keiner Erläuterung; es erhellt Alles aus der Vergleichung mit
§. 603. Durch den Zuſatz: „deren Ausdruck vielmehr“ u. ſ. w. iſt in
dieſe Beſtimmung auch das Moment aufgenommen, daß außer dem Zu-
ſammenwirken und wechſelſeitigen ſich-Ergänzen mehrerer Geſtalten auch
in der einzelnen Geſtalt die Geſammtwirkung des Ausdrucks mit dem
minder Schönen oder Unſchönen auf der Seite der Vielheit, nämlich jetzt
der Formen dieſer einzelnen Geſtalt, verſöhnt; Letzteres tritt vorzüglich dann
[534] in Geltung, wenn die Compoſition nicht mehrere Geſtalten verbindet;
überdieß iſt durch dieſen Satztheil dafür geſorgt, daß das „nicht ſchön
ſein Müſſen“ nicht als ein Zufall, ſondern als ein künſtleriſches Wollen
verſtanden werde. Das Verhältniß iſt alſo jetzt umgekehrt; von der Bild-
nerkunſt hieß es (§. 603 Anm.): „ſchlechtweg allerdings kann das dieſem
Prinzip der directen Idealiſirung entgegenſtehende von der Plaſtik nicht
ausgeſchloſſen ſein, ſonſt hätte ſie keine Bewegung und Geſchichte“; jetzt
gilt ebendieß von dem dort herrſchenden Prinzip: es hat die Oberhand
verloren, denn das entgegegeſetzte herrſcht, aber es kann nicht völlig ausge-
ſchloſſen ſein. An welche Seite der Technik ſich das relative Fortbeſtehen
des überwundenen Prinzips knüpft, warum dieß Fortbeſtehen eine Lebens-
bedingung unſerer Kunſt, in welche nähere Schranken es gewieſen iſt,
welche furchtbaren Wirkungen es für die Geſchichte der Malerei hat, Alles
dieß wird der Verlauf zeigen. Daß es aber noch fortbeſteht, haben wir
ſchon in der Anm. zu §. 655 durch den Satz ausgeſprochen, daß die
Malerei darum, weil ſie in gewiſſem Sinn ein Mißverhältniß zwiſchen
Form und Ausdruck liebt, keineswegs jeden reineren Adel der Form ohne
beſtimmtes Motiv abweiſen darf, daß zur maleriſchen Würze auch ein feiner
Abſprung von der Durchſchnittslinie genügen kann. Dieſer Abſprung wird
immer nicht ſo fein ſein, wie jene zarte Modification in der Plaſtik, aber
was im Marmor ſchon hart erſcheinen würde, ſtört in der Farbe den
Eindruck glücklicher und vorzugsweiſe reiner Form-Entwicklung noch nicht.
Dieß iſt jedoch nur erſt unbeſtimmt, nur eine ungefähre Vorbereitung auf
die beſtimmteren Sätze, die ſich aus der weiteren Auseinanderſetzung er-
geben ſollen.


§. 658.

Wenn dieſes Prinzip verbietet, auf den Boden der plaſtiſchen Schönheit
überzutreten, ſo kann auf der andern Seite die Verfolgung deſſelben zur Ver-
kennung gewiſſer Schranken führen, welche durch die noch nicht aufgegebene
Feßlung des zeitlich Bewegten im Raume (vergl. §. 650) geſetzt ſind, woraus
Uebergriffe in die Auffaſſungsweiſe ſolcher Künſte entſtehen, die in der Form
der wirklichen Bewegung darſtellen.


Jede Kunſt hat ihre Verſuchungen, ihre Stellung unter den andern
Künſten reizt ſie zum Wetteifer, das Bewußtſein der Einheit aller Künſte
(§. 542 ff.) verſchwemmt leicht die Erinnerung der Geſetze, welche im
Gemeinſchaftlichen die Selbſtändigkeit jeder Kunſt hüten ſollen. Es ent-
ſtehen ſo theils Rückgriffe, theils Vorgriffe. Die Baukunſt kann ſich nur
durch Vorgriffe verirren; wir ſahen ſie ihren Boden verlieren und
[535] in das Gebiet der Plaſtik, Malerei, ſelbſt in das Gebiet der muſikaliſchen
und dichteriſchen Wirkungen hinüberſchwanken. Die Plaſtik hat ſchon
eine Kunſt hinter ſich: ſie kann durch zu ſtrenge Herrſchaft der Meſſung
in die Baukunſt zurückgreifen, ſie kann aber auch unberechtigter Weiſe in
die Mittel und den Styl der Malerei, ja in die Bewegtheit der Muſik und
Poeſie vorgreifen. Was nun die Malerei betrifft, ſo erhellt aus allem Bis-
herigen ſowohl die Möglichkeit, als die Rechtloſigkeit eines Rückgriffs auf
den Boden des plaſtiſchen Geſetzes. Nun kann aber der Maler das ſpezifi-
ſche Geſetz ſeiner Kunſt richtig erkannt haben, aber im Gefühle ſeiner Freiheit
die Segel zu hoch ſchwellen und nicht nur über die Schranken der Plaſtik,
ſondern auch über die ſeiner eigenen Kunſt wegſetzend in Muſik und Poeſie
ſich verlieren, indem er vergißt, daß ihn noch ſtrenge das Geſetz der räum-
lichen Darſtellung bindet. Dieſe Vorgriffe werden in der Erörterung
der Stylgeſetze näher beleuchtet und die einzelnen Schranken, die jene Be-
grenzung in ſich ſchließt, aufgezeigt werden.


§. 659.

Dennoch ſteht die Malerei an der Grenze der bildenden Kunſt. In
die Objectivität, welche allerdings noch die beſtimmende Grundlage bleibt
(§. 650), iſt die ſubjective Bewegtheit in dem Maaße eingedrungen,
daß zum Durchbruch ihres Uebergewichts nur noch ein Schritt fehlt: im Künſtler
macht ſie ſich als tiefere geiſtige Lockerung und Durcharbeitung, ſowie als frei-
gelaſſene Vielſeitigkeit und wechſelnde Verſchiedenheit in der Auffaſſung deſſel-
ben Gegenſtands geltend; im Kunſtwerke durch ſämmtliche §. 649—658 ent-
wickelte Grundeigenſchaften deſſelben; im Zuſchauer durch unmittelbare und in-
nigere Betheiligung ſeiner eigenen Subjectivität im Genuſſe.


Jetzt, nachdem alle weſentlichen Grundzüge dargeſtellt ſind, ergänzt
ſich der Satz des §. 650, daß die Malerei noch an das Geſetz der Ob-
jectivität wie alle bildende Kunſt gebunden iſt, durch den andern, daß
ſie als die ſubjectivſte unter den bildenden Künſten an der Grenze dieſer
Gruppe ſteht. Dieß iſt ſchon in §. 538 ausgeſprochen, nun aber an den
Eigenſchaften des maleriſchen Kunſtwerks, insbeſondere durch das, was
in und zu §. 652 über die Wärme der Farbengebung geſagt iſt, nachge-
wieſen und nur nach zwei Seiten hin noch weiter zu verfolgen, der
des Künſtlers und des Zuſchauers. Der Maler nimmt die Welt zu einem
tiefer verarbeitenden Durchdringungsprozeſſe in ſein Inneres herein, löst
ihre Objectivität in der ſubjectiven Stimmung verzehrender auf, um ſie
als eine geiſtig durchbildete, durchkochte wieder zu objectiviren; die Inner-
nerlichkeit ſeiner Kunſt wird in ihm ſelbſt das Geiſtige, das Empfindungs-
[536] leben und die Gedankentiefe merkbarer von der naiven Verwachſung mit
dem Sinneleben gelockert, die Elemente ſeiner Perſönlichkeit eindringlicher
geſchüttelt haben; weniger ſtreng an das Geſetz der Schwere, der Spar-
ſamkeit, an die exacte Meſſung gebunden, als der Bildhauer, wird er
leichter, gelöster erſcheinen, als dieſer. Es iſt mehr Bewegung in ſeinem
ganzen Thun, ſein Weſen wird den bewegten Wurf haben wie ſein Werk,
der raſche Blick, womit er im Stoffe ſelbſt den Silberblick erhaſcht, wird
ihn bezeichnen. Er darf und muß auch das Individuelle ſeiner Perſön-
lichkeit als ein berechtigteres entwickeln und behaupten. Die Bildnerkunſt
hat weniger Gegenſtände und iſt weit mehr nur auf die Wahl zwiſchen
dem Vorher und Nachher der Momente, als auf eine Mannigfaltigkeit ver-
ſchiedener Auffaſſungen deſſelben Moments angewieſen, als die Malerei,
für welche nicht nur je die Auffaſſung von einer andern räumlichen Seite
ein beſonderes Kunſtwerk begründen kann, ſondern welche auch mehr
Mittel, nämlich zum plaſtiſchen Momente der Zeichnung noch die Farbe
hat und daher dem Ausdruck von mehrerlei Seiten beikommt, und in
welche die Unendlichkeit individueller Formen eingelaſſen iſt. Erſcheint
der Maler ſchon dadurch individueller, ſo iſt er auch freier in der Wahl
des Stoffgebiets, weil es deren mehr gibt; die ſtärkere Berechtigung der
Eigenheit mag oft zum Eigenſinn, zur Manier werden, da ihm aber auch
frei ſteht, die Seiten der Auffaſſung und die Stoffgebiete beweglicher zu
wechſeln, ſo wird er, wenn er dem Geiſte ſeiner Kunſt treu bleibt, dennoch
vielſeitiger, wendſamer ſein, als der Bildner. Seine Arbeit iſt noch
handwerksmäßig und ſeine Werkſtätte dampft von den mancherlei Gerüchen
ſeines Materials; aber der Kampf mit dieſem iſt, wie wir geſehen, feiner,
weniger fauſtmäßig geworden. Das Werk ſelbſt haben wir nach allen
weſentlichen Eigenſchaften genugſam kennen gelernt, um das Uebergewicht
des Subjectiven im Objectiven als begründet zu erkennen; der zu §. 649
gebrauchte Ausdruck, der auf die Fläche geworfene Anflug ſchwebe, als
wolle er ſich von der Fläche löſen, in den Zuſchauer hinüber, führt uns
zurück zu dem in §. 550 Anm. gebrauchten Bilde von der Kugel: in die-
ſer Vergleichung traf der Umſtand nicht zu, daß dieſe nur einen Augen-
blick aufſchlägt, während das Werk der bildenden Kunſt ruhig im Raume
verweilt; die Malerei ſteht nun aber genau vor der Grenze, wo dieß
Verweilen aufhört und der Schuß geradaus vom Künſtler in den Zu-
ſchauer fliegt. Wenden wir uns nun zu dieſem, ſo iſt er dem Gemälde
gegenüber, da es ſelbſt den Stoff als ſubjectiv empfundenen, empfindenden,
bewegtes Inneres ausſtrahlenden ihm entgegenbringt, bei ſeiner eigenen
Subjectivität unmittelbar gerufen; das Gemälde weist nicht ſtrenge zu-
rück, wie das Sculpturwerk, das zuerſt ſeine ganze Objectivität behauptet,
verſtanden ſein will, ehe es Liebe annimmt (vergl. §. 602 Anm.), ſondern
[537] raſch entzündet ſich das Subjective in ihm mit dem Subjectiven im Zu-
ſchauer zu Einer Flamme. Das Allgemeine, der Inhalt im Werke, hat
ferner nicht nur die Form der Perſönlichkeit, die das Individuelle bis zu
zarter Grenze ausſcheidet, ſondern der ganzen individuellen Perſönlichkeit
angenommen, die mich vertraut anſchaut als Fleiſch von meinem Fleiſch
und Bein von meinem Bein und mit dem Blicke des Herzens, der da
ſagt: wir verſtehen uns; ich „muß nicht mich ſelbſt vergeſſen“ (Hegel
Aeſth. 3. S. 18), wie dem Sculpturbild gegenüber, das, ſelbſt ein feinſter
Auszug der Vielheit, die empiriſch Vielen als Stoff hinter ſich läßt und
ebendaher als Zuſchauer zuerſt abweist, um ſie erſt, nachdem ſie ſich über
ſich ſelbſt erhoben, zu vertrauter Annäherung zuzulaſſen. Alles Schöne
iſt anmuthig im Sinn einer harmoniebildenden Bewegung nach dem Zu-
ſchauer hin (vergl. §. 72); alles wahrhaft Schöne weist die Aftergeſtalt
dieſer Bewegung, die in einem liebäugelnden Reize beſteht, ſtreng von ſich;
das Werk der Bildnerkunſt behauptet dieſe Strenge in dem Grade, daß
auch die wahre Anmuth ſich dem erſten Blick hinter eine ſpröde Schaale ver-
ſchließt; das Gemälde läßt die Anmuth raſcher aus weicher Schaale nach
dem Zuſchauer hinüberwallen. Die innigere Betheiligung des Zuſchauers
hat aber wie die freiere Subjectivität im Künſtler noch die andere Seite,
daß er ſich in der Beſonderheit individueller Vorliebe mehr gehen laſſen
darf. Er mag freier wählen zwiſchen verſchiedenen Auffaſſungen deſſelben
Gegenſtands oder Moments, aus der größeren Menge des Gegebenen vor-
ziehen, was ihm überhaupt oder in der Stimmung des Augenblicks mehr
zuſagt. Die Wahrheit, daß das Intereſſe vom äſthetiſchen Eindruck aus-
geſchloſſen iſt, daß alles äſthetiſche Urtheil auf Allgemeinheit Anſpruch macht
(vergl. §. 75 u. 79), bleibt dabei völlig unangetaſtet, denn ich kann
mehr theoretiſch ein anerkanntes Kunſtwerk völlig anerkennen und gleich-
zeitig geſtehen, daß es mich als dieſen Einzelnen weniger erfreut, als ein
anderes; nur muß dieß Andere auch ein wahres Kunſtwerk ſein, darf in
der Form-Vollendung nicht zurückſtehen. Iſt das Letztere der Fall, ſo
muß meine Vorliebe wenigſtens mit dem Zuſatze ſich ausſprechen: der
Auffaſſung nach gefiele mir dieß beſſer, ich bedaure nur, daß es nicht
mehr reinen Kunſtwerth in der Ausführung hat, ich bedaure es aber
allerdings mehr, als ich es bei jenem anerkannten Kunſtwerk anderer
Auffaſſung bedauern würde, wenn ihm die Vollendung fehlte. Alſo auch
nach dieſer Seite iſt die Malerei mehr demokratiſch, den Einzelnen berech-
tigend und vermag nach ihrer erklärlich größeren Fruchtbarkeit Koſtgänger
der verſchiedenſten Art zu ſpeiſen. Im Begriffe des Bewegten, den dieſer
§., nachdem er ſchon bisher öfters hervorgetreten, mit Nachdruck ausſpricht,
können wir wirklich Alles zuſammenfaſſen: das geiſtigere Scheinen im
Kunſtwerk, das Verhalten des Künſtlers und Zuſchauers. Die Bezeich-

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 36
[538]nung ſcheint weniger tief, aber gerade das Sinnliche, was ſie hat, empfiehlt
ſie uns für die weitere Aufgabe, den Grundcharakter der Malerei in der
Beſtimmtheit der Formen, die er mit ſich bringt, d. h. im Style aufzu-
zeigen.


β. Die einzelnen Momente.


§. 660.

1.

In der beſondern Erörterung der einzelnen Momente des Weſens der
Malerei kann über die äußere Beſtimmtheit im engeren Sinn gerade da-
rum wenig feſtgeſtellt werden, weil ſie vermöge der gewonnenen Freiheit der
2.Bewegung ſich in bunte Vielfältigkeit zerſtreut. Das Material zerfällt in
zwei Seiten: die Fläche, auf welcher, und die Mittel, mit welchen dargeſtellt
wird. Die Fläche iſt entweder die von der Architektur gegebene Wand oder
ſelbſtändig und ausdrücklich für den maleriſchen Zweck, namentlich aus Holz oder
Leinwand, bereitet; die erſtere Art führt einen mehr monumentalen Charakter
mit ſich, welcher übrigens im Ganzen der Malerei nicht ebenſo wie den zwei
andern bildenden Künſten eigen iſt, die zweite einen mehr häuslichen und fami-
3.liären, doch auch in das Großartige dehnbaren. Die Mittel, mit welchen
dargeſtellt wird, beſtehen weſentlich in zerriebenen, aufgelösten, flüſſigen Kör-
pern, deren verſchiedene Qualität mit dem inneren Weſen des Styls in ebenſo
tiefer Beziehung ſteht, als der Unterſchied der Fläche.


1. In der Lehre von der Bildnerkunſt war für die Erörterung der
einzelnen Momente einfach und deutlich der Gang von außen nach innen
gegeben. Obwohl die äußern Bedingungen einer Kunſt immer gewollte,
durch ihre innere Auffaſſungsweiſe geſetzte ſind, ſo ſtellen ſie ſich doch in
dieſer Kunſt durch ihre greifbar feſte, körperlich beſchränkende Natur gleich-
ſam als ein Wall hin, der ausdrücklich unterſucht, überſtiegen werden muß,
um dann in das Innere zu blicken. Dieſer Wall iſt nun gefallen und
wir haben es mit einer Kunſt zu thun, deren äußere Bedingungen ver-
möge der geſchilderten Erleichterung und Befreiung viel unmittelbarer als
eine Ausſtrahlung von innen nach außen erſcheinen, die daher hierin ungleich
mehr Belieben und freie Wahl hat. Die Malerei ſteht nicht mehr der
ſchweren Maſſe gegenüber, um ihrer Oberfläche durch Schlag und Gluth
in hartem Kampf die ſchöne Form aufzunöthigen, ſie greift leicht und frei
umher nach den tauglichſten Mitteln und Formen, womit und in welchen
ſie das innere Bild auf die empfängliche Fläche werfe. Ebendaher bildet
[539] ſie ſich eine ſo reiche, mannigfaltige Welt von Kunſtweiſen, daß die Aeſthetik
als Syſtem des geſammten Schönen ſich hier nur wenig in das Einzelne
einlaſſen kann. Das Wenige aber, was ſie aus dieſer vielverzweigten
Menge von Verfahrungsarten herausgreifen kann, führt, da das Band
zwiſchen dem Innern und Aeußern zwar beweglicher, vielgeſtaltiger, aber
darum nur um ſo geiſtiger iſt, ſo unmittelbar zur innern Beſtimmtheit,
zu Auffaſſung und Styl, daß ſich auch in dieſer Beſchränkung, getrennt
von dem weiterhin wieder aufzufaſſenden tieferen Zuſammenhang, nur
wenige allgemeine Sätze aufſtellen laſſen. Wir werden daher auch anders
eintheilen; in der Lehre von der Bildnerkunſt ordneten wir Alles unter
die Eintheilung: äußere und innere Beſtimmtheit; hier dagegen werden
wir von der äußern Beſtimmtheit als zweites, mittleres Moment das
Verfahren unterſcheiden und von dieſem zur Erörterung des Styls als
drittem Moment übergehen. Die Lehre von der Sculptur enthielt eigent-
lich nichts dem zweiten dieſer Momente Entſprechendes; das Nöthige vom
Techniſchen wurde bei dem Materiale vorgebracht; die Lehre vom Ver-
fahren iſt aber etwas Anderes, als was dort in den Bemerkungen über
das Techniſche gegeben iſt, ſie entſteht als ein Neues, was nicht ebenſo
an die Lehre vom Material angeknüpft werden kann, weil nun durch meh-
rere, verſchiedene Acte ein bloßer Schein des Sichtbaren hervorgebracht
werden ſoll, und ſie handelt von der Bedeutung dieſer Acte, ebenfalls
ohne tief in das eigentlich Techniſche einzugehen. Auch dieß bezeichnet
deutlich den Unterſchied der Malerei und Bildnerkunſt, daß in jener die
Lehre vom Materiale ſich bedeutend abkürzt, die Lehre von der Technik
ſich von ihr ablöst und zu etwas Anderem, Beſonderem, zu einer Aufzei-
gung des innern Sinns der Verfahrungsweiſe wird.


2. Soweit wir nun auf das Material eingehen können, drängt ſich
ſogleich ein Zerfallen in zwei Seiten auf; die Bildnerkunſt kennt dieſe
Spaltung nicht: Stein, Erz u. ſ. w. iſt einfach ihr Material, die Malerei
hat ihr Material auf zwei Seiten, und zwar ebendarum, weil ſie in jenem
Sinne ſolider Nachbildung eigentlich kein Material hat. Die Mittel,
wodurch ſie den Schein der ſichtbaren Körper erzeugt, können ſo, wie
Stein und Erz, nicht Material heißen, ſie verſchwinden ungleich entſchie-
dener in der Wirkung, welche durch ſie hervorgerufen wird, obwohl eben
für dieſen Zweck ihre Qualität nicht gleichgültig iſt. Gerade, weil ſie für
ſich ein ſo Unſelbſtändiges ſind, bedürfen ſie der Anlehnung an ein Zwei-
tes, das aber für ſich zu dem hervorzubringenden ſchönen Scheine ſich noch
indifferenter verhält, nämlich der Fläche. Es iſt einleuchtend, daß die Be-
ſchaffenheit der letztern in der äſthetiſchen Wirkung ſo nicht mitwie-
gen kann, wie die Textur des Steins, Erzes in der Oberfläche des
Bildwerks (vrgl. §. 649, 2.) Es ſind rein äußerlich techniſche Bedingun-

36*
[540]gen, um die es ſich hier handelt: zum Staffeleibilde wird in neuerer Zeit
die Leinwand dem Holze vorgezogen, weil die mancherlei Zufälligkeiten,
von denen die Zubereitung, Größe und Dauer der Holztafel ab hängt, die
Schwierigkeit des Transports u. ſ. w. bei dieſem Materiale wegfallen;
dagegen bietet das Holz allerdings den Vortheil, daß ſich hier die Farbe
auf einem Kreidegrund auftragen läßt, der das überflüſſige Oel nach hin-
ten abſorbirt, ſo daß die Bilder hell bleiben, wogegen auf dem fetten
Grunde, den man der Leinwand geben muß, die Farbe leicht nachdunkelt,
weil derſelbe ihr Oel nicht durchläßt. In Holz und Leinwand fühlt
ſich nun der weichere, botaniſche Urſprung der Fläche durch und dieß wird
auf Darſtellungs-Stoff und Styl, die ſich an dieſes Material knüpfen,
von Einfluß ſein. Dagegen gibt ſich in der Mauerwand mit ihrem Kalk-
überwurf, mit dem ſich die Farbe ohne Fett bindet, die mineraliſche Qua-
lität mit einer gewiſſen Kälte, Härte zu fühlen, woraus ſich bereits ſchlie-
ßen läßt, daß dieſe Art der Fläche einer andern, weniger in die Fülle
des Lebens eindringenden Auffaſſung und Darſtellungsweiſe dienen werde,
als Holz und Leinwand. Doch hat das Material noch eine weitere
Seite, nach welcher es äſthetiſch bedeutender mitwiegt. Die Mauerfläche
drängt ſich dem Auge und Gefühl als ein dauernd Feſtes, maſſenhaft
Ausgedehntes auf; wird das Gemälde ihr anvertraut, ſo iſt damit aus-
geſprochen, daß es dauernd ſein ſoll; die meiſt bedeutende Ausdehnung
bringt größeren Maaßſtab und umfangreichere Compoſition mit ſich; es
kommt noch dazu, daß die großen Flächen der Mauerwand vorzüglich nach
Außen gewendet ſind, durch welche das ihr übergebreitete Bild ſich dem
Volke öffnet, den Charakter der Oeffentlichkeit gewinnt. Hiedurch erhält
das Wandgemälde die Bedeutung des Monumentalen. Die Malerei
kann im Ganzen ihres Weſens nicht mehr ſo ausdrücklich monumental
heißen, wie die Bildnerkunſt (§. 605, 1.); eine Kunſtform, welche in der
dargeſtellten Weiſe die Körper zum durchſichtigen Schleier des Innern
macht, wendet ſich beweglich an die Gemüther und ſcheint daher, wie ſie
uneigentlich eine Einkehr in’s Innere iſt, ſo auch eigentlich zur ſtillen Be-
trachtung im Innern der Gemächer aufzufordern, ihr Werk wird zwar
zu oft erneuter Vertiefung einladen, aber nicht ſo beſtimmt den Anſpruch
auf eine über die Generationen großartig hinausgreifenden Dauer machen.
Dennoch ſpaltet ſie ſich innerhalb dieſes ihres allgemeinen Charakters durch
dieſen Unterſchied des Fläche-Materials in einen Zweig, der ſich unmittel-
bar an die Architektur lehnt, um den im vollſten Sinn monumentalen
Charakter dieſer Kunſt mitzugenießen, und in einen heimlicheren, gemüth-
licheren, eingeſchloſſeneren, der ſich an die leichtere, beſcheidenere, dem
Kunſtzwecke der Malerei ausſchließlich zubereitete Fläche des Holzes, der
Leinwand heftet. Allein dieß findet ſeine wahre Beleuchtung erſt, wenn
[541] auch der Unterſchied des Farb-Materials, des Verfahrens bei beiderlei
Fläche und in der Lehre vom Style der hiermit gegebene Unterſchied der
Auffaſſungs- und Darſtellungsweiſe zur Sprache kommt, was dann eine
der Grundlagen für die Eintheilung der Zweige abgibt; es zeigt ſich alſo
ſchon hier, daß über die äußere Beſtimmtheit an ſich in der Lehre von
der Malerei ſich ungleich weniger ſagen läßt, als in der Lehre von der
Sculptur. Der Gegenſatz des Monumentalen, wie ſolches im Wandge-
mälde auftritt, und des Häuslichen, wie es ſich an das Staffeleibild
knüpft, iſt übrigens kein abſoluter. Das Staffeleibild kann in großem
Maaßſtabe große Stoffe behandeln und ſie im Feſtſaale öffentlicher Ge-
bäude dem Volke, den wechſelnden Geſchlechtern im monumentalen Sinne
vor Augen ſtellen; hat ja doch der chriſtliche Gottesdienſt für den öffent-
lichſten aller Zwecke einen Innenbau hergeſtellt, der in ſeinem geſchützten
Raum, nachdem die großen Mauerflächen, die ſich dem Wandgemälde
und der Moſaik darboten, weggefallen waren, der reichſten Entfaltung der
Tafelmalerei, vorzüglich am Altare, die Stätte öffnete. Umgekehrt mag
auch die Freske die Wände der Privatwohnung ſchmücken, wie in Pom-
peji und Herkulanum. — Hiemit ſind hier nur die wichtigſten Arten des
Materials berührt worden; ſogleich an dieſer Stelle bewährt ſich, was zu
1. von der Mannigfaltigkeit der Darſtellungsweiſen geſagt iſt, in welche
dieſe freier ſchaltende Kunſt auseinandergeht. Auf Metall (namentlich
Kupfer), Thon (in neuerer Zeit namentlich Porzellain), Elfenbein, Leder,
Pergament, Papier, Sammt u. ſ. w., kann gemalt, das Gemälde kann
als Stickerei und Weberei in weichen Stoffen dargeſtellt werden. In
dieſe Vielheit einzugehen muß nun aber offenbar einer ſpezielleren, auf
das einzelne Gebiet ſich beſchränkenden Kunſtlehre anheimgegeben werden;
nur allgemein iſt aufzuſtellen, daß, je kleinere Flächen das Material mit
ſich bringt, je mehr es ſeiner Natur nach in einem Stoffe beſteht, der üb-
rigens ein Geräthe, den Ausſchmückungstheil eines Raums bildet oder zu
einem ſolchen gehört, je vergänglicher ferner der Stoff iſt, deſto beſtimm-
ter die freie Kunſt in das blos anhängende Gebiet der Zierkunſt übergeht;
was ſich auf die genannten verſchiedenen Materiale leicht von ſelbſt an-
wendet. Es kommt dabei allerdings auch der Grad in Betracht, in wel-
chem der Stoff eine rein künſtleriſche Durchführung zuläßt; Uebertragung
in Weberei z. B. iſt entſchieden dem Kunſtwerke ſchädlich, was trotz aller
Geſchicklichkeit der Wirker von Arras an den Tapeten Raphael’s ſo fühl-
bar ſich aufdrängt, daß man die herrlichen Compoſitionen um dieſe Be-
ſtimmung bedauert.


2. Es iſt bezeichnend für das innere Weſen der Malerei, daß ſie den
Körper, mit welchem ſie darſtellt, in verſchiedenen Weiſen auflöst; wie
ſie im höheren Sinn die Körperwelt ſozuſagen verdünnt, daß ſie
[542] den Geiſt durchſcheinen laſſe, ſo läßt ſie auch ihr Darſtellungsmittel nicht
in ſeiner ungebrochenen Materialität. Die Kohle, das Blei, die Kreide
gibt mir den Strich nur, indem ihr Korn durch den leichten Druck meiner
Hand kleine Theile an die Fläche abſetzt, die Farben ſind meiſt ein zerriebe-
ner und flüſſig aufgelöster Körper. Der Unterſchied des Bindemittels der
Farbe iſt nun in hohem Grade wichtig; in entfernterem Sinn allerdings
wiegt auch dieſe Seite des Materials in der Malerei mit, als das plaſtiſche
Material, aber nothwendig verändert ſich doch der Charakter des
Scheins, der ſich auf der Fläche ausbreitet, je nachdem das Bindemittel
durch ſeine Fettigkeit einen volleren Eindruck von Lebenswärme mit ſich
bringt, oder durch mehr wäſſerigen Charakter kälter wirkt und das Auge
daher mehr nach der Form als ſolcher hinleitet. Man ſieht nun, wie
dieß mit der Art der Fläche zuſammenhängt: die Mauerfläche wirkt eben-
falls kälter und zugleich kann ſie nicht das Bindemittel des Oels in ſich
aufnehmen, Leinwand und Holz wirkt an ſich wärmer und nimmt zugleich
dieß Mittel auf. Damit hängt die verſchiedene Art des äußern Verfahrens,
das wir ſoweit hier anführen, auf’s Engſte zuſammen; wird um der dau-
erhafteren Bindung willen auf naſſen Kalk (al fresco) gemalt, ſo fordert
dieß eine Raſchheit der Ausführung, welche ſchon an ſich nicht erlaubt,
in die Fülle und feinere Einzelheit des erſcheinenden Lebens ſo hineinzu-
treten, wie es der Oelmaler kann, weil er ſich Zeit laſſen darf. Nur
unvollkommen kann ſich das Wandgemälde durch das Bindemittel des ein-
geglühten Wachſes (Enkauſtik) dem wärmeren Glanze nähern, den das
Staffeleibild durch das des Oels erreicht; die Bindung durch andere
klebrige Stoffe, Leim, Gummi, Eigelb, Feigenſaft (Tempera) konnte ſchon
rein techniſch nicht leiſten, was die Bindung mit Oel, weil die Farben zu
ſchnell trockneten u. ſ. w., aber auch in der äſthetiſchen Wirkung nicht,
weil ihr nicht nur die tiefere Wärme der Oelfarbe abgeht, ſondern weil
ſie auch das Verſchmelzen und ſanfte Ueberleiten der Töne und Schat-
tirungen, das ganze Gebiet der gebrochenen Farbe, das Durchſchimmern
einer Farbe durch die andere vermittelſt der Laſur entfernt nicht in der
Vollkommenheit zuläßt, wie dieſe. Aber auch hier können dieſe erſten, allge-
meinen Bemerkungen nicht weiter fortgeführt werden, theils weil diejenigen
Momente, welche mit dem innern Geiſte der höheren Kunſt in ſichtbarerem
Zuſammenhang ſtehen, an den Stellen wieder aufzunehmen ſind, wo von
dieſem Geiſt, inſofern er Styl-, Zweig- und Schul-Unterſchiede begründet,
die Rede ſein wird, theils aber, weil die Art der Farbenbindung und Technik
des Auftrags ebenſo wie die Wahl des Flächenmaterials in eine Vielheit
und Mannigfaltigkeit zerläuft, welche uns über die Grenzen führen würde.
Mehreres davon iſt noch im Anhange von der Ziermalerei zu berühren.
Nur flüchtig erwähnen wir noch zwei Formen, denen das wahre Weſen
[543] der Farbe als eines flüſſigen, nach dem Auftrage trocknenden Mittels ab-
geht; die eine höchſt vergänglich und im Ausdrucke trocken: die Paſtell-
malerei, die andere dauernder, als jedes eigentliche Gemälde, weil die
Farbe als eine Vielheit beſonderer harter Körper feſt in die Fläche ein-
gelaſſen wird, weniger trocken, weil bunte Steine und gefärbte Glasſtifte
einen ſatteren Ton haben, aber der verſchmelzenden Uebergänge weniger
fähig, als jede andere Weiſe der maleriſchen Ausführung: die Moſaik.
Sie iſt eigentlich eine Uebertragung der Darſtellungsart der Stickerei, die
auf gegittertem Grunde würfelförmig einnäht, in feſtes und hartes Ma-
terial, verſteinerter Teppich, und ſie ſollte ebenſowenig, als dieſer, mit
den Feinheiten der eigentlichen Malerei wetteifern wollen, wie es die
ausgezeichnete Moſaikſchule des Vaticans in jenen großen Gemälde-Nach-
bildungen gethan, welche man in der Peters-Kirche ſieht. Sie verdient
hohe Anerkennung, wenn der Moſaiciſt es verſteht, mit wenigen Mitteln
die Hauptſtellen des Ausdrucks, die weſentlichſten Lagen des Schattens
und der Hauptfarbe ſo zu beſtimmen, daß ſie in entſprechender Entfernung
eine große Geſammtwirkung machen: ſie muß ſich bewußt bleiben, daß
ſie ungefähr ſo zu Werke gehen muß, wie die Papierausſchnitte, die vor
das Licht gehalten ein Bild an die Wand werfen, oder, damit wir die
Farbe nicht überſehen, wie die Decorationsmalerei für die Schaubühne.
Was ſie leiſten kann, beweist vor Allem die große Pompejaniſche Moſaik
der Alexander- und Dariusſchlacht, der Orpheus auf dem Fußboden des
römiſchen Hauſes bei Rotweil.


§. 661.

Die Abhängigkeit von der landſchaftlichen Umgebung hört auf, das Ver-1.
hältniß zur Baukunſt wird zur freien Verbindung, die aber, ſei ſie bleibend
oder veränderlich, nicht in Beziehungsloſigkeit ſich verlieren ſoll. Die Größe
2.
des Maaßſtabs iſt nach §. 649 zwar relativ, doch nicht ſchlechthin: das Auge
fordert ſeine Bahn, der Unterſchied der Stoffe, der Beſtimmung, der damit
weſentlich zuſammenhängenden Verknüpfung mit der Architektur bringt auch ver-
ſchiedene Größe-Verhältniſſe mit ſich; das Toloſſale iſt beſchränkter, das Kleine
berechtigter, als in der Bildnerkunſt.


1. Nur mittelbar, ſofern ein Werk der Baukunſt mit ſeinen Umge-
bungen zuſammenwirken ſoll, wird die Malerei, wie ſie ſich an ihren
Flächen ausbreitet, in das Verhältniß zur umgebenden Natur und Archi-
tektur hineingezogen; an ſich iſt das enge Band, welches dieſe und die
Bildnerkunſt an die weitere Umgebung bindet, abgeworfen. Zum Bau-
werke ſelbſt aber ſoll das Wandbild natürlich in einem innern Verhältniß
[544] ſtehen; die Reihe der Gegenſtände ſoll eine organiſche Beziehung auf das
Ganze des Gebäudes, die einzelnen Gegenſtände auf den Theil deſſelben
haben, den ſie ſchmücken, auch in der Weiſe der Behandlung ſoll dieſe
Beziehung berückſichtigt werden. Das Staffelei-Bild dagegen iſt trans-
portabel, von der bleibenden Verbindung mit der Architektur gelöst und
dieſe Löſung entſpricht ganz dem Weſen der Malerei als einer innerlichen,
aus dem Innern den fliegenden Schein da oder dorthin frei werfenden
Kunſt, die denn, auch in dieſem äußerlichen Sinne beweglich, es geſtattet,
daß ihr Werk nach Bequemlichkeit und Stimmung in dieſen oder jenen
Raum verſetzt und zur bequemeren Betrachtung aufgeſtellt werde. Doch
hat auch dieſe Willkühr natürlich ihre Grenze: das Werk ſoll zum Raume
ſtimmen, der Raum auf das Werk hinweiſen; Sammlungen, Galerien,
obwohl, wie die Verhältniſſe einmal liegen, gut und unentbehrlich, ſind
an ſich Unnatur (vergl. §. 507 Anm. 2.). Die ſtrengere Beziehung iſt
natürlich für das größere Werk gefordert, das in bedeutungsvollem öffent-
lichem Raume aufgehängt wird und ſich dem monumentalen Charakter
des Wandbildes nähert; ungleich mehr Willkühr ſteht der Aufſtellung im Pri-
vathauſe zu, doch iſt es auch hier eine Geſchmackloſigkeit, wenn Großes
und groß Behandeltes, Tragiſches, dem Raume des täglichen Wohnbe-
dürfniſſes angeheftet wird; übrigens tritt auch ein gegenſätzliches Motiv
in’s Spiel und gerade z. B. die Wände, zwiſchen denen der Nordländer
ſeine Winter verlebt, mag er gern mit Bildern ſüdlicher Landſchaft
ſchmücken.


2. Die Willkühr in den Größenverhältniſſen, wie ſie im Weſen der
Malerei liegt, iſt doch keine unbeſchränkte. Es bleibt eine abſolute For-
derung des Auges übrig, die von jenem allgemeinen Geſetze, daß ein Werk
der Kunſt nicht zu groß und nicht zu klein ſein ſoll (§. 36, 1.), noch
zu unterſcheiden iſt. Es iſt vornämlich das Extrem des Kleinen, wovon
es ſich hier handelt, denn es verſteht ſich, daß durch die Relativität der
Größen eine Verſuchung für die Malerei zunächſt von dieſer Seite her
nahe liegt. Das Auge will nicht nur, daß der Gegenſtand ohne beſon-
dere Anſtrengung ſichtbar, in ſeinen Theilen unterſcheidbar ſei, es will auch
eine Größe, die ihm die zureichende Bahn gibt, auszulaufen, mit dem nöthigen
tenor ſich zu bewegen, es will nicht zu bald fertig ſein, es will eine Zeit,
ſonſt ſchlüpft ihm der Gegenſtand, wie zu kleine Geldmünze zwiſchen den
Fingern durchfällt, zwiſchen den Sehnerven und der innern Anſchauung
hinweg. Kleinheit in dem Maaße, deſſen Grenze hiemit bezeichnet iſt,
entſpricht nun vermöge eines natürlichen ſymboliſchen Verhältniſſes zwiſchen
Maaßſtab und Nachdruck, Behandlung, ſowie localer Beſtimmung des Ge-
genſtands, vorzüglich genre-artigen oder genreartig, etwa auch hu-
moriſtiſch, ſatyriſch behandelten Stoffen; ſolche in heroiſch großen Formen
[545] auszuführen und in Wandgemälden etwa gar an großen nach außen ge-
wendeten Flächen eines Gebäudes zum Anſpruche des Oeffentlichen und
Monumentalen hinaufzuſchrauben iſt unnatürlich. Es mag allerdings auch
Genrebilder geben, welche eine beſonders glückliche und ſchwungvolle
Natur mit einer gewiſſen Größe des Styls behandeln, die ſich dann zu
Fresken und zu großem Maaßſtab in Staffeleibildern ſowie zur Aufſtellung
in bedeutenderen Räumen eignen (z. B. Carl Müller’s Carnevalsbilder in
Stuttgart); im Uebrigen iſt das Genre eine Darſtellung der kleineren
Seite des Lebens und es bleibt daher in Ganzen und Großen bei dem
Geſagten; die locale Beſtimmung iſt die engere häusliche. Das Porträt
wird bald ebendieſelbe, bald eine öffentliche Beſtimmung haben und dieß
begründet natürlich ebenfalls verſchiedenen Maaßſtab. Bei der Landſchaft
kommt es auf Stoff und Auffaſſung an: große und heroiſch aufgefaßte
Natur eignet ſich für Fresken und fordert bedeutenden Maaßſtab auch im
Staffelleibilde; der gemüthlich belauſchte Moment einer beſcheidenen, einer
mehr phyſiognomiſch aufgefaßten Natur wird dieſe Anſprüche nicht machen;
man will das in der Nähe ſehen, ſich als Einzelner einſam darein ver-
tiefen. Dagegen wird nun bei den großen, mythiſchen, heroiſchen, ge-
ſchichtlichen Stoffen das Auge jene allgemeine Forderung einer ſattſamen
Bahn, geleitet von derſelben Symbolik wie dort bei den kleineren Stoffen,
mit beſonderem Nachdruck geltend machen; zugleich liegt es in der Natur
dieſer Stoffe ſelbſt, da der große Gegenſtand dem Allgemeinen angehört,
daß das Bild einen öffentlichen Charakter hat, alſo von Vielen geſehen
ſein will. Beide Momente fallen zuſammen und begründen die Beſtim-
mung, daß das Großartige auch groß ſein ſoll. Dieß führt uns nun
aber auf das dem allzu Kleinen entgegengeſetzte Extrem: die Größe kann in
der Malerei nie ſo in’s Coloſſale gehen, wie in der Sculptur; bei
einem gewiſſen Grade derſelben muß der Klarheit der Sinneswahr-
nehmung Abbruch geſchehen, weil im Gemälde die Geſtalt nicht
mit dem ſcharfen Umriſſe des wirklichen Körpers ſich von einer wirkli-
chen äußeren Umgebung abhebt, ſondern eine mitdargeſtellte ſcheinbare
Umgebung die erſteren mehr oder minder abſchwächt, daher jene Deut-
lichkeit der äußerſten Grenzen wegfällt, welche dem Auge möglich macht,
auch ein ſehr Ausgedehntes noch als ein geſchloſſenes Ganzes aufzufaſſen.
Es hat aber eine Coloſſalität, welche das natürliche Maaß ſehr bedeutend
überſchreitet, in der Malerei überhaupt keinen Sinn. Es handelt ſich
nämlich hier doch im Weſentlichen nur von der menſchlichen Geſtalt; wird
nun dieſe ſehr coloſſal dargeſtellt, ſo muß ja Haus, Wand, Baum u. ſ. w.
ebenſo coloſſal gegeben werden und doch geht einer ſolchen Vergrößerung
des Umgebenden aller Zweck ab, da bei dieſem nicht ſo wie bei jener die
Rede davon ſein kann, eine geiſtige Größe ſymboliſch in einer äußern
[546] auszudrücken. Freilich kann die Umgebung wegfallen und z. B. Gold-
grund an ihre Stelle treten wie bei jenen coloſſalen Chriſtusbildern in
den Tribunen der Baſiliken; allein auch da iſt nicht an Größenverhältniſſe
zu denken, wie die der Coloſſalbilder aus Phidias Hand. Rieſen-Ge-
mälde wie jenes 120 Fuß hohe Bildniß des Nero in Rom ſind keine
Kunſtwerke mehr, ſondern prahleriſche Kunſtſtücke wie die Extreme des
Kleinen, ja ſie ſind werthloſer, als dieſe; ein Miniaturmaler iſt immer
noch weit mehr eigentlicher Künſtler, als ein fauſtfertiger Großmaler, und
da das Kleine der Malerei natürlich iſt, ſo ſteht er umgekehrt, wenn
wir wieder nach der Plaſtik zurückſehen, auch über dem Bildner, der
blos ſehr Kleines hervorbringt; geht es aber bis zu einem äußerſt
Kleinen herunter, ſo hört die Selbſtändigkeit des Werkes auf, es kann nur
an Sachen der kleinen Tektonik angebracht werden und wir befinden uns
im Gebiete der Zierkunſt.


§. 662.

1.

Das hünſtleriſche Verfahren der Malerei zerfällt in eine bedeuten-
dere Reihe von Momenten, als das der andern bildenden Künſte. Das erſte der-
ſelben, die Zeichnung, hat es nur mit der feſten Form zu thun, deren Schein
ſie durch den Umriß auf die Fläche zieht (§. 649). Sie iſt das plaſtiſche
Moment in dieſer Kunſt und die Bildung des Malers als Zeichners hat von
denſelben Uebungen und Kenntniſſen auszugehen wie die des Bildners. Ohne
den feſten Halt ihres Bandes verliert ſich die Malerei in das Muſikaliſche.
Sie entwickelt in der Beſtimmtheit und Reinheit ihrer Ausbildung ihre eigene
2.Schönheit und an ſie ſchließt ſich das Prinzip der directen Idealiſirung,
wie ſolches gegenüber dem entgegengeſetzten, das in der Malerei die Herrſchaft
erlangt hat, ſich noch immer geltend machen berechtigt iſt (vergl. §. 657).


1. Auch das Verfahren der Bildnerkunſt zerfällt in mehrere Momente:
ſie ſtellt zuerſt das Modell her und ſpaltet dann die Ausführung in einen
gröberen, dem bloßen Techniker anheimfallenden, und einen feineren, vom
Künſtler ſelbſt zu übernehmenden Theil; die Malerei aber erweist ſich
als eine geiſtig vermitteltere Kunſt, die Reihe von Acten, die ihr Ver-
fahren durchläuft, iſt reicher, denn ſie enthält Solches, was vorher das
Prinzip einer ganzen Kunſt bildete, als bloßes Moment in ſich: ſie ſetzt
die Plaſtik voraus und nimmt ihre Seele, des Körpers entkleidet, in ſich
auf, um ihr im weiteren Fortgang ein neues Kleid in anderem Sinne
zu geben; daher behält hier, wie ſchon hervorgehoben iſt, der Künſtler
Alles in der Hand und verſchmelzt zwei vorausgehende Momente im
dritten zum vollen Kunſtganzen. Das erſte dieſer Momente, die Zeich-
[547] nung iſt es nun, wodurch die Plaſtik in veränderter Form innerhalb der
Malerei wieder auftritt, denn ſie ſtellt jene Ueberſetzung der Geſtalt auf
die Fläche her, von welcher im Allgemeinen ſchon §. 649 gehandelt hat.
Was wir ſo eben Entkleidung vom Körper genannt haben, beſteht zugleich
nothwendig im Wegfall von Licht und Schatten, welche das Bildwerk
von außen empfängt; die Zeichnung iſt bloße Umſchreibung der Ge-
ſtalt nach ihren äußerſten Grenzen und nach einem Theile der inneren,
ſoweit nämlich die Einzelformen innerhalb jener in ſolcher Beſtimmtheit
ſich abheben, daß ſie in einem Umriß zu faſſen ſind. Dennoch gibt ſchon
dieſe bloße Umſchreibung (Contur) einen Begriff von der wirklich Raum-
erfüllenden Bildung: das ſchaffende Auge verſetzt ſich in ihre Mitte und
erzeugt wie aus einem innern Kern herausbauend ſich das Bild des
vollen Ganzen. Die gute, die gefühlte Zeichnung nöthigt das Auge dazu,
indem ſie durch Fluß und wechſelnden Druck und Dünne der Umriß-
Linie den Schwung der gefüllten, runden, in die Dimenſionen des Raums
ausſchwellenden organiſchen Formen andeutet. Auch der Bildhauer muß
zuerſt zeichnen lernen und der ausführende Meiſter zeichnet ſein Werk,
ehe er es modellirt; dieß iſt hier bloße Vorübung und Vorarbeit, aber
doch entwickelt ſich in ihr und legt ſich in ſie das Gefühl des Ganzen
der Geſtalt, wie es dann im Modell und in der Ausführung gegeben
wird. Der Maler nun hat natürlich noch andere Gegenſtände zu zeich-
nen, als die (thieriſch und) menſchlich organiſche Geſtalt, dieſe aber iſt
doch und bleibt auch für ihn die höchſte Aufgabe und erſt nachdem er in
ihrer Nachbildung geübt iſt, mag er ſich auch auf Zweige werfen, worin
ſie nur eine Nebenrolle ſpielt. Er iſt daher in dieſem Stadium auf die-
ſelben wiſſenſchaftlichen Kenntniſſe gewieſen wie der Bildner, auf Pro-
portionen und Anatomie. Weſentlich verlangt hiebei ſeine Ausbildung
eine Methode, die ihn ſo raſch als möglich an die Nachbildung der vollen
Geſtalt führt, denn von dem Abzeichnen des Gezeichneten lernt man nicht
Uebertragung auf die Fläche. Die Zeichnung ſoll nun, zunächſt beſonders
im Anatomiſchen und den Verhältniſſen, vor Allem richtig ſein; auf die
Verzeichnungen, die man großen Meiſtern verzeiht, darf ſich kein Schüler
berufen, gewiſſer Unrichtigkeiten, die dieſe ſich um äſthetiſcher Motive willen
erlaubt haben, nicht zu gedenken. Obwohl nun die Zeichnung dem Gan-
zen der Malerei gegenüber nur ein Moment darſtellt, iſt ſie doch auch
im Reich des Schönen für ſich, wie wir dieß eben ſchon damit ausge-
ſprochen haben, daß wir das Ganze der Geſtalt in ihr wie in einem Keim
ſahen, welchen die Phantaſie des Beſchauenden aufſchließt und zur vollen
Blume entfaltet. Die ſichere, kräftige, ſchwungvolle Fauſt des Meiſters
führt Griffel, Kohle, Feder in einem Schwunge, der die reinſte Geſtalten-
freude hervorruft, man glaubt ſich durch ſie in die geheime Werkſtätte
[548] verſetzt, worin der Meiſterin Natur das höchſte Product ihrer organiſch
bauenden Kraft in einem erſten Bilde vorſchwebte. Ja ſchon ein hinge-
worfener Theil, ein Rumpf, ein gewaltiger Arm, Fuß kann die Meiſter-
hand verkündigen und den Kenner entzücken. Die ſchön geführte Linie
wird durchaus im lebendig ſchauenden Auge wieder flüſſig, ſie lebt, man
ſieht ſie werden, wie in Wirklichkeit das volle Gebilde wird und ſich ent-
wirkt. Ja ſchon der reine Zug der Linie an ſich, das klare und doch
leichte Durchſchneiden durch das Leere, wenn es auch noch keine beſtimmte
Geſtalt zuſammenſetzt, hat bedeutungsvollen Reiz und läßt auf den Künſtler
ſchließen; die Anekdote von der Linie, die Apelles auf der Tafel des ab-
weſenden Protogenes zieht, beweist, was die Alten von dieſem Puncte
hielten. Wird der Maler kein fertiger Zeichner, ehe er zum Pinſel ſchrei-
tet, ſo ſchwebt er Zeitlebens im Bodenloſen, im Lyriſchen, im Subjectiven,
im Muſikaliſchen. Es iſt die Scheue vor der Sache, vor dem Beſtimmten
und Gründlichen, was den Dilettanten abhält, erſt ein tüchtiger Zeichner zu
werden, und ihm vor der Zeit die Palette in die Hand ſchiebt. Die Vorliebe
der engliſchen Malerei für das Nebelhafte, Unbeſtimmte, Verſchwommene,
Verfaſerte hängt, wie mit der nationalen Neigung zum Sentimentalen, ſo
mit dem in England ſehr verbreiteten Dilettantiſmus zuſammen. Die
Zeichnung iſt das Grundgerüſte, die feſte Knochenbildung im Körper der
Malerei, ſie muß, nachdem ſie von den Weichtheilen (der Farbe) umhüllt iſt,
als die tragende, Maaßbeſtimmende Kraft durch die Umhüllung ſichtbar ſein.


2. Es leuchtet nun ein, wo der directe Idealiſmus in der Malerei
ſeinen Boden hat: er lebt in der Zeichnung, er läßt dieſe über die Farbe
vorherrſchen, denn ſein Prinzip iſt das der Plaſtik und die Zeichnung, wie wir
geſehen, das plaſtiſche Moment in der Malerei. Es kann allerdings ein
Maler ganz beſonders Meiſter der Zeichnung, im Colorit ſchwächer oder
wenigſtens ungleich, doch aber kein directer Idealiſt ſein; dann iſt er nicht
nach allen Seiten in entſprechendem Verhältniß zur Reife gediehen, er
hat aber nicht die Grund-Intention ſeiner Auffaſſung in das Moment
der Zeichnung gelegt, denn dieß iſt verſtanden unter dem Vorherrſchen-
laſſen der letzteren. Der Idealiſt (ſoweit wir ihn bis jetzt kennen, ſo
lange wir ſein Verhalten zum Unterſchied der Stoffe nicht beſprochen) ver-
langt, daß die einzelne Geſtalt normal ſchön ſei, wie in der Sculptur, und
da die Zeichnung eben vor Allem es iſt, welche die Geſtalt herſtellt, ſo legt
er das Gewicht auf dieſe, gibt ſich ganz der Welt der Linie, des Con-
turs hin. Da aber die Zeichnung nur ein Moment im Verfahren der
Malerei iſt und beſtimmt, in gewiſſem Sinne zu verſchwinden, ſo iſt mit
ihr auch das Prinzip, das ſich auf ſie ſtützt, zur Unterordnung beſtimmt.
An dieſem Puncte wird die Sache in der Erörterung der Stylfrage wie-
der aufgefaßt werden.


[549]
§. 663.

Dennoch beginnt ſchon im Gebiete der Zeichnung der Austritt aus den
Grenzen der Plaſtik. Sie zieht mehr in ihr Bereich, als dieſe, indem ſie auch
Körper von unbeſtimmtem Umriß andeutend wiedergibt, und da ſie mit eigenen
Mitteln den Schein der Erſtreckung in die Tiefe erzeugen ſoll, ſo hat ſie
Körper der verſchiedenſten Art in der Veränderung und Verkleinerung darzu-
ſtellen, welche ihre Geſtalt und Größe nach den Graden des Zurückweichens von
einem beſtimmten Sehpunct anzunehmen ſcheint: Verkürzung im Einzelnen,
Linear-Perſpective im Ganzen. Die Malerei iſt hiedurch an ein beſon-
deres Gebiet wiſſenſchaftlicher Kenntniſſe gewieſen.


Die leichte Linie kann, wie auch ſchon zu §. 651 berührt iſt, bereits
mehr geben, als die Mittel der Bildnerkunſt; ſchon Griffel, Blei, Kohle,
Kreide, Feder vermag das Kleine, Dünne, unbeſtimmt Gebildete, conti-
nuirlich Ausgebreitete theilweiſe nachzubilden, das Brüchige, Verwitternde,
Rauhere oder Glattere der Oberfläche von Erdformen und Gebäuden,
Wolken, Wellen, Blätter und Gräſer, Fältchen, Haare u. ſ. w. anzudeu-
ten. Dieſes Reich des Unbeſtimmten ſpielt eigentlich bereits in die Per-
ſpective hinüber, denn es beſteht zum Theil in Einzelnheiten, die gegen-
über dem Maaßſtab unſerer Sehkraft ſo in’s Kleine ſich verlieren, daß
wir ſie nur zerfloſſen, nur in Maſſen ſehen, und eben dieß Unbeſtimmte
kann der Zeichner auch unbeſtimmt wiedergeben. Es iſt nicht der leichteſte
Theil ſeiner Aufgabe und erſt einer reifen Kunſt gelingt ein geniales
Hinwerfen dieſer Zufälligkeiten. Die plaſtiſche Richtung wird ſich inzwi-
ſchen auch hier geltend machen, indem ſie nach dieſer Seite hin theils
ſtrenger ausſcheiden, theils zu genau und deutlich nachbilden wird (z. B.
den Baumſchlag in der heroiſchen Landſchaft). An ſich aber iſt das pla-
ſtiſche Gebiet, ſofern es ſich durch die Zeichnung in der Malerei wieder-
holt, hiemit um ſo mehr ſchon überſchritten, da die meiſten dieſer unbe-
ſtimmten Andeutungen ſich bereits auf die mitdargeſtellte, in die Tiefe ſich
hineinverlaufende Umgebung beziehen. — Die eigentliche Perſpective nun
aber hat es mit allen Körpern, ſowohl den feſt, als den unbeſtimmt ge-
bildeten und maſſenhaft ausgebreiteten, ſowohl den großen, als den klei-
nen zu thun. Es entſteht hier ein neues Gebiet künſtleriſcher Aufgabe
dadurch, daß der optiſche Schein, nach deſſen Geſetzen das Auge die wirk-
lichen Dinge im Raume ſieht, auf der Fläche künſtlich wiederzugeben,
daß ein Schein dieſes Scheins herzuſtellen iſt. Die Gegenſtände, wie ſie
vom Sehpunct aus in die Tiefe zurücktreten, verändern je nach ihrer
Stellung ſcheinbar ihre Form: das Runde ſcheint oval, die in gleicher
Breite fortlaufende Straße ſcheint pyramidaliſch u. ſ. w.; zugleich verklei-
[550] nern ſie ſich ſcheinbar nach dem Grad ihrer Entfernung. Die ſcheinbare
Veränderung der Form beſtimmt ſich verſchieden, je nachdem der Sehpunct
höher, als die Gegenſtände (ſog. Vogelperſpective), oder tiefer (Froſchper-
ſpective) oder in gleicher Bodenhöhe genommen iſt; dazu kommt der Un-
terſchied, ob das Auge ſich der Mitte eines Gegenſtands gegenüber befin-
det, oder ob es ihn ſeitlich faßt. Die Verkürzung iſt nichts Anderes, als
dieſe ſcheinbare Form-Veränderung in Anwendung auf einen einzelnen
Gegenſtand oder den einzelnen Theil eines Gegenſtands, der ſo geſtellt
iſt, daß die wirkliche Länge vom Auge des Zuſchauers ab in die Tiefe
zurückweicht, dieſem in einem zuſammengezogenen Bilde erſcheint. Ohne
Licht und Schatten würde ſich das Auge in dieſem Falle über die Form
des Gegenſtands nothwendig täuſchen, dennoch hat der Maler, ehe er
dieſe weſentliche Ergänzung hinzugibt, das Geſetz der Zuſammenziehung
der Linie an ſich als Zeichner darzuſtellen. Es verſteht ſich, daß die Ver-
kürzung vorzüglich an Gegenſtänden, welche im Vordergrund als Haupt-
gegenſtände oder doch mit einiger Bedeutung hervortreten, das Intereſſe
des künſtleriſchen Studiums in Anſpruch nimmt, und was den Unterſchied
der Stoffe betrifft, daß es namentlich der höher organiſirte Leib, vor allem
der menſchliche, iſt, deſſen wunderbarer Bau die unendlichen Motive ſeiner
Schönheit in bewegter Fülle enthüllt, wenn Wendungen, Stellungen aller
Art ſeine Glieder theils unmittelbar richtig, theils in ſolchen Verſchiebun-
gen darſtellen, aus denen das Auge das richtige Bild erſt wieder erſchließt;
ein verſtärkter Accent ſcheint auf den Reiz der organiſchen Schönheit zu
fallen, wenn er im verſchobenen Bilde ſich aufſuchen läßt. Die Geſetze
der Perſpective im Ganzen nun ſind Gegenſtand eines Zweigs der Ma-
thematik und der Maler muß ſich mit demſelben vertraut machen; ein
neuer Umkreis von wiſſenſchaftlichen Kenntniſſen, welche der Bildner nicht
bedarf, iſt alſo durch die Uebertragung auf die Fläche nöthig geworden.
Doch wird es ſich ähnlich verhalten wie mit der Anatomie: der Künſtler
muß ſich das Weſentliche der Lehre aneignen, doch nur, um das Gelernte
in eine freie, zum Inſtinkt gewordene Fertigkeit umzuſetzen, worin der
Geſchmack der exacten Gelehrſamkeit völlig getilgt iſt; die Perſpective ſoll
als Augenmaaß in ſein Auge einkehren oder richtiger: vorher darin ſitzen
und durch die Wiſſenſchaft nur verſchärft werden. Ueberdieß vermag aber
die Wiſſenſchaft dieſes Gebiet des optiſchen Scheins nicht in ſeinem ganzen
Umfang zu faſſen und zu durchdringen; es iſt namentlich das Gebiet der
runden Formen in der Mannigfaltigkeit ihrer Curvenverbindungen, wo
ihr eine Grenze in der Auffindung des Geſetzes der optiſchen Scheinver-
änderung geſteckt iſt; gerade hier, in dieſem wichtigen Gebiete der Ver-
kürzung, iſt das Gefühl und die Naturbeobachtung des Künſtlers an ſich
ſelbſt gewieſen. — Es geht nun in allen hier aufgeführten Puncten die
[551] Zeichnung als erſtes Moment der Malerei allerdings über die Bildner-
kunſt weſentlich hinaus. Dennoch bleibt es auch Angeſichts dieſer neu
eingetretenen Kunſtbedingungen dabei, daß ſie das plaſtiſche Moment in der
Malerei iſt, was übrigens natürlich mehr von dem engeren Gebiete der
Verkürzung, als von der Perſpective im Ganzen und Großen gilt. Das
Prinzip der directen Idealiſirung wird ſich daher nicht auf die ein-
fache Erſcheinung der Geſtalt beſchränken, ſondern auch auf ihre optiſchen
Verſchiebungen werfen; ja der Meiſter der ſchönen Einzelgeſtalt, der ſtyl-
vollen Zeichnung wird mit beſonderer Vorliebe ſeine ſichere und energiſche
Fauſt darin zeigen, daß er den Körper in allen kühnſten Wendungen und
der dadurch gegebenen Scheinveränderung der Formen vorführt; er wird
ſogar in nicht geringer Verſuchung ſein, zu vergeſſen, daß das reflectirtere
Intereſſe, das die Formen durch die Verkürzung gewinnen, ohne beſtimmte
Motivirung nicht aufzuſuchen iſt, daß hier eine Verſuchung zur Manier
liegt, er wird mit ſeiner Macht über die Form prahlen, in das Gewalt-
ſame, Verdrehte gerathen und ſo mitten in ſeiner urſprünglich plaſtiſchen
Richtung gerade das plaſtiſche Schönheitsgeſetz verletzen. Nur weil er
auch in ſeinen Verirrungen immer groß iſt, verzeiht man dieſe Ausartung
des Styls in die Manier dem Mich. Angelo; die verderblichen Wirkungen
mußten ſich einſtellen, ſobald die Genialität des Meiſters dieſe Abwege
nicht mehr am Bande ihres erhabenen geiſtigen Feuers hielt. — Die
Andeutung des Unbeſtimmten und die Perſpective im Großen führt nun
beſtimmter, als die Verkürzung, in das Spezifiſche der Malerei hinein,
denn hier handelt es ſich vornämlich vom mitgegebenen Raum mit den
mancherlei unorganiſchen oder nur vegetabiliſch organiſchen Körpern, aus
denen er ſich zuſammenbaut. Das Zurückweichen im Ganzen hat ſelbſt
in der bloßen Zeichnung ſchon eine gewiſſe ſtimmende Wirkung, die drei
Gründe: Vorder-, Mittel-, Hintergrund unterſcheiden ſich bereits und
zeigen ihre mehr, als bloß äußerliche Bedeutung. Doch ſolange nicht das
Weitere des maleriſchen Verfahrens hinzutritt, bleibt dieſe Seite ein bloßer
Anſatz.


§. 664.

Da aber die Malerei den vollen Schein des Sichtbaren geben ſoll, ſo
bleibt die Zeichnung nur das erſte Moment in dem Ganzen dieſer Kunſt. Sie
verhält ſich zu dieſem wie der Begriff zu ſeiner Wirklichkeit und entſpricht der
Phantaſie vor der Kunſt im Syſteme der Aeſthetik. Sie kann ſich trotzdem
von den weiteren Momenten abtrennen und als Umriß oder Skizze für ſich
auftreten (vergl. §. 493, 2.). Dieſe Form iſt geeignet für Kunſttalente, die
in der Erfindung ſtärker ſind, als in der Ausführung, und für Stoffe, in de-
[552] nen die Idee über den Körper der Darſtellung oder die Schönheit der Form
über die Innerlichkeit des Ausdrucks vorſchlägt.


Die Zeichnung verhält ſich zum Ganzen der Malerei wie der Be-
griff zu dem Körper, in welchem er realiſirt iſt; ſie iſt das Männliche,
Zeugende in der maleriſchen Hervorbringung; der Künſtler legt ſeine Er-
findung zuerſt in ihr nieder, ſie liegt unmittelbar, als erſtes Feſtland, an
der Quelle der inneren Schöpfung, gehört mit ihr noch auf’s Engſte zu-
ſammen und entſpricht ſo, gegenüber der Schattirung und Farbe, dem noch
körperloſen innern Bilde der Phantaſie überhaupt gegenüber der Ausfüh-
rung, der Kunſt überhaupt. Daher ſind, wie ſchon zu §. 493, 2. erwähnt
iſt, die Handzeichnungen der großen Meiſter von ſo hohem Werthe; man
ſieht noch unmittelbar in die Werkſtätte des Schaffens, ſchöpft das Quell-
waſſer am Urſprung, ſieht den erſten genialen, noch nicht eigentlich kör-
perhaften und doch in ſich ſchon ſo ſicheren, feſten Wurf. Dem wider-
ſpricht nicht, daß man zugleich an den Spuren des Zweifels, den Ver-
beſſerungen erkennt, wie doch ſchon auf dieſem erſten Schritte die Phan-
taſie zu erfahren bekommt, daß das erſt innere Bild noch blaß und un-
beſtimmt war (vergl. §. 492). In fortgeſchrittener Weiſe zeigen die
Cartone zu Fresken den Künſtlergedanken in ſeiner urſprünglichen geiſtigen
Beſtimmtheit. — Der Umriß bleibt nun zwar bloßer Anfang, ſoll aufge-
hobenes Moment werden, aber er kann ſich als beſonderer Zweig fixiren.
Das Recht zu dieſer Iſolirung iſt in §. 662, 1. mit dem Satz ausgeſpro-
chen, daß die Zeichnung relativ eine Welt der Schönheit für ſich entwickle,
wozu die Anmerkung ſagt, daß die Phantaſie aus dem ſchwungvollen Um-
riſſe ſich das ganze der Geſtalt herausbaut. Subjectiv entſpricht die
Skizze jenen Künſtler-Naturen, von denen zu §. 493, 2. die Rede gewe-
ſen iſt als ſolchen, die ein inneres Hemmniß ihrer Organiſation abhält,
von der Erfindung und dem erſten, noch auf ihrer Seite liegenden Schritte
der Ausführung zur vollen Ausführung fortzugehen; objectiv ſolchen Stof-
fen, worin die Idee den feſten Körper gewiſſermaßen durchbricht und die
vorwiegende Geiſtigkeit des Ganzen es nicht verträgt, in den vollen Schein
der Realität, wie ihn die Farbe gibt, hereinverſetzt zu werden. Dazu eig-
net ſich die Skizze, weil ſie den erfindenden Gedanken, die Seele gleich-
ſam blos legt und der von Scene zu Scene vorwärts drängenden Fülle
der Phantaſie Genüge thut. Es iſt klar, daß es ſich hier hauptſächlich
vom Anſchluß an Dichtwerke handelt: das Allegoriſche und Geiſterhafte in
Dante, das von innen heraus unruhig genial Bewegte in Göthe’s Fauſt
fordert mehr zur Skizze, als zum Gemälde auf. Doch können natürlich
auch ſattere, körperhaftere Stoffe in dieſer Form behandelt werden; vorzüg-
lich lädt die ſchöne Einfachheit des alten Epos dazu ein. Hier kommt ein
[553] weiterer Grund dazu: die plaſtiſche Natur der Zeichnung macht ſich wieder
geltend und wird von den idealen Geſtalten eines Homer angezogen, de-
ren Sculpturartige, reine Formen mehr für die Linie, als für die volle
Realität der Farbe ſich eignen.


§. 665.

Das, von dem Ganzen des maleriſchen Verfahrens ebenfalls trennbare, zweite1.
Moment iſt die Herſtellung des Scheins der vollen räumlichen Ausdehnung durch
Licht- und Schattengebung. Sie hat das in §. 241—245 dargeſtellte
Erſcheinungsgebiet nachzubilden. Dabei bringt ſchon die Beſtimmtheit der tech-
2.
niſchen Mittel eine gewiſſe Abweichung vom Vorbilde mit ſich; überdieß tritt
aber die allgemeine Aufgabe der idealen Umbildung jedes Naturſchönen hier
mit neuen Forderungen auf, insbeſondere mit der, daß die Beleuchtungs-Ver-
hältniſſe mit der Bedeutung der Gegenſtände in Zuſammenſtimmung gebracht
werden.


1. Obwohl der Umriß bereits den Keim der ganzen Geſtalt enthält,
den die Phantaſie des Zuſchauers ſich ſelbſt entwickeln kann, ſo muß nun
doch die Malerei natürlich mit eigenen Mitteln das thun, was am Bild-
werke das gegebene äußere Licht vollzieht: ſie muß durch Licht und Schat-
ten, die ſie auf die Fläche legt, den bloßen Umriß ausfüllen und die
Formen und Entfernungen der Geſtalten aufzeigen. Da im Allgemeinen
heller Grund der Fläche vorausgeſetzt iſt, ſo iſt dieß Verfahren natürlich
vorherrſchend Schattiren, doch wird auch Aufſetzung von Lichtern nöthig.
Auch dieſer Schritt der Malerei kann ſich von der Ergänzung durch die
Farbe trennen als ausgeführte Zeichnung, als Darſtellung mit flüſſigen
Mitteln (Touche u. ſ. w., auch Oelfarbe, wo denn das ſogenannte Grau
in Grau einen Anklang von Farbenton erhalten kann), dann in der ver-
vielfältigenden Technik des Metallſtichs, Holzſchnitts, Steindrucks. Es
können dabei verſchiedene Stufen, von der blos leichten Andeutung bis
zur vollen Ausführung des Schattens, eingehalten werden; jene liegt in
der unmittelbaren Nähe der bloßen Zeichnung, dieſe nähert ſich ſchon der
Malerei mit Farbe. In der That iſt in der ausführlichen Licht- und
Schattengebung die Farbe als ein fühlbarer Anklang mitgeſetzt, denn die
Unterſchiede der letzteren ſind in ihrer ſpezifiſchen Qualification weſentlich
zugleich Unterſchiede des Dunkels und auch der ſchattirende Zeichner hat
im Dunkel einen hellfarbigen Stoff, im Licht einen dunkelfarbigen wohl
vom Gegentheil zu unterſcheiden, zudem läßt Art und Strich der Lichter
mit der Beſchaffenheit der Stoffe zugleich auf ihre Farbe ſchließen. Durch
die Fülle, welche demnach ſchon in den Licht- und Schattenverhältniſſen

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 37
[554]gegeben iſt, entſteht die Schwierigkeit, daß ſchon bei dieſem Gebiet eine
Reihe von Begriffen zur Sprache kommt, welche doch erſt bei der Verbin-
dung mit der Farbe ihre erſchöpfende Darſtellung finden.


2. Das Licht- und Schattenleben iſt ſchon als naturſchöne Erſchei-
nung aufgeführt, ſeine Reize ſind in ihren Hauptzügen dargeſtellt in den
angegebenen §§., und es ſcheint, als wäre nun zu jener Darſtellung nichts
hinzuzufügen, als daß, wie alles Naturſchöne in der Kunſt zu idealiſiren
iſt, ſo auch dieſe Seite ſeiner Erſcheinung. Allein das Idealiſiren hat in
jeder beſonderen Kunſtweiſe ſeine eigenen Wege und die Gebiete, die wir
nun betreten, fordern einen ſo ſpeziellen Rückblick auf das Naturſchöne
(vergl. §. 510), daß auch die Umbildung der erlauſchten Geheimniſſe in
künſtleriſche Feinheiten ſich mit einer Beſtimmtheit geſtaltet, die eine ei-
gene kleine Welt von Kunſtbegriffen mit ſich bringt. Wir bleiben zunächſt
im Allgemeinen und bemerken zu dem erſten Satze dieſes Theils unſeres
§., daß nun auf den Unterſchied des Nachahmungsmittels vom lebendigen
Gegenſtand ein Nachdruck fällt, wie bei der Bildnerkunſt noch nicht; denn
freilich iſt Stein und Erz ein Anderes, als Fleiſch u. ſ. w., und liegt in
dieſem Unterſchiede die eine Urſache der Kunſtbedingungen, aber noch viel
weiter iſt der Abſtand zwiſchen dem unerreichbaren Glanz und Leben des
Lichts und den todten Stoffen, die ſeinen Schein wiedergeben ſollen. Da
muß nun im Dunkel nachgeholfen werden, der Abſtand zwiſchen dem
Glanze des Lichts und zwiſchen dem todten Stoffe des Weiß, der ihn wie-
dergeben ſoll, muß ſich in einen Abſtand der übrigen Theile des Bilds von
dieſem Weiß verändern, dieſelben müſſen in dem Verhältniß dunkleren Ton
haben, in welchem dieß hinter ſeinem Vorbilde zurückbleibt. Es liegt aber
etwas Tieferes hinter dieſer äußeren Nöthigung, was jedoch erſt bei der
Betrachtung der Farbe in ſeinem ganzen Gewichte zur Sprache kommen
kann; hier iſt nur erſt ſo viel zu ſagen, daß die Abdämpfung, die aller
Glanz des Unmittelbaren in dieſer Behandlung erfahren muß, bereits
ſelbſt eine Art von Idealiſirung, ein Ausdruck davon iſt, daß das Natur-
ſchöne in gewiſſem Sinne ſterben mußte, um in der Phantaſie und Kunſt
zum Leben zurückzukehren. In ſeiner eigentlichen Beſtimmtheit aber ent-
hält nun der Begriff des Idealiſirens vor Allem die Aufgabe, die der §.
beſonders hervorhebt. Die Lichtverhältniſſe werden mit der Bedeutung
der beleuchteten Gegenſtände in der Natur ſelten ſo zuſammentreffen, wie
es die Kunſt verlangt. Eine nähere Feſtſtellung hierüber iſt allerdings
nicht möglich; ſo kann namentlich nicht als ſtrenge Regel behauptet wer-
den, daß der bedeutendſte Gegenſtand auch die vollſte Beleuchtung haben
müſſe; in den meiſten Fällen wird dieß natürlich ſein, aber die Bedeutung
verſchiebt ſich ja auf das Mannigfaltigſte, ſo daß es z. B. äſthetiſch ge-
fordert ſein kann, eine bedeutende Figur, von welcher eine ſtarke Wirkung
[555] ausgeht, in Schatten oder Helldunkel zurück, die Figuren aber, auf welche
ſie wirkt, in volles Licht zu ſtellen, weil es natürlich erſcheint, daß die
Energie durch Kraft des Schattens in das Auge falle, dagegen die Züge
eines Leidenden im Hellen deutlich geſehen werden u. ſ. w., wie es ja in
der Landſchaft ſich darbieten kann, das erhabene Gebirge in Schatten, ein
freundliches Thal in’s Licht zu ſtellen. Eine natürliche Symbolik verbin-
det auch die Begriffe des Dunkeln und des Böſen (Judas in Leonardo’s
hl. Abendmahl), nach Umſtänden kann aber ein grelles Licht angemeſſener
ſein. Ueberdieß fällt das ganze Gewicht bald mehr auf die Beleuchtungs-
verhältniſſe an ſich, bald mehr auf das, was beleuchtet oder beſchattet
wird; das Erſtere iſt namentlich bei Landſchaften der Fall, es kann ſich
aber in dieſem und den andern Gebieten auch ein Mittleres darſtellen,
wo ſich das Intereſſe an die feineren Wege des Lichts und Dunkels
und an die Gegenſtände gleichmäßig vertheilt. Kurz es laſſen ſich
keine Geſetze aufſtellen, das Allgemeine aber, daß die Kunſt der Natur,
deren Sonne auf Gerechte und Ungerechte ohne Wahl ſcheint, zu Hülfe
kommen muß, bleibt feſt. Die Lichtverhältniſſe werden aber in der Na-
tur nicht blos mit der Bedeutung der Gegenſtände ſelten ſo zuſammen-
ſtimmen, wie Sinn und Auge es verlangen, ſie werden auch an ſich trotz
dem Glanz und der Kraft des Lebens niemals die Reinheit der Harmonie
zeigen, wie der Künſtler ſie bedarf; ſtörende Lichter, Schatten, Unklares,
Schmutziges, Grelles, Stumpfes: Mängel aller Art werden, wäre es auch
nur in untergeordneten Theilen, die das nicht fein gebildete Auge über-
ſieht, auch hier das Naturſchöne trüben. Gerade weil der Laie, beſtochen
von der unnachahmlichen Friſche des Ganzen, die Mängel an dieſer Seite
des Naturlebens gewöhnlich unbeachtet läßt, iſt auf dieſen Theil der idea-
liſirenden Thätigkeit des Künſtlers noch beſonders aufmerkſam zu machen;
Näheres gibt die weitere Entwicklung.


§. 666.

Sofern ſie die einzelne organiſch geſchloſſene Geſtalt zum Gegenſtand hat,
gehört die Licht- und Schattengebung noch weſentlich zum plaſtiſchen Moment
in der Malerei und ruft durch vollendete Modellirung die Formfreude,
die der Bildner unmittelbar weckt, in vermittelter Weiſe hervor. Wenn dagegen
ein Ganzes von beſtimmten und unbeſtimmten Bildungen, Erſcheinungen der or-
ganiſchen und unorganiſchen Natur in ſeinen Lichtverhältniſſen darzuſtellen iſt, ſo
tritt das Maleriſche beſtimmter in ſeine Geltung.


Die Zeichnung haben wir als das Plaſtiſche in der Malerei erkannt;
dieſe Bedeutung hat ſie unzweifelhaft, ſofern ſie die thieriſche und menſch-

37*
[556]liche Geſtalt in ihrer organiſchen Beſtimmtheit darſtellt, wobei von der
Perſpective nur die einzelne Verkürzung mitzuwirken hat. Die Licht- und
Schattengebung nun in Beſchränkung auf dieſen Stoff iſt nur Vollendung
der Zeichnung in dieſem ihrem plaſtiſchen Charakter, indem ſie die Stelle
deſſen übernimmt, was an der Statue das natürliche Licht thut; nament-
lich bei der Verkürzung iſt dieß nöthig, da die optiſche Veränderung der
Form ohne Licht und Schatten ſchwer verſtanden wird. Da nun die Auf-
zeigung der Form dem natürlichen Lichte durch Kunſtmittel abgewonnen
wird, ſo bewirkt in der Anſchauung das meiſterhaft Geleiſtete zwar dieſelbe
Art äſthetiſcher Freude, wie die plaſtiſche Schönheit, aber in einer reflec-
tirten Weiſe, indem zugleich der Kampf mit den Schwierigkeiten zum Be-
wußtſein kommt; denn es iſt kein Kleines, die Geſtalt als Ganzes in
vollem Scheine von der Fläche zu löſen und ebenſo die Figuration der
einzelnen Glieder als ein wirklich Rundes, ſich Abhebendes, Zurück- und
Vortretendes auszuwickeln. Die Modellirung hat ihren eigenen Reiz und
ihr Mangel, wenn die Geſtalt nicht „losgeht“, ihr Ganzes zu flach, ihr
Einzelnes nicht ausgerundet, kräftig abgeſtoßen und doch wieder weich ver-
bunden erſcheint, ſein eigenes tiefes Mißbehagen. Zur Ablöſung von der
Fläche gehört namentlich der Schlagſchatten; damit iſt zugleich der umge-
bende Raum geſetzt und dieſer führt in das Weite, in die Vielheit unbe-
ſtimmt gebildeter organiſcher und continuirlich ergoſſener unorganiſcher Er-
ſcheinungen. Wenn nun die Malerei aus ihrer weſentlichen Aufgabe,
dieß Weite und Viele in ihren Bereich zu ziehen, Ernſt macht, ſo beginnt
hiemit der entſchiedene maleriſche Theil der Licht- und Schattengebung.


§. 667.

Es entſteht nun die Aufgabe, die Bahn des Lichts in klarer Einheit
durchzuführen, die Licht- und Schattenmaſſen entſchieden auseinanderzuhalten,
ebenſoſehr jedoch dieſe Gegenſätze zunächſt durch Schattenſtellen im Licht, durch
Lichtſtellen im Schatten, ſodann durch zarte Abſtufungen, Widerſcheine, Durch-
ſichtigkeit, Helldunkel zu verſöhnen, endlich aber, durch das feinſte aller
Mittel, den Ton, jedes Grelle abzudämpfen und ſowohl über einzelne Theile,
als auch über das Ganze eine entſchiedene Stimmung zu verbreiten.


Man ſieht, wie ſich hier die Lehre von der Compoſition vorbereitet;
es iſt Einheit im ſtarken und ſchwachen Contraſt, Entſchiedenheit der Ge-
genſätze und gleichzeitige Ueberleitung und Verſöhnung derſelben, wovon
es ſich handelt. In der Natur wird, wie ſchon zu §. 666 angedeutet iſt,
die Harmonie der Beleuchtung hier durch Unentſchiedenheit, dort durch
zu grelle Entſchiedenheit geſtört, der Künſtler hat gleichzeitig auf beiden
[557] Puncten den trübenden Zufall auszuſcheiden. — Die herrſchende Einheit
iſt das Licht; mag ſein Ausgangspunct im Bilde oder außer dem Bilde,
tiefer oder höher, als die bedeutendſten dargeſtellten Körper, in der Mitte
oder auf der Seite liegen, ſein Weg ſoll in ausgeſprochener Beſtimmtheit
über das Ganze lanfen und deſſen Theile mit der idealen Kraft dieſes
großen Mediums zuſammenfaſſen. Das Licht iſt aber nicht blos zuſam-
menfaſſend, ſondern auch „auseinandertreibend“ (vergl. §. 241 Anm. 2);
dieſes durch den Schatten und vorzüglich durch den Schlagſchatten, der
den Körper in der Kraft ſeiner Einzelheit abhebt. Würde nun die Licht-
bahn durch eine ungeordnete Vielheit von einzelnen Schatten unterbrochen,
ſo hätte die Licht-Einheit nicht einen klaren, ſondern einen zerſplitterten,
beunruhigenden Gegenſatz am Dunkeln. Daher wird, wo es die Na-
tur nicht thut, der Künſtler dafür zu ſorgen haben, daß eine Maſſe von
Körpern in der Art zuſammentritt, daß der vereinigten Lichtwirkung ge-
genüber eine Schattenmaſſe entſteht (handelt es ſich nur von Einer be-
deutenden Geſtalt, ſo bewirkt dieß der Gegenſatz der beſchienenen und be-
ſchatteten Seite oder bei gleich verbreiteter Beleuchtung ein dunkler Grund).
Es kann ſich natürlich nicht von einer ungefähr gleichen Ausdehnung bei-
der contraſtirender Maſſen wie von zwei Hälften handeln: es genügt,
wenn nur dem Lichte nicht blos getrennte Einzelſchatten gegenüberſtehen,
ſondern umfaſſendere Schattenſtellen oder reiche Gruppen ſolcher Geſtal-
ten, deren Schattenſeiten das Auge zu einem Ganzen zuſammenzuhalten
vermag. Das Licht wirkt im Allgemeinen anregend, nach Beſchaffenheit
und Umſtänden aufregend; im übeln Sinne aufregend wirkt ein zu viel-
fach unterbrochenes Licht, das über Einzelſchatten gleichſam unruhig fort-
ſpringt; größere Schattenſtellen, die man wohl auch Ruheſtellen nennt,
müſſen daher auch abgeſehen von den vorher geforderten Hauptmaſſen bei
ſtarkem oder heftigem Lichte über ganze Partieen ſich herlegen, denn der
Schatten beruhigt und kühlt im eigentlichen und uneigentlichen Sinn, ehe
er in die drohende Finſterniß übergeht. Dieß führt uns denn von den
großen Hauptgegenſätzen bereits zu der Verſöhnung derſelben, wie ſie zunächſt
durch entſchiedenere, dann durch feinere Mittel zu bewerkſtelligen iſt. Die
Lichtmaſſe und die weniger ausgedehnten, doch bedeutenden Lichtſtellen
dürfen an ſich dem Dunkeln nicht als greller Contraſt gegenüberſtehen;
abgeſehen von den größeren Schattenmaſſen werden daher allerdings ein-
zelne kräftige, nur nicht zu unruhig zerſprengte, ſondern vermittelte, na-
mentlich eben durch jene Ruheſtellen zuſammengehaltene Schatten die Licht-
maſſe theilen müſſen. Es wirken in dieſer Richtung auch die flüchtigen
Spiele, die man ſonſt gern „Zufälle“ nannte; die Schatten von vorüber-
ſchwebenden Wolken, Baumzweigen u. ſ. w., in lichte Stellen ſich eintra-
gend. Umgekehrt darf es kein ungebrochenes Dunkel geben, ausgenommen
[558] die wenigen Körper, welche theilweiſe rein ſchwarz erſcheinen müſſen; die
reine Negation des Lichts iſt das Ende einer Kunſt, welche überall auf-
zeigenden Charakter hat und im Aufzeigen zugleich wie alles Schöne har-
moniſch wirken ſoll; die ſchweren, breiten Schattenklötze, dem grellen Lichte
gegenübergeworfen, ſind rohe Renommage der Manieriſten. Im Schat-
ten iſt alſo Einzelnes zu beleuchten, ſei es durch Streiflichter, welche mit
ſcharfer Punctualität die Bahn des Lichts im Dunkel feſthalten, durch
ſpielende Lichter, die ſich zwiſchen Fenſtern und Gezweigen hereinſtehlen
und die Form ihres Einfallspuncts in den Schatten einzeichnen, Durch-
ſichten aus dem Dunkel in das Lichte u. ſ. w., ſei es durch bedeutendere
Theile, welche in die Beleuchtung hereinragen. Zu den verſchiedenen For-
men der Brechung des Dunkels gehört namentlich auch das doppelte Licht,
worüber in §. 244, 2. das Weſentliche geſagt iſt. Alle hier erwähnten
Mittel des Uebergangs ſind nun, obwohl an ſich zum Theil von zarter
und feiner Art, noch als die ſtärkeren anzuſehen und können relativ ſelbſt
wieder ſtarke Contraſte bilden. Sie laſſen ſich allerdings von der andern
Art der Vermittlung nicht abſtract getrennt denken, mit welcher erſt das
Zarteſte beginnt und worin erſt jene Verarbeitung der noch rohen
Naturfriſche des Gegenſtands durch den künſtleriſchen Geiſt ſich in ihrer
ganzen Feinheit zeigen ſoll; es iſt dieß das ganze Reich der unbeſtimm-
baren Abſtufungen des Schattens, von denen die Ausdrücke: Halb-
und Mittelſchatten nur auf Gerathewohl einen ungefähren Theil zu
unbeſtimmter Bezeichnung herausfangen, der Reflexe, des Durchſichtigen,
des Helldunkels. Die Bedeutung dieſes ahnungsvoll ſpielenden Zwi-
ſchenreichs iſt in §. 243 und 245 ausgeſprochen und dann bei einzelnen
beſtimmten Erſcheinungen des Naturſchönen, ſo namentlich bei dem Waſ-
ſer das Durchſichtige und der Reflex, wieder berührt; ohnedieß ſind alle
dieſe Erſcheinungen bei der Farbe erſt in ihrer ganzen Wirkung wieder
aufzunehmen. Von dieſem Gebiete iſt nun aber noch die letzte, zarteſte
Form der Verſchmelzung aller Gegenſätze zu unterſcheiden, jene beſtimmte
Art von Abdämpfung nämlich, die man Ton nennt: Einzelnes iſt noch
zu licht, ſchreit aus ſeiner Umgebung hervor, Anderes ſticht in zu ſtarkem
Dunkel ab, der Ton, der ſich darüber legt, ſtellt erſt die einheitliche Stim-
mung zunächſt in den Theilen des Bildes, dann als Hauptton im ganzen
Bilde her. Er iſt das Geiſtigſte in dieſer Sphäre des künſtleriſchen
Verfahrens, die Stimmung iſt die Spitze der Behandlung der allge-
meinen Medien, die alles Geſtaltete umfaſſen und umfluthen. Die Licht-
und Schattengebung hat auch hier das Ihrige noch ohne die Farbe zu
thun: heiße, kühle, kalte, heitere, matte, trübe, finſtere Stimmung legt ſie
mit ihren, die Farbe wie eine noch verhüllte Kraft andeutenden Mitteln
über eine Scene oder Landſchaft.


[559]
§. 668.

Dieſe ſämmtlichen Momente der Licht- und Schattengebung treten nun1.
zuſammen mit der Linearperſpective und es erzeugt ſich aus dieſer Verbindung
die Luftperſpective (vergl. §. 254, 2.). Es unterſcheiden ſich im Weſentlichen
drei Entfernungsgrade, Vorder-, Mittel- und Hintergrund: ein beſonderes,
neben den äſthetiſchen Werth der dargeſtellten Gegenſtände ſich legendes Stufen-
Verhältniß der maleriſchen Idealität. Die Wohlordnung eines Bildes, wie ſie
2.
durch dieſe Vereinigung von Mitteln dem Raumgefühle die Genugthnung klarer
Auseinanderſetzung und Zuſammenfaſſung gibt, heißt Haltung.


1. Es iſt von der Abdämpfung, den Tönen und dem Geſammtione
überhaupt die Rede geweſen, aber noch nicht von dem beſonderen Geſetze,
wornach in dem Grade, in welchem die Gegenſtände ſich vom Auge des
Zuſchauers in die Tiefe hinein entfernen, vermöge der zunehmenden Dich-
tigkeit der Luftſchichte Alles ſich abdämpft. Wir kommen hiermit auf die
Linearperſpective zurück, die mit dieſen Trübungsſtufen des Luftſchleiers
verbunden erſt ihre Erfüllung und Ergänzung findet. Es liegt nun in
dieſen Verflüchtigungsgraden des Körperlichen mit dem ſchon zu §. 663
berührten Tempo ihrer drei Hauptſtufen, den drei Gründen oder Plänen,
eine eigenthümliche Form äſthetiſcher Wirkung. Die Raumferne idealiſirt
wie die Zeitferne (vergl. §. 380, 1.); das Zurückweichen nimmt den Kör-
pern, den Individuen ihre Erdenſchwere, der duftige Schleier führt die
Seele ſehnſüchtig in’s Weite, in’s Unendliche. Die Deutlichkeit und Schärfe
des Nahen dagegen gibt das kräftige Gefühl der geſchloſſenen Exiſtenz,
der Individualität, der Energie des Daſeins, der Wirklichkeit. Im Mit-
telgrunde liegen beide Empfindungen im Gleichgewicht. Was nun die
darzuſtellenden Gegenſtände betrifft, ſo kommt es auf ihre äſthetiſche Gel-
tung je nach verſchiedenen Zweigen der Malerei an. Liegt, wie in der
Hiſtorie und im Genre, der Nachdruck auf den Individuen, ſo werden
naturgemäß die bedeutenden in das volle Licht und die ſcharfen Schatten
des Vordergrunds und des näheren Mittelgrunds treten, die unbedeutenderen
ſich in den Hintergrund verlieren. Dadurch entſteht kein Widerſpruch mit
dem Satze von der idealiſirenden Kraft der vereinigten Linien- und Luft-
Perſpective. Es handelt ſich um zweierlei Formen der Idealität, welche,
obwohl ſie ſich in entgegengeſetzter Linie bewegen, ſich wohl miteinander
vertragen. Die Entſchiedenheit der Exiſtenz im hellen Strahle des Lichts,
der Schärfe des Umriſſes und der Kraft des abhebenden Schattens iſt
zugleich Lostrennung vom allgemeinen, individualitätsloſen Grunde des
Lebens; dieſer muß auch ſein Recht haben, wir müſſen gemahnt werden,
daß die Exiſtenz mit ihrer Kraft auch die Laſt und Qual der Endlichkeit
[560] auf ſich nimmt; wir werden von ihrer ſtark umriſſenen Geſtalt leiſe fort-
gezogen in die Ferne, wo Alles ſich im leichten Aether des Allgemeinen
verflüchtigt, Menſch und Thier und Berg und Thal nur noch leicht hin-
gehaucht erſcheint, aber die befriedigte Sehnſucht nach Auflöſung kehrt
auch zum Rechte der Exiſtenz, zur Luſt am Geſättigten und herb Entſchie-
denen des Daſeins zurück. Es iſt ähnlich wie im Drama: der Hinter-
tergrund im Bild verhält ſich zum Vordergrunde wie das Schickſal zum
Heiden; die drei Gründe entſprechen den Acten, denen immer eine Drei-
zahl zu Grunde liegt, die ſich ebenſo natürlich zu einer Fünfzahl erwei-
tert, wie ſich auch die drei Gründe nicht in abſtracter Beſtimmtheit unter-
ſcheiden. Anders und einfacher ſtellt ſich die Sache allerdings, wenn der
äſthetiſche Nachdruck mehr auf dem allgemeinen Naturleben, als auf dem
individuellen Daſein liegt, wie in der Landſchaft. Es ſind zwar auch
hier verſchiedene Verhältniſſe der äſthetiſchen Geltung beider Seiten mög-
lich und danach wird ſich die Anordnung beſtimmen, aber es iſt nicht
nothwendig, daß der Vordergrund oder nähere Mittelgrund von großer
Bedeutung ſei, alle Wirkung kann ſich in der Ferne concentriren und
das Nahe, obwohl natürlich nicht werthlos, doch mehr nur beſtimmt ſein,
durch energiſchen Gegenſchlag die Idealität im Hintergrund in’s Licht zu
ſetzen.


2. Haltung erkennt man einem Bilde zu, wenn Alles auf ihm Dar-
geſtellte ſeinen Plan oder Grund deutlich einnimmt, nicht in einen andern
ſich hinüberdrängt, mit dem, was auf demſelben Grund ſteht, ſich über-
zeugend für das Auge zuſammenräumt, wenn das Ganze der verſchiedenen
Pläne klar und entſchieden vor und zurücktritt, ſich abhebt und ſo ein
Werk vor uns ſteht, das in Beziehung auf die Abſtufungen der Tiefe
uns die Genugthuung innerer Harmonie gibt. Der Begriff wird deut-
lich durch ſein Entgegengeſetztes, worauf das Wort Haltung weist: ein
Durch- und Uebereinanderfallen. Es wirken zu dieſer Art der Wohl-
ordnung alle bis hieher dargeſtellten Mittel vereinigt zuſammen, die
Zeichnung, die Linearperſpective, die Lichter und Schatten, vorzüglich aber
die Luftperſpective. Die letzteren Gebiete haben wir noch nicht erſchöpft
und doch ſcheint der Begriff der Haltung dieß vorauszuſetzen, ja er be-
rührt ſich innig mit einer noch viel tieferen Seite, nämlich der inneren
Wohlordnung der Compoſition, deren Erörterung wir erſt ganz von Wei-
tem vorbereitet haben. Die Sache verhält ſich aber ſo, daß die Haltung
auf dieſe tieferen Eigenſchaften zwar hinweist, aber ſelbſt nur den äußern
Niederſchlag derſelben darſtellt: die innere Genugthuung, wie ſie aus der
tieferen Harmonie des ganzen Baus und der Stimmung fließt, verläuft
ſich in eine Genugthuung für das Raumgefühl, geſchöpft aus der An-
ſchauung eines feſten Rhythmus in den Taktſchlägen der örtlichen Ver-
[561] theilung; beides iſt nicht zu trennen, wohl aber zu unterſcheiden, und
da wir von außen nach innen gehen, ſo faſſen wir das Ganze vorher
an dieſer, nachher erſt an der tieferen Seite.


§. 669.

Das dritte, die beiden vorhergehenden in ſich aufhebende Moment, wo-1.
mit erſt das wahre und ganze Weſen der Malerei in Kraft tritt, iſt die
Farbengebung. Alles, was die Licht- und Schattengebung §. 665—668
in ſich befaßt, erhält jetzt erſt ſeine Erfüllung. Auch hier treten die techniſchen
2.
Bedingungen, die aus dem Unterſchiede des Kunſt-Materials vom Natur-
vorbild erwachſen, mit der allgemeinen Aufgabe, das Leben der Farbe, wie es
in §. 246—253 als Naturerſcheinung dargeſtellt iſt, ſowohl in Bezug auf die
Bedeutung der Gegenſtände, als auch an ſich zu idealiſtren, in innern Zu-
ſammenhang.


1. Zeichnung und Schattirung können ſich vom Ganzen der Malerei
lostrennen, ſind aber doch von dieſem, dem Ganzen, aus betrachtet nur
Momente, deren Beſtimmung iſt, in der Farbe aufzugehen; ſie ſind keine
eigentliche Plaſtik mehr und doch noch keine Malerei; die Farbe ſoll in
ſie hineingefühlt werden, ihre wirkliche Erſcheinung iſt in Ausſicht geſtellt,
aber gerade damit die Abſtraction als ſolche geſtanden. Die Farbenge-
bung dagegen bedarf allerdings der Zeichnung und Schattirung als ihrer
vorausgeſetzten Momente, ſie hebt dieſelben aber ganz in ſich auf, ſo daß
ſie nicht mehr für ſich beſtehen, nicht mehr als ſolche wahrgenommen
werden, ſie kann aber ſo wenig ohne ſie ſein, als Fleiſch ohne Knochen,
ſie kann ſich daher nicht iſoliren, wie dieſe beiden, es gibt keine Farben-
gebung ohne Zeichnung (mag dieſe auch nur andeutend mit dem Griffel,
mehr mit dem Pinſel im Malen ſelbſt ausgeführt werden) und ohne Licht-
und Schattengebung (mag dieſe auch nur ſogleich mit der Farbe, ja zum
Theil durch Farbenbrechung allein gegeben werden); darin gerade aber
beruht die Bedeutung des Colorits, die Spitze des concreten Ganzen zu
ſein, denn eine ſolche kann ſich natürlich nicht iſolirt neben ihren Unterbau
ſtellen. Uebrigens kann ſich daſſelbe, worauf wir uns hier nicht weiter
einlaſſen, in verſchiedenen Stufen, vom blos andeutenden Tone bis zur
vollen Wirkung aller Mittel, bewegen; je unvollſtändiger die Farbe an-
gewandt wird, deſto weniger kann ſie natürlich die Zeichnung und Schat-
tirung reſorbiren, ſondern zieht ihre dünnen Lagen nur über ſie hin und
läßt ſie durchblicken. — Daß alle die Momente, die ſchon in der Licht-
und Schattenſeite zu unterſcheiden ſind, noch einmal auftreten werden, iſt
ſchon zu §. 665, Anm. 1 geſagt; bei jedem aber derſelben wird ſich zei-
gen, daß es nun zugleich ein weſentliches Neues, Anderes iſt.


[562]

2. Bedeutung und Leben der Farbe iſt in der Lehre vom Natur-
ſchönen dargeſtellt, die wichtigſten Seiten dieſes ganzen Erſcheinungs-
gebiets, die Grundforderungen der Harmonie ſind im allgemeinen Umriſſe
gegeben und überall iſt darauf verwieſen, wie auch dieſes Schöne ein
Zufälliges iſt, das auf den Geiſt wartet, der mit Bewußtſein und Wollen
die Reinheit und innere Einheit einführt. Indem wir aber auch hier
die Aufgabe der idealiſirenden Thätigkeit erſt näher und, wie geſagt, ganz
parallel mit der Lehre von der Licht- und Schattengebung (§. 665, 2.) zu
beſtimmen haben, ſo ſchieben wir das, was ſich aus dem Unterſchiede der
techniſchen Mittel von der wirklichen Farbe ergibt, zunächſt auf und heben
von den Mängeln dieſer Seite des Naturſchönen an ſich das Weſentliche
genauer hervor. Wie es in der Natur zufällig iſt, ob mit der innern
Bedeutung eines Gegenſtands ſeine Beleuchtung zuſammenſtimmt, ſo wird
der Zufall auch deſſen Farbe oft in Widerſpruch mit ſeiner Natur ſetzen.
Handelt es ſich von der Naturfarbe eines Körpers, ſo kann ſie wenigſtens
durch krankhaften Zuſtand, augenblickliche Trübung, Grellheit u. ſ. w.
ihre wahre, urſprüngliche Stimmung unvollkommen ausdrücken, aber die
äußerlich angelegte und umgelegte Farbe (Kleider, Hintergrund von Zim-
mern u. ſ. w.) iſt ja ebenfalls von großer Wichtigkeit und hier kommt
zum Zufall noch ſtörende, widerſinnige Menſchenlaune. Zu der äußerlich
hinzutretenden Farbe können wir auch das ganze Gebiet der durch die
allgemeinen Medien des Lichts, der Luft, durch Feuer und andere farbige
Beleuchtung über ein Ganzes oder größere Theile deſſelben ſich ergießen-
den Farben nehmen, die ſelbſt noch wichtiger ſind, als die den Körpern
ſelbſt eigenen Farben, indem ſie ebenſo die innere Stimmung einer Mehr-
heit von Gegenſtänden im gewählten Momente ausdrücken, wie die an-
geborene, mitgewachſene Farbe die des einzelnen Gegenſtands. Dabei
iſt noch vorausgeſetzt, daß der Künſtler ſeinen Stoff in der Natur vor-
gefunden und deſſen Farbenerſcheinung ſo wie ſeine anderen Seiten nur
künſtleriſch umzubilden habe; allein er kann ihn auch aus der Ueberlieferung
aufnehmen, kann aus einem Mindeſten von gegebenem Stoff ein inneres
Bild erzeugen und dabei kann es an ſpeziellerem Anhalte zur Farben-
gebung im Vorbild fehlen: es iſt ihm überlaſſen, welche Haut- und Haar-
farben, welche Farben für Gewänder, umgebenden Raum u. ſ. w. er
wählen will. Die Frage, ob die Hauptperſon oder die Hauptperſonen
durch Farbe hervorſtechen ſollen, führt zum Theil auf die frühere zurück,
ob ſie durch ſtarke Beleuchtung auszuzeichnen ſeien; ſie iſt ſchon in §. 252, 2.
beſprochen und im Allgemeinen bejaht, natürlich unterliegt aber auch die-
ſer allgemeine Satz den Modificationen, die ſich theils aus gegenſätzlichen
ironiſchen Wirkungen (z. B. Größe im Elend gegenüber glänzender Nichts-
würdigkeit), theils aus den Kreuzungen von Farbe und Licht, von Local-
[563] farbe und Ton, die wir erſt näher zu betrachten haben, ergeben werden. —
Die andere Hauptaufgabe nun iſt die Läuterung der Farbenwelt an ſich.
Alle Naturfarbe zeigt in ihrer unmittelbaren Naturfriſche eine Grellheit
und daneben wieder eine Unreinheit, Stumpfheit, Unentſchiedenheit, welche
von der Kunſt, ſelbſt wenn ſie es vermöchte, nicht einfach nachgeahmt
werden darf, denn allem Kunſtwerke ſoll man anſehen, daß der rohe
Naturſtoff im Geiſt untergegangen und neu erſtanden iſt. Die unend-
lichen Störungen und Trübungen des Moments kommen hinzu; es ver-
hält ſich mit der Farbenwelt nicht anders, als mit der Formenwelt: die
reinen Intentionen der Natur müſſen zwiſchen den Linien ihrer getrübten
Verwirklichung geleſen werden. Allerdings zeigt ſich in der Einheit der
Farbe und Beleuchtung mehr, als in irgend einem Gebiete, der Vorzug
der unmittelbaren Lebendigkeit des Naturſchönen (vergl. §. 379); Glanz,
Gluth, Blitz und ſtrahlenreiches Wechſelwirken der Naturfarbe iſt uner-
reichbar, aber die Natur erkauft ſich dieſe Herrlichkeit eben nur mit jenen
Mängeln. Dieß führt uns nun auf die Bedingungen, welche aus dem
rein Techniſchen, aus dem Unterſchiede der Nachahmungsmittel vom Vor-
bild in ähnlicher Weiſe wie bei Licht und Schatten ſich ergeben. Die
Farbe des Naturſchönen muß mit einem andern Materiale nachgeahmt
werden. Dieſes Material hat immer etwas „Grelles und doch dabei
Stumpfes“ (vergl. M. Unger. D. Weſen d. Malerei S. 103), freilich
in anderer Weiſe, als dieß oben vom Object ausgeſagt iſt; es iſt die
Härte des mechaniſch abgeſonderten rohen Farb-Stoffes, wovon es ſich
hier handelt. Die Aufgabe, dieſe Naturrohheit im Materiale zu tilgen,
lauft nun neben der andern, das Grelle und doch wieder Unentſchiedene
und mannigfach Getrübte im Naturvorbilde zu überwinden, in gleicher
Linie, natürlich nicht ohne weſentlichen gegenſeitigen Einfluß, fort. Einfach
und entſchieden aber bleibt, wie das Material der Licht- und Schatten-
gebung, ſo das Farbenmaterial hinter der Lichtkraft der Natur zurück; in
ſeiner Art grell, erſcheint es in dieſem Puncte doch durchaus matt und todt.
Dieß Alles hat denn zur Folge, daß in der Kunſt, ſelbſt abgeſehen von jener
allgemeinen Läuterung des Farbenvorbilds, Manches nothwendig anders
erſcheinen muß, als in der Natur, Manches gar nicht nachgeahmt werden
kann und ſoll, Alles eine gewiſſe Umwandlung erfährt, deren inneres
Weſen aus dem Ganzen der folgenden Betrachtung ſich ergeben wird.


§. 670.

Die Kunſt hat nun für’s Erſte dafür zu ſorgen, daß (vergl. §. 253, 1.)
die Farbe als einzelne wahr, entſchieden, warm ſei, daß die Grundfarben ver-
treten ſeien und das Ganze irgendwie eine harmoniſche Zuſammenſtellung der-
ſelben enthalte. Ferner ſollen die Localfarben nicht zerſplittert ſein, ſondern in
[564] klaren Maſſen zu untergeordneten harmoniſchen Einheiten zuſammentreten. Ab-
geſehen von den weitern Vermittlungen ſoll die einfache Kraft der Farbe ſich
zum Schmelze läutern.


Der erſte Satz muß mit ganzem Nachdruck aus der Lehre vom Na-
turſchönen in die Kunſtlehre um ſo mehr herübergenommen werden, weil
ſtreng zu verhüten iſt, daß nicht alle die Wege der Miſchung, Abdämpfung
u. ſ. w., welche nachher zur Sprache kommen, ſo verſtanden werden, als
rede man einer unwahren, verſchwommenen, verblaſenen Farbe das
Wort. Die tiefſte, feinſte Durcharbeitung unendlicher Uebergänge iſt mit
der Entſchiedenheit vollkommen verträglich. Der falſche Idealiſmus der
Manieriſten, und zwar insbeſondere in der ſogenannten maniera dolce,
hat den Farben mit ihrer Wahrheit ihre Entſchiedenheit und Wärme ge-
nommen, um leichten Kaufs eine Harmonie zu bewirken, welche nur eine
ſcheinbare iſt, denn wo die Gegenſätze nicht kräftig ſind, iſt ja gar nichts
da, was harmoniren ſoll. Das Incarnat z. B. iſt bei aller Miſchung
ſeiner Farben als Ganzes doch ein warmes Roth, die feinſte aller Auf-
gaben des Malers iſt daher nicht erfüllt, wenn er jene Miſchung ſo
verſteht, daß er uns „grüne Seife“ bietet. Das ſchwächliche Verdün-
nen, Verſchwemmen, Verblaſen iſt zugleich ein Beſchmutzen, der matte
Farbenſinn ein unreiner. Die Dinge ſollen in Kraft und Fülle der Be-
ſtimmtheit exiſtiren und aus ihrer geheimen Lebenswerkſtätte feurig an das
Licht herausglühen; wer das nicht fühlt, trägt aus ſeinen trägen Sinnen
das Bleierne, Verſchleimte, Wäſſerige auf ſie über. — Es will nun aber,
wie wir ſchon in der Lehre vom Naturſchönen geſehen, das Auge die
Farben auch abgeſehen von den Gegenſtänden in ihrer Totalität vertreten
ſehen. Natürlich kann dieß als Kunſtgeſetz nicht ausgeſprochen werden,
ohne daß vorausgenommen wird, was erſt nachher ausdrücklich einzufüh-
ren iſt, nämlich die unendliche Modification des Colorits; ſo kann alſo
z. B. eine und die andere Grundfarbe als entſchiedene Localfarbe auf-
treten, die andere aber, welche zu ihrer Ergänzung gefordert iſt, nur in
feiner Brechung, dagegen in ausgedehnterer Verbreitung als Ton vor-
handen ſein und ſo das Auge befriedigen; auch hiefür hat, wenn nicht
die Natur es gethan (vergl. §. 253, 1.) der Künſtler zu ſorgen. Die Herr-
ſchaft einer Hauptfarbe, wie ſie durch Gegenſtand und Ton bedingt iſt, ſchließt
dieſe Totalität ebenfalls nicht aus. Mängel individueller Organiſation, die
ſich als Manier verhärten, zeigen im Einzelnen recht deutlich, was Farben-
Totalität iſt; ſo gibt es Maler, denen der Sinn für die lichtgeſättigte
Lebensfarbe des Gelben fehlt: da wird Alles kreidenhaft und ſpielt ſich
von dem todten Weiß in’s Graue oder Blaue; bei Andern herrſcht ohne
Motiv das Ziegelrothe u. ſ. w. — Die Farben ſollen ferner im Ganzen
[565] des Bildes ſo zuſammengeordnet ſein, daß harmoniſche Accorde nach dem
Farbengeſetz entſtehen. Der §. ſagt: irgendwie, denn hier namentlich iſt
im Abſtracten außer dieſem allgemeinen Satze gar nichts zu beſtimmen.
Am leichteſten begreift ſich das Geſetz im Kleinen, wenn ſich z. B. der
Porträtmaler zu fragen hat, wie er eine blaſſe oder blühende Blondine
oder Brünette zu kleiden, welchen Grund er dem Bild zu geben hat:
dort ſucht das Auge Blau, ſei es für ſich oder im Grünen gegeben; iſt
die Blondine blaß, ſo wird allerdings in ihrem Teint ſelbſt ſchon das
Grünliche fühlbar ſein, dann aber kann es durch ein kräftigeres Grün in
Kleid oder Hindergrund bezwungen und das Roth, die Ergänzungsfarbe
des Grünen hervorgerufen werden; lebhaftes Braunroth einer Brünette
wird durch lebhafte, lichtreiche Farben, gelb, ſcharlachroth wohlthuend in’s
Bläuliche, Gräuliche abgedämpft u. ſ. w. Solche einzelne Erwägungen
ſind jedoch nur dürftige Winke. Es durchkreuzen ſich unzähliche Beding-
ungen, durch welche ſelbſt feindliche Farben ſich gegenſeitig fördern und
heben können. Einzelnes hierüber iſt ſchon im Abſchnitt von der Farbe
in der Lehre vom Naturſchönen angedeutet, wie z. B. der höchſt wirkſame
Gegenſatz des dunkeln Baumgrüns und lichtvollen Blaus des Himmels.
Die unendliche Möglichkeit von Vermittlungen in der Zuſammenſtellung
ſchneidet hier jede nähere Beſtimmung ab. Von Fr. W. Unger ſind Un-
terſuchungen in Ausſicht geſtellt, die das Geſetz der Farbenharmonie in
den bedeutendſten Werken der Malerei auf beſtimmte Formeln zurückführen,
welche ſich auf die Analogie der Farben mit den Zahlverhältniſſen der
Töne gründen. Solche Forſchungen können nur lehrreich ſein, haben
aber die ſchwere Aufgabe, ſich mit der unberechenbaren Freiheit der künſt-
leriſchen Schöpfung über die Grenze des durch Formeln Beſtimmbaren
auseinanderzuſetzen. Sie ziehen einige Linien in ein unerſchöpfliches Ge-
biet. Sie zeigen eine Reihe von Accorden auf und müſſen zugeſtehen,
daß unendlich viele andere möglich ſind. Daß der Künſtler unmittelbar
für die Erfindung daraus lernen könne, kann nicht die Meinung ſein
und iſt es auch nicht. Als Zeichner iſt er noch an wiſſenſchaftliche Grund-
lagen gewieſen, dieſer Führer verläßt ihn im Colorit; die Grundſätze der
Farbenlehre bleiben unumſtößlich, aber man kann daraus nichts für das
Individuelle lernen, weil es unendlich eigene Miſchungen hat, vergl.
§. 252, 1. Zuſammenſtellungen wie die von Chevreuil können nur für
das Decorative leitend ſein und jene tieferen Unterſuchungen können nur
Rechenſchaft über die Farbengeheimniſſe einer Reihe von ausgeführten
Kunſtwerken geben. — Der nächſte weitere Punct betrifft das Zuſammen-
halten der entſchiedenen Farben. Die Farbe ſoll ſich nicht in iſolirte
Klexe zerſplittern, ſondern wie Licht und Schatten, ihre vollere Local-
wirkung in wohlgeordneten Maſſen zuſammenhalten, zwiſchen welchen
[566] dann die unbeſtimmteren Töne ſich in der Breite ergehen. Wie das
Ganze eine, nicht mechaniſche, ſondern lebendige Farbenharmonie darſtellen
ſoll, ſo relativ auch die untergeordneten Farbenmaſſen; mag alſo z. B.
in einem Theil einer Landſchaft, einer Waldpartie das Grüne herrſchen
und die übrigen Hauptfarben in andern Theilen der Compoſition vertreten
ſein, ſo verlangt doch das Auge, der Sinn, die Stimmung, daß in der
Baumgruppe das Grüne durch Uebergänge in das Gelb-Grüne, das
Blau-Grüne, ſelbſt das Röthliche ſich ſchattire und ſo der Farbenharmonie
genüge. — In dieſen Bemerkungen konnte von dem Gebiet der feineren
Kreuzungen, Uebergänge, Vermittlungen nicht ganz abgeſehen werden, wie-
wohl die ausdrückliche Betrachtung deſſelben noch außerhalb dieſer allge-
meinen Grundforderungen liegt; es hat jedoch die Malerei ſelbſt in der
Zeit der Unreife, wo ihr das Geheimniß der hier zum Voraus berührten
verwickeltern Farbenwelt noch verborgen war, den lebendigſten Farbenſinn
ſowohl in der Zuſammenſtellung, als in der gefühlten techniſchen Durch-
arbeitung der in ihrer noch ungebrochenen Entſchiedenheit angewandten
Einzelfarben gezeigt: ſie hat die Farbe zum Schmelze verklärt. Der
Schmelz beſteht in einer Durchbildung der Farbe, der ihr das Erdige be-
nimmt und ihr ein Leuchten der Oberfläche wie von dem zarten Glanz
unendlicher kleiner metalliſcher Pünctchen verleiht; „der Schmelz iſt nicht
anders zu gewinnen, als durch eine innigere Verbindung der Farbentheile
mit Rückſicht auf den Grad der Leuchtbarkeit der nachzubildenden Erſchei-
nung, worin ein weſentlicher Theil ihrer Lebensäußerung beruht. — Aus
ihm erklärt ſich, warum die alterthümlichen Bilder bei aller Ueberſchweng-
lichkeit der Farbenpracht, zu der ſich noch der helle Schein des Goldes
geſellt, nicht grell erſcheinen“ (M. Unger a. a. O. S. 103). Die reife
Kunſt verzichtet nicht auf dieſes Mittel, ſondern bildet es in Verbindung
mit der ganzen tieferen und reiferen Durcharbeitung der Farbenwelt, zu
deren ausdrücklicher Betrachtung wir nun übergehen, zu noch höherer Voll-
kommenheit aus, wie insbeſondere die Venetianer gethan haben.


§. 671.

Ebenſoſehr aber gilt es für’s Andere, das feinere Leben der Farbe in
der Unendlichkeit der Vermittlungen zwiſchen Farbe und Farbe nachzubilden
und in der Belauſchung des Naturvorbilds doch zugleich das Grelle ſowohl in
dieſem, als im Farbenmateriale abzudämpfen. Die Intenſität des wirklichen
Lichts und die Friſche der unmittelbaren Lebendigkeit, welche mit dem Grellen
in der Natur verſöhnt, erſetzt ſich in der Kunſt durch die Relativität der Wech-
ſelwirkung bei nothwendiger Umſetzung des Ganzen in tieferen Ton. Es iſt
nun die Welt der Schattirungen und Töne in der Flüſſigkeit ihrer unberechen-
[567] baren Uebergänge ineinander, das ganze Reich der gebrochenen Farbe zu ent-
wickeln und die geſammte Farben-Erſcheinung ſo zu verarbeiten, daß alle Farbe
als Kochungsproduct der innern Stimmung des Gegenſtands erſcheint.


Nunmehr tritt der dem vorhergehenden entgegengeſetzte Grundſatz auf,
ohne daß darum ein Widerſpruch entſtünde. Die Brechung der Farbe iſt
mit der Entſchiedenheit vollkommen verträglich. Auch dieß erhellt aus
keinem Beiſpiele deutlicher, als dem des menſchlichen Incarnats, das wir
ſchon zum vorh. §. für die entgegengeſetzte Forderung benützt haben. Das
Incarnat (vergl. §. 318, 2.) iſt als „ideelles Ineinander aller Haupt-
farben“ (Hegel Aeſth. B. 3. S. 71) das berühmte Kreuz des Malers;
vermeidet er das Verſchwommene und ſucht Entſchiedenheit der Farbe, wie
wir zuerſt verlangten, ſo geräth er von der „grünen Seife“ leicht in das
Ziegelroth der „Krebsſuppe“ und ſündigt ſo gegen das, was wir jetzt
verlangen. Aber die großen Meiſter haben die Scylla und Charybdis
vermieden: in welch’ kraftvoller Gold-Gluth leuchtet das Fleiſch bei einem
Giorgione und Titian und wie durchdringen ſich doch darin wunderbar
alle Farben! Zunächſt bleibt nun die Natur das nicht genug zu ſtudirende
Vorbild des unendlichen Reichs von Nüancen in der Farbe, aber ſie ſtellt
neben das Feinſte auch das Grelle. Die Aufgabe iſt alſo, dieſe Grellheit
ſowie gleichzeitig die rohe Stoff-Härte des Farbenmaterials zu bewältigen.
Es wird aus beiden Gründen die Farbe im Kunſtwerk immer durchgängig
gedämpfter, zurückgehaltener erſcheinen, als in der Natur. Wenn dieſe
große Meiſterin im Ueberleiten, Vermitteln, Abdämpfen der Farben nicht
dafür ſorgt, daß nicht aus dem harmoniſch Gedämpften da und dort ein
greller Ton herausſchreie, ſo ſtört dieß in ihrem intenſiv lebhaften Licht-
reiche nicht, im Kunſtwerk aber würde es nothwendig ſtören; wie
denn z. B. das erſte Grün der Wieſen im Frühling in der wirklichen
Landſchaft dem Auge höchſt erfreulich iſt, im Gemälde aber, wo es
irgend in einiger Breite ſich hervorthun würde, abgedämpft werden
muß. Es führt dieß auf einen weiteren Punct, wodurch nun die betref-
fende Anmerkung zu §. 669, 2. wieder aufgenommen wird. Wie nämlich
die Unerreichbarkeit des wirklichen Lichts ſchon in der Licht- und Schatten-
gebung einen tieferen Ton für das Ganze verlangt (vergl. §. 465, 2.), ſo
auch bei der Vereinigung von Licht und Farbe; dieſelbe Aufgabe kehrt
auch hier wieder, aber nun erſt tritt ſie in ihre ganze Bedeutung ein. So
gilt denn auch hier das Geſetz: was an ſich nicht zu erreichen iſt, das
muß durch daſſelbe Verhältniß bei anderer Scala erreicht werden: ein
Lichtſtrahl, ein glänzendes Auge, Waſſer im Strahl der Sonne, ſchimmern-
des Metall und Geſtein kann nicht in der Intenſität wie in der Natur
gegeben werden, aber die tiefere Abtonung des Umgebenden, ſchließlich
[568] des Ganzen, ſtellt die Wirkung in der Relativität der Verhältniſſe her.
Es iſt dieſer Punct mit den vorhergehenden nicht zu verwechſeln: dort
verlangte das wirklich Grelle in der Natur und in den Farbenmitteln
eine wirkliche Läuterung, eine Idealiſirung im Sinne der Milderung, hier
iſt es die Unerreichbarkeit der Natur, die zu demſelben Grundſatze führt;
in der Wirkung treffen dieſe verſchiedenen Motive zuſammen. — Auch
abgeſehen von dieſer Seite der maleriſchen Aufgabe haben wir nun aber
als das Vermittelnde im Colorit überhaupt das ganze weite, unbe-
ſtimmbare Reich der Uebergänge zwiſchen den Hauptfarben, der Schatti-
rungen, Töne und ihrer Verbindungen vor uns, das in §. 250, 1. in
den allgemeinſten Zügen aufgeführt iſt. Dazu iſt nur zu bemerken, daß der
Ausdruck: Ton in dieſem Zuſammenhang nicht die tiefere Bedeutung hat,
in welcher er ſonſt aufgetreten iſt und wieder auftreten wird, ſondern, wie
in jenem §., nur die Abſtufung eine Farbe gegen Hell und Dunkel be-
zeichnet, während unter Schattirung die Uebergänge einer Farbe in die
andere verſtanden ſind. Dieſe Uebergänge und Töne ſind unendlich und
verbinden ſich gegenſeitig in das Unendliche. Zunächſt nun wirken dieſe
Mittel überhaupt als allgemein mildernd und finden ihre Anwendung auch
auf das Ganze einer Localfarbe, ſo daß z. B. ein ſchreiendes Grün mit
Gelbroth abzudämpfen iſt u. ſ. w.; ſie treffen aber insbeſondere zuſammen
mit der Modellirung, mit den Veränderungen, die der Schatten, motivirt
durch die Geſtaltung, herbeiführt, und dieß iſt hier ſchon hereinzuziehen,
obwohl die Beziehungen zwiſchen Farbe und Lichtverhältniſſen erſt in der
Folge ausdrücklich zu beſprechen ſind. Eine Uebergangsfarbe, wie ſie da-
durch entſteht, daß die allgemeine Farbe eines Körpers, wo ſeine Bildung
vom Hauptlichte ſich abwendet und in Beſchattung übergeht, nennt
man im engeren Sinne des Worts gebrochene Farbe; dieſe Brechung
nimmt im Halbſchatten zu, bis der vollere Schatten die Farbe beſtimmter
verdunkelt, doch nicht, ohne bei runden Körpern gegen den Umriß hin
wieder in eine lichtere gebrochene Farbe überzugehen, welche dann dem
Auge die Ueberzeugung gibt, daß der Körper plaſtiſch ſich in die Tiefe
fortſetze: „das Auge wird über die Grenzen des Umriſſes hinausgelockt;
getäuſcht folgt oder glaubt es, der gemalten Figur in ihrer Wendung mit
eben der Freiheit, als den gerundeten Werken des Bildhauers, zu folgen“
(Hagedorn Betracht. über die Malerei S. 687). Auch hierin iſt beſon-
ders das Incarnat belehrend. Große Coloriſten, wie Titian und van
Dyk, haben ſogar mit dem bloßen Mittel der gebrochenen Farbe ohne ei-
gentliche Benützung dunkleren, Schattenhervorbringenden Materials das
Fleiſch modellirt. In dieſen Uebergängen zum Schatten namentlich liegt
denn das vielbeſprochene Gebiet der Mittelfarben, Mezzo-Tinten. Das
unendlich Schwierige und Feine beſteht in den fließenden Grenzen,
[569] wo der Punct nicht zu beſtimmen iſt, auf dem die eine Farbe aufhört,
die andere beginnt. Hier vorzüglich wohnt das Geheimniß des Concre-
ten, des Individuellen, des Lebens. Die ſchließliche Aufgabe dieſer allge-
meinen abtonenden, dämpfenden Behandlung ſpricht der Schluß des §.
aus. Daß die Farbe ihrem Weſen nach ein Kochungsproduct der inner-
ſten Stimmung des Individuums ſei, leuchtet am klarſten an den organi-
ſchen Körpern ein; bei allen andern Erſcheinungen müſſen wir entſchiede-
ner das Subjective hinzunehmen, die dunkle Farbenſymbolik im menſchli-
chen Gefühle, vermöge welcher ſelbſt einem ſolchen Ganzen, das objectiv
von keiner eigentlichen Stimmung weiß, eine ſolche untergeſchoben wird.
Dieſe ſubjective Leihung aber hinzugenommen werden uns ſelbſt Pflanzen,
Erde, Luft, Waſſer, Licht in ihren Verbindungen als ſo oder ſo geſtimmte
Individuen erſcheinen, auf die wir nun ebenfalls den Satz anzuwenden
haben, daß ihre Farbe als ein reifes, durcharbeitetes Kochungsproduct ih-
rer innern Stimmung erſcheinen ſoll. Nun verſchmelzt freilich die Natur
ſelbſt ihr Farbenreich in unendlich concreter Weiſe, aber dieſe Kochung
ſoll ſo zu ſagen in der Kunſt noch einmal gekocht werden, ſo daß ſich das
Ganze der künſtleriſchen Färbung zur Naturfärbung verhält wie die or-
ganiſch verkochte Farbe der Bedeckungen höherer Thiere und des Men-
ſchenleibs zu dem abſtract einfachen Farbenſchimmer des Papagais oder
Schmetterlings. Und ebendahin führt ja die Aufgabe, das Farbenmate-
rial zu bezwingen, daß es nicht wie bei dem bloßen Illuminiren, als
„eine an der Oberfläche der Erſcheinung ſelbſtändig haftende Materie“
(M. Unger a. a. O. S. 125) ſich geltend mache. — Haben falſche Idea-
liſten gegen unſer erſtes Geſetz (§. 669) durch Abſchwächung aller Farbe
in’s Matte geſündigt, ſo ſpottet umgekehrt nicht nur eine rauhe Härte,
von der wir das ziegelrothe Fleiſch als Beiſpiel angeführt haben, ſondern
auch, freilich in anderer Weiſe, eine, namentlich in der neueren Zeit ver-
breitete, Effectmalerei dieſes zweiten Geſetzes; die letztere, indem ſie durch
eine üppig kitzelnde Pracht der ungetilgten Unmittelbarkeit der Farbe reizt.
Lindert und läutert ächte Kunſt die Natur, ſo verachten dagegen dieſe
Schönfärber ſelbſt die Milde und Beſcheidenheit, welche ſie trotz und neben
dem Grellen wirklich hat, und ſofern auch ſie die Härten im Vorbilde zu
mildern ſich das Anſehen geben, thun ſie es in der Form einer Süßig-
keit, die an buntgefärbte Liqueurs und an die Werke des Zuckerbäckers
erinnert.


§. 672.

Ein unendliches Gebiet neuer Uebergänge und Miſchungen der Farbe ent-
ſteht nun durch ihre Verbindung mit Licht und Dunkel. In eigenthümlichen

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 38
[570]Weiſen bricht ſich die Localfarbe im Zuſammentreffen mit dem einen oder an-
dern derſelben, insbeſondere, wenn ſie an ſich ſchon farbig ſind; hieher gehört na-
mentlich die Luftperſpective, die nun erſt als farbiges Medium in volle Wir-
kung tritt. Auch die Haltung des Ganzen erhält nur durch dieſe Mittel der
Farbe ihre Vollendung. Verwickelter wird das Wechſelverhältniß von Farbe
und Licht und Schatten im farbig Durchſichtigen und zugleich Glänzenden; die
feinſten Geheimniſſe aber liegen in der Durchkreuzung des farbig Hellen
und farbig Dunkeln: den Reflexwirkungen im Großen und Kleinen, dem Hell-
dunkel. Endlich gelangt erſt durch die Farbe und dieſe ihre Verhältniſſe der
Ton mit den ihm untergeordneten Localtönen zu ſeiner wahren, in §. 667 ihm
zuerkannten Bedeutung und wird unter allen genannten Momenten das wichtigſte
zur Bewirkung der Harmonie.


Wo von den unendlichen Uebergängen der Farbe die Rede war,
mußte die nunmehr ausdrücklich eingeführte Verbindung der Farbe mit den
Lichtverhältniſſen nothwendig theilweiſe vorausgenommen werden: wir ſahen
die Farbe im Uebergang zum Schatten ſich brechen. Dieß iſt das We-
ſentliche im Zuſammentritt der Farbe mit den Lichtverhältniſſen, ſofern
noch von ungefärbtem Licht und von den einfacheren Fällen die Rede iſt.
Das Licht, abgeſehen vom Schatten, kommt hier nur nach ſeiner größeren
oder geringeren Intenſität, wie dadurch Localfarben geſteigert oder herab-
geſtimmt werden, zur Sprache. Eine neue Welt von Brechungen erfährt
nun die Localfarbe durch farbiges Licht mit dem entſprechenden Schatten;
anders erſcheinen alle Farben im bläulich kühlen Morgenlicht, anders im
warmgelben Abendlicht, im Mondlicht, in Feuerbeleuchtung u. ſ. w. Wir
ſehen aber auch bei dieſer gemiſchteren Erſcheinung noch von dem ab,
was nachher unter dem Begriffe der Kreuzung eingeführt wird. Farbig
wird das Licht durch ſeine Verbindung mit der Luft und dieß führt uns
wieder auf die Luftperſpective, die natürlich nun erſt in ihrem ganzen
Weſen zur Darſtellung kommt: jener nach dem Entfernungsgrade ſich ver-
dichtende Schleier iſt nun als ein farbiger wiederzugeben, der über alle
Localfarben ſein, je nach der Reinheit oder Unreinheit, Freiheit oder Ge-
ſchloſſenheit der Luft in’s Blaue, Graue, Bräunliche wachſendes Netz zieht;
das Feine und Schwierige liegt namentlich in jener wolligen Auflockerung,
welche in dieſer zarten Hülle die Umriſſe erfahren; die Zeichnung wird
dadurch erſt vollends in das Ganze der maleriſchen Mittel als ein Mo-
ment aufgehoben. Mit der Luftperſpective wird denn auch die Haltung
überhaupt erſt durch die Farbe vollendet; die Farbe erſt gibt dem in Licht
und Schatten derb gegenwärtigen Vordergrunde die letzten „Drucker“, daß
er energiſch die andern Gründe zurücktreibt, ſie erſt dem zweiten Plane
ſeine mittlere Kraft, dem Hintergrunde ſein zartes Verhauchen und weist
[571] jedem Einzelnen mit Beſtimmtheit ſeinen Ort an. Es bricht ſich aber
durch ihre Verbindungen mit Licht und Dunkel die Farbe nicht nur in
der noch einfacheren Weiſe, daß ſie eine Miſchung von zwei Farben dar-
ſtellt; es treten auch zwei Farben ſo in Verbindung, daß ſie in der Mi-
ſchung doch zugleich relativ ihre Selbſtändigkeit behaupten, durcheinander-
ſchimmern. Dieß, das Gebiet des farbig Durchſichtigen, iſt bereits eine
verwickeltere Erſcheinung. Eine Annäherung an das Durchſichtige liegt
überall in den Gebieten der feinſten organiſch verkochten Farbe, insbeſon-
dere der menſchlichen Haut, die nach den Schwierigkeiten ihrer Behand-
lung ſchon beſprochen iſt. In gedämpfter Weiſe zeigt ſich das Durchſich-
tige auch an todten, künſtlichen Stoffen wie Sammt u. drgl.; davon iſt
ebenfalls ſchon die Rede geweſen. Es kann nun allerdings zum farbig Durch-
ſichtigen auch der nicht geſchloſſene, über Alles ergoſſene Körper der Luft
gezogen werden, dann gehört die Luftperſpective auch in dieſen Zuſam-
menhang. Man hat aber bei dem Durchſichtigen namentlich die Körper
im Auge, die zugleich glänzen und ſpiegeln, und obwohl die Stoffe, an
denen dieſe Erſcheinung haftet, abgeſehen vom menſchlichen Auge, das in
dieſen Zuſammenhang der verbreiteten Wirkungen nicht gehört, an ſich
nur unorganiſch ſind, ſo wird doch die künſtleriſch läuternde Nachbildung
dieſes Gebiets geheimnißvoller Reize (vergl. §. 243 und 250, 2.) von
der tiefſten Wichtigkeit, weil namentlich das farbig Durchſichtige und
Glänzende es iſt, von dem die Widerſcheine und die Zauber des Hell-
dunkels ausgehen, hiemit aber der feinſte Theil der in Rede ſtehenden
Verhältniſſe, nämlich ein Herüber und Hinüber, eine Kreuzung, nicht mehr
nur des Lichts und Schattens, ſondern des farbigen Lichts und farbigen
Schattens, beginnt. Es iſt hier nicht blos an einzelne, locale Wirkungen
dieſer Kräfte zu denken, nicht blos einige beſonders glänzende Körper
werfen das Licht weiter, in jedem lebendigen Bilde webt dieſes Geheim-
niß durch das Ganze; ſelbſt das verbreitete allgemeine Licht einer Land-
ſchaft iſt nicht blos Wirkung der Strahlen an ſich, ſondern auch der Rück-
wirkung der beſtrahlten Luftſchichte des Himmels. Zugleich bewegen ſich
aber allerdings farbige Strahlennetze von einzelnen Körpern der genann-
ten Art mit geſammelterer Wirkung aus, und nicht nur von dieſen, auch
das gedämpfter Durchſichtige, ja alles lichtvoll Farbige wirft einen Stich.
Gehen ſo Reflexe und Stiche von unendlich vielen Puncten aus, ſo drin-
gen ſie auch nach allen Seiten hin, denn nicht nur den ſpiegelnden Ober-
flächen, ſondern allen Körpern theilt der Widerſchein in irgend einem
Grade etwas von der Farbe des beleuchteten Körpers mit, wie denn z. B.
von der blauen, beleuchteten Luftſchichte des Himmels ein zartes Spiel
bläulicher Reflexe ausſtrömt und das Incarnat ſeine röthlichen, gelblichen,
grünlichen Lichter wirft. Nun aber mag von ſolchem reflectirtem Licht

38*
[572]ein Wenigſtes in eine ſehr dunkle Stelle fallen, befindet ſich da eine licht-
reiche Farbe, ſo faßt ſie es auf und bringt relatives Licht in das Dunkel
und umgekehrt verdunkelt ſich volles Licht durch lichtarme Farbe, die ſich
in der beleuchteten Stelle findet: dieß erſt iſt der Gipfel der magiſchen
Kreuzung der Verhältniſſe, hier erſt öffnet ſich der zarteſte Theil jenes
Verſchwebens von Licht in Dunkel, d. h. des Helldunkels. Es begreift
ſich nun, wie große Meiſter von den einfacheren Verhältniſſen abſehen
und vorzüglich auf dieſes Geheimniß ihre Kräfte wenden mochten, warum
ſie es liebten, die einzelne Geſtalt oder Gruppe aus einem breiten Dun-
kel in das Licht herausragen zu laſſen, das nun vom beleuchteten Körper
ahnungsvoll in die weiten Gründe verzittert, ſo daß das Auge in den
Maſſen des Dunkels zuerſt nichts zu ſehen glaubt, dann die Localfarben
erkennt, wie ſie mitten im ſcheinbar dunkelſten Raum relatives Licht be-
wirken. Correggio und Rembrandt haben, jeder in ſeiner Weiſe, der Eine
freundlicher, ſüßer, der Andere düſterer, geiſterhafter dieſe Zauber entfal-
tet. Um dieſes farbige Leuchten im Dunkel durchzuführen, wird in ſolchen
Stellen eine relativ dünne Behandlung der Farbe nöthig ſein, wogegen
bei den Lichtſtellen in den höchſten Lichtern der paſtoſe Auftrag immer da-
durch begründet iſt, daß hier ein Höchſtes eintritt, das keiner Durchdrin-
gung, keinem Durchſcheinen mehr weichen kann. Für die Darſtellung des
einzelnen Durchſichtigen dient namentlich die Laſur, d. h. die Ueberziehung
einer Farbe mit einer andern, welche die erſte durchſcheinen läßt. — Der
Ton endlich bleibt ohne Farbe natürlich nur eine entfernte Andeutung;
erſt mit ihr vereinigt vollendet er wahrhaft als letzte feinſte Spitze die
Summe der Momente, aus denen ſich das Ganze des maleriſchen Ver-
fahrens aufbaut. Die Brechungen der Farbe durch farbiges Licht, von
denen die Rede geweſen iſt, rühren im Weſentlichen von ihm her, aber
es konnte ſich dort ebenſogut von vereinzelten Strahlungen handeln; der
Ton iſt für ſich zu betrachten. Die Luftperſpective wird durch ihn für
das einzelne Bild erſt ſpezifizirt, er hebt die Härten aller Diſtanzen auf,
indem er ſich über Alles herbreitet und zwar ſammt den Entfernungsgra-
den ſich ſteigert oder ſchwächt, aber doch in allen ſeinen Unterſchieden den
gleichen Charakter bewahrt, er vollendet jene Lockerung der Umriſſe, er
hebt und mildert zugleich die Modellirung, er lindert insbeſondere auch
die Farbencontraſte. Die Localfarben ſollen in ihren Contraſten, wie wir
geſehen, zugleich eine Harmonie bilden; allein es ſoll über dieſer Harmo-
nie, welche durch Wechſel-Ergänzung des Beſondern als deſſen Summe
hervorgeht, eine höhere Harmonie ſtehen, die vom Allgemeinen, von den
Alles umfaſſenden Medien herrührt. Jede Localfarbe hat ihre Stimmung;
dieſe Einzelſtimmungen der einzelnen Erſcheinungen und ihrer untergeord-
neten Gruppen ſollen nun unter eine Geſammtſtimmung befaßt werden.
[573] Heiter und warm, trüb und kühl, dumpf, heiß, brütend und ſchwer, kalt
und herb, wehmüthig, bang, düſter, traurig: das Alles liegt im Tone
der bloßen Licht- und Schattengebung nur wie ein ferner Anklang, jetzt
legen ſich dieſe Stimmungen mit der ſanfteren oder feurigeren Kraft des
Bräunlichen, Röthlichen, Gelblichen, Bläulichen über das Ganze. Der
Ton kann ſich zu ſtarken Farben ſteigern, aber wenn Feuer oder Sonne
ein glühendes Gelb oder Roth über eine Scene oder Landſchaft verbrei-
ten, ſo ſind es doch nicht blos die brennenden Hauptlichter, ſondern es
iſt noch mehr das unbeſtimmtere Verſchweben dieſer Gluth in den nicht
unmittelbar beleuchteten Theilen, was den Ton bildet und dieſelbe Zart-
heit des Gefühls und Pinſels fordert, wie feiner Silberflor einer milden
Mondbeleuchtung. Wäre ein auffallend farbiges Hauptlicht ſchon an ſich
der ganze Ton, ſo hätten jene beſtechenden Modebilder in Tragantbeleuch-
tung, worin beſonders das beunruhigende, unkünſtleriſche Violett nicht ge-
ſpart iſt, freilich das Geheimniß des Tons erſchöpft. Zu dieſem Geheim-
niſſe gehört nun, daß der Hauptton unbeſchadet der Einheit ſeiner Herr-
ſchaft ſich in die untergeordneten Localtöne zerlege, deren Urſache darin
liegt, daß die Luft an den einzelnen Stellen theils an ſich da geſchloſſener,
gedrängter, dumpfer, dort freier, reiner, heiterer iſt u. ſ. w., theils mit
den Localfarben der Gegenſtände ſich zu eigenthümlichen Farben miſcht.
Hier iſt denn eine Quelle unendlicher neuer Brechungen der Farben. Es
iſt bekannt, wie das Auge des Kenners an dem dämmernden Tone, den
die Meiſter des Helldunkels in dem Schatten einer Waldſtelle, ſelbſt unter
einem Tiſch, einer Bank einzufangen gewußt haben, ſich erfreut. Wir
haben eine reiche, verwickelte Kreuzung: der Hauptton ſoll ſich mit den
Localtönen, beide ſollen ſich mit den Localfarben miſchen; Localton und
Localfarbe ſollen durch den erſteren nicht ausgelöſcht, ſondern zur allge-
meinen Weihe gerufen werden. — Es leuchtet ſchließlich ein, daß vorzüg-
lich im Gebiete des Tones die Subjectivität der Auffaſſung, deren freiere
Herrſchaft nach §. 659 das Uebergewicht des Subjectiven in der Malerei
begründet, zu Hauſe ſein wird; denn der Ton iſt ja der Ausdruck der
Stimmung, die Stimmung aber iſt die des Künſtlers, wie ſie in das Ob-
ject, obwohl nicht ohne Anhalt in dieſem ſelbſt, hineingelegt iſt. Dieſes
Auffaſſen des Objects nach der ſubjectiven Stimmung des Künſtlers kann
freilich zur ſtereotypen Gewaltſamkeit gegen die Wahrheit deſſelben, alſo
zur Manier im übeln Sinne des Worts führen; allein wenn nur der
Künſtler, falls er auf wenige Stimmungen beſchränkt iſt, ſich beſcheidet,
die entſprechend betonten Objecte zu wählen, oder, falls er reicher iſt,
überall das aus ſeiner ſubjectiven Stimmung Mitgebrachte mit der Na-
turwahrheit in Guß und Fluß zu bringen vermag, ſo iſt die Objectivität
gewahrt; es führen viele Wege in’s Centrum, man kann von verſchiede-
[574] nen Puncten dieſelbe Erſcheinung verſchieden und doch richtig auffaſſen;
„die Anſchauung und die daraus fließenden Conſequenzen drehen ſich
bei der wahren Erkenntniß der Idee der darzuſtellenden Erſcheinung con-
centriſch um den Kern der Realität, wobei es gleichgültig iſt, ob dem einen
Meiſter gewiſſe fragliche Stellen bläulich, dem andern bräunlich erſchei-
nen“ u. ſ. w. (M. Unger a. a. O. S. 107).


§. 673.

Dieſer Fortgang von der einfachen Farbe zu immer geſättigterer Vermitt-
lung iſt ein Prozeß, in welchem von der einen Seite die Farbengebung mehr
und mehr den Werth ihrer Magie über den Werth der Gegenſtände ſtellt,
von der andern Seite die Farbe ſelbſt mehr und mehr bis dahin bezwungen
wird, daß ſie als ſolche ſich dem Auge kaum mehr zu fühlen gibt. Dieſe
Herrſchaft der Farbenſchönheit und dieſe Conſumtion der Farbe iſt aber auch
eine gefährliche Spitze der Ausbildung des Maleriſchen.


Die erſte Seite der feinſten Steigerung iſt, unter Vorausſetzung des
glücklichſten Zufalls im Naturſchönen, in §. 253, 2. ſchon zur Sprache
gekommen, ihrer ganzen Bedeutung nach aber natürlich an die Kunſtlehre
verwieſen worden. Es gibt in der Natur allerdings Augenblicke, wo im
Stimmungs-Elemente der Farbe und Beleuchtung die Gegenſtände faſt
verſchwinden, und zwar nicht nur in der Landſchaft, ſondern auch in
menſchlichen Scenen: es kann z. B. über einem tragiſchen Momente eine
brütende Dämmerung liegen, welche bewirkt, daß die Auffaſſung der
betheiligten Perſonen in einem allgemeinen tiefen Gefühle der Stimmung
des Augenblicks nur dunkel mit hinſchwimmt. Wenn nun aber die Kunſt
nicht nur ſolchen ſeltenen Momenten vorherrſchend nachgeht, ſondern auch
ohne ein im Object gegebenes Motiv ihren Stoff immer oder doch mit ſicht-
barer Vorliebe unter dieſen Standpunct rückt, ſo wird die höchſte Ausbildung
des ächt Maleriſchen zum Unrecht gegen die Beſtimmtheit und Wahrheit des
Inhalts, gegen die Würde der Form, welche, obwohl der Ausdruck über
ſie vorwiegen ſoll, doch keineswegs verachtet werden darf, gegen die Rein-
heit, Richtigkeit, Genauigkeit, den Ernſt der Zeichnung. Die Geſchichte
unſerer Kunſt wird dieß belegen, ſie wird die verſchiedenen Wendungen,
in welchen durch die Herrſchaft des Farbenprinzips auf ſeiner äußerſten
Höhe die andern weſentlichen Seiten der Kunſt benachtheiligt werden, in
ihrem naturgemäßen Verlauf aufzeigen. Hier erinnern wir vorläufig nur
an Rembrandt, vor deſſen Werken der Zuſchauer zwiſchen Bewunderung
der Genialität in Colorit und Stimmung und zwiſchen Vorwurf gegen
eine zur Manier gewordene Auflöſung der Würde und Deutlichkeit der
[575] Form ſich im Schwanken befindet. Allerdings lag ſolcher Steigerung der
einen Seite meiſt ausdrückliche Oppoſition gegen die Steigerung der an-
dern, gegen unmaleriſche Geltung des plaſtiſchen Prinzips zu Grunde.
Der folg. §. wird darauf eingehen, wie die entgegengeſetzten Prinzipien
ſich zu den Momenten des Verfahrens der Malerei verhalten, und die
Styl-Lehre dieß weiter durchführen. — Die andere Seite ſolcher äußerſten
Verfeinerung des Colorits iſt die Conſumtion der Farbe. Die Farbe ſoll,
wie wir geſehen, nicht Stoff, nicht ſelbſtändige Materie bleiben; der höchſte
Sieg über dieſe Stoffartigkeit zehrt in einem zauberiſchen Ineinander
der Farben ihre Beſonderheit am Ende ſo auf, daß ſie dem Auge in
dem Momente, wo es ſie zu fühlen glaubt, wieder entſchwindet. Als
ſchlagendſtes Beiſpiel iſt auch hier Rembrandt, der Geiſterbeſchwörer
des Helldunkels, zu nennen, der die volle Farbe faſt zur bloßen Licht-
und Schattengebung verarbeitet, ohne doch ihre Kraft und Saftigkeit
zu tilgen. Dieß kann aber auch ſo nicht wiederkehren; was durch
den geheimnißvoll eigenthümlichen Geiſt eines großen Meiſters möglich
und gerechtfertigt iſt, kann nicht allgemein werden und der nothwendige
tiefe Mangel, der damit zuſammenhängt, wäre bei Jedem, der nicht jenes
Zaubers mächtig iſt, welcher mit dem Mangel verſöhnt, unentſchuldbar.
Die herbe Unmittelbarkeit der Farbe kann künſtleriſch bezwungen werden,
ohne daß doch ihre locale Entſchiedenheit in lauter ſchwebende Ueberleitun-
gen und Vermittlungen aufgelöst wird. Was den Inhalt betrifft, ſo hängt
ſolche Magie mit der Neigung zu einem phantaſtiſchen Hexen-Elemente
innerlich nothwendig zuſammen; überhaupt iſt ja dieſe Behandlung der
Farbe nur eine Seite der Ueberſteigerung, von welcher vorhin im Allgemei-
nen die Rede geweſen iſt, ſie wird daher auch auf Koſten des Adels
der Geſtalt gehen, und ſo dämmert denn bei Rembrandt eine bäuriſch
wilde Form aus dem Zauberſcheine ſeines Helldunkels, worin die äußerſt
conſumirte Farbe ſchwül verzittert, wie ein Traumbild phantaſmagoriſch
hervor. Alle dieſe Erwägungen führen uns nun auf den Hauptſatz, der
ſie zugleich erläutert und ergänzt.


§. 674.

Das Wahre in dem Zurücktreten des Gegenſtands gegen die Bedeutung
der Farbe iſt dieß, daß, wie an die Zeichnung das Prinzip der directen Idea-
liſirung (vergl. §. 662), ſo an die Farbengebung das Prinzip der indirecten
Idealiſirung
ſich anſchließt.


Wir haben die Steigerung des Colorits auf jener gefährlichen Spitze,
wo ſie zur Einſeitigkeit wird, aus einer Oppoſition erklärt und das Prinzip,
[576] wogegen der Kampf geht, das plaſtiſche genannt. Es iſt dieß nichts An-
deres, als das Prinzip der directen Idealiſirung, das wir mit dem Mo-
mente der Zeichnung in innerer Verbindung geſehen haben. Dieſes Prinzip
muß, wenn die Unterordnung verkannt wird, die ihm der Geiſt der Ma-
lerei auferlegt, zum äußerſten Froſte führen, und gegen dieſen Froſt, dieſe
lebloſe Kälte abſtracter Schönheit ſtützen ſich diejenigen, die jenem belei-
digten Geiſte Recht verſchaffen wollen, zunächſt auf die Farbe. An dieſe
aber knüpft ſich das entgegengeſetzte Prinzip. Dieſer Satz bedarf nach
Allem, was in der Darſtellung des allgemeinen Weſens der Malerei
entwickelt iſt, keiner weiteren Erläuterung. Die Farbe iſt es ja, worin
das Vorherrſchen des Ausdrucks über die Form begründet iſt, der Aus-
druck aber geht erſt dann in die Tiefe, wenn ſich in ihm ein relativer
Bruch zwiſchen dem Aeußern und Innern darſtellt; die Farbe löst die
Brechungen der Form in ihrem flüſſig überführenden Medium auf; die
Farbe iſt die Spitze des Verfahrens, das einen bloßen Schein der Dinge
auf die Fläche wirft, wodurch figurenreichere, bewegtere Handlung gegeben
iſt, in welcher die Figuren die Mängel ihrer Form-Schönheit wechſelſeitig
ergänzen u. ſ. w. Daher ſind denn die Coloriſten in der Oppoſitions-
ſtellung zugleich indirecte Idealiſten. Wie aber die geſchichtliche Bewegung
durch Extreme geht, ſo verkennen auch ſie im Kampfe wieder die Gren-
zen. Mit dem Prinzip, das ſich mit dem Leben der Farbe verbindet, iſt,
wie wir geſehen, ein gewiſſes Maaß des Formen-Adels ſehr wohl ver-
einbar, und es ſoll damit vereinigt werden, wo nicht ein beſtimmtes
Motiv die Einführung des härteren Bruchs in der Geſtaltenbildung zu
Zwecken des Furchtbaren oder Komiſchen mit ſich bringt. Ebenſo wird
in der Ueberſteigerung der Werth der Gegenſtände überhaupt verkannt und
hiedurch eine andere Seite des Wahren und Richtigen zum Mißbrauch
gewendet. Die höhere Ausbildung des Colorits wird nämlich vorherrſchend
einer Stimmung dienen, welche die zweite Stoffwelt aufgibt und die
urſprüngliche ergreift; denn wenn das ächt maleriſche Auge die Dinge in
allen den Brechungen der Form anſchaut, welche ſie durch den Complex
der Bedingtheit alles Lebens erfahren, wenn zugleich aus der Mitdarſtel-
lung des Umgebenden, wodurch wir ebenfalls in dieſe Bedingtheit mitten
hinein verſetzt werden, voller Ernſt gemacht wird, ſo kann ſich dieſe An-
ſchauung folgerecht nicht mehr im Mythus niederlegen, welcher ſeine Ge-
ſtalten als abſolute Weſen von dieſer Bedingtheit losſchneidet und ſie
in reiner Schönheit in eine Art von idealem Raum hineinſtellt. Der in-
directe Idealiſmus des Coloriſten kann nun im Gegentheil dahin über-
trieben werden, daß er, um dieſen abſoluten Geſtalten zu entgehen, ſtatt
daß er ihnen real bedingte Geſtalten entgegenſtellt, lieber gar keine Geſtalt
mehr gibt, d. h. alle Geſtalt, wie wir geſehen, im Nebel des Helldunkels
[577] bis zum faſt Unerkennbaren auflöst. Das iſt aber auch wieder in ge-
wiſſem Sinn mythiſch, indem darin der eben gewonnene Boden der Wirk-
lichkeit ſich verflüchtigt.


§. 675.

Zuſammengefaßt mit dieſen Momenten und Conſequenzen des Verfahrens,
in denen er ſich niederlegt, geſtaltet ſich nun der innere Geiſt der Malerei
zum Stylgeſetze mit den in ihm enthaltenen beſondern Beſtimmungen für die
Hauptgebiete des nun in ſo großem Umfang erweiterten Stoffs. Zugleich aber
treten jetzt auch die Grenzen dieſer Erweiterung, wie ſie aus dem Mangel der
wirklichen Bewegung und ihres weſentlichen Ausdrucks, des Tons und Wortes,
fließen (vergl. §. 658), deutlich an das Licht.


Wir ſind alſo jetzt an dem Punct angekommen, wo das Stylgeſetz
und die Stylgeſetze für die einzelnen Sphären, die es in ſich begreift, zur
Darſtellung gelangen; erſt jetzt, denn das Stylgeſetz iſt das Ergebniß des
im ganzen Umfang ſeines innern Weſens und der äußern Bedingungen
ſeiner Darſtellung begriffenen Geiſtes einer Kunſt. Was die nähere Be-
grenzung des Umfangs des Darſtellbaren betrifft, ſo wurde dieſe in der
Lehre von der Bildnerkunſt früher, nämlich im Abſchnitte von der äußern
Beſtimmtheit, vorgenommen. Dieſe Anordnung verlangte die Natur einer
Kunſt, an welcher zuerſt ihre große Beſchränkung gegenüber dem Umfange
des Naturſchönen in’s Auge fällt: hier mußte zuerſt der Boden des Dar-
ſtellbaren ſcharf abgegrenzt werden, ehe die Qualität der Darſtellung näher
erörtert wurde. Die Malerei aber hat das Gebiet des Sichtbaren in
allen ſeinen Hauptgebieten gewonnen, und die einzelnen Beſchränkungen,
denen ihre Darſtellungsfähigkeit dennoch unterliegt, erſcheinen nur als die
Grenzen dieſer Umfangs-Erweiterung, welche zuerſt in’s Auge fällt. Da-
her bedarf es hier keiner geſonderten vorangehenden Aufzeigung dieſer
Grenzen, ſondern nachdem auf das Beſtehen der Grenze überhaupt ſchon
in der allgemeinen Erörterung hingewieſen iſt, kann ſich das Speziellere
den Stylgeſetzen anſchließen.


§. 676.

Das Prinzip der indirecten Idealiſirung beſtimmt ſich nun näher zu dem1.
Stylgeſetze der Erzielung vorherrſchender Tiefe des Ausdrucks durch natura-
liſtiſche
und individualiſirende Behandlung der Formen. Die Einheit
2.
von zwei Prinzipien, die das Weſen der Malerei in ſich ſchließt, muß ſich
aber, obwohl das eine zu blos relativer Gültigkeit herabgeſetzt iſt (§. 657),
[578] als Keim zweier ſelbſtändiger gegenſätzlicher Stylrichtungen erweiſen, einer ächt
maleriſchen und einer mehr plaſtiſchen. Beide verirren ſich jedoch, wenn ſie
ihr gegenſeitiges Recht nicht anerkennen und nichts von einander aufnehmen:
dieſe fällt in Härte, Froſt oder körperloſe Gedankenhaftigkeit, jene in form-
loſe Unbeſtimmtheit, ja Objectloſigkeit oder in das Gegentheil, ſei es allzu-
ſcharfe, herbe und unflüſſige Wahrheit des Einzelnen bei tiefem Ausdruck, ſei
es gehaltloſe Nachahmung des Wirklichen, die ſich weiterhin in das Gebiet der
falſchen Reize verliert. Die Wechſelſeitigkeit beider Style iſt die Lebensbe-
dingung der Malerei; das Ziel, das ſie ſich immer auf’s Neue ſetzt, ihre
Vereinigung.


1. Der Styl iſt der Niederſchlag des innern Geiſtes einer Kunſt in
einer beſtimmten Art der Formengebung. Für die Malerei läßt ſich eine
andere allgemeine Definition ihres oberſten Form-Geſetzes nicht aufſtellen,
als die, welche der §. gibt, indem er den Begriff des Naturaliſmus und
Individualiſmus als derjenigen Mittel aufnimmt, durch welche die vor-
herrſchende Tiefe des Ausdrucks zu erzielen iſt. Dieſer Begriff iſt in der
Lehre von der Plaſtik als Gegentheil des in dieſer Kunſt herrſchenden
Formengeſetzes bei der Behandlung der menſchlichen Geſtalt aufgeführt
(§. 616). Dieſes ſelbſt wurde als das Geſetz völliger und zugleich ſcharf
beſtimmter Formen, einfacher, wenig gebrochener, ſchwungvoller Umriſſe
beſtimmt (§. 614) und daraus die Forderung gattungsgemäß normal ent-
wickelter Naturvorbilder und ſtreng idealer Behandlung derſelben erſt ab-
geleitet. In der Lehre von der Malerei aber läßt ſich dem ſo gefaßten
plaſtiſchen Stylgeſetze nichts gegenüberſtellen, was ebenſo bereits die Qua-
lität der Formen näher bezeichnen würde, ſondern nur der allgemeinere
Begriff des Naturaliſtiſchen und Individualiſirenden kann mit der Be-
ſtimmung, daß es eben die Erhöhung des Ausdrucks ſei, worauf dieſe
Behandlung eben hinzuarbeiten hat, zur Grundformel erhoben werden.
Der bewegliche, farbenglühende, die Dinge in der Wärme ihres Natur-
hauchs, ihres individuellen Geheimniſſes und damit in ihrer innerſten
Seele erfaſſende Geiſt dieſer Kunſt kennt ja gerade eine ſtrenge Reduction
der Formen nicht; wie dieſe beſchaffen ſeien, läßt ſich erſt an den Sphären
des Stoffs im Einzelnen nachweiſen und an die Spitze dieſer Nachwei-
ſung nur ein Begriff ſetzen, der wenigſtens inſofern bereits beſtimmter
iſt, als er unmittelbar in Ausſicht ſtellt, daß ſich nun in Aufführung der
einzelnen Gebiete des Stoffs der nähere Charakter der Formengebung aus
ihm ergeben werde, und ebendieß leiſtet nur der Begriff des Naturaliſmus
und Individualiſmus, in welchen der noch allgemeinere des indirecten
Idealiſmus hier verwandelt iſt. Wenn übrigens in der Lehre von der
Plaſtik dieſe Beſtimmung nur auf die geſchloſſene menſchliche (und thie-
[579] riſche) Geſtalt Anwendung fand, ſo gilt ſie in der Malerei auch für ihren
ungleich erweiterten Stoffkreis, wie dieß ſchon aus unſerer allgemeinen
Beleuchtung hervorgeht und ſogleich bei der Sphäre des Landſchaftlichen
ſich beſtimmter zeigen wird.


2. Daß die Malerei die reinere Schönheit der Form darum nicht
ausſchließt, noch vermeidet, weil ſie in irgend einem Maaße durch die
Reibung des Mißverhältniſſes den Funken des Geiſtes entlockt, mußte
ſchon mehrfach ausgeſprochen werden. Es geht daraus hervor, daß auch
im rein maleriſchen Style noch das Plaſtiſche ſein eingeſchränktes Recht
hat; allein damit iſt noch nicht in’s Klare geſetzt, daß die reinere, pla-
ſtiſch aufgefaßte Schönheit auch für ſich zum ſelbſtändigen Styl ſich aus-
bilden werde, es iſt das Verhältniß der zwei Prinzipien, um die es ſich
handelt, noch nicht in ſeiner vollen Beſtimmtheit dargeſtellt. Ein deutli-
cheres Licht fiel auf dieſen weſentlichen Punct durch §. 662 und 674;
im erſten ſahen wir die plaſtiſche Auffaſſungsweiſe mit der Zeichnung ſich
verbinden und es entſprang uns bereits die natürliche Folge, daß es in
der Malerei eine Richtung geben werde, die ſich als directer Idealiſmus
prinzipiell auf dieſe Seite wirft; der Satz, daß dieſe Richtung nur rela-
tiv berechtigt ſei, enthielt auch die Möglichkeit, daß ſie dieſe Stellung ein-
geſchränkter Berechtigung vergeſſe; im zweiten §. kamen wir eben her
von der Betrachtung einer über ſeine Grenze hinaus geſteigerten Farben-
gebung (§. 673), wir ſahen nun, wie an die Farbe das Prinzip des in-
directen Idealiſmus ſich anſchließt, gaben ihm ſein Recht, ſtellten ihm
ſeine Schranken und fanden den Grund jener Ueberſteigerung in einem
Kampfe gegen den directen Idealiſmus der plaſtiſchen Auffaſſung und den
Froſt, den er in ſeiner Einſeitigkeit mit ſich führt. Dieß Alles iſt jetzt
zuſammenzufaſſen und dahin zu beſtimmen: wie die Malerei ihrem Be-
griffe nach zwei Prinzipien enthält, das eine herrſchend, das andere nur
relativ gültig, ſo bewegt ſie ſich als lebendige Kunſt nothwendig in einem
Gegenſatze von zwei Stylrichtungen, die wir nun als die naturaliſtiſche
und individualiſirende oder ächt maleriſche und als die mehr plaſtiſche
bezeichnen. Ein wahrer lebensfähiger und lebenzeugender Gegenſatz iſt
aber nur da, wo in jedem Glied auch das entgegengeſetzte enthalten iſt;
alſo muß jede der beiden Richtungen in einem gewiſſen Maaße die andere
in ſich aufnehmen; die zweite iſt hierin natürlich zu größerer Entäußerung
verpflichtet, weil ſie die nur relativ berechtigte, die andere die vollberech-
tigte iſt. Dieſes Verhältniß der Gegenſeitigkeit iſt nothwendig ein beweg-
tes: jeder von beiden Stylen iſt in beſtändiger Verſuchung, das Recht
des andern zu verkennen, jeder von beiden wird durch die Lebenskraft
des andern wieder in ſeine Grenzen gewieſen. Der ächt maleriſche treibt
zur Bewegung, zur Lebenswärme, Realität, zu der Tiefe des Inner-
[580] lichen. Der plaſtiſche Styl dagegen reagirt, kühlt, mahnt an die Strenge
und Geſetzlichkeit. Verkennt dieſer ſeine Schranke, eignet er ſich nichts
von dem bewegteren Bruche der ächt maleriſchen Formgebung an, ſo ge-
geräth er, wenn er ſich mehr zu ſtarken Formen neigt, in Härte und
Schwulſt, wenn er dem runderen Fluß der Linie nachgeht, in jenen Froſt,
von dem ſchon die Rede geweſen iſt. Da die Wärme und Bewegtheit,
wohin der andere Styl drängt, nach den Grenzen der Muſik und Poeſie hin-
führt, ſo ſcheint es widerſprechend, wenn man ſagt, der plaſtiſche Styl
verfalle, wenn er einſeitig wird, leicht auch in ein körperloſes Dichten.
Allein wir haben geſehen, daß die Zeichnung, wie ſie das Plaſtiſche in
der Malerei iſt, ſo auch das Moment der Erfindung, den Begriff darſtellt.
Da nun in der Muſik und Poeſie ſich die innere Erfindung frei im Elemente
der Zeit entfaltet, ſo iſt klar, daß der Styl der Malerei, der die Erſchei-
nungen weniger in die volle Körperlichkeit herausführt, nach dieſer Seite
ſich leicht muß verirren können. Wir werden an anderer Stelle noch
von der Ideen-Malerei reden. Faßt man dagegen an der Muſik und
Poeſie die Leichtigkeit der Bewegung, das Ungebundenere, weniger
ſcharf Umriſſene, Schwebende des Tons und der nur innerlich ange-
ſchauten Geſtalt in’s Auge, ſo iſt ebenſo wahr, daß die entgegengeſetzte,
ächt maleriſche Richtung, wenn ſie das Wahre der plaſtiſchen verſchmäht
und das Maaß verliert, nach dieſer Seite hin in das Muſikaliſche und
Poetiſche ſich verlieren muß: ſie wird knochenlos, vernachläßigt entweder
das Techniſche der Zeichnung überhaupt oder prinzipiell deren Aufgabe,
die Beſtimmtheit der Form, geräth daher in das Schweben und Nebeln,
endlich in das Objectloſe, Leere, wie wir in §. 673 geſehen. Dieß iſt
die eine Art der ihr nahe liegenden Verirrungen; die andere führt in das
entgegengeſetzte Extrem, nämlich eine falſche Art der Beſtimmtheit. Auch
hier ſcheint ein Widerſpruch zu entſtehen, wenn wir dieſe Klippe neben
der eben genannten aufführen; allein die Farbe hat, wie wir gefunden,
zweierlei Wirkungen: eine auflöſende und eine andere, wodurch ſie die
Schärfen des Naturaliſtiſchen und Individualiſirenden mit ſich bringt. Die Ge-
ſchichte wird zeigen, wie ſich eine Schule mehr auf dieſe, eine andere mehr
auf jene Seite wirft. Der Naturaliſmus und Individualiſmus in ſeiner
Einſeitigkeit kann aber ſelbſt wieder auf zweierlei Abwege gerathen. Er
kann ſich, wie er ſoll, mit dem tiefen Seelen-Ausdruck vermählen, aber
die Kanten und Ecken der Beſonderheit zugleich in einer Härte und
Trockenheit ausladen, die aller jener Rundung und Welle entbehrt, welche
nur die wohlgeübte Zeichnung und das ſchöne Formgefühl entwickelt.
Er kann aber auch vergeſſen, daß die Schärfe der Hervorhebung des Be-
ſonderen in der Malerei nur zum Zweck hat, den geiſtigen Ausdruck um
ſo wärmer herauszuarbeiten, kann ſich mit der Hälfte dieſer Aufgabe
[581] begnügen und nicht das tiefere, ſondern nur das gewöhnliche, triviale
Seelenleben darſtellen; das Beſtreben, die Fülle des realen Scheins der
Dinge zu geben, kann ihn in der Einzelheit geiſtlos feſthalten, er läßt
den Spiritus weg und klebt phlegmatiſch am Boden der empiriſchen Wirk-
lichkeit. Von da bieten ſich wieder beſondere Abwege: den Mangel tiefen
Gehalts, wahrhaft erhebender Wirkung kann er durch die pikanten Reize
des Graſſen (wovon ſpäter) oder des Lüſternen (§. 652 Schluß d. Anm.)
zu erſetzen ſuchen. — Aus dieſen Verirrungen erhellt alſo, daß beide
Style ſich gegenſeitig mitzutheilen, von einander zu lernen haben. Aber
nicht nur dieß. Die innere Einheit des Weſens der Malerei, im Ver-
fahren dargeſtellt als Einheit der Zeichnung und Farbe, ſetzt begriffsge-
mäß die wirkliche Aufhebung des Gegenſatzes zum Ziel. Jedoch auch
das Streben nach dieſem Ziel kann die Bewegung nie abſchließen: das
Erreichte muß ſelbſt wieder als ein nur Relatives erſcheinen, ſelbſt wieder
auf eine Seite des Gegenſatzes fallen und das Streben beginnt wieder
von vornen. Dieß Alles wird die Geſchichte unſerer Kunſt in voller
Wirklichkeit zeigen; in der That haben wir dieſelbe mit dieſer Betrachtung
vorbereitet, aber ihr nicht vorgegriffen; das Bild dieſer gegenſätzlichen,
das erreichte Ziel der Verſöhnung immer wieder in neuen Weiſen neu
aufſtellenden Bewegung iſt an ſich und abgeſehen von den empiriſchen Fac-
toren der Kunſtgeſchichte die Erſcheinung des innern Weſens unſerer, im
Grunde jeder Kunſt, und der richtige Begriff davon iſt ſchon für die
Styl-Lehre und die Lehre von den Zweigen eine unentbehrliche Voraus-
ſetzung. — Schließlich noch eine Bemerkung im Rückblick auf §. 532 und
614. Zum erſteren §. iſt geſagt: „man drückt durch das Wort Styliſiren
eine Idealität der Formenbehandlung aus, von der es fraglich iſt, ob ſie
dieſer Kunſt, dieſem Kunſtzweig zuſage, ob ſie nicht vielleicht in einem
gewiſſen Sinn zu ſchön, auf Koſten der Individualität ſchön ſei u. ſ. w.;
im andern §. iſt geſagt, daß der Styl der Plaſtik mit dem Begriffe
des Styls in ſeiner intenſiven Bedeutung beſonders innig und unmittelbar
zuſammenfalle. Dieß beſtätigt ſich und findet lehrreiche Beleuchtung in
der Malerei. Redet man hier von Styliſiren, ſo hat man eine Formen-
gebung im Auge, die an das ſtrengere Geſetz der Plaſtik gemahnt, und
es kann dieß ein Lob ſein, aber der Tadel liegt nahe, weil, wenn man
Styl im emphatiſchen Sinne nimmt, die Malerei eben nicht ſtyliſirt
oder doch dem Styliſiren nur eine eingeſchränkte Berechtigung einräumt.


§. 677.

In ſeiner Anwendung auf die landſchaftliche Schönheit fordert dieſes
oberſte Stylgeſetz örtliche Phyſiognomie, öffnet das Reich der Zufälligkeiten,
[582] ſchließt vom Menſchenwerke den Charakter des Neuen aus und bindet alle
zugelaſſenen Härten und Formloſigkeiten durch den Geiſt der Bewegtheit und
Stimmung. Der plaſtiſche Styl geräth in ermüdende Einförmigkeit, wenn er
dieſe Merkmale von ſich ausſchließt.


Im landſchaftlichen Gebiete wird denn das Stylgeſetz bereits kla-
rer und nimmt Beſonderung an. Der ächt maleriſche Styl wird im
Geiſte des Naturaliſmus und Individualiſmus den localen Charakter in
ſeiner Eigenheit auffaſſen, das Spiel des Zufälligen aufnehmen, die For-
men und Farben lieber in das Härtere, Unruhigere brechen, um nur deſto
mehr das Stimmungsreiche, Bewegte und Bewegende herauszuarbeiten;
er wird daher in einer trüberen, zeriſſneren Natur heimiſcher ſein, als in
einer ſolchen, die an ſich ſchon eine gewiſſe Idealität der Formen, Be-
leuchtung, Farben darbietet. Der plaſtiſche Styl dagegen wird dieſe
Natur vorziehen, die klare Luft, das reine Licht, die edeln Linien der
Erdbildung, den claſſiſchen Pflanzentypus (§. 279), und er wird den
gefundenen Stoff noch weiter im Geiſte ſeines Prinzips umbilden, auf die
Regel der normaleren Schönheit reduziren. Die erſte Richtung wird wild,
formlos, öd, nebelhaft, wenn ſie nichts von dieſer, die zweite langweilig
wie eine Pappelallee, wenn ſie nichts von jener lernt oder in ſich hat.
Unter den Neueren hat Keiner mehr, als Rottmann gezeigt, wie die pla-
ſtiſche Auffaſſung ſich bis zu einem beſtimmten Maaße mit der localen,
phyſiognomiſchen zu vermählen hat. Der §. hebt ausdrücklich die Aus-
ſchließung des Neuen hervor, denn dieß iſt ein beſonders inſtructiver
Punct für die Natur des maleriſchen Styls. Es handelt ſich hauptſächlich
von Bauwerken. Solche müſſen, wenn ſie maleriſch ſein ſollen, durch den
Einfluß der Elemente und des Gebrauchs Formen und Farben angenom-
men haben, wodurch ſie wie ein Naturwerk erſcheinen. Die nagelneuen
Tempel und Paläſte in der heroiſchen Landſchaft ſind das belehrende Ge-
gentheil des maleriſch Richtigen. Zerbröckelte, theilweiſe verwitterte Ober-
fläche, altergraue Farbe, feuchter Schimmel-Anſatz, grünmoderiger, roth-
bräunlicher, zerriebener Ton geben den geforderten Wurf und Strich der
Naturzufälligkeit und ein altes, bemoostes, Binſen- und Schilfbewachſenes,
halbzerbrochen triefendes Mühlrad iſt gewiß in der Landſchaft willkomme-
ner, als ein gutes, wohlerhaltenes, ja die Ruine eines Schloſſes iſt in
den meiſten Fällen eine größere Zierde für ſie, als ein Schloß. Dieſe
Stylregel trägt ſich dann auch auf Zimmer und Geräthe über: die male-
riſche Behandlung muß ihnen den Ton und Charakter des Gebrauchten
und Eingewohnten geben, ſo daß ſie die Wirkung machen, daß die Seele
des Menſchen ſich in ſie gelegt, ihre Stimmung in ſie übertragen habe,
wodurch ſie zugleich relativ ſelbſtändig werden und zu einem ſtimmungs-
[583] vollen Ganzen wie ein Naturweſen mitwirken. Die Lehre von den Zwei-
gen wird den Gegenſatz der Stylrichtungen ausführlicher darſtellen; er
beruht auch in der Art der Compoſition und in der Staffage, worauf
wir hier noch nicht eingehen können.


§. 678.

Allein nicht das ganze Reich des Landſchaftlichen iſt gewonnen. In vie-
len Erſcheinungen kann die Malerei mit der Natur überhaupt nicht wetteiſern,
andere zertheilen und verhüllen mit augenblicklicher Pracht ein Ganzes, deſſen
bleibende Schönheit der bildenden Kunſt wichtiger iſt, oder widerſprechen dem
Geſetze der künſtleriſchen Durcharbeitung des Colorits, andere tragen überhaupt
zu ſehr den Charakter des Seltſamen, Vereinzelten, Flüchtigen, um ſich im
Raume feſſeln zu laſſen: drei Arten, die ſich mannigfach verbinden.


Nunmehr treten ſogleich in dieſem Gebiet auch die Grenzen der Ma-
lerei zu Tage, welche freilich ihr ganzes und volles Licht erſt erhalten,
wenn ſich zeigen wird, was Alles die Dichtung umfaßt. Zu der erſten
Art unzugänglicher Erſcheinungen gehören verzüglich die höchſten Licht-
wirkungen, vor Allem der lichtbringende Körper ſelbſt, die Sonne im vol-
len Tagesglanze. Zur zweiten Baumblüthe, geſtirnter Himmel, erſtes
Wieſengrün im Frühling. Warum iſt denn ein blühender Baum (er träte
denn nur halbverſteckt zwiſchen vollem Grün hervor) unmaleriſch? Weil
die höhere maleriſche Schönheit der Baumkrone in der Gruppirung ihrer
Hauptmaſſen, im Hauch, Wurf, in der bleibenden Farbe des Grüns liegt,
wogegen die Blüthe nur als ein augenblicklicher, dieſe Grundſchönheit
verhüllender, in der wirklichen Natur heiterer, in der bildenden Kunſt
kindiſcher Aufputz erſcheint. Ebenſo zertheilen die Sterne das herrliche
Ganze des tiefblauen kryſtallenen Himmelsgewölbes durch unzähliche un-
ruhige Glanzpuncte. Man meine nicht, wir thun der herrlichen Erſchei-
nung unrecht, es handelt ſich nur von dem maleriſch Darſtellbaren; in
der Poeſie werden wir es anders finden. Das erſte Wieſengrün iſt ein
Hauptbeiſpiel für ſolche Erſcheinungen, auf welche die Worte des §. ſich
beziehen: oder widerſprechen u. ſ. w.; wir haben es ſchon bei dem Colorit
erwähnt (§. 671 Anm.): es ſtört den Charakter des durch den reif ko-
chenden Künſtlergeiſt Hindurchgegangenen, Zeitigen, Durchbrüteten, ſchreit
aus der abdämpfenden Harmonie heraus, iſt „giftig“. Und ſo noch viele
andere Farbenerſcheinungen. Zur dritten Art gehören ſeltſame Beleuch-
tungs-Effecte, frappante Reflex-Wirkungen, worin die Natur faſt theatra-
liſch erſcheint, ſowohl vorübergehende, als auch bleibende, wie z. B. die
blaue Grotte in Capri und dergl. Die neuere Landſchaftmalerei liebt es
[584] mit ſolchem Luft- und Licht-Spectakel zu prunken, ſelbſt ein Rottmann
hat oft vergeſſen, wie ganz ſeine wahre Stärke im Bleibenden, Großen,
Ewigen lag. Wenn einmal die untergehende Sonne in wunderlich zer-
fetzten Regenwolken eine phantaſtiſche Farbenwelt von glänzendem Roth
neben Grau, Grünlich, Blau, Schwefelgelb hervorruft und dieſer Brand
ſich im Meere ſpiegelt, den Wald in Purpur entzündet, ſo iſt das in der
Natur, als Moment in einer Reihe bewegter Momenten, herrlich, aber die
bildende Kunſt ſoll es nicht im Raume feſſeln. Wir haben in der Bildnerkunſt
zugegeben, daß Flüchtigkeit des Moments an ſich kein Hinderniß der Dar-
ſtellbarkeit wäre, dann aber ein Flüchtiges gewiſſer Art ausgeſchloſſen,
nämlich Solches, das durch Verzerrung im Uebermaaß des Affects häß-
lich wird, und Solches, was nicht eine große, gediegene, weite, naive
Seele darſtellt, wodurch denn das Gebiet des kleinen Mienenſpiels als
unplaſtiſch abgewieſen wurde. Dem letzteren entſpricht bei allem Unter-
ſchiede das Seltſame und Frappante in der landſchaftlichen Schönheit, es
erſcheint wie ein momentaner Einfall, der nicht das Wahre der großen,
weiten Seele der Natur ausdrückt. Mag ein ſolches Naturſpiel auch
bleibend ſein, ſo wird uns doch der Begriff des Ausnahmsweiſen unver-
merkt zu dem des im genannten Sinn Allzuflüchtigen; zum gegebenen
Beiſpiel führen wir nur noch Felſen an, die durch ſonderbaren Zufall
Menſchengeſichten gleichen. — Uebrigens leuchtet ein, wie die verſchiedenen
Urſachen der Beſchränkung des Umfangs der Malerei auch zuſammentre-
ten: frappante Beleuchtungs-Effecte ſind zugleich darum nicht nachzubilden,
weil die Kunſt vergeblich mit der Natur in ihren ſtärkſten Lichtwirkungen
wetteifert und die höchſte Leiſtung nur die Kluft des Unerreichten um ſo
fühlbarer macht; ebendieß kommt hinzu bei einem Theile der Erſcheinun-
gen, die bei der zweiten Art genannt ſind, den Sternen nämlich; umge-
kehrt trifft der Grund, unter welchen dieſe zweite Art geſtellt iſt, daß
nämlich Blüthen, Sterne und dergleichen eine bedeutendere Grundlage
bleibender Schönheit zudecken und zertheilen, auch zuſammen mit dem
Grunde, der bei der dritten Art geltend gemacht iſt, indem das Sonder-
bare die Wirkungsweiſe der Naturkräfte, die es momentan oder verein-
zelt hervorbringen, nicht in ihrer wahren Schönheit ausdrückt.


§. 679.

Neben den Grundſätzen, welche ſich nun für die künſtleriſche Behandlung
der Thierwelt ergeben, entwickelt ſich die ganze Bedeutung des maleriſchen
Stylgeſetzes im Gebiete der menſchlichen Schönheit. Daſſelbe fordert, was
zuerſt die Geſtalt überhaupt und ihre nächſten Beigaben betrifft,
nicht normal ſchöne Natur- und Culturformen, die Auffaſſung und Behandlung
[585] wird phyſiognomiſch. Die ſchärfere Eigenheit und den härteren Bruch der
Form, den dieſer ächt maleriſche Standpunct vorausſetzt, hat auch der plaſtiſche
Styl, nur in gelinderer Weiſe, ſich anzueignen. Das Bildniß und die Ge-
ſchichte
ſind nun in weiter Ausdehnung eröffnet.


Es iſt insbeſondere der Inhalt dieſes §., der, abgeſehen von der ſpeziel-
leren Beziehung auf die Einzelheiten der Form, die er nun erhält, in der
nothwendig ausführlicheren allgemeinen Darſtellung des vielſeitigen Weſens
der Malerei mehrfach ſchon zur Sprache kommen mußte. Was zunächſt die
Thierwelt betrifft, ſo haben wir ſchon in und zu §. 654. 655 von der
veränderten Behandlung geſprochen, welche ſie durch den veränderten
Standpunct erfahren muß. Es gilt, die Lebendigkeit des Ausdrucks der
Thierſeele durch eine Auffaſſung, die man eigentlich ſchon hier phyſiogno-
miſch nennen könnte, inniger und wärmer herauszuarbeiten. Die Form
ſoll um ſo viel ſprechender werden, als ſie ungeregelter, zufälliger, eigen-
ſinniger ſein mag. Hiemit erweitert ſich, wie wir geſehen, der Umfang
der darſtellbaren Klaſſen, indem der Maler nicht mehr auf wenige ſchwung-
voll compacte Formen der Thierwelt beſchränkt iſt, aber weder die in
Linie und Form ſchöneren Bildungen, noch die dürftigeren, formloſen hat
er zu ſtyliſiren, wie der Bildhauer, ja er ſoll es nicht. Er wird alſo
z. B. nicht das Fell, nicht die Federn in gewiſſe regelmäßige Gruppen
ordnen, ſondern das Freiere, Ungeordnetere, Struppige, Geſträubte u. ſ. w.
mit leichter Hand wiedergeben; die Farbe kommt ja darüber und der
dumpfe oder helle, freundliche oder grimmige Blick, die Bewegung, wie
ſie den augenblicklichen Affect ausdrückt, wird gerade durch dieſes freier
aufgedeckte Spiel der Aeußerlichkeiten um ſo wirkungsvoller. Auch das
Individualiſiren wird ſtärker, als in der Plaſtik; man mag einem einzel-
nen Hund, Pferd ihr beſonderes Temperament anſehen, aus ihrer Er-
ſcheinung herausleſen, was ſie Alles als treue Begleiter und Diener eines
Herrn wohl miterlebt haben u. ſ. w.; doch tritt dieß erſt bei den höhern
Thiertypen ein vergl. §. 295, 1. — Für das Gebiet der menſchlichen
Schönheit fällt uns nun nach dem, was insbeſondere in und zu §. 654—657
entwickelt iſt, das Weſentliche der ſtyliſtiſchen Behandlungsgrundſätze eben-
falls reif in die Hand. Die Malerei iſt demnach nicht mehr wähleriſch
in Beziehung auf den Stoff und nicht mehr ſtreng in Rückführung em-
piriſcher auf reine Formen wie die Bildnerkunſt. Gerade der normalſte
Typus, der altgriechiſche, wird ihrem Style Schwierigkeiten bereiten;
ſchon in der allgemeinen Darſtellung des Weſens unſerer Kunſt mußten
wir hervorheben, daß ſehr regelmäßiger Kopf und Geſtalt ihrem ſalzigen,
durch Gegenſätzlichkeit des Aeußern und Innern gewürzten Weſen als
fade und unintereſſant widerſtreben würde; gerade die bewegtere, ſprin-

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 39
[586]gendere Geſichtslinie, die ſtärkeren individuellen Abweichungen der Geſtalt
bei den Völkern, die der Grieche insgeſammt Barbaren genannt hätte,
werden ihm zuſagen. Im Profil z. B. haben wir die Bedeutung der
graden Linie erkannt, die von der Stirn zur Naſe führt. Dagegen zeigt
nun eine abſpringende Linie an, daß Geiſt und ſinnliches Leben zur Tren-
nung neigen, daß die Perſönlichkeit alſo einen Bruch in ſich trägt, daß
ſie alſo einen verwickelteren, tieferen Prozeß zu vollziehen hat, um zu leben,
um harmoniſch zu leben, und dieſen Ausdruck eben will die Malerei. So ar-
beitet denn, mag der Stoff ſo oder ſo beſchaffen ſein, auch die Stylgebung
überall nicht auf die verallgemeinernde Durchſchnitts-Linie, ſondern darauf,
daß das Allgemeine in die beſondern Formen der Lebensalter, Geſchlechter,
Zuſtände, Stände und in die Individualität ſcharf zuſammengefaßt erſcheine
und aus dem Bruche der Eigenheit um ſo concentrirter der Blitz des in-
nern Lebens herausſpringe. Die Runzel des Alters, die Erdfahlheit des
Siechthums, die Verkrümmung und Verwitterung durch einſeitige Arbeit mag
frei zur Darſtellung kommen wie die Grille der Naturbildung im Einzel-
nen: Stirne, Blick, Handlung prägt ihr den Accent des Geiſtes auf.
Wir nennen dieſe Auffaſſung und Behandlung im Allgemeinen die phy-
ſiognomiſche, d. h. die auf die kennzeichnende, bedeutungsvolle Schärfe
der Einzelzüge gerichtete (vergl. §. 338, wo das Phyſiognomiſche zuerſt
noch abgeſehen von den Zügen eingeführt iſt, welche die Arbeit des Wil-
lens der Geſtalt aufdrückt). Wie nun mit der Geſtalt, ſo verhält es ſich
auch mit den Cultur-Formen. Was zunächſt den Theil derſelben betrifft,
welcher die menſchliche Geſtalt günſtig oder ungünſtig entwickelt und auf-
zeigt, ſo wird freilich auch die Malerei ohne beſonderes Motiv, d. h. wo
ſie nicht furchtbar und mitleiderregend oder komiſch wirken will, auf
glückliche und geſunde Zuſtände in dieſem Gebiete nicht verzichten; doch
wird ſie ſchon darum weniger ſtrenge ſein, als die Sculptur, weil
ſie ihrem Weſen nach nicht die Vorliebe für das Nackte hat, wie die
Plaſtik. Wir werden hierauf zurückkommen; vorerſt iſt, was die Behand-
lung des Körpers im Allgemeinen betrifft, einleuchtend, daß die Malerei
gemäß ihrem naturaliſtiſchen Styl-Prinzip Muſkel, Sehnen, Adern weit
beſtimmter in das Einzelne ausdrückt, als die Plaſtik; ſcheint es, als ob
dadurch die empiriſchen Bedingungen des Lebens ſich zu ſcharf ausprägen,
ſo iſt es wieder der Strom und Lebenshauch, den die Farbe über alles
Einzelne hinzieht, wodurch alle Härten ſich in den idealen Rhythmus des
Ganzen auflöſen. Natürlich wirft nun der maleriſche Zweck das Haupt-
gewicht der äſthetiſchen Geltung auf die vorzüglich ſprechenden Theile,
Angeſicht und Hände; und an dieſen vorzüglich macht das Naturali-
ſiren und Individualiſiren, die phyſiognomiſche Auffaſſung ſich geltend.
Die Haare werden in freierem Spiele der Zufälligkeit behandelt; die Hügel
[587] und Senkungen, die Falten und Fältchen dürfen ihr feineres Netz über
das Feld des Angeſichts ziehen; ein durchfurchter, durcharbeiteter Kopf iſt
mehr maleriſch, als ein glatter, jugendlich blühender. Damit iſt natürlich
die mikroſkopiſche Behandlung eines Ignaz Denner nicht gerechtfertigt,
denn auch in der Malerei hat der Naturaliſmus ſeine Grenzen, auch das
Hervorheben des Einzelnen unterſcheidet wieder zwiſchen Weſentlichem,
Sprechendem und Unweſentlichem, nicht Sprechendem. Daß das Indivi-
duelle namentlich im Kopfe ſeinen Sitz hat, bedarf keiner weiteren
Ausführung. Die Hände werden nun in demſelben Sinne behandelt
und tritt in Anwendung, was zu §. 338 über ihre Formen geſagt iſt.
Eine ſolche Contraſtwirkung, wie ſie in Titian’s Zinsgroſchen bis in den
Gegenſatz der Hände, der gemeinen, rohen, braunen des Phariſäers und
der reinen, ſeeliſchen Hand Chriſti ſich herunter erſtreckt, könnte die Sculp-
tur nimmermehr geben. Im Nackten tritt nun aber die Zurückziehung
des äſthetiſchen Nachdrucks auf dieſe vorzüglich ſprechenden Theile noch
nicht völlig in Kraft; die Malerei muß, wenn es damit Ernſt werden
ſoll, im Weſentlichen die bekleidete Geſtalt vorziehen. Mit der geiſtigeren
Behandlung muß auch die Schaam des Geiſtes an ſeinem Körper, eine
nothwendige Folge ſeines tieferen Bewußtſeins, in der Kunſt geltend wer-
den und es entſpringt ihr daraus unmittelbar das Motiv, eben durch den
Gegenſatz des Verhüllten die unverhüllten edelſten Theile zu heben. Wir
haben von der ſinnlichen Wirkung der Farbe in und zu §. 652 geſprochen;
es iſt natürlich, daß ſie in der Darſtellung menſchlicher Nacktheit beſonders
leicht in pathologiſchen Reiz übergeht. Keineswegs kann es darum der
Malerei verſagt ſein, das Wundergewächſe des Körpers auch in der Zu-
ſammenwirkung ſeines warmen Farbenlebens mit dem Reize der Formen
zu enthüllen, ohne darum den Ausdruck höher, als zu einer Stimmung
unſchuldiger Sinnlichkeit zu ſteigern; allein das Schwere iſt eben, die
volle Sinnlichkeit ſelbſt unſchuldig darzuſtellen und durch die Höhe der
Kunſt jeden Anreiz zur Begierde im Zuſchauer vor der Bewunderung des
Meiſterwerks der Natur niederzuhalten; was ein Titian vermag, das
kann nicht Jeder. Es bleibt aber dabei, daß die bekleidete Geſtalt der
maleriſchen Auffaſſung mehr entſpricht, und das veränderte Stylgeſetz be-
dingt nun auch eine andere Art von Gewandung, als das der Plaſtik:
wenn die Formſchönheit an ſich nicht mehr das Beſtimmende in der Auf-
faſſung iſt, ſo muß die Forderung fallen, daß das Gewand als ein Echo,
ein fortgeſetzter, vervielfältigter Rhythmus der organiſchen Bildung er-
ſcheine. Es mag da den Körper härter, ſchärfer umſchnüren, dort will-
kührlicher von ihm abſchweifen; der Menſchengeiſt, der jenes ſchöne
Gleichgewicht verlaſſen hat, darf und ſoll ſich auch dadurch ausdrücken,
daß er freier mit ſeinen Umhüllungen ſpielt; Farbe, Schmuck edler Metalle,

39*
[588]Verbrämtes, Geſticktes u. ſ. w. leiten auch hier das Auge von der Form
ab auf Reize anderer Art. Die Faltengebung wird von dem plaſtiſchen
ſich in einer Weiſe unterſcheiden, welche dem entſpricht, was im vorh. §.
über das maleriſche Vermeiden des Neuen in Bauwerken und Geräthen
geſagt iſt; getragener, gebrauchter wird das Kleid ſich in ein Faltenwerk
legen, das mehr ein bequemes Einwohnen des Menſchen in dieß ſein
nächſtes Haus ausdrückt. Allerdings darf dieß nicht zu weit gehen; auch
die Malerei muß ſich bedeutende Faltenmaſſen vorbehalten, deren Lauf und
Form nicht blos vom Schneider, ſondern von der organiſchen Bildung
bedingt iſt, nicht durch Zufälle kleinlich zerknittert, ſondern kräftig fließend
erſcheint, und das Anliegende, was im maleriſchen Styl neben dem frei
Fließenden zum Rechte kommt, muß in den Haupttheilen ganz anliegend
ſein und nicht in verkehrter Weiſe vom Glied wieder abweichen. Der
Maler meine nur nicht, unter der Kleidung Unverſtändniß der organiſchen
Form und ſchlechte Zeichnung verſtecken zu dürfen; der rechte Zeichner
zeichnet auch die bekleidete Figur in ſeiner Skizze nackt und beſtimmt da-
nach die Falten. Die freiere Behandlung der Tracht, die trotzdem male-
riſches Geſetz bleibt, kann im Allgemeinen auch als phyſiognomiſch be-
zeichnet werden; noch mehr der beſtimmtere Ausdruck, den auch hier noch
das Individuelle hinzubringt: wie Einer den Hut aufſetzt, zerknüllt, ver-
biegt, wie er den Mantel umſchlägt u. ſ. w. Auch in den Waffen dür-
fen ſich nun härtere und phantaſtiſchere Formen zeigen. — Dieſe ganze
Auffaſſungsweiſe gilt nun zunächſt dem im engeren Sinne maleriſchen Styl.
Natürlich iſt es aber gerade das menſchliche Gebiet, worin auch der
plaſtiſche Styl das ganze Recht ſeines Beſtands neben jenem geltend
macht. Wir haben die bloße Relativität ſeiner Berechtigung, ſeine Pflicht,
ein ungleich ſtärkeres Maaß des Naturtreuen und Individuellen, als
Marmor und Erz es zuläßt, in ſich aufzunehmen, erkannt; auch die Styl-
lehre kann hier in das Einzelne nicht tiefer gehen, wenn ſie nicht zu ſehr
der Geſchichte vorgreifen will. Wir werden ſehen, wie ſich ſelbſt die
antike Malerei, die im ſtrengſten Sinne plaſtiſch iſt, doch von der eigent-
lichen Plaſtik unterſcheidet; wir werden in reicher Ausbildung den plaſti-
ſchen Styl in Italien gegenüber dem ächt maleriſchen in Deutſchland und
den Niederlanden ſich voller und voller mit ſeinem Gegenſatze ſchwängern
ſehen, bis Correggio und die Venetianer an die Schwelle des Uebergangs
in den letzteren treten. Bis dahin bleibt jedoch der Gegenſatz trotzdem, daß
er ein Gegenſatz innerhalb des vom Mittelalter überhaupt betretenen ma-
leriſchen Standpuncts iſt, und trotz ſeiner weiteren Milderung klar und
beſtimmt. Die Madonnen, die würdevollen Männergeſtalten der großen
italieniſchen Meiſter, insbeſondere des Raphael, ſind in gewiſſem Sinn
plaſtiſche Naturen, aber darum keine Götter und Göttinnen; es waltet der
[589] reinſte Reiz, die ſtreng gemeſſene Kraft der Linie in den Formen und
doch iſt Alles maleriſch individuell und bewegt; neben den Idealgeſtalten
breitet ſich zudem eine Welt von markirten, porträtartigen Charakteren
aus, die dem ächt maleriſchen Style noch viel näher ſteht, und doch zeigt
der erſte Blick auf die Deutſchen und Niederländer den tiefen Unterſchied
der Stylprinzipien. — Es leuchtet nun ein, wie ganz anders die Malerei
durch ihr Stylgeſetz zum Bildniß und zum geſchichtlichen Stoffe geſtellt
iſt, als die Sculptur. Kann ja doch ihre ganze Auffaſſung Bildniß-artig
genannt und geſagt werden, ſie müſſe auch die in direct idealen oder ſonſt
allgemeineren Zuſammenhang geſtellte Perſönlichkeit dem Porträt nähern;
zum geſchichtlichen Stoffe aber verhält ſich das Porträt wie der Bauſtein
zum Gebäude. Wo das Feld der Bildnerkunſt ſich zu Ende neigt, da
beginnt erſt in ganzer Breite das Feld der Malerei.


§. 680.

Doch iſt nicht die ganze Thierwelt für die Malerei darſtellbar und nicht
jede Abweichung vom reinen Typus, Entſtellung, Zerſtörung der menſchlichen
Geſtalt läßt ſich durch die Mittel der Malerei äſthetiſch auflöſen; auch ein
hoher Grad von Mechaniſtrung der Culturformen bereitet ihr ſchwere Hin-
derniſſe.


Es iſt der Mangel an wirklicher Bewegung und die Unmöglichkeit,
von der Geſtalt auf den Ton abzulenken, was auch die hier bezeichneten
Grenzen ſteckt. Zu §. 295, 1. iſt berührt, wie der Maler ſehr kleine, un-
reif gebildete Thiere noch einzeln anbringen kann; eigentlich aber zählt
die untergeordnete Thierwelt nur in Maſſen und hier hat auch die Malerei
ein Ende, denn es iſt klar, daß ſie z. B. mit Inſectenſchwärmen nichts
anzufangen weiß. Bei Waſſerthieren kommt hinzu, daß dem Auge das Ele-
ment nicht in dem Grade durchſichtig iſt, um ſeine Bewohner darzuſtellen,
wenn auch ihre Geſtalt und ſeeliſches Leben ſo viel Bedeutung hätte, um
es zu thun; ſie müſſen daher, um ſie zur Darſtellung zu bringen, aus
ihrem Elemente geriſſen und in anderweitigen Zuſammenhang gebracht
werden. — Daß Häßlichkeit der Bildung auch in der Thierwelt ein He-
bel des Furchtbaren und Komiſchen werden kann, verſteht ſich; das Häß-
liche der Zerſtörung, Auflöſung führt der §. der Kürze wegen erſt bei der
menſchlichen Welt auf. Was nun dieß höchſte Gebiet des Schönen be-
trifft, ſo gilt trotz dem erweiterten Umfang auch für die Malerei die äu-
ßerſte Grenze in Aufnahme der Racen, wie ſie in §. 324, 2. beſtimmt iſt:
die ſtark gegen das Thieriſche hin abweichenden Formen werden an-
ders, als in Contraſtwirkungen, nicht zu verwenden ſein. Aber auch in
[590] der Aufnahme von häßlichen Abnormitäten, Verkrüpplungen, Entſtellungen
durch Krankheit, gräßlichen Wunden, Tod, Verweſung iſt der Malerei
eine Grenze geſteckt, wo furchtbare oder komiſche Wirkung nicht mehr hin-
reicht, zu einer Feſſlung deſſen, was der Dichter raſch an der innern Vor-
ſtellung vorüberführt, auf der ruhenden Leinwand zu berechtigen. Mit
dem Krüppel auf einer von Raphael’s Tapeten verſöhnt ſich das Auge
trotzdem nicht, daß er nur der Stoff iſt, an welchem die Wunderkraft des
Apoſtels ſich geltend machen ſoll; die Peſtkranken in dem Bilde von Gros
(Napoleon im Peſthauſe von Jaffa) gehen weit über das zuläſſige Maaß
des Naturaliſmus; die Stadien der Verweſung malte nur die Naivetät
unreifer Kunſt (z. B. Orcagna im Campo Santo zu Piſa) und das Zu-
halten der Naſe, wie es oft bei Darſtellungen der Auferweckung des La-
zarus vorkommt, fixirt im Bilde des Eckels den Geſtank, der in einem
äſthetiſchen Ganzen nur momentan und nur in der innern Vorſtellung
auszuhalten iſt, es erregt durch Vormachen des Eckels gerade unſern
Eckel. Nicht ebenſo ein Fehler der Naivetät iſt es, wenn ein moderner
Maler zwei Leichen Enthaupteter mit einer zwar ſparſamen, doch durch
furchtbare Wahrheit ſchneidenden Bloslegung des Graſſen im Mittelpuncte
eines hiſtoriſchen Bildes vor uns hinlegt. Man darf ſolche Darſtellung
des Todes nicht an ſich angreifen, ſondern nur den Grad des Anſpruchs,
den ſie im Ganzen des Bildes macht; es mag da an ſolchen Theilen,
welche uns durch erhebenden Ausdruck mit dem Graſſen verſöhnen, nicht
fehlen, wenn ſie aber nicht in der Stärke vortreten, daß ſie es in den
Hintergrund drücken, ſo iſt das äſthetiſche Geſetz verletzt, zumal da man
nicht einen Nachſchimmer des hohen Friedens in ſolche Leichname legen
kann, wie in den Leichnam Chriſti. — In der Tracht haben wir die Ma-
lerei ungleich weniger wähleriſch gefunden, als die Sculptur, doch auch
bereits Forderungen geſtellt, aus denen hervorgeht, daß die Bekleidung,
die unter dem Scheine, dem Körper zu folgen, ein falſches Bild ſeiner
Glieder gibt, d. h. die moderne, auch für ſie ein Kreuz ſein muß. In
einem ernſten Bilde iſt ſie kaum, in einem ernſten, das zugleich monumen-
tal iſt, gar nicht zu brauchen. Aehnlich verhält es ſich mit den phantaſie-
loſen Formen der Geräthe u. ſ. w. und im höhern Gebiete der Cultur-
formen mit der Abtödtung der geſelligen Lebendigkeit in der Erſcheinung
des Menſchen ſelbſt. Freilich ſtellt ſich dieß anders in der komiſchen
Gattung überhaupt und ſpeziell in der Caricatur; aber der Spott auf
das Unäſthetiſche iſt eben gerade die Verurtheilung deſſelben vor dem Fo-
rum der höheren Kunſtaufgabe.


[591]
§. 681.

Wie die Malerei überhaupt von einem Geiſte der Bewegtheit durchdrun-
gen iſt, ſo wird ſie im ächt maleriſchen Styl auch die wirkliche Bewegung
mit Vorliebe entfalten, wogegen der plaſtiſch maleriſche neben dem Bilde ſtatua-
riſcher Ruhe, das ihm zwar vorzüglich zuſagen muß, wohl auch reiche Bewe-
gung darſtellen wird, doch ſo, daß ſie von jener als einer in ſie herüberwirken-
den Kraft gehalten iſt. Beide aber haben die Behandlung zu vermeiden, welche
ſich für die Bildnerkunſt aus dem einzuhaltenden Gleichgewicht ergibt.


Der maleriſche Styl iſt bewegt auch ohne eigentlich dargeſtellte Bewe-
gung, wie der plaſtiſche ruhig iſt mitten in der Bewegung. Im Ueberſchuſſe
des Ausdrucks über die Form liegt an ſich eine gewiſſe Unruhe des Ver-
hältniſſes, die ſich der ganzen Haltung des Dargeſtellten auch in der Ruhe
mittheilen muß. Es iſt ein Zittern, Strahlen, Wallen von innen heraus,
ein Fluthen des Lebens über die Ufer der feſten Form, wie ja hier die ganze
Natur ein wogender, bebender Schleier iſt, aus welchem eine Geiſter-
welt hervordämmert, hervorblitzt. Man betrachte nur die ganz ruhig ge-
haltenen Porträts eines Rubens, van Dyk, Rembrandt: ſie haben alle
den geiſtreichen Wurf der Bewegtheit, als haben ſie ſich eben hergewen-
det, als ſchwebe eben ein Wort auf ihren Lippen; aber die Landſchaft
ſelbſt in ächt maleriſcher Behandlung ſieht aus, als wollte ſie eben etwas
ſagen, oder als gebe ſie ein Räthſel auf und halte ſeine Löſung noch zu-
rück. Aus dieſem allgemeinen Charakter der Bewegtheit folgt denn auch,
daß die Malerei die wirkliche Bewegung (die ſie ja in jeder Ausdehnung
wiederzugeben durch ihre Mittel befähigt iſt, vergl. §. 651) ebenſo prinzi-
piell darzuſtellen liebt, als die Bildnerkunſt die Ruhe. M. Angelo iſt
maleriſch in der Bildhauerei, weil er allen Figuren den bewegten Wurf
gibt, er iſt ſculptoriſch in der Malerei, weil er die Form, insbeſondere
den Muſkel, über das ſtellt, was die Farbe ausdrückt, allein die tiefe Be-
wegtheit und der Sturm der wirklichen Bewegung, der durch ſeine Ge-
mälde braust, weist ihnen dennoch ihre Stelle wieder entſchieden im ma-
leriſchen Gebiet an. Er kennt aber auch eine großartige Ruhe, wie ſeine
Sibyllen, Propheten, Vorfahren der Maria bewieſen: jene Stärke des
Formprinzips und dieſe ſtatuariſche Ruhe laſſen trotz der übrigen Bewegt-
heit keinen Zweifel, daß er zur plaſtiſch maleriſchen Richtung gehört.
Dieß Beiſpiel hat uns denn auf den Gegenſatz des ächt maleriſchen und
des mehr plaſtiſchen Styls geführt, wie er auch in dieſem Gebiete ſich
ausſprechen muß. Allerdings liegt es tief im Weſen des letzteren, daß
er die ſtatuariſche Ruhe edler und charaktervoller Geſtalten liebt, aber es
fließt auch ſtreng aus dem Weſen der Malerei, daß man nicht ebenſo wie
[592] im Gebiete der Geſtaltenſchönheit an ſich einen geſchichtlichen Styl nennen
kann, der ſo ſehr ſein Höchſtes in der plaſtiſchen Ruhe geleiſtet hätte, daß
er ſich mit dem eines Phidias vergleichen ließe, welcher zwar auch in rei-
cher Bewegung ſich ausgebreitet, aber ſeinen Triumph in majeſtätiſch ruhi-
gen Göttergeſtalten gefeiert hat; Raphael, der zwar die florentiniſche Zeich-
nung, die umbriſche Innigkeit des Ausdrucks und der Farbe in ſich ver-
einigt, aber doch den Nordländern gegenüber auf der plaſtiſchen Seite
ſteht, iſt in gleicher Ausdehnung Meiſter der feurig bewegten Handlung
wie er im ſeinen heiligen Familien und im oberen Theile ſeiner Diſputa
als der reinſte Maler der idealen Ruhe verklärter Geſtalten erſcheint.
Vergleicht man jedoch die Bewegtheit, die auch der plaſtiſche Styl entfal-
tet, mit dem brauſenden, ſauſenden Geiſte eines Meiſters im ſtreng male-
riſchen Style, wie Rubens, ſo erkennt man, daß dort mitten in der ſtärk-
ſten Bewegung ſelbſt ein dämpfender Regulator wirkt, eine Haltung in-
nerer Gewichtigkeit, die aus dem Bilde der wirklichen Ruhe herüberge-
nommen iſt, ähnlich wie in der Bildnerkunſt, ein gemeſſnerer, breiterer
tenor, während umgekehrt, wie wir geſehen, jener andere Styl mitten in
der Ruhe einen bewegten Wurf hat. Gerade aber im ſculpturähnlichen
Bilde der wirklichen plaſtiſchen Ruhe zeigt ſich nur um ſo beſtimmter der Un-
terſchied von der Bildnerkunſt. Jetzt nämlich leuchtet auf concrete Weiſe
ein, daß in der Malerei nicht mehr die Rede ſein kann von jenem feinen
Herüberwirken der Rückſicht auf das empiriſche, materielle Gleichgewicht in
die Darſtellung (vergl. §. 649, 2.). Gemalte Figuren, welche ſo behan-
delt ſind, drohen gerade zu fallen, weil ſie das, was ſich hier von ſelbſt
verſteht, ausdrücklich hüten zu müſſen ſcheinen.


§. 682.

Der maleriſche Ausdruck hat nun die ganze reiche Welt von Erregun-
gen, Eigenſchaften und Zuſtänden, welche auf dem Boden der in ſich gegange-
nen, aus der naiven Einheit mit ihrem Sinnenleben und der umgebenden Welt
gelösten Subjectivität (vergl. §. 652—655) ſich erzeugt, ſpezieller zu entfalten.
Das Gebiet der Phyſtognomik kommt jetzt in dem vollen Sinne von §. 340
zur Darſtellung. Dieſe Auffaſſung des Seelenlebens ſpricht ſich in den feineren
Mitteln der durchgeführteren Gebärdenſprache, des kleinen Mienenſpiels, der
Behandlung des Auges und der Geſichtsfarbe aus; durch dieſelben verdoppelt
ſich die Wirkung der über den ganzen Körper ergoſſenen Bewegung des hefti-
gen Affects, der auch in ſeinem ſtärkſten Grade nicht ausgeſchloſſen iſt. Doch
iſt die Malerei mehr auf die Darſtellung gemiſchter, als einfacher Affecte ge-
wieſen. An dieſer Vertiefung und bunteren Brechung muß auch der Ausdruch
[593] ſchlichter Einheit mit ſich und naiver Sinnenheiterkeit, wie ſolche dem mehr
bildneriſchen Style zuſagt, ſich betheiligen.


Die Lehre vom Styl hat, nachdem in der allgemeinen Darſtellung
die weſentlichen Grundlagen entwickelt ſind, auch hier nur die concreteren
Ergebniſſe zu ziehen und ſo den Gegenſatz gegen die Styl-Aufgabe der
Bildnerkunſt (vergl. §. 605, 1. 624) in volles Licht zu ſtellen. Wir ha-
ben geſehen, daß die Malerei es mit der in ſich concentrirten Subjectivi-
tät zu thun hat, die ſowohl innerlich aus ihrem eigenen Sinnenleben, wie
auch als ganze Perſönlichkeit aus der ſubſtantiellen Einheit mit der ſitt-
lichen Welt des Volkes, Staates ſich zurückgenommen hat und dieſen
Bruch wieder in Verſöhnung aufhebt oder zum Böſen ſteigert oder in un-
endlichen Formen halbgelöst in ſich trägt. Es ergibt ſich hieraus nun
im Beſtimmteren zunächſt überhaupt eine ganze Welt von Stimmungen,
Affecten, Eigenſchaften als Aufgabe für die maleriſche Behandlung des
Ausdrucks, die wir als unzugänglich für die Plaſtik erkannten. In treff-
licher Weiſe, nur zum Theil ſchon mit zu beſtimmter Beiziehung des ro-
mantiſch religiöſen Ideals hat Hegel dieſe Welt dargeſtellt (Aeſth. Th. 3
S. 31 ff.) Die Plaſtik kann nicht darſtellen die Schaam im tieferen
Sinne, wie ſie auf dem Bewußtſein ruht, das der zu ſich gekommene
Geiſt von den thieriſchen Bedingungen ſeines Leibes und deren Fortſetzung
in den Trieben der Seele hat; ſie kann nicht darſtellen ein tief, myſtiſch
verſenktes Träumen und Brüten in ſich oder das Gegentheil, eine augen-
blickliche, leicht ſpielende Zerſtreutheit; nicht die Welt der Liebe, wie ſie
dem innerlich gewordenen Menſchen aufgegangen iſt, ſei es Geſchlechter-
liebe, Menſchenliebe, Verſenkung in das Meer der ewigen Liebe, Andacht;
auch nicht die unendliche Welt der Schmerzen, durch welche ein Gemüth
kann hindurchgehen müſſen, bis es den Kampf zwiſchen dem Trotze ſeiner
Subjectivität, die ein Unendliches für ſich ſein will, und der Sehnſucht,
ſich an ein Anderes, ſei es Geliebte, Freund, Menſchheit, Gottheit, auf-
zugeben, durchgekämpft hat; nicht die Hölle der Reue, Zerknirſchung, die
tiefe Wehmuth, das unendliche Seelenweinen; nicht einen Sturm des Lei-
dens von außen, das ſeine ganze Bedeutung erſt erreicht, indem es zum
innern, unendlichen Leiden wird, gegen das nun der Geiſt ſeine reine
Willenskraft, ſeinen geheimen Schatz von Liebe, von Glauben an die Idee
aufbietet, aber auch nicht die Seligkeit in der Hingebung, im Sieg, in
der Verſöhnung; ſie kann das beharrende Sträuben des Eigenwillens,
die Formenwelt des tief innerlichen Trotzes, Haſſes, die hämiſche Liſt, die
Wildheit und die geheime oder offene Verzweiflung des Böſen nicht in
den Marmor graben; ſie kann etwas von dem Allem, aber immer ohne
die aus der vertieften Form des Bewußtſeins erſt entſpringende Reſonanz
[594] der innern Unendlichkeit. Für dieſe neue Welt des Ausdrucks bietet
nun der maleriſche Styl das ganze feinere Syſtem der Mimik und
Phyſiognomik auf, das die breiter ausholende Bildnerkunſt kaum an den
Grenzen berühren kann: der Phyſiognomik, welche jetzt nicht nur die an-
gebornen Züge, ſondern auch das ganze Feld ihrer Veränderungen zum
Gegenſtand hat, die aus dem Innern fließen und ſich mit dem Angebo-
renen durchdringen, — wobei wir nur vom Geſammtbilde der Züge, wie
ſie ſich zum Charakter zuſammenſchließen, vorerſt noch abſehen. Jetzt, da
die Farbe mitwirkt, kann ein Ruck, die Spannung oder Schlaffheit eines
Häutchens, ein Fältchen die tiefſten Veränderungen im Ausdruck hervor-
bringen. Insbeſondere tritt nun der Mundwinkel, die Parthie um das
Auge, das Auge ſelbſt in ſeine volle Bedeutung; das Spiel der Hände
wird im feineren Detail geltend. Man bedenke u. A., wie der böſe Wille
im Ganzen und Großen ſeiner mimiſchen Erſcheinung, eben dem Gebiete,
das der Plaſtik allein offen iſt, ſich beherrſcht, dagegen nun in dieſem fei-
neren Theile die lauernde Bosheit und Gemeinheit ſich verräth; wie ſpre-
chend iſt z. B. das niederträchtige, feine Falten-Netz am äußern Augen-
winkel des Phariſäers auf Titian’s Bild vom Zinsgroſchen! In Leonar-
do’s da Vinci Abendmahl treten uns auf den erſten Anblick lauter glän-
zende Augen, geſticulirende Hände entgegen. Bei dem Auge wirkt nun
namentlich auch die Art, wie ſeine Höhle heller gehalten oder in Schat-
ten geſtellt wird; durch die Schattenſtellung haben namentlich Pietro Pe-
rugino, Fra Bartolomeo den ihnen eigenthümlichen Ausdruck, jener die
tief verſchleierte, wehmüthig ſelige Dämmerung des Gefühlslebens, dieſer
die prophetiſche Verzückung erzielt; Raphael hat in der ſixt. Madonna
durch grünlich dunkelnde Schattenringe um das Auge und überhaupt durch
eine unſagbare und doch mit den wenigſten Mitteln ausgeführte Behand-
lung dieſer Parthie den doch ſo menſchlich geſunden, in unbefangen vollem
Daſein athmenden Köpfen ein ſüßes, wunderbares, himmliſches Krankſein
gegeben: aus dem innerſten Himmel ſo eben herſchwebend zu den Heili-
gen, die für ihre Gemeinde auf Erden Schutz erflehen, ſcheinen ſie ſagen
zu wollen: kein irdiſcher Name nennt, keine Lippe kann ſtammeln, was
Herrliches wir ſchauen; verzehrt iſt unſer Irdiſches und doch lebt und
ſchwebt es in Wundern der Verklärung! — Die Wirkung des Auges
ſelbſt, des Weißen, des Sterns, des Lichtpuncts wird eben durch dieſe
Behandlung des Umgebenden erſt vollendet; die unendliche Welt von Un-
terſchieden des Ausdrucks, wie ſie in dieſem Focus der Ausſtrahlung des
innern Lebens liegt, entzieht ſich nun aber jedem Verſuch einer auch
nur ungefähren Verfolgung des Einzelnen. Man bedenke die zahlloſen
Arten und Abſtufungen der Färbung, Reinheit, Durchſichtigkeit der weißen
Haut und der Iris, der Lichtheit, Schärfe oder Trübe des Lichtpuncts,
[595] des gramvollen Erlöſchens, des kraftvollen Aufleuchtens, der Drehungen
des Apfels nach den Seiten, ſeines Herausquellens, Einſinkens, man be-
denke, wie ſogar eine mäßig ungleiche Stellung der Augäpfel dienen kann,
den Ausdruck eines tiefen Inſichſeins hervorzubringen, das ſieht, ohne
zu ſehen, (der altdeutſchen Schule iſt dieſes abſichtlich gegebene feine
Schielen durchaus gemeinſam); oder wie eine unbeſtimmte, zerfloſſene Art,
den Rand der Iris zu behandeln, in den viſionär aufgefaßten Geſtalten
des Fra Bartolomeo weſentlich den Eindruck eines verzückten Rotirens
der Augen unterſtützt. Auch über die Haare iſt hier noch zu bemerken, wie
ihre nähere Textur, Gerolltheit oder Straffheit, Fülle oder Dünne bis zur
Kahlheit bei dem Ausdruck der Stimmung und Zuſtände mitwirkt; äußere
Motive können hinzugezogen werden, wie z. B. bei Pietro Perugino öfters
ein ſanfter Wind, der von den verklärten, goldenen Höhen, aus denen
himmliſche Geſtalten niederſchauen, herweht, die oberſten Löckchen ſehn-
ſuchtsvoll aufblickender Menſchen oder der herſchwebenden Engel leicht
aufwühlt: ein Motiv von eigenthümlich ſtimmungsvoller Wirkung; auch
Raphael hat es öfters, namentlich bei dem Chriſtuskinde auf dem Arm
der ſixt. Madonna. Endlich iſt nun der maleriſche Styl auch an Tönen
des Colorits, wie es ſich über den ganzen Körper, vorzüglich aber über
das Angeſicht verbreitet, unendlich reicher, als es dem gröberen Auge
ſcheinen mag. Erblaſſen und Erbleichen ſind gegenüber dieſer Welt von
Unterſchieden noch einfache Gegenſätze. Das äußerſte Leiden der Seele
und des Leibs z. B. zieht unbeſchreibliche Schauer von grauen Tönen
um Auge und Schläfe zuſammen, verbreitet ſie über die ganze Haut; die
Gemeinheit hat ein fahles Erdcolorit, der Seelenadel eine klare Durch-
ſichtigkeit, frohe Sinnenluſt eine Blutwärme, die wieder in zahlloſe Nüan-
cen ſich theilen kann. — Wenn nun die Malerei mit dieſen feinen Waf-
fen ihre tiefen Wirkungen hervorbringt, ſo hat ſie darum nicht das ſchwere
Geſchütz der durch die ganze Erſcheinung heftig ergoſſenen Bewegung des
Affects zu meiden, vielmehr fallen ja auch hier, nachdem ſchon gezeigt iſt,
wie ſie die gewaltſamſte ſinnliche Bewegung abgeſehen vom Ausdruck ent-
falten darf, die Schranken, welche der Sculptur geſetzt ſind: ſie hat nicht
mit ſo ſtrenger Form, wie dieſe, in der Excentricität der Leidenſchaft den
Schwerpunct des Charakters zu hüten, ſie kann ihn retten durch einen
bloßen Blick, ja durch den beruhigend ruhigen Ausdruck einer zweiten,
dritten Geſtalt. Doch liegt der Unterſchied vom Style der Bildnerkunſt
nicht ſowohl im Maaße der Bewegung im Ganzen und Großen; wir
haben an einem Laokoon geſehen, was dieſe wagen darf; er liegt viel-
mehr in der Verbindung der kleinen Bewegungen mit den großen, in der
Spezialiſirung der letzteren. Der Krampf der Wuth oder des Leidens
erreicht ſeine Furchtbarkeit erſt, wenn er jeden Nerv durchbebt, das An-
[596] geſicht in einen Schlangenknäuel von Einzelfalten zuſammenzieht, aus dem
Auge wie ein Bündel von Pfeilſpitzen oder ein gebrochner, dünner Strahl
unendlichen Flehens blickt. Im Beſitze dieſer vielfältigen Mittel wird die
Malerei jedem Affecte, ſo ſtark er ſein mag, die Geſtalt der Einfachheit
nehmen und ihn in ein volles Concert von Tönen verwandeln, ſie wird
aber auch wirklich die Erſcheinung jener Affecte aufſuchen, in welcher ſich
nicht nur Verſchiedenes, ſondern ſelbſt Entgegengeſetztes durchdringt: ſie
wird die Widerſprüche der pſychiſchen Verwicklung ſuchen, die Momente,
wo Beſcheidenheit und Stolz, Angſt und Zorn, Zweifel und Entſchloſſen-
heit, kurz jedes ſcheinbar unvereinbare Paar, begleitet von einer Welt ver-
wandter Empfindungen ſich im Gemüthe begegnet. Die Kreuzungen ſind
hier im Ausdruck ebenſo zu Hauſe, wie im Colorit. — Der Gegenſatz der
Style ſpielt nun ſeine Rolle natürlich in voller Stärke auch auf dieſem
Gebiete. In dem Bilde einer naiveren, ungetheilteren, harmloſeren
Menſchheit, wie es uns aus der Behandlung des Ausdrucks im plaſtiſch
maleriſchen Styl entgegentritt, wird jene Kleinwelt der Mimik und Phy-
ſiognomik, die der ſtreng maleriſche ſo wirkſam anwendet, gegen die we-
ſentlichen Grundzüge zurückſtehen, in engerem Maaße ausgebildet ſein.
Er wird eine Stelle einnehmen nicht ganz in der Mitte zwiſchen der an-
tiken Schauſpielkunſt in der Maske und der modernen, die jeden Zug der
wirklichen Perſönlichkeit mit allen ſeinen Einzelheiten in Bewegung ſetzt,
ſondern um ein Weniges der erſteren näher. Man wird den Eindruck
von ſeinen Geſtalten und Köpfen empfangen, daß, verglichen mit dem
Werke der Plaſtik, doch der Ausdruck der augenblicklichen Möglichkeit eines
Bruchs der ruhigen, auch in der Leidenſchaft unverlorenen Harmonie da ſei,
den aber die natürliche Anmuth und die einfach gediegene Würde auf
der Schwelle ſtetig zurückhalte. Dieſe Anmuth und Würde wird ſculptur-
ähnlich und doch verglichen mit der wirklichen Sculptur ungleich inner-
licher ſein. Die Anmuth wird auf ein tieferes, innigeres Wohlwollen,
auf eine univerſalere Menſchenliebe hinweiſen, denn der Blitz des Geiſtes
kommt in der maleriſchen Darſtellung immer aus Tiefen, die weit über
die Beſonderheit vereinzelter Kreiſe des Weltganzen hinausreichen; ſelbſt
im Gebiete des harmloſen Lebens, im Glück der Natur wird aus den
Augen einer ſinnenfrohen Menſchheit eine Erwärmung des tiefſten See-
lenlebens, eine Seelenfreude leuchten, die uns doch ankündigt, daß es hier
auch eine Sehnſucht und einen Schmerz gebe, die einer Aphrodite, einer
Bacchantin fremd ſind; die männliche Würde aber wird uns durch ihr
Sinnen und ihre Falten von andern Kämpfen erzählen, als die Feldherrn,
Staatsmänner, Redner der plaſtiſchen Welt; und entfeſſelt der plaſtiſch
auffaſſende Maler den Sturm der Leidenſchaft, ſo wird er wohl einfacher
ſein, die gemiſchten, ſcheinbar widerſprechenden Affecte lieber meiden,
[597] aber doch wird auch aus den weniger in’s Einzelne durchgeführten Zügen
ein inneres Unglück, eine Empörung der Tiefe blitzen, die der Meiſel
nicht kennt.


§. 683.

Die Malerei hat aber auch in dieſen Gebieten ihre Grenze. Sie ſoll
heftige ſinnliche Bewegung nicht mit Abſichtlichkeit aufſuchen, die Leidenſchaft
nicht zu Formen des Ausbruchs ſteigern, welche nur durch Mitwirken des
furchtbaren Tones und der wirklichen Bewegung erträglich ſind. Sie kann
durch die Mittel des Ausdrucks überhaupt keine Seelenthätigkeit darſtellen,
die nur durch Worte verſtändlich iſt, ſonſt verirrt ſie ſich in die Dichtung oder
ſogar über das Aeſthetiſche hinaus in das Gebiet des Wahren. Auch Empfin-
dungsmomente, welche ſich in die Innerlichkeit des Tons und Worts zurück-
ziehen, kann ſie nicht feſſeln, ohne ſich in den Bereich der empfindenden Phan-
taſie zu verlieren.


Die Verirrungen, welche der Malerei nahe liegen, ſind zu §. 658
im Allgemeinen angedeutet; nach einer Seite haben wir dieſelben im
weiteren Verlaufe näher kennen gelernt: der Rückgriff in die Plaſtik hat
ſeine Erläuterung gefunden und, ſofern er in der Ueberſteigerung des
Colorits liegt, der Vorgriff in das Muſikaliſche. Der wichtigſte Theil
der Fehltritte liegt nun aber auf dem Gebiete der Bewegung und des
Ausdruckes. Die Reihe derſelben beginnt mit der zu großen Vorliebe
für heftige oder überhaupt durch Verwicklung, Verkürzungen ſchwierige
Bewegung und Stellung. Man kann zunächſt nicht ſagen, daß eine
ſolche Neigung in eine beſtimmte andere Kunſt übergreife, ſie erſcheint
einfach als einer der Puncte, wo eine an ſich berechtigte Auffaſſung und
ſtarkes Selbſtgefühl des künſtleriſchen Könnens ſich unvermerkt in Prahlerei
und Manier verrennt, wie bei M. Angelo, deſſen ſpäteres Uebermaaß
im Aufſuchen ſolcher Zeichnungs-Schwierigkeiten von der urſprünglich
wahrhaft erhabenen Gewaltigkeit und furchtbaren Bewegtheit ſeiner inner-
ſten Anſchauung ausging. Doch macht ſich in dieſer Behandlungsweiſe
allerdings auch ein Auflockern der Grenzen der ganzen Kunſtform nach
verſchiedenen Seiten hin ſichtbar. In gewiſſem Sinne nach der Seite der
Bildnerkunſt, denn obwohl derſelben Ruhe mehr entſpricht, als heftige Be-
wegung, ſo liegt doch in ſolcher Bravour, da es ſich hauptſächlich um ein
Formen-Aufzeigen handelt, etwas Plaſtiſches, ein Uebermaaß plaſtiſcher
Auffaſſungsweiſe; mehr muſikaliſch gemahnt durch die Weichheit der For-
men, die Art der Gegenſtände, des Ausdrucks, das Spiel der Verkürzun-
gen bei einem Correggio und das Meiden beſtimmter, feſter Stellungen
[598] bei manchen Neueren, z. B. den Engländern. Man kann nun überhaupt
von der Seite abſehen, wonach es bei ſolcher Behandlung dem Künſtler
hauptſächlich darum zu thun iſt, die Formen in allen Wendungen zu zei-
gen; dann erſcheint eine über die Bedingungen des Gegenſtands hinaus-
greifende Vorliebe für das Bewegte im Ganzen als ein Uebertritt in das
innere Leben der Phantaſie, wo alle Geſtalten ſchwanken und ſchweben,
und da dieß Leben ohne eigentlichen materiellen Niederſchlag ſich in Muſik
und Poeſie darſtellt, ſo ſtehen wir unmittelbar vor den beſtimmteren Ueber-
griffen in dieſe Gebiete. Ein negativer Uebergriff in die Dichtkunſt iſt
es, wenn der äußerſte Krampf leidender oder handelnder Bewegung dar-
geſtellt wird, wie er einen Grad der Häßlichkeit bedingt, welcher nur
einer Kunſt erlaubt ſein kann, die uns das Bild blos innerlich vor-
überführt, die Vorſtellung des furchtbaren Tons dazu gibt, in welchem
das häßlich Furchtbare, was dem Geſichte geboten wird, eine auflöſende
Ableitung findet, und welche endlich das Bild überhaupt in einer Succeſ-
ſion fortführt. Wie der Laokoon des Bildners nicht mit weitgeöffnetem
Munde ſchreien dürfte, auch wenn ihm ſein Leiden mehr, als ein gepreß-
tes Stöhnen, erlaubte, ſo dürfte es auch ein gemalter nicht und der vor
Schmerz brüllende Petrus von Rubens in Köln iſt eine künſtleriſche
Sünde, welche durch die rein äußerlich in den Troſtbringenden Engel-
kindern hinzugegebene Verſöhnung ſo wenig gemildert wird, als in ſo
manchen andern Werken, wo für den fehlenden Seelen-Ausdruck der Er-
hebung über das Leiden dieſes grobſinnlichere Surragot dienen ſoll.
Die Märtyrer-Schindereien, die ſich im Mittelalter und ſpäter die Kunſt
von dem ſtoffartigen Intereſſe der Religion dictiren ließ, ſind ein graſſes
Beiſpiel der Verirrung in eine auch der Malerei verwehrte Steigerung
des Häßlichen; hier fehlt nicht nur zum Körperſchmerz der Ausdruck der
geiſtigen Erhebung, ſondern zwiſchen beiden auch der Ausdruck des See-
lenleidens, in welchem, wie wir geſehen, die Malerei ganz beſonders ihre
Tiefe zu entfalten vermag. Poſitiv aber verirrt ſich die Malerei in die
Poeſie, wenn ſie malt, was zwar an ſich anſchaulich, aber ohne Worte
nicht verſtändlich iſt: Momente, wo ein Innerliches dargeſtellt werden ſoll,
was in Figuren zwar ungefähr, aber nicht in der Beſtimmtheit zum Aus-
druck kommen kann, um welche es ſich bei dem gewählten Stoff eben
handelt. Man kann einen tiefbrütenden Menſchen malen, aber nicht
Hamlet, wie er den Monolog: Sein oder Nichtſein ſpricht, einen ſtudi-
renden Forſcher, aber nicht Newton, wie er das Geſetz des Falls entdeckt,
zwei Frauen in gefühlvollem Geſpräch, aber nicht Maria, wie ſie mit
Porcia, der Gemahlin des Pilatus, ſich von der Glückſeligkeit des ewigen
Lebens unterhält (ein Gemälde von Hetſch, vergl. Göthe W. B. 43 S. 87),
ein ſcherzendes Pärchen, aber nicht Uhland’s Gedicht Hans und Grete, wo
[599] ein Witzwort die Spitze des Ganzen iſt, gerührte Zuſchauer eines Dra-
ma, aber nicht ein Parterre, dem man anſehen ſoll, daß eben da Don
Carlos aufgeführt wird u. ſ. w. Es wäre hier ein ganzes Klagelied
über die namentlich jetzt ſo häufige Verirrung in der Stoffwahl zu ſchrei-
ben. — Der Fehlgriff kann aber weiter gehen bis zu ſolchen Stoffen,
welche zwar auch in einer Dichtung vorkommen können, aber nur als
einzelnes Mittel, weil ſie das Bild bereits in einem blos dienenden Ver-
hältniß zum Gedanken anwenden, wozu eine ungefähre Vorſtellung ge-
nügt, die ſich der äußern Darſtellung auch ganz entziehen kann. Hier
fällt auch dieß weg, was die vorhergehende Art von Stoffen noch hatte,
daß nämlich eine allgemeine Seite am Bild haftet, die noch darſtellbar wäre,
hier kann durchaus der Stoff als Ganzes nur durch das Wort ausgedrückt
werden. Dieß iſt das Gebiet der Vergleichung (§. 405). Die Parabel iſt
meiſt noch darſtellbar, aber als Gemälde iſt ſie eigentlich keine Parabel mehr.
Es kann nämlich das Bild, womit die Parabel ihre Lehre veranſchaulicht,
für ſich eine gewiſſe ſelbſtändige Schönheit über das Lehrbedürfniß hinaus
entfalten, wie z. B. das Bild vom Hirten, der ein verlorenes Schaaf
aus dem Dornbuſch rettet. Die Erklärung aber, die man bedarf, um zu
wiſſen, daß es ſich hier eigentlich nicht von einem Hirten u. ſ. w. handelt,
geht weit über die bloße Notiz hinaus, wie ein Werk der bildenden Kunſt
ſie erlaubter Weiſe zu ſeinem Verſtändniß vorausſetzt. Es iſt nur die
Geläufigkeit der Bekanntſchaft mit einer Parabel, die dieſen Mangel ver-
decken kann. Man kann nicht oft genug ſagen, daß das Kunſtwerk ſich
ſelbſt erklären ſoll. Die Darſtellbarkeit hört aber ganz auf bei dem bloßen
Gleichniß, das zudem nach Belieben auch ein Bild wählen mag, welches
in der wirklichen Anſchauung gar nicht vollzogen werden kann, wie das
bibliſche vom Balken und Splitter; aber auch dieß hat man gemalt.
Wir ſtehen hiemit wieder bei der allgemeinen Frage über die Darſtellung
abſtracter Begriffe und abſtract aufgefaßter concreter Begriffe. Hierauf
antwortet in der Metaphyſik des Schönen §. 16 und in der Lehre von
der Phantaſie §. 444 (von der Allegorie). In der That iſt es nur
die geiſtige Leichtigkeit, Beweglichkeit, der durchſichtigere Schein in der
Darſtellungsweiſe der Malerei, was für dieſe Kunſt die Verſuchung mit
ſich führt, Wahrheiten zu vergeſſen, welche aller Kunſt gelten, ſich
recht grundſatzmäßig auf die Allegorie zu werfen und jene Gedanken-
Malerei auszubilden, welche mit dem Verfall der Künſte begonnen und
in der modernen Wiederbelebung neuen Raum gewonnen hat. Sieht
man das Weſen dieſer Kunſt genauer an, ſo zeigt es zwei Seiten, welche
ſich zu der Frage über eigentliche oder uneigentliche Darſtellung grund-
verſchieden verhalten. Die Kunſtweiſe der Malerei iſt wohl in gewiſſem
Sinne mehr reiner Schein, als die der Sculptur (vergl. §. 650), aber
[600] ſie iſt gerade durch das Aufgeben der ſchweren Materialität ebenſoſehr
vollerer Schein, führt zur ſtreng realen Bedingtheit des Daſeins und
weist daher jene mythiſche Abbreviatur ab, welche im Alterthum und
Mittelalter als eine geglaubte noch concret war, in der neuern Zeit durch
die auflöſende Kraft der Kritik zur Abſtraction der Allegorie ſich erkältet
hat. Dieß mußte beim Colorit ſchon berührt werden (§. 674 Anm.).
Die Geſchichte unſerer Kunſt wird erſt in voller Klarheit zeigen, wie ihr
inneres Geſetz ſie trieb, das Mythiſche immer inniger in das menſchlich
Vetrauliche, ganz real Bedingte hereinzuführen, bis die Einſicht ſich auf-
drängte, daß dieſes Geſetz andere Stoffe, d. h. die urſprüngliche Stoff-
welt verlange. Gerade die Sculptur iſt es vielmehr, die wir durchaus
als Götterbildende Kunſt kennen gelernt haben. Was nun die eigentli-
lichen Allegorien betrifft, d. h. (um von unbeſeelten Objecten hier abzu-
ſehen) ſinnbildliche Perſonen und Handlungen ſolcher Perſonen, welche
niemals ſtreng zu den mythiſchen Weſen gehörten, ſondern ſchon in der
mythiſchen Zeit zwiſchen geglaubter Exiſtenz und bewußter bloßer Gedan-
kenhaftigkeit ſchwebten, oder welche ſogar vom Einzelnen neu erfunden
werden ohne weiteren Anſpruch auf Wärme der Illuſion, ſo mag es auch
hier im Einzelnen geſchehen, daß der Künſtler durch innige Verſetzung in
die verklungene Form der Phantaſie, welche mehr, als Allegorien, welche
Götter und Geiſter ſchuf, ihnen einen myſtiſchen Anflug, traumhaften Le-
benshauch zu geben vermag, im Ganzen aber bleiben ſolche Bildungen
doch in der Malerei viel unwahrer, als in der Bildnerkunſt. Dagegen
die Skizze, wie ſie überhaupt das plaſtiſche Moment in der Malerei für
ſich fixirt, bewegt ſich hierin freier, willkührlicher. Ebenſo in der Farben-
Ausführung die Freske gegenüber der Oelmalerei, denn ſie führt die
Erſcheinungen nicht ſo innig in die volle Wärme des Lebensſcheins herein,
der die Wolkengebilde einer zweiten Stoffwelt durch die Kraft ſeiner
Realität tödtet. Es iſt die Ausführung mit allen Farbenmitteln in der
Fülle des Scheins, was gegen Kaulbach’s Zerſtörung Jeruſalems (das
Staffelei-Bild) die Kritik herausgefordert hat, vorzüglich an dieſem Werke
zu zeigen, wie das Nebeneinander des geſchichtlich Wirklichen und des
theils Mythiſchen, theils Allegoriſchen ſich gegenſeitig todtſchlägt und die
Einheit zerreißt. So viel über die eine der oben unterſchiedenen zwei
Seiten. Die Freske iſt es nun, welche uns zugleich auf die andere Seite
der maleriſchen Darſtellung führt. Sie benützt das Moment der Feßlung
des Scheins an eine Fläche zur Ueberkleidung großer Räume. Dieß
Moment iſt es, was naturgemäßer zur gedankenhaften Darſtellung führt,
denn die umfaſſenden cykliſchen Entfaltungen einer Idee, welche ſich hier
darbieten, können mindeſtens zur Verknüpfung und Zuſammenfaſſung den
Mythus und die Allegorie kaum entbehren. Hier mag denn die Wand-
[601] malerei ihr größeres Recht an dieſe Stoffe, wie es an ſich ſchon in ihrer
Darſtellungsweiſe liegt, unbefangen, doch beſcheiden und ohne anmaßende
Doctrin benützen. — Es geht aus allem Geſagten hervor, daß die pla-
ſtiſche Stylrichtung es iſt, welche vorzüglich verſucht ſein wird, in das
Gebiet des Gedankenhaften zu gerathen, das keine wahre Verkörperung
zuläßt. Die Skizze, die Freske gehört ja weſentlich zu dieſem Style, der
auf die Zeichnung ſich ſtützt, und wir haben hiemit einen Beleg für den
Satz in §. 676, 2., daß derſelbe, wenn er einſeitig werde, ſich in das
körperlos Gedankenhafte verliere. — Der Schlußſatz des §. ſpricht noch
von Uebergriffen in das Muſikaliſche. Solche ſind, wie geſagt, ſchon bei
dem Colorit (auch bei der äußern Bewegung) erwähnt, nun aber
handelt es ſich vom Ausdruck im Zuſammenhang mit der Stoffwahl:
nur zu häufig hat man einen lyriſchen Ton, Empfindungsklang, den
der Text eines Lieds mit kurzen Worten in eine blos angedeutete
Situation legt, mit der Ausführlichkeit der maleriſchen Mittel zu ver-
körpern verſucht. Als Beiſpiel iſt ſchon zu §. 543, als dieſer Punct
berührt wurde, Leſſings trauerndes Königspaar angeführt; lyriſche Mo-
mente aus Göthes Fauſt ſind von Ary Scheffer dargeſtellt worden: ſo
ſteht z. B. Mignon einfach da und man ſoll ihr anſehen, daß ſie eben
von dem Gefühl erfüllt iſt, das in dem Liede: Kennſt du das Land, oder:
So laßt mich ſcheinen, ſich ausſpricht. Hier iſt allerdings der Mißſtand
ein anderer, als in jenem Bilde Leſſings: in dieſem haben wir gegenüber
dem zu Grund liegenden lyriſchen Stoffe zu viel, in jenem gegenüber der
maleriſchen Aufgabe zu wenig, es fehlt an der Ausführlichkeit der Situa-
tion, welche die Malerei fordert, weil ſie den Menſchen in die Beziehung
auf eine Umgebung ſetzt. Auch ein epiſches Gedicht, wenn es, wie Klopſtocks
Meſſias, an ſich mehr Muſik als Poeſie iſt, gibt keinen Stoff für die
Malerei. Allerdings gibt es durchaus lyriſche Producte, die doch zugleich
für den Maler ein ganz anſchauliches Bild abwerfen, wie z. B. Schäfers
Klagelied von Göthe; doch mehr nur für den Illuſtrator, Zeichner, Holz-
ſchneider. Uebrigens handelt es ſich nicht blos von der Benützung gegebener
Poeſie oder Muſik; der Maler kann überhaupt in den Fehler verfallen,
blos muſikaliſche Stimmungs-Momente darſtellen zu wollen, oder einen
Stoff, dem an ſich die bildliche Objectivität nicht fehlt, vorher in die zer-
fließende Unbeſtimmtheit muſikaliſcher Empfindungsweiſe zu tauchen und
in entſprechender Stylloſigkeit darzuſtellen.


§. 684.

Der eine Zeitmoment, an welchen die Malerei wie die Bildnerkunſt1.
und mit derſelben Ausnahme (vergl. §. 650 und 613) gefeſſelt iſt, ſoll auch

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 40
[602]2.für ſie der fruchtbare ſein. Ihr entſpricht vorzüglich der Augenblick der höch-
ſten Spannung und ſie iſt dadurch der wirkſamſten, gegenwärtige Handlung dar-
ſtellenden Form der dichtenden Phantaſie verwandt. Schon die mitdargeſtellte
Umgebung fordert ſie auf, von der einfachen zur bewegteren Situation und zur
vollen Handlung fortzugehen, und erleichtert zugleich die Verſtändlichkeit
derſelben ohne die Hülfen, deren die Plaſtik bedarf. Doch hat ſie ſich hierin
zu mäßigen, denn ihre Ausführlichkeit in der Ausbreitung des Sichtbaren ge-
bietet ihr, den Gegenſtand, mag er auch durch Straffheit der Wirkung ſeine
Gegenwärtigkeit höchſt fühlbar machen, unter den Standpunct der ruhigen Ob-
jectivität zu ſtellen, welchen die ihren Stoff als ein Vergangenes erzählende
3.Form der Dichtung einnimmt. Die Vortheile dieſer Behandlung belohnen
reichlich für dieſe und alle andern, durch die Schranken der Kunſtgattung auf-
gelegten, Verzichtleiſtungen.


1. Daß die Malerei trotz der größeren Freiheit und Leichtigkeit ihrer
ſämmtlichen Darſtellungsbedingungen doch unter demſelben Geſetze der
Bindung eines einzigen Zeitmoments an den Raum ſteht, wie die Bild-
nerkunſt, iſt ſchon in der allgemeinen Erörterung aufgeſtellt; was zu ſa-
gen übrig bleibt, findet ſeine Stelle im gegenwärtigen Zuſammenhang,
wo wir uns mit der Weite der Bewegung und des Ausdrucks, die der
Malerei geöffnet iſt, aber auch mit deren Schranken beſchäftigen. Die
Malerei hat nun zwar eine ſtärkere Verſuchung, als die Sculptur, dieſelbe
Perſon in einer Reihenfolge von Momenten auf Einem Bilde darzuſtellen;
dieſe Verſuchung liegt in den Abſtufungen der räumlichen Ferne, welche
durch einen naheliegenden Umtauſch der Begriffe als Zeitfernen ſich dar-
zubieten ſcheinen; doch iſt dieß nur für naive Zeiten eine Entſchuldigung
und was man einem Hans Memling nachſieht, darf ſich der Künſtler nicht
erlauben, den die Bildung ſeiner Zeit über die Grundgeſetze der Kunſt-
gattungen belehrt hat. Dagegen hat die Malerei ihre ideale Abbreviatur
der Zeit, wie die Sculptur: ſie kann verſchiedene Momente einer Hand-
lung in Einen zuſammenziehen, ſie kann Perſonen aus verſchiedenen Zei-
ten in Einer Compoſition zuſammenſtellen, und zwar nicht nur im mythi-
ſchen Gebiete, wo ſie natürlich mit der Sculptur in dieſer Beziehung gleich
geht (vergl. den Schluß der Anm. des §. 613), ſondern auch im rein
menſchlichen: denn die Phantaſie hat das Recht, auch ohne alle Anlehnung
an einen poſitiven Glauben eine Art von idealem Raum und Zeit aus-
zuſondern, wo Ein Moment mehrere Stadien einer Handlung vereinigt
und wo längſt Geſchiedene mit kürzlich Geſchiedenen, ja mit Lebenden in
Einem verklärten Kreis zuſammentreten und die ihrem Wirken gemein-
ſchaftliche Idee darſtellen; Raphaels Schule von Athen iſt ein ſolcher
himmliſcher Kreis ohne Mythus.


[603]

2. Die Malerei iſt wie die Sculptur auf den fruchtbaren Moment
gewieſen. Wir haben zu §. 613 drei Stadien unterſchieden: Anlauf,
vollen Ausbruch, Ablauf, und gefunden, daß der Bildnerkunſt vorzüglich
die dritte dieſer Stufen zuſagen muß. Die Malerei aber als eine Kunſt
des bewegten Wurfes, nicht der vorherrſchenden Ruhe, als eine Kunſt
des zündenden Ausdrucks, des Affects, der leichteren Auflöſung des Häß-
lichen wird ein anderes Geſetz haben, als die Sculptur. Natürlich
wird ſie den Moment des vollen Ausbruchs weniger ſcheuen, als dieſe;
der Bethlehemitiſche Kindermord, die Ermordung der Kinder Eduards
mag in vollem Laufe des Schrecklichen zur Darſtellung kommen. Allein
nicht nur hat das Häßliche auch für ſie ein Maaß, nicht nur fühlt
man auch bei ihr ſtark genug den Mangel des mitwirkenden Tons und
der wirklichen Fortbewegung, ſondern ſie theilt mit aller bildenden Kunſt
das Gebot, auf die Phantaſie ſo zu wirken, daß ein noch Stärkeres, als
das Dargeſtellte, mit der ganzen Kraft der Unendlichkeit innerlich vorzu-
ſtellen übrig bleibt. Daher iſt es ächt maleriſch, wenn ein bekanntes
franzöſiſches Bild den Bethl. Kindermord in einer einzigen Mutter dar-
ſtellt, die in namenloſer Bangigkeit in einer Ecke zuſammengekauert ihr
Kind krampfhaft umfaßt, während man im Hintergrunde die Mörder
nahen ſieht, oder wenn Delaroche den Moment der Ermordung der
Knaben im Tower wählte, wo ſie aufgeſchreckt von einem Geräuſch, das
durch ein bellendes Hündchen angezeigt iſt, in Todesangſt von ihrem
Lager nach der Stelle ſehen, woher man die Tritte des Mörders ver-
nimmt; doch hat auch Hildebrand zwar den erſten Schritt der Ausführung
des Mords, aber nicht das Erſticken ſelbſt dargeſtellt. Solche ſtraffe
Spannung, ſolche Stellung auf die haarſcharfe Schneide des Meſſers iſt
durch und durch dramatiſch und die Malerei erweist ſich als tief ver-
wandt dieſem Zweige der Dichtkunſt, während die Sculptur von epiſchem
Geiſte getragen iſt. Das Drama wirkt als gegenwärtige Darſtellung
ganz auf den Moment, faßt eine Summe von Hebeln in eine Spitze zu-
ſammen, die es mit der ganzen Kraft der Gegenwart ſcharf und ſtraff
in die Seele des Zuſchauers treibt; das Epos kühlt allen Stoff in den
ruhigen, klaren Waſſern der Vergangenheit ab. Gegenwärtig in vollem
Sinne des Worts iſt alles Werk der bildenden Kunſt und wir werden das
Drama als eine Wiederherſtellung dieſer Form innerhalb der Poeſie erken-
nen; aber die Sculptur ſenkt trotz der handgreiflicheren Form, welche das
Gegenwärtige in ihrem Werk annimmt, durch ihre Verſteinerung die Geſtalt
wieder in die kryſtallene Grotte, den kühlen Meeresgrund des Vergangenen,
die Malerei führt ſie trotz der geringeren Körperhaftigkeit durch das
Feuer des farbigen Scheins unmittelbarer in die Luft des heißen Tages
der Gegenwart. Neben dem Charakter der Farbe iſt es vorzüglich das

40*
[604]Mitdarſtellen der Umgebung, was die Malerei in die bewegte, volle Si-
tuation und in die Mitte der Handlung herausführt. Es iſt dieß ſchon
zu §. 683 ausgeſprochen, um Darſtellungen lyriſcher Innerlichkeit abzu-
weiſen (vergl. über ein dem dort erwähnten ähnliches Bild der Mignon
von Schadow Hegel a. a. O. Th. 3 S. 186). Die Umgebung iſt ein
weſentlich Beziehungsreiches, mit Lebensreizen, Antrieben Geſchwängertes,
ſie treibt den Menſchen aus ſich heraus, ſollicitirt ihn von allen Seiten.
Die Sculptur iſt wie durch ihren innerſten Geiſt, ſo insbeſondere durch
den Mangel an Umgebung im Entfalten von Handlungen gehemmt; ſie
bedarf ſchon zum Verſtändniſſe der ſymboliſchen Hülfen (vergl. §. 612);
die Malerei kann dieſe entbehren: daſſelbe, was die Reize zur Handlung,
die Motive enthält, erklärt ſie zugleich. Allein die Gegenwärtigkeit der
Darſtellung wird doch nicht nur in der Sculptur durch ihr Material und
Stylgeſetz abgedämpft; auch in der feurigeren Malerei iſt und bleibt ja
die Feſſlung im Raum das Grundbeſtimmende und dieſe Feſſlung gebietet
mitten im Sturm auch dem Maler eine Ruhe, eine Objectivität, welche
zu der edlen Kühle des Erzählers zurückführt, vor deſſen Auge der Stoff
als ein vergangener ſich wie eine Landſchaft ausbreitet. Auch dieſe
Kunſt ſoll daher nicht zu ſehr auf ſpannende Wirkung losgehen. Hiezu
kommt, daß jene Mitaufnahme der Umgebung, obwohl ſie es hauptſächlich iſt,
was ihre Darſtellung beflügelt, ihr dennoch zugleich ebenfalls Ruhe gebietet.
Sie iſt eine ausführliche Kunſt, geht in die Breite, hat viel und vielerlei zu
geben, ſie braucht dazu Zeit; ungleich weniger, als die Plaſtik, aber un-
gleich mehr, als die Dichtkunſt. Dieſe Ausführlichkeit, Langſamkeit be-
ſtimmt nothwendig des Malers Sinn und Stimmung auch in die Tiefe,
theilt ihm ein gewiſſes Phlegma, Scheue vor dem Fahrigen, allzu Hefti-
gen, allzu Momentanen mit, führt ihn mehr auf das Zuſtändliche, als
auf die Handlung. Die trefflichſten Schulen und Meiſter aller Zeit ha-
ben daher die ſtark erſchütternden Momente doch weit mehr gemieden,
als man dieß von der freien Beweglichkeit der Malerei eigentlich erwar-
ten zu müſſen meint, und auch im Komiſchen findet man dieſe Mäßigung:
die Holländer, nachdem ſie dieß Gebiet erobert, haben im Grund wenig
gemalt, was unmittelbar ſtarkes Lachen erregt, ſondern mehr das Lächeln
des feinen Belauſchers menſchlicher Natur, Sitte, Schwäche, wie ſie ſich
unbelauſcht glaubt und gehen läßt, zu gewinnen geſucht. Der Begriff des
Dramatiſchen iſt alſo nur mit Vorſicht auf die Malerei anzuwenden, und
wenn man zugeben muß, daß die neuere Malerei vorzüglich dahin ge-
wieſen iſt, ſo darf dabei nicht vergeſſen werden, daß dieſes Geſetz der
Dämpfung und Beſcheidenheit für immer der ganzen Kunſtform aufgelegt
iſt. Sonſt wird der Maler noch leichter, als der Dichter ſelbſt, vom
Dramatiſchen in die nervös pathologiſchen Spannungen und in das
[605] Theatraliſche ſtatt des Poetiſchen gerathen. Das Letztere beſonders haben
wir zu fürchten und uns zu hüten, daß wir mehr, als gut iſt, von den
Franzoſen lernen. Niemand verſteht es beſſer, als ſie, den ſchlagenden
Moment herauszugreifen, aber ſie ſind es auch, von denen das Ueber-
maaß, die Abſichtlichkeit, der galvaniſche, zuckende Schlag und der eitle
Ausdruck des Wiſſens um den Zuſchauer ausgegangen iſt.


3. Wir haben nun einen Ueberblick über die Schranken unſerer Kunſt;
wir haben früher geſehen, daß der Maler nicht dem Muſiker und Dichter
überhaupt oder gar dem Lehrer, wir haben jetzt geſehen, daß er auch
dem dramatiſchen, für die Bühne wirkenden Dichter nicht in ſein Gebiet
greifen, nicht in dem mit ihm wetteifern ſoll, was nur er allein vermag.
Dafür vermag der Maler etwas, worin es ihm keine Kunſt oder geiſtige
Thätigkeit gleich thut, die nur für das Ohr und Gefühl, nur für das
Ohr oder das blos leſende Auge und die innere Vorſtellung darſtellt: die
ruhige Ausbreitung der Erſcheinungen als ein Nebeneinander, das vor
dem Zuſchauer ſtehen bleibt, daß ſein Auge verweile, nach dem erſten
Ueberblick Einzelnes um Einzelnes durchwandle und dann wieder zum
Ganzen zuſammenfaſſe. Wir werden ſehen, wie nahe der Muſik und
Poeſie die Verführung liegt, dem Maler in ſein Land zu fallen, zu han-
deln, als könnten ſie ein Bild geben, das dem Auge ſtille hält; da ver-
geſſen ſie, daß ſie für Verzichtleiſtung auf dieſe Wirkungsart den unend-
lichen Vortheil der wirklichen Bewegung eintauſchen; umgekehrt vergißt
der Maler, welcher malt, als tönten, ſprächen, bewegten ſich ſeine Bilder
wirklich, daß er für das Opfer des Verſuchs, alſo zu wirken, den unend-
lichen Vortheil dieſer ſtillehaltenden räumlichen Entfaltung eintauſcht: „daß
doch der gute bildende Künſtler mit dem Poeten wetteifern will, da er
doch eigentlich durch das, was er allein machen kann und zu machen
hätte, den Dichter zur Verzweiflung bringen könnte“! (Göthe W. B. 43
S. 87.)


§. 685.

Die reiche Welt von Formen, Bewegungen, Affecten faßt ſich nur durch
die feſte Einheit des Charakters im Sinne des mit einem beſtimmten Inhalt
ſtetig erfüllten Willens zum Bilde der Handlung zuſammen. Die Malerei iſt
unerachtet ihres viel weiteren Gebiets und des Unterſchieds ihrer Auffaſſung
ebenſoſehr, ja in gewiſſem Sinne noch mehr, als die Plaſtik, Kunſt der Cha-
rakterdarſtellung. Wie aber der einzelne Charakter im maleriſchen Styl als
eine Willens-Einheit erſcheint, die einen mannigfaltigeren und verwickelteren
Stoff beherrſcht, ſo iſt auch die Mannigfaltigkeit der Charakterbilder überhaupt,
verglichen mit der ſparſamen Typen-Bildung der Plaſtik, in der Malerei eine
[606] unendliche. Auch das gemeſſene Pathos des mehr plaſtiſchen Styls entfernt ſich
weit von jener Einfachheit und Sparſamkeit.


Wir haben geſehen, daß die Kunſt der Malerei durch ihr innerſtes
Weſen zur Handlung, zum Dramatiſchen geführt wird; damit iſt bereits
vorausgeſetzt, daß die Welt des Ausdrucks, der Affecte zu ihrem Kern
und Mittelpunct den Charakter habe, denn nur dieſer handelt. Es iſt
nun, wie alle andern, ſo auch dieſes Moment aus der allgemeinen Er-
örterung (§. 654) noch einmal ausdrücklich aufzunehmen und als feſter
Schlußpunct um ſo mehr an die Spitze zu ſtellen, weil uns die ethiſche
Einheit in dem unendlichen Reichthum von Formen, Arten der Bewegung
und des innern Ausdrucks ſcheinen kann verloren gegangen zu ſein.
In der That gibt es für die Malerei eine Verſuchung, charakterlos zu
werden, Eigenſchaften, Kräfte, Neigungen, Stimmungen, Leidenſchaften
darzuſtellen, aber keinen Charakter. Man warnt ſonſt die Malerei vor
dem Uebermaaße des Charakteriſtiſchen. Dieß hat im vorliegenden Zu-
ſammenhang dieſelbe Bedeutung mit dem Begriffe des Charakterloſen;
denn wenn Charakter das Stetige intenſiver perſönlicher Willens-Einheit
bedeutet, ſo ſteht dem Ausdrucke derſelben gegenüber die Uebertreibung
oder Alleinherrſchaft aller der Züge, welche wir bisher unter dem Natu-
raliſtiſchen und Individualiſirenden befaßt haben. Der Begriff des Cha-
rakteriſtiſchen wickelt ſich jetzt bis zur völligen Klarheit ab. In §. 625
Anm. 2 hieß es: wer ſich gegen daſſelbe erklärt, fühlt plaſtiſch; jetzt:
wer ſich dafür erklärt, fühlt maleriſch. Allein nur die ungleich bunter
gebrochene Peripherie, noch nicht den Kern dieſer Peripherie hat man
erfaßt, wenn man das Charakteriſtiſche im gewöhnlichen Sinne als
Grundzug der Malerei geltend macht. Das Charakteriſtiſche umfaßt
die Charakterzüge im untergeordneten, nicht im intenſiv ethiſchen Sinne
des Worts. Es ſind die Naturbedingungen: das Gepräge des Volks,
Stamms, Alters, Geſchlechts, Zuſtands; die Bedingungen der ein-
gewöhnten Thätigkeit: der Stempel des Standes, der Culturformen u. ſ. w.;
es ſind die Züge der beſonderen Kraft, Empfindung, Neigung, Leiden-
ſchaft, momentan oder eingewurzelt; es iſt die unendlich eigene Miſchung
der Kräfte im Individuum, wie ſie angeboren iſt und wie ſie ſich vor
der Zeit der eigentlichen Charakterbildung zu jenen irrationalen Ein-
heiten bis zur Grille und Abſonderlichkeit ausbildet, die wir in §. 625,
Anm. 2 vom plaſtiſchen Charakter fern gehalten haben. Das Alles iſt,
wie wir uns hinreichend überzeugt haben, in der Malerei zur äſthetiſchen
Geltung erhoben; aber es iſt, wie ſich alſo nunmehr ergibt, nicht der
Charakter, ſondern nur das Polygon, deſſen Axe er ſein ſoll, das Farben-
priſma, zu dem er ſich als die Einheit des bedingenden Lichtes verhält.
[607] Die Verſuchung, dieß Alles auszubilden und den Kernpunct wegzulaſſen,
das Charakteriſtiſche ohne Charakter zu geben, dieſem durch jenes den
Weg zu verſperren, iſt der Malerei dadurch nahe gelegt, daß ſie die
einzige bildende Kunſt iſt, die ſich in den Beſitz der Mittel geſetzt hat, die
ganze Welt des Beſondern und Einzelnen in dieſem Umfang darzuſtellen;
eine Eroberung verführt leicht zum Uebermuth, ein Vorrecht zum Miß-
brauch. Es iſt jedoch dieß nicht die einzige Verſuchung; von anderer
Seite kommt eine andere, die aber ebenfalls der Art iſt, daß ſie zum
Charakterloſen zu verleiten droht. Iſt der Maler von jener Seite ver-
ſucht, lauter Ecken und Schärfen ohne Centrum zu geben, ſo lockt ihn
von dieſer das Landſchaftliche, das Stimmungsvolle zum Zerfloſſenen,
zur Auflöſung aller Beſtimmtheit in hinſchmelzender Empfindung, ſo daß
nun nicht beſtimmte Farben und Formen, ſondern ſchwankende Nebel den
Lichtkern, die Sonne des Charakters erdrücken. Allein dieſe ganze Welt
des Unbeſtimmten, Ahnungsvollen, wie jene Welt des ſcharf Beſtimmten
ſoll ja nur der Stoff ſein, durch deſſen Beherrſchung der Charakter im
engern Sinne des Worts deſto völliger ſeine Kraft zeigt. Die plaſtiſch
aufgefaßte Perſönlichkeit erſcheint nur unmittelbarer als Charakter; ſie gibt
ſich directer als ſolcher zu fühlen, weil der Wille eine einfachere, ungebro-
chenere Welt von Kräften und Eigenſchaften beherrſcht, der plaſtiſche Cha-
rakter iſt runder, planer; der maleriſche gleicht dem gothiſchen Bau, der
eine faſt unüberſehliche Fülle von Einzelnem, von ſcharfen Spitzen und
ſtimmungsvollen Wölbungen in der gemeinſamen Richtung nach dem
Gipfel zuſammenzufaſſen hat, er iſt weſentlich verwickelt, ſcheinbar, ja
wirklich widerſpruchsvoll, aber nur um ſo einheitlicher, denn die ſtärkere
Einheit iſt eben die, welche mehr Gegenſätze und Einſeitigkeiten, centri-
fugale Kräfte, Widerſprüche beherrſcht. Der Einheitspunct wird um ſo
mehr markirt, je mehr Stoff ſeiner durchdringenden Kraft entgegengewor-
fen wird. Der plaſtiſche Charakter fällt ſtärker in’s Gewicht, der male-
riſche faßt ſich aus ſcheinbarer Zerſplitterung zu ſchneidigerer Spitze zu-
ſammen. — Zu allen andern Quellen der Mannigfaltigkeit und priſma-
tiſchen Kanten, durch die das einfache Licht des Charakters in das Bunte
getheilt wird, kommt nun noch von ſubjectiver Seite die losgegebene
Freiheit der Auffaſſung. Wie die Welt, die er darſtellt, ſo iſt ja auch
der Geiſt des Künſtlers ein vielſeitigerer, vieltönigerer geworden. Hiemit
erſt haben wir den Inbegriff der Urſachen beiſammen, wodurch in der
Malerei nicht nur der einzelne Charakter für ſich mannigfaltiger wird,
ſondern nun auch eine Unendlichkeit verſchiedener Charakterbilder ſich er-
zeugt, von denen jede eine Welt für ſich iſt. Im claſſiſchen Ideal war
die Vielheit der Charakterwelt durch einen geſchloſſenen Kreis von Göt-
tern und Heroen mit jener „zarten Linie der bloßen Modification des
[608] Allgemeinen“ beſchränkt und gebunden. Ein ſolcher kann ſich in der
Malerei nicht bilden wie in der jenem Ideal innig angehörigen Sculptur.
Wohl zeigt ſich auf dem Standpuncte der mythiſchen Anſchauung auch
bei ihr ein Anſatz zu einem Geſtaltenkreiſe ſtehender Typen, für deren
Behandlung plaſtiſche Gleichmäßigkeit des Styls gefordert wurde; allein
wie wenige ſind deren geweſen: Chriſtus, Paulus, Petrus, etwa noch
Johannes, das iſt im Grund Alles; und wie bald dringt auch in dieſe
wenigen Typen die Individualität, die unendliche Verſchiedenheit der
Auffaſſung ein, bis ſie endlich den transcendenten Geſtalten-Auszug ſprengt
und in die ungemeſſene Vielheit der geſchichtlichen Charakterwelt auflöst!
Es geht dann die rein maleriſche und die mehr plaſtiſche Stylrichtung
auseinander. Wir haben geſehen, daß auch die letztere zwar ein ſpar-
ſameres Maaß des Beſonderen und Individuellen, als die erſtere, aber
doch ein volleres, als die Bildnerkunſt, ihren Geſtalten zuwiegt; nun, da
von der dieſe Züge beherrſchenden Willens-Einheit die Rede iſt, haben wir
den Unterſchied der zwei Style nach dieſer Seite noch einmal in’s Auge
zu faſſen. Wie die mehr bildneriſche Richtung die empiriſchen Formen ſtrenger
reduzirt, ſo wird ſie auch die ſie beherrſchende Kraft, den inneren ethiſchen
Kernpunct einfacher auffaſſen. Das negativ Pathetiſche liegt ihr ferner, der
ungetheilte Guß und Fluß, womit ein reines Gemüth oder ein ſtarker Wille
als ſtetige poſitive Wärme die ganze perſönliche Erſcheinung ausfüllt, iſt ihr
Gebiet, der großartige Ernſt einer einfachen männlichen Würde eine ihrer
mächtigſten Wirkungen. Die ernſten Männergeſtalten der großen italieni-
ſchen Meiſter, eines Leonardo da Vinci (vorzüglich im Abendmahl), eines
Raphael (vorzüglich in den Stanzen und Tapeten) haben wir ſchon in
anderem Zuſammenhang (zu §. 679 und 681) angeführt und in ge-
wiſſem Sinne plaſtiſche Naturen genannt. Und doch wie tief iſt dieſer
Unterſchied, wenn man insbeſondere bedenkt, daß dieſe würdevolle
Männerwelt aus der immer fließenden Quelle des realen Stoffgebiets
geſchöpft in’s Unendliche fortſetzbar iſt, während dort der Kreis geſchloſſen
war! Vom ſtreng maleriſchen Styl dagegen unterſcheidet ſich dieſer
mehr plaſtiſche nothwendig durch eine ſehr beſtimmte Grenze, wenn man
den Begriff des Charakters im allgemeinen, nur formellen Sinne nimmt.
Dann kann er ebenſogut, als die Herrſchaft des Willens über das Na-
türliche und angeborne Individuelle, auch eine Verhärtung oder zerſtreute
Entfeſſlung des letzteren, alſo ein blos Charakteriſtiſches, das ſich ſtatt
des Charakters ausgebildet hat, er kann ſogar völlige Charakterloſigkeit
bezeichnen. Wir haben auch dieſen Stoff von der Sculptur abgewehrt
(§. 625 Anm. 2); der plaſtiſche Styl in der Malerei wehrt ihn ebenfalls
ab, der entgegengeſetzte nicht. Der Jähzornige, Eitle, Geſchwätzige, der
Säufer, Spieler, Geizhals, Lump, Windbeutel hat hier freien Eintritt;
[609] Sopholles kann uns keinen Falſtaff geben, wohl aber Shakespeare. Nur
bei dem großartig Böſen beginnt wieder Gemeinſchaft des Stoffes für
beide Stylrichtungen. — Schließlich noch ein Wort über die Frage, wie
ſich denn die Forderung, daß der Charakter Mittelpunct und Spitze der
maleriſchen Aufgabe ſei, zu der Verſchiedenheit der Zweige verhalte, da
der Maler doch nicht immer und überall Charakter darſtellen kann. Die
Antwort iſt: wir werden vorerſt nur überhaupt verlangen, daß es der
Malerei in keiner Epoche an der Ausbildung der Zweige fehle, wo der
intenſive Charakter-Ausdruck ſeine Stelle findet: an kräftigem Anbau der
Hiſtorienmaleri, des höheren, ernſten Genre, einer tüchtigen, gediegenen
Porträtmalerei; das leichte, komiſche Genre, die verſchiedenen Uebergänge
zwiſchen dieſem und der Hiſtorie mögen dann die kleinere, gemeinere,
ungebundenere, grillenhaftere Charakterwelt mit freiem Humor ausbeuten.
Ob derſelbe Künſtler ſowohl des einen, als auch des andern Gebiets
mächtig iſt, davon kann ganz abgeſehen werden, wenn nur die Kunſt
überhaupt außer einem Zeuxis, dem Ariſtoteles das Ethos abſpricht,
auch ihren Polygnot aufzuweiſen hat, den er Ethographos nennt. Der
Verfall iſt da, wenn der plaſtiſche Styl, zum Formaliſmus herabgekom-
men, jede Härte und Ecke zur ſüßen Welle abrundet und von einem Colo-
rit unterſtützt wird, das jedes Mark der lebensvollen Miſchung im lauen
Reize ſanfter Mitteltöne oder im abſtracten Effecte ungebrochener Haupt-
farben auslöſcht. Daß freilich auch die leichteren Gebiete, welchen nicht
direct die intenſive Charakterdarſtellung zuzumuthen iſt, in einem gewiſſen
Sinne Charakter haben müſſen, dieß bedarf nach Allem, was vom Styl
überhaupt und insbeſondere von der Wechſelwirkung der zwei Stylrich-
tungen geſagt iſt, keiner weiteren Ausführung. Das Charakterloſe ſoll
nicht charakterlos, das Windige ſoll nicht windig dargeſtellt werden.
Auch die Landſchaft ſoll charaktervoll ſein; der Unterſchied der Style in
dieſem Gebiete verhält ſich zum Begriffe des Charakters nur ebenſo wie
in der eigentlichen Darſtellung deſſelben Plaſtik und Malerei.


§. 686.

In der maleriſchen Compoſition wird dem Prinzip der linearen Glie-
derung die Einfachheit der Geltung entzogen durch die Wirkungen der mitdar-
geſtellten Umgebung, der Perſpective, namentlich aber des Lichts und der Farbe:
das Gemälde iſt ebenſowohl eine Licht- und Farben-Einheit, als eine
Linien-Einheit. Das äſthetiſche Gewicht kann mehr auf der erſten oder zweiten
liegen, aber auch im letzteren Falle, wo entweder auf die Gegenſtände über-
haupt oder auf die Schönheit ihrer Formen verglichen mit dem Werthe der all-
[610] gemeinen Medien der höhere Werth gelegt iſt, ſind allgemeine Feſtſtellungen
von ſolcher Beſtimmtheit, wie in der Plaſtik, nicht möglich.


In der Herrſchaft der Linien-Verhältniſſe bei der bildneriſchen Com-
poſition haben wir einen Ausdruck ihrer innern Verwandtſchaft mit der
Baukunſt gefunden (§. 626, 1.). Man ſagt nun wohl auch von einem
Gemälde: es baut ſich ſchön, aber es muß ſich nicht nothwendig ſchön
bauen; wenn Anderes, was neben der Linienbildung die Harmonie des
Ganzen zu begründen hat, auf eine befriedigende Weiſe wirkt, ſo mögen
die Linien an ſich immerhin weniger ſchön, im Einzelnen ſelbſt nicht ſchön,
ja unſchön ſein, man ſagt dennoch nicht: es baut ſich nicht ſchön, weil
man von dem ſich Bauen jetzt abſieht; tritt aber dieß Andere nicht als
Erſatz ein, dann ſagt man es. Als das erſte Moment, das die Aeſthetik
der Linie beſchränkt, führt der §. die mitdargeſtellte räumliche Umgebung
auf. In Raphaels Schule von Athen treten Plato und Ariſtoteles als
die Hauptfiguren hervor; ſie ſtehen auch oben auf der Treppe, über welche
die ganze Compoſition ſich ausbreitet, aber nicht allein, ſondern umgeben von
Schülern und weiteren zur Seite aufgeſtellten Gruppen. Nach plaſtiſchem
Geſetz müßte ihre Bedeutung viel entſchiedener durch die Wirkung der Höhe
ausgedrückt ſein, ſie müßten weit beſtimmter die Spitze einer ungefähren Pyra-
mide darſtellen. Nun aber wölbt ſich über dieſer oberſten Gruppe die pracht-
volle Halle und das Auge fühlt die herrliche Wölbung wie eine Art von
räumlich dargeſtellter Erweiterung der geiſtigen Größe der zwei Haupt-
figuren. Natürlich wird dieſe Art von Zuwachs noch eine beſondere Be-
deutung durch die Beleuchtung und Farbe erhalten können, von welcher
vorerſt noch nicht die Rede iſt. Das zweite Moment iſt die Perſpective.
Wir haben geſehen, wie ſie mit ihren drei Gründen zu den Abſtufungen
und Arten der Idealität ſich verhält: in gewiſſer Weiſe idealiſirt die
Ferne, in gewiſſer die Nähe, dieſe im Sinn der kräftigen Behauptung
des in ſich geſchloſſenen Daſeins, jene im Sinn der Auflöſung in das
Unendliche. In der Sculptur wird die höhere Bedeutung einer Perſon
äußerlich in den Raumverhältniſſen durch die Höhe und durch die Stel-
lung in der Mitte, im Relief auch durch Stellung an den Enden einer
Reihe ausgedrückt; in der Malerei aber muß dieſes plaſtiſche Geſetz eben
durch die hinzugetretene Richtung in die Tiefe auf’s Mannigfaltigſte modi-
ficirt werden. Freilich iſt dieß nach Zweigen verſchieden; in der Land-
ſchaft wird in der Regel die höchſte Wirkung in der Ferne ſich ſammeln,
in der thieriſchen und menſchlichen Darſtellung wird es dabei bleiben,
was wir ſchon aufgeſtellt haben, daß die bedeutenderen Individuen den
Vordergrund oder näheren Mittelgrund einnehmen; die Ferne wird uns
alſo hier die Aufſuchung einer ungefähren Beſtimmung des Compoſitions-
[611] geſetzes in der Beziehung der Höhe und Breite weniger erſchweren. Die
Bedeutung der Ferne iſt es nun aber, die uns unmittelbar auf die Farbe
führt, denn ſie vollendet ſich ja erſt durch die Luftperſpective, durch Licht
und Farbe überhaupt: ſoll ſie ideal wirken, dem auf den Hintergrund
verwieſenen Gegenſtand das höchſte Intereſſe leihen, ſo muß Beleuchtung
und Ton ihn heben, wie z. B. die in der Abendſonne glühenden Berges-
gipfel am äußerſten Horizont. In Licht- und Farbengebung hebt ſich
die Zeichnung beziehungsweiſe auf: ſo hebt ſich denn auch die Compoſition
als räumliche Anordnung beziehungsweiſe in die Compoſition als Far-
ben-Ordnung auf, vollendet ſich erſt in ihr. Wir ſagen: beziehungsweiſe,
und auch der §. ſtellt nichts Abſolutes auf, ſondern beſchränkt ſich auf ein
„ſowohl, als auch“. Schleiermacher urtheilt anders; er ſetzt das Ganze der
Malerei in die Licht- und Farbengebung, er ſagt, die ganze Erfindung werde
nur beſtimmt durch die Darſtellung der Geſtalten in den Verhältniſſen des
Lichts (Vorleſ. über d. Aeſth. S. 527. 528). Er ſetzt alſo Geſtalten voraus;
aber wenn er gerade an dieſer Stelle beſonders betont, was er übrigens als
für alle Kunſt geltend behauptet, daß es nämlich nicht auf den Gegenſtand
und ſeine Wirkung („das Ethos“) ankomme, ſo kann ſolche ausdrückliche
Hervorhebung eines allgemeinen Satzes an dieſer Stelle nur den Sinn
haben, daß mit dem Intereſſe der Gegenſtände auch das Intereſſe der Li-
near-Schönheit in der maleriſchen Compoſition rein aufgehen ſoll. Dieß
iſt nicht richtig, ſondern heißt der Partei der einſeitigen Coloriſten bei-
treten, von der wir in §. 676 geſehen haben, wie ſie ſich durch ihr Prinzip
bis zum Nihiliſmus, zur Romantik der gegenſtandsloſen Stimmung
treiben läßt. Es ſind mehrere Fälle möglich: in jedem derſelben wird
die lineare Compoſition relativ unſelbſtändig, in keinem ſo ganz gleichgül-
tig, wie es bei ſolcher extremen Auffaſſung ſcheint. Wir heben, indem
wir dieſe Fälle unterſcheiden, den im §. zuletzt aufgeführten hier als den
erſten hervor, weil er in vollem Gegenſatze zum einſeitig coloriſtiſchen
Standpuncte ſteht: es iſt der, wo auf den Gegenſtänden, d. h. den ge-
ſtalteten Körpern, nicht nur überhaupt noch poſitives Gewicht liegt, ſondern
auch gefordert wird, daß ſie ſchön in der Form ſeien. Daß nach Maaß-
gabe des Stoffes und gemäß der Berechtigung, die dem plaſtiſchen Style
zukommt, dieß ſo ſein kann, ohne daß darum im Geringſten ein patho-
logiſches Intereſſe auf den Stoff an ſich fällt, bedarf gewiß keines Be-
weiſes. Wie ſehr nun auch hier das Geſetz des linearen Aufbaus durch
die Geltung der Licht- und Farbenverhältniſſe alterirt wird, erhellt z. B.
daraus, daß ſelbſt in einer Landſchaft plaſtiſchen Styls alle bedeutenderen
Körper ſich in den einen oder andern Winkel der viereckigen Fläche zu
einem ungefähren Dreieck zuſammendrängen können, während die andere
Seite relativ leer, flach bleibt; dadurch iſt alle Schönheit der Architektonik,
[612] alles Gleichgewicht auf’s Tiefſte verletzt, allein dieſe Verletzung wird da-
durch aufgehoben, daß auf die andere Seite, in die von Gegenſtänden
faſt leere Wagſchaale das ganze Gewicht der Lichtwirkung fällt, wie z. B.
in der herrlichen Landſchaft Claude Lorrains in Dresden: hohe, gewaltige
Fels- und Gebirgs-Gruppe, mit einem Vulcan im Hintergrund, rechts,
links nur die Meeresfläche, aber herrliche, kühlend friſche Morgenbeleuch-
tung. Trotz dieſer Durchkreuzung des räumlichen Rhythmus durch einen
Rhythmus ganz anderer Art wird aber für die Seite, auf welcher die
Fülle der Gegenſtände ſich gruppirt, in dieſem Styl eine Wohlordnung
gefordert, ein harmoniſcher Aufbau der Linien durchgeführt, von andern
Compoſitionen nicht zu reden, wo das Ganze nach allen Seiten ſich ſo
ſchön baut, daß es ſelbſt ohne Farbe durch den Rhythmus der Formen
Auge und Sinn erfreuen müßte. Von dieſem Fall unterſcheiden wir einen
zweiten, wo die Gegenſtände überhaupt noch poſitive Geltung behaupten,
aber das äſthetiſche Intereſſe ſich aus der Schönheit der Formen heraus-
zieht und dem Ausdrucke zuwendet, wie er ſich durch individuelles Ge-
präge vertieft und ſteigert. Es wird noch darauf geſehen, wie die Maſſen
im Ganzen und Großen ſich bauen, aber nicht mehr der edle Fluß der
Linie gefordert; das Colorit thut ſich bereits als die bedeutendere Macht
hervor, die Stimmung beginnt in den Vordergrund des Intereſſes zu tre-
ten: wir befinden uns im ächt maleriſchen Style, der jedoch dem plaſti-
ſchen noch gewiſſe poſitive Zugeſtändniſſe macht. Endlich aber erhält das
rein maleriſche Element entſchieden das Uebergewicht, die äſthetiſche Gel-
tung der allgemeinen Medien in ihrer Durchdringung mit der Localfarbe
überflügelt die der Gegenſtände. In einer kleinen Landſchaft der Leuch-
tenbergiſchen Galerie von Ruysdael ſah man von Gegenſtänden faſt
nichts: eine grasbewachſene Ebene mit einem Wege, ein paar ferne Wind-
mühlen, im Hintergrunde etwas von der Stadt Harlem; es war die Luft,
der Himmel, der matte Sonnenſtrahl, der ſich zur Erde ſchleicht, der Ton,
die wunderbar anziehende Melancholie der gedrückt nebligen Stimmung,
worin der ganze Accent des Bildes lag. Wiegt nun das Colorit in die-
ſem Grade vor, ſo fragt man allerdings nach der linearen Anordnung
als ſolcher nicht mehr, ſie iſt von vornherein ganz nur in Rückſicht
auf die in den allgemeinen Medien liegende Wirkung componirt; doch
nicht ſo ganz verſchwindet ſie hinter dieſer, daß ſie und mit ihr die Be-
deutung der geſtalteten Körper gleichgültig würde, wie denn in dem an-
geführten Beiſpiel der Künſtler recht mit tiefem Sinn die Linien ſeiner
öden Fläche, des brüchigen Wegs u. ſ. w. angeordnet hat, um uns Luſt
zu erregen, hinzuziehen durch den Nebel nach der fernen Stadt und zu
ſehen, wie es ſich doch auch in der umflorten Luft des feuchten Flachlandes
behaglich leben läßt. Aus dem Allem folgt, daß lineare und coloriſtiſche
[613] Compoſition in verſchiedene Verhältniſſe zu einander treten können, daß jene
in verſchiedenen Graden, irgendwie immer, wiewohl niemals bis zur ab-
ſoluten Unterdrückung die Selbſtändigkeit ihrer Geltung an dieſe verliert.
Daher vertheilt ſich denn in der Lehre von der Malerei, was über die
Compoſition zu ſagen iſt, an zwei Stellen: ein Haupttheil davon iſt ſchon
in dem Abſchnitt über Schattengebung und Farbe enthalten, indem dort
gezeigt werden mußte, durch welche Mittel die Harmonie in dieſer Be-
ziehung zu bewerkſtelligen iſt; der andere Theil aber, der hier folgt, iſt
mehr negativ, als poſitiv, und hat vor Allem darzuthun, daß und warum
über die lineare Seite der Compoſition nur Weniges feſtzuſtellen übrig
bleibt. Gewiſſe ungefähre Beſtimmungen müſſen jedoch möglich ſein und
wir werden dieſelben aufſuchen, nachdem erſt ein Punct beleuchtet iſt, aus
welchem ſich noch weitere Einſchränkungen ergeben.


Zum Schluß iſt hier noch ein Wort über Schleiermachers Behaup-
tung zu ſagen, daß es überall auf den Gegenſtand nicht ankomme. Er
hat den Werth des Stoffs im Verhältniß zum Werthe der Form überhaupt
im Auge; dieſe Frage iſt eigentlich eine andere, als die, wovon es ſich
hier handelt: man mag von jenem Verhältniß im Allgemeinen denken
wie man will, ſo kann man doch anerkennen, daß im Gemälde die Ge-
genſtände mehr Bedeutung haben, als Schleiermacher ihnen zuſchreibt,
denn dabei handelt es ſich, wie ſchon geſagt, von gar keinem ſtoffartigen
Intereſſe, das dieſen Gegenſtänden beigelegt würde, als ob der Anſchauende
nun mit Liebe oder Haß dem Inhalte des Dargeſtellten ſich zuwenden
und darüber die Kunſtform vergeſſen ſollte, ſondern es handelt ſich von
mehr oder weniger Geltung der Gegenſtände als geſtalteter Körper ganz
innerhalb der Kunſtform und des reinen Kunſt-Intereſſes gegenüber der
Geltung der allgemeinen Medien. Man könnte ja Schleiermacher vor-
werfen, er wende nun dieſer Seite, da er alles Gewicht auf ſie allein
legt, ein pathologiſches Intereſſe zu, allein dieß wäre eine Erſchleichung,
denn er hat ſich nur darin geirrt, daß er durch Verſchleppung einer all-
gemeinen Frage gegen die eine der zwei Seiten eines rein äſthetiſchen
Verhältniſſes ungerecht geworden iſt. Weil aber allerdings in der Farbe
ein Anreiz zu pathologiſcher Wirkung überhaupt nahe liegt, ſo mag über
dieſe allgemeine Frage, obwohl wir ſie längſt hinter uns haben, hier noch
einmal ausdrücklich auf §. 15, Anm. 1, §. 19 Schluß d. Anm., §. 55, Anm. 2,
auf die zweimal aufgenommene Darſtellung des Verhältniſſes des Schönen
zum Guten und Wahren, ferner auf §. 236, Anm. 3, §. 381, Anm. 2, §. 393,
Anm. 1 verwieſen werden, um in Erinnerung zu bringen, in welchem
Sinne das Object, d. h. der Gehaltwerth des Stoffs im Schönen nie-
mals gleichgültig ſein kann. Dieſer Gehaltwerth geht in die reine Form
auf, es iſt aber nicht gleichgültig, was aufgegangen iſt. Der Maler kann
[614] ſowohl durch Farbenreiz, als durch Form und Bewegung unſer Gefühl
verkehrter Weiſe zu dem hinlenken, was ſinnlich oder ſittlich am Gegen-
ſtande unſerer Vorliebe entgegenkommt oder unſere Abneigung weckt,
aber wenn er dieß unterläßt, wenn er vielmehr jeden Gegenſtand ſo be-
handelt, daß wir im Einzelnen ein Ewiges dargeſtellt ſehen, ſo darf
darum innerhalb dieſer allgemeinen Durchläuterung doch keineswegs
überſehen werden, wie die Gegenſtände in ſpezifiſch verſchiedener Art,
Tiefe und Fülle das Ewige ausdrücken. Und ſo iſt es denn auch nicht
einerlei, ob das maleriſche Licht auf Waſſer oder Land oder Bäume oder
Menſchen fällt, und darum auch nicht einerlei, in welchen Linien-Ver-
hältniſſen dieſe Geſtalten ſich darſtellen. Nur ſoviel ſehen wir zunächſt,
daß über dieſe Verhältniſſe ſich noch weniger Feſtes beſtimmen läßt, als
in der Plaſtik.


§. 687.

1.

Die Aufzeigung innerer Geſetze in der Compoſition wird auch dadurch
erſchwert, daß die Form der Umgrenzung eines Gemäldes keinesmegs immer
durch rein künſtleriſche Gründe, ſondern ebenſo häufig durch die Geſtalt der

2.Wandfläche beſtimmt wird, welche es zieren ſoll. Im innern Weſen der Ma-
lerei iſt es begründet, daß die äußerſte Grenze ihres Werks durch eine be-
ſondere Einfaſſung bezeichnet wird.


1. In der Lehre von der Bildnerkunſt trat uns deutlich und einfach
der Unterſchied einer Länge-Compoſition und einer Pyramiden-ähnlichen
Höhe-Compoſition entgegen; das quadratiſche Feld bei einer Gattung
des Reliefs (nebſt Medaillon-Form) ſtand in der Mitte. Da die Malerei
auf der Fläche darſtellt wie das Relief, aber durch die Tiefe, die ſie vor-
aus hat, ihre Gruppen mehr verflechten, Gegenſtände aller Art enger
verbunden darſtellen kann, als dieſes, ſo wird im Allgemeinen das regel-
mäßige Viereck, auf welchem, namentlich in der Metope, auch das Relief
zu geſchloſſeneren Gruppen ſich zuſammenzieht, zur herrſchenden Durch-
ſchnitts-Form werden; und damit ſcheint wenigſtens eine Anknüpfung
gegeben für den Verſuch, ein Geſetz der Anordnung der darzuſtellenden
Gegenſtände aufzufinden. Wären nun die unendlichen Abweichungen von
dieſer mittleren Form nur durch innere Gründe bedingt, ſo wären dieſe
zunächſt in ihren Hauptmomenten zu ſuchen und ſo ſcheint der Weg zur
Aufſtellung feſter Beſtimmungen über die Compoſition ohne weitere Un-
terbrechung eröffnet: in der Landſchaft z. B. entſteht Ueberhöhung des
Vierecks, wenn die Darſtellung des Luftlebens zur Hauptſache wird,
im Genre und in der Hiſtorie dann, wenn Gruppe oder Gruppen ſich
[615] ſo zuſammenſchließen, daß ihre Vereinigung auf den Gliederbau Einer
Geſtalt hinweist, wie ihn das Porträt gibt, nur daß nothwendig die Baſis
ſich mehr ausdehnt; andere künſtleriſche Bedingungen ziehen umgekehrt
das Viereck in die Länge bis zum Relief-artigen Streifen, man würde
auch hier ein Ungefähres über die damit zugleich gegebene Art der An-
ordnung im Bilde zu beſtimmen ſuchen u. ſ. w. Allein die Motive ſind
ja ebenſo häufig zunächſt rein äußerlich gegeben, als frei vom Künſtler
beſtimmt, damit dringt eine Mannigfaltigkeit von Formen ein, welche gar
nicht weiter verfolgt werden kann. Bei der Freske iſt die architektoniſche
Fläche in unendlich verſchiedenen Figuren, ſelbſt Dreiecken, Kreis-Aus-
ſchnitten jeder Art und Abſchließungen derſelben mit der geraden Linie
gegeben; für das Oelbild iſt es nicht nur eine beſondere Conſtruction wie
der Hochaltar, ſondern in monumentalen oder Privatgebäuden ebenfalls
die Dehnung der Wand, was oft genug die Grundgeſtalt beſtimmt; die
Venetianer z. B. haben ganz beſonders die Längen-Compoſition geliebt
und demgemäß die Figuren mehr auseinandergezogen, als ſtreng verbun-
den, eine ſtarke Neigung, gebückt Anbetende aufzureihen, hängt damit
zuſammen und bei einem Baſſano läuft dieſe Neigung zuletzt dahin aus,
daß er durchaus ſeine Figuren zur Erde bückt und drückt: dieſe Neigung
der Schule ſcheint durch die häufige Aufgabe, die langen Wände der
Palaſtſäle mit großen Gemälden zu ſchmücken, veranlaßt zu ſein. So
mögen ſich ſtehende Gewohnheiten bilden, im Allgemeinen jedoch wird frei
nach Maaßgabe der einzelnen Aufgabe die äußere Bedingung dem Künſt-
ler zu einem innern äſthetiſchen Motive werden, wofür es wohl kein
höheres Beiſpiel gibt, als die Compoſition der ſixt. Madonna Raphaels,
wo mit der überhöhten Form der Prozeſſionsfahne einer der erhabenſten
Kunſtgedanken aller Zeit im Geiſte des Künſtlers zuſammenwuchs; allein
die Umbildung eines äußern Motivs zu einem innern verändert nichts
an der unberechenbaren Natur des erſtern, wie ſie in der Mannigfaltig-
keit der Zufälle liegt, und ſomit miſcht ſich hier eine neue Beziehung ein,
wodurch die Seite der Compoſition, die etwa durch allgemeine Sätze be-
ſtimmbar iſt, mit einer breiten Schichte von Unbeſtimmbarem umlagert wird.


2. Das Bildwerk nimmt ſich wie alle Kunſt ein Stück Welt und er-
höht es zum Ausdruck des Weltganzen, aber da es nur mit der geſchloſ-
ſenen organiſchen Geſtalt zu thun hat, ſo ſchließt ſich dieſe, zufrieden,
durch ein Poſtament vom gemeinen Boden getrennt zu ſein, durch ſich
ſelbſt, durch ihre Kunſtform von der Welt ab. Die Malerei aber, da ſie zu
den Geſtalten ihren Raum gibt, ſtellt im engeren Sinn einen Ausſchnitt
aus der Welt vor uns hin; gerade, weil ſie die organiſche Geſtalt nicht
aus ihren Umgebungen herausſchneidet, muß ſie da durchſchneiden, wo
doch das Object (Erde, Waſſer, Luft u. ſ. w.) continuirlich weiter läuft.
[616] Welche beſondere Schwierigkeit hiedurch für die Compoſition entſteht,
darüber vergl. §. 501, wo die richtige äußere Begrenzung als letzte Pflicht
derſelben aufgeſtellt und gerade auch am Beiſpiel der Malerei erläutert
iſt. Daß es nun gerade an dieſer Grenze, wo die Fläche des Gemäldes
endigt, genug ſei, um einen Ausſchnitt des Lebens zu geben, der künſt-
leriſch ſo beſchaffen iſt, daß man die gemein empiriſche Unendlichkeit des
Vorbilds darüber vergeſſen kann, das bezeichnet der Rahmen, der mit
der Frage über Grundformen der Compoſition, von der es ſich hier eigent-
lich handelt, natürlich nichts weiter zu thun hat, weil er nur die ſchon
fertige Grundform noch weiter bezeichnet, von dem wir aber hier Einiges
ſagen, weil er doch keineswegs bedeutungslos iſt. Er gibt zunächſt der
Grenze Nachdruck für das Auge, er unterſtützt durch ihre Hervorhebung
die Phantaſie, ſich loszuſagen von den empiriſchen Objecten des Auges,
er gleicht einer Fenſter-Einfaſſung, die uns mit deutlichem Rande unſern
gewöhnlichen Wohnraum von der Oeffnung unterſcheidet, durch die wir
in eine ſchöne Landſchaft hinausſchauen, nur daß es ſich hier von dem
Blick in eine andere, eine ideale Welt handelt. Man kann es auch um-
kehren und mit Hegel (Aeſthetik Th. 3 S. 79) ſagen, er ſtelle die
Thüre der Welt dar, durch welche die ideale Erſcheinung zu uns in die
gemeine Welt hereinſchreitet. Es iſt dadurch begründet, daß er eine kräf-
tige, nachdrückliche Form haben ſoll, damit er die Grenze zweier Welten
hinlänglich markire; aber auch ſchön ſoll er ſein, er ſoll ausdrücken, daß
die empiriſche Welt den Saum, an welchem ſie den Ausblick in die ideale
öffnet, feſtlich ſchmückt oder daß die hereinſtrahlende Idealwelt dieſen
Saum mit ihrem Lichte ſtreift. Der Goldglanz eignet ſich ganz beſon-
ders für dieſen Ausdruck. Natürlich aber darf die Pracht nicht ſoweit
gehen, daß das Verhältniß ſich umdreht, indem der Saum der empiri-
ſchen Welt ſo eitel ſich aufputzt, daß der empfangende Theil den hohen
Gaſt überglänzt. Nähere Erörterung der Frage, wo dunkler Rahmen
beſſer angebracht ſei u. ſ. w., iſt gar nicht außer Zuſammenhang mit dem
ächten Kunſt-Intereſſe, würde aber hier zu weit führen.


§. 688.

Aus dieſen Gründen läßt ſich die Art der Anwendung, welche die all-
gemeinen Compoſitionsgeſetze in der Malerei finden, nur in folgender Hervor-
hebung einzelner Puncte ausdrücken. In der Darſtellung einer einzelnen Ge-
ſtalt iſt der Formen-Rhythmus, wie er im Rhythmus des Lichts und der
Farbe noch ſeine äſthetiſche Geltung behauptet, durch den Organiſmus gegeben.
Für die Zuſammenſtellung mehrerer ergibt ſich auf dem Standpunct unentwickelter, bei
der zweiten Stoffwelt einfach verharrender Kunſt, der zwar auch in die Zeit der
[617] Reife ſich fortſetzt, ein Geſetz architektoniſcher Symmeterie, welches naturgemäß
die, auch in mancherlei Veränderungen doch ſichtbar zu Grund liegende, Pyrami-
dalform begründet.


Es laſſen ſich alſo nur in einem unendlichen Gebiet einzelne Linien
ziehen, Anhaltspuncte geben, wir können über den einfachen Satz, daß
die einzelnen Geſetze, welche in der Aufgabe der Compoſition enthalten
ſind und die wir im betreffenden Abſchnitte (§. 494 ff.) entwickelt haben,
nun auch auf die Malerei Anwendung finden, und über die Ausſage,
daß die lineare Seite der Compoſition durch die Harmonie der Licht-
und Farbengebung, ſo wie durch die andern genannten Momente
weſentlich modificirt und aus der erſten Rolle verdrängt wird, nur
um wenige Schritte hinausgehen und nur unter beſtändigen Vorbe-
halten uns näher orientiren. Auch dieſes beſchränkte Maaß näherer Be-
ſtimmung iſt nicht möglich, ohne die Geſchichte, die Zweige, die Stylrich-
tungen unſerer Kunſt ſogleich zu berückſichtigen. Da begegnet uns denn
zuerſt eine Form, die zwar bleibend iſt, aber uns hier insbeſondere in
einer beſtimmten geſchichtlichen Geſtaltung intereſſirt: das Aufſtellen einer
einzelnen menſchlichen Figur. Zunächſt gilt von ihr daſſelbe, was von
der einzelnen Statue (vergl. §. 626, 2.), aber in dem Grade modificirt,
in welchem die Malerei ſich zur Entfaltung ihrer ſpezifiſchen Mittel aus-
bildet: der Rhythmus der Linie, insbeſondere in der Bewegung als Con-
traſtwirkung der Glieder ausgebildet, wird durch den hinzugegebenen Grund,
Farbe und Ausdruck einer läßigeren, blos relativen Berückſichtigung an-
heimgegeben. Man geſtattet nichts Verletzendes, wie z. B. ein unmoti-
virtes Vernachläßigen des Gegenſatzes von Standfuß und Spielfuß,
aber man fordert keine gemeſſene plaſtiſche Stellung. Eigentlich han-
delt es ſich, ſofern von einer bleibenden Form die Rede iſt, faſt allein
vom Bildniß, denn wir werden ſehen, daß das einfache Hinſtellen einer
einzelnen Geſtalt außerhalb des Porträtzwecks ſtreng genommen un-
maleriſch iſt, und hier eben ſind kleine zufällige Bewegungen erlaubt, die ſich
der ſtrengeren plaſtiſchen Bindung entziehen, und große, die zu impoſanten
Parallelen der Glieder führen, ausgeſchloſſen. Dagegen hat nun die
alterthümliche Malerei auch höhere hiſtoriſche und mythiſche Geſtalten
einfach ſtatuariſch hingeſtellt, ihnen eine plaſtiſche Ruhe gegeben und mit
richtigem Inſtinct auch die entſprechende Art eines gebundneren, gehalt-
neren Rhythmus durchgeführt. Solche Figuren ſtehen ſich allerdings ge-
wöhnlich bei cykliſchen Anordnungen entſprechend gegenüber, bilden relief-
artige Reihen, natürlich nicht in Profilſtellung, wie im Relief. Die-
ſelbe mythiſche Anſchauung, welcher dieß Verfahren im Allgemeinen an-
gehört, hat ſich aber eine Reihe von Aufgaben gebildet, worin ein der

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 41
[618]Plaſtik verwandtes, mit dieſer auf das architektoniſch Symmetriſche zurück-
führendes Geſetz ſich ganz natürlich ergab. Es war namentlich die Vor-
ſtellung, als ſei der Lufthimmel die Wohnung eines Reiches transcenden-
ter Geſtalten, welche das Motiv hiezu darbot: aus den geöffneten Wol-
ken erſcheint Maria, Chriſtus, Gott Vater, unten auf der Erde gruppiren
ſich in einer natürlichen. Gegenüberſtellung andächtige Menſchen: eine
Symmetrie, die auf dem einfachſten Wege zur Pyramidalform führt, in-
dem die trennende Mitte des Gegenüberſtehenden als göttliche Erſcheinung
über dieſem in der Höhe ſchwebt. Auch das Thronen mythiſcher Geſtal-
ten gehört hieher, das ebenſo einfach durch die ſeitliche tiefere Stellung
anbetender Menſchen oder Heiligen eine pyramidale Anordnung motivirt.
Die mythiſche Vorſtellungsweiſe fällt mit der unreifen Kunſt zuſammen,
welche die eröffnete Richtung der Tiefe und die Art der Idealität, die
hiedurch vermittelt wird, noch nicht zu benützen weiß; keine Entwicklung
nach dieſer Seite durchkreuzt daher den Zug der Compoſition in die Höhe
von der Erde in die Luft. Durch ſtärkere Bevölkerung der letzteren kann
das pyramidale Schema mehrfach in weitere, mannigfache Figuren bil-
dende Gegenüberſtellungen auseinandergehen, ohne dadurch als herrſchende
Grundform zu verſchwinden. Uebrigens gibt die reife Kunſt die mythiſche
Anſchauung noch nicht auf. In Raphaels Diſputa erhalten wir dadurch
das Beiſpiel einer beſonders merkwürdigen architektoniſchen Compoſition:
auf der Erde zu den zwei Seiten des Altars ein ſymmetriſches Gegen-
über von Kirchenlehrern nebſt Laien, im Ganzen einen nach oben gebo-
genen Kreisausſchnitt darſtellend, da ſich die Enden etwas abwärts ziehen;
in der Luft der feierliche Kreis ſitzender Erzväter, Apoſtel, Heiliger, an
den Enden etwas aufwärts gezogen, das ſymmetriſche Gegenbild des
untern. Auch dieſer Kreisausſchnitt beſteht übrigens aus zwei ſymmetri-
ſchen Hälften, denn in der Mitte iſt er durch einige Wolken getrennt,
in welchen, ſelbſt wieder ſymmetriſch, vier Engelknaben ſchweben. Dar-
über erſcheint nun Chriſtus mit Maria und Johannes zur Seite, über
dieſen Gott Vater auf dem Glorienbogen: der pyramidale Abſchluß, deſſen
Baſis die zwei untern Geſtaltenkreiſe bilden. Dieſer Abſchluß bildet eben-
falls wieder eine ſymmetriſche Gruppe und überdieß ſchweben zur Seite
Gottes des Vaters, in Umriß und Farbe leicht gehalten, daher die Pyra-
midalform des Gipfels nicht aufhebend, wieder je drei Engel. Die zwei
großen Figurengruppen, Erde und Himmel, ſind ſymboliſch vermittelt
durch die Strahlen, welche von der Geſtalt des heil. Geiſtes, der Taube,
die unter der Figur Chriſti ſchwebt, auf die Hoſtie niederſchießen, die auf
dem Altare ſich befindet. Man ſieht nicht leicht eine mehr geometriſche
Anordnung, aber auch nicht leicht innerhalb derſelben einen ſolchen Triumph
über das ſtarre architektoniſche Geſetz durch wunderbare Großheit in den
[619] Geſtalten, Individualität, natürliche Leichtigkeit und Abwechslung in den
Bewegungen. Ein einfacheres, beſonders klares Beiſpiel ſymmetriſch pyra-
midaler, mythiſcher Anordnung iſt die ſixt. Madonna. Die Compoſition des
jüngſten Gerichts, wie ſie durch Oreagna im Campo ſanto zu Piſa als Mu-
ſter feſtgeſtellt und von M. Angelo zur furchtbarſten Handlung belebt iſt, zieht
das Pyramidale in der Grundform, das ſich hier ebenfalls aus dem mythiſch
geöffneten Himmel über der Erde, aus den aufſchwebenden Seligen links,
abſtürzenden Verdammter rechts vom Zuſchauer ergibt, durch Kreiſe von Ver-
klärten und Engeln, die ſich oben ſeitlich neben der Gruppe Chriſti, Mariä
und Johannis ausbreiten, durch darüber ſchwebende Engel vielgeſtaltiger,
doch im Weſentlichen durchaus ſymmetriſch auseinander. In neuerer Zeit
ſehen wir aus der mythiſchen Auffaſſung ebenfalls eine gebundenere, geome-
triſche Art von Anordnung und Pyramidalform ſich ergeben. So z. B. in
Kaulbachs „Zerſtörung von Jeruſalem“: im Tempel ſymmetriſch durch den
Altar getrennt, welcher die Mitte bildet, vor welchem der Hoheprieſter
ſich ermordet, um welchen Gruppen der Hungernden, Verzweifelnden ſich
gebildet, links die nach dem brennenden Allerheiligſten zurückgedrängten
Zeloten, rechts die eindringenden Römer, Titus an der Spitze; dieſe
Symmetrie der menſchlich natürlichen Handlung wird nun nach oben in
ſtumpf pyramidalem Gipfel abgeſchloſſen durch die Propheten in Wolken,
nach unten wird ſie verdoppelt durch den von Furien fortgepeitſchten
ewigen Juden links, die abziehenden, von Engeln geleiteten Chriſten
rechts. Die phantaſtiſche, doch großartige Compoſition der Hunnenſchlacht
zeigt ebenfalls, wie ſich, wenn der Zug der Handlung in die Luft geht,
immer eine pyramidenähnlich abgeſchloſſene Symmetrie von ſelbſt ergibt.


§. 689.

Die ausgebildete Malerei iſt in Gefahr, die aus §. 686 ſich ergebende
Freiheit der räumlichen Anordnung zu mißbrauchen und durch Verwirrung der
Gegenſtände, insbeſondere durch ſolche, die aus einem Uebermaaß im Umfange
des Dargeſtellten entſteht, in den Fehler der unruhigen Compoſition zu
verfallen. Ein Geſetz der Vertheilung und Bindung, wodurch dieſem Uebel be-
gegnet wird, muß beſtehen, obwohl nun die Style und Zweige ſich ſpalten.


Die ausgebildete Malerei iſt diejenige, welche erkannt hat, daß in
der ganzen Natur des maleriſchen Verfahrens die Forderung liegt, alle
Stoffe in die Bedingungen der realen Wirklichkeit hereinzuverſetzen, alſo
das Naturgeſetz anzuerkennen und z. B. nicht eine Handlung in der Luft
vor ſich gehen, menſchlich gebildete Geſtalten auf Wolken ſtehen und ſitzen
zu laſſen u. ſ. w. Sie kann, wie wir geſehen, noch dieſe mythiſchen

41*
[620]Motive walten laſſen und dann genießt ſie den Vortheil jener ſich von
ſelbſt darbietenden architektoniſchen Anordnung, aber ſie ſteht nicht auf
dem wahrhaft maleriſchen Boden. Je ſtärker das Gefühl dieſes Bodens
iſt, deſto gewiſſer wird ſie, wie wir im andern Zuſammenhange ſchon be-
rührt haben, ſelbſt noch in der Epoche der Herrſchaft der zweiten Stoff-
welt die Scenen aus derſelben ganz in die menſchlich vertraute Wirklich-
keit, Umgebung und ganze Bedingtheit hereinrücken, endlich aber ſie ganz
aufgeben und bei der urſprünglichen Stoffwelt verweilen. In dieſer iſt
nirgends der Zuſammenhang zerriſſen, ſondern ſteht Alles in Beziehung;
es iſt nichts Leeres zwiſchen Gegenſtand und Gegenſtand, kein „Loch in
der Natur“; der Maler kann alſo nicht, um eine einfach klare ſymmetriſche
Anordnung durchzuführen, beliebige Puncte auf ſeine Fläche ſetzen, die
ohne Rückſicht auf das Geſetz der Schwere ſich in die Höhe übereinander
aufpflanzen. Wie er denn nun erkannt, daß er ein Ganzes von feſten Ge-
ſtalten, Umgebung, allgemeinen Medien in unzerriſſen beziehungsreichem
Zuſammenhang darzuſtellen hat, ſo kann er ſich leicht von jedem Geſetze
ſtrengerer Anordnung entbunden glauben: er kann meinen, weil die Art
der Bindung der Vielheit zur Einheit durch die Verſchlingung mannig-
facher Fäden ſich einer beſtimmteren Nachweiſung entzieht, es beſtehe eine
ſolche Pflicht gar nicht. Daher ſtellen wir den wenigen Linien, durch die
wir dieſe Pflicht, ſo weit es möglich iſt, zu formuliren ſuchen, die War-
nung vor der Unruhe in der Compoſition voran; denn in dieſe Scylla geräth
der Maler, wenn er die Charybdis der Einförmigkeit, zu welcher freilich
eine ſculptur-artige Bindung ihn führen würde, in ſteuerloſer Fahrt ver-
meidet. Wir hätten auch bei der Bildnerkunſt dieſen organiſchen Fehler
beſprechen können; er fällt aber vorzüglich da in’s Auge, wo die größere
Freiheit der ganzen Kunſtweiſe durch die lebhaftere Wirkung der Dar-
ſtellungsmittel ſich breiter und kecker ausſpricht. Da der bewegte Charakter
der Malerei ſich in der Farbe concentrirt, ſo wird allerdings der Eindruck
der Unruhe namentlich dann entſtehen, wenn den Forderungen nicht ent-
ſprochen wird, die wir an die Farbengebung geſtellt haben, wenn die
Localfarben keine Accorde bilden, wenn ſie in unverarbeiteter Grellheit
herausſchreien, wenn kein über das Ganze ergoſſener Ton ſie dämpft
und zuſammenhält oder ſtatt des Tons eine neue grelle Farbenwirkung
in Licht und Luft hereinbricht. Doch hat man, wenn von Unruhe die
Rede iſt, ebenſoſehr, ja noch häufiger die Unruhe in der Anordnung der
Gegenſtände im Auge, denn daß die Farbe harmoniſch ſein ſoll, ver-
ſteht ſich weit mehr von ſelbſt, als daß die Seite, die ihr mehr oder min-
der untergeordnet iſt, nämlich die Welt der Formen und Linien, zur be-
ruhigenden Ordnung gebunden ſein ſoll, jene Harmonie ſcheint dieſe zu
erſetzen, eben aber, daß die ferner liegende Verpflichtung doch auch Ver-
[621] pflichtung iſt und ihre Vernachläßigung ſich peinlich zu fühlen gibt, das
betont man dadurch, daß man einen Namen, der zwar auch der Dishar-
monie der Farbe gilt, mit beſonderem Nachdruck auf ſie anwendet. Beide
Seiten hängen aber ja innerlich auch zuſammen: die Farbe ſoll ja mit
der Bedeutung, alſo auch der Ordnung der Gegenſtände im Einklang
ſein und ſchwerlich wird, wer in der Linear-Compoſition unruhig wirkt,
in der Farbe ruhig wirken. Der Ausdruck iſt übrigens ſo treffend, daß
er verſtändlich iſt, noch ehe wir die Geſetze deutlicher zu beſtimmen ſuchen,
deren Verletzung er bezeichnet: Auge und Geiſt muß beunruhigt werden,
wenn die Gegenſtände in loſer Zerſtreuung herumtaumeln oder in allzu-
engem Knäuel ſich verwickeln, wenn man das Einzelne zu Gruppen zu-
ſammenleſen, wenn man in der Gruppe Theile, Geſtalten, Arme und
Füße auseinanderleſen muß, wenn die Linien der Haupt-Umriſſe ſich
fliehen und nicht wiederfinden, oder in chaotiſchem Wirrſal, in zerriſſenem
Zickzack zuſammenſtoßen. Die ſpeziellere Urſache ſolcher Verwirrung muß
nicht, aber kann liegen in einer Verletzung derjenigen Aufgabe, die wir
unter den Compoſitions-Geſetzen zuerſt aufgeführt haben (§. 495. 496):
der Einhaltung des Maaßes im Umfang. Der Maler iſt ſo frei in der
Vereinigung vieler Gegenſtände zu Einem Bilde, daß er im Uebermuth
leicht allzuviele hereinnimmt, müßige Figuren, allzu locker verbundene,
ſtörende Epiſoden einführt, und wie dieß den idealen Eindruck nicht zur
Einheit gelangen läßt, ſo muß es ſich auch dem Auge als ein in Linien
Unvereinigtes aufdrängen. Die Oekonomie in dieſem Sinne ſetzt ein
klares und volles Gefühl des geiſtigen Einheitspunctes der Aufgabe vor-
aus, das mit einem Gefühle räumlicher Wohlordnung im Künſtler innerlich
zuſammenfallen muß; dieß führt aber unmittelbar zur Oekonomie über-
haupt, auch abgeſehen von dem Zuwenig oder Zuviel im Maaße des
Umfangs, das völlig eingehalten ſein kann, ohne daß doch das Ganze
harmoniſch componirt iſt. Indem wir nun zu dieſer übergehen, wird ſich
zeigen, daß in der reicheren und verſchlungeneren Summe künſtleriſcher
Mittel, die ſich in der ausgebildeten Malerei darſtellt, doch die einfachen
Anhaltspuncte, die uns eine auf dem Boden mythiſcher Anſchauung ihre
Stoffe ſchlicht anordnende Kunſt an die Hand gegeben hat, nicht ſchlecht-
hin verloren ſind.


§. 690.

Das Geſetz der Vertheilung fordert, daß ſich die Vielheit in der ein-
zelnen Gruppe nicht unklar verſchlinge und ebenſo im Ganzen das mehr Ver-
einzelte und das Gruppirte deutlich auseinandertrete, damit die verſchiedenen
Formen des Contraſts wirken können. Im Weſentlichen wird dadurch auch
[622] für die Malerei irgendwie immer ein ſymmetriſches Gegenüber bei Ungleichheit
der Seiten begründet, entweder für das Ganze oder für die einzelne Gruppe
oder für beide zugleich. Dieß gilt zunächſt von der Richtung in die Breite
und Höhe; die Richtung in die Tiefe erweitert mannigfach dieſes Geſetz nach
einer neuen Seite, bereitet Verwicklungen, dient aber auch zur erſchöpfenden
Entfaltung aller, nun in doppelter Art des Abſtoßes ſich darſtellenden Verhält-
niſſe der Vielheit.


Es iſt ſogleich von Vielheit und von Gruppen die Rede, denn erſt
im reiferen Stoffe offenbart ſich die Kraft eines Geſetzes, das ſich aller-
dings auch bei nur zwei Figuren irgendwie geltend machen muß. Die
Dreizahl wird bei einfacheren Aufgaben in der Malerei wie in der Plaſtik
ſich als beſonders willkommene Form zur Entwicklung eines einleuchtenden
Rhythmus darbieten; dieſe Kunſt eilt aber ihrer Natur gemäß zu um-
faſſenderen Compoſitionen. Wir reden zuerſt von der Vertheilung, Schei-
dung, Diſpoſition; das Verhältniß der Ueberordnung, Unter- und Neben-
Ordnung, das in der allgemeinen Compoſitions-Lehre vorher aufgeführt
iſt (§. 497), faſſen wir hier beſſer erſt im Folgenden, bei dem Momente
der Einheit, auf. Die bindende Kunſt der Einheit ſetzt die Vielheit vor-
aus, die Einheit ſoll nicht wirken, ehe die Vielheit zu ihrem Rechte ge-
kommen iſt. Es ſollen alſo die Gegenſtände auseinandertreten, ausein-
andergehalten ſein. Die einzelne Gruppe bunt zu verſchlingen, wie es ihm
gutdünkt, hindert den Maler keine Schwierigkeit des gegenſeitigen ſich-
Deckens der Theile, er ſtellt ja nur eine Seite dar und beſtimmt den
Geſichtspunct; aber durchſichtig ſind ja doch ſeine Geſtalten nicht (vergl.
649 Anm. 2), er muß dafür ſorgen, daß der Theil oder das Glied eines
Körpers, der theilweiſe von einem andern verdeckt iſt, leicht erkannt werde
als Fortſetzung einer hinter dem verdeckenden Körper fortlaufenden Form,
damit das Einzelne auch in der Verbindung vieler Einzelner zu einem
Ganzen doch zugleich als Ganzes für ſich erkannt werde; er darf die
Vielheit nicht in einen Brei zuſammenkneten. Auch Körper, die mehr
vereinzelt ſtehen, ſollen nicht mit Umgebendem haltungslos verwachſen
erſcheinen: dem ſoll nicht nur die Technik der Modellirung und Farbe
vorbeugen, ſondern eben die Compoſition, indem ſie berechnet, was einer
Geſtalt zum Hintergrund zu geben oder in der Nachbarſchaft beizugeſellen
iſt. Ebenſo wie die einzelnen Körper in der Gruppe voneinander, ſoll ſich
ferner Gruppe von Gruppe einleuchtend trennen und abheben. Grup-
penknäuel z. B. wie in Rubens jüngſtem Gerichte zu München, ſind zu wild,
ſind unruhig. Selbſt im Getümmel der Schlacht müſſen ſich deutliche
Gruppen ſondern, Rubens hat in der Amazonenſchlacht, Raphael in der
Conſtantinsſchlacht meiſterhaft dafür geſorgt. Gehen wir nun tiefer, ſo
[623] liegt die ſcheidende Kraft im Inhalte des Kunſtwerks ſelbſt: es iſt milder
oder ſtarker Contraſt (vergl. §. 498). Maſſen, welche ihrer Natur nach
einförmig behandelt ſein wollen, dürfen allerdings relativ wie Ein Indi-
viduum erſcheinen, müſſen ſich aber als ſolches von Anderem entſchieden
abheben. Was ſich dagegen unterſcheiden und entgegentreten ſoll, wird
zwar im Einzelnen unmittelbar nebeneinander ſtehen und nur durch Farbe
und Ausdruck ſeinen Contraſt markiren, im Großen und Ganzen aber
liegt hier offenbar in dem flüſſigen Gebiete des Maleriſchen ein feſter
Punct vor: das Auge fordert, daß ſich der Contraſt in einer Gegenüber-
ſtellung ausdrücke, und das Geſetz der Symmetrie, das uns bei der einfach
architektoniſchen Anordnung ſich ergab, bleibt unläugbar auch bei der ächt
maleriſchen in Kraft. Die Mitte laſſen wir zunächſt außer Betracht, man
kann ſich ein relativ Gleichgültiges als das Trennende denken. Der
alterthümlich architektoniſchen Compoſition nähert ſich am meiſten die mehr
plaſtiſche Stylrichtung und zwar vorzüglich in großen, monumentalen
Aufgaben: hier wird man dieß einfache Geſetz überall in Kraft finden,
die Gegenſätze von Mann und Weib, Jugend und Alter, Schwach und
Stark, Freund und Feind, Handeln und Leiden, Handeln und Zuſchauen,
Geben und Empfangen u. ſ. w. werden ſich naturgemäß ein einem
Gegenüber darſtellen. In Raphels Beſtrafung des Ananias z. B., einer
durch Klarheit und Entſchiedenheit beſonders lehrreichen Compoſition, haben
wir auf dem erſten Plane links und rechts ſich gegenüber verſchiedene
Formen der Aufregung bei dem Anblick des hingeſchmetterten Ananias, der
übrigens nicht ganz in der Mitte liegt, ſondern mehr zur linken Gruppe
gezogen iſt, weiter hinten treten links die Gemeinde-Mitglieder zu einer
Tribüne, um ihre Habe darzubringen, rechts empfangen andere die Gaben:
die räumliche Diſpoſition macht auf den erſten Blick die Motive verſtänd-
lich und zwar auch den ſpeziellen Act, da in der linken Gruppe das
Weib des Ananias Geld in die Hand zählt, woraus wir den vorgefallenen
Betrug erkennen. Soviel zunächſt über die Richtung nach der Breite;
wir gehen nun auch nach der Höhe, doch ohne vorerſt ihre ganze Bedeu-
tung in’s Auge zu faſſen. Der Contraſt kann ſich auch oder zugleich in
dieſer Richtung darſtellen; z. B. bei Handeln und Leiden iſt dieß ganz
natürlich: der ſtärkere Feind überragt etwa an Größe den ſchwächeren
Gegner, hat den Vortheil höheren Standorts, ſitzt zu Pferde, oder ſonſt
ein natürliches Motiv ſtellt die im Contraſt wirkende Kraft höher. So ſteht
auf der berühmten Tapete, von der wir ſprechen, Petrus, neben ihm Ja-
kobus und ſieben andere Apoſtel auf der genannten Tribüne; Petrus
ſpricht das Wort, das den Ananias wie ein Blitz hinſchmettert, von
der Höhe. Die obere Gruppe theilt ſich auch wieder, wiewohl nicht durch
Zwiſchenraum getrennt, in Handelnde (Jakobus unterſtützt in mildem
[624] Contraſte die Handlung des Petrus, indem er durch den Fingerzeig
nach oben das eben Eingetretene als göttliches Strafgericht bezeichnet,)
und Zuſchauende (die übrigen Jünger ſehen mit Entſetzen den furcht-
baren Auftritt). Es verſteht ſich nun, daß die Symmetrie ſelbſt bei ſol-
chen normal einfachen Compoſitionen keine geometriſch einförmige ſein
darf, ſonſt wäre es wohl numeriſche, aber nicht qualitative Vielheit,
was durch ſie in beziehungreicher Sonderung auseinandergehalten wird.
Der Künſtler muß außer den ſtärkeren Abweichungen von der ſtarren
Regelmäßigkeit hiefür dadurch ſorgen, daß er das ganze ungeſuchte Wal-
ten der Zufälligkeiten neben den feſten Hauptmomenten hindurchſpielen
läßt, und zwar dieß auch dann, wenn das äſthetiſche Motiv ſelbſt es,
wie oben erwähnt iſt, mit ſich bringt, daß eine gewiſſe Einförmigkeit eine
ganze Seite beherrſcht, wie z. B. eine Flucht, eine gleichmäßige ſtürmiſche
Bewegung einer Leidenſchaft u. ſ. w. So zeigen die entſetzten Zuſchauer
aus dem Volke auf der linken. Seite von Raphaels Bild: die Vertreibung
des Heliodorus aus dem Tempel von Jeruſalem einen gemeinſamen Wurf
wie vom Winde nach einer Seite hingewehte Bäume, aber mit der größten
Genialität ſind ſie in Formen, Bewegungen, Ausdruck wieder verſchieden
behandelt; auf der oben dargeſtellten Compoſition hat der Künſtler, damit die
Symmetrie nicht zu fühlbar werde, neben allen Unterſchieden der Indivi-
duen, ihres Affects, ihrer Bewegung ſchließlich noch im Hintergrunde da-
durch für den nöthigen Wechſel geſorgt, daß er ſich rechts durch Architektur
abſchließt, während links ſich eine Landſchaft öffnet. — Was nun die
Richtung in die Tiefe betrifft, ſo haben wir ſeines Orts bereits von der
Bedeutung der Hauptabſtufungen, von der Haltung, die durch die Be-
ſtimmtheit ihrer Unterſcheidung in das Ganze kommt, das Weſentliche
ausgeſprochen. Im gegenwärtigen Zuſammenhang iſt zunächſt abgeſehen
von der Beziehung zu der Compoſition nach Breite und Höhe noch zu
bemerken, daß dem anordnenden Künſtler nach dieſer Seite in der Aus-
führung immer noch gewiſſe ſpezielle Aufgaben begegnen werden. So
wird er insbeſondere auch bei dem günſtigſten Naturvorbilde ſelten den
Vordergrund wirkſam genug finden; derbe Maſſen und Geſtalten in ver-
ſtärkter Kraft des Lichts und noch mehr des Schattens werden hier an-
gebracht werden müſſen, um das Uebrige energiſch zurückzutreiben; Rott-
mann liebt z. B. im Vordergrund eine ſchattige Quelle, einen Teich mit
ſtark modellirten Erdformen, energiſcher Vegetation, um der Sonnengluth
der ſüdlichen, ausgetrockneten Landſchaft das Gefühl der Kühle adſtringirend
gegenüberzuſtellen; die Malerei der Verfallszeiten mit ihrer akademiſchen
Schablone hat freilich auch hier in den ſtehenden groben Klötzen der ſog.
repoussoirs die Abſichtlichkeit und den Mechaniſmus ſchreiend zu Markte
gebracht. Es iſt nun aber mit der Richtung in die Tiefe ein neuer
[625] räumlich ausgedrückter Contraſt in die Compoſition eingetreten, das Prinzip
der Auseinanderhaltung des Vielen erweitert ſich nach einer andern Seite.
Es entſteht daraus eine Durchkreuzung der Richtungen, die aber darum
jenes Geſetz der Gegenüberſtellung nicht aufhebt, ſondern neben ihm be-
ſtehend dem Künſtler nur auflegt, in ſeinem räumlich vertheilenden Denken
eine größere Summe von Fäden gleichzeitig zu regieren. So kann nun
eine Figur ihren Gegenſatz ebenſo gut hinter ſich, als ſich gegenüber haben,
der Contraſt als nächſter oder entfernterer Hintergrund wirken, aber auch
zugleich in einem Gegenüber ſich entfalten. Z. B. Delaroche’s Marie
Antoinette hat unmittelbar hinter ſich die Wache der Nationalgarde, ihr
Kopf hebt ſich in ſcharfem Contraſt von den ſtumpfen Zügen eines dieſer
Soldaten ab; die eigentlichen Feinde, die Richter, ſind im ferneren Hinter-
grund, aber durch düſtere Beleuchtung gehoben; daneben aber wirkt die
Symmetrie der Breite nach, denn rechts der Königin gegenüber, unter ſich
ſelbſt wieder contraſtirend, theils fanatiſch, theils mitleidig, befindet ſich das
zuſchauende Volk, neben einem fanatiſchen Nationalgardiſten und Offizier
jener apathiſch gleichgültige. Man ſieht an dieſem Beiſpiel zugleich, wie
Licht und Farbe vermittelnd eintritt, ſo daß, wenn eine von zwei gegen-
überſtehenden oder der Höhe nach in Gegenſatz geſtellten Seiten entfernter
ſteht, als die andern, oder der Gegenſatz überhaupt mehr nur in der
Richtung der Tiefe ſich ausſpricht, das Gleichgewicht durch kräftigeren
Beleuchtungs-Gegenſatz ſich herſtellen kann; auch wird ein Theil der
entfernteren Gruppe doch zugleich mehr auf den Vordergrund ſich herein-
ziehen und hier wieder ein Gegenüber bewirken. Die Tiefe hat zugleich
eine beſtimmte Beziehung auf die Zeit, genauer auf das Verhältniß der
Urſache und Wirkung. Geht die Handlung im Vordergrunde vor ſich,
ſo wird das nächſte Object mit wenig Unterſchied der Entfernung in die
Tiefe ſich dem Handelnden gegenüber befinden, die unbeſtimmteren Nach-
wirkungen aber, z. B. die Flucht von Maſſen in einem Schlachtbilde,
werden ſich nach dem Hintergrunde ziehen; in dieſem kann aber, wie das
eben erwähnte Bild zeigt, auch das Vergangene, was ſich zu dem Vor-
dergrund als Urſache und Vorausſetzung verhält, ohne Verletzung des
Grundgeſetzes der bildenden Kunſt in deutlicher Sprache ausgedrückt
ſein. — Das Ganze bewirkt ſo im gleichzeitigen Gegenſchlag nach der
Breite und Höhe und nach der Tiefe das befriedigende Gefühl einer
gründlichen Erſchöpfung und Ausathmung des dargeſtellten Lebens-Acts.


Dieſe Bemerkungen haben vorzüglich die hiſtoriſche Compoſition im
Auge gehabt und zwar vor Allem den mehr plaſtiſchen Styl, denn dahin
gehört Raphael. Je weniger nun der Charakter in ſeiner heroiſchen
Größe und der Einfachheit ſeiner idealen Motive den Inhalt eines Ge-
mäldes bildet, je mehr der Accent auf das Zufällige, Einzelne, Anhängende
[626] der Individualität fällt, deſto weniger ſichtbar und kräftig wird das Ge-
ſetz jener einfachen Gegenüberſtellungen wirken; es wird nicht ganz ver-
ſchwinden, aber es wird ihm leichter und häufiger dadurch genügt werden,
daß Körpern aus irgend einer Sphäre Körper aus einer andern, niedri-
geren, aber jetzt zur Geltung gelangten, oder daß Körpern überhaupt die
Intenſität von Lichtwirkungen als Gegengewicht ſymmetriſch gegenübertritt.
Haus, Geräthe, Baum, glühender Himmel, glänzende Wolken u. ſ. w.
ſtellt das Gleichgewicht her. Man ſieht hier, daß Solches, was wir in
§. 686 im negativen Sinne, als Grund der Erſchwerung feſter Beſtim-
mungen über die lineare Compoſition geltend gemacht haben, nämlich
Licht und Farbe, nun doch auch in die poſitive Beziehung zu jener tritt,
daß es mit ihr in Eine Berechnung gezogen gemeinſchaftlich dem nur
freier ſich wendenden Geſetze dient. Es iſt natürlich insbeſondere die
Landſchaft, von welcher das Letztere gilt: die Wirkung der allgemeinen
Medien tritt mit der Wirkung der durch ſie beleuchteten Körper in dieſen
Compromiß der gegenſeitigen Ergänzung. Doch iſt auch im Genre und
in der Landſchaft der Unterſchied der Style wieder wichtig. Das höhere,
plaſtiſch behandelte Genre componirt mit ſtrengerer Symmetrie, als das
niedrige; man ſehe zu, wie rein und klar ſich die Gruppen auf L. Roberts
Bildern: die pontiniſchen Schnitter und die Fiſcher von Chioggia bauen,
und vergleiche damit einen Teniers; von Claude Lorrain haben wir zu
§. 686 eine Landſchaft angeführt, wo das Gegenüber rechts Gebirge,
links Meeresfläche mit intenſivem Licht iſt, aber wie architektoniſch klar
pflegt er ſonſt den feſten, körperlichen Theil ſeiner Landſchaft an ſich
ſchon zu bauen, verglichen mit einem Ruysdael!


§. 691.

Die Einheit iſt es, von welcher bereits auch die Klarheit in der
Auseinanderhaltung des Vielen ausgeht, welche zugleich poſitiv als Bindung
wirkt und die Scheidung nicht bis zur Zerreißung fortgehen läßt. Dieſelbe
tritt aber auch leibhaft entweder als bedeutendſter Gegenſtand überhaupt oder
als bedeutenderer in der einzelnen Gruppe auf und dieß Werthverhältniß der
Ueberordnung kann zwar auch durch Stellung in der Mitte oder an einer der
Seiten, wird aber doch irgendwie, wo nicht in der Anordnung des Ganzen,
doch der Theile ſeinen Ausdruck zugleich weſentlich in der überragenden Höhe
[finden], ſo daß ein Anklang an die Pyramide auch durch die Werke der
ausgebildeten Malerei ſich hindurchzieht.


Einheit in der Vielheit, Vielheit in der Einheit: beides läßt ſich
nicht trennen, Vertheilung iſt Bindung, Diſpoſition Compoſition und um-
[627] gekehrt. Das ſymmetriſche Gegenüber, das wir im vorh. §. gefunden,
iſt ja nur der Ausdruck des innern Gegenſtoßes, den ſich die Einheit
gibt; durch zu dichte Knäuel und durch Zerſtreutheit des Einzelnen leidet,
weil die Vielheit ſich in’s Unklare verliert, eben auch die Einheit. Zu
§. 498, 1. iſt die Theilung der zwölf Apoſtel in Gruppen von je drei
Männern angeführt, wodurch Leonardo da Vinci die Monotonie der an
einer Tafel ſitzenden dreizehn Figuren gebrochen hat: dieſe ſind dadurch
verbunden, aber auch getrennt, denn zwiſchen den Gruppen iſt ſchärfere
Scheidung, als zwiſchen den mehr iſolirten Einzelnen wäre. Was aber
in dieſer Compoſition ſowohl trennt, als vereinigt, das iſt das eben ge-
ſprochene Wort Chriſti: Einer unter euch wird mich heute verrathen; dieſes
Wort hat wie ein Blitz eingeſchlagen, Alle ſind nur mit ihm beſchäftigt,
Jeder auf andere Weiſe, und da ſich Jeder äußern muß, ſo führt ihn
das Bedürfniß der Mittheilung zu dem Nachbar; es kann aber nicht
Jeder mit Jedem ſich beſprechen, ſo bilden ſich ganz natürliche Gruppen
von je drei Männern, worin jedoch wieder für den Unterſchied geſorgt
iſt, indem Einzelne nur der Linie nach mit ihrer Gruppe zuſammenge-
hören und in Wirklichkeit doch mehr für ſich ſind oder ſich hinauswenden
nach der Hauptperſon. Trotz dieſem Ineinander der zugleich trennenden
und bindenden Wirkung müſſen wir aber die Einheit dennoch für ſich be-
trachten; dieß ergibt ſich vor Allem daraus, daß der Contraſt, obwohl
ſelbſt in der Einheit gegründet, doch bis zur Zerreißung fortgehen kann,
wenn die Einheit zwar in der Idee liegt, aber nicht in’s Auge tritt. So
reichen z. B. die Nachweiſungen einer innern, ethiſchen Einheit nicht aus,
um die Zweiheit, in welche Raphaels Transfiguration in der Richtung des
Oben und Unten zerfällt, zu rechtfertigen; weit eher findet man hier die
Rechtfertigung in dem mehr architektoniſchen Geſetze der mythiſchen Ma-
lerei; die Theile verhalten ſich in dieſem Bilde wirklich wie Wand und
Giebel. In der geſperrten Landſchaft ſchneidet Everdingen öfters die
mittlere Höhe mit einer zu ſcharfen, unangenehm trennenden Horizontale
durch; in der geöffneten muß es jedem Künſtler ſein Gefühl ſagen, ob
die zwiſchen einem Gegenüber von Bergen oder dergl. aufgeſchloſſene
Ferne noch den einheitlichen Abſchluß eines Berges am äußerſten Horizonte
bedarf; nach Umſtänden fällt ohne dieſe zuſammenfaſſende Form das
Ganze der Breite nach wie in zwei Stücke auseinander, nach Umſtänden
wirkt umgekehrt die Zuthat zerreißend. — Es muß nun aber die Einheit
auch ihren eigenen, beſondern Ausdruck finden, muß ſich als ausdrückliche
Erſcheinung neben die von ihr beherrſchte Vielheit ſtellen. Hier tritt die
Höhe in einer neuen Bedeutung auf. Wir haben dieſelbe ſchon im vorh.
§. zur Sprache gebracht, doch nur erſt nach der Seite der Scheidung,
der ſich gegenübertretenden Vielheit; freilich, wenn dort geſagt iſt, der
[628] Handelnde, der Siegreiche u. ſ. w. werde dem Leidenden gegenüber häufig
auch in räumlicher Erhöhung auftreten, ſo war damit bereits zugleich ein
Werthverhältniß ausgeſprochen. Dieß iſt nun aber für ſich zu beleuchten.
Die eigentliche Einheit iſt immer der Geiſt des Ganzen; dieſer wird ſich
aber in Einem Gegenſtand oder in einigen poſitiver concentriren, als in
den andern, der Begriff der Einheit beſtimmt ſich daher innerhalb des
Einzelnen zu dem der Ueberordnung. Dieſe drückt ſich in der Malerei
keineswegs nur durch die Höhe aus; zur Seite Chriſti in Leonardo’s
Abendmahl z. B. ſteigen die Gruppen der Apoſtel zu den Seiten höher
an, die Hauptperſon iſt räumlich nur durch einen ſtärkeren Zwiſchenraum,
als der zwiſchen den einzelnen Gruppen, abgehoben, an ſich aber durch
die Stellung in der Mitte ausgezeichnet. Man ſieht an dieſem entſchei-
denden Beiſpiele, daß, wie im Relief, auch die Stellung in der Mitte allein
die Bedeutung der Hauptfigur ausdrücken kann; ſelbſt die Stellung an
einem Ende kann, ebenfalls wie im Relief, dieſen Zweck erfüllen, was
man in ſo manchen Länge-Compoſitionen der Venetianer ſieht. Doch iſt
die Symbolik der Höhe und Tiefe eine ſo einleuchtende, daß die Malerei
als bildende Kunſt nothwendig ſich von ihr beſtimmen laſſen muß, auch
wo ſie die mythiſch-architektoniſche Compoſition längſt verlaſſen hat. Es
iſt z. B. dem Auge peinlich, daß Conſtantin auf Raphaels Schlachtbild
eine gedrückte Figur iſt und zu tief im Pferde ſitzt (ein Fehler, der auch
bei andern Reiterfiguren Raphaels vorkommt). In zahlloſen Werken
großer Meiſter, auch wo nicht ein äußeres Motiv, wie Hängen am Kreuz,
Kreuzabnahme, die Höhen-Compoſition mit ſich bringt, herrſcht ſie und
befriedigt unſer innerſtes Gefühl. Die Emporragung ſtellt nicht noth-
wendig einen pyramidalen Gipfel dar, die höher geſtellte Gruppe iſt z. B.
breit in Raphaels Ananias, noch breiter in der Schule von Athen, in
der Amazonenſchlacht von Rubens, wo ſich aber doch ſo klar und wohl-
thuend das ſauſende Gewühl in die zwei Seitengruppen der wild in den
Strom abſtürzenden Amazonen und den Hauptkampf oben auf der Brücke
diſponirt. Allerdings aber iſt das ſteilere Anſteigen zur Pyramide in den
verſchiedenſten Variationen zu natürlich, als daß es nicht in unendlichen
Werken der Malerei ſich aufdrängen ſollte; wir greifen aus der Fülle der
Beiſpiele drei der edeln Compoſitionen von L. Robert heraus, die wir zum
Theil ſchon flüchtig angeführt haben. Auf den Fiſchern von Chioggia bauen
ſich drei Hauptgruppen: in den zwei untern ſtehen ſich rechts Männer,
links Frauen in freier Symmetrie gegenüber; den letzteren näher iſt ein
Jüngling, faſt noch Knabe, mit den Netzen beſchäftigt, ein ſchöner Linien-
zug führt von ihm hinauf zur mittleren höheren Gruppe, deren höchſten
Punct der befehlende Alte, das vielerfahrene Familienhaupt, einem home-
riſchen Manne gleich, darſtellt; wobei wir nachholen, wie auch in der
[629] Malerei das Syſtem der einzelnen Bewegungen noch einen plaſtiſchen
Rhythmus bilden ſoll: man bemerke den edeln Antagoniſmus der Linien
zwiſchen dem linken Arm jenes Jünglings und dem ausgeſtreckten des
Alten. Die zwei andern Bilder führen zu einer intereſſanten näheren
Beſtimmung. Drei Hauptgruppen treten auch hier auseinander, die
mittlere ſteigt pyramidaliſch, aber die Spitze wird nicht oder nicht un-
zweifelhaft durch die Hauptperſon gebildet. In den pontiniſchen Schnit-
tern mag der herrliche, ernſte Burſche, der vorn in der Mitte zwiſchen
den Arbeiterinnen links und den tanzenden, pfeifenden Schnittern rechts
an ſein Büffelgeſpann gelehnt ſteht, als die Hauptperſon erſcheinen, allein
die Männer auf dem Wagen und die höchſte Figur, die Madonnen-artig
ſchöne Frau mit dem Kinde, ſind durch die Wirkung der Höhe idealiſirt:
da unterſcheiden ſich denn zwei Formen der höheren Bedeutung, die auf
verſchiedene Weiſe durch die Symbolik des Raumes ausgezeichnet ſind: die
Jugendkraft durch Stellung in der Mitte (wiewohl mit den Büffeln wie-
der einen herrlichen pyramidalen Gegenſatz gegen die thieriſche Kraft
bildend), das reife Mannessalter und dann noch mehr weibliche Idealität
durch Stellung in der Höhe: ein belehrendes Beiſpiel des Zuſammen-
laufens verſchiedener Beziehungen; der Burſche gehört aber zur Baſis
der Pyramide und drückt ſo aus, wie auf thätige Jugendkraft das Fami-
lienleben ſich ſtützt und baut. In der Madonna dell’ Arco iſt das ſchöne
Mädchen mit dem Thyrſus-artigen, von Obſtpflanzen umwundenen Stab
auf dem Karren als Hauptperſon zu bezeichnen, aber ein junger Burſche
hebt ſich noch über ſie, wiewohl er entſchieden unbedeutender iſt. Dieß
Beiſpiel beweist allerdings, daß, wie die höchſte Wichtigkeit nicht noth-
wendig die höchſte Raumſtellung mit ſich bringt, ſo dieſe nicht nothwendig
als Ausdruck für jene anzuſehen iſt. Oft iſt es einfach ein Bedürfniß
des Auges, was den Maler beſtimmt, noch höher zu gehen, irgendwie
durch weiteren Linien-Aufbau befriedigender abzuſchließen; ganz ohne Zu-
ſammenhang mit innerer Bedeutung kann dieß zwar nicht ſein, aber die-
ſelbe kann ſich mit ſo zarten Fäden in Anderes, Weiteres verlieren, daß wir
dieſe Seite hier nicht weiter verfolgen, ſondern nur ſoviel ſagen können:
umgeſtoßen wird die Wahrheit des innern Zuſammenhangs zwiſchen Dig-
nität und Höhe dadurch nicht, daß ein ſolcher Bautrieb zugleich auch mehr
nur formell wirkt, und wenn derſelbe ohne fühlbare Beziehung auf
den Werth der Gegenſtände allzu ſichtbar auftritt, ſo geräth die Malerei
in froſtigen, auf unerfreuliche Weiſe an plaſtiſche Herrſchaft des Conturs
erinnernden Formaliſmus. Von geſuchter Pyramidal-Compoſition iſt z. B.
Raphaels größeres Bild der heil. Familie in München nicht ganz frei-
zuſprechen. — Wir haben bisher nur von der Hauptperſon oder Haupt-
gruppe geſprochen; der pyramidale Bautrieb wird ſich aber bei mehreren
[630] Gruppen ebenſo auch auf die untergeordneten werfen und man wird
daher bei zahlloſen trefflichen Compoſitionen eine größere mittlere Pyramide
von kleineren, die etwa ſelbſt wieder in Größen-Unterſchiede ſich theilen,
mit mehr oder weniger Unterbrechung durch gerade Linien, ſich umgeben
ſehen. Nun aber kann dieß Verhältniß in verſchiedener Weiſe ſich ver-
ändern. Hauptperſon oder Hauptgruppe fällt an das eine Ende einer
Länge-Compoſition und ragt durch Höhe hervor: dann wird die Symmetrie
verlangen, daß das am andern Ende Gegenüberſtehende in ungefähr ent-
ſprechendem Maaß ebenfalls ſteige, wie man dieß z. B. in Paolo Vero-
neſe’s Bildern: die bekehrte Familie Coneina und die Anbetung der Kö-
nige (in Dresden) ſieht. Der natürliche Zug zu der Anordnung einer
Baſis von niedriger Gegenüberſtehendem und einem Gipfel darüber wird
ſich dann, da er ſich nicht als Pyramidalform im Ganzen darſtellt, doch
auf dieſe zwei Endgruppen werfen und man erhält eine tiefere Mitte
von zwei pyramiden-ähnlichen Formen flankirt. Dieſe oder eine ähnliche
Anordnung kann nun überhaupt eintreten, wenn Hauptperſon oder Haupt-
gruppe nur durch die Stellung in der Mitte ſich auszeichnet oder eine
ſolche im engeren Sinne überhaupt nicht da iſt, ſondern die Einheit mehr
im Geiſte des Ganzen bei nur relativem Dignitäts-Unterſchiede der Grup-
pen liegt: man wird irgendwie einen pyramidalen Höhetrieb wenigſtens in
der einzelnen Gruppe mit dem Prinzip der Gegenüberſtellung derſelben
ſich vereinigen ſehen. Nun haben wir aber nicht vergeſſen, daß das
Gegenüber gar nicht blos in den Figuren, ſondern ebenſoſehr in einer
Zuſammenſtellung dieſer mit andern feſten Körpern oder bald der einen,
bald der andern, bald beider mit Licht- und Farbenwirkungen ſich aus-
drücken kann und daß dieß im Genre und Landſchaft und im rein male-
riſchen Style vorzüglich der Fall ſein wird. Dennoch wird dieſer Zug
der Raum-Symbolik auch hier nicht völlig ſchweigen; ohne denſelben
Paralleliſmus im Großen, wie bei der ſtrengeren hiſtoriſchen Compoſition
oder dem höheren Genre, aber doch innerhalb einzelner Gruppen wird ein
inneres Geſetz den Maler immer dazu führen, den Dreiſchlag von zwei oder
mehreren Gegenüberſtehenden und einem Uebergeordneten in der Annähr-
rung an die Pyramidalform darzuſtellen. Man wird z. B. keine ſchöne
Baumgruppe finden, in der ſie nicht mit freier Zufälligkeit anklingt, ſei
es, daß eine Hauptpyramide in der Mitte ſteigt, oder um eine niedrigere
Mitte ſich ſolche erheben; ja die einzelne Baumkrone ſelbſt läßt ſie ja
anklingen wie die Menſchengeſtalt mit ihrem ſymmetriſchen Glieder-
paare und dem Gipfel des Hauptes darüber. Man unterſcheidet alſo
in einem Gebiet unendlicher Mannigfaltigkeit doch einige Linien, einige
Anhaltspuncte und Fr. W. Unger wird nicht ganz im Grundloſen ſich be-
wegen, wenn er in dem oben angeführten Werk es unternimmt, eine
[631] Reihe der berühmteſten Compoſitionen auf ein ungefähres räumliches
Schema zu reduziren.


§. 692.

Die Schroffheit, welche durch dieß Wechſelverhältniß des Einen und Vie-
len noch nicht aufgehoben iſt, tilgt ſich ſchließlich durch den Ausdruck, welchen
die überleitenden Momente des Vorbereitens, Motivirens, Auflöſens ſelbſt im
rein maleriſchen Styl irgendwie in der Form und Linie ſtuden müſſen, um im
Verein mit der Farbe die rhythmiſche, vorherrſchend dreigliedrige, Bewe-
gung des Ganzen herzuſtellen.


Der Rhythmus liegt in der Geſammtheit der entwickelten Momente
der Compoſition, in der Farbenharmonie, der linearen Anordnung und
dem Zuſammenwirken beider. Ein Accord von Accorden, ein aus zwei
für ſich einſtimmigen Haupt-Klängen ſich erzeugender dritter liegt eigentlich
ſchon in dieſem Bunde der zwei weſentlichen Elemente. Durch das lineare
Element für ſich haben wir den Dreiklang der Vereinigung von Gegen-
übergeſtellten in einem Dritten ſich ziehen ſehen; im Stimmungs-Elemente
der Farbe klingt Licht und Schatten mit Helldunkel, Localfarbe und Local-
ton mit dem Haupt-Tone, klingt die Drei der Hauptfarben mit ihren un-
endlichen Uebergängen zu einer Welt von Accorden zuſammen. Die
Dreiklänge ſchreiten in der Mehrung der Gruppen in Zahlengruppen
fort, die irgendwie als eine Verzweigung der Drei erſcheinen; eine Drei-
zahl von Haupt-Gruppen wird ſich aber bei allen reicheren Compoſitionen,
worin die Gegenſtände nicht entſchieden gegen das Gewicht der in den
allgemeinen Medien liegenden Stimmung zurücktreten, ganz abſichtslos als
die naturgemäßeſte ergeben. Der Rhythmus hat nun aber auch hier ſein
inneres Weſen als fließende Bewegung durch eine Reihe überleitender
Mittel, ein Syſtem der Divergenzen und Convergenzen zu äußern, welche
die Momente der Vorbereitung, Motivirung, Löſung, wie ſie innerlich
im Gehalte des Kunſtwerks liegen, dem Auge herausſtellen. Die Zufällig-
keit, die unbefangene Nachläßigkeit der Natur, die Mannigfaltigkeit, die
Individualität, welche noch weit eingreifender, als in der Sculptur, jede
Herrſchaft eines abſtracten Schema in der Malerei durchſchneidet und die-
ſelbe zum bloßen Anklang herunterſetzt, iſt ſchon in der Grundauffaſſung
des Malers als die lebendige Macht und Oppoſition gegen geometriſche
Starrheit und Gleichheit geſetzt; die Compoſition entwickelt dieſe Macht
noch beſtimmter durch einen Act ausdrücklicher Intention, prägt die leben-
digen Unterſchiede und ihre Wechſel-Ergänzung in den Linien aus, läßt
dieſe ſich fliehen, ſich wieder finden, die Gruppen ſich ungleich bauen und
[632] doch entſprechen, trennt das zu eng Verbundene und leitet durch ſanfte
Linien das zu hart Getrennte ineinander über, vermittelt ebenſo das
Farbenleben und ſchafft hiedurch den einheitlichen Fluß und Guß des Ganzen.


§. 693.

1.

Zur Ausführung umfaſſender Ideen in großen cykliſchen Tompoſitionen
entfaltet ſich auch die Malerei vorzüglich durch den Anſchluß an die Baukunſt,
wodurch ſie ſich zugleich von der Beſchränkung auf einen Zeitmoment relativ
befreit. Der unbeſtimmtere Anklang gewiſſer Geſetze der räumlichen Anordnung,
wie er im einzelnen Bild hervortritt, wird zur feſten Bindung einer Vielheit
2.von Bildern. Die engſte Form dieſes Anſchluſſes iſt die Wandmalerei; die
plaſtiſche Stylrichtung fällt mit ihr naturgemäß zuſammen; die monumentale
Großartigkeit der Aufgabe fördert mächtig die Kunſt, führt aber auch leicht zu
den in §. 676 bezeichneten Abwegen.


1. Der §. holt nach, was bei der Erörterung cykliſcher Darſtellungen
in der Sculptur noch nicht ausgeſprochen iſt: daß in dieſen die bildende
Kunſt ihre räumliche Feßlung an Einen Zeitmoment in gewiſſem Sinn
überwindet, indem ſie vorhergehende und folgende Momente in aufein-
anderfolgenden, zuſammengeſtellten Bildern darſtellt. Im Anſchluß an
die Architektur wird nun das Compoſitionsgeſetz wieder einfacher, archi-
tektoniſcher: das ſymmetriſche Gegenüber, Oben und Unten mit den man-
cherlei ärmeren oder reicheren Gruppirungen, die nach Anzahl und Be-
ziehung der Bilder aus dieſem Verhältniß hervorgehen können, iſt durch
die ſtreng gemeſſene Form der Baukunſt gegeben. Es entſprechen ſich
nicht nur einzelne Bilder, ſondern auch fortlaufende Bilderreihen; das
Gegenübergeſtellte und Mittlere iſt ſich an Größe gleich oder verſchieden,
z. B. ein größeres Mittelbild von kleineren umgeben u. ſ. w. Umfaſſende
Ideen finden nun den genügenden Raum, ſich auszuleben, der denkende
Künſtler hat ein großartiges Feld für Gliederung ihrer Momente und
ſinnreiche Wechſelbeziehung derſelben. In der altchriſtlichen Baſilika boten
ſich die Mauer-Flächen über den Säulen des Mittelſchiffs als der an-
gemeſſenſte Raum, um hier, in dieſer Bahn zum Allerheiligſten, die
großen altteſtamentlichen Vorbilder, Kämpfe und Schickſale darzuſtellen,
auf denen die chriſtliche Kirche ſich auferbaute, der Triumphbogen deutete
in großen Symbolen und Allegorien auf das Allerheiligſte, die Tribuna,
wo nun der Erlöſer ſelbſt in perſönlicher Majeſtät den Blicken entgegen-
trat. Die Nebenſchiffe, auch die Außenſeiten der Kirche, konnten dieſe
rhythmiſche Folge in reicher Weiſe weiter ausbilden. Monumentale Bau-
werke jeder Art, die Kreuzgänge der Klöſter, die Hallen der Begräbniß-
[633] plätze, Loggien, Arkaden in den Städten, wie ſchon die antiken Stoen
und Leſchen, Baptiſterien, Kapellen, Kirchen des romaniſchen, in beſchränk-
terem Umfange des gothiſchen Styls, politiſche, Kunſt-Gebäude, Privat-
paläſte und Villen öffnen ſich dieſer großen cykliſchen Entfaltung einer
Kunſt, die noch ungleich leichter und raſcher ſich an die architektoniſche
Fläche ſchmiegt, als die Plaſtik. Die Decke des Innern, wie dieß na-
mentlich in den Kuppel-Malereien geſchah, zu benützen iſt und bleibt wegen
der mechaniſchen Schwierigkeit der Anſchauung nicht räthlich. Wenigſtens
wird es paſſend ſein, hier nur Kleineres, leicht Ueberſichtliches anzu-
bringen. Dieſe Rückſicht äußerer Zweckdienlichkeit trifft auf das Natür-
lichſte mit der inneren Genialität der Erfindung und Anordnung zuſammen
in Raphaels Stanzen: an den Wänden die Darſtellung der Idee in
großen hiſtoriſchen Bildern, in wahrer und wirklicher Verkörperung, an
der Decke in allegoriſcher Andeutung und daneben noch in typiſchen Sce-
nen, wie die Theologie im Sündenfall, das Recht im Urtheil Salomon’s
verſinnlicht; die Deckenbilder ſind kleine, leicht faßliche Deviſen, in die
Gewölbefelder paſſend vertheilt.


2. Die große Wichtigkeit, welche die unmittelbarſte Form des An-
ſchluſſes an die Architektur, die Freske, für Hebung und Tragung des
Lebens der Malerei überhaupt hat, ergibt ſich von ſelbſt und iſt ſchon
durch die Andeutungen des §. 660 ausgeſprochen. Die Fresko-Malerei
iſt der natürliche feſte Punct, um den ſich das Leben dieſer Kunſt bewegt;
ihr Aufſchwung bringt Großartigkeit, Kühnheit, Fülle der Erfindung in die
andern Zweige; die techniſche Nothwendigkeit, in dieſer Kunſtweiſe nur
die weſentlichen, gewaltigen Grundzüge des Inhalts und der Formen zu
geben, wird der Hebel, wodurch der monumentale Styl erſteht, ohne deſſen
ſtarke Stütze auch die Tafelmalerei Halt und Kraft entbehrt. Allein die
Sache hat auch ihre Schattenſeite: Es iſt klar, daß die Freske mit der
plaſtiſchen Stylrichtung zuſammenfällt: die Farbe tritt zurück, das Gewicht
fällt auf die Zeichnung und den Linienbau der Compoſition, hiemit auf
den Begriff, die Erfindung und auf das Prinzip des directen Idealiſmus.
Damit ſind die Verirrungen und Einſeitigkeiten des plaſtiſchen Styls nahe
gelegt. Es bildet ſich leicht jene Gedankenkunſt aus, welche zu viel Werth
auf das Ausſinnen des Cyklus legt. Man hüte ſich, jene beziehungs-
reichen Anordnungen einer Vielheit von Bildern gar zu hoch anzuſchlagen;
am Ende könnte jeder begabtere Kopf ohne allen beſondern Künſtlerberuf
aus einer gegebenen Idee ſolche Combinationen entwickeln. Das einzelne
Bild in ſeiner rein äſthetiſchen Compoſition und in der vollendeten Durch-
führung des Scheins der Dinge zeigt qualitativ mehr den Künſtler, als
das Auffinden eines Fadens, der eine Vielheit von Bildern zuſammen-
hält. Man widerſtehe der Verſuchung, die Mängel der künſtleriſchen

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 42
[634]Durchführung eines Bildes durch ſeine Beziehung zu andern zu ergän-
zen; es handelt ſich um das Bild ſelbſt, nicht um das, was zwiſchen den
Bildern iſt. Die Ueberfruchtung des einzelnen Bildes durch Zuthaten,
welche die höheren Beziehungen darſtellen ſollen, iſt eine weitere natür-
liche Folge der Ueberſteigerung des einfach Aeſthetiſchen in das Gedanken-
hafte; dahin ſind nicht die freien Spiele zu zählen, mit denen eine frucht-
bare Erfindung gerne die Haupt- und Nebenbilder noch in Arabeskenform,
in Frieſen, Sockeln u. ſ. w. umgibt, um, was jene mit großen Zügen
ausſprechen, noch überdieß in ſprudelnder Fülle von Andeutungen ſich
ausathmen zu laſſen, wie ſchon Raphael in den Stanzen und Tapeten
gethan hat; vielmehr ſchlägt ſich die einmal ausgebildete Neigung zum
Beziehungsreichen, Andeutungsvollen auch auf die Hauptbilder und ſteckt
in jede Ecke derſelben verborgenen Tiefſinn. Wir haben ferner bereits
darauf hingewieſen, daß der plaſtiſche Styl ſich vorzüglich an die Auf-
faſſung der Kunſtſtoffe unter dem Standpuncte der zweiten Stoffwelt
halten werde. Wir wollen Mythus und Allegorie nicht ſchlechthin ver-
bannen und haben ſchon in der Anm. zu §. 683 geſagt, daß die Freske
in ihrer natürlichen Beſtimmung zum Cykliſchen ſie nicht wohl ganz ent-
behren kann, aber die Meinung, der Inhalt des Schönen ſei in dieſen
Zurückführungen des Lebens und der Geſchichte auf tranſcendente, einſt
geglaubte, noch geglaubte oder ſubjectiv erſonnene Geſtalten vollkommener
dargeſtellt, als wenn er dem wirklichen Lebensſtoff immanent bleibt, liegt
bei der ganzen Richtung nahe und kann bis zu tiefer Verblendung gegen
das wahre Verhältniß von Idee und Bild führen. Was aber die For-
menbehandlung betrifft, ſo führt das Prinzip des directen Idealiſmus in
einſeitiger Verfolgung entweder zu einer flachen und abſtracten Schönheit oder
einer gewaltſamen Erhabenheit und Ueberkraft, welche alsgemach in das
Gegentheil des reformatoriſchen Anfangs, in das Conventionelle ausläuft.
Man ſieht aus dem Allem, daß auch die Zeit wieder kommt, wo der
monumentale Freskenſtyl von der Oelmalerei und der ächt maleriſchen
Richtung einfaches Verharren bei dem Objecte, richtiger: Idealiſirung des
Objects innerhalb ſeiner ſelbſt, erſchöpfende Ausführung, Wärme der Na-
turwahrheit, überhaupt den Geiſt der Wirklichkeit, wie er ſich mit dem zu
ſeinem Recht gelangten Prinzip des Colorits verbindet, zu lernen hat:
einer der Belege für den Inhalt des §. 676.


§. 694.

1.

Verbindung mit kleineren architektoniſchen Werken und Ausſchmückung
bedeutender Räume begründet auch für die ſelbſtändige Malerei cykliſche Zu-
2.ſammenſtellungen, große monumentale, von einer Idee getragene Reihen. End-
[635] lich ſchließt ſich die cykliſche Compoſition als Skizze an die Poeſie oder bewegt
ſich in frei dichtender Erfindung: mit der Herrſchaft des Moments der Zeich-
nung ergibt ſich hier entweder die plaſtiſche Stylrichtung oder bei Vorwiegen
des Maleriſchen eine Neigung zu ſcharf charakteriſtiſchem Contur.


1. Die Malerei auf Tafel und Leinwand hat ihre cykliſchen Zuſam-
menſtellungen in kleineren Diptychen, Triptychen, in großen Altarwerken
(man denke z. B. an die Fülle der Gedanken-Entwicklung im van Eycki-
ſchen Hochaltare zu Gent); auch in nicht kirchlichen Bildern wird hie und
da eine Feldertheilung auf Einer Fläche angeordnet. Hier herrſcht denn
eine geometriſche Diſpoſition im einfachen oder mehrfachen Gegenüberſtellen
und Ueberordnen; das Einzelne kann trotz der Trennung der Felder in
innigerem Zuſammenhang ſtehen, als in Fresken-Cyklen, die über weite
Räume ſich ausbreiten. Eine freiere Art der Verbindung ergibt ſich, wenn
fortlaufende architektoniſche Räume mit Bilder-Reihen geſchmückt werden,
die von einer gemeinſamen Idee getragen ſind; das Symmetriſche macht
dem Succeſſiven Platz, das der Succeſſion der Geſchichte entſpricht, aus
welcher hier naturgemäß die Idee genommen wird, wie im Muſeum von
Verſailles, dieſem großen Gedanken Louis Philipps. Dabei hat ſich die
Oelmalerei allerdings zu hüten, daß ſie nicht ihrerſeits durch den Drang
der umfaſſenden Aufgabe gejagt in das Freskenartige und Fauſtmäßige
gerathe.


2. Am leichteſten entfaltet ſich natürlich die Skizze zu einem Ganzen
in einer Reihe von Bildern oder in Zuſammenſtellungen auf Blättern,
die in Felder getheilt, etwa durch Arabesken zuſammengehalten ſind. Hier
ergießt ſich denn die Erfindung weit hinaus über das urſprüngliche ein-
fache Verhältniß zu einem in der Anſchauung oder Ueberlieferung gege-
benen Stoffe; auch wenn ſie den Text einer Dichtung oder eines proſai-
ſchen Werks begleitet, iſt ihr das Wort häufig nur ein erſter Anſtoß,
ein dünner Stab, den ſie mit quellenden Erfindungen umrankt; ſie kann
ſich auch an eine beliebte Zeit-Idee wie an einen poetiſchen Text halten
und ſie in immer neuen Wendungen ausführen; ein beliebter Stoff dieſer
Art waren ſeiner Zeit die Todtentänze; ſie kann aber endlich der Dich-
tung und Schrift überhaupt ihr Geſchäft abnehmen und ſelber ein Ganzes
dichten wie z. B. Genelli in dem geiſtreichen „Leben einer Hexe“. Es
ſtehen hier eigentlich Erſcheinungen vor uns, worin die Kunſt, für die
vervielfältigende Technik thätig, in das Gebiet des blos Anhängenden hin-
übergeht, allein ſehr ſelbſtthätige Kräfte äußern ſich auf demſelben, ſelbſt
ein Cornelius hat auf ihm vornehmlich zuerſt ſeine Kraft erprobt. Wir
haben geſehen, daß es vornehmlich die mehr auf das Moment der Erfin-
dung beſchränkten Talente ſind, die auf ihm verweilen, aber es kann ſich

42*
[636]auch ein großer Theil der ganzen künſtleriſchen Kraft einer Zeit aus einem
Ueberſchuß des Subjectiven in der Phantaſie, einem poetiſchen Bildungs-
triebe, der in der eigentlichen Dichtung kein Bett zu finden vermag und
ſich mit wuchernder Gedankenfülle auf die bildende Kunſt wirft, mit Vor-
liebe in ihm bewegen, wie dieß im Anfange des ſechzehnten Jahrhunderts
in Deutſchland der Fall war. Wenn an ſich die Skizze in innerem Zu-
ſammenhang mit dem plaſtiſchen Style ſteht, wie er bald mehr den Fluß
der rein ſchönen Linie, bald die Schwellung der kräftigen und überkräfti-
gen Form liebt, ſo kann ſich doch auch die ächt maleriſche Richtung auf
die Herrſchaft des Conturs iſoliren, der dann freilich einen ganz andern
Charakter tragen wird. In und zu §. 676 iſt dieſer Charakter ſchon
angedeutet; im geſchichtlichen Theile wird er ſich in volleres Licht ſtellen,
wie innerhalb des rein maleriſchen Styls noch einmal der Gegenſatz des
herrſchenden Umriſſes und der ganzen Entwicklung der Farbe auftritt;
hier iſt nur ſo viel zu ſagen, daß die erſtere Richtung von der verwandten
Totalrichtung des plaſtiſchen Styls ſich durch harten Individualiſmus und
Naturaliſmus unterſcheiden wird, was ſich mit dem poetiſirenden Geiſte,
in welchem die Pflege der Skizze ihren Grund hat, ſo verbindet, daß
der üppige Bildungstrieb gerne bis zur Ueberladung und Ueberſchnörk-
lung des Charakteriſtiſchen fortgehen wird; daher hier auch die Caricatur
nahe liegt. Wir weiſen übrigens der Erläuterung wegen ſchon hier auf
die Holzſchnitte und Kupferſtiche der großen deutſchen Meiſter des ſech-
zehnten Jahrhunderts, eines Albrecht Dürer, eines Hans Holbein (des
Jüngſten) hin: hier benützt die cykliſche Skizze ihre freie Bewegung ohne
Farbe zu der äußerſten Verſchärfung aller treffenden Phyſiognomik, aber
auch aller derben Naturwahrheit, eckigen Härte, aller Neigung zu abſon-
derlichem Linienſpiel, die dem deutſchen Styl eigen war.


[637]

b.
Die Zweige der Malerei.


§. 695.


Der Eintheilung des Gebiets der Malerei in Zweige iſt das Mythen-1.
bild geſondert voranzuſtellen, denn es vertritt ſie, ehe ſie entwickelt ſind, alle,
die Keime von allen und theilweiſe auch die näheren Unterſchiede, in welche
jeder ſelbſtändige Zweig ſich ſpaltet, treten in ihm hervor. Nachdem die Zweige
erwachſen ſind, beſteht es nur durch eine Tautologie neben ihnen fort und er-
ſcheint vermöge einer Verkennung des logiſchen Verhältniſſes (vergl. §. 25) als
eine zweite, höhere Art der ſogenannten Hiſtorienmalerei. Seine bedeutendſte
2.
Stütze hat das Fortleben der zweiten Stoffwelt in einem bleibenden Bedürfniſſe
der auf das allgemein Menſchliche gerichteten Phantaſie, ſich an Mythiſches
anzulehnen.


1. Der §. wiederholt im Weſentlichen nur, was ſchon mehr, als ein-
mal, auseinandergeſetzt und worüber §. 24. 25. 62. 417. 418. 541. noth-
wendig zu vergleichen iſt; insbeſondere zeigt bereits §. 25 die hier wieder
zur Sprache gebrachte logiſche Verwirrung auf. Dieſe Wiederholung iſt da-
durch gefordert, daß die Malerei die erſte Kunſtform iſt, in welcher Alles
bisher nur im Allgemeinen Aufgeſtellte zum erſtenmal in volle Anſchau-
lichkeit und Anwendung tritt, eigentlich praktiſch wird. In der Sculptur
ſahen wir das Mythiſche ſo durchaus berechtigt, daß durch daſſelbe die
ganze Zweige-Eintheilung durchbrochen wurde (vergl. 630. 631); die
Malerei dagegen iſt, wie dieß zu §. 674 und 683 und ſonſt mehrfach
ſchon ausgeſprochen wurde, ihrem ganzen Weſen nach darauf gerichtet,
das Mythiſche vielmehr auszuſcheiden, denn ſie gibt ein ganzes und volles
Bild des Lebens im Umfange ſeiner realen Bedingungen, ſie ſpricht die Idee
als die innere Seele dieſes feſten Zuſammenhangs ſelbſt aus und muß
daher, wo ſie zum Bewußtſein ihrer Aufgabe gelangt iſt, auch begreifen, daß
ſie dieſelbe nicht außer dieſen Zuſammenhang tranſcendent hinſtellen darf, um
ſie in denſelben von außen wieder hereinbrechen zu laſſen. Ihr innerſter
Geiſt iſt der der Immanenz. Beſteht nun trotzdem die Tranſcendenz,
der Anbau der zweiten Stoffwelt auch in dieſer Kunſt fort, nachdem dieſelbe
[638] doch ihr ſpezifiſches Weſen genügend zur Reife ausgebildet hat, um zu
jenem Bewußtſein zu gelangen, ſo müſſen wir dieſe Form aus einem
ganz andern Grund an die Spitze der Zweig-Eintheilung ſtellen, als dort
in der Lehre von der Bildnerkunſt: nämlich nicht, um ihr die erſte Stelle
einzuräumen, ſondern um ſie abzuſondern, damit ſie uns dieſe Eintheilung
nicht verwirre. Dazu kommt jedoch noch ein anderer Grund: wir haben
eine relative Berechtigung des Fortbeſtands einzuräumen und müſſen gleich
zu Anfang darüber in’s Klare kommen, weil uns ſonſt für ein gewiſſes
Gebiet, das der Schlußſatz des §. andeutet, die Prämiſſe fehlt. — Unſere
Anſicht über das Mythiſche iſt inzwiſchen von E. Guhl (D. neuere geſchichtl.
Malerei u. d. Akad. S. 123 ff.) angegriffen worden. Gegen die Be-
hauptung, daß göttliche Weſen, wenn ſie nicht mehr geglaubt werden, in
Allegorien verſinken, wird geſagt: ſie bleiben vielmehr Charaktere oder
künſtleriſche, plaſtiſche, maleriſche Individualitäten, und wenn man im
Allgemeinen der Kunſt das Recht und den Beruf zur Darſtellung poeti-
ſcher Erzeugniſſe des menſchlichen Geiſtes nicht abſpreche, warum gerade
hier der grobmaterielle Maaßſtab der wirklichen Exiſtenz angelegt werde;
es erſcheine kleinlich, von der Kunſt zu verlangen, ſie ſolle nur darſtellen,
was in der That dageweſen ſei und woran man mit gutem Gewiſſen
als an ein wirklich exiſtirendes oder doch exiſtirt habendes Factum glauben
könne. Hier iſt vor Allem eine nothwendige Unterſcheidung überſehen: näm-
lich die zwiſchen dem Möglichen und dem Wirklichen. Weſen, welche zwar
nicht wirklich, nicht als wirkliche geglaubt, nur von der Phantaſie erzeugt,
aber ſo beſchaffen ſind, daß ſie unter den von uns ſchlechthin anerkannten
Geſetzen der Erfahrung leben könnten, zählen wir nicht zum Mythiſchen.
Die Helden der Sage, die Charaktere der Dichter, wenn auch reine Er-
findung, ſind ſolche Weſen und es wäre völlig grundlos, ſie aus der
Stoffwelt des Schönen ausſchließen zu wollen. Anders verhält es ſich
aber mit den Gebilden, die der mythiſche Glaube ſchlechthin über und
außer das Naturgeſetz ſtellt, mit jenen Individuen, die in ganz anderem
Sinn abſolut ſein ſollen, als das äſthetiſche Individuum es immer iſt,
nämlich im Sinne der von ihnen weſentlich ausgeſagten Zerreißung des
Cauſalnexus: dieſe Gattung von Weſen iſt nicht nur nicht wirklich, ſondern
auch nicht möglich und die Kunſt, wenn ſie dieſelben anders, als in der
Einſchränkung, die wir nachher in’s Licht ſetzen werden, zu ihrem Stoffe
wählt, geräth mit dem Grundprinzip der modernen Bildung, wie es in
ſie ſelbſt eingedrungen, in Widerſpruch. Wir verwechſeln nicht eine ſäch-
liche Frage mit einer äſthetiſchen. Möglich oder unmöglich: das wäre
gleichgültig, wenn der Künſtler außer ſeiner Zeit ſtünde und ſich gegen
ihre herrſchende Stimmung abſchließen könnte. Woher nun ſoll er die
Wärme bringen, ein Weſen der Phantaſie zu dem Lebensbild eines exi-
[639] ſtenzfähigen Charakters auszuprägen, das die Geiſtesluft der Zeit ſo zer-
fetzt hat, daß es recht ausdrücklich als unmöglich erkannt iſt und jeder
denkende Menſch kritiſch begreift, wie ſein ſcheinbarer Leib nur Bild iſt
für eine allgemeine Wahrheit, die einſt die glaubenden Völker dunkel
ahnten? Und iſt dieß nicht auch aus der Erfahrung nachzuweiſen, die
doch, wenn man die modernen Producte dieſes Gebiets mit dem Maaß-
ſtabe des wahren Stylbegriffs mißt, uns wahrlich unter zehn Geſtalten
neun „Waſchlappen“ aufweist, neben denen die lebendige zehnte, wenn
man genauer hinſieht, ihre Lebenskraft entweder der Nachahmung jener
Meiſter verdankt, die ſolche Stoffe malten, als ſie zeitgemäß waren, oder
dem glücklichen Zufall einer Stimmung, die in unſeren Tagen nur aus-
nahmsweiſe eintreten kann, oder dem Umſtande, daß in mythiſchen Grup-
pen immer auch ſolche vorkommen, welche nicht dem Gebiete des ent-
wurzelten Glaubens, ſondern jener freien Phantaſie angehören, deren
Geſtalten zwar nicht Objecte wirklicher, aber doch möglicher Erfahrung
ſind? Das eben aber nennen wir Allegorie im weitern Sinne des Worts,
wenn eine Idee in abſoluten Geſtalten ausgedrückt wird, welche einſt zwar
den Inhalt eines unbezweifelten Glaubens bildeten und von dem Künſtler,
der dieſen Glauben theilte, mit Lebenswärme behandelt wurden, nun aber
von einem verbreiteten Denken, dem ſich der Künſtler nicht entziehen kann,
in ihre Beſtandtheile aufgelöst ſind. Guhl ſelbſt zeigt weiterhin, wie ſich
die mythiſche Malerei in Genre- und Geſchichts-Malerei durch einen Pro-
zeß aufgelöst hat, der jene neben dieſen realen Formen doch wahrlich
zur reinen Tautologie macht, er nennt die geſchichtliche Malerei die letzte
Vollendung der heiligen Malerei ſelbſt (S. 134), ja er ſtellt
ein Anweiſen der Kunſt auf Weſen, die außer Raum und Zeit leben,
dem Rathe gleich, Chimären ſtatt Menſchen zu malen. Uebrigens muß
auch zwiſchen dieſen ſelbſt ein Unterſchied gemacht werden: es wird ſich
anders verhalten mit den Weſen des claſſiſchen, als des chriſtlichen My-
thus; darüber wird die zweite Anm., wo wir zu den Einſchränkungen
unſeres Hauptſatzes übergehen, das Weſentliche ſagen.


Das Mythenbild wird, wie ſchon zu §. 541 bemerkt iſt, gewöhnlich
zur ſog. Hiſtorienmalerei geſchlagen; allein wenn man das, was einander
eigentlich überflüſſig macht, einander vielmehr beiordnen will, ſo wäre
es ebenſogut ein Zweig der Landſchaft und des Genre, denn es vicarirt
auch für dieſe. Die alten Götter ſind die Mächte der Natur, der Sitte,
der Geſchichte; wer ſie darſtellt, hat dieſe dargeſtellt. Ich brauche das
Meer nicht zu malen, wenn ich den Neptun, keine Liebes-Scene, wenn
ich den Amor, keine Arbeit des Landmanns, wenn ich Ceres, Mercur,
Minerva, keinen Sieg eines Volks in der Schlacht, wenn ich die Götter,
die deſſen vorkämpfende Genien ſind, hinſtelle; und umgekehrt, wenn ich
[640] jenes gethan, ſind dieſe überflüſſig. Die göttlichen Geſtalten des chriſtli-
chen Mythus ſind nicht ebenſo Naturmächte, wie ſie ſittliche Mächte ſind,
und ſie ſind ſittliche Mächte in beſchränkterem Umfang, als die alten Göt-
ter. Die Natur iſt durch den Willen der oberſten Perſon in dieſem Kreiſe
geſetzt, übrigens aber bethätigt ſie ſelbſt und die andern Perſonen des
tranſcendentalen Kreiſes ihre geiſtige Macht mehr durch Aufhebung, als
Erhaltung ihrer Ordnung. Eigentlich wird die Natur als ein neben
ihnen Selbſtändiges geſetzt und doch als ein Nichtiges wieder überſehen;
dennoch iſt ſie in ihnen mitdargeſtellt, weil, was Poſitives an ihr iſt, nur
durch ihren Willen beſteht. Was ſie aber unmittelbar in ſich darſtellen,
iſt die Welt des Guten im innerſten Leben des Gemüths, abgeſehen ſowohl
davon, wie es die Sitte, die Geſellſchaft durchdringen, als auch davon,
wie es im Oeffentlichen, im Staat und ſeiner Geſchichte ſich verwirklichen
ſoll. Nur in gewiſſem Sinne vicarirt daher zunächſt die Darſtellung des
chriſtlichen Mythus für das Genre, ſofern dieſes nämlich auch das Gemüths-
leben in ſeiner edelſten Sphäre zum Stoff hat (vergl. was zu §. 631, 3.
über die Maria geſagt iſt); in ebenſo beſchränktem Sinne für die Welt-
geſchichte, ſofern dem Bewußtſein, dem aller Inhalt in dieſen tranſcendenten
Formen ſich verdichtet, das keinen wahren Staat, kein Intereſſe für denſel-
ben kennt, die ganze Geſchichte in der höchſten Angelegenheit des Subjects,
ſeiner Verſöhnung mit dem Unendlichen aufgeht (vergl. §. 62 Anm. und
§. 451). Dennoch liegt auch die wirkliche Welt der Sitte und die wirkliche
Geſchichte in dem concentrirten Gemüthskerne der romantiſchen Anſchauung
als ein nur noch unentwickelter Keim eingeſchloſſen, und ſo iſt die heilige
Malerei Stellvertreterin des Genre überhaupt und der Geſchichtsmalerei
überhaupt, abſolutes Genre, abſolute Geſchichte, worin dargeſtellt iſt, was
von beiden Gebieten allein würdig iſt, dargeſtellt zu werden.


Es bleibt nun aber nicht bei dieſer einfachen Vertretung; die Sache
iſt genauer zu betrachten und bietet mehrere Verhältniſſe dar. Das erſte
iſt dieß, daß die Keime der Zweige, die ſich einfach auf die urſprüngliche
Stoffwelt gründen, ſchon in der Zeit der unangefochtenen Gültigkeit der
tranſcendenten Stoffe ſich wirklich an das Tageslicht herausarbeiten. Die
Tautologie, die aber zugleich ein Widerſpruch, der Widerſpruch der zwei
nebeneinander beſtehenden Stoffwelten iſt (§. 417. 418), beginnt nicht erſt,
wenn das Mythiſche ſich überlebt hat, nur wird ſie dann immer fühlbarer,
ja ſie geht bis zu der Ironie fort, daß das Mythiſche zum bloßen Vehikel
wird (§. 465). Dieß Alles wird nun die Geſchichte einer Kunſt, welche
durch das Prinzip ihrer Auffaſſung durchaus nach dem Realen hindrängt,
mit ſchlagender Kraft bewähren. — Ein anderes Verhältniß liegt in
der Aufſchließung dieſer Stoffe ſelbſt gegen die Welt. Die Geſchichten
des A. Teſtaments als das Vorbereitende, die Scenen des Lebens Jeſu,
[641] worin die Durchbrechung der Naturgeſetze gegen menſchliches Thun, Em-
pfinden, Leiden mehr oder weniger zurücktritt, endlich der Uebergang des
vorher in Einer Perſon verkörperten Geiſtes in die gewaltigen Organe,
die Apoſtel, und in die Gemeinde: hier hat die mythiſche Malerei ihren
lebenstüchtigſten Stoff und arbeitet wahrhaft der rein geſchichtlichen vor,
ſtellt ihr ein mächtiges Prototyp hin. Ein ſolcher Stoff iſt insbeſondere
die Apoſtelgeſchichte und man darf ſagen, daß, wie dieſe an ſich die Ent-
faltung der neuen Religion zur Weltdurchdringenden Macht in der
Großheit des Anfangs zeigt, ſo in Raphaels Behandlung dieſer Stoffe
mit Urkraft das geſchichtliche Gemälde beginnt. Uebrigens verſteht ſich,
daß dieß Verhältniß von dem erſten nicht ſchlechthin verſchieden iſt, denn
hier öffnet ſich zwar der mythiſche Kern vermöge eines in ihm ſelbſt
liegenden Motivs zu einer naturgemäßen, menſchlichen Handlung, aber in
dem ſo gebildeten Ganzen ſtellt er doch immer ſich ſelbſt und ſeine Wunder
neben das natürlich Reale hin und der Widerſpruch, der dadurch entſteht,
iſt gerade in künſtleriſcher Beziehung ein ſehr fühlbarer, weil er ſich in
der Compoſition offenbart. In Raphaels Leo und Attila iſt entweder
jener oder ſind die zwei Apoſtel in der Luft überflüßig; weicht Attila
dieſen, ſo braucht es Leo’s Beredtſamkeit nicht, und umgekehrt. In der
Conſtantinsſchlacht iſt die Idee des Kampfs nicht in den Streitern ſelbſt, —
was ganz wohl möglich war, — ausgedrückt, weil die Engel in der Luft
für dieſen Ausdruck Stellvertretend angebracht ſind, und ſo manchem
Märtyrer auf andern Bildern ſieht man keine Spur von innerer Erholung
an, weil ſie ihm von Engeln mit Palmzweigen von außen zugefächelt
wird.


Von der Aufſchließung der Welt innerhalb der mythiſchen Stoffe
ſelbſt iſt wiederum wohl zu unterſcheiden eine rationelle Auffaſſung der-
ſelben. Das Altteſtamentliche, Jeſus und ſein Leben, die Apoſtel und
ihre Thaten können rein menſchlich als wunderloſe, gewaltige Erſcheinungen
und Organe ewiger Wahrheit aufgefaßt und dargeſtellt werden: das iſt
dann einfach ein Zweig der rein geſchichtlichen Malerei und gehört gar
nicht hieher. So wie Titian ſeinen Chriſtus im „Zinsgroſchen“ dargeſtellt
hat, als einen durchaus klaren, in ſeiner reinen Klarheit ſchlechtin unbe-
fangenen Menſchen, vor dem die ausforſchende Gemeinheit in Schmach
abfährt, oder ſo wie in Raphaels Predigt Pauli in Athen das göttliche
Feuer der Beredtſamkeit flammt und eine Welt ergreift: hätten wir nur
mehr ſolche Bilder, würden nur deren recht viele gemalt! Der große
Lehrer an den idylliſchen Seen Paläſtina’s, der große Leidende, ohne
Nimbus und Mirakel: wer beſtreitet ſolche Stoffe?


Ein weiterer Punct betrifft das Verhältniß zu den näheren Unter-
ſchieden der Zweige. Das Mythenbild in ſeiner ſtrengen Selbſtändigkeit
[642] ſtellt ſich nämlich als ein Keim, worin die Formen der ausgebildeten
Malerei eingewickelt liegen, auch nach der Seite dar, daß die Momente,
aus welchen die weitere Eintheilung der Zweige hervorgeht, ſichtbar und
beſtimmt in ihm hervortreten: die Unterſchiede des Styls an ſich und in
Verbindung mit Material und Technik, die Unterſchiede, die im gewählten
Moment und in dem Grade des Umfangs liegen, in welchem der Stoff
ergriffen iſt, alſo die Unterſchiede der Situation, Handlung, endlich in
unmittelbarem Zuſammenhang hiemit die Unterſchiede der epiſchen, lyriſchen,
dramatiſchen Auffaſſung. Allein es wäre verkehrt, dieſe Unterſcheidungen
hier vorzunehmen, da ſie entwickelter und vollſtändiger in den Zweigen
auftreten, wie ſich dieſelben einfach auf das Reale gründen.


Weder hiemit, noch durch irgend eine dieſer Anmerkungen ſoll dem
Mythenbilde da, wo es in der Weltanſchauung einer Zeit-Epoche organiſch
lebt, ein Jota von ſeinem Werth entzogen werden; wir ſtehen hier in
der Eintheilung der Zweige, nicht in der Geſchichte; Alles gilt der Frage,
ob es logiſch den andern Zweigen coordinirt werden und in Wirklichkeit,
nachdem ſie ſich ausgebildet, neben ihnen ein volles Leben führen könne.
Wo der Mythus noch das Ganze iſt, da wirft ſich das Ganze der künſt-
leriſchen Kräfte auf ihn; was einer ſolchen Kunſt an Mannigfaltigkeit,
an Vollſtändigkeit in Erſchöpfung des erſcheinenden Lebens abgeht, erſetzt
die Innigkeit, die Naivetät, die zuſammengehaltene Kraft; der unendliche
Vortheil, den die Kunſt in dem idealen Auszuge des Lebens beſitzt, welchen
ihr die Religion in die Hand gibt (vergl. §. 418), beſteht insbeſondere
darin, daß die Unſicherheit in der Stoffwahl abgeſchnitten iſt und daß die
Kräfte nicht nach allen Seiten auseinanderfahren, ſondern ſich concentriſch
um den Einen, großen Planeten bewegen. Eine ganze, große Haupt-
periode der Malerei iſt mythiſch geweſen und die nicht mythiſche iſt in
ihrer Bahn noch lange nicht das geworden, was jene in der ihrigen
geweſen iſt.


2. Es ſoll nun aber auch die Einſchränkung unſeres Satzes in
Kraft treten und anerkannt werden, daß in gewiſſem Sinne das Bürger-
recht, das dem Mythiſchen neben dem Wirklichen durch Verjährung zu
Theil geworden, fortbeſteht und „wie das urſprünglich Naturſchöne Stoff
einer freien Thätigkeit für die beſondere Phantaſie werden kann“ (§. 417).
Hier ſetzen wir denn nicht noch einmal auseinander, was ſchon in und zu
§. 466 ausgeſprochen iſt: daß wir nur gegen eine prinzipielle Behauptung
des mythiſchen Stoffes als des höchſten oder überhaupt eines noch wahr-
haft lebensfähigen, nur gegen die tiefe Denkverwirrung auftreten, die da
meint, der höchſte Inhalt komme nur zur Erſcheinung, wenn er in einer Welt
neben oder über der Welt in beſondern Geſtalten ausgehoben werde;
daß es lächerlich wäre, dem Künſtler ſeine Stoffe vorſchreiben zu wollen;
[643] daß man wohl ſagen kann: wenn du das oder das thuſt, wirſt du nichts
wahrhaft Lebendiges erzeugen, aber nicht ihm verbieten, das oder das zu
thun; daß es ihm unter Anderem gelingen mag, ſich in eine Welt,
die einſt lebendig war, lebendig zurückzuverſetzen und ſie glücklich zu
reproduziren; daß überhaupt der ideale Auszug aus der urſprünglichen
Stoffwelt dem Künſtler den ungemeinen Vortheil einer höchſt concen-
trirten Abbreviatur der breiten Wirklichkeit der Dinge gewährt. Alles
Genre und jedes geſchichtliche Bild zeigt uns die Menſchenwelt immer nur
in einer Beziehung, ſtellt das Allgemeine nur durch die Mitte einer be-
ſondern, zunächſt immer mehr oder weniger eingeſchränkten Seite, nur in
den ruheloſen Kämpfen dar, welche zeitlich niemals ihr Ziel erreichen; in
der mythiſchen Geſtalt und Handlung dagegen kommt zwar die höchſte
Idee auch nicht ſchlechthin in ihrer Allgemeinheit, ſondern zunächſt eben-
falls in einer beſondern Beſtimmtheit zur Darſtellung, aber durch die
Vermittlung dieſer Beſtimmtheit offenbart ſie doch, ohne gleichſam einen
Reſt zu ſetzen, ihre abſolute Natur. Die Idee der reinen Weiblichkeit
z. B. ſtellt die religiöſe Malerei in Einer Perſon, in der jungfräulichen
Mutter des Gottesſohns dar, während wir dieſelbe in der profanen aus
einer Vielheit von Frauengeſtalten zuſammenleſen müſſen; den Triumph
des Geiſtes über die Materie mag die letztere in unzählichen Scenen aus-
drücken, deren keine einzelne den Inhalt dieſer Idee erſchöpft, während
jene in der Erhebung des Heilands über ſein Leiden ſie Ein für allemal
und ſchlechthin ausdrückt. Aber auch die zugeſtandne Wahrheit dieſes
Vortheils kann einer Sphäre, aus welcher das Bewußtſein im Ganzen
und Großen herausgewachſen iſt, ihre Stelle im Mittelpuncte der Kunſt
nicht mehr zurückgeben, ſie iſt an den Rand gedrängt, iſt Aushilfe, Neben-
werk geworden, und wenn Raphael in den Stanzen das innere Leben der
darzuſtellenden Kreiſe in den Hauptbildern hiſtoriſch dargeſtellt und die
ſpeziell mythiſche und allegoriſche Abbreviatur Vignetten-artig an die Decke
verwieſen hat (vergl. §. 693, 1.), ſo iſt dieß der rechte Ausdruck für das
Verhältniß der Sache ſelbſt.


Was jedoch der zweite Theil des §. aufſtellt, iſt nicht dieſer allgemeine
Satz, den wir hier zu abermaliger Verhütung von Mißverſtändniſſen
wiederholt haben. Wir müſſen nun zuerſt einen Unterſchied ziehen: der
Hauptkreis des chriſtlichen Glaubens, der noch dogmatiſch gehalten wird
und Gegenſtand jener Controverſen iſt, welche ſeiner Darſtellung die un-
befangene Lebenswärme abſperren, muß ausgeſchieden werden; es handelt
ſich von der claſſiſchen Mythologie und den mancherlei Vorſtellungen, die
das Mittelalter aus germaniſchem, celtiſchem Heidenthum herübergebracht
und in bunter Weiſe fortgeführt hat: Feen, Elfen u. ſ. f. Dieſes Gebiet
iſt der Controverſe, der Kritik in dem Sinne rein entnommen, daß keinem
[644] Menſchen mehr ein hiſtoriſcher Glaube daran zugemuthet wird und alſo
keiner mehr eine ſolche Zumuthung zu widerlegen hat. Die Geſtalten
dieſer Kreiſe haben daher die Bedeutung bekommen, als wären ſie reine,
nur zu äſthetiſchem Zweck erfundene Dichtung. Von den dichteriſchen
Erzeugniſſen, welche der Maler zum Stoffe wählt, haben wir in Anm. 1
verlangt, daß ſie Solches enthalten, was wenigſtens Object möglicher
Erfahrung iſt. Jetzt aber müſſen wir noch eine andere Form einführen:
es gibt ein Verhalten des Geiſtes, das halb ironiſch, halb Täuſchung,
eine Art freier, ſpielender Selbſttäuſchung iſt. So laſſen ſich die claſſiſchen
und romantiſchen Fabelgeburten auffaſſen; dann iſt der richtige Standpunct
gefunden, um ohne Verwicklung mit dem, was uns Grundgeſetz des
Bewußtſeins geworden iſt, den großen Vortheil eines geläufigen, keiner
Erklärung bedürftigen Typus zu benützen. Man meine nicht, wir treten
nun in Widerſpruch gegen unſre eigene obige Behauptung, daß wahre
äſthetiſche Lebensfähigkeit einen Glauben, wenigſtens eine Möglichkeit des
Glaubens nach den Geſetzen der Erfahrung vorausſetze. Die Sache
wendet ſich hier anders: das eigentliche Object der Darſtellung iſt ein
rein Menſchliches, Lebensfähiges, das die Wärme der Wirklichkeit hat, dem
aber, um ihm eine gewiſſe Erhöhung zu geben, eine höhere Styliſirung zu
motiviren, ein mythiſcher Name geliehen wird, wie z. B. Titian die
höchſte Schönheit weiblicher Geſtalt in einer nackten Geſtalt enthüllt, die
nun zu viel Realität hat, um ungetauft zu bleiben, und zu viel Allgemein-
heit im beſten Sinne der Idealität, um einen hiſtoriſchen Namen zu
bekommen: ſo tauft er ſie eben Venus. Es iſt alſo der Inhalt ein ganz
Lebenswarmes, Menſchenmögliches, Glaubwürdiges und ihn umſpielt nur
erhöhend der mythiſche Begriff. Die freie Benützung des Mythiſchen
wird jedoch weiter gehen, ſie wird Eigenſchaften, Geſtaltung, Handlung
ganz in der Region des Wunders, des aufgehobenen Naturgeſetzes halten.
Das ſind dann anmuthige Spiele der Kunſt, die aber doch durch die
ganze Behandlung zeigen müſſen, daß ihnen das Wunder nur ein Motiv
iſt. um menſchlich Wahres auszuſprechen. Das Fabelhafte iſt alſo dabei
humoriſtiſch in einen bloßen Hebel des naturgemäß Schönen verwandelt.
Zu gegebenen Fabeln, die einſt geglaubt waren, mag nun die Phantaſie
des Künſtlers in freiem Erguß neue erſinnen, wenn nur die Romantik
den Boden der innern Wahrheit nicht verläßt. — Man ſieht, daß durch
dieſe Unterſcheidungen der Lehre von der Genre-Malerei vorgearbeitet iſt,
denn ein höheres Genre werden ſolche Gemälde bilden, nicht aber eine
höhere Hiſtorie.


[645]

§. 696.


Die Eintheilung, wie ſie ſich rein aus der Natur der Sache ergibt, grün-
det ſich auch hier auf die Stoff-Unterſchiede der Phantaſie (vergl. §. 403).
Dieſe ordnen ſich nun ſo, daß einfach drei Gebiete ſich gegenübertreten: das
der Landſchaft, der Sitte und der Geſchichte. Die Einheit der drei
Hauptzweige, die hienach entſtehen, liegt darin, daß das Sittenbild den Men-
ſchen unter dem Standpunct auffaßt, welcher der Landſchaftmalerei zu Grunde
liegt. Dieſe drei Zweige verbinden ſich mannigfach, ſollen ſich aber nicht unklar
vermiſchen.


Das durchgreifende Prinzip für die Eintheilung liegt hier wie bei
der Sculptur im Stoffe, alſo nach Abzug der zweiten, mythiſchen, in der
urſprünglichen Stoffwelt nach ihren Hauptgebieten, oder vielmehr in den
Unterſchieden der Phantaſie, wie ſolche auf das eine oder andere dieſer
Gebiete gewieſen und bezogen iſt. Es iſt der trennende, ausſchließende
Charakter des Räumlichen, das die Grundform aller bildenden Kunſt iſt,
welcher dieſe Eintheilung begründet: da kann nicht die Auffaſſung, ſon-
dern muß die Erfaſſung (des einen oder andern Stoffes) das Entſchei-
dende für den Unterſchied der Zweige ſein. Daß die Genre- und die
Hiſtorien-Malerei gemeinſchaftlich den Menſchen zum Gegenſtand haben,
dieß verändert nichts an der Sache, denn es iſt in beiden eine ganz andere
Seite des menſchlichen Lebens, die den Inhalt bildet, und daher auch die
Ausdehnung, in welcher eine gewiſſe Sphäre von Stoffen (Geräthe und
dergl., überhaupt Gegenſtände aus dem Gebiete der äußeren Culturformen)
in die Darſtellung aufgenommen werden, eine ſehr verſchiedene. Man
kann ſogar ſagen, in allen Hauptzweigen ſei es doch auch in der Ma-
lerei nur der Menſch, der zur Darſtellung komme, denn die Landſchaft-
malerei zeigt uns in der äußern Natur einen Widerſchein menſchlicher
Stimmung und das Thierſtück ſchließt ſich an das Genre wie eine Art
analoger Vorbildung menſchlicher Zuſtände. Alles Schöne iſt ja in ge-
wiſſem Sinn Erſcheinung der Perſönlichkeit (vergl. §. 19, 2.). Allein
auch dieſe Wahrheit ſtößt jenen Eintheilungsgrund nicht um, denn man
würde alle Begriffe verwirren, wenn man den tiefſten Beziehungen aller
Dinge, welche zuletzt überall zur höchſten Einheit führen, die Folge gäbe,
daß dadurch die Strenge der Unterſcheidung zerworfen würde. Erſt in
der Poeſie, wo in jedem Gebiete wirklich und eigentlich vom Menſchen
ausgegangen wird, hört die Unterſcheidung, die auf dem Stoffe ruht, auf
die maaßgebende zu ſein und macht ſich dafür eine andere geltend.


Wir nehmen nur drei Hauptzweige an: Landſchaftbild, Sittenbild
(dieſen Namen für Genre behalten wir bei und rechtfertigen ihn an ſeinem
[646] Orte), geſchichtliches Bild. So gruppiren ſich hier klarer und einfacher
die in §. 403 aufgeführten Unterſchiede; in der Dichtkunſt wird ſich die
Sache wieder anders ſtellen. Dieſe Eintheilung zeigt ſich aber als eine
ganz organiſche, wenn man bedenkt, daß im Sittenbilde der Menſch unter
dem Standpuncte des Seins, der Zuſtändlichkeit aufgefaßt wird, welcher
in ſeiner Reinheit der Standpunct des landſchaftlichen Gebiets iſt; nun
haben wir zwei Extreme: Natur gleich Sein, Zuſtand, Menſch gleich
Geiſt, That, und eine Mitte zwiſchen beiden: der Menſch als Naturweſen,
Kind der Gewohnheit, des Zuſtands. Daß das Thierſtück ſich dieſer Mitte
von vornen anſchließt, bedarf keiner weiteren Erläuterung; man kann es
auch als eine weitere, untergeordnete Mitte auffaſſen, nämlich zwiſchen
Landſchaft und Sittenbild, doch iſt es beſſer, als logiſch entſcheidend das
durchzuführen, was die Anordnung vereinfacht. Wie das Portrait an der
andern Seite dieſer Mitte ſteht und bald mehr nach dem Sittenbilde, bald
mehr nach dem geſchichtlichen hinweist, wird ſeines Orts genauer nachge-
wieſen werden. — Nun ſind von der innern Einheit in dieſer Theilung
noch zu unterſcheiden die mannigfachen Verbindungen zwiſchen den Zwei-
gen, welche darin beſtehen, daß ein Stück von dem einen ſich dem andern
zugeſellt; da ſind natürlich verſchiedene Grade der Geltung und Ausdeh-
nung des Zugeſellten möglich, aber ein jedes Gemälde muß doch unzwei-
felhaft dem einen oder andern Zweig angehören; daher darf ſich das
Zugeſellte nicht ſo weit ausdehnen, daß es in gleiche Höhe der Geltung
mit der Hauptaufgabe tritt, ſonſt wird das erſte Geſetz der Compoſition,
die Einheit, zerriſſen, das Intereſſe zertheilt. Bedeutung und Gewicht
dieſes Satzes wird in der folgenden Darſtellung der Zweige ſich erweiſen.


§. 697.


1.

Beſtimmter, als in der Bildnerkunſt, tritt in dieſen Unterſchieden aller-
dings auch das Theilungsprinzip zu Tage, das ſich auf die Verbindung der
bildenden Phantaſie mit der empfindenden und dichtenden gründet
2.(vergl. §. 404). In der Unter-Eintheilung der Zweige kommt zu den übrigen
Bedingungen (vergl. §. 540) der Gegenſatz der Style.


1. Wir haben geſehen, wie die Malerei an der Grenze der bildenden
Kunſt ſteht, indem in die Grundbeſtimmung des Objectiven hier das
Subjective bis nahe zur Auflöſung deſſelben eindringt (§. 659). Es
läßt ſich dieß bereits als ein relativer Uebertritt der bildenden Phantaſie
auf den Boden der empfindenden und dichtenden auffaſſen (vgl. §. 539):
die Malerei als ganze Kunſt nähert ſich dem Muſikaliſchen, dem Lyriſchen
und neigt (vergl. §. 684) ſchon ſtark zum Dramatiſchen. Nun haben
[647] wir geſehen, wie dieſe Uebertritte der Phantaſie von dem Boden der einen
Art auf den der andern nicht nur die große Theilung der bildenden Kunſt
in ihre drei ſelbſtändigen Gebiete begründen, ſondern zugleich eines der
Hauptmomente bilden, wodurch ſich die einzelne Kunſt in ihre Zweige
ſpaltet. Dieſe Spaltung iſt in der Poeſie ſo ſtark, daß die Formen, die
daraus entſtehen, ebenſo ſelbſtändig ſich unterſcheiden würden, wie Bau-
kunſt, Plaſtik und Malerei, wenn nicht die geiſtige Natur dieſer Kunſt
als einigendes Band ihr Vorrecht behaupten würde. Innerhalb der Ge-
biete der bildenden Kunſt kann ſie als Motiv für die Unter-Eintheilung
nur erſt ſchwach hervortreten; denn wo die Lippen noch geſchloſſen ſind
und die wirkliche Bewegung fehlt, wird begreiflich der Unterſchied des
Epiſchen, Lyriſchen, Dramatiſchen noch keine Kraft haben. Ganz entfernt
klingt derſelbe in den Zweigen der Baukunſt an (vergl. §. 574, 3.), etwas
deutlicher, unmittelbarer in der Sculptur (vergl. §. 635, 1.), ungleich
voller und ſtärker nun aber, wiewohl immer noch nur erſt ſecundär, in
der ſubjectiv bewegteſten unter den bildenden Künſten, der Malerei. Die
Landſchaft iſt lyriſch oder muſikaliſch, das Sittenbild epiſch, das geſchicht-
liche Bild dramatiſch. Dieſe Unterſcheidung zieht ſich ohne logiſchen Wi-
derſpruch neben dem Satze des vorh. §. hin, wonach der Landſchaftmalerei
der Standpunct des Seins zu Grunde liegt u. ſ. w.; denn es iſt ja
geſagt, daß das ſubjective Moment der Auffaſſung hier noch nicht als
entſcheidendes Theilungsprinzip auftritt, ſondern die Erfaſſung des Stoffs,
und auf die Natur dieſes Stoffs iſt dort die durchgreifende Eintheilung ge-
gründet; nun aber, in zweiter Linie, tritt dieß Subjective hinzu, wonach,
um die unbeſeelte, an ſich objectiv beſtimmte Natur zum Kunſtſtoffe zu
erheben, die ganze Innigkeit der muſikaliſchen, lyriſchen Empfindung nöthig
iſt; im Sittenbilde verfeſtigt ſich dieſe, obwohl nun das menſchliche Sub-
ject der Gegenſtand iſt, wieder zum ſächlichen Charakter der epiſchen
Stimmung, und im geſchichtlichen Bilde färbt ſich das Epiſche mit dem
dramatiſchen Feuer.


2. Welche Momente die weitere Theilung der alſo getheilten Zweige
ſelbſt begründen, iſt in §. 540 geſagt. Es wird ſich nun zeigen, wie
namentlich dasjenige, von welchem ſo eben die Rede geweſen, in dieſer
Richtung noch einmal und hier allerdings als das entſcheidende auftritt,
und wie ſich daneben die übrigen Momente geltend machen. Neu aber
iſt die Stärke, welche der Unterſchied der Style erlangt hat; hiedurch tritt
ein weiteres Moment hinzu, das ſich mit dem Unterſchiede des Lyriſchen,
Epiſchen, Dramatiſchen und mit dem des Materials und der Technik in
Verbindung ſetzen wird.


[648]

α. Die Landſchaft.


§. 698.

1.

Die Landſchaftmalerei idealiſirt eine gegebene Einheit von Erſcheinungen
der unorganiſchen und vegetabiliſchen Natur zum Ausdruck einer geahnten See-
lenſtimmung. Ihr allgemeiner Charakter iſt daher ein muſikaliſcher oder lyri-
2.ſcher. Thieriſches und menſchliches Leben nebſt Wohnungen des Menſchen,
das dieſem Ganzen als ſog. Staffage beigegeben wird, darf für ſich kein ſelb-
ſtändiges Intereſſe in Anſpruch nehmen, wenn nicht eine unklare Vermiſchung
(vergl. §. 696) entſtehen ſoll.


1. „Eine gegebene Einheit“: dieß ſchließt eine künſtleriſche Umſtellung
des vorgefundenen Naturſchönen nicht aus, beſagt aber allerdings, daß
das völlig freie Componiren, das nur einzelne Motive aus der Natur
entlehnt, nur einzelne Studien benützt, nicht eigentlich das Wahre ſei.
Das rechte Verhältniß iſt auch hier, wenn die künſtleriſche Schöpfung
damit beginnt, daß von einem mit oder ohne Suchen gefundenen Stand-
orte in der Weiſe der Zufälligkeit das Bild eines ſchönen Ganzen ſich
der Anſchauung darbietet. Das Kunſtwerk des Landſchaftmalers bleibt
darum noch immer ſchlechthin verſchieden von der Natur-Copie des bloßen
Veduten-Malers, wiewohl es übrigens auch im letzteren Gebiete noch
einen tiefen Unterſchied des Geiſtreicheren und des Sklaviſchen in der
Behandlung gibt. Was aber jenes unterſcheidet, iſt die Zuſammenwirkung
des Ganzen zum Ausdruck einer Seelenſtimmung; der §. ſagt: einer ge-
ahnten und weist damit zunächſt negativ jede Art falſcher Deutlichkeit ab.
Die Empfindung, die wir in eine Landſchaft legen, ſcheint wohl in den
entſchiedenſten Fällen eine ganz beſtimmte und in Worte überſetzbare:
der reine Frühlingstag mit den klaren Lüften und der Friſche aller Kräfte,
die ſo eben aus einem Verjüngungs-Bade geſtiegen ſcheinen, lacht uns
entgegen wie ein heiteres jugendliches Antlitz, die Verwüſtungen des
Sturms, des Regens gemahnen uns wie ein tiefes Weinen der Natur,
wie ſchmerzvolle, gramdurchfurchte Menſchenzüge; der Morgen ſpannt an,
der Abend ſpannt erleichternd ab, die Mondſcheinlandſchaft löst in ſchwe-
bende, ſchmelzende Empfindungen auf. Allein nicht nur verliert ſich auch
bei ſolcher Beſtimmtheit doch der Hauptton in eine Vielheit von unterge-
ordneten Tönen, worin das Gefühl in Melodien verſchwebt, von denen
ſich keine beſtimmte Rechenſchaft mehr geben läßt, ſondern unendliche land-
ſchaftliche Erſcheinungen ſind voll Stimmung und wir haben dafür doch
[649] kein Wort; wir ſagen etwa: das fühlt ſich ſo öde, ſo hart, ſo ſchwül, ſo
dämmernd, ſo feucht, aber wir ſind uns bewußt, wie ungenügend wir den
Zuſtand bezeichnen. Nur ſo viel iſt gewiß: der Maler, deſſen Landſchaft
nicht ſo auf uns wirkt, daß uns irgendwie zu Muthe wird, hat
nichts geleiſtet. Dieß iſt nun ganz wie in der Muſik, wo unſer Herz
voll iſt und doch das Wort keinen Ausdruck dafür hat, oder wie in der
Lyrik, wenn man von dem beſtimmteren Inhalt abſieht und nur das
Tönen und Weben der Empfindung in’s Auge faßt, das durch ein Gedicht
geht. Es iſt ein äſthetiſcher Fehler, wenn der Künſtler, damit nicht zu-
frieden, beſtimmte Gedanken mit ſichtbarer Ausdrücklichkeit in der Land-
ſchaft andeutet, wie z. B. Leſſing in ſeinem winterlichen Kirchhofe, ja
ſelbſt Rottmann, wo er die Stätten großer Erinnerungen ſo behandelt,
daß man durch Gewitter und dergl. mit merklichem, ſymboliſchem Finger-
zeig auf die Geſchichte hingewieſen wird: man fühlt die Abſicht und wird
dadurch aus jener Dämmerung des Leihens, wodurch wir der Natur Empfin-
dungen unterlegen, gerade herausgeworfen, man fühlt, daß zu viel geliehen
und daher das Unwillkührliche des Leihens aufgehoben iſt. Dieß führt
auf das Poſitive, was mit jenem Ausdrucke: geahnte Seelenſtimmung
geſagt ſein ſoll. Hierüber iſt jedoch bereits zu §. 240 das Nöthige bemerkt;
dazu vergl. §. 270 von der Pflanze: das erſte lebendige Individuum in
der Natur, ſcheint ſie dem ahnenden Menſchen, welcher ſeine Empfindungen
der unbeſeelten Welt leihend unterlegt, vorzuempfinden, gibt beſtimmteren
Anhalt für dieſes Leihen. In §. 654 iſt gezeigt, wie dieſe pſychiſche Be-
dingung in der Auffaſſungsweiſe der Malerei nun eintritt. Auch in den
Krit. Gängen des Verf. B. 1, S. 222 iſt der innere Vorgang dargeſtellt:
wir fühlen wohl in dunkler Weiſe, daß das Leihen ein bloßes Leihen iſt,
aber darum geben wir es nicht auf, ſondern vollziehen nun die Vorſtellung,
als ob die Natur zu gleicher Zeit eine die Stimmungen des menſchlichen
Gemüths vorbildende und wiederholende Seele in ſich bärge und dennoch
in ungetrübter Objectivität und Geſetzmäßigkeit nicht um die Schmerzen
des ſubjectiven Lebens wüßte, als ob ſie eine Seele ohne Seele hätte,
ein Gemüth ohne die Spannungen und Conflicte des Gemüths oder
ein ſolches, das, wo es ſie zu theilen, in Sturm und Zerſtörung vor-
zubilden ſcheint, trotz denſelben einig mit ſich bleibt. Das iſt der Grund
unſerer ſentimentalen Beziehung auf die Natur: wir ſuchen in ihr den
noch ungetheilten Menſchen. Das Seelenleben, wie es ſich hier ge-
ſpiegelt ſieht, bleibt reines, naturnothwendiges Sein; dieß haben wir
epiſch genannt und man ſieht nun deutlicher, wie beide Beſtimmungen,
die des Lyriſchen und des Epiſchen, ſich vertragen. — Uebrigens leuchtet nun
ein, wie in dieſem Gebiete mit ganz beſonderer Kraft in Geltung tritt,
was von der Bedeutung der allgemeinen Medien, vom Tone, von der

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 43
[650]Luftperſpective, vom Unterſchied der drei Pläne geſagt iſt; die Wir-
kung der Ferne hat hier vor Allem die Idealität zu vollenden, die Seele
hinauszuführen in die Ahnung des Unendlichen.


2. Von der Staffage iſt ſchon bei der Frage vom Beiwerk §. 497, 2.
die Rede geweſen. Ausführlicher hat ſich der Verf. über die Zerreißung
der äſthetiſchen Einheit durch zu anſpruchvolle Staffage ausgeſprochen in
der unter 1. angeführten Stelle ſ. Krit. Gänge. Es ſind natürlich menſch-
liche Figuren, bei denen die Frage ihre Wichtigkeit erhält; das thieriſche
Leben wird nicht ebenſo leicht eine den landſchaftlichen Eindruck ſtörende
Art von Intereſſe erregen, auch wenn es in bewegter, geſpannter Situation
erſcheint, denn als ein gebundenes und unfreies führt es den Betrachter
nicht aus der Naturſtimmung heraus; doch begreift ſich, daß z. B. ein
gewaltiger Thierkampf nicht in jede Landſchaft paßt und daß eine gewiſſe
Breite des Umfangs in Aufnahme des Thieriſchen das Gemälde in ein
Schwanken zwiſchen Thierſtück und Landſchaft verſetzt; hierüber iſt an
anderer Stelle noch ausdrücklich zu ſprechen. Was menſchliche Wohnung
betrifft, ſo haben wir geſehen, daß das Alter ihr den Ton eines Natur-
werks aufgedrückt haben ſoll; doch auch Ruinen können zu anſpruchsvoll
auftreten und zu ſichtbar eine Doctrin vortragen, wie dieß in der con-
ventionellen Manier, die von der hiſtoriſchen Landſchaft ausgieng, der Fall
war. Von der eigentlichen Architektur-Malerei iſt hier noch nicht die
Rede. Es gibt Landſchaften, die, ſo zu ſagen, im vollſten Sinne des
Worts nur Landſchaften ſind: die Natur iſt in ihrem Geheimniß belauſcht,
wie ſie ganz einſam, ganz allein mit ſich iſt; da bleibt am beſten alle
lebendige Staffage weg oder beſchränkt ſich auf ein die Wildniß liebendes
Thier. Wie ſehr nun aber der Charakter der Landſchaft in eine Art der
Bewegtheit, Gemüthlichkeit u. ſ. w. hereinrücken mag, welche zu menſch-
licher Belebung einlädt, ſo ſoll der Menſch in ihr doch nie anders auf-
treten, als in der Beſtimmtheit, in welcher er ſelbſt als ein Kind des
Bedürfniſſes, der Gewohnheit, des harmloſen Genuſſes, kurz als ein Kind
der Natur erſcheint, ſo daß ſeine Erſcheinung mit der umgebenden Natur
in Einem Eindruck aufgeht. Alles und Jedes, was im ſpezifiſch menſch-
lichen Sinne ſpannt, in die Seelen-Kämpfe des Menſchen hineinführt, reißt
den Zuſchauer in ein ſchlechthin anderes Gebiet des Schönen hinüber und
hebt jenes Leihen auf, durch welches wir der Natur einen verhüllten
Menſchen unterſchieben, indem es uns für den enthüllten, den eigentlichen
Menſchen intereſſirt: wir erinnern uns plötzlich, daß Geiſt und Seele in
Wahrheit nur im wirklichen Menſchen iſt, ſeine Schickſale ſind es, die
nun unſere ganze Theilnahme haben, und die Landſchaft mag als ein
Echo derſelben erſcheinen, das Gemälde aber iſt kein Landſchaftgemälde
mehr und indem es ſich dennoch durch die Verhältniſſe des Umfangs im
[651] Dargeſtellten als ein ſolches hinſtellt, beunruhigt es durch das Schwanken
zwiſchen zwei Gattungen. Die angeführte Stelle der Krit. Gänge gibt Bei-
ſpiele und zeigt zugleich, daß es nichts hilft, wenn die in ſolch unſtatthaftem
Sinn ſpannende Staffage mit der Landſchaft zuſammencomponirt iſt. Daß
beide Seiten aufeinander componirt ſein ſollen, verſteht ſich übrigens auch
für den Fall von ſelbſt, wo die Staffage an ſich nicht über das in der
Gattung begründete Maaß der Beſcheidenheit hinausgeht. Jagd z. B.
iſt eine zur Landſchaft ganz paſſende Art menſchlicher Beſchäftigung, aber
wenn ſich J. Ruysdael in eine Waldpartie voll ſtiller abendlicher Feier
durch van de Velde die Rohheit einer Hetzjagd hineinmalen ließ, ſo haben
wir ein ſchlagendes Beiſpiel von falſcher Staffage und von falſchem Be-
griffe des Beiwerks. — Uebrigens handelt es ſich auch bei der menſchlichen
Staffage nicht blos von der Qualität, ſondern ebenſo ſehr von der Quan-
tität: ein gewiſſer Grad von Umfang, den dieſelbe in Anſpruch nimmt,
führt zum Sittenbilde oder zum geſchichtlichen; von den richtigen und un-
richtigen Verbindungen derſelben mit der Landſchaft wird ebenfalls ſeines
Orts die Rede ſein.


§. 699.

Die eingreifendſte Theilung der Landſchaftmalerei gründet ſich auf den
Gegenſatz der Styl-Prinzipien und ſo tritt dem, in der ſogenannten hiſtoriſchen
oder heroiſchen Landſchaft vorbereiteten, Stylbilde das Stimmungs-Bild
im engeren Sinne gegenüber. Das erſtere iſt innerhalb des Lyriſchen mehr
epiſch, und was den Unterſchied des Materials und der Technik betrifft, ſo
neigt es naturgemäß zur Freske. Uebrigens gehen die Glieder des Gegenſatzes
in mannigfaltiger Verbindung in einander über.


Das Stylbild iſt die Landſchaft des direct idealiſirenden, plaſtiſchen
Styls; es verlangt, wie ſchon zu §. 686 in beiſpielsweiſer Anführung
dieſes Zweigs geſagt iſt, ſchöne Formen in Erdbildung und Vegetation,
ſchöne Linie der Gruppirung, klare Waſſer, reine Lüfte, und führt uns
ſo in eine Welt, die für edle, große, harmoniſche Menſchen beſtimmt
ſcheint, ein Elyſium. Es iſt klar, daß es ſich vorzüglich an die ſüdliche
Natur hält. Die hiſtoriſche oder heroiſche Landſchaft gehört, da ſie als
bleibender Zweig nicht fortdauern konnte, eigentlich in die Geſchichte der
Malerei, mag aber wegen des unmittelbar Belehrenden, was ſie gewährt,
hier betrachtet werden. Weſentlich war ihr eine zu bedeutende Staffage
mythiſchen oder heroiſchen Inhalts, aus der claſſiſchen, alt- und neuteſta-
mentlichen Welt. Dieß war die Nabelſchnur, mit welcher die Landſchaft
noch am hiſtoriſchen Gemälde hieng: eben erſt ausgeſchlüpft glaubte ſie
noch dieſes Ausweiſes für ihre Exiſtenz als Gattung zu bedürfen, glaubte

43*
[652]ſie den Sinn ihrer Auffaſſung, daß hier ein Wohnſitz für große Menſchen
ſich entfalte, das Pathos, das in dieſer Auffaſſung die Natur durchſtrömte,
ausdrücklich auch in Menſchen- oder Götter-Form und Thaten niederlegen
zu müſſen. Durch Tempel und Paläſte in der Pracht der Neuheit ſprach
ſie denſelben Gedanken aus und wenn ſie Ruinen vorzog, ſo wies ſie doch
in der Staffage um ſo deutlicher auf ein idylliſches Glück, das ſich neben
verfallener Herrlichkeit niedergelaſſen. In der Compoſition war ſie rein
idealiſtiſch: ſie erdichtete und ordnete das Ganze frei mit Hülfe weniger
Localſtudien; örtliche Phyſiognomie erſchien ihr, genau wie der Plaſtik die
Beſtimmtheit des Natürlichen und Individuellen, als Trübung eines Na-
tur-Ideals, worin jede Form und Lebenskraft zur Vollkommenheit ent-
wickelt, worin auch das Einzelne ohne Mangel ſein ſollte, einer Welt
von Götterbergen, Götterbäumen, Götterlüften, eines Mythus der Natur.
Was die beſondern Formen, Erdbildung, Vegetation betrifft, ſo grenzte
die Behandlung derſelben nahe an eine Regelmäßigkeit, die bei den Nach-
ahmern ſammt jener Freiheit der Compoſition unaufhaltſam in eine con-
ventionell generaliſirende Manier und von da in das Decorations-artige,
Tapetenmäßige überging, wo denn die Wärme der Naturwahrheit dadurch
nicht gerettet wurde, daß man als Staffage im Verlauf zerfetztes, zer-
ſchliſſenes Lazzaroni-Volk in ſeltſamem Fehlgriff einer richtigen Ahnung
des Romantiſchen der Nationaltracht anfieng vorzuziehen. Wie neben dem
großen Anfänger Titian und den berühmten Vollendern dieſer Gattung,
den beiden Pouſſin und Claude Lorrain, ſchon die Schule der Caracci
und die Naturaliſten Neapels, vor Allem Salvator Roſa, ein ſtärkeres
Maaß der Naturzufälligkeit in dieſe Auffaſſung einführten, ſo haben in neue-
rer Zeit Koch und Reinhard dem großartig Idealen auch den beſtimmteren
Local-Charakter italieniſcher Gegenden eingeſchmolzen, ohne jedoch die
übrigen Eigenſchaften der heroiſchen Landſchaft aufzugeben und daher auch
ohne dieſe Gattung bleibend neu beleben zu können. Denn in Wahrheit
fehlt ihr jenes Maaß des Naturaliſtiſchen und Individuellen, der Phy-
ſiognomik, welches die Malerei trotz der Berechtigung des plaſtiſchen Styls
fordert. Der Gegenſatz gegen den rein maleriſchen Styl, der aus här-
terer Form, localerem Gepräge, verhüllterer, gebrochnerer Farbe nnd
ſtärkerem Walten des Helldunkels ohne die Mithülfe einer zu pathetiſchen
oder überhaupt zu bedeutenden Staffage die Idealität als Stimmung,
als Seele reſultiren läßt und nach dem Vorgang eines Rubens zuerſt in
J. Ruysdael ſich in ſeiner ganzen Macht zuſammenfaßt, iſt immer noch
ſtark genug, wenn man, wie Rottmann, ein ideal erfaßtes, plaſtiſch durch-
gebildetes Porträt einer beſtimmten Gegend von großartig reinen Formen
und Farben gibt, die Zufälligkeit in feiner Linie walten läßt, Götter,
Heroen, Patriarchen, Prunk der Tempel, Paläſte, pathetiſcher Ruinen
[653] entfernt. Das Stylbild, das ſo in ſeiner Reinheit dem Stimmungsbild
entgegentritt, iſt natürlich als Landſchaftgemälde ſelbſt ein Stimmungsbild;
ſchon in der ſpezifiſchen Form der hiſtoriſchen Landſchaft hat es nicht das
bewegungsreiche Leben der Luft, nicht die Zauberwelt der Farbe verſchmäht,
Caſpar Pouſſin geht zu ſtürmiſcher, dramatiſcher Erregung fort, bei Claude
Lorrain wiegt ſich eine himmliſche Formenwelt im zarten Silberdufte des
reinſten Aethers, Alles iſt in die Stimmung eines hohen, heitern Selbſt-
genuſſes im Wechſeltauſche vollkommenen Daſeins getaucht. Allein der
Gegenſatz des Epiſchen und Lyriſchen tritt im Lyriſchen noch einmal ein:
das Stylbild iſt durch ſeine plaſtiſche Natur objectiv und durch dieſe Ob-
jectivität epiſch. Daß dieſer Anſchauung die Wandmalerei zuſagen muß,
bedarf keiner Erklärung; wir haben hiemit das erſte Beiſpiel, wie ſich
das Moment der Auffaſſung mit den andern Momenten der Unter-Ein-
theilung in der Malerei verbindet. — Es iſt nun aber der Gegenſatz
zwiſchen Stimmungsbild und Stylbild überhaupt nicht abſtract zu faſſen.
Wenn ſchon die hiſtoriſche Landſchaft bald mehr die Form, bald mehr
die allgemeinen Medien Licht und Luft in Bewegung oder Ruhe betont
hat, ſo wird dieß ein bleibender Unterſchied in der Auffaſſung des Stylbilds
ſein und alſo, da Licht und Luft die eigentlichen Träger der Stimmung
ſind, eine bleibende Richtung herüber nach dem Stimmungsbild auf dieſer
Seite hervortreten; der Grad der Einführung des örtlichen Gepräges und
der Zufälligkeiten überhaupt wird bis zu einer zarten Grenze ſich verſchie-
den beſtimmen; das Naturbild wird, wie geſagt, im Allgemeinen die pla-
ſtiſche Natur des europäiſchen Südens bleiben, doch iſt der Orient und
ſelbſt der Weſten und Norden, ſofern ſie einzelne rein entwickelte und
glückliche Formenverbindungen und Momente darbieten, nicht ausgeſchloſſen.
Umgekehrt iſt das Stimmungsbild im Stoffe noch viel weniger beſchränkt;
denn obwohl die Betonung des Ausdrucks durch ein gewiſſes Mißver-
hältniß der Form ihm weſentlich und daher eine rauhere Zone zuſagender
iſt, ſo bietet doch auch die ſüdliche Natur im Reize der Form und Farbe
des Zufälligen genug, um jene Art der Accentuirung zu unterſtützen; kann
ferner das Stylbild auch bewegungsreich ſein, ſo erreicht umgekehrt das
Stimmungsbild ſeine Abſichten auch in der Darſtellung einer träumeriſchen
Ruhe und neigt es in feiner Belauſchung des Einzelnen zum Bindemittel
des Oels und kleinem Maaßſtabe, ſo iſt ihm doch, da das Großartige
in keiner Weiſe ausgeſchloſſen iſt, auch die Freske nicht unbedingt entgegen.


§. 700.

Die Beziehung der Phantaſie auf verſchiedene Arten des Stoffes, auf1.
die Unterſchiede der Weltgegenden und Landſtriche, berührt ſich mit dieſer Ein-
[654] theilung und zieht ſich neben ihr hin, ohne für ſich eine ſolche zu begründen.
2.Dagegen enthält die Hervorhebung oder ausſchließende Behandlung einer
Seite des Landſchaftlichen einen Anſatz zur Zweigebildung, der wenigſtens in
3.der See-Malerei zu ausdrücklicher Dezeichnung gelangt. In innigem Wechſel-
verhältniß mit dieſem Unterſchiede und dem des Lyriſchen, Epiſchen,
Dramatiſchen
ſteht derjenige, welcher aus der Auffaſſung des einen oder
andern Moments im Sinne der Jahrszeit, Tageszeit oder des augenblicklichen
Zuſtands entſteht; die Winter- und Mondſchein-Landſchaft tritt als kleiner
4.Theil dieſes Gebietes in beſonderer Benennung hervor. Das einfach Schöne
und Erhabene vermählt ſich in unendlicher Mannigfaltigkeit mit allen andern
Unterſchieden.


1. Südliche und nördliche Natur ſahen wir, jene mit dem Stylbilde,
dieſe mit dem Stimmungsbilde zuſammentreten, doch nicht in nothwendiger
Bindung; der Unterſchied der Zone u. ſ. w. läuft alſo neben jener erſten
Eintheilung ebenſoſehr auch ſelbſtändig hin. Das gewöhnliche Herkommen hat
in der Landſchaftmalerei beſondere Namen eigentlich nur da fixirt, wo ſich
die Subjectivität der Künſtler ſtehend auf gewiſſe Spezialitäten geworfen
hat; gerade die tieferen Unterſcheidungen geben doch nicht den greiflich
feſten Rahmen, den man eigentlich unter Zweig verſteht, daher denn auch
die ſtärkſte und entſcheidendſte derſelben, die der vorh. §. aufſtellt, nicht als
geläufige Eintheilungsformel im Gebrauche ſein kann. Eine ſolche erwächst
auch nicht aus den Unterſchieden des Stoffs: Natur des Oſtens, Südens,
Weſtens, Nordens, engere und engſte landſchaftliche Beſtimmtheit der
Länder, Landſtriche u. ſ. w. Die Aufgabe der Wiſſenſchaft aber iſt es, in
jedem Gebiete alle weſentlichen Unterſcheidungs-Linien aufzuzeigen, um den
vollſtändigen Schlüſſel zur Analyſe des einzelnen Künſtler-Genius und
Kunſtwerks zu geben. Hier nun iſt es beſonders wichtig, wie ſich, ganz
dem modernen Geiſt entſprechend, das Landſchaftsgebiet durch immer weitere
Oeffnung des Erdkreiſes für das Auge der Bildung und der Kunſt erweitert.
Lange bewegte ſich die Landſchaftmalerei in den Grenzen Italiens und
des Niederrheins, Belgiens, Hollands, jetzt wandert der Landſchaftmaler
mit Feldſtuhl und Mappe nicht nur die nahen Länder des gebildeten
Europa aus, nicht nur Spanien, Griechenland hat ſeine Schätze erſchloſſen:
Amerika, Afrika, Aſien und das nördliche Europa bis zur Grenze des
Bewohnbaren erſchließen ihre Wunder.


2. Die Theile der Landſchaft ſind Luft und Licht, Waſſer, Erde,
Pflanze. Ein Künſtler kann ſich im Ganzen ſeiner Auffaſſung mehr auf
den einen oder andern oder mehrere dieſer Seiten werfen oder nach
Stimmung und Stoff zwiſchen der Betonung der einen und andern wechſeln.
Rottmanns Größe z. B. iſt vor Allem das tiefſte Gefühl für die Erd-
[655] bildung, die ſchwungvollen Formen des Gebirgs, die duftig ſich verlierenden
Spalten und Falten, Brüche, Senkungen, Wände, Sättel, die mächtig
und breit hingezogenen Ebenen; in Pflanzen iſt er ſchwächer, Griechen-
lands heißtrockene Natur ſagt ihm beſonders zu, ruhig klare Luft iſt ſein
Element, doch auch im Waſſer iſt er großartig und geiſtvoll; Hochgebirge
und Wald iſt die Heimath eines Everdingen, eines Calame, Schirmer
iſt beſonders bedeutend im letzteren u. ſ. w., die Holländer lieben natur-
gemäß das Flachland, doch haben alle dieſe Künſtler auch andere Seiten
der Landſchaft ergriffen. Die Bedeutung dieſer verſchiedenen Seiten ſind
im erſten Abſchnitte des zweiten Theils dargeſtellt, was uns hier eine
weitere äſthetiſche Würdigung derſelben erſpart. Dort iſt insbeſondere
auch gezeigt, wie wichtig das Waſſer für die Landſchaft iſt; der See,
Teich, Bach, Fluß, namentlich der größere oder kleinere Waſſerfall bildet
die belebende, blitzende Seele in der Mehrzahl der Landſchaften. Nun
aber iſolirt ſich die Malerei auf das Waſſer mit ſeiner noch zarteren,
bewegungsreicheren Schweſter, der Luft, im Marine-Bilde, und während
die Ausdrücke: Gebirgs-Landſchaft, Küſtenlandſchaft ohne beſtimmten Fort-
ſchritt dieſes Eintheilens nur ungefähr einen Anſatz zur Beſtimmung von
Zweigen enthalten, ſo ſteht hier ſachgemäß ein ſcharf begrenzter Zweig
vor uns. Die Aufzeigung der Schönheiten des Meers in der Lehre vom
Naturſchönen enthebt uns auch hier eines weitern Eingehens; ein ſolches
wäre allerdings nöthig, um die Schwierigkeiten und Aufgaben des künſt-
leriſchen Studiums und der Technik auseinanderzuſetzen, wie ſie bei dieſem
Gegenſtande beſonders ſich aufdrängen; dieß würde jedoch tiefer in das
Einzelne führen, als der Umfang des Syſtems geſtattet. Wir verweiſen
ſtatt deſſen auf die großen Meiſter: einen Salvator Roſa, van de Velde,
Backhuyſen, Claude Lorrain, Gudin, Achenbach und Andere.


3. Nun iſt auch jenes wichtige Theilungsmoment einzuführen, das
wir in §. 540 Moment und Grad des Umfangs genannt haben.
Von letzteren ſehen wir hier ab; es wäre wohl intereſſant, die Stufen
der Landſchaft von der großen Compoſition eines ausführlichen Ganzen
bis zu der kleinen Partie, welche blos den Namen der Studie verdient,
herunterzuwandeln, aber erſt in den anderen Gebieten wird dieſer Punct
wichtig genug, um hier verfolgt zu werden. In einem ſo tief ſubjectiven
Gebiete wie die Landſchaftmalerei, wo der Blitz der Auffaſſung recht die
Seele des Ganzen iſt, muß nun aber der Moment, der augenblickliche
Zuſtand, in welchem der Stoff ergriffen wird, von der größten Bedeutung
ſein. Indem die Natur als Widerſchein menſchlicher Stimmung erfaßt
wird, trägt das unwillkührliche Leihen auf ihre Zuſtände den Begriff der
harmloſen oder geſpannten Situation und der Handlung aus dem Gebiete
des Charakters (§. 336) über: Ruhe wird zur Seelenruhe, zum
[656] Frieden der Selbſtbetrachtung, ſpannendes Grollen zu einem ahnungs-
vollen Bilde der zur Entladung gerüſteten Leidenſchaft, Schlag und
Gegenſchlag im ausgebrochenen Gewitter, See-Sturm gemahnt wie Zorn
und Aufruhr der Geiſter, wie tragiſche Kataſtrophen, Ruhe nach Sturm
wie das verſöhnende Schlußgefühl des Tragiſchen. Zu den vorh. Ein-
theilungen verhält ſich dieß ſo, daß das Stylbild im Allgemeinen mehr
die großartige Ruhe, das Stimmungsbild die geſpannte Situation und
Handlung ſuchen wird, daß im Stoffgebiete die rauhere Natur mehr der
Belebung durch dieſe Bewegtheit bedarf, als die plaſtiſche, ſüdliche, und
daß, wie ſchon oben berührt iſt, Luft und Waſſer, erſtere vorzüglich an
den Pflanzen ihre Bewegung offenbarend, die Elemente ſind, worin dieſe
Unterſchiede ihren Ausdruck finden. — Man ſieht nun, wie hier aufs
Neue der Unterſchied des Epiſchen, Lyriſchen, Dramatiſchen zu Tage
tritt: das Erdleben mit ſeinem Charakter feſter Nothwendigkeit erſcheint
als der vorzüglich epiſche, Luft und Waſſer als der lyriſche und dramatiſche
Theil der Landſchaft und es leuchtet ein, wie dieſe verſchiedenen Formen
an die ruhigere, die geſpannte Situation, den ſtürmiſchen Ausbruch ſich
knüpfen. — Es iſt zunächſt ein mehr andauernder Zuſtand, dem der
Landſchaftmaler einen Moment ablauſcht: es ſind die Jahreszeiten, unter
denen namentlich der Herbſt als ſtimmungsvoll erſcheint, und die Tages-
zeiten, die Nacht. Begreiflicher Weiſe hat jedoch auch hier, da die
landſchaftlichen Zuſtände ſo unendlich ineinander übergehen, beſtimmte Be-
nennung mit dem Charakter des Stehenden ſich nur an die Spezialitäten
des Winters und des Mondſcheins geknüpft, die ein Studium ſo beſon-
derer Art erfordern, daß Künſtler-Individualitäten ſich bisweilen vorzüglich
darauf concentriren. Ein van der Neer insbeſondere iſt mit dem feinſten
Gefühle den Dämmerungen der Nacht, dem ungewiſſen Lichte des Mondes
nachgegangen.


4. Das Komiſche fällt aus der Landſchaft natürlich weg. Das Styl-
bild durchläuft die reichſten Modificationen des einfach Schönen und
Erhabenen innerhalb des Letzteren, das jedoch als maaßvolle, ſchön
begrenzte Kraft in ſeinem Gebiete herrſcht, wogegen das Stimmungsbild
die wilde, abſpringende, ſchroffer bewegte Form des Erhabenen und im
einfach Schönen die freieren Spiele der Anmuth entfaltet. Welche Stoffe
und Momente der übrigen Eintheilungen vorherrſchend unter die eine
oder andere dieſer Grundformen treten werden, mag ſich der näheren
Betrachtung von ſelbſt ergeben. Es handelt ſich hier weniger darum,
dieſes Eintheilungsprinzip zu entwickeln, als darum, es nicht fallen zu
laſſen, ſondern mit fortzuführen bis dahin, wo es die Kunſtform findet, in
welcher es durchſchlägt und eine Gattung begründet.


[657]

β. Das Sittenbild.


§. 701.

Den Uebergang von der Landſchaft zu dieſer Sphäre bildet das Thier-1.
ſtück, das mit dem einen und andern ſeiner Nachbargebiete in verſchiedener
Ausdehnung ſich verbindet, aber als ſelbſtändiger Zweig keinen Zweifel über
den wahren Hauptgegenſtand des äſthetiſchen Ganzen laſſen ſoll. Als Einthei-
lunggsgrund iſt insbeſondere der Unterſchied des Moments von Bedeutung.
Die Nähe des Menſchen kündigt im Großen die Architektur-Malerei
2.
(vergl. §. 543), im Kleinen das Blumen- und Fruchtſtück und das ſoge-
nannte Still-Leben an.


1. Die Stellung des Thierſtücks zwiſchen der Landſchaft und dem
Sittenbilde (vergl. §. 696 Anm.) iſt äußerlich ſchon daran erkennbar,
daß eine Aufnahme des Thierlebens bis zu bedeutendem Umfang ſich mit
einem Gemälde der einen oder andern Gattung verbinden kann; umge-
kehrt kann zu einem Thierſtücke das Landſchaftliche und menſchliches Leben
in anſehnlicher Ausdehnung ſich geſellen. Dieſe äußerliche Verbindung
iſt der natürliche Ausdruck der innern Zuſammengehörigkeit, denn das
Thier iſt die ſich vernehmende und genießende Natur und der Grenz-
nachbar des Menſchen, ſein Begleiter, ſein Diener, aber auch ſein Feind
und Gegenſtand ſeiner Kampfluſt; die landſchaftliche Stimmung von der
einen, die menſchliche von der andern Seite läuft wie von ſelbſt in das
Thier aus. Aber auch hier muß die unklare Miſchung (§. 696) abge-
wieſen werden. Entweder, oder! bleibt feſtes Geſetz; ein Gemälde duldet
nur Ein Hauptſubject, durch das der Zweig beſtimmt wird, in dem es
gehört. Es iſt nicht ſowohl die äußere Ausdehnung, welche entſcheidet:
es mag ein großes Stück Landſchaft mit Thiergruppen ſich verbinden,
viele Thiere mögen mit einer Landſchaft, mögen mit Menſchen, viele
Menſchen mit Thieren zuſammengeſtellt ſein und das Ganze iſt doch Thier-
ſtück, Landſchaft, menſchliches Genre oder wieder Thierſtück, wenn nur die
Compoſition mit dem geſammten Ausdrucke klar ſagt, was die Hauptſache
iſt. Man darf nicht zweifeln, welcher Theil auf den andern componirt
iſt, welcher dagegen die Compoſition bedingt, die Seele des Ganzen iſt.
Dieß unterſcheidet ſich nicht ſchwer, man erkennt leicht, ob Landſchaftliches
ſo viel Einheit und Mannigfaltigkeit hat, um für ſich ein äſthetiſches
Ganzes zu bilden, dem das Thieriſche nur als Staffage anhängt oder
umgekehrt, und ebenſo verhält es ſich in der Zuſammenſtellung von Thieren
[658] und Menſchen, wo denn überdieß ein bedeutendes Stück Landſchaft wieder
hinzutreten kann. Uebrigens hindert dieß nicht, auch hier Nebenzweige
gelten zu laſſen, ſofern dabei nur immer ein Hauptſubject den entſcheiden-
den Mittelpunct bildet: es wird alſo ein landſchaftliches Thierſtück, eine
Landſchaft mit ſtark vertretender thieriſcher Staffage, ein Sittenbild mit
bedeutender Einmiſchung von Thieriſchem (namentlich Hirtenleben), ein
Thierſtück mit bedeutender Einmiſchung des Menſchlichen geben und die
beiden letzten Formen werden im angegebenen Falle auch wieder das
Prädicat des Landſchaftlichen mit ſich vereinigen. Die niederländiſche
Malerei iſt reich an Beiſpielen ſolcher Uebergänge; man denke u. A.
nur an Phil. Wouvermann. Wir werden auf dieſe Verbindungen zu-
rückkommen.


Blicken wir nun auf die Reihe von Unterſcheidungen, in die wir
die Sphäre der Landſchaft getheilt, ſo erhellt ſogleich, daß die erſte im
Thierſtück ſchwächer auftreten muß, nämlich die, welche ſich auf den Gegen-
ſatz der Style gründet. Wir haben geſehen, wie die Malerei das Thier
auffaßt (§. 654. 679); der plaſtiſche Styl wird neben dieſer naturwarmen,
in das Seelenleben eindringenden Behandlung durch ſeine Art, in großen
Zügen das Weſentliche der Form auszuſprechen, nicht ebenſo einen tiefen
Unterſchied begründen können, wie in der Landſchaft, die ſo reichen Spiel-
raum für Hervorhebung oder Unterdrückung des Zufälligen bietet. Ehe
der eigentlich maleriſche Styl im Norden ſich ausbildete, gab es auch
wirklich keine Thiermalerei. Es iſt ſchon in anderem Zuſammenhang,
§. 451 Anm, darauf hingewieſen, daß ſelbſt Raphael in der Zeichnung
von Thieren, namentlich demjenigen Thiere, das dem plaſtiſchen Gefühle
doch beſonders entgegenkommt, dem Pferde, noch ſchwach iſt: ein höchſt
merkwürdiger Gegenſatz der neuen Welt und der Malerei gegen das
Alterthum und die eigentliche Bildnerkunſt, die ſich von Anfang an durch
feines Verſtändniß der thieriſchen Form auszeichnen (den Grund ſ. §. 437,
Anm. 1). Am eheſten wird man die gewaltige Behandlung der Thier-
welt in ihren Kämpfen unter ſich und mit dem Menſchen, die in großem
Maaßſtabe und großen Zügen, worin das Einzelne, was Gegenſtand
ſpeziellerer Belauſchung iſt, doch ſtark zurücktritt, die Formen und den
Ausdruck des Affects darſtellt, die Werke eines Rubens und Snyders,
Stylbilder nennen können. Wie warm lebendig und beſeelt aber auch
hier die Auffaſſung iſt, das mag allein ſchon der herrliche, furchtbar
wahr behandelte Kopf des verröchelnden Tigers auf Rubens Löwenjagd
zu Dresden beweiſen. Die ſtyliſtiſche Richtung, wie ſie denn in dieſem
beſchränkteren Sinne nach dem Eintritt des ächt Maleriſchen auch weiter-
hin ſich geltend machen muß, wird eine natürliche Beziehung zu einem
gewiſſen Theile des Stoffs, dem Hirſch, Eber, Stier, Hund, den großen
[659] Katzen-Arten, vor Allem, wie bemerkt iſt, zu dem Pferd haben, weil hier
die ſchwungvoll geſchloſſenen Formen zu finden ſind, die dem plaſtiſchen
Gefühle zuſagen. Hiemit iſt denn der zweite Theilungsgrund, der
Unterſchied des Stoffs, zur Sprache gebracht. Der ächt maleriſche Styl
wird ſich gerne, wiewohl keineswegs allein, dem Culturthiere zuwenden,
denn er ſucht weniger Form-Schönheit, als Gemüthlichkeit. Pferd und
Wiederkäuer wird ihm mehr im eingewöhnten, dem Menſchen vertrauten,
als in dem freien und wilden Zuſtande ein beliebter Stoff ſein; ihm ſagt
namentlich das Geſchlecht der Schafe, Ziegen, weidenden Rinder zu; er
mag ſich behaglich in das „Dumpfe, Beſchränkte, Träumende, Gähnende
ihres Zuſtands verſetzen und uns in das Mitgefühl deſſelben hineinziehen“
(Göthe von H. Roos ſ. Eckerm. Th. 1 S. 125). Hund und Katze er-
ſcheint als freundliches Hausthier, und ein Hondekoeter ſorgt dafür, daß
der Hühnerhof nicht vergeſſen werde. Verſchloſſen iſt jedoch dem ächt
maleriſchen Styl auch die wilde Naturkraft natürlich nicht; Potters brüllen-
der Stier und Landſeers Hirſch ſehen nicht demnach aus, als möchten
ſie dem Menſchen ſeine Furchen ziehen und an ſeiner Krippe ſtehen;
die mehr ſpezialiſirende Behandlung begründet hier allein den Unterſchied
und mit ihr tritt denn auch die Individualität des einzelnen Thiers mehr
hervor. — Das Wichtigſte iſt nun aber der Unterſchied des Moments,
der Situation. Zugleich mit dieſem wird jetzt auch der Grad des Um-
fangs, auf den wir uns bei der Landſchaft nicht einließen, bedeutender.
Niemals zwar kann die Malerei ein einzelnes Thier ſtatuen-artig wie ein
Portrait hinſtellen, dieſer Unterſchied von der Bildnerkunſt bleibt. Tritt
ein einzelnes Thier in einem Gemälde auf, ſo muß Landſchaft oder menſch-
liche Wohnung mit Geräthe Stimmung und Motiv dazu geben. So
gefaßt, zeigt ſich dann eine natürliche Reihe vom einzelnen Thiere zur
kleineren, größeren und vielfacheren Gruppe, und dieſer Unterſchied ſteht
im lebendigſten Wechſelzuſammenhang mit dem des Moments. Hier iſt
denn der große Schauplatz für die warme und feine Belauſchung
des Thiers in ſeinem dem menſchlichen analogen Seelenleben aufgethan.
Alle die Zuſtände, Affecte, Tugenden, Unſitten, worin die ſchon reich aus-
geſtattete Thierſeele auf die menſchliche hinüberweist, breiten ſich aus
wie ein buntes Feld, worin unſer Gemüth im dumpfen Spiegelbilde, doch
nur mit um ſo mehr Intereſſe der Verwandtſchaft nachgehend, ſich reflectirt
findet. Ruhe und Aufregung, Bedürfniß und Sättigung, Freude und
Leid, Angſt, Schrecken, Liebe und Haß bis zur äußerſten Wuth, — eine
Fülle von Formen und Tönen eröffnet ſich, ſei es im Leben der Thiere
unter ſich in Geſellung, Befreundung, Mutterliebe, Feindſchaft und Kampf,
ſei es im Umgang mit dem Menſchen, im Kampfe mit ihm, im blutigen
Spiele der Jagd. Es liegt ein volles Seitenſtück des menſchlichen Sitten-
[660] bilds vor uns, und wie dieſes an die Novelle erinnert, ſo mag der Thier-
maler gern in ſinnig motivirten Scenen der Thierwelt eine Art von Thier-
novelle anklingen laſſen; durch geſpannteren Zuſtand, wie in Hondekoe-
ters Hühnerhof oder in jenen furchtbaren Jagdbildern eines Rubens und
Snyders, wo die Entſcheidung, ob Löwe, Tiger, Wildſchwein, Bär oder
Hund und Menſch gewinnt, auf der Spitze und das bluttriefende Thier
wie ein bedrängter Heros daſteht, ſteigert ſich das Novelliſtiſche in das
Dramatiſche. Dagegen iſt das einfache Sein und ſich Gehaben, Saufen,
Freſſen, Wandern, hingeſtreckt Ruhen immer mehr epiſch im allgemeinen
Sinne, Gemüthszuſtände, wie zärtliches Lecken der Jungen oder Aufblicken
zum Herrn und dergl. mehr lyriſch, und ſo ſehen wir auch dieſe Form
des Unterſchieds, die ſich auf die Miſchungen der bildenden Phantaſie mit
der empfindenden und dichtenden gründet, in Wirkung.


Es iſt nun auch klar, wie zu reicher Entfaltung des einfach Schönen, des
Furchtbaren in Form, Leidenſchaft und Bewegung, das Komiſche hinzutritt,
denn dieſes beginnt (vergl. §. 158, 4.) mit dem Thiere. Das Spielen
ſo mancher Thiere, die Kraftanſtrengung bei kleinen Verhältniſſen, die
drolligen Bewegungen, Kämpfe, tragikomiſchen Schickſale, die Charakter-
typen, die als natürliche Caricatur menſchlicher Eigenſchaften erſcheinen,
das volle Zerrbild des Menſchen im Affen: da iſt komiſche Novelle und
Luſtſpiel aufgethan. Die Poeſie gibt reichen Anhalt in der Thierſage
und ein Kaulbach hat dieſe Quelle mit tiefem Beobachtungsgeiſt und Hu-
mor benützt. Dieß führt jedoch ſchon in phantaſtiſche Formenmiſchung
und ſomit in das Gebiet der eigentlichen Caricatur hinüber.


2. Keine Kunſt liefert der andern in dem Sinne Stoff, wie die Bau-
kunſt der Malerei, dieß iſt in dem angeführten §. ſchon gezeigt. In der
Architektur-Malerei, zunächſt derjenigen, welche die Außenſeiten be-
handelt, wird ein Menſchenwerk wie ein Naturwerk, wie der Theil einer
Landſchaft aufgefaßt; doch bleibt es Menſchenwerk und die geſchichtliche
Phyſiognomie, die es haben ſoll, erzählt uns von Sitten und Schickſalen
der Erbauer und Bewohner, es kündigt die Menſchennähe an wie ein
getragenes Kleid. Die Architektur-Malerei mag dem Stoffe nach öffent-
liche oder Privatgebäude, dem Zuſtande nach Trümmer oder erhaltene
(nur nicht nagelneue vergl. §. 677), dem Umfange nach einzelne oder
viele Bauwerke bis zu reichen Straßenproſpecten darſtellen und verändert,
verengt oder erweitert danach Geiſt und Stimmung des Ganzen. Die Dar-
ſtellungen des Innern der Architektur (die ſog. Interieurs) treten natürlich
dem Menſchlichen näher, aber auch hier wird das Bauwerk eigentlich unter
dem Standpuncte des Landſchaftlichen behandelt: die Linear- und Luft-
perſpective, die Dämmerung des Helldunkels, worin Kerzen- oder Fackel-
Licht oder eindringendes Naturlicht an den Maſſen und Wölbungen hin-
[661] laufend ſich ahnungsvoll verliert, dieß ſind die Wirkungen, worauf es
abgeſehen iſt. — Was nun endlich die zierlichen Kleinigkeiten der Blu-
men
- und Fruchtſtücke und der Zuſammenſtellungen von Geräthen und
dergl., namentlich aber Erfriſchungen, worunter das todte Thier eine
Hauptrolle ſpielt: die ſog. Still-Leben, auch Frühſtücks-Bilder be-
trifft, ſo gilt es hier zunächſt allerdings feine Belauſchung und Nachah-
mung des Objects, die Kunſt trägt ihr Licht in das Kleine und Enge,
ſchleicht den zarten Reizen der Form, Farbe, des Lichts, insbeſondere des
Durchſichtigen nach, weidet ſich an ihrer Macht und Liſt, die in den
Stoffen eingefangene Naturſeele zu ertappen und zum Leuchten zu brin-
gen, und ſie iſt auch darin nicht zu verachten, denn ein Schimmer von
Idealität iſt ſelbſt in den anſpruchsloſeſten Gattungen des Daſeins; doch
für ſich würde derſelbe wenigſtens bei den unorganiſchen oder todten Kör-
pern des ſog. Still-Lebens nicht ausreichen, das Ganze einer künſtleriſchen
Darſtellung zu bilden, die Zuſammenſtellung erſt gibt dieſen Dingen ihre
Stütze und zwar in dem Sinn, daß ſie auf den Geiſt des abweſenden
Beſitzers hinweist (Schnaaſe Niederl. Briefe S. 153): Wohlſtand und
Behagen des Menſchen iſt das mittelbare, aber doch das Grund-Motiv
in dieſen Bildern, ſie ſind culturhiſtoriſch zu verſtehen, man muß die
Neigungen und Sitten des Volkes, wo ſolche Darſtellungen beliebt ſind,
im Auge haben. Mehr Schönheitsgehalt an ſich ſchon hat die organiſche
Geſtalt der Blumen und Früchte, doch auch ſie können für ſich allein nicht
Kunſt-Objecte ſein (vergl. §. 276, 2.); im Strauße, in ſchönen Gefäßen
gruppirt, wiewohl noch duftig und thauig, breitet ein David de Heem,
ein Huyſum ſie hin, als warteten ſie des eintretenden Menſchen, der ſich
ihrer Farbe, ihres Geruchs und Geſchmacks erlaben möge.


§. 702.

Im Sittenbild ergreift die auf das allgemein Menſchliche gerich-
tete Art der Phantaſie das weite Gebiet des menſchlichen Lebens, ſofern die
gattungsmäßigen Kräfte deſſelben nicht zu den großen Entſcheidungen ſich zu-
ſammenfaſſen, welche ſich mit Namen und Zahl in die Geſchichte einzeichnen.
So bedeutend der Inhalt und ſo ſtark die innere Bewegung ſein mag, erſcheint
daher der Menſch doch als Naturweſen im engern und weitern Sinne des Worts,
gehalten am Bande des Allgemeinen in der Bedeutung des Bedürfniſſes, der
Arbeit, des natürlichen und geſelligen Zuſtands, der Culturformen, kurz der
Gewohnheit, der Sitte überhaupt. Die Belauſchung und vorherrſchende Be-
tonung des Einzelnen, Augenblicklichen, Kleinen fließt eben aus dieſem Be-
griffe des Allgemeinen. Der beſtimmende Standpunct iſt der epiſche.


[662]

Der Name Sittenbild ſcheint uns werth, ſtatt des franzöſiſchen Genre
und des früheren deutſchen (zuerſt von Hagedorn in den Betrachtungen
üb. d. Malerei gebrauchten, von Schnaaſe aufgenommenen): Geſellſchafts-
bild eingeführt zu werden. Der letztere erinnert zu wenig an die Beziehung
des Menſchen zu der Natur und zu leicht an die moderne Geſellſchaft,
wie denn Hagedorn ſogleich an einen Watteau denkt; der erſtere bezeich-
net ganz richtig das Gattungsmäßige, was ſich aus der Subſtanz des
Allgemeinen nicht zur Spitze der in das Licht der Geſchichte hereinbrechen-
den Entſcheidung zuſammenfaßt, aber zu wenig das Gewohnheitsmäßige,
das, urſprünglich ein Erzeugniß der Freiheit, durch die Geſammtzuflüſſe
des Beitrags der unendlich vielen Einzelnen und durch Verjährung zu
einer Art zweiter Naturnothwendigkeit wird. „Sitte“ wird nicht nur im
moraliſchen Sinne gebraucht, ſondern bezeichnet das Gewohnheitsmäßige
im weiteſten Umfang, insbeſondere auch die äußern Culturformen, und
es darf wohl an die altdeutſche [Bedeutung] erinnert werden, wonach das
Wort auch Gebahren, habitus, Art der Bewegung des Individuums be-
zeichnet: Sigfried z. B. hat im Kampfe gegen die Sachſen „einen freis-
lichen Sit“. — Es handelt ſich nun, wenn der Begriff des Sittenbilds
richtig beſtimmt werden ſoll, vor Allem um die richtige Anwendung der
Begriffe des Allgemeinen und Einzelnen. Hotho (Geſch. d. deutſch. u.
niederl. Malerei B. 1 S. 130) ſetzt das Weſen des Genre in die Auf-
faſſung des Einzelnen, Particulären, Augenblicklichen und das Weſen des
hiſtoriſchen Bildes in die Darſtellung des Allgemeinen, Weſentlichen, Ewi-
gen. Will man ſich nicht verwirren, ſo muß man die Begriffe zunächſt
ganz anders nehmen und das Verhältniß geradezu umkehren: das Ein-
zelne iſt der große Moment, wo die Kräfte der Menſchheit ſich zu ge-
waltigen Entſcheidungen zuſammenfaſſen, welche die Geſchichte mit Angabe
der Zeit und des Namens in ihre Annalen einſchreibt, das Allgemeine
iſt das gewöhnliche Walten und Treiben derſelben Kräfte, das unbenannt
bleibt, weil es zu ſolcher Entſcheidung ſich nicht zuſammengerafft hat,
daher Guhl (a. a. O. S. 141) treffend das Genre eine Malerei mit
unbenanten Größen nennt. Neben dieſer Beſtimmung des Begriffs der
Einzelheit, wonach er die Concentrirung des Allgemeinen und Weſentlichen
zur Spitze des ſich verewigenden Moments bedeutet, behält nun aber
allerdings auch die andere Recht, wonach unter dem Einzelnen die par-
ticulären Züge der Perſönlichkeit und aller Erſcheinung zu verſtehen ſind,
und dann bleibt es dabei, daß dieſe Seite im Sittenbilde vor- und im
Geſchichtlichen zurücktritt, weil ſie hier ganz von dem Ausdruck des All-
gemeinen durchzogen und durchdrungen iſt. Ebenſo, wie der Begriff
des Einzelnen, muß nun auch der des Allgemeinen in einer zweiten
Bedeutung genommen werden. Hotho gebraucht „Allgemein“ gleichbe-
[663] deutend mit Weſentlich, Groß, Subſtantiell und ſo verſtanden wiegt es
im hiſtoriſchen Bilde vor, wogegen es im Sittenbilde nur „Grundlage“,
nur „die verdeckte Wurzel“ bleibt, welche das Particuläre, das frei ſpie-
lende Individuelle in die Tiefe ſenkt. Hier wird die Sache deutlich: das
Allgemeine, d. h. die gattungsmäßigen Kräfte der Menſchheit, wenn ſie
ſich zu geſchichtlichen Entſcheidungen concentriren, worin eine beſtimmte
Idee durchbricht, herrſcht im hiſtoriſchen Bilde und da wird das Einzelne
(im Sinn des Particulären) zurückgedrängt, ſtrenge gebunden; was Hotho
Grundlage, verdeckte Wurzel nennt, iſt dagegen das Allgemeine, das ſich
zu ſolchen Entſcheidungen nicht concentrirt, ſo verſtanden, aber herrſcht
es im Sittenbilde, denn nun iſt es gleichbedeutend mit dem Täglichen,
Continuirlichen, Gewöhnlichen, welches den Menſchen frei läßt, ſo daß
alle Züge des Beſondern und Einzelnen ungebunden ſpielen und ſich aus-
breiten dürfen. Es walten alſo in beiden Zweigen dieſelben gattungs-
mäßigen Kräfte der Menſchheit, dort zur Entſcheidung geſammelt, hier
nicht. Es iſt dieß aber keineswegs ein Unterſchied, der nur in der Con-
ception, in der Auffaſſung liegt, außer ſofern natürlich auch die Wahl
des Gegenſtands ſelbſt urſprünglich eben ein Act derſelben iſt; der Gegen-
ſtand ſelbſt iſt verſchieden; freilich jedesmal daſſelbe Weſen, der Menſch,
aber jedesmal eine andere Hemiſphäre ſeines Daſeins. Der Inhalt wird
in Wirklichkeit ein anderer, wenn er aus der unbelauſchten Richthöhe des
Gewöhnlichen herauftaucht an den Tag der Geſchichte. Der Sitten-Maler
zeigt uns irgend ein buhleriſches Weib, der Geſchichts-Maler eine Cleopatra,
jener einen namenloſen Krieger, Staatsmann, dieſer einen Alexander den
Gr., einen Perikles, Cromwell, jener einen Unbekannten mit dem Ausdruck
religiöſer Begeiſterung, dieſer einen Huß, einen Luther: es iſt beidemal
daſſelbe Pathos, aber daſſelbe Pathos wird ein anderes, wenn es die
Geſchicke concreter Staaten, ganzer Epochen bewegt oder dieſe ſich doch
irgendwie mit ihm verwickeln, als wenn es ſich in der Dunkelheit des
Namenloſen verborgen weiß; die Seele wird tiefer, umfaſſender aufge-
rüttelt und die äußere Erſcheinung im Bewußtſein des erſchütternden, in
die Annalen der Geſchichte ſich eingrabenden Moments größer, mächtiger,
ſie wird monumental. Das Sittenbild hat keineswegs blos ſogenannten
niedrigen Inhalt, alles Bedeutende, was die Geſchichte bewegt, iſt in ihm
auch da, jede höchſte Empfindung, jedes tiefſte Leiden kann neben dem
geringſten und anſpruchloſeſten Thun zur Darſtellung kommen, und doch
iſt es eine andere Welt, doch fehlt ein letzter Punct auf das i, ein Hauptton,
der Grundbaß. Mag nun der Menſch auch von Bedeutendem ergriffen
ſein, ſo läßt er ſich doch, ſofern dieſes Bedeutende nicht zur Spitze ge-
ſchichtlicher Entſcheidung gelangt, ſofern er ſich vom Auge der Geſchichte
nicht beobachtet weiß, gehen und gibt ſich nachläßiger allen den Bedin-
[664] gungen hin, die ihn im gewöhnlichen Leben beherrſchen; noch mehr aller-
dings in den Augenblicken, wo nicht Bedeutendes ihn aufrüttelt, und das
Sittenbild wird ſich immerhin vorzüglich mit ſolchen beſchäftigen. Die
Bedingungen des Geſchlechts, Alters, anthropologiſchen Zuſtands, Stan-
des und Geſchäfts, Genuſſes, der geltenden Formen in Koſtüm, Umgangs-
ſitte, Genuß, Trauer, Arbeit treten nun in ihrer ganzen Breite an ſeiner
Erſcheinung hervor und in dieſem Elemente läßt denn auch die In-
dividualität des Einzelnen ihre ganze Eigenheit ſpielen; er glaubt ſich
ganz unbelauſcht, er weiß nicht, daß der Maler ihn belauſcht und eben-
dieß drückt der belauſchende Maler aus. Wie nun dieß Alles in Geltung
geſetzt iſt, ſo tritt hiemit auch das Umgebende, der ganze Anhang und
Apparat, durch den der Menſch ſein tägliches Leben friſtet, ſchmückt, er-
heitert, in umfaſſende Berechtigung ein; die äußern Culturformen ſpielen
im Sittenbild eine Haupt-Rolle. Hiemit iſt begründet, was ſchon zu
§. 697, 1. im Allgemeinen aufgeſtellt worden: die Auffaſſung im Sitten-
bild iſt die epiſche. Daß das eigentliche Epos mit benannten Größen
darſtellt, verändert, wie ſich ſeines Orts zeigen wird, nichts an der Rich-
tigkeit dieſes Satzes. Der Menſch des Sittenbilds iſt der zuſtändliche
Menſch; handelt er, ſo bewegt er doch nicht die Welt, ſchöpft nicht aus
der reinen Freiheit der Selbſtbeſtimmung eine That, welche den Knoten
des Complexes, in welchem er als Kind der Natur und der Sitte einge-
flochten lebt, mit ſtraffer Hand, mit ſcharfem Schwerte zerhaut und einen
neuen ſchürzt; ſelbſt wenn er den Faden des Gegebenen abbricht und
z. B. revolutionirt, ſo wendet ſich die Kunſt dem Gebahren der Maſſen,
dem Bilde der allgemeinen Leidenſchaften, den Formen der Aeußerung, nicht
der großen, freien, aus einem Willen, den die Geſchichte ſich merkt, her-
vorgeſtiegenen Thatſache zu. Alſo auch die Freiheit tritt unter dem Stand-
puncte des Inſtinctlebens auf. Der §. ſagt, der Menſch erſcheine im
Sittenbild als Naturweſen im engeren und weiteren Sinne des Worts;
was oben von den Bedingungen bemerkt iſt, die ihn in dieſer Sphäre
beherrſchen, gibt den Anhalt für dieſe Unterſcheidung. Bald iſt es mehr
das Anthropologiſche als ſolches, Geſtalt, ſinnlicher Zuſtand, irgend eine
Beziehung auf die äußere Natur ohne tiefere Einkehr in ſich, bald der
künſtliche und der moraliſche Menſch, der zur Darſtellung kommt; aber,
wie geſagt, auch im letztern Falle wird die Freiheit zu einer Art von
Nothwendigkeit, einem beherrſchenden Element, einer zweiten Natur. Dieß
war die Meinung, wenn zu §. 696 geſagt wurde, im Sittenbild werde
das menſchliche Leben wie ein landſchaftliches Sein aufgefaßt.


[665]
§. 703.

Das Sittenbild kann jedoch auch die Geſchichte in ſein Bereich ziehen,
indem ſie die nicht geſchichtlich gewordene Seite derſelben als ihren Stoff er-
greift. Ein anderes Gebiet öffnet ſich durch die mythiſchen Stoffe, die zum
Zwecke freierer Darſtellung des allgemein Menſchlichen benützt werden (vergl.
§. 695, 2.). So zerfällt die Sitten-Malerei dem Stoffe nach in drei Haupt-
ſphären: reines, d. h. außergeſchichtliches (§. 702), geſchichtliches
und mythiſches (meiſt aus der Quelle der Dichtung geſchöpftes) Sittenbild.


Die erſte Eintheilung des ganzen Gebiets gründet ſich auf den
Stoff. Das eigentliche und reine Sittenbild heißt außergeſchichtlich nur
im Sinne von §. 702, denn in der That wird das Sittenbild ſeinen
Stoff, ſo ſehr es die urſprüngliche Einfachheit der Culturformen (vergl.
§. 327) lieben mag, doch mit einer Ausnahme, die nachher zur Sprache
kommt, immer ſpezifiziren, localiſiren, nicht Fiſcher, Jäger, Hirten über-
haupt, ſondern italieniſche, arabiſche, norwegiſche u. ſ. w. malen. Die
nicht geſchichtliche Seite des Geſchichtlichen iſt ſein Boden; doch nicht dieß
allgemeine Verhältniß hat der erſte Satz des §. im Auge: das Hinein-
greifen in das Geſchichtliche kann vielmehr ſo weit gehen, daß Perſonen
dargeſtellt werden, deren Namen und Bedeutung allerdings die Geſchichte
aufbewahrt hat; aber nicht in einem der Momente, wo ſie das hiſtoriſch
gewordene Entſcheidende gethan haben, ſondern in einem Momente der
Gewohnheit, des Continuirlichen, wovon keine Geſchichte als einem Ein-
zelnen redet, kommen ſie hier zur Darſtellung: ein bekannter Feldherr,
Künſtler, Staatsmann, Fürſt u. ſ. w. in irgend einer Situation, worin
die Culturformen der Zeit, Soldatenleben, Familienleben, Feſt, Genuß,
Freud und Leid des täglichen Lebens nur dadurch bedeutender werden,
daß ſie an bedeutenden Namen als ihren Trägern zum Ausdrucke kommen;
ein Napoleon, die Runde im Bivouac machend, ein Wallenſtein mit Aſtro-
logie beſchäftigt, ein Rubens im Atelier, ein Kant im Studirzimmer, ein
Richelieu unter Hofleuten, die ſich in der Weiſe damaliger Geſellſchaft
unterhalten, ein Friederich der Große, als Kronprinz die Flöte vor
dem Hofe ſpielend und Aehnliches: das ſind geſchichtliche Sittenbil-
der. — Nun aber muß allerdings der Sittenmaler auch das Bedürfniß
haben, ſich ein- und das anderemal ganz von allem Localiſiren frei zu
halten, damit er das allgemein Menſchliche, die gemeinſamen Gattungs-
kräfte, innere und äußere, in reinerer Idealität zum Ausdruck bringe;
da wird er ſich denn gern an das Mythiſche lehnen, wie dieß in §. 695, 2.
vorbereitet iſt. Das mythiſche Genre theilt ſich nach der Anmerkung zu
jenem §. in ein claſſiſches und romantiſches (ſofern man unter dem letz-

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 44
[666]tern nicht blos mittelalterliche Culturformen ohne jede Beziehung auf das
Mythiſche verſteht). Nun mag denn die Schönheit menſchlicher Geſtalt,
mögen menſchliche Empfindungen, Motive, Genüſſe als Götter, Genien,
Geiſter in mancherlei einfacherer Situation oder phantaſtiſch erfundener
Handlung gleichſam durchſichtiger, unbedingter zur Darſtellung gelangen,
die Liebe in Amor und Venus oder Feen und Elfen, die Jagdluſt als
Diana und ihr Gefolge, der Wein nicht in menſchlichem Zechgelage, ſon-
dern im bacchiſchen Kreiſe oder in einer Gruppe romantiſch erfundener
Geiſter des Weins, die dunkle, ahnungvolle Beziehung des Menſchen zu
der Natur in Nymphen, Nereiden, Nixen, Elfen u. ſ. w.: es ſind die
reinen Geiſter der Sache in zärteren Leibern. Nebenher legt ſich an die-
ſes Gebiet die toll geſpenſtiſche Welt, wie ſie in den Verſuchungen des
h. Antonius u. ſ. w. mit traumhaftem Humor dargeſtellt iſt.


Dieſe Geſtaltenwelt ſchöpft der Maler großentheils nicht unmittelbar
aus altem Völkerglauben, ſondern aus dem Munde der Dichter. Die
Poeſie iſt als weitere Quelle für das Sittenbild gerade hier angeführt,
weil es namentlich die mythiſchen Stoffe ſind, welche der Maler zunächſt
aus ihrer Hand empfängt; er kann aber ebenſo gut auch jede andere Art von
Stoff durch ihre Vermittlung ſich geben laſſen, ſei es irgend ein na-
menloſes außergeſchichtliches, aber rein reales Motiv, das er z. B.
aus Romanen ſchöpft, die ſich nicht an die Geſchichte lehnen, wie denn
eine auf das allgemein Menſchliche in beſonderer Reinheit gerichtete Dichter-
Phantaſie ihre Stoffe nicht gern genau localiſirt, ſei es auch dichteriſch
verarbeitete Geſchichte. Es iſt alſo logiſche Verwirrung, wenn man meint,
die Poeſie ſei eine neue Quelle in dem Sinn, daß ſie eine neue Art von
Stoffen bringe; es werden dieſelben Stoffe nur aus einem weiteren Me-
dium entlehnt, durch das ſie vorher gegangen ſind.


§. 704.

1.

Nur die erſte dieſer Sphären ſtellt das Sittenbild in ſeiner Reinheit dar.
Die nähere Eintheilung derſelben gründet ſich zunächſt ebenfalls auf die Unter-
ſchiede des Stoffs, doch nicht ſowohl nach anthropologiſchen Differenzen und
nach Völkern, über welche allerdings die Malerei in wachſender Aufſchließung
der Ferne und Erweiterung des Intereſſes für alles Menſchliche ſich ausdehnt,
2.als vielmehr nach dem verſchiedenen Charakter der Stände. Dieſer Unterſchied
führt unmittelbar zu einer andern Theilung, nämlich derjenigen, welche durch
die Auffaſſung verſchiedener Seiten des Stoffs bedingt iſt, denn je nach der
geſellſchaftlichen Schichte wendet ſich die künſtleriſche Auffaſſung mehr dem
innern Seelenleben oder mehr den äußern Culturformen zu; doch
bringt gerade die Feinheit der pſychologiſchen Belauſchung zugleich die gemüth-
[667] liche Vertiefung in das Umgebende, eine umſtändliche Auffaſſung nach dieſer
Seite mit ſich.


1. Daß das Sittenbild in ſeinem wahren und ganzen Weſen nur
da gegeben iſt, wo es ſeinen Stoff im genannten Sinn außergeſchichtlich
und zugleich nicht übermenſchlich behandelt, dieß bedarf keines Beweiſes.
Die andern Sphären bringen ein die reinen Eintheilungs-Linien durch-
kreuzendes, logiſch ſchwieriges Element herein. Ueberſehen wir nun das
Gebiet des reinen Sittenbildes, ſo liegt vor uns der ganze Stoff, der
im erſten Abſchnitte des zweiten Theils unſeres Syſtems unter C, a:
„die menſchliche Schönheit überhaupt“ aufgeführt iſt: die allgemeinen For-
men (die Geſtalt, Zuſtände und Altersſtufen, die Geſchlechter, die Liebe,
die Ehe, die Familie). Die beſondern Formen (die Nacen und Völker,
die Culturformen, das Staatsleben), die individuellen Formen (die natür-
liche, die ſittliche Beſtimmtheit des Individuums, der Charakter, Phyſiog-
nomik, Pathognomik). Die Kunſt nun miſcht die verſchiedenen Theile dieſes
Feldes ſo, daß ſie den letzten, nämlich das phyſiognomiſch und pathogno-
miſch belauſchte Individuum, getaucht in das Element der beiden erſten
(der allgemeinen und beſondern Formen) zur Darſtellung bringt. Daß
insbeſondere nun auch der Charakter im untergeordneten Sinne habitueller
kleiner Leidenſchaft u. ſ. w. die Stelle findet, die ihm §. 685 Anm. in
der Malerei eingeräumt hat, ergibt ſich aus der Natur des Sittenbilds.
Dieſem ganzen Gebiete gibt die Sittenmalerei allerdings die concrete
Färbung der geſchichtlichen Schönheit, trägt alſo den geſammten Stoff in
das Gebiet hinein, das jener Abſchnitt unter C, b. entfaltet, aber, wie
geſagt, nur ſo, daß das mit ausdrücklichen Datum bezeichnete Dieſe vom
Geſchichtlichen wegbleibt. Die ſelbſtändige Eintheilung dieſer ſo beſchaffe-
nen Sphäre als eines Zweigs der Malerei iſt nun aber erſt zu ſuchen.
Da bildet denn der Stoff, wie er ſich auf die anthropologiſchen Unter-
ſchiede: Geſchlechter, Lebensalter u. ſ. w., dann auf die Unterſchiede
der Völker gründet, ebenſo wenig eine einſchneidende Theilung, als der
Unterſchied der Zonen, Länder in der Landſchaft. Merkwürdig bezeichnend
aber iſt es für die moderne Zeit, wie die Kreiſe wachſen: italieniſches
Geſindel, Soldaten, dann holländiſche Bauern, Bürger und Vornehme
waren bei der Entſtehung des Zweigs faſt der einzige Stoff; der natur-
wiſſenſchaftliche, entdeckende, Fernenöffnende, koſmopolitiſche, jede Form des
Menſchlichen in ſein tiefes und weites Intereſſe ziehende Geiſt der Zeit
hat nun aber in raſchem Fortſchritt alle Länder Europa’s, Aſien, Afrika,
die maleriſchen Stoffe Amerika’s erſchloſſen und ſammelt in immer wei-
terem Wandertriebe, wie Herder die Stimmen der Völker, den maleriſchen
Honig aus der fernſten Blume. Dabei iſt es ein Hauptzug, daß das

44*
[668]Menſchliche nicht nur in den der modernen Bildung nahen oder angehörigen,
ſondern beſonders auch in denjenigen Zuſtänden Intereſſe und Würdigung
findet, welche den Charakter vorgeſchichtlicher Natur-Einfalt tragen oder
in Naturzuſtand zurückgetretene Reſte alter Cultur darſtellen. Dieß
Intereſſe iſt daſſelbe, wie das am Volksliede; die Cultur entwickelt, aber
ſie bricht und theilt auch, wir ſuchen den Waldesduft, das reine Quell-
waſſer im Urſprünglichen und Ungetheilten. Doch iſt das Naturwüchſige
ſelbſt ſchon eine Cultur, Cultur vor der Cultur, ſo tritt es in Eine Reihe
mit den Formen der Cultur im engern Sinn und dieſe[Reihe] iſt es,
welche das erſte Motiv für die nähere Eintheilung des Sittenbilds ab-
gibt. Die Cultur-Unterſchiede fallen freilich auch mit denen der Na-
tionalität und umgebenden Natur zuſammen, aber ſie beſtehen auch
in demſelben Land und Volk, ſind überall ſich wiederholende, aus der
Urzeit in die Zeit der Bildung hereinragende oder in dieſer ſelbſt bleibend
begründete Formen, und ſo genommen bilden ſie die Handhabe für die
Eintheilung. Schnaaſe hat das Verdienſt, dieſes Prinzip zuerſt, und
zwar am Prototyp des ganzen Zweigs, der holländiſchen Sittenmalerei,
zur Anwendung gebracht zu haben: die derb komiſche Bauernwelt mit
den groben Ausbrüchen der ſinnlichen Natur auf der einen, den Kreis
der mittleren, wohlhabendern Stände mit gebildeter Sitte, verſteckten, no-
vellen-artigen Andeutungen auf der andern Seite (Niederl. Briefe S. 81.
82). Allerdings haben ſich nun aber beide Seiten mit dem Fortſchritt
unendlich erweitert: zur erſten Gruppe oder vor dieſelbe tritt das ſo eben
beſprochene Gebiet, es handelt ſich nicht mehr blos von plumpen Holländern,
ſondern von Zuſtänden überhaupt, wo der Menſch in freiem, unmittel-
barem Umgange mit der Natur, ſei es in edel einfacher, ſei es in rauherer,
wilderer Weiſe, ſich ſelbſt Naturton, Naturhauch bewahrt: die Sitte herrſcht
im engern Sinne der Naturnothwendigkeit (§. 702); man könnte es in
weiterer Bedeutung des Worts das patriarchaliſche oder, ſofern das
Glück der Beſchränkung im Gegenſatze gegen die Uebel eingedrungener
Ueberbildung betont wird, das idylliſche Genre nennen. Die betreffen-
den Formen ſind in §. 327—330 beſprochen. Der ſtandloſe Stand, der
Menſch außer der Geſellſchaft: Räuber, Zigeuner, Landſtreicher reiht ſich
natürlich an dieſe Gruppe. Die andere erweitert ſich vom wohlhabenden
Bürgerthum nach den Kreiſen des intellectuellen, geiſtlichen, adeligen,
fürſtlichen Stands. Den gröberen Handwerker ſtellen wir zur erſteren
Gruppe, in die Mitte zwiſchen beide mag ſich das feinere Handwerk,
die vermitteltere, reflectirtere, doch noch körperliche Arbeit ſtellen. Hiezu
vergl. §. 330.


2. Dieſer Unterſchied wird nun alsbald zu einem innern. Wie wir
im Gebiete der Landſchaft die Betonung der verſchiedenen Seiten, nament-
[669] lich der Luft und der Erde, unterſchieden haben, ſo wird nun in der
zweiten Gruppe das Seelenleben, das Innere, in der erſten das Außere,
die Culturform zum Hauptgegenſtande der Darſtellung: dort die geiſtige
Luft, hier die Erde der äußern Bedingungen. Der Gegenſatz iſt natürlich
nicht abſtract zu nehmen: es fehlt weder dort das Intereſſe für die äußern
Formen, noch hier für das Seelenleben, aber jene Formen erſcheinen
ſelbſt reflectirter, verfeinerter, geiſtig durchdrungener und dieß Seelenleben
iſt das einfache, gediegene, naturbefriedigte, inſtinctmäßige des Sohnes
der Natur. Es leuchtet ferner ein, daß bei der erſten Gruppe die Schön-
heit der Geſtalt an ſich, die anthropologiſchen Unterſchiede des Geſchlechts,
Alters, die unmittelbar ſinnlichen Zuſtände (§. 317—321) eine größere
Rolle ſpielen, das Kunſt-Intereſſe mehr für ſich, auch ohne ſpeziellere
Beziehung in Anſpruch nehmen. In der zweiten iſt es gerade die feinere
Gründlichkeit der pſychologiſchen Beobachtung, welche zugleich alles An-
hängende, worin ſolche Sitte, ſolches Seelenleben der gebildeten Stände
ſich erzeugt, mit beſonderer Aufmerkſamkeit erfaßt.


§. 705.

Hiemit eröffnet ſich denn auch in ihrem ganzen Gewichte die Unterſchei-1.
dung des Moments und des damit verbundenen Grads des Umfangs. Der
Fortgang von der ruhigen zu der innerlich bewegten, leidenſchaftlich geſpannten,
ſtürmiſch ausgebrochenen Situation verbindet ſich in mannigfaltiger Weiſe mit dem
von der einzelnen Figur zu der kleineren, der größeren Gruppe und der Maſſen-
darſtellung. Das Schlachtbild vereinigt maſſenhafte Compoſition und ſtürmi-
ſchen Ausbruch. Dieſer Unterſchied ſteht in der innigſten Beziehung mit dem
2.
des Lyriſchen, Epiſchen, Dramatiſchen, wie er innerhalb des epiſchen
Standpuncts ſich geltend macht. Ferner tritt in klarer Scheidung nun auch das
3.
einfach Schöne, Erhabene und Komiſche auseinander.


1. Nun erſt belebt ſich vor unſern Augen das Pſychologiſche, wie es,
obwohl mit verſchiedenem Accent, in beiden Gruppen zur Darſtellung
kommt, indem der Grundzug aller Sittenmalerei, die Erhaſchung des
Moments und damit die Unterſchiede der Situation zur Betrachtung kom-
men. Wie der Blitz eine dunkle Landſchaft beleuchtet, wie wir im Fluge
der Eiſenbahn einen Blick in eine Dachkammer werfen und das mit Win-
deseile aufgegriffene Bild im Innern bewahren, erfaßt der Sittenmaler
im Nu das menſchliche Leben in ſeiner Naivetät, in der es ſich unbelauſcht
gehen läßt. Was Einer für ein Geſicht macht, wenn er eine Feder ſchnei-
det, den Puls greift, eine Priſe nimmt, als Pfannenflicker eine Pfanne
ſtudirt u. ſ. w.: Alles das wollen wir auch einmal ſehen, ſoll und muß
[670] die Kunſt auch fixiren. Wir haben nun folgende Stufenleiter vor uns:
ruhiges, einfaches Sein und Weben des Gemüths bei harmloſer Beſchäf-
tigung: Fiſchen, auf dem Anſtand Stehen, Pflügen, Aerndten, Spitzenklöp-
peln, ſich Kleiden, Leſen Schreiben u. ſ. f., oder im reinen, träumeriſchen
Nichtsthun, Hinausblicken in’s Weite u. ſ. w.; ſubjectiv bewegterer Zu-
ſtand, und zwar entweder mehr naiv, nach Außen geöffnet in geſelliger
Freude, Schmauß, Tanz, Feſtvergnügen u. dgl., oder innerlich concentrirt
und geſpannt, wie in einem liebenden, harrenden, träumenden Mädchen
oder in Familienſcenen, die etwas bedenklich ausſehen, wie der Verweis
des Vaters von Terburg; zum Drohenden geſpannt, wo Gefahr bereitet
oder ihr entgegengeſehen wird, wo der Räuber lauert, der falſche Spieler
betrügt, der Verführer lockt, wilde Thiere, Waſſer und Feuer Zerſtörung
drohen; endlich der Ausbruch der Leidenſchaften in Schlägerei, Mord,
verderblichem Kampfe mit den Naturkräften, blutiger Jagd, Schlacht,
Leiden durch Armuth, Pfändung, Scenen der Juſtiz, Krankheit, Tod in
allen Formen; doch es iſt nicht blos von Zorn und Leiden die Rede,
auch Freude und Aufregung, die zwiſchen Freude und Leid ſchwankt oder
ſich nach verſchiedenen Seiten in ſie theilt, wie bei Teſtaments-Oeffnungen,
Liebes-Werbung neben Rivalen, und unendliche andere Formen des reich
gemiſchten menſchlichen Schickſals gehören hieher. Neben dieſer Reihe
von Unterſchieden läuft nun in den verſchiedenſten Durchkreuzungen die
andere hin, die der §. nennt, wobei zugleich die Wechſelbeziehung mit dem
Unterſchiede der in §. 704 aufgeſtellten Sphären wichtig iſt. Die dem
Naturleben enger verbundene, patriarchaliſche Form nämlich wird natur-
gemäß meiſt, wiewohl nicht immer, in maſſenhaften Gruppen vor uns
auftreten, denn das Inſtinctleben iſt ein Leben in großer Gemeinſchaft;
die feinere Schichte dagegen wird, wiewohl ebenfalls keineswegs noth-
wendig und immer, in vereinzelten Figuren und kleineren Gruppen ſich
darſtellen, denn das mehr innerliche Leben zieht ſich gern in die Einſam-
keit oder die Geſellſchaft Weniger, den gemüthlichen Kreis der Freunde,
der Familie zurück. Scenen der Aufregung bedingen in beiderlei Formen
des Sittenbilds Vielheit der Figuren, größere Compoſition. Der §. nennt
aus dieſer Sphäre das Schlachtbild ausdrücklich, weil es das einzige
iſt, das mit ſtehendem Namen ſich hervorhebt. Wir werden ihm noch
einmal begegnen, im geſchichtlichen Gebiete; hier handelt es ſich um Bil-
der des Kriegs, wo es auf den Ausdruck der Leidenſchaft, Bewaffnung,
Kampfesweiſe überhaupt, nicht auf eine beſtimmte geſchichtliche Entſchei-
dung ankommt.


2. Alles Sittenbild iſt epiſch, aber auf dem epiſchen Boden wieder-
holen ſich noch einmal die Unterſchiede des Epiſchen, Lyriſchen, Dramati-
ſchen. Das Epiſche im Epiſchen tritt da zu Tage, wo vorzüglich das
[671] Inſtinctive und Zuſtändliche herrſcht, dem Stoffe nach in den ſinnlicheren
Ständen, der aufgefaßten Seite nach, wo die äußern Culturformen in den
Vordergrund treten; dem Moment und Grade des Umfangs nach in der
harmloſen Situation einfacher Arbeit oder behaglicher Müßigkeit, im maſſen-
haft Gemeinſchaftlichen, ſei es ein Thun, ein Genuß, auch ein Kampf,
wenn nur die Lage nicht zu ſpannend erſcheint, oder ein Leiden, ſofern nur
der geiſtige Schmerz nicht zu ſubjectiv im Ausdruck vorwiegt. Das Lyriſche
iſt mehr, wiewohl natürlich keineswegs allein, in den feineren Ständen
zu Hauſe, weil es mit der innerlich vertiefteren Empfindung eintritt, in
der pſychologiſchen Auffaſſung, in derjenigen Situation, welche die ver-
borgenen Saiten des Seelenlebens anſchlägt, in der einzelnen Figur und
kleineren Gruppe. Das Dramatiſche liegt dem Sittenbilde darum ferner,
weil die tiefen Conflicte, die in ſtraffer Erwartung ſpannen, indem ſie
da hervorbrechen, wo Einigkeit ſein ſollte (vergl. Hotho a. a. O. S. 69.
70), ſich gewöhnlich in die wirkliche Geſchichte eingraben und weil ihre
Darſtellung ſich naturgemäß des weitſchichtigen Anhangs von Cultur-
formen entledigt, die den Menſchen mit ihrer Wucht, wo nicht die ent-
ſcheidende That aus dem heroiſch freien Innern geſchöpft wird, in das
Zuſtändliche ziehen. Doch ſind auch hier die Bilder furchtbarer Spannung,
wie bei Raub, Mord, gefahrvollem Kampfe, zerreißendem Schrecken, der
tief im Gemüthe zündet, wie bei tragiſchem Familien-Unglück, beziehungs-
weiſe dramatiſch zu nennen. Auch das ſcharf packende, in bewegter Hand-
lung hervorbrechende Komiſche gehört in dieſe Form.


3. Hiemit ſind wir zu dem Unterſchiede des einfach Schönen, Erha-
benen, Komiſchen gelangt. Es bleibt, da der Reichthum, womit die zwei
erſten Formen bis zum Tragiſchen nunmehr auf ihrem wahren Boden,
dem menſchlichen, ſich entwickeln, im Weſentlichen nur noch zu ſagen, wie
jetzt zum erſtenmal in der Kunſt das Komiſche in voller, ſelbſtändiger
Kraft bis zur Nähe des deutlichen Gegenſatzes eintritt, der in der Dicht-
kunſt zwiſchen Tragödie und Komödie beſteht. Leicht unterſcheidet ſich
eine dreifache Form: die Poſſe mit ihrem Cyniſmus in der groben Seite
des patriarchaliſchen Gebiets, theils als ruhige Darſtellung der bäuriſchen
Natur in ihrem harmlos ſchwerfälligen Selbſtgenuß, theils als Bild aus-
gelaſſener Tollheit in Gelagen, Tanz, Prügelei, die gemäßigtere, doch noch
ſtarke Ironie in der Charakteriſtik jener mittleren Schichten, wo die Arbeit
ſich von der Natur entfernt (Schneider, Schuſter, Krämer, Schulmeiſter
u. dgl.), endlich die feine Ironie und der Humor in der Belauſchung der
verborgenen Gemüthlichkeiten, Intriguen, innern Widerſprüche im Leben
der gebildeten Stände.


[672]
§. 706.

Endlich tritt in dieſem Gebiete der Gegenſatz der Style mit entſcheiden-
der Bedeutung auf. Die plaſtiſche Richtung hält ſich an Culturformen, die
entweder den Charakter einfacher Urſprünglichkeit tragen oder einen edeln und
ſchwungvollen Luxus entfalten; ſie ſättigt das Sittenbild mit hiſtoriſchem Geiſte.
Die mythiſchen Stoffe dienen vorzüglich ihr als Motiv für ihre erhöhte
Auffaſſung. Der Unterſchied der Style ſchafft ſich auch verſchiedene Technik.


Die Venetianer und in der neueren Zeit Leop. Robert ſind die
Begründer des ſogen. höheren Genre, das ſeinen Stoff in plaſtiſchem
Geiſte ſtyliſirt. Bei jenen fällt der große Wurf dadurch in’s Unklare,
daß der ganze Zweig noch nicht zur Selbſtändigkeit gelangen kann, daß
daher ihr Bedürfniß hoher Styliſirung ſich an mythiſche, namentlich chriſt-
lich mythiſche Stoffe anklammert; Leopold Robert darf daher der wahre
Schöpfer dieſer Gattung genannt werden und er hat auch den entſprechend-
ſten Stoff ergriffen, die an ſich ſchon ſtylvolle Natur des ächten italieniſchen
Landvolks, ſeine Würde in der Naturnachläßigkeit, die racemäßig ſchöne
Form und edle Bewegung, woraus ein Gefühl und Nachklang der al-
ten Größe Roms ſpricht; dieſe Bauern, Fiſcher, Winzer gehaben ſich
ſo natürlich heldenmäßig, daß in jedem ein Cincinnatus zu ſchlummern
ſcheint, den man nur vom Pfluge zur Herrſchaft und Heeresleitung holen
dürfte. Es iſt Sittenbild mit hiſtoriſchem Geiſte geſchwängert. Dieſe
Behandlung bleibt jedoch ganz in den Grenzen des Kunſtzweigs: die
Geſtalten ſind nicht dem Stoffe nach geſchichtlich, ihr Thun ein anſpruchloſes,
gewöhnliches Tagewerk, freilich ehrwürdig an ſich wie alle Urbeſchäftigung
des Menſchen, ihre Freude ein Jubel, der gemeſſen und würdig bleibt
und mit geringer Zurüſtung glücklich iſt (die tiefe Poeſie der ächten Kinder-
freude und der „von geringem Trank begeiſterten“ Cikade), ihr Daſein
namenlos, das heldenhaft Geſchichtliche bleibt bloße Fähigkeit, Möglichkeit,
„Grundlage“ (§. 702 Anm.). Schwerer iſt es, die formloſere Menſchen-
race ſo zu behandeln, doch iſt unter der Hand des Rubens ſelbſt eine
niederländiſche Bauernkirchweih in das ſtylvoll Große gewachſen, und es
ſchlummert auch im norddeutſchen Bauern und Seemann, im Flözer des
Schwarzwalds ein Nibelungen-Recke, der nur auf den rechten Pinſel
wartet. Sollen die höheren Stände in dieſer plaſtiſchen Großheit aufgefaßt
werden, ſo iſt eine Bildung vorausgeſetzt, worin die Natur veredelt, nicht ab-
gerieben wird, und ein Luxus, deſſen Formen großartig, ſchwungvoll ſind:
die Venetianer, ein Paolo Veroneſe vor Allen, bleiben hierin Vorbild. —
Dieſer Styl wird ſich nun aber in ſeiner plaſtiſchen Auffaſſung beſonders
gern auch auf die Schönheit der Geſtalt an ſich, natürlich nicht ohne
[673] Ausdruck, aber doch ohne ſpezifiſch bedeutenden Ausdruck werfen, und
daher mit Vorliebe das Nackte behandeln; indem er nun, je weniger es
hier um beſtimmten geiſtigen Inhalt, anziehende Beſonderheit, Eigenheit
der Individualität zu thun iſt, deſto mehr die Geſtalt an ſich ideal erhöhen
muß, ſo iſt er es beſonders, der die mythiſchen Stoffe, vorzüglich die
claſſiſchen, liebt, wie dieß zu §. 695, 2. an Titians Beiſpiel gezeigt iſt.
Als mit der neuen humaniſtiſchen Bildung dem gelichteten Geiſte die
Schönheit der Welt, des Sinnenlebens aufgieng, warf ſich die Kunſt mit
der Wärme des innerlich gewordenen Lebens auf die Geſtalten des Olymp
und durchglühte mit neuem Feuer die kalten Marmorgebilde des Alterthums.
Raphael malte die Galatea, den Mythus von Amor und Pſyche, M. Angelo
die Venus und Leda, Correggio ſeine üppige Leda, Danae, Jo, die
Venetianer mit ihrem feſtlich ſinnenfrohen Geiſte folgten. Zauber der Farbe
und des Helldunkels ſtehen nicht in Widerſpruch mit der Natur des plaſti-
ſchen Styls, denn ſie werden hier noch nicht in der ſtreng maleriſchen
Richtung verwendet, wo ſie dienen, die Härten der Beſonderheit und
Individualität mit dem Accente des geiſtigen Lichts zu übergießen. Dieß
thut dann der entgegengeſetzte Styl, den wir nicht weiter zu ſchildern
brauchen. — Hervorzuheben iſt noch, wie ſich dieſe Gegenſätze mit dem
Unterſchiede des Materials in Beziehung ſetzen. Daß das plaſtiſch be-
handelte Sittenbild wie zur größeren Dimenſion, ſo zur Freske geeignet iſt,
haben wir ſchon zu §. 661, 2. ausgeſprochen. Das ächt maleriſch aufgefaßte
iſt durch die Natur der Sache auf kleineren Maaßſtab angewieſen (ſ. ebenda)
und ſo der eigentliche Hauptgegenſtand der Kabinets-Malerei. Was
aber die techniſche Behandlung betrifft, ſo iſt im Unterſchiede der Stoffe
auch ein weiterer Unterſchied in der Behandlung des in die Fülle des
realen Scheins hineinführenden Materials der Oelfarbe begründet: für das
rohere Treiben der gröberen Stände der kecke, leichte, geiſtreiche, für die
Sphäre der feineren Sitte und des tieferen Seelenlebens der ſorgfältige,
zarte, feine in das Einzelne gehende Pinſel (vergl. Schnaaſe a. a. O. S. 82.)
Die ſinnige Art der Belauſchung trägt ſich in dieſer zweiten Form vom
Menſchen auch auf das Umgebende über (vergl. §. 704, 2.) Der künſtleriſche
Diebſtahl an den Geheimniſſen der Naturſtoffe, der Glanzlichter von Metall,
Glas, Sammt, Atlas u. ſ. w. iſt der natürliche Reflex des Diebſtahls
am Menſchen, den Dingen wird wie der Menſchenſeele ihr Eigenſtes
entführt und im künſtleriſchen Scheine wieder herausgegeben.


§. 707.

Das Sittenbild verknüpft ſich in mannigfachen Uebergängen mit der Land-
ſchaft und dem Thierſtück, aber auch hier ſoll die Verbindung eine ſolche ſein,
[674] daß kein Zweifel über die eigentliche Gattung entſteht, ſowie nach der andern
Seite ein unklares Schwanken zwiſchen reinem und geſchichtlichem Sittenbilde
zu verwerfen iſt.


Was die Verbindung des Sittenbilds mit der Landſchaft und der
Thierdarſtellung betrifft, ſo iſt der Satz des §. ſchon erläutert durch die
Bemerkungen über Staffage §. 698, 2., über die Selbſtändigkeit des
Thierſtücks §. 701, 1. Ph. Wouvermann hat es vorzüglich geliebt, die
drei Stoffe zu verbinden, allein wo er ein Sittenbild geben will, iſt doch
Landſchaft und Thier, die erſtere dadurch, daß ſie für ſich kein ganzes
Bild gäbe, das letztere dadurch, daß ſein Charakter ganz im Sinne
der Eingewöhnung in menſchlichen Dienſt gehalten iſt, ſo behandelt, daß
wir über den wahren Mittelpunct nicht im Dunkel ſein können. Sehen
wir nun nach dem Geſchichtlichen hinüber, ſo iſt die berechtigte Form der
Verbindung, das geſchichtliche Sittenbild, ſchon beleuchtet; wir werden
umgekehrt auch ein ſittenbildlich behandeltes Geſchichtsbild als ganz be-
rechtigte Gattung finden. Es gibt aber eine unklare Miſchung, die darin
beſteht, daß ein Vorgang in einer Weiſe behandelt iſt, welche durchaus
zu der Meinung veranlaßt, es müſſe hier etwas Geſchichtliches vorliegen,
während dieß doch nicht der Fall iſt: man fragt nach Namen und Datum
und erhält keine Antwort. So befand ſich auf der Kunſtausſtellung zu
Berlin 1852 ein Sittenbild von Leſſing: wehrhafte Gebirgsmänner in
der Tracht am Ausgang des Mittelalters, von Felſen herab auf Ritter in
einem Engpaß ſchießend, ein Gefangener in vornehmer Kleidung unter
ihnen; alles ſo auffallend porträtartig, bei vortrefflicher Ausführung ſo
local und ſpeziell intereſſant behandelt, daß man durchaus meinte, im
Katalog die Angabe einer beſtimmten Begebenheit leſen zu müſſen; das
Bild wirkte bei allem Werth aus dieſem Grunde beunruhigend.


γ. Das geſchichtliche Bild.


§. 708.

Auf dem Uebergang zu dieſem Gebiete ſteht das Bildniß. Die Ab-
hängigkeit dieſes Zweigs von empiriſchen Bedingungen verhindert nicht, daß
derſelbe nach der einen Seite dem Sittenbilde reichen Stoff zuführe, nach der
andern als bedeutungsvolle Vorarbeit und Grundlage der geſchichtlichen Malerei
vorausgehe und in gewiſſem Sinn an die Stelle der Götterſtatue trete.


Die Porträtmalerei iſt ein zwiſchen ächter, freier Kunſt und unfreiem
Dienſte ſchwankendes Gebiet. Der Zufall bringt neben der bedeutenden
[675] die unbedeutende Phyſiognomie, der Künſtler, mag er ſich auch nur neben-
her mit dieſem Zweige beſchäftigen, iſt ſelten in der Lage, frei zu wählen;
in Koſtüm und Situation iſt er nicht unabhängig von Eitelkeit, Laune,
Grille. In der modernen Zeit kommt hiezu die allgemeine Ungunſt der
herrſchenden Verwaſchenheit des Charakter-Ausdrucks, der flachen Kürze
der Manieren, der höchſt ungünſtigen Tracht. Dennoch kann ein Zweig
nicht unbedeutend ſein, der aus der Grund-Tendenz der Malerei
buchſtäblich Ernſt macht. Dieſe geht ja auf die Individualität, das
Hereinſtellen aller Erfindung in die volle Bedingtheit des räumlichen
und zeitlichen Puncts. Es iſt ein haarſcharfes Fingerzeigen auf Dieſen
und Dieſe; im Porträt geſchieht dieß genau im wörtlichen Sinne.
Freilich zu genau, denn in den andern Zweigen wird das Porträtartige
ebenſoſehr wieder in das Allgemeine gezogen durch die Aufgabe, das
Individuum in eine gegebene Situation oder Handlung und deren ideellen
Gehalt als völlig entſprechendes Glied einzureihen, und das Geheimniß
liegt gerade in der tiefen Mitte zwiſchen dieſer Verallgemeinerung und der
Schärfe der Einzelheit. Im Porträt aber will ein empiriſcher Menſch
vor allen Dingen getroffen ſein, dieß bleibt immer der urſprüngliche, der
nächſte Zweck. Zu dieſem Zwecke ſitzt die Perſon; das freie Künſtleriſche
iſt dadurch in beſondere Bedingungen gebannt, das Maaß der freien
Umbildung des Stoffs wird fraglich. Daher pflegt denn hier die Aufgabe
der Idealiſirung noch beſonders zur Sprache zu kommen, als ob ſie nicht
in der allgemeinen Lehre von der Phantaſie, der Kunſt und dem Weſen
der einzelnen Kunſt ſchon erörtert ſein müßte und die Anwendung auf
den beſondern Zweig ſich von ſelbſt verſtünde. Und allerdings beſteht ſie
in ganzer Kraft trotz jenen erſchwerenden Bedingungen; nicht das In-
dividuum wie es geht und ſteht, ſondern nur ſein geläutertes Bild, die
reine Form ſeines wahren Selbſt iſt werth, durch die verewigende Kunſt
dem Ahnenſaal übergeben zu werden. Der Künſtler darf daher vom An-
ſchauen des ihm ſitzenden und in dieſem Zuſtand halb ſchläfrigen, halb
geſpannten, oft affectirten Originals ſich nicht zu einer mechaniſchen Natur-
nachahmung verführen laſſen, nicht vergeſſen, daß er in der Sitzung
ſelbſt ſein Original durch Geſpräch beleben und aus der Reihe der
Momente dieſer Belebung, wozu er überdieß eine hinreichende unbemerkte
Beobachtung außer den Sitzſtunden ziehen muß, den wahren, weſentlichen
Ausdruck mit Ausſcheidung der blos zufälligen, bedeutungsloſen Züge
und Formen durch jene dynamiſche Diviſion der Phantaſie (vergl. §. 396)
herausleſen und ſo die Perſönlichkeit im Vollgewichte ihres Charakter-
Centrums, belauſcht in ihrem unbewußten Weben, Sein und Wurzeln
hinſtellen ſoll. Zufälle, die doch bleibend ſich feſtgeſetzt, wie z. B. Schielen,
bereiten freilich die gröbſten Schwierigkeiten und es braucht hier eine Art
[676] von künſtleriſcher Liſt, den Ausweg zu finden. Die wahre Idealiſirung,
welche trifft und doch verewigt, hat zu ihren Seiten zwei Extreme: das eine
iſt jene geiſtloſe Copie, das andere die verkehrte Art der Idealiſirung,
das Schmeicheln. Das erſtere Extrem ſtellt ſich rein mechaniſch, höchſt
belehrend über den Unwerth der bloßen Nachahmung, im Daguerrotyp
dar. Hier ſieht man, daß die gemeine Wahrheit die volle Unwahrheit
iſt, denn das mit allen kleinſten Formen, zudem ohne die löſende, ver-
ſchmelzende Farbe, im langweiligen, ſtieren Moment des Blickens in das
volle Licht wahllos von der Maſchine ausgeführte Geſicht iſt gerade nicht
das wahre. Das Schmeicheln dagegen rundet zu glatter Süßigkeit, zur
flachen Schönheit der Geſichter eines Modejournals die Energie der
eigenthümlichen Formen ab, die den individuellen Charakter zu dem machen,
was er iſt.


Der Zufall wird nun allerdings dem Künſtler eine Menge von In-
dividuen vor die Staffelei ſtellen, in denen der Lichtpunct des Ewigen
kaum wie ein matter Strahl aus dem Nebel der Leerheit oder Unſchönheit
hervorſchimmert. Dieß ſind denn freilich Nieten für die reine Kunſt, ihre
Bildniſſe haben rein ſubjectiven Werth für die Beſitzer. Geht Form und
Ausdruck nur etwas über das Bedeutungsloſe hinaus, ſo nähern ſie ſich
dagegen dem erſten der zwei Gebiete, die wir nun unterſcheiden. Der
edlere Stoff, der uns nach dieſer Ausſcheidung übrig bleibt, geht nämlich
klar nach zwei Seiten auseinander und dieß begründet die Stellung der
Porträt-Malerei auf dem Uebergange zwiſchen dem Sitten- und dem ge-
ſchichtlichen Bilde. Die Darſtellungen nämlich, welche uns Perſönlichkeiten
vorführen, in welchen Temperament, Begabung, Charakter, Stand zwar
natürlich individuell, doch nicht bis zu der vollen Energie derjenigen Indi-
vidualität ſich ausprägt, welcher man anſieht, daß ſie verdient hat, ge-
ſchichtlich zu werden, oder von welcher man weiß, daß ſie es geworden,
fallen hinüber in das Gebiet des Sittenbilds. Hier iſt es gleichgültig,
ob man den Namen weiß: wir ſehen einen tüchtigen Staatsmann, Sol-
daten, Bürgermeiſter, Künſtler, Kaufmann u. ſ. w., aber wir fragen nicht
weiter nach dem Individuum, weil es mehr nach einem allgemeinen Typus,
als danach ausſieht, daß es durch entſcheidende Leiſtungen ſich in das
Licht des Gedächtniſſes der Menſchen herausgehoben habe. Das Bildniß von
geſchichtlichem Charakter dagegen ſpricht in jedem Zuge aus, daß ſich das
Allgemeine in ihm zu jener Spitze der Einzelheit zuſammenfaßt, die der
Perſönlichkeit monumentale Bedeutung gibt, es gemahnt an die ewige
Bewegung der Idee, welche die großen Organe, durch die ſie ſich ver-
wirklicht, zwar kommen und verſchwinden läßt, aber im unendlichen Fort-
gang die Summe ihrer Wirkungen treu bewahrt und ihr verklärtes Selbſt
im Strome der Zeit, in der Erinnerung der Menſchen verewigt mit ſich
[677] fortführt. Es ſteht vor uns wie eine geſchloſſene Welt, wir ſchließen dieſe
Welt auf, wir beleben in der Phantaſie die ruhende Form und feſtge-
wordene Einzelheit, umgeben ſie mit den Zeitgenoſſen, ſetzen ſie in Hand-
lung. Der Künſtler wird ebendieß ein andermal in wirklicher Ausführung
thun und ſo iſt das Porträt der Bauſtein zur geſchichtlichen Malerei.
In doppeltem Sinne: es dient dem Künſtler als Studie für das geſchicht-
liche Bild, gleichgültig, ob dieſelbe Perſon darin auftrete, er lernt daran
das Ewige des Menſchen und doch zugleich die ganze Naturlebendigkeit,
die ſcharfe Spitze der Individualität auffaſſen; er verwendet aber auch
wirklich das einzelne Bildniß, ſei es ſein eigenes Werk oder das eines
frühern Künſtlers, als Glied einer hiſtoriſchen Compoſition. Vollzieht
er aber den Fortgang zum geſchichtlichen Bild auch nicht wirklich, ſo
werden, wenn der hiſtoriſche Geiſt in ihm lebendig iſt, ſeine Bilder uns
doch zu jener Belebung nöthigen, ſie werden erſcheinen, als wollten ſie
ſo eben aus dem Rahmen treten und handeln; ſomit führt er jedenfalls
den Zuſchauer an die Schwelle des geſchichtlichen Bildes. An keinem
Künſtler leuchtet dieſe tiefe Bedeutung der Porträtmalerei ſo ſchlagend
ein, als an Hans Holbein dem Jüngſten. Dieſer große Geiſt ergreift
mit ſeinem Falkenauge das Sittenbild, aber es kann ſich neben dem my-
thiſchen noch nicht als ſelbſtändiger Zweig entfalten und es iſt ihm auch
zu klein für die Größe ſeiner Künſtler-Organe; das rein geſchichtliche
Bild aber kann in der inconſequenten Geiſtes-Kriſe der Reformation
ebenfalls noch nicht zur Selbſtändigkeit heraus, er faßt es gewaltig an,
beſonders in den Gemälden des Rathhauſes in Baſel, aber ihn ſtützt und
trägt die Zeit nicht, die äußern Verhältniſſe kommen hinzu, denn der
Künſtler will leben, ſie drängen ihn nach England und hier, zur höchſten
Reife gediehen, beſchränkt er ſich (ein Ceremonienbild ausgenommen) auf
das Bildniß, tränkt und ſchwängert es aber ſo ganz mit dem Marke des
hiſtoriſchen Geiſtes, der zugleich ganz Fleiſch wird im Individuum, daß
in dieſen Werken die Geſchichte ſelbſt athmet und lebt, daß das einzelne
Bildniß vor uns aufthaut, die ſprechenden Lippen mit den fein beredten
Mundwinkeln öffnet, mit den hingeſchiedenen Zeitgenoſſen zuſammentritt
und gegenwärtig wie im Drama das Schauſpiel erneuert, deſſen Vorhang
längſt gefallen iſt. Wir führen nur dieſen Künſtler ausdrücklich an, weil
er für das hier beſprochene Verhältniß der Bildnißmalerei ſo beſonders
belehrend iſt, und verzichten ungern auf eine Charakeriſtik der verſchiede-
nen Weiſen, in welchen die großen Maler Italiens, die Florentiner,
Raphael, die Venetianer, die Deutſchen des ſechzehnten Jahrhunderts, die
Belgier Rubens und van Dyk, Rembrandt und andere holländiſche Mei-
ſter, die Spanier jene Aufgabe erfaßt und erfüllt haben, das Bleibende,
[678] Allgemeine, Ewige und den naturwarmen Blick des gegenwärtigen, ath-
menden Judividuums ineinander zu ſchmelzen.


Auch das Gebiet des Bildniſſes wird von einigen der Theilungs-Linien
durchſchnitten, die wir durch die andern Zweige gezogen haben. Wichtig
iſt vor Allem der Moment: unbewegte, ſtatuariſche Ruhe, bewegtere Si-
tuation vom ſpannungsloſen Geſchäfte (z. B. Leſen, Schreiben) oder nai-
ver Nachläſſigkeit (wie Raphaels herrlicher blonder Jüngling in Paris,
der den Kopf in die Hand ſtützt) anſteigend zur bewegteren, empfundneren,
die nur nie bis zur dramatiſchen, wie zu einer entſcheidenden Handlung
geſpannten fortgehen darf. Das beſte Bildniß bleibt doch immer das
einfach ruhige. Der prahleriſche, Effekt haſchende, auffahrende Wurf
nach dem Zuſchauer iſt hier doppelt widerlich, weil er auch ſtoffartig
gegen die Eitelkeit und Affectation einnimmt. Kleine, zufällige Bewegun-
gen ſollen nicht von der Art ſein, daß man den Eindruck hat, es ſei
ſchwer, darin zu verweilen. — Mit dem Unterſchiede der Situation hängt
nun natürlich der Grad des Umfangs auch hier auf’s Engſte zuſammen.
Zunächſt iſt zu bemerken, daß, wie die Statue (§. 632), ſo und noch viel
mehr auch das Porträt, ſelbſt das von mehreren Figuren, ſich auf einen
Theil der Geſtalt beſchränken kann: Bruſtbild, Knieſtück u. ſ. w. Es
wird dieß ſogar gewöhnlich vorgezogen werden, ein natürliches Ergebniß
davon, daß hier nur die vorzüglich ſprechenden Theile wirken ſollen; es
bedarf einer etwas belebteren Situation mit ausführlicherer Darſtellung
des Umgebenden, überdieß gewiſſer Formen der Tracht, welche die Bildung
des Beins für das Auge beleben, um die ganze Figur zu rechtfertigen.
Wir führen hier gelegentlich an, daß auch das Sittenbild und die Ge-
ſchichtsmalerei halbe Figur vorziehen kann, wenn Moment und Ausdruck
die über den ganzen Köper ergoſſene Mimik nicht weſentlich fordert. —
Es geht nun auch die Bildnißmalerei dem Grade des Umfangs nach
von der einzelnen Figur zur Gruppe von zwei, drei Perſonen, ja zu
größeren, insbeſondere Familiengruppen, fort und ebenſo gibt ſie als Grund
bald nur einen Farbenton, ein Helldunkel, bald Landſchaft, Zimmer mit
Geräthen, wohl auch mit einem Hausthiere. Wie das Alles mit dem
Unterſchiede des gewählten Moments ſich verbindet, ſich gegenſeitig bedingt,
wäre intereſſant zu verfolgen; hier aber iſt die Betrachtung abzuſchließen
mit der Unterſcheidung des Stylbilds und Stimmungsbilds. Es iſt klar,
daß dieſer Gegenſatz in dem Gebiete der Bildnißmalerei ſchwächer auf-
treten wird, als in den andern Zweigen, weil der ächt maleriſche Styl
mit ſeiner ſpezialiſirenden, bewegteren, mehr lyriſchen, mit vollen Mitteln
der Farbe wirkenden Auffaſſung und Ausführung hier recht in ſeinem
Element iſt. Dennoch iſt der Spielraum groß genug, dem höheren Sty-
liſiren, der Herrſchaft der Form und der Wirkung der weſentlichen Grund-
[679] züge des Charakters mit ſtrengerer Ausſcheidung des Zufälligen und Ein-
zelnen eine Bahn zu öffnen. Das Stylbild ſtellt mit epiſcher Ruhe die
einzelne Geſtalt in gediegener Objectivität hin, monumental, der Statue
verwandt. Sie erhält dadurch etwas Götter-artiges und es gilt auch hier,
was zu §. 646 bemerkt iſt: „Die Geſchichte erſetzt, ſo weit ſie kann, den
Mythus, der geſchichtliche Held den ſagenhaften, die Fülle großer Menſchen
den Gott, der ſeinen Geiſt über ſie ausgegoſſen.“ Die einfachen, ſtrengen,
unbewegten Bilder der älteren Italiener und Deutſchen gemahnen wie
erzgegoſſene Büſten. Die reife Kunſt hat in der Blüthezeit am Schluß
des fünfzehnten und Anfang des ſechzehnten Jahrhunderts die ehernen
Züge maleriſch belebt, aber die monumentale Großheit bewahrt. — Daß
der plaſtiſch auffaſſende Styl auch hier vorzüglich mit der Wandmalerei
ſich verbindet, erhellt von ſelbſt.


§. 709.

Die geſchichtliche Malerei erfaßt als ihren Stoff das allgemein1.
Menſchliche in der Concretion der entſcheidenden, mit Namen, Ort und Zeit
in das Gedächtniß der Nachwelt eingeſchriebenen Handlung und iſt daher
im Weſentlichen dramatiſch. Vor ihr liegt alſo das große Gebiet der ge-
2.
ſchichtlichen Schönheit (§. 341—378) ausgebreitet und den erſten Eintheilungs-
grund bildet auch hier, wiewohl nicht in gebräuchlicher Anwendung, der Stoff:
zunächſt der Unterſchied der Zeiten, Völker, der geſchichtlichen Idee. Das
Mittelalter und die folgenden Jahrhunderte ſind maleriſcher, als das Alter-
thum, das aber dennoch einen reichen Schatz von Motiven enthält; die neuere
Geſchichte bietet große Schwierigkeit durch die Ungunſt der Culturformen.
Zum rein geſchichtlichen Stoffe tritt die Heldenſage, und daran ſchließt ſich
als weitere Quelle die Dichtkunſt.


1. Das Weſentliche des Grundbegriffs iſt zum Zwecke richtiger Un-
terſcheidung ſchon bei dem Sittenbilde zur Sprache gekommen. Die ge-
ſchichtliche Malerei behandelt dieſelben allgemeinen Gattungskräfte wie die
Sitten-Malerei, aber in der bezeichneten Zuſammenfaſſung und Anſpan-
nung zu der in die Ueberlieferung ſich eingrabenden That. Das Weſen
des Dramatiſchen iſt in §. 684 noch nicht in ſeiner ganzen Schärfe be-
ſtimmt, ſondern nur ſo weit angedeutet, als es dort nöthig war. Doch
erſieht man ſchon aus jenen erſten Strichen zur Bezeichnung deſſelben,
wie aus dem äußerlichen Momente, daß ſich hier eine Handlung vor unſern
Augen gegenwärtig erzeugt, eine Darſtellung hervorgeht, welche die
Geſchichte auffaßt als eine Bewegung, deren Grundhebel im Innern liegt;
die Gegenwärtigkeit iſt Erſchließung des Innern vor unſern Augen, die
[680] Welt wird von innen beſtimmt, der Wille ſpannt ſich zur ſtraffen, ent-
ſcheidenden That; die That ſetzt aber immer einen Boden voraus, wo
Andere anders wollen und anders handeln, alſo einen Zuſtand, worin
weltbeſtimmende Prinzipien bereit ſind, in Conflict zu treten, und ſie eben
iſt es, die dieſen Conflict hervorruft. Wir haben jedoch ebendort bereits
gezeigt, daß die Malerei als eine zwar dem Ausdruck nach bewegte, der
wirklichen Grundform nach aber an den Raum gefeſſelte, ſprachloſe Kunſt,
obwohl ſie zu dem Dramatiſchen mehr, als die Sculptur, berufen ſei,
dennoch dieſen feurigeren Geiſt in der beruhigenden Fluth des Epiſchen
kühlen müſſe (vergl. auch Hotho a. a. O. Vorl. 7). Spezieller ſahen
wir die dramatiſche Bewegung gehemmt durch das Gewicht der Mitauf-
nahme der Umgebung, der hiedurch bedingten Ausführlichkeit in der Dar-
ſtellung von Culturformen u. ſ. w., eines Gebiets, das der ſcharf durch-
ſchneidenden Natur der aus innern Tiefen ſteigenden Handlung noth-
wendig den Raum verengt. Dieſe Schwierigkeiten hindern jedoch nicht,
daß in der Malerei ein Zweig ſich bilde, der in Vergleichung mit den
andern, alſo relativ, dramatiſch iſt; nur werden wir allerdings ſogleich
ſehen, daß auch das durch die Natur der Kunſtform alſo beſchränkte Dra-
matiſche ſich nur auf einem Umwege, worin das Epiſche mit ſeiner Breite
noch einmal, dann auch das Lyriſche wieder hervortritt, zu Leben und
Recht gelangt.


2. Daß der Hauptſtoff aller geſchichtlichen Darſtellung die großen
Momente, die Silberblicke ſind, worin die Seele der Geſchichte, die Frei-
heit, die zur concreten Verwirklichung ringt, heller durchbricht, wo dieſer
ihr Nerv ſich blos legt, iſt ſchon zu §. 341 geſagt, der jene Darſtellung
der geſchichtlichen Schönheit eröffnet, wodurch wir der Kunſtlehre umfaſſend
vorgearbeitet haben. Es ſind demnach vorzüglich die Kriſen der Geſchichte,
die Kämpfe nach innen und außen, insbeſondere die Revolutionen, nach
welchen der Geſchichtsmaler [greift]. Natürlich ſteht ihm auch frei, die
Seitenverzweigungen der Geſchichte, ihre untergeordneteren, weniger be-
rühmten Gruppen zu erfaſſen, die Privatſchickſale ſind nicht ausgeſchloſſen,
wenn ſie nur mit dem geſchichtlich Bedeutenden in Zuſammenhang ſtehen,
und ein Ulrich Hutten bei Eraſmus in Baſel und von ihm abgewichen
iſt ein im beſten Sinn hiſtoriſcher Stoff. Nur was dem von der Sonne
der Ueberlieferung matter beſchienenen, von der Cultur entfernten Boden
angehört, daher auch nicht geläufig iſt und zu viel belehrende Notiz
vorausſetzt, muß der Geſchichtsmaler liegen laſſen.


Die verſchiedenen Sphären des Stoffes an ſich haben auch hier ſich
nicht zu einer ſtehend gewordenen Eintheilung fixirt, aber es muß, wie in
den andern Zweigen, von der Wiſſenſchaft ein unterſcheidender Blick dar-
über hingeworfen werden. Ueberſchaut man nun jenen, im erſten Abſchnitt
[681] des zweiten Theils in großen Strichen gezeichneten Schauplatz mit dem
Maaßſtab in der Hand, den die Lehre vom Weſen der Malerei gegeben
hat, ſo erhellt, daß die Stoffe der alten Geſchichte weniger maleriſch ſind,
als die der mittleren und neueren Zeit bis zum Eintritte der ganz un-
günſtigen Culturformen. Wir mußten dieß auch ſchon mehrmals ſo be-
ſtimmt ausſprechen, daß gerade an dieſer Stelle die Erörterung reif iſt,
um den Satz wieder zu beſchränken. Der Orient iſt deſpotiſch, ſtabil,
aber er hat ſeine Kämpfe, ſeine Revolutionen und Kriege, ſeine tragiſchen
Einzelſchickſale, dazu ſind ſeine Culturformen mehr maleriſch, als die claſ-
ſiſchen. Schon dieſe Fundgrube iſt lange nicht erſchöpft, ein Herodot, die
hebräiſche National-Literatur und andere Quellen ſind noch unendlich reich
an ungehobenen Schätzen. Da wir die Kenntniß der alten Culturformen
des Orients jetzt aus reichlichen Anſchauungsmitteln ſchöpfen und auch
in den gegenwärtigen und zugänglichen noch Vieles von jenen ſich erhal-
ten hat, ſo iſt die Thüre zu dieſem glänzenden Stoffgebiete weit aufgethan.
Aber auch die griechiſche und römiſche Geſchichte läßt ſich trotz dem pla-
ſtiſchen Charakter der Formen recht wohl im bewegten maleriſchen Geiſt
auffaſſen. Nachdem die David’ſche Schule in akademiſch correcter, theatra-
liſch pathetiſcher, die deutſchen Reformatoren, ein Karſtens und Wächter,
in ſchlicht großem, aber zu plaſtiſchem und allegoriſirendem Styl dieſe
Stoffe ergriffen haben, warf ſich der Zug des ächt maleriſchen Sinns mit
Recht auf die mittelalterlichen, dann die neueren Stoffe, aber geſichert
durch die Frucht dieſer Richtung dürfte die Kunſt nunmehr einſehen, daß
ſie in der Oppoſitionsſtellung jener claſſiſchen Welt auch Unrecht gethan
und ſich eine Fülle der großartigſten Motive verſchüttet hat. Wächter
mit ſeinem ſchlafenden Sokrates, ſeinem Julius Cäſar auf den Ruinen
Troja’s, Hetſch mit ſeinem Papirius Curſor und Marius auf den Trüm-
mern von Karthago hatten doch ganz würdig, dieſer weniger groß, aber
in maleriſch wärmerer Behandlung begonnen; die Stoffnoth, in der ſo
mancher tüchtige Künſtler ſeufzt, iſt lächerlich neben dieſer friſchen, grünen
Weide ringsherum. Wir haben im genannten Abſchnitt reiche Finger-
zeige zu gewaltigen Stoffen gegeben. Derſelbe erſpart uns auch eine
weitere Ausführung über die Epochen der Geſchichte, die an ſich mehr
maleriſch ſind. Das ſechzehnte Jahrhundert iſt beſonders günſtig, weil
es dem Geiſte nach der Aufgang der modernen Zeit iſt, ſeine Kämpfe
den unſrigen ſo tief verwandt und ſeine Culturformen ſo phantaſiereich
ſind. Der Inhalt jedes Kunſtwerks ſoll die Herzen und Geiſter im Mit-
telpuncte deſſen ergreifen und erſchüttern, was ſie allgemein menſchlich
und zugleich mit beſonderer Gewalt in der Gegenwart bewegt. Das
Schöne aber, das Geſetz der reinen Form, der Tendenzloſigkeit, der
unbefangenen Bewegung des Künſtlergeiſtes fordert vergangenen Stoff.

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 45
[682]Bei einer ſo tief verwandten Vergangenheit, wie jene Zeitepoche, treffen
denn alle Bedingungen beſonders günſtig zuſammen und die Schwierig-
keit bleibt nur, daß die Ungunſt der umgebenden Culturformen dem Künſt-
ler auch die lebendige Vorſtellung der vergangenen günſtigen erſchwert;
doch dieß iſt zwar eine Schwierigkeit, aber kein völliges Hinderniß
(Guhl a. a. O. S. 85 u. 182 hat eine Aeußerung deſſelben Inhalts
in d. Krit. Gängen Theil 2 S. 29 mißverſtanden). Auch die großen
Stoffe der modernen Zeit, die Momente, wo die Idee mit ſo ſchneidender
Gewalt ihre Furchen gezogen hat, kann ſich der Künſtler durch dieſen
Uebelſtand nicht rauben laſſen. Es iſt insbeſondere der Krieg, der die
phantaſieloſen Formen immer lüftet. Nicht leicht befriedigt ein neueres
Werk der Geſchichtsmalerei alle Anſprüche, die wir an dieſen Zweig ſtel-
len, ſo vollſtändig, wie Leutze’s Ueberfahrt des Washington über den
Delaware. Der kühne Waffenſtreich iſt nicht groß an ſich, aber entſcheidend
genug, um ungeſucht das Schickſal, die Zukunft, die Idee Amerika’s daran
zu knüpfen, die angeſtrengte Fahrt der tapferen Männer durch das
Treibeis ein voller Ausdruck der eiſern entſchloſſenen amerikaniſchen Natur,
die kalte, winterliche Luſt wirkt mit dem Thun und dem unerbittlich wa-
genden Ausdruck der Krieger und Bootsmänner, in deren Mitte der Feld-
herr leicht, ſchlicht und doch lauter Geiſt und Unternehmung, aufgerichtet
ſteht, harmoniſch zuſammen, uns ein Bild zu geben, das durch und durch
ſtraff, adſtringirend, eiſen- und ſtahl-haltig iſt, wie der Charakter Ameri-
ka’s, die Tracht iſt maleriſch nicht beſtechend, aber natürlich und bewegt
genug, um der prunkloſen Größe und Kraft die würdige Hülle zu leihen.


3. Die Heldenſage verſetzt ihre Heroen, mögen es nun in Menſchen
umgewandelte Götter oder aus geſchichtlichen Grundlagen entwickelte Ty-
pen nationaler Charakterzüge ſein, in den, zwar von der Phantaſie ver-
einfachten, Complex der natürlichen und hiſtoriſchen Bedingungen hinein
und gibt ihnen die volle Lebensfähigkeit, die der Maler bedarf. Dieſe
ſagenhaft verklärte Geſchichte bringt den Stoff in idealer Zuſammenziehung
dem Maler ſchon halb verarbeitet entgegen, wie dem Dichter. Mythus
miſcht ſich ein, aber nur nebenher, die Motivirung iſt im Weſentlichen
naturgemäß menſchlich. Cornelius hat ſein Bedeutendſtes, Reinſtes in
deutſcher und griechiſcher Heldenſage, dort nur in Skizzenform, hier in
ausgeführter Freske geleiſtet; Schnorr hat die Stoffe der erſteren in großen
Wandgemälden würdig entfaltet. Die Quelle fließt noch reich und ihre
Motive haben den großen Vortheil, daß ſie den beſonderen Charakter der
Unerſchöpflichkeit in immer neuen Auffaſſungen tragen wie alles Urge-
waltige. — Die Dichtung iſt auch hier (vergl. §. 703 Anm.) nur der
Kürze wegen wie eine Quelle neben den andern hingeſtellt; logiſch ver-
hält es ſich ſo, daß ſowohl die wirkliche Geſchichte, als auch die Helden-
[683] ſage erſt durch den Mund der Dichter gegangen ſein kann, die letztere
meiſt wirklich gegangen iſt, ehe ſie der Künſtler übernimmt; reine Erfin-
dung des Dichters aber muß ihrem Stoff die Lebenskraft und den vollen
Schein gegeben haben, als wäre er Geſchichte, wenn er Inhalt der ge-
ſchichtlichen Malerei ſoll werden können. Einige Winke über die Be-
nützung der Poeſie durch die Malerei gibt die Anm. zu §. 543; §. 683
beſtimmt die Grenzen im Allgemeinen.


§. 710.

Eingreifender und entſcheidender ſind die Unterſchiede, die ſich auf die1.
Wahl des Moments gründen, und an ſie ſchließt ſich der Unterſchied der
Auffaſſungsweiſen der Phantaſie. Die erſte der ſo ſich bildenden For-
men faßt die handelnde Menſchheit in einem zwar geſchichtlichen, aber doch
einem ſolchen Moment auf, worin die Culturform, das Gewohnheitsmäßige,
das Maſſenhafte vorwiegt. Hieher gehört nebſt Anderem das Ceremonien-
bild
und eine Gattung des Schlachtbilds. Dieſe Sphäre iſt im Ganzen als
ſittenbildliche Geſchichtsmalerei zu beſtimmen, der Standpunct innerhalb
des Dramatiſchen der epiſche. Durch die Natur der Sache iſt in vielen
2.
Fällen auch ein bedeutender Antheil der Landſchaft und des eigentlichen Bild-
niſſes motivirt, aber die Verbindung mit dieſen Formen darf ſo wenig, als das
ſtärkere Gewicht des Sittenbildlichen, zu falſcher Miſchung führen.


1. Es beſtätigt ſich nun, was zu §. 709, 1. geſagt iſt: das Dramatiſche
verſenkt ſich zunächſt wieder in das Epiſche. Die genre-artige Hiſtorie, das
Sitten-Geſchichtsbild iſt nicht mit dem geſchichtlichen Sittenbild (§. 703) zu
verwechſeln: dieſes gibt geſchichtlich bekannte Menſchen in einem nicht ge-
ſchichtlichen Momente; das erſtere gibt ſolche in einem geſchichtlichen Momente,
worin aber entweder nicht gehandelt, ſondern nur repräſentirt, oder blos geduldet,
oder zwar gehandelt wird, aber nicht ſo, daß das ſchlechthin Entſcheidende,
der aus der Tiefe entſchließende Geiſt dabei zum Vorſchein kommt: das
Zuſtändliche, Formelle, Gewohnheitsmäßige, Inſtinctmäßige, darum auch
meiſt das Maſſenhafte herrſcht vor; das ſpezifiſche Intereſſe für die Cultur-
formen wird nicht in dem Grade zurückgedrängt, wie im ſtrengen Ge-
ſchichtsbilde. Ein bedeutendes Talent hat neuerdings ſowohl im geſchicht-
lichen Sittenbilde, als auch im ſittenbildlichen Geſchichtsbilde Adolf
Menzel
entwickelt und dabei gezeigt, was ſich auch aus dem Rokoko
machen läßt. — Der §. hebt das Ceremonienbild und eine Art des Schlacht-
bilds heraus. Es wäre noch Manches anzuführen; wir nennen daraus
die Darſtellung politiſcher Verſammlungen, ſofern ſie ohne Aufregung in
ruhiger Repräſentation gefaßt ſind, militäriſche Muſterungen und Märſche,
Wanderungen; der Rückzug aus Rußland z. B. iſt hiſtoriſch, aber kein

45*
[684]Handeln, das Menſchenloos an ſchrecklichem Leiden großer Menſchen-
Maſſen dargeſtellt: dieß iſt epiſches, ſittenbildliches Geſchichtsbild. Die
zwei genannten Formen ſind im Gebrauche geläufiger Unterſcheidung;
das Schlachtbild gehört aber hieher nur, wenn nicht im Mittelpuncte der
Heros mit ſolchem Ausdruck hervortritt, daß die Idee, die innere Bedeu-
tung, der nationale, politiſche Conflict, welcher die Seele des ganzen
Kampfes iſt, in entſcheidender Weiſe aus dem inſtinctmäßigeren, dem in-
nern Conflict fremderen Erweiſen der Tapferkeit in den Maſſen ſichtbar
herausleuchtet. Die neuere Kriegsführung, worin die nationalen, politi-
tiſchen Urheber entweder gar nicht, oder wenn ſie, wie z. B Napoleon,
zugleich die Feldherren ſind, nicht phyſiſch, ſondern nur intellectuell aus
der Ferne leitend am Kampfe Theil nehmen, gibt daher auch in der
hiſtoriſchen Schlacht meiſt nur zu dieſer ſittenbildlichen Gattung den Stoff.
Es iſt ſchwer, in der neueren Geſchichte einen Gegenſtand zu finden, wie
er in der herrlichen Moſaik von Pompeji, der Schlacht bei Iſſus, gegeben
war: hier ſteht der Occident und der Orient, der Jünglings-Heros des
griechiſchen Geiſts und die zuſammenbrechende Herrlichkeit des perſiſchen
Deſpotiſmus im Schlage der vollen Kataſtrophe, im Augenblick der bluti-
gen Kriſe ſich gegenüber: das iſt ächt geſchichtliches Schlachtbild. Die
Uniformität der Ordnung, Kleidung, Kampfesweiſe kommt in der neueren
Zeit hinzu, den nur genreartigen Charakter zu vollenden. Der Krieg hat
allerdings in der neueſten Zeit günſtige Culturformen aufgeſchloſſen, na-
mentlich in Algier, aber da fehlt es an der monumentalen Größe der
Idee überhaupt und in der Erſcheinung am eigentlichen Heros; will man
einen Abdel Kader als ſolchen nehmen, ſo vermißt man ihn doch auf der
andern Seite, denn der franzöſiſche General, ſo geſchickt und tapfer er
ſein mag, iſt doch nicht das, was hier unter jenem Worte verſtanden
wird: poſitiver Träger und Vorfechter einer hiſtoriſchen Idee; die Bilder
H. Vernets, ſo meiſterhaft ſie ſind, ſind doch nicht reine, ſondern ſitten-
bildliche Geſchichtsbilder.


2. Geht die Scene eines ſolchen Bilds im Freien vor ſich, ſo hat
eben wegen des ſittenbildlichen Charakters die Landſchaft große äſthetiſche
Geltung neben dem Vorgang in der Menſchenwelt; geht ſie im geſchloſ-
ſenen Raume vor ſich, ſo intereſſirt der Maler auch für Geräthe, Archi-
tektur u. ſ. w.; in beiden Fällen wird auf Tracht, Umgangsform, Kampfes-
weiſe und dgl. ein Gewicht gelegt, das bei der ſtrengeren Form verſchwin-
den wird. Dieß Gewicht der Culturformen iſt ſchon zu 1. hervorgehoben;
hier iſt außer der Landſchaft noch ein anderer Punct zu erwähnen: es
liegt nämlich in der Natur der Sache, daß der Künſtler in ſolchen ge-
ſchichtlichen Actionen gern eine Zuſammenſtellung von wirklichen Porträts
geben wird. Wir haben alſo jetzt ein Gebiet vor uns, wo das Geſchichts-
[685] bild nicht nur in das Sittenbild, ſondern auch in Landſchaft und Porträt
ſtark hinübergreift; das iſt ganz in der Ordnung, aber es ſollen dieſe
beigezogenen Momente dennoch ſecundär bleiben, ſie ſollen nicht ſo über-
wuchern, daß die Gattung, in welche das Bild gehört, zweifelhaft wird,
denn das Geſetz der Reinhaltung der Sphären (§. 696) beſteht natürlich
auch hier. Vielfach, auch in der neueſten Zeit, hat man gemeint, eine
höhere Einheit von Landſchaft und Hiſtorie ſchaffen zu müſſen; das iſt
verkehrt, die Landſchaft ſoll ſtimmend mitwirken, aber nicht für ſich ſpezi-
fiſch in die Aeſthetik der landſchaftlichen Schönheit abführen; die land-
ſchaftliche Stimmung als Grund- und Haupt-Eindruck eines Kunſtwerks
und das Intereſſe am menſchlichen Schickſal in ſeiner ſpezifiſchen Aus-
drücklichkeit heben einander ein für allemal auf. Das Porträt haben
wir (§. 708) den Bauſtein des Geſchichtsbilds, dieſes das in Bewegung
und Verbindung geſetzte Porträt genannt. Allein es iſt nun entſchieden
auszuſprechen, daß daſſelbe durch dieſe Einfügung in das bewegte Leben
des geſchichtlichen Bilds eine neue beſondere Art der Idealiſirung erfahren
muß, noch verſchieden von derjenigen, die es als Gattung an ſich fordert,
eine freie Umbildung im ſpezifiſch hiſtoriſchen Sinne. Weniger ſcheint
dieß nöthig im bloßen Repräſentationsbilde, denn da werden die Perſonen
in Ruhe dargeſtellt; wo aber Bewegung und Handlung gefordert iſt,
da entſteht, wenn der Maler nur Bildniſſe zuſammenſtellt, ein Repräſen-
tationsbild am falſchen Orte: er kann nicht wagen, die Köpfe und Figuren
in volle Leidenſchaft zu verſetzen, weil er dann die Porträtzüge künſtleriſch
frei verändern müßte. Iſt z. B. der Feldherr und ſein Generalſtab in
einem Schlachtbild eigentliches Porträt, ſo verſchwindet eben hier, im
Mittelpuncte, das Leben der Schlacht, weil in dieſer Gruppe kein Affect
entwickelt werden kann. Der Geſchichtsmaler muß anders ſtyliſiren, als
der Porträtmaler, er muß die gegebene Form als ein Feld behandeln,
worin große Bewegungen ungehemmt ſich ergießen können. Und das iſt
doch auch im ruhigen Repräſentationsbilde nöthig: auch hier dürfen die
Porträts nicht ganz ſo behandelt ſein, wie wenn ſie für ſich als bloße
Bildniſſe vor uns ſtünden; eine gewiſſe Styliſirung iſt auch hier erfordert.
Beſonders reiche, belehrende Beiſpiele liefert zu dem ganzen Inhalte die-
ſes §. die Galerei von Verſailles. Daß endlich der Stärke, welche dieſe
Gattung den Culturformen gönnt, ein Maaß geſetzt iſt, deſſen Ueberſchrei-
tung in das Sittenbild abführt, bedarf keiner weitern Erklärung.


§. 711.

Den Standpunct des Lyriſchen betritt die geſchichtliche Malerei in der
Darſtellung ſubjectiv bewegter Momente, die nicht unmittelbar zur Handlung
[686] geſpannt, vielmehr meiſt als Nachklang einer vorhergegangenen Handlung und
tiefe [Empfindung] des Schickſals erſcheinen. Das Situationsbild im engeren
Sinne dagegen ſtellt ſich zwar auf den Schauplatz der Handlung, ergreift aber
Arten des Thuns oder Lagen aus einer Reihe von Thaten und Schickſalen,
die ihrer Natur nach eine zur Beobachtung des Seelenlebens einladende Dauer
zeigen, wozu figurenreiche Ausdehnung häufig noch eine Verwandtſchaft mit dem
Epiſchen bringt, während das rein Lyriſche ſeiner Natur gemäß ſich in beſchränk-
ter Figurenzahl darſtellt.


Es iſt ein feiner und doch nicht zu überſehender Unterſchied, der die
zwei Formen trennt, welche der §. unterſcheidet. Rein lyriſch iſt, um
auch Beiſpiele aus dem mythiſchen Kreiſe zu nehmen, ſoweit er, wunder-
los aufgefaßt, bleibende, rein menſchliche Stoffe darbietet, — ein Ecce
homo,
eine mater dolorosa, eine reuige Magdalena, trauernde Geſtalten,
wie z. B. jenes tief wehmüthige Bild: Johannes und Maria zum Grabe
Chriſti in der Nacht wandelnd, von Zurbaran, Betende, Andächtige, welche
die heilige Sage nennt. Als Zuſtand des Gemüthes, „pſychologiſch
als Glaube, nicht als Geglaubtes“ (§. 466), gehört ja jedenfalls die
Religion unter die äſthetiſchen Stoffe und zwar unter die geſchichtlichen,
wenn die Perſonen benannt ſind. Es handelt ſich aber von jedem Mo-
ment überhaupt, wo das innerſte Weſen des Menſchen ſich in einer Be-
wegung des Gemüths zuſammenfaßt, aus Blick und Geberde ſpricht, ohne
in ſpannender Weiſe eine reale Veränderung, eine Handlung vorzube-
reiten. Julie, die neben Romeo den Dolch zückt, iſt nicht ein lyriſcher,
ſondern ein dramatiſcher Stoff, aber Julie in unſchuldvoll heißer Erwar-
tung vor der Brautnacht, oder Romeo und Julie ſcheidend nach der
Brautnacht: dieß iſt lyriſcher Stoff. Es leuchtet übrigens ein, daß, da
Empfindungszuſtände, welche entſcheidenden Thaten und Schickſalen un-
mittelbar vorhergehen, meiſt ſchon auf dramatiſche Spannung führen, vor-
züglich die Momente nach ſolchen Entſcheidungen es ſind, die in dieſes rein
pſychologiſch ſubjective Gebiet gehören: ſo Bendemanns trauernde Juden,
Jeremias, Eberh. Wächters Jul. Cäſar am Grabe Hektors in Betrachtung
über Heldengröße und Menſchenloos verloren, oder ein Scipio bei dem
Brande Karthago’s in die bekannten Worte ausbrechend. Die rein lyri-
ſchen Stoffe ſind übrigens im ſtreng geſchichtlichen Gebiete ſelten. Das
Lyriſche gehört weit mehr dem Sittenbilde an, das ſeine Figuren nicht in
die heiße Atmoſphäre der Geſchichte hereinſtellt. Dieſe zeigt immer zu
fühlbar auf Thatſächliches hin, ihr Boden iſt zu ſehr mit Keimen oder
Nachwirkungen realer Entſcheidung geſchwängert, als daß ſie uns geſtat-
tete, lange bei Empfindungszuſtänden zu verweilen. Auch Empfindungsmo-
mente nach bedeutenden Schickſalen weiſen doch meiſt mit zwingender
[687] Stärke wieder auf künftige, wie jener Jul. Cäſar, jener Scipio; ſo iſt
ein Marius auf den Trümmern von Karthago nicht blos ein fühlender,
ſondern auch ein drohender Mann; ein Napoleon nach ſeiner Abdankung
in Fontainebleau (Delaroche) hat zwar keine Thaten mehr vor ſich, aber
all ſein Schickſal ruht auf Thaten, der Boden iſt zu real, um ein ſolches
Bild lyriſch zu nennen. Solchen realen, mit Factiſchem, das bevorſteht oder in die
Gegenwart hereinwirkt, durchſättigten Boden nennt man nun im engeren
Sinne Situation, und wo die Auffaſſung dieſer Seite ſo entſchieden her-
austritt, daß Alles, was Ausdruck des Seelenlebens iſt, unmittelbar als
der innere Reflex der äußern, in ſolcher Lage gegebenen Bedingungen er-
ſcheint, da entſteht das Situationsbild, das auf dem Uebergang zum eigentlich
Dramatiſchen liegt. Von dieſem unterſcheidet es ſich ungleich ſchärfer, als vom
Lyriſchen: es fehlt ihm der Ausdruck unmittelbarer Spannung zur That, die das
Dramatiſche bildet, der Augenblick geſtattet pſychologiſches Verweilen mit nur
entferntem Anklang oder Nachklang von Spannung, aber das Seelenleben,
bei dem wir verweilen, iſt nicht ſo innerlich, nicht ſo ſubjectiv in ſich verſenkt, um
lyriſch zu heißen, ſondern real afficirt, mit Objecten beſchäftigt. Faſſen wir
z. B. Leſſings Huß vor dem Concile zu Conſtanz in’s Auge, ſo leuchtet
zunächſt deutlich der Unterſchied vom dramatiſchen Bild ein. Man er-
wartet nach dieſem Namen den furchtbar ſtürmiſchen, drangvollen Entſchei-
dungsmoment der Verurtheilung im Dome und findet ſtatt deſſen eine
Diſputation des Reformators mit einer ausgewählten Gruppe von hohen
katholiſchen Clerikern, wozu einige charakteriſtiſche Nebenfiguren treten.
Da bereitet ſich wohl das Schickſal des Märtyrers vor und droht deutlich
genug aus den fanatiſchen Köpfen ſeiner Gegner, aber unmittelbar tritt
die Spannung auf dieſen Schickſalsmoment nicht ein, wir verweilen mit
pſychologiſchem Intereſſe bei einer Gruppe wenig bewegter, zunächſt nur
theoretiſch thätiger Charakterfiguren, ſtudiren die verſchiedenen Formen und
Typen des Fanatiſmus und der ihn unterſtützenden Indifferenz gegenüber
dem ſchlichten Wahrheitsſinne des Huß. Der Unterſchied vom Lyriſchen
beſteht aber darin, daß dieſe Perſonen nicht blos empfindend in ſich verſenkt,
daß ſie vielmehr ſichtbar mit Solchem beſchäftigt ſind, was eine furchtbare Hand-
lung und ein furchtbares Leiden vorbereitet. Dieß Beiſpiel erklärt zugleich
den Ausdruck des §.: „Arten des Thuns“. Hieher gehört namentlich
auch die Form des erbauenden Lehrens: die Predigt des Paulus in Athen
von Raphael iſt, obgleich an ſich voll Feuer, ein ſolches pſychologiſches
Situationsbild, ein predigender Johannes, Chriſtus unter gelagertem Volk,
ſo manche ähnliche Stoffe ſind Motive für Situationsbilder. Begeiſtertes
Lehren bewegt die Welt, bedingt Schickſale, aber nicht zunächſt, nicht un-
mittelbar; wir verweilen mit ſpannungsloſerem Intereſſe bei dem Seelen-
Ausdruck. Die Summe des Realen, die ſich dem erſcheinenden Inner-
[688] lichen im Situationsbild anhängt, beſteht ſachgemäß häufig auch, wie dieſe
Beiſpiele zeigen, im Maſſenhaften, in Figuren-Menge. Dieſer ganze
Complex kann epiſch heißen, und es ſcheint ſo, wir werden zu dem ſitten-
bildlichen Geſchichtsbilde zurückgeführt, allein von dieſem unterſcheidet ſich
die jetzt vorliegende Form durch das vorherrſchende pſychiſche Intereſſe.
Gallaits Abdankung Carls V. z. B. wäre Ceremonienbild, wenn ihm
nicht die tiefe Empfindung der Hauptperſonen ſeine Stelle im pſychiſchen
Situationsbild anwieſe. Die Scene hat aber zu viel Reales, um lyriſch
heißen zu können. Leonardo da Vinci’s Abendmahl iſt ein Situations-
bild, eine Kreuzabnahme, eine Beklagung des Leichnams Jeſu iſt mehr
lyriſch.


§. 712.

Am reinſten liegt der Charakter dieſes Zweiges vor in der Darſtellung
der ächt dramatiſchen Momente der vollen Spannung zur entſcheidenden That
oder des wirklichen Ausbruchs oder der Nachwirkung von Thaten, die aber
noch weiteres Erſchütterndes im Schooße birgt oder bereits als gegenwärtig
zeigt. Das Schlachtbild hat auch hier eine Stelle, wiewohl in ihm auch
der ſchärfſte Entſcheidungsmoment ſtark mit dem Epiſchen ſich miſcht.


Das Lyriſche, die Fülle inneren Lebens wird zum Entſchluß, bereitet
drohend die That, führt ſie im Sturme des Conflicts aus, leidet die
Folgen des eigenen Thuns und der Thaten Anderer, doch nicht paſſiv
empfindend, ſondern auf neue Entſcheidungen gefaßt. In §. 684 iſt ge-
ſagt, daß die Malerei vorzüglich den ſpannenden Moment vor der That
liebt, Delaroches Knaben Eduards ſind angeführt, die Scene vor Straffords
Gefängniß, Rembrandts Adolf von Geldern, Leutzes Washington greifen
wir als weitere Beiſpiele aus der Fülle der Kunſtwelt heraus. Zu Scenen
des vollen Ausbruchs zählen wir, von Schlachtbildern noch abgeſehen,
Werke wie Raphaels Ananias, die Vertreibung des Heliodor aus dem
Tempel zu Jeruſalem, Bilder der Gefangennehmung Chriſti, Rubens
Simſon und Delila. Ein Cromwell, den Sarg Carls I. öffnend, eine
Marie Antoinette von Delaroche zeigen Momente nach erſchütternden
Thaten, aber ſie bergen weiteren tragiſchen Verlauf zu ſichtbar und
ſchlagend in ſich, um ſie Situationsbilder zu nennen; Gallaits Egmont
im Gefängniß iſt verurtheilt, am nächſten Morgen ſoll er ſterben; das
Blutige iſt geſchehen auf Gallaits neueſtem Bilde, aber die Situation
weist auf eine Zeit der Vergeltung hinaus, nur freilich ſo ſchwach, daß
dieſes Werk allerdings mehr zur Sphäre des bloßen Situationsbilds ge-
hört. — Das Schlachtbild tritt hier noch einmal vor uns; es iſt drama-
[689] tiſch, wenn es die Spitze der Entſcheidung in einer heroiſchen Hauptgruppe
zeigt; allein es umgibt dieſen Mittelpunct, mag er auch eine ſo ſchneidende
Kriſis darſtellen wie jene Alexanderſchlacht in Pompeji oder Steubens Ent-
ſcheidungsmoment der Schlacht bei Waterloo, doch immer mit einer ſolchen
Maſſe von Figuren, Fülle von phyſiſchen Kräften und Culturformen,
einem ſo dichten Gerüſte äußerer Mittel, daß auch hier das epiſche Ele-
ment in größerer Stärke mitwirkt, als ſonſt in ſtreng dramatiſchen Ge-
ſchichtsbildern, wo das Anhängende, phyſiſch Bedingte und Bedingende
und mit ihm das Maſſenhafte zurückweichen muß, um ganz dem heraus-
brechenden Innern des gewaltigen Willens Platz zu machen. Dieſer Punct
iſt zwar ſchon öfters berührt, nun aber noch ausdrücklich herauszuſtellen.


§. 713.

Dem Grade des Umfangs nach kann ſich das geſchichtliche Bild nicht
auf Hinſtellung einer einzelnen hiſtoriſchen oder ſagenhaften Perſon wie eines
Porträts ohne cykliſche Beziehung oder ohne das Motiv einer beſtimmten Si-
tuation beſchränken. Im Weſentlichen gebietet die Straffheit des Entſcheidungs-
moments mäßige Gruppenbildung; dem dramatiſch geſchichtlichen Gemälde am
reichſten dehnt ſich, im Gegenſatze gegen dieſes und gegen das in Figurenzahl
noch ſparſamere lyriſche Bild (vergl. §. 711), die epiſche Form aus.


Der erſte Satz iſt ſchon zu §. 688 angedeutet. Das porträtartige,
ſituationsloſe Hinſtellen einer einzelnen Figur, das doch nicht Porträt-
zweck hat und nicht auf dem Wege des Porträtirens zu Stande gekommen
iſt, ſondern zur hiſtoriſchen Gattung gehören ſoll, gleicht einem vollen
Hieb in das Leere. Aus jener in §. 708 ausgeſprochenen Wahrheit, daß
das Bildniß des bedeutenden Menſchen einen Eindruck mache, als wolle
es ſich ſo eben zur Handlung erweitern, iſt auf dieſe Weiſe nicht Ernſt
zu machen. Mit eigentlich mythiſchen Figuren iſt es etwas Anderes, ſie
können als abſolute Weſen in einfacher Majeſtät thronen, doch treibt die
Malerei ſo ſtark zum Beziehungsvollen der Situation, daß auch dieß nur
auf alterthümlichem Standpuncte geſchieht. Menſchen, deren Typus
nur durch Ueberlieferung der Sage gegeben iſt oder von denen ſich ohne
dieſe Grundlage der einzelnen Künſtler eben nach ſeiner Weiſe ein Bild
macht, können noch weniger, als ſolche, deren Züge man durch Porträts
kennt, vereinzelt hingeſtellt werden; eine Situation ſoll begründen, warum
die Tradition oder die freie Phantaſie eines Künſtlers die Züge ſo ge-
bildet hat. Leicht entſteht auch der Verdacht, der Maler habe ein Modell
gefunden, das er paſſend Medea, Sakontala u. dgl. taufen und ſo ge-
tauft abſtract hinpflanzen zu können meinte. In jenem Falle, wo man
[690] die Züge durch Porträt wirklich kennt, bleibt doch das erhaltene Bildniß
bloßes Material, das der hiſtoriſche Maler in eine Situation ziehen und,
wie ſchon früher geſagt, zu dieſem Zwecke weiter umbilden muß. Daß
cykliſche Zuſammenſtellung die Sache verändert, iſt zu §. 688 bereits
bemerkt. — Der weitere Inhalt des §. bedarf kaum noch einer Erläuterung;
er faßt zuſammen, was da und dort ſchon ausgeſprochen iſt, und ergänzt
es nach anderer Seite. Der Wille, der die Welt bezwingt und erſchüttert,
ſammelt in wenigen, in den Flügelmännern der Menſchheit, ſeine höchſte
Kraft; es muß Platz ſein, Maſſen von Figuren und Culturformen dürfen
der aus dem Innern frei hervorbrechenden Handlung nicht den Raum
verſperren. Daß dieſe zuſammenziehende Straffheit erſt in der ächt dra-
matiſchen Form des Geſchichtsbildes eintritt, iſt ſchon früher geſagt; ein
Spielraum, worin ſich dieſelbe den mehr epiſchen, naturgemäß maſſen-
haften, Formen nähert, iſt dadurch nicht ausgeſchloſſen; das Schlachtbild
insbeſondere hat uns im vorhergehenden §. daran gemahnt, es führt zu
den größten Ausdehnungen, H. Vernets Ueberfall der Smalah hat 66 Fuß
Länge. Daß dagegen die größte Sparſamkeit dem lyriſch hiſtoriſchen Bilde
eigen ſein muß, iſt ſchon in §. 711 hervorgehoben; daſſelbe wird ſogar
die einzelne, in Situation geſetzte Figur lieben; es geht dieß ein-
leuchtend daraus hervor, daß es die ſubjectivſte Form iſt und den inner-
lichen Zuſtand nicht zur Handlung entfaltet.


§. 714.

1.

Das Erhabene des Subjects und das Tragiſche entwickelt in dieſem
Gebiet erſt den Reichthum ſeiner Formen und verbindet mit ihrer Wirkung die
des objectiv Erhabenen und des einfach Schönen; das Komiſche hat be-
ſchränktere Geltung, kann aber gerade ſeine höchſte Form, den freieren, welt-
2.geſchichtlichen Humor, in ihrer Tiefe entfalten. Der Gegenſatz der Style
offenbart ſich, vereinigt mit dem Unterſchiede des Materials und der Technik,
auf dieſem Boden ungleich voller und ſtärker, als auf dem des Sittenbilds.


1. Es bedarf nur einer Verweiſung auf unſern erſten Theil, wo die
Lehre vom Erhabenen von Fingerzeigen wimmelt, die bereits auf lauter
maleriſche und insbeſondere geſchichtlich maleriſche Stoffe hinweiſen. Das
Tragiſche gehört vornämlich dieſem höchſten Zweig an, der ja, wie wir
geſehen, in ſeiner bedeutendſten Form auf dem Boden großer, realer
Conflicte ſich bewegt. Das Erhabene des Raums, der Zeit (natürlich
an feſten Erſcheinungen ſichtbar), der Kraft wirkt mit, wie große Natur-
erſcheinungen im eigentlichen Drama mitwirken können, das „den Sturm
zu Leidenſchaften wüthen läßt.“ Das einfach Schöne in Zuſammen-
[691] ſtellung mit dem Tragiſchen iſt Hebel der kräftigſten Contraſte, dient als
Folie wie die Blume am Abgrund oder wird in das Tragiſche hineinge-
riſſen — wie Margarete in Göthe’s Fauſt. Die Poſſe, der Witz, die milde
Ironie, der naive Humor des Sittenbilds hat keinen Platz; das Drama
der Geſchichte läßt nur den großartigen Humor zu, der die innere Miß-
geſtalt des Böſen, wie M. Angelo nach Dante in den Teufeln, wie ſo
viele alte Maler in den Phariſäern und Peinigern Chriſti, als äußere
Fratze herauswendet, bei rein hiſtoriſchem Stoff aber in der Selbſtzer-
ſtörung des menſchlich Böſen, dem Fanatismus der Leidenſchaft, dem
Wahnſinn der Parteien, dem Falle menſchlichen Uebermuths Oel in Fülle
findet, ſeine Flamme zu nähren, ſeinem tiefen Gefühl der Widerſprüche
des Lebens ohne jene phantaſtiſche Ausſchweifung Form zu geben. Eine
tiefe Mäßigung iſt immer nöthig, wenn nicht die Caricatur eintreten ſoll,
von der wir ſeines Orts ſprechen werden.


2. Im Sittenbilde iſt der ächt maleriſche Styl naturgemäß im Vor-
rechte der Herrſchaft, der plaſtiſche hat ſich daher auch erſt ſpät entwickelt;
im Geſchichtsbilde verhält es ſich umgekehrt: hier iſt der Beruf des letzteren
voller und unbezweifelter, als in irgend einem Zweige, denn wo es gilt,
die großen geſchichtlichen Momente in monumentalem Geiſte zu verewigen,
da iſt auch ein Verfahren gefordert, das aus dem Umfange des Realen
mit ſtarker Zeichnerhand die weſentlichen Züge heraushebt und diejenigen
ausſcheidet, welche an die ſpecielleren Lebensbedingungen erinnern. Allein der
rein maleriſche Styl iſt darum nichts weniger, als zu untergeordneter Rolle
verwieſen, wie das Naturaliſiren und Individualiſiren in der Bildnerkunſt;
im Gegentheil hat er in der Geſchichtsmalerei erſt ſeinen ganzen Beruf
zu erfüllen, indem er den plaſtiſch auffaſſenden Gegner ſtets auf’s Neue
reizen und mahnen ſoll, daß er ſich mit der Naturwärme und Indivi-
dualität ſättige und ſeiner Neigung zum Mythiſchen und Allegoriſchen
nicht die Zügel laſſe. Es iſt nun dieß natürlich zugleich ein Verhältniß
zwiſchen Freske und Oelmalerei; dieſe zwei Formen der Technik ſind uns
überall als Begleiter jenes Gegenſatzes begegnet, hier aber erreichen ſie
mit ihm ihre ganze Bedeutung, ſie werden geradezu Loſungswörter des
Kampfes der Style. Der Kampf iſt dann allerdings zugleich einſeitige
Blüthe der Hiſtorienmalerei und Reaction gegen dieſelbe; allein dieſe
Seite führt ſchließlich ebendahin, wie der Kampf innerhalb der geſchicht-
lichen Malerei ſelbſt, denn auch vom Sittenbilde und beziehungsweiſe von
der Landſchaft ſoll die plaſtiſche Einſeitigkeit in der Hiſtorie zur innigeren
Durchbildung des realen Scheins ſich leiten laſſen. — Dieß Alles wird
in der Geſchichte der Malerei nun ſeinen Beleg, der Begriff den Körper
finden, der ihn zugleich erläutert, und gerade der Schluß der letzteren wird
auf dieſen Schluß der Lehre von den Zweigen in gerader Linie zurückführen.


[692]

c.
Die Geſchichte der Malerei.


§. 715.


Die Geſchichte der Malerei iſt ein ungleich mächtigerer, dauernderer,
fruchtbarerer Kampf der zwei entgegengeſetzten Stylprinzipien, als die Geſchichte
der Bildnerkunſt. Der Gegenſatz wiederholt ſich in verſchiedenen Wendungen mehr-
fach auf beiden Seiten, jede Verſöhnung fällt wieder auf eine derſelben und
treibt zu neuer Spaltung. Auch in dieſer Kunſt geht die Geſchichte der
Stoffe mit der Geſchichte der Style Hand, und wie der Eintritt des natu-
raliſtrenden und individualiſtrenden Styls, ſo iſt das Aufkommen der urſprüng-
lichen Stoffwelt hier nicht Anfang der Auflöſung, ſondern neuen und volleren
Lebens.


Es iſt zu vergleichen, was in §. 636 über die bewegende Kraft
in der Geſchichte der Sculptur geſagt iſt. Das Prinzip des indirecten
Idealiſirens reicht in dieſer Kunſt zwar hin, bedeutende Schwankungen und
geſchichtliche Veränderungen hervorzubringen, weil das entgegengeſetzte
Prinzip, dem die Oberherrſchaft gehört, ein ſo zartes Richtmaaß der
Schönheitslinie feſtſtellt, daß die feinſte Verſtärkung nach der Seite der
ſchärferen und naturtreueren Charakteriſtik ſchon gefühlt wird, ſchon Be-
wegungen, Gegenſätze hervorruft; allein die Schwäche des Anſpruchs an
Geltung, welcher der letzteren Richtung zukommt, iſt eben zugleich Urſache,
daß wenn dieſelbe auf Grund veränderter Weltanſchauung über die ihr
geſetzte Grenze vordringt, die ganze Kunſt nur noch ein halbgelähmtes Leben
friſtet. In der Malerei dagegen iſt das Prinzip des indirecten Idealiſmus,
das wir im Stylverfahren Naturaliſmus und Individualiſmus nennen, nicht
mit der unbedingten Stärke zur Oberherrſchaft gelangt, wie in der Plaſtik
das entgegengeſetzte; dieſes, das plaſtiſche, iſt trotz ſeiner Unterordnung,
wie wir geſehen haben, ungleich mehr in Kraft, als in der Plaſtik das
andere, das maleriſche, das in ihr zu untergeordneter Stellung verwieſen
iſt, es hat noch volle Mittel, ſich zu behaupten und zu wehren, zwei
gewappnete Gegner ſtehen ſich daher gegenüber, die gerade das gegen-
ſeitige Recht, das Gefühl der Geltung des Gegners auf beiden Seiten,
[693] der Reiz des empfundenen Mangels, das Bewußtſein der geforderten
Verſöhnung und der Widerwille gegen die Opfer, die ſie fordert, zu einem
großen, vollen, langathmigen Kampfe treibt. In §. 676 iſt dieß ſchon
ausgeſprochen und hiemit der innere Hebel, die Seele der Geſchichte unſerer
Kunſt aufgezeigt. Noch hat bis jetzt die Literatur derſelben dieſen rothen
Faden nicht hinreichend in das Licht geſtellt; treffende Gedanken und
Anſätze hiezu enthält die ſinnige Schrift von A. Teichlein: Louis
Gallait und die Malerei in Deutſchland u. ſ. w. Das Tiefe und Schwierige
des Verhältniſſes iſt aber, wie ſich nun zeigen wird, dieß, daß es ſich
nicht um abſtracte Gegenſätze handelt: der plaſtiſche Styl wiederholt den
Kampf mit dem ächt maleriſchen, dieſer den Kampf mit dem plaſtiſchen
innerhalb ſeines Bodens, und auch dieß nicht einfach, ſondern im Kreiſe
ſind wieder Kreiſe, in einer Beziehung iſt das mehr Maleriſche wieder
plaſtiſcher, das mehr Plaſtiſche wieder maleriſcher, als dort das Plaſtiſche,
hier das Maleriſche, wie es eine andere Schule, Nationalität, ein anderer
Meiſter vertritt. Hiemit iſt ſchon geſagt, daß die Geſchichte der Malerei
ungleich reicher, in vielfacher Veräſtung fruchtbarer und dauernder ſein
muß, als die der Bildnerkunſt. Das liegt nun zugleich weſentlich im
engeren Anſchluß an die unerſchöpflich fließenden Schätze des Lebens, denn
dem naturtreuen und individualiſirenden Style, wie er nun zum Rechte
gekommen iſt, öffnet ſich immer neu die unendliche Fundgrube der Wirk-
lichkeit, weil er nicht wähleriſch eine zweite, in reiner Schönheit der
Einzelgeſtalt glänzende Welt in Anſpruch nimmt. Durch dieſe Bemerkung
ſind wir zu der andern Seite herübergetreten: vom Style zum Stoff. Es
iſt die urſprüngliche Stoffwelt, an welche die Malerei, wie wir mehrfach
geſehen haben, gewieſen iſt, in deren Bedingungen ſie ſelbſt da, wo ſie
noch in der zweiten, mythiſchen verweilt, ihren Gegenſtand hineinzieht,
aus welcher ſie denn auch, wie Antäus aus der Mutter Erde, die neue
Kraft ſaugt, wenn ihr mythiſcher Lebenslauf im Welken iſt. Die Geſchichte
des Styls ſteht in der tiefſten Beziehung zur Geſchichte der Stoffwahl.
In der Geſchichte der Sculptur kommt gleichzeitig mit dem mehr natu-
raliſirenden und individualiſirenden Style immer mehr das Sittenbild und
der rein geſchichtliche Stoff in Aufnahme und beides iſt hier ein Zeichen,
nicht eben des Todes, aber eines Fortlebens, das die Blüthe überlebt
In der Geſchichte der Malerei wird uns zweimal dieſe Erſcheinung be-
gegnen: am Ausgange der antiken und am Ausgange der mittelalterlichen
Kunſt, aber wenn dort die wachſende Liebe zu den Stoffen der realen
Welt ohne Mythus anzeigt, daß ein Ideal, das weſentlich Götterbildend
war, und mit ihm freilich auch die beſondere Kunſtform, die eigentlich
auf ein anderes Ideal führt, in der Auflöſung begriffen iſt, ſo iſt ſie hier
ebenſoſehr Anfang einer neuen, als Ende einer alten Blüthe. Dieß iſt
[694] bereits im Schluß d. Anm. zu §. 531 berührt. Es verhält ſich alſo mit
den Stoffen, wie mit den Stylen: wer das Aufkommen der ſog. welt-
lichen Stoffe beklagt, der muß auch den Sieg des ächt maleriſchen Styls
als Ausdruck des Verfalls beurtheilen, wer dagegen dort naturgemäße
Entwicklung ſieht, der findet auch hier nichts Anderes, als eine Erhebung
der Malerei zu der Form, die ihrem eigentſten Weſen entſpricht.


α. Die Malerei des Alterthums.


§. 716.

1.

Nachdem der Orient auf der unreifen Vorſtufe der nur mit einfacher
Farbe ausgefüllten, das Aeußerliche menſchlicher Formen, Zuſtände und Thätig-
keiten zwar ſcharf charakteriſirenden, Umriſſe-Zeichnung ohne Kenntniß der
2.Perſpective ſtehen geblieben war, entwickelte ſich bei den Griechen die
Malerei zur höchſten Vollkommenheit, welche innerhalb eines Standpuncts mög-
lich iſt, auf welchem der plaſtiſche Geiſt in dem ausſchließend engen Sinne als
beſtimmendes Prinzip herrſcht, daß die Farbengebung nur der Schönheit der Form
dient. In dieſe Grenze eingeſchloſſen tritt zwar auch hier zugleich mit dem
Unterſchiede der Entwicklungsſtufen des Styls (§. 531) eine relativ mehr
maleriſche nach einer großartig plaſtiſchen Richtung auf und mit ihr gelangen,
insbeſondere nach der Verpflanzung der griechiſchen Kunſt in das römiſche
Reich, in naturgemäßem Kreislauf mehr und mehr die rein auf die urſprüng-
liche Stoffwelt gegründeten Zweige zum Anbau; aber dieſe Wendung iſt hier
Ausdruck des beginnenden Verfalls.


1. Das Weſentliche der orientaliſchen Malerei iſt in Anm. 1
zu §. 649 bereits bezeichnet und bedarf für unſeren Zweck nur noch
weniger Erläuterung, wobei wir uns an die ägyptiſche Malerei halten,
denn ſie iſt die ausgebildetſte und bekannteſte. Wir wiederholen nicht,
wie der ſymboliſche Standpunct mit ſeinen Fratzenbildungen und die ſtrenge
Herrſchaft des Typus in ſämmtlichen Künſten aller Entwicklung zur
freieren Schönheit im Wege ſtehen mußte, ſondern heben zunächſt hervor,
was dieſe Malerei trotz allen Mängeln wirklich leiſtete. Die Zeichnung
zeigt denn daſſelbe tiefe Verſtändniß der Formen und Grundverhältniſſe
des Körpers wie die Plaſtik (in Indien iſt ſie auch hier weicher und
bewegter, in Aegypten ſtrenger gemeſſen); aber auch Haltung, Gebärde,
Bewegung iſt fein und ſcharf der Natur abgelauſcht und fließend wieder-
gegeben; hier kommt die freie Ausdehnung über das ſittenbildliche Gebiet,
Landbau, Handwerk, Jagd, Schifffahrt, Spiel, Kampf u. ſ. w. dem übrigens
[695] gebundenen Geiſte zu gute. Die Schärfe dieſer Charakteriſtik geht weiter
auch auf die Nationalphyſiognomie, ſelbſt auf die des Individuums. Allein
es fehlt alle Verkürzung, alle Linearperſpective, es gibt daher keine
Compoſition, ſondern nur Aufſtellung der Figuren übereinander und reihen-
förmig nebeneinander. Daraus folgt, daß die Figur nie von vorn, ſondern
nur im Profil, häufig mit dem Widerſpruch einer von vorn geſehenen
Bruſt, gezeigt wird. Ganz aber fehlt der geiſtige Ausdruck, es iſt ſeelen-
los chronikaliſche Abſchrift des Lebens (vergl. §. 637 Anm.). Dieſe tiefen
Mängel ſind die nothwendige Folge davon, daß die Farbengebung und
ſelbſt die Modellirung der einzelnen Geſtalt innerhalb der Umriſſe ganz
unentwickelt iſt, daß der Umriß und mit ihm die Fläche, auf welcher er
gezogen wird, poſitiv in Geltung bleibt und nur mit einfachen, durch das
Feuer ihrer ungebrochenen Beſtimmtheit das kindliche Auge erfreuenden
Farben ausgefüllt wird. Es iſt die reine Kinderſtufe der Malerei.


2. Das griechiſche Ideal haben wir als ein ſo durch und durch
plaſtiſch auffaſſendes erkannt, daß jedes weitere Wort darüber, wie auf
dieſem Standpuncte die Malerei ihr ſpezifiſches Weſen nicht entfalten
kann, eitel Wiederholung wäre. Das Beſtimmende iſt vielmehr auch auf
dem Boden der Malerei der plaſtiſche Geiſt und zwar „in dem aus-
ſchließend engen Sinne“ u. ſ. w. Damit iſt ausgedrückt, daß der plaſtiſche
Styl der antiken Malerei mit dem plaſtiſchen Style, wie er im Mittel-
alter und der neueren Zeit auf dem errungenen Boden des Maleriſchen
ſelbſt wieder auftritt, nichts zu ſchaffen hat. Es iſt ein Anderes, wenn
ein Stylprinzip innerhalb der Sphäre, in welcher das zur Herrſchaft
berufene entgegengeſetzte in den weſentlichſten Grundbedingungen dieſe
Herrſchaft ſchon übt, mit relativer Geltung wieder auftritt, ein Anderes,
wenn es vor dem Eintritte deſſelben dergeſtalt herrſcht, daß jene Grund-
bedingungen noch gar nicht zur Anerkennung und Ausübung gelangen.
Die ſtreng plaſtiſche Malerei der Alten ſteht daher ganz außerhalb des
Entwicklungsgangs, der auf einem Kampfe jener beiden Style beruht,
als eine Welt für ſich da, die wir jedoch nachher zu dieſem Entwicklungs-
gang in ein tiefes, belebendes Verhältniß werden treten ſehen, ohne daß
hieraus ein Widerſpruch mit dieſer iſolirten Stellung entſtünde. Dieſe
Stellung im Vorhofe der eigentlichen Geſchichte der Malerei, dieſes
Sonderleben in einer Luft, die eigentlich dem ſpezifiſch Maleriſchen fremd
iſt, hinderte nicht, daß die Pflanze auf ſolchem Boden zu einer hohen
Ausbildung und Schönheit gelangte. Das Leben iſt nicht ſo arm und
abſtract, daß es ein Gewächs nicht an fremde Bedingungen anſchmiegen
und zu einer eigenthümlichen Vollkommenheit entfalten könnte. — Die
plaſtiſche Beſtimmtheit der griechiſchen Malerei offenbart ſich nun darin,
daß die Zeichnung das Herrſchende iſt: natürlich nicht mehr in dem
[696] Sinne, wie bei den Orientalen, daß ſie als techniſches Moment die
andern Momente des Verfahrens nicht zur Ausbildung gelangen läßt,
ſondern, daß einzig die Schönheit, wie die Zeichnung ſie herſtellt, d. h.
die Schönheit der feſten Form und der Welle der Bewegung geſucht wird
und die Farbe ſie nur unterſtützt. Die einzelne Geſtalt iſt hier ſchön wie
in der Bildnerkunſt; Alles, was plaſtiſch iſt, wird mit ſtaunenswerthem
Schönheitsſinn entwickelt: das reizend Hingegoſſene und doch Gemeſſene
jeder Stellung und Lage, der edel nachläßige Schwung der Körper, der
reine Fluß der Falten. Daß der Maler in der Kühnheit der Bewegungen,
Tanz, Schweben, Flug über die eigentliche Sculptur weit hinausgeht,
widerſpricht natürlich dieſem ſculptoriſchen Geiſte nicht. Die Modellirung
bleibt daher nicht unausgebildet wie in Aegypten, ſondern gedeiht zur
größten Vollkommenheit; die Farbe aber, obwohl ſie die Marmorkälte der
Form mit dem fluthenden Geheimniſſe ihres auf die Oberfläche wirkenden
warmen Innenlebens übergießt, obwohl ſie darüber ſogar hinausgeht, die
Reize der einfacheren phyſikaliſchen Accorde mit ſicherem Gefühl erkennt
und ſo ihren Zauber mit der Welt ſeiner zarten Berechnungen nach dieſem
allgemeinen Geſetze der Farbenharmonie auch für ſich ſpielen läßt, iſt
doch keineswegs zu der Tiefe fortgebildet, daß ſie die Form zum bloßen
Moment herabſetzte. Die Form trägt die Farbe, nicht die Farbe die
Form. Ferne von jener Verarbeitung, welche der vollen Vertiefung der
Phyſiognomik und der unendlichen Miſchung der Temperamente, Stimmun-
gen ihren ganzen Ausdruck gibt, bleibt insbeſondere das Incarnet,
obwohl es über einen Umkreis von Unterſchieden gebietet, einfach, kindlich
blühend. Die weiteren Mängel des Colorits ergeben ſich, wenn man den
beſchränkenden Einfluß des plaſtiſchen Prinzips auf die Compoſition in’s
Auge faßt. Dieſe iſt relief-artig: ſie verwickelt die Figuren ſo wenig, als
möglich, damit ſie ſich nicht ſtörend decken, nicht einmal beſchatten, ſie ſtellt
ſie auf einen wenig vertieften Plan. Die Linerarperſpective fehlt nicht,
kühne Verkürzungen erwerben ſich Ruhm, allein in größerer Anwendung
kann ſie ſich bei der Herrſchaft jenes Prinzips nicht ausbilden; Compoſi-
tionen von reicherer Verwicklung und einiger Tiefe des Grundes, wie die
Schlacht bei Iſſus, dürfen gewiß als ſelten auch in der ſpäteren Zeit
angeſehen werden. Es fällt alſo die Poeſie der Ferne, es fällt das
Ahnungsvolle des Zugs in die Tiefe weg, hiemit der volle Zauber des
Helldunkels und der Luftperſpective. Ein gleichmäßig ergoſſenes Licht rückt
Alles in vertraute, klare, ſonnige Nähe, die Geſtalten ſind nicht umſpielt
von den tieferen und feineren Verhältniſſen, Durchkreuzungen von Licht
und Farbe, nicht getaucht in die geheimnißvolle Welt jener reichen Ver-
mittlungen und Brechungen einer geiſtig verkochten Farbenwelt; das
Dunkel überhaupt hat ſeine Rolle noch nicht angetreten als der unendliche
[697] Schooß, worein die Strahlen des farbigen Lichtes ſchießen und worin ihre
erſte Einfachheit in ein neues, reflectirteres Leben übergeht. Dieß führt
denn auf die Behandlung des geiſtigen Ausdrucks der Figur zurück: an
das blickloſe Statuen-Auge gewöhnt, wird man hier durch ein glühendes
Herausleuchten inneren Seelenlebens überraſcht, das ſelbſt bis zu ſo ge-
gemiſchten Empfindungen wie der Kampf einer Medea fortſchreitet, welche,
die Hand am Schwert, zwiſchen Rachegeiſt und Mutterliebe noch getheilt
erſcheint: zugleich ein ächtes Beiſpiel dramatiſcher Spannung. Und doch
fehlt der Ausdruck jener vertieften Reſonanz im Innern, der im Weſen
und Geiſte der Malerei liegt; er muß fehlen, weil jene Welt der Inner-
lichkeit nicht entwickelt iſt, auf welcher er ruht (vergl. §. 682). Ebendarum
kann auch die Eigenheit des Individuums nicht bis zu der Spitze geführt
ſein, welche das generelle Maaß der Plaſtik in eine unendliche Welt
ſelbſtändiger Charakter-Monaden theilt.


Demungeachtet legt die griechiſche Malerei einen Kreislauf zurück,
welcher dieſelben organiſchen Stufen nach Styl und Stoff darſtellt, die
wir in der erſten großen Periode der neueren Malerei bis zum Schluſſe
des Mittelalters finden. Zugleich begegnen wir im Weſentlichen den
großen Hauptformen der Styl-Entwicklung, die in §. 531 aufgeſtellt und
in der Geſchichte der Plaſtik (§. 640 ff.) nachgewieſen ſind. Auf den
alterthümlich ſtrengen und harten folgt auch hier der hohe oder erhaben
ſchöne Styl, ihn vertritt die attiſche Schule, an ihrer Spitze Polygnot,
der „Ethographos“, der nur die großen, würdigen Stoffe der ernſten
Götterwelt und Heldenſage behandelt. Der anmuthige, reizende, rührende
Styl, wie ihn darauf die joniſche Schule, Zeuxis, Parrhaſius, Timanthes
ausbildet, entſpricht der Wendung der Plaſtik, die in Skopas und Praxi-
teles ſich darſtellt. Dieſer Styl iſt aber zugleich ein weſentlicher Fort-
ſchritt im ſpezifiſch Maleriſchen und hier drängt ſich denn die intereſſante
Beobachtung auf, daß die alte Malerei, ſo ſtreng plaſtiſch ſie auch iſt,
doch in ihrem Gange ſelbſt auch den Gegenſatz der zwei Style, freilich
in ſchattenhafter Zartheit, kennt und ihn ſucceſſiv ausbildet. Apollodorus
hatte in der Schattengebung vorgearbeitet; die Modellirung verſteht jetzt
den Schein völliger Rundung zu geben, das Colorit erfüllt ſich mit den
Unterſchieden der Töne und Uebergänge, der Geſichtsausdruck belebt ſich,
es wird Illuſion erzielt. Die Stoffe ſind noch Mythus und Heldenſage,
aber in jenem Gebiete wirft ſich der Zug nach Anmuth auf das weibliche
Ideal, in dieſem die ſubjectiver bewegte, Erſchütterung ſuchende Stimmung
auf die tragiſchen Momente. Dieſer Styl nun erreicht eine weitere Fortbil-
dung durch die Sikyoniſche Schule, die dem entſpricht, was in der Bildner-
kunſt die Lyſippiſche war, aber mit dem Unterſchiede, daß, wenn dort die
Sculptur an einer zweideutigen Gränze angekommen iſt (vergl. §. 641

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 46
[698]Anm.), hier ein letzter, voller Schritt in der Entwicklung des innerſten
Weſens der Malerei geſchieht, der ein Anfang neuer Blüthe ſein müßte,
wenn die ganze Kunſt in dieſem Ideal einen Boden hätte, worin ſie volle
Wurzeln zu treiben vermöchte. Von Eupompos vorbereitet, von Apelles
zu ihrer Höhe geführt, geht dieſe Schule noch weiter in der Ausbildung
des Colorits und Ausdrucks, kühne Verkürzungen zeigen eine Verſtärkung
des Strebens zu Erweiterung der Tiefe, das ſchon in der joniſchen Schule
eingetreten, größere Gruppen haben nun Raum, ſich auszubreiten, und
eben mit dem erwachenden Zug in die Tiefe ſteht die Steigerung des
Colorits bis zur Nachahmung von Blitz und Gewitter im innigſten Zu-
ſammenhang. Die Anwendung der Enkauſtik liefert dieſem Streben zum
volleren, realen Scheine das entſprechende Mittel. Doch darf man
nimmermehr an moderne Vertiefung der Pläne und Durchgeiſtigung der
Farbe denken. Dieſer neue Fortſchritt ruht auf wiſſenſchaftlichem Be-
wußtſein; die Malerei gibt ſich theoretiſche Rechenſchaft von ihren Ge-
ſetzen, wie ſpäter in Italien durch Leonardo da Vinci. Damit hängt nun
eine wichtige neue Wendung in den Stoffen zuſammen. Die mythiſchen
und heroiſchen werden nicht aufgegeben, aber neben der ernſten Behand-
lung derſelben kommt die komiſche, traveſtirende auf — ein Ausdruck der
Auflöſung dieſes Ideals wie die Komödie vergl. §. 441 — und zugleich
wird die urſprüngliche Stoffwelt in Thierſtück, Genre, Bildniß, Geſchichte
ergriffen. Jenes große Moſaik der Alexanderſchlacht in Pompeji iſt ohne
Zweifel Wiederholung eines Originals aus dieſer Zeit. Nach Alexander
dem Großen wird das Komiſche und das Sittenbildliche immer beliebter,
die Barbierſtuben, Schuſterbuden, die Stillleben, die Blumen-, Früchte-
Stücke, die phantaſtiſchen Decorations-Motive und Arabesken. Nur iſt
Alles noch von mythiſchem Faden durchzogen, Genien verkaufen die Schuhe
u. ſ. w., auch darf man nicht an eine intenſiv äſthetiſche Behandlung
denken, welche gemüthlichen Sinn und belauſchte Lebenstiefe in dieſe Dinge
legte. Nach Rom übergeſiedelt findet die Malerei in dem Naturell des
herrſchenden Volks mehr Sinn und Talent, als die Plaſtik. Das Tragiſche
wird nicht ohne Erfolg auf’s Neue angebaut, aber Scherz, Sittenbild,
Porträt, kleine Thierſtücke u. dgl. bleiben die Hauptſache; dieß entſpricht
auch dem ſtärkern Zuge des römiſchen Charakters zur Aufnahme der ur-
ſprünglichen Stoffwelt (vergl. §. 445). Ein ſpielender, von dem, was
die neuere Zeit unter dieſer Gattung verſteht, weit entfernter Anſatz zur
Landſchaftmalerei tritt (namentlich durch Ludius) unter ſtarkem Wider-
ſpruche der Kunſtrichter als neuer Zweig hinzu. Unaufhaltſam aber dringt
der Verfall, der ſchon in Griechenland nach Alexander eingeriſſen, vor-
wärts; rohe Stylloſigkeit, Luxusdienſt, überhand nehmende Pornographie,
Schnellmalerei ſind Symptome der nahen Auflöſung. Es beſtätigt ſich
[699] nun, was wir ſchon zu §. 715 vorausgeſchickt haben: was in einer
Malerei, deren Leben und Dauer in dem Kunſt-Ideale, dem ſie angehört,
urſprünglich und organiſch begründet iſt, als Anfang neuen Lebens er-
ſcheint, das iſt hier das Ende. Die alte Kunſt kann das volle Maaß des
mythenloſen Naturalismus und Individualismus nicht ertragen, das die
Malerei ihrem Geiſte nach fordert; was dieſem entſpricht, widerſpricht
dem Ganzen des Kunſtlebens, worin hier die Malerei wie eine fremde
Pflanze mit ſchönen und doch nur halb durchgohrenen Früchten daſteht.


§. 717.

Die Kunſt des antiken Ideals als des elaſſiſchen (vergl. §. 438)
hat aber auch in der Malerei die Bedeutung, eine bleibende Vorlage und Bil-
dungsquelle für das Formgefühl der neueren Völker zu ſein. Daß ſie dieſen
zunächſt im Zuſtande des Verfalls überliefert wurde, war jedoch günſtig für
die Löſung der Aufgabe, einen neuen Geiſt in ihre Formen zu gießen.


Die antike Malerei ſteht der neueren, wie gezeigt, als eine Welt für
ſich, getrennt durch die Kluft der Zeiten, entnommen dem Zuſammenhang
ihrer Entwicklung gegenüber. Allein dieß iſt nicht das einzige Verhältniß.
Alle antike Kunſt hat die bleibende Bedeutung des reinen Muſters. Einer
falſchen Deutung dieſes Begriffs iſt in §. 438 durch die Beſtimmung
vorgebeugt: es müſſe zwar auch ein Ideal geben können, worin das
Verhältniß des Gehalts zur Geſtalt ein ganz anderes ſei, aber auch für
die Vollendung eines ſolchen werde die völlige Löſung der zwar einfachern
Aufgabe der griechiſchen Phantaſie, worin es keinen Bruch des Geiſtes
mit der Natur gab, muſterhaft bleiben. Aus verklärter Ferne leuchtet die
claſſiſche Kunſt in dieſer ewigen Bedeutung zu uns herüber. Für die
geſammte neuere Malerei iſt allerdings genauer betrachtet nicht die
antike Malerei ſelbſt, ſondern die Plaſtik die Quelle, woraus ſie in
immer erneuten Zügen das reinere Formgefühl trinken ſoll, denn von
den Schätzen der alten Malerei hat uns erſt ſpät und nur annähernd
die Aufgrabung der vom Veſuv verſchütteten Städte ein Bild gegeben.
Dieß macht jedoch für die muſtergebende Einwirkung im Ganzen und
Großen keinen Unterſchied, weil ja die alte Malerei ſelbſt eine von pla-
ſtiſchem Geiſte durchdrungene war. Es iſt aber hievon eine unmittel-
bare Einwirkung zu unterſcheiden, nämlich die auf das chriſtliche Alterthum.
Dieſem lag die alte Kunſt auch ſpeziell als Malerei noch in unmittelbarer
Anſchauung vor; das claſſiſch Vollkommene aber, was noch beſtand, konnte
keinen muſtergebenden Einfluß äußern, weil die wirkliche Kunſt-Uebung der
damaligen Gegenwart, mitten unter dieſen Schätzen erblindet für ihre

46*
[700]Schönheit, im tiefen Verfall nur kümmerliche Reſte des antiken Formſinns
bewahrte. Dieſer Zuſtand bildete den Faden, der von der alten Kunſt
direct zu der neueren herüberführte, und der §. ſagt, daß das gut war,
weil die antike Kunſt in ihrer Vollkommenheit den zarten Keim des
neuen Lebens, das in dieſe Formen eine andere Seele eingießen ſollte,
durch die zwingende Macht ihres idealen Glanzes erdrückt hätte. Dieß
lautet noch ungenau: die Formen ſelbſt mußten verändert werden und
doch mußte etwas von ihnen bleiben. Nur der allgemeine Geiſt und
Hauch ihres Adels ſollte in freier Weiſe herüberfließen in eine anders ge-
ſtimmte Phantaſie, ſo daß dieſe, was dem neuen Syſteme des Ausdrucks,
der Haltung und Bewegung, das die chriſtliche Geiſteswelt forderte, nicht
entſprach, ausſtoßen und was ihm entſprach, ſelbſtändig wenden und um-
bilden konnte.


β. Die Malerei des Mittelalters, ihre Blüthe und
Nachblüthe
.


§. 718.

Die Vergleichung des Weſens der Malerei mit den Grundzügen der
romantiſchen Phantaſie (§. 447—458) ergibt, daß dieſe in der bildenden Kunſt
weſentlich maleriſch war. Dennoch laſſen zwei Hinderniſſe, die neue My-
thenbildung und der Geiſt aſcetiſch weltloſer Innerlichkeit, deren erſteres das
letztere überdauert, nicht zu, daß dieſes Ideal die ganze Tiefe und den ganzen
Umfang einer ihm übrigens ſo homogenen Kunſt erſchöpfe.


Wir müſſen für die Geſchichte der Malerei die Periode des Mittel-
alters theilweiſe länger ziehen, als dieß in der Geſchichte der Phantaſie
geſchehen iſt. Der Verlauf unſerer Darſtellung wird dieß begründen;
die Ueberſchrift zeigt es an durch den Zuſatz: Nachblüthe, der §. durch
den Satz, daß der Mythus den Stylmangel überdauert habe. — Wie
wir in der Lehre von der Sculptur überall das Weſen dieſer Kunſt mit
einem beſtimmten geſchichtlichen Ideale, dem claſſiſchen, zuſammenfallen
ſahen, ſo iſt es auch in der Lehre von der Malerei ſchwer zu vermeiden,
daß nicht in der Erörterung ihres Weſens bereits die Schilderung eines
beſtimmten Ideals, mit welchem daſſelbe ebenſo innig zuſammenfällt, des
romantiſchen nämlich, hier aber zugleich auch des modernen, hervorbreche.
Man vergleiche nur mit der Lehre vom Weſen der Malerei die Dar-
ſtellung zunächſt des mittelalterlichen Ideals in den angeführten §§.:
es ſetzt dem nicht aufgegebenen Mythus ein neues Herz ein, die Gefühls-
[701] welt der innern Unendlichkeit, es ſchließt die Schätze des ſubjectiven Le-
bens auf, es gibt der Individualität ihre Geltung, es bedingt den Ueber-
ſchuß des Ausdrucks über die Form, es behandelt dieſe phyſiognomiſch,
es hebt das Geſetz, daß die einzelne Geſtalt ſchön ſein müſſe, auf und
führt das andere in’s Leben, wonach die Schönheit aus der bewegten Ge-
ſammtwirkung, welche die Härten der Erſcheinung als berechtigt ſetzt, ſich
erzeugt, es entbindet das Häßliche und löst es erhaben oder komiſch auf
und endlich, was die Hauptſache iſt: es legt ſich in die empfindende
Phantaſie und taucht in ihr Element auch die bildende, woraus denn
eben der beſondere Beruf dieſer Weltanſchauung für die Malerei hervor-
vorgeht. Allein ebenſowahr iſt es, daß der innere Widerſpruch im Geiſte
des Mittelalters, durch den es den neuen Inhalt, die große Wahrheit
der Immanenz, wieder in ein mythiſches Jenſeits hinauswirft (§. 447—450),
daß die Beſchränkung des Intereſſes auf die innerlichſte Angelegenheit
des einzelnen Menſchen, die Welt- und Geſchichtloſigkeit (§. 452), daß
die Negativität des aſcetiſchen Standpuncts, die einen ganz andern Bruch
der ſchönen Form begründet, als den die Malerei in rein äſthetiſchem
Sinne fordert (§. 456), die volle Ausbildung der Malerei nach ihrem
ſpezifiſchen Weſen wieder zurückhält. Daher entſteht die Schwierigkeit,
ob der Zeitmoment, wo dieſe Schranken ſich lüften, als Ausgang des
Mittelalters oder als Aufgang des modernen Ideals hinzuſtellen ſei.
Doch das Feſthalten des Mythus trotz der Löſung aller übrigen Feſſeln
entſcheidet für das Erſtere.


§. 719.

Nachdem die letzten Reſte jenes der altchriſtlichen Kunſt überlieferten
antiken Erbes (§. 717) durch die byzantiniſche Malerei in erſtarrter Form
gerettet worden und die neue Stoffwelt in ihren allgemeinen Linien entworfen
iſt, beginnt die Durchdringung dieſes todtenhaft objectiven Styls mit dem neuen
geiſtigen Leben, welche im Gegenſatze gegen den entſprechenden Schritt in der
antiken Kunſt zuerſt den Ausdruck der Geſichtszüge beſeelt.


Die Vorſtufe umfaßt das Altchriſtliche, ſonſt auch das Spätrö-
miſche genannt, und das Byzantiniſche. Jenes bezeichnet der §. nach
der Stylform mit dem Ausdruck: „die letzten Reſte jenes antiken Erbes“.
Der Umfang unſerer Aufgabe beſchränkt uns auf wenige kurze Bemer-
kungen über beide Zeitabſchnitte. Nach Ueberwindung des rigoriſtiſchen
Abſcheus vor aller Kunſt als heidniſchem Götzen- und Wolluſt-Dienſte
ſehen wir bekanntlich die erſten ſchüchternen Darſtellungen beſonders in
den Katakomben auftreten, ſich vervielfältigen, dann, nachdem das Chri-
[702] ſtenthum zur Staatsreligion erhoben iſt, ſteigt auch die Malerei an das
Licht und ſchmückt Grab- und Tauf-Capellen, Baſiliken, auch Paläſte,
namentlich mit Moſaiken. Im Style, welcher in Geſtalt, Gewand, Be-
wegung, auch räumlicher Anordnung und Ornament die künſtleriſchen
Formen der antiken Malerei in jenem Zuſtande des Verfalls zeigt, treten
allerdings Unterſchiede hervor: neben dem ſchwungvolleren und lebendi-
geren Zuge der von antikem Gefühle noch ſichtbarer geleiteten Hand ſieht
man eine rohere, härtere Manier, die ſich an die ſchlechteſten Formen der
Verfallszeit anſchließt und ſie mehr und mehr, namentlich in den ſteifen,
ſchweren Gewändern, zu bewegungsloſer Starrheit zuſammenzieht. Noch
iſt von der neuen Seele, die ſich in dieſe Formen legen ſoll, nichts wahr-
zunehmen, als ein ganz ferner Anklang von Gemüth und Innigkeit, dann
eine Haltung feierlichen, großartigen, ſtreng objectiven Ernſtes, jener in
der freundlichen Neigung Chriſti zum verlorenen Lamm, den Agapen u. A.,
dieſer beſonders in den großen Tribunenbildern der Baſiliken. Vom ſechsten
Jahrhundert an, in der Zerrüttung Italiens, verwildert ſelbſt der ſchwache
Reſt claſſiſchen Formgefühls noch mehr und ſinkt endlich auf die Kinder-
ſtufe des Orients, die dicken Umriſſe mit greller Farben-Ausfüllung, ja
noch tiefer herab, da in den plumpen Figuren ſelbſt jedes Verſtändniß
der Form verſchwindet. Dem Stoffe nach beginnt dieſe altchriſtliche Kunſt
mit jenen Sinnbildern, die ſchon in §. 460, 2. erwähnt ſind; Chriſtus
ſelbſt, Scenen des A. u. N. Teſtaments treten nicht in der Abſicht eigentlicher,
ſondern paraboliſcher, vorbildlicher Bedeutung auf. Doch ſpäter und
vornämlich ſeit der öffentlichen Anerkennung des Chriſtenthums dringt
auch die eigentliche Darſtellung ein, es werden die Motive der Geſtal-
tenbildung, Handlung, Compoſition, welche in der Geſchichte Jeſu und
der älteſten Gemeinde liegen, benützt und angebaut: wir ſehen den Er-
löſer lehrend, heilend, ſeine Taufe, ſeinen Einzug in Jeruſalem, die Lie-
besmahle der erſten Chriſten; auch Maria tritt bereits als weſentliche
Geſtalt in den Kreis des chriſtlichen Ideals ein. Selbſt der Drang der
Malerei zum Individuellen und rein Geſchichtlichen dringt vereinzelt ſchon
zu Tage: in dem traditionell ſich feſtſtellenden porträtartigen Typus
Chriſti, der Apoſtel Petrus und Paulus, in einzelnen profangeſchichtlichen
und kirchlich ceremoniellen Darſtellungen, worin Perſonen in eigentlichem
Bildniß auftreten.


Der byzantiniſche Styl rettet die dürftigen Reſte des claſſiſchen
Formgefühls, die im oſtrömiſchen Reiche nie bis zu dem Grade verwil-
dert waren, wie im weſtrömiſchen. Es iſt eine Einpuppung auf lange
Zeit, denn er dauert und herrſcht vom ſiebenten Jahrhundert bis hinein in’s
dreizehnte; ein Winterſchlaf, eine Verſteinerung, welche vom Athem eines
neuen Lebens erſt wieder erweicht werden, die Einbalſamirung eines Leich-
[703] nams, der wieder erweckt werden ſoll. Der Name des Mumienhaften
für dieſe hageren, aſcetiſchen Figuren mit den grämlich greiſenhaften Ge-
ſichtszügen, den geſpenſtiſch großen Augen und ſchmalen, dünnen Naſen,
dem noch antik motivirten, aber ſpitz gebrochenen Gefälte, der ſtarren
Bewegungsloſigkeit und ſteifen, mühſamen Bewegung iſt der paſſendſte
und hat ſich als ſtehende Bezeichnung eingebürgert. Neben den fühlbaren
Reminiſcenzen der Form iſt auch die Farbengebung an dieſer eingefror-
nen Geſtalt doch nie ſo tief geſunken, wie zuletzt in Italien, zwiſchen den
ſichtbaren Umrißlinien finden ſich, wiewohl in den Uebergängen ſcharf
abgeſchnitten, doch noch Schatten und Mitteltöne. Die Ausbildung der
Stoffwelt kommt nicht völlig in’s Stocken; zu dem Anbau, den die
Gründungsgeſchichte des Chriſtenthums ſchon im althriſtlichen Style ge-
funden, tritt ein neuer Kreis, den die jugendlich hoffnungsfreudige Kirche
vermieden hat: das Leiden Chriſti, insbeſondere das Bild des Gekreuzig-
ten, auch das Leiden der Märtyrer, der Heiligen. Daneben ziehen ſich
profangeſchichtliche Darſtellungen, Ceremonienſcenen, Schlachten, Jagden
hin: ein fortdauernder Ausdruck jener ununterdrückbaren Tendenz der
Malerei zum Realen. Die Compoſition geht häufig in’s Figurenreiche,
doch in architektoniſch ſymmetriſcher Art; in einem Aufflackern lebendigerer
Bewegung zeigt ſich hier und da ſtärkeres Nachwirken antiken Gefühls.
Mechaniſch in unendlichen Copien vervielfältigten ſich die einmal gefundenen,
dann typiſch feſtgeſetzten Compoſitionen. Es iſt die despotiſche Ruhe und
Stabilität des Orients, die über dieſer eingeſchlummerten Geſtaltenwelt
brütet.


Dieſe altchriſtliche und byzantiniſche Kunſtweiſe bildet denn die große
Theſis, den Vorderſatz für alle weitere Entwicklung, oder richtiger, die ächt
antike Kunſt gewinnt durch ſie jene Bedeutung einer Vorlage für die
chriſtliche, die ſchon in §. 717 ausgeſprochen iſt, freilich nur einer erſten
Vorlage, welcher in ſpäter Zukunft eine ganz andere Art muſtergebender
Einwirkung folgen ſoll, weil es eben jene verhärtete Geſtalt iſt, in der ſie
ſich in den Anfang der letzteren hereinſchiebt. In Rückſicht auf dieſe Ver-
härtung, zugleich aber insbeſondere auf die Feierlichkeit der großen Haupt-
bilder, die auch in der byzantiſchen Malerei beibehalten werden, können
wir dieſe Epoche als die des ſtrengen und harten, im engeren Sinn
objectiven Styls bezeichnen. — Dem Entwicklungsgange der Erwär-
mung und Beſeelung dieſer abgeſtorbenen Formenwelt ſchicken wir nun
die Bemerkung voran, die ſchon W. Schlegel (Ueber d. Verh. d. ſchönen
Kunſt z. Natur. Werke B. 9 S. 306) gemacht hat: die antike Kunſt
belebt zuerſt den Körper, gibt ihm Schönheit und Wahrheit der Form
auf Grund einer freien Naturbeobachtung, das Angeſicht bleibt noch lange
typiſch leblos; die neue Kunſt geht von der Beobachtung der Seele aus und
[704] belebt zuerſt die Geſichtszüge, während der Körper und die Gewandung
noch unverſtanden, ſteif, dürftig, roh bleibt: der ſchlagende geſchichtliche
Beweis für die Wahrheit, daß hier der Ausdruck über die Form herrſcht.


1. Der italieniſche Styl.

§. 720.

Mit der erſten Beſeelung jenes Typus tritt auch der Gegenſatz der
Stylrichtungen ein. Das italieniſche Volk, durch Abſtammung und Wohnſitz
in lebendigem Zuſammenhang mit der claſſiſchen Kunſt, bildet den plaſtiſch
maleriſchen
Styl aus.


Der byzantiniſche Styl verbreitete ſich über die ganze chriſtliche Welt,
nach Italien, nach dem Norden, zu den Slaven, Walachen, Neugriechen.
Wir theilen aber von hier an die Geſchichte der Malerei im Mittelalter
nach Nationalitäten in zwei Hälften, deren jede wir getrennt verfolgen.
Dieſer Nationalitäts-Unterſchied iſt zugleich ein Styl-Unterſchied; Italien
übernimmt die plaſtiſche, der germaniſche Norden die maleriſche Richtung:
ein Gegenſatz, der aber jetzt innerhalb des betretenen Bodens des Male-
riſchen auftritt. Die Italiener ſind dasjenige romaniſche Volk, das in
lebendigerem Zuſammenhange mit dem antiken Kunſtgefühle bleibt. Das
Chriſtenthum und das beigemiſchte deutſche Blut hat dem römiſchen Grund-
ſtocke, der übrigens ſchon urſprünglich einen fernen Anklang von Roman-
tiſchem zeigt (§. 442), den Geiſt der Innerlichkeit und Innigkeit geliehen,
ohne den es keinen Beruf zur Ausbildung der Malerei nach ihrer wahren
Beſtimmung geben kann; das Blut der Ahnen, die umgebende Natur,
der Adel der Geſtalten, die unmittelbare Anſchauung der noch erhaltenen
Schätze der antiken Kunſt ſichert ihm aber einen unvertilgbar eigenen Schatz
jenes objectiven Bildungsgeiſtes, jenes reinen und harmoniſchen Form-
ſinns, welcher nicht zuläßt, daß dieſes Innerliche, die Quelle der über die
Form hinausgreifenden Tiefe des Ausdrucks, ſich bis zu dem härteren,
im ſpezifiſch maleriſchen Styl immer vorausgeſetzten Bruch ſteigere, welcher
vielmehr auch das vertiefte Gemüth in warmem und ebenem Fluß in die
Geſtalt herausführt, auch das einer neuen Welt der Unendlichkeit ſich
bewußte Innere mit dem Aeußern in ein unmittelbar ſchönes Gleichgewicht
ſetzt. Dieß bleibt in allen den Miſchungsverhältniſſen der Momente, in
welche wir nun dieſe Richtung ſelbſt ſich ſpalten ſehen, die feſte, gemein-
ſchaftliche Grundlage.


[705]
§. 721.

Schon in der Epoche der erſten freien Regung des eigenen Geiſtes, der mit
der byzantiniſchen Härte noch kämpft und ſie allmählich überwindet, ſpaltet ſich die
plaſtiſche Geſammtrichtung der italieniſchen Malerei ſelbſt in eine mehr plaſtiſche
und eine mehr maleriſche und dieſe Spaltung verdoppelt ſich, indem die floren-
tiniſche
Schule nach einer Seite zwar die erſtere Richtung vertritt, nach der ander-
aber weſentliche Momente des Maleriſchen ausbildet, wogegen die Schule von
Siena die maleriſche Richtung vorherrſchend nur im Sinne des tiefen Ausdrucks
innerer Seelenſchönheit verfolgt.


Wir faſſen zuerſt die Beſtrebungen des dreizehnten und vierzehnten
Jahrhunderts bis in den Anfang des fünfzehnten in Einer Epoche zu-
ſammen, in der ſich die zwei Abſchnitte unterſcheiden, die man nach Kuglers
Vorgang romaniſchen und germaniſchen Styl zu nennen pflegt. Schon
in dieſer Epoche entwickelt die italieniſche Malerei den geſchilderten
plaſtiſchen Formſinn, dieß zeigt der erſte Blick ſelbſt auf die Mei-
ſter des erſten Zeitabſchnitts, des dreizehnten und beginnenden vier-
zehnten Jahrhunderts, auf Cimabue und Duccio von Siena. In
ihnen tritt ſchon ein Gefühl für den Adel der Form und Bewegung, ein
ſchwunghaftes, gemeſſenes Pathos, ein Fluß in den Falten durch, der
uns nicht im Zweifel läßt, daß wir es hier mit einem plaſtiſch geſtimmten
ſüdlichen Volke zu thun haben, und noch beſtimmter liegt dieß nicht nur
bei den Florentinern, ſondern auch den ſanften, innigen Sieneſen vor,
welche im zweiten Abſchnitte dieſer Epoche auftreten. Der erſte Abſchnitt
iſt der Durchbruch der aus der Knoſpe ſpringenden innigen, glühenden,
tiefbewegten Seele des Mittelalters durch den Panzer der todten Ob-
jectivität des byzantiniſchen Styls, deſſen Riemen und Schnallen aber
noch nicht abgeſchüttelt werden. Die innere Kraft wird unterſtützt durch
jene frühen Studien der Antike und der Natur, die Nicolaus von Piſa
macht und in ſeiner Bildhauerſchule zur Anwendung bringt. Auf den
Schultern vereinzelter Vorgänger tritt dann Cimabue in Florenz, Duccio
di Buoninſegna in Siena auf. Man darf jenen nicht allein nach ſeinen
Madonnen, namentlich der berühmten in S. Maria Novella, beurtheilen,
worin uns bei ſtarren, von byzantiniſch ſpitz gebrochenem und geſtricheltem
Gefälte umgebenen Formen der erſte Blick der Mutterliebe, Kindeszärt-
lichkeit, Engels-Andacht aus den Köpfen leuchtet; die reifere Beobachtung
des Menſchen, der Abſtufungen des Affects, edle Zeichnung, Sinn der
entſprechenden Gruppirung und Compoſition tritt in den Fresken der
oberen Franziskus-Kirche in Aſſiſi zu Tage. Man kann jene Wärme
der Empfindung und jene erſte Lebendigkeit in Auffaſſung des Affects
maleriſch nennen und ſo den Anfang einer doppelten Spaltung, wonach
[706] die mehr plaſtiſche Richtung nach einer Seite doch gewiſſe Momente des
Maleriſchen auszubilden übernimmt, ſchon hier finden, doch wird dieß
erſt klar, nachdem der Gegenſatz der ſieneſiſchen Schule beſtimmter hervor-
tritt; im Weſentlichen aber iſt der plaſtiſche Charakter deutlich genug in
Cimabue ausgeſprochen namentlich in ſeinen ehrwürdigen, ſtatuariſch auf-
gefaßten Männergeſtalten, anmuthigen Genien und Arabesken. Die Schule
von Siena zeigt in dem merkwürdigen Duccio während dieſes Stadiums
dieſelbe Richtung in einer Kraft und Fülle, welche bei entſprechenden
Fortſchritten den Gegenſatz gegen die florentiniſche, welchen der §. aus-
ſpricht, nicht zugelaſſen hätte; denn auf der berühmten Tafel dieſes Meiſters
ſind die kleinen Compoſitionen aus der Leidensgeſchichte durch Studium
des Lebens, des Affects, der Form ſelbſt im Nackten und der äußeren
Bewegung, durch Fülle der Anordnung vielbedeutender, als die ſtille, liebe-
volle Seele, die aus der Madonna der Vorderſeite ſpricht, ja dedeutender,
als Cimabue’s verwandte Leiſtungen. — Auf dieſe erſte Stufe folgt dann
die Entwicklung des Gegenſatzes im zweiten Abſchnitte der vorliegenden
Epoche. Siena ſchreitet nicht auf der Bahn fort, die Duccio betreten
hat; es beſchränkt ſich im Weſentlichen auf die Seelen-Anmuth und läßt
der toſcaniſchen Schule des Giotto die Entwicklung alles deſſen, was
ſich vorzüglich an die Zeichnung knüpft. Hier nun aber iſt ſogleich einer
der wichtigſten Puncte, wo es gilt, nicht abſtract gegenüberzuſtellen, ſon-
dern zu bedenken, daß nur das Uebergreifen der Gegenſätze ineinander
das wahre geſchichtliche Leben iſt. Giotto und ſeine Schule ſtellt ſich
allerdings auf den Boden der plaſtiſchen Richtung, ihr objectiver Sinn
erfaßt den religiöſen Stoff von der Seite der Thatſache und ſetzt ihn in
Handlung, der verſtändigere, in gelöster Beweglichkeit doch kältere Geiſt
der Florentiner legt ſich vor Allem in das Formſtudium und demgemäß,
wie geſagt, in die Zeichnung; er geht auf den Begriff los und wird daher,
wie aller plaſtiſche Styl, gedankenhaft, allegoriſirt an Dante’s Hand,
liebt eykliſche Aufreihungen und Anordnungen, die von einer Idee be-
herrſcht ſind. Daß dieſer Styl die Naturtreue ſelbſt auf Koſten der äſtheti-
ſchen Geſetze pflegt (wie z. B. in dem Bild Orcagna’s, das die Schauer
der Vergänglichkeit an drei verweſenden Leichnamen zeigt,), können wir
noch ſeinem denkenden, auf den Begriff der Sache ſtreng losgehenden
Weſen zuſchreiben; aber ebenſoſehr iſt ſolcher Naturalismus ſchon ein
Beweis, daß das Maleriſche hier auch auf der Seite des plaſtiſchen
Styls vertreten iſt. Ungleich ſchlagender tritt dieß jedoch hervor in der
reichen, bewegten Entfaltung der Seelenzuſtände, der Affecte, die ſich in
einer Ausbildung der Compoſition, deren durchdachter Linienbau freilich
wieder zur plaſtiſchen Seite gehört, voll dramatiſchen Lebens ausbreitet,
obwohl die noch ſichtbare Mühe den Bewegungen etwas Hartes und
[707] Gewaltſames gibt. Maleriſch ſind aber auch die vielfach eingewobenen
genreartigen, oft humoriſtiſchen Motive. Dieſe finden in der reichen
Legende mit der Ironie des Naturgeſetzes, die in ihren Wundern liegt,
ſattſame Anknüpfung, denn die mythiſche Stoffwelt erweitert jetzt mehr
und mehr ihre Kreiſe. Ihre Erweiterung iſt zugleich ein Herausdrängen
nach der urſprünglichen Stoffwelt; dieß iſt die tiefere Bedeutung ſolcher
Einflechtungen, die ſich denn auch keineswegs auf einzelne Züge be-
ſchränken. Der Drang nach der Wirklichkeit ſetzt nicht nur die mythiſche
Handlung an ſich nach Kräften in lebendige Realität, ſondern zieht als
Zuſchauer oder in näherer Betheiligung bei Ceremonienſcenen Gruppen von
Figuren herbei, in welchen neben dem Sittenbilde bereits auch die Ge-
ſchichtsmalerei als ſchwacher Keim ſichtbar iſt. Wir haben dieſe wichtige
Erſcheinung von nun an im Auge zu behalten und wo ſie ſtärker auftritt,
ausdrücklich herauszuſtellen. Wenn nun ſo die plaſtiſche Richtung auch
das Maleriſche, und zwar in reichem Maaß, in ſich aufnimmt, ſo fehlt
umgekehrt der maleriſchen das Plaſtiſche nicht, denn die Sieneſen ziehen
ſich zwar jetzt meiſt auf die einfachen Gruppen zurück, worin das unend-
liche Leben der Liebe zu ſeiner ſtillen Innigkeit ſich ſammelt, nicht zur
bewegten Handlung ſich erſchließt, ſie bleiben in der Zeichnung zurück,
ohne die Farbe in reicherer Weiſe, als für den Zweck dieſes Ausdrucks,
zu verwenden; ſie bleiben gebunden von einem Reſte byzantiniſcher Hager-
keit, während die Florentiner die typiſche Feſſel allmählich ſprengen und
ihre Schranke nur da finden, wo ihr Können endet; allein in einem
Ambruogio di Lorenzo bricht der Geiſt Duccio’s wieder durch, ja er breitet
ſich wie die Giottiſten in handlungsreicher Freske aus und die allegoriſchen
Figuren, die jene Darſtellung des guten und ſchlechten Regiments im
Rathhauſe zu Siena zuſammenfaſſen, ſind von antiker Schönheit. Doch
auch die ſtille Seelen-Anmuth dieſer Sieneſen in den holden Madonnen-
köpfen mit den griechiſchen Naſen kann man nicht im engſten maleriſchen
Sinne eine hinter der Form tief in ſich zuſammengefaßte Innerlichkeit
nennen; die Seele ergießt ſich warm und liebevoll ohne Bruch in ihre
Form. Und dieſer Zug fehlt auch wieder auf florentiniſcher Seite einem
Taddeo Gaddi und Andern nicht.


§. 722.

Es folgt die Stufe des Uebergangs zur höchſten Blüthe, die durch einen
rührenden Reſt von Gebundenheit noch von der Entfaltung der freien Schönheit
zurückgehalten wird. Der Gegenſatz der Style bleibt, jede der beiden Rich-
tungen wächst und reift aber nicht nur an ſich, ſondern füllt ſich auch reichlicher
mit Inhalt und Form der entgegengeſetzten. Die florentiniſche Schule, die
[708] Trägerinn des großen Fortſchritts, der ſich vor Allem auf die Erforſchung der
Natur und die eröffnete Kenntniß der Antike gründet, erfaßt insbeſondere die
bisher noch mangelnde Individualität. Die Zweige, die ſich rein auf die
Kreiſe der urſprünglichen Stoffwelt gründen, ſtreben am mythiſchen Stoffe zum
Daſein. Die Fortbildung des ächt Maleriſchen im Sinne der lyriſchen Ge-
müthstiefe hat die umbriſche Schule übernommen, die nun dem innigen Ge-
fühls-Ausdruck auch die volle Wärme der Farbe gibt.


Das unendlich Anziehende, Liebenswürdige dieſer Epoche, die das
fünfzehnte Jahrhundert einnimmt und noch in das ſechzehnte hineingeht,
iſt die Naivetät, der ſüße, rührende Reſt von Dunkel und Unbewußtheit,
der die aufſchwellende Roſe der Schönheit noch einhüllt, doppelt Herz-
gewinnend, wenn man bedenkt, wie raſch die volle Reife überreif wird
und die ganz entbundene Freiheit in Willkühr und falſche Bewußtheit
übergeht. — Florenz wird nun die große Akademie, insbeſondere die
große Zeichenſchule für die Maler Italiens. Hier, in der Stätte des
Wohlſtandes und der Bildung, blühen alle Künſte auf, hier die Wiſſen-
ſchaft, die erneute Kenntniß des Alterthums, hier lehren Griechen ſchon
vor der Eroberung Conſtantinopels, gründen die Mediceer die platoniſche
Akademie; hier iſt es, wo vor das urverwandte Auge des Italieners nun
in wieder erkannter Schönheit die claſſiſche Kunſt tritt, wo zuerſt mit
vollem Bewußtſein die antike Sculptur wieder gewürdigt, ſtudirt wird,
und daher in dieſem Kunſtgebiet ein Ghiberti, Donatello, Luca della
Robbia erſtehen kann. Die Antike iſt eine zweite, geläuterte Natur, ſie
kann irreführen, kann zum Conventionellen verleiten, wenn die Kunſt nicht
zugleich auf die erſte, die wirkliche Natur zurückgeht, ihr ewiges, ur-
ſprüngliches Vorbild. Das war ſchon in der erſten Epoche neben den
innern Schätzen der Phantaſie der große Hebel der Befreiung vom Typus.
Die Florentiner wenden ſich nun mit unbefangenem Wahrheitsdurſte zu dieſem
Born, insbeſondere kommt das Studium der Perſpective, der Anatomie
auf, und was nicht in ausdrücklich wiſſenſchaftlicher Weiſe geſchieht, das
zeigt dem Maler die aufmerkſamere Praxis, wie denn der große Begründer
der neuen Epoche, Maſaccio, durch Auffindung der wahren Geſetze der
modellirenden Wirkung des Lichts, der Verkürzung, des Faltenwurfs, der
Rundung, die ſelbſtändige Ablöſung der Geſtalt von ihrem Grunde und
dadurch er zuerſt den vollen maleriſchen Schein erzielt. Der innere Geiſt
aber, den dieſer geniale Meiſter in die Anwendung der neu entdeckten
Kunſtgeſetze legt, iſt ein Geiſt der gehaltenen Würde, des Charakterge-
wichts aus Einem Guſſe, der ſich doch in der ganzen Leichtigkeit und Zu-
fälligkeit der Natur bewegt; er ſchon hat jene würdigen Männergeſtalten,
von denen bei der Darſtellung des plaſtiſch maleriſchen Styls die Rede
[709] geweſen, er auch nackte Figuren in voller, reiner Welle der organiſchen
Rundung. Von ihm an geht nun der plaſtiſche Zug, der Geiſt der vor-
herrſchenden Schönheit der Zeichnung in unverrücktem Anſteigen durch dieſe
florentiniſche Schule; auch der fromme, beſchauliche Fieſole lenkt nicht
aus dieſer Bahn, Benozzo Gozzoli legt ſein ebenſo mildes, doch
weltlich freieres Gemüth ſo geöffnet und klar in dieſes Medium, daß
wahrhaft antik gefühlte Geſtalten aus dem naiven Epos des Lebens, das
er an den Schickſalen der Patriarchen entwickelt, ſich wie erwärmte Statuen
ablöſen, der freundliche, ſchlicht warme Dom. Ghirlandajo iſt voll
reiner Geſtaltenfreude, die in Figuren, Gruppen, Bewegungen, wehenden
Gewändern mit claſſiſchem Hauche hervordringt, endlich aber ſchlägt das
Bewußtſein, daß dieß Alles noch nicht genüge, in den ſtrengen Detail-
ſtudien durch, die den Werken eines Andrea del Caſtagno, Ant. del
Polajuolo, Verocchio jene unerquickliche Härte und Schärfe der Einzel-
form ohne den harmoniſch ausfüllenden und abrundenden Fluß des Lebens
und der Seele geben, bis Luca Signorelli erſcheint, in das ſchroffe
Detail wieder die Welle der organiſchen Geſammtbewegung einführt, den
Strom des Affects, der in Fra Filippo Lippi in unſchöner, ſelbſt gemeiner
Form und zackiger Zeichnung unveredelt und vereinzelt durchgebrochen, in
die reinere Form leitet, an Meiſterſchaft der Zeichnung und Verkürzung
in großen Compoſitionen alle Früheren übertrifft und ſo als Vorläufer
des M. Angelo daſteht. Das Studium in ſeiner plaſtiſchen Richtung iſt
und bleibt vor Allem auf das organiſche Gebilde der menſchlichen Geſtalt
gerichtet. Nimmt man nun das Maleriſche im Sinne des Ausdrucks un-
ergründlicher Gemüthstiefe, religiöſer Innerlichkeit, ſo iſt allerdings nur
durch die herzliche Frömmigkeit, die Sabbathfeier und Himmelsfreude des
Fieſole dafür geſorgt, daß auch dieſes Moment auf der plaſtiſchen Seite
vertreten ſei; die bürgerliche Behaglichkeit, die offene, ſchalkhafte Welt-
freude des Florentiners iſt in dieſer Zeit, da es den Menſchen wohl und
heimiſch ward auf Erden, noch weniger, als in dem vorhergegangenen
Jahrhundert, geſtimmt, in den myſtiſch gedrängten Kern des chriſtlichen
Geiſtes ſich zu verſenken, ſondern ganz darauf bedacht, den großen In-
halt objectiv auszubreiten, in die Realität hinauszuführen. Faßt man
aber andere Seiten des Maleriſchen in’s Auge, ſo ſieht man dieſe heitere
Kühle noch weit umfaſſender und voller, als zur Zeit der Schule des
Giotto, mit der Wärme dieſes Elements ſich ſättigen: Bewegtheit, Studium
der Stimmungen, Affecte, Charakterformen, Handlung, das Alles ent-
faltet ſich nach Giotto’s Anfängen in herrlicher Fülle weiter und weiter.
Der §. hebt aber Ein Moment ausdrücklich heraus: die vorhergehende
Epoche hatte noch ſtereotype Köpfe, die Grundzüge des Affects, der
allgemeineren Charaktertypen ſind erkannt und wiedergegeben, aber es fehlt
[710] oder wagt ſich nur in einzelnen eingemiſchten Porträtfiguren hervor das
künſtleriſche Gefühl für die unendliche Eigenheit der Individualität; der
Maler bildet ſich für die bei allen Unterſchieden gleiche Grundſtimmung
eine gewiſſe Geſichtsform, die er ſtehend wiederholt; nicht durchgängig
gelangt die florentiniſche Schule jetzt dahin, die eigentliche Spitze des
Maleriſchen im Individuellen zu erfaſſen, namentlich Fieſole hat noch
die ſtereotype Phyſiognomie, aber die Andern führen mehr und mehr die
einzelne Geſtalt in die Form der porträtartigen Lebenswahrheit heraus.
Das Alles ſetzt eine Entwicklung des Colorits voraus, welche weit über
die einfache, ſonnige Farbenhelle eines Giotto ſich erheben mußte, und
Dom. Ghirlandajo vornehmlich iſt es, der bereits die feinen Wirkungen
haſtiger Streiflichter, einfallender Sonnenſtrahlen und ahnungsvollen Hell-
dunkels belauſcht. Es iſt nun insbeſondere das Porträtartige, was uns
zu einer weiteren Seite führt. Die Ausbildung deſſelben iſt nämlich ein
Hauptbeweis von der Stärke jenes Drangs, den tranſcendenten Stoff in
die volle Realität hineinzubilden, den wir ſchon in der vorhergehenden Epoche
gefunden haben und der ſich nun in denſelben merkwürdigen Erſcheinun-
gen, wie dort, aber in erweiterter Ausdehnung kund gibt. Das Maleriſche
entwickelt ſich denn vor Allem in dem Sinne fort, daß mit der Handlung
das Umgebende zu ſeiner Geltung gelangt; da waren allerdings Ein-
flüſſe von Deutſchland vorangegangen, wo das in ungetheilter Kraft wir-
kende rein maleriſche Prinzip bereits dieſe Conſequenz in Kraft geſetzt
hatte. So wird nun die Handlung in eine Landſchaft, architektoniſche
Umgebung, inneren Wohnraum mit Geräthen geſetzt, die Thierwelt ſpielt
umher, und das Alles iſt mit einem Intereſſe, in einem weit über das
Darſtellungs-Object hinausgehenden Umfang behandelt, woraus deutlich
erhellt, daß hier gewiſſe Zweige, die ſich auf dieſe Seite des Stoffes
gründen, an das Tageslicht ringen, aber ſich nicht entbinden können,
weil der mythiſche Stoff, der für den einzigen und abſoluten gilt, ihnen
nur unſelbſtändige Anlehnung geſtattet. Dieſer Zug herrſcht bei der
Schule des Giotto mehr in Beziehung auf das menſchliche Leben ſelbſt,
und auch darin bleibt die jetzige Epoche nicht zurück, ſondern macht
vielmehr die merkwürdigſten Fortſchritte: die Haupthandlung wird ſo
ganz in das Reale überſetzt, daß der Mythus eigentlich nur zu einem
Motive wird, Anderes, rein Menſchliches auszuſprechen: Noa’s Erfin-
dung des Weinbaues dient dazu, das Bild einer fröhlichen Weinleſe, die
Geburt Eſau’s und Jakobs, der Maria, das Bild einer gemüthlichen Wochen-
ſtube zu geben, u. A. Das iſt Sittenbild, welches noch nicht zur ſelbſtän-
digen Geburt gelangen kann. Auch das Motiv, Zuſchauer um die Hand-
lung zu verſammeln, kommt nun immer ſtärker auf und hier, in den vom
Marke der Geſchichte genährten Geſtalten, den Kriegern, Staatsmännern,
[711] Gelehrten der Gegenwart, welche wir ohne eigentlichen Antheil beigezogen
und mit der vollen Gediegenheit hiſtoriſchen Gefühls dargeſtellt ſehen, iſt
denn noch ungleich entſchiedener, als bei der Schule des Giotto, der Zug
zu der rein geſchichtlichen Malerei zu erkennen, der ebenfalls durch die
Herrſchaft des mythiſchen Stoffes zurückgedrängt ſich nur als Anhang an
dieſen lagern kann.


Auf der andern Seite ſteht denn die umbriſche Schule, die in dem
Wege fortgeht, auf welchem die ſieneſiſche ſtehen geblieben. Sie erſt
öffnet den ganzen Himmel trunkener Andacht, die Tiefen der Wehmuth,
des unſagbaren Seelenweinens, des ſüßen, wundervollen Träumens, das
ſich in das Gnaden-Meer des Jenſeits verſenkt, der Entzückung verzeihen-
der, ewiger Liebe; das weibliche, das Madonnen-Ideal iſt ihr wahres
Gebiet, ja ſie hat es in ſeiner wahren Schöne und himmliſchen Grazie
erſt geſchaffen. In dieſem Sinne des vorherrſchenden Gemüths-Ausdrucks
ſteht ſie noch entſchiedener im Mittelpuncte des ächt Maleriſchen, als die
ſieneſiſche Schule, weil ſie nun das Element, worin die Tiefe des Inner-
lichen erſt ſeinen vollen Ausdruck finden ſoll, die Farbe, zu jener Wärme
fortbildet, aus welcher die myſtiſche Gluth des Herzens hervorwallt. Allein
gerade die Unendlichkeit des Innern ſelbſt hätte ſie in dieſer Fülle nicht
zum Ausdruck gebracht, wenn ſie des Plaſtiſchen nicht mehr aufgenommen
hätte, als die Sieneſen. So lernt denn der große Meiſter des umbriſchen
Styls, Pietro Perugino, in Florenz Zeichnung und Compoſition;
allein er fühlt, daß er ſich nach dieſer Seite wieder beſchränken muß,
wenn er das Ideal der Innigkeit zur Vollendung bringen will, er ſteht
daher von den großen Compoſitionen ſo weit ab, daß er von nun an
nur Scenen ſtiller Liebe oder ſtillen Schmerzes, und auch dieß nur ver-
einzelt, in figurenreicheren Scenen behandelt; die einfacheren Gruppen,
Madonna mit dem Kind und einigen Heiligen im Wechſeltauſch beſeli-
gender Liebe, ſind ſein wahres Feld; in der Zeichnung bleibt er wirklich
zurück, gewiſſe Mängel kehren gleichmäßig wieder. Aber dieſe Zeichnung
hat ſich doch in der florentiniſchen Schulzeit Fluß und Adel genug an-
geeignet, um, verbunden mit der myſtiſchen Tiefe des Ausdrucks, ein Ideal
zu erzeugen, das man nur mit der deutſchen Malerei vergleichen darf,
um zu begreifen, daß der Italiener mitten im ächt Romantiſchen immer
noch plaſtiſch bleibt. Denn hier wirkt die Grazie der Form auf den
Ausdruck ſo zurück, daß das in ſich concentrirte Herz als ein ſolches er-
ſcheint, das doch gegen ſein eigenes Sinnenleben und die Natur umher
nicht in hartem Bruche zurücktritt, vielmehr als wahrhaft ſchöne Seele
die Quelle der äußeren Grazie ſchon in ſich, in der innern Grazie trägt.
Das aber leuchtet ein, daß ein ſolcher Styl nicht ebenſo die andern Seiten
des Maleriſchen, insbeſondere die Individualität, ausbilden kann, wie der
[712] florentiniſche: der einmal gefundene Typus für dieſe Art des Ausdrucks
wiederholt ſich wie ein Götter-Ideal mit geringer Mannigfaltigkeit.


§. 723.

1.

Am Ausgange des Mittelalters erſteht aus dieſen Bedingungen eine
Blüthe der Malerei, welche im freien Dienſte der Religion die Stoffe der-
ſelben zur reinen Schönheit erhebt und hiemit den Bund mit derſelben, während
ſie ihn vollendet, im Grunde, wiewohl noch nicht in der That, löst (vergl. §. 63);
nur vereinzelt wird die urſprüngliche Stoffwelt, mit erwachter Sinnenfreude der
2.claſſiſche Mythus aufgenommen. Dieſe Blüthe ſchafft einen Styl, der durch
das höchſte Maaß der Verſchmelzung mit dem ächt Maleriſchen, welches inner-
halb der plaſtiſchen Richtung möglich iſt, in ähnlicher Weiſe abſolut und
muſterhaft daſteht, wie die antike Kunſt, deren innige Aneignung ihm ſelbſt zu
Grunde liegt.


1. Das dialektiſche Verhältniß der Geſchichte der Kunſt zur Geſchichte
der Religion iſt nicht nur in §. 63, der hier als Hauptſtelle angeführt
iſt, ſondern ſo vielfach dargeſtellt, daß wir hier ganz kurz ſein können.
Der erſte Theil behandelt es auch in §. 27, zu §. 63 wird insbeſondere
auf die Krit. Gänge des Verf. B. 1 S. 183—187 hingewieſen, im
zweiten Theil ſ. §. 417. 418. 464. 466; im gegenwärtigen hat zuletzt
§. 695 den Gegenſtand wieder aufgenommen. Nirgends ſo wie in der
herrlichen Erſcheinung des reifen Ideals der italieniſchen Malerei ſieht
man bewährt, wie die höchſte Blüthe jenes Bundes bereits ſeine Lockerung
iſt. Man kann daher auch die kirchlichen Werke der großen Meiſter frei
bewundern, ohne irgend mit ihnen und ihrer Zeit Gemeinſchaft des hiſtori-
ſchen Glaubens an den Stoff zu haben: dieſer iſt rein künſtleriſches Motiv
geworden. Raphaels Madonnen ſind die ewig ſchöne reine Weiblichkeit,
die keuſche Mutterſchaft, die Mutterliebe und alle Liebe, M. Angelo’s
jüngſtes Gericht iſt die ewige Gerechtigkeit; von der Frage über die
Exiſtenz der Gegenſtände, über die Möglichkeit der Thatſachen kann dabei
völlig abſtrahirt werden. Man meine aber ja nicht, wir wiederholen mit
dieſem Satze nur daſſelbe, was in der Begriffslehre des Schönen von der
äſthetiſchen Intreſſeloſigkeit, der gegen die Exiſtenz des Gegenſtands gleich-
gültigen reinen Formfreude geſagt iſt, und wir widerſprechen unſerer
Behauptung, daß die Stoffe der Kunſt Gegenſtände möglicher Erfahrung
ſein ſollen. Man kann fordern, daß der Gegenſtand nach Naturgeſetzen
möglich ſei, ohne darum im Geringſten ein Intereſſe für ſeine wirkliche
Exiſtenz in Anſpruch zu nehmen, man kann gegenüber einer gegebenen
Kunſt von dieſer Forderung abſtrahiren, ohne ſie darum aufzugeben, ohne
[713] zu vergeſſen, daß eine Zeit, in deren Bewußtſein die tranſcendente, mythiſche
Abbreviatur der Dinge nicht mehr lebt, nie dahin zurückkehren kann, den
ewig wahren Inhalt, den dieſe Bilder bergen, wieder in ſie zu legen;
es iſt in jener Abſtraction ein unverkennbarer Vorbehalt, ein „obwohl“
ein „trotz“ (z. B. trotz der craſſen Theologie im jüngſten Gerichte). Auch
im Künſtler kann ein Verhältniß des Gemüths, wie es einſt in dieſen
Stoffen wurzelte und doch frei äſthetiſch über ihnen ſchwebte, ſo nie wieder-
kehren, es iſt einzig. — Wie gewaltig nun allerdings die urſprüngliche
Stoffwelt aus der Tranſcendenz bereits herausringt, erkennt man an
jenen berühmten Schlacht-Compoſitionen des Leonardo da Vinci und
des M. Angelo, an jenen Porträt-Gruppen in Raphaels Diſputa und
Vertreibung des Heliodor, wo wir die Erſcheinung, die wir ſchon bei
Giotto und den Florentinern des fünfzehnten Jahrhunderts gefunden,
in der höchſten Potenz wieder auftreten ſehen, noch mehr aber an der Schule
von Athen, die ganz mythenlos iſt. Raphael genießt nun aber auch
jenen großen Vortheil, den geſchloſſenen Mythus der heiligen Geſchichte
in ſeine erſte Oeffnung, in die Ausſtrömung des Geiſtes auf die Apoſtel
und erſten Gemeinden verfolgen zu dürfen und ſomit den Boden der
wirklichen Geſchichte gleichſam auf ſeiner Schwelle, wo jener Geiſt ſchon
Männerthat wird, zu betreten (vergl. §. 695, Anm. 1.) Nach anderer
Seite bewährt ſich die freie Univerſalität und Gelöstheit des künſtleriſchen
Geiſtes durch die anmuthvolle, in edlem Sinnenfeuer und in energiſchem
Gefühl heroiſcher Mannesgröße erglühende Aufnahme des antiken Mythus.
Wir haben dieſe Erſcheinung in §. 703 bereits gewürdigt.


2. Entſtanden iſt dieſer Styl neben der Fülle anderer vorbereitender
Momente durch die lebendige Frucht, die nun das ſchon in der vorher-
gehenden Epoche wieder erſtandene Gefühl und Studium der Antike trägt.
Er iſt ſo eine relative Einheit des Claſſiſchen und Romantiſchen: eine
relative, denn es bleibt noch eine ſchwerere Verſchmelzung zu vollziehen,
die nämlich, wo auch der in ſeine ganze Beſtimmtheit verfolgte maleriſche
Styl in dieſe große Schule der Form geht. So nun aber durchdrungen
von der Antike hat der plaſtiſche Styl der Malerei doch zugleich des
ächt Maleriſchen ſo viel, als immer in dieſer Richtung möglich iſt, in
ſich aufgenommen; wir werden dieß ſogleich als Hauptmoment in Raphaels
Bedeutung erkennen. Da kehrt denn in anderer Weiſe wieder, was von
der Antike gilt: wie dieſe von ihrer Weltanſchauung aus für die Plaſtik
genau das muſtergültig rechte, zarte Maaß des Naturtreuen und Individu-
ellen in die reine Form des Schönen aufgenommen hat und daher als
ewiges Muſter, ewige Vorlage und Bildungsquelle daſteht, ſo dieſer hohe
Styl der italieniſchen Malerei, indem er die abſolute Linie darſtellt, bis
zu welcher die plaſtiſche Richtung in dieſer Kunſt das ächt Maleriſche

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 47
[714]in ſich aufnehmen kann. Was die alte Kunſt für alle Zeiten iſt, das iſt
dieſer Styl vom ſechzehnten Jahrhundert an für die weitere Zukunft:
ein anderer Styl, der ſpezifiſch maleriſche, ſtets in Gefahr, das Maaß,
den Adel, den feſten Halt zu verlieren, hat für immer an dieſem reinen
und ewigen Muſter hinaufzublicken und jene Stätten, wo ſeine reine, aus
dem Herzen der Romantik getränkte Götterwelt thront, ſind das Athen,
wohin jeder Maler wallfahren ſollte. Die neuere Zeit hat nun alſo zwei
große Muſter, die Antike und die großen Italiener. Tiefer genommen
enthalten dieſe bereits jene in ſich, ſtellen bereits eine angeeignete Antike
dar. Der Rückgang auf die Antike ſelbſt iſt uns darum nicht erſpart,
wir ſollen ſie uns ſelbſtthätig aneignen, aber zugleich iſt es unendliche
Förderung, daß wir bereits eine vollendete Form warmer und freier An-
eignung vor uns haben, daß es nicht ein einfacher, ſondern ein getheilter
Takt iſt, durch den wir auf das Alterthum zurück und von da wieder zur
Gegenwart her blicken. Die weitere Geſchichte wird dieß zeigen.


§. 724.

Dieſe ideale Stylbildung, auf Grundlage neuen, ernſten Naturſtudiums
und wiſſenſchaftlicher Erkenntniß geſchaffen von Leonardo da Vinci, theilt
ſich aber noch einmal, und zwar ſo, daß das Erhabene in der Energie der
Form, der plaſtiſche Styl in gewaltig bewegter Erſcheinung durch den Florentiner
M. Angelo ſeine Höhe erreicht, wogegen Raphael vom Stadpuncte der
reinen Schönheit das Ganze erfaßt, indem er mit der umbriſchen Farbe und
Grazie der gemüthvollen Innigkeit die florentiniſche Zeichnung, Compoſition, Fülle
der Charaktere, Individualität, Handlung bis zur vollen Kraft des Erhabenen
vereinigt.


Alles Studium und Bewußtſein der Kunſtgeſetze, das in der floren-
tiniſchen Schule ſich bereits entwickelt hat, faßt ſich in Leonardo da Vinci
zuſammen. Er iſt der eigentliche Lehrmeiſter der Blüthezeit. Schon die
vorhergehende Epoche ſchöpfte ihre Kraft neben der claſſiſchen Kunſt aus
der ewigen Quelle der Natur; Leonardo mit ſeinem Denkergeiſte lehrt
und zeigt erſt gründlich, wie man ſchöpfen muß. Er iſt aber ebenſoſehr
ſchaffender Künſtler, nur kein fruchtbarer; denn außer dem theoretiſchen
Drange theilt auch die in mehr, als Einer, Kunſt geniale Vielſeitigkeit,
die ihn wie die andern großen Meiſter dieſer Zeit auszeichnet, ſeine
Thätigkeit. Leonardo iſt der Schöpfer des vollendeten Styls und darf
als die Einheit deſſen aufgefaßt werden, was ſich auch auf dieſer höchſten
Stufe noch einmal ſpaltet. Denn zur florentiniſchen Klarheit bringt er
zugleich das Gefühl der Innigkeit, das weiche Gemüth und die ent-
[715] ſprechende Form der ſanften Grazie; nach dieſer Seite hat er in Mailand
ein dem umbriſchen verwandtes, nur weniger myſtiſches Element des Aus-
drucks rührend milder, durch ein unſagbares Lächeln bezaubernder Schönheit
der Seele vorgefunden, das in ſeiner reichen Bruſt den einſtimmenden
Klang traf und verſtärkte; was die Farbe betrifft, ſo iſt er freilich kälter,
als die Umbrier, aber fein, ſorgfältig und gründlicher Forſcher des Hell-
dunkels. Weiblich ſanft in dieſem Gebiete der Anmuth iſt er zugleich
ganz Mann. Die große Charaktergruppe, die Handlung als ein ent-
brannter Kampf kriegeriſcher Kräfte, die tief tragiſche Situation iſt ebenſoſehr
ſein Element, als die ſtille Gruppe aus dem Liebeleben der h. Familie,
und zwiſchen den energiſchen Männergeſtalten des h. Abendmahls ſehen
wir das Ideal der Milde und Seelenſchönheit in Chriſtus und Johannes.
Hier der Maler des intenſiv geſchloſſenen Gemüthskerns iſt er dort der
Meiſter der reichſten Expanſion. Er iſt es nun aber vorzüglich, der jene
Charakterſchärfe in Zügen des Affects und der Individualität, welche ſchon
ſeine Vorgänger in die reine Linie der Zeichnung einzuführen begannen,
zu dem vollen Maaße forbildet, das der plaſtiſch maleriſche Styl erträgt.
Seine Caricaturen ſind Zeugen davon, wie er das Charakteriſtiſche durch
Ueberladung ſich klar macht, um der flachen Allgemeinheit zu entgehen;
das Porträt, das nun immer ſtärker in die Bedeutung einrückt, die wir
ihm zugeſchrieben, unterſtützt ihn in dieſer Richtung auf das Beſtimmte
und Individuelle. So erzeugt er eine Fülle von Charaktergeſtalten, die
er, darin wieder ganz Florentiner, durch wunderbare Weisheit rhythmiſcher
Compoſition zuſammenhält. Seine Nachwirkungen in Mailand äußern
ſich darin, daß jener Zug ſüßen, weiblichen Seelenzaubers nun durch die
Klarheit der reifen Zeichnung es vermag, die liebliche Dämmerung des
Gemüths in den hellen Tag der Gegenwart zu ſtellen; wir nennen unter
den Meiſtern dieſes Styls nur den herrlichen Bernardino Luini.


So ſehen wir denn in dieſem großen Lehrmeiſter der Blüthezeit vor
Allem die Kraft ausgeſprochen, Gegenſätze zu verſchmelzen. Und dieſe
Macht der Concretion, die ein Hauptmerkmal des Genius iſt, ſoll in noch
höherer Potenz auftreten. Aber ehe dieß geſchieht, wirft der Geiſt der
Geſchichte noch einmal eine einſeitige Kraft wie einen mächtigen, gewal-
tigen Aſt aus ſeinem Stamme und dieſe Erſcheinung bewirkt, daß die
Krone des Baums, die folgende höchſte Einheit, ſelbſt wieder auf die
eine Seite eines Gegenſatzes zu fallen ſcheint, ja in gewiſſem Sinne
wirklich fällt. Dieß iſt das Schwierige, was die Vergleichung des M.
Angelo und Raphael leicht verwirrt. In welchem Sinne M. Angelo
plaſtiſcher Maler iſt, haben wir zu §. 681 bereits zur Sprache gebracht.
Er iſt trotz der Zurückſtellung des Farben-Elements, das er zwar für
ſeinen Zweck tiefer durchbildet, als es ſcheint, maleriſch durch ſeine

47*
[716]ſtürmiſche Bewegtheit, aber in beſonders ausgeſprochenem Sinne plaſtiſch
durch das volle Uebergewicht, das er auf die Form, recht auf die nackte
Form legt. Er hat wenig Individualität, nur die allgemeineren Typen
der Affecte und Charaktere nimmt er auf; er veredelt ſie nicht durch
plaſtiſch ſchönes Profil, ſeine Köpfe ſind bisweilen gemein. Dieß ſcheint
wieder eine maleriſche Verirrung, allein was ihn vom ſchönen Ebenmaaß
abführt, iſt nicht Ueberſchuß des Ausdrucks über die Form, ſondern ein
Ideal der Kraft, das ein Rieſengeſchlecht von übergewaltigen Muskeln
und Knochen in den Titanenkampf mit einer göttlichen Macht führt, die
nicht im linden Säuſeln, ſondern im Zorneseifer des auf Wetterwolken
fahrenden Jehovah erſcheint. Dieſes Kraft-Ideal iſt und bleibt aber
mehr plaſtiſch, als ächt maleriſch; es iſt das Erhabene im Sinne bildneri-
ſcher Auffaſſung. Selten ergreift M. Angelo auch die Grazie, aber auch
ſie wird in ſeiner Hand erhaben und führt uns weibliche Geſtalten vor
Augen, die bei aller runderen Welle der Form doch demſelben Rieſen-
geſchlecht angehören wie ſeine ſchrecklichen Männer. Am meiſten maleriſch
iſt ein Ausdruck tiefer, divinatoriſcher Verzückung, den er beſonders jenen
Sibyllen, Propheten, Vorfahren der Maria geliehen. Dieſer Zug vererbt
ſich vorzüglich auf einen Meiſter aus jener florentiniſchen, an die großen
Vorbilder ſich anſchließenden Gruppe von Claſſikern im Sinne vollende-
ter Virtuoſität, denen in der durchgebildeten Beherrſchung der Form
öfters die Seele entſchwindet, auf Fra Bartolomeo. Andrea del
Sarto
, bald würdig, bald bürgerlich gemüthlich, oft gewöhnlich im Aus-
druck, hat doch auch häufig dieſes myſtiſche Blicken und Kreiſen der in
beſchattete Höhle geſtellten Augen.


Neben dieſem Maler der Erhabenheit, dieſem gewaltſamen M. Angelo,
ſteht nun die reinſte Blume italieniſcher Malerei, Raphael, mit dem vollen
Dufte der Anmuth. Dieſe Anmuth iſt die der inneren Seelenſchönheit;
Raphael iſt Umbrier und geht von der umbriſchen Schule aus, von welcher
er auch die Wärme der Farbe mitbringt. So ſcheint er zu ſtehen oder ſteht
wirklich, was die Grundformen des Schönen an ſich betrifft, auf der
Seite des einfach Schönen gegenüber dem Erhabenen; was die geſchicht-
lichen Hauptſtufen des Styls betrifft, die wir nun hier wieder aufnehmen,
auf dem Boden des reizenden und rührenden Styls gegenüber dem hohen,
und was die Richtungen der Malerei betrifft, auf der Linie der relativ
maleriſchen im Gegenſatze gegen die plaſtiſche. Allein Raphael ergreift von
ſeinem Boden aus die gegenüberſtehenden Formen in ganz anderer Tiefe,
Fülle, Ausdehnung, als von umgekehrter Seite M. Angelo: er öffnet
den geſchloſſenen Kern, worin der Eintritt des Göttlichen in die Welt als
ſtilles Leben der Liebe ſich zuſammenhält, zur reichen Handlung, zur vollen
Energie der Charaktere; ſtarke Männerſeelen in ſtarken Körpern ſchreiten
[717] fort zu dem Sturm und Blitze der That, worin der Geiſt mit gehobenem
Arme ganz als Macht wirkt, und vom Bilde des Kampfes erhebt er uns
zur thronenden Majeſtät göttlicher Hoheit und in die reine Luft wunder-
barer Begeiſterung; Raphael iſt nicht blos der Maler ſtill rührender,
lieblicher Madonnen, heiliger Familien, reizender Engelknaben, ſondern
ebenſoſehr mächtig bewegter Action und zugleich höchſter Verherrlich-
ung, viſionärer Entrückung jenes in Maria und Chriſtus perſönlich
beſchloſſenen Ideals, das er wie kein Anderer durch alle Stadien begleitet,
über alles Irdiſche; ſo fällt er denn auch nicht einem hohen Style gegen-
über auf die Seite des reizenden und rührenden Styls, ſondern er vereinigt
damit den hohen, nur daß dieſer in ſeiner Trennung und Ausſchließlich-
keit durch M. Angelo allerdings eine Gewalt erreicht, die in jener Harmonie,
worin das Erhabene ſelbſt ſchön bleibt, nicht möglich war, die aber ein
Raphael auch nicht wollen konnte. Die Einheit der Anmuth und Würde,
die wir in Leonardo da Vinci fanden, iſt in Raphael zu einer ganzen
Welt ausgebreitet, aber die Anmuth iſt in dieſer Welt das Herrſchende,
beherrſcht auch die Würde. Dieſe weltumfaſſende Weite wäre nun nicht
denkbar, wenn Raphael nicht nach der ſpezifiſch künſtleriſchen Seite vom
umbriſchen Standpunct aus die florentiniſche Zeichnung in ganz anderem
Maaß, als ſein Meiſter Pietro, und dazu die florentiniſche Compoſition
ſich angeeignet hätte. Nun aber enthielt dieſe Reinheit der florentiniſchen
Formgebung bereits den angeeigneten Geiſt antiken Formgefühls in ſich;
wenn Raphael zugleich durch Anſchauen der Antike ſelbſt ſich bildet, ſo
ſchöpft er aus doppelter Quelle und zu dieſem Schöpfen bringt er das
griechiſche Auge bei romantiſchem Herzen mit. Er vorzüglich ſtellt alſo auch
jene Einheit des Claſſiſchen und Romantiſchen (§. 723 Anm. 2) in ſich
dar und faßt den goldenen Inhalt des chriſtlichen Geiſtes in die ſilbernen
Schaalen des Alterthums; dieſelbe Einheit beſtimmt ſich aber näher als
die Einheit der florentiniſchen und umbriſchen Schule. Raphael hat einen
Zauber der Linie, eine Welle, ein Oval der Köpfe, ein Neigen, Beugen
des Hauptes und Halſes, eine Zeichnung der Figur, der Hand, des
Beins und darin einen Ausdruck himmliſcher Liebe, Reinheit des Daſeins,
die nur ihm eigen iſt, ſo nicht wiederkehren kann. Mit dieſem Steuer
des Schönheitsgeſetzes in der Hand iſt er nun auch ſchlechthin ſicher, die
rechte Mittel-Linie in Einlaſſung der Individualität zu treffen, und
wenn bisher dieſe Seite des Maleriſchen von den Florentinern kräftiger, als
von den in anderer Beziehung mehr maleriſchen Umbriern, gepflegt war,
ſo iſt es jetzt der Eine Mann, der Umbrier, der auch hierin das Höchſte
erreicht und in weiterer Ausdehnung und Entwicklung deſſen, was ſchon
Leonardo da Vinci gethan, jenes in §. 723, 2. ausgeſprochene abſolute
Maaß der Verbindung des normal Schönen mit dem Individuellen inner-
[718] halb des italieniſchen, plaſtiſch-maleriſchen Styls hinſtellt. Die weſentlich
Charakterbezeichnenden, Porträt-artigen Züge des einzelnen Menſchen
können mit muſterhafterer Ausſonderung der unweſentlichen, zufälligen,
die Großheit des Styles ſtörenden Züge nicht in den Kreis des Schönen
hereingezogen werden. Hierin unterſtützt auch ihn das eigentliche Porträt,
das er mit demſelben Geiſte ſtyliſirt und doch, wie es der Zweig verlangt,
in die nähere, empiriſche Aehnlichkeit hereinführt. Die Farbe hat er in jener
Wärme der Seelengluth von ſeinem Meiſter übernommen und führt ſie
im Bildniß bis zur Vollendung venetianiſchen Colorits heraus; dieß jedoch
nur im Einzelnen, denn auf dieſem Punct öffnet ſich ein neuer Weg, den
er nach ſeiner Richtung nicht bleibend einſchlagen konnte.


§. 725.

1.

Die italieniſche Malerei tritt mit einer bedeutenden Entwicklung noch
über die Zeitgrenze des ausgehenden Mittelalters hinaus. Die Manier dringt
ein, in der Nachahmung M. Angelo’s als Schwulſt, mit Correggio als falſche
2.Grazie nervös erregter Empfindſamkeit. Aber neben dem Verfall entbindet ſich
eine neue Macht: die ächt maleriſche Schönheit des Helldunkels durch Cor-
reggio
, des zu ſeiner ſpezifiſchen Magie erhobenen Colorits durch die vene-
tianiſche
Schule. Doch die Conſequenz des ſtreng maleriſchen Prinzips des
indirecten Idealiſmus wird hieraus nicht gezogen; auch die venetianiſche Schule
bewahrt auf Grund der paduaniſchen Vorſtudien den Adel der Form und bleibt
bei den mythiſchen Stoffen, an welche ſie trotz der erhöhten Gewalt, mit der
es hervorbricht, auch jetzt, und zwar nur um ſo äußerlicher, das allgemein
Menſchliche und Geſchichtliche knüpft.


1. Weit in das ſechzehnte Jahrhundert müſſen wir hier herein-
rücken; wir treten auf die Brücke, die zum germaniſchen Stylprinzip und
zu der modernen Zeit herüberführt, aber ihre Pfeiler ſind, ſo weit wir
gehen, noch vom Mittelalter und vom italieniſch plaſtiſchen Geiſte gebaut.
Der Verfall in Manier, den wir zuerſt in das Auge faſſen, hat freilich
in ſeinem innerſten Weſen ächt moderne, ſubjective Bewußtheit, Prahlerei
der Virtuoſität zum Grunde, die eitel über dem ausgehöhlten Inhalte
ſchwebt. In der Geſchichte der Phantaſie ſtellten wir dieſe Erſcheinung
in die Vorſtufe des modernen Ideals (§. 473), indem wir die Rückſicht
auf die darin liegende Stimmung zum Prinzip der Anordnung machten.
Hier aber berückſichtigen wir zunächſt mehr die Stoffe, dann eine gewiſſe
Seite der Stylformen und ziehen daher dieſe geſchichtliche Wendung der
Kunſt noch zum Mittelalter. Es beſteht nämlich der Widerſpruch, daß
dieſe Bewußtheit noch in der Stoffwelt des Mittelalters ſich bewegt und
[719] die veränderte, in Aufregung ſentimental erzitternde und ſchwimmende Ge-
fühlsweiſe eines Volkes in ſie hineinlegt, das doch den ethiſchen, Illuſion-
zertrümmernden Bruch mit den Göttern der Romantik nicht zu vollziehen
vermag. An M. Angelo knüpft ſich die prahleriſche Manier der Kraft,
zugleich der kühneren Zeichnung, der Verkürzung; Correggio nimmt die
letztere Seite auch in ſich auf. Die wachſende Sucht der Verkürzung iſt
eigentlich ein Drang nach dem Maleriſchen, maleriſch Bewegten, der in
Italien auf falſche Wege geräth. Statt der Ueberkraft wirft nun aber
Correggio in die unruhig umgeſtellten, aufgeworfenen Formen jene Auf-
regung des Gefühls, die auf der ſublimſten Spitze geiſtiger Ueberſchweng-
lichkeit fein und tief mit einer nervöſen Wolluſt zuſammentrifft; ein Faden,
nicht gemein, zart, durchſichtig, aber fühlbar führt von dem himmliſchen
Jubel ſeiner ſelig lächelnden Geſtalten hinüber zu ſeiner Leda, Jo, Danae,
Darſtellungen, in denen der Kitzel und die äußerſten Schauer der Luſt
durch die vom antiken Mythus getragene reine Vollendung der Form im
Grunde zu einem wahreren Ganzen werden, als die chriſtlichen Stoffe in
jener gereizten, überſinnlich ſinnlichen Auffaſſung.


2. Das Neue, was zugleich Abſchluß dieſer italieniſchen Kunſtblüthe
iſt und zugleich auf den Norden und auf die moderne Zeit hinüberweist,
iſt die beſondere Ausbildung der Spitze und Summe des maleriſchen
Verfahrens: des Colorits. Was an ſich das Letzte und Höchſte iſt, wird
auch zuletzt ausdrücklich zur Reife gebildet. Es iſt die normale Natur
des italieniſchen Kunſtgeiſtes, daß das ganze Weſen der Malerei nach
ſeinen Momenten ſich hier organiſch verläuft und abſchließend hinaus-
mündet nach einer anderen Stätte und Nationalität. Die Florentiner
hatten Bedeutendes in der Farbe gethan, aber ihr Augenmerk war doch
mehr die Zeichnung, bei den Umbriern gehört die Wärme des Colorits
innerlich nothwendig zur ganzen Auffaſſung, doch führt ſie mehr inſtinct-
mäßig der Antrieb des Inhalts, als daß ſie mit künſtleriſchem Willen
und Bewußtſein dieß Element fortbildeten; auch genügte ihre Auffaſſung
ſelbſt nicht, um Alles zu entwickeln, was in der Farbe liegt, denn es iſt
ja nicht nur die Ausdruckstiefe, was zur Vollendung der Farbe führt und
umgekehrt durch ſie zu Tage tritt, ſondern das Prinzip der Gegenwär-
tigkeit überhaupt, der Welt als eines Ganzen, wie es in geſättigter Fülle
des Inhalts aus ſich und in ſich leuchtet; daher iſt denn die umbriſche
Farbe trotz ihrer Wärme doch gegenüber der feineren Aufgabe noch ein-
fach und undurchgearbeitet. Correggio nun ſchwimmt wohl im dritten
Himmel, aber das Lichtmeer von Entzückungen, in welchem hier jeder
Nerv vibrirt, ergießt ſich in das Erdendunkel und zaubert Helle in
die äußerſten Schatten, macht das ſcheinbar höchſte Licht relativ ſelbſt
wieder zum Dunkel, indem es von einem noch höheren Licht überſtrahlt
[720] wird. Aber es iſt mehr Helldunkel, als Farbe; es fehlt die Sattheit, die
Blutwärme, das kernhafte Fleiſch, hiemit in dieſem Wechſelſpiele des
Dieſſeits und Jenſeits die wahre Gegenwart. Die Venetianer dagegen
vereinigen mit der magiſchen Welt der Brechungen zwiſchen Licht und
Dunkel dieſe reale Fülle, geben ihr die feſte Kraft der Local-Farbe mit
ihren Accorden zum Gegenſtand und Anhalt. Es iſt weſentlich, daß die
Technik der Oelmalerei hier erſt in ausgedehnter, vorherrſchender Weiſe
geübt wird. Deutſche Einflüſſe ſcheinen auch ſchon früher gewirkt zu haben.
Erſt dieſe volle und ganze Farbenwelt dient denn auch der vollen Lebens-
ſtimmung, dem Geiſte, dem das Leben Gegenwart iſt, dem eine Welt
voll Schönheit, Charakter, Luſt, reichen und gebildeten Genuſſes zu einem
Freudenfeſte wird, dem die Erde in einer goldenen, aus ihrer innern
Säftefülle ſelbſt entzündeten Gluth lacht und leuchtet — „das Leben in
ſeiner vollſten Potenz, die Verklärung des irdiſchen Daſeins ohne Nimbus
und ohne Opferblut“ (Kugler, Handb. d. Geſch. d. Malerei B. 2 S. 37).
In der Farbe liegt jedoch — auch abgeſehen von der Beziehung auf die
Stoffwahl, auf die wir nachher näher eingehen — noch eine weitere
Conſequenz der Auffaſſung: es iſt der indirecte Idealiſmus im Style.
Dieſe Seite bleibt auch in Venedig noch unentwickelt. Die reiche, vor-
nehme Lagunenſtadt, im Vollgenuſſe der Schätze, der Aernte einer unter-
nehmungsvollen und kämpfereichen Vergangenheit, konnte nicht in die
Stimmung verſetzen, das Häßliche, das Gebrochene, das Schlichte, ſelbſt
das Dürftige durch Ausdruck, Handlung, Farbe zu verklären, dem äſtheti-
ſchen Proletariate war in der Kunſt der ariſtokratiſchen Republik die Thüre
verſchloſſen. Der allgemein plaſtiſche Trieb des italieniſchen Geiſtes zeigt
ſich auch hier ſo ſtark, daß Adel und Schönheit der Form, der einzelnen
Geſtalt durchaus als Hauptgeſetz waltet und die Farbe es verſchmäht,
an einen weniger würdigen Körper als ihren Träger ſich zu heften.
Die Zeichnung wird mitunter vernachläßigt, aber ſie bleibt feſt bei dieſem
Schönheitsgeſetze. Die ungebrochene Schönheit der Form herrſcht, obwohl
in weichlicherer Weiſe, auch noch bei Correggio. Das iſt eine Plaſtik,
welche vor dem eigentlich modernen Eindringen des Maleriſchen und
ſeiner ſpäteren Läuterung zur reineren Form ſich behauptet: dieſer
Claſſiciſmus gehört noch dem Abſchluß des Mittelalters an und daher
ſind uns auch die Stylformen ein Grund, dieſe ganze Gruppe in der
Geſchichte der Malerei noch zum Mittelalter zu ziehen. Geſichert war
der venetianiſchen Hand dieſe Grundlage durch jene von Squarcione in
Padua gegründete Schule gründlicher Detailzeichner nach der Antike und
Anatomie, die ähnlich, wie ein Caſtagno, Polajuolo, Verocchio in Florenz,
über der Schärfe der Einzelform den harmoniſchen Fluß des Ganzen
verloren und deren Arbeit daher ebenfalls von einer höhern Stufe zur
[721] bloßen Vorſtudie herabgeſetzt zu werden beſtimmt war, dießmal aber nicht
nur durch die harmoniſche Lebenswelle der vollendeten Zeichnung ſelbſt,
ſondern auch durch die volle Wirkung der Farbe. Das Intereſſante aber
iſt dieß, daß die Venetianer zwar die Frucht dieſer Zeichnungsſtudien
pflücken, dagegen eine andere Seite, nach welcher dieſelben in Padua ſich
gelenkt hatten, nach kurzer Aufnahme völlig ausſtoßen. Die Paduaner
nämlich geriethen durch ihre Detailſchärfe in die härteſte Charakteriſtik,
in unſchönen Naturaliſmus, Nachahmung gemeiner, aus der Wirklichkeit
wahllos aufgegriffener Charakterformen. Davon war ſelbſt Mantegna
nicht frei, der übrigens dieſe Verzweigung der italieniſchen Malerei zu
einer gewiſſen ſelbſtändigen Blüthe, einer Art von ſpezifiſcher Seitenblüthe
trieb, indem er durch vollendete Beſtimmtheit der Modellirung, Perſpective,
Schärfe der Lichter ein bis zur völligen Illuſion wahres Lebensbild hin-
ſtellte, das zudem durch die zwar harte, aber treffende, genreartig fein be-
lauſchende Charakteriſtik merkwürdig nach dem Geiſte nordiſcher Malerei
hinüberweist. Die paduaniſche Herbe nun ſtößt, zwar nicht unmittelbar,
ſondern unter Rückfällen in unedlere Form, ſchon Giovanni Bellini
aus und behält nur die Sicherheit der Hand, um ſie zur harmoniſch ausrun-
denden, ſchönen Zeichnung zu verwenden. Er iſt es auch, der bereits die
Farbe, im Incarnat beſonders, zu der Lebenswärme fortbildet, in der
alle Härten ſich auflöſen. Uebrigens dient dieſes Element auf der Ueber-
gangsſtufe, die der Meiſter des Titian einnimmt, vorherrſchend noch der
innigen reliöſen Empfindung, nur daß dieſe den myſtiſchen Dämmerungs-
ſchleier des Pietro Perugino abgeworfen hat und taghell, klar aus den frei
geöffneten Augen blickt. Dieſe Tageshelle hat auch der übrigens jenem
umbriſchen Meiſter ſo verwandte, unter Einflüſſen von ſeiner Schule, von Pa-
dua und Venedig ausgebildete Francesco Francia in ſich aufgenommen.


Bei dieſer Verwendung des Farbenprinzips, welche übrigens ſchon
die älteren Meiſter, wie namentlich Giov. Bellini ſelbſt, auch zu claſſiſchen
Stoffen, zu genre-artigen Darſtellungen öffentlicher religiöſer Auftritte
leitet, konnten nun die großen Meiſter der reifen Zeit, eine Giorgione,
ein Titian, Paolo Veroneſe nicht ſtehen bleiben, aber hier eben iſt
es, wo noch einmal und in ſeiner ganzen Schärfe der oft dargeſtellte
Widerſpruch zu Tage tritt: ſie bewegen ſich in dem größten Theil ihrer
Werke noch in den chriſtlichen Stoffen, in welchen doch ihre wahre
Stärke nicht zu ſuchen iſt, da die innere fromme Wunderwelt des roman-
tiſchen Gemüths nicht ihr Element ſein kann. Nur nach zwei Richtungen
können ſie ihre Größe auf dieſem Gebiet entwickeln. Die eine beſteht in
jener rein menſchlich rationellen Auffaſſung der mythiſchen Stoffe, von
der wir zu §. 695 geſprochen haben. Dieß iſt eine höchſt intereſſante
Seite der Venetianer, es liegt etwas vom Geiſte der Reformation darin,
[722] Dürer ſcheint eingewirkt zu haben. Titian hat Chriſtus mehrmals, am
herrlichſten in jenem Bilde des Zinsgroſchens, rein als einen Menſchen
hingeſtellt, der nur durch die höchſte Wahrhaftigkeit und Lauterkeit ohne
Heiligenſchein ächt göttlich iſt. Compoſitionen, wie jenes unſterbliche Werk
der Grablegung, ſind im Grund auch rein menſchlich, die vielen Madon-
nen der Schule aber nur liebende, edle Mütter, denen der Ausdruck des
ahnungsvollen Gemüths fehlt, den wir bei dieſem Stoffe fordern. Da-
gegen wächst das chriſtliche Ideal, und dieß iſt die andere jener zwei
Richtungen, insbeſondere in ſeiner weiblichen Form unter gegebenen Be-
dingungen zu der Großheit, dem hohen Pathos einer antiken Gottheit
hinan, wie in Titians Himmelfahrt der Maria, in manchen Heiligen des
Palma Vecchio. Nach der Antike weist nun überhaupt die feſtliche Sin-
nenfreude, die üppige und doch geiſtig erhöhte, edel pathetiſche Weltſtim-
mung der Venetianer. Wir haben die Aufnahme dieſes Gebiets zur
Genüge beſprochen und verweilen nicht weiter bei dem mit neuer Wärme
durchſtrömten Olymp von Schönheit, der ſich hier aufthut. Daß aber
das eigentlich Mythiſche in ein willkührliches, oft dunkles Allegoriſiren
ausläuft, dieß iſt, wo der claſſiſche Mythus doch eigentlich nicht mehr
lebte, nur natürlich. Einen Theil ihrer weltlich freien Anſchauung
konnten die Venetianer nun wohl in dieſen Rahmen ſtellen: die Bewun-
derung der ſchönen Form, die Sinnenfreude überhaupt ohne beſtimmteres,
real bedingtes Motiv. Aber das genügte nicht. Die Wirklichkeit, worin
ſich wechſelſeitig Alles real motivirt, war durch die Vollendung der Farbe
gefordert. In der ganzen Grundſtimmung, woraus dieſelbe hervorging,
waren alle Bedingungen für die endliche Schöpfung der rein ſächlichen Zweige
gegeben. Landſchaft, Sittenbild, Geſchichte: Alles ringt noch mächtiger,
als bisher, an’s Licht. Unter den drei Gattungen war aber das höhere,
hiſtoriſche Sittenbild das eigentlich angemeſſene Feld. Für die Landſchaft
als ſelbſtändigen Zweig war es doch wirklich zu früh, die herrlichen An-
fänge des Titian konnten daher nur Anfänge bleiben; für die Geſchichte
aber war der Geiſt des damaligen Venedigs immerhin zu ſehr ein Geiſt
des Genuſſes. Die rein geſchichtlichen Bilder im Dogenpalaſt ſind chro-
nikaliſch behandelt, es mangelt doch der Sinn für die wirkliche That, man
zieht es vor, den Genius der Geſchichte in Allegorien zu faſſen, die keine
Handlung fordern. Dagegen ſehen wir die volle Macht des hiſtoriſchen
Geiſtes im Porträt, und da doch die Stimmung nicht da iſt, die unend-
liche Möglichkeit der geſchichtlichen That, die aus dem ſo behandelten
Bildniß ſpricht, in wirklicher Geſtaltung auszuwickeln, ſo bleibt nur übrig,
dieſe bedeutenden Menſchen im Zuſtand edeln Genuſſes unter Culturformen
darzuſtellen, die an ſich ſchon großen, ſchwungvollen, erhöhten Styl zeigen.
Nun aber leidet der feſtgehaltene Mythus nicht, daß dieſer Zweig zur
[723] reinen Exiſtenz gelange, und ſo bleibt denn nur übrig, daß jener als
Motiv, und zwar jetzt in einem viel loſeren, dürftigeren Sinn, als früher,
nämlich als bloßes Vehikel (§. 465), als Haken diene, um dieß höhere
Sittenbild daran zu hängen. Zu dieſer unwürdigen Stellung kommt es
bei dem würdigſten Beſtreben, wenn die zwei Stoffwelten den Widerſpruch
des gleichzeitigen Fortbeſtands behaupten. So muß denn eine Findung
Moſis, eine Anweſenheit Chriſti bei dem Gaſtmahle des Levi, bei der
Hochzeit zu Kana die Gelegenheit geben, die Pracht Venedigs, die Würde
der Männer und die Schönheit der Frauen, die Pracht der Gewänder,
Geräthe, Bedienung, Begleitung, Architektur in ihrem Glanz auszubreiten;
nach Moſes fragt man nicht, Chriſtus ſelbſt und ſein Wunder werden
kaum bemerkt. Uebrigens ſind es auch die h. Familien und die ſog. h.
Converſationen, wo insbeſondere jene herrlichen Männergeſtalten, die wir
als Hauptſtärke des italieniſchen Styls öfters hervorgehoben, ihre Stelle
finden, und zwar ſchon bei den Bellini und den andern früheren Meiſtern.


Auch dieſe Blüthe welkt. Von Giorgiones Goldgluth der Localfarbe
iſt Titian zu der feineren Welt der Uebergänge, Brechungen, Töne,
Paolo Veroneſe zum höchſten Rhythmus eines Farbenganzen bei vollen-
deter Nachbildung des Einzelnen, der Gewandſtoffe u. ſ. w. fortgeſchritten,
Tintoretto zieht die Bravour M. Angelo’s in der Zeichnung zu einer durch
Beleuchtungs- und Schatten-Effecte ſich ſelbſt verdunkelnden Farbenfertig-
keit herbei und mit Baſſano ſinkt dieſe Kunſtwelt an der Schwelle des
ländlichen Sittenbildes ſchwunglos zu Boden.


2. Der deutſche Styl.

§. 726.

Die deutſche Nation übernimmt vermöge ihrer geiſtigen Anlage die
Ausbildung des ächt maleriſchen Styls, löst jedoch ihre Aufgabe während
dieſer ganzen Periode in unvollkommener Weiſe, indem zwiſchen dem Ausdruck
tiefer Innerlichkeit und der nationalen Schärfe in Auffaſſung der Individualität,
der liebevollen Aufnahme der Umgebung eine Härte und Unbewegtheit der Form
ſtehen bleibt, welche weſentlich als Mangel an Plaſtik, aber in gewiſſem Sinn
auch als eine falſche Plaſtik erſcheint, die der früh entwickelten Farben-
ſchönheit
nicht erlaubt, ſich nach allen Beziehungen geltend zu machen. Da-
her fehlt auch die [Schutzwehr] gegen den Abfall aus maleriſch begründetem in
unäſthetiſchen Naturaliſmus. Der Bildungstrieb, der ſich nicht in jene Mitte
zwiſchen Inhalt und Form zu legen vermag, wächst als phantaſtiſcher Humor
und reiches Ornamentſpiel aus.


[724]

Wir nehmen die andern Völker dieſſeits der Alpen erſt an den Puncten
auf, wo ſie für ſich bedeutend werden; germaniſch hätten wir zu ſagen
ſtatt: deutſch, da wir in dieſem Zeitraum die Niederlande mit dem eigent-
lichen Deutſchland zuſammenfaſſen, aber wir vermeiden dieß, weil es in
eine Verwirrung mit derſelben Beziehung führen würde, wie ſie für eine
beſondere, hiſtoriſche Entwicklungsſtufe des Styls aufgenommen iſt, und
behalten dabei im Auge, daß die urſprünglich Einem Volke gehörenden
Stämme früher nicht getrennt waren, wie jetzt. Wo dagegen der eine
dieſer Stämme wieder beſondere Wege gehen wird, werden wir ihn auch
durch ſeinen beſondern Namen unterſcheiden.


Daß der deutſche Geiſt vorzüglich berufen war, das rein Maleriſche
auszubilden, daß er aber große Lücken in der Löſung ſeiner Kunſtaufgabe
laſſen mußte, ehe er das claſſiſche Formgefühl in einer Weiſe, wie dieß
durch die Einflüſſe aus dem Süden und Byzanz im früheren Mittelalter
noch keineswegs möglich war, ſich angeeignet hatte: dieß iſt durch die
§§. 354 und 463 hinreichend begründet. Der äſthetiſche Bruch zwiſchen
Ausdruck und Form, der im Maleriſchen berechtigt, ja gefordert iſt, mußte
zuerſt als ein Bruch auftreten, der überhaupt nicht äſthetiſch iſt. Der
maleriſche Ueberſchuß des Ausdrucks über die Form begründet eine gewiſſe
Härte der letzteren, insbeſondere im Sinn bedeutungsvoll unregelmäßiger
Eigenheit der Individualität; aber nicht ſoll dieſe Härte das Maaß über-
ſchreiten, das wir ihr deutlich und beſtimmt geſetzt haben, und nicht ſoll
die Härte hart dargeſtellt werden. Zu dieſer Unterſcheidung vergl.
auch §. 456 und 718; der erſtere ſpricht von der aſcetiſchen Formhärte
des Mittelalters überhaupt, der letztere von einer Ueberwindung derſelben,
die allerdings eintrat: das war eben bei den Italienern, aber nicht bei
den Deutſchen.


Jene beſondere Form, in welcher alle mittelalterliche Malerei als
ſpezifiſch religiöſe das Geſetz des überwiegenden Ausdrucks erfüllt: die
unendliche Innigkeit einer frommen Seele, mußte es vor Allem ſein, was
in der Auffaſſung, die von Hauſe aus ſtreng maleriſch war, ſich noch
mehr vertiefte, und zwar gerade durch die Wirkung eines Gegenwurfs,
indem das Aeußere die ſchärfere Zuſammenfaſſung der Natur und Eigen-
willigkeit kund gab, welche, wenn ſie überwunden werden ſoll, einen noch
geſammelteren inneren Schatz der Liebe und Ehrfurcht vorausſetzt. Dieß
iſt die beſtimmte Art der Idealität, welche in dieſem Styl als Geſetz
herrſcht, danach werden die Formen künſtleriſch gewählt und es iſt ganz
unrichtig, als bezeichnendes Merkmal deſſelben den Naturaliſmus in dem
tadelnden Sinne wahlloſen Aufgreifens empiriſcher Formen hinzuſtellen.
Hiemit haben wir bereits das andere Extrem ausgeſprochen: der deutſche
Styl als ächt maleriſcher iſt unendlich individueller, als der italieniſche.
[725] Man bezeichnet ihn nach dieſer Seite gewöhnlich als vorzugsweiſe national,
d. h. als einen Styl, der nationale Phyſiognomie und Körperbildung be-
ſonders ſichtbar und durchherrſchend darſtelle. Dieß iſt richtig, wenn man
nicht überſieht, daß auch die italieniſche Malerei nationale Formen gibt,
aber daß dieſe an ſich, ſchon als Stoff, normaler, einer allgemeinen
Schönheitslinie gemäßer ſind, als die deutſchen, daß alſo das Nationale
hier nur darum ſchärfer hervortritt, weil es individueller iſt, weil die
Einzelnen in dieſer Nation einander weniger gleich ſehen, daß hiemit ein
maleriſcher Trieb von Seiten der Kunſt mit einer gegebenen Beſtimmtheit
des ihr vorliegenden Menſchenſtoffs zuſammentrifft. Wie nun die Malerei
hier bis in die Spitze der Individualität heraustritt, ſo hat ſie auch und
zeigt viel früher, als in Italien, den ächt maleriſchen Drang, den zunächſt
in der Perſönlichkeit zuſammengefaßten Inhalt auch in die Wirklichkeit
der Welt herauszuführen, die umgebende Natur, künſtlichen Raum, Ge-
räthe, Nebenfiguren, die eine ſittenbildliche Stimmung hinzubringen, zu
öffnen und zu zeigen. Sie geht hierin weit über das Maaß hinaus, die
Hauptfiguren ſind dadurch beengt, werden zu klein und das Zurückblei-
ben im Verſtändniß des menſchlichen Organiſmus hat in dieſer Theilung
des Intereſſes eine ſeiner Urſachen. Dieß erklärt ſich aber auch hier
zunächſt daraus, daß jene Sphären, in welche die Figur geſtellt iſt,
ihr Bett noch nicht in beſonderen Zweigen finden können; wird in Deutſch-
land das Verhältniß dieſer Theile noch weit ſtärker verſtellt, als in Ita-
lien, ſo beweist dieß nur einen noch ſtärkeren Drang zur Landſchaft und
zum Sittenbilde; das letztere namentlich auch dadurch, daß dieſer Styl
nicht ruht, bis er die mythiſchen Stoffe ganz und gar in die Trachten
und ſämmtlichen Culturformen der Zeit hineingeſtellt hat. Noch mehr:
es wird mit einer (allerdings nicht allen Schulen gemeinſchaftlichen, doch
keineswegs auf die flandriſche beſchränkten) Ausführlichkeit in das Einzelne
gegangen, die auch für Landſchaft und Sittenbild, gewiſſe Formen des
letztern ausgenommen, viel zu mikroſkopiſch iſt. Auch hier darf man nicht
an bloße Abſchrift des Wirklichen, an ein extremes Gegentheil von ſoge-
nanntem Idealiſmus denken, vielmehr der ſtaunenswerthe Fleiß dieſes
Eindringens iſt Ausdruck derſelben Innigkeit, welche die Wundertiefen des
Gemüths aufdeckt: es iſt jener ausgegoſſene Geiſt (§. 653), der auch
das Müſchelchen am Ufer und den Käfer und Grashalm mit der Sonne
ſeiner Liebe beſcheint und verklärt, aber das Verhältniß der Theile in
einer Compoſition noch nicht abzuwägen weiß. Nun aber fehlt zwiſchen
den beiden Extremen: jener Innerlichkeit und dieſer Schärfe der Indivi-
dualität und Ausbreitung des Umgebenden die Mitte; hier bleibt jene
Kluft, die weit über den maleriſch berechtigten Bruch hinausgeht. Auch
die härtere Form des Aeußern mit der unflüſſigeren und ſchrofferen Natur
[726] der Stimmungen und Triebe, in die ſie blicken läßt, kann und ſoll doch
dem Geiſte, deſſen Aeußeres ſie einmal iſt, als flüſſiges und geſchmeidiges
Organ dienen. Da aber eben ſitzt der Mangel, da geht jenes Maaß des
Plaſtiſchen ab, ohne das der ächt maleriſche Styl ſelbſt durchaus unreif
bleiben muß. Es herrſcht ein völliges Unverſtändniß des Geſammt-Or-
ganiſmus der Geſtalt; dürr, ſteif, hölzern, trocken ſcheint er zu knarren
wie eine ungeölte Thür, wenn er ſich im Dienſte der Seele bewegen ſoll.
Dieſer tiefe Mangel weicht nicht, ſondern ſetzt ſich, wie wir ſehen werden,
in der Zeit der relativ höchſten Reife vollends als Manier feſt und läßt
nun das Eckige, Dornige nur in um ſo eigenwilligeren Ranken auswach-
ſen. Bleibt nun die äußere Form und Bewegung in dieſer Weiſe ge-
bunden, ſo kann ſich auch die Welt der Affecte nicht zu ihrem Reichthum
entfalten; die Seele, die nicht über ihre Schwelle kann, die ſich am eige-
nen Körper ſtößt, kann auch nicht als Leidenſchaft herausſtrömen. Dort
die Welle des Runden, hier die Welle der Leidenſchaft: vor beiden ſcheint
die winterlich eckige Natur des Deutſchen eine wahre Scheue zu haben.
Die Italiener ſind nach der letztern Seite ungleich mehr maleriſch. Doch wird
dieſer Mangel in der Zeit der großen Meiſter Deutſchlands ungleich mehr
überwunden, als der erſtere. Trotz den großen Schwächen gibt nun aber jene
Tiefe des Ausdrucks einer im innerſten Mittelpuncte ſo abſtoßend mangel-
haften Kunſtwelt dennoch die Großheit, die das Merkmal des Styls
im intenſiven Sinne des Worts begründet: ein feierliches „Stilleſein vor
dem Herrn“ beherrſcht das Ganze und gibt auch der armen Form Würde;
ein tiefer Seelenſchatz von Ehrfurcht legt ſich als hohe, ernſte Feſtlichkeit
in die Bewegungen. — Daß dieſe in ihren Grundzügen durchaus male-
riſche Auffaſſung zugleich ein ganz beſonderer Beruf zur Farbe war,
liegt in der Sache. Die Deutſchen gehen hierin voran und erreichen mit
raſchem Schritte eine bewundernswerthe Höhe. Nur Eines kann unter
den geſchilderten Bedingungen nicht erreicht werden: die löſende, Umriß
lockernde Wirkung der Farbe. Die Geſtalten ſind eigentlich ſo behandelt,
als wagten ſie keine ſchwungvolle, freie Bewegung, um ihren Umriß
nicht zu zerbrechen, wie Einer wohl fürchten mag, die Beinkleider möchten
ihm berſten, wenn er laufe oder ſpringe. Hier tritt ſtatt der fehlenden
wahren eine falſche Art von Plaſtik ein: die Schärfe und Härte des pla-
ſtiſchen Elements der Zeichnung ohne die Schönheit, welche aus dem
Geiſte der plaſtiſchen Auffaſſung fließt. In dieſem Sinn iſt auch die
deutſche Malerei im Mittelalter noch zu plaſtiſch. Schon zu §. 694, 2.
haben wir dieſer Erſcheinung bei Anlaß der Skizze gedacht; ſie erſtreckt
ſich aber in die volle Ausführung hinein.


Nachdem wir nun vom Prinzip dieſes Styls den Vorwurf des Na-
turalismus, den Begriff im tadelnden Sinne genommen, abgewehrt haben,
[727] iſt allerdings zu zeigen, daß derſelbe zu einer Seitenthüre hereinbricht.
Um die Terminologie genauer feſtzuſtellen, wiederholen wir, daß wir im
Ganzen und Großen unter Naturalismus immer das ſchärfere Erfaſſen
der beſondern Zuſtände und Lebensbedingungen, ohne alle Beimiſchung von
Lob oder Tadel, unter Individualismus ebenſo das ſchärfere Erfaſſen der
Züge des Einzelnen in ihrer Eigenheit verſtehen. Naturalismus im ge-
meinen und tadelnden Sinne bezieht ſich auf beide Seiten und bezeichnet
ein wahlloſes Aufgreifen der Formenwelt und eine Unterlaſſung des Rück-
führens der aufgegriffenen Formen auf ſolche, worin das Ideale mit jenem
berechtigten Naturalismus und Individualismus ſich in dem Maaße verbindet,
das im Stylgeſetz einer beſtimmten Kunſt liegt. Die Deutſchen ſind nun
naturaliſtiſch und individualiſtiſch zunächſt nur in dem Sinne, wie es der
ächt maleriſche Styl verlangt. Allein wo das Steuer des organiſchen
Formgefühls fehlt, da reicht jener Idealismus des tiefen, innerlichen Aus-
drucks nicht hin, vor dem gemeinen Naturalismus zu ſchützen. So bricht
denn, man weiß nie ſicher, wann oder wo, der letztere herein. Neben
würdigen, geiſtig ſprechenden Formen und Köpfen die albernſten, gröbſten,
geiſtloſeſten roh aufgegriffen auf der Straße, ein deutſcher Hausknecht als
Apoſtel, ein Bauer als Heiliger; wo es abſolute Perſonen, Gott
Vater, Chriſtus, Maria, Engel gilt, da geht denn dieß Fehlgreifen natür-
lich vollends bis zur gröbſten Naivetät fort. Es iſt hier gemäß dem oben
Geſagten ebenſo von dem Gepräge der Zuſtände, Lebensbedingungen u. ſ. w.,
wie von eigentlichen Porträtzügen die Rede: wird z. B. Maria zur Nürn-
berger Bürgersfrau, ſo ſieht man zugleich, daß eine beſtimmte copirt iſt.
Die Deutſchen ſind nun alſo dieſem Naturalismus nie ganz verfallen,
aber in der vorliegenden Periode auch nie ganz entwachſen. Die Italiener
dagegen verfielen zwar vorübergehend dieſer Taktloſigkeit (namentlich die
Paduaner, die früheren Venetianer), regelten aber raſch mit ſicherem Gang
ihr verirrtes Gefühl; was ihnen bei der weniger verwickelten Aufgabe ihrer
Stylrichtung freilich auch leichter war.


Ein Rückblick auf die Lehre vom Komiſchen zeigt, wie natürlich im
Gefühle dieſes Bruchs und Widerſpruchs zwiſchen Inhalt und Form der
Uebergang in dieſes Gebiet ſein mußte. Nur iſt auch hier zwiſchen freier
Erzeugung einer äſthetiſchen Form und einer Flucht in dieſelbe zu unter-
ſcheiden. J. Paul könnte ein viel größerer Komiker ſein, als er iſt, wenn
er mehr Komiſches und weniger komiſch gedichtet hätte. Er abſolvirt ſich
für eine tiefe Kluft in ſeiner Poeſie durch wilde Schößlinge des Humors.
Die deutſche Malerei ſchwankt, wie zwiſchen maleriſch berechtigtem und
unberechtigtem Naturalismus, ſo zwiſchen einem Humor, der motivirt iſt
(z. B. in der Charakteriſtik der Feinde Chriſti), und einem Humor, worin
der Künſtler das Mißverhältniß ſeiner Kräfte ironiſirt: ein Bildungstrieb,
[728] der ſein organiſches Bette nicht findet und ſich daher ſeitwärts in phan-
taſtiſch traumhaften Erfindungen und in einer, freilich nun höchſt geiſt-
reichen, Welt von Arabesken abladet. Dieſes wilde Ranken haben wir
ähnlich in der ſpäteren romaniſchen Architektur gefunden. In der Re-
formationszeit werden wir allerdings den Humor ſich tiefer in der ge-
ſchichtlichen Stimmung begründen ſehen; hier war er vorerſt als allge-
meine Eigenſchaft zur Sprache zu bringen.


§. 727.

Der neue Geiſt legt ſich auch hier zuerſt in die aus dem Alterthum
überlieferten Reſte plaſtiſcher Form und weiß, indem er dieſelben in raſchem
Fortſchritte mit innerem Leben beſeelt, eine harmlos liebevolle Gemüthswelt
mit der Rundung und fließenden Weichheit der Form zu verſchmelzen, die ſich
zum Theil noch auf jene Erbſchaft gründet. Die höchſte Stufe in dieſer Richtung
erreicht die Kölner-Schule. Von jenem zwieſpältigen Charakter (§. 726)
iſt noch nichts ſichtbar. Allein in dieſem, trotz der Wärme, die bereits das
Colorit entwickelt, und trotz den erſten Anſätzen beſtimmteren Individualiſirens
faſt körperlos idealen Style, der des fruchtbaren Gegenſatzes einer andern, mit
männlicherem Geiſt in die Wirklichkeit greifenden Schule entbehrt, iſt das ächt
Maleriſche ſo ſchwach ausgebildet, daß er von einem folgenden, ſtatt ihm ein
Gegengewicht zu geben, verdrängt wird.


Wir eilen an dem Spätrömiſchen oder Altchriſtlichen, der Zeit der
Geltung jener geſunkenen antiken Typen, welche nach Deutſchland durch
Carl den Großen verpflanzt wurden, ſo wie an dem Byzantiniſchen, das
hier ebenfalls eindringt, mit der kurzen Bemerkung vorüber, daß ein Zug
zum national Individuellen, Porträtartigen, ſo wie zur Arabeske ſchon in
dieſer frühen Zeit merklich hervortritt, und überblicken die Epoche des raſchen
Anſteigens bis in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts. Die Fort-
ſchritte geſchahen ſchneller, als in Italien; jene erſte Strömung von Leben
und Seele, von Affect, bewegter Gebärdenſprache, Aufmerkſamkeit auf
Culturformen, welche in die erſtarrten antiken Typen eindringt und den ſoge-
nannten romaniſchen Styl gründet, beginnt ſchon im Anfange des zwölften
Jahrhunderts, während Duccio und Cimabue erſt am Ende des dreizehnten
und Anfang des vierzehnten auftreten; die zweite Stufe, neuerdings die
germaniſche genannt, auf welcher die erſchloſſene Gemüthswelt des Mittel-
alters die Formen, worin zwar immer noch ein Reſt antik plaſtiſchen
Gefühls ſich erhalten hat, tiefer, inniger beſeelt, und welche in Italien
durch die Schule des Giotto in Florenz und die Schule von Siena im
vierzehnten Jahrhundert dargeſtellt wird, beginnt in Deutſchland ſchon im
[729] dreizehnten, erreicht aber ihre Höhe allerdings erſt im Anfang des fünf-
zehnten. Verfolgt man nun dieſe Linie, deren zweiter Abſchnitt am reinſten
in der Kölner-Schule ſich darſtellt, bis zu dem Dombilde des Meiſters
Stephan, ſo glaubt man, es fehle nur ein Schritt, um eine Blüthe zu
erzeugen, in welcher das Plaſtiſche und das Maleriſche ähnlich wie
in Italien, nur mit mäßig erhöhterer Wärme des letzteren Elements, ſich
verbinden werde. Da iſt noch nichts von dem Eckigen, das wir gewohnt
ſind als identiſch mit der nordiſchen Malerei anzuſehen; weiche Linie,
Welle und Rundung der Form, fließendes Gewand iſt aus der antiken
Ueberlieferung mit zartem und harmoniſchem Gefühle bewahrt und für das
neue Bedürfniß verwendet. Dieſes geht auf den innigſten Ausdruck einer
kindlich frommen Seele ohne jenen Bruch und Widerſtand des Eigen-
willens, von dem zu §. 726 die Rede geweſen; die reinſte Holdſeligkeit,
Seelengrazie, nur naiver, deutſch herzlicher, als im entſprechenden ita-
lieniſchen Style, legt ſich mit lieblichem Neigen und Beugen in dieſe har-
moniſchen Linien. Es iſt das im beſten Sinn ſentimentale, „frauenhafte“
Ideal des Mittelalters; Hotho nennt treffend dieſe ſüße Bildung einen
Styl der Seelenplaſtik. Die Farbe iſt voll Licht und Schmelz, zur in-
dividuellen Beſtimmtheit nationaler Geſichtszüge ein noch leichter Anſatz
und ebenſo ſchon die Neigung zu liebevoller Aufnahme des Anhängenden
und Umgebenden ſichtbar. Nach der Innigkeit des Ausdrucks betrachtet,
iſt nun dieſer Styl ächt maleriſch, wie der ſieneſiſche, dem er entſpricht;
nach der Weichheit und Rundung der Form aber iſt er zugleich plaſtiſch
und die letztere Seite kehrt ſich, wenn man ihn als Glied in der deutſchen
Kunſtgeſchichte faßt, hervor, weil hier ſofort das Maleriſche in der äußerſten
Schärfe eintritt. In dieſem Sinne des Plaſtiſchen iſt er denn auch idealiſtiſch
zu nennen, weil er den tieferen Griff in die Realität, die ſchärferen
Sonderzüge der Lebensbedingungen ſcheut und ſeine Geſtalten wie luftige,
reine Weſen in eine ideale Atmoſphäre hineinſtellt. Hier liegt denn auch ſein
tiefer Mangel; die Schönheit der Farbe iſt da, aber es fehlt ihre modellirende
Kraft, die Tiefe des Schattens, das Verſtändniß der Formenaufzeigenden
Bedeutung des Lichts. Es fehlt aber auch in der Zeichnung das Ver-
ſtändniß der Form nach der Seite der Kraft und Beſtimmtheit, es fehlt
das Männliche, insbeſondere iſt das Bein nicht verſtanden. Aller ſpe-
zifiſch fromme Styl kommt mit dieſem Bewegungsorgane nicht zurecht, wie
es noch heute bei allen ſpezifiſch Frommen mit dem Setzen der Beine
wunderlich beſtellt iſt. Stände nun dieſem Styl in organiſchem Gegenſatz
eine Schule wie die des Giotto gegenüber, plaſtiſch im Streben nach Be-
ſtimmtheit der Zeichnung, maleriſch in der Entfaltung des Affects, der
Bewegung, ſo öffnete ſich die Ausſicht, daß die Gegenſätze in befruchtender
Wechſelwirkung fortſchreiten werden; vermöge jenes ſeelenvollen Ausdrucks

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 48
[730]in der weichen und runden Zeichnung würde es aber dabei bleiben, daß im
Unterſchied von Italien der ächt maleriſche Styl die erſte, größere Rolle
ſpielte und von einem entgegengeſetzten zum ſanfteren Adel der Form nun
auch die Kraft derſelben, die Energie, zum Lyriſchen das Dramatiſche
lernte und in ſich aufnähme. Allein ſo iſt es nicht; es bilden nicht etwa
die Nürnberger mit ihrem ſchärferen Formſinn einen gleichzeitigen, ergänzen-
den, compacten Gegenſatz, wie dort die Florentiner, ſondern ſie haben in
dieſer Epoche auch noch den milden, weichen Styl und nachher tritt, wie
wir ſehen werden, jene Eigenſchaft nicht in der Weiſe hervor, daß ſie
mit dieſem ſich verſöhnte. Und ſo, obwohl die bezeichneten Eigenſchaften
maleriſch waren, wird dieſer Styl, im Uebrigen plaſtiſch ohne Kraft, von
einem im engſten Sinne maleriſchen, der dieſen Reſt plaſtiſcher Schönheit,
welcher ſich da und dort noch regt, aber nicht zur rechten Zeit ſich zu
ſtärken gewußt hat, nothwendig verſchlungen. Das Leibhafte dringt herein
über die zarte, liebliche Geiſterwelt, der es zu ſehr an Fleiſch und Knochen
gebricht, um gegen die Herbe und Schärfe ihres Gegners zu kämpfen
und ihm einen Theil ihrer Schönheit aufzunöthigen.


§. 728.

Der in §. 727 geſchilderte Styl wird in Flandern durch den Erfinder
der Oelmalerei, Hubert van Eyck und ſeinen Bruder Johann gegründet.
Die Grundbedingungen des maleriſchen Verfahrens ſind raſch zu großer Reife
durchgebildet, die Sorgfalt der Ausführung iſt miniaturartig. Die Schule ſchreitet
auf der Grundlage treuen Naturſtudiums fort in Richtigkeit der Zeichnung,
Vollendung der Farbe, Vielfältigkeit des Ausdrucks, völligem Hereinrücken der
mythiſchen Stoffe in die Wirklichkeit, aber der nothwendige Schritt zu neuer,
tieferer Aneignung des antik plaſtiſchen Formſinus bleibt aus und ſo verſtärken
ſich im Fortſchritt auch alle Mängel dieſes Styls; insbeſondere dringt das Eckige
in die Zeichnung ein.


Die Entdeckung oder entſcheidende Verbeſſerung des Oels als Binde-
mittels iſt das techniſche Motiv, wodurch die Malerei ſo raſch erſtarkt
und ſo früh (ſchon im Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts) dieſe wunder-
bare, farbenglühende, kryſtalliſch gebildete Blume treibt. Der Drang zur
Wirklichkeit, zum vollen Scheine ruft mit der Herrlichkeit und Intenſität
der Farbe ſchnell die Modellirung, die Linear- und Luftperſpective, das
Studium der Reflexe, Spieglungen, der Geheimniſſe des Incarnats zur
Reife. Wir haben den innern Geiſt, Auffaſſung, Styl nicht weiter zu
ſchildern, ſondern nur einzelne Züge zu dem gegebenen Bild hinzuzufügen.
Hubert hat bekanntlich noch weichere, rundere, breitere Formenbildung,
[731] doch nur theilweiſe, in den mehr ſtatuariſch behandelten Figuren, er ſelbſt
geht ſchon zu der Schärfe der naturaliſtiſchen und individualiſirenden Be-
handlung fort, die aber allerdings Johann noch weiter treibt. Dieſer
vorzüglich führt die Härte des Bruchs auch in die Faltengebung hinaus
und begründet den eckigen, winklichen Faltenwurf, der, ein treuer
Widerſchein der Tendenz zur Ecken- und Spitzenbildung in der Baukunſt,
von nun an bleibt. Die Herbe der Charakterbildung geht aber noch
nicht ſo weit, wie nachher in den deutſchen Schulen und die Phantaſtik
des Humors beſchränkt ſich bei den weiteren Meiſtern, wo ſie eintritt, auf
die Teufelsfratzen. Die Compoſition, bei Hubert noch mehr ſymmetriſch,
architektoniſch, durch ſymboliſchen Mittelpunct bedingt, entfaltet ſich natur-
gemäßer, reicher, bleibt aber im Vergleiche mit den Florentinern des
fünfzehnten Jahrhunderts immer gebunden. Kühnere Befreiung derſelben
erlaubte ſchon die unendliche Sorgfalt im Einzelnen nicht. Jetzt nämlich
ſteigert ſich dieß liebevolle Eingehen, das ſchon in der Kölner-Schule be-
gann, bis zu jener mikroſkopiſchen Behandlung, von welcher zu §. 726
die Rede geweſen iſt. Man erkennt daran den Urſprung des ganzen
Styls aus der Miniatur-Malerei. So konnte bei der Verbreitung deſſelben
allerdings nicht fortgemalt werden, da würde man nicht fertig. — Die
Fortſchritte durch die Schüler, namentlich Roger von der Weyden,
Hans Memling
, bezeichnet in der nöthigen Kürze der §.; es ſind Fort-
ſchritte nach allen Seiten und die Schule leiſtet, da ſie durch keine gegen-
überſtehende ergänzt wird, ungleich mehr, als die umbriſche, in Mannig-
faltigkeit der Charaktere, Bewegungen, Seelenzuſtände, figurenreicher
mythiſcher Handlung, Durchbildung der Farbe zum reinſten Schmelz,
Sättigung, Bewältigung ihrer Stoffartigkeit bis zum Verſchwinden jeder
Spur der Pinſelführung. Das Alles führt jedoch immer nicht zur Löſung
des Formenſinns; er bleibt gebunden. Das Naturſtudium fehlt nicht, aber
das Studium der Antike, oder, wenn man will, das Naturſtudium an
der Hand der Antike. Hier bleibt ein Maſaccio aus, der nicht nur
richtig, ſondern ſchön modellirt und das ſchön Modellirte in freie und ſchöne
Bewegung ſetzt, indem er ſowohl die Antike, als die Natur befragt, hier
[überhaupt] eine florentiniſche Schule. Die flandriſche hat wohl einen Theil
deſſen, wodurch dieſe ſich hervorthat: die Sicherheit der Zeichnung, die Aus-
bildung jener Grundmomente des techniſchen Verfahrens, die Charakteriſtik,
Bereicherung des Ausdrucks, Ausdehnung der Handlung, und ſie hat noch
mehr, denn die Oeffnung der Landſchaft, die Einführung des Sittenbildlichen,
des Hiſtoriſchen verdanken die Florentiner zum Theil ſelbſt den Flandrern;
aber die Florentiner haben das Alles auf Grundlage des plaſtiſchen Sinnes
und der fehlt dieſen Niederdeutſchen. Es bewährt ſich, was wir ſchon
zu §. 726 angedeutet haben: jene Nachwirkung des erſten Einfluſſes

48*
[732]antiker Form, wie ſie in der Kölner-Schule noch ſichtbar iſt und wie ſie
ſelbſt bei Hubert anfangs noch zu Tage tritt, hatte nicht hingereicht; ein
neuer, tieferer Trunk aus der Quelle that Noth, der ſchwerfälligen deutſchen
Natur doppelt Noth, und er blieb aus. Wohl zu bedenken iſt freilich,
daß die Verſchmelzung unendlich ſchwerer ſein mußte, wo das Maleriſche
in ſolcher Strenge Prinzip war. Die Gegenſätze ſtehen hier auf ihrer
Spitze; der Uebergang vom einen zum andern, das Amalgam, das ein
Drittes aus beiden bilden ſoll, iſt keine einfache Aufgabe, ſondern eine weit-
ſchichtige und von langer Hand; vorerſt konnte jenen haarſcharfen Indi-
vidualiſten das Prinzip des directen Idealismus nur etwas völlig Fremdes
ſein, für das ſie kein Organ hatten. Nur auf gewiſſen Puncten gieng
der rundere Fluß und die gelöstere Anmuth der Form auch ihnen nie
ganz aus: das iſt insbeſondere die Darſtellung weiblicher Seelenſchönheit,
vor Allem in den Madonnen. Hier blieben ſie idealer und ein Memling
bezaubert ſo tief und innig, als ein Pietro Perugino.


§. 729.

Der beſtechenden Kraft, womit dieſer Styl ſich über Deutſchland aus-
breitet, kann die Erinnerung plaſtiſcher Formen und der offnere Sinn für die-
ſelben, der ſich namentlich im Süden in einer breiteren, runderen, fließenderen
Darſtellung kund gibt, nicht widerſtehen; die miniaturartige Behandlung wird
aufgegeben, aber nun die Schärfe der Charakteriſtik bis zur Ueberladung phan-
taſtiſchen Humors und die Härte des Umriſſes noch mehr in das Eckige getrieben.


In Köln, Weſtphalen, Franken, Schwaben ſehen wir überall jenen
Styl, der im Zuge ſchien, die altchriſtliche Reminiscenz der Antike, den
weicheren Fluß der Form fortzubilden, plötzlich abgebrochen und nur, wie
bei den Niederländern ſelbſt, in das Gebiet des weiblichen Ideals gerettet,
während die Männerwelt immer knorriger, zackiger, naturaliſtiſcher im
gemeinen Sinne wird und die Verzerrung ſich vorzüglich auf die
Widerſacher Chriſti wirft. Die Nürnberger hatten in ihrem nüchternen,
heiteren, ſchlicht bürgerlichen Sinne, der mit ſcharfem Auge auf die Form
gerichtet war, etwas von den Florentinern, aber H. Wohlgemuth übt
nur eine ſchwankende Reaction vom Boden jenes runderen Formenſinns und
gerade in ſeiner Schule wird der knorpelige Abſprung des Umriſſes, die
Caricatur des Böſen recht zur ſtehenden Gewohnheit. Am ſtärkſten iſt
der Sinn für die Welle der Schönheit in den ſüddeutſchen Malern und er
verbindet ſich mit einem ungleich blühenderen Farbenſinn. Hans Holbein
(der Vater), Martin Schön, Zeitblom bewahren eine milde Anmuth,
eine edle Würde und feierliche Hoheit, die tiefe Empfindung legt ſich offen
[733] und heiter in breitere vollere Form, während eine durchgefühlte Farbe,
die öfters ſelbſt der venetianiſchen morbidezza im Fleiſch nahe kommt, den
warmen Lebensſinn ausſpricht; aber wie ein Dämon bricht doch auch bei
ihnen überall wieder das Formloſe mit ſeinen Ecken, Zacken und Grillen
durch. Es geht dieß ganz in das Widerliche; Zeitblom z. B. hat würdige
und ſchön angelegte Köpfe, aber ihn plagt der Kobold, eine höchſt alberne
Anſchwellung der Naſenwurzel ſtehend anzubringen, ja es kann ihm ein-
fallen, auf allen Feldern eines Hochaltars rothe Naſen mit Conſequenz
durchzuführen. Neben edlerer weiblicher Form ſpreizt ſich, wo eine
trotz dem eckigen Gefälte ernſt und voll entwickelte Gewandung ſie nicht
deckt, die männliche Geſtalt in den Schulen aller Orten wie ein hölzerner
Sägebock. Große Phyſiognomiker ſind ſie Alle; dieſer Zug ergibt ſich
zwar aus der allgemeinen Charakteriſtik des deutſchen Styls, aber wir müſſen
ihn hervorheben, um ihn im Folgenden mit verſtärktem Accent wieder
aufzunehmen. Uebrigens gehen auch die ſüddeutſchen Meiſter zur komiſchen
Löſung des Widerſpruchs fort und übertreiben das Komiſche in jenen
Feinden und Peinigern Chriſti zur Verzerrung.


§. 730.

Am Ausgange des Mittelalters erwächst auch in Deutſchland eine
Blüthe, welche vollendet zu nennen wäre, wenn nicht der unäſthetiſche Bruch
zwiſchen Inhalt und Form auch jetzt ungetilgt bliebe, ja gerade vielmehr als
Manier ſich feſtſetzte, während jene Löſung durch das Komiſche (vergl. §. 726),
nun genährt durch die Stimmung der Zeit, eine Fülle reicher, aber auch grillen-
hafter Erdichtungen der Phantaſie und des Humors erzeugt. Der eindringende
Humaniſmus wirkt nicht nach der äſthetiſchen Seite, die Reformation entzieht
der Kunſt den größten Cheil des Mythenkreiſes und ſchließt doch die urſprüng-
liche Stoffwelt, auf welche die deutſche Malerei durch ihren innerſten Charakter,
durch den nun in ſeiner ganzen Reinheit ſich bewährenden Geiſt ſchlichter Treue
und Wahrhaftigkeit beſonders nachdrücklich berufen iſt, nicht unmittelbar in ent-
ſchiedener Weiſe auf.


Der italieniſch plaſtiſche Styl hat in dieſer Periode, die zu den
geiſtig fruchtbarſten Momenten der Menſchheit gehört, ein Höchſtes, ein
Abſolutes erreicht, der maleriſch deutſche nicht; denn jener hat ſich das
Maaß des Maleriſchen angeeignet, deſſen er fähig iſt und bedarf, dieſer
hat ſich das Maaß des Plaſtiſchen, das ihm noth thut und das er er-
trägt, nicht angeeignet. Jener zeigt daher einen wirklichen Abſchluß,
dieſer weist im beziehungsweiſen Abſchluß hinaus auf eine Zukunft, wo
die tiefe, aber grobe deutſche Natur nach einem langen, ſchweren Durch-
[734] dringungsprozeß das claſſiſche Bildungsferment in ſich aufnehmen wird.
Der Humaniſmus wirkt mehr ethiſch, als künſtleriſch; die Fabeln des
Alterthums erfreuen wohl, bilden aber das Schönheitsgefühl nicht und
nähren die Liebe zur Allegorie, die jetzt recht aufkommt und die Erfindung
befruchtet, ohne zum qualitativ Schönen zu führen. Wahrhaft naiv ſind
bekanntlich die mit claſſiſchen Namen getauften Studien Dürers und
L. Kranachs nach dem Nackten. Die räumliche Ferne der Antike und
der italieniſchen Kunſt bringt auch äußerlich ein Hinderniß hinzu. Der
Fall in den gemeinen Naturaliſmus findet auch jetzt keinen Damm; ein
Albrecht Dürer iſt darin ſo haltlos, als die Meiſter des fünfzehnten Jahr-
hunderts, und ſtellt die gemeinſten, albernſten Köpfe neben die charakter-
vollſten. Das Komiſche findet nun beſtimmtere Nahrung durch den Humor
der Zeit, der die Illuſionen und Vorrechte des Mittelalters zerſetzt und
verlacht, zugleich aber allgemein ſich zum erſtenmal ein deutliches Bewußt-
ſein von den Widerſprüchen des Lebens gibt. Wir befinden uns nicht
mehr ferne von Fiſchart. Aber dieſer Humor bedarf ebenfalls formelle
Durchbildung und hat ſie noch nicht. So ſchlägt er denn gerade jetzt
recht in Phantaſtik aus, ſei es in Erfindungen der eigentlichen Kunſt, ſei
es im Zweige des Ornaments und der Arabeske. Er paart ſich wie bei
Dante mit dem Geſpenſtiſchen, traumhaft Schauerlichen. Wir erinnern an
Dürers Holzſchnitte zur Offenbarung Johannis, ſeine Compoſition: Ritter,
Tod und Teufel und And., an ſeine von Erfindung ſprudelnden Rand-
zeichnungen, an die mährchenhaft wunderſamen Compoſitionen L. Kranachs,
an die Todtentänze, beſonders H. Holbeins, an die immer noch beliebten
Caricaturen der Widerſacher Chriſti bei Allen. Es iſt immer der deutſche Geiſt
mit ſeinem tiefen Berufe zur Komik, mit ſeiner tiefſinnigen Traumwelt und
mit ſeinem Eigenſinn, die edelſten Kräfte da walten zu laſſen, wo ſie nicht
hingehören, und eine Fülle von Leben in phantaſtiſche Ranken zu treiben,
ſtatt als organiſchen Bildungstrieb im Mittelpuncte der Kunſt wirken zu
laſſen; es iſt die Abſonderlichkeit, die „Schrulle“, die wir ſo ſchwer los
werden. Was nun aber früher nur ein ungeläutertes Fühlen war, das
wird, da der Geiſt zu ſich kommt und doch nicht in die Zucht der reinen
Form genommen wird, nun erſt eigentlich Manier. Dieß gilt vom Style
ganz allgemein und abgeſehen von beſondern Einfällen und Erfindungen;
die knorrigen Ausbiegungen der Linie in der Zeichnung menſchlicher Geſtalt,
die unmotivirten Neſter und Knäuel eckig geknitterter und fahrig aufge-
rollter Falten werden bei vollkommenem Können, höchſter Meiſterſchaft
der Zeichnung jetzt aus Grille, aus Caprice beliebt.


Die Reformation iſt im zweiten Theile des Syſtems mehrfach be-
ſprochen. Wirft man die Schuld der Stockung, welche nun bald in der
deutſchen Kunſt eintrat, auf ſie, ſo iſt, ſofern der Vorwurf ſich auf die
[735] Verſtopfung einer reichen Stoffquelle beziehen ſoll, nur zu antworten, daß
nicht zu viel, ſondern zu wenig reformirt worden iſt. Der Theil des
Mythus, der ſtehen blieb, war zu arm für die Kunſt. Rationale Auf-
faſſung deſſelben, wie wir ſolche bei den Venetianern erwähnt haben,
dringt im Einzelnen gewaltig durch, wie in A. Dürers vier Apoſteln,
allein von keiner andern, reicheren Stoffquelle getragen, kann ſie aus
dieſem Gebiete nur vereinzelte, geringe Nahrung ziehen. Und doch
reicht der Reſt von Mythus hin, noch immer die urſprüngliche Stoffwelt
zu verſperren. Es iſt mehr, als einmal, ausgeſprochen, daß die deutſche
Malerei noch ungleich ſtärker, als die zur Reife gelangte italieniſche, zu
dieſer Welt hindrängte; wir heben nur noch ausdrücklich den Geiſt der
ſchlichten Wahrheit heraus, der ihren innerſten Kern, wie überhaupt den
Kern des deutſchen Geiſtes, bildet. Die deutſche Natur ließ ſich nicht
länger von dem äſthetiſchen Pathos der romaniſchen Kirche blenden, ſondern
zerriß mit geſund grober Täuſchungsloſigkeit den prachtvollen Schleier.
Dieſe Täuſchungsloſigkeit, Scheinloſigkeit war an ſich nichts weniger, als
Feindſchaft gegen den freien Schein der Kunſt, wohl aber widerſtrebte ſie
mit vollem Rechte der mythiſchen Kunſt und mit halbem Rechte dem idea-
len Pathos des plaſtiſchen Kunſtſtyls. Sie ſpricht mit einer kerngeſunden,
tief lauteren Ehrlichkeit, einer rührenden Treue aus den Werken der großen
Meiſter. Sie führte insbeſondere zu einer Komik, die wohl von jenem
phantaſtiſchen Schößling zu unterſcheiden iſt, zu einer Komik, wo ſie hin-
gehört, einer gemüthvollen, behaglichen Darſtellung der lieben, derben
Natur, die dem Schnürbande, der geiſtlichen und weltlichen Ariſtokratie
des Mittelalters entwachſen iſt und gelegentlich mit cyniſchem Bauern-
Lärm ſich’s wohl ſein läßt, vergl. §. 369. 471. Da war denn namentlich
das gröbere, das gemüthliche, das komiſche Sittenbild gegeben, und doch
kann es noch immer nicht zum Daſein als ſelbſtändiger Zweig gelangen.
Es tritt nur vereinzelt in Handzeichnung, Kupferſtich, Holzſchnitt als
ungetheiltes Ganzes auf, im Allgemeinen ſchließt es ſich auch jetzt noch an
den mythiſchen Stoff und vernürnbergert die Studirſtube des h. Hierony-
mus, die Werkſtätte Joſephs. Auch die geſchichtliche Malerei ringt ebenſo
vergeblich zum Daſein, alle Verſuche bleiben vereinzelt. Ein L. Kranach
mit ſeiner tiefwahren Charakter-Zeichnung findet keinen Stoff, ſie zur
dramatiſchen Handlung zu entfalten, und begnügt ſich mit Gruppen-
Zuſammenſtellungen der Reformatoren: das Hiſtorienbild tritt theologiſch
auf, wie die Reformation ſich in das Theologiſche verengte. — Gilt aber
jener Vorwurf der Reformation als einer Bewegung der Geiſter über-
haupt, ſo enthält er ein richtiges Urtheil, das kein Vorwurf iſt. Der
Bruch mit dem Mittelalter forderte eine Energie des ſittlichen Geiſtes,
neben welcher das intereſſeloſe Form-Intereſſe des Schönen nicht blühen,
[736] nicht ſchwunghaft leben konnte. Aufgeſchoben war allerdings nicht auf-
gehoben. Aber die Kämpfe der Reformation mit dem Wahn und mit der
Verſtockung im Haupte des Reichs, das die Aufgabe der Zeit nicht begriff,
koſteten Deutſchland ſein Glück und als es Zeit war, daß die ethiſche
Kriſis äſthetiſch nachwirke, war die reale Grundbedingung aller Kunſt,
Wohlſtand, Lebensfreude, Nationalgefühl dahin. Darum war aufgeſchoben
auf ſehr ferne Zukunft aufgeſchoben. Auf die ſpeziellen Hinderniſſe,
Mangel an wirklicher Kunſt-Unterſtützung, großen Aufträgen, namentlich
zu Werken der Wandmalerei, deren Wichtigkeit für die plaſtiſche He-
bung des maleriſchen Styls wir erkannt haben (§. 693), die Einwirkung
der techniſchen Erfindungen, die eine Fülle von Geiſt in die Illuſtration
und Skizze ableiteten: auf dieß und Anderes kann hier nicht näher ein-
gegangen werden; die letztere Erſcheinung iſt zu §. 694, 2. erwähnt.


§. 731.

Was auf der Grundlage meiſterhafter Technik zur Höhe geführt wird, iſt
vor Allem die Phyſiognomik und Charakterzeichnung, was getilgt wird, der
Mangel an Feuer und Bewegung. Während Albr. Dürer, ein Denker der
Kunſt, wie Leonardo da Vinci, voll Reichthum der Erfindung, Tiefe des Ge-
dankens und Gefühls, Tüchtigkeit und Wärme des Gemüths, hierin Bahn
bricht, Luc. Kranach mit ſchlichterer Naivetät folgt, tritt in Hans Holbein
ein Künſtler auf, der, noch feinerer Phyſiognomiker, wärmerer Coloriſt, als
Dürer, ſich durch eine in der deutſchen Malerei bis dahin einzige Reinheit
des Schönheitsſinns auszeichnet und den erſten großen Schritt thut, den italieniſch
plaſtiſchen Styl mit dem deutſchen zu vermählen, aber auf eine über die Natur
beider Richtungen höchſt belehrende Weiſe zwiſchen beiden ſchwankt.


Der §. ſchickt voraus, was den großen Meiſtern gemeinſam iſt.
Wir verweilen nicht bei der Vollendung der Technik an ſich, der nur
die liebevolle, wahrhaft fromme Innigkeit des Fleißes gleichkommt. Die
Phyſiognomik iſt der tiefſten Bewunderung werth; ſie übertrifft als Haupt-
ſtärke des ſtreng maleriſchen Styls die italieniſche; getragen iſt auch ſie von
der Reife, Tiefe, Gründlichkeit des Blicks, die in der meiſterhaften Aus-
übung der blühenden Porträtmalerei großgewachſen. Die Affectloſigkeit
und Bewegungsloſigkeit der flandriſchen Schule war zum Theil ſchon
von den deutſchen Meiſtern und Schulen der Uebergangszeit gebrochen,
aber jetzt erſt fährt das volle Feuer der aufgeregten Zeit in die ſchüch-
ternen Glieder der Kunſt und bewegt ſie leidenſchaftlich, doch ohne die
Bewegung zu veredeln und ohne ſie in rein menſchlicher Handlung ſchwung-
haft dramatiſch zu verwenden. — Der Umfang unſerer Aufgabe verbietet
[737] uns, die Charakteriſtik Dürers und L. Kranachs, die der §. gibt, weiter
auszuführen; nur bei Hans Holbein (dem Jüngſten) müſſen wir verweilen,
weil ſeine Erſcheinung für den ganzen Grundgedanken dieſes Abriſſes der
Geſchichte der Malerei von der tiefſten Wichtigkeit iſt. In ihm war etwas
von Raphaels, von Göthe’s Geiſt und in ihm zugleich die ganze Schärfe,
täuſchungsloſe Wahrheit, unbeſtechliche Belauſchung des Wirklichen in den
ſprechenden Zügen ſeiner unerbittlichen Realität, in ihm warmer Farbenſinn
und harmoniſcher Formenſinn; in ihm konnte der Nation ein Shakes-
peare der Malerei, geläutert an Sophokles, erſtehen. Er hat ſchon in
ſeinen frühen Werken Figuren von einer Reinheit, einem gelösten, freien,
entſchloſſenen Wurf, welche ganz modern gemahnen, als gehörten ſie einer
Zeit, wo die nordiſche Kunſt durch die Alten und die Italiener ſich von
ihrer Gebundenheit befreit hat. Er kannte die Italiener, Mantegna, Leonardo
da Vinci, Raphael. Nun aber erwäge man beſtimmter, was wir ſchon zu
§. 728 berührt haben: ein dem innerſten Weſen nach entgegengeſetzter
Styl iſt in Deutſchland ohne alle Rückſicht auf den plaſtiſchen, italieniſchen
vollkommen reif geworden, hat nicht in organiſchem Fortgange ſchrittweiſe
von dieſem ſich angeeignet, was noth that; nun, ganz für ſich erſtarkt,
öffnet er das Auge und findet den entgegengeſetzten Styl, das Erzeug-
niß eines grundverſchiedenen Naturells, ebenfalls völlig erſtarkt und reif.
Da wird er ſich im Gefühle der unendlichen Schwierigkeit einer Ver-
ſchmelzung entweder ſpröde gegen ihn abſchließen, und ſo that Dürer, oder
er wird in eine Schwankung gerathen, worin er bald ein Stück des andern
Styls äußerlich in ein Ganzes der eigenen Auffaſſung hineinſtellt, bald
mit vollen Händen und gänzlicher Selbſtentäußerung in jenen hineingreift,
bald ihn wieder wegſtößt und ganz den eigenen, aller plaſtiſchen Schön-
heit fremden Wegen nachgeht, kaum ein einzigesmal aber ihn organiſch
im Ganzen eines Kunſtwerks mit den Formen des eigenen Styls verſchmelzt.
So verhält es ſich mit Hans Holbein. Das eine Mal findet man bei
ihm zwiſchen hart und ſcharf naturaliſirten und individualiſirten, ächt
deutſchen Figuren einzelne in der generaliſirenden Schönheitsnorm der
Italiener gehalten; man fühlt, daß dieſe neben jenen flach, abſtract ideal
erſcheinen, man fühlt, wie ſchwer es war, abzuwägen, wie viel denn nun
von dem einen, wie viel von dem andern Styl zur richtigen Miſchung
eines neuen, dritten ſollte gezogen werden; das andre Mal erſcheint er
in allegoriſcher Compoſition ganz wie ein Giulio Romano; jetzt wirft er
die plaſtiſch geläuterte Form wieder ganz über Bord und tritt als haar-
ſcharf eckiger deutſcher Phyſiognomiker an uns; einmal aber weiß er
ein Ganzes, und zudem aus lauter Bildniſſen componirt, in der wunder-
vollſten Verſchmelzung der gegenſätzlichen Style durchzuführen und erwärmt
zugleich das innerſte Herz, den Menſchen im Menſchen, durch die reine
[738] Menſchlichkeit, in welche er einen kirchlich mythiſchen Stoff umſetzt: ſo in
der herrlichen Gruppe der Madonna und der Bürgermeiſterfamilie in
Dresden. Aber er kann auf dieſem Wege nicht fortgehen, die Nation,
die Zeit trägt ihn nicht, die erforderlichen Zweige der Kunſt ſind noch
nicht reif zum Ausſchlüpfen und ſo wirft er ſich mit ſeiner plaſtiſch geläu-
terten Phyſiognomik zuletzt ganz auf das Porträt; von dieſer Seite haben
wir die wunderbare Natur des Mannes ſchon zu §. 708 beſprochen. —
H. Holbein ſteht allerdings nicht ganz allein; in der fränkiſchen Gruppe
der Schüler Dürers und verwandter Richtungen leuchtet M. Grünewald
mit ſeinem tieferen Gefühl der Grazie hervor, in Ulm eignet ſich der
offene, milde M. Schaffner italieniſchen Zug der Zeichnung an, der
Gmünder Hans Baldung Grien zeigt vollere Formen und Kenntniß
des Correggio; allein auch dieſe Männer ſtehen vereinzelt und der Sinn
für die gereinigte Form hat in ihnen weit nicht die Kraft und Fülle wie
in H. Holbein. So bleibt es dabei, daß es für eine wahre innere Ver-
ſchmelzung des nöthigen Maaßes plaſtiſcher Schönheit mit dem ſtreng
maleriſchen Style zu ſpät und zu früh war. Unter wachſender ſittenbild-
licher Behandlung der religiöſen Stoffe ſehen wir auch am Niederrhein
ſeelenvolle Empfindung mitten in ſcharf individueller Umgebung ſich in
anmuthvollere Form kleiden; wir erinnern an den Kölner Meiſter vom
Tode der Maria (ſonſt mit Schoreel verwechſelt) und Andere; beſonders
intereſſant aber wendet ſich die Sache in den Niederlanden, was zum
Schluß noch ausdrücklich hervorzuheben iſt.


§. 732.

Zwei bezeichnende Erſcheinungen treten als Ausläufer dieſes Zeitraums
in den Niederlanden hervor: die erſten Uebergänge zum reinen Sittenbild und zur
Landſchaft, zugleich aber ſtatt einer organiſchen Fortbildung jener Einflüſſe des
italieniſchen Styls eine völlig unfreie, des eigenen Geiſtes ſich entäußernde,
leere Nachahmung ſeiner Formen.


Nicht eine letzte große Blüthe, die gewaltig auf ein neues Ideal
hinüberweiſe, wie die venetianiſche Schule, bildet die in das ſechzehnte
Jahrhundert tiefer hineinlaufenden Schlußpuncte dieſer Periode der deut-
ſchen Malerei. Eine ſolche hätte ja nur in einer entſchiedenen, ſchwung-
haften Wendung zu dem ſogenannten Profanen und in einer Läuterung
des Styls zu reinen Formen beſtehen können. Jene Wendung tritt noch
nicht ein, aber vereinzelte merkwürdige Uebergänge, und zwar da, wo
ſpäter die betreffenden Zweige zuerſt aufblühen ſollten: in Flandern und
Holland. Merkwürdiger Weiſe wirft ein und derſelbe Künſtler, der im
[739] Kirchenbilde noch voll tiefen Gefühls iſt, der zugleich anfängt, die Geſtalt
aus jenem falſchen Verhältniſſe, worin die maleriſche Umgebung einen
zu großen Theil des Intereſſes ihr entzog, abzulöſen und für ſich als
einen Gegenſtand reinen Formſtudiums zu behandeln, Qu. Meſſys, zu-
erſt das Sittenbildliche aus der Verbindung mit dem Mythiſchen heraus
und ſtellt es nicht nur ſelbſtändig, ſondern auch, wie dieß nach unſerer
früheren Bemerkung bei ſo manchem Andern, was die frühern deutſchen
Maler Aehnliches componirten, nicht der Fall war, in völliger Farben-
Ausführung hin. In Holland nimmt Lucas von Leyden die entſchie-
dene Wendung nach dem Sittenbilde, doch ebenfalls mehr als Kupfer-
ſtecher. Später ringt in kindlichem Gewande die Landſchaft zur Selb-
ſtändigkeit; ein Patenier, Herry de Bles überliefert dieſe Anfänge den
Holländern des ſiebzehnten Jahrhunderts zur Fortbildung. — Höchſt be-
lehrend aber iſt die andere Erſcheinung: ſie bewährt vollends, was wir
von der tiefen Schwierigkeit der richtigen Aneignung des Italieniſchen
geſagt haben. Man wollte daraus recht Ernſt machen und ſtatt einer
Verſchmelzung entſtand eine Entäußerung deſſen, was der deutſche Styl
tief berechtigt Eigenes und Großes hatte, eine Aneignung des Fremden
ohne deſſen Seele und Größe, ein lebloſer Idealiſmus der Form. Die
Mabuſe, die Bernhard van Orley, Coxcie, Schoreel, Hemskerk waren
keine ſchlechten Talente im ſtreng maleriſchen Style geweſen, aber in der
Schule der Italiener werden ſie leere Formaliſten; ſie werfen die ſcharfe
Naturtreue und Phyſiognomik weg, weil ihr die Schönheit fehlt, und er-
greifen die Schönheit ohne Lebenswärme. Dieſe Verirrung bezeichnet
nach der einen Seite das Ende unſerer Periode, nach der andern iſt ſie
die negative Vorbedingung der großen Entwicklungen der folgenden. So
werden wir ſie wieder auffaſſen.


γ. Die moderne Malerei.


§. 733.

Italien tritt an den Anfang der Geſchichte der modernen Malerei
mit einer neuen Lebensregung, welche ein Bild und Vorſpiel der künftigen Ge-
genſätze und Entwicklungen darſtellt. In der Auflöſung ſucht der Eklekti-
ziſmus
den reinen Styl zu retten und begründet die akademiſch correcte Kunſt-
bildung; ihm wirft ſich der Naturaliſmus entgegen, führt das Maleriſche
in der Form leidenſchaftlich großartiger Wildheit ein und eröffnet das ſelbſtän-
dige Sittenbild und die Landſchaft. Die letztere wird von bedeutenden fran-
zöſiſchen
Talenten im Sinne des hohen Styls zur heroiſchen Form ausge-
bildet.


[740]

Die italieniſche Kunſt hat eine ſolche Stärke normaler Lebenskraft,
daß ſie an der Schwelle des eigentlich Modernen, am Ende des ſechzehn-
ten und Anfang des ſiebzehnten Jahrhunderts, noch einen bedeutenden
Sproſſen treibt und vorbildlich das Thema hinſtellt, das von nun an
auf höheren Stufen, in verſchiedenen Formen durchgeſpielt wird. Der
plaſtiſche Styl nämlich, an und für ſich ſchon der Träger der Diſciplin
für den maleriſchen, muß ſich jetzt mit einem neuen Momente verbinden:
er muß ſich aus dem Verfalle, der Willkühr, der Manier — die wir
nicht weiter ſchildern — aufraffen und daher auf ein förmlich geregeltes
Kunſtbewußtſein, auf Methode im Unterricht gründen: er wird akademiſch
(vergl. §. 522). Das Akademiſche mit ſeinem Guten und ſeinem Uebeln
(dem Formaliſmus und Mechaniſmus) iſt bereits durch und durch mo-
dern. Dem Inhalte nach ſind die Begründer dieſer neuen Form, die
Caracci in Bologna, Eklektiker. Freilich iſt dieß nicht abſtract zu
nehmen: ein Auszug der Vorzüge aus den verſchiedenſten Meiſtern und
Schulen wird zwar als Ideal hingeſtellt und daraus muß eigentlich ein
todtgebornes, ſchattenhaftes Product entſtehen, aber das Leben läßt ſich
nicht zerſchneiden: auch dieſe formaliſtiſchen Idealiſten haben Theil an
dem kräftigen Naturaliſmus, der gleichzeitig in Italien auflebt und ſich
ihnen entgegenwirft; es fehlt den Reſtauratoren, die nicht nur in Bologna,
ſondern in mehreren Städten Italiens auftreten, neben der markloſen
Sentimentalität, die aus den correcten Formen ſpricht, doch in vielen
ihrer Werke keineswegs an Fülle und Wärme des Lebens. Trotzdem
müſſen die Gegenſätze für den Begriff klar geſchieden werden. Dem
Stoffe nach iſt der Eklekticiſmus weſentlich noch mythiſch und allegoriſch,
nur in der Landſchaft zerfließt auch nach dieſer Seite der Gegenſatz der
Richtungen: Annibale Caracci und Dominichino ergreifen dieſen
Zweig, auf den wir jedoch erſt bei der entgegengeſetzten Gruppe eingehen.
Dieſe wirft denn gegen die Kälte und Abſtraction der Eklektiker den Na-
turaliſmus
als Prinzip auf. Mit dieſem Worte verbindet ſich nun
ein neuer Begriff. Bis jetzt haben wir unter demſelben zunächſt eine
berechtigte Seite des ächt maleriſchen Styls, dann aber auch eine Verir-
rung deſſelben, ein wahlloſes Aufgreifen gemeiner empiriſcher Formen ver-
ſtanden. In dieſen italieniſchen Naturaliſten tritt nun allerdings das
Maleriſche mit einer Gewalt und Ausdrücklichkeit auf, wie bis dahin in
Italien noch nie; aber es tritt nicht rein auf, der Naturaliſmus greift nach
gemeinen Formen. Das Neue jedoch beſteht darin, daß dieſes Aufgreifen
nicht in naiver Weiſe geſchieht, wie wir es bei den Deutſchen fanden,
ſondern prinzipiell als Loſungswort in der Oppoſitionsſtellung gegen eine
froſtige Stylregel und ihren Schulzwang. Es iſt ein grundſätzlich ſtylloſes
Verfahren, das die rohe, die wilde, gemeine Natur mit kecker Fauſt dem
[741] hohlen Ideal entgegenwirft. Eigenthümlich verwickelt ſich nun der ener-
giſche Drang zum ächt Maleriſchen, der dieſer zur Maxime erhobenen
Verwilderung zu Grunde liegt. Er äußert ſich namentlich in der lei-
denſchaftlich bewegten Stimmung und ihr entſprechend im Colorit. Die-
ſes hatte ſeit dem beginnenden Verfalle mit den Effecten der ſtarken
Schattenmaſſen im Gegenſatze gegen grell einfallende Lichter geprahlt;
das nehmen die Naturaliſten von den früheren Manieriſten auf und
verwenden es, namentlich ein Caravaggio und Nibera lo Spagno-
letto
, für jene Stimmung, die beſonders unheimliche nächtliche Scenen
liebt; allein im Verlaufe erwirbt ſich dieſe Gruppe, vor Allen Salvator
Roſa
, das Verdienſt einer hohen Durchbildung des Colorits im beſten
künſtleriſchen Sinne des ächt Maleriſchen. Die Wildheit der Formengebung
geht nun zunächſt in demſelben Zuge, ſie iſt ein Mißbrauch der Freiheit, die
das Maleriſche von der ſtrengen Linie der Schönheit entbindet; allein es
iſt darin doch gar nichts von jener Art der Formloſigkeit, die den Deut-
ſchen anhieng; vielmehr zeigt ſich darin ebenſoſehr ein verwilderter pla-
ſtiſcher
Sinn. Eigentlich iſt es ein Rückgriff auf die ſogenannte ſtarke
Manier, die als Ausartung deſſen eingeriſſen war, was in M. Angelo
noch Größe und Genialität war. Dieſe alten Weiber und Männer mit
ihren runzlichten, aber maſſenhaften Gliedern, dieſe Zigeuner und Zigeu-
nerinnen, Hexen, finſteren Kriegsknechte, falſchen Spieler und Mörder in
greller Beleuchtung ſind doch Abkömmlinge, liederliche Nachkommen jenes im
plaſtiſch hohen Style gezeugten Rieſengeſchlechts. Alſo eine neue, noch ein-
mal ſich verwickelnde Wiederholung und Veräſtung der Stylgegenſätze inner-
halb der ſich bekämpfenden Seiten. — Dagegen iſt nun neu und ein unge-
theilt ächt maleriſcher Schritt die Schöpfung des ſelbſtändigen Sittenbilds,
insbeſondere des Schlachtbilds — Alles freilich in der einen Richtung der
leidenſchaftlich aufgeregten Zeit — und der Landſchaftmalerei. In der letztern
jedoch tritt wieder der Umtauſch der Prinzipien ein: der Naturaliſmus ſelbſt
geht von einer mehr romantiſch wilden Form mit entſprechender Staffage
zum hohen Style der ſog. heroiſchen Landſchaft über durch den genialen
Salvator Roſa. Hier aber treten jene in Italien lebenden, vom Gefühle
ſüdlicher Natur und ſüdlichen Styls durchdrungenen Franzoſen ein:
Nicol. Pouſſin, Caſpar Pouſſin, Claude Lorrain, und führen
den plaſtiſchen Styl der Landſchaft auf die Höhe der Idealität, der
reinſten Verklärung der Form im Zauber des Lichts.


§. 734.

Auf höherer Stufe und vom Boden des ächt Maleriſchen übernimmt ein
Stamm der deutſchen Nation, der niederländiſche, den Kampf gegen den
[742] Froſt des direct idealen Styls und eröffnet in poſitiver Entſcheidung den Ent-
wicklungsgang der modernen Malerei. Das erſte große Stadium dieſer Be-
wegung ſtellt ſich in dem Belgier Rubens dar, deſſen großartiger Naturaliſmus
mit den mythiſchen Stoffen noch nicht völlig bricht, zugleich jedoch das Ge-
biet der reinen Wirklichkeit in Beſitz nimmt und unedle, aber im Geiſte des
M. Angelo gewaltige Formen durch dramatiſches Feuer der Leidenſchaft und
Handlung, ſo wie durch die Lebensgluth eines Colorits verklärt, das er insbe-
beſondere am Muſter der Venetianer ausgebildet hat und wodurch er jener im
nordiſch maleriſchen Style ſelbſt bis dahin herrſchenden falſchen Plaſtik des
Umriſſes (§. 726) ein Ende macht.


Was die Venetianer vorbereitet, aber nicht durchgeführt haben, wozu
die Deutſchen den höchſten Beruf zeigen, ohne es doch anders, als ver-
einzelt, in’s Werk zu ſetzen, was auch jene italieniſchen Naturaliſten nur
mangelhaft beginnen, das übernimmt mit entſcheidendem, wiewohl noch
nicht nach allen Seiten gleich vordringendem Schritte jener Stamm, der
ſich jetzt von der Gemeinſchaft der deutſchen Nation abgeſondert und die
Kämpfe, welche die Reformation hervorrief, glücklich überſtanden hat: die
Niederländer. Das moderne Ideal der Malerei ſoll dem Stoffe nach
die Tranſcendenz abwerfen und die reine Wirklichkeit in Beſitz nehmen,
der Form nach dem ſtreng maleriſchen Style das richtige Maaß des pla-
ſtiſchen beimiſchen. Der erſte Theil dieſer Aufgabe wird von den Nieder-
ländern erfüllt: es ſiegt der Geiſt der Immanenz, der Realität; der
zweite Theil wird noch nicht erfüllt, in der außerordentlichen Vervollkomm-
nung aller Momente des Maleriſchen, insbeſondere der Farbe, fehlt noch
die Zumiſchung des reineren, höheren Formgefühls. Doch läßt ſich das
in gewiſſer Beziehung in Frage ſtellen; wir kommen auf dieſen ver-
wickelten Punct zurück. Es wiederholt ſich nun hier dieſelbe Gruppe,
wie im vorh. §., zunächſt ſo, daß die Belgier zuſammen mit den Hol-
ländern, die der §. noch nicht ausdrücklich nennt, den Kampf gegen den nach
Norden verbreiteten kalten, conventionellen Idealiſmus ebenſo übernehmen,
wie jene italieniſchen Naturaliſten. Den Gegner brauchen wir nicht noch
einmal zu ſchildern: es iſt jener geiſtloſe Formaliſmus der Nachahmung
des reifen italieniſchen Styls, der in §. 732 aufgeführt iſt und in den
Niederlanden immer weiter eingedrungen war (Franz Floris „der belgiſche
Raphael“ u. And.). Der Zorn dagegen ſchlägt nun in hellen Flammen
durch und wirft abſichtlich mit dem ſteifen Zwang der todten Regel zuerſt
auch das wahre Maaß zu Boden. Vergleicht man aber Rubens und
ſeine Stylgenoſſen nicht mit jenem ihrem Gegner, ſondern unterſcheidet
ſie von den Holländern, ſo haben ſie in dieſer Beziehung doch ſelbſt
noch einen Reſt von Tranſcendenz und etwas von der Ariſtokratie des
[743] hohen Styls, gegen deſſen kalte Epigonen der nordiſche Geiſt ſich nun
aufmacht. So betrachtet nun wiederholt ſich die Oppoſition innerhalb
dieſer Gruppe, indem die Holländer gegen den Styl des Rubens in
noch ſpezialiſirterem Sinne das Maleriſche zum Prinzip erheben. — Ru-
bens iſt Belgier, hier iſt romaniſches Blut in germaniſches gefloſſen und
der Stamm iſt katholiſch geblieben, hat daher auch vom Stoff- und Styl-
prinzip des Romanenthums und ſeiner Anſchauung etwas behalten. Vom
Marke der Erde genährt, von der Flamme des Lebens durchglüht, alles
Geiſtes der ächt religiöſen Kunſt baar, gibt er doch ihren jenſeitigen Ge-
ſtaltenkreis nicht auf und nimmt mit Vorliebe zugleich ſeinen Flug in die
fremde Luftſchichte der Allegorie. Dem Style nach iſt er Naturaliſt ähn-
lich wie jene Italiener, ſeine Formen ſind unedel, eigen iſt ihnen das
ſchwellende Fett, dem man die Abſichtlichkeit der Oppoſition gegen das
kalte Ebenmaaß der plaſtiſchen Linie nur zu gut anſieht; ebenſo nimmt
er häßliche Leidenſchaft, Eckelhaftes und Widriges von Wunden u. dergl.
im Zorne des Stylkampfes recht mit Willen auf. Wie aber die italie-
niſchen Naturaliſten doch auf das plaſtiſche Kraftbild des M. Angelo zu-
rückweiſen, ſo und noch viel mehr Rubens. Nicht Adel der Linie, aber
Adel der hohen Energie iſt in dieſen Formen, cyniſch ſtyllos ſtyliſirt er
doch, und darin iſt er ſelbſt noch plaſtiſch. Daher naturaliſirt er zwar,
aber er individualiſirt nicht, außer in ſeinen markigen, geſättigten, ath-
menden Bildniſſen. Noch mehr, als die Großheit an ſich, iſt es nun aber
das Brauſen der Bewegung und Leidenſchaft, was uns über das Unedle
der Formen wegreißt, und hierin iſt er nun durch und durch maleriſch;
nirgends herrſcht mit ſolcher Kraft der maleriſche Wurf, wie in ihm,
eine Windsbraut entfeſſelter Kräfte fegt durch ſeine Werke. Und dieſer
Geiſt hat ihn trotz der feſtgehaltenen Tranſcendenz auf den Boden der
Wirklichkeit geführt und zwar ihn zuerſt auf den Boden des rein geſchicht-
lichen Bilds in der vollen, der dramatiſchen Bedeutung des Worts.
Hiemit kann auch nun erſt eigentlich die freie Compoſition aufkommen;
im Mythiſchen herrſcht ja mehr oder minder ſtets eine architektoniſch geo-
metriſche Anordnung. Raphael wurde der große Componiſt, weil er zur
Handlung übergieng. Was Rubens als Anordner iſt, wie er die meiſt
figurenreichen Maſſen beherrſcht, iſt bekannt. Das Sittenbild ſagt ihm
nur zu in blutigen Jagden mit furchtbaren Thieren, in heißen Schlachten,
und die claſſiſche Sage benützt er, um glühend üppigen Lebensgenuß, voll-
ſäftige, ſtrotzende Luſt des Daſeins auszuſtrömen. Er beſchreitet auch das
Gebiet der Landſchaft; es iſt nicht mehr die heroiſche, noch nicht die rein
maleriſche, großer Styl und doch walten alle Mittel des Colorits und
Helldunkels, um ein bewegtes Bild ſchaffender Urkräfte zu entrollen.
Der Geiſt der Bewegung drückt ſich nun überhaupt nicht blos in der
[744] Linie, ſondern ebenſoſehr in der Farbengebung aus und ſie iſt es denn
hauptſächlich, wodurch Rubens ſeine ſtarken, aber unedlen Formen verklärt.
Hier knüpft ſich der Faden zwiſchen dem Süden und Norden (vergl. §. 725
Anm. 1. 2.): Rubens iſt in der Farbe Schüler der Venetianer. Mit
ihm erſt verſchwindet jene Art falſcher Plaſtik, die dem, doch ächt maleri-
ſchen, deutſchen Styl eigen iſt: die Härte der Grenzen (§. 726). Wie
der Umriß durch die ſchwungvolle Auffaſſung der Form bei ihm zuerſt
prinzipiell und durchgängig das Eckige abſtreift (und darin erkennt man
beſtimmt genug den Einfluß Italiens), ſo ſaugt nun auch techniſch die
Farbe den Umriß auf, gibt ihm jene Lockerung, die ihm bei den deutſchen
Meiſtern noch fehlte. So iſt Rubens im Norden der erſte eigentliche
Maler. Seine Farbe iſt nun überhaupt, ſelbſt noch mehr, als bei den
Venetianern, ein reif durchkochtes Ganzes; jene Conſumtion (§. 673)
tritt bei ihm ein, aber ſie ſteht noch mit der Entſchiedenheit der Local-
farbe im Gleichgewicht, Alles leuchtet von innen heraus, das Fleiſch
heller mit röthlichen Reflexen, als bei den Venetianern, Alles fließt und
ſchwimmt unbeſchadet der Kraft der Selbſtändigkeit im geſättigten Elemente
des Tons und der Töne. — In ſeiner Schule mildert ſich der Styl zu
größerer Zartheit durch Anton van Dyk, den empfindungsvollen Ma-
ler heiliger Scenen, den genialen Porträteur.


§. 735.

An die Venetianer und Rubens ſchließt ſich die ſpaniſche Schule, welche
mit glühendem Myſticiſmus heiteren, realiſtiſchen Lebensſinn vereinigt (vergl.
§. 475) und in beiden Richtungen, dort durch die Tiefe des ſubjectiven Aus-
drucks, hier durch die Idealität des Humors im Sittenbilde das ächt Maleriſche
ebenſoſehr, als durch eigenthümliche Fortbildung des Colorits erweitert.


Der §. erinnert in Kürze an jenen Dualiſmus im ſpaniſchen Geiſte,
wovon bereits in der Geſchichte der Phantaſie die Rede geweſen, und
deutet zugleich an, wie beide Seiten deſſelben nach dem ächt Maleriſchen
hinwirkten. Die myſtiſche Gluth wirft ſich in der mythiſchen Sphäre vom
Object auf die Anbetenden (vergl. Kugler, Handb. d. Geſch. d. Malerei
S. 445) und arbeitet aus den innerſten Seelentiefen eine neue Welt
wunderbaren Ausdrucks zu Tage. Der derbe Lebensſinn, der Sancho
Panſa, dagegen wirft ſich auf das Sittenbild. Es vertheilt ſich dieß
allerdings auch an verſchiedene Meiſter, denn Zurbaran iſt der Maler
der Andacht, Murillo der Genremaler, aber die Trennung hebt ſich im
Letzteren wieder auf, denn er iſt ebenſoſehr auch der Maler der unendli-
chen Schmerzen und ſeligen Verzückungen der Andachtglühenden Seele.
[745] Freilich vereinigt er auch beide Extreme in der Weiſe einer Zeit, welche
das Sittenbildliche noch nicht in einen beſonderen Zweig abzulagern wußte,
wirft es zum Religiöſen, ſetzt die Madonna an’s Spinnrad u. dgl., aber
zugleich finden wir doch bei ihm in erſter Lebensfülle das reine Sittenbild,
und zwar in einem Sinne behandelt, wodurch es zwiſchen das höhere,
plaſtiſch ſtyliſirte und das derbere, humoriſtiſche ſich eigenthümlich in die
Mitte ſtellt: die Situation, an ſich niedrig, wird durch den Geiſt ſüdlicher
Schönheit, kummerloſer Seligkeit der Armuth in einer freigebigen Natur
(vergl. Hegels ſchöne Charakteriſtik ſeiner Bettelknaben Aeſth. B. 1 S. 218.
219), in einen Aether reiner Idealität erhoben; eine Auffaſſung, welcher
denn auch der größere Maaßſtab entſpricht. — Das Porträt blüht bei dieſen
Spaniern in der Fülle der Lebenswahrheit, der geiſtreiche Blick erhaſcht
den reinſten Phosphor der Perſönlichkeit. Wir nennen nur Velaſquez.
Der Nachdruck, womit ſich dieſe Schule auf die Farbe wirft, zieht in
lebendiger Individualiſirung der Form ſeine richtige Conſequenz, führt aber
im Einzelnen, beſonders in den Falten, zu nachläßiger Zeichnung. Dieſe
Farbe iſt in ihrer localen Wirkung nicht ſo blutwarm und von innen
herausleuchtend, wie bei Rubens und den Venetianern, die Schwärze der
italieniſchen Naturaliſten hat hier Einfluß gehabt, aber um ſo ahnungs-
voller drückt ſich das mythiſch tiefe Stimmungselement in dem dämmernden,
ſilberduftigen Schleier aus, der ſich wie ein dünner Flor um Alles legt.


§. 736.

Auf der zweiten Stufe ſtößt das proteſtantiſche Holland auch den letzten
Reſt von Tranſcendenz und höherem, plaſtiſchem Schwunge der Form aus. Doch
ſpaltet ſich die neue Richtung noch einmal: Rembrandt wendet einen Styl,
der nur für Porträt und Sittenbild berufen iſt, auch auf größere, ſelbſt mythiſche
Stoffe an, rechtfertigt jedoch in gewiſſem Sinne dieß Verfahren durch ein düſteres
Pathos im Ausdruck und traumhaftes Helldunkel des Colorits. Die Kabi-
netsmaler
dagegen leiten den im engſten Sinne maleriſchen Styl in ſein wahres
Bett: Landſchaft, Thierſtück, Sittenbild, ſie werden die eigentlichen Begründer
dieſer Zweige und retten vor dem allerwärts eindringenden falſchen und forma-
liſtiſchen Idealiſmus den ganzen Theil der wahren Stoffwelt, der ohne poſitiven
Einfluß des plaſtiſchen Styls gedeihen kann.


Die Oppoſition gegen allen directen Idealiſmus der Form wird von
Rembrandt bis zur Conſequenz des Cyniſmus vollendet, wovon ſein
Ganymed Zeugniß ablegt. Wir dürfen ſtatt weiterer Ausführung auf die
treffliche Charakteriſtik Kuglers verweiſen und an das erinnern, was zu
§. 673 über ſein Colorit geſagt iſt Faßt man Alles zuſammen, ſo ſteht

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 49
[746]doch Rembrandt der Gruppe der Kabinetsmaler wieder ſo gegenüber, wie
Rubens den Holländern insgeſammt. Jener „plebejiſche Trotz“, jene
„verhaltene Leidenſchaft“, die „der finſtere Republikaner“ in die bäuriſch
rohen Formen legt, zuſammenwirkend mit der geiſterhaften Aufregung,
die in ſeinem Colorit liegt, erſcheint als ein Pathos, das bei vollendetem
Gegenſatz gegen alles Claſſiſche doch der hohen Erregung, die ſeine reinen
Formen mit ſich führen, indirect auf ähnliche Weiſe verwandt iſt wie
Shakespeare, der nichts von den Alten wußte und auf der Höhe der
tragiſchen Bewegung doch ſo tief an ſie erinnert. Die Leidenſchaftlichkeit und
Wildheit der Zeit, von der wir öfters geſprochen, hat in Rubens, ſeinen
hiſtoriſchen Stücken und blutigen Jagden, und in Rembrandt den vollſten
Ausdruck, dort in Form ſchwunghaften Ausbruchs, hier ſtill und geſpenſtiſch
aufdämmernder Drohung, erhalten; es liegt aber in dieſem wilden Wurfe
noch immer etwas von der Großheit des Styls im emphatiſchen Sinne des
Worts, der ſich auch äußerlich im größeren Maaßſtab ausſpricht. Es
wird nun endlich voller Ernſt daraus, daß die Malerei demokratiſch iſt
(vergl. §. 655), aber Rembrandt iſt noch großartig drohender, die Kabi-
netsmaler
ſind beruhigter Volksgeiſt, welcher der beſiegten Grandezza des
Romaniſmus das breite Gelächter nachſchickt und zugleich ſchon wieder Zeit
hat, feinere, behagliche, gebildete Sitte zu gründen. Zieht ſich nun hier
jene Größe zur zierlichen camera obscura der Welt zuſammen, ſo iſt dafür
auch mit voller Folgerichtigkeit die maleriſche Richtung als ein in’s Schärfſte
und Feinſte ausgebildeter Naturaliſmus und Individualiſmus in ihre
wahre Sphäre eingetreten. Jetzt endlich hat der flandriſche Styl ſeinen
wahren Ort gefunden: er iſt ſittenbildlicher und Landſchafts-Styl, er hängt
ſich nicht mehr an die großen Stoffe des Mythus und drängt die handeln-
den Figuren aus dem Alleinbeſitze des Intereſſes, das ihnen gehört, er
zieht ſie nicht mehr aus der Idealität, die ihnen als abſoluten Geſtalten
gebührt, in die Bedingtheit des bürgerlichen Lebens herein, er verſchont
ſie damit, indem er ſie aufgibt. Jenes Ganze wird vertheilt: die Theile
ſuchen den Zweig, wo ſie als Ganzes ſich ausbreiten dürfen und ſollen.
Aber Ein Stück findet keine Stelle, es geht leer aus: das iſt eben der
Inhalt, der jenen abſoluten Geſtalten zu Grunde liegt, der hohe Gegen-
ſtand. Da der Mythus gefallen iſt, ſo mußte freilich dieſer Gegenſtand
ein anderer werden; an ſeine Stelle mußte dem Stoffe nach die geſchicht-
liche Malerei, dem Geiſte der Behandlung nach der höhere Styl treten,
der plaſtiſchen Schwung in ſich aufzunehmen hatte, aber darum doch
maleriſch bleiben konnte, und dieſer Styl hätte zugleich das grandioſere
Sittenbild und die großartigere Landſchaft hervorbringen müſſen. Dazu
hatten dieſe Holländer die Stimmung nicht und, weil ihnen dieſe fehlte, die
Formen nicht. Sie konnten ſie nicht haben, denn alles reine Pathos, aller
[747] höhere Stoff, aller edlere Schwung der Form war ihnen durch die Nach-
ahmer der Italiener in ſo lügneriſcher Geſtalt entgegengetreten, hieng
ſo innig mit der Welt des romaniſchen Geiſtes zuſammen, mit der ſie
auch im bitteren Ernſte ſo eben auf Leben und Tod gekämpft hatten, daß
ſie Alles, was dahin zeigte, ſchlechthin von ſich ausſtießen. Man nannte
und nennt noch jetzt häufig dieſen Rückzug auf das Stück Welt, dem der
maleriſche Styl in ſeiner abgeſchloſſenſten Eigenheit allein entſprach, ein
Ausblühen, ein Ende. Das iſt er auch nach der einen Seite ſo wie das
ähnliche Herabſteigen zu dem Realen das Ende der antiken Kunſt war.
Allein als abſteigende Linie ſtellt ſich dieſer Gang nur dar, wenn man
ihn vom Gipfel des Olymp überblickt; bedenkt man dagegen, daß an die
Stelle des Olymp jene höheren Zweige rein menſchlich wunderloſen In-
halts treten ſollten, ſo iſt dieſe Erſcheinung Anfang, gewonnener feſter
Boden, Baſis, Vorſtudie und die Linie führt von ihr zu einem neuen
Gipfel. Hier iſt denn die Stelle, wo ſich der Schlußſatz des §. 715 ge-
ſchichtlich bewährt. Durch ihre Beſchränkung haben die Holländer ein
ſchmales, aber ſicheres Stück Feſtland für die Zukunft gerettet aus den wachſen-
den Wogen des nun immer ſtärker andringenden falſchen, dem Stoff nach
allegoriſchen, dem Styl nach theatraliſch antikiſirenden Idealiſmus. „Lediglich
die Zerklüftung der Malerei in getrennte Fächer ſicherte in jenen Zeiten der
allgemeinen Zerrüttung dem Realiſmus in der Landſchaft und im Genre ein
Aſyl“ (Teichlein a. a. O. S. 35). Wenn wir übrigens hier von einem im
engſten Sinne maleriſchen Style reden, ſo darf doch nicht wieder an die
Mängel des älteren deutſchen gedacht werden. So viel, als ſie für ihre
Sphäre, für das gemüthliche Genre und die Stimmungs-Landſchaft brauchen,
haben ſich die Holländer aus der Bildungsſumme der Zeit, worin das
plaſtiſch Italieniſche doch ein gemeinſchaftliches Haupt-Capital war, aller-
dings längſt angeeignet; die Formenwelt, die ſie geben, verſtehen ſie voll-
ſtändig wie die Brillantenwelt der entſprechenden Farbe. — Weiter gehen
wir nicht ein; die Lehre von den Zweigen hat das Wichtigſte beſprochen,
die einzelnen Meiſter zu charakteriſiren würde uns hier doch der Raum nicht
geſtatten.


§. 737.

Das eigentlich Moderne tritt ein mit der grundſätzlichen Erhebung der
antiken Form zur Muſtergebenden Regel, d. h. dem Claſſiciſmus, und den
hieraus erwachſenden Kämpfen. Trotz der völligen Verkennung des ächt Ma-
leriſchen iſt dieſer Durchgang den nordiſchen Völkern nothwendig. In erſter,
abſtracter Weiſe übernimmt die franzöſiſche Kunſt die Einführung dieſes
Prinzips. Im Rückſchlage gegen die Entartung eines früheren, ſchon an ſich

49*
[748]weniger methodiſchen, Claſſiciſmus in ausſchweifenden Prunk und Sinnenkitzel
wird durch David das plaſtiſche Stylgeſetz des Alterthums zur ſtraffen Richt-
ſchnur und zum mechaniſchen Schulzwang erhoben, zugleich aber durch die Stimmung
eines theatraliſchen Pathos verfälſcht.


Wir haben folgende intereſſante Verſchiebung der Ordnungen vor
uns: es iſt zunächſt die dritte von drei parallelen Gruppen, vor der wir
ſtehen; jede der beiden erſten Gruppen enthält Action und Reaction: die
erſte bilden die italieniſchen Eklektiker und ihre Gegner, die Naturaliſten;
die zweite die Belgier und Holländer, von denen die letzteren ſelbſt gegen
die Reminiſcenz von plaſtiſchem Formenpathos reagiren, die noch in Rubens
iſt, ja ſogar gegen die düſtere Großheit Rembrandts; die dritte, bei der
wir angelangt, zeigt zwar auch zwei Formen, aber Formen deſſelben
Prinzips, das erſt noch weiter anſteigen und dann ſeinen Gegner finden
ſoll. Dieß iſt die eine Linie der Betrachtung; nach der andern ſtehen
dagegen die Belgier und Holländer als Ein Ganzes der geſammten erſten,
italieniſchen Gruppe gegenüber, bilden das ächt maleriſche Gegenbild gegen
ihre Anſchauung. Jetzt iſt die gegenwärtige dritte Gruppe nicht mehr eine
von dreien, ſondern ſie eröffnet als erſter Satz, als Theſis einen neuen
Gang. Und dieſe Beziehung iſt ſo einſchneidend, daß wir nun die beiden
erſten Gruppen in eine Vorſtufe des modernen Ideals zu verweiſen
haben, das im ſtrengſten Sinn erſt jetzt eintritt. Denn in der That
beginnt das ächt Moderne erſt da, wo die nordiſchen Völker der neueren
Zeit, um ſich von der Härte jenes Bruchs zwiſchen Inhalt und Form zu
befreien (§. 467), zum erſtenmale bewußt, prinzipiell, ſtraff und in vollem,
ganzem Schritte das antike Formgeſetz in ſich aufnehmen. Das war bisher
nie geſchehen. Abſtract, einſeitig mußte dieſer erſte Schritt der volleren
Aneignung ſein, wenn er entſchieden, radical ſein ſollte. In ſolcher
ſchnurgeraden Weiſe konnte ihn aber nur dasjenige der nordiſchen Völker
vollziehen, deſſen germaniſche Elemente ſich ganz in das herrſchende ro-
maniſche eingeſchmolzen haben, denn romaniſch iſt eine ſolche generaliſirende
Diſciplin. Inzwiſchen haben wir nicht einen einfachen Schritt vor uns;
in der Geſchichte der Phantaſie hat §. 476, auf den wir zurückverweiſen,
vor Allem die Poeſie im Auge, die ihre claſſiſche Dictatur zur Zeit Lud-
wigs XIV in Einem Haupt-Tempo in’s Werk ſetzte; in der Malerei ſind
es zwei Momente: voran geht eine harmloſere, weniger ſtraffe Form des
Claſſicismus, die mit Nicol. Pouſſin beginnt, und erſt in der Zeit der
Nevolution folgt die zweite, radicale Form, begründet durch David. Zu
dieſem Begriffe des Radicalen gehört die weitere Beſtimmung, daß nicht
nur auf die den Alten verwandten Maler Italiens, ſondern zur Quelle,
zu den Alten ſelbſt zurückgegangen wurde. Dieß that allerdings ſchon
[749] Nicol. Pouſſin, der an dieſem Muſter die kalte Strenge ſeiner antiken
Formbildung und ſchulgerechten Compoſition ausbildete. Allein neben ihm
her zog ſich eine andere Linie: Vouet hatte ſich an die italieniſchen Na-
turaliſten gelehnt, le Sueur gieng auf die Eklektiker, ſelbſt auf Raphael
zurück; das Maleriſche war in der plaſtiſchen Richtung noch ſtark genug,
jene Blüthe der heroiſchen Landſchaft zu erzeugen (§. 733); endlich aber
bildeten ſich aus den claſſiſchen Nachwirkungen des Nic. Pouſſin, dem
daneben fortlaufenden Naturaliſmus und der im zweiten Theile unſeres
Syſtems geſchilderten Stimmung der Rokoko-Zeit jene in aller Kälte der
Regel doch wild manierirte, im Conventionellen willkührliche, im Will-
kührlichen conventionelle, zugleich elegant frivole Malerei aus, in deren
Mittelpunct noch mit verhältnißmäßiger Würde ein le Brun ſteht. Dieſer
Geſchmack beherrſchte deſpotiſch die Zeit; die holländiſche Malerei ſelbſt gab
ſich nun auf und neben edleren Einflüſſen des Italieniſchen ſieht man an
der geleckten Porzellan-Glätte eines Adrian van der Werff, was daraus
entſtand. — Durch dieſe Verwilderung und Ausſchweifung ſchneidet nun
mit ſcharfem Meſſer David, wie die Revolution durch den faulen Körper
des Staats. Der Auffaſſung und Stimmung nach fehlt es ihm und ſeiner
Schule nicht an Größe; Eines hat er, was ächt maleriſch iſt: drama-
tiſches Feuer, und nach den Stoffen der alten Geſchichte greift er mit
richtigem Gefühl. Doch dieſes Feuer iſt theatraliſch pathetiſch wie die
Redner der Revolution und wie der Franzoſe überhaupt (vergl. §. 476
Anm.) und die claſſiſche Form, ſo ſehr ihr dieſer Ton widerſtrebt, herrſcht
doch als abſolute Regel in der Zeichnung, die Farbe erkältend, die In-
dividualität ertödtend, den Schüler im Copiren, Zeichnen nach Modell-
Acten mechaniſch dreſſirend: der akademiſche Formaliſmus iſt nun erſt in
ſeiner militäriſchen Ordnung eingeſetzt und legt zwar den Grund zu der
ausgezeichneten techniſchen Tüchtigkeit der Franzoſen, iſt aber in dieſer
Einſeitigkeit auch der Tod aller Originalität und Friſche der Anſchauung.
— In Deutſchland tritt mäßiger, reiner, ruhiger der eklektiſche Idealiſt
der Form, Raph. Mengs auf; doch dieſe Erſcheinung iſt mehr vereinzelt.


§. 738.

Die Deſpotie dieſes abſtracten und verfälſchten Claſſiciſmus durchbricht der
deutſche Geiſt, der die alte Kunſt als eine zweite, reine Natur begreift, ihr
inneres Weſen ſich lebendig aneignet und den Schulzwang umſtößt. Hiemit iſt
der Moment eingetreten, wo die deutſche Kunſt von dem ihr bis dahin eigenen
unäſthetiſchen Bruche ſich befreit; doch iſt auch dieſer ächte Claſſiciſmus wieder
einſeitig, verliert ſich in Mythus und Allegorie und geht auf Koſten des
national deutſchen Berufs zum ächt Maleriſchen.


[750]

In der Geſchichte des Ideals berückſichtigt §. 477 und 478 zunächſt
die Revolution in der Poeſie, welche ungleich ſpäter zum ächten Claſſiciſ-
mus fortſchritt; für die Malerei iſt daher, was in §. 479 geſagt iſt, zurück-
zudatiren: ſie ergriff zuerſt die reine antike Form, die tiefere Erwärmung
derſelben mit der Fülle des deutſchen Geiſtes folgte, wie wir ſehen werden,
nach; die Poeſie begann umgekehrt mit dem Sturm der Empfindung und
lernte erſt dann von den Alten die reine Form. Die genialen Männer,
welche, von Winkelmann zum ächten Quellwaſſer geführt, mit dem
conventionellen Afterbilde des Claſſiſchen brechen und ſeine hohe Einfalt,
die beſcheidene Grazie ſeiner wahren Schönheit, ſeine Formenbildende
Seele ſelbſt in ſich aufnehmen, dieſe Männer, die jetzt erſt endlich der
deutſchen Nation jenes wahre Mittel der Löſung von dem anhängenden
Reſte der Form-Barbarei bringen, das wir ſeit dem fünfzehnten Jahr-
hundert ſuchen, die Karſtens, Eberh. Wächter, Koch, Schick treten
— den Letzteren ausgenommen, der ſich mehr an Raphael anſchließt und
leider von ſeiner herrlichen Laufbahn früh abgerufen wird — ſelbſt wieder
auf die eine Seite des Gegenſatzes, deſſen Kampf das Triebrad der Kunſt-
geſchichte iſt. Von nun an, im Tageslichte der nahen Vergangenheit und
Gegenwart, zeigt ſich uns immer ſchärfer und deutlicher die Natur dieſer
und aller Geſchichte: ihre Nadel oſcillirt um das abſolute, nie
erreichte Endziel ſo, daß jede erreichte Einheit und Ver-
ſöhnung der Gegenſätze ſelbſt wieder zu einem derſelben
hinüberfällt
(vergl. §. 676 Anm. 2). Statt dem Prinzip des ächt
maleriſchen Styls, zu dem die deutſche Kunſt durch den innerſten Geiſt der
Nation berufen iſt, das richtige Maaß des Plaſtiſchen beizumiſchen, werden
ſie, die allerdings den falſch ſculptoriſchen Regel-Zwang der Franzoſen
niedergekämpft haben, nun ſelbſt Plaſtiker der Malerei, lebendig und
ſeelenvoll, aber ohne Individualität, ſtylvolle Zeichner, aber ſchwache
Coloriſten, edle Anordner geiſtreicher Erfindung, aber mangelhafte Execu-
toren, Ausbeuter des alten Mythus und der alten Allegorie, Erdichter
von neuen, Freunde der Stoffe aus der alten Geſchichte und Mißkenner
der unendlich mehr maleriſchen Natur der Stoffe des Mittelalters und
der neueren Zeiten.


§. 739.

Im Kampfe gegen dieſe neue Einſeitigkeit verkehrt die romantiſche Schule
ein äſthetiſches Prinzip zu einem dogmatiſchen, behauptet, ſtatt für den Drang
zum ächt Maleriſchen die geeigneteren Stoffe in der Geſchichte des Mittelalters
zu ſuchen, deſſen Mythenkreis als allein wahren Stoff und demgemäß ſeinen
unreifen Styl als Formgeſetz.


[751]

Die „neudeutſch-romantiſch-religiöſe“ Richtung worin Overbeck,
Veit, Schadow
und Andere ſtecken blieben, während ein Cornelius
und Schnorr ſich herausarbeiteten, liegt uns als eine überwundene
Stufe klar genug vor, um das Wahre und Falſche in ihr zu unterſcheiden.
Das Wahre beſtand in dem tiefen Drange zur Ausfüllung der Lücke, die
jene claſſiſche Gruppe gelaſſen, zur Ergänzung ihrer Einſeitigkeit, d. h. zum
Maleriſchen; das Falſche in der Verwechslung, die der §. ausſpricht.
Dieſer Drang hätte, wie ſchon geſagt, auf die Stoffe führen müſſen,
welche dem Maler jenen Ausdruck tief innerlichen Seelenlebens, der den
claſſiſchen Stoffen und Mythen fehlt, jene Charakterformen, wie wir ſie
in Lehre vom Weſen der Malerei gefordert, und die farbenreichen, beweg-
ten Culturformen entgegenbringen, die das Mittelalter, obwohl freilich nicht
allein, doch mehr, als das claſſiſche Alterthum, darbietet (vergl. §. 709, 2.),
und was die Stylfrage betrifft, ſo galt es, gegen jene Plaſtiker der Malerei
ſich nach der einen Seite an den deutſchen Styl unſerer großen Meiſter
am Schluſſe des Mittelalters anzuſchließen, nach der andern von den
großen Coloriſten, den Venetianern, den Niederländern zu lernen. Es
war keine Gefahr mehr, in die Fehler der Erſteren zu verfallen, denn
jenen Reformatoren verdankte man ja bereits poſitiv das geläuterte Form-
gefühl, die reine Zeichnung, man mußte aber zur weiteren Ergänzung der alt-
deutſchen Styl-Härten zugleich den Blick auf die reifen Italiener, einen
Leonardo da Vinci, einen Raphael als ewige Muſter des Schönen richten.
Daß hiemit kein eklektiſcher Auszug, keine todte Nachahmung gemeint iſt,
ſondern ein freies, ſelbſtändiges Umſchauen und Hineinfühlen, brauchen
wir nicht zu verſichern. Statt deſſen predigt man dogmatiſch das Mittel-
alter, wird katholiſch, behauptet den chriſtlichen Mythus als allein würdi-
gen Stoff, ergeht ſich abſtract in neuen Allegorien, und um die Anſätze
falſcher Freiheit zu meiden, die freilich ſelbſt bei Raphael ſchon ſich zeigen,
zieht man aus dieſer Doctrin die natürliche Conſequenz, daß der
gebundene Styl der unreifen, aber deſto frömmeren Meiſter das abſolute
Muſter ſei. Alſo wieder ein Extrem, doch eigentlich nicht das logiſch
genaue: nicht ein Extrem des ſtreng Maleriſchen, ſondern ein Heraustreten
aus dem Aeſthetiſchen überhaupt als einer Welt des freien Scheins, aber
ein begreifliches Extrem, dem wir doch, insbeſondere im Ausdruck tiefer
Gemüthswelt, zum Theil auch in Belebung der Farbe unendlich viel danken.


§. 740.

Die neueſten Beſtrebungen der Malerei ſtellen den noch gährenden Läu-
terungskampf der entgegengeſetzten Stylprinzipien dar, worin die deutſche
Malerei, aus der Romantik ſich losringend, in großartigem Aufſchwung aber-
[752] mals zu einer mehr plaſtiſchen, als maleriſchen, und zugleich gedankenhaften
Richtung fortgieng, hierauf deren Gegenſatz zwar auch in ihrem eigenen Schooß
erzeugte, vorzüglich aber durch die, ihrerſeits zu neuem Leben erwachte, fran-
zöſiſche
und belgiſche Kunſt heilſam, doch auch nicht ohne Gefahr des
Verlaſts ihrer Schlichtheit und idealen Tiefe auf ihre uralte Beſtimmung zum
ächt Maleriſchen hingewieſen wird.


Das erſte Moment in der kurzen Ueberſicht, die der §. gibt, bildet
der Mittelpunct des mächtigen Aufſchwungs, den die Kunſt in Deutſchland,
vorzüglich in Baiern nahm, die Münchner-Schule. Hier trat in ſeiner
Größe der deutſche Geiſtes-Verwandte des M. Angelo, Cornelius, auf.
Dieſer männliche Geiſt hat aus der romantiſchen Periode eine Kraft
gerettet, welche ihr übrigens eben nicht eigen war: die Energie der
Charakterdarſtellung und die Bewegtheit, die Gluth der Handlung. Nach
allen andern Seiten aber war er ſo angelegt, daß er aus der maleriſchen
Richtung heraustreten und ſich ganz auf die Form, die Zeichnung, nicht
im Sinn der Grazie, ſondern der Erhabenheit, richten mußte, und dieſer
Anlage kam die fruchtbare Idee des Königs Ludwig von Baiern, der
bildenden Kunſt durch große monumentale Aufgaben, der Malerei alſo
durch die Freske Aufſchwung zu geben, entgegen; mit der mächtig heben-
den Wirkung dieſes Motivs ſtellte ſich auch das Nachtheilige ein, wie
wir es zu §. 693 dargeſtellt haben, und dazu gehört der Ueberſchuß des
Gedankens, die Neigung, die Idee aus ihrem naturgemäß realen Körper
herauszuziehen und in beſonderen Körpern tranſcendent hinzuſtellen.
Somit war eine neue plaſtiſche Einſeitigkeit, Herrſchaft des Conturs, Ver-
nachläßigung der Farbe, Mythus, Allegorie begründet, obwohl Cornelius
auch in dieſer Thätigkeit, beſonders in ſeiner höchſten Leiſtung, worin er
lebenswahren heroiſchen Stoff ergriff, in den Darſtellungen aus der griechi-
ſchen Heldenſage, jene Macht einer Charakterzeichnung, die ſo tief deutſch,
Düreriſch, maleriſch iſt, zugleich mit der Großheit der Linie, dem dramati-
ſchen Feuer, der tief tragiſchen Empfindung, der gewaltigen Compoſition
in Fülle bewährt hat. In München ſelbſt fehlte es nie an Künſtlern, die
nicht vergeſſen hatten, daß man hier doch auf dem beſten Wege war, bei
aller Größe des Styls das eigentliche Weſen der Malerei aus den Augen
zu verlieren; beſonders aber war durch das niederdeutſche Weſen für ein
Gegengewicht geſorgt, daß der Farbenſinn und der Sinn für den vollen
Schein des Realen nicht ganz von dieſem zeichneriſchen directen Idealiſmus
überflügelt werde. Doch dieſer Zug der Düſſeldorfer brauchte Zeit,
ſich aus den ſentimental romantiſchen Anfängen herauszuarbeiten, und es
blieb auch nachher dieſer Schule trotz ihrer an ſich maleriſchen Grund-
tendenz eine gewiſſe Scheue vor der ſaftigen Fülle des Lebens und vor
[753] feurig dramatiſcher Bewegung, ein Ueberſchuß an Reflexion, an Bewußt-
heit, ein Mangel an Naivetät. Landſchaft und Sittenbild entwickelten
ſich frei und geiſtreich, unbeirrt von dem religiöſen Kunſt-Dogma, in der
geſchichtlichen Sphäre ergriff die feine und ſtarke Kraft Leſſings mit
frei proteſtantiſchem Sinn die Stoffe der Reformation, gieng auch vom
bloßen Situationsbilde (vergl. §. 711 Anm.) zu bewegteren Scenen fort;
doch daß geſchichtliche Stoffe von Zöglingen dieſer Schule mit ſolcher
Friſche und Schneide erfaßt werden, wie von Leutze in jenem Bilde
Washingtons, iſt ſehr neu. — Hier mußte wieder romaniſches Feuer
einwirken. Die Franzoſen hatten ſich aus dem Claſſiciſmus heraus-
gearbeitet, hatten ſich an der Hand der großen Meiſter Italiens
wieder zum Leben und zur Farbe gewendet, und der natürliche friſche
Griff, das geiſtreiche Packen der Dinge im ſchlagenden Momente, das
dieſer Nation eigen iſt, entwickelte eine Verbindung von kühnem, wirkungs-
vollem Naturaliſmus und energiſcher dramatiſcher Bewegtheit, in der
Ausführung von jener Sicherheit der Zeichnung unterſtützt, die eine Frucht
der ſtrengen akademiſchen Zucht war, jetzt aber von den geſchilderten Ue-
beln dieſes Urſprungs ſich befreite und in ein volles und kräftiges Farben-
Element eintauchte. Alle Zweige wurden energiſch erfaßt, Leopold
Robert
, der Schöpfer des höheren, plaſtiſch maleriſchen Sittenbilds,
machte ſeine erſte Schule in Paris; das Bedeutendſte aber war der feu-
rige Geiſt, womit man die höchſte moderne Aufgabe, das Geſchichtliche,
ergriff. Wir nennen nur Horace Vernet und Delaroche. — Von
anderer Seite brachen auch die Belgier mit dem David’ſchen Claſſiciſmus
und gedachten wieder ihres Rubens; als Führer gieng Wappers vor-
an; der alte Farbenſinn erwachte in ſeiner Tiefe und Wärme. Sie
wandten ſich aber zugleich zu den Franzoſen und ſuchten ſich nicht nur
ihre Zeichnung, ſondern auch ihre Art des Effectes zu eigen zu machen.
Dieſe franzöſiſch belgiſche Kunſt war es denn, welche vorzüglich durch
Gallaits Bild „die Abdankung Carls V“ die Deutſchen aus ihrer
mythiſch-allegoriſchen Gedankenhaftigkeit und der neu eingedrungenen
plaſtiſchen Bevorzugung der Zeichnung, der linearen Compoſition auf-
ſchüttelte. Ueber dieſen Moment, ſeine Folgen und deren Gefahren vergl.
namentlich die mehr angeführte Schrift von A. Teichlein. Es iſt in
dieſer franzöſiſch belgiſchen Kunſt ein Ertränken der Idee in der Sächlichkeit
des Gegenſtands, wogegen allerdings der deutſche Geiſt ſeine Gedanken-
tiefe behaupten muß, gewiß nicht, um in allegoriſcher Form den Gedanken
des Gegenſtands neben den Gegenſtand zu ſtellen, ſondern um dieſen
ſo zu behandeln, daß er aus ihm ſelbſt ſchlagend herausleuchte; es iſt,
während nach dieſer Seite die Verzichtung nur zu weit getrieben wird,
nach der andern eine Abſichtlichkeit des Effects darin, die ſelbſt graſſe
[754] Mittel, ein andermal falſche Reize nicht immer ſcheut, wogegen die Deutſchen
ihre alte Schlichtheit und geſunde Wahrhaftigkeit behaupten ſollen, und es
iſt nicht darin die Schärfe der Charakterzeichnung und individualiſirenden
Phyſiognomik, worin unſere Dürer und Holbein uns die wahren Muſter
bleiben, an die ſich namentlich Rethel ſo tüchtig angeſchloſſen hat; aber
eine Geſammtwirkung realer Auffaſſung und Farbenharmonie iſt darin,
von welcher wir ein für allemal die Umkehr zum ächt maleriſchen Style
zu lernen hatten. Es war Zeit, daß wir von der Freske wieder mehr
zur Oelmalerei uns wandten. Jene wird die Trägerinn des Styles bleiben,
dieſe ſoll als Trägerinn der Lebenswahrheit ihr zur Seite gehen. Auf’s
Neue ſtehen wir denn vor der Aufgabe wahrer Vereinigung der ent-
gegengeſetzten Stylprinzipien. Das Bedenkliche iſt die Bewußtheit, die in
unſerer Zeit auch den Künſtler beherrſcht und ihm ſo ſehr erſchwert, ein-
fach in der Sache zu ſein, ihn verführt, ſie mit Beziehungsreichem zu
überfruchten, mit „Ideen“ zu überſättigen, wenn nicht gar in ironiſche
Gegenſätze aufzulöſen. Nicht leicht ſehen wir Reinheit des Styls und
haarſcharfe, bis zum Beißenden eindringliche Phyſiognomik ſo vereinigt
wie in Kaulbach; aber auch jener bedenkliche Zug der Zeit iſt ihm
eigen und hat ihn bis jetzt verhindert, ſeine bedeutenden Kräfte zu einer
ungebrochnen organiſchen Einheit zu verſchmelzen. Faſt will es mitunter
ſcheinen, als ob hier etwas von dem Auflöſungsprozeſſe ſich fühlbar
machen wolle, der in unſerer Poeſie mit Heine eingetreten iſt. Allein
es gilt, gegen dieſen Schein ſich zu wehren und an das Tüchtige und
Große zu halten, was uns nicht fehlt und was in einem Manne wie
Kaulbach Stärke genug haben muß, das Poſitive und Negative in ſeinen
Kräften reiner zu ſondern und zu ordnen.


§. 741.

Die Lücke der höheren Stoffe, welche nach Auflöſung des Mythiſchen
bei der Beſitznahme vom Boden der urſprünglichen Stoffwelt gelaſſen wurde,
iſt ausgefüllt durch die höheren Zweige der Landſchaft, des Sittenbilds, vor-
züglich aber der geſchichtlichen Malerei. Zu einem ſchwunghaften Anbau
iſt aber die letztere nach nicht gelangt.


Wir haben zuletzt mehr den Styl in’s Auge gefaßt und die Stoffe,
die Zweige nur in einzelnen Bemerkungen berückſichtigt. Die Fülle
wackerer Kräfte, welche ſich rings um die beſtimmenden Mittelpuncte aus-
breitete und ausbreitet, konnten wir nicht nennen und ſchildern, da wir
hier nur das Entſcheidende herauszuſtellen haben. In Sittenbild und
Landſchaft iſt das, was Epoche machte, die Schöpfung Rottmanns und
[755] Leopold Roberts, ſchon in der Darſtellung der Zweige hervorgehoben. Die
höhere, mit der Großheit hiſtoriſchen Geiſtes getränkte Form dieſer zwei
Gattungen iſt es, die neben dem großen Style der Geſchichtsmalerei die
Stelle einnimmt, welche ſonſt der Mythus inne hatte. Warum nun aber
die letztere, die nicht blos der Behandlung, ſondern auch dem Gewichte
des Gegenſtandes nach die wahre Nachfolgerinn des Mythus ſein ſollte,
in dieſe Rolle mit voller Lebenskraft einzutreten zaudert, das erklärt ſich
theilweiſe wohl aus dem, was zu §. 695 ausgeführt iſt, aus allen den
Schwierigkeiten, die aus der Erſchütterung hervorgehen, welche §. 469
nachgewieſen hat. Es liegt aber noch ein beſonderes Hinderniß in der
Stimmung der Zeit. Das geſchichtliche Bild will eine Anſpannung
des Gemüths, wie Sittenbild und Landſchaft ſie nicht fordert; da genügt
nicht die ſtille Vertiefung, ſondern da gilt es, furchtbaren Entſcheidungen
mit der Entſcheidung der eigenen, ganzen Seelenkraft zu folgen. Dieß
liegt nicht im Zug einer Generation, welche, als ſie in ihrem Geſchäfte
immer gründlicherer und weiterer Durchdringung und Bewältigung des
Objects in Wiſſenſchaft, Technik, Organiſation endlich auch an den Staat
kam, durch furchtbare Erfahrungen ſo niedergeſchlagen wurde, daß ſie ſich
ganz auf den ſtillen und friedlichen Theil ihrer Arbeit zurückgezogen hat
und darin durch große Kataſtrophen vorerſt nicht geſtört ſein will, ja
ſelbſt im Bilde ſie ſcheut. Daher die allgemeine Klage, daß der Tiſch
unſerer Kunſt mit Nebenſpeiſen reichlich beſetzt iſt, daß aber das große,
kernhafte Hauptgericht auf ſich warten läßt. Hier kehrt unſere Betrach-
tung zu §. 484 Schluß der Anm. zurück.


[756]

Anhang.


Die Caricatur. — Die vervielfältigende Technik. — Die
Decorationsmalerei. — Die ſchöne Gartenkunſt.


§. 742.


1.

Die Malerei bewegt ſich frei und wirkungsreich in dem Gebiete, worin
die Tendenz unter der Satyre ſich verſteckt (vergl. §. 547). In dieſer nimmt
die Idee zu der Wirklichkeit entweder die Stellung ein, daß der ſtrafende Ernſt
über den Scherz oder daß dieſer über jenen vorwiegt, und das letztere, freiere Ver-
hältniß erhebt ſich bis an die Grenze des rein komiſchen Sittenbildes, das ſich
in dem flüchtigeren Theile ſeiner Erfindungen wirklich an dieſes Gebiet knüpft.
2.Das allgemeine Hauptmittel der ſatyriſchen Malerei iſt die Uebertreibung des
Charakteriſtiſchen: die Caricatur (vergl. §. 151), übrigens durchläuft ſie auf
dieſem Boden die Formen der Poſſe, dient vorzüglich dem Witze und liebt mit
dem Humor (vergl. §. 214 und 440) die grotteske Verſchlingung der Ge-
ſtalten. Der Anſchluß an die Literatur, der vorzüglich dieſem Uebenzweige
der Kunſt zuſteht, iſt ſowohl ein Ausdruck ſeiner Unſelbſtändigkeit, als auch
ein Mittel ſeines fruchtbaren Eindringens in das Leben.


1. Wir heben unter den anhängenden Gebieten zuerſt dasjenige her-
aus, welches in dieſer Kunſt das bedeutendſte iſt. Will man es gerecht
beurtheilen, ſo darf man nicht den Maaßſtab des rein Aeſthetiſchen, ſon-
dern muß den gemiſchten des äſthetiſchen und des ethiſch hiſtoriſchen Stand-
puncts anlegen: was an eigentlicher, reiner Kunſt verloren geht, wird an
directem Einfluß auf das Leben, eindringlicher Durchſäuerung und Durch-
ſalzung ſeiner trägen und ſchlechten Stoffe gewonnen. Man erinnere
ſich nur an die unendlichen Caricaturen der Reformationszeit, den äzenden
Ausdruck ihrer kritiſchen Schärfe, ihres erwachten Bewußtſeins. — Schon
zu §. 547 iſt geſagt, daß die Malerei auf dem Boden, der ſich nun vor
uns ausbreitet, unendlich freier und fruchtbarer ſich bewegt, als die Plaſtik;
dieß erklärt ſich einfach aus ihrem Kunſtverfahren und aus der Geltung,
welche durch ihr Stylgeſetz denjenigen Momenten gegeben iſt, deren aus-
drückliche Verſchärfung eben das Hauptmittel ſatyriſcher Darſtellung be-
gründet: der volleren Naturnachahmung und der Individualiſirung. —
[757] Wir haben nun zuerſt die Stellung, welche in dieſem Gebiete Inhalt und
Form zu einander annehmen, und dann die Unterſchiede zu beſtimmen, die
innerhalb derſelben hervortreten. Das Verhältniß ungetrennter Einheit,
worin jene Elemente in aller reinen Kunſt verſchmolzen ſind, iſt gelöst;
die Idee iſt aus dem Naturſtoffe, der dem Künſtler als Vorbild im
Ganzen und Großen vorliegt, herausgezogen, der Künſtler denkt und weiß
die Wirklichkeit als die ihrer Idee unangemeſſene und hat die Abſicht, den
Zweck, ſie dieß durch ſein Werk in der Form der Anſchauung fühlen
zu laſſen. Man verwechsle dieß nicht mit dem Bewußtſein der Unange-
meſſenheit, das dem rein Komiſchen (wie dem Erhabenen) zu Grunde
liegt. Dieſes Bewußtſein iſt als künſtleriſches Verhalten doch ganz
naiv und ungetheilt in ſeinem Stoffe; jenes dagegen hat es nicht nur mit
einer widerſtreitenden Grundform des Schönen überhaupt zu thun, ſondern
widerſtreitet im Acte des künſtleriſchen Schaffens ſelbſt der Welt, wie ſie iſt,
wie ſie empiriſch vorliegt; die reine Kunſt ſcheidet in unbefangener Stimmung,
ohne Haß die Mängel derſelben aus und vergißt ſie harmlos über ihrem idea-
len, ſei es auch komiſch idealen Abbilde, dieſe anhängende Kunſt hat und be-
hält ſie im Auge, bekriegt, verfolgt ſie, packt und ſchüttelt ſie. Die erſte
Form in dieſem Verhalten iſt die didaktiſche: der Gedanke wird in aus-
geſprochener Abſicht direct vorgetragen, die Einkleidung kann daher nur
allegoriſch oder bloßes Beiſpiel ſein. Dieſe Form iſt die kahlſte, ärmſte,
der §. erwähnt ſie daher gar nicht; ſie wird uns erſt in der Poeſie wich-
tiger. Freilich hat ſelbſt ein Karſtens Raum und Zeit nach Kant gemalt.
Im Tendenz bilde verſteckt ſich die Lehre in eine Handlung, es trägt eine
Idee vor, indem es die Uebel und Leiden aufzeigt, die da ausbrechen, wo
die Wirklichkeit ihr unangemeſſen iſt; die Handlung iſt eigentlich auch nur
Beiſpiel, aber ſie faßt und erſchüttert ſo ſtark, daß die Abſicht in der
ſchneidend ernſten und erſchütternden Wirkung unvermerkt mitaufgeht.
Bilder wie Hübners Weber und Wilderer ſind doch etwas ganz Anderes,
als z. B. Hogarths Weg des Liederlichen und Rechtſchaffenen. Reine
Kunſt iſt aber auch dieß nicht, denn ſolche Darſtellung ruht ja ganz
auf jenem gelösten, negativen Verhältniſſe der äſthetiſchen Elemente; daher
beunruhigt, ja peinigt ſie und ihre Bedeutung liegt nur in dem Beitrage,
welchen der von ihr geweckte Grimm zur Macht des öffentlichen Unwillens
gegen Mißbräuche, Vorrechte u. ſ. w. gibt. Der §. nennt auch dieſe
Form nur im Uebergange zu einer andern, weil ſie wirklich doch ebenfalls
zweifelhaft, wenig angebaut iſt. Auch im gelösten äſthetiſchen Verhältniß
wird doch ein innigeres Band der Elemente gefordert, und dieß tritt ein,
wo das, was im Didaktiſchen nackt allegoriſch oder mehr indirect, aber
ſehr merklich durch Beiſpiele, im Tendenziöſen in unmerklicherem, aber
peinlichem Ernſt der indirecten Abſichtlichkeit geſchieht, auf komiſchem
[758] Wege vollzogen wird. Dabei bleibt der Unterſchied von der Komik der
reinen Kunſt unverändert ſtehen: zwar entlehnt eben dieſe Gattung das
Verfahren einer äſthetiſchen Grundform, behält aber den Standpunct der
Züchtigung der empiriſchen Wirklichkeit, die Tendenz iſt zum Fermente
geworden, das die Formen verzerrend auftreibt, in ein chemiſches Agens
verwandelt, eigentlich aber doch nicht verſchwunden. Dieß alſo iſt das
Satyriſche: es wird „die wahre Idee der unwahren Geſtalt als Folie
untergelegt im Sinne der Komik“ (§. 547). Doch kehrt der Gegenſatz
des fühlbar Tendenziöſen und des in komiſche Wirkung verſenkten Ten-
denziöſen im Satyriſchen ſelbſt wieder, und zwar als Unterſchied der bitter
lachenden, ſcharf geiſelnden und derjenigen Satyre, welche zwar auch die
verkehrte Welt verfolgt und beißt, aber doch ſchon dem freieren Spiele
der reinen, zweck- und tendenzloſen Komik ſich nähert, welche ihr Auge
vom Schädlichen und Verderblichen abwendet und mit hellem Lachen nur
die Thorheit aufdeckt. An dieſer Grenze entſteht denn ein großes Ge-
dränge, eine Maſſe von Formen, Darſtellungen bricht hervor, welche man
eigentlich nicht mehr Satyre nennen kann und doch gemeinhin unter dem
Namen „Caricatur“ mit dieſer zuſammenfaßt, von deſſen geläufiger Gleich-
bedeutung mit Satyre im Gebiete der Malerei der Grund bereits angedeutet
iſt. Es ſind dem größeren Umfange nach humoriſtiſche Sittenbilder;
ſehr gerne wird bei dieſen, wie im reinen Sittenbilde, mythiſches Motiv
benützt, das aber nun komiſch mythiſch, hiemit phantaſtiſch auftritt. Dieſe
Form iſt aber, wie ſich nachher ausdrücklich zeigen wird, nichts Anderes,
als ein äußerſtes Maaß der Ueberladung des Charakteriſtiſchen, und in
dieſer liegt denn eben die Linie, die ſolche humoriſtiſche Sittenbilder nebſt der
gutmüthigeren Satyre, an die ſie ſich in unmerklichem Uebergang ſchließen,
von demjenigen Zweige der reinen Kunſt ſcheidet, der ohne Rückhalt dieſen
Namen verdient: ſie übertreiben insgeſammt wie die harte Satyre das
Charakteriſtiſche in einem Grade, den die reine Kunſt auch im Komiſchen
meidet; durch dieſe Steigerung verrathen ſie eine Schärfe, die doch auch
ihren Grund in jener Löſung und Lockerung des äſthetiſchen Bandes hat,
ſie zeigen, daß der Künſtler doch außerhalb des Stoffes ſteht, der empi-
riſchen Welt gegenübertritt, ſie als ſolche von außen faßt und rüttelt.
Wer äſthetiſch im Stoffe bleibt, übertreibt in ſolcher Weiſe auch im Komi-
ſchen nicht, ſondern hält ſich mild und mäßig; das iſt in §. 684, 2. ge-
ſagt. Nur die Poeſie hat die Mittel, auf der Grundlage der Uebertreibung
doch zugleich das Ganze eines Kunſtwerks in die höhere, rein äſthetiſche
Komik, in den zweckloſen Wahnſinn des vollen Humors hinaufzuführen
(Ariſtophanes); die Malerei entfeſſelt die Schärfe und Kühnheit der
Komik, den Ausbruch des lauten Gelächters nur in dieſem anhängenden
Zweig, in der Caricatur. Ueberdieß binden ſich dieſe humoriſtiſchen Sit-
[759] tenbilder meiſt an einen Text und verrathen auch dadurch die Lockerung
des äſthetiſchen Bands, den Charakter des Anhängenden. Sie ſtehen
durch das freiere Spiel ihrer Komik an ſich höher, als die Satyre; die
fliegenden Blätter z. B. geben vorherrſchend humoriſtiſches Sittenbild und
können darum über Caricaturblätter im ſatyriſchen Sinne des Worts
geſtellt werden, allein die Schärfe der Ueberladung zeigt doch, daß man
in einem Gebiete ſich befindet, deſſen Ausgangs- und Mittelpunct die
eigentliche Satyre iſt; beſtreut man nun einmal die Wirklichkeit mit Salz, ſo
ſoll es auch beißen, gilt einmal das Stoffartige, ſo wollen wir auch,
daß dem gerechten Grimm und Haß gegen die faulen Stellen des
Körpers der Zeit ſein Ausdruck werde, wir wollen Schneide, wir wollen
Bosheit; fortgeſetztes komiſches Sittenbild ohne dieſes Hauptgewürze wird
daher matt; es braucht zur Erhaltung dieſes Fleiſches wenigſtens von
Zeit zu Zeit ein recht ſcharfes, keckes, ächt ſatyriſches Pfefferkorn, wie es
in jenen Blättern zu ihrem Nachtheil neuerdings ausbleibt; daſſelbe gilt
vom Charivari, ſeit ihm die Politik verſperrt iſt.


2. Wir haben als das gemeinſchaftliche Verfahren der ſcharfen, das
Verderbliche hervorkehrenden und der freieren, die Thorheit harmloſer ver-
lachenden Satyre, ſowie jenes ganzen Gebiets, das ſich dem rein humo-
riſtiſchen Sittenbilde nähert, die Ueberladung des Charakteriſtiſchen bezeich-
net. Danach nennt man denn auch dieſes ganze Gebiet mit ſeinen unbe-
ſtimmten Grenzen Caricatur und wir haben dieſen Namen in der Ueber-
ſchrift vorgezogen, eben weil er weiter iſt, als der Name Satyre, indem er
unter einem gemeinſamen Stylkennzeichen dieſe weite Sphäre befaßt.
Wenn wir dieſen Begriff ſchon in §. 151 einführten, ſo verhütete dort
bereits die Anm. den Gedanken an die grellere Schärfe der Ueberladung,
von welcher nun die Rede iſt, und weil derjenige Ueberfluß des Cha-
rakteriſtiſchen, der allerdings an ſich im Stoffe des Komiſchen überhaupt
liegen und vom Künſtler immer verſtärkt werden muß, von dieſem höhern
Grade der Ueberladung wohl zu unterſcheiden iſt, wurde dort der Name
Caricatur nicht weiter verwendet. In der muthwilligen Luft dieſes an-
hängenden Gebiets wird nämlich das Naturmaaß, das auch im Häßlichen
beſteht, nicht mehr geachtet; das unregelmäßige Glied, Naſe, Mund, Hand,
Auge, Kopf u. ſ. w. wächst über die Grenzen bis zur völligen Empörung
gegen die Verhältniſſe des Organiſmus und ebenſo wird jede ſinnliche
Bewegung, Ausdruck, Affect überſteigert. Der Maler hat übrigens hierin
großen Spielraum, ohne noch in das eigentlich Phantaſtiſche überzugehen,
von dem wir vorerſt wieder abſehen; ein Druck, ein Strich kann genügen,
den Grad des Ueberladens hervorzubringen, der den Unterſchied von der
Komik der reinen Kunſt begründet. Die Ueberladung kann nun das ein-
zige Mittel ſein, das die Caricatur in Anwendung bringt; doch begnügt
[760] ſie ſich nicht leicht damit, ſie ſetzt die Figur in Handlung. Die Handlung
kann einfach ſich ſelbſt bedeuten und entſpricht dann der Poſſe; allein
die Schärfe der Caricatur beſchränkt ſich auch darauf nicht leicht, ihr
Hauptgebiet iſt das des Witzes, wo denn die Handlung nicht ſich ſelbſt,
ſondern Anderes bedeutet. So durchläuft ſie nun von dem Boden der
gemeinſchaftlichen Hauptform, der Ueberladung, die verſchiedenen Formen
des Witzes in einer Weiſe, wie es die Malerei als reine Kunſt nicht kann,
weil ſie das Wort nicht zu Hülfe nimmt und ebenſowenig ohne Hülfe des
Worts blos vergleichend, allegoriſirend verfahren will: Klang-Wortſpiel,
Sinn-Wortſpiel, reines logiſches Spiel (vergl. §. 198), bildlicher oder
vergleichender Witz, Ironie: in allen dieſen Formen wirft ſie ſich umher.
Ja die Caricatur benützt nicht blos den Witz, ſondern der Witz die Cari-
catur, da er gern durch bloße Zeichen ſpricht, vergl. §. 193, 1. Die
herrſchende Form iſt natürlich der vergleichende Witz und da zeigt ſie die
Stärke der bildenden Kunſt, indem ſie das „Wie“ wegläßt und uns zwingt,
das zur Vergleichung Beigezogene für die Sache ſelbſt zu nehmen, wäh-
rend wir doch gleichzeitig wiſſen, daß es nicht ſo iſt, ſondern der verlachte
Gegenſtand nur durch irgend einen Vergleichungspunct auf das ſehr Ent-
legene, was hier ſeine Stelle vertritt, bezogen werden kann. Wir ver-
zichten ungerne darauf, die Hauptformen an der Hand ſchlagender Beiſpiele
aus der reichen Welt dieſes ſo äzend ſcharfen und doch ſo luſtigen Ge-
biets zu durchwandern, und beſchränken uns auf einige Winke. Neben
dem realen Stoffgebiete ſteht der Caricatur die ganze Welt der Kunſt,
Poeſie, Fabel offen, um daraus das Bild zu entnehmen, woraus die
Pointe hervorſpringen ſoll. So gab Manuel, der beißende Poſſendichter
und Caricaturenzeichner der Reformation, eine Auferſtehung Chriſti nach
herkömmlicher maleriſcher Behandlung des Gegenſtands, worauf man ſtatt
der kriegeriſchen Hüter des Grabes Pfaffen ſieht, die es ſich mit ihren
Dirnen wohl ſein ließen und nun aufgeſchreckt fliehen; ſo gab die „Cari-
cature“ das Abendmahl nach Leonardo da Vinci: in der Mitte ſitzt die
allegoriſche Figur Frankreichs oder der Freiheit mit der Geberde Chriſti,
welche die bekannten Worte ausdrückt, Judas Iſcharioth iſt L. Philipp,
auf ſeinem Beutel ſteht liste civile, ſtatt des Salzfaſſes ſtößt er einen
Teller voll Birnen um, auch die andern Figuren tragen die Züge politi-
ſcher Perſönlichkeiten; die fliegenden Blätter gaben ein Bild „der Tanz
nach Noten“: der ruſſiſche Bär ſpielt als Orpheus auf, die deutſchen
Wappenthiere tanzen danach; hier ſieht man in der Benützung claſſiſchen
Sagen- und Kunſtſtoffes zugleich das Wortſpiel und in der Behandlung
der Wappenthiere eine beliebte Form der Caricatur, wodurch ſich dieſelbe
wieder deutlich von der reinen Kunſt unterſcheidet: ein Symbol wird be-
nützt, aber zugleich wieder mit ſeinem Gegenſtande verwechſelt, indem
[761] ſeine Geſtalt in die menſchliche hinübergeſpielt wird, ſo daß z. B. der
bairiſche Löwe die Züge eines bairiſchen Gebirgsbauern trägt; ſehr luſtig
ſind für die Wappen der freien Städte Geldſäcke genommen und anthro-
pomorphiſirt. So weiß der Punch mit dem feinſten phyſiognomiſchen
Humor dem franzöſiſchen Adler die Züge L. Napoleons zu geben. Dieß
Verfahren erinnert uns nun an ein weiteres weſentliches Moment, das
wir in Anm. 1 nur berührt haben: an die phantaſtiſche Uebertragung
und Verbindung von Geſtalten verſchiedener Reiche. Dort iſt ſie erwähnt
als eine Form, welche beſonders im freieren humoriſtiſchen Sittenbilde
beliebt iſt; nun aber iſt hinzuzufügen, daß ſie aller Caricatur überhaupt
nahe liegt, und zwar nicht nur, wie bei den gegebenen Beiſpielen, aus
Anlaß eines beſtimmten, einzelnen vergleichenden Witzes oder eines Wort-
ſpiels, ſondern ganz allgemein als von ſelbſt ſich ergebende Steigerung der
überhaupt herrſchenden Ueberladung des Charakteriſtiſchen: dieſe, an ſich
ſchon immer auf dem Sprung, das nach Naturgeſetzen Mögliche zu über-
hüpfen, ſetzt, wie und wann es ihr beliebt, über dieſe Schranke wirklich hin-
über, macht aus der Wahrheit, daß der menſchliche Organiſmus durch ſeine
verſchiedenen Unregelmäßigkeiten in die Aehnlichkeit mit Mechaniſchem, Vege-
tabiliſchem, Thieriſchem verſinkt, Ernſt und treibt nun ſolchen vergleichenden
Witz im Großen ohne den ſpeziellen Zuſammenhang einer einzelnen Pointe
dieſer Art. So liebt denn die Caricatur überhaupt die phantaſtiſche Traveſtie,
die muthwillige Geſtaltenverwechslung, die wir zuerſt in §. 214 aus der
Stimmung des Humors überhaupt abgeleitet und als geſchichtliche Form
des mythiſch Komiſchen in §. 440, 3. mit dem Namen des Grottes-
ken eingeführt haben; Mechaniſmen, Pflanzen, Thiere werden zu Menſchen
und umgekehrt, ſei es durch deutliche Verbindung von Gliedern und
Theilen dieſer verſchiedenen Reiche, ſei es durch unbeſtimmteres Hinüber
ſpielen. Grandville hatte bekanntlich große Stärke in dieſer Form.
Allerdings wird aber mit ihr der Humor ſo bodenlos, daß er über die
ſatyriſche Abſicht hinausſpielt, und ſo bleibt es dabei, daß das freiere,
nahezu tendenzloſe, humoriſtiſche Sittenbild dieſen komiſchen Mythus be-
ſonders liebt. Das Naturgeſetz wird übrigens nicht blos in der Geſtalt,
ſondern auch in der Bewegung, im ganzen Umfange des Geſetzmäßigen
überſprungen; Töpffers geiſtreiche Skizzen gehen großentheils im Reiche
des Unmöglichen vor ſich und handeln, als gäbe es keine Schwere, keinen
Hunger u. ſ. w., ſetzen aber dieſe Nothwendigkeiten doch wieder voraus
und das eben iſt der Spaß (vergl. „Gavarni und Töpffer“ Jahrb. d.
Gegenw. Juni 1846). Dieſe frei phantaſtiſche Komik wird denn auch,
woran eben dieß Beiſpiel erinnert, zur Erdichtung ganzer cykliſcher
Reihen vorzüglich aufgelegt ſein und in dieſen ganze humoriſtiſche Per-
ſönlichkeiten, närriſche Typen epiſch durch eine vollſtändige Handlung

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 50
[762]führen oder wenigſtens ein Thema nach allen Seiten, wie in den Todten-
tänzen, durchſpielen. Man ſieht, wie hier die Malerei mehr und mehr
frei dichtend auftritt, was auf §. 694 zurückführt. Die Anlehnung an
einen gegebenen Text kann dabei auch wegfallen, im Ganzen aber bleibt
ſie ein Hauptmerkmal der Unſelbſtändigkeit des, obwohl ſo großen und
bedeutenden, Gebiets, das uns hier vorliegt. Es wäre ſehr intereſſant,
das Verhältniß zum Texte näher zu beleuchten, wie er bald den Witz erſt
vollendet, wie bald umgekehrt die Caricatur ganz an die Stelle des Wor-
tes, eine komiſche Hieroglyphe, tritt, wie ſie ein andermal nur ein Motiv
aus ihm entnimmt; das Letztere liebt namentlich jenes von ſatyriſcher
Abſicht freiere humoriſtiſche Sittenbild: der Text ſagt, was die dargeſtell-
ten Perſonen ſprechen, der Künſtler zeigt uns, wie Menſchen bei ſolcher
Unterhaltung, wo ſie ſich ganz gehen laſſen, ganz naiv hinträumen u. ſ. w.,
eben gerade ausſehen. Der Text kann dabei einen Witz enthalten (vergl.
§. 193 Anm. 1) oder nicht. Hier fällt dann freilich mit der Satyre auch die
Uebertreibung, alſo das Grundmerkmal, das der Caricatur den Namen
gibt, häufig ganz weg und man befindet ſich im reinen Sittenbilde;
allein die Kunſt hat eine Maſſe flüchtiger Gedanken, die ſie nur raſch
hinwerfen, in die Welt ſchleudern will, und ſo übergibt ſie dieſelben, leicht
und geiſtreich ausgeführt, der vervielfältigenden Technik, durch deren Mittel
nun dieſes ganze Gebiet ſeine große praktiſche Bedeutung verwirklicht. —
Eine Geſchichte der Caricatur nach Styl und Stoffen wäre eine höchſt
lohnende Aufgabe; die Geſchichte der Staaten, der Religion, der Geſell-
ſchaft wäre dabei ſo tief betheiligt, als die Geſchichte der Kunſt, der na-
tionalen Auffaſſungen und Formen. In neuerer Zeit hat ſich neben dem
geiſtreichen Wurfe und der leicht aufſchäumenden, eleganten, freilich oft
mehr frivolen, als komiſchen Bosheit der franzöſiſchen, neben der markig
groben Herbe, der ſchwer und tief einſchneidenden, graſſer überladenden
Schärfe der engliſchen Caricatur entſchieden ein eigener deutſcher Carica-
turſtyl ausgebildet, der ganz den deutſchen Charakter ausdrückt, indem
bei aller Schärfe doch der Humor über den bittern Ernſt vorwiegt und
in gutmüthiger Laune hanswurſtartig die Miene einer gewiſſen gemüth-
lichen Dummlichkeit annimmt; das Hauptverdienſt bleibt den fliegenden
Blättern.


§. 743.


Durch die Nachbildung in Metall, Holz, Stein bietet die ver-
vielfältigende
Technik, die aber hier ein bedeutendes reproductives Kunſt-
talent in Anſpruch nimmt, ſowohl einen Erſatz für die Anſchauung des ausge-
führten Gemäldes, als auch eine Form leichter Mittheilung der augenblicklichen
[763] Erfindung und führt ſo die Kunſt im weiteſten Umkreis in das Leben ein.
Im Weſentlichen auf Zeichnung und Schattengebung beſchränkt (vergl. §. 664.
665), verbindet ſie ſich doch annähernd auch mit dem Colorit.


Wir haben Formen vor uns, die zwar nur anhängend, weil nur
nachbildelnd und vervielfältigend ſind, aber das Wiedererzeugen und
Uebertragen in eine andere Darſtellungsform fordert ein Hinein-Em-
pfinden in das Original, das unendlich viel mehr, als bloße Nach-
ahmung, iſt und dieſen Formen den Namen der beſeelten Technik
(§. 518, 2.) ſichert, durch welche die Kunſt vom Handwerk ſich unterſchei-
det. Mit einem Theile derſelben verhält es ſich ſo, daß auch der erfin-
dende Künſtler ſelbſt ſein Werk auf ein leicht zu behandelndes Material
übertragen kann, ſo daß die Technik, die das Weitere zu übernehmen hat,
mit der Kunſt nur in entfernterem Verhältniß ſich berührt oder wirklich
nur noch Handgriff iſt; hier muß alſo er ſelbſt in die beſonderen
Bedingungen des Materials ſich einfühlen; wir behalten aber zunächſt
den Fall der ſinnigen Nachbildung im Auge. Der unendliche praktiſche
Werth dieſer techniſchen Mittel liegt nun in der Verbreitung der Kunſt-
Anſchauung in die Maſſen; allerdings wird die Zeichnung, die Licht- und
Schattengebung, deren Trennbarkeit vom Ganzen der Malerei in den
angeführten §§. ſchon zur Sprache gekommen iſt, (mit einiger Ausnahme,
wovon nachher) hier wirklich iſolirt, der Maaßſtab wird bedeutend verkleinert,
aber trotzdem ſind es Erfindungen von weltgeſchichtlicher, völkerbildender
Bedeutung wie die Buchdruckerkunſt, mit der ſie Hand in Hand gehen.


Wir ſtellen den Metallſtich, wiewohl der Holzſchnitt älter iſt,
voran, weil nur in Vergleichung mit ihm gezeigt werden kann, was dieſem
und dem Steindruck fehlt, und ſprechen zuerſt von der vollkommenſten
Form, dem Kupferſtich. Im Abdruck fühlt ſich bei allen dieſen Mitteln
der Vervielfältigung das Material, ſein Element, ſeine Stimmung durch.
Die kräftige, klangvolle Härte des Metalls nun hat an ſich einen Charakter,
der monumental gemahnt, und das Eingraben des Stichels in ſeinen
ſoliden Stoff erinnert uns durch eine natürliche Symbolik an die durch-
ſchneidende Kraft, wodurch ſich der hiſtoriſche Menſch in die Erinnerung
dauernd eingräbt. Zugleich ſetzt nun aber das Kupfer dem Grabſtichel
nicht allzugroßen Widerſtand entgegen; es iſt hart genug, einen kräftigen,
geſammelten Druck der Hand zu verlangen, aber auch weich genug, ihr
zu geſtatten, daß ſich das feinſte Gefühl in ſie lege und in der Art ihrer
Bahn, im Anſchwellen, Nachlaſſen, in den Figurationen der Striche ſein
inneres Geheimniß ausdrücke. Je mehr die Kunſt dieſe Empfänglichkeit
des Materials benützen lernt, deſto mehr ſchreitet ſie, zwar im Elemente
des Farbloſen, von dem mehr ſculptoriſchen Charakter der einfachen Zeich-

50*
[764]nung und Modellirung zu einem erfüllten, geſättigten Nachbilde des durch-
geführten maleriſchen Scheines fort. Ueberdieß ſind nun aber chemiſche
Wege entdeckt worden, die ein Verfahren erlauben, welches die flüſſigen
Mittel nachahmt, die der Maler mit dem Pinſel aufträgt, damit kann und
muß ſich dann auch die Arbeit des Grabſtichels (und der Nadel) wieder
vereinigen, und hiedurch iſt die Steigerung zum Maleriſchen um eine
weitere Form bereichert. Indem wir dieſe Steigerung näher betrachten,
kommt zugleich der Unterſchied der Verfahrungsweiſen beſtimmter zur
Sprache. Der Kupferſtich beginnt mit dem bloßen Umriſſe und geht über
zur Angebung des Schattens durch nebeneinander gelegte Linien
(Schraffiren). Wenn nun ſchon der Umriß durch den Unterſchied der
leichteren Führung und der ſtärkeren Drucke der Hand die vollen Formen
der umſchriebenen Geſtalt dem Gefühle anzudeuten vermag, ſo bleibt auch
die Schraffirung nicht bei einfachen Strichlagen, bei gleicher Stärke der
Striche ſtehen, ſie eignet ſich jene zarten und doch kräftigen Unterſchiede
in Nachlaß und Schwellung der Linie an, ſie führt geſchwungene Linien,
durchkreuzt die geraden und geſchwungenen in vielfacher Weiſe, ſie ſetzt
Puncte und mancherlei kleine Striche in die Vergitterung. Wir führen
hier beiläufig die Punctir-Manier an, die blos mit Puncten modellirt,
aber nur, um zu ſagen, daß ihr mit der Bahn der Hand auch Bahn
und Schwung des energiſchen Gefühls völlig abgeht. Das Punctuelle
muß ſich mit der Linie verbinden. Durch dieſes Verfahren hat nun der
Kupferſtecher alle Mittel in der Hand, ſowohl die Form, als auch die
Art und Textur der Stoffe und mittelbar dadurch die Farbe auszudrücken.
Allein noch mehr: er vermag die allgemeinen Beleuchtungsverhältniſſe,
Local-Ton und allgemeinen Ton in allen feinſten Lichtblicken und Schatten-
Abſtufungen wiederzugeben. So haben wir denn jenen Gang vor uns,
der von dem mehr Plaſtiſchen der bloßen Zeichnung, dann der ſparſameren,
dann der volleren Modellirung immer mehr zum ganz Maleriſchen fort-
ſchreitet, worin der Umriß als ſolcher völlig getilgt iſt, keine Stelle der
Fläche übrig bleibt, in welche der Stichel nicht gedrungen wäre, um eine
vollkommen ausgefüllte Wechſelwirkung eines Ganzen von Körpern und
Lichtverhältniſſen herzuſtellen, ja woraus uns ſelbſt ein Gefühl der Farbe
entgegenquillt. Alles jedoch im Elemente jenes Grundcharakters des
Metalliſchen, des Eingegrabenen. In einem andern Verfahren, dem
Radiren, fällt dieſer Charakter eines innigen Durchdringens und Ueber-
arbeitens der Metallfläche weg, er wird einem Vortheil anderer Art ge-
opfert: der Künſtler zeichnet mit leichter Hand in den widerſtandsloſen
Aezgrund und läßt die Eingrabung durch ein chemiſches Mittel vollziehen.
Damit gehen denn die Feinheiten verloren, welche in der zarteren oder
breiteren, ſeichteren oder tieferen Taille der mit dem Grabſtichel arbeiten-
[765] den Hand liegen, gewonnen aber iſt der Ausdruck des geiſtreichen, leichten
Wurfs in der flüſſigeren Linie. Ein Unterſchied des mehr Graphiſchen
und des in vollerem maleriſchem Scheine Gehaltenen bildet ſich allerdings
auch hier aus, doch iſt nicht die Welt von abgeſtuften Tönen erreichbar,
wie im Stich, der Charakter des Ganzen bleibt doch mehr der graphiſche.
Das Radiren ſtellt ſich im Ganzen näher zu den Formen, die mehr den
Charakter des raſchen Uebertragens der Erfindung, den Charakter des
Unmittelbaren tragen, wovon nachher. — Der eigentliche Kupferſtich nun
erreicht jene Fülle allerdings ſchon durch das Mittel des Eingrabens mit
dem Stichel. Allein es tritt nun auch das erwähnte weitere Verfahren
auf, welches die flüſſigen Mittel der Malerei durch Einäzen der Ab-
ſtufungen des Dunkels (getuſchte Manier, aqua tinta) oder durch Heraus-
ſchaben des Hellen (Schab-Manier, ſchwarze Kunſt) nachahmt. Es iſt
klar, daß nun ein großer Vortheil gewonnen iſt in Nachahmung jener
ganzen Welt von Wirkungen der allgemeinen Potenzen, welche an ſich
nicht durch Linien beſtimmbar ſcheint, weil ſie den Charakter des Er-
goſſenen hat. Allein ebenſo klar iſt es, daß die Nachahmung dieſer Er-
ſcheinungen durch die mit dem Grabſtichel gezogene Linie gerade darum
mehr künſtleriſch iſt, weil dieſes Mittel den Meiſter nöthigt, die Natur
des Gegenſtandes erſt in ein anderes, zunächſt fremdartiges Medium zu
überſetzen, wodurch er die Feinheit ſeines Gefühles erſt in ihrem wahren
Umfang erproben kann. Ueberdieß gewinnt er hier die ganze Schärfe
der Zeichnung für das Gebiet, wo ſolche hingehört, nämlich die feſte Form.
Jene Manieren bedürfen zur Umſchreibung der Form in ihrer Beſtimmt-
heit, wie geſagt, der Mithülfe des Stichels oder der Nadel; aber auch da,
wo das Unbeſtimmte in der Sache liegt, im ganzen Gebiete der Schatten-
gebung mit ihren Uebergängen, treibt ſie ein Gefühl des Mangels an
Halt und Mark zu den verſchiedenen Methoden der Verbindung mit dieſen
graphiſchen Werkzeugen, wodurch denn allerdings ein hoher Grad von
Vollkommenheit in Wiedergebung des Maleriſchen erreicht worden iſt. —
Vor dem Kupferſtich hat nun der Stahlſtich die noch größere Dauer-
haftigkeit des Materials voraus, welche ungleich mehr Abdrücke erlaubt.
Allein dieſer induſtriöſe Vorzug iſt auch ſein einziger und mit ſchweren
künſtleriſchem Nachtheil erkauft. Der Stahl iſt zu hart; er läßt die dünnſte
Linie zu, aber er widerſteht der eingrabenden Hand zu ſehr, er geſtattet
ihr nicht, ihr Gefühl im Anſchwellen des Zugs geltend zu machen, ihm
fehlt daher das Lebendige, das Anwachſen, der Saft, die Rundung, das
Metall fühlt ſich zu ſtoffartig durch, es iſt Alles kratzig, ſpröd, man hat
eine Empfindung, wie wenn man Tritte auf gefrornem Schnee knarren
und pfeifen hört. Ganz wird dieſer Charakter auch durch Anwendung
des Punctirens, Radirens, der Tuſch- und Schabmanier nicht getilgt, das
[766] Metalliſche klirrt und raſſelt mit all ſeiner Härte auch durch dieſe Ver-
feinerungen hindurch.


Dem Metallſtiche ſtehen die leichteren und beweglicheren Formen des
Holzſchnitts und Steindrucks zur Seite. Im Erzeugniſſe des Holzſchnitts
fühlt ſich nun zwar die lockrere Textur, aber auch trotz dem vertrockneten
Zuſtande, worin das Holz verwendet wird, durchaus wohlthuend der ſaftig
weiche Charakter des vegetabiliſchen Stoffes durch. Dieß widerſpricht nicht
dem gewöhnlichen Urtheile, daß er mehr Kraft, weniger Zartheit habe,
als der Kupferſtich. Der Holzſchnitt iſt bekanntlich eine aus dem Holz
erhöht herausgeſchnittene Zeichnung. In dieſem Verfahren fallen nun eben-
falls die Vortheile weg, welche wir bei jenem Eingraben gefunden haben:
da iſt nicht die fortrückende Hand, die durch Nachlaſſen und ſtärkeren
Druck gegen mäßigen Widerſtand das künſtleriſche Gefühl offenbart;
die zarten Uebergänge, die Töne werden nur mühſam und annähernd
nachgebildet; die Methode, die durch Aezen das Flüſſige nachahmt, fällt
als unmöglich ohnedieß weg. Allein jede Linie für ſich hat doch jenen
wohlthuend vegetabiliſch ſaftigen, allgemein weichen Charakter, der zugleich
in der Verſtärkung der tieferen Schatten eine kräftige, ergiebige, fettigte
Derbheit entwickelt. Da die zarteren Ton-Abſtufungen nur mit Qual
erreicht werden, iſt dieſe ſaftige Derbheit gerade das, worauf der Holz-
ſchnitt arbeiten muß. Er iſt daher ungleich mehr auf ſculptoriſche
Haltung angewieſen, als der Metallſtich; Umriß mit mäßiger Angabe der
Modellirung und der Beleuchtungsverhältniſſe des Ganzen iſt ſeine Haupt-
ſtärke. Er läßt eine Steigerung nach dem Maleriſchen allerdings zu, der
Spielraum ſoll nicht zu enge gezogen werden, aber es iſt moderne Ver-
kehrtheit, ihn zum Wetteifer mit Kupfer- und Stahlſtich hinaufzuſchrauben.
Es iſt ſchon viel, wenn der Zeichner verfährt wie mit der Nadel im
Radiren und dem Formſchneider überläßt, dieſer freien Bewegung zu
folgen; ein Verfahren, als zeichnete er einem Kupferſtecher vor, geht ent-
ſchieden über die Grenze. Die Deutſchen haben ſich neuerdings ein
bedeutendes Verdienſt in der Rückführung des Holzſchnitts auf ſeine ur-
ſprüngliche, tüchtige, naive und doch geiſtvolle Einfalt erworben, insbe-
ſondere iſt ein Werk wie Rud. Weigels „Holzſchnitte berühmter Meiſter“,
worin wir mit ſo reinem Gefühl und Verſtändniß das Mark des alten
Holzſchnitts nachgebildet ſehen, mit Freuden zu begrüßen. Es kann nun
im Holzſchnitte das künſtleriſche Gefühl allerdings nicht ebenſo in die
Fingerſpitzen übergehen, wie im Kupferſtich, doch iſt das Band zwiſchen
Seele und Technik nicht ſo zerſchnitten, daß wir nur einen erfindenden,
der Ausführung fremden Künſtler als Vorzeichner auf der einen und den
Formſchneider auf der andern Seite hätten: ein Dürer und Holbein hat
ohne Zweifel nicht nur auf Holz vorgezeichnet, ſondern auch ſelbſt geſchnitten;
[767] ferner iſt der Holzſchnitt ja auch nachbildend, er copirt Gemälde, Tuſch-
zeichnungen u. ſ. w.: hier verlangt er ebenfalls das reproductive Talent für
die ſchwierige Ueberſetzung in ein fremdes Material, das eine andere Sprache,
einen andern Vortrag fordert; allein die Trennung iſt möglich, das Un-
mittelbare, was warm aus dem Geiſte kommt, wirft ſich raſch, handmäßig
im Zeichnungs-Charakter auf das Holz, überläßt das Weitere der Aus-
führung, die nun zwar auch noch Sinn und Empfindung fordert, aber doch
ſchon näher am bloßen Handwerk ſteht, und dann dient der Holzſchnitt
vorzüglich der augenblicklichen Erfindung, die ihren Gedanken weniger
ausführen, als ſchnell mittheilen will, der geiſtreichen momentanen Wir-
kung, der Caricatur, der Illuſtration; der Bund mit dem Buchdruck iſt
hier beſonders naturgemäß und ſo die reichſte Vermittlung mit dem Leben
begründet. — Die andere dieſer raſcheren, leichteren Formen iſt der Stein-
druck
. Sie ſtrebt allerdings ungleich mehr zur maleriſchen Ausführung
und zwar auch ganz abgeſehen von den Nachahmungen der Methoden, die
eigentlich anderes Material vorausſetzen, des Stichs, des Radirens, der
Tuſchmanier durch das ſogenannte Spritzen u. ſ. w.: Uebertragungen, von
denen wir Umgang nehmen, um bei dem zu verbleiben, was der Lithographie
einzig natürlich iſt, der Manier der Kreidezeichnung. Hier fühlt ſich nun
die Natur des Steins durch: das Körnige, korn-artig Rauhe, woran die
Kreide in wolligem Strich ihre Theile abläßt. Die flockigen Linien laſſen
jede Art von Schwäche und Kraft des Drucks zu, fließen unmerklich in
einander, nähern ſich ſo dem Flüſſigen und geſtatten alle die feinen Ueber-
gänge und Töne, welche die Haltung des maleriſchen Styls mit ſich
bringt und worin die Textur der Stoffe, ſelbſt die Farbe ſich andeuten
läßt. Dafür fällt nun aber die Schärfe des Schnitts und Stichs, die
Präciſion der Linie weg, nicht nur wie ſie dem Metalle, ſondern auch wie
ſie dem Holz abgewonnen wird. Es iſt kein eigentliches Vermählen mit
dem Material, nur ein Hauch, ein Schatten, der darüber geworfen iſt;
es gibt ſo, wie es einen Kupferſtecher und Formſchneider gibt, keinen Li-
thographen, da der Künſtler, ſei er nun erfindender Meiſter oder bilde
er nur die Erfindung eines Andern nach, leicht wie auf Papier zeichnet
und dann nur noch die chemiſche Behandlung des leeren Theils der Fläche
und hierauf der Abdruck folgt; es bildet ſich alſo hier keine beſondere
Form beſeelter Technik, ſondern eben die künſtleriſche Technik, die auch außer
dieſen vervielfältigenden Künſten thätig iſt, mag ſie productiv oder nachbildend
ſein, die Kreidezeichnung nämlich, arbeitet hier für die Vervielfältigung. Dieſes
Wegfallen des Kampfes mit dem Materiale, dieſe Losheit gibt der Litho-
graphie eine gewiſſe Leere, man hat ein Gefühl des mangelnden Bandes,
worin zugleich das Kalte und Todte des Steins empfunden wird. So bedeutend
die Mittel einer maleriſchen Darſtellung ſind, über die ſie verfügt, ſo thut
[768] ſie daher doch beſſer, nicht in ſo vollem Umfang wie der Kupferſtich, wie-
wohl in vollerem, als der Holzſchnitt, mit der Oelmalerei zu wetteifern.
Dem Zweige nach iſt ſie mehr auf Sittenbild und Landſchaft, als auf
Geſchichte gewieſen, denn eben, weil ſie ihre Züge nicht durch Eingraben
in das Material hineinarbeitet, oder, ſofern ſie es in Stich und Schnitt
verſucht, doch die wahre Schärfe dieſes Verfahrens nicht erreicht, kann ſie
keine wahre Empfindung des Monumentalen hervorbringen. Vorzüglich dient
nun aber die Lithographie auch der augenblicklichen Mittheilung des raſchen
künſtleriſchen Gedankens, ſie gleicht darin dem Holzſchnitt, ja ſie iſt noch
beweglicher, als dieſer, weil zwiſchen das Zeichnen und den blos mechaniſchen
Abdruck keine weitere Technik in die Mitte zu treten hat wie bei dieſem. —
Endlich laſſen ſich nun dieſe Formen der vervielfältigenden Technik, vor-
züglich aber die Lithographie, auch mit der eigentlichen Farbe verbinden:
ein Ton oder mehrere Töne mit hervorgehobenen Lichtſtellen werden durch
eine oder mehrere Tonplatten hervorgebracht und von da iſt nur ein
Schritt zu dem Druck mit mehreren Farben, der ein mehr oder weniger
annäherndes Bild von der wirklichen und ganzen Farbenwirkung der Natur
und Kunſt gibt und ſo einen Erſatz für die ſelbſtändigen Werke der Ma-
lerei in die Maſſen verbreitet, der zwar nicht die Tiefe des Kupferſtichs
hat, aber auch nicht die Abſtraction verlangt wie dieſer und die andern
farbloſen Nachbildungen. — Vom Daguerrotyp haben wir bei dem
Porträt geſprochen; es gehört eigentlich nicht zu den Vervielfältigungs-
mitteln, weil es blos eine vereinzelte mechaniſche Kopie liefert, welche
nur durch wirkliche Beiziehung jener ſich vermehren läßt. Seine poſitive
Bedeutung liegt darin, daß es als Beihülfe für die künſtleriſche Nach-
bildung eines Gegenſtandes dienen kann; doch nur behutſam iſt es zu
verwenden, weil es, wie dort gezeigt, eine falſche Wahrheit gibt; unbe-
denklich iſt es nur für außerkünſtleriſche Zwecke und leblos unbewegliche
Gegenſtände zu brauchen.


§. 744.


Die verſchönernde oder Decorations-Malerei wirkt theils in Her-
ſtellung des Scheins einer wirklichen Umgebung für die Schaubühne, theils er-
gänzt ſie ſchmückend das Werk der Baukunſt, insbeſondere deſſen Inneres.
Hier erſindet ſie ein architektoniſch bemeſſenes phantaſtiſches Formenſpiel: die
Arabeske, die zunächſt dem Zwecke der Einfaſſung und Ueberleitung dient,
aber durch tiefſinnige Beziehungen zu höherem Kunſtwerthe ſich erheben kann.
Dieſe Form verbindet ſich auch mit der Illuſtration und wird hier vorzüglich
von der vervielfältigenden Kunſt gepflegt. Endlich iſt die Malerei in Ver-
zierung der untergeordneten Tektonik thätig.


[769]

Wir verändern die Ordnung der Momente, worauf in den §§. 545 ff.
die anhängenden Formen begründet ſind, nach dem Werthe, den ſie in
den einzelnen Künſten haben. So führt uns in der Malerei die abſteigende
Linie von der noch mit freiem Kunſtgeiſt erfindenden, aber ſtoffartig be-
ſtimmten Caricatur zu der ſinnvoll reproductiven Nachbildung, von da
zu der bloßen Verſchönerung. Hier iſt die bedeutendſte Sphäre die Bühnen-
malerei
, wenigſtens die moderne, die nicht nur das Nothwendigſte von
architektoniſcher Umgebung, Straßenproſpecten mit einer Andeutung land-
ſchaftlicher Natur, ſondern entſchieden maleriſch wirkende architektoniſche
Innenſeiten und Landſchaften herzuſtellen hat. Die beſchränktere Skeno-
graphie der Alten war übrigens doch ein wichtiges Moment für Aus-
bildung der Perſpective. Den Schein der Tiefe hervorzubringen iſt ein
weſentlicher Theil der Aufgabe dieſes Nebenzweigs, die zunächſt fordert,
daß das Umgebende überhaupt bezeichnet und ſo die mimiſche Handlung
erläutert werde, zugleich aber den tieferen Anſpruch ſtellt, daß das Sce-
niſche die Handlung äſthetiſch ſtimmend ergänze. Dabei kann die Bühnen-
malerei Geiſt und höheren Kunſtſinn zeigen, ſie iſt und bleibt aber nicht
nur an ſich eine blos anhängende, ſondern auch in der Ausführung eine
gröbere Kunſt, weil die Art, wie ſie Alles auf eine Fernwirkung anzu-
legen hat, mehr Handwerksberechnung, als eigentliches Kunſtgefühl in
Anſpruch nimmt, und weil ſie neben der künſtleriſchen Täuſchung der
Einen Fläche im Hintergrund noch auf rein äußerliche des ſcheinbaren Zu-
ſammengehens der Seiten-Couliſſen abzuſehen hat. Beleuchtung hat ma-
leriſch mitzuwirken. Die Ueberſteigerung dieſer Dinge, die hetzende Ueber-
ſchüttung der Sinne iſt moderne Blaſirtheit und erdrückt den Mittelpunct,
dem ſie doch nur dienen ſollten, die dramatiſche Kunſt. — An dieſen
Zweig lehnt ſich die zur Täuſchung geſteigerte Vedute in Mauerproſpecten,
in Dioramen u. dgl. — Ein Anderes iſt nun die Decoration als Ver-
zierung der architektoniſchen Fläche, bei welcher im Unterſchied von der
Freske dieſe ganz in Geltung bleibt, die Malerei alſo ſie nicht als bloßes
Mittel zur Anheftung ihres ſelbſtändigen Scheins benützt, ſondern ſich ganz
unterordnet und daher jede beſtimmtere Form, die ſie verzierend anbringt,
architektoniſch ſtyliſiren muß. Als Verzierung des Aeußern iſt dieſe Art
der Decoration Polychromie und bei der Baukunſt (§. 573) beſprochen;
nicht eben ſo zweifelhaft, wie hier, iſt ihre volle Berechtigung in Aus-
ſchmückung des Innern. Handelt es ſich nun blos um den allgemeinen
Farben-Ueberzug der Flächen, ſo iſt auch dieß eine Mitwirkung der Ma-
lerei zu der Baukunſt, die eigentlich als Anhang zu dieſer angeſehen
werden muß; auch die Erfindung beſtimmterer Verzierungen aus der vege-
vegetabiliſchen Welt und andern Gebieten, denen das Ornament überhaupt
ſeine Motive entnimmt, iſt immer noch mehr ein maleriſches Ausblühen
[770] der Architektur, als ein Hinüberwirken der Malerei; dieſe Sphäre iſt daher
in §. 573 ſchon mitbeſprochen. Die Beſtimmung der Muſter für die
weichen Stoffe, womit Räume und Geräthe bekleidet werden, durch die
Malerei, trägt, wo ſie ihrer Aufgabe treu bleibt, ebenfalls den archi-
tektoniſchen Ornamentscharakter, der ihre Erwähnung zu §. 596, 2. be-
gründete. Wirklich Maleriſches in Teppichform zu weben, zu ſticken, mag
im Kleineren anmuthiges Spiel ſein, im Großen mußten wir die Ver-
ſetzung in ſolches Material bedauern (§. 660 Anm. 2). Auch die in Glas
übertragene Wand-Decoration iſt bei der gothiſchen Baukunſt (§. 592, 2.)
ſchon erwähnt. Die Glasmalerei ſoll ſich ebenfalls nicht überſteigern, nicht
ſelbſtändige Gemälde zu geben ſuchen, ſondern das Prinzip kleinerer Gruppen
in architektoniſcher Feldertheilung und zugleich Teppichartiger Behandlung
des Ganzen walten laſſen. — Die Decoration der Wand kann die Haupt-
fläche einfärbig halten und nur die Grenzen der Architektur-Glieder mit
figurirteren Stäben, Säumen einfaſſen, ſie kann das Ganze mit einer
freien Nachbildung der Skenographie ſchmücken, wie dieß in der bekannten
Rokoko-artig phantaſtiſchen Weiſe von den Römern geſchah, ſie kann es
mit wiederkehrenden Formen überkleiden, deren buntes, doch von geome-
triſchen Einheiten beherrſchtes Spiel wir bei der mauriſchen Baukunſt be-
reits als Arabeske erwähnt haben (§. 588, 2.) In ſchlichterer Weiſe ſind
gewöhnlich die Deſſins unſerer Papiertapeten gehalten, ſtyllos, wie gegen-
wärtig alle verſchönernde Kunſt. Es iſt nun aber die Einfaſſung und Ein-
ſäumung, welche zu einer bedeutenderen Form führt. Sie vermittelt durch
jene Säume zunächſt die architektoniſchen Haupttheile; ſie kann aber zugleich
Wandgemälde mit den Flächen und den Schlußgliedern derſelben überleitend
verbinden, und nun wächst ſie aus Stäben, Bändern, Blumen- und Ranken-
Formen immer in’s Vollere, bis ſie dahin gereift iſt, etwas vom Geiſte
des maleriſchen Kunſtwerks in ſich herüberzunehmen und hier phantaſtiſch
ausblühen zu laſſen. So weit gediehen kann dieſe Form immerhin auch
für ſich allein, ohne die Mitwirkung eigentlicher Wandgemälde, ſprechen
und in breiten Säumen durch ihre bunten Verſchlingungen die Beſtimmung
des Raums u. ſ. w. andeuten; doch bleibt ihre wahre Stellung die einer
Einfaſſung, worin ſich zugleich der Inhalt eines ſelbſtändigen Werkes der
Malerei wie in einem Echo wiederholt. Dieß iſt nun die Arabeske im
reicheren, volleren Sinne des Worts. Von der einen Seite iſt ſie archi-
tektoniſch beſtimmt und gerade darin liegt das Motiv zum Phantaſtiſchen,
denn die architektoniſch verwendete organiſche Bildung iſt in ein fremdes
Element verſetzt, das ſie aus ihren Fugen zieht: das in ſie eingedrungene
geometriſche Geſetz bringt nothwendig die theilweiſe Aufhebung des or-
ganiſchen Geſetzes mit ſich. Dieſe Art von Geſetzloſigkeit beſtimmt nun
den Künſtlergeiſt zur Entbindung des Traumartigen in der Phantaſie:
[771] geometriſch und vegetabiliſch, thieriſch, menſchlich organiſche Geſtalten gehen
phantaſtiſch ineinander über. Dieſe Phantaſtik iſt aber kein Chaos, auch
nicht blos äußerlich von dem geometriſchen Schema der Baukunſt geordnet;
das Geſetz der organiſchen Bildung dringt vielmehr, nachdem es in der
Grundlage abgeſchafft iſt, in einer neuen Form wieder ein, nämlich als
ein Geſetz der künſtleriſchen Entwicklung einer Form aus der andern. Es
macht ſich hier der Begriff des Motivs ſowohl im Sinne von §. 493, 1.,
wo in der Anm. auch wirklich das Ornament ſchon berührt iſt, als auch im
Sinne von §. 499, 2. geltend: jede Form ſoll begründend und jede ſoll
begründet ſein; wie Ranken und Blätter laufen, ſich ſpalten, ſich zurück-
wenden, wie Pflanzenform in Thierform übergeht und umgekehrt, wie
Genien aus Blumenkelchen lauſchen u. ſ. w.: das Alles geſtaltet ſich durch
einen in der Tiefe des Kunſtgefühls treibenden Keim, der Eines aus dem
Andern hervorwachſen läßt. Nun aber legt ſich in dieſe Welt erſt der
tiefere Sinn, der Gedanke. Er webt und ſchwebt durch ſie hin und her
wie die tiefere Bedeutung durch das Mährchen, mit dem man die Arabeske
oft genug verglichen hat. Hiedurch iſt denn die Bahn eröffnet, wodurch
die Arabeske in unendlichen geiſtreichen Andeutungen Sinn und Idee des
Raums, der Kunſtwerke, die ſie umſäumt, wiederholen, ernſt und hu-
moriſtiſch accompagniren, paraphraſiren wird, wie die Muſik im Phanta-
ſiren ein Thema umſpielt. Zugleich iſt es ihr unbenommen, in ihre
Felder und Oeffnungen auch ganze kleine Scenen, organiſch regelmäßige
Geſtalten in naturgemäßerer Handlung einzuflechten. — Die Arabeske wirft
ſich nun auch auf ein kleineres Feld, auf vergänglicheres Material, geſellt
ſich zur Caricatur, zur Illuſtration. Die Grundlage bleibt auch hier
architektoniſch: ſie umrankt Einfaſſungen einer geregelten Compoſition, ſie
ſpielt an der architektoniſchen Form von Buchſtaben (Initialen), Colonnen
hin und her und läßt den Inhalt des Textes phantaſtiſch ausathmen, aus-
blühen. Hier iſt der Ort für die Kunſt der Miniatur-Malerei in
Farben, hier für die künſtleriſche Genialität, welche, auf völlige Aus-
führung mit den Mitteln der Farbe verzichtend, dem inneren Ueberfluß der
Schöpfung ſein Bett in der Zeichnung, in Holzſchnitt, Stich, Lithographie
anweist. Der deutſche Geiſt hat, wie wir in dem Abriß der Geſchichte
angeführt, frühe ſchon auf dieſe geiſtreichen Spiele nur zu viel Kraft
verſchwendet, aber er hat auch immer gezeigt, welche Fülle ſie in ſich
aufnehmen könne. — Endlich wirft die Malerei, wie die Plaſtik, einen
Abglanz ihres höheren Lebens ſelbſt auf die kleine Welt des nächſten Be-
dürfniſſes, auf die Werke der Zierplaſtik bis hinunter auf Doſen und
Tabakspfeifen, wir verfolgen dieſe im Kleinen verſchwindenden Strahlen,
nachdem wir ſie ſchon zu §. 596, 2. angedeutet und namentlich die Vaſen-
malerei berührt haben, nicht weiter.


[772]

§. 745.


Lebendigen Naturſtoff bearbeitet die ſchöne Gartenkunſt. Sie erhöht
äſthetiſch ein Angenehmes, indem ſie den Spaziergang idealiſirt. Im Ganzen
maleriſch hat ſie zugleich ihre architektoniſche Seite. Der Gegenſatz der Style
hat auch in ihr ſeinen Ausdruck gefunden.


Das letzte Moment, das ſich als Grundlage einer anhängenden Form
geltend macht, führt uns hinaus in die wirkliche Natur. Der tiefe Mangel,
der in aller Verwendung unmittelbar lebendigen Naturſtoffs zur Kunſtform
liegt (vergl. §. 490), muß ſich beſonders da geltend machen, wo dieſer
Stoff nicht die Lenkſamkeit der freien Bewegung hat, ſondern in Maſſen-
haftem und Unbeweglichem wie Erde, Waſſer, Pflanze beſteht. Das
Prinzip einer äſthetiſchen Verarbeitung dieſer Stoffe kann nur ein ma-
leriſches ſein; der ſchöne Garten, d. h. der Garten, der nicht mehr dem
landwirthſchaftlichen Nutzen, ſondern dem freien Ueberſchuſſe des Nütz-
lichen, dem Angenehmen dient und zu dieſem Zwecke das Schöne herbei-
zieht, iſt eine mit wirklicher Erde u. ſ. w. vorgetragene Landſchaft. Da-
mit verknüpft ſich Architektoniſches in der nöthigen Geſtaltung des Bodens
und der ſtrengeren Vermeſſung einzelner Theile, im engeren Sinne ma-
leriſch iſt die Berechnung des Eindrucks, den Faſſung und Bewegung des
Waſſers machen ſoll, und die Gruppirung der Bäume und anderer Pflanzen
nach Form und Farbe. Die doppelte Verbindung mit Außeräſthetiſchem —
in Material und Zweck — hebt Werth und Reiz dieſer anhängenden Form
nicht auf, wenn nur der Gartenkünſtler ſeiner gemiſchten Aufgabe ſich
bewußt iſt und daher nicht mit der eigentlichen Malerei wettzueifern ſucht.
Es handelt ſich ja in Wahrheit nicht um eine einheitliche Landſchaft,
ſondern der Genießende bewegt ſich fort und dabei ſind ihm ſchöne Ueber-
blicke zu eröffnen, Ruhepuncte und Ausſichten herzuſtellen, die nur in ſehr
annäherndem Sinn ein Ganzes darſtellen können, vielmehr an einzelne
landſchaftliche Studien erinnern. Das Abſichtliche darf hier durchaus nicht
verhehlt werden, ſondern ſoll ſich in jener beſtimmteren Vermeſſung einzelner
Theile unbefangen ausſprechen. Der Spaziergänger entbehrt die freie
Schönheit der zufällig gefundenen äſthetiſch erfreuenden Landſchaft im
Großen und genießt dafür den Vortheil einer von Menſchenhand gepflegten,
gereinigten Natur, wo ihn nicht rohe Zufälligkeit, Schmutz, Verkrüpplung,
Raupenfraß, wüſter Lärm, Anblick von Thierquälerei, überhaupt die Qual
des Lebens in der reinen Stimmung ſtört, die ihm aus dem beſcheidenen
Nachbilde deſſen zufließt, was der künſtleriſche Blick in einer großen und
freien Erſcheinung des landſchaftlich Schönen zuſammenfaßt. — Es iſt
intereſſant, wie der Gegenſatz der Stylrichtungen, der uns überall begleitet,
[773] auch hier ſich geltend macht. Der plaſtiſche Styl hat die ſtreng regel-
mäßigen Gärten geſchaffen; allerdings äußert ſich hier, am maſſenhaften
Stoffe, das Plaſtiſche eigentlich architektoniſch, als durchgängige Gemeſſen-
heit. So waren die Gärten der Alten, ſo hat in der Zeit des Claſſicis-
mus der romaniſche Geſchmack der Franzoſen den Garten behandelt. Da
im Rokoko neben der abſtrakten Regel die Willkühr des Schnörkels herrſchte
(vergl. §. 373), ſo lief dieſer Styl in jene bekannten Spielereien, die
den Baum zur Form von Vögeln, Wappen u. ſ. w. beſchnitten, und in
ähnliche Grillen aus. Der maleriſche Styl wurde dagegen in dem ger-
maniſchen England geſchaffen. Er begann mit einem Ueberſchuß, einem
unnatürlichen Suchen des Natürlichen, (künſtliche Felſen, Waſſerfälle u. dgl.),
einem affectirt chaotiſchen Häufen des Mannigfaltigen (Tempel, Moſcheen,
Einſiedeleien u. ſ. w.), einem Nachahmen der Landſchaftmalerei in ihrer
pathetiſchen, heroiſchen Form, zugleich einem Nachahmen beſtimmter Natur
(Schweiz, Arkadien u. ſ. w.), ja einem Uebertritt in die muſikaliſche
Wirkung und die Dichtung, indem er beſtimmte Stimmungen und Ideen
hervorrufen wollte. Eine Neigung dazu ſcheint übrigens ſchon in den
ſpätrömiſchen Villen ſich geregt zu haben (Villa des Hadrian). Endlich
legte ſich dieſe Ueberſteigerung und kam das einfach Maleriſche im modernen
engliſchen Park auf. Uebrigens ſtehen wir hier im Geſchmacksgebiete, wo
die individuelle Neigung gilt. Zieht Jemand den plaſtiſchen Styl vor,
wie z. B. Hegel, ſo iſt daher nicht mit ihm zu rechten. Man mag auch
in paſſenden Uebergängen die beiden Style verbinden.


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CC-BY-4.0
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2025). Vischer, Friedrich Theodor. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bphd.0