[][][][][][][[I]][[II]]
Aeſthetik
oder
Wiſſenſchaft des Schönen.

Zum
Gebrauche für Vorleſungen


Zweiter Theil:
Die Lehre vom Schönen in einſeitiger Exiſtenz

oder
vom Naturſchönen und der Phantaſie.

Reutlingen und Leipzig.:
Carl Mäcken’s Verlag.
1848.

[[III]]
Aeſthetik
oder
Wiſſenſchaft des Schönen.

Zum
Gebrauche für Vorleſungen


Zweiter Theil. Zweite Abtheilung.
Die Lehre von der Phantaſie.

Reutlingen und Leipzig.:
Carl Mäcken’s Verlag.
1848.

[[IV]][[V]]

Inhaltsverzeichniß.


Zweiter Theil.
Das Schöne in einſeitiger Exiſtenz.


Zweiter Abſchnitt.
Die ſubjective Exiſtenz des Schönen
oder
die Phantaſie.


  • §§.   Seite.
  • A.Die Phantaſie überhaupt.
  • a. Die allgemeine Phantaſie   379—383   299—314
  • b. Die beſondere Phantaſie.
  • Grundbegriff   384   315
  • α. Die Anſchauung  385—386   315—320
  • β. Die Einbildungskraft  387—391   320—334
  • γ. Die eigentliche Phantaſie.
  • Die vorausgeſetzte Perſönlichkeit   392   335—338
  • Das Vorfinden des Naturſchönen   393   338—344
  • Die Stimmung, Begeiſterung   394—395   344—347
  • Die reine Formbildung   396—397   347—357
  • Das Ideal   398—399   357—370
  • c. Die Phantaſie des Einzelnen.
  • α. Die Arten.
  • Eintheilungsgrund   401   370—371
  • Schön, erhaben, komiſch   402   371—373
  • Landſchaftlich, thieriſch, menſchlich   403   373—378
  • Bildend, empfindend, dichtend   404—405   378—384
  • Abartungen und Ausartungen   406   384—387
  • Die Verbindung im Individuum   407   387—388
  • β. Das Maaß.
  • Grundbegriff   408   388
  • Das Talent   409   388—391
  • Das fragmentariſche Genie   410   391—393
  • Das Genie   411—413   393—397
  • γ. Die Verbindung der Arten und des Maaßes  414—415   397—402
  • §§.   Seite.
  • B.Die Geſchichte der Phantaſie oder des Ideals.
  • Verhältniß der allgemeinen und beſondern Phantaſie   416—424   403—414
  • a. Das Ideal der objectiven Phantaſie des Alterthums.
  • Grundbegriff   425   414—416
  • α. Die vorbereitende ſymboliſche Phantaſie
    des Morgenlandes
    .
  • Dualiſmus. Symbol, Mythus, Sage   426—429   416—427
  • Verhältniß zu den Arten der Phantaſie   430   427—432
  • Indier, Perſer   431   432—436
  • Semiten, Aegyptier   432   436—440
  • Juden   433   440—445
  • β. Mitte: das claſſiſche Ideal der griechi-
    ſchen Phantaſie
    .
  • Aufhebung des Dualiſmus, Mythus, Sage   434—436   446—456
  • Verhältniß zu den Arten der Phantaſie   437—441   456—465
  • γ. Ausgang: die römiſche Phantaſie  442—446   466—473
  • Die Allegorie   444   467—471
  • b. Das Ideal der phantaſtiſchen Subjectivität
  • oder die romantiſche Phantaſie des Mittel-
    alters.
  • Grundbegriff   447—450   473—479
  • Verhältniß zu den Arten der Phantaſie   451—458   479—489
  • α. Vorſtufe  459—460   490—492
  • β. Mitte
  • Die Frucht der Verſchmelzung der Volksgeiſter   461   493—495
  • Religiöſer und weltlicher Sagenkreis   462   495—496
  • Die romaniſchen Völker und die Deutſchen   463   496—497
  • γ. Ausgang  464—465   497—500
  • c. Das moderne Ideal oder die Phantaſie der
    wahrhaft freien und mit der Objectivität ver-
    ſöhnten Subjectivität.
  • Auflöſung der zweiten Stoffwelt   466—469   500—506
  • α. Vorſtufe  470—475   506—512
  • β. Mitte.
  • Die Franzoſen, die Claſſicität   476   512—513
  • Die Deutſchen, die Sentimentalität   477   513—514
  • Naturaliſmus, Genialität   478   514—515
  • Reine Claſſicität, Humor   479—480   515—516
  • Romantik, Zerriſſenheit, Blaſirtheit   481   516—520
  • Die neue Aufgabe, Anfänge   482—484   520—524
[[299]]

Zweiter Abſchnitt.
Die ſubjective Exiſtenz des Schönen

oder
die Phantaſie.


A.
Die Phantaſie überhaupt.


a.
Die allgemeine Phantaſie.

§ 379.

Dadurch, daß die Schönheit auch auf dem Schauplatze, wo ſie am meiſten
verbürgt ſcheint, in einem ſo unſtäten Verhältniſſe zu den Zwecken der geſchicht-
lichen Bewegung ſteht, drängt ſich die innere Haltloſigkeit dieſer ganzen Exi-
ſtenzform des Schönen jeder Beobachtung auf. Ueberhaupt aber leuchtet zunächſt
ein, daß die in §. 234 vorausgeſetzte Gunſt des Zufalls ſelten und, während
die unmittelbare Lebendigkeit der Vorzug alles Naturſchönen bleiben wird,
eben durch dieſe höchſt flüchtig iſt, was darin ſeinen Grund hat, daß alles
Naturſchöne als ſolches nicht gewollt iſt, ſondern ſich nur mitergiebt, während
die allgemeinen Lebenszwecke verfolgt werden.


Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 20
[300]

Zuerſt eine vorläufige Bemerkung über die Aufſchriften. „Die Phan-
taſie überhaupt“: dieſe Bezeichnung unterſcheidet den Inhalt dieſer erſten
Abtheilung des zweiten Abſchnitts von der Geſchichte der Phantaſie (oder
des Ideals), welche den Inhalt der zweiten bildet; ebenſo handelte die
Abtheilung von der menſchlichen Schönheit zuerſt von derſelben überhaupt,
dann von der concreten Verſammlung und Bewegung aller ihrer Formen
in der Geſchichte. Als Unterabtheilung folgt dann: die allgemeine Phan-
taſie. Darunter verſtehen wir die Phantaſie als Gabe der Menſchheit, der
Völker überhaupt, welche zwar natürlich einer Entwicklung und Bildung
bedarf, aber von der beſonderen Begabung oder Fähigkeit, das Schöne
ſchöpferiſch hervorzubringen, noch wohl zu unterſcheiden iſt. Man kann
dieſe Phantaſie die paſſive nennen; ſie iſt ein Sinn, das Schöne zu fin-
den, aber nicht zu erzeugen. Allerdings iſt auch dieſes Finden, wie wir
nun eben darzuthun haben, ein Erzeugen und nimmermehr blos paſſiv,
aber verglichen mit der Phantaſie des ſpezifiſch begabten Subjects doch ein
bloßes Aufnehmen. Sie enthält Alles auch in ſich, was die Phantaſie als
beſondere Gabe Einzelner enthält, aber in ſtumpferer und ungeſammelter
Weiſe, und ebendaher freilich auch nicht alle Momente in gleichem Maaße,
daher wir auch in dieſer Abtheilung dieſe Momente noch nicht zergliedern.
Es iſt durchaus nothwendig, dieſe allgemeine Form der Phantaſie voran-
zuſchicken, welche das Schöne nur gelegentlich anſchaut, wo und wann es
gegeben iſt, in welcher die Acte, die zur freien Erzeugung des Schönen
gehören, noch nicht in klarer Scheidung hervortreten, dieſe Gabe, das Ur-
bild der Dinge im Bilde zu ſchauen, die dem Menſchengeſchlechte gemein-
ſam iſt, weil es ſelbſt in der Mitte und dem Schooße des Alls wurzelt
und daher einen Blick hat in das Centrum des Lebens, dieſen „tief ver-
borgenen, allen Menſchen gemeinſchaftlichen Grund der Einhelligkeit in
Beurtheilung der Formen, unter denen ihnen Gegenſtände gegeben werden“
(Kant Krit. d. äſth. Urtheilskraft §. 17). Sobald man nämlich ſich darauf
einläßt, die Phantaſie in ihrem ganzen Thun als beſondere Gabe zu zer-
gliedern, ſo bewegt man ſich von der Anſchauung auf geradem Wege bis
zum Ideal, welches dann weiter fort zu ſeiner Verwirklichung in der Kunſt
drängt; man verläßt alſo Schritt für Schritt den Punkt, wo die Natur
angeſchaut wird, als wäre das Schöne in ihr wirklich gegeben. Iſt das
Ideal fertig, ſo iſt keine Täuſchung darüber mehr möglich, wo es zu ſu-
chen ſey. Dagegen die Phantaſie als allgemeine Gabe bringt es nicht
zum vollendeten (inneren) Ideale und bleibt dabey ſtehen, das Schöne in
die Natur hineinzuſchauen; ebendieß aber iſt es ja, was die Lehre von
der Phantaſie zuerſt zu erklären hat. Es liegt darin eine petitio principii:
wir ſehen Schönes in der Natur weſentlich vermittelſt des Ideals, das
wir zur Anſchauung mitbringen, und: wir erzeugen das Ideal erſt im
[301] Anſchauen eines gegebenen Gegenſtandes, den wir unbewußt zum ſchönen
umbilden; wir finden das Schöne und wir tragen es in uns. Dieſe
petitio principii nun iſt erſt dann ein unmöglicher Widerſpruch, wenn von
dem ganzen und vollen Ideale die Rede iſt, das ſich freilich nicht mehr
mit einem in der Natur gegebenen Objecte verwechſeln läßt; das noch un-
reife Ideal aber, deſſen Grenzlinien nicht zur klaren Scheidung gelangen,
erzeugt ſich je bei Gelegenheit in einer Wechſelwirkung zwiſchen Finden
und Schaffen; die Möglichkeit deſſelben liegt im Subjecte des Anſchauen-
den, die Anſchauung befruchtet ſie und in einem ungeſchiedenen Acte legt
ſich das Subject mit ſeinem Innern in den Gegenſtand, den es mit dem
Urbilde verwechſelt. Die Phantaſie als beſondere Gabe kehrt natürlich
auf dieſen allgemeinen Boden der dunkleren Verſchlingung des Urbilds
mit vorgefundenen Objecten, wovon auch ſie ausgeht, zurück, wenn ſie
gelegentlich Naturſchönes einfach genießt, aber ihr eigentliches Thun erhebt
ſich darüber in das freie, bewußte Schaffen.


Die erſte Aufgabe nun iſt die Auflöſung des Naturſchönen. Abſicht-
lich wird hier empiriſch begonnen und im gegenwärtigen §. Solches geſagt,
was freilich obenhin Jeder weiß, was aber als Reſultat und als wirk-
liche Erfahrung etwas Anderes iſt. Wir kommen von der drückenden Be-
obachtung her, daß es eine Linie der Civiliſation gibt, welche zur Linie
der Schönheit gerade im umgekehrten Verhältniſſe ſteht. Zwar iſt es nicht
die ächte Menſchenbildung, welche alle anſchauliche Fälle des Daſeins ab-
ſtreift, aber Jahrhunderte ſind mit jener halben und auflöſenden, welche
als Uebergangsform allerdings auch nothwendig iſt, vollauf beſchäftigt.
Die Silberblicke des Schönen in der Geſchichte ſind daher wirklich ſelten,
und ſo ſind ſie es in der ganzen Welt des Naturſchönen. Raphael klagt
in dem bekannten Briefe mitten im Lande der Schönheit über carestia di
belle donne
[und] nicht alle Tage findet ſich in Rom ein Modell wie die
Vittoria von Albano zur Zeit Rumohrs. „Das letzte Product der ſich
immer ſteigernden Natur iſt der ſchöne Menſch. Zwar kann ſie ihn nur
ſelten hervorbringen, weil ihren Ideen gar viele Bedingungen
widerſtreben
“ u. ſ. w. (Göthe: Winkelmann). Jedes Lebende hat
unzählige Feinde. Der Kampf mit ihnen kann erhaben oder komiſch ſeyn;
aber der Zufall, wo ſich in der gegebenen Einheit der vorliegenden An-
ſchauung das Häßliche in dieſes oder jenes aufhebt, iſt ebenfalls ſelten.
Wir ſtehen im Leben und ſeinem unendlichen Zuſammenhang. Das Na-
turſchöne iſt daher weſentlich lebendig, und es wird dadurch auch nach
ſeiner Auflöſung in eine vermittelte, geſicherte Form ſeinen Werth behaup-
ten, aber es wird in jenem Zuſammenhang von allen Seiten geſtoßen und
gerieben, denn die Natur ſorgt für Alles zugleich und iſt auf Erhaltung,
aber nicht auf Schönheit als ſolche bedacht. Im Schönen ſtellt eine ein-

20*
[302]zelne Erſcheinung zunächſt ihre Gattung und durch dieſe das Ganze der
abſoluten Idee dar. Sie tritt dadurch aus dem unendlichen Zuſammen-
hang heraus, iſt ein Ausſchnitt derſelben, der jetzt für das Ganze gilt.
Im breiten, großen Zuſammenhange des unendlich ausgedehnten Ganzen
ſelbſt ſcheint es zunächſt, als ob in ſeltenen Fällen ein Einzelnes die Feinde,
die ſich auf ſeine Koſten erhalten wollen, den Druck der Geſammt-Ab-
hängigkeit ſo abſchütteln könne, daß es für alle Andern ſtehe, die Fülle des
Alls in ſich zeige, demnach wirklich ſchön ſey. Dieſen Schein nun engen
wir jetzt zunächſt nur auf einen immer kleineren Punkt ein. Sorgt die
Natur für Erhaltung und nicht für Schönheit als ſolche, ſo liegt ihr auch
nichts daran, das ſeltene Schöne, dem ſie Daſein gönnt, feſtzuhalten; das
Leben geht weiter und fragt nicht nach dem Untergang der Geſtalt oder
erhält ſie nur nothdürftig. „Die Natur arbeitet auf Leben und Daſein,
auf Erhaltung und Fortpflanzung ihres Geſchöpfes, unbekümmert, ob es
ſchön oder häßlich erſcheine. Eine Geſtalt, die von Geburt an ſchön zu
ſein beſtimmt war, kann durch irgend einen Zufall in Einem Theile ver-
letzt werden; ſogleich leiden andere Theile mit. Denn nun braucht die
Natur Kräfte, den verletzten Theil wieder herzuſtellen und ſo wird den
übrigen etwas entzogen, wodurch ihre Entwicklung durchaus geſtört wer-
den muß. Das Geſchöpf wird nicht mehr, was es ſein ſollte, ſondern
was es ſein kann.“ (Göthe zu Diderot). Merklicher oder unmerklicher
gehen die Verletzungen fort, bis das Ganze aufgerieben iſt. Raſche Ver-
gänglichkeit iſt die Klage, die alles Naturſchöne umſchwebt. Nicht nur die
ſchöne Beleuchtung einer Landſchaft, auch die Blüthe des organiſchen Le-
bens iſt ein Moment. „Genau genommen kann man ſagen, es ſei nur
ein Augenblick, in welchem der ſchöne Menſch ſchön ſei.“ „Nur äußerſt
kurze Zeit kann der menſchliche Körper ſchön genannt werden. Der Au-
genblick der Pubertät iſt für beide Geſchlechter der Augenblick, in welchem
die Geſtalt der höchſten Schönheit fähig iſt; aber man darf wohl ſagen:
es iſt nur ein Augenblick!“ u. ſ. w. (Göthe: Winkelmann und zu Diderot).
Und von dieſem Augenblick ſagt Schelling (Rede über d. Verh. d. bild.
K. z. Natur), in ihm ſei der naturſchöne Gegenſtand das, was er in der
ganzen Ewigkeit ſei. Die menſchliche Schönheit iſt aber weiter zu faſſen;
aus der verwelkten Jugendblüthe erhebt ſich die höhere Schönheit des
Charakters, der in ſeinen phyſiognomiſchen Zügen und ſeinen Handlungen
vor die Anſchauung tritt. Allein auch dieſe Schönheit iſt flüchtig; denn
dem Charakter iſt es um den ſittlichen Zweck und nicht darum zu thun,
wie ſeine Geſtalt und Bewegung dabei ausſieht. Dieß iſt ſchon in §. 237
ausgeſprochen, dort aber nur, um zu zeigen, warum die ſittlich menſchliche
Menſchheit zum Naturſchönen gehört; jetzt ziehen wir die Folge da-
raus zur Auflöſung des Naturſchönen, die wir allerdings vorerſt nur als
[303] Flüchtigkeit faſſen. Bald iſt die Perſönlichkeit vom vollen Bewußtſein
ihres ſittlichen Zweckes erfüllt, erſcheint ganz als ſie ſelbſt und iſt ſchön
im tiefſten Sinne des Worts; bald aber treibt ſie etwas, was nur mittel-
bar zum Zwecke gehört und wobei ihr Ausdruck nicht ihren wahren Ge-
halt zeigt, bald gar etwas, was ihr nur die Noth des Lebens aufzwängt,
wobei unter Gleichgültigkeit und Verdrießlichkeit aller höhere Ausdruck
verſchüttet liegt. So iſt es aber in allen Bewegungen, Thätigkeiten,
mögen ſie dem ſittlichen Gebiete angehören oder nicht. Jetzt lebt Alles
an dieſem Pferde, die Ohren ſind geſpitzt, der Hals richtet ſich auf und
biegt ſich ſchlank, wie belebter Stahl, die Nüſter ſchnauben, die Augen
ſprühen Feuer, die Füße tanzen, der Schweif wallt hoch getragen; im
nächſten Augenblick läßt es Alles hängen. Dieſe Gruppe kämpfender
Krieger bewegt und baut ſich, als wäre ſie vom flammenden Kriegsgott
befeuert, aber im nächſten Augenblicke iſt ſie zerſtoben oder werden die
Bewegungen unſchön, rafft fernes Geſchoß den Muthigſten weg. Dieſe
Krieger ſind ja kein tableau vivant; ſie ſtehen nicht unſerem Auge Modell,
was ſie wollen, iſt der Kampf, nicht ſeine Erſcheinung. So ſehr iſt das
Nichtgewolltſein Weſen des Naturſchönen, daß nichts widerlicher iſt, als
wenn in ſeiner Sphäre eine Abſicht auf das Schöne als ſolches ſichtbar iſt.
Schönheit, die von ſich weiß und auf die es angelegt, die vor dem Spiegel
einſtudirt iſt, iſt eitel, d. h. nichtig. Die Affectation der Schönheit im
Sein iſt das Gegentheil der wahren Grazie und es wird ſich zeigen, daß
in der Kunſt, welche umgekehrt das Schöne mit Abſicht hervorbringt, dieſe
Unabſichtlichkeit dennoch in doppeltem Sinne ſich fortbehaupten muß: als
Ausdruck der Unabſichtlichkeit eben im dargeſtellten Gegenſtande, denn dieſer
verliert alle wahre Wirkung, wenn man ihm anſieht, daß er auch vor
und außer dieſem Verhältniß zum Zuſchauer es auf dieſe Wirkung berech-
net habe und um ſich wiſſe; ferner als Unabſichtlichkeit in der Abſicht
des Künſtlers ſelbſt, als Einheit des bewußtlos nothwendigen und des
bewußten freien Thuns. Die Zufälligkeit, das Nichtwiſſen um ſich iſt
ſo ſehr zwar der Todeskeim, aber auch der Reiz des Naturſchönen, daß
in der Sphäre, wo Bewußtſein iſt, das Schöne in dem Momente zu
Grund geht, wo es geſehen wird, wo man ihm ſagt, daß es ſchön ſei,
wo es ſich im Spiegel ſieht. Sobald die Naturvölker von der modernen
Civiliſation entdeckt werden, iſt es aus mit ihrer Naivetät; ihre Volks-
lieder verſchwinden, wenn man ſie ſammelt, ihre Tracht kommt ihnen weit
nicht ſo ſchön vor, wie der kokette Frack des Malers, der ſie um jene
beneidet und gekommen iſt, ſie zu ſtudiren; nimmt die Civiliſation ſie
auf und ſucht ſie zu befeſtigen, z. B. als Uniform, wie die ungariſche,
bergſchottiſche Tracht, ſo nützt das nichts, ſie iſt bereits Maſke geworden
und das Volk ſelbſt gibt ſie auf; die treuherzige Sitte, das Du in der
[304] Anrede u. ſ. w. geht ebenſo zu Grunde oder dauert als widerliche
Affectation fort.


§. 380.

1

Allein die Gunſt des Zufalls iſt nicht nur ſelten und flüchtig, ſie iſt
überhaupt nur relativ: der trübende Zufall (§. 40) iſt, ſobald hinter das Ver-
klärende, was durch Ferne des Raums und der Zeit ſchon in der gewöhnlichen
Wahrnehmung liegt, zurückgegangen und die Sache genauer beſehen wird, nur in
größerem Maaße überwunden; er wirft nicht blos in eine ſcheinbar ſchöne Zuſam-
menſtellung mehrerer Gegenſtände, unwiſſend um die Schönheit des Ganzen,
das Störende, ſondern er erſtreckt ſich auch auf den einzelnen begünſtigten Ge-
genſtand und es verbirgt ſich nicht, daß er in Wahrheit allgemein herrſcht,
2Daß es ſich aber zuerſt verbarg, dieß muß ſeinen Grund in einer zweiten.
Gunſt des Zufalls haben, nämlich in der glücklichen Stimmung, wodurch das
Subject fähig war, den Gegenſtand unter den Geſichtspunkt der reinen Form
(§. 54. 55. 75) zu rücken. Zunächſt ruft der Gegenſtand ſelbſt durch die
obwohl nur relative Reinheit vom ſtörenden Zufall dieſe Stimmung hervor.


1. Wir fahren in der Auflöſung des Naturſchönen rein empiriſch
fort, denn wir haben nur einen Schein aufzuheben, deſſen Grund wo
anders liegt. Das Naturſchöne darf man nur näher anſehen, um ſich
zu überzeugen, daß es nicht wahrhaft ſchön iſt; es liegt am Tage, daß
wir uns eine offenbare Wahrheit bisher nur verborgen haben. Dieſe
Wahrheit iſt, daß der ſtörende Zufall nothwendig überall herrſcht. Nicht
wir haben zu beweiſen, daß er durchgängig über Alles ſich erſtreckt, ſondern
nur das Gegentheil wäre zu beweiſen, daß und wie nämlich im unend-
lichen Zuſammenſein der Dinge irgend eines ſich den Störungen, Bedürf-
tigkeiten, Verletzungen, all’ der Noth und Abhängigkeit des Lebens entziehen
könne. Zu erforſchen iſt nur, woher denn dann der Schein komme, als ob
Einiges davon eine Ausnahme mache, und dieſes werden wir im Ver-
laufe leiſten. Dieſe Aufzeigung muß eine ſubjective ſein, ſie muß den
Grund im Geiſte aufſuchen, ſie muß darthun, warum und nach welchem
Geſetze dieſer der frei erzeugten Schönheit den Schein einer erſten,
unmittelbaren, vorgefundenen, voranſchickt. Zunächſt alſo iſt nur einfach
aufzuzeigen, daß dieß bloßer Schein iſt. Einige ſchöne Gegenſtände ſind
Einheit und Zuſammenordnung mehrerer, und da wird ſich bei genauerer
Betrachtung immer finden, zuerſt, daß wir dieſe Gegenſtände in ſolcher
Zuſammenſtellung nur ſehen, weil wir einen beſtimmten Standpunkt zu-
fällig eingenommen oder unbewußt (denn von eigentlich künſtleriſcher
Abſicht iſt noch nicht die Rede) geſucht haben. So namentlich die Land-
[305] ſchaft. Dieſe Flächen, Berge, Bäume wiſſen nichts von einander, es kann
ihnen nicht einfallen, ſich zu einem wohlgefälligen Ganzen vereinigen zu
wollen: in dieſer Verſchiebung, dieſen ſich zuſammenbauenden Umrißen
und Farben ſehen wir ſie nur, weil wir hier und nicht wo anders ſtehen.
Aber auch ſo werden wir da einen Buſch, dort einen Hügel finden, der
dieſe Zuſammenſtellung ſtört, dort wird eine Erhöhung, ein Schatten feh-
len und wir werden uns geſtehen müſſen, daß ein inneres Auge heimlich
thätig war, umzuſtellen, zu ergänzen, nachzuhelfen. Ebenſo in einer
Handlung mehrerer belebter Weſen. Eine Scene iſt vielleicht voll Be-
deutung und Ausdruck, allein die Gruppen, die weſentlich zuſammen ge-
hören, ſind über trennende Räume zerſtreut; daſſelbe innere Auge über-
ſpringt dieſe, ſtellt zuſammen, was zuſammen-, ſtößt aus, was nicht
hineingehört. Andere ſchöne Gegenſtände ſind einzeln; da verzichten wir
auf Schönheit der Umgebung, wir laſſen ſie ſchon im Anſchauen weg,
wir vollziehen einen Act, wodurch wir ſie von jener abheben, wie von
einer Wand, einem Hintergrund, und zwar zunächſt ohne Bewußtſein und Ab-
ſicht; tritt ein ſchönes Weib in eine Geſellſchaft, ſo fallen aller Augen
mit Erſtaunen auf ſie, man ſieht jetzt alle übrigen Perſonen und Gegen-
ſtände nicht oder nur als ihre Folie. Allein nun müſſen wir den einzelnen
Gegenſtand näher anſehen und zwar ſowohl im letzteren Falle, wo er
allein Object der Schönheit iſt, als auch im erſteren, wo wir mehrere
zuſammen als ſchön anſchauen. Da wird ſich denn an der Oberfläche
des einzelnen Gegenſtandes dieſelbe Erfahrung wiederholen, wie dort,
wo mehrere vereinigt den Gegenſtand bilden: zwiſchen ſchönen Theilen
werden ſich unſchöne finden und zwar an jedem, auch dem ſcheinbar ſchön-
ſten Gegenſtande. Glücklicher Weiſe iſt unſer Auge kein Mikroſkop, ſchon
das gemeine Sehen idealiſirt, ſonſt würden die Blattläuſe am Baum,
der Schmutz und die Infuſorien im reinſten Waſſer, die Unreinheiten der
zarteſten menſchlichen Haut uns jeden Reiz zerſtören. Wir ſehen nur bei
einem gewiſſen Grad von Entfernung. Die Ferne aber iſt es eben,
welche ſchon an ſich idealiſirt; nicht nur das Unreine der Oberfläche ver-
ſchwindet durch ſie, ſondern überhaupt die Einzelnheiten der Zuſammen-
ſetzung des Körpers, wodurch er in die irdiſche Schwere fällt, die gemeine
Deutlichkeit, welche die Sandkörner zählt; ſo übernimmt ſchon die Operation
des Anſchauens an ſich einen Theil jener Ablöſung und Erhebung in die
reine Form (§. 54. 55). Wie die Raumferne, ſo wirkt die Zeitferne;
Geſchichte und Gedächtniß überliefern uns nicht alle Einzelnheiten eines
großen Vorganges oder Mannes; wir erfahren nicht alle ſchleppenden
Vermittlungen und nicht alle Schwächen, kleinen Nebenmotive der großen
Erſcheinung, nicht was Alles vorausgehen muß bei einer großen Schlacht,
die Waffen- und Munitionsbeſtellung u. ſ. w., nicht, wie groß
[306] Menſchen zwiſchen dem Großen, was ſie thaten, mit Aus- und Ankleiden
Eſſen, Trinken, Katarrh u. ſ. w. Zeit verloren. Dieß Verdämmern des
Kleinen und Störenden genügt jedoch nicht; trotz demſelben drängen ſich
der irgend aufmerkſameren Betrachtung auch am ſcheinbar ſchönſten Ge-
genſtande ſehr ſichtbare kleinere und größere Bildungsfehler auf. Wären
alſo z. B. an einer menſchlichen Geſtalt auch alle die ſtörenden Zufällig-
keiten der Oberfläche nicht, die zu einem guten Theile ſchon im einfachen
Sehen das Auge verzehrt, ſo drängt ſich doch in den Grundformen irgend
eine Verletzung des Verhältniſſes überall auf. Man ſehe nur ein Gyps-
modell über die Natur abgezogen, ganze Figur oder Maſke, ſo wird dieß
ſchlagend einleuchten. Rumohr hat in der einleitenden Abh. zu ſ. ital.
Forſchungen bei aller Feinheit des praktiſchen Kunſtſinns eine ungemeine
Verwirrung in allen hieher gehörigen Begriffen angerichtet; wir haben
ſoweit auf die Sache einzugehen, als wir hier die einfachen Beſtimmungen
entwickeln, durch welche ſich der Streit über Naturnachahmung ſelber löſen
ſoll. Rumohr will den falſchen Idealiſmus der Kunſt, welcher die Natur
in ihren reinen und bleibenden Formen verbeſſern will, in ſeiner Nichtig-
keit aufweiſen. Gegen ihn führt er mit vollem Rechte und ächter Wärme
des Naturgefühls aus, daß die Kunſt die unveränderlichen Naturformen
nicht verrücken dürfe, daß dieſe nothwendig und ſchlechthin für ſie gegeben
ſeien, daß verfehlte Formen, Abweichungen von den Naturgeſetzen jeder-
zeit als etwas „Ungethümliches, Leeres oder Schauderhaftes“ erſcheinen.
Allein nun fragt es ſich erſt, ob die Grundformen, ihre ewige Geltung
natürlich vorausgeſetzt, ſich in der Natur auch wirklich in reiner Ausbildung
vorfinden. Darauf antwortet Rumohr, man müſſe nur wohl unterſcheiden,
was Natur ſei. Nicht das Einzelne, was der Zufall biete, z. B. nicht
das einzelne Modell ſei die Natur, ſondern die Geſammtheit der lebendigen
Formen, die „Geſammtheit des Erzeugten, ja die zeugende Grundkraft
ſelbſt.“ An ſie müſſe ſich der Künſtler mit abſichtsloſer Wärme hingeben
und unabhängig von einzelnen Vorbildern immer umherſchauen. Ganz
gut, und eben dieſe „Geſammtheit“ iſt die Idee der Natur; in dieſer
Idee, als dem Ganzen, iſt die Idee des einzelnen Naturweſens, wie es
zeitlos und mangellos lebt, eingeſchloſſen, und ſo vermittelſt der Idee des
Ganzen in die einzelne Erſcheinung ihr wahres Urbild, ungetrübt von
den Störungen der Einzelnheit, Hinein- oder aus ihr Heraus-Schauen:
dieß iſt es, was der wahre, der ächte Idealiſmus verlangt. Dieſer „ver-
beſſert“ die Natur nicht in dem verwerflichen Sinn, den Rumohr mit
dieſem Worte verbindet; oder er verbeſſert ſie nur mit ſich ſelbſt, er appellirt
von der getrübten Natur an die ewige Natur und bringt ſo „die Typen
der Natur in ihrem urſprünglichen und eigenen Sinne in Anwendung.“
Soweit könnte man Alles für Wortſtreit, Rumohrs Widerwillen gegen
[307] das Wort Ideal und ſelbſt Schönheit für das begreifliche Gefühl des
ächten Naturſinns gegen den falſchen Idealiſmus der Manieriſten erklären,
welcher „willkührliche, aus der Luft gegriffene, der Natur im Einzelnen
entgegengeſetzte Formen hervorzubringen ſucht und an den Werken des
größten und älteſten Meiſters en ronde bosse und basso rilievo Altflickerei
treibt.“ Allein Rumohr widerſpricht ſich ſelbſt und geräth in Vorſtellungen,
aus welchen man geradezu den Naturaliſmus, den er doch wie jenen
Idealiſmus verfolgt, ableiten könnte. Sein Satz, daß „ſchon die Natur
durch ihre Geſtalten Alles unübertrefflich ausdrücke,“ wird nämlich ganz
gefährlich, wenn er gegen die obige Unterſcheidung geradezu auch auf
die einzelne Erſcheinung angewandt, wenn behauptet wird, es gebe voll-
kommene Modelle, wie denn jene Vittoria von Albano, welche eine Frei-
frau von Rheden nach Rom brachte, „alle Kunſtwerke Roms übertroffen,
den nachbildenden Künſtlern durchaus unerreichbar geblieben ſein ſoll.“
Darauf ließen wir es ohne Furcht ankommen, daß keiner der Künſtler,
welche dieſes Modell benützten, alle Formen brauchen konnte, wie er ſie
fand, denn dieſe Vittoria war eine einzelne Schönheit, und das genügt.
Das Individuum kann nicht abſolut ſein, wehr brauchen wir nicht zu
wiſſen. Wären aber auch alle Grundformen an ihr vollkommen geweſen,
ſo war Blut, Wärme, Gährung des wirklichen Lebens mit all’ den trüben-
den Einzelnheiten, die ſie nothwendig auf der Oberfläche abſetzen, hin-
reichend, ſie unendlich hinter die hohen Kunſtwerke zu ſetzen, welche nur
ſcheinbar Blut, Wärme, Hautleben u. ſ. w. haben. Wenn hier Rumohr
nicht weiß, daß er naturaliſtiſch ſpricht, ſo ſteht er dagegen in andern
Wendungen ganz auf der Seite eines falſchen Idealiſmus, wovon anderswo
zu ſprechen iſt.


2. Es liegt alſo ein Gegenſtand vor, der zu den ſeltenen Erſchei-
nungen der Schönheit gehört. Dieſer Gegenſtand iſt, wie die nähere Be-
trachtung zeigt, nicht wahrhaft ſchön, ſondern nur dem Schönen näher, vom
ſtörenden Zufall freier, als andere. Das Reinigende, was ſchon in der Opera-
tion des ſinnlichen Anſchauens liegt, kommt ihm zu gute, aber dieß kommt
ebenſo allen Erſcheinungen, auch den gewöhnlichen, zu gute. Es iſt daher
bereits klar, daß auch eine Gunſt des Zufalls im Subjecte eintreten müſſe,
um die wichtigere Hälfte, welche jene durch die Sinne nur halb und un-
vollſtändig vollzogene Verklärung übrig gelaſſen, zu übernehmen. Nennen
wir dieß zunächſt ein Glück der Stimmung. Der Zuſchauer findet ſich
in die Freiheit des Gemüths verſetzt, den Gegenſtand als reine Form
zu betrachten und vom pathologiſchen Intereſſe (§. 75) ſich loszuſagen.
Es fragt ſich, ob dieſe Gunſt der Stimmung aus anderweitig im Subject
liegenden Urſachen eintreten könne und dann, wenn relativ Schönes dem
ſo Geſtimmten begegnet, dieſem nachhelfe und es zum wahrhaft Schönen
[308] erhebe, oder ob dieſer ſubjective Zufall aus dem objectiven folge, d. h.
ob es die mächtige Wirkung des Gegenſtandes ſei, welcher durch das
Maaß der Bedingungen der Schönheit, das er jedenfalls wirklich hat,
uns ſo erhebe, daß wir, was ihm noch fehlt, in der Freude des Schauens
ergänzen. Für Jenes ſpricht die Thatſache daß dem ſchlecht Geſtimmten
Alles häßlich ſcheint; für Dieſes die andere, daß eine ſchöne Natur-Er-
ſcheinung auch den Verſtimmten umzuſtimmen fähig iſt. Allein das
Dilemma löst ſich einfach ſo: iſt die zweite Thatſache wahr, ſo iſt die
erſte aus Urſachen zu erkären, um die ſich die Aeſthetik nicht zu kümmern
hat, denn eine Fähigkeit des Gemüths, ſich dem Schönen auch bei vor-
handener Verſtimmung zu öffnen, muß und darf ſie ebenſo gut vor-
ausſetzen, als wir vorausſetzen, daß die Zunge nicht belegt ſei, wenn
wir Jemand ſagen, er werde einen Trank ſüß finden. Eine völlige
Lähmung des freien Sinns mag möglich ſein, geht uns aber nichts an.
Wir dürfen jedoch die erſte Thatſache nicht blos negativ ausdrücken; es liegt
auch der poſitive Fall vor, daß das Subject zu einem (relativ)
ſchönen Gegenſtande die freie Stimmung, die ihn zum wahrhaft ſchönen
erhebt, ſchon mitbringt; dieſe Stimmung wird aber einem ſchon früher
geſchauten ſchönen Gegenſtande ihren Urſprung verdanken. Dieß müſſen
wir annehmen, denn nicht jede gute Stimmung, ſondern die ſpezifiſch
äſthetiſche iſt es, wovon wir reden. Zuſtand des Sinnenglücks, moraliſche
Erhebung, Erkenntnißfreude iſt es gar nicht, was uns zur Aufnahme des
Schönen, wo es begegnet, unmittelbar ſtimmt; im Gegentheil muß dann
das begegnende Schöne erſt auf uns wirken, um uns aus jener fremd-
artigen Erhebung in die eigenthümliche äſthetiſche herüberzuziehen. Der
Geiſt kann ſich aus freiem Entſchluß auf das Gute, auf das Wahre
richten; um ſich aber in die äſthetiſche Stimmung zu wenden, dazu braucht
er einen Anſtoß in einem Vorgefundenen, darum weil Sinnlichkeit und
Zufälligkeit das Element dieſes Gebiets iſt. Es iſt von der größten
Wichtigkeit, feſtzuhalten, daß es einen ſchönen Gegenſtand braucht, uns
in die Stimmung verſetzen, die denſelben über das relative Maaß des
Schönen, das ihm eigen iſt, in das volle erhebt. Die ganze weitere
Entwicklung gründet ſich darauf. Wir gerathen ohne dieſe Erkenntniß
nothwendig in falſchen Idealiſmus, denn wir müſſen ohne ſie ſo fort-
fahren: das Subject iſt äſthetiſch geſtimmt und ergreift nun irgend einen
Gegenſtand, um ihn in die Schönheit zu erheben. Dann bringen wir
das Subject und Object nicht zuſammen; jenes wird ſeine äſthetiſche
Stimmung in irgend einen Gegenſtand legen, der nun ganz anderer
Art und andern Gehalts ſein kann, als jene Stimmung; daraus folgt
ein äußerliches Verhältniß zwiſchen Gehalt und Bild, Allegorie und ihr
ganzes Gefolge. Nein: dieſer Gegenſtand hat mich berührt und dieſen
[309] verkläre ich durch meine Stimmung zur vollen Schönheit. Iſt dieß ge-
ſchehen, ſo iſt dieſe Form der Stimmung zu Ende, die Erregbarkeit dauert
aber fort. Dieß kommt einem neuen Gegenſtande, der mir begegnet,
zu gute, aber auch dieſer muß mir ein (relatives) Maaß des Schönen
entgegenbringen, die Stimmung ergreift auch ihn, verklärt ihn, aber wieder
nur in ſeiner Weiſe, ſeiner Natur gemäß, und ſo befinden ſich freilich
oft Dichter und Künſtler in einer Periode beſonders glücklicher Stimmung,
die in ſprudelnder Ergiebigkeit eine Reihe von Gegenſtänden erfaßt und
zur Schönheit bildet. Alſo ein Naturſchönes ergreift das Subject, weckt
die Stimmung in ihm und dieſe Stimmung macht freilich mehr aus dem
Gegenſtande, als er an ſich iſt; der Anfang iſt objectiv, der Fortgang
ſubjectiv; das Naturſchöne iſt nicht wahrhaft ſchön, aber es muß da
ſein
, um im Subjecte das zu wecken, was wahre Schönheit ſchafft;
ſo erhält es ſich ſchlechtweg in ſeiner Auflöſung und es wird bereits klar,
warum wir den Schein, als gebe es in der Natur wahrhaft Schönes,
ſo lange beſtehen ließen. Das Subject iſt ein Spiegel, der ſchaffend den
Gegenſtand in neuer Schönheit zurückgiebt, aber es muß einen Ge-
genſtand haben, es vollzieht dieſe Spieglung nur, wenn es von der
Täuſchung anfängt, der Gegenſtand ſelbſt ſei ſo ſchön, wie das Spiegel-
bild, und dieſe Täuſchung muß — hier ſtehen wir zunächſt noch —
ſoweit im Object Grund haben, als dieſes wirklich ungleich reiner iſt vom
trübenden Zufall, als der übrige Umkreis der Anſchauung.


§. 381.

So lange jedoch die ſubjective Stimmung nur erſte Wirkung des objecti-1
ven Zufalls iſt, wird ſie ebenſowenig rein ſein, als der Gegenſtand wirklich
vollkommen iſt, vielmehr (insbeſondere im Komiſchen) mit Stoffartigem ſich
vermiſchen. Soll ſie wirklich rein und frei den Gegenſtand ergreifen und ver-
2
klären, ſo muß vielmehr dieſer bereits etwas im Subjecte geweckt haben, was
über jedes einzelne Object als ein freier, obwohl durch dieſes in Thätigkeit
geſetzter Act unendlich hinausgeht, und dieſer Act muß ein inneres Bild des
Gegenſtandes ſchaffen, welches wirklich reine Form iſt, in den Gegenſtand hin-
eingelegt wird, mit ihm verſchmilzt.


1. Der Gegenſtand iſt alſo in Wahrheit nicht frei von den trübenden
Einwirkungen des Zuſammenſeins ſeiner Gattung mit allen andern Gat-
tungen in Einem Raum und Einer Zeit. So lange nun die Stimmung
des Anſchauenden ſein einfacher Reflex iſt, kann ſie ebenſowenig rein
und frei ſein; denn das Subject ſteht ebenſo wie der Gegenſtand im Ge-
dränge des Einzelnen und bringt in dieſer Abhängigkeit jeden Gegenſtand
[310] in die Beziehung des Intereſſe’s, verhält ſich alſo pathologiſch. In dem
Grade zwar, in welchem der Gegenſtand ſich über das Umgebende erhebt,
wird auch die Stimmung verhältnißmäßig frei ſein, aber keineswegs ganz:
es iſt hier die Sphäre der halb äſthetiſchen, halb ſtoffartigen, perſönlichen,
leidenſchaftlichen Beziehungen, wie z. B. bei dem Anblick weiblicher Schön-
heit, welcher dem lebendigen Weibe gegenüber nie ganz frei von ſinnlichem
oder überhaupt individuellem Wunſche iſt, oder bei einem Schauſpiel ſitt-
licher Handlung, wo die Unruhe der Privatleidenſchaft, der Tendenz, der
Standpunkt des Sollens, der Wunſch, Theil zu nehmen und zu verändern,
ſich ſtets in die reine Beſchauung einmiſcht, ſtatt daß wir den Gegenſtand
uns frei gegenüberſtellen. Stoffartig iſt ja auch das ſittliche Intereſſe
vergl. §. 76. Insbeſondere iſt es das Komiſche, was in dieſem Stadium
ſich breit ausdehnt und ſtoffartige Einmiſchungen feſthält, aus welchen
eine ganze Reihe von Formen anhängender Schönheit hervorgeht, welche
dann gemiſchte Kunſtzweige begründen. Zu §. 227 wurde dieſer Punkt
vorläufig berührt. Es handelt ſich hier um den großen Unterſchied von
Lachen und Verlachen oder Auslachen (vergl. auch Leſſing Hamb. Dram.
Nr. 28). Das Verlachen iſt ein Lachen, wobei der Zuſchauer nicht ſich
ſelbſt in den Widerſpruch als einen allgemeinen miteinſchließt, ſondern
ſein Ich zurückbehält, ſei es egoiſtiſch aus und mit Schadenfreude, ſei es
moraliſch mit dem Stachel des Haſſes gegen das Verkehrte, wobei aber
ein Zug von Egoiſmus ebenfalls im Hintergrunde ſitzt. Welche Form
des Witzes in der Darſtellung dieſer Stimmung angewandt werden mag,
es wird durch dieſes ſtoffartige Verhalten jede zum Spott, der ſich bis
zum Hohn ſteigern kann. Als feine Zerreibung (Durchhechlung) einer
einzelnen Perſönlichkeit heißt der Spott Perſiflage: eine Form, die wir
daher nicht wie Ruge unter denen der eigentlichen Komik aufführen konnten.
In der Kunſt werden wir dieſe ſtoffartige Komik als Karikatur und
Satyre auftreten und ihren relativen Werth behaupten ſehen.


2. Der Umwandlungsprozeß, der das Object aus dem trübenden
Zuſammenhang heraushebt und als abſolutes Individuum, in welchem
alle Kräfte der Gattung geſammelt ſind, hinſtellt, kann alſo nicht mehr
bloßer Reflex des Gegenſtandes ſein, denn er iſt activ und macht aus die-
ſem etwas, was es an ſich nicht iſt. Er kann eben daher nicht blos Stimmung,
ſondern muß ein Bilden ſein und zwar ein inneres, das ſich in den äußern
Gegenſtand legt und ihn umſchafft, ohne noch das Geſchaffene und das
Empfangene zu ſcheiden. Dieſes Thun iſt ſchlechthin mehr, als Reflex
des Gegenſtandes, aber es ſetzt dieſen voraus; wir müſſen hier aber-
mals dieſen Anfang ſtreng feſthalten, wollen wir nicht in die Willkühr
eines objectloſen Thuns gerathen. Die freieſte Schöpfung kann aus einem
bedeutungsloſen Object nichts machen; das Object wird darum, weil es
[311] einer Umwandlung unterliegt, niemals gleichgültig; das innere Bilden
kann nimmermehr aus Häßlichem einfach Schönes, ſondern nur aus furcht-
bar Häßlichem ein vollendetes furchtbar Häßliches, aus unſchädlich Häß-
lichem ein komiſch Häßliches u. ſ. w. machen, es kann nur immer den
Gegenſtand innerhalb ſeiner eigenen und gegebenen Natur über ſich ſelbſt
und das Störende, was ihm noch anhängt, erheben. Vergl. §. 236 Anm. 3.


§. 382.

Das Subject hat alſo die Fähigkeit, zugleich mit der Anſchauung ein1
Bild zu erzeugen, das vorher als Möglichkeit oder Urbild in ihm angelegt
geweſen ſein muß, durch den entſprechenden naturſchönen Gegenſtand im Innern
zur Wirklichkeit gerufen wird und nun als inneres Richtmaaß dieſen umbildet,
das der Idee Gemäße in ihm erhöht und das Ungemäße ausſcheidet, ihn zur
reinen Schönheit erweitert und dem Geiſte überhaupt als das Muſter dient,
durch das er Schönes und nicht Schönes unterſcheidet. In Wahrheit iſt dem-
2
nach das Subject der Schöpfer des Schönen und die geſammte Naturſchönheit
verhält ſich zu dieſer Schöpfung als Object in dem Sinne des Stoffs einer
Thätigkeit, wodurch es in die § 233 geforderte Beſtimmung eintritt.


1. Die Idealbildende Phantaſie ſoll erſt in der folgenden Unterabthei-
lung in ihre Momente auseinandergeſetzt werden, wo ſie denn in beſtimmterer
Scheidung dem naturſchönen Objecte gegenübertritt und wo die Frage
nach dem Vor und Nach erſt ihre Schärfe bekommt. Die allgemeine
Phantaſie tritt noch nicht vom Gegenſtande zurück, um ihn in der Tiefe
zu verarbeiten und in geheimem Schaffen als Ideal wiederzugeben, nur
im Schauen ſelbſt wächſt ihr etwas im Innern, was ſie als Correctiv des
Naturſchönen anwendet, zugleich aber dieſem ſelbſt leiht, ſo daß ſie das Schöne
unbefangen in den Gegenſtand hineinſchaut. Dieſes Correctiv nennt der
§ Urbild; es wird nicht unzweckmäßig erſcheinen, wenn wir dieſen Aus-
druck im Unterſchiede von: Ideal hier ſo brauchen, daß er das unent-
wickelte, noch erſt virtualiter vorhandene reine Schauen bezeichnet. In
Plato’s mythiſchem Ausdruck iſt das innere Schauen des reinen Bildes
der Dinge aus der Präexiſtenz angeboren und das wirkliche, obwohl nicht
lautere, Schöne erinnert die Seele an dieß in einem früheren Daſeyn
Geſchaute, ein freudiger Schrecken ergreift ſie. Das Unrichtige an dieſer
Darſtellung iſt, daß das reine Schauen zum Voraus als etwas Fertiges,
nur Vergeſſenes erſcheint: derſelbe Einwurf, der überhaupt die Lehre von
den angebornen Ideen trifft. Schelling wiederholte im Bruno dieſe my-
thiſche Vorſtellung, ſofern ſie etwas Oertliches hat, nur das Zeitverhält-
niß ſchied er aus; in Gott ſind die zeitlos ewigen Urbilder der Dinge,
[312] unbedingte, mangelloſe, leuchtende Typen; in Gott iſt aber auch der ewige
Begriff des hervorbringenden künſtleriſchen Individuums und dieſer ſein
Begriff iſt in dieſem ewigen Daſeyn mit jenen reinen Urbildern „verknüpft“:
je näher, deſto vollkommener vermag es in den zeitlichen Abbildern der
Dinge ihr zeitloſes Urbild darzuſtellen. Ziehen wir das Mythiſche ab,
was auch hier in der Raumvorſtellung einer zweiten, idealen Welt liegt,
und beſchränken wir die Thätigkeit der Phantaſie nicht auf den Künſtler
im engeren Sinne, ſo bleibt die Wahrheit, daß der menſchliche Geiſt, in
urſprünglicher und unzerſtörbarer Einheit mit den Dingen wohnend, ihr
Inneres muß ergreifen und als freie Möglichkeit über die Verneinungen,
die ihnen die Reibung mit anderen aufdrückt, emporheben, erweitern können.
Den vorzüglich Begabten werden wir durch dieſe Fähigkeit eine zweite
innere Welt ſchaffen ſehen, die allgemeine Phantaſie aber iſt nur je im
gegebenen Falle thätig, an den Grenzen eines angeſchauten Gegenſtands,
welche ihm Noth, Mangel, Abhängigkeit, Krankheit aufgedrückt, zu rütteln,
zu rücken und zu ſchieben und ſo ſein reines Bild in das gedrückte und
getrübte hineinzuſchauen. Sie muß dies vor dem Schauen des wirklichen
Gegenſtands gekonnt haben, aber das Bild ſelbſt wird erſt im Schauen
fertig. Ich ſehe z. B. einen Mann, der auf Schönheit angelegt war, durch
Noth, Mangel, Krankheit entſtellt iſt, aber in der Entſtellung noch Spuren
genug der Schönheit zeigt, um ſich vor andern Geſtalten auszuzeichnen;
dieſe Spuren ergreift mein Geiſt, knüpft an ſie an, und von ihnen als
einem Mittelpunkt herausarbeitend ſtößt er, was Mangel und Noth der
Geſtalt aufgedrückt hat, aus und vollendet ſo zu einem Ganzen, was in
der geſchauten Geſtalt als Möglichkeit lag ünd nicht wirklich geworden iſt:
ich habe mir das reine Jugendbild des Mannes erzeugt. Vorher, ehe ich
den Mann ſchaute, hatte ich dieſes Bild nicht; aber ich ſtamme aus der
Einheit des Lebens, woraus es ſtammt, und mitten in Zeit und Raum —
nicht in einem zweiten Raum und nicht in einer mythiſchen Vorzeit meiner
Seele — ſchaue ich dem Lebendigen, was in Raum und Zeit ſich drückt,
in’s Herz und führe die Lebensfülle, zu der es angelegt war, zeitlos und
raumlos über die Beſchränkungen hinaus, welche ſie in dieſem Druck er-
litten. Ich kenne dieſe Lebensfülle, denn ich und mein Gegenſtand ſind
im Univerſum Ein Weſen. Ich kann zwiſchen den Linien leſen. Es er-
hellt alſo auch, daß es dieſes innere Correctiv iſt, vermöge deſſen ich nicht
nur das gefundene durch ein höheres Maaß von Bedingungen der Schön-
heit Ausgezeichnete in das volle Maaß erhebe, ſondern wodurch ich es
überhaupt finde, von nicht Schönem unterſcheide. Wie in der Wahrheit
der Menſch das Maaß der Dinge iſt, ſo in der Schönheit; nur wer hat,
dem wird gegeben, die Wünſchelruthe iſt nur in uns.


2. Das Naturſchöne iſt jetzt nicht mehr Object blos im bisherigen
[313] Sinne des Gegebenen, Vorgefundenen, ſondern deſſen, worauf, woran ich
thätig bin, ſo daß es mir ein Stoff iſt, den ich umbildend zu dem erſt
ſchaffe, was er ſeyn ſoll: Object der Thätigkeit und durch dieſelbe Ge-
ſchöpf meines Thuns; nicht abſolutes Geſchöpf, denn etwas war gegeben,
ich ſchaffe nicht aus dem Leeren, ich habe einen Stoff, einen ſogar ge-
formten Stoff, aber die Form iſt noch roh, ich ſchaffe ſie zur reinen Form
um. Was Stoff hier bedeute, iſt in der Anm. zu § 233 auseinanderge-
ſetzt. Object in dieſem Sinne nun iſt weſentlich Werk des Subjects,
dieſes alſo als der Schöpfer des Schönen erkannt. „Indem der Künſtler“ —
(dieß kann man aber ſchon von der allgemeinen Phantaſie ausſagen) —
„irgend einen Gegenſtand der Natur ergreift, ſo gehört dieſer ſchon nicht
mehr der Natur an, ja man kann ſagen, daß der Künſtler ihn in dieſem
Augenblick erſchaffe“ (Göthe Einl. in die Propyläen).


§. 383.

Demnach kehrt ſich die Ordnung des bisherigen Syſtems um und auch1
im erſten Theile tritt der Inhalt der Lehre vom ſubjectiven Eindrucke des
Schönen (§ 70 ff. §. 140 ff. § 223 ff.) dem Inhalte der Lehre vom Schönen
ſelbſt voran. Dieß veränderte Verhältniß begründet aber keineswegs eine wirk-
2
liche Umſtellung, denn das Weſen des Schönen fordert ſchlechtweg, daß der
Act, wodurch es entſteht, dieſen erſten Schein, als ob nämlich das Schöne ein
Vorgefundenes ſey, zu ſeiner Grundlage behalte.


1. Vorher ſchien das Naturſchöne, jetzt alſo wird das Schönheit
erzeugende Subject das Erſte, der zweite Abſchnitt tritt vor den erſten, das
Nacheinander des Schönen und ſeines ſubjectiven Eindrucks im erſten
Theile dreht ſich demnach ebenfalls um. Nur meine man nicht, es ſei
dieß in der Lehre vom ſubjectiven Eindruck des Schönen (Erhabenen,
Komiſchen) ſchon da, wo von dem Mitbegriffenſein des Subjects im Ob-
jecte die Rede war, bereits ausgeſprochen und nur die Conſequenz ver-
heimlicht worden (vergl. §. 70). Aus dem folgt die Umkehrung, was in
§. 53—55 von der nothwendigen Zuſammenziehung, dem reinen Schein,
der reinen Form geſagt iſt; was darin ſchon ausgeſprochen war, daraus
das Reſultat zu ziehen wurde hinausgeſchoben. Der andere Satz aber,
daß im Schönen ein Subject überhaupt mitgeſetzt ſei, beließ die Art die-
ſes Mitgeſetztſeins einfach bei einem Aufnehmen, Zuſammengehen des
Subjects mit dem Object. Erſt jetzt faſſen wir dieſen Satz mit jenen
erſten Sätzen zuſammen und erkennen, daß das ſcheinbare Aufnehmen
darum kein bloßes Aufnehmen iſt, weil es reine Form in das Object
hineinſchaut. Auch das Leihen, das Unterlegen menſchlicher Stimmung,
Geſtalt in die ungeiſtige Natur durfte dort ausgeſprochen werden, ohne
[314] die eigentliche Phantaſie zu anticipiren, denn dieſer Act findet ungeläutert
auch vor und außer derſelben Statt, die Phantaſie läutert mit dem Stoffe
dieſen Act ſelbſt.


2. Das Hinausſchieben war, um es hier, am eigentlichen Orte,
noch einmal ſtreng auszuſprechen, ſchlechtweg eine wiſſenſchaftliche Noth-
wendigkeit. Ehe ich das Subject einführe, muß es ſeinen Boden, Stoff,
Ausgangspunkt haben, ich darf es nicht in einen leeren Raum ſtellen, daß
es aus dem Blauen ſtoffloſe Bilder ſpinne. Es iſt Schein, als ſey das
Schöne ein Gegebenes, aber dieſer Schein iſt das Erſte, iſt nothwendig.
Dieſer Schein heißt im § erſter Schein. Das wahrhaft Schöne ſelbſt
nämlich iſt Schein, reiner Schein (ſ. § 54. 55.); zuerſt nun ſcheint es,
als ſey dieſes Scheinweſen ein wirkliches, in der Natur ohne Zuthun des
Subjects vorhandenes: dieß iſt erſter Schein oder Schein des Scheins.
Das ſchaffende Subject bedarf dieſes erſten Scheins, um den zweiten, den
von der Phantaſie frei geſchaffenen Schein darauf zu bauen, daraus zu
entwickeln. Man könnte nun wohl ſagen, die Aeſthetik könne auch ſo aus
dem Subjecte conſtruirt werden, in folgendem Gange nämlich: ausge-
gangen wird von der Phantaſie und zuerſt in abſtract allgemeinen Zügen
ihr Werk, das Schöne, entwickelt, dann wird die ſubjective Nothwendigkeit
abgeleitet, daß ſie ſich zuerſt den Schein entgegentreten laſſe, als ſey das
Schöne ohne ſie in der Natur gegeben, hierauf dieſer Schein aufgelöst
und das freie Schaffen der Phantaſie dargeſtellt. Allein ſo fällt immer
der ganze unentbehrliche Theil aus dem Syſteme weg, der die Reiche der
Welt durchwandelt mit der Frage, wo und unter welchen Bedingungen in
ihr das Schöne (das freilich nie ſchlechtweg ſchön iſt) ſich ausbildet; man
kann dann nie ein Kunſtwerk darauf anſehen, ob es einen günſtigen oder
ungünſtigen Stoff behandle, denn jeder Stoff iſt gleich. Wir haben ſeines
Orts dieſen Hauptpunkt noch einmal aufzufaſſen. Zunächſt berufen wir
uns überhaupt auf den Satz, daß in einem Syſteme dasjenige, was die
Wahrheit des Vorhergehenden iſt, darum nicht vor daſſelbe geſtellt werden
darf. Das Subject iſt uns jetzt das Erſte geworden, das naturſchöne
Object das Zweite, dem Werthe nach nämlich, denn der Zeit nach bleibt
das Object das Erſte, das Subject das Zweite. Das Werthverhältniß
kehrt das Zeitverhältniß um; allein dieſes bleibt immer das Vorausgeſetzte
und iſt ſelbſt ein Begriffs-Verhältniß, denn es liegt in der Sache, daß die
Phantaſie immer erſt einen Stoff ſich geben laſſe.


[315]
b.
Die beſondere Phantaſie.

§. 384.

Dieſe Thätigkeit (§. 382) des reinen Schauens heißt Phantaſie. Das
wahre Weſen derſelben iſt jedoch erſt da wirklich, wo ſie als vollkommener
Prozeß ihre Momente in klarer Scheidung auseinanderhält und wieder vereinigt.
In dieſer Beſtimmtheit erſt iſt ſie wahrhaft ſchöpferiſch, tritt aber auch als be-
ſondere Gabe weniger vom Zufalle der Naturanlage Begünſtigter aus dem Bo-
den der allgemeinen Phantaſie hervor.


„Beſondere Phantaſie“ hat (vergl. § 379 Anm.) einen doppelten
Sinn; zuerſt: die Phantaſie in klarer Scheidung ihrer beſondern Mo-
mente, dann ebendaher in klarer Scheidung des inneren Bildes von dem
naturſchönen Gegenſtande, der nun, wie ſich zeigen wird, nicht mehr mit
dieſem, das ihm zu Hilfe kommt, einfach verwechſelt wird; dieß eben iſt
der zweite, vom erſten freie, frei geſchaffene Schein. In dieſer Beſtimmt-
heit iſt aber die Phantaſie zugleich eine beſondere Naturgabe Weniger,
ein geiſtiger Unterſchied, er als Anlage weſentlich ein Natur-Unterſchied
iſt. Dieß Zufällige des Angebornen hat die Wiſſenſchaft nicht weiter zu
begründen und zu erklären. Zu § 379 iſt geſagt, daß die Momente der
Phantaſie auch in der allgemeinen vorhanden ſeien, aber, weil ſtumpfer
und ungeſchiedener ineinander verlaufend, nicht alle in gleichem Maaße.
Dieß wird ſich nun finden, wir werden je am betreffenden Orte aufzeigen,
wie weit die allgemeine Phantaſie mitgeht, wie weit nicht.


α.
Die Anſchauung.

§. 385.

Voraus geht die Anſchauung als die thätige Erfaſſung einer Erſchei-
nung durch den Geiſt, der ſich als Aufmerkſamkeit in die ſinnliche Wahrneh-
mung legt und, während er mit ſcharfem Maaße die Form ergreift, ſich mit
inniger Empfindung in den ganzen Gegenſtand und ihn in ſich vertieft. Es iſt
dieß zunächſt die gewöhnliche Anſchauung, aber ſie arbeitet nicht nur durch die
vergeiſtigende Thätigkeit der ſinnlichen Wahrnehmung überhaupt (§ 380, 1.),

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 21
[316]ſondern auch dadurch der Phantaſie vor, daß ſie ihren Gegenſtand herausgreift
und ihn dem Subjecte zugleich klar gegenüberſtellt und kräftig aneignet.


Aus der Pſychologie wird als bekannt vorausgeſetzt, wie ſich die An-
ſchauung von der ſinnlichen Wahrnehmung als Erfaſſung, Apperzeption
unterſcheidet und was ſie überhaupt iſt. Allerdings wird gefordert, daß
ſchon die ſinnliche Wahrnehmung eine geſunde und volle ſei; nicht ganz
leicht aber iſt die Entſcheidung über die ſpeziellere Frage, ob gut Sehen,
fein Fühlen, gut Hören, im phyſiſchen Sinn, eine Bedingung der Phan-
taſie ſei. Ein großer Vorſprung wird Schärfe dieſer Sinne immer ſein,
wiewohl natürlich, wer ſie beſitzt, darum noch nicht für die Phantaſie or-
ganiſirt iſt. Ungleich wichtiger aber und unentbehrliche Vorbedingung der
Phantaſie iſt das Formen-Ergreifen und Umſpannen im Sehen, Fühlen,
Hören, was wir zunächſt ganz allgemein ein Meſſen nennen wollen. Wer
nicht bemerkt, daß jener Vorübergehende ſo oder ſo gebaut iſt, ſolchen oder
andern Gang hat, wer eine Farbenwirkung nicht ſchnell erfaßt, wer Klang
und Ton der Menſchenſtimme, das Sprechende und die Klangverhältniſſe
in den Naturtönen nicht heraushört, iſt für die Phantaſie verloren. Der
Taſtſinn iſt hier im Sinne von § 71 Anm. miteingeſchloſſen, allerdings
ſoll er aber auch in ſeiner eigentlichen Bedeutung ſammt Geſchmack und
Geruch, wiewohl dieſe Sinne nur mittelbar bei dem Schönen betheiligt
ſind, friſch und lebhaft ſeyn; wer für Reinheit oder Unreinheit umge-
bender Luft, für Duft und Wohlgeruch, wer für die feinen Unterſchiede
des Geſchmacks, wer für warm und kalt, fein und rauh, rund und eckig
u. ſ. w. keine Fühlfäden hat, iſt ebenfalls für die Phantaſie verloren.
Eine ganze und volle Sinnlichkeit iſt Vorbedingung und Grund-
lage derſelben. Die Offenheit der einzelnen Sinne liegt natürlich bereits
tiefer, als blos in der glücklichen Organiſation ihrer beſtimmten Organe,
es iſt Geſundheit und Erregbarkeit des allgemeinen Nervenlebens und
ſeines unmittelbaren Reflexes im Selbſtgefühle. Nichts ſtumpft dieß Sen-
ſorium mehr ab, als unſer nordiſches Stubenleben; man muß hier ver-
ſuchen, ſich in die Knabenzeit zurückzuverſetzen, den offenen Nerv für Duft
des Waldes, neue Thiergeſtalten, die Verwunderung bei dem Anblick des
Rehs, des Raubvogels ſich vergegenwärtigen. Eine ſolche Verwunderung
über die Friſche, Fülle, Neuheit der Erſcheinung iſt nun aber bereits An-
ſchauung. Dieſe iſt mehr, als alles bisher Genannte: ſie iſt der Act
der Ergreifung durch die Aufmerkſamkeit, wodurch das Angeſchaute in ver-
ſchärften Umriſſen von ſeiner Umgebung wie von einem Hintergrund ab-
gehoben und dem Anſchauenden zugleich Eigenthum und zugleich gegen-
ſtändlich klar gegenübergeſtellt wird; ſie iſt der Augenblick, wo Gegenſtand
und Ich wie Eiſen und Magnet zuſammenſchießen, aber auch eben durch
[317] die Berührung erſt ihre Entgegenſtellung fixiren. In beiden Momenten,
ſowohl dem der Aneignung, als auch dem der Gegenüberſtellung wirkt die
Innigkeit der Empfindung und die Schärfe der nun gewollten, ihr natür-
liches Meſſen und Umſpannen der Formen zur Intenſität des Intereſſes erhe-
benden Wahrnehmung zuſammen: Weichheit und Schärfe, Wärme und Kälte.
Es iſt ein Mißverhältniß, wenn die Wärme, das Gefühl überwiegt. Zwar
ſagt Herbart zu viel, wenn er (Pſychologie als Wiſſenſch. u. ſ. w. B. 2,
S. 367) ſagt: „die Anſchauung iſt deſto vollkommener, je weniger Gewicht
in ihr die Empfindung hat“; aber allerdings verzittern in der allzuleb-
haften Theilnahme des Gefühls die Grenzen und Maaße des Gegenſtands,
die Objectivität zerſchmilzt im weichen Elemente. Herder z. B. iſt eine
ſolche fühlſame Natur, nach dem Einen Pole ſeines Weſens auch J. P.
Fr. Richter; beide haben es daher nicht zum klaren Bilden der Phantaſie
gebracht.


Zur Anſchauung müſſen wir nun aber auch das ziehen, was man
Erfahren, Erleben nennt. Es iſt dieß ein Anſchauen der Welt als einer
geſchichtlich bewegten, welche in ihre Bewegung auch das Schickſal des
anſchauenden Subjects zieht und in energiſchen Stößen, welche in Luſt
und Freude mächtig erſchüttern, periodiſch beſtimmt. In dieſer erweiterten
Anſchauung iſt die gewöhnliche, die Anſchauung einzelner Gegenſtände,
ein Moment, die ganze Anſchauung geht weiter auf die Zuſtände, Ver-
hältniſſe, Geſetze des Weltlebens und ebenſo der eigenen Perſönlichkeit;
dabei iſt zwar Abſtraction, Denken ſchon vielfach thätig, ſchwimmt aber in
der geſättigten Maſſe des thatſächlichen Erlebniſſes nur mit, das ſich zur Welt-,
Menſchen- und Selbſt-Kenntniß anſammelt und das Geſammelte immer wie-
der in der Form des eigentlichen erſten Anſchauens zuſammenhält, ſo nämlich,
daß alles innere Leben mit den äußeren Formen, in denen es ſich bewegt,
zuſammengefaßt wird. Reiſen iſt eine weſentliche Form, die Anſchauung
in dieſem Sinne zu erweitern, aber das ganze Leben iſt eine Reiſe, auf
welcher der Wanderer Auge und Sinn offen haben muß, wenn er zum
Ziele der ſchaffenden Phantaſie gelangen ſoll. Man kann im Allgemeinen
ſagen, daß die jetzigen Menſchen in dem einen Theile dieſer erweiterten
Anſchauung, deſſen Gegenſtand das Innere des Lebens, Leidenſchaften,
Charaktere, Geſinnungen, Sitten, Verhältniſſe der Menſchen und die Zu-
ſtände der eigenen Bruſt ſind, ebenſoviele Fortſchritte, als in dem andern,
der einzelnen ſinnlichen [Anſchauung], Rückſchritte gemacht haben. Allein im
äſthetiſchen Zuſammenhang ſoll jene weitere Anſchauung durchaus mit die-
ſer urſprünglichen und erſten in Einheit bleiben und da gilt es nicht nur,
z. B. fremde Volkszuſtände kennen lernen, ſondern Himmel, Pflanzen,
Thierwelt, Trachten, worin dieſe Zuſtände heimiſch ſind, lebendig mitan-
ſchauen, und wie ſtumpf ſind wir darin, die wir nicht einmal unſere ein-

21*
[318]heimiſchen Singvögel an Geſang und Federn kennen, Ahorn und Eſche,
Erle und Buche nicht zu unterſcheiden wiſſen! Es kann nicht ſtark genug
darauf gedrungen werden, daß die Phantaſie vom Naturgefühl aus-
geht und daß „ein idealiſcher Anfang in der Kunſt und Poeſie immer
verdächtig iſt“ (Hegel Aeſth. B. 1, S. 362).


§. 386.

1

Zur Anſchauung gehört jedoch in dieſem Zuſammenhang auch die Aneig-
nung des an ſich zwar Anſchaulichen, jedoch Entfernten und nur durch eine,
zum Theil bereits vergeiſtigende, Kunde Ueberlieferten. Dieſe geht durch mehr
oder minder abſtracte Mittel vor ſich, welche aber dem Begabten hinreichen,
2das Ueberlieferte zu erfaſſen, als wäre es gegenwärtig. Allſeitige, unbefangene
Erregbarkeit, beſondere Schärfe und Wärme, Fülle und treue Aufbewahrung
im Gedächtniſſe zeichnen den Letzteren in dieſem wie im vorhergehenden Gebiete
(§. 385) aus und die Menge des Geſammelten wird an ſich ſchon ein Vor-
ſchub für die höhere Verarbeitung.


1. Es handelt ſich hier von der Geſchichte im weiteſten Sinne, auch
die gleichzeitigen, aber in entferntem Raume geſchehenen Ereigniſſe des
Lebens miteinbegriffen. Sie werden durch das abſtracte Wort, ſei es in
lebendiger Rede oder Schrift, überliefert. Wir begehen kein ὕςερον πρώτερον
wenn wir nun ſogleich die Vorſtellung des Entfernten und zwar die lebendig
vergegenwärtigende einer begabten Natur herbeiziehen; denn die Vor-
ſtellung, wie wir ſie im folgenden, zweiten Momente aufzuführen haben,
iſt ſchon die ungebundene, entfeſſelte, frei innerliche, welche in Abweſenheit
des Gegenſtands ihr Spiel beginnt. Abweſend iſt nun freilich auch der
geſchichtlich überlieferte Gegenſtand, aber jetzt reden wir noch von dem
Falle, wo die Ueberlieferung anweſend iſt, die uns bindet, uns den Ge-
genſtand ſo und nicht anders vorzuſtellen, alſo das Spiel der Imagination
noch ferne hält. Nun hat freilich die Ueberlieferung (noch ganz abgeſehen
zwar von der Sage) ſchon an ſich einen ſichtenden, vergeiſtigenden Cha-
rakter; da verſchwinden die mikroskopiſchen Züge der Erdenſchwere und
ſehr treffend ſagt Ranke, die Geſchichte berühre, jemehr ſie in das
Gedächtniß der Menſchen übergehe, deſto mehr das Gebiet der Mythologie.
Allein trotzdem iſt die Geſchichte immer noch Proſa und wenn der Be-
gabte, wie wir dieß bedingen, ſich ihre Auftritte wie gegenwärtige vor-
ſtellt, ſo bekommt er doch theils eine Maſſe von Vermittlungen mit in
Kauf, welche eine Veranſchaulichung gar nicht zulaſſen, theils iſt auch die
lebhaftere Vorſtellung, die er ſich vom Ueberlieferten macht, immer noch mit
viel Stoffartigem, was den anſchaulichen Theil des Inhalts trübt, beladen.
[319] Nicht genug jedoch kann es den Künſtlern an’s Herz gelegt werden, ſich
mit der Geſchichte vertraut zu machen; wie wenig noch dieſe Fundgrube
benützt ſei, iſt ſchon zu §. 341 ausgeſprochen worden. Nur die Geſchichte
giebt die großen Stoffe, das rechte Mark für den Künſtlergeiſt.


Die Ueberlieferung kann aber ihren Stoff bereits in eigentlich äſthe-
tiſcher Weiſe vorgebildet haben; es kann eine Kunſt den Gegenſtand von
einer andern Kunſt oder einem andern Zweige, einer andern Bildungs-
ſtufe (Volkspoeſie, Sage) derſelben Kunſt ſchon zubereitet übernehmen.
Dieß iſt jedoch erſt in der Lehre von den Künſten in Betrachtung zu
ziehen.


2. Es fragt ſich ſchon bei dieſer Vorſtufe, wie weit die allgemeine
Phantaſie mitgehe. Hier muß man nur nicht an die ſinnlich abgeſtumpfte
Bildung der jetzigen Zeit, ſondern an die lebendige Auffaſſung naturfriſcher
Völker denken und dann iſt keine Frage, daß ſie jedenfalls in dieſes Mo-
ment ſich mitbewegt. Sie ſchaut die Naturſchönheit; ſie könnte dieß nicht,
wenn ſie nicht auch das Gewöhnliche mit hellen Sinnen faßte, denn ſie
unterſcheidet jene von dieſem. Aber an Kraft und Umfang hebt ſich aller-
dings die begabte, beſondere Phantaſie hervor. Alle Griechen ſchauten hell
und friſch, aber die Volksdichter der homeriſchen Geſänge heller und friſcher,
als alles Volk, und wunderbar ſteht in ſinnlich ſtumpfer Zeit Göthe, der
uns alle hier aufgeſtellten Forderungen veranſchaulicht. Die Unbefangen-
heit liebt er ſo auszudrücken: der Dichter ſoll das Object rein auf ſich
wirken laſſen. Es gibt kein ſchöneres Bild allſeitiger, offener Empfäng-
lichkeit, als ſeine Jugend. Der Auserwählte der Phantaſie ſoll aber viel
geſchaut, viel erlebt haben. Von der Intuition, die Göthe in ſich ſelbſt
entdeckte, von dem Weltbilde, das die Ahnung ſchafft und die Erfahrung
wunderbar beſtätigt, haben wir jetzt noch nicht zu reden, wohl aber vor-
zubauen, daß man nicht meine, es erſetze alle Erfahrung. Es iſt nur
vergleichungsweiſe wenig, was dem Genius den Anhalt giebt, die großen
Kreiſe des Weltlebens prophetiſch anzuſchauen ohne ſie wirklich angeſchaut zu
haben; wer in Zellen und engem Kreiſe lebt, dem fehlt dieſer Anhalt, auch
das ſagt Göthe ſo ſchön im Taſſo. Auch Schiller hatte nicht ſo wenig
geſehen, als man annimmt; er konnte die Brandung der See voll Wahr-
heit malen, ohne auch nur den Rheinfall, aber nicht, ohne wenigſtens dieſen
und jenen Waſſerfall, großes Wehr u. ſ. w. mit offenem Auge geſehen
zu haben. Hatte er aber überhaupt immer noch zu wenig geſehen, ſo
hat darunter auch ſeine Poeſie gelitten. Tieck ſagt irgendwo, wer keine
Schlacht geſehen, könne eine ſolche poetiſch beſſer darſtellen, als wer eine ge-
ſehen. Es mag ſein, das Getümmel der Einzelnheiten und das Verſtrickt-
ſein in ſie mag Freiheit und Ueberblick erſchweren; aber wer nicht wenigſtens
Solches, was dazu gehört, Krieger und ihr Weſen, Waffenſpiele, Wunden,
[320] Tod geſehen, mit Intereſſe angeſchaut, der wird gewiß auch keinen Beruf
zu ihrer Darſtellung haben. Der Genius muß alſo das Glück eines reichen
und weiten Lebens genießen; verweigert ihm ſein Schickſal dieß Glück,
ſo wird er dennoch durchbrechen und in die Welt eilen. Einige Noth,
einiger Drang kann nicht ſchaden, aber er ſoll nicht im Engen verkümmern,
ſondern auf offener See ſich mit den Wellen ſchlagen.


Auch das Gedächtniß mußte in dieſem Zuſammenhang noch auf die
Seite der erſt aufnehmenden Anſchauung gezogen werden. Zunächſt wird
Stärke deſſelben vorausgeſetzt, damit überhaupt viel geſammelt werde.
Die Menge des Geſammelten nämlich unterſtützt die Reibung und Rütt-
lung des Vorraths, welche eine Vorbedingung ſeiner höhern Sichtung iſt.
Es muß Auswahl unter vielen einzelnen Zügen und Formen ſein, um die
reinſte zu finden; nur mit voller Schaufel kann man worfeln. Freilich,
wo dieſe Auswahl ſodann nicht vom genialen Inſtincte, ſondern von der
halben Reflexion unternommen wird, entſteht Aggregat, Moſaik von zu-
ſammengeleſenen Zügen, die durch Naturwahrheit überraſchen, aber kein
Ganzes bilden; wir reden aber noch nicht von dem Geſtaltungsprozeſſe
des Geſammelten ſelbſt. Vorläufig müſſen wir nur ſagen, daß das Ge-
dächtniß des Phantaſiebegabten vorzugsweiſe das ſogenannte glückliche
iſt. Es bewahrt das Geſammelte auf, nicht um es im gemeinen Zu-
ſammenhange gegebenen Stoffes, ſondern um es nach der Anziehung des
Formgeſetzes, nach neuen Geſetzen der Wahlverwandtſchaft wieder hervor-
treten zu laſſen. Dabei denke man nicht etwa nur an die vergleichende
Thätigkeit des Witzes, wiewohl es bei dieſem vorzüglich klar wird, wie
viel die Phantaſie geſammelt haben muß, um ihre Verbindungen vorzuneh-
men; mancher Witzige würde ungleich mehr Witz hervorbringen, wenn er
mehr Stoff geſammelt hätte. Man denke vielmehr an organiſche Ver-
bindungen, wie z. B. dem Begabten, wenn er ein gewiſſes Temperament
darzuſtellen hat, aus der Menge des Beobachteten am rechten Ort die
rechten, bezeichnenden Züge einfallen.


β.
Die Einbildungskraft.

§. 387.

1

Der hellere und reinere Glanz des lebendig Angeſchauten iſt noch nicht
Schönheit, denn die Anſchauung erfaßt in den Formen der Dinge zwar unge-
trennt auch die Idee, aber in der allgemeinen Trübung des ſtörenden Zufalls,
[321] und ſelbſt die beziehungsweiſe Freiheit von dieſem, durch welche das Natur-
ſchöne ſich auszeichnet, iſt im jetzigen Zuſammenhang nicht, oder nur unter
Anderem als Gegenſtand vorausgeſetzt. Allein die Anſchauung iſt der Anfang
2
der Umſetzung des Objects in ein inneres Bild, das, ſinnlich und nicht ſtun-
lich, unabhängig von der Gegenwart des erſteren und doch angeſchaute Form,
vom Geiſte erzeugt wird.


1. Der vorliegende Abſchnitt begann mit der Auflöſung des Natur-
ſchönen und der Darſtellung der allgemeinen Phantaſie; in der gegen-
wärtigen Abtheilung nun, wo die Momente der beſonderen Phantaſie
entwickelt werden, muß ganz vorne oder von unten begonnen werden.
Während daher in der Lehre von der allgemeinen Phantaſie das Naturſchöne
als Gegenſtand vorausgeſetzt wurde, laſſen wir dieſes nun vorerſt ganz
aus dem Spiele; die Aeſthetik wendet ſich zur gewöhnlichen Pſychologie,
welche von der Anſchauung u. ſ. w. überhaupt handelt, gleichgiltig,
welche Gegenſtände ihr gegeben ſeien. Unter dem Stoffe, welchen die
Anſchauung ergreift, mag ſich daher immer auch Naturſchönes (wir brau-
chen wohl nicht jedesmal hinzuzufügen, daß im ſtrengen Sinne Solches nicht
exiſtirt, wohl aber relativ vom Zufall begünſtigtere Erſcheinungen) ein-
reihen: das Geſchäft, das dem Geiſte bleibt, wird dann kleiner ſein, als
bei allem Uebrigen; aber wir ſehen jetzt auf das Qualitative dieſes Ge-
ſchäfts und daher von dieſem Unterſchiede des Quantums ab. Es wird
ſich bald zeigen, an welchem Punkte wir das Naturſchöne als gegebenen
Stoff und jenen erſten Schein (§ 383) wieder aufzunehmen haben. Die
Anſchauung, von der wir reden, iſt alſo die gewöhnliche; wir verlangen
nur urſprüngliche und friſche Thätigkeit derſelben. Nun fragt ſich: was
iſt es, das die Anſchauung erfaßt? Es iſt zunächſt die Oberfläche der Dinge
in den allgemeinen Medien der Erſcheinung, Luft und Licht. Dieſe Ober-
fläche iſt das Geſammtreſultat des innern Baues und daher des Weſens
der Dinge, das dieſen Bau ausführt, denn die Grenzen ſind zwar
negativ, aber das Bauen hört eben da auf, wo ich ſie ſchaue, weil es
das Innere ſo und nicht anders gebaut hat. Ich ſchaue aber auch die
Bewegung und in ihr das Bewegende. Das Weſen, das ſich ſeinen
Körper gebaut, wirkt durch ſie über ſeine Grenzen hinaus, doch ſo, daß
dieſe Wirkung ſelbſt ihre Grenze in demſelben Umfang ſeiner Fähigkeiten
hat, den mir ſeine Geſtalt anzeigt. Ich ſchaue alſo allerdings ſein Weſen
und zwar ganz in Einem Acte mit ſeiner Erſcheinung. Zwei Wege,
hinter die Oberfläche in den inneren Bau zu dringen, bleiben uns bei
dieſer Betrachtung der Anſchauung ganz zur Seite liegen; ſie ſind ſchon
in § 54 erwähnt und werden hier nur wieder berührt, um ſie ſchon auf
der Stufe der Anſchauung abzuweiſen. Es iſt dieß die praktiſche und
[322] die theoretiſche Auflöſung; jene eine Zerſtörung des Körpers, um ihn
ſtoffartig zu genießen, oder aus Haß, um ihm Schmerzen zu bereiten,
dieſe eine anatomiſche, chemiſche u. ſ. w., um ihn zu erkennen. Daß
uns die erſtere den Gegenſtand als Ausdruck ſeines Weſens zeige, wird
Niemand behaupten; denn nur zufällig legt ſie dieſe oder jene Theile
des inneren Baues blos; die andere aber iſt mit ihrer Erkenntniß nicht
früher fertig, als bis ſie alle Theile blos gelegt, durchſucht, dann in ihrer
Zuſammenwirkung begriffen, alſo die aufgelöste Geſtalt ſich wieder aufge-
baut hat; dann erkennt ſie auf begriffsmäßigem Wege, daß dieſer Bau
allerdings auf ſeiner Geſammtoberfläche eben das ausdrückt, was er iſt.
In dieſer Schlußerkenntniß hat ſie alſo auf vermittelte Weiſe präſent,
was die Anſchanung (ein Act des wirklichen, aber ungetheilten Geiſtes)
auf unmittelbare Weiſe präſent hat. Vergleicht man aber die Anſchauung
nicht mit dieſer Schlußerkenntniß, ſondern mit der einzelnen Erkenntniß
einzelner Theile der aufgelösten Geſtalt, ſo iſt ſie vollkommener, als
dieſe, denn ſie hat den Geſammt-Ausdruck des Weſens vor ſich, dieſe
nicht; mit Recht ſchaudert ſie daher vor der Auflöſung, abgeſehen von
ihrem Endziele, als vor einem Grauſenhaften. Künſtler ſtudiren Anatomie,
Perſpective u. ſ. w., um ſie wieder zu vergeſſen, d. h. um das Einzelne
der Erkenntniß als ein verſchwindendes Mittel in den Inſtinct der Ge-
ſammt-Anſchauung zurückzuführen. Soweit hätten wir alſo ſchon in der
Anſchauung den reinen Schein, den Ausdruck des Weſens in der Ge-
ſammtwirkung der Oberfläche (§. 54). Allein nun erfaßt die An-
ſchauung das Einzelne in ſeinem unmittelbaren Daſein. Sie erfaßt es
zwar, indem ſie es als Ausdruck ſeines Weſens erfaßt, zugleich als In-
dividuum ſeiner Gattung, ſie bekommt die Idee mit. Das Allgemeine im
Einzelnen, das Einzelne als Wirklichkeit des Allgemeinen zu faſſen, dazu
gehört ſo wenig die abſtracte Begriffsbildung, als ihre naturwiſſenſchaftliche
Vorarbeit, jene phyſikaliſche, chemiſche, anatomiſche Analyſe. Der Unter-
ſchied des Begreifens und Anſchauens iſt nicht der, daß dieſem das Allge-
meine verſchloſſen, jenem offen wäre, ſondern daß jenes auf begründete,
durch Trennung, Entgegenſetzung und Wiedervereinigung vermittelte und
in Bewußtſein des Bewußtſeins erhobene Weiſe daſſelbe Allgemeine im
Einzelnen hat, wie dieſes auf gefundene, unmittelbare und einfach bewußte.
Allein die Anſchauung erfaßt jedes Einzelne nur in der Trübung durch
den ſtörenden Zufall, den wir als überall und immer herrſchenden ſchon
kennen. Das Begreifen begreift auch dieſen in ſeiner Nothwendigkeit und
in ſeiner unendlichen Aufhebung (§. 52). Die Anſchauung aber über-
ſchaut nicht den unendlichen Gang dieſer Aufhebung. Der Geiſt ſoll auf
dem Wege, den ſie betreten, ein dieſem Wege eigenes Mittel finden,
die Trübung auszuſcheiden. Die Anſchauung als ſolche hat dieſes Mittel
[323] noch nicht. Sie erfaßt die Oberfläche als reinen Schein, ſofern ſie vom
Durchmeſſer abſieht: aber dieſe Oberfläche ſelbſt iſt getrübt; das empiriſche
Blut dieſes einzelnen Körpers, das nie ganz geſund iſt, ſetzt Unreinheiten
auf der Haut ab, die Seele drückt ihre Stimmungen, der Wille ſeine Be-
wegungen in ſeinem Organe nicht rein aus, denn nicht nur ſetzt ihm
dieſes im Drange der äußern Reibung Hinderniſſe entgegen, ſondern jene
Stimmungen, Willensacte ſelbſt trüben ſich im Dienſte des Augenblicks.
Dieſes Individuum erſcheint alſo getrübt und ebenſo alle andern, die mir
vorkommen können, alſo die Gattung. Schelling ſagt (in der Rede über
die Verh. d. bild. Künſte z. Natur): die Kunſt ſtelle, indem ſie wirkliches
Athmen, Blut, Wärme (geſetzt, ſie könnte es auch wiedergeben) von ihrer
Darſtellung ausſcheide, nur das Nichtſeiende, worin der Keim des Alterns
und Vergeſſens liege, als nichtſeiend dar und hebe ſo das Unweſentliche, die
Zeit auf, ſie erfaſſe den lebendigen Gegenſtand in dem Augenblick ſeiner
höchſten Blüthe, außer welchem ihm nur ein Werden und Vergehen zukomme,
hebe ihn ſo aus der Zeit heraus und laſſe ihn in ſeinem reinen Sein, in der
Ewigkeit ſeines Lebens erſcheinen. Dieß bedarf erſt der Berichtigung, daß
die Kunſt ganz wohl auch das Werden und Vergehen, das Krankſein, Altern
Sterben, jede Art des Leidens darſtellen kann und ſoll, und die Möglich-
keit dieſer wechſelnden Zuſtände liegt ja eben in der unmittelbar einzelnen
daſeienden Lebendigkeit. Die Kunſt verhehlt nicht, daß der menſchliche
Körper Blut u. ſ. w. hat, und die Anſchauung, von der ſie ausgeht, iſt
nicht deßwegen noch fern vom Schönen, weil ſie der Geſtalt den empiriſch
einzelnen Lebensprozeß anſieht: aber dieſer Prozeß ſelbſt iſt durch das Ge-
dränge des Zuſammenſeins dieſes einzelnen Lebendigen getrübt, und dieß
zeigt auch die Oberfläche, durch deren Ablöſung vom innern Bau alſo
keineswegs, wie Schelling im Zuſammenhang derſelben Stelle ſagt, die
Idealität ſchon gewonnen iſt. Leiden, Untergehen erſcheint durch die
unzeitigen Reibungen jenes Gedränges ſelbſt nicht rein in ſeinem Ausdruck
(vergl. §. 40 Anm.). Nicht deßwegen, weil es Quelle des Werdens und
Vergehens iſt, hat die Anſchauung am unmittelbar Lebendigen in der
Geſtalt ein Getrübtes vor ſich, ſondern weil alle Lebenserſcheinungen in der
unendlichen Ausdehnung des Seins an Hemmungen leiden, wodurch ihr
Weſen, wäre es auch an ſich eine Hemmung und dieſe Hemmung jewei-
liger Stoff des Schönen, unrein zum Ausdruck kommt. Darum ſetzt das
Schöne einen Tod der leibhaftig gegenwärtigen Lebendigkeit voraus, in
welchem aber nicht der Schein ſeines Werdens und Vergehens untergeht,
aus welchem es vielmehr ſammt dem Scheine ſeines unmittelbaren Lebens-
prozeſſes wieder hervortaucht, doch ſo, daß dieſer Prozeß ſich in Reinheit
darſtellt. Die Anſchauung nun beginnt dieſe Tödtung durch das trennende
Herausgreifen (§. 385); aber dieß genügt nicht, denn das Herausgegriffene
[324] trägt noch alle die Male an ſich, durch die es auf ſeine ſtörende Um-
gebung hinausweist.


2. Will man ſich den Uebergang der Anſchauung in die Einbildung
mechaniſch vorſtellen, ſo kann man ſich die Sache ſo anſchaulich machen, als
bliebe nach der innigen Zuſammenſchließung, welche in jener Statt findet,
ein Abdruck des Gegenſtands, wenn dieſer aus der Zuſammenſchließung
wieder entlaſſen wird, im Subjecte zurück. In Wahrheit aber iſt die
Anſchauung ſchon ſo activ, daß ſie ein thätiges Abzeichnen des Gegenſtands
und ein Hereinnehmen dieſes Abbilds in das Innere des Anſchauenden
iſt. Das Subject könnte dieß nicht vollziehen, wenn es nicht mit allen
Gegenſtänden urſprünglich Eines wäre und aus demſelben Heerde des
Lebens ſtammte, wie alle Geſtalten; es kennt ſie, weil es ſelbſt die Ein-
heit der Geſtaltenwelt iſt. Der Prozeß aber des Nachbildens bedarf einer
phyſiologiſchen Erklärung, welche noch nicht gefunden iſt. Die ganze
ideal geſetzte Sinnlichkeit, die nun in der Einbildungskraft hervortritt, dieß
innere Sehen, Hören, Taſten, Riechen, Schmecken iſt eine Operation ſo zu
ſagen auf dem Wege, den die Nerven von ihrem Centrum in die Sinnen-
Organe und von dieſen zurück in ihr Centrum nehmen, ein ſinnlich unſinn-
liches Wiederholen der Sinnen-Thätigkeit, deſſen Möglichkeit offenbar ebenſo-
ſehr Vorbedingung derſelben iſt; Alles, was ſehen, hören u. ſ. w. kann, kann
auch einbilden, alle Thiere erzeugen innere Bilder. Die Aeſthetik muß aber
die weiteren Unterſuchungen der Pſychologie und ihrem Verhältniſſe zur Phy-
ſiologie überlaſſen. Iſt nun die Anſchauung bereits der Anfang des inneren
Bildens, ſo vollendet ſich dieſer Anfang des Hereinziehens im Seelenorganc,
dem Nervencentrum ſelbſt als ein fertiges Bild, das in dieſes wie in eine
camera obscura aufgenommen iſt, aber bleibend innerlich ſchwebt, auch nach-
dem ſich der Gegenſtand oder das Subject von ihm entfernt hat.


§. 388.

1

Dieß Bild iſt zunächſt bloßes Nachbild, aber eine Menge ſtoffartiger
Einzelnheiten iſt in ihm verwiſcht und Gefühl der geiſtigen Unendlichkeit be-
gleitet es, wiewohl es wahre Vergeiſtigung erſt erfahren ſoll. Zunächſt ſinkt
2die Maſſe der geſammelten Bilder in den Schacht der Vergeſſenheit zurück. Aus
dieſem taucht ſie wieder auf durch die Erinnerung oder durch die Beſinnung;
jene iſt zufällige, dieſe freie Wiedererzeugung. Allein ſowohl bei jenem als
bei dieſem Anlaß bewegt ſich die hervorgerufene Maſſe in ein gaukelndes Spiel
unendlicher neuer Verbindungen, welche übrigens ſo wenig als jene Verwiſchung
der einzelnen Züge eine qualitative Umbildung ſind.


1. Die Verwiſchung einzelner Züge im Nachbilde iſt ebenſoſehr
Fortſchritt als Rückſchritt. Das Bild eines Bekannten z. B. ſchwebt uns
[325] vor; fragt man uns aber nach den einzelnen Zügen, ſo wiſſen wir viele
derſelben nicht anzugeben. Dadurch iſt nun allerdings auch Vieles er-
loſchen, was zur trübenden Zufälligkeit gehört, aber aus zwei Gründen
iſt dieſer Gewinn zugleich Verluſt. Erſtens wird zwar Störendes weg-
gelaſſen, aber nicht eben am rechten Orte. Ich vergeſſe wohl einen ſchmutzigen
Ton im Weißen des Auges, aber nicht eine ſchiefe Stellung des ganzen
Auges, die nicht aus dem Charakter, ſondern etwa von einem Steinwurfe,
einem Druck bei der Geburt u. ſ. w. herrührt. Zweitens: es wird zwar
ausgelöſcht, aber wie auf der einen Seite zu wenig, ſo auf der andern
zu viel; weſentlich bezeichnende Einzelnheiten werden vergeſſen. Wenn da-
her der Künſtler darin vor dem Laien ſich auszeichnet, daß er ſich auch
dieſer vollſtändiger erinnert und wohl ſogar einen Todten aus dem Ge-
dächtniſſe darzuſtellen vermag, ſo verdankt er dieß einer Uebung der An-
ſchauung und der Einbildungskraft, welche bereits wirkliche Kunſtübung
und dadurch gewonnene Schärfung dieſer Prozeſſe vorausſetzt: eine Rück-
wirkung der Kunſtthätigkeit auf die pſychologiſchen Kräfte, deren wir erſt
im Anfang der Lehre von der Kunſt zu gedenken haben. — Allerdings
aber umweht nun das Abbild des Gegenſtands, welches „in den eigenen
Raum und die eigene Zeit des Geiſtes geſetzt iſt“ (Hegel Encyclop. §. 452),
weil es geiſtig geworden, ein Hauch der Unendlichkeit. Es iſt ein Begleiten,
ein Umwehen, ein „Zauberhauch, der ihren Zug umwittert“, noch kein
eigentliches Eindringen des Geiſtes, der ſie umwandelnd von innen heraus
umarbeitete. So ſind wir z. B. bei der Entfaltung des inneren Bildes
einer Schlacht, eines Raub-Anfalls einer Angſt fähig, geiſterhaft, fürchter-
lich, ein Abgrund, wogegen alle Angſt vor der gegenwärtigen Gefahr
nichts iſt. Dieſer Unterſchied macht ſich weiterhin in idealer Wiederho-
lung in der Kunſt ſelbſt geltend, indem ſie oft viel furchtbarer wirkt durch
ein verhülltes Furchtbares, das ſie den Zuſchauer nöthigt ſich vorzuſtellen,
als durch ein der Anſchauung dargebotenes (vergl. die trefflichen Bemer-
kungen J. Paul’s in d. Verſch. d. Aeſth. §. 7.) In der Kunſt jedoch iſt
dann ſowohl die gegenwärtige Darſtellung als das hervorgerufene Bild
ſchön, in der Einbildungskraft vor der Kunſt aber (wie auch in der An-
ſchauung) noch nicht; die Vergeiſtigung bemächtigt ſich ſo zu ſagen erſt
der Umriſſe und macht ſie erzittern, in unendlichen Wiederhall des ſubjec-
tiven Gefühls verſchweben.


2. Zuerſt verſinken die Bilder in den „Schacht“, die „einfache Nacht“
(Hegel) des Geiſtes, wo ſie, vorhanden und nicht vorhanden, vergeſſen
und der Erinnerung wartend, aufbewahrt ſind. Die Pſychologie führt
nun in ſteigender Linie zwei Formen auf, in denen ſie wieder hervorge-
rufen werden; zuerſt die Anſchauung deſſelben Gegenſtands, wobei mir
von früherer Anſchauung das Bild wieder auftaucht: die eigentliche Er-
[326] innerung, ſodann die freie Hervorrufung durch das Sichbeſinnen. Beide
Formen, wiewohl mit der letzteren der Geiſt ſich der Bilder frei zu be-
mächtigen anfängt, ſind ſich darin gleich, daß eine Reihe entſteht, indem
das erſte Bild ein zweites hervorruft, dieß ein drittes u. ſ. w., wodurch
nun jene unſtete Jagd beginnt, die man ſonſt Ideen-Aſſoziation nannte.
So lange wir nämlich den concreten Geiſt noch außer Augen laſſen, der
mit Weisheit Ordnung ſchafft, iſt auch bei dem Beſinnen nur der Anfang
ein freier Act; die Einbildungskraft als ſolche, einmal in Bewegung ge-
ſetzt, ſpielt fort. Nun fragt ſich, nach welcher Ordnung die Bilder ſich
anziehen? Bekanntlich ſowohl nach der objectiven Ordnung ihrer ur-
ſprünglich in der Anſchauung gegebenen Verbindung, als auch nach allen Ka-
tegorieen. Die Kategorieen ſind zunächſt ſubjectiv, aber auch ſie ebenſo-
ſehr objective Verhältnißformen. Welches dieſer Anziehungsgeſetze wirke,
iſt zufällig, unbeſtimmbar; ſie ſchießen bunt und kraus durcheinander. Habe
nun ich dieß Spiel in der Macht, oder es mich? Beides iſt wahr und
dieß eben iſt der Begriff der Willkühr; ein Knäuel von Nachbarſchaften
und Wahlverwandſchaften, worin die Dinge an ſich ſtehen, wirrt ſich zu-
ſammen mit einem zunächſt von der Freiheit gegebenen Anfang, dann
wiederholten ſchwachen Eingriffen derſelben, ſchließlich aber mit allem dem,
worin das freie Subject unfrei iſt, mit ſeinen ſinnlichen Wünſchen und
Einfällen, welche nach ihrem Belieben die Naturordnung durch falſche
Einſchiebungen der an ſich objectiv gültigen Kategorieen durchbrechen und
zu blauen Möglichkeiten miſchen. Dieſe ſubjectiv ſtoffartige Seite iſt im
Folgenden ausdrücklich aufzunehmen; zunächſt handelt es ſich um die Ver-
änderung, welche nun mit den Bildern vor ſich geht. Die Naturformen
werden durcheinander geworfen; das Thier kann reden, der Menſch kann
fliegen, der Körper hat keine Schwere und dieſer ganze Miſchmaſch jagt
ſich unſtet in bunter Flucht; die Zeit wird nicht nur objectiv in den Ver-
hältniſſen des Vorgeſtellten überſprungen, ſondern das ganze Schattenſpiel
huſcht in ſauſendem Fluge am Geiſte vorüber; der Geiſt macht ſein Weſen,
die zeitliche Bewegung, im erſten Rauſche gewaltſam geltend an der Na-
tur, wird daher trunken von ſeinem eigenen Zauber fortgeriſſen, der ihm
über den Kopf ſchwillt, wie Göthe’s Zauberlehrling. Die Willkühr der
neuen Verbindungen iſt nicht Schönheit; dieſe hebt die Naturformen nicht
auf, ſondern läutert ſie. Wird aber dennoch von dieſen willkührlichen
Verbindungen Einiges hinübergenommen in die wahre Schöpfung der
Schönheit, wie Centauren, das Gefolge des Bacchus, Engel, Teufel, Ge-
ſpenſter, Wunder aller Art, ſo iſt wohl zu bedenken: erſtens, daß dieſe
Geſchöpfe zu den Stoffen gehören, welche die künſtleriſche Phantaſie von
dem Volksglauben überkommt, welcher in dieſer Richtung noch nicht wahr-
haft äſthetiſch, ſondern in der unreifen Weiſe der Einbildungskraft ge-
[327] dichtet: Stoffe, welche die Phantaſie nun hinnimmt, wie Objecte der Na-
turſchönheit, ſo aber, daß ſie ſich thätig erweist, das wuchernde Uebermaaß
zu beſchneiden, die unſtete Flucht zum Stehen zu bringen, das Wildfremde
mehr und mehr zu vermenſchlichen. Die nähere Betrachtung dieſes wich-
tigen Punkts gehört in die Lehre von der Geſchichte der Phantaſie oder
des Ideals. Zweitens: die Phantaſie ſelbſt kann in dieſen Taumel der
Einbildungskraft zurückgreifen, der Dichter ſelbſt Wunderbares erſinnen.
Dann ſpinnt er aber entweder nur fort an jenem Volksglauben, auf deſſen
Boden er ſelbſt noch ſteht, und daſſelbe Verhältniß wiederholt ſich, wie
im vorhin genannten Falle; oder er ſteht nicht mehr auf dieſem Boden,
ſondern erkennt die reine Nothwendigkeit und Zuſammengehörigkeit aller
Naturformen: in dieſem Falle wird er aber entweder dieſe Spiele als
untergeordnete und dienende an den Saum ſeines Thuns in gewiſſe bloß
anhängende Zweige der Kunſt (Mährchen, Fabeln, Arabesken u. ſ. w.)
verweiſen, oder es iſt ihm ſo Ernſt damit, daß er ſie als eigentliche
Schönheit behauptet, und dann iſt er nicht zur ächten Phantaſie gediehen,
ſondern in der Einbildung ſtehen geblieben.


§. 389.

Der Geiſt vermag durch dieſes Spiel, das als Werk der freien Wieder-1
erzeugung reproductive Einbildungskraft heißt, über jedes Gegebene
hinauszugehen und ſich eine zweite Welt zu ſchaffen; aber ſchön iſt dieſe Welt
nicht nur aus den in §. 388 genannten objectiven Gründen, ſondern auch aus
den ſubjectiven nicht, weil er ſich hinter dieſem Spiele zurückbehält und es in
dieſer ſchwankenden Syntheſe noch weniger, als in der Anſchauung des Natur-
ſchönen (§. 381), ohne ſtoffartiges Intereſſe abgehen kann, wo es denn zufällig
iſt, ob er vermittelſt ſeiner Sinnlichkeit von den eigenen Bildern zur Begierde
2
nach ihrem Gegenſtande gereizt wird, oder ob er mit wahrer Freiheit denſelben
ethiſch zu beſtimmen, theoretiſch zu durchdringen und demgemäß dem Bilder-
Getümmel ein Ende zu machen beſchließt. Dieſe Formen des Intereſſe’s
3
ſind zur Entſtehung der Phantaſie vorausgeſetzt, aber nur als Vorbedingungen,
nicht als bleibende und beſtimmende Bewegungen.


1. Die „verzärtelte Tochter Jovis,“ die uns über „den dunkeln Ge-
nuß, die trüben Schmerzen des augenblicklichen beſchränkten Lebens, das
Joch der Nothdurft“ hinaushebt, iſt doch nicht das, was wir im ſtrengen
Sinne Phantaſie nennen. Sie iſt Verſchönerung des Lebens, noch nicht
Schönheit; ſie wird oft genug zur Beſchönigung. Das Subject hat in
ihr ein großes Gut, ein Aſyl, eine Fata Morgana zur Flucht aus allen
Hemmungen der eiſernen Nothwendigkeit, einen Zaubermantel, der den
[328] Gefangenen, den Kranken, jeden Unglücklichen in das Land des Wunſches
entführt, aber auch einen Chor von verlockenden Dämonen, die Mephi-
ſtopheles „die Kleinen von den Seinen“ nennt. Der Menſch kann dieſen
zauberkundigen Diener in jeder Weiſe zu ſeinem Dienſte verwenden und
lebt durch ihn mitten im Leben immer ein zweites Leben. Der §. nennt
dieß Verhältniß (nicht die eigentliche Phantaſie, wie Hegel) eine Syntheſe.
Wir gehen nämlich zunächſt, ohne umzuſehen, den geraden Weg, der
von der Anſchauung zur Phantaſie führt, aber wir müßen doch den con-
creten Geiſt, der ſo oder ſo mit Gehalt erfüllt iſt, nebenherführen, die
Beziehungen, in die er zu den uns getrennt vorliegenden Thätigkeiten treten
kann, ſeitlich in’s Auge faſſen, um dann am rechten Punkte beide Linien
zu vereinigen. In der Einbildungskraft nun gießt ſich der Geiſt noch nicht
mit ſeiner erfüllten Unendlichkeit in ſeine Bilderwelt; ſie umgaukelt ihn,
ſie reißt ihn fort, ſie dient ihm und beherrſcht ihn, wie es kommt. Dieß
äußerliche Verhältniß iſt (bloße) Syntheſe.


2. In dieſer Syntheſe iſt das Verhältniß des Subjects zu ſeinen
Bildern zunächſt ein ſtoffartiges, eine Beziehung des Intereſſe’s (§. 75),
und die erſte Form iſt, wie ſchon berührt, das ſinnliche Intereſſe, per-
ſönliche Neigung und Abneigung, Begierde und Abſcheu. Jeder weiß,
daß die Einbildungskraft ſogleich in prickelnde Thätigkeit tritt und zu
weben anfängt, wenn Hunger, Eitelkeit, lebhafter Wunſch des Beſitzes,
unmächtige Racheluſt nach Mitteln ſucht; da ſehen wir uns ſelbſt, wie
wir zaubern und bezaubern, uns unſichtbar machen können, uns durch
die Kuchenmauer des Schlaraffenlands eſſen. Aber nicht nur dieß: alle
perſönliche Leidenſchaft und ganz abgeſehen von Erdichtung dienſtreicher
Wunder iſt nicht durch die bloße Anſchauung, ſondern weſentlich erſt durch
die Einbildungskraft vermittelt. Der Menſch verſieht ſich in ſein Bild und
jede Handlung der Leidenſchaft iſt Ausführung nach dieſem imagina-
tiven Concepte. Daher hat der lebhafte Menſch nicht einmal Freude am
Gelingen, wenn es dieſem Bilde nicht entſpricht, wenn ihm ſein Bild
in’s Waſſer fällt.


Der ſittliche Geiſt hält die gaukelnde Flucht der beſtechenden Bilder
an, das wahre Bild des Lebens durch berichtigende Vergleichung mit der
Anſchauung in ſeinen Mängeln feſt, um darauf den Plan ſeines Handelns
zu bauen; der denkende geht zunächſt ebenfalls vom Willensacte dieſes
Einhaltens aus, bildet die Vorſtellung im engern Sinne, eine Zuſammen-
faſſung der weſentlichen, Ausſcheidung der unweſentlichen Züge, doch nur
zum Zwecke der weiteren Auflöſung in den abſtracten Begriff, den nur
noch wie ein Schatten das bleiche „Gemeinbild“ begleitet. Auch dieſe beiden
Arten des Intereſſe’s ſind ſtoffartig und daher außer-äſthetiſch (vergl.
§. 76 u. 78).


[329]

3. Wenn dieſe drei Formen des Intereſſe’s ganz zur Seite liegen,
warum führen wir ſie dennoch auf? Deßwegen, weil die Phantaſie die-
ſelben, aber als überwunden, nicht als Formen, welche auf dem Wege
zu ihr führen, aber als ſeitliche Ströme, die ihr zugefloſſen ſein müßen,
vorausſetzt. Der Genius muß viel und heiß von der Leidenſchaft bewegt
worden ſein, er muß ihre tiefſten Stürme, er muß der Menſchheit ganze
Freude und ganzen Jammer an ſich erfahren haben (Werther’s Leiden,
Fauſt, Taſſo: Selbſtbekenntniſſe). Der Genius muß aber auch von ſitt-
lichem Intereſſe für die großen Fragen der Menſchheit und ebenſo von
Wiß- und Erkenntniß-Begierde bewegt ſein. Die Probe der Leidenſchaften
wird ohne Schuld nicht ablaufen, aber die Stärke der ſittlichen Heilkraft
wird zur glücklichen Kriſis führen (Shakespeare’s Jugendſünden, Tiecks
Darſtellung und Zuſammenſtellung mit R. Green und Marlowe im
Dichterleben); aber vor Allem für das ſittliche Leben im Großen muß
die Bruſt voll Theilnahme ſein. Reiche Kenntniſſe, Verſtand und Verſtänd-
niß werden die Lebendigkeit des theoretiſchen Geiſtes bewähren. Aber
Leidenſchaftlichkeit, Wille des Handelns, Drang und pädagogiſcher, politi-
ſcher Wiſſenstrieb darf nicht das Beſtimmende im Charakter des Genius
ſein, insbeſondere der Wiſſensdrang nicht auf die letzten Gründe,
ſondern nur auf ein Eindringen, Verſtehen der Beziehungen und Ver-
mittlungen gehen, er muß die lebendige Form als unaufgelösten, ſchließlichen
Anhalt ſtehen laſſen. Der Dichter darf nicht Philoſoph ſein; Göthe war z. E.
gelehrter Botaniker, träumte aber von einer abſoluten Pflanze als etwas
Wirklichem. Was nun mit dem Sturm der Leidenſchaft, was mit dem
ſittlichen und theoretiſchen Intereſſe vor ſich gegangen ſein muß, wenn
dieſe Bewegungen in die Phantaſie als aufgehobene Momente aufgehen
ſollen, wird ſich zeigen. Hier fragt ſich nur noch, wie weit auch in dieſer
Stufe des Prozeſſes die allgemeine Phantaſie mitgehe. Das Spiel der
Einbildungskraft iſt es recht eigentlich, wo ſie zu Hauſe iſt; hierin iſt
jeder wohlorganiſirte Menſch und ſind vor Allem alle noch nicht verbildeten
Völker Dichter. Das Intereſſe aber, ſowohl das der Leidenſchaft, als
das ethiſch praktiſche und theoretiſche iſt dem Genius in beſonderer Wärme
und Fülle eigen; er lebt ein volleres Leben, als die Maſſe, und ſeine
Werke bezeugen eine innigere Sympathie mit den Nerven des allgemeinen
Lebens, mit dem, was packt, erſchüttert, den innerſten Menſchen mit
tauſend Fragen beſchäftigt. Er ſcheint Eins mit dem Lebensblute des
Menſchenlebens, ſein Herz erweitert ſich zum Herzen der Welt und wenn
ſeine Werke den Zuſchauer im Innerſten ſchütteln, ſo muß dieſer ſich
verwundert fragen, wie ſtumpf er ohne ihn an dem Großen und Mäch-
tigen vorübergegangen wäre. Und doch macht dieß allein noch gar nicht den
Dichter und wiſſen wir, wenn wir ſein bewegtes Herz kennen, noch nichts
[330] vom Geheimniß der Form, in die er das pathologiſch Bewegende ſo ge-
goſſen, daß es zugleich den pathologiſchen Stachel verloren hat. —


§. 390.

Dieſe Syntheſe verſchwindet im Traume, in welchem der Geiſt ganz
in ſeine Bilderwelt aufgeht. Der Traum ſteht wegen dieſer vollendeten Auf-
löſung äſthetiſch höher, als die wache Thätigkeit der Einbildungskraft; allein eben-
ſoſehr auch niedriger, denn in ihm iſt mit der Freiheit und der ſelbſtbewußten
Trennung der Subjectivität und Objectivität auch alle Beherrſchung und Durch-
bildung der ſich drängenden inneren Geſtaltungen unmöglich geworden.


Indem wir die Stufe ſuchen, auf welcher der Geiſt ſeine Bilder zur
reinen Form erhebt, tritt zugleich eine andere Kategorie von ſelbſt in un-
ſere Unterſuchung ein, nämlich die der Subjectivität und Objectivität, welche
im folg. §. erſt ausdrücklich hervorgeſtellt werden ſoll. Dieß verhält ſich
ſo: der Geiſt, der als Einheit und Allgemeinheit, als theilhaftig der ab-
ſoluten Idee vorausgeſetzt iſt, ſoll die Gewißheit, daß dieſe wirklich iſt,
ehe er noch in der Form des Denkens dieſe Wirklichkeit als eine in un-
endlichem Prozeſſe ſich vollziehende (§. 10. 12. 52, 2.) begreift, in ein
Einzelnes legen. Dieß kann er nur vermittelſt eines inneren Bildes, das
er ſich von dieſem Einzelnen macht (§. 381). Dieſes Bild iſt zunächſt
mit allen Mängeln ſeines Gegenſtands, des empiriſch wirklichen Einzelnen be-
haftet. Der Geiſt muß es daher mit der Einheit und Allgemeinheit der
Idee, die in ihm lebt iſt, durchdringen und umbilden; er muß ſich
in daſſelbe hinübertragen. Dann hat er ein reines Bild vor ſich, aber er
hat es auch dann erſt vor ſich, hat es (innerhalb ſeiner ſelbſt) ſich ge-
genüber; denn erſt, wenn ſein Bild ſo viel iſt, als er
, wenn
auf der anderen Seite daſſelbe Gewicht iſt, wie auf der einen, iſt Gegen-
überſtellung. Das Bild iſt erſt ein Du, wenn das Ich auf ſeiner Seite
iſt. Erſt die vollendete Einheit des Geiſtes mit ſeinem Bilde iſt Zweiheit
beider und umgekehrt; erſt wenn ſich der Geiſt an ſein Bild ganz ent-
äußert, ſieht er in ihm ſein Spiegelbild ſich gegenübertreten. Die vollen-
dete Durchleuchtung des Bildes iſt daher zugleich ſeine vollendete Ob-
jectivität
(im Sinne einer überhaupt erſt inneren Verdopplung des
Geiſtes). In der Syntheſe der wachen Einbildungskraft nun (§. 389)
behielt ſich der Geiſt noch zurück; ſeine Bilderwelt blieb daher unrein,
unſtet, haltlos, bleich und grell zugleich. Man laſſe ſich daran nicht irre
machen durch die Beobachtung, daß die Bilder ebenſoſehr ſtoffartig den
Geiſt beherrſchen, als auch frei von ihm verarbeitet werden; denn ſie
rächen ſich an ihm gerade dafür, daß er ſich nicht ganz in ſie giebt, ſon-
[331] dern als ſeine Gaukler neben ſich herführt. Das Entgegengeſetzte dieſer
Syntheſe nun tritt im Traume ein, den die Aeſthetik an höherer Stelle
aufzuführen hat, als die Pſychologie. Der Traum iſt bekanntlich ein
vollkommener Dramatiker; das Ich des Träumenden vertheilt ſich ſo rück-
haltslos an ſeine Perſonen, daß ſie es oft genug mit Neuigkeiten über-
raſchen, mit Räthſel-Aufgaben in Verlegenheit ſetzen, die es ihnen doch
offenbar ſelbſt in den Mund gelegt hat. Es bläst ihnen ein und meint,
ſie blaſen ihm ein (vergl. die geiſtreichen Bemerkungen J. P. Fr. Rich-
ters Vorſch. d. Aeſth. §. 57). Der Träumende behält wohl auch ſich
ſelbſt, aber nicht außerhalb der Auftritte, die er ſich vordichtet, ſondern
als Mithandelnden; ja ſo ganz objectiv iſt die Sprache des Traums, daß
man oft genug träumt, Jemand neben ſich zu haben, der an einem Kör-
perſchmerz leide, ihn bedauert oder wohl ſchadenfroh betrachtet, bis man
erwacht und findet, daß man ſelbſt der Leidende iſt. Man kann ſich wohl
auch als Träumenden träumen und über die Seltſamkeit des Traums
verwundern; aber die ſich wundernde Perſon iſt ja jetzt ſelbſt nur ein
geträumtes, in eine Reihe von Traumſcenen verſetztes Bild des
wirklich Träumenden; der geträumte, in den Traum ſelbſt verſetzte Gegen-
ſatz von Subjectivität und Objectivität iſt daher nicht der wahre; dieſer
wäre nur dann da, wenn ich, für mich bildlos, meinen ganzen Traum
als bloßen Traum, alſo auch jenes im Traum ſich wundernde Ich als
mein blos geträumtes Ich wüßte. Wenn das Verhalten der wachen Einbil-
dungskraft zu ſubjectiv war, ſo iſt dieß Verhalten völlig objectiv. Allein wie
dort der Vorbehalt der Subjectivität ſich durch Selbſtverluſt an die Ob-
jectivität (ſtoffartiges Hingeriſſenwerden) beſtrafte, ſo iſt hier, zunächſt ſo
zu ſagen, zu viel Objectivität, um von wahrer Objectivität reden zu können.
Hat das Objectivirte ſich kein Ich gegenüber, ſo fällt es gegenſatzlos ganz
in das Ich: die Bilder ſpringen mit dem Ich davon, gehen mit ihm durch,
aber ebenſo richtig iſt, daß das Ich jetzt einfach, ungeſchieden in ſich, nur
Ich iſt. Es verliert ſich ſelbſt in ſich, ſinkt in ſich hinein, läuft mit
ſich davon. Der Vorzug des Traums bleibe aber zunächſt ſeine ganz
bildliche, ganz objective, ganz plaſtiſche Sprache, eine „Hieroglyphen-
Sprache, Ur- und Naturſprache der Seele“, wie ſie Schubert in dem
erſten Cap. ſeiner Symbolik des Traums treffend, aber mit myſtiſcher Ueber-
ſchätzung dargeſtellt hat, ſo können wir die völlige Objectivität auch als
völlige Unmittelbarkeit bezeichnen und werden auch dieſe Kategorie
mit Nächſtem ausdrücklich einführen. Indem nämlich der Geiſt nur in
Bildern ſpricht, ſo iſt damit auch ſchon gegeben, daß er in dieſer Sprache
keinen Umweg durch ein von der anſchaulichen Darſtellung getrenntes
Denken und Wollen nimmt, ſondern alles Denken und Wollen nur ganz
und mit einem Schlage in die Darſtellung ſelbſt legt. Allein auch dieß

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 22
[332]hat im Traume wieder ſeine Kehrſeite. Es iſt leicht unmittelbar verfahren,
wenn zur Vermittlung die Bedingungen gar nicht vorhanden ſind, wenn keine
Vermittlung zu überwinden iſt; die Unmittelbarkeit iſt dann ein unfreies
Einſinken in die Natur; das Einſinken des Ich in ſich iſt ein Einſinken
in ſich als Natur. So ergibt ſich denn von ſelbſt, was den Traumbildern
zum Schönen fehlt. Im Schlaf fällt die Subjectivität in ihren Natur-
grund zurück, der Gegenſatz von Geiſt und Leib erliſcht in die dunkel
webende Einheit der Seele; dennoch kann der Gegenſatz nicht ſchlechthin
aufhören, er ſetzt ſich fort, aber ſo, daß er ſelbſt die Form der Unmittel-
barkeit annimmt, der Geiſt reagirt gegen die Natur innerhalb derſelben,
tritt als Selbſt ſeiner Natur ſo gegenüber, daß auch dieſes Selbſt Natur
iſt, vergl. Roſenkranz Pſychologie zweite Aufl. 113 ff. Selbſt Natur ge-
worden ſtellt der Geiſt ſeiner Natur eine zweite Schein-Natur gegenüber,
er will noch thätig ſein, die Organe ſeines wachen Lebens ſind ihm aber
entzogen, er kann nach außen nicht wirken, ſo benützt er gleichſam die
Zwiſchenzeit, ſich im Innern eine Schaubühne, ein Theater aufzuſchlagen,
worin er, ſo gut es geht, ſich unterhält. Weil ihm aber der wahre Ge-
genſatz fehlt, ſowohl innerhalb ſeiner ſelbſt, der Gegenſatz von Subject
und Object im Bewußtſein nämlich, als auch außerhalb ſeiner, der Ge-
genſatz ſeiner Welt und der wirklichen, wodurch er jene an dieſer ver-
gleichend meſſen und beobachten könnte, ob er die Erſcheinungen der Natur
in der Umwandlung, die er mit ihnen vornimmt, nicht über ihre unab-
änderlichen Grundformen und Geſetze hinausgetrieben, ſo nimmt ſeine
Geſtaltenwelt den allgemeinen Charakter der völlig geſetz- und zuſammen-
hanglos Raum und Zeit und alle organiſche Einheit der Erſcheinungen
in wilder Jagd maaßlos überſpringenden Geiſterhaftigkeit an. Noch mehr
als von den Bildern der Einbildungskraft gilt es daher von den ſeinen,
daß ſie zwar in Bewegung und Miſchung die Natur überbieten, aber
keine qualitative Umwandlung derſelben, alſo keine Schönheit darſtellen.
Wohl nimmt der Geiſt ſeinen übrigen Gehalt, alſo, wenn er in Anlage
oder wirklicher Bildung ein edler iſt, auch ſeinen Adel in den Traum mit
und es tauchen daher in ſeltenen Fällen entzückende, in Wonne noch in’s
Wachen nachzitternde Bilder auf; allein auch hier umſchwebt nur Unend-
lichkeit der Ahnung, nicht arbeitet wahrhaft geiſtige Unendlichkeit ſie zur
klaren Form aus. So wenig iſt der Geiſt ſeiner mächtig, daß er in
demſelben Zuſammenhang zu den häßlichſten, eckelhafteſten Bildern der
Wolluſt und jeder Schändlichkeit übergehen kann, wo er ſich dann noch
ungleich ſtoffartiger verhält, als in der wachen Einbildungskraft, ja dem
brünſtigen Thiere gleicht. Insbeſondere ſind wir im Traume durch die
Unendlichkeit und Einfachheit, welche hier namentlich die Angſt annimmt, über
die Maßen feig. Freie Verarbeitung durch Denken aber können die Traumbilder
[333] natürlich während des Traumes nicht erfahren; im Wachen zwar kann
ſich der Geiſt auf ſie zurückwenden, allein ſie liegen ſeiner wachen Welt
zu fern, um ſie anders, als ſpielend, in die Betrachtung zu nehmen. Die
Frage nach einem möglichen prophetiſchen Gehalte des Traums, Traum-
deutung und gar einem Handeln infolge derſelben, liegt uns hier ohnedieß
völlig abwegs. Von dem Phantaſie-Begabten kann man aus dieſen
Gründen nur ſoviel ſagen, daß er lebhaft träumen und daß ſich dadurch
diejenige Thätigkeit, durch die er die Schönheit erzeugt, eine weitere Maſſe
von Bildern voranſchicken werde, die durch ihre ſich reibende Fülle und
Vielheit der wahren Umbildung, welche ſie erfahren ſoll, vorausarbeitet.
Eine beſondere Thätigkeit derjenigen Nervengegend, welche bei der Ruhe
des Gehirns die Träume vermittelt, der Ganglien, iſt daher allerdings bei
Phantaſiebegabten Naturen anzunehmen. Der nüchterne Leſſing träumte
faſt gar nicht. Schon Plato und Ariſtoteles ſind geneigt, im Leben des
Unterleibs die locale Vermittlung der Phantaſie zu ſuchen; Plato verlegt
den Sitz des dichteriſchen, prophetiſchen Wahnſinns in die Leber (Timäus);
Ariſtoteles (Problem. 30, 1 ff.) leitet das Genie aus einer beſondern Wärme
der ſchwarzen Galle ab und behauptet, alle genialen Männer ſeien Me-
lancholiker (vergl. Ed. Müller Geſch. d. Theorie und Kunſt bei den
Alten B. 2. S. 32.) Soviel iſt gewiß, daß die phantaſievollen Naturen
launiſch, reizbar, Kinder der Stimmung ſind, und man wird den nächſten
phyſiologiſchen Grund immerhin in einer erregbaren Diſpoſition der Or-
gane ſuchen müſſen, die auch die Verdauung beſorgen; ſie neigen zur
Hypochondrie, ſind ſchreckhaft und Alterationen pflegen ihnen ſchnell den
Magen zu affiziren. Schreckhaft ſind ſie allerdings, weil ihnen die Ein-
bildungskraft raſch das Drohende verdoppelt, der Phantaſieloſe wird immer
muthiger ſein, denn es iſt ſchon geſagt, daß wir das Bild mehr, als die
Sache, fürchten; die ſchnelle, ganz unmittelbare Entzündbarkeit der Ein-
bildung muß aber eben durch die beſondere Stimmbarkeit des Nervenlebens
vermittelt ſein. Meine man nicht, dieß heiße den Genius zu tief unten
ſuchen, denn wir ſind jetzt noch in dem Gebiete, wo die Freiheit und Be-
ſonnenheit abgeht; wir müſſen wieder zu dem aufſteigen, was als höhere
Thätigkeit durch das Gehirn vermittelt iſt.


Uebrigens verſteht ſich von ſelbſt, daß die allgemeine Phantaſie dem Ge-
biete des Traumes noch lebhaft ſich öffnet, daß der Traum als Natur-
Act der Seele allgemein menſchlich, nur reicher in den Begabten iſt.


§. 391.

Subjectiv überhaupt iſt zwar die Exiſtenz des Schönen als Phantaſie,
aber ſchon innerhalb des Subjectiven ſoll volle Objectivität entſtehen, denn

22*
[334]reine Form, alſo ein von der Idee, dem Gehalte des Geiſtes, ganz durch-
drungenes Bild ſoll ſich im Geiſte dem Geiſt gegenüberſtellen; behält er aber
ſich mit dem Gehalte der Idee zurück, ſo kann er dieſe nur auf vermittelte
Weiſe zu dem Bild in Beziehung ſetzen. Jene Syntheſe (§. 389) iſt daher
zu ſubjectiv und vermittelt, der Traum aber zu objectiv und unmittelbar. Sub-
jectivität, Freiheit, Bewußtſein und Objectivität, unbewußtes und nothwendiges
Thun, Vermittlung und Unmittelbarkeit ſollen in dem Prozeſſe der Erhebung
des Bildes zur reinen Form in ungeſchiedener Einheit wirken.


Dieſer §. ſtellt in gedrängter Faſſung heraus, was zu dem vorher-
gehenden in der Anmerkung vorgebracht wurde. Schon in der Abtheilung
a wurde entwickelt, daß das Bild unreif bleibt, wenn es nicht von der Ver-
wechſlung mit dem Gegenſtande ſich ganz ablöst und nur im Geiſte als
das ſeinige ſich von ihm gegenübergeſtellt wird. Eben wenn es in dieſem
Sinne ganz ſubjectiv wird, ſo wird es, im Sinne innerer Gegenüberſtellung,
erſt ganz objectiv, und ebendaher ſagten wir, das Traumbild ſei zu ob-
jectiv: es iſt dieß, weil es ebenſoſehr nicht objectiv genug iſt, weil es zwar
nicht mit dem wirklichen Gegenſtande verwechſelt, aber doch in voller Täu-
ſchung, in die ſich der Geiſt verliert, für objectiv gehalten wird. Der
wache Geiſt behält außer dem innern Bilde zugleich den Gegenſtand, um
jenes mit dieſem zu vergleichen, und ſo iſt allerdings mit der vollen innern
auch eine, das Bild an der Sache meſſende, äußere Objectivität vorhan-
den; wir haben die Natur im Rücken, dürfen ſie aber nicht verlieren. Die
uns entſtandene Forderung können wir nun auch ſo ausdrücken: ein waches
Träumen, Traum in Wachen (wenn man nur die ganz eigentliche Be-
deutung dieſes Ausdrucks, die auf Somnambuliſmus, Wahnſinn und das
einſchlägige Krankheitsgebiet weist, gehörig fernhält). Ein vorläufiges
Beiſpiel aber mag uns Göthe geben. Er wollte mit Recht ſeine Dichter-
Natur beſonders daran erkennen, daß jeder Gegenſtand von vorwiegend
dialektiſchem Inhalt ihn von jeher alsbald nöthigte, das Für und Wider
an vorgeſtellte Perſonen zu vertheilen und ſich innerlich eine Scene aus-
zumalen, wo dieſe Perſonen lebhaft, ſtehend, ſitzend, aufſpringend, ge-
ſticulirend über die Sache debattirten, ja, daß er ſich ebenſo und nicht
anders die Aufgabe zur Klarheit zu bringen wiſſe. Dieß iſt das Verfahren
des Traums, dieſes ſich Eingebenlaſſen von Gebilden, denen man doch ſelbſt
eingegeben hat, aber mit der Freiheit des wahren Bewußtſeins, denn die
innere Bühne geht mit dem Dichter nicht durch, die Entwicklung folgt dem
vernünftigen Inhalt und wird von einem Denken, — das ſich doch keineswegs
neben ſein inneres Bild hinſtellt, — überwacht. Eben dieſe Einheit aber
des Denkens, Wollens und des unbewußten, nothwendigen Thuns ſuchen
wir erſt.


[335]
γ.
Die eigentliche Phantaſie.

§. 392.

Zuerſt iſt Alles, was im Bisherigen als vorausgeſetzt im Subjecte aus-1
geſprochen wurde, dahin zuſammenzufaſſen, daß dieſes ein ganzer Menſch ſein
muß: eine Perſönlichkeit, welche jedes Einzelne mit der Friſche der Anſchauung
und Wärme des Gefühls ergreift, ſich leidenſchaftlich von ihr bewegen läßt,
aber es auch in die Einheit der Idee zurückführt, die ſein allgemeines, nicht
in die Beſtimmtheit des ethiſchen Handelns, noch der Religion, noch des reinen
2
Denkens ſich legendes Pathos iſt.


1. Dieſer §. iſt alſo die Zuſammenfaſſung deſſen, was wir vom Ge-
halte oder von der Idee im Schönen nunmehr in der ſubjectiven Wen-
dung, wie ſie nämlich im Beſitze des das Schöne erzeugenden Subjectes
ſein muß, vorauszuſetzen und im Bisherigen nacheinander vereinzelt aus-
geſprochen haben. Es braucht keiner neuen Verſicherung, daß wir dadurch
über das Spezifiſche des Verfahrens in der Erzeugung des Schönen noch
nichts wiſſen, aber ebenſowenig eines Beweiſes, daß dieſe Vorausſetzung
der Idee als Gehalt im Subjecte nothwendig ſei. Der Phantaſiebegabte
muß nun alſo eine Natur ſein, die das Einzelne im Reichthum ſeiner
Mannigfaltigkeit liebreich und ſcharf erfaßt, aber auch jedes Einzelne im tiefſten
Innern in Einheit mit der Idee („dem Gattungsbewußtſein“ ſagt Schleier-
macher Aeſth. S. 146. 147) zurückführt; denn in jedes Einzelne ſoll das Uni-
verſum gelegt werden. Schiller ſagt (Briefw. zw. Schiller u. Göthe n. 784):
„Der Grad der Vollkommenheit des Dichters beruht auf dem Reichthum,
dem Gehalt, den er in ſich hat und folglich auch außer ſich darſtellt, und
auf dem Grad von Nothwendigkeit, die ſein Werk ausübt. Je ſubjectiver
ſein Empfinden iſt, deſto zufälliger iſt es; die objective Kraft beruht auf
dem Ideellen. Totalität des Ausdrucks wird von jedem dichteriſchen
Werke gefordert, denn jedes muß Charakter haben, oder es iſt nichts;
aber der vollkommene Dichter ſpricht das Ganze der Menſchheit
aus.“ Freilich in demſelben Zuſammenhange ſagt er, daß mit „der dun-
keln Idee des Höchſten“ noch nichts geſagt ſei, daß er nur den, welcher
ſeinen Empfindungszuſtand in ein Object zu legen im Stande ſei, ſo daß
dieſes Object mich nöthigt, in jenen Empfindungszuſtand überzugehen,
folglich lebendig wirkt, einen Poeten, einen Macher nenne, daß ihm gerade
der Schritt vom Subject zum Object den Poeten mache. Jeder, der
dieß kann, ſei ſeiner Beſtimmung gemäß Dichter der Art nach, der Reich-
[336] thum des Gehalts bilde den Grad-Unterſchied. Hiezu iſt nur zu ſetzen,
daß der Grad nicht nur auf den Gehalt gehen kann; der größere Dichter
iſt nicht nur gehaltvoller, ſondern vermählt den Gehalt auch tiefer und
umfaſſender auf der Form. Jenen Schritt eben ſollen wir nun kennen
lernen; aber nach der Seite des Gehalts müſſen wir uns hier das Sub-
ject feſtſtellen, das ihn thun ſoll. Der Genius ſoll Alles vermenſchlichen,
Alles unendlich machen, in Alles eine Welt legen, daher muß er zuerſt
ſelbſt eine Welt ſein. Der Stoff mag ſein, welcher er will, in die unbe-
ſeelte Natur muß er ſo gut eine innere Unendlichkeit legen, als in eine
menſchlich ſittliche Erſcheinung. Jenes könnte höher ſcheinen, als dieſes;
darüber iſt für jetzt nur ſo viel zu ſagen: es gehört freilich ein reiches
Herz dazu, das Sprachloſe zu beſeelen, in Erde, Waſſer, Licht, Luft eine
menſchliche Stimmung zu legen, aber es kann auch die Tiefe und der
entfaltete Reichthum da nicht hingelegt werden, den ein Object aus dem
menſchlichen Leben im Geiſte des Phantaſiebegabten antreffen muß. Wir
können auf der jetzigen Stelle dieſe Tiefe, dieſen Reichthum immer noch
unbeſchadet des Unterſchieds der Objecte als eine im allgemeinern Sinne
ethiſche Größe faſſen; die Fähigkeit des Genius, ſich in die verſchiedenſten
Lebensformen zu verſetzen, ihnen ſo in’s Innere zu ſchauen, als hätte er
ſie ſelbſt durchlebt, iſt davon noch wohl zu unterſcheiden und gehört bereits
zum ſpezifiſchen Thun der Phantaſie. Es handelt ſich hier nur erſt vom
inneren Fond. Als einen ruhenden und fertigen Beſitz dürfen wir dieſen
freilich auch hier nicht denken. In der Flüſſigkeit und Wärme dieſes
Fond, in der reinen und allſeitigen Theilnahme eines im Guten heimiſchen
Gemüths haben wir den erſten Anſatz, die Vorbedingung der Selbſtver-
wandlung in die Objecte, dieſe Anlage des Dichters, daß „ihm das
Univerſum leiſe in das Herz ſchlüpft und ungeſehen darin ruht und der
Dichtſtunde wartet“ (J. P. Fr. Richter a. a. O. §. 57).


2. Die negativen Bedingungen waren hier ebenfalls noch einmal
(vergl. §. 389, 2.) zuſammenzufaſſen und zu beſtimmterer Vollſtändigkeit
die Frage über religiöſe Richtung mitaufzunehmen. Was nun zuerſt
das Sittliche betrifft, ſo liegen zweierlei Fragen vor. Die erſte iſt, ob der
Phantaſiebegabte ſpezifiſch auf das Ethiſche gerichtet ſein müſſe oder dürfe?
Er muß es nicht nur nicht, ſondern darf es nicht. Dieß braucht nach
§. 56 — 60 keiner weitern Auseinanderſetzung. Der ſpezifiſch ſittliche
Charakter, d. h. derjenige, der zum Handeln, ſei es pädagogiſch, philan-
thropiſch, ſozial überhaupt oder politiſch, ſo diſponirt iſt, daß dieß ſeine
ganze Lebensbeſtimmung bildet und ausprägt, bringt Alles unter den
Geſichtspunkt des Sollens und kann daher nicht zur Schöpfung des reinen
Scheins, der die Verwirklichung der Idee mit Einem Schlage vorausnimmt,
berufen ſein. Die andere Frage iſt, wie weit die Forderung der Sitt-
[337] lichkeit an das perſönliche Leben des Phantaſiebegabten zu ſpannen ſei.
Hier iſt nun einfach zu ſagen, daß die weſentliche Sittlichkeit eines jeden
Menſchen darauf geſtellt ſei, daß er ſeinem ſpeziellen Beruf lebe, daß alſo
der Phantaſiebegabte um ſo ſittlicher ſei, je mehr Schönes und je Schöneres
er hervorbringe. Vergeudet er ſeinen Geiſt in Genuß und unordentlichem
Leben, ſo ſchafft er wenig und Mangelhaftes, und da iſt in der äſthetiſchen
Beurtheilung die ſittliche von ſelbſt miteingeſchloſſen. Große Gaben, die
würdig geweſen wären, in den Himmel des Schönen gerettet und geſam-
melt zu werden, können in einem eiteln Leben hinter dem Weinglas, im
Salon und in liederlicher oder blaſirter Geſellſchaft verpufft werden; dieß
iſt bei ſpezifiſchem Berufe viel ſtrenger zu beurtheilen, als die Leidenſchaften
des Privatlebens, von denen §. 389, Anm. 2 die Rede war. Was aber
insbeſondere das Politiſche betrifft, ſo liegt in jetziger Zeit eine große
Schwierigkeit vor. Der Genius geht, wie im folgenden §. wieder auf-
zufaſſen iſt, von der Naturſchönheit aus. Eine in der Wirklichkeit ſchon
abgeſchloſſene Geſtalt ſoll ihm Stoff ſein, der naturſchöne Stoff muß der
Phantaſie eine gewiſſe Reife ſchon entgegenbringen. Der ſittliche Reichthum,
den wir von ihm fordern, ſoll ihm freilich die rechten, die großen geſchichtlichen
Stoffe weiſen, aber ſie müſſen auch Formfülle haben. Ihn zieht billig
der Glanz an. Iſt nun der Glanz da, wo die politiſche Berechtigung
und im Zeitbedürfniß gegründete Größe iſt, wie in den alten Republiken
und in der jungen Monarchie zu Schakespeares Zeit, ſo iſt es gut; iſt
aber das innere Leben nicht mehr da, wo der Glanz iſt, ſucht die politiſche
Idee eine neue Form und hat ſie noch nicht gefunden, ſo iſt der Dichter
übel daran: das Formbedürfniß zieht ihn zum ausgelebten Glanze und
das Gehaltsbedürfniß findet keine Form. Da fordert nun unſere Zeit
politiſche Kunſt im Sinne eines Mittels, Begeiſterung für das Ideal der
Zukunft zu wecken; das Wahre kann nur ſein, daß zu einer Blüthe der
Kunſt, wenigſtens derjenigen, welche Stoffe von politiſchem Gehalte verar-
beitet, ausgenommen gewiſſe blos anhängende Formen (Satyre u. ſ. w.),
eine ſolche Zeit gar nicht gemacht iſt. Vergl. hierüber den Aufſatz des
Verf. über Shakespeare im literarhiſtor. Taſchenb. von Prutz 1844, S. 94
ff. und die krit. Gänge Thl. 2, S. 283 ff. Allerdings kann man nun
ſagen, es könne vergangene Stoffe geben, deren Gehalt der modernen politi-
ſchen Idee ſo verwandt ſei, daß dieſe ungeſucht in ſie gelegt werden
könne; da tritt aber noch ein ſubjectives Hinderniß ein, von dem am Schluß
der Geſchichte der Phantaſie zu reden iſt. Eine ergänzende Beſtimmung
aber tritt zu den obigen Sätzen allerdings dadurch, daß ja, wie ſchon zu
§. 378 berührt iſt, auch das vom Unwillen über die Gegenwart und der
Idee als noch unverwirklichtem Gedanken lebhaft erregte Subject ſelbſt
Geſtalt genug für die Kunſt ſein kann: für gewiſſe Arten derſelben näm-
[338] lich. — Was die Religion betrifft, ſo darf ebenfalls nur §. 61—67 ſubjec-
tiv gewendet werden, um zu begreifen, daß ſpezifiſch auf Frömmigkeit
geſtelltes Pathos die ächte Phantaſie ausſchließt, daß ein Fieſole ſeine
ſchönen Anſchauungen nicht ſeinen Gebeten und Thränen verdankte, daß
es ſehr begreiflich iſt, wenn uns ausgezeichnete Maler chriſtlicher Mythen,
wie Giotto, als ſehr luſtige und witzige Patrone geſchildert werden, und
daß der moderne Kunſtpietiſmus, der den Künſtler zum Mönch machen
möchte, eine ſchwere Verirrung iſt. Auch Schleiermacher ſpricht ſich beſtimmt
genug über dieſen Punkt aus (Aeſth. S. 214 ff.); er nennt die religiöſe
Haltung der Meiſter in religiöſen Stoffen eine bloße Wirkung des Ge-
ſammtlebens auf ſie. — Endlich iſt nur §. 68 und 69 ſubjectiv zu wenden,
um die Richtung auf das reine Denken ganz von der Phantaſie auszu-
ſchließen. Nichts iſt hierüber belehrender, als die vielen Ausſprüche
Schillers, worin er ſelbſt klagt, wie der Philoſoph in ihm den Dichter
und umgekehrt ſtöre, ſeine Betheurung, daß er all ſein ſpeculatives Wiſſen
und Denken als Dichter gern um den gemeinſten techniſchen Handgriff
eintauſchen würde, ſein Gefühl des Fortſchrittes, als er an Göthe’s
ungetheilter Natur die Speculation, welche dieſer in ihrem Verhältniß zur
Aufgabe des Dichters ganz mit Recht (aus anderweitigen Gründen frei-
lich mit Unrecht) eine unſelige nannte, in die Phantaſie ſich wieder aufheben
fühlte. Ein Bruch blieb ihm aber immer. In der Lehre von der
Beſonnenheit in der Phantaſie iſt auf dieſen Punkt noch einmal zurück-
zuſehen.


§. 393.

1

Dieſes Subject findet zufällig irgend ein Naturſchönes, deſſen Gehalt
durch die Mitte der Anſchauung die in ſeinem Gemüth lebendige Idee als eine
2verwandte berührt und erfaßt. Die Wirkung wird (vergl. §. 381, 1.) zunächſt
mehr oder minder, kann aber auch im vollen Sinne ſtoffartig ſein; dann muß
aber, ehe der wahrhaft Schönes erzeugende Prozeß beginnen kann, die Leiden-
ſchaft ihren Verlauf bis zur Nähe der Abkühlung genommen haben.


1. Wir haben das Naturſchöne ſeit §. 385 zur Seite gelaſſen; jetzt
iſt der Moment, wo es wieder aufgenommen werden muß und für die
ganze Entwicklung liegt die größte Wichtigkeit darin, daß dieß gerade
hier geſchieht. Wir haben als Forderung oder Vorausſetzung ein mit der
Idee erfülltes Subject aufgeſtellt. Jetzt entſteht die ſchwierige Grundfrage:
wie dieſes mit einem Objecte ſo zuſammenbringen, daß es ſeine Idee ſo,
wie wir in §. 391 verlangten, unmittelbar und in völliger objectiver Ge-
genüberſtellung in jenes legt? Hier iſt es, wo ſich erledigt, was in §. 383,
[339] Anm. 2 in Ausſicht geſtellt iſt, der letzte Grund nämlich, warum der Aus-
gang von der Phantaſie eine falſche Anordnung der Aeſthetik wäre. Zieht
man nämlich nicht auf dieſem Punkte ein gegebenes Object mit der vollen,
ergreifenden, das Subject hinnehmenden Wirkung der Naturſchönheit heraus
aus der breiten Maſſe der Objecte, ſo wird man nie den Act der Zu-
ſammenſchmelzung und Ineinsbildung finden können, den wir fordern.
Das phantaſiebegabte Ich hat als ein mit der Idee erfülltes auch beſtimmte
Ideen; eine oder andere dieſer Ideen ſoll es in ein Object legen, —
welche? und in welches Object? Wo da den Uebergang finden, wenn
es nicht die Macht des Objects iſt, die zuerſt das Subject hinreißt, daß
es eben dieſe Idee, die in dieſem Object liegt, — nicht in es lege,
ſondern in ihm finde, zu der ſeinigen mache, dann, im eigenen Buſen
erwärmt, wieder in das Object gieße? Man wird, wenn man nicht ſo
verfährt, immer das Subject behalten, das nun herumſucht, mit Abſichtlich-
keit irgend eine Idee in irgend ein Object legt, und es iſt kein Grund
da, warum es nicht die Idee der Freiheit in die Form eines Thiers, die
Idee des Staats in den Körper eines Steins u. ſ. w. lege. Es wird
wohl äußere Vergleichungspunkte ſuchen und etwas zweckmäßiger ver-
fahren, ſo daß z. B. die Idee des Staats vielmehr in einen Bienenſtock
gelegt wird, aber die Idee der Gattung Biene iſt ein für allemal nicht
die des Staats, der Körper hat eine fremde Seele. In dieſen bodenloſen
Idealiſmus geräth man, wenn man vom Selbſt ausgeht und es nicht
nur unterlaſſen hat, ihm vorher die Naturſchönheit unterzubreiten, ſondern
auch weiterhin unterläßt, ihm ein beſtimmtes Naturſchönes als jeweiligen
Gegenſtand ſo zu geben, daß es dieſen Gegenſtand und in ihm ſeine,
des Gegenſtands, Idee ergreift, in den eigenen Geiſt, deſſen ſubjective Ideen
eben die reinen Ideen der Gegenſtände ſind, aufnimmt und ihm hier den-
ſelben Gehalt, der in ihm vorliegt, als einen ſubjectiv unendlichen zuführt. Ein
Stoff zündet in dem Subject auf allen Punkten, worin dieſes jenem verwandt
iſt. Man meint immer, wenn man den Gegenſtand premire, ſo gerathe man
in den Fehler, zu vergeſſen, daß Alles auf die Form ankommt. Dieß
iſt völlige Verwechſlung. Die Idee des Gegenſtands bringt im Gegen-
ſtand ſelbſt ihre Form mit; das künſtleriſche Subject findet natürlich
nicht die Idee des Gegenſtandes in der Trennung von ihrer Form, ſon-
dern als Eins mit ihrer Form, richtiger als Form ſchlechtweg, nur als
noch getrübte, der Umbildung harrende vor; wir ſtreiten jetzt gar nicht
darüber, wie ſich Weſen und Form verhalten, ſondern darüber, ob der
Künſtler das Ganze von Weſen und Form im Gegenſtand finde, durch
ſeinen Geiſt hindurchgehen laſſe und erhöht wieder gebe, oder ob er ein
erſonnenes Weſen in dieſe oder jene gefundene Form hineinzulegen habe.
Da nun dieſes zur Bildung von Larven führt, die eine fremde Seele im
[340] eigenen Leibe tragen, ſo iſt es ja klar, daß es allerdings auf den
Gegenſtand
, keineswegs nur auf das Subject des Künſtlers, auf die
Behandlung ankommt. Hierin nun iſt es, (vergl. §. 381 Anm. 2), wo
Rumohr, nebſt ſchwankender Anerkennung des Gegenſtands (z. B. a. a.
O. S. 156), ganz gegen ſeine Abſicht in den leeren Idealiſmus geräth,
wenn er (S. 133) ſagt, es heiße die Sache bei ihrem Ende ergreifen,
wenn man „ſich damit begnüge,“ den Werth oder Unwerth des Gegen-
ſtands ermitteln zu wollen. Begnügen ſoll man ſich allerdings nicht damit,
aber darum iſt es keineswegs „nur“ die Auffaſſung und Darſtellung, auf
die es, wie er fortfährt, ankommen ſoll. Wenn von hundert Künſtlern
jeder denſelben Gegenſtand auffaßt, ſo darf ihn doch jeder nur nach einer
Seite auffaſſen, die wirklich in ihm liegt, und ich erkenne aus der Ver-
ſchiedenheit dieſer Auffaſſung allerdings, daß ſich weſentlich „die Seele
des Künſtlers im Kunſtwerke zeigt“ (Schelling in ſ. Rede), aber die Seele
des Künſtlers, homogen zuſammengegangen mit der gegebenen, freilich
verſchiedene Seiten bietenden, innerſten Natur des Gegenſtands, oder
richtiger, der Gegenſtand, eingegangen in die verwandte Seele des Künſt-
lers. Hettner iſt in den §. 236, 3. angeführten Sätzen Rumohr gefolgt,
mit ihm in Baumgartens aus Halbwahrheit unwahren Satz gerathen, die
Kunſt könne auch Häßliches ſchön darſtellen (possunt turpia pulcre cogi-
tari),
und ſteigert nun dieſen Idealiſmus bis zu der Looſung: die Kunſt
ſei Ausdruck des Gedankens und nur dieſes. Von dem Mißlichen, das
in der Bezeichnung „Gedanke“ liegt, wollen wir abſehen und nur fragen,
ob denn dieſer Gedanke nicht für das jeweilige Kunſtwerk eben der Ge-
danke deſſen ſein müſſe, was im Gegenſtande liegt? Und ob man dieß
in der Aufſtellung eines Hauptſatzes weglaſſen dürfe, ohne jeder Willkühr
deſſelben vornehmen Gebahrens mit der Natur, wogegen Hettner auftritt,
Thür und Thor zu öffnen? In der Kritik einer neueren Kunſtausſtellung
zu Stuttgart las man, die Thiere ſeien als unreife Uebergangsform kein
Stoff der Darſtellung für die Kunſt, dann weiter: „da kann eine an-
dere Idee, als die ihrer eigenen Exiſtenz, nicht durch ſie zur
Erſcheinung kommen, ohne in Conflict mit der Form zu ge-
rathen
.“ Hier, in dieſem durch Gegentheil des Richtigen über das
Richtige ſehr belehrenden Satze, hat man die Folgen der rein ſubjectiven
Ableitung des Schönen. Ein Gegenſtand ſoll in dem Grade für die Kunſt
tauglich ſein, in welchem er zuläßt, eine andere Idee, als die ſeines eige-
nen Weſens, in ihn zu zwängen. Daraus folgt aber gerade, daß, je
ärmer ein Gegenſtand, deſto vortheilhafter er iſt. Ein Thier läßt ſich viel
eher gefallen, als Allegorie verwandt zu werden, als ein Menſch, und
eine Lichtſcheere leidet es mit aller Geduld als Sinnbild der Aufklärung
das Ganze eines Kunſtwerks abzugeben.


[341]

Zufällig ſoll ein Naturſchönes den Phantaſiebegabten treffen und
entzünden. Göthe ſagt, jedes wahre Gedicht ſei Gelegenheitsgedicht. Die
Zufälligkeit, die wir bisher auf allen Punken feſthalten mußten, geht hie-
mit auch in das ſubjective Gebiet als Ausgangspunkt der Bewegung ein.
Es folgt dieß nothwendig ſchon aus der eben aufgewieſenen Bedeutung
des Gegenſtands. Geht der erſte Anſtoß nicht von dieſem aus, ſo erhal-
ten wir immer einen Künſtler, der einen Vorrath von Ideen fertig hat
und herumſucht, in welche Körper er ſie willkührlich lege. Die Perſönlich-
keit des Phantaſiebegabten wird daher überhaupt etwas vom Charakter
der Zufälligkeit annehmen; ein ſich Gehenlaſſen, Warten auf gute Stoffe,
periodiſche Unthätigkeit, dann geſteigerte Fruchtbarkeit werden ihn bezeichnen.
Dennoch ſchließt der Begriff des Zufälligen gewiſſe Formen der Abſicht nicht
aus. Der Genius kann und muß nicht immer auf Stoffe warten, er
muß ſie aufſpüren, ſuchen. Maler machen Wanderungen, Reiſen, Dichter
leſen Geſchichtswerke, Novellen u. ſ. w.; abſichtlich iſt dabei nur die Durch-
ſuchung des Gebiets, der gute Stoff findet ſich dennoch zufällig, überraſcht,
erfaßt. Aehnlich verhält es ſich mit der Beſtellung. Die Phantaſie, ſagt
man, läßt ſich nicht commandiren. Allein ſobald wir vorausſetzen, das
Beſtellte ſei ein guter Stoff, ſo iſt die Beſtellung nichts weiter als eine
Hinweiſung auf denſelben und ebenſo ein Zufall, wie wenn der Künſtler
den Stoff ſelbſt gefunden hätte. Die erſte Richtung ſeines Geiſtes auf
denſelben iſt ein Willensact, allein dann wird die Natur des Stoffes ſelbſt
zu wirken beginnen und der unwillkührliche Fortgang, das einmal eröffnete
Spiel ſeines Innern, wird den willkührlichen Anfang aufheben. Man
muß ja hierin nicht zu haikel ſein, Künſtler ſind gern weichlich, ſie müſſen
geſchoben werden, es ſchadet ihnen gar nicht, wenn ſie mitunter invita
Minerva
an’s Werk müſſen; verwerflich und vom Künſtlerſtolze billig ab-
gewieſen ſind nur Beſtellungen von Stoffen, welche ihnen nichts entgegen-
bringen, d h. keine Naturſchönheit enthalten, elend war die Gelegenheits-
dichterei im früheren Sinne, das handwerksmäßige Verfertigen von Hoch-
zeits-Tauf-Leichen-Carmina um’s Geld. Wenn wir nun ſo von dem
künſtleriſchen Schaffen die Abſichtlichkeit, nur nicht allzuängſtlich, ferne hal-
ten, ſo iſt damit keineswegs geſagt, daß dieſes ganze, auf Zufall geſtell-
tes Thun nicht ein freies ſei. Wir haben nur hier noch nicht zu unter-
ſuchen, in welchem Sinn der Künſtler frei handle, in welchem nicht; aber
es verſteht ſich, daß, ſo wenig wir die eigene Idee des Künſtlers aus-
ſchließen, wenn wir auf den Gegenſtand dringen, der ihm ſeinen Ideen-
gehalt entgegenbringen ſoll, ebenſowenig die Freiheit aufgehoben iſt, wenn
wir Zufälligkeit der Anregung verlangen; ein Gegebenes, Gefundenes
umbilden beweiſt mehr Freiheit, als objectlos machen, was man mag.
Dennoch dürfen wir die naheliegende Einwendung nicht überhören: kann
[342] und darf denn die Phantaſie gar nicht frei erfinden? Wenn z. B. der
dramatiſche Dichter, bewegt vom Geiſte ſeiner Zeit, eine Fabel durchführt,
worin dieſer ergreifenden Ausdruck findet, muß er denn einen wirklichen
oder erzählten Vorgang zu Grunde legen? Genügt es nicht, daß Ein-
führung einzelner Perſonen, daß einzelne Scenen, Züge auf Erinnerung
an unmittelbar oder (durch Ueberlieferung) mittelbar geſchaute Naturſchön-
heit beruhen? Wir antworten zunächſt: beſſer iſt es gewiß immer, wenn
die Fabel eine gegebene iſt. Schiller fühlt ſich durch den ſtreng geſchicht-
lichen Stoff ſeines Wallenſtein heilſam beſchränkt und geſpornt; aber ſelbſt
dem Don Carlos liegt Geſchichte zu Grunde. Wird aber der Stoff, die
Fabel auch vermeintlich ganz erſonnen, ſo wird bei genauerer Selbſtprü-
fung der Dichter immer finden, daß die einzelnen Perſonen, Scenen, Züge,
die er auf der Grundlage der Anſchauung gebildet hat und nur einzu-
flechten meint, es vielmehr ſind, die den Gedanken der Fabel durch Ent-
faltung der in ihnen liegenden Keime in ihm weckten. Ein Maler, ein
Dichter ſieht eine Geſtalt, eine Scene; daran ſchießt ihm wie an einen
Magnet ſeine innere Welt an, er erweitert den unſcheinbaren Keim zum
Baume des Kunſtwerks; aber der Keim, der Magnet war gegeben. Dieß
kann völlig in der Weiſe geſchehen, wie wir ſie ſpäter als die des My-
thus werden kennen lernen, nämlich es kann eine Erfindung entſtehen als
erläuternder Commentar einer Anſchauung. Dafür ſtehe hier folgendes
merkwürdige Beiſpiel: Zſchocke erzählt in ſeiner Selbſtſchau, wie er mit
H. von Kleiſt und einem Sohne Wielands irgendwo einen franzöſiſchen
Kupferſtich ſah: la cruche cassée. „Wir glaubten ein trauriges Liebes-
pärchen, eine keifende Mutter mit einem Majolika-Kruge und einen groß-
naſigen Richter zu erkennen. Für L. Wieland ſollte dieß Aufgabe zu einer
Satyre, für Kleiſt zu einem Luſtſpiele, für mich zu einer Erzählung wer-
den.“ So iſt Kleiſts meiſterhafte Komödie: der zerbrochene Krug ent-
ſtanden. Die Fabeln des Ariſtophanes und der Komödie überhaupt ſind
meiſt erſonnen, aber ſie ſind Expoſitionen von Charakterbildern und Zeit-
motiven, die ſich vielfach und mit ſtarken Eindrücken dem Dichter in der
Wirklichkeit dargeſtellt hatten. Immer jedoch wird, wenn nur dieſe Ele-
mente gegeben ſind, nicht aber eine ganze Fabel durch Anſchauung, Ge-
ſchichte, durch Sage dargeboten iſt, die Gefahr da ſein, daß in den Cha-
rakteren und einzelnen Zügen zwar Phantaſie, in der Fabel aber Willkübr,
bloße Combination, bloße Einbildungskraft thätig iſt. Uebrigens ſoll da-
durch die Freiheit der Umbildung im Ganzen keineswegs verkümmert
werden, nur ſind in abſtracto die Grenzen nicht zu beſtimmen. Ein ver-
einzelter, ſocialer, novellenhafter Stoff z. B. läßt totale Umänderung der
Kataſtrophe (aus einer unglücklichen in eine glückliche und umgekehrt) zu,
ein großer geſchichtlicher nicht. Die griechiſche Tragödie hatte den großen
[343] Vortheil, an großen, durch Sage ſchon gehobenen und vereinfachten Fabeln
aus der vorgeſchichtlichen Zeit ſich thätig erweiſen zu können. Dieß Bei-
ſpiel iſt aus einer ſchon ſehr reichen Sphäre der Kunſt genommen. Ein
anderes, aus der Landſchaftmalerei, iſt einfacher. Die ſogenannte hiſtoriſche
Landſchaft war gewöhnlich ganz frei componirt, nur einzelne Studien nach
der Natur wurden eingewoben. Sie hatte ebendarum zu wenig Local-
phyſiognomie, Individualität, war abſtract, und es iſt als ein großer
Fortſchritt zu erkennen, wenn jetzt nicht ſtoffloſe Erfindung, ſondern nur
freie Durchbildung eines vorgefundenen Ganzen als Geſetz gilt. Noch
ein Beiſpiel aus der Plaſtik: Thorwaldſen hatte ein Modell; zufällig, um
auszuruhen, ſetzt ſich der müde nackte Junge und hält naiv ein Knie mit
beiden Händen; Thorwaldſen hieß ihn ſo verbleiben und hatte ein Motiv
von unnachahmlich glücklicher Naturſchönheit als Stoff eines urſprünglich
gar nicht beabſichtigten ſelbſtändigen Werks gefunden.


2. Alles Naturſchöne wirkt mehr oder weniger ſtoffartig (§. 381),
die Anſchauung, da ſie die Mängel deſſelben noch nicht tilgt (§. 387), iſt
ebendaher nicht frei von pathologiſcher Affection. Dieſe Wirkung wird
natürlich am ſtärkſten ſein, wenn Selbſterlebtes den äſthetiſchen Stoff bildet.
Ein ſchönes Weib kann einem Bildhauer Vorbild werden; liebt er ſie
aber und hat dieſe Liebe ſchon erſchütternde Schickſale gehabt, ſo iſt eine
pathologiſche Verwachſung ſo ſtarker Art da, daß zum Standpunkte der
reinen Form der Uebergang ſchwer iſt. Hier müſſen wir denn eine bereits
eingetretene Abkühlung der Leidenſchaft fordern; auch dieſe freilich mit
Unterſchied. Soll ich nur den Gegenſtand darſtellen, ſo kann und darf
die ſtoffartige Leidenſchaft ganz abgekühlt ſein, ſoll ich aber meine Leidenſchaft
ſelbſt (z. B. in einem Roman) darſtellen, ſo muß ſie noch in die eingetretene
Kühle nachwirken, fortzittern, eine Mitte zwiſchen Gegenwart und Erinnerung.
Da die Darſtellung ſelbſt es weſentlich iſt, welche die Leidenſchaft vollends be-
ſänftigt, ſo haben wir hier allerdings einen begreiflichen Zirkel vor uns: die
Ablöſung der Leidenſchaft vom eigenen Selbſt muß vorangehen, wenn dieſelbe
objectives inneres Bild und dieſes Bild reine Form werden ſoll, und: die Gabe
der Phantaſie bewerkſtelligt dieſe Ablöſung aus ihrem eigenen Bedürfniß, ſo
daß ſie dem ſittlichen Leben, ſelbſt abgeſehen von der Kunſt, erleichternd die
Hand bietet. So heilte ſich Göthe von der Leidenſchaft, um ſie darſtellen zu
können und zugleich beförderte die Darſtellung ſeinen Heilungsprozeß. Uebri-
gens ſind die Leiden Werthers noch durch einen weitern Umſtand für unſern
Zuſammenhang merkwürdig. Die dargeſtellte Leidenſchaft iſt ſelbſt erlebt;
zum Schluſſe aber hat das Ende des jungen Jeruſalem als Stoff gedient.
Göthe wußte einen ſolchen anfangs nicht zu finden; nun kam die Kunde
von dieſem Selbſtmord und er wußte Rath: das abſolute Pathos der
Sentimentalität mußte mit dieſer That der Selbſtzerſtörung endigen und
[344] der Dichter ſelbſt war, indem er fingirte, wie das Selbſterlebte ohne ſitt-
liche Ueberwindung endigen müßte, indem er dieß in’s Objective hinüber
warf, völlig frei. — Aber auch was nicht unmittelbar ſelbſterlebt iſt, eine
vergangene Begebenheit, an der ich nur leidenſchaftlich für oder wider
Theil genommen, muß mir erſt ſo weit wieder zurück- und gegenüber
treten, daß ich ſie, ohne die Theilnahme darum zu verlieren, gleichmäßig
und unbefangen betrachten kann, daß daher ſelbſt die feindlichen Kräfte,
die darin auftreten, Gerechtigkeit von mir erfahren, ſo feſt ich auch an
der von ihnen befeindeten Idee halte. Die Hand, die vom Fieber zittert,
ſagt Hippel, kann das Fieber nicht darſtellen. —


§. 394.

Das Subject und Object müſſen aber in Eines zuſammengehen und dieſe
Bewegung muß mit einem völligen Zurücktreten vom Object, einer Einkehr des
Subjects in ſich beginnen: ein Zuſtand der Stimmung, worin das erſte
Bild des Gegenſtands in einen geſtaltloſen Uebel verſinkt, aber in der unter-
ſcheidungslsſen Verſchmelzung deſto inniger das ganze Leben des Selbſt mit ihm
in Eines aufgeht; eine reine Luſt, worin ſowohl die Erhebung und Entrückung
aus der Welt des getrübten Daſeins empfunden, als auch die neue Geſtaltung
geahnt wird; ein Inſichſein, das als Außerſichſein erſcheint; bewußtloſe und
unwillkührliche Trunkenheit der Begeiſterung: der Anfang des dichteriſchen
Wahuſinns.


Der vorhergehende §. ſprach von den ſo zu ſagen nur hiſtoriſchen
Vorausſetzungen; der jetzige muß vornen anfangen, den ganzen Act be-
greiflich zu machen. Das Erſte iſt die Stimmung. Wer dieſen Zuſtand
nicht kennt, von welchem ſich Göthe und Schiller ſo viel ſchreiben, dieſes
durch alle Nerven zitternde Gefühl einer unnennbaren Erhöhung, deren
Grund und Gegenſtand man zunächſt nicht zu ſagen weiß, die Alles rings
umher in einem unbekannten und doch ſo bekannten neuen Lichte leuchten
ſieht und doch nichts Einzelnes mehr erfaßt, ſondern nur tief in ſich ſelig
iſt, der kennt nicht die Geburtsſtätte und Myſterien der ſchaffenden Phan-
taſie. Dieß erſte Moment ihres Prozeſſes iſt alſo zunächſt ein völliges
Zurücktreten von Object, denn dieſes ſoll nicht wiederholt, ſondern es ſoll
ſterben und neugeboren werden. Das Object geht in dieß „ſtille Schat-
tenland,“ in dieß Grab ein, worin es zuerſt erlöſchen ſoll. Wenn ſchon
der wirkliche Tod und die Zeitferne verklärt („was unſterblich im Geſang
ſoll leben, muß im Leben untergehn“), ſo muß nun auch das erſte, ſchon
dem Geiſt gewonnene, aber noch von den Malen der Erdenſchwere be-
fleckte Bild des Gegenſtands einſinken und ſterben, um neu zu erſtehen.
[345] Das Subject ſcheint nun allein zu ſein, ohne den Gegenſtand; allein es
hat ihn nur ſo innig in ſich heineingenommen, daß ſein eigenes Selbſt
und er ganz in einander aufgehen. Das Object wird flüſſig in ihm wie
Erz im Schmelzofen, weil es ſelbſt flüſſig wird und mit ſeinem ganzen,
von ſeiner ganzen Bildungskraft ungeſchiedenen, Gehalte in es einſtrömt. In
Wahrheit iſt dieſe dunkle Stätte, dieſe Brautnacht da, wo mit der reinen
Anlage aller Gattungen des Seins die Anlage des Ich, bildende Natur
und bildender Geiſt, urſprünglich Eins ſind. Der Phantaſiebegabte iſt
nun aber allerdings mitten in der Welt einſam, denn das Eine, was er
jetzt an ſeinem Buſen ſtill erwärmt, iſt eine Welt, die empiriſche Welt
hat alle ihre Bedeutung an dieſen Mikrokoſmus abgegeben; er iſt daher
gegen das Umgebende zerſtreut und ſcheint außer ſich, weil er zwar ganz
in ſich iſt, aber ſo, daß er in ſich ſelbſt nicht Object und Subject ſcheidet,
ſondern es ihm angethan iſt, daß das Object mit ſeinem ſubjectiven Leben
ineinandergährt und er nun dieſem innern Singen, Klingen, Weben be-
wußtlos zuhört. Ein Schmerz der Trennung von der Behaglichkeit der
gemeinen Welt, eine Angſt der Geburt liegt wohl in dieſem Zuſtande,
aber auch die reinſte Freude und Seligkeit der Entrückung aus der Breite
des ſtörenden Zufalls, „des Erdenlebens ſchwerem Traumbild“, und
der Vorempfindung des leiſe Werdenden. Aeußerer Reiz darf nicht ſtören;
Göthe mochte keinen Prunkt in ſeinem einfachen Zimmer; unſchuldige
Mittel, wie Schillers ſcharlachrother Vorhang, können wirkſam ſtimmen,
narkotiſche trügen, die eigentliche Trunkenheit ſteigert nur die gemeine und
wirre Einbildungskraft. Da nun in dieſem Zuſtande das Subject ſich
in das Object ſo ergießt, daß es ſich eines Unterſchieds von dieſem gar
nicht bewußt iſt, daher die Macht des Subjects vielmehr die Macht des
einſtrömenden Objects zu ſein ſcheint, ſo fühlt ſich jenes wie von einem
fremden Geiſt dahingenommen, gezogen, beſeſſen; es kann nicht anders,
ein Geiſt iſt über es gekommen. Wir nennen dieß mit einem noch an
die nahe liegende mythiſche Vorſtellung erinnernden Ausdruck Begeiſterung,
deren Zug zwar hier nur beginnt und erſt mit einem weitern Schritte
zum Strom anwächst. Die Alten, denen an der Grenze der Selbſter-
kenntniß überall das unerkannte, weil unmittelbare Eigene als Werk des
Gottes erſchien, ſtellten ſich hier wirkliche Eingebung, Inſpiration vor.
Der Dichter iſt von der Muſe erfüllt, er iſt ἔνϑεος ϑεόπνευςος χάτ-
εχόμενος, ἐκςαπκὸς, er iſt durch göttliche Entrückung, ὑπὸ ϑείας
ἐξαλλαγῆς, außer ſich, ἐξω ἑαυτȣ῀, es iſt ihm angeweht (ἐπίπνοια).
Dieſe Begriffe faßten ſich in dem der ϑεία μανία, des göttlichen Wahnſinns
zuſammen, wobei man freilich den weitern Verlauf der Phantaſiethätig-
keit, von dem wir hier noch nicht reden, das wirkliche Geſtalten, ſofern
es traumähnlich iſt, ſchon hieher zu ziehen hat. Wenn nun Plato’s Lob
[346] dieſer μανία, die er als eine Gattung neben der prophetiſchen, myſtiſchen
(Dionyſiſchen) und erotiſchen zählt, von der beigegebenen Ironie ſehr
ſchwer zu ſcheiden iſt, ſo kommt dieß daher, daß der μανία eine doppelte
Beſonnenheit gegenüberſteht: die gemeine, und ihr gegenüber iſt die μανία
göttlich, eine Entrückung aus dem Geleiſe der Gewöhnlichkeit (τῶν εἰωϑότων
νομίμων), ihr gegenüber hat ſie ihre Beſonnenheit; dann aber die höhere
philoſophiſche, und ihr gegenüber ſind die Dichter blind, weil ſie keine
Einſicht in das haben, was ſie ſprechen, und „wie eine Quelle, was immer
herbeikommt, willig dahin ſtrömen laſſen.“ (Die Stellen vergl. in Ruge’s
Platon. Aeſthetik S. 87 ff. Ed. Müller a. a. O. B. 1, S. 42 — 56).
Plato zieht aber nirgends in ſtrengem Zuſammenhang jene Unterſcheidung,
daher das Schillern zwiſchen Ernſt und Ironie.


§. 395.

Dieſer ſchwebende Zuſtand verbirgt aber bereits den Anfang einer Form-
thätigkeit in ſich. Das aufgenommene Bild geht mit der Maſſe der ſonſt
geſammelten, demſelben Kreiſe angehörigen Bilder eine geheime Gährung ein,
worin ſie ſich mit unbefeſtigten Umriſſen durchkreuzen und einen Act vorbereiten,
der zugleich Verbindung und Scheidung iſt.


Die ganze Thätigkeit, die hier im erſten Stadium ihres letzten und
höchſten Schrittes vor uns tritt, geht rein im Gebiete der Form vor ſich.
Man kann ſich nicht genug hüten vor einem Anfang, der das falſche
Verfahren vorbereitet, das Schöne daraus zu erklären, daß das Subject,
mit der Idee erfüllt, zuerſt den Gegenſtand an der Seite des Ideengehalts
ergreife und von da aus erſt die Form erfaſſe, um ſie zu läutern. Hegel
iſt von dieſem falſchen Wege allerdings nicht ganz freizuſprechen. Hier
nun, wo wir jetzt noch ſtehen, hat das Subject, freilich mit ſeiner geiſti-
gen Fülle, aber mit dieſer wie ſie von Anfang an Eins iſt mit ſeinem
Formſinn, das Object, das ebenfalls Gehalt und Form in Einem, aber
beides in getrübter Weiſe iſt, ergriffen, ſich ein Bild davon genommen,
und dieſes Bild gährt mit der Maſſe deſſen, was wir überhaupt als
geſammelt (§. 386) und aufbewahrt vorausſetzen, in einem verhüllten
Prozeſſe zuſammen. Aus dieſer Maſſe wird das Bild durch die einfache
Attraction ſeiner Gattung diejenigen Bilder anziehen, die zu derſelben
Gattung gehören; dieſer Kreis wird ſich aber zugleich verengen bis zu
der näheren und nächſten Sphäre — z. B. bei einer geſchichtlichen Perſon
Nation, Volksſtamm, Stand, Thätigkeit, Verhältniſſe, Temperament, Cha-
rakter. In der Mitte der verwandten Bilder aus dieſen näheren und
nächſten Kreiſen ſchwebt das urſprüngliche, eben jetzt als naturſchöner
[347] Stoff der eingetretenen Stimmung gegebene Hauptbild. Die Umriſſe
aller dieſer Bilder werden, geiſtig wie ſie ſind, gleichſam durchſichtig erſchei-
nen, ſo daß das innere Auge durch das eine auf das andere hindurchſieht
und unbehindert iſt, von einem in das andere herüberzunehmen und ebenſo
abzugeben, zu verbinden und auszuſcheiden. Beſtimmteres kann von dieſer
Stufe nicht geſagt werden; ſie iſt noch ein Chaos, und was darin vor
ſich geht, erſchließen wir rückwärts aus dem kenntlichen, durch ſein Pro-
duct offenbaren Prozeſſe, der nun folgt.


§. 396.

Der Uebergang zu beſtimmter Geſtaltung kann nur durch einen Act der1
Csucentrirung geſchehen, worin ein Anfang von Denken und Wollen oder Be-
ſiunung, ebendaher von objectivem Gegenüberſtellen, jedoch nicht als geſonderter
Act, ſondern ungetrennt von der Begeiſterung auftritt. Die Gährung faßt ſich
2
nun zuſammen zu der beſtimmten Thätigkeit, welche die im naturſchönen Gegen-
ſtand ſchon gegebene, aber unvollkommene Zuſammenziehung (vergl. §. 53,
dazu 48, 2.) an ihm fortſetzt und ſo vollendet, daß in ſeiner ganzen Form, was
individuelle Bindung der Idee iſt, durch ein verhülltes Zuzählen aus den um-
ſchwebenden Gattungsbildern ergänzt wird, was dieſe Bindung ſtört, durch ein
verhülltes Abzählen ausgeſchieden unter dieſe zerfließt, und ſo dieſelke in voller
Reinheit hervortritt.


1. Das Unbewußte und Nothwendige, das Bewußte und der Wille
müſſen in der Entwicklung des Acts der Phantaſie wieder aufgenommen und
ihr Verhältniß dargeſtellt werden. Auf der vorhergehenden Stufe lag
nun das zweite Moment, das wir in der Beſonnenheit zuſammenfaſſen,
noch ganz verhüllt. Jetzt tritt es in derſelben Bedeutung hervor, wie die
Aufmerkſamkeit in der Anſchauung; dieſe Aufmerkſamkeit iſt kein geſonder-
ter Vorſatz mit dem Bewußtſein, dieß oder jenes mit den Sinnen ernſtlich
faſſen zu wollen, es iſt eine Intenſität der Wahrnehmung, der Geiſt
drückt darauf, ohne daß dieſes Drücken, dieß Dabeiſein irgendwie als ein
getrenntes Bewußtſein und Wollen neben den Act ſich ſtellte. So macht
auch auf der jetzigen Stufe der Geiſt dem Bilder-Chaos (§. 395) durch
eine Faſſung, Sammlung ein Ende. Dieſe ſtrengere Einkehr in den eige-
nen Buſen wird ebenſo ſehr dem Künſtler zugemuthet, als die volle Be-
wegung und Munterkeit des Weltkindes ihm eingeräumt wird. Trüber
Mißverſtand aber iſt es, dieſes Moment zum Ganzen, mönchiſche Iſolirung
dem Künſtler zum Geſetz zu machen. — Die ſtraffere Anziehung nun
wirkt einem Meſſer gleich, welches das Hauptbild aus den umſchwebenden
herausſchneidet. Jeder Künſtler wird ſich erinnern, daß ihm bei ſeinen

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 23
[348]Schöpfungen ſozuſagen eine Menge von Abſchnitzeln zur Seite fiel, nicht
nur von Entwürfen, die er wieder verwarf, ſondern von verwandten Bil-
dern, die in unbeſtimmter Miſchung das Hauptbild umgaukelten und in
einem dunkeln Verhältniß der Anziehung und Abſtoßung mit ihm ſpielten;
daß er dann endlich Ernſt machen und dieſem Spiel einen Abſchluß geben
mußte. So fühlte Göthe in Betrachtung ſeines Fauſt eine Geiſterſchaar
von Jugenderinnerungen in ſich auftauchen, aus denen er einſt das Ganze
ſchuf, deren unbeſtimmterer Schattenzug aber dieſes noch in der Erinne-
rung ahnungsvoll umſchwebte. Worin nun jener Abſchluß beſtehe, dieß
iſt das Geheimniß der Phantaſie.


2. Zuerſt geben wir die zu §. 53 ſchon angedeutete Stelle von
Kant (Krit. d. äſth. Urthlskr. §. 17): „Es iſt anzumerken, daß auf eine
uns ganz unbegreifliche Art die Einbildungskraft nicht allein die Zeichen
für Begriffe gelegentlich, ſelbſt von langer Zeit her, zurückrufen, ſondern
auch das Bild und die Geſtalt des Gegenſtands aus einer unausſprechlichen
Zahl von Gegenſtänden verſchiedener Arten oder auch einer und derſelben
Art zu reproduciren, ja auch, wenn das Gemüth es auf Vergleichungen
anlegt, allem Vermuthen nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum
Bewußtſein, ein Bild gleichſam auf das andere fallen laſſen und durch die
Congruenz der mehreren derſelben Art ein Mittleres herauszubekommen
wiſſe, welches allen zum gemeinſchaftlichen Maße dient. Jemand hat tau-
ſend erwachſene Mannsperſonen geſehen. Will er nun über die vergleichungs-
weiſe zu ſchätzende Normalgröße urtheilen, ſo läßt (meiner Meinung nach)
die Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tauſend)
aufeinanderfallen, und, wenn es mir erlaubt iſt, hiebei die Analogie der
optiſchen Darſtellung anzuwenden, in dem Raum, wo die meinen ſich
vereinigen, und innerhalb dem Umriſſe, wo der Platz mit der am ſtärkſten
aufgetragenen Farbe illuminirt iſt, da wird die mittlere Größe
kenntlich, die ſowohl der Höhe als Breite nach von den äußerſten Grenzen
der größten und kleinſten Staturen gleich weit entfernt iſt; und dieß iſt
die Statur für einen ſchönen Mann. (Man könnte eben daſſelbe mechaniſch
herausbekommen, wenn man alle tauſend mäße, ihre Höhen unter ſich und
Breiten (und Dicken) für ſich zuſammen addirte und die Summe durch
tauſend dividirte. Allein die Einbildungskraft thut ebendieß durch einen
dynamiſchen Effect, der aus der vielfältigen Auffaſſung ſolcher Geſtalten
auf das Organ des inneren Sinnes entſpringt.) — Dieſe Normal-Idee
iſt nicht aus von der Erfahrung hergenommenen Proportionen als beſtimm-
ten Regeln
abgeleitet, ſondern nach ihr werden allererſt Regeln der
Beurtheilung möglich. Sie iſt das zwiſchen allen einzelnen, auf mancher-
lei Weiſe verſchiedenen, Anſchauungen der Individuen ſchwebende Bild
für die ganze Gattung, welches die Natur zum Urbild ihren Erzeugungen
[349] in derſelben Spezies unterlegte, aber in keinem einzelnen völlig erreicht
zu haben ſcheint.“ Dann fährt er fort, dieſe Normal-Idee ſei keineswegs
das ganze Urbild der Schönheit in dieſer Gattung, ſondern nur die Form,
welche die unnachläßliche Bedingung aller Schönheit, mithin blos die
Richtigkeit in der Darſtellung der Gattung ausmache, ihre Darſtellung
ſei nur ſchulgerecht, habe nichts Charakteriſtiſches (unter dieſem verſteht
er die individuelle Eigenheit ſ. unſ. §. 39 und die zu dieſem §. gegebene
Anm. Kants). Nun meint man, er werde die Beſtimmung des Individuel-
len in dieſe abſtracte Geſtalt aufzunehmen ſuchen und ſo das eigentliche
Ideal, die Schönheit, entſtehen laſſen. Statt deſſen vergißt er nun das
„Charakteriſtiſche“ alsbald wieder ganz und fordert zur Entſtehung des
Ideals den „ſichtbaren Ausdruck ſittlicher Ideen“! Als ob jene ſogenannte
Normalidee blos vom plaſtiſchen Kanon gälte und nicht vielmehr überhaupt
von jeder Art des Daſeins, den Ausdruck ſeines Weſens, im Menſchen alſo
des Sittlichen, ſo daß er in einem gewiſſen, abſtracten Durchſchnitte genom-
men wird, miteingeſchloſſen, müßte gebildet werden können. In unſerer
Entwicklung iſt das innere Leben des Gegenſtands, alſo auch das ſittliche,
als ergoſſen in die Form im Voraus mit inbegriffen; nicht nur dieß, ſon-
dern das innere Leben des Objects liegt uns bereits vor als ein durch-
wärmtes, mit dem in es eingeſtrömten Leben des phantaſiereichen Subjects
verdoppeltes. Nicht alſo ſittlicher Ausdruck, denn dieſer gehört an ſich
ſchon zur Sache, fehlt jener ſogenannten Normalidee, ſondern Individualität.
Daß dieß die Aufgabe ſei, — die Einheit des Allgemeinen und Indivi-
duellen
im Schönen zu erklären —, hat auch Winkelmann überſehen,
wenn er kurzweg die Sache bei einem Entweder Oder ſtehen läßt: die
ſchöne Bildung iſt entweder individuell „auf das Einzelne gerichtet,“ oder
„ideal, eine Wahl ſchöner Theile aus vielen einzelnen und Verbindung
in Eins.“ Dann ſetzt er aber im Gefühle der Schiefheit dieſer Beſtimmung
hinzu: „jedoch mit dieſer Erinnerung, daß etwas idealiſch heißen kann,
ohne ſchön zu ſein,“ und führt dafür die ägyptiſchen Figuren an, in wel-
chen weder Muſkeln, noch Nerven, noch Adern angedeutet ſind. (Kunſtgeſch.
B. 4, Cap. 2, §. 25). So fallen ihm alle Momente des Schönen aus-
einander, ein Uebelſtand, der uns nicht mehr begegnen kann, nachdem wir
den ganzen Prozeß der Entſtehung des Schönen von einem individuellen
Naturſchönen abgeleitet haben. Sollen wir daher die Richtigkeit jener
Kantiſchen Erklärung aus einer verhüllten Diviſion prüfen, ſo iſt die Ge-
ſtaltbildung, von welcher dieſelbe gelten ſoll, für uns eine ganz andere.
Vor Allem nämlich müſſen wir jene ſogenannte Normalidee oder was
Winkelmann auch idealiſch nennt, ganz zur Seite werfen. Der Kanon
iſt etwas ganz Abſtractes, was wirklich und buchſtäblich gemeſſen werden
kann, weder eine Idee, noch ein Ideal, ſondern nur eine Vorſtellung,

23*
[350]die von der bildenden Kunſt als negativer Anhalt für die allgemeinen Maaße,
in denen ſie ſich bewegen ſoll, fixirt iſt, und er gilt ja zudem nur von
der menſchlichen Geſtalt, während hier eine Erklärung der Phantaſiethä-
tigkeit für das ganze weite Reich ſchöner Objecte geſucht wird (vergl. §.
35—38). Wir gehen alſo aus von einem Naturſchönen und dieſes iſt
bereits eine Concentrirung oder Zuſammenziehung der zerſtreuten Vollkom-
menheiten ſeiner Gattung in einem Einzelweſen und zwar auf eine un-
endlich eigene Weiſe. Soll nun dieſe individuelle Bindung zur wahrhaften
Schönheit erhoben werden, ſo ſcheint ein Widerſpruch vorzuliegen: die
Individualität ſoll innerhalb ihrer ſelbſt zum reinen Ausdruck erhöht
und: ſie ſoll allgemein werden. Geſchieht jenes: ſo wird das unend-
lich Eigene bis zur Abtrennung von dem Gemeinſamen der Gattung ge-
trieben; geſchieht dieſes: ſo wird die Eigenheit geopfert. Es wird ent-
weder „das Geſchlecht in das Individuum verſenkt“ (Leſſing Hamb.
Dram. N. 94 nach Hurd) oder das Individuum in das Geſchlecht.
Leſſing bewegt ſich a. a. O. von N. 87 — 95 um dieſen ſchwierigen
Punkt, indem er den von Diderot an die mißverſtandene Stelle des Ari-
ſtoteles Poet. C. 9 gelehnten Satz beſtreitet: die tragiſche Poeſie habe In-
dividuen, die komiſche Arten darzuſtellen. Er beweiſt, daß jene wie dieſe
das Allgemeine, daß ſie Arten darzuſtellen habe. Nun kommt er zwar
nirgends auf die volle Begriffsbeſtimmung, daß die Tragödie und Komödie
(die letztere freilich vielmehr gerade mit noch viel ſtärkerem Uebergewichte
des Individuellen), ebenſo aber alle Kunſt das Allgemeine im Indivi-
duellen zu faſſen habe, aber der Satz des Ariſtoteles, daß die Tragödie
geſchichtliche, alſo ganz individuelle Charaktere zu Grund lege, hält ihn
doch, während er nur für das Moment des Allgemeinen ſprechen zu
müſſen glaubt, am Individuellen feſt, und dieß drückt er mit einem „Zu-
gleich“ deutlich aus in der inhaltsvollen Stelle: „wenn es wahr iſt, daß
derjenige komiſche Dichter, welcher ſeinen Perſonen ſo eigene Phyſiog-
nomieen geben wollte, daß ihnen nur ein einziges Individuum in der Welt
ähnlich wäre, die Komödie, wie Diderot ſagt, wiederum in ihre Kindheit
zurückſetzen und in Satyre verkehren würde: ſo iſt es auch ebenſo wahr,
daß derjenige tragiſche Dichter, welcher nur den und den Menſchen, nur
den Cäſar, nur den Cato, nach allen den Eigenthümlichkeiten, die wir von
ihnen wiſſen, vorſtellen wollte, ohne zugleich zu zeigen, wie alle dieſe
Eigenthümlichkeiten mit dem Charakter des Cäſar und Cato zuſammenge-
hangen, der ihnen mit mehreren gemein ſei, daß, ſage ich, dieſer
die Tragödie entkräften und zur Geſchichte erniedrigen würde“ (a. a. O.
N. 89). Später (in N. 91) ſagt er nach Ariſtoteles, der Tragiker lege
geſchichtlich bekannte Charaktere zu Grunde, nicht um das Gedächtniß deſſen,
was ihnen begegnet iſt, zu erneuern, ſondern um uns mit ſolchen Begeg-
[351] niſſen zu unterhalten, die Männern von ihrem Charakter überhaupt be-
gegnen können und müſſen. „Nun iſt es zwar wahr, daß wir dieſen
ihren Charakter aus ihren wirklichen Begegniſſen abſtrahirt haben; es
folgt aber doch daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter wieder auf ihre
Begegniſſe führen müſſe; er kann uns nicht ſelten weit kürzer, weit natür-
licher auf andere bringen, mit welchen jene wirklichen nichts gemein haben,
als daß ſie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzuver-
folgenden Umwegen und über Erdſtriche hergefloſſen ſind,
welche ihre Lauterkeit verdorben haben
.“ Dieſe trübenden Um-
wege im weiteſten Sinn ſchneidet die Phantaſie ab; die Bezeichnung iſt
trefflich, nur iſt darin die Frage, wie ſich das Allgemeine und Individuelle
in dieſer idealen Abbreviatur zueinander verhalte, wieder im Unbeſtimmten
gelaſſen. Dagegen iſt dieſe Grundfrage in den Stellen aus Hurds Com-
mentar der Dichtkunſt des Horaz, die Leſſing auführt, im Mittelpunkt er-
griffen: „wenn ein großer Meiſter ein einzelnes Geſicht abmalen ſoll,
ſo gibt er ihm alle die Lineamente, die er in ihm findet, und macht es
Geſichtern der nämlichen Art nur ſo weit ähnlich, als es ohne
Verletzung des allergeringſten
“ (— dies iſt zu viel —) „eigen-
thümlichen Zuges geſchehen kann
“ (N. 92) und (N. 93): „der gute
Porträtmaler muß die Züge der vorgebildeten Leidenſchaft gut ausgedrückt,
aber die mitverbundenen Eigenſchaften nicht vergeſſen haben.“ In
der That müſſen alle abſtracten Vorſtellungen vom ſchönen Ideal ſchon
durch die einzige Erwägung ausgeſchloſſen werden, daß auch das eigent-
liche Porträt, wenn es Lob verdienen ſoll, ideal ſein muß.


Auf die Grundlage dieſer feinen Stellen können wir nun die richtige
Beſtimmung bauen. Zu wiederholen iſt alſo, daß von einem Naturſchönen,
das bereits individuelle Bindung des Allgemeinen iſt, die Phantaſie aus-
geht. Göthe und Schiller konnten nicht genug darauf dringen: vom Engen
in’s Weite, vom Beſondern zum Allgemeinen, vom einzelnen Fall zu
großen Geſetzen, die in demſelben geſchaut werden, und ja nicht umgekehrt
vom Allgemeinen zum Beſondern fortzugehen. Schiller ſelbſt nennt den
Act, der mit dem Beſonderen vorzunehmen iſt, eine Reduction empiriſcher
Formen auf äſthetiſche, — daſſelbe, was wir zunächſt eine Zuſammenziehung
nennen. Eine ſolche iſt aber bereits das beſondere Naturſchöne, von wel-
chem ausgegangen wird: es iſt eine, aber noch unvollkommene, Bindung
der in die Breite zerſtreuten und vielfach getrübten Formen des Gehalts
ſeiner Gattung. Dieſe Zuſammenziehung, Bindung iſt es zunächſt,
wodurch die unendliche, nur ſich ſelbſt gleiche Eigenheit des Indi-
viduums entſteht. Allein gerade durch dieſe Eigenheit iſt die Gattung,
wie ſchon §. 48, 2. gezeigt wurde, nur um ſo energiſcher ausgedrückt, denn
was dort von bedeutenden Menſchen geſagt iſt, gilt, obwohl mit minderer
[352] Straffheit der Individualität, von den tüchtigen Einzelweſen aller Sphären
des Daſeins. Nun iſt aber der Mangel auch der bedeutenden Individua-
lität im Reiche des Naturſchönen dieſer: erſtens gewiße Züge der Gattung
kann das Individuum, zunächſt überhaupt und abgeſehen von ſeinen zeit-
lichen Entwicklungsſtufen, allerdings in ihrer vollen Beſtimmtheit nicht
haben, weil ſie mit den andern, die es hat, in Einem Weſen nicht ver-
einbar ſind; Cato kann nicht weich, Taſſo nicht praktiſch ſein u. ſ. w.
Determinatio est negatio. Doch können dieſe Züge, obwohl ſie mit ſeinen
weſentlichen Zügen unvereinbar ſcheinen, nicht völlig fehlen; jedes Indi-
viduum iſt eine ſchwierig verſchlungene Einheit, denn es weist auf die
ganze Gattung hinaus: Cato iſt alſo kein weicher Charakter, aber er kann
auch weich ſein u. ſ. w. Dieſe „mitverbundenen Züge“ nun drücken im
unmittelbaren (naturſchönen) Daſein ſtörend auf die Hauptzüge. Die
letzteren müſſen alſo verſtärkt werden, ohne jene auszuſchließen. Es muß
demnach aus den umſchwebenden Gattungsbildern Solches aufgenommen
werden, worin gerade die Hauptzüge ſich voller und ungeſtörter ausdrü-
cken, und es muß die zu volle Stärke der mitverbundenen Züge hinaus-
gewieſen werden in das Weite, wo ſie unter die Gattungsbilder mit allem
dem, was dieſe von Solchem darboten, das dieſer Form der individuellen
Bindung widerſpricht und daher ausgeſtoßen werden muß, in Vergeſſen-
heit zerfließt. Dann iſt in dieſen Hauptzügen die Gattung, denn es ſind
geſammelte Kräfte der Gattung, in Reinheit ausgedrückt; da aber die
anderen, miteingeſchlungenen darum nicht fehlen, wird zugleich auf die
Unendlichkeit der Gattung außerhalb dieſes Individuums hinausgewieſen.
Zweitens in der zeitlichen Entfaltung ſeines Weſens ſinkt das Individuum
durch die ſtete Einmiſchung des ſtörenden Zufalls unter ſich ſelbſt herab
und ſtellt, ſtatt ſich und ſein Geſetz, ſeine Lebens-Idee, Anderes, was
hierher nicht gehört, mit dar. Unter den umſchwebenden Bildern des Le-
bensverlaufs verwandter Individuen mit den hieher gehörigen Zufällen
müſſen alſo diejenigen heraufgenommen werden, welche eine, ſei es durch
Förderung oder Hinderniß, zur glücklichen Entwicklung reizende Sollizita-
tion enthalten, und ausgeſchieden müſſen die entgegengeſetzten werden.


Dieß gilt alſo vom Individuum, welchem Reiche es angehören mag,
und unter Individuum iſt ebenſo ein eigentliches Einzelweſen wie eine
Einheit mehrerer zur Bethätigung einer Idee in der Zeitfolge einer Hand-
lung zuſammentretender zu verſtehen.


Daß nun dieſer Act nicht durch Abſicht und Reflexion vollzogen wer-
den kann, bedarf keines neuen Beweiſes, deßwegen nicht, weil die
ganze Bewegung im Gebiete der vom Gehalte ſchlechtweg ungetrennten
Form vor ſich geht und der ſo geſtaltende Geiſt mit ſich und ſeinem gan-
zen Gehalt in die Formbildende Thätigkeit ohne Rückhalt verſenkt iſt.
[353] Ebendeßwegen iſt nun dieſer Act ſo ſchwer zu faſſen, weil das Faſſen
ihn aus ſeiner dunkeln Einheit reißt, Denkbeſtimmungen hineinträgt und
nur hinzuſetzen kann: der ſo gefaßte Gegenſtand ſelbſt ſei jedoch kein Den-
ken. So ſagt Hallmann (Kunſtbeſtrebungen der Gegenw.) fein, aber
ſchließlich nichts aufhellend: ein Denken in Formen. Die gewöhnlichen
Bilder ſind vom Läutern im Feuer, — (Bettina an Göthe: meine Phan-
taſie hatte ſchnell das Irdiſche an dir verzehrt —), vom chemiſchen Schmelz-
tiegel, von örtlicher Erhöhung, vom Sieben, vom Reinigen durch Waſchen
oder Rütteln genommen. Kant nun nennt dieſes Thun ein dynamiſches
Dividiren. Hegel weiſt dieſe Auffaſſung oder vielmehr ihre Grundlage,
die Annahme eines Aufeinanderfallens vieler ähnlicher Bilder, wobei „eine
Attractionskraft der ähnlichen Bilder oder deßgleichen angenommen werden
müßte, welche zugleich die negative Macht wäre, das noch Ungleiche der-
ſelben aneinander abzureiben“, als zu phyſikaliſch ab und ſetzt die Thätig-
keit einzig in die Intelligenz (Encyclop. §. 455); allein da ſpricht er
von der Erzeugung der allgemeinen Vorſtellungen, dieſe ſind in Wahrheit
der Uebergang nicht zur Phantaſie, ſondern zur Bildung des abſtracten
Begriffs und da tritt freilich die Intelligenz ſchon herein; im Prozeß der
reinen Formbildung aber erklärt die allgemeine Berufung auf die Intel-
ligenz gar nichts. Intelligenz, aber ganz eingehüllte, wirkt auch in dieſem
Act, aber ich weiß noch nicht, wie beſchaffen derſelbe ſei, wenn ich weiß,
daß ſie in dem Convolut der wirkenden Kräfte dunkel wirkt. Wir haben
weſentlich ein Verhältniß Einer Geſtalt zu vielen Geſtalten; dieſe leihen
jener von dem Ihrigen und umgekehrt giebt jene an dieſe von dem Ihrigen
ab: ein Prozeß, der offenbar einem Verfahren mit Zahlen verwandt iſt.
Kants Diviſionstheorie darf ſo wenig für unwürdig gehalten werden, als
es gewiß iſt, daß alle Muſik auf verborgenen Zahlenverhältniſſen beruht.
Muſik freilich iſt vergleichungsweiſe geſtaltlos, aber das Ineinanderüber-
gehen von Geſtalten zur Schöpfung des für das Auge beſtimmten Ideals
hebt ja zuerſt ihre Umriſſe auf, ſo daß ſie wie körperlos durcheinander
ſchweben und eine geheime Abrechnung miteinander vornehmen. Dieſer
Prozeß iſt freilich, wie gezeigt iſt, viel verwickelter, als Kant meint. Zunächſt
iſt er doppelt, nicht einfach. Kant hat nicht ein bereits individuell gebun-
denes Naturſchönes vor ſich, ſondern nur die unbeſtimmte Menge gewöhn-
licher Erſcheinungen aus einer Gattung, aus welcher die Phantaſie durch
ihre verhüllte Diviſion ein Abſtractum gewinnt. Wir dagegen haben z.
B. einen ſchönen Mann, welcher der Anſchauung begegnet, und zwar ſchön
in dem näheren Sinne z. B. athletiſcher Schönheit. Dieſer Mann ſtellt
an ſich ſchon eine von der Natur (wozu für uns auch ſeine athletiſche
Uebung gehört) in dynamiſchem Sinne vollzogene Diviſion dar. Seine
Schönheit iſt aber mangelhaft, die Diviſion unvollkommen, es iſt nicht der
[354] richtige Quotient. Die Phantaſie nun nimmt ſein Bild, aber auch
die vielen Bilder der anderen Männer, deren beſondere Schönheiten er in
ſich geſammelt darſtellt, auf, und ſie muß nun den Diviſionsprozeß, um
den wahren Quotienten aus dieſen zu finden, erneuern. Der Prozeß iſt
alſo zuerſt darum verwickelt, weil die vorgefundene Diviſion aufgehoben
und reiner wiederhergeſtellt werden muß. Allein er iſt verwickelt noch in
einem andern Sinne. Der Mann hat vielerlei Eigenſchaften in Form,
Farbe, Bewegung, Ausdruck. Mit jeder dieſer Eigenſchaften muß die Di-
viſion vorgenommen werden, aber alle dieſe verſchiedenen Diviſionen zu-
gleich immer mit Rückſicht auf das Maaß, in welchem Eigen-
ſchaften verſchiedener, bis zum Widerſpruch ſich verwickelnder Art in einem
Individuum vereinbar ſind. Dieſe ſchwierige Verſchlingung fand ſchon
ſtatt in dem dunkeln Prozeß, den die Natur vollzog, als ſie eine
unendlich eigene Bindung der Gattungs-Eigenſchaften zu einem Indivi-
duum vornahm. Theilweis irrte ſie, indem ſie Störendes in die Einheit
warf. Die Phantaſie muß ihr Werk alſo eben in dieſem Sinne wieder-
holen und von ſeinen Fehlern reinigen, da mehr zuzählen, dort mehr ab-
zählen, ohne doch von der Grundlage der von der Natur ſchon gegebenen,
individuellen Zuſammenziehung abzuweichen. Können wir dieſem ver-
ſchlungenen Prozeß nicht weiter folgen, ſo dürfen wir mit Recht ſagen:
die bisherigen Verſuche, die Phantaſie zu begreifen, haben nichts erklärt,
wir aber weiſen wenigſtens auf den Weg hin, wo die Erklärung liegen
muß; klingt dieſe Weiſung ſeltſam, weil der Geiſt ſich des Zählens oder
zählenden Meſſens in dieſer Operation nicht bewußt iſt, ſo erwäge man,
daß ein mit den Geſetzen der zur Vergleichung ſchon angeführten Muſik
unbekannter Erfinder einer Melodie auch zählt, ohne davon zu wiſſen, daß
die Formen der Geſtalt zwar Raumverhältniſſe ſind, aus geheimen Bau-
geſetzen des wirkenden Lebens fließend, aber als Raum-Verhältniſſe Ob-
jecte des Meſſens und Zählens; daß ebenſo Farbe und Licht auf zählbarer
Undulation beruhen, ohne daß man in ihrem Eindruck irgend wüßte, es
ſeien Zahlen, mit denen man zu thun hat, ſo wie ich bei jeder körper-
lichen Handlung aus Inſtinkt unbewußt die Entfernung meſſe, die mein
Arm zurücklegen muß u. ſ. w. Klingt ſie zu niedrig, ſo erwäge man,
daß in die Factoren dieſes Zählens und in das Zählen ſelbſt eine geiſtige
Welt eingegangen iſt, welche in der ganzen Operation mitfließt, und ver-
geſſe nicht das ſchon Geſagte, daß, wenn man meint, dieß mitfließende
Geiſtige müſſe vielmehr in gedankenartiger Operation als das Beſtimmende
des Prozeſſes gefaßt werden, alsbald das Formgebiet durch eine Schei-
dung von Körper und Seele im Gegenſtand, Sinnlichkeit und Geiſt im
Subjecte zerſtört wird.


[355]
§. 397.

Wenn dieß Geſtalten im Zuge iſt, tritt auch die Begeiſterung in vollen1
Schwung, die das Subject wie ein ihm unbewußtes Geſetz des Objects fort-
reißt, aber die Beſonnenheit als weiſe Durchführung der Idee in maaßvoller
2
Anordnung eines Ganzen und ſeiner Formverhältniſſe, nur in zweiter Linie be-
gleitet von beſonderer Reflexion über die Anordnung des Einzelnen, ſteht auf
gleicher Höhe oder iſt vielmehr als ihre eigene Beſtimmtheit identiſch mit ihr
und in Vergleichung mit der gemeinen und mit der philoſophiſchen Beſonnenheit
immer bewußtlos.


1. Das Unbewußte und Willenloſe wächst mit der Stärke der Be-
wegung, wodurch die reine Form erzeugt wird; daß dieß immer das
Erſte bleibt, muß gerade hier, wo ſofort ebenſo ſtark die Forderung des
Gegentheils aufzutreten ſcheint, mit vollem Nachdruck feſtgehalten werden.
Die Traumnatur, daß das Subject von ſeinen Geſtalten fortgezogen wird,
daß es ſich ganz in ſie zu verlieren ſcheint, als gäben ſie ihm ein, nicht
es ihnen, tritt in volle Kraft. Schiller (Br. 784 an Göthe) knüpft an
eine (mißverſtandene) Stelle Schellings die nachdrückliche Forderung, daß
der Dichter nur mit dem Bewußtloſen anfange, ja ſich glücklich zu ſchätzen
habe, wenn er durch das (nachträgliche) klarſte Bewußtſein ſeiner Opera-
tionen nur ſo weit komme, um die erſte dunkle aber mächtige Totalidee
in der vollendeten Arbeit ungeſchwächt wiederzufinden; er ſelbſt, der „als
eine Zwitterart zwiſchen dem Begriffe und der Anſchauung zu ſchweben“
geſtand, beklagt ſich, daß Theorie und Kritik ihm die lebendige Gluth ge-
raubt haben; er ſehe ſich jetzt erſchaffen und bilden, er beobachte das
Spiel der Begeiſterung und ſeine Einbildungskraft betrage ſich
mit minderer Freiheit, ſeitdem ſie ſich nicht mehr ohne Zeu-
gen wiſſe
. Das bewußtloſe Thun der Phantaſie erſcheint als ein Zug
des (mit den Kräften des Subjects geſchwängerten) Objects zugleich mühe-
los
, und Leſſing, indem er ſich das wahre Organ der Dichtkunſt abſpricht,
geſteht, er fühle die lebendige Quelle nicht in ſich, die durch eigene Kraft
in ſo reichen, ſo friſchen, ſo reinen Strahlen aufſchieße, er müſſe Alles
durch Druckwerk und Röhren in ſich heraufpreſſen.


2. Das Chaos (§. 395) geſtaltet ſich, der Nebel gerinnt, das neue
Bild ſoll eine reiche Einheit wohlgeordneter Maaße und Verhältniſſe
werden. Dieß iſt in der That ohne Anſtrengung des Willens in ſeiner
ganzen Freiheit, ohne Tiefe des Denkens nicht möglich und der Traum
ſoll zugleich volles Wachen des ſeinem Bilde hell gegenüberſtehenden Sub-
jectes ſein, das Unmittelbare durch gründliche Vermittlung zur Beſtimmt-
heit reifen. Es iſt ſchwer, dieſes Wachen im Träumen, das im Begriffe
[356] der Beſonnenheit ſich zuſammenfaßt, mit allem Nachdruck feſtzuhalten,
ohne in einer Trennung dieſes Moments von dem der Begeiſterung, wo-
durch es ſich als Abſtraction von ihr iſolirt und in das Philoſophiſche und
Etiſche hinüberführt, hineinzugerathen. Dort ſollte ſich der Schöpfer in
ſein Geſchöpf verlieren, hier ſoll er ebenſoſehr über demſelben ſtehen.
Zuerſt iſt dieſe Beſonnenheit von der gemeinen zu unterſcheiden, mit wel-
cher auch die philoſophiſche nichts zu thun hat. J. Paul bezeichnet ſie
(a. a. O. §. 12) kurz und gut als die geſchäftige und ſagt von ihr,
ſie ſei vielmehr immer außer ſich und nie bei ſich. Wenn nun die höhere
Beſonnenheit des Dichters ebenſo auch von der philoſophiſchen ſtreng
geſchieden und ganz Inſtinct bleiben ſoll, ſo iſt dieß aus dem Geſetze zu
begreifen, daß Unbewußtes und Bewußtes überhaupt in unendlichen
Stellungen ſich überbauen. So in der Bildungsgeſchichte, was der Ge-
genwart als die bewußteſte Bildung erſcheint, wird der folgenden Gene-
ration naiv, ſie ſieht, daß es noch ein Unbewußtes war, ein Inſtinct der
Geſchichte. Die Beſonnenheit der Phantaſie iſt höchſtes Bewußtſein,
gehalten gegen die ſinnliche Wahrnehmung, die Anſchauung, die Ein-
bildungskraft und auf der Willensſeite gegen Trieb und ſinnliche Leiden-
ſchaft; ſie iſt bewußtlos, gehalten gegen das reine Denken und die ethiſche,
auf den Begriff des Gegenſtands gegründete That, in ſich aber geht ſie
ſo ſicher, als das Thier wiſſend ohne zu wiſſen das ſeiner Gattung Gemäße
thut, raſch, friſch, ohne Zweifel. Gerade das volle Licht der eigentlichen
Beſonnenheit ſtört ſie, wie den Hamlet, und treffend ſagt J. Paul (a. a. O.):
„Das Genie iſt in mehr als einem Sinne ein Nachtwandler; in ſeinem hellen
Traum vermag es mehr, als der Wache, und beſteigt jede Höhe der
Wirklichkeit im Dunkeln; aber raubt ihm die träumeriſche Welt, ſo ſtürzt
es in der wirklichen“, und (§. 13): „Ueberhaupt ſieht die Beſonnenheit
nicht das Sehen und das Spiegeln ſpiegelt ſich nicht.“ — „Der Inſtinct
iſt blind, aber nur wie das Ohr blind iſt gegen Licht und
das Auge taub gegen den Schall
; er bedeutet und enthält ſeinen
Gegenſtand ebenſo, wie die Wirkung die Urſache.“ Es iſt aber eine
doppelte Form der Beſonnenheit in der Phantaſie ſelbſt zu unterſcheiden.
Ihr Bilden im Großen und Ganzen geſchieht mit der Art von Beſonnen-
heit, welche ein großer, ſtarker Traum-Inſtinct iſt; zugleich aber iſt das
Bild im Einzelnen anzuordnen, Verhältniß, Aufeinanderfolge der Theile
zu beſtimmen. Hier kann und muß eigentliches Denken, eigentliches wäh-
lendes Wollen eintreten, nur daß es den Inſtinct des Ganzen immer zur
Baſis und zum leitenden Bande behält. Z. B. der Dichter entwirft ein
Drama: die Handlung, die Perſonen müſſen ihm vom Inſtincte gegeben,
da darf er ſich der letzten Gründe nicht bewußt ſein, er darf nicht defini-
ren können; wie dieſe Perſon dieſes Moment der Idee darſtelle u. ſ. w.,
[357] er darf nicht wählen müſſen, ob er den Charakter im Entſcheidungsfalle
ſo oder anders handeln laſſen wolle. Allein über die Folge einzelner
Auftritte, über die Anordnung ihrer kleineren Theile, Wendungen des
Geſprächs, wo es ſich nicht um ſchlagende Hauptſtellen handelt, und der-
gleichen, kann er mit deutlicher Reflexion angeſtrengt nachdenken, oft und
wiederholt reiben und feilen, bis das Detail ſeines innern Bildes ganz
offen daliegt. Rechenſchaft von den Gründen im Einzelnen, aber nie von
den letzten im Großen und Ganzen iſt ſein Naturgeſetz; das Kind ſpringt
wie Minerva in voller Rüſtung aus ſeinem Haupte und iſt doch ein
Schmerzenskind; das Unmittelbare legt ſich in eine Summe reicher Ver-
mittlungen, die oft, ja immer ganz mühevoll, aber von dem müheloſen
Grundbilde getragen ſind und wieder in es zurückfließen. Nicht ganz
richtig iſt daher Jean Pauls Ausdruck (a. a. O. §. 12): „Nur das
Ganze wird von der Begeiſterung erzeugt, aber die Theile werden von der Ruhe
erzogen“, wenn Ruhe gleich Beſonnenheit ſein ſoll; dieſe iſt ſchon in der
Begeiſterung ſelbſt, die das Ganze erzeugt, ungeſchieden mitenthalten, in
den Theilen löst ſie ſich nur vorübergehend von ihr ab, ohne aber das
Band zu zerreißen.


§. 398.

1

Durch dieſe Thätigkeit der Phantaſie und nur durch ſie entſteht die reine
2Schönheit, welche nun Ideal heißt im Sinne des zunächſt innern Bildes, das
der Geiſt als ſein durch Umbildung eines Naturſchönen frei geſchaffenes Werk
ſich in vollendeter Objectivität gegenüberſtellt. Es hat vom Naturſchönen
die ganze ſinnliche Lebendigkeit und die ganze unendlich eigene Bindung der
ewigen Gattungsformen zur Individualität, vom freien Geiſte die ganze Aus-
ſcheidung des ſtöreuden Zufalls durch die poſitive Macht der reinen, in den
Gegenſtand eingedrungenen und ihn in’s Unendliche hebenden Idee. Das
Ideal iſt die ſubjective Verwirklichung des in §. 14 aufgeſtellten Begriffs des
Schönen durch die Phantaſie.


1. „Nur durch ſie.“ Im erſten Theile hieß, was in das Schöne
aufgehoben iſt, das Gute und Wahre; jetzt heißt das Schöne Phantaſie
und das Gute und Wahre, das in ſie aufgehoben iſt, Wille und Denken.
Nur darf man ſich, aller bisherigen Erörterung zufolge, dieß nicht als
eine Zeitfolge vorſtellen, wie wenn Wollen und Denken vorher getrennt
wären und nachher in die Phantaſie eingiengen. In Kritiken und Ur-
theilen allerwärts vernimmt man trübe Verwirrung über dieſen Punkt:
„Dieſer Dichter hat Phantaſie, aber ſchlechte Geſinnung, wenig Em-
pfindung, wenig künſtleriſchen Verſtand“ u. ſ. w.: „er iſt ein philoſophiſcher
[358] Dichter“ und dergl. Das Schöne entſteht nur durch Phantaſie, ſonſt durch
gar nichts; die Phantaſie ſchließt Gefühl, Geſinnung, Verſtand, Sinnlichkeit,
Alles ein. Wer ſchlechte Geſinnung hat, bringt es von der Einbildungs-
kraft gar nicht oder nur in Augenblicken, wo die Geſinnung ſich erhebt,
zur Phantaſie; ohne Gefühl, ohne Verſtand iſt keine Phantaſie denkbar,
Philoſophie iſt von ihr rundweg ausgeſchloſſen, denn ſie verzehrt ihre
Naivität. Phantaſie iſt das ſpezifiſche Organ des Schönen. Schiller ſagt
von Göthe: alle ſeine denkenden Kräfte haben auf die Ein-
bildungskraft
(er gebraucht die jetzige Terminologie, welche die Phan-
taſie ſtreng von dieſer unterſcheidet, noch nicht) als ihre gemeinſchaft-
liche Repräſentantinn gleichſam compromittirt
, und Göthe ſelbſt
darf von ſeiner Natur rühmen, daß ſie nach jeder Scheidung wie getrennte
Queckſilberkugeln ſich ſchnell und leicht immer wieder vereinige. Nun
gibt es freilich die verſchiedenſten Miſchungsverhältniſſe in der Phantaſie
der Einzelnen, von denen wir hier noch nicht reden, aber es ſind Miſchungs-
verhältniſſe der Phantaſie, während jene landläufigen verworrenen Re-
flexionen immer noch etwas neben und außer der Phantaſie ſetzen zu
müſſen glauben. Weil der Kritiker die Bindung des Allgemeinen und
der Geſtalt auflöst, kehrt ihm bei ſeichter Reflexion immer auf’s Neue
die Meinung zurück, die Phantaſie ſelbſt habe von jenem aus dieſe ge-
ſucht. „Es iſt ein großer Unterſchied, ob der Dichter zum Allgemeinen
das Beſondere ſucht oder im Beſondern das Allgemeine ſchaut. Aus
jener Art entſteht Allegorie, wo das Beſondere nur als Beiſpiel, als
Exempel des Allgemeinen gilt, die letzte aber iſt eigentlich die Natur
der Poeſie; ſie ſpricht ein Beſonderes aus, ohne an’s Allgemeine zu den-
ken oder darauf hinzuweiſen. Wer nun dieſes Beſondere lebendig faßt,
erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erſt
ſpät.“ (Göthe, Maximen und Refl. Abtheil. 4, Werke B. 49, S. 96.)
Wer das Allgemeine in Gedankenform ausſpricht, iſt kein Dichter, und
wer es in’s Bild legt, kein Philoſoph. Einzelne Wahrheiten, Sentenzen,
Erfahrungsſätze, gehören nicht hieher; ſie wälzen ſich als Stoff mit und
die Träger der Schönheit ſind die Perſonen, die ſie ausſprechen, die
Sentenzen, die Gedanken aber ſind die Expoſition dieſer Perſonen und
ihrer gemeinſchaftlichen Handlung.


2. Das reife Bild muß fertig, ganz, abgehoben von den umſchwe-
benden Bildern dem Geiſte in ſeinem Innern gegenüberſtehen: es muß
ihm ſcheinen, als ſehe er es leibhaftig mit dem geiſtigen Auge. Die Alten
gingen in der Erkärung der Phantaſie immer vom rechten Wortbegriffe,
dem eines innern φαίνεσϑαι aus, einem Erzeugen von εἴδωλα. Plato
nennt ſie im Philebus einen innern Maler, ρωγράφος. Ariſtoteles verlangt
(Poet. B. 17) vom Dichter vor Allem das πρὀ ὀμμάτων τίϑεϐϑαι,
[359] dann ſetzt er hinzu, er müſſe ſogar ſo viel als möglich mit den Gebärden
mitarbeiten, denn er wirke deſto mehr, je mehr er ſich in die darzuſtellende
Leidenſchaft verſetze (ἐν τοῖς πάϑεϐιν εἶναι). Die letztere Seite brauchen
wir nicht beſonders zu verfolgen, da wir eine Vermählung des Phanta-
ſiebegabten mit dem innerſten Leben des Objects zum Ausgangspunkte
nahmen, die Leidenſchaft aber nur einer der unendlichen Stoffe iſt, welche
die Phantaſie ergreift. Das Bild, das dem Subjecte gegenüberſteht,
iſt Bild der Sache mit ſeinem ganzen Gefühlsleben vermehrt. Je vollen-
deter das Bild, deſto erfüllter auch in dieſem Sinne, deſto mehr wallt
alſo auch das Gemüth des Anſchauenden ſelbſt und er mag im innerlichen
Schauen ſelbſt den Bewegungen deſſelben folgen, laut mit ſich reden, in-
dem er die Stimme einer dargeſtellten Perſon übernimmt; aber um ſo ſicherer
tritt auch die nöthige Kälte der Unterſcheidung des eigenen Ich vom Bilde,
die Löſung des pathologiſchen Verhältniſſes, kurz Beſonnenheit in die Be-
geiſterung. Dieſe weſentliche Bedingung der Objectivität des inneren
Bildes hat weder Ariſtoteles an der genannten Stelle, noch Quinctilian in
der ganz ähnlichen Aeußerung VI, 2, 26., welche Hartung (Lehren der Alten
über die Dichtkunſt u. ſ. w. S. 52) anführt, in’s Licht geſetzt. Der Letz-
tere führt einen bei affectvoller Stelle weinenden Schauſpieler an, was an
die bekannte Scene im Hamlet erinnert. Allerdings iſt der Zuſtand des
Schauſpielers im leidenſchaftlichen Spiel hier beſonders belehrend; er muß
ganz in ſein Bild ein- und aufgehen und doch darf ſeine Leidenſchaft
nicht eigentliche Leidenſchaft ſein, er muß ſich ebenſo zurückbehalten: und
beides wächſt in gleichem Verhältniß mit der Klarheit, Objectivität ſeines
inneren Schauens. Longin περὶ ὕψȣς Sect. 15, 1. ſpricht jenen Begriff
der Phantaſie mit den ſchlagenden Worten aus: ἰδίως δ̕ἐπὶ τȣ´των
κεκράτηκε τȣ῍νομα (φανταϐία), ὅταν, ἃ λέγῃς, ὑπ̕ ἐνϑȣϐιαϐμȣ῀ καὶ
πάϑȣς βλέπειν δοκῇς καὶ ὑπ` ὄψιν τιϑῇς τοῖς ἀκȳ´ȣϐιν. Dann ſagt
er von einer Stelle im Oreſtes des Euripides: ἐνταῦϑ̕ ὁ ποιητὴς αὐτὸς
εἶδεν ἐριννύας. Dieſes innere Bild nun iſt durch die von uns darge-
ſtellte Verwandlung reiner Ausdruck der Idee geworden. Plato’s Feind-
ſeligkeit gegen die Kunſt ruht auf einer falſchen Logik, die ſich gerade in
dieſen Punkt eingeniſtet hat. Die Phantaſie, ſo argumentirt er (Staat C. 10)
gibt ein Abbild des Gegenſtands, dieſer ſelbſt iſt ein Abbild der Idee des Ge-
genſtands, wie ſie im göttlichen Verſtande wohnt. Nun nimmt er die objective
Darſtellung des Phantaſiebilds durch die Kunſt, von der wir noch nicht reden,
hinzu und ſagt, dieſe ſei wieder ein Abbild des Phantaſiebilds. Folglich, ſchließt
er, ſei das Kunſtwerk das Bild von dem Bilde eines Bildes. Laſſen wir das
letzte Glied, das Kunſtwerk weg, ſo iſt alſo das Phantaſiebild Bild des Bildes;
es iſt zwar nicht, wie Plato vom Kunſtwerk ſagt, aus der dritten, aber doch
immer nur aus der zweiten Hand. Allein gerade dieſe zweite Hand hebt ja die
[360] Mängel des Bildes erſter Hand (des Naturſchönen) auf und kehrt zum
göttlichen Urbilde zurück; das Naturſchöne iſt die Mitte zwiſchen dieſem
und ſeiner Herſtellung durch den Menſchengeiſt; gerade weil das zweite
Bild Scheinbild iſt, tilgt es die Mängel des erſten und nie ſteht Plato mit
ſeiner Ideelehre in gröberem Widerſpruch, als wenn er ſo den Schein
verkennt.


Das ſo erzeugte Schöne nun iſt das Ideal, zunächſt das innere der
Phantaſie; nach Kant (a. a. O. §. 17) „die Vorſtellung eines einzelnen
als einer (richtiger: ſeiner) Idee adäquaten Weſens.“ Wir brauchen
keine weitere Definition, als den Zuſatz zu unſerem §. 14, daß das Schöne,
wie es dort beſtimmt iſt, ſeine wahre Wirklichkeit durch die Thätigkeit der
Phantaſie erlange, eine Thätigkeit, welche aber das Naturſchöne als Stoff
vorausſetzt. Nach der zu §. 379 angeführten Klage über die Seltenheit
ſchöner Weiber fährt Raphael in ſeinem Briefe an Caſtiglione fort,
er bediene ſich um dieſer Theurung des Stoffes willen di certa idea, che
mi viene nella mente.
Das Naive davon iſt, daß es danach ſcheint, als
bilde der Künſtler entweder nach ſchönen Modellen, oder in Ermang-
lung derſelben nach einem Phantaſiebilde; und ebenſo ſteht es mit der
bekannten Aeußerung Cicero’s (Orat. 3), welche von Phidias ſagt, daß
ſein Jupiter, ſeine Minerva nicht nach einem Modell geſchaffen wurde: sed
ipsius in mente insidebat species pulchritudinis eximia quædam, quam
intuens in eaque defixus ad illius similitudinem artem et manum dirigebat.

Das Phantaſiebild iſt immer das lebendige Ineinander eines naturſchönen
Stoffs und des ganzen Gehalts mit der ganzen Formthätigkeit des Künſt-
lergeiſtes. Freilich Raphael hat dort ſeine Galathea, Cicero hat Götter-
bilder im Auge, und dieſe ſind kein in der Natur gegebener Stoff. Allein
wir haben zum Stoffe auch Solches gerechnet, was durch Kunde überlie-
fert wird, zunächſt das Geſchichtliche. Zu dieſem werden wir im folg.
Abſchnitt eine neue Stoffmaſſe treten ſehen: das ganze Gebiet der religiö-
ſen Vorſtellung, welche, zunächſt ſelbſt eine Art von Production des Schönen
durch Phantaſie, doch ſelbſt wieder ihre noch unreifen Bilder als Stoff
der freieren, rein äſthetiſchen Phantaſie überliefert. Hier iſt alſo das über-
lieferte Sagenbild das Naturſchöne, in deſſen Umbildung die Phantaſie
thätig iſt. Soll nun dieſe ihr Bild zur objectiven Ausführung bringen,
ſo entſteht die Frage, ob ſie ſich nicht noch außerdem nach eigentlich
naturſchönen Objecten als Vorlagen umſehen ſoll: dieſe Frage gehört
aber nicht hieher, ſondern in die Kunſtlehre. Es handelt ſich da von dem
nachträglichen Benützen von Modellen, und erſt, wenn das Natur-
ſchöne auch in dieſer zweiten Inſtanz zur Sprache kommt, iſt die Frage
über Naturnachahmung in der Kunſt ſpruchreif; vorbereitet aber haben
wir allerdings die Sache zur leichten und raſchen Löſung.


[361]

Das Ideal iſt alſo Natur und nicht Natur: es iſt gefunden und
geſchaffen, der Künſtler gibt „dankbar gegen die Natur, die auch ihn her-
vorbrachte, ihr eine zweite Natur, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine
menſchlich vollendete zurück“ (Göthe zu Diderot). Sein Bild iſt das
wohlbekannte Alte und das unbekannte Neue, Fleiſch und Blut von dieſer
und doch Weſen aus einer andern Welt, von Geiſterhauch umweht,
„gleich weit entfernt von logiſchen Weſen wie von bloßen Individuen;
der Künſtler erhebt ſich über das Wirkliche und bleibt innerhalb des Sinn-
lichen ſtehen“ (Schiller an Göthe N. 360); „er ſcheidet am Wirklichen
aus das zufällig Wirkliche, an dem wir weder ein Geſetz der Natur noch
der Freiheit entdecken, d. h. das Gemeine“ (Göthe Werke B. 49 S.
45) und verſtärkt in’s Unendliche ſeine ganze Eigenthümlichkeit als Con-
centration der ewigen Natur- und Freiheitsformen in ein Individuum;
dieſes iſt daher Repräſentant der beſtimmten Idee. „Das Ideal
wandelt das Erſcheinende auf allen Punkten ſeiner Oberfläche zum Auge
um, welches der Sitz der Seele iſt und den Geiſt zur Erſcheinung bringt;
— es ſetzt ſeinen Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturgeſtalt hinein,
zieht ihn jedoch wie das Bereich des Aeußern zugleich zu ſich zurück, —
dadurch ſteht es im Aeußerlichen“ (als Kunſtwerk, zunächſt aber im Geiſte
umgeben von Bildern des gemein Aeußerlichen,) „mit ſich ſelbſt zuſam-
mengeſchloſſen frei auf ſich beruhend da als ſinnlich ſeelig in ſich, ſeiner
ſich freuend und genießend“ (Hegel Aeſth. B. 1, S. 197 ff.). Die Phan-
taſie als Idealbildend iſt ſo die reine und volle Mitte des menſchlichen
Geiſtes; dieſer Begriff iſt aber in Hegels Darſtellung trotz der Trefflich-
keit der einzelnen Beſtimmungen nicht zum Rechte getommen, weil er an
der Stelle, wo er die Phantaſie eigentlich behandelt, in der Encyclopädie,
von ihr ausſagt, die Intelligenz gebe in ihr einem aus ihr ſelbſt ge-
nommenen
Gehalt bildliche Exiſtenz (§. 457). Der Gehalt iſt ja, wie
wir ſehen, im Stoffe auch gegeben, und nur ſo eine reine Einheit des
Geiſtes mit der Natur möglich. Haben wir ſchon die Intelligenz, die
eigenen Gehalt ſchlechtweg frei erzeugt und dann in ein Bild legt, ſo ſind
wir ſchon weit über die Phantaſie hinaus: ſie iſt dem encyclopädiſchen
Fortſchritte geopfert.


§. 399.

Da jede Idee eine Einheit von Momenten in ſich begreift (§. 21), deren
reale Erſcheinung aber im Naturſchönen eine verworren ſich verlaufende Maſſe
darſtellt (§. 380, 1.) ſo wirkt die bindende und ſcheidende Thätigkeit der
Phantaſie (§. 396) im Ideal als organiſche Gliederung, welche das Fließende
einſchneidend theilt, das Zerſtreute einigt, ſo das Viele als ein Geordnetes um
[362] die Einheit der Idee verſammelt und das Ganze an ſeinen Grenzen ſcharf ab-
ſchneidet. Je reicher und erfüllter die Idee, deſto mehr ſtellt ſich im Ideals
dieſe Maſſenorganiſtrende Wirkung der Phantaſie in’s Licht.


Eigentlich iſt, was wir hier aufführen, nichts Anderes, als eben der
zuſammenziehende Act §. 396. Indem er das Poſitive im Gebilde in’s
Unendliche verſtärkt, ſo zieht er die Formen, worin ſich dieſes dar-
ſtellt, heraus wie aus einer Einklemmung. So ſind im menſchlichen Kör-
per immer einige Glieder nicht frei herausgewickelt, ſtecken und kleben
ineinander; was der Italiener desinvoltura nennt, iſt ſehr ſelten, voll-
kommen nie vorhanden. Indem jener Act das Störende ausſcheidet, rückt
er die Formen zugleich ebenſo energiſch zuſammen. Dieß findet ſelbſt
bei dem geringſten Gegenſtande Statt, und wäre es nur eine Erdbildung,
eine Pflanze, denn jedes Seiende iſt Einheit in Vielheit; die ganze Be-
deutung dieſes Gliederns aber tritt in dem Grade erſt in volles Licht, in
welchem der Gegenſtand ein ſo erfüllter und großer iſt, daß die Momente
außerhalb dieſes Zuſammenhangs ſelbſtſtändige Ganze wären, am meiſten
alſo in einer menſchlichen Handlung, welche durch Zuſammenwirken vieler
Perſonen ſich bildet, die ſelbſt wieder zu Gruppen, welche untergeordnete
Ganze im Ganzen darſtellen, ſich zuſammenordnen. Dieß Binden und
Auseinanderhalten, dieß Kerben, Punkte Setzen, Einſchneiden und ebenſo
fließend Vereinigen iſt zugleich weſentlich ein ſtrenges Abſchließen der
Grenze. Zwar greift ſchon die Anſchauung (§. 385) ihren Gegenſtand
aus der Maſſe heraus, allein ſie nimmt doch eine unbeſtimmte Menge
gemeiner Erſcheinungen, obwohl ohne Betonung, in die Wahrnehmung
mit auf. Die Phantaſie wirft dieſe weg, ſchneidet, dem Handwerker
gleich, der heraushängende Reſte eines Stoffes mit ſcharfem Meſſer löst,
die Umgrenzungen klar ab und der Rahmen ihres Gemäldes zeigt die
ſichere Linie, wo das Bedeutende aufhört und das, was in dieſem Zu-
ſammenhang nichts iſt, anfängt. So verläuft ſich eine Begebenheit in der
Geſchichte unbeſtimmt. Die Phantaſie ſchüttelt alle anklebende Erde ſtreng
ab und hebt das Weſentliche aus dem Geſchlinge umgebender Wurzeln.
Dieß Alles erhält jedoch ſeine ganze Bedeutung in der Kunſt, wo die
Phantaſiethätigkeit, indem ſie praktiſch wird, erſt auf die eigentlichen
Schwierigkeiten ſtößt. Will man ſich davon ein rechtes Bild machen,
ſo leſe man Göthe’s treffliche Zergliederung von Leonardo da Vinci’s
Abendmahl; das erſchöpfendſte Beiſpiel aber gibt das Drama. Zu jenen
Worten des Dichters, die wir zu §. 40 anführten, zu jenem treffenden
Bilde von des Fadens ewiger Länge, den die Natur gleichgültig drehend
auf die Spindel zwingt, dürfen wir nun die weiteren ſetzen:


[363]
Wer theilt die fließend immer gleiche Reihe

Belebend ab, daß ſie ſich rhythmiſch regt?

Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe,

Wo es in herrlichen Accorden ſchlägt?

Wer ſichert den Olymp, vereinet Götter?

Des Menſchen Kraft im Dichter offenbart.

§. 400.

Die Grenzfrage über das Recht des Objects und das Recht der Freiheit
der Phantaſie im Eingießen deſſen, was dem Subject und ſeiner Zeit, und in
Ausſcheidung deſſen, was dem Object angehört, läßt in abſtracter Allgemein-
heit keine nähere Löſung zu, als wie ſolche im Bisherigen enthalten iſt. Be-
ſonders wichtig wird ſie bei geſchichtlichen Stoffen, kann aber auch hier nicht
anders beantwortet werden, als durch Aufſtellung des Geſetzes, daß der natur
ſchöne Gegenſtand, indem er Stoff wird, jeder Erweiterung und Ausſcheidung
ſich unterwerfen muß, ſo lange ſie nicht ſeiner Gattung widerſpricht. Was
insbeſondere die Formen der Cultur und umgebenden Natur betrifft, ſo genügt
zur ſogenannten hiſtoriſchen Treue die Einhaltung des allgemeinen Typus.


Es könnte ſcheinen, dieſer Gegenſtand ſei erſt in der Kunſtlehre
aufzunehmen, und wir werden allerdings finden, daß das innere Ideal
auf dem Uebergang in das Kunſtwerk noch auf viele Lücken ſtößt, wo
es erfährt, daß es mit ſeinem Stoffe ſich noch lange nicht genug ausein-
andergeſetzt hat, daß es ferner hier erſt in ein Verhältniß zu dem Zu-
ſchauer zu treten hat, der außer dem Ideal auch den Stoff deſſelben
kennt und beide vergleichen wird, dem man daher, noch abgeſehen von
der Sympathie, die das Kunſtwerk überhaupt für ſich haben muß, gewiſſe
beſondere Rückſichten ſchuldig ſein wird. Inzwiſchen iſt doch das Kunſt-
werk im innern Ideale ſeiner ganzen Anlage nach da; hier liegt der
erſte und eigentliche Wurf, und fehlt uns noch ein eigentlicher Zuſchauer,
ſo haben wir einen ſolchen doch im Subjecte der Phantaſie ſelbſt, das
ſich, ſeine Anſchauungsweiſe, ſeine Zeit und ihre Forderungen zum erſten
Entwurfe der Phantaſie ſchon mitbringt; wir haben im Dichter auch den
Zuſchauer.


Die Frage über die objective Treue und ihre Grenze betrifft eigent-
lich alle Sphären von naturſchönen Stoffen, tritt aber erſt bei den geſchicht-
lichen in ſolcher Bedeutung auf, daß ſie die Antwort, welche anders als in
den allgemeinen Sätzen der bisherigen Entwicklung eigentlich nicht gegeben
werden kann, beſtimmter zu fordern ſcheint. Aber auch hier kann dem
allgemeinen Geſetze einer Bindung und Scheidung nur ſo viel beſtimmtere
Wendung gegeben werden, daß man ihm einen dieſem beſondern Inhalt

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 24
[364]entſprechenden Ausdruck gibt. Im geſchichtlichen Stoffe iſt zu unterſchei-
den zuerſt die Grund-Idee oder der ſittliche Lebens-Gehalt, wie ſolcher in
dem Volke und der Zeit, darin der Stoff ſpielt, gemäß der Art und
Stufe ihres ganzen Bewußtſeins ausgebildet ſein konnte; ſodann die
Charaktere, als deren Pathos er auftritt; ferner das Schickſal als Ge-
ſammtproduct ihrer Handlungen; dann die Culturformen; endlich die um-
gebende Natur, worin das Ganze vorgeht. Dabei iſt nun zunächſt
eine große, eine in die Geſchichte weſentlich eingreifende Handlung vor-
ausgeſetzt; allein der Stoff kann auch dem ſtillern Kreiſe der Familie, des
Privatlebens angehören, oder es kann an demſelben mehr die Sitte, Ge-
wohnheit, der Menſch, als Kind der Natur, der Verhältniſſe, der Bedürf-
niſſe zum Gegenſtand der Phantaſie erhoben ſein, als die freie That.
Dieſer Unterſchied im Stoffe und ſeiner Auffaſſung wird ſich in ver-
ſchiedenen Kunſtzweigen niederſchlagen (hiſtoriſches Bild, Genrebild,
Drama, Roman, Epos), und dabei wird es überall wieder auf die Aus-
dehnung ankommen, in welcher das Komiſche in einem Kunſtwerke herrſcht.
Geht man nun die aufgeführten Momente des Stoffes durch, ſo muß
man dabei immer dieſen ſehr wichtigen Unterſchied mit im Auge behalten;
denn ſogleich leuchtet ein, daß ganz andere Anſprüche die Bedingungen
der Zeit, des Volkes und ſeiner Lebensformen da machen, wo der Menſch
als Kind der Natur, Zeit, Sitte, als da, wo er als Urheber der
ſtraffen und freien Handlung auftritt. Es kann demnach von einer
concreten Erörterung dieſer Fragen um ſo weniger hier die Rede ſein,
da der Grad der Strenge, in welchem das Geſetz der objectiven Treue
ſich geltend macht, erſt da ſein Licht erhalten kann, wo dieſe verſchiede-
nen Auffaſſungen ſich in verſchiedenen Kunſtzweigen befeſtigen. Es iſt
alſo doppelter Grund, das Wenige, was mit Rückſicht auf bekannte De-
batten hier geſagt werden kann, nur ganz allgemein und unbeſtimmt zu
zu halten; man kann überhaupt keine Rezepte geben und man kann ins-
beſondere deßwegen keine geben, weil jede Kunſtſphäre ein anderes braucht.
Die Grundfrage in dieſer ganzen Angelegenheit iſt aber durch neuere
Verhandlungen in’s Schiefe gerathen. Rötſcher (Kunſt der dramat.
Dicht. Thl. 3 oder Cyclus dramat. Charaktere Thl. 2: „das Recht der
Poeſie in der Behandlung geſchichtlichen Stoffes“) widerlegt zuerſt die
Vorſtellung, als könne irgend die geſchichtliche Wahrheit Probirſtein und
Maßſtab ſein für die Beurtheilung eines poetiſchen Ganzen; die Geſchichte
ſei nur das Material, die Phantaſie ſei frei, autonomiſch, ſouverän, habe
ihre eigenen Geſetze. Hier erläutert er die berühmte Aeußerung des Ari-
ſtoteles (Poet 9), daß der Geſchichtſchreiber nur das Geſchehene darſtelle,
der Dichter das, was nach der Möglichkeit und Wahrſcheinlichkeit hätte
geſchehen können, oder das Nothwendige, daß daher die Dichtkunſt philo-
[365] ſophiſcher
und gewichtiger (φιλοϐοφώτερον καὶ σπȣδαιότερον) ſei,
als die Geſchichte; daß jene an dieſe ſich nur anſchließe, weil ſie das
Glaubwürdige bedürfe, die Möglichkeit aber glaubwürdiger ſei, wenn ſie
bereits wirklich geworden; daß aber der Dichter, auch wenn er wirklich
Geſchehenes darſtelle, doch um nichts weniger (frei ſchaffender) Dichter
ſei. Dann führt er bekannte Aeußerungen von Schiller und Göthe an,
worin dieſe ſehr zuverſichtlich von den wenigen Umſtänden reden, die der
Dichter mit der Geſchichte zu machen habe. Nachher aber faßt er die
Geſchichte in ihrer höheren Bedeutung als Manifeſtation des Weltgeiſtes
auf, ein Standpunkt, den Ariſtoteles, der von einer ganz trockenen Anſicht
der Geſchichte als bloßer Aufzählung des Geſchehenen ausgeht, nur bei-
läufig mit der Schlußwendung berührt, es könne Einiges von dem, was
geſchehen iſt, ſehr wohl von der Art ſein, wie es wahrſcheinlicher oder mög-
licher Weiſe hätte geſchehen können. Nun ſtelle ſich die Sache anders,
nun dürfe der Dichter nur ſorgen, daß er nicht hinter der Geſchichte zu-
rückbleibe, noch mehr, daß er ihr nicht widerſpreche, ſondern den Kern
ihres Pathos und ihrer Charaktere feſthalte. Dieß gelte insbeſondere von
den großen Brennpunkten der Geſchichte, wo das Gold des allgemein
Menſchlichen ſchon feſt geprägt und nur geringer Nachhilfe bedürftig zu
Tage liege. Aber auch von dieſem Standpunkt ſei es nicht Reſpect vor
der hiſtoriſchen Wahrheit, ſondern vor der geiſtigen Würde und Bedeutung
der Stoffe, alſo das eigene Intereſſe des Dichters, was ihn in ein an-
deres Verhältniß zu der Geſchichte ſtelle. Dieſer Darſtellung macht A.
Stahr (Poeſie und Geſchichte. Jahrb. d. Gegw. Febr. 1847) den ge-
gründeten Vorwurf, daß durch die letztere Wendung der Widerſpruch des
Schluſſes mit der Behauptung abſoluter Autonomie des Dichters im An-
fang ſich nicht verhüllen laſſe. Allein Rötſchers Fehler liegt nicht, wie
Stahr meint, in dieſer Behauptung, ſondern er liegt gerade darin,
daß er glaubt, ſie da wieder aufgeben zu müſſen, wo er die Ge-
ſchichte in ihrer höheren Bedeutung, als Offenbarung des göttlichen Gei-
ſtes, faßt. Auch bei der erhöhten Anſicht von der Geſchichte als einem
Drama des Weltgeiſtes darf man nicht, wie Stahr, vergeſſen, daß der
Weltgeiſt keine dramatiſche Abſicht hat, daß daher ſeinem Werke noch alle
Schlacken des Naturſchönen anhängen: der Dichter bleibt daher ſchöpferiſch
auch dem großartigſten Stoffe gegenüber, er iſt niemals der dienende In-
terpret der Geſchichte. Allerdings iſt aber auch dieß wieder einſeitig, das
Recht des Dichters als eine abſolute Autonomie zu behaupten. Das
Wahre liegt gerade in der Mitte zwiſchen den Vorderſätzen Rötſchers und
zwiſchen Stahrs Ueberſchätzung der Geſchichte in ihrem Verhältniß zum
Dichter —:


24*
[366]

Unſer Gang beſtätigt ſich auch hier als der rechte, der dieſe Anti-
nomie löſt; wir ſchickten die Naturſchönheit voraus, ſtiegen erſt von da
zur Phantaſie auf, ſtellten den Zufall des Ergriffenwerdens von einem
naturſchönen Objecte auf den Uebergang, fiengen daher nicht mit dem
Begriffe der Autonomie der Phantaſie an, ſchloſſen das Wählen, an
welchem Rötſcher noch hält, aus und ließen die Autonomie als Umgeſtal-
tung des in das Subject eingegangenen Stoffes erſt werden. So er-
ledigt ſich nun im Prinzip Alles durch den Begriff, daß der naturſchöne
Gegenſtand Stoff wird. Es folgt daraus ſogleich, daß der Gegenſtand
zwar ſeine ganze zum Individuum gewordene Gattungsnatur behalten,
daß er aber ebenſoſehr auf allen Punkten geläutert und gehoben werden
muß. Er bleibt ebenſoſehr, was er iſt, als er ganz ein anderer wird;
das Subject erfüllt ihn mit ſeiner ganzen Tiefe und dieſe wurzelt ganz
in der Zeitbildung des Subjects, aber dieſer Gegenſtand iſt in dieſe
Tiefe eingegangen und es kann gar nicht gefragt werden, ob es auch er-
laubt ſei, ihn gegen ſeine Natur zu behandeln. Ebenſowenig, als ich,
wenn mich der Frühling begeiſtert, die Stimmung des Winters in ihn kann
legen wollen, ebenſowenig kann ich, wenn mich ein griechiſcher Stoff be-
geiſtert, die Stimmung des Subjects, wie ſie weſentlich durch den Bruch mit
der objectiven Lebensform bedingt iſt, in ihn legen wollen, ſondern nur
in allem dem, was als allgemein Menſchliches trotz dem Unterſchied der
Zeiten die Herzen noch heute ſo bewegt, wie die der Griechen, kann ich
ihn zu unmittelbarer Sympathie mit unſerer Zeit erhöhen, nur ſo weit
kann ich ihn in die zartere Sitte, die tiefere Reſonanz der Empfindung,
die ſtrengere Moral meines Jahrhunderts herüberheben, als möglich iſt,
ohne den Grundton zu verletzen. Ich bin Kind meiner Zeit, aber jetzt
laſſe ich nur die Saiten des Zeitbewußtſeins ſpielen, welche in einer gei-
ſtigen Linie mit dem antiken Leben zuſammenhängen. So iſt im engliſchen
Charakter Vieles, was dem Antiken direct widerſpricht, der barockſte Ei-
genſinn der originellen Individualität u. ſ. w., aber auch viel dem römi-
ſchen Charakter Verwandtes, die praktiſche Schärfe, die unbarmherzige
Politik, die pralle Größe, die energiſche Herrſcherkraft; als nun Shakes-
peare von römiſchen Stoffen begeiſtert wurde, legte er dieß, nicht aber
jenes in ſie, und ſeine Römer blieben Römer, während ſie „ganz Eng-
länder wurden.“ Einen weiten Sprung über die Zeiten nahm ebender-
ſelbe Dichter, als er die gebrochene germaniſche Innerlichkeit, die ſkeptiſche
Subjectivität der neuen Zeit in den altergrauen Stoff von dem Prinzen
Hamlet legte; aber dieſer Stoff gab ihm doch germaniſche Natur, Ahnungs-
tiefe und Liſt unter ſcheinbarem Blödſinn, an die Hand und da waren die
Fäden der Anknüpfung gegeben. Uebrigens läßt ein dunkler Sagenſtoff na-
türlich mehr Eintragung zu, als ein heller geſchichtlicher. Göthe hat den großen
[367] Gehalt, der im Götz von Berlichingen lag, nicht erfaßt, nicht erſchöpft, das
Ende der Ritterzeit, der Bauernkrieg, die Reformation boten ganz andere Mo-
tive; da er aber doch als wahre Dichternatur von ſeinem Stoffe begeiſtert war,
ſo faßte er andere, ebenfalls weſentliche Seiten in demſelben auf und dieſe wa-
ren ganz geeignet, in die Stimmung der Sturm- und Drangperiode als er-
höhende Kraft gehoben zu werden: die Natürlichkeit, die derbe Treu-
herzigkeit auf der einen, das Ende der Einfalt des Herzens, die Willkühr,
die Weltlichkeit, der Kampf der Neigung mit der Pflicht auf der andern
Seite. Dagegen hat Leſſing aus purer Reflexion einen Stoff aus der
römiſchen Geſchichte gewählt, um gegen die Natur deſſelben eine mo-
derne ſociale und ſittliche Frage, und ebenſo einen Stoff aus den Kreuz-
zügen, um gegen die Natur deſſelben die Idee der Toleranz, Aufklärung,
Humanität hineinzulegen. Nicht ebenſogroß iſt der Widerſpruch des Stoffs
des Don Carlos und der von Schiller in ihn gelegten Zeit-Ideen.


Hier war vom ganzen Zeitbewußtſein die Rede. Es muß noch
hinzugeſetzt werden, daß dafür geſorgt iſt, daß die wahrhaft phantaſiebe-
gabte Natur die Stoffe in dieſem Sinn recht behandle; denn iſt ſie erfüllt
vom Pathos ihrer Zeit, ſo werden auch eben die Stoffe, die dieſem ver-
wandt und Vorläufer deſſelben ſind, in ihr zünden, und ſo z. B. den
jetzigen Dichter gerade die Stoffe ergreifen, in denen eine gährende Zeit
wie die unſrige zu Tage liegt. Man muß dem Naturgeſetz der Anziehung
etwas zutrauen; der ächte Jagdhund frißt kein Geflügel. Ebenſo verhält
es ſich mit dem Charakter. Sein Pathos darf und muß in Reinheit
herausgebildet, ſeine Motive müſſen erweitert, aber kein anderes Pathos,
keine weſentlich anderen Motive dürfen ihm geliehen werden, wie wenn
z B. ein an Entſtellung der Geſchichte gewöhntes Subject einen Luther,
Guſtav Adolf nach extrem katholiſcher Anſicht behandeln wollte. Belehrend iſt
Göthes Behandlung des Egmont. So wie er war, konnte er ihn nicht
brauchen, aber ſo wie er ihn idealiſirt hat, durfte er ihn nicht idealiſiren.
Das ſchöne Jünglingsbild widerſpricht dem Bilde des Familienvaters, der
aus Sorge um die Seinen, aber auch aus Mangel an politiſcher Energie
in ſein Verderben rennt, zu ſehr; gleich ſind ſich beide nur durch den
Mangel an Intenſivität für den politiſchen Zweck. Göthe hat freilich nicht
nur die Geſchichte, ſondern zugleich das Weſen der Tragödie verletzt.
Konnte Egmont anders nicht gehoben werden, als ſo, ſo war er gar kein
dramatiſcher Stoff.


Was nun die Begebenheit und das Schickſal betrifft, ſo hat die
Phantaſie das gute Recht, Solches, was in nicht allzuferner Zeit der Haupt-
handlung Verwandtes geſchah, heranzurücken, gleichzeitiges Fremdartiges
aber auszuſtoßen. So wäre z. B. ein ſchöner dramatiſcher Stoff Franz
von Sickingen, ſein zu frühes Losſchlagen für den großen Plan, die päbſt-
[368] liche Macht und die vielen Landesherren in Deutſchland mit Gewalt ab-
zuwerfen. Alle großen Männer der Zeit könnten um ihn gruppirt werden.
Der Bauernkrieg war ſchon im Ausbrechen, wurde aber erſt zwei Jahre
ſpäter unterdrückt; es wäre aber nicht nur erlaubt, ſondern gefordert, hier
einen Anachroniſmus zu begehen und Sickingen auch dieſe tragiſche Ka-
taſtrophe noch erleben zu laſſen. — Das Endſchickſal nun wird in den
großen Stoffen meiſt in der Hauptſache ſo gegeben ſein, daß weſentliche
Umänderung Sünde wäre, wie wenn Julius Cäſar, Wallenſtein glücklich
endigen ſollten. Sagenſtoffe dagegen werden eher, aber auch nur in ſel-
tenen Fällen, eine Freiheit abweichenden poſitiv oder negativ tragiſchen
Schluſſes zulaſſen. Antigone, Macbeth, Othello, Lear mit glücklichem Ende
nur zu denken iſt verkehrt; die Hamletſage aber ließ eine Umbildung
ihres glücklichen Schluſſes in einen unglücklichen deßwegen zu, weil ſie
die Eintragung eines zerriſſenen Innern in das Seelenleben des Helden
zuließ. Natürlich hindert aber überall nichts, das Ende reiner zu moti-
viren und zu geſtalten, wie z. B. den Tod der Jungfrau von Orleans,
oder wenn Jemand Ulrich von Huttens Tod als Verzehrung aus Gram
darſtellen wollte, der doch aus einem zufälligen Uebel hervorgieng. In
kleineren, engeren Stoffen aber, in welchen die Zuſtände der Geſellſchaft,
der Familie, des Privatlebens, an ſich zwar höchſt bedeutend, aber doch
abliegend vom großen Schauplatze der Geſchichte, ſich ſpiegeln, hat die
Phantaſie durchaus freiere Hand in der Geſtaltung des Endſchickſals.
Da ſpielt der Zufall eine andere Rolle, da kann in der Wirklichkeit etwas
offenbar tragiſch Angelegtes glücklich auslaufen und umgekehrt, während
dagegen im politiſchen Leben ſo reiche und mächtige Kräfte wirken, daß
Schuld und Schickſal mit ſtrengerer Nothwendigkeit zuſammenhängen (nur
daß man darüber, wie oben erinnert iſt, nicht vergeſſen darf, wie Vieles
auch hier für die ſchöpferiſche Phantaſie im Ganzen des Stoffes noch zu
thun bleibt). Zudem legt ſich natürlich in die Stoffe aus engerer Sphäre
ungleich mehr mit ihren eigenen Erfahrungen die Perſönlichkeit des ſchaf-
fenden Subjects und benützt das geſchichtlich Gegebene nur als frucht-
baren Keim.


Was nun die Culturformen betrifft, ſo gewinnt Hegel (Aeſth. B. 1,
S. 339—360) aus einer ſehr belehrenden Gegenüberſtellung der Extreme
archivariſcher Genauigkeit und ſchreiender Verletzung der hiſtoriſchen
Treue aus Unwiſſenheit oder Hochmuth den Begriff des rechten Maaßes.
Vom zweiten gibt die beſte Anſchauung das claſſiſche Theater der Fran-
zoſen zur Zeit Ludwigs XIV; es war freilich nicht nur das Koſtüm ver-
fehlt, ſondern mit der Sitte und Anſchauungsweiſe des Alterthums über-
haupt ſein ganzer Ton und Habitus und davon iſt der franzöſiſchen
Darſtellung immer etwas anzufühlen, ſie bringt in Alles einen Schnitt,
[369] eine Bewußtheit des Effects, was wenigſtens den Charakter der alten Zeit
und naturwüchſiger Bildung überall aufhebt. Wenn der §. ſagt, es genüge,
den Typus einzuhalten, ſo iſt damit gemeint, es müſſe das in den Formen
einer Zeit, eines Standes, Volks, was ihre Gefühlsweiſe, Stimmung,
Bildungsſtufe weſentlich ausdrückt, feſtgehalten werden, und dieß reicht
hin. Wer z. B. aus der erſten Hälfte des ſiebenzehnten Jahrhunderts
einen Stoff nähme und wäre unbekannt mit dem leidenſchaftlichen, wilden,
in Kleidern weitſchweifigen, gebauſchten, betroddelten, geſchlitzten, bebänder-
ten Weſen deſſelben, der würde einen Grundfehler begehen, ob er aber
um ein paar Jahre und Moden fehlt, hat natürlich Nichts zu ſagen.
Wer den ſchroffen Geiſt altbürgerlicher Sitte in einer Handwerkerfamilie
zum Stoffe nimmt und ihr Gewohnheiten, Kleider raffinirter und win-
diger Art beilegt, hat am Weſen des Stoffes ſich vergriffen. Es kann
in dieſem Gebiete die Kunſt nach Umſtänden auch einigen gelehrten Appa-
rat bei dem Zuſchauer vorausſetzen, ſo gut ſie eine hiſtoriſche Notiz vor-
ausſetzt oder mitgiebt, was der Forderung, daß das Kunſtwerk ſich ganz
aus ſich ſelbſt erklären ſoll, gar nicht widerſpricht; Göthe hat aber im
Fauſt etwas zu viel Zauberweſens, auch unverſtändliche Zeitbeziehun-
gen eingewoben (ſchon dem erſten Theil, der zweite exiſtirt für uns gar nicht).
Etwas ganz Anderes iſt es natürlich mit Kunſtwerken aus alter Zeit,
welche deßwegen einen Apparat der Erklärung fordern, weil die Zeit-
formen des Künſtlers ſelbſt verſchwunden, Object der Gelehrſamkeit ge-
worden ſind. Unter die Culturformen gehört namentlich Bewaffnung
und Koſtüm und eben an dieſen läßt ſich am beſten zeigen, wie weit die
Treue gehen muß. Die Schießwaffen z. B. in eine Zeit zurückverſetzen,
wo die individuelle Tapferkeit in der unmittelbarſten Bethätigung körper-
licher Kraft und Behendigkeit noch Charakter des Kriegs iſt, oder umge-
kehrt, wäre lächerlich; allein einige Jahre um die Neige des Mittelalters
hin oder her ſchadet nichts, die neue Erfindung wurde ſo ſchnell nicht
durchgeführt, ritterliche Waffen und Büchſen gingen lange nebeneinander.
Ueber das Koſtüm in beſonderer Anwendung auf das Theater ſagte ſchon
Tieck in ſeinen dramatiſchen Blättern beherzigenswerthe Worte, Rötſcher
(die Kunſt der dram. Darſtellung S. 362 ff.) hat dem rechten Grundſatze
ſeine Stelle im Ganzen angewieſen. Auf dem Theater zeigt ſich recht,
daß gelehrter Kleiderpomp den wahren Körper des Schönen erdrückt, der
ſich in einer allgemeinen Beobachtung des Typus einer Zeit leicht und
bequem bewegt. Allerdings iſt aber eine, nur nicht allzuängſtliche, Ein-
haltung des Koſtüms auch eine Probe für die Objectivät des Kunſtwerks.
Seit z. B. der Wallenſtein im richtigen Koſtüm des dreißigjährigen
Kriegs aufgeführt wird, fühlt man recht, wo der Dichter dieſe geſtiefelte
Zeit richtig angeſchaut, wo er dagegen zu viel Philoſophie und Senti-
[370] mentalität hineingelegt hat. Buttler in der Dragoner-Uniform jener Zeit
iſt ein Menſch aus Einem Stück, Max als Pappenheimer-Oberſt ein
Unding. — Endlich ſoll auch die umgebende Natur, freilich aber nicht bis zur
Gelehrſamkeit des Botanikers, Zoologen, Geognoſten, mitwirken. Die Winter-
nacht im Hamlet bei der Erſcheinung des Geiſtes, die Nachtigall und der
Granatbaum in Romeo und Julie ſind hinreichende Scenerie zu dem nordi-
ſchen Hauche, der dort, dem ſüdlichen, der hier durch das Ganze geht.


c.
Die Phantaſie des Einzelneu.

α.
Die Arten.

§. 401.

Die Wiſſenſchaft kann zunächſt nur einen Unterſchied von Arten aus
dem allgemeinen Geſetze ableiten, daß jede geiſtige Thätigkeit als Gabe der
Individuen die in ihr enthaltenen Momente trennend auseinanderlegt. In der
Eintheilung der individuellen Phantaſie wiederholen ſich daher die Theile des
bisherigen Syſtems und geben die Eintheilungsgründe für verſchiedene Reihen
von Arten. Dieſe Reihen können aber in unendliche Verbindungen unter ſich treten.


Kein ächter Günſtling des Schönen hat eine Phantaſie wie der
andere; ſo gewiß dieſe die Blüthe ſämmtlicher, nur in ihm ſo verſchlun-
gener Kräfte der Perſönlichkeit iſt, ſo gewiß iſt er an einem nur ihm
eigenen Zuge in ſeinen Gebilden zu erkennen. Dieß kann nun ſo wenig,
als der Zufall überhaupt, durch den Begriff vorausbeſtimmt werden.
Wohl aber laſſen ſich die Arten der Phantaſie beſtimmen und eintheilen.
Es muß deren ſo viele geben, als das bisherige Syſtem in ſeinen einzel-
nen Theilen Momente unterſcheidet. Indem wir dieſe Eintheilung vor-
nehmen, iſt nur vorauszuſchicken, daß diejenigen Unterſchiede hier noch
keineswegs aufgeführt werden dürfen, welche dem geſchichtlichen Bildungs-
gange der Phantaſie im Großen angehören. Wir werden in der jetzigen
Eintheilung zwar vielfache Arten der Phantaſie berühren, welche in der
Geſchichte der Phantaſie ſich zu Hauptgeſtalten des Ideals ausbreiten;
allein dieſe ſind als geſchichtliche anders abzuleiten und was die Zeiten
im Großen unterſcheidet, beſchäftigt uns jetzt nur als ein Unterſchied indi-
vidueller Organiſation, wie er gleichzeitig überall vorkommen kann.
[371] Ebendaher gehen uns hier auch diejenigen Formen nichts an, welche als
unreife an den Anfang, als Zeichen der Auflöſung an das Ende der
Zeitalter gehören: Symbol und Allegorie; blos ſofern ſie auch im Bildungs-
wege der Phantaſie des Einzelnen, nur ſchwächer angedeutet, hervortreten,
haben wir ſie ſchon in der jetzigen Abtheilung, in der zweiten Unterabtheilung
derſelben nämlich, welche von den Graden der Phantaſie handeln wird,
zu berühren. Auch die eigentlichen Verirrungen der Phantaſie werden
wir in Verfolgung dieſer Arten überall zu den Seiten uns begleiten ſehen,
und dieſe Verirrungen haben freilich auch ihre Zeitalter; doch nicht in
dieſem Sinne, ſondern nur in dem der allgemeinen Möglichkeit beſchäftigen
ſie uns jetzt. Weſentlich aber iſt, daß die gegenwärtige Abtheilung den
Grund zu der Kunſtlehre zu legen hat; denn die Verſchiedenheit der
Künſte realiſirt ſich durch die Verſchiedenheit der Organiſation der Phan-
taſie; es iſt ja nicht das verſchiedene Material, worauf ſie beruht, ſondern
dieſer wählt Stein, jener Farbe u. ſ. w., weil er zum Voraus den natur-
ſchönen Stoff anders anſchaut, als der Andere, und ſich darnach ein an-
deres Ideal in der Phantaſie ſchafft. Von dieſer Seite eröffnet die jetzige
Abtheilung allerdings auch eine Ausſicht auf die geſchichtlichen Formen
des Ideals, die zwiſchen den eben erwähnten unreifen Anfängen und
überreifen Ausgängen in der Mitte liegen, denn eine gewiſſe Art anzu-
ſchauen liegt ihnen zu Grunde, daher bringen ſie Alles unter den Stand-
punkt einer gewiſſen Kunſt (das claſſiſche Ideal iſt plaſtiſch, das roman-
tiſche maleriſch, muſikaliſch, das moderne poetiſch); aber auch dieß kann
jetzt nur als Vorandeutung auftreten und es bleibt dabei, daß wir vom
Unterſchiede der Epochen eigentlich noch nichts erfahren, ſondern nur Un-
terſchiede vor uns bringen, wie ſie immer und überall ſich hervorſtellen
können. — Der Schluß des §. ſpricht von einer gegenſeitigen Berührung
der Eintheilungslinien, die uns ſofort entſtehen werden. Was damit ge-
meint iſt, wird ſich im Einzelnen zeigen.


§. 402.

Die erſte Reihe entſteht dadurch, daß der Inhalt des erſten Theils des
Syſtems als Theilungsprinzip auftritt: einfach ſchöne, erhabene, komiſche
Phantaſie. Dieſe drei Arten theilen ſich wieder nach den verſchiedenen Stufeu
der betreffenden Grundformen in Unterarten und es bilden ſich, wo die eine
Art in die andere übergreift, dadurch neue Reihen; je reicher aber eine Phan-
taſie, deſto mehr Stufen oder ſogar Grundformen wird ſie umfaſſen.


Für die einfach ſchöne Phantaſie iſt es nur dann ſchwierig Bei-
ſpiele zu finden, wenn man nicht erwägt, daß ſie, obwohl die einfache,
die harmloſe Schönheit und milde Grazie ihr Standpunkt und Boden iſt,
[372] doch in ihrer Weiſe allerdings auch in das bewegte Gebiet der Kämpfe
übergeht. So kann Raphael neben Mich. Angelo, Homer und Sophokles
neben Aeſchylus, R. Green neben Marlowe und Shakespear, Gotfr.
von Straßburg neben Wolfr. v. Eſchenbach, Göthe neben Schiller einfach
ſchön heißen; und doch haben ſie alle eine Welt von Kämpfen, von ſchnei-
denden tragiſchen Momenten zur Darſtellung gebracht. Die im ſtrengſten
Sinn einfach ſchöne Phantaſie iſt allerdings auf kampflos heitere, jugend-
liche Geſtalten, ruhige Landſchaft, liebliches Genre u. ſ. w. angewieſen.
Für die erhabene und komiſche Phantaſie braucht es keiner Erläuterung,
noch Anführung. Die erſte nun findet in dem vorliegenden Eintheilungs-
prinzip keinen Grund weiterer Unterſchiedsbeſtimmung; wohl aber muß
die erhabene und komiſche Phantaſie in Unterarten zerfallen nach den
verſchiedenen Formen des Erhabenen und Komiſchen. Für das objectiv
Erhabene iſt eine Phantaſie organiſirt, welche coloſſale Naturſcenen, wild
bewegte Thier-Erſcheinungen liebt; das Erhabene des Subjects gelingt
manchem großen Charakterzeichner, der darum noch nicht ebenſo zur Dar-
ſtellung einer ganzen Handlung und ihres tragiſchen Geſetzes berufen iſt, ja
ſelbſt die untergeordneten Formen dieſer Sphäre haben wieder ihre beſonderen
Repräſentanten, wie denn z. B. ein Schauſpieler für die polternde Lei-
denſchaft, ein anderer für Intriganten-, ein anderer für Helden-Rollen
einſeitig Talent hat. Wer aber zum Tragiſchen berufen iſt, wird freilich
auch des einfach Schönen und des Erhabenen des Subjects, nur nicht in
gleich breiter Ausdehnung wenigſtens des erſtern, mächtig ſein, es wäre
denn vorzüglich die erſte Stufe, das Tragiſche als Geſetz des Uni-
verſums, worauf er beſchränkt wäre, und dann würde er im Uebrigen
auf dem Standpunkte des einfach Schönen ſtehen. Vielfach verzweigt
ſich namentlich das Komiſche; ein Talent bewegt ſich faſt nur in der
Poſſe, ein anderes im Witz, oder hauptſächlich nur in Einer Form deſſel-
ben, denn Viele haben abſtracten, aber ſehr wenig bildlichen Witz u. ſ. w.;
ein drittes erhebt ſich zum Humor, beſchränkt ſich aber auf eine Form
deſſelben, den naiven, den gebrochenen, doch wenn es ſich zum freien
erhebt, wird es auch dieſe zwei andern Formen in ſeiner Gewalt haben;
ſo hat J. Paul neben hochkomiſchen drollige und zerriſſene Menſchen
und Erſcheinungen. Mit dieſen Bemerkungen haben wir denn ſchon mehr-
fach den Schlußſatz des §., zugleich aber auch den Schlußſatz des
vorhergehenden, wie nämlich die verſchiedenen Theilungslinien auch aufein-
andertreffen, berührt. Sehen wir dieß etwas genauer an: die einfach
ſchöne Phantaſie wird, ſoweit ſie in das Erhabene übergeht, das objectiv
Erhabene am wenigſten ausſchließen, vom Erhabenen des Subjects aber
nur das der Leidenſchaft, vom Tragiſchen nur die einfache Elegie ſeiner
erſten, unmittelbarſten Form ergreifen; ſoweit ſie (wiewohl ſchwer, vergl.
[373] Th. 1, S. 485) in das komiſche Gebiet übertritt, wird ſie die Poſſe, den
bildlichen Witz, den naiven Humor ſich aneignen. Die erhabene Phan-
taſie hat ſelten Sinn für das einfach Schöne; Schiller z. B. iſt unglücklich
im ächten weiblichen Ideal; zum Komiſchen hat ſie zwar nur „einen
Schritt“, allein keineswegs vollzieht ſie ihn darum immer ſelbſt, nicht jeder
erhaben Geſtimmte vermag ſich ſelbſt zugleich zu ironiſiren, häufig über-
läßt er dieß, wie Klopſtock ganz, Schiller zum Theil (denn einigen Ueber-
gang zum Komiſchen hat er allerdings ſehr glücklich vollzogen) der Phan-
taſie eines Andern. Doch ſie kann es und dann wird ſie, wenn mehr
auf das objectiv Erhabene eingeſchränkt, dieſelben Sphären des Komiſchen
aufſuchen, wie die einfach ſchöne Phantaſie, wenn mehr auf das Erha-
bene des Subjects, den Witz, insbeſondere den abſtracten nebſt der
Ironie und den gebrochenen Humor, wenn aber mehr auf das Tragiſche,
den freien Humor lieben. Die komiſche Phantaſie wird ſehr wenig Sinn
für die ruhige und einfache Schönheit haben, doch eher noch, wenn ſie
von der burlesken Art iſt, den bildlichen Witz und den naiven Humor
anbaut. Sinn für das Erhabene ſetzt ſie aber entſchieden voraus, denn
das iſt ihr Stoff und Ausgang und das ſoll ſie mitten im Lachen noch
verehren, doch am wenigſten wird ſie dieſen vorausgeſetzten Sinn beſitzen,
wenn ſie auf den Witz, der lieblos das getroffene Subject ſtehen läßt,
beſchränkt iſt. Der Humor aber wird vollen Sinn für das Erhabene
hegen, der naive für ein handgreiflich vorliegendes, der gebrochene für
das mehr innerlich Erhabene des Subjects und die negative, zerſtörende
Seite des Tragiſchen, der freie für das Erhabene des Subjects und das
ganze Tragiſche.


§. 403.

Ein zweiter Theilungsgrund iſt durch die verſchiedenen Reiche des Natur-1
ſchönen gegeben: landſchaftliche, thieriſche, menſchliche und zwar
entweder allgemein menſchliche oder geſchichtliche Phantaſie. Auch
dieſe Arten verzweigen ſich zu einer reichen Reihe von Unterarten, die den
engeren Kreiſen dieſer Reiche zugetheilt ſind. Eine dreifache Reihe neuer
2
Verbindungen entſteht hier theils dadurch, daß die einzelne Art und Unterart
in die andere übergreift, theils durch die Vereinigung der Arten des vorhergehen-
den §. mit den vorliegenden, theils durch die Uebergriffe der ſo verbundenen
Arten und Unterarten ineinander. Auch hier umfaßt je die reichere Phantaſie
mehr Arten und Unterarten.


1. Schon hier erhalten wir eine der Grundlagen der verſchiedenen
Künſte und Kunſtzweige, was im vorh. §. noch nicht ebenſo oder nur
in ſchwacher Andeutung der Fall war, denn die Grundformen des Schönen
[374] ziehen ſich durch alle Künſte hindurch, nur freilich ſo, daß einige vom
Komiſchen ausgeſchloſſen ſind und daß das Tragiſche und Komiſche ſich be-
ſondere, ſelbſtändige Kunſtzweige ſchaffen. Es liegt jedoch ein Nachdruck
darauf, daß es ſich hier nur von einer der Grundlagen handelt; gewiſſe
Künſte und Kunſtzweige werfen ſich zwar weſentlich auf gewiſſe Stoffe,
dennoch aber theilen ſie dieſelben auch mit andern und hier entſcheidet
nicht der Stoff, ſondern die Auffaſſung in dem Sinne, wie der folg. §.
das Eintheilungsprinzip für ſie geben wird. Die durch den jetzigen Ein-
theilungsgrund entſtehenden Arten der Phantaſie nun konnten nur in Kürze
angegeben werden. Genauer betrachtet fragt es ſich ſogleich, wohin wir
die Schönheit der Pflanze gebracht. Es leuchtet aber ein, daß ſie derje-
nigen Phantaſie zufällt, welche ſich auf die unorganiſche Schönheit wirft
und nicht ohne die Mitaufnahme derſelben die landſchaftliche heißen
kann. Doch gibt es große Meiſter der Landſchaft, welche Licht, Luft,
Waſſer, Erdleben mit Meiſterſchaft auffaſſen, Pflanzen aber nicht ebenſo,
während es ſich bei anderen umgekehrt verhält. Es gibt ferner eine
Phantaſie, die vorzüglich zu Auffaſſung des Thierlebens organiſirt iſt;
die großen Thierbildner, Thiermaler (Snyders, Potter und and.) ſind
bekannt. Was nun die menſchliche Schönheit betrifft, ſo konnte der §.
nur die oberſte Haupteintheilung hervorheben. Sieht man die Sache
näher an, ſo zeichnen ſich deutlich die beſtimmten Richtungen ab. In der
Abtheilung von der menſchlichen Schönheit überhaupt im erſten Abſchnitt, die
wir hier der „allgemein menſchlichen“ Phantaſie zutheilen, traten zuerſt
in §. 317 ff. die Formen hervor, die den Menſchen ſchlechtweg
als Gattung charakteriſiren, ſeine Geſtalt, die Unterſchiede des Alters,
Geſchlechts u. ſ. w. Es giebt eine Phantaſie, welche auf dieſe reinen
Formen angewieſen iſt, wir werden ihre Heimath beſonders in der Plaſtik
finden, aber auch in der Malerei, der Poeſie iſt ſie zu Hauſe und Göthe
z. B. umfaßt zwar noch ganz andere Gebiete, aber die ſinnliche Seelen-
form der Gattung iſt vorzüglich ſein Element. Die harmloſe Situation
(§. 336) wird es beſonders ſein, in welcher dieſe Phantaſie ihre Stoffe
hinſtellt. Wir zogen zu dieſem Kreiſe die Liebe, Ehe, Familie (§. 322 ff.).
Die erſte mehr als natürliche Leidenſchaft gefaßt zeigt uns das erotiſche
Gebiet, worin noch dieſelbe Phantaſie, die überhaupt vorzüglich auf na-
türliche Schönheit angewieſen iſt, ſich bewegt; in ihrer höheren Bedeu-
tung, in ihren tieferen Kämpfen aber iſt ſie freilich für verſchiedene Arten
der Phantaſie Stoff auf verſchiedene Weiſe. Ehe und Familie konnten
vollends nicht aufgeführt werden, ohne das ſittliche Ganze der ausgebil-
deten menſchlichen Geſellſchaft vorauszuſetzen, und ſo werden ſie Stoff bald
für die tiefere Phantaſie, welche ſich für das ſittliche Leben als ſolches
beſtimmt und ſeine ernſteren Kämpfe behandelt, aber doch zugleich mit
[375] beſonderer Vorliebe für die natürlichen Formen wie bei Göthe, bald aber für
diejenige, welche Gewohnheiten, Sitten, Culturformen in’s Kleine ver-
folgt und welche das ſogenannte Genre oder Sittenbild ſchafft. Eben dieſe
letztere Phantaſie nun wird ſich vorzüglich in diejenigen Stoffe legen, die
wir ſofort unter der Bezeichnung: „die beſonderen Formen“ (§. 324 ff.)
zuſammenfaßten: Völker, Stämme, Thätigkeiten, die dem Bedürfniß und
Genuſſe dienen, Krieg, Tracht, kurz Culturform. Die Weiſe der Phan-
taſie, die ſich damit beſchäftigt, liegt ganz nahe an der vorigen; ſo iſt es
z. B. eben auch Göthe, der das Gattungsmäßige, Geſchlechtliche, Ero-
tiſche, die Kämpfe der Neigung und Leidenſchaft und die Sitten, Gewohn-
heiten, Naturell der Völker gleich genial behandelt. Hier treten nun auch
die vorgeſchichtlichen Naturformen des Staates auf und aus den reiferen
die Typen der Stände. Wir ſehen das Gebiet des Epos aufgeſchlagen,
zu dem aber das eintheilende Prinzip noch nicht ausgeſprochen iſt. Wir
können an verſchiedene Kunſtzweige denken; Göthe hatte beſonderen Sinn
für Genremalerei und ebenderſelbe war beſonders zum Epos berufen. Da-
rauf folgten nun im erſten Abſchnitte die individuellen Formen (§. 331 ff.);
ſoweit ſich dieſe noch im natürlichen Gebiete bewegen, fallen ſie der Phan-
taſie der natürlichen Schönheit und der genre-artigen zu, je mehr wir
aber zum Charakter aufſteigen, deſto mehr fordert der ſich vertiefende Ge-
genſtand die tiefere Phantaſie, welche das Innere, das Pſychologiſche in’s
Auge faßt und den ſo gefaßten Stoff auf die verſchiedenſte Weiſe, z.
B. für Darſtellung der Bildungsgeſchichte des Individuums im Roman,
für ein geiſtig bewegteres, mehr innerliches Genre, aber auch für die
Perſonen im Drama, das jedoch ſeinem Hauptkörper nach eine ganz an-
dere Form der Phantaſie fordert, verwenden kann. Wir haben aber nicht
umſonſt dieß Alles unter dem Begriff der allgemein menſchlichen Phantaſie
zuſammengefaßt, denn wir trennen alle dieſe Sphären jetzt von dem con-
creten Schauplatz der Weltgeſchichte. Im erſten Abſchnitte dieſes zweiten
Theils der Aeſthetik zwar führten wir die Zuſtände des Privatlebens, die
Geltung des Individuums, die Culturformen durch das ganze geſchichtliche
Gebiet mit fort und auch die geſchichtliche Phantaſie braucht ſie ja beſtän-
dig zur vollendeten Anſchauung ihres Stoffes; allein ſie braucht ſie nur
als Momente in der concreten Bewegung der eigentlich geſchichtlichen
Begebenheiten und Thaten. Dieſe Formen laſſen ſich aber von der in
die Tafeln der Geſchichte eingezeichneten That und Begebenheit auch tren-
nen und an einen allgemein menſchlichen Gehalt, der wohl auch in einer
Begebenheit, aber nicht in einer der eigentlichen Geſchichte angehörigen
ſich darſtellt, anlehnen; und dieß bildet dann das Gebiet eben für jene
Art der Phantaſie, welche nicht auf den Sinn der Geſchichte gegründet
iſt, welche das Datum und Factum, das Unerbittliche der Thatſache, die
[376] rauhen Bedingungen der Wirklichkeit im Großen als Feſſel fühlt und
demjenigen nachgeht, was man vorzugsweiſe das allgemein oder rein
Menſchliche nennt. Göthe z. B. war ſo organiſirt, er hatte eine gewiſſe
Scheu vor der Herbheit der Geſchichte, Schiller aber war ganz politiſcher
Geiſt.


Einem Solchen nun iſt die Geſchichte aufgeſchlagen, die großen
Männer, Thaten und Schickſale mit beſtimmten Namen, aus beſtimmten
Zeiten überliefert. Hier brauchen wir nur anzudeuten, wie den Einen
die alte, den Andern die mittlere, den Dritten die neuere Zeit anziehen,
wie es wieder für den Charakter beſonderer Perioden einen beſondern
Sinn geben wird, um auf die Mannigfaltigkeit der Organiſationen, in
die ſich dieſe Art verzweigt, hinzudeuten.


2. Hält man zuerſt die Reihen, welche durch die Arten innerhalb
dieſes Eintheilungsgrunds entſtehen, zuſammen, ſo bilden ſich auch hier
neue Combinationslinien. Die landſchaftliche Phantaſie kann ſich mit der
thieriſchen und menſchlichen verbinden und wird im letzteren Fall gern die
Culturformen der Völker in Verbindung mit der Thierwelt, Hirtenleben,
Jagd, wandernde Horden, Schlachten und dergl. zum Stoffe nehmen.
Schreitet die allgemein menſchliche Phantaſie auf den Boden der geſchicht-
lichen über, ſo wird ſie das rein Menſchliche an das Leben der Staaten
knüpfen, wie Shakespeare in Romeo und Lear, Göthe in Hermann und
Dorothea, leicht aber die politiſche Grundbedeutung der Epochen über-
ſehen, wie Göthe im Götz und in den fatalen Luſtſpielen, deren Stoff
die franzöſiſche Revolution iſt; ſie wird aber auch die Naturvölker und
das Alterthum beſonders lieben, es wäre denn die Unterart, die das Pſy-
chologiſche des individuellen Lebens in die Tiefe verfolgt: dieſe wird Fa-
milien-, Bildungs-Stoffe in der neueren Geſchichte ſuchen. Legt ſich aber
die geſchichtliche Phantaſie in die Landſchaft, in die thieriſche Schönheit,
in die Culturformen und das Privatleben, ſo wird ſie alle dieſe Sphären
in einem großartig monumentalen oder ſtark und mächtig bewegten Geiſte
behandeln. Intereſſante Beziehungen ergeben ſich weiter, wenn man die
eben ſchon berührten engeren Kreiſe oder Unterarten weiter zuſammenhält:
die Phantaſie z. B., welche der natürlichen menſchlichen Schönheit (der
Geſtalt) nachgeht, wird, wenn ſie in Familienſcenen übergeht, idylliſche,
naive lieber, als kampfvolle, wenigſtens als zerriſſene Scenen, wenn ſie
ſich auf den Boden der Stände begiebt, ſolche ſuchen, die geruhig mit der
Natur verkehren, Fiſchfang und dergl. Wir überlaſſen weitere Combina-
tionen dem Leſer.


Nun ſtellt ſich aber dieſes ganze Gebiet mit dem des vorh. §. zu-
ſammen und da kommt in dieſe Maſſe ſchon ſchärfere Beſtimmtheit, aber
auch zugleich ſo viel neuer Reichthum, daß wir nur Winke geben können.
[377] Sogleich iſt klar, daß die landſchaftliche Phantaſie ſich bald mit der einfach
ſchönen, bald mit der erhabenen verbinden wird; die letztere wird Hoch-
gebirge, Einöden, Stürme der ſtillen Milde des Naturlebens vorziehen,
in der weicheren Form Mondſchein-Scenen u. ſ. w. In der Thierwelt
findet der Freund des Erhabenen genug des Gewaltigen und Furchtbaren,
der des einfach Schönen genug der friedlichen und behaglichen Stoffe. In
der Sphäre des allgemein Menſchlichen bietet ſich der Phantaſie der ſchönen Ge-
ſtalt, wenn ſie ſich im Erhabenen bewegt, genug des Gewaltigen, Tragiſchen
(Herkules, borgheſiſcher, ſterbender Fechter u. dgl.), der für Volkszuſtände und
Culturformen organiſirten vorzüglich der Krieg neben der gefährlicheren Jagd
als Stoff dar. Diejenige Phantaſie, welche in den durchgearbeiteteren
Zuſtänden der Geſellſchaft heimiſch iſt, hat in der Ehe, Familie, den
Colliſionen der Stände, dem Bildungsgang des Individuums ein reiches
Feld für einfach ſchöne Situation und, wenn ſie erhaben oder komiſch geſtimmt
iſt, für Kämpfe und Widerſprüche aller Art; auch das ſchöne Naturleben
des Menſchen bietet ſich der Komik ſo gut, wie der einfach ſchönen und erhabe-
nen Phantaſie, nur überall weſentlich der naiven Komik als Fundgrube an.
Daß aber das geſchichtliche Gebiet der erhabenen und komiſchen Phantaſie
die reichſten Stoffe liefert, bedarf keines weiteren Beweiſes; vielmehr hier
eben iſt das Feld, wo beide Formen der Weltanſchauung ſich zu ſelbſt-
ſtändigen großen Standpunkten (und daher Kunſtgattungen) geſtalten.
Man meine nicht, die komiſche Phantaſie ſei bloß auf das Privatleben
angewieſen, das wir, wie geſagt, im gegenwärtigen Zuſammenhang vom
Politiſchen zu den beſonderen Formen zurückſtellen; die Geſchichte im
Großen iſt wahrer Stoff für den großen Komiker (vergl. §. 222).


Auch dieſes Feld der Combinationen erſchöpft aber noch nicht den
ganzen Umfang der möglichen Verbindungen. Wir haben die einzelnen
Arten der Phantaſie zuſammengeſtellt, welche aus den Reichen des natur-
ſchönen Stoffes als Eintheilungsgrund entſtehen, wir haben ihre verſchie-
denen Verbindungen untereinander angedeutet. Dann haben wir die
Eintheilung des vorhergehenden §., die den Grundformen des Schönen folgt,
zur jetzigen geſchlagen und ſo wiederum eine Linie neuer Miſchungen auf-
gezeigt. Nun entſteht aber eine weitere, wenn man die einzelnen Arten
oder Unterarten dieſes §. ſammt der ſchon dazugeſchlagenen Weiſe ihrer
Verbindung mit den Arten oder Unterarten des vorhergehenden §. darauf
anſieht, wie ſie ſich geſtalten, wenn ſie ſich mit dieſer Stimmung auf
den Boden einer andern Art oder Unterart begeben. Wer z. B. dem
einfach Schönen nachgeht und ſo unter den Stoffen der beſonderen menſch-
lichen Formwelt vorzüglich für naive Volksſitte Sinn hat, der wird, wenn
er in das geſchichtliche Gebiet übergeht, Volksſcenen beſſer darſtellen, als
Helden, wie Göthe im Egmont; ebenderſelbe liebt unter den allgemeinen
[378] Formen das Erotiſche, ſo macht Göthe eine Liebesgeſchichte zum Mittel-
punkte einer geſchichtlichen Handlung im Götz und Egmont. Zugleich
kann aber dieſelbe Phantaſie, obwohl auf das einfach Schöne geſtellt,
den Bildungsgang der Individualität mit Vorliebe zum Gegenſtand ma-
chen und dieſer geht vielfach ins Erhabene, ſie wird ihn aber mit dem
Elemente ſchöner Sitte umgeben und zur ſchönen Rundung der Perſönlich-
keit führen: wiederum Göthe. Schiller iſt vorzüglich für das Erhabene
des Subjects und das Schickſal in der Geſchichte organiſirt, doch gelingt
ihm auch Volksleben und Culturform, aber mehr draſtiſch bewegte (Sol-
datenleben), als einfach ſchöne (ländliche — im Tell), und auch im Roman,
alſo dem Gebiete des rein Menſchlichen, wirft er ſich auf den draſtiſchen
Streit geſchichtlicher Mächte (Geiſterſeher). Kaulbach iſt für große geſchicht-
liche Stoffe im Sinne des Erhabenen organiſirt, aber ebenderſelbe be-
handelt mit tiefer Komik die Thierwelt als Parodie der menſchlichen, mit
ergreifender Charakteriſtik pſychologiſch erſchütterndes Genre. Wir ent-
halten uns weiterer Griffe in ein Feld unendlicher Miſchungsverhältniſſe.


Je reicher nun eine Phantaſie, deſto mehr wird ſie nicht nur Arten
und Unterarten des einfach Schönen, Erhabenen, Komiſchen, nicht nur
Arten und Unterarten der landſchaftlichen, thieriſchen, menſchlichen Phantaſie
umfaſſen, ſondern deſto mehr wird ſie auch fähig ſein, erſtens, einen Stoff
aus derſelben Sphäre letzterer Art einfach ſchön, erhaben oder komiſch
(wenn er dazu ſich darbietet, denn das muß er und er kann es, wenn er
mannigfach verſchlungen iſt) anzuſchauen; zweitens, mehrere Stoffe nach-
einander wechſelnd unter den einen oder andern Standpunct zu bringen,
drittens, in einem Ganzen der Phantaſie mit den Betrachtungsweiſen zu
wechſeln. Ariſtophanes verbindet wunderbar dieſe Stimmungen in An-
ſchauung des griechiſchen Lebens, reicher aber in der Fülle der Phantaſie,
welche alle Lebensformen in wechſelnder Tonleiter aller äſthetiſchen Grund-
formen (§. 402) durchläuft, iſt keiner, als Shakespeare.


§. 404.

Das dritte Prinzip der Eintheilung liegt in den Momenten der Phan-
taſie ſelbſt. Dieſes begründet zwei Eintheilungsreihen: zuerſt eine ſolche, wo
jedesmal die ganze und ungetheilte Phantaſie vorausgeſetzt iſt, die ſich aber
weſentlich auf den Standpunkt eines oder des andern ihrer Momente ſtellt,
und zwar entweder auf die Anſchauung (§. 385) und Einbildungskraft (§. 387 ff.),
oder auf die Empfindung (§. 385) und Stimmung (§. 394), oder auf die eigent-
liche Phantaſie (§. 392) als reine innere Formthätigkeit. So entſteht eine
bildende, eine empfindende, eine dichtende Phantaſie. Die erſte iſt
unter den anſchauenden Sinnen (§. 71) auf das Auge, und zwar entweder
[379] auf das meſſende, oder auf das taſtend ſehende, oder das nach dem Aus-
druch der Licht- und Farbenwirkung, alſo eigentlich ſehende, die zweite
auf das Gehör organiſirt, die dritte auf die ganze ideal geſetzte Sinn-
lichkeit und die reichſte geiſtige Bewegung aller ihrer Mittel

geſtellt. Auch dieſe Arten verbinden ſich theils unter ſich, theils mit den beiden
Reihen der vorher aufgeführten, in den mannigfaltigſten Miſchungsverhältniſſen.


Man meine nicht, es ſei hier der Kunſtlehre zu ſehr vorgegriffen:
es iſt von einer objectiven Ausführung des Ideals durchaus noch nicht
die Rede, ſondern nur von einer Beſtimmtheit, die es bereits in ſeiner
erſt inneren Geſtaltung an ſich trägt und welche freilich dann im Ueber-
gang zur Objectivität der Kunſt den Unterſchied der Künſte begründet.
Der Eintheilungsgrund dieſer neuen Reihe von Arten der Phantaſie iſt
alſo genommen aus den Momenten der Phantaſie ſelbſt. Jedes dieſer
Momente aber tritt doppelt auf. Allen weitern Stadien der Phantaſie-
thätigkeit liegt die Anſchauung und die zu dieſer geforderte Innigkeit der
Empfindung zu Grunde. Nun könnte man ſo eintheilen: die bildende
Phantaſie ruht auf der Anſchauung, die empfindende auf dem Momente
der Innigkeit der Anſchauung, in der dichtenden wiederholt ſich die Ein-
bildungskraft. Allein im Leben der Phantaſie ſelbſt ſahen wir dieſe erſten
Stufen ſich auf höhere Weiſe wiederholen: in der Einbildungskraft die An-
ſchauung, in der Stimmung (§. 394) die erſte Empfindung, in der idealen
Formthätigkeit der Phantaſie die Einbildungskraft. Man könnte nun ſagen,
es ſei gleichgültig, ob die Eintheilung auf die erſte oder zweite dieſer Reihen
jetzt begründet werde; nennt man aber nur die zweite, ſo hat dieß das
Schiefe, daß in dem Begriffe der Einbildungskraft neben der deutlichen
Geſtalt auch das Willkührliche liegt; nennt man nur die erſte, ſo ſcheint
überſehen, daß es ſich hier überall ſchon von einem innern Bilden und
Schaffen handelt. Der §. begründet daher die Eintheilung auf die ſich
entſprechenden Momente beider Reihen.


Zählen wir nun mit deutlicher Bezeichnung die Arten auf:


a. Die bildende Phantaſie, begründet auf den Standpunkt der
Anſchauung und der Einbildungskraft. Legt ſich die ganze Phantaſie auf
dieſen Standpunkt, ſo wird Alles in ihr darauf hinarbeiten, mit ſcharfen
Zügen ein Bild, das zu ſächlicher Selbſtſtändigkeit wie das mit dem äußeren
Auge geſchaute und ſofort in der Syntheſe der Einbildungskraft immer
noch wie ein Gegenſtändliches vorſchwebende Object ſich verfeſtigt, dem
Geiſte (zunächſt innerlich) gegenüberzuſtellen. Es iſt die Form des Sehens,
welche hier herrſcht, denn dieſes läßt ſein Object ganz als Object. Wer
innerlich ſo bildet, der muß ſchon in der Anſchauung weſentlich die Dinge
ſo betrachtet haben. Er iſt auf das Auge organiſirt und dieſe Organi-

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 25
[380]ſation ſetzt ſich als beſtimmend in das innere Leben der Phantaſie fort.
Nun treten deutlich unterſcheidbar ſogleich die Unterarten hervor. Das
Auge ſieht in dreierlei Weiſe: es mißt durch ein verhülltes Zählen Ver-
hältniſſe, es umſpannt durch ein verhülltes Taſten organiſch geſchwun-
gene Formen, es ſieht den reinen Schein der Oberfläche in Licht und
Farbe, d. h. es ſieht im vollkommenſten Sinne, iſt aber auch ſchon
auf jene verſchwebenden Medien gerichtet, welche an die Anſchauungs-
weiſe eines andern Sinns hinrühren. So theilt ſich alſo die bildende
Phantaſie in eine


  • α. auf ein meſſendes Sehen,
  • β. auf ein taſtendes Sehen,
  • γ. auf ein eigentliches Sehen begründete.

Man erkennt leicht: hier iſt die Reihe der bildenden Künſte vorge-
zeichnet: Baukunſt, Bildnerkunſt, Malerei. Nimmt man nun die nach
den Sphären des Stoffes gebildeten Arten (§. 403) hiezu, ſo erhellt deut-
lich, welcher Zuſammenhang hier waltet. Das meſſende und taſtende
Auge wird mit den großentheils unbeſtimmten Formen des Gegenſtandes
der landſchaftlichen Phantaſie nichts zu thun haben, das erſtere etwa nur
inſoweit, als es die allgemeinen Grundformen der Raumerfüllung daraus
in unbewußter Ahnung ſammelt, um ſie zu einem Gebilde ganz eigener
Art, von deſſen dunklem Verhältniß zum Naturſchönen ſeiner Zeit die
Rede ſein wird, zu verarbeiten; dem taſtenden Auge aber wird ſein
Reich in der Thier- und Menſchenwelt aufgehen. Da es aber dieſe Welt
ganz nur auf die feſten Formen anſieht, ſo wird es dieſelbe keineswegs
gleichmäßig in alle ihre Sphären verfolgen können. Was ſich in die
Tiefe der Menſchenbruſt zurückzieht und nicht Muſkel und Glieder formt
und in Bewegung ſetzt, wird ihm verſchloſſen ſein; daher wird es vorzüg-
lich im allgemein Menſchlichen, in der Sphäre ſeiner allgemeinen und beſon-
deren Formen nur auf beſchränkte Weiſe, noch weniger in der Sphäre der in-
dividuellen Formen (Phyſiognomik der tief in ſich zuſammengefaßten Indi-
vidualität) ſich bewegen, die Geſchichte aber nur ſoweit begleiten können,
als ein ſehr einfaches Pathos leicht überſichtliche Gruppen in Bewegung
ſetzt. Ebendaher wird die ſo organiſirte Phantaſie als meſſende einfach ſchön
und erhaben, dem Komiſchen aber ganz fremd, als taſtende vorzüglich auf
das einfach Schöne angewieſen ſein, das Erhabene der Kraft ſuchen, dem
Erhabenen des Subjects nicht in die Tiefe folgen, vom Tragiſchen nur
die erſte und zweite, nicht die verwickelte dritte Form aufnehmen und vom
Komiſchen nur einen naiven Auflug ſich aneignen können. Dagegen das
eigentlich ſehende, auf den flüſſigen Licht- und Farbenſchein der Oberfläche
angewieſene Auge wird ein unendlich weiteres Feld ſowohl in Rückſicht
der Ausdehnung auf Stoffe, als auch auf die Grundformen des Schönen
[381] gewinnen und gerade die Beruhigung bei den einfachen Erſcheinungen,
welche ein noch bruchloſes Seelenleben ganz in die feſten Formen ergoſſen
zeigen, wird ihm am meiſten fremd ſein. Daher wird es unter den ge-
ſchichtlichen Stoffen am wenigſten die der objectiven antiken Lebensform
aufſuchen, welche dagegen dem taſtenden Auge ein homogener Gegenſtand
ſein werden.


b. Die empfindende Phantaſie. Wir unterſchieden alſo ſchon im
Acte der Anſchauung das ſcharfe Faſſen und das innige Gefühl des
Gegenſtands. Da dieſer ſein innerſtes Leben in Bewegung und Laut
kund gibt, ſo iſt die zweite dieſer Formen zwar nicht allein, aber doch
beſonders durch das Gehör vermittelt: es iſt das Organ der unmittel-
baren Theilnahme des ſubjectiven Lebens am Leben des Objects. Die
Phantaſie nun, welche von dieſer Form der Anſchauung ausgeht, ſtellt ſich
im Fortſchritte zum innern Schaffen auf den Boden des Moments der
Stimmung. Als Moment des Ganzen bringt es dieſe noch nicht zur
Geſtalt, ſondern webt in der dunkeln Gährung des Gemüths im Subjecte
mit dem Gehalt im Objecte; legt ſich aber die ganze Phantaſie in den
Standpunkt dieſes Moments, ſo wird ſie innerhalb deſſelben auch geſtalten
und zwar im Elemente des Hörbaren. Kurz hier iſt die Muſik vorgezeich-
net. Die empfindende Phantaſie nun wird ſich mit allen Arten des vor-
herigen §. verbinden können, nur aber ſo, daß ſie von jeder Sphäre
des Stoffs, worauf dieſe Arten gerichtet ſind, nicht die Geſtalt, nicht
die Gegenſtände, ſondern nur den Eindruck derſelben auf das Gefühl zur
reinen Form erhebt; ebendaher aber wird ſie vorzüglich die Sphären
aufſuchen, wo volles und vertieftes inneres Leben ſich kund gibt: wie ſie
ſelbſt die empfindende iſt, ſo iſt der empfindende Menſch ihr Stoff, und
je mehr eine Sphäre des Stoffs Erregungen des innerſten Lebens mit
ſich führt, deſto willkommener muß ſie ihr ſein: ſo die Liebe, die Freuden
und Genüſſe, die ſich mit den „beſonderen Formen“ verbinden, die See-
lenkämpfe des Individuums, die Freundſchaft; an allen geſchichtlichen
Stoffen aber wird ſie eben dieſe Reſonanz im Individuum aufſuchen,
ſich alſo auch hier auf den Boden des allgemein Menſchlichen und zwar
in der Form der bewegten Individualität ſtellen. Das einfach Schöne und
Erhabene iſt ihr im reichſten Umfange, das Komiſche nur in ſehr einge-
ſchränktem Sinne offen.


c. Die dichtende Phantaſie. Wir können ſie die Phantaſie der
Phantaſie nennen, denn es iſt diejenige, welche, verglichen mit der An-
ſchauung, im Elemente der innerlichen Geſtaltung, der Einbildungskraft,
beſtimmter aber, da dieſe auf zweiter Linie nur die Anſchauung wieder-
holt, im Element der eigentlichen Formthätigkeit, alſo im vollendeten letzten
Schritte des äſthetiſchen Organs ihren Standpunkt nimmt. Wären wir

25*
[382]ſchon ſo weit, den Uebergang vom innern Ideale zum Kunſtwerk anzu-
treten, ſo wäre Alles mit dem einen Worte geſagt, daß dieſe Form der
Phantaſie in keinem andern Materiale, als dem der Phantaſie (des Zu-
hörers) arbeitet, alſo nicht aus der Phantaſie in die Welt der äußeren Ge-
ſtaltbildung übergeht, oder richtiger, daß ſie ſich von dieſer in die rein innere
Geſtaltbildung zurücknimmt. Allein ſo viel folgt ſchon hier, daß damit
eine Form der Phantaſie gegeben iſt, die, weil ſie ſich in keines der ein-
ſeitigen Momente legt, alle anderen Formen auf geiſtige Weiſe in ſich
vereinigt. Sie zeichnet alſo innerlich wie die auf das Auge organiſirte
Phantaſie, aber da ſie ebenſoſehr die auf das Ohr organiſirte empfindende
in ſich ſchließt, dieſe aber Alles als ein von innen heraus Bewegtes und
das Gemüth Bewegendes auffaßt, ſo führt ſie ihre Geſtaltenwelt im vollen
Fluße der geiſtigen Bewegung vorüber. Nun können aber auch die üb-
rigen untergeordneten Sinne, Geſchmack, Geruch mitwirken, denn ihre
ſtoffartige Spitze iſt gebrochen, indem ſie in dem Ganzen der ſo ideal
geſetzten Sinnlichkeit nur mitwirken. Hier iſt denn die Poeſie vorge-
zeichnet. Da nun dieſe Phantaſie alle anderen hier vorliegenden Arten
in ſich vereinigt, ſo iſt ſogleich klar, daß ſie die Standpunkte der letzteren
in ſich wiederholt, und ſo iſt bereits die epiſche Poeſie als entſprechend
der bildenden, die lyriſche als entſprechend der empfindenden, die drama-
tiſche als Rückkehr der dichtenden zu ſich ſelbſt vorgezeichnet. Hiemit iſt
auch ſchon geſagt, daß die dichtende Phantaſie mit allen Arten von Phan-
taſie, die nach den Sphären des Stoffes, ebenſo mit allen Arten, die
aus den Grundformen des einfach Schönen u. ſ. w. ſich bildeten, auf
die vielfachſte und ungehemmteſte Weiſe ſich verſchmelzen kann.


Im Vorhergehenden haben wir die Verbindungen, welche die durch
die jetzige Eintheilung gegebenen Arten der Phantaſie mit den Arten der
vorh. §§. eingehen können, bereits angedeutet, aber nur von der dichten-
den hervorgehoben, wie ſie ſich durch Wiederholung der bildenden und em-
pfindenden innerhalb ihres Standpunkts gliedert. Wie auch die andern Arten
die Weiſe der übrigen in ſich aufnehmen, kann hier nur mit Wenigem an-
gegeben werden. Am ſchwerſten natürlich kann die Phantaſie des meſſenden
Auges übergreifen in die benachbarten Formen, die plaſtiſche, die maleriſche;
doch läßt ſich in gewiſſem Sinne ſagen, daß die orientaliſche Architektur ſtreng
blos meſſend, die griechiſche plaſtiſch, die gothiſche maleriſch ſei. Hier
alſo würden aus dieſem Uebergreifen nicht verſchiedene Zweige, ſondern hiſto-
riſche Style entſtehen. Die Phantaſie des taſtend ſehenden Auges, die plaſtiſche,
kann in gewiſſem Sinne eine architektoniſche oder eine maleriſch bewegte
Anſchauung ſich zu Grunde legen, ohne ihre Grenzen zu verlaſſen; von
den eigentlichen Fehlgriffen nämlich reden wir hier überhaupt noch nicht.
Dieß kann nun in doppeltem Sinne geſchehen; entweder Zweige begrün-
[383] dend, ſo daß die architektoniſche Art das ruhende Götterbild, die maleriſche
Art das menſchliche Genre und die bewegte handelnde Gruppe zum Ge-
genſtand hat, oder hiſtoriſche Style begründend als eine Weiſe, alle Zweige
zu behandeln, wie ſolche in der Geſchichte der Plaſtik ſich zeigen wird.
Die maleriſche Phantaſie kann in mancherlei Sinn die plaſtiſche, die em-
pfindende, die dichtende in ſich aufnehmen, ebenfalls noch abgeſehen von
Verletzungen ihres Weſens. Plaſtiſch verfährt ſie theils überhaupt, wenn
die Zeichnung vorwiegt, theils wenn ſie das, ihr zwar fremdere, Gebiet
der von bruchloſem Seelenleben ruhig erfüllten Geſtalt anbaut, muſikaliſch
in der Landſchaft, in allen Werken, wo in der höchſten Magie des Hell-
dunkels, des Licht- und Farbenſcheins die Bedeutung der Geſtalt zurück-
tritt, dichtend in großen, epiſch geordneten Cyklen, in dramatiſch bewegten
hiſtoriſchen Stoffen. Auf andere Weiſe werden wir in der Geſchichte der
Style, wie er den Haupt-Epochen des Ideals entſpricht, den Unterſchied
dieſer Standpunkte wiederkehren ſehen. Die empfindende Phantaſie wirkt
objectiv, der bildenden ähnlich, als einfache religiöſe Muſik, ſubjectiv-
objectiv, der dichtenden ähnlich, als Oratorium (Epos) und Oper (Drama);
in geſchichtlicher Beziehung erſcheint die alte Muſik, wo der Rhythmus
vorherrſcht, bildend oder plaſtiſch, die Herrſchaft der Harmonie in der
neueren ächt muſikaliſch, dem Maleriſchen verwandter. Auf die weiteren
Verbindungen in den Unterarten können wir nicht eingehen, ſondern nur
andeuten, wie z. B. die dichtende Phantaſie da, wo ſie die empfindende
in ſich wiederholt, wieder innerhalb dieſes Bodens den Standpunkt der
bildenden in der Romanze und Ballade, in anderem Sinn in der Hymne
und Ode, den der dramatiſch dichtenden in den bewegten dialogiſchen
Balladen hervortreten läßt, den der rein ſubjectiven Empfindung aber
dem Liede vorbehält, ferner wie z. B. die ſogenannte hiſtoriſche Landſchaft
plaſtiſch, die individuelle, localere ächt maleriſch, oder wenn man will,
mehr muſikaliſch, mehr dichteriſch iſt.


§. 405.

In der dichtenden Phantaſie tritt vermöge der Innerlichkeit ihrer ganzen
Geſtaltung, unbeſchadet der Grund-Einheit von Idee und Bild im Ganzen
des äſthetiſchen Körpers, eine relative Trennbarkeit dieſer Elemente ein: ſie
kann als vergleichende auch eine fremde Idee in ein fremdes Bild legen.


Hier wird zum erſtenmal von einem Verfahren der Phantaſie die
Rede, das ſonſt in ſeinen verſchiedenen Formen ſchon in die allgemeine
Lehre von dieſem Organe des Schönen aufgenommen zu werden pflegt.
[384] Man führt nämlich ſonſt die ſymboliſirende, allegoriſirende, ſemiotiſche
Phantaſie als Formen der äſthetiſchen auf. Wir haben aber ſchon ge-
ſagt, daß dieſelben als Formen der Unreife oder Auflöſung durchaus nur
den Epochen des Bildungsgangs der Phantaſie angehören. Alle nun
haben das gemein, daß die Phantaſie, ſtatt dieſen Stoff in der unge-
ſchiedenen Einheit ſeiner Idee und ſeines Körpers in die Schönheit zu
erheben, irgend eine Idee des Subjects in den Körper irgend eines
Stoffs, der eigentlich eine andere Idee zur Seele hat, hinüberlegt. Sie
thun dieß aber ungeſtandener Maßen und ſind daher äſthetiſch ſchlechte
Formen. Dagegen thut die Vergleichung zwar ebendieß, aber geſtan-
dener Maßen und iſt, wenn ſie nur nicht das äſthetiſche Ganze zu ſein
behauptet, ſondern in einem wahrhaft ſchönen Ganzen unterwegs, mit-
unter
, als Mittel vorkommt, berechtigt. So viel darüber, warum wir
dieſe, aber auch nur dieſe Form der blos beziehenden Phantaſie hier
aufführen dürfen; eigentlich aber fragt es ſich, ob die Phantaſie, wie
ſie uns bis jetzt vorliegt, dieſe Form bilden kann. Die dichtende kann
es, weil ſie als die geiſtigſte Art einen Kreis von Phantaſie in Phan-
taſie beſchreibt, worin ſich das ſchaffende Subject über den einzelnen Stoff
hinweg und mit einem anderweitigen Ideen-Gehalte zu ihm zurückbewegen
kann, wo denn dieſer auf jenen fällt und, ohne ihm eigentlich zu gehören,
auf den Grund eines bloßen tertium comparationis frei mit ihm zuſam-
mengehalten werden kann. Daher iſt von den Formen der komiſchen
Phantaſie hier eigentlich allein der Witz möglich. In der Lehre von der
Poeſie wird ſich zeigen, daß die Sprache das Vehikel der dichtenden Phan-
taſie iſt; dieſe aber iſt das Mittel der blos vergleichenden Uebertragung.


§. 406.

1

Eine andere Theilungsreihe ergibt ſich aus dieſem Prinzip (§. 404), wenn
ſich die Phantaſie auf Koſten ihres Ganzen in eines ihrer Momente legt:
2dann wird ſie, auf die Anſchauung beſchränkt, ſtark in Naturwahrheit, aber
arm an Idealität, fruchtbar zum Nachtheil der Einheit, auf die Einbildungs-
kraft beſchränkt, ebenfalls fruchtbar ohne Ordnung, wild, nebelhaft, verworren,
3meiſt ſtoffartig leidenſchaftlich; wenn ſie von dem Gehalte der Perſönlichkeit
(§. 392), der hier nun auch als Theilungsgrund auftreten muß, den rechten
Fortgang zur Geſtattung nicht findet, bei guter Geſinnung ethiſtrend, bei ſchlech-
ter häßlich, bei ächtem Denken belehrend, bei verkehrtem Denken hohl und
4lügneriſch; wenn ſie in der Empfindung und Stimmung ſtehen bleibt, geſtaltlos
5innig; wenn ſie ſich einſeitig im Momente der Begeiſterung und Beſonnen-
heit bewegt, planlos pathetiſch oder planvoll abſichtlich.


[385]

1. Es entſtehen aus dieſem Eintheilungsgrunde ſowohl Einſeitigkeiten
und Verirrungen der Phantaſie, als auch Nebenzweige, Formen anhängen-
der Schönheit, die weder Lob noch Tadel trifft, wenn ſie nicht mehr, als dieß,
ſein wollen. Beide Formen, ſowohl die Mängel und Unarten, Aus-
artungen
, als auch die Abarten werden hier nur erſt in der allge-
meinſten Weiſe gefunden und bezeichnet. Auf die Gebietsverletzungen aber,
welche in den Schlußbemerkungen zu §. 404 berührt ſind, laſſen wir uns
hier nicht ein, ſie können ihre nähere Darſtellung erſt in der Lehre von
den Künſten und ihrer Geſchichte finden.


2. Die erſte Einſeitigkeit entſteht, wenn das Bild der Einbildungskraft
auf dem Punkte aufgefaßt wird, wo der Geiſt ſo eben noch von der An-
ſchauung herkommt, wo es noch ihre Schärfe, aber auch die Mängel des
Naturſchönen hat. Der Phantaſie, die auf ſtarker und ſtrenger Anſchau-
ung ruht, liegt Realität auf Koſten der Idealität nahe; es gibt aber
bis herab zum gemeinen Copiſten der Natur der Abſtufungen viele. Wir
haben nun zwar den Ausdruck: arm an Idealität aufgenommen, aber
darum den Ausdruck Realiſmus nicht gewählt. Was man ſo nennt, ge-
hört in die Geſchichte des Ideals. Zugleich ſammelt der reiche Beobachter
der Natur viel, er iſt fruchtbar in Maſſen, aber es fehlt ihnen die in-
nere Einheit. Ebendieß findet zunächſt ſtatt, wo ſich die Phantaſie im
Momente der Einbildungskraft fixirt. Hineingezogen aber in ihren Fluß
drängt ſich Bild an Bild in regelloſer Fülle, es entſteht üppige, breite
Fruchtbarkeit ohne Einheit. Beiſpiele der Ueberſchwängerung mit Fabeln,
Figuren, Beſchreibungen bietet die Kunſtgeſchichte in Menge, wir fänden
aber hier und bei den weiteren Formen kein Ende, wenn wir uns darauf
einlaſſen wollten. Arioſt z. B. ſteht nahe an der Schwelle der Ausar-
tung, die meiſten Ritterromane des Mittelalters mitten darin. Die Bil-
der der Einbildungskraft gaukeln in bunten und unſteten Vermiſchungen:
herrſcht dieß Moment, ſo entſteht das Wilde, Nebelhafte, Verworrene.
Die neuere Romantik hat ordentlich den Traum zum Organe des Schö-
nen erheben wollen. (Berechtigte Abarten: Arabeske, muſikaliſches Phan-
taſiren, Mährchen). Die Bilder der Einbildungskraft erregen ſtoffartig:
ſinnliche, unfrei leidenſchaftliche Phantaſie. Es gibt eine doppelte Sinn-
lichkeit der ſo auf das Stoffartige der Einbildungskraft geſtellten Phantaſie:
die friſche und die reflectirte, die offene, natürliche und die heimliche,
onaniſtiſche; aber auch die erſtere iſt Verirrung, denn es fixirt ſich ein Mo-
ment, das in die Intereſſeloſigkeit der Objectivität aufgehoben werden
ſollte (Heinſe). Hier beginnt Häßlichkeit, doch fehlt noch ihr eigentlicher
Grund.


3. Von einer in die Formthätigkeit nicht übergehenden Subſtantialität
der Perſönlichkeit konnte in den bisherigen Eintheilungen nicht die Rede
[386] ſein, jetzt zählt auch dieſes Moment als ein durch ſeine Iſolirung Ein-
ſeitigkeit begründendes. Es könnte unlogiſch erſcheinen, daß wir neben
Gehalt ohne Form auch Form mit verkehrtem Gehalt eben hier auffüh-
ren; allein auch bei ſchlechtem Gehalte verhält es ſich in unſrem Zuſam-
menhange ſo, daß das Subject ihn als ſolchen an Mann bringen will,
alſo die Form ihm nicht Selbſtzweck iſt. Mit guter Geſinnung iſt wahres
Denken, mit ſchlechter Geſinnung verkehrtes Denken natürlich bei-
ſammen, obwohl ſie unterſcheidbar ſind. Jenes Paar bildet die ſchwer-
löthige, auf den baaren Gewinn an guten Willensbewegungen oder Wahr-
heiten arbeitende Abart des praktiſch oder theoretiſch Didaktiſchen. Sie
iſt mehr oder minder abſichtlich, hat mehr oder weniger unorganiſches
Verhältniß zwiſchen Idee und Bild, verfährt direct ernſt und witzig oder
indirect ironiſch, wird zur Satyre u. ſ. w. — das Alles gehört in con-
cretere Theile des Syſtems. Die ſchlechte Geſinnung und die innere Lüge
aber iſt zwar auch didaktiſch, ſucht Proſelyten, wirft ſich aber ebendarum
mit voller Eitelkeit, doch immer unorganiſch und abſichtlich, in die beſtechende
Form und wird häßlich, indem ſie Mißbildungen, Mißverhältniſſe,
insbeſondere die Entſtellung durch Lüſternheit, was Alles ſich in’s Erha-
bene oder Komiſche aufheben ſollte, ohne dieſe Aufhebung fixirt. Sie ver-
bindet ſich daher mit der Einbildungskraft als einſeitiger Kraft, ihrer
Ueppigkeit, ihrem Gaukeln, ihren ſtoffartigen Erregungen. Sie beſonders
wirft ſich gern in das Traumartige und legt Wahnſinn der Verzweiflung
in ihre Larven. Aber ſie ſucht heuchleriſch auch devote, blöde, demüthige
Formen, wie der moderne Kunſtpietiſmus. Geſpenſter ſind dieſe ſo gut
wie die reizenden oder grauſigen Larven; das rothe Mäuschen ſpringt
allen aus dem Munde, Eckel und Grauſen lauert hinter allen. Auch
dieſes Gebiet zeigt ſich concret erſt in erfüllteren Theilen des Syſtems.


4. Gefühlsweben, worin keine feſte Geſtalt möglich iſt, ein Fortzittern
der Stimmung, das nur unreife Bildungen von zerfließenden und ver-
klingenden Umriſſen erzeugt: ſentimental im tadelnden Sinne. Auch hier
liegt eine Form vor, die zwar in jeder Zeit auftreten kann, (Herder z.
B. und Hölderlin gehören unter dieſe „paſſiven, weiblichen Genies“ wie
ſie J. Paul nennt, und ſie hätten auch in einer anders geſtimmten Zeit
den Uebergang zum vollen Geſtalten nicht gefunden); allerdings aber hat
ſie erſt in der Geſchichte der Phantaſie ihre rechte Stelle.


5. Begeiſterung, die planlos fortreißt, iſt von der Zerfloſſenheit des
Gefühls zu unterſcheiden. Sie wird es zwar auch nicht zu reifen Geſtal-
ten bringen, ja ſie wird, da ihre Geſtalten ſie mit dem unfreien Zuge
ſittlicher Stoffartigkeit fortnehmen, ganz leicht in formloſes Ethiſiren fal-
len; aber die Gefühls-Phantaſie iſt trunken auf andere Weiſe, zerſtört
gerne den Plan mit der ſubjectiveren Willkühr des empfindſeligen Hu-
[387] mors. Auch von der gewichtigen Perſönlichkeit, die zu ſubſtantiell iſt, um
den Gehalt organiſch in das Bild aufzuheben (Anm. 3) iſt der Ueber-
ſchuß der Begeiſterung wohl zu unterſcheiden. Der Ethiſirende und der
Pathetiſche können wohl, aber müſſen nicht in Einer Perſon vereinigt
ſein. Der andere Pol, zu viel Beſonnenheit, wird oft von philoſophi-
ſcher Richtung und Beſchäftigung herrühren und dann allerdings mit
dem Didaktiſchen zuſammenfallen, doch muß man einen Charakter des
Gemachten in der Anlage des Ganzen, wie z. B. in der Emilia Ga-
lotti, zunächſt nur der Reflexion überhaupt, die ſtärker iſt, als die Be-
geiſterung, zuſchreiben und als beſondern Mangel hinſtellen.


Es würde zu weit führen, wenn wir auch hier die Combinationen,
zunächſt blos dieſer Mängel und Störungen miteinander, verfolgen woll-
ten. Intereſſant wäre es namentlich, zu ſehen, wie nicht blos der ver-
wandte Fehler mit dem verwandten, ſondern auch ſcheinbar ſich abſtoßende:
z. B. altkluge Moral und kalte Beſonnenheit mit allen Verirrungen der
Einbildungskraft (ſo Wieland und viele Romantiker, auch Eugen Sue)
ſich verbinden. Das Zuſammentreffen dieſer Uebel mit den normalen
Arten der Phantaſie iſt im folg. §. zu erwähnen.


§. 407.

Die Phantaſie des Individuums nun iſt niemals auf eine der entwickel-
ten Arten beſchränkt, ſondern ſtellt irgend eine der unendlichen möglichen Ver-
bindungen derſelben unter ſich dar, ſo jedoch, daß eine Art das Beſtimmende
in der Verſchlingung bildet. Aber auch die zuletzt unterſchiedenen Mängel und
Fehler verbinden ſich in unendlichen Kreuzungen mit jenen Arten und jeder
individuellen Phantaſie liegt daher irgend einer derſelben nahe.


Nun alſo erſt haben wir die Bedingungen der individuellen Phan-
taſie beiſammen, ſoweit ſie nämlich im Allgemeinen beſtimmt werden kön-
nen, denn es fehlt noch eine ganze Welt von concreten Bedingungen.
Doch verſuche man immer mit dieſem Schlüſſel irgend eine bedeutende
Künſtlerphantaſie zu öffnen und man wird finden, wie er ſich bewährt.
Was die Mängel und Fehler betrifft, ſo zeigt ein Blick, welche unab-
ſehliche Menge von Combinationen möglich iſt; man bilde ſich nur einige
Linien: welche Einſeitigkeiten werden ſich vornämlich mit den Arten von
§. 402, dann von §. 403, dann von §. 404, und welche ferner mit den
verſchiedenen Combinationen dieſer Arten verbinden? Z. B. mit der dich-
tenden Phantaſie werden ſich offenbar zwar auch alle andern, am leichte-
ſten aber die Verirrungen des Gehalts ohne Form, der bloßen Stim-
mung, der überwiegenden Beſonnenheit verbinden, und warum? Wir
[388] dürfen uns näher in dieſes Geſchlinge nicht einlaſſen, denn wir haben
noch andere Aufgaben vor uns.


β.
Das Maaß der Phantaſie.

§. 408.

Welche der normalen Arten auch den Mittelpunkt in der Verſchlingung
der individuellen Phantaſie bilden mag, ſo iſt dieſelbe, da ſie Geiſt in Natur-
form, alſo angeboren iſt, weſentlich als ein gegebenes Maaß beſtimmt. Von
der Ausdehnung über verſchiedene Arten iſt zunächſt wieder abzuſehen und
ebendieß feſtzuhalten, daß in jeder Art verſchiedenes Maaß der Phantaſie ſich
hervorthun kann. Was dem engeren Maaße zum volleren fehlt, iſt verſchieden
von den in §. 406 aufgeführten Mängeln und Fehlern, denn es iſt jedesmal
ein Mangel, womit die ganze Phantaſie behaftet iſt; doch ſtellen ſich mit die-
ſem in mancherlei Weiſe auch jene ein.


Daß die Phantaſie als weſentlich unmittelbar und (beziehungsweiſe)
unbewußt wirkendes Organ Naturgabe iſt, braucht keiner weiteren Nach-
weiſung. Das Zufällige des Naturſchönen ſetzt ſich als Zufall angebo-
rener Ausſtattung in das ſubjectiv Schöne fort. Das Maaß iſt die
mittlere Kategorie zwiſchen Geiſt und Natur, unter welcher die Phantaſie
in den Individuen wirklich wird. Maaß iſt Einheit der Qualität und
Quantität. Nun ſehen wir zwar zunächſt von der Ausdehnung über die
Arten wieder ab, um ſie erſt nach dieſem wieder aufzunehmen; allein
von dieſer Ausdehnung iſt zu unterſcheiden die Fülle oder Spärlichkeit,
welche ſich ganz in Einer Art zeigen kann und als Quantum immer zu-
gleich Quale iſt, Intenſität, Kraft, welche äußerlich ſo und nicht anders
beſtimmt iſt, weil ſie es innerlich iſt. Iſt nun das Maaß nicht voll,
ſo wird es der Phantaſie auf allen Punkten fehlen, ſie wird alſo von
allen Mängeln und Einſeitigkeiten, die in §. 406 auftraten, etwas an
ſich haben, doch aber muß auf verſchiedenen Stufen des Maaßes der eine
jener Mängel und Fehler leichter eintreten als der andere, wie ſich dieß
ſogleich zeigen wird.


§. 409.

Die Phantaſie iſt reine Formthätigkeit, in welche der volle Gehalt der
Idee ununterſcheidbar aufgeht. Die erſte Stufe der ſpezifiſchen Begabung für
dieſes reine Formgebiet iſt nun diejenige, worin die Formthätigkeit mit einer
[389] ſchnell zur Fertigkeit ſteigenden Leichtigkeit ſo geübt wird, daß der Gehalt
im reinen Scheine der Form zwar nicht fehlt, aber nicht ſelbſtthätig, ſondern
durch Anempfindung an fremde Selbſtthätigkeit erzeugt wird. In dieſem Sinne
trennt ſich der Gehalt von der Form und tritt eine iſolirte Gabe für die Tech-
nik
der Phantaſie auf. Dieſe iſolirte Gabe der Technik der Phantaſie iſt das
Talent. Es folgt nachahmend der vollen Phantaſie in alle ihre Formen,
ohne eine neue zu ſchuffen, bewegt ſich an der Oberfläche, und die Mängel und
Fehler, die ihm vorzüglich nahe liegen, ſind die der Einbildungskraft.


Die Bezeichnung Talent brauchen wir hier in dem Sinne, den ſie
hat, wenn man von Jemand ſagt: er iſt ein Talent. Hegel (Aeſt. Th.
1, S. 365) und Andere verſtehen unter Talent die beſondere Befähigung
zur Ausübung eines Kunſtzweigs; das Genie ſoll demnach einen Umfang
von Talenten haben, aber ein bloßes Talent es nur in einer ganz ver-
einzelten Seite der Kunſt zu etwas Tüchtigem bringen können. Verſteht
man unter einer ſolchen vereinzelten Seite nur einen Theil der Technik
eines einzelnen Kunſtzweigs, z. B. in der Malerei nur die Zeichnung
oder nur die Farbengebung oder nur eine Art derſelben, wie Auftrag al
fresco
oder in Oel, ſo iſt dieß gewiß falſch, denn Mancher iſt nur ein
Talent und doch ſowohl in verſchiedenen Arten des Farbenauftrags, als
auch im Zeichnen durch natürliche Begabung gewandt. Es kann dagegen
ein Genie auf einen, zwar verſchiedene techniſche Bedingungen umfaſſen-
den, aber doch vereinzelten Kunſtzweig beſchränkt und doch in ihm ganz
Genie ſein. So war Mich. Angelo in mancherlei Kunſtzweigen thätig,
wahrhaft groß aber nur in der Malerei und wieder nicht in mehreren
Zweigen derſelben, ſondern nur in der Freske, im Grund alſo war er
Genie weſentlich als großer Zeichner. Das Talent kann vielmehr gerade
in der Technik mehrerer ganzer Zweige einer Kunſt gewandt ſein, nur
iſt es in keiner groß. Wilh. Schlegel bewegte ſich mit Leichtigkeit in ver-
ſchiedenen Formen der Dichtkunſt und war doch nur Talent. Da nun
Talent und Genie auf dem Boden der Technik nicht gemeſſen werden
können, ſo müſſen wir uns auf einen ganz anderen Boden begeben.
Ohnedieß ſind wir noch gar nicht an der Ausübung, der Ausführung
des Ideals in einem Material, vielmehr noch im Gebiete des Ideals
als innern Phantaſiebildes; die äußere Technik hat eine lernbare und
eine nicht lernbare Seite, das Talent leiſtet etwas nicht blos in der
lernbaren (dann wäre es blos mechaniſches Geſchick), ſondern auch in
der nicht lernbaren, aber was es darin leiſtet, iſt toto genere von der
Leiſtung des Genies verſchieden. Da muß alſo der Grund in der innern
Conception liegen und von dieſer, gleichgiltig zunächſt, wie weit die Aus-
dehnung über Kunſtzweige (für uns vorläufig noch Arten der Phantaſie)
[390] gehe, reden wir. Wenn wir das Talent einen bloßen Techniker der
Phantaſie nennen, ſo iſt alſo ja nicht an die äußere Technik zu denken,
ſondern daran, daß die Verſchiedenheit in dem, was die Technik in gei-
ſtiger Gewalt der Formen leiſtet, ihren Grund in der Verſchiedenheit
der innern Formthätigkeit hat, daß in dieſer ſelbſt der ideale Gehalt, der
in die Form aufgeht, relativ trennbar iſt von der letzteren, und daß die
ſo getrennte bloße Form es iſt, die dem Talente zufällt. Dieß hat ſeine
Schwierigkeit. Ausdrücklich haben wir ja dargethan, daß die Idee, d. h.
die in das Subject eingegangene und durch deſſen Idee-Gehalt in’s Un-
endliche befreite und erfüllte Idee des Gegenſtandes, ganz und rein in
die Form aufgehe, daß alſo die Form gar nichts Anderes iſt, als form-
gewordener Gehalt. Wie kann es nun eine Beſchränkung geben auf die
Formthätigkeit ohne den Gehalt? Wir dürften, ſcheint es, nur antwor-
ten: geringerer Gehalt und daher auch geringere Form unterſcheide das
bloße Talent, und damit die ſchon in anderem Zuſammenhang erwähnte
Aeußerung Schillers (Brief an Göthe N. 784) ergänzen: der Art nach
ſei jeder ein Poet, der ſeinen Empfindungszuſtand in ein Object legen
könne, der Grad aber beruhe auf dem Reichthum, dem Gehalt, den er
in ſich habe und folglich hineinlege; dieſer Grad nun, würden wir hin-
zuſetzen, müßte eben auch ein geringerer Grad der Form ſein. Allein
dieß iſt nicht das Rechte; es findet bei dem Talente ein Bruch zwiſchen
der Form und dem Gehalte ſtatt, der ſo beſchaffen iſt, daß jene mehr an
Gehalt verſpricht, als ſie leiſtet, ein täuſchender Schein der Tiefe, eine
Anziehung, die uns weiter und weiter führt, bis endlich zum Großen
und Ganzen nur ein Härchen fehlt, und eben dieſes Härchen iſt das
Große und Ganze ſelbſt. Daher bleibt nur die Auskunft, die der §. gibt:
das Talent iſt angeborne Leichtigkeit der ſpezifiſchen Formthätigkeit der
Phantaſie; da nun dieſe vom ſchweren Gewichte des Gehalts nicht zu
trennen iſt, ſo muß ſich dieß bei dem Talente ſo verhalten, daß es mit
dem Scheine der Form freilich auch den Gehalt produzirt, aber nicht
ſelbſt und urſprünglich, ſondern ſo, daß es ſich in den Gehalt, der eigent-
lich einem Andern gehört, hineinempfindet, ſich ihm anempfindet, nicht
dem Gehalte blos, ſondern auch der Form, ſofern ſie groß iſt durch Ge-
halt. Dabei iſt freilich vorausgeſetzt, daß Formen, welche durch ihre
Großheit Größe des Gehalts ausſprechen, vom Genie ſchon in wirklicher,
äußerer Kunſt-Darſtellung gegeben ſeien. Das Talent ergreift dieſe,
faßt den Prozeß der Phantaſie von außen, macht ſich von außen mit
Gewandtheit in ihn hinein, fühlt auch den Gehalt nach, der darin liegt,
aber weil er blos nachgefühlt iſt, iſt er nicht wahrhaft da, daher iſt ſeine
Form nicht erfüllter Schein, Erſcheinung, ſondern leerer, ſchließlich im
Stich laſſender Schein. Das Talent gibt nicht nur mittelmäßige Formen,
[391] nein, es gibt auch die großen, aber wie ihnen die Urkraft des eigenen
Gehalts fehlt, ſo fehlt ihnen ſelbſt etwas, ein letzter Druck, das Tüpf-
chen auf das J. Raphael und Michel Angelo hatten talentvolle Nachah-
mer ihres großen Styls, aber da fehlt überall etwas wie der Lichtpunkt
im Auge, und ſo iſt es auch bei den Talenten, die Göthe und Schiller
nachahmten, Ernſt Wagner, Beer, Schenk und Andern. In dieſem Sinn
iſt das Talent der iſolirte Techniker der Phantaſie. J. Paul ſagt von
ihm (a. a. O. §. 9): „in der Poeſie wirkt das Talent mit einzelnen
Kräften, mit Bildern, Feuer, Gedankenfülle und Reitzen auf das Volk und
ergreift gewaltig mit ſeinem Gedicht, das ein verklärter Leib mit einer
Spießbürgerſeele iſt, denn Glieder erkennt die Menge leicht, aber nicht
Geiſt u. ſ. w. — Es gibt kein Bild, keine Wendung, keinen einzelnen
Gedanken des Genies, worauf das Talent im höchſten Feuer nicht auch
käme, nur auf das Ganze nicht.“ Es fehlt aber nicht nur im Ganzen;
dieſes kann bequem und rund ſein, es fehlt in allem Einzelnen und am
meiſten in den Hauptſtellen (Hauptgruppen, ſchlagenden Kataſtrophen
u. ſ. w.), wo der Blitz der Idee durchbrechen ſollte. Es begreift ſich nun,
wie das Talent unter allen Mängeln (§. 406) in die, welche von einem
Ueberſchuß an Gehalt rühren, am wenigſten gerathen wird, doch kann
ihm mitunter auch die Leichtigkeit der Form plötzlich verſiegen und die ſo
entſtehenden Lagunen füllt dann irgend ein Gehalt proſaiſch und dürftig
aus, wie denn z. B. Eugen Sue, ganz Talent, zwiſchenein predigt, lehrt. So
wird auch Ueberſchwang des Gefühls, gewaltſame Trunkenheit oder fühlbare
Abſichtlichkeit eintreten; die Mängel und Fehler aber, welche endemiſch im
Gebiete des Talents herrſchen, ſind die der Einbildungskraft; denn da
es auf relativer Trennbarkeit der Form vom Gehalte ruht, ſo bewegt es
ſich in ihrer Syntheſe mit vorherrſchender Naturtreue, Breite, Ueppigkeit,
ſchweifendem Taumel, ſtoffartiger Wirkung der Bilder. Der Effect iſt
ihm gewiß, es gefällt und wird, um pikanter zu wirken, leicht häßlich;
es kann ſich ja jeder, alſo auch der verkehrte Gehalt in ſeine leicht ge-
arbeiteten Maſken ſtecken, dieſer wird ſie aber auch zu Larven verdrehen.
Daher behält es aber immer die gemeine Beſonnenheit und bewahrt
ſich leicht vor einzelnen Nachläſſigkeiten, die dem Genie mitunterlaufen.
Nun iſt auch klar, warum Beſchränkung auf einen vereinzelten Zweig
am wenigſten das Talent charakteriſirt; anempfindend wirft es ſich leicht
in die verſchiedenſten, legt aber in keinen eine neue Weltanſchauung, ſchafft
daher, nachahmend wie es iſt, auch keine neue weltbezwingende Form.


§. 410.

Dringt in dieſe relativ leere Formthätigkeit des Talents die ungetheilte
Fülle der Phantaſie mit der Urkraft der Formen, welche Ausdruck großen und
[392] tiefen Gehaltes ſind, zunächſt nur das eine oder andere Mal, oder nur da und
dort ein, ſo entſteht das fragmentariſche Genie, dem die Fehler des
Ueberſchuſſes an Gehalt näher liegen. Es pflegt ſich nicht geſund zu entwickeln,
ſondern zerfällt leicht mit ſich und der Welt.


Mit der Unterſcheidung von Talent und Genie reicht man nicht
aus; man kann alle die Erſcheinungen nicht unterbringen, welche ſtellen-
weiſe im Mittelpunkte der Schönheit ſtehen und dann wieder ſeicht, ver-
worren, breit, irivial, ſelbſt häßlich werden. Wir nennen nur Walter
Scott und Heine; beide haben Goldadern, aber daneben zerfließt jener
in das Seichte, Breite, Triviale und desorganiſirt dieſer ſein Werk in
bewußte und gewollte Häßlichkeit. Nicht ſo verhält es ſich bei dieſen
fragmentariſchen Genie’s, daß zwiſchen eine Schönheit der Form, die nicht
Wort hält, der baare Gehalt formlos durchbräche, ſondern wahrhafte
Schönheit, Einheit vollen Gehalts und urgewaltiger Form bricht ſtellen-
weiſe durch und dann erlahmen die Schwingen wieder; aber weil in den
ſeichten Stellen der ſelbſterzeugte Gehalt vermißt wird, ſo ſcheinen die
Silberblicke, obwohl ſie Einheit von Gehalt und Form haben, auf die
Seite des bloßen Gehalts zu fallen und der Mann ſelbſt, im Gefühle der Ge-
theiltheit und Punctualität ſeiner Natur, wird, indem er die Quellen der
ganzen Schönheit in vollere Strömung zu bringen ſucht, wirklich abſicht-
lich und pumpt häufig ſtatt voller Schönheit nackten Gehalt oder bloßen
Drang des Gehalts herauf. Doch gewöhnlich wird das fragmentariſche
Genie da, wo es nicht Genie iſt, mit der Leichtigkeit des Talents wir-
ken, es gibt aber auch fragmentariſche Genie’s, welche daneben nicht Ta-
lente ſind, denen daher die Leichtigkeit fehlt, da, wo ſie nicht wahrhaft
ſchön ſind, bequem, gefällig, beſtechend zu ſein. Dieſe ſehnen ſich nach
der guten Stunde, die ſelten kommt. Phantaſie-Menſchen überhaupt ſind
als Stimmungskinder reizbar, launiſch; die aber, bei denen es beinahe
und manchmal ganz zur Phantaſie ſtreckt und welche in den Zwiſchen-
ſtunden das Talent nicht zur Verfügung haben, ſind beſonders launiſch,
reizbar, bitter, unglücklich. Sie können die wirkliche Welt nicht ertragen,
weil der reine Fluß, der ihre Härte in Schönheit verklärt, nur ſtockend
in ihnen ſickert; die Ungleichheit zwiſchen ihren einzelnen Gebilden oder
den einzelnen Theilen deſſelben Gebildes iſt daher zugleich ein Zwieſpalt
ihres Innern mit der Welt. Sie fallen daher leicht in Wahnſinn, wie
Lenz, Hölderlin. Oder ſie affectiren die Eingebung, machen ihre Natur-
ſeite, den Zufall und die höhere Trunkenheit, zum Lebensgeſetz im ge-
meinen Sinne, werden genieſüchtig, liederlich. Sie bleiben auf dieſe oder
jene Weiſe in den Entwickelungskriſen der Perſönlichkeit ſtecken, denn in
ihnen wirkt nicht das Naturgeſetz des vollen Geiſtes, der durch alle Hin-
[393] derniſſe und Verirrungen ſich des rechten Weges wohl bewußt iſt. Sie
werden immer von geringer Fruchtbarkeit ſein. Beiſpiele ſind Marlowe,
Günther, Bürger, Leop. Robert und And. Die blitzende, ſpringende und
unharmoniſche Form des fragmentariſchen Genie’s iſt es, die man ge-
wöhnlich geiſtreich, auf höherer Stufe (in einem Sinne des Adjectivs,
der von dem des Hauptworts abweicht) genial nennt.


§. 411.

Das reine und ungetheilte Wirken der Phantaſie in einem Individuum
iſt Genie. Sein inneres Thun iſt daher vor Allem ein geiſtiger Prozeß,
der durch urſprüngliche Gewalt, Fruchtbarkeit, Sicherheit, Nothwendigkeit, Ein-
falt und ſtille Tiefe, die ſich als Naivetät in der ganzen Perſönlichkeit kund
gibt, ebenſoſehr ein Naturprozeß iſt und daher, obzwar vom erſten Sturm und
Drang durch Kampf und Mühe, doch ſicher zum Ziele, zur freien Nothwen-
digkeit, die ſich ſelbſt das Geſetz gibt, zur Beſonnenheit, die doch Eingebung
bleibt, ſich hindurcharbeitet.


Eigentlich hätten wir mit dem erſten Satze des §. Alles geſagt, denn
was die Phantaſie iſt, haben wir geſehen. Doch bildet ſich der allge-
meine Begriff zu beſtimmteren Zügen, wenn er als lebensvolle Perſön-
lichkeit vor uns tritt. So, was in jenem Unmittelbarkeit, Nothwendig-
keit hieß, heißt jetzt weſentlich zuvörderſt ein Angebornes. Angeboren iſt
auch das Talent, das fragmentariſche Genie; aber was dieſen angeboren
iſt, ebendieß iſt bei jenem mehr ein Machen, als ein Sein, bei dieſem
ein Hereinbrechen des Seins in das Machen, und bei beiden entſteht
außer der angebornen Leichtigkeit des Machens auch ein erzwungenes
Machen. Das Genie aber iſt Vollblut. Intereſſant iſt, daß es meiſt
Erbe von der Mutter iſt; das weibliche Leben, das in Naturmitte webt,
iſt ſein geheimnißvoller Schooß. Das Genie iſt eine Urkraft, kündigt ſich
an wie eine Naturmacht. Es muß ſchaffen und Schönes ſchaffen, es
kann nichts dafür, es verwundert ſich ſelbſt über ſeine Gebilde und iſt
daher naiv in allen ſeinen Aeußerungen. Geiſterſchauer umweht dieſe Naturen
und wir treten in Scheue vor ihnen zurück, und doch ſind ſie, wie andere Leute
auch, zutraulich, kindlich, reine Menſchen; „ſtill, einfach, groß und noth-
wendig wie die Natur“ (Schelling Meth. d. ak. St. Vorl. 14). Die Stim-
mung kommt dem Genie nicht ſelten, ſondern iſt ſein natürlicher Zuſtand, es
ſprudelt von Fruchtbarkeit. Die Menge der Werke der großen Genien,
der griechiſchen, ſpaniſchen Dramatiker, Shakespeares, Göthes, der gro-
ßen Bildhauer Griechenlands, Maler Italiens, Spaniens, Belgiens iſt
wunderbar. Der Drang ſteigt bis zum Schmerz, läßt keine Ruhe. Die
[394] Gebilde ſtehen da, als hätten ſie ſich ſelbſt gemacht, als verſtänden ſie
ſich von ſelbſt: das Ei des Columbus; ihre Tiefe iſt ſtill und ruhig, ihre
Gewalt ſo ſanft und mäßig, als ſtark und übermenſchlich. Wir haben aus
dem Weſen der Phantaſie erſehen, wie ſich Nothwendigkeit und Freiheit,
Bewußtloſigkeit und Beſonnenheit in ihr verhält. Dieſe Einheit der Gegenſätze
hat aber ſelbſt wieder ihre Stadien; das Genie bricht zuerſt, auch durch
äußere Lebenshinderniſſe, wie ein wilder Strom durch und ſeine erſten
Geſtaltungen ſind ſtürmiſch, leidenſchaftlich, überſchwellend, oft formlos, doch
kündigt ſich die Grazie ſchon an. Es folgt die Selbſterkenntniß, daß es
ſo nicht bleiben könne, Zweifel, Kampf, inneres Unglück; aber das reine
Genie geht darin nicht zu Grunde, wie das fragmentariſche, ſeine Ge-
ſundheit iſt unzerſtörbar und ſo heilt es ſich durch eine glückliche Kriſe.
Der erſte Sturm der Production war zugleich noch mit perſönlicher, ſtoff-
artiger Leidenſchaft verwachſen; auch aus dieſer ringt ſich das Genie heraus
und ſammelt Stoff aus ihr. Nun aber iſt die Naturdichtung zu Ende,
die freie Selbſtbeſchränkung und Beſonnenheit, die Bildung durchdringt,
was dunkle Natur war. Dieſe Bildung iſt zugleich Fleiß, Mühe
der Arbeit am äußeren Stoffe: dieſe Seite laſſen wir noch liegen,
ſie iſt ohnedieß nur Wirkung der inneren Arbeit und Sammlung. Vorher
hatte das Genie alle heteronomiſche Geſetzgebung über den Haufen ge-
worfen, ohne eine neue zu ſchaffen, jetzt gibt es ſich ſelbſt ſein Geſetz
erhebt ſich zur reinen, freien Geſetzmäßigkeit. Dieſe dritte Stufe iſt aber
kein Abfall von der Natur und Nothwendigkeit; es iſt durchleuchtete Na-
tur, ausgegorener Wein, freie Nothwendigkeit, bewußtloſes Bewußtſein.
Im Kleinen aber und Einzelnen läßt auch das reife Genie manche Maſche
fallen, es iſt nicht ſo correct, als das Talent. Wer den Mantel in gro-
ßen Maſſen umſchlägt, kann nicht nach jeder kleinen Falte ſehen.


§. 412.

1

Das Genie iſt originell. Originalität als ein Schaffen deſſen, was nie
dageweſen und als Ganzes nicht nachgeahmt werden kann, ſchließt eine nur
dem genievollen Subjecte eigene Weltanſchauung, ein ſchlechtweg neues Weltbild
in ſich. Allein dieß Weltbild iſt, indem es das Allerſubjectivſte iſt, vollkom-
men objectiv, die Sache ſelbſt; denn das Eigenſte des Genie’s iſt eben dieß,
daß es ein objectiver Menſch iſt. Genie iſt im Centrum und das Centrum;
weil es in ſich die reine Menſchheit findet, durchſchaut es auch das Innerſte
der Menſchheit außer ihm. Daher iſt das abſolut Neue, was es ſchafft, zu-
2gleich das Uralte, was in jedem Zuſchauer geſchlummert. Dadurch reißt das
Genie hin, bezwingt, wird „als die angeborene Gemüths-Anlage, durch welche
die Natur der Kunſt die Regel gibt“ (Kant) exemplariſch und bildet Schulen.


[395]

1. Die Originalität beruht allerdings darauf, daß das Genie eine
Verſchlingung von Kräften, Arten der Phantaſie iſt, wie ſie nur Einmal,
nur in dieſem Individuum vorkommt. Damit ſcheint allerdings die behauptete
Objectivität ſeiner Schöpfung ein Widerſpruch. Nun bietet aber der Stoff
ebenfalls eine Erſcheinung dar, in welcher die Beſtandtheile nur einmal
wie nie wieder verſchlungen ſind; dieſes Ganze läßt die verſchiedenſten
Auffaſſungen zu, aber von jeder Seite kann man in ſein Innerſtes dringen
und die ächt originale Auffaſſung ergreift es von einer Seite, von der
es nie gefaßt worden, und bemächtigt ſich von da aus des reinen Weſens,
der Sache ſelbſt. Was alſo in der Individualität des Genies nur ſich
ſelbſt gleich iſt, dem entſpricht im Object eine der faßbaren Seiten, die
noch Niemand fand und Niemand außer ihm finden kann; was aber im
Subject reiner und allgemeiner Menſchengeiſt iſt, das dringt eben durch
dieſe Mitte zum reinen Weſen der Sache und gibt ſo in der beſtimmten
Idee die ſchlechtweg allgemeine. Im Anblicke des objectiv ausgeführten
Phantaſiebildes rufen wir aus: ſo iſt es und nicht anders! Der Nagel
iſt auf den Kopf getroffen! Die Geſtalten, die einzelnen Ausdrücke gehen
typiſch wie Sprichwörter durch den Mund des Volkes, weil ſchlagender,
packender, körniger eine Summe von Erſcheinungen nicht zuſammengefaßt
werden kann. Die Erſcheinungen ſind nicht nur an ſich in ſolchem Werke
verewigt, ſondern leben auch ewig im Herzen und auf den Lippen der
Menſchen. Der Genius ſieht der Welt in’s Herz. „Wir erfahren bei
Shakespeare die Wahrheit des Lebens und wiſſen nicht wie. Er geſellt
ſich zum Weltgeiſt; er durchdringt die Welt, wie jener, beiden iſt nichts
verborgen; aber wenn des Weltgeiſts Geſchäft iſt, Geheimniſſe vor, ja
oft nach der That zu bewahren, ſo iſt es der Sinn des Dichters,
das Geheimniß zu verſchwätzen und uns vor oder doch gewiß in der That
zu Vertrauten zu machen. Der laſterhafte Mächtige, der wohldenkende
Beſchränkte, der leidenſchaftlich Hingeriſſene, der ruhig Betrachtende, Alle
tragen ihr Herz in der Hand, — das Geheimniß muß heraus und ſollten
es die Steine verkündigen“ (Göthe, Shakespeare und kein Ende).


2. Kants berühmte Definition (a. a. O. §. 46) durfte und mußte
trotz der Vorausnahme der Kunſt hier eintreten; die hinreißende, Kunſt-
ſtyl ſchaffende, Schulbildende Wirkung des Genies in der Ausübung
der Kunſt beruht ja darauf, daß ſie zuerſt die Phantaſie der Andern zwingt,
ebenſo zu ſchauen, wie das Genie. Das Weſentliche in dieſer Definition,
wodurch Kant ſo hoch über die Enge ſeines Dualiſmus hinausgeht, die
Anerkennung der Einheit von Natur und Geiſt, brauchen wir nach allem
Bisherigen nicht weiter auseinanderzulegen, ſondern nur die Wirkung, die von
dieſer Einheit ausgeſagt iſt. Das Genie fordert zur Nachahmung auf, ohne
als Ganzes nachgeahmt werden zu können, denn das Objectivſte bleibt das

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 26
[396]Subjectivſte. Mich. Angelo’s titaniſche Formen beſtachen zu ſeinem Nach-
theil ſelbſt Raphael, der doch ſelbſt Schulbildendes Genie war, und die
eine Richtung der allgemeinen Ausartung der Malerei, das Gewaltſame,
rührt von jenem. Aber neben dem Unnachahmlichen bleibt auch Nach-
ahmliches; Bahn iſt gebrochen, Formen ſind verſtanden, Grundgeſetze und
Grundverhältniſſe ſind entdeckt; das zeigt in der Geſchichte der Malerei
vorzüglich Maſaccio und Leonardo da Vinci. Unſere Ordnung kehrt ſich
nun um, das Genie nimmt das Talent an die Leine und zieht es mit
ſich. Das Genie ſagt: die Regel bin ich, es iſt lebendige, Perſon gewor-
dene Regel und wird daher Geſetzgeber. Dieß Alles findet jedoch aller-
dings ſeine Beſtimmtheit erſt in der eigentlichen Ausübung, denn das
Genie wirkt allerdings auch umwälzend auf die Technik.


§. 413.

Der volle Blich in die Tiefe iſt ein ebenſo voller in die Weite, zunächſt
über die Stoffe, in welchen ſich die den Mittelpunkt in den Kräften des Genies
bildende beſtimmte Art der Phantaſie ausbreitet. Das Genie erzeugt ſich
aus wenigen Mitteln der Anſchauung ein Weltbild, es erweitert ſich zur Na-
tur und Menſchheit, als hätte es ihre verſchiedenen Formen ſelbſt durchlebt.
Seine gereiften Phantaſie-Gebilde faſſen einen Ausſchnitt des Weltganzen und
in ihm dieſes ſelbſt in einen Ring, woraus kein Glied genommen werden kann.


Die Intuition, welche Göthe in ſich entdeckte und wovon früher ſchon
die Rede war. Das Genie kennt die Welt ohne Weltkenntniß, nimmt wie ein
Proteus alle Formen an, ſcheint aufzuhören, ein Individuum zu ſein, und ſich
in die Gattung jedes Lebendigen und der Menſchheit zu verwandeln. So kennt
Shakespeare alle Stände, Lebensalter, die Geſchlechter, Charaktere, Sitten,
Verhältniſſe, Geiſt der Zeiten und Völker, und ſelbſt die Natur ſcheint ihm
ihre Geheimniſſe zuzuflüſtern. So ſchrieb Göthe z. B. das herrliche Ge-
dicht: der Wanderer, ehe er Italien geſehen. Daß dieſe Intuition, deren
divinatoriſcher Blick ſich nachher durch die Erfahrung bewährt, ohne alle
Erfahrung oder Anſchauung nicht entſtehen könnte, iſt ſchon früher bemerkt;
auch das Genie, wenn es in Einſamkeit verſchloſſen lebte, könnte ſich die
wahre Geſtalt der Dinge nicht imaginiren; aber es genügt ihm der kleine
Finger, um die ganze Hand zu nehmen, wie Cüvier aus einem Gelenke
oder Zahn das ganze Thier erkannte. Natürlich iſt dieß Weltbild kein
Erſatz für die gemeine Erfahrung als Schule des praktiſchen Lebens, denn
es ſchaut ja die Dinge in’s Schöne, iſt eine Weltkenntniß nur im innern
Schein und leicht erkennt der Dichter im diſcurſiven Umgang mit den Din-
gen das äſthetiſch wohl Erkannte nicht wieder. Er ſtellt mit Feuerblick,
[397] der Herzen und Nieren prüft, den Böſewicht dar, und wenn er ihm in
der Wirklichkeit begegnet, wird er leichter, als ein Anderer, von ihm be-
trogen werden. Das kleine Stück Erfahrung, das dem Genie gibt, was
dem Andern die weiteſte Erfahrung, weil ſie doch kein Ganzes bringt, nicht
gibt, iſt auch nicht zu verwechſeln mit dem beſondern Naturſchönen, das wir
je im Falle des Schaffens als ein Sollicitirendes vorausſetzen (§. 393).
Göthe z. B. hatte aus wenigen Mitteln ſich ein Bild italieniſcher Na-
tur gemacht, ehe er ſie geſehen; ein Zufall, eine Beſchreibung, Erzählung.
Zeichnung gibt ihm den Stoff zu dem Gedichte: der Wanderer, und
jenes ſchon vorbereitete Bild lebt auf, geſtaltet ſich zu einem Ganzen,
Das bloße Talent dagegen liest bei gegebenen Anregungen zum Schaffen
aus einer großen Menge wirklicher Beobachtungen Züge zuſammen, die
ſich mit dem dargebotenen Hauptbilde nicht zu einem Ganzen durchdringen.
Das Werk des Genies dagegen hat dieſe Nothwendigkeit und iſt untheil-
bar. Nur dieſe Glieder und nur ſo können die Glieder verbunden ſein.
Dieß iſt beſonders in der Schauſpielkunſt überzeugend nachzuweiſen an
dem Unterſchiede des Moſaiks, das ein reflectirendes Talent, und des
ganzen und vollen Wurfs, den der geniale Schauſpieler gibt.


γ
Die Verbindung der Arten und des Maaßes der Phantaſie.

§. 414.

Das Genie iſt, weil es in Einem Punkte die höchſte Kraft ſammelt,
mehr, als das Talent und das fragmentariſche Genie, auf eine der in §. 404
aufgeſtellten Arten der Phantaſie, ja nach Beſchaffenheit auf die Unterart einer
Art beſchränkt. In verſchiedenen Graden des Uebertritts wendet es ſich auch
zu anderen Arten oder ſchärfer getrennten Unterarten, wirkt aber in dieſen nur
als Talent. Dagegen beſtimmt es ſich ſelbſt wieder zu einem Unterſchied von
Stufen, worin je die tiefere Gewalt zugleich eine größere Ausdehnung auf die
in §. 402 und 403 aufgeſtellten Arten iſt, ſo daß nun die Schlußſätze dieſer
§§. ihre, durch die Schranke, welche im Anfangsſatz des gegenwärtigen §. auf-
geſtellt iſt, näher beſtimmte, concretere Anwendung finden.


1. Das Talent abſorbirt ſich nicht, kann daher ſehr vielſeitig ſein,
ein Tauſendkünſtler in bildender Kunſt, Muſik und Poeſie. Das frag-
mentariſche Genie wird zwar ſeine Kernſchüſſe nur in Einer dieſer Formen
der Phantaſie thun, wenn es aber übrigens Talent iſt, kann es ſich wie

26*
[398]dieſes nebenher in verſchiedenerlei Formen herumwerfen. Das Genie aber iſt
concentrirt und zwar nicht blos durch den Willen, ſondern die Beſtimmt-
heit des Inſtincts, der ſo ſicher wie im Thiere nur der Einen rechten
Nahrung nachgeht, und wir müſſen es nun, um ſeine Beſchränkung ein-
zuſehen, mit dieſer Form genauer nehmen, da wir die Sache zu §. 409
nur erſt bei Gelegenheit der Technik berührt haben. Wir haben, da wir
nun mit den in §. 404 aufgeſtellten Formen beginnen müſſen, zuerſt drei
Arten: bildende, empfindende, dichtende Phantaſie. Dieſe haben Unter-
arten, die erſte aber ſo ſcharfe, daß ſie ſich in drei ſelbſtſtändige Sphären:
meſſende, ſehend taſtende, eigentlich ſehende Phantaſie (Architektur, Plaſtik,
Malerei) theilt. Keineswegs ebenſo ſelbſtſtändig ſtellen ſich die Unterarten
der beiden andern Arten einander gegenüber (vergl. die Anmerkungen
zu §. 404). Die Unterarten haben aber ſelbſt wieder Unterarten, welche
theils durch einen weitern Unterſchied in der Organiſation der Phantaſie
überhaupt, theils durch die Formen des einfach Schönen u. ſ. w., theils
durch die Richtung auf Sphären des Stoffs gegeben ſind, alſo bereits
auf das Feld führen, auf das der zweite Theil unſeres §. übergeht; ſo
theilt ſich die Malerei als Unterart der bildenden Kunſt in Landſchaft,
Genre, Hiſtorie u. ſ. w. Vor Allem nun wird das Genie jedenfalls nur
in Einer Art groß ſein: Leonardo da Vinci war Muſiker und Dichter,
Michel Angelo machte Verſe, Göthe malte, wie er denn auch in der
Poeſie vorzüglich auf das Auge, alſo das Epos organiſirt war, aber in die-
ſen andern Künſten waren dieſe Genies nur Dilettanten, höchſtens Talente.
Sehen wir nun die erſten Unterarten an, ſo wird da die Vereinigung
mehrerer eher Statt finden, doch ungleich, „nach Beſchaffenheit“ der Art,
alſo nach dem Grade der Selbſtſtändigkeit dieſer ihrer Hauptzweige. Viel
leichter wird ein Dichter in Epos, Lyrik und Drama zugleich groß ſein
(doch ſchwerlich wohl im erſten und dritten, eher im erſten und zweiten
oder zweiten und dritten), oder ein Muſiker in den verſchiedenen Zweigen
der Muſik, als ein bildendes Genie in der Baukunſt, Plaſtik, Malerei
zumal, denn dieſe Unterarten ſind ſo ſelbſtändig, daß jede einen ganzen
Mann will. Leonardo baute, doch nicht Schönes, ſondern Nützliches,
modellirte, doch nur Ein Werk dieſer Art von ihm wurde gerühmt, Ra-
phael baute, doch nur gefällig, mit Talent, modellirte, doch nur Ein Werk
wird als bedeutend erwähnt, Michel Angelo baute bedeutend, war bedeutend
als Bildhauer, aber in beiden war er doch nicht Genie, die Plaſtik be-
bandelte er zu maleriſch und obwohl er dagegen in der Malerei plaſtiſch
genannt werden kann, war er doch ganz Maler. A. Dürer war auch als
Kupferſtecher und Holzſchneider genial, doch dieß ſind ganz nahe angren-
zende Nebenzweige der Malerei. Nun kommen die Unterarten zweiter
Linie. Wird z. B. derſelbe Bildhauer in Götterbildern, Genrebildern,
[399] bewegten tragiſchen Gruppen, wird derſelbe Maler in Landſchaft, Genre,
Hiſtorie gleich ſehr Genie ſein? Derſelbe Dichter in der Tragödie und
Komödie und wieder in der hohen Tragödie und im bürgerlichen Drama,
der hohen Komödie und dem ſozialen Luſtſpiel? Dieſe Frage zieht ſich
wie geſagt in die zweite, im §. aufgeführte Materie hinein.


2. Es ſind im Genie ſelbſt wieder Stufen zu unterſcheiden und von die-
ſen gelten dann die Schlußſätze von §. 402 und 403: je reicher eine Phan-
taſie ſei, deſto mehr der Arten werde ſie umfaſſen. Allein dieſem Umfang
iſt nun durch die nothwendige Beſchränkung des Genies ſeine Schranke
gegeben und erhalten nun alle zu jenen §§. gegebenen Bemerkungen
nähere Beſtimmung. Ueber die Arten nämlich, welche durch jene zwei
erſten Eintheilungsprinzipien gegeben ſind, kann ſich das Genie nur ſoweit
ausdehnen, als diejenige Sphäre, auf die es durch das Eintheilungsprinzip
§. 404 beſchränkt iſt, ſich auf dieſelben ausbreitet, und auch dieß wieder
nur in der beſondern Begrenzung der aus dieſem Prinzip abgeleiteten Un-
terart. So kann alſo ein bildendes Genie nur entweder ein bauendes,
plaſtiſches oder malendes ſein. Der Baukünſtler nun mag wohl das
Anmuthige in Tempel und Pallaſt mit dem Großen und Erhabenen in
Burg und Tempel gleichmäßig umfaſſen. Ein plaſtiſches Genie hat mit
dem Komiſchen wenig zu thun; ob es zugleich in mächtigen Götterbildern,
im Genre, in epiſchen Scenen, in tragiſch rührenden Auftritten groß ſein
werde, iſt nicht leicht zu beantworten; gewiß eher wird es das erſte und
dritte, etwa dazu das vierte Feld umſpannen, als das erſte und zweite,
und, theilen wir das letztere noch einmal in naives und ernſtes, immer
noch eher das große Götterbild und das ernſte, als das naive Genre.
Ein Maler wird etwa Landſchaft und Hiſtorie umfaſſen, ebenfalls aber
ſchwerlich das Genre dazu, und wieder von dieſem eher das ernſte, als
das komiſche, außer ſofern dieſes bedeutende geſchichtliche Beziehungen hat.
Der Genremaler wird eher zugleich Landſchaftmaler, als Hiſtorienmaler
ſein, doch auch jenes ſchwerlich, wenn er das ergreifendere, reflectirtere
ſoziale Genre, leichter, wenn er das idylliſche anbaut. Ein Muſiker wird
ſchwerlich in Kirchenmuſik, liederartiger Melodie und Oper zugleich groß
ſein, eher in den beiden letztern und ihren verſchiedenen Stimmungen, der
ernſten und heitern. Vom Dichter iſt ſchon zu 1 angedeutet, daß er nicht
leicht in Epos, Lyrik, Drama gleich genial ſein kann, wohl aber in Epos
und Lyrik oder in Lyrik und Drama. Nun ſondern ſich auch hier die
einzelnen Zweige wieder nach der Eintheilung von §. 402 und 403,
und was dieſe weitere Ausdehnung betrifft, ſo vergleiche man die bisheri-
gen Bemerkungen.


[400]
§. 415.

Es entſtehen noch drei Fragen: gibt es Genie auch in der Sphäre des
Guten und Wahren? Kann das äſthetiſche Genie zugleich auch in dieſen Ge-
bieten als Genie wirken? Kann das praktiſche und wiſſenſchaftliche Genie,
1wenn es ein ſolches gibt, zugleich äſthetiſches ſein? Die erſte iſt mit Ein-
ſchränkung auf den erſten, der Handlung und dem Beweiſe vorangehenden Wurf
des Geiſtes, alſo auf eine blos vorbereitende Berechtigung des Inſtincts der
2Phantaſie zu bejahen, die zweite mit Ausnahme der dem Schönen verwandteſten
3Gebiete im Object und der Vorſtufen des Genie’s im Subject (des Talents und
fragmentariſchen Genies), die dritte ganz zu verneinen.


1. Die Religion wird hier nicht aufgeführt, denn was ſie vom Sitt-
lichen und vom Denken des Wahren unterſcheidet, iſt eine unſelbſtändige
Beimiſchung der Phantaſie, welche verlangt, daß ſie, aber nicht hier,
ſondern an ganz anderem Orte, wie ſich nun mit Nächſtem zeigen wird,
in die Lehre von der Phantaſie aufgenommen werde. — Es ſcheint nun, wir
dürfen, was zuerſt das Gute betrifft, nur auf §. 56—60 hinweiſen, um
das Ergebniß zu haben, daß die Thätigkeit, die dieſes (das Nützliche
§. 23 gehört dazu) erzeugt, ganz außer das Genie falle. Was ſchon
Kant geſagt, daß das Genie, da es als Natur die Regel gebe, nicht
dürfe beſchreiben und wiſſenſchaftlich anzeigen können, wie es ſein Pro-
duct zu Stande bringe, können wir einfach in den Begriff des Beweiſes
faſſen und ſo auch auf das Gute und alle Sphären des zweckmäßigen
Thuns anwenden. Die Handlung nämlich muß ſich beweiſen können.
Sie iſt zwar ein ganz in Realität übertretender Gedanke, ein Thatſäch-
liches, aber ihr Werth oder Unwerth beſteht nur für den, der den Zweck
und das Verhältniß der Mittel zu ihm begreift und die Folgen überſieht,
und eben davon ſoll der Handelnde ſelbſt Rechenſchaft geben; ſie umſchließt
eine Kette ſcheinloſer Vermittlungen von Ueberlegung, Ausführung, beab-
ſichtigten und unbeabſichtigten, aber auch ſo als Möglichkeit in die Ueberle-
gung aufzunehmenden Wirkungen: ſcheinloſer, denn hier iſt nicht das Vollkom-
mene im reinen Bilde vorauszunehmen, ſondern die Welt, wie ſie iſt, als un-
vollkommene in Rechnung zu nehmen. Die Phantaſie ſcheint alſo vom Guten
ausgeſchloſſen, nach ihr Handeln Narrheit. — Noch gewiſſer ſcheint die Wiſſen-
ſchaft ſich vor der Phantaſie zu ſträuben, denn mag ſie gegebenen Stoff in Be-
griffe auflöſen oder vorausſetzungslos als Philoſophie ſich im reinen Begriff
bewegen, ſie hebt überall das Einzelne in das Allgemeine auf, um es aus
ihm wieder zu begreifen. Sie hat jeden Schritt durch den Beweis zu ver-
mitteln und iſt je bildloſer, deſto vollkommener. Und dennoch muß der
große Praktiker, der Erfinder, der Juduſtrielle, der Staatsmann, der
[401] Feldherr, der Erzieher geboren ſein und nicht minder der in’s Große
wirkende wiſſenſchaftliche Geiſt. Iſt er geboren, ſo muß in ſeinem Thun
etwas Unmittelbares ſein; da aber dieſes Thun in der Ausführung ſich Schritt
für Schritt vermitteln muß, ſo kann es nur der Entwurf ſein, worin das Un-
mittelbare gilt. Hier muß ein Moment ſein, wo der Geiſt in Einem untheilba-
ren Blicke den Stoff zuſammengreift und die Reihe der Thätigkeiten, die die-
ſer Stoff fordert, in einem Zukunftbilde vor ihm aufblitzt. Im praktiſchen
Gebiete iſt dieß anerkannt; Napoleon und ſeine Schlachtplane, ſelbſt ſeine
politiſchen Entwürfe ſind das beſte Beiſpiel; er ſoll ſogar einen wunderbaren
Inſtinct für eine divinatoriſche Anſchauung unbekannten Terrains gehabt ha-
ben. Hamlet hat das Genie der Handlung nicht, ihm entgeht Alles, was Mo-
ment heißt, daher geht er zu Grunde. In der Wiſſenſchaft muß das Genie als
totaler Zweifel am Gegebenen als Solchem, dann als fliegender Blick, der die
neue Schöpfung des Gedankens vor der Ausführung in ſchwebenden Umriſſen
vorausgreift, dem Beweiſe vorangehen, die Reihe der Gründe als Ge-
dankenbild wie aus der Ferne herdämmern; wem dieſe Phantaſie des
denkenden Geiſtes abgeht, der iſt und bleibt zum Famulus Wagner be-
ſtimmt. So auf den Inſtinct als vorbereitende Macht geſtellt ſind alle
großen Praktiker und Denker von jeher naiv geweſen und von jeher hat
ein Geiſt, der über den Beweis hinausgeht, ein Unergründliches, eine
Zukunft zwiſchen den Linien ihrer Werke gezittert. Aber allerdings nur
vorbereitend, vorausgehend wirkt hier der Inſtinct; ſobald er ſeinen Wurf
gethan, ſobald es an die Ausführung geht, löst ſich das Bild der voraus-
fliegenden Ahnung auf, zerlegt ſich in die Reihe der Vermittlungen, wo
ſcheinlos jeder Schritt bewieſen werden muß. Der Inſtinkt wirkt zwar
als geheimer Faden der Ariadne fort, aber ſo, daß er jeden Moment ſich
wieder aufhebt und, was in ſeinem Dunkel ſchlummerte, an das Licht
tritt. Dabei bleibt der weſentliche Unterſchied vom äſthetiſchen Genie der,
daß dieſes die Aufgabe hat, bei dem Inſtincte vielmehr zu bleiben und,
wie es immer zur Beſonnenheit fortgeht, dieſe doch nie in die zerlegende
aufzulöſen, und daß daher das erſt nur dämmernde Bild immer Bild
bleibt und ſich als ſolches nur immer heller geſtaltet, während in jenen
Sphären das zuerſt nur dämmernde Bild ganz aufzugeben iſt und dem
auseinanderſetzenden Thun und Denken Platz macht. Plato und Schelling
zeigen zu viel eigentlich äſthetiſches Genie, löſen das erſte Bild halb auf
und bleiben halb dabei, laſſen es im Glanze der Phantaſie und ebenda-
her als ſtörenden Körper zwiſchen den Beweis ſchimmern.


2. Sophokles war kein beſonderer Feldherr, ſchlechte Haushälter und
mit wenig Sinn der Zweckmäßigkeit begabt ſind faſt alle äſthetiſchen Ge-
nies, Rubens war Diplomat, aber gewiß darin nicht Genie, wie in der
Malerei, ſondern nur etwa Talent. Dabei kommt es immer darauf an,
[402] ob das Gebiet dem der Kunſt näher oder ferner liege; Leonardo war
ſehr bedeutend in der Waſſer- und Feſtungs-Baukunſt, in der Mechanik,
da iſt Alles noch greiflich, und doch war er auch hierin nicht Genie, wie
in der Malerei, ſondern ebenfalls nur Talent. Göthe verlor viel Zeit
mit Staatsgeſchäften, die ein Anderer ohne ſein Genie mindeſtens ebenſo-
gut verwaltet hätte. Wie das praktiſche Leben hat auch die Wiſſenſchaft
ihre Sphären, die der Kunſt nahe liegen; Göthe war in der Naturwiſ-
ſenſchaft Talent, etwa fragmentariſches Genie, ſofern er einzelne Epochen-
machende Blicke that. Noch näher liegt natürlich die Theorie der künſt-
leriſchen Technik, und da ſind anatomiſche Studien, Forſchungen über Pro-
ſpective, Proportionen u. ſ. w. wohl ein Feld für den Phantaſiebegabten,
doch hat auch dieß ſeine Grenze und die Ausdehnung dieſer Studien hat
gewiß einen Leonardo und M. Angelo in der Fruchtbarkeit und Raſchheit der
Production geſtört. Ganz ſeitab liegt, wie wir ſchon ſahen, Philoſophie,
Göthe war wie der Fiſch am Land, wenn er ſpeculiren ſollte. Dieſe
Beiſpiele brauchen keine Erläuterung und Begründung.


3. Was nun umgekehrt das Verhältniß des praktiſchen und wiſſen-
ſchaftlichen Genies zum äſthetiſchen betrifft, ſo hat die Unruhe des
Sollens und der ſcheinloſen Thätigkeit, die ſtreng zerlegende Wiſſen-
ſchaft ſicherlich keinen Beruf zur Erzeugung des Schönen; ſie ſteht zu ihm
im Verhältniß der allgemeinen, blos aufnehmenden Phantaſie. Doch wird
das praktiſche Genie und in der Wiſſenſchaft das empiriſche, hiſtoriſche
immer noch eher eine äſthetiſch productive Stunde haben, als das philo-
ſophiſche. Antonio freilich macht ebenſo geringe Verſe, als Taſſo ſchlechter
Oekonom, Diätetiker, Hofmann, Diplomat iſt; Napoleon that gute Blicke
in die Poeſie und Göthe rühmt von ihm einen genialen Fund eines Plan-
fehlers in Werthers Leiden: da zeigt ſich der Taktiker; die Hohenſtaufen
waren zum Theil glücklich im Minnelied. Plato, Schelling waren in dem
Grad nicht ſpezifiſch vollendete Philoſophen, als ſie einige glückliche Ge-
dichte produzirten. Von Schillers Kampfe ſprachen wir oben. Hegel und
Jedem, der in ſtrenge Philoſophie übergeht, verſiegt die mäßige poetiſche
Ader, die etwa in der Jugend gefloſſen.


[[403]]

B.
Die Geſchichte der Phantaſie

oder
des Ideals.


§. 416.

Die beſondere Phantaſie erhebt ſich aus dem Boden der allgemeinen (§. 384),
und es fragt ſich nun, wie weit dieſe der beſondern Phantaſie auch in ihr drittes
Moment (§. 394—399) folge. Iſt ſie fähig, das Naturſchöne zu finden,
nimmt ſie am erſten und zweiten Momente der beſondern Phantaſie (§. 385 ff.
387 ff.) Theil, ſo kann ihr auch das dritte (§. 392 ff.) nicht völlig verſchloſſen
ſein. Sie erzeugt alſo allerdings Schönes auch durch eigene Formthätigkeit,
aber dieſe bleibt ein maſſenhafter Inſtinct, der das durch Uebergang von Mund
zu Mund angewachſene Geſammtproduct nicht als freies Erzeugniß von ſeinem
Gegenſtande unterſcheidet, ſondern ſtoffartig mit ihm verwechſelt.


Seit §. 389 haben wir uns nicht mehr danach umgeſehen, ob und
wie weit die allgemeine Phantaſie mitgehe. Vom Traume, der damals
zunächſt aufgeführt wurde, verſtand es ſich von ſelbſt. Aber in das dritte
und reinſte Moment der beſonderen Phantaſie, das ſchien ſich ebenfalls
von ſelbſt zu verſtehen, konnte ſie ihr nicht folgen. Dennoch iſt nun, am
Schluſſe der Lehre von der Phantaſie des Einzelnen, auf dem Uebergang
zur Geſchichte der Phantaſie dieſe Frage aufzunehmen und es erhellt ſo-
gar von ſelbſt, daß, wo überhaupt Phantaſie iſt, unmöglich eines der
Momente ihr ganz verſchloſſen ſein könne, daß alſo irgendwie auch der
Phantaſie der Maſſen eine reine ſchöpferiſche Thätigkeit zukommen müſſe,
aber freilich nur mit gewiſſen einſchränkenden Bedingungen. Vor Allem
nämlich kann hier die ſchöpferiſche Formthätigkeit nicht freier Act des Einzel-
nen, ſondern nur ein dunklerer Geſammt-Act der unbeſtimmt Vielen ſein,
[404] deren Phantaſie eben die allgemeine iſt. Sie erzeugen gemeinſchaftlich.
Das Angeſchaute iſt in ihre Einbildungskraft eingegangen; nun ſoll das
Chaos ihrer Bilder geſtaltet werden, da bringt der Eine den, der Andere
jenen Zug bei, ein Dritter läßt jenen weg, und der Inſtinkt, der in dieſem
Zuſammentragen thätig iſt, baut mit jener Sicherheit, mit welcher Thiere
ihre geſelligen Thätigkeiten ausüben, ein organiſches Ganzes. Die Bei-
träge ſind nicht willkührlich, denn die Beitragenden ſchwimmen reflexions-
los in der Maſſe mit. Es wird an Auswüchſen und Lücken des Lawinen-
artigen Phantaſiegebildes nicht fehlen, aber der Zuſammenhang, der im
Ganzen waltet, wird wie organiſche Heilkraft ſelbſt dieſe wieder für den
Ausbau des Gebildes verwenden. Nun verwechſelt aber die allgemeine
Phantaſie immer das, was ſie in den Gegenſtand hineingeſchaut, mit
dieſem (§. 379 ff.); davon kann ſie auch jetzt, trotz dem Rücktritt vom
Gegenſtand und ſeiner Anſchauung und dem Fortſchritt zum ſelbſtthätigen
innerlichen Geſtalten, ſich nicht befreien. Sie glaubt alſo an ihr eigenes
Geſchöpf, ſie hält das Erdichtete für einen neuen, wirklich exiſtirenden
Gegenſtand, für Geſchichte. In dieſer Blindheit iſt ſie ebendarum feſtge-
halten, weil ſie nicht ſelbſtbewußter Act eines Einzelnen, ſondern Werk
des dunkeln geiſtigen Bautriebs Vieler iſt. Sie iſt ebendarum durch ihr
eigenes Gebilde ſtoffartig beſtimmt, fürchtet es, liebt es, bittet es u. ſ. w.


§. 417.

Der unfreie Schein, den ſie ſich ſo erzeugt, iſt kein anderer, als der der
Religion (vergl. §. 24—27. §. 61—67). Der wahre Gehalt der Religion
iſt die abſolute Idee, wie ſie in denſelben Reichen der Wirklichkeit, welche
den Umfang der Stoffwelt des Naturſchönen bilden, als gegenwärtig angeſchaut
wird. Die allgemeine Phantaſie aber ſchafft aus dieſer Stoffwelt ein der je-
weiligen Bildungsſtufe des Bewußtſeins entſprechendes Bild, welches vermöge
des unfreien Scheines zu den Gegenſtänden geſchlagen wird und für einen neuen,
zweiten Umkreis von vorgefundener Schönheit gilt (vergl. §. 24 und 25). Hie-
bei zeigt ſich, daß die allgemeine Phantaſie als ſchöpferiſche ſich aus der bloßen
Einbildungskraft nicht rein herausarbeitet; fortgeriſſen von ihrem eigenen Werke,
das ebendaher trotz ſeiner abſoluten Bedeutung mit den Mängeln des Natur-
ſchönen behaftet und nicht wahrhaft ſchön iſt, wird ſie ſtoffartig von ihm be-
ſtimmt, und dieſes Werk wartet daher auf die beſondere Phantaſie, um erſt
von ihr zur reinen Schönheit erhoben und wie das urſprünglich Naturſchöne
Stoff einer freien Thätigkeit für ſie zu werden.


In der Religion als ihrem Gipfel dürfen wir vorerſt füglich die
ganze Sagenwelt eines Volkes, Heldenſage, Mährchen und was verwandt
[405] iſt, zuſammenfaſſen. Den Unterſchied von Mythus und Sage werden
wir im Folgenden einführen. Man ſehe nun auf die §§. des erſten Theils,
welche von der Religion handeln, zurück; es bedarf keiner neuen Aus-
einanderſetzung, ſondern nur der Fortführung des dort Entwickelten, hier
wieder Aufgefaßten. Dieſe Fortführung liegt alſo darin, daß die neue
Welt von vermeinten Gegenſtänden, die doch nichts Anderes iſt, als eine
Weiſe, das Ganze der wirklichen Gegenſtände ſich vorzuſtellen, ein Werk
der allgemeinen Phantaſie, für eine andere Phantaſie, für die wahrhaft
äſthetiſche der beſonders Begabten, wiederum Stoff wird. Stoff aber
zu werden iſt ſie beſtimmt, weil ſie allerdings, obwohl ſubjectives Pro-
duct, die Mängel der Naturſchönheit hat. Wir ſagten zwar zu §. 416,
daß die Volksphantaſie ein organiſches Ganzes baue, deſſen Mängel
ihr bildender Inſtinct überheile, zu Motiven benütze. Verfährt ſie aber
dabei eben wie eine blinde Naturkraft, ſo kann es ohne eine Menge von
ſtörenden Zufälligkeiten auch dabei nicht abgehen; es entſteht wohl ein
Ganzes, über dem aber ein Nebel, ein Schleier von Bewußtloſigkeit,
„Dummklarheit“ liegt, unter welchem nur die großen Züge leſerlich, die
kleinen halbleſerlich ſind, ein Ganzes, worin die Phantaſie noch nicht
völlig aus der chaotiſchen Einbildungskraft herausgearbeitet erſcheint, das
daher auf ſeinen eigenen Urheber, wie wir zum vorh. §. ſahen, ſtoffartig
wirkt. So entſteht der Bilderkreis der Religion: er iſt da, er ſcheint
vorgefunden, das Bewußtſein hält ihn für gegeben, geoffenbart; und ſo
findet die wahrhaft ſchöne Phantaſie ihn vor und greift hinein, um ſich
Stoffe daraus zu nehmen, wie aus der Welt der eigentlichen Natur-
ſchönheit.


§. 418.

Dieſe von der allgemeinen Phantaſie gebildete neue Welt von Stoffen
legt ſich alſo zwiſchen die urſprüngliche Stoffwelt und zwiſchen die beſondere
Phantaſie. Dieß iſt Vorſchub und Zuwachs, aber ebenſoſehr Verluſt und Hin-
derniß, denn die zweite, neue Stoffwelt tritt als dichter Schleier vor die urſprüng-
liche, von der ſie ein Auszug iſt. Die urſprüngliche Stoffwelt wird zwar
dadurch, obwohl verengt, doch nicht völlig verhüllt; es entſtehen zwei Kreiſe, ein
religiöſer und ein weltlicher oder natürlicher. Aber weil die Zweiheit der
Kreiſe an ſich ein Widerſpruch iſt (vergl. §. 62), ſo wird dem weltlichen Ge-
walt angethan, er wird von der in die höhere Thätigkeit der Phantaſie ſich
fortſetzenden Einbildungskraft durchlöchert und verſchoben. Auch die beſondere
Phantaſie wird ſich, da das ſchöpferiſche Individuum ſelbſt im Boden der all-
gemeinen wurzelt, eines Theils ihrer Freiheit begeben, ſie hängt ſelbſt an der
Verwechslung und nur unter der Hand hebt ſie dieß Verhältniß in ihrer reinen
Formthätigkeit auf (vergl. §. 63).


[406]

In dieſen Sätzen mußte das ſchon in §. 62. 63 Geſagte ausdrück-
lich wieder aufgefaßt werden. Es bedarf keiner neuen Auseinanderſetzung,
iſt vielmehr durch die ganze bisherige Lehre von der Phantaſie bereits
entwickelt und begründet, insbeſondere dadurch, daß ſich nun gezeigt hat,
wie die Phantaſie der Völker von der chaotiſch unfreien Einbildungskraft
auch in ihrem höheren Bilden ſich nicht befreien kann. Daraus entſteht
die traumartig gaukelnde Verrückung der Naturformen der urſprünglichen
Stoffwelt, deren anderweitiger negativer Grund die Unwiſſenheit über die
Naturgeſetze und der unzerreißbaren Kette ihrer Wirkungen iſt. Es wird
ſich zeigen, wie die Phantaſie der Völker, ſo oft ſie von dem Kreiſe der
überirdiſchen Geſtalten, die ſie bildet, auf die wirkliche Naturwelt zurück-
blickt, jene in dieſe ſo einmiſcht, daß ihr Nexus aufgehoben wird; es
wird ſich zeigen, wie vor dieſe eine prachtvolle Mauer geſchoben wird,
vor der man ſie theils nicht ſieht, theils wie durch Fenſter mit Scheiben
aus buntem Glaſe. In dieſer Weltanſchauung ſeines Volkes wurzelt
auch der Genius, er überwindet ſie, aber unvermerkt; er zieht unendli-
chen Vortheil, aber ebenſoviel Nachtheil aus ihr. Einer weiteren Aus-
führung dieſes Verhältniſſes enthalten wir uns um ſo mehr, da das
Folgende von ſelbſt mit ſich bringt, daß in der Darſtellung der zwei
erſten Epochen die Vortheile, der dritten die Nachtheile des Dazutritts
jener zweiten Stoffwelt in’s Licht geſetzt werden.


§. 419.

Es iſt vorausgeſetzt, daß das Werk der beſondern Phantaſie ſich an die
allgemeine Phantaſie mittheilt, und dieſe kann zwar reine Schönheit nicht erzeu-
gen, aber, und dieß iſt ein weiterer weſentlicher Schritt, worin ſie der eigent-
lichen Phantaſie folgt, empfinden und genießen. Dieſer Genuß iſt nicht rein
äflhetiſch, aber er wirkt befreiend (vergl. §. 66). Arbeitet nun das Denken
(§. 67) gleichzeitig mit, ſo wird die allgemeine Phantaſie aufhören, jenen un-
freien Schein zu erzeugen, und ſoweit ſie noch fortfährt, die beſondere ihn nicht
mehr als zweite Stoffwelt anerkennen; dann fällt die Schranke zwiſchen dieſer
und ihren urſprünglichen Stoffen und der allgemeinen Phantaſie bleibt vom drit-
ten Momente der beſondern nur noch der Genuß ihres mitgetheilten Erzeug-
niſſes.


Das äußere Hinſtellen des innern Ideals im Kunſtwerke dürfen
und müſſen wir hier vorausſetzen. Die Maſſe der Anſchauenden nun
kann ein reines Ideal nicht erzeugen, aber, wo es gegeben iſt, genießen;
[407] dieß iſt eine neue Fähigkeit, die wir hier von der allgemeinen Phantaſie
ausſagen, denn bisher wußten wir nur, daß ſie das Naturſchöne findet
und genießt. Kann ſie das Letztere, kann ſie ſogar in der Weiſe der
Geſammt-Erfindung, die wir vorläufig ſchlechtweg Sagenbildung nennen
wollen, Schönheit ſelbſt ſchaffen, ſo muß ſie nothwenig auch für den
Genuß des Ideals empfänglich ſein. Nun bleibt ſie freilich auch hier
ſtoffartig, ſie verwechſelt es mit dem Gotte ſelbſt, es iſt ihr Vehikel
der Andacht (§. 64. 65); aber je ſchöner es iſt, deſto zerſtreuter wird als
ſolche die Andacht und geht in die Sammlung des rein äſthetiſchen Ge-
nuſſes über, deſto mehr befreit es auch das Volk vom unfreien Scheine.
So war die Kunſtblüthe Italiens im ſechzehnten Jahrhundert eine Art
von Surrogat für die Reformation. Gleichzeitig wurde dieſe durch das
freie Denken in Deutſchland erzeugt. Die Reformation zeigt nun auch,
wie allerdings das Volk ſelbſt nach einer Umwälzung, welche den un-
freien Schein in der Wurzel erſchüttert, fortfährt, dieſen zwar nicht pro-
ductiv zu erweitern, aber doch ſeine Trümmer feſtzuhalten; aber die ächte,
die rein äſthetiſche Phantaſie kann nun nicht mehr davon getäuſcht wer-
den, die Welt ſelbſt liegt ihr aufgeſchlagen, der verhüllende Körper der
zweiten Stoffwelt iſt ihr nicht mehr im Lichte. Hält dennoch auch ſie
noch an jenem Auszuge der Welt, den die allgemeine Phantaſie als
Religion geſchaffen hat, ſo entſtehen Aftergebilde, die wir kennen lernen
werden. Die Volksphantaſie hört allerdings niemals ganz auf, in ihrer
Weiſe zu produziren; erzeugt ſie keine Götterſagen, keine Heldenſagen
mehr, ſo erhöht ſie doch dieß und jenes Geſchehene in der Erinnerung,
zieht ſeine Züge in ein energiſches Bild zuſammen und überliefert ſo der
beſondern Phantaſie allerhand Stoffe; doch dieß will wenig heißen, der
Genius hält ſich vielmehr jetzt im Großen an die reine Geſchichte und die
Natur ſelbſt, nur in engerem Gebiete können ihm Stoffe des Privatlebens,
welche überhaupt nicht die Geſchichte, ſondern die Ueberlieferung einer
Stadt, Provinz ſo oder ſo durch Phantaſie ſchon zubereitet überliefert, in
ſagenhafter Geſtalt noch dienlich ſein. Was aber die Volksphantaſie in
der Weiſe des die Natur- und Geſchichtsgeſetze durchlöchernden Dichtens
im Großen noch feſthält, kann ihm Stoff werden nur in dem Sinne,
daß er das pſychologiſche Schauſpiel des Glaubens, nicht das Geglaubte
zum Gegenſtande nimmt. Im Ganzen aber bleibt es dabei, daß die all-
gemeine Phantaſie nicht mehr Stoff bildet, ſondern jetzt nur noch das Zu-
ſehen hat.


§. 420.

Hieraus erhellt, daß die Geſchichte der Phantaſie mit der Geſchichte der
Religion Hand in Hand geht, daß aber der Bund kein dauernder iſt (vergl.
[408] §. 27, 3.). Dadurch theilt ſie ſich ſogleich in zwei große Abſchnitte, die Epoche
der religiös beſtimmten und der weltlich freien Phantaſie.


Man könnte gegen das, was der vorh. §. aufſtellt, ſagen, die Be-
freiung der Phantaſie zur reinen Anſchauung und Umbildung der urſprüng-
lichen Stoffwelt ſei nicht eine Löſung von der Religion, ſondern eine
Förderung durch die wahre Religion; ſchon die Reformation, die doch
eine Verjüngung der Religion geweſen ſei, habe der Phantaſie ihre
eigentlichen Stoffe ohne Rückhalt freigegeben. So ſagt Göthe von Shakes-
peare, er habe den Vortheil genoſſen, in einem proteſtantiſchen Lande
wirken zu dürfen, wo der bigotte Wahn eine Zeit lang ſchwieg, ſo daß
„einem wahren Naturfrommen“, wie ihm, die Freiheit blieb, ſein reines
Inneres ohne Bezug auf irgend eine beſtimmte Religion religiös zu ent-
wickeln. Allein wenn Shakespeare für das Poſitive im Proteſtantismus
irgend ein ſpezifiſch religiöſes Intereſſe gehabt und in ſeine Werke gelegt
hätte, ſo ſähe es mit dieſen ganz anders aus. Nennt Göthe und nen-
nen mit ihm Viele die Phantaſie, welche rein von der Anſchauung der
urſprünglichen Stoffwelt ausgeht und ohne alle Dazwiſchenkunft des Bil-
des, womit ihr die Religion zuvorkommt, ſie umſchafft, religiös, ſo kann
dieß zu einer Unterſuchung führen, die vielleicht ein Wortſtreit ſcheint,
in Wahrheit aber zu der Frage auffordert, ob es eine Religion ohne
das Hinüberzeichnen (§. 61) geben könne. Darauf aber kann es keine
Antwort geben als die, daß die Zukunft es lehren müſſe. Bis dahin
nennen wir die weltlich freie Phantaſie ausdrücklich die nicht religiöſe,
und enthalten uns auch, ſie die proteſtantiſche zu nennen. Die zwei Ab-
ſchnitte, die der §. aufſtellt, werden ſich aber nun näher beſtimmen und
einer weiteren Gliederung Platz machen.


§. 421.

Die allgemeine Phantaſie iſt näher die Phantaſie eines Volks in der Be-
wegung ſeines geſchichtlichen Lebens. Würde die zweite Stoffwelt nicht da-
zwiſchen treten, ſo wäre die Geſchichte des Ideals nichts Anderes, als die
Geſchichte der Phantaſie, wie ſie ſich in den Volksgeiſtern und ihren Epochen
(§. 341—378) beſtimmen muß, und dieſer Beſtimmtheit gemäß eben die
Stoffe auffaßt, welche jedem derſelben ſein Geſichtskreis zeigt. So aber theilt
ſich die Phantaſie vor der Auflöſung jenes Bundes in Ideale, welche durch
verſchiedene Religionsformen beſtimmt ſind, und erſt nach derſelben iſt ein
Ideal möglich, worin die Volksgeiſter nach den Bildungsſtufen ihrer Zeit un-
mittelbar ſich und ihre urſprüngliche Stoffwelt niederlegen.


[409]

Wir hätten alſo nach Obigem zwei große Hauptperioden bekommen,
die erſte vor, die zweite nach dem Ende des Mittelalters. Die erſte
würde ſich von der zweiten dadurch unterſcheiden, daß ihre einzelnen Ab-
ſchnitte nach den Religionen der Völker, nicht unmittelbar nach dem Cha-
rakter und der Geſchichte derſelben, ſich beſtimmen und nennen müßten;
ſtatt orientaliſch: ſymboliſch, ſtatt griechiſch: mythiſch, ſtatt mittelalterlich:
chriſtlich phantaſtiſch; die zweite dagegen darf nur das, was über die
Völker und Zeiten geſagt iſt, wieder auffaſſen, und ſagen: weil dieſe ſo
waren, mußte ihre Phantaſie auch ſo ſein. Wirklich iſt der Weg dort
ungleich weitläufiger; da darf man nicht einfach ſagen z. B.: wie die
Völker des Mittelalters innerlich, dualiſtiſch, winterlich u. ſ. w. waren,
ſo muß alſo auch ihre Phantaſie dem entſprechend beſchaffen geweſen ſein,
ſondern man muß das Mittelalter als die myſtiſche und phantaſtiſche
Form des Chriſtenthums bezeichnen, man muß den religiöſen Kreis ſeiner
Phantaſie darſtellen. Hier dagegen, in der Darſtellung des modernen
Ideals, kann man ſich zwar mit der Frage beſchäftigen, ob und wie die
Phantaſie ſich noch an veraltete religiöſe Kreiſe wenden könne, etwa ſo,
daß ſie moderne Ideen darin niederlege, z. B. communiſtiſche in eine Er-
zählung des N. T., moraliſche, politiſche in die alten Götter? aber ſolche
Fragen enthalten im Zweifel ſchon ihre Verneinung; dieſe Zeit hat einmal
keinen ſelbſterzeugten religiöſen Gehalt mehr und ihr Ideal iſt einfach als
Summe ihrer allgemeinen Bildungszuſtände zu faſſen. — Uebrigens ver-
ſteht ſich, daß die Phantaſie der Völker, ſei ſie nun religiös beſtimmt
oder weltlich frei, nicht blos die Stoffe ihrer eigenen Geſchichte und Na-
tur verarbeitet. Auch verhältnißmäßig abgeſchloſſene Völker treten, na-
mentlich durch den Krieg, mit fremden in Verbindung, mehr und mehr
erweitert ſich bei den gebildeten der Geſichtskreis über die ganze Erde
und die Geſchichte ihrer Bewohner. Zum Ideal eines Volks und einer
Zeit gehört alſo auch die Weiſe und der Umfang der Anſchauung des
Fremden. Daher heißt es im §.: „die Stoffe, welche jedem derſelben
ſein Geſichtskreis zeigt.“


§. 422.

Die religiös beſtimmte Phantaſie theilt ſich jedoch wieder in zwei gänzlich
entgegengeſetzte Hauptformen, deren zweite gerade darauf begründet iſt, daß ſie
nur durch einen Widerſpruch die neue Weltanſchauung, die ihr aufgegangen,
abermals zu einer zweiten Stoffwelt verdichtet. Dieſer Gegenſatz iſt entſcheidend
genug, um vielmehr drei große Abſchnitte aufzuſtellen, und ſo ordnet denn die
Wiſſenſchaft, da ſie überhaupt das Unfreie im Scheine und als Grund der Re-
ligionen den Charakter der Völker und Zeiten erkennt, die Geſchichte des
[410] Ideals dennoch nach den drei Haupt-Epochen des Völkerlebens an ſich und folgt
daher der Eintheilung von §. 341—378.


Die zweite Hauptform der Phantaſie iſt die des Mittelalters. Es
iſt hier vorläufig mit Kurzem ausgeſprochen, warum ſie der antiken als
eine neue Epoche begründend gegenübertritt, und der Verlauf wird voll-
ſtändig zeigen, daß ſie gerade die nach beiden Seiten ſcharf abgeſchnittene
mittlere von drei Epochen bilden muß; denn was ſie von der antiken
unterſcheidet, iſt das Prinzip der chriſtlichen Religion, in den germaniſchen
Geiſt aufgenommen, was ſie von der modernen unterſcheidet, iſt das
Heidniſch-Mythiſche, wodurch ſie dieſes Prinzip zu einer tranſcendenten
Welt ausbildet. So haben wir ſchon dieſelben Eintheilungen, wie in der
Lehre von der geſchichtlichen Schönheit. Nun wiſſen wir ja aber über-
haupt, daß die Religion nichts Anderes, als ein Ausdruck des Bewußtſeins
der Menſchheit, der Nilmeſſer ihres Geiſtes iſt; als eigentlicher Einthei-
lungsgrund ſteht für uns auch hinter dem religiös beſtimmten Ideale der
urſprüngliche Geiſt des Volkes und der Zeit, und ſo iſt die ganze Ein-
theilung wieder da, wie in der geſchichtlichen Schönheit. In dieſer fragten
wir: wie viel und was für Stoff geben die Völker und ihre Zeitalter
dem Schönen; jetzt fragen wir: was für und wie viel Schönes muß
die Phantaſie der ſo beſtimmten Zeiten und Völker ſelbſt hervorbrin-
gen
? Die Benennungen der Hauptformen der Phantaſie können wir, da
wir ſo auf die Völker und Zeiten ſelbſt als Subject und Grund der
Unterſchiede zurückgehen, ebenſowohl von dieſen, als, wo das Ideal noch
religiös beſtimmt iſt, von dem Standpunkte der Religion entnehmen; am
beſten wird es ſein, beides zugleich in die Bezeichnungen aufzunehmen.


§. 423.

Die Phantaſie iſt alſo, gleichviel, ob ſie die urſprünglichen Stoffe nur
durch die Mitte der zweiten Stoffwelt oder unmittelbar in die Schönheit
erhebt, immer die Frucht der Geſammtkräfte eines Volkes und Zeitalters, in
dem begabten Individuum zuſammengefaßt, und hiemit tritt eine Maſſe von
neuen, geſchichtlichen Bedingungen ein, durch welche ſich, indem ſie mit den
Arten §. 402—404 ſich durchdringen, die individuelle Phantaſie noch concreter
verſchlingt. Als dieſe lebendige Zuſammenfaſſung gibt ſie der Nation und Zeit
ihr eigenes erhöhtes Bild mit der unendlichen Kraft rückwirkender Bildungs-
mittel wieder.


So viele Theilungsgründe wir in der Lehre von den Arten der
Phantaſie fanden, ſo blieb uns doch die Phantaſie des Individuums
[411] immer noch abſtract. Jetzt erſt können wir ſie dahin ſtellen, wo ſie con-
cret wird, in die Mitte der geſchichtlichen Bedingungen. Das Genie
erſcheint nun als geiſtiger Flügelmann eines Volks, eines Zeitalters, deſſen
Kräfte in ihm zuſammenfließen, zu einem Centrum, Brennpunkt ſich ſam-
meln, als Seher der Zeit. So „hält es der Natur den Spiegel vor,
zeigt der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild und
dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck ſeiner Geſtalt.“ Es
iſt aber nicht nur eine weitere Beſtimmung der allgemeinen Art, unter
welche nun das phantaſievolle Individuum tritt, wie: antik oder claſſiſch, ro-
mantiſch, modern. Dieſe Epochen haben, wie ſich zeigen wird, ſelbſt wieder
ihre verſchiedenen Stadien. Und nicht nur dieß; die Phantaſie des Einzel-
nen iſt immer ſo beſtimmt, daß ſie mehrere der ſo entſtehenden neuen Arten
in ſich vereinigt, während freilich eine derſelben den Mittelpunkt bildet. So
hat das Klaſſiſche ſeine Romantiker, das Romantiſche ſeine Klaſſiker, das
Moderne wird im Einen mehr klaſſiſch, im Andern mehr romantiſch, ein
Dritter vereinigt wieder Beides. Die Ilias z. B. iſt mehr klaſſiſch, die
Odyſſee romantiſch im Klaſſiſchen u. ſ. w. Nun nehme man hiezu wieder
alle in dem Abſchnitt von den Arten der Phantaſie gefundenen Einthei-
lungen, Reihen auf und erwäge, wie ſie ſich mit den jetzt gefundenen
neuen Arten in unendlichen Miſchungen verbinden müſſen, ſo hat man erſt
die ganze Summe der concreten Bedingungen beiſammen. Mußten wir
ja ſchon dort vielfach auf die Geſchichte der Phantaſie voraus hinweiſen;
anders verhält ſich jede geſchichtliche Form des Ideals zu dem einfach
Schönen, Erhabenen, Komiſchen, anders zu den auf verſchiedene Sphären
des Stoffs gerichteten, anders zu den auf die verſchiedenen Momente der
Phantaſie ſelbſt geſtellten Arten, und wir werden bald ſehen, wie ſich die
geſchichtlichen Unterſchiede namentlich mit den letztern berühren.


2. Das Bild, durch welches das phantaſievolle Individuum der
Zeit und Nation ihr eigenes Angeſicht zeigt, gibt dieß Angeſicht in Rein-
heit umgeſchaffen. Die Menſchheit erfährt dadurch, wie ſie iſt, alſo etwas
Altes, aber dieß Alte iſt zugleich ſchlechtweg neu und auch dieß Erfahren
iſt neu. Wie daher die Strahlen zum Brennpunkt geſammelt mit anderer
Intenſität wirken, als in der Zerſtreuung, ſo gibt jenes Bild dem Volk
und ſeiner Geſchichte einen unberechenbaren Schwung. Die Nation richtet
ihre Wirklichkeit an ihrem eigenen idealen Bilde auf und erzieht ſich da-
ran. Homer hat unendlich auf die Griechen, Schiller auf die Deutſchen
gewirkt, ja eine ſolche Wirkung verbreitet ſich auf die Menſchheit in alle
Zeiten. Dieſe Wirkung iſt nicht rein äſthetiſch, ſie iſt ſittlich, intellectuell,
ſickert in alle Zweige des geiſtigen Lebens; was aber vor dem ſtrengen
Grundgeſetze des Schönen eine Auflöſung ſeiner Elemente iſt, kann vom
Standpunkt des Guten immer noch unendliche Wohlthat ſein (vergl. §. 76,

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Bd. 27
[412]Anm. 1). Auch löſen ſich dieſe fördernden Wirkungen doch keineswegs vom
ſchönen Bilde ganz ab; dieſes bleibt für die Maſſe mindeſtens ihr Ve-
hikel, für die Zahl der Phantaſiebegabteren aber immer in ganzer Ein-
heit mit dem Gehalte und die getrennt ſittliche, intellectuelle tritt bei ihnen
immer nur als Nachwirkung der vollen äſthetiſchen ein.


§. 424.

Da aber die Phantaſie immer eine gewiſſe Vergangenheit ihres Stoffes
fordert, ſo iſt die Zeit der herben Kraft, wodurch die Nationen groß werden,
nicht der Boden, worin ſie blüht, ſondern die bewegliche Erregung, welche die
Frucht des durch vorhergehende Kämpfe errungenen Glücks iſt, die Glanzperiode
der Völker, welche freilich auch die Keime des Verfalls ſchon in ſich birgt.
Während des Kampfes der Kraft und bei ſchon eingetretenem Verfall kann die
Phantaſie nur in unreifen Formen und in den durch §. 406 aufgeſtellten Abarten
und Ausartungen ſich thätig erweiſen.


Daß der Stoff in eine gewiſſe Entfernung (des Raums und) der
Zeit von der Phantaſie zurücktreten muß, haben wir auf verſchiedenen
Punkten ausſprechen müſſen: ſo §. 54 Anm.; es folgt ferner aus der Lehre
vom Verhältniß des Guten zum Schönen §. 56—60; aus der Abweiſung
der materiellen Sinne (§. 71) und alles Intereſſes (§. 75) vom ſub-
jectiven Eindrucke des Schönen; endlich aus dem Rücktritt vom Gegen-
ſtande, durch den die Anſchauung zur Einbildung wird §. 387, 2, aus
dem Erlöſchen der Leidenſchaft, welche §. 393, und der Einkehr in ſich,
welche §. 394 forderte. Die eigentlich thätige Zeit eines Volks iſt nicht
die ſeiner äſthetiſchen Production, da herrſcht die Unruhe des Intereſſes,
der ſtoffartige Zweck, der Standpunkt des Sollens. Allerdings iſt nur
Geſundheit, tüchtige Fülle, Macht und Glück das Mark, womit ſich das
Schöne nährt, aber dieſes Wohlſein blüht eben in dem Augenblick auf, wo
die herben Kämpfe ſchweigen, durch die es erarbeitet werden mußte. Die
Ilias wurde nicht von den Kriegern vor Troja unter dem Lärm der
Waffen gedichtet, die großen Tragiker, Bildhauer, Baukünſtler traten nicht
während der Perſerkriege, ſondern kurz nach ihnen auf, Shakespeare nach
den blutigen Feudal-Kämpfen zur Zeit ihrer Beruhigung in einer geord-
neten Monarchie u. ſ. w. Durch dieſe Thatſache erfährt der erſte Satz
von §. 421 eine Beſchränkung: die Parallele zwiſchen der geſchichtlichen
Schönheit und zwiſchen der Geſchichte der Phantaſie iſt keine vollſtändige,
auch abgeſehen davon, daß die energiſchen Völker, deren Geſchichte reich
an Stoff iſt, und die phantaſiereichen, welche ſelbſt viel Schönes produci-
ren, keineswegs durchaus dieſelben ſind; die Periode, worin die Geſchichte
[413] eines Volks ſtoffreich iſt, muß ſchon einen Abſchluß gefunden haben, wenn
daſſelbe Volk ſubjective Productivität ſoll entwickeln können. Erſt wenn der
Kampf ſchweigt, ſtellt ſich die Muſe ein; nun erſt kann ſich das ſubjective
Leben zu der Erregbarkeit, Weichheit, Nervoſität, Reſonanz erweichen und
erweitern, welche der Phantaſie vorausgehen muß, und nun erſt hat man
Zeit, die Darſtellung dieſer feinern Zuſtände ſowohl mit der nöthigen äſtheti-
ſchen Freiheit von Seiten der Gebildeten, als auch in den Maſſen mit
vielſeitiger pathologiſcher Erregbarkeit zu betrachten. Man muß ſich hüten,
direct einen ſittlich muſterhaften Zuſtand der Nation als Bedingung äſt-
hetiſchen Berufs aufzuſtellen. Die ſittlichen Kräfte müſſen durch ihre
Strenge einen glücklichen Zuſtand herbeiführt haben, wie in Athen nach
den Perſerſiegen; dieß Glück iſt zugleich Aufgang der Bildung, in der
Bildung wirken freilich die ſittlichen Kräfte fort, aber ein unendlicher
Reichthum von Fähigkeiten überhaupt hat ſich entfaltet, und da nun Alles
heraus ſoll, was im Menſchen liegt, kommt auch das Willkührliche, das
Böſe, Verdorbene, die nationalen Laſter heraus, zuerſt freilich noch in
Banden gehalten vom guten Mittelpunkte, aber bereit, ihn zu überwu-
chern; der Keim des Verfalls iſt mit der höchſten Blüthe da, in der
Wirklichkeit wie in der Phantaſie. Freilich kann dieſer Verfall, wenn das
Volk dauerhaft iſt, Uebergang zu ſpäterer neuer Blüthe ſein. Dabei iſt
noch zu merken, daß ein Volk oft nur nach Einer Seite einen Höhe-
punkt erreicht hat und demgemäß eine Blüthe der Phantaſie treibt, aber
auch eine einſeitige. So war die deutſche Nation politiſch todt, als ſie
die klaſſiſche Zeit ihrer neueren Poeſie feierte, aber ihre innere Bildung
war an einem bedeutenden Abſchluß angekommen. Jetzt ringt ſie nach
politiſchem Leben; wird ſie dieß errungen haben, ſo wird eine Phantaſie
möglich ſein, welche ein volleres, objectiveres Leben zum Stoffe hat, als
die unſerer verſtorbenen großen Dichter.


Zur Naturgeſchichte des Genies iſt hier noch nachzuholen, daß die
Glanzperioden der Völker geheimnißvoll productiv ſind in Hervorbringung
phantaſievoller Menſchen; ein Blick auf die Griechen, auf Deutſchland
gegen den Schluß, auf Italien am Schluß des Mittelalters, auf Spanien
nach der Gründung ſeiner abſoluten Monarchie, auf England am Ende
des ſechszehnten, Belgien und Holland im ſiebenzehnten Jahrhundert,
auf die deutſche Dichterwelt am Ende des achtzehnten und Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts bezeugt es. Die erhöhte Stimmung der Zeit
ſcheint in die geheime Stätte der Zeugung zu wirken. Dazu kommt aber,
daß das bloße Talent, das in anderen Zeiten von Wiſſenſchaft, von prak-
tiſchen Sphären abſorbirt wird, in dieſen Feſtzeiten der Völker, vom Ge-
nie angezogen, großentheils der Kunſt zufällt und den Wald großer
Namen vermehrt.


27*
[414]

Der Schluß des §. erwähnt neben den Abarten und Ausartungen,
in welche die Phantaſie außer jenen Glanzperioden zerfällt, in unbeſtimm-
ter Weiſe „unreife Formen;“ die erſteren ſcheinen dem Verfall, die letz-
teren den Kämpfen vor der errungenen Fülle zugewieſen. Dieß iſt ab-
ſichtlich unbeſtimmt gehalten. Zunächſt iſt die Meinung die ebengenannte;
was die unreifen Formen ſeien, dieß auseinanderzuſetzen, iſt der nächſt-
folgenden Darſtellung vorbehalten. Aber es ſtellt ſich auch das Verhält-
niß ein, daß kämpfende und vorbereitende Zeiten, welche auf einen Ver-
fall folgen, in ihrer Unmündigkeit Abarten von dieſem herübernehmen,
wie Dante die Allegorie, daß ſie ferner Ausartungen, die nur der Ver-
fall hervorbringen zu können ſcheint, Verwilderungen, ſelbſt Häßlichkeit erzeu-
gen. Alle dieſe Verſchiebungen können hier noch nicht verfolgt werden.


a.
Das Ideal der objectiven Phantaſie
des
Alterthums.

§. 425.

1

Die Phantaſie des Alterthums ſchafft entſprechend der objectiven Lebens-
form (§. 342), der ſie angehört, ein Ideal, in welchem Inneres und Aeuße-
res, Individualität und Geſammtleben unmittelbar im engeren Sinne eines
bruchloſen Zuſammenfallens Eins ſind. Dieß Ideal iſt daher als religiöſe Auf-
werfung einer zweiten Stoffwelt das der Naturreligion, d. h. es enthält
eine Vielheit von Göttern, welche ebenſoſehr Naturweſen als ſittliche Weſen
2ſind, und die urſprüngliche Stoffwelt, wie ſie nach dieſem Auszuge übrig bleibt,
3wird idealiſirt im Sinne der Vergötterung. Es folgt von ſelbſt, daß es unter
den in §. 404 aufgeſtellten Arten der Phantaſie vorzüglich die bildende iſt,
in welcher dieſes Ideal ſich bewegt.


1. Der Begriff des Unmittelbaren in der Idealgeſtalt bedurfte ſchon
deßwegen eines erläuternden Zuſatzes, weil alles Ideal eine unmittel-
bare Einheit von Idee und Bild darſtellt. Es iſt aber innerhalb dieſer
Unmittelbarkeit wieder ein Unterſchied des Unmittelbaren und Vermittel-
ten, des Gebrochenen und Ungebrochenen im Ausdruck. Wir werden
darauf zurückkommen, wenn von dem griechiſchen Ideal, wo die Auf-
gabe der antiken Phantaſie ihre wahre Löſung erſt fand, die Rede ſein
wird. Hier ſagen wir nur kurz, daß dieſelbe keinen Bruch im geiſtigen
[415] Ausdruck zur Darſtellung zu bringen hat. Wie das Bewußtſein der Na-
turreligion als Erſcheinung überhaupt einfach, dieſes geiſtige Leben noch
ein Naturleben iſt, ſo gilt ihm auch in ſeinen Projectionen („Aufwerfung“
ſagt der §., ein gutes Wort, das Luther gebraucht, vergl. Stuhr die
Relig.-Syſteme der heid. Völker des Orients Einl. x) das Sinnliche als
affirmatives Gefäß des Geiſtigen, die Naturform als abſolut. Was im-
mer in der Geſtalt, die dieſer einfache Geiſt als Geſtalt des Abſoluten
vor ſich ſtellt und verehrt, inbegriffen und ausgedrückt ſein mag, es wird
angeſchaut unter der Kategorie des natürlichen Seins und zwar ſtets in
der Beſtimmtheit der örtlichen Natur, denn die Völker, um deren Ideal
es hier ſich handelt, ſind geſchloſſene Localgeiſter. Die Naturreligion iſt
aber weſentlich zugleich Polytheiſmus. In der freien Schönheit iſt es
kein Widerſpruch, daß es vielerlei Gebilde der Phantaſie gibt; hier weiß
man, daß in jeder derſelben die abſolute Idee nur vermittelſt einer be-
ſtimmten Idee, deren es viele gibt, ſich ausdrücken kann. Wäre der Schein
ein unfreier, wie er es in der reinen, nicht religiös beſtimmten Phan-
taſie vielmehr nicht iſt, ſo hätte alle Phantaſie überhaupt ebenſoviele
Götter, als ſie ſchöne Geſtalten erzeugt. Zu erklären iſt alſo vielmehr
nur, warum die Phantaſie des unfreien Scheins nicht noch viel mehr
Götter hat, als ſie deren thatſächlich aufweist. Der Grund liegt eben
darin, daß ſie Naturreligion iſt. Sie geht nämlich, wie wir ſehen wer-
den, immer von Erſcheinungen der nicht begeiſteten Natur aus und die
Kategorie des Seins oder der blinden Kraft, die in dieſen wirkt, bleibt
die Grundlage auch dann, wenn geiſtig ſittliche Beſtimmtheiten in ſie
hineingelegt und als menſchliche Göttergeſtalt mit größerer oder geringerer
Ablöſung auf dieſe Baſis geſtellt werden, was eben deßwegen möglich iſt,
weil das geiſtige Leben ſelbſt einfach, ein wenig verwickelter, bruchloſer
Prozeß iſt. Der Kreis der Natur-Erſcheinungen nun, welche ſolche Grund-
lagen abgeben können, iſt nicht groß: die Wirkungen der Elemente, der
Saftdrang der Pflanze, die weſentlichſten Lebensformen des Thiers geben
eine um ſo mehr überſichtliche Sphäre, da überall nur das herausge-
griffen wird, was die heimiſche, umgebende Natur an beſonders auffal-
lenden Erſcheinungen darbietet. Die Mythenwelt iſt allerdings reich, aber
ohne dieſe Beſchränkung wäre ſie unendlich. — Nur dieß Wenige iſt hier
im Allgemeinen zu ſagen, um der folgenden Entwicklung nicht vorzu-
greifen.


2. Es kann, nachdem ſich die Phantaſie der Naturreligion ihren Göt-
terauszug aus der Welt gemacht, nicht an Aufforderung fehlen, die ganze
Welt, die doch daneben übrig bleibt, da und dort zu ergreifen und zu
idealiſiren. Dieſes Idealiſiren, meint man, könne dann ein reines, freies,
nicht religiöſes ſein. Allein dieß wäre Widerſpruch gegen das Prinzip;
[416] vielmehr iſt hier jede Erhebung irgend eines Stoffs in die ideell umbildende
Phantaſie ein Vergöttern: der Heros ſtammt von einem Gotte ab, durch
die Statue, die ihm errichtet wird, genießt er göttliche Ehre u. ſ. w.
Dadurch muß freilich ein anderer Widerſpruch entſtehen: es bekommt eine
Lebensſphäre einen vergötterten Menſchen zu ihrem Repräſentanten, wel-
cher ohnedieß ſchon ein Gott vorſteht, und ſo nicht nur Eine, ſondern
mehrere, ja es entſteht ein Durcheinanderhandeln von Göttern und Men-
ſchen, worin füglich die Einen oder Andern erſpart werden könnten. Die-
ſer Widerſpruch ſtört aber die Phantaſie der Naturreligion um ſo weni-
ger, da er in der That ſchon in ihrem Götterkreiſe ſelbſt herrſcht; denn
es kann nicht ausbleiben, daß einzelne Sphären durch mehrere Götter
repräſentirt werden, wie umgekehrt Ein Gott mehrere Sphären repräſen-
tirt. Jenes Durcheinanderhandeln tritt übrigens ebenſo im Verhältniß zu
den Naturkräften ein: die Phantaſie ſucht eine Naturerſcheinung an ſich,
ohne Vergötterung, in die Schönheit zu erheben, allein der Prozeß ſchließt
immer mit einer Zurückführung auf einen Gott: ſo iſt auch hier daſſelbe
Doppeltſetzen, woraus ſich dieſe Art von Phantaſie ein logiſches Gewiſſen
zu machen noch gar nicht die weiteren Bildungsmittel hat. Dieß ganze
Doppeltſetzen iſt aber eben nichts Anderes, als die ſchon oben als weſent-
liches Moment aufgenommene „Durchlöcherung“.


3. Es bedarf keines Beweiſes, daß dieſe Epoche der Phantaſie ſich in
der bildenden Art bewegen, daß ſie vorzüglich auf das Auge organiſirt
ſein wird. Dieß ſoll ſich im Einzelnen erſt näher beſtimmen und erſt dann
zugleich die Beziehung dieſes Ideals zu den übrigen allgemeinen Arten
der Phantaſie (§. 402. 403) zur Sprache gebracht werden. Es verſteht
ſich, daß die empfindende und dichtende nicht fehlt, aber der Standpunkt
der bildenden wirkt beſtimmend in dieſe hinüber.


α.
Die vorbereitende ſymboliſche Phantaſie des Morgenlandes.

§. 426.

Dualiſtiſch und ohne wahre Perſönlichkeit, wie der ganze Charakter des
1Orients (vergl. §. 343), iſt auch ſeine Phantaſie. Der Mangel der Perſön-
lichkeit äußert ſich zunächſt überhaupt darin, daß ſie unter den in §. 403 auf-
geſtellten Arten auf diejenigen beſchränkt iſt, welche nur die Sphäre der unor-
2ganiſchen Schönheit und der organiſchen bis zur thieriſchen umfaſſen. Ebendeß-
wegen aber, weil dieſe Phantaſie kein anderes Bild hat, um die abſolute Idee
[417] mit Inbegriff des, obwohl noch unreifen, menſchlich ſittlichen Gehalts in ihm
zu [finden], als die Geſtalten der bewußtloſen Natur, ſo macht ſich der Dualiſ-
mus dieſer ganzen Lebensform als ſymboliſches Verfahren der Phantaſie
geltend. Das Symbol iſt ein Bild, welches für die bewußtlos verwechſelnde
Phantaſie durch das äußerliche Band eines bloßen Vergleichungspunkts eine an-
dere, als die ihm wirklich inwohnende Idee ausdrückt.


1. In der Anm. 1 zum vorhergehenden §. wurde geſagt, daß auch
für die Bildung menſchlich geſtalteter ſittlich bedeutungsvoller Götter die
Erſcheinungen der bewußtloſen Natur, von deren Auffaſſung und Erhe-
bung zu abſoluter Bedeutung die Naturreligion ausgeht, noch die Grund-
lage bleiben. Alle griechiſchen Götter tragen noch dieſe Reminiſcenz an
ſich. Allein die Religion, die zur menſchlichen Götterbildung fortſchreitet
und ſie zu ihrem Mittelpunkte macht, nimmt dann doch noch einen zwei-
ten Anſatz und ſetzt jene Grundlage zu einem bloßen Nachklang herab;
die orientaliſche Religion aber bleibt auf jener Grundlage ſtehen und er-
hebt ſich, wie ſich im folg[.] §. zeigen wird, nur halb zu dem genannten
zweiten Anſatz. Man kann die Sache ſehr einfach ſo ausdrücken: alle
Religion ſucht einen Ausdruck für das Allgemeine, Herrſchende, Ueber-
greifende. Um nun dieſes als geiſtige Macht in der menſchlichen Geſtalt
als wirklich anzuſchauen, dazu iſt dem ſinnlichen Auge des Orien-
talen der Menſch zu klein; der Himmel, das Licht, die Luft, die Berge,
die Waſſer, die Bäume, die Thiere ſind umſpannend, umwehend, über-
ſtrahlend, überragend, Alles nährend, weitſchattend, ſtark und in ein
Dunkel des Inſtincts gebannt, das auf einen geheimnißvollen Abgrund
hinweist; der Menſch ſcheint dagegen ein geringer und ſchwacher Punkt,
er hat alles Leben und Gedeihen erſt von den allgemeinen Naturmächten
zu empfangen und ſeine Reflexion, ſein Wille iſt nichtig gegen dieſe dun-
keln Mächte. Wohl iſt Gefühl des Guten, der ſittlichen Sphären da,
wohl ſucht die Phantaſie eine Form, worin ſie auch dieſen Gehalt nie-
derlege; aber die ſittliche Ordnung hat ja ſelbſt Naturbedingungen zur
Vorausſetzung; der Staat ruht auf dem Ackerbau, dieſer hängt von Wind
und Wetter ab: dieſe Beziehung iſt die erſte, welche den Naturvölkern
in’s Auge fällt, und ſo liegt es ihnen z. B., um eine mythiſche Form zu
anticipiren, ganz nahe, den Gott des Firmaments zum Gründer der Staa-
ten zu machen. Faſt könnte man ſagen, das Wetter ſei überhaupt der
Gott der älteſten Naturreligion. Doch es iſt jetzt noch nicht von Göttern
die Rede; genug, die Phantaſie der Völker, deren Lebensform noch un-
perſönlich genannt werden muß, denen die ethiſche Einheit noch abgeht,
wird nach den Erſcheinungen der unperſönlichen Natur greifen, alſo zur
landſchaftlichen und organiſchen thieriſchen Art der Phantaſie (§. 403)
[418] gezählt werden müſſen. Wie ſie ſich zu den Reihen anderer Arten der
Phantaſie verhält, davon nachher.


2. Nun würde, wären wir auf rein äſthetiſchem Boden, nichts
folgen, als daß die Phantaſie des Orients vorzüglich darauf angewieſen
war, landſchaftliche und thieriſche Schönheit darzuſtellen, denn wenn wir
auf jenem Boden uns befänden, ſo gälte es nur, die Erſcheinungen aus
dieſer Sphäre der Stoffwelt ſo zu idealiſiren, daß ihre Geſtalt zugleich
mit der ihnen eigenthümlich inwohnenden Lebensidee in die reine Schön-
heit erhoben würde. Allein wir ſind davon vielmehr ſoweit als möglich
noch entfernt und mit einer Phantaſie beſchäftigt, welche in jene ſo be-
grenzten Erſcheinungen etwas Anderes legt, als ihre eigene Lebensidee,
und daher nichts weniger zu ſchaffen berufen iſt, als landſchaftliche und
thieriſche Schönheit im unbefangen äſthetiſchen Sinne. Was iſt denn nun
dieß Andere? Wir müſſen zuerſt zurücktreten von der Formthätigkeit der
Phantaſie als ſolcher, und wie wir in §. 392 ein gehaltvolles Subject
vorausſetzten, ſo hier Volksgeiſter, erfüllt mit der Idee des Lebensgehalts, wie
ſie ihn kennen und verſtehen, vorausſetzen. Dazu müſſen wir dann den
Dualiſmus wieder aufnehmen, den wir in §. 343 als orientaliſchen Cha-
rakter überhaupt aufſtellten, und zwar von dieſem zunächſt die Seite des
brütenden Inſichſeins, der abſtracten Sammlung des Geiſtes. Dieſer
Geiſt, der, wenn er ſich auf die Einheit der Dinge beſinnt, die Be-
ſtimmtheit verliert, wird die abſolute Idee nur wie einen unendli-
chen Abgrund ahnen. In dieſen Abgrund verſenkt er, wie die Be-
ſtimmtheit der Natur, ſo auch die ſittlich menſchliche Beſtimmtheit, was
ihm von ihr bekannt iſt, und bekannt iſt ihm das ſittliche Leben nur als
ein ſolches, das ſelbſt wieder die Naturform der Nothwendigkeit hat.
Dieſer Abgrund iſt abſtract, aber nicht abſtract im Sinne eines logiſchen
Gedankens, ſondern abſtract, wie die Natur, d. h. im Sinne einer blin-
den, dunkeln unterſcheidungsloſen Macht. Doch die abſtracte Beſinnung
ſetzt allerdings auch Momente, Unterſchiede; dieſe ſind aber ſelbſt wieder
abſtracte Kategorieen des Naturſeins: Sein, Werden, Vergehen, Her-
vorbringen, Nähren u. ſ. w. Mit ſolchem Gehalte erfüllt geht der
Menſch an die Natur, findet ſie als eine beſtimmte örtliche Umgebung
vor. Nun ſcheint es, da er nur von der unbegeiſteten Natur zur Phan-
taſiethätigkeit ſollizitirt wird, jene dunkle Urkraft mit ihren abſtracten Mo-
menten paſſe dazu, mit den Exiſtenzformen des unbewußten Lebens ſich
zu einem Producte der Phantaſie, worin Idee und Bild Eins wäre, zu-
ſammenzuſchmelzen. Allein jede Naturerſcheinung iſt individuell, iſt be-
ſtimmte Concretion eines Reichthums von Momenten. Alſo deckt ſich nicht,
was der Geiſt hinzubringt und was ihm die Naturerſcheinung entgegen-
bringt; alſo kann die Phantaſie den Gegenſtand nicht innerhalb der be-
[419] ſtimmten Idee, deren individuelle Bindung er in Wirklichkeit iſt, zum
Ideal erheben; alſo muß ſie unter ſeinen Eigenſchaften irgend eine heraus-
greifen, welche als äußerlicher Vergleichungspunkt ihn mit der hinzuge-
brachten Idee in Eins knüpft. Es verſteht ſich, daß dieß Zuſammen-
bringen von Extremen, die ſich nicht decken, unbewußt vor ſich geht:
die abſtracte Kategorie iſt nur geahnt, das Bild wird als erſte Aushilfe
geſucht, ſie ſich deutlich zu machen, zu überſetzen; dieſe Phantaſie hat
die Einheit des Schönen noch nicht, ſie iſt unreife Phantaſie. Sie
weiß nicht um die Incongruenz, ſie fühlt ſie wohl dunkel und wir wer-
den ſehen, wozu ſie dadurch getrieben wird. Dieß Verfahren nun iſt
das ſymboliſche. Gleichgiltig iſt uns zunächſt, ob es die Ahnung der
abſoluten Idee oder eines der nackten Momente, die erſt in ihr unter-
ſchieden werden, iſt, was in eine Erſcheinung gelegt wird: in beiden
Fällen iſt die Idee zu weit, das Bild zu eng. In einem gewiſſen Sinne
wird natürlich immer Beides hineingelegt, wie die Idee der allgemeinen
Kraft ergriffen von der Seite des Segens in den Nil, in die Sonne;
es ſind aber allerdings Symbole zu unterſcheiden, die nur ein (zwar
bereits an ſich zu abſtractes) Moment der Urkraft und vermittelſt deſſelben
dieſe darſtellen, wie der Käfer, die Lotosblume das Moment des Wer-
dens aus ſich, und Haupt- oder Grund-Symbole, die das Ganze, wo
möglich durch mehrere Eigenſchaften, ausdrücken, wie der Apis durch
ſeine Färbung, ſeine Stärke, ſeine Zeugungskraft, ſeine Hörner den
Nil, die Sonne, den Mond, die Urkraft überhaupt.


§. 427.

Die zuerſt nur vorgefundene Erſcheinung wird nun in die innere Form-1
thätigkeit der Phantaſie hereingezogen und in dem Sinne umgeſtaltet, daß der
Vergleichungspunkt an ihr hervorſpringt. Zugleich hat aber ſchon vorher eine
2
andere Art von Thätigkeit begonnen; auch die ſymboliſche Phantaſie nämlich
begeiſtet die Naturerſcheinung, muß ſich daher für dieß in ſie hineingetragene
Innere nach der menſchlichen Geſtalt umſehen, wird Perſonbildend, ſchafft Götter,
ſetzt ſie in Handlung und ſchreitet ſo zum Mythus fort, denn dieſer iſt Dar-
ſtellung einer Idee als der Handlung eines abſoluten perſönlichen Weſens. Allein
dieſer Fortſchritt ſtockt, es kommt nicht zur reinen Ablöſung der Göttergeſtalt
vom unperſönlichen Bilde, das Symbol verhindert den Anſatz zum Mythus,
ſich auszubilden.


1. Die ſymboliſche Phantaſie hat ſich ſchon in ihrem erſten Schritte
an einzelne, beſonders hervorragende Erſcheinungen gehalten, was ſich
für uns nach unſerer Lehre von der nothwendigen Sollizitation der
[420] Phantaſie durch ein Naturſchönes (§. 393) ſo von ſelbſt verſteht, daß
wir die Einzelnheit des Objects im Symbole (vergl. Baur Symb.
und Mythol. Th. 1 S. 7) nicht beſonders hervorzuheben brauchen. Die
großen Berge, Ströme u. ſ. w. ſind das Erregende für die ſymboliſche
Phantaſie; Ormuzd iſt das Licht im Lichte, aber vorzüglich die Sonne,
Oſiris Urkraft, aber vorzüglich der Nil. Man kann ſich das Staunen
der Naturvölker über die gewaltigen Natur-Erſcheinungen nicht lebhaft,
naiv genug, die Iſolirung dieſer Objecte durch die Unkenntniß der Ge-
ſetze des allgemeinen Naturzuſammenhangs nicht deutlich genug vorſtellen.
Aber das Hineinſchauen des Schönen in ein gegebenes Object genügt
auch der allgemeinen Phantaſie nicht (§. 416); auch ſie ſetzt es innerlich
und geſtaltet das Abbild zu einem Anderen um, ſtellt das Urbild in ihm
her, aber ſie thut es in einem andern Sinn, als die beſondere, die freie
Phantaſie, nicht im Sinne der reinen Schönheit; der Gegenſtand wird
nur in der Richtung des Symbols erhöht, der Vergleichungspunkt ver-
ſtärkt, und wie wenig dadurch die Schönheit als ſolche gewinnt, werden
wir ſehen. Innerhalb dieſer Richtung aber iſt der Schritt zum Herein-
nehmen des Gegenſtands in’s Innere, das Setzen eines Abbilds wichtig;
es vollziehen ihn zwar irgendwie alle Natur-Religionen, aber ſie ſtehen
je um ſo viel höher, als die Anſchauung nur der Ausgangspunkt bleibt,
von welchem zur ſelbſtthätigen Abbildung (der innern und daher natür-
lich auch der äußern) geſchritten wird (vergl. Hegel Aeſth. B. 1, S. 429
und die Unterſcheidung von Natur- und Kunſt-Symbol Baur a. a. O. Th. 1,
S. 9). Wir verlaſſen jedoch zunächſt dieſe Linie der Phantaſiethätigkeit,
die Symbolbildende, um erſt eine ganz andere aufzunehmen.


2. Es iſt eine ganz verſchiedene, zweite Reihe von Phantaſiethätig-
keit, ein Weg zu einem ganz andern Ziele, was hier eingeführt wird.
Der Natur einen Menſchen unterlegen, in Quellen, Bergen,
Sternen, Meer und Himmel, Bäumen ſchlagende Herzen ahnen iſt nicht
ſymboliſch
. Zunächſt iſt es überhaupt ein Act der Phantaſie, der be-
ſondern wie der allgemeinen, der freien wie der unfreien, vergl. §. 240.
271; aber die allgemeine, die unfreie Phantaſie unterſcheidet ſich hierin
von der freien dadurch, daß ſie aus dieſem Leihen Ernſt macht und in
den hervorragenden Erſcheinungen der Natur Geiſter, Dämonen, Genien
wirklich und ohne den ſtillen Vorbehalt, es nicht in bitterem Ernſte zu
glauben, der die freie Phantaſie begleitet, zu vernehmen überzeugt iſt,
und in der unfreien Phantaſie iſt es wieder die ſymboliſche, welche
eigentlich am nöthigſten hat, daraus Ernſt zu machen; denn menſchlich
ſittlichen Gehalt begreift ja auch ſie in ihrer Idee vom Abſoluten, das
eigentliche Gefäß aber, in das ſie ihn lege, die menſchliche Geſtalt, hat
ſie nicht bereit, denn dahin geht ja urſprünglich ihr Umfang nicht; ſie
[421] muß alſo Gemüth, Güte, ſittlichen Willen und ſomit einen Willen über-
haupt, eine Perſon hinter dem ſuchen, worauf ihre Richtung geht, hinter
der unperſönlichen Natur. Legt ſie aber eine Seele in dieſe, ſo muß ſie
auch einen menſchlichen Leib hineinlegen. Alſo muß ſie ſich freilich auch
nach der menſchlichen Geſtalt umſehen und wenigſtens einen Schatten von
ihr jener Seele zulegen. Was haben wir nun? Ein Object aus der
bewußtloſen Natur und dieſes Object deutet ſymboliſch einen Gehalt an;
aber zugleich ſteckt in ihm wie ein Saame in ſeiner Kapſel ein beſeeltes
perſönliches Weſen mit einem Leib. Daß dieſer Leib in dem nicht menſch-
lichen Körper keinen Raum hat, das ſtört dieſe Phantaſie ſo wenig, als
noch heute der Aberglaube durch den körperloſen Körper ſeiner Geſpenſter
in logiſche Verlegenheit geſetzt wird. Dieſe Seele mit ihrem Leibe, den
keine Raumgeſetze drücken, iſt der Gott. Der Gott mit ſeiner Geſtalt
nun iſt durchaus nicht mehr blos ſymboliſch. Man könnte zwar ſagen,
die Kluft zwiſchen der Geſtalt und der Bedeutung ſei nun in’s Unend-
liche erweitert, denn nun ſolle eine lebendige Perſon mit der reichen
Concretion des Geiſtes, die ſich in ihrer Geſtalt ausdrückt, nur das Ab-
ſtractum einer Naturkraft bedeuten. Wir haben vom Symbole geſagt,
die Bedeutung ſei zu weit, das Bild zu eng; wir hätten es auch um-
gekehrt ſagen können, denn das Bild hat viele Eigenſchaften und nur
Eine gilt, als tertium comparationis nämlich. Beides iſt richtig, und ſo
ſcheint es auch von der Göttergeſtalt geſagt werden zu müſſen: ſie iſt zu
reich für die abſtracte Einfachheit der Bedeutung, alſo zu weit; ſie iſt
aber individuell, die Naturkraft dagegen waltet weit in der Welt, jene
fällt in dieſe wie in einen zu weiten Behälter; iſt alſo zu eng. So haben
nun wirklich Baur (a. a. O. Th. 1, S. 9), O. Müller, der doch (Pro-
leg. S. 243) ſelbſt ſagt: „nicht die Kräfte der Natur wurden ϑεοὶ ge-
nannt, ſondern die geglaubten Götter erſchienen in der Natur lebendig,“
(a. a. O. S. 261), ja auch Hegel, der doch nachher den Götterglauben
ganz anders auffaßt, (Aeſth. Th. 1, S. 454) die Menſchengeſtalt des
Gottes für ſymboliſch erklärt. Allein in Wahrheit verändert ſich, ſobald
dieſe eintritt, das ſymboliſche Verhältniß: die Bedeutung iſt zwar wohl
abſtract, aber der Gott nimmt ſie als ſeinen Zweck und Willen in ſich
herein, er lebt, er erhebt ſich über die kahle Einfachheit der Bedeutung,
iſt um ſeinetwillen da, fühlt, denkt, will, der Gehalt des Symbols ordnet
ſich ihm unter, erwärmt ſich in ſeiner Bruſt zum Gefühlten, Gewollten.
Der Wille wird That, der Gott handelt; dieß iſt nothwendige Folge,
ſobald ein Gott geſetzt iſt, denn mit dem Perſönlichen iſt die Thätigkeit,
mit der menſchlichen Geſtalt der Gebrauch ihrer Organe ſchon gegeben.
Die Idee, die hinter dem Symbole lag, wird alſo jetzt vom Gott als
Handlung in der Succeſſion der Zeit ausgeführt, ſie wird ideale Geſchichte
[422] und dieß iſt Mythus. Mythus iſt Vorſtellung einer Idee, welche zu
allgemein oder abſtract, zu losgetrennt aus der Geſammtheit der Ideen
iſt, um die bewegende Seele einer wirklichen Geſchichte zu ſein, als
einer für ſich und in dieſer Abſtraction Geſchichte conſtituirenden.
Trotz dieſer Abſtraction wird die Idee doch als hinreichende Seele,
als Zweck eines Gottes vorgeſtellt. Es iſt daher ganz richtig, den
Mythus als das in Handlung auseinandergelegte Symbol zu faſſen, wie
Baur (a. a. O. Th. 1, S. 39 ff). Das treffendſte Beiſpiel des eigent-
lichſten Eintreffens dieſer Bedeutung des Mythus gibt der Schlauch
des Marſyas nach O. Müller (a. a. O. S. 113). Allein die Aus-
einanderlegung iſt zugleich Aufhebung des Symbols als eines ſolchen:
was todte Bedeutung des ruhenden, räumlichen Symbols war, iſt warm-
blütiger Wille einer Perſon geworden.


Der Orient nun begnügte ſich ebenſowenig damit, die lebendige
Perſon hinter der Natur-Erſcheinung zu ahnen, als er zufrieden war,
die todte Bedeutung in der bloßen Anſchauung der letzteren zu ſuchen;
vielmehr wie er ſie als Symbol zum innern (und ſofort äußern) Bilde
erhob, ebenſo nahm er auch den geahnten Gott heraus, ſtellte ihn ſich
getrennt von ihr als ein Weſen mit menſchlicher Geſtalt vor und ſetzte
dieſe in Bewegung, die Perſon in Handlung. Der Orient hatte alſo
mehr, als Symbole, er hatte Mythen, und zwar ſelbſt die einfache perſiſche
Religion hatte ſolche im Kampfe des Ormuzd und Ariman u. ſ. w.


Allein es blieb dennoch bei dem bloßen Anſatze, die Perſonbildung
blieb unvollkommen, unreif, die Ablöſung, die Herausſchälung des Gottes
aus dem Symbol unvollſtändig, oder, wie Hegel ſagt, die Perſonifica-
tion oberflächlich. Die Beweiſe dieſes Zurückſinkens aus dem Mythus in
das Symbol liegen darin, daß die Geſtalt wieder aus der menſchlichen
Form gerückt wurde durch Hinzufügen ſolcher Züge, Bildungen, welche
nur ſymboliſch ſein können, wie Darſtellung in elementariſchen Farben
(Siwa roth, Wiſchnu blau u. ſ. w. als Symbol eines Elements); daß
ferner einzelne Organe zu mißverhältnißmäßiger Größe aufgetrieben wur-
den, was ebenfalls ſogleich die ſymboliſche Abſicht verräth: ſo namentlich
die Zeugungs-Organe, und es war zwar mythiſcher Fortſchritt, Katego-
rieen wie Cauſalität u. ſ. w. als Zeugung vorzuſtellen, allein dieß daran
war blos ſymboliſch, daß man die Zeugung und ihre Organe ſelbſt
wieder iſolirte und ihr Verhältniß zum Ganzen der Geſtalt und Perſon
umkehrte; weiter, daß die organiſch nothwendige Zahl der Organe (Arme,
Füße, Brüſte, ſelbſt Köpfe,) vervielfältigt oder gar mit thieriſchen vertauſcht
wurden; endlich aber vorzüglich darin, daß die erdichtete Handlung nicht
wahre Handlung, ſondern theils Naturact (wie eben das Zeugen) war,
theils vorherrſchend an ihre Stelle das Leiden trat (Oſiris, Adonis),
[423] theils daß ſie nur ſymboliſche Handlung war. Mit dieſem letzten Be-
griffe weichen wir, ſo ſcheint es, von dem richtigen Sinne des Symbols
als eines räumlichen, ruhenden Körpers, der eine ihm fremde Idee be-
deutet, ja von unſerem eigenen Satze, der den Mythus in das ſucceſſiv
Bewegte des Thuns ſetzt, völlig ab; allein wir verſtehen die ſymboliſche
Handlung ſo: dem Gotte ſoll es mit ſeinem Thun ein Ernſt ſein, der
Zweck ſein Gemüth bewegen; Handlungen aber wie die Verſtümmlung
des Oſiris durch Typhon, das Durchbohren des Stiers durch Mithras
geſchehen nicht oder nicht im Ernſte mit Gemüthsbewegung, da iſt das
Einzelne, das verſtümmelte Glied, der Dolch, die Wunde, das Blut
u. ſ. w. das Weſentliche, es iſt nur eine, durch kein innerlich lebendi-
ges Thun in beſeelten Fluß gebrachte Reihe von Symbolen, und ſo ver-
hält es ſich auch mit den religiöſen Ceremonien, die der Prieſter verrichtet
und die wir ohne Widerſpruch mit dem wahren Sinne des Symbols ſym-
boliſche Handlungen nennen.


Um dieſes Zurückſinkens in das Symbol willen kann man nun aller-
dings die Göttergeſtalten der orientaliſchen (nicht der griechiſchen) Reli-
gion noch ſymboliſch nennen, wenn man nur hinzuſetzt, daß ſie dieß
durch einen Widerſpruch ſind. Oſiris bedeutet die Sonne, den Nil
(den Ackerbau, die Staatengründung eigentlich nicht, darin iſt er wieder
mythiſch, denn das iſt ſittlicher Zweck), Ormuzd das Urlicht, die Sonne
u. ſ. w. Und ſo haben wir ſchon hier die Ineinanderſchachtelung von
Symbolen: der Gott bedeutet eine Naturerſcheinung, dieſe eine Naturkraft
und die Naturkraft überhaupt. Allein dieß Ineinanderſchieben verviel-
fältigt ſich auch abgeſehen davon durch die Vielfältigkeit der rein ſymbo-
liſchen Bilder, die, um verſchiedener Vergleichungspunkte willen, daſſelbe
Naturobject bedeuten, während dieſes wieder die Naturkraft und die Na-
tur überhaupt bedeutet.


§. 428.

Neben der Götterſymbolik ergreift die orientaliſche Phantaſie allerdings1
zunächſt unbefangen auch die urſprüngliche Stoffwelt und hier erweitert ſie ſich
in mehr zuſammenhängender Weiſe zu der Richtung auf die menſchliche Schön-
heit, insbeſondere in der Sage, welche die gegebenen Anfänge der Geſchichte
idealiſirt, während der Mythus eine beſtehende Ordnung dadurch zu erklären
ſucht, daß er die Idee derſelben als Geſchichte in die Urzeit wirſt. Allein
2
jeder Zuſammenhang dieſer Richtung der Phantaſie wird dadurch wieder zerbro-
chen, daß theils die Einmiſchung des ſymboliſchen Halbmythus die Naturgeſetze
jener urſprünglichen Stoffwelt durcheinanderwirft, theils die Sage für ſich ſchon
durch unvermittelten Ruck ihres Stoffs in die Idee daſſelbe thut.


[424]

1. Man weiß, wie viele menſchlich ſchöne Darſtellungen ſich im Orient
neben den ſymboliſchen finden; wir dürfen nur an die Bilder der Gewerbe,
des Cultus, des Kriegs in den ägyptiſchen Hypogäen, in indiſchen, perſi-
ſchen, babyloniſchen Tempeln und Palläſten, an die Sakontala, an die Helden-
gedichte erinnern, die keinem Volke des Orients fehlten. Der urſprüngliche
Stoff wurde theils direct, theils in der Weiſe der Sage in das Schöne
erhoben. Hier findet der Unterſchied von Mythus und Sage, wie ihn
George (Mythus und Sage) ſcharfſinnig entwickelt hat, nachdem wir den
Ausdruck Sagenbildung zu §. 419 allgemeiner gebraucht haben, ihren
Ort. Dieſer allgemeinere Gebrauch war erlaubt, weil der Mythus wie
die eigentliche Sage ein Gewächſe der von Mund zu Mund gehenden
Ueberlieferung iſt; nun aber ſind die Begriffe genauer auseinanderzuhal-
ten. Der §. nimmt zur allgemeinen Begriffsbeſtimmung des Mythus,
als Bildung einer geſchichtlichen Thatſache aus der Idee heraus, wie ſie
George gegeben, ſogleich die weitere herauf, daß der Mythus „auf die
Uranfänge der Erſcheinungen zurückgehen will, von denen der jetzige Zu-
ſtand herkommt“, daß er daher mit dem wunderbaren Bilde, das er ohne
Rückſicht auf die Geſammtwelt der Erſcheinungen aus ſeiner vereinzelten
Idee herausſpinnt, den leeren Raum der dunkeln Urzeit bevölkert, die
dem Heroenalter eines Volks vorhergeht. Hier haben wir nur noch einen
naheliegenden Einwurf gegen unſere ganze Grundlegung der Phantaſie-
thätigkeit zu berückſichtigen. Der Mythus geht von der Idee aus, wir
aber forderten ſchlechtweg für die Phantaſie überall ein Ausgehen von der
Erſcheinung, und ſo könnte man nun ſagen, da der Mythus dieſer Be-
ſtimmung gemäß von der Idee ausgeht, warum die Phantaſie überhaupt,
alſo auch die freie, nicht denſelben Weg ſollte einſchlagen können? Allein
man bemerke wohl: gegeben iſt auch dem Mythus ſein Ausgangspunkt,
die vorliegende Naturordnung, die vorliegende Ordnung des Staats und
aller menſchlichen Thätigkeit, Ackerbau, Geſetz u. ſ. f, oder der Gottes-
dienſt, ſeine ſymboliſchen Handlungen. Das iſt ſein Stoff (Süjet),
das ſucht er aus einer göttlichen Handlung, Einſetzung in der Urzeit zu
erklären und zu begründen. Auch die freie, nicht mythiſche Phantaſie
verfährt oft in dieſer Weiſe der Erläuterung; ein intereſſantes Beiſpiel
davon, die Entſtehung von Kleiſts zerbrochenem Kruge, gaben wir zu
§. 393, im Kleinen entſteht noch täglich Mythenartiges auf dieſem Wege,
wie wenn Einer eine rothe Naſe hat, leicht der Mythus ſich bildet,
daß er trinke. Nur hält die freie Phantaſie ihre erläuternde Erfindung
nicht für Geſchichte, wie der Mythus. Hier aber reden wir von dem
Gemeinſamen, daß der Mythus ſo wenig wie dieſe unmittelbar von der
Idee ausgeht und indem er ein Beſtehendes erläuternd, Geſchichte aus
der Idee ſpinnt, ſo nimmt er zudem wieder eine aus der Erfahrung
[425] in die Einbildungskraft geſammelte Bildermaſſe menſchlicher Schönheit
zu Hilfe. Hiezu nehme man, daß auch er ſich der Idee als ſolcher kei-
neswegs bewußt, daß ſie nur ein treibender Inſtinkt in ſeiner Erfindung
iſt. Die Unterſcheidung eines philoſophiſchen und hiſtoriſchen Mythus
müſſen wir ſchon deßwegen verwerfen. Sie hat nur ſoweit Grund, als es
neben Mythen, welche ein Beſtehendes in dieſer Weiſe erläutern und ſo
mit Einem Sprunge in die Urzeit zurückgehen, daher ſehr erkennbar die
Idee an der Stirne tragen, wie namentlich die theogoniſchen Mythen
(O. Müller a. a. O. S. 71), auch ſolche gibt, welche nicht unmittelbar
Beſtehendes erläutern, ſondern von Beſtehendem, wie z. B. den jetzigen
Sitzen der Volksſtämme, zuerſt auf geſchichtliche Thatſachen, namentlich
die Anfänge der Bevölkerung, Einwanderungen der Stämme, Heldentha-
ten der Urzeit zurückgehen und dann dieſe Thatſachen erſt auf göttliche
Handlungen zurückführen: ſo z. B. der Raub der Helena, die Abfahrt
von Aulis, die Peſt im Lager vor Troja. Allein was der Mythus zum
Behuf dieſer Zurückführung erzählt, iſt ja auch hier immer erdichtet und
hiſtoriſch nur dieſer Rückgriff auf Thatſachen, der in die Mitte geſchoben
wird. Man wird aber immer bemerken, daß dann die hiſtoriſche That-
ſache ſchon vorher auf einem andern Wege von der Phantaſie ergriffen
war, in der Weiſe der Heldenſage nämlich, und daß alſo der ſogenannte
hiſtoriſche Mythus nichts iſt als „Mythus an der Sage“ (George a. a.
O. S. 102): dieſe hat das geſchichtlich Gegebene ergriffen und der My-
thus, der Beſtehendes durch reine Erfindung einer Geſchichte erläutert,
faßt einen ihrer Punkte wie eine beſtehende Gegenwart oder wie eine
Thatſache, die einſt beſtand, die er erklären müſſe, auf, alſo z. B. jene
Peſt. Die Sage nun geht einfach von den großen Thatſachen der Zeit
aus, da es noch keine kritiſche Geſchichte gibt, alſo der heroiſchen Vorzeit.
Es ſind dieſe Thatſachen, die ſie weiter erzählt, aber je länger je mehr
umbildet. Man wird nicht mit George annehmen müſſen, daß dieſe Um-
bildung in einem ſteigenden Mißverſtändniß der Idee und daraus fol-
gender Veränderung der anfangs richtig aufgefaßten Thatſache beſtehe;
es genügt, auch hier die Vereinzelung der Idee, die Trennung vom
Umfang der Ideen und der Erſcheinungen, alſo von der ſtrengen Be-
dingtheit alles Geſchehenden als Grund der Umbildung in das Unmög-
liche anzunehmen. Das Verdienſt der großen Führer der Völker, der
Helden, Stifter von Staaten, Religionen faßt die Sage fortwährend rich-
tig, aber ſie vergißt, daß dieß Verdienſt nur in den Bedingungen der
Natur und aller Geſchichte handeln konnte, iſolirt es, nimmt für voll
auf einmal, was nur durch lange Entwickelung und vereinigtes Verdienſt
Vieler möglich war, und erweitert ihre Geſtalten über alle Schranken der
menſchlichen Dürftigkeit hinaus. Sie bleibt bei ihrem Typus, ſie hängt
[426] alles Verwandte an ihn. So fließen in Fauſt alle Zauberer, in Eulen-
ſpiegel alle Schwänkemacher des Mittelalters zuſammen, ſo hängen ſich
an Odyſſeus die Schiffermährchen der Griechen u. ſ. w. Ja ſie verän-
dert wohl raſcher die Schickſale, als den Typus; ſo muß Dieterich von
Bern, damit ſich die Sage das Bild des geprüften, beſonnenen Helden
bewahre, ein unglücklicher Verbannter werden. An die Sage hängt ſich
dann überall da der Mythus, wo eine Grenze der Selbſterkenntniß oder
der Naturkenntniß auszufüllen iſt: ſo die Selbſtbezwingung des Achilles
im Streit mit Agamemnon, ſo die Peſt im griechiſchen Lager.


2. Die Sage hat alſo wirkliche Menſchen zum Stoffe, ſteigert ſie
aber bereits in die Tranſcendenz der zweiten, fictionären Stoffwelt, der
Mythus hängt ſich an ſie und vollendet dieſe Steigerung. Ebenſo greift
aber der Mythus in Alles und Jedes ein, was die unfreie Phantaſie
irgendwie aus der urſprünglichen Stoffwelt aufnimmt, und ſo haben wir
eben die Durchlöcherung der ganzen Wirklichkeit, von der wir ſchon mehr-
mals geſprochen. Man ſehe die Sokontala an; ſie beginnt rein menſch-
lich, führt dann ein übernatürliches Motiv der Kataſtrophe, Verluſt des
Gedächtnißes durch Verlorengehen eines Rings undramatiſch ein, führt
Held und Heldinn in die Lüfte und ſtößt allen Boden der Wirklichkeit
unter den Füßen weg. Es iſt unter 1. geſagt, daß der urſprüngliche
Stoff theils direct, theils in der Weiſe der Sage ergriffen werde; allein
des direct Ergriffenen bleibt unter den Einmiſchungen mythiſcher und ſagen-
hafter Phantaſie wenig oder nichts übrig, das wenige wunderlos Menſch-
liche und Natürliche verliert ſich in dem allgemeinen Zuge zum Wunder-
baren.


§. 429.

Dualiſtiſch iſt aber die Phantaſie des Morgenlands nicht nur in ihrer
ſymboliſchen Methode, ſondern auch in der Art des Stoffes, den ſie erdichtet.
Dieſer Dualiſmus ſpricht ſich als herrſchendes Geſetz der zweiten Stoffwelt
theils dadurch aus, daß neben den leeren Abgrund einer vorgeſtellten höchſten
Einheit ein reicher Geſtaltenkreis von Göttern fällt, theils in der Gegenüber-
ſtellung männlicher und weiblicher Gottheiten, theils aber und beſonders in dem
Kampfe eines guten und böſen Gottes.


In Indien iſt Brahma (als Neutrum; in den älteren Weden
Atma genannt) das unterſchiedsloſe Urweſen, ihm gegenüber ſteht die
Trimurti und die üppige Fülle untergeordneter Götter und Geiſter. Das
Brahma hat die Maja, der Brahma die Saraswati, Wiſchnu die Lakſchmi,
Siwa die Parwaſi u. ſ. w. zum weiblichen Gegenbilde, das immer das
[427] empfangende Prinzip gegenüber dem zeugenden (Erde und Sonne u. ſ. w.)
darſtellt. Der eigentliche Dualiſmus tritt dann im verzehrenden Siwa
und den, das zerſtörte Band mit der überſinnlichen Welt herſtellenden
Awataren Wiſchnu’s auf. Das dunkle Urweſen iſt in Perſien Zeruane
Akerene gegenüber der concreten Götterwelt, weibliche Form ſpielt in dem
männlichen Geiſte dieſer Religion allerdings keine Rolle, aber der volle
Dualiſmus iſt in dem Kampfe des Ormuzd und Ariman um ſo ſtärker
ausgeſprochen. Den vorderaſiatiſchen Semiten fehlt nicht das eigen-
ſchaftsloſe Urweſen: ſo verehrten die Babylonier die Allmutter Omoroka;
in der perſönlichen Götterwelt herrſcht hier durchgängig der Gegenſatz
einer männlichen und weiblichen Hauptgottheit, Sonne und Mond, Him-
mel und Erde (Baal und Mylitta der Babylonier u. ſ. w.); der eigent-
liche Dualiſmus aber als Kampf eines guten und böſen Gottes tritt bei
Syrern und Phöniziern ebenſo auf wie bei Aegyptiern: dort iſt es Ado-
nis und Typhon, hier Oſiris und Typhon. Das dunkle Urweſen iſt bei
den Letzteren unter der Form des Ammon, Ptah, vorzüglich aber der
Neith mit der geheimnißvollen Inſchrift ihres Tempels zu Sais zu er-
kennen und den Gegenſatz einer weiblichen und männlichen Hauptgottheit
(Iſis und Oſiris) theilen ſie ebenfalls mit den Semiten. Die Juden ſelbſt
haben ſich keineswegs vom Dualiſmus befreit; Satan iſt Ariman, Typhon.


Dieß Prinzip gegenüberſtellender Theilung entſpricht ganz der verſtei-
nerten Scheidung der Stände und Thätigkeiten in den orientaliſchen Staaten,
deren harte Nothwendigkeit ſelbſt wieder in der Vermengung des Gött-
lichen und Weltlichen ihren Grund hat. Der Deſpot iſt unbegriffene
Macht wie die dunkle Urgottheit, aber ebenſoſehr erkennt man in ihm
den oberſten perſönlichen Gott mit ſeinen Geiſtern und Heerſchaaren. In
Indien ſtehen über den Königen die Bramanen, ſie ſtammen aus dem
Munde Brama’s, die Krieger und Könige ſind aus den Armen, die Ge-
werb- und Ackerbautreibenden aus der Hüfte, die Dienenden aus dem Fuße
entſprungen. Man ſieht ſogleich, wie ſolche theilende Symbolik dem In-
tereſſe des Schönen, das wir nun wieder aufnehmen, im Innerſten
widerſtreitet.


§. 430.

Dieſe Gegenſätze ſind aber nicht zugleich äſthetiſche, denn die unreife1
Phantaſie iſt überhaupt noch vom Intereſſe des Symbols gebunden. Von den
in §. 404 aufgeſtellten Arten nun muß ihr vorzüglich die bildende und in
dieſer die meſſende zufallen, von den in §. 402 aufgeführten die erhabene.
Allein der Dualiſmus als Symbolik beſtimmt dieſe meſſende Erhabenheit zu dem
2
Drange, die fehlende Qualität durch Quantität zu erſetzen, und treibt ſie in
das Formloſe und Ungeheure, in das überladen Prachtvolle, insbeſondere, wo

Viſchers’s Aeſthetik. 2. Band. 28
[428]ſie in das Gebiet der dichtenden tritt, in Häufung der Vergleichungen-
der
Dualiſmus im Sinne von §. 429 wirſt ſie aus allem Maaß hinaus in das
Weite einer ſchweifenden, verſchwimmenden Geſtaltenbildung. Aus beiden Gründen
iſt ihre Welt ebenſo ungemeſſen, als gemeſſen, und artet vom zufällig gefundenen
Schönen traumartig (§. 406) in’s Häßliche und Abgeſchmachte aus. In
3allen ihren Formen aber bleibt ſie dunkel. Zugleich hindert die Unfreiheit
den Fortſchritt und feſſelt die unreife Geſtalt durch die Satzung als Typus.


1. Wären wir in einem rein äſthetiſchen Gebiete, ſo hätten wir die
Gegenſätze des genannten Dualiſmus ſogleich auf äſthetiſche Formen redu-
ziren müſſen. Bei dem dunkeln Urweſen hätte die Frage nach dem Tra-
giſchen zur Sprache kommen müſſen, die Gegenſätze in der Götterwelt
hätten auf männliche oder weibliche Idealbildung, gut und bös auf ſchön
und häßlich geführt. Allein was immer der Inhalt ſei, die Behandlung
bleibt ſymboliſch und da kann das Gute ebenſo häßlich erſcheinen, als das
Böſe. Das Geſtaltenbilden iſt zwar dieſer Phantaſie ein ganzer Ernſt,
ſie hat die Wahrheit nicht auf andere Weiſe; aber es iſt ihr damit auch
zu ſehr Ernſt, ſie hat dabei das Intereſſe, die Wahrheit zu finden, da-
her iſt ihr das Schöne nicht Zweck. Wir ziehen jetzt das Reſultat dieſer
Stufe der Phantaſie für den rein äſthetiſchen Geſichtspunkt, indem wir
dieſelbe, nachdem wir ſie zuerſt an die in §. 403 aufgeſtellten Arten ge-
halten haben, nun auch an die übrigen halten. Daß ſie überhaupt bil-
dend iſt, braucht keines neuen Beweiſes. Der ſinnliche Menſch iſt weſent-
lich auf das Auge geſtellt und die ganze Naturreligion iſt ein Augen-
Aufſchlagen über die großen Naturwunder. Nur an der Grenzſcheide
wird ſich uns ein ſubjectiver Eingang in’s Innere und daher die Geſtalt
der empfindenden Phantaſie aufthun. Allein nicht auf das taſtende Sehen
wird dieſe Weltanſchauung organiſirt ſein: dieſes iſt ſchon voll Formſinns
und zwar vorzüglich für die menſchliche Geſtalt, welche ja nur ſehr kärg-
lich von der orientaliſchen Phantaſie unter die Sphären ihres Stoffs ge-
zogen wird; noch weniger auf jenes eigentliche Sehen, das im Licht- und
Farbenſchein der Oberfläche den Reflex des Innern erfaßt. Nur das
meſſende Sehen bleibt alſo übrig. Nicht organiſche Verhältniſſe, ſondern
Größen-Verhältniſſe ſind es, was die ſymboliſche Phantaſie erfaßt und
fortbildet. Der Umfang imponirt dem Naturmenſchen, das Weite, Breite,
Hohe in der Wirkung der Naturkräfte. Nun muß aber ſeine Phantaſie
auch thätig ſein und dieſe Thätigkeit iſt im Schaffen immer zugleich be-
grenzend. Der ſymboliſche Standpunkt zwängt aber in das Bild eine
ihm fremde Idee; dieſe kann jenes nicht organiſch beſeelend durchdringen,
ſie kann ihm nur abſtracte Grenzen geben und es ſo binden, wie die
tropiſche Pflanzenwelt (§. 278) nach der einen Seite kryſtalliſch ſtreng
[429] gebunden erſcheint. In der Kunſtlehre dürfen wir nur die Schlußfolge-
rung daraus pflücken, ſo wird einleuchten, daß die eigentliche Kunſt der
orientaliſchen Völker die Baukunſt war. Die dichtende Phantaſie nun muß,
weil ſie alle andern Arten (§. 404) in ſich begreift, natürlich auf allen
Stufen hervortreten; das Verhältniß wird aber dieß ſein, daß je die
Art, welche den Standpunkt einer Stufe beſtimmt, in der dichtenden,
ſoweit ſich dieſelbe in ſie erſtreckt, den ſpezifiſchen Charakter bedingt. Es
verſteht ſich ferner, daß, an die Arten von §. 402 gehalten, die ſymboliſche
Phantaſie weſentlich eine erhabene ſein muß, denn das Bild iſt in ihr
als negativ gegen die Idee geſetzt (vergl. Hegel Aeſth. Th. 1. S. 392).
Freilich wird die Idee ſelbſt wieder als ſinnliche Ausdehnung gefaßt, dieſe
Phantaſie als meſſende bildet daher zunächſt im Sinne des Erhabenen
des Raums und der Zeit (§. 91 — 94), zwar auch des Erhabenen der
Kraft, doch ſo, daß ſie dieſes unter die Verhältniſſe des erſteren ſtellt,
indem ſie es in coloſſale Raum- und Zahlen-Maaße ſetzt. Auch ſo weit
ſie auf das Erhabene des Subjects ſich einläßt, woraus Göttergeſtalt und
Heroenſage entſteht, muß ſie, weil ihr die ſittliche oder überhaupt
geiſtige Größe immer wieder Naturmacht iſt, es unter denſelben Verhält-
niſſen anſchauen: der Gott, König, Held iſt immer von übermenſchlicher
Größe u. ſ. w. Das Tragiſche muß in dieſer Phantaſie eine große Rolle
ſpielen. Da auch die perſönlichen Götter nur flüchtige Schattenbilder
vereinzelter Momente der Idee ſind, ſo haben ſie, was Götter eigentlich
nicht haben ſollten, ein Schickſal, das dunkle Urweſen iſt ihr Deſpot
(Götterdämmerung und die verwandten Vorſtellungen des Orients). Sie
kämpfen tragiſch unter ſich. Die Menſchenwelt aber, ſoweit ſie aufge-
nommen wird, hat ebenſo ihr finſteres Schickſal nicht nur in ihrer eige-
nen Sphäre, durch die Deſpotie, ſondern auch durch die göttlichen Mächte;
ſie ſchlagen ſinnlos ein, wie in Nal und Damajanti. Da nun aber auch
dieſe Macht nur dürftig mit den Keimen der ſittlichen Idee ſchwanger,
vielmehr dunkler Naturſchooß iſt, bleibt es im Tragiſchen überall bei der
Form, die wir (§. 130) das Tragiſche als Geſetz des Univerſums nann-
ten. Aber dieſe Form iſt hier ſelbſt nicht rein; ein blindes Geſetz darf
herrſchend erſcheinen über das Blinde im Menſchen, ſeine Jugend, ſein
Leben, ſein Glück, ſeine Schönheit, aber nicht über Geiſt und Willen in
ihm, die doch im Orient irgendwie immer thätig erſcheinen, aber vom
finſtern Schickſal grundlos miterdrückt werden. Hier iſt nur noch die
Frage zu beantworten, ob eine ſo dualiſtiſche Phantaſie nicht weſentlich
auch des Komiſchen mächtig ſein werde; allein es erhellt alsbald, daß
dazu eine Freiheit des Bewußtſeins und daraus fließende wirkliche Ergrei-
fung ſowohl als Verſöhnung des Widerſpruchs vorausgeſetzt iſt, die dieſer
Weltanſchauung noch durchaus mangelt. Es tritt zwar hie und da her-

28*
[430]vor; ſo enthält die Sakontala einige kurze Scenen faſt in Shakespeares komi-
ſcher Manier, Duſchmanta hat ſogar einen Hofnarren; aber dieſes Ele-
ment hat nur einen ſchmalen Spielraum da, wo die Götterwelt einen
Augenblick vergeſſen wird. Die maaßloſe Sinnlichkeit des Gottesdienſts
mag wohl auch ihre ungeheuern Obſcönitäten mitunter komiſch gewendet
haben, doch erſt da ſie ſchon aufhörten heilig zu ſein, wie denn die Zoten
algieriſcher Theaterpoſſen noch heute an den Lingamdienſt erinnern. Ferner
trat das Komiſche in der Fabel hervor, dieſe gehört aber ihrem Begriff
nach ebenfalls an das Ende dieſes Ideals und wir können die ganze Form
der Phantaſie, wozu ſie gehört, erſt am Schluße der Phantaſie des Alter-
thums überhaupt einführen.


2. Es iſt falſch, wenn Hegel das Erhabene erſt mit der ſymboliſchen
Kunſtform (theils überhaupt, theils insbeſondere mit der moſaiſchen Re-
ligion) einführt. Jede geſchichtliche Hauptſtufe der Phantaſie hat ihre
[Erhabenheit]; die orientaliſche unterſcheidet ſich allerdings dadurch, daß ſie das
Erhabene zu ihrem Hauptſtandpunkte macht, allein es iſt nicht das Erha-
bene überhaupt, ſondern es iſt ein unreif Erhabenes, wie alle ihre Formen.
Sie ſetzt das Bild negativ gegen die Idee, aber nur in der Weiſe des
Symbols. Die Idee iſt nicht als Geiſt gefaßt, daher nicht als Perſön-
lichkeit, daher hat ſie nicht ihren menſchlichen Leib, den ſie immanent einwoh-
nend auf ächt erhabene Weiſe beherrſchen könnte. Wohl tritt menſchliche Ge-
ſtalt auf, aber ſie ſinkt ja wieder in’s Symboliſche, ebenſo Thier- und Pflan-
zengeſtalt. Da nun dieſe Leiber und ſo alle Gebilde hier nicht ſich ſelbſt
bedeuten, ſo treibt die Phantaſie, was Hegel nicht bloß als Zug der indi-
ſchen (a. a. O. S. 436) hätte anführen ſollen, ihr Bild in’s Maaßloſe
auf, wie z. B. das Zeugungsglied, das Weltei, häuft Zahlen, Glieder
in’s Ungeheure. Das Aeußerſte dieſer Auftreibungen erſchien noch ſpät im
Talmud. Als Häufung koſtbaren Schmucks wirkt dieſe Maaßloſigkeit
im Sinne des Prachtvollen (vergl. §. 98) und eine beſondere Wen-
dung nimmt dieß in der dichtenden Form. Die Grundlage wird auch
hier, wie geſagt, immer der Standpunkt der bildenden Phantaſie ſein,
das Geiſtige ſelbſt wird in der Form bauender Naturkräfte erſcheinen.
Hier beſonders aber wird der Weg des Prächtigen eingeſchlagen werden,
das Unzulängliche des Symbols auszufüllen, und zwar durch die Verglei-
chung (vergl. §. 405). Das Subject, das verglichen wird, iſt ſymboliſch
dunkel; um das Dunkel aufzuhellen wird nun Bild um Bild herbeige-
bracht und prachtvoll gehäuft. Noch heute iſt Ueberfluß der Vergleichungen
in der Dichtung ein Beweis unzulänglicher Phantaſie, welche eine fehlende
Qualität durch Quantität zu erſetzen ſucht.


3. So wirkt der Dualismus als Symbolik; dazu kommt aber noch
der Dualismus in der erdichteten Stoffwelt. Das Urweſen iſt leer, die
[431] perſönliche Götterwelt übervoll. Es iſt, wenn einmal die Natur vergöttert
wird, keine Grenze abzuſehen; zwar hält ſich (vergl. §. 425 Anm. 1)
der Polytheiſmus an die bedeutendſten Erſcheinungen als Grundlagen,
aber neben dieſen beſteht die ganze übrige Welt. Wie ſoll ſich die nicht
vergötterte Welt zu dem vergötterten Theile verhalten? Jede andere Er-
ſcheinung kann wieder als Symbol der vergötterten Haupterſcheinungen
gefaßt werden. Das Symbol wird nicht als bloßes Symbol gewußt,
das Lauern der Bedeutung hinter den Erſcheinungen iſt geiſterhaft: ſo
ſchimmert Alles in Alles, nichts iſt feſt und wie im Traum die Geſtalten
ſchwellend quellen und gaukeln, verwandelt ſich die Welt in ein wirres
Gaukelſpiel. Der §. nennt daher, und weil ſchon in jenem Auftreiben
und prachtvollen Häufen das Maaßloſe liegt, die Welt dieſer Phantaſie
ebenſo ungemeſſen, als gemeſſen. Dieß will ſagen, theils, daß Einiges
gemeſſen, Anderes ungemeſſen, theils aber auch, daß das Gemeſſene
ſelbſt ungemeſſen ſei. Drückt nämlich dieſe Phantaſie ihre ſymboliſchen
Ahnungen im eigentlichen Meſſen (in der Baukunſt) aus, ſo muß ſie
wohl auch das Ausgedehnteſte noch meſſen, ein Abſchluß muß alſo da
ſein, aber häufig wird es an regelmäßiger Anlage, wie namentlich in
den indiſchen Höhlentempeln, an einem äſthetiſch befriedigenden Abſchluß
fehlen, was insbeſondere der ägyptiſche Tempelbau zeigen wird, oder
wird zwar das Ganze wohl abgeſchloſſen, aber in ſich zu wenig gegliedert
ſein (wie die Pyramiden und And.). Ferner in organiſchen Bildungen
wird zwar auch das Maaßloſe gemeſſen ſein: ſo ſind die Köpfe, Arme
der irdiſchen Götter freilich gezählt, werden Maaße des Welteis u. ſ. w.
anzugeben verſucht; aber der gemeſſene Stoff iſt doch ſo übertrieben, daß
die wahre Form des Gegenſtands aufgehoben und das Maaß nur äußere
Grenze des in ſich verworren Maaßloſen iſt. So iſt auch in einem
Menſchenleib mit Thierkopf jedes wahre, von innen gegebene Maaß auf-
gehoben. Neben dieſem äußern Meſſen des innerlich Maaßloſen gährt nun
aber eine unendliche Maſſe von Bildern auf, die gar kein Maaß mehr
haben und wild ineinander übergehen. In dieſer Ueppigkeit glaubt man
dann die andere Seite der Pflanzenwelt heißer Zonen, die bunte, wuchernde
Pracht zu erkennen. Eine ſolche Phantaſie aber muß nothwendig in das
Häßliche und Abgeſchmackte haltlos übergehen. Dieß Häßliche iſt dann
nicht etwa eine äſthetiſch beabſichtigte und ebendaher ſich in’s Furchtbare
oder Komiſche rein auflöſende Häßlichkeit. Nicht bloß die böſen Götter,
Siwa, Ariman, Typhon werden häßlich dargeſtellt, ſondern häßlich werden
auch die Darſtellungen des Guten und Heilſamen durch die Incongruenz
des Bildes. So iſt der Phallus ein Bild der heilſamen Kraft, aber dieſe
Iſolirung eines ſinnlichen Organs empörend häßlich. Nun wurde wohl
in §. 108 Anm. 1 zugegeben, daß die wahre und ganze Häßlichkeit nur
[432] diejenige ſei, in welcher das Böſe ſich darſtelle, und in §. 406, [a]. die
ſchlechte Geſinnung als innerer Grund der häßlichen Phantaſie geſetzt;
die ſymboliſche Phantaſie aber iſt ja unſchuldig, da ein ſolches Bild auf eine
ehrwürdige Idee hindeuten ſoll. Allein eine Zuchtloſigkeit kommt hier doch
zum Vorſchein und der ſcheußliche Gottesdienſt, der dazu gehörte und den
wir namentlich bei Syrern und Phöniziern finden, erſcheint allerdings als
Verwilderung des Menſchen, weil wir auch der Menſchheit vor der Bil-
dung ein Gefühl und Ahnung des ſittlichen Maaßes, das ſich zum ſchönen ge-
ſtalten müßte, zutrauen dürfen; es gibt in gewiſſem Sinn doch eine Sünde
vor dem Sündenfall und ein wüſtes Wühlen im Schmutze, wo ſchon An-
ſätze der reineren Anſchauung ſind, die es Lügen ſtrafen. Auch eigentlich
wilde Völker bilden Larven und Fratzen, die eine Ausartung mitten in
der rohen Natur ſelbſt zu erkennen geben; die liebe Natur hat auch ihre
Laſter der Cultur. So bewährt ſich, was am Schluß der Anmerkung
zu §. 424 geſagt iſt. Aber auch das Häßliche, wo es hingehört, das Häß-
liche der böſen Götter, iſt nicht wahrhaft äſthetiſch häßlich; der zähne-
fletſchende Siwa mit dem Halsbande von Schädeln, der Drache Ariman
u. ſ. w. ſind geſpenſtiſch ſchauderhaft, ohne ſich, wie der chriſtliche Teufel,
komiſch oder durch eine Untiefe geiſtig böſen Ausdrucks in das wahrhaft
Furchtbare aufzulöſen; denn das Böſe ſelbſt iſt ja wieder nur die zer-
ſtörende Naturmacht und das Häßliche muß das Auge verletzen, um dieſe
Leerheit zuzudecken. — Daß in dieſer Welt Alles dunkel bleibt, folgt
von ſelbſt; dunkel nicht nur für die ſpäte Nachwelt, ſondern für die Mit-
welt und den hervorbringenden Geiſt ſelbſt. Das Schöne aber ſoll ſich
ſelbſt erklären.


Wir werden den Begriff des Typus in der Kunſtlehre wieder
aufnehmen müſſen, aber ſein innerer Grund liegt in der Feſſlung der
Phantaſie durch den unfreien Schein der Religion. Unreife Formen er-
ſcheinen gerade wegen ihres Dunkels ehrwürdig und heilig, da entſteht
eine Scheue, oder, wie in Aegypten, eigentliche Prieſterſatzung, welche die
Phantaſie auf dem Standpunkte einer bis zu einem gewiſſen Grade vor-
gedrungenen Entwicklung hemmt. Natürlich iſt es dann die Ausführung,
worin man den Fortſchritt nicht zuläßt, aber das Phantaſiebild ſelbſt, das
dieſer darſtellen wollte, gilt für frivol. Gebundenheit in allem Ueberſchwel-
len iſt der weitere Charakter dieſer Phantaſie.


§. 431.

1

Die indiſche Phantaſie legt das ſtärkſte Gewicht auf den dunkeln Ab-
grund der höchſten Einheit (§. 429) und indem die Bewegung aus ihm und
zu ihm das erſte Geſetz einer reich hervorſprudelnden Geſtaltenwelt iſt, ſo ver-
[433] ſchwimmt dieſe unſtet in allgemeiner Flüſſtgkeit. Hier vorzüglich erſcheint daher
im Uebergewicht des Ungemeſſenen über das Gemeſſene das Traumartige
als der Grundcharakter, in welchen alle Züge, auch der des ſeelenvollen Natur-
gefühls und ſchwungvolleren Formſinns, in kraftloſe Weichheit aufgelöst zuſam-
mengehen. Dagegen kommt die perſiſche Phantaſie kaum in Betracht; der
2
Dualiſmus, der ihr Grundzug iſt und von noch nicht ſymboliſcher Anſchauung
der Lichtwelt durch ſparſame Symbole zu einer einfachen Mythenbildung fort-
ſchreitet, verkündigt das zum Handeln beſtimmte Volk, deſſen Formſinn aller-
dings mehr zur urſprünglichen Stoffwelt ſich neigt und dem Schwunge ſtrengerer
Schönheit nahe kommt.


1. Wir haben alſo wieder jene Völkerpaare vor uns, von denen
je das eine Volk mehr Subject, das andere mehr Object der Phantaſie
iſt, das eine mehr Schönheit, das andere mehr Stoff für Schönheit er-
zeugt, das eine contemplativ, das andere praktiſch iſt. So verhält es ſich
in der folgenden Gruppe mit den Aegyptiern gegenüber den Semiten,
von welchen letzteren jedoch die Juden in anderer Beziehung ſich unterſchei-
den und wenigſtens negativ, als die Grenzſcheide der Naturreligion bildend,
für die ſubjective Seite bedeutender werden. Am wichtigſten bleiben die
Indier und Aegyptier; ſie verhalten ſich zu einander wie erſtes, urſprüng-
liches Hervorquellen der ſymboliſchen Phantaſie in üppigem Erguße und
beſonnene Siſtirung dieſes Fluſſes. Hegel hat die indiſche Religion über-
haupt von dieſer Seite gefaßt, hat ihren äſthetiſchen Charakter zum
Definitionsgrunde ihres Weſens überhaupt erhoben und ſie als Religion
der Phantaſie, ihren Standpunkt als den der phantaſtiſchen Symbolik
beſtimmt. Wir ſtellen dieſer Beſtimmung eine andere, neuerdings hervor-
getretene gegenüber. E. Meier (die urſprüngliche Form des Dekalogs
S. 89 ff.) will vielmehr das innerſte Prinzip des ſo geſtaltenden Bewußt-
ſeins zu dem den Ort dieſer Religion beſtimmenden Grund erhoben wiſſen
und dieſes faßt er (gegenüber der chineſiſchen Religion) als Erhebung des
Geiſtes aus dem Taumel des Naturlebens, in das er einerſeits verſenkt
iſt, in die reine Einheit des Univerſums (des Brahma). Dieſe Einheit,
unterſchiedslos und dunkel, kann nicht Object ſein, nicht verehrt werden,
die Erhebung dahin iſt brütende Abſtraction von allem Sinnlichen, Ver-
ſenkung in ſich, bewußtlos, dumpf, weil das Abſolute nicht als Geiſt
gefaßt, ſondern ſelbſt nur dunkler Naturſchooß, trüb aſcetiſch, weil das
Wirkliche ſeine Negation iſt. Die Verſenkung in das Mannigfaltige, der Tau-
mel der Sinnlichkeit iſt der andere Pol und das Band zwiſchen beiden iſt
für den Menſchen von unten nach oben die Seelenwanderung, für die Welt
überhaupt von oben, von Gott aus nach unten die Awataren, die ihren höch-
ſten Abſchluß in der Geburt Wiſchnu’s als Buddha, als Menſch, der durch
[434] reine Contemplation identiſch mit Brahma iſt, finden. Um dieſes Zwie-
ſpalts willen nennt er die indiſche Religion die des radicalen Böſen. Für
unſern äſthetiſchen Zuſammenhang iſt jedenfalls das bildende Verfahren
in dieſer Religion zu wichtig, als daß wir nur vom Endzwecke des Be-
wußtſeins, das dieſem Verfahren zu Grunde liegt, ausgehen dürften;
in der That aber laſſen ſich beide Beſtimmungen, wie im §. geſchehen,
zuſammenfaſſen. Der Grund nämlich, warum die bunte Götterwelt, die
ſich aus dem dunkeln Urweſen durch Anſammlung von Local- und Sec-
tenculten von der Trimurti durch die Götter zweiten Rangs bis zu der
Maſſe untergeordneter guter und böſer Geiſter herab fortſpann, durch-
gängig den traumartig gaukelnden Charakter hat, worin Alles ſchwimmt,
ſchwillt, ineinander übergeht, Jedes jeden Augenblick in das Göttliche
aufgähren und dieſes in jeden noch ſo ſinnlichen Zuſammenhang wie mit
gleichen Füßen hereinſpringen kann: der Grund davon iſt eben im ethi-
ſchen Bewußtſein der ſtete Ausgang von und Rückgang zu der dunkeln
Einheit in Brahma; die Feſthaltung des geſtaltloſen Grundes iſt es, die
alles Geſtaltete in ſtetem Fluß erhält; ſie iſt die dunkle Grotte, worin
der Geiſt in Traum ſinkt und ſeine trunkenen Geſtalten in geiſterhaftem
Wechſel, ſteter Metamorphoſe an ſich vorüberſchweben läßt. Der bewegungs-
los ſinnende Brahma, der brütende Buddha und der wilde, tanzende Siwa
ſind recht die Repräſentanten beider Pole dieſes zwieſpältigen Geiſtes,
der jedoch ſeine Gegenſätze nicht trennt, ſondern fließend erhält, daher die
Bezeichnung: radicales Böſes jedenfalls zu viel ſagt. Wir halten uns nun
nicht weiter bei dem auf, was dieſe Phantaſie mit aller orientaliſchen ge-
mein hat, nicht bei den unorganiſchen, botaniſchen, thieriſchen Symbolen,
ihrer krauſen Zuſammenſetzung mit der Menſchengeſtalt, ihrer coloſſalen
Größe. Was aber mit jenem ſchwebenden Charakter ganz ſtimmt, iſt die
auffallende Weichheit des indiſchen Formgefühls. Wir reden hier nicht
von der Süßigkeit und Anmuth rein menſchlicher Züge, nicht von dem
ſeelenvollen Naturſinn, der ſich nothwendig in der eigenen Darſtellung
ebenſo zeigen wird, wie im Leben dieſes Volkes ſelbſt (vergl. §. 346, 1.),
ſondern näher von der ſpeziellen Auffaſſung der Geſtalt. Der indiſche
Formſinn erreicht im Einzelnen einen Schwung, der an der Schwelle des
Schönen ſteht, beſonders in den breithüftigen Weibergeſtalten; für das
Weibliche iſt überhaupt das feinſte Gefühl vorhanden, die heiße Sehn-
ſucht, der üppige und ſüße Wolluſt-Drang der Liebe iſt das eigentliche
Element dieſer keimvollen Religion, die uns von der Brautnacht der Seele
mit Gott in das irdiſche Brautbett und zurück in jene zieht. Doch auch
männliche Formen zeigen oft Fluß und Schwung, dem griechiſchen nahe,
auch in Bewegung und Thun, wie denn in Nala und Damajanti
die Wagenfahrt des Erſteren offenbar etwas vom Geiſte Homers hat.
[435] Allein das Straffe und Geſchwungene zerfließt überall mitten im Anſatz
wieder in breiige Weichheit und Schlaffheit und wie die Glieder der ein-
zelnen Geſtalt teigig und gelenklos in jede unmögliche Stellung ſich ver-
biegen, als könnten ſie auch weggeworfen werden, ſo bauſcht ſich auch
das Ganze der Erfindungen in tolle und freche Verwirrung auf, worin
namentlich die Symbolik des Zeugens die häßlichſten, die Trübheit der
Aſceſe mit dem Ueberſchwang der Zahl die abgeſchmackteſten Bilder er-
zeugt. Beiſpiele geben namentlich die Heldengedichte Ramayana und
Mahabharata.


2. Die Grundlage der perſiſchen Religion iſt allerdings einfache, noch
nicht ſymboliſche Anſchauung des Poſitiven und Guten im Lichte, des Ne-
gativen und Böſen in der Finſterniß; Ormuzd iſt das Fruchtende und
Lebenſchaffende im Lichte u. ſ. w. Allein es gibt keine Religion, welche
nicht auch den Anſatz zur Perſonbildung nimmt, und die perſiſche iſt ge-
rade darin beſonders ſtark, wie ſich aus dem ethiſch perſönlicheren Cha-
rakter des Volkes ſchon ſchließen läßt. Geiſter ſind es, welche im Lichte
und in der Finſterniß wohnen, dieſe Geiſter haben wieder ihre Geiſter,
die Amſchaſpand, Ferwer, Ized und Dew, ja jedes wirklich Lebendige
hat wieder ſeinen Dämon. Zwiſchen jene unmittelbare Anſchauung
und dieſe Perſonification iſt eine ſparſame, verglichen mit der indiſchen
Ueppigkeit und Zuchtloſigkeit keuſche Symbolwelt geſtellt, es ſind nament-
lich Thiere, natürliche und wunderbare, Stier, Pferd, Einhorn, Löwe,
Adler, Greif, worin die einzelnen Momente der Weltkräfte angeſchaut
werden. In der hellen Deutlichkeit dieſes Geſtirndienſtes nun ſpielt das
urſprüngliche dunkle Allweſen (Zeruane Akerene) nicht mehr die Rolle,
wie in Indien. Die concrete Welt leuchtet in ruhiger Pracht, in den
vollen Umriſſen des Lichts, in der ſcharfen Abſetzung gegen das Dunkel.
Eben dieſe Helle und Beſtimmtheit aber drückt auch die ausgebildete Phan-
taſiewelt der Perſonification in den Hintergrund, die Geiſter ſind eine
dünne, durchſichtige Geſtaltenbildung, die nach keiner vollen Verkörperung
ſtrebt; die Götter werden nicht abgebildet, nur die wenigen Symbole.
Spielt nun das dunkle Urweſen kaum eine Rolle, ſo tritt dagegen in
dieſer ſcharfen Anſchauung des Concreten, des wirklichen Lebens, das aus
ſeinem Schooße hervorgegangen, der offene Gegenſatz um ſo voller und als
das Beſtimmende hervor: die perſiſche Religion iſt vorzugsweiſe dualiſtiſch.
Schon darin, im Kampfe des Ormuzd und Ariman, drückt ſich die Span-
nung des Sollens, der Standpunkt des Willens aus. Dieſer Kampf iſt
aber weſentlich ein Kampf des Guten und Böſen. Zwar darf man kei-
neswegs die reine Idee des Ethiſchen darin ſuchen; Naturreligion iſt auch
die perſiſche, das Gute iſt Förderung des Lebens, des Seins, das Böſe
iſt das Schädliche, das Zerſtörende in der Natur. Der Menſch ſoll mit
[436] Ormuzd für jenes gegen dieſes, das Reich Arimans kämpfen. Allein
umgekehrt iſt dieß auch eine Grundlage, woran ſich das eigentlich Ethiſche,
ſoweit es in dieſer Naturform des Willens zum Bewußtſein kommen
kann, von ſelber anſetzt und baut. Die Völker umſpannen wie die
Sonne und ſegensreich beherrſchen iſt Ziel dieſes handelnden Volkes, das
ebendaher mehr objectiv Stoff für die Aeſthetik iſt, als daß es ſubjectiv
ſolchen ſchafft. Soweit es nun dennoch auch im letzteren Sinne thätig
iſt, wird es die Idealwelt ſeiner Phantaſie weſentlich durch das Medium
der objectiven Stoffwelt darſtellen: der König, ſein Hof, ſeine Siege,
ſein Wirken, die Ceremonien, worin ſich ſeine Größe repräſentirt, ſind
das rechte Bild für das Reich des Ormuzd, Städtebau in der Zahl ſeiner
Ringmauern u. ſ. w. Symbol des Planetenſyſtems. Eine reiche Helden-
ſage bildet ſich aus. Man ſieht, wie die geſunde Einfalt dieſes Volks
ſich zur urſprünglichen Stoffwelt hindrängt. Daher iſt ſein Formgefühl
gemeſſener, als das indiſche, ruhig, würdig, edel, repräſentativ und feier-
lich, Pracht und Majeſtät ſein Grundcharakter.


§. 432.

1

Aehnlich verhalten ſich die ſemitiſchen Völker Vorderaſtens (die Ju-
den ausgenommen) zu den Aegyptiern (vergl. §. 347). Jene ſind zu thätig,
um in der äſthetiſchen Formbildung bedeutend zu ſein; ihre kargen, übrigens
zugleich wild ausſchweifenden und melancholiſchen Religionsvorſtellungen arbeiten
2den ägyptiſchen vor. In der Phantaſie der Aegyptier legt ſich der indiſche
Taumel und im Ungemeſſenen herrſcht das Gemeſſene als beruhigendes Geſetz.
Der wahre Grund des Erhabenen, die Negativität des Sinnlichen, tritt als
die Vorſtellung eines ſterbenden Gottes, und zugleich die wahre Idee des
Sittlichen als Vorſtellung ſeines Todtengerichts ein, doch hat die letztere nicht
die Kraft, den Geiſt über die abſtracte Feſthaltung des Todes zu erheben
Dieſe Phantaſie wird daher weſentlich todtenhaft. Je näher nun der Auf-
gang der Perſönlichkeit und daher der menſchlichen Schönheit liegt, deſto ſtär-
ker äußert ſich die Stockung an dieſer Schwelle durch das Bedürfniß der Erfin-
dung, aber auch durch die bedachtſame Wahl ineinandergeſchobener, beſonders
im Thiere das Geheimniß des Geiſtes ſuchender Symbole, deren bunte und
doch ſtreng gefeſſelte Welt in räthſelhaftem Schweigen den Charakter
des Todtenhaften vollendet.


1. Wir ſtellen hier die ſemitiſchen Völker außer den Juden, Ba-
bylonier, Phönizier, Syrer voran, denn was an ihnen allein wichtig iſt,
das leitet zur ägyptiſchen Religion hinüber; übrigens verhalten ſie ſich
[437] zu den Aegyptiern wie die Perſer zu den Indiern: ſie ſind äſthetiſcher
Stoff und machen ſelbſt deſſen wenig. Wodurch ſie nun zu den Aegyp-
tiern hinüberführen, dieß iſt die Idee eines ſterbenden und wieder auf-
lebenden Gottes, in welchem zunächſt der Wechſel der Sonne, der Natur
überhaupt, dann aber auch gewiß eine Ahnung des durch die Negation
des Sinnlichen zu ſeiner Freiheit ſich bewegenden Menſchengeiſtes (vergl.
Stuhr, die Religionsſyſteme der heidn. Völker des Orients S. 444) aus-
geſprochen wurde: es war Adonis oder Tammuz, um den alljährlich die
wilde Klage, dann der helle Jubel erſcholl. Noch beſtimmter erkennt
man dieſe Sage in Melkarth, dem phöniziſchen Herkules und ſeinem
Flammentode. Spricht ſich ſo auf der Grundlage der Naturſymbolik das
erwachte Freiheitsgefühl dieſer praktiſchen und rührigen Stämme aus, ſo
warf ſich der gegenſätzliche orientaliſche Geiſt in ihnen auch mit dem gan-
zen verbiſſenen Eigenſinn ſemitiſchen Naturells in den Taumel des Na-
turlebens, wie um ſich das ganze Bewußtſein der Knechtſchaft in ſeinen
Banden und daher den ganzen Schmerz darüber in den Untiefen der
gründlichſten Wolluſt zu geben (vergl. E. Meier a. a. O. S. 101). Hier
war jener zuchtloſe Lingamdienſt, jene Preisgebung der Weiber zu Ehren
der Aſtarot, Mylitta, hier Sodomiterei und alle Greuel des Heidenthums.
Eine ſolche Stimmung mußte ſich in der bildenden Phantaſie die häß-
lichſte Geſtalt geben. In der eigentlich meſſenden Thätigkeit konnte ſie
erhaben und prachtvoll ſein wie bei allen Morgenländern; dagegen konnte
ſie in ihrem Uebertritt auf organiſche Schönheit nur Fratzen erzeugen.
Seltſam zuſammengeſetzte Wunderthiere, Baal oder Moloch mit Kalbskopf
und glühendem Rachen, der Fiſchmenſch Dagon, die Zwerggeſtalten der
Pätaken oder Kabiren, meiſt ithyphalliſch wie wohl überhaupt gewöhnlich die
Götterbilder dieſes Cultus, geben Zeugniß davon. Es tritt übrigens in
den Aſſyrern ein Volk auf, das, wiewohl ſtark mit Semiten verſetzt, doch
indogermaniſcher Abkunft war wie die Perſer. Dieſes Volk entfaltete
für die urſprüngliche Stoffwelt dieſelbe geſunde Phantaſie wie die letz-
tern; daß ſie hier eine den perſiſchen Darſtellungen verwandte Würde,
einen Anklang reinerer Schönheit erreichte, das zeigen die großen neuen
Entdeckungen in den Trümmern von Ninive.


2. Die ägyptiſche Phantaſie iſt die verſteinerte Traumwelt Indiens,
ein Haus voll ſchlafender, auf den weckenden Königsſohn wartender Ge-
ſtalten wie im Mährchen vom Dornsröschen. Die Schilderung des ägyp-
tiſchen Charakters, wie er durch die Natur des Landes bedingt iſt (§. 347),
macht begreiflich, da ſich eine ſinnende Gemeſſenheit auch in die Phan-
taſie fortſetzen und zwar die Erzeugung unendlicher Symbole und Halb-
mythen keineswegs verhindern, wohl aber Ruhe, Siſtirung des wirren
Geſtaltenwechſels und größere Tiefe in ſie einführen mußte. Fangen wir
[438] mit der Tiefe an, ſo dürfen wir die Bedeutung des Mythus von Oſiris,
Typhon und Iſis, wie ſie Hegel als Mittelpunkt dieſer Religion aufge-
faßt, als anerkannt vorausſetzen. Der ſterbende Gott iſt nun freilich der
ſinkende Nil, die fliehende Sonne, aber Oſiris iſt auch der Gründer der
Geſittung, des Ackerbaus, des Staats, jedes Guten, jeder Ordnung; da
er alſo ſittliche Bedeutung hat, wie ſein Feind Typhon nicht nur der
verzehrende Gluthwind und alles Schädliche, ſondern auch das ethiſch
Böſe iſt, ſo muß das Sterben, die Negation des Sinnlichen, mehr als
blos Naturbedeutung haben, es muß der ſittliche Gehalt des Gottes eine
Frucht davon tragen, und ſo ſteht Oſiris im Reiche der Geiſter, einer
Welt des vorgeſtellten Jenſeits, deren Sinn aber einfach die Zurücknahme
aus dem Unmittelbaren in das Innere iſt, als Todtenrichter wieder auf
und richtet hier die ebenfalls den ſinnlichen Tod geiſtig überlebenden Men-
ſchen. Auch die perſiſche Religion kennt ein Todtengericht und Geiſter,
die ihm obwalten, aber ſie kennt nicht den Uebergang eines Hauptgottes
aus ſinnlichem Tode in dieſes geiſtige Amt. Hätte nun die ägyptiſche
Weltanſchauung dieſe Bewegung aus dem ſinnlichen Sein durch ſeine
Negation in die ſittliche Innerlichkeit in Einen Begriff zuſammengefaßt,
ſo wäre ſie keine Naturreligion mehr, die Perſönlichkeit wäre aufgegangen;
allein der ſinnliche Tod iſt ein Geſchehen von außen (die Zerſtücklung
durch Typhon) kommt von außen an das Subject, iſt nicht Ueberwindung
des Endlichen durch Freiheit, und nur ſucceſſiv, in einem Nachher, in einem
vorgeſtellten andern Ort, trägt er ſeine Frucht, den Aufgang der ſittlichen
Bedeutung. Die Naturgrundlage bleibt, Oſiris iſt der Nil, die Sonne,
das Jahr. Es fehlt die Sammlung des im Fortgang Gewonnenen in
Eins und ſo bekommt der Tod als nackte Thatſache einen Werth, das
Todtſein wird zum Höchſten, der Leichnam, nicht der Geiſt, der nach der
Vorſtellung ihn überlebt, recht verſtanden aber von Anfang an ſeine
Wahrheit war, iſt heilig. Es iſt eine große Wahrheit, daß man bildlich
geſtorben ſein muß, um etwas, um ewig zu ſein, aber eine traurige
Verkehrung derſelben, daß das todte Reſiduum des buchſtäblichen, unbild-
lichen Geſtorbenſeins das werthvolle Bleibende ſei. So legt ſich Leichen-
geruch, todtenhafter Charakter über die ganze Welt dieſer Phantaſie, nicht
nur über jene Todtenſtädte und Mumien, ſondern über Alles, was die
Phantaſie bildet: Geſtalten, die eben, da ſie den Schritt zur Freiheit thun
wollen, verzaubert, in Todesſchlaf gebannt wurden.


So nah an der Löſung des Räthſels, daß die abſolute Idee die
Perſönlichkeit als Menſchheit und ihre Erſcheinung die Schönheit ſei, ar-
beitet ſich die Phantaſie in brütendem, ſaurem, vergeblichem Drange ab,
durch Häufung und Ineinanderfügung von bildlichen Darſtellungen das
Wort des Räthſels zu finden. Das Symbol tritt hier in ſeine ganze
[439] Bedeutung als Nothhilfe. Man wird mit Fragen von Symbol zu Sym-
bol geſchickt und kommt nie mit der Antwort zurück: die Sonne, der Nil,
das Jahr bedeuten einander, Oſiris, zwar Perſon, alſo mythiſch, aber
wieder nur ſymboliſch, bedeutet alle und dazu den Ackerbau, die Geſittung
überhaupt und die ſittliche Idee des Lebens als Todtenrichter, aber um-
gekehrt bedeuten ſie wieder ihn, denn es iſt die Ahnung da, daß die
Naturkräfte nicht das Wahre ſeien, ſondern das Subject, in welchem die
ganze Natur ſich zuſammenfaßt und negativ aufhebt. Oſiris iſt aber
wieder nicht wahrhaft das Subject, er ſchickt abermals zu den Naturkräften
fort, er hat daher ſelbſt wieder ſein Symbol im Sperber (der mit offenem
Auge in die Sonne ſehen kann, daher dieſe bedeutet), ebenſo im Stier
Apis, der Symbol des Jahrs, der Sonne, des Nils iſt. Sein und der
Iſis Sohn Horus, zunächſt der Frühling, fällt auch wieder mit ihm zu-
ſammen. Er lebt in der Unterwelt fort, da hat er ſittliche Bedeutung,
er lebt aber auch im Horus fort und im Apis, da hat er wieder blos
Naturbedeutung.


Man ſieht allerdings, wie hier der Anſatz zum Mythiſchen ſtärker
iſt, als irgendwo. Da dieſes die Perſon, alſo die menſchliche Geſtalt
vorausſetzt, ſo erweitert ſich keine orientaliſche Phantaſie ſo beſtimmt zum
Sinne für menſchliche Schönheit; es fehlt zwar der ſeelenvolle indiſche
Sinn für das menſchliche Empfindungsleben, aber der Formſinn iſt
deſto ſtärker. Um ſo weher muß es daher thun, wenn eben jetzt, da
dieſe Blüthe aufgehen will, die meſſende Phantaſie ſich auf ſie wirft, ihr
den Ausdruck der Lebendigkeit und Individualität nimmt und ſie behan-
delt, wie man unorganiſche Formen mißt. Aber nicht nur dieß; der my-
thiſche Anſatz ſinkt auch hier wieder ſo tief in das Symboliſche, daß gerade
der menſchlichſte Theil, das Haupt, mit einem Thierhaupte, Sperberkopf,
Hundskopf, Widder-, Kuh-Kopf u. ſ. w. vertauſcht wird. Dieß müßte
gerade um des übrigen Fortſchritts willen unerträglich ſein, wenn man
nicht ſogleich wüßte, daß nicht Schönheit, ſondern die Bedeutung der
Zweck iſt. So erkennt man denn bei den Aegyptiern leichter, als irgend-
wo, die ſymboliſche Abſicht, ohne daß darum irgend ein getrenntes Be-
wußtſein der Bedeutung da wäre, wodurch das Symbolſche ſich aufhöbe.
Man ſieht den Symbolen an ihrer bedachtſameren Wahl (Hegel
Aeſth. Th. 1, S. 452), an ihrer ruhig geordneten Wiederkehr an, daß
ſiie Symbole, aber man ſieht auch, daß ſie Nothhilfe einer unklaren
Ahnung ſind, daß ſie ihren Urhebern ſelbſt die Antwort des Räthſels
ſchuldig blieben, daher der §. das räthſelhafte Schweigen als weiteren
Grundzug hervorhebt.


Beſonders das Thierleben diente dem Aegyptier als Symbol.
Nutzen oder Schaden der Thiere konnte nicht der letzte Grund ihrer
[440] Erhebung zu religiöſer Bedeutung ſein; vielmehr ihr dämmerndes Seelen-
leben war es, worin der Aegyptier ein Geheimniß ahnte. Den Orientalen
erſcheint noch heute ein Wahnſinniger als ein höheres Weſen, das Traum-
leben der Seele galt dem ganzen Alterthum als Zuſtand, der einen Blick
gewähre in die Untiefe, woraus der wache Geiſt kommt. Das wache Ich
ſcheint durch die Reflexion von ſeinem Grunde ſich zu trennen, ein Abfall
zu ſein vom All. Gerade derjenigen Naturreligion, die auf der Schwelle
zur geiſtigen ſtand, mußte nun die Lebensform, welche zwiſchen der un-
beſeelten Natur und dem Ich, gefeſſelt an das Dunkel des Inſtincts, in
der Mitte ſteht, unendlich bedeutungsvoll erſcheinen. Das Thier ſcheint
ſo eben etwas ſagen zu wollen und nicht zu können; ebenſo dieſe Religion.
Dazu kam noch ein anderer Grund: das Thier iſt einfach, Eine Haupt-
eigenſchaft drängt ſich hervor; wie für die verſtändige Fabel, iſt es daher
für die dunkel ſuchende Symbolik ganz willkommen, ein vereinzeltes Mo-
ment der Idee auszudrücken. Nimmt man dazu den erſten Grund, ſo
hat man die zwei Seiten: das Thier eignet ſich zum Symbol um ſeiner
Einfachheit willen, aber was es als Symbol bedeutet, ſcheint ihm als
dunkle Seele wirklich einzuwohnen. Daher war den Aegyptiern das Thier
wirklich zwar Symbol, aber es wurde auch unmittelbar als Daſein des
Gottes verehrt. Dieß iſt mehr und weniger, als Symbol. Mehr: denn
allemal, wo die Bedeutung zur Seele eines concreten Weſens wird, iſt
Fortſchritt über das Symbol; weniger: denn das ſo von ſeiner Bedeu-
tung als lebendiger Seele warm durchdrungene Weſen ſoll zwar (auf dem
Standpunkte der Religion) geglaubt ſein, als exiſtire es, aber mit der
Einſchränkung, daß es in einem Jenſeits lebe, und dieſe Einſchränkung
hebt unbewußt den Irrthum jenes Glaubens auf; nun verſteht ſich, daß
dieſes ideale Weſen nur ein als abſolut vorgeſtellter Menſch ſein kann,
aber ein Thier und zwar nicht als blos vorgeſtellt, ſondern auch in ſeiner
unmittelbaren Wirklichkeit als göttlich verehren iſt tief unter der Sym-
bolik ſelbſt, iſt Fetiſchiſmus. Damit war es den Aegyptiern bitterer Ernſt;
wenn der Apis krepirte, ſo war, bis ein neuer gefunden war, ein Jam-
mer, als müßte die Welt, ihres Gottes beraubt, untergehen. So ver-
einigt die ägyptiſche Phantaſie ſämmtliche Arten der Naturreligion von
der gröbſten bis zur Schwelle des Bruches mit aller Naturreligion in
ſich, ſteht tief unter ſich und ſieht weit über ſich; ſie gleicht ganz der
eigenthümlichen Stellung, die der Affe an der Grenze zwiſchen Thier und
Menſch einnimmt.


§. 433.

1

Das jüdiſche Volk bricht mit der Naturreligion, läßt aber einen Reſt von
ihr ſtehen, welcher zur Folge hat, daß ſich der Dualiſmus nun auf das Ver-
[441] hältniß Gottes zur Welt wirſt. Das Gebiet der menſchlichen Schönheit iſt
ſeiner Phantaſie, welche das Symbol bis auf wenige Nachklänge aufgegeben
und ganz den Weg eines, zwar ſparſamen, Mythus betreten hat, offen; dennoch
macht der ausſchließlich erhabene Zwieſpalt, von dem ſie ausgeht, der bil-
2
denden Thätigkeit ein Ende; ſie kann nur als empfindende und empfindend
dichtende die Herrlichkeit des Schöpfers und die Heiligkeit des Geſetzgebers,
3
die Sehnſucht nach Verſöhnung mit ihm ſich zum Inhalt nehmen oder, in eine
[objective] Form der dichtenden übergehend, die urſprüngliche Stoffwelt, die
ſie keineswegs wahrhaft gewonnen hat, um den Preis des Wunders in Idea-
4
lität erheben.


1. Die Stellung der jüdiſchen Religion iſt für die Geſchichte des Ideals
ſowohl, als für die Religionsphiloſophie, ſehr ſchwierig. Es führen von
dem Punkte, wo die ägyptiſche Religion ſteht, zwei Wege weiter, welche
getrennt nebeneinander gehen und nachher, wie ſich zeigen wird, in der
chriſtlichen ſich auf gewiſſe Weiſe vereinigen: der eine iſt Aufhebung des
Symboliſchen ſowie des Polytheiſmus überhaupt und abſtracte Gegenüber-
ſtellung eines Gottes und der Welt, der andere iſt Fortbildung jenes
Anſatzes zum Mythus, der auf ſymboliſcher Grundlage hervortrat, und
Entwicklung eines ſittlichen Polytheiſmus, deſſen Götter durch das Natur-
Element, von dem die Perſonbildung ausgieng, noch ſinnlich ſind, aber
harmoniſch ſittlich und ſinnlich, den Menſchen vertraut, in der Welt heimiſch.
Jenen Weg ſchlugen die Juden, dieſen die Griechen ein. Es ſcheint nun
zunächſt, die griechiſche Religion gehöre, weil ſie mit dem Symbol und
dem Ausgange von einer phyſikaliſchen Bedeutung der Götter nicht eigent-
lich bricht, ſondern nur fortbauend dieſen Ausgang verbeſſert und umbildet,
entſchieden zur Natur-Religion, die jüdiſche aber, weil ſie offenbar bricht,
jedoch von der Negation, der Ausſchließung, nicht zur Poſition, der
geiſtigen Immanenz Gottes in der Welt, fortſchreitet, als eine iſolirte
Form in die Mitte zwiſchen Naturreligion und Chriſtenthum, als eine
Grenzſcheide, welche nicht mehr Naturreligion und noch nicht Religion des
Geiſtes iſt. Obwohl nun eben jene Ausſchließung, jenes Stocken bei der
Negation ſelbſt wieder ſeinen Grund in einem doch noch mitgeführten
Reſte der Naturreligion hat und obwohl es auch an mancherlei ſehr offen-
baren Nachklängen derſelben im ganzen Umfang der jüdiſchen Religions-
vorſtellungen nicht fehlt, ſo iſt doch allerdings dieſer Grund hinreichend,
in der Religionsphiloſophie das Judenthum in der genannten Weiſe nach
der griechiſchen Religion, nicht vor ihr, wie Hegel that, aufzuführen.
Die Aeſthetik aber hält ſich an den Fortſchritt im Schönen und da ſtehen
die Griechen ungleich höher und vollkommener, als die Juden, während
zugleich die Reſte der Naturreligion in ihrer Phantaſie immer noch ſtark
[442] genug ſind, um auch ſie zu dieſer zu zählen, wobei wir im Uebrigen
aus dem genannten Grunde der Hegelſchen Ordnung folgen. Dem
Chriſtenthum aber ſteht die jüdiſche und griechiſche Religion gegenüber als
ein Gegenſatz, den es zu löſen hat; es mußte zum ſtarren Monotheiſmus
der Juden die menſchliche Nähe, den Wandel des griechiſchen Gottes
unter den Menſchen nehmen, alſo beide Wege vereinigen, um zu ſeiner
Grund-Anſchauung der Immanenz zu gelangen.


Der Polytheiſmus, ſahen wir, ruht auf der Naturgrundlage; denn
wenn die Phantaſie Natürliches unmittelbar für göttlich hält, ſo vereinzelt
ſie nothwendig einzelne Naturkräfte, es dringen ſich deren immer mehrere
als herrſchend, Lebengebend auf, ſie werden in Symbolen verehrt, aber
zugleich ſucht die Phantaſie Geiſter hinter ihnen und ſo entſtehen, indem
noch weiter einzelne ſittliche Beſtimmungen je ihrer Verwandtſchaft gemäß
auf den Naturgrund eingetragen werden, viele Götter. Die jüdiſche
Weltanſchauung nun hebt die Naturgrundlage und mit ihr das Symbol
auf, damit fällt auch der Ausgangspunkt, der zur Göttervielheit führt. Allein
nicht hebt ſie das Mythiſiren, jene Perſonbildende Thätigkeit der Phan-
taſie auf. Sie iſt die Religion eines mehr, als alle Orientalen, ethiſchen
Volks; dieſes Volk zieht die Geſammtheit der ſittlichen Kräfte, deren es
ſich bewußt iſt, in die Vorſtellung Eines perſönlichen Weſens zuſammen,
das nun als abſoluter Wille die Natur und den Menſchen in ihr frei ſchafft
und dieſen Geſetzgebend, erziehend leitet. Allein dieſer Gott hat allerdings
in der Vorſtellung und muß haben einen Leib und menſchliche Neigungen,
Leidenſchaften. Es heißt wohl, der Menſch ſolle ſich kein Bild und Gleich-
niß machen von ihm; aber nur, um nicht Holz und Stein anzubeten, die
Phantaſie dagegen nährt allerdings und hält feſt ein Menſchenbild von
ihm. Das Neue iſt nur dieß, daß der Gott nicht äußerlich abgebildet
werden ſoll, innerlich iſt er ganz anthropomorphiſch abgebildet. Der Po-
lytheiſmus iſt aufgegeben und nicht aufgegeben, ſeine Götter ſind in Einen
zuſammengegangen, aber dieſer Eine hat noch weſentlich das an ſich, was
den heidniſchen Gott ausmacht: Menſchengeſtalt und Succeſſion menſchlicher
Neigungen, Gedanken, Entſchlüſſe. Er iſt der letzte Heidengott, der wider-
ſprechender Weiſe ſeine Brüder überlebt. Als Reminiſcenz an dieſe um-
gibt ihn wie Ormuzd ein Geiſterheer, ſteht im Ariman als Teufel ge-
genüber, bezeichnen ihn ſymboliſche Wunderthiere, fährt er auf Wetter-
wolken u. ſ. w. So wenig iſt das Mythiſche in ihm aufgehoben, daß es
vielmehr gerade erſt recht eingetreten iſt, denn der Mythus iſt erſt aus-
gebildet, wo der Gott ganz Perſon iſt und handelt. Zwar wird es in
den Mythen des Politheiſmus neben Acten des Handelns auch an paſſiven Zü-
gen nicht fehlen, welche beſtimmter auf die Naturgrundlage zurückweiſen; ſeine
Götter entwickeln ſich in der Zeit, ſie werden geboren, verwundet u. ſ. w.
[443] Allein das Verändern der Entſchlüſſe, die Leidenſchaft, die Wohnung
im Himmel, die Erſcheinung an einem irdiſchen Ort, das Leben zuerſt
ohne Welt, dann nach ihrer Schöpfung mit und neben ihr, das Alles
ſchließt nothwendig die Kategorie des Zeitlebens und hiemit der Natur ein,
dieß wird wegen des übrigen Fortſchritts nur doppelt fühlbar und Strauß hat
daher (Leben Jeſu §. 14) zu viel zugegeben, wenn er das Mythiſche nur auf
der Seite des Weltbewußtſeins, des Wunders ſucht. Sparſamer aber iſt der
moſaiſche Mythus natürlich, als im Polytheiſmus, denn da der Gott keine
Götter neben ſich hat und abſolut ſittlicher Wille iſt, ſo kann er nicht von
außen, ſondern nur von innen, oder wenigſtens nur ſofern von außen leiden,
als die neben ihn geſetzten Menſchen ſeine Plane kreuzen. Ein Reſt von Na-
turreligion iſt aber insbeſondere auch der Particulariſmus. Die Götter der-
ſelben waren Localgötter; ein Stamm legte in ihnen die Natur ſeines Wohn-
ſitzes, Temperaments, geſelligen Zuſtands nieder dann vereinigten ſich dieſe
örtlichen Geiſter: das iſt ein weſentliches Moment in der Entſtehung des Po-
lytheiſmus. Allein local und in ſeiner Einzigkeit gerade doppelt local iſt
auch der Gott der Juden; ſie waren zäh genug, ſich allen andern Völ-
kern gegenüberzuſtellen, ihr Gott, auf den ſie ſo ſehr pochten, war dieſe
Selbſtändigkeit als Perſon vorgeſtellt, und er trat nicht mit andern Göttern
zuſammen, weil und wie die Juden ſich von allen Völkern trennten.


2. Der unendliche Fortſchritt war die ſittliche Geiſtigkeit dieſer vor-
geſtellten Menſchengeſtalt, aber die Geſtalt ſchloß dieſen Gott von der
Welt und die Welt von ihm aus, das war die Stockung im Fortſchritt.
Das Sinnliche trennt, ſchließt aus; reiner Geiſt kennt keine Schranken,
Geiſt mit Leib ſteht gegenüber. Hier kehrt der allgemeine Dualiſmus des
orientaliſchen Charakters zurück: ſtatt Götter einander gegenüberzuſtellen,
wirft er ſich auf das Verhältniß Gottes zur Welt, gibt jenem das herbe
Geſetz, dieſer den Eigenſinn und vereinigt ſie äußerlich, juriſtiſch in einem
formellen Rechtsvertrage, ſtatt einzuſehen, daß ja die Erfüllung des
Vertrags ſelbſt nur aus dem abſolut Guten, aus Gott kommen kann,
alſo der Vertrag keinen Sinn hat. Dieſer Dualiſmus iſt nun allerdings
erhaben und vorzugsweiſe erhaben, man kann daher dieſe Religion
allerdings mit Hegel die der Erhabenheit nennen; allein auch hier iſt
nicht zu überſehen, daß es ein ächteres Erhabenes gibt: das abſolut Er-
habene, das ſich einläßt in die Welt als deren tragiſche Bewegung. Das
kannten die Griechen, nicht die Juden. Dieſe fixiren das Erhabene des
bloßen Subjects, und zwar auch dieſes immer noch unter der Kategorie des
objectiv Erhabenen in räumliche und zeitliche Größe ausgedehnt, in ihrem
Gott. Die Griechen hatten mehr, als Jupiter, ſie hatten das Schickſal
als tragiſchen Conflict, die Juden hatten keine Tragödie, denn ihre Welt
ſtand ſtarr dem jenſeitigen Gott gegenüber.


Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 29
[444]

3. Allerdings iſt nun die hebräiſche Phantaſie auf den Boden der
menſchlichen Schönheit getreten, ihr Gott iſt ein Rieſe mit wallendem
Mantel auf dem Sinai, und der Menſch iſt perſönlich geworden, ein
würdiger Stoff der Phantaſie, allein jene Vorſtellung bleibt im Gefühl,
daß ſie inconſequent ſei, ſchwebend, unbeſtimmt, am Menſchen aber be-
ſchäftigt nur das innere Leben, das ringende Herz und es folgt ſchon daraus,
noch mehr aus dem Verbot der Abbildung Gottes, daß dieſe Phantaſie
nicht mehr die bildende ſein kann. Sie iſt vielmehr empfindende (§. 404),
oder, da ſie vermöge ihrer geiſtigen Bewegtheit namentlich auch als dich-
tende auftreten wird, empfindend dichtende (lyriſche). Dieſe Form tritt
nun freilich auch in den andern orientaliſchen Religionen auf; das Hym-
niſche iſt in ihnen ein ſtarker Beſtandtheil, doch keineswegs die Hauptform.
Bei den durchgängig ſubjectiveren ſemitiſchen Völkern tritt ſie aber mehr und
mehr in den Vordergrund, namentlich in dem berühmten Klaggeſang über
den Tod des Adonis (Oſiris: Manerôs), und bei den Juden wird ſie
zur ſpezifiſchen Form, worin die Phantaſie ihren entſprechendſten Ausdruck
findet. Das menſchliche Gemüth ringt hinauf zu dem fernen Schöpfer
und Geſetzgeber, es preist ſeine Herrlichkeit, es ſeufzt im ganzen Schmerz
der gefühlten dualiſtiſchen Spannung, deſto tiefer gebrochen, je härter
ſein durch das Geſetz geſpannter Eigenſinn iſt, aus ſeinen Tiefen zu ihm,
es hofft auf Erlöſung, es iſt durch den ganzen Widerſpruch dieſer Reli-
gion auf die Zukunft geſtellt. Dieſe Bewegung des inneren Menſchen iſt
das eigentliche Gebiet dieſer ganz ſubjectiven Phantaſie. Hat ſie aber
nicht durch die Entgötterung der Welt die urſprüngliche Stoffwelt ge-
wonnen, ſo daß ſie nun hier den aufgegangenen Sinn für menſchliche
Schönheit entfalten könnte? Die hebräiſche Phantaſie ergreift allerdings
den Stoff der wirklichen Menſchenwelt, ſie hat ihre Sage, wie ihren
Mythus, ſie hat eine Verbindung beider. Sie hat die Begründer des
Zuſtands der Nation, Patriarchen, Geſetzgeber, Propheten, Helden, Könige in
der Ueberlieferung erhöht und eine Menge wahrhaft ſchöner, rein menſchlicher
Züge bewahrt; allein die wahre Idealität erreichen auch bei ihr die menſch-
lichen Geſtalten nur durch unmittelbares Hineinrücken in das Abſolute.


4. Dieſes Hineinrücken aber muß ein anderes ſein in der hebräiſchen,
als in den bisherigen Formen der orientaliſchen Phantaſie; es tritt, wie
Hegel gezeigt, hier zunächſt der Begriff des Wunders in ſeine volle
Bedeutung ein. Das Cauſalitätsgeſetz, der Zuſammenhang des Weltver-
laufs iſt anerkannt; es gibt eine Geſchichte. Die abſolute Urſache aber,
deren Wirklichkeit nirgends anders ſein kann, als in der Geſammtheit der
relativen Urſachen, iſt als einzelne Perſon in einen vorgeſtellten jenſeitigen
Raum hinübergeworfen. Soll alſo die Erſcheinung einer beſtimmten Idee
idealiſirt werden, ſo muß ſich jene erſt ein Loch in die Welt machen. Alle
[445] Religionen haben, wie gezeigt, dieſe Durchlöcherung, ſie ſchieben die ab-
ſolute Urſache und die Vermittlung der einzelnen Urſachen nebeneinander,
ſpringen von dieſer auf jene über, dann in dieſe zurück, aber in den bisher
betrachteten iſt über dieſe Sprünge nichts zu verwundern; ſie ſind ſo ſehr der
eigentliche Standpunkt, daß es zu einer Anerkennung des Weltzuſammen-
hangs und ſeiner Ordnung gar nicht kommt. Wo aber dieſe im Uebrigen da
iſt, da tritt der Widerſpruch eines Geſchehens in der Natur gegen die Ge-
ſetze der Natur an Tag, d. h. nicht als ſolcher in’s Bewußtſein, ſondern
er tritt als Verwunderung in’s Gefühl. So wird die Sage, indem ſie durch-
gängig mit dem Mythus ſich vermiſcht, hier zur Wundergeſchichte. Man ſieht
nun, in welchem Sinne die urſprüngliche Stoffwelt der Phantaſie wieder-
gegeben iſt: im beſchränkten Sinne eines Hinüberbeziehens auf Jehovah.
So geht ihr denn zuerſt der landſchaftliche Sinn in ganz anderer Weiſe
auf, als wir ihn von den anderen Naturreligionen ausſagen konnten,
denn dieſe vergötterten nur Theile derſelben in ſymboliſchem Sinne, den
Hebräern aber geht der Sinn für ihre Schönheit auf, ſie beginnen ſie
äſthetiſch zu betrachten, doch wieder nicht rein äſthetiſch, denn ſtatt unbe-
fangen die Empfindungen des menſchlichen Gemüths in ſie zu legen, legen
ſie dieſelbe als Prachtgewand, als Ehrenteppich und Schemel ihrem Gott
zu Füſſen; da iſt ſie nicht ſelbſtändiges äſthetiſches Ganzes. Der Phan-
taſie menſchlicher Schönheit iſt neben dem vorgeſtellten Leibe Gottes die
Schönheit der wirklichen Menſchenwelt aufgegangen; die Sage muß daher
auch zu der bildenden Form der dichtenden Phantaſie (der epiſchen) grei-
fen; dieſe hatten auch die andern Orientalen, aber man erwartet eine reifere
Ausbildung derſelben von den Hebräern, und doch hat ihr Geiſt innerhalb
dieſer Form wieder die Ruhe nicht, bei einer geſchloſſenen Welt zu verwei-
len, er eilt auf die Momente des Wunders los und außer den Organen
der Offenbarung erſcheinen die übrigen Menſchen als gedrückte und zu-
gleich hartnäckige Knechte des Herrn; die Spannung des ganzen Stand-
punktes bringt eine Bewegtheit in die geſammte Darſtellung, welche durch
directe Ausſtrömung des Innern wieder zur empfindenden Phantaſie, ſogar
zu Anklängen der dramatiſchen ſich wendet, denen jedoch, wie ſchon ge-
ſagt, die rechte Grundlage einer abgeſchloſſenen, tragiſchen Bewegung
fehlt (Hiob).


29*
[446]
β.
Mitte.
Das claſſiſche Ideal der griechiſchen Phantaſie.

§. 434.

1

Die Phantaſie der Griechen als eines ſinnlich ſittlichen Volkes (§. 348.
349) erhebt ohne Bruch in ſtetigem Fortſchritte die Naturreligion in die ethiſche,
das Symbol in den Mythus. Sie bleibt alſo Polytheiſmus, aber auf die
Naturgrundlagen, woraus Vielheit der Götter entſteht, trägt ſie nicht bloß ober-
flächlich ſittliche Bedeutung ein, ſondern kehrt im Fortgang den Ausgang um,
ſo daß die ſittliche Bedeutung, ſchon an ſich über mehrere Sphären ſich erſtreckend,
zum lebendigen Pathos einer mit dem ganzen Umkreis menſchlicher Empfindun-
gen und Intereſſen erfüllten Perſönlichkeit wird, deren leibliche Erſcheinung
2ſich ſelbſt deutet. Die halb mythiſchen, halb blos ſymboliſchen Naturgötter
werden als durch die neue Götterordnung beſiegt dargeſtellt, das Symboliſche
der Naturgrundlage der letzteren iſt vergeſſen; was davon übrig bleibt, iſt theils
zu einem leichten Nachklange in der Geſtalt herabgeſetzt, theils als ſinnliches
Intereſſe in eine Handlung aufgegangen.


1. Dieß alſo iſt der zweite der von der ägyptiſchen Religion weiter
führenden Wege (vergl. §. 433 Anm. 1), es iſt der humane Fortſchritt
im Uebergange der Religion nach Europa, während die ſcharfe monotheiſti-
ſche Scheidung in der jüdiſchen Religion noch aſiatiſche Starrheit iſt. Die
griechiſchen Götter ſind urſprünglich aſiatiſche, (indiſche, ſemitiſche, ägyptiſche)
Naturgötter, erſcheinen in Griechenland vorerſt als Localgötter und ihre
Vereinigung zu einem Olymp iſt vorerſt Zuſammenfluß örtlicher Culte,
dann geiſtige, der Meinung nach univerſelle Erhebung in ſittlich politiſche
Bedeutung. Dieſe tritt nun in Vordergrund, wird zum Erſten, und was
vorher das Erſte war, tritt zurück in die Perſpective. Die ſittliche Be-
deutung aber kann, weil es hier Ernſt mit ihr iſt, als Seele und Willen
einer Perſon angeſchaut werden, zu deren weiteren, ſinnlicheren Gemüths-
bewegungen ſo wie zu ihrer Geſtalt die urſprüngliche Naturbedeutung den
Grund gelegt hat, ſo daß z. B. Göttern der Fruchtbarkeit, des Naturſegens
der weichere und üppigere Körperbau, das liebesluſtige Gemüth, Göttern
des ſcharf beſcheinenden Lichtes, der feineren, aus Waſſer und Feuer ſich
entwindenden Materie der ſchlankere, ſtraffere Leib, das ernſtere, kältere
Gemüth geliehen wird. Das ſymboliſche Verhältniß iſt zu Ende; Poſei-
don bedeutet nicht das Meer, ſondern das Meer iſt ein Geiſt und dieſer
[447] Geiſt iſt Poſeidon. Der Gott iſt nicht eine Deviſe, auf eine Lebensſphäre
geklebt, ſondern jener Genius mit Menſchengeſtalt, den ſchon der Orient
in der Naturerſcheinung ahnte, aber wie einen unreifen Kern aus harter
Schaale nicht herausſchälen konnte, ohne ihn zu zerſtückeln und mit Trüm-
mern der Schaale nothdürftig wieder zuſammenzukleben, löst ſich heraus,
der Gott ſteht auf den Füßen und fragt nicht mehr nach ſeiner Herkunft.
Er deutet ſich ſelbſt, er iſt, was er bedeutet, er will es, es iſt ſeine Lei-
denſchaft, ſein Zweck. Sein Hauptzweck iſt irgend ein ſittliches Pathos,
Eid, Gaſtfreundſchaft, Civiliſation, Städte- und Staatengründung, Ver-
kehr, Handel, Wiſſen, Kunſt; er umfaßt aber deren mehrere, wie Apollo
Wiſſen der Zukunft, Wiſſen um Geheimniſſe der Erkenntniß überhaupt,
Geſang und Muſik, Offenbarung und Beſtrafung verborgener Verbrechen,
Zeus Gaſtfreundſchaft, Eid, Vertrag u. ſ. w., und ſchon dadurch iſt von
der Abſtraction einer ſymboliſchen Bedeutung die Erweiterung zu einem
ganzen und vollen Subjecte gegeben. Allein dieſen Hauptzweck hat ihm
das Volksbewußtſein darum geliehen, weil es ſelbſt ſittlich iſt; weil es ſitt-
lich iſt, iſt es perſönlich und weil es perſönlich iſt, hat es überhaupt den gan-
zen Gott als lebendige Perſönlichkeit erdichtet, und ſo hat dieſer Gott alle
Zwecke und Bewegungen eines ganzen Menſchen. Er kann Alles empfinden,
Alles denken, wollen, alſo auch das, was Hauptzweck anderer Götter iſt, nur
daß der ſeinige immer ſein Kern bleibt und ſeine ganze Temperatur beſtimmt.
Dieſe Temperatur rührt allerdings zunächſt von der Naturgrundlage: der
unruhige und wilde Poſeidon hat die Stimmung ſeines Elements, dann aber
erſcheint er leidenſchaftlich bewegt in Intereſſen der Städtegründung u. ſ. w.
Dieſelbe Naturgrundlage ſetzt ſich auch in den Mythus ſo fort, daß die
Götter nicht nur handeln, ſondern auch unter dem Geſetze des Werdens
ſtehen, geboren werden, wachſen, leiden, und zwar anders, als Jehovah,
von außen nämlich durch andere Götter, durch Menſchen ſelbſt bis zur
körperlichen Verwundung. Dieſe Nachwirkung des Symboliſchen im My-
thiſchen hebt ſich aber, wie wir ſehen werden, in der kummerloſen Selig-
keit des Ideals wieder auf. Die gröbere Paſſivität jedoch, deren Symbolik
auch in mythiſcher Behandlung abſtoßend bleibt, wie die Verſtümmlungen,
das Verſchlungenwerden u. dergl., wird in die Theogonie zurückverlegt.


2. Was die Ueberwindung der ſymboliſchen Naturreligion überhaupt,
die Aufhebung und den Nachklang derſelben in dieſe ethiſche Phantaſie
betrifft, ſo dürfen wir auf Hegel verweiſen, der „den Geſtaltungsprozeß
der claſſiſchen Kunſtform“ ſo weitläufig behandelt hat (Aeſth. Th. 2,
S. 24—66). Er zeigt zuerſt die Degradation des Thieriſchen auf, dann
wie die Aufhebung der Naturreligion und ihrer hundertarmigen, ſchlan-
genfüßigen Ungeheuer ſelbſt wieder mythiſch als ein Kampf der geiſtigen
und ſittlichen Götter gegen die finſtern Naturmächte in die Vergangenheit
[448] verlegt wird, ferner den Nachklang des überwundenen Ausgangspunkts
in den Myſterien als eſoteriſch gewordenen, durch ihr geheimnißvolles
Dunkel den Geiſt befangenden Culten ſymboliſcher Art, in der Aufbewah-
rung der alten Götter in der Kunſtdarſtellung, endlich in Allem dem, was
in der Darſtellung der neuen Götter an ihre Naturgrundlage mahnt.
Wir haben bereits von der individuellen Stimmung geſprochen, die ſich
als Reminiſcenz der Naturbedeutung in die Perſönlichkeit des Gottes fort-
ſetzt: die Naturgrundlage wird Naturell. Sie ſetzt ſich ebenſo, wie wir
ſahen, als Begebenheit in den Mythus fort. Hier nun zeigen die Grie-
chen ihre ganze Liebenswürdigkeit; es iſt ihr unendlicher Fortſchritt, daß
ſie den geiſtreichen Leichtſinn hatten, aus ſymboliſchen Acten Geſchichtchen
zu machen und den Grund, die urſprüngliche Bedeutung, zu vergeſſen.
Die Bedeutung iſt zum lebendigen Intereſſe des Gottes geworden, er fragt
nichts mehr nach ihr als bloßer Bedeutung. Die Metamorphoſen, die Liebesge-
ſchichten des Zeus ſind das beſte Beiſpiel. Verfeſtigt ſich nun die Perſönlich-
keit des Gottes in der Phantaſie zu beſtimmterer Geſtalt, ſo finden ſich nur
wenige Reſte ſymboliſch roher Bildung, wie die Epheſiſche Diana, die
priapiſchen Naturgötter, Ungethüme wie die Harpyien u. ſ. w. In einigen
verbeſſert der Schönheitsſinn die Zuſammenſetzung des Menſchlichen und
Thieriſchen, wie in den Faunen und Centauren. Weſentlich aber iſt, daß
das Symbol als Attribut, als thieriſcher Begleiter, als Waffe u. ſ. w.
neben die Geſtalt tritt, dienendes Mittel demſelben wird; ſo der Adler
des Zeus, der Panther des Bacchus, der Delphin der Aphrodite, ſo der Kö-
cher des Apollo und der Diana, der an Sonnen- und Mondesſtrahlen erinnert,
der Donnerkeil des Zeus, der Dreizack des Poſeidon. Endlich aber ſetzt ſich
der ſymboliſche Nachklang in die Geſtalt ſelbſt fort und ſo, daß er das
Motiv zu einer Schönheit wird, entweder als unmittelbarer mit ihr ver-
bundene Zierde, wie der Halbmond der Diana, die Epheu- und Trau-
benguirlanden, die volleren Haarknoten, die man dem Bacchus gab, um
die ſymboliſchen Stierhörner der älteſten Darſtellung zu verbergen — wie
denn das Haar überhaupt und ſeine Behandlung, z. B. die ungeord-
neteren Jupiter-Locken des Poſeidon, beſonders ſymboliſchen Nachklang
zeigt — oder als Haltung und Charakter der Geſtalt ſelbſt und einzel-
ner Organe. So war Diana zunächſt Mondsgöttin; die ahnungsvolle
Wirkung der irrenden Mondſtrahlen in Wald-Einſamkeit mochte Anlaß
ſein, ein anderes Weſen, einen Waldgeiſt, eine Göttin des Waldes und
Wilds mit ihr zu vereinigen; in der griechiſchen Phantaſie wird nun ſo
das Schlüpfende der Mondbeleuchtung, das Säuſeln, Raſcheln, Hallen
und Wiederhallen im Wald zum Bilde der ſchlanken, leichtfüßigen Jägerinn,
die mit ihren Nymphen und ihrer Meute durch die Wälder ſtreift. Athene
iſt zunächſt das Licht, nicht als Sonne, ſondern das Leben des Lichts
[449] überhaupt, wie es ſich aus dem gröbern Elemente, dem Waſſer, entbin-
det und entringt (vergl. Baur a. a. O. Th. 2, Abth. 1 S. 162), der
Lichtgeiſt in der Natur, dann die Intelligenz. Das Allgemeine, das Reine
des Lichtes geht homogen in dieſe geiſtige Bedeutung über, wird als
Jungfräulichkeit, als kalte und ſtrenge Sinnigkeit perſönlich vorgeſtellt und
bedingt ſo ihre ganze Geſtalt, insbeſondere aber Farbe und Ausdruck
ihrer Augen: das feucht Durchſichtige, der waſſerhelle Glanz, das ſcharfe
Erfaſſen des Gegenſtands iſt es, wodurch ſie ſich auszeichnen. Daher
iſt die γλαυκῶπις zugleich die Göttin, die das Augenlicht den Menſchen
erhält, und ihr Attribut die in der Nacht ſehende hell- und großaugige Eule.


§. 435.

Wenn ſo der Dualiſmus im Verfahren aufgehoben iſt, ſo kann er auch1
nicht mehr im orientaliſchen Sinne (§. 429) Geſetz der zweiten Stoffwelt ſein.
Der Gegenſatz eines dunkeln Urweſens gegen die beſtimmten Götter iſt weſent-
lich verändert in der Vorſtellung vom Schichſale, der Gegenſatz männlicher und
2
weiblicher Gottheiten geht auf in ein rein menſchliches Wechſelverhältniß, der
3
Kampf einer guten und böſen Hauptgottheit muß verſchwindend am Saume hin-
ſpielen, noch mehr der Dualiſmus zwiſchen Gott und Welt, denn die Götter
der realen Sittlichkeit ſind dem Menſchen vertraut: dieſer trifft, wie ſein Sin-
nenleben, ſo auch ſeine Willensbeſtimmungen in ihnen wieder.


1. Wir werden den Schickſalsbegriff ſofort wieder aufnehmen, hier
iſt nur ſogleich zu ſagen, daß das griechiſche Schickſal nicht eigentlich eine
Alles gebärende Urgottheit iſt, ein Parabrahma, Zeruane Akerene u. ſ. w.
Solche Vorſtellungen dunkler All-Einheit des Lebens ſind mit der ſymbo-
liſchen Naturreligion zurückgelegt; es treten in den orphiſchen Koſmogo-
nien und in der Heſiodiſchen oberflächlich perſonifizirte Weſen auf, welche
den unterſchiedsloſen Schooß der Dinge als einen Abgrund der unent-
falteten Naturkräfte darſtellen, das Chaos, die Erde, Tartaros, Eros,
Erebos, die Nacht, dann Aether und Hemera, Uranos, dann das Reich
des Kronos; auch unter den concret perſönlichen Göttern erkennt man
noch in mehreren den Charakter einer allgebährenden und nährenden
dunkeln Urkraft, den ſie in den ſymboliſchen Localculten, aus denen ſie
erſt als Glieder in den ethiſchen Götterkreis übergingen, als abſolute
Gottheiten beſaßen, ſo die Epheſiſche Diana, Demeter, Kybele oder
Rhea „die große Mutter“. Allein nachdem die Götter ethiſch geworden,
konnte die Vorſtellung eines dunkeln Grundes im alten Sinne keine Kraft
mehr haben. Das Sittliche ſteht auf eigener Baſis, fängt von ſich ſelbſt
an, man fragt nicht mehr viel darnach, wie die Dinge als Naturdinge
[450] geworden, die Antwort, welche die Koſmogonie darauf gibt, genügt, ohne
daß man ihr weitere Aufmerkſamkeit ſchenkt. Iſt aber der ſittliche Lebens-
gehalt an die Götter vertheilt, ſo muß der Urgrund alles Lebens auch
Grund des Sittlichen ſein, und dieß iſt es, was daran nun weſentlich
intereſſirt. Die abſolute Einheit kann auch dem Polytheiſmus nie ganz
verloren gehen, ſie ſchwebt hinter oder über den Göttern, nun aber iſt
ſie ſittliche Beſtimmung des Lebens. Allein dieſe Beſtimmung iſt ſchlecht-
weg, dunkel, eben weil, was im Reiche des Bewußtſeins liegt, an die
Vielen ſchon vertheilt iſt, und ſolches Dunkel iſt freilich wieder Reſt von
Naturreligion, denn wohl waltet in der Welt der Zufall und ſchließt
Vorherwiſſen des Schickſals aus, aber der denkende Wille hebt verarbei-
tend den Zufall auf: dieß iſt noch nicht im Bewußtſein der Griechen,
daher iſt ihr Schickſal jener dunkle, aus Zufall und Wollen geflochtene
Knoten, finſter wie eine blinde Naturkraft und doch gerecht, ſittlich.


2. Männliche und weibliche Gottheiten werden Liebende und Ge-
liebte, Mann und Frau, Bruder und Schweſter. Dieß waren ſie zwar
auch in den orientaliſchen Religionen, aber es war nicht Ernſt damit;
jetzt, bei den Griechen, ſind es die Liebſchaften, die Ehe-Scenen, das
Zuſammenwirken, womit ſich ein rein menſchliches Intereſſe beſchäftigt;
zudem gibt es, durch den Zuſammenfluß der örtlichen Culte, viele ſol-
cher Paare. Das abſtracte Grundgeſetz eines Dualiſmus männlicher und
weiblicher Götterkraft iſt daher flüſſig geworden, aufgehoben. So war
Here urſprünglich ſymboliſche Perſonification deſſen, was im Naturleben
überhaupt als empfangende Seite erſchien, insbeſondere eine Mond- und
Erd-Gottheit; Zeus verführt ſie als Kukuk unter ſtürmiſchem Frühlings-
regen: man erkennt das Verhältniß von Himmel und Erde, aber als
ſeine Gemahlin wird ſie die Gottheit der Ehe und in ihrem launiſchen
Weſen liegt nur noch eine Spur der Local-Gottheit, deren Dienſt ſich
widerſtrebend mit dem des Zeus vereinigte.


3. In einem Volke, worin das Gute in der Form des Maaßes
liberale Wirklichkeit hat (vergl. §. 349), kann das Böſe ebenſowenig zum
hartnäckig reflectirten Eigenſinn der ſubjectiven Empörung ſich zuſammen-
faſſen, als jenes auf einem tieferen Bruche des reinen Willens mit dem
ſinnlichen ruht. Zeigt alſo das Leben der Griechen die eigentliche Ge-
ſtalt des Böſen nicht, ſo können ſie auch keinen böſen Gott dichten. Zwar
ſagten wir von dem Gegenſatze guter und böſer Götter in der orienta-
liſchen Religion, daß es nicht eigentlich ein ſittlicher, ſondern ein Kampf
des Heilſamen und Schädlichen ſei; allein der ſchädliche Gott wird doch
dargeſtellt als ein ſolcher, der das Schädliche will, und zwar mit ſol-
chem Grimme, daß man ſogleich das größere Talent zum eigentlich Bö-
ſen erkennt, das im Charakter dieſer Nationen, beſonders der Semiten,
[451] lag. An die Stelle des Böſen trat bei den Griechen, dem Volke des
ſchönen Maaßes, zunächſt das Ungeordnete, Ungemeſſene: das ſind eben
die wilden Kräfte, die Titanen, die beſiegt ſind; dann das Sinnverwir-
rende, das zwar eine ethiſche Gefühlsbewegung iſt, aber eine dunkle und
in die Organiſation des Vernunftreichs, des menſchlichen Staatslebens
nicht in klarer Geſetzesform eingeführte. Sehr treffend weist Hegel ver-
mittelſt dieſes Grundes nach, warum die Nemeſis, Dike, Erinnyen zu
den finſteren Mächten des beſiegten Götterreichs, den Kindern der alten
Nacht gehören (Aeſth. Th. 2, S. 49 ff.). Die Scene in den Eumeni-
den des Aeſchylus, wo Apollo jene mit zorniger Rede von ſeinem Tem-
pel jagt, zeigt deutlich, was die Griechen ſich bei jener Stellung dachten:
die dunkeln Aufregungen des Gewiſſens können falſch ſein und ſind es
in der Colliſion mit dem rechtlich politiſchen Gewiſſen und ſeinen klaren
Empfindungen. An die Stelle des Böſen trat ihnen ferner das Unheim-
liche, Tod und Unterwelt, der Hades und ſeine Beherrſcher, dann die
chthoniſchen Gottheiten nach ihrer einen Seite, Demeter, Kora, Bacchus.
Wir müſſen aber die allgemeine Frage aufwerfen, welche Stellung das
Schädliche, da es nicht mehr in dem Willen einer Hauptgottheit zuſam-
mengefaßt wurde, in dieſer Phantaſiewelt erhielt? Es mußte in ethiſchen
Zuſammenhang treten, es mußte als Strafe aufgefaßt werden, die eine
gute, aber beleidigte Gottheit verhänge. Als reizbare Gottheiten, welche
ebenſo leicht verderblich, als heilſam wirken, wurden insbeſondere Apollo
und Artemis angeſchaut. Die jüdiſche Phantaſie, die in ſtrengerem Sinn
ethiſch war, mußte dieſen Standpunkt noch ſtrenger feſthalten und aus-
bilden; Jehovah erzieht durch Strafen. Allein dem eifrigen Gott gegen-
über ſtellte ſich hier auch das Subject auf die Spitze ſeines Eigenwillens
und faßte eine Welt der Empörung, im Widerſpruche mit dem Mono-
theiſmus, im Bilde des Teufels zuſammen. Hieran knüpft ſich von ſelbſt
die Frage, wie es ſich mit dem Dualiſmus zwiſchen Gott und Welt bei
den Griechen verhielt. Die juriſtiſche Trennung, welche die Juden zwi-
ſchen beiden aufſtellten, iſt einem freundlich vertrauten Wandeln der Göt-
ter unter den Menſchen gewichen. Freilich iſt die jüdiſche Anſchauung
der erſte Schritt zur wahren Einheit der ſittlichen Idee, dieſer Schritt
bleibt aber ſo abſtract, daß die beſte Frucht wieder verloren geht. Dieſer
über der Welt thronende Gott erläßt zwar und ſanctionirt ſittliche Ge-
ſetze, allein wenn das menſchliche Subject ſich zu ihm wendet, verſchwin-
det ihm in der Allgemeinheit ſeiner Heiligkeit das Concrete des ſittlichen
Lebens und es iſt eine Frömmigkeit ohne Sittlichkeit möglich ebenſo wie
nachher im Chriſtenthum. Der Grieche dagegen trifft in ſeinem Gotte,
der ihm freundlich und menſchlich verwandt iſt, ein beſtimmtes ſittliches
Pathos an und da muß Frömmigkeit auch Tugend ſein. Welche lange
[452] Deduction braucht es z. B., um die Gymnaſtik als ſittliche Pflicht von
dem jüdiſch-chriſtlichen Gott abzuleiten! Dem Griechen aber ſteht an ſei-
ner Paläſtra der ſchlanke Hermes, er ſieht ſein Bild an und die wichtige
Pflicht der Körperbildung iſt ihm in ihrer ewigen Geltung unmittelbar
gegenwärtig. Man muß entweder viele ſinnlich ſittliche Götter haben, um
die Sphären des Lebens zu heiligen und das rein Menſchliche zu ehren,
oder man muß auf allen Anthropomorphiſmus verzichten und die abſolute
Idee als flüſſige Gegenwart erkennen, um für die Sittlichkeit das wahre
Motiv zu haben; mit dem Einen überſinnlich ſinnlichen Gott, den man
vom Polytheiſmus ſtehen läßt, verliert man die ächte Begründung derſel-
ben und lernt das Verdienſt des Glaubens bei ſchlechten Handlungen
erjagen, lernt den Fanatiſmus, der dem Griechen ſo fremd war.


§. 436.

1

Durch eine Reihe untergeordneter Genien knüpft ſich leicht und offen an
die zweite Stoffwelt, den von einem Hauptgotte liberal beherrſchten und in flüſ-
ſigem Tauſche ſeine Aemter wechſelnden Götterkreis, die urſprüngliche Stoffwelt
in Form einer reichen, die Geſchichte des Volks in großen Typen verherrlichen-
den Sage, welche mit dem Mythus ohne Wunder zuſammenſpielt, und ungehemmt
2legt ſich in alle Lebensſphären die veredelnde Phantaſie. Allerdings bleibt dennoch
die in §. 418. 425, 2 (vergl. §. 62) aufgezeigte Scheidewand, aber zugleich hebt
der Geiſt des Fortſchritts den Typus auf und die Phantaſie löst den Widerſpruch,
mitten im unfreien Schein frei zu ſein, macht die entbindende Natur des Schönen
(vergl. §. 63 — 66) unſchädlich geltend und bildet, wozu die Bedingung nun
gegeben iſt, das Schöne um des Schönen willen, jedoch in völliger Naivität,
zur Reife.


1. Den Kreis der Zwölfgötter beherrſcht Zeus in einer Form der
Zufälligkeit, welche deutlich genug zeigt, daß es dem demokratiſchen Volke
mit der Monarchie auch auf dem Olymp nicht mehr Ernſt war. Wenn
nun ſchon die zwölf Hauptgötter nichts weniger, als ein pedantiſches Sy-
ſtem, darſtellen, wenn der Eine oft genug in das Amt des Andern über-
greift, ſo läßt ſich zudem der Grieche durch den Anſchein eines Abſchluſ-
ſes nicht abhalten, beſondere Natur- und Lebensſphären, welche im Grunde
unter Einen der Zwölfgötter ſchon befaßt ſind, noch beſonders zu vergöt-
tern. Der Dionyſosdienſt drang ein mit ſeinem heitern Kreiſe von Sa-
tyrn, Silenen, Mänaden, in welchen das Grobſinnliche und Thieriſche
der menſchlichen Natur ſeine beſondere Idealität innerhalb ſeines Bodens
durch orgiaſtiſchen Schwung erhält; das Geſchlecht der Centauren, dann
der Waldgötter, Pane, ſchließt ſich an ſie an. Aphrodite ſammelt den
erotiſchen Kreis um ſich, die Grazien ſind in ſeinem Gefolge. Das Ge-
[453] murmel der Quellen wird in den Muſen mit der Macht des Geſangs zu-
ſammengeſchaut; halb Menſchen- halb Thier-Leib ſchwimmen die verlocken-
den Sirenen im Meere. Düſter thronen Hades und Perſephone in der
Unterwelt mit den Todtenrichtern, dem Fährmann, den beſtraften Titanen,
den Genien des Schlafes und Todes. Zu dieſem dunkeln Reiche der Phan-
taſie gehören die Zauberweſen, Hekate, die verſteinernde Gorgo. Aus
der zurückgeſtellten Finſterniß der Urwelt ragen die Schickſalsgötter, ins-
beſondere die furchtbaren Erinnyen in die Gegenwart herein. Die Be-
wegung der Zeit erſcheint in den Horen. Die Elemente, obwohl ſie in
Hauptgöttern ihre Herren haben, iſoliren ſich wieder zu einzelnen Genien;
die Sonne hat ihren Geiſt, Phöbos (denn Apollon iſt mehr das Mani-
feſtiren des Lichts überhaupt), Selene liebt Endymion, Eos, Iris durch-
ziehen den Himmel. Die Winde ſauſen als bewegte Geſtalten, die un-
geſunden als ſcheußliche Harpyien. Im Waſſer ſammelt Poſeidon die
Amphitrite, die Thetis, die phantaſtiſchen Geſtalten der Tritonen und
Nereiden um ſich; Flüſſe und Quellen haben ihre Götter und Na-
jaden. Das Land wird von Genien der Berge, der Gärten, der Blüthe,
der Früchte, der Bäume (Dryaden) geſegnet und die heilenden Kräfte
haben ihre Geiſter in Aſklepios, Hygieia, Telesphoros. Endlich haben
auch die beſondern menſchlichen Zuſtände, Lebensalter, Thätigkeiten, außer
ihren Beſchützern in den Hauptgottheiten, ihre Vorſteher: Haus und Heerd,
Stadt und ihre Plätze, ihre Aemter, Krieg und Frieden, Sieg, Eintracht,
Freiheit, Schifffahrt, Leibesübung u. ſ. w., erfreuen ſich ihrer Genien.


An den heitern Pleonaſmus der Götterwelt ſchließt ſich ebenſo reich
die Sage an. Der Mythus von Herkules, urſprünglich ein Bild der
Schickſale der Erde in ihrem Verhältniß zur Sonne, dann des Kampfes
der menſchlichen Freiheit mit der Naturnothwendigkeit, des Ringens, das
ſich den Himmel, die Götterwürde erſtreitet, bildet das Band zwiſchen
jener göttlichen und dieſer menſchlichen Welt. Sowohl dieſe Sage, als
die folgenden, ſchließen jede wieder für ſich eine reiche Reihe von Perſo-
nen, Abenteuern, Schickſalen ein und runden ſich zu einem Ganzen ab.
Es treten die einzelnen Kreiſe der Heldenſage hervor, von Theſeus, dem
uralten attiſchen Heros der erſten Civiliſation angeführt, während Kreta
die Künſtlerſage von Dädalus und Ikarus liefert. Schon im attiſchen
Sagenkreiſe beginnen die blutigen Familiengreuel, wodurch die Sage die
ungebrochene Naturgewalt des Willens in heroiſcher Vorzeit zu äußerſt
fruchtbaren Motiven für die freiere Phantaſie erhebt, mit der Erzählung
von Tereus und Prokne. Die thebaniſche Sage liefert den ungeheuern
Stoff der Geſchichte des Hauſes der Labdakiden und des tragiſch ſchönen
Untergangs der Niobiden, die orchomeniſche und jolkiſche die an Geſtal-
ten und Begebenheiten fruchtbare Mähre der erſten kühnen Seefahrt, des
[454] Argonautenzugs, Theſſalien die Sage von Admet und Alceſtis, Peleus,
Thetis, Achilles, Aetolien von Meleagros und der Kalydoniſchen Eber-
jagd, Thracien von Orpheus. Der Peloponnes bildet ſeine eigenen reichen
Kreiſe aus, von Bellerophon, Jo, den Danaiden, Perſeus, den Dioſku-
ren, und mit der Sage von Pelops beginnt die blutige Fabel ſeines Ge-
ſchlechts, das nun unmittelbar zu jenem vollſtändigſten Sagenkreiſe, worin
die große kriegeriſche Unternehmung in Aſien gefeiert wird, dem trojani-
ſchen führt. Kein Volk hat ſeine Bubenjahre mit einer ſo ausgebildet
heiteren und wieder furchtbaren, ſo ausführlichen und alles Verwandte
organiſch vereinigenden Sage, wie die trojaniſche, gefeiert. Hier treten
denn verſammelt die großen Typen der einzelnen Tugenden des Volkes
in leuchtenden Bildern auf; die Ausfahrt, der Krieg, die Heimfahrt geben
ebenſoviele Anknüpfungen, die mehr vereinzelten Sagen, die Familien-
ſchickſale, wie namentlich die der Atriden, die in Ithaka gebildete Sage
von Penelope und ihren Freiern, die Schiffermährchen (in der Odyſſee)
hereinzuziehen. Das wilde aſiatiſche Weibervolk der Amazonen, das öfters
in dieſer griechiſchen Vorzeit auftritt, wird am Schluſſe auch noch in die-
ſen Cyklus aufgenommen.


Dieſe Sagen knüpfen ſich nun durchaus ſo an den Mythus, daß
Götter und Menſchen, Naturgeſetz und willkührliche Aufhebung deſſelben
bunt durcheinanderſpielen. Die Helden ſtammen von Göttern, werden
von Göttern geliebt und geſchützt, gehaßt und verfolgt, und es herrſcht
ein allgemeines Doppeltſetzen. Achilles faßt ſich, bezwingt ſich im Streit
mit Agamemnon: es iſt Athene, die ihn an der goldenen Locke ergreift.
Wir ſagen: es war, als zupfte mich etwas; hier thut es Athene wirklich.
Dieſe Phantaſie hat Alles vermenſchlichend verdoppelt, alles Bedeutende
thut die Natur oder ein Menſch, aber auch ebenſo ein Gott. Es iſt
nicht das geringſte Bewußtſein des Widerſpruchs in dieſer Verdopplung
vorhanden; es gibt daher kein Wunder, wie bei den Juden, welche die
Natur entgöttert hatten. Nur da tritt ein ſolches ein, wo die Naturge-
ſetze alterirt erſcheinen ohne perſönliches Wirken eines Gottes, wo das
einzelne Geſetz unvermittelt in das abſolute einſinkt und ſozuſagen der
feſte Boden unter den Füßen bricht. Während das perſönliche Eingrei-
fen der Götter zum Naturlaufe gehört, iſt es daher geiſterhaft, wenn
z. B. in der Odyſſee die Häute der geſchlachteten Thiere zu brüllen anfan-
gen (vergl. die feinen Bemerkungen in Solgers Aeſth. S. 153 ff.). Welche
herrlichen Motive aber die durchgängige Anknüpfung der Sage an den
Mythus gab, davon ſei als Beiſpiel nur die Sage von Achilles erwähnt,
wie ſie einem Skopas den Stoff zu ſeiner hochbewunderten Darſtellung
des gefallenen Helden, den die Meergottheiten nach der Inſel Leuke füh-
ren, gegeben hat.


[455]

Allerdings trat nun auch die urſprüngliche Stoffwelt in die Phan-
taſie als Gegenſtand ein ohne ausdrückliche Vergötterung: die großen
Momente und Perſonen der Geſchichte, die allgemeinen Culturformen,
Gottesdienſt, Gymnaſtik und Orcheſtik, Theater, Krieg, Jagd, Landleben,
häusliches Leben, Feſt, Genuß. Wir werden die Grenze dieſer Ausdeh-
nung auf die urſprüngliche Stoffwelt ſogleich auffaſſen; hier iſt zunächſt
das weitere Verhältniß noch auszuzeichnen, daß eine Phantaſie, die mit
dieſer Lebendigkeit des Beſeelens und Vermenſchlichens Alles ergrief, auch
das unmittelbare, ſtoffartige Leben auf allen Punkten im Sinne des an-
hängenden Schönen (vergl. §. 23, 3.) durchdringen mußte. Der Genuß,
das Feſt, die Waffe, das Geräthe, Alles wurde nicht nur in Formen
veredelt, ſondern beſtimmter eben in vergöttlichenden. Das Gewicht an
der Wage war ein Merkurskopf, das Trinkgefäß, den Candelaber zierten
Mythen u. ſ. w. Dieß gehört nicht erſt in die Kunſt, es hatte ſeinen
Urſprung in der Vollendung der polytheiſtiſchen Phantaſie.


2. Nur ſparſam und ſpät rückte die urſprüngliche Stoffwelt in die
Phantaſie ein, den Grund dieſer Einſchränkung brauchen wir nicht wei-
ter auseinanderzuſetzen. Auch mußte das Wenige, was aus ihr aufge-
nommen wurde, immer wenigſtens im Geiſte der Vergötterung, wenn
ſolche nicht ausdrücklich hervortrat, behandelt werden. Dieſe Wirkung
zeigte ſich im Kunſtſtyle, der auch bei Porträts, bei hiſtoriſchen Schlach-
ten u. ſ. w. angewandt wurde, und von dieſem Style können wir zunächſt
ſchon hier ſoviel ſagen, daß das Geheimniß, wodurch er überall vergöt-
ternd wirkte, ein Unterdrücken der engeren individuellen Züge, ein Er-
heben in’s Allgemeine, Gattungsmäßige war in einem Sinne, den das
Schöne in einem andern Ideal ſehr wohl überſchreiten kann, ohne ſich,
ohne die Idealität aufzuheben. Dieß iſt die Weiſe, in welcher ſich bei
den Griechen geltend macht, was wir in §. 62 eine Ariſtokratie der
Geſtalt nannten. Eine weitere weſentliche Begrenzung bringt der folg. §.


So iſt alſo die Phantaſie ganz auf Mythus und Sage, ſchließlich
auf die Religion geſtellt und daher unfrei. Allein bei den Griechen ſtellt
ſich ein verändertes Verhältniß der beſonderen Phantaſie zur allgemeinen
ein. Wie dieſe das Symbol, ſo überwindet jene, frühe mündig und
keiner Prieſterſatzung unterworfen, den Typus; die Dichter Heſiod und
Homer ſind es, die (Herodot 2, 53.) den Griechen ihre Götter gegeben
haben; wir dürfen ſagen: die Künſtler überhaupt, und den Prozeß als
ein flüſſiges Wechſelverhältniß bezeichnen, in welchem die begabtere Phan-
taſie den rohen Gott aus den Händen der allgemeinen empfing und rei-
ner, menſchlicher gebildet an ſie zurückgab. Sie war gebunden im Um-
fang, nämlich gegenüber der urſprünglichen Stoffwelt, frei in der Art
ihres Verfahrens. Dieß freie Bilden nun, ſollte man nach §. 62. 63.
[456] meinen, müſſe alsbald den unfreien Schein, zunächſt im Bewußtſein des
Künſtlers, dann in dem des Volks (vergl. §. 419) aufheben und ſo die
Wahrheit ſich geltend machen, daß die Kunſt „die Ironie des Ueberſinn-
lichen“ iſt. Allein ſo raſch geht es nicht; wie heiter auch die Ironie iſt,
mit welcher die Phantaſie, ſelbſt im Homer ſchon, den illuſoriſchen Stoff
behandelt, ſie bleibt dennoch ganz in der Illuſion. Dieſe Phantaſie dient
nicht mehr, weder einem prieſterlichen Willen, noch einer Lehre, ſie iſt
noch obligat in gewiſſen Grenzen (Attribute u. ſ. w.), allein ſelbſt die
Bedingungen, worin ſie obligat iſt, weiß ſie ſo zu wenden, daß ebenſo-
viele Schönheiten daraus erwachſen. Sie muß nicht mehr die Wahrheit
ſuchen helfen wie in Aegypten, wo ſie ebendadurch Nothhilfe und voll
ſaurer Arbeit war; die Wahrheit iſt gefunden: das Abſolute iſt der har-
moniſche Menſch. Die Phantaſie iſt daher jetzt eine Frucht, die ungeſucht
vom Baume fällt; ſie ſchafft das Schöne um des Schönen willen. Allein
ſie kennt dennoch ſich ſelbſt, die Folgen ihres freien und befreienden Thuns
noch nicht, ſie iſt überzeugt, dem Glauben zu dienen, ſie meint, nur das
Gemüth erheben, erfüllen zu wollen, ſie ſpricht von ſich ſelbſt ganz dog-
matiſch, als wäre es ihr um Lehren und Förderung der Andacht zu thun,
und doch iſt ihr das Schöne Selbſtzweck, ohne daß ſie es weiß. Heutiges
Tags weiß Jeder an den Fingern abzuzählen, daß und warum das
Schöne keinen Zweck außer ſich haben ſoll, und doch weiß er nichts Schö-
nes zu machen, während nach dem Grundſatz der freien Schönheit friſch-
weg gehandelt wurde, als man ihn noch nicht im Begriffe kannte, als
man noch trocken meinte, es handle ſich um didaktiſche Zwecke.


§. 437.

1

Dieſe Phantaſie erſt hat alſo wahrhaft das Gebiet der menſchlichen
Schönheit
eingenommen und hält es neben dem thieriſchen ausſchließlich
2feſt. Jetzt erſt, da die menſchliche Perſönlichkeit im Gotte von jedem ſtörenden
Zufall rein vorgeſtellt wird, iſt das Ideal in ſeiner eigentlichen Bedeutung
möglich. Es gibt viele Götter und jeder derſelben unterſcheidet ſich vom andern
durch die zur individuellen Eigenheit aufgehobene ſymboliſche Naturgrundlage,
den darauf gebauten geiſtigen Charakter und die ihm entſprechende Geſtalt.
Allein in dieſem Ideal muß zunächſt um des mythiſchen Standpunktes willen
die einzelne Geſtalt ſchön ſein, und ſo hält die griechiſche Phantaſie
mit ſicherem Tacte die Grenzlinie ein, wo die Individualität den reinen Gat-
tungstypus in härterer Abweichung überſchreitet; jeder Gott bleibt mitten in ſeiner
Beſtimmtheit frei und allgemein die ganze Gottheit in ungetrübter, ſchmerzloſer
Unendlichkeit und Selbſtgenugſamkeit. Ein Wiederſchein dieſer Abſolutheit theilt
ſich auch der aus der urſprünglichen Stoffwelt aufgenommenen Perſönlichkeit mit.


[457]

1. Wir hatten, als wir die orientaliſche Phantaſie landſchaftlich
nannten, dem Mißverſtändniß zuvorzukommen, als habe ſie irgend die Land-
ſchaft äſthetiſch auffaſſen können; ſie vereinzelte ihre großen Erſcheinungen,
um ſie im Symbole wieder zu vergeſſen. Aber doch waren dieſe Er-
ſcheinungen der wichtigſte Gegenſtand ihrer Verehrung. Die Griechen
dagegen vergaßen nicht nur die Naturerſcheinungen über dem Symbole, das
ſie ſelbſt bedeutete, ſondern auch dieſes über dem Gott, welcher Sittliches
— nicht bedeutete, ſondern war. Der Gott ſog die Landſchaft in ſich
auf; ſtatt des Fluſſes ſahen ſie den Flußgott, ſtatt des Aethers Zeus
u. ſ. w., und im Flußgott, in Zeus ſahen ſie ſittliche Zwecke, worauf
ſie die Naturerſcheinung bezogen. Im modernen Sinn aber konnten
ſie ohnedieß keine Sehnſucht nach der Natur und dem Widerſchein
ſubjectiver Stimmungen in ihr haben, weil ſie ſelbſt Natur waren. Sie
fanden und erkannten wohl das Gewaltige, Liebliche, Segensreiche, Zer-
ſtörende in ihren Erſcheinungen, aber immer nur in ſeinen Wirkungen auf
menſchliche Bedürfniſſe, Genüſſe, Zwecke, wie noch heute nicht der Süd-
länder ſelbſt, ſondern der Nordländer die Schönheit jener Natur äſthe-
tiſch
anſchaut. Beſondern Sinn aber mußten ſie für thieriſche Schönheit
haben; die zerfließenden Potenzen der Luftperſpective, des Helldunkels,
der undeutlichen Blättermenge des Baums waren ihnen zu unbeſtimmt, das
Thier aber iſt organiſch feſt, compact, von klarem Umriß. Ihre eigene
menſchliche Lebensform in ihrer bruchloſen Einfachheit war Menſchenwürde
in Verwandtſchaft mit edlerer Thierheit (vergl. §. 350), daher iſt das
volle Gefühl für die Thiergeſtalt ausgebildet. Die Indier, die Aſſyrer,
Perſer, Aegyptier waren ebenfalls glücklich in der Auffaſſung und Wie-
dergebung derſelben, aber die Symbolik, die ein unendliches Geheimniß
im Thier ahnte, band doch die Hand der Phantaſie. Die Griechen liebten
die Thierform wie etwas Verwandtes, ſtellten ſie aber darum keineswegs
zu hoch; war der Menſch in gewiſſem Sinn thierähnlich, ſo fühlte er
ſich auch als eine unendlich edlere Thierart, war ſich auch des unendlichen
Mehr, des abſoluten Unterſchieds der Menſchenwürde bewußt. Der Menſch
iſt daher und bleibt der höchſte und wichtigſte Stoff dieſer Phantaſie und
ſo iſt das Bild des Menſchen, das ſie ſchafft, erſt wahrhaft menſchlich:
nicht nur der Thierkopf iſt verſchwunden, ſondern auch das ſtarre, todte
Angeſicht; es hat Seelenblick, es ſieht Auge in Auge, es grüßt menſchlich
den Menſchen.


2. Iſt der Gott Menſch, ſo bringt die Bedeutung ihre Geſtaltung
ſelbſt organiſch mit, die ſie als ihr eigener Gehalt durchdringt. Wird nun
der ſo gegebene Stoff als Gehalt und Geſtalt von allem ſtörenden Zufall
gereinigt und in’s Unendliche gehoben, ſo entſteht das Ideal. Man
kann nur in ungenauem Gebrauche des Worts von einem Ideale der
[458] orientaliſchen Phantaſie reden. Nun liegt aber eine Schwierigkeit vor.
Die freie Phantaſie ſoll (ſ. §. 388) einen Gegenſtand aus der urſprüng-
lichen Stoffwelt innerhalb ſeiner Individualität in’s Unendliche
umbilden. Davon, daß dieſe Individualität bei den Griechen ihre unend-
liche Eigenheit noch nicht in ſubjectiver Vertiefung zuſammenfaßte, ſehen
wir jetzt noch ab; auch ſo war für ſie der Einzelne nur ſich ſelbſt gleich,
hatte Züge, die nur einmal ſo vorkommen konnten. Zwar ſie idealiſirten
ja (zunächſt wenigſtens) nicht den empiriſchen Menſchen, ſondern ſie
ſchufen Götter. Nun wiſſen wir aber bereits, wie der Gott, der an ſich
die empiriſch menſchliche Individualität nicht hatte, doch eine ſolche bekam:
durch ſeine Naturgrundlage (vergl. §. 434). Die ſo begründete Indivi-
dualität nun enthielt als ſolche auch die Möglichkeit, bis zu der härteren
Eigenthümlichkeit fortzugehen, welche aus der reinen Harmonie des Lebens
und ihrem Ausdruck in den reinen Gattungszügen der Geſtalt in unregel-
mäßigerer Linie ausbiegt. Dieſe härtere Ausbiegung verbot aber zunächſt
der mythiſche Standpunkt: der Gott ſollte ja Gott bleiben, er durfte
alſo bis zur Beſonderung fortgehen, aber nicht bis zur Vereinze-
lung
; die Götter ſtellten gewiſſe Kreiſe des Lebens dar, „ſie erſchie-
nen als das Allgemeine deſſen, was der Menſch
(je in be-
ſonderen Sphären) als Individuum (zerſprengt und mangelhaft) iſt
und vollbringt
“ (Hegel a. a. O. Thl. 2, S. 94); und auch dieſe Be-
ſonderheit ſollte ungetrübt wieder die Allgemeinheit, der ganze Gott ſein,
dieſer heitere Widerſpruch des Polytheiſmus durfte nicht zerhauen werden.
Schon darum mußte in dieſem idealen Kreiſe und in allen weiteren, die
er mit ſeinem Götterlichte beſchien, die einzelne Geſtalt ſchön ſein.
Wir werden ſehen, daß das Mittelalter, obwohl auch noch mythiſch vorſtel-
lend, nicht dieſelbe äſthetiſche Pflicht hatte. Allerdings aber erklärt ſich die ganze
Bedeutung dieſes Geſetzes erſt aus den folgenden §§. Was thaten nun die
Griechen, um dem Ideale individuellen Anhauch zu geben und doch jene Linie
nicht zu übertreten? Sie zogen mit zarter Hand die Geſtalt bis an die
Schwelle derjenigen Abweichungen von der Gattung, durch die ſich das In-
dividuum iſolirt, hüteten ſich aber wohl, ſie zu überſchreiten. Sie näher-
ten leiſe die Formen einer Ausſchweifung, welche je der Aufgabe gemäß
mehr oder minder an das Thieriſche oder bei dem Mann an das Weib-
liche, bei dem Weib an das Männliche grenzte; aber genau, wo ein
Abſprung entſtanden wäre, der nur zu löſen geweſen wäre, wenn der
Gott, mit der Vielheit der menſchlichen Individuen auf Eine Linie geſtellt,
durch die äſthetiſche Mitwirkung dieſer ſeine Mängel hätte ergänzen können
— was ja eben nicht der Fall war, —: da hielten ſie inne. So hat das
Jupiter-Ideal etwas vom Löwen, das Here-Ideal vom Stiere, Apollo
und Artemis vom Hirſche; Athene grenzt an das männlich Herbe, Dio-
[459] nyſos an das weiblich Weiche, aber ſo wenig jene thieriſch werden, ſo
wenig wird Athene männiſch, Dionyſos weibiſch. So gab es eine Viel-
heit von Idealen und jeder Gott war doch wieder das Ganze, und wie
ſein verklärter Leib, ſo ſeine Seele; ſie ließ ſich in beſtimmte Zwecke ein,
kämpfte, litt, und war doch mitten im Einlaſſen, in der Verwicklung über
ſie hinaus und bewegte ſich ſelig im Aether des Allgemeinen, auf den
wolkenloſen Höhen des Olympos. Dieß hat Hegel (a. a. O. Thl. 4,
Seite 73 ff.) unübertrefflich dargeſtellt. Es war in der Bildung einer
Vielheit von Göttern außer den überlieferten Naturgrundlagen allerdings
ein Ergänzungs-Inſtinct thätig. Es ſollte, da der harmoniſche Menſch
nicht der Einzelne, ſondern das Volk iſt, eigentlich ſo viele Götter geben,
als Griechen; dieß wäre natürlich das Ende des Polytheiſmus, denn das
wären keine Götter mehr, ſondern das Ganze derſelben, das für ſich keine
Perſon iſt, wäre Gottheit, und die Phantaſie wäre ganz frei an die erſte
Stoffwelt gewieſen. Alſo mußte der Vielheit der Götter eine Grenze
geſetzt ſein, alſo durfte man nur eine ungefähre Vollſtändigkeit ſuchen,
welche die weſentlichſten ſittlichen Richtungen des Volksgeiſtes (in Ver-
wandtſchaft mit der umgebenden Natur) umfaßte, und ſo wurde es ge-
halten. Zu weiterer Vollſtändigkeit führte dann die Sage, die an den
Mythus anknüpfend die großen Typen des Volkscharakters bildete. Dieſe
ſind gottähnlich, nur Alles um eine Stufe tiefer; in einem gewiſſen Um-
fang mußten nun allerdings ſtrenger individuelle Abweichungen aufgenom-
men werden; aber auch dieſe erhält eben das ideale Band, das den
Menſchen an den Gott knüpft, im ſchwungvollen Fluſſe, der es nicht bis
zur ſchroffen Härte kommen läßt: ſo gleicht Achilles theils dem Zeus,
theils dem Apollo, Ajax erſcheint ebenfalls löwenartig, nur wilder, dem
Poſeidon ähnlicher, Odyſſeus iſt gedrungen, ſtierähnlich, wie der Halb-
gott Herkules, Helena gleicht der Aphrodite. Dieß ging denn bis zu den
Porträtbildungen herab. Die Schmeichelei, welche die Haare des Alexander
nach denen des Jupiter behandelte, die römiſchen Kaiſer apotheoſirte, war nicht
möglich, wenn nicht der ganze Standpunkt der Anſchauungsweiſe ſie nahe legte.


§. 438.

Dieß Ideal iſt aber näher das Ideal eines Volks, das ethiſch iſt ohne
Bruch mit der Natur (§, 349. 425); es iſt daher im geiſtigen Gehalte, folg-
lich im Ausdruch ſeines Ideals kein Neberſchuß, der ſich nicht hemmungslos
in das Ganze der Geſtalt ergießen könnte. Nun muß es zwar auch ein Ideal
geben können, worin ſich der Gehalt ganz anders zur Geſtalt verhält, aber
für die Vollendung eines ſolchen wird die völlige Löſung der, zwar einfacheren,
Aufgabe der griechiſchen Phantaſie muſterhaft bleiben; daher heißt das
griechiſche Ideal claſſiſch.


Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 30
[460]

Die Darſtellung des griechiſchen Volkscharakters §. 348 ff. über-
hebt uns einer weiteren Auseinanderſetzung des bruchloſen Verhältniſſes
zwiſchen Geiſt und Sinnlichkeit im griechiſchen Ideal; naturwüchſig, wie
die ganze Bildung dieſes Volks war, liberal, ſinnlich ſittlich, ſo mußte
auch ſein Ideal ſein, das Geiſtige mußte in ihm in die ganze Leiblich-
keit ohne Reſt von Innerlichkeit ergoſſen, mußte „leibliche unerinnerte
Gegenwart“ ſein (Hegel a. a. O. Th. 2, S. 234). Nun hat ſich aber
auf dieſem Punkte eine logiſche Ungenauigkeit in die Aeſthetik eingeſchlichen;
man ſpricht, als wäre ebendieß ſchlechtweg das Ideal geweſen. Allein
die von der griechiſchen ganz verſchiedene Aufgabe, eine Geſtalt aufzu-
ſtellen, in welcher der Ausdruck über die leibliche Form überwiegt, in
welcher eine Innerlichkeit ſich kundgibt, welche eine zu große Tiefe hat,
um ihr organiſches Gefäß ſo bis an den Rand zu füllen, daß nicht im-
mer noch eine unerſchöpfte Unendlichkeit zurückbliebe: dieſe Aufgabe kann
ebenfalls und ſoll auf ganz ideale Weiſe gelöst werden; denn ebendieß,
daß das innere Leben über ſein leibliches Gefäß unendlich hinausgeht,
kann und ſoll durch die äſthetiſche Behandlung dieſes Gefäßes vollſtändig
dargeſtellt werden, ſo daß dennoch in dieſem Sinne das Innere und
Aeußere auch hier ſich decken. Im Ideal Chriſti iſt die ganze Negativität
des geiſtigen Lebens darzuſtellen und dennoch ſo, daß die Phantaſie eben-
dieſe Aufgabe ganz naiv, ganz unmittelbar und mit Einem Schlage löst.
Berührt haben wir dieſen Punkt ſchon zu §. 425, Anm. 1. Allein das
iſt wahr, daß dieſe Aufgabe ſchwerer iſt, daß es nahe liegt, ſtatt die
Unzulänglichkeit des Leiblichen zulänglich darzuſtellen, die Unzulänglichkeit
in die Darſtellung und Behandlung zu legen und zu meinen, durch Steife,
Dürftigkeit der Phantaſie, durch Körperloſigkeit ſprechend, ausdrucksvoll
zu werden. Da ſtehen dann die Griechen als Claſſiker, als „ein ge-
wiſſer Adel unter den Schriftſtellern“ (Kant Kr. d. äſth. Urthlskr. §. 32)
und hat die Phantaſie von ihnen als ewigen Muſtern zu lernen, wie ſie
zwar nicht daſſelbe, aber gleich ihnen das, was ſie ſagt, ganz ſagen
ſoll, rund, völlig, compact. Daß ein Reſt von Innerlichkeit ſei, der nicht
ganz heraus will, ebendieß ſoll dann die Geſtalt ohne Reſt ausdrücken.


§. 439.

1

Dieſes Ideal hervorzubringen iſt Sache der bildenden[Phantaſie] und
zwar der auf das taſtende Sehen begründeten (§. 404); denn das bruchlos
ergoſſene Innere muß als organiſch immanentes Maaß im Körper als ſchönem
Gewächſe auch die feſten Formen deſſelben ſo durchdringen, daß eine reine
Einheit des Gemeſſenen und Ungemeſſenen ſich bildet, welche weder gemeſſen,
noch blos als flüchtiger Licht- und Farben-Schein erfaßt werden kann, ſondern
[461] mit dem Auge gegriffen ſein will. Durch dieſe Beſtimmtheit der Phantaſie,
2
vereinigt mit der in §. 438 ausgeſprochenen, erhält erſt das Geſetz, daß in
dieſem Ideal die einzelne Geſtalt ſchön ſein ſoll (§. 437), ſeine völlige Be-
gründung. Eine ſo freie Phantaſie wird ſich nun zwar auch in den andern
3
in §. 404 aufgeſtellten Arten bewegen, doch ſo, daß jene Weiſe die beſtim-
mende bleibt, was man vorzugsweiſe objectiven, realiſtiſchen Charakter nennt.


1. In der Kunſtlehre werden wir den einfachen rechten Namen für
dieſe Auffaſſungsweiſe erhalten: ſie iſt plaſtiſch. Allein es iſt kein
Spiel, daß wir ihn im vorliegenden Abſchnitt an den Hauptpunkten noch
vermeiden und den inneren Grund des vorzüglichen Berufs der Alten zur
Plaſtik mit anderen Worten ausſprechen. Das geiſtig Innere im griechi-
ſchen Ideal geht ganz in die Geſtalt heraus; es werden daher alle Theile
derſelben ſprechen, nicht nur Angeſicht, Auge, Hand, ſondern ebenſo Hals,
Bruſt, Schulter u. ſ. w.; es dringt als Maaß in die organiſchen Formen,
die zugleich das Maaß in freien Schwingungen des Runden mit der Un-
meßbarkeit alles organiſchen Lebens umſpielen. Wir haben hierin eine
Harmonie deſſen, was in der orientaliſchen Phantaſie dualiſtiſch kämpfte,
des Gemeſſenen und Ungemeſſenen. Zu meſſen ſind dieſe Verhältniſſe
nicht, außer wenn das Ideal durch Kunſt in hartem Stoffe fertig daſteht,
ſie entſtehen nicht durch Meſſung. Aber ebenſowenig entzieht ſich der
Ausdruck des Innern dem Feſten, um als flüchtiger Licht- und Farben-
Schein eine hinter den klar begrenzten Formen verborgene Unendlichkeit ma-
giſch zu beleuchten; alſo iſt es auch das eigentliche Sehen nicht, worauf dieſe
Phantaſie geſtellt ſein kann. Es bleibt das taſtende Sehen, das greifende
Auge; denn das ſo verfahrende Organ faßt Feſtes, das doch keinem geo-
metriſchen Calcul unterliegt, Formen, Verhältniſſe, rund, warm, fließend,
von Muſkeln, Hautleben umſpielt, faßt die Regel im Spiel, das Spiel
in der Regel.


2. Nun haben wir alle Bedingungen beiſammen, welche die Noth-
wendigkeit begründen, daß in dieſem Ideal die einzelne Geſtalt ſchön ſei.
Aus §. 438 geht hervor, daß hier kein Ueberſchuß innerlichen Ausdrucks
iſt, der für mangelhafte Formen Erſatz böte, und aus dem gegenwärtigen
§., daß die Art, zu ſehen, worauf dieſe Phantaſie ruht, ſich auf die
Momente der Erſcheinung, worin dieſer Ueberſchuß ſich kund gibt, auf
die ahnungsvollen Wirkungen in Licht, Dunkel, Farbe nicht einläßt. Da-
zu kommt noch ein weiterer Punkt, der ſich ergibt, wenn wir dieſen §.
mit dem erſten, in §. 437 angegebenen Grunde zuſammenfaſſen. Dort hieß
es, der Gott ſtehe außer der Linie der einzelnen Individualitäten in ihrer Viel-
heit; die bildende Phantaſie nun, die auf dem taſtenden Sehen ruht, iſt eben
auch diejenige, welche nicht eine Maſſe vieler Geſtalten umſpannen kann, wie es

30*
[462]die vermag, welche auf dem maleriſchen Sehen ruht. Unter den Vielen, welche
die letztere umfaßt, können ſich auch ſolche befinden, die in Formen unſchön ſind,
aber dieſe Unſchönheit hebt ſich in den fließenden Wirkungen der allgemeinen
Medien (des Lichts und der Farbe) und in der Wechſel-Ergänzung ſchö-
nerer, unter denſelben Medien befaßter Individuen wieder auf.


3. Im Geiſte der bildenden Phantaſie muß ſich nun in dieſem Ideal
auch die eigentlich meſſende, die empfindende, die dichtende Phantaſie be-
ſtimmen. Die erſte wird dem Ungeheuren entnommen in ruhige Maaße
einlenken, welche mannigfach ſchon an organiſch menſchliche Verhältniße
anklingen werden (Säule); die zweite wird das bewegte Innere ſtrenger
meſſen und, ſofern ſie ſich in die dichtende fortſetzt, mehr bewegte Gegen-
ſtände, als blos Bewegungen des hervorbringenden Subjects geben; die
dritte wird in dieſer und ihren andern Formen gegenſtändlich verfahren
und in ſcharfen, taſtbaren Umriſſen zeichnen. Die Objectivität dieſes
ganzen Verhaltens hat einen doppelten Sinn: das geſchaffene Phantaſie-
bild zeigt Gleichgewicht des Ausdrucks und des Leibs, das ſchaffende
Subject aber kann ſich ebendarum nur in Erſcheinungen legen, deren
volle Gegenſtändlichkeit ſein ganzes inneres Leben in ſich aufnimmt: wie
im Object, ſo iſt auch im Subject kein zurückgebliebener Reſt. Das Letztere
nennt man realiſtiſch, das Erſtere objectiv. In der dichtenden Phantaſie
erfährt nun das Geſetz, daß die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, aller-
dings eine Einſchränkung, hier bewegen ſich mit ſtärkerer Betonung des
geiſtigen Ausdrucks viele Individuen vor der Phantaſie; doch wird auch
dadurch der Spielraum für unſchöne Formen nie ſo erweitert, wie wir
dieß in den folgenden Idealen, dem romantiſchen und modernen finden
werden. Die Unform ſelbſt erhält von dem fortwirkenden Geiſte des bilden-
den Verfahrens einen gewiſſen Schwung des Großartigen, für den wir
in der Kunſtlehre den rechten Namen finden werden.


§. 440.

1

Der herrſchende Standpunkt dieſer Phantaſie iſt das einfach Schöne.
Danach beſtimmt ſie auch das Erhabene, in welchem ſie ſich jedoch nicht auf
die objective Form beſchränkt, ſondern weſentlich auch auf die ſubjective, und, da
die dunkle Macht des Schickſals (§. 435, 1.), zwar nicht ohne einen Reſt
unaufgelöster Naturnothwendigkeit, in die Dialektik einer ethiſchen Bewegung
2eingeht, auf die tragiſche Form ausdehnt. Danach beſtimmt ſie auch das Ko-
miſche
, das ihr jedoch ſparſamer und auch in ſeiner reichſten Ausbildung nur
3auf der ſteten Grundlage der Poſſe zugänglich iſt. Uebrigens da das Ideal
die Naturgeſetze durchbricht, ſo entſteht als neue Form des Komiſchen das
[phantaſtiſch] Komiſche oder Grotteske.


[463]

1. Warum der Standpunkt der des einfach Schönen iſt, bedarf keiner
Nachweiſung. Im Fortgang zum Erhabenen wird nicht, wie bei den
Orientalen, das objectiv Erhabene der Standpunkt ſein, unter dem auch
das Erhabene des Subjects behandelt wird, d. h. das Ungeheure und
Coloſſale wird ſich auch hier ermäßigen und verſchwinden, ſo daß dieſe
Form, da ja die ganze Phantaſie auf die menſchliche Schönheit geht, ganz
in ihrem eigenen Sinne behandelt werden wird, aber unter dem Geſichts-
punkte des einfach Schönen: d. h. nicht verborgene innere Kämpfe, ſondern
immer nur ſolche, welche ganz in das Greifbare heraustreten, können zur
Darſtellung kommen. Zwar wird hier mit dem Furchtbaren auch das
Häßliche eintreten, aber auch hier ſich bewähren, daß das für die einzelne
Geſtalt geltende Geſetz der Schönheit nur mäßige Einſchränkung erleidet:
Maaß und Grazie, ein nicht verſchwendeter Schatz von Ruhe und Milde
wird ſelbſt den äußerſten Kampf noch dämpfen, wie Winkelmann vom
Laokoon ſagt, daß er eine bewegte See ſei, deren unterſter Grund ruhig
geblieben. Das Erhabene des böſen Willens kann ohnedieß noch keine
Rolle ſpielen (vergl. §. 353). Man ſehe zum Beleg für dieſe Sätze
nur die Rondaniniſche Meduſe an: durch die edeln Züge grinst nur leiſe,
aber deſto wirkſamer das Erſtarren des Todes, jenes von fern an das
Erbrechen erinnernde Zucken. Nun erſt iſt aber auch das Tragiſche mög-
lich, das Schickſal tritt in Wirkung. Wir ſahen oben, daß es eine ethiſche,
aber zugleich noch dunkle Naturmacht iſt. Daraus folgt, daß vorzüglich
das Tragiſche als Geſetz des Univerſums die dieſem Ideal gemäße Form
ſein wird (vergl. §. 130), der Neid der nivellirenden Allgemeinheit. Nun
tritt allerdings der ethiſche Geiſt dieſes Ideals nothwendig auch in das
Tragiſche der einfachen Schuld und des ſittlichen Conflicts über (§. 131
ff. 135 ff.); allein es bleibt immer etwas von der erſten Form, dem
Neide des Schickſals als einer Naturmacht zurück. Im Conflicte bekämpfen
ſich Heroen, deren jeder Recht im Unrecht hat; das Schickſal iſt die un-
getheilte Einheit der ſittlichen Macht, die ſie in Einſeitigkeit theilen; es
treibt ſie aneinander, es ſtraft ſie. Dieſe Idee kann aber bei den Grie-
chen nicht rein in Geltung treten; das Schickſal bleibt zugleich eine
neidiſche dunkle Macht, welche den Glanz großer Geſchlechter nicht dulden
will, daher ihnen tückiſch als böſer Zufall nachſtellt und die Schuld des
Ahnherrn am Enkel dadurch rächt, daß dieſer neue Schuld begeht, und
für dieſe, die doch ſelbſt ſchon Strafe für die Schuld des Ahnherrn iſt,
erſt noch Strafe leidet. Daher iſt der Enkel ſchuldig und unſchuldig; es
herrſcht eine ungelöste Antinomie. Das Schickſal iſt daher ein fürchter-
licher
Abgrund, das Grauſenhafteſte, was die Griechen kannten, das
am meiſten Geſpenſtiſche, was ihr Ideal aufweist, halb rationell, eine
ethiſche Macht, halb irrationell, mit dem beſtändigen Reize, es als ge-
[464] rechtes Geſetz zu begreifen, Verſteckens ſpielend und dadurch doppelt
ſchauerlich. Hätten die Griechen erkannt, daß der Menſch in ſich ſelbſt
durch ſeinen Willen und Entſchluß den Zufall des Gegebenen aufzuheben
hat, ſo hätten ſie auch das Schickſal, das Geſammtgeſetz in dem Willen
der Einzelnen, als eine den Zufall ſtets vorausſchickende und ſtets in die
ſittliche Weltordnung aufhebende Macht begriffen. Nun aber waren ſie
zu ſehr Natur, um ſchließlich in ſchwierigen Fällen den Entſchluß aus
ſich zu nehmen; ſie warfen das freie Ich hinüber in die Götter, von
dieſen in das Schickſal und ließen ſich durch Zeichen und Orakel den
eigenen Entſchluß als fremden Rath herüberreichen; der Zufall des Be-
ſtimmtſeins von außen durch die Umſtände, von innen durch Anlage, er-
erbtes Temperament u. ſ. w. fand in ihnen ſelbſt nicht reinen Abſchluß
im denkenden Bewußtſein und Willen. Warfen ſie nun ihr innerſtes Ich
in ein Jenſeits hinüber als Schickſal, ſo warfen ſie mit ihm dieſen un-
gelösten Bruch zwiſchen Naturbedingung und Wollen in daſſelbe hinüber;
das Schickſal iſt daher halb ſittliches Geſetz, halb aber, im Hintergrund,
Naturmacht, welche verderblichen Zufall ſchickt, der nicht in ſittlichen Zu-
hammenhang aufgeht, ſich nicht löst: die tragiſche Verſöhnung bleibt un-
vollſtändig, wie die Schuld keine reine iſt.


2. Selbſt Ariſtophanes bleibt auf der Grundlage der Poſſe, ob er
ſich gleich, an die Grenze der Auflöſung des griechiſchen Lebens geſtellt, die
wir ſofort beſonders zu erwähnen haben, in eine viel höhere Komik erhebt;
im Witze iſt es der bildliche, der dieſer Phantaſie vorzüglich entſpricht.
Es iſt klar, daß auch im Komiſchen nicht die feinverborgenen Irrwege,
nicht die Widerſprüche eines zerriſſenen Gemüths an Tag treten können,
da ſolche noch gar nicht an der Zeit ſind; die Widerſprüche und Riſſe des
öffentlichen Lebens dagegen, welche handgreiflich erſcheinen, kann ſchon die
Poſſe darſtellen. Wie weit nun aber das Komiſche verhältnißmäßig auch
gehen mag, an ihm wird ſich vorzüglich bewähren, was zum vorh. §.
über die Einſchränkung des Unſchönen in dieſem Ideale geſagt iſt; zunächſt
jedenfalls in der eigentlich bildenden Phantaſie. Am vollſten iſt die Ko-
mik im Kreiſe des Dionyſos, aber auch hier, wie ſanft gedämpft iſt das
Gemeine, wie edel noch das Niedrige, welche ſüße und heimliche Wehmuth
im Ueberſchwang der Luſt geht durch dieſe muthwilligen Schaaren! Sie
ſind traurig vor lauter Schönheit. In der dichtenden Phantaſie nun frei-
lich wird es zur kecken Fratze, zum unbändigen Muthwillen kommen, der
ſogar, was ein Widerſpruch gegen unſere Behauptungen ſcheint, dem
Cyniſchen einen unglaublichen Spielraum geſtattet. Allein das Cyniſche
iſt immer noch viel unſchuldiger, als alles innerlich Verzerrte und Zerriſſene:
dieſes und ſeine äußere Erſcheinung wäre vielmehr den Griechen ſchamlos
erſchienen. Die häßliche Perſönlichkeit ſelbſt und ihre fratzenhafte Geſtalt
[465] iſt im griechiſchen Ideal etwas in ſich Beſchloſſenes, ein mit ſich zufriede-
nes Ganzes, dem in dieſer Ganzheit eine gewiſſe Größe nicht abgeht,
das in ſeiner Weiſe abſolut, dem Göttlichen im Sinne der Parodie ähn-
lich iſt und daher das Band der Schönheit viel keuſcher bewahrt, als das Ver-
witterte, Blaſirte, Zerfetzte, deſſen die moderne Komik mächtig iſt: überall
eine Unſchuld, welche zeigt, daß das plaſtiſche Gefühl ſelbſt in die Komödie
ſich fortſetzt.


3. Das Grotteske iſt das Komiſche in der Form des Wunderbaren.
Die Phantaſie der Griechen konnte zwar das Erhabene, wo es die Natur-
geſetze durchbricht, nicht als Wunder behandeln. Göttererſcheinungen ſind
daher von erſchütternder, oft an das Geiſterhafte ſtreifender Wirkung, aber
nicht eigentlich wunderbar. Die Komik dagegen ging über die Auflöſung
des Naturzuſammenhangs, welche die Religionsvorſtellungen als etwas
an die Hand gaben, das ſich von ſelbſt verſtehe, mit der freieſten Will-
kühr noch weit hinaus und erſann Störungen des naturgemäß Mögli-
chen, die allerdings die ganze Ueberraſchung eines vom heitern Wahnſinn
geſchaffenen Wunders mit ſich führen mußten; man denke an die Vögel,
Fröſche, Weſpen, den Miſtkäfer des Ariſtophanes. Die Orientalen hat-
ten, um hier ihr Verhältniß zum Komiſchen noch einmal zu berühren,
Fratzen genug, die uns komiſch ſind, es aber ihnen nicht ſein konnten.
Ganz fern lag das Komiſche den Juden; dieſer herbe und zähe Geiſt
hatte ſich zu tief in den Dualismus verbiſſen, um ihn, der doch eben die
Grundlage des Komiſchen wäre, im Scherze aufzulöſen. Der Humor
war ihnen ſo fremd wie dem jetzigen Pietiſmus.


§. 441.

Wie ſich der Kreis des Komiſchen zum Humor erweitert, der Widerſpruch
zwiſchen der Einheit des Schickſals und der Vielheit der Götter zum Bewußtſein
kommt und ebenhiemit das Schickſal in das Innere des Menſchen tritt, beginnt
auch die Auflöſung dieſes Ideals.


Man hat die Nothwendigkeit des Untergangs der griechiſchen Götter
ſchon ausgeſprochen, wenn man erwähnt, wie Zeus bald dem Schickſal
gebietet, bald unter ihm ſteht: ein Widerſpruch, der mit dem Beginne der
ſubjectiven Bildung (§. 351) auch in das Bewußtſein treten mußte.
Bei Ariſtophanes iſt das Schickſal ſchon zur verzehrenden Dialektik der
Götter geworden und nun iſt der Humor da. Dieß aber iſt zugleich ein
Eintreten des Schickſals in das Innere des Menſchen; es wird Ich und
die Götter ſind geſtürzt (vergl. Kritiſche Gänge Th. 2, S. 368).


[466]
Ausgang.

§. 442.

Das römiſche Volk, mehr objectiv als ſubjectiv äſthetiſch, gibt dem Reiche
der Phantaſie, das es mit den Griechen theilt oder von ihnen übernimmt, keinen
oder nur geringen, durch einen Zug des Geiſterhaften unterſchiedenen Zuwachs,
behandelt aber das Gemeinſame und Ueberkommene ſeinem Charakter gemäß
in einem Geiſte der Mächtigkeit und Feierlichkeit, worin ſich die ernſte prak-
tiſch politiſche Bedeutung ſeiner Religion ausſpricht. Doch erzeugt es eine eigene,
zwar ſparſamere Heldenſage und ſein Dualiſmus (§. 352, 1) bedingt neben der
erhabenen Stimmung ein ſelbſtändiges Talent zum Komiſchen.


Es iſt ſchon zu §. 352 ausgeführt, wie die Römer zu den Völkern
gehören, welche Stoff des Schönen mehr ſind, als machen. So ſind auch
an ihrer Religion die Sacra, der Gottesdienſt, wie er erſcheint, als ein
Alles durchdringender politiſch religiöſer und ſehr ſuperſtitiöſer Cultus wich-
tiger, als ihr Götterglaube. Jene wurden zu §. 352 erwähnt, ihre Re-
ligion iſt durch dieſen praktiſchen Charakter mehr Stoff für einen Dritten,
als er es für ſie ſelbſt ſein konnte. Die meiſten Götter theilen ſie be-
kanntlich durch die urſprünglich pelaſgiſche Bevölkerung Italiens und den
frühen Verkehr zwiſchen den Etruskern und Griechen mit dieſen; was
eigenthümlicher iſt, hat theils noch eine mehr ſymboliſche Geſtalt, wie
Janus mit ſeinem Doppelgeſichte, theils muß etwas Geſpenſtiſches, Gei-
ſterhaftes in der Phantaſie eines Volkes auftreten, das eine zwar große,
aber düſtere Welt ſich baut, in welche das Innere nicht mit freier Heiter-
keit ſich ergießt; da tritt ſchon ein Zug der Ahnung ein, die hinter den
Dingen helldunkle Schattenbilder ſchweben ſieht; man denke namentlich
an die Lemuren, Larven, Lamien, an jene mit Hämmern bewaffneten
Todtengenien der Etruſker. Aeſthetiſch wichtig iſt aber namentlich dieß, daß
die Römer weit weniger Mythen hatten, als die Griechen. Der Gott
iſt zwar perſönlich, aber die Phantaſie erwartet mehr Handlungen von
ihm in ſeinem Verhältniß zum Staate, als ſie ſich in heiterer Dichtung
vergangener abſoluter Handlungen des Gottes an ſich ergeht. Dieß iſt
es, wodurch ſich vornämlich die praktiſch politiſche Natur dieſes Volks
äußert, das ebendaher wenig äſthetiſche Phantaſie hatte, weil ſein Kunſtwerk
der Staat war. Dagegen begreift ſich, daß es ſeine eigene Heldenſage
hatte, die, mit Aeneas an die griechiſche anknüpfend, die Geſchichte der
ewigen Stadt mit gewaltigen Männergeſtalten eröffnet. Daß nun dieſes
Volk die überkommene Götterlehre weniger im Sinne des einfach Schönen,
als des Erhabenen, und zwar im geſchichtlich politiſchen Sinne feierlicher
[467] Großheit und Mächtigkeit behandelt, iſt die einfache Schlußfolgerung aus
der Darſtellung ſeines Charakters §. 352 ff. Daß aber die Werke dieſer
Phantaſie ſich namentlich in einer großartigen Behandlung des Zweck-
mäßigen beſtehen werden, folgt ebenfalls und kann nur nicht hier, ſon-
dern erſt in der Kunſtlehre ſeine Ausführung finden. Das komiſche Ta-
lent zeigt ſich insbeſondere in den Feſcenninen und Atellanen.


§. 443.

Der Zug zum Erhabenen muß aber bei dieſem politiſchen Volke zugleich
eine Neigung zur Repräſentation ſein, ſich daher näher zum Prächtigen und
Pompöſen beſtimmen, und in dieſem Sinne namentlich behandelt es die grie-
chiſche Phantaſiewelt, wie es dieſelbe im Beginn ihres Sinkens, da in ſie ſelbſt
ſchon vom Orient her ebenjene Neigung eingedrungen war, übernimmt. Rom
vereinigt aber durch ſeine Welteroberung die Götterwelt aller alten Völker in
ſich und tödtet ſie eben durch dieſe Anſammlung.


Es war bekanntlich die Zeit Alexanders des Großen, wo die edle
Einfachheit der griechiſchen Phantaſie in Pracht und Luxus überging.
So in üppige Ueberreife geſchoſſen verpflanzten ſie die Römer, abgeſehen
von früherer Gemeinſchaftlichkeit der Stoffe, als Sieger auf ihren Boden.
Schon in Griechenland war der Prunk ein Eindringen des Orientaliſchen;
die Römer nun, obwohl der Dualiſmus ihres Charakters von dem des
Orientaliſchen weſentlich verſchieden war, haben doch viel mit dieſem
Verwandtes, nur daß die Liebe zum Coloſſalen und Glänzenden bei ihnen
die beſondere Bedeutung haben mußte, das politiſch Große in ſeiner
übergreifenden, ſicher begründeten, ſtattlich ausgedehnten Mächtigkeit auf-
zuzeigen, zu repräſentiren wie in einem Triumphzuge. Nun nehme man
dazu, daß die Pracht auch des überwundenen Orients nach Rom floß,
und man hat die Bedingungen beiſammen. Allein in dieſem Rom als
einem Pantheon der Volksgeiſter und ihrer Götter mußte noch ein anderer
Prozeß, ein ſolcher, der das antike Ideal ganz auflöste, vor ſich gehen.


§. 444.

Dieſe Tödtung iſt eine in dem noch lebendigen mythiſchen Bewußtſein
nur erſt leiſe ſich ankündigende, jetzt aber vollendende Auflöſung des urſprüng-
lichen Verhältniſſes zwiſchen Idee und Bild, wie es ſowohl das Symbol, als
der Mythus, in lebendiger Einheit des Glaubens bewahrt. Die Bedeutung
tritt bildlos in das Bewußtſein und wird mit Abſicht auf den Grund des Ver-
gleichungspunkts wieder in das Bild verſteckt. Dieſe froſtige Verbindung der
[468] Elemente des Schönen iſt die Allegorie. Sie kann ſowohl gegebene Sym-
bole und Mythen in dieſer veränderten Verbindung ihrer Beſtandtheile aus
Convenienz feſthalten, als auch zu alten oder neuen Bedeutungen neue Bil-
der finden.


Dieſe Auflöſung des Symbols und Mythus in Allegorie ſpielt bei
Lebzeiten der mythiſchen Phantaſie nur leicht am Saume hin, bei den
Römern freilich mehr, als bei den Griechen. Allgemeinheiten, die urſprüng-
lich nicht vergöttert waren, wurden als Perſonen eingeführt: Arete, Ei-
rene, Plutos, Eleutheria, Momos, Phobos u. ſ. w., Honor, Virtus,
Concordia, Fides, Victoria, Pax
u. ſ. w. (vergl. O. Müller Handb. d.
Arch. d. Kunſt §. 406). Man vergeſſe aber nicht, daß, wo der ganze
Boden des Volksbewußtſeins noch mythiſch iſt, auch ſolche nachträgliche
Perſonificationen mit der größten Leichtigkeit vollzogen werden und raſch
in eine geglaubte lebendige Anſchauung übergehen. Ganz anders iſt es,
wenn dieſer ganze Boden aufgelöst, wenn die Wurzel des mythiſchen
Geiſtes getödtet wird, und dieſe Tödtung wird durch die Anſammlung
deſſelben an Einem Orte darum herbeigeführt, weil die alten Religionen
weſentlich local ſind und die Verſetzung in ganz andere Erde ſo wenig,
als Pflanzen, ertragen können. Wo nämlich viele Götterdienſte zuſammen
ſind, da entſteht nothwendig eine Vergleichung. In der guten Zeit eig-
neten ſich die Völker wohl auch fremde Götter an, nahmen ſie aber
harmlos für dieſelben mit ihren eigenen und bildeten organiſch daran fort,
bis ſie national waren. Jetzt kann von dieſem unbefangenen Thun nicht
mehr die Rede ſein; wo ſo viele und ſo ganz verſchiedenartige, zugleich
aber ganz reife Religionen an Einem Orte aufeinanderſtoßen, da muß
die Vergleichung zu einer Trennung des Inhalts und des Bildes führen,
denn da findet man nothwendig, daß Ein Inhalt von ganz verſchiedenen
Völkern in die verſchiedenſten Bilder gefaßt iſt, da wird alſo der feſte Ver-
band zwiſchen Inhalt und Form durch Schütteln beweglich, der Kern
fällt aus der Schaale, an die er feſt angewachſen war. So entſteht die
Allegorie, und der Ort, dieſe aufzuführen, iſt hier und nirgends anders.
Sie iſt keine der Unarten und Abarten in §. 406, die irgendwie jederzeit
hervortreten können; ſie iſt eine geſchichtliche Geſtalt der Phantaſie und
zwar eine Desorganiſation derſelben, ſie iſt, wie das Symbol noch nicht,
ſo nicht mehr ſchöne Phantaſie. Zunächſt nun ſcheint es, ſie ſei daſſelbe,
wie das Symbol, nur mit einem Unterſchiede des Bewußtſeins. Wie
nämlich in dieſem das Verhältniß zwiſchen Bild und Idee ein äußerliches,
nur durch das tertium compuratirnis vermitteltes iſt, ſo auch in der
Allegorie; aber im Symbol iſt die Idee als ſolche in ihrer Sonderung
noch nicht zum Bewußtſein gekommen, ebenſowenig daher das Bild als
[469] Bild, es iſt dunkle, geheimnißvoll ahnende Verwechslung im Völkerglau-
ben. In der Allegorie dagegen weiß ein Subject (oder durch Convenienz
viele) ſowohl die Idee, als auch das Bild als Bild und das tertium
als Grund der Verbindung, und verſteckt nun, um etwas zum Rathen
zu geben, die Idee in das Bild. Die Idee iſt zuerſt da, das Bild
wird geſucht und nachträglich herbeigebracht. So verhält es ſich auch,
wo ein bereits vorhandenes Symbol in Allegorie herabſinkt. Der Römer
konnte aus dem ägyptiſchen Käfer, dem Apis den Gedanken herausnehmen
und ihn dann wieder in das Bild des Käfers, Stiers legen, aber eben-
ſogut in irgend ein anderes. Allein die Allegorie iſt nicht blos verſtän-
dig aufgelöstes und wieder zuſammengeſetztes Symbol, ſie nimmt auch
die Form des Mythus an, ſie legt ſich in ein Bild, das einſt Mythus
war oder, wenn das mythiſche Bewußtſein die Völker nicht verlaſſen
hätte, Mythus wäre. Das Symbol iſt als Bild eine Sache oder ein
Thier. Menſchliche Perſon iſt ſchon Anſatz zum, Perſon in Handlung
wirklicher Mythus. Die Allegorie nun hat nicht nur einzelne Perſonen,
wie die Jungfrau mit Anker als Sinnbild der Hoffnung, ſondern auch
Handlungen, wie Herkules am Scheidewege. Der Unterſchied aber iſt
hier derſelbe wie im Symbol: dem mythiſchen Bewußtſein leben ſeine
Perſonen, es glaubt an ſie und ihre Handlungen, die Allegorie dagegen
weiß, daß ſie bloße Bilder ſind; es iſt dieſelbe Entſeelung oder Entkör-
perung, daſſelbe bloß äußerliche Ineinanderſchieben von Idee und Bild,
wie wenn die Form des Symbols gebraucht wird. Die Allegorie mag
dieſe oder jene, ſie mag die Form des ruhenden Gegenſtands oder der
in Bewegung geſetzten Menſchengeſtalt umnehmen, ſie gibt in beiden
Fällen ihren Beſtandtheilen dieſelbe unorganiſche Stellung. Allerdings
kann man, da das Symbol, auch das ächte nämlich, todter iſt, als der
Mythus, indem es (ihm ſelbſt unbewußt) nur auf einem kahlen Ver-
gleichungspunkte ruht, während dieſer die Bedeutung zur Seele einer
handelnden Perſon erhebt, die Sache auch ſo ausdrücken: die Allegorie
ziehe den Mythus, wenn ſie ſeine Form annimmt, zum Symbole her-
unter; denn eben mit der Beſeelung iſt es ihr nicht Ernſt, das Allegorie
bildende Subject behält die Bedeutung in ſeiner eigenen Seele zurück.
Nur muß man immer hinzuſetzen, daß auch das Symbol decomponirt
wird in der genannten Weiſe. Weit mehr aber gibt ſich ebendarum
allerdings die unorganiſche Natur der Allegorie zu erkennen, wenn ſie
mythiſch verfährt; denn menſchliche Geſtalten müſſen ihre Seele haben
und die Handlung muß aus dieſer fließen; in der Allegorie aber iſt ihnen
die Seele ausgeweidet, ein Begriff dafür hineingeſtopft, ſie thun nur
ſo, als handelten ſie, es ſind ausgebälgte Puppen; ein Anker wird we-
niger mißhandelt, wo er die Hoffnung vorſtellen ſoll. Da es mit der
[470] Menſchengeſtalt nicht Ernſt iſt und da ſie doch durch ihre concrete Natur
ſich nicht auf ein tertium reduziren läßt, ſo wird das Attribut wichtiger,
als ſie ſelbſt, dieſer Reſt des Symboliſchen am ächten Mythus wird
Hauptſache am geſtorbenen; Jupiters Adler und Donnerkeil ſagt mir,
daß er den Begriff des Luftraums vorſtelle, da wären eigentlich dieſe
Attribute genug und nur ein Schelm ſtellt mir noch die Geſtalt des Ju-
piter dazu.


Es verſinken nun entweder wie die alten Symbole die Mythen in
Allegorien, wie es z. B. für uns Amor und Venus ſind, oder es werden
neue Allegorien in mythiſcher Form ad libitum verfertigt. Virgils Göt-
ter ſind eigentlich bereits allegoriſch geworden, es handelt ſich um den
Sinn, das Bild iſt Conditor-Arbeit, Marzipan auf die Tafel, die saeva
Necessitas
des Horaz aber, die der Fortuna vorangeht, „große Balken-
nägel und Keile in der Hand tragend, auch fehlt die ſtrenge Klammer
nicht und das flüſſige Blei“, iſt ganz eigenes Gemächte.


Man ſieht aus dieſem abgeſchmackten Bilde eines ſonſt geſchmack-
vollen Dichters, daß das Intereſſe der Allegorie die Wahrheit und da-
her, ob ſie ſchön ſei oder nicht, zufällig iſt. Froſtig iſt ſie immer, oft
genug aber unſchön und häßlich. Sie iſt ferner dunkel, aber anders,
als das Symbol. Die eben angeführte Allegorie des Horaz freilich iſt
gut verſtehen, weil der Dichter den Namen ſagt, aber der bildenden
Phantaſie hingeſtellt könnte die Figur ebenſogut den Begriff des Zimmer-
und Maurer-Handwerks oder der Pflicht u. ſ. w. ausdrücken; der Dich-
ter ſelbſt darf nur die Auflöſung verſchweigen, ſo zerbricht man ſich den
Kopf um die Bedeutung, denn jedes Bild hat viele Eigenſchaften, deren
jede das tertium ſein kann. Dieß Dunkel iſt alſo kein ehrwürdiges, wie
das des Symbols, es iſt widerwärtig, denn nicht Völkerglaube geht hier
im Dunkeln, ſondern prätentiöſe Liſt des Einzelnen wirft uns in’s Dunkle,
hat uns für Narren. Es iſt Geheimnißthuerei, nicht Geheimniß. Ein
allegoriſches Bild kann auch an ſich zwar dunkel, durch Convenienz aber
deutlich ſein, wie ein Weib mit dem Anker, mit der Wage, aber wenn
das Verſteckensſpiel dadurch wegfällt, für was noch der Umweg, die
Maskerade? Die Allegorie tritt da ein, wo eigentlich mit Entfernung
der zweiten die urſprüngliche Stoffwelt an der Zeit iſt, dieß aber noch
nicht erkannt wird oder die Kraft des Einzelnen noch nicht oder nicht mehr,
wie im zweiten Theil Fauſt von Göthe, dazu reicht. Man ſollte meinen, daß
man ſich darüber in unſerer Zeit nicht mehr verſtreiten dürfe, aber es
gibt Leute, die einmal durchaus das Stroherne verehren müſſen. Eine
beſondere Frage iſt, ob in den bildenden Künſten, welche auf große
Schwierigkeiten ſtoßen, wo die Götterwelt erſtorben und ihnen ſo die un-
endliche Abbreviatur des Allgemeinen entzogen iſt, nicht nebenher wenig-
[471] ſtens und mehr decorativ, als in der Hauptdarſtellung, von der Allegorie
Gebrauch machen dürfen? Dieſe gehört in die Kunſtlehre. Wir werden
aber auch in der Geſchichte des Ideals noch an mehreren Orten die Alle-
gorie aufnehmen müſſen; insbeſondere, um das ebengenannte „noch nicht“,
d. h. die Frage, ob die Allegorie nicht doch auch als Geſtalt der unrei-
fen Phantaſie hervortrete, aufzunehmen.


§. 445.

Die Auflöſung des antiken Ideals mußte ſich aber auch in der ausge-1
dehnteren Aufnahme der urſprünglichen Stoffwelt äußern und zwar zunächſt po-
ſitiv
, ſo daß eine götterloſe Wirklichkeit, welcher das in ſeine vereinzelte
Lebendigkeit zurückgeführte Subject gegenüberſteht, durch Vertiefung deſſelben
in die engeren Gebiete des menſchlichen Daſeins Geltung im Schönen erhielt.
Dieſe ſubjective Vertiefung, welche ſich nicht mehr in der bildenden, ſondern in
der empfindend dichtenden Form niederlegt, iſt theils eine ſinnlich leidenſchaft-
liche, theils eine gefühlvoll wehmüthige, welche das Glück der objectiven Le-
bensform in heimlichen, von der verderbten Welt zurückgezogenen Kreiſen auf-
ſucht oder die Kürze des perſönlichen Genuſſes beklagt. Ueberall lagen hier
2
die Abirrungen in ſinnliche Ueppigkeit, Häßlichkeit und in Trennung des Denkens
von der Formthätigkeit der Phantaſie nahe (vergl. §. 406).


1. Das antike Ideal kann eigentlich das Eindringen der urſprüng-
lichen Stoffwelt nicht vertragen; da die Weiſe ſeines Idealiſirens Ver-
götterung iſt, ſo kann es den Weg zum freien Idealiſiren ohne Götter
nicht finden und bemüht ſich in einſeitigen Verſuchen, den eingetretenen
Bruch zwiſchen Bild und Idee, Gegenſtand und idealiſirendem Subject
auszufüllen. Sogleich iſt aber wohl zu bemerken, daß das wichtigſte
Stück der urſprünglichen Stoffwelt jedenfalls wegfällt: die großen ge-
ſchichtlichen Stoffe; denn das Volksleben iſt ja zerfallen, die Einzelnen
ſind punktuell geworden. Der vereinzelte Menſch rettet daher ſeine Le-
bendigkeit in die Enge. Jetzt wird alſo vor Allem das Privatleben,
das im blühenden Alterthum (vergl. 350, 3.) ſo ſehr zurücktrat, intereſſant:
die Abentheuer, die Liebesgeſchichten, das Familienleben des Einzelnen;
ferner die Beſchäftigungen, die Sitten und Bräuche, die Genüſſe, das
Pſychologiſche im Individuum, kurz Alles das, was wir in §. 326. 327.
330—340 umfaßten und wohl auch mit dem Namen des rein Menſch-
lichen bezeichneten. Selbſt die landſchaftliche Schönheit fängt an bemerkt
und freilich wieder mit Einmiſchungen des Mythiſchen, was ſie eigentlich
aufhebt, von der Phantaſie aufgefaßt zu werden. Das Wichtigſte iſt das
Verhältniß des phantaſievollen Individuums zu den ihm nun vorzüglich
[472] zuſagenden Stoffen des Privatlebens. Das Individuum iſt in ſich zu-
zückgetreten, die empfindende, näher die empfindend dichtende Phantaſie
wird alſo die bildende verdrängen. Die Empfindung kann aber noch nicht
die geiſtig verklärte ſein, ſie iſt ſinnlich beſtimmt, doch nicht mehr in
bruchloſer Einheit des Sittlichen mit dem Sinnlichen, wie vorher. Sie
erwärmt ihren Stoff mit Leidenſchaft und Sehnſucht. Die Sehnſucht kann
ohne unmittelbare Betheiligung des dichtenden Subjects auf das entſchwun-
dene Glück der Unſchuld der objectiven Lebensform gehen und ſeine Reſte
da aufſuchen, wo ſie weitab von der verderbten großen Welt ihre länd-
liche Zuflucht haben; die bewegtere Empfindung kann die Irrgänge der
Leidenſchaft und Lebensſchickſale Anderer verfolgen oder die eigenen in
Gluth des Augenblicks und Klage des Rückblicks entfalten. Man ſieht:
die Zeit der erſten Anfänge der Landſchaft-, Genre- und Porträt-Malerei,
die Zeit des Idylls, des Romans, der Elegie im antiken und im moder-
neren Sinne, iſt gekommen.


2. Gerade weil die mythiſche Art der Idealiſirung vorüber iſt, die
reine und freie aber noch nicht ganz eintreten kann, ſo liegen mehrere
der in §. 406 aufgeführten Einſeitigkeit ganz beſonders nahe. Das Sub-
ject iſt in ſich zurückgetreten, hat aber das ſchöne Maaß der Sittlichkeit
verloren; die Leidenſchaft entbrennt in einer Art von Innerlichkeit und
iſolirter Lüſternheit, welche der ächt antiken directen Sinnlichkeit nicht mehr
gleich ſieht; die πορνογράφοι traten ſchon zu Alexanders Zeit auf, dieſe
Ueppigkeiten waren aber noch immer vom ſyſtematiſchen Durchkoſten des
Liebesgenuſſes, wie es in der römiſchen Poeſie auftritt, verſchieden. Die
Schmeichelei und Ueppigkeit mißbraucht und entſtellt mythiſche Formen.
Auf der andern Seite beginnt Reflexion, Sentenz, dann Abſichtlichkeit,
Gemachtheit überhaupt ihre Kälte über das theilweis Talentvolle zu verbreiten.


§. 446.

Die urſprüngliche Stoffwelt wird aber auch in negativem Sinne ergriffen
und in einer Weiſe behandelt, welche wirklich als Gattung bereits jenſeits der
Grenze des äſthetiſchen Gebietes liegt. Aus der verderbten Welt zieht ſich
das Subject in ſich zurück, vergleicht ſie mit der wahren Idee und bringt ihre
Verkehrtheit mit geradezu ſtrafendem Ernſte oder ironiſch durch komiſche Auf-
löſung zu Tage. Es bedarf nur noch eines Schrittes, um das Bildliche völlig
zum Mittel der Belehrung und Ermahnung herabzuſetzen, und die Phantaſie
iſt wirklich desorganiſirt, was ſich insbeſondere da, wo ſie noch bildend auf-
treten will, als Verluſt alles Formſinns ausſpricht.


Es genügt hier, den innern Grund von Erſcheinungen, welche als
rein anhängend ſchon in den bloßen Vorhof oder Hinterhof des Schönen
[473] hinaustreten, Satyre, Lehrgedicht, zu nennen. Das Nähere, insbeſondere
die Unterſcheidung gewiſſer Stufen und Zweige, welche durch ein innigeres
Band des Bildes mit dem Gedanken dem Schönen weniger fern ſtehen,
und anderer, worin die Elemente ganz unorganiſch verbunden ſind, ge-
hört in einen Anhang der Lehre von der Poeſie. Wie tief der Formſinn
da verſinkt, wo er nicht nur ein bewegliches inneres Bild vor der Phan-
taſie vorüberführen, ſondern die Formen körperlich fixiren ſoll, zeigt die
Plaſtik, Malerei, Architectur zur Zeit der ſpäteren Kaiſer; insbeſondere
werden die menſchlichen Formen völlig mißverſtanden, ſie ziehen ſich zu
lächerlicher Länge aus oder ſchrumpfen zu Zwergen ein, das Gefühl der
Proportionen verſchwindet.


b.
Das Ideal der phantaſtiſchen Subjectivität
oder
die romantiſche Phantaſie des Mittelalters
.

§. 447.

Die Phantaſie des Mittelalters ergänzt den moſaiſchen Monotheiſmus
mit dem Wahren des Polytheiſmus, verbindet aber auch, indem ſie es mit
Belaſſung des Mythiſchen thut, die Fehler beider und geräth in den Wider-
ſpruch mit ſich ſelbſt, durch die Idee der Immanenz über allen Mythus hinaus
zu ſein und doch die dem Bewußtſein aufgegangene Unendlichkeit, in welche
Schickſal und Götter eingeſunken ſind, in das Jenſeits eines neuen Olymps und
Hades, eines Himmels und einer Hölle hinauszuwerfen.


Der unendliche Mangel der jüdiſchen Religion war der juriſtiſche
Gott; dagegen war der Polytheiſmus, insbeſondere in ſeiner Vollendung
zur ſchönen Menſchlichkeit durch die Griechen, in dem Vortheil unbefan-
gener, ſtets gegenwärtiger, freundlicher Vermittlung der Götter mit den
Menſchen. Wiederum ſtand das moſaiſche Bewußtſein in dem Vortheile,
eine ſtrengere ethiſche Einheit in ihrem Einen Gott zu beſitzen, die poly-
theiſtiſche Naturreligion dagegen ſchob volle Sinnlichkeit in ihre vielen
Götter und verfiel der ganzen Zufälligkeit, an welcher die unmittelbare
und bruchloſe Einheit des Geiſtes und der Sinnlichkeit leidet. Wenn
nun dem Bewußtſein die Idee der Verſöhnung, der reinen Gegenwart
des Abſoluten als des die Welt von innen bewegenden, in ſich ſelbſt
[474] überwindenden und zu ihrer Wahrheit befreienden Geiſtes aufgegangen
iſt, ſo hat es den Vortheil beider Religionsformen vereinigt und den
Mangel beider abgeworfen. Dieſer Eine Geiſt in Allem iſt abſolute
ethiſche Einheit, er ſitzt aber nicht in den Wolken als Vergelter deſſen,
was er doch ſelbſt bewirkt, ſondern iſt unverlierbar mit uns und in uns
und noch viel inniger gegenwärtig, als die griechiſchen Götter. Der wahre
geiſtige Kern des Judenthums iſt in dieſer reinen Anſchauung ergänzt
mit dem wahren geiſtigen Kern des Polytheiſmus: Heiligkeit des Einen
Gottes mit der freundlichen Nähe der vielen Götter. Dieſe Ergänzung miß-
glückt aber in der Religion des Mittelalters, weil ſie den mythiſchen Stoff
in die Vereinigung mit hinüberträgt. Sie beläßt den jüdiſchen Gott, den
ein vorgeſtellter Leib von der Welt trennt, und verbeſſert die falſche Grund-
lage nur dadurch, daß ſie ihm die Affection der Liebe gegen die Welt
beilegt, ihn zu einem gütigen und verzeihenden Vater macht. Ihm bleibt
aber der Hofſtaat der Seraphim, Cherubim und wie ſonſt dieſe verbleich-
ten, mediatiſirten Götter und Genien orientaliſcher Religionen noch heißen
mögen, und ebenſo dem himmliſchen Reich gegenüber Ahriman als Teu-
fel mit ſeinen böſen Geiſtern. Der Teufel iſt beſiegt und hat dennoch Macht,
der Dualiſmus eines guten und böſen Gottes überwunden und doch feſt-
gehalten. Daher iſt auch jene Liebe Gottes nicht ſtetig, nicht flüſſig, ſie
braucht beſonderer Acte, wechſelt mit Kampf und Zorn und dem Men-
ſchen iſt Grauen und Unheimlichkeit nicht von der Seele genommen, er
iſt, der Liebe Gottes gewiß, bei ſich und doch der böſen Macht Preis
gegeben, nicht bei ſich. Er trägt nun das Schickſal frei in ſich ſelbſt, die
Götter ſind eingeſtürzt in ſein Inneres, und doch ſchwebt über ihm
Schickſal und Götter-Rath und beſchließt über ihn, hat beſchloſſen, wird
beſchließen das, was ja nur er ſelbſt in ſich beſchließen kann. Der Wür-
fel, der in ſeinem Innern liegt, wird über den Wolken und im Schlunde
der Erde geworfen.


§. 448.

Eigentlich wäre durch das reine Prinzip der neuen Religion die urſprüng-
liche Stoffwelt für die Phantaſie gewonnen und die einfache Aufgabe der letz-
teren dieß, die innere Bewegung des Menſchen zur Unendlichkeit und Freiheit
des Geiſtes durch Negation ſeines bloßen Naturſeins und Eigenwillens in ent-
ſprechender Erſcheinung darzuſtellen. So aber kann das abermals vorgeſtellte
Jenſeits nur durch die Wunder der Sage in die Wirklichkeit einbrechen und
dieſe eröffnet ſich im Zuſammenfluß mit alten, polytheiſtiſchen Mythen mit der
Vorſtellung vom Leben und Opfertod eines Gottesſohns, deſſen zuſammengefaßte
Wirkungen als dritte Perſon in die Gottheit, deſſen menſchliche Mutter als
Göttinn neben dieſelbe geſetzt werden.


[475]

Hegel in ſeiner übrigens ſo trefflichen Darſtellung der romantiſchen
Kunſtform ſagt (Aeſth. Th. 2. S. 120 ff.), der Kreis der chriſtlichen
Phantaſie verengt, weil der Olymp geſtürzt, die Natur entgöttert ſei,
er ſei unendlich erweitert, weil die ganze Geſchichte der innern Welt
und die ganze äußere bezogen auf ſie nun offen daliege. So kann man
die Sache nur darſtellen, wenn man die weltlich freie moderne Welt-
Anſchauung mit der mittelalterlichen zuſammenfaßt, die wir vielmehr als
zwei geſchiedene Ideale auseinanderhalten. So wenig das Mittelalter den
Olymp ſtürzt, die Natur entgöttert, ſo wenig weiß es die urſprüngliche
Stoffwelt rein zu gewinnen. Es iſt noch weit bis dahin, daß man einſähe,
die Welt als Schauplatz Gottes in der wunderloſen Bewegung des neuen,
von innen überwindenden und befreienden Geiſtes darſtellen heiße Gott
darſtellen. Es braucht noch eines ausdrücklichen Ueberſprungs von ihr
auf eine tranſcendente Welt, um im Endlichen das Unendliche als wir-
kend aufzuzeigen. Nicht die weite Welt, ſondern ein Auszug aus ihr,
den die Sage in Verbindung mit dem Mythus bewerkſtelligt, bildet den
Inhalt dieſes ſchillernden Ideals. So iſt es zunächſt Sage, wenn die
Perſon des Religionsſtifters mit einer Glorie des Wunderbaren umgeben
wird. Von der andern Seite aber wirken dabei orientaliſche und grie-
chiſche Mythen ein und führen, in neuplatoniſcher Philoſophie zuſammen-
gefaßt, dahin, dem Götterſohn eine Präexiſtenz als zweiter Perſon in der
Gottheit beizulegen. Er iſt Wiſchnu, Kriſchna, er iſt Buddha, Mithras,
er iſt Horos, er iſt der von Zeus gezeugte und ſich zur Götterwürde
wieder hinaufkämpfende Herkules. Es iſt wohl einerſeits unendlicher
Fortſchritt, daß die Form des empiriſch wirklichen Menſchen Chriſtus als
Gott angeſchaut, daß ſo „der Anthropomorphiſmus vollendet wird“, wo-
gegen die heidniſchen Religionen „nicht anthropomorphiſch genug“ ſind.
Allein in Wahrheit iſt hier keine Vollendung, ſondern nur ein ſtockender An-
fang der Vollendung des Anthropomorphiſmus. Einſehen, daß der Menſch
die Perſönlichkeit Gottes ſei, iſt unendlicher Fortſchritt, aber daß Ein
imaginärer und doch als real hiſtoriſch vorgeſtellter Menſch es ſei ſtatt in
unendlicher Wechſelergänzung alle wirklichen Menſchen, dieß Meinen iſt
nichts anders, als Buddhaiſmus, der den ungeheuren Sprung einer gren-
zenloſen Confundirung nicht ſcheut und durch den furchtbaren Wider-
ſpruch, ein individuell begrenztes Leben geradezu für das Abſolute zu
nehmen, ebenſo himmelweit hinter den zarten Polytheiſmus der griechi-
ſchen Phantaſie zurückfällt, als er über ſie hinauszugehen den Anſatz ge-
nommen hatte. Im Erlöſungstode ſammelt ſich die vorchriſtliche Opfer-
Idee abſchließend, aber auch bis zur blutigen Sitte der Menſchenopfer
zurückgreifend, zuſammen. Der heilige Geiſt wird dritte Perſon in der
Gottheit; den ganzen Widerſpruch, monotheiſtiſch und doch polytheiſtiſch

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 31
[476]zu ſein, zeigt die Lehre von der Dreieinigkeit. Der große Riß in den
Naturzuſammenhang der Welt, der mit der Geburt eines Gottesſohnes
geſetzt iſt, muß auch das Band und die Kette der natürlichen Fortpflan-
zung zerreißen: die Mutter Gottes bleibt Jungfrau, ja ſie wird in den
Himmel erhoben, vergöttert und ſelbſt der Dualiſmus männlicher und
weiblicher Gottheiten kehrt wieder. Es iſt dieß nur conſequent. Gott
iſt masculinum, dieß fordert auch ein femininum.


§. 449.

Wie in dieſem Anfang der mit Mythen verſchmolzenen Sage die innere
Bewegung der Verſöhnung des Menſchen als wunderbare Vergangenheit geſetzt
iſt, ſo wird die Vollendung dieſer Bewegung als Auferſtehung, Weltgericht,
Wiederbringung aller Dinge in die Zukunft hinausgeſtellt. Zwiſchen dieſen
Polen eines doppelten Jenſeits in der Zeit und denen des räumlichen Jenſeits
von Himmel und Hölle ſchwebt mündig und unmündig die Welt. In der Menſch-
heit ſetzen ſich die Wunder fort; in der mehr weltlichen wie in der religiöſen
Sage iſt wunderbare Ablöſung vom Zuſammenhang der erfahrungsmäßigen
Wirklichkeit Bedingung der Idealität. Die Seligen und Heiligen bevölkern
noch weiter den Himmel, die Verdammten die Hölle. Die Wunder ſind we-
ſentlich auch unmittelbare Wirkungen auf die umgebende Natur, welche, ohne-
dieß von alten, zu Geiſtern herabgeſetzten Göttern wimmelnd, dem Zauber
einen offenen Schauplatz darbietet.


Man bemerke, daß wir erſt noch beſchäftigt ſind, das Reich von
Phantaſiebildungen kurz zu entwerfen, das in dieſer Weltanſchauung die
allgemeine Phantaſie der beſondern als Stoff vorbildet und zuarbeitet.
Von dem inneren Geiſte, der alle dieſe Geſtaltungen durchdringt, iſt
noch nicht, war wenigſtens nur erſt beiläufig zu vorh. §. die Rede, auch
wird derſelbe, wenn wir weiterhin auf ihn eingehen, nicht viele Worte
verlangen, denn er iſt nur eine Ueberſetzung deſſen, was über den Cha-
rakter dieſer Zeiten und Völker an ſich in §. 354 ff. geſagt iſt, in die
Phantaſie. Im vorliegenden §. iſt ein religiöſer und ein „mehr welt-
licher“ Sagenkreis unterſchieden. Die Ritterſage iſt nur mehr weltlich,
als die Legende; auch der Ritter verdient ſich das Himmelreich durch
devote Handlungen, wobei ihn Wunder unterſtützen, und ſchließliche
Aſceſe. Die folgende Ausführung wird die wichtigſten Sagenkreiſe unter-
ſcheiden. Ausgezeichnete Frömmigkeit macht nach dem Tode nicht nur
ſelig, ſondern heilig. Es entſteht dadurch um ſo mehr eine neue Bevöl-
kerung des Olymps, weil hier die Sage an Mythen, alſo Götter an-
knüpft. Die Aemter der Heiligen ſind ganz erkennbar Aemter früherer
[477] römiſcher Götter; wie die römiſche Religion für jede gewöhnlichſte Lebens-
ſphäre, für Städte, Plätze, Straßen, Bauchweh, Zahnweh ihren Gott,
ihre Göttinn hatte, ſo das Mittelalter ſeinen Heiligen oder ſeine Heilige.
Wunder aber geſchehen nicht nur an Menſchen, ſondern dieſe ſelbſt er-
ringen ſich die Wunderkraft. Wie es der Zuſammenfluß aller alten Re-
ligionen in Rom iſt, woraus der neue Olymp des Chriſtenthums ſich
geſchichtlich erklärt, ſo iſt es der furchtbare Zauber-Unfug, der ebenda-
ſelbſt in den letzten Zeiten der Auflöſung ſich angeſammelt, welcher in
die neue Religion überging. Mit göttlicher oder dämoniſcher Kraft aus-
gerüſtet kann der Menſch ein hölzernes Eiſen machen. Die Natur iſt
nichts weniger, als entgöttert, alte Götter, Halbgötter ſpucken hinter jedem
Buſch. Faunen ſind Teufel geworden, Hekate des Teufels Großmutter,
Frau Holle, Waldweibchen, Zwerge, Elfen, Pilwitze, Schrätelin, Nixen,
Feen, Rieſen huſchen, wühlen, hämmern, flackern, ſchweben, toben durch
alle Elemente und Naturreiche. Es iſt eine nur verbleichte, ſchattenhaft,
geiſterhaft gewordene Vielgötterei.


§. 450.

Dieſe durch die Sage an die urſprüngliche Stoffwelt angeknüpfte zweite1
Stoffwelt unterſcheidet ſich aber von der antiken dadurch, daß ihr ein neues
Herz eingeſetzt iſt. Der Geiſt der innern, durch die Brechung der Sinnlichkeit
und des Eigenwillens ſich vermittelnden Unendlichkeit gibt den vertieften Seelen-
blick der Liebe den guten, einen Abgrund geiſtiger Furchtbarkeit den böſen
Mächten und dem Gott als Richter des Böſen. Die übermenſchlichen Geſtalten
ſind als jenſeitig vorgeſtellt, aber ihr Ausdruck und ihr Thun hebt die Jenſei-
tigkeit auf, von der Erde aus als einem Jammerthal kommt der wirkliche
Menſch, die äußere Natur in ſeinem Gefühle mitbegreifend, im Liebestauſche
der Sehnſucht ſeinen Göttern entgegen und feiert im gebrochenen Herzen ſeine
myſtiſche Vermählung mit ihnen. Alle dieſe Züge faſſen ſich im Begriffe der
2
phantaſtiſchen Subjectivität zuſammen.


1. Man hat ſchon von einer Romantik der Alten geſprochen, man
könnte ebenſogut von einer Claſſicität des Mittelalters ſprechen. Die
Wahrheit iſt, daß das Mittelalter einen gleichen Vorrath tranſcendenter,
über- und außermenſchlicher Geſtalten hat, wie das Alterthum; nur der
ganze Geiſt iſt ein anderer, ſie blicken, ſie reden, ſie handeln anders. Helios
wendet den Sonnenwagen bei der Schauderthat des Atreus, ebenſo ver-
hüllt bei Shakesſpeare die Sonne ihr Angeſicht vor dem blutigen Morde;
aber dort iſt Alles plaſtiſch, hier gefühlt. Zeus ſchickt den Griechen den
Hagel, Apollo die Peſt, den Chriſten beides der Teufel: mythiſch iſt dieß

31*
[478]und jenes, aber der Teufel haucht einen Geiſt des Abgrunds, ſeine undeut-
liche Geſtalt umgibt ein ahnungsvoller Schauder, dort dagegen iſt Alles hell,
deutlich, klar und kalt. Die mittelalterlichen Götter ſind erwärmt vom Herzen
des Mittelalters; die antiken haben die Welt in ſich eingeſogen, thronen
unbewegt als ein All in ſich, oder handeln mit Affect ohne Herz, die ro-
mantiſchen dagegen ſchenken der Welt wieder, was ſie aus ihr in ſich gezogen,
ihr inniges Auge ſenkt ſich in die Bruſt des Verehres, ſucht ihn, klopft bei
ihm an, bedarf ihn, wie er ſie in Sehnſucht der Liebe ſucht: dieſes Flüſſige,
dieſer warmbewegte Tauſch verbeſſert im Fortgang die Götterbildende Hy-
poſtaſe. Auch mit dem Reich des Böſen verhält es ſich ſo; kenne ich
das Böſe in mir, ſo brauche ich es wahrlich nicht mehr auf den Teufel
zu ſchieben, das Mittelalter thut dieß dennoch, aber dann ſieht es im Teu-
fel eine geiſtige Unendlichkeit von Empörung und Verdamniß, die eben
nur das Grauſen vor dem Abgrunde des eigenen Innern iſt. Dieſes
Herüber und Hinüber, worin die Umriſſe der chriſtlichen Götter ſich wie-
der auflöſen, wodurch ſie wieder einkehren in die Bruſt, die ſie gedichtet hat,
wodurch die Kryſtalliſation ihrer Transſcendenz wieder aufthaut, macht
ſie zu mehr myſtiſchen als plaſtiſchen Weſen und daher iſt allerdings wahr,
daß Alles das im Alterthum der Romantik näher ſteht, was mehr ge-
heimnißvolle Macht, als deutliche Geſtalt iſt: Zeichen, Orakel, Träume,
die dunkeln Urweſen der Theogonie, die im Reiche der neuen Götter fortwir-
ken. Die innere Verſöhnung des Menſchen nun geht im romantiſchen Ideale
durch den Bruch mit der Natur und dem Eigenwillen, alſo durch Negation;
ſie geht wirklich fort zur Wonne der Verſöhnung, die Seele feiert nach
der Qual der Zerknirſchung ihre Brautnacht mit dem Bräutigam, allein
dieſe Verſöhnung iſt nicht Verſöhnung mit der Natur, der Welt, dem
eigenen reinen Selbſt, denn ſie bleibt Verſöhnung mit dem Außerwelt-
lichen, wohinter ſich dieſe verſtecken, daher fehlt allerdings der wahre po-
ſitive Schluß. Die Verſöhnung iſt tief im Innern, die Erde bleibt ein
finſteres Thal, der Leib ein Kerker. Man muß die Werke eines Perugino
ſehen: da ſtehen auf einem kleinen Fleck Erde jene ſchüchternen Menſchen-
geſtalten, über ihnen öffnen ſich die Wolken, aus goldener Gluth blickt
die Himmelsköniginn nieder in himmliſcher Güte und mit unbeſchreiblich
tiefem Seelen-Weinen blicken jene hinweg vom Schattenthale, hinauf in
die Spalte der verklärten Welt, zu jener jungfräulichen Mutter, deren
Herz voll Liebe doch nur die Blume iſt, die in ihrem eigenen Innern
blüht.


2. Phantaſtiſch iſt, wer Gebilde der Phantaſie, denen er den Grund-
lagen ſeiner Einſicht gemäß entwachſen ſein ſollte, für Wirklichkeiten hält,
ſei es, indem er nur überhaupt und theoretiſch ſie an die Stelle der
Dinge ſelbſt ſchiebe, ſei es, daß er darnach handle. Die Alten mit all’
[479] ihren Mythen und Sagen nennen wir nicht phantaſtiſch, denn in ihrem
Bewußtſein lag der Keim, der dieſe Luftgebilde hätte widerlegen können,
noch zu dunkel und unentwickelt. Weil kein Widerſpruch in ihnen war,
handelten ſie auch ganz zweifellos nach der realen Wahrheit, die jenen Ge-
bilden zu Grunde lag. Das Mittelalter dagegen iſt der Naturreligion,
welche jedes Allgemeine in ein greiflich Einzelnes umwandelt, entwachſen
und wiederholt doch ihr Verfahren, daher iſt es phantaſtiſch. Das Weſen
ſeiner Weltanſchauung iſt näher phantaſtiſche Subjectivität. Der Geiſt
iſt in ſich gegangen, iſt bei ſich, die Lebensform iſt ſubjectiv geworden.
Von da aus hätte er den Blick frei, alle andern Dinge unbefangen zu
ſehen und zu behandeln, wie ſie ſind. Allein das Subject wirft ſich ſelbſt
ſammt dieſem Inſichſein wieder in ein Jenſeits hinaus und ſo ſieht es
auch ſtatt aller andern Dinge nur einen geiſterhaften Doppelgänger der-
ſelben. Das Subject hat ſich erfaßt und zugleich wieder verloren, hält
ſich die Maſke ſeines Selbſt gegenüber und maſkirt ſo Alles. Die Alten
blieben ruhig bei ihrer Mythologie und liehen den Göttern Alles, was
ihr unbefangener Blick im Menſchen und der Natur richtig erkannt hatte;
das Mittelalter ſieht unruhig wieder zurück auf das Subject und die Welt,
die ihr Mark an den Auszug der illuſoriſchen zweiten Welt haben abge-
ben müſſen; da iſt ein allgemeines Doppeltſehen, ein allgemeines Ver-
ſchieben und Durchſcheinen des Verſchobenen durch die Zwiſchenwand,
ein Zwielicht, ein Schillern, das Alles in gebrochenen Farben und Lichtern
zeigt. Allerdings mußte aber jener Auszug auch unvollkommen bleiben; dieß
innerliche und träumeriſche Bewußtſein konnte keinen Staat bauen, daher feh-
len die Götter für den Organiſmus der Wirklichkeit, es gibt nur Götter
für das Herz, und dieſer Mangel wirkt zurück, verſtärkt die Aufregung
und unruhige Gefühlsſchwärmerei.


§. 451.

Nunmehr ergibt ſich die nähere Beſtimmtheit dieſer Phantaſie, gehalten
an die in §. 402—404 aufgeſtellten Arten. Zuerſt erhellt, daß ſie weſentlich
auf die menſchliche Schönheit geſtellt iſt; denn zu inniger Beſeelung der
landſchaftlichen Natur und zu gemüthlicher Auffaſſung der Thierwelt iſt zwar
in dem unendlich vertieften Empfindungsleben die Bedingung gegeben, aber
theils durch die Reſte des Mythiſchen der Ausblick gehemmt, theils die innere
Unendlichkeit noch zu wenig entfaltet, um ihr Intereſſe nicht ganz auf die
höchſten Angelegenheiten des Menſchen zu beſchränken. Gott iſt Menſch ge-
worden, hat aber in dieſer Geſtalt nur dem innerſten Leben in ſeiner Beziehung
zum Abſoluten Heil gebracht.


Die landſchaftliche Schönheit fängt allerdings an gefühlt zu werden,
mehr zwar in der deutſchen, als in der romaniſchen Phantaſie. Ein klei-
[480] nes Stück Landſchaft, ein trauliches Thal, ein ſtiller See gibt den Hin-
tergrund zu einer Gruppe heiliger Perſonen, man ſieht deutlich, dieſer
Sinn iſt erſchloſſen. Die Naturgeiſter, welche die Romantik aus dem
Heidenthum ſtehen ließ, können in ihrer geiſterhaften Unbeſtimmtheit nicht
ſo ganz das Naturleben in ſich herübernehmen und vertreten, wie bei
den Alten; Gott, die Engel, Teufel, haben es ebenfalls zu ſehr mit dem
menſchlichen Leben zu thun, als daß die Natur nicht neben ihnen freige-
laſſen da ſtünde. Das Mythiſche hindert alſo den Blick weniger, als im
Alterthum; dazu kommt die veränderte Natur deſſelben, wie ſie zum vor-
hergehenden §. Anm. 1 dargeſtellt iſt. Ein Odem geht von den göttlichen
Geſtalten aus und weht heimlich, träumeriſch durch die Lüfte, durch Berg
und Thal, Waſſer und Buſch. Dennoch kann das eigentliche Mittelalter die
Landſchaft noch nicht zur ſelbſtändigen Schönheit ausbilden, weil alles
Intereſſe mit religiöſer Ausſchließlichkeit auf das ewige Heil der menſchli-
chen Seele geht; ſie kann nur eine ſchmale Perſpective zur menſchlichen
Erſcheinung bilden. Aehnlich verhält es ſich mit dem thieriſchen Leben.
Das Thier wird gemüthvoll hineingezogen in das neue Leben der Liebe,
es iſt, als dürfe an der Kindſchaft Gottes, an der Erlöſung auch die
ſeufzende Creatur Theil nehmen; dadurch eben iſt aber der Blick von die-
ſer Lebensform als einer ſelbſtändigen abgezogen, es iſt ganz wenig Sinn
für die Beſtimmtheit ſeiner Geſtalt vorhanden, es gilt nur in dieſer
Hinüberziehung auf das Himmelreich. Das Mittelalter iſt in Darſtellung
von Thieren äußerſt ſchwach, während ſelbſt die unreife orientaliſche Phan-
taſie im Alterthum es darin ſchon weit brachte; auch ein Raphael hat noch
wenig thieriſchen Formſinn und macht ſchlechtere Pferde, als ſelbſt die
alterthümlich hart gezeichneten in den alten etruriſchen Gräbern, an denen
doch ſelbſt die ſchwierigen Theile des Fußes: Köthe, Feſſel, Krone, Huf,
ſchon mit einem Verſtändniß gegeben ſind, welches zeigt, wie viel Sinn
für dieſe edle, ihrem eigenen Charakter ſo verwandte Thiergattung die
alten Völker hatten.


§. 452.

Aufgeſchloſſen ſind alſo die innern Schätze des ſubjectiven Lebens mit
der Einſchränkung auf die letzten und tiefſten Intereſſen, mit Ausſchluß alſo
eines organiſchen öffentlichen Lebens. Ueberall bildet der innere Vorgang den
eigentlichen Gehalt des Schönen, im Sinn einer Seelengeſchichte wird ſein Reich
durchmeſſen und vorzüglich jene ſtillen Kreiſe werden geſucht, in welchen der
Wechſeltauſch der Liebe ſich entfaltet. Jetzt erſt hat aber auch die Individua-
lität ihre unendliche Geltung erhalten, ſie iſt in ihrer auf ſich geſtellten Eigen-
heit die Form Gottes, iſt eine Welt.


[481]

Der beliebteſte Kreis iſt das Familienleben, es iſt in den Himmel
verſetzt. Das neue Herz, das den mythiſchen Weſen gegeben iſt, leuchtet
am innigſten aus der göttlichen Mutter mit dem Kinde. Aber auch die
weltliche Liebe und alle die verborgenen Schönheiten des nicht öffentlichen
Lebens, das bei den Alten ſo wenig Bedeutung haben konnte, entfalten
ihre ſtille Heimlichkeit. Man gibt und empfängt; der Herrlichkeit des Ge-
müthslebens, die in den Himmel verſetzt iſt, fließen rückwirkend von da
wieder die Strahlen der himmliſchen Weihe zu. Das politiſche Leben
konnte natürlich ebenſowenig im Sinne urſprünglichen Stoffes Gegenſtand
der Phantaſie werden, als es (§. 450 Anm. 2) in den Göttern vertreten
war. Mit dieſem Stoffe ſind aber nothwendig auch die ſinnlich freieren
unter den Culturthätigkeiten, welche dem Staate zu Grund liegen, ausge-
ſchloſſen. Krieg, Jagd u. dergl., ſofern dabei nicht Beziehung auf einen
heiligen Zweck iſt, liegt ferne, aber das ſanfte Hirtenleben, die trauliche
Hütte des Zimmermanns, die behaglich enge Studirſtube eines St. Hie-
ronymus thut ſich als beſcheidener Tempel ſtillen Friedens auf. Ferner
treten natürlich eine Menge unbeſtimmter Situationsſphären auf, welche
den Schauplatz zu den Abentheuern des Einzelnen bilden. Aber man
darf nicht erwarten, daß dieſes Ideal auch nur die Stoffe, die ihm das
reale Leben ſeiner Zeit darbietet, wirklich ausbeute. Die feudalen Zu-
ſtände hätten nicht mehr beſtehen können, wenn man gleichzeitig fähig ge-
weſen wäre, ein deutliches Bild von ihnen zu geben; nur vereinzelte
Motive werden davon aufgenommen. Der Cultus dagegen ſpiegelt ſich
natürlich in den Entwürfen dieſer Phantaſie, doch nicht eigentlich in einem
objectiven Bilde: er iſt denjenigen, denen er abſolute Nothwendigkeit iſt,
nicht gegenſtändlich. Eine Prozeſſion z. B. wird nicht als äſthetiſche
Erſcheinung an und für ſich dargeſtellt, ſondern ein Wunder, das dabei
geſchieht, iſt die Aufgabe. Alle ſo verengten Kreiſe aber drängen auf die
neu aufgeſchloſſene Bedeutung der Individualität hin, die wir nun weiter
verfolgen.


§. 453.

Dieſe Bedeutung der Individualität iſt aber keine unmittelbare; ſie trennt
ſich von ſich ſelbſt, entäußert ſich ihrer Sinnlichkeit und ihres Eigenwillens und
gelangt erſt vermittelſt dieſes Sterbens bei ſich und ihrem unendlichen Leben an.
Durch dieſes Inſichgehen iſt die unmittelbare Einheit der Geſtalt und ihres
Innern gebrochen, jene erſcheint nur als ein für ſich unſelbſtändiges Gewand,
das als durchſichtiger Schleier hinter ſich deutet auf eine geiſtige Tiefe, die
keine ſinnliche Form erſchöpft. Der Ausdruck geht über ſein begrenztes Organ
unendlich hinaus.


[482]

Dieſe Sätze bedürfen keiner weiteren Begründung; ſie ſind nur die
Auffaſſung deſſen, was in §. 354 ff. über die Volksnaturen und Zuſtände
des Mittelalters als objectiven Stoff geſagt iſt, und eine Zuſammenfaſſung
dieſes einfachen Ergebniſſes mit dem, was aus der jetzt dargeſtellten Phan-
taſiewelt hervorgeht. Es fehlt an treffenden Bezeichnungen und Wendungen
für dieſe neue Form des Ideals in unſerer Literatur nicht. Auf den ver-
fehlten Gedanken, das claſſiſche und romantiſche Ideal als Symbol und
Allegorie zu unterſcheiden, welche Solger (nach Schellings Andeutungen
ſ. Meth. des akad. Studiums Vorl. 8) durchzuführen ſuchte und die
Schlegel von ihm aufnehmen, werden wir nachher kurz zu reden kommen,
ebenſo auf Schillers hinkende Unterſcheidung: naive und ſentimentale
Poeſie. Glückliche Wendungen hat J. P. Fr. Richter (a. a. O. §. 22): „das
Romantiſche iſt das Schöne ohne Begrenzung oder das ſchöne Unendliche, —
es iſt das Ausſummen einer Saite oder Glocke, in welchem die Tonwoge
in immer ferneren Weiten verſchwimmt und endlich ſich verliert in uns
ſelber und, obwohl außen ſchon ſtill, noch innen lautet. — Das Chriſten-
thum zerſchmelzt mit ſeinem Feuereifer gegen das Irdiſche den ſchönen
Körper in eine ſchöne Seele, um ihn dann in ihr lieben zu laſſen“ (§. 23):
„das Chriſtenthum vertilgte wie ein jüngſter Tag die ganze Sinnenwelt
mit ihren Reizen; — was blieb nun dem poetiſchen Geiſte nach dieſem
Einſturze der äußern Welt noch übrig? Die, worin ſie einſtürzte,
die innere
. Der Geiſt ſtieg in ſich und ſeine Nacht und ſah Geiſter.
Da aber die Endlichkeit nur an Körpern haftet und da in Geiſtern Alles
unendlich iſt oder ungeendigt, ſo blühte in der Poeſie das Reich des Un-
endlichen über der Brandſtätte der Endlichkeit auf. Engel, Teufel, Hei-
lige, Selige und der Unendliche hatten keine Körperformen und Götter-
leiber, dafür öffnete das Ungeheure und Unermeßliche ſeine Tiefe, — die
Geiſterfurcht, welche in der weiten Nacht des Unendlichen vor ſich ſelber
ſchaudert“ u. ſ. w. Nachdem aber Hegel dieſen Standpunkt der „unend-
lichen Negativität, welche die Ergoſſenheit des Geiſtes in das Leibliche
aufhebt, — dieß Inſich- und Beiſichſein des Geiſtes, der zwar im Aeußer-
lichen erſcheint, aber aus dieſer Leiblichkeit in ſich zurückgeführt iſt, nur
in ſich congruente Wirklichkeit hat“, auf die rechten, kurzen Beſtimmungen
zurückgeführt hat, bedarf es keiner weiteren Sammlung fremder Definitionen.


§. 454.

Dieſe negative Bewegung in ſich, wodurch die Individualität eine geiſtige
Welt wird, verzehrt aber keineswegs ihre unendliche Eigenheit, vielmehr darin
beweist die Idee ihre Macht, daß ſie ganz in das empiriſch einzelne Subject
einkehrend jene Eigenheit ſelbſt in den Dienſt der Erhebung in das Unendliche
[483] und daher in die Theilnahme an dem abſoluten Werthe der Perſönlichkeit zieht.
In dieſem Sinne iſt allerdings die Ariſtokratie der Geſtalt (§. 62) aufgehoben
und durch ungleich weitere Aufnahme der vom Gattungstypus abweichenden
Züge dringt eine porträtartige, mikroſkopiſche Auffaſſung ein. Es folgt daraus,
daß weniger die ganze Geſtalt, als die vorzüglich ſprechenden Theile derſelben
von dieſer phyſiognomiſchen Behandlungsweiſe als Sitz der Schönheit her-
vorgeſtellt werden.


Der Geiſt der Selbſtüberwindung verzehrt das Behagen des Fleiſches,
den Eigenwillen, läßt aber im ausgebrannten Leibe die ſcharfen Züge der
unendlichen Eigenheit, das Knochengerüſte der Individualität ſtehen, und
wie in der Geſtalt, ſo im Innern. Sie ſind jetzt berechtigt, weil „Alle erlöst,
theuer erkauft ſind“, weil ganz der Einzelne ſich als Gefäß des Unendlichen
wiſſen darf; ſie zählen poſitiv mit, ja ihre Adſtriction iſt eben die con-
centrirte Perſönlichkeit ſelbſt. Sofern nun unter jener Ariſtokratie der
Geſtalt der ſtreng gemeſſene Gattungstypus der griechiſchen Phantaſie
verſtanden wird, der die individuellen Züge nur ſoweit zuläßt, als ſie
die zarte Schwelle, jenſeits welcher die ſcharf in ſich zuſammengefaßte
Emanzipation liegt, nicht überſchreitet, ſo iſt dieſelbe verſchwunden. In
anderem Sinne aber dauert ſie, wie wir ſehen werden, fort. Die Geſtalt
mag nun trocken, hart, eckig, ſelbſt armſelig ſein: Hände und Angeſicht,
am meiſten das Auge widerlegen ſie durch die Unendlichkeit des Ausdrucks,
in welchem das Eigenſte und das Allgemeinſte, der kleine Menſch und
der Himmel (aber auch die Hölle) zu Einer Wirkung aufgehen. Das
Phyſiognomiſche tritt jetzt erſt in ſeiner ganzen Bedeutung ein, wie über-
haupt alle die Momente, welche in der Darſtellung des Individuums als
Stoff §. 331—340 aufgeführt wurden, ſoweit ſie nämlich der tiefer in
ſich zuſammengefaßten Welt der Individualität, aber noch nicht dem welt-
lich frei gebildeten und zur Mündigkeit erwachſenen Charakter angehören;
denn dieſen kennt das eigentliche Mittelalter noch nicht.


§. 455.

Wenn nun dadurch ein allzuweiter Umfang ſtörender Abweichungen in1
das Schöne einzudringen ſcheint, ſo hebt ſich dieß vor Allem eben dadurch auf,
daß dieß Phantaſiegebilde die Anſchauung nöthigt, in ſteter Bewegung von jenen
auf das unendlich werthvolle Innere überzugehen, indem die Umriſſe in den
Ausdruck der Innerlichkeit verſchwimmen und verzittern; aber auch dadurch,
2
daß in dieſem Ideale nicht mehr die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß
(vergl. §. 437), ſondern die Unebenheiten dieſer in der Geſammtwirkung, welche
in einem äſthetiſchen Ganzen Viele vereinigt, ſich ergänzen.


[484]

1. Dieß widerſpricht keineswegs dem, was der vorhergehende §. cum
grano salis
eine mikroſkopiſche Behandlung nannte. Die kleinen Züge,
das Mienenſpiel der verborgenen Gefühle, der harte Stempel der Indi-
vidualität, das Alles kann ſeinen beſtimmten und deutlichen Ausdruck ha-
ben, aber zugleich ſchimmert, ſpielt, ſcheint ein bewegtes Licht über das
Ganze hin, das dem Beſchauer nicht erlaubt, bei der Schärfe und Härte
dieſer Ausladungen zu verweilen, ſondern ihn fort und weiter führt, ein
hindurch- und überſchwebender Geiſt, in welchen die Grenzen der Geſtalt
beſtändig ſich verhauchen. Dieſer Geiſt iſt zunächſt der Ausdruck des un-
endlich allgemeinen und doch eigenen Seelenlebens des einzelnen In-
dividuums.


2. Dieß beſtändige Fortgehen über die Grenze iſt nothwendig zugleich
Fortgehen von einem Individuum zu mehreren und von den Individuen
zu ihrer weitern räumlichen, natürlichen Umgebung. So wie die Götter
des Mittelalters den eingeſogenen Weltgehalt in gemüthvoller Continuität
weiter geben, ſo iſt auch den Menſchen der Eine Geiſt frei und ſchran-
kenlos gegeben, ſtrömt durch Alle, ja die Täuſchung, als ſei im Gottes-
ſohne die Menſchheit erſchöpft, verbeſſert ſich in die Gewißheit, daß nur
das Menſchengeſchlecht der Sohn Gottes iſt. Die Thüre iſt offen und
die Schaaren der Menſchheit, in welcher der Einzelne und ebendaher ein
Jeder und ebendaher nur Alle zuſammen eine Welt ſind, treten in langen
Zügen in das Schöne herein und dürfen, demokratiſch berechtigt, an die
einzelne Handlung ſo viele Betheiligte abgeben, als die Phantaſie nur
immer in einem Acte beſtimmter Anſchauung zu umſpannen vermag.
Jener fließende Geiſt geht alſo hinüber vom Einen zum Andern, umfaßt
eine Gruppe zugleich Dargeſtellter, deren Unſchönheiten in wechſelſeitiger
Ergänzung ihrer Schönheiten zuſammenfließen in eine Geſammtbeleuchtung,
deren Magie uns über die Unebenheiten, die Knorren und Ecken der här-
teren Eigenheit, die Mienen, deren kleines Spiel nahe an die Grenze
geht, wo das Individuelle keine allgemeine Bedeutung mehr zu haben
ſcheint, ſchwebend hinwegführt.


§. 456.

Doch nicht alle Härte wird dadurch aufgehoben, denn nicht nur muß ſich
unwillkührlich das Mißverhältniß zwiſchen Form und Gehalt, woran das Mit-
telalter überhaupt leidet (§. 354 ff.), als bleibender Bruch auch in ſeiner
Phantaſie ſpiegeln, ſondern ſie ſetzt auch ausdrücklich Kreuzigung des Fleiſches
bis zu peinlicher Häßlichkeit, Gedrücktheit und Weltloſigkeit der Erſcheinung
als Bedingung der Idealität. Auch in dieſem Ideal herrſcht alſo eine Ariſto-
kratie der Geſtalt durch die Ausſchließlichkeit aſcetiſchen Ausdrucks.


[485]

Das Ideal des Mittelalters tritt in einem gewiſſen Sinn nahe an
die Aufſtellung des ironiſchen Geſetzes: das Häßliche iſt ſchön. Gälte
dieß Geſetz ohne Einſchränkung, ſo wäre natürlich alles Aeſthetiſche ver-
nichtet, allein dieß iſt nicht der Fall, denn die innere Schönheit verbeſſert,
widerlegt ja in dieſem Ideal die Mängel der Form im engern Sinne.
Die Seelenſchönheit wäre aber nicht Schönheit, wenn ſie nicht auch er-
ſchiene; ſie erſcheint nur anderswo, als in dem Körper, ſofern er ſchönes
Gewächſe iſt, ſie erſcheint in der Magie des Ausdrucks. Dieß rettet aller-
dings die äſthetiſche Geltung des romantiſchen Ideals. Allein es bleibt
dennoch ein Bruch, ohne einen Reſt von Barbarei geht es nicht ab. Der
§. unterſcheidet „Kreuzigung des Fleiſches bis zu peinlicher Häßlichkeit“
und „Gedrücktheit und Weltloſigkeit der Erſcheinung überhaupt;“ das Erſtere
bezeichnet mehr den eigentlich aſcetiſchen Ausdruck mit ſeiner Magerkeit
und traurigen Verzehrung aller Fülle leiblichen Daſeins, die ſchauderhaften
Stoffe, welche die Abhängigkeit der Phantaſie von der Religion in dieſer
Richtung liebt, jene henkermäßigen Darſtellungen des Leidens Chriſti und
der Märtyrer; das Zweite die Blödigkeit, Unfreiheit, den Bann, der ſelbſt
auf den Geſtalten aus dem mehr weltlichen Kreiſe liegt, den Ausdruck
prinzipiell feſtgehaltener Unmündigkeit, deren höchſte Pflicht iſt, den Pfaf-
fen zu gehorchen, und höchſtes Verdienſt, ein Leben voll Thaten im Klo-
ſter zu beſchließen. Ueber die Ariſtokratie der Geſtalt, welche dadurch,
der demokratiſchen Berechtigung der Individualität zum Trotz, auch in die-
ſem Ideale herrſcht, kann nun auf die Anm. zu §. 62. verwieſen werden.


§. 457.

Beide in §. 455 unterſchiedenen Formen der Aufhebung des Häßlichen, wel-
ches mit der Eigenheit der Individualität in dieſes Ideal eindringt, können er-
haben
oder komiſch ſein. Die romantiſche Phantaſie verfolgt, während ſie
auch das einfach Schöne zum vollen Zauber ſeelenvoller Anmuth vertieft, das
Erhabene in neue Tiefen des unendlichen Leidens, der innerlichſten Empörung
des Böſen, aber auch der höchſten Verklärung; die weltloſe Innerlichkeit
ſchließt jedoch den wahren Prozeß des Tragiſchen aus. Auch das Komiſche
hat, ohne zwar die Form der Poſſe ganz zu verlaſſen, den Boden ſeiner tiefe-
ren Formen durch die Einkehr des Subjects in ſich betreten.


Man darf nicht meinen, der Ueberſchuß der Idee über die Erſchei-
nung, worauf dieſes ganze Ideal ruht, beſtimme daſſelbe überhaupt zu
einem Ideal der Erhabenheit. Es handelt ſich hier von einer geſchichtli-
chen Form des Schönen, welche durch eine Summe von Bedingungen,
[486] die in der Metaphyſik des Schönen noch gar nicht in Rechnung kom-
men, allen metaphyſiſchen Grundformen des Schönen eine neue Tiefe
gibt, ſo zu ſagen eine vertiefte Reſonanz, ein in weiterere Ferne hallendes
Echo. Alle Grundtöne des Schönen hat dieſes Ideal mit den andern
gemein, aber bei jedem klingt in ihm ein vollerer Accord mit, verſchwe-
ben die Töne länger, nachhallender. Für das einfach Schöne hat es einen
unerſchöpflichen Stoff in der heil. Familie und in dem neuen Geiſte, der
von ihr auch auf die weltliche Liebe ausfließt. Kindlich, „frauenhaft“
(wie Gervinus ſagt), iſt ja dieſes ganze Ideal in der Unſchuld ſeiner
Erfahrungsloſigkeit. Die Seelenſchönheit dieſes ſanften und ſüßen Kreiſes
kennt zwar auch ihre Kämpfe. Das Ideal der Maria hat ſeine ver-
ſchiedenen Stationen, ſie iſt nicht nur die ſchaamhaft glückliche, ſondern
auch die ſchmerzensreiche Mutter, aber doch bleibt der innerſte Seelenfriede
ungetrübt und dieſes Gebiet des Sagen-Mythus geht um der reinen
Holdſeligkeit ſeines Innern willen auch noch nicht zu den harten und
eckigen Körperformen fort, das Innere und Aeußere iſt congruenter,
Glieder, Neigung und Beugung anmuthig. Im Gottesſohn aber vorge-
bildet im Sinne der Stellvertretung, ernſtlich und als innerſte Erfahrung
im wirklichen Menſchen beginnt das Reich des Erhabenen als furchtbarer
Kampf der innerſten Seele, ein Abgrund, ein Meer von Qualen wühlt
ſich auf. Wo Alles unendlich wird, muß es auch der Schmerz ſein und
vor Allem der Schmerz der Schmerzen, der über die Entzweiung der
Seele mit ihrem Urquell. Je tiefer aber die Pein, deſto tiefer auch die
Verſöhnung und wie Maria in goldenen Höhen mit ausgeſpannten Armen
aufſchwebt, ſo ſchwingt ſich das entzückte Gemüth in das Meer der Selig-
keit. — Wir haben es bis hieher verſchoben, die neue Tiefe des Böſen,
die ſich nun ebenfalls aufthut, zu erwähnen, und ſeither geredet, als habe
dieß Ideal nur gute Menſchen aufzuweiſen, die durch Reue und Schmerz
zur Verſöhnung fortſchreiten. Schon in der Stofflehre wurde aber gezeigt,
wie nun die Bedingungen zur eigentlichen Empörung des Böſen in der
Individualität gegeben ſind, die ſich als Ich erfaßt hat. Die Empörung
iſt erſt da eine volle, wo ſie ſich als bewußter Widerſpruch gegen die Be-
ſtimmung zur geiſtigen Unendlichkeit ausbildet, wo dieſe Unendlichkeit ſelbſt
ſich als Eigenwille fixirt und das Ich all’ den neuen und tiefen Reich-
thum, der in ihm aufgegangen, gegen deſſen eigenen Zweck umdreht, den
es nun als Verdammniß ſeiner ſelbſt in ſich trägt. Der Teufel iſt äußerlich
vorgeſtellt, die Schauer ſeiner Finſterniß kehren aber zurück auf das Ge-
müth, das ihn geſchaffen, das Weltgericht iſt eine künftige Begebenheit
und doch gegenwärtig im Buſen des Verworfenen. Je geiſtiger die Furcht-
barkeit dieſer Erſcheinung, deſto weiter darf die Geſtalt in der Häßlichkeit
gehen. Um jenes Widerſpruchs willen liegt im Böſen ſelbſt eine Komik
[487] furchtbarer Art; überhaupt aber hat das Komiſche nun den Boden ge-
funden, wo ſeine tieferen Schätze liegen. Sie dringen ein mit der frei-
gelaſſenen Eigenheit der Individualität, der innere Widerſpruch iſt aufge-
than auch im guten Menſchen durch das aufgegangene Bewußtſein der
Unangemeſſenheit ſeiner Erſcheinung und der ganzen Naturſeite ſeines
Geiſtes zu ſeinem idealen Selbſt. Im religiöſen Kreiſe ſelbſt herrſcht
eine witzige Ironie: die Naturgeſetze und irdiſchen Zwecke ſind Schein,
ſchlagen in ihr Gegentheil um; im weltlichen darf man nur an einen
Parzival, den „Tumbe-Klaren“ erinnern, deſſen herrliches Gemüth über
ſeine eigene Erſcheinung ſtolpert. Die Form aber bleibt immer ſinnlich,
Faſtnacht-, Hanswurſtartig, auch wo die Komik den höchſten Gehalt er-
greift, und zugleich hiemit iſt auch ausgeſprochen, daß die nun zugänglichen
Quellen des Komiſchen keineswegs ganz erſchöpft werden. Es fehlt die
Ausbildung des Weltlichen und der Reflexion. Ebendieß iſt nun auch
der Grund, warum in dieſer Phantaſie noch kein Raum ſich findet, das
Schickſal als die dialektiſche Macht im Wirklichen zur Darſtellung zu
bringen. Die Griechen konnten dem Tragiſchen dieſe wahre Geſtalt ge-
ben, weil ihre Götterwelt Abbild einer ganzen und vollen, einer mün-
digen, politiſchen Menſchenwelt war und weil ſie in ihrer Schickſals-Idee
hinter die Götter ſelbſt zurückgriffen, wo ſie denn die Menſchenwelt
und das Schickſal als ſeine Macht in Eins zuſammenfaßten. Im Mit-
telalter dagegen wird von der Menſchenwelt nur das Gemüthsleben her-
ausgenommen und in die Götter gelegt, hinter dieſe zurückzugreifen in die
immanente Idee der Weltordnung dazu fehlt noch die Helle des Geiſtes:
daher machen die Götter das Loos des Menſchen in ihrem Jenſeits ab,
er hat das Zuſehen. Alſo iſt keine Tragödie möglich, und weil es kein
Schickſal gibt, auch keine Befreiung von ihm, keine Komödie.


§. 458.

Unter den in §. 404 aufgeführten Arten iſt es die empfindende1
Phantaſie, worauf das Mittelalter durch ſeine Grundſtimmung angewieſen iſt,
doch nicht mit der Einſchränkung wie die jüdiſche (§. 433, 3.), ſondern ſo, daß
ſie zugleich in gewiſſen Sphären der bildenden heimiſch dieſe im Geiſte der
empfindenden behandelt. Beſonders im meſſenden Sehen wird ſie die Sehn-
2
ſucht des Gefühls ausdrücken, für das taſtende ſo gut als gar nicht, für das
eigentliche Sehen dagegen vorzüglich beſtimmt ſein, als dichtende Phantaſie
3
aber wird ſie, gemäß dieſen Bedingungen wirkend, am wenigſten zu derjenigen
Unterart berufen ſein, welche das empfindende Innere zu freier Einheit mit
dem Standpunkte der bildenden Auffaſſung fortführt.


[488]

1. Die Kunſtlehre, die ja nothwendig hier vorbereitet werden muß,
darf uns vorläufig den deutlicheren Namen leihen: dieſes Ideal iſt mu-
ſikaliſch
. Dieß bedarf keiner weiteren Begründung; wo die Deutlich-
keit der Geſtalt ſich ſtetig in das Erzittern der unendlichen Innerlichkeit
und in das Fortzittern von Innerem zu Innerem, in dieſes sensorium
commune
auflöst, da iſt die empfindende Art der Phantaſie als Tonan-
gebender Standpunkt von ſelbſt geſetzt. Schiller nun hat zuerſt den Na-
men des Sentimentalen ſo allgemein angewandt, daß er dieß ganze
Ideal damit bezeichnete, während er das antike naiv nannte. Wir laſſen
aber denſelben billig einer beſonderen Stimmungs-Epoche des moder-
nen Ideals; er enthält etwas Pathologiſches, das ihn nicht zu der Be-
zeichnung einer großen und ſelbſtändigen Periode des Ideals eignet;
davon an ſeinem Orte, jedenfalls wird durch ihn eine Flucht aus der
Natur und Grenze und zugleich eine Sehnſucht nach ihrem verlorenen
Glücke bezeichnet, wozu das Mittelalter wohl einen Anſatz, aber keines-
wegs alle Bedingungen in ſich hatte. Das Mittelalter hat mit der Naive-
tät gebrochen und ſteckt doch noch in ihr, ſeine Art, aus der Natur zu
fliehen, iſt (weil mythiſch) ſelbſt wieder naiv. Allein die ganze Entwick-
lung bei Schiller hat eine Schiefheit ſowohl in der Ausdehnung der Be-
griffe, als in ihrer Beſtimmung. Schiller nennt nicht nur die Alten,
ſondern auch Shakespeare und Göthe naiv und begründet dieß durch die
Beilegung von Eigenſchaften, welche eben nur das ächte Genie bezeichnen.
Ebenſo nennt er umgekehrt antike Dichter (Euripides, Horaz, Properz,
Virgil) ſentimental mit Beilegung von Eigenſchaften, welche die Auflö-
ſung der ächten und ganzen Phantaſie bezeichnen. Es bleibt daher un-
klar, ob er einen hiſtoriſchen oder einen allezeit beſtehenden Unterſchied
darſtellen will, er ſucht ſich mit den bei aller Größe unläugbaren Män-
geln ſeiner Phantaſie eine Stelle neben Göthe zu retten und ſtellt daher
die ſentimentale Dichtung als eine eigene Gattung auf. Er beſtimmt
nun die Begriffe ſo: der ſentimentale Dichter erhebt die Wirklichkeit zum
Ideal, rührt durch Ideen, hat zwei Prinzipien, die Wirklichkeit als Grenze
und das Unendliche als Idee; der naive iſt ſein Werk und ſein Werk iſt
er, er iſt objectiv, er rührt durch Naturdarſtellung, er hat Ein Prinzip,
die Natur. Dieß iſt grundfalſch, alle ächte Phantaſie hat und gibt Na-
tur, Grenze, Bild und Idee ungetrennt in Einem, alle ächte Kunſt iſt
Kunſt der Begrenzung und des Unendlichen zugleich. Die griechiſche
Phantaſie hat und gibt dieſe Einheit, die romantiſche, die moderne nicht
minder; denn die beiden letzteren haben (in verſchiedener Weiſe freilich)
zwar einen Bruch zwiſchen Geiſt und Natur darzuſtellen, ihr Stoff hat
alſo, wenn man will, zwei Prinzipien, aber dieſen Bruch, dieſe Zweiheit
des Daſeins ſelbſt haben ſie ganz ebenſo wie der antike in der Begren-
[489] zung Eines untheilbaren Geiſtes, alſo wie Ein Prinzip darzuſtellen. Sagt
ja Schiller ſelbſt, Göthe verſtehe ſentimentale Stoffe mit ſinnlicher, ob-
jectiver Wahrheit darzuſtellen, im Alterthum hätte dazu der Stoff gefehlt,
in der neuen Welt ſcheine der Dichter dazu zu fehlen, Göthe aber habe
das ſcheinbar Unmögliche geleiſtet. Freilich fehlte im Alterthum der Stoff,
aber nicht in der neuen Welt der Dichter; Schiller räumt hier eben ein,
was wir ſagen, und ſtößt die ganze Grundlage ſeiner Abhandlung um.
Die Stoffe ſind verſchieden, das Verfahren der Phantaſie iſt in allen
Idealen das Gleiche; richtiger, nicht nur die Stoffe ſind verſchieden, die
Ideale, die Wege der Phantaſie ſelbſt ſind es, aber in dieſem Unterſchied
bleibt das Weſen der Phantaſie immer das gleiche; ſelbſt das Ideal
des Geiſtes, der mit der Natur gebrochen hat, ſtellt ſie ungebrochen dar.
Kurz: alle ächten und ganzen Dichter jeder Zeit ſind naiv, die Vertie-
fungsgrade der Idee aber in dem Ideal, das ſie in verſchiedenen Zeiten
darzuſtellen haben, ſind verſchieden. Geht alſo der Ausdruck naiv und ſen-
timental auf jederzeitige Arten, ſo iſt dieß falſch, denn das Sentimentale
bezeichnet vielmehr nur eine Abart; geht es nur auf die geſchichtlichen Ver-
tiefungsgrade, ſo iſt nur der antike Dichter naiv, nur der romantiſche
ſentimental, aber dieſer Ausdruck und ſeine Definition iſt unglücklich.


2. Das romantiſche Ideal iſt, um wieder die Namen der Kunſt im
Voraus zu entlehnen, architektoniſch, unplaſtiſch, maleriſch. Auch
dieß bedarf keiner weiteren Ausführung. Das meſſende Sehen wird nicht
fehlen, aber ſeinen Stoff im Sinne der von der Erde aufſtrebenden Sehn-
ſucht der Empfindung behandeln, das taſtende muß verkümmern, denn
das Ideal führt einen Gehalt in ſich, der zu tief liegt, um in die feſten
Formen bis an den Rand greiflich ſich zu ergießen, das eigentliche Sehen
aber kann gedeihen, denn es faßt die Geſtalt in der bewegten, fließenden
Magie des Licht- und Farbenſcheins, es iſt empfindendes, wenn man will,
muſikaliſches Sehen und ſucht den unendlichen Ausdruck vorzüglich im
farbig durchſichtigen Spiegel des Auges, man kann auch jenes empfin-
dend meſſende Sehen ein maleriſches nennen (die Architectur des Mittel-
alters iſt in gewiſſem, nicht im tadelnden Sinne maleriſch).


3. Die romantiſche Phantaſie iſt lyriſch, ſie behandelt die bildende
Form der dichtenden Art (das Epos) maleriſch lyriſch, kann aber die
Form nicht finden, worin das Subject des Lyriſchen ſich fortbewegt in
die Objectivität der bildenden Form und ſie als innerlich und gegenwär-
tig bewegte in den tragiſchen Prozeß zieht, denn dazu gehört Freiheit und
Mündigkeit: ſie kann nicht dramatiſch werden. Dieß und alles Obige
findet in der Kunſtlehre ſeine weitere Ausführung.


[490]
α.
Vorſtufe.

§. 459.

Während chriſtlicher Mythus und Sage ſich von einfachen Anfängen fort-
bilden, nimmt die einheimiſch deutſche Heldenſage, die den ächt germaniſchen
Charakter in ſeiner wortarmen Tiefe und rauhen Selbſtändigkeit zwar hart,
aber groß und mit einer der griechiſchen Objectivität verwandten Geradheit der
Motive entfaltet, fortwachſend Beſtandtheile aus neuen und anderen Verhält-
niſſen in ſich auf. Die erſte Verbindung chriſtlich univerſeller und volksmäßig
germaniſcher Sage erkennt man in der Carls-Sage.


Der religiöſe Mythus hat mit den Evangelien ſchon eine Abrun-
dung gefunden, allein die früheren Jahrhunderte des Mittelalters erwei-
tern mehr und mehr den chriſtlichen Olymp aus den Beiträgen aller
vorchriſtlichen Religionen. Die germaniſche trägt insbeſondere in die
Vorſtellung des Weltuntergangs die erhabenen Bilder der Götterdämme-
rung ein. Als völliger Gegenſatz ſteht die aus heidniſcher Vorzeit her-
übergenommene deutſche Heldenſage der neuen geiſtigen Welt gegenüber.
Kein Volk hat eine der griechiſchen ſo ebenbürtige Heldenſage aufzuwei-
ſen wie das deutſche. Der Dualiſmus des deutſchen Charakters iſt zwar
darin bereits ausgeſprochen, aber dieſer Dualiſmus hat ſeine Stadien.
Hier erſcheint zwar bereits das Innere nicht in ſeinem Aeußeren erſchöpft,
die Menſchen können nicht reden, ſie haben keine Geſchmeidigkeit, keine
Leichtigkeit, ja Dieterich muß erſt von ſeinem greiſen Waffenmeiſter geſchla-
gen werden, bis er ſich zum Kampf im Roſengarten entſchließt, doch dann
fahren ihm vor Kampfwuth Flammen aus dem Mund. Es iſt alſo wohl
ein Gehalt, der nicht ganz und voll über ſeine Schwelle dringen kann,
aber in dieſem Gehalte ſelbſt iſt nicht der weitere Bruch der einfachen
realen Motive gediegener Sitte mit ganz tranſcendenten Motiven, welche
jene zu opfern geböten. Liebe, Rache, Haß gehen geradezu, von keiner
ſubjectiven Moral gebrochen, ein Fluß ohne Wehre, ihren Weg. Daher
ſind dieſe Menſchen naiv und ganz, aus Einem Stücke freilich rauhen
Geſteins gehauen, tüchtige und grobe Geſundheit des ſittlichen Lebens
findet in ihnen ihre einfachen typiſchen Vertreter, welche in derben Grund-
zügen die Hauptcharaktere des Nationalgeiſtes darſtellen. Heidniſche My-
thologie ſpielte im urſprünglichen Sagenbilde natürlich eine ſtärkere Rolle,
doch ſchon in dieſem haben die Perſonen das Ungebeugte und Undurch-
dringliche, ſich ſelbſt ihr Schickſal zu ſein und die Folgen ihrer Thaten
[491] in wortlos harter Feſtigkeit auf ſich zu nehmen. Fortrückend nimmt die
Sage Perſonen und Verhältniſſe der Völkerwanderung, Chriſtliches, ſpä-
tere Stoffe, Stimmungen, Formen der Ritterzeit in ſich auf, aber der
heidniſche Kern iſt unverwüſtlich, ja indem das Einwirken von Göttern
und Naturgeiſtern mehr und mehr an den Saum gedrängt, das Chriſt-
liche aber nur als Ritus eingewoben wird, wachſen die Charaktere noch
an Selbſtändigkeit, an ſchroffer Größe und Strammheit und doch zugleich
durch einen Zug herzlicher Innigkeit, der wie eine Blume am rauhen
Felſen blüht, an Milde und Süßigkeit. Dieſer Zug iſt vorzüglich der
Gudrun-Sage eigen.


Dagegen nimmt nun die fränkiſche Carls-Sage ſchon frühe jenen
Weihrauchgeruch an, der ein Zeichen von Verſchmelzung des Chriſtlichen,
alſo Univerſellen, und, da doch die Grundlage noch rauh, groß und
reckenmäßig bleibt, des Germaniſchen iſt. Dieſes Amalgam iſt zugleich
ein Zuſammenfluß von deutſchen und romaniſchen Beiträgen, dieſe Sage
wandert durch die Phantaſie aller europäiſchen Völker, ergreift auch die
Geſchichte der Ahnen Karls des Großen und verarbeitet ſie zu einem
fruchtbaren Kreiſe von einzelnen Zweig-Sagen. Am reinſten deutſch bleibt
der Zweig von den Haimonskindern, in welchem (wie vorzüglich auch in
der lombardiſchen Sage von Rother, von Otnit, Hugdieterich und Wolf-
dieterich) die Feudal-Kämpfe mehr, als dieß ſonſt mit der urſprünglichen
Stoffwelt der Fall iſt, eine Rolle ſpielen. Wie aber Karl mit ſeinen
Recken ſchon ein Glaubensheld wird, ſo werden andere Zweige (Flos
und Blankflos, Octavian, Genovefa u. ſ. w.) vom ritterlich erotiſchen
Geiſte in Beſitz genommen. Vom Romaniſchen, das hier beſonders ein-
wirkt, kommt aber der Ausdruck romantiſch.


§. 460.

Während dieſe Sagen orientaliſcher und germaniſcher Abkunft die dich-1
tende Phantaſie, welche mehr erſt auf dem Standpunkte der bildenden, als der,
dieſem Ideal gemäßen, empfindenden Auffaſſung ſteht, beſchäftigen, dringt von
der andern Seite allmählich auch die antike Heldenſage mit ein. Mehr aber
noch, als durch dieſe Hinterlaſſenſchaft auf die dichtende, wirkt das objective Ideal
auf die eigentlich bildende Phantaſie und beherrſcht ſie durch ſeine geſunkenen For-
men, welche zunächſt vollends zu lebloſen Typen verhärten und langſam ſich am neuen
Geiſte wieder erwärmen. Zugleich hilft ſich die noch arme Phantaſie mit Bildern,
2
die zwiſchen dem Symbol und der Allegorie, welche, zunächſt überall ein Zei-
chen des Verfalls, in die Anfänge eines neuen Ideals als Zeichen der Unreife
herübergenommen wird, geheimnißvoll ſchweben.


1. Seine Beſtimmung, Alles im Geiſte der empfindenden Phantaſie
zu behandeln, kann das Mittelalter anfänglich noch nicht erfüllen. Die

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Bd. 32
[492]Zeit der Sagenbildung verfährt im Gebiete der dichtenden bildend (epiſch).
Zu den bezeichneten Sagenkreiſen kommen nun noch Reſte des antiken. Die
Sage der Franken knüpft ſchon frühe den Urſprung dieſes Stammes an
die trojaniſche, welche ſich dann in entſtelltem Bilde verbreitet, um im
Geiſte der ritterlichen Empfindung gegen den Schluß dieſer Vorſtufe be-
handelt zu werden. Auch einige Götter, Venus, Amor wandern aus
dem Alterthum herüber. Wie nun aber die eigentlich bildende Phantaſie
von der Erbſchaft antiker Formen ausgeht, dafür genüge ein Fingerzeig
auf die Baſiliken, altchriſtlichen Gemälde, plaſtiſchen Darſtellungen an Sar-
kophagen. Erſt weit ſpäter entwickeln ſich die eckig gebrochenen, aber in-
dividuellen germaniſchen Formen. So bilden ſich zunächſt Typen, die,
an ſich ſchon todt, weil aus fremdem Geiſte entſtanden, allmählich zu
Mumien erſtarren und ſo byzantiſch genannt werden. Gegen Ende dieſer
Vorſtufe taucht allmählich der innigere Seelenblick des neuen Ideals in
ihnen auf.


2. Man kann zweifeln, ob jene älteſten chriſtlichen Darſtellungen
(Pfau, Ente, Hirſch, Lamm u. ſ. w.) Symbole, auch etwa ſymboliſche
Halbmythen (Orpheus, Theſeus kommen bekanntlich vor), oder Alle-
gorien geweſen ſeien, d. h. ob das Bild glaubig mit der Bedeutung ver-
wechſelt oder dieſe nur conventionell in jenes gelegt wurde. Es iſt ge-
heimnißvolle Mitte; ſelbſt Dante’s Allegorien haben einen mythiſchen,
geiſterhaften Hauch, der ſie zum Theil der Poeſie rettet. Eben indem
die Allegorie, urſprünglich Merkmal des Verfalls, als Nothhilfe in ein
werdendes Ideal übergeht, nimmt ſie hier wieder etwas vom Symbole,
nämlich das Unwillkührliche, Unbewußte, das Confundiren von Bild und
Idee an. Nimmermehr aber kann man das reife Ideal des Mittel-
alters mit Solger und den Kritikern der neueren romantiſchen Schule
allegoriſch nennen. Unter Symbol verſteht Solger (Vorleſ. über Aeſth.
S. 129 ff.) das volle und runde Aufgehen der Idee im Stoff, im ſinn-
lichen Object, alſo das, was vielmehr Vollendung des Mythiſchen iſt,
das griechiſche Ideal; unter Allegorie „das Schöne als Stoff noch in der
Thätigkeit begriffen, als ein Moment der Thätigkeit, welches ſich noch
nach zwei Seiten hin bezieht.“ Das Leben Chriſti habe die Doppelbe-
ziehung, empiriſch einzelne Thatſache zu ſein und zugleich die abſolute
Idee zu bedeuten, aber dieß Sein und Bedeuten ſei wieder Eines, das
Leben Chriſti ſei wirklich das, was es bedeute. Wir haben aber hinrei-
chend gezeigt, daß der Ueberſchuß geiſtiger Tiefe in der romantiſchen
Phantaſie nichts weniger als allegoriſch iſt, und was dieſes Sein und
Bedeuten zugleich betrifft, ſo verhielt es ſich mit den antiken Mythen und
Sagen ebenſo: es waren Ideen, die für Geſchichte genommen wurden.


[493]
β.
Mitte.

§. 461.

Die Verſchmelzung des Chriſtlichen, alſo urſprünglich Orientaliſchen, des1
Romaniſchen, des Deutſchen, der allgemeine Austauſch, der insbeſondere auch
Keltiſches aufnimmt, dazu der Einfluß der muhamedaniſchen Phantaſie,
welche die unterſchiedslos reine Einheit und Allgemeinheit ihres Gottes mit
heiterer Beſchaulichkeit als gegenwärtige Weltſeele genießt, mit Gluth und
Kühnheit der Empfindung glänzende Thaten feiert, mit üppigem Spiel der Er-
findung eine Fülle von Pracht ſtreng meſſend um einen geſtaltloſeren Mittel-
punkt verſammelt und vorzüglich dem ſpaniſchen Volke ſich mittheilt: dieſe Mo-
2
mente treiben ihre Blüthe, das Herz des Mittelalters ſchließt ſeine Schätze auf
und die empfindende Phantaſie kommt zur Reife.


1. Die Kelten ſind ausdrücklich zu nennen, denn die wichtigſten
Sagen des Mittelalters gehen von dieſem träumeriſchen Volke, das von der
neblichten Luſt der brittiſchen Inſeln, wo es ſich am längſten unvermiſcht
erhielt, wie von einem geheimnißvollen Schleier, dahinter Geiſter lauſchen,
umgeben iſt, und deſſen Phantaſie Feen, Elfen, Zauberbrunnen und dergl.
urſprünglich angehören, entweder wirklich aus, um zwiſchen allen abend-
ländiſchen Völkern herüber und hinübergetragen ſich zu erweitern, oder ſie
wandern zu ihm und werden vermehrt von ihm wieder zurückgegeben.
Neben den Kelten ſind die Muhamedaner, d. h. insbeſondere die Per-
ſer mit der durch die arabiſche Eroberung bei ihnen neu geſchaffenen Bil-
dung, und die Araber ſelbſt, wie in §. 361, 1. als Stoff, ſo um deſſen
willen, was ſie ſelbſt an Schönheit produzirt haben, hier zu nennen. Den hei-
teren Pantheiſmus ihrer empfindenden Phantaſie hat Hegel (Aeſth. Th. 1,
S. 473 ff.) trefflich dargeſtellt: indem der Dichter das Göttliche in Allem
zu erblicken ſich ſehnt und es wirklich erblickt, gibt er nun auch ſein eigenes
Selbſt dagegen auf, faßt aber ebenſoſehr die Immanenz des Göttlichen
in ſeinem ſo erweiterten und befreiten Innern auf und dadurch erwächst
ihm „jene heitere Innigkeit, jenes freie Glück, jene ſchwelgeriſche Selig-
keit“ u. ſ. w. Dieſe Innigkeit iſt gewiß das Höchſte, wozu ſich die Phan-
taſie des Muhamedaniſmus erhoben hat, aber keineswegs ihre einzige
Form. Wie ſie hier als ſanft verklärendes Licht wirkt, ſo flackert ſie auch
in poſitiv ſchaffender Thätigkeit als unruhige Flamme, trennt ſich von der
Beſonnenheit und legt ſie nur als meſſenden Verſtand an ihre bunten
Mährchen. Die Araber ſind darin den alten Orientalen gleich, aber der

32*
[494]Muhamedaniſmus, die einzige Ueberſetzung des Chriſtenthums, worin dieſes
dem Orientalen zugänglich wurde, hat ſie edler, ritterlicher geſtimmt. Schon
urſprünglich iſt das Vereinzelte ihrer Tapferkeit dem germaniſchen Geiſte,
der das Ritterthum erzeugte, verwandt. In der dichtenden Art bilden
ſie ihre Heldenſagen, voll Thatendurſt, Haß, Blutrache, Kühnheit, Glanz,
wunderliebend, phantaſtiſch in Abentheuern, ſchwärmeriſch und glühend
in der Liebe, deren ſublimen Cultus ſie ebenſo vorbereiten wie die reiche
Sagenwelt von irrenden Rittern. Dieſe Seite der muhamedaniſchen Poeſie
hat nun entſchieden mehr auf das Abendland eingewirkt, als jene geiſtigere,
quietiſtiſche, in Perſien vorzüglich ausgebildete Form; am meiſten natürlich
in Spanien. Auch in der Richtung des eigentlichen Mährchens hat der
muhamedaniſche Orient dem Abendland ſeine Schätze zugeführt, die zum
Theil ſelbſt wieder auf uralt heidniſchen Quellen ruhten. In dieſer bren-
nenden Phantaſie, in welcher Begeiſterung und Beſonnenheit nicht orga-
niſch ineinander aufgehen, war nun aber auch ein Verhältniß der äſthe-
tiſchen Elemente gegeben, das, weſentlich antik orientaliſch, durch die Re-
ligion des Muhamed nicht aufgehoben werden konnte. Es iſt dieß zunächſt
das Symboliſche. Iſt es wahr, daß die Sage vom h. Gral mauriſchen
Urſprungs iſt, ſo dürfen wir in ihr eine Verklärung jenes uralten Sym-
bols des ſchwarzen Steines ſehen, das die alten Araber verehrten. Trotz
der Verklärung aber iſt dieß nicht jener tiefbeſeelende Myſticiſmus der
pantheiſtiſch empfindenden, ſondern ein Myſticiſmus der ſymboliſchen Phan-
taſie. Unorganiſch wie hier iſt aber das Verhältniß der Elemente in den
Formen der dichtenden Phantaſie, die einen gedankenmäßigen, ſententiöſen
Mittelpunkt mit der Pracht glänzender Vergleichungen umkleiden oder ſich
ganz in Gattungen niederlegen, die das Bild blos zum Mittel machen
(Fabel, Parabel u. ſ. w.). Auch von dieſer Seite hat der Orient ſtark
auf das Mittelalter gewirkt, ja bis auf Indien geht die Quelle der Fa-
beln zurück. Aehnlich verhält es ſich mit der meſſenden Phantaſie der
Araber; die ſtatiſchen Verhältniſſe ſind faſt in ihr verlaſſen und Alles
ſproßt in ſpielende, ſprudelnde Pracht einer Decoration aus, die durch
keinen wahrhaft organiſchen Mittelpunkt im Zaum gehalten, wohl aber in
ihrem bunten Wechſel und Reichthum ſtreng vermeſſen wird. Wir werden
ſehen, was davon die Phantaſie des Abendlands aufnahm.


2. Die Entzündung der ſubjectiven Unendlichkeit, zu welcher das
germaniſche Naturell die Anlage, das Chriſtenthum die Idee und Er-
mahnung hergab, wäre ohne die Reibung ſo verſchiedener Nationalitäten
und Elemente nicht zur Blüthe gelangt. Der Anfang des dreizehnten
Jahrhunderts ſprengt die Blume, in Italien iſt es namentlich das Leben
des Franziſcus von Aſſiſi, deſſen myſtiſche Verzückung ihre Strahlen in
die Stimmung der Zeit ergießt, ſowie es ſelbſt ein Ausdruck derſelben
[495] iſt. Die empfindende Phantaſie iſt reif, ergreift mit den unſagbaren
Herzenstiefen jeden Stoff, jedes Verhältniß, legt ihre ſchönſten Empfin-
dungen im Liebestauſch der h. Familie nieder, erfaßt von der urſprünglichen
Stoffwelt die Liebe, die Frauen, den Frühling, doch immer, um mit der
Erhebung aller Stoffe in die höchſten, mythiſchen zu ſchließen.


§. 462.

An den zu myſtiſcher Inbrunſt vertieften Kreis der Haupt-Mythen
ſetzt ſich eine unendliche Reihe von Legenden als religiöſer Sagenkreis an. Ihm
ſteht als mehr weltlicher Kreis die Ritterwelt mit den zu §. 361 genannten
Motiven hauptſächlich in der Artus-Sage gegenüber, vereinigt ſich aber durch
den Mittelpunkt eines myſtiſchen Reliquiendienſtes mit ihm in der Sage vom
h. Gral. Der mythiſch religiöſe Sagenkreis gehört der bildenden und dich-
tenden, die andern der bildend dichtenden Phantaſie an, die aber ihren in ver-
einzelten Abentheuern einer unmöglichen Tapferkeit für illuſoriſche Zwecke
nebelhaft ſich fortſpinnenden Stoff dem Geſetze feſter Geſtaltung nicht einzu-
ordnen vermag.


Es genügt, dieſe Sagenkreiſe aufzuführen; ihr Inhalt iſt hier nicht
darzuſtellen, der Geiſt, in dem ſie empfangen ſind, iſt in allem Bisheri-
gen gegeben. Der religiöſe Mythus gehört vorzüglich der Malerei, Pla-
ſtik, der lyriſchen Dichtkunſt, die Legende oder Sage von dem Leben heiliger
Perſonen jenen beiden und der epiſchen Dichtung, die Ritterſage nur der
letzteren an, die allgemeinen Grund-Empfindungen der Zeit finden in
der Architectur und Lyrik ihren Ausdruck. Was nun die Art der Phantaſie
betrifft, die das Epos erzeugt und die wir noch die bildend dichtende nen-
nen, ſo folgt von ſelbſt aus der Objectivität des in ſie übergetragenen
taſtenden Sehens, daß ſie eine gediegene Welt, ſächlich begründete, ein-
fache Motive, klar umriſſene Geſtalten braucht; es erhellt aber, daß mit
der Einfachheit der objectiven Lebensform dieſer feſte Boden der bildenden
Phantaſie entzogen iſt. In einer zuſammenhangsloſen Schnur von Aben-
theuern kämpft in der Artusſage der Ritter für die Frauen, die ein
tranſcendenter Cultus des Herzens zu überirdiſchen Weſen erhebt und
bodenlos verwöhnt, für das auf Stelzen geſtellte Gefühl der Ehre, für
den Glauben gegen Ungläubige, gegen fabelhafte Weſen, welche die fin-
ſtern, im Heidenthum verehrten Naturmächte darſtellen, gegen Rieſen,
Zwerge, Drachen. Der Faden der Begebenheiten läuft räumlich und
zeitlich in Fernen, wo alle Ueberſchaulichkeit ſchwindet, und ebenſo zerfließt
im phantaſtiſchen Nebel des Gemüths der Helden, im ewigen Verlieren
und Finden das Band des Charakters, die Treue, die Redlichkeit, und
[496] Gervinus hat von dieſer Seite Recht, wenn er zeigt, wie gewiſſenlos es
in dieſer Nebel- und Zauberwelt hergeht. Doch faßt ſich die bodenloſe
Maſſe dieſer Sagen im Myſterium des h. Gral zu einem blendenden myſti-
ſchen Gipfel zuſammen und ſchließt ſich äußerlich und innerlich in einer
Verklärung ab, deren Schönheit freilich nicht in dem Stücke grünen Gla-
ſes zu ſuchen iſt, das kindiſch zu einem Unendlichen erhoben wird, ſondern
in dem tiefen Drange des ahnenden, ſeine eigene Wunderſchätze außer-
halb ſeiner ſich vorſpiegelnden Gemüthes.


§. 463.

1

Die romaniſchen Völker bewahren in der Ausbildung dieſes Ideals be-
ſtimmter die Erbſchaft der objectiven Phantaſie, gehen nicht zu dem tiefen Bruche
zwiſchen Gehalt und Erſcheinung fort, verfallen aber auch zum Theile in die
2Fehler der Einbildungskraft §. 406, 2. Der deutſche Geiſt dagegen vertieft bei
eckiger Form und ſchwerer Härte der Individualität die maſſenhaften Stoffe
zu ſubjectiver Einheit und verklärter Innerlichkeit, geräth aber leichter in die
§. 406, 3, 4. genannten Fehler und in eine ungelöste Nebeneinanderſtellung
idealen Ausdrucks und ängſtlicher Naturnachahmung in der Form. Am rein-
3ſten bildet er die Empfindung der Phantaſie des meſſenden Sehens ein. In
allen andern Arten der Phantaſie aber bleibt überall ein Reſt typiſcher Ge-
bundenheit.


1. Die Baukunſt, Malerei, Poeſie der romaniſchen Völker wird uns
überall zeigen, daß ſie ſinnlicher, realiſtiſcher, objectiver bleiben, als die
Deutſchen. Die Italiener, vorzüglich im Maleriſchen bedeutend, bleiben
bei aller innigen Süßigkeit des Ausdrucks geſchmeidig, anmuthsvoll im
Formſinn, die Franzoſen, mehr in der dichtenden Phantaſie thätig, zeigen
in zwei verſchiedenen Richtungen den objectiveren Sinn: in der empfin-
dend dichtenden erſcheint der ſüdfranzöſiſche Geiſt ungleich ſinnlicher, leiden-
ſchaftlicher, als der deutſche, in der bildend dichtenden der nordfranzöſiſche
maſſenhaft in überfruchtbarer Aufzählung unendlicher Begebenheiten. Der
Spanier iſt im Bauen und Dichten glänzend, feierlich, glühend und ſehn-
ſuchtsvoll, man ſieht den mauriſchen Einfluß. Die Sage vom Cid gehört
in ihrem Urſprung nach der ältern, mehr germaniſchen (gothiſchen), he-
roiſch einfacheren Zeit an. Die germano-romaniſchen Engländer ſtehen
unter dem Einfluße der keltiſchen Britten und des Normanniſchen, dort
alſo des Nebelhaften, hier deſſen, was wir ſo eben als nordfranzöſiſch
bezeichnet haben. Wie hier überall die Fehler der Einbildungskraft nahe
liegen, braucht keines Nachweiſes.


2. Man darf nur Wolframs von Eſchenbach Parzipal mit den
franzöſiſchen Epen deſſelben Inhalts vergleichen, ſo ſieht man, wie der
[497] Deutſche ſeinen Stoff ſubjectiv vergeiſtigt und pſychologiſch durchſichtig
macht. Dieſe Durchdringung iſt freilich keine umfaſſende; Stellen, voll
ſtoffartiger ermüdender Maſſe ziehen ſich dazwiſchen bis zur Pein aufrei-
bender langer Weile. An freier Herausarbeitung der Herzenstiefe in die
Anmuth der Form ſteht Gottfried von Straßburg dem Geiſte der italieniſchen
Maler näher, übrigens bleibt, vorzüglich in der maleriſchen Phantaſie,
das Leuchten des Ausdrucks durch hartkantige und ſchwerfällige Formen
dem deutſchen Geiſte eigen. Man hat dieſe Formen kurzweg als Natura-
liſmus bezeichnet, allein ihr Grund iſt die Berechtigung der Individualität
(vergl. 454) und man kann ſie darum vielmehr gerade idealiſtiſch nen-
nen: die harte Selbſtändigkeit vom Ausdruck der Idee durchdrungen. Wo
ſich aber jene gegen dieſe empört, da iſt der ſchon erwähnte tiefere Griff in das
furchtbar oder komiſch Häßliche gegeben. Wie jedoch die dichtende Phan-
taſie in ſchwere Maſſenhaftigkeit, ſo geräth die bildende allerdings, wo
ihr das Band ausgeht, auch in rohe Naturnachahmung; gilt einmal
die Individualität, ſo liegt es näher, ſich in die Aufnahme der gemeinen und
empiriſchen fallen zu laſſen. Am reinſten aber durchdringt ſich Ausdruck
und Erſcheinung in den Schöpfungen der meſſenden Phantaſie. — Neben
dieſen Naturaliſmus und jene Maſſenhaftigkeit fällt dann geſtaltloſe
Tiefe durch Ueberſchuß des Gedankens, wie vorzüglich bei Wolfram, oder
der Empfindung, wie bei den meiſten, und dieß gerade iſt der Fehler,
wozu die deutſche Phantaſie ſpezifiſch geneigt iſt.


3. Der Typus iſt nicht förmliche Prieſterſatzung wie im Orient,
aber nothwendige Scheue vor der Aufhebung des unfreien Scheins, den
die volle Durchdringung, die Löſung der Formen von dem zaghaft Schüch-
ternen, kindlich Herben, aſeetiſch Dürren und Gebeugten zur Folge haben
müßte. Der Reſpect hält feſt, was nach §. 456 aus der ganzen An-
ſchauungsweiſe an ſich ſchon fließt.


γ.
Ausgang.

§. 464.

Die höchſte Blüthe dieſes Ideals iſt auch ſein Ende. Freiere und aus-
gedehntere Aufnahme der urſprünglichen Stoffwelt, der Landſchaft, des menſch-
lichen Lebens in unbefangener und heiterer Sinnlichkeit, in tüchtiger Selbſtändigkeit
des Daſeins und Wirkens für rein weltliche Zwecke, harmoniſche Darſtellung
dieſer neu eröffneten ſowie der früheren Sphären in fließender Anmuth der
Form, wodurch der Typus überwunden und zugleich die taſtend ſehende Phan-
[498] taſie in Thätigkeit geſetzt wird: alle dieſe Erſcheinungen vollenden und zerſtören
zugleich das Ideal des Mittelalters (vergl. §. 63).


Im fünfzehnten Jahrhundert nimmt die Landſchaft immer ausge-
dehnteren Raum in mythiſchen Darſtellungen ein, zum Beweiſe, daß der
mythiſche Auszug aus der Natur allmählich einer directen Uebertragung
des geiſtigen Gehalts, der Seelenſtimmungen auf die weite Welt weichen
muß; die Thierwelt regt ſich, doch reicht es noch nicht zu ſelbſtändigen
Darſtellungen, ſie bleibt Staffage; das Porträt, die unbefangenen menſch-
lichen Thätigkeiten im Gebiete des Zweckmäßigen, aber auch der hiſtoriſche
Menſch in ſeiner markigen Objectivität, die großen Herrſcher, Krieger,
Staatsmänner, Gelehrten rücken in das Ideal herein, freilich in dem
unorganiſchen Verhältniſſe, daß ſie als unbeſchäftigte Zuſchauer um einen
mythiſchen Vorgang verſammelt werden, daß ganz empiriſch geſchichtliche
Stoffe in die Ritterſagen eindringen, oder daß man die Welt im Himmel
oder in der Hölle ſuchen muß, wie ſchon bei Dante, deſſen größte Stellen
die großen Scenen aus den Kämpfen des Städtelebens im Mittelalter
ſind. Noch Raphael wagt keinen geſchichtlichen Stoff ohne Wunder
darzuſtellen, wie die Stanzen zeigen. Zugleich fängt die Aſceſe, ihr Aus-
druck, ihre Motive im weiteſten Sinn zu ſchwinden an; man wagt es,
den ſchönen Genuß in freier Grazie darzuſtellen, unbefangen und heiter,
ja ſubjectiv wärmer, als die Alten. Selbſt das Nackte wird wieder ſtu-
dirt und anfangs ſchüchtern, in Deutſchland immer ſteif, aber vorurtheils-
los aufgenommen. Dieſe Einführung der urſprünglichen Stoffwelt iſt nun
zugleich nothwendig Ueberwindung des Typus in der Form. Da übrigens nicht
alle Härte der Form nur durch die Macht des Typus feſtgehalten, ſondern ein
guter Theil derſelben durch den germaniſchen Volksgeiſt bedingt iſt, ſo geſchieht
in der deutſchen Phantaſie die Befreiung bei fortdauernd überall eckiger Form
auf dem Wege, daß die Individualität mit einer Beſtimmtheit und Energie ein-
geführt wird, welche ſich als Charakter auf die eigenen Füße ſtellt, ſo daß der
ganze Ausdruck, ſelbſt ohne Abſicht, ſagt, daß dieſe markigen Menſchen den
Schwerpunkt nicht mehr außer ſich als mythiſches Spiegelbild, ſondern
in ſich ſelbſt tragen, daß ferner hier namentlich die Landſchaft und die
gemüthlichen Sphären des profanen Menſchen (das Genreartige) in wach-
ſender Ausdehnung eingeführt werden. Man erkennt: der Menſch fängt
an, auf der Welt zu Hauſe zu ſein. Auf andere Weiſe wohnen
ſich die romaniſchen Völker in der Welt ein; von Stoffen fällt ihnen auch
die Landſchaft, doch dieſe unter Einwirkung der Deutſchen, das Porträt,
der politiſche Menſch zu, aber eigener iſt ihnen die Sphäre der freien Sinn-
lichkeit, vorzüglich den Italienern, welche die Aufgabe haben, das Ideal
des Mittelalters zu voller Reife zu bringen. Wie ſie nun für dieſe
[499] Sphäre die entſprechenden Stoffe ergreifen, wovon ſofort die Rede ſein
wird, ſo tragen ſie ihre Empfindungsweiſe auch auf die mittelalterliche
Mythenwelt über, führen die Innigkeit als ſchöne Seele, den Geiſt der
religiöſen Energie als eine ſtrotzende Kraft heraus in die ſinnliche Er-
ſcheinung und tilgen zwar nicht den Ueberſchuß des Ausdrucks über ſeine
Form, wohl aber den letzten Reſt widerſtrebender Härte der letzteren.
Zugleich ſind ebendarum ſie die Erſten, bei denen ſich die Phantaſie des
taſtenden Sehens ausbildet. Das Alterthum mußte ſchon in der Auflö-
ſung begriffen ſein, als es der Sinnlichkeit eine innigere ſubjective Ent-
zündung gab (§. 445); das Mittelalter ſchwindet, wie es die Innerlichkeit
in die plaſtiſche Form herausführt. Damit ſteht es in keinem Wider-
ſpruch, daß gerade auch die Italiener es vorzüglich ſind, die der empfin-
denden Phantaſie ihre eigentliche Form, den Fluß der Tonwelt, entgegen-
bringen; denn das Plaſtiſche, das zugleich ſeine Ausbildung findet, wird
allerdings als eine Wiedererweckung antiken Formſinns erſcheinen, doch
aber ſelbſt ſo den Charakter maleriſcher Bewegtheit, muſikaliſcher Beſee-
lung in ſich aufnehmen müſſen.


§. 465.

Die innere Auflöſung auch dieſes Ideals vollzieht ſich nun wirklich auf1
doppeltem Wege. Die zweite Stoffwelt wird neben der erſten feſtgehalten,
entſeelt ſich aber zur Allegorie; der antike Mythus, zu dem die erwachte ſchöne
Sinnlichkeit zurückgegriffen hat, iſt ohnedieß längſt in ſolche verſunken. Beide
werden bloße Vehikel. Zugleich aber wird aller Mythus vom eigenen Bewußt-
2
ſein der Zeit mit der eingedrungenen urſprünglichen Stoffwelt verglichen und
auf dem Wege des Komiſchen direct oder indirect aufgelöst. Endlich tritt die
Entmiſchung des Schönen auch hier vorherrſchend in den Formen auf, welche
als Gattung jenſeits der äſthetiſchen Grenze liegen (§. 446).


1. Die Geſtalten des religiöſen Kreiſes ſind wohl noch geglaubt, denn
wir berühren hier den Schauplatz des Geiſtes noch nicht, der durch Um-
ſturz der ganzen Grundlage auf doctrinärem Wege ſie wenigſtens auf
einen ganz engen Kreis reduzirt, aber mehr und mehr ſieht man, daß es
dem Bewußtſein kein wahrer Ernſt mehr mit ihnen iſt, unbewußt ſinken
ſie zu Allegorien herab. Wie die Ritterſage in ſolche verſinkt, zeigt wohl
keine Erſcheinung ſchlagender, als der Theuerdank, der ſchon ganz froſtig
ſelbſterfundene Allegorien als Maſchinerie einſchiebt. Der antike Mythus
wird wohl mit einer neuen Wärme beſeelt, Raphael (Farneſina), die
Venetianer beweiſen es; aber dieſe Wärme bringt ihn keineswegs zum
wahren Leben. Er wird nur benützt, um ſchöne und glückliche Menſchen
[500] darzuſtellen, iſt zum Vehikel geworden, und ſo ſchön die Phantaſie ihn
verwendet, das ganze Motiv bleibt doch froſtig, ganz zum leeren Ge-
rüſte wird er z. B. bei Camoëns. Auch mit den eigenen Mythen wird
wie mit einem bloßen Vehikel verfahren; die Geburt der Maria wird
ein Motiv, um eine Florentiniſche Kindsſtube, die Hochzeit zu Kana,
um Venedigs Pracht und Ueppigkeit darzuſtellen, ſie iſt leeres Mittel.
Baſſano benützt ſogar chriſtlich mythiſche Scenen zu Viehſtücken.


2. Zunächſt wächſt das komiſche Bewußtſein überhaupt, Schwank,
ſchalkhafte Novelle wird beliebt. Schon hier gilt es allerdings nament-
lich den Pfaffen und aller Aſceſe. Direct aber wendet ſich die Ironie
gegen die Ritterſage und läßt ihre Hirngeſpenſte und Abenteuer an der
unbarmherzigen Wirklichkeit ſcheitern (Cervantes), taucht ihren Adel in
das Schlammbad bäuriſcher Rohheit, ihre Träume in fauſtdicke Lügen
(Rabelais, Fiſchart) oder läßt ihre ganze Welt zwar ſcheinbar gelten,
löst ſie aber thatſächlich in ein ſinnlich anmuthiges Spiel auf (Arioſto).
Die Formen, die der §. zuletzt erwähnt, ſind Satyre und Lehrgedicht.
Das Ende des Mittelalters iſt voll von dieſen Erſcheinungen einer zwar
äſthetiſch unorganiſchen, aber doch als Uebergangsform zu einem neuen
Ideal geſchichtlich immer höchſt wichtigen und durchgreifenden Art der
Phantaſie.


c.
Das moderne Ideal
oder
die Phantaſie der wahrhaft freien und mit der Objectivität
verſöhnten Subjectivität
.

§. 466.

Wie der Menſch durch Erfahrung, Bildung mündig wird, ſo verliert die
Phantaſie die zweite Stoffwelt. Sie kann nur noch als vorübergehendes Spiel
einer weit zurückgreifenden Beſeelung des Dageweſenen, vorzüglich in komiſcher
Behandlung, als Nebenwerk und Nothhilfe, pſychologiſch als Glaube, nicht als
Geglaubtes in die Phantaſie eintreten. Da aber die Religion auf ihrem Bo-
den, alſo die allgemeine Phantaſie, im Widerſpruche mit der übrigen Bildung
die zweite Stoffwelt feſthält, ſo iſt die beſondere Phantaſie auf ſich allein ge-
ſtellt, das Schöne trennt ſich von der Religion.


Wir faſſen jetzt in dem Begriffe der Erfahrung und Bildung alle
von §. 365 an entwickelten geſchichtlichen Momente zuſammen und nennen
[501] die Subjectivität, die wahrhaft frei wird, indem ſie nicht mehr ihr
Beiſichſein in einem Außerſichſein verliert, nicht mehr ihren eigenen Ge-
halt in die Wolken ſtellt, einfach die mündige. Sie zieht zurück, was ſie
an tranſcendente Geſtalten ausgeliehen hatte, ſie wird kritiſch. Alles
arbeitet zuſammen, Sage und Mythus zu zerſtören; Reformation, Natur-
wiſſenſchaft, Philoſophie, die Reiſen und Entdeckungen, die den Horizont
aufhellen, die Aſtronomie, die Buchdruckerkunſt, die blitzſchnell Kunde des
Geſchehenen und die Gedanken verbreitet. Wir ſahen, wie langſam dieſer
Prozeß, nachdem er dem Prinzip nach längſt entſchieden iſt, ſich auch wirklich
vollzieht, wir werden ebenſo ſehen, wie langſam die Phantaſie ſich von der
Nothwendigkeit ihres unendlichen Verluſts überzeugt. Dieſer Verluſt iſt ein
Verluſt ſowohl an Stoff, als an Erleichterung ihres Thuns. Die Reli-
gion, die Sage brachte ihr ja den urſprünglichen Stoff in einem idealen,
äſthetiſch ſchon halbfertigen Auszuge entgegen. Wir nannten dieß ſchon in
§. 418 einen Vorſchub, und gewiß welchen Vortheil hat die Kunſt, wenn
ſie Götter, wenn ſie große Sagen hat! Sie braucht gar nicht zu fragen,
was darzuſtellen ſei, in eine Allen geläufige Welt voll fruchtbarer Mo-
tive darf ſie nur hineingreifen, und mag ſie tauſendmal daſſelbe dar-
ſtellen, ſie kann immer neu ſein. Wir haben unter den geſchichtlichen
Bedingungen des Verluſtes dieſes unendlichen Vorſchubs die Reformation
genannt: dieſer große ſittliche Bruch mit dem Mittelalter drängt ſich nach
hoffnungsvollem Anfang in das Gebiet der Religion zurück, er iſt daher
(vergl. §. 367) keine conſequente Auflöſung des Mythiſchen. Zudem aber
bleiben die katholiſchen Völker und Provinzen ganz im Mythiſchen ſtehen,
wie ſehr die übrige, rationell veränderte Geſtalt des Lebens dieſe Form
des Bewußtſeins widerlegen mag. Daher iſt der Verluſt der mythiſchen
Welt nicht einfach ein ſolcher, welcher für die beſondere Phantaſie dadurch
entſtünde, daß die allgemeine Phantaſie völlig aufgehört hätte, ihr durch
Mythus und Sage vorzuarbeiten, ſondern jene kann nur nicht mehr
brauchen, was dieſe von zweiter Stoffwelt feſthält. Ein Vorarbeiten kann
es freilich nicht wohl mehr genannt werden; die allgemeine Phantaſie
hängt noch, aber ohne Friſche neuer Erfindung, ohne geſunde Intenſität,
an den überlieferten Mythen, die beſondere aber, die freie des wahrhaft
Begabten, hat dieſen Stoff längſt erſchöpft, er lebt für ſie nicht mehr,
ſie tritt aus dem Bunde mit dem Mythus und der Sage, der Mythus
gehört der Religion als ſolcher, die Sage herrſcht ebenfalls noch da, wo
das Bewußtſein noch durch den unfreien Schein der Religion gebunden
iſt, alſo kann man ſagen, die Phantaſie tritt aus dem Bunde mit der
Religion. Sie wird weltlich, denn weltlich nennen wir die freie Be-
wegung des Geiſtes in der Objectivität da, wo es daneben noch eine
unfreie, die geiſtliche gibt. Hiemit iſt nicht geſagt, daß die freie Phan-
[502] taſie die mythiſchen Stoffe abſolut aufzugeben habe. Wie die Phantaſie
überhaupt nicht ſyſtematiſch und philoſophiſch, ſondern auf Zufall geſtellt
und naiv iſt, ſo mag ſie vereinzelt und vorübergehend, auf eigenen An-
trieb oder auf Beſtellung, den Prozeß erneuern, wodurch Mythen ent-
ſtanden ſind, indem ſie eine mythiſch überlieferte Geſtalt mit ihrem Hauche
noch einmal beſeelt; ſie mag es unter Anderem, aber ſobald ſie es
grundſätzlich thut und zum Geſetze erheben will, ſo ſtrafen ſie nicht nur
ihre eigenen todten Geburten Lügen, ſo ſteht ſie nicht blos entwurzelt
außer der Zeit, ſondern ſie tödtet ſich ſelbſt, indem ſie ihr Grundgeſetz,
Unbefangenheit, reine Menſchlichkeit und Naivetät in Abſichtlichkeit, doc-
trinäre Schulmeiſterei, Fanatiſmus verkehrt. Sie kann ferner den gan-
zen Kreis des Wunderbaren komiſch behandeln durch eine Art von kühner
Parabaſe, welche die freie Selbſtändigkeit des Bewußtſeins, das ihn eigent-
lich geſtürzt hat, als ironiſche Bewegung in ſeine Geſtalten ſelbſt, als
lebten ſie noch, einführt. Mit den alten Göttern läßt ſich dieß komiſche
Spiel ohne Anſtand vornehmen, das ſchon Lucian wagen durfte; bei
denen des Mittelalters iſt Rückſicht auf die Wurzeln, die ſie noch im Be-
wußtſein Vieler haben, nothwendig; doch mit einem Theile derſelben,
z. B. den Teufeln, macht ſogar dieß Bewußtſein ſelbſt wenig Umſtände.
So hat nun z. B. Göthe den Satan in ſeinem Fauſt ironiſch behandelt;
Mephiſtopheles ſagt Vieles, wodurch er unverholen ausſpricht, daß es
keinen Teufel braucht, das Böſe zu erklären. Ferner hat das, was zu
entſeelt iſt, um den Mittelpunkt eines ſchönen Ganzen zu bilden, noch
Recht auf den Platz eines nachhelfenden Beiwerks, wie wir dieß zu §.
444 von der Allegorie ſagten, beſonders in den ſtummen Werken der
bildenden Phantaſie, aber auch in der dichtenden: Luna, Amor mag als
kurze Bezeichnung gelegentlich einmal ſtehen. Das aber verſteht ſich, daß
es ein ganz Anderes iſt, wenn nicht das, was die unfreie Phantaſie
glaubt, ſondern der Glaube ſelbſt als inneres Wunder zum Stoffe ge-
nommen wird; dies gehört einfach zur urſprünglichen Stoffwelt. So ſteht
Tieck außer der Zeit, wenn er Teufel und Hexen einführt, als hätten
ſolche Weſen noch ein Leben in unſerem Bewußtſein, keineswegs aber,
wenn er in ſeiner Novelle Hexenſabbath das Anſchwellen eines allgemei-
nen wahnſinnigen Aberglaubens mit Meiſterzügen darſtellt.


§. 467.

Dieſer unendliche Verluſt iſt ein unendlicher Gewinn, denn wie das mün-
dig gewordene Subject erſt ſich in der Welt zu Hauſe fühlt, ſein inneres Leben
als wirkliche Freiheit in ihr durchführt, ſo iſt der Phantaſie die ganze urſprüng-
liche Stoffwelt wiedergegeben. Dieß Wiederſinden ihrer reinen Stoffe iſt zu-
gleich eine Tilgung des unäſthetiſchen Bruchs zwiſchen Inhalt und Form (§. 456).
[503] Die Tilgung kann bei den Völkern der neueren Geſchichte nur durch erworbene Bil-
dung vollzogen werden und dieſe Bildung iſt im Gebiete der Phantaſie bedingt
durch wahre Aneignung des objectiven Ideals des Alterthums; das moderne
iſt daher auch als Einheit des antiken und romantiſchen zu faſſen.


Wir müßten die ganze Lehre vom Schönen wiederholen, wenn wir
meinten, erſt beweiſen zu müſſen, daß wahre Idealität gerade erſt dann
möglich ſei, wenn die Idee als gegenwärtig im naturgemäßen Weltver-
lauf ohne alle Wunder und dazwiſchen geſchobene tranſcendente Geſtalt
dargeſtellt wird. Zum weiteren Inhalt des §. iſt zu bemerken, daß er
keine bloße Wiederholung deſſen iſt, was in §. 363 und 367 über die mit
der Welt verſöhnende Wirkung der humaniſtiſchen Studien geſagt wurde.
Es handelte ſich hier vom Menſchen als Stoff des Schönen, von den
objectiven Tugenden, von der harmoniſcheren Erſcheinung, wozu ihn der
Umgang mit den Alten bildet; die Phantaſie aber gewinnt nicht nur den
ſo umgebildeten Menſchen zum Stoffe, ſondern ſie hat für ihre eigene
Formthätigkeit von den Alten zu lernen. Nun trifft ſie hier freilich ein
mythiſches Ideal, aber ſie ſoll das Mythiſche daran weglaſſen und die
Harmonie zwiſchen Inhalt und Form im äſthetiſchen Verfahren ſich davon
aneignen. Daher ſpricht der §. von wahrer Aneignung. Aber auch
dieſe Harmonie kann ſie ſich nicht ſchlechtweg aneignen; denn jener dua-
liſtiſche Bruch im Naturell der germaniſchen und der durch Vermiſchung
mit römiſchen und latiniſirten Völkern entſtandenen romaniſchen Völker,
die Grundlagen der chriſtlichen Bildung fordern ein für allemal eine Be-
wegung durch die Negation des Unmittelbaren, die den Alten fremd war.
Allein von dieſem geforderten Ueberſchuß des Ausdrucks über ſein ſinn-
liches Gefäß iſt wohl zu unterſcheiden die aſcetiſche Fixirung der Negation
noch in der Verſöhnung ſelbſt und die Rohheit, die Barbarei, welche,
in jenem Naturell an ſich begründet, durch dieſe falſche Form der Nega-
tivität feſtgehalten und ſogar zum Verdienſt erhoben wird. Davon ſoll
die Phantaſie ſich in der Schule der Alten befreien; die bruchloſe Ein-
fachheit kann ſie nicht von ihnen entlehnen, aber die Natur und mit ihr
die Schönheit der Erſcheinung durch die Negation ihrer erſten und unmit-
telbaren Geltung fortzuführen zu poſitiver Wiedereinſetzung, daß es ſich
mit ihr verhalte wie mit einem Menſchen, der ſich bekämpft und bezwun-
gen hat und nun wieder zur Anmuth, Leichtigkeit, Unbefangenheit zurück-
kehrt, — dieſe Wiederherſtellung hat ſie zu lernen bei denen, die freilich
keine nöthig hatten, weil die Natur und die Form bei ihnen zum vor-
aus in ihrem Rechte war. Wie wichtig zu dieſem Zwecke der Austauſch
der romaniſchen und germaniſchen Völker iſt, indem jene die Rückkehr
zu den Alten vermitteln, werden wir ſehen.


[504]
§. 468.

1

Da übrigens das moderne Ideal ein Fortſchritt auf denſelben Grund-
lagen und, mit Einſchränkung zwar, in denſelben Volksgeiſtern iſt, wie das
romantiſche, ſo ſcheint die Darſtellung deſſelben keinen weitern Zuſatz zu fordern,
2als daß es die Grundformen des Schönen (§. 403) in alle Weite und Tiefe
verfolgen, daß es über alle Arten der nach Sphären ihres Stoffs unterſchiedenen
Phantaſie (§. 403) ſich gleich frei ausdehnen, daß es im meſſenden Sehen vor-
erſt unfruchtbar, im taſtenden ein für allemal nachahmend, im eigentlichen Sehen
dagegen und in der empfindenden Art productiv ſein, ſchließlich aber beſonders
nach der dichtenden und in ihr nach der Einheit der bildenden und empfindenden
Phantaſie (§. 404) hindrängen wird.


1. Die Einſchränkung läßt ſich ſchon aus dem ſchließen, was in §. 366
über das Zurückbleiben der romaniſchen Völker, die Franzoſen ausgenom-
men, geſagt iſt. Das Verhältniß iſt aber nicht ganz daſſelbe, wie in der
Geſchichte. Sie bleiben in jener noch über ihr politiſches Sinken hinaus
thätig. Darum nun, weil kein weiterer Volksgeiſt productiv in die Welt
der Phantaſie einrückt, der dem Ideal eine beſondere neue Wendung ge-
ben könnte, ſcheint es nach dem §., daß über daſſelbe außer dem, was
der weitere Inhalt des §. ſagt, nichts weiter auszuſprechen ſei. Wir
werden darauf zurückkommen.


2. Zuerſt das Verhältniß zum einfach Schönen, Erhabenen und Komi-
ſchen. Erſt wenn das befreite Selbſtbewußtſein ſich als Angel der Welt weiß,
kann das Erhabene und Komiſche erſchöpft werden; dagegen müſſen je
die ſinnlicheren Formen, die Naturfriſche der Leidenſchaft, die derbe Kraft
der Poſſe zurückſinken, doch, wie ſich zeigen wird, nicht ſogleich. Wie
nun der Humor ſeine Tiefen erreicht, ſo iſt auch das Tragiſche wieder
da als gegenwärtige Bewegung der unendlichen Gerechtigkeit im Men-
ſchenleben. Zweitens, die nach Stoff-Sphären beſtimmten Arten der Phan-
taſie können ſich jetzt alle in freier Ausdehnung entwickeln; insbeſondere
kann ſich die Phantaſie eines Individuums jetzt erſt ganz in die land-
ſchaftliche oder thieriſche Schönheit und in die unbefangenen rein menſch-
lichen Zuſtände als ſelbſtändige Arten legen. Die weite Welt iſt offen;
die Wolke des Mythus, die ſo herrlich glänzte, aber doch ganze Reiche
des Wirklichen in Schatten ſetzte, iſt verweht, die Sonne ſcheint frei, ein
lichter Tag liegt über der ganzen Welt. Drittens, die durch die Momente
der Phantaſie ſelbſt beſtimmten Arten: das meſſende Sehen kann nicht
blühen, wo das Ahnungsleben im unfreien Scheine, das in abſtracten
Raumverhältniſſen Welträthſel dunkel niederlegt, das elementariſch Naive
zu Ende iſt; dieß Ideal kann keinen Bauſtyl ſchaffen; das taſtende Sehen
wird in der Schule der Alten wieder erwachen, aber nur reproductiv,
[505] denn die Urſachen, die ihm im Mittelalter entgegenſtanden, dauern fort;
das eigentliche Sehen, das maleriſche Auge aber hat volles Gedeihen,
freilich mit Unterſchied der Epochen. Daraus folgt auch hier, daß die
empfindende Phantaſie das vorzüglich Beſtimmende auch in dieſem Ideale
ſein muß, aber noch in anderem und engerem Sinne, als im romantiſchen.
Es wurde bemerkt, daß es mehr empfindend dichtende, als eigentlich em-
pfindende Phantaſie war, worin die Innigkeit des Mittelalters ſich aus-
ſprach. Das Innere war erſchloſſen als unendliche Tiefe, aber der
Umfang war noch arm. Erſt im freien Umgange mit der Welt rauſchen
alle verborgenen Saiten des Innern, erſt wer ſich in das Leben einläßt,
kennt alle ſeine Qualen und Freuden, erſt wer ſich ſelbſt angehört, trägt
in ſich nicht nur jene tiefere Reſonanz, ſondern dem erſt klingt auch bei
jeder Erfahrung das innere Echo, erſt die mündige Subjectivität wird
feinfühlend. Jetzt erſt muß ſich daher auch das rechte Medium, der Ton,
für den Ausdruck dieſer tauſendſtimmigen Innerlichkeit bilden. Je erfüllter
aber die Subjectivität, je gewiſſer ſie nun erſt eine Welt iſt, deſto ge-
wiſſer wird die Phantaſie auch dahin drängen, ſie darzuſtellen, wie ſie
praktiſch die Welt aus ſich beſtimmt; da wird die empfindende Phantaſie
auf die dichtende übergetragen, in dieſer wieder bildend, und dieß iſt die
Phantaſie, welche das Drama ſchafft. Es iſt höchſte Aufgabe der mo-
dernen Phantaſie, die Welt als eine durch den Willen bewegte darzuſtellen.
Nun erſt iſt das Schickſal wahrhaft in den Menſchen hereingetreten und
hier iſt der Ort, wo das Tragiſche in ſeiner Tiefe als Dialektik der ge-
trennten Willen ſich verwirklicht. In der eigentlich bildenden Phantaſie
hat zwar das moderne Ideal, wie geſagt, immer noch das maleriſche
Sehen für ſich, aber es ruht doch ſo ſehr auf einem Weltzuſtand, worin
alles Unmittelbare durcharbeitet, in Frage geſtellt, kritiſirt, auf Zwecke
und Begriffe bezogen, geiſtig durchbohrt iſt, daß ſein eigenſtes Gebiet nur
die dichtende Art ſein kann als diejenige, wo alles Unmittelbare zurück-
geſchlungen iſt in die Phantaſie, die ſich in ſich und um ſich ſelbſt bewegt,
und innerhalb dieſer die dramatiſche.


§. 469.

Damit iſt aber das Bild der modernen Phantaſie keineswegs beſchloſſen.
Nicht nur iſt ihre Reife abhängig von dem arbeitsvollen Gang der geſchichtlichen
Bedingungen, auf denen ſie ruht, ſondern in ihrem eigenen Gebiete kann theils
die Aufgabe der wahren Aneignung des antiken Ideals nur in einem langen
Gährungsprozeſſe ſich verwirklichen, theils bringt der unendliche Verluſt (§. 466)
und unendliche Gewinn (§. 467) eine ſolche Erſchütterung in ihr hervor, daß
ſie geraume Zeit braucht, ſich in ihrer neuen Welt zurechtzufinden. So hat
alſo auch ſie ihre Geſchichte, und noch iſt dieſe nicht vollendet.


[506]

Die letztgenannte Schwierigkeit iſt die bedeutendſte. Nichts iſt ja
überhaupt ſchwerer, als das Allereinfachſte; nichts iſt auch der Phantaſie
ſchwerer geworden, als einzuſehen, daß ſie zu ihrer Thätigkeit gar keinen
andern Stoff braucht, als den, der in Natur und Geſchichte klar und
offen daliegt. Sie fällt immer wieder in den Irrthum zurück, ſich der
Vermittlungen des Mythus zu bedienen, wie der Katholik die Heiligen zu
Fürbittern braucht. Die Welt iſt ihr wiedergegeben und ſie merkt es nicht,
ſieht den Wald vor Bäumen nicht, ſie hat Alles gewonnen und meint,
ſie habe nichts. Mit dem alten Stabe, an dem ſie ging, hat ſie vorerſt
allen Takt verloren, alle Sicherheit im Ergreifen der Stoffe; die Re-
flexion erſetzt ihr nicht den erſchütterten Inſtinct. Es iſt ſo bequem, ſeinen
Stoff ſchon halb zugerichtet aus zweiter Hand zu übernehmen, es iſt ſo
unbequem, ſelbſt an der Quelle zu ſchöpfen. Heute noch gilt das Auf-
ſtellen jener einfachen Aufgabe für ebenſo deſtructiv, als das Beginnen
des Theologen, der das Poſitivſte thut, was es gibt, der die Entſtellungen
und Trübungen der ſittlichen Weltanſicht, welche die Ueberlieferung auf-
gehäuft hat, hinwegſchafft. Wir haben einem Prozeſſe der Phantaſie mit
ſich ſelbſt zugeſehen, dieſer Prozeß hat ſich jetzt abgeſchloſſen: ſie theilte
ſich in eine allgemeine und beſondere, dieſe empfieng von jener und gab
ihr verdoppelt zurück. Jetzt ſteht dieſe auf ſich ſelbſt, einfach an den Ur-
ſtoff gewieſen, jene leiht ihr keinen ſchon halb zubereiteten Auszug aus
dieſem mehr, denn was ſie von ſolchem Vorrath noch hat, iſt eng, todt,
erſchöpft. Es iſt rein die allgemeine Phantaſie concentrirt zu ihrer wahren
Bedeutung in der beſondern; jene beſteht freilich noch außer dieſer, aber
nur als reine Empfänglichkeit, als verbreiteter Sinn, den die beſondere
Phantaſie vorausſetzt und als Zuſchauer für ihre Werke fordert. Dieſe
Vereinfachung, dieſes Ende der Geſchäftstheilung einzuſehen fordert aber
Zeit und iſt ſchwer.


α.
Vorſtufe.

§. 470.

Die Befreiung der Subjectivität kann ſich zuerſt nur unter Einſchränkun-
gen äußern, welche ſie ſelbſt noch in einem objectiven Charakter gefangen
halten, zunächſt bei den Deutſchen in dem Sinne, daß herübergerettet wird,
was von urſprünglicher, durch das Mittelalter in ſeiner geraden Entwicklung
gebrochener Volkskraft in ihrem Gemüthe lag, wie es denn auch das Volk iſt,
das nun zunächſt wieder als Organ der Phantaſie auftritt. So faßt ſich denn
[507] die empfindende Phantaſie in ihrem eigenen und im dichtenden Gebiete zu
urkräftiger Innigkeit, jedoch ohne den Reichtum einer weltlich durchgebildeten
Freiheit des Gemüths, zuſammen.


Man wird leicht die Blüthe der einfachen kirchlichen Muſik und des
geiſtlichen Lieds, ſowie des Volkslieds mit ſeiner reicheren melodiſchen
Welt, wie ſie im ſechzehnten Jahrhundert in Deutſchland auftrat, aus
dem Geſagten erkennen. Dieß allgemeine, aus dem Herzen des Volks
erzitternde Tönen iſt die Knoſpe des neuen Ideals, eine tief in ſich zu-
ſammengefaßte Innigkeit, aber, obwohl vieltönig in ſich, doch eintönig,
wenn man ſie mit dem freien Reichthum [...]es Geiſtes vergleicht, den die
weltliche Bildung ſchon wirklich geſchüttelt und von dunkler Gebundenheit
gelöst hat. Innigkeit, innere Unendlichkeit ſagten wir auch vom Ideale
des Mittelalters aus; aus perſönlicherer, mündigerer wiewohl noch nicht
zu voller Freiheit und Klarheit ausgebildeter Tiefe ſtrömt jetzt die Quelle,
und weil es Ernſt wird mit der Geltung der Einzelnen, ſtrömt ſie aus
der Maſſe derſelben, ein Urborn der Volkskraft hervor. Wir haben hier
den Wechſel der Organe der Phantaſie in einem neuen, weiteren Sinne,
wir haben die Stände zu unterſcheiden, die wechſelnd als Werkzeuge der
Phantaſie auftreten. Die dichtende Phantaſie war im Mittelalter eine
volksmäßige, ſo weit ſie die alte Heldenſage zum Stoffe hatte, der Adel
trieb die eigentlich romantiſche Dichtkunſt, die bildende Kunſt der Bürger.
Jetzt tritt die Dichtkunſt in das Volk zurück, die Maſſe hat ſich beſeelt.


§. 471.

Die bildende Phantaſie des deutſchen Volkes muß zurücktreten, die bil-
dend dichtende wagt ſich nicht an die nahe liegenden großen Stoffe, ergreift
aber mit derbem Behagen die neue Luſt am Daſein in der rohen Kraft ihres
Siegs über eine Welt von Täuſchungen. Daneben breitet ſich jedoch das dunkle
Geſpenſt zu einer neuen Geſammtwirkung vereinigter alter Sagen aus, worin
ſich die angſtvollen Gefühle einer ſo ungeheuern Umwälzung Sprache geben
(vergl. §. 369).


Die Deutſchen ſind zu ſehr im Gebiete des Geiſtes beſchäftigt, um
nach den wenigen Erzeugniſſen einzelner großer Maler, welche in die
Zeit der ſich verbreitenden Reformation ſo herüberreichen, daß ſie dieſelbe
wirklich ihrer Richtung nach bezeichnen, noch bildend aufzutreten. Unter
dieſe bezeichnenden Richtungen gehört das Porträt und die Caricatur
(Todtentänze, Manuels ſatyriſche Conceptionen). Die letztere zählen wir
zu den Erzeugniſſen der ſatyriſchen Stimmung, die wir als Symptom des

Viſchers’s Aeſthetik. 2. Band. 33
[508]Verfalls zum Ausgang des mittelalterlichen Ideals zogen. Was wir nun
weiter als Durchbruch der entfeſſelten Volkskraft in der bildend dichtenden
Form aufführen, iſt allerdings ebenfalls meiſt Theil eines ſatyriſchen
Ganzen, wie bei Fiſchart, ſpäter unter den Verwüſtungen des dreißigjährigen
Kriegs bei Moſcheroſch und And., erſcheint aber in dieſer Umhüllung eben
als das poſitiv Neue. Dieſe ſprudelnde grobe Kraft als Träger einer
neuen ſittlich geſunden und freien Weltanſicht, dieſer lärmende Pfaffen-
und Adelshaß, dieſe Appellation an die alten guten Sitten iſt freilich
etwas ſo Stoffartiges, daß wir faſt nur wiederholen, was in §. 369 ge-
ſagt iſt. Zu einer reinen Formthätigkeit kann es in dieſer Zeit der Kämpfe
in Deutſchland nicht kommen; ſonſt hätte die humaniſtiſche Bildung an
den großen Begebenheiten der alten Geſchichte und des ſich auflöſenden
Mittelalters Stoffe gehabt, die ſich freier und harmoniſcher umbilden
ließen. — Die Sagen, von denen die Rede iſt, ſind namentlich die von
Fauſt und vom ewigen Juden.


§. 472.

Inzwiſchen wirft ſich in der feurigeren und weltlich entſchloſſeneren Natur
des germano-romaniſchen Englands mit raſchem Schwunge die Phantaſie in
die höchſte Aufgabe des modernen Ideals, die dritte Form der dichtenden
Phantaſie, und frei von Mythen, den Vortheil alter Sage benützend, aber zu-
gleich mit gewaltigem Geiſte die urſprüngliche Stoffwelt in ihren größten Er-
ſcheinungen ergreifend ſtellt ſie die ſittliche Weltordnung als gegenwärtig von
innen wirkendes Geſetz einer am Marke des Mittelalters genährten, willens-
ſtarken und doch drangvoll entfeſſelten Charakterwelt dar, während ſie ebenſo
kühn in die Tiefen des Komiſchen ſteigt: ein Vorſprung von unendlicher Wirkung.


In einer Seelengeſchichte des Ideals darf der ungeheure Schritt
nicht vergeſſen werden, den das engliſche Drama, Shakespeare an der
Spitze, gethan hat. Hier iſt wie mit Einem Sprunge die neue Welt der
Phantaſie da, ein freies Univerſum, das ſich um ſich ſelbſt bewegt. Das
Schickſal iſt immanent in einer Menſchenwelt, welche die germaniſche Ur-
kraft der Nibelungengeſtalten bewahrt und der neuen Zeit gerettet über-
liefert, ohne dem neuen Geiſt der leidenſchaftlich entfeſſelten Subjectivität,
welcher zwar die ſelbſtbewußte Idee des Allgemeinen noch fehlt, ewas zu
vergeben. Dieſer Geiſt findet die rechten Stoffe; er beutet nicht nur die
engeren Sphären des Privatlebens aus, die Geſchichte öffnet ihm ihre
Schätze, das Alterthum, die dunkle germaniſche Urzeit, ſagenhaft, doch
ſo behandelt, daß im Fortgange die mythiſchen Motive ſich in rein menſch-
liche, pſychologiſche verwandeln, der blutige Todeskampf des Mittelalters.
[509] Iſt aber das Schickſal in den Menſchen geſtiegen, ſo kann auch der Humor
ſeine Tiefen entfeſſeln.


§. 473.

Unter den romaniſchen Völkern ſteigern ſich die Italiener, unfähig,
ſich von der Mythenwelt zu befreien, in eine empfindſam gereizte, gewaltſam
ſchwülſtige, ſubjectiv willkührliche Anſchauung ihrer ausgelebten Stoffe und be-
wahren im Allgemeinen nur den Beruf, antike Formen für eine andere, ſchö-
pferiſche Verwendung in die moderne Phantaſie herüberzuleiten. Neu ſind ſie
nur in der eigentlich empfindenden Phantaſie und in der Einführung derſelben
als Auffaſſung landſchaftlicher Schönheit in die bildende; in beiden Sphären
aber weiſen ſie durch objective Behandlung auf das antike Ideal zurück.


In dieſen Zügen wird man richtig den Charakter der italieniſchen
Kunſt im ſpäteren ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhundert auf ſeine innere
Stimmung und Anſchauung zurückgeführt finden. Poſitiv thätig iſt dieſes
Volk für das innere Ideal nur in der Muſik und Landſchaftmalerei ge-
weſen. Jene hatte als geiſtliche zunächſt die einfache objective Großar-
tigkeit ohne individuelle Entfaltung des ſubjectiven Lebens (Paleſtrina);
als weltliche, als Oper hieng ſie ſich an mythiſche Stoffe, wurde natür-
lich reicher in der Darſtellung des Gefühlslebens, blieb aber vorherrſchend
ſinnlich lebhaft und verzichtete auf die tieferen Kämpfe des ſubjectiven
Geiſtes; üppig diente ſie dem fürſtlichen Luxus. Die Landſchaft (beide
Pouſſin können wir zur italieniſchen Kunſtgeſchichte rechnen) war zwar
ein offenbarer Durchbruch dieſer neuen ſubjectiven Belebung in der bil-
denden Phantaſie, hielt ſich aber objectiv an das Große und Allgemeine,
vorzüglich in den Erdformen, ließ die individuelle örtliche Phyſiognomie
aus ihrem Ideale aus und bewies durch mythiſche Staffage, daß ſie ſich
noch nicht ganz als ſelbſtändiger Zweig ausgebildet, noch nicht von dem
objectiven Ideal des Alterthums völlig befreit hatte. Den Zuſtand der
übrigen Künſte ſchildert der Anfang des §. Die Italiener vermitteln vor-
züglich in der Baukunſt antike Formen für das moderne Ideal; aber nicht
in der Geſtalt, wie ſie dieſelben bewahrten und wie ſie beſonders in Ma-
lerei und Sculptur ihr reineres Formgefühl zum Träger des üppig ent-
zündeten Reizes, der nervöſen Aufregung, der Heftigkeit und Gewaltſamkeit
machten, ſollten ſie fruchtbar in das moderne Ideal herüberwirken. Sie
ſind es hauptſächlich, die dem reſtaurirten Katholiziſmus dienten, den Ro-
koko einführten; ihr großes Talent kann den tiefen Verfall nicht mehr
aufhalten, der ſich vorzüglich darin ausſpricht, daß ſie manirirt, ſubjectiv,
lüſtern, kokett die mythiſchen Stoffe des Alterthums und des Mittelalters

33*
[510]feſthalten und mißhandeln; darin haben ſie nur negative Bedeutung: im
Kampf gegen dieſe welſche Sinnlichkeit und die Lüge ihrer devoten Stoffe
ſollte das neue Ideal erſtarken. Das Poſitive in ihrem Berufe bleibt
hier im Ganzen nur, daß die wahre, die geſunde Phantaſie an den Reſt
des freieren und gewandteren Formſinns, den ſie in allem Verfalle be-
wahrten, an das Form-Element in ihrem Charakter überhaupt, an die
geniale Luſt, die im italieniſchen Weſen immer weht, ſollte anknüpfen können.


§. 474.

Inzwiſchen iſt die Phantaſie des deutſchen Volkes in Unthätigkeit ver-
ſunken. Zwei glücklichere benachbarte Völker, die germaniſchen Holländer und
die germaniſch romaniſchen Belgier führen in kräftiger Regung der bildenden
Phantaſie, die zur wahren Formthätigkeit im eigentlichen Sehen fortſchreitet und
das ruhige Ebenmaaß, welches das taſtende Sehen fordert, entſchloſſen aufgibt,
jene Anfänge (§. 471) weiter, theilen ſich aber in die Aufgabe ſo, daß jene
die landſchaftliche Schönheit zu individuellem Ausdruck und ſelbſtändiger Gel-
tung fortbilden, die thieriſche voll Naturſinn ergreifen, die menſchliche nur in
dem engen Kreiſe freien Volksbehagens unter anſpruchlos derben oder gebildeteren,
an ſubjectivem Leben reicheren Culturformen belauſchen, dieſe aber eine Welt
entfeſſelter individueller Kräfte, feuriger Sinnlichkeit und Leidenſchaft, jedoch
mit Vorliebe unter der Form allegoriſch gewordener Mythen darſtellen.


Es rückt durch die Holländer und Belgier ein großer und neuer
Umfang von Stoffen in das Ideal ein; dieſe Stoffe ſind hier in Kürze
bezeichnet. Aber nicht als ſolche ſind ſie hier wichtig, ſondern die Auf-
faſſung iſt es, die uns nun beſchäftigt. Sie iſt der Grund, warum nur
dieſe und keine andern Stoffe und warum ſie ſo und nicht anders behan-
delt werden. Der §. ſagt, daß bei dieſen Volksſtämmen nun erſt das
eigentlich maleriſche Auge ſich ausbildet; mit dieſem Auge erfaſſen ſie,
was ihnen ihre Stoffwelt zeigt und brechen völlig mit dem plaſtiſchen
Formgefühl. Die Formen der Holländer ſind bäuriſch grob, aber da muß
man die Wirkung im Licht- und Farbenſchein und in der zufriedenen Ko-
mik eines mäßigen Humors ſuchen, oder ſie ſind feiner und gebildeter,
doch immer ohne die Idealität der plaſtiſch antiken Grazie und ſo, daß
die geheime Welt feiner Motive des geſelligen Privatlebens es iſt, wel-
cher die Phantaſie nachgeht. Mit dieſer Art von Phantaſie warfen ſie
ſich nun ganz auf das Genre, dem ſie zuerſt ſein eigentliches ſelbſtändiges
Daſein ſichern; ihre Geſchichte hätte ihnen noch ganz andere Stoffe ge-
geben (vergl. §. 368, 3.), theils aber waren dieſe nicht zeitlich entfernt
genug, theils war das Volk zum heroiſchen Schwung im äſthetiſchen Ge-
[511] biete ein für allemal nicht organiſirt. Allerdings ergreift aber ihre Stim-
mung auch das unheimliche Element (§. 471), das Dämoniſche, und wild
entflammt lodert es unter den bäuriſchen Formen eines Rembrandt. Jener
Schwung fehlte nicht der feuriger bewegten Phantaſie der Belgier, aber
dieſer katholiſch gebliebene Stamm trennt ſich zwar in ſeinem Formſinne
ebenfalls weit genug vom antiken taſtenden Sehen, bleibt jedoch in der
Allegorie hängen, verbirgt unter ihr die größeren geſchichtlichen Stoffe wie
das ſtrotzende Leben mächtiger Sinnlichkeit und Leidenſchaft und geräth
offenbar in den Widerſpruch einer modern ſubjectiv leidenſchaftlich ge-
ſtimmten Phantaſie mit einer dem Zeitalter fremden Stoffwelt, worin er
ſie niederlegt. Dieſer Widerſpruch fällt weg im Porträt, worin Belgier
und Holländer zeigen, wie nun die Perſönlichkeit als frei in ſich begrün-
dete Einheit glühend entzündeter oder ruhig zuſammengefaßter Kräfte der
Phantaſie vindicirt iſt.


§. 475.

Hell blickend und ahnungsvoll, realiſtiſch und myſtiſch, leidenſchaftlich und
tranſcendent zugleich erreicht die ſpaniſche Phantaſie ihre Höhe nicht nur in
der bildenden Form, worin ſie, die Fortſchritte der belgiſchen ſich aneignend,
den chriſtlichen Mythus in menſchlich vertraute Umgebungen ſetzt, aber zugleich
zum Ausdruck überirdiſcher Entzückung verklärt, ſondern auch in der dritten
Form der dichtenden, worin ſie ihren dem Standpunkte des Mittelalters den-
noch verſchriebenen Geiſt dadurch ausſpricht, daß ſie die friſch ergriffene Wirk-
lichkeit theils wieder in gegebene ſittliche Normen unfrei einzwängt, theils
in ein myſtiſches Jenſeits aufhebt. Den Mangel verdeckt ſie unter orienta-
liſcher Bilderpracht.


Man ſollte nicht glauben, daß daſſelbe Volk, das die ritterlichen
Illuſionen in ſo heitere Ironie aufgelöst hat, am religiöſen Mythus ſo
bigott, mit ſo ausſchließlichem, brünſtigem Katholiziſmus feſthalten konnte.
Zwar auch dieſe Verzückung der ſpaniſchen Malerei vermählt ſich mit
einem Zuge menſchlicher Wohnlichkeit und Vertraulichkeit, der gewiß ebenſo
der Berührung mit den Belgiern zuzuſchreiben iſt, wie die wunderbare
Ausbildung ihres maleriſchen Auges, ſchließlich jedoch offenbar auf dieſel-
ben germaniſchen Elemente in der Miſchung dieſes Volkscharakters hin-
weist, wie jene geſunde Trockenheit der Parodie des Ritterthums. Der
geſunde und grobe Verſtand, die Liebe zu vertraulich genreartigen Zügen
bildet zuſammen mit der myſtiſchen Inbrunſt einen ſeltſamen Dualiſmus
in dieſer Phantaſie; erinnert jene Eigenſchaft an deutſches Weſen, ſo dieſe
an orientaliſche Gluth. Man kann zweifeln, auf welche beider Seiten
man das antik Objective in der Phantaſie dieſes romaniſchen Volks ſchla-
[512] gen ſoll; es begründet einen menſchlich geſunden und ſcharfen realiſtiſchen
Blick, jedoch in jenem Sinne des Alterthums, der die Subjectivität dem
Allgemeinen opferte. Im Drama hätte dieſes Volk ohne die Energie
der Reibung dieſer ſo verſchiedenartigen Elemente in ſeinem Charakter
nie die Höhe erreicht, zu der es gelangte, und dennoch bleibt es wahr,
daß ein Volk, das ſich ſo wenig aus dem Mittelalter herauszuarbeiten
vermochte, dieſe Form der Phantaſie nur mit Einſchränkungen ausbilden
konnte, die auf ihr Grundweſen drücken. Im weltlichen Drama herrſch-
ten die halb mittelalterlichen, halb modernen Motive der Liebe, Ehre,
Loyalität mit einer Abſtractheit, welche die innerſte Eigenheit des Indi-
viduums ſo wenig berückſichtigt, als der römiſche Staat, im geiſtlichen
drückt das Jenſeits auf den Willen, der nur durch myſtiſche Flucht zu
ihm ſelbſt ſich retten kann, und löst ſich die Natur in Wunder auf. Da-
gegen iſt wieder überall eine Energie, welche trotz dieſen Mängeln ſpannt,
eine mauriſche Farbenpracht, welche mit ihrer Empfindungsgluth den Man-
gel der Individualität, ihrer freien, unendlichen Eigenheit überdeckt.


β.
Mitte.

§. 476.

Die Mitte der Geſchichte dieſes Ideals, ſo weit ſie bis jetzt gediehen
iſt, bildet eine ſtrenge Zuſammenfaſſung deſſen, was die romaniſchen Völker vom
objectiven Ideale des Alterthums in ſich herübergenommen haben, im franzö-
ſiſchen
Geiſte, der den Beruf übernimmt, die immer noch rohe germaniſche Phan-
taſie in die Zucht ſeiner Regelmäßigkeit und Präciſion zu nehmen. Allein die
ſo zur Norm erhobene Objectivität iſt zugleich abſtract, ſeelenlos, mechaniſch, hö-
fiſch, conventionell, ja durch den fremden Geiſt frivoler, auf Effect berechnen-
der, ſich ſelbſt beſpiegelnder Subjectivität entſtellt, iſt daher falſche Claſſicität
und beſtimmt, die Völker, die bei ihr in die Schule gegangen, zum Gegen-
ſchlage zu reizen.


Man ſieht, wie dieſer äſthetiſche Gang dem politiſchen (§. 370 ff.)
entſpricht. Wie die Monarchie den Beruf hatte, das Mittelalter zu nivelli-
ren, ſo hatte die franzöſiſche Claſſicität den Beruf, die immer noch bar-
bariſche Phantaſie der germaniſchen Völker unter ihre Diſziplin zu beugen.
Allein dann weicht die Geſchichte der Phantaſie von der politiſchen gänz-
lich ab: in dieſer reagirten die Franzoſen ſelbſt gegen die Deſpotie, traten
aber auf lange Zeit vom Schauplatz äſthetiſcher Zeugungskraft ab, in jener
dagegen übernahmen die Deutſchen die Revolution gegen das franzöſiſche
[513] Joch, während ſie politiſch im Todesſchlummer lagen. Recht und Un-
recht, Beruf zur Völkererziehung und ertödtender Zwang, innerſte Unwahr-
heit und Verdorbenheit, zur Niederlage beſtimmt, waren in der franzöſiſchen
Monarchie ebenſo vereinigt, wie in der Claſſicität des goldenen Zeitalters:
Bildung, Klarheit, Form, Diſciplin und zugleich hohle Lüge, Geſpreiztheit,
Eleganz, antiken Schäfern, Helden, Göttern die Maſke des Höflings
übergeworfen, abſtracte Maſchinerie, wo es für den Verſtand der Aufklä-
rung längſt keine Wunder mehr gab. Bereits trat allerdings auch die
komiſche Phantaſie mit ſchneidender Kraft auf; aber abſtract war doch
auch ſie, ſchematiſch in ihren Charakteren, generaliſirend wie die Monar-
chie. Wir haben ſchon in §. 368 Anm. 3 die Culturformen dieſes Volks
theatraliſch genannt; ſo erſcheinen dieſe dem Dritten, aber ebenſo be-
handelt natürlich es ſelbſt das Schöne: mit Energie wird auf den
Punkt hingedrückt, der in die Augen ſpringen ſoll, aber auch ohne die
Uebergänge, die Continuität der Natur zu Rathe ziehen, es wird darauf
eigentlich geſchlagen und geklopft wie in der Pantomime geklaſcht und
geſtampft (Alles wird frappant). Dieſer Geiſt der Pointirung iſt äußerſt
wohlthätig durch ſeine Beſtimmtheit, Präciſion, äußerſt unäſthetiſch durch
das Afterbild der Anmuth und Kraft, das er hervorbringen muß, durch
die Aufhebung aller ſüßen Unwiſſenheit um ſich und den Zuſchauer, der
das Weſen des Schönen ausmacht. Und er ſteckt im antiken Kleide, das
ſo grundverſchiedene Lebensform zu ſchmücken beſtimmt war! Neuer Moſt
in alten Schläuchen, verdorbener pikanter Stoff in der antiken Vaſe.


§. 477.

Dieſen Gegenſchlag führen die Deutſchen aus. Ihnen geht zuerſt das
geiſtige Bewußtſein der Unendlichkeit des Ich auf; die innerlich wahrhaft
befreite Subjectivität tritt in die Phantaſie als ein unſagbares Erzittern der
Empfindung, welche nicht nur, im Wetteifer mit der italieniſchen, die eigentlich
empfindende Art zur Vollendung erhebt, ſondern ſich zugleich vorzüglich in die
dichtende wirft, aber hier als eine aus der Objectivität ſich zurückziehende weich-
liche Sehnſucht oder überhitzte Anſpannung, als ein abſichtlicher Cultus der Em-
pfindung die krankhafte und geſtaltloſe Form der Sentimentalität erzeugt.


An dieſe Stelle gehört der eigentliche Begriff der Sentimentalität.
Sie iſt formell abſichtliches Schwelgen in der Empfindung, „Empfindſelig-
keit“. Es kommt aber darauf an, was empfunden wird. Dieß iſt die
innere ſubjective Unendlichkeit, welcher keine Exiſtenz genügt. Das Wahre
in dieſer Stimmung und das Unwahre iſt hiemit zugleich ausgeſprochen. Was
ſchon das romantiſche Ideal zum Prinzip hatte, wird jetzt reif, komm
[514] zum Bewußtſein und iſt daher nun erſt wahrhaft da; aber nur im In-
nern. Die freie Subjectivität iſt errungen, der abſolute Adel des Sub-
jects wird gewußt und ausgeſprochen, aber er ſchämt ſich der Welt, des
Staates, der Geſchichte, ſcheut ſich, ſich einzulaſſen, als beſchmutze er ſich.
Das Herz wird ein ſchaalloſes Ei, iſt wie wundes Fleiſch, kann keine
Erfahrung ertragen, flieht vom Mann zum Weibe, von den Menſchen
zu der Natur, von der Gegenwart in die Vergangenheit der Kinderjahre,
in die Zukunft des Grabes und Wiederſehens; an Trauerweiden verehrt
es den Tod, der Mond iſt ſein Geſtirn, es erfriert in ſeinen blaſſen Strah-
len auf dem Grabe der Geliebten. Es iſt wieder eine Jenſeitigkeit da,
aber eine gemachte innere, daher eine leere, ein deiſtiſcher Gott, eine kahle
Unſterblichkeit; nach ihr wird hingeſeufzt, die Thränen werden Alltagskoſt,
an ſie wird in Bardenpathos hinaufdeclamirt, die Ausrufungszeichen werden
wohlfeil. Dieſe Stimmung kann als dichtende wirklich faſt nur in Inter-
jectionen reden, nur an die Dinge hinſingen, Gedichte auf und an die
Freundſchaft u. ſ. w. machen, ſie iſt geſtaltlos (§. 406, 3.). In Werther’s
Leiden wird ſie Stoff, da iſt das Verhältniß ſchon verändert. Ihre
wahre Form iſt die Muſik, ſie weckt den großen, die fortſchreitenden ita-
lieniſchen Tonkünſtler und die Süßigkeit ihres Wohllauts weit überholenden
Schwung einer mächtigen, neuen, wunderbaren Tonwelt.


§. 478.

Soll dieſe Stimmung zur wahren Formthätigkeit gelangen, ſo muß ſie
hinter die falſche Natur und Objectivität der franzöſiſchen Regel auf die wahre
zurückgehen. Sie greift aber zunächſt nach der gewöhnlichen und ſchwungloſen,
wie ſie in den modernen Staatsformen geworden, zugleich jedoch fordert ſie das
allgemeine Recht der Sinnlichkeit zurück, das befreite Subject entfeſſelt ſich als
Naturkraft, die Kühnheit der engliſchen Phantaſie (§. 472) wirkt mehr noch
durch das, was in ihr formlos war, als durch ihre Größe ein, mit der fal-
ſchen Regel wird die wahre umgeſtürzt und Genie zum Fooſungswort.


Engliſche Melancholie hatte freilich ſchon zur Entſtehung des Sen-
timentalen ihren Beitrag gegeben; wir werden aber dieſe Seite des Ein-
fluſſes erſt ausdrücklich hervorheben, wenn vom Umſchlagen dieſer Stim-
mung in Humor die Rede iſt. Die Natürlichkeit zunächſt als Aufnahme
der gewöhnlichen Lebensformen der Gegenwart, die bürgerlich ſtylloſe
Natürlichkeit wurde von Leſſing nicht ohne Vorgang ebenfalls engliſcher An-
ſichten und einer in Frankreich ſelbſt vereinzelt laut gewordenen Oppoſition
gegen die falſche Claſſicität eingeführt, doch zuerſt in Deutſchland zu herr-
ſchender Geltung erhoben. Die liebe Natur wird aber, zum Theil bereits
[515] mit Appellation an die Alten (Götter, Helden und Wieland), auch als
Recht der Sinnlichkeit allgemein reclamirt. Shakesſpeare wird wohl um
ſeiner Größe willen bewundert, aber ſeine eigentliche Bedeutung hat er
als Flügelmann der Oppoſition gegen das franzöſiſche Reglement; der
Cyniſmus, die Grobheit, die Willkühr, die Launenhaftigkeit und Bizar-
rerie der entfeſſelten genialen Naturgewalt beruft ſich auf ihn. Eine
weitere Darſtellung der Sturm- und Drang-Periode, dieſer Flegeljahre
des modernen Ideals, ſchenkt uns die verbreitete Kenntniß dieſer uns
ſchon ſo nahen Form.


§. 479.

Die ſtürmiſche Kraft bildet ſich durch Rückkehr an die wahre Quelle,
das antike Ideal der reinen Objectivität, und hinter dieſe an die ächte Natur.
Zur Einfalt und zum Formgefühl geläutert ergreift die Phantaſie auf der einen
Seite den Stoff des ſubjectiven Seelenlebens, der Entwicklung der Perſönlich-
keit und ihrer Kämpfe in der engeren Sphäre des Privatlebens und arbeitet
ihn in der bildend und empfindend dichtenden Art zur reinen Form aus, auf
der andern, von der wahren Größe des engliſchen Genius begeiſtert, den Kampf
der Freiheit im politiſchen Leben, den ſie feurig und gewaltig, jedoch nicht ohne
einen Reſt abſtracten Denkens (§. 406, 4.) und idealiſtiſcher Subjectivität in der
vorzugsweiſe modernen dritten Form der dichtenden Phantaſie niederlegt.


Göthe hat ſubjective Stoffe rein objectiv, Schiller objective Stoffe
zu ſubjectiv behandelt: dieß iſt die rechte Formel für ihr Verhältniß.
Wenn nun Göthe keinen Geſchichtsſinn hatte, wenn Schiller ihn zwar
hatte, aber ſeine großen Stoffe durch eine Zweiheit in ſeiner Natur,
welche die rein organiſche Thätigkeit der Phantaſie vielfach hemmte, theils
zu philoſophiſch, theils zu abſtract idealiſtiſch mit durchgängigem Vordrin-
gen ſeiner begeiſterten Subjectivität behandelte, ſo erkennt man die große
Aufgabe, welche dieſe Claſſiker des modernen Ideals noch zu löſen
übrig laſſen.


§. 480.

Inzwiſchen findet die Sentimentalität ihren eigenen Weg, ſich von ſich zu
befreien, indem ſie in das Komiſche umſchlägt. Auch hierin iſt die engliſche
Phantaſie der deutſchen vorangegangen; ihre Einflüſſe wecken den Humor, der
nun erſt mit Bewußtſein in ſeine Tiefen ſteigt und die feinſten Widerſprüche des
Subjects erfaßt, aber weder die Lebenskämpfe auf dem Schauplatz der Oeffent-
lichkeit in ſeine verſöhnende Bewegung hineinzieht (vergl. §. 220. 221), noch
[516] die ſentimentale Grundſtimmung von der Willkühr einer Geſtaltloſigkeit heilt,
welche doppelt fühlbar iſt, weil ſie ſich in der Form der bildend dichtenden
Phantaſie ausſpricht.


Dem Humor eines J. Paul fehlt Objectivität in doppeltem Sinne;
er verfolgt wohl die geheimſten Irrgänge des Wahnſinns, der in den
Widerſprüchen der Subjectivität liegt, ſofern ſie in ſich und in den
Kreis des engeren ſozialen Lebens eingeſchloſſen lebt, aber den großen
Wahnſinn des öffentlichen Lebens, der Geſchichte, des Staats ſieht er
zwar, ſtellt ihn aber ſchroff und ſchrill neben die ſchöne Seele hin und
geht auf dieſer Seite zu keiner Verſöhnung fort. Allerdings gehört dieß
größere Schauſpiel auch nicht in den Roman, in die Bildungsgeſchichte
des Subjects, die er zur Aufgabe hat, aber die gewaltige Phantaſie ſchafft
ſich eben für den größeren Horizont auch die rechte Gattung. Allein es
iſt noch ein anderer äſthetiſcher Mangel da: es kommt zu keiner gediege-
nen Form. Das humoriſtiſche Subject ſchiebt ſich überall vor, man hat
das Gefühl, es ſei mit dem Erzählen eigentlich gar nicht Ernſt, es be-
ſchreibt komiſch, ſtatt Komiſches zu beſchreiben, der Gehalt der Perſön-
lichkeit des dichtenden Subjects geht nie ganz in Geſtaltung über, ſieht
überall nackt durch die Ritzen hervor. Daher iſt es Pferdearbeit, einen
Sterne, einen J. Paul zu leſen.


§. 481.

1

Der innerlich überfüllte, politiſch abermals gehemmte Geiſt des deutſchen
Volks (vergl. §. 375. 376) erzeugt noch eine Bewegung der Phantaſie, worin
die Subjectivität, die in dieſer Blüthezeit auf allen Punkten, wiewohl auf jedem
in anderer Weiſe, den rechten Uebergang zu einer realen Welt nicht finden
konnte und im Lichte der Aufklärung und reineren Claſſicität doch die ſchärferen
Züge und tieferen Verwicklungen der unendlichen Eigenheit der Individualität
verſchwemmte, im Taumel der Betäubung ſich zu befreien ſucht, die traum-
artige Einbildungskraft zu ihrem formalen, die Wunderwelt des Mittel-
alters zu ihrem materialen Prinzip erhebt und mit ironiſcher Abſichtlichkeit über
2ihrem farbenreichen und doch geſtaltloſen Schattenſpiele ſchwebt: eine Erſcheinung,
die ſich in den Humor der Zerriſſenheit und dann in die Frivolität der Blaſirt-
heit, jenes unter erneuter engliſcher Einwirkung, endlich in die eklektiſche All-
gemeinheit einer Aneignung aller fremden und dageweſenen Formen der Phan-
taſie aufhebt.


1. Die romantiſche Schule fand in dem neuen claſſiſchen Ideale
des deutſchen Genius nicht Schatten und Farbe genug, ein zu reines, zu
[517] dünnes Licht. Sie hatte Recht in mehrerlei Sinn. Erſtens: Göthe ſtieg
zwar tief genug in die Bildungskämpfe des ſubjectiven Seelenlebens, run-
dete aber ſeine Bilder zu einer Grazie der Humanität ab, worin die här-
teren Kanten der Individualität und ihrer unendlichen Eigenheit zwar
nicht ebenſo, aber doch auf ähnliche Weiſe verſchwemmt wurden, wie das
antike Ideal ſie vom reinen Ebenmaaße ſeiner plaſtiſchen Geſtalten als
ebenſoviele Anſätze zu einer für ihren Standpunkt allzu herben Komik
ausſchließen mußte. Konnte er doch Mercutio und die Amme in Romeo
und Julie als poſſenhafte Intermezziſten anſehen! Dieß hing freilich
auch mit ſeinen Stoffen zuſammen; wer ſich die Aufgabe ſetzt, den ſozia-
len Menſchen auf den Irrgängen ſeiner Bildung zur Gemüthsruhe und
harmoniſchen Thätigkeit zu begleiten, der muß die rauheren Ecken und
gröbere Ausladung des Menſchen ſcheuen, welcher auf großem Schauplatze
handelt. Doch glättete Göthes milde Hand auch viele der ſchärferen
Falten, die ſich nicht minder auf der Stirne des nur mit ſich und ſeiner Er-
ziehung für die Geſellſchaft beſchäftigten Menſchen graben. Alſo in doppeltem
Sinne zu wenig Schatten und Farbe, theils in der Art der Behandlung
des ergriffenen Stoffs, theils in der Beſchränkung auf dieſen Stoff be-
gründet. Schiller führte zwar den Menſchen hinaus in das Feld der
politiſchen Bewegung und That, aber auch er lernte in der Schule der
Alten jene Planheit und Generalität des Pathos, welche das Individuelle
nicht in ſeinem vollen Umfang aufnimmt, den Charakter nicht in die
ſcheinbar widerſprechenden Verwicklungen ſeiner intenſiven Eigenheit ver-
folgt, und dazu kam dann überdieß jene Einmiſchung ſeiner Subjectivität
in den Stoff, welche dem dargeſtellten Charakter die eigenen, nicht in Phan-
taſie rein aufgegangenen auf ein abſtractes, moraliſirendes Denken ge-
gründeten Ideen unterſchob. Alſo auch hier zu weißes Licht. J. Paul
brach freilich die Subjectivität in einem bunteren Priſma, aber er wußte
nicht alle Gegenſätze, die er aufſtellte, auch zu verſöhnen, und dieß kam
daher, daß ſeine Sentimentalität ſchließlich auch auf wenige abſtracte
Ideen (Unſterblichkeit u. ſ. w.) ſich reduzirte, mit denen die Subjectivität
nichts anzufangen weiß, wenn es gilt, die reale Welt zu ertragen, zu
beherrſchen; den Schmerz über dieſe Kluft hat er freilich farbenreich dar-
geſtellt, aber nimmt man ſeinen Geſtalten dieſe Strahlenbrechung, ſo
bleiben dünne, flache, fleiſchloſe, in Waſſerfarben gemalte Ideale zurück.
Der innere Widerſpruch, aus dem der Humor fließt, hat zum Theil ſeinen
Grund gerade darin, daß die reichen Kräfte der concreten Subjectivität
aus dieſen flachen Idealen ſich nicht nähren, nicht zur wahren, in die
That übergehenden Erfüllung gelangen können. Alle dieſe Mängel zei-
gen denn zunächſt eine überſchwängerte Subjectivität, welche ihre Geſtal-
ten nicht in’s volle Leben taucht. Man kann dieß auch Aufklärung nennen,
[518] ſofern dieſe dem Dichter nicht durch praktiſche Umwälzung eines ſtagni-
renden Lebens concretere Stoffe zeigte, ſondern, wie dieß ja in Deutſchland
der Fall war, nur den innern Menſchen bildete und zwar mit wenigen
abſtracten Begriffen, deren ſchließlicher Werth nicht in ihrem Gehalt, ſon-
dern nur in der Freiheit des ſo vereinfachenden Denkens, alſo, wenn man
will, gerade in ihrer Gehaltloſigkeit lag. In Frankreich wurde die Auf-
klärung praktiſch als Revolution, dieſer Geiſt weht freilich in Schiller,
ſelbſt in J. Paul, aber die Revolution ſelbſt rechnete ja auch noch mit
der Münze weniger, ſehr abſtracter Begriffe. Mit dieſer Vereinfachung
des Geiſtes durch die Aufklärung ſtimmte nun die neue Claſſicität, auch
die reinere deutſche, allerdings darin zuſammen, daß das Alterthum, auf
das man zurückging, dem Prinzip der Individualität, eben jener bunteren
Farbenbrechung faſt keinen Raum ließ. Die Aufklärung war durchaus anti-
kiſirend; ſie war es ſelbſt in dem engeren Sinne, daß ſie eigentlich antike
Stoffe, Formen, Mythen vorzog und zum Theil ſtark in’s Allegoriſche fiel.


Es gab alſo freilich noch viel zu thun, aber es war noch nicht die
Zeit, es recht zu thun. Die romantiſche Schule brachte es zu magiſcher
Farbenpracht, aber es war nur die Gluth eines Abendroths. Sie hätte
dem Stoff nach ſagen müſſen: führet die Aufklärung weiter zu concretem
Gedankengehalt, gebt dieſen Gehalt als erfüllteres Pathos euren Geſtalten,
leiht ihnen vielſeitig verwickeltere, eigener in ſich zuſammengefaßte Indivi-
dualität, verſetzt ſie in die Geſchichte, gebt ihnen den Schauplatz, wo ſie
ſich zum Charakter ſchmieden, gebt ihnen insbeſondere den Schauplatz der
Geſchichte der neuern Völker, beutet vorzüglich die hiſtoriſchen Kämpfe des
Mittelalters und ſeines Uebergangs in die neuere Zeit aus und ihr bekommt
Colorit, Schatten, Localfarbe. Sie hätte der Form nach ſagen ſollen: gebt
die Speculation auf, ſeht zu, wie ihr den Inſtinct wieder findet, vereint
Begeiſterung und Beſonnenheit. Was that ſie ſtatt deſſen? Sie ſchob alle
Schuld auf die Aufklärung überhaupt, ſtatt auf die unvollendete Aufklä-
rung, fieng, bedenklich genug, mit der Satyre auf ſie, mit der Negati-
vität der Oppoſition an und predigte nun, das Mittelalter und ſeine „mond-
beglänzte Zaubernacht“ ſolle nicht etwa Stoff, ſondern ſeine Täuſchungen
müſſen die eigene Welt, das Glaubensbekenntniß des Dichters werden; nicht
die innern Wunder des wundergläubigen Gemüths, ſondern ſeine ganze
Welt von Mythen, Sagen, Pfaffen, Rittern müſſe Dogma in der
Welt der Phantaſie, ja ſelbſt in der wirklichen werden; der Aberglaube
wurde Pflicht, die Phantaſmen Syſtem. Was das Mittelalter wahr-
haft Großes hat, ſeine Helden, ſeine Bürger, ſeine weltgeſchichtlichen
Kämpfe, kurz der Charakter: gerade dieß wurde nicht benützt. Sie pre-
digte als wahre Art der Formthätigkeit die Begeiſterung ohne Beſonnen-
heit, den Wahnſinn, den Opiumsrauſch, den Traum, ſeine üppigen
[519] Gaukeleien und ſeine bangen Schauer vor den „bedrohlichen“ Abgründen
des Lebens. Sie hatte große Talente und allemal da erſcheint ſie bedeu-
tend, wo dieſe Talente, nicht der ſtrengen Schule angehörig oder auf
Augenblicke ſich von ihr befreiend, das Mittelalter frei als Stoff behan-
delten, die Wunder in’s Innere führten, Begeiſterung mit Beſonnenheit
einten; eine Maſſe noch ungegrabener Schätze haben dieſe Talente auf-
geſchloſſen, das menſchliche Herz iſt in neuen Tiefen erklungen. Aber
die Schule im Ganzen ſchuf Geſpenſter, verdarb ihre beſten Leiſtungen
durch einen kranken Wurm, durch irgend ein larvenhaft und dämoniſch
Häßliches. Hier iſt der rechte Ort, wo zuerſt jene ſublimirte Häßlichkeit
zu erwähnen iſt, welche wir als eine hiſtoriſche Geſtalt nicht in die allge-
meine Begriffslehre aufgenommen wiſſen wollten (§. 149, 1.), in der
Pſychologie des Schönen aber kurz begründeten (§. 406, 3.). Zwar iſt die
eigentliche Romantik noch verhältnißmäßig unſchuldig; es iſt mehr Ver-
zweiflung an der ſittlichen Weltordnung, als eigentliche Blaſirtheit, was
ihre Larven hervorruft. Doch lag dieſe nahe genug; denn was war der
Grund der ungeheuren Verwechſlung, wodurch ſie die Aufgabe der Zeit
verkehrte? Die deutſche Subjectivität, überfüllt mit innerer Bildung,
mit Philoſophie reichlich verſetzt, geknebelt nach außen und unfähig, die
Welt zu bewegen, vergeilte in ſich, trieb ſich auf den Gipfel der Will-
kühr und machte ſich ein markloſes Schattenſpiel vor. Die Geſtaltloſig-
keit dieſes Spiels, welche in der bildenden wie in der dichtenden Phan-
taſie jede feſte Form verflüchtigte, nirgends die Geduld und Entſagung
hatte, bei der Stange zu bleiben, hatte alſo zuerſt ihren Grund in dem
Ich, dem es mit nichts Ernſt iſt, und daraus erſt floß die Wahl des
Mittelalters und ſeiner Zauberwelt als eines willkommenen Schau-
platzes für dieß gaukelnde Spiel, das im Schaffen das halb Geſchaffene
auflöst. Durch und durch moderne Subjecte verſtecken ſich in Mönchskutte
und Ritterkleid. Es iſt Phantaſie der Phantaſie; man legt ſich der
phantaſieloſen Aufklärung zum Poſſen darauf, Phantaſie zu haben, und
treibt ſich voll Abſichtlichkeit in das hinein, was die Phantaſie von der
flachen Aufklärung nur negativ unterſcheidet: aus der Wahrheit, daß
ſie nicht bloß verſtändig, nicht flach, nicht moraliſirend, nicht fadengerade,
nicht im gemeinen Sinne nüchtern iſt, daraus macht man, daß ſie beſin-
nungslos, wahnſinnig, gefühlstrunken, narkotiſirt ſein müſſe. Dahinter
ſteckt gerade eben die Proſa, gegen die man zu Felde zieht; wer ſtets
den Inſtinct predigt, ſtatt unbeirrt durch die Proſa der Welt, einfach durch
ihn zu ſchaffen, der zeigt, daß er ihn verloren hat, und der trockene
Philiſter der Aufklärung unterſcheidet ſich von ihm dadurch, daß er ehrlich
iſt, jener Theoretiker des Phantaſtiſchen aber nicht.


[520]

2. Die hohle und auflöſende Ironie ſtack alſo ſchon in der roman-
tiſchen Genialität. Doch es iſt, wie ſchon bemerkt, ein Unterſchied. Der
eigentlichen romantiſchen Schule gelang die Selbſttäuſchung, ſie ſchwärmte,
mit ihrer Doctrin war es ihr Ernſt. Inzwiſchen hatte abgeſehen vom
äſthetiſchen Gebiete die Zeit die Form der Zerriſſenheit erzeugt (§. 376).
Man war enttäuſcht und doch ohne die Idee und den Muth der Wahr-
heit. Zerriſſenheit iſt ſelbſt noch eine Täuſchung. Den erſten Wurf der
Aufnahme dieſer Stimmung in das Ideal hatte allerdings ſchon Göthe
im Fauſt gethan, aber Göthe ſelbſt war geſund und ſeine Darſtellung auf
verſöhnenden Schluß angelegt. Von England wirkte Byron ein und hier
war es ſchon anders: die Zerriſſenheit war nicht bloß Stoff, ſondern das
Subject des Dichters war zerriſſen, und dieß wurde in Deutſchland Mode.
Der Weltſchmerz kam auf. Wer ſich in der Verzweiflung beſpiegelt, iſt
eigentlich ſchon über ſie hinaus, die letzte Täuſchung fällt und die Blaſirtheit
kommt an das Ruder. Dieſe erſt iſt dasjenige, was Hegel unter dem Na-
men der Ironie ſo bitter verfolgt; ſie erſt iſt ſo ausgeſogen, daß es ihr
mit keinem Inhalt und keiner Form Ernſt iſt, ſie erſt dichtet, wie man
jetzt tanzt, mit dem Ausdruck: ich könnte es ebenſogut laſſen; ſie erſt
opfert jeden Zuſammenhang einem Witz und hat auch an dem Witz keine
Freude, ſie erſt iſt der ungeheure Widerſpruch, im Genuß nicht zu genießen,
im Schmerz nicht zu trauern, nichts zu ſein und doch, ſtatt ſich zu erſchießen,
in dieſer Nichtigkeit ſich eitel zu weiden. Zu dieſer Fäulniß iſt die Ro-
mantik in Heine gelangt, er iſt der Verweſungsprozeß der Romantik.
Voll Genialität hat er alle ihre Schönheiten, löst ſie in Zerriſſenheit auf
und endigt in Blaſirtheit.


3. Die „Weltliteratur.“ Die Aufſtopplung aller poetiſchen Schätze
aller Nationen aus allen Zeiten muß die eigene Productivität erdrücken.
Ein Ueberſetzervolk kann nicht mehr ein Dichtervolk ſein, die nach allen
Seiten billige, anerkennende, aneignende Univerſalität iſt ebenſo ein Zei-
chen der erlöſchenden, eigenen Zeugungskraft, als der Koſmopolitiſmus
ein Zeichen ſchwachen Nationalgefühls. Starke Nationen ſind ungerecht.
Die Phantaſie des Mittelalters war wohl auch die Frucht einer Miſchung
der verſchiedenſten Völker-Elemente, aber dieſe Miſchung war naiv; es
war nicht eine Anerkennung und abſichtliche Aneignung des Fremden als
Fremden, man glaubte die fremden Sagen als eigene, ſetzte ihre Helden
auf den eigenen Boden, trug in ihre Schickſale ohne Weiteres die
eigene Anſchauung hinein, es war ein allgemeines Amalgam.


§. 482.

Die neue Verirrung kommt zum Bewußtſein und es bildet ſich die Ein-
ſicht der wahren Aufgabe eines Ideals, das von den Zeiten des mythiſchen
[521] Vorſtellens durch die Kluft der Aufklärung getrennt iſt. Allein Einſicht iſt
nicht Können, ja ſie hindert es durch ihre Schärfe ſowie durch die Dichtheit
der von ihr angeſammelten Kenntniſſe im äſthetiſchen Gebiete. Keine Zeit
wußte ſo gut, was zu machen iſt, als die jetzige, und keine kann es ſo wenig
machen.


Die Romantik löste ſich zwar von ſelbſt auf, allein zum allge-
meinen Bewußtſein kam die Nothwendigkeit dieſer Auflöſung durch die
Kritik. Die Kritik iſt es auch, die es ausgeſprochen hat, daß fortan der
Phantaſie nur die urſprüngliche Stoffwelt gegeben iſt, daß uns von allen
mythiſchen Stoffen die ungeheure Kluft der Aufklärung trennt, welche zu
läugnen Wahnſinn iſt. Sie hat zugleich auf die zeitgemäßen Stoffe hin-
gedeutet, auf die geſchichtlichen nämlich, in welchen daſſelbe Ringen nach
Freiheit zu Tage liegt, wie in unſerer Zeit. Kritik aber iſt Reflexion
und es iſt ſchon dieß ein ganz übles Zeichen, wenn über die rechten Stoffe
kritiſch verhandelt, wenn der irrende Inſtinkt von der Reflexion belehrt
wird. — Wir ſind nun auf dem ſubjectiven Wege der Lehre von der
Phantaſie an denſelben Punkt gelangt, an den wir am Schluſſe der Lehre
vom Naturſchönen auf dem objectiven gelangten. Dort ſahen wir: die
Gegenwart hat keine ſchönen Formen, der Künſtler kann in ihr keine
Studien machen, die Anſchauung geht leer aus; jetzt müſſen wir ſagen:
die Phantaſie hat ſich in Reflexion zerſetzt, durch die Richtung und Stimmung
der Zeit iſt der Inſtinct verloren, die Naivetät in Kritik aufgelöst, die
Phantaſie iſt ein Hamlet geworden. Man nehme jenes und dieß zuſam-
men, ſo muß die ungeheure Ungunſt der Zeit einleuchten. Unter Reflexion
verſtehen wir nicht nur die philoſophiſch kritiſche Bildung der Gegenwart,
der ſich auch der Künſtler nicht ganz entziehen kann, ſondern auch die
Praxis der Bildung, wie ſie an der Wirklichkeit, der Geſellſchaft, dem
Staate von allen Seiten auf Umbildung arbeitet, aber auch dieß noch
nicht durch Thaten, ſondern durch Reden, auf dem Weg der Debatte,
der Diſcuſſion, alſo ebenfalls der Reflexion. Dazu kommen nun aber
alle die großen Eroberungen des Wiſſens, welche die Kunſt näher an-
gehen. Die urſprüngliche Stoffwelt iſt durch unzählige Kenntniſſe, Be-
obachtungen, Studien zu einer ungeheuern Maſſe angewachſen; an der
landſchaftlichen Natur z. B. hat man unendliche neue Seiten aufgefunden:
wie hat ſich nur das Gebiet von Beobachtungen über Lichtwirkungen,
Farben erweitert, wie viele feinere Reize, Schönheiten hat man da ent-
deckt! Nun behandelt z. B. ein Maler einen hiſtoriſchen Stoff, ſetzt ihn
in ein gewiſſes Licht, da liegt ihm die Verführung nahe, die Lichteffecte
mit einer Feinheit und Wichtigkeit zu behandeln, welche der eigentlichen
Aufgabe ſchadet: eine Verführung, die ein Maler der alten Zeit gar
[522] nicht gekannt hätte. Oder die Geſchichte: die Griechen hatten eine über-
ſchauliche Sagenwelt, das Mittelalter ebenſo, Shakespeare einige Chro-
niken, einige Novellenſammlungen; der jetzige Künſtler, der in der Lectüre
einem ſeiner Phantaſie zuſagenden Stoff zu begegnen hofft, wird von
Bibliotheken, von tauſend Schriften über einen Stoff erdrückt. Es iſt zu
viel, überall zu viel, die Phantaſie muß das Gleichgewicht verlieren,
muß im dichten Walde den Weg verfehlen. Ein anderes Feld des Sam-
melns und Wiſſens aber zeigt der Phantaſie ihre eigene Geſchichte in
ihren Werken: die Style aller Zeiten und Völker umgeben uns in der
Literatur, in Muſeen, Kunſtgeſchichten; da wird der Künſtler an ſeiner
Auffaſſungsweiſe irre, weiß nicht, ſoll er dieſe oder jene nachahmen, ver-
liert ebenfalls den Boden unter den Füßen. Hat er aber einmal nicht
links und rechts geſehen und iſt ſeinem Genius gefolgt, ſo fährt die Kritik
über ihn her, ſteckt ihn nachträglich an, nimmt ihm die Freude.


§. 483.

Unter dieſen Schwierigkeiten ſind dennoch bedeutende Anfänge hervorge-
treten, zuerſt in der bildenden Phantaſie, welche in Deutſchland mit einem
großen Aufſchwung am antiken Ideal, dann am mittelalterlichen ſich erfriſcht
hat und ſo den Bewegungen der dichtenden gefolgt iſt, hierauf an den freieren
und größeren Formen, die der italieniſche Genius am Schluſſe des Mittelalters
geſchaffen (§. 463) ſich begeiſtert, den mythiſchen Schein abgeworfen und mit
einzelnen kühnen Griffen die urſprüngliche Stoffwelt erfaßt hat. Hierin wurde
jedoch die deutſche Phantaſie von der feuriger bewegten franzöſiſchen und von
dem feinen Blicke der belgiſchen theilweiſe wieder überholt.


Es brauchte nicht ausdrücklich geſagt zu werden, daß hier näher
von der Phantaſie des maleriſchen Sehens die Rede iſt. Baukunſt und
Plaſtik konnten nur im formalen Sinne der neuen Bewegung folgen, in-
dem ſie Dageweſenes rein nachahmten, im Sinne von Dageweſenem
rein reproduzirten. Warum insbeſondere die Zeit noch keinen Beruf hat,
einen neuen Bauſtyl zu ſchaffen, wird die Lehre von der Architectur zeigen.
Die Malerei begann unter den großartigen Einflüſſen des edeln Winkel-
mann, welche nicht nur die Plaſtik an die reine Quelle zurückführten, mit
Karſtens, Wächter, Schick die Periode ihrer reineren Claſſicität, folgte
mit den Nazarenern der romantiſchen Schule, wandte ſich mit Cornelius
zu Raphael und Mich. Angelo und verharrte, obwohl nun mit natur-
großen Formen ausgerüſtet, freilich noch im Mythiſchen. Franzoſen (Leop.
Robert, Delaroche, [Horace] Vernet), Belgier (Bièfve, Gallait, de Kayſer)
überholten uns in warmer Ergreifung rein menſchlicher, doch mit heroiſcher
[523] Anlage getränkter Zuſtände, großer Momente der Geſchichte und bewe-
gungsvoll maleriſcher Darſtellung derſelben. Vereinzelter, nachdenklicher,
die pſychologiſch behandelte ruhige Situation der bewegten Handlung vor-
ziehend folgten die Deutſchen, namentlich Leſſing. Ihnen fehlt noch vor
Allem der Sinn für die Spitze und Schneide des Moments und der Le-
benswärme. Beides fließt daraus, daß ſie das Mythiſche nicht laſſen
wollen, durch deſſen Einmiſchung ſelbſt Kaulbach großartig empfangene
weltgeſchichtliche Stoffe verderbt.


§. 484.

Nachdem die empfindende Phantaſie in mächtigen Klängen das Ringen
des neuen Geiſtes ausgeſprochen, dann in Prunk und Wirkung auf Effect ver-
ſunken, hat die dichtende vorzüglich in ihrer bildenden Form durch den engli-
ſchen, deutſchen, franzöſiſchen Geiſt das ſoziale Leben im Sinne des modernen
Ideals ergriffen, in ihre übrigen Formen aber hat ſich, mit Ausnahme glück-
lichen komiſchen Talents im franzöſiſchen Volke, beſonders ſichtbar dasjenige
eingedrängt, was übrigens aller Thätigkeit der Phantaſie in einer unruhig ſtre-
benden Zeit nahe liegt, die Tendenz: eine äſthetiſch unzuläſſige Auffaſſung
im Sinne des Intereſſes (vergl. §. 56 — 60. 75. 76).


Die romantiſche Schule hatte freilich auch ihren großen Muſiker;
wir heben aber einzelne Erſcheinungen nur da hervor, wo es der
bezeichnenden wenige gibt, und ſo mußte hier Beethoven, dieſer muſika-
liſche Prophet, angedeutet werden. Leere Süßigkeit, Lärm, Knalleffect,
Prahlerei wird hierauf von glänzenden italieniſchen und franzöſiſchen Ta-
lenten eingeführt. In der dichtenden Phantaſie war es der bildenden Art
(dem Roman) am leichteſten, ächt moderne Richtung zu nehmen; der
hiſtoriſche, der ſoziale Roman iſt von großen Talenten angebaut worden.
Statt die engliſchen, deutſchen, franzöſiſchen Talente zu zählen, nennen
wir nur die edle G. Sand. Ehe wir nun von der Tendenz ſprechen,
welche freilich in alle Arten der Phantaſie, ſelbſt in die bildende (Hüb-
ners Tendenzbilder), vorzüglich aber in die ſubjectiv bewegten Formen
der dichtenden, die lyriſche und dramatiſche, ſich eindrängen mußte, iſt
als ganze und ächt äſthetiſche Erſcheinung das komödiſche Talent der
Franzoſen zu erwähnen, zwar abſtract in der Charakterbildung, aber voll
Kraft, eine geſellige Lebensfrage mit raſchem Blick zu erfaſſen, zu leb-
hafter Wirkung zu ſpannen. Daß übrigens in den verſchiedenſten Sphären
die unorganiſch komiſche Form, die Satyre, zeitgemäß wirken kann und
muß, ja beſonders fetten Boden hat in kritiſcher Zeit, dieß folgt von
ſelbſt aus dem, was über ihre Natur ſchon geſagt iſt. Die Tendenz-
[524] frage nun konnte nur in einer Zeit wie die unſrige aufgeworfen werden.
Alles Schöne hat Tendenz und muß Tendenz haben, und alles Schöne
wird durch Tendenz aufgehoben. Dieſe Antinomie löst ſich einfach, wenn
wir im erſten Satze unter Tendenz verſtehen die im Stoffe ſelbſt imma-
nent wirkliche Idee, dann die Phantaſie, wie ſie unabſichtlich ihrem großen
Inſtinct folgend dieſen Stoff ſo umbildet, daß aus der umgeſchmelzten
Form dieſe Idee von ſelbſt, jedes Herz packend, hervorſpringt, wenn wir
dabei, wie wir müſſen, jene ächte Phantaſie vorausſetzen, welche durch-
drungen von dem, was mächtig im Jahrhundert waltet und alle Gemüther
bewegt, eben von den Stoffen zum Schaffen entzündet wird, worein ſie
den Geiſt ihrer Zeit niederlegen kann, niederlegen ohne eine von der
reinen Formthätigkeit geſonderte Abſicht, ohne ein darauf ausdrücklich ge-
richtetes Wiſſen und Wollen; wenn wir dagegen unter Tendenz im zweiten
Satze dieſe geſonderte Abſicht, dieſes ausdrückliche Wiſſen und Wollen
verſtehen, das nothwendig die Elemente, Idee und Bild, zerſetzt, einen
Stoff als Mittel ergreift, um durch ihn im Sinne einer beſtimmten Idee
auf die Zeit zu wirken, dieſe ausſpricht, ſtatt ſie als unſichtbaren Geiſt
durch den Körper ihres Stoffs zu führen, und ſo mit der Ausdrücklichkeit
des Denkens und Wollens, mit der Unruhe des ſtoffartigen Intereſſes
den Zuſchauer anſteckt. Dieſe zerſetzende Abſichtlichkeit nun iſt von einer
unzufrieden ſtrebenden Zeit wie die unſrige gar nicht zu trennen. Alles,
was jetzt Reflexion, Diſcuſſion, Kritik, unverwirklichter Zweck iſt, muß
erſt durch eine große reale Bewegung Zuſtand, Sein, Natur, Wirklichkeit
geworden ſein, dann iſt wieder Naivetät, Inſtinct möglich. Göthe hat
geſagt, er wolle den Deutſchen die Umwälzungen nicht wünſchen, welche
nöthig wären, wenn ſie wieder eine claſſiſche Poeſie haben ſollen. Er
wünſchte alſo die Bedingung einer Wirkung nicht, wo er doch als Dich-
ter die Wirkung wünſchen mußte. Es iſt aber gleichgiltig, was wir
wünſchen, es fragt ſich, was kommen muß, und ſo viel iſt gewiß, wenn
wieder Blüthe der Phantaſie kommen ſoll, ſo muß vorher eine Umgeſtaltung
des ganzen Lebens kommen.

[][][]

Dieses Werk ist gemeinfrei.


Rechtsinhaber*in
Kolimo+

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2025). Collection 3. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). Kolimo+. https://hdl.handle.net/21.11113/4bpgv.0