[]
Chriſtian Thomaſens/ JCti,
Chur-Brandenburdiſchen Raths und
Profeſſoris zu Halle

Von der Kunſt
Vernuͤnfftig und Tugendhafft
zu lieben.
Als dem eintzigen Mittel zu einen gluͤckſeligen/

galanten und vergnuͤgten Leben zu gelangen/
Oder

Einleitung
Zur
Sitten Lehre

Nebſt einer Vorrede/
Jn welcher unter andern der Verfertiger der

curiöſen Monatlichen Unterredungen freundlich erinnert
und gebeten wird/ von Sachen die er nicht verſtehet/
nicht zu urtheilen/ und den Autorem der-
mahleinſt in Ruhe zu laſſen.


Halle: / Druckts und verlegts Chriſtoph Salfeld/
Chur-Fuͤrſtl. Brandenb. Hoff-Buchdr.
[]

Dem
Durchlauchtigſten Fuͤrſten und
Herrn/
HERRN
Johann Georgen
Fuͤrſten zu Anhalt/
Hertzogen zu Sachſen/ Engern und
Weſtphalen/
Graffen zu Aſcanien,
Herrn zu Zerbſt und Bernburg/
Der
Chur- und Marck-Brandenburg
Hochverordneten Stadthalter
Und
General Feld-Marſchalck:
Meinem Gnaͤdigſten Fuͤrſten
und Herrn.


[]
Durchlauchſter Fuͤrſt
Gnaͤdigſter Herr.

SO unterſchiedlich und auff
eine faſt unzehlbahre Weiſe die
menſchlichen Gemuͤther einem der
die Welt nur oben hin anſiehet ge-
miſcht zu ſeyn ſcheinen/ ſo iſt doch unlaugbar/
daß nicht mehr als VierPaſſiones Domi-
nantes
oder Haupt-Gemuͤthsneigungen
ſind/ aus derer Vermiſchungen die Veraͤnde-
rung aller derer andern Affecten, ſie ſeyn nun
gut oder boͤſe entſtehen/ auch alle Gemuͤther der
Menſchen und ihre daher ruͤhrende Gedan-
a 2cken
[]Unterthaͤnigſte
cken aus denenſelben beurtheilet werden koͤn-
nen. Die eine darvon iſt diejenige/ ſo gerade
zur hoͤchſten Gluͤckſeligkeit fuͤhret/ nemlich
die vernuͤnfftige Liebe anderer Menſchen.
Die andern drey aber ſind die Liebe zur
Wolluſt/ die Liebe zur eitelen Ehre/ und
die Liebe zum Gelde.
Dieſe dreye gehoͤren
an und vor ſich ſelbſt zur unvernuͤnfftigen Lie-
be/ und fuͤhren den Menſchen unter dem
Schein einer wahren Gluͤckſeligkeit von der
Gemuͤths-Ruhe in eine ſtetswehrende Unru-
he/ wiewohl immer eine von der vernuͤnfftigen
Liebe weiter entfernet iſt als die andere. Die
Wolluſt-Liebe
iſt derſelben noch am naͤchſten/
weil ſie doch noch mehrentheils mit Treuher-
tzigkeit und Barmhertzigkeit vergeſellſchafftet
iſt/ und die Wahrheit zu ſagen nicht ſo ſehr
anderen Menſchen als ſich ſelbſten ſchadet.
Die Liebe zur eitelen Ehre iſt ſchon weiter
entfernet/ denn hier iſt mehr Neyd/ Miß-
trauen/ Unbarmhertzigkeit/ Falſchheit/ Be-
trug/ und man ſchonet ſeine Ehrgierde zu be-
gnuͤgen keines Menſchen. Jedoch kan man
ſolche Leute noch in Menſchlicher Geſellſchafft
brauchen/ weil ſie gemeiniglich von groſſen
Ver-
[]Zuſchrifft.
Verſtande ſind/ und ſo lange ſie von denen
die uͤber ſie ſind/ Beforderung hoffen/ denen-
ſelben doch ſolche Submiſſion und Dienſte er-
weiſen/ die ſonſten von liebenden Perſonen
her zu ruͤhren pflegen/ auch endlich denen ſo
ſie veneriren/ ſo lange ſie ſolches thun/ alles
gutes erweiſen. Aber die Geld-Liebe iſt gar
zu irraiſonnabel. Denn da ſind nicht alleine
alle die Laſter/ die mit der Ehrgierde ver-
knuͤpffet ſind/ anzutreffen/ ſondern ein Gei-
tziger ſchonet keines Menſchen/ wenn er nur
einen Thaler profit machen kan/ da hingegen
ein Ehrgeitziger dieſes fuͤr eine groſſe lachetè
haͤlt. Ja ein Geitziger iſt gar zu nichts gu-
tes zu gebrauchen/ in dem er keinen Men-
ſchen gutes thut; Wannenhero auch jener
nicht unfuͤglich den Geitzigen mit einem
Schweine verglichen/ das man anders nicht
als wenn es geſchlachtet und ertoͤdtet iſt/ ge-
nieſſen kan. Und wie wolte ein ſolcher
Menſch andern gutes thun/ in dem er
ſelbſten bey ſeinem Geld-Sack verhungert?
ja es weiſet noch dieſes gantz Augenſcheinlich/
daß nichts vernuͤnfftiges in dem Geld-Geitz
ſey/ indem da ſonſt gleich und gleich einan-
a 3der
[]Unterthaͤnigſte
der lieben/ und auch zwiſchen zweyen Wol-
luͤſtigen und Ehrgeitzigen zum wenigſten eine
Schein- und vernuͤnfftige Liebe iſt/ doch
zwey Geitzige einander nicht alleine nicht lie-
ben/ ſondern auch auff das aͤuſſerſte haſſen.
Dieſe Anmerckungen aber ſind nicht alleine
in der geſunden Vernunfft gegruͤndet/ ſon-
dern die Goͤttliche Offenbahrung ſtimmet da-
mit gantz offenbahrlich uͤberein. Die groͤſte
Gluͤckſeligkeit beſtehet in der Liebe GOttes
und des Nechſten. Und ob ſchon die vernuͤnff-
tige Liebe nicht ſo vollkommen iſt als die
Chriſtliche Liebe/ ſo iſt doch die. vernuͤnfftige
Liebe ſo zu ſagen ein Staffel/ dadurch man
zu der Chriſtlichen Liebe gelangen kan/ und
wie derjenige GOTT ohnmoͤglich lieben
kan/ der nicht einmahl ſeinen Bruder lie-
bet; Alſo kan derjenige ohnmoͤglich andere
Menſchen Chriſtlicher Weiſe lieben/ der nicht
einmahl dieſelbigen vernuͤnfftig liebet. Wie-
derumb werden die Wolluſt/ Ehrgierde und
Geld-Liebe unter dem Nahmen der Flei-
ſches-Luſt/ des hoffaͤrtigen Lebens/ und
der Augen-Luſt zum oͤfftern in Heiliger
Schrifft als die drey Haupt-Laſter vorgeſtel-
let.
[]Zuſchrifft.
let. Und wiewohl eher ein wolluͤſtiger
Menſch der halb truncken in eines Philoſo-
phi Auditorium,
denſelben auszuſpotten/ ge-
gangen/ durch deſſen vernuͤnfftige Lehre von
der Maͤßigkeit/ der Wolluſt abgezogen/ und
zur Weißheit gebracht worden; Alſo haben
ſich viel Wolluͤſtige zu Chriſto bekehret/ und
kamen am erſten zur Tauffe Johannis/ die
ſtoltzen Phariſaͤer waren die letzten/ und
glaubten die wenigſten unter ihnen an dem
Heyland/ ſo gar daß er ſelbſt denen Hurern
und Ehebrechern das Reich GOttes eher
verſpricht/ als denen Ehrgeitzigen Phari-
ſaͤern. So wird auch endlich der Geitz eine
Wurtzel alles Ubels genennet/ und ausdruͤck-
lich gemeldet/ daß es leichter ſey/ daß ein
Cameel durch ein Nadeloͤhr gehe/ denn daß
ein Reicher/ der nemlich das Hertz an das
Reichthum haͤngt/ in das Reich Gottes
komme/ und an einem ander Orthe wird
abermahls unter dem Gleichniß von Auge
gemeldet/ daß wenn das Auge ein Schalck
ſey/ auch der gantze Leib finſter ſey/ welches
nicht unfoͤrmlich auff den Geitz appliciret
wird/ weil derſelbe/ wie gedacht/ durch die
a 4Augen-
[]Unterthaͤnigſte
Augen-Luſt pfleget angedeutet zu werden.
So wenig aber als man Exempel von ſol-
chen Menſchen antrifft/ die die vernuͤnfftige
Liebe in einem ſehr hohen Grad beſitzen/ ſon-
dern mehrentheils bey denen Tugendhafften
viel Schwachheiten von Wolluſt/ Ehrgier-
de und Geld-Liebe mit unterlauffen; ſo we-
nig koͤnnen wir auch ſagen/ daß die drey
Haupt-Laſter/ ob ſie gleich viel oͤffter in einem
hohen Grad angetroffen werden als die ver-
nuͤnfftige Liebe/ jedes fuͤr ſich alleine ſey/ ſon-
dern es ſind dieſelbigen gleichfalls mit denen
andern Haupt-Gemuͤths-Neigungen ver-
miſcht/ jedoch ſolcher geſtalt/ daß allezeit ei-
ne von dieſen dreyen fuͤr denen andern Affe-
cten,
mit denen ſie vermiſcht iſt/ die Ober-
hand behaͤlt/ und ſolcher geſtalt la paſſion
dominante
pfleget genennet zu werden. Man
kan dieſes gar artig aus denen Vier Tem-
peramen
ten der Menſchen nach der Na-
tur-Kunſt ſehen. Wer ein recht Phlegma
hat/ iſt der vernuͤnfftigſte Menſch/ und muß
nothwendig auch der groͤſten Gluͤckſeligkeit
und der vernuͤnfftigen Liebe faͤhig ſeyn.
Dieſem Temperament iſt ein Sang vineus
am
[]Zuſchrifft.
am naͤheſten/ bey deme die Wolluſt die o-
berſte Gemuͤths-Neigung iſt. Ein Chole-
ricus
iſt ſchon weiter von dem Phlegma ent-
fernet/ und bey demſelben raget die Ehr-
gierde uͤber die andern Affecten empor. Die
Melancholici, gleich wie ſie die wunder-
lichſten ſind; Alſo iſt der ſtaͤrckeſte Trieb bey
ihnen zu der Geld-Liebe. Ja es iſt gantz
leichte die Eintheilung des Guten in bonum
honeſtum, jucundum \& utile,
wenn man
nach Anleitung deſſen/ was ich in dem erſten
Hauptſtuͤck dieſer meiner Sitten-Lehre erin-
nert/ das bonum Decorum darzu ſetzet/ nach
denen vier Haupt-Paſſionen/ und denen itzt-
beſagten vier Temperamenten einzutheilen.
Ein Phlegmaticus iſt ein rechter honnét
homme,
und trachtet in allen der wah-
ren Tugend-Ehre/
ob er ſchon von dem
groͤſten Hauffen der Welt nicht ſonderlich
hoch/ ſondern wohl gar verachtet wird. Ein
Sangvineus macht von dem bono jucun-
do
den groͤſten Staat. Ein Cholericus
hat mit dem Decoro am meiſten zu thun.
Und endlich ein Melancholicus ſtrebet nach
dem bono utili. Gleich wie aber in der
a 5Mah-
[]Unterthaͤnigſte
Mahler-Kunſt nur fuͤnff Haupt-Farben ſeyn/
Weiß/ Gelb/ Roth/ Blau und Schwartz/
aus derer Vermiſchung alle die andern Far-
ben entſtehen/ die wegen den unzehlichen
Grade der Vermiſchung auch unzehlich ſind;
Alſo entſtehen auch aus denen unterſchiedenen
Graden der Vermiſchung derer vier Haupt-
Gemuͤths-Neigungen unzehliche Tempera-
mente,
die ein Menſch/ der die Welt recht
kennen/ und ſeine Politique recht veꝛſtehen wil/
nothwendig begreiffen muß/ wenn er anders
die Gemuͤther recht erforſchen/ und die Capa-
ci
taͤt der Menſchen erlernen wil. Denn bald
findet man einen Menſchen der viel Wolluſt
beſitzet/ die mit der Ehrgierde nach Gele-
genheit derer Individuorum bald in einem
wenigen/ bald in einem hoͤhern Gꝛad vermiſcht/
iſt. Bald findet man einen Ehrgierigen/
beydeme man eine merckliche Vermiſchung
entweder der Wolluſt oder der Geldgierde
antrifft. Die Geldgierde und Wolluſt laſ-
ſen
ſich am unfoͤrmlichſten zuſammen vermi-
ſchen/ und wo man ja dieſelben/ welches doch
ſehr ſelten geſchicht/ in einem hohen Grad
beyſammen antrifft/ ſo entſtehet alsdenn ein
ſolch
[]Zuſchrifft.
ſolch laͤcherlich Temperament daraus/ daß
man erſchrickt/ wenn man die andern Neben-
Affecten, die aus dieſer Vermiſchung entſte-
hen/ und nicht anders als widerwaͤrtig ſeyn
koͤnnen/ betrachtet. Weswegen auch die Sa-
tyrici
und Comoͤdien-Schreiber/ wenn ſie
ein laͤcherlich Poſſen-Gpiel vorſtellen wollen/
gemeiniglich einen alten Mann der verliebt
iſt/ auffuͤhren/ weil das Alter insgemein
geitzig/ und ihre Liebe mehr wolluͤſtig als ver-
nuͤnfftig iſt/ maſſen dann die Comoͤdie des
Moliere, die er von dem Geitzigen gemacht/
bey nahe die allerlaͤcherlichſte iſt. Wiewohl
meines Erachtens die Thorheit ſo aus dieſer
Vermiſchung entſtehet/ viel deutlicher unter
der Perſon eines jungen wolluͤſtigen Kerls ab-
gemahlet werden koͤnte. Was die vernuͤnff-
tige Liebe
anlanget/ ſo iſt dieſelbige mehren-
theils entweder mit der Liebe zur weltlichen
Luſt/
oder mit dem Ehrgeitz vermenget/
aber mit dem Geld-Geitz hat ſie gar nichts zu
thun/ weil derſelbe von ihr noch vielmehr ent-
fernet iſt als die Wolluſt/ ob ſie ſchon dann
und wann das Geld ein wenig liebet. Und
paßiret dannenhero in dieſer Unvollkommen-
heit
[]Unterthaͤnigſte
heit da man nicht alles zur Perfection brin-
gen kan/ derſelbe durchgehends fuͤr einen hon-
nét homme,
der ſeiner Affecten am meiſten
Meiſter iſt/ welcher ein luſtiges und Ehrgie-
riges
Temperament in einem gleichen Gꝛad
beſitzet. Denn ein ſolcher Menſch ſchickt ſich
zum Ernſt und Freude am beſten. Die Ehr-
gierde haͤlt ihn insgemein zuruͤcke/ daß er
nicht unvernuͤnfftiger Weiſe in denen Wolluͤ-
ſten verfaͤllet/ und ſich fuͤr der Welt proſtitui-
ret. Wiedrumb ſo haͤlt ihn die aus dem Tem-
perament
der Lufft herruͤhrende Aufrichtig-
keit und Barmhertzigkeit ab/ daß er ſich in dem
Ehrgeitz nicht allzuweit verſteiget/ ſondern
durch dieſelbige ſeine Ehrgierde daͤmpffet/ daß
ſie andern Menſchen nicht zu Schaden/ fon-
dern vielmehr zu Dienſte gereichet. Ja es
bezeuget es die taͤgliche Erfahrung/ daß ein
ſolcher Menſch/ wenn er die Schwachheiten
und Eitelkeiten der Jugend uͤberwunden/
entweder in ſeinem Maͤnnlichen oder hohen
Alter ſich ein rechtes Phlegma erwirbet/ und
die vernuͤnfftige Liebe am meiſten erlanget.
Unter denen Heyden ſcheinet Alcibiades mit
einem ſolchẽ Temperament begabet geweſen
zu
[]Zuſchrifft.
zu ſeyn/ und werde ich wenig irren/ wenn
ich ſage/ daß der Weiſeſte unter denen Koͤni-
gen Salomo eine dergleichen Leibes-Miſchung
gehabt/ wovon faſt alle Umbſtaͤnde ſeines Le-
bens/ welche die heilige Buͤcher beſchrieben/
Zeugniß geben koͤnnen/ als die alle dahin zie-
len/ daß man aus denenſelben lauter Ehre
und Liebe
abmercken kan. Ja es ſind end-
lich ſolche Gemuͤther am geſchickteſten von
der wahren Sitten-Lehre und vernuͤnffti-
gen Liebe zu Urtheilen/ da hingegentheil ein
gantz wolluͤſtiges Gemuͤthe zwar die Wahr-
heit der Lehr-Saͤtze der vernuͤnfftigen Liebe bal-
de begreiffen/ aber wenn ſie nicht mit Ehr-
gierde temperiret ſind/ die Praxin dererſelben
bey nahe fuͤr unmoͤglich halten. Ein Ehr-
geitziger
hingegentheil findet ſchon bey der Er-
kaͤntniß der veꝛnuͤnfftigen Liebe mehr Scrupel,
und hat die groͤſten Schwierigkeiten/ ſich eine
rechtſchaffene Idee von der Tugend zu machen.
Und ein Geldgeitziger endlich/ gleich wie er
vernuͤnfftigen Menſchen am irrraiſonnable-
ſten vorkoͤm̃t; Alſo ſcheinet ihm alles/ was von
der Tugend und der vernuͤnfftigen Liebe geſagt
wird/ laͤcherlich; Ja er kan ſich nicht ruͤhmen/
daß
[]Unterthaͤnigſte
daß er nur den unterſten Grad derſelben ſie zu
practiciren ſich angewoͤhnen koͤnne.


Wann ich demnach nach der Gewohnheit
derer Scribenten mir fuͤrgenommen/ dieſe
meine Sitten-Lehre der Cenſur eines honnét
homme
durch eine Zueiguns-Schrifft zu
unterwerffen; Habe ich dafuͤr gehalten/ we-
der etwas tummkuͤhnes noch unvernuͤnfftiges
zu begehen/ wann fuͤr Ewrer Hoch-
Fuͤrſtlichen Durchlauchtigkeit
ich
dieſelbe in unterthaͤnigſten Gehorſam nieder-
legte. Denn zu geſchweigen der vielfaͤltigen
Hoch-Fuͤrſtlichen Gnaden/ mit denen
Ewre Hoch-Fuͤrſtliche Durch-
lauchtigkeit
mich bishero unverdienet uͤ-
berhaͤuffet/ und uͤber dieſes Seiner
Chur-Fuͤrſtlichen Durchlauchtig-
keit zu Brandenburg
maͤchtigen Schutz
wider meine Verfolger durch Dero hoch-
guͤltige Recommendation mir zu wege ge-
bracht: So haben die ungemeinen Tugenden/
die Ewre Hoch-Fuͤrſtliche Durch-
lauchtigkeit
als ihr beſtes Eigenthumb
beſitzen/ mir ſolches Unterfangen gleichſam
anbe-
[]Zuſchrifft.
anbefohlen. Sie ſind alſo beſchaffen/ daß
Sie daß Lob einer Privat-Perſon/ wie ich
bin/ uͤberſteigen/ und mein Temperament
iſt am wenigſten geſchickt jemand einen Pane-
gyricum
zu machen; Jedoch wird jederman/
dem die Gnade wiederfahren/ Ewre
Hoch-Fuͤrſtliche Durchlauchtigkeit

zu kennen/ oder Sie nur zu ſeben/ mich von
aller Schmeicheley loß ſprechen/ wenn ich
ſage/ daß Ewrer Hoch-Fuͤrſtlichen
Durchlauchtigkeit
gantzes Leben aus
Ehre und Liebe zuſammen geſetzet ſey. Die
Freundligkeit/ mit welcher Ewre Hoch-
Fuͤrſtliche Durchlauchtigkeit
jeder-
man begegnen/ den Sie Jhrer Anrede wuͤr-
digen/ ziehet aller Hertzen an ſich/ dieſelbige
zu lieben/ und die aus Dero Augen hervor
leuchtende ernſthaffte Großmuth/ vermiſchet
dieſe Liebe mit einer unterthaͤnigen Ehrfurcht/
und Vertrauens-vollen Reſpect.


So nehmen dann Ewre Hoch-
Fuͤrſtliche Durchlauchtigkeit
dieſe oͤf-
fentliche Bezeugung meiner unterthaͤnigſten
Liebe und Hochachtung in Gnaden an/ und
laſſen
[]Unterthaͤnigſte Zuſchrifft.
laſſen Dero Hoch-Fuͤrſtliche Gnade und
Hulde mich noch ferner weit genieſſen/ als
worumb ich in unterthaͤnigſten Gehorſam bit-
te/ und Lebenslang verharre


Ewrer Hoch-Fuͤrſtl.
Durchl.


Halle
den 16. Aprilis
1692.
Unterthaͤnigſter
Gehorſamſter
Chriſtian Thomas.



[]

Vorrede.


I.


MAn pfleget insgemein in
denen Vorreden von
dem Abſehen und Jnn-
halt eines Buchs zu di-
ſcuri
ren. Dieweil aber dieſes all-
bereit von mir in unterſchiedenen
Programmatibus geſchehen/ auch
die fuͤr jedem Capitel vorgeſetzte
Summaria dem Leſer in Kuͤrtze den
gantzen Jnnhalt der Sitten Lehre
vorſtellen; Als wil ich nur etwas
weniges noch eꝛinnern wegen der un-
terſchiedenen Judiciorum die von
dieſer meiner Lehr-Art und von der
Idee der vernuͤnfftigen Liebe gefaͤllet
bwer-
[]Vorrede
werden moͤchten. Es werden we-
nig Moraliſten ſeyn/ die die Morale
nicht nach dem Catalogo derer II.
Ariſtoteli
ſchen Tugenden eingerich-
tet haͤtten/ von der ihrer Unvollkom-
menheit ich anderswo ausfuͤhrlich
gehandelt. Wiewohl ich nun mich
in geringſten fuͤr denen Anbetern des
Alterthums nicht fuͤrchte/ weñ gleich
meine Lehr-Art gantz neu waͤre; ſo
iſt ſie doch auch beſchaffen/ daß
man mich hierinnen entweder gantz
und gar einer Neuerung/ oder daß
ich dieſelbe einem andern gantz abge-
borget/ nicht wird beſchuldigen koͤn-
nen. Geulinx hat ſich ſchon in ſei-
ner Ethic umb die Ariſtoteliſchen
Tugenden nicht bekuͤmmert/ und in
Teutſchland haben etliche Profeſſo-
res
auff einer beruͤhmten Univerſitaͤt
die Liebe in ihren Sitten-Lehren zum
Grunde geleget. Zu geſchweigen
derer
[]Vorrede.
derer jenigen von denen Ariſtotelicis
ſelbſt/ die ex fontibus Amicitiæ die
Pflichten und Verbindlichkeiten des
menſchlichen Geſchlechts hergefuͤh-
ret haben. Jedoch wird man gar
leichte befinden/ wenn man meine
Sitten-Lehre gegen dieſe Autores
halten wird/ daß ich ohne Ruhm
und Eitelkeit dieſes Buch fuͤr das
meinige ausgeben koͤnne/ und daß
zwiſchen ihrer Lehr-Art und der mei-
nigen ein groſſer Unterſcheid ſey.


2. Den Concept betreffend/ den
ich durchgehends von der vernuͤnff-
tigen Liebe gemacht/ ſo wil ich nicht
prætendiren/ daß derſelbe allen
Menſchen oder vielen gefallen ſolte/
denn ſonſten waͤre es eine Anzei-
gung/ daß ich ihn nicht nach den Re-
geln der Weißheit eingerichtet haͤtte;
So wil ich mir auch die Muͤhe nicht
machen/ alle Cenſuren die man daruͤ-
b 2ber
[]Vorrede.
ber machen wird/ zu beantworten;
(Denn man muß die Leute reden/ und
zuweilen auch calumniren laſſen;)
ſondern ich wil nur erinnern/ was
fuͤr Sorten Leute ich fuͤr capabel hal-
te von dieſer Sitten-Lehre zu urthei-
len/ und wegen der zwey fuͤrnehmſten
Cenſuren ſo etwan gefaͤllet werden
moͤchten/ etwas anmercken. Es
ſind dreyerley Art Leute in der Welt:
Unvernuͤnfftige Menſchen oder Be-
ſtien,
Menſchen oder weiſe Tugend-
haffte Leute/ und endlich gottſeelige
Chriſten. Was die erſte betrifft/
ſo ſtecken die meiſten Menſchen noch
leider in der Beſtialitaͤt/ wiewohl ei-
ner mehr als der andere/ und iſt eben
dieſe meine Sitten-Lehre fuͤr dieſelbi-
gen geſchrieben/ ſie aus dieſem elen-
den Stande heraus zu reiſſen/ und
ihnen die Gluͤckſeeligkeit der ver-
nuͤnfftigen Liebe/ die ſie erſt zu rechten
Men-
[]Vorrede.
Menſchen machen wuͤꝛde/ abzumah-
len. Sind nun ſolche Leute noch
jung und brauchen Information, ſo
ſind ſie ohne dem noch nicht allzuge-
ſchickt Cenſuren uͤber Buͤcher zu ma-
chen/ ſondern ſollen ſich vielmehr be-
fleißigen/ alles das was ſie nicht ir-
raiſonnabel
befinden/ mit Danck an-
zunehmen/ ob es ſchon nicht nach ih-
rem gout iſt/ denn ſie koͤnnen ſich gar
leicht einbilden/ daß ſie noch mehren-
theils einen verderbten Geſchmack
haben. Sind ſie aber bey Jahren/
ſo werden ſie zwar ſehr wohl thun/
wenn ſie meine Sitten-Lehre ungele-
ſen laſſen/ indem ich ſie nicht vor ſie
geſchrieben/ und wohl weiß/ daß es
Menſchen Vermoͤgen uͤbertrifft ei-
nen alten Kerl/ der noch eine Beſtie
iſt/ aus dieſen Stand heraus zu reiſ-
ſen. Leſen ſie ſie aber/ und wollen
dieſelbe als was chimeriques duꝛch-
b 3ziehen/
[]Vorrede.
ziehen/ ſo ſtehet es ihnen auch frey/
und werde ich mich daruͤber nicht
moviren/ weil mir alle ihre Judicia
vorkommen werden wie trunckener
Leute. Denn wie wolte eine Beſtie
die Empfindlichkeit und reflexion
eines Menſchen haben? Derohal-
ben ſehe ich allbereit zuvor/ daß un-
ter allen Staͤnden die meiſten von
denen/ die mein Buch leſen werden/
ſagen werden/ es ſey keine vernuͤnff-
tige Liebe in der Welt wie ich be-
ſchrieben/ ſondern man muͤſſe ſelbi-
ge in dem zukuͤnfftigen Leben erwar-
ten; und haͤtte ich dannenhero un-
weißlich gethan/ der Jugend von ei-
ner zeitlichen Gluͤckſeligkeit fuͤrzu-
ſchwatzen/ die doch zu erhalten nicht
moͤglich waͤre. Aber ich bitte alle
diejenigen/ daß ſie ſich doch nur alle
erbare Heyden und Weiſen/ als den
Seneca, Cicero, Pomponius Atti-
cus,
[]Vorrede.
cus, Agricola u. ſ. w. vor Augen
ſtellen/ und aus derer Lebens-Be-
ſchreibung oder Schrifften erken-
nen/ daß dieſe allerdings die ver-
nuͤnfftige Liebe/ wo nicht in ihrer
Vollkommenheit/ doch in einem
mercklichen Grad geſchmeckt und
beſeſſen haben. Und iſt leider zu er-
barmen/ daß wir Chriſten heiſſen/
und noch nicht einmahl die Menſch-
heit erreichet haben; und daß unter
denen/ die unter uns denen andern
ein Exempel eines Chriſtlichen Le-
bens geben ſolten/ die meiſten nicht
alleine wie die Beſtien leben/ ſondern
auch die armen Einfaͤltigen und Ler-
nenden auff ihr eigen Exempel wei-
ſen/ ſich nach demſelben einen Con-
cept
der Tugend zu machen/ da doch
ihre Hertzen Tempel der Wolluſt/ des
Ehr- und Geld-Geitzes ſind. Sol-
cher geſtalt aber bildet man ſich
b 4durch
[]Vorrede.
durchgehends ein/ derſelbige ſey ein
tugendhaffter ehrlicher Mann/ der
keine ſolche Laſter begehe/ die der
Hencker und Obrigkeit beſtraffe/
wenn er gleich ſonſt neydiſch/ grau-
ſam/ betrieglich/ ſtoltz/ unbarmher-
tzig und ſo weiter ſey. Dieſes ſeyen
menſchliche Schwachheiten/ die kein
Menſch in dieſer Welt/ ja nicht ein-
mahl ein Chriſt loß werden koͤnne.
Und wer ſich einbilde oder die Ju-
gend anders lehre/ und zu einen Tu-
gendhafften Leben anmahnen wolle/
ſey ein Fantaſte oder Heuchler. So
offenbarlich aber als der groſſe hauf-
fen ſolcher Chriſten duͤrch die Hey-
den beſchaͤmet wird/ und ſeine Vie-
hiſch heit durch ſolche Lehre ſehen laͤſ-
ſet/ ſo wenig haben wir ſolcher Be-
ſtien
ihre Cenſuren zu fuͤrchten.


3. GOtt ſey Danck/ daß wir noch
unter Menſchen/ ja unter wahren
Chri-
[]Vorrede.
Chꝛiſten leben/ ob gleich derer Anzahl
ſehr wenig und geringe iſt. Beyde
weꝛden gar deutlich erkennen/ daß ich
nicht zuviel von der Tugend und
wahren Liebe geſchrieben habe.
Beyde werden erkennen/ daß ich die
Vernunfft und Offenbahrung nicht
mit einander vermiſcht/ ſondern nur
in ſo weit die Tugend beſchrieben ha-
be/ als man dieſelbe vermoͤgend iſt/
durch natuͤrliche Kꝛaͤffte zu erlangen.
Derowegen werden ſich auch junge
Leute und andere/ die GOttes Guͤte
alsbald aus der Beſtialitaͤt in den
Stand des Chriſtenthumbs ge-
bracht/ nicht aͤrgern/ wenn ſie finden
werden/ daß ich in Beſchreibung der
vernuͤ fftigen Liebe nach ihrer Mey-
nung vielleicht noch zu wenig geſagt/
und ſolche Dinge fuͤr Tugendhafft
und vollkommen auszugeben/ die in
Betrachtung der Chriſtlichen Liebe
b 5und
[]Vorrede.
und der Verlaͤugnung ſeiner ſelbſt fuͤr lau-
ter Unvollkommenheiten und Maͤngel
gerechnet werden muͤſſen. Jhr Aerger-
niß wird bald auffhoͤren/ wenn ſie betrach-
tet werden/ daß ich mir nicht fuͤrgenom-
men/ meine Zuhoͤrer zu Chriſten/ ſondern
zu Menſchen zu machen. Mein Beruff
gehet nicht weiter/ und ich gebe mich in dem
Chriſtenthum ſelbſt noch fuͤr einen Schuͤ-
ler/ nicht aber fuͤr einen Lehrer aus.
Verleyhet mir aber GOtt Leben/ Geſund-
heit und Kraͤffte/ ſo bin ich geſonnen/ wenn
ich meine Philoſophie werde abſolviret
haben/ in einem beſondern Tractat zu zei-
gen/ daß ich in meinen Philoſophiſchen
Schrifften durchgehends nichts anders
gelehret/ als was mit der Heil. Schrifft/
wenn ſie von der Philoſophiſchen Weiß-
heit und Tugend redet/ uͤbereinkommet/
und wie der Mangel und die Unvollkom-
menheit der ſich bey der natuͤrlichen Weiß-
heit und Philoſophiſchen Tugend befin-
det/ aus der Goͤttlichen Weißheit wahrer
Chriſten ſuppliret werden muͤſſe. Mit
einem Worte: Daß die wahre Philoſo-
phie
zwar eine Manuduction und Anfuͤh-
rung
[]Vorrede.
rung zur Gottes Gelahrheit ſeyn muͤſſe/
aber an und fuͤr ſich ſelbſt unvermoͤgend
ſey die Gottes-Gelahrheit zu erlangen.


4. Jm uͤbrigen entſinne ich mich gar
wohl/ was ich an vergangener Leipziger
Weyhnachts-Meſſe von der Wiſſenſchafft
der Menſchen Gemuͤther und Gedancken
zu erforſchen/ oͤffentlich verſprochen habe/
und weꝛde nicht ermangeln/ zu ſeiner Zeit/
ſo GOtt wil/ dieſe Wiſſenſchafft heraus zu
geben. Die Sitten-Lehre muß der Grund
derſelben ſeyn/ in welcher ein Menſch erſt
ſich ſelbſt kennen muß/ ehe er andere Leute
wil kennen lernen/ und wird ſonderlich
die Ausuͤbung der Sitten-Lehre/
oder die Artzney-Mittel wider die
unvernuͤnfftige Liebe
zeigen/ was man
fuͤr gegꝛuͤndete Axiomata in dieſem Stuͤck
von mir zu hoffen habe/ wiewol auch ſchon
dasjenige/ was ich in gegenwaͤrtiger Ein-
leitung zu deꝛ Sitten-Lehꝛe in dem Capitel
von der abſonderlichen Liebe ihren unter-
ſchiedenen Graden hin und wieder fuͤr An-
merckungen eingeſtreuet/ ſo wohl auch
was ich in der unter thaͤnigſten Zuſchrifft
allhier von denen vier Haupt-Paſſionen
uͤber
[]Vorrede.
uͤberhaupt diſcuriret/ einem unpartheyi-
ſchen gnugſam den Grund meiner Leh-
re in etwas zeigen wird. Jch habe zwar
unlaͤngſt alle Gelehrten provociret/ daß
wenn ſie mir des von mir deswegen getha-
nen Voꝛſchlags halber etwas zu ſagen haͤt-
ten/ und die daſelbſt von mir aufgegebenen
Problemata gegruͤndet reſolviren wuͤr-
den/ ich mich alsdenn fuͤr ſchuldig halten
wolte/ ihre Dubia zu beantworten. Nun
haͤtte ich mich veꝛſehen/ daferne ſich jemand
in dieſem Stuͤcke an mich machen wolte/
es zum wenigſten ein Mann ſeyn wuͤrde/
der in Philoſophia Morali einige Funda-
menta
geleget/ habe aber mit nicht gerin-
ger Ver wunderung erfahren muͤſſen/
nachdem man mir fuͤr wenig Tagen den
Monat Martium von denen curiöſen
Monats Unterredungen aus Leipzig zu-
geſendet/ daß es dem Verfertiger der-
ſelben gefallen/ auch in dieſem Stuͤck ſich
an mir zu reiben/ und meinen Vorſchlag
zwar haͤmiſch/ aber dabey auch albern
genug durchzuziehen, Jch habe bishero
mit groſſer Gedult von ihm vertragen/
wenn er ſonderlich bey Anfang dieſer ſeiner
Mo-
[]Vorrede.
Monats Unterredungen/ und ſonſten hin
und wieder in denenſelben mich grob ge-
nung/ und zuweilen dergeſtalt tractiret/
daß es ein Thuͤringiſcher Bauer nicht
haͤrter machen koͤnnen. Ja ich habe mich
nichtgereget/ ob er ſchon ſeinen Unterre-
dungen einen offenbahren Paßquill wie-
der mich einverleibet/ und denſelben
zu meiner mehrern Beſchimpffung ſei-
ner Intention auch in das Teutſche
uͤberſetzet. Und haͤtte dannenhero mich
verſehen/ durch dieſe meine Gedult ihn
zum wenigſten dahin zu diſponiren/ daß
er in denen Dingen/ davon er gantz kei-
nen Verſtand hat/ ſich mit ſeinem einfaͤl-
tigen Judicio fuͤr der vernuͤnfftigen Welt
nicht ferner proſtituiren ſolte; maſſen
denn ſeine Unterredungen insgeſamt be-
zeugen/ daß er zwar ein Mann ſey/ der
viel Buͤcher geleſen/ und der in hiſtoricis
und antiquitate des ihm gehoͤrigen
Ruhms nicht zu berauben iſt; aber der
hierbey in Philoſophia reali ſo wol Theo-
logica
als Practica das allerwenigſte ver-
ſtehe und gelernet habe/ ſondern wenn er
darauff faͤllt/ nicht anders als ein offen-
bahrer
[]Vorrede.
bahrer Sophiſte raiſonnire/ und ſeine Un-
wiſſenheit fuͤr jedermans Augen lege. Jch
ſehe aber wohl/ daß die Gedult nicht alle-
mahl zulaͤnglich ſey/ einen Menſchen der
von einer eingebildeten Weißheit auffge-
blaſen iſt/ in ſeinen Schrancken zu halten/
und befinde mich dannenhero genoͤthiget/
auff ein Mittel bedacht zu ſeyn/ durch wel-
ches ihm der Kuͤtzel ein wenig vertrieben
werde/ ohne daß ich mich genoͤthiget befin-
de/ meinen ordentlichen Verrichtungen
etwas abzubrechen/ und mich mit ihme
und ſeines gleichen in unnoͤthige Streit-
Schrifften einzulaſſen. Solchergeſtalt
aber wird es wohl am beſten ſeyn/ daß ich
einen von meinen Auditoribus, der nur ein
wenig meine Vernunfft-Lehre begriffen/
aufftrage/ dieſen ſeinen Monat Martium
gegruͤndet zu beantworten/ damit er ſich
nicht ferner wie bishero geſchehen/ weiſe
duͤncke/ und die jenigen/ ſo allbereit uͤber
ſeine elenden Cenſuren gefrolocket/ erken-
nen moͤgen/ daß ihre Freude unzeitig/ und
ohne Grund geweſen. Dieſer ſol ihm mit
Gottes Huͤlffe aus ſeinen eigenen Unter-
redungen beweiſen/ daß alles/ was ich bis-
hero
[]Vorrede.
hero von ihm geredet/ wahr/ und nicht aus
Affecten von mir geſchrieben ſey. Er ſoll
ihm weiſen/ daß er in ſeinen Dubiis und
Cenſuren/ die er in dem Martio von
mir gefaͤllet/ ſolche Sophiſtereyen und
Schnitzer wider die Logic begangen/ daß
wenn es einer von ſeinen Schuͤlern ge-
than/ er nach der in denen Trivial-Schu-
len gebraͤuchlichen Weiſe verdienet haͤtte/
ex prima claſſe in Secundam oder Ter-
tiam promovi
ret zu werden. Er ſol ihm
ſattſam darthun/ daß er die von mir auf-
gegebenen problemata laͤppiſch und ohne
Raiſon reſolviret; Jedoch wird der Herr
Magiſter ſo gut ſeyn/ und ſich gedulden/
wenn mein Auditor nicht alſofort dieſe
Beantwoꝛtung heraus geben wird; Deñ
es iſt nicht noͤthig/ daß er uͤber dieſe Baga-
tellen
ſeinen ordendlichen Stunden die er
zum ſtudiren gewidmet/ abbreche/ ſondern
es wird genung ſeyn/ wenn er hierzu die
Stunden/ die andere junge Leute ſonſten
zu andern Ergoͤtzungen anzuwenden pfle-
gen/ employren wird. Zum wenigſten
hoffe ich/ es ſolle dieſe Beantwortung wo
nicht ehe/ doch auff kuͤnfftige Michaelis
Meſſe
[]Vorrede.
Meſſe fertig ſeyn. Sat citò ſi ſat bene.
Der Herr Magiſter kan indeſſen durch
Auffſchlagung ſeines Vademecum und
libellorum Syllogiſticorum ſich gleicher-
geſtalt auff dieſe Beantwortung deſto-
beſſer præpariren/ und von ſeinen Corre-
ſponden
ten ſubſidia einholen/ wie er
ſeine Sophiſtereyen deſto beſſer verthey-
digen/ und die von mir auffgebene Pro-
blemata
anders und beſſer als geſchehen
reſolviren oder kuͤnfftig ſtille ſchweigen
moͤge/ als worzu ich ihn freundlich und
aus guter Meinung vermahnet
haben wil.



Der
[1]

Der
Sitten-Lehre
Erſtes Hauptſtuͤck.
Von der Gelahrheit das
Gute und Boͤſe zuerkennen
uͤberhaupt.


Jnnhalt.


  • Connexion mit der Vernunfft-Lekre n. 1. Unterſcheid
    zwiſchen den Wahren und Guten/ Falſchen und Boͤ-
    ſen n. 2-11. Beſchrelbung des Guten und Boͤſen uͤber-
    haupt n. 6. Hieher gehoͤret abſonderlich das Gute
    und Boͤſe des Menſchen n. 9. und zwar das wahrhaff-
    tig Gute/ welches dem Schein-Gut entgegen geſetzet
    wird n. 12. Was dem Menſchen gut oder boͤſe iſt/ iſt
    entweder an ihm oder anſſer ihm n. 13. Was zwiſchen
    dieſen beyden Arten fuͤr ein Unterſcheid ſey n. 14. 15.
    Die aͤußerlichen Dinge nennet man à potiori gut oder
    boͤſe n. 16. Was die Menſchlichen Kraͤffte
    auff eine kurtze Zeit vermehret und ſei-
    ne Dauerung verkuͤrtzet iſt boͤſe
    n. 17. 18.
    19. 20. Fuͤnff Anmerckungen die aus dieſem Lehrſatz
    Afolgen
    [2]Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit
    ſolgen n. 21-25. Groſſe Nothwendigkeit und Nutzen
    deſſelbigen n. 26. 27. 28. Junge Leute muͤßen ſich ſehr
    befleißigen auch denenſelbigen in praxi zu beobachten
    n. 29. Alle Dinge und folglich auch der Menſch werden
    von der Unvollkommenheit zur Vollkommenheit bewe-
    get/ und nehmen darnach wieder ab. n. 30. 31. Dieſe
    Bewegung hat dieſe Eigenſchafften/ daß ſie eutweder
    ſteiget und faͤllet/ auch eine gewiſſe und etwas langſame
    Proportion hat n. 32. Die von GOtt dem Menſchen
    geſetzte Dauerhafftigkeit iſt gut/ ſie kan aber auff drey-
    erley Weiſe boͤſe werden n. 33. Und unter denenſelben
    auch alſo/ wenn der Menſch ſeine Vollkommenheit gar
    zu mercklich befoͤrdert n. 34. Die Bewegung der
    menſchlichen Gliedmaſſen erfordert eine harmoniſche
    Veraͤudernug n. 35. 36. Sein Weſen beſiehet aus Leib
    und Seele n. 37. An ſeinem Leibe trifft man (1) das
    Leben an n. 38. Welches guſt iſt und alles/ mas daſſelbe
    befoͤrdert n. 39. Der Tod iſt theils gue/ theis boͤſe n. 40.
    (2) Die Bewegungs-Krafft und Sinnligkeiten/ die
    gleichfalls gut ſind/ und was ihnen entgegen geſetzet/ iſt
    boͤſe n. 41. 42. Dieſe Guͤter hat der Menſch mit denen
    Beſtien gemein n. 43. Aber durch die Vernunfft der
    Seelen wird er von ihnen entſchleden n. 44. Jnglei-
    chen durch den Willen n. 45. Welche wiederum und
    was dieſelben befoͤrdert gut ſind n. 46. 47. Alle Din-
    ge auſſer den Menſchen beruͤhren unmittelbahr ſeine
    Sinnligkeiten/ und werden nach ihrer augenblicklichen
    Wirckung fuͤr gut oder boͤſe gehalten n. 48. 49. Nach
    dieſen beruͤhren ſie die Bewegung des Gebluͤts und die
    Gedancken/ deren Wirck[ung] aber offt ſehr entfernet
    und zukuͤnfftig iſt n. 50. 51. Alle gar zu empfind-
    liche und ſtarcke Bewegung der Sinn-
    ligkeiten iſt boͤſe
    u. ſ. w. n. 52. 53. Die mitleren
    Bewegungen ſind thells gut thells boͤſe/ n. 54. Die gu-
    ten Bewegungen werden boͤſe/ wenn ſie allzulange con-
    tinu
    [3]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.
    continuiret werden n. 55. Obiger Lehrſatz wird auch
    die Bewegung der aͤußerlichen Gliedmaſſen n. 56. in-
    gleichen auff die Bewegung des Gebluͤts n. 57. und die
    Gedancken der Menſchen appliciret n. 58. Alle Dinge
    auſſer dem Menſchen koͤnnen in drey Claſſen getheilet
    werden n. 59. (I) Unter ihm die Thiere und andere
    Creaturen. Von denenſelben hat er ſehr wenig zu
    ſeiner Erhaltung von noͤthen n. 60. 61. 62. Aber die
    meiſten Dinge koͤnnen dem Menſchen auff vielfaͤltige
    Weiſe ſchaden n. 63. Jedoch ſind die Creaturen mehr
    gut als boͤſe n. 64. (II) Neben ihm andere Menſchen.
    Ohne dieſe waͤre der Menſch hoͤchſt-elende n. 65. Gleich-
    wohl kan auch ein Menſch dem andern den groͤſten
    Verdruß authun n. 66. Und im Gegentheil ihm auch
    am beſten nutzen n. 67. Und alſo gehoret mit unter die
    guten Dinge n. 68. Freundſchafft und Liebe n. 69.
    Woraus ſie entſtehet n. 70. Jngleichen die Freyheit
    n. 71. Ehrbegierde n. 72-75. Geldbegierde n. 76. 77.
    78. Jngleichen das Decorum und die Schamhafftig-
    keit/ ob ſie fuͤr gut oder hoͤſe zu achten n. 70. (III) U-
    ber ihm GOtt/ welcher unter allen Gnten billig oben-
    an ſiebet n. 81. 82. 83. Tugend/ Gelahrheit und Er-
    kaͤutniß ſeiner ſelbſt ſind was gutes n. 84. 85. 86. Die
    Guͤter der Seelen/ des Leibes und des Gluͤcks n. 87. 88.
    Was an dieſer Eint heilung der menſchlichen Guͤter zu
    tadeln n. 89. 90. Das ehrbare/ nuͤtzliche und beluſii-
    gende Gut/ ſind bey dem wahrhafftigen Gute allezeit
    vereiniget n. 91. 92. Und wird nur in Anſehen ſeines
    Uhrſprungs ehrbahr n. 93. in Anſehen ſeiner Gegen-
    waͤrtigkeit beluſtigend n. 94. und in Betrachtung ſel-
    uer Wirckung nuͤtzlich genennet n. 95. Daß man ſich
    an vergangeuen und zukuͤnfftigen Dingen eigentlich
    nicht beluſtige n. 96. 97. 98. Worumb man insgemein
    dieſe dreyerley Guͤter anders erklaͤret n. 99. Ob man
    das ehrbahre und beinſtigende Gut wegen ſein ſelbſt/
    das nuͤtzliche aber allein wegen eines andern verlange
    A 2n. 100.
    [4]Das 1. Huptſt. von der Gelahrheit
    n. 100. Ob wir das Beluſtigende durch einen mit den
    Thieren gemeinen Appetit verlangen n. 101. 102. Daß
    die maͤßigen Beluſtigungen der Sinnligkeiten und alle
    Beluſtigungen der Seelen wahrhafftige Beluſtigun-
    gen ſeyn n. 103. 104. Von denen Exempeln/ die man
    insgemein giebt/ darzuthun/ daß das ehrbare/ nuͤtzliche
    und beluſtigende Gut von einander entſchieden ſeyn
    koͤnne n. 105. z. e. Stehlen/ Huren/ Freſſen und Sauf-
    fen n. 106. Bittere Artzeney brauchen/ ſich von La-
    ſtern entwehnen n. 107. Sein Leben fuͤr ſein Vater-
    land wagen n. 108. Wohin das Decorum zurechnen
    ſey n. 109. Andere Eintheilungen des Guten und
    Boͤſen nach ſeinen unterſchiedenen Graden n. 110. Der
    Menſch lebet entweder in ſeinen ordentlichen und ua-
    tuͤrlichen n. 111. 112. oder in auſſer ordendlichen Zuſtand
    n. 11. Nach dieſem Zuſtand wird das Boͤſe und Gute
    auch entweder ordentlich oder auſſer-ordentlich n. 114.
    115. 116. Worinnen beyderley Boͤſes und Gutes mit
    einander uͤbe ein kommet n. 117. 118. Was ordentlich
    guſt iſt/ iſt auſſer-ordentlich boͤſe \& vice versâ n. 119. 120.
    121. Bonum \& malum vel poſitivum vel privativum
    n.
    122. 123. Etliche Guͤter ſind ſehr edel und nothwen-
    dig/ etliche nicht n. 124. 125. 126. Die nothwendigen
    ſind entweder neceſſaria abſolutè, oder ex hypotheſi
    n.
    127. Es gibt unmittelbare und mittelbare Guͤter
    n. 128. Das gut iſt entweder wuͤrcklich gut oder ein
    kleiner Ubel n. 129. Welche unter denen bisberigen
    Eiutheilungen die alleredelſten Guͤter ſeyn n. 130. All-
    gemeiner Jrrthumb ziehet das auſſer-ordentliche Gute
    dem ordentlichen fuͤr n. 131. 132. Und haͤlt das bonum
    poſitivum
    fuͤr edler als das privativum n. 133. Jnglei-
    chen die unnoͤthigen Guͤter hoͤher als die nothwendi-
    gen n. 134. und bekuͤmmert ſich mehr umb das kleine
    Ubel als das wuͤrckliche Gute n. 135. Was Philoſophia
    practica
    ſey n. 136. Der Unterſcheid zwiſchen der Ethic,
    Oeconomic
    und Politic n. 137. 138. 139.

1. Wir
[5]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.

1.


WJr haben zu Anfang der Ver-
nunfft-Lehre geſagt/ daß die Ge-
lahrheit eine Erkaͤntniß des Wah-
ren
und Falſchen/ Guten und Boͤ-
ſen
ſey. Weil wir demnach bisher
von der Erkaͤntniß der Wahren und Falſchen ge-
redet/ ſo viel wir vonnoͤthen zu ſeyn erachtet fuͤr-
einen Menſchen/ der ſich ad vitam civilem ge-
ſchickt machen wil; ſo muͤſſen wir nunmehro
auch zu dem andern Stuͤck der Erkaͤntniß/ nem-
lich des Guten und Boͤſen ſchreiten/ ſo viel dieſel-
be aus der geſunden Vernunfft begriffen werden
kan/ wiewohl wir hiervon etwas ausfuͤhrlicher
handeln werden/ indem ohne die ausfuͤhrliche
Erkaͤntniß des Guten und Boͤſen man im ge-
meinen buͤrgerlichen Leben gar nicht fort-
kommen kan.


2.

Wir muͤſſen aber zufoͤrderſt hier erwegen/
was fuͤr ein Unterſcheid zwiſchen dem Wahren
und Guten/ ingleichen zwiſchen dem Falſchen
und Boͤſen ſey. Denn alles Wahre ſcheinet
gut/ und alles Falſche oder aller Jrrthum boͤſe zu
ſeyn; aber insgemein ſagt man doch/ daß das
Gute und Boͤſe entweder ein warhafftiges/ oder
ein eingebildetes Gut oder Ubel ſey.


3.

Dieſes deſto beſſer zu begreiffen/ kommen
dieſe beyderley benennungen darinnen uͤberein/
daß keine auff das Weſen der Dinge an und fuͤr
ſich ſelbſt/ ſondern auff derſelben Beſchaffen-
A 3heit
[6]Das 1. Haupſt. von der Gelahrheit
heit und Gegeneinanderhaltung mit andern
zielen.


4.

Denn das Wahre haben wir beſchrieben/
daß es beſtehe aus der Ubereinſtimmung der
aͤußerlichen Dinge und des menſchlichen Ver-
ſtandes/ und das Falſche/ wenn dieſe beyde ein-
ander zuwider ſind.


5.

Gleicher weiſe heiſt das jenige uͤberhaupt
gut/ wenn zwey Dinge mit einander uͤberein
kommen/ und dasjenige heiſt uͤberhaupt boͤſe/
wenn ein Ding dem andern zuwider iſt.


6.

Mit einander uͤberein kommen heiſt all-
hier/ wenn ein Ding das andere in ſeiner
Dauerung erhaͤlt/ und deſſen Weſen und
Beſchaffenheiten vermehret.
Einander zu-
wider ſeyn heiſt/ wenn ein Ding des andern
ſeine Dauerung verkuͤrtzt/ oder deſſen We-
ſen und Beſchaffenheiten vergeringert.


7.

Und alſo iſt der erſte Unterſtheid zwiſchen
dem Wahren und Guten/ daß das Gute die
Ubereinſtimmung aller Dinge mit einander
benennet/ das Wahre aber inſonderheit die
Ubereinſtimmung anderer Dinge mit dem
menſchlichen Verſtande bemercket.


8.

Hiernechſt aber iſt wohl auſſer Zweiffel ge-
ſetzt/ daß gleich wie andere Geſchoͤpffe auſſer dem
Menſchen dasjenige/ was ihnen gut oder boͤſe iſt
nicht erkennen noch begreiffen moͤgen; alſo auch
der Menſch ſehr unvernuͤnfftig waͤre/ wenn er
ſich umb das/ was andern Creaturen gut oder
boͤſe
[7]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.
boͤſe waͤre bekuͤmmern/ und umb ſein eigenes
Gutes und
Boͤſes nicht wolte beſorget ſeyn.
Derowegen werden wir alleine von dem Guten
und Boͤſen in Anſehen des Menſchen zu handeln
haben.


9.

Das Gute des Menſchen aber iſt inſon-
derheit von dem Wahren darinnen unterſchrie-
den/ daß es in der Ubereinſtimmung anderer
Dinge mit dem gantzen Menſchen/ oder mit
allen ſeinen Theilen und Kraͤfften/ und nicht mit
dem Verſtande alleine beſtehet.


10.

Wiewohl auch unter dem Ubereinkom-
men
ein groſſer Unterſcheid iſt. Was es in der
Beſchreibung des Guten bedeute/ haben wir nur
jetzo erwehnet. Jn Beſchreibung des Wahren
heiſt es nichts mehr/ als wie wir allbereit in der
Vernunfft-Lehre erklaͤret/ daß die aͤußerlichen
Dinge von dem menſchlichen Verſtand begrif-
fen werden koͤnnen/
und iſt das Wahre eigent-
lich zu reden weder gut noch boͤſe/ ob ſchon die
Erkaͤntniß des Wahren zu dem Guten des
Menſchen gehoͤret/ weil dadurch der Verſtand
gebeſſert wird.


11.

Wiederumb iſt das Gute und Boͤſe ent-
weder warhafftig alſo beſchaffen/ wenn nem-
lich der allgemeine menſchliche Verſtand/ ſo fer-
ne er von denen Urtheilen menſchlicher Autoritaͤt
und Ubereylung geſaubert iſt ein Ding fuͤr gut
und Boͤſe erkennet/ oder aber es iſt ein Schein-
Gut oder ein Schein-Ubel/
wenn es von Leuten
A 4die
[8]Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit
die offenbahrlich in Vorurtheilen ſtecken/ dafuͤr
gehalten wird.


12.

Dannenhero und weil dieſe letztere Art
einen offenbahren Jrrthum mit ſich fuͤhret/ die
Jrrthuͤmer aber nicht zur Welt-Weißheit gehoͤ-
ren/ ſo braucht es nicht eben groſſes Erinnerns/
daß wir in Unterſuchung des Guten und Boͤſen
auf dasjenige/ was warhafftig gut und boͤſe
iſt/
unſer Abſehen zu richten haben.


13.

So ſind demnach die Dinge von denen
man fragen kan/ ob ſie in Anſehen des Men-
ſchen gut oder boͤſe ſeyn/
entweder in und an
ihm
oder auſſer ihm.


14.

Jene als zum Exempel ſein Leben/ ſein
Verſtand/ die Gliedmaſſen ſeines Leibes koͤn-
nen nicht anders als gut ſeyn/ weil ſie ihm von
GOtt gegeben ſind ſeine Dauerung zu befoͤrdern
und ſein Weſen zu erhalten. Und muß dannen-
hero entweder durch eine Bewegung von auſ-
ſen
geſchehen/ daß dieſelben aus guten boͤſe Din-
ge werden/ z. e. Wenn der Menſch wider Willen
ſehr erſchrickt/ wenn er ohne ſeine Schuld ver-
wundet wird/ u. ſ. w. Ober aber der Menſch iſt
ſelber
an ihrer Verſchlimmerung Schuld/ wenn
er ſeiner Geſundheit/ ſeiner Gliedmaſſen/ ſeines
Verſtandes/ u. ſ. w. muthwillig mißbrauchet.


15.

Alle aͤußerliche Dinge ſind an ſichſelber
dem Menſchen weder gut noch boͤſe/ ſie konnen
aber beydes werden/ wenn ſie dem Menſchlichen
Weſen durch eine Bewegung recht oder unrecht
appli-
[9]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤherhaupt.
appliciret werden/ z. e. Speiſe/ Tranck/ Gifft/
ein Dolch u. ſ. w. Und muß dannenhero der
Menſch ſein Weſen und deſſen Beſchaffen-
heit wohl erkennen/
damit er dieſe Dinge
gleichſam bey dem rechten Ende anzugreiffen
wiſſe/ und ſich nicht ſelbſten durch ſeine eigene
Schuld damit ſchade.


16.

Jedoch iſt es im gemeinen Buͤrgerlichen Le-
ben ſo herkommens/ daß man à potioridie aͤuſ-
ſerlichen Dinge
gut oder boͤſe zu nennen pfleget/
nachdem ſie mehrentheils zu des Menſchen Nu-
tzen oder Schaden koͤnnen appliciret werden/ z. e.
Speiſe und Tranck iſt was gutes/ der Gifft
was ſchaͤdliches/ u. ſ. w.


17.

So iſt auch hiernechſt in Anſehung der
Applicirung aͤufferlicher Dinge dieſer Unter-
ſcheid zu mercken/ das etliche Dinge zwar die
menſchlichen Kraͤffte zu vermehren ſcheinen/
aber dabey die Dauerung ſeiner Exiſtenz ver-
geringern/ z. e. ein gemacht Gedaͤchtniß/ allzu-
emſiges Studiren/ alle ſehr empfindliche Beluſti-
gung der Sinnen; andere aber ſeine Dauerung
natuͤrlicher Weiſe befoͤrdern/ ob ſie gleich eben
ſeine Kraͤffte nicht in einen mercklichen Grad zu
vermehren ſcheinen; als maͤßige Speiſe und
Tranck/ maͤßige Beluſtigung der Sinnen.


18.

Jene werden gemeiniglich von denen/ ſo
in Vorurtheilen ſtecken vor gute dieſe aber ent-
weder vor boͤſe/ oder doch zum wenigſten fuͤr in-
differente
Dinge gehalten/ da doch die geſunde
A 5Ver-
[10]Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit
Vernunfft weiſet/ daß allein dieſe letztern fuͤr
warhafftig gut zu achten/ jene aber vielmehr
boͤſe
als gut ſind.


19.

Denn weil alles/ was an dem gantzen Men-
ſchen iſt/ wie wir jetzo erwehnet/ gut iſt/ und weil
kein Weſen beſtehen kan/ wo keine Exiſtens
oder Daurung iſt; ſo muß nothwendig alles
dasjenige/ was die Dauerung des gantzen o-
der eines theiles als den Grund alles Guten

ruiniret/ unter boͤſe Dinge gehoͤren/ und kan
man eine augenblickliche ob wohl ſehr merckliche
Vermehrung der menſchlichen Kraͤffte ſo wenig
fuͤr etwas gutes halten/ wenn in kurtzen eine Nie-
derreiſſung oder Beraubung der Kraͤffte darauff
folget; Als wenn man einen/ der ein mittel-
maͤßiges Auskommen haͤtte/ eine Million vereh-
ren/ und wenn er nach Proportion derſelben etli-
che wenige Tage ſeinen Staat eingerichtet haͤtte/
dieſelbige nebſt ſeinen vorigen Vermoͤgen wie-
dernehmen/ und ihn an den Bettelſtab bringen/
aber dabey bereden wolte/ was man ihm fuͤr eine
Gutthat bewieſen haͤtte.


20.

Und weil demnach/ wie wir bald hoͤren
werden/ alle ſehr empfindliche Vermehrung
des menſchlichen Veꝛmoͤgens entweder der Dau-
erung des gantzen oder eines andern Vermoͤgens
einen mercklichen Abbruch thut/ ſo iſt dieſelbe or-
dentlich fuͤr boͤſe
und nicht gut zu achten.


21.

Hieraus folget nothwendig/ daß (1) alle
Dinge fuͤr gut oder boͤſe zu halten/ nach dem die
Erhal-
[11]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.
Erhaltung der Daue rung des Menſchen da-
durch erlaͤngert oder verkuͤrtzet wird.


22.

(2) Daß ein knrtzes Gute/ das mit ei-
nem dauerhafftern Ubel nothwendig oder ſehr
wahrſcheinlich vergeſellſchafftet iſt/ fuͤr boͤſe und
nicht fuͤr gut zu halten ſey/ und das Gegentheil
von einem kurtzen Ubel/ das mit einem dauer-
hafften Gute
vergeſellſchafftet iſt/ muͤſſe geſagt
werden. Und gehet es disfals nicht anders zu
als in Ausrechnung des Gewinſts und Verluſts
in einer Handlung.


23.

(3) Daß der vorige Satz dahin zu erwei-
tern ſey/ es moͤge nun das kurtze Gute oder Boͤſe
vor dem dauerhafften Boͤſen oder Guten mit
dem es vergeſellſchafftet iſt/ vorhergehen oder
daꝛauf folgen/
wie abeꝛmals duꝛch das Gleichniß
von Gewinn und Verluſt erklaͤhret werden kan.


24.

(4) Daß in Entſcheidung der unterſchie-
denen Grade des Guten und Boͤſen/ auch die-
ſelbe von der Dauerhafftigkeit derſelben herge-
nommen werden muͤſſe.


15.

(5) Daß dasjenige/ was die Dauer-
hafftigkeit einer menſchlichen Krafft
befoͤr-
dert/ am andern Theil aber eine andere noch
dauerhafftiger verringert
unter boͤſe Dinge
zu rechnen ſey/ \& vice versâ.


26.

Und hieraus erlernen wir abermahls den
Unterſcheid einns Menſchen der in præjudiciis
ſteckt/ und eines weiſen Mannes erkennen.
Was die menſchlichen Kraͤffte augenblicklich/
und
[12]Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit
und daß man es ſo zu ſagen greiffen kan/ ver-
mehret oder verringert/ das wird auch von denen
Unvernuͤnfftigſten fuͤr gut oder boͤſe gehalten:
Wo aber die Wirckung der Vermehrung oder
Verringerung nicht ſo augenſcheinlich zu ſpuͤh-
ren/ oder auff die Applicirung der aͤußerlichen
Dinge an den Menſchen langſam erfolget/ das
betrachten die Unweiſen nicht/ da hingegentheil
einer der das wahre Gute auffrichtig ſuchet/
ſich darumb eyfferig bekuͤmmert/ weil er verſpuͤh-
ret/ daß durch Unterlaſſung dieſer hochnoͤthigen
Unterſuchung dem menſchlichen Leben der groͤſte
Schade geſchiehet.


27.

Denn es gehet dißfalls faſt eben ſo zu/ wie
mit der Erkaͤntniß der Wahrheit und denen
Jrrthuͤmern. Was unmittelbahr durch die
Sinnen begriffen wird oder denenſelben zuwider
iſt/ das begꝛeiffen ja auch die jenigen die ungelehꝛt
ſeyn/ und die noch in denen Præjudiciis ſtecken/
was aber die aus unſtreitigen Warheiten herge-
leitete entfernete oder wahrſcheinliche Lehrſaͤtze
anlanget/ darzu iſt die behutſame Attention ei-
nes weiſen Mannes alleine geſchickt.


28.

Derowegen muß bald Anfangs ein junger
Menſch/ der in Erkaͤntniß des Guten und Boͤſen
was rechtſchaffenes thun wil/ dieſes was wir bis-
her demonſtriret/ als einen ohnzweiffelhafften
Grund feſte ſetzen/ daß das jenige alleine gut
ſey/ was des Menſchen Weſen und Kraͤffte
am dau erhaffteſten erhaͤlt/ und vermehret/

es
[13]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.
es moͤge nun dieſe Erhaltung und Vermeh-
rung ſich alſobald ereignen/ oder erſt eine
geraume Zeit hernach zu ſpuͤhren ſeyn/
und
daß dasjenige wuͤrcklich boͤſe ſey/ was eine dau-
erhaffte Verꝛingerung oder gaͤntzliche Austilgung
des menſchlichen Weſens und ſeiner Kraͤffte ver-
urſachet/ ob gleich dieſe Verringerung und Austil-
gung erſt eine geraume Zeit hernach ſich blicken
laͤſt/ oder eine gegenwaͤrtige augenblickliche und
ſehr empfindliche Bermehrung derſelben vorher
zu gehen ſeheinet.


29.

So leichte aber als die Warheit dieſes
Grundes zu begreiffen iſt/ umb ſo viel deſtomehr
muß ein junger Menſch beobachten/ daß er in
Applicirung deſſelbigen niemahln davon ab-
weiche/
je gewoͤhnlicher das Vortheil dem
menſchlichen Geſchlechte eingewurtzelt iſt/ daß
ſo wohl Hohen als Niedern Standes/ Gelehrt
und Ungelehrt/ Alt und Jung alleine nach ſolchen
Dingen trachtet und verlanget/ die eine gegen-
waͤrtige und merckliche Vermehrung der natuͤr-
lichen Kraͤffte nach ſich ziehen/ und in Gegentheil
fuͤr andern Dingen einen Eckel hat/ die leine dau-
erhaffte aber entfernete und nicht ſo leichte zu ſpuͤ-
rende Erhaltung des Menſchen wuͤrcken/ welches
theils von denen boͤſen und unweiſen Exempeln
derer andern Menſchen/ mit denen wir taͤglich
von Jugend auff umbgehen/ und derer Nachah-
mung zu einer andern Natur bey uns wird/ theils
aus der von Jugend auff uns anklebenden Unge-
dult
[14]Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit
dult/ unſer Verlangen ohne ſondere Muͤhe ge-
ſchwinde und mercklich zu erhalten/ herruͤhret/


30/

Wie aber dasjenige/ was wir bisher zum
Grunde geleget aus der Lehre von dem Guten
und Boͤſen uͤberhaupt/
und ſo ferne ſolches al-
le Creaturen angehet/ hergenommen iſt; Alſo
muͤſſen wir nun denen Grund-Lehren von dem
Guten und Boͤſen der Menſchen etwas naͤher
kommen/ und zufoͤrderſt aus dem/ was wir all-
bereit in der Vernunfft-Lehre/ da wir von denen
Borurtheilen geredet/ angemercket haben/ præ-
ſupponi
ren/ daß des Menſchen Natur und
Weſen von ſeiner Geburt an in der groͤſten
Unvollkommenheit ſtecke.


31.

Wie nun alle Dinge auff der Welt durch
eine ſtetswehrende Bewegung erhalten werden/
und ohne dieſelben nichts als ein veꝛwirꝛtes Chaos
ſeyn wuͤrden; Alſo beſtehet auch des Menſchen
ſeine Natur in eine dergleichen Bewegung/

der GOtt/ wie bey andern Dingen/ gewiſſes
Maß/ Ziel und Weiſe vorgeſetzet/
nach wel-
cher der Menſch aus einen unvollkommenen
Weſen in ein vollkommenes/ und von dar wie-
der bis auff ſein Alter in ein unvollkommenes
geſetzt wird.


32.

Dieſe Bewegung hat ſonderlich zweyer-
ley Eigenſchafften/ (1) Daß ſie entweder ſtei-
get
oder faͤllet/ das iſt/ daß dadurch entweder
die Dinge und alſo auch der Menſch theils in ſei-
nem gantzen Weſen/ theils in ſeinen Kraͤfften ent-
weder
[15]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.
weder zu- oder abnimmt/ und daß dannenhero
wenn ein Ding nicht mehr zunehmen kan/
es nothwendig wieder abnehmen muß.
(2)
Daß ſie eine gewiſſe und mehr langſame als
geſchwinde
Proportion, die aus vielfaͤltigen
kleinen Graden beſtehet/ beobachtet/ wie etwan
in einem Uhrwerck die Bewegung deſſelbigen in
gewiſſe Augenblicke abgetheilet wird/ welche
wenn ſie von dem Menſchen uͤberſchritten wer-
den/ ſeinem Weſen eben ſo ſehr Schaden dadurch
zugefuͤget wird/ als wenn man an denen Redern
eines Uhrwercks kuͤnſtelt/ daß ſie geſchwinder
lanffen ſollen/ als die Hand des Kuͤnſtlers ver-
ordnet hatte.


33.

Gleich wie aber die von GOtt allen Din-
gen und folglich auch dem Menſchen fuͤrgeſetzte
Dauerhafftigkeit ſeine Graͤntzen hat die der
Menſch nicht uͤberſchreiten kan/ und ſolcher ge-
ſtalt an ſich ſelber gut iſt/ alſo wird ſie doch laͤg-
lich auch von dem Menſchen zum Grunde des
Boͤſen
gemacht/ ſo ferne er durch unrechte Appli-
ci
rung der aͤußerlichen Dinge/ entweder wenn er
in Abnehmen iſt/ dieſe Bewegung gar zu ge-
ſchwinde
beſchleuniget/ oder aber/ wenn er noch
zu ſeiner Vollkommenheit waͤchſt/ auch dieſe
entweder verhindert/ und ſein Abnehmen ver-
urſacht/ ehe er noch vollkommen worden/ oder
gleichfalls dieſelbe allzugeſchwinde befoͤrdert/
und die gewoͤhnliche Zeit aus Ungedult nicht er-
warten kan.


34. Denn
[16]Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit

34.

Denn daß auch dieſe letzte Art der Be-
wegung nicht gut/ ſondern boͤſe ſey/ flieſſet dar-
aus/ weil dadurch des Menſchen ſeine Daue-
rung verkuͤrtzet
wird/ in dem/ wie wir jetzo er-
wehnet/ er nothwendig zu ſeinem Ende ſich na-
hen muß/ wenn er nicht mehr zunehmen kan. Zu
geſchweigen daß durch die allzumerckliche Befoͤr-
derung der Vollkommenheit die von GOtt ver-
ordneten Grade der natuͤrlichen Bewegung uͤber-
ſchritten/ und alſo auch in dieſem Stuͤck das En-
de ſeiner Dauerung befordert wird.


35.

Ferner weil der Menſch aus unterſchiede-
nen Theilen des Leibes beſtehet/ die ihre unter-
ſchiedene Wirckung haben/ auch etliche durch
unterſchiedene Arten der Bewegungen oder durch
die Beruͤhrung unterſchiedener außerlichen Din-
ge erhalten werden/ ſo iſt offenbahr/ daß die na-
tuͤrliche Bewegung der menſchlichen Glied-
maſſen
eine ſtete und harmoniſche Veraͤnde-
rung erfordere/
und dadurch die Kraͤffte in de-
ſto beſſerer Dauerung und Vollkommenheit er-
halten werden koͤnne/ und daß anderſeits eine
continuirliche Bewegung oder Ruhe eines
Glieds boͤſe ſey/
weil ſie ſolches entweder zu
fernerer Bewegung untuͤchtig macht oder ein-
ſchlaͤffert.


36.

Gleicher geſtalt iſt auch dieſes unter die
boͤſen Dinge zu rechnen/ wenn man die menſchli-
chen Kraͤffte entweder ſtetswehrend auff ein
gewiſſes Ding
appliciret/ oder gar zu offte und
geſchwin-
[17]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.
geſchwinde dieſelbe auff unterſchiedene und
zumahln widerwaͤrtige
Dinge fallen laͤſt/ weil
dadurch die von GOtt eingefuͤhrte harmoniſche
Veraͤnderung auff beyderley Weiſe veraͤndert
wird.


37.

Dieſes/ was wir bisher angemercket/ et-
was deutlicher zu begreiffen/ ſo beſtehet des
Menſchen Weſen theils in einem Leibe/ der
von der Machine des Leibes der Beſtien nicht
allzuſehr enſchieden iſt/ theils in einer Seele/ die
da dencket.


38.

Jn der Machine ſeines Leibes iſt zufoͤr-
derſt des Leibes Leben zu betrachten/ welches in
eineꝛ proportionirlichen Bewegung des Gebluͤts
und anderer Saͤffte in denen Blut- und Puls-
Adern/ und andern innerlichen Theilen beſtehet.


39.

Dieſes Leben iſt nicht alleine gut/ ſon-
dern auch der Grund alles Guten; und was
daſſelbige erhaͤlt/ das iſt/ was die/ von Gott
geordnete
Proportionbefoͤrdert/ und die Be-
wegung des Gebluͤts und anderer Saͤffte weder
hemmet noch allzugeſchwinde fort treibet/ iſt auch
gut; was aber dieſelbe langſam macht/ oder
allzuſehr ſchaͤrffet/
das liſt boͤſe.


40.

Der Tod iſt theils boͤſe theils gut. Boͤſe/
ſo ferne durch des Menſchen Vorſatz oder Nach-
laͤßigkeit ſeine Dauerung unterbrochen wird.
Gut ſo ferne derſelbe nichts mehr andeutet/ als
das natuͤrliche Lebens Ende. Denn das Leben
iſt gantz gut/ und alſo auch deſſelben Ende/ und
Bwir
[18]Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit
wir haben nur jetzo geſagt/ daß alle von GOtt ge-
ſetzte Graͤntzen gut ſeyn.


41.

Hiernechſt hat der Menſch auch Senn-
Adern/
die mit ſubtilen geiſtigen Coͤrpern ange-
fuͤllet ſeyn/ und ſich im Gehirne vereinigen/ von
dar aber in alle innerliche und aͤußerliche Glied-
maffen des Leibes ausgetheilet ſind/ und durch
welche ſo wohl das Viehe als der Menſch ſich
aͤußerlich beweget/ auch durch deren Beruͤh-
rung von denen aͤußerlichen Coͤrpern/ ſo wohl bey
Menſchen als Viehe/ eine gewiſſe Bewegung in
dem Gehirne entſtehet/ die der gemeine Mann
Sinnligkeiten zu nennen pfleget.


42.

Dieſe Bewegungs-Krafft und ſo ge-
nannten Sinnligkeiten ſind gleichfals gut/ und
der Mangel oder Beraubung derſelben/ als die
Blindheit/ Taubheit/ der Schlag-Fluß u. ſ. w.
ſind boͤſe; wie nicht weniger alles was die Be-
wegungs-Krafft und Sinnligkeiten ſtaͤrcket und
erhaͤlt/ iſt gut/ was ſie aber verringert/ iſt boͤſe.


43.

Und dieſes Gute und Boͤſe hat der
Menſch mit denen unvernuͤnfftigen Thieren
gemein.


44.

Endlich aber denckt der Menſche/ das iſt/
er begreifft unterſchiedene Bewegungen aͤußerli-
ther Dinge/ er behaͤlt ſelbige in ſeinen Gedancken/
er ſetzt ſie zuſammen/ ſondert ſie von einander/ er
zehlet ſie und miſſet ſie ab. Und dieſes heiſt man
die Vernunfft/ die den Menſchen von andern
Thieren unterſcheidet.


45. Und
[19]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.

45.

Und gleich wie dieſe als das Hauptweſen
des Menſchen ohnſtreitig gut iſt; alſo iſt auch
die Beraubung derſelbigen/ welche man Raſe-
rey oder Wahnwltz nennet/ ſo wohl auch ihre
Verringerung oder die Thorheit/ Jrrthum/ Un-
vernunfft u. ſ. w. boͤſe. Und was die Vernunfft
ſtaͤrcket und erhaͤlt/ iſt gut/ was ſie aber ſchwaͤchet
oder verringert/ iſt boͤſe.


46.

Ferner ſo iſt vermittelſt dieſer ſeiner Ver-
nunfft der Menſche von denen andern Thieren
entſchieden/ daß die Vernunfft nicht alleine das
Gute und Boͤſe erkennen/ ſondern auch aus un-
terſchiedenen Guten das Boͤſe erwehlen/ und der
aͤußerlichen Bewegungs-Krafft gleichſam anbe-
fehlen kan/ das Gute zu ergreiffen und fuͤr dem
Boͤſen zu fliehen/ oder daſſelbige von ſich abzu-
wenden/ da hingegentheil die unvernuͤnfftigen
Thiere alles deſſen ermangelen.


47.

Dieſes Vermoͤgen iſt wiederumb gut/
und heiſt der Wille des Menſchen/ oder ſeine in-
nerliche Freyheit/
und was dieſelbe vermehret
und beſſert iſt wiederumb gut/ was ſie aber ver-
ringert/ iſt boͤſe.


48.

Bisher haben wir den Menſchen in An-
ſehen ſeines eigenen Weſens Betrachtet; Nun
muͤſſen wir auch ein wenig naͤher auf die Dinge/
die außer ihme ſind
reflectiren/ und von derer-
ſelben ihre Wuͤrckung in der Natur des Men-
ſchen etwas reden.


B 249. Al-
[20]Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit

49.

Alles was von auſſen den Menſchen be-
ruͤhret/ das beruͤhret unmittelbahr die aͤußerli-
chen Sinnligkeiten/
und dannenhero weil dieſe
Wuͤrckung am allergegenwaͤrtigſten iſt/ wird
auch das Gute und Boͤſe derſelben von denen
unvernuͤnfftigen Menſchen empfunden/ und in
Anſehen der gegenwaͤrtigen Beluſtigung oder
Verletzung fuͤr gut und boͤſe gehalten.


50.

Wenn die aͤuſerlichen Dinge durch die
aͤußerlichen Sinnligkeiten den Leib des Men-
ſchen geruͤhret/ ſo entſtehet hernach auch durch die
Fortſetzung dieſer Bewegung eine Beruͤhrung
des Gebluͤts und der andern innerlichen
Saͤffte/
wiewohl das Gute und Boͤſe/ ſo durch
dieſe Beruͤhrung verurſachet wird/ wehrentheils
nicht ſo handgreifflich zu ſpaͤren iſt/ ſondern die
Vermehrung und Verringerung der menſchli-
chen Kraͤffte disfalls offte ſehr entfernet und zu-
kuͤnfftig
zu ſeyn pflegen; dannenhero auch nicht
ein jeder unvernuͤnfftiger und in denen Vorur-
theilen annoch ſteckender Menſch capabel iſt da-
von zu urtheilen/ ſondern hierzu eine ſonderliche
Attention und Weißheit erfordert wird/ und
zwar deſto mehr Weißheit/ je weiter die Wuͤr-
ckung dieſer Beruͤhrung der aͤußerlichen Dinge
von deren Anfang entfernet iſt.


51.

Endlich weil auch die Gedancken des
Menſchen mit dem Leibe genau verknuͤpfft ſeyn/
und dasjenige nicht alleine Was die Sinnligkei-
ten
ſcharff beruͤhret/ auch zugleich die Gedancken
mit
[21]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.
mit beweget/ ſondern auch die Alterirung der
geiſtigen Coͤrper in dem Gehirne zugleich
die Gedancken ſelbſt in einen munteren oder
ſchlaͤffrigen und tummen Zuſtand ſetzet/ ſo iſt dan-
nenhero einem vernuͤnfftigen Menſchen deſto-
mehr daran gelegen/ die entferneten und zukuͤnff-
tigen Veraͤnderungen/ die durch Beruͤhrung der
aͤußerlichen Coͤrper in ſeinem Leibe verurſacht
werden/ ſo genau als es moͤglich iſt/ zuwiſſen und
zu begreiffen.


52.

Es wird aber dasjenige/ was wir allbereit
oben zum Grunde geſetzt haben/ folgende Anmer-
ckungen an die Hand geben. AlleObjectade-
rer Sinnligkeiten/ die bey dem Menſchen
keine neue auſſer-ordentliche und ſehr em-
pfindliche Bewegung verurſachen/ ſondern
nur ſeine natuͤrliche Bewegung in einem ru-
higen Zuſtande erhalten/ ſind gut; Und alle
Bewegungen derer Sinnligkeiten die gar zu
empfindlich ſind/ oder die die Sinn en gar zu
ſtarck bewegen/ verderben die Senn-Adern
der ſinnlichen Gliedmaſſen/ und derhalben
ſind ſie boͤſe.


53.

Sprichſtu: Woran erkenne ich es aber/
ob die Bewegung in denen zur Sinnligkeit ge-
widmeten Gliedmaſſen allzuſtarck/ oder der na-
tuͤrlichen Bewegung gleichfoͤrmig ſey? So kan
ich dir disfals keine andere Antwort geben/ als
daß dir ſolches deine innerliche Verſicherung
am beſten ſagen werde/ und daß man disfalls kei-
B 3ne
[22]Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit
ne allgemeine Regel uͤberhaupt geben koͤnne/ weil
die ordentliche Bewegung bey einem Menſchen
nicht in einem Grad iſt wie bey dem andern/ ſon-
dernbey nahe auf ſo vielfaͤltige Artvariret als
Menſchen ſeyn/
welche Veraͤnderung theils von
dem Alter/ theils von der Landes-Art/ theils
von der Gewohnheit u. ſ. w. herruͤhret. Und
ſolcher geſtalt darff ein jeder nur auff ſich ſelbſt
Achtung geben/ ob er eine merckliche und zuvorher
ungewohnte Alteration bey ſich empfindet oder
nicht.


54.

Hieraus folget/ daß die mitlern Bewe-
gungen zwiſchen den allzuſtarcken und ordentli-
chen boͤſe ſeyn/ wenn ſie denen allzuſtarcken naͤher
kommen/ und fuͤr gut muͤſſen gehalten werden/
wenn ſie denen ordentlichen nahe ſind.


55.

Es kan aber dieſe ordentliche Bewe-
gung
der ſinnlichen Gliedmaſſen wohl boͤſe
werden/
wenn ſie allzulangecontinuiret
wird/
weil dadurch die Bewegung der andern
Sinnligkeiten/ die nach der Weißheit des
Schoͤpffers/ als wir oben erwehnet/ mit andern
durch eine anmuthige Veraͤnderung abwechſeln
ſolten/ gehindert wird.


56.

gleiche Bewandniß hat es mit der Be-
wegungs-Krafft der aͤußerlichen Gliedmaſ-
ſen.
Eine maͤßige Bewegung/ die nicht ſehr
empfunden/ und nicht allzulange continuiret
wird/ iſt gut/ eine allzuſehr empfindliche oder
lang
continuirte aber/ iſt boͤſe.


57. Fer-
[23]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.

57.

Ferner was die Bewegung des Gebluͤts
betrifft/ ſo iſt dieſes fuͤr boͤſe zu halten/ wodurch
des Menſchen Gebluͤt gar zu ſehr/ oder gar zulang-
ſam beweget wird; Was die Bewegung des
Gebluͤts in ſeinem ordentlichen Zuſtand erhaͤlt/ iſt
gut. Auſſer daß man hier nicht ſagen kan/ daß
die ordentliche Bewegung des Gebluͤts/ wenn
ſie langecontinuiret wird/ boͤſe ſeyn ſolle:
Weil der Menſch nur einerley Bewegung des
Gebluͤts hat/ ohne welches er nicht leben kan/
aber im gegentheil vielerley Arten der Sinnlig-
keiten von Gott erhalten/ die ſie nicht alle zugleich
bewegen koͤnnen/ ſondern eine nach der andern
ſich bewegen muß


58.

Endlich was die Gedancken des Men-
ſchen gar zu ſehr ſchaͤrffet/ oder gar zu ſehr turbi-
rit/ iſt boͤſe/ was aber dieſelbe in einer proportio-
nir
lichen Bewegung erhaͤlt/ iſt gut: Ja was die-
ſe Bewegung allzulangcontinuiret/ iſt auch
boͤſe/ weil die Gedancken nicht nur den Menſchen
gegeben ſind/ vielfaͤltige und unterſchiedene Din-
ge zu bedencken/ ſondern auch zu ihrer Erhaltung
eine mit der Bewegung abwechſelnde Ruhe
erfordern.


59.

Dieſes waͤre alſo das vornehmſte/ das in
Betrachtung der aͤußerlichen Ding uͤber-
haupt
anzumercken waͤre: Wollen wir nun
ferner dieſelben inſonderheit noch ein wenig be-
ſchuen/ wird es am fuͤglichſten geſchen/ wenn
wir dieſelbige in drey Claſſen eintheilen/ deren
B 4etliche
[24]Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit
etliche unter den Menſchen ſind/ als die Thiere/
Pflantzen/ u. ſ. w. etliche neben ihm/ als andere
Menſchen/ und endlich das hoͤchſte Weſen uͤber
ihm/ nemlich GOtt.


60.

Was die Dinge die unter ihm ſeyn be-
trifft/ ſo wird ein jeder vermittelſt einer geringen
Auffmerckung gar leichte begreiffen koͤnnen/ daß
der Menſch zur Erhaltung ſeiner Dauerung und
ſeiner natuͤrlichen Kraͤffte ſo viel Dinge eben
nicht von noͤthen habe/
zum wenigſten ſehr
vieler gar fuͤglich miſſen koͤnne.


61.

Denn zu Erhaltung ſeiner, Lebens-Gei-
ſter
und der Kraͤffte in ſeinem Leibe braucht er
zwar Speiſe und Tranck/ aber hievon iſt ſchon
ein alt Sprichwort bekant/ daß die Natur mit
wenigen vergnuͤgt ſey:
Zu Erhaltung der an-
dern aͤuſſerlichen Sinne des Geſichts/ Gehoͤrs/
Geruchs/ Geſchmacks und Gefuͤhles wird ſehr
wenig Reichthum
erfoꝛdert/ ſondern die Natur
des Menſchen kan ſich disfalls an fremden Din-
gen/ oder die dem Eigenthum der Menſchen nicht
unterworffen ſind/ begnuͤgen. Und endlich ſo iſt
wohl aus gemacht/ daß derjenige/ ſo wenig iſſet
und trincket/ auch die Beluſtigung der Sinnen
maͤßiglich braucht/ an juſteſten und accurateſten
zu gedencken geſchickt ſey.


62.

Es wird zwar dieſe Anmerckung in praxi
faſt durchgehends bey dem menſchlichen Ge-
ſchlecht fuͤr laͤcherlich gehalten/ u. im gegentheil
geglaubet/ der Menſch muͤſſe viel Dinge zu Er-
hal-
[25]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.
haltung ſeines Weſens haben. Allein dieſes
Borurtheil ſcheinet theils aus der irrigen Mei-
nung entſproſſen zu ſeyn/ als wenn Gott alle Crea-
turen dem Menſchen zu gute/ (das iſt/ zu Erhal-
tung ſeines Weſens) geſchaffen haͤtte; Theils
auch aus einer uͤbelen Gewohnheit/ oder ſonſten
aus einer eitelen Einbildung.


63.

Wiederum iſt kein Zweiffel/ daß die mei-
ſten Dinge
und zwar auf vielfaͤltige Weiſe
dem Menſchen ſchaden
koͤnnen/ und daß dan-
nenhero der Menſch groſſe Urſache habe dieſelbi-
gen zu meiden.


64.

Nichts deſto weniger muß man die an-
dern Geſchoͤpffe mehr unter die guten Dinge als
unter die Boͤſen rechnen/ weil gleichwohl der
Menſch zu ſeiner Dauerung etlicher dererſelben
nicht entbehren
kan/ die uͤbꝛigen aber dem Men-
ſchen nicht in Anſehen Jhrer ſelbſt ſchaden/ ſon-
dern nur daß ſie unrecht appliciret werden/ welche
unrechte applicirung entweder der Menſch ſelb-
ſten thut/ oder doch demſelben nicht ohne ſeine
gaͤntzliche Schuld mehrentheils wiederfaͤhret.


65.

Aber bey dem Menſchen wird mehr an-
zumercken ſeyn. Ohne andere Menſchen waͤre
der Menſch hoͤchſt elende/
denn er wuͤrde ent-
weder ohne anderer Menſchen Huͤlffe nicht Le-
ben koͤnnen/ oder doch ein verdrießliches Leben
fuͤhren. Ja er wuͤrde der meiſten/ wo nicht aller
ſinnlichen Beluſtigungen entbehren muͤſſen/ als
welche andeꝛe Menſchen præſupponiren. Endlich
B 5wuͤr-
[26]Das 1. Haupſt. von der Gelahrheit
wuͤrden ihm auch die Gedancken wenig helffen
oder nuͤtze ſeyn; Denn die Gedancken beſtehen
aus einer innerlichen Rede/ die innerliche Rede
entſtehet von einer aͤußerlichen/ die aͤußerliche
nutzet gar nichts/ wenn keine menſchliche Geſell-
ſchafft waͤre.


66.

Aber deswegen muß man nicht alsbald
zuplumpen/ und andere Menſchen ohne Un-
terſcheid als etwas gutes betrachten;
Zu-
mahl wenn man erweget/ daß dem Menſchen
auch don andern Menſchen groſſer Verdruß
angethan werden kan/
indem ein Menſch den
andern toͤdten/ denen Sinnligkeiten viel Unluſt
zufuͤgen/ und dieſelben martern kan. Ja indem
taͤglich einer des andern ſeinen Verſtand durch
Beybringung vieler Jrꝛthuͤmer/ durch Betrug im
Handel und Wandel/ u. ſ. w. wie nicht weniger
ſeinen Willen durch Verfuͤhrung zu Laſtern und
boͤſen Exempeln verletzet.


67.

Gleichwohl kan ſich auch der Menſch im
Gegentheil anderer Menſchen beſſer als aller
andern Creaturen bedienen/ ſein Leben zu
erhalten/
zu verlaͤngern/ ſich zu vergnuͤgen/ und
am allermeiſten ſeine Venunfft zu ſaubern/ und
ſeinen Willen durch gute Exempel auszubeſſern.


68.

Und alſo iſt der Menſch mehr unter die
guten Dinge
anderer Menſchen/ als unter boͤſe
zu rechnen.


69.

Wiederumb iſt kein Zweiffel/ daß dis-
falls der Menſch fuͤr andern Thieren etwas ſon-
derli-
[27]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.
derliches habe/ daß ihm unter ſeines gleichen
Menſchen ein Menſch beſſer anſtehet
als der
andere/ woraus eine abſonderliche Freund-
ſchafft
oder Liebe entſtehet.


70.

Und zwar ſo geſchiehet ſolches aus vieler-
ley Urſachen/ entweder wegen einer abſonderli-
chen Duͤrfftigkeit/ oder wegen Beluſtigungen
der Sinnen/
oder wegen Ubereinſtimmung
der Gedancken
oder des Willens.


71.

Jm uͤbrigen ſind alle Menſchen einander
von Natur gleich/ und die Ungleichheit der Staͤn-
de iſt entweder aus Mangel oder wegen dringen-
der Noth eingefuͤhret worden. Dannenhero
ſteckt es in des Menſchen Natur/ daß er ſo viel als
moͤglich trachtet ſeine Gleichheit zu erhalten.
Und entſtehet daher ein abſonderliches Gut/ das
man Freyheit zu nennen pfleget.


72.

Nichts deſtoweniger lebet der Menſch
von Jugend auff unter lauter Ungleichheit/ und
dieſe Gewohnheit wird bey ihm gleichſam zur an-
dern Natur. Dannenhero traͤget er Verlangen
entweder andern die uͤber ihm ſind/ gleich/ oder de-
nen die ſeines gleichen ſind vorgezogen zu weꝛden/
welches man die Ehrbegierde zu nennen pfleget.


73.

Dieweil aber der wahrhafftige Grund an-
dern gleich geachtet oder vorgezogen zu werden/ in
dem rechten Gebrauch der Vernunfft/ das iſt/ in
rechtſchaffener Erkaͤntniß und Ausuͤbung des
Wahren und Guten beſtehet; So iſt dieſe Be-
gierde nur in ſo weit fuͤr gut zu achten/ ſo ferne ſie
ſich
[28]Das 1. Huptſt. von der Gelahrheit
ſich in dieſen Mitteln gruͤndet/ weil der Menſch
dabey niemahls ſeinen Schaden oder Ubel leiden
kan.


74.

So ferne ſie ſich aber auff etwas anders
gruͤndet/ iſt ſie boͤſe/ weil ſie nicht dauerhafftig
ſeyn kan.


75.

Ja wenn der Menſch ſeine Vernunfft
recht gebrauchet/ wird er auch die Ehrbegierde der
erſten Art mehr fuͤr indifferent als fuͤr was gu-
tes achten/ weil auch ohne die aͤußerliche Gleich-
achtung der Vorziehung weder ſeinem Leben/
noch ſeinen Sinnligkeiten/ noch dem Gebrauch
ſeiner Vernunfft etwas abgehet.


76.

Aus der obangefuͤhrten Ungleichheit/ der
Staͤnde der Menſchen iſt ferner die Einfuͤhrung
des Eigenthums der Guͤter in dem menſchli-
chen Geſchlecht entſtanden/ daraus iſt hernach-
mahls nothwendig eine Ungleichheit des Vermoͤ-
gens erwachſen/ und folglich auch ein Mangel
derſelben oder Duͤrfftigkeit. Dieſe hat die
Menſchen genoͤthiget das Geld einzufuͤhren/
durch welches man alles/ weſſen man beduͤrfftig
iſt/ anſchaffen kan. Dannenhero iſt die gemeine
Begierde anderen gleich geachtet oder ihnen vor
gezogen zu werden/ ordentlich mit der Be-
gierde uach Gelde oder Reichthum
verge-
ſellſchafftet.


77.

Dieſe iſt fuͤr gut zu achten/ ſo ferne ſie
nach den Regeln der geſunden Vernunfft einge-
richtet iſt/ und das erworbene Gut recht gebrau-
chet/
[29]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.
chet/ fuͤr boͤſe aber/ wenn ſolches nicht ge-
ſchiehet.


78.

Ja weil ein Menſch der ſeinen Verſtand
recht brauchet/ gar leichte enkennet/ daß er ohne
Reichthumb gar wohl ſeyn/ und ſeine Guͤter ge-
brauchen koͤnne/ (indem wir allbereit oben erweh-
net/ daß der Menſch nicht viel eigenes zu ſeiner
Dauerung gebrauche) ſo wird er auch den
Reichthum mehr fuͤr ein indifferent Ding/ als
fuͤr ein nothwendig Gut achten.


79.

So iſt auch endlich aus Einfuͤhrung des
Unterſcheids der Staͤnde/ ſo wohl auch aus de-
nen unterſchiedenen Graden der Vortrefflichkeit
der Menſchen/ und aus der dem Menſchen einge-
pflantzeten Geſelligkeit eine Begierde entſtanden/
daß die Geringerern die Oberern und Vortreffli-
chern hochgeachtet/ und dieſe ihre Hochachtung
zu erweiſen nicht alleine freywillig viel aͤußerliche
Zeichen erfunden/ durch ihr Thun und Laſſen die-
ſelbſten zu erkennen zu geben/ ſondern auch frey-
willig der obern und vortrefflichern Menſchen ihr
Thun und laſſen zu imitiren angefangen/ welches
man eine Ehrbezeigung/ Hoͤffligkeit/Com-
plaiſance,
u. ſ. w. nennen kan/ woraus ein abſon-
derlich Weſen/ das die Lateiner Decorum nen-
nen/ entſtanden/ auch alle Schamhafftigkeit
daher ihren Urſprung nimmet.


80.

Dieſes Decorum und die aus Verletzung
deſſelben entſtandene Schamhafftigkeit iſt ſo
ferne ſie die weiſen und tugendhafften Leute vor
die
[30]Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit
die trefflichſten haͤlt/ und derenſelben Thaten imi-
ti
ret/ ein warhafftiges Gut. So ferne ſie
aber die Laſterhafften und Gewaltigſten zum
Spiegel braucht/ iſt es ein Ubel; So ferne es
aber auf die Nachahmung indifferenter Dinge
zielet/ iſt es an ſich ſelber mehr ein eiteles Nichts
als was gutes/ jedoch wird es ex hypotheſi, weil
wir unter lauter eitelen Leuten leben/ billig fuͤr
was gutes geachtet/ weil die Unterlaſſung deſ-
ſelben dem Menſchen ſchaͤdlich iſt/ und er ohne die-
ſem decoro in vita civili ohnmoͤglich fortkom̃en
kan/ wie wir an ſeinem Orth mit mehrern erwei-
ſen werden.


81.

Nun iſt GOtt noch uͤbrig. Von dieſem
hat der Menſch ſein Weſen bekommen/ und wird
noch von ihm augenblicklich in ſeiner Dauerung
erhalten. Jhm allein hat er die aͤußerlichen
Dinge/ die zu ſeiner Dauerung nach dem ordent-
lichen Lauff der Natur etwas contribuiren zu
dancken/ und alſo ſtehet GOTT unter allen
Guten billig oben an.


82.

Und obſchon der Menſch gleichfalls erken-
net/ daß GOtt ihn aller ſeiner Guͤter wieder be-
rauben/ und den groͤſten Schaden zufuͤgen koͤnne;
ſo darff er doch GOtt nicht unter die boͤſen Din-
ge/ oder fuͤr die Urſache des Boͤſen rechnen/ weil
er gar wohl begreiffet/ daß er der Menſch durch
ſeine eigene Schuld alle die Ubel/ die von GOtt
herruͤhren ſich uͤber den Halß ladet-


83. Denn
[31]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.

83.

Denn der Menſch kan auch aus dem
Licht der Natur erkennen/ daß GOtt fuͤr ſeine
Wohlfahrt Sorge trage/ und daß er auch in die-
ſem Leben
(denn von dem zukuͤnfftigen weiß
die Menſchliche Vernunfft nichts) ihn/ nach dem
er ſein Leben anſtellet/ mit Gnten oder Boͤſen
belohnen oder beſtraffen
wolle.


84.

Deshalben muß er auch nothwendig fuͤr
gut halten/ daß er nach Gottes Willen/ den
er ihm in dem Recht der Natur offenbahret/ ſein
Thun und Laſſen einrichte/
und fuͤr boͤſe/ wenn
er demſelben widerſtrebet/ weil er weiß/ daß
auff jenes die Belohnung/ auff dieſes aber die
Straffe folgen werde/ und daß die Goͤttliche
Belohnung und Straffe viel dauerhafftiger ſey
als ein gegenwaͤrtiges und augenblickliches Ubel
oder Gut.


85.

Worzu noch ferner kommt/ daß er erken-
net/ wie das Recht der Natur in der allgemeinen
Gluͤckſeligkeit des Menſchlichen Geſchlechts ge-
gruͤndet ſey/ weshalben er deſtomehr fuͤr etwas
gutes halten muß/ daß er ſein Leben nach Gottes
Willen einrichte/ weil unter der allgemeinen
Gluͤckſeeligkeit auch ſeine eigene mit begriffen
wird.


86.

Wenn er demnach ſein Leben nach Gottes
Willen einrichtet/ ſo heiſſet ſolches ein tugend-
haſſtes Leben/
zu dieſem aber kan er nicht gelan-
gen/ wenn ſein Verſtand nicht zu vorher durch
die Gelahrheit ausgebeſſert iſt. Derowegen
iſt
[32]Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit
iſt die Tugend und Gelahrheit/ abſonderlich aber
(wie wir allbereit in der Ausuͤbung der Veꝛnunfft-
Lehre erwieſen) die Erkaͤntniß ſeiner ſelbſt was
gutes/ und hingegentheil das Laſter/ die Unwiſ-
ſenheit/ und der Jrrthum/ ſo wohl auch die Ge-
lahrheit/ die man mit Unterlaſſung der Erkaͤntniß
ſeiner ſelbſt in denen andern Geſchoͤpffen ſucht/
was boͤſes.


87.

Aus dem/ was wir bisher geſagt/ werden
wir gar deutlich die gemeinen Eintheilungen
des guten verſtehen koͤnnen/ die ſonſt ziemlich
ſchwer und dunckel von denen/ die ſich derſelben
bedienen fuͤrgebracht werden. Jnsgemein ſagt
man/ daß dreyerley Guͤter der Menſchen ſeyn/ die
Guͤter ſeiner Seelen/ die Guͤter des Leibes/ und
die Guͤter des Gluͤcks.


88.

Die Guͤter ſeiner Seelen ſind der rechte
Gebrauch des Verſtandes und Willens/ nemlich
Weißheit und Tugend. Die Guͤter des Leibes
ſind ſein Leben/ ſeine Sinnlichkeiten und Bewe-
gungs-Krafft/ die Gantzheit ſeiner aͤußerlichen uñ
innerlichen Gliedmaſſen/ u. die rechte diſpoſition
ſeines Gehirnes/ weil von derſelben die Ver-
nunfft dependiret/ in Anſehen ſie durch die altera-
tion
des Leibes und abſonderlich des Gehirnes
ſelber alteriret wird/ und durch die Kranckheit des
Leibes verringert oder turbiret werden kan/ wel-
ches alles zuſammen mit einem Worte die Ge-
ſundheit des Leibes heiſt. Die Güter des Gluͤcks
ſind Reichthum/ Ehre/ Freyheit und Freunde.


89. Alſo
[33]das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.

89.

Alſo ſieheſt du/ daß wir alles bißhero ein-
zeln erzehletes Gute unter die gewoͤhnlichen
Claſſen gebracht haben/ biß auff GOtt und das
Decorum, die ſich nach der gemeinen Beſchrei-
bung nicht fuͤglich zu einer von derſelben ſetzen
laſſen. Was das Decorum betrifft/ daran hat
bißhero niemand gedacht/ was es fuͤr ein Gut ſey/
obgleich alle Philoſophi darinnen wider die Cy-
nicos
einig geweſen/ daß uͤber die Tugend noch
etwas anders ſey/ das man in gemeinen Leben
und Wandel als eine Richtſchnur in acht neh-
men muͤſſe.


90.

Was GOtt betrifft/ iſt es zwar denen
Heydniſchen Philoſophen endlich zu uͤberſehen/
daß ſie die Eintheilung der Guͤter des Menſchen
ſo eingeſchrenckt/ daß ſie das noͤthigſte darinnen
verſehen/ weil ſie insgeſamt wegen der Ver-
miſchung der Welt-Weisheit und der falſchen
Offenbahrung irrige Meinungen von GOtt ge-
heget; daß man aber in Chriſtlichen Schulen
dieſen Mangel ſo gelaſſen/ wie man ihn gefun-
den/ iſt billig zu bewundern. Wir wollen uns
aber nicht eben bekuͤmmern dieſe Eintheilung
nach dieſen Anmerckungen auszubeſſern/ ſondern
lieber dieſelbe gar fahren laſſen/ weil wir nicht
ſehen/ was dieſelbe fuͤr einen groſſen Nutzen
habe.


91.

Ferner lehret man durchgehends in de-
nen Schulen/ qvod bonum ſit honeſtum, utile \&
jucundum,
daß ein ehrbares/ nuͤtzliches und be-
Cluſti-
[34]Das 1. H. von der Gelahrheit
luſtigendes Gut ſey/ und machet in Beſchrei-
bung dieſer unterſchiedlichen Arten/ ſo wohl auch
in denen Exempeln den Unterſchied dererſelben
mehr verwirret als deutlich/ indem man dieſe fal-
ſche Meinung hat/ als wenn dieſe dreyerley Guͤ-
ter wuͤrcklich voneinander unterſchieden waͤ-
ren/ da doch ihr Unterſchied nur darinnen beſte-
het/ daß das Gute in unterſchiedene Betrach-
tung
bald ehrbar/ bald beluſtigend/ bald nuͤtz-
lich
genennet werde.


92.

Denn alles warhafftige Gute (das
Schein-Gut haben wir ſchon oben ausgemer-
tzet) iſt nuͤtzlich/ weil es den Menſchen in ſei-
ner Dauerhafftigkeit erhaͤlt. So iſt es auch
beluſtigend/ wenn es der Menſche beſitzet/ weil
die Freude/ Luſt und Vergnuͤgung nichts anders
iſt/ als die Genieſſung und Beſitzung des verlang-
ten Guten. Endlich iſt es auch ehrbar oder zum
wenigſten nicht unehrbar; denn die Erbarkeit
gruͤndet ſich in dem gemeinen Nutzen des menſch-
lichen Geſchlechts/ und wir werden zu ſeiner Zeit
bald darthun/ daß/ der ein ehrbares Leben fuͤh-
ret/ auch alleine ein recht luſtig und vergnuͤgt Le-
ben empfinde. Und gleichwie alle Unehrbarkei-
ten und Laſter dem gantzen menſchlichen Ge-
ſchlecht ſchaͤdlich ſeyn/ auch jeden Menſchen ſelbſt
ruiniren; als wird es ſich auch bald weiſen/ daß
derjenige/ der ein unvernuͤnfftiges Leben fuͤhret/
auch zu der Zeit/ da er ſich die groͤſte Luſt ein-
bil-
[35]das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.
bildet/ vielfaͤltigen ja unzehligen Verdrießlichkei-
ten unterworffen ſey.


93.

Es krieget aber dieſes eintzige Gute unter-
ſchiedene Nahmen/ nachdem man es auff unter-
ſchiedene weiſe betrachtet. Wenn man ſeinen
Urſprung anſiehet/ daß es von GOtt herkomme/
und daß es von GOtt oder ſolchen Menſchen/ die
an GOttes Stelle auff dieſer Welt das Regi-
ment fuͤhren/ als eine Richtſchnur des menſchli-
chen Thun und und laſſens vorgeſchrieben ſey/ ſo
heiſt es ein ehrbares Gut/ wiewohl es auch
manchmahl dieſe Benennung erlanget/ wenn es
nicht unehrbar/ oder dieſer Richtſchnur nicht zu
wieder iſt.


94.

Betrachte ich aber das Gute in Anſehen
ſeiner ſelbſt und ſeiner Gegenwaͤrtigkeit/ ſo
heiſſet es ein beluſtigendes Gut.


95.

Endlich wenn ich ſeine Wuͤrckung be-
trachte/ ſo heiſſet es nutzlich/ nemlich ſo ferne es
ein neues Gute zuwegen bringet/ oder das ge-
genwaͤrtige continuiret.


96.

Und alſo iſt kein anderer Unterſchied un-
ter dem nuͤtzlichen und beluſtigenden Guten/
als daß jenes auff zukuͤnfftige Dinge/ dieſes
aber auff gegenwaͤrtige ſein Abſehen hat.


97.

Wolteſt du gleich ſagen/ daß man ſich
auch an vergangenen und zukuͤnfftigen Din-
gen beluſtige/ ja daß man mehr Vergnuͤgen an
Betrachtung vergangener und zukuͤnfftiger
Dinge/ wo nicht allemahl doch oͤffters/ als an
C 2gegen-
[36]Das 1. H. von der Gelahrheit
gegenwaͤrtigen empfinde; Z. e. ein zaͤrtlich Ver-
liebter; So wirſt du doch geſtehen muͤſſen/
wenn du die Sache genau uͤberlegeſt/ daß als
denn erſt die Betrachtung vergangener Din-
ge beluſtige/ wenn wir uns dieſelben als noch
gegenwaͤrtig/
oder die doch leichte wieder ge-
genwaͤrtig ſeyn koͤnnen/ vorſtellen/ und daß die
Betrachtung zukuͤnfftiger Dinge uns beluſtige/
wenn wir gedencken/ daß ſie bald gegenwaͤr-
tig
ſeyn werden/ und alſo muß man das gegen-
waͤrtige allhier in einen etwas weitern Verſtande
nehmen.


98.

Denn wenn ich das vergangene Gute
als vergangen betrachte/ und daß nicht mehr
gegenwaͤrtig ſeyn wird/ ſo erfreue ich mich nicht/
ſondern ich betruͤbe mich/ Gleichwie in Gegen-
theil die Betrachtung des vergangenen Boͤſen
uns beluſtiget. Und wenn ich das zukuͤnfftige
Gute nur noch als zukuͤnfftig anſehe/ ſo empſin-
de ich keine Luſt darvon/ ſondern ich habe nur ein
Verlangen darnach.


99.

Daß man aber insgemein die nuͤtzlichen/
beluſtigenden und ehrbaren Guͤter von einander
abſondert/ geſchiehet theils daher/ daß man dieſe
Guͤter nicht recht beſchreibet/
theils daß man
gantz offenbahr das Schein-Gut mit dem wah-
ren
Gute/ theils auch endlich andere zufaͤllige
und geringe Arten des Guten mit denen edel-
ſten vermiſcht.


100. Man
[37]das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.

100.

Man ſagt/ das nuͤtzliche Gut ver-
lange man wegen eines andern/ das beluſti-
gende
aber und das ehrbare wegen ſein ſelbſt.
Alleine ſo ferne alles Gute eine beſtaͤndige
Dauerung intendiret/ muß es nothwendig we-
gen eines andern
verlanget werden; ſo ferne
aber durch das andere etwas von dem vorigen
gantz unterſchiedenes verſtanden wird/ und daß
das vorige nichts unmittelbaꝛ zuꝛ Dauerung con-
tribui
re/ z. e. Geld/ ſo begreiffet man nur unter
dem Rahmen/ des nutzlichſten Gutes die ge-
ringſte Art/ nehmlich die Mittel zum Guten/
gleich als ob/ zum Exempel das Leben/ die Sinn-
ligkeiten
und dererſelben maͤßige Beluſti-
gungen
u. ſ. w. die man wegen ihrer ſelbſt verlan-
get/ nicht auch nuͤtzlich waͤren.


101.

Ferner ſpricht man/ das ehrbare Gut
verlange die geſunde Vernunfft/ das beluſti-
gende
aber ein uns mit denen Thieren gemei-
ner
appetit. Aber wir haben ſchon oben geſagt/
daß die Thiere das Boͤſe und Gute nicht erken-
nen (denn ſie gedencken nicht) wie wolten ſie denn
das Gute verlangen koͤnnen/ weil nach dem ge-
meinen Sprichwort ich nichts verlange/ was
ich nicht weiß.


103.

So iſt auch darinnen eine ziemliche Un-
foͤrmligkeit/ daß man dieſen appetit,der nach
beluſtigenden
Dingen trachten ſol/ der geſun-
den Vernunfft
entgegen ſetzet/ gleich als ob ei-
ne gemaͤßigte Freude und Luſt der geſunden
C 3Ver-
[38]Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit
Vernunfft zu wider waͤre/ und nicht vielmehr
der Gebrauch der geſunden Vernunfft ſelbſten
in der Gemuͤths-Ruhe/ dieſe aber in einer ſtillen
Beluſtigung beſtaͤnde.


103.

Sprichſt du gleich: dieſe maͤßigen Be-
luſtigungen und alle Beluſtigungen des Ge-
muͤths
waͤren keine beluſtigende Guͤter/ weil
das beluſtigende Gut eintzig und alleine in ſehr
empfindlichen Beruͤhrungen der
Sinnlig-
keiten beſtuͤnde/ Z. e. in einer Wolluſt/ in delica-
ten Eſſen und Trincken/ und andern Dingen/ die
wie Wohlluͤſte des Leibes nennen; So iſt doch
dieſe Ausflucht ſehr unvernuͤnfftig. Denn erſt-
lich haben wir ſchon oben erwieſen/ daß alle
empfindliche Beluſtigung ein Schein-Gut/

oder deutlicher etwas boͤſes ſey/ und daß denen
maͤßigen Beluſtigungen alleine die Beſchreibung
des Guten zukomme.


104.

Zum andern/ gleichwie es eine groſſe
Thorheit ſeyn wuͤrde/ wenn wir vermeinen wol-
ten/ daß ein Saͤuffer/ Spieler und Huhrer in
dem Augenblick ſeiner Beluſtigung kein Ver-
gnuͤgen fuͤhlen ſolte; alſo waͤre es auch unge-
ſchickt/ wenn man diejenigen/ die die Beluſti-
gung der Seelen
wuͤrcklich empſinden/ bere-
den wolte/ ihre Empfindligkeit betroͤge ſie.
Denn daß ich anjetzo nichts von der ſtillen Luſt
und ruhigen Vergnuͤgen eines warhafftig wei-
ſen und tugendhafften Mannes erwehne/ ſo iſt
wohl auſſer Zweiffel/ daß das Gemuͤthe eines
Ehr-
[39]das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.
Ehrgeitzigen uͤber den gnaͤdigen Blick eines Fuͤr-
ſten; eines Geldgierigen uͤber der Erhaltung ei-
nes Gewinſts; eines ſo genandten Gelehrten
uͤber der Wiederlegung eines ſeiner Widerſa-
cher/ und eines tieffſinnigen Mannes uͤber der
Erfindung der qvadraturæ circuli, eben die Freu-
de und Vergnuͤgung empfindet/ als eines/ der
ſich uͤber die empfindlichen Beruͤhrungen der
Sinnligkeiten beluſtiget.


105.

Und alſo wird es nunmehro nicht ſchwer
ſeyn von denen Exempeln zu urtheilen/ die man
insgemein giebt um darzuthun/ daß wohl etwas
ein ehrbares Gut ſeyn koͤnne/ ohne daß es nuͤtz-
lich oder beluſtigend ſey/ oder nuͤtzlich und doch
nicht beluſtigend oder ehrbar/ oder beluſtigend
und doch nicht nuͤtzlich oder ehrbar. Z. e. Sein
Leben fuͤr ſein Vaterland wagen/ oder ſich von
Laſtern zur Tugend angewoͤhnen: Bittere Ar-
tzeney gebrauchen/ oder ſtehlen/ huhren/ freſſen
und ſauffen.


106.

Denn was das Stehlen/ huhren/
freſſen
und ſauffen anlanget/ dieſe gehoͤren nicht
unter die nuͤtzlichen und beluſtigenden Guͤter/
weil ſie gar nicht unter die Guͤter zu rechnen ſind/
ſondern boͤſe ſind. Und vermiſchen die/ ſo ſich
dergleichen Exempel bedienen/ gantz offenbahr
zwey unterſchiedene Redens-Arten. Ein anders
iſt ein empfindlicher/ augenblicklicher Nutzen oder
Beluſtigung. Ein anders ein nuͤtzliches oder be-
luſtigendes Gut.


C 4107.
[40]Das 1. H. von der Gelahrheit

107.

Was aber die andern Exempel betrifft/
ſo iſt es wohl an dem/ bittere Artzeney iſt ein
nuͤtzlich Gut/ aber nicht beluſtigend: Sich von
Laſtern abgewoͤhnen/
iſt ehrbar und nuͤtzlich/
aber es gehet ſauer ein. Alleine beydes præſup-
ponir
et einen Menſchen/ der in einen verderbten
Zuſtand iſt; Dergleichen Guͤter/ wie wir bald
ſagen werden/ ſind Guͤter in einen geringeren
grad, und mehrentheils denen edelſten Guͤtern/
die man nach dem ordentlichen und natuͤrlichen
Zuſtand des Menſchen erweget/ entgegen ge-
ſetzt. Was wir aber bißhero von der Vereini-
gung des ehrbaren/ nuͤtzlichen und beluſtigenden
Guten geſaget/ iſt von denen edelſten Guͤtern
tanqvam de analogato nobiliſſimo zu verſtehen.


108.

Endlich ſein Leben fuͤr ſein Vater-
land wagen/
iſt/ wenn man einen rechten Men-
ſchen anſiehet/ ein beluſtigendes und nuͤtzliches
Gut; Denn ein tugendhaffter Mann thut es mit
Freuden/ und erhaͤlt dadurch den gemeinen Nu-
tzen/ in welchem ſein eigener mit ſteckt; Und muß
man einen groſſen Unterſcheid machen unter ſter-
ben und ſein Leben wagen.


109.

Derowegen waͤre es faſt beſſer gewe-
ſen/ man haͤtte in denen Schulen die Einthei-
lung des Guten in honeſtum, jucundum \& utile
ausgelaſſen/ als daß man ſie ſo verwirrt und
ungegruͤndet fuͤrgetragen/ zumahl da man aber-
mahl das decorum ausgelaſſen/ welches we-
der zu den ehrbaren noch nuͤtzlichen noch beluſti-
gen-
[41]das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.
genden Guͤtern nach der gemeinen Beſchreibung
gerechnet werden kan.


110.

Solcher geſtalt aber wollen wir uns
nach andern Eintheilungen des Guten um-
thun/ die in der Gelahrheit von dem Erkaͤntnis
des Guten und Boͤſen/ groͤſſern Nutzen haben.
Zumahl wenn wir voraus mercken/ daß die un-
terſchiedenen Arten des Guten und Boͤſen/ die
wir in folgenden Eintheilungen vorſtellen wol-
len/ nicht von gleicher Guͤte odergrad ſeyn/
ſondern allezeit die eine Art geringer ſeyn wird
als die andere/ dannenhero nicht alleine dieſes
uͤberhaupt zu erinnern/ daß wenn zwey Gute
oder Boͤſe von ungleichen grad zuſammen kom-
men/ das geringere allezeit in Anſehen des
groͤſſeren
weichen und nachgeben muͤſſe/ ſon-
dern daß wir auch in der Erkaͤntnis des Guten
allemahl fuͤrnehmlich auff den groͤſten und
vornehmſten
grad unſer Abſehen richten muͤſ-
ſen/ wie wir denn auch in deſſen Anſehen dieſen
gradin Beſchreibung des guten fuͤr Augen ge-
habt haben.


111.

Denn der Menſch wie er anjetzo auff
dieſer Welt lebet/ kan auf zweyerley Weiſe be-
trachtet werden/ entweder nach ſeinem ordent-
lichen Zuſtand
und ſeiner Natur/ den er von
GOtt empfangen hat oder nach ſeinen auſſer
ordentlichen/ auſſer natuͤrlichen Zuſtand/
in-
dem er ſich durch die Gewohnheit ſelbſt geſetzt
C 5hat/
[42]Das 1. H. von der Gelahrheit
hat/ oder darein er von andern Menſchen geſetzt
worden.


112.

Der ordentliche Zuſtand iſt derjenige/
wenn die Bewegung aller Theile des menſchli-
chen Leibes in der von GOtt geordneten propor-
tion
und Maſſe/ auch Abwechſelung verbleibet/
und ſo zu reden in gleicher Wage bald auf dieſe
Seite bald auff jene incliniret/ welches nicht al-
leine von der Bewegung des Gebluͤts/ und der
geiſtigen Coͤrper in denen nerven, ſondern auch
von der Bewegung der Vernunfft und des Wil-
lens zu verſtehen/ daß beyde allein zum Guten an-
getrieben/ und von Boͤſen abgefuͤhret/ in allen an-
dern Dingen aber gleich guͤltig ſeyn. Dieſer Zu-
ſtand iſt an ſich ſelber gut.


113.

Der auſſerordentliche Zuſtand iſt der-
jenige/ wenn dieſe Bewegung von der von GOtt
geordneten Maſſe abweichet/ und entweder den
Wachsthum allzumercklich befoͤrdert/ oder das
Abnehmen unmittelbahr und empfindlich be-
ſchleuniget/ und wenn der Verſtand und Wille
zum Guten traͤge und zum Boͤſen munter iſt/ auch
keines weges eine ruhige Bewegung empfindet/
ſondern von allen aͤuſſerlichen Dingen bald da
bald dorthin geriſſen wird. Jn dieſem Zuſtande
leben dem Leibe nach die Krancken/ und nach der
Seeleu die in Unwiſſenheit und Jrrthuͤmern/
Eitelkeit
und Laſtern ſtecken. Dieſer Zuſtand
iſt boͤſe.


114. Nach
[43]das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.

114.

Nach dieſem zweyerley Zuſtande iſt auch
das Gute und Boͤſe unterſchieden/ davon wir
jenes das ordentliche/ dieſes aber das auſſer-
ordentliche Gute
und Boͤſe nennen wollen.


115.

Jenes Gute erhaͤlt und befoͤrdert des
Menſchen ſeinen ordentlichen Zuſtand/ oder es
befoͤrdert das natuͤrliche Gute; Dieſes benimmt
ihn den aufferordentlichen/ oder das angewoͤhnte
Boͤſe.


116.

Das ordentliche Boͤſe ſetzet den Men-
ſchen aus dem ordentlichen in den auſſerordentli-
chen Zuſtand; aber das auſſerordentliche Boͤſe
iſt dasjenige/ wenn man den Menſchen aus den
Boͤſen oder auſſerordentlichen Stand/ durch
eine auſſerordentliche Weiſe wider in den guten
Stand ſetzen wil.


117.

Denn hierinnen kommen beyderley Art
von dem Guten
uͤberein/ daß bey beyden eine
gewiſſe proportion und Maſſe nebſt eineꝛ allmaͤh-
ligen Veraͤnderung beobachtet werden muß. Und
hierinnen koͤmmt beyderley Boͤſes miteinander
uͤberein/ daß bey beyden ſelbige Maſſe uͤber-
ſchritten/ und eine allzuſchleunige Veraͤnderung
vorgenommen wird.


118.

Wie was ſteiget/ ſo faͤllet es auch. Und
wie dannenhero der Menſch ſein natuͤrlich Gu-
tes Stuffen-weiſe gleichſam erhaͤlt/ alſo muß er
ſich auch Stuffen-weiſe das Boͤſe wieder
abgewoͤhnen.
Man vertreibet eine Kranck-
heit
[44]Das 1. H. von der Gelahrheit
heit nicht in einen Augenblick. Man verderbet
die erfrornen Gliedmaſſen/ wenn man dieſelbe
allzubald in allzugroſſe Hitze bringet; Man rui-
nir
et den Magen/ wenn man nach langer Faſte
ſo viel ißt/ als die Begierde antreibet; Man rich-
tet nichts aus/ wenn man in einem Augenblick
oder in einer allzu kurtzen Zeit die Jrrthuͤmer und
Vorurtheile wil loß werden/ oder auff einmahl
die lange eingewurzelten Gewohnheiten und Sit-
ten oder Affecten abſchaffen.


119.

Aber hieraus folget zugleich/ daß das-
jenige/ was in Anſehen des ordentlichen Zu-
ſtandes gut iſt/ boͤſe
ſeyn wuͤrde/ wenn man es
einen Menſchen/ der in dem auſſerordentlichen
Zuſtand lebet/
appliciren wolte/ und daß hin-
gegentheil das/ was einen Krancken/ Unwiſſen-
den und laſterhafften gut iſt/ einen geſunden/
weiſen und tugendhafften Menſchen boͤſe ſeyn
koͤnne.


120.

Eine maͤßige Bewegung/ ein Stuͤcke
Rindfleiſch/ eine friſche Lufft/
iſt einem Ge-
ſunden gut/ aber einem Podagriſchen/ Schwind-
ſuͤchtigen und Febricitanten ſchaͤdlich. Und was
ein Weiſer mit Vergnuͤgen fuͤr wahr erkennet/
daruͤber aͤrgert ſich ein in Jrrthum ſteckender/
oder wird doch gleichſam daruͤber verblendet.
Ein Tugendhaffter iſt ruhig/ wenn er alleine iſt/
wenn er wenig hat/ wenn er wenig iſſet und
trincket.
Ein Wohlluͤſtiger ſtirbet fuͤr Ver-
druß/ wenn er keine Geſellſchafft hat/ und ein
Gei-
[45]das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.
Geitziger haͤnget ſich/ wenn man ihm ſeinen
Schatz nimmt; Ein Trunckenbold wird kranck/
wenn man ihm 8. Tage allen Wein entziehet.


121.

Wiederum: Einem Patienten iſt eine
etliche Tage lang continuirte Ruhe/ eine
auff ſeine Kranckheit gerichtete Artzeney/ eine
außerordentliche Waͤrme gut. Einen Ge-
ſunden aber macht ſie faul; und ein Geſunder
verderbet ſich/ wenn er offte Artzeney braucht/
und ſeine Zimmer ſo warm haͤlt/ als wenn er
kranck waͤre. Einem Jrrenden/ der noch in præ-
judiciis
ſteckt/ muß man durch einen ehrlichen
Betrug
gewinnen. Bey einem Weiſen iſt al-
ler Betrug verdaͤchtig. Ein Wohlluͤſtiger Gei-
tziger und Trunckenbold beſſert ſich/ wenn ſeine
Wohlluſt/ ſein Geiz und ſeine Truncken-
heit abnehmen;
aber ein Keuſcher Freygebi-
ger und nuͤchterner Menſch verſchlimmert ſich/
wenn er in einen dergleichen maͤßigen grad
wohlluͤſtig/ geitzig und der Trunckenheit erge-
ben wird.


122.

Mit der vorigen Eintheilung des Guten
hat folgende einige Verwandnis. Das Gute
und Boͤſe wird entweder poſitivè oder privati-
genommen. Das iſt/ das Gute beſtehet
entweder in der Erlangung einer angeneh-
men Sache/ oder in der Beraubung einer
unangenehmen.
Und das Boͤſe beſtehet ent-
weder in Erhaltung einer unangenehmen/
oder in Beraubung einer angenehmen
Sache.


123. Al-
[46]Das 1. H. von der Gelahrheit

123.

Alſo iſt die Erlernung zuvor unbekan-
ter Wiſſenſchafften/
die Erhaltung neuer
Ehre und Freyheiten/ die Erwerbung eines biß-
her nicht gehabten Vermoͤgens
u. ſ. w. poſi-
tivè
gut/ die Entledigung aber aus der Ge-
faͤngniß/ die Geneſung von der Kranckheit

u. ſ. w. iſt unter die bona privative talia zu rech-
nen. Gleicherweiſe iſt die Kranckheit/ die
Verwundung/ der Schmertz/ die Schmach
poſitivè ein Ubel/ die Einkerckerung aber/ die
Beraubung unſers Vermoͤgens oder unſerer
Ehren-Stellen ein malum privativum.


124.

Ferner ſo ſind etliche Guͤter ſehr edel
und hoͤchſtnothwendig/ ohne die des Men-
ſchen ſein Weſen entweder gar nicht beſtehen
kan/ oder doch elend und geſtuͤmmelt ſeyn wuͤr-
de; etliche aber ſind nicht ſo edel und noth-
wendig/
dergeſtalt daß der Menſch ohne die-
ſelben gar wohl beſtehen kan/ auch ohne ſie
nicht elend zu nennen iſt; Sie werden aber un-
ter die Zahl guter Dinge gerechnet/ weil der
Menſch/ ſo ſelbige beſitzet/ mehr Gelegenheit hat
anderen Menſchen Gutes zu erweiſen/ als wenn
er ſie nicht hat.


125.

Alſo ſind Geſundheit/ Weisheit und
Tugend ſehr edele und hoͤchſtnothwendige Guͤ-
ter; Freyheit aber/ aͤuſſerliche Ehre/ Reich-
thum/ Freunde/
ſind nicht ſo nothwendig/ wor-
zu wir auch meiſtentheils das decorum rech-
nen.


126. Dar-
[47]das Gute und Boͤſe zu erkennen uͤberh.

126.

Daraus wird aber leicht zu begreiffen
ſeyn die doppelte Art des Boͤſen/ deren eines
dem nothwendigen
Guten entgegen geſetzet
wird/ als Kranckheit/ Unwiſſenheit/ Jrr-
thum
und Laſter; das andere aber iſt nicht ſo
wohl boͤſe als indifferent, weil das ihm entgegen
getzte Gut nicht nothwendig iſt/ als Beraubung
oder Mangel der Freyheit/ der Ehre und des
Reichthums/
worzu wir auch die Unwiſſen-
heit
des decori rechnen.


127.

Und zwar ſo habe ich in dieſer Einthei-
lung auff die natuͤrliche Gleichheit des menſch-
lichen Weſens mein Abſehen gerichtet/ wenn
man aber auff die durch die Buͤrgerliche Geſell-
ſchafft eingefuͤhrte Ungleichheit reflectiret/ ſo iſt
nicht zu laͤugnen/ wie wir auch allbereit oben er-
wehnet/ daß das decorum unter die nothwen-
digen Guͤter
gerechnet werden muͤſſe/ ſo ferne
ohne dieſelbige kein Menſche in der Buͤrgerli-
chen Geſellſchafft ſich empor heben kan/ in wel-
ther Betrachtung aber auch die Freyheit/ Ehre
und Reichthum unter die nothwendigen Guͤter
gerechnet werden muͤſſen. Solcher geſtalt koͤn-
te man/ damit man dieſe beyderley Benennun-
gen nicht vermiſche/ ſagen/ die nothwendigen
Guͤter
ſeyn/ entweder ſolche in Anſehung des
menſchlichen Weſens/ (neceſſaria abſolutè) oder
in Betrachtung der menſchlichen Geſellſchafft/
in der wir leben/ und die nicht ſo vollkommen iſt/
wie
[48]Das 1. Hauptſt. von der Gelahrheit
wie ſie ſeyn ſolte und koͤnte (neceſſaria ex hypo-
theſi ſtatus corrupti ſocietatis civilis.
)


128.

Hiernechſt iſt auch das Gute entwe-
der ein unmittelbares Gut/ das des Men-
ſchen Dauerung und Weſen fuͤr ſich erhaͤlt;
als Leben/ Geſundheit/ Weisheit/ Tugend;
oder ein mittelbahres Gut/ welches zu Erlan-
gung und Vermehrung beſagten unmittelbaren
Guͤter dienet/ als Geld/ Speiſe/ und Tranck/
ſtudiren/ Ubung in tugendhafften Thaten; Je-
nes iſt der Zweck des menſchlichen Thun und
Laſſens/ dieſes die Mittel darzu. Und je ent-
ferneter dieſe Mittel ſeyn/ oder je leichter der
Menſche derſelben entbehren kan/ je in gerin-
gern grad des guten verdienen ſie auch geſetzet zu
werden.


129.

Endlich/ weil ſo wohl das Gute als
Boͤſe unterſchiedene Grade haben/ und wir all-
bereit oben erinnert/ daß das dauerhaffteſte Gute
und Boͤſe die andern allezeit uͤberwaͤge/ ſo wird
auch in Anſehen dieſer Anmerckung das Gute
entweder vor ein wuͤrckliches Gut gebraucht/
als Leben/ Geſundheit/ Weisheit/ Tugend/ oder
vor ein kleiner Ubel/ als Verlierung ſeines
Vermoͤgens das Leben zu erhalten/ ſterben fuͤr
ſeine Freunde u. ſ. w. Gleichergeſtalt wird auch
das Ubel entweder fuͤr ein wuͤrcklich Ubel ge-
nommen/ als Ungeſundheit/ Jrrthum/ liederlich
Leben/ oder fuͤr ein kleineres Gut; als Erlan-
gung Reichthums mit Verluſt der Geſundheit;
gut
[49]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.
gut Gedaͤchtniß mit Verluſt oder Verringerung
des judicii, Gelahrheit in aͤußerlichen Dingen
mit Verſaͤumung der Erkaͤntniß ſein ſelbſt.


130.

Wir haben oben geſagt/ daß die bisherigen
Eintheilungen unterſchiedene Grade des Guten
vorſtellen wuͤrden; und alſo wollen wir numeh-
ro kuͤrtzlich anzeigen/ welches unter denen bishero
erzehlten Arten die alleredelſten ſeyn/ nemlich
das ordentliche Gute/ das Gute/ das in Be-
nehmung einer unangenehmen
Sache beſte-
het (bonum privativurn) das in Anſehen des
menſchlichen Weſens nothwendige Gute/ das
unmittelbahre Gute/ und endlich das wuͤrck-
liche
Gute. Auff dieſe Arten muß ein Menſch
hauptſaͤchlich ſein Abſehen richten/ und auff die-
ſelbigen ſchickt ſich auch fuͤrnehmlich unſere gege-
bene Beſchreibung des Guten.


131.

Wiewohl in gemeinen Leben und
Wandel
kehret man es durch einen uͤbelen Ge-
brauch gemeiniglich umb. Denn weil die
Menſchen mehrentheils in einen auſſerordentli-
chen und verderbten Zuſtande leben/ als achten
ſie auch das auſſerordentlichen Gute viel hoͤ-
her
als das ordentliche; ja ſie gebrauchen ſich
des auſſerordentlichen Guten auch in dem
ordentlichen Zuſtande
zum oͤfftern als einer
Richtſchnur zu leben/ da wir doch erwehnet ha-
ben/ daß hierinnen das auſſerordentliche Gute
boͤſe ſey.


D132. Wir
[50]Das 1. Haupſt. von der Gelahrheit

132.

Wir koͤnten hiervon tauſend Exempel
fuͤr eines geben. Wie viele brauchen bey der
Geſundheit Artzeney;
wie viel Medici ordini-
ren einen Geſunden Menſchen er ſolle ſich zuwei-
len einen Rauſch trincken. Wie viele bilden
ſich ein/ das Waſſer/ das GOtt dem Menſchen
zum Tranck verordnet hat/ ſey ungeſund/ weil
der Wein den ſchwachen Magen noͤthig iſt. Mit
einem Worte/ unſere gantze Kinderzucht
taugt wegen dieſes præjudicii gantz und gar
nichts/ weil wir unſere Kinder von Jugend auff
nicht anders als patienten aufferziehen/ und zu
patienten an Verſtand und Willen faſt durch-
gehends damit machen.


133.

Mit dem bono poſitivo gehen noch
mehr Jrrthuͤmer vor/ weil auch vielleicht viel Ge-
lehrte ſelbſt mich auslachen werden/ daß ich das
bonum privativumfuͤr die vortrefflichſte
Art
ansgegeben. Alleine wenn man die oben
angefuͤhrte Exempel betrachten wird/ wird man
dieſe meine Meinung nicht ſo belachens wuͤrdig
halten/ zumahl weil wir ſchon oben erwehnet/
daß der Menſch ſehr vieler Dinge in dieſer Welt
entbehren koͤnne/ und alſo die bona poſitiva
mehrentheils unter die nicht nothwendi-
gen Guͤter
gehoͤren. Aus dieſer Urſachen willen
wird auch in der Buͤrgerlichen Geſellſchafft z. e.
einer der aus Rache einen andern umbgebracht/
oder umb reich zu werden geſtohlen/ ſcharffer ge-
ſtꝛafft/ als der in moderamine inculpatæ tutelæ
einen
[51]das Gute u. Boͤſe zu erkennen uͤberhaupt.
nen cxceß begangen/ oder aus Hunger geſtoh-
len. Zugeſchweigen/ daß das bonum poſitivum
die Gemuͤths-Ruhe mehr turbiret als befoͤrdert/
das privativum aber dieſelbe von denen wie-
drigen Verdrießligkeiten befreyet. Ja wenn
wir nichts mehr haͤtten/ daß wir denen/ die dieſe
unſere Meinung antaſten wolten/ entgegen ſetz-
ten/ wolten wir ſie mit dem Epicuro ſchamroth
machen/ der ſchon zu ſeiner Zeit aus eben dieſen
Urſachen die Wolluſt beſchrieben/ daß ſie nichts
anders als ein Mangel des Schmertzens oder
Verdruſſes ſey.


134.

Was ferner das nothwendige Gut be-
trifft/ ſo iſt es offenbahr/ das die gantze Welt/
Freyheit/ Reichthum/ Ehre und das decorum fuͤr
beſſer haͤlt/ als Geſundheit/ Weißheit und Tu-
gend; Ja daß auch unter dieſen das Geld/ ob es
ſchon ein ſehr entfernetes Mittel iſt zum Guten/
allen andern Dingen vorgezogen wird/ und nach
dem gemeinen Jrrthum die Narren weiſe/ die
Laſterhafften Tugendhafft/ auch bey nahe die
Krancken geſund macht.


135.

So bekuͤmmert ſich auch faſt niemand
umb das wuͤrckliche Gute/ weil man in lauter
boͤſen ſteckt und alſo taͤglich gewohnet iſt/ aus
zweyen uͤbeln das geringſte zu wehlen.


136.

Weil dannenhero der Menſch alle ſein
Thun und Laſſen darnach einrichten ſoll/ wie er
das Gute erlangen und gluͤckſelig leben moͤge;
gleichwohl dieſes ohne dem rechten Gebrauch
D 2der
[52]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
der Vernunfft nicht zu wege bringen kan; als
iſt ein gewiſſer Theil der Welt-Weißheit hier-
zu gewidmet/ der auch dieſerwegen Philoſophia
Practica
genennet wird/ und alſo nichts anders iſt
als die Gelahrheit/ die dem Menſchen wei-
ſet/ wie er gluͤckſelig leben ſol.


137.

Dieſe Gluͤckſeligkeit aber muß er erſt-
lich wohl und deutlich verſtehen/ worinnen ſie
beſtehe/ und was ihm GOtt dieſer wegen zuthun
aufferleget habe/ hernach aber bedacht ſeyn/ wie
er die Hindernuͤſſen aus dem wege raͤume/ die
ihn abhalten/ dieſe Gluͤckſeligkeit zu erlangen.


138.

Die Hindernuͤſſen kommen entweder
von ihm ſelbſt her durch ſeine affecten. Dieſe
lehret mir die Sitten-Lehre/ wie ſie bezaͤhmet
werden ſollen; oder ſie kommen von auſſen.


139.

Und zwar entweder durch Mangel/ den
zu vertreiben die Oeconomica oder Haußhal-
tungs Kunſt
unterweiſet/ oder durch Furcht
fuͤr aͤußerlicher Gewalt und Liſt/ wider welche
Hinderniß die Politic ihre Lehr-Saͤtze giebt.


Das 2. Hauptſtuͤck.
Von der groͤſten Gluͤckſelig-
keit des Menſchen.


Jnnhalt.


  • Beſchreibung der Sitten-Lehre, n. 1. Worinnen des
    Menſchen hoͤchſte Gluͤckſeligkeit beſtehe? n. 2. wird
    von denen Philoſophen ſehr gezancket. n. 3. Die
    hoͤchſte
    [53]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
    goͤchſte Gluͤckſeelzgkeit wird auff zweyerley Art ge-
    nommen (I) vor das edelſte unter denen
    menſchlichen Guͤtern.
    n. 4. Jn dieſen Verſtan-
    de kan dieſelbe nicht in den Gluͤcks-Guͤtern
    beſieben n. 5. 6. Nicht in Reichthum und
    Ehre/ weil dieſe nicht in unſerer Willkuͤhr ſtehen
    n. 7. und derſelben Beſitzung niemand gluͤcklich/ noch
    der Mangel jemand ungluͤcklich macht n. 8. Dieſer
    Lehrſatz wird uͤberall in praxi negligiret n. 9. und
    mit Worten und Wercken auch von denen Gelehrten
    ſelbſt beſtritten n. 10. Nicht in Vielen Freunden/
    ſo ferne dieſelbe zum Gluͤcks-Guͤtern gehoͤren/ weil
    ein Weiſer Mann viel Feinde hat/ und der viel Freun-
    de hat am elendeſten iſt n. 11. 12. Nicht in der Frey-
    heit
    n. 13. ob ſchon dieſelbe ein unſchaͤtzbares Gut
    iſt n. 14. und ein Leibeigner denen Todten gleich ge-
    achtet wird n. 15. 16. auch ein auff ewig gefangener
    Tod iſt n. 17. Nicht in dem Decoro n. 18. Bey denen
    Guͤtern des Leibes und der Seelen muͤſſen wir
    zuſoͤrderſt die gemeinen Jrrthuͤmer meiden n 19. als
    wenn das Leben und die Sinnligkeiten zur menſch-
    lichen Seele gehoͤreten n. 20. 21. oder der Leib der
    Kercker des Menſchen waͤre. n. 22. 23. Das Leben
    des Menſchen
    iſt der Grund der groͤſten Gluͤck-
    ſeligkeit und beſtehet aus vier Stuͤcken n. 24. De-
    ren keines ohne das andere ſeyn kan n. 25. (1) dis
    Gantzheit der Theile des menſchlichen Leihes/ (2) die
    Bewegung des Gebluͤts n. 26. (3) Die Bewegung
    der Senn-Adern. n. 27. Die Bewegung des Ge-
    bluͤts und der nerven ſind mit einander ver-
    knuͤpfft. n. 28. und von der alterirung dieſer beyder
    dependiret auch die alterirung der Gedancken und
    Vernunſſt n. 29. (4) Die Bewegung der Gedan-
    cken. Ohne dieſe iſt der Menſch kein Menſch mehr
    D 3n. 30.
    [54]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
    n. 30. Beantwortung derer Einwuͤrffe hiewieder
    n. 31. von den Kindern im Mutler-Leibe/ von denen
    die in Ohnmacht liegen n. 32. oder von Schlag ge-
    ruͤbret werden n.33. ingleichen von naͤrriſchen und
    raſenden Lenten n. 34. welche warhafftig geden-
    cken n. 35. und letzlich von denen zerſtuͤmmelten Men-
    ſchen n. 36. Dieſe vier Stuͤcke aber koͤnnen doch
    verringert werden/ oder ein Theil kan ſchwaͤcher
    ſeyn als der andere/ oder der Menſch kan in eine Roth
    gerathen eines an das andere zu wagen n. 37. welches
    ſo dann dem andern vorzuziehen und das hoͤchſte Gut
    ſey? n. 38. Jn der Geſundheit beſtehet die groͤ-
    ſte Gluͤckſeligkeit nicht/ denn ſie iſt nicht in unſern
    Vermoͤgen n. 39. und ein geſunder aber in Jrrthuͤ-
    mern ſteckender Menſch iſt elend n. 40. noch vielmehr
    wenn er Laſterhafft iſt n. 41. Ein Weiſer und Tu-
    gendhaffter aber iſt darumb nicht elend/ ob er gleich
    kranck iſt/ n. 42. Die Tugend iſt edler alß die Weiß-
    heit
    n. 43. Der Verſtand hilfft dem Menſchen
    nichts in Betrachtung des Guten/ wenn der Wille
    daſſelbige nicht ergreifft n. 44. Die groͤſte Gluͤckſe-
    ligkeit beſtehet nicht in unnuͤtzlichen und beluſtigen-
    den Wiſſenſchafften n. 45. auch nicht in der Phyſic
    und Matheſi. n. 47. 48. 49. Weil ſie den Menſchen
    nimmermehr ruhig machen. n. 50. Wiewohl man ſich
    nicht ſcheuet/ heut zu Tage darinnen die groͤſte Gluͤck-
    ſell keit zu ſuchen n. 51. Die Tugend iſt auch; die
    groͤſte Gluͤckſeligkeit nicht. n. 51. Der Verſtand kan
    nicht ohne Willen/ noch der Wille ohne Verſland
    ſeyn. Fabel von dem Willen als Koͤnig/ und dem
    Verſtand als deſſen Rath. n. 53. 54. 55. 56. Die groͤ-
    ſte Gluͤckſeligkeit des Menſchen muß in dem Willen
    und Verſtande zuſammen/ oder in dem Gemuͤthe
    und Gedancken geſucht werden n. 57. 58. Ohne
    Gedaucken emfindet der Menſch weder Gluͤck noch
    Ungluͤck
    [55]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
    Ungluͤck. n. 59. Sein Gluͤck beſtehet mehr in Gedan-
    cken als in der Genieſſung ſelbſt. n. 60. Die Gedan-
    cken machen auch des Menſchen Ungluͤck n. 61. Sei-
    ne groͤſte Gluͤckſeligkeit beſiehet in ruhigen und
    maͤßig ſich veraͤndernden Gedancken. n. 62. Welche
    Gemuͤths-Ruhe oder Beluſtigung des
    Gemuͤths
    genennet wird. n. 63. Dieſe wird beſ-
    ſer empfunden als beſchrieben. n. 64. Jhre Beſchrei-
    bung n. 65. Sie iſt eine Beluſtigung und ohne
    Schmertzen n. 66. aber dabey ruhig und ohne Freu-
    de n. 67. 68. Nach ihr trachtet man bey alle denen
    andern Guͤtern. n. 69. Jhr Verlangen ſich mit an-
    dern zu vereinigen iſt nicht unruhig/ ſondern zeiget
    nur an/ daß ihre Ruhe eine maͤßige Bewegung ſey.
    n. 70. Sie iſt ihren Uhrſprung und Wuͤrckung nach
    eine vernuͤnfftige Liebe.n. 71. 72. Die Beſtien
    haben keine Liebe und Geſellſchafft n. 73. aber der
    Menſch waͤre ohne Menſchliche Geſellſchafft nichts
    n. 74. ja er waͤre kein Menſch n. 75. Er haͤtte kein
    Vergnuͤgen n. 76. wenn er gleich ein miſanthrope waͤ-
    re/ und der ſich in Bibliothequen vergraͤbt n. 77.
    Die meiſten Beluſtigungen præſupponiren menſchli-
    che Geſellſchafften. n. 78. Der Menſch iſt zu einer
    friedfertigen Geſellſchafft geſchaffen n. 79. und alſo
    zur Liebe ruhiger Gemuͤther. n. 80. Ein vernuͤnffti.
    ger Menſch liebet andere Menſchen mehr denn ſich
    ſelbſt n. 81. 82. auch die Laſterhaffteſten lieben wuͤrck-
    lich andere Geſchoͤpffe mehr als ſich. n. 8[3]. Welches
    durch das Exempel eines Wohlluͤſtigen/ Ehr- und
    Geldgeitzigen erwieſen wird n. 84. 85. Wegen Benen-
    nung der groͤſten Gluͤckſeligkeit muß man ſich nicht
    zancken. n. 86. 87. (II) Vor den vollkomme-
    nen Begriff aller menſchlichen Guͤter/

    entweder auch der nicht nothwendigen n. 88. 89.
    oder doch zu in wenigſten der noͤthigen. n. 90. 91. Der
    D 4Reich-
    [56]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
    Reichthum iſt zur Geniuͤths-Ruhe nicht noͤthig-
    n. 92. 93. Die Armuth iſt nichts boͤſes. n. 94.
    Was von aͤußerſter Armnth zu halten. n. 65. Die
    aͤußerliche Ehre iſt ein bloſſer Zierrath der groͤſten
    Gluͤckſeeligkeit n. 96–100. Die aͤußerliche Unehre
    macht niemand elend n. 101. 102. ſondern ſie vermeh-
    ret vielmehr die warhafftige Ehre n. 103. Das
    Decorum iſt nur ein Zierrath. n. 104. 105. Der
    Mangel deſſelbigen iſt zuweilen unter das Boͤſe zu
    rechnen. n. 106. 107. Zumahl wenn ermit einer Un-
    ſchamhafftigkeit vergeſellſchafftet iſt. n. 108. Sonſten
    iſt es nur der Mangel eines Zierraths. n. 109.
    Schamhafftigkeit iſt nicht allemahl ein Zier-
    rath eines weiſen Mannes. n. 110. 111. Der Frey-
    heit
    iſt eine bloſſe Zierrath n. 112. viel Freunde
    ſind nicht einmahl eine Zierath. n. 103. Sondern
    eine Anzeigung des Mangels der Gemuͤths-Ruhe.
    n. 114. Alle Guͤter des Gluͤcks ſind keine nothwen-
    dige Stuͤcke der Gemuͤths-Ruhe. n. 115. Das Le-
    ben
    iſt der Grund der Gemuͤths-Ruhe/ jedoch macht
    der Tod den Menſchen nicht elend. n. 116. Die
    Geſundheit
    iſt ein noͤthiges Stuͤck der Gemuͤths-
    Ruhe. n. 117. Unterſchied zwiſchen einen weiſen und
    unwelſen Mann/ bey abzebrenden aber nicht ſchmertz-
    hafften Kranckheitenn. 118. 119. Bey ſchmertz-
    hafften Kranckheiten n. 120. iſt ein weiſer Mann nicht
    vollkommen ruhig/ aber er iſt doch auch nicht elende.
    n. 121. Und alſo iſt die Geſundheit kein weſentliches
    Stuͤck der Gemuͤths-Ruhe. n. 122. Ein Unweiſer
    iſt auch bey Schmertzhafften Kranckheiten elender
    daran als ein welſer Mann. n. 123. Weißheit
    und Tugend ſind weſentliche Stuͤcke der Gemuͤths-
    Ruhe n. 124. und derer Mangel machet den Men-
    ſchen hoͤchſt elende. n. 125. welches man aber nicht
    von
    [57]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
    von der Schein-Weißheit und von der Schein Tu-
    gend verſtehen muß. n. 126. 127. Warumb man der
    Wohlluſt des Leibes nicht erwehnet n. 128. 129.
    Kein Philoſophus hat die Wohlluſt des Leibes fuͤr das
    hoͤchſte Gut des Menſchen ausgegeben. n. 130.

1.


SO iſt demnach die Sitten-Lehre nichts
anders als eine Lehre/ die den
Menſchen unterweiſet/ worinnen
ſeine wahre und hoͤchſte Gluͤckſeligkeit be-
ſtehe/ wie er dieſelbe erlangen/ und die Hin-
derniſſen/ ſo durch ihm ſelbſt verurſachet
werden/ ablegen und uͤberwinden ſolle.


2.

Derowegen nachdem wir in vorhergehen-
den Capitel/ unterſchiedene Arten von dem Gu-
te des Menſchen erzehlet haben/ muͤſſen wir
nunmehro vor allen Dingen beſorget ſeyn zu er-
oͤrtern/ worinnen ſeine groͤſte Gluͤckſeligkeit
beſtehe.


3.

Zumahl da die Philoſophi ſo eyffrig und
ernſtlich uͤber dieſer Frage geſtritten und
noch ſtreiten/ wiewohl dieſer Streit mehr den
Nahmen als die Sache ſelbſt angehet/ oder
doch/ wie er in gemein getrieben wird/ mehr ſub-
til und Grillenhafftig als deutlich oder nuͤtzlich iſt.
Wir wollen unſerer Gewohnheit nach die Sache
deutlich/ und daß ſie jederman begreiffen moͤge/
auch ſo ferne ſie in der Sitten-Lehre hauptſaͤch-
lich genutzet werden kan/ vortragen.


D 54. Gluͤck
[58]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten

4.

Gluͤckſelig ſeyn heiſt das wahre Gut
des Menſchen beſitzen. Die hoͤchſte Gluͤckſe-
ligkeit
aber wird auff zweyerley Art genom-
men/ entweder wenn man die unterſchiedenen
Guͤter des Menſchen in Anſehen ihrer unter-
ſchiedenen Grade gegen einander haͤlt/ vor die
Beſitzung des edelſten Guts oder in An-
ſchung ſeiner Vollkommenheit/ vor die Beſi-
tzung aller der menſchlichen Guͤter insge-
ſambt
oder zum wenigſten derjenigen/ die wir
oben hoͤchſtnothwendig genennet haben.


5.

Was den erſten Verſtand betrifft/ ſo
weiſet bald anfaͤnglich das jenige/ was wir im
vorigen Capitel erwehnet haben/ daß/ und
Reichthumb/ Ehre/ Freyheit/ Freude/ und
das decorum nicht nothwendige Guͤter ſeyn
auch keines von denenſelben vor die hoͤchſte
Gluͤckſeligkeit des Menſchen gehalten werden
koͤnne.


6.

Zugeſchweigen daß/ GOtt dem Men-
ſchen eingepflantzet hat/ dem Guten nachzutrach-
ten/ und folglich auch dieſes hoͤchſte Gut in des
Menſchen ſeiner Willkuͤhr ſtehen muͤſſe/ da
doch alle obberuͤhrte Arten unter die Guͤter des
Gluͤcks/
daß iſt/ die nicht in unſerer Willkuͤhr
ſtehen/ auch nach allgemeiner Meinung gerech-
net werden.


7.

Reichthumb und Ehre kan das hoͤchſte
Gut nicht ſeyn/ weil alle Regeln die wir dieſer-
wegen in der Oeconomique und Politic geben
wer-
[59]Gluͤckſeligkeit des Menſchen.
werden/ weil ſie nur auff wahrſcheinlichen Grund
gebauet ſind/ vielfaͤltig triegen koͤnnen/ in dem
GOtt taͤglich durch eine Menge Exempel dar-
thut/ daß die irraiſon nableſten Leute zu Reich-
thumb und Ehre gelangen/ und die jenigen/ die
nach denen Grund-Saͤtzen geſunder Vernunfft
Reichthumb und Ehre ſuchen/ zum oͤfftern Arm
und in einem niedrigen Stande bleiben muͤſſen.


8.

Ferner ſo iſt der reichſte und maͤchtig-
ſte
Koͤnig warhafftig elend/ wenn er kranck
und ungeſund oder ſonſt in ſeinem Gemuͤthe
eine unruhige Beaͤngſtigung empfindet. Da
hingegentheil der aͤrmſte Menſch der z. e. na-
ckend und bloß aus einer jaͤhling entſtandenen
Feuers-Brunſt ſein Leben retten muß/ wenn er
anders geſund und Tugendhafft iſt/ warhafftig
nicht elend iſt/ weil er entweder durch Mitlei-
digkeit anderer Menſchen (ohne ſchaͤndliches
und tadelns wuͤrdiges Betteln) oder durch Ar-
beit ſatſam Gelegenheit findet/ ſeine Bloͤſſe zu
bedecken/ und ſeinen Hunger zu ſtillen; oder
wenn er ſeiner affecten nur Meiſter iſt/ auch in
dem wildeſten Wald mit Waſſer und Wur-
tzeln zur Noth begnuͤget iſt. Und da ein Papi-
nian
auch unter dem Richt-Beile wegen ſei-
ner Gemuͤths-Ruhe von/ vernuͤnfftigen Men-
ſchen Beneidungs wuͤrdig geachtet wird/ ſchwei-
ge denn/ wenn ihm ein Tyrann nur ſchlecht weg
ſeiner Ehren-Aempter beraubete/ und in dem
gering-
[60]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
geringſten und nach dem aͤußerlichen Anſehn un-
ehrlichſten Stande ſetzte.


9.

Und was wollen wir uns hieruͤber weiter
auffhalten/ nachdem aber auff allen unſern hohen
und niederen Schulen die Lehre/ daß das hoͤch-
ſte Gut nicht in Reichthum noch Ehre beſtehe/
denen Studirenden vorgeſaget wird. Dem aber
unerachtet/ betrachte du dieſen Lehr-Satz deſto
genauer/ weil die gemeinepraxisauff hoheu
und niederen/ ja auff denen hochſten Schu-
len/ das iſt/ an Hoͤffen dieſem Lehr-Satz zu
wider iſt.
Jederman/ ja diejenigen ſelbſt/ die
durch ihr Exempel ihre Lehre beſtaͤtigen ſolten/
trachten nach Ehre und Reichthum als nach dem
hoͤchſten Gut mit Verluſt ihrer Geſundheit/ mit
Beraubung ihrer geziemenden Beluſtigungen
und Erduldung tauſend faſt unertraͤglicher Ver-
drießlichkeiten/ mit Gefahr des Lebens und der
Gemuͤths-Ruhe.


10.

Ja was thut man anders als durch an-
dere Worte und Lehren dieſen Lehr-Satz
umzuſtoſſen.
Wie offte ſagen die Lehrer wenn
ſie auſſer denen Cathedern ſeyn: Wer Geld
hat/ hat alles. Wer kein Geld hat/ iſt ein
Narr.
Wie mißbraucht man nicht ein ander
Sprichwort: Gut verlohren/ Muth verloh-
ren/ Ehre verlohren/ alles verlohren.
Und
wie draͤngen ſich doch die Gelehrte/ daß ſie die-
ſen ihren allgemeinen Lehr-Satz umb die Wet-
te proſtituiren/ wenn ſie nach der Nedens-Art
des
[61]Gluͤckſeligkeit des Menſchen.
des Frantzoͤſiſchen Satyrici in ihren Dedicatio-
nibus,
mit denen ſie die ungeſchickteſten Staats-
Miniſter,
oder die unwuͤrdigſten Wuchrer beeh-
ren/ auff Hebraͤiſch/ Griechiſch und Lateiniſch be-
weiſen wollen/ daß dieſelben die Gelehrteſten
und Tugendhaffteſten Leute ſeyn. Daß ich
nichts erwehne von dem/ daß/ da es ſonſt hieſſe:
Die Ehre iſt der Tugend Lohn; heut zu Ta-
ge in der gantzen Welt die Ehre oͤffentlich mit
Gelde erkaufft wird.


11.

Was die Freunde betrifft/ halte ich vor
noͤthig dieſes zu erinnern/ daß wenn die Freun-
de unter die Guͤter des Gluͤcks gerechnet wer-
den/ weil derer Mangel endlich den Menſchen
nicht elend macht/ eine Menge ſolcher Men-
ſchen
dadurch verſtanden werde/ die reich oder
maͤchtig ſind/ und wegen ihres eigenen Intereſſe
unſer Gluͤcke zu befoͤrdern/ und unſern Schaden
zu wenden ſuchen. Jn dergleichen Freunden
kan ſo viel deſtoweniger die groͤſte Gluͤckſelig-
keit beſtehen/ je mehr unſtreitig iſt/ daß ein wei-
ſer und tugendhaffter Mann nicht viel
Freunde haben koͤnne/
ſondern nothwendig
viel/ viel Feinde haben muͤſſe/ weil er ſonſt nicht
weiſe und tugendhafft ſeyn wuͤrde. Wor-
bey nicht zu vergeſſen/ daß diejenigen/ die
in dieſer Welt ſich jederman zum Freun-
de machen
und niemand erzoͤrnen wollen/
am elendeſten dran ſeyn/ weil ſie ſich den
groͤſten Verdruß taͤglich anthun/ und dennoch
die
[62]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
die meiſten Feinde haben; dannenhero ſie nicht
unbillig den Neutraliſten im Kriege zu verglei-
chen ſind.


12.

Was aber die wahre und vernuͤnffti-
ge Freundſchafft
betrifft/ die in beſtaͤndiger
Vereinigung zweyer tugendhafften Gemuͤther
beſtehet/ davon iſt jetzo nicht die Rede/ ſondern
wir werden bald ſehen/ daß ohne dieſelbe die
hoͤchſte Gluͤckſeligkeit nicht beſtehen koͤnne.


13.

Die Freyheit duͤrffte uns etwas meh-
res zu thun machen. Sie wird ja durchgehends
fuͤr ein unſchaͤtzbahres Gut gehalten. Ein Leib-
eigner Sclave iſt nach allen Rechten dem
Viehe oder denen Todten gleich geachtet/ was
iſt aber elender als ein Vieh oder ein todes Aas?
Und ein Eingekerckerter/ noch vielmehr aber
ein zur ewigen Gefaͤngniß Verdammter iſt
lebendig todt.


14.

Aber kehre du dich hieran ſo viel als
nichts. Jſt die Freyheit gleich ein unſchaͤtz-
bahres Gut/
ſo beweiſet dieſes doch nur ſo viel/
daß ſie allen Geld und Reichthumb vorzuziehen
ſey/ nicht aber daß z. e. ein Unterthaner oder
auch ein Leibeigner deshalben elend ſey. Du
magſt noch ſo frey ſeyn als du wilſt/ wenn du
kranck biſt/ ſo iſt ein geſunder Sclave viel gluͤck-
licher als du.


15.

Wird gleich ein Sclave in denen Buͤr-
gerlichen Rechten den Toden gleich geachtet/
ſo gehet doch dieſes nur die Freyheiten an/ die
denen
[63]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
denen freyen Buͤrgern zukommen/ und die ein
Menſch als ein Menſch gar wohl entbehren kan.
Jn Betrachtung der natuͤrlichen Rechte werden
ſie ſo wohl als andere Menſchen auch in denen
Roͤmiſchen Rechten geachtet.


16.

Ja was wilt du von denen alten Leib-
eigenen/
daß ſie dem Viehe und Toden gleich
geachtet werden/ viel ſagen? Das Roͤmiſche
Recht iſt oͤffters gewohnet in ſeinen fictionibus
und ſonſten eine Sache anders und haͤrter zu-
beſchreiben als ſie iſt. Die Roͤmiſche Leibei-
gene
hatten offt beſſere Tage und ein vergnuͤg-
ter Leben/ als/ ich wil nicht ſagen/ unſere Bauren/
ſondern viel von unſern wohlhabenden Buͤr-
gern/
von was Stande ſie auch ſeyn. Und ge-
ſetzt auch/ daß ihrer viel in einen geringen und dem
aͤußerlichen Anſehen nach armſeligen Zuſtand
lebeten/ ſo wolte ich doch lieber der armſelige
Epictetus als ein Cæſar oder Antonius, oder
auch gar Auguſtus ſeyn.


17.

Endlich iſt ſchon ein zu ewiger Gefan-
genſchafft
Verdammter in anderer Leute An-
dencken lebendig tod/ ſo hat er doch mehr Ge-
legenheit in ſeiner Gefaͤngniß fuͤr ſich ſelber zu
leben; ja manchen reiſſet GOTT durch dieſes
Mittel aus dem lebendigen Tode der Wohlluſt/
des Geld- und Ehrgeitzes heraus/ daß er in dem
Kercker durch die Erkaͤntniß ſeiner ſelbſt zu le-
ben anfaͤngt. Zudem iſt doch auch ein des Lan-
des Verwieſener in Anſehen des Buͤrger-Rechts
(das
[64]Das 2. Huptſt. von der groͤſten
(das wir allhier/ wie erwehnet/ nicht betrachten)
tod/ ob er ſchon in der groͤſten Freyheit lebet.


18.

So zieret auch hiernechſt zwar das de-
corum
einen Menſchen uͤberaus ſehr/ ja es ſte-
het auch daſſelbige in des Menſchen ſeiner Will-
kuͤhr/ oder es kan doch zum wenigſten von allen
und jeden/ in was Stande ſie ſeyn/ ohne Muͤhe
und Koſten erhalten werden. Aber es macht
doch deswegen das decorum einen ungeſunden
in Jrrthuͤmern und Laſtern ſteckenden Men-
ſchen nicht gluͤcklich/ ja der Mangel desdeco-
ri
(wenn wir denſelben nur von dem indecoro
oder der Unverſchamheit recht entſcheiden)
macht den Menſchen ſo wenig Elend/ als we-
nig der Mangel ſchoͤnen Haares den menſchli-
chen Leib verſtimmelt.


19.

Aber nun muͤſſen wir die jenigen Guͤter
betrachten/ die wir oben als edele und noth-
wendige
angegeben/ aus denen nemlich des
Menſchen ſein Weſen beſtehet/ nemlich die
Goͤter des Leibes und der Seelen. Allwo
wir zufoͤrderſt die gemeinen Jrrthuͤmer vermei-
den muͤſſen/ welche dieſe Guͤter ein ander ent-
gegen ſetzen/
als wenn eines ohne dem an-
dern ſeyn
und der Vernunfft nach erhalten
werden koͤnte/ oder als ob er nur des Menſchen
Weſen in der Seele alleine beſtaͤnde.


20.

Hieher gehoͤret/ wenn man faſt insge-
mein zum Leibe die Geſundheit und Gantz-
heit der Glieder/
zur Seele aber erſtlich das
Leben
[65]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
Leben/ hernach die Sinnligkeiten/ und dann
die Vernunfft rechnet; man moͤge nun dafuͤr
halten/ daß der Menſch drey Seelen habe/ ei-
ne Wachßthuͤmliche/ eine Sinnliche und eine
Vernuͤnfftige/ oder das die menſchliche Seele
dreyerley wuͤrckende Eigenſchafften habe/
davon das Leben dem Menſchen mit dem Pflan-
tzen/ und die Sinnligkeit ihme mit den Thieren
gemein ſey/ die Vernunfft aber ihme alleine zu-
ſtehe/ daher auch der Menſch erſt in Mutter-
Leibe als eine Pflantze/ hernach nach ſeiner Ge-
burt in ſeiner erſten Kindheit als ein Thier le-
be/ biß er endlich/ wenn er ſeine Vernunfft zu
brauchen anfange/ auch anfange als ein Menſch
zu leben.


21.

Woraus man ferner zu folgern pfleget/
daß das Leben der Geſundheit/ die Sinn-
ligkeit aber dem Leben/
und die Vernunfft
allen dreyen fuͤrzuziehen/ woraus viel inconve-
nientiæ
erwachſen/ die wir eben jetzo nicht beruͤh-
ren wollen.


22.

Gleicher weiſe iſt auch ein Jrrthum/ wenn
man den Leib nur fuͤr ein Gefaͤngniß und
nicht fuͤr ein Theil der Seele haͤlt. Weßhalb
man hernach nicht eben bewundern darff/ wenn
die Stoiker und Epicureer auff den Schwarm
gerathen/ daß ein weiſer Mann mitten im
Fener eben ſo ruhig ſey/ als wenn er in ei-
nem Roſen-Garten ſaͤſſe/
oder wenn ſie ge-
ſagt/ bey ereigneten großen Schmertzen
Eſchrie
[66]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten.
ſchrie zwar der Mund eines weiſen Man-
nes/ aber ſeine Seele waͤre ruhig;
und was
dergleichen ungegruͤndete Dinge mehr fuͤrge-
bracht werden.


23.

Wir wiſſen/ daß der Menſch aus zwey
weſentlichen Theilen dem Leib und Seele be-
ſtehet/ und rechnen das Wachsthum und die
Sinnligkeiten zu dem Leibe/ die Gedancken
aber alleine zu der Seele.


24.

Derowegen wenn das Leben des Men-
ſchen vor die Vereinigung des Leibes und der
Seelen
genommen wird/ ſo iſt es kein Zweiffel/
es iſt das Leben der Grund des groͤſten Gu-
tes
des Menſchen; Denn es iſt ſo dann ſelbi-
ges nichts anders als die Dauerung des menſch-
lichen Weſens/ und begreifft zugleich die Bewe-
gung des Gebluͤts/
und der Bewegungs-
Geiſter
wie nicht weniger der Seelen und die
Gantzheit derer Theile des Menſchlichen
Coͤrpers/
darinnen dieſe Bewegungen vorge-
hen/ in ſich.


25.

Und zwar ſo ſind dieſe vier Stuͤcke
dergeſtalt mit einander verknuͤpfft/ daß keines
ohne das andere ſeyn
kan/ und daß von dem
beſtaͤndigen wohl ſeyn des einen auch die Guͤte
des andern dependiret.


26.

Wo keine Theile des menſchlichen
Leibes ſind/
da iſt kein Menſch. Und wo in
dieſen Theilen keine Bewegung des Gebluͤ-
tes
[67]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
tes iſt/ iſt der Menſch tod/ und folglich hat er
auch keine Sinnligkeiten und Vernunfft mehr.


27.

Wo keine Bewegung in den Senn-
Adern mehr iſt/
koͤnnen ſich auch die aͤuſſerliche
Gliedmaſſen nicht bewegen ja der menſchliche/
Coͤrper hat keine Empfindligkeit mehr. Wo
aber der Menſch keine Bewegung und Em-
pfindligkeit mehr hat/ iſt er tod. Und wie
wolte denn nun in einem Toden Menſchen das
Gebluͤte ſich bewegen/ in welcher Bewegung
des Leibes Leben iſt. Ja wie wolte ein todter
Menſch dencken und ſeine Vernunfft brauchen.


28.

Zugeſchweigen daß die Bewegung in
denen Senn-Adern
und Blut-Adern derge-
ſtalt mit einander verknuͤpfft iſt/ und jenes/ wenn
es recht gebraucht wird/ auch dieſes in ſeinen
ordentlichen Zuſtand erhalten hilfft/ und im Ge-
gentheil wenn man die aͤuſſerliche Bewegung
gar zu ſehr ſpahret/ auch die Bewegung des
Gebluͤts ſtocken und faul zu werden anfaͤngt.


29.

So iſt auch/ was die Vernunfft betrifft/
bekant/ das nach unterſchiedener Arten der Be-
wegung in
dem Gebluͤte die Gedancken mun-
ter oder verdroſſen/ und nach denen unterſchie-
denen Arten der Bewegung in denennerven
die Gedancken begierig oder gleichguͤltig ſeyn/
und alſo allezeit die menſchliche Vernunfft nach
Art dieſer beyderley Bewegung geaͤndert wird.
Was ſolte ſie dannenhero wohl dencken/ wenn
E 2keine
[68]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
keine Bewegung weder im Gebluͤte noch in de-
nen Senn-Adern vorginge.


30.

Endlich wenn die Seele ſich nicht
mehr in dem menſchlichen Gehirne bewe-
get/
als derer Weſen in einer ſteten Bewegung
beſtehet/ ſo iſt der Menſch gleichfalls kein Menſch
mehr; ja es waͤre dieſes eine Anzeigung/ daß
er nicht mehr lebete/ weil bey dem Leben des
Menſchen in deſſen Gehirne alle Bewegung
des Gebluͤtes und zu den Senn-Adern gehoͤrige
Geiſtergen præpariret werden. Wenn nun in
dem Gehirn das Haupt Bewegungs-Rad des
Menſchen die Seele ſtockte und ſich nicht be-
wegete/ wegen welches doch alle Bewegungen des
Gebluͤtes und der Senn-Adern von dem
Schoͤpffer geordnet ſind/ wie wolte dieſe præpa-
ration
darinnen vorgehen koͤnnen/ und zu was
Ende ſolte dieſelbe geſchehen?


31.

Daß man aber dieſe dreyerley Bewe-
gungen des menſchlichen Lebens nebſt der Gantz-
heit der menſchlichen Gliedmaſſen insgemein
betrachtet/ ob koͤnten ſie von einander abge-
ſondert werden/
iſt daher kommen/ daß man
in denen vorkommenden Einwuͤrffen die Sa-
chen nicht genaue unterſucht/ und durch eine
merckliche præcipitantz ſich betrogen.


32.

Wir wollen von dem Zuſtand der Kin-
der in Mutter-Leibe
nicht viel ſagen/ denen
etliche von denen Alten Weiſen nur eine wachs-
thuͤmliche/ andere aber auch die ſinnliche/ und
noch
[69]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
noch andere auch die vernuͤnfftige Seele ſcheinen
gegeben zu haben/ weil die Empfaͤngniß und
Verfertigung der Kinder in Mutter-Leibe wohl
ſtetswehrend unſerer ſchwachen Vernunfft un-
erkant bleiben wird. Wir wollen nun von de-
nen ſagen die in Ohnmacht liegen. Bey
dieſen ſcheinet die Bewegung des Gebluͤtes
verſchwunden zu ſeyn/ und dennoch leben ſie
noch/ weil ſie nicht unter die Todten koͤnnen ge-
zehlet werden. Alleine man muß einen Unter-
ſchied unter einen langſamen und gar keiner Be-
wegung machen. Das Gebluͤte (wie auch nicht
weniger die Bewegungs-Geiſter) beweget ſich
bey den in Ohnmacht liegenden ſehr langſam/
daß man ſolche von auſſeu nicht empfindet; aber
es beweget ſich doch.


33.

Gleich ergeſtalt wenn einer von Schlag
geruͤhret wird/
wenn der Schlag die Bewe-
gung in denen Senn-Adern gantz auffhebet/ ſo
iſt der Menſch tod/ ſchwaͤchet er aber dieſelbe
nur/ oder verderbet ſie in einem oder etlichen
Gliedmaſſen/ ſo bleibet der Menſch zwar noch
am leben/ aber man kan ſo denn dieſes nicht
fuͤr ein Exempel annehmen/ daß der Menſch
koͤnne leben bleiben/ wenn er gleich keine Bewe-
gung in denen Senn-Adern habe.


34.

Ferner naͤrriſche und raſende Leute
haben warhafftig Vernunfft/ ſie geden-
cken wuͤrcklich
(und wenn ſie auch nicht ge-
daͤchten/ ſo bewegete ſich doch ihre menſchliche
E 3Seele
[70]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
Seele in ihnen/ wie in denen kleinen Kindern
und harte ſchlaffenden) aber ſie gedencken ver-
wirrt und naͤrriſch/ weil die kleinen Theile im
Gehirne verruͤckt ſeyn/ oder wegen anderer Ur-
ſachen. Und ſolchergeſtalt ſchickt ſich dieſes
Exempel wieder nicht darzuthun/ daß ein Menſch
ohne Bewegung der Seele leben koͤnne.


35.

Jch weiß zwar wohl/ daß dieſe meine
Lehre denen/ die keine Carteſianer ſeyn/ wunder-
lich vorkommen werde; aber wenn ſie deswe-
gen denen raſenden und naͤrriſchen die Ge-
dancken nehmen wollen/ weil ihre Gedan-
cken ſo unvernuͤnfftig ſind/
ſo muͤſſen ſie auch
ſagen; daß die Treumenden nicht geden-
cken/
ja daß ſo viel wachende/ kluge/ gelehrte
und vornehme Leute nicht gedaͤchten/ die z. e. vor-
geben/ man doͤrffe von ſeiner Vor fahren Meinun-
gen nicht abweichen/ man muͤſſe einen Beruff
haben gutes zu thun; Erde/ Waſſer/ Lufft/ und
Feuer waͤren vier Elemente/ u. ſ. w. welches doch
gewiß ſehr unfoͤrmlich und von keinem Menſchen
geglaubet werden wuͤrde.


45.

Endlich ſo iſt es zwar an dem/ daß der
Menſch zur Noth von denen Gliedmaſſen ſei-
nes Leibes einen Arm oder ein Bein miſſen
kan/ aber deswegen kan er den Kopff nicht
miſſen/ vielweniger eine hauptſaͤchliche Verle-
tzung in Gehirne/ Hertzen/ denen groſſen
Blut-Adern u. ſ. w. leiden/ geſchweige denn daß
er ohne
[71]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
er ohne alle Theile des Leibes ſolte beſtehen
koͤnnen.


37.

Ob nun aber ſchon dieſe vier Stuͤcke des
menſchlichen Lebens nicht ohne einander ſeyn
koͤnnen/ ſo iſt doch nicht zu laͤugnen/ das dieſel-
bigen zum Theil verringert werden koͤnnen/
daß es dem gantzen nicht ſchade/ alswenn ein
Menſch ein Arm oder Bein verlieret/ wenn
er einekleine und nicht lange daurende alteration
in Gebluͤte hat/ wenn ihm durch ein Schlag ei-
ne Hand gelaͤhmet wird/ wenn ſein Verſtand
einmahl nicht ſo munter iſt als das andere u. ſ.
w. oder daß ein Theil ſchwaͤcher ſeyn koͤnne
als der andere;
als z. e. wenn ein Menſch kei-
ne Arme hat/ kan er ſich angewoͤhnen die Fuͤſſe
an ſtatt der Haͤnde zugebrauchen; wenn er
blind iſt/ kan er den Unterſcheid der Farben durch
das Gefuͤhle finden; Was dem Gedaͤchtnuͤß
abgehet/ waͤchſet dem judicio zu u. ſ. w. oder daß
der Menſch zuweilen in einer groſſen Noth
ſich befindet
eines von zweyen Ubeln zu erkieſen/
und ſich reſolviren muß eiu Stuͤck zu wagen/
daß er das andere erhalte.


38.

Und weil demnach/ wie wir oben erweh-
net/ das kleineſte Gut fuͤr ein Ubel/ das kleineſte
Ubel aber fuͤr etwas gutes zu halten; ſo muͤſſen
wir freylich unterſuchen/ welches von denen
weſentlichen Guͤtern des Menſchen in Ge-
geneinanderhaltung dem andern vorzuzie-
hen ſey.
Aber damit dieſe unſere Betrachtung
E 4hierin-
[72]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
hierinnen nicht gar zu weitlaͤufftig werde/ und
weil es ohne dem keines groſſen Kopffbrechens
in Gegeneinanderhaltung der Theile des
Menſchlichen Coͤrpers oder der Sinnligkeit-
ten
braucht/ ſondern dieſelbe von Leuten die
einen natuͤrlichen Verſtand haben/ gar leichte
eroͤrtert werden kan. Als wollen wir nur uͤber-
haupt die Guͤter des menſchlichen Leibes/ die wir
oben allbereit zuſammen genommen Geſund-
heit genennet/ gegen die Guͤter der Seelen
halten/ und hernach mahls dieſe Lehren gegen
einander etwas genauer beleuchten.


39.

Was demnach die Leibes-Geſundheit
anlanget/ ſo iſt kein Zweiffel/ das dieſelbige zwar
der groͤſten Gluͤckſeeligkeit des Menſchen eine
ziemliche Vollkommenheit gebe/ aber doch in
ſelbiger die wahre Gluͤckſeeligkeit ſelbſt nicht
beſtehen koͤnne/ theils weil dieſe Geſundheit nicht
allemahl in des Menſchen ſeinen Willen ſte-
het/ ſondern vielen aͤuſſerlichen Zufaͤllen unter-
worffen iſt/ und ein Menſch durch die Gewalt
anderer derſelben beraubet werden kan/ theils/
weil dieſelbige an und fuͤr ſich ſelbſt den Men-
ſchen nicht gluͤcklich/ noch dererſelben Berau-
bung ihn elend machen kan.


40.

Bilde dir nur einen Menſchen ein/ der
geſunde ſtarcke Gliedmaſſen hat/ der wohl iſſet
und trincket/ auch ſeine Speiſſe und Tranck
wohl verdauet/ und zu allen Leibes-Ubungen
geſchickt iſt. Was hilfft ihn aber dieſes alles/
wenn
[73]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
wenn er in der Unwiſſenheit und Jrrthuͤ-
mern
ſteckt/ und wegen der Vorurtheile der
menſchlichen autoritaͤt und eigenen præcipitantz
das wahre von den falſchen nicht entſcheiden
kan; Jſt er nicht in der That ein recht elender
Menſch/ weil er wegen dieſer Vorurtheile taͤg-
lich von dem ihm von GOtt fuͤrgeſetzten Zweck
immermehr und mehr abweichet/ und ſind in
ſo weit die unvernuͤnfftigen Thiere nicht beſ-
ſer dran/ weil ſie durch ihren innerlichen Trieb
ihren Entzweck viel beſſer erreichen als ein ſol-
cher Menſch? Ja iſt das Elend eines ſolchen
Menſchen nicht deſto gefaͤhrlicher zu achten/ weil
ihn daſſelbige ſo ſtarck verblendet/ daß er es
nicht einmahl erkennet/ ſondern ſeinen Zuſtand
fuͤr gut und ſich fuͤr gluͤcklich achtet?


41.

Wenn er aber noch uͤber dieſes ſich we-
gen ſeines gefuͤhrten Laſterhafften Lebens
in einer rechtſchaffenen Gemuͤths-Unruhe und
Gewiſſens-Angſt befindet/ was iſt wohl elen-
der als ein ſolcher geſunder Menſch? Und iſt die
Unruhe ſeines Gemuͤhts nicht capabel ihm die
Kraͤffte ſeiner Geſundheit durch einen langwei-
ligen Tod gleichſam abzuzehren/ und ihn der-
ſelben zuberauben?


42.

Hingegen wenn ein weiſer und Tugend-
hafftiger
Mann an einen ſochtenden Fieber/
an der Schwindſucht u. ſ. w. darnieder liegt/
kan man ihn wohl mit recht ungluͤcklich nennen/
wenn ſein Verſtand ruhig und ſein Gemuͤthe
E 5ver-
[74]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
vergnuͤgt iſt/ ob er gleich nicht in einen ſo ho-
hen
gradgluͤcklich iſt/ als wenn er nebſt ſei-
ner Weißheit und Tugend auch geſund waͤre.


43.

Ferner unter denen Guͤtern der menſch-
lichen Seele muͤſſen wir uns wohl in acht
nehmen/ daß wir in Gegeneinanderhaltung
der Erkaͤntnuͤß des wahren und falſchen/
die
in Verſtande ihren Sitz hat/ und denen von
des Menſchen Willen, herruͤhrenden tugend-
hafften Thaten
nicht einen unvernuͤnfftigen
Ausſchlag geben. Zwar koͤnnen dieſe Letztern
ohne vernuͤnfftige Einrichtung des Wahns in
dem Menſchlichen Verſtande nicht beſtehen;
alleine wenn ſonſt nichts waͤꝛe/ſo ſind ſie doch des-
wegen viel vortrefflicher als jene/ weil der
Verſtand/
ſo ferne er mit dem Guten zu thun
hat/ daſſelbige nur erkennet/ niemahlen aber
daſſelbige erlanget/ ſondern das Gute in Anſe-
hen des Verſtandes nur allezeit als ein entfer-
netes und zukuͤnfftiges Ding betrachtet werden
muß/ welches der Verſtand niemahlen ergreif-
fet noch ergreiffen kan; da hingegen der Wille
ſo ferne er dem aͤuſſerlichen Thun und Laſſen
anbefiehlet/ dem Guten nachzujagen/ daſſelbige
auch erhaͤlt/ und dardurch der Menſch des Gu-
ten genieſſet.


44.

Wir wollen/ dieſes deſto beſſer zu verſte-
hen/ noch nicht einmahl ein Exempel von der groͤ-
ſten Gluͤckſeeligkeit des Menſchen/ ſondern nur
von denen bisher erzehlten andern Guͤtern ge-
ben.
[75]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
ben. Was hilfft es dem Menſchen/ wenn er
gleich noch ſo ſcharffſinnig raiſoniret/ wie man
ſich ehrlich in der Welt hinbringen/
nach
Ehren trachten/ Freunde erwerben/ und ſei-
ne Freyheit recht gebrauchen ſolle; wenn er
von artigen Sitten/ die man in gemeiner Ge-
ſellſchafft braucht/ wohl zu diſcuriren weiß;
wenn er von der menſchlichen Geſundheit/ wie
man dieſelbe erhalten/ und die verlohrne wieder
bringen ſolle/ gruͤndlich zu reden und zu ſchrei-
ben weiß/ und verſchwendet alle das ſeinige/
oder iſt faul und wil nichts arbeiten/ oder ach-
tet weder Ehre noch Schande/
und kan ſich
mit niemand vertragen/ oder mißbrauchet ſei-
ne Freyheit/ oder hat ſelbſt bauriſche und
grobe
mores an ſich/ oder verderbet durch un-
ordentliches Leben die ihm von GOtt verliehe-
ne Geſundheit; kan wohl die Erkaͤntniß der
Wahrheit/ die er vermittelſt ſeines Verſtandes
begreifft/ ihn gluͤcklich machen? oder vermehret
ſie nicht vielmehr ſeine Unruhe/ je mehr er da-
durch ſein uͤber den Hals gezogenes Elend zu
erwegen Gelegenheit uͤberkoͤmmt/ und durch ſei-
ne eigene Gedancken ſich zu verdammen genoͤh-
thiget wird?


45.

Betrachte hingegen einen Menſchen/ der
nur einen gemeinen natuͤrlichen Verſtand
hat/ und ſich nicht eben fuͤr einen Gelehrten
ausgeben kan/ er ſey nun von was fuͤr einem
Stand er wolle/ wenn er ein ehrlich Vemoͤ-
gen
[76]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
gen fuͤr ſich bringet/ und daſſelbige kluͤglich ver-
waltet/ ſich durch ſeine Geſchicklichkeit aus dem
Staube erhebet/ und von allen Ehr- und tu-
gend-liebenden Gemuͤthern geliebet und hoch-
gehalten
wird/ wenn er ſeine Freyheit in
nichts anders ſuchet/ als wie er andern Men-
ſchen gutes thun/ und ſie fuͤr unrechtmaͤßiger
Gewalt und Unterdruͤckung beſchuͤtzen moͤge/
wenn er jederman mit Hoͤffligkeit begegnet/
und allen allerley wird/ damit er viele gewinnen
moͤge; und wenn er endlich durch ein maͤßiges
Leben und Beherrſchung ſeiuer Gemuͤths-Nei-
gungen ſeine Geſundheit in dem Zuſtand/ wie
ſie ihm GOtt verliehen hat/ erhaͤlt/ findeſt du
wohl die geringſte Urſache zu zweiffeln/ daß ein
ſolcher Mann nicht weit gluͤckſeeliger ſeyn ſolte
als der erſte?


46.

Bey dieſer Bewandniß aber iſt noch
weniger Zweiffel uͤbrig/ daß diejenigen Wiſſen-
ſchafften/ in denen ſich der menſchliche Verſtand
vertiefft/ umb ſich nur uͤber andere Menſchen
durch Speculirung ſubtiler aber unnuͤtzlicher
Dinge oder nichts bedeutender dunckeler Woͤr-
ter/ oder wenn es hoch koͤmmt/ artiger und be-
luſtigender
Dinge/ zu erheben/ gantz nicht
zur groͤſten Gluͤckſeeligkeit des Menſchen gehoͤ-
ren/ ſondern entweder unter das groͤſte Ungluͤck
zu rechnen/ oder fuͤr bloſſe Zierrathen eines
gluͤckſeeligen Mannes zu halten ſeyn/ welche
wenn ſie keine Gluͤckſeeligkeit/ die ſie zieren koͤn-
nen/
[77]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
nen antreffen/ bey nahe ſo eitel ſind als die
Wiſſenſchafften der erſten Gattung/ als z. e.
dieScholaſtiſchePhiloſophie,die gemeineLo-
gic,
diePhilologie, Hiſtorie, Poẽterey/ Rede-
Kunſt/
u. ſ. w.


47.

Geſetzt aber der Menſch ſuche durch die
Wiſſenſchafften dergleichen Vorzug nicht/ ſon-
dern ſey nur bemuͤhet ſeinen Verſtand auszu-
beſſern/ und durch Erfindung neuer Warheiten
dem menſchliehen Geſchlecht in der That zu die-
nen; es waͤren aber dieſelben alſo bewand/ daß
ſie ihn in Betrachtung derer Geſchoͤpffe auſſer
ihn ſelbſt von der Erkaͤntniß ſeiner ſelbſt im-
mer mehr und mehr abfuͤhreten/ als wie z. e. bey
denen geſchiehet/ die ſich in derPhyſic und de-
nen Mathematiſchen Wiſſenſchafften allzuſehr
vertieffen; ſo ſcheinet es zwar anfangs/ das dieſe
Dinge/ wo nicht die groͤſte Gluͤckſeeligkeit voll-
ſtaͤndig ausmachten/ doch zum wenigſten ein
vornehmes Theil von derſelbigen
austruͤ-
gen/ weil nicht zu laͤugnen iſt/ daß die Erfin-
dung ſolcher Wahrheiten den Menſchen ein
groſſes Vergnuͤgen geben/ und z. e. die Erfin-
dung einer Mathematiſchen oder Phyſiſchen
Wahrheit den Menſchen ja ſo ſehr beluſtiget/
als die ſinnlichen Luͤſte immer mehr thun koͤn-
nen/ zumahl wenn man erweget/ daß dadurch der
Leib nicht geſchwaͤchet und umb ſeine Geſund-
heit gebracht wird: jedoch aber wenn man die
Sache einwenig reifflicher uͤberleget/ wird man
bald
[78]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
bald gewahr werden/ daß auch dieſe Meinung
den Stich nicht halten koͤnne.


48.

Zwar wil ich darwieder nicht anfuͤhren/
daß dergleichen Leute gemeiniglich etwas
irregulaires und ungewoͤhnliches von denen
gewoͤhnlichen Sitten an ſich haben/
und
manchmahlen ein groſſer Uberfluß von der Er-
mangelung des decori bey ihnen auzutreffen ſey.
Denn zugeſchweigen was ich allbereit oben von
dem Mangel des decori uͤberhaupt angemercket
habe/ ſo wuͤrden ſich bey ſolchen Leuten Urſa-
chen genung finden laſſen/ entweder dieſen klei-
nen Fehler zu entſchuldigen/ oder demſelbigen
die Artigkeit und den Nutzen der von ihnen er-
fundenen Warheiten entgegen zuſetzen.


49.

So wil ich auch nicht erwehnen/ das die-
ſe Gelehrte gar ſelten Meiſter von ihrenaf-
fecten
ſind/ ſondern ob ſie ſchon gemeiniglich
von der Wohlluſt und Geld-Geitz befreyet le-
ben/ dennoch ſich ſelten in der Ungedult/ Zorn/
Eyffer/ Mißtrauen/ Beneidung und Ehr-Gier-
de bendigen koͤnnen. Denn dieſes alles
ſcheinet ſeine Abfaͤlle hin und wieder zu haben/
und derowegen nicht ſo wohl denen Wiſſen-
ſchafften ſelbſt/ als deren Mißbrauch zuzuſchrei-
ben zu ſeyn.


50

Sondern ich wil nur dieſes erinnern/
daß ſich dieſe wackere Leute ſehr betriegen/ wenn
ſie meinen/ ſie haͤtten eine ruhige Beluſti-
gung
durch dieſe Wiſſenſchafften erhalten/ und
ſich
[79]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
ſich alſo zu der groͤſten Gluͤckſeeligkeit erheben
koͤnten. Beyde haben ein unerſchoͤpffliches
Meer unzehlicher Wahrheiten/ die der Menſch
nicht auslernen kan/ wenn er gleich noch ſo alt
wuͤrde. Beyde treiben den Menſchen/ wenn er
einmahl hinein gerathen zu einer ſolchen unruhi-
gen Begierde an immer was neues zu erfinden/
daß er ſeiner ſelbſt und aller ſeiner andern/ auch
der groͤſten Guͤter daruͤber vergißt; das wir
dannenhero allbereit anders wo die Beluſtigung/
die ein Menſch in Erforſchung ſolcher Sachen
empfindet/ mit dem Vergnuͤgen eines durſtig ge-
weſenen Menſchen verglichen/ der ein liebliches
Getraͤncke getruncken/ welches aber den Durſt
nicht ſtillet/ ſondern denſelben noch ſtaͤrcker zu er-
wecken vermoͤgend iſt.


51.

Du magſt aber dieſe Betrachtung wohl
bey dir reifflich uͤberlegen/ weil etliche gelehrte
Leute/ die von dieſen ſonſt Lob-wuͤrdigen Wiſſen-
ſchafften truncken gemacht ſind/ aus Paſſion gegẽ
dieſelben/ ſie allzuſehr erheben/ und die Erfin-
dung dergleichen neuen Wahrheiten fuͤr
das groͤſte Gut auszugeben ſich unterſtehen.


52.

Wir haben den Willen des Menſchen
noch uͤbrig. Dieſer wie wir allbereit erwehnet/
jaget dem erkandten Gut nach/ und erlanget
daſſelbige auch/ und folglich iſt er dem Guten
zwar naͤher als der Verſtand; Aber doch we-
der er ſelbſt/ noch die von ihm her dependirenden
aͤuſſerlichen Thaten
des Menſchen koͤnnen das
hoͤchſte
[80]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
hoͤchſte Gut ſein/ weil ſie nach demſelben trach-
ten/
und dadurch anzeigen/ daß es in ihnen nicht
beſtehe.


53.

Daß man aber insgemein das groͤſte Gut
in dem Thun des menſchlichen Willens geſucht/
iſt daher entſtanden/ daß wie man bey denen Guͤ-
tern des Leibes dieſelbigen betrachtet als wenn
ſie wuͤrcklich koͤnten von einander geſondert wer-
den; alſo auch bey denen Guͤtern der Seelen die-
ſe irrige Meynung geheget/ als ob der Verſtand
ohne dem Willen ſeyn koͤnte/
und der Wille
ohne Verſtand/ woraus hernach die ſchoͤne Fa-
bel entſtanden/ das man in der Lehre von dem Ur-
ſprung und Fortſetzung des menſchlichen Thun
und Laſſens den Willen als einen Koͤnig/ den
Verſtand aber als einen Rath vorgeſtellet/ der
einen andern feindſeeligen Rath/ nemlich die
ſinnliche Begierde an der Seite haͤtte/ welche
beyde einander zuwieder waͤren/ und den guten
Herrn Koͤnig gleichſam bey dem Ermel von einer
Seiten zu der andern zerreten/ biß endlich einer
von beyden die Oberhand behielte.


54.

Gleich wie aber die gelehrten Leute die ſich
dieſes Poſſen-Spiels in Unterweiſung der ſtudi-
renden Jugend bedienen/ haͤtten bedencken ſollen/
daß die ſinnliche Begierde ein ungeſchaffe-
ner Zwitter ſey/ den ihr Gehirne aus Vermi-
ſchung des Verſtandes und Willens gemacht;
alſo haͤtten ſie ſich auch erinnern ſollen/ daß
ſie ſelbſten ſagen/ daß man keine Begierde
zu
[81]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
zu etwas haben koͤnne/ was man nicht wiſſe.
Weil nun alle Wiſſenſchafft dem Verſtande des
Menſchen alleine/ nicht aber wie man traͤumet/
auch denen dem Verſtande entgegen geſetzten
Sinnligkeiten zuzuſchꝛeibẽ iſt/ ſo wuͤꝛde gewiß der
menſchliche Verſtand es ſich ſelber zuzuſchreiben
haben/ wenn er von der ſinnlichen Begierde ange-
feindet wuͤrde/ weil dieſe Anfeindung nothwen-
dig von der von dem Verſtande erhaltenen Er-
kaͤntniß herruͤhren wuͤrde: Andere Unfoͤrmlig-
keiten/ die aus dieſer abſurden Meinung herflieſ-
ſen/ anjetzo zu geſchweigen.


55.

Wir wiſſen vielmehr/ daß der Verſtand
des Menſchen und ſein Wille ſtetsweh-
rend mit einander vereiniget ſeyn/
und daß
die menſchliche Seele auſſer dieſen zweyen Kraͤff-
ten keine Dritte habe/ ſondern daß die insge-
mein ſo genandte ſinnliche Begierde nichts
anders als der verderbte Verſtand und Willen
des Menſchen ſey. Wir wollen uns nur hier-
zu ihrer eigenen gemeinen Lehren bedienen. Man
ſagt der Wille trachte allezeit nothwendig nach
dem Guten/ und der Verſtand urtheile von dem
Guten/ und alſo kan es nicht fehlen/ es kan kein
Wille ohne Verſtand/ noch der Verſtand oh-
ne Willen ſeyn; ja es ſey ſo gar unfoͤrmlich/
wenn man ſage/ der Wille ſey dem Verſtande
zuwieder/ und beherſche ihn/ daß vielmehr/ wenn
wir ja in dieſer Lehre das beſagte Gleichmß brau-
chen wollen/ der Verſtand Koͤnig waͤre/ der
FWille
[82]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
Wille aber nichts anders als ein Diener/ der
nichts anders thun als dasjenige hohlen kan
was ihm der Koͤnig gewieſen.


56.

Und thut nichts zur Sache/ daß wir
gleichwohl bey uns ſelbſt empfinden/ daß wir
dasjenige oͤffters nicht wollen/ was wir
doch begreiffen und verſtehen daß es gut
ſey/
ſondern vielmehr mit unſern Willen/ und
dem davon dependirenden Thun und Laſſen die-
ſen Verſtand zuwieder leben. Denn wenn wir
die Sache genau uͤberlegen wollen/ werden wir
befinden/ daß nicht ſo wohl der Wille dem Ver-
ſtande/ als Wille und Verſtand zuſammen
den vorhergehen Willen und Verſtan-
de
zuwieder ſind. Ein ſeinen Begierden unter-
worffener Menſch hat ja etliche ruhige Augen-
blicke/ darinnen er das warhafftige Gute er-
kennen kan/ und in denenſelben Augenbluͤcken iſt
auch der Wille bereit darnach zu ſtreben. Die-
weil aber die Begierden alsbald wieder die O-
berhand erhalten/ ſo wehret der vorige Wille
auch nur einen Augenblick/ aber es veraͤndert
ſich auch mit dem Willen ſo fort der Verſtand/
daß der Menſch zur Zeit/ da er nach dem Antrie-
be ſeiner Begierden ſein Thun und Laſſen ein-
richtet/ auch nothwendig die Sache wornach er
ſtrebet/ vor das groͤſte Gut halten/ und die vo-
rigen vernuͤnfftigen Gedancken aͤndern muß;
welches ein jeder Menſch bey ſich ſelbſten nur
abnehmen kan.


57. Wo
[83]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.

57.

Wo wollen wir aber nunmehro die groͤſte
Gluͤckſeeligkeit des Menſchen ſuchen/ nachdem
ſelbige weder in dem Verſtande noch dem Wil-
len des Menſchen zu finden iſt/ und wir nun-
mehro keinen Theil des Menſchen nicht mehr
uͤbrig haben. So wird vielleicht dieſe groͤſte
Gluͤckſeeligkeit nur in einer eitelen Einbildung
und in bloſſen Gedancken beſtehen?


58.

Du haſt recht mein Freund/ ob du dich
gleich ſehr irreſt. Es beſtehet ja die groͤſte Gluͤck-
ſeeligkeit in denen Gedancken und in der Ein-
bildung
aber nicht in bloſſen Gedancken und
in einer eitelen Einbildung. Und ſo wenig
als wir in der Vernunfft-Lehre das wahre in
denen bloſſen Sinnligkeiten/ noch in denen bloſ-
ſen ideis, ſondern in beyden zugleich ſuchen muͤſ-
ſen/ ſo wenig muͤſſen wir auch die groͤſte Gluͤck-
ſeeligkeit in dem Verſtande oder Willen allei-
ne/ ſondern in beyden zu ſammen/ das iſt in der
nein, Gedancken ſuchen.
Denn der Verſtand
und Wille dencken allebeyde/ und wenn wir
alles beydes zuſammen nehmen/ pfleget man es
das Gemuͤthe des Menſchen
zu nennen.


59.

Ohne die Gedancken hat der Menſch
keine Empfindung auch von der geringſten
Gluͤckſeeligkeit/ noch von einigen Ungluͤck/

welches man gar leicht begreiffen kan/ wenn man
ſich nur das Exempel eines neugebohrnen Kindes
eines raſenden/ eines hoͤchſttrunckenen und in ei-
nem ſehr tieffen Schlaffe liegenden Menſchen
F 2vor-
[84]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
vorſtellet/ die ſehr verwundet ſeyn und dieſelben
ein wenig mit Philoſophiſchen Augen beleuchtet/
auch aus ihren Schreyen und anderen Unge-
behrden nicht ſo fort auff ihre Empfindligkeit
ſchlieſſet.


60.

So beſtehet auch das Vergnuͤgen/ das
der Menſch uͤber alle Guͤter empfindet/ mehr
in den Gedancken als in der Genieſſung ſel-
ber/
wenn nehmlich der Menſch ein ohnlaͤngſt
genoſſenes Gut ſich als noch oder allbereit ge-
genwaͤrtig vorſtellet/ wie wiederum ein jeder bey
ſich ſelbſt abnehmen und dieſes paradoxon durch
1000 Exempel bekraͤfftigen kan.


61.

Dieweil aber ein jedweder bey ſich ſelb-
ſten befindet/ daß er offters in ſeinen Gedancken
uͤber Dinge ſich beluſtiget/ die eitel/ vergebens/
oder auch wohl ſchaͤdlich geweſen; ſo wird er
dannenhero gar leichte muthmaſſen koͤnnen/ daß
die Gedancken des Menſchen ſein Ungluͤck
ſo wohl als ſein Gluͤcke machen koͤnnen:
und
muß dannenhero deſto genauer beſehen/ in wel-
chen Gedancken denn diejenige Gluͤckſeeligkeit
beſtehe/ daran der Verſtand wohl dencken und
der Wille eyffrig darnach trachten ſolle.


62.

Hierzu wird er aber gar leichte gelan-
gen koͤnnen/ wenn er aus dem erſten Capitel
wiederholet daß das Wohlſeyn aller Dinge
in einer ruhigen und nach Gelegenheit des
Weſens der Dinge maͤßig veraͤnderlichen
Bewegung
beſtehe/ Woraus denn ſo fort fol-
get
[85]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
get/ daß alle unruhige und allzuveraͤnder-
liche Gedancken
des Menſchen boͤſe ſeyn/ hin-
gegentheil aber in ruhigen und maͤßig ſich
veraͤndernden Gedancken
des Menſchen ſeine
wahre/ einige und groͤſte Gluͤck ſeeligkeit
be-
ſtehe.


63.

Und dieſe iſts/ woraus die alten Welt-
Weiſen die das hoͤchſte Gut in einer Gemuͤths-
Ruhe
oder in einer Beluſtigung des Ge-
muͤths
geſuchet haben/ ihr Abſehen gerichtet-
Wir wollen keines weges mit dir der Worte
oder des Nahmens halber ſtreiten/ wenn wir
nur in der Sache uͤberein kommen.


64.

Allen Streit aber dißfalls deſto beſſer zu
heben/ waͤre es wohl gut/ wenn wir eine deut-
liche Beſchreibung
derſelben geben koͤnten;
Dieweil ſie aber einig iſt/ und ihres gleichen
nicht hat/
auch ſolchergeſtalt von denen die ſie
beſitzen beſſer empfunden/ als von andern deut-
lich verſtanden
wird/ muſt du es ſo genau
nicht mit uns nehmen/ ſondern zufrieden ſeyn/
wenn wir dir in Beſchreibung derſelben mehr
zeigen/ was ſie nicht ſey/ als was ſie ſey/ oder
wenn wir unſer Abſehen darinnen mehr auf ih-
ren Urſprung
und Wuͤrckung als auff ihr ei-
gentliches Weſen
richten.


65.

Sie iſt demnach nichts anders als eine
ruhige Beluſtigung/ welche darinnen be-
ſtehet/ daß der Menſch weder Schmertzen
noch Freude uͤber etwas empfindet/ und in

F 3dieſem
[86]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
dieſem Zuſtande ſich mit andern Menſchen
die eine dergleichen Gemuͤths-Ruhe beſitzen/
zuvereinigen trachtet.


66.

Sie iſt eine Beluſtigung/ denn ſonſt
waͤre ſie kein Gut/ weil wir oben erwehnet/ daß
alles gegenwaͤrtige Gute eine Beluſtigung ma-
chen muͤſſe. Dannenhero muß ſie von allen
Schmertzen entfernet ſeyn. Denn wo Schmer-
tzen iſt/ da kan keine Luſt oder Vergnuͤgung ſeyn.


67.

Sie iſt eine ruhige Beluſtigung/ denn
ſonſt waͤre ſie kein Gut/ weil wir oben gedacht/
daß alle ſehr emfindliche und folglich mit einer
Unruhe vergeſellſchafftete Dinge boͤſe ſeyn.
Dannenhero beſtehet dieſes Vergnuͤgen ohne
Freude. Denn wo Freude iſt/ da iſt eine un-
ruhige Beluſtigung; jedoch iſt dieſe Beluſti-
gung der Freude naͤher als den Schmertzen/
und deswegen wird die Freude gemeiniglich fuͤr
was Gutes/ und fuͤr dieſe ruhige Beluſtigung
ſelbſt gehalten/ oder dieſe letzte unter dem Nah-
men der Freude vorgeſtellet.


68.

So iſt auch in Anſehen der Gemuͤths-
Ruhe noch dieſer Unterſchied zwiſchen dem
Schmertzen und der Freude/ daß nicht alle-
mahlin des Menſchen Vermoͤgen ſtehe/ von allen
Schmertzen entfernet zu ſeyn/ ſondern das Ge-
muͤthe offte genoͤthiget werden koͤnne/ Schmer-
tzen zu empfinden/ und zu weinen/ da Hingegen-
theil der Menſch ordentlich die Freude und das
Lachen in ſeinem Vermoͤgen hat/ es waͤre denn/
wenn
[87]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
wenn man hiervon eine gewaltige Kuͤtzelung
eximiren wolte/ wiewohl noch dahin ſtehet/ ob
dieſelbe/ wenn ſie ein wenig continuiret nicht
mehr zu dem Schmertzen als zu der Freude zu
rechnen ſey?


69.

Daß aber in dieſer ruhigen Beluſti-
gung die groͤſte Gluͤckſeeligket
des Menſchen
beſtehe/ iſt daher abzunehmen/ weil der Menſch
bey allen denen andern Guͤtern/ als Reichthumb/
Ehre/ Freyheit/ Freunden/ dem decoro, der
Geſundheit/ der Weißheit/ der Tugend/ wie-
wohl bey denen meiſten vergeblich nach dieſen
Gute trachtet/
und in denenſelben ſeine Ruhe
ſuchet; wer aber die Gemuͤths-Ruhe einmahl
beſitzet/ und umb nichts mehr als umb derſelben
Erhaltung bekuͤmmert iſt/ auch der andern Guͤ-
ter die eben zur ſelben ſo ſonderlich nichts contri-
bui
ren/ gar leicht entbehren kan.


70.

Und ob wir ſchon geſagt/ daß die Ge-
muͤths-Ruhe trachte ſich mit anderen ruhi-
gen Gemuͤthern zu vereinigen/
ſo iſt doch die-
ſes trachten keine unruhige Begierde/ oder
ein ſolch Verlangen/ daß den Menſchen ungluͤck-
lich machte/ wenn es nicht erfuͤllet wuͤrde/ ſon-
dern ein ruhies Bemuͤhen/ und folglich eine
Continuirung der einmahl erhaltenen Gemuͤths-
Ruhe/ als welche durch eine dergleichen Ver-
einigung entſtehet/
oder vielmehr deutlicher zu
reden/ eine ſtetswehrende Wuͤrckung dieſer Ge-
muͤts-Ruhe/ umb dadurch anzuzeigen/ daß die ſe
F 4Ru-
[88]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
Ruhe nicht in einer Traͤgheit und Faulheit
oder Mangel aller Bewegung/ als welches alles
boͤſe Dinge ſeyn/ ſondern in einer muntern a-
ber proportionirlichen Bewegung beſtehe. Und
das iſt es eben/ wenn wir kurtz zuvor erwehnet
haben/ daß die Gedancken des Menſchen/ wenn ſie
ſeine Gluͤckſeeligkeit machen ſollen/ auch mit einer
maͤſſigen Veraͤnderung ſolten vergeſellſchaff-
tet ſeyn.


71.

Wolteſt du dannenhero dieſes groͤſte Gut
des Menſchen mehr nach ſeinen Urſprung und
Wuͤrckung als nach ſeinen Weſen benennen/
koͤnneſt du es eine vernuͤnfftige Liebe heiſſen;
Denn die vernuͤnfftige Liebe iſt nichts anders
als eine Vereinigung gleicher Gemuͤther die
das groͤſte Gut beſitzen.


72.

Wir wollen aber von dieſer vernuͤnfftigen
Liebe etwas mehrers reden/ umb darzuthun/ daß
das Weſen des Menſchen/
dadurch er von den
beſtien entſchieden wird/ ſo ferne das natuͤrliche
Liecht ſelbiges begreiffen kan/ in nichts anders als
in einer tugendlichen Liebe anderer Men-
ſchen beſtehe/
und daß/ man muͤge auch in de-
nen Schulen von der rechten und verbothenen
Selbſt-Liebe reden was man wolle/ alle Men-
ſchen auch ſo gar die Laſterhaffteſten ande-
re Geſchoͤpffe wuͤrcklich mehr lieben als ſich
ſelbſt:


73.

Die beſtién haben alle und jede einen in-
nerlichen Trieb ſich ſelbſten zu erhalten/

und
[89]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
und ſich ſelbſt das Vergnuͤgen/ deſſen ſie faͤhig
ſind/ zugeben. Und ob ſie ſchon nicht leichtlich
andere Beſtien einerley Art und Geſchlecht ver-
letzen/ ſo ſuchen ſie doch auch nicht in dem Wohl-
ſeyn der andern das geringſte Vergnuͤgen/ weil
ſie von dem Schoͤpffer zu keiner Geſellſchafft
unter ſich gewidmet ſind.


74.

Aber der Menſch waͤre ohne menſch-
liche Geſellſchafft nichts/
nicht ſo ſo wohl was
die Zeugung und Geburt betrifft/ welche er in et-
was mit denen Beſtien gemein hat/ (wiewohl die
Zuſammenfuͤgung des Maͤnnleins und Weib-
leins unter denen unvernuͤnfftigen Thieren
nicht verdienet eine Geſellſchafft genennet zuwer-
den) als wegen der Aufferziehung. Ein Menſch
muͤſte verderben/ wenn ſich andere Menſchen
nicht ſeiner annaͤhmen/ da hingegen die beſtien
zur noth alsbald von der Geburt an ſich ſelber
forthelffen konnen.


75.

Ein Menſch waͤre kein Menſch ohne
andere menſchliche Geſellſchafft.
Was waͤ-
ren ihm die Gedancken nuͤtze/ wenn keine andere
Menſchen waͤren? koͤnte nicht eben ſo wohl ein
innerlicher unvernuͤnfftiger Trieb zu ſeiner Er-
haltung genung ſeyn/ wie bey denen beſtien. Die
Gedancken ſind eine innerliche Rede. Worzu
brauchte er dieſe innerliche Rede/ wenn niemand
waͤre/ mit dem er ſeine Gedancken communici-
ren ſolte? Dieſe innerliche Rede præſupponiret
eine aͤuſſerliche. Und wo wolte er alſo innerlich
F 5mit
[90]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
mit ſich reden/ wenn nicht andere Menſchen/ mit
denen er in Geſellſchafft lebet/ durch ihre aͤuſerli-
che Rede ſeine innerliche anzuͤndeten? Was
brauchte es aber endlich wiederumb aller aͤuſerli-
chen Reden/ wenn keine menſchliche Geſellſchafft
waͤre.


76.

Ohne menſchliche Geſellſchafft wuͤr-
de ein erwachſener Menſch kein Vergnuͤ-
gen haben/ wenn er gleich die gantze Welt/
beſaͤſſe.
Er muͤſte ſich ſelbſt bedienen/ und dieſe
Bedienung wuͤrde ihm wenn er wohlluͤſtig oder
ehrgitzig waͤre/ unertraͤglich ſeyn. Ja wenn er
gleich wie die Poeten von der Pſyche melden/ von
unſichtbaren Geiſtern bedienet wuͤrde/ oder ſo
vernuͤnfftig waͤre/ daß er ſeine eigene Bedie-
nung fuͤr keine Laſt hielte; wuͤrde er doch des-
wegen unvergnuͤgt ſeyn/ weil es ihm/ weiltz er
ehrgeitzig waͤre an Leuten/ denen er befehlen
koͤnte/ und von denen er geehret wuͤrde; wenn
er wohlluͤſtig waͤre/ an wohlluͤſtiger Geſellſchafft;
und wenn er zur Tugend geneigt waͤre/ an Leu-
ten denen er guts thun/ und ſie ſeines Vergnuͤ-
gens theilhafftig machen koͤnte/ ermangeln wuͤrde.


77.

Ja dieſes Unvergnuͤgen wuͤrde auch ſelbſt
die Miſanthropen treffen/ oder die ſich in ihre
Bibliothequen verſchlieſſen/ und von aller
menſchlichen Geſellſchafft entziehen/ wenn ſie
nicht in menſchlicher Geſellſchafft leben ſolten.
Denn die Miſanthropen ſuchen ihr Vergnuͤgen
darinnen/ daß ſie die gegenwaͤrtige Welt tadeln/
und
[91]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
und die ſich in Buͤchern vergraben/ daß ſie ent-
weder bey denen lebenden ſich ein Anſehen ma-
chen/ oder dieſelben cenſiren wollen/ u. ſ. w.


87.

Zugeſchweigen daß die allermeiſten
Beluſtigungen des Geſichts/ Gehoͤrs/ Ge-
ruchs/ Geſchmacks/ und Gefuͤhles
entweder
in und bey andern Menſchen geſucht werden/
oder aber in einer Einbildung beruhen/ weil wir
ſehen oder hoͤren/ daß andere Menſchen die
wir hoch halten/ in gewiſſen Dingen eine Belu-
ſtigung finden.


79.

Es moͤge dannenhero der Menſch ſich
betrachten auff was fuͤr weiſe er wolle/ ſo wird
er befinden/ daß ihn GOtt zu einen geſelligen
Thier
geſchaffen habe/ und zwar daß er in ei-
ner friedfertigen Geſellſchafft mit andern le-
ben ſolle. Ohne Friede iſt keine Geſellſchefft/
weil Zwieſpalt und Wiederwillen alle Geſell-
ſchafft zerreiſſet und auffhebet. Und ohne Ge-
ſellſchafft kan kein Friede ſeyn/
weil der Frie-
de in der Vereinigung menſchlicher Gemuͤther
beſtehet. Ohne Friede iſt dem Menſchen weder
Vernunfft noch Rede nuͤtze/ weil man zum Krieg
nichts als Gewalt vonnoͤthen hat/ auch die
tapfferen Helden ihr Schwerd nicht im Munde/
ſondern in der Fauſt fuͤhren.


80.

So iſt demnach der Menſch zur Liebe
anderer Menſchen geſchaffen/ weil er zum Frie-
de
geſchaffen iſt. Denn die Liebe und der
Friede gruͤnden ſich in der Vereinigung
menſch-
[92]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
menſchlicher Gemuͤther. Ja er iſt zur Lie-
be ruhiger Gemuͤther
geſchaffen/ theils weil
er ſelber nach der Gemuͤths-Ruhe als nach ſei-
nem hoͤchſten Gute trachten ſoll/ alle Liebe aber
ſich auff eine Gleichheit mit der geliebten Per-
ſon gruͤndet/ theils auch weil er ſonſt nicht wuͤr-
de in Friede leben koͤnnen/ wenn er unruhige
Gemuͤther liebet/ denn wie wollen diejenigen die
innerlich mit ſich ſelbſt keinen Frieden haben
mit anderen Leuten und aͤuſſerlich friedlich leben
koͤnnen.


81.

Es folget hieraus/ daß des Menſchen
hoͤchſtes Gut darinnen beſtehet wenn es dem
andern Menſchen/ den er liebet/ wohl ge-
het/ und daß ihm deſſelben Elend mehr
af-
ſicir
et als ſein eigenes/ weil darinnen das We-
ſen aller vernuͤnfftigen und menſchlichen Liebe/
ſo ferne ſie der beſtialiſchen entgegẽ geſetzet wird/
beſtehet/ und ohne dieſen Merckmahl man nicht
ſagen kan/ daß ſich die Seelen zweyer Leiber
mit einander vereinigt haben.


82.

Und alſo liebet ein vernuͤnfftiger Menſch
allerdings andere Menſchen mehr als ſich
ſelbſt;
und hat alſo gantz nicht zum Grunde
ſeines Thuns und Laſſens eine vernuͤnfft ige
Selbſt Liebe
(wie man ſonſten in Schulen
lehret) man wolte denn etwa dieſes alſo ausle-
gen und benehmen/ weil der Menſch durch die
Liebe anderer Menſchen/ in denen er mehr als in
ſich ſelbſt lebet/ allezeit ſeine eigene Gemuͤths-
Ruhe
[93]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
Ruhe zubefoͤrdern und zu erhalten bemuͤhet
iſt.


83.

Ja was wollen wir viel lange von ver-
nuͤnfftigen und unvernuͤnfftigen Leuten reden/ lie-
ben doch die unvernuͤnfftigen und laſterhaff-
teſten Leute andere Geſchoͤpffe mehr als
ſich/
und iſt nur darinnen der Unterſchied zwi-
ſchen ihnen und vernuͤnfftigen Menſchen/ daß
ſie ſich einbilden/ ſie lieben ſich mehr als alle an-
dere Dinge in der Welt/ da hingegentheil ein
vernuͤnfftiger Menſch wohl weiß/ daß er andere
Menſchen mehr liebet als ſich. Und wenn
dannenhero man gegen ſolche Leute wieder die
verdammte Selbſt-Liebe redet/ muß es nicht
anders verſtanden werden/ als daß man hiermit
ſich mehr nach ihrer Einbildung und Vorhaben/
als nach der Sache ſelbſt accommodire.


84.

Jch glaube wohl/ daß dir dieſer Satz et-
was harte und unfoͤrmlich vorkomme; Denn
ſprichſt du/ wie ſolte ein Wohlluͤſtiger/ Geld-
und Ehrgeitziger nicht ſich ſelbſt mehr als al-
les andere lieben; opffert er doch ſeiner Wohl-
luſt/ Geld- und Ehrgeitze alle andere Menſchen
und alles was er hat/ auff?


85.

Aber das iſt es eben/ was ich geſagt ha-
be/ daß ſich ſolche Leute einbildeu/ ſie lieben ſich
ſelbſt am meiſten/ weil ſie ihre Wohlluſt/ Geld-
und Ehrgeitz lieben/ da doch dieſe Laſter of-
fenbahrlich in Liebe anderer Dinge beſtehen.
Ein Wohlluͤſtiger liebet nicht ſich/ ſondern
ſeine
[94]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
ſeine Hure/ und ſeine Sauffgeſellſchafft; ein
Ehrgeitziger die Leute von denen er Ehre zu
erlangen hoffet/ und ein Geldgeitziger den to-
den Geldklumpen. Es iſt ja wahr/ dieſen opf-
fern ſie alle andere Menſchen/ und alles was ſie
ſonſt haben/ aber auch fuͤrnehmlich ſich ſelbſt auf/
in Anſehen ein Wolluͤſtiger ſeine Hure und
liederliche Sauff- und Spiel-Geſellſchafft zuver-
gnuͤgen/ ſich umb ſeine Geſundheit und zeitliche
Wohlfarth bringet; ein Ehrgeitziger/ umb
einen Wind von Ehre von andern Menſchen zu
erlangen/ Leib/ Gut und Ehre ſelbſt hazardiret/
und ein Geldgeitziger uͤber dieſes alles bey ſei-
nem Geldklumpen verhungert u. ſ. w.


86.

So ſieheſt du demnach/ daß die Ge-
muͤths-Ruhe
ohne Vergnuͤgen/ das Vergnuͤ-
gen
ohne die Liebe anderer Menſchen/ dieſe
Liebe
ohne der Vereinigung der Gemuͤther/
und dieſe Vereinigung ohne wechſels weiſe
Bemuͤhung der geliebten Perſon vergnuͤgen/
auch mit Hindanſetzung ſeines eigenen zu ſuchen/
dieſes alles aber ohne Abſchaffung deſſen/
was das Gemuͤthe beunruhiget/
nicht ſeyn
koͤnne. Und huͤte dich dannenhero/ daß du nicht
nach Art und Weiſe der meiſten Philoſophen uͤber
der Benennung der groͤſten Gluͤckſeeligkeit des
Menſchen einen unnoͤthigen Streit anfaͤheſt.


87.

Nenne es wie du wilt. Denn die Worte
ſind der Dinger halber/ die Dinge aber nicht der
Worte haber erfunden. Wilt du es nicht Ge-
muͤths-
[73[95]]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
muͤths-Ruhe nennen/ nenne es eine Wolluſt
oder Vergnuͤgen der Seelen/ oder eine ver-
nuͤnfftige Liebe/
oder die Vereinigung zwey-
er ſich liebenden Seelen/
oder die Bemuͤ-
hung der geliebten Perſon alles gutes zu
thun/
und gar fuͤr ſie zu ſterben; oder die Un-
terdruͤckung oder Austilgung der das Ge-
muͤth verunruhigenden Bewegungen.
Jch
wil wegen keines von dieſen einen Streit mit dir
anfangen/ Nur mercke/ daß wenn du nicht al-
les dieſes was du bisher genennet beyſammen
haſt/ ſondern nur eines davon vermiſſeſt/ du auch
die wahre Gluͤckſeeligkeit unmoͤglich beſitzen koͤn-
neſt/ ſondern daß du dir/ wenn du dich eines an-
dern bereden wilſt/ damit vergebens ſchmei-
chelſt.


88.

Wir muͤſſen uns aber nun auch zu der
andern Bedentung
der groͤſten Gluͤckſeelig-
keit wenden/ ſo ferne dieſelbige in Betrachtung
ihrer Vollkommenheit genommen wird; und
heiſſet ſo dann die groͤſte Gluͤckſeeligkeit des
Menſchen entweder dasjenige Gut/ welches
alle ſo wohl noͤtige als uͤberfluͤßige Stuͤcke
und Zierrathen der Gemuͤths-Ruhe in ſei-
nen Begriff
haͤlt/ oder die Gemuͤths-Ruhe
nur mit allen weſentlichen dahin gehoͤrigen
Guͤtern
ohne welche dieſelbe nicht beſtehen
kan/ ohne Betrachtung derer menſchlichen Guͤ-
ter/ die nur noͤthige Stuͤcke oder bloſſe Zier-
rathen ſeyn.


89. Denn
[96]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten

89.

Denn derjenige/ der bey ſeiner Gemuͤths-
Ruhe tugendhaftig/geſund/ manieꝛlich/ geehꝛt
und reich iſt/ auch ſeine Frey heit und viel Freun-
de
hat/ der kan ſich billich als einen vollkomme-
nen gluͤcklichen
Menſchen ruͤhmen. Er iſt aber
deshalben nicht alſobald ungluͤcklich/ wenn ihm
dieſes oder jenes von dieſen jetzterwehnten
menſchlichen Guͤtern mangelt/ ſondern man muß
den Unterſchied machen. Mangelt ihm nur ein
ſchlechter Zierrath der groͤſten Gluͤckſeeligkeit/
ſo iſt er doch deswegen nicht elend oder ungluͤck-
lich/ (ja er darff nicht einmahl meinen/ daß er
nicht vollkommen gluͤcklich ſey/ wenn er nur die
Gemuͤths-Ruhe als die hoͤchſte Gluͤckſeeligkeit
beſitz3t/) ſondern er hat nur dieſe groͤſte Gluͤck-
ſeeligkeit nicht in einem vollkommenen grad.


90.

Mangelt ihm aber ein noͤthiges Stuͤ-
cke
der Gemuͤths-Ruhe/ ſo liſt es entweder ein
ſolches duch deſſen Entnehmung er der Ge-
muͤths-Ruhe voͤllig beraubet oder entbloͤſſet
wird; oder ein ſolches/ dadurch er in ſeiner Ge-
muͤths-Ruhe nur ein wenig zerſtoͤret wird.
Auff die erſte Weiſe wird er ungluͤcklich oder
elend/
und hat das groͤſte Ungluͤck auf dem Halſe.
Auff die andere Weiſe iſt er zwar nicht ungluͤck-
lich noch elende/ aber er kan ſich doch auch nicht
vor voͤllig gluͤcklich gehalten.


91.

Derowegen laß uns nunmehro die ob-
erzehlten Arten der menſchlichen Guͤter betrach-
ten/ um zuſehen/ welche von denenſelben noͤti-
ge
[97]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
ge Stuͤcke der Gemuͤths-Ruhe ſeyn oder nicht/
und welche unter jenen entweder die Gemuͤths-
Ruhe dem Weſen oder der Vollkommenheit
nach beſtaͤtigen.


92.

Was erſtlich das Reichthum anlanget/
ſo weiſet bald Anfangs die Beſchreibung deſſelbi-
gen/ weil es nichts anders als ein Uberfluß des
Vermoͤgens
iſt/ das ſolches ein bloſſer Zierrath
und kein weſentliches Stuͤcke der Gemuͤths-Ru-
he ſey. Was dir uͤberfluͤßig iſt/ damit kanſtu
andern deine Liebe bezeugen/ und je groͤſſer der U-
berfluß iſt/ je mehr und an mehrern kanſtu dich
gutthaͤtig erweiſen/ und ſo weit iſt Reichthum ei-
ne Zierrath der groͤſten Gluͤckſeeligkeit.


93.

Haſtu aber dieſen Uberfluß nicht/ ſo darf-
ſtu deswegen in deinem Gemuͤthe nicht unruhig
ſeyn/ wenn du nur genug vor dich haſt. Denn
haſtu keinen Uberfluß oder Reichthum/ ſo haſtu
auch deſtoweniger Sorge/ wie du dieſen Uberfluß
anwenden ſolleſt: Und wenn du gleich noch ſo
arm biſt/ kanſtu andern Menſchen doch durch dei-
nen Einrath und Exempel ihre Jrrthuͤmer beneh-
men/ und ſie von denen Jrrwegen ableiten/ wel-
cher Dienſt ja ſo gut und noch viel beſſer iſt/ als
wenn man einen Duͤrfftigen mit Gelde und
Reichthum aushilfft.


94.

Und alſo ſieheſtu/ daß das Armuth nichts
Boͤſes ſey/ weil es nur ein Mangel des Uber-
fluſſes iſt.
Wolteſtu gleich ſagen/ daß doch das
aͤuſſerſte Armuth
ein Ubel ſey/ weil daſſelbige
Gin
[98]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
in einem Mangel deſſen/ das wir zu unſerer Le-
bens Unterhaltung benoͤthiget ſind/ beſtehe; ſo
wirſtu doch dich wohl in acht nehmen muͤſſen/ daß
du nicht etwas fuͤr die aͤuſſerſte Armuth ausge-
beſt/ die doch in der That daſſelbige nicht iſt.


95.

Du muſt deine Lebens Nothdurfft nicht
nach deinen Verlangen/ Begierde und Gewohn-
heit ausmeſſen/ denn du kanſt z. e. mit 100 Thal.
des Jahrs auskommen/ und auch 10000. Thal.
des Jahrs verthun. Biſtu unvergnuͤgt/ ſo biſtu
allezeit Arm; gleich wie derjenige allezeit reich iſt/
der mit wenigen vergnuͤgt iſt. Und wie wolteſtu
ohne Boßheit anderer Menſchen als im Kriege
oder einer ſonderlichen Hunger-Straffe GOttes
in einen Stand gerathen koͤnnen/ daß dir etwas
mangeln ſolte/ das zu deiner Leibes Nothdurfft
noͤthig waͤre/ weil Waſſer/ Wurtzeln/ und wenn
du einen Platz haſt in welchem du dich wider Hi-
tze und Kaͤlte vertheidigen kanſt/ ſchon genung iſt/
was du zu deines Leibes Nothdurfft brauchſt/ und
hieran mangelt es auch dem elendeſten Bettler
nicht.


96.

Was die Ehre betrifft/ ſo wird entweder
dadurch der innerliche Grund derſelben/ nemlich
ein Tugendhafftes Leben verſtanden/ wovon wir
ſchon folgends handeln wollen; oder aber es be-
deutet die durch aͤnſſerliche Zeichen beſtaͤtigte
Hochachtung anderer Leute gegen uns/ entweder
wegen unſerer Macht oder wegen einer faͤlſch-
lich von uns eingebildeten Tugend.


97. Das
[99]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.

97.

Das Letzte iſt vielmehr ein Ubel als ein
Gut: Denn wenn wir eine falſche Tugend beſi-
tzen/ haben wir gewiß keine wahre Gemuͤthts-Ru-
he: und die Leute die uns deswegen hoch halten/
muͤſſen ja ſo blind und elend/ oder elender ſeyn als
wir ſelber/ und dieſe Hochhaltung muß uns noch
mehr in unſerer uͤbelen Meynung und Lebens-Art
beſtaͤrcken.


98.

Haben wir aber neben der wahren Tu-
gend groſſe Macht und Gewalt/ deswegen
uns auch die Leute Ehre erweiſen; ſo iſt abermahl
die Ehre ein Zierrah der hoͤchſten Gluͤckſeelig-
keit/ wenn ein ſolcher geehrter Mann dieſe Macht
anwendet/ denen die die Gemuͤths-Ruhe beſitzen
oder darnach trachten/ deſto mehr Gutes zu thun.


99.

Aber es iſt auch dieſe Ehre kein weſent-
liches Stuͤck/
weil dergleichen Gewalt aber-
mahls unter die noͤthigen und uͤberfluͤßigen
meuſchlichen Guͤter gehoͤret/ und in Mangel der-
ſelben wir niemahlen Mangel haben/ andern
Leuten unendliche Gutthaten zu erweiſen.


100

Und alſo kanſt du leichtlich abſehen/ daß
der Mangel der aͤuſſerlichen Ehre/ das iſt
der Macht und Anſehens wiederumb kein Ubel
ſey/ weil der Mangel eines Uberflußes niemahls
was boͤſes ſeyn kan.


101.

Aber was wollen wir nun mit der Un-
ehre
machen? Jch muß bekennen/ es iſt zwi-
ſchen derſelben und dem Mangel der Ehre ein
groſſer Unterſcheid. Gleichwohl werde ich nichts
G 2un-
[100]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
unrechtes ſagen/ daß die Unehre/ die der Ehre/
von der wir jetzo handeln entgegen geſetzt wird/
gantz kein Ubel/ ſondern ein nichts/ und eine ei-
tele Einbildung
unruhiger Gemuͤther ſey/ es
moͤge dir dieſes nun gleich noch ſo ſeltſam vor-
kommen.


102.

Zwar wenn die Unehre zum Grunde
innerlich ein untugendhafftes Leben hat/ muͤſ-
ſen wir freylich anders ſagen/ und uns nicht un-
ter die Zahl derer rechnen/ die weder Schande
noch Ehre achten; aber wir haben nur kurtz zu-
vor erinnert/ daß wir die Tugend-Ehre anjetzo
nicht betrachten/ ſondern es gehoͤret hieher nur
die aͤuſſerliche Unruhe/ wenn ein Menſch ohne
vernuͤnfftige Urſache in der buͤrgerlichen Geſell-
ſchafft unehrlich erklaͤret/ zu keinen Ehren-Aemp-
tern gelaſſen/ ſeine Schrifften oder ſein Schild
durch dem Hencker verbrand oder zerbrochen/
oder ſein Nahmen an den Galgen geſchlagen/
oder er wohl gar im Bildniſſe auffgehencket wird.


103.

Die Juriſten pflegen unter ſich zu ſa-
gen/ daß der Staupen-Schlag nicht unehr-
lich mache/ ſondern die Urſache.
Dieſe Ur-
ſache aber muß nicht in der ungegruͤndeten Mei-
nung anderer Menſchen/ ſondern in der Wahr-
heit gegruͤndet ſeyn. Verdammet dich dein Ge-
muͤthe nicht/ ſo koͤnnen auch alle dieſe erzehlte
Beſchimpffungen dein Gemuͤthe nicht verun-
ruhigen/ ſondern du wuͤrdeſt recht elende ſeyn/
venn deine wahrhafftige Ehre der Gewalt ei-
nes
[101]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
nes einigen Menſchen unterwuͤrffig waͤre/ oder
wenn dasjenige dein Gemuͤhte anfechten ſolte/
was man mit deinen Nahmen/ Schilde/
Schrifften und Bilde vornaͤhme. Es iſt wahr/
die Liebe zu dir wird bey vielen Leuten ausge-
tilget; aber bey was fuͤr welchen? Bey denen
die die wahre Gemuͤths-Ruhe nicht beſitzen.
Mit dieſen aber ſucht ein weiſer Mann nicht ſich
durch Liebe zu vereinigen/ ſondern hat Erbarm-
niß mit ihnen/ und dieſe hindert ihn alleine/ daß
er die ihm angethane Beſchimpffungen nicht
verlacht. Bey denen andern aber die nach der
groͤſten Gluͤckſeeligkeit nebſt ihm eyffrig ſich be-
muͤhen/ waͤchſt ſeine Ehre nur deſto mehr da-
durch/ weil die ruhige Erduldung ſolcher unver-
dienten Beſchimpffung die Gemuͤther ſolcher
Leute nur deſto kraͤfftiger an ſich ziehet/ und ſie
noch mehr mit ihm vereiniget.


104.

Nun wollen wir die Manierlichkeit/
Hoͤfflichkeit/ Artigkeit der Sitten/ Wohlanſtaͤn-
digkeit/ mit einem Worte das Decorum be-
trachten. Dieſes gleich wie es in der Nachah-
mung des Thuns derer Leute/ die in menſchli-
cher Geſellſchafft fuͤr andern hochgeachtet wer-
den beſtehet; Alſo iſt es nach denen unterſchie-
denen Arten des Thuns das man imitiret/
hauptſaͤchlich dreyerley: Denn dieſes Thun iſt
entweder Tugendhafft oder Laſterhafft
(wohin ich auch die Eitelkeit referire/ als die
G 3un-
[102]Das 2.Hauptſt. von der groͤſten
unnuͤtzen und irraiſonnablen neuen Moden) oder
indifferent.


105.

So ferne als man in dem decoro tu-
gendhaffte oder laſterhaffte Thaten zu imitiren
ſucht/ muß eben dasjenige davon geſagt werden/
was wir von der Tugend und Laſtern ſelbſt al-
ſobald erinnern wollen. So ferne aber das
Thun und laſſen/ das man imitiret/ indifrent
iſt/ z. e. daß man ſich kleidet/ wie es der ge-
meine Gebrauch mit ſich bringet; daß man mit
einer gemaͤßigten Hoͤffligkeit jederman begegnet;
daß man etlicher Dinge die zwar nicht wider die
geſunde Vernunfft ſeyn/ aber doch insgemein fuͤr
ſchaͤndlich gehalten werden/ ſich enthaͤlt/ iſt ein
Zierrath eines Menſchen/ der die Gemuͤths-
Ruhe beſitzet/ weil dieſe Dinge zum wenigſten
eine gute Ordnung in der gemeinen buͤrgerlichen
Geſellſchafft machen/ auch theils durch dieſel-
ben/ weil man allen allerley wird/ man Gelegen-
heit uͤberkommt/ deſto mehr Menſchen zu gewin-
nen/ daß ſie ſich mit uns zu vereinigen trachten;
theils auch/ weil wir erkennen/ daß wir denen in
Jrrthuͤmern ſteckenden/ wenn wir ihnen in dieſen
indifferenten Dingen nicht etwas nachgeben/ ei-
nen Abſcheu fuͤr uns und der wahren Tugend
machen.


106.

Es iſt aber deswegen das Decorum
kein nothwendig Stuͤcke der Gemuͤths-Ruhe
wenn es nur nicht mit Vorſatz und aus bloſſer
Liebe zur Singularitaͤt unterlaſſen wird. Dan-
nen
[103]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
nenhero der Mangel des Decori an einem
Bauer der es nicht weiß/ oder an einem armen
Menſchen der ſich z. e. in Kleidung nicht andern
gleich halten kan/ ihn an ſeiner Gemuͤths-Ruhe
in geringſten nicht hindern/ noch bey andern
vernuͤnfftigen Leuten verhaſt und unangenehm
machen wird.


107.

Wenn es aber wegen einer Singulari-
taͤt unterlaſſen wird/ ſo iſt es ſreylich ein Ubel/
weil es genugſam zu verſtehen giebt/ daß ein ſol-
cher Menſch die wahre Gemuͤths-Ruhe nicht be-
ſitze/ der keine indifferente complaiſance fuͤr an-
dern Menſchen haben wil/ theils weil er hiermit
keine Liebe andern Menſchen erweiſet/ theils weil
es viel irraiſonnabler iſt/ zu prætendiren/ daß
fich viele die eines gleichen ſeyn/ nach einen/ als
daß ſich dieſer nach vielen richten ſolle.


108. Und weil dannenhero es ohne offen-
bahre Singularitaͤt oder wohl gar ohne einer Lie-
be zur beſtialitaͤt nicht abgehen kan/ wenn man
die Dinge die insgemein fuͤr ſchaͤdlich ge-
halten werden
begehet/ wie die Cynici gethan;
als muͤſſen wir zugleich einen Unterſchied unter-
einem Menſchen/ dem das Decorum mangelt/
und unter dem qui indecenter vivit,der unver-
ſchaͤmt
lebet/ zu machen lernen/ und dieſen letzten
unter die Zahl derer jenigen rechnen/ die die groͤ-
ſte Gluͤckſeeligkeit nicht
beſitzen.


109.

Daferne aber die Unterlaſſung des de
cori
aus einer irrigen Meinung/ als wenn
G 4daſſel-
[104]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
daſſelbige etwas boͤſes waͤre/ oder aus einer
allzufruͤhzeitigen Begierde/ andere allzuge-
ſchwinde von allen Unvollkommenheiten zu rei-
nigen/ herruͤhret; ſo wollen wir dieſes wieder-
umb nicht unter den Mangel der groͤſten Gluͤck-
ſeeligkeit/ ſondern dem Mangel eines Zierraths
derſelben nur zurechnen/ als wenn einer aus jetzo
angefuͤhrten Urſachen alle Leute dutzen/ und fuͤr
keinen Menſchen das Haupt entbloͤſen wolte.


110.

So iſt auch leichtlich abzunehmen/ was
es mit der Schamhafftigkeit fuͤr eine Be-
wandniß habe. Dieſe wird entweder von kuͤnff-
tigen
oder vergangenen Thaten geſaget. Jn
dem erſten Gebrauch iſt ſie nichts anders/ als
ein Vorſatz in tugendhafften und indifferenten
Dingen nach dem decoro zu leben/ und hat die
Unſchamhaſftigkeit als ein Laſter entgegen ge-
ſetzt: wannenhero von dieſen Gebrauch nichts
weiter zu erinnern iſt.


111.

So ferne aber dieſelbe von vergange-
nen
Dingen geſaget wird/ heiſſet ſie eine Reue
uͤber eine wider das decorum anſtoſſende ge-
ſchehene That/ mit dem Vorſatz kuͤnfftig der-
gleichen nicht mehr zu thun/ und die Unſcham-
hafftigkeit
iſt ein Mangel dieſer Reue. Ob
nun wohl auch die Unſchamhafftigkeit eine An-
zeigung iſt/ daß einer die groͤſte Gluͤckſeeligkeit
oder die Gemuͤths-Ruhe nicht beſitze/ ſo darff
man doch nicht dafuͤr halten/ daß die ihr entge-
gen geſetzte Schamhafftigkeit ein weſentli-
ches
[105]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
ches Stuͤck oder ein Zierrath der groͤſten Gluͤck-
ſeeligkeit ſey/ ſondern es iſt augenſcheinlich daß
es beſſer ſey/ wenn ein weiſer Mann ſo lebet/
daß er keine Reue oder Scham vonnoͤthen
habe.


112.

Die Freyheit/ es ſey nun daß dieſelbige
mit Ehre und Macht vergeſellſchafft ſey/ wovon
wir oben bey der Ehre ſchon geredet/ oder von
einem freyen Menſchen/ der kein leibeigener
Knecht noch gefangen iſt/ geſagt werde/ iſt gleich-
falls ein bloßer Zierrath der Gemuͤths-Ruhe/
weil ein freyer Menſch mehr Gelegenheit hat
mit anderen Leuten ſich zu verbinden/ und ihnen
gutes zuthun/ als ein Sclave und Gefangener;
dahingegen dieſe/ wenn ſie anders nicht umb
der Laſter willen zu Sclaven und Gefangenen
gemacht worden/ in ihrem Gemuͤthe ja ſo ruhig
ſeyn koͤnnen/ und der eintzige Dienſt/ den Epicte-
tus
mit ſeinem Enchiridio dem menſchlichen
Geſchlecht erweiſet/ viel edler iſt/ als vielfaͤltige
andere Dienſtleiſtungen/ die ein freyer Menſch
duͤrfftigen Menſchen erweiſeit.


113.

Die Vielheit der Freunde/ ſo ferne
dieſelbe unter die Gluͤcks-Guͤter gerechnet wird/
kan ich fuͤr einen Zierrath der groͤſten Gluͤck-
ſeeligkeit nicht achten. Denn die Freundſchafft
derer/ die die Gemuͤths-Ruhe beſitzen/ dependi-
ret von Gluͤcke nicht/ ſondern iſt ein nothwendi-
ges Gut/ und weſentliches Stuͤck der Gemuͤths-
Ruhe: aber weil dererjenigen ſehr wenig ſind/
G 5die
[106]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
die die Gemuͤths-Ruhe beſitzen/ ſo kan es auch
nicht fehlen/ es muß ein weiſer Mann ſehr we-
nig Freunde
oder doch zum wenigſten mehr
Feinde als Freunde
haben.


114.

Derowegen ſo waͤre es zwar wohl vor
einen Zierrath der groͤſten Gluͤckſeeligkeit zu hal-
ten/ wenn es moͤglich waͤre/ daß ein weiſer
Mann viel Freunde haben koͤnte; Dieweil aber
dieſe Moͤgligkeit in dieſem verderbten Zuſtand
darinnen wir leben nicht zu hoffen ſtehet/ ſo iſts
vielmehr ein Anzeigung des Mangels der
Gemuͤths-Ruhe/
wenn ſich ein Menſch ruͤh-
met viel Freunde zu haben/ weil er ſo dann
genungſam zuverſtehen giebet/ daß er dieſer
Vielheit gleich ſeyn muͤſſe/ weil eine jede Freund-
ſchafft und Gemuͤths-Vereinigung in der Gleich-
heit ſich gruͤndet.


115.

So bleibet es demnach dabey/ daß alle
bisher erzehlten Guͤter außer dem Menſchen die
insgeſamt zu denen Guͤtern des Gluͤcks gehoͤ-
ren/ und in des Menſchen ſeinem Vermoͤgen und
Willkuͤhr nicht beſtehen/ auch keine weſent-
liche Stuͤcke
der groͤſten Gluͤckſeeligkeit ſeyn
koͤnnen/ in Anſehen der Menſch ſeine Gemuͤths-
Ruhe nicht dem Gluͤck/ ſondern ſich ſelbſten zu
dancken hat.


116.

Was die Guͤter des Leibes anlanget
ſo iſt erſtlich das Leben des Menſchen zwar der
Grund der Gemuͤths-Ruhe; jedoch macht die
Beraubung deſſelbigen nemlich der Tod dem
Men-
[107]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
Menſchen nicht elende oder ungluͤcklich. Denn
es ſey nun/ daß das Gemuͤthe durch den Tod
nicht vernichtet werde (deſſen der Menſch durch
eine die Vernunfft uͤberſteigende Vergewiſſe-
rung verſichert wird) ſo wird auch durch den
Tod die Gemuͤths-Ruhe nicht auffhoͤren/ oder
aber daß mit dem Leibe zugleich die Seele ver-
nichtiget werden ſolte/ ſo wuͤrde man doch von
einer Sache die zu nichts worden/ nicht ſagen
koͤnnen/ daß ſie unruhig ſey/ ſondern ich wuͤrde
in dieſem Zuſtande von einem Menſchen ſagen
muͤſſen/ daß er weder gluͤcklich noch ungluͤcklich
ſey/ weil er auffgehoͤrt ein Menſch zu ſeyn.


117.

Die Geſundheit des Menſchen oder
die Gantzheit der Gliedmaſſen/ und die ge-
woͤhnliche und ordentliche Bewegung des Ge-
bluͤts und der Geiſtergen
in denenſelben iſt
ein noͤthiges Stuͤcke der Gemuͤths-Ruhe/
und mehr als ein gemeiner Zierrath/ weil nicht
nur ein geſunder Menſche vermoͤgender iſt ſeiner
Gemuͤths-Ruhe als einer ruhigen Beluſtigung
beſſer zu genieſſen/ maſſen die Geſundheit ſelb-
ſten in einer ruhigen Bewegung beſtehet) und
anderer Leute Gemuͤther durch Liebes-Dienſte
an ſich zu ziehen/ und ſich mit ihnen zu vereini-
gen; ſondern auch der Manngel der Geſund-
heit
des Menſchen ſeine Gemuͤths-Ruhe zu wei-
len ſtoͤren kan.


118.

Zwar ſo ferne die die Kranckheiten nur
eine dauerhaffte unordentliche Bewegung
des
[108]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
des Gebluͤtes/ nicht aber einen groſſen Schmer-
tzen in denen nerven verurſachen; iſt darinnen
ein groſſer Unterſchied zwiſchen einen Menſchen
der die Gemuͤths-Ruhe beſitzet/ und der dieſel-
be noch nicht erhalten hat. Dieſer wird auch
in ſeinem Gemuͤthe unruhig ſeyn/ theils weil ſein
Gemuͤthe von der depoſition des Leibes bald da
bald dorthin gezogen zu werden gewohnet iſt/
und alſo die unordentliche Bewegung des Ge-
bluͤts auch nothmendig eine unordentliche unru-
hige Bewegung in ſeinen Gedancken verurſa-
chen muß/ theils weil er dieſe Kranckheiten als
eine Hinderniß betrachtet ſeinen Reichthumb zu-
vermehren oder ſeine Wohlluſt zu ſaͤttigen/ oder
ſeine Ehrgierde zu ſtillen/ als worinnen er irriger
weiſe ſein hoͤchſtes Vergnuͤgen ſucht.


119.

Aber ein weiſer Mann der gewohnet
iſt/ daß ſein Gemuͤthe von dem augenblicklichen
unordentlichen Bewegungen des Gebluͤtes (wo-
durch bey andern ſonſt der affect pfleget erre-
get zu werden) nicht beweget wird/ hat durch
dieſe Gewohnheit ſo viel erhalten/ daß auch her-
nach durch dergleichen dauerhaffte unordent-
liche Bewegungen des Gebluͤtes/ ebenfalls ſeine
Gemuͤths-Ruhe nicht geſtoͤhret wird/ und in
dem er alſo auſſer dieſer keine andere Gluͤckſee-
ligkeit erkennet/ ſo afficiret ihn auch in geringſten
nicht/ ob ſchon durch die Kranckheit/ Reichthum/
ſinnliche Beluſtigungen und lobwuͤrdige Thaten
hindan geſetzet werden muͤſſen.


120. Aber
[109]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.

120.

Aber ſo ſerne die Kranckheiten
ſchmertzhafft
ſeyn/ und die nerven mit haͤrte an-
greiffen/ muͤſſen wir behutſam gehen/ daß wir
nicht eines Theils dafuͤr halten/ alswenn auch
dieſe Kranckheit das Gemuͤth eines Menſchen
gar nichts angingen/ anderstheils aber nicht
auff die andere Seite verfallen/ als wenn die-
ſelbigen einen weiſen Mann elend machten.


121.

Es iſt wohl an dem/ daß ein Menſch ei-
ne ſehr ſtarcke Phantaſie haben muͤſſe/ weñ er ſich
einbilden wolte/ daß ein weiſer Mann/ wenn er
z. e. an dem Podagra, an Stein/ an der Gicht
ſtarck darnieder liegt/ und groſſe Schmertzen da-
von empfindet/ in ſeinem Gemuͤthe eben ſo ruhig
ſey/ als wenn er in einem Roſen-Garten
ſaͤſſe/
und daß/ wenn gleich ſein Halß ſchrie/
ſein Gemuͤthe doch gantz freudig ſey. Wir ha-
ben geſagt/ daß das Gemuͤthe den Gedancken des
Menſchen ſeyn; und auch bey einem weiſen
Mann/ wenn gleich ſein Gemuͤthe den Leib be-
herrſchet/ dennoch wegen der ſtetswehrenden
Vereinigung der Seelen mit dem Leibe nicht alle
Empfindligkeit der Seelen von dem Leiden des
Leibes auffgehoben werden. Und weil es dem-
nach bey dieſer Bewandniß nicht anders zuge-
hen kan/ als daß ein weiſer Mann Zeit wehrenden
ſeinen Schreyen an den Schmertzen gedencken
muß; ſo kan es auch nicht fehlen/ es muͤſſe zu die-
ſer Zeit ſein Gemuͤthe ſo ruhig nicht ſeyn als ſon-
ſten. Jn dieſen Anſehen haben wir die Geſund-
heit
[110]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
heit als ein noͤthiges Stuͤcke der menſch-
lichen Gluͤckſeeligkeit
gerechnet/ und rechnen es
unter diejenige/ deſſen Be raubung durch derglei-
chen Kranckheit die Gemuͤths-Ruhe ein wenig
ſtoͤhret/
und verurſachet/ daß ein Menſch Zeit
wehrenden ſolchen Zuſtandes nicht vollkom-
men gluͤckſeelig ſey.


122.

Aber es iſt doch deshalben die Geſund-
heit des Leibes nicht ein weſentliches Stuͤcke
der Gemuͤths-Ruhe/ und die jetzt ermeldten
Kranckheiten koͤnnen einen weiſen Mann dieſel-
bige nicht gar rauben noch elend machen/ maſ-
ſen den ein weiſer Mann/ ſo bald die Schmer-
tzen vorbey ſeyn (welche je empfindlicher ſie ſeyn/
je mehr ſie auch ordentlich wieder auffhoͤren) von
ſeiner verſtoͤhreten Ruhe bald wieder in Ordnung
koͤmmt/ und ſolcher geſtalt abermahls auch in An-
ſehung dergleichen Kranckheiten ein groſſer Un-
terſcheid zwiſchen einen weiſen und unweiſen
Mann iſt.


123.

Jener beſitzt vor dem Schmertzen ſeine
Gemuͤths-Ruhe wie er ſol/ und præpariret ſich
bey Herannahung derſelben zu einer ihme moͤgli-
chen Gedult/ nach vergangenen Schmertzen a-
ber troͤſtet ihn die Erlangung der eutzwiſchen in
etwas turbirten Gemuͤths-Ruhe uͤber dem was
er zuvor erlitten/ kraͤfftiglich. Aber ein Unwei-
ſer/
weil er keine Gemuͤths-Ruhe hat/ ſtellet er
ſich die zukuͤnfftigen Schmertzen durch eine irrai-
ſonable
Furcht noch Schmertzhaffter vor als ſie
ſind/
[111]Gluͤckſeligkeit des Menſchen.
ſind/ und erwecket dadurch Zeit wehrenden
Schmertzen eine groſſe Ungedult/ die ihm dieſel-
ben vielmehr empfindlich macht; Ja es laͤſt ihm
ſeine angewoͤhnte Gemuͤths-Unruhe nicht ein-
mahl zu/ daß er ſich mit Betrachtung der vergan-
genen Pein beluſtigen ſolle/ ſondern das bloſſe
Anhoͤren und Erwehnung des Nahmens derſel-
ben praͤgt ihm eine ſo verdrießliche Idee ein/ als
wenn dieſelbige alsbald wieder gegenwaͤrtig
waͤre.


124.

Nun haben wir noch die Guͤter der
Seelen
uͤbrig/ Weißheit und Tugend. Bey-
de ſind noͤthige und weſentliche Stuͤcke der Ge-
muͤhts-Ruhe/ dergeſtalt/ das ohne dieſelben ein
Menſch keine Gemuͤths-Ruhe beſitzen kan/ ſon-
dern hoͤchſt elend ſeyn muß. Die Weißheit
reiniget den Verſtand/ daß er die Eitelkeit aller
andern Guͤter und die wahre Gluͤckſeeligkeit der
Gemuͤths-Ruhe erkennet/ und dadurch deñ Wil-
len diſponiret/ gegẽ jene indifferent zu ſeyn/ nach
dieſer aber hauptfaͤchlich zu trachten. Und die
Tugend jaget der Gemuͤths-Ruhe nach/ und
wenn ſie dieſelbige erhalten/ giebt ſie ihr durch ei-
ne ſtetswehrende Bewegung tugendhaffter Tha-
ten das Leben/ und iſt alſo zugleich die Mutter
und Tochter der wahren Gluͤckligkeit.


125.

Hingegen wenn ein Menſch von der
Erkaͤntniß der wahren Gluͤckſeeligkeit verfehlet/
und die Schein-Guͤter fuͤr dieſelbige annimmt/
auch durch dieſe Betruͤgung ſeines Wahns an
ſtatt
[112]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten
ſtatt tugendhaffter lieblicher Thaten alles ſein
Thun und Laſſen nach ſeinem eigenen Intereſſe
dieſes Schein-Gut zu erlangen einrichtet/ der kan
nicht anders als hoͤchſt elende ſeyn/ in dem er
ſein Gemuͤthe hoͤchſt verunruhiget/ auch taͤglich
in dieſer Unruhe als ein Wild im Garne ſich mehr
und mehr verwickelt/ ein Abſcheu aller Tugend-
haffter Leute/ und ſeines Geldes oder anderer
armſeeligen und ja ſo elenden Menſchen als er
ſelbſt iſt/ Sclave wird.


126.

Hierbey aber muſtu bey der Weißheit
aus dem vorhergehenden wiederholen/ daß ich
durch ſelbige weder die Erkaͤntniß eiteler und Pe-
danti
ſcher/ noch zierlicher und artiger Wiſſen-
ſchafften/ auch nicht einmahl ſolcher dem menſch-
lichen Geſchlecht ſonſt nicht unnuͤtzlichen Diſcipli-
nen/ die aber zu Erforſchung anderer Geſchoͤpffe
auſſer dem Menſchen zielen/ verſtehe. Denn
dieſe ſind entweder der wahren Gluͤckſeeligkeit
entgegen geſetzte Thorheiten/ oder doch zum
wenigſten bloſſe Zierrathen der Gemuͤths-Nu-
he. Die eintzige Selſtberkaͤntnuͤß iſt das
weſentliche Stuͤcke
des hoͤchſten Guts/ und wer
dieſe verfehlet/ oder ſie anfeindet/ braucht keiner
weitern Beſtraffung/ weil er als ſein ſelbſt eige-
ner Feind hierdurch ſich genung ſelbſt beſtraffet.


127.

Gleichergeſtalt muſtu die Tugend nicht
in den aͤuſſerlichen Bezeugungen alleine ſuchen/
ſondern zufoͤrderſt in der bruͤnſtigen Liebe gegen
andere Tugendliebende Menſcheu. Dieſe muß
aus
[113]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
aus dem Hertzen kommen/ und zwar durch die
aͤuſſerliche Thaten bezeiget worden; aber wenn
die aͤuſſerlichen Thaten von dieſer innerlichen
Liebe entbloͤſet ſind/ iſt ein Menſche hoͤchſt un-
gluͤcklich/
weil er als ein allgemeiner Betrieger
auch von jederman wieder betrogen zu werden
befahren muß/ ja weil er ſich ſelbſt durch dieſe an-
gewoͤhnte Gleißnerey am meiſten betriget/ und
in der That ein Heuchler/ deshalben viel elender
iſt als einer der offentlich in Laſtern lebet.


128.

Wir haben nunmehro bey dieſen Capi-
tel nichts mehr noͤthig zu erinnern/ als daß wir
dir mit wenigen noch einen Scrupel benehmen/
den du dir machen koͤnneſt/ wenn du erwegeſt/ daß
weder bey der erſten Frage/ welches menſchliche
Gut die groͤſte Gluͤckſeeligkeit ſey? noch bey der
andern von denen weſentlichen Stuͤcken der-
ſelben/ der Wohlluſt des Leibes/ in gering-
ſten nicht gedacht worden/ da doch Epicurus und
Ariſtippus das hoͤchſte Gut in der Wohlluſt des
Leibes geſucht/ ja da wir ſelbſt im vorigen Capi-
tel erwehnet/ das alles wahrhafftige Gut beln-
ſtigend
ſey/ auch die Gemuͤths-Nuhe beſchrie-
ben haben/ daß ſie eine ruhige Beluſtigung
ſey/ und nur kurtz zuvor erinnert/ daß wegen
Vereinigung des Gemuͤths mit dem Leibe daſ-
ſelbige der Schmertzen des Leibes theilhafftig
werde/ und alſo ſcheinet es ja auch/ daß das Ge-
muͤthe wegen eben derſelben Urſache gleichfalls
auch die Wolluſt des Leibes empfinden muͤſſe.


H129. Aber
[114]Das 2. Hauptſt. von der groͤſten

129.

Aber hierauff werden wir dir keine an-
dere Antwort geben duͤrffen/ als wenn wir
dir nur fuͤrhalten/ daß die Wohlluſt des Lei-
bes
eine unruhige/ unordentliche und empfind-
liche Beluſtigung ſey. Und alſo iſt ſie wahr-
hafftig in ihrer Natur boͤſe/ und derjenige/ der
ſich in ſelbiger umwaͤltzet/ wircklich elende/ indeme
er ſo dann nicht als ein Menſche/ ſondern noch
unvernuͤnfftiger als eine Beſtie lebet/ weil die Be-
ſti
en nicht mehr eſſen/ trincken/ und anderer
Wohlluſt des Leibes pflegen/ als ihre Natur
erfordert: Geſchweige denn daß einen vernuͤnff-
tigen Menſchen in die Gedancken kom̃en ſolte/ die
Wohlluſt des Leibes koͤnnte die groͤſte Gluͤckſee-
ligkeit/ oder ein weſentliches Stuͤck/ oder nur ein
Zierrath derſelben ſeyn.


130.

Es iſt wohl an dem/ daß unzehlich viel
Leute ihr Thun und Laſſen darnach einrichten/
als wenn dieſe Wohlluſt das hoͤchſte Gut waͤ-
re; Aber ihr eigen Gewiſſen wird ſie allezeit
uͤberzeugen/ daß ſie thoͤricht handeln/ wenn ſie
nicht allbereit durch die angewoͤhnte Beſtialitaͤt
daſſelbige gaͤntzlich eingeſchlaͤffert; Alleine daß
ein Philoſophus jemahls die Meinung ſolte
geheget/ und dieſe Philoſophie Nachfolger ge-
funden haben/ daß dieſe Wohlluſt die groͤſte
Gluͤckſeeligkeit ſey/ werde ich mich nimmermehr
bereden laſſen/ man moͤge auch von demeAri-
ſtip pus
ſagen was man wolle. Denn nach
dem zu unſern Zeiten ein Gasſendus dem Epi-
curus
[115]Gluͤckſeeligkeit des Menſchen.
curus in dieſem Stuͤck/ und in einem andern
de la Mothe le Vaper dem Pyrrho daß er kein
Narre geweſen/ die Defenſion gefuͤhret/ halte ich
alles dasjenige/ was man von denen alten Phi-
loſophen
ſagt/ und der geſunden Vernunfft au-
genſcheinlich zuwieder iſt/ fuͤr Fabelhafft/ und
van ihren Feinden ertichtet.


Das 3. Hauptffuͤck.
Von GOtt als dem Urſprung
aller menſchlichen Gluͤckſeeligkeit/
und was die natuͤliche Erkaͤntniß
deſſelben zu der groͤſten Gluͤck-
ſeeligkeit contribuire,


Jnnhalt.


  • Connexion n. 1. 2. Man muß bey der Vetrachtung von
    GOtt Natur und goͤttliche Offendahrung nicht ver-
    miſchen n. 3. daß ein GOtt ſey/ kan niemand laͤug-
    nen/ ſondern es iſt nur die Frage/ was er ſey? n. 4.
    Nehmlich die erſte Urſache aller veraͤnderlichen Din-
    ge n. 5. welche von dieſen unterſchiedones Weſens
    iſt. n. 6. Und von ſich ſelbſt herruͤhret. n. 7. Worum
    die Heyden dafuͤr gehalten/ daß die Materia prima
    GOtt gleich ewig ſey. n. 8. Lehrſaͤtze wieder dieſe Mei-
    nung. n. 9. Die erſte Materia muß nothwendig aus
    nichts gemacht ſeyn. n. 10. Und zwar von GOtt/ wes-
    halben ſie nicht gleich ewig iſt. n. 11. Es iſt nicht un-
    moͤglich/ daß aus nichts etwas werde n. 12. (eines
    H 2weiſen
    [116]Das 3. Hauptſt. von GOtt als dem
    weiſen Mannes Behutſamkeit in der Lehre von der
    Schoͤpffung n. 13.) ſondern dieſes erſcheinet gantz
    klar aus der vergaͤnglichen Dinge ihren Seyn und
    Weſen/ die augenblicklich zu nichts und wieder zu et-
    was werden. n. 14. 15. L6. Natuͤrliche Erkaͤntniß der
    goͤttlichen Providentz aus eben dieſer Anmerckung.
    n. 17. Die veraͤnderlichen Dinge koͤnnen ihr Weſen
    nicht ſelbſten erhalten. n. 18. ſondern es muß es noth-
    wendig der Schoͤpffer thun n. 19. Gemeiner Jrrthum
    wieder die goͤttliche Vorſehung/ daß es in dieſer Welt
    tugendhafften Leuten uͤbel/ und Laſterhafften wohl
    gehe. n- 20. 21. Unterſchied zwiſchen der Schoͤpffung
    und der Erhaltung der Dinge. n. 22. Obgleich Gott
    alle Augenblick denen Dingen ein neu Weſen und
    Seyn giebt/ ſo bleibt es doch mit dem alten immer
    ein einiges. n. 23. Welches mit dem Exempel einer
    Linie verglichen wird. n. 24. Ein wahrer Philoſo-
    phus
    gehet in der natuͤrlichen Erkaͤntniß GOttes
    nicht weiter/ ſondern redet lieber von GOttes unba-
    greifflichen Vollkommenheiten gar nicht/ als daß er
    ungeſchickt reden ſolle .n. 25. Er ſuchet aber die
    bißherigen Lehrſaͤtze in der Sitten-Lehre ſich ſolcher-
    geſtalt zu nutze zu machen/ daß er erkennet/ er muͤſſe
    ſein Thun und Laſſen nach GOttes Weſen einrich-
    ten. n. 26. und GOtt lieben. n. 27. Das iſt/ GOtt
    inniglich vertrauen n. 28. und demuͤthig fuͤrchten/
    n. 29. Woraus wiederum folget/ daß er keine Urſa-
    che habe/ einige andere Creatur zu fuͤrchten n. 30
    oder derſelben zu vertrauen. n. 31. Die natuͤrliche Er-
    kaͤntniß weiß auch von keinen anderen aͤuſſerlichen
    Gottesdienſt n. 32. Dieſer Lehrſatz wird wohlbe-
    daͤchtig erklaͤret. n. 33. Daß er nichtvon dem innerlichen
    Gottesdienſt/ ſondern von dem aͤuſſerlichen rede. n.
    34. Welcher zweyerley iſt/ allgemein und unterſchie-
    den. n. 35. So iſt auch nicht die Frage/ ob GOtt
    wuͤrdig ſey geehret zu werden. n. 36. Oder ob der
    Menſch
    [117]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.
    Menſch ſchuldig ſey GOTT aͤuſſerlich zu dienen
    wenn es GOit von ihm begehre n. 37. ſondern ob
    man aus bloſſer Vernunfft erweiſen koͤnne/ das Gott
    einen aͤuſſerlichen Gottesdienſt von dem Menſchen
    verlange? n. 38. welches gelaͤugnet wird. n. 39 Man
    kan keinen Beweiß n. 40. weder aus der goͤttlichen
    Natur n. 41. noch aus der menſchlichen n. 42. her-
    nehmen/ vielweniger aus dem Stande der Unſchuld/
    oder aus der Gleichfoͤrmigkeit mit goͤttlicher Hei-
    ligkeit n. 43. Alle Laͤſterung und Vrachtung GOt-
    tes iſt der Vernunfft zuwieder. n. 44. So ſiehet auch
    die Vernunfft/ daß es beſſer ſey GOtt aͤuſſerlich zu
    ehren/ als dieſe Ehre zu unterlaſſen n. 45. aber ſie
    kan doch die Nothwendigkeit des aͤuſſerlichen GOt-
    tesdienſtes nicht begreiffen/ weder des aͤuſſerlichen
    Gebets n. 46. noch des lobens n. 47. noch des dan-
    ckens n. 48. weder in Anſehen GOttes n. 49. noch
    in Anſehen anderer Menſchen. 50. 51. Andere
    Einwuͤrffe wider dieſen unſer m Lehrſatz n. 52. Die
    Heyden haben den aͤuſſerlichen Gottesdienſt aus der
    Offenbahrung erkennet. n. 53. Die Gluͤckſeeligkeit
    des gemeinen Weſens kan der wahre Zweck des aͤuſ-
    ſerlichen Gottesdienſtes nicht ſeyn. 54. 55. 56. Man
    kan noch vielweniger den abſonderlichen und unter-
    ſchiedenen Gottesdienſt aus der Natur erkennen.
    n. 57. Alle Religion gruͤnden ſich auff eine Offen-
    bahrung. n. 58. Und GOtt hat niemahls einen aus
    der Vernunfft erfundenen Gottesdienſt approbiret.
    n. 59. Die zwey Haupt-Jrrthuͤmer in der Erkaͤnt-
    niß GOttes ſind die Atheiſterey und ein abgoͤtti-
    ſcher Aberglauben. n. 60. Was ein Atheiſte ſey. n.
    61. 62. Die Atheiſterey iſt eine der elendenſten Thor-
    heiten. n. 63. Was ein Abgoͤttiſcher und Aberglaͤu-
    biſcher Menſch ſey? n. 64. Die Abgoͤtterey die mit
    denen himmlichen Coͤrpern getrieben wird/ gehoͤret
    zur Theologie n. 65. Denn es iſt entweder eine
    H 3raiſo-
    [118]Das 2. Hauptſt. von Gott als dem
    raiſonable oder irraiſonable Abgoͤtterey n. 66. Die
    barbariſchen Voͤlcker ſind nicht ſo unvernuͤnfftig in ih-
    rer Abgoͤtterey geweſen/ als die/ bey denen die Phi-
    loſophie
    am meiſten getrieben worden. n. 67. Ge-
    geneinanderhaltung eines wahren Philoſophi, eines
    Atheiſten/ und eines Aberglaͤubiſchen in Anſehen der
    Sitten-Lehre n. 68. 69. 70. 71. Der erſte iſt alleine
    ein Menſch/ der andere aber einem Affen/ und der
    dritte einem Schweine oder Eſel nicht ungleich. n. 72.
    Ein Aberglaͤubiſcher iſt noch mehr als ein Atheiſte.
    n. 73. Worumb man heut zu Tage ſo viel wider die
    Atheiſterey und ſo wenig wider den Aberglauben
    ſchreyet und ſchreibet. n. 74. Man hat faſt alle recht-
    ſchaffene Philoſophos zu allen Zeiten fuͤr Atheiſten
    ausgeſchrien. n. 75.

1.


WJr haben im erſten Capitel geſagt/ daß
GOtt unter allen Guten billig oben
anſtehe/ auch daſelbſt an der gemei-
nen Eintheilung des Guten in die Guͤter des
Leibes/ der Seelen/ und des Gluͤcks getadelt/
daß man bey derſelben Gottes vergeſſen/ und
gleichwohl haben wir ſelbſt im vorigen Capitel/
da wir von der groͤſten Gluͤckſeeligkeit des Men-
ſchen gehandelt/ Gottes nicht mit einem Wor-
te gedacht/ da doch niemand ſich finden wird/
der mit Grund der Warheit leugnen koͤnne/
daß GOtt nicht der Urſprung und Brunqvell
alles Guten ſey.


2.

Aber laß dich dieſes nicht irren/ denn dieſes
Hauptſtuͤcke wird uns rechtfertigen/ daß wir
GOttes nicht vergeſſen/ noch ſeines Vorzugs
unter
[119]Urſprung aller menfchl. Gluͤckſeeligk.
unter allen Guten ihm beraubet/ ob wir ſchon
behauptet haben/ daß die groͤſte Gluͤckſeligkeit
des Menſchen in ſeiner Gemuͤths-Ruhe beſtehe.
GOTT iſt der Geber alles Guten/ und al-
ſo vortrefflicher als alle ſeine Gaben. Jm vor-
hergehenden Capitel aber haben wir unterſu-
chet/ welche unter allen Gaben die allervor-
trefflichſte und
die aller edelſte ſey. Nachdem
wir nun dieſelbige erkennet/ muͤſſen wir nicht
denen Schweinen gleichen/ die ſich ohne Be-
trachtung derer Frucht tragenden Eichen mit de-
nen Eicheln maͤſten; ſondern unſere Gedancken
allerdings in die Hoͤhe ſchwingen/ und GOTT
als den Geber alles Guten/ und folglich auch der
Gemuͤths-Ruhe als der groͤſten Gluͤckſeeligkeit
ein wenig genauer betrachten/ zumahlen da wir
ſo dann gar leichtlich erkennen werden/ daß wir
ohne dieſe noͤthige Erkaͤntniß nicht einmahl
die obbeſchriebene Gemuͤts-Ruhe rechtſchaf-
fen begreiffen oder beſitzen
koͤnnen.


3.

Laß uns aber allhier ein wenig ſtille ſte-
hen/ und zufoͤrderſt ſehen/ was uns das Licht der
geſunden Vernunfft ohne Beytrag goͤttlicher
Offenbahrung von GOTT ſage/ damit wir
nicht eines Theils durch Vermiſchung unſerer
Vernunfft mit der heiligen Offenbahrung/ von
denen groͤſten Geheimniſſen auff eine unver-
nuͤnfftiger Weiſe etwas herplaudern/ anders
Theils aber durch das Vo rurtheil einer allzu-
uͤberwitzigen Weißheit einge nommen/ unter dem
Nah-
[120]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
Nahmen Gottes die bloſſen Geſchoͤpffe verſtehen/
und alſo in der That Gott verlaͤugnen.


4.

Ob ein GOtt ſey? wird kein vernuͤnffti-
ger Menſch die geringſte Urſache in Zweiffel
zu ziehen finden/ daß er dieſe Frage verlaͤug-
nen
ſolte/ weil ihm ſonſt die Betrachtung aller
irrdiſchen Geſchoͤpffe/ und das geringſte Graͤß-
lein ſeine Raſerey ja ſo ſehr uͤberzeugen wuͤrde/
als wenn er dieſe Geſchoͤpffe ſelbſt laͤugnen ſol-
te; Sondern er nimmet vielmehr durch Be-
trachtung dieſer Dinge die umb ihn ſind/ ja ſein
ſelbſt/ Gelegenheit durch einen vernuͤnfftigen
Zweiffel zu ſuchen/ was denn Gott ſey und
heiſſe/ und wie weit ſeine natuͤrliche Erkaͤntniß
hierinnen ſich erſtrecken koͤnne.


5.

Er ſiehet das alle Geſchoͤpffe auff dieſer
Erden ihren Urſprung
und Untergang un-
terworffen ſind/ auch bald beweget werden/
bald ruhen. Und alſo erkennet er zugleich/ daß
nichts unter denenſelben weder ſein ſebſtaͤn-
diges Weſen/ noch ſeine Bewegung von ſich
ſelbſten habe/
ſondern alles von einem andern
herkomme und beweget werde. Und weil dem
allgemeinen menſch lichen Verſtand zuwider iſt/
daß er in Erkaͤntniß derer cauſarum bis in infini-
tum
ſich verſteigen ſolte/ gleichwohl aber nach
unſerer Vernunfft-Lehre alles das jenige vor
falſch zu halten/ was dem allgemeinen menſchli-
chen Verſtand zu wider iſt; als iſt er gewiß
verſichert/ daß eine erſte Urſache ſeyn muͤſſe/
von
[121]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeeligk.
von welcher alle veraͤnderliche und beweg-
liche Dinge ihren Urſprung haben.


6.

Und dieſes nennet er GOtt/ weil alle Men-
ſchen und Secten der Philoſophen eine der-
gleichen erſte das Weſen und die Bewegung
der Dinge wuͤrckende Urſache gleichfalls GOtt
genennet/ und alſo alle miteinander GOTT als
ein von denen bewegten und gemachten Dingen
unterſchiedenes Weſen betrachtet haben.


7.

Derowegen kommen auch alle Philophen
darinnen uͤberein/ daß der formale concept dieſer
erſten Urſache aller beweglichen und veraͤn-
derlichen Dinge oder des goͤttlichen Weſens
darinnen beſteſte/ daß dieſes von keinem andern
ſondern von ſich ſelbſten herruͤhre und entſtan-
den/ weshalben man auch dieſen concept insge-
mein durch das Wort Aſeitas auszudrucken pfle-
get/ und in Anſehung den aus deſſen Wuͤrckung
entſtandenen Dinge uͤberhaupt alle wuͤrckende
Urſachen
(cauſas efficientes) beſchreibet/ daß
von ihnen die gemachten Dinge entſtehen (à
quibus res ſunt:
)


8.

Hiernechſt erkennet auch die menſchliche
Vernunfft/ wenn ſie nur ein wenig von denen
præjudiciis der Heydniſchen Philoſophie ſich
ſaubern und recht raiſoniren wil/ daß GOtt den
urſpruͤnglichen Stoff oder die ſo genante ma-
teriam primam
dieſer beweglichen und veraͤn-
derlichen Dinge aus nichts gemacht oder er-
ſchaffen habe/ obſchon die gemeine Meinung
H 5dahin
[122]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
dahin zielet/ daß die Schoͤpffung von der Ver-
nunfft nicht begriffen/ ſondern durch ein uͤberna-
tuͤrliches Licht alleine erkennet werden koͤnne/
auch die Heydniſche Philoſophi durchgehends
durch ein falſches axioma, daß ſie fuͤr unſtrei-
tig wahr angenommen/ (nehmlich daß aus
nichts auch nichts werden koͤnne
) in den
Haupt-Jrrthumb verfallen/ daß dieſe erſte ma-
terie
von ſich ſelbſt herkommen/ und GOtt
gleich ewig ſey; aus welchen ſchaͤdlichen Jrr-
thumb und deren daher geleiteten noch ſchaͤdli-
chern Folgereyen auch alle Heydniſche Secten/ ja
ſo gar faſt alle Ketzereyen in der erſten Chriſtli-
chen Kirche entſtanden. Wir wollen den Be-
weißthum dieſes unſeres Lehr-Satzes kuͤrtzlich
alſo zuſammen faſſen.


9.

Die erſte wuͤrckende Urſache und die
erſte gewirckte Sache ſind/ wie jetzt gemeldet/
zwey unterſchiedener Dinge/ jene iſt ein We-
ſen von welcher/ (á qua) dieſe aber iſt ein We-
ſen aus welcher (ex qua) die andern Dinge ent-
ſtanden. Hierinnen kommen alle alten und neuen
Philoſophen (die nicht offenbahre Atheiſten
ſind) uͤberein. So wohl auch hierinnen/ daß
eine erſte gewirckte Sache (materia prima)
ſeyn muͤſſe/ weil gleichfalls dem menſchlichen
Verſtand zuwider ſey/ daß er ſich in Erkaͤnt-
niß derer gewuͤrckten Dinge in infinitum ver-
ſteigen ſolle.


10. So
[123]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeeligk.

10.

So ferne nun der menſchliche Verſtand
von dieſer erſten gewuͤrckten Sache oder ma-
teria prima
ſich den concept macht/ daß es die
erſte ſey/ ſo muß nothwendig folgen/ daß ſie
aus keinem andern Dinge entſtanden/ denn
ſonſt konte man ſie nicht die erſte nennen. Jſt
ſie aber aus keinem andern Dinge entſtanden/
ſo muß ſie nothwendig aus nichts gemachet
ſeyn. Denn wenn man gleich ſagen wolte/ ſie
waͤre aus GOtt/ ſo muſte dieſes folgen/ daß
GOtt ſelbſt zugleich die erſte wuͤrckende und
die erſte gewuͤrckte Sache waͤre/ welches wie
jetzt gemeldet/ wieder alle Vernunfft iſt/ daß
GOtt und die gewuͤrckten Dinge (cauſa effi-
ciens prima \& materia prima,
) einerley ſeyn
ſolten.


11.

Woher und von wem aber koͤmmt nun
dieſe erſte Materie her? Entweder von GOtt
oder von ſich ſelber. Zwiſchen dieſen beyden
kan der Verſtand kein Mittelding begreiffen/
kaͤme ſie von ſich ſelber her/ ſo waͤre ſie GOtt
ſelbſt/ und lieffe es abermahl auff die jetztgemeldte
abſurditaͤt hinaus; Ja ſie waͤre keine Ma-
terie
mehr/ weil nach aller Philoſophen Uberein-
ſtimmung der Concept der Materie zwar in feri-
ret/ daß darinnen etwas gewircket werden koͤn-
ne/ nicht aber daß ſie ſelbſt fuͤr ſich etwas wir-
cke. Solchergeſtalt aber iſt nichts mehr uͤbrig/
als daß ſie von GOtt herkomme/ und daß
GOtt dieſe erſteMaterieaus nichts ge-
macht/
[124]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
macht/ auch folgends ſelbige Gott nicht gleich
ewig ſeyn
koͤnne; welches das jenige iſt/ wel-
ches wir wider die Lehr-Saͤtze der Heydniſchen
Philoſophie haben weiſen wollen.


12.

Und haben ſich dannenhero die Heydni-
ſchen Philoſophen alleſamt darinnen groͤblich
betrogen/ wenn ſie dieſen Lehr-Satz als unſtrei-
tig wahr angenommen/ daß es unmoͤglich ſey/
daß aus nichts etwas werden ſoll
e/ indem ſie
haͤtten entſcheiden ſollen/ daß ein groſſer Unter-
ſchied darinnen ſey/ ob man ſage daß nichts et-
was
ſey/ und das aus nichts etwas werde.
Jenes iſt wieder alle Vernunfft und dannen-
hero falſch/ dieſes aber iſt wie jetzo erwieſen
worden/ der Vernunfft allerdings gemaͤß und
folglich unſtreitig wahr/ ob es gleich uͤber die
Vernunfft iſt die Art und Weiſe zu begreiffen/
wie es zugegangen/ daß Gott aus nichts etwas
gemacht habe.


13.

Derowegen muß auch ein aͤchter Philo-
ſophus,
der ſeine Vernunfft recht gebrauchen/
und derſelben Graͤntze nicht uͤberſchreiten wil/
disfalls fuͤr zweyen extremis ſich huͤten; eines
theils/ daß er die Schoͤpffung uͤberhaupt mit
denen Heyden nicht fuͤr ein der Vernunfft zu-
wider
lauffendes Ding halte; anders Theils
aber daß er mit vielen von denen heutigen Phi-
loſophis
mit ſeiner Vernunfft nicht zuweit gehe/
und durch ſubtile Vernunfft-Schluͤſſe die Art
und Weiſe der Schoͤpffung auszugruͤbeln

ſucht/
[125]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.
ſuche/ ſondern dasjenige/ was ſeiner ihm ſelbſt
gelaſſenen Vernunfft wohl in Ewigkeit unerkannt
bleiben wird/ auch als ein unerkanntes Ding
ausſetze/ und davon ſtetswehrend/ als von ei-
nen verwunderungs-vollen Geheimniß mit ge-
bierender Ehrerbietung rede/ oder die Erkaͤntniß
dieſes Geheimniſſes bey einem hoͤhern Lichte
ſuche.


14.

So haͤtten auch hiernechſt die ſich ſelbſt
verblendenden Heyden gantz handgreifflich er-
kennen koͤnnen/ daß taͤglich ja augenblicklich aus
nichts etwas werde/ und aus etwas nichts/

wenn ſie nur ein wenig ihr eigenes und anderer
ihres gleichen veraͤnderlicher Dinge Seyn und
Weſen (exiſtentiam \& eſſentiam) betrachten
wollen.


15.

Wir haben oben in der Vernunfft-Leh-
re gedacht/ daß dieExiſtenz dreyerley ſey/ ver-
gangen/ gegenwaͤrtig
und Zukuͤnfftig. Die
vergangene ware etwas und iſt nichts/ die ge-
genwaͤrtige
iſt nichts und wird etwas ſeyn.
Zukuͤnfftige iſt nichts und wird etwas ſeyn.
Und weil dann nun von dieſen exiſtentien alle
Augenblick immer eine auff die andere folget/ ſo
iſt ja unſtreitig/ daß auch alle Augenblick aus
nichts etwas und aus etwas nichts werde.


16.

Was die Eſſentz oder das Weſen be-
trifft/ ſo wird einen jeden Menſchen ſeine Ver-
nunfft wiederum uͤberzeugen/ daß z. e. von dem
Baͤumgen daraus hernach ein Baum worden
und
[126]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
und von dem kleinen Kinde/ daraus hernach
ein Mann worden/ in etlichen Jahren nicht der
geringſte Theil des vorigen Weſens mehr uͤbrig
und alſo wiederum aus etwas nichts/ und aus
nichts etwas worden ſey; obgleich dem uner-
achtet dieſer Baum und dieſer Menſch der Zahl
nach ein Baum und ein Menſch allezeit geblie-
ben/ nicht anders als etwan ein Mantel auff
den man immer einen Fleck nach den andern
ſetzt/ oder ein Schiff daß man ſehr lange ge-
braucht/ und immer geflickt hat/ oder ein Volck
von 200. Jahren alt/
in welchen ihrer viel
taͤglich geſtorben und gebohren worden/ eben der
Mantel/ das Schiff oder das Volck iſt/ das es
von Anfang war/ obſchon nicht ein Fleck mehr
von dem erſten Tuche/ oder kein ſtuͤch Holtz von
dem erſten Schiffe/ oder kein Menſch mehr von
denen/ die von der anfaͤnglichen Vereinigung
des Volcks gelebet/ mehruͤbrig iſt.


17.

Dieſe beyden Betrachtungen aber lei-
ten einen wahren Philoſophum dahin/ daß er den
Schoͤpffer der veraͤnderlichen Dinge auch zu-
gleich als einen Erhalter derſelben erkennen/
und von der goͤttlichenProvidentz ſeiner Ver-
nunfft nach etwas zu lallen lernet. Denn weil
die Dauerung dieſer Dinge ſo wohl auch die
Veraͤnderung/ die beſagter Maſſen inihren We-
ſen vorgehet/ in nichts anders beruhet/ als daß
nichts und etwas/ ſtetswehrend mit einander
umwechſelt/ ſo forſchet er billich/ wo denn
dieſe
[127]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.
dieſe Umbwechſelung herkomme/ und wer
derſelben Urſache ſey/


18.

Wolte nun gleich die præcipitantz eines
unvernuͤnfftigen Menſchen ſagen/ daß die Din-
ge ihr Weſen ſelber erhielten/
ſonderlich a-
ber ein Menſch durch rechte Gebrauchung ſei-
ner geſunden Vernufft ſein Weſen und Seyn
erhalte; ſo wird ihme doch bald eine etwas reif-
fere Uberlegung ſeiner Ohnmacht/ und noch
vielmehr des Unvermoͤgens anderer geringeren
Geſchoͤpffe uͤberzeugen. Denn wie iſt es moͤg-
lich/ daß nichts etwas koͤnne zu wege brin-
gen.
Das gegenwaͤrtige Seyn wird in einem
Augenblick zu nichts/ indem es unter das ver-
gangene gerechnet wird/ und weil es mit dem
was zukuͤnfftig und alſo nichts war/ und nun-
mehro an ſeine Stelle getreten und etwas wor-
den iſt/ gantz keine Verknuͤpffung hatte/ wie kan
man denn ſagen/ daß dieſes etwas das zukuͤnff-
tige nichts/ indem es ſelbſt zu nichts worden/ zu
etwas gemacht habe. Und in Wahrheit ſo ſehr
es der Vernunfft zuwieder iſt/ daß nichts et-
was ſey/
ſo ſehr iſt es ihr auch zuwieder/ daß
nichts etwas wuͤrcken ſolle.


19.

So iſt dannenhero nichts mehr uͤbrig/
als daß man zu dem Schoͤpffer ſich wende/
und ihme alleine die augenblickllche Erhaltung
dieſer Dinge zuſchreibe. Denn wie er dieſel-
ben Anfangs aus nichts auff eine unbegreiff li-
che Weiſe gemacht/ alſo iſt er alleine maͤchtig/
und
[128]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
und es iſt ihm auch eben ſo leichte/ daß er die-
ſes etwas wieder laſſe zu nichts werden/ und al-
ſobald ein ander etwas an ſeine Stelle ſetze;
obſchon unſere Vernufft ſo wenig begreiffen
kan/ wie ſolches zugehe/ als wenig ſie begreiffen
konte/ wie es mit der Schoͤpffung hergegangen
ſey. Genung iſt es/ daß ſie erkennet/ daß dieſe
goͤttliche Erhaltung und augenblickliche Vor-
ſorge (uͤber derer Art und Weiſe ſie dannenhe-
ro nicht weiter vergebens ſcrupuliret/ ſondern
mit einer demuͤthigen Ehr-Furcht dieſelbe viel-
mehr bewundert) nicht alleine ihr nicht zuwie-
der ſey/ ſondern auch daß ſie dererſelben noth-
wendigkeit zu bekennen durch dieſen klaren Er-
weiß gezwungen werde/ und den geringſten auch
nur wahrſcheinlichen Grund nicht vorbringen
koͤnne/ dieſe goͤttliche Vorſehung zu laͤugnen.


20.

Denn obſchon ihrer viel dahero an der
goͤttlichen Vorſehung zu zweiffeln Anlaß ge-
nommen/ weil es in dieſer Welt denen Tu-
gendhafften Ubel/ denen Boͤſen aber wohl
gehe/
ſo haben ſie doch gantz offenbahrlich da-
rinnen auff zweyerley Arten ſich præcipitiret/ 1.
Daß ſie die tugendhafften und laſterhafften
Leute nicht unterſchieden/ ſondern die Heuchler
und verſchmitzten Leute/ die den Schalck zu ber-
gen wiſſen oder diejenigen die ſich derer Laſter
enthalten/ die von dem Hencker geſtrafft wer-
den/ im uͤbrigen aber gantz offenbahr wohlluͤ-
ſtig/ Geld- oder Ehrgeitzig ſeyn/ vor tugendhafft-
paſſi-
[129]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.
paſſiren laſſen/ und im Gegentheil rechtſchaffene
und tugendhaffte Leute/ die nothweudig viel
Feindſchafft haben muͤſſen/ nach dem betriegli-
chen Zeugniß dieſer ihrer Feinde fuͤr laſterhafft
gehalten.


21.

(2.) Haben ſie ſich gleicher maſſen in dem
Conceptdes Gluͤcks oder Ungluͤcks verſtiegen/
nicht auff die Gemuͤths-Ruhe und derer Be-
raubung/ wie ſie wohl haͤtten thun ſollen/ ſondern
auff Reichthum und Armuth/ aͤuſſerliche Ehre
oder Schande/ oder einen gewaltſamen oder
fruͤhzeitigen Tod und langes Leben hierinnen
ihr Abſehen gerichtet/ woraus denn allenthal-
ben nichts anders als ein unvernuͤnfftige Schluß
erfolgen koͤnnen; in dem/ wie es dieſe gantze
Sitten-Lehre weiſen wird/ es ohnmoͤglich iſt/
daß tugendhaffte Leute/ auch in dieſer Welt
elende/ und laſterhaffte/ gluͤcklich ſeyn koͤn-
ten.


22.

So iſt demnach unter der Schoͤpffung
und unter der Erhaltung der Dinge kein an-
derer Unterſcheid/ als daß jene das Werck Got-
tes iſt/ durch welches er zu erſt aus nichts et-
was gemacht hat; und dieſe iſt ſem Werck/
durch welches er dieſes etwas wieder zu nichts
werden laͤſt/ und einander etwas wieder an ſeine
Stelle ſetzt. Weswegen du nichts unfoͤrmli-
ches begehen wuͤrdeſt/ wenn du dieſe Erhaltung
der goͤttlichen Vorſehung die andere Schoͤpf-
fung
nennen wolteſt/ wiewohl wir dieſe Re-
Jdens-
[130]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
dens-Art dir nicht auffbuͤrden/ oder wenn etwan
uͤber verhoffẽ ſonſten eine Inconvenientz daraus
zu befahren waͤre/ dieſelbe hartnaͤckigt verthey-
digen wollen. Denn ein weiſer Mann zanckt
niemahlen wegen der Worte oder Redens-Ar-
ten.


23.

Solte dir auch deine Vernunfft bey
dieſer Erkaͤntniß noch dieſen Scrupel machen/
daß nach derſelben folgen wuͤrde/ daß GOtt
auff dieſe Weiſe ſeinen Geſchoͤpffen allezeit
ein neues Seyn und Weſen gaͤbe/
ſolcherge-
ſtalt aber ſchiene es der menſchlichen Ver-
nunfft zuwieder zu ſeyn/ daß dieſes nichts
und etwas/ dieſes alte und unzehlich mahl darzu
geſetzte neue nur ſtetswehrend ein Ding ſeyn/
und bleiben ſolle; ſo laß dich doch dieſen ſchlech-
ten und von einem Kinde zubeantworten
Einwuͤrff nicht irre machen.


24.

Wir wollen dich nicht eben auff die
Exempel von Mantel/ Schiffe u. ſ. w. wieder
zuruͤcke weiſen/ ſondern wir wollen dir die Nicht-
tigkeit dieſes Einwurffs auff eine andere Art
zu erkennen geben. Ey lieber nimm Feder und
Dinte/ und mache dir doch eineLinie auff
das Papier. Nun continuire dieſelbe. Was
wilt du machen? Du muſt die Feder nicht wei-
ter anſetzen. Laß die Linie ſich ſelbſt continui-
ren/ oder continuire ſie ſolchergeſtalt/ daß du kein
nen Stuͤck
daran ſetzeſt. Du ſprichſt es ge-
he nicht anders an. Nunwohl: continuire ſie
denn
[131]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.
denn nach deinem Gefallen. Wiederhole ſol-
ches noch etliche mahl Nun ſage mir/ du haſt
zu der alten Linie bißher lauter neue Stuͤcke
geſetzet. Jſt es deñ dem unerachtet eineLinie blie-
ben/ oder ſind viel Linien drauß wurden? Du
ſchuͤttelſt den Kopff. Aber eben ſo ſchuͤttele ich den
Meinigen uͤber deine objection.


25.

Hier ſtehet nun die menſchliche Ver-
nunfft in der Erkaͤntniß von GOtt ſtille/ und huͤ-
tet ſich/ daß ſie nicht weiter gehe als in ihrem
Vermoͤgen iſt. Sie erkennet/ daß dieſes goͤtt-
liche Weſen vielmehr Vollkommenheiten be-
ſitze als ſie begreiffen kan/ und alſo ſcrupuliret ſie
in demſelbigen nicht weiter/ ſondern uͤberlaͤſt das
uͤbrige einem hoͤhern Liecht der goͤttlichen Offen-
bahrung. Sie wil ſolchergeſtalt fuͤr ſich ſelbſt
lieber nichts davon als auff eine unvollkomme-
ne und vielleicht GOtt nicht gefaͤllige Weiſe re-
den. Sie huͤtet ſich nur/ daß ſie in keine irrige
Lehr-Saͤtze verfalle/ die denen bißher behaupte-
ten Lehren ſchnur ſtracks zuwieder ſeyn.


26.

Jedoch bemuͤhet ſie ſich/ wie ſie dieſe we-
nige Erkaͤntniß/ ſie moͤge nun ſo unvollkom-
men
ſeyn als ſie wolle zu Befoͤrderung ihrer
Gemuͤths-Ruhe/
als der hoͤchſten Gluͤckſee-
ligkeit ſich zu nutze machen moͤge. Und zwar
Anfaͤnglich begreifft ſie gar wohl/ daß weil des
Menſchen ſein gantzes Weſen urſpruͤnglich
von GOtt herkoͤmmt/
auch nothwendig der-
ſelbe alles Gute GOtt allein zu dancken habe/
J 2und
[132]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
und ſchuldig ſey/ ſein Thun und Laſſen nach
dem goͤttlichen Willen einzurichten.
Und
weil ſie befindet/ das GOtt denſelben zum Theil
in der allen Menſchen gemeinen Vernunfft ein-
gepflantzet habe; als erkennet ſie ſich ſchuldig
denſelben nach dieſer Richtſchnur gebuͤhrend zu
unterſuchen/
und hernachmahls die Kraͤffte
ihres freyen Willens
alſo zugebrauchen/ daß
das von dieſen freyen Willen dependirende
Thun
dieſen goͤttlichen Willen nicht zuwieder
ſeyn moͤge.


27.

Nach dieſen/ in dem ſie erweget/ daß
GOtt alle Augenblick den Menſchen mit ſampt
ſeinen freyen Willen erhalte; als ſpuͤret ſie auch/
daß ſie dieſerwegen dieſes unbegreiffliche We-
ſen zu lieben ſchuldig ſey. Und haͤlt dafuͤr/ daß
dieſe Liebe in nichts anders beſtehe/ als in ei-
ner ſtetswehrenden Bemuͤhung und Ver-
langen/ ſich mit GOtt zuvereinigen.
Weil
ſie aber ſiehet/ daß ſie zu dieſer Vereinigung zu-
gelangen fuͤr ſich gantz unvermoͤgend ſey; als
erweiſet ſie nur ihres Orts dieſen erſten Ur-
ſprung alles Guten ein innigliches Vertrau-
en
und demuͤthige Ehrfurcht/ als die beyden
weſentlichen Stuͤcke auff ihrer Seite/ ihrer zu
GOtt tragenden Liebe.


28.

Das Vertrauen gruͤndet ſich darin-
nen/ weil der Menſch erkennet/ daß GOtt ohne
Noth und ohne ſeinen Verdienſt von freyen
Stuͤcken ihn aus nichts gemacht/ und alles Gu-
te ge-
[133]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeeligk.
te gegeben habe/ auch noch taͤglich darinnen er-
halte; und ſolchergeſtalt ſchlieſſet er/ daß Gott
es auch noch kuͤnfftig zu erhalten nicht nur Ver
moͤgend/ ſondern auch Willens ſey. Zum we-
nigſten findet er die geringſte erhebliche Urſache
nicht/ warumb er disfalls in die goͤttliche Liebe
einig mißtrauen ſetzen ſolle.


29.

Hiernechſt aber begreifft der Menſch
wohl/ daß er ſich dieſer goͤttlichen Wolthaten un-
wuͤrdig machen wuͤrde/ wenn er ſeinen Willen/
der ihm ins Hertze geſchrieben/ wiederſtreben
wolte. Und daß er ſich in geringſten nicht zu be-
klagen habe/ wenn ihm GOtt dieſerwegen
alle die verliehenen Gutthaten auff einmahl ent-
ziehen/ und ihn an deſſen ſtatt Boͤſes an ſtatt des
Guten wiederfahren laſſen ſolte; Zumahl ſie
aus der obigen Erkaͤntniß gantz gewiß verſichert
iſt/ daß GOtt dieſes alles zu thun vermoͤgend
ſey. Und auff dieſe Weiſe fuͤrchtet er ſich fuͤr
GOtt.


30.

Aus dieſem Vertrauen aber und der
Furcht GOttes lernet er/ daß er ſich fuͤr kei-
ner andern Creatur zufuͤrchten/ oder derſel-
ben zuvertrauen
Urſach habe. Denn ſo viel
die Furcht betrifft/ wird der Menſch durch
obige Betrachtung verſichert/ daß wenn gleich
alle Menſchen und alle andere Creaturen ihn
boͤſes zu thun/ und Schaden zuzufuͤgen erſonnen
ſeyn ſolten/ ſie dennoch ſolches ohne GOttes
Willen ins Werck zurichten unvermoͤgend
J 3ſeyn
[134]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
ſeyn wuͤrden/ weil/ wie oberwehnet/ Gott alle Au-
genblick neben den ſeinigen auch dieſer ſeiner
Feinde Weſen und Seyn erhaͤlt.


31.

Eben dieſe Urſachen trifft er auch bey
dem Vertrauen auff andere Creaturen an/ in-
dem er ſpuͤhret/ daß alle Menſchen unvermoͤgend
ſeyn/ ihm wider GOttes Willen nur einen Au-
genblick ſein Leben und das andere von GOtt
herruͤhrende Gute zu verlaͤngern/ und daß Gott
dieſelben in dem moment, da ſie ihm zu gute et-
was fuͤrnehmen/ zernichten und vertilgen koͤnne.


32.

Ja er weiß endlich der natuͤrlichen Er-
kaͤntniß nach von keinen andern Gottesdienſt/
als von dieſer aus kindlichen Vertrauen und
Ehrfurcht herruͤhrenden Begierde/ ſein Leben
nach GOttes Willen anzuſtellen/ und beareiſſt
fuͤr ſich ſelbſt nicht/ ob und mit was fuͤr aͤußer-
lichen Ceremonien er ſonſten gegen GOTT
ſeinen Dienſt bezeugen ſolle/
obſchon insge-
mein die Gelehrten das Gegentheil zu behau-
pten pflegen/ und dafuͤr halten/ daß der Menſch
von Natur angetrieben werde/ Gott einen aͤußer-
lichen Gottesdienſt durch aͤußerliche Ceremo-
nien und aͤußerliches beten/ loben und dancken zu
erweiſen.


33.

Dieſes aber deſto deutlicher zubegreif-
fen muſt du fuͤr allen Dingen recht einnehmen/
wovon allhier die Frage ſey/ damit eines Theils
unbedachtſame an dieſe Lehrſatz ſich nicht aͤrgern
anders Theils aber die in den Verurtheilen
der
[135]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeeligk.
der alten Lehren erſoffene nicht Gelegen-
heit nehmen dieſelbe boßhaffter Weiſe zu laͤ-
ſtern.


34.

Erſtlich iſt nicht die Frage von innerlichen
Gottesdienſt/
nemlich wenn der Menſch in ſei-
nen Gedancken Gott vertrauet/ ihn liebet/ fuͤrch-
tet und ſein Thun und laſſen nach der Erkaͤntniß
ſeines Willens/ die er natuͤrlicher Weiſe davon
hat einrichtet. Denn hierzu treibet ihn aller-
dings auch die Erkaͤntniß ſeiner Natur an/ wie
wir allbereit erwieſen haben. Sondern man
redet von aͤußerlichen Gottesdienſt/ der in
aͤußerlichen Ceremonien beſtehet/ und der entwe-
der allen Voͤlckern oder doch deren meiſten ge-
mein/ oder in Anſehen des Unterſcheids der
Voͤlcker auch unterſchieden iſt.


35.

Jener beſtehet uͤberhaupt in einem aͤußer-
lichen beten/ loben und dancken. Denn es
iſt kein Volck unter der Sonnen/ das nicht ſei-
nem GOtt dieſe drey Stuͤcke des aͤußerlichen
Gottesdienſtes erweiſen ſolte. Dieſer aber be-
ruhet in denen gantz unterſchiedenen Arten und
Weiſen GOtt anzuruffen/ zu loben und zu dan-
cken. Als wenn z. e. bey denen Chriſten ge-
braͤuchlich iſt/ oder zum Theil ſeyn ſolte/ GOtt
im Nahmen unſers HErrn JEſu Chriſti ohne
Zorn und Zweiffel/ oͤffentlich/ mit auffgehobenen
Haͤnden/ auch fuͤr die Feinde vermittelſt einer
Muſic, auch nach Gelegenheit bey Faſten und
Anhoͤrung GOttes Worts anzuruffen/ wohin
J 4auch
[136]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
auch die Heiligung des Sonntags/ und der Ge-
brauch der Sacramenten zu ziehen iſt.


36.

Nach dieſen iſt davon die Frage nicht/
ob unter allen Dingen GOtt nicht am wuͤr-
digſten ſey/
daß man ihn durch aͤußerliche Be-
zeugungen Ehre erweiſe/ wohin fuͤrnemlich die
argumenta derer/ die den Gottesdienſt aus dem
Licht der Natur herleiten wollen/ ihr Abſehen
richten. Denn wer wolte ſo gottloß ſeyn/ daß
er dieſes laͤugnen wolte/ da doch auch unter denen
Heyden diejenigen/ die goͤttliche Vorſehung ge-
glaubet/ gewolt ha ben/ daß man Gott bloß we-
gen ſeiner Vortreffligkeit ehren ſolte.


37.

Ja es erkennet auch die Vernunfft die-
ſes gar wohl/ daß der Menſch ſchuldig ſey
GOtt zu ehren/ wenn GOtt einen aͤußerli-
chen Gottesdienſt von ihnen erfordere/
weil
er aus dem conceptu cauſæ primæ, und daß
GOtt den Menſchen nebſt allen veraͤnderlichen
Geſchoͤpffen aus nichts gemacht/ das Recht Got-
tes erkennet/ daß er hat dem Menſchen zu befeh-
len/ und vermoͤge welches der Menſch ſchuldig
iſt ihm zu gehorchen.


38.

Sondern davon iſt nur die Frage: Ob
man aus bloſſer Vernunfft ohne die goͤtt-
liche Offenbahrung erweiſen koͤnne/ daß
GOTT einen aͤußerlichen Gottesdinſt von
dem Menſchen verlange?
Und dieſes iſt es was
wir laͤugnen/ und durch deutliche Gruͤnde erwei-
ſen wollen.


39. Jn
[137]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeeligk.

39.

Jndem wir aber dieſes laͤugnen/ muß
abermahls unſere Meinung nicht verſtanden
werden/ als ob wir davor hielten/ daß die Na-
tur uns ſage/ man muͤſſe GOtt mit aͤnßer-
lichen Ceremonien nicht ehren/
den ſolcher
geſtalt wuͤrden wir gantz offenbahr demjenigen
zuwider leben/ was wir allbereit n. 36. \& 37.
præſupponi
ret; Sondern wir wollen nurzeigen/
daß die Natur uns gar nichts von dieſem
Gottesdienſt ſage/ daß er geſchehen muͤſſe;

und daß nach der Natur dieſer aͤußerliche
Gottesdienſt unter die Dinge zu rechnen ſey/ die
als Mitteldinge geſchehen und unterwegens ge-
laſſen werden koͤnnen; oder daß die Natur uns
keinen feſt ſchlieſſenden Grund an die Hand ge-
be/ daraus wir gewiß folgern koͤnten/ GOtt
wolle einen ſolchen aͤußerlichen Gottesdienſt von
den Menſchen haben.


40.

Denn wir moͤgen uns entweder in Got-
tes Natur
was wir davon begreiffen/ oder in
der menſchlichen Natur
darnach umbſehen/
ſo werden wir darinnen nichts finden/ daraus
wir ſchlieſſen koͤnten/ GOtt wolte einen derglei-
chen aͤußerlichen Gottesdienſt von dem Menſchen
erfordern.


41.

So viel Gottes Weſen betrifft/ ſo be-
darff daſſelbe weder des aͤußerlichen noch des in-
nerlichen Gottesdienſtes des Menſchen/ und iſt
aus dem Luciano bekant/ daß ſchon ehedeſſen die-
ſer aus der Vernunfft hergenommenen Entſchul-
J 5digung
[138]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
digung ſich der Demonax bedienet/ als man ihn
als einen gottloſen Mann verklaget/ daß er der
Minervæ niemahln geopffert habe. Denn/ ſagte
er/ ich habe ſolches deswegen bishero unterlaſſen/
weil ich davor gehalten/ daß die Minerva meiner
Opffer nicht benoͤthiget waͤre.


42.

Was den Menſchen anlanget und ſei-
ne Natur/
ſo kan die Vernunfft fuͤr ſich nicht ab-
ſehen/ daß die Gemuͤths-Ruhe oder der allge-
meine Friede und die vernuͤnfftige Liebe in ge-
ringſten gemindert oder verunruhiget werde/
wenn gleich dergleichen aͤußerliche Bezeugungen
nachbleiben/ wenn nur der innerliche Gottes-
dienſt bey dem Menſchen bleibet.


43.

Wolte man auch gleich die Natur des
Menſchen nach dem Stande der Unſchuld
richten/ oder dieſelbe aus der Gleichfoͤrmigkeit
mit Goͤttlicher Heiligkeit
abmeſſen; ſo kan ich
doch abermahl nicht abſehen/ wie und woher man
etwas unſtreitiges von Adams ſeinen Kirchen-
Ceremonien im Stande der Unſchuld behaupten
koͤnne/ und wie die Goͤttliche Heiligkeit einen
aͤußerlichen Gottesdienſt in ihren Concept be-
greiffe/ und daher der Menſch das Muſter neh-
men koͤnne.


45.

Solchergeſtalt nun begreifft der menſch-
liche Verſtand wohl/ daß die Laͤſterung und
Verachtung GOttes/ es moͤge nun dieſelbe in
bloſſen Gedancken beſtehen/ oder in aͤußerliche
Worte und Thaten ausbrechen der geſunden
Ver-
[139]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeligk.
Vernunfft zuwider ſey/ weil dieſelbe den innerli-
chen Gottesdienſt auffhebet.


45.

Der menſchliche Verſtand begreifft fer-
ner/ daß der aͤußerliche Gottesdienſt unter die
vortrefflichſten zugelaſſenen Dinge gehoͤre/
und nicht alleine der allgemeinen Vernunfft nicht
zuwider/ ſondern auch es auf gewiſſe maſſe beſſer
ſey/
wenn man GOtt aͤuſſerliche Ehre bezeige/
als wenn man dieſelbe unterlaſſe.


46.

Aber dieſes alles iſt noch nicht genung/ die
Nothwendigkeit des Gottesdienſtes zu erhaͤr-
ten. Denn die menſchliche Vernunfft kan dar-
innen nichts unvernuͤnfftiges antreffen/ wenn ſie
z. e. ſolchergeſtalt raiſoniret/ daß das aͤußerliche
Gebet
nach Anweiſung der Natur unter die
Mittel-Dinge gehoͤre/ weil Gott als ein Hertzen-
kuͤndiger auch die Seufftzer der Menſchen verſte-
he/ und als ein Schoͤpffer und Erhalter derſel-
ben auch ohne bitten am beſten wiſſe/ was ſie be-
duͤrffen.


47.

So waͤchſet auch durch das aͤußerliche
Lob
Gottes ſeiner Majeſtaͤt und Hoheit nichts
zu/ ja vielmehr weiſet die geſunde Vernunfft/ daß
wenn ein Menſch der Gott nicht innerlich ehret
und fuͤrchtet/ gleich das Lob Gottes in ſeinen
Mund nehmen wolle/ er ſich hiermit ſchwerlich
verſuͤndigen werde/ weil er entweder Gott oder
die Menſchen durch dieſe aͤußerliche Zeichen zu
betriegen ſuche. Wenn aber ein Menſch in ſei-
nen Hertzen Gott hoch achtet/ ſo wird die Ver-
nunfft
[140]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
nunfft leichte das aͤußerliche Lob fuͤr uͤberfluͤßig
halten.


48.

Eben dieſes muͤſſen wir auch von dem
aͤuſſerlichen Danck ſagen. Zu geſchweigen/
daß wie wir zu ſeiner Zeit betrachten werden/ das
aͤußerliche Dancken unter denen Menſchen des-
halben vonnoͤthen iſt/ daß einer dem andern be-
zeuge/ wie die erwieſene Gutthat ihm angenehm
geweſen/ und er allezeit bereit ſey dem andern wie-
der zu dienen. Alleine bey Gott kan dieſes alles
durch meine Gedancken verrichtet werden.


49.

Mit einem Wort/ Beten/ Loben und
Dancken/ ſind deshalben unter denen Menſchen
als aͤußerliche Zeichen noͤthig weil ein Menſch
dem andern nicht ins Hertze ſehen kan. Dieſes
kan aber Gott thun.


50.

Wolteſtu nun gleich ſagen/ daß das aͤußer-
liche Beten/ Loben und Dancken eben deshal-
ben vonnoͤthen ſey/ damit ein Menſch gegen
andere Menſchen
ſeinen innerlichen Gottes-
dienſt bezeuge/ als welche gleichfalls ohne dieſe
Bezeugung nicht wiſſen koͤnnen/ ob ſie ihn vor ei-
nen Tugendhafften oder gottloſen Menſchen
halten ſolten/ ſo wuͤrde doch auch hier die menſch-
liche ſieh ſelbſt gelaſſene Vernunfft etwas ſinden/
das ſie dawider einwenden koͤnte.


51.

Denn zu geſchweigen/ daß die Zeichen des
aͤußerlichen Gottesdienſtes betrieglich ſind/ und
oͤffters von denen gebraucht werden/ die in ihren
Hertzen Atheiſten oder Abgoͤttiſch ſeyn; So iſt
es
[141]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.
es wohl an dem/ daß die allgemeine friedliche Ge-
ſellſchafft und die thaͤtige Gemuͤths-Ruhe erfor-
dere/ daß ein Menſch dem andern ſeine Gottes-
furcht zeige; Aber er wird ihm dieſelbe am aller-
beſten/ und zum wenigſten beſſer dadurch zeigen
koͤnnen/ wenn er ſein Leben nach dem in der
Natur ihm geoffenbahrten Willen GOt-
tes in Anſehen der Liebe anderer Menſchen
anſtellet/
als wenn er ohne dieſer Gleichfoͤrmig-
keit des aͤuſſerlichen Thuns/ alle aͤuſſerliche Cere-
monien
noch ſo ſorgfaͤltig in acht naͤhme.


52.

Aber/ faͤhreſtu fort/ wie wil die Gluͤckſee-
ligkeit des gemeinen Weſens
beſtchen/ in dem
keine Buͤrgerliche Geſellſchaſſt iſt/ darinnen
man nicht einen aͤuſſerlichen Gottesdienſt beob-
achten ſolte/ und ſo gar auch die Heydniſchen
Scribenten ſelbſt in ihren Schrifften denſelben
als eine Schuldigkeit des Menſchen anzufuͤhren
pflegen.


53.

Alleine du muſt dich huͤten/ daß du aus
dem was die Heyden erkennet haben/ nicht/
wie wohl ins gemein zu geſchehen pfleget/ ſchlieſ-
ſen wolteſt/ daß ſie dieſes alles aus dem Liecht der
Vernunfft erkennet haben. Auch die Heyden
haben ſich zweyerley Lichts/ der natuͤrlichen und
einer Offenbahrung bedienet. Ja ſie haben
auch viel von der wahren goͤttlichen Offenbah-
rung theils durch die Tradition ihrer Eltern/ theils
durch die Converſation mit denen Rechtglaͤubi-
gen gewuſt. Und ſolcher geſtalt folget gantz nicht;
Es
[142]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
Es iſt keine buͤrgerliche Geſellſchafft/ darinnen
nicht ein aͤuſſerlicher Gottesdienſt im Schwang
gehen ſolte; derohalben muͤſſen ſie denſelben aus
dem Liecht der Natur herhaben.


54.

Denn was die allgemeine Gluͤckſeelig-
keit des gemeinen Weſens
betrifft) muſtu dich
wohl in acht nehmen/ daß du den zufaͤlligen Zweck
des aͤuſſerlichen Gottesdienſtes nicht fuͤr den
hauptſaͤchlichſten und vornehmſten haͤlteſt. Die-
ſes begreifft die Vernunfft gar wohl/ daß der
Nutzen des gemeinen Weſens durch den aͤuſſer-
lichen Gottesdienſt befoͤrdert werde/ wenn ein
Buͤrger den andern durch dieſe aͤuſſerliche Zei-
chen ſeine innerliche Gottesfurcht als den Grund
aller buͤrgerlichen Pflicht/ zu verſtehen giebt/ und
ſolcher geſtalt das allgemeine buͤrgerliche Ver-
trauen dadurch immer mehr und mehr gemehret
wird; Alleine wie dieſe aͤuſſerliche Zeichen/ als
wie nur erwehnet/ ſehr offt triegen/ alſo verſtoͤret
auch derſelben Unterlaſſung fuͤr ſich nicht den
Wohlſtand des gemeinen Weſens.


55.

So iſt auch dieſes hierbey wohl zu uͤberle-
gen/ daß wenn das zeitlicheIntereſſedes ge-
meinen Weſens
der wahrhafftige Zweck des
aͤuſſerlichen Gottesdienſtes ſeyn ſolte/ ſo wuͤrde
man auch ſagen muͤſſen/ daß der Gottesdienſt
nach Unterſcheid derer Republiquen auch unter-
ſchieden ſeyn/ und der veraͤnderliche Nutzen die-
ſer oder jener Republique auch die Richtſchnur ei-
nes daſelbſt veraͤnderlichen Gottesdienſtes ſeyn
muͤſſe
[143]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.
muͤſſe/ welches doch ſehr unfoͤrmlich und bey nahe
gottloß klingen wuͤrde.


56.

Und was braucht es dißfalls viel Diſputi-
rens? Geſtehet doch jederman/ daß des Men-
ſchen ſeine ewige Gluͤckſeeligkeit das wahre
Abſehen des Gottesdienſtes ſey. Nun weiß a-
ber die ſich ſelbſt gelaſſene Vernunfft von dem
Zuſtand nach dieſem Leben nichts gewiſſes/ wie
wolte ſie denn des Gottesdienſtes als des Mittels
hierzu verſichert ſeyn.


57.

Bißher haben wir nur von dem allgemei-
nen aͤuſſerlichen Gottesdienſt geredet. Was
den abſonderlichen anlanget/ ſo finden ſich da-
bey ſo viel Gruͤnde zu Behauptung unſerer Mei-
nung/ ſo viel man Umbſtaͤnde bey demſelben an-
trifft/ welches alles allhier weitlaͤufftig auszufuͤh-
ren unvonnoͤthen iſt/ weil jeder abſonderlicher
Gottesdienſt den allgemeinen præſuppeniret/
und folglich offenbahr iſt/ daß weñ jeder nicht aus
der Vernunfft werde koͤnnen erkennet werden/
man dieſen abſonderlichen vielweniger draus
werde behaupten koͤnnen.


58.

Wolten wir noch uͤber dieſes die Kir-
chen- und andere Hiſtorien
zu Huͤlffe nehmen/
ſo wuͤrden wir befinden/ daß keine Religion in der
gantzen Welt wird genennet werden koͤnnen/ die
nicht auff eine Offenbahrung ihres Gottes-
dienſts halber ſich gruͤnde. Wir beziehen uns
auff Gottes Wort; Alle Ketzer thun in Ver-
faͤlſchung deſſelben dergleichen; Die Juͤden ge-
brau-
[144]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
brauchen ſich des Alten Teſtaments und derer
ihren Rabbinen geſchehenen Offenbahrungen;
Die Tuͤrcken fuſſen auff den Offenbahrungen
ihres Mahomets; Die Heyden haben ihre
Bramines u. ſ. w. die ſie an ſtatt goͤttlicher Offen-
bahrungen die Luͤgen des Satans beredet haben.


59.

So iſt auch hierbey nicht zu vergeſſen/ daß
GOtt beſage der Kirchen-Hiſtorie niemahln ein
von der menſchlichen Vernunfft erfundener Got-
tesdienſt gefallen habe/ ſondern daß er von Anbe-
ginn der Welt dißfalls dem Menſchen ſeinen
Willen geoffenbahret.


60.

Die bißhero erzehlte natuͤrliche wahrhaff-
tige Erkaͤntniß von GOtt ſeiner Schoͤpffung und
Erhaltung dieſer irrdiſchen Dinge/ hat zweyerley
falſche Jrrthuͤmer die ihr entgegen geſetzet ſeyn/
die Atheiſterey und einen abgoͤttiſchen Aber-
glauben.


61.

Einen Atheiſten nenne ich in Anſehen
der natuͤrlichen Erkaͤntniß denjenigen/ der GOtt
nicht fuͤrchtet noch vertrauet/ oder ſich nach ſeinen
Willen zu leben nicht ſchuldig erachtet/ weil er
entweder dafuͤr haͤlt/ man koͤnne von GOtt und
ſeiner Providenz vermittelſt der Vernunfft nichts
gewiſſes wiſſen/ und habe dannenhero ſtetsweh-
rend Urſache daran zu zweiffeln; oder weil er
ſich einen ſolchen Gott Formiret/ der entweder ei-
nem Fato unterwuͤrffig/ oder mit denen Creatu-
ren ein Weſen ſey/ und dieſelbe als Theile ſeines
goͤttlichen Weſens in ſich begreiffe.


62. Daß
[145]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.

62.

Daß ich die Leute von dieſer letzten Claſſe
unter die Atheiſten rechne/ geſchiehet deshal-
hen/ weil wir oben erwehnet/ daß alle Philoſo-
phi
durch Gott ein unterſchiedenes Weſen von
denen Creaturen/ die dererſelben erſte Urſache
ſey/ verſtanden haben/ und folglich der jenige/
der die Creaturen und GOtt fuͤr eines haͤlt;
oder GOtt einen hoͤhern Fato unterwirfft/ in der
That GOtt laͤugnen muß.


63.

Gleichwie aber die Atheiſterey nicht
den geringſten nur wahrſeheinlichen Grund
auffuͤhren kan/ durch den ſie dieſen Haupt-Jrr-
thum vertheydigen koͤnte; alſo haben wir ſie
nicht anders als eine der groͤſten und elende-
ſten Thorheiten
zu betrachten/ zumahl wenn
wir erwegen/ daß mehrentheils die ſonſt kluͤg-
ſten Leute darein verfallen/ weil ſie ihre Ver-
nunfft gar zu hoch ſpannen wollen/ und uͤber der
allzugenauen Ausgruͤbelung aͤußerlicher Dinge
der Erkaͤntniß ihrer ſelbſt/ und folglich auch her-
nach ihres Schoͤpffers vergeſſen.


64

Einen Abgoͤtter und aberglaͤubiſchen
Menſchen
nenne ich in Anſehen des natuͤr-
lichen Lichts den/ der zwar etwas fuͤr GOtt haͤlt/
daſſelbige fuͤrchtet und vertrauet/ und durch ei-
nem aͤußerlichen Gottesdienſt denſelben dienet;
aber der gantz offenbahrlich wider das Licht der
geſunden Vernunfft dasjenige fuͤr GOtt aus-
giebet/ das unmoͤglich GOTT ſeyn kan. Z. e.
Kder
[146]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
der die Menſchen/ Thiere/ und andere irrdiſche
Creaturen fuͤr Gott haͤlt.


65.

Denn was die himmliſchen Coͤrper/
als Sonne/ Mond/ und Sternen betrifft/ die
wir Chriſten Geſchoͤpffe zu ſeyn glauben/ mit de-
nen hat es in Anſehen des ſchwachen natuͤr-
lichen Lichts eine andere Bewandniß. Zum
wenigſten kan ich nicht abſehen/ mit was fuͤr ei-
nen bezwingenden Grund man einen Heyden/
der z. e. die Sonne anbetet/ uͤberzeugen wolte/
daß die Sonne nicht die erſte Urſache der irr-
diſchen und veraͤnderlichen Geſchoͤpffe ſey/ in an-
ſehen unſere Vernunfft den Einfluß der Sonne
in dieſe Coͤrper taͤglich erkennet/ und keine Ver-
aͤnderung derſelben ohne die heilige Schrifft ge-
wiß behaupten kan; wiewohl er deshalben fuͤr
GOtt nicht entſchuldiget iſt.


66.

So kan man nun nach Anleitung dieſer
Betrachtung Abgoͤtterey/ in eine raiſona-
ble
und irraiſonable Abgoͤtterey eintheilen.
Jene nenne ich die jenige/ die zwar nicht wider die
Vernunfft/ aber doch wider die goͤttliche Offen-
bahrung ſtreitet; Dieſe aber/ die auch der allen
Menſchen gemeinen Vernunfft zuwider iſt.
Jene gehoͤret hieher nicht/ ſondern muß der
Theologie uͤberlaſſen werde; Dieſe aber wird
von uns in dieſem Capitel fuͤrnehmlich be-
trachtet.


67.

Jedoch iſt dieſe Anmerckung nicht zu
uͤbergehen/ daß die barbariſchten Voͤlcker je-
derzeit
[147]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeligk.
jederzeit viel vernuͤnfftiger/ oder beſſerzu reden/
nicht ſo-vernuͤnfftig geweſen in ihrer Ab-
goͤtterey/ als diejenigen/ bey denen die Philoſo-
phie
am allermeiſten getrieben worden/ wie aus
denen Exempeln derer Griechen und Roͤmer zu-
ſehen. Die Urſache hiervon wird auch fuͤgli-
cher aus der wahren GOttes-Gelahrheit/ als
aus der Vernunfft hergeleiter werden koͤnnen.


68.

Nun iſt niehts mehr uͤbrig/ als daß wir
gegen einander halten/ was die bißher demon-
ſtrir
te wahre Erkaͤntniß von GOtt und ſei-
ner Vorſehung in der Morale fuͤr einen Nutzen
habe/ und was die Atheiſterey oder Abgoͤtte-
rey
darinnen ſchade.


69.

Ein wahrerPhiloſophus ſuchet ſeine Ge-
muͤths-Ruhe in dem ſtetswehrenden Vertrau-
en und der Furcht GOttes/ und bemuͤhet ſich
dannenhero zu derſelben Erhaltung der Mittel
zubedienen/ die ihm die allgemeine geſunde Ver
nunfft beredet/ daß ſie GOtt hierzu ordentlich
verordnet habe. Er vertrauet keinen Menſchen
und fuͤrchtet ſich fuͤr keinen/ er liebet ſie aber
doch und bemuͤhet ſich ſein Gemuͤthe mit denen
die GOtt fuͤrchten und lieben zuvereinigen. Er
trachtet durch das/ was ihm die Natur an die
Hand giebet/ gutes zu thun. Und wenn er be-
findet/ daß dasjenige Gute/ was er durch dieſe
Mittel bey andern Menſchen zuwege bringen
wil/ von ihm nicht erhalten werden konne/ ſo áf-
ficir
et ihm ſolches nicht/ weil er wohl weiß/ daß
K 2GOtt
[148]Das 3. Hauptſt. von GOtt als dem
GOtt ihm dieſe Mittel zwar vorgeſchrieben ha-
be/ aber ſelbſt ſich nicht daran habe binden wol-
len/ und daß/ wenn er nur ſelbſt dieſe Mittel
nicht muthwillig hindan geſetzt/ ſeine Gemuͤths-
Ruhe in geringſten dadurch nicht gekraͤncket
werde/ ſondern GOtt auch mitten in der groͤ-
ſten Verdrießligkeit ihm nicht alleine beyſprin-
gen koͤnne/ ſondern auch wolle. Er ſuchet hier-
naͤchſt anderer Menſchen neben ſich ihr wohl
ſeyn zu befoͤrdern/ nicht ſo wohl/ weil von dem
allgemeinen wohl ſeyn auch ſein eigenes depen-
di
ret/ ſondern weil er erkennet/ daß es GOtt ſo
haben wolle/ und ihm deshalben einen Trieb
gegeben/ daß er in andern Menſchen mehr als
in ſich ſelbſt zu leben verlanget. Und dannen-
hero haͤlt ihn die Liebe GOttes ab/ daß wenn er
gleich auff das allerheimlichſte ſeinen eigenen
Vortheil mit ſeines Nechſten Schaden befoͤr-
dern koͤnte/ er doch ſolches zu thun nicht begeh-
ret/ theils weil er GOtt vertrauet/ daß er auch
ohne dem werde ſein beſtes befoͤrdern koͤnnen/
theils weil er ſich fuͤrchtet/ ſeine Gemuͤths-Ru-
he dadurch zu verſtoͤhren/ in dem ihm ſonſten ſein
Gewiſſen allezeit vorſagen wuͤrde/ daß er durch
eine dergleichen That wider Gottes Willen ge-
handelt/ und ſich dannenhero Gottes ferneren
Liebe unwuͤrdig gemachet habe.


70.

Ein Atheiſte aber/ weil er entweder
GOtt oder die goͤttliche Vorſehung nicht glau-
bet/ ſo liebet er auch und vertrauet oder fuͤrch-
tet
[149]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeel.
tet GOTT nicht. Denn wie ſolte er ſich
fuͤr dem fuͤrchten oder ihm vertrauen/ den
er dafuͤr haͤlt/ daß er ſich umb ihn nicht be-
kuͤmmere. Und wie ſolte er den lieben/ den er
fuͤr nichts haͤlt/ oder an deſſen Vereinigung mit
ſich er verzweiffelt/ oder den er allzuvortrefflich
zu ſeyn glaubet/ daß es ſeiner Vortreffligkeit zu
wieder ſey einmahl an ihn zu dencken. Dero-
wegen weil er GOtt als den Urſprung alles Gu-
ten nicht betrachtet/ ſo ſucht er auch ſein hoͤch-
ſtes Gut nicht in einer/ aus einer vernuͤnfftigen
Liebe anderer Menſchen herruͤhrenden und die-
ſelbe wider wirckenden Gemuͤths-Ruhe/ ſondern
ſeine unzeitige Weißheit treibet ſeine Vernunfft
dahin/ daß er ſich beynahe ſelbſt fuͤr einen Gott
achtet/ weil er befindet/ daß er edler ſey als die
andern Geſchoͤpffe die um ihn ſind/ und ehret/
liebet/ vertrauet und fuͤrchtet niemand als ſich
ſelbſten. Bey dieſer Bewandniß aber thut er
zwar mehrentheils alles dasjenige/ was ein tu-
gendhaffter Mann/ der die groͤſte Gluͤckſeeligkeit
ſuchet/ oder beſitzet/ zuthun pfleget; aber weil
er dieſes alles nicht aus Liebe zu andern Men-
ſchen/ ſondern zu ſich ſelbſt thut/ indem ihm ſei-
ne Vernunfft weiſet/ daß er ſich ſelbſt durch ein
unvernuͤnfftiges Leben ungluͤcklich machen wuͤr-
de; Als macht er ſich kein Gewiſſen/ heimlich
andern Leuten zu ſchaden/ und wider die allge-
meinen natuͤrlichen Grund-Regeln anzuſtoſſen/
entweder ſeine aͤuſſerliche Macht und Anſehen
K 3dadurch
[150]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
dadurch zubefoͤrdern/ oder ſich die taͤglich fuͤr-
fallenden Verdrießligkeiten von Halſ zuſchaf-
fen. Hierdurch verfehlet er aber gantz offen-
bahr der Gemuͤths-Ruhe/ wiewohl er ſie ſuchet/
theils weil die von ihm muthwillig untergedruck-
te Erkaͤntniß GOttes zuweilen rege wird und
ihm angſt machet/ theils weil die heimlich be-
gangenen Boßheiten ihm viel Sorge ma-
chen/ wie ſie ferner heimlich bleiben moͤgen/ und
mehr und mehr andere Boßheiten nach ſich zie-
hen/ woraus hernach zugeſchehen pfleget/ daß
ein Atheiſte/ ob er ſchon viel von ſeiner Freyheit
pralet/ zuletzt eben ſo wohl ein Sclave anderer
Menſchen wird als ein aberglaͤubiſcher Menſch.


71.

Jedoch iſt es nicht zu laͤugnen/ daß ein
Aberglaͤubiſcher
noch elender dran iſt/ weil es
viel unvernuͤnfftiger iſt/ einen Menſchen oder
Thier oder Bild u. ſ. w. GOtt zu ſeyn glauben/
als GOtt gar nicht erkennen. Denn gleichwie
er ſich einmahl von GOttes Weſen Dinge be-
redet/ die aller Vernunfft zuwieder ſind; alſo
laͤſt er ſich anch von deſſen Willen dergleichen
bereden; und iſt nichts ſo abſurd das man ihn
nicht koͤnne Glauben machen/ daß er GOtt ei-
nen Dienſt damit thun werde. Ja weil er auf
dieſe Weiſe ſeine Vernunfft gantz und gar zu
Boden getreten/ und ſich von ſeinen Luͤſten nach
Gefallen herum ſchleppen laͤſt; ſo beredet er ſich
auch/ daß GOtt eben ſo paſſioniret ſeyn werde
als er iſt/ und ob er ſchon ja ſo ſehre gluͤcklich
zu
[151]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeelig.
zu werden verlanget/ als andere Menſchen/ ſo
verfehlet er doch dieſen Endzweck am allerwei-
teſten/ und indem er meinet alles zu ſeinen Ver-
gnuͤgen zuthun/ ſtuͤrtzet er ſich in das groͤſte Un-
gluͤck und Unruhe/ und iſt ein Sclave unver-
nuͤnfftiger Menſchen ſeines gleichen/ oder eines
todten Geld-Klumpens/ die er ſo dann zu ſeinen
GOtt machet/ ihnen in der That vertrauet/ und
ſie fuͤrchret/ ob er ſich ſchon mit aͤuſſerlichen Ce-
remonien anſtellet/ als ob er GOtt wahrhafftig
diene.


72.

So iſt demnach ein Weltweiſer Mann
der GOtt nach Anleitung der Vernunfft/ wie er
ſol/ erkennet/ alleine ein Menſch/ ein Atheiſte
und ein Aberglaͤubiſcher ſind Beſtien/ jedoch mit
dieſem Unterſcheid: Ein Atheiſte iſt einem
Affen nicht ungleich/ weil er einem wahren Phi-
loſopho
zimlich nahe koͤmmt/ und in vielen nach-
aͤffet/ aber er iſt doch kein Menſch/ weil er von
GOtt ſo wenig weiß als ein Affe. Ein Aber-
glaͤubiſcher
aber iſt wie ein tummer Eſel oder
wie ein Schwein u. ſ. w. deſſen aͤußerliches Thun
gantz offenbahr von dem menſchlichen Thun und
Laſſen entſchieden iſt.


73.

So iſt demnach ein Aberglaͤubiſcher
und Abgoͤttiſcher mehr als ein Atheiſte/ weil
er in der That oͤffenlich lebet/ als ob kein
GOTT waͤre/ und ſeiner Boßheit kei-
ne Scheu hat/ da doch ein Atheiſte/ der in ſei-
ner Speculation uͤber die Schnur gehauen/ nicht
K 4alleine
[152]Das 3. Hauptſt. von Gott als dem
alleine mit ſeinen aͤuſſerlichen Thun und Wan-
del vernuͤnfftig lebet/ ſondern auch zum oͤfftern
aͤuſſerlich von GOtt vernuͤnfftig raiſoniret/ wie-
wohl er doch nicht mehr als ein Heuchler iſt.


74.

Gleichwie aber dieſe Gegeneinanderhal-
tung eines Atheiſten und eines Aberglaͤubigen
ſchon von andern gelehrt und ſcharffſinnig aus-
gefuͤhret worden; als darffſtu dich nicht daran
ſtoſſen/ daß man insgemein ſo ſehr wieder die
Atheiſterey/
gar ſelten aber wieder den ab-
goͤttiſchen und unvernuͤnfftigen Aberglau-
ben
ſtreitet und ſchreyet. Faſt die gantze
Welt ſteckt in dieſen letztern biß uͤber die
Ohren/ und bemuͤhet ſich dannenhero den-
ſelben als eine wahrhafftige Gottesfurcht den
armen Unwiſſenden vorzumahlen. Und des-
wegen laͤſſet man es ſich eyfferig angelegen ſeyn/
das arme Volck auff den aͤuſſerlichen Gottes-
dienſt zu treiben/ und ſelben zu verfechten/ den
innerlichen aber als eine Phantaſterey auszu-
ſchreyen/ weil jener gar wohl mit dem Aber-
glauben beſtehen kan/ ja oͤffters nichts als Aber-
glauben iſt. Wiewvhl es nun wenig ſpeculati-
vi
ſche Atheiſten giebt/ ſo ſchreyen doch die Aber-
glaͤubiſchen gewaltig wider dieſelben/ theils daß
ſie in der Lehre von GOtt nicht ſo gar alle Jrr-
thuͤmer unbeſtritten laſſen/ theils weil die Athei-
ſten ebenmaͤßig ihre Feinde ſind/ theils auch da-
mit ſie die vernuͤnfftigen Philoſophos und from̃e
Leute/ als die ihnen hauptſaͤchlich zuwieder ſind/
als
[153]Urſprung aller menſchl. Gluͤckſeeligk.
als Atheiſten auszuruffen Gelegenheit kriegen
moͤgen.


75.

Und gewiß wenn man ſich in denen Hi-
ſtorien ein wenig umſiehet/ ſo iſt dieſes ein uhral-
ter Streich/ daß man rechtſchaffenePhiloſo-
phos
und beynahe faſt alle fuͤr Atheiſten
ausgeſchrien.
Dannenhero pflegen vernuͤnff-
tige Menſchen dieſe Anmerckung zu machen/ daß
gemeiniglich derjenige/ der von einer dergleichen
unvernuͤnfftigen Beſtie auch zu unſeren Zeiten fuͤr
einen Atheiſten ausgeruffen wird/ ein rechtſchaf-
fener und tugendhaffter Mann zu ſeyn pfle-
ge. Wovon zu anderer Zeit ein mehrers.


Das 4. Hauptſtuͤck.
Von der vernuͤnfftigen Liebe
anderer Menſchen als dem einigen
Mitteldie Gemuͤths Ruhe zu-
erhalten uͤherhaupt.


Jnnhalt.


  • Connexion n. 1. 2. Lieben wird von vielen Dingen
    geſagt/ n. 3. auch von Baͤumen und lebloſen Sachen.
    n. 4. Dann von Beſtien/ Menſchen und GOtt n. 5.
    Von der Liebe des Menſchen muß man zu reden an-
    fangen. n. 6. Jhre Beſchreibung n. 7. Die Beſtien
    haben eigentlich keine Liebe. n. 8. GOttes Liebe a-
    ber iſt unbegreifflich. n. 9. Es giebt eigentlich zu re-
    K 5den
    [154]Das 4. H. von der vernuͤnfftigen
    den keine Selbſt-Liebe n. 10. Die Vereinigung in
    der Liebe iſt dreyerley. n. 11. Denn ein vernuͤnffti-
    ger Menſch intendiret eine andere Vereinigung in
    der Liebe anderer Menſchen n. 12. eine andere in der
    Liebe geringerer Geſchoͤpffe n. 13. und noch eine an-
    dere in der Liebe GOttes. n. 14. Vielerley Arten ei-
    ner unvernuͤnfftigen Liebe. (I) Wenn das Verlangen
    zu der Vereinigung allzuunruhig und hitzig iſt. n. 15.
    Wenn man gleich tugendhaffte Perſonen liebet. n. 16.
    und ſich einbildet/ man liebe noch ſo vernuͤnfftig n. 17.
    weil dasjenige nicht vernuͤnfftig ſeyn kan/ was die
    Vernunfft bemeiſtert n. 18. Und weil man oͤffters ſich
    betrieget/ wenn man meinet/ man ſuche nichts mehr
    als eine Vereinigung der Seelen. n. 19. (II) Wenn
    man ſchaͤdliche und boͤſe Dinge oder Menſchen lie-
    bet. n- 20. Wenn ſie gleich artig und verſtaͤndig ſeyn.
    n. 21. Dergleichen Menſchen werden allemahl von
    ihres gleichen geliebet. n. 22. Ein vernuͤnfftiger Menſch
    aber æſtimiret wobl ihren Verſtand/ aber er
    liebet ſie nicht n. 23. als nur nach den Regeln der
    allgemeinen Liebe. n. 24. (III) Wenn man die unter-
    ſchiedenen Arten der Vereinigung unter einander
    vermiſchet. n. 25. Als (1) wenn man GOtt wie die
    geringeren Creaturen/ oder (2) wie die Menſchen liebet.
    n. 26. (3) Wenn man andere Menſchen wie gerin-
    gere Creaturen/ oder (4) wie GOtt liebet n. 27. und
    (5) wenn man geringere Creaturen wie die Men-
    ſchen/ oder (6) wie GOtt liebet n. 26. (IV) Wenn man
    hauptſaͤchlich die Vereinigung des Leibes ſucht n. 29.
    Auff dieſe Art lieben die Beſtien. n. 30. Und alſo iſt dieſo
    Liebe entweder mehr als beſtialiſch/ oder beſtialiſch/ o-
    der beynahe beſtialiſch. n. 31. Die letzte Art beſtehet da-
    rinnen/ wenn man bey denen Perſonen die uns gleich
    ſeyn/ entweder neben der Vereinigung der Seelen
    alſobald nach der Vereinigung der Leiber/ oder nach
    dieſer hauptſaͤchlich trachtet. Wiewohl man dieſer
    den
    [155]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
    den abſonderlichen Nahmen der Liebe am meiſten zu
    geben pfleget n. 32. auch das Weſen der Liebe noth-
    wendig in der Vereinigung des aͤuſſerlichen Thuns
    des Leibes zu beſtehen ſcheinet. n. 33. Und hiernechſt
    der Menſch von Natur zur Begierde und zu der Ver-
    miſchung mit Perſonen von andern Geſchlechte an-
    getrieben wird. n. 34- Denn die Liebes-Bezeugungen
    des Leibes ſind nur Zeichen/ n. 35. aber keine we-
    ſentlichen Stuͤcke der vernuͤnfftigen Liebe n. 36. wel-
    ches durch das Exempel kleiner unſchuldiger Gefaͤl-
    ligkeiten erwieſeu wird. n. 37. 38. So iſt auch ein
    groſſer Unterſcheid zwiſchen denen andern Leibes-
    Bezeugungen und der Vermiſchung des Leibes. n. 39.
    Die Begierde dieſer letzten iſt eine groſſe menſchliche
    Unvollkommenheit. n. 40. Die Beurtheilung der
    Schoͤnheit hat keine vernuͤnfftige Grund-Regeln n.
    41. und die Liebe ſchoͤner Leute kan ja ſo vernuͤnff-
    tig als die Liebe nicht ſchoͤner Perſonen vernuͤnfftig
    ſeyn. n. 42. Es iſt ein groſſer Unterſcheid zwiſchen
    einen brennenden und ſehnenden Auge. n. 43. Ein
    brennend Auge kan das Hertze eines wahren Philo-
    ſophi
    nicht in Unruhe bringen n. 44. Man muß die
    Begierde Kinder zu zeigen nicht mit der Begierde
    ſich hierbey zu beluſtigen vermiſchen n. 45. Dieſe
    letztere iſt nicht vernuͤnfftig. n. 46. Denn ſie ver-
    wirret unſere Vernunfft in Beurtheilung des Guten
    n. 47. und treibet uns aus unvernuͤnfftigen Urſachen
    zu allen Zeiten des Jahres an. n. 48. Eine ver-
    nuͤnfftige Liebe laͤſſet zwar die Leibes-Vermiſchung
    zu n. 49. als Zeichen eines Vertrauens und Begier-
    de die geliebte Perſon zu vergnuͤgen n. 50. nicht a-
    ber als ein weſentliches Stuͤcke. n. 51- Jedoch muß
    ſich hierbey ein Vernuͤnfftiger Menſch wohl pruͤf-
    fen/ daß er ſich nicht ſelbſt betriege n. 52. ob ſich nicht
    eine unvernuͤnfftige Liebe unter dem Schein einer
    vernuͤnfftigen zuverſtecken ſuche. n. 53. (1) Wenn
    man
    [156]Das 4. H. von der vernuͤnfftigen
    man alſofort nach der Leibes-Vermiſchung begierig
    iſt ehe man noch das Gemuͤthe der andern Perſon er-
    kennet/ zumahl wenn dieſelbe ſchoͤn iſt. n. 54. (2)
    Wenn man ſich faͤlſchlich beredet man werde zu frie-
    den ſeyn/ wenn man die Vereinigung des Gemuͤths
    erhalten habe. n. 55. (3) Wenn die menſchlichen Re-
    gungen nach dem Genuß des Leibes mit Gewalt oder
    Betrug trachten. n. 56. (4) Wenn man was durch
    die Geſetze verbotenes begehret. n. 57. (5) Wenn
    man bey dieſen Genuß nicht mit Schamhafftigkeit
    ſich ſeiner Begierde entlediget. n. 58. Denn Unter-
    ſcheid vernuͤnfftiger und unvernuͤnfftiger Liebe muß
    man nicht in dem Unterſcheid verheyratheter und un-
    verheyratheter Perſonen ſuchen. n. 59. Satſamer
    Veweiß/ das die vernuͤnfftige Liebe anderer Men-
    ſchen das eintzige Mittel ſey gluͤcklich zu werden. n.
    60. Ob vernuͤnfftige Liebe ohne Schmertzen/ Unruhe
    und empfindliche Freude ſeyn koͤnne? n. 61. und ob
    bey derſelben eine Eyfferſucht ſtatt finden koͤnne. n. 62.
    Wohlluſt/ Ehre/ Reichthum ſind keine Mittel zur wah-
    ren Gluͤckſeeligkeit zugelangen n. 63. Die Liebe iſt
    die eintzige Tugend/ und daß rechte Maaß aller Tu-
    genden. n. 64. Die Liebe Gottes n. 65. beſtehet
    nach der natuͤrlichen Erkaͤntniß in der Liebe anderer
    Menſchen. n. 66. Die uͤbernatuͤrliche aber gehoͤret
    nicht zur Sitten-Lehre. n. 67. Ob die Liebe des Vie-
    hes zur groͤſten Gluͤckſeeligkeit von noͤthen ſey.

1.


NAchdem wir alſo die groͤſte Gluͤckſee-
ligkeit
des Menſchen nach ihrem We-
ſen/ auch hernach GOtt als den Geber
derſelben/ und wie weit die wahre Erkaͤntniß
von GOtt in der Morale hoͤchſtnoͤthig ſey/ be-
trach-
[157]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
trachtet; als fordern nunmehro Regeln guter
Ordnung/ daß wir ſehen/ durch was fuͤr ein
Mittel der Menſch dieſe Gemuͤths-Ruhe er-
halte/ und ſie zuwege bringe.


2.

Nun haben wir zwar allbereit oben erweh-
net/ daß die Gemuͤths-Ruhe aus der Liebe an-
derer Menſchen
entſprieſſe/ und dieſelbe ſtets-
wehrend wiederumb wuͤrcke. Wir haben auch
ſchon daſelbſt etwas ausfuͤhrlich von der ver-
nuͤnfftigen Liebe gehandelt/ und dieſes parado-
xum
klar und deutlich erwieſen/ daß das We-
ſen des Menſchen mehr in einer Liebe anderer
Menſchen/ als in einer ſo genanten Selbſt-Lie-
be beſtehe. Dieweil aber die unterſchiedenen
Meinungen von denen Mitteln die groͤſte Gluͤck-
ſeeligkeit zu erlangen entweder dieſe Liebe mit
einen dunckelern Nahmen der Tugend oder
der tugendlichen Mittel-Maſſe belegen; an-
dere unter einen herrlichern Nahmen der Lie-
be GOttes
irrige und von der Gemuͤths-Ruhe
verfuͤhrende Dinge vorgetragen; andere aber
unter dieſer Liebe der Menſchen gefaͤhrlicher
Weiſe eine Beſtialitaͤt/ die das groͤſte Un-
gluͤck mit ſich fuͤhret/ zubedecken geſucht/ und
noch andere die Liebe anderer Creaturen
dieſer Liebe an die Seite zuſetzen bemuͤhet ſind.
Als iſt es wohl noͤthig/ daß wir dieſe Liebe an-
derer Menſchen nochmahlen vor uns nehmen/
und dieſelbe ihren Weſen und Stuͤcken nach
auff das genaueſte Betrachten/ auch in dieſem
Haupt
[158]Das 4. H. von der vernuͤnfftigen
Haupt-Stuͤcke noch deutlicher erweiſen/ daß in
ihr das einige Mittel zu der groͤſten Gluͤckſeelig-
keit zu erlangen beſtehe.


3.

Lieben wird zwar von unterſchiedenen
Dingen geſaget/ und kan dannenhero in ſeiner
weitlaͤufftigen Bedeutung nicht fuͤglicher be-
ſchrieben werden. Wir haben geſaget/ daß
GOtt die Menſchen liebe. Daß der Menſch
viele Dinge liebe/ wird niemand laͤugnen. Von
denen Beſtien ſpricht man/ daß ſie ſich ſelbſt
untereinander/ auch wohl andere Dinge/ oder
gar den Menſchen ſelbſt lieben. So ſchreibet
man auch denen Baͤumen unter einander eine
Liebe zu; Ja es iſt nichts ungemeines/ daß man
nicht auch von lebloſen Dingen/ als z. e. dem
Magnet und Eiſen eine Liebe ſagen ſolle.


4.

Zwar was die Liebe der Baͤume und der
lebloſen Sachen betrifft/ ſo haͤlt man wohl
durchgehends davor/ daß dieſelbe von dieſen
Dingen nicht in eigenen Verſtande genommen
werden/ weil es gantz offenbahr/ daß ſie keiner
Gemuͤths-Neigungen faͤhig ſind. Und alſo blei-
bet die Liebe GOttes/ der Menſchen und der
Thiere noch uͤbrig/ die wir uns ſo dann wohl
von einander zu entſcheiden befleißigen muͤſſen.


5.

Alles dasjenige/ was wir an uns be-
finden/ und doch von GOtt zu ſagen pfle-
gen/ daß wird nur Gleichniß Weiſe von
GOtt/ in eigenen Verſtande aber von uns
geredet. Und alles was wir an uns befin-

den
[159]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
den und doch von den Beſtien auch zu ſagen
pflegen/ davon muͤſſen wir erſtlich an uns
zu reden anfangen/
(weil uns unſere eigene
Sachen am bekanteſten ſind) damit wir hernach
erkennen moͤgen/ ob es gleichfalls von den Be-
ſtien in eigenen Verſtande geſaget werden
koͤnne/ wenn es nehmlich ein Concept iſt/ der den
Leib
angehet/ als den wir mit denen Beſtien
gemein haben/ oder ob es nur Gleichnißweiſe
von denen Beſtien geredet werde/ ſo ferne es
die Seele und Gedancken betrifft/ durch die wir
von denen Beſtien entſchieden ſeyn.


6.

So muͤſſen wir dennoch von der Liebe zu
reden anfangen/ derer die Menſchen faͤhig ſind.
Und zwar weil dieſelben vielerley zu lieben pfle-
gen/ Gott/ andere Menſchen/ andere geringe-
re Creaturen/
ſo wollen wir erſt ſehen/ was die
menſchliche Liebe uͤberhaupt
ſey.


7.

Sie iſt ein Verlangen des menſchli-
chen Willens/ ſich mit demjenigen/ das der
menſchliche Verſtand fuͤr gut erkennet hat/
zu vereinigen/ oder in dieſer Vereinigung
zu bleiben.


8.

Weil nun die Liebe ein Werck des menſch-
lichen Willens iſt/ der Wille aber zur menſch-
lichen Seele gehoͤret/ ſo kan von denen Be-
ſtien
nicht anders als figurlicher Weiſe geſagt
werden/ daß ſie etwas lieben/ zumahl dieſes Ver-
langen ohne Gedancken/ daß die geliebte Sa-
che etwas gutes ſey/
nicht concipirt werden
kan/
[160]Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen
kan/ dieſer Gedancken aber gleichfalls von de-
nen Beſtien/ als die gar nicht gedencken/ auch
nicht geſaget werden mag. Und ſolchergeſtalt
iſt die Liebe die von den Beſtien geſaget wird
etwas viel unvollkommeners als die Liebe der
Menſchen.


9.

Gleicherweiſe und weil man GOTT einen
Verſtand und Willen gantz auff eine andere
und unbegreifflichere Weiſe als denen Men-
ſchen zuſchreibet/ ſo iſt auch die Liebe die von
GOtt geſagt wird/ gantz eine andere Liebe/
zumahlen die geſunde Vernunfft weiſet/ daß
weil Gott von ſich ſelbſten iſt/ und das We-
ſen ſeiner Geſchoͤpffe ſtetswehrend erhaͤlt/ auch
GOtt auſſer ſich nichts finde/ daß er in Anſe-
hen ſeiner fuͤr gut halten koͤnne. Und alſo ſie-
het der Menſch/ daß die Liebe Gottes viel ver-
wunderſamer und unbegreifflich
ſey/ weil er
alles thut/ was ein liebender zu thun pfleget/ und
doch keine Urſache auſſer ihm ſelbſt findet/ die
ihn hierzu antreiben koͤnne.


10.

So folget auch ferner aus dieſer Be-
ſchreibung der Liebe/ daß man eigentlich davon
zu reden ſich ſelbſt nicht lieben koͤnne/ weil wir
allbereit im vorhergehenden Capitel geſagt/ daß
kein Geſchoͤpffe ſich ſelbſt erhalten koͤnne/ viel-
weniger aber eine Vereinigung ohne zwey un-
terſchiedene Dinge begriffen werden kan; Und
muß demnach die Selbſt-Liebe entweder eine
eitele Einbildung unvernuͤnfftiger Menſchen
ſeyn/
[161]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
ſeyn/ oder man wird dadurch nichts anders als
einen Mangel einer eigentlich ſo genanten
Liebe
andeuten.


11.

Es iſt aber die Vereinigung/ die der
menſchliche Wille in der Liebe intendiret/ nach
Unterſchied derer Dinge die geliebet werden/
auch ihrer Bedeutung nach ſchr unterſchieden.
Wir wollen wieder von der Liebe anderen Men-
ſchen als der eigentlichſten und deutlichſten an-
fangen/ und hernach die Liebe gegen GOtt und
andern Creaturen mit derſelben gegeneinander
halten.


12.

So beſtehet demnach die Vereinigung
die die Liebe des Menſchen nach der natuͤrlichen
Erkaͤntniß bey andern Menſchenintendiren
ſoll/ darinnen/ daß/ weil andere Menſchen glei-
ches Weſens mit ihm ſind/ er auch ſein Weſen/
daß iſt/ ſeine Seele/ fuͤrnehmlich aber ſeinen
Willen mit denen ihrigen dergeſtalt vereinige/
daß aleichſam ein Wille daraus werde/ und kei-
ner uͤber den andern ſich einer Botmaͤßig-
keit anmaſſe/
ſondern beyde Wechſelsweiſe
aus freyen Willen dasjenige wollen/ was das
andere wil.


13.

Eine andere Vereinigung aber iſt die-
ienige/ die man gegen andere geringere Ge-
ſchoͤpffe
haben ſol. Sie haben weder Ver-
ſtand noch Willen/ und alſo koͤnnen wir un-
ſere Seelen nicht mit ihnen vereinigen. Sie
koͤnnen uns fuͤr ſich nicht gutes thun/ weil ſie es
Lnicht
[162]Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen
nicht verſtehen/ ſie ſind aber geſchickt/ daß wir
nach der natuͤrlichen Ordnung GOttes unſer
und anderer Menſchen gutes dadurch befoͤrdern
koͤnnen. Dannenhero ſuchen wir in ihrer Liebe/
wenn ſie anders vernuͤnfftig ſeyn ſol/ eine ſolche
Vereinigung/ daß ſie unſern Willen unter-
worffen ſeyn/
das iſt/ daß wir ſie nach unſern
Gefallen zu unſeren und anderer Nutzen gebrau-
chen/ und wenn dieſer Nutzen nicht allen Men-
ſchen ſufficient ſeyn kan/ und dieſelbe zu eigen
machen moͤgen.


15.

Letzlich aber iſt die Vereinigung/ die wir
in der Liebe GOttesintendiren ſollen/ von de-
nen vorigen beyden unterſchieden. GOtt thut
uns alles gutes/ und indem er der Urſprung deſ-
ſelbigen iſt/ verſtehet er unſer Gutes beſſer als
wir/ wir aber koͤnnen vor uns GOtt nicht das
geringſte Gutes thun/ ja wir ſind mehrentheils
in Erkaͤntniß deſſen/ was uns gut iſt/ blind.
Deshalben waͤre es ſehr unvernuͤnfftig/ daß wir
in der Vereinigung mit GOtt trachten ſolten/
daß GOtt ſeinen Willen mit dem unſrigen zu-
gleichen Theilen vereinigen ſolte; noch viel un-
vernuͤnfftiger aber waͤre es/ wenn wir begehren
ſolten/ GOtt ſolle ſeinen Willen gaͤntzlich nach
dem unſerigen richten/ ſondern es weiſet uns
auch das ſchwache Liecht der Vernunfft/ daß die-
ſe Vereinigung in nicht anders beſtehen ſolle/
als daß wir unſern Willen dem ſeinigen un-
terwerffen/
und unſer Thun und Laſſen nach
dem
[163]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
dem ſeinigen einrichten/ auch nicht ungeduldig
oder muͤrriſch werden ſollen/ wenn uns von ſeiner
Hand etwas wiederfaͤhret/ das unſern Willen
nicht anſtehet.


15.

So iſt demnach die menſchliche Liebe
zweyerley/ eine vernuͤnfftige und unvernuͤnff-
tige. Jene
haben wir bishero beſchrieben und
erklaͤret/ dieſe aber weichet in vielen Stuͤcken
von der vorigen ab. Denn (1) haben wir
ſchon im andern Capitel geſagt/ daß das Ver-
langen der vernuͤnfftigen Liebe ein ſtilles und
kein unruhiges Verlangen ſey. Derowegen
wo ein Menſche in ſeiner Liebe ein dergleichen
unruhiges und hitziges Verlangen empfindet/
daß er ſein ſelbſt nicht maͤchtig iſt/ und daß er
ſich vor ungluͤcklich haͤlt/ wenn er ſich mit der
geliebeten Perſon nicht vereinigen ſol; ſo darff
er ſich nur gewiß verſichern/ daß ſeine Liebe nicht
vernuͤnfftig ſey.


16.

Jch rede hier nicht von denen jenigen/ die
einen dergleichen unordentlichen Trieb bey ſich
befinden/ wenn ſie etwas unvernuͤnfftiges lieben/
oder auff eine unvernuͤnfftige Vermiſchung des
Leibes zielen/ denn von dieſer Art wollen wir
bald abſonderlich handeln; ſondern von denen/
die tugendhaffte Perſonen lieben/ und ihrer
Meinung nach/ nach der Vereinigung der See-
len und des Willens trachten/ und vor Liebe
gleichſam veſchmachten oder verzweiffeln/ oder
L 2doch
[164]Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen
doch zum wenigſten vor Liebe ſterben oder er-
krancken;


17.

Es duͤrffte wohl manchen Tugendlieben-
den Menſchen dieſer mein Satz etwas zu harte
fuͤrkommen/ und duͤrffte er wohl ſelbſt auff ſein
eigenes Exempel ſich beruffen/ daß er allezeit ei-
ne ehrliche Intention gehabt/ und auff keine
fleiſchliche Vermiſchung gezielet/ und dennoch
eine dergleichen ſochtende Begierde zum oͤfftern
bey ſich befunden/ die ihn wider ſeinen Willen
keine Ruhe gelaſſen. Ja er wird mich Zweiffels
ohne auff ſo viel Buͤcher/ die von ehrlicher
Liebe handeln/ weiſen/ in welchen allen dieſelbe
beſchrieben wird/ daß ſie unſere Vernunfft
bemeiſtere/
und wider unſern Willen uͤber uns
herrſche.


18.

Aber das iſt es eben was ich ſage/ was
unſere Vernunfft bemeiſtert/ das iſt nichts
vernuͤnfftiges.
Es ſind unterſchiedene grade
in der unvernuͤnfftigen Liebe. Dieſes iſt der ge-
ringſte grad, deshalben iſt ſie auch nicht fuͤr un-
vernuͤnfftig ausgeſchrien/ ſondern nur geſagt/
daß ſie nicht vernuͤnfftig ſey. Und alſo kan ſie
auch einen Menſchen begegnen/ der nicht unver-
nuͤnfftig liebet/ ſondern ein ehrliches Abſehen
hat/ und unter die Zahl vernuͤnfftiger Menſchen
gehoͤret. Aber er darff ſich auch gewiß noch
nicht fuͤr ein Muſter eines vernuͤnfftigen Men-
ſchen ausgeben. Dieſes iſt eine von denen er-
ſten Regeln in der Sitten-Lehre/ daß man nichts
unmoͤg-
[165]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
unmoͤgliches oder vergebens begehren ſolle. Und
dieſes iſt gewiß eine von denen Proben/ ob man
in der Sitten-Lehre Meiſter oder noch ein Schuͤ-
ler
ſey/ nachdem man bey ſich auch in ehrli-
chen Abſehen eine hitzige
oder gleichguͤltige
Begierde empfindet.


19.

Jch wil itzo hiervon nicht erwehnen/ daß
ſich manche/ die noch in denen Schuͤler-Jahren
ſind/ ſelbſt betriegen/ und dafuͤr halten/ ſie ziele-
ten in ihrer Liebe auff nichts als die Verei-
nigun der Gemuͤther/
da ſie doch bald be-
finden wuͤrden/ daß ſie eine gantz andere Ver-
einigung ſuchen/ und daß es dieſe ſey/ die ſie
kranck und ſochtend mache/ und nur von der
noch allzuſchwachen Liebe zur ſtandhafften Tu-
gend beſtritten werde. Denn wie man in die-
ſem Stuͤcke ſich pruͤffen ſolle/ wollen wir bald
deutlicher erklaͤren.


20.

Die (II) Claſſe unvernuͤnfftiger Liebe iſt/
wenn man Dinge liebet die mehr ſchädlich
ſeyn/ als daß ihr Gebrauch unter die Guten zu
rechnen waͤre. Hier koͤnnen wir zwar wohl kein
Exempel geben/ daß wir von der Liebe gegen
GOtt hernaͤhmen/ aber ſo wohl bey der Liebe
gegen die Menſchen als bey der Liebe gegen an-
dere Dinge koͤnnen wir gar viel Exempel einer
unvernuͤnfftigen Liebe antreffen.


21.

Z. e. Wenn man nach ſuͤſſer aber un-
geſunder Speiſe verlanget. Wenn man denen
Dingen nachhaͤnget/ die die Sinnen empfind-
L 3lich
[166]Das 4. H. von der vernuͤnfftigen
lich beluſtigen/ oder die rar ſind/ und derer Ge-
brauch uns eine Zaͤrtligkeit angewehnet. Und
unter denen Menſchen ſolche Leute/ die in denen
Wohlluͤſten ſtecken/ die Ehrgeitzig/ Geld-
begierig/
mit einem Wort: die nicht tugend-
hafft ſind/ wenn ſie auch gleich ſonſten noch ſo
angenehm und artig/ oder auch ſcharffſinnig
und verſtaͤndig waͤren.


22.

Und hat ſich dannenhero ein vernuͤnffti-
ger Menſch deſtomehr fuͤr dergleichen Liebe in
acht zu nehmen/ weil andere vernuͤnfftige Men-
ſchen ihn nach denen Perſonen die er liebet/
gewißlich urtheilen werden/
indem alle Liebe
ſich in einer Gleichheit gruͤndet/ weil ſie aus der
Meynung von der Guͤte eines Dinges entſtehet/
alles Gute aber wie wir im erſten Capitel ge-
ſagt/ in einer Gleich foͤrmigkeit mit andern Din-
gen beruhet.


23.

Wolteſt du nun gleich fuͤrwenden/ du
liebeteſt dieſen Menſchen nicht/ weil er dieſes
Laſter an ſich habe/ ſondern wegen ſeiner Ar-
tigkeit
und ſcharffſinnigen Verſtandes/ ſo
muſt du doch wohl in acht nehmen/ daß du dich
nicht ſelbſt betriegeſt. Ein anders iſt jemand
hochſchaͤtzen/ ein anders jemand lieben. Du
kanſt einen ſolchen Menſchen wegen ſeiner Ar-
tigkeit und Verſtand wohl hoch halten/ aber in
der Liebe ſucheſtu die Vereinigung der Gemuͤther
und des Willens/ und alſo muſtu dich ſeiner La-
ſter theilhafftig machen.


24. Und
[167]Liebe anderer Menſchen uͤberharpt.

24.

Und obſchon das folgende Capitel ſagen
wird/ daß man alle Menſchen lieben ſolle/ ſo iſt
doch erſtlich ein Unterſcheid zwiſchen der allge-
meinen Liebe
und abſonderlichen/ wie wir
zu ſeiner Zeit ſehen werden; Ja auch die allge-
meine zielet dahin/ daß du ihn ſeine Jrrthuͤmer
und Laſter benehmeſt/ und iſt alſo wenn man
ſie gegen einen Laſterhafften ausuͤbet/ mehr eine
Liebe Bedingungsweiſe/ wenn er ſich nehmlich
ſeiner Laſter werde begeben haben/ als ſchlech-
ter Dinge zu nennen Und wenn du in deinen
Gemuͤthe verſichert biſt/ daß du dieſes haupt-
ſaͤchlich indendireſt/ auch mit deinem Thun und
Laſſen nicht offenbahr das Gegentheil darthuſt/
ſo wil ich auch eine dergleichen Liebe nicht vor un-
vernuͤnfftig halten.


25.

(III) Jſt auch die Liebe unvernuͤnfftig
in Anſehung der Art und Weiſe/ die man in
der Vereinigung ſucht: Wenn man nehmlich
die Vereinigung die GOtt gehoͤret/ denen Men-
ſchen zueignet/ oder mit GOtt ſich auff die Art
zuvereinigen ſucht/ wie man ſich mit Menſchen
und Beſtien vereinigen ſolte/ u. ſ. w.


26

Solcher geſtalt aber werden wir in dieſer
Claſſe 6. Arten von unvernuͤnfftigen Lieben ha-
ben: (1) Wenn man in der Liebe gegen GOtt
verlanget/ GOTT ſolle ſeinen Willen bloß
nach dem unſerigen
richten/ welche Liebe bey
allen Aberglaubiſchen Leuten anzutreffen iſt.
(2) Wenn man wuͤnſchet/ GOTT ſolle ſeinen
L 4Wil-
[168]Das 4. H. von der vernuͤnfftigen
Willen ja ſo wohl nach dem unſrigen richten/
als wir in Dingen/ die uns nicht eben gar zu
ſehr zuwieder ſeyn/ den unſrigen nach ſeinen
Willen zurichten bereit ſeyn. Welche Liebe bey
denen zufinden iſt/ die nur ein wenig noch auff
der Tugend-Bahne
gewandelt.


27.

(3) Wenn man andere Menſchen derge-
ſtalt liebet/ daß man allezeit uͤber ihren Wil-
len zu herſchen
ſucht/ welches nicht ſo wohl
die Ehrgeitzigen und Stoltzen/ als die ei-
gentlich ihrer Intention nach alle Menſchen haſ-
ſen/ als die aͤuſſerlich ſittſamen Atheiſten zu
thun pflegen. (4.) Wenn man andere Men-
ſchen alſo liebet/ daß man ſeinen Willen gantz
und gar dem ihrigen unterwirfft/
ihnen als
GOtt vertrauet/ und ſie als GOtt fuͤrchtet/ auch
ſich von ihnen zum Selaven machen laͤſt/ wel-
che Liebe fuͤrnehmlich bey denen Wohlluͤſtigen
anzutreffen iſt.


28.

(5.) Wenn man unvernuͤnfftige und
lebloſe
Creaturen dergeſtalt liebet/ daß man
mit ihnen als mit Menſchen umgehet/ und an
ihren Wohl oder Ubel ſeyn eben ſo viel Theil
nimmt/ als wenn ſie vernuͤnfftige Menſchen waͤ-
ren/ und einen Willen haͤtten/ der mit nus ver-
einiget waͤre/ z. e. Wenn Leute die in einer wil-
den und zaͤrtlichen Wohlluſt ihr vergnuͤgen ſu-
chen/ Pferde/ Hunde/ Voͤgel/ ſo extrem lieben/
daß ſie ihnen mehr Gutes erweiſen als anderen
Menſchen (6.) Wenn man dergleichen und ſon-
derlich
[169]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
derlich lebloſe Dinge dergeſtalt lieber/ daß man
ſo zu reden gantz ihr Sclave wird/ als wenn
ſie einen Willen haͤtten/ der uns befehlen koͤn-
te. Auff dieſe Art lieben die Geitzigen ihren
Geld-Sack.


19.

(IV.) Nun haben wir nur noch eine Art
unvernuͤnfftiger Liebe uͤbrig/ von der wir aber et-
was ausfuͤhrlicher reden muͤſſen/ damit wir zwi-
ſchen zweyen von der Wahrheit allzuweit aus-
ſchweiffenden Meynungen in der wahren Mittel-
Straſſe bleiben. Wir haben oben geſagt/ daß
der Menſch in der Liebe anderer ſuchen ſolle/ ſeine
Seele
mit det Seele anderer Menſchen zu verei-
nigen/ und ſolchergeſtalt kan es nicht fehlen/ es
muͤſſe die Liebe/ in welcher der Menſch auff die
Vereinigung ſeines Leibes mit dem Leibe ande-
rer Menſchen hauptſaͤchlich ſein Abſehen hat/ eine
neue Art unvernuͤnfftiger Liebe abgeben.


30.

Denn auff dieſe Art lieben dieBeſtien.
Jhr Trieb treibet ſie bloß auff die Vermiſchung
des Leibes mit dem Leibe einer andern Beſtien
an/ ohne daß ſie einen Unterſcheid unter denen
Individuis zu machen pflegen; Wiewohl auch/
was ihren innerlichen Trieb betrifft/ ein weniger
oder gar kein Unterſcheid unter denen Beſtien von
einerley Art zu ſeyn pfleget: Weswegen auch
dieſe Liebe der Beſtien in eigentlichen Verſtand
mehr eine Brunſt als Liebe zu nennen. Jm
Gegentheil aber iſt die menſch liche Natur darin-
nen von denen Beſtien entſchieden/ daß gleichwie
L 5die
[170]Das 4. H. von der vernuͤnfftigen
die Menſchen unter ſich ſelbſt unterſchiedene Bil-
dungen oder Gemuͤths-Neigungen haben/ alſo
auch der Menſch/ wenn er gleich auff die Vermi-
ſchung des Leibes verfaͤllt/ dennoch gemeiniglich/
wenn er nicht gantz und gar zur Beſtie worden/
einen Menſchen fuͤr den andern zu lieben
pfleget.


31.

Solcher geſtalt aber iſt zu bedauren/ daß
in dieſer Claſſe dreyerley Arten von der unver-
nuͤnfftigen Liebe angetroffen werden: (1) Eine
mehr als Beſtialiſche/
wenn man einen unver-
nuͤnfftigen Trieb bey ſich befinder/ ſeinen Leib mit
dem Leib der Perſonen einerley Geſchlechts/
oder mit Creaturen von gantz unterſchiede-
ner Art
zu vermiſchen/ wofuͤr auch die Beſtien
einen Abſcheu haben. (2) Eine Beſtialiſche
oder Huren-Liebe/
wenn man ſeine Begierden
mit allerley Perſonen ohne Anſehung derer
Bildungen oder Gemuͤths-Bewegungen zu ſtil-
len/ oder vielmehr zu vermehren und luͤſtern zu
machen trachtet. (3) Eine bey nahe Beſtiali-
ſche/
wenn man zwar einen Unterſchied unter de-
nen Perſonen entweder ihrer Bildung oder ihren
Gemuͤths-Neigungen nach machet/ aber doch
alſobald bey denenjenigen/ auff die man mit ſei-
ner Liebe faͤllet/ zugleich auff die Vereinigung
des Leibes/
oder wohl gar einig und alleine
auff dieſe/ ohne Vereinigung des Willens
oder der Seelen zielet.
Und von dieſer letzten
muͤſſen wir fuͤrnehmlich etwas mehrers reden.


32. Denn
[171]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.

32.

Denn weil derſelben die allermeiſten
Menſchen ergeben ſind/ ſo gar auch/ daß deswe-
gen auch unter denen Philoſophen dieſe den Na-
men der Liebe fuͤr ſich behalten/ und der andern
Liebe/ die auff dergleichen Vereinigung nicht zie-
let/ den kaltſinnigen Nahmen der Freundſchafft
zugeleget/ da doch in der wahren Philoſophie
wahre Freundſchafft und Liebe eines ſind; als er-
mangelt es auch an Schein-Urſachen nicht/ durch
welche man dieſe Liebe wo nicht zu einer vernuͤnff-
tigen Liebe zu machen/ dennoch aber aus der Zahl
unvernuͤnfftiger Liebe auszunehmen ſich bemuͤhet.


33.

Und anfaͤnglich zwar iſt nicht zu laͤugnen/
daß die Vereinigung der menſchlichen Seelen o-
der zweyer Willen nicht ihren Weſen nach derge-
ſtalt geſchehen koͤnne/ daß ohne Beytrag des Lei-
bes aus zwey Seelen wuͤrcklich und in der That
eine Seele und ein Menſch werde; Sondern es
muß allerdings dieſelbe in nichts anders als in
der Gleichfoͤrmigkeit des von zweyen Willen

dirigirten aͤußerlichen Thun und Laſſens des
Leibes
geſucht werden. Und ſolchergeſtalt kan
weder Freundſchafft noch Liebe ohne gleichfoͤrmi-
ger Wirckung des Leibes begriffen werden: und
wenn man in der Gleichfoͤrmigkeit des Willens
die Vereinigung der Seelen ſuchet/ worumb ſol-
te man auch nicht ſagen/ daß wegen der Gleich-
foͤrmigkeit der aͤuſſerlichen Leibes-Bewegung
auch bey einer jeden Freundſchafft und Liebe die
Leiber vereiniget ſeyn/
und alſo aus zweyen
Freun-
[172]Das 4. H. von der vernuͤnfftigen
Freunden gleichſamb ein Leib und eine Seele
allemahl werden muͤſſe.


34.

Hiernechſt befindet zwar der Menſch/
wenn er ſich gegen die Beſtien conferiret/ in ſei-
ner Natur dieſen Unterſcheid/ daß er nicht wie die
Beſtien ſich mit allerley Perſonen unterſchiede-
nen Geſchlechts ohne Unterſcheid der Gemuͤther
und Bildungen zu vermiſchen trachten ſolle. A-
ber er befindet auch/ daß ſeine Natur ihme nicht
alleine das Vermoͤgen gegeben/ das Schoͤne o-
der Angenehme von dem Heßlichen und Unge-
ſtalten
zu entſcheiden; ſondern er befindet auch
durchgehends bey dem gantzen menſchlichen Ge-
ſchlecht dieſen innerlichen Trieb/ daß die Schoͤn-
heit/ und ſonderlich ein ſchoͤnes und liebreitzen-
des Auge/
das unter denen Beſtien nicht zu fin-
den iſt/ bey ihm eine Begierde/ die auff eine Ver-
miſchung des Leibes trachtet/ erwecke/ der er zu
wiederſtehen nicht kraͤfftig iſt/ und der auch der
weiſeſte Philoſophus nicht widerſtreben wuͤrde.
Ja er hefindet auch/ daß zwiſchen zweyen Perſo-
nen unterſchiedenes Geſchlechts ein allgemeiner
Trieb
ſey/ durch leibliche und wechſelbeluſtigen-
de Vermiſchung Kinder zu zeugen: Und dan-
nenhero duͤnckt ihm/ daß zwiſchen zweyen Perſo-
nen unterſchiedenen Geſchlechts die Vereinigung
der Seelen oder des Willens ohne dieſer Verei-
nigung der Leiber nicht vollkommen genennet
werden koͤnne.


35. Aber
[173]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.

35.

Aber hierauff iſt zu wiſſen/ daß zwar an
dem ſey/ daß man die Liebe oder Freundſchafft
ohne Bezeugung des Leibes nicht erkennen
koͤnne/ weil der Menſch des andern Menſchen ſei-
ne Seele oder Gedancken ohne einen aͤußerlichen
Zeichen niemahln begreiffen/ noch ihm ſo zu ſa-
gen ins Hertze ſehen kan. Und ob ſchon die Re-
de und Worte dem Menſchen gegeben ſind ſeine
Gedancken dem andern mitzutheilen/ ſo gelten
doch dieſe Zeichen mehr in denen Gedancken/ die
zum Verſtande des Menſchen/ als zu deſſen Wil-
len gehoͤren. Denn bey dieſen gilt ein einiges
Thun mehr als tauſend Worte/ wiewohl ge-
meiniglich Worte vor denen Thaten vorher zu-
gehen pflegen. Nichts deſtoweniger aber wird
man hierans in geringſten nicht ſchlieſſen koͤnnen/
daß die vernuͤnfftige Liebe hauptſaͤchlich oder
eben ſo wohl in Vereinigung des aͤußerlichen
Thuns/
als in Vereinigung der Seelen und des
Willens beſtehe.


36.

Denn es iſt ein groſſer Unterſcheid unter
dem Weſen eines Dinges/ und unter dem Zei-
chen
oder Bild deſſelbigen. Dieſes iſt allezeit
etwas/ das mit dem Weſen nichts zu thun hat/
ſondern nach demſelbigen folget oder ſich darnch
richtet. Und alſo hat auch die Bezeugung des
aͤußerlichen Thun und Laſſens nichts mit der
Vereinigung der Seelen an ſich ſelſt zu thun/
ſondern ſie folget auff dieſelbige/ und gibt ſo wohl
in
[174]Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen
in der Freundſchafft als Liebe der geliebten Perſon
wechſelsweiſe dieſelbe zu erkennen.


37.

Z. e. Wenn ein tugendhaffter Menſch
ein tugendhafftes und verftaͤndiges Frauen-Zim-
mer lieb gewinnet/ und ſeine Seele mit der ihri-
gen zuvereinigen trachtet/ ſo bemuͤhen ſie ſich
beyderſeits/ nachdem ſie durch einen mit Ehr-
furcht und Verlangen vermiſchten Blick/ oder
durch einen hertzlichen Seufftzer einander gleich-
ſam die Loſung gegeben/ einander durch tauſend
kleine Gefaͤlligkeiten nicht nur ihren Willen
Wechſelsweiſe gleichſam an den Augen anzu
ſehen/ ſondern auch ſo zureden denſelben noch
vorzukommen/ geſchweige denn/ daß ſie nicht
durch das aͤuſſcrliche Thun und Laſſen einan-
der in dem/ was eines von dem andern deutlich
begehret/ zugefallen ſeyn ſolten.


38.

Wer wolte aber ſagen/ daß in dieſen
kleinen Gefaͤlligkeiten das Weſen der Liebe
oder Freundſchafft beſtehe; Die zum oͤfftern/
wenn man ſie ihren Werth und Nutzen nach
betrachtet/ ſo geringe ſind/ das man ſich ſchaͤ-
men muͤſte wenn man ſie dem andern als ei-
nen Liebes-Dienſt anrechnen wolte/ und die
ihren gantzen Werth von der Freywilligkeit und
Ungezwungenheit oder der auffrichtigen Erniedri-
gung einer mit vielen Meriten begabten Perſon
erlangen? Zumahl da in Gegentheil nach dem
Tax der Liebe auch die koſtbarſten Bezeugun-
gen/ und die tieffeſten Erniedrigungen nichts gel-
ten
[175]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
ten/ wenn man unbetriegliche Proben hat/ daß
ſie nicht von auffrichtigen Hertzen/ ſondern von
einer Schein- und Heuchel-Liebe entſtanden.


39.

Nach dieſen muß man auch einen groſſen
ſen Unterſcheid unter denen andern Liebes-
Bezeugungen
die durch das aͤußerliche Thun
und Laſſen ausgedruckt werden/ und unter der
Vereinigung der Leiber die durch die Ver-
miſchung derſelben geſchiehet/ machen. Denn
geſetzt/ daß zu dem Weſen der Liebe die Gefaͤl-
ligkeiten des aͤußerlichen Thun und Laſſens ge-
hoͤreten; oder aber geſtandenen Falls/ daß/
weil dieſe unausbleibliche Zeichen wahrer Liebe
ſeyn/ zum wenigſten doch das Verlangen zu de-
nenſelben nicht irraiſonable ſeyn koͤnne/ ſo fol-
get doch nicht alſofort/ daß man auch die Lie-
bes-Gunſten/ die auff die Vermiſchung des Lei-
bes zielen/ hierunter rechnen muͤſſe/ ſondern wir
muͤſſen von dieſen abſonderlich etwas mehrers
reden.


40.

Zwar iſt es wohl an dem/ daß das ſchwache
Licht der menſchlichen Vernunfft ohne
goͤttliche Offenbahrung in Erkaͤntniß des allge-
meinen Ubels der Luſt-Seuche ziemlich in fin-
ſtern herum tappe/ und weil ihr von dem Suͤn-
den-Fall der erſten Eltern nichts wiſſend iſt/
auch die Unzulaͤßigkeit und Boßheit derſelben
fuͤr ſich ſelbſt nicht allenthalben penetrire/ ſon-
dern manches Thun und Laſſen fuͤr zulaͤßlich
halten muͤſſe/ von welchen uns das goͤttliche
ge-
[176]Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen
geoffenbahrte Geſetz ein anderes verſichert.
Nichts deſtoweniger aber weiſet uns doch das
Licht der Natur zum wenigſten ſo viel/ daß dieſe
Begierde der Leibes Vermiſchung eine unziem-
liche Unvollkommenheit
ſey/ wenn ſie gleich
in comparaiſon anderer groͤbern Stuffen noch
ſo reinlich ſcheinet/ und das viele Dinge auch
von denen die vermittelſt der goͤttlichen Offen-
bahrung beſſer raiſoniren ſolten/ zumahl unter
Ehe-Leuten/ fuͤr zulaͤßlich gehalten werden/ die
doch auch der Vernunfft nach mehr beſtialiſch
als vernuͤnfftig ſind.


41.

Denn anfaͤnglich iſt es eine groſſe Un-
vollkommenheit/ daß die Menſchen in Beur-
theilung von der Schoͤnheit des Leibes (da-
von wir anderswo zu ſeiner Zeit mit mehrern
reden werden) das wenigſte Fundament haben/
ſondern gantz unterſchiedenen und wiedrigen
Meinungen disfalls unterworffen ſind/ die den-
noch weil ſie auff keine Vernunfft gegruͤndet
ſeyn/ auch nicht fuͤr Vernuͤnfftig koͤnnen ausge-
geben werden/ ob man ſie ſchon auch nicht un-
vernuͤnfftig ſchelten kan.


42.

Hiernaͤchſt weil es offenbahr/ daß die
Schoͤnheit des Leibes gar oͤffters mit der Schoͤn-
heit der Seelen oder der Tugend nicht vereini-
get iſt; So koͤnnen wir zwar die Liebe ſchoͤ-
ner und dabey tugendhaffter Leute
eben
nicht tadeln/ wir koͤnnen aber auch weder den
Haß tugendhaffter aber heßlicher/ noch die Lie-
be
[177]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
be laſterhaffter/ aber dabey wohlgeſtalter Per-
ſonen fuͤr vernuͤnfftig ausgeben.


43.

Und hierzu darff man eben keine allzu-
groſſe Weißheit/ zubegreiffen/ daß die Reitzung
eines ſchoͤnen Angeſichts oder eines ſchoͤnen
Auges/
die alſobald auff die Leibes Vermi-
ſchung dencket/ mehr viehiſch als menſchlich
ſeyn. Denn der muß gewiß noch wenig von
vernuͤnfftiger Liebe wiſſen/ der den Unterſcheid
zwiſchen den tadelnswuͤrdigen Feuer eines
brennenden Auges/ und denen untadelhafften
Strahlen eines ſehnenden Auges/ das auff die
Vereinigung der Seelen hauptſaͤchlich zielet/
nicht zu machen weiß/ und nur die Brunſt die
jenes erwecket/ niemahlen aber die keuſche
Flamme
dieſes letzteren geſpuͤret hat.


44.

Jch gebe wohl zu/ daß ein durchdrin-
gend brennendes Auge das waͤchſerne Hertze
eines neuangehenden Tugend-Schuͤlers
leichte zuſchmeltzen werde; aber dieſe guten Leu-
te muͤſſen das durch die Weißheit und Tugend
ausgehaͤrtete Hertz eines rechtſchaffenen
Philoſophi nicht nach dem ihrigen rechnen.
Das Geſpraͤch des Socrates mit der Theodotæ
bey dem Xenophon wird ihnen zeugen/ daß alle
Pfeile eines in die Thorheit verliebten Weibes-
Bildes an dem Hertzen eines weiſen Mannes
zuruͤcke prallen muͤſſen.


45.

Endlich ſo muͤſſen wir auch den Trieb
der zwiſchen beyderley Geſchlecht iſt/ Kinder mit
Meinan-
[158[178]]Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen
einander zu zeugen/ und den Trieb nach der
Luſt/
die mit dieſem Werck verknuͤpfft iſt/ nicht
mit einander vermiſchen. Der Trieb Kinder
mit einander zu zeugen/
ſo ferne derſelbe ver-
nuͤnfftig iſt/ ſol erſt nach der Vereinigung der
Gemuͤther folgen/ und auff nichts anders ſein
Abſehen richten/ als daß zwey liebende Perſon-
nen an denen Kindern allezeit etwas finden moͤ-
gen/ davon ſie ſich der keuſchen Vereinigung
ihrer Seelen erinnern koͤnnen/ als in welchen
dieſelbe gleichſam von beyden Theilen concen-
trir
et worden. Und alſo trachtet dieſer Trieb
gantz nicht hauptſaͤchlich auff die Genieſſung der
Wohlluſt des Leibes. Aber man wird auch die-
ſen Trieb bey denen allerwenigſten Menſchen
antreffen/ weil die allerwenigſten Menſchen ver-
nuͤnfftig ſind.


46.

Was aber die allgemeine Neigung
des
menſchlichen Geſchlechts zu dieſer Wohl-
luſt des Leibes
anbelanget; So iſt es zwar
an dem/ daß ein Menſch nach ſeiner bloſſen Ver-
nunfft/ wenn ihm die wahre Hiſtorie von dem
erſten Fall unſerer Eltern nicht bekandt iſt/ wie
wir allbereit erwehnet/ nicht klar und deutlich
begreiffen koͤnne/ daß dieſe Neigung ſo gantz
unvernuͤnfftig
ſey/ weil er ſie bey allen Men-
ſchen antrifft. Jedoch wird er in ihrer Betrach-
tung auch genung finden/ warumb er ſie nicht
fuͤr gar zu vernuͤnfftig halten kan/ und wodurch
er erkennet/ daß dieſer Trieb nicht allemahl na-
tuͤrlich ſey.


47. Denn
[179]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.

47.

Denn indem er ſiehet/ daß dieſer Trieb/
wenn er den Menſchen ſtarck antreibet/ deſſen
Gemuͤth dergeſtalt einnimt/ daß er eine Sache
als das hoͤchſte Gut betrachtet/ fuͤr der er
doch bald hernach/ wenn dieſe Hitze ein wenig
verrauchet iſt/ einen rechtmaͤßigen Eckel uͤber-
koͤmmt/ ſo kan er nicht anders ſchlieſſen/ als daß
er ſo raiſonabel nicht ſeyn koͤnne/ weil Vernunfft
und Vernunfft einander nicht zuwider ſeyn.


48.

Unterſucht er hernach die Natur des
menſchlichen Coͤrpers/ ſo befindet er/ daß es
zwar natuͤrlich ſey/ daß das Kinder-Zeugen eine
Wolluſt verurſache; aber er befindet auch/ daß
wie die Beſtien mehrentheils des Jahres zu ei-
ner gewiſſen Zeit dieſen Trieb an ſich befinden;
alſo der Menſch mehr durch einen unvernuͤnffti-
gen Gebrauch Speiſe und Trancks/ und durch
Muͤßiggang und andere boͤſe Gewohnheiten/ als
durch ſeine Natur zu allen Zeiten des Jah-
res eine
Neigung hierzu bey ſich erwecke. Und
daß es gar natuͤrlich ſey/ daß ein arbeitſamer/
wachſamer Menſch und der ſich hitziger Speiſe
und Trancks enthaͤlt/ bey weiten ſo einen ſtar-
cken Trieb zu dieſer Wolluſt nicht bey ſich
ſpuͤre.


49.

Bey dieſer Gegeneinanderhaltung aber
ſchlieſſet endlich ein weiſer Mann/ daß eine ver-
nuͤnfftige Liebe niemahlen auf die Vermiſchung
des Leibes ihr hauptſaͤchliches
oder auch
gleichmaͤßiges Abſehen richten muͤſſe; ob ſie
M 2gleich
[180]Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen
gleich nicht allemahl die Leibes-Vermiſchung
gar aus den Augen ſetzen kan/ und ob ſchon zu-
weilen das Verlangen ſeinen Leib mit dem Leib
der geliebten Perſon zu vermiſchen/ wenn es
nicht hauptſaͤchlich ſondern zufaͤllig iſt/ eine
vernuͤnfftige Liebe nicht unvernuͤnfftig macht.
Denn bey einer unvernuͤnfftigen Liebe liebet
man ſich/ weil man die Leiber mit einander ver-
miſchet. Bey einer vernuͤnfftigen Liebe aber
kan man wohl zuweilen, die Vermiſchung des
Leibes verlangen/ weil man einander liebet.


50.

Dieſes letzte muſt du auff dieſe Weiſe
verſtehen. Wo zwey Seelen mit einander ver-
einiget ſeyn/ muß aus zweyen Willen ein einiger
werden/ und eine jedwede liebende Perſon mehr
in der andern als in ſich ſelbſt leben. Dieſes kan
aber nicht geſchehen/ wenn ſie nicht beyde Wech-
ſelsweiſe einander alles erdenckliche Ver-
gnuͤgen/
das der Vernunfft nicht zuwieder iſt/
zu wegen zu bringen trachten/ und einander alle
Geheimniſſe auch ihrer Schwachheiten

(man muß aber die Schwachheiten nicht mit
unvernuͤnfftigen Dingen vermiſchen) Wechſels-
Weiſe entdecken. Denn wahre liebe leidet
kein Geheimniß/
und wir werden zu ſeiner
Zeit ſagen/ daß ob wohl die Unverſchamheit
mit vernuͤnfftiger Liebe nicht beſtehen koͤnne/ den-
noch auch allzugroſſe Schamhafftigkeit auch
eine Anzeigung geringer Liebe ſey.


51. Dero-
[181]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.

51.

Derowegen ſo iſt ja auch bey vernuͤnff-
tiger
Liebe die Begierde der Leibes-Vermi-
ſchung
zwar kein weſentliches Stuͤck/ ſondern
nur ein noͤthig und nicht unvernuͤnfftiges
Zeichen derſelben
wenn es unter ietztgeſetzten
Bedingungen und als ein bloſſes Zeichen ver-
langet wird. Solchergeſtalt nun haſt du nichts
vorgebracht/ daß unſern Lehr-Satz zuwieder
waͤre/ wenn du geſagt/ daß zwiſchen zweyen
Perſonen unterſchiedenes Geſchlechts die Ver-
einigung der Seelen oder des Willens ohne
der Vereinigung der Leiber nicht vollkommen
genennet werden koͤnne. Denn wir haben oben
nur dieſes behaupten wollen/ daß dieſe Liebe un-
vernuͤnfftig ſey/ wenn man alſobald bey derje-
nigen Perſon auff die man mit ſeiner Liebe faͤl-
let/ entweder zugleich oder wohl einig und allein
auff die Vermiſchung des Leibes ſein Abſehen
richtet.


52.

Aber ich ſehe wohl/ du freueſt dich uͤ-
ber dieſer meiner Erklaͤrung/ und du bildeſt
dir ein viel erobert zu haben/ wenn du deine
Begierdẽ/ die du bey der Converſation mit Per-
ſonen von andern Geſchlechte zuweilen bey dir
befindeſt/ nur ohne Verletzung deines Gewiſ-
ſens ſtillen darffſt/ es moͤge nun ſolches geſche-
hen unter waßerley Betrachtung es wolle
Denn du ſprichſt: es ſey alſo/ du liebeſt nur ver-
nuͤnfftige Perſonen/ du ſucheſt hauptſaͤchlich dei-
ne Seele mit der ihrigen zuvereinigen/ und du-
M 3trach-
[182]Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen
trachteſt nur nach der Vermiſchung des Lei-
bes/
umb durch eine Mittheilung dieſes Geheim-
niſſes deſtomehr Proben von der Zuneigung dei-
ner Geliebten zu haben/ und ſie mehr als dich
zu vergnuͤgen.


53.

Aber/ mein Freund/ frolocke nicht zu zeit-
lich/ und betriege dich ſelbſt nicht. Dieſe Be-
trachtungen/ unter welchen wir die Begierde der
Leibes-Vermiſchung vor unvernuͤnfftig und ver-
nuͤnfftig ausgegeben haben/ ſind nicht eitele Gril-
len einer Scholaſtiſchen Methaphyſic, die du
nach deinen Gefallen in denen Gemuͤths-Neigun-
gen ordnen oder ſetzen koͤnteſt wie du wolteſt;
ſondern ſie ſind von der Sache ſelbſt und von
dem Unterſcheid einer Beſtialiſchen oder menſch-
lichen Begierde hergenommen; und derowe-
gen pruͤffe dich wohl/ ob deinePaſſionſo be-
ſchaffen ſey/
als du von ihr aus giebeſt/ oder ob
nicht darunter eine unvernůnfftige Liebe ſich
heimlich zu verbergen
ſuche.


54.

Findet ſich dieſe deine Begierde allzu-
zeitig/
eher du noch das Gemůthe der Perſon
die du liebeſt/ recht genau unterſuchet/ und ge-
pruͤffet/ ob man dich von Hertzen oder aus inter-
eſſe,
aus Hochachtang oder aus einen geilen
Abſehen liebe/ zumahlen wenn die geliebte Per-
ſon mit aͤuſſerlicher Schoͤnheit begabet iſt/ ſo
betriegeſt du dich/ wenn du dafuͤr haͤlteſt/ daß du
hauptſaͤchlich deine Seele mit einer andern See-
le zuvereinigen ſucheſt. Es iſt die Schoͤnheit o-
der
[183]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
der eine andere Beſchaffenheit des Leibes die
dich verliebt gemacht hat/ und deine Liebe iſt
ſehr unvernuͤnfftig.


55.

Geſetzt aber/ du trachteſt zu erſt nach der
Vereinigung der Gemuͤther/ und du beredeſt
dich/ daß du zufrieden ſeyn wolteſt/ wenn du
nur der Hochachtung und vernuͤnfftigen Liebe
eines tugendhafften Frauen-Zimmers das Ver-
ſtand hat/ und nicht eben ſchoͤn iſt/ verſichert waͤ-
reſt. Pruͤffe dich wohl ob du dieſer Beredung
trauen duͤrffeſt. Denn die unvernuͤnfftige Lie-
be pfleget ſich auch unter dieſe prætext einzu-
ſchleichen/ und ſuchet die Hertzen junger Leute
unter der Larve einer vernuͤnfftigen Liebe zu be-
truͤgen. Frag nur dein Hertze genau/ ob es
werde zufrieden ſeyn/ und nichts mehrerers
verlangen/
wenn es die unſchuldige Vereini-
gung/ nach der es Anfangs trachtet/ werde er-
halten haben.


56.

Ja unterſuche auch hiernaͤchſt/ wenn du
gleich Anfangs nur nach der Bereinigung der
Gemuͤther geſtrebet/ und nach langet Zeit erſt
dieſe Begierde bey dir empfindeſt/ auch dir die-
ſelbe als nur ein Verlangen die geliebte Perſon
zu vergnuͤgen vorſtelleſt; ob du nicht vielmehr
dein eigenes Vergnuͤgen als daß ihrige/ auch
deinen Willen wieder den ihrigen zu erfuͤllen
trachteſt. Vernuͤnfftige Liebe raubet auch
nicht die geringſte Gunſt-Bezeugung mit Ge-
walt/
oder gefaͤhrlicher Argliſtiger Beredung
M 4ſon-
[184]Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen
ſondern ſie ſuchet ſie durch auffrichtige tugend-
haffte Thaten
und kleine Gefaͤlligkeiten zu
verdienen/ und empfindet deſtomehr Vergnuͤ-
gen/ je freywilliger die geliebte Perſon dieſe Dien-
ſte damit zu belohnen trachtet. Sie iſt faͤhig
umb das ſchoͤnſte Weibes-Bild/ daß ſie bruͤn-
ſtig liebet/ nahe zu ſeyn/ und ſie wieder ihren
Willen
nicht anzuruͤhren. Ja ſie wuͤrde ſich
ſelbſt/ die groͤſte Gewalt anthun/ wenn ſich die
geliebte Perſon ihren Schutz unterwirfft/ ihre
Schwachheit und daß ſie denen Liebes-Rei-
tzungen nicht laͤnger zu wiederſtehen vermoͤgend
ſey/ bekennet/ aber daneben mit einen keuſchen
Vertrauen ihre Ehre zu beobachten ernſtlich bit-
tet/ eher ſie ſich unterfangen ſolte/ dieſelbe durch
die geringſte Gewalt oder Mißbrauch des gegen
ſie gehabten Vertrauens zu kraͤncken. Da
hingegentheil eine unvernuͤnfftige Liebe entw e-
der den Begierden mit Gewalt/ oder durch ver-
fuͤhreriſche falſche Verſprechungen/ oder er-
dichtete Verzweiffelung zu ſtillen trachtet/ und
durch eine entweder wahrhafftige oder erdich-
tete Weigerung
nur brennender gemacht
wird/ auch ſich es fuͤr eine Schande achten wuͤr-
de/ wenn es dieſe gute Gelegenheit/ darinnen
man ſein Unvermoͤgen geſtehet/ ferneren Wie-
derſtand zu leiſten/ verabſaͤumen ſolte. Und
wer dieſe edlen allhier beſchriebenen Regungen
bey ſich niemahlen empfunden/ darff ſich nur ge-
wiß verſichern/ daß er noch ſehr tieff in der Beſtia-
litaͤt ſtecke.


57. Fer-
[185]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.

57.

Ferner/ ob du ſchon befindeſt/ daß du
erſt nach der Vereinigung der Seelen getrach-
tet/ auch bey der geliebten Perſon ſelbſt ein Ver-
langen zu dieſer letzten Liebes-Bezeugung ſpuͤreſt/
und dieſelbe ſelbſt als ein Zeichen eines voll-
kommenen Vertrauens begehreſt; unterſuche
ja noch weiter: Ob dir denn dieſe Liebes-Pro-
be von dieſer Perſon zubegehren nicht etwa
durch ein vernuͤnfftiges Geſetz verboten
ſey.
Denn wir haben dieſelbe oben nur in ſo
weit fuͤr vernuͤnfftig ausgegeben/ weil die wah-
re Liebe trachte der geliebten Perſon alles er-
denckliche Vergnuͤgen/ daß der Vernunfft nicht
zuwieder ſey/ zu geben. Nun iſt aber dasjeni-
ge/ was den Geſetzen zuwieder iſt unvernuͤnff-
tig und ſo wenig eine Liebe vor vernuͤnfftig zu-
halten iſt/ wenn die andeꝛe Perſon ihr Vergnuͤgen
darinnen ſuchte/ daß ich einen andern Menſchen
uͤmbraͤchte/ oder andere irraiſonable Thaten be-
ginge; ſo wenig kan man auch dieſe vor ver-
nuͤnfftig ausgeben/ die die Leibes-Vermiſchung
wieder die Geſetze als eine Liebes Probe ver-
langet. So haben wir auch erwehnet/ daß man
die Schwachheiten nicht mit unvernuͤnfftigen
Dingen
vermiſchen ſolle. Wenn die Geſetze
es verbieten/ ſo wird dir kein Geheimniß einer
allgemeinen menſchlichen Schwachheit/ ſondern
eines Schelm-Stuͤckes anvertrauet/ ja du gar
zu einẽ Mit-Conſorten deßelbigen gemacht; Und
eine vernuͤnfftige Liebe kan ſo dann nichts mehr
M 5thun/
[186]Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen
thun/ als durch andere unſchuldige Liebes-
Bezeugungen
den geneigten Willen zu er-
kennen zu geben/ die geliebte Perſon auch hier-
innen zu vergnuͤgen/ wenn es die Geſetze zulieſ-
ſen: auch den ſchwaͤchern Theil durch ein gutes
Exempel mit Liebe und Sanfftmuth ſtaͤrcken/
daß es nicht von dem Weg geſunder Vernunfft
auff einen Abweg gerathe.


58.

Endlich wenn dir auch ſchon durch die Ge-
ſetze nicht verbothen wird dieſe Liebes-Probe zu-
geben oder zu nehmen/ ſo muſtu dich doch auch
pruͤffẽ/ ob du bey derſelbẽ durch unflaͤtige Wor-
te
und Thaten dieſe Schwachheit mehr zu ver-
groͤſſern/ oder auff eine ſchamhafftige Weiſe
derſelben beyderſeits dich zu entledigen trachteſt.
Es iſt genug/ daß dieſe Schwachheit allen Men-
ſchen gemein iſt/ und dieſelbe iſt nur in ſo weit na-
tuͤrlich/ als man ſie bey dem gemeinen Triebe laͤſt.
Die Vermehrung derſelben uͤberſchreitet die
Graͤntzen der Vertrauligkeit/ und die beyderſeits
einander ſchuldige Hochachtung; und verwandelt
dieſelbe in eine viehiſche Gemeinmachung uñ Ge-
ringſchaͤtzigkeit/ zumahl wenn man bey Entledi-
gung dieſer Schwachheit ſelbige durch unſcham-
haffte Worte und Thaten ohne Noth wieder zu
erwecken ſucht.


59.

Dieſes alles ſaget uns nun wohl die ge-
funde Vernunfft von der Beſchaffenheit ver-
nuͤnfftiger Liebe; es iſt aber zu betauren/ daß
man den Unterſcheid der vernuͤnfftigen und un-
ver-
[187]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
vernuͤnfftigen Liebe mehr unter verheyratheten
und unverheyratheten Perſonen/ als unter dieſen
klaren und deutlichen Regeln ſuchet/ und ſolcher
geſtalt alle Liebe unverheyratheter Perſonen
unterſchiedenen Geſchlechts fuͤr unzulaͤßlich/ alle
Liebe aber Mannes und Weibes fuͤr zulaͤßlich
und vernuͤnfftig ausgiebet/ da doch unverheyra-
thete Perſonnen/ wenn ſie die Geſetze nicht uͤber-
treten/ und die Vrreinigung der Seelen haupt-
ſaͤchlich intendiren/ einander gar vernuͤnfftig lie-
ben koͤnnen/ von denen verheyratheten aber es lei-
der! die allgemeine Erfahrung bezeuget/ daß viel
Beſtialiſche Lieben von ihnen veruͤbet werden/
und ein vernuͤnfftiger Mann/ der die allgemeine
Boßheit ein wenig kennen lernen/ nicht ungegruͤn-
deten Verdacht/ uͤberkoͤmmet/ daß es zuweilen in
einen allgemeinen Huhrhauſe nicht ſo Beſtialiſch
als in denen Ehe-Betten vernuͤnfftig und tugend-
hafft ſeyn wollender Menſchen herzugehen pflege.


60.

Nachdem wir alſo bißhero verhoffentlich
deutlich gewieſen/ worinnen die vernuͤnfftige Liebe
des Menſchen beſtehe/ wird es nunmehro nicht
ſchwehr ſeyn/ darzuthun/ das die vernuͤnfftige
Liebe anderer Menſchen das eintzige Mittel
ſey zu der wahren Gemuͤths-Ruhe zu gelan-
gen.
Denn dieſes weiſet nicht alleine dasjeni-
ge/ was wir allbereit oben von der Natur des
Menſchen
bewieſen haben/ daß er ohne einer
friedlichen Geſellſchafft nicht vergnuͤgt leben koͤn-
ne/ und daß die Gemuͤths-Ruhe ſtetswehrend
neue
[188]Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen
neue Liebe wircke; ſondern es giebet es auch die
Beſchreibung der Gemůths-Ruhe genug zu
erkenen. Wir haben oben geſagt/ ſie ſey ein ru-
higes Vergnuͤgen ohne empfindliche Freude und
ohne Schmertzen. Nun ſage mir eine einige
Sache in der Welt/ darinnen du dieſes ruhige
Vergnůgen
antreffen koͤnteſt als in der vernuͤnff-
tigen Liebe anderer Menſchen. Was fuͤr ein
Vergnuͤgen iſt dieſer Liebe vorzuziehen? Was
iſt ruhiger? Alle Wolluſt/ Ehr- und Geld-Geitz
muͤſſen ſich wegen ihrer bey ſich fuͤhrenden Unru-
he verkriechen. Welche Liebe iſt ohne eine
hůpffende Freude/
als dieſe? Und was fuͤr ein
Vergnuͤgen iſt endlich ohne Schmertzen/ als
dieſe Liebe. Ja wo kan ein groͤſſerer Schmertzen
ſeyn/ als wo dieſe Liebe auffhoͤret/ und den Men-
ſchen in Haß und Unfriede ſetzet/ woraus die groͤ-
ſte Unruhe und folglich auch das groͤſte Ungluͤck
entſtehet.


61.

Ja/ ſagſtu/ ich habe aber gleichwol gehoͤ-
ret/ daß eine recht vernuͤnfftige Liebe nicht oh-
ne Unruhe/ Schmertzen/ und darauff erfolgen-
de empfindliche Freude ſeyn koͤnne; und daß die
Eyfferſucht und die kleine Zanckereyen die
Probe und der Zunder einer vernuͤnfftigen Liebe
ſey. Alle Liebes-Buͤcher/ die von vernuͤnfftigen
Autoren geſchrieben/ bezeugen ſolches/ und der
Mangel der Eyfferſucht iſt auch der Mangel der
Liebe. Wo aber Eyfferſucht iſt/ da iſt Unruhe
und
[189]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
und Schmertzen. Und die darauff folgende
Verſoͤhnung gibt eine empfindliche Freude.


63

Aber hierauff muſtu wiſſen/ daß wir in
unſere Sitten-Lehre keiner andern Richtſchnur
als der geſunden Vernunfft folgen/ und uns die
Autoritaͤt aller Liebes-Buͤcher nicht abſchre-
cken laſſen/ zumahlen da dieſe Autores faſt durch-
gehends in Beſchreibung vernuͤnfftiger Liebe
noch mehr Jrrthuͤmer begehen. Unvernuͤnffti-
ge Leute/ oder doch zum wenigſten die erſt an-
fangen nach der Gemuͤths-Ruhe zu trachten und
derer Liebe ſich nur erſt ein wenig aus der Be-
ſtialiſchen heraus zu reiſen trachtet/ lieben auff
dieſe unruhige Weiſe. Wo Eyfferſucht iſt/
da iſt Mißtrauen/ und wo Mißtrauen iſt/ da iſt
keine Vereinigung der Seelen/ auch folglich kei-
ne wahre Liebe. Ein vernuͤnfftiger Menſch iſt
nicht mißtrauiſch gegen ſich und ſeine Tugend/
denn ſonſt waͤre er nicht vernuͤnfftig/ auch nicht
gegen die Tugend der geliebten Perſon/ denn
ſonſt ſolte er ſie nicht æſtimiren/ und lieben. Wir
werden unten zu ſeiner Zeit mit mehrern davon
reden/ wenn wir die Natur der Eyfferſucht etwas
genauer unterſuchen werden.


63.

Und wenn gleich andere Gelehrte die
wahre Gluͤckſeeligkeit durch ein ander Mittel
geſucht haben/ ſo haben ſie ſich doch nur ande-
rer Worte bedienet/ oder aber ihre Meinung iſt
offenbahr falſch. Wir haben ſchon oben er-
wehnet/ daß wir uns nicht einbilden koͤnnen/ daß
jemah-
[190]Das 3. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen
jemahlen ein Philoſophus mit Ernſt die groͤſte
Gluͤckſeligkeit in einer viehiſchen Liebe der
Wolluſt
geſuchet habe/ ob man ſchon dieſes
dem Epicuro und Ariſtippo beymiſſet. Gleiches
koͤnnen wir auch von der Ehre und Reichthum
ſagen/ weil dieſe Dinge alleſamt kein ruhiges
Vergnuͤgen geben/ das ohne empfindliche Freu-
de und Schmertzen waͤre.


64.

So haben wir auch einen mercklichen
Vortheil/ wenn wir das Mittel die wahre
Gluͤckſeligkeit zu erlangen in der vernuͤnfftigen
Liebe ſuchen/ als wenn wir uns hierzu des dun-
ckeln und zweydeutigen Worts der Tugend
bedienet haͤtten. Denn wir duͤrffen uns ſo dann
nicht mit anderen Philoſophen herum beiſſen/ ob
wir dieſes groͤſte Gut per habitum oder actio-
nem virtutis
erlangen. Man muß Meiſter in
der Liebe ſeyn/ und die Liebe iſt nicht muͤßig/
ſondern ſie hat allezeit etwas zu thun. Zuge-
ſchweigen daß bey Beſchreibung der Tugend
die dabey erforderte Mittel-Maſſe theils ſehr
dunckel/ theils vielen Zancke unterworffen iſt.
Aber die Liebe iſt das rechte Maaß aller
Tugenden/
und ohne dieſelbe iſt die Tugend
tod. Ja wo Liebe iſt/ bekuͤmmere ich mich umb
keine Mittel-Maſſe. Z. e. wenn ich umb ein ei-
teles Ehr-Anſehen mich auch einer geringen Ge-
fahr/ der ich noch wohl gewachſen bin/ unter
werffe/ bin ich mehr tollkuͤhne als tapffer;
wenn ich aber aus Liebe meinen Freund zu ret-
ten
[191]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
ten/ mich in die groͤſte Gefahr begebe/ und mein
Leben druͤber laſſe/ bin ich nicht tollkuͤhne ſondern
großmuͤthig. Wenn ich umb meinen Freunde
gutes zuthun nach Ehren trachte/ bin ich nicht
Ehrgeitzig/ und wenn ich ihm zu liebe hohe
Ehrenſtellen anſchlage/ kan man mich keines
niedertraͤchtigen Gemuͤths beſchuldigen. Jn
der Liebe kommen alle Tugenden viel beſſer
zuſammen/ als nach der gemeinen Rede in der
Gerechtigkeit. Allzugerecht iſt ſchon unver-
nuͤnfftig; Aber man kan des Guten ſo wenig als
der vernuͤnfftigen Liebe zuviel thun.


65.

Aber ich hoͤre gleichſam von ferne einen
Heuchler/ wider dieſen unſern Lehr-Satz alſo
ſeufftzen: Du elender Menſch/ was gedenckeſt
du durch die vernuͤnfftige Liebe der Menſchen
die groͤſte Gluͤckſcligkeit zu erlangen. Die
Liebe Gottes iſt die groͤſte Gluͤckſeligkeit/
und ihr muß alle Liebe zu den Menſchen auff-
geopffert werden/ ſie mag noch ſo vernuͤnfftig
ſeyn als ſie wolle. Und wie wolte demnach die
Liebe der Menſchen der eintzige Wegzur Gluͤck-
ſeligkeit ſeyn?


66.

Jedoch iſt leichte hierauff zu antworten.
Wie koͤmmt es doch mein Freund/ daß du die
Liebe GOttes/ den du nicht ſieheſt/ ſo ſehr im
Munde fuͤhreſt/ und doch die Liebe des Men-
ſchen/ der deiner Liebe taͤglich bedarff/ gantz aus
deinen Hertzen verbanneſt. GOtt weiſet dich
nach den Trieb natuͤrlicher Vernunfft an die
Liebe
[192]Das 4. H. von der vernuͤnfftigen
Liebe der Menſchen/ weil du nach deiner na-
tuͤrlichen Erkaͤntniß keinen vernuͤnfftigern Got-
tesdienſt
finden kanſt/ als wenn du dein Hertze
mit andern Menſchen vereinigeſt. (wie wir
oben ſchon erwieſen haben) Aber dieweil deine
Boßheit von dieſer Liebe GOttes nichts wiſ-
ſen wil/ machſt du dir eine ſelbſterwehlte aus
aͤußerlichen Ceremonien/ oder aus ſpitzfin-
digen Gedancken
einer eitelen Gelahrheit/ die
dir nicht ſauer ankoͤmmt. Und ſo wenig als du
von der wahren Gemuͤths-Ruhe haſt/ oder die-
ſelbe erlangeſt/ ſo wenig wirſt du auch dieſelbe
durch dieſe deine Schein-Liebe Gottes erlan-
gen.


67.

Jch beſcheide mich ja. wohl/ daß eine
Liebe GOttes ſey/ der alle menſchliche Liebe
weichen muͤſſe. Aber die gehoͤret zur Morale
nicht/ ſondern muß aus einer hoͤhern Schule
hergeholet werden/ weil ſie uͤbernatuͤrlich iſt/
und nicht auff die zeitliche Gluͤckſeeligkeit dieſes
Lebens/ ſondern auff eine zukuͤnfftige/ davon die
menſchliche Vernunfft nach ihrer Swachheit
nichts weiß/ gerichtet iſt.


68.

Endlich ſo wird auch unſere Lehre von
denen wenig Anſtoß leiden/ die gar zu liebreich
ſeyn/ und in Erlangung der wahren Gluͤck-
ſeeligkeit der Liebe anderer Menſchen auch die
Liebe des Viehes an die Seite ſetzen wollen.
Wir haben ſchon oben geſagt/ daß die Liebe des
Viehes unvernuͤnfftig ſey/ wenn wir das Vieh
wie
[195[193]]Liebe anderer Menſchen uͤberhaupt.
wie die Menſchen lieben wollen. Dem Ochſen
gehoͤret ja wohl ſein Futter/ aber es gehoͤren ihm
auch Schlaͤge. Und der Gerechte erbarmet ſich
zwar auch ſeines Viehes/ weil er die wahre Gluͤck-
ſeeligkeit ſchon beſitzet. Denn die Liebe der
Menſchen iſt die Maaße der Liebe gegen das
Vieh/
und wer jene beſitzet/ hat auch dieſe. Was
iſt denn noͤthig/ daß wir die Mittel der wahren
Gluͤckſeeligkeit ohne Noth haͤuffen ſolten?


Das 5. Hauptſtuͤck.
Von der allgemeinen Liebe
aller Menſchen.


Jnnhalt.


  • Connexion n. 1. Es iſt zweyerley Liebe/ eine allgemeine
    und abſonderliche n. 2. weil die Gleichheit der Men-
    ſchen zweyerley iſt (1) eine allgemeine/ daß ſie alle Men-
    ſchen ſind n. 3. das iſt/ daß ſie gleichen Vortheilen/ und
    gleichen Schwachheiten der menſchlichen Natur un-
    terworffen ſind. n. 4. daß ſie einander gleichen Scha-
    den thun/ und gleichen Vortheil ſchaffen koͤnnen. n. 5.
    (2) eine abſonderlich/ die vielerley iſt. n. 6. Wenn
    alle Menſchen tugendhafft waͤren/ waͤre kein Unter-
    ſcheid unter der allgemeinen und abſonderlichen Liebe.
    n. 7. Jene gruͤndet ſich in der allgemeinen Gleichheit
    n. 8. und iſt viel mehr ein Mangel des Haſſes als eine
    Liebe. n. 9. Unter denen abſonderlichen Gleichheiten ſind
    etliche/ als die Gleichheit des Alters/ Standes u. ſ. w.
    ſo beſchaffen/ daß ſie oͤffters der Grund eines Haſſes
    ſind. n. 10. Die Ungleichhet des Geſchlechtes befoͤr-
    Ndert
    [196[194]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen.
    dert vielmehr die Liebe als daß ſie ſie hindern ſolte. n. 11.
    Daß die Gleichbeit der Gemuͤths-Neigungen bey
    zwey Wohlluͤſtigen/ Ehrgeitzigen nur auff das hoͤchſte
    eine Schein-Liebe verurſache. n. 12. 13. Die eintzige
    Gleichheit der Tugend-Neigung macht eine wahrhaff-
    tige Liebe. n. 14. Unterſcheid der allgemeinen und ab-
    ſonderlichen/ Schein- und wahrhafftigen Liebe. n.
    15. Unterſcheid zwiſchen der allgemeinen Liebe ei-
    nes Weiſen und unweiſen Mannes. n. 16. Die allge-
    meine Liebe iſt die Richt-Schnur der abſonderlichen
    n. 17. Man ſol keinen Menſchen haſſen/ ob man ſchon
    mit ſeinem Freunde auch deſſen Feinde gemein haben
    muß. n. 18. Man darff auch nicht einmahl die Jrren-
    den und Laſterhafften haſſen. n. 19. Die allgemeine
    Liebe beſtehet aus 5. Tugenden. n. 20. Deren (I) iſt
    die Leutſeeligkeit.n. 21. derer Dienſte ein jed-
    weder jederman erweiſen muß. n. 22. Unterſcheid
    zwiſchen ſolchen allgemeinen Dienſten und Guttha-
    ten n. 23. muß in den Umſtaͤnden/ die den Geber be-
    treffen/ geſucht werden. n. 24. Wegen der Leutſeelig-
    keit darff man nicht danckbahr ſeyn. n. 25. Man kan
    niemand zur Leutſeeligkeit/ Gutthaͤtigkeit und Danck-
    barkeit zwingen n. 26. wiewohl eine andere Urſache ſol-
    ches bey der Leutſeeligket n. 27. 28. eine andere bey
    der Gutthaͤtigkeit und Danckbarkeit zu wege bringet/
    n. 29. Liebe kan den geringſten Zwang nicht vertragen
    n. 30. Etliche Bezeugungen gehoͤren bald zu der Leut-
    ſeeligkeit/ bald zu der Gutthaͤtigkeit. n. 31 32. Jn was
    fuͤr Faͤllen man einen auſſerordentlich durch Zwangs-
    Mittel zur Leutſeeligkeit anhalten koͤnne. n. 33. 34. (II)
    Die Wahrhafftigkeit.n. 35. Die Nothwen-
    digkeit des Verſprechens unter den Menſchen n. 36.
    und daß man ſein Verſprechen halten muͤſſe. n. 37.
    Was eigentlich ein Verſprechen heiſſe. n. 38. Dasjeni-
    ge iſt kein Verſprechen/ worzu mich der andere durch
    oͤffentlich unrechte Gewalt gezwungen hat. n. 39.
    Unter-
    [197[195]]Liebe anderer Menſchen
    Unterſchiedene Meynungen hieruͤber und deren Be-
    antwortungen. n. 40.–45. Was eigenlich erfordert
    werde/ daß man dergleichen Verſprechen nicht halten
    duͤrffe. n. 46. Groſſer Unterſcheid zwiſchen einen Feind/
    Straſſen-Raͤubern und Auffruͤhrer. n. 47. Wir ſeynd
    auch Straſſen-Raͤuber auſſer dem Fall der uns ange-
    thanen Gewalt unſer Verſprechen zu halten ſchuldig.
    n. 48. Man muß auch Ketzern das Verſprechen halten.
    n. 49. 50. Was nicht in unſern Vermoͤgen iſt/ doͤrffen
    wir nicht halten. n. 51. Uuterſcheid zwiſchen den zwey-
    en bißher erzehlten und zweyen folgenden Tugenden.
    n. 52. (III) Die Beſcheidenheitn. 53. Keine Un-
    gleichheit unter denen Menſchen kan die Beſcheiden-
    heit auffheben. n. 54. Zwiſchen der Beſcheidenheit
    und Demuth iſt ein groſſer Unterſcheid. n. 55. Die
    Vernunfft weiß nichts von der Demuth. n. 56. (IV)
    Die Vertraͤgligkeit.n. 57. Jhre Nothwendig-
    keit/ allgemeiner Nutzen und Leichtigkeit. n. 58. (V)
    die Gedult.n. 59. wie dieſe von denen vier erſten
    Tugenden unterſchieden. n. 60. Nach denen Regeln
    der ſtrengen Gerechtigkeit kan der Beleidiger keine
    Gedult von uns prætendiren n. 61. auch nicht nach den
    Regeln der Vertraͤgligkeit/ Wahrhafftigkeit und Be-
    ſcheidenheit. n. 62. Sondern wir ſind nach den Regeln
    der Liebe darzu verbunden. n. 63. Und thut nichts zur
    Sache/ daß man anfuͤhret: Wer geliebet ſeyn wil muß
    erſt lieben. n. 64. Denn dieſes iſt mehr fuͤr uns n. 65.
    und uͤber dieſes ſind wir die Gedult nicht ſo wohl dem
    Beleydiger/ als dem gantzen menſchlichen Geſchlecht
    und uns ſelbſt ſchuldig. n. 66. Denn anfaͤnglich ver-
    bindet uns die allgemeine Gleichheit der menſchlichen
    Natur dazu. n. 67. 68. Hernach haͤlt man zwar insge-
    mein dafuͤr/ daß der Krieg das wahre Mittel ſey unſe-
    re Gemuͤths-Ruhe zu erhalten und Friede zu machen
    n. 69. aber es iſt offenbahr falſch/ beſage der Beſchrei-
    bung des Kriegs n. 70. eben ſo unvernuͤnfftig als
    N 2wenn
    [198[196]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
    wenn ich ſagen wolte/ der Haß ſey ein Mittel/ Liebe zu
    erwecken. n. 71. Kan die Liebe nicht Friede machen/
    ſo kan es der Krieg viel weniger. n. 72. Obj. wil er
    nicht ſo muß er. Jch wil ihn mit Gewalt zur raiſon
    bringen. n. 73. Resp. Vernunfft kan nicht durch Ge-
    walt znrechte gebracht werden. Liebe leidet keinen
    Zwang. Der andere haͤlt nicht ſtille/ ſondern braucht
    Gegen-Gewalt n. 74. und ſtehet alſo dahin/ ob deine
    oder ſeine Gewalt den Sieg davon tragen werde. n. 75.
    Der Sieg falle wohin er wil/ ſo macht er keinen Frie-
    de. n. 76. So wenig als die Balger durch die Duelle
    ſatisfaction
    kriegen. n. 77. Sieget der Beleidigte/
    was fuͤr Verſicherung hat er/ daß der andere werde
    Friede halten? weder ſein Verſprechen n. 78. noch
    ſein Furcht kan ihn verſichern. n. 79. noch ſein Tod.
    n. 80. Sieget der Beleydiger ſo heiſt es Patience par
    force n.
    81. alſo iſt es ja beſſer: Patience par amour.
    n.
    82. Derowegen iſt die Gedult das eintzige Mittel
    Friede zu erhalten. n. 83. indem ſo lange kein Krieg
    ſein kan als der Beleydigte Theil nicht bricht. n. 84.
    Obj. das iſt kein Friede/ darinnen ich mich alle Augen-
    blick befahren muß/ man werde meine Gemuͤths-Ru-
    he ſtoͤren/ und von kleinen Beleydigungen biß zu den
    groͤſten ſteigen. n. 85. Resp. n. 86. Durch Beraubung
    meins Vermoͤgens und Beſchimpffungen kan die Ge-
    muͤths-Ruhe nicht geſtoͤret werden. n. 87. 88. Wie-
    wohl die meiſten Kriege deshalben gefuͤhret werden
    n. 89. Hiernechſt treibet des Beleydigten Gedult den
    Beleydiger niemahls an mit ſeinen Beleydigungen
    ſortzufahren. n. 90. er ſey nun genereux n. 91. oder
    Ehrgeitzig n. 92. oder Geldgeitzig n. 93 oder Wohl-
    luͤſtig n. 94. oder grauſam n. 95. oder furchtſam. n.
    96. Denn ein Furchtſamer wird grauſam wenn man
    ihn beleydiget. n. 97. Furcht und Gedult iſt zweyer-
    ley. n. 98. Ein Gedultiger iſt nicht ſchuldig zu kuͤnffti-
    ge Beleydigungen auszuſtehen. n. 99. Und alſo iſt er
    auch wider irraiſonable Leute ſicher/ die wegen ſeiner
    Gedult
    [199[197]]Liebe anderer Menſchen.
    Gedult ihn kuͤnfftig beleydigen wollen. n. 100. Dieſe
    Lehre von der Gedult macht nicht alleine tugendhaffte/
    ſondern auch galante, artige und Weltkluge Leute. n.
    101. 102. Zu der Gedultkan man niemanden zwingen. n.
    103. Unterſcheid zwiſchen der Gerechtigkeit und Liebe.
    n. 104. Die Leutſeligkeit und Gedult ſind die vornehm-
    ſten Stuͤcke der Tugend. n 105. Wie ferne die Beſchei-
    denheit/ Wahrhafftigkeit und Vertraͤgligkeit zur Ge-
    rechtigkeit und Liebe gehoͤren. n. 106. 107. Andere Nah-
    men obiger 5. Tugenden. n. 108.

1.


NAchdem wir im vorhergehenden Haupt-
ſtuͤck von der vernuͤnfftigen Liebe ande-
rer Menſchen uͤberhaupt zur Gnuͤge ge-
redet/ muͤſſen wir auch nunmehro die abſonder-
lichen
Arten dieſer vernuͤnfftigen Liebe/ oder viel-
mehr derſelben weſentliche Stuͤcke betrachten.


2.

So iſt demnach anfaͤnglich die vernuͤnffti-
ge Liebe anderer Menſchen zweyerley: Die all-
gemeine
und die abſonderliche Liebe. Jene
gehet auff alle Menſchen/ dieſe auff etliche inſon-
derheit. Beyde ſind vernuͤnfftig/ und muͤſſen
dannenhero in der Vereinigung des Willens be-
ſtehen/ und weil alle Liebe auff eine Gleichheit
ſich gruͤndet/ ſo muß auch bey beyden eine Gleich-
heit der Gemuͤther præſupponiret werden. Die-
weil aber nicht nur die Gleichheit/ ſondern auch
die daraus entſtehende Vereinigung der Ge-
muͤther von unterſchiedner Natur und Graden
iſt; Als iſt auch zwiſchen dieſen beyderley Liebes-
Arten ein mercklicher Unterſcheid.


N 33. Denn
[200[198]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen

3.

Denn es iſt anfaͤnglich eine allgemeine
Gleichheit/
die man bey allen Menſchen antrifft/
ſie moͤgen ſeyn von was Stand/ Alter und Na-
tion ſie wollen. Dieſe Gleichheit beſtehet
in der menſchlichen Natur/ und kan durch kei-
ne Ungleichheit/ ſie moͤge Nahmen haben wie ſie
wolle/ auffgehoben werden. Sondern bindet den
maͤchtigſten Koͤnig und den aͤrmſten Bettler/
den groͤſten Heiligen und den verdamteſten Ke-
tzer/
den gelehrteſten Mann und den unver-
ſtaͤndigſten
Bauer zuſammen/ und verdienet
wohl/ daß wir ſehen/ aus was fuͤr Theilen dieſe
Gleichheit beſtehet.


4.

Alle Menſchen werden auff gleiche Weiſe
gezeuget und gebohren/ ſie koͤnnen ohne Eſſen
und Trincken/ Kleider und Wohnung ihr Leben
nicht erhalten;
der Uberfluß der Speiſe und
Tranck wird bey einem wie bey dem andern zu
ftinckenden Unflath. Sie ſind alle denen
Kranckheiten unterworffen und muͤſſen ſter-
ben/
und der Tod machet ſie alle gleich. Jſt
gleich einer verſtaͤndiger und tugendhaffter als
der andere/ ſo haben ſie doch alle gleichecapaci-
taͤt weiſe und tugendhafft zu werden; und zu glei-
cher Weiſe als ein Weiſer in ſeiner Weißheit ſich
vergehen oder derſelben durch Kranckheit berau-
bet werden kan/ ein tugendhaffter aber vielen
Schwachheiten unterworffen iſt; alſo kan auch
ein Unweiſer und Laſterhaffter ſich beſſern. Die
goͤttliche Vorſehung welches unvernuͤnfftige Leu-
te
[201[199]]Liebe anderer Menſchen.
te das blinde Gluͤck nennen/ ſpielet mit ihnen
auff gleiche Weiſe/ und erhebet bald einen Bett-
ler/ daß er reich und maͤchtig wird/ bald aber ſtuͤr-
tzet ſie den maͤchtigſten Koͤnig in die aͤußerſte Ar-
muth und Verachtung. Endlich haben alle Men-
ſchen weil ſie gleicher Weiſe unter Gott ſind/ und
der elendeſte Menſch ſich von Gott gleicher Lie-
be
als der vornehmſte zu verſehen hat; ſich auch
gleiches Recht bey ihm zu verſichern/ und muß
fuͤr dieſem Thron auch der allerhochmuͤthigſte
fuͤr die geringſte Beleidigung/ die er dem allerge-
ringſten Menſchen anthut/ gleiche Rechen-
ſchafft
geben/ und gleicher Straffe gewaͤrtig
ſeyn.


5.

Wilſtu noch dieſe Gleichheit beyfuͤgen/ daß
alle Menſchen verderbet ſind/ und daß der arm-
ſeligſte/ kraͤnckeſte tummeſte Menſch/ den vortref-
lichſten/ ſtaͤrckeſten und verſchlagenſten/ wo nicht
mit offenbahrer Gewalt/ doch mit Liſt/ den groͤ-
ſten Schaden
thun koͤnne; kan ich es zwar wohl
leiden; aber dieſe Gleichheit gehoͤret nicht hieher/
weil ſie keine Urſache der Liebe/ ſondern des
Haſſes iſt. Erwege vielmehr/ wenn du noch et-
was hinzu ſetzen wilſt/ daß in Gegentheil auch der
elendeſte Menſch zuweilen dem maͤchtigſten und
vortrefflichſten Manne die groͤſten Dienſte
thun kan.


6.

Neben dieſer allgemeinen Gleichheit der
Menſchen gibt es noch eine andere abſonderli-
che/
die nicht bey allen Menſchen/ ſondern nur
N 4bey
[202[200]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
bey etlichen anzutreffen iſt. Zwar dieſelbe iſt
ſehr unterſchiedlich und von vielerley Art. Eine
andere Gleichheit iſt die Gleichheit des Alters
des Geſchlechts/ des Standes/ des Vermoͤ-
gens/
der Profoſſion, der Landes-Art/ der Ge-
muͤths-Neigungen/
des Verſtandes u. ſ. w.
doch iſt keine unter allen ſo ſehr und wohl in der
Natur gegruͤndet/ als die Gleichheit derer/
die nach der wahren Weißheit und Tugond/
oder nach der groͤſten Gluͤckſeligkeit trach-
ten/
oder die dieſelbe ſchon wuͤrcklich beſitzen/
weil GOtt den Menſchen zu dieſen Ende gemacht
hat/ und alſo ſein warhafftiges Weſen und Na-
tur darinnen beſtehet.


7.

Waͤren alle Menſchen in dieſem letzten
Stuͤck einander gleich/ wie ſie billig ſeyn ſolten/
ſo waͤre kein Unterſcheid zwiſchen der vernuͤnffti-
gen allgemeinen und abſonderlichen Liebe/ ſon-
dern die gantze Welt/ waͤre ein Hertz und eine
Seele zuſammen/ und beſaͤſſen alſo insgeſambt
die wahre Gluͤckſeligkeit. Nachdem aber leider
offenbahr/ daß in dieſem Stuͤck die Menſchen
ungleich/ und die meiſten einer naͤrriſchen Weiß
heit ergeben ſind/ und ihr Gemuͤthe in Unruhe ſe-
tzen/ die wenigſten aber eine rechtſchaffene Be-
gierde zur wahren Gluͤckſeligkeit haben; als hat
nothwendig ein Unterſchied unter der Verei-
nigung
der Gemuͤther bey der allgemeinen und
abſonderlichen
Liebe entſtehen muͤſſen.


8. Jn
[203[201]]Liebe der Menſchen.

8.

Jn der allgemeinen Gleichheit wie wir
ſie erklaͤret haben/ gruͤndet ſich die allgemeine
Liebe/
die alle Menſchen mit einander in ſo weit
verbindet/ daß ſie einander gleichmaͤßigtracti-
ren/ und einer dem andern/ er ſey wer er wolle/
das jenige erweiſe/ was er in gleichen Faͤllen von
ihm erwieſen haben wolte.


9.

Gleichwie aber dieſes gantze Capitel zei-
gen wird/ daß dieſe Gleichheit der Gemuͤther ſich
nicht ſehr weit erſtrecke/ ſondern der geringſte
Grad derſelben ſey/ auch mehr ein Mangel des
Haſſes
und Vermeidung der Gemuͤths-Unruhe
als eine wahre Gemuͤths-Ruhe und Liebe zu
nennen ſey/ indem ſelbige auff gewiſſe Art auch
unter denen unvernuͤnfftigen Thieren anzutreffen
iſt; Alſo weiſet auch die taͤgliche Erfahrung/ daß
die abſonderlichen Gleichheiten unter denen
Menſchen eine viel ſtaͤrckere Vereinigung ver-
urſache/ die viel ſtaͤrckere Wirckung hat/ und
alſo den Titel der Liede in dieſen Anſehen mehr
verdienet.


10.

Jedoch iſt unter denen obenangefuͤhrten
abſonderlichen Gleichheiten der Menſchen auch
in Betrachtung derer daraus herruͤhrenden Ver-
einigungen ein mercklicher Unterſcheid. Die
Gleichheit des Alters/ Standes/ Vermoͤ-
gens/
der Profeſſion, der Landes-Art/ des Ver-
ſtandes/
wenn ſie nicht mit der Gleichheit der
Tugend und Weißheit vergeſellſchafftet ſind/ ſind
entweder nur der Grund einer Schein Liebe/
N 5oder
[204[202]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
oder wohl ja ſo leichte der Grund eines unge-
gruͤndeten Haſſes
als Liebe.


11.

Was das Geſchlecht betrifft/ ſo iſt bil-
lig zu bemercken/ daß die Ungleichheit deſſel-
ben eintzig und alleine unter denen Ungleichhei-
ten diejenige iſt/ die nicht nur an der Liebe nicht
hinderlich iſt/ ſondern vielmehr dieſelbe verurſa-
chet/ oder in einen groͤſſern Grad zum wenigſten
zu wege bringet. Nicht nur unter Leuten die ein-
ander unvernuͤnfftig lieben/ ſondern auch un-
ter unvernuͤnfftigen Menſchen; indem nicht al-
leine dieſe Zuneigung/ die der Menſch mit denen
Thieren gemein hat/ Leib mit Leib zu vermengen/
ſolches zu wege bringet/ ſondern auch/ wenn man
von derſelben abſtrahiret/ viel ein groͤſſeres Ver-
trauen/ Ehrfurcht/
und Weichhertzigkeit
unter Perſonen beyderley Geſchlechts/ als unter
denen von einerley Geſchlechte durch einen natuͤr-
lichen Trieb zu ſeyn pfleget. Daß man alſo
hieraus klaͤrlich ſiehet/ man muͤſſe die Gleich-
heit
die der Grund der Liebe iſt nicht ſo wohl
in aͤußerlichen Dingen ſuchen/ als wie das Ge-
ſchlechte iſt/ als in der innerlichen Zuneigung/
welche der Natur nach bey ungleichen Geſchlech-
te gleich iſt.


12.

Endlich ſo viel die Gleichheit der Ge-
muͤths-Neigungen
betrifft. So lieben ſich
zwar wolluͤſtige und Ehrgeitzige Gemuͤther
den Scheine nach unter einander/ aber Geld-
geitzige
lieben niemand/ und werden wieder von
nie-
[205[203]]Liebe anderer Menſchen.
niemand/ auch nicht von denen/ die ihn gleich
ſind/ nur zum Scheine geliebet. Die Urſache wol-
len wir ſchon zu ſeiner Zeit bey Erklaͤrung dieſer
Gemuͤths-Neigungen eroͤrtern.


13.

Jedoch iſt es unmoͤglich/ daß unter Wol-
luͤſtigen und Ehrgeitzigen eine rechtſchaffene be-
ſtaͤndige Liebe und Vereinigung der Gemuͤther
ſeyn koͤnne/ ſondern es iſt nur eine Schein-Lie-
be/
die ſich anſtellet/ als wenn ſie der geliebten
Perſon vergnuͤgen ſuchte/ in der That aber ihr
ſelbſt eigenes zu wege zu bringen trachtet/ und alſo
eines das andere zu hintergehen bemuͤhet iſt.


14.

Jm Gegentheil iſt es unmoͤglich/ daß die
Gleichheit der Tugend-Neigung nicht ſolte
eine beſtaͤndige Liebe machen/ weil ſie die Men-
ſchen antreibet/ auff beyden Theilen umb die
Wette eines das andere vernuͤnfftiger Weiſe zu
vergnuͤgen/ welches die wahre Vereinigung der
Seele iſt/ und alſo iſt dieſe Gleichheit eintzig und
alleine der Grund der abſonderlichen Liebe/ denn
es iſt ohnmoͤglich/ daß tugendhaffte Leute
einander haſſen koͤnnen.
So gar daß wenn
dieſe Gleichheit verhanden/ die andern Ungleich-
heiten/ des Alters/ Standes/ Vermoͤgens/ der
Profeſſion, der Landes-Art/ des Verſtandes/ und
des Mols/ Nationen an wahrer auffrichtiger
Freundſchafft nichts hindern.


15.

Und alſo beſtehet die Vereinigung der
Gemuͤther in der abſonderlichen Liebe/ ſo fer-
ne dieſelbe von der allgemeinen entſchieden iſt/
darin-
[206[204]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
darinnen/ daß man ſich in dieſer bemuͤhet/ ein-
ander gutes zu thun/ da man in jener nur beſor-
get waͤre einander nicht zu ſchaden und wider-
umb beſtehet der Unterſcheid zwiſchen der abſon-
derlichen warhafftigen und Schein-Liebe
darinnen/ daß in jener die Gutthaten wahr-
hafftig/
in dieſer aber dieſelbigen nur Schein-
Gutthaten
ſind/ welches wir unten ſchon zu ſei-
ner Zeit mit mehrern erklaͤren wollen.


16.

Jedoch wird es nicht vergebens ſeyn/ wenn
wir auch einen Unterſchied in der allgemeinen
Liebe zwiſchen der Schein-Liebe und warhaff-
tigen Liebe
machen. Ein Unweiſer thut des-
wegen allen Menſchen insgemein auch dem
Scheine nach nicht viel zu gute/ weil er nicht
von allen einen Vortheil hofft/ oder weil er befin-
det/ daß ihm nicht alle anſtehen wegen unterſchie-
dener Ungleichheiten. Aber ein Weiſer/ der kei-
nen Vortheil bey andern ſucht/ waͤre bereit allen
gutes zu thun/ und ſich mit allen rechtſchaffen
zu vereinigen/ wenn man nur ſeine Liebe anneh-
men wolte und nicht von ſich ſtieſſe/ oder wenn
man nur nicht von ihm an ſtatt wahrer Guttha-
ten unnuͤtzliche Dinge begehrte.


17.

Ob nun aber wohl die abſonderliche ver-
nuͤnfftige Liebe wegen gedachter Urſachen viel
vortrefflicher iſt als die allgemeine Liebe/ in
dem ſie dieſe recht vollkommen machet/ und die
wahre Gemuͤths-Ruhe zuwege bringet/ welches
der Menſche in der allgemeinen Liebe nicht finden
kan.
[207[205]]Liebe anderer Menſchen.
kan. So kan man doch die allgemeine Liebe auff
gewiſſe Maaſſe eine Richt-Schnur der abſon-
derlichen
Liebe nennen/ ſo ferne dieſe der erſten
nicht darff zuwieder ſeyn/ in dem die erſte gleich-
ſam der Weg zu der andern iſt/ und derjenige der
andere Menſchen haſſet/ nicht capabel iſt andere
zu lieben/ weil der Haß eines einigen Menſchen
der menſchlichen Natur zuwieder iſt/ ſintemahl
keine Ungleichheit des menſchlichen Ge-
ſchlechts ihrer Natur nach ſo viel wuͤrcken
kan/ daß ein Menſch den andern deswegen
haſſen ſolte.


18.

Es iſt ja wohl andem/ daß die abſonder-
liche Freundſchafft die Gemuͤther und Willen
auff das genaueſte verbindet/ und ein Hertz und
eine Seele aus zweyen Leibern macht; und
dannenhero ſcheinet es auch/ daß ich mit mei-
nem Freunde auch ſeine Freunde und Feinde
gemein haben muͤſſe.
Aber daraus ſolget
noch lange nicht/ daß ich andere Menſchen
haben muͤſte.
Denn mein Freund kan wohl
Feinde haben/ aber er muß deswegen keines
Menſchen Feind ſeyn/ weil er/ wie wir bald mit
mehrern erweiſen wollen/ ſeine Feinde mit Ge-
dult uͤberwinder muß.


19.

Wie? ſprichſt du: Sol denn zum wenig-
ſten der Jrrthum und Laſter nicht eine ſolche
groſſe Ungleichheit verurſachen/ daß ein wei-
ſer und tugendhaffter Mann laſterhaffte und ir-
rende Leute nicht haſſen ſolte? Allerdings nicht
mein
[208[206]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
mein Freund. Haſt du ſchon vergeſſen/ daß wir
erwehnet/ die Gleichheit der menſchlichen Natur
in der ſich die allgemeine Liebe gruͤndet/ koͤnne
durch keine Ungleichheit auffgehoben werden.
Haſt du des gemeinen Sprichworts vergeſſen:
der Laſter Feind/ der Perſon Freund. Ein wei-
ſer Mann erzuͤrnet ſich nicht uͤber die Jrrenden
und Laſterhafften/ ſondern er erbarmet ſich
vielmehr uͤber ſie und betauret ſie/ weil er ſiehet/
daß ſie ſich das groͤſte Ungluͤck auff den Halß
laden.


20.

Nun wollen wir die abſonderliche Liebe
biß zu ſeiner Zeit ein wenig ausſetzen/ und die all-
gemeine Liebe
etwas genauer betrachten. Es
begreifft aber dieſelbe eigentlich fůnff andere
Tugenden unter ſich; die Leutſeeligkeit/
Wahrhafftigkeit/ Beſcheidenheit/ Ver-
traͤgligkeit/ Gedult.
Alle fuͤnffe kommen da-
rinnen mit einander ůberein/
weil ſie ſich in
der allgemeinen menſchlichen Natur gruͤnden/
und man dieſelbigen gegen jederman erweiſen
muß/ gleich wie man dieſelbigen wider von jeder-
man gewaͤrtig iſt. So beſtehen auch dieſe Tu-
genden alle fuͤnffe mehr darinnen/ daß man an-
dern nichts zu leide thue oder etwas hartes er-
weiſe/ als in Bezeugung einer gutthaͤtigen Liebe.


21.

Die Leutſeeligkeit iſt eine Tugend/ die
den Menſchen antreibet/ allen Menſchen
die deſſen von noͤthen haben/ mit allen de-
nen Dingen/ die er nicht hoch
æſtimiret/ oder
derer
[209[207]]Liebe anderer Menſchen.
derer Mittheilung ihm nicht ſauer ankoͤmmt
beyzuſtehen/ und einen Gefallen zu erwei-
ſen.
Z. e. wenn ich vergoͤnne/ daß man bey mei-
nem Liecht ein ander Liecht anzuͤnde/ aus meinen
Brunnen Waſſer ſchoͤpffe/ in meinen Garten
ſpatzieren gehe/ daß ich mein Buch einem andern
leihe/ einem Jrrenden den rechten Weg zeige/
daß ich von meinen Uberftuß kleine Allmoſen ge-
be/ u. ſ. w.


22.

Alle dieſe Dinge ſind ſo beſchaffeu/ daß
ein jeder Menſch/ er ſey ſo maͤchtig/ tugendhafft/
weiſe/ vermoͤgend als er wolle/ dieſelben oder de-
rer etliche von noͤthen habe; und ob es ſchon ge-
wiß iſt/ daß er derſelbigen in der That von allen
Menſchen nicht erfordern werde/ oder daß alle
Menſchen in der That dieſelbigen nicht von ihm
fordern werden/ ſo weiß er doch nicht wer dieje-
nigen kuͤnfftig ſeyn moͤchten/ derer Huͤlffe er/ oder
ſie der ſeinigen in dieſen Stuͤck von noͤthen haben
moͤchten; maſſen denn der allerelendeſte Bet-
ler oder ein Kerl der jetzo in
Japaniſt/ in et-
lichen Jahren heraus kommen und mir einen der-
gleichen gefallen erweiſen kan. Und dannen-
hero erfordert die Gleichheit der menſchlichen
Duͤrfftigkeit/ daß ein jeder einem jeden derglei-
chen Dienſte erweiſe.


23.

Es ſind aber dieſelbigen an ſich ſelbſten
ſo beſchaffen/ daß weil ſie in denen Dingen be-
ſtehen/ die man nicht hoch achtet/ oder die einem
nicht ſauer ankommen/ man auch die Leiſtung
der-
[210[208]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
derſelbigen nicht fuͤr Gutthaten oder Liebes-
Dienſte
ausgeben kan/ ſondern man wuͤrde den-
jenigen/ der dieſelbigen andern nicht erweiſen
wolte/ ob man ihn ſchon fuͤr keinen ungerech-
ten
und beſtraffungs wuͤrdigen Mann ſchelten
koͤnte/ dennoch gewiß fuͤr einen harten/ unbarm-
hertzigen
Unmenſchen halten.


24.

So beſtehet demnach der Unterſcheid un-
ter ſolchen allgemeinen Dienſten und denen
Gutthaten nicht in der Groͤſſe oder Kleinigkeit
des Nutzens/ den die Perſon davon hat/ der man
dieſelbigen leiſtet/ ſondern bloß in denen Umb-
ſtaͤnden/ die den Geber betreffen/ ob er dieſelbi-
ge mit ſeiner Beſchwerung thue oder nicht.
Alſo wenn man einen Menſchen/ den die Fluth
an das Land geſchmiffen umbſtuͤrtzet/ daß das
Waſſer wider von ihm gehen/ und er wider zu ſich
ſelbſt kommen kan/ iſt es keine Gutthat/ ob man
ſchon dadurch einen Menſchen das Leben er-
haͤlt. Wenn man aber mit Gefahr ſeines eige-
nen Lebens in das Waſſer ſpringt den andern
zu retten/ ſo gehoͤret es billich unter die Guttha-
ten.
Wiederum/ wenn ich mit Hindanſetzung
meiner noͤthigen Geſchaͤffte
einem Jrrenden
den Weg zeige/ oder wenn ein armer dem an-
dern auch nur einen Scherff Allmoſen giebt/ iſt
es kein gemein officiun humanitatis, ſondern ei-
ne Gutthat.


25.

Hieraus flieſſet ein anderer Unterſchied/
daß gleichwie bey der abſonderlichen Liebe aus
Lei-
[211[209]]Liebe aller Menſchen.
Leiſtung der Gutthaten bey demjenigen der die-
ſelben empfaͤhet/ eine andere Tugend/ in Danck-
barkeit
entſtehet: alſo man wegen allgemeꝛner
Dienſte
der Leutſeeligkeit/ von dem andern kei-
ne Danckbarkeit
fordern koͤnne/ eben deshal-
ben/ weil uns dieſelben nicht ſauer ankommen
ſind.


26.

Hierinnen aber iſt eine Gleichheit zwiſchen
denen Officiis humanitatis und denen Guttha-
ten/ daß man weder zu jenen noch zu dieſen/ ſo
wohl auch zu der Danckbarkeit keinen Menſchẽ
zu zwingen pflege.
Ja daß wenn man gleich zu
der Leutſeeligkeit/ Gutthaͤtigkeit und Danck-
barkeit
jemand zwingen wolte/ (wie denn auff
gewiſſe Maaſſe in denen Geſellſchafften/ darinnen
ein Ober-Herr iſt/ dieſer ſeine Unteren gar wohl
zu denen Leiſtungen dieſer Tugenden nach Gele-
genheit der Sachen und Umbſtaͤnde zwingen kan)
dennoch ſo dann die aus einen Zwang herruͤhren-
de Leiſtungen/ eben deswegen weil ſie nicht frey-
willig ſondern gezwungen geſchehen den Nahmen
der Leutſeeligkeit/ Gutthaͤtigkeit und Danckbar-
keit verliehren wuͤrden.


27.

Jedoch iſt hiebey nicht zu laͤugnen/ daß die
Urſachen/ wegen welcher man nach Anleitung
der geſunden Vernunfft niemand zu einer von die-
ſen dreyen Tugenden zwingen kan/ dennoch unter-
ſchieden ſeyn/ und ſolcher geſtalt dennoch ein
mercklicher Unterſcheid zwiſchen der Leutſee-
ligkeit
an einem und am andern Theile zwiſchen
Oder
[212[210]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
der Gutthaͤtigkeit und derſelben correſpondi-
renden Danckbarkeit billig zu beobachten ſey.


28.

Denn was die Leutſeeligkeit betrifft/ ſo
haben wir oben erwehnet/ daß die allgemeine Lie-
be mehr ein Mangel eines Haſſes/ als eine wahr-
hafftige Liebe zu nennen ſey. Und weil ſie dem-
nach in nichtes mehr als in ſchlechten und gemei-
nen Bezeigungen beſtehet/ die einem nicht ſauer
ankommen/ oder die ohne einigen Nachtheil unſe-
rer Guͤter geleiſtet werden koͤnnen/ und ſich in der
allgemeinen Gleichheit der menſchlichen Natur
gruͤnden/ auch von allen und jeden Menſchen zu
erwarten ſtehen/ ſo hat eben dieſe Gleichheit und
Geringſchaͤtzigkeit derer Dienſte in Anſehen
des Gebers erfordert/ daß man zu denenſelben
niemand zwingen ſolle/ damit dieſe allgemeine Lie-
be deſtomehr dadurch erkennet und bey andern
gleichergeſtalt angefeuret werde/ wenn man der
Schamhafftigkeit anderer Menſchen einig und
alleine die Bezeugungen der Leutſeeligkeit uͤber-
lieſſe. Ja es wuͤrde auch eben dieſe Gleichheit
der menſchlichen Natur groͤblich verletzet werden/
wenn man einigen Menſchen darzu zwingen wol-
te. Man erwartet ja dieſelbigen ohne Unter-
ſcheid von allen Menſchen/ indem ſie alle wegen
ihrer menſchlichen Natur darzu verpflichtet ſind.
Wolte man aber nun unter dem gantzen menſch-
lichen Geſehlechte nach ſeinem Gefallen einen
Menſchen fuͤr den andern ſich ausſehen an den
man ſich zu halten gedaͤchte/ und wolte von ihm
durch
[213[211]]Liebe aller Menſchen.
durch Zwang dieſe Leutſeeligkeit ohne eine abſon-
derliche Zuſage/ oder eine andere ſpecial Urſache
erpreſſen/ ſo wuͤrde man ja gantz offenbarlich den-
ſelben aus dem Stand der Gleichheit dadurch ſe-
tzen/ und ihn andern Menſchen ungleich ma-
chen.


29.

Was aber die Gutthaͤtigkeit und
Danckbarkeit betrifft/ ſo weiſet das Weſen einer
wahrhafftigen Liebe/ zu welcher auch dieſelbigen
gehoͤren/ gantz klar und deutlich/ daß ob ſchon
dieſelbige nur auff diejenigen ihr Abſehen
richtet/ die in gegenwaͤrtigen verderbten Zuſtande
andern ungleich ſind/ und mit denen Liebenden fuͤr
andern nach der wahren Gemuͤths-Ruhe trach-
ten/ auch ſolcheꝛgeſtalt die im voꝛigen Paragrapho
angefuͤhrte Gleichheit hieher nicht gebracht wer-
den kan; dennoch auch hierinnen kein Zwang zu-
gelaſſen werden koͤnne/ weil ohnmoͤglich eine
Liebe ſeyn kan/ wo auch nur der geringſte
Zwang vorgehet.


30.

Solte ja jemand dieſer Satz uͤber-
Verhoffen etwas frembde oder zwetffelhaffte
vorkommen/ der wolle nur auff dieſe Erfahrung
ſeines eigenen Hertzens ein wenig zu ruͤcke gehen.
Hat er jemahlen geliebet/ und nur im geringſten
Grad eine vernuͤnfftige Weichhertzigkeit darbey
befunden/ ſo wird er bekennen muͤſſen/ daß gleich
wie bey ihm auch nur die ſchlechteſte Liebes-
Bezeigung
ein groſſes Vergnuͤgen erwecket/
wenn er erkennet/ daß ſelbige aus einen guten
O 2Hertzen
[214[212]]Das 5. Hauptſt. von derallgemeinen
Hertzen hergeruͤhret/ alſo auch in Gegentheil die
nachdruͤcklichſtenCareſſen mehr einen Eckel als
Vergnuͤgen verurſachet/ wenn er wargenommen
daß dieſelbigen auff ein particular Intereſſe der
Perſon/ die ihn dieſelbigen erwieſen/ gezielet/ ge-
ſchweige denn wenn er haͤtte ſehen ſollen/ daß die-
ſelbigen ihm mit einen Wiederwillen oder gar
aus Zwang gegeben worden/ worvon wir viel-
leicht unten mit mehren Gelegenheit zu reden fin-
den werden.


31.

So wird es auch fuͤglicher geſchehen/ daß
wir biß dahin eine andere Betrachtung verſpa-
ren. Daß es nehmlich gewiſſe Bezeugungen
gebe/ die nach Gelegenheit der Umbſtaͤnde bald zu
denen allgemeinen Liebes-Bezeigungen/ bald a-
ber zu abſonderlichen Gutthaten gebracht wer-
den koͤnnen/ nachdem nemlich dieſelben entweder
ohne Verdruß und Muͤhe des Gebers oder mit
derſelben vergeſellſchafftet ſeyn.


32.

Hieher gehoͤren unterſchiedene Fragen die
von denen Rechts-Lehrern pflegen eroͤrtert zu wer-
den. Ob dieſes fuͤr eine Entziehung der allge-
meinen Liebes-Bezeigungen zu halten ſey/ wenn
einer dem andern (1) den freyen Durchzug durch
ſein Land/ oder (2) die freye Durch fuhre aller-
hand Kauff-Waaren/ oder (3) die Erlaſſung der
ſonſten gewoͤhnlichen Zoͤlle/ oder (4) die Anlaͤn-
dung an ſein Land/ oder (5) die Beherbergung/
oder (6) die voͤllige Auffnahme auch derer die aus
ihrem Lande durch Ungluͤck ſich weg zu machen ge-
noͤthi-
[115[113]]Liebe aller Menſchen.
noͤthiget ſind/ oder (7) die Gemeinſchafft im Han-
del und Wandel/ oder (8) die freye Heyrath ver-
ſaget? worvon wir auch allbereit anderswo un-
ſere Meinung etwas ausfuͤhrlicher von uns ge-
ſchrieben.


33.

Vor jetzo wollen wir nur noch dieſe An-
merckung beyfuͤgen/ daß gleichwohl etliche/ wie
wohl gar rare Faͤlle entſtehen koͤnnen/ in welchen
ein Menſch auch durch Zwang-Mittel dahin
gehalten werden kan/ daß er die allgemeinen Lie-
bes-Bezeigungen anderen Menſchen erweiſe/
wenn nemlich folgende Umſtaͤnde vorhanden
ſind. (1) Wenn des andern ſeine Beduͤrffniß
ſo groß
iſt/ daß er ohne Leiſtung dieſer Leutſelig-
keit verderben wuͤrde/ (2) daß er dieſelbe von kei-
nem andern Menſchen/ ſo wohl als von uns zu
hoffen hat/ und (3) daß wir nicht in gleicher
Noth
mit ihm ſtecken.


34.

Z. e. Wenn zwey Menſchen die einander
nichts anders als wegen der allgemeinen menſch-
lichen Natur verwand ſind/ durch Ungluͤck an ei-
nen wuͤſten Orth verſchmiſſen werden/ und einer
davon von ſeinem eigenen Gute ſo viel aus dem
Schiffbruch rettet/ dadurch er ſo wohl ſein eigen
als des andern ſein Leben erhalten kan.


35.

Laſſet uns dannenhero nunmehro zur
Warhafftigkeit als der andern Tugend der
allgemeinen Liebe wenden. Durch die Wahr-
hafftigkeit verſtehe ich allhier diejenige Tugend/
nach welcher wir ſchuldig ſind das Verſpre-
O 3chen
[216[214]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
chen/ das wir allen Menſchen/ ſie moͤgen ſeyn
wer ſie wollen/ gethan haben/ treu und un-
verbruͤchlich zu halten.


36.

Es iſt leicht abzunehmen/ daß das menſch-
liche Geſchlecht ohne dieſe Tugend/ und das Ver-
ſprechen/ welches dieſelbe præſupponiret/ nicht
hat/ die allgemeine Gemuͤths-Ruhe erhalten
koͤnnen/ weil die Lutſeligkeit/ und die daher entſte-
hende Dienſt-Bezeigungen nicht alleine zulaͤng-
lich iſt/ daß die Menſchen alle diejenigen Dinge
derer ſie von einander benoͤthiget ſind/ vermittelſt
derſelben erweiſen koͤnnen/ weil nicht allein der Zu-
ſtand des jenigen von dem man etwas begehret/
zum oͤfftern dergeſtalt beſchaffen iſt/ daß er entwe-
der die Sache/ oder den Dienſt/ den man von ihm
verlanget/ oder zum wenigſten den Werth derſel-
ben ſelbſt vonnoͤthen hat/ oder daß er die Sache
nicht alſobald leiſten kan/ oder weil der Zuſtand
deſſen/ der etwas von dem andern haben wil/ alſo
bewandt iſt/ daß es ſich nicht fuͤglich ſchickt/ dasje-
nige/ was er von dem andern begehret/ umſonſt
und ohne Entgeld von ihm annehme/ oder weil die
Sache die man begehret gar zu koſtbahr iſt/ als
daß man ſie als einen ſchlechten Liebes-Dienſt
verlangen koͤnne. Zugeſchweigen/ daß wenn ein-
mahl ein Zwieſpalt und Krieg unter den Men-
ſchen entſtanſtanden/ derſeibige durch nichts an-
ders als durch Wechſelweiß gethanes Verſpre-
chen gehoben/ und alſo wiederumb Friede ge-
macht werden kan.


37. Die-
[217[215]]Liebe aller Menſchen

37.

Dieweil demnach der Endzweck aller
Verſprechungen dahin zielet/ daß ein Menſch
dadurch dem andern ſich vollkoͤmmlich zu ver-
pflichten trachtet/ der ihm ſonſt/ wie wir allbeteit
erwehnet/ aus der Tugend der Leutſeeligkeit un-
vollkommen/ und ohne zulaͤnglichen Zwang ver-
bunden waͤre/ auch die Natur des menſchlichen
Geſchlechts alſo beſchaffen iſt/ daß alle und jede
Menſchen ordentlich faͤhig ſeyn/ durch derglei-
chen Verſprechungen ſich mit einander zu verbin-
den; als iſt offenbahr/ daß die allgemeine Ruhe
und die Gleichheit der menſchlichen Natur
erfordere/ daß ein jeder das gethane Verſprechen
zu halten ſchuldig ſey.


38.

Gleichwie es ſich aber von ſich ſelbſt ver-
ſtehet/ daß man keine Treue und Glauben von
keinen Menſchen prætendiren koͤnne/ wenn kein
Verſprechen vorhergegangen; alſo iſt unſers
Thuns nicht/ alhier weitlaͤufftig zu unterſuchen/
was denn zu dem Weſen eines rechten Ver-
ſprechens eigentlich gehoͤre/ in dem dieſe Lehre
mehr zu der Rechts-Gelahrheit/ als zu der Sit-
ten-Lehre gehoͤret/ wir auch oben allbereit geſagt
haben/ daß die Liebe/ von der wir hauptſaͤchlich
hier reden/ ſich weiter erſtrecke/ als die ſtrengen
Regeln der Gerechtigkeit/ und endlich uͤber dieſes/
wie wir ſchon anderswo ausfuͤhrlich erwieſen
haben/ bey der Gerechtigkeit man einen groſſen
Unterſcheid unter demjenigen machen muß/ was
das Recht der Natur/ und die buͤrgerlichen par-
O 4ticu-
[218[216]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
ticular Geſetze der Menſchen zu den Weſen derer
pactorum erfordern. Jedoch gibt es kuͤrtzlich die
geſunde Vernunfft/ daß dasjenige eigentlich fuͤr
ein zu der Tugend der Warhafftigkeit-gehoͤriges
Verſprechen zu halten ſey/ wenn ein Menſch
mit Wiſſen und Willen dem andern das jeni-
ge was in ſeinem Vermoͤgen iſt zu geben oder
zu thun zugeſaget hat.


39.

Solchergeſtalt aber iſt gantz offenbahr/
daß man dasjenige fuͤr keine Treubruͤchigkeit
halten koͤnne/ wenn man demjenigen/ der durch
eine offenbahrlich unrechte Gewalt uns zur
Zuſage gezwungen hat/
die Leiſtung deſſen
was man ihm auff dieſe Weiſe verſprochen hat/
verſaget/ wiewohl die Gelehrten in dieſem Stuͤck
ſehr unterſchiedener und wiederwaͤrtiger Mey-
nung zu ſeyn pflegen.


40.

Der beruͤmte Grotius iſt zwar der
Meinung/ als ob aus einer dergleichen Zuſage
der verſprechende Theil gehalten ſey/ ſein Ver-
ſprechen zu erfuͤllen/ weil die ihm eingepraͤgte
Furcht nicht verhindere/ daß man nicht von ihm
ſagen koͤnne/ er habe ſein Verſprechen nicht mit
Wiſſen und Willen gethan/ hingegentheil ſey
aber auch der Gewaltthaͤtiger verbunden/ dem
jenigen/ ſo Gewalt gelitten/ die dißfalls ausgepre-
ſte Sache wiederum zuzuſtellen/ weil er freylich
durch die zugefuͤgte Gewalt ihn groͤblich beleidi-
get habe/ und dannenhero ihm billig dieſerwe-
gen ſatisfaction zu geben ſchuldig ſey. Von
wel-
[219[217]]Liebe aller Menſchen.
welcher Meinung auch das Roͤmiſche Recht
nur in wenigen abweicht/ indem daſſelbige faſt
aus eben dem Grunde demjenigen/ der derglei-
chen Gewalt veruͤbet/ zwar eine Klage und
action vergoͤnnet/ aber dabeneben auch dem Ge-
gewaltleidenden eine Ausflucht und Exception,
durch welche er ſich von der geſtellten Klage be-
freyen koͤnne/ vergoͤnſtiget.


41.

Wiederumb andere als ſchon vor laͤngſt
Cicero, und nach ihm der hochgelehrte Herr
von
Pufendorff halten dafuͤr/ daß in dieſem
Fall derjenige/ den man gewaltthaͤtiger weiſe
zum Verſprechen gezwungen habe/ nicht ſchuldig
ſey daſſelbige zu halten/ theils weil man in denen
Verſprechungen nicht alleine darauff ſehen muͤſ-
ſe/ ob einer mit Wiſſen und Willen etwas ver-
ſprochen habe/ ſondern ob auch der andere dem
dieſes Verſprechen ge ſchehen/ ſolches aus dem
Recht der Natur anzunehmen befugt ſey/ theils
auch weil die Verbuͤndligkeit des verſprechen-
den Theils (wenn ja allen Falls deren eine in
dieſem Fall erwachſen ſeyn ſolte) durch des an-
dern ſeine Schuld/ Krafft deren er verpflichtet iſt/
wegen des geſchehenen Unrechts dem erſten ge-
nung zu thun/ gleichſam compenſiret/ und auff
gehoben werde.


42.

Wider dieſe Meinung hat ein gelehrter
Mann unſerer Zeit in
einem Buͤchlein/ daß er
von Verpflichtung der Menſchen die aus der Re-
de entſtehet/ geſchrieben/ die Dritte zu vertheidi-
O 5gen
[220[218]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
gen geſucht/ daß nemlich ein Menſche allerdings
ſchuldig ſey ſein dißfalls gethanes/ durch Gewalt
erpreßtes Verſprechen zu halten/ indem derjenige/
ſo die Gewalt veruͤbet/ zwar in Veruͤbung derſel-
ben unrecht gethan/ aber gleichwohl dadurch
nicht verhindert worden das gethane Verſpre-
chen anzunehmen/ und dannenhero daraus ein
Recht erhalten die verſprochene Sache einzutrei-
ben. So koͤnne auch hierinnen keine Compen-
ſation
ſtatt finden in Anſehen vielmehr davor zu
halten ſey/ daß der verſprechende Theil gleichſam
bey dem Verſprechen ſich des Rechts/ daß er ſonſt
gehabt haͤtte/ die mit Gewalt erpreßte Sache
wieder zu fordern/ oder Satisfaction deshalben
zu begehren/ ſich ſtillſchweigend begeben habe.


43.

Bey dieſer Uneinigkeit aber ſo vieler ge-
lehrten Leute/ ſcheinet der Ungrund der erſten
Meynung
gar handgreifflich zu ſeyn/ indem es ja
eine bloſſe und unnuͤtze Subtilitaͤt waͤre/ wenn ich
fragen wolte/ der Gewaltthaͤter haͤtte Macht die
verſprochene Sache zu begehren/ er muͤſte aber
ſolche alſo fort dem Gewaltleidenden wiederge-
ben/ zugeſchweigen/ daß nach denen Roͤmi-
ſchen Rechten
der Unterſcheid/ ob einer gar kei-
ne Klage anſtellen koͤnne/ oder ob man ihm eine
zugelaſſen/ die aber von dem Beklagten durch ei-
ne zulaͤngliche Ausflucht elidiret worden/ keinen
andern Nutzen gehabt/ als vor dieſem das Ambt
des Stadt-Schulteißen und des Unterrichters
zu unterſcheiden.


44. Un-
[221[219]]Liebe aller Menſchen.

44.

Unter denen uͤbrigen beyden aber iſt die
mittelſte die beſte.
Denn es iſt offenbahr/
daß alle Verpflichtung und Schuldigkeit ur-
ſpuͤnglich aus dem Willen des Geſetz-Ge-
bers herruͤhre/ und daß alſo auch das Verſpre-
chen nur ein Mittel ſey/ durch welches das Ge-
ſetz uns verpflichtet. Wer wolte aber nun wohl
ſagen/ daß GOtt/ der ſo ernſtlich verbietet/ daß
man dem andern keine Gewalt und Unrecht an-
thun ſolle/ dem Gewaltthaͤter einige Macht wol-
le zulaſſen/ aus einen ſolchen gewaltſamen Ver-
ſprechen ein Recht zu erhalten/ und daß er den
gewaltleidenden Theil denjenigen zu gut/ der wi-
der das Geſetze gehandelt/ verbinden wolle.


45.

Solchergeſtalt aber kan man leichte auff
die Urſachen der dritten Meinung antwor-
ren.
Denn wenn der Gewaltthaͤter unrecht
thut/ indem er den andern zu den Verſprechen
zwinget/ ſo thut er auch unrecht/ wenn er dieſes
Verſprechen acceptiret/ und daraus ein Recht
erlangen wil. So iſt auch gantz nicht davor zu
halten/ daß der Gewaltleidende ſich durch das
Verſprechen ſeines Rechts/ allenfalls zu com-
penſi
ren/ begeben habe/ theils weil ohne dem die
Verzeihung ſeines Rechts nicht leichte præſumi-
ret werden/ und gantz kein Umſtand hierbey
iſt/ daraus man ſolches ſchlieſſen koͤnte/ theils auch
weil aus obangefuͤhrter Urſache der Gewalt-
Thaͤter eben ſo wenig dieſe Verzeihung (wenn
ſie
[222[220]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
ſie ſchon ausdruͤcklich geſchehen waͤre) als das
Verſprechen ſelbſt acceptiren doͤrffte.


46.

Damit man aber unſere Meinung de-
ſto beſſer verſtehen moͤge/ ſo erfordern wir/ daß
es (1) gewiß ſey/ daß derjenige/ der uns durch
Gewalt zum Verſprechen zwinget/ nicht Fug
und
Macht gehabt habe ſolches zu thun/ (2)
daß es eine Gewalt ſey/ die uns eine gegenwaͤr-
tige und groſſe Gefahr
drohet/ fuͤr welcher
ſich auch ein rechtſchaffener Mann zu entſetzen
pfleget/ und die wir anderer Geſtalt nicht fuͤg-
lich als durch dieſes Verſprechen haben loß wer-
den koͤnnen. (3) Daß wir das aus Furcht ge-
thane Verſprechen weder mit Worten noch
Wercken/ nach dem dieſe Furcht vorbey geweſen/
wiederholet oder gut geheiſſen haben.


47.

Bey dieſer Bewandniß aber iſt gantz offen-
bahr/ daß man einen groſſen Unterſcheid ma-
chen muͤſſe/ ob man einen Feinde/ der uns durch
Krieg uͤberwunden/ oder einem Straſſen-
Raͤuber
etwas aus Furcht unſer Leben zu ver-
liehren/ verſprochen haben/ und daß man nicht
einmahl einen Auffruͤhrer und Verraͤther/
der ſeinen Fuͤrſten zu einen Verſprechen zwinget/
mit einem Straſſen-Raͤuber vergleichen koͤnne/
wie wir ſolches allbereit anderswo ausgefuͤhret.


48.

Ja es weiſen noch uͤber dieſes dieſe drey
Bedingungen/ daß auff gewiſſe Maaſſe auch
ein Straſſen-Raͤuber ſelbſt nicht ausgeſchloſ-
ſen werde/ daß er ſich dieſer allgemeinen Tugend
nicht
[223[221]]Liebe aller Menſchen.
nicht zu troͤſten haͤtte/ wenn man nehmlich mit
ihm einen Contract ſchlieſt ohne Zwang/ oder
wenn der Zwang vorbey iſt. Denn es kan von
dieſer allgemeinen Liebe/ als wir ſchon offt er-
wehnet kein Menſch ausgeſchloſſen werden.


49.

Und iſt dannenhero eine gantz unvernuͤnff-
tige und liebloſe Lehr/ wenn man verthaͤydigen
wil/ daß man denen/ die in dem Chriſtenthum ei-
ne irrige Meynung von GOTT und goͤttlichen
Dingen haben/ die man Ketzer zu nennen pfle-
get/ keine Treu und Glauben halten ſolte. Denn
es wird durch dieſelbige bey nahe dieſes hoͤchſt-
noͤthige Band des menſchlichen Geſchlechts gantz
und gar auffgehoben. Jſt man denen Ketzern
deshalben keinen Glauben zu halten ſchuldig/ weil
ſie eine irrige Meynung von GOtt haben/ und
erkennen doch die Heilige Schrifft fuͤr GOttes
Wort; ſo wuͤrde man vielmehr denen Juͤden
und Heyden wegen eben dieſer Urſache keine.
Treu und Glauben halten duͤrffen/ weil ſie
gleichfalls irrige Meynung von GOTT hegen
und die Schrifft nicht einmahl oder doch nicht
voͤllig vor GOttes Wort halten/ und alſo wuͤrde
Treue und Glauben nur zwiſchen Leuten von ei-
ner Religion gelten/ ja nicht einmahl zwiſchen
denenſelben/ weil keine Secte, und in derſelben kei-
ne Provintz ja faſt keine Stadt iſt/ in welcher nicht
diejenigen/ die ſich zu einer Secte bekennen von
andern Gelehrten derſelben Secte bey dieſen letz-
ten Zancks vollen Zeiten in der Lehre von goͤttli-
chen
[224[222]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
chen Dingen abweichen/ die Gegner verketzern/
und als ob ſie in ſchaͤdlichen Jrrthuͤmern ſtaͤcken/
ausſchreyen.


50.

Zudem ſo gruͤndet ſich die Wahrhafftig-
keit in der allgemeinen menſchlichen Natur/ wel-
che/ wie wir oben erwehnet/ bey allen Menſchen/
die auch/ es moͤge ſeyn von was fuͤr Dingen es
wolle/ unterſchiedene Meynungen haben/ gleich
iſt/ und alſo auch eine gleiche Obligation und
Verpflichtung wuͤrcket. Zugeſchweigen/ daß
gleich wie wir uns nicht vergewiſſern koͤnnen/ daß
wir nicht derer Ketzer ihrer allgemeinen Dienſte
der Leutſeeligkeit ſolten benoͤthiget ſeyn/ alſo auch
wir eben ſo wenig der Ketzer entbehren koͤnnen/
daß wir nicht ihr Verſprechen von ihnen anneh-
men ſolten. Und wie es uns nun wohl gefaͤllet/
wenn die Ketzer uns ihr Verſprechen halten;
alſo wuͤrde eine groſſe Ungleichheit erfolgen/
wenn wir ihnen das unſrige nicht wider halten
ſolten. Zudem ſo waͤre es ſehr irraiſonabel,
wenn wir vorwenden wolten/ es halte uns von
Haltung unſers Verſprechens der elende Zuſtand
des andern ab/ der ein Ketzer iſt/ da doch eben
dieſer elende Zuſtand uns zuvorhero nicht ab-
gehalten/ ſein Verſpechen von ihm anzuneh-
men/ oder ihm auff unſerer Seiten etwas zuver-
ſprechen.


51.

Endlich wenn wir oben erwehnet haben/
daß die Wahrhafftigkeit als denn erſt ſtatt ha-
he/ wenn man etwas zugeſagt hat/ daß in un-
ſern
[225[223]]Liebe aller Menſchen.
ſern Vermoͤgen iſt/ ſo verſtehet es ſich gar
leichtlich/ daß hierzu zweyerley erfvrdert werde/
erſtlich daß die Sache oder die Thatunſere na-
tuͤrliche Kraͤffte
nicht betreffe. Zum an-
dern/ daß uns auch durch die Geſetze dieſelbe
nicht verboten oder entzogen ſey. Und alſo koͤn-
nen wir uns nicht verbinden (1) unmoͤgliche/ (2)
unzulaͤßliche Dinge zu halten/ vielweniger von an-
derer Leute (3) ihren Sachen oder (4) Thaten
etwas verſprechen/ wie wir denn auch aus eben
der Urſache (5) unſer eigenes Thun und Laſſen/
das ſchon andern verpflichtet iſt/ nicht von neuen
an andere verſprechen koͤnnen/ welches alles ſo
wohl von denen Rechtsgelehrten hin und wider/
als auch von uns ſelbſt anderswo albereit aus-
fuͤhrlich erklaͤret worden.


52.

Die Leutſeeligkeit und Wahrhaff-
tigkeit/
die von denen wir bißhero gehandelt/
treiben den Menſchen an/ daß er andern Men-
ſchen gleiches erweiſe/ was er von ihnen gewaͤr-
tig iſt/ die folgenden zwey Tugenden abet/ nem-
lich die Beſcheidenheit und Vertraͤgligkeit
zeigen ihm/ daß er alles Thun und Laſſen dar-
aus eine Ungleichheit entſtehen koͤnte/ unter-
wegen laſſen ſolle/ nemlich daß er weder ſich
mehr
zu eigne als ihm gehoͤret/ wohin ihm die
Beſcheidenheit
weiſet/ noch dem andern an
dem was ihm gehoͤret einigen Schaden zufuͤ-
ge/ welches die Vertraͤgligkeit haben wil.


53. Die
[226[224]]Das 5. Hauptſt von der allgemeinen

35.

Die Beſcheidenheit iſt eine Tugend/
die den Menſchen antreibet/ daß er allen
Menſchen/ ſie mo̊gen ſeyn von was Stande
ſie wollen/ freundlich und als Menſchen/ die
in dieſen Stuͤck ſeines gleichen ſind/ bege-
gnet/ ſie gleiches Recht mit ſich genieſſen
laͤſt/ und ſich nicht mehr hinaus nimmt/
als ihme von Rechtswegen gebuͤhret.


54.

Denn ob ſchon der unter denen Men-
ſchen eingefuͤhrte Unterſcheid der Staͤnde und
des Vermoͤgens/ nebſt dem Unterſcheid des
Verſtandes und Willens Urſache einer großen
Ungleichheit iſt/ ſo hebet ſie doch die Beſcheiden-
heit nicht auff/ in dem ein weiſer Mann die Un-
beſtaͤndigkeit des menſchlichen Gluͤcks
be-
trachtet/ daß ein geehrter/ reicher/ geſunder und
gelehrter Mann bald geringe/ arm/ ungeſund und
ſeines Verſtandes beraubet/ und im Gegentheil
ein Menſch/ der in dieſen letzten Zuſtand lebet/
in jenen wieder verſetzt werden koͤnne/ auch der
Jrrthuͤmer und Laſterhafften Thorheiten ſich er-
innert/ die er zuvor begangen/ und in die er wie-
der gerathen kan/ hingegen aber von dem an-
dern hoffet/ er werde ſich ja ſo leichte beſſern als
er ſelbſt. Dieſe Betrachtung erwecket bey ihm
dieſe Wuͤrckung/ daß er ſich keinen Menſchen
vorziehet/
ſondern der Meynung iſt/ daß alle
Menſchen ſich ſo wohl ihres freyen Willens be-
dienen koͤnnen als er ſelbſt. Denn der Gebrauch
des freyen Willens iſt das einige/ das der
Menſch
[229[225]]Liebe aller Menſchen.
Menſch fuͤr das ſeinige halten/ und nachdem
der Gebrauch vernuͤnfftig oder unvernuͤnfftig iſt/
ſich hochachten oder verachten kan.


55.

Man muß aber dieſe Beſcheidenheit
nicht mit der Demuth vermiſchen. Beyde
kommen zwar darinnen uͤberein/ daß ſie den
Menſchen antreiben/ daß er ſich nicht hoͤher hal-
te als andere Menſchen; aber darinnen beſtehet
der Unterſcheid/ daß die Beſcheidenheit den
Menſchen dahin anweiſet/ das er andere Men-
ſchen als ſeines gleichen betrachtet/ oder wenn
es hoch koͤmmt/ ihnen wegen eines von den Men-
ſchen eingefuͤhrten Unterſcheids eine aͤuſſerliche
Ehr-Bezeugung/ als wenn er ſich ihnen geringer
halte/ erweiſet; aber die Demuth fuͤhret ihn
dahin/ daß er ſich auch innerlich geringer halte
als andere Menſchen/ und dieſe ſeine Selbſt-Ver-
kleinerung allenthalben/ wo es Gelegenheit giebt/
durch aͤuſſerliche und mit dem Hertzen correſpon-
diren
de Thaten bezeuge.


56.

Woraus dieſes noch ferner folget/ daß
die Vernunfft an und vor ſich nicht weiter gehe/
als worzu die Beſcheidenheit den Menſchen ver-
pflichtet. Von der Demuth aber kan ſie
nichts gegruͤndetes begreiffen/
weil ſie bey
ſich ſelbſt keine Urſache findet/ warum ein
Menſch ſich ſelbſt geringer halten ſolte als einen
andern Menſchen/ ſondern es gehoͤret die Er-
kaͤntniß dieſer Tugend fuͤr eine hoͤhere Gelahr-
heit/ indem dieſelbe nicht Menſchen ſondern
PChri-
[230[226]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
Chriſten macht/ und wenn ein Philoſophus noch
ſo viel von der Demuth ſchwatzt/ ſo erſtrecket
ſich doch die ſes alles nicht weiter/ als daß er der
natuͤrlichen Beſcheidenheit den Nahmen der
Demuth giebet.


57.

Die Vertraͤgligkeit iſt eine Tugend/
die den Menſchen antreibet/ daß er allen
anderen Menſchen das ihrige in Fried und
Ruhe genieſſen laſſe/ und ihnen an ihren
Guͤtern ſo wohl des Leibes als des Gluͤcks
keinen Schaden thue/ oder ſie derſelben auf
einige Weiſe beraube; oder wenn ja allen
Falls hierwieder etwas aus Vorſatz oder
aus verſehen geſchehen/ die Sache nebſt
allen verurſachten Schaden erſtatte/ oder
ſonſten annehmliche
Satisfactionleiſte.


58.

Dieſe Tugend iſt hoͤchſt nothwendig/
weil die Verletzung derſelben den allgemeinen
Friede und Ruhe am meiſten verſtoͤret/ indem
die wenigſten Menſchen vertragen koͤnnen/ daß
man ihnen das ihrige entziehet/ ob ſie ſchon ſon-
ſten nicht ungedultig wuͤrden/ wenn man ihnen
die allgemeinen Dienſte der Leutſeligkeit ver-
ſagte/ oder ſein Verſprechen nicht hielte/ oder ſich
viel einbildete; Sie gehet alle Menſchen an
weil niemand iſt/ an den ich mit einiger gegruͤn-
deten Urſache prætendiren koͤnte/ daß ich ihn ſei-
ne Guͤter nehmen oder verderben duͤrffte/ es muͤ-
ſten denn dieſelbe auch auff gewiſſe Maaße
mein ſeyn. Endlich iſt auch leichte/ und
koͤmmt
[231[227]]Liebe aller Menſchen.
koͤmmt mich nicht ſauer an/ weil ich in Ubung
derſelben keine groſſe Muͤhe haben darff/ in dem
ſie mehr darinnen beſtehet/ daß ich nichts/ als daß
ich etwas thue.


59.

Nun iſt die Gedult noch uͤbrig. Dieſe
iſt eine Tugend die die Menſchen antreibet/
daß ſie denen andern Menſchen die die allge-
meine Liebe nicht wohl in acht genommen/
ſondern vielmehr wieder die bisher erzehl-
ten vier Tugenden entweder aus Vorſatz
oder aus Verſehen angeſtoſſen/ ihre Belei-
digung aus allgemeiner Liebe verzeihen/
und ſich ſolchergeſtalt auch der nach denen
natuͤrlichen Rechten zugelaſſenen Mittel
freywillig/ wegen des allgemeinen Friedens
begeben.


60.

So ſieheſt du demnach bald anfaͤnglich/
daß die Gedult von denen vier erſten Tugen-
den/
darinnen unterſchieden ſey/ daß jene den
Menſchen unterrichten/ wie er ſich gegen die/ die
ihm die allgemeine Liebe erweiſen/ oder doch
zum wenigſten ihm dieſelbe noch nicht entzogen/
verhalten ſolle. Dieſe aber erinnert ihn/ was er
gegen die jenigen/ die jene 4. Tugenden nicht in
acht genommen haben/ thun ſolle.


61.

Zwar wenn wir nach denen ſtrengen Re-
geln der Gerechtigkeit die Sache betrachten
wollen/ ſo weiſet es die geſunde Vernunfft/ daß
derjenige/ der die 4. erſten Tugenden gegen uns
nicht ausuͤbet/ ſich uͤber uns nicht beſchweren
P 2koͤnne/
[232[228]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
koͤnne/ als ob ihm unrecht geſchaͤhe/ wenn wir
ihm hinwiederum keine Leutſeeligkeit/ Wahr-
hafftigkeit/ Beſcheidenheit und Vertraͤgligkeit
erweiſen; Denn mit was Recht wolte derjenige
prædendiren/ daß andere Menſchen ihm dasjeni-
ge erweiſen/ was er doch an ſeinen Orte ihnen
verſaget/ zumahlen da obbeſagte vier Tugenden
in der Gleichheit der menſchlichen Natur ſich
gruͤnden/ und ſolcher Geſtalt eine Ungleichheit
wuͤrde eingefuͤhret werden/ wenn gottloſe Leute
ſich unvernuͤnfftiger Weiſe ein Recht hinaus
naͤhmen/ andere zu beleidigen/ und hernach dieſe
dahin anweiſen wolten/ daß man ihnen nicht glei-
ches mit gleichen vergelten ſolle.


62.

So weiſet auch dasjenige/ was wir ab-
ſonderlich von der Vertraͤgligkeit erwehnet/
(daß derjenige/ ſo einen andern einigen Scha-
den erwieſen/ ſchuldig ſey ihm denſelben zu er-
ſtatten) daß er von dem Beleidigten die Gedult
nicht als ein ihm zukommendes Recht fordern
koͤnne/ weil ſonſten die Pflicht den gegebenen
Schaden zu erſtatten/ keine Wuͤrckung haben
wuͤrde/ wenn der andere von Rechtswegen ge-
dultig ſeyn muͤſte. Eben dieſes kan man auch
von dem ſagen/ der ſein Verſprechen nicht ge-
halten/ und ſich gegen einen andern in hohen
Grad unbeſcheiden erwieſen/ und denſelben
ſchimpflich tractiret. Dann weil auch in dieſen
Stuͤck die Wahrhafftigkeit und Beſcheidenheit
denſelben verbinden/ dem beleidigten Theil Sa-
tisfaction
[233[229]]Liebe aller Menſchen.
tisfaction zu thun/ ſo kan er vor dieſen wiederum
die Gedult nicht als ein ihm zukommendes Recht
fordern.


63.

Aber das iſt es eben/ was wir oben ge-
ſagt haben/ daß ein groſſer Unterſcheid zwiſchen
der Gerechtigkeit und Liebe ſey/ und alſo ha-
ben wir allhier ein mercklich Exempel/ daß uns
die Liebe zu etwas verbinden koͤnne/ darzu
wir von Rechtswegen nicht angehalten
werden koͤnten/
und das es nicht allemahl ver-
nunfftig ſey/ allzugerecht zu ſeyn/ oder ſeines Rech-
tes ſich allzugenau zu bedienen.


64.

Jch beſcheide mich ja wohl/ daß es ein
alt Sprich-Wort ſey: Si vis amari, ama,Wilt
du geliebet ſeyn/ ſo fange erſt an und liebe
andere/
und alſo ſcheinet es zwar nach dem er-
ſten Anſehen/ daß auch nach den Regeln der
Liebe/
derjenige der uns nicht liebet/ ſondern
vielmehr allen Haß und Verdrieß erweiſet/ von
uns nicht prætendiren koͤnne/ daß wir ihm aus
Liebe ſein Verbrechen verzeihen und Gedult mit
ihm haben ſolten. Aber wenn wir die Sache
etwas ſchaͤrffer uͤberlegen/ werden wir bald ſe-
hen/ daß uns auch dieſes Sprichwort nicht im
Wege ſtehe.


65.

Denn wir koͤnnen es gleicher Geſtalt auch
fuͤr unſere Meinung anfuͤhren. Eben des
halben ſollen wir gedultig ſeyn/ damit wir
kuͤnfftig auch von dem/ der uns beleidiget hat/
geliebet werden/ wenn wir ihm durch die Ge-
P 3dult
[234[230]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
dult unſere Liebe anfangen zu bezeigen/ oder ihm
durch dieſelbe als durch eine der ungemeineſten
Proben unſere Beſtaͤndigkeit in der Liebe ver-
ſichern.


66.

Zu dem folget es nicht/ dieſer oder je-
ner hat ſich meiner Liebe unwuͤrdig gemacht/
deshalben bin ich ihn zu lieben nicht verbun-
den.
Jch laß es ſeyn/ daß man dieſen Satz in
der abſonderlichen Liebe auff gewiſſe Maaße
brauchen koͤnne/ wiewohl auch disfalls noch viel
wuͤrde zu bedencken ſeyn. Aber in der allge-
meinen
Liebe wird er nicht gelten koͤnnen. Denn
bey dieſer koͤnnen wir wohl das jenige/ was wir
einen Menſchen in Anſehen ſeiner ſelbſt nicht
ſchuldig ſeyn/ uns ihm zu leiſten verpflichtet er-
kennen/ in Anſehen unſerer Schuldigkeit ge-
gen das gantze menſchliche Geſchlecht
deſſen
Mitglied er iſt/ oder in Anſehen unſerer ſelbſt/
weil wir ſonſten/ wenn wir ihm dasjenige thaͤ-
ten/ was er wohl verdienet haͤtte/ unſere Ge-
muͤths-Ruhe mehr ſtoͤren als befoͤrdern/ und al-
ſo uns ſelbſten an unſerer groͤſten Gluͤckſeligkeit
hinderlich ſeyn wuͤrden.


67.

So wil es demnach noͤhtig ſeyn zu erwei-
ſen/ daß die allgemeine Gleichheit des menſch-
lichen Geſchlechts dieſe Gedult von uns erforde-
re/ und daß wir ohne dieſelbe unſere Gemuͤths-
Ruhe
nicht erhalten koͤnnen.


68.

Jenes iſt gantz leichte/ indem uns unſer
eigen Gewiſſen ſagen wird/ daß wir taͤglich/
wenn
[235[231]]Liebe aller Menſchen.
wenn wir unſer Thun und laſſen genau exami-
ni
ren wollen/ anderen Menſchen zum Theil aus
Verſehen/ zum theil auch mit Vorſatz das jenige/
was wir ihnen aus obigen vier Tugenden ſchul-
dig waren/ nicht vollkommen erwieſen/ auch ſie
zum oͤfftern beleidiget. Und wie es uns nun
wohl gefaͤllet/ wenn man uns daſſelbige verzei-
het/ und ſein Recht nicht allzuſtarck wieder uns
urgiret; Alſo erfordert auch die Gleichheit der
menſchlichen Natur/ daß wir gegen andere eben-
maͤßig das uns angethane Unrecht mit gleicher
Gedult vertragen/ u. ſ. w.


69.

Dieſes aber ſcheinet etwas ſchwerer zu
ſeyn/ indem beynahe alle Gelehrten von dieſen
allgemeinen Jrrthum eingenommen ſeyn/ als
ob die Behauptung ſeines Rechts mit Ge-
walt das wahre mittel ſey/ wieder den/ der
unſere Gemuͤths-Ruhe ſtoͤren wil/ dieſelbe
zu erhalten/
und ihn zu einen friedlichen Leben
zu noͤthigen; Dahero pfleget man in dem gemei-
nen Sprichwort zu ſagen; man koͤnne nicht laͤn-
ger Friede halten als der Nachbar wolle. Der
Krieg ſey das auſſerordentliche Mittel ſich Frie-
de und Ruhe zu ſchaffen. Ein jeder rechtmaͤßi-
ger Krieg habe keinen andern End-Zweck als
den Friede. So lange man Frieden haben
koͤnne/ ſolle man denſelben annehmen/ wo nicht/
muͤſſe man den Krieg zur Hand nehmen. Krieg
ſey beſſer als ein unſicherer Friede. u. ſ. w. Und
wir wollen das Gegentheil behaupten/ daß man
P 4mit
[236[232]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
mit Gedult alleine den beſten Frieden machen
koͤnne?
Jn Wahrheit wir unterfangen uns
eines groſſen/ denn wir muͤſſen nicht alleine be-
weiſen/ daß der Krieg kein vernuͤnfftig Mit-
tel ſey/ Friede zu machen/
ſondern auch: daß
man am erſten Friede erhalte/ wenn man
alles leidet.
Beydes ſcheinet faſt allen unſern
Gelehrten irraiſonabel zu ſeyn.


70.

Aber wir achten ſolches nicht/ wenn wir
nur die Vernunfft ſelbſt auf unſerer Seite haben.
Dieſe wird uns bald anfaͤnglich zeigen/ daß der
Krieg nichts weniger ſey als ein Mittel Frie-
de zu machen.
Denn es iſt ohnmoͤglich/ daß
auff einer Seiten Krieg/ und auf der andern Frie-
de ſey/ und alſo iſt der Krieg nichts anders als ein
ſolcher Zuſtand zweyer Partheyen/ in wel-
chen ſie beyderſeits einander an ſtatt der
Liebe/ Haß und Feindſchafft erweiſen.


71.

So unvernuͤnfftig nun als es waͤre/ wenn
man ſagen wolte/ daß der Haß ein vernuͤnfftig
ordentlich oder auſſerordentlich Mittel waͤ-
re zur Liebe zu gelangen;
ſo unvernuͤnfftig iſt
es auch/ daß man behaupten wil/ der Krieg ſey
ein Mittel zum Friede.


72.

Haſtu den andern nicht durch die Leut-
ſeligkeit/
Wahrhafftigkeit/ Beſcheidenheit und
Ver raͤgligkeit zur Liebe bewegen koͤnnen/ da doch
ſonſten Liebe Gegen-Liebe erwecket/ ſo wirſtu
es viel weniger durch Unbeſcheidenheit/ Gewalt
und Unmenſchlichkeit
thun.


73. Ja
[237[233]]Liebe aller Menſchen.

73.

Ja ſagſtu. Wil der andere nicht mit mir
Friede halten/ ſo muß er/ weil ich ihn durch den
Krieg darzu zwinge/ und ihn alſo mit Gewalt
zur
Raiſonbringe. Jch bitte dich/ rede nicht ſo
unvernuͤnfftig. Denn du haſt bey nahe ſo viel
laͤcherliche Dinge geredet/ als du Worte gebrau-
chet haſt.


74.

Denn anfaͤnglich iſt die Vernunfft eine
Sache/ die durch menſchliche Gewalt zwar zer-
nichtet/ aber nimmermehr zurechte gebracht
werden kan. Hernach ſo iſts auch gemacht/ daß
ohne Liebe kein wahrer Friede/ ſondern nur
ein ſolcher Zuſtand/ den man einen Stillſtand
der Waffen
nennen koͤnte/ werden kan. Die
Liebe aber leidet den geringſten Zwang nicht.
Endlich du elender Menſch/ der du dir einbildeſt/
du wolteſt deinen Feind zwingen/ daß er Frie-
de halten muͤſte.
Mein ſage mir/ wodurch?
Durch Gewalt? Haͤlt er dir denn ſtille? Oder
braucht er Gegengewalt?


75.

Ja/ antworteſtu/ er braucht wohl Ge-
gengewalt/ aber er thut nicht recht daran.

Ey wie kom̃ſtu zu dieſen Unrath/ daß du im Krie-
ge deinen Feinde von Rechte vorſagen wilſt. Hat
er ſich von ſeinen boͤſen Vorſatz und Unrecht nicht
abwendig machen laſſen/ da du ihm Liebe oder
Gedult erwieſeſt/ ſo wird er es gewiß nicht thun/
wenn du Gewalt gegen ihn brauchſt. Und alſo
iſt es mir jetzo genug/ daß du geſteheſt/ er brauche
auch Gegengewalt wider dich. Mein/ welche
P 5Gewalt
[238[234]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
Gewalt erhaͤlt denn nun den Sieg/ und
macht Friede? die Deinige oder die Sei-
nige?


76.

Jch ſehe wohl/ du wirſt etwas beſtuͤrtzt.
Doch erholeſtu dich wieder und ſagſt/ daß frey-
lich nicht allemahl der beleidigte Theil/ ſondern
oͤffters der Beleidiger uͤberwinde. Aber es moͤ-
ge nun ſeyn wie ihm wolle/ und der Sieg moͤge
ausſchlagen auf was fuͤr eine Seite es ſey/ ſo
ſey es doch genung/ daß der Krieg und der
darauf folgende Sieg Friede mache.


77.

Gewiß du gemahneſt mich ja ſo unver-
nuͤnfftig als die Balger. Bildet ſich ein ſolcher
Menſch ein/ er ſey von dem andern beleidiget/ er
kan nicht leben er muß von dem andern Satisfa-
ction
haben. Aber indem er ſie ſuchet/ beleidiget
ihn der andere oͤffters noch mehr/ als die erſte Be-
leidigung war. Und doch wenn er ſich hierauff
mit ſeinen Feind vertragen/ bildet er ſich ein/ er ha-
be von dem andern Satisfaction gekriegt. Alſo iſt
es auch eine laͤcherliche Einbildung/ wenn ich mir
einbilde ich wolte durch den Krieg den andern zu
einen raiſonablen Frieden bringen/ und gebe dar-
durch meinem Feinde Gelegenheit/ mich durch den
von ihm vorgeſchriebenen Friede in einen viel
irraiſonablern Zuſtand zu ſetzen/ als er zuvor
war/ ehe ich den Krieg anfinge. Zudem iſt es nicht
weniger laͤcherlich/ wenn du ſprichſt/ der Sieg
des Beleidigers oder des Beleidigten mache
Friede.


78. Laß
[239[235]]Liebe aller Menſchen.

76.

Laß es ſeyn der Beleidigte ſieget; Der
Sieg iſt noch lange kein Friede/ ſo lange der U-
berwinder und der Uberwundene noch Feinde
ſeyn. Ja ſprichſtu/ der Uberwundene muß wohl
Friede machen. Aber was neues. Gezwunge-
ner Friede iſt kein Friede/ ſo wenig als die Liebe
Zwang leiden kan. Mein was haſtu fuͤr Ver-
ſicherung/
daß der Uberwundene werde Friede
halten? Vielleicht ſein Verſprechen? Und du
haſt deswegen den Krieg wider ihn angefangen/
weil er dir ſein Verſprechen nicht gehaltem/ oder
ſonſt etwas dergleichen das aus dem Gebot allge-
meiner Liebe herruͤhrete/ nicht geleiſtet/ da du ihn
doch an deinem Orte alles Liebes erwieſen/ und
bildeſt dir ein/ das von ihm gewaltſamer Weiſe
erpreßte Verſprechen/ werde ihn abhalten/ daß
er dich nicht ferner beleidige.


79.

Aber vielleicht wird ihm die Furcht deſſen
was er allbereit erfahren/ von fernerer Beleidi-
gung abhalten? Wo eine ſolche Furcht iſt/ kan
keine Liebe ſeyn/ und wer ſich fuͤr dir fuͤrchtet/
fuͤr dem muſtu dich auch fuͤrchten. Es ſind ih-
rer mehr durch die heimlichen Nachſtellungen ih-
rer Leibeigenen/ als durch die Tyranney der Koͤ-
nige umbgebracht worden. Die Zeiten aͤnder
ſich/
und es kan leichte geſchehen/ daß dieſe Aen-
derung ihm die Furcht benimmt; Zudem ſo iſt
der Ausgang des Krieges ungewiß und dieſe
Ungewißheit kan ſo leichte bey dem andern eine
Hoffnung als Furcht erw wen; Zumahlen da
die-
[240[236]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
dieſe beyde Gemuͤths-Bewegungen zum oͤfftern
aus einerley Urſachen herkommen.


80.

Ja ſprichſtu: Dieſem Ubel iſt leichte ab-
zuhelffen. Denn wenn ich ſehe/ daß ich des Uber-
wundenen ſeiner Treue nicht verſichert bin/ ſo ver-
ſchaffe ich mir Berſicherung durch ſeinen Tod.
So wirſtu ſie denn allezeit auf dieſe Weiſe ſu-
chen muͤſſen/ weil dir die Gewalt niemahlen ande-
re Verſicherung geben wird. So wirſtu nichts
anders zu thun haben/ als darnach zu trachten/ wie
du das menſchliche Geſchlecht auffreibeſt/
weil kein Tag hingehen wird/ da dich nicht ein an-
derer mit Vorſatz oder aus Verſehen beleidigen
wird[.] Auff dieſe Weiſe kanſtu nicht ſagen/ daß
dir dein Sieg Friede zuwege bringen wird; denn
mit todten Leuten haſtu weder Krieg noch Frie-
de. Und mit denen anderen Lebenden hatteſtu
zuvor ſchon friede. Ja dieſer dein blutiger Sieg
kan vieleicht andere Lebende erwecken/ einen
neuen Krieg mit dir anzufangen/ den Tod ihres
Verwandten oder Freundes zu raͤchen.


81.

Aber wie denn da/ wenn der Beleidiger
ſieget?
Und du dein Leben von ihm erbetteln
muſt/ oder er dir ſonſt andere Bedingungen vor-
ſchreibet/ die dir ſchimpfflicher und unertraͤglicher
ſind/ als die erſten Beleidigungen/ wegen welcher
du den Krieg angefangen? Daß ich nicht einmahl
davon etwas erwehne/ wenn er dir aus Miß-
trauen gar das Leben nim̃t? Biſtu wohl noch ſo
thoͤricht/ daß du dich beruͤhmeſt/ der Krieg ſey
ein
[241[237]]Liebe aller Menſchen.
ein Mirtel deinen Beleidiger zurRaiſonzu
bringen?
Hier haſtu wohl nicht das geringſte
uͤbrig/ als das du die Achſeln zuckſt/ und zu deiner
Entſchuldigung dich etlicher alten Sprichwoͤrter
bedieneſt: Gut gemeynet/ uͤbel gerathenPa-
tience par force.


81.

Wohl dann/ ſo ſieheſtu/ daß in dieſem
Fall dir nicht des andern ſein Sieg/ ſondern deine
erzwungene Gedult den Frieden gebe. Was
braucht es dannenhero eines ſo groſſen Umb-
ſchweiffs? Kan dich die erzwungene Gedult einer
viel groͤſſern Beleidigung zum Friede diſponi-
ren/ worum ſolte es nicht viel raiſonabler ſeyn/ daß
eine freywillige Gedult eines kleinen Unrechts
dir einen viel ſicherern Friede machen ſolte. Ha-
ſtu ſo groſſe Luſt zu Frantzoͤſiſchen Sprichwoͤr-
tern/ ich wil dir ein anders ſagen. Tout par amo-
ur, rien par force.


83.

Ja ich ſage noch zu wenig/ wenn ich ſpre-
che die Gedult mache Friede. Denn ich habe
ſchon oben erwehnet/ daß die Gedult den Frieden
erhalte. Und alſo kanſtu auch daraus die Vor-
trefflichkeit der Gedult fuͤr dem Krieg erkennen.
Wo Krieg iſt/ iſt kein Friede; Und der Krieg/ wie
wir bißhero augenſcheinlich erwieſen/ kan kein
Mittel ſeyn Friede zu machen Wo aber Ge-
dult iſt/ braucht es nicht einmahl/ daß man Friede
mache/ weil noch nie Krieg geweſen/ ſondern die
Gedult erhaͤlt den Frieden/ daß kein Krieg entſte-
het.


84. Es
[242[238]]Das 5. Hauptſt von der allgemeinen

84.

Es iſt wahr/ der beleidigende Theil/ zu-
mahl wenn er in der Guͤte uns keine Satisfaction
geben wil/ gibt fuͤr ſich gnugſam zuverſtehen/ daß
er nicht viel darnach frage/ ob er mit uns in Krieg
oder Frieden lebe. Aber ſo lange doch der Be-
leidigte
nicht bricht/ ſondern das angethane Un-
recht mit Gedult vertraͤget/ ſo lange iſt auch kein
Krieg zwiſchen ihnen beyden/ und folgends muͤſ-
ſen ſie nothwendig in einem friedſamen Zuſtand
leben.


85.

Du ſchuͤttelſt den Kopff/ und doͤrffteſt
mich wohl gar einer Soͤphiſterey beſchuldigen.
Denn ſprichſtu: Was iſt das fuͤr ein Friede/
darinnen ich
keine Gemuͤths-Ruhe habe.
Wie kan ich aber ruhig ſeyn/ wenn ich mich befah-
ren muß/ daß der andere meine Gemuͤths-Ruhe
alle Augenblick ſtoͤhren werde?
Ja geſetzt/
daß der Krieg kein wahres Mittel zu einen ruhigen
Frieden waͤre/ wie kan die Gedult vermoͤgend
hierzu ſeyn/ da doch dieſelbige die meiſte Urſache
iſt/ daß der Beleidiger immer angefriſchet
wird/ Beleidigung mit Beleidigung zu
hauffen.
Betꝛachte doch ſelbſten. Du haſt geſagt:
Ein unvernuͤnfftiger Menſch koͤnne durch Furcht
fuͤr der Gewalt und Ubel nicht zur Raiſon gebracht
werden. So wird er ja wahrhafftig noch weni-
ger raiſonabel werden/ wenn ich alles von ihm ge-
dultig leyde. Hat er mir zuvor den Mantel ge-
nommen/ wird er mir. wenn ichs leyde/ darnach
den Rock nehmen/ und mich bis auf das Hembde
aus-
[243[239]]Liebe aller Menſchen.
ausziehen. Hat er mir zuvor einen kleinen
Schimpff
erwieſen/ und ich leide es/ ſo wird er
mich hernach ſuchen gar unehrlich zu machen.
Hat er mich zuvor ein wenig geſchlagen/ ſo wird
er hernach mich gefaͤhrlich verwunden/ oder
wohl gar das Leben nehmen. Und du ſchaͤmeſt
dich doch nicht zu ſagen: Die Gedult ſey das be-
ſte Mittel die Gemuͤths-Ruhe zu erhalten.


86.

Aber laß dir hierauff zur Antwort dienen/
daß alle dieſe deine Einwuͤrffe/ ob ſie gleich von
dem Beyfall der meiſten Menſchen unterſtuͤ-
tzet werden/ dennoch nicht vermoͤgend ſind/ die
Warheit unſerer Lehre uͤber den Hauffen zu ſtoſ-
ſen/ oder nur zu bewegen/ und daß du in denenſel-
ben viel Dinge wahr zu ſeyn ausgegeben/ die ſich
in der That anders verhalten.


87.

Du haſt anfaͤnglich unter die Exempel
deiner zerſtoͤreten Gemuͤhts-Ruhe auch an-
gerechnet/ wenn dir einer deinen Mantel oder
Rock naͤhme/ wenn er dich beſchimpffe/ u. ſ. w.
Haſtu ſchon vergeſſen/ daß wir oben erwieſen ha-
ben/ es gehoͤre weder Reichthum noch aͤuſſer-
liche Ehre
zu der wahren Gemuͤths-Ruhe und
alſo iſt die Schuld auch deine/ wenn dir dadurch
deine Gemuͤths-Ruhe geſtoͤhret wird/ daß dich
der andere bis auffs Hembde ausziehet? Ziehe
ein anders an. Oder wie muͤſteſtu thun/ wenn
du ſo arm waͤreſt/ daß du keines haͤtteſt?


88.

Eben dieſes muſtu auch bey der Be-
ſchimpffung
dencken. Wie muͤſteſtu thun/
wenn
[244[240]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen.
wenn dich GOTT haͤtte laſſen in einen ſo gerin-
gen Stande gebohren werden/ als dich der ande-
re tractiret. Zudem ſo ſtehet es nicht in des an-
dern Vermoͤgen dich zu beſchimpffen/ oder un-
ehrlich zu machen/ wenn deine Tugend dich da-
von frey ſpricht. Und du haſt/ wenn du weiſe
biſt/ ſeine That nicht anders anzuſehen/ als das
Thun eines Trunckenden/ der in die Steine kratzt
und dich heraus fordert/ wenn du in guter Ruhe
liegeſt und ſchlaͤffeſt.


89.

Nun ſiehe dich umb: Ob nicht die mei-
ſten Kriege
wegen dieſer eitelen Ehre/ wegen
Macht
und Anſehen/ wegen des Reichthums/
z. e. wegen eines Stuͤcke Landes u. ſ. f. gefuͤhret
worden. Da alſo aller Krieg haͤtte nachbleiben
koͤnnen/ wenn man ſich nicht ohne Grund perſva-
dir
et haͤtte/ als ob man nicht ruhig leben koͤnte/
wenn man eine Stadt oder ein Stuͤcke Land fah-
ren lieſſe/ wenn man eine einem Geſandten oder
wohl gar einem Bilde erwieſene Unhoͤffligkeit/ ei-
ne abgeſchlagene Heyrath ungeanthet hingehen
lieſſe; Wenn man an ſtatt der Souverainetè ſein
Reich von dem andern zu Lehn empfange u. ſ. w.


90.

Hiernechſt giebſtu auch genugſam zu er-
kennen/ daß du die Natur der Menſchen nicht
wohl verſteheſt/ wenn du dir einbildeſt/ daß die
Gedult den Beleidigenden antreiben werde/
dich noch ferner zu beleydigen.
Es iſt wohl
wahr/ deß es moͤglich ſey/ daß ein Menſche ſo eine
Beſtie ſey und ſo unvernuͤnfftig mit dir verfahre/
wenn
[245[241]]Liebe aller Menſchen.
wenn du gedultig biſt/ als du es oben beſchrieben.
Alleine wenn wir von zukuͤnfftigen Dingen raiſo-
nir
en wollen/ muͤſſen wir uns nicht nach denen
richten die ſelten/ ſondern die zum oͤfftern und am
meiſten geſchehen. Nun wird dir aber die Ver-
nunfft bald zeigen/ daß wenn unter hundert Leuten
derer Beleydigung du mit Gedult vertragen/ 5.
ſeyn/ die dich ſo irraiſonabel tractiren ſolten/ ihrer
hergegen 95. ſeyn werden/ die ſolches aus dem An-
trieb ihrer Natur unterlaſſen/ und Friede mit dir
halten werden.


91.

Denn entweder dein Beleydiger iſtge-
nereux,
und hat dich mehr aus Verſehen als mit
Vorſatz beleydiget/ ſo wird ihm ſeine Generoſitaͤt
antreiben/ dir von freyen Stuͤcken deſto mehrSa-
tisfaction
fuͤr die geſchehene Beleydigung zu ge-
ben/ je groͤſſer deine Gedult iſt. Oder aber er iſt
ein Sclave ſeinerAffecten/ ſo wird er doch or-
dentlich dich nicht leichte wieder beleydigen/
wenn ihn gleich deine Gedult nicht antreiben ſolte/
dir Satisfaction zu geben.


92.

Jſt er Ehrgeitzig/ ſo wird es ihm entwe-
der wohl gefallen/ daß du das angethane Unrecht
verdauet/ und wird dich kuͤnfftig als einen Clien-
ten beſſer in acht nehmen; Oder er wird dich in ſei-
nen Hertzen als einen feigen und verzagten Kerl
verachten/ und ſich zu gut darzu achten/ daß er ſich
weiter an dich reiben ſolte.


93.

Jſt er Geldgeitzig/ ſo wird ihm deine Ge-
dult antreiben dich kuͤnfftig glimpfflicher zu tracti-
Qren/
[246[242]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
ren/ weil er hoffen wird/ einen ſolchen gedultigen
Menſchen entweder mit Freundligkeit mehr als
mit Gewalt abzuſchwatzen/ oder ſich deiner zu ſei-
nem Intereſſe zu bedienen.


94.

Endlich iſt er Wolluͤſtig/ ſo iſt er ohne
dem weichhertzig/ und wird alſo zum wenigſten
deine Gedult fuͤr eine groſſe complaiſance aus-
legen/ und dich als einen Menſchen anſehen/ mit
dem er noch wohl einen luſtigen Zeit-Vertreib
haben koͤnne.


95.

Und in Warbeit/ es muͤſte ein rechter
grauſamer Unmenſch ſeyn/ der durch die Gedult
eines andern noch mehr zu Grimm beweget wer-
den ſolte. Betrachteſtu aber ein wenig zum vor-
aus/ daß die Grauſamkeit entweder daher ent-
ſtehet/ wenn man einem Ehrgeitzigen langen
Widerſtand gethan/ und ſich gegen ihn hoch-
muͤthig bezeiget; Oder wenn ein Furchtſamer
einen noch Furchtſamern antrifft/ oder ſonſt ſiche-
re Gelegenheit findet/ ſeinen Zorn auszulaſſen;
So befindeſtu bald/ daß beyderley Art von der
Grauſamkeit dich von der Gedult abzuhalten un-
vemoͤgend ſey.


96.

Denn bey der Erſten iſt die Gedult viel-
mehr eine Præſervativ, daß ein Ehrgeitziger keine
Grauſamkeit gegen mich ausuͤbe. Was die an-
dere
betrifft/ ſcheinet es zwar/ daß zum wenigſten
in dieſem Falle die Gedult ein ungeſchicktes Mit-
tel zum Friede ſey/ ſondern ſich der Krieg beſſer mit
einen
[247[243]]Liebe aller Menſchen.
einen ſolchen Menſchen Friede zu machen ſchicke.
Aber es ſcheinet nur ſo.


97.

Ein Furchtſamer iſt mehr grauſam/ wenn
man ihm Unrecht oder Gewalt gethan/
und
hernach eine groͤſſere Furcht blicken laͤſt/ oder er
ſeine Gelegenheit ſich zu raͤchen findet/ als wenn
man eine Beleydigung von ihm vertraͤget/

und ihn in ſeiner Furcht die er hatte/ daß man ſich
wider ihm raͤchen wuͤrde/ ein wenig verzappeln
laͤſt: Ja es kan eben dieſe gehabte Furcht an-
treiben/ daß er uns die unterlaſſene Rache als eine
Gutthat ausleget und lieb gewinnet.


98.

Hiernechſt muſtu einen Unterſcheid unter
der Furcht und Gedult machen. Wer aus
Furcht gedultig iſt/ iſt nicht gedultig/ weil er ſich
gerne raͤchen wolte/ wenn er nur ſicher koͤnte.
Ein Gedultiger aber weiſet auch mitten in ſeiner
Gedult/ daß er großmaͤchtig ſey/ und daß er ſich
nicht raͤchen wolle ob er ſchon koͤnne. Bey die-
ſer Bewandniß aber kandie Gedult einen Furcht-
ſamen nicht irritiren/ wider zu kommen/ weil der
Gedultige ſich nicht furehtſam erweiſet/ auch die
bey der Gedult bezeigte Großmuͤthigkeit ihn ge-
nugſam lehret/ daß es ſo ſicher nicht ſey/ wenn er
in ſeiner Beleydigung ferner fortfahren wolte.


99.

Denn du muſt auch drittens einen Unter-
ſchied unter den vergangenen und zukuͤnffti-
gen Beleydigungen
machen. Wir handeln
jetzo von der Gedult der vergangenen. Ein an-
ders iſt es/ wenn man fraget/ ob ich auch ſchul-
Q 2dig
[248[244]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
dig ſey es zu leiden/ und keinen Widerſtand
zu thun/ wenn mich der andere von neuen be-
leydigen wolte?
Denn wie weit dißfalls die
Liebe einem gedultig zu ſeyn anbefehle/ werden wir
ſchon zu ſeiner Zeit eroͤrtern. Solchergeſtalt aber
darffſtu dich abermals fuͤr der Grauſamkeit eines
Furchtſamen nicht fuͤrchten. Vertrage die von
ihm geſchehene Beleidigung mit Gedult. Spuͤ-
reſtu aber/ daß er weiter in ſeiner Boßheit fort-
fahren wolle/ zeige ihm nur ein Loͤwen-Geſicht/ ſo
wird es mit ſeiner Grauſamkeit keine Gefahr
haben.


100.

Und eben dieſes kanſtu zur Antwort neh-
men/ wenn du mir vorhalten wolteſt/ daß ich ein-
mal oben eingeraͤumet/ daß es gleichwol ſoir-
raiſonable
Leute gebe/ die durch die Gedult ei-
nes Beleydigten ſich veranlaſſen lieſſen/ groͤſſere
Voßheit auszuuͤben/ und daß alſo zum wenigſten
doch in dieſen Faͤllen die Gedult kein zulaͤnglich
Mittel ſey Friede zu erhalten. Jch kan dirauch
dieſe Antwort ertheilen: Daß du auch zum we-
nigſten in dieſen Faͤllen noch kein beſſer Mittel
als die Gedult anfuͤhren koͤnneſt. Wolteſtu dich
gleich abermal auff hen Krieg beruffen/ und auff
das Loͤwen-Geſicht/ darvon ich nur jetzo geredet;
ſo iſt es doch wiederumb ein groſſer Unterſcheid
unter einer Nothwehre und Rache; (inter bellum
defenſivum \& offenſivum
) von jener reden wir
nicht allhier/ ſondern von dieſer. Und wird/ das
was wir obẽ wider den Krieg geredet/ ſattſam aus-
weiſen/
[249[245]]Liebe aller Menſchen.
weiſen/ daß auch in dieſen Faͤllen die Krieges-
Rache keinen Frieden geben koͤnne.


101.

Was/ ſagſtu endlich: Sol dieſes die
Philoſophie ſeyn/ die jungẽ Leuten den Weg bah-
nen ſol/ wie ſie in der Weltgalant,artig und
Tugendhafft leben ſollen?
Sie wird nichts
anders als niedertraͤchtige Gemuͤther machen/
und die Eltern werden dir trefflich verbunden ſeyn/
wenn ſie aus deiner Schule an ſtatt rechtſchaffe-
ner Kerl lauter verzagte Memmen kriegen? die
von keinen point d’ Honneur nichts wiſſen/ ſon-
dern Schande fuͤr Ehre achten/ und zu nichts in
der Welt gebraucht werden koͤnnen.


102.

Jch ſpuͤhre wohl mein Freund/ es muͤſſe
mit dir auff die Neige kommen ſeyn/ weil du an
ſtatt vernuͤnfftiger Einwuͤrffe ſchaͤndeſt und
ſchmaͤheſt. Du redeſt nicht wie Kluge Leute re-
den/ ſondern wie die Balger und Klopff-Fechter.
Meine Philoſophie iſt dem gemeinen Buͤrger li-
chen Leben nicht zuwieder/ ſondern vielmehr aller-
dings gemaͤß. Der das gro̊ſtePhlegmahat/
kan den
galanteſten und artigſten Kerl in
der Welt abgeben. Je mehr Gedult einer
hat/ je beſſer koͤm̃t er bey Hoffe fort.
Es iſt
wahr/ du zieheſt bey luſtiger Geſellſchafft die Ge-
dult der Schweitzer und Hollaͤnder
wacker
durch/ und giebeſt deinen unbegehrten Rath/ wie
ſie durch Ergreiffung der Waffen/ oder ein wenig
mehr Hitze bey den ergriffenen Waffen/ ſich in
beſſerer Sicherheit ſetzen ſolten. Aber m̃ein uͤ-
Q 3berlege
[250[246]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen
berlege dieſe Frage ein wenig genau: Wer iſt
wohl gluͤcklicher/ oder beſſer zu reden/ weniger e-
lende/ alß dieſe beyden Nationes bey dem Exceß
ihrer Gedult?


103

Und alſo ſieheſt du/ daß doch die Gedult
den Preiß behaͤlt/ es mag dich verdrieſſen wie du
wilſt. Schmaͤhe noch mehr auff ſie/ wir wollen
dir weiter kein Wort antworten/ ſondern der Ge-
dult zu Ehren als mit Gedult vertragen. Je-
doch laß dir rathen/ und mache es nicht zu arg; da-
mit unſere Gedult nicht zerreiſſet. Denn es iſt
ein ſchlimm Ding umb eine in den Harniſch ge-
brachte Gedult/ und du muſt wiſſen/ daß ſie dieſes
mit der Leutſeeligkeit gemein habe/ und von der
Wahrhafftigkeit/ Beſcheidenheit und Vertraͤg-
ligkeit dadurch entſchieden ſey daß man zu der
Gedult keinen zwingen koͤnne/
ſondern es bloß
ſeiner Liebe anheim ſtellen muͤſſe. Das iſt es e-
ben was wir oben erwehnet/ daß der Beleydiger
von Rechts wegen keine Gedult von dem Beley-
digten prætendiren koͤnne.


104.

Nunmehro erkenneſtu leichtlich/ was fuͤr
ein Unteꝛſcheid unter deꝛ Geꝛechtigkeit und Liebe
uͤberhaupt ſey. Die Gerechtigkeit iſt dasjenige
Theil der Liebe/ daß dem Menſchen das Vermoͤ-
gen giebet den andern zu dem/ was er ihm willig
leiſten ſolte zu zwingen; Derowegen kan wohl
Liebe ohne Gerechtigkeit/ nicht aber Gerechtigkeit
ohne Liebe ſeyn. Ja es verliehret die Gerechtig-
keit den Nahmen der Liebe/ wenn man den Zwang
wuͤrck
[251[247]]Liebe aller Menſchen.
wuͤrcklich braucht; Und iſt dannenhero gar leichte
zu erkennen/ worumb das andere Theil der Liebe
den Nahmen derſelben fuͤr ſich alleine haͤlt/ bey
welchen wir nicht einmahl das Vermoͤgen haben
den andern zu zwingen.


105.

Wolteſtu demnach die fuͤnff ſpecial Tu-
genden der allgemeinen Liebe nach dieſem Unter-
ſchied gegen einander halten/ ſo wirſtu finden/
daß die Leutſeeligkeit und Gedult die aller e-
delſten
darunter ſeyn/ weil man darzu nicht ein-
mahl gezwungen werden kan/ und alſo fuͤr ſich ei-
nen liebreichen Menſchen ſattſam zu erkennen ge-
ben/ auch eine Anzeigung ſind/ daß er nicht weni-
ger beſcheiden/ vertraͤglich und wahrhafftig ſey;
Da hingegen die Beſcheidenheit/ Vertraͤg-
ligkeit
und Wahrhafftigkeit nicht ſo einen ho-
hen Grad in dieſer allgemeinen Liebe einnehmẽ/ in
dem einer wohl beſcheiden/ vertraͤglich und wahr-
hafftig ſeyn kan/ der nicht Leutſeelig und gedultig
iſt/ weil er ſich anderer Geſtalt bey Unterlaſſung
jener drey Tugenden eines Zwangs befahrt/ deſ-
ſen er ſich bey dieſen beyden nicht zu beſorgen hat.


106.

Gleichwie aber das was wir jetzo gemel-
det/ ſattſam weiſet/ daß ein ſolcher Menſch nach
ſeinen aͤufferlichen Thun und Laſſen/ und in Anſe-
hen des aͤuſſerlichen Friedens zwar fuͤr gerecht/ o-
der zum wenigſten doch nicht fuͤr ungerecht gehal-
ten werden koͤnne/ gleichwohl aber immermehr
bey andern Leuten ſeine allgemeine Liebe zu
ruͤhmen einige Urſache hat; Alſo verliehret doch
Q 4des-
[252[248]]Das 5. Hauptſt. von der allgemeinen.
deshalben ein Beſcheidener/ Vertraͤglicher/
und Wahrhafftiger den Nahmen eines Men-
ſchen nicht/ der jederman die allgemeine Liebe
erweiſet/ wenn er durch deutliche Umbſtaͤnde be-
zeiget/ daß er beſcheiden/ wahrhafftig und vertraͤg-
lich ſeyn wuͤrde/ weñ er ſich gleich keines Zwangs
hierzu zu befahren haͤtte. Es wird aber nicht leich-
te ein Umſtand dieſes andere kraͤfftiger bereden/
als wenn er ſich dabey Leutſeelig und geduldig
erweiſet.


107.

Und dieſes iſt es eben/ was man ſonſt in
dem bekanten Vers zu ſagen pfleget:


Oderunt peccare boni virtutis amore

Oderunt peccare mali formidine pœna.

Denn es iſt keine wahre Tugend als die eintzige
Liebe/ und verdienet auch kein Menſch Tugend-
hafft genennet zu werden/ der aus Furcht einer
aͤuſſerlichen Gewalt das thut was recht iſt.


108.

Was ſonſten die Benennung dieſer
fuͤnff Tugenden betrifft/ kanſtu noch dieſes wenige
mercken/ daß du mehr auff die gegebene Beſchrei-
bung oder die Sache ſelbſt/ als auf den Nahmen
acht geben/ und alſo wegen der Woͤrter mit nie-
mand einen unnoͤthigen Streit anfangen muſt.
Du kanſt die Beſcheidenheit Leutſeligkeit
nennen/ wenn du nur merckeſt/ daß wir dadurch
diejenige Tugend veſtehen/ die der Hoffarth/
Stoltz/ Hochmuth/ Verachtung anderer Leute/
u. ſ. w. entgegen geſetzet iſt. Die Vertraͤglig-
keit
kanſtu Friedfertigkeit heiſſen/ wiewohl du
auch
[253[249]]Liebe aller Menſchen.
auch eben dieſen Nahmen der friedfertigkeit der
Gedult geben kanſt/ indem der nicht allein fried-
fertig iſt/ der andern nichts zu Leyde thut/ ſondern
auch der ſich von andern viel uͤberſich gehen laͤft;
Und eben alſo iſt es auch mit Benennung der La-
ſter/ die dieſen beyden Tugenden entgegen geſetzet
werden/ beſchaffen/ indem Zanckſucht/ Gewalt/
Krieg/ Schaden/ u. ſ. w. ſo wohl von einen unver-
traͤglichen/ als ungeduldigen Menſchen geſaget/
werden koͤnnen. Die Leutſeligkeit kanftu
Barmhertzigkeit nennen/ weil die Unbarmher-
tzigkeit/ der Neyd/ u. ſ. w. verurſachen/ daß ein
Menſch die Leutſeligkeit nicht ausuͤbet. Endlich
ſtehet dir es frey/ die Wahrhafftigkeit Treue
zu heiſſen/ weil ein Betrieger und Luͤgner der ſein
Verſprechen nicht haͤlt/ wuͤrcklich untreu iſt.


Das 6. Hauptſtuͤck.
Von der abſonderlichen ver-
nuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.


Jnnhalt.


  • Ohne Abhandlung der abſonderlichen Liebe iſt die Sit-
    ten-Lehre unvollkommen/ und doch handelt man ins-
    gemein nicht davon. n. 1. Beſchreibung der vernuͤnffti-
    gen adſouderlichen Liebe. n. 2. Sie iſt eine Vereini-
    gung zweyer tugendliebenden Seelen n. 3. worum
    zweyer Seelen uñ nicht zweyer Leiber?

    n. 4. Vernuͤnftige Liebe kan auch zwiſchen zweyen Perſonẽ
    Q 5von
    [254[250]]Das 6. Hauptſt von der abſonderlichen
    von unterſchiedenen Geſchlechte ſeyn. n. 5. Gemeiner
    Unterſcheid zwiſchen der Freundſchaffe und Liebe. n. 6.
    Die Liebe hat nicht eben die Vermiſchung der Leiber
    von noͤthen/ und die Freundſchafft/ kan nicht ohne Ver-
    einigung der Seelen beſtehen. n. 7. Wegen der allge-
    meinen boͤſen Exempel pfleget man in beyden Stuͤcken
    das Gegentheil zu verthaͤydigen. n. 8. Vernuͤnfftige
    Freundſchafft und Liebe haben allgemeine Reguln/ und
    die Zulaͤßigkeit der Liebe dependiret nicht alleine vom E-
    heſtande. n. 9. Vnvernuͤnfftiger allgemeiner Gebrauch/
    die Converſation zweyer Perſonen von unterſchie-
    denen Geſchlecht betreffend. n. 10. Nothwendige und
    wahrhafftige gute Dinge/ ſollen wegen Befahrung des
    Mißbrauchs nicht abgeſchafft werden. n. 11. Die ver-
    botene vertrauliche Converlation des maͤnnlichen und
    weiblichen Geſchlechtes reitzet vielmehr zu unordentli-
    cher Liebe an/ n. 12. und befoͤrdert ſie vielmehr/ als daß
    ſie ſie hindert. n. 13. Gelegenheit macht Diebe n. 14.
    aber Gelegenheit probiret auch einen ehrlichen Kerl.
    n. 15. Die verſtatteten oͤffentlichen Converſationes
    zwiſchen M. und W. ſind irraiſonabel n. 16. und das
    z. e. ein Lauteniſte mehr Freyheit hat/ als ſonſt ein an-
    derer tugendhaffter Menſch. n. 17. Unſer Mißtrauen
    gegen die unſerigen treibet ſie deſtomehr an ſolches zu
    verdienen. n. 18. Die Liebe erfordert zum wenigſten
    zweyer Seelen Veneinigung/ aber je mehr einan-
    der lieben/ je vernuͤnfftiger iſt es. n. 19. Es
    iſt unvernuͤnfftig jemand zu haſſen/ daß er das liebet
    was wir lieben/ oder daß es neben uns jemaud anders
    liebet; Denn es iſt nicht in unſern Vermoͤgen der Lie-
    be zu widerſtehen. n. 20. Ein anderer hat eben das
    Recht als wir dasjenige zu lieben was uns gefaͤllet/ und
    ſeine Liebe bringet uns mehr Nutzen als Schaden. n. 21.
    Und die Perſon die neben uns jemand anders liebet/ iſt
    entweder zu loben oder zu verachten/ niemahlen aber
    zu haſſen. n. 22. Was Tugendliebende Perſonen
    heiſſen
    [255[251]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
    heiſſen n. 23 Unter denenſelben und unter den
    Tugendhafften iſt ein Unterſcheid. n. 24. Die vernuͤnff-
    tige Liebe erfordert zwar eine Gleichheit in denen Incli-
    natio
    nen/ nicht aber in denen Graden derſelben. n. 25.
    26. Die abſonderliche vernuͤnfftige Liebe erfordert drey
    ſonderliche Tugenden. n. 27. die alle eine wahre Eſtim
    und Hochachtung zu Grunde prælupponiren.
    n. 28. 29. Was eigentlich Hochachtung heiſſe/ und daß
    man auch einen geringern hochachten koͤnne. n. 30. Aus
    der Hochachtung entſtehet (I) eine ſorgfaͤlltige
    Gefaͤlligkeit.
    n. 31. Dieſes iſt das unfehlbarſte n. 32
    und nothwendigſte Kenn-Zeichen einer wahren Liebe.
    n. 33. Sie erfordert mehr die Augen des Gemuͤthes als
    des Leibes. n. 34. Eine ſonderliche Kunſt dieſelbe in
    oͤffentlicher Gefellſchafft der geliebten Perſon durch oͤf-
    fentliche Thaten jedoch in geheim zu verſtehen zu ge-
    ben. n. 35. Sie hat keine andere Regeln als die Liebe
    ſelbſt. n. 36. Groſſer Nutzen dreyer Tugenden der all-
    gemeinen Liebe/ die Sorgfaͤltigkeit deſto beſſer auszu-
    uͤben. n. 37. 38. Worum die Dienſt-Leiſtungen der Ge-
    faͤlligkeit geringe genennet werden. n. 39. Durch die
    Gefaͤlligkeit erhandelt man die allerteureſte Waare mit
    nichts. n. 40. Worumb die allerwenigften ſich dieſer
    Handelſchafft bedienen. n. 41. Derjenige gegen dem
    man ſich gefaͤllig weiſet/ muß keine Gerechtigkeit dar-
    aus machen. n. 42. Anff wie vielerley Art hierwieder
    pfleget angeſtoſſen zu werden. n. 43. Man macht ſich
    hierdurch der geſuchten Liebe unwuͤrdig. n. 44. Und
    iſt dieſes noch ſchaͤndlicher als wenn man keine ſorgfaͤl-
    tige Gefaͤlligkeit hat. n. 45. Jedoch ſind dieſe noch un-
    wuͤrdiger geliebet zu werden/ die keine Gefaͤlligkeir von
    den andern annehmen wollen u. ſ. w. n. 46. Wenn
    die Liebe auff beyden Theilen recht angehet/ hoͤret die-
    ſe ſorgfaͤltige Gefaͤlligkeit auff. n 47. Derowegen kan
    man aus dem Gebrauch und Unterlaſſung dieſer Tu-
    gend
    [256[252]]Das 5. Hauptſt. von der abſonderlichen
    gend erkennen/ wie weit die Menſchen in ihrer Liebe
    advanciret ſeyn. n. 48. 49. Und diejenigen thun un-
    recht/ die/ wenn ſie allbereit derjenigen verſichert ſind/
    dieſe, ſchlechte Proben noch fordern. n. 50. Nach
    der Gefaͤlligkeit folget (II) die vertrauliche
    Gutthaͤtigkeit.
    n. 51. Erinnerungen uͤber des Se-
    neca
    Buͤcher von dieſer Tugend. n. 52. Beſchreibung der-
    ſelben. n. 53. Dis Vertrauen muß vor der Gut-
    thaͤtigkeit vorher gehen. n. 54. und ohne daſſelbe iſt kei-
    ne Gutthaͤtigkeit vernuͤnfftig. n. 55. Ja es iſt keine Gut-
    thaͤtigkeit ſondern eine Verſchwendung n. 56. oder
    man ſucht ſein eigen intereſſe dadurch. n. 57. Wiewohl
    tugendhaffte Perſonen einander bald kennen lernen/
    und ein Vertrauen gegen einander kriegen. n. 58. Es
    iſt unvernuͤnfftig die jenigen zu lieben die uns haſſen/ o-
    der die uns nicht wieder lieben. n. 59. Und alſo iſt kei-
    ne vernunfftige Liebe/ wenn man deswegen kranck wird
    oder gar ſtirbt. n. 60. Die Wechſelsweiſe Gutthaͤtig-
    keit iſt ein nothwendiges Stuͤck der abſonderlichen Lie-
    be. n. 61. Und ein unfehlbares Kenn-Zeichen derſel-
    ben. n. 62. Weil ſie weder bey der Leutſeligkeit n. 63.
    noch bey der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit. n. 64. noch bey
    der unvernuͤnfftigen Liebe anzutreffen iſt. Bey der un-
    vernuͤnfftigen Liebe koͤnnen wohl koſtbahre und muͤhſa-
    me Liebes-Bezeugungen vorgehen. n. 65. Man kan
    auch bey einer unvernuͤnfftigen Liebe ſein Leben in die
    Schantze ſchlagen n. 66. aber man ſuchet bey der unver-
    uuͤnfftigen Liebe dadurch ſein eigenes/ bey der ver-
    nuͤnfftigen aber das wahre Vergnuͤgen der geliebten
    Perſon. Und dieſes iſt auch der Unterſcheid zwiſchen
    den wahrhafftigen und Schein-Gutthaten. n. 67. Bey
    dieſer Gelegenheit wird das Weſen der wahren und
    Schein-Gutthaten ausfuͤhrlich gegen einander gehal-
    ten n. 68. 69. 70. 71. 72. 73. Die Gutthaͤtigkeit begehret
    keinen Entgeld. n. 74. Sie hat aber wohl Urſach den-
    ſelben
    [257[253]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
    ſelben zu hoffen wegen der Danckbarkeit des geliebten.
    n. 75. Die Danckbarkeit iſt nur bey wahrhafftiger Lie-
    be. n. 76. Es iſt ſchwer von der Danckbarkeit und Un-
    danckbarkeit eines andern zu urtheilen. n. 77. Man
    kan niemand zur Danckbarkeit zwingen. n. 78. Man
    kan auch wohl danckbar ſeyn/ wenn man gleich den an-
    dern wuͤrcklich nichts zu gute thut. n. 79. Ein jedwe-
    der auch der aͤrmſte Menſch iſt capabel dem andern gu-
    tes zu thun. n. 80. Jn dieſen wenigen Saͤtzen iſt die
    geſamte Lehre des Seneca von den Gutthaten concen-
    tri
    ret. n. 81. Wenn die Liebe vollkommen iſt/ entſtehet
    daraus (III) Die voͤllige Gemeinſchafft al-
    les Vermoͤgens und alles vernuͤnfftigen
    Thun und Laſſens.
    n. 82. Von der Gemein-
    ſchafft der Guͤter im Anfang der Welt und in der erſten
    Chriſtlichen Kirche n. 83. Von der Gemeinſchafft des
    Plato. n. 84. Einwuͤrffe wieder die Gemeinſchafft der Guͤ-
    ter n. 85. Sie hebet den Unterſcheid zwiſchen Reiche und
    Arme auff n. 86. aber eben deswegen waͤre ſie wohl zu
    wuͤnſchen. n. 87. Sie wuͤrde auch zugleich viel andere
    Staͤnde im gemeinen Weſen auffheben/ die ſich durch
    die Thorheit und Eitelkeit anderer Menſchen meh-
    ren. n. 88. Sie wuͤrde aber doch die buͤrgerliche Ge-
    ſellſchafft und das gemeine Weſen nicht gantz auffheben
    n. 89. Weil nicht nur die Einfuͤhrung des Eigen-
    thums ohne die buͤrgerliche Geſellſchafft n. 90. ſon-
    dern auch dieſe ohne jenes wohl beſtehen kan. 91. Ein
    Beyſpiel einer ſolchen Republique in der alle Guͤter
    gemein waͤren/ iſt in der Hiſtorie der Sevarambes an-
    zutreffen. n. 92. Die Gemeinſchafft der Guͤter fuͤhret
    den Muͤßiggang nicht ein. n. 93. 94. Ob/ wenn kein
    Eigenthum waͤre/ alle Gutthaͤtigkeit und Liebe wuͤrde
    auffgehoben ſeyn? n. 95. 96. Ob dann das Eigenthum
    abgeſchaffet und die Gemeinſchafft eingefuͤhret werden
    muͤſte? n. 97. Worinnen die Gemeinſchafft des Thuns
    und
    [258[254]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
    und laſſens beſtehe/ und von der Gutthaͤtigkeit ent
    ſchieden ſey. n. 98. 99. Einwurff daß die vollkommene
    Liebe wieder abnehmen muͤſſe/ und alſo nicht ruhig
    ſeyn koͤnne. n. 100. Beantwortung deſſelben. n. 101.
    102.

1.


DEr Anfang des vorigen Capitels wird dir
zeigen/ daß die Sitten-Lehre hoͤchſt un-
vollkommen ſeyn wuͤrde/ wenn wir es
bey der allgemeinen Liebe bewenden lieſſen/ und
keine Lehr-Saͤtze von der abſonderlichen Liebe
gaͤben/ weil dieſes eben die rechte Liebe und alſo
das wahre Mittel iſt zur Gemuͤths-Ruhe zuge-
langen. Gleichwohl wirſt du aus gegenwaͤrti-
gen Capitel ſehen/ daß wir bey den meiſten ſo da-
rinnen abgehandelt wird/ die Bahne ſelbſt bre-
chen muͤſſen/ indem wir unter den Sitten-Leh-
rern niemand gefunden/ der uns darinnen vorge-
gangen waͤre: weshalben wir auch Vergebung
hoffen/ wenn wir nicht alles auff das genaueſte
darinnen uͤbervermuthen ſolten eroͤrtert haben.


2.

So haben wir auch in Anfang des vorigen
Capitels allbereit etwas ausfuͤhrlich von dem Un-
terſcheid unter der allgemeinen und abſonderli-
chen Liebe gehandelt/ welches wir dannenhero
nicht allhier wiederhohlen/ ſondern aus dem/ was
eben daſelbſt von dem Unterſcheid der Schein-
und wahrhafftigen/ oder unvernuͤnfftigen und
vernuͤnfftigen Liebe geſagt worden/ die vernuͤnff-
tige abſonderliche Liebe
beſchrieben/ daß es ſey
die
[259[255]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
die Vereinigung zweyer tugendliebenden
Seelen/ die durch Wechſelsweiſe Gefaͤllig-
keit und auffmerckſame Sorgfalt geſucht/
durch Wechſelsweiſe Gutthaten erlanget/
und durch Gemeinmachung aller Dinge be-
ſeſſen und erhalten wird.


3.

Was wir durch die Vereinigung verſte-
hen/ haben wir nicht noͤthig zu wiederholen/ in An-
ſehen ſolches allbereit im 4. Hauptſtuͤck zur Gnuͤ-
ge erklaͤret worden. Daß wir aber zwey tu-
gendliebender Seelen
erwehnet/ muß etwas
deutlicher ausgeleget werden/ viele allgemeine
Jrrthuͤmer deſto beſſer zu erkennen/ und das We-
ſen dieſer Dinge deſto eigentlicher zu erlernen.


4.

Durch zwey Seelen verſtehen wir zwey
gantze Menſchen/ und haben deswegen der See-
len mehr als des Leibes Meldung gethan/ umb
uns abermahl zu erinnen/ was wir ſchon im 4.
Hauptſtuͤck von der Vereinigung der Leiber/
ob dieſelbe ein noͤthiges Stuͤck der Liebe ſey/

weitlaͤufftig gelehret.


5.

Derowegen iſt auch offenbahr/ daß weil der
Unterſcheid des Geſchlechts/ wie auch ob er-
wehnet/ den Leib nicht aber die Seele angehet/
auch kein Unterſcheid zwiſchen der vernuͤnffti-
gen Liebe unter den Perſonen einerley oder
zweyerley Geſchlechts zu machen ſey/
ſondern
daß ſie beyderſeits aus einerley gemeinen Lehrſaͤ-
tzen hergeleitet weꝛden muͤſſen/ aus genommen deſ-
ſen/ daß wir wegen der Zulaͤßligkeit der Vermi-
ſchung
[260[256]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
ſchung der Leiber zwiſehen zweyen Perſonen un-
terſchiedenen Geſchlechts gleichfalls oben ange-
mercket.


6.

Es wird zwar ingemein auch unter denen
Gelehrten die Liebe der Perſonen einerley und un-
terſchiedenen Geſchlechts mit unterſchiedenen
Nahmen beleget/ indem man dieſe Letztere al-
lein des Nahmens der Liebe wuͤrdiget/ aber jene
nur eine Freundſchafft nennet; und koͤnten wir
ja wohl nach unſerer Gewohnheit dißfalls einen
jeden reden laſſen wie er wolte (maſſen wir denn
ſelbſt uns umb Kuͤrtze willen zum oͤfftern des
Worts Freundſchafft/ die Liebe zweyer Perſonen
einerley Geſchlechts zu bemercken/ bedienen wer-
den) wenn man nur nicht in der That ſelbſt von
der wahren Beſchaffenheit abwiche


7.

Denn anfaͤnglich iſt irrig/ wenn man dafuͤr
haͤlt/ es werde zu einer jeden Wahrhafftigen
Liebe die Vermiſchung der Leiber
als ein we-
ſentliches Stuͤck erfordert/ davon wir auch oben
das Gegentheil ſchon erwieſen. Hernachmahls
iſt eben ſo unvernuͤnfftig daß man ſich einbildet/ es
koͤnne die wahre Freundſchafft in einer gemaͤſ-
ſigten Gleichfoͤrmigkeit des aͤußerlichen Thun und
Laſſens beſtehen/ wenn gleich die Gemuͤther
unvereiniget bleiben/
und ein jedes auff ſein ei-
gen Intereſſe ſaͤhe.


8.

Beyde Jrrthuͤmer kommen daher/ daß wir
wegen der allgemeinen Thorheiten der Welt faſt
gar kein Exempel weder vernuͤnfftiger
Freund-
[261[257]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
Freundſchafft ohne Abſehen auff den Eigennutz/
noch vernuͤnfftige Liebe/ ohne Begierde ſich
durch die Leibes/ Vermiſchung zu beluſtigen an-
treffen; weil faſt alles in der Beſtialitaͤt ſtecket/
und ſolcher geſtallt/ als es durchgehends ſo zu ge-
ſchehen pfleget/ die Laſter der Tugend Nahmen
angenommen haben; da doch bey wahrer Freund-
ſchafft/ da eine rechte Vereinigung der Gemuͤther
iſt/ ja ſo ein groſſes Vergnuͤgen empfunden wer-
den kan/ als bey der vernuͤnfftigen Frauen-Liebe.


9.

Derowegen ſo mercke/ daß alles dasjenige/
was wir in dieſem Capitel von der vernuͤnffti-
gen Liebe
handeln werden/ auff gleiche Maſſe
von der Freundſchafft und Liebe zu verſtehen
ſey/ und daß man alſo die vernuͤnfftige Liebe der
Perſonen anders Geſchlechts nicht aus dem
Eheſtand allein judiciren muͤſſe/ weil nicht nur/ als
ob erwehnet/ die Liebe ehelicher Perſonen meiſten-
theils mehr unvernuͤnfftig als vernuͤnfftig iſt/ ſon-
dern auch/ weil wir im folgenden Hauptſtuͤck die
vernuͤnfftige Liebe unter Ehe-Leuten als einen
Schluß aus dieſen Capitel herleiten werden/ und
alſo dieſer Schluß keine Grund Regel ſeyn kan/
die vernuͤnfftige Liebe uͤberhaupt zu erkennen.


10.

Bey dieſer Bewandniß aber iſt es ein wie-
wohl gemeiner aber hoͤchſtſehaͤdlicher Jrrthum/
daß man nicht allein von Jugend auff Perſo-
nen unterſchiedenen Geſchlechtes mit einan-
der vernuͤnfftig umbzugehen nicht ange-
wehnet/
ſondern auch/ wenn ſie erwachſen ſind/
Rauſſer
[262[258]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
auſſer dem Eheſtand ein Geſchlechte/ die ver-
trauliche
Converſationdes andern Ge-
ſchlechts als was ſchaͤdliches und unehrliches
fliehen und meiden lehret/ oder wenn zwey
vernuͤnfftige Perſonen/ die nicht mit einan-
der verehlicht ſind/ vertraulich mit einander
umgehen/ dieſes als eine unvernuͤnfftige la-
ſterhafte Liebe ſchaͤndet und ſchmaͤhet.
Denn
hierdurch wird gantz offenbahr die gantze Welt
gehindert den beſten Theil der vernuͤnfftigen und
abſonderlichen Liebe auszuuͤben/ in dem wir albe-
reit oben geſagt/ daß die Vertrauligkeit und
Weichhertzigkeit zwiſchen zweyen Perſonen un-
terſchiedennen Geſchlechts natuͤrlicher Weiſe viel
ſtaͤrcker ſey/ als zwiſchen denen von einem Ge-
ſchlechte.


11.

Jch weiß ja wohl/ daß dieſes alles unter
dem prætext geſchicht/ damit der Mißbrauch
einer unvernuͤnfftigen Liebe dadurch abge-
ſchnitten werde.
Aber man wird nicht leichte
was unvernuͤnfftigers antreffen koͤnnen als dieſen
prærext. Indifferente Dinge kan man wohl
gantz unterlaſſen/ wenn der Mißbrauch groß iſt.
Aber nothwendige Dinge/ oder wahrhafftig gute
Dinge gantz auszurotten wegen des befuͤrchteten
Mißbrauchs iſt wieder die geſunde Vernunfft.
Was iſt aber nothwendiger als eine vernuͤnfftige
Vertrauligkeit auch unter Perſonen von zweyer-
ley Geſchlechte.


12. Zu
[263[259]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.

12.

Zudeme ſo reitzet dieſes deſtomehr zur
unordentlichen Liebe an/ je mehr man alle
zulaͤßliche
Converſationverhietet; ſintemahl
nicht nur die verderbte Natur insgemein allen
verbotenen ſonſt unbegehrten Dingen am meiſten
nachtrachtet; ſondern auch bekant iſt/ daß ſon-
ſten durch Wegerung und Verbot diejenigen ſo
einander unvernuͤnfftig lieben/ dieſe ihre Liebe
anzufeuren ſuchen.


13.

Zugeſchweigen daß dieſe Gewohnheit un-
vermoͤgend ſey/ durch Abſchneidung aller
vertraulicher
Converſationdie unordent-
liche Liebe zu hindern.
Zwey Perſonen/ die ſich
vorgeſetzt einander unvernuͤnfftig zu lieben/ und
ein wenig verſchmitzt ſeyn/ ſind geſchickt/ die gan-
tze Welt mit aller ihrer Obſicht zu betriegen. Jta-
lien iſt allezeit wegen Ebebruchs mehr beſchrien
geweſen als Franckreich; und wer die Welt ein
wenig kennet/ wird mir gar leichte Beyfall geben/
daß das Leuteſcheueſte Frauen-Zimmer zur un-
ordentlichen Liebe gemeiniglich viel geneigter ſey
als das/ was mit Manns-Perſonen frey zu con-
verſi
ren gewohnet iſt; ſo wenig hindert dieſe un-
zeitige Vorſorge das befahrte Ubel/ ſondern be-
foͤrdert es viel.


14.

Jch ſehe wohl/ du ruͤmpffeſt den Mund/
und bildeſt dir ein/ wunder was kluges vorge-
bracht haſt/ wenn du mir auff folgende Weiſe
begegneſt. Wenn wirſt du doch einmahl auffhoͤ-
ren alle gute Gebraͤuche zu tadeln? Biſt du denn
R 2alleine
[262[260]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
alleine klug? Meineſt du daß das Alterthum un-
ſerer Vorfahren nicht weiter geſehen habe als du?
Du wirſt wohl nimmermehr das Sprichwort
auskratzen: Gelegenheit macht Diebe/ Wo
Feuer und Stroh zuſammen koͤmmt/ da
brennets lichterloh.


15.

Aber mein lieber Freund laß dir dienen.
Die Schmaͤhungen der du dich bedienet/ wil ich
dir ſchencken/ laß dir nur ein ander Sprichwort
vorhalten: Durch Gelegenheit probiret man
einen ehrlichen Kerl. Wegen der Feuers-
Brunſt muß man nicht Feuer und Stroh
aus der Welt jagen.
Gelegenheit macht kel-
nen Dieb/ ſondern gibt ein Diebiſch Hertze zu er-
kennen. Solten wir uns nicht in unſer Hertz
ſchaͤmen/ daß wir unſere Soͤhne insgeſambt fuͤr
leichtfertig/ und unſere Toͤchter fuͤr liederlich/ oder
die unter die Zahl derjenigen gehoͤren/ von denen
der Poëte ſaget: Caſta eſt qvam nemo rogavit,
auff dieſe Weiſe ausſchreyen? Ja daß wir uns
ſelbſten der tadelnswuͤrdigſten Nachlaͤßigkeit an-
klagen/ daß wir nicht durch eine gute Zucht den
Tugend-Saamen in ihren Hertzen gepflantzet.


16.

Zudem wie laͤcherlich iſt doch unſere Vor-
ſorge? Man verdenckt zwey Perſonen unterſchie-
denes Geſchlechts/ wenn ſie vertraulich mit ein-
ander umbgehen/ ob man ihnen ſchon ſonſten
nichts verdaͤchtiges oder unerbares nachſagen
kan. Aber das iſt gar loͤblich/ wenn ſie in oͤffent-
licher Geſellſchafft mit einander eſſen und trin-
cken
[265[261]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
cken/ ſpielen/ tantzen/ einander ſelbſt oder an-
dere Leute dnrchziehen?
Jſt es nicht eben ſo
viel/ als wenn wir behaupten wolten/ daß die Tu-
gend und Keuſchheit durch wohlluͤſtige Speiſe
und Tranck/ durch betrigeriſchen Gewinſt/ durch
uͤppige kleine Spiele/ durch anreitzende Verkeh-
rungen der Augen und Wendungen des Leibes/
und durch die mediſance muͤſſe erhalten werden?


17.

Gleichergeſtalt was iſt doch darinnen
wohl fuͤr eine Vernunfft? Einen Tantzmeiſter/
Sprachmeiſter/ Lauteniſten/ Mahler
u. ſ.
w. verſtatten wir/ daß er taͤglich gantze Stunden
mit unſern Weibern und Toͤchtern alleine iſt;
und einen andernhonnèt homme halten wir
nebſt dem Frauen-Zimmer fuͤr unehrlich/ wenn ſie
nicht alle ihre Converſationes in Gegenwart
dreyer oder mehr Zeugen (als wie die Advocaten
die mit denẽ Inqviſiten reden wollen/) verrichten?


18.

Jch wil davon nichts erwehnen/ das eben
das Mißtrauen/ daß wir in der unſerigen Tu-
gend ſetzen/ ſie deſto mehr zur Untugend anrei-
tzet. Es ſchmertzet ein Tugendliebendes Gemuͤ-
the/ daß die Gemuͤths-Ruhe noch nicht in einem
hohen Grad beſitzet/ nichts mehr/ als wenn man es
wegen eines Laſters/ daß es bißhero gehaſſet/ ver-
dencket. Und nach der gemeinen Anmerckung
kluger Leute iſt der unrechte Verdacht eines Man-
nes die erſte Staffel zu der aus der unordentli-
chen Liebe eines Weibes ihme erwachſenden
Schande.


R 319. Aber
[266[262]]Das 6. Hauptſt von der abſonderlichen

19.

aber wo leitet uns der Eyffer wegen eines
allgemeinen Mißbrauchs hin? Wir muͤſſen wie-
der einlencken/ damit wir nicht zuweit von den
Graͤntzen unſers Vorhabens uns entfernen/ ob
wir ſchon nicht den zehenden Theil davon geſagt
haben. Daß wir hiernaͤchſt zweyer Seelen oben
gedacht/ iſt nicht ſo wohl geſchehen/ daß wir
eine groͤſſere Zahl ausſchlieſſen wolten/ ſondern
vielmehr anzuzeigen/ daß wie wir ſchon oberweh-
net/ kein Menſch ſelbſt wahrhafftig lieben koͤn-
ne. Je mehr dannenhero Tugendliebende See-
len mit einander vereiniget ſind/ je groͤſſer iſt ihr
Vergnuͤgen/ und je groͤſſer wird ihre Gemuͤths-
Ruhe/ weil ein jeder uͤber der andern ihr Wolſeyn
ſich ruhig erfreuet/ und durch die Vermehrung
der Anzahl ſich liebender Perſonen die Anzahl
der Liebe/ nicht vermehret/ ſondern aus allen mit
einander gleichſam eine Seele/ und warhafftig
ein Wille und eine Liebe wird.


20.

So iſt demnach hieraus leichtlich abzuſe-
hen/ daß nichts unvernuͤnfftiger ſey/ als eine Per-
ſon deswegen zuhaſſen/ daß ſie eine Perſon die
wir lieben gleichfalls lieber/
odeꝛ daß ſie neben
uns eine andere Perſon liebet/
oder ſich von
einem andern lieben laͤſt.
Die Liebe iſt keine
Wuͤrckung unſerer eigenen Willkuͤhr/ ſondern der
Natur/ und ſo unmoͤglich es iſt/ daß der Magnet
das Eiſen ſo ihme nahe lieget nicht an ſich ziehen
ſolte/ o ohnmoͤglich iſt es auch/ daß Tugendhaffte
Gemuͤther einander nicht lieben ſolten/ wenn ſie
ihre
[267[263]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
ihre Tugend erkennen. Eine unvernuͤnfftige Lie-
be entzuͤndet ſich gleich durch den erſten Anblick ei-
ner Schoͤnheit oder durch unkeuſche Reitzungen/
aber tugendhaffte Seelen gehen oͤffters/ ehe ſie
einander kennen lernen/ gantz indifferent mit ein-
ander um/ und nichts deſtoweniger wird hernach/
wenn ſie beyderſeits ihre Verdienſte einander zei-
gen/ ihre Liebe ſo ſtarck und bruͤnſtig/ daß ſie nicht
ohne einander leben koͤnnen. Wie ſolte man dan-
nenhero einen Menſchen haſſen oder ſich uͤber
ihn erzoͤrnen/ wenn er das thut/ worinnen er
der Natur nicht wiederſtehen kan?


21.

Zu dem aus was fuͤr einem Grunde wol-
len wir uns inſonderheit uͤber dem erzoͤrnen/ der
dasjenige auch zu lieben anfaͤnget das wir
lieben.
Hat er nicht eben das Recht darzu das
wir haben/ und kan wohl das/ daß wir jemand zu
erſt von ihm geliebet/ uns ein Eigenthumb geben?
Die Liebe iſt keine Sache die durch Handel und
Wandel erworben oder durch Geld erkaufft wer-
den kan. Sie kan keines Menſchen Eigenthumb
werden/ weil ſie ohne Abgang des einen/ alle Men-
ſchen vergnuͤgen kan/ und weil GOtt ſie in unſere
Seelen gepflantzet/ das gantze menſchliche Ge-
ſchlecht dadurch zu vereinigen/ die Vereinigung
aber bloß durch die Menſchen ſelbſt unvernuͤnffti-
ger Weiſe gehindert wird. Zudem ſo kan mir
auch dieſe Liebe keinen Schaden bringen/ ſon-
dern ich bin demjenigen der das liebet/ was ich
liebe vielmehr verbunden. Denn wenn er die
R 4Perſon
[268[264]]Das 6. H. von der abſonderlichen
Perſon liebet die mit mir vereiniget iſt/ vereiniget
er ſich auch mit mir/ und indem er ihr Vergnuͤgen
ſuchet oder ſie vergnuͤget/ muß er nothwendig mich
mit vergnuͤgen/ weil mein Vergnuͤgen mehr in
dem Vergnuͤgen der geliebten Perſon als in dem
meinigen beſtehet.


22.

Eben dieſes koͤnnen wir auch anfuͤhren/
worumb wir uͤber die geliebte Perſon uns
nicht erzuͤrnen ſollen/
wenn ſie ſich von einem
andern lieben laͤſt und ihn wieder liebet/ auſſer daß
wir noch dieſe Urſachen beyfuͤgen. Entweder
die Perſon ſo wir lieben/ liebet neben uns eine
Perſon/ die auch tugendhafft iſt/ und uns wohl
gar uͤbertrifft; oder liebet eine laſterhaffte/ und
die ihre Hochachtung nicht verdienet. Jſt ſie auch
tugend hafft
und wohl noch tugendhaffter/ als
wir/ worumb ſolten wir unſern Freund oder
Freundin haſſen/ daß ſie das thue/ worzu ſie die
geſunde Vernunfft anreitzet/ und was wir ſelbſten
thun wuͤrden/ ja was wir thun ſolten/ wenn wir
an ihrer Stelle waͤren. Jſt ſie laſterhafft/ ſo
haben wir nicht Urſache weder den laſterhafften
noch unſern Freund oder Freundin zu haſſen/
(weil wir/ als im vorigen Capitel erwieſen iſt/ nie-
mahlen einige Urſachen werden finden koͤnnen ei-
nen einigen Menſchen zu haſſen.) Wir haben a-
ber nicht Urſache ſie zu lieben/ weil wir aus dieſer
ihrer That erkennen/ daß ſie nicht ſo tugendhafft
ſey/ als wir ſie uns eingebildet; und daß ſie noth-
wendig an dieſen laſterhafften ihres gleichen ge-
funden
[269[265]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
funden. Und deswegen ſind wir dieſen laſter-
hafften Menſchen auff gewiſſe Maaſſe verpflich-
tet/ daß er Urſache geweſen/ daß wir eines ſehr
ſchaͤdlichen Jrrthums ſind entlediget werden.


23.

Ferner wenn ich in der Beſchreibung der
abſonderlichen Liebe zweyer tugendliebenden
Seelen erwehnet/ ſo weiſet ſchon das vorher ge-
hende Capitel/ worum wir unter allen Particular-
Gleichheiten die unter denen Menſchen anzutref-
fen ſind/ keine fuͤr geſchickter zur vernuͤnfftigen Lie-
be gehalten als dieſe. Ja es weiſen auch unſere
vorhergehende Lehren/ daß weil wir keine andere
Tugend als die Liebe erkennen/ diejenigen Perſo-
nen nur fuͤr tugendliebend zu achten ſeyn/ die
mit ihren Thun und Laſſen bezeugen/ daß ſie die
Liebe lieben/
daß iſt/ nach Anleitung/ des vori-
gen Capitels/ die Leutſeligkeit/ Wahrhafftigkeit/
Beſcheidenheit/ Vertraͤgligkeit und Gedult. Das
iſt es eben was wir im vorhergehenden Capitel ge-
ſagt/ daß die allgemeine Liebe die Richtſchnur
der abſonderlichen
ſey/ daß iſt/ daß diejenigen/
die von obgeſagten fuͤnff Tugenden oder auch nur
von einer unter ihnen/ gaͤntzlich entbloͤſet ſeyn/ ſich
zur abſonderlichen Liebe nicht ſchicken.


24.

Jch habe aber mit Willen tugendlieben-
de
und nicht tugendhaffte Seelen erfordert/ um
zu zeigen/ daß die vernuͤnfftige Liebe nicht nur un-
ter denen ſey/ die die Gemuͤths-Ruhe allbereit in
einem hohen
Gradbeſitzen/ ſondern auch unter
denen/ die nach derſelben ernſtlich trachten/ ob ſie
R 5gleich
[270[266]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
gleich nur noch Anfaͤnger ſind und auff der Tu-
gend-Bahn noch nicht eben allzuweit fortgewan-
dert haben; Wiewohl jederman gar leichte ſie-
het/ daß auff dieſe Weiſe in der vernuͤnfftigen
Liebe unterſchiedene Grad geben muͤſſe/ und daß
dieſe die allervortrefflichſte ſey/ wenn zwey oder
mehr Hertzen/ die ſchon die Gemuͤths-Ruhe er-
halten/ haben/ vereiniget ſind.


25.

Weil wir dannenhero ſo wohl diejenigen
ſo auff der Tugend-Bahn zu wandeln anfangen/
als die ſo allbereit zum zweck gelanget/ fuͤr tu-
gendliebend achten; gleichwohl aber zum oͤfftern
als eine aus gemachte Sache erwehnet/ daß die
Liebe eine Gleichheit erfordere;
als iſt noch
ferner noͤthig zu wiſſen/ daß dem unerachtet die
vernuͤnfftige Liebe nicht nur unter denen ſeyn koͤn-
ne/ die auff dem Tugend-Wege/ ſo zu ſagen/ ne-
ben einander gehen/ ſie moͤgen nun darinnen weit
avanciret ſeyn oder nicht/ ſondern auch unter de-
nen/ da einer ſchon einen ziemlichen Vorſprung
fuͤr dem andern hat. Woraus ferner zu ſchlieſ-
ſen iſt/ daß bey der Liebe nur eine Gleichheit der
Beſchaffenheit
und Inclinationen nicht aber
eine Gleichheit derGrade erfordert werde.


26.

Denn die Gleichheit wird nur erfordert/
wegen der Vereinigung. Leute die auff unter-
ſchiedenen Wegen wandeln/ koͤnnen ſich nicht ver-
einigen; aber wenn einer auf einem Wege gleich
den Vorſprung hat/ kan die Vereinigung wohl
geſchehen/ wenn entweder dieſer auff den andern
wartet/
[271[267]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
wartet/ oder gar zuruͤcke gehet und ihm forthilfft;
oder jener eylet/ daß er dieſen einholet. Dieſe
Anmerckung muͤſſen wir uns wohl imprimiren/
weil wir daraus zu ſeiner Zeit die unterſchiedenen
Arten der abſonderlichen vernuͤnfftigen Liebe wer-
den machen muͤſſen.


27.

Jetzo wollen wir in der Beſchreibung der-
ſelben fort fahren. Wir haben darinnen dreyer
Tugenden
erwehnet (1) der auffmerckſamen
Gefaͤlligkeit
oder Sorgfaͤltigkeit/ durch wel-
che dieſe Liebe auff beyden Theilen geſucht wer-
de. (2) Der Gutthaͤtigkeit/ durch welche
man dieſelbe nach und nach/ nach ihren unterſchie-
denen Graden erhalte/ und endlich (3) der Ge-
meinmaͤchung alles Vermoͤgens und Thuns/

als welche bezeiget/ daß nunmehro die Vereini-
gung voͤllig geſchehen/ und die Liebe in hoͤchſten
Grad erhalten ſey.
Ehe wir aber dieſe drey
Tugenden genauer beſchauen/ muͤſſen wir von
der Eſtimund Hochachtung/ als welche bey ei-
ner vernuͤnfftigen Liebe allezeit in dem Verſtande
vorher gehen muß/ etwas weniges erinnern.


28.

Alle Menſchen ſind nicht tugendhafft/ und
die Tugend iſt eine Sache/ die zu ihrer Erkaͤnt-
niß eine genaue Auffmerckung fordert. Nach
was fuͤr Grund Regeln dieſelbe geſehehen muͤſſe/
wollen wir ſchon zu ſeiner Zeit weiſen. Vor jetzo
iſt es genung/ daß wir uns leicht einbilden koͤnnen/
daß gleich wie ſich gleich und gleich gerne geſellet;
alſo auch ſelbiges ſich leichte ſuche und finde. Ein
tugend-
[272[268]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
tugendliebender Mann/ ob er ſchon nicht die
bey einem andern ſich beſindende Tugend alſo
bald auff das deutlichſte erkennet/ ſo muthmaſ-
ſet er
doch dieſelbe bald/ wenn er nichts laſterhaf-
tes an demſelben ſpuͤret/ und dieſe Muthmaſſung
iſt nichts andeꝛs als ein Eſtim odeꝛ Hochachtung
Krafft welcher ein tugendlibender Menſch
einen andern nach ſeinen aͤuſſerlichen Thun
und Laſſen ſo lange fuͤr tugendliebend haͤlt/
biß er das Gegentheil gewahr wird.


29.

Dieſer Eſtim und Hochachtung iſt ein
hoͤchſt noͤthiger Grund allerirraiſonablen
Liebe/
indem es unmoͤglich ſeyn kan/ daß die Be-
gierde der Vereinigung vernuͤnfftig ſey/ wenn
nicht die Einbildung vorhergegangen/ daß die ge-
liebte Perſon der Tugend ergeben ſey.


30.

Es wird aber dieſe Einbildung eine Hoch-
achtung
genennet/ in anſehen der laſterhaff-
ten/
nicht aber in Anſehen tugendliebender Per-
ſonen von geringern
Grad. Derowegen ſo
achtet nicht alleine ein Anfaͤnger einen weiſen
Mann
hoch/ ſondern es tragen auch in dieſer Be-
deutung zwey Leute von gleichen Fortgang
eine Hochachtung gegen einander/ und ein wei-
ſer Mann
achtet einen Tugend-Schuͤler hoch/
weil er die Beſchaffenheit/ daß er ſich von andern
abſondert/ und ſich aus der Beſtialitaͤt heraus reiſ-
ſen wil/ bey ihm fuͤr was ungemeines halten muß.


31.

Aus dieſer Hochachtung flieffet die ge-
faͤllige Sorgfaͤltigkeit/
welches eine Tugend
iſt/
[273[269]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
iſt/ durch welche ein tugendlibendes Ge-
muͤth auff des andern ſein geringſtes Thun
und Laſſen achtung giebt/ umb dadurch
nicht ſo wohl das andere immer mehr und
mehr kennen zu lernen/ als demſelben hier-
mit ſeine Hochachtung und den Unterſcheid/
den es dadurch zwiſchen demſelbigen und an-
dern Leuten mache zu erkennen zu geben;
maſſen es denn auch eben deswegen dem an-
dern alle ſein Verlangen gleichſam an den
Augen anſiehet/ und ohne deſſen Begehren
ihme tauſent kleine Dienſte leiſtet/ die zwar
keine Muͤhe oder Unkoſten erfordern/ aber
doch ſo geringe ſind/ daß ſie das andere je-
nem nicht einmahl wuͤrde anmuthen duͤrf-
fen/ auch dieſelbigen mit einer ſchamhaffti-
gen Sittſamkeit annimmt.


32.

Dieſe ſorgfaͤltige Gefaͤlligkeit iſt das erſte
unfehlbahre und nothwendigſte Kenn-Zei-
chen einer angehenden Liebe.
Wo man die-
ſelbige antrifft/ darff man nur gewiß ſchlieſſen/
daß man eine Perſon liebe/ weil es unmoͤglich iſt/
daß ein Menſch continuirlich auffmerckſam ſeyn
kan/ wenn es affectirt iſt/ und nicht von Hertzen
gehet/ ſondern er muß nothwendig in die Nach-
laͤßigkeit einmahl verfallen/ und ſeine Schein-Lie-
be verrathen. Alle Worte und Douceurs alle
Oeilladen und freundliche Blicke koͤnnen triegen
und triegen taͤglich/ wenn ſie nicht mit dieſeꝛ Soꝛg-
faͤltigkeit vergeſellſchafftet ſind. Wo aber dieſe
anzu-
[274[270]]Das 6. H. von der abſonderlichen
anzutreffen iſt/ wird ſie bey einen vernuͤnfftigen
Menſchen ohne einiges Wort und andere anrei-
tzende Kenn-Zeichen am allermeiſten ausrichten.
Wer viel von ſeiner Liebe ſaget/ iſt am wenigſten
verliebet/ und derjenige liebet am ſtaͤrckſten/ der
ſeine Liebe durch die ſtumme Sorgfalt in der
That erweiſet. Ja dieſes iſt es eben/ worauff
Hicaton beym Seneca zielet/ wenn er ſaget: Si
vis amari, ama.


33.

Ja ſie iſt auch hoͤchſt nothwendig/ ſo
gar daß ohne dieſelbe auch die ſonſten nachdruͤck-
lichſten und ungemeineſten Kenn-Zeichen/ der Lie-
be todt ſind. Wo unſer Schatz iſt/ da muß auch
unſer Hertz ſeyn/ und wo unſer Hertz iſt/ da muͤſ-
ſen auch unſere Augen ſeyn. Wer liebet/ der hat
ein Verlangen durch die Vereinigung eines an-
dern Hertzens ſeinen Mangel zu erſetzen. Wie
kan man aber etwas verlangen/ ohne an das ver-
langte ſtets zu gedencken? Wie kan man aber
daran gedencken/ wenn man die Gedancken wo
anders hat/ und nicht auff das geringſte Thun
und Laſſen der geliebten Perſon achtung giebt?


34.

Jndem ich von Augen rede/ wil ich zwar
die Augen des Leibes nicht gantz ausſchlieſſen;
(maſſen nicht zu laͤugnen iſt/ daß gleich wie dieſel-
ben in der Erkaͤntniß der Wahrheit uns den groͤ-
ſten Vortheil ſchaffen; alſo auch dieſelbigen bey
gegenwaͤrtiger Tugend ſehr nothwendig ſeyn;
und ein Blinder alſo eines groſſes Vortheils be-
raubet iſt/ bey andern Liebe zu ſuchen/ und die ſei-
nige
[275[271]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
nige ihnen rechtſchaffen zu erkennen zu geben;) al-
leine ich ziele doch mehr auff die Augen des Her-
tzens
und die Gedancken. Wer rechtſehaffen
liebet/ der giebt auch auff die Perſon die er liebet
achtung/ wenn er die Augen an einen andern Ort
kehret/ nicht nur in denen Dingen die durch das
Gehoͤr begriffen werden; ſondern auch in denen
die ſonſt zum Geſichte gehoͤren/ welches wohl laͤ-
cherlich zu ſeyn ſcheinet/ aber von einem jeden gar
leichte begriffen wird/ wer nur ein wenig darauff
achtung geben wil/ was man neben derjenigen Li-
nie da unſere Augen gerade auffgerichtet ſeyn/ ſe-
hen koͤnne.


35.

Ja es muß zuweilen dieſe Sorgfaͤltigkeit
auff dergleichen Art eingerichtet ſeyn/ daß man
dadurch in einer oͤffentlichen Geſellſchafft die Lie-
be einer Perſon durch dieſelbige ſuche/ und den-
noch niemand als dieſe Perſon ſelbſt dieſelbi-
ge gewahr werde/
weil wir von Laſtern taͤglich
umbgeben ſeynd/ die die Tugend/ und alſo auch
die tugendliche Liebe neiden/ ſie ſchmaͤhen/ und ihr
taufend Verhindrungen in den Weg zu ſtreuen
ſuchen. Dieſe Fall-Stricke wuͤrden wir nicht
entgehen koͤnnen/ wenn wir ſtets eine Perſon/ die
wir hoch achteten/ mit unverwandten Augen an-
ſaͤhen/ und einen Unterſcheid zwiſchen ihr und an-
dern Prrſonen/ den jederman merckte/ macheten.
Wer dieſe Sorgfaͤltigkeit beſitzt/ wird tauſend
Gelegenheit finden/ indem er den aͤuſſerlichen
Scheine nach die gantze Geſellſchafft gleich be-
ſcheiden
[276[272]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
ſcheiden tractiret/ dem jenigen dem er ſeine Liebe
und Hochachtung zeigen wil/ dieſelbe mit Wor-
ten und Thaten/ die kein Menſch ſonſt in acht
nimmt/ zu erkennen zu geben.


36.

Jch ſpuͤre wohl dieſe Lehre koͤmmt dir wun-
derlich vor/ und du traͤgſt groſſes Verlangen/
durch gewiſſe Regeln dieſe Kunſt zu faſſen. A-
ber/ mein Freund/ haſt du ſchon vergeſſen/ daß
wir alsbald zum Anfang gedacht/ ſie laſſe ſich
durch keine Regeln lernen/
wenn man nicht
wahrhafftig liebe. Liebeſt du aber wahrhafftig/
ſo braucheſt du keine Regeln/ ſondern die Liebe
wird ſchon ſelbſt dein beſter Lehrmeiſter ſeyn. Die
taͤgliche Erfahrung bezeuget ſolches bey lieben/
die nicht eben gar zu vernuͤnfftig ſind; wolteſt du
demnach der vernuͤnfftigen Liebe/ ja die die Ver-
nunfft ſelbſten iſt/ weniger Kraͤffte zutrauen?


37.

Jedoch erwege nur in etwas hierbey den
Nutzen der allgemeinen Liebe/ und abſonder-
lich der Leutſeeligkeit/ Wahrhafftigkeit/ und
Beſcheidenheit. Wer nicht jederman freund-
lich und dienſtfertig zu tractiren gewohnet/ und
kein Sclave von ſeinen Worten iſt/ der wird ſich
auch zur ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit ſehr uͤbel ſchi-
cken/ und ſehr viel gelegenheiten fuͤrbey gehen
laſſen/ ſeinen Freund und geliebten eine Hoͤfflig-
keit oder kleinen Dienſt zu erweiſen/ oder ſein
Wort punctuel zuhalten/ indem/ als ſolcher
Sachen ungewohnet/ meinen wird/ daß ſolche ge-
ringe Dinge wenig auff ſich haͤtten.


38. Und
[277[273]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.

38.

Und geſetzt/ daß ihn die Liebe gegen eine
gewiſſe Perſon ſo zu ſagen gantz uͤmkehrte/ und in
einen Augenblick gegen dieſelbe hoͤchſt ſorgfaͤltig
machte; ſo wird er doch zum theil nicht vermoͤ-
gend ſeyn/ das es/ wie wir nur erwehnet/ zu weilen
noͤthig/ ſeineAffectionzubergen/ ſondern ein
jedwedeꝛ wiꝛd aus ſeineꝛ Conduite/ als aus etwas
ungewoͤhnlichen alsbald die wahre Urſache
entdecken;
Zum theil wird er auch dadurch we-
nig bey einer tugendhafften Perſon ausrichten/
weil dieſelbe ſeine Liebe unmoͤglich als tugend-
hafft wird annehmen koͤnnen/ ſo lange er nicht
gegen jederman leutſelig/ wahrhafftig/ und
beſcheiden
ſich erweiſet/ weil als offte gedacht
worden/ die allgemeine Liebe der Grund und
Richt-Schnur der abſonderlichen iſt.


39.

Es beſtehet aber dieſe Gefaͤlligkeit in ge-
ringen Dienſtleiſtungen
und Bezeugungen/
die geringe genennet worden/ theils/ weil ſie
dem/ der ſie leiſtet/ wenige Muͤhe oder Unko-
ſten
verurſachen/ z. e. etwas auffheben/ oder hoh-
len/ einen Stuhl zu rechte ſetzen/ etwas von ge-
ringen Werth/ das dem andern gefaͤllt/ ihm zum
Geſchencke anbiethen/ einen freundlichen Blick
geben/ u. ſ. w. theils/ weil der/ der ſie erweiſet/ ſich
in den Augen des andern dadurch gleichſam ge-
ringer macht/
als wenn man ſich freywillig zu
ſolchen kleinen Dingen anbietet/ oder dieſelben
unbegehret leiſtet/ die ſonſten ordentlich von Die-
nern pflegen verrichtet zu werden.


S40. Die
[278[274]]Das 6. H. von der abſonderlichen

40.

Die von der letzten Claſſe ſind dannen-
hero ſo beſchaffen/ daß man von ihnen billig ſagen
kan/ nichtswuͤrdige Dinge ſeyen die koſtbar-
ſten in der Liebe/ oder man koͤnne die groͤſte
Gluͤckſeligkeit und die koſtbarſte und theu-
reſte Waare/
nemlich die abſonderliche Liebe/
um nichts erkauffen. Alle die kleinen Gefaͤl-
ligkeiten/ die man dem andern erweiſet/ ſind
nichts; Denn derjenige/ der ſie leiſtet/ wuͤrde ſehr
ausgelachet werden/ wenn er ſie dem andern als
etwas nur von dem geringſten Werth anrechnen/
oder nur als eine Wohlthat vorruͤcken wolte. A-
ber in Gegentheil haͤlt ſie derjenige/ dem ſie er-
wieſen werden/ deſto hoͤher/ je vornehmer ſonſten
die Perſon iſt/ die ſie leiſtet/ und je tieffer die Sub-
miſſion
iſt/ die man dadurch bezeiget. Derowe-
gen geſchiehet es auch/ daß man zum oͤfftern durch
eine eintzige ſolche Gefaͤlligkeit das Hertze eines
Freundes oder Freundin auf einmahl uͤberkoͤm̃t.


41.

Solcher geſtalt aber iſt ſich deſto mehr zu
verwundern/ daß ſehr wenig Leute in der
Welt ſeyn/ die ſich dieſer Handelſchafft be-
fleißigen/
und das unſchaͤtzbare Kleinod wahrer
Freundſchafft und Liebe ſo wohlfeilen Kauffs an
ſich zu bringen wiſſen/ welches theils daher ge-
ſchiehet/ daß ſie gegen alle Menſchen nachlaͤſ-
ſig
und nicht leutſelig noch beſcheiden ſeyn/ oder
weil ſie es ſich fuͤr eine Schande achten ſolche
Dinge zu thun/ die denen Dienern zukommen;
da doch die guten Leute nicht verſtehen/ daß des-
halben
[279[275]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
halben dergleichen Dienſte nicht an und fuͤr ſich
knechtiſch ſeyn/ ſondern wenn ſie der andere uns
anbefehlen/ und uns nach Gelegenheit darzu
zwingen kan.


42.

Dannenhero verbinden auch die Regeln
der Liebe den/ dem wir ſolche leiſten/ daß er aus
dergleichen Gefaͤlligkeiten keine Gerechtig-
keit mache/
ja dieſelbigen nicht einmahl ohne
Bezeigung einer kleinen Verhinderung
an-
nehme/ damit er auch ſeines Orts-bezeige/ er be-
trachte dieſelbigen nicht als knechtiſche ſondern
als Liebes-Dienſte/ die ihren Werth aus der
bloſſen Freywilligkeit her haben.


43.

Und machen ſich ſolchergeſtalt der geſuch-
ten Liebe diejenigen unwuͤrdig/ die wenn man ih-
nen einmahl in ſolchen Dingen gefaͤllig geweſen
iſt/ ſich nicht ſcheuen/ ſie wieder von uns zu be-
gehren/
oder die dieſelbigen/ ohne geringſte
Weigerung geſchehen laſſen/
oder nach dem
ſolche geſchehen/ kein Zeichen von ſich geben/
daß ſie uns deswegen verpflichtet ſeyn/
oder
ſie mit gleicher Sorgfaͤltigkeit zu erwiedern
trachten.


44.

Denn ob wir ſchon zuvor erwehnet/ daß
ſie der ſo ſie leiſtet/ dem andern nicht anrechnen
koͤnne/ ſo kan er doch wohl ohne Verletzung der
geſunden Vernunfft dieſelbige kuͤnfftig unter-
wegeu laſſen/
weil der andere durch dieſes ſein
Verfahren ſattſam bezeuget/ daß unſere Liebe
ihm nicht angenehme ſey/ und wir uns alſo ſehr
S 2betro-
[280[276]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
betrogen haben/ wenn wir gemeinet/ er waͤre ſo
tugendliebend als wir.


45.

Und gewiß die Leute/ die ſich gegen die ihnen
geleiſteten kleinen Gefaͤlligkeiten ſo unbeſcheiden
erweiſen/
handeln noch irraiſonabler als die/ die
denen/ derer Freundſchafft ſie ſuchen/ dieſelbige
nicht bezeigen. Dieſe
ſcheuen ſich nichts umb
das koſtbarſte zu hazardiren; aber jene wollen
fuͤr das koſtbarſte ſo man ihnen anbietet nicht ein-
mahl nichts zur Bezahlung geben. Denn was
iſt doch die bloſſe Erkaͤntligkeit/ die man von ihnen
fordert/ anders als nichts?


46.

Doch ſind diejenigen noch ungeſchickter
zur Liebe/ die dergleichen ſorgfaͤltige Gefaͤlligkei-
ten entweder gantz und gar nicht annehmen
wollen/ oder dieſelbigen alſofort erwiedern.
Jene
achten uns gleichſam entweder zur abſon-
derlichen Liebe untuͤchtig/ oder geben zu verſtehen/
ihre Liebe ſey viel zu koſtbar/ als daß wir ſie mit
ſolchen Dingen ſolten erhandeln koͤnnen. Dieſe
thun faſt ein gleiches/ auſſer daß jene unſer nichts
nicht annehmen wollen/ dieſe aber ſuchen unſer
nichts mit einem gleichen nichts zu bezahlen/ das
aber noch unzehlich mahl geringer iſt/ als das
nichts der Erkaͤntligkeit. Und gewiß man kan ei-
nem liebreichen Gemuͤthe keine groͤſſere Be-
ſchimpffung anthun/ als wenn man ſeine
Sorgfaͤltigkeit gar nicht annehmen wil/
und
wird er einen ſolchen Menſchen mehr unwuͤrdig
ſeiner Liebe erkennen als wenn er ſein groͤſter Feind
waͤre;
[281[277]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
waͤre; Denn ein Feind haͤlt uns doch noch fuͤr
ſeines gleichen/ weil er ſich uͤber uns erzuͤrnet.
Aber ein Menſch der unſere Liebe verſchmaͤhet/
ſetzet uns gleichſam dadurch aus der Menſchheit
heraus/ in dem alle Menſchen faͤhig ſind von al-
len Menſchen geliebet zu werden; Ja er beſchuldi-
get uns gleichſam dadurch der groͤbſten Laſter/
weil kein Menſch der abſonderlichen Freundſchaft
unwuͤrdig iſt/ als der nicht Tugendhafft iſt.


47.

So ſchaͤtzbar aber und ſo noͤthig die ſorg-
faͤltige Gefaͤlligkeit bey der Liebe iſt/ ſo wenig iſt ſie
die fuͤrtrefflichſte Tugend der Liebe. Sie jaget
der Liebe nur nach/ und erklaͤret auf unſerer Seite/
daß wir zur Liebe bereit ſeyn/ wenn wir die andere
Perſon dergeſtalt beſchaffen befinden/ daß ſie un-
ſere Liebe annehmen wolle. Sie iſt eine ehrliche
Kundſchaffterin/ den andern zu erforſchen/ ob
er unſerer Liebe wuͤrdig ſey. Die Bezeugun-
gen derſelben ſind viel zu geringe/ als daß man
ſie fuͤr Wirckung der rechten Liebe und
Freundſchafft ausgeben koͤnne. Dannenhero
muß ſie weichen/ ſo bald die rechte Liebe angehet/
das iſt/ ſo bald wir der Gegen-Liebe des andern
oder ſeiner Tugend anfangen verſichert zu wer-
den/ und andern vortrefflichern Tugenden Platz
geben.


48.

Laßt uns aber dieſe Betrachtung ſo klar
und deutlich ſie auch iſt/ nicht ſo obenhin beruͤhren/
ſondern etliche Anmerckungen daraus herleiten/
die nothwendig mit derſelben verknuͤpfft ſeyn muͤſ-
S 3ſen/
[282[278]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
ſen/ ob gleich ins gemein darwider pfleget ange-
ſtoſſen zu werden. Erſtlich/ daß ſo lange als
zwey Perſonen einander noch dieſe ſorgfaͤlti-
ge Gefaͤlligkeit erweiſen man ſich nicht allei-
ne bereden koͤnne/ daß eines des andern Ge-
wogenheit annoch ſuche/ und noch keine ge-
wiſſe Verſicherung davon habe/
und daß die
Perſon/ die uns annoch mit dieſer ſorgfaͤltigen
Gefaͤlligkeit begegnet/ entweder uns zu hinterge-
hen ſuche/ wenn ſie uns ihrer Liebe zu verſichern
trachtet/ oder aber ein Mißtrauen in unſere Liebe
ſetze.


49.

Zum andern/ daß wann zwey Perſonen/
die bißero einander dergleichen Gefaͤtligkeit er-
wieſen/ ſolche einander nicht mehr bezeigen/
und doch einander nicht feindſelig oder kalt-
ſinnig
tractiren/ wir ſolches nicht fuͤr ein Zeichẽ
auffnehmen/ als wenn ihre Liebe und Eſtim ver-
mindert worden; ſondern daß wir vielmehr dar-
aus ſchlieſſen/ daß ſie in ihrer Freundſchafft
und Liebe genugſame Gegen-Verſicherung
erhalten/ und zimlich vertraulich worden.


50.

Drittens/ daß diejenigen Perſonen/ die
uns allbereit ihrer Gegen-Liebe verſichert/
entweder uns nicht wahrhafftig lieben/ oder
das Weſen der Liebe nicht verſtehen muͤſ-
ſen/ wenn ſie noch ſtetswehrend von uns die

Continuirung dergleichen Sorgfaͤltigkeit er-
fordern/
und wenn wir ſolches nicht thun/ uns ei-
ner Kaltſinnigkeit beſchuldigen/ da wir doch an
ſtatt
[283[279]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
ſtatt dieſer ſchlechten Proben/ taͤglich unſere Liebe
durch Erweiſung vortrefflicher Dienſte bezei-
gen.


51.

Es ſind aber dieſer vortrefflicherern Tu-
genden/ die in der Liebe auff die ſorgfaͤltige Gefaͤl-
ligkeit folgen/ zwey. Die eine iſt die vertrauli-
che Gutthaͤtigkeit/
durch die man einander
Wechſels-Weiſe die Liebe/ die ſich bißhero nur
noch gleichſam als eine Hochachtnng hatte blicken
laſſen/ viel naͤher erkennen zu geben/ und die Her-
tzen immer mehr und mehr zu verbinden bemuͤhet
iſt. Das andere iſt die liebreiche Gemein-
ſchafft
alles deſſen/ was zuvor unſer eigen gewe-
ſen/ welche das Kenn-Zeichen iſt/ das dieſe Verbin-
dung nunmehro den hoͤchſten Grad erhalten/ und
zu einer wahren Vereinigung worden. Wir
wollen von jeder etwas ausfuͤhrlicher handeln.


52.

Zwar was die Gutthaͤtigkeit anbelan-
get/ ſo hat man von dieſer Edelſten ſo viel uns
wiſſend iſt/ auſſer dem Seneca niemand ausfuͤhr-
lich geſchrieben; dieſer aber hat in denen ſieben
Buͤchern/ ſo er davon verfertiget/ viele ſchwehre
und verwirrte Fragen zwar ſehr ſchoͤne/ aber doch
nicht ordentlich und deutlich eroͤrtert/ daß wir alſo
ein weitlaͤufftiges Feld fuͤr uns ſehen/ wenn wir
dieſe Materie nach wuͤrde abhandeln wollen. Und
zwar ſo ſcheinet dieſe Abhandlung deſto noͤthiger
zur Sitten-Lehre zu ſeyn/ ie naͤher dieſe Tugend
zur Liebe gehoͤret/ und je weniger man davon in
denen gemeinen Sitten-Lehren handelt; Ja je
S 4mehr
[284[280]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
mehr im gemeinen Leben wieder die Grund-Re-
geln dieſer Tugend pfleget angeſtoſſen zu werden.
Jedennoch aber werden wir einen groſſen Vor-
theil fuͤr dem Seneca habẽ/ und allzugroßer Weit-
laͤufftigkeit nicht beduͤrffen/ wenn wir die Sache
fein ordentlichtractiren/ und zufoͤrderſt umb ei-
ne rechte Beſchreibung der Gutthaͤtigkeit be-
kuͤmmert ſind; Zumahlen da ein jedweder leichte
ſiehet/ daß die Beſchreibung des Seneca allzujuſt
nicht iſt/ und daß er zwar den Unterſcheid unter
denen Gutthaten und denen allgemeinen Dien-
ſten der Leutſeligkeit gewuſt/ aber dieſelbige
nicht allemahl accurat beobachtet/ niemahlen
aber dieſe Gutthaͤtigkeit von der ſorgfaͤltigen
Gefaͤlligkeit
unterſchieden.


53.

ſo iſt demnach die vertrauliche Gutthaͤ-
tigkeit
eine Tugend/ die den Menſchen antrei-
bet/ derjenigen Perſon/ die er durch die ſorg-
faͤltige Gefaͤlligkeit genugſam hat kennen ler-
nen und den Anfang von deren Gegen Liebe
erhalten/ zu haben verſichert iſt/ ſeine Liebe
und Vertrauen das er in ſie ſetzet/ zu bezeu-
gen bey allen ſich eꝛeignenden Gelegenheitẽ/
auch mit Verluſt ſeines Vermoͤgens und mit
ſaurer Muͤhe und Arbeit/ ohne Begehrung
einiges Endtgelds in ihrer Beduͤrffniß bey-
zuſpringen/ und ihr ein wahres Vergnuͤgen
zu geben.


54.

Wir haben dieſe Tugend eine vertrauli-
che Gutthaͤtigkeit
geheiſſen/ auch geſagt/ daß
man
[285[281]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
man ſein Vertrauen einander zu bezeigen gutthaͤ-
tig ſeyn muͤſſe. Denn es iſt ja ſo natuͤrlich/ daß
das Vertrauen oder die Vertraulichkeit vor
der Gutthaͤtigkeit vorgehe/
als die Hochach-
tung vor der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit. So lan-
ge als man ſich noch der Gefaͤlligkeit bedienet/ iſt
man zwiſchen Furcht und Hoffnung/ und folglich
kan man ſich noch keines Vertrauens ruͤhmen;
Wo man die Liebe noch ſuchet/ da zweiffelt man;
und wo man zweiffelt/ iſt man noch ein wenig miß-
trauiſch. Wo man aber dieſelbe anfaͤnget zu
finden/ da muß das Suchen und Zweiffeln auff-
hoͤren/ und wo man einander durch die ſorgfaͤltige
Gefaͤlligkeit gleichſam biß in das Jnnerſte des
Hertzens ſiehet/ da muß nothwendig ein Ver-
trauen
entſtehen/ daß uns die geliebte Perſon
nicht hintergehen koͤnne noch wolle. Ja da muß
man nothwendig anfangen gegen einander ver-
traulich zu werden/
weil man Wechſels-Weiſe
erkennet/ daß man ſich ferner weder fuͤr einander
verbergen koͤnne/ noch ſolches zu thun Urſache
habe.


55.

Ferner gleich wie ohne die vorhergehende
Hochachtung keine Liebe oder Gefaͤlligkeit ver-
nuͤnfftig iſt; alſo iſt auch keine Gutthaͤtigkeit
vernuͤnfftig/ wenn nicht dieſes Vertranen
vorhergehet/
und alſo iſt in Anſehen deſſen ein
mercklicher Unterſchied zwiſchen denen Dienſten
der Gefaͤlligkeit und denen Gutthaten/ weil das
Vertrauen jener ihre Tochter/ und dieſer ihre
Mutter iſt.


S 556. Hier-
[286[282]]Das 6. Hauptſt von der abſonderlichen

56.

Hieraus folget aber nothwendig/ daß die-
ſes nimmermehr fuͤr wahre Gutthaten zu
halten ſeyn/ wenn man alsbald beym Anfang
der Liebe/ und ehe man einer Gegen-Liebe
ſich verſichern kan/ einander Wechſels-Wei-
ſe/ oder auff einer Seite ſolche Dienſte erwei-
ſet/ die mit Verluſt unſers Vermoͤgens/ o-
der mit
hazardirung unſerer Geſundheit und
anderer Guͤter vergeſellſchafftet ſind.
Die-
ſes heiſt die Perlen fuͤr die Saͤue werffen/ und die
Guͤter die uns GOtt gegeben/ an wahre Freunde
und Liebens-wuͤrdige Perſonen zu wenden/ un-
nuͤtzlich und unverantwortlich verſchwenden.


57.

Ja man wird ſich nicht betriegen/ wenn
man von denen/ die dergleichen koſtbare und ge-
faͤhrliche Dienſt-Leiſtungen denen/ ſo ſie noch
nicht kennen/ erzeigen/ ein ſolches Urtheil faͤllet/
daß ſie entweder verſchwenderiſch odet toll-
kuͤhne ſeyn;
oder wo man durch andere Zeichẽ be-
findet/ daß ſie mit dieſe Laſtern nicht behafftet ſind/
darff man ſich nur gewiß verſichern/ daß diejeni-
gen/ ſo uns dieſelbe leiſten/ nicht unſer Ver-
gnuͤgen dadurch/ ſondern ihr eigenes
Interes-
ſe
zu befordern ſuchen/ und alſo auch aus dieſen
Urſachen der geleiſtete Dieuſt unter die Schein-
Gutthaten gerechnet werden muͤſſe.


58.

Jedoch muß man ſich nicht einbilden/ daß
die vor Leiſtung wahrer Gutthaten gehoͤrige Be-
huttſamkeit
ſich eben allemahl eine lange Zeit
erſtrecken muͤſſe/ und daß man obiges Urtheil von
allen
[287[283]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
allen denenjenigen faͤllen doͤrffte/ die uns Guttha-
ten erweiſen/ wenn ſie noch nicht lange mit uns
umbgegangen ſind. Die behutſame Gefaͤllig-
keit ſol ſo lange tauren/ biß man einander kennen
lernet. Je groͤſſer nun die Gleichheit zweyer
Gemuͤther iſt/ je geſchwinder erkennet man ein-
ander. Und je tugendhaffier man iſt/ je eher kan
man andere/ die es nicht ſo in einem hohen Grad
ſind/ kennen lernen. Derowegen kan es nicht
fehlen/ es muͤſſen zwey Perſonen/ die die Tugend
in einem gleichen und hohen Grad beſitzen/ in ei-
ner eigenen Converſation, ja in einer ſehr kurtzen
Zeit/ einander kennen lernen/ Wechſels-Weiſe
lieben/ und da es Gelegenheit giebet/ Gutthaͤtig-
keit gegen einander blicken laſſen/ daß man dan-
nenhero wegen Kuͤrtze der Zeit der Geſaͤlligkeit faſt
unter ihnen nicht gewahr wird.


59.

Noch viel unvernuͤnfftiger aber iſt es
diejenigen zu lieben/ und ihnen Gutthaten
zu erweiſen die uns haſſen/ oder doch zum
wenigſten zu verſtehen geben/ daß ſie uns
nicht wieder lieben koͤnnen.
Wo man uns
haſſet/ da zeiget dieſer Haß nothwendig eine Ur-
gleichheit der Gemuͤther an/ und muͤſſen alſo ent-
weder die Perſon die wir lieben/ oder wir ſelbſt
nothwendig laſterhafft ſeyn. Eben dieſes iſt auch
davon zu ſagen/ wenn man uns Gegen-Liebe
verſagt/
Denn man darff dieſes nicht etwan
dieſer Urſache zuſchreiben/ daß die Perſon ſo wir
lieben/ allzuweit in der Tugend zugenommen/ und
wir
[288[284]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
wir nur Anfaͤnger darinnen waͤren; oder daß in
Gegentheil ſie in der Tugend noch nicht ſo weit
gekommen waͤre als wir/ und dahero die groͤſſe un-
ſerer Tugend noch nicht vertragen koͤnte. Wir
haben ſchon oben erwehnet/ daß die unterſchiede-
nen Grade tugendliebender Peꝛſonen ſie in gering-
ſten nicht an der Tugend hindern/ und daß die
Gleichheit der Neigungen zu der Tugend allge-
nung ſey/ eine wahre zu erwecken.


60.

Derowegen iſt abermahls aus dieſer Ur-
ſache abzuſehen/ daß viel Scribenten ihren Con-
cept
von einer vernuͤnfftigen Liebe nicht wohl ein-
gerichtet/ wenn ſie in Vorſtellung derſelben ſolche
Perſonen einfuͤhren/ die fuͤr Liebe gegen ein
Frauen-Volck/ das ſie nicht wider lieben
wil kranck werden/ oder wohl gar ſterben.

Zugeſchweigen/ daß es der Vernunfft zu wieder
iſt etwas zu lieben/ daß wir nicht erhalten koͤnnen/
weil die erſte Regel des menſchlichen Willens
darinen beſtehet/ daß wir nichts begehren ſollen/
was uns unmoͤglich iſt.


61.

Wann denn nach der Behutſamen Gefaͤl-
ligkeit das Vertrauen bey beyderſeits Perſonen
entſtanden/ und die Hertzen gegen einander bezei-
get/ daß ſie ſich auff beyden theilen zu der Verei-
nigung neigen/ gleichwohl aber dieſelbigen noch
nicht wuͤrcklich vereiniget ſind/ ſondern ein jedes
noch ſeine eigenthuͤmliche Guͤter hat/ und ſo zu
ſagen noch heruͤber ſein Thun und laſſen iſt/ ſo
kan es nicht fehlen/ ſie muͤſſen auff beyden Sei-
ten
[289[285]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
ten anfangen von ihren Guͤtern und von ih-
ren Thun und Laſſen einander gleichſam
merckliche Stuͤcke mit zutheilen/
und dadurch
einander immer naͤher und naͤher zukommen.
Denn wenn man gleich ſagen wolte/ es koͤnte die-
ſe. Vereinigung wohl geſchehen/ wenn das eine
Hertze dem andern alles gutes erwieſe/ ſein Thun
und Laſſen des andern Willen unterwuͤrffe/ und
nur auf ſeiner Seite dieſe Vereinigung vollbraͤch-
te/ ſo haben wir doch ſchon oben behauptet/ daß
die Vereinigung in der manſchlichen Liebe alſo be-
ſchaffen ſeyn muͤſſe/ daß keines uͤber daß andere
ſich einer Bottmaͤßigkeit anmaſſe; ja wir haben
nur jetzo auffgehoͤret zu ſagen/ daß keine vernuͤnff-
tige Liebe ohne Gegen-Liebe ſeyn koͤnne. Und
derowegen iſt die Wechſelsweiſe Gutthaͤtig-
keit ein nothwendiges Stuͤck der Liebe.


62.

Ja ſie iſt auch ein unfehlbahres Kenn-
Zeichen derſelben.
Wahre Gutthaten koͤn-
nen aus nichts anders als aus einer vernuͤnfftigen
Liebe herruͤhren. Die unvernuͤnfftige Liebe
wohlluͤſtiger und ehrgeitziger Leute/ gleichwie ſie
nur eine Schein-Liebe iſt/ in der man ſucht das
andere Hertze ſich unterwuͤrffig zu machen/ alſo
ſind auch die darinnen vorkommenden Gutthaten
nur Schein-Gutthaten/ weil ſie allenthalben nach
eigenen Intereſſe ſchmecken.


63.

Man kan dannenhero die wahre Liebe
von der falſchen in keinem Stuͤcke beſſer als hie-
rinnen unterſcheiden. Die Dienſte der allge-
meinen
[290[286]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
meinen Leutſeligkeit/ gleichwie ſie gar keine
abſonderliche Liebe anzeigen/ ſondern allen Men-
ſchen erwieſen werden ſollen/ auch in ſo geringen
Dingen beſtehen/ daß man dieſelben fuͤr keine
Liebes-Dienſte ausgeben kan; alſo koͤnnen ſie
auch ſo wohl bey der Schein-als warhafftigen
Liebe
vorgehen.


64.

Faſt gleiche Bewandniß hat es mit de-
nen Dienſten/ der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit/

weil ſie eben ſo geringe ſind als die Dienſtleiſtun-
gen der Leutſeeligkeit/ und nur darinnen von de-
nenſelben unterſchieden ſind/ daß wir bey der
Leutſeeligkeit alle Menſchen gleich tractiren/ und
durch dieſelbe auch uns andern Menſchen gleich
halten/ bey der Gefaͤlligkeit aber/ wie erwehnet/
andern durch gewiſſe Merckmahle den Unter-
ſcheid/ den wir zwiſchen ihnen und andern machen
zu verſtehen geben/ auch zum oͤfftern bey denen-
ſelben uns ihnen ſehr ſubmittiren. Solcherge-
ſtalt aber kan ſo wohl die vernuͤnfftige als un-
vernuͤnfftige
Liebe ſich dergleichen Gefaͤlligkeit
bedienen/ nur daß dieſelbe bey der falſchen Liebe
durch ihre nothwendige Affectation ſehr kaͤntlich
wird.


65.

Ob aber wohl die Gutthaͤtigkeit da-
durch ſo wohl von der Leutſeeligkeit als Gefaͤllig-
keit unterſchieden wird/ daß die Gutthaten koſt-
bar und muͤhſam
ſeyn muͤſſen. So iſt doch
dieſer Unterſcheid noch lange nicht genug die ver-
nuͤnfftige
und unvernuͤnfftige Liebe von ein-
ander
[291[287]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
ander zu entſcheiden/ weil in dieſer es allenthalben
an Koſtbarkeit und Muͤhe ſo gar nicht mangelt/
daß man vielmehr mehr Muͤhe und Unkoſten
hier anzuwenden pfleget/ als in der vernuͤnfftigen
Liebe/ weil die unvernuͤnfftige Liebe hitziger iſt als
die vernuͤnfftige/ eben deshalben weil ſie unver-
nuͤnfftig iſt.


66.

Ja man waget das Leben ſelbſt/ ſo wohl
in der unvernuͤnfftigen Liebe als in der vernuͤnffti-
gen/ weil man eine augenblickliche Wolluſt/ o-
der eine eitele Ehre ja ſo hoch achtet/ als ein tu-
gendhaffter die wahre Gemuͤths-Ruhe.


67.

Derowegen ſo bleibet dieſes der eintzige
Unterſcheid zwiſchen dem wahrhafftigen und
Schein-Gutthhaten/ daß man in dieſen ſein
eigen Vergnuͤgen
ſucht/ in jenen aber man der
geliebten Perſon ein wahres Vergnuͤgen zu
geben
bemuͤhet iſt. Und dieſes iſt auch der fuͤr-
nehmſte Unterſcheid zwiſchen der vernuͤnfftigen
und unvernuͤnfftigen Liebe.


68.

Wer vernuͤnfftig liebet/ und nur in ge-
ringſten gewahr wird/ daß die geliebte Perſon ſei-
ner Huͤlffe und ſeines Vermoͤgens vonnoͤthen
habe/ der laͤſt ſich nicht lange umb ſeinen Bey-
ſtand bitten/ ſondern er bietet ſeine Gutthaten
dem geliebten freywillig/ ohne Verzug und eyfrig
an/ er bittet ihn daß er ſie annehmen wolle/ und
man kan nicht ſagen/ ob derjenige/ ſo die Wohl-
that ewpfaͤhet mehr Vergnuͤgen uͤber die Treue
ſeines Freundes empfinde/ als der/ der ſie giebet/
ſich
[292[288]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
ſich freuet/ daß er der geliebten Peſon einen Ge-
fallen erwieſen. Und weil er dieſes Vergnuͤgen
hoͤher achtet/ als alles auff der Welt/ ſo achtet er
auch alle ſeine Muͤhe und alle ſein Vermoͤgen fuͤr
nichts daſſelbe zu erkauffen. Ja weil er in der
geliebten Perſon mehr als in ſich ſelbſt lebet/ ſo
waget er auch ſein Leben willig und gerne/
wenn er nur eine wahrſcheinliche auch geringe
Hoffnung hat/ dadurch das Leben ſeines Freun-
des zu erretten. Ja er wagete tauſend Leben fuͤr
ſeinen Freund/ wenn er ſolches haͤtte: Siehet er
aber daß ſolches allerdings zu retten unmoͤglich
ſey/ ſo erhaͤlt er ſein Leben/ und ſtellet ſich uͤber
den Tod ſeines Freundes nicht ungeberdig/ weil
er ihm dadurch nichts helffen kan/ ſondern viel-
mehr dadurch ſeine Huͤlffe andern/ die ſeiner Lie-
be benoͤthiget ſind/ entziehen wuͤrde.


69.

Dieweil auch die wahren Gutthaten auf
desjenigen/ ſo ſie erlanget/ ſein Vergnuͤgen zie-
len/ ſo iſt die vernuͤnfftige Liebe beſorget/ hierbey
ſolche Dinge zu erkieſen/ die dem geliebten gefal-
len/ nicht ſolche/ an welche ſie fuͤr andeꝛn eine Be-
luſtigung zu finden pfleget. Sie dringet dem
geliebten die Gutthaten nicht wieder Willen
auff/ wenn er deren nicht benoͤthiget iſt/ ja ſie iſt
vergnuͤgter/ wenn der Geliebte in einen ſolchen
Zuſtande lebet/ daß er ihres Beyſtandes nicht
von noͤthen hat/ als ihn nur einen Augenblick in ei-
nem verdrießlichen Zuſtande
zu ſehen/ daß er
nach ihrer Huͤlffe verlangen tragen muß.


70. Je-
[293[289]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.

70.

Jedoch weil die vernuͤnfftige Liebe allezeit
auf ein wahres Vergnuͤgen zielet/ dieſes aber
auſſer der Tugend und der darauf folgenden Ge-
muͤths-Ruhe nicht zu finden iſt; ſo erweiſet auch
die vertrauliche Gutthaͤtigkeit nur ſolcher Liebes-
Dienſte/ die der Vernunfft und Gemuͤths-
Ruhe nicht ſchaͤdlich ſind.
Denn wenn die
geliebte perſon mit Vorſatz andere verlangen
ſolte/ wuͤrde ſie zu verſtehen geben/ daß ſie nicht
Tugendliebend waͤre/ und folglich wuͤrde ſie ſich
der Liebe und Gutthaͤtigkeit unwuͤrdig machen.
Geſchaͤhe aber dieſes Begehren von der gelieb-
ten Perſon mehr aus Unverſtand als Boßheit/
oder aus Schwachheit/ wird zwar ein Weiſer
deswegen ſeinen Freunde oder Freundin nicht
ſeine Liebe entziehen/ gleichwohl aber auch nicht
ſein Begehren/ ſondern vielmehr das Gegentheil
erfuͤllen. Und kan man in dieſem Fall ſagen/ daß
die Gutthat darinnen beſtehe/ wenn man das
nicht thut/ was der Freund verlanget/ weil man
gewiß verſichert lebet/ daß dieſe Verſagung des
begehrten Schein-Guten/ dem Freunde ein wah-
res Vergnuͤgen erwecken/ und er es uns dermahl-
eins dancken werde/ daß wir ihm ſein Begehren
verſaget.


71.

Mit denen Schein-Gutthaten iſt es
gantz umbgekehret; Man laͤſt den/ der unſerer
Huͤlffe vonnoͤthen hat lange verzappeln/ und
bitten/ umb dadurch die begehrte Gutthat deſto
hoͤher auszubringen. Man bittet ihn nicht lange
Tdrumb
[294[290]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
drumb ſie anzunehmen/ ſondern wenn er nur das
Geringſte verſiehet/ entziehet man ihm dieſelbi-
ge wieder/ ehe er ihrer noch voͤllig genoſſen. Sol-
chergeſtalt aber machet man/ daß deſſen Freude/
der ſie genieſſet/ ſehr geringe iſt; Ja man freuet
ſich hierbey nicht ſo wohl druͤber/ daß die geleiſte-
te Gutthat den andern vergnuͤget/ als daß man
dadurch Gelegenheit bekommen/ von ihme ein
gleiches oder mehrers zu fordern. Man rechnet
ihm die aufgewendete Muͤhe und Unkoſten theuer
genug an/ und achtet des andern Freundſchafft
und Liebe fuͤr nichts/ wenn er uns unſere Dienſte
nicht wiederumb uͤberfluͤßig vergelten kan. Man
waget wohl in der unvernuͤnfftigen Liebe ſein Le-
ben/
aber nur fuͤr die Erlangung der Wolluſt und
anderer dergleichen Begierden/ nicht aber fuͤr die
Perſon/ gegen die wir uns anſtellen/ als ob wir ſie
liebeten; Ja man gaͤbe tauſend Freunde hin/
wenn man nur ſein eigen Leben damit retten koͤnte.
Jedoch iſt es nichts ungewoͤhnliches/ daß man
ſich auch in unvernuͤnfftiger Liebe den Tod an-
thut/
wenn man ſich ſeine Wolluſt und andere
Begierden zu erfuͤllen beraubet ſiehet.


72.

Und weil man ferner bey den Schein-
Gutthaten auf ſein eigenes Intereſſe und Beluſti-
gung zielet; als erweiſet man ſeinem Freunde
ſolche Dinge/ die uns vergnuͤgen/ und bekuͤm-
mert ſich nicht/ ob er einen Gefallen daran habe
oder nicht. Man dringet ſie andern auff/
wenn ſie gleich dieſelben nicht verlangen/ noch de-
ren
[295[291]]vernuͤufftigen Liebe uͤberhaupt.
ren benoͤthiget ſind. Man wuͤnſchet denen an-
dern ein groſſes Ungluͤck oder Verdruß an
Halß/ daß man ſeine milde und Gutthaͤtigkeit an
ihm bezeigen/ und ſie dadurch uns verpflichten
moͤge.


73.

Letzlich weil die unvernuͤnfftige Liebe alle-
zeit auff ein unruhiges Vergnuͤgen gegruͤndet iſt/
ſo erweiſet man auch dem andern ſolche Liebes-
Dienſte am liebſten/ die der Tugend zuwider
ſeyn/
und die Gemuͤths-Ruhe ſtoͤhren/ theils da-
mit wir den Freund zu gleichmaͤßigen unruhigen
Dienſten wiederbrauchen koͤnnen; theils weil
wir aus deren Begehren ſpuͤhren/ daß er uns
gleich ſeyn muͤſſe. Ja wenn man ſiehet/ daß der-
ſelbe/ weil er nicht ſo unvernuͤnfftig iſt als wir/ ſich
ſchaͤmet/ dieſelben von uns zu begehren/ ſo friſchet
man ihn deſto mehr darzu an/ und wenn er hinge-
gentheil was loͤbliches von uns verlanget/ lachet
man ihn aus als einen unverſtaͤndigen Menſchen/
oder hintergehet ihn ſonſten/ in dem man aller-
hand Erfindungen hervor ſucht/ ihm ſein Begeh-
ren unter einem Schein abzuſchlagen.


74.

Und alſo verſteheſtu nunmehro/ worumb
wir oben in Beſchreibung der Gutthaͤtigkeit ge-
dacht/ daß man dieſelbe ohne Begehꝛung eini-
ges Entgeldts
verrichten muͤſſe/ weil wir nem-
lich in derſelben nicht unſer Intereſſe, ſondern das
Vergnuͤgen der geliebten Perſon ſuchen. Wir
ſuchen ja dadurch das allbereit gewonnene Hertze
unſers Freundes immer naͤher und naͤher mit uns
T 2zu
[296[292]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
zu verbinden/ und dieſes uͤbertrifft alles andere
Intereſſe, aber wir ſuchen doch hiermit nicht un-
ſern privatNutzen/ ja wir wollen auch das Heꝛtze
unſers Freundes nicht durch die Gutthaten/ ſon-
dern mit unſern Hertzen/ davon die Gutthaten
nur ein Zeugniß ſeyn/ erkauffen.


75.

Jedoch iſt die Gutthaͤtigkeit niemahlen
ohne Hoffnung eines Vergeldts/ weil man ge-
wiß verſichert iſt/ daß die Liebe unſeres Freundes
ihm antreiben werde/ danckbar gegen uns zu ſeyn.
Denn die Danckbarkeit iſt eine Tugend/ die der
Gutthaͤtigkeit auff dem Fuſſe folget. Sie iſt
nichts anders als ein Trieb/ die empfangenen
wahren Gutthaten nicht alleine alſobald
mit Bezeigung/ daß ſie uns angenehm ſeyn
anzunehmen/ ſondern auch eyffrig ſich zu be-
muͤhen/ entweder dieſelbe durch andere zu
erwiedern/ oder doch zum wenigſten/ da es
in unſern Vermoͤgen nicht iſt/ oder da ſich
ſonſt keine Gelegenheit darzu ereignet/ durch
Worte und Wercke zu bezeigen/ daß wir
ſolches zu thun groſſes Verlangen tragen.


76.

Die Danckbarkeit hat dieſes mit der
Gutthaͤtigkeit gemein/ daß auſſer der wahren
Liebe auch keine warhaffeige Danckbarkeit
ſtatt hat;
Wo man mir nur Schein-Guttha-
ten erwieſen/ nach Art und Weiſe/ wie wir ſolches
kurtz zuvor beſchrieben haben/ da bin ich nicht un-
danckbar/ wenn ich dieſelben nicht zu vergelten
trachte/ zumahl wenn man uns dieſelben wider
Willen
[297[293]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
Willen auffgedrungen. Ja wenn ich ſie gleich
vergelte/ ſo iſt es doch keine Danckbarkeit/ ſondern
eine Bezahlung deſſen/ was mir der andere nicht
als eine Gutthat erwieſen/ ſondern gleichſam nur
als baares Geld geliehen/ und ich auch nicht an-
ders angenommen/ oder annehmen ſollen.


77.

Ferner gleichwie man von der Gutthaͤ-
tigkeit
nicht leichte urtheilen kan/ ob dieſelbe
recht oder unrecht ſey/ wenn man nicht die
wahre Liebe in ſeinem Hertzen empfunden/ und
die falſche Schein-Liebe erkennen lernen; Alſo
kan man auch nicht leichte urtheilen ob der an-
dere danckbar oder undanckbar ſey/ wenn man
nicht ſelbſten den jetztbeſagten Grund warhaffti-
ger Danckbarkeit wohl verſtehet. Bey dieſer
Bewandniß aber iſt nicht zu bewundern/ woher
es doch komme/ daß da die wenigſten Menſchen
denen andern wahre Gutthaten bezeigen/ doch
jederman ſeine Gutthaͤtigkeit ruͤhmet/ und
den andern einer Undanckbarkeit beſchuldi-
get/ der ſich aber kein Menſch ſchuldig er-
kennen wil.
Denn wir leben zu einer ſolchen
Zeit/ da die Tugend den Nahmen der Laſter
uͤberkommen/ die Laſter aber mit denen Titeln der
Tugend einher prangen/ und da die allermei-
ſten Menſchen von der vernuͤnfftigen Liebe/ und
denen dahin gehoͤrigen Tugenden/ wie der Blin-
de von den Farben urtheilen.


78.

Endlich gleich wie die Liebe keinen Zwang
leidet/ und was gezwungen iſt/ fuͤr keine Gutthat
T 3pasſi-
[298[294]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
paſſiren kan; alſo kan man auch niemand zur
Danckbarkeit zwingen/
und der jenige bleibt
doch undanckbar/ den man gezwungen hat ſeinen
Freunde wieder gutes zu thun.


79.

Wiederumb iſt darinnen zwiſchen der
Gutthaͤtigkeit und Danckbarkeit ein groſſer
Unterſcheid/ daß niemand fuͤr gutthaͤtig gehal-
ten werden kan/ der ſeinem Freunde nicht in
der That Gutthaten erweiſet/
aber man kan
wohl danckbar ſeyn/ wenn man gleich dem an-
dern nichts wieder zu gute thut/
wenn es uns
an Gelegenheit und Vermoͤgen mangelt ſolches
zu thun/ und wir unſere Begierde ihm wieder zu
dienen nur rechtſchaffen ausdruͤcken.


80.

Du muſt aber nicht weiter gehen/ und aus
dem was wir geſagt haben/ folgern/ daß noch die-
ſer Unterſcheid zwiſchen dieſen beyden Tugenden
ſey/ daß auff dieſe Weiſe niemand unvermoͤ-
gend ſey/ danckbar zu ſeyn/ aber daß es ihrer
vielen fehlen koͤnne guttaͤhtig zu ſeyn/
wenn
ſie wegen Armuth hierzu unvermoͤgend ſind. Und
daß dannenhero Arme ſich nicht ſchicketen an-
dere zu lieben/
oder doch die Gutthaͤtigkeit
nicht eben ſo ein noͤthiges Stuͤcke der tu-
gendlichen Liebe ſeyn muͤſſe.
Denn es folget
dieſes aus unſerer Lehre gantz nicht. Es kan ja
wohl einem Menſchen an Gelegenheit mangeln/
einem andern wuͤrcklich gutes zu thun/ als wie es
ihm an Gelegenheit mangelt/ dem andern wuͤrck-
liche Danckbarkett zu erweiſen. Es kan einer
unver-
[299[295]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
unvermoͤgend ſeyn/ die Gutthat/ die der andere
von dir begehret/ ihm zu erweiſen/ gleich wie er
oͤffters unvermoͤgend iſt/ ihm zur Danckbarkeit
etwas gewiſſes zu leiſten. Aber das gehet nicht
an/ daß wir ſagen wolten ein einiger Menſche/ ſon-
derlich ein tugendhaffter Menſche ſey unvermoͤ-
gend dem andern gutes zu thun. Die Guttha-
ten beſtehen nicht allein in Mittheilung des Ver-
moͤgens/ ſondern in Anwendung alles menſch-
lichen Thun und Laſſens zu des andern Nutzen.
Hat nicht ein jeder ein Leben/ das er fuͤr dem an-
dern auffopffern kan? Und hat nicht ein Weiſer
uͤber dis guten Nath den andern aus der Beſtiali-
taͤt heraus zu reiſſen/ und ſeinen Verſtand und
Willen auszubeſſern? Dieſe Gutthaten ſind viel
edler als die Darleyhung aller Schaͤtze.


81.

Siehe auff ſo leichten und doch deutlichen
Gruͤnden beſtehet die Lehre von der Gutthaͤtigkeit
und Danckbarkeit. Jn dieſes wenigeconcen-
tri
ret ſich alles das wasSenecaſo weitlaͤuff-
tig und nicht allzuordentlich/ auch zum oͤff-
tern nach Art der Stoicker mehr
problema-
tiſch als klar und offenbahr handgreifflich in
ſeinen Buͤchern von denen Gutthaten vor-
getragen.
So viel iſt an einer rechten Be-
ſchreibung eines Dinges/ und an guter Ordnung
gelegen.


82.

Nun folget die unzertrennliche Ge-
meinſchafft alles Vermoͤgens/ ingleichen al-
les vernuͤnfftigen Thun und Laſſens/
als die
T 4voͤlli-
[300[296]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
voͤllige Bezeugung/ daß nunmehro die vernuͤnffti-
ge Liebe ihre Vollkommenheit erlanget. Wenn
man ſich mit der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit gleich-
ſam in den aͤuſſerſten Vorgemach der vernuͤnffti-
gen Liebe/ darinnen jederman den Zugang hat/
eine Zeitlang auffgehalten/ und hernach vermit-
telſt der Gutthaͤtigkeit in ihr anderes Zimmer/ da
ihrer wenige nur ihren Zutritt haben/ eingegan-
gen/ gelanget man endlich in das allervertrauteſte
Cabinet der Liebe/ wenn man durch eine Gutthat
und Vertraulichkeit nach der andern Wechſels-
weiſe die Hertzen ſo feſte und unauffloͤßlich ver-
knuͤfft hat/ daß aus Zweyen ſo zu ſagen ein Hertz
und eine Seele worden iſt. Und alſo muß dem-
nach in dieſem
Cabinetda die wahre Liebe
ihren Thron hat/ alles Eigenthum auffhoͤ-
ren/ und alles gemein ſeyn/ weil ein jedwedes
Eigenthum zum wenigſten zwey und zwar
unterſchiedene und nicht allzueinige Perſo-
nen nach ſeinen Weſen
præſupponiret/ auch
aus dem Mangel der Liebe und der Uneinig-
keit entſtanden iſt.


83.

Wir haben dieſes anderswo weitlaͤufftig
ausgefuͤhret/ da wir behauptet haben/ daß von
Anfang der Welt eine Gemeinſchafft der
Guͤter geweſen ſey/
und daß das Eigenthum al-
leine deshalben entſtanden/ weil das Band der
Liebe unter denen Menſchen zerriſſen/ und allein
in dieſer Betrachtung beſagte Gemeinſchafft fuͤr
den hierdurch allzuſehr verderbten Zuſtand der
Men-
[301[297]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
Menſchen ſich nicht ſchicke. So weiſet es auch
die Kirchen Hiſtorie/ daß bey dem Anfang des
Chriſtenthums/ als die Chriſtliche Liebe annoch
ihte gehoͤrige Bruͤnſtigkeit gehabt/ auch alle Guͤ-
ter unter denen erſten Chriſten gemein ge-
weſen.
Jedoch wollen wir dieſes Letzte allhier
nicht als den ſtaͤrckſten Beweißthum anfuͤhren/
theils weil die Chriſtliche Liebe viel edler iſt als die
vernuͤnfftige liebe/ von der wir alleine in dieſer
Sitten-Lehre handeln/ theils weil unterſchiedene
Gelehrte der Meinung ſind/ daß unter denen er-
ſten Chriſten nicht eben alle Guͤter gemein gewe-
ſen; Welchen Streit ausfuͤhrlich zu eroͤrtern/ an-
jetzo nicht unſers Vorhabens iſt.


84.

So wollen wir uns auch nicht des An-
ſehens des Plato bedienen/ welcher/ wie bekant iſt/
zu der Vollkommenheit des geweinen Weſens
erfordert/ daß alle Dinge in demſelben gemein
ſeyn ſolten/ ſo wohl weil dieſer etwas zu weit ge-
het/ und dieſe Gemeinſchafft auch auf die Ge-
meinſchafft der Weiber
erſtrecket/ davon wir
im letzten Hauptſtuͤck etwas vernehmen wollen/
(wiewohl ein gelehrter Mann unſerer Zeit nicht
ohne Wahrſcheinlichkeit den Plato disfalls ver-
theidiget/ oder vielmehr entſchuldiget) theils weil
wir nicht gewohnet ſind zu Behauptung unſerer
Lehren uns der Autoritaͤt einiges Menſchen zu be-
dienen. Genug iſt es/ daß wir dieſelbe allbereit
aus dem Weſen der Liebe ſelbſt klar und deutlich
hergeleitet haben.


T 585. Und
[302[298]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen

35.

Und iſt ſolchergeſtalt nichts mehr uͤbrig/
als daß wir etliche wenige Einwuͤrffe die man aus
denen Regeln der allgemeinen menſchlichen Ver-
nunfft hierwieder anfuͤhren konte/ abhelffen. Jns-
gemein haͤlt man dafuͤr/ daß die Gemeinſchafft
aller Guͤter den Unterſcheid der Staͤnde in
gemeinen Leben und der Buͤrgerlichen Ge-
ſellſchafft gaͤntzlich auffheben/ und durchge-
hends einen ſchaͤndlichen Muͤßiggang/
oder
doch zum wenigſten dieſe Ungerechtigkeit einfuͤh-
ren wuͤrde/ daß die faulen Leute/ die nicht arbeiten
wollen/ beſſer dran ſeyn wuͤrden als die Arbeitſa-
men/ in dem ſie der Frucht der andern ihrer Arbeit
reichlich mit genieſſen/ die Arbeitſamen aber von
ihnen nicht das geringſte wiederumb zu genieſſen
haben wuͤrden/ wodurch denn eine groſſe Un-
gleichheit
unter denen Menſchen wuͤrde einge-
fuͤhret/ und alſo wider die Regeln der allgemeinen
menſchlichen Liebe groͤblich angeſtoſſen werden.


86.

Nun laugnen wir zwar nicht/ daß dieſer
Einwurff im erſten Anblick von ziemlichen Nach-
druck zu ſeyn ſcheine/ und haben die meiſten unter
denen Gelehrten bishero nichts gefunden/ denſel-
ben aus dem Wege zu raͤumen/ ſondern ſich dieſen
Einwurff verleiten laſſen/ deswegen die Gemein-
ſchafft der Guͤter hefftig anzufeinden/ und das Ei-
genthumb mehr als es verdienet/ heraus zu ſtrei-
chen. Aber worzu verleitet uns Menſchen doch
nicht ein von andern langwierig eingefuͤhrter
Wahn/ den wir von den groͤſten Hauffen verthey-
diget
[303[299]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
diget und behauptet ſehen. Es iſt wahr/ die Ge-
meinſchafft der Guͤter
hebet einen von denen
vornehmſten Unterſcheiden unter den Menſchen
auff/ von welchen ſehr viel andere Unterſcheide
der Staͤnde in menſchlicher Geſellſchaft dependi-
ren/ nemlich den Unterſcheid/ nach welchem et-
liche arm/ etliche reich ſind/
und wuͤrde gewiß/
wenn eine Eigenthum waͤre/ niemand arm oder
reich ſeyn/ ſondern jedweder genug haben.


87.

Aber wolte GOtt/ daß kein Menſch
arm oder reich waͤre.
Jener hat zuviel/ und
dieſer zu wenig. Beydes iſt boͤſe/ und fuͤr einen
Haupt-Mangel zu achten. Armuth und Reich-
thum iſt ja beynah die Urſache aller unter den
Menſchen entſtehenden Uneinigkeiten. Und
wenn die Gemeinſchafft der Guͤter keinen Man-
gel mehr einfuͤhret/ als daß ein jedweder genung
hat/ ſo haſtu warhafftig nichts wider dieſelbige
zu ſagen/ weil derjenige allbereit das groͤſte Theil
von der Gemuͤths-Ruhe hat/ der ſich begnuͤgen
laͤſt.


88.

Und obſchon von dem Unterſcheid der
Reichen und Armen/ oder von dem unter den
Menſchen eingefuͤhrten Eigenthum ſehr viel an-
dere Staͤnde
dependiren/ indem ein jedweder
dadurch angetrieben wird/ etwas in dem gemei-
nen Weſen zu erſinnen/ damit er Geld verdiene/
ſo ſind es doch insgemein ſolche Staͤnde/ dadurch
die Thorheit und Eitelkeit der Menſchen im-
mer mehr und mehr geſtaͤrcket wird/
indem
ein
[304[300]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
ein jedweder ſich bemuͤhet/ durch ſeine Erfindun-
gen/ immer was neues auff die Bahn zu bringen/
dadurch die auff eitele Curioſitaͤt zielende Ge-
muͤther der Menſchen an ſich zu locken/ oder ihnen
dadurch Gelegenheit zu geben/ ſich von andern
Menſchen/ als wenn ſie vortrefflicher waͤren/ deſto
mehr abzuſondern/ oder unter dem Schein dem
menſchlichen Geſchlecht zu nuͤtzen/ demſelben viel-
mehr auff tauſenderley Weiſe zu ſchaden. Wer
wolte aber ſagen/ daß dadurch dem gemeinen
Weſen ein Abbruch geſchehe/ wenn durch die Ge-
meinſchafft aller Guͤter dieſe Staͤnde auffgehoben
und geaͤndert wuͤrden/ da ſie doch vielmehr das
gemeine Weſen ſo ſehr hindern/ daß/ wie die taͤg-
liche Erfahrung weiſet/ die ſo vielfaͤltig wieder-
holeten Policey-Ordnungen nicht vermoͤgend
ſind/ das durch dieſelben eingefuͤhrte Ubel aus-
zu tilgen.


89.

Ja ſprichſt du/ das gemeine Weſen
wuͤrde durch die Gemeinſchafft der Guͤter ſelbſt
auffgehoben werden/ und wenn kein Eigenthum
waͤre/ wuͤrde kein Menſch unterthan ſeyn/ ſon-
dern ein jeder ſeine Freyheit haben wollen. Und
ſolcher Geſtalt wuͤrde das Band der buͤrgerlichen
Geſellſchafft gantz offenbahr getrennet werden/
als welches ohne Obrigkeit und Unterthanen
nicht werden kan.


90.

Aber wer ſiehet nicht/ daß dieſer Einwurff
der Vollkommenheit der Gemeinmachung aller
Guͤter am wenigſten zu wieder ſey. Wir wollen
jetzo
[305[301]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
jetzo hierzu eben nicht anfuͤhren/ das alle Regi-
mente und Obrigkeiten die Verderbniß der
menſchlichen Natur und den Mangel vernuͤnffti-
ger Liebe præſupponiren/ uñ daß/ wenn alle Men-
ſchen nach den Trieb der guten Natur einander
gebuͤhrend liebeten/ es keines Zwangs/ und folg-
lich auch keiner Obrigkeit beduͤrffen wuͤrde. Son-
dern wir wollen nur dieſes erinnern/ daß das Ei-
genthum der Guͤter
und die buͤrgerliche Ge-
ſellſchafft gantz nicht nothwendig mit einan-
der verknuͤfft ſeyn/
ſondern eines ohne das an-
dere gar wohl ſeyn koͤnne. Denn die Einfuͤhrung
des Eigenthums iſt Zweiffels ohne eher gewe-
ſen als die buͤrgerliche Geſellſch
afft/ und wenn
daſſelbige ja Urſache an einer allgemeinen menſch-
lichen Geſellſch afft iſt/ ſo iſt es gewiß die Geſell-
ſchafft zwiſchen Herr und Knecht/ welche nicht
ſeyn wuͤrde/ wenn alle Guͤter gemein waͤren.


91.

Die buͤrgerliche Geſellſchafft iſt
zwar nach Vermehrung des menſchlichen Ge-
ſchlechts und Einfuͤhrung des Eigenthums auch
entſtanden/ aber ſie kan deswegen wohl ohne daß
die ſo in buͤrgerlicher Geſellſchafft mit einander
leben/ was eigenes haͤtten/ beſtehen. Jhr Ur-
ſprung ruͤhret von Furcht aͤußerlicher Gewalt her/
und ob ſchon dieſe Gewalt guten theils auf die
Guͤter anderer Menſchen ein Abſehen richtet/ ſo
folget doch deshalben nicht/ daß dieſe Guͤter/ die
dem gantzen gemeinen Weſen eigenthuͤmlich zu-
ſtaͤnden/ nicht allen und jeden/ die unter demſel-
ben
[306[302]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
ben begriffen ſind/ gemein ſeyn koͤnten. Ja die
aͤußerliche Gewalt zielet auch oͤffters mehr auf die
Freyheit des menſchlichen Thun und Laſſens/ des
ſo wohl Armen als Reichen gemein iſt/ daß den-
noch in dieſem Abſehen das gemeine Weſen un-
ter denen Menſchen/ die an ſtatt vernuͤnfftiger Lie-
be einander Haß erweiſen/ ſeinen Nutzen haben/
und vonnoͤthen ſeyn wuͤrde/ wenn gleich kein Ei-
genthum waͤre.


92.

Es iſt wohl andem/ das Eigenthum hat
ſich in alle Staͤnde des gemeinen Weſens derge-
ſtalt eingeflochten/ daß man im erſten Anblick nicht
wohl begreiffen kan/ was fuͤr eine Geſtalt daſſel-
be immermehr haben koͤnte/ wenn kein Eigenthum
ſeyn ſolte. Aber es hat uns dieſen Scrupel zu
benehmen allbereit ein ſcharffſinniger Kopff die
Muͤhe erſparet/ indem er unter dem Schein/ als
ob er ein neu entdecktes Volck/ das er dieSe-
varambes
nennet/ nach ihrer Regiments-Art
und Sitten Hiſtoriſcher weiſe beſchreiben wolte/
die geſtalt einer Republique, darinnen alle Guͤter
gemein waͤren/ ſo artig und geſchickt beſchrieben/
daß der geringſte Zweiffel der Moͤgligkeit nicht
mehr zuruͤcke bleidet/ wenn nur die Boßheit die
Hertzen der Menſchen nicht ſo ſehr eingenommen
haͤtte.


93.

Eben dieſer Autor hat uns zugleich vielen
Nachdenckens uͤberhoben/ wie der zuletzt oben
gemachte Einwurff aus dem Wege zu raͤumen
ſey/ daß durch Einfuͤhrung der Gemeinſchafft aller
Guͤ-
[307[303]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
Guͤter eine groſſe und ungerechte Ungleich-
heit zwiſchen faulen und arbeitſamen Leu-
ten zugleich eingefuͤhret werden muͤſſe/
indem
er gantz offenbahrlich gewieſen/ wie gar leichte es
anzuſtellen ſey/ daß auch bey der Geweinſchafft
der Guͤter das gantze Volck gleiche Arbeit und
gleiche Ruhe oder Zeitvertreib habe/ wenn nur
der Muͤßigang als eines der ſchaͤndlichſten und
ſchaͤdlichſten Laſter ſcharff geſtraffet werde.


94.

Jch wil davon nichts erwehnen/ daß die
Faulheit und der Muͤßiggang die groͤſſeſten
Anzeigungen unvernuͤnfftiger Menſchen ſeyn/
und daß das gemeine Weſen nicht wohl beſtellet
ſeyn muͤſſe/ wenn viel Faullentzer und Muͤßiggaͤn-
ger darinnen ſeyn. Der Menſch iſt zur Arbeit
geſchaffen. Die Arbeit erhaͤlt ſeine Geſundheit/
verlaͤngert ſein Leben/ ja ſie macht ihn nicht allein
geſchickt/ alle rechtſchaffene wahre Luſt zu ſchme-
cken/ und zu genieſſen/ ſondern ſie giebt ihm auch
das groͤſte Vergnuͤgen/ indem ſie ihm die Zeit nie-
mahlen lang werden laͤſt. Derowegen iſt es un-
moͤglich/ daß die Gemeinſchafft der Guͤter faule
Leute machen koͤnne/ weil ſie unter niemand als
vernuͤnfftigen Perſonen ſtatt haben ſol.


95.

Aber ſprichſt du/ wenn das Eigenthum
aufgehoben iſt/ ſo iſt alle Gutthaͤtigkeit auf-
gehoben/
weil ich die Gutthaͤtigkeit darinnen aus-
uͤbe/ wenn ich dem andern von meinen Guͤtern
was anſehnliches mittheile/ nicht aber wenn ich
ihm die gemeinen Guͤter genieſſen laſſe. Jſt denn
die
[308[304]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
die Gutthaͤtigkeit auffgehoben/ ſo wird gleich-
ſam die Seele der Liebe erſtickt/
und das
Band zerriſſen/ das zwey Hertzen/ verbinden ſol.
Und ſolchergeſtalt/ ſieheſt du ja augenſcheinlich/
daß die Gemeinſchafft der Guͤter der Gemuͤths-
Ruhe mehr hindere als befoͤrdere.


96.

Dieſer Einwurff iſt noch viel leichter zu
heben/ als der erſte/ weil ſeine Sophiſtereyen viel
handgreifflicher ſeyn. Denn anfaͤnglich hebet
die Gemeinſchafft aller Guͤter die Gut-
thaͤtigkeit nicht gantz auf/
weil/ wie oben ge-
dacht/ auch der aͤrmſte Menſch durch ſein Thun
und Laſſen ſeinem Freunde die groͤſten Dienſte
erweiſen kan. Hernach ſo weiſet gegenwaͤrtiges
Hauptſtuͤck/ daß die Gutthaͤtigkeit zwar das Mit-
tel ſey/ den Menſchen aus dem Stande des Miß-
trauens in die vertꝛauliche Liebe zu ſetzen; aber des-
wegen iſt ſie nicht die Seele/ ſondern nur das letz-
te Vorgemach der Liebe/ und waͤre ja augen-
ſcheinlich beſſer/ wenn die Menſchen in einem ſo
gluͤcklichen Zuſtande lebeten/ daß ſie nicht erſt
durch dieſe Vorgemaͤcher in das Cabinet der Lie-
be eingehen muͤſten. Ja ich frage dich endlich ſel-
ber mein Freund/ welche Gutthaͤtigkeit wuͤrdeſt
du fuͤr groͤſſer achten/ wenn dir dein Freund die
Wahl gaͤbe/ ob du lieber wolteſt/ daß er dir von
ſeinem Veꝛmoͤgen dann und wann etliche portio-
nes
ſchenckete/ oder daß er dir daſſelbige auf ein-
mahl mittheilete? Jch glaube ja wohl/ daß ſich
Leute von ſo verderbten Geſchmack finden ſolten/
die
[309[305]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
die lieber jenes als dieſes wehlen wuͤrden/ aber
ſie wuͤrden gantz offenbahrlich hierdurch ihr un-
vernuͤnfftiger Weiſe intereſſirtes Gemuͤthe zu er-
kennen geben.


97.

So iſt es dann dein rechter Ernſt/ faͤhreſt
du endlich fort/ daß man das Eigenthum auff-
heben/ und die Gemeinſchafft der Guͤter ein-
fuͤhren ſolte/
damit die Liebe deſto beſſer unter
den Menſchen eingefuͤhret und ausgebreitet wer-
de? Mein was iſt dieſes fuͤr eine gefaͤhrliche und
haͤmiſche Frage? Du Heuchler denckſt du/ daß
du mich durch dieſe Frage fangen wolleſt? Wol-
teſt du wohl einem Ziprianer rathen/ er ſolle ſo lan-
ge er das Zipperle hat/ ſeine Kruͤcken weglegen/
und in der Stube herum tantzen/ deß er fein ge-
ſund und ſtarck auff den Schenckeln wuͤrde? Des-
halben iſt doch wohl gewiß/ daß die Kruͤcken einen
geſunden Menſchen nichts nuͤtze ſeyn. Das er-
ſte Capitel hat allbereit erinnert/ daß dasjenige
was einem Menſchen/ der im ordentlichen Zu-
ſtande lebet/ gut iſt/ dem andern der Mangelhafft
iſt boͤſe ſey. Pedanten und Heuchler fangen
bey der Beſſerung des Menſchen von dem
letzten zu erſt an/ aber ein weiſer Mann ſu-
chet den Grund des Ubels zuvorher auszu-
rotten.
Die Gemeinſchafft der Guͤter gebie-
ret nothwendig tauſend Ungelegenheiten unter
Leuten die keine Liebe haben. Bringe erſt die
Liebe in die Leute/ darnach wird es ſich mit

Udem
[310[306]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
dem Eigenthum oder der Gemeinſchafft der
Guͤter ſchon von ſich ſelbſt geben.


98.

Gleichwie nun die vollkommene Liebe
alle Guͤter gemein machet/ alſo entſtehet auch
daraus eine Gemeinſchafft alles vernuͤnffti-
gen Thun und Laſſens.
Nemlich daß ſo dann
ein Freund nicht mehr dem andern wie bey der
Gutthaͤtigkeit/ ihme durch ſein Thun und Laſ-
ſen einen Gefallen zu erweiſen erſuchet/ und
gleichſam bittet/ und hernach uͤber die erwieſene
Gutthat ein ſonderliches Vergnuͤgen empfindet/
das darinnen beſtehet/ daß er durch dieſe geleiſte-
te Gutthat ſeines Freundes immer mehr und
mehr verſichert wird; ſondern daß er den an-
dern mit der groͤſten Zuverſicht gleichſam
anweiſet/ wie und auff was Weiſe er wolle/
daß ihm dieſer helffen/ und ihme etwas zu-
gefallen thun ſolle/
auch hernach daruͤber kei-
ne neue Freudens-Bewegung empfindet/ ſon-
dern weil er zuvorhero geſehen/ daß das Weſen
der Liebe ihm dieſe Freyheit gebe/ und ſein
Freund ſich des begehrten ohnmoͤglich weder
entbrechen werde noch ſolle/ in ſeiner vorigen
Ruhe einmahl wie das andere bleibet.


99.

Jedoch iſt dieſes nur eine Gemeinſchafft/
nicht aber eine Herrſchafft/
weil der eine Freund
gleicher maſſen von dem andern eben das gewaͤr-
tig iſt/ und demſelben eben dieſes geſtattet/ weſſen
er ſich gegen ihm bedienet. Und alſo ſieheſt du/
daß zwar bey der Gutthaͤtigkeit nicht eben eine
un-
[311[307]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
unruhige/ aber doch auch nicht ſo eine ruhige Ge-
muͤths-Bewegung ſey/ als bey der Gemein-
ſchafft/ weil bey jener die Liebe noch in ihrem
Wachsthumb/ und alſo ihre Bewegung deſto
empfindlicher iſt. Bey dieſer aber allbereit die
hoͤchſte Vollkommenheit erhalten/ und ſolcher ge-
ſtalt weil ihre Bewegung nichts veraͤnderliches
an ſich hat/ dieſelbe auch faſt gar nicht empfunden
wird.


100.

Aber du wirſt uns vielleicht hier vor-
werffen/ daß wir oben im erſten Capitel erweh-
net/ daß alle Bewegung entweder ſteigen oder
fallen muͤſſe/ und daß dannenhero die Liebe
zweyer tugendhaffter Gemuͤther/ wenn ſie
ihre Vollkommenheit erlanget/ gleichfalls
wieder abnehmen muͤſſe.
Naͤhme ſie aber
ab/ ſo waͤre entweder dieſe Liebe ein vergebenes
Mittel zu der hoͤchſten Gluͤckſeeligkeit zu gelan-
gen/ oder aber es koͤnne die Gemuͤths-Ruhe die
hoͤchſte Gluͤckſeeligkeit nicht ſeyn/ weil ſie eine
eitele Einbildung ſey/ in dem alles/ wie gedacht/
entweder abnehmen oder zunehmen muͤſſe/ und
folglich nicht beſtaͤndig ruhen koͤnne.


101.

Wie wollen wir uns dieſen Einwurff
von Halſe weltzen/ nachdem derſelbe uns feſte zu
halten ſcheinet/ und von denen erſten Grund-Re-
geln unſerer Lehre hergenommen iſt? Wir wol-
len es kurtz machen. Es iſt wahr/ was nicht wei-
ter zunehmen kan/ muß nothwendig abnehmen/
und die Liebe zweyer vernuͤnfftiger Perſonen/
U 2wenn
[312[308]]Das 6. Hauptſt. von der abſonderlichen
wenn ſie vollkommen worden/ kan nicht weiter
unter ihnen zunehmen/ ſonſt waͤre ſie nicht voll-
kommen. Aber ſie nimmet deswegen nicht ab/
ſondern ſie breitet ſich weiter aus/ und weil
ſie unter dieſen beyden nicht mehr zunehmen kan/
ſuchet ſie ihren Wachsthum darinnen/ daß ſie
mehr Hertzen an ſich zu ziehen/ und ſich alſo im-
mer weiter und weiter unter andern Menſchen
auszubreiten bemuͤhet iſt. Das iſt es/ was wir
oben geſaget/ daß die Gemuͤths-Ruhe allezeit
trachte ſich mit andern Menſchen die nach der-
ſelben ſtreben/ zu vereinigen.


102.

Denn gleichwie der Haß zweyer Per-
ſonen bald um ſich friſt/ und noch mehrere in dem-
ſelben verwickelt; Alſo iſt kein Zweiffel/ daß das
Exempel zweyer tugendliebender Gemuͤther/ die
einander vollkommen lieben/ nicht auch gleich-
falls von beyden Theilen noch mehrere derglei-
chen Perſonen mit ihnen ſich zu vereinigen/ an-
locken ſolte. Aller Anfang iſt ſchwehr. Aber wo
man nur einmahl ein Exempel einer guten Sa-
che vor Augen ſiehet/ bauet daſſelbe mehr/ als
hundert deutliche Lehr-Saͤtze. Bey dieſer Be-
wandniß darffſt du dich nicht befahren/ daß die
Gemuͤths-Ruhe aus Mangel des Wachsthums
werde von noͤthen haben/ abzunehmen/ weil ſie
ſo lange wachſen kan/ ſo lange das gantze
menſchliche Geſchlecht nicht einig iſt/ oder

wenn es auch gleich einander gaͤntzllch liebte/ ſo
lange noch taͤglich durch Kinder zeugen daſſelbi-
ge
[313[309]]vernuͤnfftigen Liebe uͤberhaupt.
ge vermehret wird. Hoͤre vielmehr auff zu be-
wundern/ worum doch bißhero die vernuͤnfftige
Liebe ſo ſchlecht ſich ausgebreitet; Wir haben
kein Exempel der vernuͤnfftigen Liebe zwiſchen
zweyen Perſonen/ die zu der hohen Vollkommen-
heit gelanget. Wie wolten wir denn hoffen/ daß
viel Hertzen auff dieſe Art mit einander vereini-
get ſeyn koͤnten?


Das 7. Hauptſtuͤck.
Gegeneinanderhaltung der
unterſchiedenen Arten vernuͤnfftiger
abſonderlichen Liebe.


Jnnhalt.


  • Connexion n. 1. Die vernuͤnfftige Liebe iſt entweder
    gleich oder ungleich. n. 2. Jene iſt entweder zweyer
    tugendvollkommener Leute oder zweyer Tugend-
    Schuͤler. Dieſe entweder hoͤherer oder niedriege-
    rer Perſonen. n. 3. Welche unter dieſen Arten die
    ſtaͤrckſte/ angenehmſte und vortrefflichſte ſey. n. 4.
    Unterſcheid derer dreyer Tugenden des vorigen Ca-
    pitels in Betrachtung dieſer unterſchiedener Arten.
    n. 5. Bey der ungleichen Liebe iſt eine abſonderliche
    Hochachtung. n. 6. Unterſcheid der ſorgfaͤltigen Gefaͤllig-
    keit nach dem Unterſcheid gleicher und ungleicher Lie-
    be. n. 7. 8. Bey gleicher Liebe faͤnget dieſelbe auff bey-
    den Theilen zugleich an/ bey ungleichen aber faͤnget
    ordentlich der geringere an. n. 9. Die Gefaͤlligkeit
    U 3dauert
    [314[310]]Das 7. H. von der unterſchiedenen
    dauert bey dergleichen Liebe zweyer Anfaͤnger am laͤng-
    ſten. n. 10. Je laͤnger zwey Perſonen einander die
    Gefaͤlligkeit erweiſen/ je mehr iſt daraus zu ſehen/ daß
    ſie noch unvollkommen/ oder daß ihre Liebe wohl gar
    nicht vernuͤnfftig ſey. n. 11. Mit der Dauerung der
    Gutthaͤtigkeit hat es gleiche Bewandniß. n. 12. Die
    unvennuͤnfftigſte und vernuͤnfftigſte Liebe kommen am
    geſchwindeſten zu ihren Zweck. n. 13. Die ungleiche
    Liebe hat mehr empfindliches Vergnuͤgen als die vor-
    treffliche gleiche. Die unvollkommene gleiche Liebe a-
    ber hat das allermeiſte empfindliche Vergnuͤgen. n.
    14. Andere Gutthaten erweiſet die vollkommene/ an-
    dere die unvollkommene gleiche Liebe. n. 15. Anders be-
    zeiget ſich in des ungleichen Liebe die unvollkommenere
    anders die vollkommenere Perſon. n. 16. Die Gemein-
    ſchafft aller Guͤter und alles Thuns und Laſſens iſt nur
    bey der vortrefflichen gleichen Liebe. (Man kan wohl
    nichts eigenes haben/ und doch in keiner Gemeinſchafft
    leben) n. 17. Und nichts deſtoweniger iſt dieſe Gemein-
    ſchafft eine Tugend/ die zu der vernuͤnfftigen Liebe
    uͤberhaupt gehoͤret. n. 18. Bey der heutigen Welt iſt
    auch der unterſte Grad vernuͤnfftiger Liebe etwas ra-
    res. n. 19. Beantwortung etlicher Fragen (I) Ob es
    mehr Vergnuͤgen gebe/ lieben oder geliebet werden?
    n. 20. 21. (II) Ob es angenehmer ſey in der Liebe zu
    unterweiſen oder unterwieſen zu werden? n. 22. 23.
    (III) Ob die Liebe aus natuͤrlicher Zuneigung/ oder
    die Liebe aus Danckbarkeit ſtaͤrcker ſey? n. 24. 25. 26.
    (IV) Welche Liebe laͤnger dauret/ die vollkommene
    oder unvollkommene/ gleiche oder die ungleiche Liebe?
    n. 27. 28. 29. Wenn die unvollkommene vernuͤnfftige
    Liebe abnimmt/ verwandelt ſie ſich gemeiniglich in eine
    Kaltſinnigkeit/ die unvernuͤnfftige aber in Haß und
    Verachtung. n. 29. (V) Ob es einem Frauen-Zimmer
    ſchimpfflich ſey zu erſt zu lieben/ oder ihre Liebe erſt bli-
    cken zu laſſen. n. 30. Erſt zu lieben iſt nicht allezeit ein
    Zei-
    [315[311]]Arten der abſonderlichen Liebe.
    Zeichen einer Unvollkommenheit. n. 31. Unvollkom-
    menheit iſt in der Liebe nicht ſchimpfflich. n. 32. Ob
    ein weiſer Mann ein Frauen-Zimmer lieben doͤrffe?
    n. 33. 34. 35. Ein weiſer liebet mehr par recoignois-
    ſance
    als par inclination, und gibt andere Liebes-Pro-
    ben als ein Tugend-Schuͤler. n. 36.

I.


LAſſet uns nunmehro die unterſchiede-
nen Arten der vernuͤnfftigen abſon-
derlichen Liebe
ein wenig betrachten
und gegen einander halten. Wir haben all-
bereit im vorigen Hauptſtuͤck geſagt/ daß wir die-
ſelbige von denen unterſchiedenen Graden
der Vollkommenheit
derer/ die einerley incli-
nation
zur Tugend haben/ hernehmen wolten.


2.

So iſt demnach die vernuͤnfftige abſonder-
liche Liebe entweder zwiſchen zweyen Perſonen/
die gleich tugendhafft ſind/ oder zwiſchen de-
nen derer einer in der Tugend weiter zu-
genommen hat als der andere.


3.

Die gleiche Liebe iſt entweder zwiſchen
zweyen Perſonen/ die ſchon einen hohenGrad
der Tugend beſitzen/ oder zwiſchen Anfaͤngern.
Und die ungleiche ob ſie zwar allezeit nur einer-
ley iſt/ nehmlich zwiſchen zweyen Perſonen/ deren
eine es in der Tugend weiter gebracht als die an-
dere; So kan man doch in Anſehen der gelieb-
ten Perſonen auch dieſelbe auff zweyerley Wei-
ſe betrachten/ daß nehmlich in ungleicher Liebe
man entweder hoͤhere oder geringere und nie-
drigere
Perſonen liebe.


U 44. Die
[316[312]]Das 7. H. von der unterſchiedenen

4.

Die gleiche Liebe iſt wohl ſo weit ſtaͤrcker
als die ungleiche/ weil ihre Vereinigung wegen
der doppelten Gleichheit geſchwinder von ſtatten
gehet/ und alſo der Liebes-Zug ſtaͤrcker iſt; aber
deswegen iſt ſie nicht angenehmer als die un-
gleiche/ weil die Ungleichheit in dieſen beyden lie-
benden Perſonen deſtomehr Empfindligkeit gie-
bet/ ja ſie iſt auch nicht einmahl vortrefflicher/
ſondern es ſcheinet der Vernunfft am gemaͤſſeſten
zu ſeyn/ wenn wir in anſehen der Vortreffligkeit
die gleiche Liebe zweyer Tugend-Schuͤler in
die erſte und unterſte Claſſe/ hernach die unglei-
che
in die mittelſte/ und denn in die hoͤchſte
Staffel die gleiche Liebe zweyer Tugendweiſen
ſetzen. Denn die gleiche Liebe zweyer Anfaͤnger
hat noch viel Schwachheiten an ſich/ denen ſie
wegen ihrer Gleichheit nothwendig mehr Nah-
rung geben als ihnen abbrechen. Bey der un-
gleichen aber bemuͤhet ſich der Weiſe ſtetswaͤh-
rend dieſe Schwachheiten ſeines Tugend-Schuͤ-
lers auszubeſſern/ und der Tugend-Schuͤler be-
fleißiget ſich auch ſelbſt/ dieſelben durch Betrach-
tung des guten Exempel ſeines Lehrmeiſters von
Halſe loß zu werden. Jedoch iſt die gleiche Lie-
be zweyer vorirefflicher Leut die allervor-
trefflichſte/
weil ſie dergleichen Schwachheiten
auff beyden theilen gar entuͤbriget iſt.


5.

Aber vielleicht finden wir auch einen Unter-
ſcheid unter dieſen unterſchiedenen Arten der Lie-
be/ in Betrachtung der dreyen Tugenden/ da-
von
[317[313]]Arten der abſonderlichen Liebe.
von wir im vorigen Capitel gehandelt/ nehmlich
der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit vertraulichen Gut-
thaͤtigkeit/
und voͤlligen Gemeinſchafft aller
Dinge.


6.

Zwar was die Hochachtung betrifft/ die
vor der Gefaͤlligkeit vorhergehen ſoll/ ſchiene es
wohl/ als ob dieſelbe nur bey ungleicher Liebe
hoͤherer nicht aber geringerer Perſonen/ auch
nicht bey der gleichen Liebe vorher gehen muͤſſe;
allein die Beſchreibung der Hochachtung in voꝛi-
gen Capitel weiſet ſchon/ wie auff dieſem Ein-
wurff zu antworten ſey. Jedoch iſt dieſes nicht zu
laͤngnen/ daß in der ungleichen Liebe hoͤherer
Perſonen eine abſonderliche Hochachtung an-
zutreffen ſey/ die man in der gleichen Liebe we-
gen allzugroſſer Gleichheit/ vielweniger aber in
ungleicher Liebe geringerer Perſonen/ wegen
allzugroſſer Niedrigkeit nicht ſuchen darff.


7.

Woraus ferner folget/ daß weil wir oben
geſagt haben/ daß von der Hochachtung die ſorg-
faͤltige Gefaͤlligkeit
herflieſſe/ gantz offenbahr
ſey/ daß die doppelte Hochachtung/ die ſich
alleine bey der Liebe hoͤherer Perſonen befin-
det/ auch auff ſeiten der geringern Perſonen ei-
ne groͤſſere Sorgfalt und Gefaͤlligkeit wuͤr-
cken muͤſſe/ und daß dannenhero/ ob wir ſchon im
vorhergehenden Capitel geſagt/ daß man in de-
nen Dienſten der Gefaͤlligkeit ſich Wechſels-
weiſe einander
ſubmittiren muͤſſe/ dennoch
ſolches fuͤrnehmlich von der gleichen Liebe zu
U 5ver-
[318[314]]Das 7. H. von der unterſchiedenen
verſtehen ſey. Jn der ungleichen gehoͤret die
Submiſſion hauptſaͤchlich fuͤr die geringere Per-
ſon/ die ſich ſo dann begnuͤgen laͤſſet/ wenn die
vortrefflichere dieſe mit einer Erniedrigung ihr
geleiſtete Dienſte freundlich annimmbt/ und
ohne Submiſſionandere geringe Dienſte ihr
wieder bezeiget.


8.

Jedoch weil die Liebe an die Geſetze der Ge-
rechtigkeit nicht gebunden iſt/ als iſt aus dieſer An-
merckung zwar ſo viel zu ſehen/ daß ein tugend-
hafft er
Mann nicht gehalten ſey/ durch die Ge-
faͤlligkeit ſich dem geringern zu unterwerffen;
Jedoch iſt es ihme nicht verboten/ ſolches zu thun/
und wenn er es thut/ iſt es vielmehr eine Anzei-
g[u]ng eines Uberfluſſes der Liebe/
der ihn da-
durch mehr liebens wuͤrdig macht/ als einer un-
vernuͤnfftigen Thorheit.
Denn wir haben
ſchon oben gedacht/ daß die Liebe zwar andern
Tugenden ihre Maſſe gebe/ fuͤr ſich aber keine
Maſſe erkenne/ und nichts zuviel in derſelben
koͤnne vorgenommen werden.


9.

Aus eben dieſer Anmerckung fließt eine an-
dere/ daß bey der gleichen Liebe auch zwey Ge-
muͤther ſo zu ſagen zu gleicher Zeit einander zu
lieben anfangen/ und ihre Liebe durch die Gefaͤl-
ligkeit zu verſtehen zu geben. Bey der unglei-
chen
aber faͤnget der geringere ordentlich an/
den vortrefflichern zu lieben/ und dieſer erwiedert
ſo dann die bey ihm geſuchte Liebe durch eine Ge-
gen-Liebe. Wir wollen jenes eine Liebe der na-
tuͤr-
[319[315]]Arten der abſonderlichen Liebe.
tuͤrlichen Zuneigung/ dieſes aber die Liebe einer
großmuͤthigen Danckbarkeit nennen. Je-
doch giebt es auch Exempel/ daß der vortreffli-
chere auſſerordentlich
des geringern ſeine Liebe
zu ſuchen anfaͤngt/ und dadurch ſein liebreiches
Hertz deſtomehr zu erkennen giebet.


10.

So haben wir auch im vorhergehenden
Capitel von der unterſchiedenen Dauerung
der Gefaͤlligkeit
etwas beruͤhret. Nemlich die
gleiche Liebe zweyer tugendhaffter weiſer
Perſonen
brauchet die wenigſte Zeit das ande-
re Gemuͤthe durch die Gefaͤlligkeit kennen zu ler-
nen/ und ſich bey demſelben dadurch zu infinuirẽ/
weil ſie einander deſto geſchwinder erkennen/ je
tugendhaffter und lieblicher ſie ſind. Die un-
gleiche Liebe
braucht ſchon mehr Zeir/ weil der
Unvollkommenere gemeiniglich ſeine Unvoll-
kommenheit zu verbergen ſucht/ und alſo weil er
unvertraulich iſt/ auch dem andern mißtrauet.
Jedoch wird auch hierinnen nicht lange Zeit er-
fordert werden/ weil die Vortrefflichere den
Unvollkommenern/ ſeiner Verheelung unerach-
tet/ doch bald kennen lernet/ und ſein Vertrauen
zu erwecken deſto offenbahrer mit ihme umbzu-
gehen bemuͤhet iſt. Demnach brauchet die glei-
che Liebe zweyer neuangehender tugendlie-
bender Gemuͤther
die laͤngſte Zeit zur ſorgfaͤl-
tigen Gefaͤlligkrit/ weil ſie auff deyden Seiten viel
Unvellkommenheiten bey ſich befinden/ und alſo
auch
[320[316]]Das 7. H. von den unterſchiedenen.
auch Wechſels-Weiſe das V[e]rheelen und Miß-
trauen unter ihnen ſtaͤrcker iſt.


11.

Derowegen iſt dieſe Regel wohl gegruͤn-
det/ daß je laͤnger zwey Perſonen einander
mit ſorgfaͤltiger Gefaͤlligkeit begegnen/ je
eine groͤſſere Anzeigung iſt es/ daß ſie in der
Tugend noch nicht gar weit gekommen ſeyn/
oder daß ihre Liebe zum wenigſten auff ei-
ner Seite wohl gar nicht vernuͤnfftig ſey.

Ja das Letztere iſt deshalben eher zu vermuthen/
weil die wahre Liebe nothwendig nach der Ver-
trauligkeit der andern Perſon trachtet. Wo
demnach auff beyden Theilen durch eine langwie-
rige Gefaͤlligkeit kein Theil vertraulich ſich zu er-
weiſen anfangen/ oder der andere der ihm erwieſe-
nen vertrauligkeit durch eine gleichmaͤßige nicht
wieder begegnen wil/ da kan unmoͤglich eine auff-
richtige/ und folglich auch wahre vernuͤnfftige Lie-
be dahinter ſtecken.


12.

Bey der Gutthaͤtigkeit haben wir faſt
gleiche Anmerckungen zu machen. Sie verbin-
det die gegen einander ſich neigende Hertzen ſo
lange biß das Wechſel-Vertrauen im hoͤchſten
Grad befeſtiget iſt. Weil demnach in der vor-
trefflichen gleichen
Liebe das wenigſte Miß-
trauen iſt/ und zwey rechtſchaffen Tugendhaff-
te Leute gar bald einander in das innerſte des
Hertzens ſehen; als braucht auch die Gutthaͤtig-
keit hierbey nicht lange Zeit/ dieſe beyden Her-
tzen voͤllig zu vereinigen/ weil ſie doch auch ohne
wuͤrck-
[321[317]]Arten der abſonderlichen Liebe.
wuͤrckliche Leiſtung koſtbahrer und muͤhſamer
Dienſte die bruͤnſtige Begierde/ die ſie beyderſeits
haben/ auch fuͤr einander das Leben zu laſſen/ an
ſich erkennen. Die unvollkommene gleiche
Liebe hingegen brauchet wegen oben gedachten
Mißtrauens und Schwachheiten mit denen ſie
begabet iſt/ die Gutthaͤtigkeit deſto laͤnger da-
durch das Mißtrauen deſto kraͤfftiger nach und
nach auszutilgen. Und endlich iſt die ungleiche
Liebe
hier wiederumb in mittel/ weil ſie wegen
des Mißtrauens und der Schwachheiten des An-
faͤngers in der Tugend mehr Zeit als die vollkom-
mene/ und wegen des Vertrauens/ Offenher-
tzigkeit und hertzlicher Neigung des vortrefflichen
Theils/ weniger Zeit als die unvollkommene glei-
che Liebe vonnoͤthen hat.


13.

Hieraus laſt uns wieder dieſe Anmer-
ckung uͤberlegen. Die unvernuͤnfftige Liebe/
weil ſie ungedultig iſt/ als pfleget ſie gemeiniglich
wo ſie ihres gleichen antrifft/ bald ihren End-
zweck
zu erreichen. Aber du muſt dich huͤten/ daß
du dich deshalben nicht etwan verleiten laͤſſeſt zu-
ſchlieſſen/ daß je vernuͤnfftiger die Liebe ſey/
je langſamer komme ſie auch zu ihren Zweck.

Denn dasjenige/ was wir nur jetzo geſagt haben/
wird dir weiſen/ daß die unvollkommenſte ver-
nuͤnfftige Liebe am allerlangſamſten zu der
voͤlligen Verbindung gelange/
und die voll-
kommenſte hingegen ja ſo geſchwinde/
wo nicht
geſchwinder/ ihren Endzweck erreiche als die un-
ver-
[322[318]]Das 7. H. von den unterſchiedenen
vernuͤnfftige Liebe/ und ſolcher geſtalt von dieſer
nur darinnen unterſchleden ſey/ daß die unver-
nuͤnfftige
Liebe wenn ſie nicht mehr wachſen kan/
nothwendig wieder abnehmen muͤſſe/ da wir
hingegen im vorigen Hauptſtuͤck ſchon bewieſen
haben/ daß die vernuͤnfftige Liebe allezeit Ge-
legenheit finde durch ein ſtetes Wachſen ſich
mehr und mehr auszubreiten.


14.

Hieraus flieſſet noch ferner/ daß zwar/ wie
wir im Anfang gedacht/ die ungleiche Liebe
mehr empfindliches Vergnuͤgen habe/ als die
vortreffliche gleiche Liebe/ aber doch bey der
unvollkommenſten Liebe wegen der vielfaͤlti-
gen Abwechſelungen des Vergnuͤgen/ Miß-
trauens/ Verdruſſes/ Eyfferſucht/ Verſoͤhnung
u. ſ. w. auch nach dem gemeinen Sprichwort/
daß Veraͤnderung Luſt bringe/ die allermeiſten
Gradeeines empfindlichen Vergnuͤgens zu
zehlen ſeyn. Wodurch aber der Vortrefflig-
keit
der vollkommenen gleichen Liebe nichts be-
nommen wird/ theils wie die Vergnuͤgungen bey
der unvollkommenen Liebe mit der Abwechſelung
vieler Verdrießligkeiten vergeſellſchafftet/ bey der
vollkommenen Liebe aber viel reiner und lauterer
ſind/ theils auch/ weil nach denen Grund-Lehren
des erſten Hauptſtuͤcks und der Lehre von der
hoͤchſten Gluͤckſeeligkeit die rubigen Vergnuͤ-
gungen viel edler ſind als diejenigen/ die die groͤ-
ſte Empfindligkeit verurſachen.


15. Es
[323[319]]Arten der abſonderlichen Liebe.

15.

Es findet ſich aber hiernechſt bey denen
unterſchiedenen Arten der Liebe auch ein merck-
licher Unterſcheid derer Gutthaten. Die
unvollkommene gleiche Liebe bezeiget ſich meh-
rentheils auch ohne Noth/ durch Geſchencke
und koſtbare Sachen/ durch zeitliche Ehre/ und
durch vielfaͤltige angewendete Muͤhe und Ge-
fahr/ die aber zum oͤfftern noch ein eiteles Gut
zum Endzwecke hat. Die vollkommene aber
iſt viel ſparſamer/ weil man den geliebten durch
Reichthum und Ehre nicht vergnuͤget. Dero-
wegen ſparet ſie ihre Gutthaten biß zum Noth-
fall/
aber ſie laͤſt auch als denn dieſelbe in dem
hoͤchſten Grad erblicken/ weil ſie auch das Le-
ben
dem Freunde zu Dienſte freywillig daran
waget/ und in die groͤſte Gefahr ſetzet; da hin-
gegentheil bey der unvollkommenen Liebe dieſe
Liebes-Probe gar was ſeltſames iſt.


16.

Bey der ungleichen Liebe bemuͤhet ſich
der geringere zwar dem vortrefflichern durch
Geſchencke und muͤhſame Ehr Bezeugun-
gen
zu verbinden/ weil er denſelben annoch nach
ſeinem Sinn urtheilet; Er kan aber demſelben
keine groͤſſere Gutthat erweiſen/ als durch einen
freywilligen Gehorſam/ und durch eine etwas
muͤhſame Ausuͤbung der Lehren und Vermah-
nungen/ die er von ihm taͤglich empfaͤhet. Der
vortrefflichere aber erweiſet in dieſer Liebe
ſeine Gutthaͤtigkeit ordentlich durch ſeinen treu-
en Rath und ſorgfaͤltige Ausbeſſerung
ſo
wohl
[324[320]]Das 7. H. von der unterſchiedenen
wohl des andern ſeines Verſtandes als Wil-
lens/ durch die unermuͤdete Gedult uͤber ſeine
annoch anklebende Schwachheiten/ durch die
Vertrauligkeit/ durch welche er ſich erniedri-
get/ und dem andern gleich machet/ umb ihn da-
durch deſtomehr zugewinnen. u. ſ. w.


17.

Was endlich die Gemeinſchafft der
Guͤter und alles Thuns und Laſſens
betrifft/
ſo koͤnnen dieſelbe nicht erfolgen/ ehe denn man
durch die Liebe vollkoͤmmlich vereiniget worden/
und dieſelbe ihren hoͤchſten. Grad erreichet. Die-
ſes aber kan nicht geſchehen/ wenn nicht beyde
liebhabende einander in der Tugend-Vollkom-
menheit gleich werden. Und alſo iſt dieſelbe nur
bey der vollkommenen gleichen Liebe zu hof-
fen; Die ungleiche kan wohl alſo beſchaffen
ſeyn/ daß keiner was eigenes habe/ aber des-
wegen iſt noch keine voͤllige Gemeinſchafft/ wenn
nicht auch ein jedweder ſich der gemeinen Guͤter
nach gefallen brauchen kan/ ſondern den Ge-
brauch nach dem Einrath des vortrefflichern/ o-
der/ wenn ihrer viel durch dieſe ungleiche Liebe
vereiniget ſeyn/ durch die Austheilung gewiſſer
hierzu beſtellter Perſonen anſtellen muß/ da hin-
gegentheil bey einer voͤlligen Gemeinſchafft ei-
nem jeden frey ſtehet/ von denen gemeinen Din-
gen nach ſeinen Gefallen zu verbrauchen was er
von noͤthen hat. Endlich ſo kan bey der glei-
chen unvollkommenen
Liebe deswegen ſo lan-
ge keine Gemeinmachung aller Dinge zu hoffen
ſeyn/
[325[321]]Arten der abſonderlichen Liebe.
ſeyn/ als dieſelbe unvollkommen bleibet/ weil die
Gemeinmachung erſt folgen muß/ wenn aus
zweyen Perſonen ein Hertz und eine Seele wor-
den iſt. Dieſes aber kan bey der unvollkomme-
nen Liebe wegen der vielen untergemengten
Schwachheiten und unterſchiedenen Gemuͤths-
Neigungen/ die nothwendig ein Mißtrauen erwe-
cken/ nicht geſchehen. Derowegen erſtrecken ſich
auch ſolche Lieben niemahlen uͤber die Gutthaͤ-
tigkeit.


18.

Damit aber gleichwohl wir nicht genoͤthi-
get werden unſere Lehren ſelbſt einer Unfoͤrmlig-
keit zu beſchuldigen/ indem wir in vorhergehenden
Hauptſtuͤck gelehret/ daß die Gemeinmachung
zu der abſonderlichen Liebe uͤberhaupt ge-
hoͤre/
anjetzo aber wollen wir dieſelbige nur bey
der vollkommenen gleichen Liebe ſuchen; ſo iſt es
gar leichte dieſen Einwurffzu begegnen/ wenn wir
ſagen/ das weil die drey unterſchiedenen Liebes-
Arten nach denenGraden der Vollkommenheit
unterſchieden ſeyn/ auch die beyden Geringſten
allezeit dahin trachten ſollen/ daß ſie zu der Voll-
kommenheit der gleichen Liebe zweyer tugendhaff-
ter Leute gelangen/ und ſolcher geſtalt doch auch
auff gewiſſe Art die Gemeinſchafft aller Dinge
indendiren/ ob ſie gleich dieſelbe/ ſo lange als ſie
noch in ihrer Unvollkom̃enheit ſeyn/ nicht practi-
cir
en koͤnnen. Denn z. e. ein weiſer Mann ge-
het auf dem Tugend-Weg dem Tugend-Schuͤ-
ler
zum beſten/ gleichſam ein wenig zuruͤcke/ und
Xbemuͤ-
[326[322]]Das 7. H. von den unterſchiedenen
bemuͤhet ſich ihn dahin zu bringen/ daß er mit ihme
hernach zugleich fortgehen koͤnne. Und weil
zwey Tugend-Schuͤler darnach ſtreben ſollen/
die Tugend in einem hohen Grad zu erlangen/ ſo
kan es nicht fehlen/ es muͤſſe auch hernach ihre
Liebe aufhoͤren unvollkommen zu ſeyn/ und ſich
der Gemeinmachung immer mehr und mehr naͤ-
hern.


19.

Derowegen iſt es eine Anzeigung/ daß die
Exempel vollkommener gleicher Liebe ſehr

rarſeyn muͤſſen/ weil wir ſo wenig Exempel fin-
den/ daß unter liebhabenden Perſonen eine voͤl-
lige Gemeinmachung aller Dinge
ſey. Son-
dern wir leben in einer ſolchen Zeit/ da der unter-
ſte Grad der vernuͤnfftigen Liebe etwas ra-
res iſt.
Deswegen auch ihrer viel alle Liebe vor
unvernuͤnfftig halten/ oder ſagen/ die vernuͤnffti-
ge Liebe ſey gleich wie der Vogel Phœnix, der
auſſer dem Gehirne der Menſchen nirgends wo
einen Selbſtand habe/


20.

Aus denen bißherigen Betrachtungen
wird es nun gar leicht ſeyn/ etliche Fragen zu be-
antworten/ die man in der Lehre von der Liebe
als ſehr zweiffelhafft und ſchwer zu eroͤrtern aus-
zugeben pfleget: (I) Ob es mehr Vergnuͤgen
gebe/ lieben oder geliebet werden?
Dieſe
Frage iſt mehr ſubtil als nuͤtzlich. Denn wenn
wir eines von dieſen beyden/ ohne das andere be-
trachten/ nemlich lieben ohne geliebet wer-
den/ oder geliebet werden ohne lieben/
ſo iſt
bey-
[327[323]]Arten der abſonderlichen Liebe.
beydes nicht raiſonabel, weil es eine Anzeigung
iſt/ daß die Gemuͤther einander nicht gleich ſind/
und folglich kan auch bey keinen ein wahres Ver-
gnuͤgen ſeyn. Auch in der vernuͤnfftigen Liebe/
ſo lange als wir durch die Gefaͤlligkeit unſere Lie-
be dem andern zu verſtehen geben/ und ſeine Ge-
gen-Liebe ſuchen/ iſt mehr ein Verlangen als ein
Vergnuͤgen in unſern Hertzen.


21.

Jſt aber Liebe und Gegen-Liebe wie
es ſeyn ſoll/ mit einander verknuͤpfft/ ſo ver-
gnuͤgt uns wohl eines ſo ſehr als das andere;

Denn wenn man gleich ſagen wolte/ daß die Lie-
be uns mehr vergnuͤgte als die Gegen-Liebe/ in
dem durch jene wir bey unſerm geliebten ein Ver-
gnuͤgen erweckten/ durch dieſe aber die uns lie-
bende Perſon uns hinwiederum ein Vergnuͤgen
zu geben trachtete; und gleichwohl ein jeder
Menſch/ der vernuͤnfftig liebet/ mehr Vergnuͤgen
in dem Vergnuͤgen der Perſon/ die er liebet/ als
in ſeinem eigenen zu finden gewohnet ſey/ ſo wei-
ſet doch eben dieſe Betrachtung/ daß bey der
Gegen-Liebe uns dieſes ja ſo ſehr als bey der Lie-
be vergnuͤgen muͤſſe/ wenn wir erwegen/ daß die
geliebte Perſon ſich faſt ſehrer vergnuͤge/ wenn
ſie uns dieſe Gegen-Liebe erweiſet/ als wenn ſie
ſelbige empfaͤhet. Zudem ſo beſtehet die Liebe
nicht allein in Thun/ und die Gegen-Liebe im
Leiden/ ſondern beyde vereinigen ſich darinne/
daß eines dem andern ſeine Liebe erweiſet/ und
X 2uͤber
[328[324]]Das 7. H. von den unterſchiedenen
uͤber deſſen Liebe wiederum eine ruhige Freude
bezeigt.


22.

(II) Ob es angenehmer ſey/ in der
Liebe zu unterweiſen/ oder unterwieſen zu
werden?
Dieſe Frage ſo ferne ſie die vernuͤnff-
tige Liebe angehet/ hat zweyerley Verſtand. Ge-
het ſie auff die gleiche Liebe/ ſo iſt ſie von der
vorigen nur mit Worten unterſchieden/ und be-
deutet ſo dann unterweiſen und unterwieſen wer-
den/ (welches beydes auff beyden Theilen in
gleicher Maſſen geſchiehet) nichts als lieben und
geliebet werden. Sol ſie aber von voriger Fra-
ge unterſchieden ſeyn/ ſo muͤſſen wir ſie von der
ungleichen Liebe verſtehen/ und heiſſet ſie dem-
nach ſo dann ſo viel; Ob es ein groͤſſeres Ver-
gnuͤgen ſey/ ſolche Perſonen zu lieben/ die in
der Tugend ſchon weiter
avanciret ſeyn/ als
wir/
und derer unterweiſung oder Anfuͤh-
rung wir benoͤtiget ſind/ oder ſolche/ die gerin-
ger ſind als wir/
und welche wir unterweiſen
muͤſſen/ wie ſie ſich in der vernuͤnfftigen Liebe ver-
halten ſollen?


23.

Es ſcheinet zwar wiederum/ daß ein Ver-
gnuͤgen ſo empfindlich ſey als das andere/

und daß die geringere Perſon/ wenn ſie ſich er-
freuet/ daß die vortrefflichere ihr zu Liebe ſich er-
niedriget/ gleichſam zuruͤcke gehet/ und ſich ihr
gleich machet/ eigendlich zu reden weder ein groͤſ-
ſeres noch kleineres Vergnuͤgen empfinde/ als
die vortrefflichere/ wenn ſie ſiehet/ daß die gerin-
gere
[329[325]]Arten der abſonderlichen Liebe.
gere in auffrichtigen Vertrauen bemuͤhet lebet/
taͤglich in der Tugend mehr und mehr zuzuneh-
men/ und ſich ihr gleich zu machen. Gleich-
wohl aber wenn wir dasjenige/ was wir von dem
Unterſcheid des Zuſtandes dieſer beyden lieben-
den Perſonen erwehnet haben/ hieher appliciren
wollen/ ſo koͤnnen wir gar fuͤglich mit zweyen
Worten den Ausſchlag geben/ daß das Vergnuͤ-
gen das wir haben/ von anderninformiret zu
werden/
theils wegen unſerer Schwachheiten/
theils weil wir taͤglich neue und uns zuvor unbe-
kante Dinge lernen/ viel empfindlicher/ das
andere Vergnuͤgen aber/ andere in der Liebe an-
zuweiſen viel reinlicher und ruhiger ſey.


24.

Die Eroͤrterung der vorigen Frage bah-
net uns den Weg die (III) deſto geſchwinder zu
beantworten: Ob diejenige Liebe ſtaͤrcker ſey/
wenn man geſchwinde und durch einen heim-
lichen Zug getrieben zu lieben anfaͤnget/ der-
geſtalt/ daß unſer Hertze gleichſam in einem
Augenblick von der Liebe entzuͤndet wird;
oder wenn man eine Perſon/ mit der man
eine Zeit lang
indifferentumbgangen/ her-
nach aber dieſelbe gleichſam zur Danckbar-
keit/ weil ſie uns viel Proben ihrer Liebe
gegeben/ wieder zu lieben anfaͤnget?

Denn es koͤnnen ſich zwar dißfalls unter beyder-
ley Arten Exempel von ſtarcken und ſchwachen
Lieben finden/ wenn man aber doch die Frage
nach denen unterſchiedenen Arten der Liebe be-
X 3ant-
[330[326]]Das 7. H. von den unterſchiedenen
antworten ſoll/ ſo muͤſſen wir ſagen: daß die ſtaͤr-
ckere
Liebe entweder vor diejenige genommen
werde/ derer Trieb hitziger iſt/ oder fuͤr dieje-
nige/ die ſtaͤrckere Liebes-Proben giebet.


25.

Die Liebe/ ſo bald angefangen/ iſt frey-
lich hitziger/
weil auf dieſe Art gemeiniglich
Leute/ die nur die Tugend-Straffe zu betreten
anfangen/ und einander gleich ſind/ oder in der
ungleichen Liebe diejenigen/ ſo geringer ſind/ zu
lieben pflegen; und dieſe haben allerdings bey
ihrer Liebe noch viel Hitze/ weil ſie ihrer affecten
wenig Meiſter ſind. Da hingegen ein weiſer
Mann/ der in der ungleichen Liebe mehrentheils
par recognoiſſance liebet/ zwar alles dasjenige
empfindet/ was die wahre Liebe in unſern Her-
tzen wircket/ aber doch ſeine Glut mehr mit einem
waͤrmenden und ernaͤhrenden/ als einem verzeh-
renden Feuer zu vergleichen iſt.


26.

Derowegen wenn wir die ſtaͤrckere Lie-
be
aus denen Liebes-Proben erkennen wollen/
muß nothwendig folgen/ daß gleichwie ein ver-
zehrendes Feuer mehr Flamme/ ein ernaͤhrendes
aber mehr Waͤrme giebet; alſo auch die Lie-
bes-Proben in der Liebe die bald faͤnget dem
aͤuſſerlichen Scheine nach ſehr groß/
aber
auch/ wenn man ſie ein wenig genau betrachtet/
annoch mit vieler Eitelkeit umgeben ſind/ da
hingegen/ wenn in der Liebe par recognoiſſan-
ce
die vortrefflichere Perſon ihr Leben fuͤr die an-
dere zu laſſen bereit iſt/ dieſe Bereitwilligkeit viel
ver-
[331[327]]Arten der abſonderlichen Liebe.
vernuͤnfftiger und viel lieblicher iſt/ als in der
Liebe von der erſten Art.


27.

Eben dieſe Bewandniß hat es bey der
(IV) Frage: Welche Liebe laͤnger dauret?
Denn wenn du durch das laͤngere dauren ver-
ſteheſt/ welche Liebe am ſpaͤteſten ihren End-
zweck und den hoͤchſten
Graderreiche; ſo
wird dir das/ was wirkurtz zuvor erwehnet/ bald
zeigen/ daß die gleiche Liebe zweyer vollkommenen
Gemuͤther am erſten und geſchwindeſten/ die un-
gleiche Liebe wegen des Mißtrauens und der
Schwachheiten des geringern Theils ſchon et-
was laͤnger/ und endlich die gleiche Liebe zweyer
unvollkommener Hertzen wegen des Wechſel
Mißtrauens und des allzuveraͤnderlichen Ver-
gnuͤgens an ſpaͤteſten hierzu gelangen.


28.

Frageſt du aber/ welche Liebe immer-
mehr und mehr zu- oder doch nicht abneh-
me?
So behaͤlt allhier die Liebe zweyer voll-
kommenen Perſonen
die Oberhand/ weil die-
ſe allezeit wachſen kan. Die ungleiche Liebe
hat eben dieſen Vortheil/ wenn der geringere nur
beſtaͤndig den vortrefflichen gleich zu werden
trachtet; Denn es wird ſo dann dieſe in die Lie-
be zweyer gleich vollkommenen Leute verwan-
delt. Und eben dieſes muͤſſen wir auch von der
gleichen Liebe zweyer unvollkommer Leute

ſagen/ wenn ſie beyderſeits auf dem Tugend-
Wege fortfahren/ und die ihnen noch ankleben-
den Ungleichheiten des Eigennutzes und derer
X 4Ge-
[332[328]]Das 7. H. von der unterſchiedenen
Gemuͤths-Neigungen taͤglich immer mehr und
mehr loß zu werden trachten.


29.

Daferne aber in der ungleichen Liebe
die unvollkommenere Perſon freywillig
wieder zuruͤcke gehet/
oder die zwey unvoll-
kommenen Perſonen
mehr dasjenige was in
ihrer Liebe noch unvollkommen iſt/ als dasjenige
was veinuͤnfftig iſt/ nehren/ ſo kan es nicht fehlen/
es muͤſſe ſo dann ihre Liebe bald anfangen abzu-
nehmen und kaltſinnig zu werden. Wiewohl
doch dieſe Raltſinnigkeit ſo dann gemeiniglich
nichts anders iſt/ als die Verwandelung der ab-
ſonderlichen zu der allgemeinen Liebe; und hat
alſo der geringſte Grad der vernuͤnfftigen Liebe
dennoch den Vortheil von der unvernuͤnfftigen
Liebe/ daß wenn dieſe auffhoͤret/ es bey der Kalt-
ſinnigkeit nicht bleibet/ ſondern ſich dieſelbe meh-
rentheils in einen Haß oder Verachtung ver-
wandelt.


30.

(V) Fraget ſichs/ Ob es einem Frauen-
Zimmer ſchimpfflich ſey zu erſt zu lieben/
oder doch zum wenigſten ihre Liebe zu erſt
blicken zu laſſen.
Wir wollen uns in Beant-
wortung derſelben nicht nach denen Betrachtun-
gen richten/ die bey denen Autoren/ die Romanen
geſchrieben/ haͤuffig anzutreffen ſeyn/ ſondern
nach den Anleitungen der Philoſophie kuͤrlich ſa-
gen. Jſt die Liebe unvernuͤnfftig/ ſo iſt es we-
der Mannes noch Weibes-Perſonen eine Ehre
ſich in dieſelbe einzulaſſen/ und iſt es ſo dann ei-
nem
[333[329]]Arten der abſonderlichen Liebe.
nem Frauen-Zimmer nicht weniger ſchimpfflich
wenn ſie eine ſolche Liebe annimmt/ als wenn ſie
ſie zu erſt zu erkennen giebet. Jſt es aber eine ver-
nuͤnfftige
Liebe/ ſo hat ſich derſelben kein
Menſche zu ſchaͤmen/ ſondern er verdienet viel-
mehr Lob und Ehre/ weil dieſe Liebe der Grund
aller Tugenden/ und das eintzige Mittel iſt/ die
wahre Gluͤckſeeligkeit zu erlangen.


31.

Wolteſt du auch gleich ſagen/ daß es
doch zum wenigſten eine Anzeigung eintziger
Unvollkommenheit ſey/
wenn man zu erſt liebe/
in dem gleiche Perſonen auch zugleich einander
ihre Liebe zu erkennen geben/ bey der ungleichen
Liebe aber es dem geringern Theil zuſtehe/ ſeine
Liebe am erſten kund zu thun; ſo muſtu dich doch
wieder erinnern/ daß wir oben allbereit erwehnet
haben/ wie auch die vortrefflicheren Perſonen
auſſerordentlich anfangen koͤnten zu leben/ und
dadurch ihr liebreiches Hertze deſto mehr zu er-
kennen zu geben. Zu dem ſo iſt unſtreitig/ daß ob
ſchon bey gleicher Liebe zwey Hertzen ſo zu ſagen
zu gleicher Zeit einander zu lieben anfangen/ den-
noch in der That eines unter ihnen ohne Be-
merckung einer Ungleichheit oder Unvollkommen-
heit in der That den Anfang machen/ und die
erſte Erklaͤrung/ es ſey nun mit Worten oder mit
andern Bezeugungen/ thun muͤſſe.


32.

Endlich ſo iſt auch die Bezeigung einer
Unvollkommenheit dem Weiblichen Ge-
ſchlecht in dieſem Stuͤck nicht ſchimpfflich.

X 5Wir
[334[330]]Das 7. H. von der unterſchiedenen
Wtr muͤſſen daſſelbige nicht zu ſehr niederdruͤ-
cken/ und uns durchgehends mehr Geſchicklig-
keit und Tugend als ihnen zuſchreiben; wir muͤſ-
ſen aber auch durch unſere Schmeicheley ihre
Eitelkeit nicht ſtaͤrcken/ wenn viele unter ihnen
meinen/ daß die Mannes-Bilder durchgehends
ſchuldig waͤren ihre Vortreffligkeiten zu erken-
nen/ und ſich denenſelben freywillig zu unterwerf-
fen. Ein jedes Geſchlechte hat tugendhaffte
und laſterhaffte Perſonen/ und zwar jede von
unterſchiedenen Graden unter ſich/ derowegen
wuͤrde ein Frauen-Zimmer das allemahl præten-
dir
te/ daß man gegen ſie les premiers pas machen
ſolte/ aus dieſen Unfoͤrmligkeiten gewiß eine be-
gehen/ entweder daß ſie wider alle Billigkeit ei-
nen Menſchen der vortrefflicher in der Tu-
gend als ſie waͤre/ noͤthigen wolte/ ſich ohne Urſa-
che zu erniedrigen/
und ihr ſeine Liebe am er-
ſten zu verſtehen zu geben/ oder daß ſie nur ihr
Vergnuͤgen darinnen ſuchte/ von unvollkom-
menen Perſonen
geliebet zu werden/ und ſich des
Vergnuͤgens berauben wolte/ das man hat/ wenn
man durch Liebe vortrefflicherer Perſonen in der
Tugend immer mehr und mehr zunimmt/ oder
daß ſie die eitele Einbildung haͤtte/ ſie waͤre die
Vortreffligkeit ſelbſten/ und ſey keine Mannes-
Perſon in der Welt/ die mehr Verdienſt und
Tugend haͤtte als ſie.


33.

(VI) Endlich ſo wird auch aus unſerer
Sitten-Lehre die Frage leicht zu entſcheiden ſeyn:
Ob
[335[331]]Arten der vernuͤnfftigen Liebe.
Ob ein weiſer Mann/ der die Tugend in ei-
nem hohen Grad beſitzet/ auch Weibes Per-
ſonen lieben koͤnne?
Jch halte dafuͤr/ daß die-
jenigen von denen alten Philoſophen, die dieſe
Frage verneinet/ entweder auf die unzulaͤßliche
Liebe ihr Abſehen gerichtet/ oder aber alle Liebe
der Weibes-Perſonen/ auch ſo gar den Eheſtand
fuͤr unzulaͤßlich/ oder doch zum wenigſten fuͤr
hoͤchſt unvollkommen geachtet/ deren Jrrthum
demnach zu widerlegen meines Vorhabens nicht
iſt. Sondern ich bejahe die Frage ungeſcheuet/
weil ſie keines groſſen Beweiſes vonnoͤthen hat.


34.

Denn entweder die Weibes-Perſon iſt
laſterhafft/ ſo ſtehet derer Liebe keinem Men-
ſchen/ am wenigſten aber einem weiſen Mann an;
oder ſie iſt tugendhafft/ und ſo weiſe als er ſelbſt.
So iſt er ſchuldig ſie zu lieben/ und dieſe ſeine Lie-
be iſt ſo dann viel vortrefflicher als die gleiche Lie-
be eines anderen weiſen Mannes wegen des ſtaͤr-
ckeren Triebes und Vertrauens/ den GOtt de-
nen unterſchiedenen Geſchlechten ins Hertze ge-
geben.


35.

Jſt ſie aber nicht tugendhafft/ ſondern ſte-
cket noch in groſſen Schwachheiten/ liebet aber
gleichwohl die Tugend/
und verlanget ihr
Hertze mit demjenigen zu vereinigen/ ſo waͤre es
die groͤſte Unbilligkeit/ wenn er ſie wegen ihres
Geſchlechts von ſeiner Tugend-Schule aus-
ſchlieſſen wolte. Ja es verfichert ihn vielmehr
eben der natuͤrliche Trieb des Vertrauens bey
Per-
[336[332]]Das 8. H. von der vernuͤnfftigen
Perſonen von unterſchiedenen Geſchlechte/ daß
er weniger Mißtrauen bey ihr als bey ſeinen an-
dern Tugend-Schuͤlern werde antreffen/ und
ſolcher geſtalt ſeine Anfuͤhrung zur Tugend viel
eher gute Fruͤchte bringen werde.


36.

Und weil demnach ein weiſer Mann un-
ter dem Frauen-Volck vielmehr welche von die-
ſer letzten Gattung/ als von denen die ihm gleich
ſeyn/ antrifft/ ſo iſt leichte zu ſchlieſſen/ daß er
ſich ordentlich nicht zu erſt verliebe/ ſondern
daß ſeine Liebe mehr aus
recognoiſſanceund
Danckbarkeit alß aus ein iger Zuneigung
geſchehe;
und daß ſolcher geſtalt auch ſeine Lie-
bes-Bezeugungen gantz anders beſchaffen
ſeyn muͤſſen/ als die Bezeugungen eines Men-
ſchen/ der noch ein Anfaͤnger in der Tugend

iſt/ und ein Frauen-Zimmer liebet das ihm gleich
iſt. Denn wenn ein weiſer mit dergleichen Din-
gen auffgezogen wolte kommen/ die man einen
ſolchen Anfaͤnger zu gute haͤlt/ wuͤrde er ſich ge-
wiß hoͤchſt proſtituiren. Wir beziehen uns we-
gen der hieher gehoͤrigen Exempel kuͤrtzlich auff
das/ was wir oben n. 15. und 16. gelehret haben.


Das 8. Hauptſtuͤck.
Von der vernuͤnfftigen Liebe
gegen uns ſelbſt.


Jnn-
[334[333]]Liebe gegen uns ſelbſt.

Jnnhalt.


  • Was die vernuͤnfftige Liebe/ gegen uns ſelbſt heiſſe? n. 1.
    Was ſie ſey. n. 2. Der Menſch kan ſein Lebens-Ziel
    nicht erlaͤngern n. 3. andere Crearuren leben laͤn-
    ger als der Menſche. n. 4. Andere Creaturen erhal-
    ten ihr Leben ohne Verſtand durch den ihnen bey-
    wohnenden innerlichen Trieb/ aber ſie verkuͤrtzen es
    nicht; Der Menſch aber verſtehet die Mittel ſeiner
    Erhaltung/ und verkuͤrtzet ſich doch ſelbſt ſein Leben.
    n. 5. Worinnen die Mittel beſtehen das Leben zu er-
    halten n. 6. und wie ſelbes verkuͤrtzet werde. n. 7.
    Wenn der Menſch ſein Lebens-Ziel verkuͤrtzen will/
    pfleget ihn GOtt nicht leichtlich daran zu verhindern
    n. 8. Aber wenn er es gleich der Natur nach erhalten
    wil/ verkuͤrtzet es ihm GOtt durch einen andern Zu-
    fall zum oͤfftern. n. 9. Wie die Verkuͤrtzung ſeines Le-
    bens-Ziel mit der gõttlichen Vorſehung und All-
    macht beſtehe. 10. Worumb in der Erhaltung un-
    ſeres Lebens dahin zu ſehen/ daß es andern Menſchen
    zu gut geſchehe. n. 11. Die Liebe anderer Menſchen
    iſt der Liebe gegen uns ſelbſt ihr Grund n. 12. und
    ihre Richtſchnur. n. 13. Daß nehmlich zufuͤrderſt auf
    die Ausbeſſerung der Seele geſehen n. 14. und her-
    nach die Erhaltung unſeres Lebens der Liebe gegen
    andere Menſchen nachgeſetzet werde/ n. 15. ohnerach-
    tet mein Freund mein Leben hoͤher als das ſeinige
    achtet n. 16. und mit mir ſtreitet/ daß ich mein Leben
    behalten ſolle. n. 17. Dieſes iſt das eintzige parado-
    xum,
    das der menſchliche Verſtand nicht deutlich de-
    monſtrir
    en kan. n. 18. Ob man ſich wieder Gewalt
    mit Gewalt ſchuͤtzen koͤnne n 19. Sieben præſup-
    poſita
    zu Eroͤrterung dieſer Frage n. 20. welche be-
    jahet wird n. 21. wenn man von gegenwaͤrtiger
    Gewalt/ und nicht von Bedrohungen redet n.
    22. wie weit die gewaltſame Ertoͤdtung eines
    Menſchen
    [338[334]]Das 8. H. von der vernuͤnfftigen
    Menſchen fuͤr ein Werck der Liebe koͤnne ausgegeben
    werden. n. 23. Von andern Special-Fragen/ ſo hie-
    her gehoͤren/ uͤberhaupt. n. 24. Warum man von der
    Sorge des Menſchen fuͤr die Seele und Leib nicht in-
    ſonderheit und ausfuͤrlich handele. Buͤcher ſo we-
    gen dieſer letzten zu leſen. n. 25. 26. 27. Anleitung
    wie man hieriñen ſelbſten Wahrheiten erfinden muͤſ-
    ſe. n. 28. Wird durch die Frage: welches das geſun-
    deſte Getraͤncke ſey/ erklaͤret n. 29. und gewieſen/ wie
    man darans Gelegenheit nehmen ſolle/ auch die ge-
    ſundeſte Speiſe zu erforſchen. n. 30. Zur Vorſorge fuͤr
    den Leib gehoͤren vier Tugenden. Maͤßigkeit/ Rein-
    ligkeit/ Arbeitſamkeit und Tapfferkeit. n. 31.

1.


WJewohl wir oben gedacht/ daß alle
Menſchen in der That andere Men-
ſchen oder Dinge mehr lieben
als
ſich ſelbſt/ (ob ſchon die Unvernuͤnfftigen thoͤrigter
Weiſe dafuͤr halten/ daß ſie ſich ſelbſt am meiſten
lieben) auch hiernaͤchſt die Haupt-Beſchreibung
der Liebe ſattſam gewieſen/ daß man allezeit et-
was auſſer ſich lieben
muͤſſe/ und ſich ſelbſt
nicht lieben koͤnne;
ſo erfordert doch die ver-
nuͤnfftige Liebe gegen andere Menſchen/ daß wir
auch Sorge fuͤr uns ſelbſt tragen/ und dieſe Sor-
ge/ weil ſie aus der vernuͤnfftigen Liebe herflieſſet/
koͤnnen wir nicht unfuͤglich die vernuͤnfftige Lie-
be gegen uns ſelbſt
nennen.


2.

Sie iſt uͤberhaupt nichts anders/ als eine
vernuͤnfftige Bemuͤhung alles dasjenige zu
thun/ wodurch das von GOtt fuͤrgeſetzte

Lebens-
[339[335]]Liebe gegen uns ſelbſt.
Lebens-Ziel nach denen Regeln der allgemei-
nen geſunden Vernunfft/ denen Menſchen/
ſo wir vernůnfftig lieben/ zu gut/ nicht ver-
kůrtzet ſondern erhalten werde.


3.

Denn GOtt hat wie allen Creaturen alſo
auch dem Menſchen ein gewiſſes Ziel ihrer
Dauerung
geſetzt/ welches keine Creatur uͤber-
ſchreiten kan/ und ſolchergeſtalt hat der Menſch
dieſes mit andern Creaturen gemein/ daß er das
ihme von GOtt vorgeſetzte Lebens-Ziel nicht ei-
ne Minute lang verlaͤngern
koͤnne.


4.

Wiewohl es die taͤgliche Erfahrung giebet/
daß gemeinigl ich/ je unedler die Creaturen
ſeyn/ je laͤnger leben ſie auch/ und je ſpaͤter
verweſen oder verderben ſie/ wenn ſie gleich
geſtorben ſind/
auſſer daß die zahmen Thiere
nicht ſo lange leben als der Menſch/ wiewohl ſehr
wahrſcheinlich iſt/ daß mehr der Menſch entwe-
der durch Toͤdtung/ oder durch allzuuͤbermaͤßigen
Gebrauch/ oder durch ungeſunde Nahrung ihr
Leben verkuͤrtze/ als daß ſie nicht der Natur nach
ſo lange ſolten leben koͤnnen/ als die wilden Thie-
re/ die/ wenn ſie von denen Menſchen nicht ge-
fangen werden/ gar leichte laͤnger leben als die
Menſchen. Und iſt alſo hierinnen ein groſſer
Unterſcheid unter den Menſchen und an-
dern Creaturen/
wiewohl die menſchliche Ver-
nunfft/ wenn ſie ſich ſelbſt gelaſſen iſt/ nicht ſo
wahrſcheinlich die wahre Urſache deſſen zu er-
gruͤnden weiß/ auch wenig Wiſſenſchafft davon
hat/
[340[336]]Das 8. H. von der vernuͤnfftigen
hat/ daß im Anfang des menſchlichen Geſchlechts
auch nach dem Fall die Menſchen laͤnger/ oder
doch ja ſo lange gelebet haben/ als andere Crea-
turen.


5.

Gleichwohl iſt noch heut zu Tage dieſer an-
dere Unterſcheid zwiſchen dem Menſchen
und andern Creaturen
gar unſtreitig/ daß die
andern den ihnen von GOtt verordneten
innerlichen Trieb nachfolgen/
und ſolcher ge-
ſtalt/ ob ſie ſchon die Mittel/ die zu Erhaltung
ihrer Dauerung von GOTT ordentlich geſetzt
ſeyn/ nicht verſtehen/ dennoch nach denenſelben
leben/ dieſelbe nicht mißbrauchen/ und das ih-
nen fuͤrgeſetzte Ziel nicht verkuͤrtzen/ der
Menſch
aber vermittelſt ſeines Verſtandes die
natuͤrlichen Mittel zu ſeiner Lebens Erhal-
tung gar leichte und ohne ſonderbahres oder ſehr
tieffſinniges Nachſinnen begreiffen/ und hin-
wiederum nach das Lebens-Ziel theils aus Boß-
heit/ theils aus Nachlaͤßigkeit verkuͤrtzen koͤnne.


6.

Sein Leben erhaͤlt er/ wenn er durch
Speiſe und Tranck ſolche Nahrung zu ſich
nimmt/ durch die ſein Gebluͤte in einer propor-
tionir
lichen Bewegung/ die weder zu hitzig noch
zu langſam iſt/ bleibet/ wenn er von auſſen
durch die Bekleidung und Wohnung ſeinen
Leib fuͤr unproportionirlicher Kaͤlte oder Hitze
vertheydiget/ wenn er ſeinen Coͤrper taͤglich
durch eine gemaͤßigte Bewegung und Ruhe
erfriſchet/ und durch ſeine proportionirliche Um-
wech-
[341[337]]Liebe gegen uns ſelbſt.
wechſelung alle Gliedmaſſen inſonderheit
vergnuͤget/ auch endlich alle ſeine Kraͤffte und
Vermoͤgen anwendet/ ſein Leben wider alle
aͤuſſerliche Gewalt
zu verthaͤydigen. Denn
dieſes alles ſind gantz offenbare Conclufiones, die
aus der Lehre des erſten Hauptſtuͤckes hergeleitet
werden.


7.

Und alſo iſt gar leichte zu wiſſen/ wodurch
er ſein Leben verkuͤrtze/ nemlich wenn er alles/
was wir jetzo erzehlet haben oder nur ein Stuͤck
davon nicht in acht nimmt/ oder vielmehr das Ge-
genſpiel zu thun ſich befleißiget.


8.

Jedoch muß der Menſch nicht meinen/ daß/
wenn er dieſes/ was er zu Erhaltung ſeines Le-
bens in der Natur gegruͤndet zu ſeyn befindet/
in acht nimmt/ auch nothwendig ſein Leben
ſo lange dauren
muͤſſe/ als nach denen natuͤr-
lichen Regeln geſchienen/ daß es dauren ſolte.
Denn GOtt hat die vernuͤnfftigen Regeln nicht
ſich/ ſondern dem Menſchen vorgeſchrieben/ und
durch die taͤgliche allgemeine Erfahrung lehret
er alle Menſchen ſo viel/ daß wenn ſie dieſelbigen
muthwillig uͤberſchreiten/ ſie an der Verkuͤr-
tzung ihres Lebens Urſache ſeyn/
auch keine
Urſache in der Natur/ oder der Erfahrung fin-
den/ daß ſie wahrſcheinlich hoffen ſolten/ GOtt
wolle vermittelſt ſeiner Allmacht auſſerordentlich
wider den Lauff der Natur ihr Leben erhalten.


9.

Jm Gegentheil aber weiſet auch die taͤgli-
che Erfahrung/ daß GOtt diejenigen/ die noch ſo
Ywohl
[342[338]]Das 8. H. von der vernuͤnfftigen
wohl die Grund-Regeln der Natur in dieſem
Stuͤck in acht genommen/ durch einen unver-
ſehenen und gewaltſamen Tod hinwegreiſ-
ſe/
den ſie nicht vermoͤgend ſind durch allen ihren
angewendeten Fleiß nur auf eine Minute auf-
zuſchieben: Es geſchehe nun ſolches entweder/
daß GOtt dadurch uns Menſchen lehren wolle/
daß er als ein Herr der Natur nicht ſich/ ſondern
uns ein gewiſſes Ziel ſolches zu beobachten geſe-
tzet habe/ er aber ſolches allezeit verkuͤrtzen koͤnne;
oder daß ſodenn unſer Lebens-Ziel nicht nach
unſerer natuͤrlicher Muthmaſſung/ ſondern nach
GOttes Vorwiſſenheit gerechnet werden muͤſſe;
oder aber daß ein ſolcher Menſch die Verkuͤrtzung
ſeines Lebens durch Unterlaſſung vernuͤnfftiger
Liebe gegen andere Menſchen oder durch unver-
nuͤnfftige Thaten wider die Schuldigkeit gegen
GOtt ſelbſt/ ſich uͤber den Hals gezogen habe.


10.

Und damit wir ſelbſt nicht wider die
Schuldigkeit ſuͤndigen/ ſo wollen wir ferner hier
nicht nachgruͤbeln/ wie doch dieſes mit GOt-
tes Vorſehung und Allmacht beſtehen koͤn-
ne/ daß ein Menſch ſich ſein Lebens-Ziel ver-
kuͤrtzen koͤnne.
Denn dieſe Nachgruͤblung iſt
vergebens/ und nutzet uns nichts/ weil alle goͤttli-
che Eigenſchafften unbegreifflich ſeyn/ und zu Er-
haltung unſerer Gemuͤths-Ruhe genung ſeyn
kan/ daß wir unſtreitig bey uns befinden/ daß ſich
der Menſch ſein Leben verkuͤrtzen koͤnne.


11. Laß
[343[339]]Liebe gegen uns ſelbſt.

11.

Laß uns vielmehr dieſes etwas genauer
erwegen/ worum wir in Beſchreibung der ver-
nuͤnfftigen Liebe gegen ſich ſelbſt gedacht/ daß die
Erhaltung des Lebens denen Menſchen/ die
wir vernuͤnfftig lieben/ zu gut geſchehen
muͤſ-
ſe. Denn es flieſſet nicht alleine/ wie gedacht/
die Liebe gegen uns ſelbſt aus der Liebe an-
derer Menſchen
her/ ſondern die Liebe anderer
Menſchen iſt auch eine Richt-Schnur der Lie-
be gegen uns ſelbſt.


12.

Was das erſte betrifft/ ſo erfordert ſo
wohl die allgemeine als fuͤrnemlich die abſon-
derliche
Liebe/ daß wir unſer Leben zu erhalten
uns angelegen ſeyn laſſen. Jene zwar/ weil wir
ohne Unterſcheid anderer Menſchen Huͤlffe/ und
derer ihres Lebens benoͤthiget ſind; Dieſe aber/
weil die Liebe erfordert/ daß wir der geliebten
Perſon ihr Vergnuͤgen mehr als das unſerige ſu-
chen ſollen; und weil wir dann wiſſen/ daß der-
ſelbe mehr in uns als in ſich ſelbſt lebet; als wuͤr-
den wir die Liebe hoͤchlich beleidigen/ wenn wir in
Erhaltung unſeres Lebens uns nachlaͤßig bezei-
gen ſolten.


13.

So iſt auch hiernechſt die Liebe anderer
Menſchen eine Richt-Schnur der Liebe ge-
gen uns ſelbſt/
theils in Betrachtung/ wie die-
ſelbe einzurichten
ſey/ theils in Anſehen/ wie
die Liebe gegen uns ſelbſt der Liebe anderer
Menſchen weichen
muͤſſe.


Y 214. Jn
[344[340]]Das 8. H. von der vernuͤnfftigen

14.

Jn der erſten Betrachtung weiſet die
Liebe anderer Menſchen uns an/ daß es nicht
genung ſey/ das Leben zu erhalten/ ſo ferne daſſel-
bige nur bloß auf die Machine des menſchlichen
Coͤrpers gehet/ ſondern in dem dieſe Erhaltung
der Liebe anderer Menſchen zu gut geſchehen ſol-
le/ verſtehet ſichs von ſich ſelbſten/ daß zufoͤrderſt
die Seele auch dergeſtalt von aller Unwiſſenheit
und Thorheit/ ingleichen von allen boͤſen/ und die
Liebe hindernden Zuneigungen geſaubert werden
muͤſſe/ ob gleich dieſelbige an und vor ſich ſelbſt
ſo beſchaffen waͤren/ daß dadurch unſer Leben
nicht verkuͤrtzet wuͤrde/ ſondern wir wohl in dieſen
Thorheiten und Zuneigungen unſer Leben als
wie ein Vieh viel lange Jahre ſolten zubringen
koͤnnen.


15.

Naͤchſt dieſen ſoll auch die Liebe gegen
uns ſelbſt der Liebe gegen andere Menſchen
weichen/
weil wir in Beſchreibung der abſon-
derlichen Liebe zum oͤfftern erwehnet haben/ daß
uns dieſelbe antreibe/ unſer Leben vor die Per-
ſon/ die wir vernuͤnfftig lieben/ zu laſſen. Und
wenn dannenhero durch Unterlaſſung deſſen/
was wir oben n. 6. zu Erhaltung des Lebens er-
fordert/ das Leben der Perſon die wir lieben/ er-
halten werden koͤnte; So weiſet die geſunde
Vernunfft/ daß wir ſo dann ſolches vielmehr zu
unterlaſſen/ als zu thun ſchuldig ſeyn/ wiewohl
wir nicht leichte abſehen koͤnnen/ in was fuͤr einem
Fall durch Unterlaſſung obbeſagter Dinge eines
andern
[345[341]]Liebe gegen uns ſelbſt.
andern Menſchen Leben erhalten werden koͤnte/
auſſer was wir daſelbſt von der Verthaͤydigung
unſers Lebens wider aͤuſſerliche Gewalt gemeldet.


16.

Ob auch ſchon jemand hierwieder ein-
wenden wolle/ ich duͤrffte meines Lebens Erhal-
tung nicht meines Freundes Leben nachſetzen/
weil mein Freund ja mehr in mir als in ſich
ſelbſt lebe/
woraus zu folgen ſcheine/ daß ich
mehr auf mich/ als auf ſein Leben zu erhalten ſe-
hen muͤſſe. So iſt doch hierauf zu antworten/
daß die Regeln der Liebe auch gleichfalls von
mir erforderten/ mehr in meinem Freunde als in
mir zu leben/ und alſo ſein Leben dem Meini-
gen vorzuziehen/ und daß/ wenn ich mit dieſer Ge-
gen-Liebe nicht verſehen waͤre/ ich auch der Liebe
meines Freundes nicht werth ſey.


17.

Ja ſprichſt du: Auff ſolche Art wird ja
dieſes folgen/ daß in der Liebe nicht ein Hertz
und eine Seele/
ſondern zwey wiederſpre-
chende Willen
anzutreffen ſeyn/ indem ein je-
der vor dem andern ſterben/ und des andern ſei-
nen Tod verhindern wil; ſolchergeſtalt aber wird
Liebe nicht Liebe/ oder doch die Uneinigkeit Liebe
heiſſen.


18.

Aber O angenehmer Streit! O vergnuͤg-
ſame Uneinigkeit! Dieſes iſt das eintzigepa-
radoxum
in der Weltweisheit/ deſſen Wahr-
heit wohl von allen Menſchen empfunden wer-
den kan/ daß es der Vernunfft nicht zu widerſey/
und von dem man doch in der Vernunfft keine
Y 3deut-
[346[342]]Das 8. H. von der vernuͤnfftigen
deutliche Urſache findet/ daſſelbe zu demonſtriren/
ſondern das gleich ſam der erſte Schritt iſt/ wenn
die Vernunfft ihre hoͤchſte Staffel erreichet hat/
zu der uͤbernatuͤrlichen Erleuchtung zu gelangen/
und die Erleuchtung mit der Vernunfft durch
dieſes Band zu verknuͤpffen.


19.

Wir haben aber geſagt/ daß die abſon-
derliche Liebe uns verbinde/ unſer Leben aus Lie-
be zu unſern Freund zu laſſen. Denn was die
allgemeine betrifft/ haben wir ſchon oben/ als
wir von derſelben gehandelt/ gnugſam gewieſen/
daß weder die Tugend der Leutſeligkeit/ noch eine
andere zur allgemeinen Liebe gehoͤrige Tugend
ſich biß dahin erſtrecke/ fuͤr alle Menſchen das Le-
ben zu laſſen. Ja wir haben daſelbſt/ als von der
Gedult gehandelt/ geſagt/ daß wir nur von der
Gedult/ die man gegen die empfangenen Beley-
digungen ausuͤben muͤſſe/ redeten/ und zu ſeiner
Zeit von der Gedult gegen die inſtehenden und
kuͤnfftigen Beleydigungen ſchon unſere Meinung
entdecken wolten. Derowegen fraget es ſich nun-
mehro nicht unbillig/ ob denn die vernuͤnfftige
Liebe uns nicht auch verbinde/ die von unſern
Feinden uns zu beſorgende gewaltſame Ge-
fahr und Schmach mit Gedult zu erwarten/
und auch fuͤr dieſelben unſer Leben zu laſſen;

oder ob wir nicht vielmehr dieſelbe mit Gegen-
Gewalt und auch wohl mit Ertoͤdtung unſers
Gegeners/ der Liebe unbeſchadet abtreiben
koͤnnen?


20. Die-
[347[343]]Liebe gegen uns ſelbſt.

20.

Dieſe von vielen weitlaͤufftig auch ziem-
lich uneinig und confus beantwortete Frage kuͤrtz-
lich und gegruͤndet zu beantworten/ wollen wir
nur aus dem/ was wir bißhero demonſttiret/ et-
liche Saͤtze und Gruͤnde hieher
wiederhoh-
len. (1) Daß ein jedweder einen jedweden Men-
ſchen zwar nicht abſonderlich lieben koͤnne/ aber
doch auch nicht haſſen ſolle. (2) Daß derjenige/
ſo uns Feindſchafft erweiſet/ nicht prætendiren
koͤnne/ daß wir ihm mit abſonderlicher Liebe
zugethan ſeyn muͤſten/ weil er durch ſeine Be-
leydigungen gnugſam darthut/ daß er nicht tu-
gendhafft ſey. (3) Daß wir einen ſolchen Men-
ſchen doch nicht haſſen duͤrffen/
ſondern ihm
die allgemeine Liebe erweiſen muͤſſen. (4) Daß
haſſen nichts anders ſey/ als darnach trachten/
wie man einen andern Menſchen fuͤr das uns er-
wieſene eingebildete boͤſe Leydes zufuͤgen moͤge.
(5) Daß die Verthaͤydigung ſeines Lebens
und ſeiner andern Guͤter nicht unter den Haß
gerechnet werden koͤnne/ weil dieſelbe nur dahin
trachtet/ den andern abzuhalten/ daß er uns nichts
zu leyde thue. (6) Daß wir dieſe Verthaͤydi-
gung
der abſonderlichen und allgemeinen Liebe
ſchuldig ſeyn. (7) Daß wir zwar wegen be-
gangener Boßheit oder Verſehen uns nicht raͤ-
chen
ſollen/ weil wir dergleichen Gedult taͤglich
von andern Menſchen insgemein benoͤthiget ſind/
aber wegen offenbahrer gegenwaͤrtigen Ge-
walt/
wenn wir nur ein wenig vernuͤnfftig ſeyn/
Y 4von
[348[344]]Das 8. H. von der vernuͤnfftigen
von keinen Menſchen prætendiren/ daß er dieſelbe
gedultig aushalten ſolle; Weswegen man auch
wiederum von uns nicht dieſelbe prætendiren
koͤnne.


21.

Aus dieſen Gruͤnden antworten wir nun
auff die vorgelegte Frage. Daß die Liebe
nicht von uns erfordere/ daß wir die von
unſern Feinden uns gedrohete entſtehende
Gewalt gedultig aushalten muͤſſen/
ſondern
daß wiꝛ dieſelbe gar wohl der Liebe unbeſchadet
mit Gegen-Gewalt/ und wenn es auch mit Er-
toͤdtung unſers Gegners ſelbſt waͤre/ abtreiben
koͤnnen.


22.

Jch rede aber von inſtehender Gewalt.
Denn wegen der Bedrohung brauchen wir die-
ſes gewaltſame Mittel nicht/ theils weil wir da-
durch vielmehr die Bedrohungen/ als eine all-
bereit zugefuͤgte Schmach raͤchen wuͤrden/ wel-
ches wider die allgemeine Gedult ſtreitet/ theils
weil wir wider die Bedrohungen durch ander-
waͤrtige Vorſorge und præparirung/ daͤß wir
kuͤnfftig Gewalt mit Gewalt vertreiben koͤnnen/
gnugſam verſichert ſind.


23.

Sprichſt du gleich/ es ſey gantz unver-
nuͤnfftig/ die gewaltſame Ertoͤdtung eines
Menſchen vor ein Werck der Liebe auszu-
geben;
So iſt doch gar leicht zu antworten/ daß
man ja niemaln geſagt/ daß man dadurch dem-
jenigen/ den man ertoͤdtet/ Liebe bezeige/ ſondern
es iſt genung/ daß man ihm dadurch keinen Haß
erweiſe/
[349[345]]Liebe gegen uns ſelbſt.
erweiſe/ indem wir ſeinen Tod nicht intendiren/
ſondern er ſich denſelben ſelbſt verurſacht/ und
daß wir durch dieſe unſere Verthaͤydigung ſo
wohl insgemein allen Menſchen/ als unſern ab-
ſonderlichen Freunden unſere Liebe bezeugen.


24.

Wie aber die uns drohende Gewalt
beſchaffen ſeyn muͤſſe/
daß ſie mit dergleichen
Gegengewalt abgetrieben/ und unter die Gegen-
waͤrtigen gerechnet werden koͤnne? Jngleichen
was man zuvorhero verſuchen muͤſſe/ ehe
man es zu dieſer Extremitaͤt unſern Feind zu er-
toͤdten kommen laſſe? Und was dergleichen hieher
gehoͤrender Fragen mehr ſeyn moͤgen/ die von de-
nen Moraliſten insgemein pflegen gemacht/ und
beantwortet zu werden/ in dieſelben wollen wir
uns allhier nicht einlaſſen/ theils weil wegen der
vielfaͤltigen und allzuſehr varirenden Umſtaͤnde
man faſt nicht wohl uͤberhaupt dieſelben eroͤrtern
kan/ ſondern ſie eines jedweden Tugendhafften
ſeiner eigenen Klugheit und Liebe anheim ſtellen
muß; theils weil es denen Laſterhafften oder
in der Tugend Unvollkommenen wenig helf-
fen wuͤrde/ wenn wir dieſelben noch ſo ſubtil eroͤr-
terten/ ſie aber wegen ihrer Laſter oder Unvollkom-
menheit nicht faͤhig waͤren/ dieſe Beantwortung
zu practiciren/ zumahlen da dergleichen Gefahren
einen ſolchen Menſchen durch die ploͤtzliche Furcht
und Erſchreckniß in einen ſolchen Zuſtand ſetzen/
da er ſein ſelbſt nicht maͤchtig iſt/ ſondern ſich von
dieſer Furcht und Schrecken regieren laſſen muß.
Y 5Tref-
[350[346]]Das 8. H. von der vernuͤnfftigen
Treffen ſie aber einen Menſchen an/ der die ver-
nuͤnfftige Liebe und Gemuͤths-Ruhe allbereit in
einem hohen Grade beſitzt; ſo weiß derſelbe
ſchon nach dem ihm mitgetheilten Maß der Liebe
ſich ſeiner Gebuͤhr nach hierinnen zu bezeigen.


25.

Wann demnach/ als erwehnet/ die Liebe
gegen uns ſelbſt/ theils in der Sorge fuͤr unſere
Seele/ theils in der Sorge fuͤr unſer Leben und
Geſundheit
beſtehet; ſo ſolten wir nun wohl
von beyden inſonderheit zu handeln anfangen.
Wir werden aber verhoffentlich bey dem ver-
nuͤnfftigen Leſer gar leicht entſchuldiget werden/
daß wir ſolches allhier unterlaſſen.


26.

Denn was die Seele betrifft/ ſo beſtehet
derſelben Vollkommenheit in zweyen Haupt-
Tugenden/ der Weisheit und Liebe. Von
jener haben wir ſattſam in der Vernunfft-Lehre
gehandelt. Von dieſer aber reden faſt alle
Blaͤtter gegenwaͤrtigen Sitten-Lehre. Und
was von denen Mitteln dieſelbe zu erhalten noch
uͤbrig iſt/ wird der andere Theil von der Artzney
wider die unvernuͤnfftige Liebe gnugſam aus-
fuͤhren.


27.

Was des Leibes Leben und die Ge-
ſundheit
anbelanget/ gehoͤret ſolches zu thun fuͤr
die Artzney-Kunſt/ und iſt der edelſte Theil der-
ſelben/ wiewohl insgemein die Herren Medici
mehr darum bekuͤmmert ſind/ wie die allzuem-
pfindlichen und gefaͤhrlichen Kranckheiten zu ver-
treiben/ als wie der Menſch ſeine Geſundheit in
guten
[351[347]]Liebe gegen uns ſelbſt.
guten Fortgang erhalten/ dieſelbe immer mehr
und mehr verſtaͤrcken/ und denen Kranckheiten
vorkommen moͤge/ um welches letzte ſich doch ein
jedweder vernuͤnfftiger Menſch/ am allermeiſten
aber ein Studioſus und Gelehrter bekuͤmmern
ſolte. Jedoch weil die Wiſſenſchafft der Artzney-
Kunſt in dieſem Jahrhundert um ein merckliches
gewachſen; Als haben wir auch GOtt ſey Danck
unterſchiedene gelehrte Buͤcher/ die uns darinnen
eine deutliche und von einem jedweden vernuͤnffti-
gen Menſchen leichtlich zubegreiffende Nachricht
geben. Jch wil nur dißfalls eines nahmhafft ma-
chen/ welches ich fuͤr mich und meine Zuhoͤrer biß-
hero gut befunden/ nemlich/ des D. Cornelii Bon-
tekoe
Abhandelung von des Menſchen Leben/
Geſundheit/ Kranckheit und Tode.


28.

Wolte ſich jemand hierinnen ſelbſt uͤben
die Warheit zu erforſchen/
ſo darff er nur
dasjenige wiederholen/ was wir allhier im er-
ſten Hauptſtuͤck
von dem Guten und Boͤſen uͤ-
berhaupt geredet/ und es auf ſeine eigene Speiſe
und Tranck/ Kleidung/ Wohnimg/ taͤgliche
Bewegung
u. ſ. w. appliciren/ und es hernach ge-
gen des D. Bontekoe oder ein anders dergleichen
Buch halten/ ſo wird er finden/ daß er taͤglich in
dieſer Wiſſenſchafft fuͤr ſich ſelbſt neue Wahrhei-
ten zu erfinden/ und die von andern erfundene zu
pruͤffen/ geſchickt ſey/ auch erkennen/ in was fuͤr
groben Jrrthuͤmern er geſteckt habe.


29. Z. e.
[352[348]]Das 8. H. von der vernuͤnfftigen

29.

Z. e. Wenn man wiſſen wil/ was fuͤr ein
Tranck ordentlich am geſundeſten ſey?
So
iſt aus dem erſten Hauptſtuͤck unſerer Sitten-
Lehre die Antwort/ derjenige/ der unſer Gebluͤte
in einer proportionirlichen Bewegung behaͤlt/
daß es nicht zu geſchwinde noch zu langſam lauffe.
Machen wir nun die Applicirung dieſer Regel
auf unſer Getraͤncke/ ſo finden wir ſolches von
dreyerley Sorten: Wein/ Waſſer und Bier.
Der Wein hitzet/ und macht alſo die Bewegung
des Gebluͤts allzugeſchwinde/ oder er ſchleimet
wenn er ſuͤſſe iſt/ und macht/ daß ſich das Gebluͤte
langſam beweget/ oder iſt Kalckigt/ und treibt ſol-
che kleine Theilgen in das Gebluͤte/ die die Adern
zerſchneiden/ oder durch ihre Verſetzung die Cir-
culation
des Gebluͤtes ſehr hindern/ und die Gicht
und dergleichen Kranckheiten verurſachen. Das
Bier thut gleiche Wirckungen; entweder es hi-
tzet oder kaͤltet; Gemeiniglich aber ſchleimet es/
wie der Wein gemeiniglich hitzet/ welches bey
dem Bier der klebigte Schweiß/ bey dem Weine
aber die in alle Glieder tretende Hitze bezeiget.
So ſind auch dieſe beyde Arten von Getraͤncke ſo
beſchaffen/ daß ſie durch ihre Schaͤrffe oder Lieb-
lichkeit einen Durſt verurſachen/ und die Zunge
dergeſtalt kuͤtzeln/ daß man mit Luſt mehr davon
trinckt/ als die Natur erfordert. Alleine das
Waſſer iſt ordentlich weder hitzig noch kaͤltend;
es erhaͤlt das Gebluͤte in einer proportionirlichen
Bewegung/ es iſt weder ſuͤſſe noch ſcharff/ daß es
bey
[353[349]]Liebe gegen uns ſelbſt.
bey uns einen Durſt erwecken oder zulaſſen ſolle/
mehr zu trincken als die Natur erfordert. Nun
mache den Schluß ſelbſt/ welches unter dieſen
dreyen Getraͤncken ordentlich und fuͤr einen ge-
ſunden Menſchen das Beſte ſey. Aber nimm
dich wohlin acht/ daß du denſelben nach den Re-
geln geſunder Vernunfft und nicht nach deiner
Begierde machſt.


30.

Ja damit du erkennen moͤgeſt/ wie die Er-
findung einer Warheit der andern die Hand
biete/ ſo betrachte wol/ daß das Waſſer in Anſe-
hen des Weines und Bieres/ das unſchmackhaf-
teſte
Getraͤncke ſey/ und wenn du dieſe Anmer-
ckung gegen das erſte Capitel haͤltſt/ und darinnen
befindeſt/ daß die Dinge/ die bey denen Sinnen
die wenigſte Empfindligkeit erwecken/ die Beſten
ſeyn/ ſo haſt du ſchon einen groſſen Theil neuer
Wahrheiten in Betrachtung der geſunden
Speiſen
erfunden/ wenn du ebenmaͤßig die Ap-
plication
machſt/ daß die unſchmackhaffteſten
Speiſen ordentlich die geſundeſten/
die ſau-
ren/ ſuͤſſen hingegen/ und die einen geſunden und
nicht verleckerten Menſchen widrig und eckel ſind/
am ungeſundeſten find/ u. ſ. w.


31.

Wolteſt du aber auch endlich um beſſerer
Oꝛdnung willen/ wie wir bey der allgemeinen und
abſonderlichen Liebe gethan haben/ auch bey der
Liebe gegen uns ſelbſt die unterſchiedenen hie-
her gehoͤrenden Beobachtungen mit gewiſſen
Nahmen der Tugenden belegen; Koͤnteſt du die
Schul-
[354[350]]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebe
Schuldigkeit in Speiſe und Tranck/ Maͤßig-
keit/
diejenige ſo die Kleidung und Wohnung an-
gehet/ Reinligkeit/ die ſo auf Bewegung der
aͤuſſerlichen Gliedmaſſen zielet/ Arbeitſamkeit/
und endlich die ſo den Leib vertheydiget/ Tapffeꝛ-
keit
nennen. Aber bemuͤhe dich vielmehr dieſe
Tugenden auszuuͤben/ als uͤber derſelben Benen-
nung oder Beſchreibung unnoͤthigen Streit an-
zufangen.


Das 9. Hauptſtuͤck.
Vonder Nothwendigkeit ver-
nuͤnfftiger Liebe/ in denen vier all-
gemeinen Geſellſchafften menſch-
lichen Geſchlechts.


Jnnhalt.


  • Connexion. n. 1. Jn der Ehelichen Geſellſchafft/ inglei-
    chen der Geſellſchafft zwiſchen Eltern und Kindern/
    Herr und Knecht/ Obrigkeit und Unterthanen n. 2.
    ſcheinet die Liebe nicht viel zu thun zu haben/ weil
    daſelbſt Befehl und Zwang iſt. n. 3. Gleichwohl iſt ei-
    ne jede Geſellſchafft eine Vereinigung der Gemuͤther
    wie bey der Liebe. n. 4. Es kan keine Geſellſchafft
    ohne Liebe/ aber wohl ohne Befehl und Zwang ſeyn.
    n. 5. Der Befehl gehet in denen Geſellſchafften nur
    der Liebe an die Hand n. 6. und iſt mit einer Geſell-
    ſchafft mehr verknuͤpfft als mit der andern n. 7. nach-
    dem die Geſellſchafften entweder wegen des innerli-
    chen Antriebes/ oder aus Mangel der Liebe entſtan
    den
    [355[351]]in denen menſchlichen Geſellſchafften.
    den. n. 8. Die Eheliche und Vaͤterliche Geſellſchafft
    braucht den Zwang hoͤchſt nothwendig nicht allezeit.
    n. 9. Bey der Geſellſchafft zwiſchen Herr und Knecht
    iſt man mit der allgemeinen Liebe zu frieden/ jedoch
    kan eine abſonderliche Liebe draus werden. n. 10.
    Aber in der buͤrgerlichen Geſellſchafft iſt die abſondeꝛ-
    liche Liebe zwiſchen Obrigkeit und Unterthanen nicht
    zu hoffen. n. 11. Wenn aber die allgemeine Liebe nicht
    einmahl zu ſpuͤhren iſt/ iſt der Obrigkeit/ und alſo auch
    in denen andern drey Geſellſchafften denen ſo darin-
    nen zu befehlen haben/ es mehrentheils zu imputi-
    r
    en. n. 12. Die Eheliche Geſellſchafft iſt die aller natuͤr-
    lichſte. n. 13. Darinnen man eine abſonderliche glei-
    che Liebe finden ſoll. n. 14. vor Vollziehung derſelben
    muß man mit der ſorgfaͤltigen Gefaͤlligkeit ſehr be-
    hutſam umgehen. n. 15. auch die Gutthaͤtigkeit nicht
    beyſeite ſetzen. Nach Vollziehung derſelben ſoll die
    Gemeinſchafft alles Thun und Laſſens/ ingleichen ih-
    res Vermoͤgens ſtatt haben. n. 17. Wenn zwiſchen
    Eheleuten ein unverſoͤhnlicher Haß entſtehet/ iſt es
    vernuͤnfftig/ daß ſie geſchieden werden. n. 18. Von der
    Polygamie und communione uxorum. Die Geſell-
    ſchafft der Eltern und Kinder ſoll mit einer unglei-
    chen vernuͤnfftigen Liebe begabet ſeyn. n. 20. und ſich
    hernach in eine gleiche Liebe verwandeln. n. 21. Die
    Geſellſchafft zwiſchen Herr und Knecht ſoll auf bey-
    den Theilen alle Tugenden der allgemeinen Liebe be-
    ſitzen. n. 22. Wenn aus derſelben ein abſonderliche
    Liebe werden kan. n. 23. Die Beſchaffenheit vernuͤnff-
    tiger Liebe in der buͤrgerlichen Geſellſchafft. n. 24.

1.


WJr haben bißher von der Liebe gehan-
delt/ wie dieſelbe nach dem Trieb der
Vernunfft erwehlet werde/ und auf eine
voͤl-
[356[352]]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebe
voͤllige Vereinigung zweyer Gemuͤther/ von was
Stand und Geſchlecht ſie auch ſeyn moͤgen/ ihr
Abſehen richte. Und iſt dannenhero nichts mehr
in der Lehre von der Liebe uͤbrig/ als daß wir ſe-
hen/ wie dieſelbe in denen vier Menſchlichen
Geſellſchafften
beſchaffen ſeyn ſolle/ die des-
halben natuͤrliche Geſellſchafften pflegen genen-
net zu werden/ weil ſie allgemein ſeyn bey allen
Voͤlckern/ und kein Menſch iſt/ der nicht in einer
von denenſelben/ wo nicht in allen vieren ſich be-
finde.


2.

Dieſes ſind die Geſellſchafft (1) zwiſchen
Mann und Weib/ (2) Eltern und Kindern
(3) Herr und Knecht/ (4) Obrigkeit und
Unterthanen.
Von deren Beſchaffenheit
und was nach denen Regeln der Gerechtigkeit
einer jeden Perſon/ ſo darunter lebet/ ihre Pflicht-
Schuldigkeit ſey/ wir nicht weitlaͤufftiger han-
deln wollen/ weil wir ſolches anders wo gethan/
und auch ſonſten viele von dieſen Dingen ins-
gemein bekandt ſind. Sondern wir wollen nur
ſehen/ was die Liebe in denenſelben zu wircken
und zu verrichten habe.


3.

Zwar wenn wir dieſelben insgeſamt oben
hin anſehen wollen/ ſo ſcheinet es/ daß die Lie-
be eben nicht viel dabey in obacht zu neh-
men ſey.
Denn alle dieſe vier Geſellſchafften
ſind in dem Menſchlichen Geſchlecht durchge-
hends dergeſtalt beſchaffen/ daß eine Perſon
darinnen der andern zu befehlen hat/ und die
andere
[357[353]]in denen menſchl. Geſellſchafften.
andere der erſten gehorchen muß. Wo aber
Befehl iſt/ da iſt auch Zwang. Wo Zwang
iſt/ da iſt keine Liebe.
Und folglich weil wir
oben erwehnet/ daß eben der Zwang den Unter-
ſcheid zwiſchen der Gerechtigkeit und Liebe ma-
che/ ſo ſcheinet es wohl/ daß dieſe vier Geſell-
ſchafften Gerechtigkeit/ aber doch keine Liebe
leiden koͤnten.


4.

Wiederum aber/ wenn wir andertheils be-
trachten/ daß gleichwohl von der Ehelichen Lie-
be/
von der Liebe der Eltern gegen die Kin-
der
u. ſ. w. jederman redet und ſchreibet; ja wenn
man erweget/ daß alle menſchliche Geſellſchafft
in der Vereinigung zwey er Gemuͤther
zu ei-
nen gewiſſen Endzweck beſtehe/ ſo ſiehet man/
daß auch alle Geſellſchafften ihrem Weſen nach
die Liebe/ als welche die Vereinigung der Ge-
muͤther iſt/ intendiren.


5.

Und alſo wird man bald gewahr/ daß kei-
ne Geſellſchafft ohne Liebe/
aber wohl ohne
Befehl und Zwang
ſeyn koͤnne; und daß der
Befehl und Zwang zufaͤlligeꝛ Weiſe in die menſch-
lichen Geſellſchafften gekommen ſey/ ſo ferne nem-
lich etliche Perſonen in denenſelben entweder aus
Unvollkommenheit oder aus Boßheit dasjenige/
was zu dem Zweck einer jeden Geſellſchafft zu er-
reichen dienet/ nicht freywillig thun wollen/ oder
auch wohl darwider ſtreben.


6.

Woraus noch ferner folget/ daß die Lie-
be nicht des Zwangs halben
in denen vier be-
Zſagten
[358[354]]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebe
ſagten Geſellſchafften ſich befinden ſolle/ ſon-
dern daß die Liebe in allen dene nſelben ſolle
gleichſam das Regiment fuͤhren/ und der Be-
fehl und Zwang ihr nur an die Hand gehen
muͤſſe/
nicht zwar Liebe durch Zwang und Be-
fehl zu erwecken/ welches ohnmoͤglich/ ſondern
die Liebe wider den Haß und deſſen Beleydigun-
gen zu beſchuͤtzen. Und alſo hoͤret der Befehl und
der Zwang nothwendig in dieſen Geſellſchafften
auf/ oder man braucht ihn zum wenigſten nicht/
wenn die Menſchen in denenſelbigen der Liebe
freywillig Platz geben.


7.

Jedoch obſchon der Befehl und Zwang
zu keiner von dieſen vier Geſellſchafften gehoͤ-
ret/ wenn man dererſelben Endzweck an und fuͤr
ſich ſelbſt betrachtet; ſo iſt doch derſelbige mit
einer Geſellſchafft mehr verknuͤpfft
als mit
der andern/ und wird ſolcher Geſtalt nicht un-
fuͤglich geſagt werden koͤnnen/ daß gleichwie die
Liebe zu dem Weſen aller Geſellſchafften

gehoͤre/ alſo hingegentheil der Zwang zufaͤlli-
ger Weiſe
in etliche Geſellſchafften gerathen/ bey
etlichen aber gleichſam einen Theil des We-
ſens
derſelben mache.


8.

Nemlich/ wenn man obbeſagte vier Ge-
ſellſchafften ein wenig gegen einander haͤlt/ ſo
wird man gar bald befinden/ daß zwey von de-
nenſelben
unter dem menſchlichen Geſchlecht in
Schwange gehen wuͤrden/ wenn gleich alle Men-
ſchen tugendhafft waͤren/ und einander liebten/
und
[359[355]]in denen menſchl. Geſellſchafften.
und wenn gleich nach denen Geſellſchafften ver-
nuͤnfftiger Liebe alle Guͤter gemein waͤren/ und
jederman in dieſer Welt genung haͤtte/ derge-
ſtalt/ daß es weder Reiche noch Arme gebe. Die
andern zwey aber
ſind aus dem Mangel der
Liebe/
und dem deswegen eingefuͤhrten Ei-
genthum
auch dem draus erfolgten Uberfluß und
Armuth entſtanden/ zum theil aber auch wegen
der Furcht fuͤr der Boßheit
anderer Menſchen
ſo wohl auſſer als binnen der Geſellſchafft ge-
macht und formiret worden.


9.

Die Eheliche Geſellſchafft und folglich
auch die Geſellſchafft zwiſchen Eltern und
Kindern
iſt unter tugendhafften und laſterhaff-
ten/ Armen und Reichen. Und ob ſie wohl bey-
derſeits keinen Reichthum und Eigenthum zu
ihrer Selbſtaͤndigkeit præſupponiren/ ſo brau-
chen ſie doch/ wenn ſie ihren Zweck erreichen ſol-
len/ Tugend und Liebe/ und wenn dieſe ſich fin-
den laͤſt/ ſo darff ſich das Befehlen des Man-
nes
und das Gebot der Eltern nicht ſonderlich
hervorthun; ſondern es thut entweder ein jedes
von ſich ſelbſt ſeine Schuldigkeit/ oder es iſt an
einer Erinnerung genung/ die keines gebieteri-
ſchen Zwangs vonnoͤthen hat. Und kan auch
in dieſen Geſellſchafften eine vernuͤnfftige Liebe
am eheſten entſtehen/ weil der Menſch darzu
durch einen allgemeinen innerlichen Antrieb/ nicht
aber durch eine aͤuſſerliche Nothwendigkeit gerei-
tzet wird.


Z 210. Hin-
[360[356]]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebe

10.

Hingegen waͤre die Geſellſchafft zwi-
ſchen Herr und Knecht nicht/
wenn nach der
Liebe alles gemein/ und weder Reiche noch Ar-
me waͤren. Die Buͤrgerliche Geſellſchafft
aber waͤre nicht entſtanden/ wenn man ſich fuͤr
liebloſen Leuten nicht zu fuͤrchten angefangen/
und fuͤr deren Haß zu beſchuͤtzen geſucht haͤtte.
Bey jener iſt deshalben die Liebe gemeiniglich
in einem geringen Grad/
weil bey derſelben ſo
wohl der Herr als der Knecht mehr auff ſeinen
Privat-Nutzen/ als auf das Vergnuͤgen des an-
dern ſiehet/ auch das Abſehen des Herrn ſo be-
ſchaffen iſt/ daß es ohne Fuͤrſchreibung und Be-
fehl/ darnach der Knecht mit ſeinem Thun und
Laſſen ſich richten muß/ nicht kan erhalten wer-
den. Jedennoch muß auf beyden Seiten zum
wenigſten die allgemeine Liebe beobachtet
werden/
und die abſonderliche iſt dieſer Geſell-
ſchafft nicht zu wider; Ja wo man dieſelbe in
dieſer Geſellſchafft antrifft/
da hoͤret der be-
fehlende Zwang und Eigennutz auf/ und wird in
eine bruͤderiche Liebe verwandelt.


11.

Aber die buͤrgerliche Geſellſchafft kan
des Zwangs und des Befehlens weniger
entbehren/
und eine abſonderliche Liebe zwi-
ſchen der Obrigkeit und Unterthanen weniger
erhalten/ ſondern muß ſich begnuͤgen laſſen/ wenn
nur die abſonderliche Liebe
in Schwang ge-
bracht werden kan/ weil das Mißtrauen gegen
andere
[361[357]]in denen menſchl. Geſellſchafften.
andere Menſchen derſelben Urſprung iſt/ und
bey Einrichtung derſelben mehrentheils man ſol-
che Conditiones einander vorzuſchreiben pfleget/
die ein groſſes Mißtrauen zwiſchen den Perſonen
ſelbſt/ die ſich in dieſer Geſellſchafft einlaſſen/ an-
zeigen. Zu geſchweigen/ daß weil dieſelbige aus
gar zu vielen Perſonen beſtehet/ es ohnmoͤglich
ſey/
daß zwiſchen denen Gemuͤthern der
Obrigkeit und Unterthanen
eine voͤllige
Gleichheit/ und alſo auch eine abſonderliche
Liebe
koͤnne gehoffet werden.


12.

Jedoch ſoll auch in dieſen beyden letzten
Geſellſchafften die Sorge dererjenigen ſeyn/ die
die Herrſchafft haben/ daß die Knechte und
Unterthanen ſo viel moͤglich zu der abſon-
derlichen Liebe beqvehmer gemacht wer-
den moͤgen.
Und wenn in dieſen Geſellſchaff-
ten nicht einmahl die Tugenden allgemeiner Lie-
be beobachtet werden/ ſo iſt gemeiniglich die
Schuld derer/ die am kluͤgeſten ſeyn ſolten/
das iſt/ derer/ die die Herrſchafft haben/

welches auch von der Ehelichen und Vaͤter-
lichen
Geſellſchafft zu ſagen iſt/ wenn nur das
Gegentheil ſie nicht offenbahr entſchuldiget/ als
wenn die Weiber/ Kinder/ Knechte und Unter-
thanen boßhafftiger Weiſe alle gute Zucht und
Vermahnung von ſich ſtoſſen/ und mit Fuͤſſen
treten.


13.

Nachdem wir alſo von der Nothwen-
digkeit der vernuͤnfftigen Liebe in denen vier all-
Z 3gemei-
[362[358]]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebe
gemeinen menſchlichen Geſellſchafften uͤberhaupt
geredet/ wollen wir auch nur noch mit wenigen
jede Geſellſchafft beſchauen/ ſo ferne die Liebe
darmit zu thun hat. Die Eheliche iſt deshalben
die allernatuͤrlichſte/ weil ſie dahin trachtet/
dem natuͤrlichen Trieb und Neigung/ den Gott
beyderley Geſchlechte ins Hertze gegeben/ ge-
nung zu thun. Jch verſtehe nicht die geile Nei-
gung zur Leibes Vermiſchung/ ſondern die menſch-
liche vernuͤnfftige Neigung/ zwey Hertzen auf das
feſteſte und ſtetswehrend mit einander zu ver-
knuͤpffen/ und durch eine keuſche Vereinigung
Kinder mit einander zu erzeugen/ und gleichſam
in ſelbigen die Wechſel-Liebe zu concentriren/
oder vielmehr auszubreiten.


14.

Alſo ſol demnach in dem Eheſtande
nichts anders als eine abſonderliche vernuͤnff-
tige und gleiche Liebe herrſchen/
die nicht
aufhoͤren ſoll noch darff/ weil die gemeinen Ge-
ſetze die Ehe-Scheidung verbieten/ weswegen die
Regeln geſunder Vernunfft erfordern/ daß die
Perſonen/ ſo ſich hinein begeben wollen/ am al-
ler behutſamſten in der Wahl
umgehen muͤſ-
ſen/ weil ſonſten bey andern Freundſchafften und
Lieben/ wenn man ſich in ſeiner Wahl betrogen
hat/ man allezeit oder doch mehrentheils den Feh-
ler corrigiren kan/ daß man ſich wieder vonein-
ander ſondert/ und durch dieſe Sonderung die
abſonderliche Liebe aufhebet.


15. Dero-
[363[359]]in denen menſchlichen Geſellſchafften.

15.

Derohalben iſt offenbahr/ daß/ wo je-
mahls bey einer abſonderlichen Liebe/ gewiß hie-
rinnen vonnoͤthen ſey/ die oben erklaͤhrte ſorg-
faͤltige Gefaͤlligkeit
in acht zu nehmen/ und
viel und unterſchiedene Converſationes mit der-
jenigen/ ſo man heyrathen wil/ zu haben/ damit
man ja wohl zuſehen koͤnne/ ob das Gemuͤthe/ das
man ſiehet/ tugendhafft und dem unſern gleich
ſey/ und ob man uns warhafftig oder wegen
Geilheit und Intereſſe, oder ſonſten auf eine un-
vernuͤnfftige Weiſe liebe. Solcher Geſtalt fol-
get ferner/ daß die Heyrathen nicht vor vernuͤnff-
tig koͤnnen ausgegeben werden/ wenn die Perſo-
nen nicht tugendhafft oder tugendliebend ſind/
wenn ſie einander mit anderer Leute Augen und
Ohren heyrathen/ wenn man nach Gelde/
Schoͤnheit oder Befoͤrderung freyet/ oder wenn
nach einer oder zweyen Converſationen man ſich
alsbald verbindet/ es waͤre denn/ daß in dieſen
letzten Fall zwey Hertzen/ die alle beyde einen ho-
hen Grad der Tugend beſaͤſſen/ nach Anleitung
deſſen/ was wir allbereit oben davon erwehnet
haben/ zuſammen kaͤmen.


16.

So ſolte man auch ferner in dem Ehe-
ſtande bey unvollkommenen tugendhafften Leu-
ten die voͤllige unaufloͤsliche Verbindung ſo
lange auffchieben/ biß beyde Hertzen auch die
noch ſtaͤrckeren Proben der Vertrauens vol-
len Gutthaͤtigkeit
ausgeſtanden haͤtten/ weil
es ſehr oͤffters geſchiehet/ daß diejenigen/ die die
Z 4Pro-
[364[360]]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebe
Proben der Gefaͤlligkeit ausgehalten/ uns ver-
laſſen/ und ihre Ungleichheit zu verſtehen geben/
wenn ſie biß an die Gutthaͤtigkeit gelanget ſind.
Und vielleicht haben unſere Vorfahren hierauf
ihr Abſehen gerichtet/ wenn ſie eingefuͤhret/ daß
nach der oͤffentlichen Verloͤbniß und zwiſchen der
voͤlligen Vollziehung Braut und Braͤutigam
mit einander annoch eine Zeitlang converſiren
ſolten/ und daß ſie bey inzwiſchen entſtandener
toͤdtlicher Feindſchafft wieder geſchieden werden
koͤnten.


17.

Wenn aber die Eheliche Geſellſchafft
einmahl vollzogen iſt/ ſo iſt es kein Zweiffel/ daß
alleine dieſelbige recht vernuͤnfftig ſey/ worinnen
nicht nur alle Guͤter gemeine ſind/ ſondern
auch auff beyden Theilen eine liebreiche Frey-
heit und Wechſelsweiſe Gemeinſchafft
alles Thuns und Laſſens
geſpuͤhret wird.
Solcher Geſtalt aber iſt weder Zwang noch
Herrſchafft des Mannes von noͤthen/ als wel-
cher nur fuͤr die unvernuͤnfftigen oder unvollkom-
menen Weiber eingefuͤhret worden. Sondern
gleichwie die Frau dem Mann in dem ihm ge-
hoͤrigen Thun und Laſſen nichts einredet/ ſon-
dern aus Liebe ihme darinnen beyſtehet/ ſo viel
ihr Vermoͤgen zulaͤſt; Alſo laͤſſet auch der Mann
ſeinem Weibe in denen Haushaltungs-Sa-
chen/ die er nicht verſtehet/ ihre gleichmaͤßige
Freyheit/ und ſtehet ihr darinnen bey/ ſo viel das
bey denen Voͤlckern eingefuͤhrte Decorum zulaͤſt.
Bey
[365[361]]in denen menſchl. Geſellſchafften.
Beyderſeits aber laſſen ſie einander ohne Ver-
dacht und Eyffer die Freyheit mit andern ehrli-
chen Leuten von beyderley Geſchlecht zu conver-
ſir
en/ als die ihrer Tugend zu beyden Theilen
wohl verſichert ſind/ und aus denen Regeln ge-
ſunder Vernunfft wohl verſtehen/ daß die Eyfer-
ſucht und das Mißtrauen nur fuͤr die unvernuͤnff-
tige Liebe gehoͤre.


18.

Solte aber uͤber Verhoffen eines von bey-
den/ oder wohl alle beyde in ihrer Wahl ſich
uͤbereylet haben/ und entſtuͤnde nach vollzogener
Ehe wegen der allzugroſſen Ungleichheit und
ſich aͤuſſernden Unvernunfft des einen Ehegat-
ten unter ihnen Uneinigkeit/ die wegen der
Hartnaͤckigkeit des unvernuͤnfftigen Theils
nicht gehoben oder geſchlichtet werden
koͤnte;
ſo iſt offenbahr/ daß die Meynung de-
rerjenigen Gelehrten/ in denen Regeln geſunder
Vernunfft allerdings gegruͤndet ſey/ welche be-
haupten/ daß man in dieſem Fall die Ehe-
ſcheidung zulaſſen ſolle.
Denn es kan fuͤr
einem vernuͤnfftigen Menſchen keine groͤſſere
Qvaal erfunden werden/ als wenn er gezwun-
gen iſt mit einer unvernuͤnfftigen Perſon in ge-
nauer Verbuͤndniß und Geſellſchafft zu ver-
bleiben/ und ſeinen Leib mit ſelber zu vermiſchen.
Ja es iſt mehr als Beſtialiſch/ wenn uneinige und
gantz widerwaͤrtige Gemuͤther keine andere Ge-
meinſchafft/ als die auf die Ableſchung einer
Wechſelsweiſen Geilheit ihr Abſehen hat/ ein-
Z 5ander
[366[362]]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebe
ander bezeigen. Zudem waͤre keine Proportion
zwiſchen dem Verbrechen und der Straffe/ wenn
man das Verſehen eines Menſchen/ der ſich bey
ſeiner Heyrath mehr aus Schwachheit als ab-
ſonderlichen Boßheit nicht wohl in acht genom-
men/ mit einer ſo groſſen Gemuͤths-Qvaal be-
ſtraffen wolte.


19.

Was aber im uͤbrigen nach Anleitung der
Natur bey dem Eheſtande zu beobachten ſey/ da-
von haben wir allbereit anderswo ausfuͤhrlich ge-
handelt/ und zugleich eroͤrtert: Ob es der Natur
zuwider ſey oder nicht/ viel Weiber oder Maͤn-
ner/ oder die Weiber mit vielen gemein zu
haben?
Wohin wir uns um Kuͤrtze willen be-
ziehen/ und fuͤr unnoͤthig halten/ unſere Lehr-
Saͤtze anhero zu widerhohlen.


20.

Die Geſellſchafft der Eltern und Kin-
der zielet der Natur nach auf eine vernuͤnfftige
ungleiche Liebe/
wie wir dieſelbe oben beſchrie-
ben haben/ in der die Eltern ſchuldig ſind/ ihre
Liebe ſolcher Geſtalt gegen die Kinder zu bezei-
gen/ daß ſo lange dieſe in der Unvollkommenheit
ſtecken/ ſie eine Ehrfurcht gegen die Eltern tra-
gen/ und ſo wohl durch das gute Exempel der
Eltern/ als durch ihre taͤgliche Lehren und
Anfuͤhrungen ſich aus der Unvollkommenheit
heraus reiſſen. Weshalben auch die Eltern
ſchuldig ſind/ fuͤr allen Dingen um die Ausbeſſe-
rung der Kindeꝛ beſorgt zu ſeyn/ und keine andere
Pflicht oder Freundſchafft dieſer Obliegen-

heit
[367[363]]in denen menſchl. Geſellſchafften.
heit vorzuziehen/ wiewohl ſie alsdenn nichts
Unvernuͤnfftiges begehen/ wenn ſie dieſe Aufer-
ziehung/ andern Perſonen auftragen/ daferne
ſie nur erkennen/ daß hierdurch die Ausbeſſerung
der Kinder ja ſo wohl oder beſſer als durch ſie ſelbſt
erhalten werden koͤnne.


21.

Wenn denn dieſer Endzweck voͤllig erhal-
ten iſt/ und die Kinder zu einer der Eltern glei-
chen Tugend gebracht worden ſind; ſo iſt der
Vernunfft gar nicht zu wider/ daß hernach-
mahls zwiſchen denen Eltern und Kindern
eine ſo gleiche Liebe
entſtehe/ als ſonſten zwi-
ſchen zweyen Freunden/ die einander familiaͤr
ſind/ ſeyn kan. Denn wir haben ſchon oben ge-
dacht/ daß alle ungleiche vernuͤnfftige Liebe da-
hin trachteu ſolle/ daß ſie ſich in eine gleiche Liebe
verwandele.


22.

Die Geſellſchafft zwiſchen Herr und
Knecht/
muß auf beyden Theilen/ wenn ſie ver-
nuͤnfftig ſeyn ſol/ alſo beſchaffen ſeyn/ daß keines
von beyden das andere verachte/ oder auf einige
Weiſe daſſelbige beleydige/ ſondern ſich Wech-
ſels-Weiſe beſcheiden und vertraͤglich gegen
einander bezeigen/ auch dasjenige/ was ſie einan-
der bey Anfang dieſer Geſellſchafft verſprochen/
unverbruͤchlich halten/ und hiernaͤchft alle nur
moͤglichſte Dienſte der Leutſeeligkeit einander
bezeigen/ auch die aus Schwachheit menſchlicher
Natur ſich dann und wann ereigneten Beleidi-
gungen mit Gedult vertragen; deñ ſonſten wuͤr-
de
[368[364]]Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebe
de man nicht ſagen koͤnnen/ daß zwiſchen Herrn
und Knecht eine allgemeine Liebe zu finden ſey/
die doch/ wie wir oben erwehnet/ allezeit bey dieſer
Geſellſchafft angetroffen werden ſoll.


23.

Jſt nun der Herr und Knecht ſo gluͤcklich/
daß ſie befinden/ daß ihre Gemuͤther einander
gleichfoͤrmig ſind/ und auf beyden Theilen nach
der Tugend trachten/ oder die Tugend allbereit
in gleichen Grad beſitzen; ſo kan es nicht fehlen/
ſie muͤſſen ſich ſo dann durch eine naͤhere Ver-
einigung
in den Stand einer abſonderlichen
vernuͤnfftigen Liebe/
zu ſetzen trachten. Und
dieſes geſchicht auf keine andere Weiſe/ als daß
ſie uͤber die Dienſte der Leutſeeligkeit einander
Wechſels-Weiſe durch muͤhſame oder koſtbare
Gutthaten ihr Verlangen dißfalls zu erkennen
geben. Weßhalben auch nicht zu zweiffeln/ daß
ein Knecht/ er ſey ſo leibeigen als er wolle/
dennoch vermoͤgend ſey/ ſeinem Herrn viel-
faͤltige Gutthaten zu erweiſen/
wie ſolches
Seneca in ſeinen Buͤchern von Gutthaten weit-
laͤufftig ausgefuͤhret/ und die dißfalls ſich ereigne-
ten Zweiffel gruͤndlich und gelehrt eroͤrtert hat.


24.

Endlich was die buͤrgerliche Geſell-
ſchafft
anlanget/ ſo bezeugen die Regeln allge-
meiner Liebe
ebenmaͤßig/ daß diejenige unmoͤg-
lich vernuͤnfftig ſeyn koͤnne/ worinnen der Fuͤrſte
den Unterthanen/ und dieſe hinwiederum dem
Fuͤrſten die Dienſte der Leutſeeligkeit/ Wahr-
hafftigkeit/ Beſcheidenheit/ Vertraͤgligkeit

und
[369[365]]in denen menſchl. Geſellſchafften.
und Gedult zu erweiſen verweigern/ weßhalben
nothwendig folget/ daß ein vernuͤnfftiger Fuͤrſt
allezeit ſeiner Unterthanen Wohlſtand und Auf-
nehmen ſuchen muͤſſe/ und dieſe hingegen dahin
zu trachten haben/ gleicher Geſtalt dem Fuͤrſten
die Regierungs-Laſt durch freywillige Submis-
ſion
und Huͤlffe ohne Mißtrauen/ Neid und
Zwang leichter zu machen; und daß/ weil nicht
leicht ein Staat zu finden iſt/ darinnen nicht drey-
erley Staͤnde der Unteꝛthanen/ nemlich die Edlen/
ſo dann die Buͤrger/ und endlich die Bauren
anzutreffen waͤren/ diejenige buͤrgerliche Geſell-
ſchafft ſehr elend und unvernuͤnfftig ſeyn muͤſſe/
worinnen der Adel dieſe beyden letzten/ oder dieſe
beyde den Adel unterzudruͤcken und zu
kraͤncken ſuchen.


ENDE.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2025). Thomasius, Christian. Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Als dem eintzigen Mittel zu einen glückseligen/ galanten und vergnügten Leben zu gelangen. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpd0.0