und
vermiſchte Schriften
und
vermiſchte Schriften
: Verlag von Heinrich Hoff.
1838.
Druck von Hoff \& Heuſer in Mannheim.
Inhalt des dritten Bandes.
Aus eignen Denkwürdigkeiten.
- Seite
- Studien und Stoͤrungen. Berlin 1807 1
- Beſuch bei Jean Paul Friedrich Richter 64
- Tuͤbingen. 1808. 1809 87
- Steinfurt. 1810. 1811 127
- Harren und Streben. Prag 1811. 1812 168
- Tettenborn 213
- Hamburg im Fruͤhjahr 1813 249
- Kriegszuͤge von 1813. 1814 382
Studien und Störungen.
Berlin 1807.
Das Fruͤhjahr trat mit ſtarken Schritten ein, ohne
fuͤr Halle guͤnſtigeres Geſchick, noch dem in Preußen
fortwuͤthenden Krieg eine erwuͤnſchte Wendung zu brin¬
gen; wir fuͤhlten Alle, daß ein laͤngeres Abwarten der
Dinge fuͤr uns unſtatthaft ſei, und wir das beginnende
Sommerhalbjahr wenigſtens ſo gut als thunlich zu be¬
nutzen haͤtten. Wolf und Schleiermacher wandten die
Augen nach Berlin, und zu dieſem Orte zogen auch
unſre Verhaͤltniſſe und Studien uns am ſtaͤrkſten hin.
Adolph Muͤller wollte in jedem Falle die mediciniſchen
Anſtalten dort benutzen; fuͤr mich boten dieſe reichlich
dar, was ich am dringendſten bedurfte, und meinem
und Neumann's philologiſchen und allgemein wiſſen¬
ſchaftlichen Trieben war hier, beſonders wenn Wolf und
Schleiermacher folgten und ihre beabſichtigten Vorleſungen
hielten, noch immer mehr bereitet, als auf jeder andern
uns bekannten Univerſitaͤt. Fuͤr uns waren Entſchluß
III.1[2] und Ausfuͤhrung am leichteſten, und ſo fanden wir Beide
uns die erſten auf dem Wege, bei ſchoͤnem Wetter um
die Mitte des April, aus ſtudentiſcher Vorliebe und aus
Sparſamkeit diesmal zu Fuß, welches beides jedoch nur
von Halle bis Deſſau und von Potsdam bis Berlin
vorhielt, denn zwiſchen Deſſau und Potsdam uͤbernahm
uns die traurige Oede und muͤhſame Beſchwerlichkeit
der ſandigen, damals noch ungebauten Landſtraße zu
ſehr, und wir beſtiegen den Poſtwagen, der ſchon lange
neben uns fuhr, und jetzt unſrer Reiſe zwar wenig Be¬
ſchleunigung, aber doch einſchlaͤferndes Ausruhen ge¬
waͤhrte.
Wir ſahen in Berlin der Reihe nach unſre Freunde
mit herzlichſtem Willkommen. Leider entging uns nicht,
daß der Druck des Krieges in der ganzen Stadt hart
fuͤhlbar war, uͤberall zeigte ſich Zerruͤttung der Ver¬
haͤltniſſe, Verringerung der Huͤlfsmittel, Einſchraͤnkung
der Lebensweiſe, dazu die unerſchwinglichen Laſten der
Kriegsabgaben und der Einquartierung, und eine große
Muthloſigkeit in Betreff der Zukunft. Ein knappes und
ſpaͤrliches Weſen, das von jeher an dem Berliner Leben
im Gegenſatz uͤppigerer Hauptſtaͤdte bemerklich wurde,
zog ſich noch mehr in's Enge und Bange, und ſtach
nur um ſo widriger gegen das Wohlleben ab, welches
die fremden Sieger auf Koſten des bezwungenen Landes
fuͤhrten. Auch fuͤr uns ſelbſt wurde dieſer Zuſtand un¬
mittelbar empfindlich, denn ſo manche Huͤlfsquellen, auf
[3] die wir hoffen durften, blieben aus, beſonders in Neu¬
mann's Verhaͤltniſſen trat voͤllige Ebbe ein, und wir
waren beide geraume Zeit auf die Mittel beſchraͤnkt,
welche mir zukamen, und bei denen fuͤr zwei doch man¬
ches Behelfen noͤthig wurde; wir wohnten und lebten
indeß gemeinſchaftlich, ſo gut es ging.
Mein Studiren war bald angeordnet. Ich warf
mich bei den Unſicherheiten, die ich in unſrer deutſchen
Welt herrſchen ſah, nur um ſo ernſtlicher auf die Me¬
dicin, als worin mir Stand und Waffe zum bedenklichen
Kampfe des buͤrgerlichen Lebens vor allem gewonnen
ſein mußte, um demnaͤchſt wo moͤglich auch andre Zwecke
und Ausſichten verfolgen zu koͤnnen. Manche Zwiſchen¬
ſtufe, zu welcher ich ſpaͤter zuruͤckzukehren dachte, fuͤr
jetzt uͤberſpringend, und im Grunde wirklich genugſam
vorbereitet, eilte ich ſogleich in die Mitte der ausuͤben¬
den Heilkunde, und machte den kliniſchen Lehrgang in
dem Charité-Krankenhauſe mit, außerdem hoͤrte ich bei
Willdenow Botanik und Arzneimittellehre, und, damit
ich mir an Gruͤndlichkeit nichts erließe, nochmals, ich
glaube zum ſiebenten oder achtenmale, die Oſteologie.
In beſtimmten Stunden trieb ich mit Theremin das
Spaniſche, Engliſch und Italiaͤniſch mit andern Freunden,
und kein Tag verging, da ich nicht im Homer und in
der griechiſchen Anthologie geleſen und aus der letztern
ein paar Stuͤcke metriſch uͤberſetzt haͤtte, welches letztere
mir gewoͤhnlich ſchon zuerſt am Morgen, beim Ankleiden
1*[4] und Fruͤhſtuͤcken, ohne Anſtrengung gelang. Neumann
unterdeſſen, fuͤr welchen es keine Vorleſungen gab,
wandte ſich mit angeſtrengtem Fleiß auf die Ueberſetzung
der florentiniſchen Geſchichte des Machiavelli, wovon er
ſich gute Frucht verſprach, beſonders wenn Johann von
Muͤller bewogen werden koͤnnte, wie wir hofften, durch
eine Vorrede und Anmerkungen das Buch empfehlend
auszuſtatten.
Dieſer Grund wirkte ſtark mit, daß ich mich beeilte,
nun auch die perſoͤnliche Bekanntſchaft des großen Ge¬
ſchichtſchreibers, dem wenigſtens damals die herrſchende
Meinung keinen Lebenden an die Seite ſtellte, mir nicht
laͤnger entgehen zu laſſen; die Verſtimmung, welche ſich
mit ſeinem Namen verbunden hatte, war mir einiger¬
maßen geſchwunden, indem die Erſten und Beſten der
Nation, von denen ich nur Goethe, Wolf und Schleier¬
macher hier nennen will, fortwaͤhrend ſein Verdienſt
hervorhoben und ſeine Schwaͤche entſchuldigten. Ich
beſchloß, ihn zu beſuchen, und zwar gradezu, ohne
Empfehlung oder Anfrage, wie mir das ſchon immer
am beſten eingeſchlagen war. Der Empfang konnte in
der That nicht freundlicher ſein, und wunderbarerweiſe
fand ich mich ohne es zu wiſſen ſchon durch meinen
eignen Namen empfohlen. Das hing ſo zuſammen. Der
ſpaniſche Geſandte in Berlin, General Benito Pardo
de Figueroa, ein Mann von gutem Sinn und vielfachen
Kenntniſſen, hatte die ſeltne Gabe, ſeine dichteriſche
[5] Ader in griechiſche Verſe ausſtroͤmen zu koͤnnen, und
wiewohl weder das Dichteriſche noch das Griechiſche von
erſter Qualitaͤt waren, ſo blieb doch dieſe Verbindung
eines griechiſchen Poeten und eines ſpaniſchen Generals
und Geſandten ein unerhoͤrte Merkwuͤrdigkeit, welche in
der gelehrten wie in der vornehmen Welt kein geringes
Aufſehen machte. Der General nahm mit liebenswuͤr¬
diger Eitelkeit die Bewunderung auf, die ihm auf dieſem
deutſchen Boden zum erſtenmal ſo recht zu Theil wurde,
und ließ ſein Licht beſtens leuchten, ſelbſt in den hoͤch¬
ſten Kreiſen, wo ſeit den Zeiten der Koͤnigin Chriſtina
von Schweden die Galanterie ſchwerlich in dieſer Sprache
ſich hatte vernehmen laſſen. Ein griechiſches Sinngedicht
auf die Schoͤnheit der Koͤnigin Luiſe hatte in den Ber¬
liner Zeitungen geſtanden, und war, aus der geringen
Stellung zwiſchen den gewoͤhnlichen Anzeigen dieſes
grauen Loͤſchpapiers zu dem Glanze des Hofes gehoͤrig
emporgezogen worden. Die Ungluͤcksfaͤlle Preußens
rauſchten uͤber dieſen Eindruck hin, und hatten ihn faſt
verwiſcht, als ein zweites Gedicht hervortrat, auf ſchoͤnem
Papier mit ſaubern Typen gedruckt, eine ſapphiſche Ode
an den ſpaniſchen Dichter Arriaza, gewuͤrzt mit dem
Lobe des Friedensfuͤrſten, den auch jener beſungen hatte.
Wolf bekam das Blatt nach Halle zugeſandt, gab es
mir als eine Merkwuͤrdigkeit zu leſen, mein techniſcher
Trieb hatte gleich eine Ueberſetzung fertig, ſie wurde von
Wolf eingeſiegelt und nach Berlin abgefertigt, wenige
[6] Tage vor meinem Aufbruch dahin. Jetzt fand ich hier
dieſe Ueberſetzung, zugleich mit einer lateiniſchen und
franzoͤſiſchen, einem neuen Abdrucke dieſes griechiſchen
Originals beigefuͤgt, und Muͤller in hoͤchſter Freude be¬
theuerte, ich muͤſſe ohne Saͤumen mit ihm den General
Pardo beſuchen, der uͤber jene Zuſendung aus Halle
ganz entzuͤckt geweſen, der mich mit offenen Armen
empfangen wuͤrde, und der uͤberhaupt ein hoͤchſt liebens¬
wuͤrdiger und vortrefflicher Mann, dazu ſein ganz be¬
ſonderer Freund ſei. Ich verſaͤumte nicht, Muͤller'n
auch alsbald das Anliegen Neumann's zu eroͤffnen, und
fand ihn bereitwillig genug, das Unternehmen zu foͤr¬
dern. Mit Innigkeit nnd Ehrerbietung ſprach er von
Alexander von der Marwitz, den er ſelbſt fruͤher an
Wolf nach Halle empfohlen hatte. Eifrig und dringend
begehrte er von meinen Studien und Abſichten das
Naͤhere zu wiſſen, bot mir alle ſeine Buͤcher an, und
als ich ein Wort von der griechiſchen Anthologie hatte
fallen laſſen, freute er ſich uͤber die Maßen, holte gleich
Brunck's Analekten herbei, ſchlug mehreres auf, fragte
mit Haſt und Unruhe, wie ich denn die vielen bedenk¬
lichen Sachen in meinen Ueberſetzungen zu behandeln
daͤchte, und als ich erwiederte, ich gaͤbe ſie unbefangen
ſo wieder, wie ſie daſtuͤnden, lobte er dieſe Vorurtheils¬
loſigkeit uͤbermaͤßig, und hielt der ganzen Richtung, in
Betreff ihrer Wirkungen auf die Freundſchaft und Bil¬
dung der Juͤnglinge, eine uͤberſchwaͤngliche Lobrede, die
[7] mich in ernſtes Erſtaunen ſetzte. Eines der aͤrgſten
Epigramme, ein Raͤthſel von Straton, las er mit froͤh¬
lichem Wohlbehagen laut vor, und verhehlte gar nicht,
was manche gutwillige Seelen, die auf ihre Beſcheiden¬
glaͤubigkeit wohl gar recht ſtolz ſein wollten, zu ſeinen
Gunſten hartnaͤckig laͤugneten. Ein ſchroffer Ernſt ſcheuchte
alle dieſe Anſpielungen in tiefe Nacht zuruͤck, und dann
erſchien wunderbar ein verſtaͤndiger Sinn, ein heitres
Wohlwollen und ein unendliches Wiſſen, die in freiem,
ungetruͤbtem Geſpraͤche ſich wuͤrdig darlegen mochten,
und in dem Zuhoͤrer die groͤßte Befriedigung, nicht
ſelten ſogar Begeiſterung erweckten. Sein ganzes
Aeußere, die geſchwaͤchten entzuͤndeten Augen, die blaͤ߬
liche feine Haut, die faſt kindiſchen Zuͤge des Mundes,
die unangenehme ſchweizeriſche, mit franzoͤſiſchen Ein¬
ſchiebſeln durchbrochene Sprache, die Unruhe der Glieder
des nicht großen und ziemlich dicken Koͤrpers, alles
dieſes war dann leicht zu vergeſſen, weil ſein Innres
von einem wahren Feuer des Wiſſens und der Geſin¬
nung doch wirklich ergluͤht war, und die Funken davon
mit kraͤftiger Wirkung ausſtroͤmte. Die Verehrung fuͤr
dieſe Geiſteswuͤrde ließ uͤber die bemitleidenswerthen
Unwuͤrdigkeiten, die ſich derſelben angeniſtet, wie uͤber
Ungeziefer hinwegſehen.
Bei dem General Pardo wurde mir die verheißene
Aufnahme. Der Mann ſchwelgte in Liebhaberei zu den
alten Sprachen, zur klaſſiſchen Gelehrſamkeit, taͤglich
[8] hatte er Gelehrte bei ſich zu Tiſch, und zeigte ihnen
ſein Wiſſen, wie er das ihrige begierig annahm. Ließ
von dieſer Seite eine kleine Schwaͤche ſich kaum ver¬
bergen, ſo zeigte er dagegen von andern Seiten wirklich
einen erfahrnen, geſcheidten und wohldenkenden Mann.
Ein laͤngerer Aufenthalt in Mejico hatte ihn mit man¬
nigfachen Anſchauungen erfuͤllt, er ſprach lebhaft und
offen, die Vorurtheile eines Spaniers hatte er meiſt
abgelegt, und die fuͤr ſeine fruͤhen Schulſtudien beibe¬
haltene Neigung war ihm nur guͤnſtig anzurechnen. Ich
war mehrmals bei ihm zu Tiſch, gewoͤhnlich mit Muͤller,
auch mit dem oͤſterreichiſchen Legationsſecretair Grafen
von Bombelles, und dem Prediger Catel, meinen Mit¬
uͤberſetzern, ſpaͤterhin auch mit Wolf. Hier wurde dann
nach Herzensluſt homeriſirt uod pindariſirt, dichteriſche
Vorzuͤge in's Licht geſtellt, Eignes und Fremdes mit¬
getheilt, alles mit groͤßter Freiheit. Mein Franzoͤſiſch
kam mir hier gut zu Statten, weil alles in dieſer Sprache
vorging, aber auch meine ungefaͤhre Kenntniß des Spa¬
niſchen und meine fruͤhere Bekanntſchaft mit dem Grafen
Caſa-Valencia gereichten hier zur Annehmlichkeit. Wurde
zuweilen Politik verhandelt, ſo geſchah auch dies ohne
viel Zuruͤckhaltung, doch durften dann keine Franzoſen
gegenwaͤrtig ſein, in deren Sinne die Spanier eigentlich
ſprechen ſollten, aber keineswegs alle dachten; zwar
Pardo ſelbſt und Urquijo noch ſo ziemlich, aber der
Andaluſier Montalbo, der ſpaͤterhin aus ſeiner diploma¬
[9] tiſchen Anſtellung zu den kriegeriſchen Reihen ſeiner
Landsleute gluͤcklich entkam, verhehlte ſchon damals nicht,
daß er ein Feind der Franzoſen ſei und dem Kaiſer
Napoleon alles Unheil wuͤnſche.
Johann von Muͤller zeigte bei ſolchen Gelegenheiten
eine ſtets belebte und ſtets ſachenreiche Mittheilung.
Ich ſtritt oͤfters mit ihm uͤber die Angelegenheiten des
Tages, und er ſuchte dann ſtets einer mildern Beur¬
theilung der franzoͤſiſchen Sachen Eingang zu verſchaffen,
fuͤr Napoleon aber ſprach er unbedingte Bewunderung
aus. Der Anlaß brachte ihn einesmals dazu, daß er
ſeine bei dem Kaiſer gehabte Audienz ausfuͤhrlich erzaͤhlte,
ungefaͤhr mit denſelben Umſtaͤnden, welche auch in ver¬
ſchiedenen ſpaͤterhin im Druck erſchienenen Briefen an¬
gegeben ſind. Eines Zuges jedoch, erinnere ich mich,
deſſen ich nirgend erwaͤhnt finde, und den ich als einen
hoͤchſt bezeichnungsvollen hier aufbewahren will. Unter
den Gegenſtaͤnden des Geſpraͤchs, erzaͤhlte Muͤller, kam
auch Caͤſar vor, in deſſen Lob Napoleon eifrig einſtimmte;
Muͤller bemerkte dem Kaiſer, es ſei zweifelhaft, welchen
Gebrauch Caͤſar, wenn er nicht durch Meuchelmord um¬
gekommen waͤre, von ſeiner errungenen Obergewalt
zunaͤchſt wuͤrde gemacht haben, einige Andeutungen
gingen darauf, daß er das Innere der Republik neu
anordnen wollen, andre hingegen, daß er die Parther
zu bekriegen im Sinne gehabt; bis dahin habe der Kaiſer
ruhig zugehoͤrt, dann aber ſogleich raſch ausgerufen:
[10]„Il aurait fait la guerre aux Parthes!“ und dieſe
Worte mehrmals heftig wiederholt. Muͤller durfte uns
dieſen Zug, der allerdings die Stimmung und den Geiſt
Napoleon's ſehr bedenklich zu erkennen gab, muͤndlich
wohl anvertrauen, doch liegen auch die Gruͤnde nahe
genug, welche ihn abhalten konnten, dergleichen waͤhrend
des hoͤchſten Schwebens jener Machtverhaͤltniſſe ſchriftlich
in die Ferne mitzutheilen. —
Adolph Muͤller traf nun auch aus Halle ein, wo
er noch im Stillen eilig Doctor der Medizin geworden
war. Dieſer junge Mann, fruͤher oft geiſtig ſchwankend
und geſellig zuruͤckhaltend, entfaltete jetzt die herrlichſten
Schwingen, und erſchien als ein edler, ſtarker, fuͤr das
Leben und die Wiſſenſchaft ausgeruͤſteter, frei und ſicher
umſchauender, entſchloſſen und maßvoll thaͤtiger Arzt
und Menſch, der auf der Stelle Gunſt und Zutrauen
gewann, ja, durch Feinheit und Wuͤrde eines nie feh¬
lenden, und doch ſtets lebhaften und beſeelten Betragens,
Liebe und Bewunderung erweckte. Man konnte von
ihm ſagen, je ſtaͤrker er in die Wirklichkeit des Lebens
einging, am Krankenbette beſchaͤftigt war, Anſtalten
beſuchte, Verhaͤltniſſe anknuͤpfte, deſto reiner und kraͤf¬
tiger lebte er in hoͤherer Sphaͤre, und jener Sommer
war unſtreitig fuͤr ihn eine Zeit ununterbrochenen Gluͤckes,
daß durch die Ausſicht auf eine Reiſe nach Paris, ſo
wie auf den kuͤnftigen Aufenthalt in Bremen, wo ihm
alles die ſchoͤnſten Lebenstage verſprach, noch erhoͤht
[11] wurde. Der Reimer'ſche Kreis war ganz von ihm ein¬
genommen; Marwitz, der vom Lande hereinkam, ſtaunte
den ſchnell Emporgeſtiegenen an, und knuͤpfte innigere
Freundſchaft mit ihm, Theremin, Wilhelm von Schuͤtz,
Bernhardi, wer ihn nur kennen lernte, bewieſen ihm
achtungsvolle Aufmerkſamkeit. Einige Schaͤrfe und
Strenge, die bisweilen aus ſeiner urſpruͤnglich milden,
aber durch Fruͤhling und Gluͤck aufgeregten Gemuͤthsart
hervorbrachen, verletzten wohl tief, aber nicht lange, da
weder Abſicht noch Folge dabei zu ſpuͤren war. Wenig¬
ſtens verzieh ich ihm gern und leicht, wenn er in ſolcher
Art gegen mich bisweilen ſich uͤbernehmen wollte.
Bald kam auch Schleiermacher mit ſeiner Schweſter,
und kurz darauf Wolf an, ſo daß der halliſche Kreis
in Berlin ſich gleichſam neu anbaute. Nur Harſcher
und Bekker fehlten noch, aber auch ſie wollten kommen,
und aus Frankreich erwartete ich Chamiſſo'n. Die fort¬
dauernden Kriegsunfaͤlle und die ſteigende Verarmung
ſtoͤrten den Drang und Sinn geiſtiger Thaͤtigkeit nicht,
ſie belebten ihn vielmehr. Wolf bereitete ſeine Zeitſchrift
der Alterthumswiſſenſchaft in heitrer, mittheilungsfroher
Geſchaͤftigkeit vor; Schleiermacher las einer anſehnlichen
Zuhoͤrerſchaft von Juͤnglingen und Maͤnnern die Ge¬
ſchichte der griechiſchen Philoſophie, ein geiſtreiches Kol¬
legium, noch beſonders merkwuͤrdig, durch den freien,
redneriſchen Vortrag, der ohne Stocken in ſchoͤnem Eben¬
maße gebildeter Sprache klar dahinfloß, ohne daß der
[12] Sprechende ein leitendes Heft, oder auch nur, bei ſo
vielen griechiſchen Stellen, die er woͤrtlich anfuͤhrte, ein
aushelfendes Blatt zur Hand gehabt haͤtte. Auch ver¬
ſaͤumte er nicht die Gelegenheit zu predigen, die ſich
bald in dieſer Kirche bald in jener darbot, und wozu
wir uns gewiſſenhaft immer einfanden, wiewohl uns
die fruͤhere halliſche Sinnigkeit und Klarheit in dem
Redner oftmals zu mangeln ſchien. Eben ſo wenig
verſaͤumte ich die Predigten, welche Theremin damals
franzoͤſiſch hielt, deren glaͤnzende, redneriſche Wirkung
wohl nicht uͤbertroffen werden konnte.
Die naͤchſten Pfingſtferien benutzte ich zu einem Be¬
ſuch bei Fouqué in Nennhauſen, einem bei Rathenau
im Havellande gelegenen Gute ſeines Schwiegervaters,
des Herrn von Brieſt, wohin ich ſchon laͤngſt einge¬
laden war und ſehnlich verlangt hatte. In Geſellſchaft
Bernhardi's, der trotz ſeiner außerordentlichen Dick¬
leibigkeit ſehr gut zu Fuß war, machte ich mich fruͤh¬
morgens auf den Weg, und mit Huͤlfe einer fuͤr die
letzten Meilen genommenen Poſtfuhre kamen wir noch
bei guter Zeit daſelbſt an. Schon unterwegs hatte
Bernhardi, der mehrmals dort geweſen und dem ganzen
Hauſe wohlvertraut war, mich mit den Perſonen und
Verhaͤltniſſen vorlaͤufig bekannt gemacht. Der Beſitzer
von Nennhauſen war Herr von Brieſt, ein vortrefflicher,
in jedem Betracht ehrwuͤrdiger Mann, von großer,
hagerer Geſtalt, milder Freundlichkeit und wohlthuendem
[13] Ernſt. Er hatte noch im ſiebenjaͤhrigen Kriege mitge¬
fochten, dann als Rittmeiſter ſeinen Abſchied genommen
und ſich auf das Land zuruͤckgezogen, wo er in geiſti¬
ger und wirthſchaftlicher Beziehung ein tuͤchtiges und
ertragreiches Leben fuͤhrte. Ein ſchoͤner Park war durch
ihn entſtanden, auslaͤndiſche Baͤume und Geſtraͤuche
hatte er angepflanzt, und jeden Fortſchritt im Landbau
fuͤr ſich und ſeine Dorfleute beſtens zu benutzen geſucht.
Die letztern liebten und ehrten ihn als einen vaͤterlichen
Herrn, bei welchem ſie in allen Faͤllen guten Rathes
und wirkſamer Huͤlfe verſichert waren. „Von dem
Mann, ſagte mir ein alter Bauer, hab' ich noch mein
Lebtag nichts Ungeſchicktes gehoͤrt.“ Der Name von
Brieſt lebte in dieſen Gegenden ſchon von alten Zeiten
her in beſtem Ruhme; ein Landrath dieſes Namens
hatte bei des großen Kurfuͤrſten Ueberfall der Schweden
in Rathenau zu dem Siege weſentlich mitgewirkt, wie
deſſen auch Friedrich der Große in den brandenburgiſchen
Denkwuͤrdigkeiten ehrend erwaͤhnt. Jetzt war derſelbe
Namen auch mit den Vorzuͤgen deutſcher Wiſſenſchaft
verknuͤpft; in Fichte's und Niethammers philoſophiſcher
Zeitſchrift hatte Huͤlſen, der eine Zeit lang in Nenn¬
hauſen bei ſeinem Freunde gelebt, philoſophiſche Briefe
an Brieſt drucken laſſen.
Seine Tochter, Frau von Fouqué, war eine hohe,
glaͤnzende Erſcheinung, die aͤußere Schoͤnheit ordnete
ſich gleichſam als Zugabe dem noch reicheren Glanze
[14] des inneren Lebens bei; ſolche Begabung des Geiſtes
und ſolch' einnehmende Gemuͤthsfuͤlle finden ſich nur
ſelten vereinigt. Auch an litterariſchem Talent war
Frau von Fouqué groͤßer, als die meiſten ihrer Zeitge¬
noſſinnen, die ſpaͤter mit ihr wetteiferten, und ihr erſtes
Erzeugniß dieſer Art, ein Roman „Rodrich“ wird an
kraͤftiger Haltung gewiß von keiner Frauendichtung uͤber¬
troffen. Die Umſtaͤnde, welche ſpaͤterhin dieſes Talent
dennoch hindern konnten, in ſeiner ganzen Macht her¬
vorzutreten, und die Ruhmesgebuͤhr, zu der es berech¬
tigt war, von der Welt einzufordern, werden deshalb
immer zu beklagen ſein!
Liebevoll und befriedigend ſtellte ſich daß Verhaͤltniß
mit Fouqué. Wer ihn bloß in ſpaͤtern Jahren gekannt
hat, wird ihm einen tiefen Grund von Edelſinn und
Gutmuͤthigkeit nicht abſprechen duͤrfen, wenn auch dieſe
ſchoͤnen Eigenſchaften, und ſogar ſeine dichteriſche Gabe,
jetzt von mancher Verbitterung, die ihm das Leben zu¬
gefuͤhrt hat, getruͤbt ſind. In jener Zeit aber war der
lebhafte, beſcheidene, freiſinnige und herzliche, von jedem
beſten Willen beſeelte Mann das Bild der reinſten Liebes¬
wuͤrdigkeit. Er ſah auf eine zum Theil ſchmerzvolle
Vergangenheit ſo ergeben zuruͤck, als haͤtte er nichts
mehr zu hoffen, und hoffte ſo friſch und froͤhlich von
jedem neuen Tage das Beſte, als haͤtte er noch gar
nichts erlebt. Seine Dichtung ſtand auf der Hoͤhe
des genußreichſten Hervorbringens, mit jedem kleinen
[15] Erfolg um ſo leichter befriedigt, als es eigentlich auf
allgemeinen Beifall nicht einmal abgeſehen war. Die
uͤppigſte Fruchtbarkeit und anmuthigſte Leichtigkeit ließen
ihm alles zu Gedichten und Reimen werden, was er
nur beruͤhrte, und dieſe Art von Stegreifdichten, die
ſtete Gegenwart und Fluͤſſigkeit dieſer poetiſchen Regung
und Aeußerung, erhoͤhte fuͤr ſeine naͤhern Freunde, die
das Hervorbringen mit anſahen, den Reiz und die
Waͤrme ſeiner Dichtergebilde, welche, fuͤr ſich allein
und von ihrem Entſtehen getrennt betrachtet, allerdings
etwas zu ſtark in die gruͤnen Blaͤtter geſchoſſen duͤnk¬
ten. Mich aber bezauberte dieſer reiche Wachsthum,
der ſich gleichſam unter meinen Augen entfaltete und
mehrte, denn Fouqué hatte nicht nur ganze Schubladen
mit ſchon abgeſchloſſenen Handſchriften gefuͤllt, ſondern
in der kurzen Zeit unſrer Anweſenheit ſahen wir den
Vorrath um große und kleine Stuͤcke bereichert, jeder
Tag und jede Stunde, beſonders aber regelmaͤßig der
fruͤhere Nachmittag, fand Fouqué zum Schreiben auf¬
gelegt, und dann ſchrieb er ſeine Sachen, Lyriſches und
Dramatiſches, und gleicherweiſe epiſche Proſa, faſt ohne
auszuſtreichen, ununterbrochen hin, ſo ſchnell die Feder
laufen mochte. Viele Stunden wurden mit Vorleſen
verbracht, andere mit Erzaͤhlungen, ein guter Theil des
Tages aber mit Spazierengehen in dem herrlichen Park,
welchen der alte Brieſt noch taͤglich mit Liebe pflegte,
ein Wald ſchloß ſich an, [ein] dunkelblauer See breitete
[16] ſich aus, die geringen Anhoͤhen waren wohlbenutzt, und
ſo gab Nennhauſen ordentlich den Eindruck einer ſchoͤnen
Gegend. Wir machten auch einigen Beſuch in der Nach¬
barſchaft, andrer fand ſich von daher ein. Die Abende
verbrachte man geſellig bei Thee und Abendeſſen, zwiſchen
welche fuͤr den alten Brieſt wohl eine Schachpartie ſich
eindraͤngte, zuweilen auch ergoͤtzte man ſich mit Piſtolen¬
ſchießen oder Kegeln, letzteres vorzuͤglich einem alten
verkruͤppelten Offiziere aus dem ſiebenjaͤhrigen Kriege,
Herrn von Laßberg, zu Liebe, der bei ſeinem Freunde
fuͤr den Reſt ſeiner Lebenstage großmuͤthige Aufnahme
gefunden hatte, und an jenem Spiel beſonders Ver¬
gnuͤgen fand.
Das Ungluͤck Preußens und die geringen Hoffnun¬
gen, die man von dem damals noch fortdauernden
Kriege haben konnte, wurden reichlich durchgeſprochen,
wie im Gegenſatz auch die glaͤnzenden Zuſtaͤnde und
Erſcheinungen des preußiſchen Militairlebens vor dem
ungeheuern Fall. Man faßte den eingetretenen Wech¬
ſel nicht, man ſah die Folgen rieſengroß vor ſich, und
konnte nicht an ſie glauben, man wußte in den Weiten
der Welt kein Rettungsmittel mehr, denn auch an den
Ruſſen verzweifelte man ſchon, und auf die Oeſterreicher
wollte man nicht rechnen; aber dennoch meinte man,
es koͤnne und muͤſſe Alles wieder umgewendet werden,
und zwar jetzt und ganz, dieſe Aufgabe druͤckte ſich der
Empfindung mit tauſend Stacheln unaufhoͤrlich ein.
[17]
Ein andrer Gegenſtand, der uns viel und ernſthaft
beſchaͤftigte, war Bernhardi's Angelegenheit. Der be¬
deutende Kreis, in welchem er ſeine ſchoͤnſten Jahre
gelebt, hatte ſich allmaͤhlig aufgeloͤſt, Friedrich Schlegel
war nach Paris gezogen, Wilhelm Schlegel lebte bei
Frau von Stael in der Schweiz, Ludwig Tieck in Muͤn¬
chen, aber ſchlimmer, als aͤußere Trennung hatte Zwie¬
ſpalt hier die ſcheinbar ſo tiefen Bande der Vereinigung
zerſtoͤrt. —
Kaum waren wir von Nennhauſen in Berlin zuruͤck,
ſo ergab ſich daſelbſt fuͤr uns die Gelegenheit eines
ſchoͤnen Feſtes. Wolf konnte nicht in Berlin ſein, ohne
daß ſeine ehemaligen Zuhoͤrer aus allen Kreiſen der
Hauptſtadt ihn eifrig begruͤßten, und die eigentlichen
Philologen ſich fortwaͤhrend um ihn ſammelten. Die
verſchiedenen Generationen ſeiner Schuͤler lagen zum
Theil weit auseinander, Heindorf und Ideler zum Bei¬
ſpiel ſtanden gegen uns Juͤngſte ſelbſt wieder als Leh¬
rer da. Unſre gemeinſame Huldigung ihm aber in dieſer
Mannigfaltigkeit vereinigt darzubringen, [verabredeten] wir
ein Mittagsmahl im Thiergarten; Wolf wurde hinge¬
fuͤhrt, wie zu einem gelegentlichen Mittageſſen von vier
oder fuͤnf Perſonen, und der treffliche Mann war ſo
uͤberraſcht als geruͤhrt, eine ſo ſtattliche Verſammlung
von mehr als dreißig Gaͤſten zu finden, worunter nur
zwei oder drei, wie z. B. Buttmann, nicht ſeine halli¬
ſchen Schuͤler waren. Eine geiſtreiche Munterkeit, fern
III. 2[18] von jeder Pedanterei, durchſtroͤmte die ganze Geſellſchaft,
Wolf's heitrer Genius beherrſchte die Gemuͤther, man
fuͤhlte ſich von dem Hauche der gebildeten Vorwelt
uͤberall angeweht. Ich aber hatte im Stillen noch eine
andre Ueberraſchung vorbereitet, zog nun Heindorf und
Buttmann in's Vertrauen, und waͤhrend unter ſaͤmmt¬
liche Gaͤſte die Abdruͤcke eines Gedichts ausgetheilt
wurden, forderten jene mich auf, daſſelbe vorzutragen.
Gleich das Motto aus Goethe: „Erſt die Geſundheit des
Mannes, der, endlich vom Namen Homeros kuͤhn und
befreiend, uns auch ruft in die vollere Bahn,“ wurde
mit ſtuͤrmiſchem Beifall und Klange der Glaͤſer aufge¬
nommen, dann las ich mit tiefer Bewegung und freu¬
diger Kraft in die horchende Stille einen Dithyrambus
in Galliamben, wie ſchon ehemals Voß einen an Wolf
gedichtet hatte, wozu ich nun in Deutſchland das erſte
Seitenſtuͤck lieferte. Nur ein ſo ſchwieriges Metrum,
einſt von Wolf ſelber als faſt unnachahmbar Voſſ'en
zur Aufgabe geſtellt, konnte dieſer Gelegenheit wuͤrdig
entſprechen, ſein Schritt und Tanz trugen im Schwunge
den nicht allzu klaren und feſten Inhalt ſiegreich dahin,
und erregte die ſchon guͤnſtigen Hoͤrer zu ausbrechen¬
dem Jubelruf. Ich war als Verfaſſer nicht genannt,
aber Niemand hatte daruͤber Zweifel, und Wolf richtete
an mich, nachdem auf ſein Wohlſein nochmals mit
Begeiſterung getrunken worden, zum Danke zwei vor¬
treffliche Galliamben, die er aus dem Stegreif herſagte,
[19] auch hierin alſo unter ſeinen Juͤngern ſich als uͤber¬
ragender Meiſter behauptend, denn Galliamben aus
dem Stegreife, wem außer ihm haͤtte das nur einfallen
duͤrfen! Leider kann ich in meinen Papieren dieſe beiden
Verſe nirgends auffinden, und in meinem Gedaͤchtniß
nicht vollſtaͤndig. Die herrlichſte Stimmung dauerte
nun fort, viel heiteres und wichtiges Philologiſche kam
zur Sprache, man beredete feſter die Herausgabe des
Muſeums der Altertumswiſſenſchaft, und ich weiß
kaum ein zweites Feſt, das durchgaͤngig in ſo ſchoͤnem
Ausdruck geiſtiger Erregung verblieben waͤre.
Wenn nicht irgend eine ſchaffende Richtung ſich
damit verbindet, ſo laſſen Fleiß und Eifer in den Studien
nicht viel Beſonderes von ſich ſagen, das bloße Erler¬
nen ſtellt ſich nur als einfoͤrmige Wiederholung dar.
Letzteres war jetzt mein Fall; mir ging eigentlich nirgends
ein neues Licht auf, ich ſuchte mir in bekannten Fel¬
dern nur immer groͤßeres Material anzueignen, ich ver¬
ſaͤumte die Kollegia ſelten, und eilte ihnen in meinen
Vorbereitungen oft nur allzu weit voraus, was freilich
nur um ſo leichter zur Folge hatte, daß ſie gegen den
Schluß mir unertraͤglich wurden, und ich ſie meiſt eine
Zeit vorher ſchon aufgab. Die vielen Verhaͤltniſſe und
Zwiſchenſpiele ſtoͤrten mich in meinen Arbeiten zuweilen,
dieſe bekamen aber auch neue Friſche und Staͤrke durch
die Anregungen, von denen ich ergriffen, aber nicht
erfuͤllt wurde. Im Gegentheil, mit jedem Tage mehrte
2*[20] ſich mir die Menge der Lebensverhaͤltniſſe und der Be¬
ſchaͤftigungen. Ich hatte den Oberbibliothekar Bieſter
kennen lernen, und dabei von Litteratur und Gelehrten
mit ihm ſo frank und frei geſprochen, als wuͤßte ich
gar nicht, daß er einer beſondern und ſehr beſtimmten
Parthei in dieſem Reiche angehoͤre, und uns junge
Poeten in ſeiner Berliner Monatsſchrift bitter recenſirt
habe; daß ich die Schlegel ruͤhmte, Ficht'n bewunderte,
Schleiermacher'n prieß, ließ ihn arge Geſichter ſchnei¬
den, wenn ich dagegen Wolf hoch verehrte, erheiterten
ſich ſeine Zuͤge wieder, und er ſchmunzelte von Wohl¬
gefallen, als ich uͤber Zacharias Werner mich luſtig
machte; er ſchien zu glauben, in der neuen Schule gaͤbe
es gar keine Unterſchiede, wer ihr angehoͤre, muͤſſe es
mit Haut und Haar, und jedes dumme Goͤtzenbild gut
heißen, das irgendwo in der aͤußern Uebereinſtimmung
mit dieſer Kirche vortrete; er ſchuͤttelte den Kopf, ſprach
aber nicht ungern mit mir, und brachte mich auch in
die Saͤle der Bibliothek. Ich verfiel unter andern auf
die deutſche Litteratur aus den Zeiten des dreißigjaͤhri¬
gen Krieges, und las mich bald mit großer Vorliebe
hinein. Die Harsdoͤrfer'ſchen Schriften eroͤffneten einen
Wuſt halb verarbeiteten poetiſchen Stoffes, Paul Flem¬
ming, den ich ſchon fruͤher theilweiſe gekannt, wurde
fuͤr immer eines meiner Lieblingsbuͤcher, unerſchoͤpfliche
Luſt und Nahrung aber gaben mir die Geſichte des
Philanders von Sittewald, oder Moſcheroſch wie der
[21] Autor eigentlich hieß, und daneben der bedeutende
Roman vom abentheuerlichen Simpliciſſimus nebſt ſei¬
nen zahlreichen Anhangſchriften in aͤhnlichem Sinn oder
von demſelben Verfaſſer, der noch jetzt ſeinem wahren
Namen nach nicht bekannt iſt, denn daß Samuel Grei¬
fenſon von Hirſchfeld nicht der wahre Name, ſondern
nur wieder ein erdichteter ſey, war mir ſogleich un¬
zweifelhaft. Die ſchreckliche Verwilderung in den deut¬
ſchen Zuſtaͤnden jener Zeit hielt den Zeiten, die wir
ſelbſt erlebten, einen noch troͤſtlichen Spiegel vor. Die
Lebhaftigkeit und voͤllig ungehinderte Derbheit der Dar¬
ſtellung that einer Stimmung wohl, die auch aus argen
Wirklichkeiten hervorgetrieben war, und Sprache und
Schreibart des Buches reizten ein ſtarkes philologiſches
Intereſſe auf. Feiner, hoͤher, und auch etwas alter¬
thuͤmlicher, ſprach und ſchilderte Philander; die großen
Vorzuͤge dieſes Proſaiſten ruhten auf gelehrtem Ertrag
und friſchem Leben zugleich. Ueber den Simpliciſſimus
gedacht' ich eine litterariſche Unterſuchung auszuarbeiten;
ſie unterblieb wie ſo vieles andre, was im Augenblick
verſaͤumt wird, und wozu ſpaͤter die Gelegenheit ſich
nicht wieder findet. Aber ich hatte die Freunde und
Bekannte ſo viel und oft von den Eigenheiten und
Ergoͤtzlichkeiten dieſer Autoren unterhalten, ſie mit ſo
haͤufigen Anfuͤhrungen und Redensarten von dort ge¬
quaͤlt, daß endlich beſchloſſen wurde, man wolle ein¬
fuͤr allemal ſehen, was an der Sache ſei. Es wurde
[22] ein Abend bei'm Italiaͤner feſtgeſetzt, Schleiermacher,
Reimer, Bernhardi, Adolph Muͤller, auch Marwitz und
Schuͤtz, wenn ich nicht irre, und noch einige Andere
kamen bei Thiermann zuſammen, ich gab einige Worte
zur Einleitung, und las dann im Simpliciſſimus von
Anfang ein tuͤchtiges Stuͤck, und darauf aus der Mitte
ſprungweiſe die wuͤrdigſten Kapitel, mit einer Wirkung
und einem Beifall, die ich mir nicht vorgeſtellt hatte,
oft mußt' ich inne halten, um den Jubel und das Ge¬
laͤchter verbrauſen zu laſſen, man that ſich in Floren¬
tiniſchen Weinen guͤtlich, aber noch mehr in Erſchuͤtte¬
rung des Zwerchfells, und beſonders an Schleiermacher
konnte man recht anſchaulich wahrnehmen, was der
deutſche Ausdruck: „Eine Lache aufſchlagen“ eigentlich
bedeuten wolle. Mit gleicher Froͤhlichkeit wurde auch
dem Doppelroman ein ſolcher Abend gewidmet, und
wenn manche Hoͤrer, unter welchen nothwendig auch
Schleiermacher ſein mußte, zu mehrern perſoͤnlichen An¬
ſpielungen eben nicht einſtimmen wollten, ſo wurden
ſie doch unwiderſtehlich in den ironiſchen Humor fort¬
geriſſen, welchen das Ganze gebot, und der vollſte,
lauteſte Jubel wurde ſelbſt den Stuͤcken, die man mi߬
billigte, zu Theil.
Ich hatte waͤhrend des Sommers eine raſche Reiſe
nach Hamburg machen wollen; aber es waren dort
einige Umſtaͤnde grade zu dieſer Zeit nicht guͤnſtig, und
der Beſuch wurde auf den Herbſt hinaus verlegt, da¬
[23] gegen erhielt ich eine freundſchaftliche [Aufforderung], in
der Naͤhe auf dem Lande ein paar Erholungstage im
heißen Sommer zuzubringen. Marwitz waltete in
Friedersdorf, dem bedeutenden Rittergute ſeines Bru¬
ders, der ſelber fern in Preußen dem ſchon verzweifel¬
ten Kriege noch mit brennendem Eifer beiwohnte. Un¬
geachtet der Laſten und Leiden vom Feinde, unter wel¬
chen das ganze Land ſeufzte, war das herrſchaftliche
Leben auf dem Gute noch reichlich genug ausgeſtattet,
und Marwitz entbot ſeine Freunde in die gaſtliche Ein¬
ſamkeit. Schleiermacher befand ſich ſchon ſeit mehreren
Tagen dort, und zwiſchen Arbeit und laͤndlichem Ver¬
gnuͤgen ſehr behaglich. Nun machten auch Reimer,
Adolph Muͤller und ich uns auf, um ebenfalls einige
Tage dort zu bleiben, und dann mit Schleiermacher
zuruͤckzukehren. Den groͤßern Theil des Weges, ſo weit
wir der Straße nach Frankfurt an der Oder folgten,
fuhren wir, den uͤbrigen Theil, linksab uͤber Landwege
hin, legten wir zu Fuß zuruͤck, und erreichten durch
unerfreuliche Gegend und gewaltige Tageshitze noch
fruͤh genug, um durch ein nachtraͤgliches Mittagsmahl
uns laben zu koͤnnen, den ſtattlichen Edelhof, der
indeß weniger durch ſeine Gebaͤude, Gaͤrten und Luſt¬
anlagen ſogleich in die Augen fiel, als durch ſeine um¬
liegenden, bis in den Oderbruch hinab ſich erſtreckenden
und vortrefflich bewirthſchafteten Laͤndereien ſeinen gruͤnd¬
lichen Werth nach und nach zu erkennen gab. Marwitz
[24] bemuͤhte ſich, nach beſten Kraͤften den Wirth zu machen,
wir lernten ſeine ganze Liebenswuͤrdigkeit kennen, die
Huͤlfsmittel der Gegend, welche wirklich gegen den Oder¬
bruch hin einigen Reiz gewann, das Bemerkenswerthe
aus der in Bildern und Denkmalen vergegenwaͤrtigten
Geſchichte des Hauſes, die beſtehenden grundherrlichen
und landwirthſchaftlichen Verhaͤltniſſe, alles wurde be¬
trachtet, beſprochen; was an Buͤchern und Kunſtſachen
vorraͤthig war, daneben was Kuͤche und Keller ver¬
mochten, mit Froͤhlichkeit genoſſen. Nur hatten die
erſten Stunden des Zuſammenſeins leider eine harte,
ſchwere Verſtimmung dazwiſchen zu verarbeiten. Wir
brachten naͤmlich die Berliner Zeitung und mit ihr die
erſte zuverlaͤſſige Nachricht von den Bedingungen des
am 9. Juli zu Tilſit geſchloſſenen Friedens mit. Wir
hatten ſchon in Berlin die Sache genug verhandelt,
unſern Schmerz und unſre Wuth zur traurigen Faſſung
hinabgeredet. Nun fanden wir mit unſrer troſtloſen
Gewißheit uns noch muthigen Hoffnungen, geſpannten
Erwartungen gegenuͤber. Marwitz und Schleiermacher
waren in Niedergeſchlagenheit ganz betaͤubt, als ſie dieſe
ſchmachvollen Bedingungen der Reihe nach vernahmen,
ſie hatten keine Gunſt des Siegers gehofft, ſondern
großen Verluſt erwartet, aber auf die Herabſetzung
Preußens, auf ſo ungeheure Abtretungen und Verpflich¬
tungen, in welche man willigen gemußt, auf ſolches
Benehmen, wie Feind und Freund jetzt zeigte, waren
[25] ſie nicht gefaßt. Alle Plane und Ausſichten, die man
fuͤr den ſchlimmſten Fall im Sinne gehabt, waren zer¬
ruͤttet, man ſah keinen Boden mehr, denn ſelbſt das
unbeſtimmte Verbleiben der Franzoſen auch in den¬
jenigen Laͤndern, welche Preußen wiedererhalten ſollte,
war ſchon ausgemacht, und dem klaͤglichſten Zuſtande
kein Ende abzuſehen. Der Eindruck war bis zur Be¬
ſchaͤmung abſchwaͤchend, und draͤngte ſich zwiſchen allem
Zerſtreuenden immer wieder vor, fuͤr uns Ankoͤmmlinge
noch beſonders peinlich, die wir uns das Mitgebrachte
ſchon im voraus uͤbel genug hatten ſchmecken laſſen!
Geiſteskraft und Jugendmuth ſetzten ſich aber doch bald
wieder ſo weit in's Freie, daß ſinnvolle, forſchende Ge¬
ſpraͤche mit den gewoͤhnlichen Tagesdarbietungen ab¬
wechſeln, und auch Scherzreden ſich wieder einfinden
konnten. Laue Abende der koͤſtlichſten Art wurden bei
Sterngeflimmer im tiefen Schattendunkel hoher Baͤume
weit uͤber die Mitternacht hinaus verlaͤngert, und nie¬
mand mochte an Schlafengehen denken, waͤhrend die
reinſte Luft die Bruſt erfriſchte, und die edelſten Ge¬
danken uͤber Natur, Welt, Geſchichte, Wiſſenſchaft und
Poeſie ausgeſprochen wurden; denn Marwitz hatte den
Willen und die Kraft, immer das Hoͤchſte und Groͤßte
zur Sprache zu bringen, und auch Schleiermacher's oft
hartnaͤckige Schweigſamkeit in ſchoͤnen Redefluß aufzu¬
thauen. Manche Stunde, des fruͤhern Nachmittags
etwa, im Garten oder Saal, wurde auch dem Vorleſen
[26] gewidmet. Gluͤckliche Ueberſetzungen aus griechiſchen
Schriftſtellern hatte Marwitz verſucht, eigne Abhand¬
lungen philoſophiſch-geſchichtlicher Art verfaßt, dann
kamen Sachen von Goethe an die Reihe, der Aufſatz
unter andern von den Gemaͤhlden Polygnot's zu Delphi,
deſſen Inhalt mit Begeiſterung gehegt und verarbeitet
wurde; der neuſte Zuwachs des Doppelromans, der
mitgenommen worden war, um nach Zeit und Stim¬
mung ihm vielleicht ein Kapitel zuzulegen, gab auch
ſeinen Theil zur Unterhaltung. So vergingen mehrere
Tage in einem wahrhaft erhoͤhten und befriedigten Da¬
ſein, dem zuletzt auch das politiſche Ungethuͤm des heil¬
loſen Tilſiter Vertrags nicht viel mehr anhaben konnte.
Wenn etwas im Innern dieſes kleinen Kreiſes haͤtte
ſtoͤren koͤnnen, ſo waͤre es nur eine gewiſſe unangenehme
Reizbarkeit Schleiermacher's geweſen, die er beſonders
gegen mich zu haben begann, und von der einige ſchnoͤde
Ausbruͤche mir damals zuerſt auffielen. Er hatte zwar
ſchon laͤngere Zeit vieles gegen mich, es ſchien ihn
manches zu verdrießen, ſowohl in meinem guten als
auch in meinem ſchlechten Vernehmen mit ſeinen naͤhern
Freunden, allein er bezeigte mir es nicht. Jetzt aber
ließ er ſich in einzelnen Augenblicken unwillkuͤrlich gehen,
und ſuchte mich bisweilen mit meinen Behauptungen
ſo recht eigentlich abzukappen, in manchen Faͤllen gewiß
ganz unverdient, ſo daß wir ihn deßhalb mit Verwun¬
derung anſahen. Ich glaube faſt, daß ihm auch meine
[27] politiſche Geſinnung nicht genuͤgt, und manche meiner
uͤbermuͤthigen Aeußerungen ihm, jedoch mit groͤßtem
Unrecht, den Verdacht gegeben habe, ich koͤnne auch
allenfalls zu den Franzoſen mich bequemen, und es iſt
moͤglich, daß ich uͤber ſeine Niedergeſchlagenheit, obgleich
mein Schmerz gewiß nicht geringer war, als der ſeine,
mich zu raſch und uͤberlegen hinweggeſetzt habe. Seine
ſcharfen Ausfaͤlle, die indeß nur einzeln blieben und ſein
uͤbriges Benehmen gegen mich nicht aͤnderten, hatten
darum keine wirkliche Stoͤrung zur Folge, weil ich ſie
meiſt nur abgleiten ließ, und mehr ihre Wunderlichkeit
zu begreifen ſuchte, als ihre Spitzen zuruͤckwerfen wollte.
Welcherlei Geringfuͤgigkeiten aber Schleiermacher aufgriff,
um ſeiner bittern Laune gegen mich Luft zu machen,
kann folgendes Beiſpiel zeigen, das mir beſonders er¬
innerlich geblieben iſt. Mir war im gewoͤhnlichen Ge¬
ſpraͤch, ganz harmlos und fluͤchtig, als von maroden
Soldaten die Rede war, die Bemerkung entſchluͤpft,
dieſer Ausdruck werde im Simpliciſſimus ganz eigen
abgeleitet, naͤmlich von einem Kaiſerlichen Regimente
Merode, deſſen Leute wenig vor dem Feinde, aber ſo
haͤufig auf allen Landſtraßen und in allen Quartieren
ruͤckwaͤrts zu finden waren, daß, wo man einen ſolchen
Nachzuͤgler antraf, man ſchon im voraus wußte, der
ſei von Merode, und man daher die ganze Gattung
nur Merodebruͤder genannt habe; dieſe Bemerkung ſchal¬
tete ſich zwangslos ein, man konnte ihr den Platz goͤnnen,
[28] man konnte ſie auch fallen laſſen, es war ganz gleich¬
giltig. Mit hitzigem Eifer aber fuhr Schleiermacher
dagegen los, widerſprach der Zulaͤſſigkeit dieſer Etymo¬
logie, und tadelte mich hart, wie ich nur ſo aberwitziges
Zeug aufſtellen koͤnne, da ſei ich einmal wieder ohne
Sinn und Ordnung verfahren, kurz, ich wurde gleich¬
ſam in ein gewaltiges Vergehen geſtellt, wodurch zu¬
gleich ein Zuſammenhang mit fruͤhern Suͤnden angedeu¬
tet, und mir eine tiefe Zerknirſchung aufgebuͤrdet wer¬
den ſollte. Ich hatte jene Ableitung indeß gar nicht
behauptet, ſondern nur erzaͤhlt, aber ſelbſt wenn ich ſie
heftig und mit Eigenſinn verfochten haͤtte, wuͤrde ich
mich darum noch nicht als ein ſtrafbarer Beleidiger des
Sinnes und der Ordnung gefuͤhlt haben, der auf den
rechten Weg muͤſſe zuruͤckgeſcholten werden! Ich ſah
vielmehr in dieſer auffahrenden Hitze einen Mangel ſitt¬
lichen Maßes, und die Andern ſchienen Aehnliches zu
empfinden; nachdem ich Schleiermacher'n beſcheiden, doch
trocken genug erwiedert, er ſolle das nicht mit mir,
ſondern mit dem Simpliciſſimus ſelber abmachen, ſetzte
ſich das Geſpraͤch uͤber die Geſchichten und Schnurren
jenes Romans munter fort. Keine Spur von Ver¬
ſtimmung haftete, und auch Schleiermacher befand ſich
leicht wieder im freundlichſten Geleiſe. Indem ich dieſes
niederſchreibe, faͤllt mir noch ein andres Geſchichtchen
dieſer Art ein, das ich erzaͤhlen muß. Aus dem Leſen
altdeutſcher Buͤcher waren mir manche alterthuͤmliche
[29] Ausdruͤcke und Formen gelaͤufig, und ich brachte ſie
zuweilen anſtatt der gewoͤhnlichern, im Geſpraͤch mit
an. So ſagte ich ohne Umlaut, nicht nur „es kommt,“
was auch bei Andern ſchon haͤufiger gehoͤrt wird, als
„es koͤmmt,“ ſondern auch eben ſo gern „fallt, fahrt,
ſchlagt, tragt,“ wo freilich jetzt Gebrauch und Regel
„faͤllt, faͤhrt,“ u. ſ. w. verlangen. Hieruͤber ſchalt mich
Schleiermacher mit beißenden Worten, ganz unverhaͤlt¬
nißmaͤßig, und um mich recht zu beſchaͤmen, meinte er:
die Juden ſpraͤchen ſo, und es haͤtten ſchon Leute wegen
meines Mitmachens dieſer kauderwelſchen Art ihn ge¬
fragt, ob ich denn ein Jude ſei? Dieſer Verdacht
aber, der mich ganz niederdonnern ſollte, war mir nur
zum Vergnuͤgen, ich lachte herzlich daruͤber, und ſagte,
das ſei ſo was boͤſes nicht, und wir beide haͤtten ja
gemeinſame Freunde und Freundinnen, von denen wir,
weil der Poͤbel ſie ſo ſchimpfen koͤnne, nicht geringer
daͤchten. Diesmal war Schleiermacher der Abgefertigte.
Der Sprachſtreit uͤber jene Form aber dauerte noch
ſpaͤthin fort, und gab in unſrem Kreiſe noch mehrmals
zu Eroͤrterungen und Neckereien Anlaß, die mich indeß
nicht irre machten. Lange nachher, beim Wiederſehen
nach einer Abweſenheit, in welcher ſich viel an mir ge¬
aͤndert hatte, fragte mich Chamiſſo mit Luſtigkeit:
„Sagſt Du noch, es fallt?“ — Wie's faͤllt! erwie¬
derte ich.
[30]
Als wir Gaͤſte endlich wieder abziehen wollten, mußte
ich dennoch einen tief verſtimmenden Eindruck hinnehmen,
den ich aber in mir verſchloß. Wir hatten zum be¬
ſtimmten Tag einen Wagen aus Berlin nach Muͤnche¬
berg beſtellt, bis dahin wollten wir zu Fuß wandern.
Dies aber gab Marwitz nicht zu, ſondern noͤthigte
uns, fuͤr dieſen Theil des Weges ſein Fuhrwerk anzu¬
nehmen. Worin aber beſtand dieſes? Den Wagen
freilich gab er ſelbſt, den Vorſpann aber mußten die
Bauern liefern, vier Pferde wurden eben ſo viel Land¬
leuten in der Zeit der dringendſten Feldarbeit zur Frohn¬
fuhre fuͤr die Herrſchaft abgefordert, und als einige
Beſchwerde daruͤber und ſogar eine halbdreiſte Erkundi¬
gung, wie ſo dieſe offenbar nicht landwirthſchaftliche
Leiſtung jetzt von ihnen gefordert werde, unter den
Bauern laut wurde, bedeutete man ihnen gebieteriſch,
ſie ſollten „zur Tanzfuhre“ anſpannen, denn allerdings
waren ſie durch ein altes Herkommen verbunden, wenn
die Herrſchaft zum Tanz fahre, ſie mit vier Pferden
hin und zuruͤck zu ſchaffen. Die herrſchaftliche Berech¬
tigung war ſchon druͤckend genug, in dieſem Fall aber
noch mehr die Anwendung, denn die armen Leute hatten
doch klar vor Augen, daß nicht die Herrſchaft, und eben
ſo wenig zum Tanze, gefahren wurde! So kamen wir
alſo mit der Tanzfuhre, uͤber die noch genug geſcherzt
wurde, nach Muͤncheberg, wo wir die guten Leute, die
mit ihren Pferden einen ganzen Arbeitstag verſaͤumt
[31] und dabei moͤglichſt knapp vom Mitgenommenen gezehrt
hatten, durch reichliches Trinkgeld einigermaßen ſchadlos
hielten. —
Berlin empfand von dem Frieden nichts. Eine theil¬
weiſe Fenſterbeleuchtung in mehreren Straßen der Stadt
gab mir ein ſchlechtes Bild duͤrftiger Freude, wo in der
That mehr Urſache zum tiefſten Schmerze vorhanden
war. Einige preußiſche Offiziere hatten ſich die Be¬
friedigung nicht verſagt, ihre bis dahin geaͤchtete Uniform
wieder anzulegen, allein ſchnell belehrte ein ſtrenges
Verbot des franzoͤſiſchen Kommandanten die Voreiligen,
daß hier noch niemand ſich unterſtehen duͤrfe, wieder
ein Preuße zu ſein. Franzoͤſiſche Verwaltung, franzoͤ¬
ſiſche Beſatzung, die letztere noch die wenigſt feindliche,
ſetzten ihr Weſen fort, als habe der Krieg noch nicht auf¬
gehoͤrt, ſie richteten ſich auf laͤngere Zeit nur noch be¬
quemer und druͤckender ein, und verhehlten es nicht,
daß ſie nun erſt recht alle Huͤlfsmittel des Landes noch
erſchoͤpfen wollten. Vorſtellungen der ſtaͤdtiſchen Be¬
hoͤrde, der ſtaͤndiſchen Koͤrperſchaften, der Gemeinden,
nichts fruchtete, die Laſten ſtiegen in's Ungeheure. In
dieſer Zeit des Jammers fuͤhlte man ſich gewaltſam auf
das geiſtige Leben hingeworfen, man vereinte und er¬
goͤtzte ſich in Ideen und Empfindungen, welche das
Gegentheil dieſer Wirklichkeit ſein wollten. Nicht wenig
verſtaͤrkt wurde dieſer Sinn durch das Wiedererſcheinen
Fichte's, der von Koͤnigsberg uͤber Kopenhagen nach
[32] Berlin unerwartet gegen Ende des Auguſt zuruͤckkam.
Er hatte geglaubt, nach dem ausgeſprochenen Frieden
nicht laͤnger ſchicklich bei der Koͤnigsberger Univerſitaͤt
als Gaſt verweilen zu duͤrfen, und ſeinen weitern Be¬
ruf jetzt auf der alten Staͤtte abwarten zu muͤſſen. Eine
oͤffentliche Thaͤtigkeit freilich war fuͤr den Augenblick
nicht abzuſehen, auch ſchloß er ſich ganz in die Abge¬
ſchiedenheit einer mitten im George'ſchen Garten an¬
muthig gelegenen Wohnung ein, nur bewaͤhrten Freun¬
den zugaͤnglich. Außerordentlich freuten wir uns ſeiner
hellen, kraͤftigen Gegenwart, ſeiner unerſchuͤtterlichen
Denkart und ſeiner feſten Zuverſicht. Bernhardi, Wil¬
helm von Schuͤtz und ich hielten uns treulich zu ihm.
Fichte hatte viel von dem Koͤnigsberger Aufenthalt zu
erzaͤhlen, unſre Anſichten und Urtheile uͤber Ereigniſſe
und Perſonen empfingen neues Licht. Unter andern
brachte er die Zeitſchrift Veſta mit, welche von ihm
ſelbſt anziehende Aufſaͤtze uͤber den Machiavelli enthielt,
und uns in den Herausgebern von Schroͤtter und von
Schenkendorf zwei eifrige Kaͤmpfer kennen lehrte, von
welchen die deutſche Sache ſich noch manches verſprechen
durfte. Auch die Anfaͤnge des nachher ſo beruͤhmten
Tugendbundes oder ſittlich-wiſſenſchaftlichen Vereins,
wie er eigentlich hieß, lagen hier ſchon verknuͤpft, wur¬
den aber in vorſichtiger Heimlichkeit nur dunkel ange¬
deutet. Lebhafter und tagfreudiger ſtrahlte uns ein
Gedicht an, das Fichte gleichfalls mitgebracht hatte, und
[33] mit ſeinem gewaltigen Nachdruck bedeutend vorlas. Es
war eine dem ruſſiſchen Kaiſer bei ſeinem Einzuge in
Koͤnigsberg gedruckt uͤberreichte Ode, worin der Geiſt
Friedrichs des Großen die troͤſtlichſten Verheißungen in
den ſtaͤrkſten Bildern ausſprach. Wenn wir Strophen
hoͤrten, wie dieſe:
ſo fuͤhlten wir die zwiefachen Schauer der poetiſchen
Macht und politiſchen Kuͤhnheit, und ſahen die Poeſie,
gleich einem Krieger zum Tode geruͤſtet, die wirklichſten
und unmittelbar naͤchſten Gefahren muthig durchwandern.
Denn der ungluͤckliche Palm war um nicht Groͤßeres
erſchoſſen worden, und Napoleon's Haß und Grimm
ſah in dem Feinde niemals einen Edeln, mit dem ein
glimpflicheres Verfahren geboten ſein koͤnnte, ſondern
ſtets nur den gemeinen Gegner, deſſen man ſich raſch
und kurz entledigt. Wir fragten begierig nach dem
Verfaſſer und hoͤrten, als ſolcher bekenne ſich ohne Hehl
der Geheime Ober-Finanzrath Staͤgemann in Koͤnigs¬
berg, bisher nur als Dichter in Scherz- und Liebesge¬
ſaͤngen bekannt, jetzt aber in hoͤherem Schwunge ſein
gluͤckliches Talent dem Vaterlande weihend, ein vor¬
trefflicher Kopf, auch in Staatsgeſchaͤften als ſolcher
geruͤhmt. Wir riefen ihm Heil und Segen zu, und
III. 3[34] gelobten es uns wechſelweiſe, wer von uns die Gelegen¬
heit haben wuͤrde, ihn perſoͤnlich zu ſehen, ſolle zu ihm
gehen, ihm von dieſer begeiſterten Stunde ſagen, und
ihm in unſer Aller Namen fuͤr die Freude danken, die
wir durch ſein Gedicht empfunden. Wir nahmen uͤbrigens
Abſchrift von dieſem, und gaben ihm unter der Hand
nah und fern moͤglichſte Verbreitung.
Ein Kern wackrer Offiziere, die nur auf die Ge¬
legenheit warteten, um fuͤr ſo viel erlittene und von
ihnen ſelbſt grade am wenigſten verdiente Schmach des
preußiſchen Namens eine ruhmvolle Vergeltung zu neh¬
men, geſtaltete ſich unter den Einwirkungen des Tugend¬
bundes immer feſter, und in unſerm Kreiſe konnte mir
manches von dieſem Streben nicht entgehen, ohne daß
man mich unmittelbar aufzunehmen verſuchte. Jede gute
Geſinnung wurde herbeigezogen und befeſtigt, jeder gute
Wille, jedes einſt brauchbare Huͤlfsmittel ſorgfaͤltig wahr¬
genommen, dabei der Gang der großen Ereigniſſe auf¬
merkſam beobachtet, und jeder Nachtheil des Feindes
begierig hervorgehoben. Dieſer vereinten, von ſo vielen
Seiten mit unzerſtoͤrbarer Zuverſicht und Beharrlichkeit
fortgeſetzten Arbeit, die in den engſten Schranken und
mit den duͤrftigſten Mitteln gegen die Rieſenmacht Na¬
poleon's zu wirken unternahm, dieſen im Stillen ge¬
naͤhrten und geweckten Kraͤften war es doch zu danken,
daß die Flamme des Vaterlandes auch in der groͤßten
Verdunkelung nie ganz erloſch, und ihre vorbereiteten
[35] Stoffe in der Folge ſogleich erfaſſen konnte. Allein
dieſe Eingeweihten und Entſchloſſenen waren verhaͤltni߬
maͤßig doch immer nur eine kleine Schaar aus den
Tauſenden von Offizieren, die durch Zertruͤmmerung des
preußiſchen Heeres dienſtlos in die Welt verſprengt
waren. Die wenigen Truppen, welche Preußen nach
dem Frieden von Tilſit in ſeinen Umſtaͤnden noch be¬
halten konnte, bedurften nicht des zehnten Theils der
ehemaligen Offiziere, und waren fuͤr den Augenblick
ſogar uͤberfuͤllt. Die große Menge mußte ſich andre
Auswege ſuchen, und es fehlte nicht an merkwuͤrdigen
Beiſpielen, was alles aus einem preußiſchen Offizier
werden koͤnne! Die meiſten jedoch wollten oder mußten
bei dem gewohnten Handwerke bleiben, und wenn auch
die Schande, noch waͤhrend des Krieges ohne Abſchied
als Meineidige in die Reihen des Feindes uͤbergetreten
zu ſein, im Ganzen nur auf denjenigen ruhte, die das
von dem Fuͤrſten von Yſenburg fuͤr den Dienſt Napo¬
leon's aus preußiſchen Kriegsgefangenen errichtete Re¬
giment bilden halfen, ſo war doch jetzt, nach geſchloſſe¬
nem Frieden, der Drang allgemein, wo nicht unter
feindlichen, doch unter fremden Fahnen ein Unterkommen
zu ſuchen. Geburt und Verhaͤltniſſe, ſeltener freie Wahl,
fuͤhrten eine betraͤchtliche Anzahl in den Dienſt des neu¬
gegruͤndeten Koͤnigreichs Weſtphalen; andre fanden An¬
ſtellung im Großherzogthum Berg, im Koͤnigreich
Sachſen, im Herzogthum Warſchau; die ſuͤddeutſchen
3*[36] Staaten, welche der Rheinbund zu groͤßeren militairiſchen
Anſtrengungen noͤthigte, nahmen gern aus der preußi¬
ſchen Pflanzſchule, wo man Zucht und Fertigkeit ein¬
heimiſch wußte, die eingeuͤbten Exerziermeiſter und
Dienſtordner, deren ſie bedurften. Beſonders nach Baden
und Wuͤrtemberg kamen in dieſer Zeit manche Maͤnner,
die nachher dort ein ausgezeichnetes Gluͤck gemacht. Ich
wuͤßte kaum, daß damals gleicherweiſe ein Zug nach
Oeſterreich ſtattgefunden haͤtte, eine vererbte Abneigung
lieh dieſem Lande in dem preußiſchen Sinne noch zu
viel Feindliches, das erſt ein paar Jahre ſpaͤter ſich
einigermaßen verſoͤhnen wollte.
Wilhelm von Schuͤtz war in dieſer Zeit bemuͤht,
ideale Erkenntniſſe in Dichtung auszubilden, und waͤhlte
dafuͤr unter andern die Form des antiken Drama's, die
er aber ungluͤcklicherweiſe nicht den urſpruͤnglichen grie¬
chiſchen Vorbildern abſah, ſondern den ungenuͤgendſten
Ueberſetzungen, und namentlich wurde der Sophokles
von Aſt ſein Grund- und Hauptbuch. Die harte, ver¬
renkte Sprache, den in genauer Nachahmung erſtarrten
Versbau, kurz alle zufaͤlligen Gebrechen dieſer einzelnen
Ueberſetzung, nahm er ſich zum Muſter, und arbeitete
ſo mit Fleiß und Sorgfalt wahre Mißgebilde aus, die
zwar wegen daruͤber ſchwebender Ideen den Geiſt im
Allgemeinen wohl anſprachen, und inſonderheit von Fichte
und Bernhardi mit großer Zaͤrtlichkeit aufgenommen
wurden, auch durch viele gluͤckliche Bilder und lebens¬
[37] reiche Ausdruͤcke aͤchten Dichterſinn bezeugten, aber doch
als wahre Kunſtgeſtalten in keiner Weiſe beſtehen konn¬
ten. Die Tragoͤdie Niobe war ſchon gedruckt, und
ſollte, wie im Vertrauen geſagt wurde, einen Strahl
der Wiſſenſchaftslehre in ſich tragen, von dem man nun
erwartete, ob und wie er in den Gemuͤthern leuchten
wuͤrde. Schon aber war Schuͤtz mit einer zweiten Tra¬
goͤdie dieſer Art, die Graͤfin von Gleichen, weit vorge¬
ruͤckt, und ſogar ſchon mit einer dritten beſchaͤftigt, wozu
Charlotte Corday die Heldin war, und das Pariſer Volk
den antiken Chor vorſtellte. Ich hatte gleich gegen
dieſe Richtung vieles einzuwenden, beſonders auch gegen
die metriſche Bearbeitung und proſodiſche Willkuͤr. Da
jedoch Schuͤtz, wenn er vom Lande auf kurze Zeit zur
Stadt kam, ganz von dieſen Dingen erfuͤllt, und mit
dem ſchoͤnſtem Feuer ſeines damals noch jugendlichen
Strebens darin thaͤtig war, die Freunde zu heitrer Theil¬
nahme ſtimmte, und zu mannigfachen Verhandlungen,
die niemals unangenehm wurden, den beſten Anlaß gab,
ſo hatten wir von ſeiner verfehlten Arbeit dennoch guͤn¬
ſtigen Eindruck und erwuͤnſchten Ertrag. Seinen klei¬
neren Gedichten, Romanzen und Liedern, konnten wir
dagegen groͤßtentheils unſern vollen Beifall widmen,
denn obgleich er auch hier die Poeſie, bisweilen als
bloßes Gefaͤß eines myſtiſchen Inhalts gebrauchen wollte,
ſo wurde ihm doch gegen die Abſicht meiſt freie
Poeſie daraus, nur konnte er ſich von der Sprach¬
[38] quaͤlerei, die ihm der Aſt'ſche Sophokles angethan hatte,
nie ganz erholen.
Der Zuſtand von Berlin wurde indeß taͤglich trau¬
riger, immer mehr Menſchen ſahen ihre Einkuͤnfte ver¬
ſiegen, ihre Nahrung knapper werden; die Kaſſen zahlten
nicht, die ausgeliehenen Kapitalien brachten keine Zinſen,
uͤberall ſah man aͤngſtliche Verlegenheit und dringende
Noth. Mir kam ſehr leicht der Gedanke, daß ich dieſer
Truͤbſal durch einen raſchen Entſchluß voͤllig entgehen
koͤnne, daß meine Lebensplane mich eigentlich zu einer
wirklichen Univerſitaͤt draͤngten, und daß ein andrer Ort
mir in vieler Hinſicht zum Vortheil gereichen muͤßte;
hiezu kam der lebhafte Wunſch, meinen hamburgiſchen
Verhaͤltniſſen naͤher zu ſein, und allen dieſen Betrach¬
tungen erſchien die Univerſitaͤt Kiel, welche auch wegen
ihrer mediciniſchen Lehrer ſehr geruͤhmt wurde, am gluͤck¬
lichſten zu entſprechen. Als ich die Abſicht ausſprach,
zum Winter dorthin zu reiſen, vereinigten ſich in Berlin
alle Stimmen der Freunde, mir die Sache auszureden.
Beſonders wurde Schleiermacher ganz liebevoll, verhieß
mir in kurzem eine Univerſitaͤt in Berlin, ruͤhmte meine
bisherige Beharrlichkeit, und meinte, wir halliſche Ver¬
triebene gehoͤrten doch weſentlich zuſammen, und muͤßten
ſo lange als moͤglich vereinigt bleiben. Seine freund¬
lichen Worte, die mir zugleich einen feſten Anhalt neu
zu eroͤffnen ſchienen, machten großen Eindruck auf mich,
und hatten mich im Grunde gleich gewonnen, wiewohl
[39] ich noch keine Zuſage ertheilen wollte. Ich behielt mir
vor, die voͤllige Entſcheidung erſt in Hamburg zu faſſen,
denn dorthin waͤhrend der Ferien zu reiſen, ließ ich mir
nicht nehmen. Nennhauſen lag von dieſem Wege nicht
zu ſehr ab, Neumann wollte mich bis dahin auf einige
Tage begleiten, waͤhrend welcher ein ihm geſchehener
Antrag wegen einer Erzieherſtelle zum Schluſſe kommen
ſollte, und Chamiſſo, der nun doch ernſtlicher ſeine
Ruͤckkehr nach Deutſchland ankuͤndigte, war ſchon ange¬
wieſen, zur feſtgeſetzten Zeit bei Fouqué einzutreffen,
um dann mit mir weiter nach Hamburg zu wallfahrten,
wo man ſeiner als willkommenen Gaſtes ſchon harrte.
Ehe wir uns aufmachten, kam noch unerwartet
Freund Harſcher von Halle, vorzuͤglich in der Abſicht,
ſeinen geliebten Adolph Muͤller noch zu ſehen, bevor
derſelbe in groͤßere Ferne ruͤckte. Sein Erſcheinen ver¬
urſachte mir die herzlichſte Freude, konnte jedoch mein
Vorhaben nicht ſtoͤren, beſonders da er ſelbſt, auch im
Falle er fuͤr den Winter ſeinen Aufenthalt in Berlin
zu nehmen ſich entſchloͤſſe, doch vorher nach Halle auf
einige Zeit zuruͤckkehren wollte, wohin auch Schleier¬
macher zu reiſen gedachte, um ſeine Auswanderung von
dort nach Berlin deſto gruͤndlicher abzumachen. Auch
Wolf's Tochter ſollte von Halle mitkommen, und noch
andre Freunde und Freundinnen ſuchten der nunmehr
zum verhaßten, aus preußiſcher, heſſiſcher, braun¬
ſchweigiſcher und hannoͤverſcher Laͤnderbeute errichteten
[40] Koͤnigreiche Weſtphalen gehoͤrigen, und ganz verwaiſeten
Stadt ſo viel als moͤglich zu entgehen. Harſcher zeigte
die groͤßte Anhaͤnglichkeit an den halliſchen Kreis, und
erklaͤrte geradezu, daß er keine andre Heimath habe
noch haben wolle, und bei Verſetzung jenes Kreiſes
nach Berlin nicht zuruͤckbleiben werde. Jedoch wurden
ſchon damals die Spuren eines Widerſtreites merkbar,
in welchem er die vertraulichſte Innigkeit und die ge¬
ſpannteſte Entfernung wechſeln ließ, und beide faſt zu
gleicher Zeit hegen konnte. Seine krankhaften Zuſtaͤnde
ſtimmten ihn ſehr reizbar, er machte uͤbertriebene For¬
derungen, und lauerte und rechnete argwoͤhniſch, ob
und wie ſie erfuͤllt wuͤrden, dann warf ihn der Mi߬
muth faſt ganz auf ſich ſelber zuruͤck, und ſeine Vor¬
ſaͤtze und Zuſagen vernichteten und erneuerten ſich nach
den kleinſten Zufaͤllen. Es war durchaus zweifelhaft,
ob er, einmal nach Halle zuruͤckgekehrt, nicht dort blei¬
ben, und anſtatt den lebensmuthigen Menſchen auf neue
Bahn zu folgen, nicht der duͤſtern, abgeſtorbenen Oert¬
lichkeit ſich treu erweiſen wuͤrde.
Im Anfange des Oktobers wanderten Neumann
und ich nach Nennhauſen, wo wir, ungeachtet franzoͤ¬
ſiſche Einquartierung das Schloß wie das Dorf be¬
laͤſtigte, die beſte Aufnahme fanden. Ich hatte bei
Frau von Fouqué in der Zwiſchenzeit ſehr gewonnen,
und ſie bezeigte mir gern die dankbare Neigung, die
[41] ich mir durch ſtreitbare Fuͤrſorge fuͤr eines ihrer Buͤcher
bei ihr verdient hatte.
Neumann und ich lebten mit Fouqué im ſchon ge¬
wohnten Stil unſrer freundſchaftlichen und litterariſchen
Angelegenheiten, und lebten eigentlich nur mit ihm;
wenig bekuͤmmert um alles andre, was neben uns vor¬
ging. Auch fand ein wackrer Offizier und ehemaliger
Kammerad Fouqué's, der Rittmeiſter von Welk ſich
ein, der bis zuletzt im Kriege mitgeweſen, jetzt aber
nach dem Frieden in Preußen kein Bleiben mehr fand,
und als geborner Sachſe fuͤrerſt in ſeine Heimath bei
Meißen ſich zuruͤckzuziehen dachte. Als der wichtigſte
Gaſt aber, durch ſeine Verhaͤltniſſe wie durch ſeine Per¬
ſon zur erſten Rolle berechtigt, ſtand der franzoͤſiſche
Huſarenoffizier vor Augen, der mit ſeiner Schwadron
hier einquartiert lag. Er hieß Jules von Canouville,
und war von altadeliger Herkunft, welches ihm nicht
nur in Nennhauſen, ſondern auch im neuen Kaiſerthum,
das noch von Freiheit und Gleichheit getragen war, zu
merklicher Beguͤnſtigung diente; er brannte leidenſchaft¬
lich fuͤr Napoleon's Sache, und ſetzte auf ſie alle Hoff¬
nungen ſeines Ehrgeizes; uͤbrigens war er von kraͤftig
ſchoͤner Jugend, ungeſtuͤmer Lebhaftigkeit und leichtſinni¬
gem Uebermuth. Man mußte ihm einige Ungezogen¬
heiten ſchon verzeihen, um ſo mehr, als ihm nicht zu
verdenken war, daß er ſich aus dieſer Einoͤde in die
glaͤnzende Hof- und Damenwelt von Paris wuͤnſchte,
[42] und es als eine Art Ungnade bejammerte, daß man
ihn, der als Ordonnanzoffizier Berthier's eigentlich die¬
ſem zu folgen Anſpruch hatte, ſo lange beim Regimente
ließ, wo es nichts mehr zu thun gab; ſeine Sehnſucht
aͤußerte ſich mit einer Ungeduld, die fuͤr ſeine Umgebung
wenig Verbindliches hatte, aber freilich in ſeiner Lage
natuͤrlich war. Wir kamen aber leidlich genug mit ihm
zurecht, und der Beziehung, daß wir Briefe aus
Vertus und Saint-Menehould empfingen, und von
dorther ſogar einen Freund erwarteten, konnte er ſeine
Theilnahme nicht verſagen. Bernhardi's Traum, daß
ich in Streit mit der franzoͤſiſchen Einquartierung ge¬
rathen, erfuͤllte ſich nicht; aber durch dieſe wurden wir
doch des Aufenthalts fruͤher uͤberdruͤſſig, und waren
herzlich froh, als endlich unſer Aufbruch durch Chamiſſo's
Ankunft ſich feſtſetzen ließ.
Der Freund brachte aus der Heimath die neueſten
Nachrichten, Anſichten und Stimmungen des kaiſerlichen
Frankreichs mit, von denen wir indeß wenig erbaut
waren, und er ſelbſt, wiewohl von manchen Eindruͤcken
lebhaft angeregt und ſogar befangen, wandte willig und
entſchloſſen dem franzoͤſiſchen Treiben den Ruͤcken zu,
um ſich ganz und ausſchließlich in das Leben deutſcher
Dichtung und Wiſſenſchaft zu verſenken, zufrieden wenn
man ihm fuͤr ſeine Landsleute die Verherrlichung gelten
ließ, deren ſie als Krieger im ſieggewohnten Heere
theilhaftig waren. In Fouqué, Chamiſſo und Canou¬
[43] ville fanden ſich die Franzoſen der verſchiedenſten Epo¬
chen und Richtungen hier beiſammen, ein Réfugié, ein
Emigrant und ein Kaiſerſoldat, deren gemeinſames
Weſen alle Kluͤfte, welche durch Zeit und Welt zwiſchen
ſie eingeſchoben lagen, noch immer leicht genug fuͤr den
Augenblick uͤberſchwebte. Nach kurzem Beiſammenſein,
da die Jahreszeit taͤglich mahnender wurde, ergriffen
Chamiſſo und ich den Wanderſtab, empfingen von Fou¬
qué und Neumann, der am naͤchſten Tage nach Ber¬
lin zuruͤckkehren wollte, noch das Geleit bis halbwege
Rathenau, und erreichten mit zweien Maͤrſchen Perle¬
berg und die Straße nach Hamburg, die wir, bald der
Langſamkeit und des Ungemachs einer Fußreiſe in die¬
ſer Jahreszeit und Gegend uͤberdruͤßig, mit der Poſt
vollends zuruͤcklegten.
Hamburg 1807.
Die Herrſchaft der Franzoſen waltete auch hier mit
verhaßter, unterdruͤckender Gewalt; ohne weitere Recht¬
fertigung und Anfrage, bloß weil es ihm ſo gefiel,
hatte der franzoͤſiſche Kaiſer ſich der Hanſeſtaͤdte be¬
maͤchtigt, hielt ſie beſetzt, und ließ ſie durch ſeine Pro¬
konſuln druͤcken und ausſaugen. Doch dem klugen und
gewinnreichen Handelsgeiſte waren die Liſt und Gewandt¬
heit der Napoleoniſchen Polizei nicht gewachſen, und
jener fand Beguͤnſtigung, Nachſicht und Gewinntheil¬
nehmer in denen ſelbſt, welche mit den ſtrengen Hem¬
[44] mungen und Bewachungen beauftragt waren. Mehr
als irgend ein Vorgaͤnger und Nachfolger wurde in
dieſer Hinſicht der Marſchall Bernadotte, Fuͤrſt von
Ponte-Corvo geruͤhmt und geprieſen, der gerade da¬
mals in dieſer nordiſchen Gegend die von dem Kaiſer
verliehene Macht ſehr mild und nachgiebig ausuͤbte, und
fuͤr die Sache der bedraͤngten Stadt und der Kaufleute
nicht erſt, wie ſo manche Andre, durch Eigennutz ge¬
wonnen werden durfte, ſondern ihr durch freies Wohl¬
wollen und heitere Gutmuͤthigkeit urſpruͤnglich geneigt
war. Was aber die Macht und den Umfang der fran¬
zoͤſiſchen Obergewalt diesmal hier uns zum anregend¬
ſten und unerſchoͤpflichen Reize bezeichnete, war die
Anweſenheit ſpaniſcher Truppen. Napoleon hatte bei
dem ungeheuern Bedarf und den wichtigen Ruͤckſichten
ſeiner wechſelnden Kriegszuͤge auch dieſe Verbuͤndeten
aus der abgeſchloſſenen Heimath auf den Schauplatz
der Ereigniſſe herangebracht, und Spanier fanden ſich,
zu ihrer eignen Verwunderung, an die Ufer der Elbe
und bis zu den Kuͤſten der Oſt- und Nordſee ver¬
ſchlagen. Gegen 20,000 Mann, unter Anfuͤhrung des
Marquez de la Romana, erſtreckten ſich durch Holſtein
und Schleswig bis nach Juͤtland und auf die Inſeln
Fuͤhnen und Seeland hinuͤber, wo ſie zum Schutze
Daͤnemarks gegen die Unternehmungen der Englaͤnder
dienen ſollten. Das Hauptquartier aber war in Ham¬
burg, und einige Regimenter, ſowohl Fußvolk als Rei¬
[45] terei, lagen ebenfalls dort. Nichts war merkwuͤrdiger
und eigenthuͤmlicher, als dieſe Truppen. Einige Kom¬
panien Grenadiere, welche gewoͤhnlich die Ehrenwache
bei dem Hôtel des franzoͤſiſchen Marſchalls verſahen,
konnten im Sinne jedes Militairs fuͤr ſchoͤn und praͤch¬
tig gelten. Im Ganzen aber mußte man die Vor¬
ſtellungen, die man ſich von andern Truppenanſchauun¬
gen gebildet, zum Theil fallen laſſen, und die Spanier
nach einem, ihnen eignen Maßſtabe wuͤrdigen. Muth
und Entſchloſſenheit leuchteten aus jedem Einzelnen kuͤhn
und drohend hervor, an der Tapferkeit dieſer Leute ließ
ihr Anblick nicht zweifeln, und dennoch mußte man ſich
geſtehen, daß dieſe Truppe ſich neben Franzoſen und
Deutſchen, oder gar gegen ſie, auf dem Kriegsfelde
ſchwerlich vortheilhaft bewaͤhren wuͤrde; denn ſchon auf
dem Exerzierplatze gab ihre Langſamkeit und Umſtaͤnd¬
lichkeit im Handhaben der Waffen, wie ihr geringes Ge¬
ſchick in Feldbewegungen, zu manchem Scherz und
Spott Gelegenheit. Auch ihre Ordnung und Zucht,
ſowohl in als außer dem Dienſte, ſchien weniger das
Ergebniß einer ſtrengen Einrichtung, als vielmehr der
freiwilligen Art eines jeden, der ſich bequem und laͤſſig
einer militaͤriſchen Gewoͤhnung fuͤgte, die einmal vor¬
handen war. Und hinwieder mußte man die gravitaͤtiſche
Wuͤrde, die ſtolze, ſelbſtſtaͤndige Haltung, und das
folgerecht durchgefuͤhrte ſtrenge Benehmen ſtaunend be¬
wundern, wodurch dieſes Militair ſogar die ſpoͤttiſchen
[46] Franzoſen und die pedantiſchen Deutſchen zu ehrender
Hochachtung noͤthigte. Gewiß iſt es, daß die gemeinen
Spanier, einzeln oder geſchaart, bei ſeltſamer und oft
mangelhafter Ausruͤſtung und Bekleidung, immer den
gleichmaͤßigen Eindruck von vornehmen Leuten machten,
ſie ſchienen Alle von Adel, auch im niedrigſten Zuſtande
ſich bewußt, der beſten Verhaͤltniſſe werth und faͤhig zu
ſein. Wirklich ertrugen ſie mit großem Anſtand und
vollkommener Faſſung das tiefe Mißgeſchick, in welchem
ſie ſich befangen fuͤhlten, denn ſie verhehlten es nicht,
daß es ihnen eine Schmach ſei, nach der Laune eines
fremden Herrſchers, den ſie haßten, wie ſie ſeine Nation
verachteten, ſo in der Welt umherzuziehen, und ihre
Unterwuͤrfigkeit zur Schau zu tragen. Mit hohem An¬
theil ſahen wir dieſe edlen ſuͤdlichen Naturen voll Ernſt
und Feuer, von denen fruͤher nur vereinzelte Beiſpiele
uns genuͤgen mußten, jetzt in ſolcher Vielheit und Maſſe
als eine wandelnde Poeſie vor unſern Augen, mit
Entzuͤcken horchten wir den Klaͤngen der herrlichen
Sprache, die auf den Straßen von allen Seiten uns
zutoͤnte, und nicht ſelten die gemeinſte Oertlichkeit durch
Guitarrenſpiel und Geſang veredelten, die unſrer berauſch¬
ten Einbildungskraft in dieſer Art nur in Granada und
Sevilla moͤglich geſchienen hatten. Der romantiſche
Zauber dieſes ſpaniſchen Lebens wirkte nicht auf uns
allein, auch die Franzoſen empfanden ihn, und wichen
gleichſam ſtaunend und betroffen vor ihm zuruͤck, der
[47] roheſte Hamburger ſprach ihn durch Wort und That
aus. Die Theilnahme und Vorliebe fuͤr die Spanier,
die Achtung und Verehrung fuͤr ihre Nationalitaͤt, die
Sorgen und Wuͤnſche fuͤr ihr Wohlergehn, waren all¬
gemein, und in dem erzproteſtantiſchen Hamburg wurden
diesmal ſogar die haͤufigen Zeugniſſe eines ſtrengkatholiſchen
Kirchendienſtes, der ſich mit dem militairiſchen Dienſte
verflochten hatte, weder angefeindet noch verſpottet.
Wirklich aber betrugen ſich dieſe Fremden auch hoͤchſt
muſterhaft, und ganz im Gegenſatz der Franzoſen.
Stolz, maͤßig, ehrbar, ſchien auch der gemeine Sol¬
dat nur dahin zu ſtreben, ſeinem Wirthe ſo wenig als
moͤglich zur Laſt zu fallen. Groͤßere Unordnungen fielen
beinahe gar nicht vor, leidenſchaftliche Aufwallungen
wurden durch ein ehrendes Wort leicht in Guͤte beige¬
legt. Muſik und Geſang waren in jedem Hauſe will¬
kommenes Vergnuͤgen. Wo naͤhere Verſtaͤndigung ein¬
trat, fand ſogleich ein politiſches Vertrauen Nahrung,
man erkannte ſich als gleichgeſinnt und verbuͤndet im
Haſſe gegen die Franzoſen. War die Gelegenheit
guͤnſtig fuͤr noch engere Vertraulichkeit, ſo wurden
auch dann die erwuͤnſchteſten Eigenſchaften nicht ver¬
mißt, und die ſtille Gluth und der feſte Eifer des Spa¬
niers trug uͤber die einnehmende Leichtfertigkeit des
Franzoſen meiſt den Sieg davon. Man ſah nicht wenige
Geſtalten und Geſichter von vollkommener maͤnnlicher
Schoͤnheit. Unter den Offizieren fanden ſich Maͤnner
[48] von groͤßter Auszeichnung des Betragens, und der
Marquez de la Romana, welcher im Buchladen von
Perthes bei dem erſten Beſuch eine Auswahl griechiſcher
und roͤmiſcher Autoren eifrig angekauft hatte, vereinigte
mit der feinſten Weltbildung und edelſten Herzensguͤte
ſogar eine ſeltene Gelehrſamkeit.
Doktor Veit, Perthes, von Reinhold und ſein Freund
Doktor Georg Kerner bezeigten uns die freundlichſte
Zuvorkommenheit, und gaben uns wirkſamen perſoͤnli¬
chen Eindruck, dem wir gern folgten. Die liebevollſte
Beeiferung aber hatte fuͤr uns der wackre Gurlitt, der
uns auch nicht erließ, eine feierliche Mahlzeit bei ihm
einzunehmen, und uns auf gut hamburgiſch durch eine
zahlreiche und ausgedehnte Gaſterei ehren wollte. Zur
groͤßern Freiheit fuͤr Zeit und Stimmung hatte er den
Abend gewaͤhlt, und uͤber zwanzig Perſonen fanden ſich
nach und nach ein, brave Maͤnner vom Schulfach,
einige Prediger, Aerzte, auch vom Kaufmannsſtande
ein paar Mitglieder, und nachbarliche Beamte oder
Gutsbeſitzer aus Holſtein; die behaglichſte Einrichtung
und die geſchmackvollſte Bewirthung wetteiferten mit
einander, und nachdem man ſich als gleichgeſtimmt oder
ſinnverwandt leicht erkannt hatte, loͤſte das Geſpraͤch
ſich aller Feſſeln, und nahm die freieſte Wendung, ohne
je aufzuhoͤren gehaltvoll zu ſein. Die Gelehrſamkeit
bot aus ihren unerſchoͤpflichen Schaͤtzen die feinſten
Zuͤge, die witzigſten Anſpielungen dar, man erfuhr die
[49] bedeutendſten Sachen mit der alten Welt, das lebendige
Intereſſe der neuen aber draͤngte ſich immer dazwiſchen,
und ließ keine Pedanterie aufkommen. Gurlitt und
der alte Bieſterfeld freuten ſich an mir als ihrem ehe¬
maligen Schuͤler und der von ihnen ausgegangenen,
wohlgelungenen Wirkung. Beſonderes Intereſſe und
Gefallen aber hatte Gurlitt an Chamiſſo's Deutſchheit,
uͤber deren Grund und Art er in ſteter Verwunderung
blieb, und deſſen friſche Nachrichten aus Frankreich und
eigenthuͤmliche politiſche Anſicht einen außerordentlichen
Reiz fuͤr dieſe Maͤnner hatte, welche nur gar zu ſehr
fuͤhlten, daß auch dem geiſtigen Grund ihres Lebens,
dem innern Weſen ihrer Thaͤtigkeit, ſo gut wie der
aͤußern Geſtalt ihres Buͤrgerthums, mit jedem Tage
bedenklicher die Eingriffe der fremden Herrſchergewalt
nahten. Daß dieſer Franzoſe den Aeußerungen in Be¬
treff des Kaiſer Napoleon keine Ruͤckſicht auferlege,
wagte man nicht ſogleich vorauszuſetzen, ſondern ver¬
ſuchte ſich anfangs in allerlei Wendungen, bis man
mit frohem Staunen gewahr wurde, man koͤnne mit
gutem Vertrauen darin weiter und weiter gehen. Da¬
mit in dieſer Hinſicht gar kein Zweifel mehr bliebe,
mußte Chamiſſo ſelber mich auffordern, die Ode von
Staͤgemann vorzuleſen, worin der Untergang der Napo¬
leoniſchen Macht durch Preußen und Rußland geweiſſaget
worden, und die ich in feiner Abſchrift bei mir fuͤhrte.
Der Eindruck war unbeſchreiblich, man bewunderte und
III. 4[50] jauchzte, und trank in den beſten Weinen wiederholt
die Geſundheit des kuͤhnen Dichters. Chamiſſo ſeiner¬
ſeits fing dann auch eigne Gedichte zu deklamiren an,
und nun ſollte er umſtaͤndlich ſagen, wie er zu ſeinen
deutſchen Studien gelangt und durch welche Huͤlfsmit¬
tel er darin fortgeſchritten ſei. Man nahm an ſeinen
Lebensgeſchicken, an ſeiner Perſon und Eigenart den
lebhafteſten Antheil, und Gurlitt insbeſondere ſchien
von fuͤrſorglichen Geſinnungen erfuͤllt und bewegt. Waͤh¬
rend er nun mit Zaͤrtlichkeit dem eben ſo lieben als
außerordentlichen Gaſte horchte und zuſprach, war dieſer
in das Herſagen von Verſen ſchon verfangen, und
zwiſchen die Antworten, die er zu geben hatte, flocht
er gelegentlich die allbekannten Worte ein:
Mit ſteigendem Pathos vorgetragen machte dies gute
Wirkung, und das Gedaͤchtniß haͤtte ihn gewiß noch
eine weite Strecke ſo fortfahren laſſen, als der liebe
Gurlitt, in ſeinen Alten ſo trefflich zu Hauſe, und
auch in den Neuern ſonſt beleſen genug, nur gerade
mit dem unkorrekten Neuſten nicht vertraut, die ganze
Tirade fuͤr ein perſoͤnliches Bekenntniß aufnehmend,
verwundert und antheilvoll mit faſt gleichem Pathos,
indem er ſich mit erhobenen Armen hinuͤberneigte, den
[51] Deklamator eilig anrief: „O was! das haben Sie ..?“
und ihm damit ploͤtzlich den Strom der Rede im offnen
Munde ſtocken machte. Eine allgemeine Stille trat
auf einen Augenblick ein, Chamiſſo war wirklich aus
aller Faſſung und ſah bald Gurlitt, bald mich an, ſein
Lachen kaum hinunterwuͤrgend, und ich ſelbſt hatte alle
Muͤhe, mit guter Art zuerſt den lieben Alten zu be¬
deuten, jene Worte ſeien der Anfang von Goethe's
Fauſt, und worauf ich ſie einige Zeilen weiter fuͤhrte,
da es ja ſchiene, ſo ſagte ich, als laſſe das Gedaͤchtniß
meines Freundes ihn im Stich. So hatte der grund¬
gelehrte Mann zuletzt noch eine zwar ſehr verzeihliche
Unwiſſenheit bloßgeben muͤſſen, die ihm aber doch em¬
pfindlich blieb, wiewohl bei weitem nicht in dem Maße,
als wenn ſeine Mißkennung irgend einen Spruch aus
dem Horaz oder Virgil betroffen haͤtte! Wir haben
des reichbelebten, bis tief in die Nacht hinein fortge¬
ſetzten Gaſtmahls ſeitdem noch oft mit frohem und
dankbarem Sinne gedacht, und uns dabei immer des
drolligen Vorganges gern erinnert, der unſrer Ver¬
ehrung und Zuneigung fuͤr den wuͤrdigen und theuern
Lehrer nicht im geringſten ſchaden konnte.
Der Aufenthalt in Hamburg hatte mich im Ganzen
wohlthaͤtig erquickt und geſtaͤrkt, meinen Muth und
meine Vorſaͤtze befeſtigt, und mir wurde in der heitern
Gemuͤthsſtimmung der heranruͤckende Abſchied minder
ſchmerzlich. Wir fuhren unter Freuden- und Segens¬
4 *[52] wuͤnſchen ab, huͤllten uns gegen das einbrechende Win¬
terwetter in unſre guten Maͤntel, und harrten die lang¬
ſame Poſtreiſe, die uns nach Berlin zuruͤckfuͤhrte, ge¬
duldig aus. Ueberall wo wir durchkamen, ſahen wir
franzoͤſiſche Truppen und Verwaltungen zum Ueber¬
wintern in das bedruͤckte Land ausgetheilt; ein trauriger
Anblick, der dadurch nicht beſſer wurde, daß auch die
Franzoſen dieſes Loos ihrerſeits gar nicht beneidenswerth
fanden, wie uns die Reſignirteſten noch im vergeblichen
Grimm eifrig betheuerten.
Berlin.
Eine neue Lebensreihe begann, und fuͤr mich ganz
ungewoͤhnlich unter eigenthuͤmlichem Unbehagen, da
bisher faſt immer bei jedem Abſchnitte frohe Stimmung
und guͤnſtiges Ereigniß mich getragen hatten. Auch
half es nichts, daß ich jenes Gefuͤhl mir verlaͤugnen,
ſeine Wirkung durch Fleiß und Geiſtesmacht aufheben
wollte, von allen Seiten haͤufte ſich mir eine beſondre
Widrigkeit, die denn auch nur allzu ſchnell in mancher¬
lei Mißhelligkeiten ſich entladete. Vieles davon lag
allerdings in meiner Gemuͤthsart, deren Anlage und
Triebe ſich in voller Freiheit bewegen durften, anderes
aber in meinen Verhaͤltniſſen, welche aus Ueberreifem
und Unreifem zuſammengeſetzt, außer allem Gleichge¬
wichte ſchwankten, und indem ſie dieſes ſuchten, bald
nach oben bald nach unten uͤbermaͤßig anſchlugen. Das
[53] Meiſte jedoch muß ich dem allgemeinen Zuſtande an¬
rechnen, der unwiderſtehlich den Einzelnen ergriff, wie
er die Geſammtheit ergriffen hatte; wohin man blickte,
ſah man Stoͤrung, Zerriſſenheit, nach allen Richtungen
nur ungewiſſe Zukunft, den politiſchen Kraͤften wider¬
ſtrebten vergebens die geſelligen und geiſtigen, ſie mu߬
ten es fuͤhlen, daß der buͤrgerliche Boden, der ſie trug,
erſchuͤttert war. Daß die Univerſitaͤt Halle niederge¬
worfen blieb, war vielleicht fuͤr keinen Menſchen ein
ſo großer Verluſt, als eben fuͤr mich; dort haͤtte ſich
mir in geordneter maßvoller Lebenshaltung und richtig
umſchraͤnkter Bahn alles vereint, deſſen ich bedurfte,
und das ich nun in dem großen Weltwirrniß mit weit¬
greifenden und eifrig geſchaͤftigen Muͤhen doch nur ver¬
gebens wieder zuſammenzufaſſen trachtete. Denn auch
fuͤr die Wiſſenſchaften fehlte jede Einheit und Zuſam¬
menſtimmung, ſie boten ſich keiner Ueberſicht mehr dar
in nothwendig erachteten und doch der Auswahl frei¬
geſtellten Lehrgaͤngen, die Lehrer bildeten keine Gruppen
mehr, noch weniger die Schuͤler; jeder ging nach Zu¬
fall dem augenblicklichen Gewinne nach, wie der Tag
ihn geben wollte. Denn, wie locker auch das Band
ſein mag, welches die verſchiedenartigſten, einander
entlegenſten Disciplinen, und, in den gleichartigen oder
einander naheliegenden, die ſelten befreundeten und ein¬
ſtimmigen Lehrer auf unſern Univerſitaͤten zu verbin¬
den pflegt, ſo gewaͤhrt doch ſchon der Rahmen, der
[54] alles dieſes, wenn auch ſcheinbar willkuͤrlich und gewalt¬
ſam, gleich dem eines Landſchaftsbildes, zuſammenhaͤlt,
einen ſichern und beruhigenden Abſchluß. Hierin helfen
die Mitſtudirenden ebenſo, und in vielen Faͤllen mehr
noch, als die Lehrer, und der Blick auf deren Zahl
und Kraft iſt dem Studenten nicht weniger belebend
und ermuthigend bei ſeinen Anlaͤufen, als dem Solda¬
ten, der zum Sturme vorſchreitet, das Anſchauen der
Schaaren, die unter namhaften Fuͤhrern zu gleichem
Werke vorangehen oder nachfolgen. Aber mir fehlte in
dieſem Zeitraume durchaus jedes Vorbild, welchem ich
haͤtte nachſtreben, das mir haͤtte ein Beiſpiel ſein koͤn¬
nen. Die tiefe, erſt heimliche, dann mehr und mehr
ſich offenbarende Verſtimmung und Unluſt, welche die
Folge aller dieſer Zuſtaͤnde war, wurde nur allzu ſchnell
ein mitwirkender Theil derſelben, und half ſie in dem
gegebenen Kreiſe noch mehr hervorbringen.
Ich ſah Fichte'n bisweilen, ich ſah Wolf, und hielt
mit Bernhardi und mit Wilhelm von Schuͤtz fleißige
Gemeinſchaft. Des letztern Trauerſpiel, der Graf und
die Graͤfin von Gleichen, mir vom Entſtehen her durch
fortruͤckende Mittheilung ſchon vertraut, war jetzt im
Druck erſchienen, und gab mir zu mancherlei, dem
Autor nicht willkommenen Aeußerungen Anlaß, die ich,
um ſie gegen lebhaften Einſpruch beſſer zu vertheidigen,
ſchriftlich zuſammenfaßte, woraus die nachher in der
Jenaiſchen Litteraturzeitung abgedruckte Recenſion wurde,
[55] welche Bernhardi, der als Mitarbeiter oft um Beitraͤge
gemahnt wurde, dorthin abſchickte und mit Huͤlfe einer
aufdringlichen Taͤuſchung einſchwaͤrzte, indem er die Buch¬
ſtaben rnha zur Bezeichnung waͤhlte, welche der Redaktion
als der Kern ſeines Namens unbedenklich einleuchteten,
waͤhrend ſie doch eben ſo, was den grammatiſchen
Gruͤbeleien dieſes auch gar gern ſpielenden Sprachgeiſtes
nicht entgangen war, den Kern meines Namens bilde¬
ten, den ſie diesmal auch allein zu bedeuten hatten,
welchen aber, als den eines Fremden und Unaufgefor¬
derten, niemand rathen konnte. Die Redaktion war
in der Folge, als ſich der kleine Streich entdeckte, ſehr
ungehalten gegen Bernhardi, und fand ſeine Ausrede
unzulaͤnglich, mir aber verſchloß ſie mit der mißbrauch¬
ten Hinterthuͤre nun auch das Hauptthor um deſto
ſorgſamer. So hatte weder Schuͤtz, dem ich draſtiſches
Talent abſprach und nur lyriſches Weſen in dieſen an¬
geblich dramatiſchen Formen zugeſtand, noch ich ſelbſt,
der ſich jener kritiſchen Anſtalt ſchlecht empfohlen hatte,
und am wenigſten Bernhardi, deſſen Verbindung dort
ſeitdem voͤllig aufhoͤrte, von dieſem Verſuche viel Ver¬
gnuͤgen, und ſogar das Honorar fuͤr die wenigen Blaͤt¬
ter ſollte in der Aufrechnung einiger Ruͤckſtaͤnde durch
die bloße Ziffer verzehrt werden! An ſonſtigen kriti¬
ſchen Aufſaͤtzen, z. B. uͤber den Simpliciſſimus, an Ge¬
dichten, Ueberſetzungen aus dem Griechiſchen, Entwuͤr¬
fen und Bruchſtuͤcken zu groͤßeren Arbeiten, bracht' ich
[56] in dieſer Zeit zu Papier, was mir nicht bewahrt ge¬
blieben iſt.
Heiterer und kraͤftiger ließ unſer Treiben ſich an,
als im December Schleiermacher mit ſeiner Schweſter
und der Tochter Wolf's von Halle zuruͤckkehrte, um
nun, moͤge es werden wie es wolle, ſich ganz in Berlin
feſtzuſetzen. Im Januar 1808 folgte auch Harſcher end¬
lich nach, begleitet von Wilhelm von Williſen, einem
neuen Freunde, den er in Briefen ſchon genannt hatte.
Fichte begann im December ſeine Vortraͤge, und
ich verfehlte nicht, ihnen beizuwohnen, die in dem run¬
den Saale des Akademiegebaͤudes vor einer zahlreichen
Verſammlung von Herren und Frauen gehalten wurden.
Der treffliche Mann ſprach mit kraͤftiger Begeiſterung
dem gebeugten und irr gewordenen Vaterlandsſinne
Muth und Vertrauen zu, ſchilderte ihm die Groͤße der
Vorzuͤge, die ſich der Deutſche durch Unachtſamkeit und
Entartung habe rauben laſſen, die er aber gleichwohl jeden
Augenblick als ſein unveraͤußerliches Eigenthum wieder
ergreifen koͤnne, ja ſolle und muͤſſe, und wies dafuͤr als
das wahre, einzige und unfehlbare Huͤlfsmittel eine von
Grund aus neu zu geſtaltende und folgerecht durchzu¬
fuͤhrende Volkserziehung an. Sein ſtrenger Geiſt ging
auf vollſtaͤndige Umſchaffung unſrer Zuſtaͤnde aus, wo¬
bei er nichts weiter verlangte, als daß uͤberall das
Weſentliche im Sittlichen wie im Geiſtigen gefoͤrdert
und ausgebildet, das Scheinſame und Hohle dagegen
[57] aufgegeben und ſeinem eignen Abſterben uͤberlaſſen wuͤrde,
dann, meinte er, werde ſich ohne gewaltſame Umkehr,
durch bloße Entwicklung, aus dem Vorhandenen und
Beſtehenden die ganze Kraft und Herrlichkeit, deren
die Nation ſeufzend entbehre, unmerklich und unver¬
hinderlich von ſelbſt hervorbilden. Dabei war er billig
genug, ſeiner ſonſtigen Art entgegen, welche ſogleich
alles oder nichts gegen einander ſtellte, auch jeden ge¬
ringſten Keim des neuen Lebens, jeden theilweiſen noch
ſo kleinen Anfang der gebotenen Entwicklung dankbar
aufzunehmen und ſchon mit ſolchem fuͤrerſt begnuͤgt ſein
zu wollen. Sein geiſtig bedeutendes, mit aller Kraft
der innigſten und redlichſten Ueberzeugung maͤchtig aus¬
geſprochenes Wort wirkte beſonders auch durch den außer¬
ordentlichen Muth, mit welchem ein deutſcher Profeſſor
im Angeſicht der franzoͤſiſchen Kriegsgewalt, deren
Gegenwart durch die Trommeln vorbeiziehender Truppen
mehrmals dem Vortrag unmittelbar hemmend und auf¬
dringlich mahnend wurde, die von dem Feinde umge¬
worfene und niedergehaltene Fahne deutſchen Volksthums
aufpflanzte, und ein Prinzip verkuͤndigte, welches in
ſeiner Entfaltung den fremden Gewalthabern den Sieg
wieder entreißen und ihre Macht vernichten ſollte. Der
Gedanke an das Schickſal des Buchhaͤndles Palm war
noch ganz lebendig, und machte manches Herz fuͤr den
unerſchrockenen Mann zittern, deſſen Freiheit und Leben
an jedem ſeiner Worte wie an einem Faden hing, und
[58] der durch die von vielen Seiten an ihn gelangenden
Warnungen, durch die Bedenklichkeiten der preußiſchen
Unterbehoͤrden, welche Verdruß und Schaden fuͤr ſich
von den Franzoſen befuͤrchteten, ſo wenig wie ſelbſt
durch den Anblick eingedrungener franzoͤſiſcher Beſucher,
ſich in dem begonnenen Werke ſtoͤren ließ. Man konnte
ſie nicht ohne Ergriffenſein und Begeiſterung anhoͤren,
dieſe Reden, welche mit Recht uͤber den Kreis der un¬
mittelbaren Zuhoͤrerſchaft hinaus ſich als Reden an die
deutſche Nation erklaͤrten, als ſolche weit und tief ge¬
wirkt und ſeitdem ſtets als eine der fruͤheſten und ſtaͤrk¬
ſten Erregungen der volksthuͤmlichen Anſpruͤche und
Betriebe in Deutſchland gegolten haben. Merkwuͤrdig
iſt es, daß dieſes Werk bei ſeiner bedeutenden Verbrei¬
tung und Wirkſamkeit dennoch ſeinen unmittelbaren Ab¬
ſichten und Vorſchlaͤgen keinen Eingang gewonnen bat;
nirgends iſt auch nur ein Verſuch gemacht worden, ſolche
Volkserziehung einzufuͤhren, und wenn einige Schuͤler
Fichte's ſpaͤterhin eine Erziehungsanſtalt in ſeinem Sinne
zu gruͤnden ſuchten, ſo hat dieſelbe doch gar bald, in¬
dem ſie ſich den gewoͤhnlichen Anforderungen des Tages
mehr und mehr bequemte, die beſondern Eigenthuͤmlich¬
keiten, worin ſie dem Geiſte des verehrten Meiſters zu
huldigen glaubte, wieder abſtreifen muͤſſen. Von meinen
naͤhern Freunden hoͤrten nur Bernhardi und Schuͤtz
dieſe Vorleſungen; die andern hielten ſich davon zuruͤck.
Daß Harſcher, der Fichte'n noch gar nicht gehoͤrt und
[59] geſehen hatte, dieſe Gelegenheit ungenutzt voruͤbergehen
ließ, war unverzeihlich; aber Schleiermacher wirkte dabei
wenigſtens mittelbar ein, er zeigte bei jedem Anlaſſe
nur Abneigung gegen Fichte, ſpoͤttelte gern uͤber deſſen
Beginnen, und es reizte ihn weniges ſo auf, als wenn
man Fichte's Geiſt und Richtung anruͤhmte. Unter den
Zuhoͤrern fand ſich Ludwig Robert, mit dem ich die
faſt abgebrochene Bekanntſchaft erneuerte, auch ſeine
Schweſter Rahel ſah ich mit ihm regelmaͤßig eintreffen,
und ich widmete ihrer anziehenden Erſcheinung die leb¬
hafteſte Aufmerkſamkeit, wobei doch ein ſo nah und
leicht unter ſolchen Umſtaͤnden ſich ereignendes Anknuͤpfen
des Geſpraͤchs diesmal durch Eigenſinn des Zufalls unter¬
bleiben ſollte.
Ich hoͤrte die Vorleſungen Schleiermacher's uͤber
Ethik mit großem Eifer, fand aber nicht die Befriedi¬
gung, die ich, beſonders nach Harſcher's Anpreiſungen,
der in dieſen mehr ſinnreichen als tiefen Schematen
lebte und webte, und mit ihnen uͤberall herumleuchtete,
hatte erwarten duͤrfen. Das Nachſchreiben, womit ich
mich quaͤlte, ermuͤdete mich vollends, ich gab dieſes ſehr
bald, und allmaͤhlig auch ſelber die Vorleſungen auf,
welches mir freilich in dem ganzen Kreiſe nicht zur
Empfehlung gereichte. Ueberhaupt regte ſich in dieſer
Zeit zwiſchen uns viel Abſonderndes und Entzweiendes.
Eine ziemlich gleichartige, in Zahl der Perſonen nicht
allzu beſchraͤnkte und doch gewiſſermaßen abgeſchloſſene
[60] Geſellſchaft bildet alsbald ein Gemeingut von Urtheilen,
Empfindungsweiſen, Formen und Scherzen des Umgangs,
woraus jeder ſeinen taͤglichen Bedarf ohne Anſtrengung
nehmen und mit faſt unfehlbarem Erfolge verbrauchen
kann. Dieſes Kotterieweſen, welches ſo bequem, aber
auch ſo gefaͤhrlich iſt, weil es den Geiſt des Einzelnen
faſt entbehrlich macht, die Eigenthuͤmlichkeit aufloͤſt, und
die Stelle nicht einmal, wie doch das Leben in der
großen vornehmen Welt noch thut, wenigſtens leer laͤßt,
ſondern ſogleich mit Geringem auszufuͤllen ſucht, dieſer
beſchleichende Anhauch wurde uns durch Friſche der
Studien, durch unruhige Jugendkraft, und ſelbſt durch
den allgemein ausgebreiteten Ernſt der Weltverhaͤltniſſe
groͤßtentheils abgewehrt; einiges aber quoll dennoch wie
durch Ritzen und Spalten in unſrer Mitte hervor, und
bethoͤrte uns zu ernſtlich-thuendem Spiel. Dieſes ſtreifte
nahe an heftiger Entzweiung hin, denn wir hielten
eiferſuͤchtig darauf, jede Zumuthung, die den Schein
einer Autoritaͤt haben konnte, ſchnoͤde zuruͤckzuweiſen.
So zerſtoͤrten wir das Kotterieartige wieder, indem wir
es bildeten, und Schleiermacher, der von jeher einen
großen Hang gehabt, in unergiebigen Gewohnheits¬
uͤbungen ſich bequem zu ergehen, fand ſich in ſeinem
Behagen durch uns oft mißmuthig aufgeſtoͤrt. Doch zu
guter Letzt, ehe ſie voͤllig verſchwand, erhob ſich noch
Einmal ſeine ganze Freundlichkeit und Heiterkeit gegen
mich, indem er aus ſeiner Weiſe faſt in die meinige
[61] uͤberging, und die Bluͤthe dieſer Stimmung mußte ſo¬
gar ein Gedicht an mich ſein! Da ein Gedicht von
Schleiermacher an mich jedenfalls etwas Phaͤnomenhaftes
iſt, ſo muß ich dieſe Zeilen hier wohl mittheilen. Der
Anlaß war folgender: Ich hatte ſcherzend erklaͤrt, ich
wuͤrde fuͤr die jungen Damen nichts mehr ausſchneiden,
wenn ſie nicht meine Bildchen durch Gegengeſchenke
erwiederten, wozu ſie durch allerlei kleine Handarbeiten
leicht Rath finden koͤnnten. Die Forderung galt fuͤr
hoͤchſt anmaſſend, und ſollte durch einen empfindlichen
Streich geruͤgt werden, wobei Schleiermacher die Worte
zu liefern uͤbernahm. Sie geriethen ihm aber ganz uͤber
Erwartung angenehm und ſchmeichelhaft. Ich empfing
naͤmlich an meinem naͤchſten Geburtſtage von unbekannter
Hand ein Kaͤſtchen, bei deſſen Eroͤffnung mir zuerſt ein
Blatt Papier in's Auge fiel, zierlich beſchrieben, Verſe,
die alſo lauteten:
An Varnhagen.
Zum 21. Februar 1808.
Die hier benannten Sachen lagen in der That alle
zierlich gearbeitet vor Augen, doch uͤberaus klein, zu
keinerlei Gebrauch. Die Quelle dieſes Muthwills konnte
mir nicht zweifelhaft ſein, die Geberinnen verrieth ihr
Lachen, als ich von meinen empfangenen Geſchenken
erzaͤhlte, und ganz ernſthaft hinzufuͤgte, ich ſei ſchon
[63] damit bekleidet; die Liſt in Tieck's blondem Eckbert half
hier gluͤcklich; daß aber Schleiermacher zu dem Scherze
mitgewirkt und ſo huͤbſche Verſe dazu gemacht hatte,
war denn doch ein auffallendes Zeugniß ſeiner mir freund¬
lichen Geſinnung, die ſich nur unter zufaͤlligen kleinen
Bitterkeiten bisher verſteckt zu haben ſchien. Wirklich
ſtellte ſich auf einige Zeit ein beſonders von ſeiner Seite
zuvorkommenderes Vernehmen ein. Doch kam es zu
keiner eigentlichen Erklaͤrung, und die Annaͤherung hoͤrte
im Gedraͤnge der Tageswogen bald wieder auf. Auch
behielt der Schlußvers jenes Gedichts in ſo fern Recht,
als die Urheberſchaft nie ausdruͤcklich eingeſtanden wurde,
wiewohl der Augenſchein deutlich genug ſprach, und
auch das Gedicht noch heutiges Tages ſeinen Vater nicht
verlaͤugnen kann, weßhalb auch ſeine Aufbewahrung hier
um ſo guͤnſtiger verziehen ſein mag, da ſtets merkwuͤrdig
bleibt, zu ſehen, was ein ſolcher Mann auf dergleichen
verſtohlenen Nebenwegen bisweilen gluͤcklich erzielt! —
(Hier waͤre, der Zeitfolge gemaͤß, der Abſchnitt „Rahel, 1807“
anzuſchließen, der aber ſchon im zweiten Bande abgedruckt ſteht.)
Beſuch beiJeanPaulFriedrichRichter.
Baireuth, Sonntag den 23. Oktober 1808. Heute
Vormittag ging ich zu Jean Paul. Harſcher war ver¬
ſtimmt, und wollte durchaus nicht mitgehen, ich glaube,
es verdroß ihn zu ſehr, ſeine aͤußeren Anſpruͤche gegen
ſeine inneren ſo weit zuruͤckſtehen zu finden, und einen
Mann, mit dem er ſich geiſtig auf gleicher Linie fuͤhlte,
nur als unſcheinbarer Student zu begruͤßen, deſſen innrer
Werth zufaͤllig noch zu keiner Namhaftigkeit ausgepraͤgt
worden. Denn von Jean Paul eingenommen und be¬
zaubert iſt er mehr noch als ich, und ſeinen Wunſch,
den Mann wie er leibt und lebt zu ſehen, hatte er
bisher oft und lebhaft ausgeſprochen. Ich bin auch nur
ein unſcheinbarer Student, aber das iſt mir eben recht,
und ſo ging ich getroſt hin! Eine angenehme, freund¬
lich neugierige Frau, die mir die Thuͤr oͤffnete, erkannt'
ich ſogleich als Jean Pauls Gattin an der Aehnlichkeit
mit ihrer Schweſter. Ein Kind wurde geſchickt, den
Vater zu rufen. Er kam bald; war auf meinen Beſuch
[65] durch Briefe aus Berlin und Leipzig ſchon vorbereitet,
und empfing mich ſehr liebreich. Als er ſich neben mir
auf das Sopha niederſetzte, haͤtte ich ihm beinah in's
Geſicht gelacht, denn indem er ſich etwas buͤckte, ſah
er genau ſo aus, wie ihn unſer Neumann in den „Ver¬
ſuchen und Hinderniſſen“ ſcherzhaft beſchrieben hat, und
wie und was er ſprach, verſtaͤrkte den Eindruck in der¬
ſelben Weiſe. Jean Paul iſt wohlbeleibt, hat ein volles,
gutgeordnetes Geſicht, kleine, feuervoll ſpruͤhende und
dann wieder gutmuͤthig matte Augen, einen freundlichen,
auch im Schweigen leiſe bewegten Mund. Seine Sprache
iſt ſchnell, faſt eilig, und daher bisweilen etwas ſtol¬
pernd, nicht ohne einigen Dialekt, der mir ſchwer zu
bezeichnen waͤre, aber ein Gemiſch von fraͤnkiſchem und
ſaͤchſiſchem ſein mag, natuͤrlich doch ganz in der Gewalt
der Schriftſprache feſtgehalten.
Ich mußte ihm zuvoͤrderſt alles erzaͤhlen, was ich
von ſeinen Berliner Bekannten irgend wußte oder gar
zu beſtellen hatte. Gern dachte er der Zeit, da er in
Berlin als Nachbar von Markus Herz in dem Leder'¬
ſchen Hauſe gewohnt, wo ich vor ſieben Jahren im
Garten an der Spree ihn zuerſt geſehen, mit Blaͤttern
in der Hand, die man mir als zum „Hesperus“ ge¬
hoͤrig insgeheim bezeichnete. Dies Perſoͤnliche, und
manches Litterariſche, das ſich damit verflechten mußte,
regte ihn außerordentlich an, und er hatte bald mehr
zu ſagen, als zu vernehmen. Seine Rede war durch¬
III.5[66] aus liebenswuͤrdig und gutmuͤthig, immer gehaltvoll,
aber in ganz ſchlichtem Ton und Ausdruck. Wiewohl
ich es ſchon wußte, daß ſein Witz und Humor nur ſeiner
Schreibfeder angehoͤren, und er nicht leicht ein Zettel¬
chen ſchreibt, ohne daß jene mit einfließen, dagegen ſein
muͤndlicher Ausdruck ſelten etwas davon verraͤth, ſo fiel
es mir doch ſehr auf, bei dieſer beſtaͤndigen inneren Be¬
wegung, in der ich ihn ſah, und bei dieſer Lebhaftigkeit,
der er ſich uͤberließ, von Witz und Humor keine Spur
zu ſehen. Sein uͤbriges Betragen glich ſeinem Sprechen;
nichts Vornehmes, nichts Geſpanntes, nichts Abſicht¬
liches, nichts, was uͤber das Buͤrgerliche hinausginge;
ſeine Hoͤflichkeit war die groͤßte Guͤte, ſeine Haltung
und Art hausvaͤterlich, fuͤr den Fremden gern ruͤckſichts¬
voll, aber fuͤr ſich ſelber dabei moͤglichſt ungezwungen.
Auch der Eifer, in welchen der Reiz des Beſprochenen
ihn oͤfters brachte, veraͤnderte doch jene Grundſtimmung
niemals, nirgends trat Schaͤrfe hervor, nirgend ein
Vorſtellenwollen, nirgends lauerndes Beobachten und
Spaͤhen, uͤberall Milde, uͤberall freies Walten ſeiner
nicht ſcharfumgraͤnzten Natur, uͤberall offne Bahn fuͤr
ihn, und hundert Uebergaͤnge aus einer in die andere,
mit voͤllig unbekuͤmmertem Darſtellen ſeiner ſelbſt. Erſt
lobte er alles, was von neuern Erſcheinungen zur Sprache
kam, und wenn wir dann etwas naͤher in die Sache
kamen, war dann alsbald doch Tadel die Huͤlle und
die Fuͤlle. So uͤber Adam Muͤllers Vorleſungen, uͤber
[67] Friedrich Schlegel, uͤber Tieck, und Andere. Er meinte,
die deutſchen Schriftſteller muͤßten ſich immer nur an
das Volk, nicht an die vornehmen Staͤnde halten, wo
ſchon alles verdorben und verloren ſei; und hatte doch
eben Adam Muͤllern geruͤhmt, daß der es verſtehe, ein
gruͤndliches Wort an gebildete Weltleute zu bringen.
Er iſt uͤberzeugt, daß aus dem Aufſchluſſe der indiſchen
Welt fuͤr uns nichts zu gewinnen ſei, als zu den vielen
Dichtungsgaͤrten, die wir ſchon haben, noch einer mehr,
aber keine Ausbeute von Ideen; und doch lobte er einige
Minuten vorher Friedrich Schlegels Bemuͤhungen mit
dem Sanskrit, als muͤſſe ein neues Heil daraus her¬
vorgehen. Er hatte es nicht hehl, daß ein rechter Chriſt
ihm jetzt nur als ein proteſtantiſcher denkbar ſei, daß
ihm eine wahre Verkehrtheit duͤnke, wenn ein Proteſtant
jetzt katholiſch werde, und mit dieſer Anſicht hatte ſich
kurz vorher doch die groͤßte Hoffnung vertragen, daß
der katholiſche Geiſt in Friedrich Schlegel mit dem in¬
diſchen vereint viel Gutes wirken werde! Von Schleier¬
macher ſprach er achtungsvoll, meinte aber doch, ſeinen
Platon koͤnne er nicht recht genießen, und in Jacobi's
und Herder's Seelenſchwunge glaubte er viel mehr von
jenem goͤttlichen alten Weiſen zu ſpuͤren, als in allem
gelehrten Scharfſinne Schleiermachers, was ich freilich
nicht ohne ſtarken Widerſpruch durchlaſſen wollte. Fichte,
von deſſen Reden an die deutſche Nation, gehalten in
Berlin unter dem Geraͤuſch franzoͤſiſcher Trommeln, ich
5*[68] ihm viel erzaͤhlte, war und blieb ihm unheimlich; die
Entſchiedenheit dieſer Kraft aͤngſtigte ihn, und er ſagte,
er koͤnne dieſen Autor nur noch gymnaſtiſch leſen, mit
dem Inhalte ſeiner Philoſophie habe er nichts mehr zu
thun.
Jean Paul wurde hinausgerufen, und ich blieb eine
Weile mit ſeiner Frau allein. Auch dieſer wußte ich
von ihrer Vaterſtadt Berlin mancherlei zu erzaͤhlen, und
ihre Theilnahme fuͤr dortige Verhaͤltniſſe und Perſonen
hatte nach allem, was ſie ſchon mit angehoͤrt, noch eine
große Nachleſe zu halten. Die Frau gefiel mir unge¬
mein; ſanft, fein, ſittig, verband ſie mit dem ſchoͤnſten
Eindruck der Haͤuslichkeit zugleich hoͤhere Geſellſchafts¬
gaben und freiere Welteinſicht, als Jean Paul zu haben
ſchien. Sie wollte ſich aber dem trefflichen Mann auch
in dieſer Beziehung gern unterordnen. Aus allem ging
hervor, daß beide Gatten ein recht gluͤckliches Leben zu¬
ſammen fuͤhrten. Ihre drei Kinder ſind ſchoͤne, liebliche,
friſche Geſchoͤpfe. Ein Knabe, Max, von fuͤnf Jahren,
iſt der Liebling des Vaters, der einen kuͤnftigen Kriegs¬
helden in ihm ſieht; in der That iſt er ganz Kraft und
Muth, und auch von Koͤrper ausgezeichnet, ich fuͤhlte
die ſtarken Knochen und Sehnen ſeiner kleinen Arme
mit Erſtaunen. Zwei Maͤdchen, Emma und Ottilie,
aͤlter und juͤnger als der Knabe, ſahen ſehr lieblich aus,
und zeigten, bei ſchon merkbarer Verſchiedenheit der An¬
lagen, das gemeinſame Gute der Eltern unzweifelhaft.
[69]
Alle drei ſind voͤllig unbefangen, ganz frei und ganz
kindlich, weniger zum Guten erzogen, als darin aufge¬
wachſen. Ich hatte recht herzliche Freude an ihnen,
und ſie riefen mir andre liebe Kinder in's Gedaͤchtniß,
mit denen ich noch kuͤrzlich zuſammen war! Als der
Vater wieder eintrat, war es ziemlich ſpaͤt geworden,
ich wollte weggehen, wurde aber nur entlaſſen, um
meinen Reiſegefaͤhrten zu benachrichtigen, daß ich nicht
mit ihm eſſen wuͤrde; Harſcher zu Jean Pauls Mittags¬
tiſche mitzubringen, wie ich aufgefordert war, durfte ich
nicht hoffen.
Fortwaͤhrend geſpraͤchig und aͤußerſt gutgelaunt ver¬
breitete ſich Jean Paul uͤber die mannigfachſten Gegen¬
ſtaͤnde. Ich brachte ihm unter andern auch einen Gruß
von Rahel Levin und die beſcheidene Frage, ob er ſich
ihrer noch erinnere? Sein Geſicht ſtrahlte von ver¬
gnuͤgter Heiterkeit: „Wie koͤnnte man ein ſolches Weſen
je vergeſſen?“ rief er lebhaft aus; „Das iſt eine in
ihrer Art einzige Perſon, ich bin ihr von Herzen gut
geweſen, und werde es noch taͤglich mehr, denn der
Eindruck von ihr waͤchſt mit allem, was ſonſt in mir
an Sinn und Verſtaͤndniß zunimmt; ſie iſt die einzige
Frau, bei der ich aͤchten Humor gefunden, die einzige
humoriſtiſche Frau!“ (Jean Paul dachte wohl nicht an
Frau von Sévigné, oder war nicht darauf gekommen,
ihrer Eigenthuͤmlichkeit den rechten Namen zu geben;
denn was die Franzoſen an ihr ſo ſehr als Natuͤrlichkeit
[70] preiſen, iſt in den meiſten Faͤllen grade das, was wir
Humor nennen.) Nun ging er in großes Lob einzelner
Eigenſchaften ein. Als ich dieſes Lob unterbrach, und
ihn verſicherte, aller Verſtand, Klugheit und Witz, die
er von Rahel ruͤhme, ſeien in meinen Augen doch viel
geringer, als die Innigkeit und Guͤte ihres Gemuͤths,
wunderte er ſich nicht, ſondern glaubte mir dies gern,
und wiederholte nur, jene ſeien aber ungeheuer groß.
Er ruͤhmte ſich zweier Briefe von Rahel, und ſagte,
der eine aus Paris ſei mehr als zehn Reiſebeſchreibungen
werth, ſo habe noch nie jemand die Franzoſen und die
franzoͤſiſche Welt auf den erſten Blick eingeſehen und
karakteriſirt; was das fuͤr Augen waͤren, die ſo ſcharf
und klar gleich die ganze Wahrheit, und nur die Wahr¬
heit, ſaͤhen! Als ich ihm ſagte, wie viele Briefe ich
von ihr beſaͤße, nicht an mich geſchriebene, ſondern mir
geſchenkte, wurde er ganz neidiſch; wenn ich in derſelben
Stadt mit ihm wohnte, ſagte er, ſo muͤßte ich ihm
wenigſtens zwei Worte aus jedem Briefe mittheilen;
das ſei ein ungeheurer Schatz, ein einziger; Rahel ſchreibe
vortrefflich, es ſei aber nothwendig, daß ſie an jemand
ſchreibe, ein perſoͤnlicher Anreiz muͤſſe bei ihr alles her¬
vorlocken, mit Vorſatz ein Buch zu ſchreiben werde ſie
wohl nie im Stande ſein. „Ich bin jetzt faͤhiger, fuhr
er fort, ſie zu verſtehen, als damals in Berlin; ich
moͤchte ſie jetzt wiederſehen! je oͤfter mir von den Be¬
merkungen und Ausſpruͤchen, die ſie nur ſo hin zu
[71] ſagen pflegte, etwas wieder einfaͤllt, je mehr ſtaune ich!
Sie iſt eine Kuͤnſtlerin, ſie hebt eine ganz neue Sphaͤre
an, ſie iſt ein Ausnahmsweſen, mit dem gewoͤhnlichen
Leben in Krieg, oder weit daruͤber hinaus; — und ſo
muß ſie denn auch unverheirathet bleiben!“ Er pries
mich gluͤcklich, eine ſolche Freundin zu haben, und fragte
mich, gleichſam pruͤfend und meinen Werth meſſend,
wodurch ich, noch ſo jung, mir das verdient habe? Ich
gewann ſichtbar in ſeinen Augen durch dieſe Beziehung.
Als ich am Abend dies alles Harſchern wiedererzaͤhlte,
war auch dieſer ganz benommen von der Macht ſolcher
Aeußerungen, denen er ſich doch nur gezwungen beugte,
denn wo er die Anerkennung nicht ſelbſt aufgebracht,
wo er ihr nur zuſtimmen mußte, war ſie ihm jedesmal
ſchwer und faſt peinlich.
Montag, den 24. Oktober. Der empfangenen Ein¬
ladung zufolge, ſtellte ich mich heute Nachmittag fruͤh
genug bei Jean Paul ein. Harſcher behauptete, noth¬
wendig Briefe ſchreiben zu muͤſſen, und blieb unbeweg¬
lich im Wirthshauſe. Jean Paul war eben von einem
Spaziergange heimgekehrt, die Frau mit dem einen
Kinde noch nicht zu Hauſe. Wir kamen auf ſeine
Schriften, dieſe bei den meiſten Autoren ſo bedenkliche
Saite, welche der eine gar nicht beruͤhrt wiſſen will,
der andre immerfort will klingen hoͤren. Er war dabei
ſo liebenswuͤrdig, wie ich nie erwartet, frei, unbefangen
und gruͤndlich in ſeinem ganzen Weſen. Der Anlaß
[72] dieſes Geſpraͤchs war der neuſte Cotta'ſche Damen¬
kalender, worin Goethe's „pilgernde Thoͤrin“ und Jean
Pauls „Traum einer Wahnwitzigen“ ſtehen. Es war
noch kein Exemplar nach Baireuth gekommen, ich aber
brachte von Dresden her eines mit, Jean Paul wuͤnſchte
es zu behalten, und wies mir in Tuͤbingen bei Cotta
den Erſatz an. Solche Phantaſieen, ſagte er, wie jener
Traum eine ſei, koͤnne er immerfort ſchreiben, die Stim¬
mung dazu, wenn er nur geſund ſei, habe er ganz will¬
kuͤrlich in ſeiner Gewalt, er ſetze ſich an's Klavier, phan¬
taſiere da auf das wildeſte, uͤberlaſſe ſich ganz dem
augenblicklichen Gefuͤhl, und ſchreibe dabei ſeine Bilder
hin, freilich wohl nach einer gewiſſen vorbedachten Rich¬
tung, aber doch ſo frei, daß dieſe ſelbſt oft veraͤndert
wuͤrde. Ganz eben ſolcher Stimmung folge er, fuͤgte
er hinzu, wenn er den Leibgeber oder Schoppe in der
hoͤchſten Begeiſterung reden laſſe, dieſe Figur ſei dann
ganz er ſelber. Noch erfuͤllt von den Bildern jenes
Traumes, von der Rieſenhaftigkeit der Gedanken, die
hier hin und her geworfen werden, und die zu den
groͤßten und gehaltvollſten aller Maͤhrchenpoeſie gehoͤren,
mußte ich nur um ſo mehr erſtaunen, als ich die un¬
erſchoͤpfliche Fruchtbarkeit vernahm, mit welcher dem
Dichter dieſe Gebilde zuwachſen. Er hatte ſich in dieſer
Art einmal vorgenommen, eine „Hoͤlle“ zu ſchreiben,
die kein Menſch ſollte aushalten koͤnnen, und vieles da¬
von iſt wirklich fertig, jedoch nicht fuͤr den Druck be¬
[73] ſtimmt. Ich fragte nach den „Flegeljahren,“ und hoͤrte
zu meiner groͤßten Freude, daß er ſie ganz gewiß fort¬
ſetzen wird; er betrachtet ſie wie ſein beſtes Werk, worin
er recht eigentlich wohne, da ſei ihm alles heimiſch und
behaglich, wie eine freundliche Stube, ein bequemes
Sopha, und vertraute froͤhliche Geſellſchaft. Auch iſt
er uͤberzeugt, ſeine eigenthuͤmlichſte und wahrſte Richtung
in dieſem Buche befolgt, ſeine wahre Art gewiß darin
getroffen zu haben, andre ſeiner Buͤcher, meinte er,
koͤnnte er mit ſeinem Talent gemacht haben, in den
Flegeljahren aber habe ſein Talent ihn ſelbſt ergriffen,
auch ſeien Vult und Walt nur die beiden entgegenge¬
ſetzten und doch verwandten Perſonen, aus deren Ver¬
einigung er beſtehe.
Wir ſprachen noch vielerlei uͤber Schriften und deren
Abfaſſung, deren Triebwerke und Huͤlfsmittel. Dabei
kamen wir denn auch auf das Darſtellen von Gegenden
und Landſchaften. Jean Paul iſt darin em großer Mei¬
ſter; kein Wunder, da er von je mit der Natur gelebt,
in ſeinen fruͤheren Jahren oft halbe Tage im Freien
zugebracht, Wolken und Luft, Land und Waſſer, ja jede
Blattwindung und Halmſtellung, liebevoll beobachtet,
das Groͤßte wie das Kleinſte, und zu ſeiner Erinnerung
immer alles aufgeſchrieben, ſo viel dies nur moͤglich
war. Er erſchrak ordentlich, als ich es wagte, Goethe'n
als weniger geſchickt in dieſer Parthie zu bezeichnen,
und erinnerte ſogleich an zwei im „Werther“ beſchriebene
[74] Gegenden und Landſchaften, denen in der That die
Meiſterhaftigkeit nicht abzuſprechen iſt. Wie aber die
Sache anzugreifen ſei, welche techniſche Vortheile es
dafuͤr gebe, daruͤber ſtritten wir eine Weile. Endlich
ſagte Jean Paul ſehr ſinnvoll, um eine Gegend dichteriſch
aufzufaſſen, duͤrfe der Dichter nicht bei ihr anfangen,
ſondern er muͤſſe die Bruſt eines Menſchen zur camera
obscura machen, und in dieſer die Gegend anſchauen,
dann werde ſie gewiß von lebendiger Wirkung ſein;
nichts aber ſei todter, als wenn der ſich neugierig um¬
ſehende Reiſende nur den ſinnlichen Stoff als ſolchen
erzaͤhle und beſchreibe. Jean Paul verlangte, der Dich¬
ter ſolle auch wirkliche Gegenden doch immer nur aus
der Phantaſie beſchreiben, die allein koͤnne das Richtige
und Wahre liefern. So habe er ſelber ſchweizeriſche
und italiaͤniſche Gegenden, letztere z. B. im „Titan,“
ſehr richtig — wenigſtens die bewaͤhrteſten Kenner ſagten
es — geſchildert, ohne ſie je geſehen zu haben, und
auch in Nuͤrnberg, deſſen Oertlichkeit in den „Palinge¬
neſien“ bis zum kleinſten Einzelnen vorkomme, ſei er
erſt lange nachher, und auch da nur auf einen halben
Vormittag, geweſen. Mir ſchien eine tiefe Wahrheit
in dieſer Paradoxie zu liegen, der doch nicht unbedingt
beizuſtimmen war; gilt fuͤr das Bild ein anderes Geſetz,
als Meſſen und Aufzaͤhlen, ſo muß doch die Phantaſie,
um Bilder einer beſtimmten Wirklichkeit hervorzurufen,
[75] wenigſtens aͤhnliche Beſtandtheile ſtets als Gleichniß be¬
reit haben. —
Das Geſpraͤch wandte ſich auf die oͤffentlichen An¬
gelegenheiten, auf den Zuſtand von Deutſchland, auf
die Machtherrſchaft der Franzoſen. Mir ſind die poli¬
tiſchen muͤſſigen Verhandlungen ſehr zuwider, es kommt
wenig dabei heraus, man tappt im Finſtern, und alles
iſt meiſtentheils ganz anders, als man die Sachen ge¬
woͤhnlich im erſten Augenblick wiſſen kann und behaup¬
ten will. Aber entzuͤckend war es mir, Jean Paul bei
ſolchem Anlaſſe die reinſten vaterlaͤndiſchen Geſinnungen
ausſprechen zu hoͤren, und um dieſer Felſeninſeln willen
durchſchwamm ich freudig das leere Gefluth unſichrer
Nachrichten und ſchwankender Vermuthungen, das um
jene her wogte. Was Jean Paul ſagte, war tief, ver¬
ſtaͤndig, herzlich, tapfer, deutſch bis in die kleinſte Faſer
hinein; kurz tauſendmal beſſer als ſeine „Friedens¬
predigt“, uͤber die wir uns in Berlin geaͤrgert hatten.
Ich konnte ihm vielerlei erzaͤhlen, von Napoleon, den
er nur aus Bildniſſen kannte, von Johannes von Muͤller,
uͤber deſſen Kataſtrophe und Karakter er begierig Auf¬
ſchluß wuͤnſchte, von Fichte, dem er jetzt gezwungen
ſeine hoͤchſte Bewunderung widmete, von dem Marquez
de la Romana und ſeinen Spaniern, die ich in Ham¬
burg geſehen hatte. Jean Paul zweifelte keinen Augen¬
blick, daß die Deutſchen einſt gleich den Spaniern ſich
erheben, daß die Preußen ihre Schmach raͤchen und das
[76] Vaterland befreien wuͤrden; er hoffte, ſein Sohn werde
es erleben, und wollte es nicht laͤugnen, daß er ihn
zum Soldaten erziehe. Meine Mittheilungen und An¬
ſichten konnten ſein Vertrauen nur beſtaͤrken; ich brachte
ihm Zeugniſſe in Menge, wie hohl und ſchwach die
Macht Napoleons in ſich ſelber ſei, wie tief und ſtark
die Geſinnung, die ihm entgegenſtehe. In dieſe abge¬
legene Provinz waren viele Thatſachen noch gar nicht
hingedrungen, eine Menge von Bezuͤgen waren hier
ganz neu. Jean Paul hoͤrte mir begierig zu, und barg
ſein Entzuͤcken nicht, als ich ihm mehrere Strophen der
Ode von Staͤgemann gegen Napoleon herſagte, wobei
er doch ſorgſam warnte, dergleichen nur vorſichtig mit¬
zutheilen und nicht ſchriftlich bei mir zu fuͤhren, und
allerdings mußte ich zugeben, daß man um weniger
ſchon hier Freiheit und Leben verlieren koͤnne. Aber
bald vergaß er ſelbſt ſeiner Warnung, und wollte eine
Abſchrift haben. Nun druͤckten wir uns erſt recht als
gleichgeſinnte Freunde die Haͤnde, und tauſchten ruͤck¬
haltlos unſre Meinungen aus. Die Spanier machten
den freudigen Refrain zu allem, auf ſie kamen wir
immer zuruͤck.
Die Erwaͤhnung der Reden Fichte's brachte uns auf
das Erziehungsweſen, fuͤr den Verfaſſer der „Levana“
natuͤrlich ein ſehr ergiebiger Gegenſtand. Er billigte
faſt alles, was ich ihm als Ergebniß meiner Erfahrun¬
gen hieruͤber vortrug, und ſchloß endlich mit dem Satz,
[77] daß man nur ſeine eignen Kinder, aber keine fremden,
erziehen koͤnne. Dieſes Erziehen der eignen Kinder
nun, ich muß es ſagen, leiſtet er auf die vortrefflichſte
Weiſe, ich habe es in dieſen zwei Tagen ſo gut erkannt,
als ob es hundert geweſen waͤren. Die Kinder ſind
gluͤcklich, gedeihen in zarter Liebe und geſunder Staͤrke,
entwickeln ſich nach eigner Art, und fuͤr dieſe Eigenheit
hat Jean Paul das leiſeſte Gefuͤhl, die ſorgſamſte Acht
und Leitung.
Nuͤrnberg, Donnerstag den 27. Oktober. Ich habe
noch einiges von meintm letzten Abend in Baireuth bei
Jean Paul nachzuholen. — Die Frau war nach Hauſe
gekommen, und nahm an dem letzten Geſpraͤche einigen
Antheil, entfernte ſich aber bald wieder in haͤuslichen
Geſchaͤften. Die zwei juͤngſten Kinder waren einge¬
ſchlafen. Ich wollte den lieben Kindern gern ein An¬
denken von mir zuruͤcklaſſen, ſetzte mich daher zum
Tiſch, und begann einige Bildchen fuͤr ſie auszuſchnei¬
den. Als Jean Paul dieſe kleine Kinderwelt aus Pa¬
pier ziemlich ſchnell vor ſeinen Augen entſtehen ſah,
wurde er ſelber von Kindergefuͤhlen ergriffen, mit ver¬
gnuͤgter Lebhaftigkeit rief er ſeine Frau herbei, weckte
ſeine Kinder auf, das dritte hatte ſich ſchon an mich ge¬
ſchmiegt, und nun ſollte ich umſtaͤndlich von Allem Rechen¬
ſchaft geben. Meine kleinen Arbeiten wurden von den
Kindern mit Jubel aufgenommen, ſie behaupteten, ich
ſei das Chriſtkindchen, das ihnen Geſchenke bringe, und
[78] auf die Bemerkung, ich ſei aber doch ſchon ſo groß,
blieb der Knabe dabei, nun ja, ich ſei ein großes Chriſt¬
kindchen, welches Wort den Vater ungemein freute, ſo
daß es mir erſt hiedurch auffiel. In ſolchen Geſpraͤchen
und Beſchaͤftigungen ging ein guter Theil des Abends
hin, ich fuͤhlte mich ganz begluͤckt in der Mitte dieſer
ſchoͤnen, reinen Familie, die ſo herzlich gegen mich war,
und mich ſchon keine Fremdheit mehr empfinden ließ.
Ich blieb zum Abendeſſen, gegen meinen Vorſatz,
denn ich hatte Harſchern verſprochen, nicht ſpaͤt wieder¬
zukommen, da wir am andern Morgen fruͤh abreiſen
wollten. Die Frau war uͤberaus guͤtig, Jean Paul
ſo traulich und aufgeweckt, daß ich dem beiderſeitigen
Zureden nicht widerſtehen konnte. Bei dem artigen
und ſchon ſuͤddeutſch reichlichen Mahle herrſchte die beſte
Laune. Unter andern gab uns der Vorfall ſehr zu
lachen, daß mir Jean Paul eine Empfehlung nach
Stuttgart an einen ſeiner — wie er ſagte — herzlichſten
Freunde geben wollte, es aber unterlaſſen mußte, weil
er ſich durchaus nicht auf deſſen Namen beſinnen konnte!
Von ernſthafter Art hingegen waren die Geſpraͤche uͤber
Tieck, Friedrich und Wilhelm Schlegel, Bernhardi,
Schuͤtz, mit Einem Wort, uͤber die ſogenannte roman¬
tiſche Schule. Jean Paul hatte dieſelbe in ſeiner „Vor¬
ſchule der Aeſthetik“ gleichſam anerkannt, allein aus
bloßer Achtung fuͤr Talent und Geiſt; gegen den eigent¬
lichen Kern jenes ganzen Zuſammenhangs hegte er
[79] fortwaͤhrend das tiefſte Widerſtreben. Beſonders gegen
Tieck war ſeine Stimmung jetzt von manchen Seiten
ſehr aufgebracht. Er behauptete, Tieck habe eine ganze
Gattung ſeines Komiſchen von Bernhardi entlehnt, wie
man deutlich aus den „Bambocciaden“ ſehe, einen
andern Theil habe er ſeinen, Jean Pauls, Schriften
nachgebildet, wie er ihm ſelber einſt eingeſtanden; dann
habe er viel von Shakespear angenommen; ſein Ernſt¬
haftes und Ruͤhrendes aber ſei theils aus alten Volks¬
buͤchern, theils — wie die ſchoͤnſten Anklaͤnge der
„Genoveva“ — aus dem Mahler Muͤller geſchoͤpft; die
Kunſtempfindſamkeit in den „Phantaſieen“ und im
„Sternbald“ kam auf Rechnung Wackenroder's, und
die aͤußerſt komiſche Erzaͤhlung vom Schneider Tunelli
ſollte faſt woͤrtlich aus einem alten Buche wiederabge¬
druckt ſein. So kam es uͤber Tieck hier faſt zu einem
aͤhnlichen concursus creditorum, wie die Schlegel im
Athenaͤum muthwillig einen uͤber Wieland eroͤffnet hat¬
ten. Allein ich mußte mich dieſem doch ſehr ungerechten
und uͤbereilten Verfahren entgegenſetzen. Die Anklage
wegen der Benutzung der Genoveva des Mahler Muͤller
ſei, konnte ich mit Grund behaupten, von Tieck ſchon
laͤngſt ſiegreich zuruͤckgewieſen. Die Bambocciaden, ſo
wußte ich von Bernhardi ſelbſt, gingen zwar unter deſſen
Namen, ruͤhrten aber dem beſſern Theile nach von
Tieck her. Die Nachbildung alter Stoffe, wandt' ich
ferner ein, ſei von jeher den Dichtern erlaubt geweſen;
[80] ſie habe nie zum Vorwurfe gereichen koͤnnen, ſobald
eine neue Schoͤpfung dabei ſtattfinde, das letztere ſei
aber bei der Genoveva, dem Oktavianus und vielen
andern, ganz unlaͤugbar. Schließlich konnte ich Bern¬
hardi's Wort anfuͤhren, der in den Zeiten feindlicher
Spannung einſt mit edler Aufrichtigkeit mir das Be¬
kenntniß abgelegt, er moͤge es bedenken wie er wolle,
er moͤge ſich fragen her und hin, immer bleibe er von
der tiefen Wahrheit durchdrungen, immer trete ihm neu
die Ueberzeugung auf, daß von allen Anfuͤhrern der
romantiſchen Schule doch nur Tieck der wahrhaft geniale
und der ſei, von dem man ſagen koͤnne, er trage die
Gottheit im Buſen! Jean Paul wurde nachſinnend,
es vergegenwaͤrtigten ſich ihm die Vorzuͤge, ſein Herz
neigte ſich ohnehin lieber zum Anerkennen und Bewun¬
dern, und ſo geſchah es bald, wie mir ſchon geſtern
mehrmals begegnet war, daß er bei ganz andern Er¬
gebniſſen anlangte, als der Beginn hatte erwarten
laſſen; die Mißſtimmung mit allen ihren Gruͤnden und
Antrieben verſchwand, und Tieck blieb uns ein Dich¬
ter, ein hoher und trefflicher! —
Dieſe Biegſamkeit in Jean Pauls Urtheilen, dieſe
Eingeſchloſſenheit in beſtimmte Gedankenzuͤge, dieſe klei¬
nen Scheuleder an den Seiten, die ihn nur ſeine grade
Straße vor ſich hinſehen laſſen, dieſe augenblickliche
Beſchraͤnkung und Einſeitigkeit, alles dies haͤngt un¬
ſtreitig mit ſeinen beſten Eigenſchaften zuſammen, und
[81] ruͤhrte mich als eine liebenswuͤrdige Schwaͤche, die
auch ſeinem Weſen weniger ſchaͤdlich iſt, als ſie es einem
andern waͤre, das ſich mehr in eingreifendem Handeln
und ſcharfem perſoͤnlichen Vortreten gefiele. Jean Paul's
Ungerechtigkeit iſt nur eine in ihm, nicht in der Welt,
ſie uͤberſchreitet das ſtille Gehege ſeiner Privatgedanken
nicht. Und die Ruͤckkehr zur Freundlichkeit und Guͤte
wiegt hundertmal die kurze Abwendung auf.
Ich lernte Jean Paul aus dieſen Geſpraͤchen mehr
kennen, als die Perſonen, die er beſprach. Es iſt ein
reiner edler Menſch, kein Falſch und kein Schmutz iſt
in ſeinem Leben, er iſt ganz wie er ſchreibt, liebevoll,
innig, ſtark und brav. Auch an perſoͤnlicher Tapfer¬
keit fehlt es ihm gewiß nicht, und kaͤme die Gelegen¬
heit, ſo wuͤrde er, ich traue es ihm zu, mit dem Degen
ſchneller bei der Hand ſein, als mancher Andre.
Als ich mir den trefflichen Mann in ſeinem Werthe
ſo betrachtete und erwog, ſchlug mir ploͤtzlich das Ge¬
wiſſen. Ich mußte an unſern Doppelroman, die „Ver¬
ſuche und Hinderniſſe“, gedenken, und an die komiſche
Figur, welche Jean Paul unter dieſem ſeinen Namen
und in ſeiner eigenſten Manier darin ſpielt. Zwar
hatte ich grade an dieſer Figur den wenigſten Antheil,
ſie war, ihren beſten und eindringendſten Zuͤgen nach,
das Werk von Neumann, aber an dem Ganzen war
ich doch mitſchuldig, und es kam mir wie eine Treu¬
loſigkeit vor, von Jean Paul jetzt zu ſcheiden, ohne
III. 6[82] ohne ihm den Frevel zu bekennen. Ich erzaͤhlte ihm
alſo die Entſtehung des Buches, den ungefaͤhren In¬
halt, und daß und wie neben Johannes von Muͤller
und Johann Heinrich Voß auch er ſelber darin vor¬
komme. Er hoͤrte mich ganz gelaſſen an, freute ſich
des Scherzes, den er als gut und gelungen anzuer¬
kennen hoffte, und rechnete es mir beſonders an, daß
ich den Drang gefuͤhlt, ihm davon zu ſprechen. Er
verſtand vollkommen, wie es gemeint war, und begriff
die Stimmung, die uns verleiten gekonnt, gerade unſre
gefeierten Helden mit dergleichen Muthwillen anzugrei¬
fen; er wiſſe recht gut, ſagte er, daß die Soldaten
Caͤſars, die bei deſſen Triumphzuge die bekannten Spott¬
lieder ſangen, darum doch die tapferſten und treuſten
blieben, auf die jener ſich in Gefahr und Kampf am
ſicherſten verlaſſen konnte. „Alles, alles aber, rief er
aus, kommt darauf an, daß die Sache wirklich gelun¬
gen iſt! Das Aeſthetiſche muß euch retten, iſt das nicht
gut, dann habt ihr auch das Moraliſche zu verantwor¬
ten; kann ich jenem aber Beifall geben, ſo nehm' ich
dieſes auf mich!“ Es gefiel ihm nicht uͤbel, daß auch
wir uns ſelber, wie ich ihm erzaͤhlte, in dem Buche
nicht geſchont, ſondern zu ſtarken Zerrbildern verarbei¬
tet haͤtten. „So iſt die Jugend, ſagte er lachend, gilt
es einen durch den Regen zu jagen, ſo ſcheut ſie ſelber
die Traufe nicht! Doch wenn die Wirthe denn mit¬
eſſen, werden die Gaͤſte ja wohl auch das Vorgeſetzte
[83] noch hinunterbringen!“ Von Muͤller und Voß meinte
er, ſie wuͤrden ſich doch ſehr aͤrgern, die verſtaͤnden
nicht ſo Spaß wie er. Indeß empfand auch er einigen
Schreck und Entruͤſtung, als er vernahm, daß wir
Goethe'n zu necken gewagt, und auch die Figur Wil¬
helm Meiſters frevelhaft mißbraucht haͤtten. „Kinder,
was habt ihr da gethan! ſagte er bedenklich, das haͤttet
ihr unterlaſſen ſollen! Goethe iſt ein geweihtes Haupt,
der ſteht anders, als alle Uebrigen. Den geb' ich
weniger preis, als mich ſelbſt!“ Ich hatte in meinem
Bericht die Farben eher zu ſtark als zu ſchwach aufge¬
tragen, und freute mich ſchon, daß Jean Paul das
Buch wenigſtens nicht ſchlimmer finden wuͤrde, als er
es ſich jetzt vorgeſtellt. Wegen Goethe's ſuchte ich ihn
wieder etwas zu beruhigen. Von dieſem ſprachen wir
nun noch eine Weile, und Jean Paul mit ſteigender
Bewunderung, ja mit einem Schauder von Ehrer¬
bietung. —
Das herrlichſte Obſt war zum Nachtiſch aufgetragen.
Ploͤtzlich erhob ſich Jean Paul, gab mir die Hand, und
ſagte: „Verzeihen Sie, ich gehe zu Bett! Da es aber
noch ſehr fruͤh iſt, ſo bleiben Sie in Gottesnamen noch
hier und plaudern mit meiner Frau, es wird noch man¬
cherlei vorzubringen ſein, was ich nicht aufkommen ließ.
Ich bin ein Spießbuͤrger, die Stunde iſt da, wo ich
ſchlafen muß!“ Er nahm ein Licht, und ſagte gutnacht.
Wir ſchieden in großer Herzlichkeit, und in dem beider¬
6*[84] ſeitigen Wunſche, daß ich kuͤnftig einmal laͤngere Zeit
in Baireuth verweilen moͤchte. —
Noch eine ganze Weile blieb ich mit der trefflichen
Gattin in lebhaftem Geſpraͤch, deſſen Gegenſtand meiſt
Jean Paul ſelbſt war, dann auch mancherlei mir be¬
kannte Verhaͤltniſſe, denen ſie einen neuen Antheil wid¬
mete. Ich kam ſpaͤt in unſer Wirthshaus, und fand
Harſcher ſchon eingeſchlafen, merkte noch eilig in meine
Schreibtafel die wichtigſten Zuͤge dieſes Abends an, und
als wir am andern Tage wieder unterwegs waren,
fehlte mir fuͤr meinen Begleiter die unerſchoͤpflichſte und
willkommenſte Unterhaltung nicht, indem ich ausfuͤhrlich
ſchilderte und beſprach, was alles er verſaͤumt hatte! —
Waͤhrend ich in Tuͤbingen war, kam der ſogenannte
Doppelroman wirklich an das Tageslicht. Neumann
und ich waren doch nicht ohne Beſorgniß, wie Jean
Paul die Sache aufgenommen habe. Jedoch gelangte
zu uns daruͤber keine Kunde. Das Buch, wiewohl
erſchienen, und hin und wieder angekuͤndigt, fand noch
lange Zeit keinen Weg in Jean Pauls Haͤnde. Noch
am 20. Maͤrz 1809 richtete er nach Tuͤbingen folgen¬
des Blatt an mich: „Ihre Scheeren-Plaſtik macht nicht
bloß meinen Kindern, ſondern auch meinen Freunden
und mir große Freude; nur dauert mich bei dieſer Zeich¬
nungs- oder Bildungskraft zweierlei; — erſtlich, daß
[85] ſie nicht zu ordentlichen kuͤnſtleriſchen Zwecken ſich ein¬
lenkt, — und zweitens Ihre Augen. Doch letztere noch
bei ihrer feinen, kleinen Handſchrift. Haben ſie denn
ſo viel Augen als Argus, daß ſie nach ein Paar weni¬
ger nicht fragen? — Sie ſind der groͤßte Augenver¬
ſchwender, da Sie ſogar fremde mitverſchleudern. In
unſerm illitterariſchen Baireuth kann ich Ihren Roman
nicht bekommen, wenn Sie mir ihn nicht ſchicken. Iſt
er gut, ſo hat meine Perſoͤnlichkeit keinen Einfluß auf
meine Unpartheilichkeit. Ich wuͤnſchte ihn ſehr. Gruͤßen
Sie Demoiſelle Levin, mich koͤnnte ſie am beſten gruͤßen
laſſen durch ein Schock voller Bogen. Leben Sie wohl!
Ihr Jean Paul Fr. Richter.“
Dieſes Briefchen aber traf mich nicht mehr in Tuͤ¬
bingen, ſondern irrte in der Welt umher, nach Ham¬
burg, Berlin, Oeſterreich und Ungarn, nnd kam erſt
nach Verlauf eines Jahres, im Maͤrz 1810, zu Prag
in meine Hand. Die Welt hatte unterdeſſen einen
neuen Umſchwung erlitten, auch mein perſoͤnliches Ge¬
ſchick entſcheidende Wendungen erfahren. Nicht jedes
fruͤhere Wort war zu behaupten, nicht jede Anknuͤpfung
fortzuſetzen, Verhaͤltniſſe und Richtungen hatten gewech¬
ſelt. Ich mochte das meinem Sinne ſchon ferngeruͤckte
Buch an Jean Paul nicht mehr ſchicken, auch waͤre
mir in Prag dergleichen noch ſchwerer aufzutreiben ge¬
weſen, als ihm in Baireuth. Doch unterließ ich nicht,
ihm zu antworten, ſchon um zu bemerken, daß ſein
[86] Brief grade ein Jahr gebraucht, um von Baireuth nach
Prag zu kommen, und dann des ſonderbaren Zuſam¬
mentreffens wegen, daß ich eben Jean Paul's neueſtes
Buch, des Doktor „Katzenbergers Badereiſe“, geleſen,
dann mich ſelber auf einer Badereiſe mit dem Fuͤrſten
Ferdinand Kinsky und deſſen Arzte, einem zu meinem
Erſtaunen wirklich ſo heißenden Doktor Katzenberger,
nach dem Kinsky'ſchen Badeort Mſcheno befunden hatte,
und beim Abſteigen vom Wagen den Brief Jean Paul's
von vorigem Jahre eingehaͤndigt erhielt. Dies alles
duͤnkte mich ſo Jean Paul'ſch, daß ich es ihm ſagen zu
muͤſſen glaubte. Hiemit brach der Verkehr ab; neue
Reiſen und Veraͤnderungen lenkten mich nicht zu ihm.
Ich habe ihn leider nicht wiedergeſehen. Auch Neumann
ſah ihn nie. Wir haben nicht erfahren, was er von
ſeinem keck verzerrten, aber dabei meiſterhaft aͤhnlichen
Bilde geurtheilt hat, ob er ſich daran mit heitrer Ueber¬
legenheit ergoͤtzt, oder mit doch reizbarer Empfindlichkeit
geaͤrgert. Auch gegen einige unſrer Freunde, welche
ſpaͤter mit ihm in engere Verbindung kamen, hat er
nie ein Wort uͤber die „Verſuche und Hinderniſſe“
geaͤußert, vielleicht iſt ihm das Buch ſelbſt nie vorge¬
kommen! Nicht zum erſten- noch letztenmale waͤre das
Druckenlaſſen einem geheimen Niederlegen und Verwah¬
ren gleich geweſen, wo der oͤffentlich verborgene Gegen¬
ſtand auf dieſe Weiſe am beſten gegen alles Gefunden-
und Erkanntwerden geſichert iſt! —
Tübingen1808, 1809.
Tuͤbingen, Anfang Novembers 1808. Da ſind wir
denn in Tuͤbingen! Am 1. ſpaͤt Abends, bei vollem
Mondſchein, der die Berge und ihre vom Herbſt wun¬
derkraͤftig gebraͤunte Waldung ſchoͤn beleuchtete, fuhren
wir munter hier ein, und haben in den erſten Tagen
die Stadt und Gegend, die Anſtalten und zum Theil
auch die Menſchen, ſchon zur Genuͤge angeſehen. Ob
wir recht gethan, hieher zu reiſen? Es war eine kuͤhne,
friſche That, alle Gruͤnde waren dafuͤr, — und doch
fuͤrcht' ich ſchon, daß der Ausgang es als ein unnuͤtzes
Abentheuer erſcheinen laͤßt. Der Eindruck von manchem
Einzelnen war gut, die Gegend iſt ſchoͤn, das Volk
unterhaltend, die Maͤnner, die uns anzogen, ſind ihres
Rufes werth; aber das Ganze wirkt auf uns graͤßlich
niederſchlagend! Wir haben ganz daſſelbe Gefuͤhl, Har¬
ſcher und ich, da doch ſonſt unſre Seelenſtimmungen
weit auseinander liegen, ſo wie die Gegenſtaͤnde ver¬
ſchieden ſind, von denen wir bewegt werden. Diesmal
[88] muß alſo doch etwas in der Sache ſein, was uns beide
ſo benimmt und beaͤngſtigt; das gute Tuͤbingen will ich
nicht grade beſchuldigen, aber deſto mehr die grelle
Verſetzung, die wir zu leichtſinnig gewagt, den unge¬
heuren Abſtand des Lebens hier von unſrem in Berlin;
wir dachten den ſo leicht zu ertragen, und ich ſehe ſchon,
wir beide koͤnnen es nicht! — Fuͤr mich iſt das
Schlimmſte, daß alle die Kaͤmpfe, denen ich entgangen
zu ſein glaubte, ſich hier gerade am heftigſten erneuen.
Von allen Seiten beſtuͤrmen mich Zweifel und Lockungen!
Was ich eigentlich will, was ich im Tiefſten des Her¬
zens will, das iſt mir klar und gewiß; aber davon iſt
nicht die Rede! Die Rede iſt davon, daß ich eine Ge¬
ſtalt finde, in der mein Leben ſich das Ziel jenes inner¬
ſten Wollens aneignen koͤnne, und da ſind ſo viele
Wege, da begegnen mir auf jedem guͤnſtige nnd widrige
Zeichen. Es iſt kein Irrthum, daß ich Arzt werden
will, gewiß nicht; dieſer Beruf iſt mir lieb, und ich
kann darin gluͤcklich ſein. Aber es liegt in den Um¬
ſtaͤnden, daß ich, um als Arzt zu leben, keinen andern
Ort als Hamburg waͤhlen kann, und ſo lieb mir der
Ort an und fuͤr ſich iſt, ſo wenig darf ich ihn jetzt fuͤr
mich wuͤnſchen, — und nun gar der Gedanke, mich fuͤr
immer in einer Stadt niederzulaſſen, die franzoͤſiſcher
Herrſchaft unterworfen iſt, waͤhrend doch vielleicht —
vielleicht! — noch einige Strecken des Vaterlandes ſich
als freie Deutſche erhalten! Soll man uͤberhaupt in
[89] ſolcher Zeit ſich niederlaſſen? Und was kann man ſonſt
thun? Ich genug! Ich finde nur zu viele Moͤglich¬
keiten, denen ich folgen kann. Zum Kriege kann jeder
taugen, und ich alſo auch; die Gelegenheit wird nicht
fehlen, denn Deutſchland iſt noch lange nicht voͤllig
unterjocht, und noch lange nicht voͤllig frei; da muß
noch oft zu den Waffen gegriffen werden, kann ich
hieran nicht Theil nehmen, ſo bleibt mir ein entſchiede¬
ner Anſpruch ewig unbefriedigt. Aber auch geiſtige
Thaͤtigkeit reizt mich, litterariſche, auf das geſellſchaft¬
liche Leben wirkſame; ſollt' ich nicht als Schriftſteller
leben koͤnnen, und auch hier mitunter die gewuͤnſchte
Kriegsbahn gegen den Feind eroͤffnet finden? Aber der
Augenblick draͤngt; was ſoll ich waͤhlen, was kann ich
ergreifen? Ich kann nichts abwarten, ich habe nur
Boden, ſo fern ich gewaͤhlt habe, und auch da zuerſt
nur unfruchtbaren! Ob die Fruͤchte dann kommen,
oder ausbleiben, das ſteht dahin. —
Ich war bei Cotta, dem ich meinen Empfehlungs-
und Kreditbrief uͤbergab. Ich glaubte meinen Augen
nicht, als ich nach der Cotta'ſchen Buchhandlung fragte,
und man mich in ein Laͤdchen wies, wo ich mich faſt
ſchaͤmte einzutreten; ſo winzig, eng und ſchmucklos hab'
ich neue Buͤcher noch nie wohnen ſehen, alte wohl!
Und noch dazu iſt dies der Ort, wo die Schiller und
Goethe recht eigentlich zu Hauſe ſind, von wo ſie aus¬
gehn. Der eine, emſig beſchaͤftigte, aber dennoch gut¬
[90] muͤthig aufmerkſame Diener, den ich traf, laͤchelte uͤber
meine Befremdung, und geleitete mich, da ich den
Herrn Doktor ſprechen wollte, zwei ſchmale Stiegen
hinauf, in ein enges Stuͤbchen, wo es aber doch etwas
elegant ausſah, ſogar ein Sopha breitete ſich hinter
einem Tiſche, das einzige bis jetzt, das ich in Tuͤbingen
zu ſehen bekommen, denn Studenten und Profeſſoren
haben ſo ſchwelgeriſche Gewohnheiten nicht. Cotta trat
ein, ein hagrer, aͤltlicher Mann, lebhaft, geſchmeidig in
eckigen Manieren, in ſchwaͤbiſcher Gemaͤchlichkeit raſch;
er war prompt, artig und meinen Wuͤnſchen zuvorkom¬
mend, hatte aber viel zu thun, daher ich ihn bald wieder
verließ. Seitdem war ich auch ſchon einen Abend bei
ihm, wo ich ihn mit ſeiner Frau und ſeinen zwei artigen
Kindern ſah, als freundlichen, liebevollen Hausvater,
den daß luſtige Toͤchterchen mit klugem Muthwillen in
beſte Laune ſetzte; auch die Frau war voll Guͤte, doch
ſehr gehalten, maßvoll und verſtaͤndig, im Praktiſchen
gewiß nicht leicht zu irren noch umzugehen. Ich mußte
von Hamburg erzaͤhlen, und machte gefliſſentlich eine
praͤchtige Beſchreibung von dem Buchladen meines Freun¬
des Perthes im Jungferſtieg, von der reizenden Lage,
der ſchoͤnen Einrichtung, den weiten Raͤumen, und den
aufgereihten kauffertigen Vorraͤthen alles Neuen, Werth¬
vollen und Anziehenden in- und auslaͤndiſcher Litteratur.
Ich erweckte keinen Neid, im Gegentheil, das ſuͤßeſte
Behagen, daß man hier ſolchen Glanz nicht noͤthig habe,
[91] und in der geringſten Einrichtung ſich behelfe. Dabei
laͤugnet Cotta ſeine Mittel nicht, und macht immer
neue Unternehmungen, giebt das groͤßte Honerar, kauft
Guͤter und Haͤuſer, und in ſeinen Geſchaͤften gedeiht
alles beſtens. Und wie klug ſpricht er uͤber Litteratur!
wie fein und tuͤchtig iſt ſein Urtheil, wie erkennt er die
Talente, wie genau weiß er anzugeben, wo und wie
jedes im Publikum Anklang und Erfolg finden kann!
So vortrefflich er die buchhaͤndleriſchen Intereſſen ver¬
ſteht, ſo ſind ſie ihm doch gar nicht das Hoͤchſte; er
hat ſein eignes Urtheil, ſeinen eignen Geſchmack. Wir
ſprachen von Heinrich von Kleiſt's Pentheſilea, die er
verlegt hat, er war unzufrieden mit dem Erzeugniß,
und wollte das Buch gar nicht anzeigen, damit es nicht
gefordert wuͤrde; uͤberhaupt war er gegen die neuere
Schule ergrimmt, und von Goͤrres, Achim von Arnim
und Clemens Brentano, die in Heidelberg durch die
Einſiedlerzeitung ihm uͤbel mitſpielen, durfte man nicht
reden, ohne daß er die Augenbraunen heftig zuſammen¬
zog, und ſeine Kaͤmpfer Weiſſer und Haug gegen ſie
anrief. Auch in politiſchen Urtheilen fand ich ihn ſcharf
und tuͤchtig, reich an Verknuͤpfungen, vorausſehend,
unerſchrocken, gar wohl als tapferer Offizier zu denken.
So ſehr wir, beſonders in litterariſchen Dingen, ent¬
gegengeſetzter Meinungen waren, ſo leicht und friedlich
tauſchten wir dieſe aus; ich fuͤhlte gleich ein volles Ver¬
trauen zu ihm, das auch nicht unerwiedert ſchien. Ich
[92] glaube, mir dem Norddeutſchen zu Ehren wurde die
Hausordnung veraͤndert, und Thee getrunken, um 6 Uhr,
dann aber auch unerbittlich geeilt zum Nachteſſen, und
um 9 Uhr fand ich, daß es hohe Zeit ſei zu gehen; um
8 hatte ſchon der Nachtwaͤchter gerufen; — fruͤher rief
er um 7, aber der jetzige Ortsbeamte wollte es nicht
mehr leiden. —
Wir finden die Stadt mit ihren Straßen und Haͤu¬
ſern abſcheulich, ein ſchmutziges Neſt, ſchwarz, klein,
baufaͤllig; die Stuben, die man uns anbietet, ſehen
ſchrecklich aus, mittelalterige Fenſterchen, ſchiefe Fu߬
boͤden, klapprige Thuͤren; zwei Stuͤhle, ein Tiſch, ein
Bett, und einige Naͤgel, um Kleider oder auch ſich
ſelbſt daran aufzuhaͤngen, ſind die Moͤbel. Was man
verlangt, iſt nicht zu haben, fremd, vom Hoͤrenſagen
bekannt; man ſchaͤmt ſich, man ſcheint ſich frech, ſo viele
Anſpruͤche zu machen. Dagegen iſt die Landſchaft praͤchtig,
das Neckarthal und das Ammerthal laden zu den ſchoͤn¬
ſten Spaziergaͤngen ein, die Huͤgel bieten die reichſten
Ausſichten, die ganze Gegend hat einen lieblich ſchwer¬
muͤthigen Karakter. Man zeigt ein Gartenhaͤuschen vor
der Stadt, wo Wieland gedichtet haben ſoll. Wie rei¬
zend faͤnden wir dieſes Stuͤck Natur, wie genuͤgend
dieſen beſchraͤnkten Umfang, koͤnnten wir unſer berliniſch
Leben darin fortfuͤhren!
Tuͤbingen, Mittwoch den 16. November 1808. Nun
haben wir ſchon mehrere Bekanntſchaften gemacht. Ein
[93] Mediziner, der naͤchſtens als Arzt in ſeine Vaterſtadt
Frankfurt am Main zuruͤckkehrt, klein, gewandt, roth¬
baͤckig, Philoſophie und Poeſie veraͤchtlich belaͤchelnd,
aber eifrig fuͤr's Praktiſche, ſtreng auf ſein Fach ver¬
ſeſſen, und wohlbeſchlagen fuͤr's Examen, kurz, einer
von der infamen Race, die man hoffnungsvolle Juͤng¬
linge und ſpaͤter Ehrenmaͤnner nennt, will ſich unſrer
annehmen, und uns mit dem Neſte, wo er ſich ſo gut
hat fluͤgge werden laſſen, ausſoͤhnen. Wir aber wollen
nichts mit ihm und ſeinem Gelichter zu thun haben!
Er war uns aber doch ſchon willkommene Bruͤcke zur
Bekanntſchaft mit einem andern jungen Mann, mit
Juſtinus Kerner, einem juͤngern Bruder des Arztes in
Hamburg, Dichter, von dem einige Lieder in der Ein¬
ſiedlerzeitung gedruckt ſind; er iſt ein unſchuldiges kind¬
liches Gemuͤth, aͤußerlich vernachlaͤſſigt, innerlich dem
Hoͤheren zugewandt, wir verſtehen uns aber wenig, er
kennt nur ſein Schwaben. Auch einen Freund von ihm,
Ludwig Uhland, ebenfalls Dichter, hab' ich geſehen und
geſprochen. — Wir waren bei Kielmeyer und Auten¬
rieth, nun die Maͤnner beduͤrfen unſres Lobes nicht,
aber — es iſt doch alles anders, als wir dachten.
Autenrieth's Klinikum iſt vortrefflich, eine lebendige
Darſtellung, ſcharfſinnig, eindringlich belehrend; doch
die Anſtalt iſt klein, erſt im Entſtehen, und er ſelbſt
wundert ſich, daß Reil und andre ſolche Rathgeber uns
hieher gewieſen haben. Indeß koͤnnten wir ſehr zweck¬
[94] maͤßig unſer Studium hier vollenden, zu lernen gaͤbe
es genug, und Ruhe und Stille zum Fleiß fehlte nicht.
Nun wir aber an der Schwelle ſtehen, zaudern wir,
erſchrecken, wenden uns ab! Wir verzweifeln an unſerm
Beruf, an dieſer Bahn wenigſtens, wo wir von allem
Leben, das erfreut und erhebt, abgeſchnitten ſind. Wir
haben ſchon zuviel gehabt, um jetzt alles zu entbehren,
geſellige Anregung, reizenden Umgang, Kunſt, große
Tagesſtoffe der Verhandlung, der Betrachtung. Har¬
ſcher koͤnnte noch eher ſich in Studien einſpinnen, ſeine
Ideen koͤnnen auch in der Einſamkeit geſund reifen,
er iſt weniger auf das Leben in und mit der Welt be¬
ſchraͤnkt, als ich; beſchraͤnkt, das iſt der Ausdruck, denn
angewieſen darauf iſt er vielleicht weit mehr als ich.
Aber auch er will es nicht aushalten, will aus dieſem
Loch, in das wir gefallen ſind, ſich um jeden Preis
hinausretten. Wir haben ſchreckliche Tage unter wech¬
ſelſeitigen Bekenntniſſen, unter Berathen und Ueber¬
legen hingebracht, die innern Strebungen gepruͤft, die
aͤußere Umſtaͤnde eroͤrtert, die Moͤglichkeiten berechnet;
das Ergebniß dieſer großen Kriſis war: fuͤrerſt weg!
Was nachher zu thun, das bleibt leider noch verwickelt
genug, beſonders fuͤr mich, der ich von Urſprung an
in widerſtreitenden Bezuͤgen gerungen habe, zuruͤckge¬
halten von dieſen, fortgeriſſen von andern, verſpaͤtet
und verfruͤht zugleich! Harſcher nun, ſo nah der Hei¬
math, wo er doch auch vieles zu ordnen hat, geht in
[95] dieſen Tagen nach Baſel; dort wird er ſich beſinnen,
neue Plane anlegen, die meinigen erwarten. Ich, zu
weit von Berlin und Hamburg, bin fuͤr den Winter
hier gefangen! Doch ſobald meine jetzt erſchoͤpften Huͤlfs¬
quellen wieder etwas gewachſen ſind, was zum Fruͤh¬
jahr gewiß geſchieht, aber auch vielleicht fruͤher, mache
mich auf, und eile, wohin das Herz begehrt! Wo das
ſein wird? Ich weiß es ſelbſt nicht; jeder Ort, jede
Lage, jede Thaͤtigkeit iſt mir recht, — wenn ſich das
Eine mir erfuͤllt! Wien ſteht uns wohl im Sinn, aber
auch Paris. Leider ſchwank' ich nicht allein, Alle ſchwan¬
ken, und jeder nach andern Richtungen, mit andern
Ausſichten; wo kein Punkt feſt iſt, alles nur in fort¬
waͤhrender Bewegung ſich gegenſeitig bedingen ſoll, da
iſt ſchwer eine Verknuͤpfung zu treffen. Doch gibt uns
der neuſte Entſchluß wieder Muth, wir ſind die Stockung
im Innern los. Tadelt nur Harſcher'n nicht, daß er
mich allein laͤßt! Ich ſelbſt habe ihn mit aller Ueber¬
redung dazu gedraͤngt. Auch ich bin dadurch freier.
Tuͤbingen, Ende Novembers 1808. Harſcher iſt
laͤngſt in Baſel, und laͤd't mich ein, zu ihm zu kommen,
im elterlichen Hauſe mit ihm zu wohnen, zu leben. —
Hier hat ſich Juſtinus Kerner ſehr an mich angeſchloſſen,
und auch Ludwig Uhland hab' ich nun erſt recht kennen
gelernt. Zwei liebe, herrliche Menſchen, aͤchte, urſpruͤng¬
liche Seelen, reich begabt mit innrem Leben und aͤuße¬
rem Talent. Mein ihnen durch die Almanachspoeſien
[96] ſchon bekannter Name, jene unreifen, vergeſſenen Ge¬
dichte ſind es, die mir dieſe neuen Freunde verſchafft,
aus dieſem geringen Faden ſpann ſich die ſchoͤnſte Ver¬
bindung. Die uns damals wegen unſres kecken Auf¬
tretens tadelten, dachten nur an den Gewinn der Lit¬
teratur, wir freilich auch, aber der Lebensgewinn iſt
ein ganz anderer, und wie reich iſt uns der aus jenen
jugendlichen Strebungen aufgegangen! Ein Troſt fuͤr
ſchlechte Poeten, fuͤr ſchlechte Schriftſteller, aber in der
That ein Troſt, ſobald nur wirklich der Gewinn erlangt
wird. —
Von Uhland brachte mir Kerner ein ganzes Paͤckchen
handſchriftlicher Gedichte. Da tauchte mir wirklich die
Seele in friſche Dichtungsfluth! Seine Lieder ſind
Goethiſch; das heißt aber nicht Goethe'n nachgeahmt,
ſondern in gleichem Werthe mit deſſen Liedern: eben ſo
wahr und rein, ſo friſch und ſuͤß! Uhland behilft ſich
nie mit Worten und Redensarten; nur das Gefuͤhl
ſpricht und die Anſchauung, daher iſt ſein Ausdruck
immer aͤcht. Die Natur, die ihn umgiebt, die Vorzeit,
deren Sage er verhallen hoͤrt, bezeichnen den Kreis
ſeiner Dichtung, aber ſein Geiſt iſt doch aus unſerer
Zeit, ſein Gemuͤth umfaßt die ganze Bildung derſelben,
und ſo iſt er der Auffaſſung und Wirkung nach durch¬
aus modern. Seine gedrungene Kuͤrze macht mich bis¬
weilen aufjauchzen. Vaterlands- und Freiheitsliebe
durchſtroͤmen ihn, und auch dies macht ihn mir werth.
[97] Ich ſchicke euch einige Lieder von ihm, „des Knaben
Berglied“ und „die drei Lieder“ gefallen euch gewiß.
Auch eine Stelle aus einer Dichtung in Proſa ſtehe
hier; von einer Geliebten wird geſagt: „Sie war der
Glanz meiner Jugendtage; des Morgens Morgenſtern,
des Abends Abendroth. Ein Kuß von ihr! ein Ab¬
ſchiedskuß! Und ſind wir uns nicht beſtimmt fuͤr's
Leben, ſo moͤgen wir uns doch beſtimmt ſein fuͤr einen
Kuß. Und draͤngt ſich in einen ſolchen Kuß nicht eines
Lebens Luſt und Schmach?“ — Umgang hab' ich nicht
viel mit ihm, und nur durch Kerner's Vermittelung,
denn er iſt der entſchloſſenſte, hartnaͤckigſte Schweiger,
der mir noch vorgekommen, er uͤbertrifft unſern Bekker
ſogar! keine Verlegenheit, keine Angſt wirkt auf ihn,
er wartet es ab, was draus werden moͤge, und ſchweigt.
Redet er aber, ſo iſt, was er ſagt, gediegen, klar,
zweckmaͤßig, und moͤglichſt kurz; ohne alle Abſicht und
Ziererei iſt es ſo, aus freier Natur heraus. Iſt das
nicht ſchoͤn? Und ſo iſt der ganze Menſch. Seine
Redlichkeit, Hochherzigkeit und Treue preiſt jeder, der
ihn kennt, als unerſchuͤtterlich und probehaltig. Er wird
naͤchſtens die Univerſitaͤt verlaſſen, und eine Reiſe nach
Paris unternehmen. Er iſt im Ganzen nicht rauh und
herb, aber wo er es iſt, werden ihn die Franzoſen nicht
glaͤtten, und geſpraͤchig machen noch weniger. —
Nun muß ich aber auch von Kerner mancherlei
erzaͤhlen! Auch er iſt nicht nach unſrer norddeutſchen
III.7[98] Weiſe gebildet und geſpraͤchig, aber den guten Willen
hat er, ſich anzuſchmiegen und mitzutheilen. Mich be¬
ruhigt es, jemand in meiner Naͤhe zu haben, — denn
wir wohnen in demſelben Hauſe, — der ſich ſo wohl¬
wollend und theilnehmend bezeigt, und mich freut es
jedesmal, wenn der liebe treue Menſch Abends zu mir
hereintritt, und an meinem Tiſche ſeine Diſſertation
ſchreibt, waͤhrend ich an meinen Sachen fortarbeite, als
waͤre niemand zugegen. Spaͤter ſieht er dann mit Be¬
wunderung, wie ich Thee trinke, anſtatt des Schoppen
Weins, der den Leuten hier ſo wohlſchmeckt, und wir
plaudern dann offen und frei uͤber alles Moͤgliche. Daß
mir Tuͤbingen nicht behagt, und daß ich ſo manche
bittre Bermerkung ausſtoße, iſt ihm eine wahre Herzens¬
kraͤnkung; er ſieht wohl meiſtens ein, daß mein Tadel
nicht ohne Grund iſt, er erkennt in manchen Faͤllen
ſogar ſeine eigne Unzufriedenheit wieder, allein er will
ihn doch nicht leiden, und nimmt ihm wenigſtens das
Bittre, indem er den beſten Humor daraus macht. Er
hat den lebendigſten Sinn fuͤr Scherz, fuͤr alles Ko¬
miſche und Barocke, und eine Art von Leidenſchaft,
daſſelbe ans Licht zu bringen und zu foͤrdern. Da er
es mit der Einſiedlerzeitung haͤlt, ſo hat er deren Geg¬
ner, die Herausgeber des Morgenblattes und Cotta'n
ſelbſt, durch manchen launigen Einfall geaͤrgert. Jedoch
iſt ſeine Geſinnung, wie die ſeines Freundes Uhland,
durchaus rein, unzerſtoͤrbar rechtſchaffen, edel, tapfer,
[99] und ſo menſchenfreundlich, gutmuͤthig und zutraulich,
daß er wohl nie jemanden aus freien Stuͤcken gekraͤnkt,
und immer gleich verziehen hat, wo er der Gekraͤnkte
war. Fruͤher ſollte er in Ludwigsburg die Handlung
lernen, dann kam er zur Univerſitaͤt, er folgte der Be¬
ſtimmung, die man ihm gab, empfand weder Vorliebe
noch Abneigung; er meint, es ſei ſo wenig Freude in
der Welt, daß man nur eben etwas — gleichviel was —
thun muͤſſe, damit die Zeit verſtreiche, und ſo das ganze
Leben; den Vortheil hat er, daß, wie ihn nichts ſonder¬
lich freut, ihn auch nichts eigentlich ſchmerzt, und ſo
lebt er munter und harmlos fort. Die vier Jahre, die
er nun hier ſtudirt, hat er ohne Anſtrengung doch mit
großem Fleiße benutzt, außerordentlich viel gelernt, und
auch ſchon Kranke mit Geſchicklichkeit und Erfolg be¬
handelt. Sobald er Doktor geworden, reiſ't er nach
Hamburg, und von da nach Kopenhagen oder Wien;
auf ihn werden die großen Staͤdte ſchon wirken! Zu
ſeiner Diſſertation hat er Bemerkungen uͤber das Ge¬
hoͤr gewaͤhlt, und deßhalb ganz neue Verſuche mit
Thieren angeſtellt. In ſeiner Stube lebt er mit Hun¬
den, Katzen, Huͤhnern, Gaͤnſen, Eulen, Eichhoͤrnchen,
Kroͤten, Eidechſen, Maͤuſen, und man weiß was noch
ſonſt fuͤr Gethier, ganz freundſchaftlich zuſammen, und
hat nur ſeine Noth, Thuͤr und Fenſter zu verwahren,
daß ihm die Gaͤſte nicht entſchluͤpfen; ob ſeine Buͤcher
oder Kleider in Gefahr ſind, ob ihn ein Thier im
7*[100] Schlaf anſchnopert, oder unverſehens aufgeſchreckt nach
ihm beißt, das kuͤmmert ihn nicht. Seine Verſuche ſind
ſchlau und ſinnreich, und er ſucht alle Quaͤlereien zu
vermeiden. Ueberhaupt ſteht er der Natur ſehr nah,
und beſonders ihrer dunklen Seite. Seine Augen haben
etwas Geiſterhaftes und Frommes; ſein Herz kann er
willkuͤrlich ſchneller ſchlagen machen, aber es iſt nicht
eben ſo wieder hemmen; die Erſcheinungen, welche neu¬
lich Ritter an Campetti beobachtet hat, die Pendelſchwin¬
gungen des Ringes am ſeidnen Faden, das Umdrehen
des Schluͤſſels mit dem Buche, und alles dergleichen
zauberhaft Magnetiſches tritt bei ihm in auffallender
Staͤrke hervor. Er ſelbſt hat etwas Somnambuͤles, das
ihn auch im Scherz und Lachen begleitet. Er kann
lange ſinnen und traͤumen, und dann ploͤtzlich auffahren,
wo dann der Schreck der Andern ihm gleich wieder zum
Scherze dient. Wahnſinnige kann er nachmachen, daß
man zuſammenſchaudert, und obwohl er dies poſſenhaft
beginnt, ſo iſt ihm doch im Verlauf nicht poſſenhaft
dabei zu Muth. In der Poeſie iſt ihm das Wunder¬
bare der Volksromane, der einfache Laut und die rohe
Kraft der Volkslieder am verwandteſten, Dichtungen
hoͤherer Art laͤßt er gelten, aber er begehrt ihrer nicht;
ſo ſpricht er auch mit Vorliebe die rohe Landesmundart,
will ſie nicht ablegen und verſtockt ſich wohl gar gegen
die Schriftſprache. Der Sinn fuͤr gebildete Kunſt tritt
zuruͤck; in der Muſik hat er ſich die Maultrommel an¬
[101] geeignet, und weiß dem geringen und doch wunderlichen
Inſtrument die zarteſten und ruͤhrendſten Toͤne zu ent¬
locken. Nun denkt euch noch die einfachſte, ganz ver¬
nachlaͤſſigte Kleidung, voͤllige Gleichguͤltigkeit gegen die
Dinge, mit denen man ſich beruͤhrt, vorgebeugte Hal¬
tung, ungleichen, ungraden Gang, eine ſtete Neigung
ſich anzulehnen, oder niederzulegen, wie er denn lieber
auf einem Stuhl unbequem liegt als bequem ſitzt, und
bei allem dieſen einen doch ſchlanken, wohlgewachſenen,
ganz huͤbſchen Jungen, — ſo habt ihr ein vollſtaͤndiges
Bild meines Kerner's. —
Vor einigen Tagen fuhr ich mit Kerner nach Reut¬
lingen, zwei Stunden von hier, wo die Volksbuͤcher
und Volkslieder in Menge gedruckt werden. Der Tag
war nicht ganz ſchlecht, die Landſtraße noch gut, unge¬
achtet des vielen gefallenen Regens, und der Poſthal¬
ter gab uns ſehr gute Pferde. Die Fahrt machte mich
ganz heiter, und als wir nur eben zum Thor hinaus
im Freien waren, mußte ich in laute Freudenbezeigun¬
gen ausbrechen. Die ſchwarzblauen Berge ſtachen ſcharf
gegen den Himmel ab, und die vielgezackten Gipfel
durchbrachen mit ihrem dunklen Ernſt uͤberall die duͤnnen
Wolkenwogen, welche um ſie her ſpielten. Nachdem
wir das Neckarthal verlaſſen, eroͤffneten ſich neue ſchoͤnere
Berggegenden, und Reutlingen lag vor uns, am Fuß
eines hohen Berges, der die Ruinen der Burg Achalm
traͤgt, deren Grafen einſt mit denen von Tuͤbingen
[102] harte Kriege gefuͤhrt, und zuletzt den kuͤrzern gezogen
haben. Schnell waren wir in der Stadt; alles in die¬
ſem Schwaben iſt ſo gedraͤngt und nah, kaum iſt ein
Gegenſtand erſehen, ſo iſt er auch ſchon erreicht! Eine
Freude war mir's, nach Tuͤbingen wieder eine ſolche
Stadt zu ſehen, die ordentliche Haͤuſer hat, ſehr gute
Straßen, große Kirchen, und eine zahlreiche, be¬
triebſame, wohlhabende Einwohnerſchaft, deren Schlag
mir huͤbſcher vorkommt als der Tuͤbinger, falls nicht
die erſten Geſichter mich irre fuͤhrten. An allem ſieht
man noch jetzt, daß Reutlingen eine freie Reichs¬
ſtadt war, und daß die Fruͤchte der Freiheit ihr in
Handel, Gewerbfleiß, Gemeinſinn und Volksbildung
nicht fehlten, denn was da iſt, iſt von ſonſt. Die Stadt
hat etwa 10,000 Einwohner, die ſich durch Arbeitſamkeit
auszeichnen, ehemals den eifrigſten Antheil an dem ganz
demokratiſchen Gemeinweſen hatten, und ihre jaͤhrlichen
Magiſtratsperſonen frei waͤhlten; daß ſie auch kriegeriſch
in fruͤherer Zeit geweſen, bezeugen die hohen Mauern,
feſten Thuͤrme, und tiefen Graͤben, welche die Stadt
nmziehen. Es war als ob die Leute mir die ſchmerz¬
lichen Empfindungen anſaͤhen, mit denen der Anblick
einer untergegangenen Reichsſtadt mich jedesmal erfuͤllt,
denn auch hier ſchuͤtteten ſie ihre bittern Klagen uͤber
die erlittene Veraͤnderung vertrauenvoll gegen mich aus.
Die armen Leute ſehen die Franzoſen als die allgemei¬
nen Unheilsſtifter an, die ehmals Freiheit mit Worten
[103] verkuͤndigt, in der That aber uͤberall Herren eingeſetzt
haͤtten, und nun gaͤbe es gar doppelte Herrſchaft, denn
die Franzoſen druͤckten ſchwer auf die Fuͤrſten, und dieſe
dann um ſo ſchwerer auf das Volk. Im ganzen Rhein¬
bunde herrſchte dieſe Unzufriedenheit, der franzoͤſiſche
Einfluß macht uͤberall die Regierungen dem Volke fremd,
und dieſes ſteht nirgends mit ihnen in einer gemein¬
ſamen, eintraͤchtigen Maſſe vereint. Wunderbar ſtellen
ſich damit die neuen preußiſchen Anordnungen in Gegen¬
ſatz, von denen die Leute mit Begier in den Zeitungen
leſen, wie den Buͤrgern Antheil an der Verwaltung ihres
Gemeinweſens, Wahl ihrer Vertreter, dem ganzen Volke
Waffen und Sprache verliehen werden; ja daß zu dem
ganzen Volke geredet werden ſoll, wenn auch meines
Beduͤnkens nicht grade durch den beſten Mund, doch
gewiß im beſten Sinne, — die Zeitungen melden von
einer Adreſſe an die Preußen, die der Geheimrath
Schmalz beauftragt ſei abzufaſſen. Ich habe hier, wie
ſchon fruͤher in Franken, die regſte Theilnahme und ein
feſtes Vertrauen fuͤr Preußen wahrgenommen, deſſen Un¬
gluͤcksfaͤlle niemand als letzte Entſcheidungen anſehen
will. — Es fiel Regen ein, der uns hinderte, die Merk¬
wuͤrdigkeiten der Stadt einzeln durchzugehen. Wir be¬
ſuchten aber den beruͤhmten Buchdrucker Juſtus Fleiſch¬
hauer, wo wir uns mit Volksbuͤchern und Liedern wohl
verſahen. Der Nachdrucker, der zunaͤchſt am Volke ſteht,
fuͤr deſſen Beduͤrfniß wohlfeile und geringe Ausgaben
[104] liefert, iſt fuͤr Kerner der eigentliche Buchhaͤndler, mehr
als der ordentliche, fuͤr Gelehrte und Gebildete ſorgende
Verleger, und der Name Fleiſchhauer macht ihm einen
beſſern Eindruck, als alle Cotta, Goͤſchen und Perthes.
Er liebt die Nachdrucker, wie man Zigeuner liebt, aus
dem romantiſchen, geſetzloſen Hang im Menſchen, wo¬
bei man doch nicht anſteht erforderlichen Falles gegen
die Lieblinge es mit der ordentlichen Obrigkeit zu halten.
Unſer Mann erzaͤhlte, ſeit die Stadt Koͤniglich gewor¬
den, habe ſich ſein Abſatz ungemein beſchraͤnkt, auch
duͤrfe mancher beliebte Artikel nicht wieder aufgelegt
werden. Auf die Frage, ob bei neuem Abdruck der
Volksbuͤcher nie etwas veraͤndert, ſondern der alte Text
treu wiedergegeben wuͤrde, verſetzte der Mann, unſre
Meinung mißverſtehend, er wuͤrde gern manches aͤndern,
aber es ſei dazu keine Zeit uͤbrig. „Gottlob! ſeufzte
Kerner, haben Sie nur immer recht viel zu thun!“
Dieſe warme Theilnahme fuͤr ſein gewerbliches Gedeihen
nahm der Mann mit geruͤhrter Dankbarkeit auf. Ker¬
ner verſprach ihm noch den hier nicht mehr vorfindlichen
und uͤberhaupt ſeltnen Ritter Pontus zum neuen Ab¬
druck, und ich empfahl ihm den in Berlin bei Littfaß
herausgekommenen Werther. Er verſprach beides zu
drucken. Eigentlich haͤlt er uns, die wir doch Tuͤbinger
Gelehrte vorſtellen, fuͤr etwas naͤrriſch, daß wir uns
mit ſeinem Loͤſchpapier befaſſen, und um ſeine Ausgaben
kuͤmmern. Daß auf unſrer Rechnung der Kaiſer Okta¬
[105] vianus wie ein bloßes Format als 8vian angeſetzt war,
daruͤber hatte Kerner unendliches Vergnuͤgen! — Die
Ruͤckfahrt geſchah in dunkler Nacht, bei kaltem Regen,
wir fuhren aber gut, und auch das war ein Vergnuͤgen. —
Die Briefe von Rahel ſind jetzt mein einziger Troſt.
Was ſie mir ſchreibt, erfuͤllt meine Seele mit Ver¬
trauen und Staͤrke. Mir iſt als waͤr' ich erſt durch
ſie zur Tageshelle gekommen, als haͤtte ich bis dahin
nur Daͤmmerung gekannt. Beſonders iſt der aͤltere
Briefwechſel, den ſie mir geſchenkt, reich an ſtarkem
Ausdruck des Lebens, aus den hoͤchſten ethiſchen Stand¬
punkten, in reichſter Wahrheitsgluth. Harſcher, mit
dem ich zuletzt noch viele Blaͤtter las, auch einige aus
den neueſten Briefen an mich, wußte nicht genug zu
preiſen, welch Gluͤck mir geworden, und begriff nicht
nach dieſem Leſen, beſonders nicht, wie ich mich von
Rahel habe trennen koͤnnen. —
Tuͤbingen, Donnerstag den 1. December 1808.
Nach einem zerſtreuten, unnuͤtz verbrachten Abend nahm
ich den Wilhelm Meiſter, und las ein ziemliches Stuͤck.
O wie wohl that mir die edle, klare, lebendige Dar¬
ſtellung. Es war als hoͤrte ich eine ſchoͤne, kraͤftige
Troſtſtimme in der Bruſt, als fuͤhlte ich eine ſanfte
ſtreichende Hand auf den Augen, als floͤſſe der Tag
wieder in ſilbernen Wellen, getruͤbt bisher zur dunklen
traͤgen Fluth. Nie hat mich der Meiſter ſo entzuͤckt,
wie bei dem diesmaligen Leſen, er ruͤhrt mich innig,
[106] und reißt mich zu ſtaunender Bewunderung hin; ich
entdecke, indem ich die alten bekannten Zuͤge ſchaͤrfer
faſſe, tauſend neue. Den Stil ſtudir' ich bis in's ge¬
naueſte Detail hinein, und mich duͤnkt, daß ich ihn
ſehr gut kenne. Ich weiß, ihm nichts an die Seite zu
ſtellen, im Deutſchen nichts, denn wenn ich in Berlin
bisweilen gelten ließ, daß Harſcher die Weihnachtsfeier
von Schleiermacher als etwas Aehnliches pries, ſo duͤnkt
mich jetzt dieſe Proſa gegen jene doch nur wie eine
affektirte Melina neben der anmuthigen Philine. Und
dieſer Zauber der Vortrefflichkeit, dieſer wunderbare
Lichtreiz, erſcheint mir am ſtaͤrkſten, indem ich darauf
ausgehe — ihr werdet es kaum glauben — Schwaͤchen
und Luͤcken in dem Buche aufzuſpuͤren, die ich auch —
werdet ihr es glauben? — reichlich finde und aufzeichne.
Es iſt aber als ob die Einſicht in dieſe Schwaͤchen auch
die Vorzuͤge heller ſtrahlen machte. Mir iſt als wan¬
delte ich an einem Feiertage durch die kunſtreiche, ge¬
heimnißvolle Werkſtatt des Dichters, ſaͤhe ſeine Arbeit
auf allen ihren Stufen, vom rohen Stoffe, wie er da¬
liegt, bis zum feinſten Gebild, in das er verarbeitet
worden, ſaͤhe die Werkzeuge und Huͤlfsmittel, deren er
ſich bedient, und koͤnnte ihm ſein ganzes Verfahren
abſehen, und es ſo gut wie er machen, — wenn er
mir zu allem dieſen nur noch ein bischen ſeinen Kopf
und ſeine Hand leihen wollte! — Verlacht mich nicht,
aber meine Sinnesart fuͤhrt mich immerfort in ſolche
[107] Unterſuchungen, wobei viel Einzelnes genau zu betrach¬
ten iſt; ſogar die Ueberſicht eines Ganzen und ſeiner
Gliederung gewinn' ich meiſt nur auf dieſe Weiſe, und
ich finde nach dem abſichtlichen Aufmerken auf das Ein¬
zelne auch mein Verſtaͤndniß der ganzen Geſtalt und
ihrer Bedeutung erhoͤht. — Ich leſe aber auch, weil
ich ihn doch perſoͤnlich kennen gelernt, jetzt viel in Jean
Paul Richter. Aus dem Hesperus, den ich eben vor¬
habe, haͤngen eine Menge bunter Papierſtreifen, die als
Abfall ausgeſchnittener Bilderchen auf meinem Tiſche
lagen, als Zeichen und Freudenbaͤnder ſchoͤner Stellen
heraus; die Bilderchen waren fuͤr Jean Paul's Kinder,
und ſo giebt er mir Geſchenk fuͤr Geſchenk zuruͤck, daß
ich beinah ſagen kann, dieſe Stelle ſei der Dank fuͤr
dieſes Bildchen. Wie aus Jean Paul's Zettelkaſten,
nicht wahr? —
Tuͤbingen, Freitag den 9. December 1808. Ich
habe mit Kerner einen Abend und eine Nacht verlebt,
an die ich gedenken werde. Aus Cotta's Laden hatte
ich die eben erſchienene Theorie der Geiſterkunde von
Jung-Stilling mitgebracht, das Titelbild, die weiße
Frau vorſtellend, machte ſchon einen unheimlichen Ein¬
druck, und als Kerner Abends zu mir kam, reizte uns
der ſchauerliche Inhalt. Es iſt merkwuͤrdig, wie Jung
ſich zugleich als ſchlechter Denker und als geſchickter
Darſteller zeigt. Sein raſtloſer, glaͤubiger Eifer, die
wirkliche Froͤmmigkeit, mit der er ſchlechthin alles auf
[108] den Buchſtaben des Chriſtenthums zuruͤckfuͤhrt, alle ge¬
ſelligen und politiſchen Ereigniſſe davon abhaͤngig macht,
das Feuer ſeiner Ueberzeugung, alles dies reißt unſern
Glauben auf einen Augenblick hin, und unſ're Phan¬
taſie nimmt er auf's ungeheuerſte dadurch ein, daß er
alles, was fuͤr ſie gelten ſoll, grade als die baarſte
Wirklichkeit nicht ihr, ſondern der ſinnlichen Anſchauung
aufdraͤngt. Wer duͤrfte alles, was er erzaͤhlt, Taͤu¬
ſchung nennen, aber in einigen Stuͤcken iſt doch der
plumpe Aberglauben handgreiflich! Die Erſcheinungen
des Magnetismus muß man am meiſten zugeſtehen,
doch ſind das dunkle Regionen, mit denen ſich der be¬
ſonnene, dem Tage zugewandte Geiſt nicht gern befaßt,
ſondern ſie den Forſchern uͤberlaͤßt, die dazu durch Na¬
turanlage beguͤnſtigt ſind. Jung war Arzt, indeß da¬
von kommt dem Buche nichts zu gut, als daß er bei
manchen Wundern zweifelt, und ſie als Verirrungen
des Aberglaubens verwirft. Aber ſeine willkuͤrlichen
Vorſtellungen vom blaͤulichen Dunſtkreis der Seele,
vom Hades, und andres dergleichen, ſtellt er als un¬
zweifelhafte Naturwahrheiten hin. Seine Glaͤubigkeit
iſt ruͤhrend, ſeine Abſicht ſehr redlich, nur hat er nicht
friſche Geiſteskraft und ſcharfen Verſtand genug, um
die wahre Bahn zwiſchen Unglauben und Aberglauben
zu beſtimmen. Dieſe Bahn beſtimmt ſich fuͤr jeden
Menſchen wohl nach eignem Maße. Die auffallende
Prophezeihung von Cazotte zum Beiſpiel, die hier nach
[109] Laharpe mitgetheilt wird, hat das Anſehen der groͤbſten
Erfindung, der handgreiflichſten Zuſammenſtellung nach
dem Geſchehenen, und doch hoͤrte ich einmal von Schleier¬
macher, dem in Halle auf den Grund dieſer Geſchichte
erzaͤhlt wurde, Cazotte habe Scenen der franzoͤſiſchen
Revolution vorhergeſagt, die merkwuͤrdige Aeußerung:
„Warum nicht? Ein Menſch, der die Biondetta hat
ſchreiben koͤnnen, bei dem iſt es nicht unglaublich, daß
er auch wirklich habe prophezeihen koͤnnen.“ Dieſe
Biondetta hab' ich nun ſeitdem geleſen, und finde das
Maͤhrchen ein wahres Kleinod, unbegreiflich in der fran¬
zoͤſiſchen Litteratur des vorigen Jahrhunderts, vielleicht
auch in der That ſpaniſchen Urſprungs, wie ja ſchon
der Stoff ſpaniſch iſt; aber auf mich macht das Stuͤck
nicht einen ſolchen Eindruck, daß ich jener ungeheuern
Folgerung beiſtimmen koͤnnte. Dagegen iſt mir eine
Geſchichte, welche Jung ebenfalls erzaͤhlt, ſehr einleuch¬
tend, von einer Frau, die eine Freundin zu ſich heran¬
bannt durch den bloßen Willen. Es giebt ſo etwas;
man kann verwandte Sehnſucht fuͤhlen und ihr folgen
muͤſſen; ich glaube es. Daß nicht jeder, und nicht
immer, ſo leiſen Regungen offen ſteht, iſt ſo natuͤrlich,
als daß nicht jeder in einer Symphonie den leiſeſten
Mißton jedes Inſtruments heraushoͤrt, oder, wie der
ausgelernte Spieler, mit den Fingerſpitzen ein As und
ein Bild unterſcheidet. Aber davon will ich eigentlich
nicht reden, ſondern euch erzaͤhlen wie es uns erging.
[110] Wir laſen, und merkten auf, pruͤften, lachten, verwar¬
fen, wurden nachdenklich, und endlich von einer Ge¬
ſchichte nach der andern ſo uͤbernommen, durch die wie¬
derholte Terminologie und die ſich ſteigernde Aufdring¬
lichkeit dieſes ganzen Geiſterſpuks dergeſtalt befangen,
daß wir nach Mitternacht todtſchlaͤfrig und aufgereizt
in banger Verſtimmung einander gegenuͤber ſaßen, und
uns von Zeit zu Zeit anſahen, ob wir's auch noch
waͤren, und nichts Geiſterhaftes ein Spiel mit uns
treibe! Wir verwuͤnſchten das Buch, billigten die Ba¬
ſeler Regierung, die es weislich verboten, konnten aber
aus der Gewalt ſeiner Schauer nicht los, fuͤrchteten,
einzeln und einſam dieſer noch mehr zu verfallen, und
beſchloſſen, die Nacht beiſammen zu bleiben; Kerner
hatte nur wenige Schritte uͤber einen Flur und eine
Treppe hinab zu ſeinem Zimmer, allein er mochte nicht
fortgehen, und ich bat ihn mich nicht zu verlaſſen.
Spaͤt und verſtoͤrt ſchliefen wir ein, und ein unerfreu¬
liches Erwachen trug noch die Spuren der unſeligen
Lukubration! —
Dieſes Wuͤrtemberg iſt recht die Heimath des
Spuk- und Geſpenſterweſens, der Wunder des Seelen¬
lebens und der Traumwelt. Die Einbildungskraft der
Schwaben hat dafuͤr eine außerordentliche Empfaͤnglich¬
keit, ihre Nerven ſind nach dieſer Richtung beſonders
ausgebildet. Das Land iſt gepfropft voll von Sagen,
Prophezeihungen, Wundern, Seltſamkeiten dieſer Art.
[111] Die Phyſiognomie des Bodens traͤgt gewiß das Ihrige
dazu bei, ſie ſpricht im Allgemeinen das Gemuͤth tief
an, man fuͤhlt ſich einſam und wie aus der Welt ge¬
ſchieden in dieſen beſchraͤnkten Thalſtrecken und auf die¬
ſen maͤßigen Hoͤhenzuͤgen; uͤberall trifft der Blick auf
zerſtoͤrte Burgen, einſame Kapellen, man wird an ein
vergangnes Leben erinnert, zwiſchen deſſen Truͤmmern
ſich die Gegenwart kleinlich ausnimmt. Tuͤbingen be¬
ſonders hat in ſeinem Oertlichen etwas Ahndungsvol¬
les, Seltſames, und es giebt Huͤgelecken und Thal¬
windungen, wo man am hellen Mittag irgend eine
Unheimlichkeit argwoͤhnen koͤnnte. Sonderbar iſt es,
daß gegen dieſe Stimmung des Landes und der Ein¬
wohner die Wirkſamkeit des Proteſtantismus, der hier
in den trefflichſten Anſtalten und Geiſtlichen eine un¬
aufhoͤrliche Quelle tief in das Volk dringender Bildung
iſt, bisher nichts vermocht hat.
Kerner iſt nun in dieſen Richtungen der wahre
Ausdruck ſeines Landes und Volkes, nur emporgehoben
aus der unterſten Region in eine hoͤhere, wo wiſſen¬
ſchaftliche Einſicht und dichteriſche Phantaſie zu dem
Volkstuͤmlichen ſich miſchen. Seine Natur wirkt ſo
entſchieden, daß in ſeiner Gegenwart mehr moͤglich
ſcheint als ſonſt, daß die Empfaͤnglichkeit andrer Ge¬
muͤther durch ihn waͤchſt. Er hat ſelbſt einmal — vo¬
riges Jahr am Weihnachtsabend — etwas Seltſames
erlebt. Es war tief im Winter, und er ſaß mit einem
[112] Freunde, einem freiſinnigen, aufgeklaͤrten Menſchen,
Abends bei Licht auf ſeiner Stube, eine Guitarre lag
zur Hand, und er fing an darauf zu ſpielen. Waͤh¬
rend des Spielens fuͤhlte er eine wunderbare Beklom¬
menheit, die ſchnell zunahm, er war in einem unbe¬
greiflichen Zuſtand, den er nie vorher gekannt, ihm
fehlte jeder Maßſtab und jeder Ausdruck fuͤr ſeine Em¬
pfindung, die dadurch noch fuͤrchterlicher wurde, daß
er ganz deutlich ſah, wie ſein Freund, von aͤhnlichem
Eindruck erfuͤllt, ganz erſchrocken uͤber ihn hinaufblickte;
jetzt war ihm als druͤcke von obenher eine ſchwere Maſſe
ihn gewaltſam nieder, und in demſelben Augenblicke,
als die fuͤrchterliche Angſt aufs hoͤchſte geſtiegen war,
ſprang der Freund auf, ſchrie voll Entſetzen: „O Je¬
ſus, Kerner!“ und ſtuͤrzte zur Thuͤr hinaus. Kerner
fiel hin, und lag eine Weile beſinnungslos, nicht durch
den Schreck, wie er ausdruͤcklich ſagt, ſondern durch
die davon unabhaͤngige Steigerung ſeines innern Zu¬
ſtandes. Als er zu ſich kam, verließ er eiligſt das
Zimmer, und ging einige Zeit im Freien umher; die
ſternenhelle Winternacht erquickte ihn, und er konnte,
als er in ſeine Stube zuruͤckgekehrt war, ruhig ein¬
ſchlafen. Am Morgen traf er mit dem Freunde zu¬
ſammen, beide waren verlegen, doch endlich erzaͤhlte
der Freund, noch ganz angegriffen und erſchaudernd
vor der Erinnerung, es ſei ihm vorgekommen, als habe
uͤber Kerner's Kopf, waͤhrend des Spielens, ſich eine
[113] Geſtalt, undeutlich gebildet, und ſei dann laͤngs der
Wand hingezogen. Kerner wußte nur, daß ihm un¬
endlich weh geweſen, mit den Guitarrentoͤnen ſeine Angſt
wie von obenher vermehrt worden, ihm dann ploͤtzlich
ſo kalt, und alles umher licht und hell geweſen ſei.
Kein aͤußrer Umſtand, der zur Erklaͤrung haͤtte dienen
koͤnnen, war aufzufinden, das Licht hatte Kerner bei
der Wiederkehr erloſchen gefunden, die Luft nicht beengt.
Sie wußten ſich einander keine Rechenſchaft von ihrer
Empfindung zu geben, die Worte fehlten ihnen; „Mer
haͤnn nicks ſchwaͤtze koͤnne,“ ſagte mir Kerner mehr¬
mals, indem er ſeine Erzaͤhlung beſchloß, die ihn ſelber
noch jetzt heftig angriff, und ihm fuͤrchterlich war. Die
Empfindung, meinte er, ſei ſo ſchrecklich geweſen, daß
er davon auf der Stelle haͤtte todt bleiben oder wahn¬
ſinnig werden koͤnnen; vorher war er ſehr luſtig und
guter Dinge, in den Tagen nachher aber fuͤhlte er ſich
krank, bekam eine Art von Veitstanz, und mußte laͤn¬
gere Zeit unter aͤrztlicher Behandlung bleiben. Er will
auch jetzt noch die ganze Geſchichte nur als Krankheit
angeſehen wiſſen, und verwirft jede geiſterglaͤubige Deu¬
tung, obwohl er die wunderbare Erſcheinung ſich nicht
wegſtreiten kann. Faſt gereut ihn, die Sache mir er¬
zaͤhlt, und dadurch ſie wieder ſo lebhaft in ſich aufge¬
rufen zu haben.
Nicht unterdruͤcken kann ich bei dieſer Gelegenheit
eine ſonderbare und artige Maͤhr, die meinen Tuͤbinger
III. 8[114] Freund einen Augenblick in fuͤr ihn vorweltliche Bezie¬
hung und Mondſcheinnacht verſetzt. Seine Mutter,
eine gute fromme Frau, die ihren Mann fruͤhzeitig ver¬
loren, fiel vor mehreren Jahren in eine hitzige Krank¬
heit, die ſie zwar gluͤcklich uͤberſtand, aber von der ſie
doch eine Schwaͤche behielt. Sie dachte viel und gern
an die Vorfaͤlle fruͤherer Lebenszeit, wobei ſie leicht
aͤngſtliche Anwandlungen hatte. So hatte ſie mehrmals
im Stillen ihren Sohn herbeigewinkt, und ihn ſorg¬
faͤltig unterſucht, ob er nicht verborgne Schuppen habe,
und war immer ſehr zufrieden, weder Schuppen noch
ſonſt etwas, das an Fiſch erinnerte, zu finden. Der
Grund dieſer ſeltſamen Vorſtellung blieb lange verbor¬
gen, bis die gute Frau einmal ihrem aͤlteſten Sohne
Folgendes vertraute. Sie ſei eines Abends mit ihrem
Manne am Ufer des Neckar ſpaziren gegangen, und
da es am Tage ſehr heiß geweſen, ſo habe ihr Mann
Luſt bekommen ſich zu baden, unterdeſſen ſei ſie im
Schatten eines nahen Gebuͤſches geblieben. Eine Weile
habe ſie ihn im Waſſer plaͤtſchern hoͤren, dann ploͤtzlich
aber ſeinen Huͤlferuf vernommen; im Augenblicke der
Noth, nur von dem Einen Gedanken erfuͤllt, zu ihrem
Manne zu eilen, ſei ſie aus dem Gebuͤſch herausge¬
ſprungen, und mit allen Kleidern wie ſie war in's
Waſſer gegangen; da habe ihr Mann ſie ſogleich um¬
faßt und ſcherzend beruhigt, er habe nur ſehen wollen,
ob ſie ihn ſo lieb habe. Dann habe er ſie zu dem
[115] Gebuͤſch zuruͤckgefuͤhrt. Sie aber, da ſie einige Zeit
darauf in's Kindbett gekommen, habe ſich ſehr gefreut,
daß ſie ein huͤbſches Knaͤbchen und keinen Fiſch zur
Welt gebracht. Der ganze Vorgang war mehr Ein¬
bildung als Wahrheit, in Betreff der Zeit gewiß irrig;
allein der Furcht, ſolcherlei moͤchte doch eine Suͤnde
geweſen ſein und durch ein Zeichen geſtraft werden,
konnte die gute Frau, in der Schwaͤche nach der Krank¬
heit, auf Augenblicke ſich doch nicht erwehren.
Durch Juſtinus Kerner lern' ich nun auch ſeinen
Bruder Georg, den ich in Hamburg doch nicht auf¬
merkſam genug beachtet, naͤher kennen. Dieſes Ge¬
ſchlecht hat eine ſolche Staͤrke und Fuͤlle von Anlagen,
daß ſie vertheilt auf die verſchiedenen Zweige noch in
jedem als beſondrer Reichthum erſcheinen. Es iſt die¬
ſelbe Kraft, die im einen Bruder Natur und Welt
magnetiſch und humoriſtiſch erfaßt, und im andern ei¬
nen ſpruͤhenden Feuergeiſt fuͤr Staats- und Buͤrger¬
leben erweckt hat; ein dritter Bruder ſteht als Oberſt
in wuͤrtembergiſchen Kriegsdienſten, wo er wegen ſeines
guten Kopfs und tapfren Muthes gleich geſchaͤtzt iſt.
Das Leben Georgs aber, in die franzoͤſiſche Revolution
verflochten, iſt durch Friſche und Reinheit des Eifers,
wie durch Muth und Selbſtſtaͤndigkeit des Willens ein
ſo achtungswerthes als abentheuerliches Karakterſtuͤck;
eine deutſche Ehrlichkeitsrolle in franzoͤſiſchen Verhaͤlt¬
niſſen und Hoffnungen, die wie billig mit dem Ausſcheiden
8 *[116] des Helden endigt. Geniale Zuͤge bezeichnen dieſe Bahn
von Anfang bis zu Ende; einige derſelben habe ich mir
beſonders aufgezeichnet. Es waͤre der Muͤhe werth,
daß dieſer Mann ſein eignes Leben ſchriebe, wozu doch
ſeine praktiſche Raſtloſigkeit ihn ſchwerlich gelangen laͤßt.
Tuͤbingen, Donnerstag den 29. December 1808.
Hier hat ſich noch ein Poet eingefunden, mit dem ich
bei Cotta einen Abend zugebracht habe. Es iſt der
Daͤne Jens Baggeſen, der mir auf das Wort von
Voß, Erhard, und Andern, bisher viel galt, und der
mir nun auf ſein eignes wenig gilt. Er kommt von
Paris, hat gegen Napoleon einen politiſchen Fauſt ge¬
dichtet, den er natuͤrlich nicht kann drucken laſſen,
macht Spottgedichte gegen die deutſchen Romantiker,
will ſogar von Goͤthe wenig wiſſen, und meint, man
ſei ein Dichter, wenn man ſich ſelbſtgefaͤllig uͤber alles
erhebt, und von Voß die Schmiedearbeit deutſcher Hera¬
meter gelernt hat! Er iſt graͤnzenlos eitel, traͤgt ſich
immer vor, paßt ſich alte Anekdoten und Geſchichten
an, ſucht Effekt darin zu machen, und das laͤuft bis¬
weilen ſo ſchal und klaͤglich ab, daß ich mich fuͤr ihn
ſchaͤme. Er thut ſehr wichtig damit, daß er die fran¬
zoͤſiſchen Sachen und die bedeutenden Perſonen in Paris
einigermaßen kennt, ſpricht von ſeinen großen Verbin¬
dungen, Planen, ſogar Gefahren. Cotta'n hat er ganz
fuͤr ſich eingenommen, und die Frau gleichfalls. Sie
ſind beide geſchmeichelt durch die Art, wie er ſich um
[117] ihren Beifall bewirbt, und Cotta findet, daß er Geiſt
und Witz im Uebermaß habe. Ich aber empfehle mich
nicht durch meinen Witz, daß ich ſage, ſein Fauſt ſei
doch nur eine Fauſt in der Taſche! — Baggeſen ſcheint
in Stuttgart etwas zu ſuchen, und einiger Gunſt ſchon
verſichert zu ſein, das wirkt auch bei Cotta mit, wie
ich das ſchon in Betreff Matthiſſon's geſehen, der die
entſchiedene Vorliebe des Koͤnigs gewonnen und eine
ſchoͤne Anſtellung erhalten hat, weshalb ihm nun von
allen Seiten auf die widerwaͤrtigſte Weiſe der Hof ge¬
macht wird, und er in poetiſchen und litterariſchen Din¬
gen ploͤtzlich eine Miniſterautoritaͤt ſein ſoll; das Mor¬
genblatt iſt da denn eifrig auf dem Platz, und laͤchelt
huldigend! —
Zu einem andern Dichter hat mich Kerner gefuͤhrt,
zu einem Dichter im wahren vollen Sinne, einem
aͤchten Meiſter der Poeſie, der aber nicht am Hofe zu
ſuchen iſt, noch in Cotta's Abendgeſellſchaft, ſondern —
im Irrenhaus. Wie ein Strafſchauder traf es mich,
als ich zuerſt vernahm, Hoͤlderlin lebe hier ſeit ein
paar Jahren als Wahnſinniger! Der edle Dichter des
Hyperion, und ſo manches herrlichen Liedes voll Sehn¬
ſucht und Heldenmuth, hatte allerdings eine Ueberſetzung
des Sophokles in Druck gegeben, die mir ziemlich toll
vorgekommen war, aber nur litterariſch toll, worin
man bei uns ſehr weit gehen kann, ohne grade wahn¬
ſinnig zu ſein, oder dafuͤr gehalten zu werden. Dieſe
[118] Tollheit zu ruͤgen, war voͤllig erlaubt, und ich hatte
mir fuͤr den Doppelroman, zu den uͤbrigen litterariſchen
Figuren, auch einen Ueberſetzer Wachholder ausgedacht,
der wie Hoͤlderlin's Sophokles werden ſollte. Nur durch
Zufall unterblieb es, und wahrlich mir zum Heil! Denn
mir waͤre es ein ſchrecklicher Gedanke, einen Geiſtes¬
kranken verſpottet zu haben, eben ſo ſchauderhaft, wie
eine Leiche pruͤgeln zu wollen! Wie klaͤglich erſcheint
das irdiſche Beginnen, wie ohnmaͤchtig der Haß und
die Liebe, gegen das unerreichbar Entruͤckte! wie heili¬
gend der Tod und großes Ungluͤck! Der Scherz gegen
Hoͤlderlin haͤtte freilich ihn ſelber nie beruͤhrt, waͤre nicht
boͤſe gemeint geweſen, war in ſeiner Vorausſetzung
nicht unrecht einmal, und dieſe Vorausſetzung war die
argloſeſte: aber doch iſt es mir unendlich lieb, daß die¬
ſer Ausfall nicht geſchah, ich fuͤhle mich wie einer gro¬
ßen Gefahr, einem tiefen Frevel entgangen. — Der
arme Hoͤlderlin! Er iſt bei einem Schreiner in Koſt
und Aufſicht, der ihn gut haͤlt, mit ihm ſpaziren geht,
ihn ſo viel als noͤthig bewacht; denn ſein Wahnſinn
iſt nicht grade gefaͤhrlich, nur darf man den Einfaͤllen
nicht trauen, die ihn ploͤtzlich anwandeln koͤnnten. Er
raſet nicht, aber ſpricht unaufhoͤrlich aus ſeinen Einbil¬
dungen, glaubt ſich von huldigenden Beſuchern umge¬
ben, ſtreitet mit ihnen, horcht auf ihre Einwendungen,
widerlegt ſie mit groͤßter Lebhaftigkeit, erwaͤhnt großer
Werke, die er geſchrieben habe, andrer, die er jetzt
[119] ſchreibe, und all ſein Wiſſen, ſeine Sprachkenntniß,
ſeine Vertrautheit mit den Alten, ſtehen ihm hiebei zu
Gebot; ſelten aber fließt ein eigenthuͤmlicher Gedanke,
eine geiſtreiche Verknuͤpfung, in den Strom ſeiner
Worte, die im Ganzen nur gewoͤhnliches Irrereden
ſind. Als Urſache ſeines Wahnſinns wird ein ſchreck¬
licher Auftritt in Frankfurt am Main angegeben, wo
er Hofmeiſter in einem reichen Hauſe war. Eine zarte
liebenswerthe, ungluͤckliche Frau wuͤrdigt den hohen
Dichtergeiſt, das reine Gemuͤth des in ſeiner Lage ge¬
druͤckten und verkannten Juͤnglings, es entſteht eine
unſchuldige Freundſchaft, die aber dem roheſten Arg¬
wohn nicht entgeht, und Hoͤlderlin wird thaͤtlich mi߬
handelt, ſieht auch die Freundin mißhandelt! Das brach
ihm das Herz. Er wollte ſeinen Jammer in Arbeit
vergraben, er uͤberſetzte den Sophokles; der Verleger,
der den erſten Theil drucken ließ und ausgab, ahndete
nicht, daß in dem Buche ſchon manche Spur des Ueber¬
ganges zu finden ſei, der in dem Verfaſſer leider nur
allzubald ſichtbar wurde. —
Tuͤbingen, Anfang Januars 1809. Ich lebe in der
groͤßten Einſamkeit. Ein paar Abende ausgenommen,
von denen ich den einen ſehr langweilig bei Cotta, den
andern angenehm bei Froriep zugebracht, bin ich gar
nicht aus dem Hauſe gekommen. Bei Froriep iſt es
norddeutſch, Halle und Berlin klingen mir dort nach,
ich bin in heimathlicher Luft, auch freuen mich die
[120] Kinder ſehr, die mich oͤfters beſuchen. Man bleibt bei
Froriep bis in die Nacht hinein, das heißt bis nach
10 Uhr, freilich auf die Gefahr, als Nachtſchwaͤrmer,
auf der Straße dem Waͤchter aufzufallen. —
Ich warte das Fruͤhjahr ab, weil ich muß; unter¬
deſſen laß' ich es an Fleiß nicht fehlen. Ihr glaubt
es nicht, was ich alles treibe, die heterogenſten Sachen
nebeneinander, und nicht aus willkuͤrlichem Wechſel,
nein, ſie haben alle ihren nothwendigen Bezug in mir,
und was nicht Raͤderwerk zum Weiterkommen iſt, iſt
Oel zum Raͤderwerk. Ich habe abſatzweiſe ſtarke medi¬
ziniſche Arbeiten gemacht, ich habe den ganzen Livius
durchgeleſen, ich habe Studien zu einem Trauerſpiel
von unſerm Kaiſer Heinrich dem Vierten gemacht, und
ein paar Novellen, und vielerlei Aufſaͤtze, und unzaͤhlige
Briefe geſchrieben; mehr aber noch innerlich mit Welt
und Leben, mit Entwuͤrfen und Moͤglichkeiten mich
abgekaͤmpft. Macht jetzt keine Anſpruͤche an mich, laßt
mich gehn! Vielleicht erfuͤll' ich kuͤnftig eure Erwar¬
tungen um ſo beſſer. —
Tuͤbingen, Mitte Januars 1809. Kerner, der nach
ſeiner ehrenvollen Doktorpromotion gleich nach Hauſe ge¬
reiſt war, iſt wiedergekommen, jetzt aber leider krank.
Ich bin die Abende immer bei ihm. Autenrieth iſt ſein
Arzt, und bleibt auch ganze Stunden. Da giebt es
die lebhafteſten Geſpraͤche: die romantiſche Schule, die
Naturphiloſophie, und vor allem das Wunderhorn, wer¬
[121] den ſchrecklich angegriffen, hartnaͤckig vertheidigt. Auten¬
rieth iſt voll ſchwaͤbiſcher Phantaſie und Laune, da er
aber auch großen Verſtand beſitzt, und der ihn mi߬
trauiſch gegen ſein Naturell macht, ſo hat er dieſes jenem
ganz dienſtbar untergeordnet, und nun ſtreiten dieſe
muntern Kraͤfte wider das, was ihnen eigentlich befreun¬
det iſt. Ich habe ihm das einmal bewieſen, daß ſein
Eifer gegen die Volkslieder nur verſteckte Freude an ihnen
iſt, und er lachte ſehr vergnuͤgt daruͤber. Ein paar
junge Tuͤbinger, Pregitzer und Koͤſtlin, nehmen warmen
Antheil an dieſen Verhandlungen, fuͤr Kerner ſind ſie
ſtaͤrkende Arznei; Uhland ſchweigt in ſchroffem Ernſt,
und ſeine Gegenwart verhindert uns auch wohl, die
ſtreitigen Meinungen allzu ſtark hervorzurufen. Ich habe
aber noch von einem andern Abendgaſte zu reden, den
ich bei Kerner treffe, abermals einem Poeten, und zwar
wieder von ganz anderm Schlag, als die bisher ge¬
nannten; hoffentlich hab' ich mit ihm nun alle Dichter¬
ſorten des hieſigen Platzes erſchoͤpft. Ich ſtelle euch den
Profeſſor Conz vor. Laßt es euch nicht ſtoͤren, daß er
ſo ausſieht, wie Focks in den „Verſuchen und Hinder¬
niſſen“ beſchrieben iſt, er iſt doch ein ganz wackrer und
guter Kerl! Was kann er dafuͤr, daß er in fruͤhere
Jahre fiel, wo es fuͤr Dichtergluth eine andre Heizung
gab, als jetzt? Er haͤlt eine ſehr gute Vermittelungs¬
linie zwiſchen Schiller und Voß, weiß Metrum und
Reim zu handhaben, hat ſich um Kantiſche Philoſophie
[122] bekuͤmmert; waͤr' er juͤnger, ſo machte er Sonette, wuͤßte
von Aſſonanzen, ließe Schelling'ſche Formeln in ſeinen
Dichtungen durchſchimmern. Conz iſt hier der eigent¬
liche Philolog an der Univerſitaͤt, und wirklich ein gruͤnd¬
licher, auch geſchmackvoller Alterthumskenner, eifrig in
ſeinem Fach, und uͤberhaupt fuͤr Schoͤnes und Hohes
leicht entzuͤndbar. Da er aber als Anempfinder wenig
Feſtigkeit und Schaͤrfe beſitzt, ſich theils aus Gutmuͤthig¬
keit, theils aus Schwaͤche, leicht einſchuͤchtern laͤßt, ſo
kann er ſeine Sachen nicht mit dem noͤthigen Anſehn
durchſetzen, die Kollegen necken ihn, die Studenten be¬
zeigen ſich leichtfertig, zu Hauſe giebt es auch wohl
Schelte, da bleibt denn die Litteratur die einzige Zu¬
flucht, — aber in der herrſcht ein neuer Geiſt, der von
ihm und all dem Seinen nichts wiſſen will! So lebt
der Mann hier ſeit Jahren gedruͤckt und gehemmt, und
ſeufzt nach Menſchen, die ſeine Gegenſtaͤnde kennen,
ſeine Richtungen einſehen, ſein Streben wuͤrdigen. Un¬
vermuthet findet er mich, mich, liebe Freunde, und nun
erwaͤgt, was das heißt! Muß ich es euch Hartſinnigen
doch umſtaͤndlich eroͤrtern? Nun, ſo hoͤrt! Er findet
einen jungen Mann, der kein Philolog vom Fach iſt,
aber den Homer und Platon lieſt, der mit Wolf und
und Gurlitt bekannt iſt, der den Dichter und Ueberſetzer
Voß hochſchaͤtzt, der die Verdienſte metriſcher Ueber¬
ſetzungen wuͤrdigt, dem die Oden Klopſtocks vertraut
ſind, der zum Erſtaunen der Anweſenden ganze Reihen
[123] von Hexametern und Pentametern herſagt aus einer
Elegie, worin die Befreiung Griechenlands durch Bo¬
naparte geweiſſagt wird, und dieſe Elegie iſt von Conz!
Genug, der Mann hat die groͤßte Freude an mir, hat
es ſeit Jahren nicht ſo gut gehabt, kann alle ſeine lang¬
verhaltenen Reden an mich richten, iſt unerſchoͤpflich in
Mittheilungen, erzaͤhlt von ſich und Andern, fuͤhrt ſeine
eignen nicht recht bekannt gewordenen Schriften an,
er ſieht, daß er verſtanden, daß er gewuͤrdigt wird.
Leider traͤgt aber auch dies ſeltne Gluͤck einen geheimen
Stachel von der Nemeſis eingepflanzt! Denn, wenn
ihr es noch nicht wißt, ſo erfahret es jetzt, Conz iſt
der Rezenſent in der Halliſchen Litteraturzeitung, der
unſre Gedichte dort ſo ſcharf mitgenommen und her¬
untergeriſſen hat, und jetzt, da er an mir ſeine groͤßte
Freude, ſo ganz ſeinen langentbehrten Mann findet, iſt
er beſchaͤmt und beſtuͤrzt wegen jener That, und fragt
Kerner'n aͤngſtlich, ob ich wohl etwas davon wiſſe,
und fuͤrchtet, daß ich es erfahre! Er hat aber
nichts zu fuͤrchten, er iſt ja fuͤr ſein Uebelthun ſchon
genug geſtraft durch die Sache ſelbſt, daß er denjenigen
getadelt, den er nun liebt und ſchaͤtzt, und daß dieſer
ihn nun doch meidet und flieht; denn er langweilt mich
ungeheuer, und verhoͤhnen mag ich ihn nicht, weil er
das nicht verdient, und ohnehin ſchon geplagt genug
iſt! — Ich ziehe aus der laͤcherlichen Geſchichte die lehr¬
reiche Warnung, daß man im Rezenſiren vorſichtig ſein
[124] und bedenken muͤſſe, ob man auch nicht den Ort ver¬
unreinige, wo man ſpaͤter ſich werde hinſetzen wollen! —
Tuͤbingen, Donnerstag den 16. Februar 1809. Ich
konnte heute nicht ſchreiben, das Fruͤhlingswetter hatte
in meine Bruſt wie in einen jungen Baum ſeine Un¬
ruhe getrieben; der Tag war ein verkuͤndender, noch
nicht ſelber ſchoͤn, aber ſchoͤne Nachfolger verheißend.
Ich eilte vor das Thor hinaus, in das freie Neckarthal.
Indem ich durch die ſchmutzigen, engen Straßen ging,
und nachher, als ich draußen auf die Stadt zuruͤckblickte,
fuͤhlte ich deutlich, daß der Ort mir doch ſchon lieb
geworden, daß ich den Aufenthalt, den ich hier gemacht,
und alle Zweifel und Schmerzen, die ich hier durchge¬
kaͤmpft, doch nicht entbehren moͤchte in meinem Leben. —
Die nahe Abreiſe nahm mir heute die Angſt, das Thal
war mir kein Kerker mehr, der Sinn konnte ſich frei
ergehen, und ſich jedem lieben Eindruck uͤberlaſſen. Die
Luft war warm und ſtill, die Gegend hell, die Land¬
ſtraßen feſt und trocken, und ſehr belebt. Rings am
Himmel ſtand doch viel Gewoͤlk, aber klein, ſtill, und
vielfarbig in mattem Glanz; die Wolken ſchienen ſich
nur zu bewegen, um ſich in einen zarten weißen Flocken¬
ſchleier uͤber die Himmelsblaͤue langſam auszubreiten;
feine Nedelfaͤden ſchwammen hoch im weiten Blau, und
unten um die fernen Berge loͤſte ſich das dichtere Ge¬
woͤlk ſanft in duftigen Nebe! auf, der ſpielend heran¬
wogte mit dem Abend. Laͤngs einem Seitenbache des
[125] Neckars ging ich eine weite Strecke fort, und freute
mich meines Alleinſeins, das mir auf Wanderungen
immer behagt. Aber angekommen waͤr' ich gern bei
lieben Freunden, dieſes Ziel fehlte mir! Und ſo mußt'
ich endlich den Ruͤckweg nehmen, und unter allmaͤhligem
Verſtummen des vorher ſo lauten Herzens, mich in die
Stadt und in mein Zimmer zuruͤckfinden, umduͤſtert
von dickem Abendnebel, der dicht vor meinen Fenſtern
die ſchwarzen Daͤcher uͤberſchwebt. Als ich hinausging,
ſah ich Kuͤraſſe ſchmieden, auf dem Ruͤckwege begegneten
mir wuͤrtembergiſche Reiter. So mahnt auch in dem
friedlichen Thal ſchon manches an Krieg, der ſich aus
Oſten und Weſten allerdings in allerlei Zeichen drohend
ankuͤndigt! —
Ich habe die franzoͤſiſchen Buͤlletins uͤber den Krieg
in Spanien der Reihe nach durchgeleſen, und mehr
daraus erſehen, als ſie zeigen wollen. Naͤher aber, als
dieſe Vorgaͤnge, beruͤhren mich die Nachrichten von den
Ruͤſtungen in Oeſterreich. Dort ſcheint alles auf einen
aͤchten Volkskrieg abgeſehen, und Begeiſterung und Kraft
jeder Art aufzuwachen. Hier, — und wo nicht in
Deutſchland? — iſt die Regierung mit den Franzoſen
verbuͤndet, das Volk aber iſt fuͤr Oeſterreich, mit deſſen
Sache die deutſche ihm diesmal eng verbunden duͤnkt.
Die kriegeriſchen Ausſichten machen auch all meine Plane
wieder ungewiß. Wo ſoll, wo kann man hin? wo
bleiben? Wie wird es binnen einem halben Jahr in
[126] Deutſchland ausſehen? — In Hamburg find' ich immer
weniger, was ich bedarf! Doch will ich es verſuchen,
nochmals durch die That pruͤfen, ob ich dort meine
Staͤtte finde. In Berlin eroͤffnen ſich vielleicht neue
Ausſichten! In Wien ſtehen ſie einladend offen. Meine
Wege ſind leider ſtets Umwege. —
(Hier waͤren, außer andern, noch nicht mittheilbaren Abſchnitten,
der Zeitfolge nach die beiden ſchon im zweiten Bande abge¬
druckten: „Die Schlacht von Wagram“ und „Das Feſt des
Fuͤrſten von Schwarzenberg“ einzuſchalten.)
Steinfurt 1810, 1811.
Gegen das Geraͤuſch und den Glanz des Pariſer Aufent¬
halts machte die Einſamkeit und Stille, die wir beim
Eintritt in Weſtphalen empfanden, den ſchneidendſten
Gegenſatz. Die ganze Beſchaffenheit des Landes, die
Art wie daſſelbe bewohnt und bebaut wird, alles giebt
ihm ein ſtilles, duͤſtres Anſehn. Bewaldete Huͤgel be¬
ſchraͤnken den Blick, in der Flaͤche wechſeln Sand und
Wald, und Moor und Haide, zwiſchen denen ſich Acker¬
felder muͤhſam hervorarbeiten. Da es keine Doͤrfer
giebt, ſondern die Bauerhoͤfe vereinzelt liegen, und zwar
meiſt abſeits der Straße im Gebuͤſch verſteckt, ſo ſcheint
die Bevoͤlkerung noch geringer, als ſie wirklich iſt. Wie
abgeſondert dieſe Leute von der uͤbrigen Welt leben,
ergab ſich unter andern in der treuherzigen Neugier,
mit der ſie uns fragten, ob es denn wirklich wahr ſei,
was man erzaͤhle, daß der Kaiſer Napoleon ſeine erſte
Gemahlin verſtoßen und zur zweiten eine Tochter des
Kaiſers Franz bekommen habe! Sie wollten es nicht
[128] recht glauben, ſo wenig wie ſie fruͤher an die Siege
der Franzoſen hatten glauben moͤgen, bis die Einſetzung
franzoͤſiſcher Behoͤrden begreiflich machte, daß das Muͤn¬
ſterland wenigſtens fuͤr jetzt der fremden Herrſchaft
unterworfen ſei; doch zweifelte keiner, daß uͤber kurz
oder lang endlich dennoch Anton Viktor kommen und
als Fuͤrſt in ſeine Rechte treten wuͤrde; dieſer oͤſter¬
reichiſche Erzherzog war naͤmlich noch zuletzt, als ſchon
die Stuͤrme der Zeit das Land ergriffen hatten, zum
Fuͤrſtbiſchof von Muͤnſter gewaͤhlt worden, und das Volk
hoffte auf ihn wie auf einen Verheißenen, und nannte
ſeinen Namen oͤfter und bedeutſamer, als es vielleicht
geſchehen waͤre, wenn er wirklich regiert haͤtte.
Im Fruͤhjahr, als ich Steinfurt von Boͤhmen aus
beſuchte, hatte ich mir nicht traͤumen laſſen, daß ich
im Herbſte wiederum dort einſprechen wuͤrde, und zwar
von der entgegengeſetzten Seite; mir war aber dieſe
Wiederkehr nicht unlieb, und ich hoffte die Muße der
naͤchſten Monate fuͤr mancherlei Arbeiten wohl anzu¬
wenden.
Steinfurt, oder Burgſteinfurt, wie der Name eigent¬
lich heißt, bis dahin der Hauptort der gleichnamigen
Grafſchaft, war jetzt ein franzoͤſiſches Staͤdtchen, das
ſeinen Maire hatte, dem die fruͤhere Landesherrſchaft
eigentlich wie die uͤbrigen Einwohner untergeordnet war.
Allein die willkuͤrliche Verfuͤgung hatte die tauſendfachen
Sach- und Namensbezuͤge des auf Jahrhunderte gegruͤn¬
[129] deten fruͤhern Zuſtandes ſo ploͤtzlich nicht umwandeln
koͤnnen, dieſer fruͤhere Zuſtand war in allem, was das
Oertliche betraf, nach wie vor in ungeſtoͤrter Wirkſam¬
keit, und fuͤr den Anſchein keine Veraͤnderung merklich,
als daß die graͤfliche Leib- und Schloßwache von 50 Mann,
welche ehmals bewaffnet und von einem Hauptmann
befehligt waren, jetzt ohne Waffen und ohne Offizier,
aber doch in ihrer rothen Montur, ihren Dienſt ver¬
ſahen.
Die graͤfliche Familie bewohnte das dicht an der
Stadt liegende, von dem kleinen Fluß Aa rings umge¬
bene und ehmals wohlbefeſtigte Schloß, auf deſſen einer
Seite der große, praͤchtige, von dem regierenden Grafen
mit eifriger Liebhaberei und ungeheuern Koſten ange¬
legte, weit und breit beruͤhmte Luſtpark, Bagno ge¬
nannt, ſich uͤber einen bedeutenden Raum erſtreckte, der
mit herrlichen großartigen Spazirgaͤngen, See- und
Waldſtrecken, maͤchtigen Waſſerfaͤllen und Springbrunnen,
aber auch mit Grotten, Tempeln, Saͤlen, Kiosken,
Moſcheen und ſo weiter, uͤberall erfuͤllt war, und in
letzterer Hinſicht den Geſchmack einer vergangenen Zeit
nicht allzu guͤnſtig darſtellte. Alles war zum Schau¬
platz eines reichen und feierlichen Hoflebens eingerichtet,
zu großen Feſtlichkeiten, bei welchen die Pracht und
Herrlichkeit des Gebieters zur vollen Erſcheinung kommen
ſollte; ein großer Saal war eigends fuͤr die Konzerte
erbaut, welche von der Kapelle des Grafen aufgefuͤhrt
III.9[130] wurden, und in denen neben ſeinen wohlbeſoldeten, aus
Italien mit großen Koſten verſchriebenen Kammerſaͤn¬
gern, auch er ſelbſt bisweilen ſich auf der Floͤte hoͤren
ließ, die ihm zu ſolchem Behuf ein Edeldiener auf ſeid¬
nem Kiſſen darzubieten hatte; es fehlte nicht an ge¬
raͤumigen Tanz- und Speiſeſaͤlen, nicht an ſchicklichen
Raͤumen, wo ein Hofzirkel gehalten und die Vorſtellung
anweſender Fremden mit gehoͤriger Feierlichkeit geſchehen
konnte; in einer Bucht des See's lagen geſchmuͤckte
Prachtſchiffe bereit, um ſowohl die Herrſchaft und etwa¬
nige vornehme Gaͤſte, als auch begleitende Janitſcharen¬
muſik, in langſamer Prunkfahrt umherzufuͤhren; an
andrer Stelle ſtieß man auf ein ungeheures Schachbrett
im Freien, wo die Spieler zwei entgegengeſetzte Buͤhnen
beſtiegen, und von da aus die beſtellten Diener anwieſen,
die maͤchtigen Figuren auf die beſtimmten Felder hinzu¬
ruͤcken; an hohen Tagen, wo die Waſſerfaͤlle ſtuͤrzten,
und die Springbrunnen ihre Strahlen bis uͤber hundert
Fuß hoch trieben, durften die Einwohner von Steinfurt
und der Umgegend denen von Verſailles kaum nachzu¬
ſtehen glauben. Der regierende Graf liebte nach alter
Weiſe, durch ſolche Außerordentlichkeiten einen hohen
Begriff von der Stellung und Macht zu geben, denen
ſo Staunenswerthes moͤglich war, und er ſelber fuͤhlte
ſich ſo ſehr als Mittelpunkt eigner Selbſtſtaͤndigkeit, daß
er daruͤber den wirklichen Umfang derſelben faſt zu ver¬
geſſen ſchien. Nicht nur, daß er Hofſtaat und Leib¬
[131] wachen und Beamte und Dienerſchaft jeder Art in
moͤglichſt großer Menge hatte, er war auch bedacht, in
allgemeineren Bezuͤgen Land und Unterthanen in einer
Art von Staatshaͤuslichkeit zu befriedigen. Er hatte
Gemaͤhlde, Muͤnzen, Bildwerke, Alterthuͤmer und Buͤcher
in einem eigens erbauten Kunſthauſe vereinigt; er ſandte
eingeborne Juͤnglinge, die einige Anlage verriethen, zu
ihrer Ausbildung auf Reiſen oder auf die Univerſitaͤt,
mit dem Beding, ihre erworbene Geſchicklichkeit kuͤnftig
im Vaterlande, das heißt im herrſchaftlichen Gebiete des
Grafen, auszuuͤben; er ging damit um, eine Verfuͤgung
zu erlaſſen, daß niemand im Lande ein Amt erhalten
ſolle, der nicht ſeine Vorbereitungsſtudien auf der Schule
zu Steinfurt gemacht habe. So ſehr klein war das
Gebiet doch nicht; der Graf hatte zu der Grafſchaft
Steinfurt die betraͤchtlichere Bentheim ererbt, und weil
dieſelbe an Hannover von dem letzten Beſitzer verpfaͤndet
war, ſogleich die Einloͤſung zu bewirken geſucht, welche
jedoch erſt durch Frankreich zu Stande kam, indem
Napoleon in die Rechte Hannovers getreten zu ſein
behauptete, und die Loͤſungsſumme fuͤr ſich einzog; der
Graf beſaß ferner die Herrſchaft Alpen am Niederrhein,
in Holland die Herrſchaft Batenburg und einen Zoll
an der Maas. Bei allem Aufwand war er zugleich
ein ſtrenger Haushalter und ſeinen Vorbildern auch
darin aͤhnlich, daß er einen baaren Schatz geſammelt
hatte. Sein begruͤndeter Wohlſtand und ſein ſtrebendes
9*[132] Anſehn hatten in der That ſo guͤnſtig fuͤr ihn gewirkt,
daß bei der Aufloͤſung des deutſchen Reichs, als den
vormaligen Reichsunmittelbaren nur zweierlei Looſe blie¬
ben, entweder zur Oberherrlichkeit erhoͤht in den Rhein¬
bund zu treten, oder zu Unterthanen ſolcher Beguͤnſtig¬
ten hinabgedruͤckt zu werden, es ſich in der Meinung
ſehr natuͤrlich darbot, dem Grafen von Bentheim koͤnne
nur das erſtere Loos beſchieden ſein. Die Eroͤffnungen
hierzu von Seiten Frankreichs hatten wirklich Statt
gefunden, Verhandlungen mit dem Miniſter Talleyrand
waren dem Abſchluſſe nah, Karten des kuͤnftigen, durch
zu mediatiſirende Nachbarn ſehr vergroͤßerten Gebietes
waren ſchon gezeichnet, die Oberherrlichkeit des Grafen
ſo gut wie anerkannt, als ploͤtzlich eine andre Anſicht
in Paris alles bisher Eingeleitete verwarf, und dieſe
Verhaͤltniſſe in druͤckender Unſicherheit ſtocken ließ. Der
Graf war ſogleich nach Paris gereiſt, um ſeine Gerecht¬
ſame zu vertheidigen, ſeine Anſpruͤche geltend zu machen.
Hier wurde er am Hofe Napoleon's mit allen Ehren
aufgenommen, und perſoͤnlich als ein regierender Herr
behandelt, waͤhrend ſeine ſachlichen Anſpruͤche immer
weniger Ruͤckſicht erfuhren, und die franzoͤſiſchen Be¬
hoͤrden in ſeinem Lande immer entſchiedener eingriffen.
Je unguͤnſtiger ſeine Verhaͤltniſſe daheim ſich ſtellten,
je weniger mochte der Graf zuruͤckkehren, ſondern blieb
in Paris, als dem einzigen Orte, wo er noch als regie¬
rend galt, und wo er Hoffnung hatte, es auch wieder
[133] zu werden. In dieſer Lage hatten wir ihn dort gefun¬
den, reklamirend, proteſtirend, ſollizitirend, Napoleon
und ſeine Miniſter bei jeder Gelegenheit angehend, in
Foͤrmlichkeiten genau und ſich nichts vergebend, ſonſt
aber hoͤchſt eingezogen und ſparſam in ſeiner Lebens¬
weiſe. Er hatte den ehmals allgemeinen Gebrauch bei¬
behalten, rothe Abſaͤtze an den Schuhen zu haben, und
zog dadurch, und durch andre nicht mehr uͤbliche Vor¬
nehmheit in Haltung und Ausſchmuͤckung ſeiner Perſon,
die Blicke auf ſich, wenn er im Garten des Palais-
Royal ſpaziren ging, und ſein Secretair ihm voran¬
ſchreiten mußte; allein das Laͤcheln hieruͤber ſchwand in
Vergeſſenheit, ſobald man ihn ſprach und naͤher kannte,
man fand einen einſichtsvollen, wohlunterrichteten und
in ſeiner Sphaͤre hoͤchſt gebildeten und gewandten Herrn,
deſſen Verſtand und Urtheil auch Napoleon ſelbſt alle
Gerechtigkeit widerfahren ließ. Auf ſolchem Fuß blieb
er in Paris viele Jahre, waͤhrend er daheim ſtets un¬
guͤnſtiger zu ſtehen kam, erſt als Mediatiſirter dem
Großherzogthum Berg unterworfen, und zuletzt gar mit
Frankreich einverleibt wurde, da er denn, weil ein
Unterthan des franzoͤſiſchen Kaiſers keine andern Titel
haben konnte, als welche dieſer ihm verliehen oder be¬
ſtaͤtigt hatte, nunmehr ſtaatsbuͤrgerlich mit jedem ſeiner
ehmahligen Unterthanen gleichgeſetzt war. Unverdroſſen
harrte er in Paris auf Herſtellung oder Entſchaͤdigung,
bis er endlich den Sturz Napoleon's erlebte, und dar¬
[134] auf ſpaͤterhin, unter ganz veraͤnderten Verhaͤltniſſen,
hergeſtellt in bedeutende Gerechtſame und fuͤr andre durch
die Fuͤrſtenwuͤrde entſchaͤdigt, in die Heimath zuruͤck¬
kehrte.
Damals aber, als wir von Paris in Steinfurt an¬
gekommen waren, lag eine ſolche Wendung der Dinge
faſt außer dem Bereiche jeder Hoffnung. Die graͤfliche
Familie hatte ſich, in Erwartung einſtiger Wiederkunft
ihres Hauptes, mit den obwaltenden Verhaͤltniſſen leid¬
lich eingerichtet, und fuͤhrte unter dem Druck und der
Einſchraͤnkung, welche mehr den Stand des Hauſes im
Allgemeinen trafen, aber den einzelnen Mitgliedern kaum
fuͤhlbar wurden, ein heitres, vergnuͤgtes Leben. Die
Mutter, eine geborne Herzogin von Holſtein-Gluͤcksburg,
vereinigte mit dem lebhaften Bewußtſein ihres Ranges
ein menſchenfreundliches Wohlwollen und eine muntere
Regſamkeit, wodurch ihre Gegenwart auch den juͤngern
Perſonen lieb und werth wurde. Der Erbgraf Alexis,
einfach und verſtaͤndig, die Weltbewegungen mit hellem
Sinn und in dem Lichte der neuern Zeit betrachtend,
ſtand durch biedre Rechtſchaffenheit und leutſelige Guͤte
in allgemeiner Achtung; fuͤr die juͤngern Geſchwiſter
ſorgte er mit mehr als bruͤderlicher, mit vaͤterlicher Liebe.
Eine aͤltere Schweſter, Fuͤrſtin von Solms-Lich, ſchon
in jungen Jahren verwittwet, befand ſich mit ihren vier
Soͤhnen zum Beſuch anweſend; zwei juͤngere Schweſtern,
ausgezeichnet durch Bildung, Herzensguͤte, Schoͤnheit,
[135] waren noch unverheirathet zu Hauſe. Ein juͤngerer
Bruder, in daͤniſchen Kriegsdienſten angeſtellt, wurde
von Kopenhagen erwartet. Juͤngere und aͤltere Geſell¬
ſchaft bot die Stadt und Umgegend gar nicht ſparſam
dar: das Hofleben hatte ſich allmaͤhlig in ein geſelliges
bequemes Landleben herabgeſtimmt, und die Annehm¬
lichkeit und Befriedigung aller Theilnehmenden dabei
nur gewonnen. Selbſt die Wirthſchaftsſorge trat als
willkommene Thaͤtigkeit in die Vergnuͤgungen des Tages,
und bildete freilich einen wunderlichen Gegenſatz mit
manchen noch beibehaltenen feierlichen Formen; die aus¬
geſchmuͤckten Trompeter, welche im Schloßhofe regel¬
maͤßig zur Mittags- und Abendmahlzeit blaſend ein¬
luden, riefen freilich manchmal die Hofdamen von der
Beſorgung der welſchen Huͤhner, den Kanzleirath von
der Einzaͤhlung der Baumfruͤchte ab, doch wurde ſelbſt
dies nur ein Anlaß heitern Scherzes, und erhoͤhte das
Bewußtſein, wie frei man ſich in ſolch unentſchiednen
Zuſtaͤnden aller beengenden Ruͤckſichten entaͤußere. Der
feſte Grund innrer Wuͤrde und edler Geſinnung konnte
in dieſer trefflichen Familie niemals wanken, mochte ſie
in den ſtolzen Anſpruͤchen eines regierenden Hauſes,
oder in den beſcheidenen einer Gutsherrſchaft erſcheinen!
Einige Jahre vor mir hatte Juſtus Gruner als
junger Gelehrter in Steinfurt eingeſprochen, und in
ſeiner nachher gedruckten Reiſebeſchreibung ſowohl das
Leben als die Perſonen umſtaͤndlich geſchildert; ich fand
[136] alles noch ziemlich in demſelben Stande, wie er es
beſchrieben, und mußte beſonders in das Lob einſtimmen,
welches er den graͤflichen Damen ertheilte, wiewohl ich
daſſelbe weder ſo ſchwungvoll noch ſo empfindſam aus¬
gedruͤckt haben wuͤrde, als Gruner, der ſich dieſer ſchon
damals veralteten Art noch zu guter letzt mit allem
Eifer hingegeben hatte. Die Damen waren wohl an¬
fangs etwas betroffen, ihre Erſcheinung, Vorzuͤge,
Aeußerungen und nebenher ſo manches Unerhebliche,
oͤffentlich beſprochen zu ſehen, allein die beſeelte Aner¬
kennung und faſt leidenſchaftliche Verehrung, die der
junge Enthuſiaſt ausdruͤckte, beſonders wenn er die herr¬
lichen Geſangſtimmen pries, die ihn hier entzuͤckt hatten,
erwarben ihm Verzeihung fuͤr eine Dreiſtigkeit, welche
offenbar aus beſter Meinung hervorging. In der That
war ſowohl die Fuͤrſtin von Solms-Lich, als ihre beiden
juͤngern Schweſtern, mit großartiger, durch beſten
italiaͤniſchen Unterricht zu hoͤchſter Meiſterſchaft ausge¬
bildeter Stimme begabt, deren maͤchtige Wirkung mit
ſo vielem andern Zauber vereint den Hoͤrer unwider¬
ſtehlich hinreißen mußte.
Das geſellige Leben auf dem Schloſſe war anziehend
und genußreich; das Bagno bot den taͤglichen Spazir¬
gaͤngen hinreichende Abwechſelung, auch Fahrten in die
Nachbarſchaft wurden unternommen; der Austauſch von
Meinungen und Erzaͤhlungen war lebhaft, Ernſt und
Munterkeit fanden unerſchoͤpflichen Stoff. Der Sonn¬
[137] tag war nach alter Sitte eine Art Hoftag, die graͤflichen
Beamten wurden zur Tafel gezogen, die angeſehnſten
Herren und Frauen des Staͤdtchens fuͤr den Nachmittag
und Abend eingeladen. Dann erſchien auch regelmaͤßig
der Maire, ein reicher Arzt Doktor Houth, der fruͤher
in Holland ſein Gluͤck gemacht und darauf der Praxis
uͤberdruͤſſig hieher ſich zuruͤckgezogen hatte; in bequemem
Hauſe und ſchoͤnem Garten genoß er nach ſeinem Sinne
ruhige Tage, die er durch das ihm auferlegte Amt
ungern unterbrochen ſah. Er hatte große Kenntniſſe,
ſtudirte noch immer weiter, liebte Gemaͤhlde und Muſik,
und war durch Denkart und Geſchmack ganz dem Schloß
ergeben, wo man hinwieder die freiwillige Unterordnung
und Dienſtwilligkeit eines Mannes, der durch ſein Amt
unendliche Verationen ausuͤben konnte, dankbar zu
ſchaͤtzen wußte.
Wir machten Ausfluͤge nach Borghorſt und nach
Langenhorſt, zweien Fraͤuleinſtiftern, wo uͤber das
Schickſal der unverheiratheten alten und jungen Damen,
denen nach der Abſicht fuͤrſorglicher Vorfahren hier ein
beguͤnſtigtes Daſein bereitet ſein ſollte, die eigenſten
Betrachtungen anzuſtellen waren. Mir kam es vor,
als wenn die aͤltern und juͤngern Damen mit einer
Art von Verzweiflung dieſe Beguͤnſtigung genoͤſſen, und
durch die ihnen gelaſſene Freiheit auch des letzten Tro¬
ſtes entbehrten, des Troſtes gezwungen zu ſein! Mehr
aber, als das Schickſal dieſer Erwachſenen, zog mich
[138] das eines Kindes an, das ich an einem jener Orte
kennen lernte. Die Mutter war eine Edeldame aus
dem Muͤnſter'ſchen, der Vater ein franzoͤſiſcher Emi¬
grant, der jene verfuͤhrt hatte, beide waren davonge¬
gangen, und das Kind von der Aebtiſſin aus Mitleid
aufgenommen worden. Bei dem vornehmen und ſtren¬
gen alten Fraͤulein galt aber die Erziehungsweiſe, welche
Haͤring in ſeinem Cabanis ſo lebendig zu ſchildern ge¬
wußt; das kleine, zarte Maͤdchen wurde mit aͤußerſter
Haͤrte behandelt, mußte angeſtrengt arbeiten, bekam
nicht ſatt zu eſſen, und erlitt bei dem geringſten Ver¬
ſehen die grauſamſten Strafen; oft blieb es Tage lang
an einem finſtern Ort eingeſperrt. Urſpruͤnglich von
lebhaftem Naturell, war das arme Luischen doch ſchon
ſo abgemuͤdet, daß es der haͤrteſten Strafen gar nicht
mehr achtete, ſondern ſie mit dumpfer Gleichguͤltigkeit
als unvermeidliches Geſchick hinnahm. Um ſeinen Hun¬
ger zu ſtillen, ſtahl es freilich bei jeder Gelegenheit
Brot, Zwieback und dergleichen, doch ohne andere Sa¬
chen, als nur Eßwaaren anzutaſten. Mehrmals war
es ſchon fortgelaufen, aber immer bald wieder entdeckt
und zuruͤckgebracht worden, um die ſtrengſte Beſtrafung
zu erleiden. Dabei klagte dann die Aebtiſſin, die ſich
gegen das Kind ſelbſt und gegen Fremde immer einer
abgoͤttiſchen Liebe fuͤr daſſelbe ruͤhmte, uͤber die ſchwaͤr¬
zeſte Undankbarkeit, eingeborne Bosheit und tuͤckiſchen
Trotz. Ich ſah das arme Kind, das mir im voraus
[139] als ein Ausbund von Verderbtheit bezeichnet worden
war, und ließ mich naͤher mit ihm ein; es war bleich
und mager, die Augen gutmuͤthig, doch unterdruͤckten
Blickes, die Geſichtszuͤge ſchienen im Uebergange zur
Verzerrung begriffen, ſie mußten mit der Zeit haͤßlich
werden, die kleine Stirn war ſchon wie von Leid und
Gram verwuͤſtet. Aus reinſter Wahrhaftigkeit, die kei¬
ner Heuchelei wie keiner Klugheit faͤhig war, hatte es
ſchon mehrmals, das fuͤnfjaͤhrige Kind, zur Aebtiſſin
geſagt: „Gott! es ſterben ja immer Leute, warum
ſtirbſt du nicht? Wenn du doch nur erſt todt waͤrſt!“
Als ich dort war, wollte es nach der Kirchmeſſe gehen,
um die aufgebauten Buden zu betrachten, und ſich fuͤr
einige durch Stricken verdiente Stuͤber etwas Kuchen
zu kaufen, aber ein Regen trat ein, und nun mußte
der Ausgang unterbleiben: „Ach! ich moͤchte ſo durch
die Luft hinfliegen!“ ſagte es am Fenſter ſtehend, die
nun vergeblichen Stuͤber in der Hand, und betruͤbt der
vielleicht nicht wieder zu hoffenden Gelegenheit nach¬
blickend; und doch konnte es mir gleich darauf wieder
den ſo grauſamen Regen ruͤhmen, daß er gut ſei fuͤr's
Land und das Korn wachſen mache, das ſchon ſo hoch
ſei, wie das gebreitete Haͤndchen von der Erde auf
zeigte. Ich war erſchuͤttert von den Eindruͤcken, die
ich empfing. Dies war kein boͤſes Kind, vielmehr ein
liebes, guͤtiges, aber tiefungluͤckliches! Eine Kindheit
ohne Liebe und Huͤlfe, freudenlos, verkuͤmmert, allen
[140] Wohlthaten entruͤckt, welche die Natur auch der Ar¬
muth noch ſpendet, und zwiſchen das Raͤderwerk falſcher
Begriffe und Bildung geworfen, und ohn' Erbarmen
von dieſem zerquetſcht und zerſtoͤrt! Vier Monate ſpaͤ¬
ter hatte ich in der Wetterau ein anderes Kind zu ſe¬
hen Gelegenheit, von dem man mir gleichfalls geſagt
hatte, es ſei ein Beiſpiel urſpruͤnglicher Boͤsartigkeit,
die durch keine Mittel ſich bezwingen laſſe. Die kleine
Joſephine war nicht, wie Luischen, eine arme Waiſe,
ſie lebte im Schoß der Familie, in hoher und reicher
Sphaͤre, ſie genoß guͤtiger Behandlung, hinlaͤnglicher
Freiheit und zweckmaͤßigen Unterrichts; ſie hatte nicht
zu klagen, aber Alle klagten uͤber ſie; ein Mißverhaͤltniß
war allerdings vorhanden, und das achtjaͤhrige Maͤdchen
konnte dies nicht aufheben. Ich fand auch dieſes Kind
durchaus nicht boͤſe, im Gegentheil heiter und unbe¬
fangen, aber heftig, und, einmal geſtoͤrt, unbeugſam
hartnaͤckig. Der erſte uͤbereilte Ausſpruch, ſie ſei boͤſe,
war ihr als eine unverdiente Beſchuldigung auf die
Seele gefallen, und hatte ſie zu der Irrbahn getrieben,
auf der nun alles ſie befeſtigte, ſtatt ihr die Hand zu
reichen, um wieder davon abzukommen. Fuͤr Joſe¬
phinen war ein verſtaͤndigendes Wort einzulegen;
Luischen konnte nur eine Schickung retten, zu der ich
nicht das Werkzeug zu ſein vermochte! Aber im Schmerz
uͤber dieſe und aͤhnliche mir aufgeſtoßene Beiſpiele
ſchrecklicher Kindermißhandlung und Verwahrloſung ging
[141] ich einige Zeit mit dem Gedanken um, unter dem Na¬
men einer Paͤdodicee einige Blaͤtter in die Welt zu
ſchicken, an denen ſich vielleicht hin und wieder ein
truͤbes Loos dieſer Art etwas erhellte. Das Vorhaben
war indeß zu unreif, um nicht gegen naͤher anliegende
Thaͤtigkeit und Beſchaͤftigung zuruͤckzuſtehen.
Wir hatten einen der ſchoͤnen Herbſttage benutzt,
um eine Fahrt nach Bentheim zu machen. In großen,
ſchweren, aber je mit ſechs Pferden beſpannten Kut¬
ſchen legten wir die drittehalb Meilen ſchlechten Weges
raſch genug zuruͤck. Man faͤhrt uͤber die ſogenannte
Brechte, eine wuͤſte Strecke, die noch waͤhrend des
dreißigjaͤhrigen Krieges ein ſchoͤner Wald war. Das
Land wird in dieſer Richtung huͤgelig und romantiſch,
man glaubt ſich aus der weſtphaͤliſchen Ebene weit weg
in ein Gebirgsland verſetzt. Schon von fern ſieht man
das alte Schloß auf ſeiner anſehnlichen Hoͤhe aus den
großen, wohlhabenden Marktflecken hervorragen, der
ſich am Fuße des Abhangs hinzieht; daſſelbe liegt auf
einem weiten Felſenboden, der ſich bald mehr bald
weniger erhebt, und giebt mit ſeinen maͤchtigen
Mauern und ſtarken Thuͤrmen ein Bild unbezwinglicher
Feſtigkeit. Ganz glaublich hat ſchon Druſus hier ein
roͤmiſches Kaſtell erbaut, um die in dieſer Gegend woh¬
nenden Tubanter in Gehorſam zu erhalten, der Ort
war zu einem feſten Kriegspoſten vorzuͤglich geſchickt,
und weit umher kein aͤhnlicher zu finden. Roͤmiſche
[142] Muͤnzen ſind hier oͤfters ausgegraben worden. Der
Grundbau des jetzigen Schloſſes ſoll entſchieden roͤmi¬
ſches Mauerwerk ſein, und auch die ganze ſuͤdliche
Steinwand, die von ungeheuern Quadern hoch aufge¬
thuͤrmt die ganze Laͤnge des Hauptbaues glatt abſchnei¬
det, wird fuͤr aͤlter als die eigentliche Ritterzeit ge¬
halten. Dieſe gewaltige Wand duͤrfte keine Sturmlei¬
ter zu fuͤrchten haben, und kaum durch das ſchwerſte
Geſchuͤtz zu zerbroͤckeln ſein; ein runder Thurm, der
die ſuͤdweſtliche Ecke bildet, zeigt wirklich an ſeinen
Mauern, die einige Ellen dick ſind, die Spuren abge¬
prallter Kanonenkugeln, welche von den Franzoſen in
fruͤhern Kriegen, als hannoͤverſche Truppen ſich hier
feſtgeſetzt hatten, fruchtlos verſchoſſen worden, nur das
Dach wurde zertruͤmmert. Ein viereckiger Thurm auf
der ſuͤdoͤſtlichen Seite ſcheint noch feſter, doch hat der
Blitz oben auf der Plattform eines der vier ſteinernen
Wachthaͤuschen aufgeriſſen. Die noͤrdliche Seite iſt ohne
Thuͤrme, weil der Felſen hier hoͤher emporragt, und
durch ſeine Steilheit jeden Angriff unmoͤglich macht.
Ein alter Heidentempel iſt auf dieſer Seite mit in das
Schloß verbaut, man weiß aber nicht, welche Gottheit
hier verehrt worden. Durch zwei unterirdiſche Trep¬
pen, welche durch die Felſen durchgebrochen ſind, kommt
man hier zu den ſchoͤnſten Spazirgaͤngen, die ſchon außer¬
halb der Burgmauer, aber noch ganz auf der Hoͤhe liegen;
uralte Baͤume ragen hier empor mit gewaltigen Staͤm¬
[143] men und ungeheuern Wipfeln, Epheu ſo ausgebreitet
und dicht, wie ich es vorher nie geſehen; der ganze
Abhang, der ſich dann allmaͤhlig zur Ebene ſenkt, iſt
mit Baͤumen und Buſchwerk reich uͤberwachſen. Von
einer hohen maͤchtigen Vormauer eingeſchloſſen, und
ganz noch zur Burg gehoͤrig, liegt oͤſtlich ein geraͤumi¬
ger Obſtgarten, wo man nach allen Seiten die herr¬
lichſte Ausſicht hat, nach Steinfurt, und weit in das
Muͤnſterland, waͤhrend nach der andern Seite von den
Thuͤrmen das Auge tief in Holland eindringt. Weſt¬
waͤrts dicht am Fuße des Schloſſes ſtehen noch einige
ſonderbare glattgeſpuͤlte Felſenmaſſen; die eine, oben
flach, wie ein aufrecht ſtehender runder Pfuͤhl, der von
oben zuſammengedruͤckt worden, heißt des Teufels Ohr¬
kiſſen, denn der Sage zufolge hat dieſer einmal mit
dem Kopf auf dieſem Kiſſen geſchlafen, und einige oben
bemerkbare Linien gelten fuͤr die Spuren ſeines dem
allzu weichen Stein eingedruͤckten Ohrs. Die Macht
des Pflanzenwuchſes zwiſchen all dieſen Felſen und
Mauern war außerordentlich, ſeit undenklicher Zeit
hatte ihm niemand gewehrt, aus allen Fugen der
Steine ſchoß ellenhohes Gras, Baͤume ſchwankten an
der hohen Mauerbruͤſtung, das muͤhſame Menſchenwerk
war wieder im Uebergange zur Wildniß.
Einige Zimmer, zu ſolchem Behuf leidlich einge¬
richtet, dienten zu unſ'rer Bewirthung; wir hielten ein
froͤhliches Mahl unter lebhaften Geſpraͤchen, denen der
[144] Ort und ſeine Eindruͤcke unerſchoͤpflichen Anreiz boten.
Nachmittags beſuchten wir auch die unterirdiſchen Ge¬
maͤcher und das Innere der Thuͤrme; ſeltſame und
grauſame Gefaͤngniſſe zeigten ſich, ein tiefes Burgver¬
ließ, in welchem die Hinabgelaſſenen verſchmachten
mußten, eine Marterkammer, deren ſcheußliche Werk¬
zeuge jetzt verroſtet umherlagen, aber noch lebte ein
alter Mann auf dem Schloſſe, der in ſeiner Jugend
ſie hatte anwenden ſehen. Viele Ruͤſtungen, Lanzen,
Schilde und Pfeile waren in einem dunkeln Gemach
aufgehaͤuft. Eine Anzahl noch ziemlich erhaltener, zum
Theil lebensgroßer Bildniſſe vergegenwaͤrtigte die ehe¬
maligen Haͤupter dieſer hingeſtorbenen Welt; das Bild
der beruͤhmten weißen Frau, die auch hier bei wichti¬
gen Ereigniſſen, ſo fern ſie die Familie betreffen, und
beſonders bei Todesfaͤllen ihr Weſen treiben ſoll, wurde
als durch die Zeit zerſtoͤrt angegeben, oder ſollte aus
beſondern Gruͤnden nicht gezeigt werden; die uralte
kleine Schaffnerin aber, welche behauptete, mehr als
zehnmal die ſchreckliche Erſcheinung geſehen zu haben,
haͤtte ſich allenfalls ſelber dafuͤr ausgeben koͤnnen, ſo
ſchauerlich und duͤſter war ihr ganzes Weſen. Nachdem
wir noch im Wald unfern der Burg eine neuentdeckte
reichhaltige Schwefelquelle beſichtigt, und einen Blick
auf die nahgelegenen ungeheuren Steinbruͤche geworfen,
aus deren Steinen unter andern das Rathhaus zu
Amſterdam erbaut worden, fuhren wir mit einbrechender
[145] Nacht zuruͤck, und kamen durch die dunkle Wuͤſte ſpaͤt
und voll ſchauerlicher Betrachtungen in Steinfurt wie¬
der an, das uns mit ſeinen Lichtern und bekannten
Wohnraͤumen wie der neuſte, heiterſte Ort erſchien.
Noch vor Eintritt des Winters kehrte die Fuͤrſtin
von Solms-Lich mit ihren vier Soͤhnen nach der Wet¬
terau zuruͤck, und die Geſellſchaft in Steinfurt wurde
merklich einfacher und ſtiller. Die naſſe Witterung er¬
laubte weniger, im Freien zu ſein, und man ſah ſich
auf die Huͤlfsquellen winterlicher Unterhaltung beſchraͤnkt.
Die Ausſicht, daß auch wir die Ruͤckreiſe nach Wien
und Prag bald antreten koͤnnten, verhuͤllte ſich mehr
und mehr, und wir mußten uns darin ergeben, einen
Theil des Winters hier abzuwarten. Fuͤr mich und
mein Beduͤrfniß war am leichteſten geſorgt, der fruͤhere
Abend ging mir in der herkoͤmmlichen Geſelligkeit an¬
genehm hin, und wenn dieſe Pflicht ſo weit erfuͤllt war,
als die Neigung mit ihr Schritt hielt, zog ich mich
gewoͤhnlich bei Zeiten auf mein Zimmer zuruͤck, und
fing mein arbeitſames Nachtleben wieder an. Die reiche
Buͤcherſammlung des Grafen war mir zum Gebrauch
eroͤffnet, und ich ſchwelgte in den mannigfachſten Gei¬
ſtesrichtungen. Große Sammlungen, wie Schloͤzer's
Briefwechſel und Staatsanzeigen, las oder blaͤtterte ich
durch, und merkte mir durch Auszuͤge vieles an. Ein
naͤheres Eingehen in die Geſchichte von Weſtphalen
fuͤhrte mir in den langweilig ausgeſponnenen Einzeln¬
III.10[146] heiten des Geſchichtſchreibers von Steinen unerwartet
mein eignes, lange vergeſſenes Geſchlechtsregiſter wieder
vor die Augen. Franzoͤſiſche Memoiren las ich in
Menge, auch ſtrengere Geſchichtswerke und ſogenannte
philoſophiſche Schriften. Was mich aber mehr als alles
anzog und erfreute, und mir fuͤr die ganze Folgezeit
eine Quelle tiefſter Befriedigung eroͤffnete, war die Be¬
kanntſchaft, die ich hier zuerſt mit den Schriften des
Johannes Tauler machte. Ich fand eine Ausgabe nicht
nur der Predigten, von denen ich ſchon einige Kenntniß
hatte, ſondern auch des ſeltneren und wichtigeren Wer¬
kes von der Nachahmung des armen Lebens Chriſti.
Dieſe mehr wiſſenſchaftlich geordnete Darſtellung der
myſtiſchen Wahrheiten haͤtte mir nicht zu gelegnerer Zeit
kommen koͤnnen. Ich werde ſpaͤter davon im Zuſam¬
menhange naͤher zu berichten haben, und ſage hier nur
ſo viel, daß ſich mir durch dieſes Buch gleichſam die
dunkeln Waͤnde aufthaten, um mich in herrliche, weit¬
hin ausgebreitete Landſchaft blicken zu laſſen! —
Alles dies regte mich außerordentlich an, und ich
verbrachte nun ganze Naͤchte leſend und ſchreibend.
Hiebei jedoch konnte ich mich nicht erwehren, abermals,
wie fruͤher in Tuͤbingen, der oͤrtlichen Stimmung des
Landes und der Menſchen, unter denen ich lebte, durch
beſondere Eindruͤcke inne zu werden. Das katholiſche
Weſtphalen im noͤrdlichen Deutſchland ſteht naͤmlich in
aͤhnlichem Verhaͤltniſſe, wie das proteſtantiſche Wuͤrtem¬
[147] berg im Suͤden; das gleichſam in die Fremde ver¬
ſprengte Glaubensweſen ſcheint die ihm eigenthuͤmlichen
Kraͤfte hier zu beſonderm Nachdruck zu ſteigern, und
ſie in die aͤußerſten Auswuͤchſe wuchern zu laſſen. Da¬
her in beiden Laͤndern, wie die ſtrengſte Lehre und der
feurigſte Eifer, auch der entſchiedenſte Aberglaube und
Wahn ſich eingeniſtet hat. Die Muͤnſterlaͤnder ſind
beruͤhmt wegen der Staͤrke ihres Kirchen- und Volks¬
glaubens; die wundervolle Nonne von Duͤlmen iſt das
katholiſche Gegenſtuͤck zu der proteſtantiſchen Seherin von
Prevorſt; Vorherſagungen, Wundergeſchichte, Traum¬
verkuͤndigungen, Geiſterbegriffe, ſind in ganz Weſtpha¬
len heimiſch und verbreitet, wie in Wuͤrtemberg. Und
wieder moͤcht' ich einen Theil dieſer Hinneigung auf
die Art und Weiſe des Landes, einen andern Theil
aber auf den Volksſtamm rechnen. Hier iſt uͤberdies
die vereinzelte Lebensart in einſamer, oft oͤder Natur,
und die duͤnne Bevoͤlkerung ſolchen duͤſtern Einbildun¬
gen noch beſonders guͤnſtig. Zahlreich ſind hier die
Leute, welche von Geſichten heimgeſucht werden, Fern¬
ſeher, denen Verborgenes offenbar wird, ſei es in der
Vergangenheit oder Zukunft; ein vereinzeltes Bild ſtellt
ſich dar, das aber auf ganze Reihen von Thatſachen
ſchließen laͤßt, ſo werden Todesfaͤlle, Hochzeiten, Feuers¬
bruͤnſte, Gluͤckserhoͤhungen vorhergeſehen, beſonders aber,
und dies hauptſaͤchlich in der neuern Zeit, politiſche
Ereigniſſe, man ſieht fremde Truppen marſchiren, deren
10*[148] Uniform unbekannt iſt, oder ſieht wegen des Nebels
die Mannſchaft nicht, wohl aber die Spitzen der uͤber
die Schulter ſchraͤg liegenden Gewehre, die in endloſen
Zuͤgen raſch voruͤberziehen; auch ſchon in Kindern iſt
dieſes Sehen noch nicht wirklicher Dinge haͤufig, man
erzaͤhlte einen Fall, wo ein kleines gutartiges Maͤdchen,
wegen langen Außenbleibens geſcholten, ganz unſchuldig
ſich darauf berufen, ſie habe ja ſo lange ſtill ſtehen
muͤſſen, bis all die Kanonen und Pulverwagen vorbei
geweſen, und man hatte ſie wirklich geſehen, wie ſie
auf der einen Seite der Straße gleichſam abgewartet,
daß der Weg queruͤber frei wuͤrde. Die Menge und
Mannigfaltigkeit und ſtete Wiederholung ſolcher Ge¬
ſchichten muß am Ende, wo nicht den Glauben an ihre
Wahrheit, doch einen unheimlichen Eindruck, eine Art
Anſteckung erzeugen, gegen welche der aufgeklaͤrteſte
Verſtand nicht ſicher iſt; ich ſah manche Perſonen, die
ſich durch Bildung weit uͤber ſolchen Aberglauben hin¬
weg duͤnkten, doch in einem geheimen Winkel der Seele
davon ergriffen. Das Schloß zu Steinfurt war nicht
frei von truͤben Sagen und Verkuͤndigungen; man
fuͤhlte, daß man auf altem Boden des Ritterthums
lebte, und dieſe modern-gefaͤlligen Zimmer mit ihren
harmloſen Tagesvorgaͤngen auf duͤſtern Gewoͤlben, blu¬
tigen Unthaten und grauſem Entſetzen ruhten. Der
Gang durch die Schloßkapelle, welcher am ſpaͤten Abend
zur Verbindung mit dem einen Schloßfluͤgel nicht gut
[149] vermieden werden konnte, hatte jedesmal etwas Schauer¬
liches, und ein unregelmaͤßiger, mit rothen Ziegelſteinen
belegter Vorplatz, der gleichfalls zu durchſchreiten war,
hat gewiß noch nie einen Fuß zum Verweilen ange¬
lockt. Am unbehaglichſten und ſtoͤrendſten empfand ich
bisweilen den Blick eines der Schloßdiener, den ich
oͤfters dabei betraf, daß er mit finſterer Aufmerkſamkeit
mich anſchielte; er war ein langer hagrer Menſch, von
blaſſem truͤben Geſicht, ſchweigſam in ſich gekehrt, und
ohne daß man ihm etwas Beſtimmtes ſchuldig geben
konnte, fand man ihn nicht ſonderlich aufgelegt zum
Guten. Die Gabe des Vorherſehens, der Erſcheinun¬
gen und Ahndungen des Verborgenen, wurde ihm in
hohem Grade zugeſprochen, und wegen mancher unan¬
genehmen Vorgaͤnge, wo dieſelbe ſich auffallend bewaͤhrt
haben ſollte, vermied man ſorgfaͤltig ſie herauszufordern.
Einige meinten, er trage ſeine Gabe als ein Ungluͤck,
und um ſeinen Mißmuth zu vergeſſen, ergebe er ſich
dem Trunk; der Erbgraf aber meinte kopfſchuͤttelnd,
der Trunk moͤchte wohl eine der Hauptquellen ſeiner
Geſichte ſein, und hielt uͤberhaupt den Mann etwas
feſter im Augenmerk.
Mit den Nachtſtunden von jeher vertraut, in anre¬
gender Geiſtesbeſchaͤftigung, und in meinem Innern
entſchieden der Lichtſeite zugewendet, konnt' ich auch
hier dergleichen Eindruͤcke wohl abweiſen, aber doch nicht
voͤllig vernichten. Wie im Fluge ſtreifte mich bisweilen
[150] die Unruhe, als wuͤrde ich belauſcht, als ſtuͤnde jemand
draußen vor meiner Zimmerthuͤre. Indeß ſetzte ich
meine Lebensweiſe ruhig fort, und arbeitete allerlei,
was mir Vergnuͤgen machte oder auch zunaͤchſt Nutzen
bringen ſollte. Einige Erzaͤhlungen, die ich ſchon in
Tuͤbingen angefangen hatte, ſchrieb ich um; in manche
geſchichtliche Stoffe ſucht' ich einzudringen. Taͤglich er¬
neute ſich mir auch die Aufforderung, meine uͤber Paris
aufgezeichneten Merkworte und Andeutungen zu lesba¬
ren Schilderungen auszufuͤhren. Ich machte in dieſer
Arbeit ziemliche Fortſchritte, theilte einiges davon im
Vertrauen mit, und erhielt großen Beifall. Aber eines
Tages entdeckt' ich, nicht wenig betroffen, daß mir
mehrere Blaͤtter fehlten; da ich ſehr klein und auch auf
kleine Blaͤtter ſchrieb, ſo konnten ſie allerdings leicht
zwiſchen andre gerathen ſein, ſich verkrochen und ver¬
irrt haben, aber die ſorgfaͤltigſte Nachforſchung entdeckte
keine Spur davon, und wie ſie weggekommen ſein
ſollten, blieb ganz raͤthſelhaft. Ungluͤcklicherweiſe ent¬
hielten ſie ſtarke Aeußerungen gegen den franzoͤſiſchen
Kaiſer, und auch das Poiſſarden-Lied auf ſeine Ver¬
maͤhlung nebſt den beigeſchriebenen Muſiknoten, durch
welche das eine der Blaͤtter dem Auge ſogleich auffal¬
lend erkennbar war. Wer ſich jener Zeiten erinnert,
dem kann uͤber die Gefahr, ſolche Papiere verloren zu
haben und nicht in ſichrer Hand zu wiſſen, kein Zweifel
ſein. Und nicht ich allein war bloß geſtellt, ſondern
[151] eine ganze erlauchte und wuͤrdige Familie, die man fuͤr
mein Vergehen mitverantwortlich zu machen nicht un¬
terlaſſen haͤtte. Ich war in aͤußerſter Pein, und um
nicht noch mehr angſtvolle Beſorgniſſe aufzuregen, ver¬
ſchwieg ich den Fall auf dem Schloſſe gaͤnzlich, ver¬
traute ihn aber, ohne den Inhalt der Blaͤtter voͤllig
anzugeben, dem Doktor Houth; dieſer wohlwollende
Mann nahm aufrichtig Theil an meinem Verluſt, wußte
aber auch keinen Rath, als den ſonderbaren, mit dem
er zoͤgernd hervorruͤckte, er wollte den Seher auf dem
Schloſſe befragen, vielleicht koͤnne der vermittelſt ſeiner
Gabe den Ort entdecken, wo die Blaͤtter jetzt ſeien.
Ich mußte an die bekannte Geſchichte Swedenborg's
denken, und durfte den guten Willen nicht hemmen.
Das Ergebniß war auffallend genug; der Seher hatte
bei der Frage das Geſicht verdreht, anfangs gar nicht
antworten wollen, endlich aber nach ſchlafaͤhnlichem
Hintraͤumen, die kurze Auskunft ertheilt, die Blaͤtter
ſeien weit weg, und ſonſt war nichts aus ihm heraus¬
zubringen. Dieſe Andeutung erſchloß eine Moͤglichkeit,
die mir fruͤher nicht eingefallen war, und jetzt einige
Wahrſcheinlichkeit gewann; ich konnte die Blaͤtter aus
Verſehen einem Briefe nach Hamburg oder Berlin bei¬
gefuͤgt haben; doch dieſerhalb deutlich anzufragen, war
kaum rathſam in einer Zeit, wo kein der Poſt anver¬
trauter Brief ſicher duͤnkte, und je mehr ich es bedachte,
je weniger konnt' ich mir jenes Verſehen zutrauen.
[152]
Mehr als dieſe Ungewißheit aber bekuͤmmerte mich
die allgemeine, in welche mein eignes Loos ſo tief ver¬
flochten war. Daß ein großer Strich des noͤrdlichen
Deutſchlands, und darin die bisher zu dem Großherzog¬
thum Berg gerechneten Grafſchaften Steinfurt und Bent¬
heim, ſo wie die noch mit einem Schatten von Freiheit
beſtandenen Hanſeſtaͤdte, nun unmittelbar mit Frankreich
vereinigt, und in franzoͤſiſche Departements umgewandelt
wurden, raubte mir die letzte Heimath, welche mir in
Hamburg noch geſchimmert hatte. Die Nachrichten aus
Berlin, die ich nach langem Harren erhielt, waren ſpaͤr¬
lich und traurig, doppelt traurig fuͤr mich, da ſich darin
auch eine Unzufriedenheit kund gab, die ich zu verſchul¬
den ſchien, ohne daß ich dieſen Schein abwenden, noch
die Wirklichkeit genuͤgend aufhellen konnte. Je weniger
ich Mittel und Freiheit hatte, fuͤr den Augenblick nach
außen handelnd hervorzutreten, um ſo mehr befeſtigte
ſich mein Inneres, und ich wußte und empfand, daß
meine Hoffnungen und Vorſaͤtze nicht zu zerſtoͤren waren.
Der Froſt und Schnee des Winters eroͤffneten neue
Vergnuͤgungen; das Bagno wurde fleißig beſucht, und
die Eisdecke des See's zum Schrittſchuhlaufen benutzt,
woran auch die Damen mit groͤßtem Erfolg Theil
nahmen, und wobei man bekennen mußte, daß fuͤr die
Schoͤnheit und Grazie der Erſcheinung wohl keine andre
Uebung dieſem ſchwebenden Wandeln den Preis ſtreitig
machen kann. Dem Winterleben durften einige Baͤlle,
[153] Muſik, Vorleſungen, und ſelbſt kleine dramatiſche Er¬
goͤtzlichkeiten nicht fehlen, welche letztere, ganz aus dem
Stegreif und nur als Spiel des Augenblicks behandelt,
gerade hierin ihren Werth hatten.
Eine Fahrt nach Muͤnſter gab Gelegenheit, ſich in
dieſer merkwuͤrdigen Stadt wiederholt umzuſehen. Die
Geſchichte der Wiedertaͤufer, die ich ſo eben, zum Theil
nach Handſchriften, mit Unmuth und Widerwillen bis
in ihre Einzelheiten verfolgt hatte, iſt hier durch Denk¬
male erhalten, welche jener wahnſinnigen und graͤßlichen
Ereigniſſe wuͤrdig ſind, durch die ſchrecklichen eiſernen
Kaͤfige am St. Lambertsthurm, in denen die gemarter¬
ten und verſtuͤmmelten Koͤrper der drei Hauptwuͤthriche
zur Schau aufgehaͤngt worden. Angenehmer weilt die
Betrachtung auf den Bildniſſen der Geſandten, die einſt
am weſtphaͤliſchen Frieden hier und in Osnabruͤck arbei¬
teten; es ſind darunter die bedeutendſten Phyſiognomieen,
mit denen mancher Geſchichtszug ſich verwebt. Dieſe
Sammlung ſollte durch treue und ſorgfaͤltige Nachbil¬
dung vervielfacht werden, damit ſie dem Geſchichtsfreund
uͤberall zu Gebote ſtuͤnde; ein Wunſch, der ſich auch
lebhaft bei der von Gleim hinterlaſſenen Sammlung in
Halberſtadt aufdraͤngt, wo die zum Theil vortrefflichen
Bildniſſe ſeiner Freunde uns die theuerſten litterariſchen
Namen gleichſam perſoͤnlich vorfuͤhren. Wir beſuchten
in Muͤnſter den franzoͤſiſchen Praͤfekten Freiherrn von
Mylius, der es in ſeiner Stellung beklagen mußte,
[154] gleich ſo vielen andern Weſtphalen auch ſeinen eignen
Bruder noch in oͤſterreichiſchem Kriegsdienſte zu wiſſen.
Wir ſahen dann auch die Familie Droſte von Viſchering,
welche in Muͤnſter durch ihre altbegruͤndeten Verhaͤlt¬
niſſe und ſtrengkatholiſchen Geſinnungen in hoͤchſtem
Anſehen ſtand, und dieſes unter den franzoͤſiſchen Be¬
hoͤrden zu behaupten wußte. Zu dem Grafen Friedrich
Leopold zu Stolberg, der, bald nach ſeinem Uebertritt
zur katholiſchen Kirche, hier hauptſaͤchlich der Familie
von Droſte wegen ſeinen Wohnſitz genommen hatte,
mochte ich nicht mitgehen; es that mir leid, ihn zu
verſaͤumen, und doch hatte ich keine Stimmung fuͤr ihn,
ich konnte mir ſein ganzes Verhaͤltniß zur Welt nur
als getruͤbt und verſchoben denken. Was die Andern
von ihrer mit ihm gehabten Unterhaltung nachher erzaͤhl¬
ten, veraͤnderte dieſe Meinung nicht. Er zeigte ſich von
dem ſtaͤrkſten Haſſe gegen die Franzoſen und ganz be¬
ſonders gegen Napoleon erfuͤllt; allein wie ſehr auch
hierbei die Triebfedern rege waren, die er als Deutſcher,
und wieder beſonders als deutſcher Graf empfand, ſo
war ihm doch jetzt bei weitem die Hauptſache, daß Na¬
poleon vom Papſte in den Bann gethan war, ein Um¬
ſtand, der damals im Muͤnſterlande, trotz aller Aufſicht
der Franzoſen, durch die Geiſtlichen heimlich im Volke
recht bekannt und beſprochen wurde. Alſo wenn Napoleon,
ſo durfte man fragen, nur den Papſt zufrieden ſtellte,
und dieſer etwa, wie er ihn ſchon kroͤnen helfen, ihm
[155] einen geweihten Hut und Degen ſchickte, ſo mußten wir
andre Augen fuͤr den Feind unſres Vaterlandes haben?
Dieſe Folgerungsart ging mir nicht ein, und ich haͤtte
mich ſchwerlich enthalten, ſie durch Anfuͤhrungen, wie
die obigen, zu unterbrechen. Stolberg war vortrefflich,
wo ſein edler Geiſt und ſeine reichen Kenntniſſe im Feuer
der Einbildungskraft und der Geſinnung gluͤhen durften,
und wo es auf nichts weiter ankam; zum eigentlichen
Denken war er nicht begabt, und was er in dieſer
Richtung, ſeinem Naturell entgegen, dennoch leiſten
wollte, zeigte nur ſeine Schwaͤche. Das ganze Mißver¬
haͤltniß, in welches er durch dieſen Mangel gerathen
war, aufzudecken und in ſeinen Gruͤnden und Folgen
zu eroͤrtern, war neun Jahre ſpaͤter dem alten Voß
auferlegt, bei deſſen ſcharfer Anklage und Stolberg's
bald nachher erfolgtem Tode ich doch wiederum bereuen
mußte, der perſoͤnlichen Anſchauung des letzten verluſtig
geblieben zu ſein. —
Von den unheimlichen Anwandlungen, deren ich
fruͤher gedacht, merkt' ich im Verfolg des Aufenthalts
in Steinfurt wenig mehr, und ſie waren faſt erloſchen,
als meine ihretwegen gefuͤhlte Befangenheit ploͤtzlich auf
ein ganz anderes Feld uͤberſprang. Ich hatte eines
Abends mich auf mein Zimmer zuruͤckgezogen, war aber
noch zu dem Oberſten gerufen worden, und verweilte
ziemlich lange bei ihm, waͤhrend das Licht bei mir fort¬
brannte, meine Thuͤre aber verſchloſſen war. Als ich
[156] ſpaͤt wiederkam, erſtaunte ich nicht wenig, einen Mann
gebuͤckt vor der Thuͤre ſtehen zu finden, der bemuͤht
war, durch das Schluͤſſelloch zu ſehen. Er war von
der Dienerſchaft, hatte hier aber nichts zu ſuchen. Mein
ploͤtzliches Erſcheinen in ſeinem Ruͤcken, da er mich im
Zimmer glaubte, erſchreckte ihn ſo, daß mein ſcharfes
Fragen nichts aus ihm herausbekommen konnte, ſondern
nur ſeine Verwirrung mehrte. Doch war mit dieſer
Neugier, uͤber der ich ihn ertappt, eine ſtraͤfliche Abſicht
nicht grade zu verbinden, und ich ließ den Mann mit
einem Verweiſe gehen. Daß ich ſchon oͤfter auf dieſe
Art belauſcht worden, war ſehr wahrſcheinlich, und leiſe
Bewegung und Menſchennaͤhe uͤberhaupt mochten bis¬
weilen auf meine in der Nachtſtille empfindlichen Nerven
gewirkt haben, da denn, eher als der Sinn, die Ein¬
bildungskraft ſich der unſichern Wahrnehmung bemaͤch¬
tigte. Die Entdeckung war mir ſehr unangenehm; ich
dachte unwillkuͤrlich an die Blaͤtter, die mir weggekom¬
men waren, und quaͤlte mich mit argwoͤhniſchen Ver¬
muthungen aller Art. Daß dieſe nicht ganz ungegruͤndet
waͤren, ſollte ſich bald durch neue Anzeigen beſtaͤtigen.
Mittlerweile hatten vom Niederrhein und von Hol¬
land her allerlei Bewegungen unter den franzoͤſiſchen
Truppen angefangen, und es war deutlich zu erkennen,
daß dieſelben allmaͤhlig immer ſtaͤrker nach den noͤrdlichern
Gegenden ſich zuſammenzogen. Das langſame, aber
anhaltende und uͤbereinſtimmende Fortruͤcken in gleich¬
[157] maͤßigen Richtungen ließ einen noch entfernten, aber
entſchiednen Zweck vermuthen. Wirklich waren dies erſte
vorlaͤufige Zuruͤſtungen zu dem Kriege gegen Rußland,
der in der Seele Napoleon's als unfehlbar vorausgeſehn
und beſchloſſen, in den oͤffentlichen Verhaͤltniſſen noch
unter dem Schein der groͤßten Freundſchaft verhuͤllt
war, und daher fuͤr grundloſen Wahn erklaͤrt werden
konnte. Die Beſtimmtheit ſolchen Ablaͤugnens machte
auch die Kundigſten wieder irre, und ſo wußte man
oft ein Ereigniß lange vorher, aber kurz vorher nicht,
weil man wieder aufgehoͤrt hatte, es zu glauben. Bei
dieſen Truppenzuͤgen durch Weſtphalen kam auch eine
Abtheilung durch Steinfurt; ein franzoͤſiſches Regiment
Jaͤger zu Pferde bezog daſelbſt fuͤr einige Zeit Quartiere.
Dieſe Gaͤſte brachten in unſre Tage einen ganz neuen
Schwung; der franzoͤſiſche Oberſt wohnte auf dem
Schloſſe, er und die meiſten ſeiner Offiziere nahmen
an der Geſellſchaft eifrig Theil; die Geſpraͤche konnten
nicht immer unterhaltend ſein, und nahmen oft eine
nicht angenehme Wendung, denn ſowohl der Uebermuth,
mit dem die Franzoſen von ihren Siegen ſprachen, als
die Kammeradſchaft, die ſie uns jetzt aufdringen wollten,
waren in gleichem Maße peinlich, und kaum zu dulden.
Daß in dieſer Zeit mehrere oͤſterreichiſche Offiziere, aus
Weſtphalen gebuͤrtig, das freundſchaftliche Verhaͤltniß
zwiſchen Frankreich und Oeſterreich benutzten, um ihre
Heimath wiederzuſehen, aber hier von den franzoͤſiſchen
[158] Behoͤrden mißtrauiſch angeſehen und beobachtet wurden,
mit den franzoͤſiſchen Offizieren aber ſchon mehrmals in
widrige Beruͤhrung gekommen waren, konnte auf beiden
Seiten die Spannung nur vermehren. Zur Aushuͤlfe,
und um weniger Geſpraͤche fuͤhren zu muͤſſen, wurde
das Spiel herbeigezogen. Nachmittags gingen einige
Stunden im Billardſaale hin, Abends nahmen Karten
oder Schach die Aufmerkſamkeit in Anſpruch.
Indeß traten auch hier bei naͤherem Umgange aus
der anfaͤnglichen Gleichmaͤßigkeit die perſoͤnlichen Eigen¬
arten ſichtbarer hervor. Der franzoͤſiſche Oberſt war
nichts als ein Kriegsmann, in ſeinem Handwerk eifrig
und ganz beruhigt, dem Kaiſer ergeben ſoviel als noͤthig
war, um nicht zuruͤckzubleiben, uͤbrigens von wenig
Bildung, aber ſehr bemuͤht, dieſen Mangel zu verdecken.
Ein paar juͤngere Offiziere wollten bei jeder Gelegenheit
ihren Ehrgeiz in der Begeiſterung fuͤr den Kaiſer be¬
friedigen, einer derſelben von altadeliger Geburt, that
nicht anders, als ſei Napoleon in grader Erbfolge der
Fortſetzer der Bourbons. Ein alter Rittmeiſter gehoͤrte
der fruͤhern Revolutionszeit an, hatte zuerſt unter Ber¬
nadotte und Moreau gedient, und verhehlte nicht, daß
ihn der neuſte Zuſtand der Sachen wenig befriedige.
Auf einem Spazirgange ſchloß er mir ſein Herz voͤllig
auf, nannte Napoleon den Unterdruͤcker der Freiheit,
und verabſcheute deſſen ganzes Regierungsweſen, das
uͤberall nur auf rohe Gewalt gegruͤndet ſei und auf
[159] Entſittlichung hinwirke. Wenn mir bei ſolchen Reden
noch einiges Mißtrauen geblieben war, ſo mußte dieſes
voͤllig ſchwinden an dem letzten Nachmittage vor dem
Abmarſch der Franzoſen. Ich ging mit dem Rittmeiſter
im Bagno einſam ſpaziren, der nahe Abſchied bewegte
ihn, er druͤckte mir die Hand, und verſicherte mich,
meine Denkart, ſo weit er ſie habe kennen lernen, freue
ihn, ja ſie gebiete ihm fuͤr mich eine naͤhere Theilnahme.
Dann ploͤtzlich uͤberraſchte er mich durch dieſe Anrede:
„Sie ſind jung, Sie koͤnnen noch viel erleben, bewahren
Sie Ihre Denkart fuͤr beſſre Zeiten, aber deßhalb auch
ſich ſelbſt! Sie ſind nicht vorſichtig, Sie ſtuͤrzen ſich
nutzlos in Gefahr! Was ſchreiben Sie fuͤr Briefe?
Ich will nichts wiſſen, mißverſtehen Sie mich nicht, ich
will Sie nur warnen! Hoͤren Sie als Beweis meines
Zutrauens, was ich Ihnen mittheilen muß! Als ich
neulich in Muͤnſter war, fragte mich ein alter Kamme¬
rad, der jetzt in einem hoͤheren Bureau dort angeſtellt
iſt, wie es mir in Steinfurt ginge, die Leute dort
muͤßten uns recht haſſen, und als ich ihn fragte, was
ilm zu dieſer Meinung beſtimme, erfuhr ich, daß man
genaue Kundſchaft von dort habe, und das Schloß durch
allerlei Spuͤrhunde beobachtet werde; man wiſſe, daß
hier gegen die franzoͤſiſche Regierung gearbeitet, daß
ganze Naͤchte hindurch geſchrieben wuͤrde. Junger Freund,
damit koͤnnen nur Sie gemeint ſein, nehmen Sie ſich
in Acht, Sie wiſſen nicht, was unſre Polizei fuͤr ſchaͤnd¬
[160] liche Mittel anwendet. Stellen Sie allen Briefwechſel
ein, ſo lange Sie hier im Lande ſind!“ Ich wurde
nicht wenig durch dieſe Mittheilung beunruhigt; zwar
Briefe hatte ich nur wenige und ſehr unſchuldige ge¬
ſchrieben, aber mir fielen meine vermißten Blaͤtter ein,
die ich nun gewiß boͤslich entwandt glauben mußte. Ich
ſonderte nach dieſer biedern und dankenswerthen War¬
nung nun alles Verfaͤngliche in meinen Papieren aus,
und was ich nicht verbrennen wollte, brachte ich vor¬
laͤufig in ſichren Verſteck.
Gluͤcklicherweiſe trat bald nachher auch der Zeitpunkt
unſrer Abreiſe ein, und wir verließen gegen Ende des
Januars 1811 dieſe Gegend, um fuͤrerſt einige Wochen
in Lich zuzubringen, von wo wir auch Laubach und
Utpha in der Wetterau beſuchten. Darauf brachten wir
kurze Zeit in Frankfurt am Main zu, und reiſten dann
ohne Aufenthalt, wiewohl nicht ohne Abentheuer, nach
Wien.
Meine Blaͤtter uͤber Paris, ſobald ich ſie gluͤcklich
nach Oeſterreich gebracht, vervollſtaͤndigte ich wieder,
und nachdem ſie von mehreren Freunden mit Antheil
waren geleſen worden, forderte ſie von mir, im Som¬
mer 1811 zu Toͤplitz, der preußiſche Miniſter der aus¬
waͤrtigen Angelegenheiten Graf von der Golz, aus deſſen
Nachlaß ich ſie erſt im Jahre 1834 wiedererhielt. Von
den entwandten Blaͤttern aber fand ich eine Spur im
Jahr 1813 in Hamburg. Man brachte in das ruſſiſche
[161] Hauptquartier Schriften und Buͤcher, die ſich in der
Wohnung des franzoͤſiſchen Polizeihaupts Grafen von
d'Aubignosc zuruͤckgelaſſen fanden. In einem alten be¬
ſtaͤubten Pack fiel mir ein Blatt auf, welches ich bald
als eine in's Franzoͤſiſche uͤberſetzte Stelle von mir uͤber
Napoleon erkennen mußte, die als Extrait d'une lettre
bezeichnet war. Dabei lagen zwei Abdruͤcke der Ode
von Staͤgemann an den Kaiſer Alexander.
Die Nachbarſchaft war ehrenvoll, aber auch gefaͤhr¬
lich. Zum Gluͤck waren dieſe Anklageſtuͤcke beiſeit ge¬
ſchoben worden, und jetzt, in unſern Haͤnden, nur
Zeugniſſe, wie ſehr die Zeiten ſich veraͤndert hatten! —
Frankfurt am Main, den 20. Februar 1811. Mein
lieber Fouqué freut ſich, daß er ſeinen Brief mir in
dieſe Gegend ſchickt, und wuͤnſcht anſtatt des Blattes
ſelber hier zu ſein. „Das mir ſehr liebe Frankfurt!
— ſo ſchreibt er mir aus Nennhauſen, — das mir von
langer Zeit wie ein freundliches Weihnachtsbild heruͤber
ſieht. Der ſilberblaue Main, mit ſeinen milden Ufern!
Zuletzt habe ich das alles auch im Winter geſehen, und
es war dennoch ſo ſchoͤn. Doch will ich freilich nicht
mit Sicherheit behaupten, wie viel des eignen Lichtes
von den Gegenſtaͤnden ausging, und wie viel auf ſie
hinſtrahlte aus meiner Juͤnglingsſeele, in allem Stolz
III.11[162] auf den vollbrachten erſten Feldzug, in aller traum¬
umglaͤnzenden Hoffnung auf neue, weit glorwuͤrdigere,
in aller romantiſchen Erwartung unerhoͤrter Abentheuer
und Liebesgeſchichten. Ich taugte damals nicht viel.
Die raſende Selbſtheit des Zeitalters mit ihren thoͤrichten
Schwindeln hielt mich ſchlimm beſeſſen; es war nur
grade ſo viel des Rechten und Guten noch in mir wach,
als taugte und nothwendig war zur Ausſaat in eine
beſſere Zukunft. Ich dichtete auch wenig, und ſchlecht,
weil ich mir mein Leben ſelbſt zu einem wunderbaren,
hoͤchſt prahlenden Epos ausſpann, aber eben deßhalb
leuchteten die wirklichen Umgebungen wie goldne Feen¬
ſchloͤſſer mit Demantengehaͤngen verziert, und, wie ge¬
ſagt, ich weiß nicht, ob alles ſo ſchoͤn war, als es mir
in der Erinnerung mit hellen Farben aufſteigt, ſobald
einer ſagte: Frankfurt am Main!“ — Mit welcher Weh¬
muth erfuͤllt mich der Brief meines Freundes! Wie
ganz anders fuͤhl' ich mich jetzt hier, auch nach meinem
erſten Feldzug, und auch noch jung (morgen werd' ich
fuͤnf und zwanzig Jahr) um nicht des Alters wegen
den ſuͤßen Einbildungen gluͤcklicher Lebensgeſchicke ent¬
ſagen zu muͤſſen! Unwillig von Schmerz und Zorn
ergriffen, ohne Ermunterung irgend einer Art, jeder
begeiſterten Stimmung fremd, in ſtetem Warten ohne
Halt und Ruhe, ſeh' ich die fluͤchtigen Tage voruͤber¬
gehen. Meine Wuͤnſche fuͤr mich ſelbſt ſind beſcheiden,
aber faſt hoffnungslos, ich ſehe mich ſtets auf's neue
[163] weitab verſchlagen! Und ſo auch liegt das Allgemeine,
fuͤr das ich die kuͤhnſten Wuͤnſche mit feſtem Vertrauen
hege, mir noch in dunkler, dunkler Ferne.
Wie jedes deutſche Land und jede deutſche Stadt
fruͤher auf eigne Weiſe die Kraft und das Gedeihen
der Nation darſtellte, ſo auch jetzt wieder auf eigne Art
ſpricht jedes Land und jede Stadt den allgemeinen
Jammer aus. Welch' verſchiedene Bilder geben Ham¬
burg, Muͤnſter, Halle, Wetzlar, Hannover, Regens¬
burg, oder Heſſen, Baireuth, Tyrol, uͤberall iſt es ein
andrer, ein eigenthuͤmlicher Verluſt, und uͤberall doch
nur die eine Urſache dazu, die fremde Herrſchaft! Wie
traurig ſteht auch dieſes einſt ſo gluͤckliche und ſtolze
Frankfurt da! Die alte Reichsſtadt, welche in ihren
Mauern ehmals die Wahl und Kroͤnung des Kaiſers
geſchehen ſah, froh der Freiheit und des mit ihr ver¬
bundenen Wohlſtandes, wie ſehr iſt ſie geſunken! Zwar
belebt ſind auch jetzt noch die Straßen und Maͤrkte,
mancher gute Erwerb iſt noch in den Haͤnden der Buͤr¬
ger, ja ſogar auch neuer Reichthum entſtanden, und
der Name der Stadt iſt auf das ganze Gebiet eines
bedeutenden Großherzogthums ausgedehnt worden; allein
der innere Kern deutſchen Lebens iſt angegriffen, und
ſchwindet taͤglich mehr dahin. Die Verfaſſung der Stadt
war voller Maͤngel und Mißbraͤuche, das giebt jeder
Verſtaͤndige zu; aber nur aus eigner, einheimiſcher,
freier Entwicklung koͤnnen ſolche Fehler verbeſſert werden;
11*[164] die fremde Hand kann abſchaffen, aber nicht heilen,
nicht verbeſſern. Das bezeugen auch hier tauſend Kla¬
gen, die laut den Arm des Raͤchers und Befreiers an¬
rufen. So fordert eine ſtrenge Konſkription — an ſich
die gerechteſte Maßregel, aber unter dem fremden Joche
die ſchrecklichſte — nun auch das Blut der Ungluͤcklichen,
das in fremden Schlachten am Tajo und vielleicht an
der Wolga ſoll verſpritzt werden, damit die Nachblei¬
benden um ſo ſichrer gefeſſelt ſeien! Eine billige Vor¬
ſtellung der Buͤrger, daß die Befreiung vom Kriegs¬
dienſte durch Stellvertreter auf dieſelbe Weiſe, wie es
in Frankreich geſchieht, eingefuͤhrt wuͤrde, iſt mit Haͤrte
abgewieſen worden, und die Behoͤrde zieht das Los¬
kaufgeld ein, waͤhrend die uͤbrigen Kriegspflichtigen nun
doch die beſtimmte Anzahl zum Dienſte ſtellen. So
haben es die Deutſchen in vielen Stuͤcken ſchlimmer,
als ſelbſt die Franzoſen, und ich habe ſchon von vielen
Leuten hoͤren muͤſſen, fuͤr das aͤußre Gedeihen muͤßte
das Volk wuͤnſchen, gleich voͤllig zu Frankreich geſchla¬
gen zu werden. Doch iſt es wahrlich nicht der aͤußre
Vortheil allein, der die Wuͤnſche des Volks beſtimmt.
Hier iſt ſeit langer Zeit gleichſam ein Stapelplatz des
franzoͤſiſchen Weſens fuͤr Deutſchland, unzaͤhlige Bezuͤge
reichen nach Frankreich hinuͤber, ſeit Jahren ſind hier
franzoͤſiſche Truppen und Verwaltungen, aber ungeachtet
alles deſſen hat ſich faſt nichts von franzoͤſiſchem Sinn
hier feſtgeſetzt, vielmehr eine immer ſtaͤrkere Gegenſtem¬
[165] mung erhoben. — Ich habe einem Balle des Caſino
beigewohnt; die Geſellſchaft war zahlreich, alter Adel,
Kaufleute, Offiziere von der franzoͤſiſchen Beſatzung.
Unter den Frauen waren bildſchoͤne Geſichter, die An¬
zuͤge reich und geſchmackvoll; man verſicherte mit Be¬
ſtimmtheit, ſeit fuͤnfzehn Jahren habe keine namhafte
Frankfurterin ſich mit einem Franzoſen verheirathet. Der
Gouverneur der Stadt, Graf Taſcher, ſcheint ein gut¬
muͤthiger, muntrer Menſch, er befand ſich anſpruchslos
in der Geſellſchaft, und man bekuͤmmerte ſich wenig
um ihn; aber andre Franzoſen wollten ſehr als Herren
auftreten, und nahmen dem Gouverneur ſogar uͤbel,
daß er ſein Anſehn nicht ſtrenger behauptete. Sehr
angenehm war mir die Bekanntſchaft des Herrn von
Gontard, ehmaligen oͤſterreichiſchen Oberſtlieutenants im
Klenau'ſchen Chevauxlegersregiment, der mich nach vielen
ſeiner alten Kammeraden fragte. Wie ein romantiſches
Land, von dem wuͤſte Meere trennen, lebt in dem oͤſter¬
reichiſchen Heere noch das ſogenannte „Reich“ in beſtem
Andenken, und wiederum ſteht den Reichern eben ſo
das ſchoͤne kaiſerliche Heer in der Erinnerung, welches
in dieſen Gegenden ſo lange Zeit mit wechſelndem Gluͤcke
gekaͤmpft. Wie viele Frankfurter ſprachen mit Entzuͤcken
von jenen fruͤhern Jahren! Nun ziehen taͤglich hier
unter unſern Fenſtern die franzoͤſiſchen Truppen vorbei,
und laͤrmen mit ihren Trommeln und ihrer Muſik durch
[166] die Straßen. Ich ſollte deſſen ſchon gewohnt ſein. Ich
werd' es nie gewohnt. —
Das Denkmal, welches Friedrich Wilhelm II. vor
dem Friedberger Thore den dort am 2. December 1792
gefallenen Heſſen hat errichten laſſen, iſt mir noch werther
und lieber geworden, als im Fruͤhjahr 1809, da ich es
zum erſtenmale ſah. Friedrich Wilhelm II. hatte in
Kuͤnſten hohen und edlen Geſchmack. Die Einfachheit
des Ganzen, der viereckige Stein, der auf Baſaltſchichten
ruht, die großen ehernen Sinnbilder, Helm, Schild,
Widderkopf und ſo weiter, alles zuſammen macht einen
wuͤrdig-ernſten Eindruck, wie ſelten ſolche Denkmaͤler
pflegen, die gar leicht in der Anlage verungluͤcken. Auch
die Namen der Gemeinen ſtehen auf der ehernen Tafel.
Solcher Steine ſollte man mehr in Deutſchland finden!
Sie reden zu allem Volke, waͤhrend Schrift und Er¬
zaͤhlung nur in einem ſich ſtets verengenden Kreiſe fort¬
beſtehen. —
Ich will mich abwenden vom Staat und Krieg;
Gottlob, das Vaterland hat noch andre Seiten, die
nicht gleich jenen beſchaͤdigt und verdorben ſind. Hier
iſt Goethe geboren; deß will ich gedenken, und mich
freuen! Die ganze Stadt iſt mir ſein geweihtes Denk¬
mal: hier erbluͤhten die kindlichen Sinne, hier ſogen ſie
zuerſt die Lebensnahrung ein, die nachher aus ſeinen
herrlichen Schoͤpfungen uͤber die ganze Nation ſich ver¬
breitete; dieſe Haͤuſer hat er betreten, dieſe Straßen
[167] durchwandelt, unſchuldig und ahndungsvoll, dieſer
Glockenſchlag toͤnte ihm und maß ihm die Stunden ab,
dieſe Mitbuͤrger umwogten ihn! Wie im Zauberſchwunge
rauſchen alle fruͤhern Auftritte und Begegniſſe Wilhelm
Meiſters neubelebt an mir voruͤber, und die reine,
bluͤhende Seele Goethe's tritt daraus hervor. Geliebter
Dichter, der du aus deutſchem Boden und Leben wie
ein Rieſenbaum dich erhebſt, und den gruͤnenden laub¬
reichen Wald juͤngerer Bildung um deinen maͤchtigen
Stamm verſammelſt, ein Mittelpunkt und Urbild des
Vaterlandes, laß mich hier dich in Gedanken als zartes
Baͤumchen umfaſſen, und deine junge Rinde kuͤſſen! —
Harren und Streben.
Prag 1811. 1812.
Nach dem wechſelvollen Leben, das ich ſo lange ge¬
fuͤhrt, erſchien der herkoͤmmliche Beſatzungsdienſt und
uͤberhaupt der ganze Aufenthalt in Prag ſehr beſchraͤnkt
und einfoͤrmig. Die druͤckenden Zeitlaͤufte machten ſich
uͤberall fuͤhlbar, der ſinkende Werth des Papiergeldes
verurſachte auf allen Seiten Verluſt und Unſicherheit,
der geſellige Zuſammenhang war ſchwach, und außer
der ſchroffen Trennung der Staͤnde wirkte hier auch der
Unterſchied der Volksſtaͤmme ſehr merklich. Doch ſtan¬
den die deutſch und die boͤhmiſch redenden Eingebornen
noch nicht ſo ſehr von einander ab, als von beiden wir
deutſche Auslaͤnder, die wir an Sinn, Richtung und
Gewohnheiten hier entſchieden fremd waren, und trotz
manches Bemuͤhens nicht heimiſch wurden. Beſonders
traf dies die zahlreichen Offiziere, welche aus Nord¬
deutſchland wegen des Krieges nach Oeſterreich gekom¬
men waren, und jetzt im Heere noch fortdienten. Auf
[169] einander angewieſen, hielten wir ſo viel als moͤglich
zuſammen, erfuhren aber auch, daß die Gleichheit des
Aeußerlichen noch lange keine Gemeinſchaft bildet. Die
mir am werthvollſten geweſen waͤren, hatte der Zufall
entfernt, und der Naͤhe und Bereitwilligkeit mancher
Anweſenden mocht' ich mich lieber entziehen. Dagegen
hoͤrt' ich zwei deutſche Namen jetzt in Prag nennen,
nach denen ich fruͤher dort und anderswo vergebens
gefragt hatte, und zu welchen ich mich lebhaft hinge¬
zogen fuͤhlte. Der Hauptmann Ernſt von Pfuel, mir
aus dem Lebenskreiſe von Nennhauſen ſehr wohl, aber
noch nicht perſoͤnlich, bekannt, war der eine dieſer
Maͤnner; der ehemalige preußiſche Miniſter Freiherr vom
Stein, geaͤchtet von Napoleon und hochgeehrt von allen
deutſchen Vaterlandsfreunden, war der andre.
Stein war in Berlin durch die franzoͤſiſche Achts¬
erklaͤrung mitten in ſeinen Amtsgeſchaͤften uͤberraſcht
worden, und hatte ſeine Zuflucht nach Oeſterreich ge¬
nommen. Hier waren waͤhrend des Krieges ſeine
Hoffnungen und ſein Haß heftig angeregt, und auch
nach dem Frieden hielten beide ſich voll unmuthigen
Eifers aufrecht. Er wollte jetzt in Prag moͤglichſt ru¬
hig abwarten, wie die Weltereigniſſe ſich ferner ent¬
wickeln wuͤrden; der Ort war zur Beobachtung wohl¬
gelegen, bot vielerlei Huͤlfsmittel, und auch geſelligen
Anhalt genug fuͤr einen Mann, der durch Geburt und
[170] Wuͤrden uͤberall zu den Kreiſen der hohen Ariſtokratie
gehoͤrte.
Von ſeiner unbeugſamen Geſinnung, der Schaͤrfe
ſeines Geiſtes und der ungemeinen Heftigkeit ſeiner
Gemuͤthsart, erzaͤhlte man vielerlei Zuͤge, welche ihm
uͤberall, wo der Franzoſenhaß gluͤhte, Bewunderung
und Zutrauen erwarben, und einen Helden in ihm ſe¬
hen ließen, auf den das Vaterland einſt wuͤrde rechnen
duͤrfen. Zwar fanden ſich ſchon damals manche Stim¬
men, welche ſo raſchem Muthe nicht ganz vertrauen
wollten, an den Grundſaͤtzen des Staatsmannes vieles
tadelten, ihn thoͤrichter Vorurtheile fuͤr alles Alte be¬
ſchuldigten, und denen die Befreiung Deutſchlands weit
eher durch maßvolle Klugheit und beſonnene Tapferkeit,
als durch heftigen Ungeſtuͤm zu hoffen ſchien; ſolche
Stimmen riefen dann auch wohl die Umſtaͤnde zuruͤck,
durch welche Stein in ſeine jetzige Lage gerathen war,
und hoͤchſt unzeitig einen Wirkungskreis verloren hatte,
der ihm fuͤr ſeine Zwecke nicht ſchoͤner geboten ſein
konnte. Dieſe Umſtaͤnde konnten allerdings ſeiner Be¬
ſonnenheit nicht zum Lobe gereichen; doch waren ſie
damals nur ungefaͤhr bekannt, der genauere Hergang
aber war folgender. Von Koͤnigsberg ſollte drr Aſſeſ¬
ſor Koppe mit Auftraͤgen nach Berlin und weiter in
das noͤrdliche Deutſchland abgeſendet werden. Stein
kam von einer Mittagstafel, wo viel getrunken worden
war, und fand den ſchon Reiſefertigen, der ſich die
[171] letzten Befehle erbat; Stein hieß ihn einen Augenblick
warten, trat an ein Pult, und ſchrieb ſtehend in Eile
und Eifer noch an den Fuͤrſten von Wittgenſtein einen
Brief, den jener empfing, und dann abreiſte. Die
Sache blieb ſo gut wie vergeſſen, als ploͤtzlich die
Nachricht kam, Koppe ſei von den Franzoſen aufge¬
fangen und ſeiner Briefſchaften beraubt worden. In
der Unruhe und Beſorgniß, welche dies erregte, be¬
kannte der Graf von der Golz, Miniſter der auswaͤr¬
tigen Angelegenheiten, er ſei in großer Angſt wegen
einiger Briefe, in denen er ſich uͤber Napoleon ſcher¬
zend ausgelaſſen. „Das war recht dumm von Ihnen!“
fuhr ihn Stein ſogleich an; und ſodann befragt, was
er ſelber dann fuͤr Briefe geſchrieben, verſetzte er gutes
Muthes: „O was ich geſchrieben habe, das duͤrfen die
Franzoſen alles leſen!“ Bald nachher las er ſeinen
Brief an den Fuͤrſten von Wittgenſtein im Moniteur
abgedruckt, und mußte nun den Inhalt, auf den er
ſich vorher kaum hatte beſinnen moͤgen, allerdings fuͤr
verfaͤnglich und unbedacht erkennen. Bei dem lautge¬
wordenen Unwillen Napoleon's konnte Stein nicht fuͤg¬
lich preußiſcher Miniſter bleiben. Er reichte daher ſeine
Entlaſſung ein, dachte indeß auch jetzt ſo wenig an
Gefahr, daß er vorlaͤufig nach Berlin zu reiſen wagte.
Hier aber las er unerwartet im Moniteur ein Decret
Napoleon's aus Madrid, durch welches le nommé
Stein, als Aufruhrſtifter gegen die Franzoſen, vogelfrei
[172] erklaͤrt wurde. Fuͤr Stein blieb nun nichts uͤbrig, als
zu fliehen. Da die Wege nach England verſperrt
waren, ſo konnte nur Oeſterreich eine ſichere Zuflucht
bieten. Die franzoͤſiſchen Behoͤrden hatten bei den
preußiſchen bereits die Auslieferung des Geaͤchteten
nachſuchen muͤſſen, thaten jedoch nichts, was ſeine
Flucht hindern konnte; in dem Decrete war le nommé
Stein nicht auch als der Miniſter bezeichnet, dieſe
Unbeſtimmtheit kam ihm zu Statten, er behielt zwei
Tage Zeit, ſeine Anſtalten zu treffen, und gelangte
gluͤcklich nach Oeſterreich.
In ſolchen Faͤllen aber zeigt ſich die Aechtheit eines
Karakters im glaͤnzendſten Lichte; die wahre Groͤße
iſt von ihren ſie begleitenden Maͤngeln unabhaͤngig,
und Schwaͤchen und Irrthuͤmer werden ihr nicht ange¬
rechnet; die Stimme des Volks, von richtigem Gefuͤhl
geleitet, haͤlt ihre aͤchten Helden uͤber Unfaͤlle und Mi߬
geſchicke empor, und ſpricht ſie los von der Verpflich¬
tung des Erfolgs. Daß Bluͤcher bei Luͤbeck ſich mit
ſeinen Truppen gefangen geben mußte, hat ihm in der
Meinung nicht geſchadet, man ſah in ihm nicht minder
den Helden, dem die Zukunft anzuvertrauen ſei. Eben
ſo koͤnnen wir von Stein ſagen, daß die erzaͤhlte Ueber¬
eilung, welche ſo große Entwuͤrfe und Bereitungen
zerruͤttete, ihm in der Meinung eigentlich kaum geſchadet
hat; man bedauerte das Vorgegangene, laͤchelte dar¬
uͤber, aber die Verehrung und das Zutrauen nahmen
[173] nicht ab, im Gegentheil, Stein's Unfall beglaubigte ihn
als unwiderruflichen Feind der Franzoſen, dem keine
Ausſoͤhnung moͤglich ſei, und deſſen Verſehen ſogar nur
den Eifer kund gab, der in jeder auch kleinſten Gele¬
genheit ſich ſelber bloßzuſtellen kein Bedenken trug.
In ſolchem Anſehen und ſolcher Wuͤrdigung lebte Stein
bei den Beſten und Wuͤrdigſten auch in Prag.
Er ſtand mit den vornehmen Familien in herge¬
brachtem Verkehr, hielt ſich aber im Ganzen ſehr zu¬
ruͤckgezogen, und hatte nur wenig Umgang, der auch
ſelten ſeinen Anſpruͤchen genuͤgen konnte. Denn er
machte unausgeſetzt die groͤßten Forderungen. Ehrenfeſt
und deutſch wollte er die Menſchen, aber auch fein und
wohlgeſittet, von wiſſenſchaftlicher Bildung, aber auch
entſchloſſen und thatkraͤftig, wo moͤglich noch unterhal¬
tend durch Geiſt und Witz. Freilich war er ſelbſt dies
alles, aber nur ſelten wurde ihm dergleichen dargebo¬
ten, in Prag nur durch Pfuel, die Grafen von Stern¬
berg, und vielleicht noch zwei bis drei Andere. Er
war auch ſchon zufrieden, ſolche Eigenſchaften theilweiſe
vorzufinden, oder in ſolcher Richtung den guten Willen.
Ich hatte uͤber Paris und Napoleon mancherlei aufge¬
ſchrieben, war kuͤrzlich durch einen großen Theil von
Deutſchland gereiſt, hatte ja auch ſchon gegen die Fran¬
zoſen gefochten, dies alles, wovon Stein hoͤrte und
angezogen wurde, verſchaffte auch mir die Gunſt, daß
er mich kennen lernen wollte. Pfuel fuͤhrte mich zu ihm.
[174]
Der Empfang ſollte freundlich ſein, die Abſicht war
nicht zu verkennen, aber trotz derſelben gerieth er doch
ziemlich ſchroff und ruͤckſichtslos. Man ſah es dem
Manne gleich an, daß er ohne viele Umſtaͤnde zu ver¬
fahren liebte, und faſt nur gezwungen, durch entſchie¬
denes Machtanſehen, wahre Geiſteskraft oder trotzige
Selbſtſtaͤndigkeit, einen andern Menſchen ſo gelten ließ,
um mit ihm auf einer Art von gleichem Fuße zu ver¬
kehren. Ich werde mich nicht ruͤhmen, gegen Stein
irgend eine Poſitur behauptet zu haben; wie haͤtte ich
daran denken und dies mir gelingen koͤnnen. Aber ich
kann ſagen, daß auch er mir im geringſten nicht im¬
ponirte, und daß ich ihm gegenuͤber meine Selbſtſtaͤn¬
digkeit irgend beſchraͤnkt gefuͤhlt haͤtte. Ich fand ihn
einfach und ungezwungen, ganz ohne Stolz und Schein,
und ſo war ich ebenfalls einfach und natuͤrlich, ohne
andere Unterredung, als welche der aͤußerliche Abſtand
gebot. Gleich bei dem erſten Beſuche, bei Erwaͤhnung
mancher politiſchen Bezuͤge, in dem Urtheil uͤber Per¬
ſonen und Schriften, thaten ſich merkliche Verſchieden¬
heiten der Anſichten hervor, und Stein ſchien verwun¬
dert, daß ich die meinigen nicht ſogleich berichtigen ließ.
Doch reizte ihn der Widerſpruch nicht unangenehm, und
er lud mich lebhaft und dringend zu haͤufigen Beſuchen
ein. Ich hatte dazu mehr als Einen Antrieb. Meine
Verehrung war aufrichtig und unbegraͤnzt; den hohen
Werth eines ſolchen Mannes erkannte ich mit allem
[175] Eifer, mit entſchiedener Hoffnung kuͤnftigen Erfolgs,
ſowohl fuͤr die allgemeine Sache, als fuͤr mich insbe¬
ſondere. Hier ein naͤheres Verhaͤltniß anzuknuͤpfen
ſchien in meinen Lebenszwecken ganz eigentlich begruͤn¬
det, fruͤher oder ſpaͤter mußten wir doch in gleichen
Richtungen zuſammentreffen, und ich konnte mir nicht
verhehlen, daß mir dabei nur Ehre und Vortheil er¬
wachſen wuͤrde. Aber ich hatte noch ein anderes An¬
liegen. Fuͤr meine kuͤnftige Laufbahn mußte ich Stu¬
dien unternehmen, die ich fruͤher hatte vernachlaͤßigen
duͤrfen, und fuͤr welche mir jetzt in Prag ſowohl An¬
leitung als Buͤcher fehlten. Mit voͤlligem Vertrauen
hatte ich dem kenntnißreichen Staatsmanne meine Un¬
wiſſenheit aufgedeckt, und ſeinen Rath und Beiſtand
erbeten, um auf kuͤrzeſtem Wege in die Zweige prakti¬
ſcher Staatskunde einzudringen, deren ich am meiſten
zu beduͤrfen ſchien. Sehr bereitwillig ſagte er mir
Huͤlfe zu, ſowohl durch muͤndliche Belehrung, als durch
den reichen Vorrath ſeiner Buͤcher, die er nach Prag
hatte nachkommen laſſen.
So oft ich nun zu Stein kam, hoͤrte ich gleichſam
ein Privatissimum uͤber Gegenſtaͤnde der Staatswirth¬
ſchaft, erlaͤutert durch Beiſpiele aus dem Geſchaͤftsleben
ſelbſt, wobei zwar keine geordnete Folge herrſchte, aber
doch die wichtigſten Anſichten und Thatſachen mir auf
die lebendigſte Weiſe dargeboten wurden. Seine eigne
Lebhaftigkeit riß ihn fort; jede Unkunde, die er wahrzu¬
[176] nehmen glaubte, jeder Zweifel, der ſich zu aͤußern wagte,
ſteigerte ſeinen Eifer und er nahm ſich die Geduld, in
die ausfuͤhrlichſten Erlaͤuterungen einzugehen. Bei ſol¬
cher Gelegenheit fehlte es nicht an perſoͤnlichen Bemer¬
kungen, beſonders uͤber preußiſche Staatsbeamte, und
die Kritik ihrer Handlungen gab ihm noch mehr
Herzenserleichterung, als mir Belehrung, wobei mir
nicht entging, daß in der Sache und in der Form ſeine
raſchen Ausſpruͤche als parlamentariſche Oppoſition oft
von außerordentlicher Wirkung haͤtte ſein muͤſſen. In
ſeinen Lieblingsvorſtellungen ganz ritterlich geſinnt, auf
einen ſtarken und reichen Adel haltend, war Stein zu¬
gleich der eifrigſte Bauernfreund, und wollte den Land¬
mann durchaus frei und ſelbſtſtaͤndig wiſſen. In dieſem
Betreff ruͤhmte er die neue preußiſche Geſetzgebung, die
zwar nicht, wie man faſt allgemein geglaubt, von ihm
ausgegangen war, aber doch jede Foͤrderung erhalten
hatte. Hierbei kam er auf die Verdienſte des in Koͤnigs¬
berg verſtorbenen Profeſſor Kraus, deſſen Schriften er
mir gab und empfahl, und den er gegen neuere Angriffe
mit Zorn vertheidigte. In Berlin naͤmlich gab damals
Heinrich von Kleiſt deutſche Blaͤtter heraus, in welchen
Adam Muͤller den Werth von Kraus ſehr herabſetzte,
und ihn fuͤr einen bloßen Nachſprecher Adam Smith's
erklaͤrte, deſſen Grundſaͤtze, als den Gewerbefleiß zum
Nachtheil des Adels beguͤnſtigend, ſchon nicht mehr gel¬
ten ſollten. Stein aber ſagte von Kraus: „Der Mann
[177] hat mehr gewirkt und gethan, als dieſe Herren je ver¬
nichten werden. Die ganze Provinz hat an Licht und
Anbau durch ihn zugenommen, ſeine Belehrung drang
in alle Zweige des Lebens, in die Regierung und Ge¬
ſetzgebung ein. Hat er keine neuen glaͤnzenden Ideen
aufgeſtellt, ſo iſt er dafuͤr auch kein ruhmſuͤchtiger So¬
phiſt geweſen, und die einfache Wahrheit klar und rein
vorgetragen, auf ihren richtigſten Ausdruck gebracht,
und Tauſenden von Zuhoͤrern erfolgreich mitgetheilt zu
haben, iſt ein groͤßeres Verdienſt als durch Geſchwaͤtz
und Paradoxieen Aufſehen zu erregen. Aber ſo verhaͤlt
es ſich nicht einmal; Kraus war kein Nachbeter, Kraus
hatte eine unſcheinbare und doch geniale Perſoͤnlichkeit,
die ſeine Umgebungen maͤchtig ergriff, er hatte Blitze
neuer Einſichten, großer Anwendungen, und ſetzte uns
durch ſein unerwartetes Urtheil oft in Erſtaunen. Wenn
er indeß ſein A. B. C. vortrug, ſuchte er das B. nicht
hinter das C. zu ſetzen, und eine ſolche Neuerung als
geiſtreich auszuſchreien. Leſen Sie ſeine Schriften, klar
und einfach iſt da alles, und mehr brauchen Sie fuͤr
jetzt nicht. Nebenher leſen Sie mir auch die Franzo¬
ſen, um zu vergleichen und zu pruͤfen, die Leute haben
auch was gethan!“ Wenn Stein ſo eiferte, gerieth ſeine
Stimme und Gebaͤrde in eine eigene Art von Zitterung,
wobei er die Augen zudruͤckte, und die Worte zuletzt
kaum noch ausklingen ließ. Aber wie traf gleich darauf
ſein Blick groß und durchdringend den Zuhoͤrer, wel¬
III.12[178] chem er dann jeden geheimen Widerſpruch auf dem
Geſichte las, und mit neuem, oft hartem und verletzen¬
dem Anlauf entgegen drang! Mit ihm ein Geſpraͤch zu
haben, war ein ſteter Kampf, eine ſtete Gefahr, wie
konnte man ſicher ſein, durch eine ploͤtzliche Wendung
ſich feindlich behandelt zu ſehen, weil es ihm beliebte,
den grade Anweſenden, mochte dieſer auch ganz ein¬
ſtimmig ſein, ſich als Widerſacher vorzuſtellen; und dies
ohne uͤblen Willen, ohne perſoͤnliche Abſicht, und ohne
irgend einen bleibenden Eindruck in ihm ſelber. Dies
gab dann auch dem Umgange Stein's einen eignen
Reiz und ließ die Erregung, in welche ſein Geſpraͤch
verſetzte, eher aufſuchen, als meiden; wie denn insbe¬
ſondere der Kaiſer Alexander ſpaͤterhin von dieſem ruͤ¬
ſtigen und derben Weſen, das ſich den hoͤchſten Per¬
ſonen gegenuͤber nur etwa durch einen Zuſatz von Laune
maͤßigte, ganz bezaubert war, und fuͤr Stein eben ſo
große Zuneigung als Bewunderung empfand.
Durch Stein wurde ich auch mit mancherlei Zuſam¬
menhang der politiſchen Dinge bekannt, der mir bisher
entgangen war. Ich bekam Aufſchluß uͤber allerlei,
was in Berlin und im noͤrdlichen Deutſchland vorbe¬
reitet wurde, und ſah nun Weg und Feld mit zahl¬
reichen Faͤden uͤberkreuzt, die beim Weiterſchreiten nicht
unbeachtet bleiben durften. Stein hatte thaͤtige Ver¬
bindungen beibehalten, und war von allem, was in
Berlin vorging, genau unterrichtet. Scharnhorſt und
[179] Gneiſenau waren die Maͤnner ſeines Herzens. Naͤchſt
ihnen ruͤhmte er Niebuhr, den er als praktiſchen Staats¬
beamten und als gruͤndlichen Gelehrten gleich ſehr
ſchaͤtzte, und deſſen Buch uͤber die Geſchichte Rom's
er mir zuerſt mittheilte, wobei er in aller Bewunde¬
rung des Scharfſinns und der Gelehrſamkeit doch be¬
dauerte, daß Niebuhr eigentlich kein Deutſch ſchriebe,
ſondern im Deutſchen immer Engliſch werden wolle,
durch deſſen fruͤhes und eifriges Studium er ſeinen
Stil verdorben habe. Von den deutſchen Gelehrten
dachte er im Ganzen nicht vortheilhaft; doch lobte und
empfahl er die Schriften von Heeren als gruͤndlich und
praktiſch, und beſonders pries er Fichte'n wegen ſeiner
Reden an die deutſche Nation; die Philoſophen mochte
er ſonſt wenig leiden, und erklaͤrte die damaligen neue¬
ſten geradezu fuͤr verruͤckt. Auch Schleiermacher's phi¬
loſophiſche Religion war ihm zu geiſtreich und in Be¬
treff der Rechtglaͤubigkeit mehr als verdaͤchtig. Große
Stuͤcken hielt er auf Juſtus Gruner, von deſſen Muth
und Gewandtheit im Geheimkriege der preußiſchen Be¬
hoͤrden gegen die franzoͤſiſche Polizei und Herrſchaft die
merkwuͤrdigſten Beiſpiele erzaͤhlt wurden. Von ihm
wird ſpaͤter noch die Rede ſein.
Hatte ich bei dieſen Unterweiſungen und Aufſchluͤſ¬
ſen mich nur belehren zu laſſen und fuͤgſam und dankbar
zu erweiſen, ſo gab es dagegen andere Gegenſtaͤnde,
bei welchen mir eine thaͤtigere Rolle zugewieſen war.
12*[180] Um ſeine viele Stunden wuͤrdig und zugleich fruchtbar
auszufuͤllen, hatte Stein ein ernſtes Studium der fran¬
zoͤſiſchen Revolution vorgenommen, er wollte dieſen
Ereigniſſen, aus welchen die Geſchicke der Welt noch
unmittelbar herabſtroͤmten, Einmal auf den Grund ſe¬
hen, ihre ſtarken und ſchwachen Seiten kennen. Die
damals erreichbaren Huͤlfsmittel lagen auf ſeinen Tiſchen,
er las die Schriften aller Partheien, und ſcheute die
großen Baͤnde des Moniteur nicht, um die oͤffentlichen
Verhandlungen aus der Quelle zu ſchoͤpfen. Seine
Geſpraͤche lenkten natuͤrlich jedesmal auch auf dieſen
Gegenſtand ein, uͤber den ſeine Empfindungen und An¬
ſichten auszuſprechen er am liebſten ſelbſt eine Redner¬
buͤhne beſtiegen haͤtte. Jeder meiner Beſuche fand ihn
fortgeſchritten, in dem Geſchichtsgange, und ich konnte
die Eindruͤcke jeder Epoche genau wahrnehmen. Sein
Haß gegen die Revolution war graͤnzenlos, beſonders
in den erſten Zeiten, wo noch ſo oft durch wenige
Maßregeln und einige Entſchloſſenheit alles haͤtte ge¬
wendet werden koͤnnen. Die Franzoſen von 1789 wa¬
ren ihm ſchon die jetzigen, die Republikaner ſchon die
von Napoleon unterjochten und den Deutſchen ſchmach¬
voll aufliegenden Kaiſerlichen Kriegsknechte; die Vor¬
gaͤnge, in denen das Volk ſiegte, erfuͤllten ihn mit
Grimm, er haͤtte dem Hof, den Miniſtern, den Gene¬
ralen noch jetzt ſeine Kraft und Entſchloſſenheit leihen
moͤgen. Wenn Mirabeau und Lafayette einige Gnade
[181] bei ihm fanden, ſo war es, weil ſie ſolche Kraft, die
ſie zuerſt gegen den Hof wandten, zuletzt auch der
Volksmeinung entgegenſetzten. Sonſt verwarf er alle
Theilnehmer der Revolution in ein- und dieſelbe Ver¬
damniß. Ich ſtimmte ihm hierin nicht bei, und faßte
uͤberhaupt die Ereigniſſe mehr in ihrer Beſonderheit auf,
ſuchte ſie aus ihren eigenthuͤmlichen Umſtaͤnden und
Antrieben zu erklaͤren, und wollte eine unabwendbare
Entwickelungsfolge in ihnen ſehen. Stein fand dies
kleinliche Geſchichts-Sachwalterei, wollte von genauen
Erwaͤgungen wenig hoͤren, und hielt ſich als Mann der
That und des Kampfes an den kurzen Entſcheid: alles
dort druͤben ſei der Feind, und der muͤſſe in Summa
geſchlagen und vertilgt werden.
Jedesmal hatten wir hieruͤber Streitigkeiten. Ich
gab zu, daß im Schweben der Schlacht kein Unterſchied
zu machen ſei, aber nach dem Kampfe folge die Ge¬
ſchichte wie ein Lazareth, wo man auch den Feind ſcho¬
nend behandle und wohl Ruͤckſicht nehme, ob er aus
Wahl und Abſicht oder Zufall und Zwang es gewor¬
den ſei. Ich war in der franzoͤſiſchen Revolutionsge¬
ſchichte, beſonders in den Anfaͤngen, nicht unbewandert,
und konnte manche Thatſache, manchen Charakterzug
anfuͤhren, welche Stein nicht ganz verwerfen durfte;
bisweilen ließ er ſich den Widerſpruch gefallen, wie er
denn uͤberhaupt mit jeder Entſchiedenheit artiger um¬
ging, als mit feigem Nachgeben, welches er gewoͤhnlich
[182] mißhandelte. Allein ich ſtand in jedem Betracht hier
zu ſehr im Nachtheil, um dieſe Eroͤrterungen zu lieben,
welche doch jedesmal den ganzen Umgang auf's Spiel
ſetzten. Verſchweigen wollt' ich meine Meinung nicht,
aber ſie ganz herauszuſagen war oft kaum thunlich.
Ich erinnre mich, Einmal gereizt und gedraͤngt zu Stein
geſagt zu haben, er ſei ein Reichsfreiherr, ein Adlicher
und Vornehmer, und habe als ſolcher im gegebnen
Fall ein beſtochenes Urtheil. Ich erſchrack, als ich dieſe
Kuͤhnheit ausgeſprochen. Stein aber ſchwieg einen Au¬
genblick, wurde ganz gelaſſen, und ſagte mit mildem
Ernſt und großer Wuͤrde: ich machte ihm da einen
Vorwurf, der einigen Schein habe, jedoch um mir zu
zeigen, daß er ihn im Allgemeinen doch nicht ſo ganz
verdiene, wolle er mir beiſpielsweiſe nur ſagen, daß,
wenn er auch zu dem aͤlteſten Adel gehoͤre, und in
adlichen Gewoͤhnungen und Anſichten herangewachſen
ſei, doch die eigentlichen vertrauten Freunde, die er in
ſeinem Leben gehabt, freilich aber ſpaͤter wieder habe
aufgeben muͤſſen, beide buͤrgerlich geweſen; „Nicht
wahr?“ fuͤgte er hinzu, „das haben Sie wohl nicht
gedacht?“ Meine Beſchaͤmung konnte mich ſo ſehr nicht
beugen, daß nicht der Anblick des trefflichen und in
ſolchen Momenten wahrhaft liebenswuͤrdigen Mannes
mich noch mehr erhoben haͤtte.
Eines Tages aber fand ich ihn wieder uͤber dem
Moniteur und ganz ungewoͤhnlich aufgeregt. Er ſprach
[183] mit Lebhaftigkeit uͤber die Revolution, aber ſchimpfte
nicht. Er war zu dem Nationalkonvent gelangt, und
hier, wo ſein Haß den Gipfel erreicht haben mußte,
wo die Verurtheilung und Hinrichtung Ludwigs des
Sechzehnten, die gehaͤuften Graͤuel und Schreckniſſe aller
Art ihn empoͤren mußten, ſah er ſich zu ſtaunender
Bewunderung hingeriſſen durch die ungeheure Kraft
und beiſpielloſe Macht, mit welcher der Wohlfahrtsaus¬
ſchuß das innere Frankreich beherrſchte, und nach außen
allen Feinden ſiegreich die Spitze bot. Dieſe gewalt¬
ſamen Maßregeln, dieſe furchtbare Strenge und faſt
uͤbermenſchliche Thaͤtigkeit, imponirten ihm, dieſe waren
ſeines Weſens und Geſchmacks, ſolche haͤtte er ſelber
jetzt zur Rettung Deutſchlands gegen die Franzoſen
anwenden moͤgen. Wie kraͤftig dieſe Leute geweſen,
was ſie alles geleiſtet und durchgeſetzt, hoͤrte er nicht
auf zu preiſen, und hielt eine begeiſterte Lobrede auf
jenen Ausſchuß, den er mir vorwarf nicht gehoͤrig zu
erkennen. Denn freilich konnt' ich auch diesmal ihm
nicht beiſtimmen: manche Vorgaͤnge der Revolution
waren mir in guͤnſtigem Licht erſchienen, ich hatte die
erſte Nationalverſammlung bewundert, die talentvollen
Girondiſten beklagt, aber von fruͤhſter Zeit waren mir
die Jakobiner und ihre Graͤuel zum Abſcheu, und die
Groͤße eines Danton und Robespierre nur ſchauderhaft.
Schon bei dem naͤchſten Beſuche hatte auch Stein von
ſeiner Bewunderung nur noch Abſcheu, und im weitern
[184] Verfolge der Revolutionsgeſchichte fand ich ihn nur noch
Einmal beſonders aufgeweckt, als er zu den Unfaͤllen
des Direktoriums gekommen war, wo es ihm wohl¬
that, ſeinem Haſſe auch einmal volle Verachtung bei¬
miſchen zu koͤnnen. Man wird mir zugeben, daß ich
durch dieſe Geſpraͤchsbegleitung des Stein'ſchen Stu¬
diums einen Kurſus uͤber die neuere Zeitgeſchichte ge¬
macht, wie er nicht leicht wieder vorkommt!
Mehr, als mit meinen muͤndlichen Aeußerungen
war Stein mit meinen ſchriftlichen Aufſaͤtzen zufrieden,
in denen ich einen Theil meiner Reiſewahrnehmungen
niedergelegt hatte. Er trieb mich unaufhoͤrlich zum
Schreiben an, zum Schreiben im deutſchen Sinn, zum
Schreiben gegen die Franzoſen. Es koͤnne nicht genug
in dieſer Art geleiſtet werden, und der Augenblick,
meinte er, wo dergleichen gedruckt worden koͤnne, werde
ſchon kommen. Er freute ſich, daß Graf Schlabren¬
dorf, von dem ich viel hatte erzaͤhlen muͤſſen, durch
ſein Buch uͤber Napoleon dieſem den groͤßten Schaden
gethan, und die Augen der Welt enttaͤuſcht habe, er
freute ſich der Blaͤtter Arndt's, die zu ihm gelangt
waren. Jede feindliche Aeußerung gegen das fran¬
zoͤſiſche Kaiſerthum that ihm durchaus Genuͤge. Ueber¬
haupt blieb das Vernehmen, ſo lange ſein Aufenthalt
in Prag dauerte, ziemlich ungeſtoͤrt. Spaͤterhin wurde
der Abſtand in Meinungen nicht nur, ſondern auch in
Rang und Stellung allzu trennend. Seine Heftigkeit
[185] hab' ich als auf mich perſoͤnlich gerichtete nie erfahren,
wohl aber oft peinlich beſtanden, wenn er ſich wider
Andre tobend ausließ.
Stein's Raſchheit und Ungeſtuͤm hing ganz mit
ſeiner koͤrperlichen Organiſation zuſammen. Er fragte
mich einmal nach der Zahl meiner Pulsſchlaͤge, und
hielt mir dann lachend die Hand hin, ich ſolle die
ſeinigen einmal zaͤhlen. Es waren uͤber hundert in der
Minute. Dies, verſicherte er, ſei von jeher ſein ge¬
woͤhnlicher Puls, bei dem er ſich vollkommen wohl¬
befinde. Er ſchien ſelber dieſe Eigenheit als einen
Freibrief der Natur anzuſehen, der ihm ſchon erlaube,
etwas lebhaftere Aufwallungen zu haben, als andere
Menſchen. Bei Gelegenheit Stein's, auf den ich in
der Folge noch oft zuruͤckkommen muß, hab' ich auch
eines Staatsmannes zu erwaͤhnen, den ich in Prag
einigemal mit ihm zuſammen ſah. Dieſer war der
ehemals mainziſche Domherr Graf Friedrich von Sta¬
dion, Bruder des oͤſterreichiſchen Staatsminiſters, zu¬
letzt oͤſterreichiſcher Geſandter in Muͤnchen. In vielem
Betracht war er das Gegentheil von Stein, ruhig,
milde, tiefen und zarten Sinnes, dabei welt- und
geſchaͤftskundig im groͤßten Stil; an Rechtſchaffenheit
aber und edler Geſinnung ſtand er wohl mit Stein zu
vergleichen, ſo wie an Entſchloſſenheit und Kraft, wo
es galt beſonnen und nachhaltig auf einen beſtimmten
Zweck hinzuwirken. Die Wendung der oͤffentlichen An¬
[186] gelegenheiten hatte ihn von den Geſchaͤften entfernt,
und er befand ſich, wie Stein, zu ſtiller Betrachtung
und Erwartung verurtheilt. Sie achteten und liebten
einander beide, und wenn man ſie zuſammen ſah, ſo
verſchieden an Geſtalt und Art, aber beide ſo edel und
tuͤchtig, ſo einfach und durchbildet, dann konnte man
die wuͤrdigſte Vorſtellung von deutſchem hohen Adel
faſſen, dem dieſe beiden Maͤnner ſo ausgezeichnete Ver¬
treter waren.
Nur allzuſchnell erlitt dieſer belehrende und unter¬
haltende Umgang eine Unterbrechung. Schon fruͤher
eingeleitete Geſchaͤfte veranlaßten, daß ich zu deren
Betreibung nach Wien geſchickt wurde. Ich hatte den
Erzherzog Karl, die Generale Grafen von Radetzky,
Fuͤrſten Aloys von Liechtenſtein, Grafen von Neipperg,
und viele andre Perſonen hoher Stellung und Wirk¬
ſamkeit, anzugehen, und es geſchah meiſt mit gluͤckli¬
chem Erfolg. Dem Grafen von Metteruich fand ich
mich auf's neue verpflichtet durch das ausgezeichnete
Wohlwollen, das mir ſeit Paris bei ihm unveraͤndert
fortbeſtand. Ich war begluͤckt, meine Freunde Williſen
und Meyern wiederzuſehen, beſuchte eifrig das Hum¬
boldt'ſche Haus, verſaͤumte das Arnſtein'ſche nicht, hatte
oͤftere Geſpraͤche mit Gentz, mit Friedrich Schlegel,
und fand in der Wiener Geſellſchaftsfluth, welche der
[187] Jahreszeit gemaͤß eben am hoͤchſten ſtand, alte und
neue Bekannte in Menge.
In Betreff der allgemeinen Stimmung, welche
richtig aufzufaſſen mir beſonders angelegen war, erſchien
mir merkwuͤrdig, wie hier das Leben zwei verſchiedene
Richtungen, die keiner Vereinigung faͤhig ſchienen, ganz
friedlich zuſammenflocht. Der aͤußerlichen Geltung nach
war alles in Freundſchaft und Buͤndniß mit Frank¬
reich, der oͤffentliche Ausdruck hievon war uͤberall ohne
Widerſtreit angenommen; in den Geſinnungen aber trat
durchaus das Gegentheil hervor und alle nicht unmit¬
telbar jenen Ausdruck angehoͤrigen Regungen ſtrebten
offenbar in entgegengeſetzter Richtung. Daß der Zwang
jenes aͤußerlichen Verhaͤltniſſes nicht dauern ſolle, daß
er abgeworfen werden muͤſſe, daruͤber herrſchte all¬
ſeitiges Einverſtaͤndniß und zweifelloſe Zuverſicht. Nur
uͤber den Zeitpunkt und Anlaß konnten die Meinungen
verſchieden ſein, daraus einige Partheiung entſtehen.
Die Kriegsmaͤnner und die geſchaͤftslos Wartenden,
wie Stein, Stadion und viele Andre, waren ungeſtuͤm;
die aber im Drange des Tages Ringenden fuͤhlten die
Nothwendigkeit klugen Zoͤgerns. Der Miniſter der aus¬
waͤrtigen Angelegenheiten hatte hier die ſchwierigſte Auf¬
gabe, die er bewundernswuͤrdig loͤſte, indem er die
fremde Gebuͤhr und eigne Aufrichtigkeit in freier und
ruhiger Haltung zu vereinigen wußte. Im Schreiben
herrſchte große Vorſicht, und man vermied, in Briefen
[188] die politiſchen Gegenſtaͤnde zu beruͤhren; die muͤndliche
Mittheilung aber war frei und kuͤhn, und hatte in der
That wenig zu fuͤrchten, da ein Verraͤther oder Ange¬
ber in dieſem Gedraͤnge gleichartiger Geſinnung ſchnell
erſtickt worden waͤre. Die Nachrichten aus Spanien
von den Unfaͤllen der Franzoſen konnten in England
nicht freudiger aufgenommen, die Hoffnungen fuͤr Oeſter¬
reich und Deutſchland nirgends eifriger genaͤhrt werden,
als in dieſen Lebenskreiſen, und die Ausſicht eines
Krieges zwiſchen Frankreich und Rußland erhoͤhte die
Spannung der Gemuͤther durch die wichtigen Fragen,
welche dieſer Fall fuͤr Oeſterreich zur Entſcheidung
bringen mußte. Einen ſolchen Krieg an der Seite der
Franzoſen mitmachen zu ſollen, duͤnkte Vielen uner¬
traͤglich, waͤhrend Andre behaupteten, im Vertrauen auf
ein kuͤnftiges Ziel duͤrfe man keine Verlaͤugnung ſcheuen,
und muͤſſe jede Zwiſchenſtufe getroſt betreten. So ru¬
hig, wie jetzt, ließen ſich aber dieſe entgegengeſetzten
Meinungen damals nicht anſehen und verfolgen; in
ihnen lag allerdings die Moͤglichkeit, welche auch wirk¬
lich geworden, daß Maͤnner, welche noch eben als Waf¬
fenbruͤder denſelben Fahnen angehoͤrten, kuͤnftig unter
feindlichen mit dem Degen einander gegenuͤber ſtuͤnden,
und ſo war es natuͤrlich, daß in dieſem Zwieſpalt viel¬
fach Anklage und Mißtrauen wechſelſeitig ausgeſprochen
wurde. Der Gedanke, in ruſſiſche Dienſte zu treten,
keimte ſchon in manchem Gemuͤth, und beſonders die
[189] Deutſchen aus dem ſogenannten Reich, welche nicht
durch Geburt dem oͤſterreichiſchen Kriegsdienſte verbun¬
den waren, glaubten ſich nicht verpflichtet, dieſem in
allen ſeinen Wendungen zu folgen.
In dieſer Zeit kam die Nachricht von der Geburt
des Koͤnigs von Rom nach Wien, und das, wie nicht
zu laͤugnen war, unabſehbar folgenreiche Ereigniß brachte
die mannigfachſten Eindruͤcke hervor. Die Gegenſaͤtze,
welchen die damalige Epoche verfallen war, traten in
das hellſte Licht. Die in den perſoͤnlichen Verhaͤltniſſen
gegruͤndete aͤchte Theilnahme durfte niemand anzugrei¬
fen wagen; die amtlichen Freudenbezeigungen und Feſt¬
lichkeiten wurden dagegen um ſo feindlicher behandelt.
Ich ſelbſt, durch des Grafen von Metternich ausdruͤck¬
liche Fuͤrſorge, wohnte dem großen Feſte bei, durch
welches der franzoͤſiſche Botſchafter Otto die Geburt
des franzoͤſiſchen Thronerben feierte, und wo der kai¬
ſerliche Hof und hohe Adel Wiens in groͤßtem Glanz
erſchien; allein von achthundert Eingeladenen waren doch
kaum ſechshundert erſchienen, und nachdem ſich der
Kaiſer entfernt hatte, verſchwand auch ein merklicher
Theil von dieſen. Fuͤr mich aber hatte dies Feſt noch
einen beſondern Gegenſatz in einem andern, von dem
ich wußte und abſichtlich erzaͤhlte. Waͤhrend ich, mir
ſelber ſonderbar genug, am 20. Mai bei dem franzoͤſi¬
ſchen Botſchafter das Feſt des Koͤnigs von Rom mit¬
machte, war in Prag fuͤr den 21. zur Feier des Jah¬
[190] restags der Schlacht von Aſpern, ein Feſt bereitet,
deſſengleichen man nicht geſehen hatte. Mein Oberſt,
geſinnungsvoll und freimuͤthig, hatte es gerade in die¬
ſer Zeit gelegen und zweckmaͤßig erachtet, dem neuſten
Zuſtande der Dinge das Andenken dieſes noch ſo fri¬
ſchen Sieges entgegenzuhalten, den man faſt gefliſſent¬
lich vergeſſen zu wollen ſchien. Er gab daher ſeinem
Regimente, welches in jener Schlacht mit Auszeichnung
gefochten, ein militairiſches Feſt, an welchem, da die
ſchoͤnen oͤffentlichen Anlagen an der Moldau, der Bub¬
netſch oder Baumgarten genannt, der Schauplatz wa¬
ren, die ganze Stadt Prag Theil nahm. Frei und
ſelbſtſtaͤndig ſchaltend, hatte er das Ungewoͤhnliche nicht
geſcheut, und es erregte frohes Staunen und lauten
Beifall, daß, die Gemeinen hier in eine Ehrengenoſſen¬
ſchaft gezogen wurden, zu welcher meiſt nur die Offi¬
ziere ſich abzuſchließen pflegen. Einige Soldaten, welche
von Aspern her die Ehrenmuͤnze im Knopfloche tru¬
gen, wurden von dem Oberſten und den Stabsoffi¬
zieren in offnen Wagen abgeholt, mußten obenan ſitzen,
und bekamen auch an der Tafel die Ehrenplaͤtze. An
der Bewirthung fehlte es nicht, an Trinkſpruͤchen, An¬
reden und Geſaͤngen eben ſo wenig; die vortreffliche
Muſik der boͤhmiſchen Regimenter iſt bekannt, und ſo
bedarf es keiner Verſicherung, daß der Eindruck des
Feſtes weit uͤber deſſen Anlage hinausging, und das
eine Regiment nicht mehr ſich ſelbſt, ſondern das ganze
[191] Heer und Volk zu vertreten ſchien. Die friſche Kraft
und Munterkeit dieſer Ausfuͤhrung gefiel allgemein, und
ſelbſt hoͤhern Ortes wurden die kuͤhnen Eigenheiten,
welche doch gewaltig von dem Geiſte der Zeit zeugten,
mit Laͤcheln belobt.
Bei meiner Ruͤckkehr nach Prag fand ich noch al¬
les erfuͤllt von dem erlebten Schauſpiel, und manche
meiner juͤngern Kammeraden ſo aufgeregt, daß ſie er¬
warteten, ich muͤſſe von Wien wo nicht ſchon die Kriegs¬
erklaͤrung, doch die Gewißheit mitbringen, daß ein
Ausbruch nahe ſei, und man hoffen duͤrfe, naͤchſtens
wieder gegen die Franzoſen ins Feld zu ruͤcken. Ich
konnte ihnen freilich von allem dieſem nichts, ſondern
nur berichten, wie ich ein Feſt zu Ehren des Koͤnigs
von Rom mitangeſehen, worauf denn die Kriegserwar¬
tungen ſich fuͤr den naͤchſten Sommer noch in die
friedlichen Ausſichten auf die herkoͤmmlichen Waffen¬
uͤbungen verwandeln mußten!
Ich fuͤr mein Theil aber war auch dieſer gluͤckli¬
cherweiſe uͤberhoben, und konnte ſeit langer Zeit wieder
zum erſtenmal einem erſehnten Zuſammenſein mit Rahel
entgegeneilen. Schon in Dresden dacht' ich ſie zn
finden, allein, da ſie dort binnen mehreren Tagen nicht
eintraf, ſo eilte ich nach Berlin, um ſie abzuholen.
Ich fand ſie mit ihren Gefaͤhrtinnen ſchon ganz reiſe¬
fertig, und geleitete ſie darauf nach Toͤplitz, wo wir
[192] den beſten Theil des Sommers in ſchoͤner Muße zu
verbringen dachten.
Die Schilderung des dortigen Aufenthalts wird ſich
kuͤnftig einſchalten laſſen. Hier ſei nur in Kuͤrze ge¬
ſagt, daß der Fuͤrſt von Ligne und die Fuͤrſtlich Clary'ſche
Familie, der Herzog von Sachſen-Weimar, die Graͤfin
von Waldburg-Truchſeß, geweſene Oberhofmeiſterin am
weſtphaͤliſchen Hofe zu Kaſſel, der Fuͤrſt von Windiſch¬
graͤtz und der Graf von Trogoff, Graf und Graͤfin von
der Golz aus Berlin, Frau von Crayen, die Graͤfin
von Schlabrendorf, Frau von Grotthuß und viele Andre,
deren Namen ſich dieſen anſchließen, eine ziemlich bunte
Geſellſchaft bildeten, in welcher es lebhaft genug her¬
ging. Clemens Brentano beſuchte mich; Fichte und
Friedrich Auguſt Wolf kamen; die Graͤfin von der Recke
brachte Tiedge'n mit; Beethoven konnte trotz ſeiner
Wildheit uns nicht entgehen; nur Goethe blieb leider
aus, auf den wir gehofft, und Gentz und Marwitz,
die zu kommen verſprochen hatten. Die politiſchen Be¬
zuͤge wurden in der ſcheinbaren Zerſtreuung nicht ver¬
geſſen, ſondern im Gegentheil vielfach angeknuͤpft und
fortgeleitet. In mir befeſtigte ſich der Entſchluß, den
Kriegsdienſt, der ſchon uͤberall die Gefahr brachte, mit
den Franzoſen als Verbuͤndeter ziehen zu muͤſſen, bei
erſter Gelegenheit zu verlaſſen, und mir wo moͤglich
eine andre Laufbahn in Preußen zu eroͤffnen.
[193]
Gegen die Mitte des Septembers reiſte Rahel nach
Dresden, wo Marwitz ſie erwartete, und dann nach
Berlin zuruͤck. Der Abſchied brach mir das Herz, nur
die gewiſſe Zuverſicht, alles zu einem dauernden Wie¬
derſehen zu lenken, gab mir den Muth, dieſe Tren¬
nung zu ertragen. —
In Prag erwarteten mich vielfache Arbeiten. Der
Umgang mit Stein erneuerte ſich, und befoͤrderte wie
fruͤher meine Studien und Vorſaͤtze. Allein ich hatte
mancherlei Hinderniſſe zu bekaͤmpfen, und blieb von
vielen Zufaͤlligkeiten abhaͤngig. Die ſeltſamſten Neben¬
dinge draͤngten ſich in meine ernſten Beſchaͤftigungen.
Ich hatte Beethoven einen Operntext verſprochen, einen
andern, den er ſchon bearbeitete, ſollte ich verbeſſern;
aͤußrer Ruͤckſichten wegen uͤberſetzte ich den Britannicus
von Racine in deutſche Jamben, und obwohl ich in
acht Tagen damit fertig war, und mehr Gewinn davon
zog, als von irgend einer andern litterariſchen Arbeit,
ſo reute mich doch die ſchoͤne Zeit, die ich lieber an¬
ders haͤtte verwenden moͤgen. Zu Hormayr's Archiv,
zu Fouqué's und Neumann's Muſen gab ich litterari¬
ſche Beitraͤge, die mich ebenfalls zwar nicht viele, doch
immer einige Zeit koſteten. Eine kleine Sammlung
von Stellen aus Rahel's Briefen, welche, da ſie groͤ߬
tentheils Goethe'n betreffen, Cotta nicht ohne deſſen
Erlaubniß drucken wollte, gab Anlaß in Weimar an¬
zufragen, woraus mir die erſte unmittelbare Beruͤhrung
III. 13[194] mit Goethe entſprang, deſſen Wahrheit und Dichtung
eben erſchienen war, und mich neu mit ihm erfuͤllt
hatte. Den Zerſtreuungen der Geſelligkeit, des Thea¬
terbeſuchs, der Spazirfahrten konnte ich nicht entgehen,
und mußte mich damit troͤſten, auch dieſe Vergnuͤgun¬
gen manchen ernſten Gewinn tragen zu ſehen.
Beethoven, der von Toͤplitz in Begleitung ſeines
und meines Freundes Oliva nach Wien zuruͤckreiſte,
hielt ſich nicht lange in Prag auf; dagegen kam Cle¬
mens Brentano in der Abſicht, den ganzen Winter
hier zu verleben, und goͤnnte mir taͤglich ſeine zwar
uͤberaus erfreuende, aber, wie ich zu meinem Schaden
erfahren ſollte, auch gefaͤhrliche Geſellſchaft; gefaͤhrlich,
inſofern ſie das tiefſte Vertrauen hervorlockte, ohne
dieſem doch Sicherheit zu gewaͤhren. Ich machte Be¬
kanntſchaft mit der Graͤfin von Pachta, der Jugend¬
freundin Rahel's, und mit dem Profeſſor Meinert.
Auch den beruͤhmten Altmeiſter der ſlaviſchen Sprach¬
forſchung, Abbé Dobrowsky, lernte ich naͤher kennen.
Dagegen hatte es wenig Anreiz, die boͤhmiſchen Großen
in ihren Haͤuſern aufzuſuchen, weit belohnender war
es ſie in dem gaſtfreien Hauſe des Schauſpieldirectors
Liebich zu treffen, wo außer der Bluͤthe der eigentli¬
chen Theaterwelt, in welcher beſonders die Damen,
Auguſte Brede und Julie Loͤwe, beide durch Schoͤnheit
und Talent und die erſtere auch durch eine ſeltene
Geiſtesbildung hervorragend, zu bemerken waren, auch
[195] die ausgezeichnetſten Perſonen aus der hoͤhern Geſell¬
ſchaft ſich einfanden, und wo uͤberhaupt ein eben ſo
anſtaͤndiger als ungezwungner Ton herrſchte.
Ich uͤbergehe hier eine Menge von Erſcheinungen,
Wirren und Entwicklungen, welche zum Theil den
reichſten Stoff romantiſcher Lebensbilder darboͤten, und
eile zunaͤchſt nur die Zuͤge fluͤchtig zu erfaſſen, welche
mit der Wendung der politiſchen Angelegenheiten in
Zuſammenhang ſtehen.
Der Winter war mir trotz aller Zerſtreuungen doch
groͤßtentheils in Stille und Fleiß vergangen. Mit dem
Fruͤhjahr wurden die Ausſichten zum Kriege zwiſchen
Rußland und Frankreich immer deutlicher, und ſetzten
alles in unruhige Bewegung. Die Uebungen friſcher
Thaͤtigkeit wurden vorgenommen; die Reitbahn, der
Fechtboden, die von dem Grafen zu Bentheim mit
thaͤtigſter Beihuͤlfe Pfuel's errichtete Schwimmſchule,
wurden fleißig beſucht. Die groͤßten Zweifel und Ueber¬
legungen aber kaͤmpften in den Gemuͤthern, welchen
Antheil bei den bevorſtehenden Ereigniſſen der Einzelne
in den jetzigen Verhaͤltniſſen hoffen koͤnne, welche neue
er waͤhlen duͤrfe? In Prag hatten ſich die ſtaͤrkſten
Maͤchte und Antriebe zum Haſſe gegen Napoleon zu¬
ſammengehaͤuft. Der Kurfuͤrſt von Heſſen-Kaſſel lebte
dort als Vertriebener, mit vielem Anhang und ſeinem
groͤßtentheils geretteten Schatze, voll Trotz und Ver¬
trauen auf einen Umſchwung der Dinge, und ſtets
13 *[196] bereit, zu einem ſolchen aus allen Kraͤften mitzuwir¬
ken. Von Stein iſt ſchon geſprochen. Karl von No¬
ſtitz, Pfuel, und noch andre Norddeutſche, die ſich hier
zuſammenfanden, waren nur zum Kriege gegen die
Franzoſen in oͤſterreichiſchen Dienſt getreten, und kei¬
neswegs geneigt, nun an der Seite der bisherigen
Feinde zu fechten. Franzoͤſiſche Emigrirte der beharr¬
lichſten Art, und meiſt in oͤſterreichiſchem Kriegsdienſt,
unter ihnen der Fuͤrſt von Rohan, der Major von
Trogoff, der Marquis von Favras, Sohn des im An¬
fange der Revolution hingerichteten Vertrauten Mon¬
ſieurs's nachherigen Koͤnigs Ludwigs des Achtzehnten,
hatten hier ihren Aufenthalt; deßgleichen ein Korſe, der
Hauptmann Pozzo di Borgo, Neffe des beruͤhmten
Diplomaten und wie dieſer voll bittern Haſſes gegen
den allgewalt'gen Landsmann. Die Zahl ſolcher Un¬
zufriednen mehrte ſich mit jedem Tage. Aus Sachſen
traf der Major von Boſe ein, dann der Oberſt Ruͤhle
von Lilienſtern. Von Berlin nahm der bisherige Po¬
lizeipraͤſident Juſtus Gruner hieher ſeine Zuflucht; aus
Hamburg kam als Fluͤchtling unter fremdem Namen
der Buchhaͤndler und Schriftſteller Bran, welchen der
Marſchall Davouſt wegen Ueberſetzung und Bekannt¬
machung der ſpaniſchen Aktenſtuͤcke des Cevallos wollte
erſchießen laſſen; er dankte ſeine Rettung nur dem Um¬
ſtande, daß die Leipziger Polizei, kopfſchuͤttelnd uͤber
den unglaublichen Namen Bran, den das franzoͤſiſche
[197] Verfolgungsſchreiben angab, ſich feſt einbildete, der
Mann muͤſſe Brand heißen, und daher einen Mann
dieſes Namens feſtnehmen ließ, wodurch der nur allzu
richtige Bran gewarnt wurde, und eh' der Irrthum
aufgeklaͤrt war, nach Boͤhmen entwich.
Daß Preußen in ſeiner Lage nur mit Frankreich
ſich verbuͤnden koͤnne, war laͤngſt ausgemacht. Bald
wußte man auch mit Sicherheit, daß eine oͤſterreichi¬
ſche Huͤlfsmacht mit den Franzoſen vereint ſein wuͤrde.
Eine allgemeine Beſorgniß zeigte ſich, welche Regi¬
menter dies Loos treffen wuͤrde, dem entgehen zu
koͤnnen als das groͤßte Gluͤck erſchien. Selbſt als man
vernahm, der tapfre und hochverehrte Fuͤrſt Karl von
Schwarzenberg bringe den Umſtaͤnden das Opfer, und
werde den Oberbefehl uͤber dieſe Truppen annehmen,
ſah man weniger auf dieſes Beiſpiel, als auf das ent¬
gegengeſetzte des Generals von Wintzingerode, des Ma¬
jors von Tettenborn, des Generals Grafen von Wall¬
moden, welche den Abſchied ſchon genommen hatten
oder nehmen wollten, um in ruſſiſche Dienſte zu
treten.
Mittlerweile hatte der franzoͤſiſche Kaiſer von allen
Seiten ſeine und ſeiner Verbuͤndeten Schaaren zuſam¬
mengezogen, und der ungeheure Heereszug waͤlzte ſich
unaufhaltſam durch Preußen und Polen gegen Ru߬
land hin. Napoleon ſelbſt kam mit ſeiner Gemahlin
nach Dresden, wohin der Kaiſer und die Kaiſerin von
[198] Oeſterreich, welche ſeit kurzem in Prag eingetroffen
waren, ſich nun ebenfalls verfuͤgten. Waͤhrend dieſer
Zuſammenkunft, auf welche die Augen der Welt ge¬
richtet waren, hatte Prag eine nicht geringe Bedeu¬
tung, als ein ſo naher Sammelort entgegengeſetzter
Strebungen, als Beobachtungspoſten engliſcher und
ruſſiſcher Agenten, und, bei ſolcher Naͤhe, gleich wohl
nicht im Bereich der Macht und Willkuͤr Napoleons.
Dies letztere werde in einem Vorgange, der unter
unſere Augen geſchah, ſo auffallend als troͤſtlich offenbar.
Durch die wachſenden Anſtalten zum ruſſiſchen
Kriege, die Groͤße und Wichtigkeit des Kampfes, der
ſich ankuͤndigte, war das Gemuͤth Stein's in heftige
Bewegung geſetzt, die Ankunft und Gegenwart Gru¬
ner's, der oͤfters heimlich zu ihm kam, hatten ihn noch
mehr aufgeregt, und wo und wann man ihn nun ſe¬
hen mochte, immer fand man ſeine Stimmung auf
gleicher Hoͤhe gereizt und leidenſchaftlich. An ein ru¬
higes Geſpraͤch war nicht mehr zu denken. Von Arndt,
der ſich nach Rußland gefluͤchtet hatte, war der zweite
Theil ſeines Geiſtes der Zeit erſchienen, und Stein,
wahrſcheinlich der Einzige in Prag, war im Beſitz der
Druckbogen. Aus dieſen las er mit geſteigertem Aus¬
druck die heftigſten Steilen laut vor, doch ſelten brachte
er eine ganze Seite zu Ende, ſo ſtark ergriffen ihn
Zorn und Freude, und ſo heftig fuͤhlte er den Drang,
ſelber dazwiſchenzureden. „Seit Burke, rief er aus,
[199] iſt nichts von ſo aͤchter politiſcher Beredſamkeit erſchie¬
nen, von ſo eindringlicher Wahrheit!“ Dieſe Schreibart
empfahl er mir zur Nachahmung: „Auf dieſem Weg,
ſchrie er mich an, moͤgen Sie ſich verſuchen, thatſaͤch¬
liche Wahrheit, nicht metaphyſiſche Phraſen! Verſtehen
Sie mich, Herr Methaphyſikus?“ Durch was ich die¬
ſen Titel mir verdient haben mochte, weiß ich nicht,
aber Stein bezeichnete mich noch in der Folge mehr¬
mals ſo, und ich behielt davon lange Zeit eine Art
Kriegsnamen, der freilich nicht eben kriegeriſch lautete.
Doch meinte er es keineswegs uͤbel mit mir. Er hielt
mich unverbruͤchlich der guten Sache zugethan, und
ſprach Erwartungen aus, zu deren Erfuͤllung er mich
nur ſtaͤrker anſpornen wollte. Schließlich meinte er, in
einer Zeit, wo ſo viele Hunderttauſende ſich einander
die Haͤlſe zu brechen eben im Begriff waͤren, ſei es
beſſer gar nicht zu ſchreiben, ſondern ſelber mit loszu¬
ſchlagen.
Waͤhrend der Zuſammenkunft der beiden Kaiſer in
Dresden war Stein doch beſorgt, die Franzoſen moͤch¬
ten ſeine Auslieferung fordern, oder die oͤſterreichiſche
Behoͤrde, vielleicht um jenes zu vermeiden, ihn den
Augen des Feindes in groͤßere Ferne entruͤcken wollen.
Dieſe Beſorgniß mußte auf's hoͤchſte ſteigen, als er
unerwartet von Seiten des ruſſiſchen Kaiſers die Ein¬
ladung empfing, ohne Saͤumniß nach Rußland zu kom¬
men, und dort eine bedeutende, zunaͤchſt auch fuͤr die
[200] deutſchen Verhaͤltniſſe wichtige Wirkſamkeit zu uͤberneh¬
men. Stein war ohne viel Beſinnen ſogleich entſchloſ¬
ſen, ſeine Familie ſollte in Prag bleiben, er ſelbſt machte
ſich reiſefertig; aber die Sache hatte nicht ganz geheim
bleiben koͤnnen, und einige Tage gingen jedenfalls noch
in unerlaͤßlichen Anordnungen hin. Aengſtlich blickten
wir waͤhrend dieſer Tage nach Dresden hin, jeder Au¬
genblick brachte Gefahr, das Vorhaben Stein's konnte
angezeigt werden, der Befehl ihn zu verhaften ſeiner
Abreiſe zuvorkommen. Einmal in der Gewalt des
Feindes, war ſein Leben ſchwerlich zu retten. Stein
ſelbſt beſtand dieſe Kriſis mit voller Kenntniß der Ge¬
fahr, doch in unerſchuͤtterter Seelenſtaͤrke. Dabei ver¬
hehlte er ſich nicht, welch zweifelhaften Schickſalen er
entgegenging. Wurden die Ruſſen uͤberwunden, ſo war
er fuͤr immer auch der letzten Zuflucht, die ihm in
Deutſchland noch geblieben war, beraubt, fuͤr immer
von den heimathlichen Verhaͤltniſſen, Beſitzungen, Huͤlfs¬
mitteln, ja ſogar von ſeiner Familie getrennt, und ſelbſt
Rußland vielleicht gewaͤhrte keine Freiſtaͤtte mehr fuͤr
ihn. Doch nichts aͤnderte ſeinen Entſchluß. „Wun¬
dern Sie ſich nicht, — ſagte er zu einem Bekannten,
der im Vertrauen war, — daß ich auf gut Gluͤck, wie
ein junger Menſch, eine neue ungewiſſe Bahn antrete!
Wer ſein Vaterland verloren hat, der iſt nothwendig
ein Abendtheurer. Ich habe keine Wahl; ich muß Frei¬
heit und Vaterland am Ende der Welt ſuchen!“ Um
[201] die Mitte des Mai reiſte er ab. Als wir nach einiger
Zeit hoͤrten, er ſei durch Maͤhren und Galizien gluͤck¬
lich nach Rußland gelangt, athmeten wir auf, denn
noch immer hatten wir gefuͤrchtet, noch unterweges
moͤchte ein Ungluͤck ihn anhalten. Seine Abreiſe machte
einen ungeheuern Eindruck; daß man in Rußland an
ihn gedacht hatte, gab einen hohen Begriff von der
dortigen Einſicht und Umfaſſung, man ſah in der ruſ¬
ſiſchen Sache nun auch die deutſche, ſie war in Stein
gleichſam anerkannt und einverleibt.
Die oͤſterreichiſchen Behoͤrden hatten die Sache ru¬
hig geſchehen laſſen; als in Dresden das Geſchehene
ruchtbar wurde, ließ der franzoͤſiſche Kaiſer mehr Ver¬
wunderung als Verdruß daruͤber aus, und that ver¬
aͤchtlich, als ſei im Grunde nichts daran gelegen. Ein
großer und verhaͤngnißvoller Irrthum, der ſchwer zu
buͤßen war! Stein's Anweſenheit in St. Petersburg
war ein außerordentliches Gewicht auf der ruſſiſchen
Seite; ſein Anſehn und Einfluß wirkten auf die Be¬
ſchluͤſſe des Kaiſers, auf die Stimmung der hoͤchſten
Kreiſe, und uͤberhaupt auf die Maßregeln und Anſtal¬
ten des Krieges mit unwiderſtehlicher Gewalt. In den
ſchlimmſten Augenblicken, als die Franzoſen in Moskau
eingezogen waren, wankte ſein Muth und ſeine Staͤrke
nicht. Sein beredter Haß fachte zum Widerſtande, zur
Ausdauer an. Unter den Maͤchten, durch welche Na¬
[202] poleon geſtuͤrzt worden, wird Stein immer in erſter
Reihe zu nennen ſein. —
Inzwiſchen erreichte die Zuſammenkunft in Dresden
ihr Ende, Napoleon eilte ſeinem ſchon an die Grenzen
Rußlands vorgeruͤcktem Heere nach, und der Kaiſer und
die Kaiſerin von Oeſterreich nebſt der Kaiſerin der Fran¬
zoſen kamen nach Prag, wo zu Ehren der geliebten
Herrſcher und des fremden hohen Gaſtes alles ein feſt¬
liches Anſehen gewann, und der Krieg und alle poli¬
tiſche Sorge und Befangenheit eine Zeit lang vergeſſen
ſchien. Der Graf von Metternich ſtrahlte in allen Vor¬
zuͤgen ſeiner Perſoͤnlichkeit, und waͤhrend er mit hellem
Blicke die großen Moͤglichkeiten, die ſich fuͤr ganz Eu¬
ropa nunmehr aufſchloͤſſen, erfaßte und erwog, die Ver¬
bindungsfaͤden ſorgſam in der Hand hielt und zurecht
legte, ſchien er nur mit heitern und angenehmen Din¬
gen beſchaͤftigt, nur bedacht, die Vorkommenheiten des
Tages mit Wuͤrde und Anmuth gelaſſen abzuthun. Ich
hatte das Gluͤck, ihn faſt jeden Tag zu ſehen, und nie
werd' ich beſonders die herrlichen Abende bei ihm auf
dem Hradſchin im Pallaſte des Fuͤrſten von Lobkowitz
vergeſſen, wo eine kleine Geſellſchaft in voͤlliger Unbefan¬
genheit und Gleichheit, die ſelbſt durch die Gegenwart
des Großherzogs von Wuͤrzburg kaum geſtoͤrt wurde,
ſich bis in ſpaͤte Nacht der anmuthigſten Unterhaltung
erfreute, und geiſtreiches Geſpraͤch mit vortrefflicher
Muſik abwechſelte. Der Kapellmeiſter Paͤr, zum Ge¬
[203] folge der Kaiſerin Marie Louiſe gehoͤrig, ſetzte ſich zum
Fortepiano und phantaſirte; mit ihm wetteiferte der
Freiherr von Kruft, aus der oͤſterreichiſchen Staats¬
kanzlei, der gleichfalls ein Meiſter war; bisweilen ſpiel¬
ten ſie beide zugleich, und ſuchten durch zwiefaches Im¬
proviſiren ein Ganzes hervorzubringen, eine geniale
Uebung, wobei ſie einander die Gedanken an den Au¬
gen abſahen, aus erſten Andeutungen ganze Richtun¬
gen errathen mußten, und durch Begegnen, Meiden,
Einlenken, Wiederfinden, Loslaſſen und Zuſammenſtim¬
men, eine geſpannte Theilnahme und oft die außeror¬
dentlichſte Wirkung hervorbrachten.
Die Theilnahme an ſolchen Vergnuͤgungen hemmte
jedoch den Fortgang der Entwuͤrfe nicht, zu denen die
Zeitumſtaͤnde immer dringender aufriefen. Ich war
entſchloſſen, den oͤſterreichiſchen Dienſt zu verlaſſen, von
Pfuel und Williſen wußte ich daſſelbe, und wenn meine
Lage und Verhaͤltniſſe mir den Weg nach Rußland fuͤr
jetzt verſperrten, ſo war auch Norddeutſchland ein wei¬
tes Feld, auf welchem, in moͤglichen Faͤllen, mancherlei
zu unternehmen ſein konnte. Hierin beſtaͤrkte mich
Gruner, der nach Stein's Abreiſe etwas thaͤtiger her¬
vortrat, aber nun auch ſchon mehr Aufmerkſamkeit
weckte, und ſich beobachtet und gefaͤhrdet wußte. Er
war in Berlin der Mittelpunkt weitverzweigter Verbin¬
dungen, und als Leiter der hohen Polizei im Beſitz
großer Mittel und Kundſchaften geweſen. Die gefaͤhr¬
[204] lichſten fraͤnzoͤſiſchen Spaͤher waren in ſeine Schlingen
gerathen und ſpurlos verſchwunden; ſeine Liſt wie ſeine
Verwegenheit brachten den Franzoſen großen Schaden,
aber dieſe erkannten ihn laͤngſt fuͤr ihren Feind, und
als, in Folge des Anſchluſſes von Preußen an Frank¬
reich, franzoͤſiſche Truppen auf Berlin marſchirten,
durfte er deren Eintreffen nicht abwarten, legte ſein
Amt nieder und entwich nach Boͤhmen. Er ſtand mit
den ruſſiſchen Behoͤrden in thaͤtigem Vernehmen, und
hielt in ganz Deutſchland ſeine gleichgeſinnten Verbuͤn¬
deten rege. Sein großer, klug angelegter und bei ſei¬
nen Huͤlfsmitteln gar nicht unausfuͤhrbarer Plan war,
im Ruͤcken der franzoͤſiſchen Heere, ſobald dieſe weit
genug in Rußland vorgedrungen waͤren, uͤberall ihre
Kriegsvorraͤthe in Brand zu ſtecken, jede Nachfuhr zu
hemmen, beſonders aber die Pulverwagen auffliegen zu
laſſen. Daß er in Prag ungeſtoͤrt bleiben durfte, die
gelungene Ueberkunft Stein's, und die guͤnſtige Stim¬
mung, die er uͤbernll antraf, machten ihn aber allzu
ſicher, er pruͤfte nicht genug, wem er ſein Vertrauen
ſchenken duͤrfe, und beſonders unvorſichtig war ſein
Briefwechſel. Das Beiſpiel Stein's haͤtte ihn warnen
ſollen, allein er ging in Leichtſinn nur weiter. Er hielt
ſeine Briefe noch fuͤr ganz ſicher und ihre Geheimſchrift
fuͤr unentdeckt, als ſchon laͤngſt fremde Augen ſie durch¬
liefen, den Inhalt erforſchten, und den ganzen Zuſam¬
menhang einſahen. Vergeblich wurde er gewarnt, er
[205] glaubte ſeinen Beobachtern uͤberlegen zu ſein, und ih¬
nen, wie er ſich ausdruͤckte, eine Naſe gedreht zu ha¬
ben. Eine Unterredung mit dem Grafen von Metter¬
nich, mehrere vertrauliche Beſprechungen mit dem Ge¬
neral Freiherrn von Koller, anſtatt ihn zur Beſonnen¬
heit zuruͤckzurufen, regten nur ſeinen Uebermuth an.
Die oͤſterreichiſche Regierung ſah den Zeitpunkt kom¬
men, wo ſie ihn nicht mehr wuͤrde ſchuͤtzen koͤnnen; die
franzoͤſiſchen Behoͤrden in Berlin, in Hamburg, hatten
gegen ihn die ſchaͤrfſten Angaben in Haͤnden, jeden Au¬
genblick mußte man erwarten, ſeine Auslieferung be¬
gehrt zu ſehen, und mit ſo triftigen Gruͤnden und ge¬
bieteriſchem Drange, daß man nicht wuͤrde widerſtehen
koͤnnen. Um ihn zu retten und groͤßeres Ungluͤck zu
verhuͤten, kam man den Franzoſen zuvor, Gruner wurde
unerwartet von oͤſterreichiſcher Seite verhaftet und als
Staatsgefangener nach Peterwardein abgefuͤhrt; ſeine
Papiere und Gelder entgingen auf dieſe Weiſe den
Franzoſen ebenfalls. Er ſelber hat in der Folge dies
Begegniß als eine Wohlthat anerkennen muͤſſen, behielt
aber doch eine bittre Erinnerung dabei, welche der erſte
Eindruck in ihm hinterlaſſen hatte.
Uns Andern, die wir gleich ihm des Schluͤſſels noch
entbehrten, verurſachte dies Verfahren große Betroffen¬
heit und Sorge. Wir hielten unſre Abſichten mehr
verſchwiegen, und ſuchten jeder ſeinen Weg fuͤr ſich
allein. Der Graf von Metternich kannte meine Wuͤn¬
[206] ſche, in Preußen angeſtellt zu werden, und wiewohl
er verbindlichſt aͤußerte, mich lieber in Oeſterreich be¬
halten zu wollen, bot er mir doch von freien Stuͤcken
ſeine wirkſamſte Empfehlung bei dem preußiſchen Staats¬
kanzler an. Auch empfing ich dieſe von ihm, noch be¬
vor er Prag verließ, wo er auch nach der Abreiſe des
Hofes noch einige Zeit verblieben war. Seltſam genug
hatte ich auch ſchon von Gruner ein ſolches Empfeh¬
lungsſchreiben an Hardenberg, und ein drittes ſollte
mir auf die guͤnſtigſte Weiſe durch Wilhelm von Hum¬
boldt zu Theil werden. Dieſen naͤmlich hatte ein hoͤchſt
erfreuliches und erwuͤnſchtes Ereigniß, die Ankunft des
Koͤnigs von Preußen in Prag, von Wien hieher geru¬
fen, und daſſelbe ruͤckte mich ploͤtzlich allen preußiſchen
Verhaͤltniſſen naͤher, als es Briefe und Empfehlungen
vermocht haͤtten. Mein Oberſt erhielt den angenehmen
Auftrag, den Koͤnig bei Beſichtigung der Stadt und
Umgegend zu begleiten. Williſen, der vor kurzem von
Wien angekommen war, und bei mir wohnte, war
hiebei mitthaͤtig, und als das Schlachtfeld, wo Schwe¬
rin gefallen war, beritten wurde, zeigte er ſo klare
Kenntniß und ſichern Ueberblick, daß ihm die groͤßten
Lobeserhebungen zu Theil wurden. Ich vernahm fuͤr
mich gnaͤdige Aeußerungen, die meinen Wuͤnſchen die
beſte Hoffnung gewaͤhrten.
Nachdem der Koͤnig zum Gebrauch des Bades nach
Toͤplitz abgegangen war, gedachten Williſen und ich nun
[207] auch ernſtlich unſrer Abreiſe nach Berlin. Dabei ſtieg
indeß nunmehr manches Bedenken auf, an welches
fruͤher nicht gedacht worden war. Die Franzoſen und
ihre dienſtbaren Helfer, deren es damals unter den
Deutſchen leider viele gab, waren endlich auf die Per¬
ſonen und Betreibungen, welche von Prag ausgingen,
aufmerkſam geworden, beſonders beunruhigte ſie der
Kurfuͤrſt von Heſſen-Kaſſel, der alles zu unterſtuͤtzen
bereit ſchien, was im noͤrdlichen Deutſchland gegen die
Franzoſen unternommen werden mochte. Die franzoͤ¬
ſiſche Heeresmacht verlor ſich in immer groͤßere Ferne,
im Ruͤcken lagen große Landſtriche faſt entbloͤßt, der
Einbruch einer kleinen feindlichen Schaar konnte die
groͤßte Verwirrung anrichten. Man hatte die kuͤhnen
Zuͤge Schill's, des Herzogs von Braunſchweig-Oels,
den Streifzug des Lieutenants von Katt, den Aufruhr¬
verſuch des weſtphaͤliſchen Oberſten von Doͤrnberg, noch
in gutem Andenken. Unter dieſen Umſtaͤnden wurden
die franzoͤſiſchen Geſandtſchaften, die Polizei- und Kriegs¬
beamten, zu groͤßter Wachſamkeit und Strenge ange¬
wieſen; der Mittelpunkt aber aller polizeilichen Aufſicht
fuͤr das ganze noͤrdliche Deutſchland war der Graf
d'Aubignosc in Hamburg, mit welchem die Behoͤrden
in Dresden und Berlin fleißige Verbindung unterhiel¬
ten. Pfuel hatte ſich zuerſt aufgemacht und Prag ver¬
laſſen. Sein Ziel war Rußland, aber der Weg, den
Stein noch hatte nehmen koͤnnen, war jetzt verſchloſſen,
[208] und ihm blieb nur der groͤßere Umweg uͤber Daͤnemark
und Schweden. Ernſt und ſchweigſam, hatte er ſein
Vorhaben nicht unnoͤthig mitgetheilt, und ſuchte daſſelbe
mit groͤßter Klugheit auszufuͤhren. Aber ſchon war er
jenen Behoͤrden verkundſchaftet. Durch kluge Liſt ent¬
kam er in Hamburg den Nachſtellungen des Grafen
d'Aubignosc, der ihn aber um ſo ſicherer in Kopenha¬
gen zu fangen meinte, und deßhalb einen Befehl dort¬
hin ergehen ließ. Pſuel traf zwar fruͤher als dieſer
dort ein, aber die Weiterreiſe war ohne neue Paßun¬
terſchrift unmoͤglich, und dieſe zu erlangen, bedurfte es
der wenigen Stunden, die er als Vorſprung uͤber ſei¬
nen Verfolger gewonnen hatte. Die koͤſtliche Zeit ver¬
ſtrich, und ſchon war er entſchloſſen, das Wageſtuͤck zu
unternehmen, ſich in den Sund zu werfen und ſo die
ſchwediſche Kuͤſte ſchwimmend zu erreichen, als ſein
Freund, der oͤſterreichiſche Geſandte von Buol, den er
mitten in der Nacht aufſtoͤrte, noch im letzten Augen¬
blick Mittel fand, ihm die Paßunterſchrift vor Tages¬
anbruch zu verſchaffen, worauf er ſich bei Helſingoͤr
einſchiffte, und ſchon mit gutem Winde die Wogen
durchſchnitt, als der nacheilende Verhaftbefehl ankam.
Dieſer Vorgang, welcher uns in der Hauptſache ſogleich
bekannt wurde, gab uns viel zu denken, beſonders weil
wir befuͤrchten mußten, daß derſelbe Verrath, der ihn
betroffen, auch uns nicht verſchonen werde. Dieſer
Verrath, falls eine ſpaͤtere Vermuthung ſich beſtaͤtigt
[209] faͤnde, waͤre den begleitenden Umſtaͤnden nach einer der
ſchaͤndlichſten, die je veruͤbt worden, und ich unterlaſſe da¬
her, einen ſo argen Verdacht naͤher anzudeuten. Jedoch
reiſten wir nach der Mitte des Auguſt endlich getroſt ab.
In Toͤplitz, wo wir uns dem Koͤnig von Preußen
auf's neue vorſtellten, und deßhalb ein paar Tage ver¬
weilten, widerfuhr mir eines der wunderbarſten und
wichtigſten Begegniſſe. Ich empfing eine beſtimmte und
ausfuͤhrliche Warnung, meine Reiſe nicht fortzuſetzen,
der franzoͤſiſche Geſandte Graf von Saint-Marſan in
Berlin ſei angewieſen, Pfuel's, meine und meines Rei¬
ſegefaͤhrten Ankunft ſogleich nach Hamburg an d'Au¬
bignosc zu melden, uns auch in keinem Falle weiter
reiſen, ſondern verhaften zu laſſen; wir ſeien ſaͤmmtlich
beſchuldigt, Aufſtaͤnde gegen die Franzoſen anſtiften zu
wollen, Pfuel ſei zwar gluͤcklich entkommen, deſto ſchaͤr¬
fer aber werde man nun mit uns verfahren. Dies
alles hatte der Graf von Saint-Marſan ſelbſt verſichert!
Aus welcher Quelle jedoch mir dieſe Mittheilung kam, ziemt
mir noch zu verſchweigen, obwohl die menſchenfreundlichſte
Abſicht, mit Gefahr eigner Bloßſtellung ausgefuͤhrt, mich
zur treueſten Dankbarkeit verpflichtet hat, fuͤr welche der
lauteſte Ausdruck eine Befriedigung waͤre! — Wir kaͤmpf¬
ten eine Zeit lang, und uͤberlegten Gefahr und Gewinn; da
jedoch unſre naͤchſten Zwecke wirklich harmlos waren und
nicht uͤber Berlin hinausgingen, keinerlei Beweis gegen
uns moͤglich ſein konnte, und ſelbſt unſre Eigenſchaft als
III.14[210] oͤſterreichiſche Offiziere uns ſchuͤtzen mußte — wir hatten
kluͤglich nur Urlaub genommen, und gedachten den Ab¬
ſchied nach Umſtaͤnden einzureichen, — ſo ließen wir
uns nicht abſchrecken, ſondern ſetzten unſre Reiſe fort,
und gelangten auch ungehindert nach Berlin.
Die preußiſche Hauptſtadt war von franzoͤſiſchen
Truppen beſetzt, und wir meldeten uns herkoͤmmlich
bei dem Marſchall Augereau und bei dem Komman¬
danten General Durutte, gleicherweiſe bei der preußi¬
ſchen Behoͤrde. Ungeachtet des guten Anſcheins, mit
dem wir aufgenommen wurden, bemerkten wir bald,
daß man uns beobochtete, welches wir uns indeß nicht
beſonders anfechten ließen. Nach einigen Wochen wollte
Williſen ſeine Eltern bei Magdeburg beſuchen, hatte
aber kaum das weſtphaͤliſche Gebiet betreten, als er
verhaftet und auf das Kaſtell nach Kaſſel abgefuͤhrt
wurde. Nur dies erfuhr man uͤber ihn, und weiter
nichts. Durch dieſen Vorfall wurde natuͤrlich auch
meine Lage geſpannter und bedenklicher, ich durfte nicht
wagen, den Umkreis der Stadt zu uͤberſchreiten. Von
den Kaͤmpfen und Mißgeſchicken, die ich hier zu beſte¬
hen hatte, den Hoffnungen und Ausſichten, die ſich
abwechſelnd erhellten und verdunkelten, werd' ich viel¬
leicht kuͤnftig eine Schilderung verſuchen, die durch das
Eigne einer ſolchen Uebergangszeit wohl anziehend wer¬
den koͤnnte. Ich erwaͤhne hier nur, daß ich an dem
Hauſe des oͤſterreichiſchen Geſandten Grafen Stephan
[211] von Zichy den ſicherſten Anhalt fand, bei dem Staats¬
kanzler Freiherrn von Hardenberg die guͤnſtigſte Auf¬
nahme genoß, ja ſogar von dem Grafen von Saint-
Marſan durch Einladungen ausgezeichnet wurde. Doch
ungeachtet alles guten Anſcheins blieb ich in der ſchwie¬
rigſten und bedenklichſten Lage, gehemmt bei jedem
Schritt, in jeder Thaͤtigkeit. Obgleich in glanzvoller
Geſelligkeit, verlebte ich einen traurigen Winter. Mein
Troſt war Rahel, in deren Naͤhe zu ſein mir alle
Widrigkeiten uͤberwog. Ein andrer Troſt erſchien, und
bildete ſich zu immer helleren Hoffnungen aus, als der
Brand von Moskau kund wurde, die Siegesrufe der
Franzoſen verſtummten, die Nachricht von ihrem Ruͤck¬
zug und Verderben erſcholl, und dieſes endlich vor Au¬
gen erſchien in den jammervollen Truͤmmern des gro¬
ßen Heers. Die Ruſſen ruͤckten ſiegreich heran, uͤber¬
ſchritten die Oder und ſtanden ſchnell vor Berlin, wo
der Oberſt von Tettenborn mit ſeinen Koſaken im er¬
ſten Anlaufe den Feind einige Stunden durch die Stra¬
ßen jagte, nach wenigen Tagen aber die verſtaͤrkten
ruſſiſchen Truppen entſchieden einruͤckten.
Aus peinlichem Zwang aufathmend, im vollen Ge¬
fuͤhl der Freiheit und neuen Lebens eilte ich zu Tet¬
tenborn. Ich fand hier Pfuel als Major vom Gene¬
ralſtabe angeſtellt. Wir Alle freuten uns des Wieder¬
ſehens. Mein Verhaͤltniß war ſchnell entſchieden, Tet¬
tenborn nahm mich ſogleich als Hauptmann fuͤr den
14*[212] ruſſiſchen Dienſt in Anſpruch, und vertraute mir ſeine
auf Hamburg gerichtete Unternehmung. Ich war zu
allem bereit, aber ich war auch ſchon in preußiſchen
Kriegsdienſt berufen, und hatte zunaͤchſt Depeſchen der
preußiſchen Behoͤrde als Kourier nach Breslau zu uͤber¬
bringen, wo der Koͤnig, der Staatskanzler und die
uͤbrigen Haͤupter der Geſchaͤftsfuͤhrung ſich ſchon ſeit
einiger Zeit aufhielten. Da die Sache der Ruſſen und
Preußen hier ſchon fuͤr ein- und dieſelbe erklaͤrt war,
ſo hatte mein Anliegen keine Schwierigkeit. Breslau
war zum Kriegsheerd geworden, alles ſtammte von
Eifer, Waffen und Kampf war das allgemeine Ver¬
langen. Auch von dieſen Tagen wird kuͤnftig noch ei¬
niges Naͤhere zu berichten ſein. Ich ſah auch Stein
hier wieder, zwar auf dem Krankenbette, aber auch
krank noch in voller Kraft!
Ich eilte nach Berlin zuruͤck und von da nach Ham¬
burg, welches Tettenborn mittlerweile ſchon gluͤcklich
erreicht und beſetzt hatte. Bevor ich nun zur Schilde¬
rung der Kriegsereigniſſe uͤbergehe, denen ich in den
Jahren 1813 und 1814 beigewohnt, moͤge mir erlaubt
ſein, von dem tapfern Anfuͤhrer, dem ich das Gluͤck
gehabt als einer ſeiner Adjutanten anzugehoͤren, etwas
ausfuͤhrlicher zu reden, und deſſen fruͤhere Lebensver¬
haͤltniſſe und Thaten kuͤrzlich hier einzuſchalten.
Tettenborn.
Das Leben der Kriegsmaͤnner hat den eignen Reiz,
daß neben dem Talente hier hauptſaͤchlich der Karakter
wirkt, der ſo frei und ſchnell nirgends hervortritt, als
im Aufruf aller Kraͤfte des innern und aͤußern Men¬
ſchen, im Kriege; nirgends erſcheint entſchiedener der
Vorzug einer ſtarkausgepraͤgten und ſchnellguͤltigen Per¬
ſoͤnlichkeit, von der zuletzt doch faſt alles in den Er¬
eigniſſen des Lebens abhaͤngt, indem ſogar das, was
man Gluͤck zu nennen pflegt, meiſt nur der Inbegriff
der Wirkungen iſt, die aus dem dunkleren Zuſammen¬
hange der Eigenſchaften aufſteigen. Ein Beiſpiel ſol¬
cher Betrachtung bietet auch der Lebenslauf des tapfren
Generals, von dem wir jetzt und fernerhin zu reden
haben, und der unter den Befehlfuͤhrern in den denk¬
wuͤrdigen Kriegen der Jahre 1813 und 1814 als einer
der eigenthuͤmlichſten und bedeutendſten anzuerkennen iſt.
Friedrich Karl Freiherr von Tettenborn wurde am
19. Februar 1778 geboren. Sein Vater war fruͤher
[214] dem oͤſterreichiſchen Kriegsdienſte gefolgt, wo der Name
Tettenborn ſchon aus aͤlterer Zeit in gutem Andenken
ſtand, hatte dann dieſe Laufbahn verlaſſen und als
Markgraͤflich badiſcher Jaͤgermeiſter in der Grafſchaft
Sponheim eine ſeinen Wuͤnſchen gemaͤße Anſtellung
erhalten. Als in der Folge Napoleon mit gewaltſamer
Willkuͤr die Forderung durchſetzte, alle in dem Umfange
ſeiner Herrſchaft auch vor derſelben Gebornen duͤrften
nur ihm dienen, wurde ſtatt dieſes Geburtsorts ein
anderer vorgeſchoben, naͤmlich das Stammgut Tetten¬
born in der Grafſchaft Hohenſtein, und dieſe Angabe
pflanzte ſich irrthuͤmlich fort, nachdem ihr Zweck laͤngſt
aufgehoͤrt hatte. Nur bis in ſein ſechſtes Jahr blieb
der junge Tettenborn auf dem linken Rheinufer und
kam dann nach Raſtatt, wohin ſein Vater als Ober¬
jaͤgermeiſter war befoͤrdert worden. Er empfing im
vaͤterlichen Hauſe ſorgfaͤltigen und nach damaliger Weiſe
gruͤndlichen Unterricht, der ſogar zu gelehrter Bildung
fuͤhren ſollte, wiewohl bald ſichtbar wurde, daß dies
nicht die Richtung ſei, zu welcher die unlaͤugbar guten
Anlagen ſich neigten. Aber auch in der ſpaͤteren, frei
gewaͤhlten Bahn, unter ganz veraͤnderten Lebensum¬
ſtaͤnden, bewaͤhrte ſich die Wirkung dieſes erſten Un¬
terrichts als guter Gewinn. Daſſelbe gilt von dem
Einfluſſe frommen Sinnes und Beiſpiels, welche durch
die Mutter auf den Knaben wirkten; ſie war eine ge¬
borne Graͤfin von Arz, eigentlich Arzio, eines Geſchlechts
[215] im ſuͤdlichen Tyrol. Guͤnſtig war dem Jugendleben
auch das Amt und Streben des Vaters, dem das ba¬
diſche Land die groͤßten Anlagen und Pflanzungen dankt,
wo denn die Gelegenheit und Aufforderung ſich unun¬
terbrochen darbot, in freier Natur zu verweilen und
umherzuſtreifen.
In ſeinem dreizehnten Jahre, als er groß und wohl¬
gebildet herangewachſen war, wurde der Knabe an den
Kurfuͤrſtlichen Hof nach Mainz geſchickt, und daſelbſt
unter die Pagen des Kurfuͤrſten aufgenommen. Noch
lebt in mancher Erinnerung die Pracht, Feſtlichkeit und
geſellſchaftliche Bewegung, welche damals den Main¬
zer Hof auszeichneten und die Stadt erfuͤllten; in heitrer
Sorgloſigkeit lebte man den taͤglich wechſelnden Ver¬
gnuͤgungen, ungeſtoͤrt von dem Geiſte der Pruͤfung
und des Widerſpruchs, der gegen die alten Zuſtaͤnde
ſchon allgemein erweckt war, hier aber hoͤchſtens als
ein neuer Reiz der Unterhaltung eingelaſſen wurde.
Auch die drohende Nachbarſchaft der weiter und weiter
ſchreitenden franzoͤſiſchen Revolution, und der ſchon aus¬
gebrochene Krieg machten auf die leichtſinnige Ueppig¬
keit wenig Eindruck, als ploͤtzlich um ſo furchtbarer im
Herbſte 1792 die unerwartete Annaͤherung der Fran¬
zoſen alles aus dem Taumel aufſchreckte. Bei dem
Erſcheinen des Generals Cuſtine fluͤchtete der Kurfuͤrſt
mit ſeiner Geliebten und ſeinen Guͤnſtlingen eilig nach
Aſchaffenburg, der uͤbrige Hof ſtob auseinander, und
[216] hat ſich groͤßtentheils nie wieder zuſammengefunden.
Tettenborn ſah noch die franzoͤſiſchen Truppen in Mainz
einziehen, und kehrte wenige Tage darauf in das vaͤ¬
terliche Haus nach Raſtatt zuruͤck.
Die Wendung der Ereigniſſe ſchien auf weit hinaus
die bisherigen Verhaͤltniſſe zu verwirren, auf deren
Herſtellung zu warten dem Vater thoͤricht ſchien; und
um den Sohn ſeine Zeit gleich wieder zweckmaͤßig an¬
wenden zu ſehen, ſandte er ihn ſchon im naͤchſten Jahre
nach Waltershauſen, um ſich unter der Leitung des
beruͤhmten Bergraths Bechſtein den Forſtwiſſenſchaften
zu widmen. Hier blieb er jedoch nicht lange, ſondern
bezog noch im naͤmlichen Jahre die Univerſitaͤt Goͤttin¬
gen, welche er in Folge einer jugendlichen Uebereilung
bald wieder mit Jena vertauſchen mußte. Von hier
rief ihn unvermuthet die Nachricht nach Hauſe, daß
ſein Vater erkrankt ſei, den er auch nicht mehr am
Leben fand. Seine unbezwingliche Neigung zum Kriegs¬
dienſte, bisher nur muͤhſam unterdruͤckt aus Ruͤckſicht
fuͤr den Vater, der in ſeinem angeſehenen und eintraͤg¬
lichen Amte den Sohn zum Nachfolger zu haben wuͤnſchte,
brach nun, da kein Einſpruch mehr ihn hindern konnte,
indem auch ſeine Mutter ſchon fruͤher verſtorben war,
mit aller Heftigkeit aus: er verließ die angefangenen
Studien, und trat gleich im Jahre 1794 als Kadet
bei dem Joſeph Kinsky'ſchen, ſpaͤterhin Klenau'ſchen,
Chevauxlegersregiment in das oͤſterreichiſche Heer.
[217]
Hier begann fuͤr den ſechzehnjaͤhrigen Tettenborn
eine Laufbahn, die ſeinen militairiſchen Eigenſchaften
alle Gelegenheit zur Entwicklung bot, und fuͤr ihn
reich an perſoͤnlicher Auszeichnung wurde. Daß oͤſter¬
reichiſche Heer, welches den Karakter eines durch meh¬
rere Jahrhunderte ohne Unterbrechung fortbeſtandenen
Kriegsweſens bis auf den heutigen Tag bewahrt, ver¬
einigt mit den daraus fließenden, beſonders nach innen
hoͤchſt bezugreichen Vortheilen zugleich die einer ſtets
friſchen, durch neue, und nach der Lage der Graͤnzen
ſehr verſchiedene Kriege, unaufhoͤrlich geuͤbten Erfah¬
rung. Seine Zuſammenſetzung aus den mannigfachen
Elementen, welche die oͤſterreichiſchen Erblande in gluͤck¬
lichem Verhaͤltniſſe dazu lieferten, empfing noch einen
erwuͤnſchten, und beſonders geiſtig unſchaͤtzbaren Zuſatz
durch den Umſtand, daß ſo geraume Zeit hindurch die¬
ſes Heer fuͤr alle Deutſchen zugleich als das Heer
ihres Kaiſers, und ſonach als ihre eigentlich vaterlaͤn¬
diſche Kriegsmacht daſtand, welcher die beſten Kraͤfte
des ſogenannten Reichs in jeder Weiſe zuſtroͤmten. Der
eigenthuͤmliche Geiſt, der ſich aus dieſer Miſchung er¬
hoben, beurkundet ſich in vielen Zeichen, die wohl un¬
laͤugbar als Deutſche anzuerkennen ſind. Die unzer¬
ſtoͤrbare Selbſtſtaͤndigkeit innerer Ordnung, die große
Kraft der Wiederherſtellung, die Vernachlaͤſſigung des
bloßen Scheins, die Sparſamkeit aͤußerer Belohnun¬
gen, und die daher in den untern Graden angehaͤufte
[218] Thatfuͤlle und Verdienſtlichkeit, dies alles bildet eine
breite und feſte Grundlage, auf welcher die dennoch
durchgedrungene Auszeichnung nur um ſo glaͤnzender
ſich erhebt.
Das Regiment, in welches Tettenborn getreten
war, ſtand in den Niederlanden gegen die Franzoſen,
und nahm ruhmvollen Antheil an den Kriegsthaten,
durch welche die Oeſterreicher und Preußen damals fuͤr
ſich ſelbſt wohl Ehre genug erfochten, fuͤr die Sache
ihrer Herrſcher aber, bei dem Mangel an gehoͤrigem
Zuſammenwirken, keine bleibenden Erfolge gewinnen
konnten. Einzelne Kompagnieen Fußvolk, eine Schwa¬
dron Reiter, ja bloße Patrouillen, kaͤmpften ſehr haͤufig
einer zehnfachen Uebermacht entgegen, hielten ſie auf,
warfen ſie zuruͤck, oder wagten wohl ſelbſt den Angriff;
der Ruf, den manche Regimenter in ſolchen Vorfaͤllen
erwarben, und die Anſpruͤche, welche die eigne und die
oͤffentliche Meinung an ſie machten, graͤnzten oft an
die romantiſchen Erzaͤhlungen fruͤherer Zeit. Die Feld¬
zuͤge im Ganzen waren darum nicht weniger ungluͤck¬
lich, und die Hauptvortheile meiſt auf der Seite des
Feindes; aber eine beſſere Schule des Kriegs, eine an
perſoͤnlichen Aufgaben und Erfahrungen reichere, als
das oͤſterreichiſche Heer in jener Zeit darbot, konnte
ſchwerlich nochmals zu finden ſein.
Nach wenigen Monaten zum Lieutenant befoͤrdert,
fand Tettenborn haͤufige Gelegenheit, ſeinen Muth zu
[219] bewaͤhren und vielfache Kunde des Felddienſtes einzu¬
ſammeln. Die Reiter zogen gern mit ihm aus, der
als Fuͤhrer entſchloſſen und gewandt, und als Kaͤmpfer
jedem Gemeinen ein Muſter war. Die Wagſtuͤcke und
Erfolge des kleinen Kriegs, von denen die Geſchichte
nichts zu melden pflegt, haben fuͤr die betheiligten
Truppen oft mehr Werth, als manches groͤßere Ereig¬
niß; in ihnen begruͤndet ſich am ſicherſten die perſoͤn¬
liche Schaͤtzung, der Ruf des Mannes und der Waffe.
Der Gang der damaligen Feldzuͤge in den Nieder¬
landen und am Rhein iſt bekannt. Tettenborn folgte
dem Wechſel derſelben in den Bewegungen ſeines Re¬
giments, dem wenig Ruhe gegoͤnnt war, und das wir,
nach manchen Begegniſſen, im Jahre 1799 bei dem Heere
des tapfern Erzherzogs Karl wiederfinden. Von den
zahlreichen Vorfaͤllen, welchen Tettenborn hier mit Aus¬
zeichnung beiwohnte, heben wir nachfolgende Zuͤge aus,
welche ihn insbeſondere angehn.
In dem Treffen bei Frauenfeld hatte das Regi¬
ment Kinsky einen harten Stand, und bewies gegen
den uͤberlegenen Feind auf unguͤnſtigem Boden die aus¬
dauerndſte Unerſchrockenheit. Viele ſeiner trefflichſten
Offiziere wurden getoͤdtet oder verwundet. Die Fran¬
zoſen hatten das oͤſterreichiſche Fußvolk aus einem vor¬
liegenden Walde verdraͤngt, und dadurch die auf der
Straße vorgeruͤckten Truppen in die Flanke genommen;
der Augenblick war dringend, und forderte ſchleunigſt
[220] Huͤlfe; da ließ Tettenborn eine halbe Schwadron ab¬
ſitzen, und ſtuͤrmte zu Fuß mit dieſer Mannſchaft den
Wald, aus welchem der Feind, beſtuͤrzt durch den un¬
erwarteten raſchen Angriff, eiligſt hinausgetrieben wurde,
ſo daß die kleinere Schaar den Raum wieder einnahm,
den die groͤßere nicht behaupten gekonnt! Drei Tage
darauf, bei dem Gefechte von Winterthur, machte die
Schwadron Tettenborns den Vortrab, und wurde von den
Franzoſen, die vor der Stadt ſechs Stuͤcke Geſchuͤtz auf¬
gepflanzt hatten, mit heftigem Kartaͤtſchenfeuer empfan¬
gen, das ſogleich mehrere Leute niederſtreckte; er aber
beſann ſich keinen Augenblick, und ſprengte an der
Spitze ſeines Zuges geradezu auf die feindlichen Kano¬
nen an; ſchon waren die Artilleriſten, welche ihr Ge¬
ſchuͤtz wacker vertheidigten, im Handgemenge groͤßten¬
theils niedergemacht, als die Franzoſen zur Unterſtuͤtzung
derſelben mit zahlreicher Reiterei ungeſtuͤm hervorbra¬
chen, und die oͤſterreichiſche wieder zuruͤckwarfen; Tet¬
tenborn's Pferd, von einem Kanonier durch Saͤbelſtiche
verwundet, ſtuͤrzte in dieſem Augenblicke zwiſchen die
Kanonenpferde nieder, er ſelbſt lag zu Boden und
ſchien verloren, umgeben von feindlichen Huſaren, die
nach ihm hieben und ſchoſſen, und ihn wenigſtens ge¬
fangen nehmen wollten, als die Tapferkeit ſeines Ritt¬
meiſters, des nachherigen Generals von Meyer, ihn
noch eben zu rechter Zeit aus dieſer großen Gefahr
wieder befreite. Nach Beendigung des Feldzuges in
[221] der Schweiz ruͤckte der Erzherzog Karl raſch an den
Oberrhein, und nahm die damals noch wohlbefeſtigte
Stadt Mannheim mit Sturm. Der Feind hatte ſich
mit einem Theile ſeiner Truppen noch außerhalb der
Feſtung behaupten wollen, und mußte erſt in dieſe
zuruͤckgetrieben werden; dies geſchah durch eine Reihe
hitziger Angriffe, in welcher die Reiterei die beſten Dienſte
leiſtete, und beſonders in einem ſcharfen Gefecht am
Neckarauer Wald das franzoͤſiſche Fußvolk voͤllig zer¬
ſprengte und großentheils niedermachte, wobei Tetten¬
born ſich ſo ſehr hervorthat, daß er oͤffentlich dafuͤr
belobt wurde. Bei dem Sturme, der ſodann auf die
Stadt geſchah war er einer der Erſten, die durch die
aufgehauenen Thore in die Stadt eindrangen, und
machte in den Straßen noch eine Menge Gefangnen,
waͤhrend die Hauptmaſſe der Franzoſen fechtend die
Rheinbruͤcke gewann, und ſich aus der Stadt auf das
jenſeitige Ufer zog.
Als der General von Kray den Oberbefehl des
oͤſterreichiſchen Heeres uͤbernommen hatte, und dieſes
zum Ruͤckzuge vom Rhein gegen Ulm genoͤthigt wurde,
zeigte Tettenborn beim Nachtrab in haͤufigen Gefechten
ſeinen Muth wie ſeine Geſchicklichkeit. Bei Biberach
hielt er ſo ſtandhaft gegen den andringenden Feind, daß
er in zwei Stunden drei Pferde unter dem Leibe ver¬
lor. Nicht minder zeichnete er ſich in dem Gefechte bei
Ried-Eſchingen aus, am Tage der Schlacht von Engen.
[222] Nach dem Treffen von Neuburg aber empfing er von
dem General Grafen von Giulay den beſondern Auf¬
trag, mit einer eigends hiezu ausgewaͤhlten Abtheilung
Chevaurlegers und Huſaren, die Truppenſchaar, welche
gegen Landshut ging, ſeitwaͤrts zu begleiten, und die
Bruͤcken der Iſar zu zerſtoͤren. Indem er dieſen Auf¬
trag beſtens vollzog, hatte er Gelegenheit noch einen
andern wichtigen Dienſt zu leiſten, der den Bewegun¬
gen des Heeres wohl zu Statten kann; er hielt ſich
neun Tage zu Freiſingen gegen den ſehr uͤberlegenen
Feind, der ſeine Angriffe oft erneuerte, aber durch das
muthige und geſchickte Benehmen Tettenborns getaͤuſcht,
ihn fuͤr ſtaͤrker hielt als er war, und nicht das Aeußerſte
wagen wollte. Endlich, nach hartnaͤckiger Gegenwehr,
dennoch gezwungen, Freiſingen zu verlaſſen, nahm Tet¬
tenborn ſeine Richtung gegen Muͤnchen, wo gleich eine
neue Ausfuͤhrung ſeiner wartete; denn, kaum in dor¬
tiger Gegend angekommen, erblickte er jenſeits der Iſar
eine betraͤchtliche Anzahl franzoͤſiſcher Packpferde einher¬
ziehen, — es waren die des Generals Lecourbe —,
ſogleich ſuchte er fuͤnf ſeiner entſchloſſenſten Reiter aus,
ſchwamm mit dieſem kleinen Haͤuflein durch die reißende
Iſar, und ſtuͤrzte mit ſolchem Ungeſtuͤm auf die ſtaͤrkere
Bedeckung, daß dieſe ihr Heil in der Flucht ſuchte,
und ihm alles zur Beute ließ, mit welcher und meh¬
reren Gefangenen er ungeſtoͤrt auf das andre Ufer zu¬
ruͤckkehrte.
[223]
Bei großen Ungluͤcksfaͤllen, durch welche ein ganzes
Heer zerruͤttet oder vernichtet wird, und deren Urſache faſt
immer nur in den hoͤchſten Anordnungen liegt, iſt man
nur wenig geneigt, auch bei den Beſiegten tapfre Aus¬
zeichnung anzuerkennen, und die Vorgaͤnge, in welchen
dieſe ſich zeigt, werden kaum beachtet. Aber gerade
in ſolchen Ungluͤcksfaͤllen treten Muth und Tapferkeit
einzelner Schaaren und Anfuͤhrer meiſt am entſchiedenſten
auf, und ohne dem Ganzen eine andere Wendung geben
zu koͤnnen, ſetzen ſie dem Unheil Schranken, und bringen
im Kleinen zum Theil wieder ein, was im Großen ver¬
loren worden. Auch in dem ungluͤcklichen Feldzuge, der
zur Schlacht von Hohenlinden fuͤhrte, traten ſolche Aus¬
zeichnungen und Leiſtungen zahlreich und mannigfach
hervor, hauptſaͤchlich durch die leichten Truppen, welche
in kleinen Gefechten faſt immer die Oberhand hatten.
Tettenborn war in ſolchen Gelegenheiten beſonders thaͤtig
und erfolgreich Bei der genannten Schlacht, deren
Ergebniſſe die franzoͤſiſchen Berichte noch immer mit
den uͤbertriebenſten Zahlen ausſchmuͤcken, war Tetten¬
born einer der Letzten, die am ſpaͤten Abend das Schlacht¬
feld verließen; er kaͤmpfte in der tapfern Nachhut, welche
den Ruͤckzug des linken Fluͤgels deckte; warf den an¬
dringenden Feind mehrmals zuruͤck, und leiſtete uͤber¬
haupt ſo gute Dienſte, daß ihm daruͤber die beſon¬
dere Zufriedenheit der hoͤchſten Befehlshaber bezeigt
wurde.
[224]
Er war inzwiſchen zum Rittmeiſter und Schwa¬
dronskommandanten vorgeruͤckt, und kehrte aus dem
Felde mit dem Ruf eines tapfern und kuͤhnen Offiziers
in die Friedensſtation nach Boͤhmen zuruͤck. Er hatte
ſeinen Namen ſo vortheilhaft bekannt gemacht, daß man
die groͤßten Erwartungen von ihm hegte. Auch im
Frieden wußten ſeine perſoͤnlichen Eigenſchaften die guͤn¬
ſtige Aufmerkſamkeit eines großen Kreiſes zu feſſeln,
waͤhrend er in dem engeren des Regiments die Zunei¬
gung und das Wohlwollen aller Kammeraden im hoͤch¬
ſten Grade genoß. Der freie Jugendmuth, der uͤberall
das Beſte anſpricht, die rege Kraft, welche dem Ge¬
nuß uͤberlegen bleibt, die heitre Unbefangenheit, welche
ihr Vertrauen auf Gluͤck und Gelingen ſelten betrogen
ſieht, und ſelbſt dann jeder Sorge und Zagheit wider¬
ſteht; dazu eine großmuͤthige Hingebung fuͤr Andre,
ein erfreulicher, heitrer Umgang, eine bei ſtarkem per¬
ſoͤnlichen Auftreten deſto einnehmendere Leutſeligkeit, eine
glaͤnzende Erſcheinung, und eine Freigebigkeit ohne Graͤnze
und Ruͤckſicht: dieſer Verein von wirkſamen Eigenſchaf¬
ten konnte nicht ohne die groͤßten Erfolge bleiben, fuͤr
welche die glaͤnzende Geſelligkeit von Prag und Wien,
das reiche Landleben der boͤhmiſchen Großen, dann auch
Dresden, und ſelbſt Berlin, den abwechſelnden Schau¬
platz boten. Frauengunſt, Spiel, jugendlicher Ehrgeiz,
alles, was Ernſt und Freude des Militaͤrlebens ge¬
waͤhren, mußte hier vielfache Abentheuer wecken, welche
[225] in der Weiſe franzoͤſiſcher Denkwuͤrdigkeiten behandelt,
den Stoff der anziehendſten Erzaͤhlungen geben koͤnn¬
ten! Auch an neuen Proben eines Muthes, den viele
Kenner von dem Muthe auf dem Schlachtfelde fuͤr
ſehr verſchieden halten, fehlte es in ſolchem Lebensge¬
wirre nicht, und auch in dieſem Betreff wurde Tetten¬
born's Namen mit groͤßter Auszeichnung genannt. Un¬
ter den angeſehenen Befreundungen, die ihm zu Theil
wurden, war auch die mit dem Prinzen Louis Ferdi¬
nand von Preußen, der ſich bei einem Beſuche in Boͤh¬
men uͤberall große Zuneigung erwarb, mit den oͤſter¬
reichiſchen Offizieren als Kammerad lebte, und in
Tettenborn ebenſo ſehr den tuͤchtigen Krieger wuͤrdigte,
als er in ihm den heitern Lebensgenoſſen liebte.
Dieſe Befreundung wurde noch inniger, als Tet¬
tenborn im Jahre 1804 mit einem Auftrag an den
oͤſterreichiſchen Geſandten Grafen von Metternich nach
Berlin geſchickt wurde, und hier mit dem Prinzen,
den er auch ſchon auf deſſen Landſitze beſucht hatte, in
taͤglichen vertauten Umgang lebte, den die Zeitumſtaͤnde
durch die Kriegsgeſinnung, welche ſich in Preußen, wie
Oeſterreich regte, nur noch ſtaͤrker beſeelten. Von die¬
ſem Aufenthalte Tettenborn's in Berlin wird ein be¬
ſondrer Zug erzaͤhlt, den wir unverbuͤrgt wiedergeben,
wie wir ihn gehoͤrt, indem er auch als Sage bezeich¬
net iſt. Tettenborn hatte naͤmlich in Berlin die nicht
unbetraͤchtliche Erbſchaft eines im Preußiſchen verſtor¬
III.15[226] denen Verwandten erhoben, und ſollte, bevor er wie¬
der abreiſte, von dem außer Landes gehenden Vermoͤgen
das uͤbliche Abzugsgeld bezahlen; er aber, verwundert
uͤber eine ſolche Forderung, fand dieſelbe um ſo unge¬
reimter, als er keinesweges mehr im Falle war, ſie
erfuͤllen zu koͤnnen, er bewies, daß er von der ganzen
Erbſchaft nicht das Geringſte mitnehme, ſondern waͤh¬
rend ſeines kurzen Aufenthalts den vollen Betrag,
man ſagte zwanzig tauſend Thaler, ſofort verbraucht
und ausgegeben, und alſo das Geld im Lande gelaſ¬
ſen habe!
Im Jahre 1805 erhob ſich Oeſterreich aufs neue
zum Kriege gegen die Franzoſen, und ſah bekanntlich
durch wiederholte Unfaͤlle ſeine Hoffnungen abermals
getaͤuſcht. Tettenborn war mit einem Theile des vor¬
mals Kinsky'ſchen jetzt Klenau'ſchen Regiments, bei
welchem er ſtand, in Ulm geblieben, waͤhrend der andre
Theil unter dem Oberſten ſich nach Bregenz gezogen
hatte. Mehrere Streifzuͤge und Rekognoszirungen, die
ihm aufgetragen wurden, fuͤhrte er zur groͤßten Zu¬
friedenheit aus. Als aber der Oberbefehlshaber des
Heeres, General von Mack, in unbegreiflicher Ver¬
blendung befangen, und dann ploͤtzlicher Muthloſigkeit
hingegeben, zuletzt in Ulm kein andres Heil mehr ſah
als in der Uebergabe, da wußte ſich ein Theil des
Heeres dieſer Schmach gluͤcklich zu entziehen. Der
Erzherzog Ferdinand faßte den kuͤhnen Entſchluß, mit
[227] dem Theile der Reiterei, der unter ſolchen Umſtaͤnden
noch in der Eile zuſammenzuraffen war, durch den
Feind durchzubrechen und nach Boͤhmen zu entkommen.
Tettenborn genoß bereits eines ſolchen Vertrauens, daß
zur Fuͤhrung des Vortrabs niemand faͤhiger ſchien als
er, und der entſcheidende Schlag, der Durchbruch der
franzoͤſiſchen Umzingelung, wurde von ihm gefuͤhrt.
Mit außerordentlicher Geſchicklichkeit und heldenmuͤthi¬
ger [Anſtreugung] gelang das ganze Unternehmen, wel¬
ches im Ruͤcken der franzoͤſiſchen Heere von ſteter
Gefahr begleitet war, bis endlich, nach mehreren Ge¬
waltmaͤrſchen und hitzigen Nachtrabsgefechten, die boͤh¬
miſche Graͤnze erreicht wurde. Tettenborn hatte das
Gluͤck, auf dieſem Zuge die vollkommene Zufriedenheit
des Erzherzogs ſowie des die Reiterei befehligenden
Fuͤrſten Karl von Schwarzenberg zu erwerben. Ihm
wurde ſogleich ein neuer Auftrag ertheilt, die Deckung
der Straße, die uͤber Waldmuͤnchen nach Boͤhmen
fuͤhrt. Mit der ihm anvertrauten Truppenſchaar, groͤ߬
tentheils Reiterei, wußte er ſich in der Oberpfalz durch
geſchickte Bewegungen und einzelne gluͤckliche Gefechte
mehrere Wochen zu behaupten, und zwiſchen Amberg
und Waldmuͤnchen die franzoͤſiſchen Streifpartheien mehr¬
mals zuruͤckzuwerfen, bis der General Baraguay d'Hil¬
lers uͤber 8000 Mann gegen ihn heranfuͤhrte, ihn zum
Ruͤckzug nach Boͤhmen noͤthigte, und darauf ſelbſt in
Boͤhmen einzudringen ſuchte. Tettenborn verzweifelte
15*[228] nicht, im eignen Lande auch dieſer Uebermacht die
Spitze bieten zu koͤnnen. Er rief zwiſchen Pilſen und
Klentſch alles Landvolk zu den Waffen, ließ in allen
Doͤrfern die Sturmglocke laͤuten, und wagte nun den
ihm ſechsmal uͤberlegenen Feind anzugreifen, der, durch
dieſe Kuͤhnheit und den gutgeleiteten Aufſtand geſchreckt,
ſich zuerſt nach Klattau zuruͤckzog, und bald darauf
Boͤhmen voͤllig verließ.
Nach erfolgtem Frieden wurde Tettenborn durch die
Nachricht uͤberraſcht, daß die unter ſeinem Befehl geſtan¬
denen Offiziere der Regimenter Klenau und Roſenberg
fuͤr ihn das Thereſienkreuz verlangt haͤtten, eine Aus¬
zeichnung, welche in Oeſterreich von den hoͤchſten Per¬
ſonen als das koͤſtlichſte Kleinod militaͤriſcher Ehre
erſtrebt, und nur dem anerkannteſten Verdienſt ertheilt
zu werden pflegt, auch noch jetzt ebenſo ſelten als
werth gehalten. Beſondere Bedingungen beſchraͤnken
die Verleihung dieſes Ordens, auf den nur derjenigen
Tapferkeit Anſpruch geſtattet iſt, welche vor dem Feinde
ſich durch Thaten ausgezeichnet, die weder durch aus¬
druͤcklichen Befehl noch durch unerlaͤßliche Pflicht gebo¬
ten waren. Das zur Pruͤfung der Anſpruͤche und
Zeugniſſe verſammelte Ordenskapitel erkannte die For¬
derung der Offiziere fuͤr Tettenborn als voͤllig begruͤn¬
det an, und ſprach ihm einſtimmig den Orden zu.
Mit neuem Ruhm und neuen Vortheilen kehrte er
wieder zu den Beſchaͤftigungen des Friedensdienſtes
[229] und in den Glanz der Hauptſtaͤdte Prag und Wien
zuruͤck, wo er in den angeſehenſten Kreiſen nur immer
guͤnſtiger bemerkt wurde. Im Jahre 1808 geſchah
ihm der Antrag, den Fuͤrſten von Schwarzenberg, der
als oͤſterreichiſcher Botſchafter nach St. Petersburg ging,
als erſter Adjutant und Botſchaftskavalier zu begleiten.
Tettenborn ſah hier eine neue Laufbahn eroͤffnet, fuͤr
die er ſchon vielfach vorbereitet war, und die ihn maͤch¬
tig anziehen mußte; er willigte ein, empfing noch vor
der Reiſe den Kaiſerlichen Kammerherrnſchluͤſſel, holte
den Fuͤrſten, der ſchon voraus war, in Wilna ein, und
kam mit ihm gegen Ende des Jahres in St. Peters¬
burg an. Der dortige Aufenthalt war durch die poli¬
tiſchen Verhaͤltniſſe mit ſehr ſchwierigen Ruͤckſichten
verknuͤpft, und forderte große Kunſt des Benehmens;
wenn dem Fuͤrſten von Schwarzenburg unbeſtritten der
Ruhm gebuͤhrt, bloß durch ſein perſoͤnliches Verdienſt
alles bewirkt zu haben, was damals am ruſſiſchen Hofe
fuͤr Oeſterreich noch zu erlangen war, ſo darf ſeine in
derſelben Hinſicht fuͤr Tettenborn vielfach ausgeſprochene
Zufriedenheit ein um ſo bewaͤhrteres Zeugniß auch fuͤr
dieſen ſein. Als im Mai 1809 die Nachricht von dem
Ausbruche des neuen Krieges zwiſchen Oeſterreich und
Frankreich in St. Petersburg eingetroffen war, wurde
Tettenborn von dem Fuͤrſten mit beſondern Auftraͤgen
als Kourier zu dem Hauptheere geſandt, welches unter
dem Erzherzog Karl inzwiſchen den glorreichen Sieg
[230] bei Aspern erkaͤmpft hatte, und einer neuen Schlacht
auf dem Marchfelde entgegenſah. Dieſe erfolgte nach
mehreren Wochen, die Schlacht von Deutſch-Wagram.
Wir haben ſchon anderwaͤrts erwaͤhnt, daß Tettenborn
fuͤr ſeine Tapferkeit und Auszeichnung in dieſer Schlacht
durch den Erzherzog Karl auf dem Schlachtfelde zum
Major befoͤrdert, ſein Name in dem amtlichen Bericht
ruͤhmlichſt genannt, und ihm die Deckung des Ruͤckzu¬
ges, den die Oeſterreicher in beſter Ordnung gegen
Znaym nahmen, uͤbertragen wurde. Nach wenigen
Tagen wurde bei dieſem Orte ſchon wieder eine zwei¬
taͤgige Schlacht geliefert, welche aber durch den inzwi¬
ſchen abgeſchloſſenen Waffenſtillſtand unterbrochen wurde.
Auch in dieſer Schlacht aͤrntete Tettenborn die ausge¬
zeichnetſten Lobſpruͤche ſowohl des Erzherzogs Karl als
auch des Generals Grafen von Bellegarde, welcher den
erſten Heertheil der Oeſterreicher befehligte, zu dem das
Regiment Klenau gehoͤrte. Bei der Unterhandlung des
Waffenſtillſtandes wurde Tettenborn von dem Erzher¬
zoge, der großes Vertrauen in ſeine perſoͤnlichen Gaben
ſetzte, mehrmals an den Fuͤrſten von Neuchatel und an
Napoleon ſelbſt, wodurch der Abſchluß auf vortheilhafte
Bedingungen ſehr gefoͤrdert wurde.
Nach dem Wiener Frieden ging der Fuͤrſt von
Schwarzenberg als oͤſterreichiſcher Botſchafter nach Paris,
und Tettenborn begleitete denſelben in gleicher Eigen¬
ſchaft wie fruͤher nach St. Petersburg. In neueren
[231] Zeiten iſt wohl ſelten eine Botſchaft von ſolchem Glanze,
ſolch reicher Zuruͤſtung und bedeutendem Anſehn, und
zugleich von ſo ruhiger Wuͤrde und großartiger Einfach¬
heit geſehen worden. Alle Deutſchen fanden in dem
Schwarzenbergiſchen Hauſe ihren ſichern Anhalt, ihr
vertrauteſtes Zuſammenſein, waͤhrend zugleich das aus¬
geſuchteſte Prachtleben hier den Preis vor allen fran¬
zoͤſiſchen und fremden Haͤuſern behauptete. Mit wel¬
cher Weltkunde, Klugheit und Anmuth ſich Tettenborn
in dieſen Verhaͤltniſſen bewegte, kann ſchon aus dem
bisher Mitgetheilten ermeſſen werden; er war in dem
tiefſten Vertrauen des Fuͤrſten, und wurde zu den in¬
nerſten Geſchaͤften zugezogen, außerdem aber lag ihm
ein großer Theil der aͤußern Darſtellung und des man¬
nigfachen perſoͤnlichen Hervortretens ob, zu welchem
dieſe großen Verhaͤltniſſe unaufhoͤrlich Anlaß gaben.
Mit Gewandtheit loͤſte er die ſchwierige Aufgabe des
fortgeſetzten Umgangs mit den Franzoſen; er hatte aͤu¬
ßerlich das beſte Vernehmen mit den Großen des Ho¬
fes, den anſpruchsvollen Frauen und eitlen Guͤnſtlin¬
gen, ohne daß er jemals zu Schmeicheleien ſeine Zu¬
flucht genommen, oder die deutſchen Geſinnungen, die
ihn beſeelten, durch Verlaͤugnung beleidigt haͤtte. Die¬
ſen Leuten durch trotzige Feſtigkeit Achtung und Scheu
einzufloͤßen, war die einzige Art mit ihnen fertig zu
werden. Sie verſuchten einigemal, die ſchroffe Selbſt¬
ſtaͤndigkeit zu beugen, doch da dies nicht gelingen wollte,
[232] wie Manche zu ihrem Schaden erfahren mußten, ſo
beeiferten ſie ſich nun um ſo mehr, dieſelbe anzuerken¬
nen. Napoleon ſelbſt, der gegen Tettenborn immer
Abneigung empfand, und dies wenig verhehlte, ließ ihn
am Ende gelten.
In dieſe Zeit faͤllt das durch ſeinen Ausgang un¬
gluͤcklich beruͤhmte Feſt des Fuͤrſten von Schwarzenberg,
wo mehrere der angeſehenſten Perſonen verbrannten,
und viele durch die Flammen ſchwer beſchaͤdigt wurden.
In der erſten Beſtuͤrzung konnte manchem der Anwe¬
ſenden wohl der Gedanke von Verrath aufſteigen; ein
franzoͤſiſcher General, von ſolchem Argwohn ergriffen,
wandte ſich heftig an Tettenborn mit einer unziemlichen
Frage; doch dieſer, empoͤrt durch den Verdacht und er¬
fuͤllt vom Drange des Augenblicks, faßte ſtatt aller
Antwort den dreiſten Frager an bei den Schultern,
und ſchleuderte mit zuͤrnender Kraft ihn ruͤcklings zu
Boden. Napoleon, Zeuge des Urſprungs und der Aus¬
breitung des Feuers, war von jedem Mißtrauen ent¬
fernt, und glaubte vielmehr die Anſtrengung und Beei¬
ferung, welche mehrere Mitglieder der Botſchaft bei
dieſer Gelegenheit auch fuͤr ſeine und der Kaiſerin
Sicherheit bewieſen hatten, beſonders belohnen zu muͤſ¬
ſen. So empfing denn auch Tettenborn den Orden
der Ehrenlegion.
Napoleon's perſoͤnliche Stimmung aber wurde damit
nicht guͤnſtiger. Im Gegentheil ging er oͤfters darauf aus,
[233] auch an Tettenborn, wie an ſo viele Andere, die ihm
nicht gefielen, unangenehme und verwirrende Fragen
zu richten, die ihm aber auch oͤfters unangenehm er¬
wiedert wurden, und dies im Augenblicke meiſt unge¬
ſtraft, weil Napoleon wohl ſchreckende Worte, aber nicht
den Witz zuruͤckſpielende fuͤhrte. Als er den Befehl
gegeben hatte, daß an ſeinem Hofe auch die Militaͤr¬
perſonen, welche bisher in ihrer dienſtmaͤßigen Uniform
erſchienen waren, nur in franzoͤſiſcher Hofkleidung er¬
ſcheinen durften, und dies auch die fremden Geſandt¬
ſchaften traf, wollte Tettenborn, der von dem Regi¬
mente Klenau zu den Huſaren von Radetzky verſetzt
worden war, mit der Uniform doch nicht zugleich den
unerſetzbaren Schnurrbart aufopfern, und erſchien mit
dieſem in der neu vorgeſchriebenen Hofkleidung; Na¬
poleon aͤrgerte ſich druͤber, und redete ihn hoͤhniſch
mit den Worten an: „Ein Schnurrbart iſt doch recht
laͤcherlich bei dieſem Rock!“ worauf Tettenborn raſch
und trotzig verſetzte: „Vielmehr dieſer Rock bei einem
Schnurrbart!“ Eine Antwort, die doch nicht jedem und
nicht jedesmal ſo folgenlos hingegangen ſein moͤchte! —
Tettenborn reiſte einigemal bei wichtigen Anlaͤſſen
von Paris nach Wien. Niemals aber wurde dieſe Reiſe
ſchneller ausgefuͤhrt, als da er die Nachricht von der
Niederkunft der Kaiſerin Marie Louiſe zu uͤberbringen
hatte, und die hundert und zwanzig Stunden von Paris
nach Straßburg reitend zuruͤcklegte, und dann zu Wa¬
[234] gen in ſolcher Eile weiter, daß er die ganze Reiſe bin¬
nen vier Tagen und zehn Stunden vollendete. Man
ſprach allgemein von dieſem Reiterſtuͤck, und gedachte
dabei aͤhnlicher, die dem Herzoge von Alba und Karl
dem Zwoͤlften von Schweden nachgeruͤhmt werden.
Doch die Zeit nahte ſchon, in welcher ſolchen Kraͤf¬
ten und Anſtrengungen das ernſtere Kriegsfeld ſich wie¬
der eroͤffnen ſollte. Laͤngſt ſchon erkannte man, daß
ein Krieg zwiſchen Frankreich und Rußland unvermeid¬
lich ſei, und Tettenborn konnte fruͤher als Andre vor¬
ausſehen, daß Oeſterreich diesmal nicht als Feind gegen
Napoleon auftreten werde. Er aber wollte nicht in den
Fall kommen, mit den Franzoſen zu dienen, ſondern
gegen ſie fechten. Er fand ſich demnach im Fruͤhjahr
1812 bewogen, ungeachtet ſeiner glaͤnzenden Stellung
und ſeiner verſprechenden Ausſichten, ſeinen Abſchied
einzureichen, und begab ſich, nach kurzem Aufenthalte
in Wien, wo er unter Kammeraden und Hoͤheren mehr
Billigung und Zuſtimmung fand, als ſich oͤffentlich zei¬
gen durfte, uͤber Ungarn nach Rußland, wo er ſchon
ruͤhmlichſt bekannt war, und mit offnen Armen em¬
pfangen wurde.
Tettenborn trat in das ruſſiſche Heer als Oberſt¬
lieutenant ein, und wurde zu dem General Freiherrn
von Wintzingerode geſandt, der mit anſehnlicher Trup¬
penſtaͤrke die Straße von Twer zu decken hatte. Bei
dieſem General, als einem ebenfalls im oͤſterreichiſchen
[235] Dienſte geweſenen Waffenfreunde, durfte er die guͤn¬
ſtigſten Verhaͤltniſſe erwarten, allein ungluͤcklicherweiſe
war derſelbe kurz vorher in franzoͤſiſche Gefangenſchaft
gerathen, aus der erſt ſpaͤter die Koſaken ihn wieder
befreiten, und der General Kutuſoff, Neffe des Feld¬
marſchalls, hatte den Befehl uͤber jene Truppen uͤber¬
nommen. Dieſer General galt allgemein als ein ſtar¬
ker Widerſacher aller Fremden im ruſſiſchen Dienſt, aber
ſonſt als ein rechtſchaffner, wohldenkender Mann und
als ein ausgezeichneter tapfrer Krieger. Seine Abnei¬
gung gegen die Fremden ſchien anfangs auch gegen
Tettenborn zu walten, nach einiger Zeit aber, als meh¬
rere Gefechte vorgefallen waren, nahm er ſchon eine
guͤnſtigere Geſinnung an, und wurde zuletzt, im Ver¬
folge des Feldzugs, der theilnehmendſte und thaͤtigſte
Anerkenner eines Verdienſtes, das ſich unter ſeinen Au¬
gen ſo trefflich bewahrte, und dem er Gerechtigkeit zu
verſagen nicht faͤhig war.
Nach dem Abzuge der Franzoſen von Moskau ruͤckte
Tettenborn mit dem Vortrabe der Kutuſoff'ſchen Trup¬
pen zuerſt wieder daſelbſt ein, wo unter rauchenden
Truͤmmern alle Graͤuel der Verwuͤſtung und Aufloͤſung
fortdauerten, denen nicht ohne Kampf Einhalt zu thun
war. Unmittelbar darauf erhielt er die Befehlfuͤhrung
eines abgeſonderten Truppentheils, und den allgemeinen
Auftrag, dem Feind auf ſeinem Ruͤckzuge allen moͤgli¬
chen Abbruch zu thun. Er that dies mit ſolchem Er¬
[236] folg, lieferte ſo gluͤckliche Gefechte, und nahm dem
Feinde ſo viele Gefangene, daß ihm der Oberbefehls¬
haber, um dieſe Vortheile zu vergroͤßern, die unterha¬
benden Truppen anſehnlich mehrte. Hiedurch war Tet¬
tenborn in den Stand geſetzt, die wichtigſten Dienſte
zu leiſten, da die Umſtaͤnde jenes ewig denkwuͤrdigen
Ruͤckzugs dem entſchloſſenen Anfuͤhrer einer fliegenden
Truppe ſolche Unternehmungen moͤglich machten, deren
Schwierigkeiten, in gewoͤhnlichen Kriegsverhaͤltniſſen,
fuͤr ganze Heeresabtheilungen unuͤberſteigbar ſein konn¬
ten. Wir ſahen Tettenborn fruͤher durch abgeſeßne
Reiter einen Wald angreifen und einnehmen; bei dem
Bach Pliſſe lieferte er das Gegenſtuͤck dazu, indem er
den Uebergang, den ein franzoͤſiſches Bataillon hart¬
naͤckig vertheidigte und dadurch das Vorruͤcken der Ruſ¬
ſen hemmte, an der Spitze einer Schwadron Huſaren
mit dem Saͤbel in der Fauſt erzwang, und das feind¬
liche Fußvolk ſaͤmmtlich gefangen nahm. Tag fuͤr Tag
griff er den Feind auf dem weiteren Ruͤckzuge bis zur
Bereſina unermuͤdlich an, draͤngte deſſen Flucht, und
nahm ihm Kanonen, Pulverwagen, Gepaͤck, und be¬
ſonders viele Gefangne. Er wurde ſodann nach Lepel
entſandt, um die dort aufgeſtellten baieriſchen Truppen
zu uͤberfallen, die er aber ſchon abgezogen fand. Zu
Kobilnicki und in der Umgegend, machte er alle noch
zuruͤckgebliebenen feindlichen Truppentheile gefangen, und
ſetzte darauf mit angeſtrengter Eile ſeinen Marſch nach
[237] Wilna fort, wo er ſpaͤt am Abend mit ermuͤdeten Rei¬
tern anlangte, aber dennoch ſogleich die Vorſtadt weg¬
nahm, und daſelbſt uͤber 3000 Franzoſen gefangen nahm.
Wilna war der Hauptort fuͤr die Franzoſen gewor¬
den, wohin die ganze Ruͤckzugsmaſſe des Heeres ſich
draͤngte, und daſelbſt, in Hoffnung vorhandener Huͤlfs¬
truppen und großer Vertheidigungsanſtalten, das er¬
ſehnte Ziel zu finden waͤhnte, wo dem ſchrecklichen,
durch Kaͤlte, Hunger und Schwert raſtlos andringen¬
den Verderben endlich Einhalt geſchehen wuͤrde. Doch
dieſe Hoffnung war eitel; auch hier war keine Rettung
bereitet, und an dauernden Widerſtand gegen die ver¬
folgenden Ruſſen nicht zu denken; der Ruͤckzug mußte,
unter faſt ebenſo verzweiflungsvollen Umſtaͤnden wie
bisher, immer fortgeſetzt werden, und kaum, daß die
Weichſel noch eine Schutzwehr ſcheinen konnte. Aber
wenn auch auf keine Weiſe Wilna gegen ruſſiſches Fu߬
volk lange haltbar war, ſo fanden ſich doch fuͤr den
Augenblick ſo zahlreiche franzoͤſiſche Truppen, wenn
gleich in Unordnung, dort zuſammen, ſo große Huͤlfs¬
mittel und Vorraͤthe dort angehaͤuft, daß der Feind,
bis das ruſſiſche Fußvolk herankam, leicht Zeit gewin¬
nen konnte, ſich in beſſern Stand zu ſetzen, die nicht
zu rettenden Vorraͤthe zu zerſtoͤren, und beſonders die
Truppenmenge, jetzt faſt nur aufgeloͤſte Haufen, aber
doch immer herſtellbar in geordnete Kriegerſchaaren, an
die Weichſel zuruͤckzuſchaffen. Daher war es fuͤr den
[238] ganzen Feldzug von aͤußerſter Wichtigkeit, hier dem
Feinde keinen Augenblick zur Beſinnung zu laſſen.
Tettenborn, nur die Nachtheile des Verzuges im Auge
habend, ließ ſich durch keine Schwierigkeit abſchrecken,
ſondern trotz des faſt allgemeinen Zweifelns und Abra¬
thens beſchloß er ungeſaͤumten Angriff, und noch vor
Anbruch des Tages ſtuͤrmte eine Kompagnie Fußjaͤger,
die er auf Schlitten hatte nachkommen laſſen, die naͤch¬
ſten Thorpoſten, nach deren Bewaͤltigung er von zweien
Seiten mit 3 Koſakenregimentern und 4 Schwadronen
Iſum'ſcher Huſaren in die Hauptſtraßen eindrang, wo
einige noch zuſammenhaltende franzoͤſiſche Bataillone
anfangs ihm herzhaft entgegenruͤckten, bald aber, um¬
gangen und von allen Seiten angegriffen, theils das
Gewehr ſtrekten, theils im Fliehen niedergemacht wur¬
den. Der Angriff hatte den Feind dergeſtalt uͤberraſcht,
daß die Gegenwehr ohne Plan und Umſicht nur nach
Zufall geſchah, und die ganze Stadt binnen kurzer Zeit
in den Haͤnden der Ruſſen war. Zum Theil hatten die
Juden, welche uͤberall in Polen gegen die Franzoſen
heftig entbrannt waren, dieſe waͤhrend des Gefechts im
Ruͤcken angegriffen und entwaffnet, ſo daß ſie ganze
Schaaren als ihre Gefangne ablieferten.
Der Verluſt, den die Franzoſen durch dieſen uner¬
warteten Schlag erlitten, war ungeheuer. Sie verlo¬
ren in Wilna 48 Kanonen, 7 Fahnen, 6000 Gefangne,
ungerechnet 24,000 Kranke, die in den Spitaͤlern la¬
[239] gen, ferner außerordentliche Vorraͤthe von Kriegsbe¬
duͤrfniſſen aller Art. Der letzte Anhalt des zerruͤtteten
Heeres auf dieſer Seite war verloren. „Von dieſem
Zeitpunkte hauptſaͤchlich, ſagt Napoleon in ſeinen dem
General Montholon diktirten Bemerkungen begannen
die großen Verluſte dieſes Feldzuges, und nichts konnte
unvorhergeſehener ſein, als dieſes Ereigniß von Wilna.“
Tettenborn uͤbergab die Stadt dem General Tſcha¬
plitz, der mit dem Vortrabe des Admirals Tſchitſchakoff
herangeeilt war, und ruͤckte gleich am folgenden Tage
gegen den Niemen vor, um die Verbindung des Mar¬
ſchalls Macdonald, der noch bei Mitau ſtand, mit dem
Koͤnige Murat, der in Koͤnigsberg die zerſtreueten
Truppen ſammelte, zu unterbrechen. In dieſer Gegend
ſtieß Tettenborn auf preußiſche Truppen, mit welchen
es aber, da man ſich gegenſeitig gute Geſinnung zu¬
traute, zu keinem ernſtlichen Gefechte kam; nach einigen
Scharmuͤtzeln erhielten ſie Befehl, ſich uͤber den Niemen
zuruͤckzuziehen, und Tettenborn ging ungehindert nach
Tilſit vor, wo die Einwohner ihn mit begeiſtertem Ju¬
bel empfingen. Nach einigen weiteren leichten Gefech¬
ten zwiſchen Tilſit und Ragnit hob der inzwiſchen von
dem General von Yorck mit den ruſſiſchen Befehlsha¬
bern eingegangne Waffenſtillſtand auch dieſen Anſchein
von Feindſeligkeit zwiſchen den Ruſſen und Preußen
auf, dieſe letztern trennten ſich von den Franzoſen, und
Tettenborn konnte nun den Marſchall Macdonald, der
[240] ſeinen Ruͤckzug uͤber Koͤnigsberg ohne Aufenthalt fort¬
ſetzte, mit groͤßtem Nachdruck verfolgen.
In Koͤnigsberg aber wurde Tettenborn durch eine
Roſe am Fuß, die als Folge der uͤberſtandenen Be¬
ſchwerden und der ſtrengen Kaͤlte dieſes außerordentli¬
chen Winterfeldzugs ihn befallen hatte, mehrere Tage
im Bette gehalten. Zugleich waren auch wegen Wei¬
terverfolgung der Franzoſen allerlei Bedenken eingetre¬
ten. Schon am Niemen hatten die Ruſſen Halt ma¬
chen wollen, dann ſollte die Weichſel das unuͤberſchreit¬
bare Ziel ſein, indem die Beſorgniß waltete, man
moͤchte die Staͤrke und Ueberlegenheit, die ſich gegen
den eingedrungenen Feind gezeigt hatte, mit jeder zu¬
nehmenden Entfernung von den ruſſiſchen Graͤnzen wie¬
der einbuͤßen. Allerdings waren die Truppen, welche
unmittelbar hinter dem Feinde her waren, ihn draͤngten
und jagten, nur gering an Zahl, und auch die uͤbri¬
gen, in weiten Abſtaͤnden nachfolgenden, hatten durch
Gefechte, Maͤrſche, Entſendungen vielfache Schwaͤchung
erlitten. Die Franzoſen hingegen waren nun ihren un¬
ermeßlichen Huͤlfsquellen wieder naͤher, geboten uͤber
ganz Deutſchland, und der Beſitz aller feſten Plaͤtze
von der Weichſel bis zum Rhein gewaͤhrte ihnen uͤberall
Sicherheit, ihre geretteten Heerestruͤmmer zu ſammeln
und mit neuen Zuſchuͤſſen aus dem Innern Frankreichs
und ſeiner Bundeslaͤnder zu verſtaͤrken. Alle dieſe Be¬
trachtungen jedoch konnten gegen die Macht der That¬
[241] ſachen nicht beſtehen; das Verderben des Feindes offen¬
barte ſich mit jedem Augenblicke vollſtaͤndiger und ver¬
zweifelter, Furcht und Schrecken gaben willig auf, was
die Waffen vielleicht nur ſchwer errungen haͤtten, an
Widerſtand im offenen Felde war nicht zu denken, die
Flucht ging unaufhaltſam fort, die Verfolgung ſtuͤrzte
faſt gezwungen in den leeren Raum. Unter ſolchen
Umſtaͤnden, zu welchen ſich die lautwerdende Stimme
des deutſchen Volksgeiſtes und die guten Ausſichten
diplomatiſcher Thaͤtigkeit geſellten, empfingen die ruſſi¬
ſchen Truppen neuen Befehl vorzugehen, und den Er¬
eigniſſen blieb uͤberlaſſen, wie und wo ſie ihr Ziel fin¬
den moͤchten.
In Folge dieſer veraͤnderten Anſicht erhielt nun
Tettenborn, der inzwiſchen Oberſt geworden war, von
dem General Grafen von Wittgenſtein den Befehl, mit
den ihm anvertrauten Truppen uͤber die Weichſel zu
gehen, und ſo weit vorzudringen, als es die Umſtaͤnde
zuließen. Tettenborn empfand hieruͤber ſo große Freude,
und fuͤhlte ſich ſo gluͤcklich, der erſte zu ſein, der ſeinen
deutſchen Landsleuten als Verkuͤndiger der Befreiung
von der Franzoſenherrſchaft erſcheinen ſollte, daß er un¬
geachtet ſeines Fußuͤbels unverzuͤglich von Koͤnigsberg
aufbrach, und ſeinen Marſch uͤber Konitz und Soldin
bis zur Oder fortſetzte. Noch hielten zwar anſehnliche
franzoͤſiſche Truppenſchaaren ſich auf dem rechten Ufer
der Oder, die Feſtungen waren alle ſtark beſetzt, und
III.16[242] die Hauptſtaͤrke der Ruſſen noch weit zuruͤck; allein
Tettenborn beſchloß dennoch, auf das linke Ufer der
Oder vorzuruͤcken, um dem Feinde hier keine Zeit zu
neuen Maßregeln zu laſſen und die bereits angeordne¬
ten zu hintertreiben.
In Wrietzen, wo der Uebergang geſchah, traf der
Oberſtlieutenant Konſtantin von Benkendorf, welcher
den Vortrab Tettenborn's befehligte, ein weſtphaͤliſches
Bataillon, nahm daſſelbe nach geringem Widerſtande
gefangen, und Tettenborn empfing gerade beim Ueber¬
gehen uͤber den Fluß als gutes Vorzeichen zwei eroberte
Fahnen. Er ruͤckte nun raſch gegen Berlin vor, wel¬
ches der Marſchall Augereau noch mit 10,000 Fran¬
zoſen und zahlreichem Geſchuͤtz beſetzt hielt. Dieſer
ſandte den General Poinſot mit etwa 2000 Mann bis
Werneuchen, drei Meilen von Berlin, den Ruſſen ent¬
gegen, um ſie von der ſchon durch mancherlei Gaͤh¬
rung bewegten Hauptſtadt noch abzuhalten. Die Fran¬
zoſen hatten keine Reiterei, die Ruſſen kein Fußvolk,
und ſo mußten beide Theile mit großen Schwierigkei¬
ten kaͤmpfen, indem jene das freie Feld nicht behaup¬
ten, dieſe hingegen den Angriff der Ortſchaften und
feſten Stellungen nicht unternehmen konnten. Tetten¬
born wollte jedoch nicht vergeblich ſo weit vorgedrun¬
gen ſein; noch jenſeits der Oder, doch ſchon in der
Naͤhe, ſtreifte mit einer fliegenden Schaar der General
Tſchernyſcheff, dieſen forderte Tettenborn auf, ſich mit
[243] ihm zu einer gemeinſchaftlichen Unternehmung zu ver¬
einigen, und fand bereitwilliges Gehoͤr. Tſchernyſcheff
ging mit ſeinen Koſaken und Huſaren uͤber die Oder,
vereinigte ſich mit Tettenborn bei Landsberg, indem
dieſer den General Poinſot bei Werneuchen durch einige
zuruͤckgelaſſene Poſten uͤber ſeinen Abmarſch noch einige
Zeit getaͤuſcht erhielt, und beide Anfuͤhrer ruͤckten nun
vor Berlin.
Die beabſichtigte Ueberrumpelung dieſer Stadt wurde
jedoch durch unguͤnſtige Umſtaͤnde verzoͤgert, und dann
brachte der Zufall ſie nur theilweiſe zur Ausfuͤhrung.
Die Ruſſen waren nicht lange in Pankow angekom¬
men, als eine ſtarke franzoͤſiſche Rekognoszirung vor¬
ruͤckte, welche zuruͤckzutreiben Tettenborn ſogleich einige
Koſakenregimenter vorfuͤhrte. Der Feind gerieth in
Unordnung, und ſuchte ſchnell das Thor von Berlin
wieder zu erreichen; Tettenborn aber drang in raſcher
Verfolgung dahin nach, uͤberwaͤltigte die Thorwache,
und ſprengte mit ſeinen Reitern raſch in die Stadt,
die alsbald nach allen Richtungen von Koſaken um¬
ſchwaͤrmt und unerwartet der Schauplatz kriegeriſcher
Auftritte war. Tettenborn ſelbſt ruͤckte bis auf den
Alexanderplatz, wo ſich einiges franzoͤſiſche Fußvolk
wieder geſammelt hatte, und einen geordneten Wider¬
ſtand lebhaft unterhielt. Inzwiſchen hatten die Koſaken
ſchon im erſten Augenblick gegen 500 Gefangene und
viele Beutepferde fortgefuͤhrt, jagten zum Schrecken
16*[244] der uͤberraſchten Franzoſen und zum Jubel der Ein¬
wohner durch die Straßen ſogar der Friedrichsſtadt,
und obgleich die Franzoſen in Berlin noch gegen
8000 Mann ſtark waren, einzelne Truppenabtheilungen
ſchon vorher unter dem Gewehr, und auf mehreren
Plaͤtzen und Bruͤcken Kanonen aufgepflanzt ſtanden, ſo
war doch die Beſtuͤrzung des Feindes ſo groß, daß
dieſe Anſtalten nutzlos blieben; ganze Salven aus dem
Kleingewehr gingen in die Luft und wenn das Geſchuͤtz
losgebrannt wurde, war gewiß kein Koſak mehr in der
Richtung deſſelben. Die Unruhe des Volks brach auf
mehreren Punkten unverhohlen aus, und konnte jeden
Augenblick den Franzoſen verderblich werden; jedoch
fehlte ein entſchloſſener Anfuͤhrer, der die Geſinnung
zur That gemacht haͤtte. Weil nun den eingedrunge¬
nen Koſaken von den ruſſiſchen Truppen, die vor der
Stadt geblieben waren, keine Unterſtuͤtzung kam, ſo
gewann der Marſchall Augerau die noͤthige Zeit, ſeine
Truppen in der Wilhelmsſtraße zuſammenzuziehen, und
ruͤckte mit zahlreichem Fußvolk und Geſchuͤtz heran,
wodurch Tettenborn, nachdem er drei Stunden ſich in
der Stadt behauptet hatte, endlich zum Weichen ge¬
zwungen wurde. Er zog faſt ohne Verluſt wieder auf
das freie Feld, wohin der Feind, ungeachtet ſeiner
Uebermacht, nicht zu folgen wagte.
Der kuͤhne Handſtreich war in der Hauptſache zwar
nicht gelungen, machte aber fuͤr die ruſſiſchen Waffen
[245] den vortheilhafteſten Eindruck, und zeigte, welchen Er¬
folg man haͤtte hoffen duͤrfen, wenn von allen Seiten
mit gleicher Entſchloſſenheit, wie von der einen, waͤre
eingewirkt worden. Allgemein galt das Unternehmen
fuͤr einen der glaͤnzendſten Reiterzuͤge, wie denn auch
der Kaiſer Alexander zum Zeichen ſeiner Zufriedenheit
den St. Wladimirorden zweiter Klaſſe mit ſchmeichel¬
haften Ausdruͤcken an Tettenborn ſenden ließ. Der
ganze Ueberfall koſtete wenige Koſaken, die einzeln in
den Straßen verirrt, ſich zuletzt abgeſchnitten fanden;
ein tapferer und liebenswuͤrdiger Offizier, Wilhelm
von Blomberg, der auch ſchoͤne dichteriſche Gaben hatte,
war gleich im erſten Anreiten durch eine Kugel getoͤd¬
tet worden. Die Franzoſen verſchwiegen ihren Ver¬
luſt, allein die Gefangenen konnte man in Pankow
angehaͤuft ſehen, wohin die Berliner, trotz der fran¬
zoͤſiſchen Wachſamkeit, in den naͤchſten Tagen ſchaa¬
renweiſe ſtroͤmten.
Nachdem der Marſchall Augereau den General Poin¬
ſot von Werneuchen wieder an ſich gezogen hatte, hielt
er Berlin und das linke Ufer der Spree noch mehrere
Tage beſetzt, um die Truͤmmer aufzunehmen, welche
der Vicekoͤnig Eugen von der Oder zuruͤckbrachte, wo¬
durch die franzoͤſiſche Macht in und um Berlin auf
16,000 Mann ſtieg. So verſtaͤrkt, und wieder mit
einiger Reiterei verſehen, wagten die Franzoſen nun
oͤftere Ausfaͤlle, und vor den Thoren fielen taͤglich blu¬
[246] tige Gefechte vor, in welchen die letzten Ueberbleibſel
franzoͤſiſcher Gardereiterei von den Koſaken uͤbel zuge¬
richtet wurden. Dieſer Zuſtand dauerte fort, bis das
ruſſiſche Fußvolk uͤber die Oder gegangen war und gegen
Berlin heranruͤckte, auf welche Nachricht die Franzoſen
theils nach Magdeburg, theils nach Wittenberg abzogen.
Tettenborn ruͤckte an der Spitze ſeiner Truppen in die
Stadt, wo die Einwohner ihn mit groͤßten Freuden¬
bezeigungen empfingen; die Koſaken warfen ſich ſogleich
auf den abziehenden Feind, deſſen letzte Zuͤge ſie noch
innerhalb der Stadt erreichten, und blieben in beſtaͤn¬
diger Verfolgung hart auf ſeinen Ferſen. Der Gene¬
ral Graf von Wittgenſtein langte mit ruſſiſchem Fu߬
volk an, und traf die kraͤftigſten Anſtalten zur weitern
Kriegsfuͤhrung.
In Berlin mußte Tettenborn abermals das Bette
huͤten, weil die Roſe bei der ſchonungsloſen Anſtren¬
gung wieder ſchlimmer geworden war. Dies hinderte
ihn jedoch nicht, mit raſtloſem Eifer neuen Unterneh¬
mungen nachzuhaͤngen. Schon fruͤh hatte ſich das Au¬
genmerk der Ruſſen auf Hamburg gelenkt; außer den
militaͤriſchen Gruͤnden, die einen Zug dorthin anriethen,
waren auch politiſche Abſichten vorhanden, unter wel¬
chen die nahe Einwirkung auf Daͤnemark, die Eroͤff¬
nung der unmittelbaren Verbindung mit England, und
ſelbſt der Eindruck, welchen die Befreiung der wichti¬
gen Handelsſtadt in St. Petersburg machen mußte,
[247] ſehr in Betracht kamen. Die unzufriedene Stimmung
der Hamburger war bekannt, ſo wie auch der ſchwache
Zuſtand der franzoͤſiſchen Macht in jenen Gegenden,
wo man einen aͤußeren Angriff noch gar nicht erwar¬
tete. Jedoch wuͤrde dieſer Zug nach Hamburg, ſo
zweckmaͤßig und guͤnſtig er auch erſchien, wohl nicht
zur Ausfuͤhrung gekommen ſein, waͤre nicht in Tetten¬
born zugleich der tuͤchtigſte und bereitwilligſte Fuͤhrer
vor Augen geweſen, der kein Bedenken trug, ſich mit
einer kleinen Schaar auf vierzig Meilen weit von der
Hauptſtaͤrke zu entfernen, und ſich in eine Verwicklung
von Ereigniſſen einzulaſſen, deren Wendung niemand
abſehen konnte. Er legte ſeine Entwuͤrfe vor, eroͤrterte
die Aufgaben, die ſich darbieten konnten, zeigte die
Maßregeln, die er auszufuͤhren dachte, und alles wurde
gutgeheißen und angenommen. Er empfing die noͤthi¬
gen Befehle und Vorſchriften, und an der Spitze von
4 Koſakenregimentern, 2 Schwadronen Iſum'ſcher Hu¬
ſaren, 2 Schwadronen Kaſan'ſcher Dragoner, und
2 Stuͤcken leichtes Geſchuͤtz, verließ er am 12. Maͤrz
Berlin, und ruͤckte raſch gegen Mecklenburg vor. Ein
ſchreckender Ruf, der die Zahl der Truppen ungeheuer
vergroͤßerte, ging vor ihm her und erhoͤhte ebenſo den
Muth der Freunde, als er den des Feindes nie¬
derſchlug.
Wir gehen jetzt zu der naͤheren Betrachtung derje¬
nigen Ereigniſſe uͤber, welche dieſen Zug und ſeine
[248] Folgen darſtellen, und bemerken nur noch, daß die
Erzaͤhlung, ſowohl der hamburgiſchen Sache als auch
der ferneren Kriegszuͤge Tettenborn's nicht erſt neuer¬
lich aufgeſetzt, ſondern groͤßtentheils noch im Laufe der
Begebenheiten ſelbſt niedergeſchrieben, und ſchon in den
Jahren 1813 und 1814 gedruckt worden iſt. Im We¬
ſentlichen dieſe fruͤhere Auffaſſung beizubehalten, ſchien
um ſo noͤthiger, als eine vollſtaͤndige Ueberarbeitung
ſchwerlich Statt finden koͤnnte, ohne zugleich die Ur¬
ſpruͤnglichkeit zu gefaͤhrden, welche vielleicht den ganzen
Werth unſerer Darſtellung ausmacht.
Hamburg
im Fruͤhjahr1813.
Die Geſchichte der Tage, in welche wir jetzt eintreten,
ſchien anfangs in dem Aufſtehen anderer Staͤdte und
Laͤnder Deutſchlands, wozu damals Hoffnung und Aus¬
ſicht war, ſich wiederholen zu muͤſſen, und Hamburg
keinen Anſpruch zu haben, in der allgemeinen Erhebung
mehr zu bedeuten, als ihm nach Verhaͤltniß der Lage
und Kraͤfte zukam. Nachdem aber das Beiſpiel dieſer
Stadt ohne Nachahmung geblieben, und ihr allein das
Loos geworden, fuͤr ihre kuͤhne Entſchloſſenheit die
ſchweren Geſchicke zu erdulden, welche wie ein großes
Trauerſpiel die Theilnahme der Zeitgenoſſen heftig auf¬
regten, ſo ſteht auch ihre Geſchichte waͤhrend dieſer Zeit
als ein eignes, abgeſchloſſenes Ganzes da, und gewinnt
einen hoͤheren von den allgemeinen Ereigniſſen faſt un¬
abhaͤngigen Werth.
Der Verfaſſer konnte nicht ohne die tiefſte Bewe¬
gung des Geiſtes und Herzens dieſe Entwicklungen be¬
[250] trachten, die unter ſeinen Augen vorgingen, und ihm
die weſentlichen Momente aller Volkserſchuͤtterungen
vorfuͤhrten; er faßte fruͤh den Gedanken, ſich einen An¬
theil an dieſen Vorgaͤngen, da zur eingreifenden That
das bloße Wollen nicht genuͤgt, wenigſtens durch Ueber¬
lieferung und Ausbreitung zu erwerben. Von dieſem
Vorſatz konnte der Schmerz uͤber den unerwarteten
Ausgang ihn eine kurze Zeit ablenken, die obige Be¬
trachtung aber, wie viel wichtiger um dieſe Ereigniſſe
geworden, und die verworrnen und falſchen Anſichten,
welche ſich verbreiteten, mußten ihn darauf zuruͤckfuͤhren.
Denn das Urtheil der Menge wie der hervorragen¬
den Einzelnen ſchwankte in entgegengeſetzten Irrthuͤ¬
mern, und die Unwiſſenheit entſtellte wie die Luͤge mit
verlaͤumderiſchen Zuͤgen das edle Bild dieſer vaterlaͤn¬
diſchen Thatſachen. Auch konnte nicht ſo leicht die
Wahrheit inmitten ſo vieler Leidenſchaften und Mei¬
nungen durchbrechen, denen insgeſammt das Licht der
klaren Einſicht fehlen mußte. Denn alles, was den
Staat betrifft, verweilt bei uns Deutſchen groͤßtentheils
in der Heimlichkeit ſtiller Verhandlungen, und ihrem
Weſen nach koͤnnen die Gruͤnde und Triebfedern deſſen,
was ſichtbar wird, nur wenigen Eingeweihten bekannt
ſein; die Vorgaͤnge in und bei Hamburg machten hie¬
von keine Ausnahme, ſie erfuhren uͤberdies einen Zu¬
ſammenfluß der ungewoͤhnlichſten Verwicklungen, wie
in ſo kurzer Friſt und ſo engem Raume ſich ſelten
[251] vereinigt finden. Der Verfaſſer aber war ſo gluͤcklich,
einen Standpunkt zu haben, der ihm in das Innere
und Aeußere einen gleich freien Blick gewaͤhrte, und
die Erforſchung des Einzelnen wie die Ueberſicht des
Ganzen erleichterte; und wenn er auch die waͤrmſte
Theilnahme bekannte, ſo durfte er ſich doch von allen
Vorurtheilen frei fuͤhlen, welche grade hier den Sinn
ſo vielfaͤltig befangen hielten. Wer ſelbſt eingeweiht iſt
in dem ganzen Zuſammenhang, wird leicht erkennen,
wie fern der Verfaſſer es iſt; wer aber bloß Augen¬
zeuge der Erſcheinungen war, der moͤge von der Wahr¬
heit ihrer Darſtellung einen guͤnſtigen Schluß auf die
Wahrheit der andern Angaben machen, welche der Pruͤ¬
fung minder offen ſtehen.
Die Spannung, in welcher der Anfang des Jahres
1813 die Gemuͤther durch das ganze noͤrdliche Deutſch¬
land fand, hatte in raſcher Stufenfolge ſich auf's hoͤchſte
geſteigert, aus der dumpfen Erwartung mußten heftige
Bewegungen hervorbrechen. Der Haß gegen die fran¬
zoͤſiſche Herrſchaft war durch alle erſinnliche Maßregeln
der Strenge, der Beſchraͤnkung, der Argliſt und Ver¬
fuͤhrung, mehr genaͤhrt als zuruͤckgedraͤngt worden, und
zeigte ſich offner und unruhiger, je naͤher die jammer¬
vollen Reſte des in Rußland untergegangnen Heeres
[252] den Anblick einer Niederlage brachten, fuͤr welche weder
Erfahrung noch Einbildungskraft einen Maßſtab hatten;
die Berichtigung, anſtatt, wie ſonſt, auf geringere An¬
gaben zuruͤckzufuͤhren, fand nur immer zu ſteigern und
hinzuzuthun: ein weit groͤßeres Verderben hatte Na¬
poleon ſeinem eignen Heere gebracht, als jemals einem
fremden. Jetzt fuͤhlte jederman, daß auch fuͤr Deutſch¬
land der Augenblick der Freiheit gekommen ſei; nur wie
er zu ergreifen waͤre, lag noch in dunkler Ungewißheit.
Beſonders hatten diejenigen Landſchaften, welche in
franzoͤſiſche oder weſtphaͤliſche Departements verwandelt
waren, den groͤßten Anreiz, ihre Bande abzuwerfen,
doch, ihrer Fuͤrſten beraubt, ohne Zuſammenhang und
Vertrauen, fuͤhlten ſie zu ſehr ihre Vereinzelung und
Schwaͤche, um ſelbſtſtaͤndig die Waffen zu ergreifen.
Deſto ſehnſuͤchtiger blickten ſie auf die Annaͤherung der
ſiegreichen Ruſſen.
Gleichwohl eilte der ungeduldige Eifer der Unter¬
druͤckten dieſem Zeitpunkt auch zuvor. Im franzoͤſiſchen
Gebiete ſelbſt, in einer Stadt, welcher die ruſſiſche
Huͤlfe damals noch ſehr entfernt war, in Hamburg,
wo die franzoͤſiſche Herrſchaft recht im Gegenſatze mit
dem vorigen Freiheitsgluͤck die unertraͤglichſte Qual und
Lebenshemmung geworden war, brach am 24. Februar,
bei einem unbedeutenden Anlaß am Altona'er Thor,
der langverhaltene Grimm furchtbar aus. Eine große
Menſchenmaſſe, die ſich wegen aufreizender, von den
[253] franzoͤſiſchen Douaniers mit barſcher Strenge ausge¬
fuͤhrter Durchſuchungen angehaͤuft hatte, drang endlich
im Gefuͤhl ihrer Kraft, auf dieſe verhaßten Diener der
fremden Gewalt kuͤhn und entſchloſſen ein, uͤberwaͤl¬
tigte und entwaffnete ſie, zertruͤmmerte das Wachthaus,
und riß eine lange Reihe ſtarker Paliſſaden, welche zur
Abſperrung dienten, in einem Augenblicke nieder. Der
ſiegesfrohe Haufen tobte ſodann wuͤthend durch die
Straßen der Stadt, rief den Franzoſen Tod und Ver¬
derben, ſuchte die franzoͤſiſchen Beamten auf, die ſchon
groͤßtentheils geflohen oder verſteckt waren, ſtuͤrmte
deren Wohnungen, zerſchlug beſonders die Zeichen der
Kaiſerſchaft, und rief Schmaͤhungen und Fluͤche gegen
Napoleon und ſeine Helfer aus. Weil jedoch in der
bewegten Menge weder Einheit und Plan war, noch
ein Anfuͤhrer auftrat, der ihr beides haͤtte geben koͤn¬
nen, ſo verlor ſich der Tumult nach und nach in dem
Dunkel der Nacht. Gleich am folgenden Tage gingen
Gewerb und Handel, als waͤre nichts vorgefallen, in
gewohnter Ordnung ruhig wieder ihren Gang. Einige
daͤniſche Huſaren, die auf dringendes Anſuchen der vom
erſten Schrecken aufathmenden Franzoſen in die Stadt
geruͤckt waren, wirkten zur Beruhigung mit, indem ſie
den Behoͤrden zum Schutz dienten, ohne ſich dem Volke
feindlich zu bezeigen. Dieſes erkannte auch ſogleich ihre
Geſinnung, benahm ſich friedlich gegen ſie, und zeigte
ausdruͤcklich, daß es ſie von der Sache der Franzoſen
[254] trenne. Die letztern durften ſich nicht allzu dreiſt her¬
vorwagen, oder liefen Gefahr, beleidigt und angefallen
zu werden. Daß auch im unterſten Volke bei dieſer
Feindſeligkeit noch ein anderer Trieb walte, als rohe
Widerſetzlichkeit und Pluͤnderungsluſt, mußten ſelbſt die
franzoͤſiſchen Beamten zugeſtehn, und dies verdroß und
beſchaͤmte ſie am meiſten, ein allgemeiner Haß machte
ſich Luft, dies war nicht zu verhehlen noch zu beſchoͤ¬
nigen. Keine Verletzung des Eigenthums, keine Mi߬
handlung, keine Ausſchweifung hatte der Poͤbel began¬
gen, die nicht lediglich gegen die Franzoſenherrſchaft
gerichtet geweſen waͤre, ja beim Pluͤndern einiger Kaſ¬
ſen hatten Leute von zerlumptem Anſehn die vollen
Beutel jubelnd auf die Straße unter die Menge aus¬
geworfen, und das Geld wurde in den folgenden Tagen
groͤßtentheils wieder eingeliefert.
Im Vortheil beſtehender Einrichtung und geordne¬
ter Wirkſamkeit, wußten ſich die Franzoſen mit kluger
Vorſicht doch noch im Beſitze der Macht zu erhalten,
und bald wieder die Oberhand zu nehmen. Sie zogen
die angeſehenſten Buͤrger zu Rath, uͤbertrugen dieſen
manche Maßregeln und Anſtalten, und vertrauten theil¬
weiſe der Buͤrgerſchaft ſogar die Waffen wieder, die
man ihr fruͤher mit ſorgſamer Strenge abgenommen
hatte. Die Buͤrger fuͤgten ſich zwar ungern in ſolda¬
tiſche Ordnung, zumal ſie wohl fuͤhlten, daß ihre Be¬
waffnung weniger ihre eigne Sicherheit, als die der
[255] franzoͤſiſchen Gewalt bezwecke, doch nahmen ſie die
aufgedrungenen Waffen meiſt in der Hoffnung an, ſie
bald auch nach eignem Sinne und wider den nicht
zweifelhaften wahren Feind zu gebrauchen. Einſtweilen
aber mußten ſie deſſen Macht und Anſehn verſtaͤrken
helfen; dies geſchah in ſolchem Maße, und Mißtrauen
und Zweifel hatten ſo zugenommen, daß die Franzoſen
ſogar wagen durften, eine Anzahl von Schlachtopfern,
welche als Raͤdelsfuͤhrer des Aufruhrs gelten mußten,
aus der unterſten Volksklaſſe herauszugreifen, und nach
kurzem Verfahren ſogleich erſchießen zu laſſen. Hiedurch
aber wurde das Volk aus der Betaͤubung, in die es
verfallen war, wieder aufgeſchreckt, und einen Tag
ſpaͤter haͤtte keine Hinrichtung wiederholt werden koͤn¬
nen. Eine furchtbare Gaͤhrung brauſ'te nun immer¬
fort, bald lauter, bald dumpfer; die Lage der Fran¬
zoſen wurde taͤglich bedraͤngter und angſtvoller, ſie fuͤhl¬
ten, daß ſie weder auf die daͤniſchen Huͤlfstruppen,
noch auf die hamburgiſche Buͤrgerbewaffnung ſonderlich
rechnen durften; franzoͤſiſche Truppen waren nirgends
in der Naͤhe, und aus der Ferne nicht zu hoffen.
Ueberzeugt, dem Kaiſer dieſen wichtigen Platz nicht
erhalten zu koͤnnen, und doch wieder voll Furcht, ihn
zu fruͤh aufzugeben, ſchwankten ſie in wechſelnden Ein¬
druͤcken des Schreckens, des Grimms, der Hoffnung
und des Zagens, und durften zuletzt nicht einmal Fort¬
ſendungen wagen, die dem Volke das Bild eines na¬
[256] hen Abzugs zu ſehr vergegenwaͤrtigt haͤtten. Die
Loͤſung dieſes geſpannten Zuſtandes ruͤckte indeß von
außen mit beſchleunigten Schritten jeden Tag naͤher.
Schon am 14. Mai war Tettenborn an der Spitze
einer vorausgeeilten Koſakenſchaar in Ludwigsluſt ein¬
getroffen, und hatte durch ſein kluges, ruͤckſichtvolles,
aber auch entſchloſſenes Betragen den Herzog von
Mecklenburg-Schwerin ſogleich beſtimmt, das franzoͤſi¬
ſche Bundesverhaͤltniß augenblicklich aufzugeben und ſich
fuͤr die Ruſſen und Preußen zu erklaͤren. Dies erſte
Beiſpiel eines deutſchen Fuͤrſten, der die aufgedrungene
Fremdherrſchaft abzuwerfen wagte, und fuͤr die Frei¬
heit und Ehre des Vaterlandes ſich jeder Gefahr un¬
terzog, zeigte dem ganzen noͤrdlichen Deutſchland, was
zu thun ſei, und wirkte beſonders auch in Hamburg
auf die Gemuͤther, welche den Tag nicht fern ſahen,
der auch ihre Entſcheidung fordern wuͤrde.
Nach dieſem erlangten Gewinne zog Tettenborn
ſogleich weiter, und war mit ſeinem Vortrab am
15. Maͤrz eben in Lauenburg eingeruͤckt, als ihn dort
eine Meldung traf, welche fuͤr den Augenblick die ganze
Bewegung ſtocken machte, ja ſogar zweifeln ließ, ob
nicht der ganze Zug auf Hamburg ſchon als geſchei¬
tert anzuſehen ſei.
Waͤhrend naͤmlich Tettenborn durch Mecklenburg
gegen Hamburg vordrang, war gleichzeitig der franzoͤ¬
ſiſche General Morand auf dem Marſche durch dieſes
[257] Land gegen die Elbe hin, und beide Marſchlinien mu߬
ten hier zuſammentreffen. Morand kam mit 2500 Mann
Fußvolk, einiger aus Douaniers beſtehender Reiterei
nebſt 16 Stuͤcken Geſchuͤtz, aus Schwediſch-Pommern,
welches er auf erhaltenen Befehl geraͤumt hatte, und
ſeine Staͤrke war hinreichend, den Marſch der Ruſſen
voͤllig aufzuhalten. In Moͤlln angekommen, und durch
den Anblick einiger hier nicht vermutheten Koſaken
ſtutzig geworden, ließ er ſeine Truppen ploͤtzlich Halt
machen. Ihn im Ruͤcken ſtehen zu laſſen, durfte Tet¬
tenborn nicht wagen, ihn anzugreifen war der einzige
Rath, doch die Ausfuͤhrung jedenfalls mißlich, da nur
Reiterei ihm zu Gebote ſtand. Morand indeß wartete
dies nicht ab, ſondern wandte ſich, in der Ungewißheit
uͤber die Staͤrke und Abſicht der Ruſſen, noch waͤhrend
der Nacht mit allen ſeinen Truppen nach Bergedorf,
wo ſich die franzoͤſiſchen Beamten aus Hamburg mit
den Douaniers und ſonſtigem Anhang, welche in der
gaͤhrenden Stadt den Eingebungen der Furcht nicht
laͤnger widerſtanden hatten, mit ihm vereinigten. Die
Franzoſen ſtanden demnach zwiſchen die Ruſſen und
Hamburg vortheilhaft eingeſchoben. Ihnen aber woll¬
ten die Vortheile ihrer Stellung keineswegs einleuch¬
ten. Morand glaubte ſich ſtark genug, die von jenen
ſchon ganz aufgegebene Stadt noch als guten Zufluchtsort
behaupten zu koͤnnen, und wollte dorthin marſchiren;
allein die Daͤnen, beſorgt, daß Holſtein nicht der Schau¬
III.17[258] platz der Feindſeligkeiten wuͤrde, hatten bereits mit
300 Mann und vielem Geſchuͤtz ihre Graͤnzen beſetzt,
und weigerten den Durchzug durch ihr Gebiet, uͤber
welches die Hauptſtraße fuͤhrte; die Nebenſtraße hinge¬
gen durch die hamburgiſchen Niederungen des Billwaͤr¬
ders ſchien den Franzoſen unrathſam.
Unter dieſen Umſtaͤnden mußte Morand ſich wenig¬
ſtens in Bergedorf und den Vierlanden behaupten, und
da er inzwiſchen auch erkundet, daß die Ruſſen nur
Reiterei haͤtten, ſo ſandte er am naͤchſten Morgen
500 Mann mit 8 Kanonen nach Eſcheburg, den von
Lauenburg heranruͤckenden Ruſſen entgegen. Tetten¬
born ließ durch den Oberſtlieutenant Konſtantin von
Benkendorf ſogleich den Feind angreifen und den gan¬
zen Tag bis zur Nacht unaufhoͤrlich beunruhigen. Die
Gegend war den Ruſſen ſehr unvortheilhaft; von Eſche¬
burg bis Bergedorf iſt ein einziger Engweg, den der
Feind beſetzt hielt, und deſſen linke Seite nach dem
Elbufer, des niedrigen und zerſchnittenen Bodens we¬
gen, fuͤr Reiterei unzugaͤnglich, die rechte Seite aber
nur in weitem Bogen zu umgehen war. Der Eifer
und die Gewandtheit der Koſaken erſetzte bald den
Nachtheil dieſer Umſtaͤnde. Tettenborn ließ eine An¬
zahl abſitzen und zu Fuß mit dem Feinde plaͤnkeln, ſie
ſchlichen durch das Gebuͤſch ganz nah zu den feindli¬
chen Kanonen, deren Kartaͤtſchenſchuͤſſe ſie geſchickt ver¬
mieden, und dann mit Hurrahgeſchrei verhoͤhnten, ſie
[259] ſelbſt aber nahmen die franzoͤſiſchen Kanoniere zum Ziel
und toͤdteten deren viele.
Waͤhrend dieſe Koſaken den Feind in der Fronte
beſchaͤftigten, ſandte Tettenborn eine andere Abtheilung
auf Umwegen nach Bergedorf, wo Morand ſeine Haupt¬
truppe beiſammen hielt; die Feldwachen, keines An¬
griffs gewaͤrtig, wurden uͤberfallen, und flohen in
Unordnung bis in die Stadt, wo ſie alles mit Schrecken
und Beſtuͤrzung erfuͤllten; die Franzoſen mußten ihre
nach Eſcheburg vorgeruͤckte Mannſchaft vernichtet glau¬
ben. Als nun gar noch Koſakenzuͤge ſich in der rech¬
ten Flanke zeigten, welche den Weg nach der Elbe hin
zu ſperren drohten, meinte Morand dies nicht abwar¬
ten zu duͤrfen; er hatte ſchon in der Nacht ſein Gepaͤck
beim Zollenſpieker uͤber die Elbe geſchickt, am 17. Maͤrz
ganz in der Fruͤhe brach er ſelbſt mit allen Truppen
in derſelben Richtung auf, um ſich auf das linke
Elbufer zuruͤckzuziehen. Tettenborn folgte ihm auf dem
Fuße nach, und draͤngte ihn dergeſtalt, daß eine Vier¬
telſtunde von Zollenſpieker die Franzoſen Halt machen
mußten, und auf einem querlaufenden Deich eine Bat¬
terie von 6 Kanonen aufpflanzten, welche den einzigen
Deich, auf welchem die Ruſſen nachruͤcken konnten, durch
lebhaftes Feuer beſtrichen. Aber auch hier ſaßen viele
Koſaken ab, nahmen die Buͤchſe zur Hand, und unter¬
hielten das Gefecht, bis Tettenborn ſeine beiden Kano¬
nen auf dem Deiche trotz des feindlichen Feuers vor¬
17 *[260] fahren ließ, von denen jedoch nur die eine zum Feuern
kam, denn der Feind, nun gar Geſchuͤtz bei den Ruſſen
wahrnehmend, verlor die Luſt weitern Widerſtandes,
ſuchte eiligſt die Boote zu erreichen, die zur Ueberfahrt
bereit ſtanden, verlor aber durch die nun um ſo hitziger
anſprengenden Koſaken noch viele Leute, und mußte
ihnen auch die 6 Kanonen uͤberlaſſen, welche ſchon ein¬
geſchifft waren, doch nicht mehr abfahren konnten.
Der Weg nach Hamburg war nun frei, und auf
dem rechten Elbufer kein Franzoſe mehr. Die Ein¬
wohner dieſer Stadt und der umliegenden Gegend hat¬
ten die zwei Tage fortdauernden Kampfes in freudig¬
banger Erwartung und ungeduldiger Hoffnung zuge¬
bracht. Einzelne Reiter aus der Stadt hatten ſchon
in der Gegend von Eſcheburg ſich bei den Ruſſen ein¬
gefunden, waren Zeugen der gluͤcklichen Gefechte ge¬
weſen, und hatten zuruͤckkehrend durch ihre Erzaͤhlun¬
gen die ganze Bevoͤlkerung zu den Ausbruͤchen der
leidenſchaftlichſten Freude aufgeregt, welche durch die
kurze Anweſenheit einer ſchon am 17. in die Stadt
gedrungenen Streifparthei Koſaken noch ſtaͤrker ent¬
flammt wurde. Der Maire und ſeine Beiſtaͤnde aus
der Buͤrgerſchaft ſandten nun dem ruſſiſchen Befehls¬
haber Abgeordnete entgegen, ihn zur Beſetzung der
Stadt einzuladen und ihm deren Wohl zu empfehlen.
Tettenborn empfing dieſe Abgeordneten Nachmittags in
Bergedorf, als er eben nach Beendigung des Gefechts
[261] gegen Morand dahin vorgeruͤckt war. Sie legten drin¬
gend ihre und ihrer Mitbuͤrger Wuͤnſche vor, durch
ihn das Joch der franzoͤſiſchen Herrſchaft von ihnen
genommen zu ſehn. Hier war es, wo Tettenborn
durch Einſicht und Karakter den fuͤr Hamburgs Frei¬
heit und Selbſtſtaͤndigkeit entſcheidendſten Anſpruͤchen
die Bahn eroͤffnete, und fuͤr die deutſche Sache uͤber¬
haupt das nachahmenswuͤrdigſte Beiſpiel hervorrief, in¬
dem er den Abgeordneten erklaͤrte, die Ruſſen koͤnnten
allerdings das Begehrte thun, ſie koͤnnten es aber
auch unterlaſſen, und Hamburg als eine dem Feinde
abgenommene Stadt behandeln; das Letztere ſei viel¬
leicht fuͤr die ruſſiſchen Waffen vortheilhafter, allein
dergleichen Erwaͤgungen duͤrften hier nicht gelten, die
ruſſiſche Sache ſei mit der deutſchen verſchwiſtert, und
dieſe fordre, daß die Hamburger ſelbſt ihre Freiheit
herſtellten; ſie moͤchten daher unverzuͤglich die franzoͤſi¬
ſchen Behoͤrden abſchaffen, ihre ehemaligen eignen wie¬
der einſetzen; er werde die Stadt nicht eher als Freund
betreten, bis dies geſchehen waͤre. Mit dieſer Antwort
ſandte er die Abgeſandten, unter denen einige vorma¬
lige Rathsherren waren, nach der Stadt zuruͤck. Kaum
war hier Tettenborn's Erklaͤrung kund geworden, als
ihr auch ſchon genuͤgt war. Die Mairie, und was
noch ſonſt von franzoͤſiſchen Formen beſtand, wurde
abgeſchafft, die alte Verfaſſung wieder eingeſetzt, Rath
und Buͤrgerſchaft zuſammenberufen und die Freiheit der
[262] Stadt oͤffentlich verkuͤndigt. Neue Abgeordnete wur¬
den an Tettenborn geſandt, um ihn von dem Geſche¬
henen zu benachrichtigen; dieſe erſt erkannte er als
wahre Hamburger an, und verſprach ihnen ſeines Kai¬
ſers Schutz und Beiſtand.
Am Mittage des 18. Maͤrz hielt Tettenborn ſeinen
Einzug in die Stadt. Nie gab es ein groͤßeres Feſt;
das ganze Daſein einer ungeheuern Bevoͤlkerung verlor
ſich in das Eine Gefuͤhl der wiederkehrenden Freiheit,
und alles Gewicht der Erinnerung vieljaͤhrigen Ungluͤcks
und Leidens fiel an dieſem Tage von den aufgerichte¬
ten Gemuͤthern ab. Aus allen Tiefen, wohin er ſich
hatte verbergen muͤſſen, drang der Ausdruck der wah¬
ren, langverhaltenen Empfindungen maͤchtig hervor, und
wurde zum lauten Ruf der Begeiſterung. Solche Lei¬
denſchaft und Herzensgewalt, wie in dieſem Volksjubel
ſich offenbarte, hatte keiner der Anweſenden je geſehn,
noch den Deutſchen als moͤglich zugetraut. Jeder auch
minder bedeutende Umſtand dieſes Tages wurde durch
die unausſprechliche Innigkeit und Liebe, welche alles
durchdrang, ruͤhrend und groß. Bis zwei Meilen von
Hamburg waren dreißig Buͤrger zu Pferde den ruſſi¬
ſchen Truppen entgegengekommen, und zogen ſodann
mit lautem Jubel vor ihnen her, um ſie in ihre Stadt
einzufuͤhren. Je naͤher man dieſer kam, deſto anſehn¬
licher wurde die Schaar dieſer Begleiter, deſto lauter
und begeiſterter toͤnte ihr unaufhoͤrlich erneuertes Hur¬
[263] rahrufen, das in der bei jedem Schritt zahlreicher ver¬
ſammelten Volksmenge wiederhallte. Eine Ehrengarde
zu Pferde ſtand an dem ſogenannten Letzten-Heller, wo
der Nebenweg, den die ruſſiſchen Truppen von Ber¬
gedorf herkamen, wieder in die durch das daͤniſche
Gebiet abgeſchnittene Hauptſtraße faͤllt, in Parade auf¬
marſchirt, und ſetzte ſich an die Spitze des voranrei¬
tenden Zuges, dem ſich weiterhin die Schuͤtzengilde
anſchloß. Gaͤrten, Landhaͤuſer und Alleen, die ſich weit
vor die Stadt hinaus erſtrecken, waren von einer un¬
geheuern Menge Menſchen beſetzt, ein unabſehbares
Gewimmel breitete ſich, wohin die Augen blickten, ver¬
wirrend aus. Immer neue Wogen von Hurrah und
Lebehoch kamen dem annaͤhernden Zuge entgegen, waͤh¬
rend zu beiden Seiten und weit im Ruͤcken das Ge¬
ſchrei mit Heftigkeit fortdauerte. Zwiſchendurch vernahm
man den Geſang der Koſaken, die ihre vaterlaͤndiſchen
Lieder angeſtimmt hatten. Vor dem Thore empfing
Tettenborn von den Abgeordneten des Raths und der
Buͤrgerſchaft die Schluͤſſel der Stadt. Im Thore ſelbſt
bekraͤnzten ihn weißgekleidete Maͤdchen mit Blumen,
indem ſie ihn als Retter und Befreier willkommen
hießen, unter lautem Beifallrufen des Volks. Jetzt
ſtieg der Jubel und die Begeiſterung auf den hoͤchſten
Gipfel. Das Gedraͤnge in der Stadt nahm uͤberhand.
Die Fuͤlle der Menſchen war nur Eine große Fluth,
die, wie ein langſamer Strom in ſeinen Ufern, durch
[264] die engen Straßen fortruͤckte, und jeden Augenblick
ſchwellend ſtockte. Alle Glocken laͤuteten, Freudenſchuͤſſe
aus Flinten und Piſtolen dauerten ununterbrochen fort,
alles war trunken und außer ſich vor Entzuͤcken.
„Vivat Kaiſer Alexander, unſer Erretter, unſer Erloͤ¬
ſer!“ und „Hurrah“ und „Vivat Tettenborn! Vivat
Wittgenſtein!“ und „Heil den Ruſſen, den Koſaken“,
und „Heil“ und „Lebehoch“ ohne Zahl ſchallte durch
die Luͤfte, daß alles davon erzitterte. Aus den Fen¬
ſtern wehten Fahnen und Flaggen; Frauen und Maͤd¬
chen ſchwangen weiße Tuͤcher; Huͤte mit gruͤnen Zwei¬
gen ſah man auf Degenſpitzen und hohen Stangen
getragen, oder jauchzend durch die Luͤfte geſchleudert.
Man draͤngte ſich, mit Gefahr zertreten zu werden,
zwiſchen die Pferde, bekraͤnzte ſie mit gruͤnen Zweigen
und Blumen, die zum Theil aus den Luͤften gepflogen
kamen, ja man kuͤßte ſelbſt die Pferde im Uebermaße
des Gluͤcks. Man ſah weinen und lachen vor Freude,
Alt und Jung die Haͤnde zum Himmel erheben, Be¬
kannte und Unbekannte einander umarmen und begluͤck¬
wuͤnſchen, mit ſeinem Todfeinde wollte ſich jeder ver¬
ſoͤhnen um dieſes Tages willen, eine allgemeine Bru¬
derliebe hatte die Menſchen ergriffen. In mehreren
Straßen waren Bruſtbilder des Kaiſers Alexanders
aufgeſtellt und mit Lorbeere bekraͤnzt, vor jedem der¬
ſelben hielt Tettenborn ſtill, ſenkte den Degen, und
brachte ſeinem Kaiſer ein Hurrah, das jauchzend von
[265] dem Volke wiederholt wurde. Unter tauſend verſchie¬
denen Ausbruͤchen berauſchten Entzuͤckens gelangte er
bis zu ſeiner Wohnung, wo der Jubel ununterbrochen
fortwaͤhrte. Ungemein erhoͤhte den Eindruck, daß keine
große Kriegsmacht, ſondern eine kleine Schaar, kein
fremder Fuͤrſt oder Feldherr, ſondern ein Deutſcher,
ein ritterlicher Anfuͤhrer wunderbarlicher, niegeſehener
Reiter, die mehr ſeinem Heldenmuth als ſeinem Befehl
anzugehoͤren ſchienen, dieſen Strom des uͤberwogenden,
unerſchoͤpflichen Willkommens empfing; es ſchien die
Zeit wiedergekehrt, wo von Wenigen, wo von Einem
die groͤßten Dinge vollbracht wurden. Die Stadt war
Abends erleuchtet; auch hier erfand der Eifer des begei¬
ſterten Volks alle nur erſinnlichen Mannigfaltigkeiten,
um den Antheil an dem allgemeinen Entzuͤcken, jeder
auf beſondere Art, darzuthun. Im Schauſpiel wieder¬
holte ſich das rauſchende Getuͤmmel des Beifalls, ſobald
Tettenborn mit ſeinen Offizieren in der ihm bereiteten
Loge erſchien; alle Zuſchauer, auch die Frauen, ſtan¬
den auf, und ſangen feierlichſt das Lied: „Auf Ham¬
burgs Wohlergehn“, worauf nun erſt das Schauſpiel
beginnen konnte; es war ein Gelegenheitsſtuͤck, das
unzaͤhligemal bei jeder leiſen Anſpielung durch unge¬
heuern Beifall unterbrochen wurde. Die beruͤhmte,
und in Hamburg beſonders beliebte Schauſpielerin So¬
phie Schroͤder trat mit der ruſſiſchen Kokarde auf und
wurde ſtuͤrmiſch beklatſcht. Als Tettenborn das Schau¬
[266] ſpiel verließ, ſpannten ihm die Buͤrger die Pferde aus,
und zogen ihn mit Jubelgeſchrei nach Hauſe, wo ſie
ihn auf ihren Schultern aus dem Wagen trugen. Er
hatte ſeinen ſchoͤnſten Tag erlebt; er war der Held des
Volks geworden, ſein Name ſchallte weit im Land um¬
her und uͤber die See hinuͤber.
Am folgenden Tage erſchienen ſogleich zwei Be¬
kanntmachungen, durch welche Tettenborn auf hoͤhern
Befehl den Hamburgern freie Schiffahrt und Handlung
ankuͤndigte, dagegen alles franzoͤſiſche Eigenthum anzu¬
geben und einzuziehen befahl. Die gefuͤllten Douanen¬
ſpeicher, welche fuͤr mehr als 400,000 Thaler eingezo¬
gener Waaren enthielten, uͤbergab er der Stadt, damit
das nachzuweiſende Eigenthum den ehemaligen Beſitzern
unentgeltlich zuruͤckgegeben wuͤrde. Die alte Regierung
der Stadt, die nun als eine freie und ſelbſtſtaͤndige
Macht angeſehen wurde, erhielt den Auftrag, dieſes
Geſchaͤft, ſo wie alle andern, ihr Inneres betreffenden
Einrichtungen, zu uͤbernehmen. Durch dieſes uneigen¬
nuͤtzige Verfahren erwarb Tettenborn auf die Dankbar¬
keit der Hamburger neue Anſpruͤche, und uͤberall wurde
ſein Name geprieſen und ſein Ruhm verherrlicht. Daß
es ſeine Nachtheile hat, dem Volke als ein zu großer
Wohlthaͤter zu erſcheinen, haben viele alte und neue
Beiſpiele dargethan, allein wir ruͤhmen doch immer die,
deren edler Trieb ſolche Klugheit verachtete.
[267]
Unmittelbar nach dieſen Anordnungen wandte Tet¬
tenborn ſogleich die ganze Kraft ſeiner Thaͤtigkeit auf
die Werke des Krieges und die neuen Streitkraͤfte, die
hier geſchaffen werden ſollten. Die Ruͤckſicht auf den
Feind durfte keinen Augenblick vernachlaͤſſigt werden,
die Mittel, ihn zu bekaͤmpfen und die Voͤlker zum be¬
waffneten Aufſtande gegen ihn zu bringen, blieben das
Wichtigſte und Erſte, was vor allem andern noͤthig
war. In Hamburg konnte man, durch den Schein
der Gegenwart verfuͤhrt, ſich leicht der Taͤuſchung hin¬
geben, daß von den Franzoſen gar nicht mehr die Rede
zu ſein brauche, und ein großer Theil der Einwohner
folgte nur allzuſehr dieſem Wahne, der uͤberhaupt in
Deutſchland großen Raum gewonnen hatte, und an die
Stelle des fruͤhern Glaubens an die Unuͤberwindlichkeit
der Franzoſen getreten war. Worauf es aber in dieſen
Zeiten ankomme, und wohin zunaͤchſt die vereinigte
Kraft aller Gutgeſinnten ſich zu wenden habe, eroͤffnete
Tettenborn gleich am 19. Maͤrz durch folgenden Auf¬
ruf: „Hamburger! Ihr loͤſtet die unter der franzoͤſiſchen
Regierung beſtandenen Behoͤrden auf, noch ehe die ruſ¬
ſiſchen Truppen euer Gebiet betraten, und ſetztet die
alten herkoͤmmlichen Behoͤrden wieder ein. Dieſe
maͤnnliche und wuͤrdige That, womit ihr das Werk
eurer Rettung begonnen, und euch dem ganzen
Deutſchland als Beiſpiel aufgeſtellt habt, macht euch
der Zufriedenheit meines erhabenen Kaiſers und der
[268] Achtung der ruſſiſchen Nation werth. Nicht in eine
neufranzoͤſiſche, ſondern in eine altdeutſche Stadt fuͤhrtet
ihr uns ein, und ſo nur durften wir euch als Bruͤder
begruͤßen. Euer Jubel bei unſerm Einzuge in eure
Stadt hat jeden unter uns tief bewegt; doch, ihr deut¬
ſchen Maͤnner und Bruͤder! eure Freude wird nur als¬
dann die wahre Bedeutung gewinnen, wenn ihr Hand
mit anlegt an das große Werk der Befreiung Deutſch¬
lands. Zu den Waffen demnach, wenn die Unter¬
druͤckung eine Schmach war; zu den Waffen fuͤr Va¬
terland und Recht! Noch iſt das Werk der Rettung
nicht vollbracht, und darum denke keiner bis dahin an
Erholung und Genuß. Das ehrenvollſte Geſchaͤft iſt
jetzt, das Schwert zu ziehen und die Fremdlinge vom
deutſchen Boden zu verjagen, die bereits dreihundert
Meilen weit von den ſiegreichen ruſſiſchen Heeren ver¬
folgt werden. Schande und Schmach fuͤr jeden, der
in dieſer verhaͤngnißvollen Zeit, wo um die hoͤchſten
Guͤter der Menſchen gefochten wird, die Haͤnde in den
Schoß legt. Noch Einmal alſo: zu den Waffen! zu
den Waffen! Unter dem Schutze meines erhabenen Kai¬
ſers werdet ihr euch unter eignen Panieren verſammeln,
und ich freue mich, daß mir das Loos beſchieden, euch
zuerſt gegen den Feind zu fuͤhren, und Zeuge eurer
Tapferkeit zu ſein. Tettenborn.“
Er kuͤndigte hierauf dem Rath und der Buͤrger¬
ſchaft an, daß er, dem Auftrage ſeines Kaiſers zufolge,
[269] eine hanſeatiſche Legion aus freiwilligen Jaͤgern zu Fuß
und zu Pferde errichten werde, die als Bundestruppen
der Hanſeſtaͤdte fuͤr die Dauer des Krieges mit den
Ruſſen und Preußen vereinigt fechten ſollten. Die
Aufforderung, ſich zu dieſer Legion zu melden, erging
unter dem 20. Maͤrz, und zugleich wurde ein aͤhnlicher
Aufruf an die Stadt Luͤbeck erlaſſen, wo unterdeſſen
der Oberſtlieutenant von Benkendorf mit einigen ruſ¬
ſiſchen Truppen eingezogen, und mit gleicher Begei¬
ſterung und Freude, wie in Hamburg, aufgenommen
worden war.
Der Zulauf, um ſich unter die Freiwilligen ein¬
ſchreiben zu laſſen, war außerordentlich. Nach wenigen
Tagen ſchon betrug die Zahl der eingeſchriebenen meh¬
rere Tauſend, doch mußten von dieſen manche, weil
Kraͤfte und Alter nicht immer dem Eifer entſprachen,
abgewieſen werden. Viele angeſehene junge Leute, die
der ſorgfaͤltigſten Erziehung genoſſen hatten, und in
uͤppiger Lebensweiſe aufgewachſen waren, ſah man hier
als Gemeine eintreten. Manche, die kurz vorher durch
große Summen ſich von der franzoͤſiſchen Konſkription
losgemacht, und Stellvertreter gekauft hatten, eilten
mit Freuden, ſich jetzt ſelbſt unter die Waffen zu ſtellen.
Tettenborn hatte gleich anfangs den Herren des
Raths erklaͤrt, daß er mit allen Geldverhaͤltniſſen, die
bei Errichtung der Legion vorkommen wuͤrden, nichts
zu thun haben wolle, ſondern bloß anzeigen werde,
[270] was zur Ausruͤſtung der Truppen noͤthig ſei, die An¬
ſchaffung ſelbſt aber der Stadt uͤberlaſſe. Es wurden
daher durch Rath- und Buͤrgerſchluß 200,000 Thaler
als vorlaͤufige Summe fuͤr die Koſten der Einrichtung
bewilligt, und einer eigends dazu beſtellten Kommiſſion
die Verwendung uͤbertragen. Wer irgend von den
Summen, welche Hamburg von jeher zu politiſchen
Ausgaben verwendet bat, unterrichtet iſt, und da weiß,
mit welch aͤußerſter Leichtigkeit Millionen aufgebracht,
und in den ſchon ungluͤcklichen Zeiten noch Hundert¬
tauſende hingegeben wurden, die man zu erſparen nicht
einmal den Verſuch machte, der wird uͤber die Gering¬
heit jener angewieſenen Summe erſtaunen, zumal wenn
man bedenkt, welchen Zweck und welchen Gewinn fuͤr
Hamburg es hier galt. Es iſt bemerkenswert, daß
der Rath ſogar nur die Haͤlfte jener Summe anfaͤng¬
lich in Anregung brachte, und grade die Buͤrgerſchaft,
welche ſie zahlen ſollte, die vorgeſchlagene Summe ver¬
doppelte. Aber freilich zeigte ſich ſchon hier, noch mehr
aber in der Folge, ein Unterſchied der Geſinnung, der
die nachtheiligſten Wirkungen aͤußerte, und wohl ein¬
geſehn, aber nicht abgeaͤndert werden konnte. Die
Anordnungen aller Art wurden von den alten Behoͤr¬
den ſo unzulaͤnglich und langſam betrieben, daß ganze
Tage der koſtbarſten Zeit verloren gingen, und nichts
zu Stande kommen wollte. Hinderniſſe wurden ange¬
fuͤhrt, Schwierigkeiten eroͤrtert, Beſorgniſſe gezeigt,
[271] Sicherungen verlangt und Anſtoͤße genommen, wo, am
rechten Ende gefaßt, und mit klarem Sinne angeſehn,
die Sache von ſelbſt gehen mußte. Tettenborn hatte
mit unſaͤglicher Muͤhe und Anſtrengung uͤberall ſelbſt
anzuordnen und zu befehlen, mußte in die kleinſten
Einzelnheiten der Ausruͤſtungen eingehn, und am Ende
aller Arbeit doch durch das Anſehn der Gewalt bei
jenen Behoͤrden durchdringen. Die entſchiedene Sprache,
die bei dieſen Gelegenheiten gefuͤhrt wurde, half auf
einige Zeit, und brachte regſamere Thaͤtigkeit hervor.
Die folgenden Worte uͤber die inneren Verhaͤltniſſe
Hamburgs werden darthun, wie ſowohl jene Unannehm¬
lichkeiten, als auch manches andere Uebel, das ſich
ſpaͤter entwickelte, tief in der Sache begruͤndet waren.
Die Hamburger waren ein wirklich freies Volk,
der Obrigkeit aus Wahl und mit Bewußtſein unter¬
geben, und durch einen kraͤftigen Geſetzeszuſtand bei
der gluͤcklichſten Verfaſſung erhalten. Die Unabhaͤngig¬
keit konnte jedem Einzelnen, ſobald er es wollte, das
Gefuͤhl des perſoͤnlichen Geltens erhoͤhen, ſie mußte
ihn auf ſich ſelbſt, auf ſein eignes Wirken und Wollen,
vorzuͤglich anweiſen, [und] dadurch ſeinen Karakter kraͤf¬
tigen. Die Hamburger ſind daher auch von allen Zei¬
ten her, vor andern Großſtaͤdtern, beherzt und kuͤhn
geweſen, zum Raufen aufgelegt, und auch der Geringſte,
weit entfernt, ſich etwas bieten zu laſſen oder ohne
Noth zu dulden, iſt zu dreiſten Ruͤckwirkungen ſtets
[272] bereit, wie denn im Auslande allgemein der Hambur¬
ger als grob verſchrieen iſt. Die ſtarken Arbeiten, der
Matroſenverkehr, und die Wohlhabenheit, trugen ſaͤmmt¬
lich dazu bei, dieſen Sinn zu naͤhren. Dieſe Unterlage
bildete ſich bei dem Mittelſtande in eine große buͤrger¬
liche Tuͤchtigkeit aus, die ſich auf mannigfache Art of¬
fenbarte, in gewoͤhnlichen Zeiten durch ſtrenge Ehrbar¬
keit des Lebens, und durch muſterhafte bis zum Eigen¬
ſinn getriebene Rechtſchaffenheit im Handel, in bedraͤng¬
ten Umſtaͤnden durch große Aufopferung, in dieſen
letzten Zeiten durch den außerordentlichen Eifer mit wel¬
chem man Hand anlegte, und die Sache des Vater¬
landes fuͤhren half.
Ueberhaupt waren die Gedanken der Hamburger
von jeher auf den Staat gerichtet, und zwar weniger
auf die aͤußern Verhaͤltniſſe deſſelben, als vielmehr auf
deſſen innere, ſtille Einrichtungen, die nirgends ſo eigen¬
thuͤmlich, reichlich, zweckmaͤßig waren, als in dieſer
nur durch kuͤnſtliche Vereinigung raſtloſer Thaͤtigkeiten
beſtehenden, an ſich landarmen, zum Theil auf mora¬
ſtigen Inſeln unter vielem Ungemach zuſammen ge¬
draͤngten Stadt. England mit den anlockenden Bewe¬
gungen ſeines politiſchen Lebens lag hier den Blicken
nah; Frankreichs Veraͤnderungen fanden hier vorur¬
theilsfreiere Beurtheilung; die Kraft altdeutſcher Staats¬
einrichtungen war hier laͤnger lebendig geblieben, und
mit Einem Worte, was unſre Zeit grade am meiſten
[273] bedurfte, politiſcher Sinn fand ſich vielfach vorbereitet
und angeſammelt. So hatte auch Hamburg immer
eine große Menge praktiſcher Maͤnner und edler Pa¬
trioten, deren erfolgreiche Thaͤtigkeit das Gemeinweſen
herrlich foͤrderte, und ein unendlich nuͤtzliches Wirken
im ſtillen Leben des vaterſtaͤdtiſchen Kreiſes verbarg;
das Andenken der Reimarus, Sieveking, Kirchhof,
Buͤſch, und vieler Andern, die dieſen aͤhnlich waren,
lebte ſelbſt in dieſen Zeiten der Zerſtoͤrung und des
Leichtſinnes noch fort. So viel Vortreffliches fand ſich
in Hamburg vor, ſo viel Großes war moͤglich durch
die nun zum Ausbruch freier Thatkraft wieder berufene
Geſinnung, waͤre nicht dies alles großentheils gelaͤhmt,
ja wohl gar zerſtreut und vernichtet worden durch einen
Umſtand, der nicht ungluͤcklicher haͤtte ſein koͤnnen! Die
Sache verhielt ſich, wie folgt. Als noch vor dem Ein¬
zuge der ruſſiſchen Truppen die freie Verfaſſung her¬
geſtellt wurde, war es wohl bei klugen und einſichts¬
vollen Maͤnnern zur Sprache gekommen, ob denn ſo
unbedingt die alte Verfaſſung wieder anzunehmen, und
die Leitung der Dinge grade denſelben Haͤnden, die ſie
ehemals gefuͤhrt hatten, zu uͤbergeben ſei. Es galt
hier die folgenreiche Entſcheidung zwiſchen der Wahl
eines ganz neuen Senats und der Wiedereinſetzung des
alten, deſſen Mitglieder zum Theil auch unter den
Franzoſen dieſelben Aemter, wie vorher, nur mit dem
Unterſchiede, daß ſie franzoͤſiſche Formen hatten, ver¬
III. 18[274] walteten. Das Anſehn und Herkommen ſprach fuͤr
letzteres, die Erwaͤgung deſſen, was zu leiſten ſei, fuͤr
jenes, die Furcht, im erſten Augenblick ſolcher lebhaf¬
ten Bewegung das Gewicht fruͤhern Anſehns und Ge¬
wohnheiten nicht entbehren, und die Hoffnung, nach
und nach die gewuͤnſchten Aenderungen dennoch herbei¬
fuͤhren zu koͤnnen, entſchieden zuletzt fuͤr die unbedingte
Einfuͤhrung der alten Verfaſſung mit allen noch vor¬
handenen ehemaligen Mitgliedern derſelben. Der groͤßte
Theil der Senatoren war alt und ſchwach, der Ge¬
ſchaͤfte entwoͤhnt, und ohne Neigung, ſich aufs neue
damit zu befaſſen. Die wenigen Beſſern hatten nicht
Kraft genug, die geſammte Laſt der Arbeiten zu tra¬
gen, und waren ohnedies auf ihre neue politiſche Rolle
kaum vorbereitet; ſo kam es denn, daß alles, was die
ausuͤbende Gewalt betraf, wie aus einer andern Zeit
herbeigeholt, ohne Sinn fuͤr die Beduͤrfniſſe der Gegen¬
wart, ohne Geiſt fuͤr ihre Leitung blieb. Ebendaſſelbe
galt von dem Kollegium der Oberalten, und den an¬
dern Ausſchuͤſſen der Stadt, ſo wie von den Anfuͤhrern
der Buͤrgerwachen; nirgends fand ſich unter den wirk¬
lich in der alten Verfaſſung Angeſtellten ein Mann,
der, kraft ſeiner Stelle und ſeines Amtes, mit uͤber¬
wiegendem Nachdruck gehandelt und gewirkt haͤtte. In
der Buͤrgerſchaft war Friſche, Lebendigkeit und Eifer,
in den Behoͤrden Nichtigkeit, Beſorgniß und Unfaͤhig¬
keit. Alle Verſuche, dies zu verbeſſern, mußten ver¬
[275] geblich ſein, ſo lange nicht der Senat erneuert wurde,
eine Maßregel, die niemand vorzuſchlagen eilte, und
deren Ausfuͤhrung allerdings viel Mißliches haben mochte.
Es war alſo eine Regierung vorhanden, die wenig von
dem erfuͤllte, was man von ihr erwartete. Der ruſ¬
ſiſche Befehlshaber mußte ſie anerkennen, ſich an ſie
wenden, mit ihr verhandeln, mittlerweile ſelbſt alles
befehlen und einrichten, was von ihr haͤtte ausgehen
ſollen. Wenn bei manchen Dingen hinreichend iſt, daß
man ſie geſchehen mache, gleichviel, ob gern oder un¬
gern, ſo giebt es dagegen unendlich viele, bei denen
ohne den perſoͤnlichen guten Willen und Eifer des Aus¬
uͤbenden nichts erreicht wird. Es iſt unmoͤglich, den
Menſchen das Innere zu befehlen, und grade das In¬
nere nur konnte hier wirken, grade die freie Neigung
und Kraft mußte die hier obliegenden Arbeiten verrich¬
ten helfen, um ihr Gelingen moͤglich zu machen. Statt
deſſen ergab ſich, ſo oft mit den Behoͤrden zu unter¬
handeln war, Beſchwerde, Verdruß, Unordnung und
Unzulaͤnglichkeit, ja ſelbſt hin und wieder, doch zur
Ehre der Stadt ſei es geſagt, ſelten, ausdruͤcklich und
unverkennbar uͤbler Wille. Dieſe Muͤhſeligkeiten und
Hinderniſſe erfuhren nicht allein die fremden Militair¬
perſonen, ſondern auch die trefflichen Buͤrger, die mit
lebhafterem Eifer ſich das Wohl des Ganzen angelegen
ſein ließen, und hiebei nicht ohne Geſetzmaͤßigkeit wir¬
ken wollten. So geſchah es, daß die ganze Stadt,
18*[276] ohne ihr Verſchulden, oft unvortheilhafter erſchien, als
die Geſinnung und Bereitwilligkeit der Einwohner ver¬
diente, und daß die Moͤglichkeit großer Kraftwirkungen
in der Ungunſt ſolcher Umſtaͤnde faſt erloͤſchen mußte.
Statt im Bewußtſein ihrer wiedergekehrten, und von
den Ruſſen anerkannten Selbſtſtaͤndigkeit frei und kraͤf¬
tig zu handeln, wagte der Senat kaum, die Verant¬
wortlichkeit dafuͤr zu uͤbernehmen, daß er das Befoh¬
lene ausgefuͤhrt hatte; ſtatt mit Daͤnemark, mit Eng¬
land und Preußen unverzuͤglich eigne, zur Befeſtigung
der vaterſtaͤdtiſchen Sache nothwendige Verbindungen
anzuknuͤpfen, brachte er nach langem Zaudern kaum die
Abgeordneten an den Kaiſer Alexander auf den Weg.
Man koͤnnte noch vieles anfuͤhren, was eben ſo ver¬
ſaͤumt worden iſt, wenn nicht an dieſem ſchon genug
waͤre. Der Senat war und blieb in allen Stuͤcken hin¬
ter den Forderungen zuruͤck, welche der Drang der Zeit
ihm auferlegte, und daher fanden die mannigfachen,
ſchoͤnen Kraͤfte nirgends Einheit und Zuſammenhang.
Eine Friſt von ſechs Monaten haͤtte in lebendiger Ent¬
wickelung das Zerſtreute ſammeln und ordnen, das
Verwahrloſte aufnehmen koͤnnen, und nach und nach
waͤre die gewuͤnſchte Einheit entſtanden; dieſe Zeit wurde
den Hamburgern nicht gewaͤhrt. Hierin lag etwas Ver¬
haͤngnißvolles. Nach der großen Schuld, die hier auf
die Umſtaͤnde faͤllt, kann man nur die geringere Schuld
noch den Menſchen zurechnen.
[277]
Wir kehren zu den Arbeiten zuruͤck, die jetzt in
Hamburg alle Thaͤtigkeit in Anſpruch nahmen. Aller
Schwierigkeiten ungeachtet, ging die Errichtung der
hanſeatiſchen Legion raſch vorwaͤrts. Die theils dem
Feinde abgenommenen, theils als altes Eigenthum der
Stadt vorgefundenen Kanonen gaben Veranlaſſung auch
eine Abtheilung Artillerie zu errichten und der Legion
einzuverleiben. Man verſchrieb die fehlenden Waffen
aus England, man erbaute Lavetten und Pulverwagen,
errichtete ein Laboratorium, ſorgte fuͤr die Beſpannung,
ließ Waffen aller Art verfertigen und ausbeſſern, ſchaffte
die uͤbrigen Ruͤſtungsſtuͤcke ſo gut als moͤglich herbei.
Die ſonſt an Huͤlfsmitteln ſo reiche Stadt bot deren
fuͤr die militaͤriſchen Beduͤrfniſſe unglaublich wenige dar;
manche Gegenſtaͤnde mußten unter großen Schwierig¬
keiten aus dem Daͤniſchen herbeigeſchafft werden; die
Unbekanntſchaft mit allen kriegeriſchen Anordnungen
und Beziehungen ſetzte jedem Schritte unausweichliche
Hinderniſſe entgegen, die nur durch unermuͤdete Auf¬
ſicht und unverdroſſene Selbſtbemuͤhung endlich wegge¬
raͤumt werden konnten. Es fehlte ſehr an gedienten
Offizieren, gaͤnzlich an Unteroffizieren fuͤr die neuen
Truppen, Vorſchriften und Anleitungen zum Dienſt
und zur Uebung wurden daher um ſo noͤthiger und
man eilte dieſelben abzufaſſen. Außer den Hanſeaten
bildete ſich nach Tettenborn's Befehl und Anleitung
ein Bataillon Lauenburger in Ratzeburg unter dem
[278] hannoͤverſchem Major von Berger, auch dieſe waren
aber groͤßtentheils ohne Waffen. Ein anderes Batail¬
lon aus den Herzogthuͤmern Bremen und Verden wurde
auf gleiche Weiſe in Stade zuſammengebracht. Der
Oberſt Graf von Kielmannsegge warb hannoͤverſche
Jaͤger.
Inzwiſchen hatte ſie in Haarburg, Luͤneburg, Stade,
und in dem ganzen Striche Landes laͤngs der Elbe bis Bre¬
men, ein Aufſtand gebildet, der Befehle, Waffen, Un¬
terricht und Huͤlfe von Tettenborn forderte, und ſo viel
moͤglich erhielt. Verlaufene franzoͤſiſche Soldaten, Doua¬
niers, ja ſogar Gendarmen und Offiziere wurden von
dieſen Leuten taͤglich als Gefangene nach Hamburg
eingebracht, wobei es jedesmal die groͤßte Muͤhe koſtete,
die Wuth des erbitterten Poͤbels zu baͤndigen, der be¬
ſonders den Douaniers mit Koth und Steinen arg
zuſetzte. Von Zollenſpieker, aus dem Billwaͤrder, Och¬
ſenwaͤrder und den Vierlanden kamen wackre Maͤnner,
die ſich erboten, den Landſturm in ihrer Gegend ein¬
zurichten und anzufuͤhren; ſie erhielten Befugniß und
Unterweiſung. Auch in dieſen Landſchaften gab es oft
mit der Schwaͤche und Beſorglichkeit der Behoͤrden zu
kaͤmpfen, und Schwierigkeiten zu behandeln, die nicht
immer ohne Strenge zu beſeitigen waren. Ueberall
traten die alten Beamten wieder in Wirkſamkeit, die
meiſten hatten auch bei der franzoͤſiſchen Regierung
ihre Dienſte fortgeſetzt, und veraͤnderten mit dem neuen
[279] Eintauſch ihrer alten Titel nicht immer die inzwiſchen
eingeſogenen fremden Geſinnungen; in einem kleinen
Umkreiſe waren die Behoͤrden verſchiedener Laͤnder, die
Rechte mannigfacher Oberherren zu beruͤckſichtigen. Die
Gegenſtaͤnde der Schiffahrt und des Handels, obgleich
uͤbrigens ganz den Verfuͤgungen der hamburgiſchen Re¬
gierung anheimgeſtellt, mußten doch in vielem Betracht
die Einwirkung des ruſſiſchen Befehlshabers anſprechen,
der die Ausruͤſtung zweier Kaper, und anderer, theils
bewaffneter, theils zum Transport von Pferden einge¬
richteter Schiffe betreiben ließ.
Eine andre Beſchaͤftigung gab die anbefohlene und
mit aller Strenge ausgefuͤhrte Einziehung des franzoͤ¬
ſiſchen Eigenthums, und die ſorgfaͤltige Aufmerkſamkeit,
welche auf die zahlreichen Franzoſen gewendet werden
mußte, die ſich, zum Theil von aͤlterer Zeit her in
Hamburg und der Umgegend aufhielten, und denen viel
Geſindel aus allerlei Nationen beizurechnen war, das
waͤhrend der franzoͤſiſchen Herrſchaft und in ihrem Dienſte
ſich hier eingeniſtet hatte. Dieſes alles auszukehren,
haͤtte eine laͤngere Zeit erfordert, da beſonders die Be¬
voͤlkerung Hamburgs eben ſo gemiſcht, als die Oertlich¬
keit in und außer der Stadt uͤberaus verworren und
ſchwer zu beaufſichtigen iſt. Hiezu kommt noch, daß
die hamburgiſche Regierung, nach der großartigen Weiſe
freier Staaten, die Fremdenpolizei von jeher laͤſſig be¬
trieben hatte, und die Ruſſen dies Fach ganz allein
[280] verſehn mußten, ohne Mitwirkung und Huͤlfleiſtung dazu
beſtimmter Beamten. Der nichtswuͤrdigſten Verraͤther,
die das oͤffentliche Urtheil einſtimmig als ſolche bezeich¬
nete, waren eine große Anzahl vorhanden, vornehme
und geringe, arme und reiche; gefaͤhrlicher noch mußten
die verſteckten ſein, deren Treiben weniger bekannt ge¬
worden war. Die Unterſuchung der auf mancherlei
Angebungen verhafteten Perſonen nahm viele Zeit weg,
war muͤhſam und blieb doch meiſtentheils ungenuͤgend.
Die entſchiednen Schelme, Kundſchafter und Knechte
der Franzoſen, die ſchaͤndlichen Werkzeuge ihrer Erpreſ¬
ſungen, wurden, hoͤherem Befehl gemaͤß, auf deſſen
ſtrenge Ausfuͤhrung beſonders der Miniſter vom Stein
im Hauptquartier des ruſſiſchen Kaiſers unerbittlich be¬
ſtand, zur Ausſetzung an der franzoͤſiſchen Kuͤſte be¬
ſtimmt. Manche gaben zwar vor, dort ihren gewiſſen
Tod zu finden, weil auch die franzoͤſiſche Regierung
ſie als Feinde verfolge; andre wollten ihren Haß gegen
Napoleon jetzt durch die groͤßten Schmaͤhungen dar¬
thun; franzoͤſiſche Emigranten, die ſich den Gewaltha¬
bern Napoleon's zu den niedrigſten Dienſten verkauft
hatten, meinten eiligſt ihre adliche Geburt und royali¬
ſtiſche Geſinnung wieder geltend zu machen; Stein aber
wollte von keinen Ruͤckſichten hoͤren, keine Unterſchiede,
ja kaum eine genaue Pruͤfung geſtatten. Ungefaͤhr
dreißig Perſonen wurden wirklich eingeſchifft und an
der hollaͤndiſchen Kuͤſte gelandet. Allein ſchon die zweite
[281] Sendung unterblieb, und nach dem erſten Schrecken
regte ſich der franzoͤſiſche Anhang nur um ſo thaͤtiger,
wie denn bald der Feind von allem, was vorging, die
ſchnellſte Kundſchaft empfing. Die groͤßte Strenge,
der furchtbarſte Schrecken waͤre hier vonnoͤthen gewe¬
ſen, um das Uebel auszurotten, und ſelbſt blutige
Schauſpiele haͤtte man nicht tadeln koͤnnen. Aber man
fing ſchon an, eine moͤgliche Umkehr der Dinge zu
beruͤckſichtigen; man wollte nicht kuͤnftige Rache her¬
ausfordern, berief ſich auf Menſchlichkeit und Gro߬
muth, und erlangte von dem Kaiſer Alexander die
Zuruͤcknahme der anbefohlnen Strenge. Nicht zu be¬
rechnen iſt, wieviel die Gelindigkeit, welche darauf in
allen Maßregeln eintrat, der hamburgiſchen Sache ge¬
ſchadet hat. Nachdruͤckliches Verfahren verſichert die
Gemuͤther und beruhiget den Geiſt; und um der Gu¬
ten willen mehr, als wegen der Schlechten, iſt in
Staatsſachen beharrliche Strenge nuͤtzlich. Die Sache
Hamburgs aber erforderte unnachlaſſende Kraft, ge¬
ſchloſſene, unerdringliche Feſtigkeit; jede Luͤcke, jede
Weichheit oͤffnete dem Feinde den Eintritt. So geſchah
es auch hier. Der Eifer der Untergeordneten ward irr
und erſchlaffte, ſobald er von obenher geringern Ernſt
zu ſehen meinte. Viele ſonſt wohlgeſinnte Maͤnner,
den Zuſtand des Kriegs und der Empoͤrung, in dem
ſie ſich befanden, verkennend, wollten ſchon uͤberall den
[282] Maßſtab ruhigen Friedens anlegen, und mußten aus
ihrem Wahn bisweilen hart aufgeruͤttelt werden.
Inzwiſchen hatte der engliſche Major von Kenzin¬
ger von Helgoland aus mit einigen hundert Mann
Kuxhaven beſetzt, und den Aufſtand der Bauern bei
Bremerlehe, ſo viel in ſeinen Kraͤften ſtand, unter¬
ſtuͤtzt. Tettenborn ſetzte ſich ſogleich mit ihm in Ver¬
bindung, und erfuhr zu ſeinem Leidweſen, daß von
Helgoland vor einiger Zeit alle vorraͤthig geweſenen
Gewehre wieder nach England abgefuͤhrt worden, ein
beklagenswerther Zufall, deſſen Nachtheil durch nichts
erſetzt werden konnte. Jedoch eilte Tettenborn, die
mit England aufgeſchloſſene Verbindung moͤglichſt zu
benutzen, und ſchickte einen ruſſiſchen Offizier, den Ritt¬
meiſter von Bock, dem er einen doniſchen Koſaken zur
Begleitung gab, mit Briefen an den Prinzen-Regen¬
ten und an den ruſſiſchen Botſchafter nach London,
wo die Erſcheinung eines Koſaken, des erſten, den
man je dort geſehen, die außerordentliſte Aufregung
machte.
Der nahen Nachbarſchaft wegen mußten die Daͤnen
die ganz beſondere Aufmerkſamkeit der Hamburger ſo¬
wohl als der Ruſſen auf ſich ziehen. Das Verhaͤltniß
zu Daͤnemark behielt, ungeachtet der bezeigten Annaͤ¬
herung des Kabinets zu der ruſſiſch-preußiſchen Sache,
zwei ſchwierige Seiten, die ſo viel als moͤglich umgan¬
gen werden mußten. Die Ruſſen naͤmlich waren Ver¬
[283] buͤndeten der Englaͤnder und der Schweden, von denen
die erſteren wegen der alten Beleidigungen, die letztern
wegen der Abſichten auf Norwegen, den Daͤnen gleich
verhaßt waren. Die Schifffahrt auf der Elbe konnte
ohne die Einwilligung der Daͤnen nicht ſtattfinden, die
Verbindung mit den engliſchen Schiffen mußten ſie
wenigſtens nicht zu hindern verſprechen. Die verſchlun¬
genen Graͤnzen zwiſchen dem hamburgiſchen und daͤni¬
ſchen Gebiete trennten beide laͤngſt nur dem Namen
nach, der maͤchtige Lebensverkehr ging daruͤber hin,
und dieſen zu erhalten waren Verguͤnſtigungen und
ſtillſchweigende Uebereinkuͤnfte unentbehrlich. Der Kom¬
mandant von Altona, Oberſtlieutenant von Haffner,
bot hiezu bereitwillig die Hand. Nur im Betreff der
verlangten Entfernung vieler von Hamburg nach Altona
gezogenen Franzoſen, die dort frei das Geſchaͤft des
Ausſpaͤhens trieben, waren alle Vorſtellungen und Be¬
ſchwerden lange fruchtlos, und das nachtheilige Trei¬
ben dauerte, ungeachtet des von daͤniſcher Seite endlich
ertheilten und oft wiederholten Verſprechens, bis zu
Ende fort. Die uͤberwieſenen Kundſchafter, die in
Hamburg ſeitdem noch oft ergriffen wurden, waren
ſaͤmmtlich von Altona hereingekommen.
Die thaͤtige Mitwirkung der Schweden zu dem
Kriege gegen Napoleon war laͤngſt erwartet; ſie ſchien
nun bald erfolgen zu muͤſſen, und es war wichtig, von
allem, was in dieſem Betreff vorging, fruͤhzeitig un¬
[284] terrichtet zu ſein, um davon zum Beſten der ham¬
burgiſchen Angelegenheiten jeden Vortheil ſchnell wahr¬
zunehmen. Tettenborn knuͤpfte deßhalb die noͤthigen
Verbindungen an und widmete dieſen Verhaͤltniſſen die
groͤßte Aufmerkſamkeit.
Eine dringende Verhandlung wurde gleichzeitig mit
dem Herzog von Mecklenburg-Schwerin gepflogen. Tet¬
tenbborn ſtellte dem Herzog lebhaft vor, wie wichtig
es fuͤr ihn ſei, daß Hamburg gehoͤrig behauptet wuͤrde,
und weil der faſt gaͤnzliche Mangel an Fußvolk hiebei
ſehr bedenklich war, ſo erſuchte er ihn, das Bataillon
Grenadiere, welche in Ludwigsluſt ihm zur Leibwache
dienten, nach Hamburg ruͤcken zu laſſen. Der Herzog
willfahrte, und ſtellte das 500 Mann ſtarke Bataillon,
die einzige Truppe, die ihm ſeit den Verluſten im ruſſi¬
ſchen Feldzuge noch geblieben war, unter der Anfuͤh¬
rung des Oberſten von Both zu Tettenborn's Ver¬
fuͤgung.
Alle dieſe zahlreichen und mannigfachen Geſchaͤfte,
die in unendliche Verwickelungen und Einzelnheiten
uͤbergingen, laſteten mit vielen andern ganz auf Tet¬
tenborn, der ſeine militairiſchen, unmittelbar den Feind
betreffenden Aufgaben mit diplomatiſchen Maßregeln,
mit den Geſchaͤften ſo verſchiedener Errichtungen, mit
den Ruͤckſichten fuͤr mannigfache Regierungen und Voͤl¬
ker, mit der Entſcheidung politiſcher und ſogar kauf¬
maͤnniſcher Faͤlle, mit dem bald ſchonenden, bald ſtra¬
[285] ſenden Anregen laͤſſiger Behoͤrden, mit Verhoͤren, Ver¬
abredungen und Berichten, in unaufhoͤrlichem Wechſel
und Drang der Arbeit verbinden mußte. In ſeinem
Hauptquartier arbeitete vom fruͤhen Morgen bis in die
ſpaͤte Nacht die raſtloſeſte Thaͤtigkeit, und er ſelbſt war
ſtets das Vorbild unermuͤdlichen Eifers und angeſtreng¬
ter Hingebung. Er entzog ſich den Huldigungen, die
ihm von allen Seiten entgegenkamen, den begeiſterten
Ehrenbezeigungen des dankbaren Volkes, das auf den
Wegen, wo man ihn zu ſehen hoffte, ungeduldig und
meiſt vergebens harrte; ihn beſchaͤftigten ausſchließlich
die ernſten Aufgaben, welche ſich hier uͤberreich zuſam¬
mendraͤngten. Mit treffender Urtheilskraft und ſchneller
Findung wußte er das Nothwendige einzuſehen und
herbeizufuͤhren, die Umſtaͤnde zu benutzen, Hinderniſſe
zu entfernen, das Unerwartete zu verarbeiten. Die
reifſte Ueberlegung konnte ſelten Treffenderes liefern,
als die erſte Eingebung des Augenblicks gewoͤhnlich
ſchon dargeboten hatte.
Eine große Anzahl ausgezeichneter Offiziere hatten
ſich bei Tettenborn eingefunden, theils durch ſeine Per¬
ſoͤnlichkeit und den Ruf ſeines Namens angezogen,
theils durch die Sache ſelbſt, welche er unternommen
hatte, ihm zugefuͤhrt. Sein Kriegsgefolge vergegen¬
waͤrtigte die aͤlteſten deutſchen Zeiten, wo freiwillige
Anſchließung mehr als verpflichteter Dienſt die Trup¬
pen ihrem Anfuͤhrer verband. Außer den ruſſiſchen
[286] Offizieren, welche ſeiner Truppenſchaar und ſeinem
Stabe unmittelbar angehoͤrten, dem Rittmeiſter von
Lachmann, den Majors von Gunderſtrup, von Laſch¬
kareff, und Andern, gab es deren viele, welche von
ihren Vorgeſetzten die Erlaubniß erhalten hatten, den
Krieg in ſeinem Gefolge mitzumachen, junge Ruſſen
aus den angeſehenſten Familien, ein Graf von Gurieff,
ein Fuͤrſt Gagarin, ein Graf von Pahlen, der Graf
Friedrich von Neſſelrode, zwei Freiherrn von Schilling,
der Marquis de la Maiſonfort, ein Graf Orurk, ein
Freiherr von Berg; aus Oeſterreich kamen die ehema¬
ligen Regimentskammeraden Tettenborn's, Freiherr von
Droſte-Viſchering und Freiherr von Herbert, beide ſei¬
nethalb in ruſſiſche Dienſte tretend; aus Oldenburg der
Graf von Muͤnnich, aus Hannover ein Graf von Har¬
denberg, Rittmeiſter von Wenckſtern, aus Hoya, aus
Heſſen der Graf Karl von Heſſenſtein, aus Mecklen¬
burg ein Graf von Bothmer, ein Herr von Bluͤcher
und viele Andre noch aus den benachbarten Laͤndern.
Beſonders zahlreich waren die Preußen, unter ihnen
ſtand obenan der Freiherr von Canitz, Adjutant des
Generals von York, ein ausgezeichnet kriegskundiger
und tapfrer Offizier, der in hoͤherem Auftrage dieſen
Kriegszug begleitete; der Rittmeiſter von Bismark aus
Schoͤnhauſen; ein Rittmeiſter von Hobe; ein Herr von
Klitzing aus der Priegnitz; Herr von Hochwaͤchter aus
Pommern, und noch Viele, deren Namen zum Theil
[287] ſpaͤter zu nennen ſein werden. Der ſchwediſche Huſa¬
renlieutenant Albert von Stael, Sohn der beruͤhmten
Schriftſtellerin, von ſeinem General mit einem Auf¬
trage nach Hamburg geſandt, erlangte die Erlaubniß,
einſtweilen bei Tettenborn bleiben zu koͤnnen. Manche
dieſer Offiziere fanden Anſtellung bei den neuen Trup¬
pen; der Graf Joſeph von Weſtphalen, ſchon laͤngere
Zeit in dieſen Gegenden auf ſolche Gelegenheit har¬
rend, half die hanſeatiſche Reiterei errichten, zu deren
Anfuͤhrer er beſtimmt wurde; ſein Bruder Rudolph,
der als Domherr ſeine Ausſichten zu katholiſchen Kir¬
chenwuͤrden aufgab, trat ebenfalls bei dieſer Truppe
als Offizier ein. Die Hanſeaten mußten doch immer
noch den groͤßten Theil ihrer Offiziere aus ihrer eignen
Mitte nehmen, und es fehlte nicht an wackren jungen
Maͤnnern, die ſich hiezu eigneten. Mehrere derſelben
traten in den Stab und das Gefolge Tettendorn's;
Eduard Sieveking, ein trefflicher junger Mann, ſo ge¬
bildet als tapfer; Noodt, aus einem Kandidaten der
evangeliſchen Kirche zum thaͤtigen Kriegsmann umge¬
wandelt; Philippsborn, ausgezeichnet durch raſchen Muth
und ſcharfen Blick; Behrens aus Luͤbeck, mit kriegs¬
techniſchen Kenntniſſen ausgeruͤſtet; Redlich und Boͤhm,
junge wackre Reiter voll Eifer und Thaͤtigkeit. Dieſe
zahlreiche und glaͤnzende Geſellſchaft vermehrte ſich ab
und zu noch durch den Beſuch von Offizieren, welche,
andern Truppenſchaaren angehoͤrend, hier zeitenweiſe
[288] ſich aufhielten, und an den Unternehmungen und Ge¬
fechten Theil nahmen; der ruſſiſche Major von Grabbe,
ein heldenmuͤthiger hoher Kriegsgeiſt; die Hauptleute
von Kiel und Alexander von Rennenkampff, beide aus¬
gezeichnet im Kriege, wie in Litteratur und Kunſt;
dann der aus oͤſterreichiſchem in ruſſiſchen Dienſt her¬
uͤbergekommene Major Karl von Noſtiz, welcher auch
hier den ſchon erworbenen Ruhm bewaͤhrte; der Prinz
Adolph von Mecklenburg-Schwerin; ferner Alexander
von der Marwitz; der Graf von der Groͤben, und noch
Andre, welche theils aus dem Wallmoden'ſchen, theils
aus dem Doͤrnberg'ſchen Hauptquartier ſich einfanden.
Fuͤr die Mannigfaltigkeit und den Drang der Fuͤr¬
ſorgen und Geſchaͤfte, welche hier zuſammenkamen,
waren jedoch der Gehuͤlfen immer noch zu wenige, be¬
ſonders da die Mehrheit derſelben auf perſoͤnliche Lei¬
ſtung vor dem Feinde angewieſen war; hierin aber
ließen die Koſaken wenig zu thun uͤbrig, und die neuen
Truppen mußten erſt ausgebildet werden. Fuͤr die
ſchwierigeren Aufgaben des Anordnens, Einrichtens, der
Verwaltung, der ſtets erneuerten Unterhandlungen und
Ruͤckſprachen, der Ermittlung von Huͤlfsquellen, des
Wahrnehmens der Vortheile und Ruͤckſichten, welche
ſich aus den taͤglich wechſelnden Umſtaͤnden ergaben,
fuͤr alle dieſe Geſchaͤfte und Arbeiten blieb nur eine
geringe Anzahl von Perſonen uͤbrig; Canitz und Droſte
hatten in dieſer Hinſicht großes Verdienſt; hauptſaͤch¬
[289] lich aber ſtand der Major Ernſt von Pfuel in aller
Kraft und Tuͤchtigkeit an Tettenborn's Seite, und
griff mit den ihm eignen großen Faͤhigkeiten in das
Ganze dieſes bewegten Treibens foͤrdernd ein. Ihm
lag beſonders die Errichtung des hanſeatiſchen Fußvolks
ob, fuͤr welches er auch eine gedraͤngte Exerzier- und
Dienſtvorſchrift zu entwerfen unternahm. Leider mu߬
ten manche Geſchaͤfte, welche hoͤherer Leitung und Auf¬
ſicht bedurft haͤtten, dem guten Willen der damit Be¬
auftragten uͤberlaſſen bleiben, und wo dieſer nicht
ausreichte oder gar fehlte, traten Uebelſtaͤnde ein, welche
nicht ſogleich ſichtbar und auch dann nicht immer ab¬
zuſtellen waren. Tettenborn hatte in dieſem Betreff,
wie jeder Leitende in ſolchen Umſtaͤnden, die ſchlimm¬
ſten Erfahrungen zu machen, und manche Nachlaͤſſig¬
keit und Ungebuͤhr kam erſt dann zu ſeiner Kenntniß,
wenn es zur Abhuͤlfe zu ſpaͤt war. Dies war beſon¬
ders der Fall hinſichtlich der freiwilligen Beitraͤge fuͤr
die hanſeatiſche Legion, deren Kaſſe einem ehemaligen
preußiſchen Kriegsrath Oswald ſehr zweckmaͤßig anver¬
traut ſchien, aber von dieſem auf die frechſte Weiſe
veruntreut wurde. Aller Vorſicht und aller Strenge
konnte es nicht gelingen, in einem ſolchen Gewirr von
Menſchen immer die Guten auszuwaͤhlen und die Schlech¬
ten zu entfernen.
Ermuthigend fuͤr Tettenborn und allem Begonne¬
nen foͤrderlich war die aus dem großen Hauptquartier
III.19[290] eingehende Nachricht, daß der Kaiſer Alexander ihn mit
den ſchmeichelhafteſten Lobſpruͤchen zum Generalmajor
ernannt habe, und alles bisher Angeordnete und Ein¬
geleitete unbedingt gut heiße. Die bei den neuerrich¬
teten Truppen angeſtellten Offiziere wurden unbedingt
in dem ihnen verliehenen Range beſtaͤtigt, und den
ruſſiſchen Offizieren, deren Ehren- und Feldzeichen ih¬
nen zu tragen erlaubt wurde, voͤllig gleichgeſtellt.
In der hamburgiſchen Buͤrgerſchaft zeichneten ſich
Ludwig von Heß und Friedrich Perthes durch ihren
Vaterlandseifer aus. Erſterer, als patriotiſcher Schrift¬
ſteller vortheilhaft bekannt, war fruͤher in ſchwediſchen
Dienſten Offizier geweſen, lebte aber ſeit vielen Jah¬
ren in Hamburg eingebuͤrgert. Fruͤheren, ſchon in
Berlin empfangenen Anregungen gemaͤß, trug ihm Tet¬
tenborn die Errichtung und Fuͤhrung einer Buͤrger¬
garde auf, die, durch Rath- und Buͤrgerſchluß beſtaͤ¬
tigt, endlich nicht ohne Widerſtand der ehemaligen
Buͤrgerwachen, wobei die gaͤnzliche Spaltung nur durch
nachdruͤckliche Maßregeln verhindert wurde, zu Stande
kam. Sie wurde in 6 Bataillons, jedes zu 1200 Mann,
abgetheilt; eine Anzahl wohlhabender Buͤrger dienten
zu Pferde; ſpaͤterhin wurde, außer dem hanſeatiſchen,
auch ſtaͤdtiſches Geſchuͤtz errichtet, deſſen Dienſt von
Buͤrgern, welche ſich demſelben freiwillig widmeten,
verſehen wurde. Jeder Buͤrger vom achtzehnten bis
zum fuͤnfundvierzigſten Jahre ſollte zu dieſer Garde
[291] gehoͤren, die von Offizieren aus ihrer Mitte befehligt,
und zunaͤchſt zur Vertheidigung der Stadt beſtimmt
wurde. Als ein eigenthuͤmlicher Kopf wußte Heß die
Gemuͤther, auch ohne aͤußerliche Beredſamkeit, durch
gluͤckliche Gedanken kraͤftig zu faſſen, und fuͤllte eine
geraume Zeit die Luͤcken, welche die Neuheit der Sache
uͤberall uͤbrig ließ, durch geiſtigen Antrieb aus, bis
ſpaͤterhin leider das Sinken ſeiner perſoͤnlichen Kraft
dem allgemeinen Sinken der Meinung weniger nach¬
folgte als voranging. Ihm kraͤftig zur Seite ſtand
Friedrich Perthes, ein edler deutſcher Mann, voll be¬
weglichen Geiſtes, der in einem lautern und empfin¬
dungsreichen Gemuͤth wurzelt. Seine unermuͤdliche
Thaͤtigkeit im Anregen, Berathen, Ausgleichen und
Zurechtſprechen, wirkten mehr, als aͤußerlich in die Au¬
gen fiel. Die anerkannte, untadliche Rechtſchaffenheit
des Mannes, und die ihm eigne Maͤßigung im Han¬
deln, hatte ſchon fruͤher ſeinem ſtillen Thun großen
Einfluß bei den Mitbuͤrgern, ſeiner Perſon Zuneigung
und Vertrauen bei den Wohlgeſinnten und Edlen ver¬
ſchafft. Als einen wackern Foͤrderer der deutſchen Sache
muͤſſen wir auch hier den geſchaͤfts- und ſtaatskundigen
Bankier Dehn aus Altona nennen, deſſen vielfache
Kenntniſſe und einflußreiche Verbindungen großen Vor¬
theil brachten. Nicht vergeſſen duͤrfen wir hier des
Eifers, womit faſt alle hamburgiſchen Prediger in ihren
Kanzelreden die Sache des Vaterlandes zu foͤrdern
19*[292] ſuchten; ihr Wirken konnte in Hamburg um ſo kraͤf¬
tiger anregen, als hier die Religion und ihre Diener
von jeher in großem Anſehn ſtanden. Auch einige
andre oͤffentliche Bemuͤhungen ſind dankbar anzuerken¬
nen. Ein Rechtsgelehrter, Doktor Beneke, gab eine
kleine Schrift unter dem guten Titel „Heergeraͤthe fuͤr
die hanſeatiſche Legion“ heraus, geſchichtliche, aͤußerſt
zweckmaͤßige Nachrichten, verbunden mit edlen Ermah¬
nungen; die Grundſaͤtze und Abfaſſung ſind gleich mu¬
ſterhaft, und wir tragen kein Bedenken, dieſe Schrift
fuͤr eine der beſten zu erklaͤren, welche dieſe Zeitbege¬
benheiten hervorgerufen haben. Der Verfaſſer einer
andern Schrift, „Patriotiſche Beherzigungen“ betitelt,
iſt nicht bekannt geworden; auch ſie enthaͤlt viel Vor¬
zuͤgliches. Ein Liederbuch fuͤr die hanſeatiſche Legion,
aus alter und neuer Zeit geſammelt, lieferte Runge,
der Bruder des gleichnamigen Kuͤnſtlers, durch deſſen
fruͤhen Tod die Kunſt wie ſeine Freunde einen ſchmerz¬
lichen Verluſt erlitten. Der unzaͤhligen Flugſchriften,
Tageblaͤtter und Lieder von unterm Range erwaͤhnen
wir nicht. Alte Zeitungen lebten wieder auf; den
„Unpartheiiſchen Korrespondenten“ mit dem hergeſtell¬
ten hamburgiſchen Waffen begruͤßte der Dichter Leopold
Graf zu Stolberg durch eine feurige Ode. Neue Blaͤt¬
ter traten hervor. Unter dieſen war der „Deutſche
Beobachter“ beſonders heftig, und hatte unter allen
deutſchen Blaͤttern wohl die meiſte Kuͤhnheit. Pfuel
[293] und Canitz gaben Beitraͤge. Man hielt ſich ſchadlos
fuͤr den erlittenen Zwang, und las eifrig die dargebo¬
tenen Schriften.
In Luͤbeck wiederholte ſich beinahe jedes, was in
Hamburg geſchah; die geringere und weniger zuſam¬
mengeſetzte Volksmenge geſtattete dort ruhigere Ueber¬
ſicht, und der Ordnungsgeiſt und die Tuͤchtigkeit der
Einwohner zeigte ihre vortheilhafte Wirkung auch in
den jungen Kriegesſchaaren, welche die Stadt zur han¬
ſeatiſchen Legion beitrug, und welche ſich an Haltung
und Auswahl ſogar vor den Hamburgern auszeichne¬
ten. Den dortigen Zuſtand im Allgemeinen giebt fol¬
gendes Schreiben des Oberſtlieutenants Konſtantin von
Benkendorf an Tettenborn zu erkennen: „Mein Herr
General! Indem ich die Ehre habe, Ihnen die noch
offenen Liſten uͤber den Fortgang der hieſigen Ruͤſtun¬
gen einzuſenden, kann ich mir das Vergnuͤgen nicht
verſagen, Ihnen auch im allgemeinen die erfreulichſten
Berichte uͤber die Stimmung und den Eifer der hie¬
ſigen Einwohner mitzutheilen. Die Zahl derjenigen,
welche ſich freiwillig zu den Waffen geſtellt haben, und
die hoffentlich in kurzem uͤber tauſend begreifen wird,
koͤnnte zwar ſchon allein den guten Geiſt beweiſen, der
in Luͤbeck herrſcht, und ſo kraͤftige Anſtrengungen her¬
vorbringt; allein auch auf jede andre Art, oͤffentlich und
im Stillen, hat ſich die Vaterlandsliebe und der Sinn
fuͤr edle Hingebung bewaͤhrt, welche man von einem
[294] braven und der Freiheit noch nicht allzu lange ent¬
woͤhnten Volke erwarten konnte. Die ſchoͤne Begei¬
ſterung fuͤr die gute Sache hat ſich nicht minder wirk¬
ſam in der Summe ſowohl, als in der Art der frei¬
willigen Gaben bezeigt, die noch taͤglich fuͤr die neuen
Bewaffnungen zuſtroͤmen, und zu welchem beſonders
die Frauen mit ausgezeichnetem Eifer beigetragen ha¬
ben, indem ſie ihren letzten Schmuck darbrachten, deſ¬
ſen aͤußerliche Zierde ſie freilich nie ſo ſchmuͤcken konnte,
wie die edle Geſinnung, die ſie demſelben entſagen
hieß. Ich bekenne mit Freuden, daß ich alle Urſache
habe, mit dem, was gegenwaͤrtig geſchieht, zufrieden
zu ſein, und daß ich das feſte Vertrauen hege, die
genommenen Maßregeln und die eifrige Thaͤtigkeit der
Buͤrger immer wirkſamer werden zu ſehen. Ich ſage
Ihnen, mein Herr General, den lebhafteſten Dank fuͤr
den gluͤcklichen Auftrag, den ſie mir ertheilt haben, die
erſten Schritte dieſer frohen Bewegungen einzuleiten.
Ich habe die Ehre u. ſ. w. Benkendorf.“
Mittlerweile hatte Tettenborn die Haͤlfte ſeiner Rei¬
terei uͤber die Elbe auf der Straße nach Bremen vor¬
geſandt. Der franzoͤſiſche General Morand, der ohne
Noth ſich mit ſeinen Truppen bis zur Weſer zuruͤck¬
gezogen hatte, ſchien ſeinen Fehler wieder gut machen
zu ſollen, und ruͤckte, vermuthlich auf ausdruͤcklichen
hoͤheren Befehl, wieder gegen die Elbe vor, indem er
ſogar die Abſicht aͤußerte, auch Hamburg wieder zu
[295] beſetzen. Die Koſaken ſchwaͤrmten um das geſchloſſene
Fußvolk herum, und neckten und beunruhigten daſſelbe,
ohne jedoch ſeinen Marſch hindern zu koͤnnen. Sie
zogen ſich nach Maßgabe des feindlichen Anmarſches
zuruͤck, und der Feind kam wieder in die Gegenden,
welche gegen ihn die Waffen ergriffen hatten. Die
Nachricht von der Annaͤherung der Franzoſen erregte
in Hamburg Beſtuͤrzung und Sorgen, Gefluͤchtete vom
linken Elbufer verbreiteten Angſt und Schrecken; man
hatte ſich zu ſehr dem Taumel des Gluͤcks uͤberlaſſen,
um nicht auf ſolche Wechſel, wie jetzt ploͤtzlich als moͤg¬
lich erſchienen, gaͤnzlich unvorbereitet zu ſein. Dieſe
niederſchlagenden Eindruͤcke wirkten zu heftig und zu
allgemein, als daß man nicht haͤtte verſuchen ſollen,
ihnen den Troſt, den man mit Wahrheit geben konnte,
in wenigen beruhigenden Worten zu ſagen. Tetten¬
born ließ am 27. Maͤrz folgenden Aufruf anſchlagen:
„Hamburger! Einige unter euch ſcheinen beunruhigt
uͤber das Anruͤcken der Franzoſen von Bremen her,
ich finde daher noͤthig mit euch zu reden, damit ihr
wißt, um was es ſich handelt. Der Feind, der ſich
ohne Grund vom linken Elbufer bis Bremen zuruͤck¬
gezogen hatte, ruͤckt wieder, wie vorauszuſehen war,
auf der Straße von Bremen vor, um die Bewegun¬
gen auf dem platten Lande zu daͤmpfen. Doch er wird
die Bewegungen auf dem platten Lande nicht daͤmpfen,
ſondern nur noch mehr zu ſeinem Verderben aufregen!
[296]
Die Sturmglocke geht im ganzen Lande; von allen
Seiten ziehen die Bauern, von Offizieren geleitet und
von 600 Koſaken unterſtuͤtzt, heran gegen den Feind.
Es iſt dieſelbe Abtheilung, die ich vor zehn Tagen uͤber
die Elbe geworfen habe, und auch jetzt bin ich allein
hinreichend, um allen ihren Unternehmungen die Spitze
zu bieten. Hamburger! ihr werdet 20,000 Feinde nicht
zu fuͤrchten haben, wenn ihr muthvoll ſeid, und bereit
das Eurige zu thun. Die wenigen Hunderte, ohne
Reiterei, und bald von allen Seiten umringt und ge¬
aͤngſtigt, duͤrfen euch nicht beunruhigen. Der Feind
iſt nicht im Stande etwas zu unternehmen. Um ſo
weniger, da die Generale Tſchernyſcheff, Benkendorf
und Doͤrnberg bereits am 25. dieſes Monats uͤber die
Elbe gegangen ſind, alle dieſſeits geſtandenen feindli¬
chen Vorpoſten aufgehoben, und ihre Vorpoſten bereits
bis Salzwedel vorgeſchoben haben.“
Niemals hat ſich eine Verſicherung dieſer Art glaͤn¬
zender bewaͤhrt. Man vertraute zwar den gegebenen
Hoffnungen gern, niemand aber konnte eine ſolche Er¬
fuͤllung erwarten, wie die war, welche alsbald erfolgte!
Da man erfuhr, daß bei den Truppen des Generals
Morand viele Sachſen befindlich, ſo erließ Tettenborn
einen Aufruf an ſie, der ſie zum Uebergehn aufforderte,
und alſo lautete: „Sachſen! Hoͤrt was ich euch ſagen
werde: ihr ſeid betrogen und verrathen! Die Fran¬
zoſen ſchleppen euch im Lande herum, hierhin, dorthin,
[297] um das Landvolk zu ſchrecken, das in gerechter Wuth
uͤber die von den Franzoſen erlittenen Mißhandlungen
uͤberall die Waffen ergreift; ſie ſchleppen euch herum,
um unter euerm Schutze ſich ſelbſt vom Untergange zu
retten. Ihr ſeid von tauſend Koſaken und Jaͤgern
umringt, und ſchon laͤutet die Sturmglocke im ganzen
Lande. Alles, was deutſch iſt, ſteht auf; und ihr nur
wollt noch fechten fuͤr eure Unterdruͤcker, und gegen
die welche euch befreien wollen? Ihr wißt nicht, was
vorgeht; die ruſſiſchen und preußiſchen Heere ruͤcken
bereits unaufhaltſam in eurem Vaterlande vor; in
Dresden ſprengte Davouſt eure ſchoͤne Bruͤcke aus
Muthwillen, um ſich an den Einwohnern zu raͤchen,
die dem General Reynier die Fenſter eingeworfen und
einige drohende Reden gegen uͤbermuͤthige Franzoſen
ausgeſtoßen hatten. Ueberall flieht der Feind aus eurem
Vaterlande, alle Gegenden verheerend, durch welche er
zieht. Jetzt bedenkt und erwaͤgt! Wollt ihr noch fech¬
ten gegen uns, ſo iſt Untergang, ſchmaͤhlicher Unter¬
gang euer Loos; denn jeder Deutſche, ſo hat der Kai¬
ſer, mein Herr, befohlen, der mit den Waffen in der
Hand gefangen wird, ſoll nach Sibirien geſchickt wer¬
den. Wollt ihr dagegen nicht fechten fuͤr eure Feinde,
ſo werdet ihr an uns eure Bruͤder finden.“
Der Zeitpunkt ſchien guͤnſtig, um die zwar ſchon
eingeleitete, aber noch auf Schwierigkeiten ſtoßende Er¬
richtung der Buͤrgergarde raſch durchzuſetzen, und in
[298] dieſer Abſicht erſchien em 29. Maͤrz abermals eine Be¬
kanntmachung an die Einwohner Hamburgs, deren
unruhige Beſorgniß ſchon wieder einigermaßen in thaͤ¬
tigen Eifer erloſchen war und nur durch wenige Uebelge¬
ſinnte noch genaͤhrt wurde; ſie lautete: „Geruͤchte, wie die,
welche geſtern in Umlauf waren, liefern einen untruͤg¬
lichen Probeſtein des Muthes und der Feſtigkeit des
Volks. Hamburger! ich habe den eurigen bewaͤhrt ge¬
funden, und ich lobe das Vertrauen, welches ihr in
die Maßregeln ſetztet, die von mir zur Sicherheit der
Stadt genommen waren. Eure Selbſtvertheidigung
darf ſich jedoch nicht auf ein augenblickliches Aufgebot,
das nur im Momente der Gefahr ſtattfindet, gruͤnden,
ſondern muß gehoͤrig vorbereitet und geordnet ſein.
Damit ihr Vertrauen zu euch ſelbſt gewinnt, ſoll die
Buͤrgergarde unverzuͤglich organiſirt werden. Eilet, euch
einſchreiben zu laſſen, eilet, ein maͤchtiges Bollwerk
gegen jeden vorruͤckenden Feind aufzuſtellen! Heß iſt
euch zum Anfuͤhrer geſetzt, vertraut ihm, wie er euch
vertraut. Das große Ziel der Befreiung im Auge,
muß jeder mit ſeiner ganzen Kraft es zu erreichen bei¬
tragen, und Hamburg muͤſſe unter allen Staͤdten des
ſich befreienden Deutſchlands groß, wuͤrdig und kraft¬
voll geruͤſtet daſtehn.“
Bevor jedoch der Erfolg dieſer Anordnungen gegen
den Feind wirkſam werden konnte, uͤbereilte dieſen,
unter welchem leider die Sachſen mitbegriffen blieben,
[299] ein raſches Verderben. Der engliſch-hannoͤverſche Ge¬
neral von Doͤrnberg, eine aus Ruſſen und Preußen
gemiſchte Schaar von etwa 2000 Mann befehligend,
war ſchon am 14. Maͤrz bei Werben uͤber die Elbe
gegangen, hatte ſich aber vor der feindlichen Ueber¬
macht, die ſich von Magdeburg aus gegen ihn wandte,
wieder auf das rechte Elbufer zuruͤckziehen muͤſſen.
Inzwiſchen war General Morand mit 3000 Mann und
11 Kanonen uͤber Toſtaͤdt nach Luͤneburg vorgeruͤckt,
wo die Einwohner kurz vorher unter dem Beiſtand
von 50 Koſaken eine franzoͤſiſche Schwadron, welche
die Stadt beſetzen wollte, mit den Waffen in der Hand
zuruͤckgetrieben hatten. Ein hartes Schickſal ſchien de߬
halb die ungluͤckliche Stadt zu erwarten, und keine
Huͤlfe ſie retten zu koͤnnen. Die Franzoſen waren
kaum eingeruͤckt, als ſie auch ſchon die Schlachtopfer
ausſuchten, die ihrer Rache fallen und am 2. April
Vormittags erſchoſſen werden ſollten. General von
Doͤrnberg hatte ſich aber mit Tſchernyſcheff und Alexan¬
der von Benkendorf vereinigt, war auf's neue uͤber die
Elbe gegangen, und gegen Luͤneburg ſtracks im An¬
zuge. Sie trafen eben zu rechter Zeit ein, um die
Sache des Feindes zu hindern, und griffen ihn mit
Ungeſtuͤm an. Die Franzoſen wehrten ſich tapfer, doch
als General Morand toͤdtlich verwundet worden, und
nirgends ein Ausweg zu erſehen war, ſtreckten die uͤbri¬
gen das Gewehr. Tettenborn hatte dem Feinde 600 Ko¬
[300] ſaken in den Ruͤcken geſchickt, und ihm dadurch jedes
Entkommen unmoͤglich gemacht. Ein vollſtaͤndigerer
Sieg und ein glaͤnzenderes Gefecht koͤnnen wohl ſchwer¬
lich gefunden werden. Die Truppen hatten die groͤßte
Tapferkeit bewieſen, und den durch Zahl und Stellung
ſtaͤrkern Feind nicht nur geſchlagen, ſondern vernichtet.
Die Einwohner ſelbſt hatten abermals an dem Gefechte
Theil genommen, und mehrere Franzoſen niedergemacht.
Man ruͤhmte auch die Unerſchrockenheit eines Luͤnebur¬
ger Maͤdchens, Johanna Stegen genannt, die im hef¬
tigſten Feuer den preußiſchen Jaͤgern Pulver und Blei
zugetragen hatte.
Der Sieg Doͤrnbergs bei Luͤneburg verbreitete in
Hamburg die außerordentlichſte Freude, die zaghafteſten
Gemuͤther wurden wieder beruhigt, man faßte wieder
Vertrauen und neuen Eifer fuͤr die Sache des Vater¬
landes. Dieſer Ausgang brachte alles ſchnell wieder
in Bewegung, was in der Erwartung und Ungewi߬
heit deſſelben geſtockt hatte. Jetzt erſt glaubten ſich
endlich auch die an den Kaiſer abgeordneten beiden
Rathsherren mit Sicherheit auf die Reiſe begeben
zu koͤnnen.
Indeß mußte der diesmal geſcheiterte Verſuch der
Franzoſen, ſich wieder an der Niederelbe feſtzuſetzen,
die Beſorgniß begruͤnden, daß ein ſolcher ſich guͤnſtiger
wiederholen koͤnnte; uͤberhaupt aber gewaͤhrte der Gang
der Kriegsereigniſſe in Sachſen nicht mehr die glaͤnzen¬
[301] den Hoffnungen, welche man vor einiger Zeit gehegt
hatte, Deutſchland baldigſt bis an den Rhein befreit
zu ſehen. Unter ſolchen Umſtaͤnden konnte auch Ham¬
burg noch große Gefahr zu beſtehen haben, und wurde
es noͤthig, die raſche Eroberung der Koſaken durch ge¬
diegene Vertheidigungsmittel zu behaupten. Da die
Hauptſtaͤrke der Ruſſen und Preußen in Sachſen keine
Truppen mehr abgeben konnte, ſo blieb Tettenborn
auf die Mittel angewieſen, die er ſelber noch erſt her¬
vorrufen ſollte. Außer den 500 mecklenburgiſchen Gre¬
nadieren, die ſein perſoͤnliches Uebergewicht ihm geſchafft
hatte, erlangte er noch mit Muͤhe, daß ihm der preu¬
ßiſche Hauptmann von Lucadou mit 200 Mann zuge¬
ſchickt wurde. Die hannoͤverſchen Truppen, die ſich
unter Tettenborns Schutz und Beiſtand eiligſt zu bil¬
den angefangen hatten, waren entweder noch nicht fer¬
tig, oder die ſchon fertigen die Elbe weiter hinauf ge¬
zogen, wo ſich unter dem Oberbefehl des Generals
Grafen von Wallmoden ein beſonderer Heertheil des
kuͤnftigen Nordheeres bilden ſollte. Unter dieſen Um¬
ſtaͤnden verdoppelte Tettenborn ſeinen Eifer, die han¬
ſeatiſchen Truppen baldigſt ins Feld zu ſtellen. Ham¬
burg lieferte 2 Bataillons und 6 Schwadronen, Luͤbeck
2 Schwadronen und 600 Mann zu Fuß. Das erſte
Bataillon wurde dem Hauptmann von Stelling anver¬
traut, das zweite dem Hauptmann von Gloͤden, die
600 Luͤbecker bildeten mit den 200 Preußen des Haupt¬
[302] manns von Lucadou unter deſſen Anfuͤhrung das dritte
hanſeatiſche Bataillon. Die Reiterei der Hanſeaten be¬
trug gegen 1000 Pferde; die erſte Schwadron, von
ihrem Rittmeiſter Godefroy befehligt, uͤbte der Ritt¬
meiſter von Herbert ein, und fuͤhrte ſie auch zuerſt
gegen den Feind in einem gluͤcklichen Streifzug jenſeits
der Elbe. Ein Buͤrger von Hamburg, Namens Hanfft,
hatte auf eigne Koſten eine ganze Schwadron ausge¬
ruͤſtet, meiſtens Schlaͤchtergeſellen, weil er ſelbſt ehemals
Schlaͤchtermeiſter geweſen war; weil er jedoch zur Be¬
fehlfuͤhrung nicht taugte, ſo wurde er nur als Stabs¬
rittmeiſter angeſtellt, und dadurch ſein Ehrgeiz mehr
gekraͤnkt als befriedigt. Auch an Geſchuͤtz wurde ge¬
dacht, und es gelang zwei Batterieen zu errichten,
eine von 6 Stuͤcken zu Fuß, welche dem Hauptmann
Wertheim, und eine reitende von gleicher Anzahl, welche
dem Hauptmann Spooreman uͤbertragen wurde; außer
dieſen beiden Offizieren, die ſich willig angeboten, waͤre
kein dritter dieſes Fachs zu finden geweſen! Eben ſo
hielt es ſchwer, die noͤthigen Artilleriſten zur Bedienung
der Kanonen zuſammenzubringen, da hier unmoͤglich,
wie bei andern Waffen, bloße Neulinge eintreten durf¬
ten. Beinahe alle Gegenſtaͤnde der Bewaffnung und
Ausruͤſtung fehlten, und waren nur mit unſaͤglicher
Muͤhe und großen Koſten zuſammenzubringen. Nicht
allein, daß es an Gewehren mangelte, auch ſogar Pi¬
ſtolen und Saͤbel waren nicht in hinreichender Anzahl
[303] aufzutreiben; in der Eile wurden fuͤrerſt Piken fuͤr das
Fußvolk ausgetheilt; auch einige Schwadronen empfin¬
gen ſtatt der Saͤbel nur Lanzen, welche ſie nachher
aus Wahl beibehielten.
Die Buͤrgergarde, gleichfalls fuͤrerſt nur mit weni¬
gen Gewehren, und groͤßtentheils nur mit Piken ver¬
ſehen, wurde fleißig geuͤbt, und fing nach und nach
an, ſich in das ungewohnte Neue zu finden, und der
Ernſt der Sache draͤngte ſchnell alle die Spielereieu
und Laͤcherlichkeiten zuruͤck, welche bei ſolchen erſt im
Entſtehen begriffenen Anſtalten kaum zu vermeiden ſind.
Herr von Heß griff die Sachen entſchieden und tuͤchtig
an, und leiſtete Außerordentliches. Waͤren unter allen
dieſen Bewaffneten nur 1000 Mann Preußen oder
andre deutſche Soldaten von einiger Dienſtkenntniß und
Kriegserfahrung geweſen, ſo haͤtte ſich das Neue, dem
es nur an Unterricht und Muſter fehlte, bald an dem
Alten erziehen und ihm gleichartig werden koͤnnen.
Allein die Mannſchaft, welche den Hanſeaten und der
Buͤrgergarde zum Vorbild und Anhalt dienen konnte,
war der Zahl nach zu gering, und uͤberdies auch ſelber
ſchon groͤßtentheils anderweitig gebraucht.
Die Bewegung des General Morand, die mit der
Niederlage bei Luͤneburg geendigt hatte, war in der
That nicht ſo ganz planlos geweſen, als ſie beim erſten
Anblick ſcheinen mochte. Es zeigte ſich gleich darauf,
daß ſein Vorruͤcken gemeinſchaftlich mit andern Trup¬
[304] pen, welche von der Elbe kamen, angeordnet und Luͤ¬
neburg zum Vereinigungspunkte beſtimmt geweſen war.
General Montbrun ruͤckte mit 4000 Mann, denen der
Marſchall Davouſt an der Spitze der Haupttruppe fol¬
gen ſollte, am 4. April in Luͤneburg ein, wo er aber
ſtatt des General Morand nur die Spuren ſeiner Nie¬
derlage fand. Doͤrnberg hatte ſich naͤmlich nach Boitzen¬
burg zuruͤckgezogen, um den dortigen Uebergang uͤber
die Elbe, den der Feind wohl haͤtte mit ſeiner Macht
verſuchen koͤnnen, zu vertheidigen. Hamburg ſah ſich
auf's neue bedroht, die Stadt war offen, zwar mit
Waͤllen umgeben, aber die Bruſtwehren und Thore
waren abgetragen, und die Bruͤcken uͤberall unter¬
daͤmmt; es fehlte an Geſchuͤtz, die Beſatzung beſtand
faſt nur aus Reiterei. Die Einwohner kamen in große
Bewegung; man hatte durch die fruͤhere Unruhe ſchon
gelernt, daß Hamburg der Schauplatz kriegeriſcher Er¬
eigniſſe werden koͤnne, und daß man auf ernſthafte
Pruͤfung gefaßt ſein muͤſſe. Der Muth und Eifer der
Beſſern war mit dieſem Gedanken vertraut, und zwei¬
felte nicht, ſich gegen den verhaßten Feind durch eigne
Kraft zu behaupten. Tettenborn verſaͤumte keinen
Augenblick, die Maßregeln zu treffen, welche die Um¬
ſtaͤnde erfordeten und zuließen. Die Truppen wurden
in Bereitſchaft geſetzt, die gefahrvollſten Punkte be¬
wacht, und wo Ueberſchwemmungen moͤglich waren,
dieſe ſo weit vorbereitet, daß ſie auf den erſten Wink
[305] eintreten konnten. Gluͤcklicherweiſe waren in dieſen
Tagen einige tauſend Gewehre aus England angekom¬
men, und konnten ſogleich vertheilt werden. Die drei
hanſeatiſchen Bataillone wurden nun voͤllig bewaffnet;
auch 3000 Mann der Buͤrgergarde empfingen Flinten,
die uͤbrigen mußten ſich noch ferner mit Piken behelfen.
Der Major von Berger, der mit ſeinem Bataillon in
Ratzeburg nur auf Waffen gewartet hatte, ſetzte ſich
ſogleich nach deren Empfang in Marſch gegen die Elbe.
Das erſte hanſeatiſche Bataillon marſchirte nach Berge¬
dorf, das dritte nach dem Zollenſpieker, waͤhrend das
zweite noch in Hamburg blieb. Auch einige hanſeatiſche
Reiterei ruͤckte ſchon aus; die erſte Schwadron unter
der Leitung des Rittmeiſters von Herbert. Beim Zol¬
lenſpieker kamen am 6. April die erſten hanſeatiſchen
Truppen mit den Franzoſen in's Gefecht. Eine Ab¬
theilung von 20 luͤbeckiſchen Schuͤtzen nebſt 10 Drago¬
nern zu Fuß waren uͤber die Elbe gegangen, um Nach¬
richt von dem Feinde einzuziehen. Sie ſtießen beim
erſten Dorfe auf etwa 80 Mann franzoͤſiſchen Fußvolks,
mit welchen ſie ein lebhaftes Geplaͤnkel anfingen, worin
die Franzoſen einige Leute verloren und zwei Luͤbecker
verwundet wurden. Der Feind wagte ſich trotz ſeiner
Ueberlegenheit faſt gar nicht hervor, und die Hanſeaten
gingen unverfolgt und ohne weitern Verluſt uͤber die
Elbe zuruͤck. Die Koſaken hatten ebenfalls fortdauernd
gluͤckliche Scharmuͤtzel, und taͤglich ſah man in Ham¬
III. 20[306] burg Gefangene und Ueberlaͤufer, bald in groͤßerer,
bald in geringerer Zahl einbringen. Der Feind fand
nicht rathſam, an der Elbe zu verweilen, wo zahlreiche
Streifparteien in ſeinem Ruͤcken jeden Augenblick ſeine
Verbindungen unterbrachen, und ihm bei jedem uner¬
warteten Angriff das Beiſpiel des General Morand
ſchreckend vorſchweben mußte. Er zog ſich von dem
Ufer zuruͤck. General Montbrun raͤumte am 9. April
Luͤneburg, und der Marſchall Davouſt ging mit allen
ſeinen Truppen hinter die Aller zuruͤck, deren Bruͤcken
er ſorgfaͤltig hinter ſich abbrach. Den groͤßten Theil
der ruſſiſchen Reiterei nebſt 2 hanſeatiſchen Schwadro¬
nen und 2 ruſſiſchen Kanonen, ſandte hierauf Tetten¬
boru unter Anfuͤhrung des Oberſtlieutenants von Ben¬
kendorf gegen die Weſer [und] bis vor die Thore von
Bremen. Viele einzelne Unternehmungen und Plaͤn¬
keleien, die immer gluͤcklich ausfielen, uͤbten die neuen
Truppen, die mit den Koſaken vereint den Dienſt ver¬
ſahen, und hielten den Feind in Unruhe.
Man hatte jedoch bei dieſer Gelegenheit eingeſehen,
wie nothwendig es ſei, Hamburg vor einem erſten An¬
fall zu ſchuͤtzen, und war bedacht, die Stadt in ordent¬
lichen Vertheidigungsſtand zu ſetzen. Dieſe Aufgabe
war nicht klein. Tettenborn ließ durch den Major von
Pfuel die Oertlichkeit genau in Augenſchein nehmen,
und die Punkte beſtimmen, wo Schanzen angelegt wer¬
den ſollten. Die erſte Vertheidigungslinie war die
[307] Elbe ſelbſt, mit ihren vielen Inſeln, vom Zollenſpieker
bis Haarburg, allein bei einer Ausdehnung von vier
Meilen blieb es ſchwer, jeden Punkt derſelben mit ſo
wenigen Truppen zu beſetzen, und es war zu vermu¬
then, daß es dem Feinde bei wiederholten Angriffen
gelingen muͤſſe, irgendwo durchzubrechen. Die ganze
Gegend beſteht aus Niederungen, die durch Deiche
gegen Ueberſchwemmungen geſchuͤtzt, und mit unzaͤh¬
ligen Graͤben durchſchnitten ſind. Der ganze Billwaͤr¬
der konnte unter Waſſer geſetzt werden, und die zweite
Vertheidigungslinie bilden, in welcher die Stellung am
Eichbaum von beſonderer Wichtigkeit war. Die Haupt¬
ſache blieb aber immer die naͤchſte Vertheidigung der
Stadt durch ihre Waͤlle und durch einige vorliegende
Werke, die theils aus alter Zeit uͤbrig waren, theils
erſt errichtet wurden. Der Hammerbrook, der ganz
uͤberſchwemmt wurde, machte von dieſer Seite Ham¬
burg unangreifbar, ſo lange die Bruͤcken uͤber die Bille
vertheidigt wurden, und hier waren die beſten Vorkeh¬
rungen getroffen. Ueberall an den bedrohten Stellen
wurden Schanzen aufgeworfen und einiges Geſchuͤtz
aufgeſtellt, das, ſo unzulaͤnglich es auch war, doch
der Vertheidigung ein gutes Ausſehn gab; der Haupt¬
wall erhielt ſeine Bruſtwehr wieder, ſo wie auch die
Außenwerke an dem Steinthore; die Eingaͤnge wurden
durch Schanzen gedeckt, die unterdammten Thorbruͤcken
wieder in ihren ehemaligen Zuſtand gebracht, indem
20*[308] man die Erde in tiefen Einſchnitten wegnahm, und ſo
den Graben herſtellte. Auch auf der ſogenannten Fed¬
del, einer Inſel jenſeit des Grasbrooks, ſtiegen Schan¬
zen empor.
Alle dieſe Arbeiten wurden mit Eifer betrieben und
bis zu Ende thaͤtig fortgeſetzt, ſo daß man uͤber das,
was in der kurzen Zeit fertig oder doch der Vollendung
nahe war, nicht genug erſtaunen konnte. Die Fran¬
zoſen ſelbſt, ſo gern ſie die Anſtalten der Ruſſen ver¬
kleinert und geſchimpft haͤtten, konnten nicht umhin,
das Geleiſtete oͤffentlich zu loben. Außer dem Major
von Pfuel hatte der Hauptmann Schaͤffer, ein vorzuͤg¬
licher Genieoffizier, das groͤßte Verdienſt um dieſe
Sache; in dem weiten Bereich dieſer Befeſtigungen
ordnete er alles ſelbſt an, fuͤhrte die beſtaͤndige Auf¬
ſicht, und leitete alles mit eben ſo großem Eifer, als
bewaͤhrter Geſchicklichkeit; ohne ſich ſeiner Leiſtungen
zu uͤberheben, wirkte er im Stillen mit unermuͤdeter
Anſtrengung fort, und war nicht allein geſchaͤftig, die
Schanzen gegen den Feind anzulegen, ſondern auch ſie
gegen ihn zu vertheidigen, wie er denn auf der Inſel
Wilhelmsburg, auch außer ſeinem Beruf, freiwillig
unter die vorderſten Plaͤnkler in's heftigſte Feuer ging.
Zu gleicher Zeit war auch die Unzulaͤnglichkeit der
Buͤrgergarde vielfach zur Sprache gekommen, und die
wohlgeſinnteren Buͤrger ſelbſt wuͤnſchten nichts eifriger,
als ſie geregelt und in ſtrengerem Dienſt unterrichtet
[309] zu ſehn, um ſie aus dem ungewiſſen Schwanken zu
reißen, in welches die Unwiſſenheit uͤber das, was zu
thun ſei, und wie man ſich in eintretenden Faͤllen zu
benehmen habe, ſie immer auf's neue verſetzen mußte.
Friedrich Perthes war hiezu beſonders thaͤtig, und in¬
dem er kraͤftig zur Einigkeit rieth und wirkte, und
ſeinen Freund Heß auf alle Weiſe unterſtuͤtzte, war er
zugleich bedacht, von einer andern Seite zu erſetzen,
was dieſem fehlte. Man bedurfte eines einſichtsvollen,
kriegserfahrenen und dienſtkundigen Offiziers, der mit
Heß gemeinſchaftlich an der Spitze ſtehen, und die
Formen, die zu militairiſcher Brauchbarkeit unentbehr¬
lich ſind, nach und nach einfuͤhren ſollte. Tettenborn
konnte keinen ſeiner Offiziere dieſem Geſchaͤft ganz hin¬
geben, dem nur wenige im Stande waren vorzuſtehen,
und das auch niemanden anlocken konnte, der ſchon
an ſeinem militairiſchen Platze ſtand. Um ſo gluͤcklicher
war es, daß grade derjenige, welcher durch Herz und
Geiſt und Kenntniß dazu am meiſten erwuͤnſcht ſein
mußte, wenigſtens zum Theil dieſen Auftrag erhielt.
Der Hauptmann von Canitz wurde beſtimmt, Heß mit
Rath und That an die Hand zu gehen. Dies geſchah
mit dem beſten Erfolg, und es wurde geleiſtet, was
nur immer in der kurzen Zeit und unter dieſen Um¬
ſtaͤnden moͤglich war. Freilich waͤre zu wuͤnſchen ge¬
weſen, daß er ganz und gar den Oberbefehl uͤber dieſe
Buͤrgergarde uͤbernommen haͤtte, allein eben ſo ſehr
[310] ſchien der Geiſt dieſer Anſtalt einen Hamburger, und
einen Buͤrger, zum Anfuͤhrer zu erheiſchen, als das
Verhaͤltniß eines preußiſchen Offiziers nicht wohl auf¬
fordern konnte, ſich einer ſolchen Aufgabe zu unter¬
ziehen. Canitz verfaßte jedoch, außer dem wohlthaͤtigen
Einfluß, den er im allgemeinen ausuͤbte, fuͤr die Buͤr¬
gergarde eine ſchriftliche Anweiſung, wie ſie ſowohl
vor dem Feinde als auch in jedem andern Dienſte ſich
zu verhalten habe, und legte ſo den Grund zu einer
Anordnung und Brauchbarkeit, die leider nicht Zeit
behielt, ſich voͤllig zu entwickeln.
War in dieſem Zweige der hamburgiſchen Angele¬
genheiten vieles, was den treuen Freund der vaterlaͤn¬
diſchen Sache bekuͤmmerte, und nach Mitteln ausſehn
ließ, das Gehemmte zu foͤrdern, das in falſcher Rich¬
tung Schreitende zu berathen, ſo mußte in andern
Zweigen, die nicht ſo unmittelbar mit der ruſſiſchen
Behoͤrde zuſammenhingen, und durch deren Antrieb
gekraͤftigt werden konnten, der Mangel an lebhafter
Regſamkeit und geordnetem Eingreifen zu wahrer Ver¬
wirrung werden, fuͤr welche man vergebens ſich nach
Huͤlfe umſah. Es wurde bei dieſer Gelegenheit zum
Erſtaunen offenbar, wie karg unter die Menſchen die
Gabe ſtaatsordnender Einrichtungen und die Faͤhigkeit
zu geſetzgeberiſcher Wirkſamkeit vertheilt ſind. Jeder
weiß, was noth thut, jeder erkennt den Fehler wo es
gebricht, jeder fuͤhlt ſich willig zum Guten zu helfen;
[311] aber oͤffentliches Auftreten, entſchloſſenes Anfangen und
Fortreißen der Genoſſen wird durch tauſend Umſtaͤnde
des buͤrgerlichen und geſelligen Lebens gehindert, ſo
daß es dann immer an dem Erſten fehlt, ohne welchen
die zahlreichen Zweiten und Dritten ſich in ungenutzter
Anlage verlieren. Der Mangel an ſittlichem Halt in
den Begriffen und die Abweſenheit feſter Grundzuͤge
in den Gemuͤthern des Volks hindern jede durchgrei¬
fende Maßregel Einzelner, die nicht von Gewalt, ja
von Schrecken begleitet iſt.
Eine Hoffnung jedoch, dieſem Uebel in der Folge
abgeholfen zu ſehen, zeigte ſich auch fuͤr Hamburg in
der gemeinſamen Verwaltungsbehoͤrde, welche der Kai¬
ſer von Rußland und der Koͤnig von Preußen fuͤr das
noͤrdliche Deutſchland einſetzten, und der Leitung des
Miniſters Freiherrn vom Stein uͤbertrugen. Die Lage
der Dinge forderte laut einen ſolchen Mann, in deſſen
ſtarker Seele der Eifer fuͤr die vaterlaͤndiſche Sache zu
heftiger Leidenſchaft geworden war. Sein untadlicher
Wandel und die Reinheit ſeiner Geſinnung gaben ihm
das Recht furchtloſer Strenge und Wahrheit gegen
jederman. Als ſeine Gehuͤlfen nannte man die treff¬
lichſten Maͤnner. In Hamburg hegten mehrere ange¬
ſehene Einwohner den Wunſch, es moͤchte der preu¬
ßiſche Geheime Staatsrath Niebuhr als Beauftragter
der Maͤchte dort erſcheinen; in ſeiner fruͤhern Stellung
als Bankdirektor zu Kopenhagen hatte er den Ruf
[312] großer Geſchaͤftskenntniß und ſtrenger Rechtſchaffenheit
erworben, und wiewohl er ſeitdem in Preußen aus
aller Staatsthaͤtigkeit zuruͤckgetreten war, um ſich ganz
ſeinen gelehrten Arbeiten zu widmen, ſo hatte er doch
dieſe bei dem erſten Schimmer der beſſern Hoffnungen
wieder verlaſſen, in Berlin ein neues Tagblatt den
preußiſchen Korreſpondenten gegruͤndet, und ſuchte kraͤf¬
tigſt im vaterlaͤndiſchen Sinn einzuwirken. Mit Per¬
thes, Heß, mit Dehn in Altona, und vielen Andern,
ſtand er in freundſchaftlichen Beziehungen; es war die
Rede davon, aus eignem Antrieb ihn zu berufen, da
er denn, an der Spitze ſolchen Zutrauens, leicht die
Beſtaͤtigung abſeiten der Maͤchte wuͤrde empfangen ha¬
ben. Das Geruͤcht nannte bald auch andre preußiſche
Staatsbeamte, denen die Verwaltung der Hanſeſtaͤdte
abſeiten Stein's zugedacht ſein ſollte, und mit Wohl¬
gefallen wurde der Name Staͤgemann vernommen;
allein die Ernennung verzoͤgerte ſich, und fiel endlich
auf keinen der Genannten, ſondern auf den ruſſiſchen
Geheimen Rath von Alopeus, den aͤltern der beiden
Bruͤder, einen Mann von ſtarkem Karakter und von
großem Ruf in der Diplomatik, der aber ſelbſt be¬
kannte, ſich in ſeiner neuen Beſtimmung noch ziemlich
fremd zu fuͤhlen. Er war zum Kommiſſarius fuͤr die
deutſchen Laͤnder noͤrdlich der Elbe beſtellt, traf aber
in einer Zeit ein, wo Hamburg ſchon taͤglich in Gefahr
ſchwebte, und er blieb daher in Mecklenburg, wo er
[313] ſpaͤterhin ſich der hamburgiſchen Sachen zwar anneh¬
men wollte, jedoch ohne Frucht und faſt ſchon ohne
Gegenſtand. Fuͤr Hamburg fiel alſo dieſe wichtige
Huͤlfe, welche ſich aus der Stein'ſchen Verwaltungs¬
behoͤrde haͤtte ergeben koͤnnen, durch die anfaͤngliche
Saͤumniß und die nachherigen Umſtaͤnde gaͤnzlich aus.
Inzwiſchen hatte Tettenborn von Seiten der Daͤ¬
nen immer groͤßere Annaͤherung erfahren, ſie bewarben
ſich fortdauernd um die Freundſchaft der Ruſſen, und
ſuchten dieſelbe durch zuvorkommende Gefaͤlligkeit zu
verdienen. Nicht nur die Ruſſen und Hamburger,
ſondern auch die Englaͤnder ſelbſt, fanden die Elbſchiff¬
fahrt vollkommen frei, ſogar von Altona ſegelten Schiffe
nach England ab, das Kriegsverhaͤltniß zwiſchen Daͤne¬
mark und England ſchien vergeſſen; auch ſpaͤterhin, als
die Elbe wegen der franzoͤſiſchen bewaffneten Fahrzeuge
nicht mehr ſicher war, ging der Poſtenlauf nach Eng¬
land durch Holſtein bis zum Ausfluß der Elbe ohne
irgend ein Hinderniß. So war auch an die daͤniſchen
Behoͤrden in Holſtein der Befehl von Kopenhagen er¬
gangen, die von den Ruſſen wiedereingeſetzten hanſeati¬
ſchen Obrigkeiten anzuerkennen, und mit ihnen als
ſolchen in Verkehr zu treten. Noch entſchiedener be¬
zeigte ſich die freundſchaftliche Geſinnung der Daͤnen
durch die vertrauliche Eroͤffnung, welche Tettenborn
abſeiten der daͤniſchen Befehlshaber empfing, daß ſie
angewieſen ſeien, alle ihre dortigen Truppen, ſobald
[314] der General es verlange, ihm zur Beſetzung von Ham¬
burg und Luͤbeck anzubieten.
Was mit dieſer letztern Zuvorkommenheit gemeint
ſei, erklaͤrte ſich bald durch ein Schreiben des Fuͤrſten
Sergius Dolgoruky, der am 23. Maͤrz mit beſondern
Auftraͤgen des Kaiſers Alexander in Kopenhagen ange¬
kommen, und mit dem daͤniſchen Kabinet in raſche
Verhandlung getreten war. Der Kaiſer, wohlgeſinnt
fuͤr Daͤnemark, hatte wie uͤberall ſo auch hier den Weg
der Guͤte und Ausgleichung verſuchen wollen, und ſei¬
nen Abgeſandten beauftragt, dem daͤniſchen Hofe fuͤr
den Verluſt von Norwegen, der durch die fruͤheren mit
Schweden geſchloſſenen Vertraͤge wider Daͤnemark aus¬
geſprochen war, reichliche Entſchaͤdigung zu verheißen,
im Falle Daͤnemark gleich auf der Stelle dem franzoͤ¬
ſiſchen Bund entſagen und ſeine Waffen mit denen der
Ruſſen und Preußen vereinigen wollte. Der daͤniſche
Hof war auf dieſe Eroͤffnung eingegangen, und wuͤnſchte
ſich in der Ausſicht auf jene Entſchaͤdigung zunaͤchſt
der Hanſeſtaͤdte zu verſichern. Der Fuͤrſt Dolgoruky,
erfreut uͤber das ſchnelle Gelingen ſeiner Unterhandlung,
und voll Eifer, der Sache der Verbuͤndeten einen im
Augenblicke ſo bedeutenden Zuwachs von Streitkraͤften
zuzuwenden, ſagte den Daͤnen die einſtweilige Beſetzung
von Hamburg und Luͤbeck zu, und forderte demgemaͤß
Tettenborn auf, ungeſaͤumt die beiden Staͤdte den daͤ¬
niſchen Truppen zu uͤberlaſſen, und dagegen deren un¬
[315] mittelbare Mitwirkung gegen die Franzoſen zu gewaͤr¬
tigen. Tettenborn, hoͤchſt betroffen uͤber eine Zumu¬
thung, welche den Fortgang des ſo gluͤcklich begonnenen
Werkes der Befreiung ploͤtzlich zu hemmen, das Bei¬
ſpiel des Aufſtandes gegen den Feind fuͤr das uͤbrige
Deutſchland zu vernichten, und alle Huͤlfsquellen dieſen
Gegenden fuͤr den Augenblick in fremde Haͤnde zu lie¬
fern drohte, war weit entfernt, hierauf ſo ſchnell ein¬
zugehen. Er wußte, daß des Kaiſers Abſicht nicht ſei,
die kaum hergeſtellte Freiheit und Selbſtſtaͤndigkeit der
Hanſeſtaͤdte gefaͤhrden zu laſſen, er durchſchaute die
Sache in allen ihren Beziehungen, ſowohl politiſchen
als militairiſchen, und verſagte einen Schritt, welchen
auszufuͤhren er ſich nicht einmal fuͤr befugt halten
durfte. Er antwortete dem Fuͤrſten Dolgoruky, daß
er eine Sache von ſolcher Wichtigkeit nicht ohne un¬
mittelbaren Befehl ſeiner Kriegsobern entſcheiden koͤnne,
und uͤberdies das Geforderte dem Vortheile des Kai¬
ſers und ſeiner Verbuͤndeten keineswegs gemaͤß halte.
Er befoͤrderte ſogleich einen Eilboten in das große
Hauptquartier, um uͤber dieſen Vorgang zu berichten,
und die wahre Lage der Dinge dort wuͤrdigen zu laſſen.
Was er vorausgeſehen hatte, geſchah; der Kaiſer Alexan¬
der belobte Tettenborn's richtige Anſicht und kluge Zu¬
ruͤckhaltung, und empfahl ihm die fernere Behauptung
der beiden Staͤdte; der Fuͤrſt Dolgoruky, ſo wurde
hinzugefuͤgt, ſei in ſeinem Eifer, wenn auch in beſter
[316] Abſicht, zu weit gegangen, und ſeine mit dem daͤni¬
ſchen Kabinet genommene Abrede wurde als ein Ueber¬
ſchreiten ſeiner Vollmachten fuͤr unguͤltig erklaͤrt. Den
daͤniſchen Befehlshabern, welche nach den von Kopen¬
hagen empfangenen Weiſungen nun immer zudringlicher
ihren Beiſtand anboten, und ſich bereit erklaͤrten, Ham¬
burg und Luͤbeck mit ihren Truppen zu beſetzen, dankte
Tettenborn mit großer Hoͤflichkeit fuͤr ihr Anerbieten,
von welchem er ſich vorbehielt Gebrauch zu machen,
ſobald die Umſtaͤnde, die jedoch in dieſem Augenblicke
noch nicht dringend waͤren, es erheiſchen wuͤrden. So
ſahen ſich die Daͤnen, welche gemeint hatten ihre Be¬
reitwilligkeit nur zeigen zu duͤrfen, um eiligſt in den
Beſitz der beiden wichtigen Staͤdte zu gelangen, jetzt
nur auf weiteres Abwarten verwieſen, und durch ihr
eignes Wort ſich zu denjenigen Leiſtungen verpflichtet,
die abgeſondert von dem vorausgeſetzten Gewinn ihnen
nur eine bedenkliche Laſt ſeyn konnten!
Das daͤniſche Kabinet verfolgte indeß, ungeachtet
das Ausweichen Tettenborn's einige Verſtimmung ver¬
urſachte, ſeine neue Richtung mit thaͤtigem Eifer. Daͤ¬
nemark ſchien in der That, den Verbuͤndeten ange¬
ſchloſſen, nach eigenem Willen eine große Rolle uͤber¬
nehmen zu koͤnnen, ſich gewiſſermaßen die Stelle und
das Verdienſt, welche fuͤr Schweden offen ſtanden,
noch vor dieſem aneignen, und bei guͤnſtiger Wendung
des Krieges die groͤßten Vortheile hoffen zu duͤrfen.
[317]
In dieſem Sinne wurden ungeſaͤumt die noͤthigen
Schritte gethan. Der Graf Karl von Moltke wurde an
den ruſſiſchen Kaiſer, der Graf Joachim von Bernſtorff
mit umfaſſenden Vollmachten nach London abgefertigt,
um Daͤnemarks Beitritt zu dem Bunde gegen Frank¬
reich anzubieten, und auf moͤglichſt vortheilhafte Be¬
dingungen abzuſchließen. Tettenborn empfing von bei¬
den Unterhaͤndlern auf ihrer Durchreiſe durch Hamburg
die beſten Zuſicherungen uͤber die Entſchiedenheit jenes
Beitritts, und uͤber den Nachdruck, mit welchem der¬
ſelbe ausgefuͤhrt werden wuͤrde; ſie wiederholten eifrigſt
das Anerbieten daͤniſcher Huͤlfstruppen, und in gleichem
Sinne lauteten die fernern Briefe des Fuͤrſten Dolgo¬
ruky aus Kopenhagen, ſo wie die Erklaͤrungen des
Generals von Wegener und des Oberſtlieutenants von
Haffner, welche wiederholt verſicherten, ſie haͤtten Be¬
fehl, ihre Truppen auf das Verlangen Tettenborn's
vorruͤcken zu laſſen. Einen unangenehmen Eindruck
machten neben dieſen Verſicherungen einige freilich aus
untergeordnetem Betrieb hervorgegangene Verſuche, un¬
ter den Einwohnern von Hamburg den Wunſch anzu¬
regen, daß die Stadt ſich in den Schutz und die Ob¬
hut Daͤnemarks begeben moͤchte, wobei denn die Ge¬
ſinnungen und Abſichten der Ruſſen mehrfach verdaͤch¬
tigt, und auch die Verhandlungen des Fuͤrſten Dolgo¬
ruky in mancherlei Entſtellungen abſichtlich verbreitet
wurden. Es war nicht zu verwundern, wenn aller¬
[318] dings manche Hamburger unter ſolcherlei Geruͤchten
und Vorſtellungen einiges Bedenkliche aufgriffen, und
mit der Zuverſicht auch den Eifer ſinken ließen. Doch
von andrer Seite wurde derſelbe wieder um ſo ſtaͤrker
angefacht.
Waͤhrend alles dieſes vorging, begann es naͤmlich
an der obern Elbe, nach einem langen, damals un¬
begreiflich duͤnkenden, und gewiß hoͤchſt nachtheiligen
Stocken der Kriegsbewegungen, nach und nach lebhaft
zu werden, und alles deutete auf ein nachdruͤckliches
Vorruͤcken der Heere. Die Schweden, die noch zoͤger¬
ten, die Daͤnen, die bereit ſtanden, beide ſchienen kaum
noch einigen Theil an dem Feldzuge gewinnen zu koͤn¬
nen. Das, was geſchehn war, ſchien uͤber das, was
bevorſtand, zu taͤuſchen. Die nordiſchen Huͤlfstruppen
konnten der, wie man meinte, anderweitig genugſam
verbuͤrgten Sicherheit Hamburgs ein uͤberfluͤſſiger Zu¬
wachs erſcheinen, die Aufſtaͤnde in den Laͤndern jenſeits
der Elbe verſprachen einen ungeheuren Stoff zur Bil¬
dung neuer Kriegsvoͤlker, wie damit auch im Mecklen¬
burgiſchen, in Hamburg und Luͤbeck thaͤtig fortgeſchrit¬
ten wurde. Dieſe und aͤhnliche Betrachtungen moͤgen
wohl Urſache geweſen ſein, daß man nicht fuͤr noͤthig
hielt, neue Truppen nach der untern Elbe abzuſenden,
indem nur etwa 150 Mann preußiſcher Dragoner un¬
ter dem Major von Schill, einen Bruder des bei
Stralſund gebliebenen, als einziger Nachſchub ankamen.
[319]
Dagegen traf am 17. April der Generallieutenant Graf
von Wallmoden in Hamburg ein, der den oͤſterreichi¬
ſchen Kriegsdienſt mit dem großbritanniſchen vertauſcht
hatte, aber auch dem ruſſiſchen angehoͤrte, und die
Beſtimmung erhalten hatte, einen Heertheil des Nord¬
heers zu befehligen, der aus verſchiedenen Bundes¬
truppen zuſammengeſetzt werden ſollte. Der Ruf ſeiner
Auszeichnung in fruͤhern Feldzuͤgen, ſeines hellen Blicks
in die Staatsverhaͤltniſſe, ſeiner tapfern Entſchloſſenheit
vor dem Feind, und der edlen Eigenſchaften ſeines Ge¬
muͤths, war ihm vorausgegangen, und vielmals wurde
ſein Name in Deutſchland mit großen Erwartungen
genannt. Er fand keine andern Truppen vor, als die
wenig zahlreichen Abtheilungen Tettenborn's, Doͤrn¬
berg's und Benkendorf's, und die neuerrichteten, kaum
voͤllig ausgeruͤſteten und jedenfalls ungepruͤften Schaa¬
ren, welche wenigſtens einer Beimiſchung alter Trup¬
pen bedurft haͤtten, um an dieſen einen feſten Anhalt
zu finden. Da jede jener Abtheilungen in ihrer Weiſe
thaͤtig war, und ſchon ihre durch den Augenblick gebo¬
tene Aufgabe hatte, ſo war an Zuſammenziehen dieſer
Kraͤfte nicht zu denken, und eben ſo wenig an eine
ſtrenge Einheit des Oberbefehls, da auf allen Punkten
die Umſtaͤnde ſchnell wechſelten, und raſche Maßregeln
forderten. Wallmoden erkannte dieſe Lage der Dinge
und wollte nicht ſtoͤrend in ſie eingreifen; er ließ Tet¬
tenborn die hamburgiſche Sache in der angefangenen
[320] Art fortfuͤhren, und begab ſich nach Lauenburg und
weiter hinauf an der Elbe, von wo er ſpaͤter einige
gluͤckliche Zuͤge gegen den General Sebaſtiani und den
Marſchall Davouſt unternahm.
Tettenborn, der haͤufig den Uebungen der Fußvoͤlker
beiwohnte, und ſowohl die Hanſeaten und Buͤrger¬
garden, als auch die Arbeiten an den Feſtungswerken
faſt taͤglich in Augenſchein nahm, hatte auch den Feind
nicht aus den Augen verloren, ſondern eine ſtarke
Schaar Reiterei nebſt zwei ruſſiſchen Kanonen unter
Anfuͤhrung des Oberſtlieutenants Konſtantin von Ben¬
kendorf gegen die Weſer vorgeſchickt. In Bremen war
ſeit dem 27. Maͤrz mit Napoleon's beſondern Auftraͤ¬
gen der General Vandamme angekommen, und ſollte
in die vom General Carra-Saint-Cyr nur laͤſſig be¬
triebene Kriegsanſtalten groͤßere Thaͤtigkeit bringen.
Das Erſcheinen der Ruſſen und Hanſeaten ſo nah vor
den Thoren ſetzte ihn in Wuth, allein da ihm wenig
Reiterei zu Gebote ſtand, ſo konnte er nichts ausrich¬
ten. Die kleinen Gefechte fielen ſtets zum Vortheil
der Ruſſen aus. Faſt taͤglich wurden aus dortiger
Gegend Gefangene nach Hamburg eingebracht. Mit
Ungeduld ſah Tettenborn dem Tage entgegen, an wel¬
chem er an der Spitze der neuen Fußvoͤlker ausmarſchi¬
ren koͤnnte, um das dem Feind ſo lang uͤberlaſſen geblie¬
bene und unter ſeinen Mißhandlungen ſeufzende Bremen
ebenfalls zu befreien und als Hanſeſtadt wiederherzuſtellen.
[321]
Man hatte unablaͤſſig und mit unſaͤglicher Anſtren¬
gung an der Ausbildung dieſer Truppen gearbeitet;
in der Erwartung, ſie in kurzem ſo weit gefoͤrdert zu
ſehn, daß ſie dem Feind entgegengefuͤhrt werden koͤnn¬
ten, wurde am 21. April in der großen St. Michaelis-
Kirche die feierliche Weihe der Fahnen angeordnet, die
von edlen Hamburgerinnen kunſtreich und praͤchtig ge¬
ſtickt worden waren. Der ehrwuͤrdige Senior der ham¬
burgiſchen Prediger, Doktor Rambach, verrichtete die
Feierlichkeit in Gegenwart Wallmoden's und Tetten¬
born's, des Senats, und einer großen auserleſenen
Verſammlung, unter Paradirung aller in Hamburg an¬
weſenden Truppen. Die allgemeine Stimmung machte
den Tag zu einem ruͤhrenden und begeiſternden Feſte,
und die vaterlaͤndiſche Geſinnung wurde hier durch die
frommen Eindruͤcke kirchlicher Gebraͤuche geſteigert und
befeſtigt. Auch das fuͤr die Einwohner der Hanſeſtaͤdte
eingefuͤhrte Zeichen des rothen Kreuzes im weißen Felde
wurde nun immer haͤufiger am Hut getragen, und
bald ohne irgend ein Geſetz ſo allgemein, daß ſich nie¬
mand ohne daſſelbe zeigen durfte. Als eines beſondern
Ausdrucks der Geſinnungen der Hamburger fuͤr Tetten¬
born muͤſſen wir hier noch gedenken, daß demſelben
durch einſtimmigen Beſchluß des Senats und der Buͤr¬
gerſchaft das Ehrenbuͤrgerrecht ertheilt wurde, eine Aus¬
zeichnung, welche ſeit dem tauſendjaͤhrigen Beſtehen
der Stadt auf dieſe Weiſe vor ihm niemandem wider¬
III. 21[322] fahren war. Der Senator Bartels, deſſen Muth und
Thaͤtigkeit in dieſen drangvollen Tagen vielfach voran¬
ſtehen mußten, erließ an Tettenborn bei Ueberſendung
des Buͤrgerbriefs ein Schreiben, welches ihm ſpaͤter
den Grimm der Franzoſen und die Aechtung von Sei¬
ten des Marſchalls Davouſt zuzog.
Vandamme indeſſen, da er die ruſſiſchen Truppen
keinen ihrer haͤufigen Vortheile mit Nachdruck verfol¬
gen ſah, urtheilte bald, daß es ihnen noch ganz an
Fußvolk mangeln muͤſſe, und wollte daher den Schimpf,
von einigen Koſaken und Hanſeaten auf Bremen be¬
ſchraͤnkt zu ſein, nicht laͤnger ertragen. Er ruͤckte mit
etwa 3000 Mann zu Fuß und 6 Kanonen am 22. April
gegen Ottersberg vor, und draͤngte die ausgeſtellten
Poſten bis Rothenburg auf den Haupttrupp zuruͤck,
indem die plaͤnkelnden Koſaken wohl wie fruͤher die
dichten Maſſen des Fußvolks umſchwaͤrmen, aber nicht
durchbrechen, und alſo deren Marſch nicht aufhalten
konnten. Allein kaum hatte Benkendorf bei Rothen¬
burg die Zuruͤckgedraͤngten aufgenommen, als er ſogleich
mit ſeiner ganzen Reiterei, unterſtuͤtzt von zwei Kano¬
nen, die vorgedrungenen Franzoſen ungeſtuͤm anfiel, ſie
in die Flucht warf, und unausgeſetzt bis vor die Thore
von Bremen verfolgte, unter beſtaͤndigem Kartaͤtſchen¬
feuer, das raſch vorruͤckend die fluͤchtigen Reihen lich¬
tete und dem Feinde gegen 300 Mann toͤdtete und
verwundete, waͤhrend die Reiterei ihm uͤber 100 Ge¬
[323] fangene und alles Gepaͤck wegnahm, das derſelbe mit
ſich gefuͤhrt hatte. Die hanſeatiſche Reiterei hatte an
dieſem Gefecht ruͤhmlich Theil genommen, und die gute
Vorbedeutung, die man daraus fuͤr das Betragen des
hanſeatiſchen Fußvolks nehmen konnte, wurde eine Auf¬
forderung mehr, daſſelbe bald auf die Probe zu ſtellen,
und etwas Ernſtliches damit gegen den Feind zu un¬
ternehmen. Den Tag darauf ging eine ſaͤchſiſche Ab¬
theilung, 50 Mann ſtark, mit ihrem Offizier an der
Spitze, von den Franzoſen zu den Ruſſen uͤber, indem
ſie erklaͤrten, fuͤr die deutſche Sache fechten zu wollen.
Die Mannſchaft ruͤckte mit Waffen und Zeug unter
Anfuͤhrung ihres Offiziers in Hamburg ein, wo ſie
alsdann dem zweiten Bataillon der Hanſeaten einver¬
leibt wurde. Der fruͤher erlaſſene Aufruf an die Sach¬
ſen war alſo doch nicht ganz fruchtlos geblieben, wie
ſehr auch befeſtigtes Vorurtheil dem Offizier, und viel¬
fache Hinderniſſe anderer Art dem Soldaten dieſen
kuͤhnen Schritt des Uebergehens erſchweren mochten.
Die vielen Deutſchen, welche Vandamme unter ſeinen
Truppen hatte, waren eben ſo geſtimmt wie dieſe Sach¬
ſen, und man mußte nur eilen, ihnen die guͤnſtige
Gelegenheit zu bieten, durch welche die Geſinnung zur
That werden konnte. Die kleinen Gefechte dauerten
inzwiſchen fort; ohne Unterlaß wurden Gefangene ein¬
gebracht, und eben ſo oft ſolche, die von den Land¬
ſtuͤrmern und bewaffneten Buͤrgern ergriffen waren,
21*[324] als ſolche, die ſich den Koſaken hatten ergeben muͤſſen.
Unter den erſtern befanden ſich haͤufig Offiziere, und
unter andern ein Adjutant des Marſchall Davouſt,
Namens Lachelle.
Doch konnten dieſe Vorgaͤnge nicht hindern, daß
der Feind, im Bewußtſein des großen Uebergewichts
an Fußvolk und Geſchuͤtz, eine entſcheidende Bewegung
unternahm, welche die Ruſſen zwang, das linke Elb¬
ufer fuͤr jetzt aufzugeben. Gluͤcklicherweiſe wurden dieſe
fruͤhzeitig von dem feindlichen Vorhaben unterrichtet.
Der hannoͤverſche Poſtmeiſter zu Soltau hatte einen
franzoͤſiſchen Kourier, der ſich als Ueberbringer wichti¬
ger Befehle ankuͤndigte, todtgeſchlagen und die Papiere
deſſelben nach Hamburg an Tettenborn abgeliefert. Aus
dieſen ergab ſich, daß der Feind geſonnen ſei, die bei
Luͤneburg durch Morand's Niederlage vereitelte Bewe¬
gung zweier von verſchiedenen Seiten auf einen und
denſelben Punkt vorruͤckenden Truppenabtheilungen in
groͤßerem Maßſtabe zu wiederholen. Der Marſchall
Davouſt ruͤckte mit 12,000 Mann von der Weſer ge¬
gen Luͤneburg vor, waͤhrend der General Sebaſtiani
mit 8000 Mann von der mittlern Elbe her gegen Giff¬
horn marſchirte. Die ſaͤmmtlichen verbuͤndeten Trup¬
pen in dieſen Gegenden waren nicht einer einzelnen
dieſer feindlichen Abtheilungen gewachſen, um ſo weni¬
ger alſo den vereinigten, und die vorgeruͤckte Reiterei
mußte daher, um nicht abgeſchnitten zu werden, un¬
[325] geſaͤumt von der Weſer zuruͤck auf das rechte Elbufer
gezogen werden. Der Rittmeiſter von Herbert war
mit 100 hanſeatiſchen Reitern und 250 Koſaken am
27. April noch in Ottersberg, und zog ſich, von
4000 Mann und 4 Kanonen angegriffen, auf den Oberſt¬
lieutenant von Benkendorf nach Rothenburg zuruͤck, wo
abermals ein ſehr glaͤnzendes Gefecht Statt hatte, in
welchem der Feind mit großem Verluſt zuruͤckgetrieben
und verfolgt wurde. Allein da die Franzoſen indeſſen
ſchon Luͤneburg beſetzt hatten, ſo mußten die Ruſſen
von Rothenburg ihren Ruͤckzug gegen die Elbe neh¬
men. Dieſer geſchah ohne Verluſt, in groͤßter Ord¬
nung; nur eine kleine Anzahl zerſtreut geweſener Ko¬
ſaken konnte Haarburg nicht mehr gewinnen, ſondern
mußte ſich zu Stade einſchiffen, und gelangte auf dieſe
Art am 30. April nach Hamburg. Damit der Feind
nicht verſuchte nachzufolgen, wurden die vorhandenen
Fahrzeuge ſo viel als moͤglich auf das rechte Elbufer
heruͤbergezogen oder zerſtoͤrt, die Inſeln und Ueber¬
gangspunkte aber durch ausgeſtellte Poſten bewacht, hin
und wieder ſogar durch aufgefahrnes Geſchuͤtz geſichert.
Der Marſchall Davouſt hatte ſich nun wirklich mit
dem General Sebaſtiani vereinigt, und beide blieben
einige Zeit in der Gegend von Haarburg und Luͤne¬
burg unſchluͤſſig ſtehen; da ſie aber den ſchwierigen
Elbuͤbergang nicht zu unternehmen wagten, und ihre
wohlerſonnene aber vereitelte Bewegung keinen weitern
[326] Zweck haben konnte, ſo kehrte der General Sebaſtiani
mit ſeinen Truppen wieder nach der Gegend von Mag¬
deburg zuruͤck, der Marſchall Davouſt hingegen behielt
mit ſeiner Hauptmacht Luͤneburg und Winſen beſetzt,
von hieraus die wichtigſten Elbuͤbergaͤnge bewachend
und bedrohend, und ſandte zugleich abwaͤrts nach Stade
und Kuxhaven ſtarke Schaaren, um ſich dieſer Orte
zu verſichern. Der engliſche Major von Kenzinger be¬
gab ſich mit ſeiner Mannſchaft von Kuxhaven an Bord
der daſelbſt liegenden Kriegsſchiffe.
Von jetzt an trat fuͤr Hamburg die verhaͤngnißvolle
Zeit ein, da von Tag zu Tag in unaufhaltſamer Ent¬
wicklung ſein Untergang naͤher kam, der nun durch den
ſtets mit neuen Mitteln erneuerten Widerſtand noch
eine Zeit lang aufgehalten wurde, bis die Erſchoͤpfung
dieſer Mittel mit der Vermehrung derer des Feindes
in groͤßtem Mißverhaͤltniſſe ſtand, und laͤngere Gegen¬
wehr zuletzt unmoͤglich machte! Bei der großen Ue¬
bermacht der Franzoſen konnte man nicht hoffen, durch
Angriffe die Vertheidigung kraͤftig zu fuͤhren, man ſah
ſich auf die troſtloſe Vertheidigung der bloßen Abwehr
beſchraͤnkt, und fuͤr lange Zeit darauf angewieſen, alle
Bewegungen und Anſtalten nur nach denen des Fein¬
des abzumeſſen.
Die Franzoſen naͤherten ſich der Elbe mit großer
Vorſicht; es vergingen einige Tage, ehe Davouſt ſein
Hauptquartier uͤber Winſen hinaus nach Haarburg zu
[327] verlegen wagte. Tettenborn hatte, wie ſchon erwaͤhnt,
mit aller Sorgfalt Schiffe, Kaͤhne und Boote von dem
jenſeitigen Ufer auf das dieſſeitige ſchaffen laſſen, um
dem Feinde den Uebergang wenigſtens zu erſchweren,
aber freilich konnte die weite Strecke des Ufers von
Kuxhaven bis Haarburg, mit allen Inſeln, Fluͤſſen und
Kanaͤlen, nicht ſo beaufſichtigt werden, daß nicht Schiffe
verſteckt geblieben, oder von der daͤniſchen Seite wieder
hinuͤbergegangen waͤren; in einer auf den Verkehr zu
Waſſer ſeit Jahrhunderten eingerichteten Gegend, wo
faſt jeder Anwohner des Stroms ein Schiffer iſt, und
ſelbſt die taͤglichen Beduͤrfniſſe des Lebens von den
Bauern zu Schiffe nach den Maͤrkten gefuͤhrt werden,
ließ ſich um ſo weniger in der kurzen Zeit eine genuͤ¬
gende Maßregel verfuͤgen, als man an die meiſten Orte
nur den Befehl, nicht aber Leute ihn auszufuͤhren,
ſchicken konnte, und ein großer Theil des Ufers, das
daͤniſche der ganzen Laͤnge Holſteins nach, der ruſſiſchen
Anordnung nicht Folge zu leiſten brauchte. Deſſenun¬
geachtet hatten die Franzoſen in der erſten Zeit große
Muͤhe, auch nur einige Kaͤhne zu finden, und als ſie
deren eine geringe Zahl verſammelt hatten, ſahen ſie
dieſelben gleich darauf durch eine von Tettenborn zu
dieſem Handſtreich ausgeſandte Abtheilung Mecklenbur¬
ger abgeholt. Sie ließen jedoch nicht nach, ſich deren
neue zu verſchaffen, und an dem Eifer, womit ſie die¬
ſelben zum Theil auf Wagen aus den innern Fluͤſſen
[328] herbeifuͤhrten, konnte man entnehmen, auf wie ernſt¬
liche Unternehmungen es abgeſehen war. So hatten
ſie unter andern auch aus der Eſte eine Anzahl Schiffe
gefuͤhrt, und Leute aus der umliegenden Gegend ge¬
preßt, um dieſelben nach Haarburg zu bringen. In
der Nacht des 5. Mai's ſchifften abermals etwa 100 Meck¬
lenburger unter der Anfuͤhrung ihres Oberſten von
Both dahin, ſtiegen unter dem feindlichen Feuer an's
Land und ſtuͤrzten auf die Franzoſen los, die mit Hin¬
terlaſſung einiger Todten und Verwundeten die Flucht
ergriffen. Man ſetzte die gepreßten Leute in Freiheit,
und ſie entlieſen ſogleich voller Freuden in ihre Hei¬
math, die Schiffe aber, einige 20 an der Zahl, wur¬
den weggefuͤhrt. Ein Schiffer, der einen Franzoſen
zur Aufſicht hatte, damit er nach Haarburg ſchiffte,
ſperrte ihn, als er ſeekrank wurde, in die Kajuͤte ein,
und meinte, da doch die Franzoſen ſagten, ſie wollten
nach Hamburg gehen, ſo waͤre es wohl am beſten,
dieſen gleich dorthin zu bringen. Unter ſolchem wie¬
derholten Verdruß und vielfacher Muͤhe brachte der
Feind doch einige Fahrzeuge endlich zuſammen, baute
aber, da ſie nicht hinreichten, zu gleicher Zeit Floͤße,
die zum Ueberſetzen von Truppen dienen ſollten. Der
Marſchall Davouſt war inzwiſchen nach Bremen zu¬
ruͤckgekehrt und hatte dem General Vandamme die Lei¬
tung der Sachen uͤberlaſſen.
Tettenborn's Aufgabe war, Hamburg auf das aͤuſ¬
[329] ſerſte zu vertheidigen, und er hatte von Anfang laut
erklaͤrt, daß er hiezu feſt entſchloſſen ſei. Sein Ent¬
ſchluß wurde zwar von manchen Seiten getadelt, auch
von ſonſt Kriegskundigen, die nur das Unmilitairiſche
der Stellung in's Auge faßten. Allein die Wichtigkeit
des Platzes, die Verpflichtung gegen die Einwohner,
und die aus dem großen Hauptquartier empfangenen
Weiſungen durften kein Zuruͤckweichen erlauben, ſo
lange nur noch die Moͤglichkeit des Behauptens fort¬
dauerte. Demnach ordnete Tettenborn folgende Ma߬
regeln an. Der groͤßte Theil der Reiterei wurde aus
der Stadt, wo ſie nur hindern konnte, und im Fall
eines Ungluͤcks verloren war, hinausgezogen und auf
das Land verlegt. Das Fußvolk, in allem etwa
3300 Mann ſtark, wurde folgendermaßen vertheilt. Das
erſte hanſeatiſche Bataillon beſetzte die Inſel Wilhelms¬
burg, das zweite die Stellung beim Eichbaum und
dem Ochſenwaͤrder, das dritte den Zollenſpieker und
die Hooper Schanze; jedes dieſer drei Bataillone zaͤhlte
ungefaͤhr 600 Mann. Das Lauenburger Bataillon von
700 Mann war in Bergedorf und beim Zollenſpieker
vertheilt; ein Bataillon aus Bremen und Verden, nur
etwa 300 Mann, ruͤckte ebenfalls nach Bergedorf, wel¬
ches der einzige Verbindungspunkt war, der mit Wall¬
moden offen blieb, und fuͤr den Fall eines Ungluͤcks
geſichert ſein mußte. Die hannoͤverſchen Jaͤger, kaum
100 Mann, verſtaͤrkten das Bataillon Hanſeaten auf
[330] der Inſel Wilhelmsburg. Zur Beſetzung der Stadt
Hamburg ſelbſt blieb nur das Bataillon Mecklenbur¬
ger, 700 Mann ſtark, von denen jedoch zwei Compag¬
nieen gleichfalls nach Wilhelmsburg beordert waren,
und dann noch ungefaͤhr 3000 Buͤrgergarden uͤbrig,
denn nur ſo viele hatte man von 7200 eingeſchriebenen
gehoͤrig bewaffnen koͤnnen. Von dem ſchweren Geſchuͤtz,
das ſich auf der hamburgiſchen Admiralitaͤt noch vor¬
raͤthig gefunden, waren zwei Vierundzwanzigpfuͤnder
auf Lavetten gebracht, und einer beim Zollenſpieker,
der andere auf der Spitze von Wilhelmsburg gegenuͤber
Haarburg, ſo wie an jedem dieſer Punkte noch zwei
leichtere Kanonen und eine Haubitze aufgepflanzt wor¬
den. Auch Schiffe hatte man eiligſt ausgeruͤſtet und
bemannt; ein Kutter von 6 kleinen Kanonen lag bei
Haarburg, ein anderes Schiff von eben ſo vielen Ka¬
nonen beim Zollenſpieker, die haarburgiſche Jacht von
8 Kanonen dicht vor dem Hafen. Die Seeleute, welche
ſich auf dieſen Schiffen befanden, waren eben ſo we¬
nig, wie ihre Anfuͤhrer, mit dem Kriegsdienſte ver¬
traut, und dieſer Umſtand verminderte ſehr den Ge¬
brauch einer Waffe, bei der, mehr als bei jeder andern,
Kenntniß und Urtheil den tapfern Muth unterſtuͤtzen
muͤſſen. Die Ueberſchwemmungen wurden bereit ge¬
halten, die Schanzarbeiten unablaͤſſig fortgeſetzt. Tet¬
tenborn ſaͤumte nicht, die ploͤtzlich bedraͤngt gewordene
Lage von Hamburg ſowohl an Wallmoden und in das
[331] Kaiſerliche Hauptquartier, als auch nach London und
Stralſund zu berichten, an welchem letzteren Orte ſtuͤnd¬
lich der Kronprinz von Schweden erwartet wurde,
deſſen Truppen ſchon groͤßtentheils in Mecklenburg ſtan¬
den, und den Franzoſen der Zahl nach wohl die Spitze
bieten konnten. Aus England erwartete man eine An¬
zahl Kanonierſchaluppen, die zur Beherrſchung der Elbe
und ihrer Inſeln unentbehrlich und von Tettenborn
dringend gefordert worden waren; zwar konnte ihre
Ankunft durch die Daͤnen bei deren noch zweifelhaften
Verhaͤltniſſe zu England erſchwert, aber ſelbſt durch
die Kanonen der Feſtung Gluͤckſtadt nicht ganz gehin¬
dert werden, und man durfte hoffen, daß die daͤniſchen
Befehlshaber in Holſtein, welche von der Sendung des
Grafen von Bernſtorff nach London unterrichtet wa¬
ren, den Englaͤndern nicht allzu große Schwierigkeiten
machen wuͤrden.
Von der Hoͤhe des St. Michaelisthums ließ Tet¬
tenborn jede Bewegung der Franzoſen genau beobach¬
ten; man ſah ihren Uebungen und Anſtalten zu, und
zaͤhlte im voraus jedes Stuͤck Geſchuͤtz, das ſie in ihre
Batterien auffuͤhren wollten. Noch glaubte er ſie durch
Scheinangriffe hinhalten zu koͤnnen, und ließ bald ihre
Uebungen durch Kanonenſchuͤſſe ſtoͤren, bald mitten in
der Nacht vierundzwanzigpfuͤndige Kugeln in ihr Lager
ſenden, und ſogar kleine Abtheilungen wieder uͤber die
Elbe ſetzen, und die Gegend beunruhigen. Am 6. Mai
[332] fruͤh ging ein Theil des zweiten hanſeatiſchen Batail¬
lons, von dem Ochſenwaͤrder aus, auf das jenſeitige
Ufer; noch ehe dies voͤllig erreicht war, ſprangen die
jungen Leute ungeduldig aus den Kaͤhnen in's Waſſer,
und wateten dem Deiche zu, den der Feind ſehr gut
beſetzt hatte; der ungeſtuͤme Angriff warf ihn aber auf
ſeine Unterſtuͤtzungspoſten zuruͤck, wo das Gefecht an¬
derthalb Stunden lang mit hartnaͤckiger Tapferkeit von
den Hanſeaten fortgeſetzt ward, die ſich vor dem uͤber¬
legenen Feind erſt dann zuruͤckzogen, als ſie ſich ver¬
ſchoſſen hatten. Ihr Verluſt war gering, er beſtand
in 2 Todten und 10 Verwundeten, waͤhrend der Feind
durch die Ueberraſchung und anfaͤngliche Flucht viele
Leute verloren hatte.
Der Wechſel des Krieges wog aber dieſe kleinen
Vortheile bald wieder durch eben ſolche Nachtheile auf,
welche durch keine Achtſamkeit und Sorgfalt voͤllig zu
vermeiden ſind. Durch einen ungluͤcklichen Zufall ging
ſo der bei Haarburg aufgeſtellte Kutter verloren, in¬
dem waͤhrend der Ebbe, da er auf dem Grund lag,
einige Franzoſen herangeſchlichen und hinaufgeklettert
waren, wo ſie die ſchlafende Wache niedermachten und
die Beſatzung gefangen nahmen. Damit dieſes Schiff
den Franzoſen, welche daſſelbe ſogleich ſtark beſetzten
und flott zu machen ſuchten, nicht gewonnen bliebe, ſo
ſchoß man es durch den auf der Wilhelmsburg aufge¬
pflanzten Vierundzwanzigpfuͤnder voͤllig zuſammen, und
[333] toͤdtete oder verwundete zu gleicher Zeit einen großen
Theil der Beſatzung, deren Klagegeſchrei man verneh¬
men konnte. Auch das Schloß Haarburg wurde mehr¬
mals beſchoſſen und mit Granaten beworfen, weil man
das franzoͤſiſche Hauptquartier darin vermuthete; der
Verſuch, es in Brand zu ſetzen, wollte jedoch nicht
gelingen.
Es fand kein Zweifel daruͤber Statt, daß Hamburg
ſich in einer hoͤchſt bedrohenden Lage befaͤnde; die fran¬
zoͤſiſchen Truppen ſah man mit jedem Tage ſich ver¬
mehren, und nach Maßgabe dieſer Vermehrung ſich zu
einſtlicherern Unternehmungen bereiten. Sie waren mei¬
ſtens ungeuͤbte neue Soldaten; doch dieſer Umſtand
traf leider die Truppen, denen die Vertheidigung Ham¬
burgs oblag, in groͤßerem Maße, und war bei den
Franzoſen, die wegen ihrer Zahl und Stellung die
Angreifenden ſein mußten, durch die Kraͤftigung, welche
der Angriff gewaͤhrt, einigermaßen aufgewogen. Der
Fuͤrſt Dolgoruky, der in dieſen Tagen aus Kopenha¬
gen in Hamburg eintraf, verſicherte zwar, die Daͤnen
wuͤrden niemals zugeben, daß die Franzoſen wieder
nach Hamburg kaͤmen; allein es war Tettenborn nicht
verborgen geblieben, daß die Daͤnen, verdrießlich uͤber
die vereitelte Hoffnung, die Hanſeſtaͤdte an ſich zu
bringen, noch immer in Ungewißheit ſchwankten, und
manche zweideutige Schritte thaten, indem ſie mit den
Franzoſen neue Verbindungen ſuchten. Die Einwoh¬
[334] ner Hamburgs, welche von den Freuden und den Ge¬
nuͤſſen der Freiheit ſtaͤrker und ſtaͤrker auf die Arbeiten
und Drangſalen derſelben hingewieſen wurden, bezeig¬
ten noch immer Eifer genug, doch war es natuͤrlich,
daß viele derſelben, hellſehend oder mißtrauiſch, an dem
Ausgange dieſer ſchwierigen Verhaͤltniſſe zweifelten, an¬
dere ſogar jede Rettung fuͤr unmoͤglich hielten; die
ſpaͤterhin immer zahlreicheren Auswanderungen, beſon¬
ders der Frauen und Kinder, fingen ſchon in dieſer
Zeit an; ſie konnten jedoch nicht auffallend ſein, weil
um Hamburg her das naͤchſte holſteiniſche Gebiet mit
Landhaͤuſern beſaͤet iſt, die das Eigenthum von Ham¬
burgern ſind, und jetzt eben auch, wie gewoͤhnlich fuͤr
den Sommer bezogen wurden. Viele Schiffe, befrach¬
tete und leere, ſegelten aus dem Hafen, wenn auch
nur bis Altona, um dort ſicherer zu ſein. Der Han¬
del ſtockte voͤllig, die meiſten Gewerbe ruhten, und
alles dachte nur an Waffen und Krieg, vorzuͤglich in
der unterſten Voklsklaſſe, die ſich beſonders thaͤtig und
muthvoll zeigte, und keine andre Meinung, als die der
hartnaͤckigſten Gegenwehr, aufkommen ließ. Die Ge¬
walt, womit der Donner des Geſchuͤtzes unwillkuͤrlich
das Gemuͤth in furchtbare Einbildungen verſetzt, uͤbte
jedoch auch hier ihre zauberhafte Wirkung haͤufig aus,
und ein hallender Kanonenſchuß brachte anfangs die
ganze Stadt in Unruhe und Bedenklichkeit; die Be¬
hoͤrden dachten wenigſtens das Geld zu retten, und
[335]
ſtellten jede Auszahlung, oft der dringendſten Beduͤrf¬
niſſe, vorſichtig ein, bis man nach und nach einiger¬
maßen erkannte, wie unwirkſam und nichtsbedeutend
oft die heftigſten Kanonaden ſind.
Das Vertrauen der Einſichtigern ſank noch mehr,
als die Nachrichten aus Sachſen nur ein langſames
Vorruͤcken der verbuͤndeten Heere, und bald eine blu¬
tige Schlacht meldeten, die zwar als ein Sieg ver¬
kuͤndet wurde, aber doch das Zuruͤckgehen der Sieger
zur Folge hatte. Verbunden mit dieſen Nachrichten
wirkte die Thatſache, daß der ſchon bis Bremen zu¬
ruͤckgedraͤngt geweſene Feind wieder im Angeſichte von
Hamburg ſtand, verwirrend und niederſchlagend. Man
wußte, daß Rußland und Preußen thaͤtig mit Oeſter¬
reich unterhandelten, und alle Hoffnung hatten, das
Buͤndniß gegen Napoleon durch dieſe Macht verſtaͤrkt
zu ſehen. Allein bis zur Ungeduld ermuͤdete das Zoͤ¬
gern, welches inzwiſchen alle Unternehmungen traf;
man begriff die Nachſicht und Schonung nicht, welche
hinſichtlich des Beitritts von Sachſen Statt fand, und
man klagte laut, daß ſelbſt die Aufrufe und Anreden
an Volk und Truppen, fruͤher ſo reichlich ausgetheilt,
jetzt verſtummten. Die Unterhandlungen ſchienen ſich
verderblich zu durchkreuzen; die Fuͤhrung der Heere
glaubte man, wenn ſie auch in guten Haͤnden ſei, doch
wieder in allen den Hinderniſſen befangen, durch welche
ſo oft die gemeinſamen Unternehmungen vereitelt wor¬
[336] den. Auch glaubte man keine Buͤrgſchaft der Aus¬
dauer zu erblicken, und fragte ſich, was bei einem
Frieden, der etwa jetzt geſchloſſen wuͤrde, irgend Guͤn¬
ſtiges fuͤr Hamburg zu erwarten ſey? Uebelgeſinnte
ſuchten ſelbſt die Abſichten der Verbuͤndeten zu ver¬
daͤchtigen, die Unterhandlungen des Fuͤrſten Dolgoruky
in Kopenhagen wurden zur Sprache gebracht, und es
fehlte nicht an Leuten, welche geradezu behaupteten,
Hamburg und Luͤbeck ſeien ſchon Eigenthum der Daͤ¬
nen, und man ſcheute ſich nicht, angeſehene Namen
zu nennen, um dergleichen zu erhaͤrten. Dieſe Zwei¬
fel und Unſicherheiten wirkten in Hamburg und in der
ganzen Umgegend hoͤchſt verderblich; an die Stelle des
fruͤheren Eifers trat aͤngſtliches Zuruͤckhalten, ja Manche
ſuchten im Stillen mit dem Feinde ſich abzufinden,
waͤhrend die Meiſten doch zu weit vorgeſchritten wa¬
ren, um ſolchen Ausweg auch nur verſuchen zu koͤn¬
nen. Die engliſchen Behoͤrden hielten fuͤr noͤthig, um
bei den hannoͤverſchen Unterthanen nicht alle Luſt zur
Theilnahme am Kriege erſterben zu ſehen, in die Zei¬
tungen eine Bekanntmachung einruͤcken zu laſſen, die
aus hoͤherem Auftrag die Zuſicherung ertheilte, daß
England niemals in die Abtretung Hannovers willi¬
gen wuͤrde.
Durch dieſe allgemeine Bezuͤge mußte natuͤrlich auch
Tettenborn ſich mehr oder minder gehemmt fuͤhlen.
Wirklich hatten die verbuͤndeteu Maͤchte, von ernſten
[337] Erwaͤgungen geleitet, und beſonders auch durch die
mit Oeſterreich angeknuͤpften Verhandlungen bewogen,
unter ſich den Grundſatz feſtgeſtellt, daß in Deutſchland
fernerhin keine Aufſtaͤnde und Volksbewegungen ange¬
ſtiftet, ſondern der Eifer und die Kraft der Voͤlker
nur nach Maßgabe des Vorruͤckens der Heere unter
der Obhut geregelter Verwaltung benutzt werden ſoll¬
ten, weßhalb denn auch in den Laͤndern, welche im
Ruͤcken der franzoͤſiſchen Heere oft ganz von Truppen
entbloͤßt nur eines Anſtoßes zum Ergreifen der Waffen
bedurften, ein ſolcher nicht verſucht, ſondern im Gegen¬
theil die ſchon entzuͤndeten Flammen eher gedaͤmpft
wurden. Aber dieſes oͤffentlich auszuſprechen, waͤre
kaum thunlich geweſen, beſonders da fuͤr die Franzoſen
die Volksaufſtaͤnde das groͤßte Schreckbild blieben, und
Hamburg großentheils durch dies nur ſich noch erhielt.
Nur ſelten im Falle, den Hamburgern ſichre und troͤſt¬
liche Nachrichten mitzutheilen, nicht befugt, ihren Eifer
noch heftiger anzufachen, und nicht willens ihn zu taͤu¬
ſchen, ſah auch Tettenborn ſich genoͤthigt, in dieſer
Zeit, wo man Aufrufe und Bekanntmachungen am
meiſten erwartete, mit ſolchen keineswegs freigebig zu
ſein. Wir weiſen auf dieſe Umſtaͤnde hin, weil Unkun¬
dige ihm jene Unterlaſſung zum Vorwurf gemacht haben.
In dieſer Lage der Dinge wurde die Stadt ploͤtz¬
lich durch die Nachricht erſchreckt, daß der Feind auf
Wilhelmsburg gelandet ſei, und indem er die fluͤchti¬
III.22[338] gen Schaaren vor ſich hertreibe, mit Macht gegen
Hamburg vorruͤcke. Die Inſel Wilhelmsburg hat einen
flachen Marſchboden, der uͤberall von Waſſergraͤben
durchſchnitten iſt, ſo daß man ſich mit Truppen und
Geſchuͤtz nur auf den Deichen bewegen kann, welche
rings in mancherlei Bogen die Inſel vor der Fluth
ſchuͤtzen, und ſelbſt dieſe ſind bei ſchlechtem Wetter
kaum zu befahren. In Betracht dieſes Umſtandes hatte
Tettenborn die ſuͤdliche Spitze der Inſel, wegen ihrer
Entlegenheit von aller Unterſtuͤtzung, als durchaus un¬
haltbar gegen einen ernſthaften Angriff im voraus preis¬
gegeben, und weil man doch einmal, um die Elbe und
Haarburg zu beſtreichen, das Geſchuͤtz dorthin hatte
bringen muͤſſen, wo es weder zu retten noch zu ver¬
theidigen war, die Vorkehrung getroffen, daß die Ka¬
nonen, im Falle ſie zuruͤckzulaſſen waͤren, auf der Stelle
unbrauchbar gemacht werden koͤnnten. Als der guͤn¬
ſtigſte Ort fuͤr den Widerſtand war der noͤrdliche Theil
der Inſel und die ſogenannte Feddel auserſehn, wo
auch an Verſchanzungen thaͤtig gearbeitet wurde. Als
daher in der Nacht vom 8. zum 9. Mai der General
Vandamme, unter Beguͤnſtigung der Dunkelheit, mit¬
telſt zuſammengebrachter Floͤße eine ſtarke Truppen¬
macht, deren 5500 Mann bei Haarburg verſammelt
ſtanden, uͤberſetzen und auf Wilhelmsburg landen ließ,
mußte der Oberſt Graf von Kielmannsegge, welcher
auf der Inſel den Befehl fuͤhrte, ſeine vordern Poſten
[339] auf die Feddel zuruͤckziehen, und ſeinen eigentlichen
Widerſtand dort erſt anheben. Allein der Feind hatte
ungluͤcklicherweiſe die aͤußerſten Feldwachen in ſtraͤflicher
Ruhe uͤberraſcht, und war deßhalb ſchneller herange¬
kommen, als man von ſeiner Landung benachrichtigt
war. Die Unordnung und Verwirrung, welche dadurch
unter den jungen und unerfahrnen Truppen entſtand,
und bald, nach einigem vergeblichen Schießen, in uͤber¬
eilte Flucht uͤberging, konnte den Verluſt der ganzen
Inſel nach ſich ziehen, da eine geraume Zeit das Be¬
muͤhen der wenigen Offiziere, die fuͤr ſolche Faͤlle Er¬
fahrung und Kenntniß hatten, vergeblich blieb, und in
dem wirren Getuͤmmel haͤtte ſelbſt die Feddel von dem
Feinde genommen werden koͤnnen. Doch wagten die
Franzoſen nicht, ſo raſch vorzugehen. Tettenborn, der
ſein Hauptquartier auf dem Grasbrook hatte, ſandte
nach Wilhelmsburg 2 Kompanieen Mecklenburger zur
Unterſtuͤtzung, und den Rittmeiſter von Canitz, der die
Leitung der Sachen uͤbernahm; dieſer ſammelte die zer¬
ſtreute Mannſchaft, ſtellte ihre Reihen her, und floͤßte
ihnen durch ſeine eigne Feſtigkeit neues Vertrauen und
neuen Muth ein; dann ſetzte er ſich an die Spitze der
Mecklenburger, ermahnte ſie mit kurzen, ſcharfen Wor¬
ten, und fuͤhrte ſie voran zum Angriff, die Hanſeaten
folgten. Alles ruͤckte im Sturmſchritt vor, und ehe
man zum Handgemenge kam, warf ſich der Feind
eiligſt in die Flucht, die er durch Anzuͤnden einiger
22 *[340] Haͤuſer und einer Muͤhle zu decken ſuchte. Waͤhrend
des Verfolgens traf Canitz unerwartet den daͤniſchen
Oberſtlieutenant von Haffner, der als Parlementair zu
den Franzoſen gegangen war, angeblich um ſie zu be¬
nachrichtigen, daß die Daͤnen ihnen nicht geſtatten wuͤr¬
den, ſich wieder in den Beſitz von Hamburg zu ſetzen.
Er war von ungefaͤhr 20 Franzoſen umgeben, mit
denen er in die Haͤnde der Ruſſen fiel, und dies Zwi¬
ſchenereigniß veranlaßte einen kurzen Waffenſtillſtand,
waͤhrend deſſen man ſich wechſelſeitig erklaͤrte. Der
Oberſtlieutenant von Haffner wurde ſogleich freigegeben,
die ihn begleitenden Franzoſen aber gefangen genom¬
men, weil auch auf deren Seite einige Hanſeaten, die
dem Stillſtande vertraut hatten, hinterliſtig waren feſt¬
gehalten worden. Der Feind wurde darauf wieder
unter das Feuer ſeiner jenſeitigen Kanonen verfolgt,
und in weniger Zeit die ganze Inſel gereinigt, bis
auf die ſuͤdliche Spitze, die von dem feindlichen Ge¬
ſchuͤtz beſtrichen wurde. Dies Gefecht hatte dem Feinde
an Todten, Verwundeten und Gefangenen gegen 300
Mann gekoſtet. Die Hanſeaten und Mecklenburger
hatten 150 Mann verloren, worunter 13 Offiziere.
Die Kanonen, altes hamburgiſches Geſchuͤtz, waren
vernagelt zuruͤckgelaſſen worden.
Die Franzoſen hatten gleichzeitig einen Angriff auf
den Ochſenwaͤrder gemacht, und fingen an, hier ſich
allmaͤhlig auszubreiten, indem ſie die 600 Hanſeaten,
[341] welche dort aufgeſtellt waren, zuruͤckdraͤngten. Tetten¬
born beorderte auf dieſe Meldung das Lauenburgiſche
und das dritte hanſeatiſche Bataillon von Bergedorf
und dem Zollenſpieker her dem auf Ochſenwaͤrder ge¬
landeten Feind in die rechte Flanke; dieſe Truppen
griffen lebhaft an, und die Franzoſen, welche abge¬
ſchnitten zu werden fuͤrchteten, widerſtanden nicht lange,
ſondern ſchifften ſich mit einem Verluſt von 200 Mann
wieder ein, indem ihre Batterieen auf dem jenſeitigen
Ufer ein heftiges Feuer machten, um den Ruͤckzug zu
decken. Die Hanſeaten hatten hier etwa 150 Mann
verloren, worunter 7 Offiziere.
Dieſe beiden Gefechte waren gluͤcklich geendigt wor¬
den, allein der gute Erfolg konnte nicht die Einſicht
taͤuſchen, die ſich aus den beiden Vorgaͤngen fuͤr die
Hamburger ebenſowohl, als fuͤr Tettenborn und ſeine
Offiziere in der Schwaͤche und Mißlichkeit der ganzen
Lage eroͤffnet hatte. Dem Feinde konnte dieſe Lage
wenigſtens nicht ganz verborgen geblieben ſein, er durfte
ohne bedeutenden Nachtheil denſelben Verſuch hundert¬
mal wiederholen, der ihm nur Leute, woran er Ueber¬
fluß hatte, koſtete, waͤhrend auf der ruſſiſchen Seite
auch der Sieg die ſchon ſo geringe Truppenzahl ver¬
mindern, und ein einziger Unfall beim Zollenſpieker,
Ochſenwaͤrder, oder auf Wilhelmsburg, die Stadt auf's
Spiel ſetzen mußte. Tettenborn meldete ſeine Lage
durch Kouriere auf's neue, an allen Orten, wo er
[342] glaubte Huͤlfe und Unterſtuͤtzung zu erlangen, waͤhrend
er zugleich eifrig daran dachte, die vorhandenen Mittel
in ſich ſelbſt zu verſtaͤrken. So abgeneigt von jeher
alle Kriegsleute ſind, den Befehl von Landſtuͤrmen,
Aufgeboten und andern, mehr durch Willen und Eifer,
als Zucht und Uebung, beſtehenden Bewaffnungen zu
uͤbernehmen, ſo gab doch Tettenborn ſich der Noth¬
wendigkeit des Augenblicks willig hin, und verſuchte,
ſich auf die Buͤrgergarden zu ſtuͤtzen, die ſeinem Wunſche
allerdings begierig entgegenkamen, und laut begehrten,
an der Vertheidigung der Stadt Theil zu nehmen, ja
gegen den Feind auszumarſchiren. Heß hatte in der
kurzen Zeit dennoch eine gewiſſe Ordnung und Haltung
eingefuͤhrt; der Ernſt und das Gewicht der Ueberlegung
ihres Zuſtandes entfernten jeden Uebermuth, und mach¬
ten Geſetzmaͤßigkeit und Eintracht wuͤnſchen und foͤrdern.
Sie mußten dem Feinde furchtbar ſein, da dem ein¬
zelnen Soldaten der Volksaufſtand ſchrecklicher und ver¬
derblicher iſt, als geregelte Truppen, und da jedem
bekannt war, daß dieſe Buͤrger genug gegen ihren
ehemaligen Herrſcher verbrochen hatten, um wohl zu
fuͤhlen, welche Strafen ſie abzuwehren haͤtten.
Die neuen Vorkehrungen fanden ſchnell Gelegenheit
ſich zu bewaͤhren. Nachdem es naͤmlich den Vormittag
des 10. Mai's ruhig geblieben war, entſtand ploͤtzlich
gegen Mittag ein großer Allarm, es hieß, die Franzoſen
waͤren 7000 Mann ſtark in Billwaͤrder eingedrungen,
[343] und ruͤckten gegen das Steinthor. Die Trommeln
gingen in allen Straßen, die Sturmglocken wurden
gelaͤutet, Reiter ſprengten hin und her, alles eilte zu
den Waffen, Schaaren von Fluͤchtlingen, mit Weibern,
Kindern und Gepaͤck zogen zu den Thoren hinaus,
und ſchlugen groͤßtentheils den Weg nach Altona ein,
wo man ſich einſtweilen am ſicherſten glaubte. Die
Buͤrgergarden eilten auf auf ihre Waffenplaͤtze, und
fanden ſich jetzt zum Ernſte zahlreicher ein, als jemals
zuvor zu den Uebungen. Es war ein herzerhebender
Anblick, dieſe wackern Buͤrger mit Muth im Blick,
das Gewehr oder die Pike in der Hand, aus ihren
Haͤuſern hervorſtuͤrzen, durch die Straßen eilen, und
bei ihren Bataillons eintreten zu ſehn. Das friedliche,
gewerbfleißige, uͤppige Hamburg ſchien ſtatt des Goldes
jetzt nur Eiſen zu haben! Wie alles bereit ſtand, und
gegen den Feind zu marſchiren dachte, ergab ſich, daß
der Laͤrm bloß durch einen unbedeutenden Scharmuͤtzel,
bei dem einige Schuͤſſe gefallen, veranlaßt worden,
und kein Franzoſe mehr dieſſeits der Elbe ſei. Tetten¬
born war unterdeſſen nach dem ſogenannten Letzten
Heller hinausgeritten, wo der bedrohte Punkt zu ſein
ſchien, und hatte perſoͤnlich alle Maßregeln angeordnet,
um der etwanigen Gefahr zu begegnen. Ein Bataillon
Buͤrgergarden wurde nach dem Grasbrook, ein anderes
bis zur blauen Bruͤcke beordert, wo ſie gleich alten
Truppen unter freiem Himmel biwakirten. Jedoch
[344] blieb alles ganz ruhig. Die Daͤnen, ungeachtet ſie bei
dieſen Ereigniſſen lauer geworden waren, und eine Ver¬
aͤnderung in den Abſichten ihres Hofes vorausſehn
konnten, hatten gleichwohl noch keinen Gegenbefehl er¬
halten, und ſollten ihrem Verſprechen gemaͤß zur Ver¬
theidigung Hamburgs beitragen; Tettenborn, durch¬
drungen von der Einſicht in die Unzulaͤnglichkeit ſeiner
eignen Mittel, und ohne Hoffnung deren groͤßere noch
zu rechter Zeit von andrer Seite zu bekommen, nahm
von dem entſtandenen Tumult Anlaß, die Daͤnen zur
Huͤlfleiſtung aufzufordern, die er freilich nur in der
aͤußerſten Noth begehren wollte, weil zu befuͤrchten
ſtand, daß die hereingezogenen Truppen nicht wieder
hinauszubringen ſein wuͤrden; aus gleichem Grunde,
um nicht ganz in ihre Haͤnde zu gerathen, wurde auch
nur eine maͤßige Truppenzahl gefordert, da ſchon der
Eindruck daͤniſcher Uniform gut auf die Buͤrger und
unangenehm auf die Franzoſen wirken mußte. Tetten¬
born hatte die Unterhandlungen daruͤber mit dem Oberſt¬
lieutenant von Haffner in Altona, und mit dem Ge¬
neral von Wegener, der in der Gegend von Schiffbeck
etwa 3900 Mann befehligte, angefangen, und trotz
dem, daß nicht wenige Schwierigkeiten gemacht wur¬
den, ſo weit gefuͤhrt, daß der General von Wegener
endlich Abends auf dem Letzten Heller perſoͤnlich er¬
ſchien, und alles Verlangte zu leiſten verſprach.
[345]
Am folgenden Tage, den 11. Mai, blieb alles
ruhig. Es kam ein franzoͤſiſcher Parlementair, der
Oberſtlieutenant Reveſt, vom Generalſtabe des Gene¬
rals Vandamme, auf der Elbe am Eingange des Ha¬
fens an, und wurde von dort unter Begleitung zweier
Offiziere nach dem Baumhauſe gebracht. Sein Ver¬
langen, den General Tettenborn zu ſprechen, wurde
ihm rund abgeſchlagen, daher er ſich bequemen mußte,
ein Schreiben vom General Vandamme abzugeben, und
ſeinen muͤndlichen Auftrag den beiden Offizieren zu
ſagen. Er begann mit der prahleriſchen Erwaͤhnung
des Siegs, welchen Napoleon bei Luͤtzen erfochten habe,
und ſchloß mit der Aufforderung, daß die Ruſſen Ham¬
burg, um dieſe wichtige Stadt nicht der Verwuͤſtung
auszuſetzen, durch Vertrag uͤbergeben ſollten. Einige
zurechtweiſende Antworten brachten ihn bald außer Faſ¬
ſung, und er wußte nun in ſeinem Aerger bloß uͤber
die lange Zeit zu klagen, die er auf Antwort warten
mußte, da man ſein Schreiben nach dem Letzten Heller
hatte ſchicken muͤſſen, wo Tettenborn daſſelbe erſt bei
ſeiner Wiederkehr von einer Beſichtigung vorfand, und
dann ſogleich beantwortete. Gegen Abend fuhr der
Parlementair ab, nicht ohne Schauder uͤber den An¬
blick des zahllos am Hafen wimmelnden Volkes, das
in ſeiner Wuth kaum zu zuͤgeln war. Als es dunkel
geworden, kam er unvermuthet zuruͤck, unter Betheu¬
rungen, daß die Franzoſen ihn jetzt nicht mehr erken¬
[346] nen, und vom Ufer aus das Boot in Grund ſchießen
wuͤrden, worauf man ihm denn bewilligte, auf dem
Blockhauſe zu bleiben, von wo er am andern Tage
nach vielem ungebaͤrdigen Betragen uͤber Wilhelmsburg
nach Haarburg zuruͤckkehrte. Das Volk bezeigte ein
großes Vergnuͤgen daruͤber, daß ihn Tettenborn nicht
hatte ſprechen wollen, und obgleich uͤber ſeine Sen¬
dung nichts bekannt gemacht wurde, ſo war es doch
bald ruchtbar, daß ſeine Aufforderung ſchnoͤd' abge¬
wieſen worden.
Den 11. Abends ruͤckten nun wirklich die Daͤnen
in Hamburg ein, zur unbeſchreiblichen Freude der Ein¬
wohner, die ſich nun ſchon ganz gerettet und fuͤr im¬
mer geſichert glaubten; ein Bataillon nebſt 10 Kano¬
nen zog auf den Grasbrook, ein anderes wurde auf
dem Hamburgerberg aufgeſtellt, ebenfalls von einer
Batterie unterſtuͤtzt, waͤhrend andere Truppen ſich bei
Bergedorf verſammeln ſollten, um den Zollenſpieker
im Auge zu behalten. Mit unglaublichem Eifer wurde
fuͤr die Daͤnen von den Buͤrgern geſorgt; nur daß ſie
im Biwak lagen, ſonſt konnten ſie Gaͤſte ſcheinen, die
man eingeladen, um ſie zu bewirthen, ſo reichlich wurde
ihnen an Speiſe und Getraͤnken das Beſte dargereicht.
Sie erſchienen als gute Nachbaren, die in der Noth
huͤlfreich bei der Hand ſind, und die brave Mannſchaft
hatte in der That keinen andern Wunſch, als nun
wirklich einmal auf die Franzoſen loszuſchlagen, mit
[347] welchen ſie durch einen verabſcheuten Bund, der ihren
Groll eben ſo ſehr heimlich genaͤhrt, als oͤffentlich zu¬
ruͤckgehalten hatte, ſo lange Zeit vereinigt geſchienen.
Um die Daͤnen gleich in die Sache thaͤtig einzu¬
fuͤhren, und ihre Anweſenheit beſtens zu benutzen, wollte
Tettenborn am folgenden Tage einen allgemeinen An¬
griff auf die Wilhelmsburg machen, wozu auch einige
Kompanieen Buͤrgergarden ſich freiwillig erboten. Hier
aber zeigten ſich gleich die Bedenklichkeiten der daͤni¬
ſchen Anfuͤhrer; ſie hatten bei Bewilligung der Huͤlfe
nach den fruͤher erhaltenen Befehlen gehandelt, die ſie
jetzt, bei ſo ſehr veraͤnderten Umſtaͤnden, gegenuͤber den
wieder zum Angriff herangeruͤckten Franzoſen, nicht
mehr in ganzem Umfang auszufuͤhren und doch auch
nicht ganz zu unterlaſſen wagten; ſie ſahen wohl, daß
Tettenborn ernſtlich vorhabe, ſie mit in den Krieg
hinein zu verwickeln, und zu Maßregeln zu treiben,
die in Kopenhagen gemißbilligt werden konnten; doch
wollten und durften ſie auch nicht unnuͤtz daſtehn, waͤh¬
rend ſelbſt die Buͤrger in's Feuer gingen, und ſo ſtell¬
ten ſie denn, nach vielem Verhandeln, die Bedingun¬
gen feſt, daß ihre Truppen, ihr Geſchuͤtz und ihre Ka¬
nonenboote vertheidigungsweiſe aus ihren jetzigen Stel¬
lungen dem Feinde wehren wuͤrden, nach Hamburg
vorzudringen; daß aber nur zwei Kompanieen auf Wil¬
helmsburg hinuͤbergeſchifft werden ſollten, um die dor¬
tige Beſatzung zu verſtaͤrken. Die letztere Beſchraͤnkung
[348] blieb wenigſtens noch geheim, und ließ denn doch fuͤr
Freund und Feind die Thatſache ſichtbar werden, daß
die Daͤnen gegen die Franzoſen kaͤmpften, und ſchon
um deßwillen befahl Tettenborn, ſobald die zwei Kom¬
panieen uͤbergeſetzt waren, raſch zum Angriff vorzu¬
ruͤcken. Dies geſchah von der Feddel her mit großem
Ungeſtuͤm; Daͤnen, Mecklenburger, Hanſeaten, Buͤr¬
gergarden, alles wetteiferte an Tapferkeit, und eine
franzoͤſiſche Brigade leichter Truppen unter dem Ge¬
neral Gengould wurde in die Flucht geſchlagen. Ge¬
neral Vandamme eilte hierauf ſelbſt herbei, und ſtuͤrzte
mit der Diviſion Dufour auf die Verbuͤndeten, die in
zu lebhaftem Verfolgen ihre Ordnung nicht genug be¬
wahrt hatten, und nun, von der großen Uebermacht
gedraͤngt, ſie ſo ſchnell nicht wiederfinden konnten.
Das Gewehrfeuer war ſehr heftig, kaum eine Viertel¬
ſtunde hielten die kleinen Schaaren den Andrang der
großen Maſſen zuruͤck, dann aber mußten ſie den Ruͤck¬
zug nach der Feddel nehmen. Hier war eine Kanone
auf dem Deiche aufgepflanzt, die aber den Feind nicht
beſchießen konnte, weil die eignen zuruͤckkommenden
Truppen den Weg verſperrten. Eine Schanze lag ſeit¬
waͤrts des Deiches, um die Ruͤckkehrenden aufzuneh¬
men, die von hieraus dem Feinde, der auf dem Deiche
marſchiren mußte, jedes weitere Vordringen unterſagen,
und ſich gegen eine viel groͤßere Uebermacht halten
konnten. Ungluͤcklicherweiſe ergriff der Schrecken des
[349] ploͤtzlich herangenaheten Gefechtes eine Anzahl von eini¬
gen hundert Schanzarbeitern, die aus der Schanze auf
den Deich und eiligſt ruͤckwaͤrts nach dem Ueberſchiffungs¬
platze flohen, ihr Hinausdringen hinderte die Truppen
ſich in die Schanze zu werfen, vermehrte die Verwir¬
rung, und riß endlich alles in uͤbereilte Flucht fort;
die Truppen, anſtatt die Schanze zu beſetzen und von
dort aus den Feind zu hemmen, ſuchten nur die Schiffe
zu erreichen, um nach dem Grasbrook zuruͤck zu ge¬
langen. Man machte den Daͤnen den Vorwurf, die
Flucht begonnen zu haben, wenigſtens hatte Tetten¬
born ſie mit Abſicht an die Spitze des Angriffs geord¬
net; die Hanſeaten waren die letzten, welche das Feld
raͤumten, und verloren am meiſten, unter andern ihren
Bataillonsfuͤhrer, der mit einer Anzahl ſeiner Leute
in die Schiffe nicht mehr aufgenommen werden konnte
und gefangen wurde. Auch die Daͤnen und die Buͤr¬
ger hatten einige Mannſchaft verloren; einige Daͤnen
aber, die von den Franzoſen gefangen worden, ſchickte
der General Vandamme zuruͤck, indem er behauptete,
Frankreich ſei mit Daͤnemark nicht im Kriege. Das
verlorne Geſchuͤtz war von geringem Werthe.
Unterdeſſen hatte auch das zweite hanſeatiſche Ba¬
taillon von dem Ochſenwaͤrder wieder nach Wilhelms¬
burg uͤbergeſetzt und gleichfalls die Franzoſen ange¬
griffen, ſuchte beſonders nach dem Ueberſchiffungspunkte
der Franzoſen zwiſchen Haarburg und Wilhelmsburg
[350] vorzudringen, um ſie abzuſchneiden und ſie den andern,
von der Feddel andringenden Truppen entgegen, zwi¬
ſchen zwei Feuer zu bringen. Der Anfang war unge¬
mein gluͤcklich; bald aber drang auch hier der Feind,
der inzwiſchen durch eine ganze Brigade, deren Anfuͤh¬
rer ein in franzoͤſiſche Dienſte getretener Fuͤrſt von Reuß
war, mit großer Uebermacht auf die Hanſeaten ein,
die eine Stunde weit bis zu ihrem Landungsplatze in
guter Ordnung und unter beſtaͤndigem Feuern zuruͤck¬
wichen; hier aber konnten die Schiffe die ganze Mann¬
ſchaft nicht auf Einmal uͤberſetzen, ſie fuhren mehrmals
hin und her, und holten immer mehrere Leute ab, die
noch auf dem Waſſer fleißig feuerten, waͤhrend die Zu¬
ruͤckbleibenden entſchloſſen gegen den Feind Stand hiel¬
ten, der ſie von allen Seiten umgab, und ihnen zu¬
rief, ſich zu ergeben. Mit dem Ruͤcken gegen das
Waſſer, im Angeſicht und zu beiden Seiten die feind¬
liche Uebermacht, blieb ihnen, als ſie ſich verſchoſſen
hatten, kein Ausweg uͤbrig. So fiel auch der Anfuͤh¬
rer dieſes Bataillons mit etwa 300 Mann in feind¬
liche Haͤnde.
Der traurige Ausgang dieſer Gefechte iſt nicht zu
verwundern, wenn man die Uebermacht der Franzoſen,
die ſelbſt aus den Berichten des Generals Vandamme,
wo nur von Brigaden und Diviſionen die Rede iſt,
hervorgeht, und gegen welche auf unſrer Seite, alles
mitgerechnet, hoͤchſtens 2000 Mann gefochten, in An¬
[351] ſchlag bringt, und doch lag es nur an einigen Zufaͤllen,
die oft im Kriege ſo bedeutend werden, und ſich nicht
beherrſchen laſſen, daß nicht der Tag zum Nachtheil
der Franzoſen endigte.
Da der Feind jetzt Meiſter der ganzen Inſel Wil¬
helmsburg und der daran ſtoßenden Feddel war, ſo
konnte er aus dieſer Naͤhe die Stadt mit Granaten
und Bomben bewerfen, und es war vorauszuſehn, daß
dies eine große Beſtuͤrzung hervorbringen wuͤrde. Die
beiden hanſeatiſchen Bataillons waren groͤßtentheils auf¬
gerieben, der Ueberreſt erſchoͤpft und zerſtreut. Der
uͤble Erfolg verbreitete allgemeinen Mißmuth; die Buͤr¬
ger hatten Augenblicke der Entflammung, wo ſie be¬
gehrten die Feddel und Wilhelmsburg wieder zu neh¬
men, allein in ihrer Unkunde des Kriegs quaͤlten ſie
ſich neben dieſem Muthe auch wieder mit tauſend Mei¬
nungen und Beſorgniſſen unnuͤtz ab. Ueberall waren
gefahrvolle Poſten, viele darunter von hoͤchſter Wichtig¬
keit, und keiner konnte hinreichend mit Truppen beſetzt
werden, auf deren kriegsgeuͤbte Feſtigkeit waͤre zu rech¬
nen geweſen. Die geringſte Unternehmung des Fein¬
des, die jetzt gelang, konnte entſcheidend werden. Zwar
legten einige daͤniſche Kanonenboote ſich zwiſchen die
Inſeln und die Stadt, allein der Wechſel der Ebbe
und Fluth hinderten ſie, zu den guͤnſtigen Stellen hin¬
zudringen, und ſie konnten nur einen Theil der vielen
Uebergangspunkte beſtreichen. Tettenborn behielt ſein
[352] Hauptquartier auf dem Grasbrook, und ließ hier, der
Feddel gegenuͤber, einige Batterieen errichten; ungefaͤhr
1000 Buͤrgergarden und eine Abtheilung Mecklenburger
nebſt den Daͤnen biwakirten ruͤckwaͤrts davon. Als
Befehlshaber auf dieſer Seite wurde der Oberſt von
Both beſtellt. Auf dem Hamburgerberge ſtanden Buͤr¬
ger mit ihrem Geſchuͤtz, und die Daͤnen mit dem ihri¬
gen; der Oberſtlieutenant von Gunderſtrupp vom Iſum¬
ſchen Huſarenregiment fuͤhrte hier den Befehl. Das
Bataillon von Bremen und Verden, unter Anfuͤhrung
des Majors von Buſch, wurde nach dem Stadtdeiche
gezogen, und ihm ebenfalls Buͤrger zugegeben, von
denen auch eine ſtarke Abtheilung zur blauen Bruͤcke
geſchickt wurde. Den Hafen, die Thore, das ganze
Innere der Stadt hatten die Buͤrger beſetzt. So war
die Lage der Dinge nach dem ungluͤcklichen Verluſte
der Inſel, nicht eben troͤſtlich, doch nicht ganz ohne
Hoffnung.
Allein ſie ſollte nicht lange mehr ſo verbleiben,
und gleich an demſelben 12. Mai, wo das zwiefache
Gefecht Statt gefunden hatte, erhielt Tettenborn eine
Nachricht, die nicht unheilbringender haͤtte ſein koͤnnen.
Der daͤniſche Abgeſandte Graf Joachim von Bernſtorff
war in England gar nicht angenommen, ſondern ſchnoͤde
zuruͤckgewieſen worden, indem das engliſche Kabinet er¬
klaͤrte, mit Daͤnemark nur im Einverſtaͤndniſſe Schwe¬
dens unterhandeln zu wollen. Die Wirkung einer ſol¬
[353] chen Abweiſung war leicht zu berechnen, es ſtand zu
erwarten, daß Daͤnemark nun auf’s neue ſich an Frank¬
reich anſchließen, oder, wenn nicht dies, doch auf jeden
Fall ſeine Truppen zuruͤckziehen wuͤrde; in fuͤnf bis
ſechs Tagen konnte der Befehl dazu eintreffen, denn
der Graf von Bernſtorff war bereits zu Gluͤckſtadt an’s
Land geſtiegen und auf dem Wege nach Kopenhagen.
Dieſe ſchreckliche Vorausſicht ſo lange als moͤglich ge¬
heim zu halten, um bis auf die letzte Stunde der daͤ¬
niſchen Truppen noch verſichert zu bleiben und die
Buͤrger nicht allen Muth verlieren zu laſſen, mußte
des Generals erſte Sorge ſein, die zweite auf Mittel
zu ſinnen, den unabwendbaren nahen Verluſt durch
irgend eine neue Huͤlfe zu erſetzen. Die dringendſten
Berichte ſandte er an Wallmoden und in das große
Hauptquartier; allein in letzterem mußte die entlegene
hamburgiſche Sache gegen dringend nahe Angelegen¬
heiten zuruͤckſtehen, und Wallmoden hatte den gemeſſe¬
nen Befehl, ſeine ganze Aufmerkſamkeit auf die mitt¬
lere Elbe und die Gegend von Magdeburg zu wenden.
Der Kronprinz von Schweden war noch nicht ange¬
kommen, Briefe und abgeſandte Boten erwarteten ihn
in Stralſund. Unter dieſen Umſtaͤnden blieb nichts
anderes uͤbrig, als zu verſuchen, ob nicht die ſchwedi¬
ſchen Truppen, die in Mecklenburg, den Kronprinzen
abwartend, ſtillſtanden, zur Rettung Hamburgs herbei¬
zuziehen waͤren. Tettenborn wandte ſich an den Ge¬
lll. 23[354] neral Doͤbbeln, der mit einer ſchwediſchen Diviſion am
naͤchſten ſtand, und ſchilderte demſelben die bedraͤngte
Lage Hamburgs mit der Aufforderung, in dieſer Noth
Huͤlfe zu leiſten; allein die Unterhandlung zog ſich in
die Laͤnge und blieb noch unentſchieden.
Die Franzoſen ſaͤumten indeß nicht, ihre Fortſchritte
zu benutzen, und neue zu verſuchen. Nachdem ſie ſich
auf der Wilhelmsburg feſtgeſetzt und von dieſer Seite
der Stadt nahe gekommen waren, trachteten ſie auch
den Uebergang beim Zollenſpieker zu erzwingen, wo¬
durch Bergedorf und die einzige Verbindung zwiſchen
Tettenborn und Wallmoden bedroht worden waͤre. In
der Nacht des 13. Mai's, nachdem die Hooper Schanze
auf dem jenſeitigen Ufer von den Hanſeaten ſchon fruͤ¬
her hatte geraͤumt werden muͤſſen, landeten etwa 220
Franzoſen unter einem heftigen Kanonenfeuer auf einer
kleinen Elbinſel beim Zollenſpieker, um zum weitern
Uebergang vorlaͤufig feſten Fuß zu faſſen. Der tapfre
Major von Berger hatte aber nicht ſobald ihren Lan¬
dungsplatz in der Dunkelheit entdeckt, als er Bretter
uͤber einige Boote werfen und 200 Mann Hanſeaten
und Lauenburger unter dem Hauptmann von Lucadou
dahin uͤberſetzen ließ. Die Kaͤhne des Feindes waren
grade zuruͤckgekehrt, wahrſcheinlich um andere Truppen
nachzuholen. In dieſer Lage war ihm kein Ruͤckzug
moͤglich, und gezwungen unterhielt er anderthalb Stun¬
den das heftigſte Gewehrfeuer, dann aber ſtuͤrmten die
[355] Hanſeaten und Lauenburger, von ihrem tapfern An¬
fuͤhrer ermuntert, mit gefaͤlltem Bajonet hervor, wor¬
auf die Franzoſen die Waffen wegwarfen und ſich ge¬
fangen gaben. Mehrere, die ſich durch Schwimmen
retten wollten, ertranken, uͤber 70 waren getoͤdtet, die
uͤbrigen, worunter 40 Verwundete, gefangen. Der
Verluſt der Unſern betrug 24 Mann, worunter 2 Offi¬
ziere. Dieſem verungluͤckten Verſuche ließen die Fran¬
zoſen hier keinen zweiten folgen; man begnuͤgte ſich ge¬
genſeitig, von Zeit zu Zeit das Geſchuͤtz auf einander ſpie¬
len zu laſſen, wo unſre vierundzwanzigpfuͤndigen Kugeln
dem Feinde großen Schaden verurſachten, und unter an¬
dern ein paar Schiffe voll Franzoſen, die ſich vom Ufer in
die Mitte des Stroms gewagt hatten, in Grund bohrten.
Der Wechſel von Beſtuͤrzung und Freude, den
dieſe Vorfaͤlle erregten, erhielt alles in unruhiger Span¬
nung; die nahe Bedraͤngniß fuͤhrte aber, bei allen Stuͤr¬
men der Gedanken und Gemuͤther, immer auf's neue
zu der ungewoͤhnlichſten Thaͤtigkeit. Die Zahl der Ar¬
beiter an den Waͤllen wurde verdoppelt und verdrei¬
facht. Die Buͤrgergarde raffte die Leute von den
Straßen dazu weg; ohne Waffen durfte ſich kein Menſch
mehr blicken laſſen; die Thore wurden genau bewacht,
Pferde und Wagen zum Dienſte der Stadt zuruͤckge¬
halten, kein Mann hinaus gelaſſen, damit ſich niemand
der Schanzarbeit und den Waffen entzoͤge; wer im
geringſten verdaͤchtig ſchien, wurde angehalten und auf
23*[356] die Hauptwache gefuͤhrt, die bald mit Verhafteten an¬
gefuͤllt war. Alles dieſes thaten die Buͤrger aus eig¬
ner Bewegung mit dem groͤßten Eifer, der freilich oft
genug ſich in unnoͤthiger und verkehrter Thaͤtigkeit ab¬
muͤdete; zum Verwundern iſt es, wie bei dieſer Maſſe
von Bewaffneten, die zum Theil ohne Befehl und
Aufſicht blieben, und aus allen Volksklaſſen zuſammen¬
getreten waren, waͤhrend ſo vieler heftigen Anlaͤſſe, nichts
Ausſchweifendes noch Unwuͤrdiges, keine Beleidigung
noch Unordnung vorfiel. Der General mit dem groͤ߬
ten Theil ſeiner Offiziere, alle Truppen und die mei¬
ſten Buͤrgergarden, befanden ſich außerhalb der Stadt,
der Senat und die uͤbrigen Behoͤrden hielten ſich zu¬
ruͤckgezogen, keine Regung ging in dieſer Zeit von ih¬
nen aus, keine Abſicht oder Geſinnung wurde von ih¬
nen in dieſen ſtuͤrmiſchen Tagen kund gegeben. Das,
was ſie nothgedrungen beſorgen mußten, die Verpfle¬
gung der Truppen unter andern, geſchah mit der groͤ߬
ten Unordnung, auf manchen Poſten litt die Mann¬
ſchaft uͤber vierundzwanzig Stunden lang Mangel, in
einer Stadt, wo alles in Fuͤlle und die Zahl der Trup¬
pen hoͤchſt gering war; ſogar die eignen Mitbuͤrger
die unter tauſend Ungemach auf entlegnen Poſten ſtan¬
den, wurden haͤufig vergeſſen. Außerdem waren die
Sendungen von Lebensmitteln beim Abgehen meiſt groͤ¬
ßer, als beim Ankommen. Unter ſolchen Umſtaͤnden
mag die Stadt das Vierfache deſſen bezahlt haben,
[357] was wirklich verbraucht worden iſt. Eine allgemeine
Unzufriedenheit aͤußerte ſich laut und heftig gegen dieſe
Unordnung. Gegen einzelne Perſonen wurden Beſchul¬
digungen ausgeſprochen, welche zwar grundlos, aber
darum nicht minder gefahrvoll waren. Beſonders ver¬
daͤchtigte man die wieder eingetretenen Mitglieder des
Senats, welche auch unter den Franzoſen Aemter ge¬
fuͤhrt hatten. Fuͤr Tettenborn's Verhaͤltniß und Lage
war dies alles hoͤchſt beſchwerlich und nachtheilig.
Am 14. Mai glaubten die Vorpoſten bei anbre¬
chendem Tage durch den Nebel große Maſſen franzoͤſi¬
ſchen Fußvolks auf der Feddel zu ſehn, die gegen das
Ufer marſchirten, um ſich einzuſchiffen, ſogar Kanonen
meinte man zu erkennen, und als dieſe Meldung ſich
in der Stadt raſch verbreitete, hielten die Einwohner
jetzt den nachdruͤcklichſten Angriff auf den Grasbrook,
der kaum noch zu vertheidigen ſchien, fuͤr gewiß, ja
die Waͤlle der Stadt ſelbſt ſah man ſchon in den Haͤn¬
den des Feindes. Die Sturmglocken und Trommeln
riefen die Einwohner zu den Waffen, waͤhrend das
Fluͤchten der Wehrloſen nach Altona und auf das Land
das Getuͤmmel vermehrte. Die Batterieen der Buͤrger
auf dem Grasbrook donnerten unaufhoͤrlich, und grau¬
ſenvolle Ungewißheit, ob der Feind ſchon gelandet ſei,
ob er vordringe, machte den Zuſtand der Einwohner
verzweiflungsvoll. Die Allarmplaͤtze waren jedoch mehr
als jemals von Bewaffneten erfuͤllt, indem auch ſolche,
[358] die ſonſt den Dienſt meiden mochten, ſich jetzt einfan¬
den. Als der Nebel verging, ſah man keinen Feind
auf der Feddel, die Franzoſen lagen ruhig hinter den
Deichen, und von Batterieen fand ſich keine Spur.
Indeß wurde auch in den folgenden Tagen, da alles
ſtill blieb, und der Feind ſich begnuͤgte, ſeine kuͤnftigen
Angriffe vorzubereiten, niemand der Ruhe froh, ſon¬
dern alles lebte in angſtvoller Erwartung, die von dem
kleinſten Anlaß in heftige Bewegung geſetzt wurde.
Das Ungluͤck, das ſich naͤherte, kuͤndigte ſich den ge¬
ſpannten Gemuͤthern in finſterer Schrecklichkeit an, die
Mittel, es abzuwehren, lagen zu ſehr vor Augen, als
daß jetzt nicht ihr Mißverhaͤltniß unwiderſprechlich ein¬
geleuchtet haͤtte, und die ruhigen Daͤnen erſchienen eben
durch dieſes Ruhigbleiben ſchon als eine unzulaͤngliche,
unzuverlaͤſſige Huͤlfe; daß Tettenborn, bei ſeinem kuͤh¬
nen nnd kriegsmuntern Geiſte, mit den Daͤnen keinen
Angriff unternehmen ſollte, ſchien undenkbar, und da
dennoch der Angriff auf Wilhelmsburg unterblieb, ſo
konnte man die Urſache nur in dem Nichtwollen der
Daͤnen ſuchen, welches die Hamburger auf das ſchlimmſte
zu deuten alle Urſache hatten. Und doch wußten die
Meiſten nur halb, wie die Sachen ſtanden, und konn¬
ten die Folgen der unerwarteten Ruͤckkehr des Grafen
von Bernſtorff noch nicht uͤberſehen.
In manchen Augenblicken ſchmeichelten ſie ſich wie¬
der mit der Fortdauer der daͤniſchen Huͤlfe, mit der
[359] Annaͤherung der ſchwediſchen, mit herbeieilender ruſſi¬
ſcher oder preußiſcher Verſtaͤrkung, mit dem bei Groß-
Goͤrſchen von den Ruſſen und Preußen erfochtenen
Siege und deſſen zu hoffender Nachwirkung, auch auf
die Verbeſſerung des Zuſtandes an der Niederelbe;
waͤhrend der Eingeweihte laͤngſt von allem dieſen wenig
oder nichts hoffen durfte, ſondern von allen Seiten
nur immer mehr und mehr eine verhaͤngnißvolle Wen¬
dung der Dinge herannahen ſah. Die ungluͤcklichen
Menſchen aus ihrer Taͤuſchung, ſofern dieſe noch be¬
ſtand, zu reißen, verbot die Klugheit, um nicht die
letzte geringe Kraft zu laͤhmen; ſie abſichtlich darin zu
befeſtigen, waͤre ein grauſames Spiel geweſen, das
doch nicht lange haͤtte beſtehen koͤnnen. Unter dieſen
Umſtaͤnden ſchien das Beſte, ganz zu ſchweigen, und
nur die Thatſachen reden und wirken zu laſſen, da die
Triebfedern zur verzweifeltſten Gegenwehr nicht erſt in
den Gemuͤthern erweckt zu werden brauchten, ſondern
jedem Bewußtſein gluͤhend eingedruͤckt waren. Die in
den Zeitungen mitgetheilten Nachrichten von dem Vor¬
ruͤcken der ſchwediſchen Truppen an die Elbe, und
andre dergleichen Angaben, waren nicht auf die Ham¬
burger, ſonder auf die Franzoſen berechnet, die uͤber
Altona unſre Tagesblaͤtter bekamen, und durch ſolche
Vorſpiegelungen allerdings langſamer und vorſichtiger
wurden. Es erſchien kein Aufruf, kein Tagesbefehl,
der Verſprechungen gegeben oder gefordert haͤtte, man
[360] konnte nur ſagen, was nicht noͤthig war zu ſagen,
denn der Wille und die Geſinnung bedurfte keiner Be¬
arbeitung, ſondern nur Vertrauen auf ſich ſelbſt und
auf nahen Beiſtand; letzterer mußte fremden Maͤchten
durch kluges und gluͤckliches Unterhandeln gleichſam
abgezwungen, erſteres in dem gaͤhrenden Volke ſelbſt
entwickelt werden, und freilich iſt eine Bevoͤlkerung
von 150,000 Menſchen ein Stoff, aus dem ſich un¬
endliche Kraͤfte entwickeln koͤnnen; wo ein ſolcher ge¬
geben iſt, darf man nichts fuͤr unmoͤglich halten, man
mußte wenigſtens abwarten, was fuͤr Mittel noch an
das Licht treten wuͤrden, denn was ein Volk thun
wird, laͤßt ſich nicht berechnen noch vorherſehn, und
man durfte Hamburg nicht aufgeben, ſo lange es ſich
nicht ſelbſt aufgab. Die Buͤrgergarde war der kleinſte
Theil des Volks. Sie war durch den anhaltenden
Biwak waͤhrend einer regnigten Zeit, und durch den
vielen, von ihr aus großem Eifer ſogar uͤbertriebenen
Dienſt, nach wenigen Tagen erſchoͤpft, und unzufrieden
begehrten Viele nach Hauſe. Es waͤre den Meiſten
recht lieb geweſen, von Tettenborn angefuͤhrt mit gan¬
zer Macht ſich in offnen Kampf zu ſtuͤrzen, und in
blutiger aber kurzer Entſcheidung Tod oder Freiheit zu
ſuchen; allein ſolcherlei Ausfuͤhrung war weder rathſam
noch moͤglich. Die Oertlichkeit einer uͤberall durch¬
ſchnittenen Gegend, die an unzaͤhligen Stellen bewacht
werden mußte, durch Waſſer, Daͤmme, Schiffe, Haͤu¬
[361] ſer uͤberall bedingt, geſtattete durchaus keine Anwen¬
dung großer Maſſen, noch ſelbſt deren Vereinigung
unter perſoͤnlichen Oberbefehl, und ſo legten die Um¬
ſtaͤnde den Hamburgern grade den haͤrteſten Theil des
Kriegs auf, der mehr im ſtandhaften Ertragen unauf¬
hoͤrlicher Muͤhſale und Beſchwerden, und im willigen
Hingeben an die Einzelheit geringfuͤgiger Leiſtungen,
als in den Anſtrengungen der Schlacht und den begei¬
ſternden Zuſtaͤnden der Gefahr beſteht.
Tettenborn ſah nur zu bald erfuͤllt, was er vor¬
ausgeſehn hatte; kaum war man in Kopenhagen von
der Abweiſung, die der Graf von Bernſtorff in Eng¬
land erfahren hatte, unterrichtet, als auch ſogleich an
die daͤniſchen Truppen der Befehl abgeſandt wurde,
ſich zuruͤckzuziehen und Hamburg ſeinem Schickſale zu
uͤberlaſſen; dieſer Befehl traf am 18. Mai in Hamburg
ein, und ſollte ſogleich ausgefuͤhrt, ſowie den Franzoſen
dies angezeigt werden. Tettenborn beſtuͤrmte den Ge¬
neral von Wegener und den Oberſtlieutenant von Haff¬
ner mit Vorſtellungen und Ermahnungen, um ſie we¬
nigſtens zu einem Aufſchub in Vollſtreckung jenes Be¬
fehls zu bewegen; die Eroͤrterung der Lage Daͤnemarks
gegen die Verbuͤndeten, die von daͤniſcher Seite ſchon
veruͤbten Feindſeligkeiten gegen Frankreich, das noch
eben erſt auf Wilhelmsburg vergoſſene daͤniſche Blut,
die Ehre der daͤniſchen Truppen und ihre eigne Be¬
ſtuͤrzung uͤber dieſe ſchnelle Umkehr, kurz alles, was
[362] die perſoͤnliche Geſinnung und die Kunſt der Ueber¬
redung nur immer darbot, wurde angewandt, um we¬
nigſtens vierundzwanzig Stunden zu gewinnen, die
denn endlich auch zugeſtanden wurden, mit dem Ver¬
ſprechen, daß erſt nach deren Ablauf die Franzoſen
daͤniſcherſeits von dem Zuruͤckziehn der Truppen benach¬
richtigt werden ſollten. Dieſe kurze Friſt benutzte Tet¬
tenborn, um auf's neue Eilboten an den General Doͤb¬
beln zu ſenden, ſo wie an alle die Orte, von denen
fuͤr Hamburg zwar nicht in dieſem Augenblick, aber
doch ſpaͤter Huͤlfe zu erwarten war, und fuͤr welche
die Nachricht dieſer Veraͤnderung große Wichtigkeit ha¬
ben mußte. Als endlich am 19. Abends, da es ſchon
dunkel geworden war, die daͤniſchen Truppen wirklich
abzogen und von dem Grasbrook und Hamburgerberg
ihr Geſchuͤtz wegnahmen, verwandelte ſich aller noch
uͤbrige Muth in troſtloſe Niedergeſchlagenheit. Die
Meiſten gaben alle Hoffnung auf, die Stadt, die ſo¬
gar mit der Huͤlfe der Daͤnen nicht gegen die große
Uebermacht des Feindes ſicher geweſen war, nun ohne
ſolchen Beiſtand noch laͤnger zu behaupten. Zwar ver¬
kuͤndigte Tettenborn unmittelbar darauf die Annaͤherung
der Schweden, die der General Doͤbbeln inzwiſchen
wirklich verſprochen hatte zu ſchicken, allein theils hielt
man dieſe noch fuͤr entfernt, theils hatte ein durch die
lange Gewohnheit entſtandenes Gefuͤhl ihrer Lage die
Hamburger in dem nachbarlichen Beiſtand der Daͤnen
[363] eine viel ausdauerndere Sicherheit hoffen laſſen, die
allerdings, wegen der Naͤhe von Altona und wegen
des ganzen holſteiniſchen Elbufers, durch Daͤnemarks
eignen Vortheil noch beſonders verbuͤrgt ſchien. Um
die Sache auf das aͤußerſte zu bringen, gaben auch ſo¬
gleich in derſelben Nacht die Franzoſen ihre Kunde von
dem Abzug der Daͤnen dadurch zu erkennen, daß ſie
die Stadt aus Kanonen und Haubitzen heftig beſchoſſen,
indem ihre Batterieen auf der Feddel in der Zwiſchen¬
zeit trotz des hindernden Regens fertig geworden wa¬
ren. Der Schaden, den ſie anrichteten, war nicht be¬
traͤchtlich, und auf einen kleinen Theil der Stadt be¬
ſchraͤnkt, waͤhrend aͤngſtlicher Schrecken, den der naͤcht¬
liche Donner des Geſchuͤtzes und der Anblick der hoch
in den dunkeln Luͤften fliegenden Granaten verurſachte,
die ganze Stadt erfuͤllte. Seinen eignen Kraͤften allein
uͤberlaſſen, ſchien Hamburg in dieſer furchtbaren Nacht
einem nachdruͤcklichen Angriff erliegen zu muͤſſen, den
man jeden Augenblick erwartete. Die Wachſamkeit
war uͤberall verdoppelt, die Poſten verſtaͤrkt, alle Offi¬
ziere in Thaͤtigkeit; ohne großen Verluſt ſollte der
Feind nicht eindringen, ſo gewiß auch ſeine große Zahl
von Truppen ihm dies am Ende ſichern mußte; den
eingedrungenen konnte man hoffen in den Straßen noch
zu bekaͤmpfen, vielleicht zu vertilgen. Allein der An¬
griff unterblieb, und auch das Beſchießen der Stadt,
das den Kriegsleuten uͤberhaupt wenig bedeutet, und
[364] das aus den Batterieen auf dem Grasbrook noch ziemlich
erwiedert wurde, hoͤrte gegen Morgen auf. Der Tag
fand viele Hamburger ſchon auf der Flucht, Altona war
uͤberfuͤllt mit Ausgewanderten, die zum Theil ihre be¬
ſten Habſeligkeiten mit ſich fuͤhrten; tief im Holſteini¬
ſchen, in Kopenhagen ſogar und London, ſuchten viele
ihre Zuflucht gegen die Rache des Feindes, der ſich,
ihrer Meinung nach, diesmal nicht auf Hamburg be¬
ſchraͤnken, ſondern auch nach Altona und den naͤchſten
daͤniſchen Gebietstheilen uͤbergreifen wuͤrde.
Den ganzen folgenden Tag, wie auch die Racht,
und wieder den folgenden Tag, blieb alles ruhig. Un¬
begreiflicherweiſe verſuchten die Franzoſen waͤhrend die¬
ſer ganzen Zeit keinen Angriff, ja hielten ſogar mit
dem Beſchießen inne, da doch keine Zeit ihnen guͤnſti¬
ger ſein konnte, als dieſe, wo die entbloͤßte Stadt ih¬
nen beinahe preisgegeben ſtand. Sie muͤſſen aber ſchlecht
unterrichtet geweſen ſein, oder vielleicht den Daͤnen noch
nicht getraut haben, die allerdings nicht alle die Ge¬
ſinnungen ihrer Regierung theilten. So vergingen dieſe
Tage unter aͤngſtlichem Harren, die Beſorgniß ſtieg
deſto hoͤher, je laͤnger die Huͤlfe ausblieb, und mit
Schrecken dachte man daran, daß der Feind nicht lange
uͤber den Zuſtand der Stadt getaͤuſcht bleiben koͤnne.
Endlich erſchien der erſehnte Augenblick, [und] am 21.
Abends langten drei ſchwediſche Bataillons, die der
General Doͤbbeln abgeſandt hatte, unter dem General
[365] von Boye bei Hamburg an, zwei davon ruͤckten ſogleich
durch die Stadt nach dem Grasbrook und dem Ham¬
burgerberge, waͤhrend das dritte zur Erhaltung der
Verbindung in Bergedorf ſtehn blieb. Tettenborn war
ihnen vor das Steinthor entgegengeritten, wo eine Ab¬
theilung der Buͤrgergarde aufmarſchirt ſtand, und eine
große Menge Volks die ankommenden Retter mit Ju¬
belgeſchrei empfing. Man athmete wieder freier, und
glaubte, nachdem man dieſe Tage gluͤcklich uͤberſtanden,
fuͤr die Zukunft weniger befuͤrchten zu duͤrfen.
Auch war es die hoͤchſte Zeit, daß dieſe Truppen
ankamen, denn gleichſam als ob der Feind durch irgend
einen wunderbaren Einfluß nur eben ſo lange zuruͤck¬
gehalten worden ſei, bis ihm wieder friſche Truppen
entgegengeſetzt werden koͤnnten, erneuerte er grade in
dieſer Nacht ſeine Angriffe, und auf ſo kuͤhne Weiſe,
daß, wenn er gleiches Wageſtuͤck in anderer Richtung
verſucht haͤtte, die groͤßte Gefahr fuͤr die Stadt daraus
entſtanden waͤre. Die hamburgiſche Jacht lag unfern
des Hafens in der Elbe vor Anker, und hatte außer
den Seeleuten etwa 30 Mann Hanſeaten zur Beſatzung.
Die Franzoſen aber ſchifften ungefaͤhr 170 Mann in
eine Peniſche und 16 Boote ein, um waͤhrend der Nacht
dieſes Schiff wegzunehmen. Sie ließen ihre Fahrzeuge
leiſe ſtromab treiben und kamen geraͤuſchlos und unbe¬
merkt in der Dunkelheit an das Schiff. Die Hanſea¬
ten griffen eiligſt zu den Waffen, und vertheidigten ſich
[366] eine halbe Stunde lang mit heftigem Gewehrfeuer;
allein die franzoͤſiſchen Seeleute benutzten ihre große
Ueberzahl, und waͤhrend ein Theil von ihnen durch
Feuern die Beſatzung beſchaͤftigte, erſtieg eine andre
Abtheilung das Schiff; ſie nahmen die Hanſeaten ge¬
fangen, kappten die Anker, und fuhren mit aufgeſpann¬
ten Segeln davon. Indeſſen hatte der Tag angefan¬
gen zu daͤmmern, und man ſah nun auf der ganzen
durch das naͤchtliche Schießen allarmirten Linie am Ufer
was geſchehen war. Der Feind mußte nahe vorbeiſe¬
geln, und gerieth in das Feuer von drei Batterieen
und zwei Bataillons, welches ihn dergeſtalt beſtuͤrzte,
daß er nicht allein der Gegenwehr, ſondern auch der
Lenkung des Schiffes vergaß, das alsbald auf den Sand
lief. Jetzt wurde das Feuer noch moͤrderiſcher, da jeder
Schuß ſein feſtes Ziel hatte. Die Franzoſen warfen
ſich in die Boote, um ihr Heil in der Flucht zu ſu¬
chen, allein mehrere dieſer Boote wurden in Grund
gebohrt, die uͤbrigen, von Todten und Verwundeten
erfuͤllt, entkamen mit genauer Noth. Die Jacht wurde
darauf wieder genommen, die Hanſeaten befreit, und
dagegen viele Franzoſen, die ſich darauf verſpaͤtet hat¬
ten, gefangen gemacht. Der Verluſt des Feindes be¬
trug 132 Todte und Verwundete, waͤhrend die Han¬
ſeaten nur 13 Mann verloren hatten hatten. Als die
Fluth zuruͤckkehrte, brachte man die Jacht in den Ha¬
fen. Ein ſo nahes und heftiges Gefecht hatte wieder
[367] die ganze Stadt in Bewegung gebracht, man glaubte
den Feind auf dem Hamburgerberg gelandet, und dankte
Gott, daß den Abend vorher die Schweden angekom¬
men waren. Der gute Ausgang der Sache konnte nicht
ganz fuͤr den Schrecken und die Beſorgniß, die man
ausgeſtanden hatte, ſchadlos halten, man ſah im Grunde
nichts gewonnen, ſondern nur einen Verluſt abgewen¬
det, vielleicht auf nur kurze Zeit, und erhielt die be¬
unruhigende Einſicht, wie viele Bloͤßen die hamburgiſche
Vertheidigung dem Feinde zu benuͤtzen laſſe, die einzeln
wohl zu decken ſeien, aber durchaus nicht alle zugleich.
Die Franzoſen begannen auch bald aufs neue, die
Stadt zu bombardiren, und beſchoſſen ſie die ganze
Nacht vom 23. auf den 24. mit der groͤßten Lebhaf¬
tigkeit, doch ohne ſonderlich Schaden zu thun; das
Feuer wurde, noch ehe es recht ausbrach, jedesmal
gluͤcklich geloͤſcht; die Geſchuͤtzkugeln und Bombenſtuͤcke
verwundeten einige Buͤrger in den Straßen, die auf¬
geſtellten Truppen erlitten keinen Verluſt. Am meiſten
fuͤrchtete man fuͤr das ungeheure Theemagazin auf dem
Deiche, allein zum Gluͤck richteten die Franzoſen ihr
Geſchuͤtz nicht dahin, und man gewann Zeit, die Ton¬
nen in die Ebene zu rollen und Haardecken und Erde
daruͤber zu werfen, bei welchem Geſchaͤft ein junger
Mann Namens Fluͤgge den unerſchrockenſten Muth und
kundigſten Eifer bewies. Tettenborn war bald auf dem
Grasbrook, bald auf dem Hamburgerberg, bald in der
[368] Stadt, um alles ſelbſt zu leiten und anzuordnen, und
die Thaͤtigkeit jeder Art durch ſeine Gegenwart zu be¬
beleben. Er hatte die Truppen der entgegengeſetzteſten
und jetzt gegen einander feindlich geſtimmten Voͤlker
nach einander zu dem Einen Zweck der Vertheidigung
Hamburgs gluͤcklich herangezogen, und er durfte hoffen,
jetzt, da das Schlimmſte uͤberſtanden war, die Stadt
fernerhin behaupten zu koͤnnen, und, wenn nur erſt
Zeit gewonnen, auch groͤßere Unterſtuͤtzung nach und
nach ankommen zu ſehn. Dann konnte die Stadt,
ſelbſt bei weiterem Ruͤckzuge der Hauptheere, ein feſter,
in ſich geſchloſſener und mit allen Vortheilen der See¬
verbindung ausgeſtatteter Waffenplatz fuͤr die Verbuͤn¬
deten werden, der ſogar bald im Stande ſein konnte,
eine Belagerung auszuhalten. Allein das Betragen
der Daͤnen, die taͤglich mit den Franzoſen eifrige Ver¬
handlungen pflogen, erweckte ſchon jetzt Bedenklichkei¬
ten, die alle dieſe Ausſichten zu vernichten drohten.
Die naͤchſten Tage waren zwar wieder ruhig, aber
die duͤſtre Erwartung, in der alles ſchwebte, goͤnnte
niemanden ſich in dem Genuſſe dieſer Ruhe zu erholen.
Man mußte beſtaͤndig in Bereitſchaft ſtehen, die Buͤr¬
gergarden waren anaufhoͤrlich im Dienſt, ein großer
Theil des Volks durch Schanzarbeit, die mit Anſtren¬
gung fortgeſetzt wurde, unablaͤſſig beſchaͤftigt. Man ſah
kein andres Gewerbe mehr, als das Bezug auf den
Krieg hatte, niemand ging ohne Waffen, aller Ver¬
[369] kehr und Erwerb ſtockte; da die biwakirenden Buͤrger
von der Stadt verpflegt werden mußten, ſo wurde der
Dienſt zuletzt fuͤr die aͤrmeren Einwohner die Quelle
des Lebensunterhalts.
Die Daͤnen hatten inzwiſchen das Einruͤcken der
Schweden in Hamburg, von wo ſie in zehn Minuten
nach Altona marſchiren konnten, als fuͤr ſich gefaͤhrlich
betrachtet, und ihre Truppen mit allem Geſchuͤtz aus
Altona zuruͤck nach Blankeneſe gezogen; ſie thaten aͤngſt¬
lich, als haͤtten ſie einen feindlichen Ueberfall zu fuͤrch¬
ten, und als waͤren in Gemeinſchaft der Schweden
ihnen jetzt auch ſogar die Ruſſen unſicher. Die Schwe¬
den ihrerſeits zeigten Beſorgniß wegen der Daͤnen, welche
durch Staͤrke und Stellung allerdings im Vortheil wa¬
ren. Dieſe Beſorgniß griff auch der Kronprinz von
Schweden ſogleich auf, der endlich am 17. in Stral¬
ſund angekommen war, und meinte, die ſchwediſchen
Truppen fanden ſich in Hamburg gleichſam in einen
Sack eingeſchloſſen. Er mißbilligte das eigenmaͤchtige
Benehmen des Generals Doͤbbeln, und ſandte unver¬
zuͤglich den General Lagerbrinke nach Hamburg, um
die Schweden von dort ſogleich wieder abzurufen. Selt¬
ſame Verwickelung der Verhaͤltniſſe, daß hier Daͤnen
und Schweden in feindlicher Entgegenſetzung zum Un¬
heil Hamburgs doch nur das Gleiche thaten. Gegen
die Mißverhaͤltniſſe der beiden nordiſchen Maͤchte, die
ſich auf dieſem Punkte begegneten, mußte das Schickſal
III. 24[370] der einzelnen Stadt verſchwinden, und dieſe im Wider¬
ſtreit fremder Politik erliegen. Die ſchwediſchen Trup¬
pen marſchirten am 25. Mai Abends wirklich von
Hamburg ab. Welche Beſtuͤrzung unter den Ein¬
wohnern, welche Niedergeſchlagenheit unter den Trup¬
pen dadurch entſtand, iſt kaum zu beſchreiben. Es
gehoͤrte der ausdauernde Muth und die beharrliche Ge¬
ſinnung Tettenborn's dazu, um nach dieſem zweiten
Fehlſchlagen, das er in ſeinen unternehmenden Anſtren¬
gungen erfuhr, nicht ganz zu verzweifeln; aber der
Schmerz ſelbſt, von dem ſein Inneres bei dieſen Vor¬
gaͤngen zerriſſen war, wurde ihm zum neuen Anreiz,
ſeine Thaͤtigkeit zu verdoppeln, ſeine Kraft zu ſpannen,
und gegen alle zum Untergang verſchworne Gewalten
eines hartnaͤckigen Geſchicks wenigſtens eben ſo hart¬
naͤckig zu ringen.
Die dringenſten Vorſtellungen gingen an den Kron¬
prinzen von Schweden, dem die Wichtigkeit dieſer Stadt,
ihre jetzige Lage und ihr bevorſtehendes Ungluͤck an's
Herz gelegt wurde, um ihn zur Rettung derſelben zu
bewegen; fuͤr ganz Deutſchland konnte Hamburg ge¬
rettet das beſte, verloren das abſchreckendſte Beiſpiel
werden. Auch die beſondre Theilnahme, die der Kron¬
prinz fuͤr dieſe Stadt aus fruͤherer Zeit, da er als
Marſchall Bernadotte in den angenehmſten Verhaͤltniſ¬
ſen mit den Einwohnern geſtanden, noch haben mußte,
wurde in Anſpruch genommen. Der Senat hatte an
[371] den Kronprinzen alsbald nach ſeiner Landung die Ab¬
geordneten Pariſh, Gries und Karl Sieveking geſandt;
der letztere, damals in noch ſehr jungen Jahren, zeigte
ſchon die großen Vorzuͤge des Geiſtes und Karakters,
welche er ſeitdem in ſeiner ehrenvollen Laufbahn ſtaats¬
maͤnniſchen Wirkens zum Wohl und Ruhm ſeiner Va¬
terſtadt vielfach dargethan. Der Kronprinz hoͤrte die
Vorſtellungen der Abgeordneten theilnehmend an, ver¬
mied aber jede beſtimmte Zuſicherung. Allein ſelbſt im
guͤnſtigſten Falle, wenn er alles gewaͤhrte, was in ſei¬
ner Macht ſtand, mußten viele Tage hingehen, bevor
die Huͤlfe eintreffen konnte, die mit jeder Stunde,
welche dieſer Zuſtand fortdauerte, Gefahr lief, zu ſpaͤt
zu kommen. Es blieb daher nichts uͤbrig, um nur
einigen Halt in die Sachen zu bringen, als von Wall¬
moden Verſtaͤrkung zu beziehn. Dieſer ſandte ein preußi¬
ſches Bataillon, welches zwar nicht ſehr ſtark war, aber
aus Kerntruppen beſtand, bei Luͤneburg das Gefecht
ruhmvoll entſchieden hatte, und in dem Oberſtlieute¬
nant von Borck ſich des tapferſten Anfuͤhrers ruͤhmen
konnten. Am 27. Mai traf das Bataillon in Hamburg
ein, und brachte einen neuen Schimmer von Hoffnung
fuͤr die Einwohner mit, welche dieſer Truppen endlich
glaubten gewiß ſein zu koͤnnen.
Wunderbar genug blieb auch jetzt, nach dem Ab¬
zuge der Schweden, wie fruͤher der Daͤnen, der Feind
ganz ruhig, und wagte keinen Angriff, ja ließ ſogar
24*[372] im Bombardiren der Stadt nach. Er dachte auf eine
leichtere Art zu deren Beſitz zu gelangen, als durch
einen Angriff, deſſen Erfolg doch immer zweifelhaft
war, und der auch im Gelingen eine große Menge
Leute koſten mußte. Die Daͤnen waren das Mittel,
welches ihnen dies alles erſparen ſollte. Die Unter¬
handlungen zwiſchen Altona und Haarburg wurden
taͤglich lebhafter; der Praͤſident von Kaas war aus
Kopenhagen angelangt, um in das Hauptquartier Na¬
poleon's zu reiſen, und hielt ſich unterwegs in Haar¬
burg eine Zeit lang bei dem Marſchall Davouſt auf;
was man von den gepflogenen Unterhandlungen erfuhr,
deutete nicht allein auf Annaͤhern, ſondern auf ein voͤl¬
liges Anſchließen Daͤnemarks an Frankreich. Bei dem
vertrauten Verkehr zwiſchen den Nachbarſtaͤdten, die ſich
in vieler Hinſicht als Eins betrachteten, und denen die
kaufmaͤnniſchen Verbindungen ein engeres Band blie¬
ben, als das, womit jede einer andern Regierung an¬
gehoͤrte, waren die geheimſten Verhandlungen der Daͤnen
in Hamburg bekannt, man ſprach laut davon, daß
letztere mit den Franzoſen vereinigt die Stadt angrei¬
fen, oder dieſelbe auf glimpfliche Weiſe doch einſtwei¬
len beſetzen und den Ruſſen nur freien Abzug geſtatten
wuͤrden, und ſo ſahen die ungluͤcklichen Hamburger aus
denſelben Truppen, die noch eben ihre Bundesgenoſſen
und Beſchuͤtzer geweſen, ploͤtzlich drohende Feinde wer¬
den, und zwar um ſo gefaͤhrlicher, als man nach die¬
[373] ſer Seite die wenigſten Vorkehrungen getroffen hatte,
da die Freundſchaft der Daͤnen ſich hoͤchſtens in Neutra¬
litaͤt ſchien veraͤndern zu koͤnnen. Gegen die Franzoſen
waren die an der Elbe aufgeworfenen Befeſtigungen
auch bei noch fortdauernder Arbeit ſchon haltbar, da
der Strom ſie deckte; von dem Lande her boten die noch
unvollendeten tauſend Bloͤßen. Ein andrer Umſtand
erweckte noch bedenklichere Sorge. Nach dem großen
Verbrauch in der letzten Zeit fing nun das Pulver an
zu fehlen; der Vorrath reichte fuͤr das Kleingewehr
nur noch auf einige Tage hin, fuͤr das Geſchuͤtz auf
den Waͤllen nur auf wenige Schuͤſſe. Dies alles, und
die Erwaͤgung, daß, wie auch der Krieg enden moͤge,
Daͤnemark fuͤr Hamburg immer der naͤchſte Nachbar
bleiben wuͤrde, von deſſen Haͤnden die Stadt fortdauernd
Unheil oder Heil ſchon durch die Beherrſchung der Elbe
zu gewaͤrtigen habe, machte die Einwohner gaͤnzlich ver¬
zagen, auch gegen dieſen Feind mit aͤußerſtem Trotze
aufzutreten. Heß, als Befehlshaber der Buͤrgergarde,
der ſchon lange mit abwechſelndem Erfolg gegen die
mannigfaltigen Stimmungen gekaͤmpft hatte, und zum
Theil von ihnen niedergebeugt war, erſchien bei dem
General, und machte ihm foͤrmlich die Anzeige, daß auf
die Buͤrgergarde ferner nicht zu rechnen ſei, und ſie
namentlich gegen die Daͤnen nicht fechten wuͤrde. Die
Hamburger befanden ſich allerdings in einer fuͤrchterli¬
chen Lage; ohne alle Moͤglichkeit der Ausſoͤhnung mit
[374] Napoleon, bedraͤngt und bombardirt von der Uebermacht
eines racheſinnenden Feindes, ſahen ſie eine Stuͤtze nach
der andern weichen, eine Hoffnung nach der andern
verſchwinden, und nirgends einen aufrichtigen Freund
erſcheinen. Muth und Entſchloſſenheit ſind es meiſt nur
bedingungsweiſe, daß der Einzelne wiſſe und vertraue,
auch die Andern, und wo nicht Alle, doch die Meiſten,
ſeien ihm gleichgeſinnt. Dieſe Ueberzeugung fehlte, und
ſie zu erregen waͤren Huͤlfsmittel noͤthig geweſen, vor
denen die Beſonnenen zuruͤckſchauderten. Ein begeiſterter
Volksheld aber, der die dunkeln Kraͤfte der Waffen an's
Licht zu rufen und zugleich zu leiten gewußt haͤtte, erſtand
nicht. Die Entbrannteren ſahen alle auf Tettenborn,
und erwarteten ſeinen Anſtoß; allein er konnte heldenmuͤ¬
thige Entſchluͤſſe wohl foͤrdern, aber nicht vorſchreiben.
Es waͤre ſchoͤn geweſen, dies gutgeſinnte, eifrige Volk,
deſſen Aufſtand gegen die Franzoſen ein ſo großes Bei¬
ſpiel gegeben, durch hinlaͤngliche Kriegsmacht, wo moͤg¬
lich vorwaͤrts an der Weſer ſchuͤtzen und vertheidigen zu
koͤnnen, und ihm den Wiedergewinn der Freiheit in un¬
getruͤbtem Gluͤcke beſchieden zu ſehen, die verbuͤndeten
Maͤchte und ganz Deutſchland haͤtten ihm ſolches Wohler¬
gehn freudig gegoͤnnt; allein das Geſchick hatte nun ein¬
mal ſeine haͤrteſten Looſe hier ausgeworfen und dem Orte
ſelbſt, wo das kuͤhne Wagniß hervorgetreten, waren auch
alle Ungluͤcksfolgen deſſelben zugetheilt. Es war jetzt,
gleichviel durch weſſen Schuld, mit Hamburg auf das
[375] aͤußerſte gekommen, wo es nur noch galt, ſich bis zur
Verzweiflung zu wehren, und lieber unterzugehen, als
ſich zu ergeben. Aber obgleich der Reichthum und
Wohlſtand der Hamburger nicht in ihren Wohnſitzen
beſteht, die ohne Freiheit wenig werth ſind, und die
Betriebſamkeit, die Kenntniß und das Vertrauen des
Handels, ihr wahrer Reichthum, ſie uͤberall hinbegleitet
haͤtten, ſo ſchauderten dennoch alle vor dem Gedanken,
ihre Stadt den Flammen zu uͤberantworten, und dem
Feinde zum Gegenſtande ſeiner Wuth nur als eine
rauchende Brandſtaͤtte zuruͤckzulaſſen. Als Tettenborn
ihnen nichts mehr zu bieten hatte, als rothe Fahnen
und Pechkraͤnze, zogen ſich die Unſeligen zuruͤck, fuͤr
die es eine Wohlthat, nicht Grauſamkeit, geweſen waͤre,
wenn man, ſogar wider ihren Willen, das Heldenwerk
Roſtopſchin's wiederholt haͤtte. Tauſende haben es
ſeitdem bereut, nicht dieſen Untergang gewaͤhlt zu ha¬
ben, allein es war noͤthig, daß erſt die Wiederkunft
der Franzoſen mit allen Graͤueln der uͤberlegteſten,
langſamen Zerſtoͤrung ihnen jene ſchnelle wuͤnſchens¬
werth machte!
Noch einmal erſchien fuͤr Hamburg ein guͤnſtiger
Sonnenblick, um dann ganz und fuͤr lange Zeit von
ſeinem Himmel zu verſchwinden. Der Kronprinz von
Schweden hatte Hamburgs Schickſal zu Herzen genom¬
men, und endlich den Abgeordneten der Stadt ſeinen
unverzuͤglichen Beiſtand zugeſagt; am 27. Mai kam
[376] der General von Roſen von Seiten des Kronprinzen
zu Tettenborn, um demſelben den Anmarſch neuer
ſchwediſcher Truppen anzukuͤndigen. Ein Theil derſel¬
ben ſollte in Hamburg ſelbſt einruͤcken, die Hauptmaſſe
aber Wallmoden's Heertheil zu einer kraͤftigen Unter¬
nehmung auf das linke Elbufer und gegen Haarburg
verſtaͤrken, um die Franzoſen durch dieſen Angriff im
Ruͤcken zu noͤthigen, von ihrem Angriff auf Hamburg
abzulaſſen. Nichts konnte erwuͤnſchter ſein, und ſchon
war alles abgeredet, als noch der General von Boye
eintraf, um wegen der ſchwediſchen Truppen von den
Daͤnen, durch welche ſie in Hamburg jeden Augenblick
eingeſchloſſen werden konnten, eine Sicherſtellung zu
verlangen. Er forderte nur, daß die daͤniſchen Gene¬
rale ſich verpflichteten, jede Aenderung ihres neutralen
Verhaltens gegen die Schweden achtundvierzig Stun¬
den fruͤher anzuzeigen, ehe ſie thaͤtig einſchritten.
Mit dieſem Auftrage ging der General von Boye
am 29. Mai ſelbſt nach Altona, und Tettenborn
ſchug alle ihm durch Eifer und Klugheit eroͤffnete
Wege ein, ſeinen perſoͤnlichen Einfluß auf die Entſchlie¬
ßungen der daͤniſchen Befehlshaber geltend zu machen.
Waͤhrend dieſer Verhandlungen hatten die Franzoſen
die mehrtaͤgige Ruhe durch einen unerwarteten raſchen
Angriff wieder unterbrochen. Sie waren fruͤh vor
Tages Anbruch am 29. von Wilhelmsburg aus nach
dem Ochſenwaͤrder uͤbergegangen, hatten die ſchwachen
[377] Poſten des lauenburgiſchen Bataillons daſelbſt uͤberall
zuruͤckgedraͤngt, und ſich bereits in dieſer Inſel ſehr
ausgedehnt und theilweiſe feſtgeſetzt, ehe die Meldung
davon an Tettenborn gelangte. Dieſer eilte ſogleich
dorthin, und fuͤhrte die zuruͤckgewichenen, aber durch
ſein Erſcheinen gleich ermuthigten Truppen perſoͤnlich
gegen den Feind vor, und ließ ſie eine guͤnſtige Stel¬
lung nehmen, wobei er ſich lange Zeit dem heftigen
Kugelregen der feindlichen Plaͤnkler ausſetzte. Da je¬
doch die Franzoſen hier mit Macht uͤbergegangen wa¬
ren, und weiter vordringen zu wollen ſchienen, um die
Ruſſen von dieſer Seite abzuſchneiden, ſo ließ er ſchleu¬
nig das Bataillon Preußen aus der Stadt in die wich¬
tige Stellung beim Eichbaum marſchiren, um dieſe ſo
lange zu behaupten, bis der von Wallmoden auszu¬
fuͤhrende Angriff den Feind von ſelbſt hier wieder zum
Ruͤckwege noͤthigen wuͤrde; er ſelbſt nahm ſein Haupt¬
quartier bei der Billkirche.
Die Lage war mißlicher als je; um dem Angriff
im Ochſenwaͤrder zu begegnen war die Stadt entbloͤßt
worden; wurde dieſe angegriffen, ſo konnte man nichts
dahinſchicken, was nicht anderswo eine Luͤcke gelaſſen
haͤtte, und ſo blieb nur auf die ungewiſſe Hoffnung
zu rechnen, daß die Franzoſen ihren Angriff auf die
Stadt ſelbſt noch nicht machen wuͤrden. Mit Ungeduld
erwartete man die Ankunft der Schweden und die ver¬
langte Zuſicherung der Daͤnen; von beiden Seiten er¬
[378] hielt Tettenborn zugleich Nachricht. Die Schweden,
ſtatt in Bergedorf einzutreffen, hatten ſich tiefer in
das Innere des Landes zuruͤckgezogen; die Daͤnen da¬
gegen waren vorgegangen, und ſtanden ſchlagfertig in
Altona und in Schiffbeck, ſo daß ihre Stellung eben
ſo drohend erſchien, als ihre Abſicht feindlich zu ver¬
muthen war, ſie brauchten nur noch einen Schritt zu
thun, um Hamburg ſelbſt und alle dortigen Truppen
unrettbar einzuſchließen.
Auf das Verlangen des Generals von Boye hatte
der, ſtatt des abgerufenen Generals von Wegener in
Holſtein jetzt den Befehl fuͤhrende Generalmajor von
der Schulenburg geantwortet, nur zwei Stunden vor¬
her, ehe er zu Feindſeligkeiten uͤberginge, wuͤrde er die
Anzeige davon machen. Zugleich erhielt man durch
wohlunterrichtete Perſonen die Gewißheit, daß zwiſchen
den Daͤnen und Franzoſen ein Vertrag abgeſchloſſen,
und die daͤniſche Kriegsmacht in Holſtein ganz den
Verfuͤgungen des Marſchalls Davouſt uͤberlaſſen ſei,
daß alſo jeden Augenblick ein foͤrmlicher Angriff, von
ihnen ſelbſt, oder uͤber das daͤniſche Gebiet von den
Franzoſen, zu erwarten ſtehe. Der ſchwediſche General
erklaͤrte hierauf, in dieſem Fall hieße es die ſchwediſchen
Truppen, die nach Hamburg kaͤmen, gradezu dem
Feind als Gefangene uͤberliefern, und ihre ruͤckgaͤngige
Bewegung, ſchon durch das Vorgehen der Daͤnen ver¬
anlaßt, koͤnne nur fortzuſetzen ſein. Unter dieſen Um¬
[379] ſtaͤnden, bei der Mißſtimmung der Buͤrgerſchaft, dem
Mangel an Schießbedarf der geringen Truppenzahl,
der Entfernung der Schweden und Feindlichkeit der
Daͤnen, mußte Tettenborn, der noch immer außerhalb
der Stadt bei der Billkirche dem ſtets ſich verſtaͤrken¬
den Feinde kaͤmpfend entgegenſtand, in der Nacht auf
den 30. Mai dem Major von Pfuel nach Hamburg
den Befehl ſenden, die Stadt zu raͤumen, und mit
den wenigen dort noch befindlichen Truppen durch den
Billwaͤrder den Ruͤckzug nach Bergedorf anzutreten.
Der Senat hatte ſchon fruͤher aus eignem Antrieb die
Uebergabe der Stadt berathſchlagt, und ſandte jetzt
Abgeordnete nach Altona, um die daͤniſche Vermittelung
zu erbitten.
Heß loͤſte durch eine ſchon fuͤr ſolchen ungluͤcklichen
Fall im voraus gedruckte Bekanntmachung die Buͤrger¬
garde foͤrmlich auf, die der That nach ſchon nicht mehr
beiſammen war, und ſich in den letzten Tagen nur in
ſehr geringer Zahl auf den Sammelplaͤtzen eingefunden
hatte. Die angeſehenſten Einwohner, beſonders ſolche,
die ſich auf irgend eine Weiſe fuͤr die Freiheit Ham¬
burgs hervorgethan hatten, befanden ſich zum Theil
ſchon im Daͤniſchen, theils begaben ſie ſich jetzt dahin.
Der Abzug der Truppen, ungefaͤhr 800 Mann, ge¬
ſchah in aller Stille und mit der groͤßten Ordnung,
einige Schuͤſſe, welche die Franzoſen gegen Morgen
[380] von der Feddel gegen die Stadt thaten, wurden noch
von den Batterieen auf dem Grasbrook beantwortet.
In Altona wurde der Generalmarſch geſchlagen,
und die daͤniſchen Truppen ſetzten ſich in Bewegung.
Waͤhrend des Zuges durch den zwei Meilen langen
Engweg des Billwaͤrders ſah man der ganzen Laͤnge
nach daͤniſche Truppen mit zahlreichem Geſchuͤtz aufge¬
ſtellt, die Kanoniere mit brennenden Lunten bei den
Kanonen, die hinter unzugaͤnglichen Verhauen laͤngs
der Graͤnze die Landſtraße beſtrichen. Eine Stunde
ſpaͤter haͤtten ſie vielleicht ſchon Befehl zum Angriff
gehabt, und das kleine Haͤuflein waͤre in den Engen
des Billwaͤrders vernichtet oder gefangen worden. Der
General von der Schulenburg band ſich auch nicht an
die zugeſagte zweiſtuͤndige Aufkuͤndigung, ſondern fing
die Feindſeligkeiten ſogleich an; die Daͤnen ruͤckten in
Hamburg ein, und verfolgten durch das Steinthor den
Nachtrab der Ruſſen, nahmen 4 hanſeatiſche Reiter
gefangen, und wechſelten noch am Abend mit den Ko¬
ſaken bei Bergedorf einige Schuͤſſe. Von Bergedorf
an machte das preußiſche Bataillon die Nachhut, und
der Tag ſollte nicht vergehn, ohne die Franzoſen noch
daran zu erinnern, daß nicht ihre Tapferkeit Hamburg
wieder gewonnen habe. Bei der Nettlenburger Schleuſe
waren ſie in zahlreicher Menge auf Stegen und geleg¬
ten Brettern uͤbergegangen, und draͤngten die preußi¬
ſchen Plaͤnkler zuruͤck. Der Oberſtlieutenant von Borck
[381] eilte dahin, ſetzte ſich an die Spitze ſeiner tapfern Leute,
redete ſie kraͤftig an, und ſetzte ein hartes Wort darauf,
wenn einer von ihnen einen Schuß thaͤte; ſo ſtuͤrzten
ſie mit gefaͤlltem Bajonet auf die Uebermacht des Fein¬
des, und warfen alles nieder, was ihnen auf dem
Wege war. Es fiel kein Schuß, der Feind verlor uͤber
400 Mann, von denen ein Theil durch Bajonet und
Kolben, ein Theil im Waſſer umkam, nur wenige ret¬
teten ſich uͤber den Fluß zuruͤck. Von den 80 Preu¬
ßen, die dieſes Heldenſtuͤck ausgefuͤhrt, wurde nicht
einmal einer verwundet, zum Beweiſe, daß es die
Truppen ſchonen heißt, wenn man ſie mit dem Bajo¬
net angreifen laͤßt.
Tettenborn kam ohne weiter verfolgt zu werden
und ohne irgend einen Verluſt am 31. Mai nach Lauen¬
burg, wo er an die Truppen Wallmoden's angelehnt
ſtand, und ehe wieder von der einen oder andern Seite
etwas begonnen wurde, die Nachricht des abgeſchloſſe¬
nen Waffenſtillſtandes erhielt. Wie es der Stadt Ham¬
burg erging, nachdem die Daͤnen den Franzoſen Platz
gemacht hatten, moͤge ein Augenzeuge erzaͤhlen, dem
zu einer ſolchen Schilderung der erbitterte Schmerz
Kraft giebt, und der nicht ſcheut die herzzerreißende
Wirkung ſolchen vaterlaͤndiſchen Trauerſpiels wie Phry¬
nichus in verwuͤnſchendem Danke zu erfahren.
Kriegszuͤge von 1813 und 1814.
Ich glaube weder Unnuͤtzes noch Unwillkommnes zu
thun, wenn ich die ferneren Kriegsereigniſſe, denen ich
als Augenzeuge beigeſellt geweſen, mit treuer Wahr¬
heit und freiem Urtheil zu ſchildern verſuche. Denn
war auch dieſe Kriegsbahn nicht die eines der Haupt¬
heere, noch ſelbſt eines großen Heertheils, ſondern nur
einer maͤßigen Truppenzahl, ſo darf ſie doch durch die
Selbſtſtaͤndigkeit des Anfuͤhrers, und durch die Leiſtun¬
gen und Erfolge, welche von ihr ausgingen, an Wich¬
tigkeit und Anreiz mit mancher hoͤheren in gleiche Reihe
treten. Sie gewaͤhrt eines der eigenthuͤmlichen Bilder,
aus denen das Geſammtbild dieſes ganzen Krieges ſich
zuſammenſetzt, der auf unſrer Seite kaum als eine Ein¬
heit aufgefaßt werden kann. Aber noch eine andere
Wahrnehmung kommt uns hier zu Statten!
Salluſtius ſagt, er habe bei Betrachtung der roͤmi¬
ſchen Thaten und Schickſale oft uͤberlegt, wodurch wohl
am meiſten unter ſo großen Erſchuͤtterungen und Ge¬
[383] fahren der Staat erhalten und gerettet worden, und
er bekennt, die Kraft und Trefflichkeit weniger einzel¬
nen Maͤnner habe dies vollbracht. Auch die deutſche
Geſchichte hat ſolche Zeiten, welche ganz durch das Da¬
ſein einzelner Helden getragen werden, ſo die Zeiten
Friedrich Wilhelms des großen Kurfuͤrſten, ſo die
Friedrichs des Großen. Aber voͤllig das Gegentheil von
ſolcher Erſcheinung zeigt ſich in dem letzten Befreiungs¬
kriege, wo der Ruhm der Ereigniſſe, durch welche die
deutſche Sache in ſo hartem und gefahrvollem Ringen
gluͤcklich emporgehalten worden, kein einzelnes Haupt
findet, auf welches er in ganzer Fuͤlle ſich niederſenken
koͤnnte. Viele haben Theil an ihm, edle Fuͤrſten, tapfre
Feldherren, einſichtsvolle Staatsmaͤnner, doch eben de߬
halb nennt er ſich nach keinem ausſchließlich, ſondern
ſchwebt als namenloſes Eigenthum in hoher Gemein¬
ſchaft uͤber der ganzen Nation.
Bei dieſer Eigenthuͤmlichkeit des vergangenen Krie¬
ges, daß der Trieb und die Macht des Ganzen nicht
bloß in einem großen Hauptquartier zuſammengedraͤngt,
ſondern mit dem geiſtigen Gehalte der Zeit in den
ganzen Umfang der Bewegung ausgebreitet erſcheint,
und faſt in jedem Beſtandtheile gleichartig ſich wieder¬
findet, bei dieſer Eigenthuͤmlichkeit darf die abgeſonderte
Erzaͤhlung einer einzelnen Reihe von Kriegsereigniſſen,
auch ſelbſtſtaͤndiger auftreten, als dies der Fall waͤre,
wenn wir aus den Feldzuͤgen Caͤſar's, Friedrich's oder
[384] Napoleon's eine ſolche Nebenreihe darzuſtellen haͤtten;
in den letztern iſt die Perſon des Oberfeldherrn die
feſte Mitte alles Wichtigen und Bedeutenden, und jede
Beſonderheit nur eine Ausſtrahlung von dort; hier um¬
gekehrt ſtroͤmen die Strahlen aus dem Umkreiſe zu
einer ſolchen Mitte zuſammen, zu der ſogar auch Bluͤ¬
cher und Schwarzenberg nur ihren Beitrag geben. Und
wo es einmal nur Beitraͤge gilt, da darf auch der,
welchen die nachfolgenden Blaͤtter ſchildern, ſich den
namhaften anſchließen.
Der Fall Hamburgs machte den erſchuͤtternden Be¬
ſchluß einer Reihe von Kriegsereigniſſen, welche der
freudigen Zuverſicht, die ſie anfangs erweckt hatten,
im Fortgange nicht entſprachen, ſondern die vaterlaͤn¬
diſchen Hoffnungen bald wieder zu bangen Zweifeln
herabſtimmten. Die Schlachten von Groß-Goͤrſchen und
Bautzen, die Gefechte bei Magdeburg, Halle und Hay¬
nau, hatten das verbuͤndete Heer mit friſchem blutigen
Lorbeer bereichert, aber doch wieder zuruͤckgefuͤhrt zu
den Ufern der Oder, von woher die Schaaren erſt
kuͤrzlich gegen den ſchon fernen Feind ausgezogen
waren, der jetzt mit angeſtrengter Raſchheit wieder
nah, und gleich in Schleſien wieder eingedrungen war.
Die Schlachten ſelbſt waren fuͤr den Feind kaum Siege
[385] zu nennen, aber in ſeinen Haͤnden ſah man erſtaunt
alle Fruͤchte des Sieges, eingenommene Laͤnder, be¬
zwungene Voͤlker, beſtaͤrkte und neue Bundesgenoſſen.
Das ruſſiſche Heer mußte beſorglich gewahr werden,
welch neue Wechſelfaͤlle ſo fern von der Heimath ihm
zu beſtehen waren; die preußiſchen Truppen konnten
die im Ruͤcken liegenden Landesſtrecken ermeſſen, welche
faſt ſicher der Schauplatz, aber nur ungewiß die Mit¬
tel des weiteren Krieges darboten. Die Schweden
harrten, an die Kuͤſten der Oſtſee zuruͤckgezogen, auf
den Abſchluß der zum Theil ſchwierigen Bedingungen,
unter denen ſie dem Bunde gegen Napoleon beitraten;
ihre Huͤlfe ſchien uͤberdies fuͤr jetzt durch den neuen
Feind aufgewogen, den grade ſie am meiſten uns in
den Daͤnen erweckt hatten. Oeſterreich ruͤſtete, aber ſein
Beitritt zu dem Bunde war noch keineswegs erklaͤrt,
und die ſchwebende Ungewißheit erregte Unruhe und
Sorgen. Der Feind, wieder im Beſitz von Sachſen
und einem Theile Schleſiens, bot in aller ſeiner Macht
unterworfenen Laͤndern die gewaltigſten Anſtrengungen
auf, und ſeine Heere wuchſen taͤglich an Zahl und Ver¬
trauen. Mißlich und gefahrvoll ſtand die zuſammen¬
geſetzte Befehlsmacht der Verbuͤndeten dem kriegeriſchen
Alleingebieten des furchtbarſten Schlachtengewinners ge¬
genuͤber, dem das Gluͤck wieder zu laͤcheln ſchien. Eine
dumpfe Verzweiflung war uͤber das noͤrdliche Deutſch¬
land ausgebreitet; das Verhaͤngniß ſchien die Anſtren¬
III.25[386] gungen und das Flehen der Bedraͤngten zu verwerfen,
und den franzoͤſiſchen Kaiſer nach kurzem Zuͤrnen wie¬
der als geliebten Sohn aufzunehmen; mit dem Fall
von Hamburg wurde der letzte Aufflug der beſtuͤrzten
Hoffnungen gefeſſelt.
Aber dennoch waren Muth und Kuͤhnheit in den
Kriegern nicht ermattet, ſondern lebten hoffnungslos
faſt um ſo ſtolzer fort, und in unſern Reihen wuͤnſchte
jeder nur die Fortſetzung des Krieges, und wollte ihn
lieber an die Ufer der Duͤna zuruͤckgeworfen, als hier
an der Elbe durch klaͤglichen Frieden geendet ſehen.
In dieſem Sinne bereitete ſich alles zu hartnaͤckigen,
erbitterten Kaͤmpfen.
Tettenborn hatte in der Behauptung Hamburgs
das Aeußerſte geleiſtet; er hatte Streitkraͤfte geſchaffen,
erborgt, erzwungen, gegen die auf dieſem Punkte zu¬
ſammengehaͤuften Schwierigkeiten unablaͤſſig und oft mit
wunderbarem Erfolg angekaͤmpft, und erſt am Rande
des Unterganges die ihm anvertraute Schaar ohne Ver¬
luſt wieder zuruͤckgefuͤhrt; nur Unkundige mochten die
Zumuthung laͤngerer Vertheidigung gegen ihn aufſtel¬
len, die Maͤnner vom Kriegeshandwerk hatten jede mi¬
litairiſche Obliegenheit dazu ſchon laͤngſt verneint. Der
Kaiſer Alexander ſandte ihm zur Anerkennung ſeiner
verdienſtvollen Ausdauer den St. Annenorden erſter
Klaſſe mit den ſchmeichelhafteſten Ermunterungen. Der
beſte Troſt lag in dem Gedanken an neue Kaͤmpfe und
[387] Unternehmungen, zu denen Tettenborn, jetzt nicht mehr
hinter Waͤllen und Graͤben eingeengt, ſondern mit ſei¬
ner Reiterei wieder im freien Felde, und ſeinem eigent¬
lichen Elemente zuruͤckgegeben, ſich entſchloſſen anſchickte.
Er hatte in den naͤchſten Tagen nach der Raͤumung
Hamburgs ſeine Truppen bei Lauenburg zuſammenge¬
zogen, und ſeine Vorpoſten gegen Bergedorf und die
Graͤnze von Holſtein vorgedraͤngt. In Boitzenburg
ſtanden die wenig zahlreichen Truppen Wallmoden's.
Der Feind hatte eine große Ueberlegenheit an Mann¬
ſchaft und Geſchuͤtz, denn obwohl die Angaben in der
wieder franzoͤſiſchen hamburgiſchen Zeitung die Anzahl
der eingeruͤckten Franzoſen prahleriſch uͤbertrieben, ſo
befanden ſich doch in Hamburg, nach ſichern Nachrich¬
ten, die uns von dorther nie fehlten, wenigſtens
10,000 Mann, gewiß das Vierfache der Unſrigen, und
was in dieſen der entſchloſſene Eifer, das konnte in
jenen fuͤr den Augenblick der Uebermuth des gelunge¬
nen Erfolgs wirken. Die Beihuͤlfe der Daͤnen ver¬
mehrte die Zahl des Feindes ins Unbeſtimmte, und
verlieh ihm zugleich Reiterei, an der es ihm bis dahin
gefehlt hatte. Wir ſahen in der That auch alsbald
daͤniſche Huſaren gegen uns erſcheinen, und mit den
Koſaken und hanſeatiſchen Reitern plaͤnkeln, und ob¬
wohl die daͤniſchen Truppen uͤberhaupt nur mit Wider¬
willen ſich den franzoͤſiſchen verbuͤndet ſahen, ſo machte
doch das, nach alter Erfahrung, in dem ſtrengen Gange
25*[388] kriegeriſcher Verhaͤltniſſe keinen Unterſchied, und die
Daͤnen fochten gegen uns wie die Franzoſen, denen
untergeordnet zu ſein ſie ſich bald gewoͤhnten. Haͤtte
Tettenborn bloß den Eingebungen des Augenblicks fol¬
gen wollen, ſo wuͤrde ihm, nachdem die Daͤnen ſich ſo
raſch in Feinde verwandelt hatten, voͤllig frei geſtanden
haben, mit aller Reiterei ſogleich in Holſtein einzufal¬
len, das Land zu uͤberſchwemmen, die Truppen zu zer¬
ſtreuen oder zu entwaffnen; wie leicht jenes Einbrechen
geſchehen konnte, hat das Gelingen des ſpaͤtern, viel
ſchwierigern Verſuchs gezeigt. Allein er wollte die hoͤhern
Entſcheidungen abwarten, die erſt den Geſichtspunkt
aufſtellen mußten, aus welchem das neue Verhaͤltniß
der Daͤnen zu behandeln ſei. Dieſes verzoͤgernde Ab¬
warten, und die Hoffnung, daß die Schweden jetzt in
jedem Fall lebhafter den Krieg betreiben wuͤrden, in
welchem ſie ihre eigentlichſten Feinde nicht laͤnger als
Gegner vermiſſen ſollten, erhoͤhte die Spannung nach
dieſer Seite außerordentlich.
Die Franzoſen hatten kaum einige Tage damit zu¬
gebracht, ſich in dem ungluͤcklichen Hamburg feſtzu¬
ſetzen und ihre vorhabenden Zerſtoͤrungen zu beginnen,
als ſie auch ernſtere Verſuche machten, in das Lauen¬
burgiſche einzudringen, durch deſſen Beſetzung wir nach
ihrem Sinne noch in Frankreich waren. Tettenborn
ſah die Unmoͤglichkeit, dem Vorruͤcken zahlreichen Fu߬
volks auf die Dauer mit Vortheil zu widerſtehen, da
[389] die Einengung dieſes Landſtrichs zwiſchen der Oſtſee
und dem Elbſtrom nicht erlaubte, den Feind mit der
Reiterei, durch raſche Angriffe auf ſeine Flanken und
kuͤhne Einfaͤlle in ſeinen Ruͤcken, zu aͤngſtigen und auf¬
zuhalten, die einzige Art dieſes gegen eine Uebermacht,
der man von vorn nicht gewachſen war, moͤglich zu
machen. Auf der andern Seite konnte man berechnen,
daß der Feind, deſſen Hauptmacht ſich noch nicht un¬
bedingt von Hamburg entfernen konnte, nicht weiter
als bis in den Anfang Mecklenburgs ſtreifen wuͤrde,
wo er zu der natuͤrlichen Hemmung, welche die Gefahr
groͤßerer Entfernung ihm auferlegte, uͤberdies noch an
der Elbe auf die Truppen Wallmoden:s, und laͤngs
der Oſtſee auf die Schweden treffen mußte, von wel¬
chen, obgleich ſie bis jetzt nicht vorgingen, doch nicht
zu erwarten war, daß ſie ſich ohne Gefecht noch wei¬
ter zuruͤckziehen wuͤrden. Es ſchien daher das Beſte,
dieſe Gegend ganz aufzugeben, und die Truppen, die
hier in erfolgloſer Vertheidigung unnuͤtz wuͤrden, ander¬
waͤrts nuͤtzlicher zu verwenden. Den Spielraum, den
das rechte Elbufer verſagte, bot das linke deſto herrli¬
cher dar, und der nicht raſtende Unternehmungsgeiſt
Tettenborn's nahm ſogleich dorthin ſein Augenmerk,
um in das Hannoͤverſche und Braunſchweigiſche einzu¬
fallen, durch kuͤhne Streifzuͤge gegen die Weſer und
den Harz den Feind zu beunruhigen, und, zu raſcher
[390] Wendung bereit, deſſen Stellung an der Oberelbe und
Niederelbe im Ruͤcken gleicherweiſe zu bedrohen.
Bevor jedoch dieſer Zug unternommen werden konnte,
wurden wir ploͤtzlich durch die Ankunft eines franzoͤſi¬
ſchen Offiziers uͤberraſcht, der in Begleitung eines ruſſi¬
ſchen aus dem großen Hauptquartier kam, um auf der
ganzen Linie die Feindſeligkeiten, zufolge eines geſchloſ¬
ſenen Waffenſtillſtandes, einzuſtellen; er traf in dem
Augenblicke ein, als die Franzoſen von mehreren Sei¬
ten gleichzeitig zu einem ernſthaften Angriff auf unſre
Vorpoſten anruͤckten. Hatte die nachtheilige Wendung
der Ereigniſſe die Gemuͤther tief betruͤbt, aber nicht
den Kriegsmuth erſchuͤttert, der den Sieg, wenn er
ſonſt nirgends zu finden waͤre, im Tode aufzuſuchen
bereit war, ſo erfuͤllte dagegen die Nachricht des Waf¬
fenſtillſtandes auch die Muthigſten mit Beſtuͤrzung,
und wurde gleich der Nachricht einer Niederlage ange¬
nommen, gegen welche alles Ungluͤck im Felde nur
gering erſchien. Lieber geſchlagen werden, als zu fech¬
ten aufhoͤren, war die Geſinnung aller Krieger. Die
Bedingungen ſchienen im Ganzen vortheilhaft genug,
doch in Ruͤckſicht auf Hamburg konnten ſie nur auf's
neue den unſeligen Schmerz aufreizen, den der Ver¬
luſt dieſer beſten deutſchen Stadt uns tief eingedruͤckt
hatte. Breslau zu raͤumen, hatten die Franzoſen ein¬
gewilligt; fuͤr Hamburg waͤre die gleiche Bedingung
moͤglich geweſen, allein weder Freund noch Feind wußte
[391] bei den Hauptheeren ſchon deſſen Fall; die geringſte
Kunde hinwieder, welche uns von dem geworden waͤre,
was dort verhandelt wurde, haͤtte dieſen Fall verhuͤten
koͤnnen, denn die Stadt waͤre bei der Ausſicht, daß
der Waffenſtlllſtand nach acht Tagen die erſchoͤpften
Kraͤfte abloͤſen wuͤrde, eine ſo kurze Zwiſchenzeit hin¬
durch gegen alle Uebermacht noch zu behaupten geweſen,
und hart an der Grenze des Verderbens gerettet worden.
Damit dieſer Schmerz noch erhoͤht wuͤrde, mußte auch
erſt in Lauenburg ein Schreiben des ruſſiſchen Staats¬
ſekretairs Grafen von Neſſelrode eintreffen, welches
vorausſetzte, Tettenborn ſei noch in Hamburg, und
ihn benachrichtigte, der Kaiſer wuͤnſche die Stadt um
jeden Preis gerettet, und ſolle daher der General Graf
von Wallmoden noͤthigenfalls ſein geſammtes Fußvolk
hineinwerfen, bei der dringenden Eile aber habe er
dieſe Zeilen ſelbſt, nach dem Willen des Kaiſers, als
den Befehl dazu anzuſehen. Eines oder das andere,
dieſes Schreiben, oder jene Nachricht von dem Waffen¬
ſtillſtande um einige Tage fruͤher, und Hamburg war
in der That gerettet, und blieb in ruhmvollem Stolze
fortan unſer, denn der Waffenſtillſtand haͤtte hier alles
geliefert, deſſen man bedurfte, Zeit zur Befeſtigung
der Stadt, zur Uebung der Truppen und Buͤrger,
zur Anſchaffung von Pulver, zur Ankunft angemeſſener
Verſtaͤrkung, zur Entſcheidung der daͤniſchen und ſchwe¬
diſchen Verhaͤltniſſe.
[392]
Zufolge gegenſeitiger Uebereinkunft wurde die ruſſi¬
ſche Waffenſtillſtandslinie von dem Ausfluſſe der Trave
vorwaͤrts Ratzeburg, Moͤlln und Lauenburg an die Elbe
gezogen, die franzoͤſiſche lief vor Luͤbeck und Bergedorf
hin, die zwiſchen beiden Linien eingeſchloſſene Strecke
wurde fuͤr neutral erklaͤrt, und ſollte von beiden Thei¬
len unbeſetzt bleiben. Die Neigung der Franzoſen zur
gewaltſamen Anmaßung und zur Uebertretung der Ver¬
traͤge, ſo oft nur, nicht einmal immer ihr Vortheil,
ſondern bloße Laune aus Gewohnheit ſie dazu anreizte,
blieb waͤhrend aller wechſelnden Zuſtaͤnde des Krieges
immer dieſelbe, und auch hier wurden ſie nicht muͤde
das neutrale Gebiet zu betreten und auszubeuten, und
ſich uͤber Verletzungen von unſrer Seite zu beſchweren,
ſo wenig auch jemals Anlaß dazu war. Tettenborn
beantwortete ihre Beſchwerden mit verachtendem Schwei¬
gen, und ließ ihre thatſaͤchlichen Eingriffe durch den
ſeine Vorpoſten befehligenden General Deniſoff kraͤftig
zuruckweiſen. Er ſelbſt nahm ſein Hauptquartier in
Boitzenburg.
Waͤhrend dieſes langen und verlaͤngerten Waffen¬
ſtillſtandes entwickelten und geſtalteten ſich die Kraͤfte
der Verbuͤndeten in außerordentlichen Anſtrengungen
zu großem Umfang und innerer Staͤrke, denen ſelbſt
Napoleon mit ſeiner ungeheuern Thaͤtigkeit in den ſchon
voͤllig auf den Krieg berechneten Verwaltungsmitteln
ſeines großen Reichs, wie die Folge gezeigt, nicht
[393] gleiche entgegenzuſetzen vermocht hat. Allein die zer¬
ſtreuten Zuruͤſtungen der Verbuͤndeten ließen ſich, be¬
ſonders im Anfange, nicht gleich ſo troͤſtlich uͤberſehen
und ermeſſen, und man durchlebte in großer Beſorg¬
niß dieſe Waffenruhe, die man von dem Feinde beſſer,
als von uns ſelbſt benutzt zu ſehen fuͤrchtete, und die,
neben der Ausſicht eines zweifelhaften Kriegs, auch
die Moͤglichkeit eines ſchlechten Friedens durch fort¬
dauernde Unterhandlungen feſtgebannt hielt. Ja die
beſten Hoffnungen derjenigen, welche der Beharrlichkeit
der Fuͤrſten und dem Eifer der Voͤlker alles zutrauten,
wurden durch das Baͤngliche und Schwankende, dem
jeder Buͤndnißkrieg ausgeſetzt iſt, oft gelaͤhmt und
zweifelhaft.
Die preußiſchen Ruͤſtungen gaben das Beiſpiel ein¬
muͤthiger Staͤrke und heldenmuͤthiger Anſtrengung, wie
ſie ſeit dem Anfange des franzoͤſiſchen Freiheitskrieges
nicht waren geſehen worden; die Zahl der Bewaffne¬
ten wurde zu einer Hoͤhe gebracht, auf der ſie nur
durch die weiſeſten Maßregeln der Regierung und die
allſeitige Hingebung des Volks erhalten werden konnte;
die Zweckmaͤßigkeit der Anordnungen und die Fuͤlle der
Leiſtungen gaben den preußiſchen Ruͤſtungen in tiefer
Stille einen ſo ſichern und reichen Erfolg, daß man
bald mit Staunen Groͤßeres geſchaffen fand, als man
hatte bereiten ſehen. Der Anmarſch ruſſiſcher Verſtaͤr¬
kungen dauerte unaufhoͤrlich fort: darunter fand ſich
[394] auch die ruſſiſch-deutſche Legion, die nach der Nieder¬
elbe beſtimmt war. Die Schweden machten nun wirk¬
lich einen Theil unſrer Streitmacht aus, da der Kron¬
prinz von Schweden den Oberbefehl eines zuſammen¬
geſetzten Bundesheers, in welchem Wallmoden's Trup¬
pen einen Heertheil, und in dieſem die Truppen Tet¬
tenborn's eine beſondere Schaar bildeten. Engliſche
Truppen landeten an der mecklenburgiſchen Kuͤſte. In
Mecklenburg ſelbſt wurde die Einrichtung einer Land¬
wehr und eines Landſturms, nach dem Muſter der
preußiſchen mehr betrieben als ausgefuͤhrt, der geringe
Umfang des Landes, die Ungewohntheit kriegeriſcher
Anſtalten, und ſelbſt die Stoͤrungen durch die Anwe¬
ſenheit ſo vieler fremden Truppen, ließen den wieder¬
holt gegebenen Befehl des Kronprinzen von Schweden
wenig wirkſam werden; beſſern Fortgang hatte die Er¬
richtung und Vermehrung des eigentlichen Militairs,
dem es ſpaͤterhin nicht an Gelegenheit fehlte, ſich aus¬
zuzeichnen. Ueber Oeſterreich und den Gang der an¬
geknuͤpften Verhandlungen lag noch ein Dunkel aus¬
gebreitet, welches vertrauenvolle Zuverſicht jedoch bald
hell und heller eroͤffnet zu ſehen hoffte.
Der Kronprinz von Schweden, deſſen Nichttheil¬
nahme an dem Kriege Napoleon's gegen Rußland ſich
um die Ruſſen das groͤßte Verdienſt erworben hatte,
ſollte nun, zur Theilnahme an dem Kriege gegen Na¬
poleon uͤbergehend, ſich denſelben mit groͤßerm Dank
[395] von den uͤbrigen Voͤlkern erwerben. Fuͤr die Verzich¬
tung auf die Wiedererlangung des unverſchmerzten Finn¬
lands war den Schweden von England und Rußland
der kuͤnftige Beſitz Norwegens zugeſichert, eine Zuſiche¬
rung, welcher nun auch Preußen beizutreten veranlaßt
war. Wenn die Staatskunſt hier ſich zu Maßregeln
gedrungen fuͤhlte, die einen Fuͤrſten ſeines rechtmaͤßigen
Beſitzes willkuͤrlich berauben ſollte, ſo kann man zur
Entſchuldigung anfuͤhren, daß der daͤniſche Hof ſchon
ein Jahr vorher gewarnt und benachrichtigt worden
war, zu welchen Bedingungen ſich Rußland, wenn
Daͤnemark fortfuͤhre dem franzoͤſiſchen Buͤndniß treu zu
bleiben, gegen Schweden verpflichten muͤſſe, weil Ru߬
land bei dem bevorſtehenden gewaltigen Kampfe nicht
beider nordiſchen Maͤchte zugleich unverſichert bleiben
koͤnne. Das daͤniſche Kabinet ſchien auch in der That,
nach dem Untergange des großen franzoͤſiſchen Heeres
in Rußland, ſich den Ruſſen und Preußen in dem
Maße naͤhern zu wollen, als das Gluͤck ſich von den
Franzoſen entfernte. In der Hoffnung, wegen Nor¬
wegen eine guͤtliche Ausgleichung treffen zu koͤnnen,
und Daͤnen und Schweden gemeinſchaftlich der guten
Sache zuzufuͤhren, hatte der Kaiſer von Rußland die
daͤniſchen Annaͤhrungen wohlwollend aufgenommen, und
die preußiſche Regierung fand unter dieſen Umſtaͤnden
den Abſchluß mit Schweden nicht zu uͤbereilen. Allein
der Kronprinz von Schweden fand hierin einen bedenk¬
[396] lichen Anſchein, der ihm deſto unangenehmer war, als
eine große ſchwediſche Parthei nur ungern die Bezie¬
hungen zu Frankreich aufgegeben ſah, und ſich zu einem
Mißtrauen berechtigt glaubte, das erſt durch den Er¬
folg widerlegt werden ſollte. Die Bluͤthe der ſchwedi¬
ſchen Kriegsmacht war nach einer ſtuͤrmiſchen Ueber¬
fahrt in Pommern gelandet, zu einem Kriege beſtimmt,
in welchem Schweden nur auf Koſten Daͤnemarks ge¬
winnen konnte; die Ausſicht, durch das geringſte Ver¬
ſehen jene, fuͤr Schweden nicht wie fuͤr andere Laͤnder
erſetzliche, Schutzwehr des Landes verlieren zu koͤnnen,
ohne Norwegen zu gewinnen, forderte zu einer Sorg¬
falt auf, die allerdings verbot ſich in raſche Thaͤtigkeit
vorſchnell einzulaſſen. Die Truppen, welche ſchon auf
dem Meere gelitten hatten, beiſammen zu halten und
das Weitere abzuwarten, ſchien unerlaͤßlich, wenn nicht
Schwedens eigne Sicherheit gegen Daͤnemark auf's
Spiel geſetzt werden ſollte. Der Kronprinz ſtand in
doppelter Eigenſchaft da, als ſchwediſcher Thronfolger
und als Feldherr; als jener ſah er ſich wegen des Vor¬
theils ſeines Landes wenig beruhigt, als dieſer ſeinen
Erwartungen wegen des Bundesheeres, deſſen Ober¬
befehl ihm zugeſagt war, nicht entſprochen. Schweden
ſah ſich aller ſeiner Hoffnungen beraubt, ſeine ganze
Bedeutung in dieſem Kriege verloren, wenn nicht Daͤ¬
nemark der Feind der Verbuͤndeten blieb, ſondern mit
dieſen und alſo auch mit Schweden in friedliche Ver¬
[397] haͤltniſſe trat. Das Benehmen der Daͤnen, welche
Hamburg hatten fallen laſſen, und dadurch allgemeinen
Haß auf ſich zogen, kam den Wuͤnſchen der Schweden
nur allzuguͤnſtig entgegen, und wurde von ihnen eif¬
rig benutzt.
Aber auch die Schweden hatten Hamburg retten
koͤnnen, und es im Gegentheil verlaſſen, und mußten
dieſerhalb harte Beſchuldigungen erleiden. Dieſe wur¬
den am ſtaͤrkſten laut, als man das harte Geſchick des
Generals Doͤbbeln erfuhr, welcher auf den Huͤlferuf
Tettenborn's in der groͤßten Noth drei ſchwediſche Ba¬
taillons nach Hambuurg hatte vorruͤcken laſſen, ohne
durch hoͤhere Befehle dazu ermaͤchtigt zu ſein. Er war
von der Befehlfuͤhrung abgerufen und vor ein Kriegs¬
gericht geſtellt worden; waͤhrend des Waffenſtillſtandes
kam nebſt andern zahlreichen Widerwaͤrtigkeiten, zu
denen die Ruhe Zeit gab, auch dieſe traurige Angele¬
genheit zum Spruche. Vergebens zeigte der General
Doͤbbeln den ganzen Zuſammenhang der Verhaͤltniſſe
und das Dringende der Aufforderung, vergebens berief
er ſich auf die edeln Triebfedern, die ihn auch diesmal
beſtimmt hatten, wie ſchon fruͤher, da er, gleichfalls
ohne Befehl, zweimal das Vaterland zu retten gehol¬
fen, vergebens entbloͤßte er ſeinen von Wunden zer¬
ſchmetterten Schaͤdel, um zu zeigen, welches Haupt
man zu verdammen im Begriffe ſei; er wurde zum
Tode verurtheilt, und der entruͤſtete Mann vernahm
[398] nur mit Unwillen, daß ihm das Leben geſchenkt und
er zur Feſtung begnadigt ſei. Er hatte der Form nach
unſtreitig gefehlt; aber wer in ſeiner Stellung, — ſo
urtheilten damals die tapferſten und hoͤchſten Kriegs¬
maͤnner, — der Aufforderung Tettenborn's im Stande
geweſen waͤre, nicht Folge zu leiſten, der waͤre viel¬
leicht ein kluͤgerer Soldat geweſen, als der General
Doͤbbeln, aber kein groͤßerer Ehrenmann.
Waͤhrend im Ruͤcken vielfache Beſchaͤftigung auf eine
ereignißvolle Zukunft deutete, kamen taͤglich traurige
Boten aus Hamburg als lebendige Zeugen einer jam¬
mervollen Gegenwart an, mit welcher wir uns in ſo
naher Beruͤhrung fuͤhlten. Die Verhaftungen, Unter¬
ſuchungen und Bedruͤckungen nahmen kein Ende, und
die Franzoſen zeigten unverhohlen, daß diesmal ſogar
die Gelderpreſſungen nicht bloß Gelb, ſondern eigent¬
lich den Untergang der armen Stadt zum hauptſaͤch¬
lichſten Zwecke hatten. Die beſten Maͤnner des ganzen
Gemeinweſens wurden geaͤchtet; jeder Hamburger war
durch einen oder den andern Artikel der grauſamen
Rachverfuͤgungen Napoleon's der Willkuͤr ſcheuslicher
Schergen verfallen; die reichſten Leute konnten durch
kein Geld, die ehrwuͤrdigſten weder durch Amt noch
Alter ſich vor der Schanzarbeit ſchuͤtzen, zu der man
ſie gewaltſam hinzog, um ſie dem ſchaͤndlichſten Hohn
und mißhandelndem Spott bloßzuſtellen. Wer konnte,
wanderte aus; taͤglich erſchienen Buͤrger, zum Theil
[399] mit Frauen und Kindern, die ſich gluͤcklich durchge¬
ſchlichen hatten, und begaben ſich tiefer in das Meklen¬
burgiſche, wo ſich ein Haͤuflein hamburgiſcher Buͤrger¬
garden um Perthes und Metlerkamp zu verſammeln
anfing; ihre Klagen uͤber den unerhoͤrten Druck und
die ſchnoͤde Mißhandlung, uͤber das gewaltſame Zerſtoͤ¬
ren der Haͤuſer, ihre Schilderung des Umhauens aller
Baͤume und des Verwuͤſtens der Gaͤrten, gaben das
traurigſte Bild eines oͤffentlichen Ungluͤcks, das in je¬
dem einzelnen Leiden die Oberhand hatte.
Die Unterhandlungen Oeſterreichs waren inzwiſchen
dahin gediehen, daß ſeine Verbindung mit Frankreich
immer loſer, die mit Rußland und Preußen immer
feſter wurde, und endlich ſelbſt dem Feinde, der hier
zum erſtenmale die unangenehme Wahrheit abſichtlich
hinter Taͤuſchungen ſich ſelbſt verhehlen zu wollen ſchien,
kein Zweifel mehr uͤber den nahen Zeitpunkt bleiben
konnte, der die oͤſterreichiſchen Heere den ruſſiſchen und
preußiſchen geſellen wuͤrde.
In dieſer Vorausſetzung erhielten unſre Anſtalten
zur Wiedereroͤffnung des Kriegs erneuerte Kraft und
Zuverſicht, und die Bildung und Aufſtellung der Heere
wurde in Gemaͤßheit des neuen Zuwachſes bedingt und
angeordnet. Aus guten Gruͤnden hatte man, um die
Wahrnehmung abgeſonderter einzelner Ruͤckſichten und
Vortheile bei den verbuͤndeten Heeren dem hoͤheren
Geſichtspunkt des allgemeinen Vortheils ſo viel als
[400] moͤglich unterzuordnen, die Truppen der verſchiedenen
Heere vertheilt, deren kein einziges aus den Truppen
bloß Eines Volkes beſtand. Am mannigfaltigſten war
dieſe Miſchung bei dem Nordheer unter den Befehlen
des Kronprinzen von Schweden, welches aus Ruſſen,
Preußen, Schweden, Englaͤndern, Hanſeaten und an¬
dern deutſchen Kriegsvoͤlkern zuſammengeſetzt war, und
dies wieder am meiſten in dem Heertheile Wallmoden's,
unter deſſen Befehl, nebſt den abgeſonderten Truppen
einzelner Laͤnder, auch die zuſammengemiſchten von
ganz Deutſchland in der ruſſiſch-deutſchen Legion ſich
befanden. Ein ſolcher Koͤrper war ohne Zweifel in dem
Grade weniger beweglich und zuverlaͤſſig, als ihm
Feſtigkeit und innere Einheit fehlten. Auch Tettenborn,
welcher von ruſſiſchen Truppen bei der neuen Verthei¬
lung nur vier Koſakenregimenter behalten, und ſeine
ruſſiſchen Dragoner, Huſaren, Jaͤger und Kanonen
anders wohin abgegeben hatte, bekam ſtatt dieſer jetzt
preußiſche Truppen, naͤmlich die geſammte Lutzow'ſche
Freiſchaar, welche aus allen Waffengattungen beſtand,
und ein neuerrichtetes preußiſches Bataillon Jaͤger.
Wallmoden hatte die ſchwierige Aufgabe, mit hoͤchſt
geringen und unzuverlaͤſſigen Kraͤften das Vorruͤcken
der Uebermacht des Marſchalls Davouſt, dem zugleich
die daͤniſchen Huͤlfsvoͤlker untergeordnet waren, mit
moͤglichſter Anſtrengung aufzuhalten und zu laͤhmen.
Tettenborn empfing die Beſtimmung, hiebei mit ſeinen
[401] Truppen dem Feind am naͤchſten zu ſein, und nach
eigner Einſicht und Kuͤhnheit zu verfahren.
Wir koͤnnen nicht umhin bei dieſer Gelegenheit, da
wir der Luͤtzow'ſchen Freiſchaar erwaͤhnt haben, einige
Worte uͤber dieſe mannigfach beurtheilte Truppe hier
einzuſchalten. In der freien Geſinnung, welche die
Rettung des Vaterlandes unter jeder Geſtalt und auf
alle Weiſe erringen wollte, waren viele treffliche Leute
ſchon fruͤhe zuſammengetreten, und obgleich groͤßten¬
theils Preußen, ſo hatten ſie doch in der Erwaͤgung,
daß preußiſche und deutſche Geſinnung, die jetzt eins
waren, in manchen Faͤllen wieder geſondert ſcheinen
koͤnnte, vorzugsweiſe die deutſche erwaͤhlt. Dieſe Ge¬
ſinnung herrſchte bei Stiftung der Freiſchaar, an deren
Spitze der Major von Luͤtzow geſtellt wurde. Bei der
Ausſicht, daß der groͤßere Theil Deutſchlands ſich in
allgemeinem Aufſtand erheben wuͤrde, duͤnkte eine ſolche
Schaar der Kern, um welchen ein großes deutſches
Heer ſich zu unabhaͤngiger Streitmacht verſammeln
konnte; und in der That moͤgen ſolch glaͤnzende Er¬
wartungen vielen Mitgliedern der ſogenannten ſchwar¬
zen Schaar um ſo lebhafter vorgeſchwebt haben, als
dieſe Freiſchaar in der Auswahl und Menge trefflicher
junger Leute eher die Offiziere eines kuͤnftigen Heeres,
als die Gemeinen einer vorhandenen Truppe zu beſitzen
ſchien. Der Ausdruck „ſchwarze Erde,“ welcher hin
und wieder bei dieſer Schaar vorkam, erinnerte mit
III. 26[402] abſichtlicher Bedeutung an die rothe Erde der Vehme,
und wies auf einen ausgebreiteten Wirkungskreis hin.
Allein der Gang der Begebenheiten war der Entwicke¬
lung dieſer Beſtrebungen durchaus nicht guͤnſtig, und
die verbuͤndeten Maͤchte ſelbſt wollten lieber den lang¬
ſamen Beitritt der Rheinbundfuͤrſten abwarten, als die
raſche Kraft der Voͤlker zur augenblicklichen Theilnahme
aufrufen. Der Sammelplatz allgemeiner deutſchen Ge¬
ſinnungen mußte dadurch bald veroͤden, und den oͤrtli¬
chen nachſtehen, die den Bayern, den Rheinlaͤnder, den
Weſtphalen, in ſeinem eignen Kreiſe zu den Waffen
rief; die Luͤtzow'ſche Schaar, eben ſo wie die deutſche
Legion, kam dadurch um ihre politiſche Bedeutung,
und behielt bloß, gleich andern Truppen, eine mili¬
tairiſche. Jedoch wurde es ſchwer, jener Bedeutung ſo¬
gleich zu entſagen, und ein unzufriedener Mißmuth uͤber
die getaͤuſchte Erwartung bezeichnete noch lange ihr nicht
gaͤnzliches Erloͤſchen. Als bloße Truppe betrachtet, zeigte
die Luͤtzow'ſche Schaar aber bald unvereinbare Elemente;
die herrlichſten Juͤnglinge und Maͤnner, aus den Staͤd¬
ten groͤßtentheils den Studien und Staatsaͤmtern ent¬
zogen, oft noch in der Unſchuld und Begeiſterung
hoͤherer Bildung, fanden ſich neben den roheſten Ge¬
ſellen, denen Wildheit uͤber Freiheit ging, und unter
verſchmitzten Heuchlern, welche in den Schein des Va¬
terlandseifers ihre Raubſucht huͤllten. Daher die zahl¬
loſen Klagen uͤber Gewaltſamkeiten aller Art, die man
[403] von den ſogenannten Schwarzen wollte erlitten haben.
Daher aber auch die Begeiſterung, welche andere Mit¬
glieder dieſer Schaar an vielen Orten erweckten. Allein
auch die Beſſern, die ſich hier vereint fanden, waren
nicht an guͤnſtiger Stelle; was vertheilt auf ganze Re¬
gimenter als erfriſchender Geiſt wirken konnte, verlor
ſich hier in ſich ſelbſt laͤhmender Gleichartigkeit. Kein
Wunder, wenn unter ſolchen Umſtaͤnden die auf bloß
militairiſche Verwendung beſchraͤnkte Schaar auch in
dieſer bei aller Tapferkeit doch den aus Landvolk beſte¬
henden Feldregimentern nicht gleichkam, da, naͤchſt der
Tapferkeit, hauptſaͤchlich die koͤrperliche Kraft und Aus¬
dauer bei dem Krieger in Betracht kommt. Die Luͤtzower
aber waren williger zu jeder Anſtrengung und Ent¬
behrung, als faͤhig.
Die Zeit des Waffenſtillſtandes naͤherte ſich ihrem
Ende, und die geſpannten Gemuͤther ergriff lebhaftere
Thaͤtigkeit; auf ſolchen Entſcheidungen, wie jetzt ganz
nahe waren, hatte unſere Sache noch nie geſtanden!
Der Kronprinz von Schweden gab dem Nordheer in
der Mark Brandenburg eine ſolche Stellung, daß die
Hauptſtadt Berlin gegen den ganzen Lauf der Elbe
hin umgeben, und vor dem Feinde, er mochte von
Suͤden oder von Weſten andringen, geſichert war.
Seinen aͤußerſten rechten Fluͤgel an der Niederelbe gegen
Holſtein bildete Wallmoden, unter deſſen Befehlen die
ruſſiſchen Generale von Tettenborn und von Arentſchildt,
26*[404] die engliſchen Generale von Doͤrnberg und Lyon und
der ſchwediſche General von Vegeſack ſtanden, welcher
letztere jedoch im voraus beſondere Weiſungen erhalten
hatte, die ihn von dem uͤbrigen Heer einigermaßen
trennten, wie er denn im Fall eines Ruͤckzuges mit
ſeinen ſchwediſchen und den mecklenburgiſchen Truppen
ſich laͤngs der Oſtſee nach Stralſund ziehen ſollte, waͤh¬
rend den andern Abtheilungen fuͤr ſolchen Fall die Rich¬
tung nach Berlin gegeben war. Dieſe ſaͤmmtlichen
Truppen Wallmoden's betrugen ungefaͤhr 25,000 Mann,
die man am Tage der Schlacht unter dem Gewehr zu
haben rechnen konnte. Das Geſchuͤtz betrug kaum
40 Kanonen, die nicht alle im beſten Stande waren,
ja zum Theil noch erwartet wurden. Da nach den
Anordnungen des Kronprinzen auf dieſer Seite kein
heftiger Angriffskrieg Statt finden konnte, ſo war im
voraus beſtimmt, daß man der Uebermacht des Fein¬
des, ſobald ſie vordraͤnge, langſam weichen und ſich
in den oben angegebenen Richtungen fechtend zuruͤck¬
ziehen ſollte. Dem gemaͤß, um die Stecknitz dem Feinde
einigermaßen ſtreitig zu machen, wurden vor Lauenburg
noch in den letzten Tagen des Waffenſtillſtandes auf
vortheilhaften Anhoͤhen drei Schanzen eiligſt angelegt,
und mit der Nacht vor dem Wiederausbruch der Feind¬
ſeligkeiten gluͤcklich vollendet. Eine neue Bruͤcke uͤber
die Stecknitz bei Lanz verſicherte die ruͤckwaͤrtige Ver¬
bindung dieſes Poſtens; die ſumpfigen und buſchreichen
[405] Ufer erſchwerten jeden andern Uebergang. Wallmoden
verlegte ſein Hauptquartier von Grabow nach Hage¬
now, Tettenborn das ſeinige von Boitzenburg nach Buͤ¬
chen, und vertheilte ſeine Truppen auf der Linie von
Moͤlln nach Lauenburg, welche beide Staͤdte er nebſt
den Schanzen bei letzterer beſetzt hielt. Seine Staͤrke
betrug etwa 3000 Mann Fußvolk, 4 Koſakenregimen¬
ter, zuſammen beinah 1500 Pferde, und ungefaͤhr
400 Pferde von der ſeit dem Ueberfalle bei Kitzen nicht
wieder ergaͤnzten Reiterei von Luͤtzow; einige Stuͤcke
leichtes Geſchuͤtz waren wenig brauchbar. Noch am
16. Auguſt wußte man bei uns nicht, ob die Feindſe¬
ligkeiten wirklich ausbrechen wuͤrden, oder der Waffen¬
ſtillſtand verlaͤngert waͤre, keine Anzeige, kein Befehl
deßhalb war eingetroffen, und der Zweifel wurde erſt
am folgenden Tage durch die That gehoben, indem
die Franzoſen die Feindſeligkeiten wirklich anhoben.
Am 17. Auguſt um Mittag bekam Tettenborn die
Nachricht, daß der Feind von Hamfelde, mit 3000 Mann,
worunter auch Daͤnen, und 6 Kanonen, durch das
bisher neutrale Gebiet gegen Moͤlln vorruͤcke, und bald
darauf, daß derſelbe mit betraͤchtlicher Staͤrke auch gegen
Lauenburg im Anzuge ſei. Sogleich wurden Patrouil¬
len von Buͤchen rechts und links vorgeſchickt, um den
Feind in ſeinen Flanken zu beobachten. Durch Nach¬
laͤſſigkeit einiger Poſten aber wurde auch gleich an die¬
ſem erſten Tage das bei Moͤlln aufgeſtellte Koſaken¬
[406] regiment uͤberfallen, und von dieſem Punkte, jedoch ohne
den geringſten Verluſt, zuruͤckgeworfen, ſonderbar ge¬
nug, da ſeit Jahr und Tag bei dieſen Truppen der¬
gleichen weder geſchehen war, noch in der Folge je
wieder geſchah. Der Feind verfolgte jedoch auf dieſer
Seite ſeinen augenblicklichen Vortheil nicht. Deſto
ernſthafter war ſein Andringen bei Lauenburg, wo zwei
Bataillons Jaͤger und ein Koſakenregiment den Feind
empfingen. Die Jaͤger verließen ihre Schanzen und
begegneten dem Feinde auf freiem Feld, warfen ihn
nach einem hitzigen Gefecht, ungeachtet ſeiner Ueber¬
zahl, zuruͤck, und uͤberließen ihn den Koſaken zu wei¬
terer Verfolgung; von beiden Seiten blieben viele Leute.
Den Tag darauf verſtaͤrkte der Feind ſeinen Angriff
und ruͤckte mit 5 Bataillons und 3 Kanonen an, zwei
der letztern wurden bald unbrauchbar gemacht, und waͤh¬
rend aus den Schanzen unſere Kanonen feuerten, bra¬
chen die Jaͤger und Schuͤtzen abermals in das freie
Feld hinaus, und ſchlugen ſich den ganzen Tag mit
dem uͤberlegenen Feinde herum, der endlich im Walde
Schutz ſuchen mußte, nachdem er, vorzuͤglich durch die
unter dem braven Hauptmann Riedel den Luͤtzowern
geſellten Tyroler Schuͤtzen, uͤber 400 Mann verloren
hatte. Die Unſrigen hatten 100 Todte und Verwun¬
dete, worunter 11 Offiziere, die bei jeder Gelegenheit
mit entbranntem Muthe vorangingen. Noch am naͤm¬
lichen Abend verſuchte der Feind durch einen neuen
[407] Angriff mit dem Bajonett die Schanzen wegzunehmen,
und wurde nochmals blutig zuruͤckgewieſen; da jedoch
ſeine ganze Macht nachruͤckte, und die Truppen zum
Angriff ſich ſtuͤndlich vermehrten, ſo gelang es ihm am
folgenden 19. in der Fruͤhe des Morgens die Hart¬
naͤckigkeit der Unſern zu uͤberwaͤltigen, und er nahm
die Schanzen mit Sturm, wobei wir gegen 200 Mann
verloren. Auf dieſe Art Meiſter der beiden Fluͤgel¬
punkte unſrer Stellung an der Stecknitz, drang der
Feind endlich auch gegen die Mitte nach Buͤchen vor,
wo er aber die Bruͤcke zerſtoͤrt fand, und ebenfalls auf
hartnaͤckigen Widerſtand ſtieß. Tettenborn hatte ſich be¬
reits nach Greſſe zuruͤckgezogen, ließ aber den Ueber¬
gang noch durch den Rittmeiſter Grafen von Bothmer
mit 50 Koſaken vertheidigen, welche der Feind durch
anhaltendes Kanonenfeuer bis auf den Abend, wo ſie
abzuziehen Befehl hatten, vergebens zu vertreiben ſuchte.
Nachdem die Franzoſen ſich nun aller Uebergaͤnge uͤber
die Stecknitz bemeiſtert hatten, konnten ſie ungeſtoͤrt
und raſch vorgehen; allein Tettenborn blieb mit ſeinen
Koſaken immer hart an ihnen, beunruhigte ſie ſo ſehr
auf allen Seiten durch unaufhoͤrliches Plaͤnkeln, und
goͤnnte ihnen ſo wenig Raum ſich vorwaͤrts aufzuſtel¬
len, daß ſie nur in ganzer Maſſe, wo das Fußvolk
und ſelbſt das Geſchuͤtz an der vorderſten Spitze immer
zur Hand ſein mußte, langſam vorzugehen wagten.
Unter beſtaͤndigem Geplaͤnkel von allen Seiten, wobei
[408] der Feind gegen die abgeſeſſenen Koſaken jedesmal Ge¬
ſchuͤtz auffuͤhrte, um ſie zu vertreiben, und jedes kleine
Gefecht durch Kanonendonner verherrlichte, zogen wir
uns langſam und ohne Verluſt uͤber Greſſe, Badekow
und Schildefelde nach Vellahn, wo Tettenborn fruͤh
am 21. Auguſt eintraf, und weil es ihm unertraͤglich
fiel, mit ſeinen tapfern Truppen vor dem zaghaften,
aber uͤbermaͤchtigen Feinde noch weiter zuruͤckzugehen,
ſo wollte er hier dem Feinde, deſſen von Buͤchen und
Boitzenburg heranziehende Abtheilungen hier vereinigt
uͤber 25,000 Mann betragen mußten, kaͤmpfend Stand
halten. Der Marſchall Davouſt war ſelbſt an der
Spitze der Vorruͤckenden, hatte aber in vier vollen Ta¬
gen nur wenige Meilen zuruͤckgelegt, ſeine Reiterei
wagte er kaum zu zeigen, alle ſeine Truppen machten
gleichſam Vorpoſten, Kanonen wurden Plaͤnkler. Wir
konnten dieſes Uebermaß von Vorſicht um ſo weniger
begreifen, als wir aus aufgefangenen Briefen wußten,
daß Napoleon den Marſchall Davouſt angewieſen hatte,
die Truppen Wallmoden's als neu errichtete und ſchlechte
gar nicht fuͤr bedeutend anzuſehen.
Die Gegend von Vellahn hat Hoͤhen und Wald;
hinter dieſen legte Tettenborn, nach getroffener Ver¬
abredung mit Wallmoden, der ſein Hauptquartier in
Klodran genommen, und den General von Doͤrnberg
in die linke Flanke des Feindes vorgeſchoben hatte, auf
die zweckmaͤßigſte Weiſe Reiterei und Geſchuͤtz in Ver¬
[409] ſteck, um im rechten Augenblick unerwartet hervorzu¬
brechen; das Dorf Bellahn wurde ganz mit Jaͤgern be¬
ſetzt, waͤhrend vor demſelben ein Theil der Koſaken
ebenfalls verſteckt hielt, und der andere Theil den Feind
unter beſtaͤndigem Plaͤnkeln herbeilockte. Sein Vor¬
ruͤcken geſchah jedoch an dieſem Tage noch langſamer
als gewoͤhnlich, und erſt ſpaͤt am Nachmittage verkuͤn¬
digten Kanonenſchuͤſſe ſeine Annaͤherung. Durch dieſe
Zoͤgerung des Feindes mußte die Reiterei Doͤrnberg's
zu fruͤh erſcheinen, und eher geſehen werden, als Zeit
zum Angriff war. Die Franzoſen wandten ihre Auf¬
merkſamkeit ſogleich auf ihre linke Flanke, und das
Gefecht entſpann ſich zuerſt mit einem Bataillon der
ruſſiſch-deutſchen Legion, das von den Huſaren der
engliſch-deutſchen Legion, und 4 Kanonen unterſtuͤtzt
wurde. Dieſe Truppen ſchlugen den Angriff, ungeach¬
tet des feindlichen Kartaͤtſchenfeuers, tapfer zuruͤck. Aber
die Hauptſache war verſaͤumt, und die Erwartung, den
Feind zur vorbereiteten Niederlage naͤher zu locken, blieb
getaͤuſcht. Unter dieſen Umſtaͤnden nahm Tettenborn
3 Koſakenregimenter zuſammen, und ſprengte, er ſelbſt
der Erſte, unter lautem Hurrah, auf die Franzoſen
ein, die in großer Ausdehnung und Anzahl hier zuerſt
wieder ſich in Plaͤnkler aufgeloͤſt hatten, und bei die¬
ſem lebhaften Angriff in Menge niedergeſtochen wur¬
den. Auch Wallmoden fand ſich perſoͤnlich hier ein,
und ermunterte, mit Tettenborn vereint, die Koſaken
[410] durch das muthigſte Beiſpiel zu kuͤhner Verfolgung,
die auch beinah eine Stunde Wegs fortdauerte, unge¬
achtet des Kartaͤtſchen- und Kanonenfeuers, und der
Bataillonsmaſſen, welche den Fluͤchtigen zu Huͤlfe ka¬
men; ungefaͤhr 400 Franzoſen blieben auf dem Platze,
lauter Fußvolk, weil die Reiterei aͤngſtlich zuruͤckgehal¬
ten und von jenem zur Sicherheit in die Mitte genom¬
men war. Die ganze Linie des Feindes war im Feuer,
das bis in die ſpaͤte Nacht dauerte; unſre Truppen
behielten ihre alte Stellung bei Vellahn, und hatten
das Feld weit vor ſich hin geſaͤubert; denn der Feind,
ſtutzig geworden, zog ſich in der Nacht noch weiter
zuruͤck. Dieſes Gefecht, in welchem hoͤchſtens 5000 Mann
gegen mehr als 20,000 geſtanden hatten, ſo ruhmvoll
als erfreulich fuͤr die Unſern, zeigte dem Feinde, was
er von den neuen Truppen, die er verachten ſollte,
unter ſolchen Anfuͤhrern zu erwarten habe.
An den folgenden beiden Tagen harrten wir ver¬
gebens, daß uns der Feind nach Toddin, wo unſere
Truppen hoͤchſt vortheilhaft aufgeſtellt waren, nachfol¬
gen, oder uns bei Hagenow, wohin wir ſodann zogen,
angreifen ſollte. Er nahm ſeine Richtung links auf
Wittenburg, und von da weiter auf der Straße nach
Schwerin, waͤhrend nur einzelne Abtheilungen ſich unſern
Plaͤnklern entgegenſtellten, und nach lebhaftem Kano¬
niren gleichfalls in jener Richtung abzogen. Kaum
war Tettenborn von dem Einruͤcken des Feindes in
[411] Wittenburg unterrichtet, als er ſogleich Partheien in
den durch dieſe Seitenbewegung eroͤffneten Raum ſchickte,
die im Ruͤcken des Feindes Gefangene machten, Fuh¬
ren wegnahmen und Boten auffingen; ein Koſakenre¬
giment blieb bei Wittenburg ſelbſt an die Hauptmaſſe
der feindlichen Truppen dicht angeſchloſſen, und beob¬
achtete deren kleinſte Bewegung. Eine andere Abthei¬
lung wurde nach Schwerin und von da vorwaͤrts auf
der Straße nach Wittenburg dem Feinde entgegenge¬
ſchickt, der ſchon in dieſer Richtung vorruͤckte und mit
jener Abtheilung, die ſich beobachtend zuruͤckzog, faſt
zugleich in Schwerin ankam, gleich zuerſt mit etwa
10,000 Mann, dann mit den uͤbrigen Truppen, deren
geſammte Staͤrke uͤber 30,000 Mann betrug, und ſich
zwiſchen den Seen bei Schwerin lagerte.
Tettenborn ging nun ſelbſt mit allen Koſaken und
der Luͤtzow'ſchen Freiſchaar in den Ruͤcken des Feindes,
und auf derſelben Straße, welche dieſer genommen,
uͤber Wittenburg ihm nach gegen Schwerin, allein der
Feind hatte keine Truppenabtheilung zuruͤckgelaſſen, ſon¬
dern alles eifrig beiſammen gehalten, und den Nach¬
trab fleißig mitgenommen, ſo daß die Hoffnung, dieſen
zu uͤberfallen, fehlſchlug. Doch machten wir zahlreiche
Gefangene, die von allen Seiten eingebracht wurden,
und hemmten durch dieſen Marſch die Verbindung des
Feindes mit ſeinem Ruͤcken, indem wir zugleich alle
noͤthigen Nachrichten uͤber ihn einzogen. Von Warſow
[412] aus wurde der Major von Luͤtzow mit einer ſtarken
Parthei nach Trebbow abgeſandt, um den Feind ganz
zu umſtellen, und ihm auch von dieſer Seite alle Nach¬
richt abzuſchneiden. Dieſer letztere Zweck erhielt durch
die Lage des Augenblicks die hoͤchſte Wichtigkeit. Waͤh¬
rend naͤmlich der Marſchall Davouſt mit allen Trup¬
pen in gedraͤngter Stellung am Schweriner See ſtand,
und nach jeder Richtung die leichte Umzaͤumung, welche
die Koſaken dicht um ihn gezogen hatten, durchbrechen
konnte, um mit ſeiner Uebermacht etwas Entſcheiden¬
des auszufuͤhren, ſo daß man mehr als gewoͤhnlich
behutſam ſein mußte, um ihn nach keiner Richtung
unbemerkt einen Marſch gewinnen zu laſſen, kam die
Nachricht bei uns an, daß die franzoͤſiſche Hauptmacht
aus Sachſen gegen das Heer des Kronprinzen von
Schweden hervorgebrochen ſei, und dieſer in der Naͤhe
von Berlin bei Teltow alle Truppen zuſammenziehe,
um eine Schlacht zu liefern, deren Vorſpiel ſchon begon¬
nen habe. Da zugleich auch von Magdeburg aus eine
betraͤchtliche Truppenſtaͤrke auf der Straße nach Berlin
im Anmarſch war, und der Kronprinz weder ſeine ver¬
ſammelten Truppen vor der nahen Schlacht ſchwaͤchen,
noch in ſeiner Flanke die gefaͤhrliche Bewegung des
Feindes ungeſtraft geſchehen laſſen durfte, ſo ſandte er
an Wallmoden den Befehl, den Marſchall Davouſt zu
verlaſſen, und ſchleunigſt nach der Elbe gegen den aus
Magdeburg vorgedrungenen Feind zu marſchiren. Tet¬
[413] tenborn ſollte mit ſeinen Truppen ſtehen bleiben, und
den Marſchall Davouſt uͤber den Abmarſch der andern
zu taͤuſchen ſuchen. Wallmoden ſetzte ſich ſogleich am
25. Auguſt in Bewegung. Alle Anordnungen wurden
der Schwierigkeit dieſer neuen Lage gemaͤß getroffen,
und unter andern auch das Gepaͤck weiter in's Land
zuruͤckgeſandt. Tettenborn zog ſich uͤber die große
Ebene bei Schwerin aus dem Ruͤcken des Feindes wie¬
der rechts in die Fronte deſſelben, ſowohl um nicht
die Ruͤckzugsſtraße gegen Berlin und das Heer des
Kronprinzen zu verlieren, als auch um die ſchoͤne und
vollkommen offne Ebene, welche ſich von Schwerin ge¬
gen Ludwigsluſt unuͤberſehbar ausdehnt, auf den Fall
eines Treffens fuͤr ſeine Reiterei vor ſich zu haben;
er nahm ſein Hauptquartier in Fahrbinde, wo Baͤume
und Buſchwerk die Ebene zu unterbrechen anfangen,
die zwiſchen dem Feind und den Unſrigen liegend jede
Angriffsbewegung ſogleich entdecken ließ, auch im un¬
wahrſcheinlichen Falle, daß die dicht um die feindlichen
Lager gezogenen Koſakenpoſten uͤberfallen und ver¬
ſprengt wuͤrden.
Der Marſchall Davouſt hatte waͤhrend der Abwe¬
ſenheit Wallmoden's alſo nur hoͤchſtens 5000 Mann
vor ſich, von welchen er ſich, der jetzt mehr als 40,000
Mann hatte, die ſpaͤterhin nach authentiſchen Liſten bis
zu 51,000 Franzoſen, ohne die 10,000 bis 15,000
Daͤnen, anwuchſen, gluͤcklicherweiſe in der Enge halten
[414] ließ; er ahndete ſo wenig, was bei uns vorging, daß
er noch aͤngſtlicher als vorher ſich auf ſeine Stellung
beſchraͤnkte. Eine kuͤhne Bewegung von ſeiner Seite
in dieſem Augenblick, und ein raſches Vordringen durch
die Priegnitz in die Mark Brandenburg, haͤtte, in
Verbindung mit den andern Bewegungen der Franzoſen
von Wittenberg und Magdeburg her, fuͤr Berlin hoͤchſt
gefaͤhrlich, ja bei Davouſt's Truppenzahl fuͤr den Feld¬
zug auf dieſer Seite entſcheidend werden koͤnnen, we¬
nigſtens wuͤrden ihm Tettenborn und Wallmoden, wenn
ihm auch nicht gelungen waͤre ſie zu ſchlagen, immer
ruͤckwaͤrts haben weichen muͤſſen, und der Kronprinz,
von allen Seiten bedroht, ja fuͤr ſeinen Ruͤckzug nach
Stralſund beſorgt, haͤtte mit ſeinen geringen Kraͤften
ſchwerlich Stand halten koͤnnen. Allein Tettenborn
loͤſte gluͤcklich die Aufgabe, von deren Wichtigkeit er
durchdrungen war, und dieſe bangen Tage gingen vor¬
uͤber, ohne daß der Feind unſere Lage erfahren haͤtte.
Keine Nachricht drang zu ihm, kein Kourier fand einen
unbeſetzten Weg, uͤberall ſchwaͤrmten Koſaken, deren
Anzahl durch ihre ſtete Bewegung unberechenbar groß
erſchien; die Patrouillen des Feindes, welche ſich in
die nur wenig von dem Lager entfernten Doͤrfer wag¬
ten, wurden jedesmal angegriffen, verjagt, und ließen
immer mehrere Gefangene zuruͤck; ſo gewann es den
Anſchein, als wenn wir, weit entfernt, einen Angriff
zu fuͤrchten, vielmehr ſelber anzugreifen bereit waͤren.
[415] Dieſe geſpannte Lage dauerte jedoch nicht lange; ſchon
am 26. Auguſt kam die Nachricht von dem Siege des
Kronprinzen bei Groß-Beeren, und den Tag darauf
kehrte auch Wallmoden mit ſeinen Truppen zuruͤck,
da der Kronprinz nach der gewonnenen Schlacht be¬
reits andere naͤherſtehende Truppen in die Gegend von
Magdeburg abſenden konnte.
Unbeſchreiblich, und vielleicht zu ſehr vergeſſen iſt
der Eindruck, welchen dieſe erſte Siegesnachricht in den
Gemuͤthern hervorbrachte; der Krieg hatte ſich fuͤr uns
jetzt gleich im Anfang mit Gluͤck eroͤffnet, das ſeitdem
der Gefaͤhrte unſerer Waffen blieb, und nur bisweilen
zu ſchlummern ſchien, um deſto herrlicher aufzuwachen.
Die Rettung Berlins, die ſpaͤter noch Einmal durch
den General Buͤlow bei Dennewitz gelang, hatte dem
Siege durch die Theilnahme einer dankbaren Menge
einen erhoͤhten Glanz verliehen. Zwar nur Preußen
waren zum Kampfe gekommen, aber der Kronprinz
hatte mit kriegskundiger Einſicht ſeine ganze Staͤrke
in der kuͤrzeſten Zeit auf den bedrohten Punkt ſo ver¬
ſammelt und aufgeſtellt, daß der Feind die Unmoͤglich¬
keit des Gelingens einſah, und die Schlacht nicht auf
das aͤußerſte kommen ließ, ſondern, mit der Niederlage
eines Theils ſeiner Truppen zufrieden, die uͤbrigen gar
nicht in's Gefecht brachte. Auch unſere Stellung ge¬
gen den Marſchall Davouſt gewann nun eine andere
Anſicht, ſein Vordringen konnte weder ſo gefaͤhrlich,
[416] noch unſerer fernerer Ruͤckzug ſo nachtheilig werden,
da jenes keine andern Bewegungen mehr unterſtuͤtzte,
und dieſer bei jedem Schritt auf groͤßere Verſtaͤrkun¬
gen fuͤhrte.
Unſere Partheien fuhren fort, den Feind nach allen
Richtungen zu belaͤſtigen und ſeine Wirkſamkeit einzu¬
engen. Der Major von Luͤtzow uͤberfiel bei Wittenburg
einen großen Zug franzoͤſiſcher Wagen, nahm ihn, und
machte viele Gefangene; die uͤbrige Mannſchaft der Be¬
deckung wurde groͤßtentheils niedergehauen. Bei dieſem
Gefechte buͤßten wir auch Einige der Unſrigen ein, un¬
ter ihnen den jungen Grafen von Hardenberg und den
Lieutenant Theodor Koͤrner, letzterer bekannt durch die
gluͤckliche Dichtergabe, welche ihn inmitten aller Ab¬
wechslungen des Kriegslebens nie verließ. Er war
von Wien, wo er in gluͤcklichen Verhaͤltniſſen lebte und
noch gluͤcklicheren entgegen ſah, dem fruͤhſten Waffen¬
rufe gefolgt, und nebſt vielen ſeiner ſaͤchſiſchen Lands¬
leute in die Luͤtzow'ſche Freiſchaar getreten, wo er ſo¬
wohl wegen ſeines frohherzigen Umgangs und heitern
Dichtergeiſtes, als wegen ſeiner heldenmuͤthigen Tapfer¬
keit allgemeine Liebe erworben hatte. Bei Kitzen durch
mehrere Saͤbelhiebe in den Kopf gefaͤhrlich verwundet,
dachte er zu ſterben, und in der That verſchob ſeine
Geneſung nur auf kurze Zeit den ihm zugedachten Tod.
Mit eifriger Eile hatte er ſich bei ſeinen Waffengefaͤhr¬
ten wieder eingefunden, mit ungeſtuͤmer Verwegenheit
[417] ſtuͤrzte er bei dem erſten Begegnen auf den Feind, und
fiel, von vier Kugeln in den Leib getroffen, todt vom
Pferde. Seine Lieder konnten der Gegenwart genuͤ¬
gen, ſeine Geſinnung allen Zeiten; ein Gedicht von
Staͤgemann feiert das Andenken von beiden mit milder
Ueberlegenheit. Noch ein anderer Offizier von unſchaͤtz¬
barem Werthe, der Hauptmann Schaͤffer, deſſen wir
ſchon Gelegenheit fanden zu erwaͤhnen, verdient, daß
ſein Name nicht ſogleich vergeſſen werde; er war in
dieſen Tagen auf einem Streifzuge jenſeits der Elbe,
wo er, obgleich Ingenieuroffizier, und durch keinen
Beruf dazu verpflichtet, mit kampfbegierigem Muthe
auf den Feind eindrang, bei Dannenberg von einer
Flintenkugel getoͤdtet worden.
Inzwiſchen hatte der Marſchall Davouſt den Ge¬
neral Loiſon gegen Wismar abgeſchickt, und dieſer,
nach mehrern Gefechten mit dem General von Vegeſack,
die Stadt beſetzt. Die Beute war nicht ſo anſehnlich,
als man erwartet hatte, deſto betraͤchtlicher ſollten die
Gelderpreſſungen ausfallen, die ſich der General Loiſon
daſelbſt nebſt der ſchnoͤdeſten Behandlung der Einwoh¬
ner erlaubte. Eine Unternehmung auf Roſtock, wo
große Waarenlager aufgehaͤuft waren, reizte die unbe¬
friedigte Raubſucht, und ein Verſuch, dahin vorzudrin¬
gen, wurde ſogleich gemacht. Allein der General von
Vegeſack ſchlug die Franzoſen bei Neu-Bukow, und
warf ſie wieder auf Wismar zuruͤck, welches ſie darauf
III.27[418] ebenfalls fruͤher raͤumen mußten, ehe die verlangten
Geldſummen vollſtaͤndig gezahlt waren.
Bei Schwerin hielt der Feind ſich fortwaͤhrend ganz
ruhig in zwei Lagern, bei Neumuͤhlen und Wittenfoͤr¬
den, an welchem letztern Orte die Daͤnen geſondert
ſtanden, da ſie auf Maͤrſchen und in Gefechten mit
den Franzoſen gemiſcht erſchienen. Die Patrouillen,
die der Feind in die nahgelegenen Doͤrfer nach Lebens¬
mitteln, vorzuͤglich nach Vieh, ausſchickte, beſtanden
immer aus Fußvolk, ja bisweilen aus ganzen Ba¬
taillons, hinter welchen Geſchuͤtz folgte, das bei jedem
Angriff der Koſaken ſogleich vorgefahren wurde und
zu feuern anfing. Tettenborn verlegte ſein Haupt¬
quartier nach Orthkrug, naͤher Schwerin, um den Feind
enger zu beſchraͤnken, und noch mehr zu beunruhigen
und zu necken. Nicht genug, daß er von hier aus
fortfuhr durch Partheien in klug gewaͤhlten Richtungen
die ganze ruͤckwaͤrts gelegene Gegend durchſtreifen zu
laſſen, auch in dem Lager ſelbſt ließ er dem Feinde
von nun an keine Ruhe. Nacht fuͤr Nacht wurden
ſeine Poſten angegriffen, zuruͤckgeworfen und in das
Lager geſprengt. Durch die Papiere, welche ein auf¬
gefangener Kourier bei ſich gehabt, erſah man, daß
der Feind in beſtaͤndiger Beſorgniß war von uns ernſt¬
haft angegriffen zu werden, und daher die nordwaͤrts
des Schweriner Sees vertheilten Truppen zuruͤckrief,
um ſeine ganze Staͤrke beiſammen zu haben. Seine
[419] Poſten zog er aus Vorſicht alle ein, damit dieſelben
nicht aufgehoben wuͤrden. Tettenborn ließ nunmehr
mit den Koſaken Jaͤger zu Fuß ausruͤcken, damit der
Feind auf den Vorpoſten Fußvolk ſaͤhe, und ließ jede
Nacht die feindlichen Lager alarmiren. Die Jaͤger
ſchlichen bis auf dreißig Schritt zu den Wachtfeuern
hinan, durch Dunkelheit und Gebuͤſch gedeckt, und
ſchoſſen ihre Buͤchſen ab, der Laͤrm durchdrang ſogleich
das ganze Lager, und mitten durch hoͤrte man das
Gewimmer der Verwundeten. Die Unſern ſtreuten die
Zeitungsblaͤtter mit den Nachrichten von den gluͤcklichen
Fortſchritten der verbuͤndeten Heere auf den feindlichen
Wachtplaͤtzen aus, und zogen ſich vor Tag wieder auf
ihre Poſten. Der Major von Luͤtzow wurde mit einer
Parthei nach Boitzenburg geſandt, welchen Ort aber
noch vor ſeiner Ankunft der Feind in eiliger Flucht
verließ. Der Major von Arnim hatte mit der han¬
ſeatiſchen Reiterei bei Vicheln einen guten Angriff ge¬
macht, und den Feind geworfen. Durch alle dieſe
gluͤcklichen, zwar kleinen, aber durch ihre Menge zu
bedeutendem Vortheil anwachſenden Unternehmungen,
wurde der Feind immer mehr und mehr eingeſchuͤchtert,
und wagte zuletzt aus Zaghaftigkeit ſich zu keinem Ge¬
fecht mehr hervor. Seine Lage wurde noch bedenkli¬
cher durch den Mangel an Nachrichten, der ſo groß
und ſo peinlich war, daß der Marſchall Davouſt ſogar
ein Kind aus Schwerin nach der Berliner Zeitung
27*[420] ausſchickte, ohne in dieſem Falle gluͤcklicher zu ſein, als
in andern. Der Dichter Friedrich Ruͤckert hat dieſe
Abgeſchiedenheit des Marſchalls in Schwerin durch ein
ſcherzhaftes Lied artig beſungen. Ein mit dem Kourier,
der ihn uͤberbringen ſollte, aufgefangener Brief der
Marſchallin Davouſt an ihren Gemahl gab durch ſeinen
merkwuͤrdigen Inhalt ebenfalls Anlaß zu ſcherzhafter
Beluſtigung.
Die Begierde ſich mit dem Feinde zu meſſen, war
durch das Betragen deſſelben bei unſern Truppen taͤg¬
lich ſtaͤrker entbrannt, es ſchien eine Schande, den
nicht anzugreifen, der ſich vor unſerm Angriff ſo offen¬
bar fuͤrchtete. Auch Tettenborn bedurfte der groͤßten
Selbſtuͤberwindung, um nicht die ruhige und zoͤgernde
Haltung, die ihm vorgeſchrieben war, zu uͤberſchreiten;
und Wallmoden ſelbſt bezeigte haͤufig Luſt, dem Geg¬
ner eine Schlacht zu liefern, und traf mancherlei dahin
zielende Anordnungen, die er aber jedesmal zu rechter
Zeit noch zuruͤcknahm; denn die Ueberzahl des Feindes,
ſeine gute Stellung, und ſodann die Zuſammenſetzung
unſrer Truppen, waren Gruͤnde, die bei jeder neuen
Erwaͤgung mehr Gewicht zu erlangen ſchienen, um von
jedem Hauptſchlage abzumahnen. Auch blieb es bei
dieſem Zaudern, und es wurde nichts unternommen,
bis endlich der Feind Miene machte, ſich ſtaͤrker gegen
Roſtock hinzuziehen, worauf Wallmoden uͤber Krivitz
nach Warin zu marſchiren beſchloß, um mit dem Ge¬
[421] neral von Vegeſack vereinigt dem Feinde zu begegnen,
waͤhrend Tettenborn fortfahren ſollte, Schwerin zu
beobachten.
Wallmoden, bekannt als ein erfahrner Kriegsmann
von ſcharfem Verſtand und gelaſſenem Urtheil, hatte
in dem Ergebniß ſeiner Gruͤnde unter den vorhandenen
Umſtaͤnden vollkommen Recht; wir erlauben uns aber,
bei dieſer Gelegenheit uͤber die Neuheit der Truppen
einige Bemerkungen einzuſchalten, welche ſich ſchon in
fruͤherer Zeit aufgedrungen und waͤhrend dieſes Kriegs
nur beſtaͤtigt haben. Wenn Truppen neu ſind, ſo iſt
dies ein Uebel, das man beruͤckſichtigen muß, ſobald
es ein ernſthaftes Unternehmen gilt; aber das Uebel
iſt noch viel groͤßer, wenn die Truppen neu bleiben,
und dies Uebel kann der Feldherr entfernen, denn ihm
liegt ob, durch ſeinen Geiſt die feſte Gemeinſchaft zu
bilden, die aus verſchiedenartigen Voͤlkern Ein Heer,
aus unverſuchten Neulingen gepruͤfte Soldaten, mit
Einem Worte, aus ſchlechten Truppen gute macht.
Allein die meiſten neuerrichteten Truppen, beſonders
die ſogenannten Legionen, haben immer eine ſchlechtere
Rolle geſpielt, als ſie durch ihren innern Werth ver¬
dienten, weil das Behandeln der Begeiſterung und des
Volksſinnes in unſerer Zeit und Nation noch wenig
reif, und durch militairiſche und politiſche Vorurtheile
geſtoͤrt war. Selbſt die Thatſachen ſcheinen nicht lehr¬
reich genug, und es erhaͤlt ſich, trotz der uͤberzeugen¬
[422] den Erfahrung ſo vieler Kriege und auch dieſes letzten,
eine militairiſch-vornehme Abneigung gegen Landwehren
und neue Bewaffnungen, welche ſich doch, wenn ein
großer Antrieb ſie zu aͤchtem Eifer entflammt, noch
immer mit Erfolg den beſten altgeuͤbten Heeren ent¬
gegenſtellt haben. Freilich gehoͤrt Zeit zur Bildung
und Uebung des Soldaten, und beide duͤrfen ihm nicht
fehlen; allein Begeiſterung und Volksſinn kuͤrzen die
Lehrzeit bis auf ein oft erſtaunenswuͤrdiges Minimum
ab, wie ſich dies ehemals bei den Franzoſen, und jetzt
neuerdings eben ſo bei den Preußen, erwieſen hat.
Mit dieſen letztern jedoch war der groͤßte Theil der
Truppen Wallmoden's nicht zu vergleichen, als deren
Neuheit ſchwerer zu vernichten und deren Unzuſammen¬
hang kaum aufzuheben war.
Fruͤh am 3. September erhielt Tettenborn in Orth¬
krug die Meldung, daß der Feind um Mitternacht
Schwerin gaͤnzlich verlaſſen und der Marſchall Davouſt
mit allen Truppen den Weg uͤber Gadebuſch ruͤckwaͤrts
nach der Stecknitz eingeſchlagen habe. Die Poſten, die
er hatte ſtehen laſſen, um ſeine Bewegung zu ver¬
decken, wurden ſogleich angegriffen, uͤber den Haufen
geworfen, und groͤßtentheils gefangen gemacht. Wall¬
moden, der auf der entgegengeſetzten Seite des Schwe¬
riner Sees nach Warin in Marſch war, wurde durch
Eilboten von dem Vorgegangenen benachrichtigt, in¬
zwiſchen aber alle einzelnen Abtheilungen der Truppen
[423] ſchleunigſt zum Vorruͤcken befehligt; der Rittmeiſter von
Herbert folgte mit einem Koſakenregiment dem Feinde
auf dem Fuße uͤber Gadebuſch nach, der Rittmeiſter
Graf von Muͤnnich, ebenfalls mit einem Koſakenregi¬
ment, ſuchte demſelben die Flanke abzugewinnen, der
Oberſt Graf von Kielmannsegge ruͤckte mit ſeinen han¬
noͤverſchen Jaͤgern von Neuhaus nach Boitzenburg vor,
die geſammten uͤbrigen Truppen Tettenborn's wurden
von ihm ſelbſt unverzuͤglich in gerader Richtung nach
Wittenburg in Marſch geſetzt. Er traf mit Wallmo¬
den in Schwerin zuſammen, wo das Volk ſie mit dem
groͤßten Jubel empfing, und in der brauſenden Auf¬
wallung einen der Einwohner, der ſich von den Fran¬
zoſen zum Spion hatte brauchen laſſen, beinah zum
Tode mißhandelte, ſo daß man denſelben mit Muͤhe
der Volkswuth entriß, und zur Unterſuchung gefan¬
gen ſetzte.
Der Marſchall Davouſt hatte den Schwerinern ge¬
ſagt, der Kronprinz von Schweden habe bei Berlin
einige Vortheile erlangt, dies veranlaſſe ihn, eine feſte
Stellung ruͤckwaͤrts zu nehmen, man moͤge ſich wohl
huͤten, darin eine Flucht zu ſehen, er wuͤrde fruͤher
wiederkommen, als man vermuthe. Zugleich hatte er
ein Blatt mit Neuigkeiten von den Heeren in Sachſen
und Boͤhmen drucken laſſen, worin die Gefechte bei
Dresden und das Eindringen der Franzoſen in Boͤh¬
men, von welchen auch wir Nachricht erhalten hatten,
[424] auf das vortheilhafteſte geſchildert waren. Er hatte
jedoch nicht einmal die Vertheilung dieſes Blattes ab¬
gewartet. Die Nachrichten, die durch einen Zufall dies¬
mal zu ihm gelangt waren, begannen allerdings mit
Vortheilen, die aber zu Niederlagen gefuͤhrt hatten,
und dieſe erſchreckten den Marſchall Davouſt dergeſtalt,
daß er ſeine aͤngſtliche Lage nicht laͤnger auszuhalten
vermochte, ſondern ploͤtzlich, von Furcht ergriffen, die
Stecknitz wieder zu gewinnen eilte. So beſchloß dieſer
Feldherr ſeinen mecklenburgiſchen Feldzug, in welchem
er den Kriegsruhm, den er etwa mitgebracht hatte,
voͤllig und fuͤr immer einbuͤßte, und mit ſeiner be¬
traͤchtlichen Streitmacht einer geringen Truppenſchaar
gegenuͤber zum Geſpoͤtte wurde. Napoleon hatte ihm,
ſo lautete die Sage, zur Belohnung der Thaten, die
er ausfuͤhren wuͤrde, im voraus das Herzogthum Meck¬
lenburg beſtimmt, allein er ſelbſt ſchien nicht genugſa¬
mes Vertraun auf dieſe Schenkung zu ſetzen, um in
jeder Verheerung des Landes ſchon ſein Eigenthum
beſchaͤdigt zu glauben; die Franzoſen hatten ungeſtraft
alle Pluͤnderungen und Ausſchweifungen begangen; die
ſchlimmſten Klagen aber fuͤhrte man uͤber die Daͤnen,
welche von den franzoͤſiſchen Behoͤrden durch mangel¬
hafte Verpflegung abſichtlich genoͤthigt wurden, ihren
Bedarf unordentlich und gewaltſam herbeizuſchaffen.
Die daͤniſchen Gefangenen, welche wir gemacht, klagten
alle bitter hieruͤber.
[425]
Der Feind hatte inzwiſchen durch ſeinen naͤchtlichen
Marſch mehrere Stunden Vorſprung gewonnen, und
wurde erſt jenſeits Gadebuſch erreicht, wo die Koſaken
ſeinen Nachtrab angriffen, und unter beſtaͤndigem Plaͤn¬
keln bis Groß-Turow verfolgten, wo der Feind ſich
widerſetzte, um nicht ſeinen Ruͤckzug in eine voͤllige
Flucht ausarten zu laſſen. Tettenborn erfuhr in Wit¬
tenburg am 3. September, daß von Gadebuſch unge¬
faͤhr 2000 Franzoſen, welche mehrere Kanonen bei ſich
fuͤhrten, nach Zarrentin gezogen waren, deren Abſicht
nur ſein konnte, durch Gewinnung der ſuͤdlichen Spitze
des Schaalſee's die Koſaken zu verhindern, den um
die noͤrdliche Spitze geſchehenden Ruͤckzug in der Flanke
zu beunruhigen. Sogleich eilte Tettenborn am folgen¬
den Morgen mit etwa 1000 Jaͤgern und Koſaken und
3 leichten Kanonen gegen jene Schaar, die aber bei
ſeiner Annaͤherung Zarrentin ſchon wieder verließ, und
den Weg nach Moͤlln einſchlug. Erſt auf den Hoͤhen
hinter Gudow ſtellte ſie ſich zum Gefecht, das durch
Kanoniren eroͤffnet wurde, waͤhrend deſſen unſer Fu߬
volk anruͤckte, und der Haupttrupp deſſelben in Zar¬
rentin eintraf. Man ſchlug ſich mit Erbitterung, und
der Feind, welcher durch unſere Jaͤger aus den Hecken
und Buͤſchen des offneren Feldes bald vertrieben war,
ſchien ſich in dem Walde behaupten zu wollen, beſon¬
ders da er bald merkte, daß er mehr und beſſeres Ge¬
ſchuͤtz als wir habe. Aber eine ploͤtzliche und raſche
[426] Bewegung, welche Tettenborn mit einem Koſakenregi¬
ment in die rechte Flanke des Feindes ausfuͤhrte, ent¬
ſchied dieſen ſogleich, ſeinen Ruͤckzug auf Moͤlln eilig
fortzuſetzen. Der Major von Luͤtzow erhielt den Auf¬
trag, ihn zu verfolgen, und drang bis vor die Thore
von Moͤlln, wo der Feind eine Verſtaͤrkung von 3
Bataillons erhielt, und nun wieder vorruͤckte. Man
ſchlug ſich bis ſpaͤt Abends, mit abwechſelndem Gluͤck,
und beiderſeitem Verluſt. Tettenborn hatte inzwiſchen
auch eine Parthei gegen Buͤchen geſandt, und dieſen
Poſten, ſo wie nordwaͤrts die Doͤrfer Kogel und Sa¬
lem, dem Feinde abgenommen, der aber noch zum
zweitenmale daraus vertrieben werden mußte, ehe wir
ſie behaupten konnten. Der Feind, welcher ſeine Rei¬
terei gegen die unſere nicht zu zeigen wagte, verlor
deßhalb bei jeder ſolchen Gelegenheit eine Menge Leute,
die verſprengt und fluͤchtig den raſchen Koſaken nicht
entgehen, und in ihrer eignen Reiterei keine Huͤlfe
finden konnten.
Waͤhrend der folgenden Tage dauerten dieſe ein¬
zelnen Poſtengefechte lebhaft fort, ohne daß weder die
Unſrigen noch die Franzoſen eigentliche Fortſchritte mach¬
ten. Doch hatte der Feind auf dieſem kurzen Ruͤck¬
zuge bloß durch Tettenborn gegen 500 Mann an Ge¬
fangenen, und in den Gefechten eine nicht geringere
Anzahl an Todten und Verwundeten verloren. Unſer
Verluſt mochte uͤber 200 Mann betragen, worunter
[427] viele der beſten Luͤtzow'ſchen Jaͤger. Auch in der Rich¬
tung von Luͤbeck war der Feind durch die hanſeatiſche
Reiterei mit vielem Gluͤcke verfolgt und bis an die
Thore der Stadt gejagt worden, wo, ſchon im Zuruͤck¬
reiten nach dem letzten Angriff, noch der tapfere Ma¬
jor von Arnim durch eine Kanonenkugel getoͤdtet wurde,
ein Verluſt, den die von ihm gefuͤhrte hanſeatiſche Rei¬
terei ſchmerzlich empfand. Inzwiſchen waren auch die
Truppen Wallmoden's nach und nach angelangt; allein
die Verfolgung hatte bereits ihr Ziel gefunden, und
der Feind den ernſten Entſchluß gezeigt, die Stecknitz
mit Anſtrengung zu vertheidigen, weßhalb er auch je¬
den unſrer Verſuche auf Moͤlln mit aller Macht ver¬
eitelte. Das Hauptquartier des Marſchalls Davouſt
befand ſich in Ratzeburg, wo er ſich, wie in Schwerin,
der durch Seen und ſumpfiges Uferland geſchuͤtzten
Stellung erfreute, und zwar weniger bedroht, aber
eben ſo unthaͤtig blieb.
Der Beobachtungskrieg, auf welchen ſich bald alles,
was der Feind wollte und wir konnten, hier beſchraͤn¬
ken mußte, zeigte eine truͤbe Ausſicht, die ſich unbe¬
rechenbar ausdehnte, und ſowohl den Anfuͤhrern, als
den Truppen, mit jedem Tage laͤſtiger wurde; in un¬
ruhiger Spannung erſpaͤhte man eine Gelegenheit zu
kraͤftiger Unternehmung, und gab ſcharf Acht, ob irgend
eine Bewegung des Feindes jene Gelegenheit herbei¬
fuͤhren moͤchte. Die vielen einzelnen gluͤcklichen Gefechte
[428] hatten die allgemeine Kampfbegierde mehr gereizt, als
geſtillt, und man fand in dem Benehmen des Feindes
die dringendſte Aufforderung, ſeinen freiwilligen Ruͤck¬
zug in eine gezwungene Flucht zu verwandeln. Allein
die Franzoſen ruͤhrten ſich nicht, und der Marſchall
Davouſt begnuͤgte ſich in ſeinem ruhigen Aufenthalt zu
Ratzeburg mit der Anordnung unbedeutender Streife¬
reien, die ſelten uͤber eine halbe Stunde weit geſcha¬
hen und meiſtens uͤbel abliefen.
Wallmoden und Tettenborn hatten ſchon fruͤh ihr
Augenmerk auf das linke Elbufer gerichtet, wo ein
offnes Feld fuͤr raſche Unternehmungen ſich darbot, und
wohin die Hoffnung theilweiſer Aufſtaͤnde im Hannoͤver¬
ſchen mahnend zu rufen ſchien. Auch konnte der Mar¬
ſchall Davouſt, ſobald wir auf dieſer Seite nachdrucks¬
voll vorgingen, unmoͤglich in Hamburg und an der
Stecknitz ruhig bleiben, ſondern mußte fuͤr ſeine Ver¬
bindung, mit Frankreich ſowohl, als mit den franzoͤſi¬
ſchen Heeren, hoͤchſt beſorgt werden, und deßhalb irgend
eine Gegenwirkung verſuchen, zumal noch nicht der
Zeitpunkt gekommen war, wo er ſich auf ſich ſelbſt
beſchraͤnken und darein ergeben durfte, innerhalb ſeiner
Bollwerke eingeſchloſſen zu ſein. Daß er unſer Weg¬
gehen aus Mecklenburg zu neuem Vordringen benutzen
wuͤrde, war nicht zu befuͤrchten, da das Land, auch
ohne Truppen, ſich durch die Gefahr, welche der Feind
in ſeinem Entfernen von Hamburg ſah, hinlaͤnglich ge¬
[429] ſchuͤtzt, und uͤberdies durch die in jedem Fall zuruͤck¬
bleibenden Truppen des Generals von Vegeſack eine
gute Stuͤtze fuͤr ſeine Landwehr und ſeinen Landſturm
fand. Zufolge dieſer Erwaͤgungen verlegte Wallmoden
ſchon am 6. September ſein Hauptquartier nach Doͤ¬
mitz, wohin ſich auch alle unſere Truppen in Marſch
ſetzten. Kleine Abtheilungen Jaͤger hatten ſchon ſeit
einiger Zeit gegenuͤber von Doͤmitz groͤßere und kleinere
Streifzuͤge tiefer in das Hannoͤverſche gemacht, und die
Stadt Dannenberg faſt ohne Unterbrechung beſetzt ge¬
halten. Der Feind, um alle ſeine Streitkraͤfte an der
Stecknitz zu vereinigen, hatte dieſe Seite ganz ent¬
bloͤßt. In dieſen Tagen jedoch ſandte der Marſchall
Davouſt ein Bataillon nach Luͤneburg, dem aber keine
zahlreicheren Truppen, wie man anfangs vermuthen
wollte, nachfolgten. Tettenborn war der Meinung,
die Stadt Doͤmitz, welche nicht ohne Befeſtigung war,
zum Mittelpunkte der Bewegungen zu machen, eine
Bruͤcke daſelbſt uͤber die Elbe zu ſchlagen, einen ſtar¬
ken Bruͤckenkopf auf dem jenſeitigen Ufer anzulegen,
und dann mit geſammter Macht uͤber die Elbe zu ſetzen,
die Stellung an der Stecknitz aber einſtweilen nur be¬
wachen zu laſſen. Jenſeits traf man entweder auf den
Marſchall Davouſt, im Fall er auf unſere Bewegung
auch uͤber die Elbe ginge, und konnte ihm, da er ſeine
Macht wegen der Beſetzung Hamburgs mehr, als wir
die unſrige, getheilt haben mußte, mit vortheilhafter
[430] Ausſicht eine Schlacht liefern, oder man hatte, im Fall
er ſich nicht ruͤhrte, freie Hand zu den wichtigſten Un¬
ternehmungen. Wallmoden ließ in der That alles zu
dem Bruͤckenbau in Bereitſchaft ſetzen, und ſchickte groͤ¬
ßere Partheien auf Kundſchaft uͤber die Elbe hinuͤber.
Weil aber in dieſen Tagen die feindlichen Poſten bei
Ratzeburg wieder etwas lebhafter wurden, und groͤßere
Abtheilungen, mit Geſchuͤtz verſehen, auf mehrern Punk¬
ten vorzuruͤcken verſuchten, ſo kehrte er ſelbſt mit allen
Truppen am 12. September nach Zarrentin an den
Schaalſee zuruͤck. Tettenborn, welcher ſeit dem Ge¬
fechte [bei] Gudow und Moͤlln bald in Granzin, bald
in Boitzenburg und Zarrensdorf geſtanden, war ſchon
Tags vorher in Zarrentin eingetroffen. Ein Verſuch,
dem Feinde eine ſeiner vorgeruͤckten Partheien zu uͤber¬
fallen und abzuſchneiden, wurde durch die Vorſicht der
Franzoſen vereitelt, die ſich immer fruͤh genug zuruͤck¬
zogen, und dann vollkommen ruhig blieben. Sie in
ihrer ganzen Stellung anzugreifen, konnte niemand,
der die Lage der Dinge gehoͤrig vor Augen hatte, thun¬
lich finden.
Wallmoden hatte uͤberdies mit manchen innern Hem¬
mungen zu kaͤmpfen, die aus den hoͤheren Verhaͤltniſſen
herabkamen. Die Befehle, welche derſelbe von dem
Kronprinzen von Schweden erhielt, geſellten zu den
vorhandenen Hinderniſſen oft neue; die Klarheit der
eigentlichen Abſicht und die Strenge der kriegeriſchen
[431] Aufgabe glaubte man bisweilen darin zu vermiſſen,
und ſtatt derſelben nur ein Gewebe dunkler Vorſtellun¬
gen zu finden. Sie alle zu befolgen, war ſchon we¬
gen der Widerſpruͤche unmoͤglich, ſie auch nur theil¬
weiſe auszufuͤhren immer mißlich. Dieſe dem Ober¬
befehlshaber haͤufig vorgeworfene Unbeſtimmtheit findet
gleichwohl wieder eine Entſchuldigung in ſeinen eignen
hoͤchſt peinlichen Verhaͤltniſſen; ſein perſoͤnliches Gewicht
war zuſammengeſetzt aus dem der verſchiednen Maͤchte,
deren Bundesgenoſſe er war, und jeden Augenblick
mußte er dieſes bei denen ſelbſt geltend machen, die
es ihm verliehen; die Schweden ſahen mißtrauiſch auf
die kuͤnftigen Vortheile, welche ſie durch vorausgeleiſtete
Dienſte erſt eintauſchen ſollten; die ruſſiſchen und preu¬
ßiſchen Generale, welche unter dem Oberbefehl des
Kronprinzen ſtanden, zeigten offenbaren Widerwillen
gegen dies Verhaͤltniß, das bald in lauter Mißhellig¬
keiten beſtand, und in gemiſchten Ruͤckſichten die Macht
eines gebietenden Feldherrn ſehr beſchraͤnkte. Der Kron¬
prinz, um dieſer Abneigung ſo wenig als moͤglich Wirk¬
ſamkeit zu laſſen, mochte ſeine eigentlichen Abſichten
und Wuͤnſche nicht im voraus immer preisgeben, ſon¬
dern glaubte ſie gewiſſer auszufuͤhren, wenn er erſt
im Augenblicke ſelbſt, wo die Gelegenheit es forderte,
ſich mit feſter Beſtimmtheit ausſpraͤche, bis dahin aber
alles in dunkler Unſicherheit ſchweben ließe. Wir muͤſ¬
ſen zugeſtehen, daß er im Ganzen dieſer Kriegfuͤhrung
[432] nie des richtigen Scharfblicks, der beſonnenen Vorſicht
und des perſoͤnlichen Muthes bei irgend einer Gelegen¬
heit entbehrt habe; ſeine theilweiſen Anordnungen aber
weckten oft Unzufriedenheit und Widerſpruch, denen
nicht immer durch die That zu begegnen war. Seine
Betheiligung in dieſem Kriege uͤberhaupt zeigte ſich
allerdings ſehr verſchieden von derjenigen, zu welcher
die deutſchen Gemuͤther aufgefordert waren; allein ſeine
Freiheisgeſinnung und ſein Haß gegen Napoleon ver¬
banden ihn der deutſchen Sache dennoch nahe genug.
In dieſen Tagen hatten wir die umſtaͤndlichen Nach¬
richten von den an der Katzbach, bei Kulm und bei
Dennewitz erfochtenen Siegen empfangen, und die un¬
beſchreibliche Freude, welche ſie erregten, wurde uns
nur dadurch verbittert, daß wir uns gegen die ſiegrei¬
chen Waffenbruͤder noch ſo ſehr zuruͤck fuͤhlten, und
der traurige Beobachtungskrieg uns wenig Ausſicht
zeigte, gleich ihnen dem Feind entſcheidende Schlaͤge
beizubringen. Zwar konnte die Laͤhmung und Feſthal¬
tung des Marſchalls Davouſt und ſeiner uͤberlegenen
Macht leicht ein eben ſo großes Verdienſt und ein nicht
geringerer Vortheil fuͤr das Ganze duͤnken, als irgend
einem andern Heertheil von gleicher Truppenſtaͤrke zu
erwerben vergoͤnnt geweſen war, und in der That
empfingen Wallmoden und Tettenborn aus der Naͤhe
und Ferne die Gluͤckwuͤnſche aller Kriegskundigen uͤber
die bisherigen Leiſtungen, welche auf dieſer ſo ſehr
[433] gefaͤhrdeten Seite noch keinen Augenblick wirklicher Ge¬
fahr hatten aufkommen laſſen; allein ſie ſelbſt waren
dadurch nicht befriedigt, ſo wenig als die kampfbegieri¬
gen Truppen, denen die Wichtigkeit des Geleiſteten
nicht den Glanz erſetzen mochte, der von groͤßeren
Waffenthaten ausgeht. Mit deſto lebhafterm Eifer
wurde daher die Gelegenheit ergriffen, die ſich endlich
zu zeigen ſchien, in Einer Unternehmung an Tapferkeit
und Ruhm zu vereinigen, was bisher in unzaͤhligen
theilweiſen Erfolgen vereinzelt und zerſtreut geblieben war.
Durch aufgefangene Papiere erfuhren wir, daß der
Marſchall Davouſt den General Pecheux mit einer fran¬
zoͤſiſchen Diviſion von 7000 Mann auf das linke Elb¬
ufer ſende, um aufwaͤrts gegen Magdeburg das Land
von unſern Partheien zu ſaͤubern, welche taͤglich ver¬
wegner wurden. Es blieb zweifelhaft, ob dieſe Ab¬
ſendung nur dieſen Zweck habe, oder auch eine Ver¬
ſtaͤrkung der Truppen in Magdeburg beabſichtige. Die
fruͤhere Bewegung Wallmoden's nach Doͤmitz ſcheint
den Marſchall Davouſt zu dieſer Maßregel, die fuͤr
uns nicht beſſer gewaͤhlt ſein konnte, verlockt zu haben.
Der Entſchluß Wallmoden's war ſogleich gefaßt. Der
General von Vegeſack blieb mit ſeinen Truppen zur
Bewachung der Stecknitz zuruͤck, er hatte ſein Haupt¬
quartier in Grevismuͤhlen; damit der Feind auf den
Vorpoſten keine Veraͤnderung bemerke, und uͤber den
Abmarſch getaͤuſcht bliebe, ließ Tettenborn auch ein
III.28[434] Koſakenregiment auf der Ebene zwiſchen Buͤchen und
Moͤlln zuruͤck; einige Bataillons Luͤtzower, die hanſea¬
tiſche Legion und das zweite Huſarengiment der ruſſiſch-
deutſchen Legion beſetzten die uͤbrige Gegend zwiſchen
Roggendorf und Boitzenburg. Das hanſeatiſche Fu߬
volk war naͤmlich nun, nachdem es durch engliſche,
diesmal jedoch nur ſpaͤrliche, Aushuͤlfe ſich einigerma¬
ßen erholt hatte, auch wieder brauchbar befunden und
in die Linie vor den Feind gezogen worden; mit Un¬
recht hatte man ſeit dem Wiederbeginn der Feindſelig¬
keiten dieſe Truppe vernachlaͤſſigt, ſie hatte ſich bisher
immer trefflich geſchlagen, und ſchlug ſich auch jetzt
wieder, nach ſo vielen herabſtimmenden Erfahrungen,
dennoch mit ausgezeichneter Tapferkeit.
Am 13. und 14. September marſchirten wir uͤber
Vellahn, Langenheide und Luͤbtheen nach Doͤmitz, wo
die Truppen ſich ſammelten und noch am Abend des
14. uͤber die Elbe gingen und nach Dannenberg vor¬
ruͤckten. Tettenborn fuͤhrte die Vordertruppen, ließ
ſogleich vorwaͤrts gegen den Wald, die Goͤrde genannt,
den Feind ausſpaͤhen, und ſandte, um ſich in ſeinen
Flanken zu ſichern, rechts und links Partheien gegen
Bleckede und Uelzen. Der Feind war, laut der ein¬
gezogenen Nachrichten, bis zur Goͤrde gekommen und
hatte mit unſern Koſaken geplaͤnkelt. Man ſchaͤtzte ihn
auf 8000 Mann, nebſt 8 Stuͤcken Geſchuͤtz; die Ein¬
wohner des Landes leiſteten uns durch Zutragen von
[435] Nachrichten und Verſchweigen unſerer Anweſenheit ge¬
gen den Feind die trefflichſten Dienſte, die Franzoſen
erfuhren durchaus nichts, was ſie nicht durch Patrouil¬
len, zu welchen ihnen die Reiterei fehlte, abreichen
konnten. Wir erwarteten am folgenden Tage, der
Feind wuͤrde vorruͤcken und in ſein Verderben hinein¬
gehen, weßhalb unſere Truppen hinter den Anhoͤhen;
welche ſich wellenfoͤrmig uͤber die Gegend erſtrecken,
verdeckt aufgeſtellt blieben. Allein wir warteten den
ganzen Tag vergebens; der Feind, ſchon ſtutzig durch
das unvermuthete Zuſammentreffen mit Koſaken, hatte
Halt gemacht, und ſchien ſich beſinnen zu wollen. Der
General Pecheux, durch die fruͤhere Bewegung unſrer
Truppen gegen die Elbe irre gefuͤhrt, hatte dem Mar¬
ſchall Davouſt wiſſen laſſen, daß es ſehr gefaͤhrlich ſei
weiter vorzugeben; dieſer, ſich der Anweſenheit Wall¬
moden's in Zarrentin verſichert haltend, hatte jenem
uͤber ſeine zaghaften Beſorgniſſe hart und mit kraͤnken¬
den Worten geantwortet, als deren Folge wir ſpaͤter¬
hin die uͤberaus hartnaͤckige Tapferkeit, mit welcher er
Widerſtand leiſtete, zu erkennen glaubten. Die Koſaken
hatte er als die Vorlaͤufer mehrerer Truppen angeſehen,
aber die Ruhe des ganzen Tages und der darauf fol¬
genden Nacht benahm ihm dieſe Vermuthung wieder,
und waͤhrend zweimal vierundzwanzig Stunden blieb
dem Feinde jede Kunde unſerer Naͤhe gluͤcklich ver¬
borgen. Selbſt wenn irgend jemand aus verraͤtheriſcher
28*[436] und gewinnſuͤchtiger Abſicht dem Feinde haͤtte Nachricht
bringen wollen, ſo wuͤrde er unſern Koſaken in die
Haͤnde gefallen ſein, welche mit meiſterhafter Geſchick¬
lichkeit einen weiten Strich Landes in großem Umkreis
voͤllig abſchloſſen.
Am 16. September fruͤh um vier Uhr brachen wir
endlich mit allen Truppen von Dannenberg auf, und
ruͤckten gegen die Goͤrde vor, in der Hoffnung, dem
Feinde in dieſer Richtung zu begegnen; der Marſch
blieb durch die zwiſchenliegenden Huͤgel und Waldge¬
buͤſche gaͤnzlich verdeckt, und eben ſo nachher die Stel¬
lung, die wir vor dem Anfange des Waldes nahmen,
um den Feind zu erwarten. Allein er ruͤckte keines¬
wegs vor, ſondern blieb in ſeiner Stellung ruͤckwaͤrts
des Jagdſchloſſes Goͤrde, welches er mit Jaͤgern beſetzt
hielt, auf einer vortheilhaften Anhoͤhe vor dem Dorfe
Oldendorf, ſandte gegen die vorgeſchickten Koſaken einige
Plaͤnkler aus, und als jene, um die ſeinigen zu ver¬
locken, ſich zuruͤckzogen, ließ er ſie nicht verfolgen, ſon¬
dern zog auch die ſeinigen wieder ein, und man hoͤrte
ſchon kaum noch hin und wieder einen Schuß fallen.
Als wir bis Mittag vergebens gewartet hatten, beſchloß
Wallmoden den noch uͤbrigen Theil des Tages zu
benutzen, und den Feind anzugreifen. Wir hatten je¬
doch noch ein gutes Stuͤck zu marſchiren, und konnten
erſt gegen 2 Uhr Nachmittags zum Angriff kommen.
Tettenborn eroͤffnete das Gefecht; Abtheilungen Koſaken
[437] ſprengten, indem ſie rechts durch Thaͤler und Schluch¬
ten, links durch die Waldungen drangen, gegen die
Flanken des Feindes vor, umſchwaͤrmten denſelben ploͤtz¬
lich von allen Seiten, und machten ihm von dieſem
Augenblick unmoͤglich, nach irgend einer Richtung klar
zu ſehen; keine Streiferei, keine Erkundung konnte er
vornehmen. Die preußiſchen Jaͤger warf Tettenborn
kinks in den Wald, ließ ſie von Koſaken ſeitwaͤrts am
Rande begleiten, und dann raſch gegen den Feind
anruͤcken, der ſich bei dem Jagdſchloſſe ſtark geſetzt
hatte, und zwar anfangs beſtuͤrzt wich, bald aber in
großer Ueberzahl das Gefecht mit Erbitterung im Walde
erneuerte; der General Pecheux befand ſich in Perſon
daſelbſt. Tettenborn war unterdeſſen vor die Haupt¬
ſtellung des Feindes mit einer Abtheilung Koſaken und
Luͤtzow'ſcher Reiter und 4 hanſeatiſchen reitenden Kano¬
nen geruͤckt, und griff dieſelbe in der Front an. Der
Donner des Geſchuͤtzes ließ den General Pecheux nicht
laͤnger in Zweifel, daß die Sache diesmal ernſthaft abge¬
ſehen ſei. Er ſammelte ſeine Schuͤtzen ſo viel als
moͤglich aus dem Wald, wo das heftige Gefecht kaum
noch zum Vortheil der Unſrigen erhalten worden war
und mehrmals zum Nachtheil geſchwankt hatte, und
ſuchte in gedraͤngter Maſſe uͤber eine ebne Strecke die
Anhoͤhe zu gewinnen, wo ſein Geſchuͤtz aufgepflanzt
war, und ein uͤberlegenes Feuer gegen das unſere rich¬
tete. Der Hauptmann Spooreman von der hanſeati¬
[438] ſchen Artillerie ſchoß gut und ſchnell, und richtete zuletzt,
unbekuͤmmert um das feindliche Geſchuͤtz, mit großer
Kaltbluͤtigkeit ſeine Schuͤſſe in jene Maſſe Fußvolk, wo
man das Einſchlagen der Kugeln wahrnehmen konnte,
ſie kam, nicht ohne großen Verluſt, fluͤchtig und zer¬
ſtreut auf der Anhoͤhe an. Waͤhrend man ſich hier auf
dieſe Weiſe ſchlug, und einige engliſche Kanonen den
hanſeatiſchen zur Unterſtuͤtzung herbeikamen, ſo daß das
unausgeſetzte Feuer des Feindes nun mit gleichem beant¬
wortet werden konnte, und bald uͤberboten wurde,
fuͤhrte der Oberſt von Pfuel eine von dem General
von Arentſchildt befehligte Brigade der ruſſiſch-deutſchen
Legion und 6 Kanonen links auf einem Umwege durch
die Goͤrde, um dem Feind in den Ruͤcken zu kom¬
men; ihm war aufgetragen worden, zuerſt nur das
Fußvolk durch den Wald zu fuͤhren, die Kanonen aber
am Eingange zuruͤck zu laſſen, und ſie erſt ſpaͤter,
wenn das Fußvolk aus dem Walde vorgeruͤckt und ihr
Gebrauch vonnoͤthen ſei, nachkommen zu laſſen. In
Betracht aber der ſpaͤten Tageszeit und des weiten
Weges durch den Wald, nahm derſelbe die Kanonen
vielmehr an die Spitze ſeines Marſches, und beſchleu¬
nigte die Truppen ſelbſt ſoviel als moͤglich. Der Feind
ſtand trotzig in ſeiner Stellung auf einer gutgewaͤhlten
Anhoͤhe, um welche eine weit abgeflachte Vertiefung
ſich bogenfoͤrmig hinzog, ſein Feuer war vortrefflich,
ſein Fußvolk zeigte ſich unerſchrocken, und der im Walde
[439] verſpaͤtete Theil deſſelben ſetzte in unſerer linken Flanke
ein heftiges Geplaͤnkel lebhaft fort. Der Tag war
ſchon weit vorgeruͤckt, die Zeit verging in wechſelſeiti¬
gem Schießen, und die raſche Kraft unſeres Angriffs
litt Gefahr gaͤnzlich zu ſtocken, und ſich in ein gewoͤhn¬
liches Kanonieren, das nichts entſcheidet, aufzuloͤſen.
Die uͤbrigen Truppen Wallmoden's hatten den weiten
Weg noch nicht zuruͤckgelegt, und Pfuel brach noch
immer nicht aus dem Walde im Ruͤcken des Feindes
hervor; er fand die Raͤume und Schwierigkeiten groͤßer,
als man ſie angegeben hatte, und ohne ſeine verſtaͤn¬
dige Eile waͤre er erſt mit anbrechender Daͤmmerung
erſchienen. Jetzt aber, im dringenden Augenblicke, ver¬
kuͤndigten Kanonenſchuͤſſe vom Rande des Waldes uns
und dem Feinde ſeine Ankunft, gleich darauf ſah man
das Blinken der Gewehre, und die Bataillons auf¬
marſchiren; die Stellung des Feindes, der jetzt gaͤnz¬
lich umgangen war, wurde nun im Ruͤcken und von
vorn mit entſcheidendem Erfolg beſchoſſen, und ſein
Geſchuͤtz bald zum Schweigen gebracht. Pfuel erſtuͤrmte
ein Dorf, das der Feind in ſeinem Ruͤcken beſetzt hatte,
und drang immer naͤher heran. Jetzt auch erſchienen
die uͤbrigen Truppen, die bisher noch zuruͤckgeweſen
waren, auf dem Kampfplatz, und verſtaͤrkten den Angriff
in der Front und in der linken Flanke des Feindes.
Die Koſaken machten einen allgemeinen Angriff auf
die noch uͤbrigen Plaͤnkler, von allen Seiten ruͤckten
[440] unſere Truppen zum Sturm vor. Der General Pecheux
hatte, ſobald er ſich umgangen und von der Straße
nach Luͤneburg abgedraͤngt ohne Hoffnung eines Ruͤck¬
zugs ſah, den Entſchluß der verzweifeltſten Gegenwehr
gefaßt, und in ſeinen Soldaten dieſelbe Geſinnung
erweckt. Die Franzoſen ſtanden mit unerſchuͤttertem
Muthe, und unterhielten ein moͤrderiſches Gewehrfeuer,
indem ſie zugleich aus ihren noch brauchbaren Stuͤcken
Kartaͤtſchen in unſere Reihen ſchmetterten. Der Major
von Luͤtzow ſprengte mit ſeinen Reitern auf das feind¬
liche Fußvolk an, wurde aber durch eine Kugel in den
Leib ſchwer verwundet. Der General von Doͤrnberg
war inzwiſchen herangeruͤckt, und erneuerte den Angriff;
zwei Maſſen, auf welche der Oberſtlieutenant Karl
von Noſtiz (jetzt ruſſiſcher Generallieutenant) bekannt
durch ſeine ruͤckſichtloſe Unerſchrockenheit, an die Spitze
einiger Schwadronen Huſaren eindrang, wurden zuſam¬
mengehauen, gefangen; eine dritte Maſſe erlitt gleiches
Schickſal durch den Oberſtlieutenant von der Golz.
Immer noch wehrten ſich die Franzoſen mit groͤßter
Entſchloſſenheit, ihr Gewehrfeuer toͤdtete uns viele Leute.
Aber immer naͤher drangen die Unſern vor, preußiſche
Jaͤger eroberten ſtuͤrmend die letzte Haubitze des Fein¬
des, unſere Kanonen feuerten von allen Seiten in
ſeine Reihen, die ſchon durch kein eignes Geſchuͤtz mehr
vertheidigt wurden. Unter dieſen Umſtaͤnden ſuchte der
General Pecheux mit dem Reſt ſeiner Truppen auf
[441] ſeiner linken Flanke gegen die Elbe hin ſich zu retten,
und zog ſich von Anhoͤhe zu Anhoͤhe. Allein hier ſollte
ſeine Niederlage erſt recht vollſtaͤndig werden. Wall¬
moden an der Spitze der Truppen drang unausgeſetzt
vor, und ermunterte im heftigſten Kugelregen die Sei¬
nigen durch das Beiſpiel heldenmuͤthiger Ruhe. Der
Major von Berger fuͤhrte ſein Bataillon an der Spitze
der Sturmmaſſen zum Bajonetangriff. Tettenborn
ſprengte mit ſeinen Koſaken heran, und brachte eiligſt
alles reitende Geſchuͤtz hart an die ſchon ungeordneten
Reihen des Feindes, der jetzt nicht mehr Stand hielt;
kaum hatte ſich das immer ſchwaͤcher werdende Haͤuf¬
lein mit einem Kriegsmuthe, der uns Bewunderung
und Mitleid abnoͤthigte, auf einem neuen Huͤgelrande
wieder geſtellt, als es auch ſchon durch das Feuer
unſrer Kanonen, die in groͤßter Naͤhe nachfuhren, jedes¬
mal niedergeſchmettert und wie weggehaucht war. Hiezu
kam der Schrecken, den die hier zuerſt in dieſem Kriege
gebrauchten Congreve'ſchen Brandraketen als etwas Neues
und Unerhoͤrtes in den Franzoſen erregten; das unaus¬
loͤſchliche Feuer, das ſauſend durch die Luͤfte fuhr, ver¬
brannte mit weitem Spruͤhen alles, was in ſeinen
Bereich kam, bis zuletzt eine zerſpringende Granate
noch zerſchmetterte, was jenes verſchont hatte. Es
waren in der That einige Franzoſen durch dieſes Feuer
verbrannt worden, und die Fluͤchtlinge klagten in den
Ortſchaften, wo ſie durchkamen, mit Entſetzen uͤber
[442] das Anwenden dieſer hoͤlliſchen Erfindung. Uns jedoch
ſchien die Wirkung der Kanonen noch groͤßer und ſiche¬
rer. Der Einbruch der Nacht nahm die geringen Reſte
des Feindes in ſchuͤtzendes Dunkel; und in wegloſer
Waldung, die unſere ohnehin ermuͤdete Reiterei endlich
vom Verfolgen abhielt, ſetzte er die Flucht fort. Der
General Pecheux ſelbſt und 600 Mann waren entkom¬
men, und gewannen noch in ſelbiger Nacht Luͤneburg,
wo ſie nur kurze Zeit ruhten und dann nach Ham¬
burg aufbrachen. Die ganze Diviſion von 7000 Mann
war vernichtet, alle Kanonen, 8 an der Zahl, genom¬
men, alles Gepaͤck in unſere Haͤnde gefallen. Die
Niederlage konnte, außer daß der oberſte Befehlshaber
entkommen war, nicht groͤßer ſein. Der General Pecheux
verzweifelte, und vergoß auf der Straße in Luͤneburg
Thraͤnen uͤber ſein ſchmachvolles Ungluͤck, das wegen
des großen Heldenmuthes, mit welchem die Schuld des
gewarnten, aber ſtarrſinnig beharrenden Vorgeſetzten
durch den Tod ſo vieler Tapfern gebuͤßt worden, in
wirklich tragiſcher Geſtalt erſchien, und dem ungluͤckli¬
chen Feind unſere Hochachtung und unſer Mitgefuͤhl zu
Begleitern gab. An Todten und Verwundeten verlo¬
ren die Franzoſen in dieſem Treffen bei der Goͤrde
uͤber 2500 Mann, die uͤbrige Mannſchaft war gefangen
oder zerſtreut, noch nach vier Tagen ſchleppten die
Bauern aus dem Walde viele Verſprengte herbei, die
theils dort verwundet liegen geblieben, theils ſich dahin
[443] verkrochen hatten. Tettenborn ließ beſtens fuͤr die Ver¬
wundeten ſorgen und durch den verdienten hanſeatiſchen
Stabsarzt Doktor Redlich ihnen alle aͤrztliche Huͤlfe
zukommen, welche die Umſtaͤnde geſtatteten. Unter den
Gefangenen befand ſich ein polniſcher General, ein
franzoͤſiſcher Oberſt, die beiden Adjutanten des Generals
Pecheux, und viele Offiziere, die groͤßtentheils in Spa¬
nien gedient hatten, und zu den Truppen in Deutſch¬
land verſetzt worden waren. Ein ſehr ausgezeichneter
franzoͤſiſcher Offizier, Major Ville, war auf dem Schlacht¬
felde an ſeinen Wunden geſtorben. Wir verloren in
dieſem Treffen an Todten und Verwundeten gegen
1000 Mann. Wallmoden hatte durch eine Kanonen¬
kugel ein Pferd unter dem Leibe verloren, Tettenborn
das ſeinige zweimal wechſeln muͤſſen; dieſe beiden Gene¬
rale nebſt dem General von Doͤrnberg hatten die Gefahr
vielleicht begieriger aufgeſucht und verwegener heraus¬
gefordert, als man den Feldherrn gewoͤhnlich erlauben
will; zwar haben die Gruͤnde, welche man anzufuͤhren
pflegt, um die Anfuͤhrer in der Schlacht unnoͤthiger
Gefahr zu entruͤcken, vieles fuͤr ſich, allein wir geſte¬
hen offen, daß die ausgezeichnete perſoͤnliche Tapferkeit
ein zu ſchoͤner und edler Theil des Kriegsruhms iſt,
als daß ihn ſelbſt der oberſte Anfuͤhrer dem gemeinen
Soldaten ganz uͤberlaſſen duͤrfte; und alle aͤchte Feld¬
herren haben wenigſtens nicht verſchmaͤht, immer mit
Luſt und Eifer den Ruhm zu erneuern, den zu erwer¬
[444] ben ſchon nicht mehr noͤthig war; und iſt es nicht ſchon
ein Vorzug, im Fall, wie wohl zu geſchehen pflegt,
der Ruhm des Feldherrn ſtreitig gemacht wuͤrde, doch
den eines tapfern Kriegers zu behalten?
Wir brachten die Nacht in der Goͤrde zu, wo Wall¬
moden die Meldung erhielt, daß der Marſchall Davouſt,
vielleicht unterrichtet von der geringen Staͤrke der ihm
entgegenſtehenden Truppen, ſowohl gegen Boitzenburg
als gegen Zarrentin im Vorruͤcken ſei. Auf dieſe Nach¬
richt ſchickte Wallmoden gleich am folgenden Tage den
groͤßten Theil ſeiner Truppen uͤber die Elbe zuruͤck, er
ſelbſt nahm ſein Hauptquartier in Dannenberg. Tet¬
tenborn aber blieb in der Goͤrde, wo noch immer
Gefangene eingebracht wurden, und mancherlei Erfolge
der ausgeſandten Partheien abzuwarten waren. Der
Rittmeiſter von Herbert war bei Luͤneburg vorbeige¬
gangen, und hatte auf der Straße nach Celle einen
heftigen Scharmuͤtzel mit einer Abtheilung Franzoſen,
die groͤßtentheils zu Gefangenen gemacht wurden. An
der Elbe war alles ruhig, wenige Verſprengte von dem
Treffen bei der Goͤrde wurden in Bleckede aufgefan¬
gen, mehrere in den Waldungen. Ueber Uelzen hinaus
waren einzelne Partheien weit ins Land geſtreift, ohne
irgend etwas vom Feinde erfahren zu koͤnnen, das
ganze Land bis Braunſchweig und Hannover lag offen
da. Der Lieutenant von Schimmelpfennig war gera¬
dezu auf Luͤneburg gegangen, und in die Stadt, welche
[445] der Feind in groͤßter Eile fruͤher befeſtigt, aber mit
Uebereilung verlaſſen hatte, ohne Widerſtand eingeruͤckt.
Auf dieſe Nachricht brachen wir am 18. September aus
der Goͤrde auf, und marſchirten nach Dalmburg, wo
das Fußvolk und die Kanonen zuruͤck blieben, waͤhrend
Tettenborn mit den Koſaken weiter zog und noch den¬
ſelben Nachmittag Luͤneburg erreichte. Unverzuͤglich ſandte
er von hier aus den Rittmeiſter von Herbert in der
Richtung von Toſtaͤdt auf die Straße von Hamburg
nach Bremen; dieſer ließ den Lieutenant von Hoch¬
waͤchter auf die Straße von Hamburg nach Celle vor¬
gehen, wo derſelbe ſogleich einen Scharmuͤtzel gegen
Gendarmen und Douaniers zu beſtehen hatte, mit großer
Tapferkeit den Feind warf, und mehrere Gefangene
machte. Andere Partheien ruͤckten ſchnell nach Winſen
vor, und beſetzten an der Elbe Artlenburg, Brackede
und Honsdorf, Lauenburg gegenuͤber. Die Stadt
Luͤneburg wurde auf das ſorgfaͤltigſte verſchloſſen und
bewacht, um den Feind uͤber unſere Staͤrke in voͤlliger
Ungewißheit und Taͤuſchung zu erhalten. Durch dieſes
Vorruͤcken und Ausſenden von Partheien erhielt unſer
bisheriger Stand gegen den Feind ploͤtzlich eine ganz
andere Wendung; ſeine Hauptverbindung ruͤckwaͤrts mit
Bremen ſah er bedroht und erſchwert; ſeine Stellung
an der Stecknitz in der Front durch Truppen bewacht,
die wenigſtens ſtark genug waren, um jeden Streifzug
zu verbieten, und in der Flanke auf dem linken Elbufer
[446] durch Truppen beunruhigt, deren Staͤrke er nicht zu
ſchaͤtzen, aber, nach allen Anordnungen, die er machen
ſah, fuͤr ſehr bedeutend halten mußte; die Hauptmaſſe
der Truppen Wallmoden's ſtand im Hintergrunde, und
konnte nach Willkuͤr auf der einen oder der andern
Seite der Elbe das Uebergewicht geben. Jeder Irr¬
thum, jedes Verſehen des franzoͤſiſchen Feldhern konnte
entſcheidend werden, und ihn zur Raͤumung des Feldes
zwingen.
Inzwiſchen erhielten wir auf dem naͤchſten Wege
uͤber Bleckede die Nachricht, daß der Feind, ſobald er
Boitzenburg beſetzt geſehen, auf dieſer Seite Halt
gemacht, auf der andern aber nach dreiſtuͤndigem hefti¬
gen Gefecht Zarrentin genommen habe, worauf die
Unſern auch Boitzenburg verlaſſen haͤtten. Allein der
Feind zog ſich auch von Zarrentin bald wieder zuruͤck,
und nach Boitzenburg kam er gar nicht, ſo daß ſeine
ganze Angriffsbewegung ein bloßer Scheinverſuch blieb,
ſei es nun, daß er gleich anfangs nur einen ſolchen
beabſichtigt habe, oder durch die Beſetzung Luͤneburgs
und die Bewegungen Wallmoden's von ſeiner fruͤhern
Abſicht abgebracht worden. Weil aber dennoch die
Franzoſen an der Stecknitz in mancherlei Bewegung
blieben, befuͤrchtete Wallmoden ein neues ernſthaftes
Vordringen derſelben in das Mecklenburgiſche, und rief
auch Tettenborn ungeſaͤumt nach Dannenberg zuruͤck,
um ſodann bei Doͤmitz auf das rechte Elbufer uͤberzu¬
[447] gehen. Alle ausgeſandten Partheien wurden demzu¬
folge nach Doͤmitz beſchieden, mit Ausnahme der von
dem Rittmeiſter von Herbert befehligten, und einer
andern, die unter dem Lieutenant von Schimmelpfen¬
nig in Luͤneburg zuruͤckblieb; denn Tettenborn wollte
wenigſtens ſo lange als moͤglich die Eiferſucht des
Feindes nach dieſer Seite rege erhalten, und traf alle
Anſtalten, um ihn noch ferner zu taͤuſchen und zu
irren. Am 20. September Mittags marſchirten wir
von Luͤneburg ab, nahmen die in Dalenburg ſtehen
gebliebenen Truppen unterwegs mit, und langten Abends
in Dannenberg an. Die Bewegungen des Feindes
hatten ſich inzwiſchen aufgeklaͤrt, ſie waren eine Folge
der Beſorgniſſe, welche die Unſrigen ihm erregt hatten,
und die Franzoſen, weit entfernt, etwas Kuͤhnes vor¬
zuhaben, zogen zahlreiche Verſtaͤrkungen von Luͤbeck und
Ratzeburg nach der Elbe, um Lauenburg und die Hooper
Schanze gehoͤrig zu beſetzen, und einem Angriff von
dieſer Seite widerſtehen zu koͤnnen. Wir kehrten daher
nach erhaltenem Gegenbefehl am 21. September ſogleich
wieder nach Dalenburg zuruͤck, wo das Fußvolk und
das Geſchuͤtz abermals ſtehen blieb, und ruͤckten am
folgenden Tage mit der Reiterei wieder nach Luͤneburg.
Die verſchiednen Partheien zogen wieder an die Elbe
und gegen Haarburg aus, und nahmen zum Theil ihre
vorigen Stellungen wieder, bevor noch der Feind deren
Entbloͤßung bemerkt oder benutzt hatte.
[448]
Luͤneburg wurde nunmehr der Hegeort, aus deſſen
Mitte dem Feinde unendliche Anlaͤſſe zu Verdruß, Be¬
ſorgniß, Nachtheil und Zweifel zuſtroͤmen ſollten, fuͤr
deren Groͤße man aus ſeinen Gegenwirkungen eine Art
von Maßſtab finden konnte. Seine Truppen wurden
bald gaͤnzlich auf Haarburg und die Hooper Schanze
beſchraͤnkt, die Koſaken uͤbten wieder einen Theil ihrer
alten Schreckensmacht aus, und niemals wagten die
Franzoſen ohne die groͤßte Ueberzahl ihnen die Spitze
zu bieten; uͤberhaupt hatte die Niederlage des Generals
Pecheux, die im ganzen Lande noch vergroͤßert herum¬
getragen wurde, den Muth des Feindes ſehr geſchwaͤcht,
und das Vertrauen des Volkes zu unſern Waffen neu
belebt. Die Luͤneburger verbrannten mit großem Jubel
auf oͤffentlichem Markte die Adlerzeichen der franzoͤſiſchen
Herrſchaft, die ſaͤmmtlichen Schriften der Douanen,
und dieſes Freudenfeuer dauerte mehrere Tage. Nicht
geringen Eifer bewieſen die [Einwohner] in Aufſuchung
verſteckter Franzoſen und Anzeigung franzoͤſiſchen Eigen¬
thums. Außer unſerm eignen Siege brachten wir auch
die erſten Nachrichten von den fortdauernden Schlaͤgen,
welche der Feind auf allen andern Seiten zahlreich
erlitten hatte; dieſe Nachrichten hatte man den Truppen
wie den Einwohnern mit ſtrenger Sorgfalt vorenthal¬
ten, und erdichtete dafuͤr untergeſchoben; ſie wurden
daher mit unglaublicher Freude und Begierde aufge¬
nommen. Da in dem ganzen Lande bis an die Weſer
[449] und uͤber Hannover hinaus von dem Feinde nur wenig
zu ſehen war, und ſeine Behoͤrden ohne Truppen we¬
nig vermochten, ſo war bald alles mit den Kriegs¬
berichten uͤberſchwemmt, die in Luͤneburg zur Befriedi¬
gung des ungeſtuͤmen Verlangens mehrmals gedruckt
wurden, und der Feind ſah bis an den Harz und die
Ems ſeine muͤhſamen Taͤuſchungskuͤnſte zu Schanden
gemacht. Am beſchwerlichſten wurden ihm jedoch die
unaufhoͤrlichen Streifzuͤge unſerer Partheien, die bald
hier bald dort ploͤtzlich erſchienen, ſich vereinzelten und
ſich wieder zuſammenfanden, und jedem feindlichen
Begegnen gewachſen oder verſchwunden waren; ſie
fingen Kouriere, Poſten und Zufuhren auf, machten
alle franzoͤſiſche Verwaltung unmoͤglich, ſchnitten Nach¬
richten ab und verbreiteten deren, uͤberfielen kleinere
Truppenabtheilungen auf dem Marſch und in den Quar¬
tieren, und beunruhigten die ganze Gegend. Da ihre
Beweglichkeit ſtets in Ungewißheit uͤber ihre Staͤrke
ließ, und wenn man alle Koſaken, die an demſelben
Tage an verſchiedenen Orten geſehen worden waren,
zuſammenrechnete, eine unglaubliche Zahl herausbrachte,
ſo vermehrte dies nur die Schwierigkeit, etwas gegen
ſie zu unternehmen. Der franzoͤſiſche General von
Oſten marſchirte von Haarburg mit Fußvolk und Ge¬
ſchuͤtz gegen die Streifereien, welche der Rittmeiſter
von Herbert nach Buxtehude und Welle fuͤhrte, allein
die Franzoſen richteten nichts aus; bei Hitfeld entſtand
III.29[450] ein heftiges Gefecht, worin ſie eine Anzahl Gefangene
verloren, worauf die Uebrigen im Schrecken nach Haar¬
burg zuruͤckflohen. Waͤhrend auf der einen Seite un¬
ſere Patrouillen bis Celle kamen, drangen andere bis
Zeven vor, um den Kourieren, die zwiſchen Hamburg
und Bremen gingen, aufzulauern, ſo daß dieſe endlich
zu dem Umwege uͤber Stade und Bremervoͤrde, ja
ſogar uͤber Ritzebuͤttel und Bremerlehe genoͤthigt wur¬
den. Von dem franzoͤſiſchen Oberſten Grafen von Salm-
Kyrburg, der zufolge der Briefſchaften eines aufgefan¬
genen Kouriers mit 400 weſtphaͤliſchen Reitern einen
Partheigang gegen uns machen wollte, war nichts
weiter zu erfahren.
Etwas beſſer hielt ſich der Feind zunaͤchſt der Elbe;
die Beſatzung von Haarburg war bis auf 4000 Mann
verſtaͤrkt worden, und die Hooper Schanze und der
Zollenſpieker wurden mit mehrern Bataillons beſetzt;
auch wir hatten inzwiſchen gegen 300 Jaͤger aus Da¬
lenburg herangezogen, und konnten den Angriffen, die
der Feind von dieſer Seite wagte, die Spitze bieten.
Bei Winſen, Artlenburg und Honsdorf ſchlug man ſich
beinahe taͤglich, und der Feind verlor durch die wieder¬
holten nachtheiligen Gefechte im Ganzen ſehr viele Leute;
wir hatten in manchen dieſer Scharmuͤtzel keinen Mann
verloren, und der Feind allein an Gefangenen wohl
50 bis 60 Mann eingebuͤßt. Bei einem ſolchen Ge¬
fechte war im Dunkel der Nacht ein franzoͤſiſcher Offi¬
[451] zier mit 6 Mann verſprengt worden, und wurde erſt
einige Tage nachher im Walde aufgehoben und nach
Luͤneburg gebracht; er hatte die Abſicht gehabt, ſich
durch naͤchtliche Maͤrſche bis nach Magdeburg durchzu¬
ſchleichen, und war ſo uͤberzeugt von der Niederlage
unſrer Heere, daß er den Tagsbefehl, worin der Mar¬
ſchall Davouſt den Truppen das Einruͤcken Napoleon's
in Berlin anzeigte, als eine Neuigkeit an Tettenborn
uͤberreichte, und mit dem Achſelzucken der Zuverſicht
hinzufuͤgte: „Aber, es hat Leute gekoſtet, viel Leute!“ —
Ein Adjutant des Generals Vichery, der Ueberbringer
wichtiger Befehle war, wurde durch den Rittmeiſter
von Herbert gefangen genommen. Unſere Mittheilun¬
gen dagegen gelangten durch dieſen letztern ſicher bis
zu den engliſchen Schiffen, die vor der Muͤndung der
Elbe lagen.
Einen Hauptverdruß machte den Franzoſen in Ham¬
burg die Zeitung aus dem Feldlager, die in Luͤneburg
ihren Anfang nahm. Die Begierde der Einwohner
nach unſern Nachrichten von dem großen Kriegsſchau¬
platze machte es uns zur Pflicht, die Hauptſachen jedes¬
mal ſchleunig durch den Druck mitzutheilen, um ſolchem
Eifer moͤglichſt zu entſprechen. Das Zuſtroͤmen von
guten Neuigkeiten noͤthigte in kurzem zu einer Reihe¬
folge von Druckblaͤttern, die von ſelbſt eine Art von
Zeitung bildeten, und nur eines gemeinſchaftlichen Na¬
mens bedurften. Die durch unſern Zweck erzeugte
[452] Ruͤckſicht auf die Oertlichkeit der naͤchſten Gegend machte
den Marſchall Davouſt bald zu einem Hauptgegenſtaude
dieſes Blattes, welches, mit dem Hauptquartier Tet¬
tenborn's ſeinen Erſcheinungsort wechſelnd, und unent¬
geltlich ausgetheilt und verſandt, in kurzem eine unge¬
heure Gunſt und Nachfrage fand. Es fehlte nicht an
ſatiriſchen Ausfaͤllen, in welchen die gute Laune unſers
Hauptquartiers ſich ergoß, und zu denen mehrere Offi¬
ziere, und unter andern auch Jahn, der bekannte Turn¬
lehrer, der als Hauptmann bei den Luͤtzow'ern ſtand,
ihre Beiſteuer gaben. Die Franzoſen waren bisher
gewohnt, ſolche Feindſeligkeiten allein auszuuͤben, und
geriethen ganz außer ſich, als man ihnen nicht das
Gleiche, ſondern Beſſeres bot, und ihr erſchoͤpfter Witz
nichts mehr zu finden wußte, um die treffende Wahr¬
heit zu entkraͤften, mit welcher der Marſchall Davouſt
hier bald als der Vandale Gaͤnſerich, bald als Robinſon
und Hermite de Ratzebourg bezeichnet wurde. Dieſe
Zeitung hat uns ſeitdem uͤberall hinbegleitet, nach Bre¬
men und Daͤnemark, bis ſie zuletzt in Frankreich mit
dem 16. Stuͤcke, das die fremde Sprache angenommen
hatte, aufhoͤrte, und noch ihr letztes Wort der Mar¬
ſchall Davouſt blieb. Wir haben der litterariſchen Ne¬
benſache hier vorzuͤglich deßhalb gedacht, um in Tetten¬
born das nach unſrer Meinung nicht geringe Verdienſt
anzuerkennen, daß er mit kraͤftigem Muthe auch in
dieſer Weiſe offen und fuͤr immer mit dem Feinde
[453] gebrochen, und keine Moͤglichkeit einer Ausſoͤhnung ſich
habe vorbehalten wollen, die er unter jeder Bedin¬
gung zu verſchmaͤhen fand, waͤhrend manche oͤffent¬
liche Blaͤtter durch Ruͤckſichten und Glimpf aller Art
noch ſorgfaͤltig dieſe Moͤglichkeit zu erhalten bedacht
waren.
Nicht unerwaͤhnt vorbeigehen duͤrfen wir hier das
Maͤdchen von Luͤneburg, Johanna Stegen, welche am
Tage des Treffens, in welchen der General von Doͤrn¬
berg den Sieg uͤber den General Morand hier erfocht,
mit hochherzigem Muthe den preußiſchen Jaͤgern, die
ſich verſchoſſen hatten, inmitten des Gefechts Patronen
in ihrer Schuͤrze zutrug. Als die Franzoſen endlich
wieder Meiſter von Luͤneburg wurden, hatte ſie ſich
verſtecken muͤſſen, und auch ſpaͤterhin noch manche Be¬
drohung, manche Haͤrte von Seiten der Fremden und
ſogar mancher Einheimiſchen erfahren muͤſſen, bis ſich
die Erinnerung ihrer That nach und nach in der Stille
des untergeordneten Lebens verlor. Tettenborn aber
ließ ſie aufſuchen und zu Tiſche einladen, als eine
wuͤrdige Kriegsgenoſſin; ihr Betragen war hier eben
ſo unbefangen ſittſam, als es dort unbefangen muthig
geweſen war. Um ſie nicht neuer Rache des Feindes
auszuſetzen, wurde ſie, die bald entſchloſſen war, alte
Verhaͤltniſſe gegen neue zu vertauſchen, mit fuͤr ſie
guͤnſtiger Ausſicht nach Berlin befoͤrdert. Es iſt ein
Zeichen des Geiſtes, der unſern Krieg belebte, daß
[454] auch Weiber aus edlem Triebe ſich zu dem Kampfe
berufen glaubten, der ſonſt nur Maͤnnern obliegt; eine
Erſcheinung, die ſchwerlich in andern, als wahrhaften
Volkskriegen, gefunden wird, und unwiderſprechlich die
gerechte Sache zu erkennen gibt. Wir nennen bei
dieſer Gelegenheit noch Eleonoren Prochaska, ein Maͤd¬
chen aus Potsdam, die der Ruf der Waffen und des
Vaterlandes ihrem ſtillen Lebenswandel entfuͤhrte, und
unter dem Namen Auguſt Renz in unentdeckter Ver¬
kleidung den Luͤtzow'ſchen Jaͤgern beigeſellt hatte. Sie
war gleich im Anfang des Treffens bei der Goͤrde
durch einen Schuß verwundet worden, allein das hel¬
denmuͤthige Maͤdchen war nicht bloß als Maͤdchen, ſon¬
dern waͤre auch als Mann ausgezeichnet geweſen, und
ging nicht aus dem Gefecht, bis ein zweiter Schuß in
den Schenkel ſie noͤthigte, beides, das Gefecht und
ihre Verkleidung zu verlaſſen. Sie entdeckte ſich einem
Offizier, durch deſſen Vermittlung ſie alle moͤgliche
Schonung und Huͤlfe erlangte. Allein nach wenigen
Tagen ſtarb ſie an ihren Wunden, beklagt von allen
ihren Kameraden, deren Liebe und Achtung ſie in
hohem Grade beſeſſen hatte.
Die Nachrichten von unſern großen Heeren meldeten
fortdauernd die gluͤcklichſten Vortheile, die von allen
Seiten uͤber den aus Boͤhmen, Schleſien, und der
Mark Brandenburg ſchon ganz nach Sachſen zuruͤck¬
gedraͤngten Feind erfochten waren. Große und zahl¬
[455] reiche Streifſchaaren zogen in ſeinem Ruͤcken und auf
ſeinen Flanken ungeſtraft umher, und beſuchten Braun¬
ſchweig und ſogar Kaſſel, gegen welchen letztern Ort
der Kronprinz von Schweden den General Tſchernyſcheff
mit 3000 Pferden vorgeſchickt hatte. Die Nachricht, daß
Baiern dem großen Bunde beigetreten, kam ebenfalls
in dieſen Tagen. Alles dies forderte zu kuͤhnen Unter¬
nehmungen auf, denen die großen Ereigniſſe immer
feſtere Grundlage boten. Der Marſchall Davouſt hatte
ſeine Hauptſtaͤrke jetzt an die Elbe gezogen, und im
Ochſenwaͤrder, beim Zollenſpieker und bei Lauenburg
verſammelt; er ſchien aͤußerſt beſorgt wegen eines An¬
griffs auf Haarburg, deſſen Befeſtigung er eilig ver¬
mehren ließ. Bei dieſer Lage der Dinge erſuchte Wall¬
moden den Kronprinzen von Schweden, die Stecknitz
bloß durch den General von Vegeſack beobachten zu
laſſen, da der allgemeine Zuſtand der Sachen kein Vor¬
dringen des Feindes mehr auf dieſer Seite zu befuͤrch¬
ten gab, ihm ſelbſt aber zu erlauben, nach Hannover
vorzugehen, wo alles nur auf ſein Erſcheinen wartete,
um ſich gegen den Feind zu bewaffnen. Allein der
Kronprinz war keineswegs damit einverſtanden; und
was er in Ruͤckſicht des Marſchalls Davouſt wohl
bewilligt haͤtte, mochte er wegen der Daͤnen nicht zu¬
geſtehen. Dieſen war bisher noch kein bedeutender
Nachtheil beigebracht, und ihm dem Schweden doch
vor allem daran gelegen, dieſe Feinde nicht laͤnger un¬
[456] angetaſtet in ſeinem Ruͤcken zu laſſen, wenn er, wie
er ſchon am Ende Septembers ankuͤndigte, uͤber die
Elbe ginge, um ſich nach Halle und Leipzig zu wenden.
Er ſandte daher an Wallmoden den Befehl, vielmehr
einen Verſuch an der Stecknitz zu machen, wo moͤglich
die Daͤnen von den Franzoſen zu trennen, und jene,
von welchen man wußte, daß ſie bei dem erſten Anlaß ſich
hinter die Eyder zuruͤckziehen wuͤrden, geſondert anzu¬
greifen. Wallmoden rief in Gemaͤßheit dieſes Befehls
Tettenborn abermals von Luͤneburg auf das rechte Elb¬
ufer zuruͤck, und wollte ſeine Truppen bei Gadebuſch
zu einer kraͤftigen Angriffsbewegung verſammeln. Tet¬
tenborn ließ bloß den Rittmeiſter von Herbert und Lieu¬
tenant von Klitzing mit einer ziemlichen Anzahl Koſaken
in und bei Luͤneburg zuruͤck, ging am 5. Oktober bei
Bleckede auf Kaͤhnen, die er fruͤher hatte zuſammen¬
bringen laſſen, uͤber die Elbe, und marſchirte nach
Boitzenburg. Gleich der folgende Tag war zu einem
allgemeinen Angriff beſtimmt; allein der Marſchall Da¬
vouſt hatte diesmal die Sache nicht unrecht vorherge¬
ſehen, und ſchleunig alle Truppen aus dem Ochſen¬
waͤrder wieder an die Stecknitz gezogen, ſo daß die
natuͤrliche Schwierigkeit, welche die ſumpfigen Ufer der
Stecknitz jedem Uebergange entgegenſetzten, durch die
zahlreiche Staͤrke des Feindes zur Unmoͤglichkeit wurde.
Die ganze Sache lief auf ein heftiges Kanoniren hin¬
aus, das bei Buͤchen den ganzen Vormittag des 6. Ok¬
[457] tobers andauerte, ohne irgend etwas in der Stellung
der beiderſeitigen Truppen zu aͤndern. Auch in den
folgenden Tagen blieb alles in dem alten Zuſtande;
der General von Vegeſack machte einen Angriff auf die
ihm gegenuͤber ſtehenden Vorpoſten, bei welchem die
hanſeatiſche Reiterei ſich ſehr tapfer auszeichnete, allein
ohne einen Erfolg zu bewirken. Ein trefflicher hanſeati¬
ſcher Offizier, der junge Godefroy aus Hamburg, war
unter den Gebliebenen.
Auf's neue der Langenweile eines Beobachtungs¬
kriegs, dem man nimmer entfliehen zu koͤnnen ſchien,
uͤbergeben, mochte Tettenborn nicht laͤnger einen Zu¬
ſtand ertragen, der allen ſeinen Eigenſchaften wider¬
ſprach, und ſeine ausgezeichnetſten Gaben beinahe unnuͤtz
ruhen ließ. Die Nachricht, daß Bluͤcher mit dem ſchle¬
ſiſchen Heer uͤber die Elſter gegangen ſei, und den
Feind fortwaͤhrend hart bedraͤnge, ſo wie alles Andere,
was man von der obern Elbe erfuhr, belebte immer
auf's neue die Ausſicht auf gluͤckliche Partheigaͤnge, die
gerade jetzt an der Zeit zu ſein ſchienen, waͤhrend die
Heere des Feindes noch das Feld hielten, und doch
ihr Ruͤckzug ſchon unvermeidlich duͤnkte. Der Zug des
Generals Tſchernyſcheff nach Kaſſel und die glaͤnzende
Einnahme dieſer Stadt hatte Schrecken und Beſtuͤrzung
weithin verbreitet; allein durch ſtaͤrkere, von Frank¬
furt her im Anmarſch befindliche franzoͤſiſche Trup¬
[458] pen bedroht, waren die Ruſſen von Kaſſel wieder
aufgebrochen, und eilten, indem ſie ganz rechtshin
zur Seite auswichen, die Bruͤcke bei Doͤmitz zu ge¬
winnen, um gleich wieder uͤber die Elbe gehen zu
koͤnnen.
(Der Verfolg im vierten Bande.)
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- TextGrid Repository (2025). Varnhagen von Ense, Karl August. Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Corpus of Literary Modernity (Kolimo+). https://hdl.handle.net/21.11113/4bpcw.0